DIE PREUSSISCHE EXPEDITION NACH OST-ASIEN . VIERTER BAND. DIE PREUSSISCHE EXPEDITION NACH OST-ASIEN . NACH AMTLICHEN QUELLEN. VIERTER BAND. MIT XXIV ILLUSTRATIONEN UND I KARTE. BERLIN MDCCCLXXIII. VERLAG DER KÖNIGLICHEN GEHEIMEN OBER-HOFBUCHDRUCKEREI (R. v. DECKER). Das Uebersetzungs-Recht ist vorbehalten. INHALT. REISEBERICHT . Seite XIV. Reise der Arkona von Wu-soṅ nach der Pei-ho -Mündung . Vom 23. bis 29. April 1861 3 XV. Tien-tsin . Vom 29. April bis 30. Juni 1861 8 XVI. Tien-tsin . Vom 30. Juni bis 11. September 1861 66 XVII. Ausflug nach Pe-kiṅ . Vom 10. September bis 6. October 1861 99 XVIII. Abreise von Tien-tsin . Reise der Arkona von der Pei-ho -Mün- dung nach Naṅgasaki und Hong-kong . Vom 7. October bis 11. November 1861 164 XIX. Hong-kong . Kanton . Macao . Vom 11. November bis 5. De- cember 1861 182 XX. Reise der Arkona von Macao nach der Rhede von Paknam . Vom 5. bis 14. December 1861 228 XXI. Baṅkok . Vom 23. November 1861 bis 30. Januar 1862 230 XXII. Ausflug nach Phrabat . Abreise aus Siam . Reise der Arkona nach Singapore . Vom 30. Januar bis 3. März. Schluss 304 Anhang I. Der Vertrag mit China 351 Anhang II. Der Vertrag mit Siam 377 Anhang III. Die Auswechselung der Ratifications-Urkunden in Shang-hae 395 Anhang IV. Das Ende der Tae-Piṅ 399 Litteratur 433 Register zum III. und IV. Bande 437 VERZEICHNISS UND ERKLARUNG DER ILLUSTRATIONEN . Ta-ku . Das äussere Nord-Fort vom Süd-Ufer des Pei-ho gesehen, 1861 von französischen Truppen besetzt. S. Bd. IV. S. 9, 165. Tien-tsin I. Der Zusammenfluss des Pei-ho mit dem Kaisercanal . Tien-tsin II. Tempeleingang am Pei-ho . Tien-tsin III. Schiffbrücke über den Pei-ho und Strasse der östlichen Vorstadt. Tien-tsin IV. Strasse der nördlichen Vorstadt. Lichtzieher- und Schuhmacherläden. Tuṅ-tšau I. Tempel am Canalufer. Tuṅ-tšau II. Eckthurm der Stadtmauer. S. Bd. IV. S. 101. Pe-kiṅ I. Der Glocken- und der Trommelthurm in der nördlichen Stadtmauer. S. Bd. IV. S. 107. Pe-kiṅ II. Hata-men . Das östliche Thor in der Südmauer der Tartarenstadt . S. Bd. IV. S. 107. Pe-kiṅ III. Kaufläden in der Tartarenstadt . Bei Hata-men . Pe-kiṅ IV. Kaufläden in der Tartarenstadt . Bei Si-tši-men . Verzeichniss und Erklärung der Illustrationen. Bocca Tigris . Der Tigerfelsen und die Werke der Bocca . Fischerdschunken. S. Bd. IV. S. 139. Baṅkok I. Ein Theil der Tempelgründe von Wat Po . Ringmauer der Binnenstadt. Vom Phrapraṅ von Wat Džeṅ aus gesehen. S. Bd. IV. S. 230. Baṅkok II. Tempel an einem Nebenarm des Menam . Ficus. Bambusfloss. Baṅkok III. Schwimmendes Haus. Südchinesische Dschunke. Baṅkok IV. Nebenarm des Menam bei Wat Džeṅ . Baṅkok V. Wassergasse mit Chinesenhäusern. Areca Catechu. Urania (Ravenala) Baṅkok VI. Nebenarm des Menam . Baṅkok VII. Caryota urens. Baṅkok VIII. Cocos nucifera. Areca? Areca Catechu. Carica Papaya. Artocarpus incisa (Brodbaum). Musa paradisiaca (Banane). Baṅkok IX. Bambus. Schnapsladen. Ayutia . Ruinen am Menam . Ficus. Borassus flabelliformis. Musa. Calamus Rotang. Areca Catechu. S. Bd. IV. S. 305, 311. Petšaburi I. Kalksteinklippe mit Pratšedi . Petšaburi II. Eingang des Höhlentempels. S. Bd. IV. S. 348. REISEBERICHT. IV. 1 XIV. REISE DER ARKONA VON WU-SOṄ NACH DER PEI-HO-MÜNDUNG . VOM 23. BIS 29. APRIL. A m Morgen des 23. April lichtete Arkona bei milder Luft die Anker und dampfte langsam den Fluss hinab. Die Fregatte Svetlana, welche eben aus Naṅgasaki eingetroffen war, grüssten wir vorübergleitend mit der russischen Hymne; die an Deck aufgestellte Mannschaft dankte mit abgenommenen Mützen; vorn stand der Geist- liche, eine hohe Gestalt mit langem weissem Bart und faltigem Talar. Der Fluss lag dicht voll Dschunken, grossentheils mit Bambus be- laden, der ihnen, in dicken Bündeln aussenbords befestigt, grosse Breite gab. Mühsam wand Arkona sich durch, konnte aber nicht vermeiden, einem Chinesen den Vordermast wegzuputzen, der krachend ins Wasser fiel. Bald gelangten wir in den Yaṅ-tse und nun ging es schneller; die Mündung machen jedoch veränderliche Sandbänke gefährlich. Gegen drei passirte Arkona das auf der Barre liegende Leuchtschiff und konnte den chinesischen Lootsen entlassen; erst Abends gelangte sie in klares Wasser und steuerte noch eine Weile östlich, dann nördlich. Um acht Uhr wurde die Schraube ausgehoben; wir segelten bei günstigem Südwest neun Knoten. Es war empfindlich kalt, so dass man Winterkleidung anlegen musste. Am folgenden Morgen starb der Wind fort und wir dampften wieder. Es war Busstag, der mit Gottesdienst be- gangen wurde. Das Wetter, Morgens neblig, dann regnerisch, klärte sich später auf, und der 25. April war schön. Viele Dschunken belebten das Meer: die Sonne schied, durch Strah- lenbrechung zu wunderlichem Gebilde verzerrt, in glühender Pracht. 1* Strahlenbrechung. XIV. Am 26. April kam bei Tagesgrauen Cap Šan-tuṅ in Sicht, das wir, in den Golf von Pe-tši-li einbiegend, gegen fünf Uhr Morgens umschifften. Die Fahrt ging westlich, die schroffe Fels- küste entlang. Gegen zwei Uhr Nachmittags gewahrte man nah dem Lande drei Schiffe: das französische Transportschiff Calvados, das Shang-hae kurz vor der Arkona verliess, war hier gestrandet, von zwei Dampfern aber wieder flott gemacht worden, und hielt mit diesen jetzt gleich uns auf Tši-fu los. Wir hatten wegen der dunstigen Luft keine sichere Längen-Observation, der Meeres- horizont zeigte die sonderbarsten Unebenheiten: bald wellenförmig, bald gradezu bergan laufend brach die Linie plötzlich senkrecht ab, um tiefer wieder anzusetzen; die Küsten reckten und hoben sich fratzenhaft in unruhig wechselnder Verschiebung. Das wunder- lichste Phänomen der Strahlenbrechung gewährten aber jene drei Schiffe: sie verschwanden plötzlich vor unseren Augen und tauch- ten wieder auf; dann schob sich der Meereshorizont mit zwei Schiffen in die Höhe; sie standen wie auf einem Berge, während das dritte in der Tiefe blieb; dann senkte sich die Meereslinie wie- der, die Masten blieben in der Luft stehen und der Rumpf der beiden Schiffe schwoll so ungeheuerlich, dass sie Thürmen glichen, die allmälig einsanken, während nun die Untermasten wuchsen. Nach einigen Minuten hatte Alles seine natürliche Gestalt. Der Verfasser hat das sonderbare Phänomen auf dem Fleck beschrieben und von Minute zu Minute die Veränderungen gezeichnet. Da die Rhede von Ta-ku ein schlechter Ankerplatz für grössere Kriegsschiffe, auch die Proviantirung unsicher ist, so lief Capitän Sundewall Tši-fu an, um die Vortheile dieses Hafens kennen zu lernen. Der Namen bezeichnet streng genommen nur das Felsencap, das, am Ende einer flachen Landzunge in schroffen Wänden aus dem Meere steigend, mit einigen Felsinseln die Bucht gegen Meeresschwall und nördliche Winde schützt. Die im Halb- kreis gelagerte Stadt heisst bei den Chinesen Džen-tai ; die Frem- den haben jedoch den Namen Tši-fu auf die ganze Oertlichkeit übertragen und kennen auch die Stadt nur unter dieser Bezeich- nung. Von den Kriegen und Aufständen der letzten zwanzig Jahre unberührt, genoss sie blühenden Wohlstandes; mehrere fremde Schiffe hatten ihre Ladung mit Vortheil gegen klingendes Silber verkauft, und der Handel bot so günstige Aussichten, dass die XIV. Tši-fu . Fremden Tši-fu dem in der Nähe gelegenen Taṅ-tšau vorzogen, das in den Verträgen dem Handel freigegeben war. Die Bucht ist geräumig und sicher, der Ankergrund vortrefflich. Nachdem Arkona gegen drei Uhr Nachmittags Anker gewor- fen, fuhren Graf Eulenburg und seine Begleiter an das Land und erstiegen zunächst eine östlich der Stadt gelegene Höhe. Am Ab- hang blühten Veilchen und ein fliederartiger Strauch; die Spitze krönt burgartiges Gemäuer. Man blickte auf die am Strande ge- lagerte, von grünen Gefilden umgebene Stadt, vor welcher die Ebbe breite Wasserlachen stehen liess; malerische Dschunken lagen kreuz und quer auf dem grünen Seetang wie auf einer Wiese gestrandet, im Hafen eine ganze Flotte von Chinesen und fremde Kriegs- und Handelsschiffe; dahinter die Klippeninseln , Cap Tši-fu und das hohe Meer , auf der Landseite ein duftiger Kranz steiler Fels- gebirge. Der Stadt, welche seit dem Kriege französische Garnison hatte, sah man ihren Wohlstand kaum an: breite öde Strassen fast ohne Kaufläden, die Häuser zwar massiv aus dem anstehenden Granit, aber so roh und ungeschickt gebaut, wie in China selten vorkommt. In offenen Buden hielten Krämer ihre Waare feil, unter der uns auch hier die bunten Wiener Streichholzbüchsen entgegen lachten. An Victualien sah man Birnen, Wallnüsse, gutes Weizen- brod, lebende Waldschnepfen und Trappen. Einige Gassen sind mit Quadern gepflastert; am Hauptplatz steht ein reinlich ge- haltener Tempel, gegenüber ein Theater, vielmehr eine Bühne mit geschnörkeltem Dachfirst, denn den Zuschauerraum bildet die Strasse. Es war grade Vorstellung. Die Musiker begleiteten, im Grunde der Scene sitzend, das Stück bald mit Becken und Cym- beln, bald auf einer Art Dudelsack. Die Schauspieler entwickelten das herrlichste Pathos und illustrirten ihre näselnde Recitation mit mörderlichen Fratzen und gymnastischer Action, wobei viel Fahnen und Schwerter geschwenkt wurden. In einer Scene hielten zwei Männer eine blaue durch weisse Markirung der Steinfugen zur Burg- mauer gestempelte Leinwand. Dahinter traten die Handelnden auf Stühle: der schwerbedrängte Burgherr klagte sein Weh in schnei- denden Trillertönen. Dann erschien vor der Mauer ein aufgeputzter Held mit Trabanten, der mit dem ganzen Leibe gesticulirte und in graziöser Wuth seinen Bart strich. Er liess sich einen Bogen rei- chen und schoss einen Pfeil nach der Burgmauer, worauf einer von Fahrt nach Ta-ku . XIV. der Besatzung herunterplumpte. Da warf der Burgherr einen Stein nach dem feindlichen Heere, das entsetzt von dannen floh. — Die chinesische Bühnenkunst hat den Vorzug, dass sie in keiner Richtung Nachahmung der Wirklichkeit, nicht einmal Wahrscheinlichkeit anstrebt: nicht nur Costüm und Decoration, son- dern auch Mimik und Sprache, Alles ist Maske und Convenienz. Gewiss lässt sich auch in diesem gemachten, durchweg übertrie- benen Ausdruck der Affecte künstlerische Kraft entwickeln; dem Fremden aber, der die Sprache nicht versteht, muss Alles lächerlich scheiṅen. Ein Spaziergang vor der Stadt führte uns durch üppige Ge- treidefelder; dort standen Kiefern, der Meerpinie ähnlich, und prächtige Weidenbäume, die eben die jungen Blätter aufrollten. — Gegen sechs Uhr kehrte der Gesandte an Bord zurück, wo der Commandeur und einige Officiere der französischen Fregatte Andro- maque seinen Mittagstisch theilten. Am Morgen des 27. April salutirte die englische Corvette Odin den Commodor aus der Ferne mit dreizehn, die Andromaque den Gesandten mit neunzehn Schüssen. Arkona erwiederte die Grüsse, lichtete um halb zehn die Anker und dampfte der Pei-ho -Mün- dung zu. Die glatte See spiegelte warm den tiefblauen Himmel, als wir gegen vier Uhr Nachmittags dem Admiral Sir James Hope auf der englischen Corvette Scout begegneten. Beide Schiffe drehten bei; Graf Eulenburg sandte dem Admiral seine Post, die er aus Shang-hae mitgenommen hatte. Arkona salutirte und Scout ant- wortete; beide Schiffe lagen in dichten Pulverdampf gehüllt, bis sie weiter fuhren. Auf einem Vorgebirge standen Tausende Chinesen, die wohl eine Seeschlacht zu sehen glaubten. — Abends wurde es neblig und sehr dunkel. Am 28. April Mittags ergaben die Lothungen, dass man sich der Küste näherte; um zwei Uhr wurde am westlichen Horizont durch das Fernrohr ein Streifen niedrigen Landes sichtbar, das eben so wenig wie eine Flotte davor ankernder Dschunken zur Orientirung dienen konnte. Da tauchten — auf einen Augenblick — nördlich die Masten europäischer Schiffe auf; im nächsten be- fanden wir uns in einer dichten Staubwolke. Die Luft färbte sich dunkelgelb, ins Rothe spielend; die Sonne, eine glänzendblaue, strahlenlose Scheibe, warf silberne Glitzer auf die spitzen gelb- grünen Wellen. Es war einer der in dieser Jahreszeit so häufigen XIV. Staubsturm. Staubstürme, ein Vorschmack der uns in Tien-tsin winkenden Ge- nüsse. In wenig Minuten bedeckte sich das Schiff mit einer so dicken Kruste des feinsten Staubes, als wenn es Tage lang auf trockener Landstrasse gefahren wäre. In dichte Wolken gehüllt warf man Anker vor der Pei-ho -Mündung , etwa zwölf Seemeilen vom Lande. Der Flaggenlieutenant Graf Monts fuhr Nachmittags mit dem russischen Fähnrich Herrn Markianowitsch nach dem Ka- nonenboot Rasboynik, welches Commodor Likhatschoff dem Ge- sandten für die Fahrt auf dem Pei-ho zur Verfügung stellte. XV. TIEN-TSIN . VOM 29. APRIL BIS 30. JUNI. D as mit Graf Monts und Herrn Markianowitsch nach dem Rasboynik gesandte Boot der Arkona wurde Abends auf der Rück- fahrt von heftigem Sturm gepackt und musste zu dem Russen zu- rückkehren; erst am folgenden Morgen brachte es die Nachricht, dass der Rasboynik keine Kohlen habe, auch die Barre erst in vierzehn Tagen mit der nächsten Springfluth passiren könne. Der Commandant, Capitän-Lieutenant Rosenberg , machte nachher dem Gesandten seine Aufwartung. — Da nun auch der englische und der französische Admiral ihre in der Pei-ho -Mündung liegenden Dampfer zur Verfügung gestellt hatten, so schickte Capitän Sunde- wall am 29. April Vormittags ein Boot dahin ab, welches Abends den Attaché von Brandt an Bord der Arkona brachte. Schon seit zehn Tagen erwartete Derselbe bei den Ta-ku -Forts die Ankunft der Gesandtschaft; der Commandant der kaiserlich französischen Canonière No. 13, Lieutenant de vaisseau Des Varannes , beher- bergte ihn gastfrei auf seinem Fahrzeug. Der Attaché von Brandt übergab dem Gesandten ein Schreiben des Prinzen von Kuṅ und meldete, dass er in Tien-tsin ein Haus gemiethet und eingerich- tet habe. Am 30. April früh legte sich Numero treize, ein Kanonen- boot vom kleinsten Kaliber, neben die Arkona. Erst um zwei Uhr konnte es mit der Fluth wieder über die Barre, — wo bei Ebbe nur zwei Fuss Wasser stehen, — und brachte zunächst das grosse Gepäck, einige Ordonnanzen und die chinesische Dienerschaft nach den Ta-ku -Forts, von wo sie in der folgenden Nacht auf Maulthier- karren nach Tien-tsin fuhren. Herr von Brandt machte den Weg zu Pferde. — Am Morgen des 1. Mai war die Canonière wieder bei der Arkona und nahm um halb acht den Gesandten, die Attachés XV. Die Ta-ku -Festen. Graf zu Eulenburg und von Bunsen , Dr. Lucius , Maler Berg , Herrn Marques , Dr. Kloekers , und einige Officiere und Cadetten der Ar- kona an Bord, welche die Ta-ku -Forts besehen wollten; ihr Boot und ein zweites mit einigen Ordonnanzen und dem kleinen Gepäck der Gesandtschaft führte Numero treize im Schlepptau. Arkona salutirte mit neunzehn Schüssen, und das Dampferchen Diese eisernen Kanonenboote wurden, in mehrere Stücke zerlegt, auf Trans- portschiffen über den Ocean geführt und erst in China zusammengesetzt. tanzte, die Nase in der Luft, tapfer prustend auf den zackigen Wogen, die der widrige Wind ihm entgegenwälzte. Viel Wasser schlug in die Boote, deren Insassen hoffentlich Sturzbäder liebten. — Wir begegneten hier wieder den tritonenhaften Fischern, die, auf einem durch ihr Gewicht unter Wasser gedrückten Floss sitzend, von Wind und Wogen umhergetrieben werden, bis ein Boot sie wieder aufnimmt; ein frostiges Gewerbe in dieser Jahres- zeit; uns fror in trockenen Kleidern. — Nach anderthalbstündiger Fahrt erreichte Treize die Barre, über welche die Fluth ihr hin- weghalf, und bald darauf das ruhige Wasser der Pei-ho - Mündung . Zu beiden Seiten der Einfahrt liegen die äusseren Ta-ku - Forts, der Schauplatz der englischen und französischen Angriffe in drei aufeinander folgenden Jahren. Die Fluth bespült den Fuss der Wälle; die Ebbe legt einen breiten von Gräben durchschnitte- nen schlammigen Uferstreifen bloss, den die Chinesen durch Wolfs- gruben und eiserne Krähenfüsse noch unwegsamer gemacht hatten. 1858 drangen die Alliirten in den Fluss ein, landeten oberhalb der hinten offenen Werke und rollten deren Besatzung auf; 1859 konn- ten die Kanonenboote nicht eindringen, geriethen zum Theil auf Grund und sanken unter dem wohlgezielten Kreuzfeuer der Festen, während die auf dem tiefen Uferschlamm unterhalb des Südforts lan- denden Truppen theils in den Gräben und Wolfsgruben, theils im Kartätschfeuer der unnahbaren Wälle untergingen. 1860 wurden die äusseren Forts nur durch einige Kanonenboote auf weiten Ab- stand beschäftigt, während die Landmacht der Verbündeten, nörd- lich von Pe-taṅ kommend, zuerst das innere Nordfort stürmte, dann das äussere ohne Widerstand besetzte, worauf die drei Südforts geräumt wurden; die Werke waren damals auf allen Seiten ge- schlossen und sehr fest. — Seit dem Kriege hatten sie nun eng- Der Pei-ho . XV. lische und französische Besatzung; mehrere Kanonenboote lagen in der Flussmündung. Die Pinasse der Arkona nahm jetzt deren Officiere und Ca- detten an Bord, welche mit drei Hurras vom Gesandten schieden. — Der Anblick ist trostlos: Lehmwasser, Lehmbauten, Lehmufer, so flach wie ein Tisch, bis auf einige Haufen Salz, das hier dem Meere abgewonnen wird; nahe der Mündung kein Baum, kein Strauch; Alles ein gelbgrauer Teig, oben fest und trocken, in klumpige Formen geknetet, unten flüssig, ein trüber hässlicher Brei. Stiefmütterlicher waltete nirgend die Natur. Hinter den südlichen Forts liegt der grosse Flecken Ta-ku , eine Lehmmasse wie alles Uebrige. Weiter hinauf sind die Ufer grün; da stehen schöne Weiden- und unzählige Pfirsichbäume, die in festlichem Blüthenschmuck prangten. Die Luft war staubig; bald wurde es heiss, während wir Morgens in Winterkleidung ge- froren hatten. Dass wenig Wochen zuvor das Land noch in dickem Eise lag, merkte man nicht: nur die vielen Ufereinschnitte, ähnlich denen bei Shang-hae , in welchen die Dschunken geborgen werden, erinnerten daran, dass hier, fast in der Breite von Lissa- bon , die Flüsse im November zufrieren und erst im März wieder aufgehn. Die Landschaft, — grüne Felder, Bäume und lehmfarbene Dörfer, — gleicht vielen Stellen im Nilthal . Die Windungen des Pei-ho verdoppeln den Weg; beim Scheiden der Sonne waren wir noch weit von Tien-tsin . Je näher der Stadt, desto dichter lagen im verengten Fluss die Dschunken, durch die sich selbst unsere zappelnde Treize nur mühsam hin- durchwand. Lieutenant Des Varannes , der uns den Tag mit leben- digem Gespräch verkürzt hatte, leitete, vorn beim Geschütz stehend, den schlängelnden Lauf des Bootes. Nach acht erreichten wir die Vorstädte von Tien-tsin und fuhren dann noch eine halbe Stunde durch einen Mastenwald, hinter welchem zu beiden Seiten niedrige Häuserreihen lagen. An Kaufläden und Kneipen hingen viel bunte Laternen, und das Gesumme am Ufer verrieth die volkreiche Stadt. Gegen neun passirte Treize die Schiffbrücke und warf etwa tausend Schritt oberhalb, bei der Mündung des Kaisercanales Anker. Der Attaché von Brandt wartete am rechten Flussufer und führte den Gesandten nach seiner nahe gelegenen Wohnung. Die bestellten Kulis waren durchgegangen; es dauerte lange, bis andere das Gepäck heraufgeschafft hatten; erst spät gelangte man zur Ruhe. XV. Das Gesandtschaftshaus. Das für die Gesandtschaft gemiethete Haus gehörte einem chinesischen Kaufmann, den nur energisches Zureden der obersten Behörde zur Abtretung vermochte. Die Gebäude gruppirten sich um zwei hintereinanderliegende Höfe: das vordere hatte nach der Strasse gar keine Fenster und enthielt nur untergeordnete Räume mit Eingängen vom ersten Hofe, wo der chinesische Thürhüter und die Ordonnanzen hausten. Ein Seitengebäude mit zwei hüb- schen Zimmern, welche Herr Marques bezog, verband es mit dem gegenüberliegenden Hauptgebäude, der Wohnung des Gesandten, deren Rückseite auf den zweiten Hof blickte. Diesen begrenzten rechts und links niedrige Gebäude mit Küchen- und Wirthschafts- räumen; gegenüber stand ein geräumiges Haus, welches die drei Attachés, Dr. Lucius und Maler Berg bezogen. Die Strassenfront war in Sandstein, alles Uebrige in feinem Backstein gebaut, mit Friesen in fein behauenem Sandstein, Blätterschmuck und grotesken Thiergestalten, und schweren grauen Ziegeldächern. — Die Ein- gangsthür führte in einen Corridor, dessen Fortsetzung als be- dachter Gang die vierte Seite des ersten Hofes, der Wohnung des Herrn Marques gegenüber, bildete, dann rechts um das Mittelgebäude nach dem zweiten Hofe einbog. Der Estrich aller Wohngebäude lag einige Stufen erhöht. Zur Wohnung des Gesandten führte vom ersten Hofe eine Hauptthür; gradeaus gelangte man durch das Vorgemach in den Salon und weiter in grader Linie nach dem zweiten Hof; rechts vom Salon lag das Esszimmer, links das Schlaf- zimmer des Gesandten, deren Fenster auf den zweiten Hof gingen. Diese Räume waren anständig eingerichtet, die Wände und Decken hell tapeziert, hier und da mit geschnitztem Laubwerk aus dunkelem Holze von reicher durchbrochener Arbeit verziert, die Räume des Hintergebäudes aber nackt und kahl. Ein Theil des Fussbodens war hier in jedem Zimmer etwa sechs Fuss breit um anderthalb Fuss erhöht, eine Art Pritsche, die den Chinesen zugleich als Bett und als Ofen dient, denn es sind Feuerstellen mit Luftzügen darin; ihre Oberfläche besteht, wie der Estrich, aus festgestampftem und geglättetem Lehm. Alle Fenster haben ein reiches Rahmenwerk aus schmalen Leisten, das mit dünnem Papier beklebt ist. — Im Ganzen war die Wohnung weder so geräumig noch so sauber, als unsere japanische; als Versammlungsraum musste Abends der zweite Hof dienen, doch hätten wir uns darüber nicht be- klagen mögen. Zum Glück ahnte beim Einzug niemand, dass Die Stadt Tien-tsin . XV. wir hier fünf schwere Monate verleben und der höchsten Spann- kraft bedürfen sollten, um dem furchtbaren Klima und dem Unver- stande der Chinesen mit Erfolg die Stirn zu bieten. In Yeddo gaben die gesunde stählende Luft, die herrliche Landschaft und die durch alle Schichten interessante Bevölkerung einer reichen Haupt- und Handelsstadt für alle Beschwerden und Täuschungen Ersatz; Tien-tsin dagegen ist so durch und durch reizlos, als sich die trockenste Phantasie nur ausmalen kann. In einer unabseh- baren Ebene gelegen hat es den Winter von Upsala und den Som- mer von Kairo . Als Hafen der Hauptstadt empfängt es zwar alle Erzeugnisse des Südens sowohl zur See durch den Pei-ho , als durch den hier mündenden Kaisercanal , der, von Haṅ-tšau aus- gehend, den Yaṅ-tse und den Hoaṅ-ho schneidend, durch acht Breitengrade und vier grosse Provinzen fliesst; es versieht ferner den grössten Theil des Reiches mit Salz, das, an der niedrigen Meeresküste gewonnen, in Tien-tsin aufgestapelt und verschifft wird; man merkt aber den Handel nur an der ungeheuren Zahl der Dschunken und der die Umladung besorgenden Arbeiter, welche die Masse der Bevölkerung bilden. Von Reichthum und Lebens- verfeinerung zeigt sich keine Spur; ansehnliche Kaufläden giebt es nicht; man sucht vergebens nach den mannigfachen Erzeugnissen des chinesischen Gewerbfleisses. Einzelne Trödelbuden, welche allerlei Luxusartikel und Curiositäten, grossentheils aus der Beute des Sommerpalastes aufwiesen, dankten wohl nur der englischen Garnison ihr Dasein. In der That ist Tien-tsin , auf salpeter- haltigem Boden an trüben Wassern gelegen, die allen Abgang von 300,000 Menschen aufnehmen, von der Natur dermaassen beschimpft, dass es Wunder nehmen müsste, wenn Jemand ohne zwingende Gründe da wohnte. Das von Ringmauern umschlossene Viereck der Stadt blickt genau nach den vier Himmelsgegenden und misst in der Richtung von Norden nach Süden eine englische Meile, von Osten nach Westen etwa drei Achtel mehr. Die zinnenbekränzte Mauer ist fast dreissig Fuss hoch und funfzehn Fuss dick, aussen und innen von graugelben Luftsteinen gebaut, zwischen diesen Wänden mit Lehm und Schutt ausgefüllt. In der Mitte jeder Mauerseite liegt ein ge- wölbtes Thor, über welchem ein breiter Festungsthurm von mehreren Stockwerken steht. Aehnliche Thürme von quadratischem Grund- riss erheben sich auf den vier Ecken der Ringmauer. Eine Haupt- XV. Vorstädte. strasse führt vom nördlichen zum südlichen, eine zweite vom öst- lichen zum westlichen Thor; über ihrer Kreuzung steht im Mittel- puncte der Stadt ein den Stadtthoren gleichendes massives Ge- bäude mit gewölbten Eingängen von den vier Seiten. Dieser Bau beherrscht ganz Tien-tsin , kann aber durch seine Lage keinen möglichen Nutzen bieten und soll wohl nur, der symmetrischen Anordnung des Gründers zu Liebe, den Mittelpunct der Stadt be- zeichnen; nicht einmal als Feuerwarte scheint das festungsartige Gebäude zu dienen, dessen Unterbau genau in der Höhe der Stadt- mauer massiv aus Luftsteinen gebaut ist. Die oberen Stockwerke sind, wie bei den Thoren, aus Holz und Luftsteinen aufgeführt, mit schweren vorspringenden Dächern, die Dachkanten geschwun- gen und mit grotesken Thiergestalten verziert. Die vier durch die Hauptstrassen abgetheilten Stadtviertel bilden ein Labyrinth enger gewundener Gassen; in der Nähe der Mauern liegen weite Strecken unbebaut, mit Lachen stagnirenden Wassers. Rechts vom Ostthor steht der Tempel des Confucius , links ein grosses Theater, damals von den Engländern zur Kaserne eingerichtet; andere Tempel und Theater liegen in der Stadt zerstreut. Ein weit grösseres Areal als diesen mauerumschlossenen Platz bedecken die Vorstädte, die sich zu beiden Seiten des Pei-ho und des Kaisercanales ausdehnen. Hier wohnt die handeltreibende Bevölkerung; die Strassen sind breiter und etwas reinlicher, die Kaufläden besser als in der Stadt, wo es fast nur Schmutz und Spelunken giebt. Der Kaisercanal läuft aus Westen her etwa fünf- hundert Schritt von der nördlichen Mauer mit dieser eine Strecke parallel und macht dann eine Biegung gegen die Nordost-Ecke der Stadt, wo unter der Mauer nur eine Strassenbreite bleibt. Nicht weit von da mündet der Canal in den aus Nordwesten kommenden Pei-ho , der sich hier scharf nach Süden wendet und etwa sechs- hundert Schritt von der Ostmauer strömt. Die Vorstädte vor dem Nord- und dem Ost-Thore sind die beste Gegend von Tien-tsin ; weiter den Canal hinauf, flussabwärts und jenseit beider Gewässer giebt es nur enge winklige Gassen und wenig gute Gebäude. Auf dem linken Flussufer liegen am östlichen Ende der Vorstadt unge- heuere Salzmassen in freier Luft aufgestapelt. Südlich vom Ost- thor führt eine Schiffbrücke über den Pei-ho ; eine zweite über den Kaisercanal stösst auf die vom Nordthor ausgehende Strasse. Dort liegen mehrere Theater, und jenseit des Canales ein Tempel, Umgebung von Tien-tsin . XV. der als Zollamt für den fremden Handel eingerichtet ist. — Nach Süden und Südwesten hat Tien-tsin keine Vorstädte; dort blickt die Stadtmauer auf das freie Feld. Die äussersten Grenzen der Vorstädte bezeichnen fluss- aufwärts und abwärts zwei verfallene Festungsthürme, vorgescho- bene Posten aus alter Zeit. Ringsum dehnt sich die unabseh- bare Ebene aus, im Frühjahr kahl und staubig; Bäume giebt es wenig und fast nur an den Wasserläufen, wo jenseit der Vorstädte Nutzgärten liegen. Im mauerumschlossenen Park eines kleinen Lamaklosters am Kaisercanal stehen schöne Robinien und Weiden, in deren Schatten wir zuweilen von der furchtbaren Dürre auf- athmeten. Weiter hinaus säumen das nördliche Ufer des Canales kleine Tempel und Sommerhäuser mit hübschen Gärten, welche nur künstliche Berieselung frisch erhält. In geringer Entfernung von den Rinnsalen war den Mai hindurch noch Alles kahl; die Staubstürme liessen kein Pflänzchen wachsen. Der Erdwall und Graben, den der Mongolenfürst Saṅ-ko- lin-sin 1860 zum Schutz von Tien-tsin aufwerfen liess, umgiebt die Stadt in weiter Runde; der Umkreis mag fünf deutsche Meilen betragen. Aus lehmigem Erdreich gebaut, hier und da durch eingerammte Pfähle befestigt, bildet der Wall ungebrochene Linien ohne jede Flankirung; den breiten Wallgang schützt eine crenelirte Brustwehr, die kaum europäischem Gewehrfeuer widerstehen könnte. Die Linie in ihrer ganzen Ausdehnung zu besetzen, reichten nicht alle kaiserlichen Heere; Saṅ-ko-lin-sin , heisst es, wollte dazu die Volkswehr aufbieten, machte aber nach der Niederlage bei Ta-ku nicht einmal den Versuch, sich bei Tien-tsin zu halten. Wo der Wall unterhalb der Stadt auf den Pei-ho stösst, vertheidigten den Zugang zwei starke Bastionen, ähnlich den Ta-ku -Forts; gleich diesen lagen sie bei unserer Ankunft schon halb zerstört: das zum Bau verwendete Holz diente im Winter sowohl der Garnison als den Bewohnern zum Heizen; Niemand hinderte den Raub. Fast den ganzen Mai durch brausten die Staubwinde. Blaue Luft sah man nur auf halbe Stunden; gewöhnlich erschien der Himmel gelbgrau, bei heftigem Sturme gelbroth, die Sonne bläulich und strahlenlos. Etwa zweimal wöchentlich pflegte der Sturm so heftig zu wüthen, dass der Tag sich verfinsterte, dass um Mittag in den Zimmern Licht gebrannt werden musste; die Chinesen unter- scheiden nach dem Grade der Dunkelheit weisse, gelbe, rothe und XV. Staubstürme. Sommerklima. schwarze Stürme. Draussen kaute man die Luft; Nase und Ohren füllten sich mit feinem Staube, der selbst bei dicht verstopften Fenstern und Thüren in die Häuser drang. Das Schreiben wurde unmöglich; die Dinte stockte in der Feder, und auf das Papier lagerte sich im Nu eine Staubschicht. Von der Menge des von diesen Stürmen mitgeführten Sandes giebt folgende verbürgte Thatsache einen Begriff. Am 26. März 1862 wurde ein den Pei-ho mit dem Pe-taṅ -Fluss verbindender schiffbarer Canal meilenweit in wenigen Stunden dermaassen zugeschüttet, dass sich auf lange Strecken kaum noch die Richtung er- kennen liess. Viele kornbeladene Fahrzeuge standen auf dem Trockenen neben dem verschütteten Bett des Canales; der Sturm hatte sie auf dem darunter angehäuften Sande allmälig bei Seite geschoben. Meist war die Luft furcht- bar schwül; aus dem Electrometer des englischen Hospitals strömten bei heftigem Sturm beständig blaue Flammen; die Electricität wechselte oft zwischen positiver und negativer. Zuweilen kam dabei ein Wolkenbruch, dass das aufgeweichte Papier in Lappen von den Fenstern floss und das Wasser fusshoch in den Strassen stand. Dann regnete es dicken braunen Schmutz, und wen solch Wetter draussen packte, der kam gepanzert nach Hause. Oft kühlte die schwüle Luft sich während des Sturmes dermaassen ab, dass man Winterkleidung brauchte. Anfang Juni legten sich die Staubwinde; nur zuweilen ver- finsterte sich die Luft noch auf halbe Stunden. Dafür trat aber, bei klarem blauem Himmel, arge Hitze ein, die Mitte Juni auf 33° R. stieg; kein Hygrometer zeigte mehr den Wassergehalt der Luft an, die Haut blieb selbst bei starker Bewegung trocken. In der zweiten Hälfte des Juni gab es zuweilen erfrischende Regen- schauer und Gewitter, nach denen das Wetter auf einige Stunden angenehm wurde. Abends genoss man in diesem Monat noch leid- licher Kühle unter dem prachtvoll glänzenden Sternhimmel; bei Tage liess sich die Hitze der Zimmer auch durch grosse Eisblöcke kaum abkühlen; man fühlte sich unbehaglich, zu keiner Arbeit auf- gelegt, viel schlimmer als in feuchten tropischen Gegenden, bei schwächerer Verdunstung. — Im Juli sollte es noch schlimmer werden. An gesunden Lebensmitteln mangelte es nicht. Gutes Brod bereiteten die Bäcker der englischen Garnison; es gab Hammel-, Rind- und Schweinefleisch, vorzügliche Bohnen, Spinat, Kartoffeln, Bataten, nachher auch Brinjals, die Früchte der Eierpflanze (So- lanum Melongena), ferner den ganzen Sommer durch Birnen und Lebensmittel. XV. köstliche Weintrauben Diese Trauben reifen in unmittelbarer Nähe von Tien-tsin ; damit die Weinstöcke den langen harten Winter überdauern, legt man sie im Herbst an den Boden und bedeckt sie mehrere Fuss hoch mit Erde. vom letzten Jahre, die, in Eishäusern auf- bewahrt, bis zum Herbst so fest und saftig wie frischgeschnittene bleiben. Das Eis wird im Winter systematisch in viereckige Blöcke geschnitten und in steilwandigen Gruben aufgeschichtet, die etwa hundert Fuss lang, funfzig breit und zwanzig Fuss tief sind. Die Früchte, — Aepfel, Birnen und Weintrauben, — packt man in Eimer und ausgehöhlte Kürbisse, setzt sie in diese Gruben und füllt auch die Zwischenräume mit Eis. Ein Mattendach mit einer dichten Erdschicht darauf bedeckt das Ganze. Der Vorrath ist unerschöpflich: selbst auf dem Markt liegt jeder Fisch und jedes Stück Fleisch auf Eis; jede Fischerdschunke geht eisbeladen in See und bringt ihren Fang eingefroren nach Tien-tsin ; so gross ist der Vorrath. Wein und Bier brachten wir mit; Sodawasser bereitete ein Engländer zu mässigem Preise; man trank es eimerweise, denn der Durst war kaum zu löschen und das Wasser ungesund. Das Brun- nenwasser des salpeterhaltigen Bodens kann Niemand trinken; so ist denn Tien-tsin auf den Lehmbrei des Pei-ho und des Canales angewiesen, welche allen Unrath der Stadt aufnehmen; auch faulende Thierleichen und anderes Unsägliche schwimmen darin herum. Nicht einmal kann das Wasser in ruhigem Fluss seine dicken Be- standtheile ablagern, denn die Fluth staut es jeden Tag mehrere Stunden zu Berg, und bei Ebbe strömt es gewaltsam durch die leh- migen Ufer. Man klärt es gewöhnlich durch Umrühren mit einem Rohr, dessen durchbrochenes Ende mit Alaun gefüllt ist, oder wirft eine Handvoll davon in die grossen Wasserkrüge. Dadurch werden aber die organischen Stoffe nicht zerstört. Vielfache unter der Garnison grassirende Uebel, auch den Bandwurm, für den sich kaum hinreichende Mengen des specifischen Mittels herbeischaffen liessen, glaubten die Aerzte auf das Wasser schieben zu müssen. Der Chinese trinkt instinctiv seinen Thee und bleibt gesund, da Sieden des Wassers alle organischen Stoffe zerstört, während das bei den Engländern so beliebte Versetzen mit Branntwein keinen Schutz gewähren soll. Unser erstes Bedürfniss in Tien-tsin waren Pferde; die weite Ebene lockte zu Ausflügen, und in der Stadt watete man bei XV. Englische Garnison. Regenwetter bis über die Knie im Schmutz. Dem Gesandten stellte der Höchstcommandirende der englischen Garnison, General Sta- veley , ein Pferd arabischer Race aus dem indischen Regimente »Fane’s horse« zur Verfügung; seine Begleiter kauften tartarische Ponys, theils von Officieren, welche sie im Kriege erbeuteten, theils von chinesischen Händlern. Nützlichere Pferde mag es kaum geben: der Bau kräftig und edel, vom schönsten Ebenmaass der Glieder; der Huf unverwüstlich auf härtestem Boden; nur kranke werden vorn beschlagen. Bei der kärglichsten Nahrung bleiben diese Thiere frisch und brauchbar; sie traben zwar schlecht, gehen aber Schritt und Galopp eben so ausgiebig als unverwüstlich. — Für gute Pflege sorgten chinesische Stallknechte unter Leitung eines englischen Trainsoldaten, den unsere gütigen Nachbarn vom Haupt- quartier des »Commissariat department« dem Gesandten zuwiesen. Diese Herren leisteten uns durch ihre im Laufe des Winters ge- sammelte Erfahrung und Kenntniss der Hülfsmittel die wesentlichsten Dienste und halfen über alle Schwierigkeiten des materiellen Lebens hinweg; nur der freundschaftliche Verkehr mit ihnen und anderen Officieren der englischen Garnison machte uns den Aufenthalt in Tien-tsin erträglich, der doch Allen ein gelindes Fege- feuer schien. An englischen Truppen standen im Sommer 1860 noch gegen 3800 Mann in Tien-tsin , nämlich das 2. Bataillon des 60. Regi- ments (Rifle brigade), Abtheilungen des 31. und des 67. Infanterie-Re- giments, das Reiter-Regiment »Fane’s horse«, zwei Batterieen, eine Compagnie Ingenieure und eine Abtheilung Train. Sie waren aus- schliesslich in der Stadt und den Vorstädten des rechten Fluss- ufers einquartiert, während die französische Garnison, ein Bataillon Infanterie, zwei Batterieen, eine Compagnie Genietruppen und einige Gensdarmen das andere Ufer bewohnten. Mit dem französischen General O’Malley trat der Gesandte in keine Verbindung; dagegen besuchten General Staveley und die Herren seines Stabes, so wie die Commandeure und viele Officiere aller englischen Truppentheile ihn gleich nach seiner Ankunft. Mit ihnen entspann sich, wie ge- sagt, ein reger geselliger Verkehr, und kaum verging ein Tag, an welchem nicht englische Officiere bei dem Gesandten, oder Mit- glieder der Gesandtschaft in einer der Officiersmessen gespeist hät- ten. Auch an ihrem Sport und anderen Vergnügungen, mit denen sie tapfer den Missmuth bekämpften, nahmen wir thätigen Antheil. IV. 2 Fane’s horse. XV. Besonderes Interesse bot Fane’s indisches Reiter-Regiment. Der Commandeur hatte dasselbe als junger Officier in Indien an- geworben und bekleidete damals in der englischen Armee noch Hauptmannsrang, ist aber nachher schnell avancirt. Die Officiere waren Engländer, nur ausnahmsweise wurden Asiaten zu Lieute- nants befördert. Siks, Hindostani, Afghanen und Perser, lauter Edelleute und Fürsten in ihrer Heimath, bildeten die Mannschaft der 350 Pferde starken Truppe, die einen riesigen Tross von Leib- dienern, Stall- und Futterknechten mitführte; denn die vornehmen Krieger liessen sich bedienen. Die grösste Schwierigkeit machten dem Commandeur die Eifersucht, der nationale und religiöse Aber- glauben der verschiedenen Stämme, da Viele nach der heimath- lichen Sitte ihre Kaste verloren, wenn sie mit Fremden oder Ge- ringeren assen; er übte jedoch unbedingte Autorität und bezwang durch die Macht seiner ritterlichen Persönlichkeit jeden Widerstand. Den Siks verbietet ihr sonderbarer Cultus, sich das Haar zu schnei- den, Tabak zu rauchen und anderes Fleisch zu essen als von selbst getödteten Thieren: lebendig mussten ihnen die Hammel zu- geführt werden, welche sie eigenhändig köpften; Bart und Haar hingen, wenn sie es auf unsere Bitten einmal aus Turban und Klei- dung hervorzogen, bis zum Boden herab. Neben ihnen zeichneten sich die Afghanen durch hohe schlanke Gestalt und edel geschnittene Züge aus, die meisten von dunkeler, fast schwarzbrauner Hautfarbe und vornehm kriegerischer Haltung. Die Uniform war einfach und kleidsam: hohe Stiefel, weite Hosen und Tunica von leichtem dun- kelblauem Wollenstoff, die um den Leib geschlungene Schärpe und der faltige Turban scharlach; Patrontasche und Bandolier von schwarzem Leder mit Silberbeschlägen und den Buchstaben F. H., Fane’s Horse; die Waffen krumme Säbel und Bambuslanzen. Das Zaumzeug ist englisch, mit scharfem Gebiss, der Sattel bequem gepolstert; vorn wird der zweite Anzug über die Pistolenhalter auf- geschnallt, hinten ein Kochgeschirr und Steckpfähle. Besonders malerisch stand den dunkelen Reitern ihre ausserdienstliche Tracht von schneeweissem Muslin, und der Turban aus demselben Stoff oder buntem Kashmirshawl, in mächtigen Falten um die braunen Schlä- fen gewunden, unter denen feurige Augen hervorblitzten. Zwei Compagnieen des Regimentes hatten südlich von der Stadt ein Lager bezogen: dort standen vor den Zeltreihen ihre Pferde, den einen Hinterfuss und den Halfter an Picketpflöcke ge- XV. Fane’s horse. fesselt, meist edele Thiere arabischer und australischer Zucht; viele litten noch an Wunden aus dem Kriege, die schlimmer ge- wesen wären, wenn die Tartaren scharfe Säbel geführt hätten. Entsetzliche Narben und Verkrüppelungen zeigten die Gliedmaassen der mit Herrn Parkes und Lieutenant Anderson gefangenen Reiter, der wenigen, welche die ruchlosen Misshandlungen der Chinesen überlebt hatten. Die tief in das Fleisch schneidenden Stricke und Ketten hinterliessen Höhlungen bis auf den Knochen, die niemals wieder zuwachsen konnten. Zahllose indische Knechte trieben sich bei dem Lager herum, halbnackt oder in geraubten Trachten, von Gold und bunter Seide strotzend. — Beim Besuch des Gesandten zeigten die Reiter ihre Meisterschaft in der Lanzenführung. Ein Zeltpflock wird in die Erde gerammt; der Reiter naht in gestrecktem Galopp und hebt mit kräftigem Stoss den Pflock aus dem Boden. Die Lanze nur für den Augenblick senkend, trafen die Behenden doch jedesmal; dabei lag der Körper fast wagerecht. Dass sie den Sitz behielten, zeugte sowohl von festem Schluss als von Kraft und Biegsamkeit des Handgelenkes; denn die Lanze muss im Nu aus dem Boden gerissen werden, wenn sie nicht brechen oder den Reiter vom Pferde schleudern soll. Jeder führte die Waffe anders; es war kein eingelerntes Exercitium. Grosse Kraft und Gewandtheit bewiesen Fane’s Reiter auch bei anderen Uebungen, besonders im Schwingen mächtiger Keulen, womit sie sich im Hofe eines zum Stall umgewandelten Tao - Tempels oft die Zeit vertrieben. Dort blickte aus der reichen Ar- chitectur der Haupthalle eine Reihe fratzenhafter Goldgötzen auf die glatten Rosse nieder, ein sonderbares Bild. Die Engländer nannten ihn Teufelstempel. — Sie richteten die meisten Tempel und öffentlichen Gebäude zu Kasernen und Ställen ein, und gaben damit gar kein Aergerniss. Die Bevölkerung entging so der Ein- quartierung, wurde überhaupt von den englischen Militärbehör- den auf das äusserste geschont und zog reichen Gewinn von der Garnison. Holz- und Wassertragen, das den Franzosen gar nichts kostete, verursachte den Engländern, die Alles bezahlten, enorme Ausgaben, ebenso vieles Andere. Am meisten profitirten die ärmeren Stände. So war denn auch das Verhältniss mit den Chinesen durchaus freundschaftlich. Die Afghanen und Perser fanden als Moslems zu ihrem Erstaunen viele Glaubensgenossen in Tien-tsin , 2* Grosse Parade. XV. welche sie in der Moschee begrüssten. — Dem bunten Treiben auf der Gasse verliehen die malerischen Gestalten von Fane’s Reitern besonderen Reiz. Hier störte nicht, wie in Shang-hae , das europäische Element; denn selbst die englischen Officiere, welche ausser Dienst keine Uniform tragen, kleideten sich ohne Rücksicht auf Convenienz nach Laune und Behagen: Wasserstiefel, Kashmir- shawls, Jagdröcke, Turbane und bunte Halstücher bildeten die lustigsten Trachten. — Fane’s Officiere blieben in Tien tsin ihren indischen Gewohnheiten treu, die durchaus zum Klima passten. Ueber dem Esstisch ihres Messraumes, — einer Tempelhalle — hing die unvermeidliche »Punka«; S. Bd. I. S. 196. mehrere Officiere hatten solche auch über ihren Betten angebracht; die Schnur, an welcher der Punka-Junge die Nacht über arbeitete, war dann durch die Wand geführt, und, damit sie lautlos ging, an dieser Stelle durch ein seifenbeschmiertes Rohr ersetzt. Nicht weit von Fane’s Reitern lagerte eine Armstrong- Batterie, deren Hinterlader, damals neu, die Aufmerksamkeit der militärischen Attachés erregten. Von ihrer Genauigkeit gewannen dieselben bei den Schiessübungen keine grosse Meinung; dagegen war die Bespannung vortrefflich. Am 24. Mai, dem Geburtstag der Königin Victoria , sahen wir die ganze englische Garnison. Die grosse Parade wurde auf dem Exercirplatz unter der südlichen Stadtmauer abgehalten, wo die Truppen Nachmittags zunächst in Linie aufmarschirten: auf dem linken Flügel die Artillerie, dann Fane’s horse, die Ingenieure, In- fanterie, und auf dem rechten Flügel der Train. Nach dem könig- lichen Salut, dreimal sieben Kanonenschüssen, und dreimaligem Reihenfeuer der gesammten Infanterie brachte die Mannschaft Ihrer Majestät ein dreifaches Hurra. Der Gesandte ritt mit General Staveley und dessen Stabe die Front hinunter und hielt dann bei der königlichen Standarte, — welche die Officiere funfzehn Fuss breit aus chinesischer Seide hatten fertigen lassen, — um den Vor- beimarsch zu sehen. Das erste Mal gingen die Cavallerie und die Artillerie im Schritt, die Infanterie in Compagniefront vorbei; das zweite Mal die Reiter und die Batterieen im Galop, die Infanterie, auf halbe Distancen aufgeschlossen, im Geschwindschritt. Alle Truppen sahen trotz dem Feldzuge und sechsmonatlichem Aufenthalt in der XV. Theater. Wettrennen. Schmutzhölle Tien-tsin vortrefflich aus; vor Allem gefiel uns aber das malerisch-kriegerische Aussehn von Fane’s brauner Reiter- schaar. — Die Geschütze nahmen, mit chinesischen Maulthieren bespannt, im Galop ohne Anstoss einen breiten Graben. Keine geringe Aufgabe war es für die Officiere, der Mann- schaft und sich selbst den Aufenthalt in Tien-tsin erträglich zu machen, wo sie schon den Winter verlebten. Vorzüglich um die Soldaten in guter Stimmung zu erhalten, richteten sie mit erheb- lichen Kosten ein Theater ein, wo sie abwechselnd mit denselben spielten. Tragisches, Melodramatisches, Parodieen, Lustspiele und Possen kamen auf die Bretter; es fehlte auch nicht an Dichtern, die Couplets machten voll Anspielungen auf den Krieg und den Garnison-Klatsch. Den Soldaten zu Liebe spielten auch die Offi- ciere oft Rührstücke mit zarten Frauenrollen, bei denen sie selbst wohl Thränen lachten, während Jene Alles sehr ernst nahmen; ihr eigenes Vergnügen fanden sie an der Komik, und zeigten dazu vor- zügliche Begabung. Possen gaben sie meisterhaft, auch die Frauen- rollen, zu denen sich junge Officiere fast verführerisch aufzu- putzen wussten. — Das Local war ein den Officieren der Garni- son vom Obercommando als Ressource überwiesenes chinesisches Theater; sie statteten die Bühne mit selbstgemalten Decorationen aus und richteten ein Orchester ein. Im Zuschauerraum stan- den vorn einige Bänke für die Officiere; das weite Parterre dahinter besetzten die Soldaten. Oft mussten die Vorstellungen wiederholt werden, um dem Andrang zu genügen. Kostüme und Requisiten waren glänzend; aus den mässigen Eintrittspreisen konnten die Kosten kaum bestritten werden, die Unternehmer schossen wohl namhafte Summen zu, und leisteten wahrhaft Er- staunliches. Zur Pflege des Sport hatten die englischen Officiere einen Club gestiftet, den sie mit indischem Ausdruck Džim-kana nannten. Graf Eulenburg und seine Begleiter wurden gleich nach ihrer An- kunft zu Ehrenmitgliedern berufen und wohnten regelmässig den Wettrennen bei, welche der Club jeden Sonnabend veranstaltete. Die Rennbahn war südlich von Tien-tsin innerhalb Saṅ-ko-lin- sin ’s Umwallung abgesteckt, wo in geräumigem Zelt die Zeichnun- gen angenommen und alle strengen Regeln des Sport in bester Form gehandhabt wurden. Oft liefen die Wetten zu bedeutender Höhe: da gab es Rennen für arabische, englische, australische, tar- Ackerbau. XV. tarische Pferde, Hürdenrennen, Handicaps, Steeple chase, doppelten Sieg u. s. w. Zuweilen wurden Taubenschiessen, Lotterieen und anderer Zeitvertreib zwischen den Rennen eingeschoben. Wie jeder Brite nahmen auch hier die Soldaten den lebendigsten Antheil; fast die ganze Garnison pflegte sich auf dem Rennplatz einzufinden, ein buntes lustiges Treiben. — Auch Cricket spielten die Engländer mit grosser Leidenschaft und Gewandtheit. Des Gesandten Hausstand bildeten in Tien-tsin ausser seinen deutschen Dienern ein chinesischer von Shang-hae mitgenommener Koch und fünf eingeborne Hausknechte. Sechs Seesoldaten von der Arkona dienten als Ordonnanzen. Die drei Attachés, Dr. Lu- cius und Maler Berg wohnten beim Gesandten als dessen Gäste; andere Expeditionsmitglieder, die nur vorübergehend nach Tien- tsin kamen, wurden in einem zweiten zu diesem Zweck gemietheten Hause einquartiert. — Unser Leben passte sich dem Klima an: Morgens ging Jeder seiner Beschäftigung nach; um elf Uhr war gemeinschaftliches Frühstück, die Hauptmahlzeit nach sieben, später sogar erst um halb neun in dem durch Papierlaternen erhellten Hofe. — Gegen sechs Uhr ritten wir fast täglich mit dem Ge- sandten aus und kamen erst kurz vor Tisch nach Hause. Nach allen Richtungen wurde die Umgebung durchstreift. Dörfer giebt es bei Tien-tsin nur an den Wasserläufen, doch ist auch in anderen Richtungen das Land gut angebaut, und es nimmt Wunder, wie die Bestellung oft auf so grosse Ferne ge- schieht. Ende Mai, als die Staubwinde nachliessen, spross das Grün in erstaunlicher Fülle. Viele Stellen blieben, mit Salz oder Salpeter gesättigt, den ganzen Sommer kahl; silbern glänzten dort die Krystalle an der Oberfläche, so dass der Boden wie bereift schien. Die meisten Aecker hatten, mit Gerste und Zwiebelgewächsen bestellt, Einfassungen von Bohnen. Bei der Gersten-Ernte, Ende Juni, kamen weder Sichel noch Sense in Anwendung; der Land- mann riss die Halme mit der Wurzel aus und warf sie auf Schieb- karren. Sieben Wochen vergingen vom Umpflügen bis zur Ernte, und man schritt dann gleich zu neuer Bestellung, um eine zweite zu gewinnen. In den Gärten am Wasser gedieh der Pflanzenwuchs zu tropischer Ueppigkeit; dort rankte der Weinstock an freien XV. Strassenleben. Spalieren, wuchsen prächtige Weiden, Sophora japonica, Rhamnus zizyphus und andere Bäume in gesunder Kraft. Als die Ebene grünte, fiel ihre Baumlosigkeit doppelt auf; der Salpeter des Bo- dens soll allen Pfahlwurzeln verderblich sein. Der Horizont gleicht ringsum der Meereslinie; nur einmal sahen wir, wahrscheinlich durch Luftspiegelung, im Westen einen Höhenzug, wo sonst die Ferne ganz eben erschien. — Eine malerische Staffage bilden die zwei- rädrigen Karren, die man allerwegen trifft: der sorgfältig gefügte Kasten trägt gewöhnlich ein gewölbtes, mit blauem Stoff bezogenes Schutzdach; in der Scheere geht ein starkes Maulthier, vor welches häufig ein zweites gespannt wird. Ein Sonnensegel schützt das Thier und den Kutscher, der mit baumelnden Beinen auf einem Schaft der Scheere sitzt. Nur eine Person findet bequem Platz, aber keinen bequemen Sitz in der Karre; denn man kauert am Bo- den und empfindet jeden Stoss des federlosen Fahrzeuges weit heftiger, als auf einer Bank. — Segelnde Schiebkarren, die von anderen Reisenden beschrieben werden, sind bei Tien-tsin selten; das etwa drei Fuss breite Segel wird durch Schnüre in der Hand des Schiebenden gelenkt. So sehr wir auf den täglichen Ausflügen von Staub und Hitze litten, so war es doch immer Gewinn, den Wohlgerüchen der Stadt zu entrinnen. Die englischen Commandeure suchten ver- gebens die Chinesen zu Reinlichkeit anzuhalten; in den engen dunkelen Gassen stagnirten die ekelsten Dünste. Auf den Müll- und Kehrichthaufen vor den Häusern wälzen sich nackte schmutzige Kinder und kranke Hausthiere; an allen Ecken kauern Bettler, von Schmutz und Elend strotzend; Krüppel mit jammervoll verzerrten Gliedmaassen, mit offenen Beulen, Geschwüren und Ausschlag kriechen winselnd von Lager zu Lager, räudigen Hunden und Schweinen die aus dem Unrath aufgewühlten Abfälle streitig machend. Im Stadtgraben stand dicke schwarze Jauche, mephitischen Qualm ath- mend. Nach Regengüssen unergründlicher Koth, oft fusshohes Wasser: alle Abzugsgräben waren verstopft, und wenn die Sonne in den Brei schien, wurde der Gestank unerträglich. Dazu ein dichtes Gewühl schreiender Krämer und Höker; Büsser, die jäm- merlich heulend, mit einer Schuhsohle die blosse Brust schlagen, Lastträger und Wasserkärrner, die sich brüllend Bahn brechen, eng- lische Soldaten, die auf Eseln im Galop durch das Gewimmel zu jagen suchen. Man drängt sich mühsam durch und streift viel Strassenleben. XV. unsaubere Gestalten. Wehe dem, der einer Sänfte oder einem Leichenzuge begegnet; er muss umkehren oder sich in die Häuser drücken. Die Vermögenden werden mit Gepränge bestattet; ein bunter Haufen schreitet voran, Stangen mit Emblemen, Fahnen, Flitterkronen und reichgestickte Baldachine tragend; dann folgen Musikanten mit Becken, kleinen Trommeln und Gongs, Dudelsäcken und riesigen Hörnern, welchen gedehnte Trauerklänge entlockt werden; bei aller Dissonanz wird ziemlich rythmisch gespielt. Den mit Seidenzeugen verhängten Sarg tragen wohl zwanzig Männer auf einer Bahre; dahinter folgen die Leidtragenden weissgekleidet in weiss bezogenen Sänften. Wo ein Plätzchen frei ist auf der Strasse, sitzt ein Höker mit Leckereien und einem Glücksspiel; denn die Chinesen sind eingefleischte Spieler. Das Kind, das einen Heller zu vernaschen hat, wagt unfehlbar den wahrscheinlichen Verlust, in der Hoffnung, über seinen Werth zu gewinnen. Zuweilen ist es eine Drehscheibe nach Art des Roulette, gewöhnlich aber ein Becher mit Holzstäben, ähnlich den Orakelbechern auf den Tempelaltären; am unteren Ende der Loos-Stäbe steht das Schicksalszeichen. Der Hang zu Glücks- spielen lebt in allen Volksclassen: zu heissen Tagesstunden findet man in schattigen Winkeln Haufen zerlumpter Bettler, leidenschaft- lich in ihre schmutzigen Karten vertieft; oft setzt es da wüthenden Zank und Schlägereien. — Das furchtbare Elend, das in Tien-tsin allerwärts zu Tage liegt, veranlasste die englischen Officiere zu einer Geldsammlung; 900 Dollars kamen zur Vertheilung, bei welcher mehrere Empfänger erdrückt und zertreten, andere von leer ausgehenden Bettlern erschlagen wurden. Dem Nothstand ist nicht zu steuern, und das Uebergewicht des besitz- und obdachlosen Proletariates ist für China eine Gefahr, die bei der kleinsten Er- schütterung an das Licht tritt; die Executive wäre nimmer fähig, diese Massen im Zaum zu halten, wenn sie ihre Kräfte kennten, bewusste Zwecke und tüchtige Führer hätten. — Es giebt in China verschiedene Classen von Bettlern. Den vornehmsten Rang behaup- ten die rüstigen, gesunden, die wohl Kraft aber keine Lust haben zur Arbeit; sie leben in Banden, stehlen — und morden vielleicht — wo sie können, und beschliessen oft ihre Tage unter Hen- kers Hand. Zuweilen sammelt sich solche Schaar vor einem Kauf- laden, verstopft den Eingang, hämmert mit Steinen und Stöcken auf den Ladentisch oder stimmt ein klägliches Geheul an, und lässt XV. Kaufläden. keine Käufer durch, bis der gefolterte Krämer sie abfindet. — Die Wittwen mit vaterlosen Waisen, deren Verwandtschaft wohl nicht immer zu beweisen wäre, bilden eine andere Gattung; ferner die Alten, Kranken, Blinden, Lahmen und Verwachsenen, die theils wirklich Mitleid verdienen, theils ihre Schäden künstlich erzeugen und pflegen. Dann giebt es Erzähler, Sänger und Citherspieler, — die vielfach blind, durchgängig aber reinlicher und besser gekleidet sind als die anderen Bettler. Abends brennen vor Läden und Schenken bunte Laternen; die Bewohner sitzen schwatzend in den Thüren; das lärmende Treiben hat aufgehört, und die Gassen machen, in mildes Dämmer- licht getaucht, den behaglichsten Eindruck. Hier und da versam- meln sich Gruppen um einen Erzähler, der, hinter beleuchtetem Tische stehend, seine gemessene Declamation mit emphatisch graziösen Fächer-Schwenkungen begleitet: man hört ihm an- dächtig zu. Die ärmeren Classen bewohnen niedrige Häuser aus Lehm und Holz, theils mit Ziegeln, theils mit Stroh gedeckt, über wel- chem eine dicke Lage geglätteten Lehmes liegt; ein Obergeschoss haben nur wenige. Es giebt auch flache Dächer aus grauem mit Asphalt gemischtem Mörtel. In den besseren Gassen ist jedes Haus ein Kaufladen: geschnitzte, vergoldete, gemalte Schilder mit Inschrif- ten, Ladenzeichen und Emblemen bieten dicht bei einander hängend den buntesten Anblick; zuweilen stehen hohe Steinpfeiler, das Dach um das Doppelte überragend, vor den Läden, mit elegant ge- meisselten Schriftzeichen und einem Zierrath auf der Spitze, der ein niedliches Häuschen darstellt. — Die besten Kaufläden lagen in der Hauptstrasse der nordöstlichen Vorstadt; da gab es Kramläden aller Art, Seiden-, Gold-, Pelz-, Schuh- und Kleiderläden. In letzteren, wo meist gebrauchte Kleider verkauft wurden, war fast beständig Auction; eine gaffende Menge pflegte davor zu stehen; der Ausrufer hatte einen grossen Kleiderhaufen neben sich liegen, hob, mit lau- ter Stimme den Preis hinausschreiend, ein Stück nach dem andern in die Höhe und legte es, wenn Niemand bot, auf einen anderen Haufen. So ging es Tag für Tag, und so kam, obgleich nur Ein- zelnes gekauft wurde, wohl an jedes Stück einmal die Reihe. Mehrere dieser Handlungen liegen oft neben einander, und die Aus- rufer trachten einander zu überschreien. Auch Zopfläden giebt es in dieser wie in allen belebten Strassen chinesischer Städte; denn Trödelbuden. XV. ein schöner bis zu den Knieen herabhangender Zopf, gleichviel ob falsch oder echt, ist der Stolz jedes Chinesen. Uns fesselten nur die Trödelbuden, wo Gegenstände von Bronce, Lack, Porcelan, Glasfluss, Email, Jade und anderem kost- barem Stein zu Kauf standen. Manchmal fand man werthvolle Stücke; die Anhäufung von Gegenständen aus den verschiedensten Blütheperioden war lehrreich für die Kenntniss des chinesischen Kunsthandwerks. Da standen neben einander Gefässe aus der Zeit der älteren Dynastieen, der Miṅ und der Tsiṅ , jede Periode mit deutlich ausgeprägtem Typus der Form, Zeichnung und Malerei. In grosser Menge waren die früher gebräuchlichen Mandarinen- Scepter von grünem Jade, Sandelholz oder rothem Lack vorhan- den, viele von ausgesuchter Arbeit. Theekannen von Thon, Por- celan, Metall spielten auch hier eine Rolle; die Broncen, meist fratzenhafte Thiergestalten und Götzen, Rauch- und Kohlengefässe, kommen an Schönheit weder der Form und Arbeit, noch des Me- talles den japanischen gleich. Von Jade, dem kostbaren Stein aus Turkestan , welchen der härteste Stahl nicht ritzt, sahen wir voll- endete Arbeiten, die jeder Sammlung würdig, aber sehr theuer waren; der Werth richtet sich in China vorzüglich nach der Farbe, welche milchig weiss, gelblich, hell- oder dunkelgrün ist; am mei- sten schätzt man den Farbenton frisch angeschnittenen Speckes. Aus diesem Stein und aus Porcelan gefertigt standen in jeder Trö- delbude Hunderte kleiner Fläschchen von der Länge und Dicke eines Daumens: das sind die chinesischen Schnupftabaksdosen, in denen grosser Luxus getrieben wird Sie veranlassten in neuerer Zeit einige Aufregung unter den Aegyptologen, da Alterthumshändler in Kaïro solche unter dem Vorgeben verkauften, dass sie aus an- tiken Gräbern stammten. Nun lässt sich aber der viel neuere Ur- sprung dieser Gefässe durch Vergleichung nachweisen, und es möchte schwerlich gültiges Zeugniss beizubringen sein, dass deren wirklich in Gräbern gefunden wurden. Der Verkehr beider Länder in uralter Zeit, den man daraus folgern wollte, ist gewiss eine Fa- bel; und wenn solche Fläschchen vor Einführung des Tabaks in China anderen Zwecken dienten, so mögen deren durch ara- bische Reisende nach Aegypten gelangt sein, aber nicht früher. Wir sahen Porcelan, auch Craquelée der verschiedensten Art: da waren ältere Gefässe von einfacher, fast strenger Form mit steifer markiger Zeichnung, italienischem Trecento ähnlich; dann XV. Trödelbuden. Vasen aus der Miṅ -Zeit, mit schönem Blumen-Ornament auf dunkelrothem Grunde und figuristischen Darstellungen von reicher Composition, höchster Anmuth in Ausdruck und Gebehrde, und zar- tester Ausführung; andere mit tiefglühender unter der Glasur ein- gebrannter Malerei, deren technisches Geheimniss jetzt auch in China verloren zu sein scheint. Es giebt jedoch solcher farben- prächtiger Gefässe noch aus Kien-loṅ ’s grosser Zeit, die, ihr eige- nes Gepräge tragend, sich in Darstellung reichen Blumenschmuckes auf hellem Grunde gefiel. Besonders merkwürdig sind viele Emails dieser Periode, die, nach französischen Zeichnungen gefertigt, Land- schaften mit Schäferscenen im Geschmack von Watteau und Lancret darstellen; man könnte an ihrem chinesischen Ursprung zweifeln, wenn kein Fabrikzeichen vorhanden wäre. Von dieser Art glatter Emaille strotzten alle Trödelbuden in Tien-tsin , ebenso von der- jenigen, welche nur stellenweise auf Goldbronce angebracht, sich vorzüglich an Tempelgeräth, Leuchtern und Rauchgefässen findet. Die seltenste und theuerste ist die »Cloisonné« genannte Gattung, die, vor 1860 in Europa wahrscheinlich nur durch wenige Stücke vertreten, selbst vielen Sammlern kaum bekannt war. Erst die Plünderung von Yuaṅ-miṅ-yuaṅ förderte Schätze davon zu Tage, die sich seitdem rasch über Europa verbreiteten. Beim Cloisonné bilden Linien von Goldbronce die Umrisse der Zeichnung; die Zwischenräume sind mit Glasfluss von grosser Härte und den herr- lichsten Farben ausgefüllt; es ist, im Gegensatze zur Malerei des glatten Email, eine Art Mosaik. In China muss die Technik durch viele Jahrhunderte geübt worden sein, denn auch in dieser Gattung lässt sich sowohl in der Form der Gefässe, als in Zeichnung und Charakter des Ornamentes, Consistenz und Farbe des Glasflusses das Gepräge weit auseinanderliegender Blütheperioden nachweisen. Einen solchen Reichthum an Producten des chinesischen Kunst- fleisses aller Zeiten, wie damals in Folge der Plünderung von Yuaṅ- miṅ-yuaṅ die Läden von Tien-tsin und Pe-kiṅ , hatten vielleicht niemals chinesische Städte aufzuweisen. Man brachte dort, eine Tasse Thee nach der anderen schlürfend, manche angenehme Stunde zu, und wiederholte gern den Besuch, neue Erwerbungen zu sehen. Die Concurrenz der Engländer schraubte die Preise weit über ihr landesübliches Niveau, doch liessen sich, im Vergleich des Werthes in Europa , noch vortheilhafte Ankäufe machen. Das Beste besassen freilich die englischen Officiere, die es theils von franzö- Tompel. XV. sischen Soldaten, theils aus der nach der Plünderung im Lager bei den Lama-Tempeln gehaltenen Auction erstanden, Vieles auch von Chinesen kauften. Wir sahen bei ihnen auch herrliche Stücke, die sie in den Tempeln und Pfandleihen verlassener Ortschaften und selbst in Yuaṅ-miṅ-yuaṅ erbeuteten; denn als Lord Elgin die Zer- störung des Sommerpalastes beschlossen hatte, durften englische Officiere dort vorher eine Nachlese halten, deren Ertrag nicht zur Versteigerung abgeliefert wurde. Oeffentliche Gebäude von Bedeutung giebt es kaum in Tien- tsin . Die reichste Architectur zeigen die Tempel und ihre Portale, die meist im Häusergewirr eingeengt liegen; einige haben lange Avenuen, mit mehreren Pforten aus lackirtem Holz mit Ziegel- dächern. Oft bilden die Portale ansehnliche Gebäude mit Ober- geschoss und Altan, mit geschnitzten, gemalten, vergoldeten, Balustraden, Friesen und Zierrathen; hölzerne Säulen tragen die schwere geschweifte Ziegel-Bedachung, deren hohe First und herab- laufende Kanten aus feinem Mörtel gezogen, mit aufgerollten Drachen- schwänzen und grotesken Thieren geschmückt sind. Andere Pforten bilden vier in einer Linie stehende durch Querbalken verbundene Holzsäulen, zwischen welchen unter dem künstlichen Dachstuhl Rahmen mit durchbrochenem Schnitzwerk und Inschriften eingefügt sind. Mehrere Blätter des VI. Heftes der »Ansichten aus Japan , China und Siam« bringen Darstellungen dieser Architectur. Solche Portale stehn oft seitlich in der Strasse, von welcher ein reichverziertes Mäuerchen den Tempelzugang scheidet. Hohe rothe Masten, an denen bei Festlichkeiten bunte Banner und La- ternen hängen, sieht man bei jedem grösseren Tempel. Das Innere der Tempel in Tien-tsin gleicht den früher be- schriebenen; der merkwürdigste ist der in der Nordwest-Ecke der Stadt gelegene, von den Engländern »Tempel der Gräuel« benannte. In mehreren Seitengebäuden des Vorhofes sind dort die Strafen des Jenseits durch geschnitzte roh angestrichene Holzfiguren grauenhaft versinnlicht. Da wird ein Mann mitten durchgesägt, einer Frau die Zunge, einer anderen die Brust ausgerissen u. s. w. Das Haupt-Idol, eine roh angestrichene Holzpuppe, soll einen be- rühmten Kaiser darstellen. — An Festtagen kamen viele Büsser, gelbe oder rothe Papierblätter vor der Stirn, auf denen wahrschein- lich ihr Sündenregister stand, und Bündel glimmender Rauchkerzen in den Händen; mit scheinbarer Zerknirschung warfen sie sich, die XV. Die Stadtmauer. Glieder verrenkend, vor dem Altar nieder. Andere rutschten auf den Knieen die mehrere hundert Schritt lange Steinbahn bis zum Tempel hinan, einen Ziegelstein vor sich umkantend, um dann den Körper nachzuziehen. — Im innersten Heiligthum tobte das Volk ohne Scheu und Ehrfurcht, ein roher Haufen voll Schmutz und Elend. Einigen Reiz bot bei günstigem Wetter ein Spaziergang auf der Ringmauer, da man, mit einigem Klettern über eingesunkene Stellen, um die ganze Stadt wandern konnte. Nach aussen schweift der Blick über die Vorstädte, den Mastenwald im Pei-ho und die grenzenlose Ebene; im Innern ragen aus dem Häusermeer nur das Thorgebäude im Mittelpunct, einige Tempelportale, Flaggenmasten und viele Mattendächer, welche im Sommer über Höfen und öffent- lichen Plätzen aufgebaut werden. Das hohe Mastengerüst trägt ein leichtes Rahmenwerk aus Bambus, auf welchem die Mattenbedachung liegt; an die Ost- und die Westseite lehnen schiefliegende Gerüste, deren Mattenwandung nach Bedürfniss durch Schnüre aufgerollt werden kann. Ohne diese Schutzdächer machte die brennende Sonne den Aufenthalt im Freien unmöglich. — Man blickt von der Stadtmauer in viele Höfe, wo unter dem Staube Wein und Akazien grünen; besonders anziehend war die Aussicht vom Ost- thor in die belebte nach dem Mittelpunct der Stadt führende Hauptstrasse. S. das VI. Heft der »Ansichten aus Japan , China und Siam .« In den Thorgebäuden und den Eckthürmen lagen Massen alter Pickelhauben, Säbel und Uniformstücke, modernde Klumpen von Rost und bunten Lappen. Anfangs verleidete der mephitische Hauch des Stadtgra- bens die Spaziergänge auf der Mauer; General Staveley ersuchte den Tau-tae vergebens, die Pfütze räumen zu lassen. Im Mai sollten aber die öffentlichen Prüfungen des Bezirkes in der von den Engländern zur Kirche eingerichteten Examinationshalle stattfinden, und die Stadtbehörden baten, das Gebäude nach seiner Bestimmung benutzen zu dürfen. Das erlaubte General Staveley unter der Be- dingung, dass sie den Graben räumten. — Die Prüfungen wurden gehalten; die Namen der Bestbestandenen prangten bald an allen Strassenecken, und unsere Nasen athmeten freier. Da die in der Stadt liegenden Truppen zu ihrem Exercir- platz immer einen langen Weg durch übelriechende Gassen hatten, Feuersbrünste. XV. so liess General Staveley ein Stück der südlichen Stadtmauer ein- reissen; der kürzeste Weg führte durch diese Bresche. Nach eini- gen Tagen erschien eine Deputation bei dem General: er gebe durch Niederlegung der Mauer die Stadt der Vernichtung preis; denn die Genien des Feuers stürmten aus Süden heran und verzehrten Alles, was auf der graden Linie ihres Weges läge. — In der That haben alle südlich gewendeten Stadtthore in China keinen directen Zu- gang von dieser Seite; immer ist ein Hof vorgebaut, in den man seitlich von Osten oder Westen einbiegt, so dass der Weg eine Schlangenlinie beschreibt. Nun waren unmittelbar nach Nieder- legung jenes Mauerstückes sieben Feuersbrünste im Innern der Stadt ausgebrochen, und, des alten Aberglaubens eingedenk, gerieth die Bevölkerung in arge Bestürzung. General Staveley wurde gebeten, wenigstens einen Hof mit seitlichem Eingang vor die Oeffnung bauen zu lassen, überliess das aber den Chinesen, die sich nach Belieben schützen möchten. Feuersbrünste gab es bei der starken Hitze vielfach. So gingen in der Nacht zum 7. Mai die französischen Artillerie-Ställe jenseit des Flusses in Flammen auf. Obwohl Hülfe gleich zur Hand war, verbrannten neunundzwanzig Pferde; andere, die man loskoppelte, rasten scheu durch die Gassen und rannten viele Chi- nesen um. Zum Glück war die Munition der beiden Batterieen, bis dahin in einem Hause neben den Ställen untergebracht, das gleich- falls abbrannte, den Tag vorher zum Transport nach Ta-ku in eine Dschunke verladen worden; so entging die Stadt einer grossen Gefahr. — Am 12. Juni Mittags brach Feuer im Messlocal des englischen 67. Regimentes aus und wuchs so schnell, dass weder Tischgeräth noch Vorräthe zu retten waren. Das grosse Matten- dach über dem Hofe brannte, von der Sonne ausgedörrt, wie Zun- der lichterloh und strahlte solche Hitze, dass binnen einer halben Stunde alle umliegenden Gebäude, — die Mess- und Leseräume, Küchen und Vorrathshäuser — Aschenhaufen wurden. Das Offi- ciercorps verlor dabei herrliche Tafelaufsätze aus der Beute des Sommerpalastes. — Die Chinesen, die grosse Passion für Feuers- brünste haben, erschienen zum Löschen in dichten Haufen und ar- beiteten tapfer, lärmten aber noch mehr. Es geht dabei sehr lustig zu: vor jeder von zwei Mann getragenen Feuerspritze tanzen ein Dutzend Burschen in buntester Tracht, die rasend auf ihre Gongs schlagen, rothe Fahnen schwenken und brüllend die wil- XV. Bewegungen der Expeditionsmitglieder. desten Luftsprünge machen. Einige tragen räthselhafte Embleme. Das Toben soll wohl die Feuergeister verscheuchen; denn der Chi- nese ist über die Maassen wundersüchtig und packt alle Dinge von dieser Seite an. — Reizend ist das Schauspiel Abends: dann er- hellen tausend Papierlaternen die Gassen, theils einzeln auf Stöcken, theils als Gehänge an hohen Stangen getragen, oft in schirmförmiger Anordnung, — wobei an den einzelnen Stäben des Regenschirmes winzige bunte Lämpchen herabhängen, — und hundert phantastischen Formen. In solchen Erfindungen ist der Chinese Meister; Feuer- und Lichtglanz sind seine Wonne. Bald nach der Ankunft in Tien-tsin brachen der Prediger Kreiher und Herr Wilhelm Heine aus New-York unter americani- schem Pass mit einigen Missionaren nach Pe-kiṅ auf, von wo sie am 15. Mai zurückkehrten. Herr Heine ging am 29. Mai abermals dahin, um durch Sibirien nach Europa zu reisen, fand aber die von der chinesischen Regierung bereiteten Hindernisse unüberwindlich und kehrte am 28. Juni nach Tien-tsin zurück. Er blieb dort nur bis zum 3. Juli, ging dann von Ta-ku aus auf einer englischen Brigg nach Naṅgasaki und kam mit der preussischen Expe- dition in keine weitere Berührung. — Auch der Kaufmann Spiess machte einen kurzen Besuch in Tien-tsin und Pe-kiṅ , ging dann nach dem Süden und erwartete das Geschwader in Hong-kong . — Der Photograph Bismarck arbeitete in Tien-tsin längere Zeit so angestrengt, dass er erkrankte und Anfang Juli auf die Arkona übersiedeln musste, die von Tši-fu Ende Juni nach der Pei-ho - Mündung zurückkehrte. — Bei den im Mai herrschenden Stürmen war ihr Aufenthalt auf der Rhede von Ta-ku höchst unbequem und nutzlos, die Verbindung mit dem Lande oft Tage lang unter- brochen, noch schwieriger der Verkehr mit Tien-tsin gewesen. Gingen nicht Kanonenboote, so musste die Strecke zu Lande ge- macht werden, denn die lange Fahrt auf dem Fluss war für Ruder- boote des Fluthwechsels wegen selbst stromabwärts mühselig. Bei heftigem Winde liefen sogar Kanonenboote nur mit Gefahr über die Untiefen der Rhede. Der englische Dampfer Sphinx, der Mitte Mai vor Ta-ku erschien, konnte mehrere Tage nicht einmal die Post landen. Eine reisbeladene Brigg strandete auf der Barre Arkona und Elbe vor Tši-fu . XV. und wurde leck; der Reis quoll, das Schiff barst und wurde von den Wellen zerschlagen. Aehnliches geschah öfter. Da nun die Arkona vor Ta-ku den Zwecken des Gesandten gar nichts nützen konnte, so segelte Capitän Sundewall am 15. Mai nach Tš-fu . Unterwegs begegnete er der Elbe und dirigirte sie eben- falls dahin. Dort gestaltete sich der Aufenthalt sehr vortheilhaft; die Schiffe konnten nah dem Lande ankern; frische Lebensmittel gab es in Fülle; auf einer kleinen Felseninsel vor der Bucht ward ein Lager aufgeschlagen, wo immer ein Theil der Mannschaft cam- pirte. Witterung und Oertlichkeit waren auch den Schiessübungen und anderen Exercitien günstig, so dass der Aufenthalt in Tši-fu , wo Arkona und Elbe später noch längere Zeit ankerten, nicht nur die gute Stimmung und die Gesundheit, sondern auch die militä- rische Ausbildung der Mannschaft wesentlich förderten. Nachdem Arkona nach der Rhede von Ta-ku zurückgekehrt war, kamen am 25. Juni Capitän Sundewall , die Lieutenants zur See Behrend , Graf Monts und von Schleinitz und die Aerzte Dr. Eitner und Dr. Friedel auf kurze Zeit nach Tien-tsin . Dort begann die Hitze eben fürchterlich zu werden, und die Aussichten auf den Vertrag waren sehr trübe. Das dem Gesandten gleich nach seiner Ankunft überreichte Schreiben des Prinzen von Kuṅ meldete, dass Derselbe über die preussischen Anträge an den Kaiser berichtet und die Ernennung von zwei Commissaren erwirkt habe, welche in Tien-tsin mit ihm in Verhandlung treten sollten. Als Hauptbevollmächtigter wurde Tsuṅ-luen , Mandarin des rothen Knopfes ohne Emblem, also ersten Ranges, Vice-Director der kaiserlichen Speicher, bezeichnet, einer der vier Staatsräthe, die mit dem Prinzen von Kuṅ das Mi- nisterium des Auswärtigen bildeten; der zweite war Tsuṅ-hau , In- tendant des Handels und der Steuern in den drei nördlichen den Fremden geöffneten Häfen, welcher in Tien-tsin wohnte und die Beförderung des vom Attaché von Brandt überreichten Schreibens besorgt hatte. Tsuṅ-hau , ein stattlicher Mann von 36 Jahren, un- gezwungener Haltung und glatten Manieren, machte dem Gesandten am Tage nach dessen Ankunft einen Besuch, den er eine Viertel- stunde vorher durch zwei Mandarinen vierter Classe anmelden liess. XV. Tsuṅ-hau . Nach der gewöhnlichen Einleitung über das Wetter, des Gesandten Reise u. s. w. erklärte er, dessen Gegenwart sofort nach Pe-kiṅ melden zu wollen. Der erste Commissar werde dann gleich in Tien-tsin erscheinen. Herr Wade , der Secretär der britischen Gesandtschaft, hatte ihm von der nahen Verwandtschaft des preussischen und des englischen Königshauses erzählt; er knüpfte daran Fragen über die Lage und das Klima von Preussen , die Grenzbeziehungen zu Russland u. s. w. Auf der Karte von China war einer seiner Begleiter gut bewandert; Tsuṅ-hau besah, wahr- scheinlich zum ersten Mal in seinem Leben, mit Staunen die nach Angaben des Consuls Meadows darauf verzeichneten Züge der Tae-piṅ , die sich wohl über die Hälfte des eigentlichen China er- streckten. Er erzählte, dass Saṅ-ko-lin-sin in Šan-tuṅ den Salz-Dschunken-Rebellen die Spitze biete, vermied aber von deren bedenklichem Vordringen gegen Pe-kiṅ und der Zusammenziehung von Truppen zu reden, die in Tien-tsin das Tagesgespräch waren. Tsuṅ-hau gab sich als Tartaren zu erkennen, sprach jedoch fertig chinesisch: das müssten selbst alle in der Tartarei angestellten Mandschu-Beamten. — Graf Eulenburg glaubte damals noch, Tsuṅ-hau seines Ranges wegen nicht als Bevollmächtigten zu po- litischen Verhandlungen anerkennen zu dürfen, empfing ihn deshalb nur wie einen zu seiner Begrüssung erscheinenden Beamten und vermied jede geschäftliche Discussion; später zeigte sich, dass seine Stellung als Intendant des fremden Handels ihn allerdings zum Com- missar qualificirte. Am 5. Mai erwiederte Graf Eulenburg den Besuch mit dem Dolmetscher Herrn Marques und dem Attaché du jour. Die von Herrn Probst besorgte grüne Sänfte und die Kostüme der Träger leisteten auch in Tien-tsin gute Dienste. Es ging nach der inneren Stadt durch enge riechende Gassen. Am Eingang des Yamum stand Tsuṅ-hau ’s Capelle, die den Gesandten mit Trompeten, Cymbeln und Clarinetten anschmetterte; von der Sänfte führte ihn der Wirth in ein auf den inneren Hof mündendes Gemach, wo der übliche Imbiss aufgetragen war; an den Wänden hingen gute Thier- und Blumenstücke; Luxus zeigte sich nur in der Menge der Diener, deren Anzüge reinlich und anständig waren, wie das ganze Haus. Die assistirenden Mandarinen dritten und vierten Ranges trugen lange Röcke von schwerer Seide, auf deren Brust und Rücken ge- stickte kaiserliche Drachen prangten, eben so Tsuṅ-hau , um dessen IV. 3 Tsuṅ-luen . XV. Hals eine lange Kette grosser Email-Perlen hing. Seine Hände waren weiss und glatt, die Nägel wohl gepflegt, der des kleinen Fingers fast einen Zoll lang: das sind in China Zeichen des vor- nehmen Mannes, der seine Hände nicht brauchen darf. Am Dau- men trug Tsuṅ-hau einen breiten Ring von weissem Jade. Er unterhielt sich mit dem zu seiner Linken sitzenden Gesandten un- gezwungen über Landessitten, Natur und Kunst. Die Collation aus Früchten, Backwerk, Gemüse, Schinken und Süssigkeiten war auf zierlichen Schüsselchen angerichtet; das Eingemachte und über- zuckerte Mandeln schmeckten gut, die meisten Gerichte aber recht fade. — Einige Tage nach diesem Besuch schickte Tsuṅ-hau dem Gesandten ein gebratenes Spanferkel, zwei gebratene Enten, Kuchen, Früchte und candirte Nüsse, und erhielt als Gegengabe einen Korb Champagner. Am 8. Mai traf der erste Commissar Tsuṅ-luen in Tien-tsin ein und besuchte am folgenden Tage den Gesandten; ein kleiner beweglicher Mann von siebzig Jahren, dessen Antecedentien von schlechter Vorbedeutung für die Verhandlungen waren. Ihn hatte man schon früher ins Feuer geschickt, wo es sich um Abweisung von Gesandten handelte; seine Berichte an den Kaiser über die 1854 mit Sir John Bowring gepflogenen Berathungen gaben ange- nehmen Aufschluss über seine Schätzung der Barbaren; Kaiser Hien-fuṅ wusste, dass er sich keiner Inconsequenz, keines Wort- bruches schämte, wo es seinen Vortheil und Ueberlistung der Frem- den galt. — Beim ersten Besuch sprach er mit grosser Volubilität von seinen Geschäften: neben den Functionen im Ministerium des Auswärtigen läge ihm die Versorgung der Hauptstadt mit Getreide ob; die Unsicherheit der Zufuhren, welche die Rebellen häufig ab- schnitten, machte ihm viel Sorge; Pe-kiṅ brauche jährlich 4,000,000 Pi-kul Reis. Auf die Frage, warum die Regierung nicht kräftiger einschreite, antwortete Tsuṅ-luen , dass sie kein Geld habe, deutete auch an, dass der Himmel selbst sich einmischen werde. Er that überhaupt sehr fromm, verdrehte bei Erwähnung der angeordneten Gebete um Regen die Augen und erhob feierlich die Hände: die furchtbare Dürre lasse schlechte Ernten befürchten. Die Rede kam auf die grosse Gefahr, in welcher die Stadt beim Brande der französischen Artillerie-Ställe schwebte: wer ein reines Gewissen habe, meinte Tsuṅ-luen , dürfe getrost dem Schutze des Himmels vertrauen. — Eine Sentenz jagte die andere. — Als der XV. Schreiben der Gesandten. Gesandte nach den Vollmachten forschte, betheuerte der Commissar, dass er deren nicht besitze: nach Constituirung eines Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten, welches mit den fremden Ge- sandten zu verhandeln habe, sei specielle Ermächtigung einzelner Mitglieder desselben nicht mehr erforderlich. Graf Eulenburg suchte ihm darauf den Unterschied in den Attributionen eines Ministerialrathes und eines zum Abschluss von Verträgen bevoll- mächtigten Commissars zu erklären: ausdrücklicher Vollmachten bedürfe es um so mehr, als Tsuṅ-hau gar nicht Mitglied des Mi- nisteriums sei; Vorbesprechungen möchten ohne Aufschub statt- finden; der Gesandte müsse aber den Prinzen von Kuṅ um aus- drückliche und formelle Bevollmächtigung der Commissare ersuchen, ehe er zu den Verhandlungen schritte. Das fand Tsuṅ-luen durch- aus billig: es werde auch keine Umstände machen, den Kaiser da- hin zu vermögen; man wolle gewiss dem Reiche Preussen nicht versagen, was anderen Mächten gewährt sei. Er wünsche sehn- lichst und hoffe, die Verhandlungen schnell zu glücklichem Ende zu führen, da ihn wichtige Geschäfte nach Pe-kiṅ riefen. — Tsuṅ-luen hatte grosses Gefolge von Mandarinen bei sich, deren mehrere bei den Attachés im Hintergebäude eintraten. — Als Graf Eulenburg am 10. Mai den Besuch erwiederte, machte Tsuṅ-luen den höflichsten Wirth; er wohnte bei Tsuṅ-hau . Musik und Früh- stück glichen den früheren Leistungen. Der Gesandte fragte viel über chinesische Verhältnisse, ohne sonderlichen Erfolg. Politisches kam nicht zur Sprache. Die Schreiben, welche Graf Eulenburg bei seiner Ankunft in Tien-tsin von den Gesandten Englands und Frankreichs erhielt, athmeten gleiche Bedenken wie die früheren. Den Kaiser umgaben in Džehol lauter Männer der retrograden Parthei, welche seinem Machtbewusstsein schmeichelten und die Ausführung der Verträge zu hintertreiben suchten. Der Prinz von Kuṅ und seine Räthe in Pe-kiṅ trugen den Ereignissen Rechnung und strebten das freund- schaftliche Verhältniss zu fördern, bedurften aber zu jeder wichtigen Handlung der kaiserlichen Sanction und mussten jede offene Be- günstigung der Fremden vermeiden. Den Kaiser zur Rückkehr zu vermögen, dem Prinzen von Kuṅ die Wege zu ebnen, damit die Beziehungen zu seinem Bruder nicht getrübt würden, war das eifrige Streben der Gesandten; sie fürchteten, dass der Prinz seines Amtes müde würde; an seiner Person hing die Erhaltung des Frie- 3* Note an den Prinzen von Kuṅ XV. dens. Deshalb nahmen sie Anstand, ihn zu Begünstigung der preussischen Anträge zu treiben, welche den Kaiser leicht erbittern möchte. — Diese Rücksicht hielt auch Graf Eulenburg ab, gleich nach Pf-kiṅ zu gehen; sein Erscheinen dort hätte den Prinzen in Unge- legenheiten setzen, den Erfolg vielleicht vereiteln können. An Ueberreichung der Creditive war nicht zu denken; die diplomatische Action der Gesandten von England und Frankreich drehte sich seit lange um diesen Punct. Graf Eulenburg fand auch zweck- mässig, die Reise nach Pe-kiṅ als letzten Trumpf aufzusparen, falls die Verhandlungen in Tien-tsin scheitern sollten. Zugleich mit Tsuṅ-luen kam aus Pe-kiṅ der erste Secretär der französischen Gesandtschaft, Graf von Kleczkowski nach Tien- tsin und bot Graf Eulenburg seine Dienste an: die schnelle Er- nennung der Commissare sei dem Einfluss des Gesandten Herrn von Bourboulon zu danken, der auch in Zukunft nach Kräften für den preussischen Vertrag wirken möchte. Bei Erörterung der Eventualitäten erklärte Graf Kleczkowski , dass Preussen die Ge- währung des Gesandtschaftsrechts und anderer Puncte, welche seine politische Gleichstellung mit den Grossmächten bedingten, kaum erwarten dürfe. Dieses Ziel behielt der Gesandte aber unbeirrt im Auge. — Zugleich mit der Note an den Prinzen von Kuṅ we- gen Ausstellung von Vollmachten beförderte er ein Schreiben an den englischen Gesandten, in welchem die Vortheile hervorgehoben wurden, welche nicht nur China , sondern auch den westlichen Mächten aus einem preussischen Vertrage erwachsen müssten. Die Deutschen lebten in den geöffneten Häfen unter dem Schutz der Vertragsmächte, deren Consuln ihnen aus Courtoisie alle möglichen Vortheile angedeihen liessen, ohne die geringste Macht über sie zu haben; die Consuln der deutschen Staaten, sämmtlich Kaufleute, übten auch keine Jurisdiction über ihre Landsleute. Dieses Miss- verhältniss gab zu ernsten Beschwerden Anlass. Während nun bis dahin alle Schiffahrt treibenden deutschen Staaten Consuln in den chinesischen Häfen hatten, verlangte Preussen nur die Zulassung eines Gesandten in Pe-kiṅ , eines Consul missus in jedem geöffneten Hafen für den Zollverein und Mecklenburg und eines zweiten für die Hansestädte, welche die gesonderte consularische Vertretung zur Bedingung ihrer Theilnahme am Vertrage machten. Die Ernen- nung von Consuln mit Richterqualität musste ein Vortheil für China und die Vertragsmächte sein. Hatten doch in Shang-hae die Com- XV. Vertragsbesprechung. Schriftwechsel. munalbehörden der englischen Niederlassung, wo Deutsche straflos die Gesetze höhnten, den Gesandten amtlich darum angegangen. Die erste Besprechung über den Vertrag erfolgte am 13. Mai. Die Commissare kamen mit zahlreichem Gefolge, das in den Höfen blieb; nur die Mandarinen, darunter der Tau-tae von Tien-tsin , setzten sich neben den Commissaren mit zu Tisch; denn die Sache wurde durch ein Frühstück eingeleitet. Sie wussten sich mit Messer und Gabel schlecht zu helfen und griffen mit den Fingern in die Schüssel, wo sich das Begehrte nicht gleich mit dem Löffel er- wischen liess. Mässig im Essen und besonders im Trinken, freuten sie sich mehr am Schäumen als am Geschmack des Champagners. Graf Eulenburg fragte viel nach ihren häuslichen Einrichtungen und brachte sie in die heiterste Laune. Nach Tisch suchte er den Commissaren mit Hülfe einer Karte die Verhältnisse des Zollvereins zu erklären; sie folgten aufmerksam und schienen leicht zu fassen. Den Vorschlag, die Karte nach Pe-kiṅ zu schicken, lehnten sie ab: es genüge, wenn sie selbst instruirt seien. Aus dieser Erklärung und dem guten Willen, den sie zeigten, schöpfte Graf Eulenburg die Hoffnung auf schnelle Lösung seiner Aufgabe, sollte sich aber bitter getäuscht sehen. Er redigirte auf ihren Wunsch eine kurze Denkschrift über den Zollverein und dessen beanspruchte Vertre- tung, und sandte ihnen die Uebersetzung am folgenden Tage. Der Prinz von Kuṅ antwortete dem Gesandten unter dem 13. Mai, dass der Vertrag, wie er in seiner Note verlangte, für den Zollverein, Mecklenburg und die Hansestädte abgeschlossen werden möge, Special-Vollmachten jedoch nicht ertheilt würden. Das De- partement des Auswärtigen sei ein für alle Mal zu Verhandlungen mit den fremden Gesandten ermächtigt; Graf Eulenburg möge den beiden Commissaren, welche das besondere Vertrauen des Kaisers genössen, mit derselben Zuversicht begegnen, als wenn sie ausdrück- liche Vollmachten hätten. Dabei konnte der Gesandte sich nicht beruhigen und wiederholte sein Ersuchen unter neuer Motivirung. — Ein Schreiben des Herrn Bruce beleuchtete abermals die schwie- rige Stellung der Gesandten in Pe-kiṅ . Nur allmälig könnten die Vorurtheile der Regierung besserem Einsehn weichen. Zu einem Handelsvertrage werde sie leicht zu bewegen sein, nicht aber zu einem politischen mit dem Rechte diplomatischer Vertretung in Pe-kiṅ . Ganz ähnlich äusserte sich in wiederholten Gesprächen Graf Kleczkowski : wenn die Gesandtschaften von England und Bedingungen der Chinesen. XV. Frankreich vereint darauf beständen, so wäre das Recht der Ver- tretung für Preussen gewiss zu erlangen; das würde aber den Sturz des Prinzen von Kuṅ bewirken, dessen Folgen sich nicht ab- sehen liessen; deshalb dürften sie solche Pression nicht üben, ohne welche Preussen das Gesandtschaftsrecht unmöglich erlangen könne. In einigen Monaten hoffe man den Kaiser zur Rückkehr zu vermögen; dann würde ein politischer Vertrag vielleicht durch- zusetzen sein. Graf Eulenburg erklärte dagegen, dass er ungesäumt auf sein Ziel losgehen müsse, und sprach die Hoffnung aus, dass die französische Gesandtschaft ihm wenigstens nicht entgegentre- ten werde. Am 16. Mai schickten die Commissare ein langes Schreiben, welches zunächst die schwierige Stellung des Prinzen zu den preussischen Anträgen besprach: der Gesandte trete im Namen vieler Staaten auf: andere kleinere Reiche würden gleiche For- derungen stellen; dieses Bedenken sei nur durch den Bericht über Graf Eulenburg’s Persönlichkeit und die Erklärung der anderen Gesandten überwunden worden, dass Preussen eine Grossmacht sei. Die grosse Tsiṅ -Dynastie könne aber keinen politischen, sondern nur einen Handelsvertrag mit ihm abschliessen, dessen Grund- lagen in sieben weitschweifigen Artikeln folgenden Inhalts formu- lirt waren. Preussen verzichtet auf das Recht, einen diplomatischen Ver- treter nach Pe-kiṅ zu schicken. Alle contrahirenden deutschen Staaten werden in Handels- angelegenheiten nur von den preussischen Consuln vertreten; diese stehen unter einem General-Consul, welcher mit einem chinesischen Regierungs-Commissar verhandelt und in wichtigen Fällen durch diesen an das Ministerium des Auswärtigen in Pe-kiṅ berichtet. Nur unbescholtene Beamten, nicht Kaufleute, werden zu Con- suln ernannt, da chinesische Beamte nur solche als gleichberechtigt ansehen und mit Achtung behandeln können. Nicht der deutsche, sondern der chinesische Text des Ver- trages ist maassgebend. Die Clausel der »meistbegünstigten Nation« bezieht sich nur auf commercielle, nicht auf politische Vortheile, welche China an- deren Völkern gewähren wird. Graf Eulenburg antwortete umgehend, dass vor Allem die Commissare mit Vollmachten versehen sein müssten; die chinesische XV. Schriftwechsel. Regierung dürfe Preussen ferner nicht von vorn herein Alles ver- sagen, was sie anderen Völkern zugestanden habe. Er könne keine ihrer Bedingungen annehmen und mache als Vertreter einer Gross- macht auf dieselben politischen Rechte Anspruch, welche anderen Mächten gewährt seien; verweigere die kaiserliche Regierung die Ausstellung von Vollmachten und beginne sie mit Aufzählung der Puncte, die sie nicht gewähren wolle, so zeige sie dadurch, dass sie mit Preussen und Deutschland überhaupt nicht in freundschaft- liche Beziehungen zu treten wünsche. Eine Note des Prinzen vom 18. Mai erklärte gleichfalls, dass nur ein Handelsvertrag abgeschlossen werden könne; die Commis- sare seien durch kaiserlichen Befehl zu den Verhandlungen beauf- tragt; Tsuṅ-luen habe als Mitglied des Auswärtigen Amtes hin- reichende Vollmacht, Tsuṅ-hau sei ausdrücklich dazu ermächtigt. Was sie billig gewähren könnten, werde die Regierung annehmen; was darüber hinausgehe, könne weder er selbst genehmigen, noch dem Kaiser vortragen. — Die hier zuerst auftauchende Erklärung des Prinzen von Kuṅ , dass nur ein Handelsvertrag geschlossen werden könne, widersprach gradezu seinen früheren Noten, in welchen die Anträge des Gesandten auf Abschluss eines »Freund- schafts- und Handels-«, also eines politischen Vertrages, ohne Ein- spruch hingenommen, und Unterhandlungen auf dieser Basis ver- heissen wurden. Ebenso hatte Tsuṅ-luen bei seinem ersten Be- such aus freien Stücken erklärt, dass China keinen Grund habe, Preussen und Deutschland die anderen Staaten gewährten Rechte zu versagen. Jetzt sprachen sie anders. Das Zusammentreffen jener Schreiben mit den Aeusserungen des Herrn Bruce und des Grafen Kleczkowski erweckte den unwillkürlichen Gedanken, dass frem- der Einfluss den Umschlag bewirkt habe. Graf Eulenburg richtete am 23. Mai abermals eine Note an den Prinzen von Kuṅ , in welcher er sich gegen den Abschluss eines blossen Han- delsvertrages verwahrt, und, durch undeutliche Uebersetzung der letzten Note des Prinzen irre geleitet, noch einmal jede Verhand- lung mit Commissaren ablehnt, die nicht mit Special-Vollmachten versehen seien. Der Gesandte bespricht in dieser Note eingehend Preussens europäische Stellung, und die Unmöglichkeit, hinter an- deren Grossmächten zurückzustehen. Er betont, dass er die Bei- legung des Zwistes mit den Westmächten abgewartet habe, jetzt aber nicht einsehe, warum China nicht in Vertragsbeziehungen Chinesische Vollmachten. XV. treten wolle, die seine Institutionen und seine politische Ehre nicht schädigten. Graf Eulenburg schliesst mit der Bitte, sein Schreiben zur Kenntniss des Kaisers zu bringen, falls der Prinz nicht er- mächtigt sei, die gestellten Forderungen selbstständig zu gewähren. Der merkliche Einfluss, welchen die Gesandten von England und Frankreich übten, bewog Graf Eulenburg , sie vom Inhalt sei- ner Note an den Prinzen zu unterrichten und um Unterstützung seiner Anträge zu ersuchen, so weit ihre Interessen darunter nicht litten. Zugleich bat er sie, dem Prinzen von Kuṅ beiläufig zu sagen, dass Preussen in den nächsten Jahren wahrscheinlich keinen Vertreter nach Pe-kiṅ , sondern nur einen General-Consul nach Shang-hae senden werde, erklärte aber bestimmt, dass er ohne Gewährung des Gesandtschaftsrechtes überhaupt keinen Vertrag schliessen werde. Er kündigte den Gesandten ferner an, dass er nach Pe-kiṅ kommen und den Prinzen persönlich angehen werde, wenn die Verhandlungen in Tien-tsin erfolglos blieben. Gleich nach Abgang dieser Schreiben und der Note an den Prinzen erhielt Graf Eulenburg eine Aufforderung der Commissare, in der »öffentlichen Halle« von Tien-tsin zu erscheinen und von kaiserlichen Decreten Kenntniss zu nehmen, welche Tsuṅ-hau zu den Verhandlungen ausdrücklich ermächtigten, während Tsuṅ-luen schon durch sein Amt dazu legitimirt sei. — An diesem Tage durch Unwohlsein verhindert, begab sich der Gesandte erst am 24. Mai mit Herrn Marques und dem Attaché du jour nach dem zu öffent- lichen Verhandlungen bestimmten Gebäude, wo ihn die Commissare, umgeben von vielen Beamten, in einer luftigen Halle empfingen. Zur Conferenz gingen sie mit wenig Begleitern in ein kleineres Ge- mach. Graf Eulenburg erklärte nochmals bestimmt, dass er ohne das Gesandtschaftsrecht keinen Vertrag schliessen werde, wogegen die Commissare ihre Bedenken äusserten: es müsse die Gesandten von England und Frankreich verletzen, wenn China Preussen so schnell gewähre, was jenen Mächten so viel Kämpfe kostete. In diesem Punct verwies sie Graf Eulenburg an deren Vertreter in Pe- kiṅ . — Die in Abschrift vorgelegten kaiserlichen Decrete lauteten: I. Am 19. Tage des 2. Monats des 11. Jahres von Hien-fuṅ (19. März 1861) ist folgendes kaiserliches Decret eingegangen. Der Prinz von Kuṅ, Yi-sin , und seine Collegen haben eine Ein- gabe an uns gerichtet, dass Preussen in Tien-tsin erschienen sind XV. Chinesische Vollmachten. um ihren Handelsvertrag abzuschliessen, und uns gebeten, hohe Beamte ernennen zu wollen, welche nach Tien-tsin gehen und dort die An- gelegenheit regeln möchten. Wir verordnen, dass Tsuṅ-luen und Tsuṅ-hau ernannt werden sollen, um die Angelegenheiten dieser Nation zu ordnen. Achtet darauf. II. Am 5. Tage des 4. Monats des 11. Jahres von Hien-fuṅ (14. Mai 1861) ist folgendes kaiserliches Decret eingegangen. Der Prinz von Kuṅ, Yi-sin , und seine Collegen haben uns eine Eingabe eingereicht, — nachdem Graf Eulenburg eine Note an ihn richtete, auch Tsuṅ-luen und Tsuṅ-hau ein Schreiben an ihn er- liessen, — in welcher Eingabe gesagt ist, dass Graf Eulenburg aus dem Reiche Preussen eine Note an ihn, den Prinzen von Kuṅ , gerich- tet habe, worin er ihn ersucht, uns eine Vorstellung darüber einzu- reichen, dass Tsuṅ-luen und Tsuṅ-hau noch nicht mit einem Decret versehen seien, welches ihnen Vollmacht zu gehörigem Verhandeln ertheilt. Tsuṅ-luen , als hoher mit den Angelegenheiten der fremden Reiche betrauter Beamter, ist schon ein mit Vollmachten bekleideter Würdenträger, und in Bezug auf Tsuṅ-hau verordnen wir, dass er mit Vollmachten zu gehörigem Verhandeln bekleidet sei. Achtet darauf. Auf den Wunsch des Gesandten wurde die Abschrift zu näherer Prüfung in seine Wohnung geschickt. Sein Bedenken darüber, dass nicht das Original vorgelegt wurde, hob Herr Marques , nach dessen Erfahrung das niemals geschah. Ueber die Gültigkeit der Vollmachten beruhigte ihn Herr Parkes , einer der besten Ken- ner chinesischer Documente, der, von Pe-kiṅ kommend, den Grafen in jenen Tagen besuchte; er fand sie klarer und bestimmter gefasst, als alle früheren chinesischen Vollmachten. Graf Eulen- burg theilte nun den Commissaren mit, dass ihre Legitimation ge- nüge und die Verhandlungen beginnen könnten. — Eine Antwort des Prinzen von Kuṅ auf das Schreiben vom 23. Mai verwies ihn auf die eben berührten kaiserlichen Decrete; des Gesandtschafts- rechtes war mit keinem Worte gedacht, und Graf Eulenburg durfte glauben, dass der Prinz über seine Note an den Kaiser be- richtete, — dass es keineswegs fest beschlossen sei, Preussen jenen Punct zu verweigern. Mit deutschen der Verhältnisse kundigen Kaufleuten in Shang-hae hatte der Gesandte den in Berlin entworfenen Vertrag Der übersetzte Vertrag. XV. besprochen, welcher im Wesentlichen gleich denen der anderen Mächte lautete, und traf auf ihren Vorschlag einige Aenderungen. In der neuen Fassung liess er ihn zunächst in das Englische und Französische, dann durch Herrn Marques in das Chinesische über- tragen; eine mühselige Arbeit, da bei des Herrn Marques nicht vollkommener Kenntniss des Französischen immer sorgfältig geprüft werden musste, ob der Sinn getreu übersetzt sei. Unüberwindliche Schwierigkeit bereitete der Eingang, wo sämmtliche Staaten des Zollvereins genannt waren. So viele den deutschen ähnliche Silben zu finden, die, nicht anstössig oder lächerlich von Bedeutung, dem chinesischen Ohr leidlich klangen, schien unmöglich. Dazu gerech- net die Unfähigkeit sowohl des Herrn Marques , als des englischen Dolmetschers, der in Shang-hae freundlich Hülfe leistete, deutsche Worte richtig zu hören und auszusprechen, so kann man sich vor- stellen, wie die falsch gesagte deutsche Silbe erst chinesisch klang. Der Gesandte arbeitete den Eingang wiederholt mit Herrn Mar- ques durch, brachte aber trotz unsäglicher Geduld nichts Gutes zu Stande. Nach Erledigung der Vollmachtsfrage sandte Graf Eulenburg den Commissaren auf ihren Wunsch täglich etwa zehn Artikel des übersetzten Vertrags-Entwurfes zur Prüfung. Kaum aber war die Hälfte in ihren Händen, als sie, am 30. Mai, in einem langen Schreiben erklärten, es sei unnütze Mühe, ihnen Artikel politischen Inhalts zu schicken; nur über Handelsbestimmungen dürften sie unterhandeln; ein Gesandter könne nicht zugelassen werden, son- dern nur ein in Shang-hae residirender General-Consul und Con- suln in den anderen Häfen; sollten Diese andere Functionen üben, als die Erlegung der Zölle und Klarirung der Schiffe, so müssten Beamte, nicht Kaufleute ernannt werden. Der deutsche Text dürfe nicht maassgebend sein; auf ein Schutzrecht über Christen müsse Preussen verzichten. — Das Hervorheben letzteren Punctes begrün- dete wohl der übele Namen, welchen sich protestantische Missio- nare durch ihre Tae-piṅ -Sympathieen bei der kaiserlichen Regie- rung gemacht hatten. — Die Unruhen im Reiche und die militäri- schen Operationen gegen die Rebellen, fahren die Commissare fort, nähmen die Regierung ganz in Anspruch; sie seien zu Unterhand- lungen bereit, wenn die Handelsbestimmungen der anderen Verträge als Grundlage genommen würden; die Umstände erlaubten es nicht anders; Preussen dürfe, nur weil es ihm Vortheil bringe, nicht Zu- XV. Unklare Lage. geständnisse verlangen, die China unbequem seien; nach Herstel- lung geordneter Zustände könnten sich an die Handelsbestimmun- gen weitere Verträge knüpfen. — Graf Eulenburg erklärte in seiner Antwort, nur auf den Grundlagen eines politischen Vertrages unter- handeln zu können, und ersuchte die Commissare um endgültigen Bescheid, ob sie dazu bereit seien, damit er seine Schritte danach einrichten könne. So drehte man sich im Kreise. Volle Klarheit über die Lage liess sich in jenen Tagen nicht gewinnen. Herr von Bourboulon schrieb dem Gesandten von einer Unterredung mit Wen-tsiaṅ , dem klügsten und einflussreichsten Beigeordneten des Prinzen von Kuṅ : nach dessen Aeusserungen begriffen der Prinz und er selbst, dass Preussen nicht hinter an- deren Grossmächten zurückstehen könne, dass ihm über kurz oder lang gleiche Rechte zu gewähren seien; nur ginge das jetzt noch nicht; es stürme zu vielerlei auf die Regierung ein, man müsse ihr Zeit lassen. Herr von Bourboulon fand diese Auffassung ge- rechtfertigt und bedauerte, den preussischen Gesandten nicht, wie er dringend wünsche, kräftiger unterstützen zu können. Graf Kleczkowski , der das Schreiben übergab, wiederholte die oft ge- hörten Reden: Frankreich und England dürften keinen Casus belli aus Nichtgewährung der preussischen Forderungen machen u. s. w. Fast schien die Aeusserung der Commissare, dass die Vertreter der Westmächte sich durch weitgehende Zugeständnisse an Preussen verletzt fühlen möchten, nicht so ganz ungegründet: auf Mittheilung derselben gab Graf Kleczkowski nur die Antwort, dass solche Gewährung ein unwahrscheinliches Glück wäre, nachdem Frankreich und England gleiche Rechte in langjährigen Verhand- lungen und Feldzügen erkämpft hätten. — Vor der bald erfolgen- den Abreise des französischcn Secretärs nach Pe-kiṅ erklärte ihm Graf Eulenburg , dass er, als äusserstes Zugeständniss, in einer Note an den Prinzen oder in einem geheimen Artikel für die preussische Regierung die Verpflichtung übernehmen wolle, vor Ablauf von fünf Jahren keinen Gesandten nach Pe-kiṅ zu schicken, wenn im Vertrage das Gesandtschaftsrecht bewilligt würde. Dieser Wendung sprach Graf Kleczkowski nicht jede Aussicht des Erfolges ab; er erbot sich, darüber mit dem Prinzen von Kuṅ zu reden und den Gesandten binnen zehn Tagen vom Erfolge zu unterrichten. Unterdessen hatten die Commissare des Gesandten Ersuchen um endgültigen Bescheid am 4. Juni dahin beantwortet, dass sie Schriftwechsel. XV. bei den Erklärungen ihres Schreibens vom 30. Mai bleiben müssten: nur Handelsbestimmungen könnten verabredet werden; der chine- sische Text müsse gelten. Nicht China , sondern Preussen suche den Vertrag und könne nicht verlangen, dass man sich an ein Do- cument binde, dessen Sinn man nicht kenne. — Da der Gesandte nicht sogleich antwortete, so verarbeiteten sie dasselbe Thema in einem neuen Schreiben am 7., dann abermals am 10. Juni: sein Schwei- gen sei unerklärlich; die Verhandlungen möchten beginnen, sonst trage Graf Eulenburg die Schuld am Scheitern seiner Wünsche. Der Gesandte wollte jedoch den Bescheid aus Pe-kiṅ abwarten. Ein Schreiben des Herrn Bruce sagte ihm, dass der Kaiser allem Anschein nach seine Empfindlichkeit über die Anwesenheit fremder Gesandten in Pe-kiṅ keineswegs verwunden habe, dass die Un- sicherheit darüber alle Bewegungen der Diplomaten hemme. — Graf Eulenburg durfte vermuthen, dass zwischen Pe-kiṅ und Džehol Verhandlungen schwebten, dass Prinz Kuṅ seinen Anträgen im Grunde nicht abgeneigt sei. Leicht konnte sein Erscheinen in Pe-kiṅ den Kaiser irritiren, der nach den letzten Nachrichten be- denklich erkrankt war. Man vermuthete, dass seinem Oheim Hu-wae , — der Ende Mai von Džehol nach Pe-kiṅ kam, — und dem Prinzen von Kuṅ die Regentschaft für den minderjährigen Thronerben zufallen würde, eine Eventualität, die dem Abschluss unseres Vertrages günstig gewesen wäre. — Ueber die Stellung der Gesandten von England und Frankreich erhielt Graf Eulenburg einigen Aufschluss durch den Secretär des General-Gouverneurs von Ost-Sibirien , Herrn von Bützow , der auf einer Urlaubsreise nach Pe-kiṅ kam und einen Abstecher nach Tien-tsin machte. Aeusserungen desselben, welche seine Vermuthungen bestärkten, und das lange Ausbleiben der Antwort des Grafen Kleczkowski brachten den Gedanken, bald nach Pe-kiṅ aufzubrechen, zu grösserer Reife, während doch auch viele Gründe dagegen sprachen. Es war ein Zustand der peinlichsten Unklarheit, ver- schlimmert durch die Qualen des Klimas und gezwungene Un- thätigkeit. Am 11. Juni antwortete endlich Graf Eulenburg den Com- missaren, dass er auf dem Rechte der Gesandtschaft fest bestehe, auch wenn diese Forderung zu Abbruch der Verhandlungen führen sollte. Nach einigen Tagen kam ein Schreiben in vorwurfsvollem Ton: England , Frankreich und America ständen seit zwanzig XV. Besprechung mit den Commissaren. Jahren in Vertragsbeziehungen zu China , die Freundschaft mit Russland dauere schon zweihundert Jahre, und jetzt erst sei ihnen das Recht der Gesandtschaft in Pe-kiṅ gewährt worden. Nun komme Preussen und verlange dasselbe sofort. Die Commissare hätten die Vollmachten des Gesandten nochmals geprüft und nichts darin gefunden, was ihn zu jener Forderung berechtige; allein vom Abschluss eines Freundschafts- und Handelsvertrages sei die Rede. — In diesem Schreiben brauchten die Commissare auffallender Weise wieder das Zeichen für »Freundschaftsvertrag«, das in den früheren sorgfältig vermieden war: nur von »Handelsbestimmungen« sprachen sie dort. Da sie um eine Unterredung baten, so empfing Graf Eulenburg sie am 16. Juni zum Frühstück. Nachdem beide Theile ihr Bedauern über die lange Unterbrechung des persönlichen Verkehrs geäussert, kam der Vertrag zur Sprache. Der Gesandte erklärte wieder, dass er nur auf Grundlage des Gesandtschafts- rechtes unterhandeln werde, fügte jedoch hinzu, dass auf Gewährung desselben nicht nothwendig die Absendung eines preussischen Ver- treters an den Hof von Pe-kiṅ sofort erfolgen müsse. Tsuṅ-luen hielt darauf lange Reden, deren Gedankengang ebenso naiv als unlogisch war: man habe von Preussens Existenz gar nichts ge- wusst; da aber die Gesandten in Pe-kiṅ versicherten, es sei eine bedeutende Macht, so habe der Kaiser befohlen, einen Handels- vertrag mit ihm zu schliessen u. s. w.; die Commissare wollten nicht sämmtliche ihnen vorgelegte Artikel verwerfen, sondern nur einige Aenderungen treffen. Graf Eulenburg erwiederte, dass der Vertrag gewiss ein Werk gegenseitiger Uebereinkunft sein müsse; ohne Einigung über die wesentlichen Grundlagen könnten aber die Berathungen zu keinem Ziele führen. — Tsuṅ-luen bat, die For- derung des Gesandtschaftsrechtes fallen zu lassen, dann werde man in wenig Tagen im Reinen sein. Er tischte die alten Argumente auf und fügte ganz offen hinzu, England und Frankreich hätten jenes Zugeständniss nur durch Kriege erzwungen. Nach einigem Hin- und Herreden entwand ihm Graf Eulenburg die Aeusserung, dass Preussen mit der Zeit das Gesandtschaftsrecht gewiss erlan- gen werde, ja, dass es vielleicht jetzt schon zu gewähren sei, wenn die Ausübung auf einige Zeit verschoben würde. Dann kamen wie- der Bedenken, dass viele andere Staaten dasselbe verlangen möchten. Der Gesandte verwies auf Preussens Stellung als Grossmacht und hatte manche naive Frage über die Zahl, Natur und Bedeutung der Kaiserlicher Befehl. XV. europäischen Grossmächte zu bestehen. Wenn nun auch andere Staaten sich für Grossmächte ausgäben, wie solle man das Gegen- theil beweisen? Die Commissare müssten neue Befehle einholen und bäten den Grafen, sie durch eine Denkschrift über die Gross- mächte und die aufzuschiebende Ausübung des Gesandtschafts- rechtes ins Klare zu setzen. — Am Schlusse der Unterredung sagte Tsuṅ-luen : »Wir wussten vor deiner Excellenz Ankunft wenig von europäischen Angelegenheiten; nun wissen wir Manches und sehen namentlich, dass der Gesandte ein sehr liebenswürdiger Herr ist. Was wir sahen und hörten muss aber auch der Prinz von Kuṅ erfahren, und dann bleibt noch die Schwierigkeit, dass ge- wisse Forderungen ganz unerfüllbar scheinen. Man kann unsere Zugeständnisse einer Tasse Thee vergleichen, die wir halb gefüllt anbieten; der Gesandte wünscht sie voll. Giebt es aber keinen Thee mehr, so ist die Erfüllung des Wunsches eben unmöglich.« Graf Eulenburg dankte für die Schmeichelei und bemerkte scherzend zu dem Gleichniss, in China könne es doch an Thee nicht fehlen. Hatte nun auch der Gesandte aus dem wirren Hin- und Herreden dieser Conferenz die Ueberzeugung gewonnen, dass die Commissare nicht selbstständig handeln konnten und keiner folge- rechten Schlüsse fähig waren, so erweckten doch ihr Wunsch, den Prinzen über die Grossmächte zu unterrichten, und ihre sichtliche Genugthuung über das vorgeschlagene Auskunftsmittel wieder die Hoffnung, dass trotz aller Hindernisse auf diesem Wege das Ziel zu erreichen sei. Diese Hoffnung war, wie sich später zeigte, ge- gründet. Zum Unglück traf aber am 19. Juni ein Schreiben des Grafen Kleczkowski ein, nach welchem trotz der Befürwortung jenes Vorschlages durch den Prinzen von Kuṅ am 16. Juni aus Džehol der gemessene Befehl gekommen war, Preussen nicht mehr zu gewähren, als das bisher Gebotene. Nach dieser Mittheilung glaubte Graf Eulenburg annehmen zu müssen, dass auch auf den Bericht der Commissare und seine Denkschrift über die Grossmächte ein ablehnender Bescheid erfolgen werde, und beschloss, als letztes Mittel, nach Pe-kiṅ zu gehen. Er war sich dabei vollkommen be- wusst, dass dieser Schritt ein gewagter sei, dass er gewärtigen musste, an den Thoren der Hauptstadt gewaltsam abgewiesen zu werden. Denn ein Völkerrecht, welches die Gesandten schützt, kennen die Chinesen nicht; nach ihren Begriffen haben nur die Vertreter derjenigen Mächte ein Recht zum Aufenthalt in der XV. Reise nach Pe-kiṅ beschlossen. Hauptstadt, welchen es ausdrücklich zugestanden ist. Zwar gingen aus Tien-tsin häufig englische Officiere und andere Unterthanen der Vertragsmächte als Gäste der Gesandtschaften nach Pe-kiṅ ; aber diesen selbst wurde das Uebermaass solcher Besuche schon bedenklich, und sie trafen mit der Regierung ein Abkommen, dass Reisende nur mit Pässen der Consuln, visirt von den chinesischen Behörden in Tien-tsin , kommen dürften. Die Herren Kreyher , Spiess , Heine und Kloekers gingen mit americanischen Pässen nach Pe-kiṅ . Herr Kloekers hatte beschlossen, um jeden Preis der erste protestantische Missionar zu sein, der in Pe-kiṅ öffentlich predigte. Er wurde in Folge dessen von den Behörden ausgewiesen. Der englische Gesandte fand keine Veranlassung und war auch durch den Vertrag nicht berechtigt, Herrn Kloekers nach dessen Wünschen gegen die chinesische Regierung in Schutz zu nehmen. Die Thorwachen waren angewiesen jeden anderen Fremden anzuhalten, und den Bewohnern der Hauptstadt wurde untersagt Ausländer in ihre Häuser auf- zunehmen. Strenge Handhabung dieser Verordnungen durfte man um so mehr erwarten, als sie damals neu waren. — Das Alles wusste Graf Eulenburg ; nach dem Schreiben des französischen Secretärs blieb ihm aber keine Aussicht, in Tien-tsin sein Ziel zu erreichen; nur von persönlicher Einwirkung auf den Prinzen von Kuṅ liess sich noch Erfolg hoffen; es musste gewagt sein. Die grösste Schwierigkeit war, ein passendes Unterkommen zu finden. Weder der englische noch der französische Gesandte hatten Graf Eulenburg zu sich eingeladen; der kürzlich ernannte russische Minister-Resident, Oberst von Balluzek , war noch nicht eingetroffen. Die zarten Rücksichten der Gastfreundschaft hätten auch jedes freie Handeln gehemmt; Graf Eulenburg musste drin- gend wünschen, eine eigene Wohnung zu beziehen. Abgesehen von jenem Verbot waren chinesische Gasthäuser keine angemessene Stätte für den Gesandten einer Grossmacht; es blieb also nur der Versuch übrig, ein anständiges Haus zu miethen und ein- zurichten. Mit diesem Auftrag wurden der Attaché von Brandt und der Maler Berg angewiesen, am 21. Juni Morgens nach Pe- kiṅ aufzubrechen. Sobald ein Haus gemiethet und Meldung dar- über erstattet wäre, wollte Graf Eulenburg mit den anderen Atta- chés und dem ganzen Hausstande nachfolgen. Die Gesandten in Pe-kiṅ um Pässe für sich und seine Begleiter zu ersuchen, fand er nicht angemessen; auch der Attaché von Brandt und der Maler Berg mussten ohne solche reisen; sie erhielten nur Schreiben an Ritt nach Pe-kiṅ . XV. die Gesandten von England und Frankreich , welche sie als Mit- glieder der preussischen Legation einführten. — Dem Verfasser sei erlaubt, die Erlebnisse dieser Reise hier persönlich zu erzählen. Am 21. Juni früh brachen wir zu Pferde von Tien-tsin auf. Drei Maulthierkarren folgten mit dem Gepäck, einer Ordonnanz, einem chinesischen Stallknecht und des Herrn von Brandt chine- sischem Diener A-tšoṅ . Klar und duftig schien die erwachende Sonne auf thauige Felder, wo jetzt Durra, Gerste, Ricinus, Knob- lauch und vielerlei Gemüse grünten; höher steigend brannte sie glühend auf dem schattenlosen Wege; denn Bäume giebt es nur bei den Dörfern. Die Strasse ist gut und führt stellenweise auf hohem Damme den Pei-ho entlang; Theeschenken, wo der Wan- derer Erfrischung findet, stehen etwa eine Meile von einander. Jagdbare Thiere sahen wir nicht, dagegen dichte Schaaren kleiner Vögel und besonders Elstern, die den Weg anmuthig belebten. Viele Marktleute zogen nach Tien-tsin . Unsere in kurzem Trabe fahrenden Karren bald überholend, bald vorauslassend, ritten wir in einem Zuge etwa vier Meilen bis zum Flecken Yaṅ-tsun , einer compacten Masse schmutziger Hütten aus Lehm und Holz, die sich, von winkligen Gassen durchschnitten, am rechten Ufer des Pei-ho ausstreckt. Dort wurde gefrühstückt und der heisseste Theil des Tages verschlafen. Der lange Hof der Schenke stand voll malerischer Karren und Krippen; Schmutz und Ungeziefer in den bäuerlichen Stuben waren eben erträglich, der Schatten grosse Erquickung. Wären nicht die Zöpfe gewesen, man hätte sich kaum in China geglaubt, denn diese Dörfer haben keine Spur von nationalem Anstrich; Bauart und Einrichtung sind so kunstlos und einfach, wie das unmittelbare Bedürfniss des Landmannes sie aus Lehm und Holz nur schaffen kann. Selten ragt ein geschweiftes Tempeldach aus der grauen Masse. — Wein, Brod und Fleisch hatten wir bei uns, und fanden Thee, Eier und Apricosen, auch köstliches Eis zum Kühlen der Getränke. Um halb vier Nachmittags ritten wir weiter und erreichten Abends Ho-si-wu , einen von Gärten durchsetzten Flecken unter herrlichen Bäumen am Pei-ho , beinah fünf Meilen von Yaṅ-tsun . XV. Ma-tau . Tšaṅ-kia-wan . Die Truppen der Verbündeten hatten ihn im Herbst 1860 verlassen gefunden und arg verwüstet; viele Häuser lagen in Trümmern. — Den grossen Hof unserer Herberge umgaben offene Schuppen, wo eine Menge Maulthiere standen; mitten darunter schliefen die Fuhrleute; den Hof füllten ihre Karren. Unser Mahl glich dem in Yaṅ-sun . Schlaf gab es wenig, denn die Zimmer mündeten in jene Schuppen; die Thiere schrieen und bissen sich, die Kärrner fluchten und zankten die ganze Nacht. Auch war Alles recht schmutzig, und die Matte des Estrichs stark bevölkert. Bei Tagesgrauen stiegen wir am 22. Juni zu Pferde. Der Weg wird hübscher und schattiger; hier und da sieht man den Pei-ho . In der Herberge des Fleckens Ma-tau , der den Anblick grausiger Verwüstung bot, wurde ein kurzer Halt gemacht. Als im Herbst 1860 die Alliirten gegen Pe-kiṅ marschirten, wurde in einem Dorfe der Nachbarschaft auf englische Soldaten geschossen, die auf eigene Hand plünderten. Sir Hope Grant befahl, das Dorf zu zerstören; da aber Niemand dasselbe genau zu bezeichnen wusste, so beschloss der beauftragte Officier, die reichste und beste Ort- schaft der ganzen Gegend einzuäschern. Das unglückliche Loos traf Ma-tau , dessen Verbrennung Tausende harmloser Menschen an den Bettelstab brachte. Englische Officiere nannten nach dem Bericht ihrer eigenen Kameraden S. Rennie , Peking and the Pekingese I. 15. die Zerstörung dieses Fleckens statt des schuldigen, den man nicht finden konnte, einen der besten Scherze des ganzen Feldzugs, und ein junger Mann von der indi- schen Cavallerie beschrieb mit Enthusiasmus die innige Wollust, mit welcher er die wehrlosen Bewohner gespiesst habe. Das ge- schah vor dem Verrath von Tuṅ-tšau und der Schlacht von Tšaṅ-kia-wan . Hinter Ma-tau berührt die Strasse den Fluss zum letzten Mal und führt dann durch üppige Felder nach dem Städtchen Tšaṅ-kia-wan , das 1860 nach der Schlacht geplündert wurde. Von hier läuft nach dem Pei-ho ein schmales Rinnsal, das wohl zuweilen aus seinen Ufern tritt; auf trockener Wiese steht eine alte Brücke von schönen Quadern. Wir frühstückten in Tšaṅ-kia-wan und brachen um halb zwei wieder auf. An den Feldfrüchten merkt man, dass hier die Ebene höher liegt; wir sahen Buchweizen und Soya-Bohnen. IV. 4 Pe-kiṅ . XV. Immer belebter werden die Wege, die Tempel und Grabmäler häufiger. Herrliche Ulmen, Weiden und Sophora japonica be- schatten die zahlreichen Dörfer, in welchen sich das regere auch bei uns die Nähe der grossen Stadt bekundende Treiben zeigte. Staub und Hitze waren beträchtlich; die Pferde wateten in tiefem Sande. In dichte Staubwolken gehüllt, den Wachen völlig unsicht- bar, ritten wir um halb sechs durch das Ostthor der Chinesenstadt nach Pe-kiṅ hinein; unangefochten zogen wir weiter. Die Kärrner sollten uns nach einer chinesischen Herberge bringen. A-tšoṅ , der seit Singapore mit uns war, begriff leicht das Geheiss, wurde aber als Südchinese von jenen ebensowenig verstanden als wenn er deutsch redete. Einen anderen Dolmetscher hatten wir nicht. Nun führten uns die Kärrner in die Tartaren-Stadt und vor die eng- lische Legation, in dem Glauben, wir wollten dort bleiben. End- lich gelang es, sie zu belehren, und dann ging der Weg zurück in die grosse Hauptstrasse der Chinesenstadt , wo mehrere Männer uns lebhaft winkten, in ihr Haus einzutreten. Sie trugen emsig unser Gepäck in das Obergeschoss des Hinterhauses, fragten nach unseren Wünschen und brachten Thee, Apricosen, Milch und Eis herbei, lauter wünschenswerthe Sachen, die unsere Vorräthe ange- nehm ergänzten. Es war auch hier recht schmutzig, doch lagen wir bald im tiefsten Schlaf. Irrten wir doch nach dem Ritt von acht Meilen in glühender Sonne noch über eine Stunde im Gewühl der staubigen Gassen umher. Am folgenden Morgen regnete es. Wir liessen Droschken, d. h. Maulthierkarren holen, deren zu diesem Gebrauch an allen Strassenecken stehen, und fuhren zunächst nach dem im Süden der Tartarenstadt gelegenen Hauptgebäude der russischen Mission, in der Hoffnung, dort den Secretär des Gouverneurs von Ost-Sibirien , Herrn von Bützow zu finden, der uns in Tien-tsin besuchte. Von den anwesenden Missionaren sprach nur einer, Herr Papow , etwas französisch, alle übrigen nur russisch und chinesisch. Herr von Bützow war in dem andern Missionshause im Norden der Tartaren- stadt und im Begriff, nach Kiakta abzureisen; der Attaché von Brandt bat ihn brieflich um eine Unterredung. — Auf Befragen sagte uns Herr Papow , dass ganz in der Nähe ein geräumiges Grundstück liege, dessen Eigenthümer, ein Mandarin aus der kaiser- lichen Familie, die Russen täglich mit Bitten bestürme, es zu kaufen; er fürchtete von der Regierung gezwungen zu werden, es XV. Ein Haus gemiethet. der daran grenzenden englischen Gesandtschaft zu niedrigem Zinse abzutreten. Wir baten Herrn Papow , den Besitzer ausforschen zu lassen, und begaben uns nach der nahgelegenen französischen Le- gation. Der Gesandte, Herr von Bourboulon empfing uns höflich, legte jedoch des Grafen Eulenburg Schreiben uneröffnet bei Seite und sprach von gleichgültigen Dingen; auch Graf Kleczkowski und der zweite Secretär Herr de Méritens vermieden, nach dem Zweck unserer Sendung zu fragen; wir nahmen Theil am gemeinsamen Frühstück und kehrten dann nach der russischen Mission zurück, wo unterdess Herr von Bützow eingetroffen war, gestiefelt und ge- spornt zur Reise in die Tartarei . — Der Besitzer jenes Hauses hatte eingewilligt, uns dasselbe zu überlassen, aber ohne formelles Abkommen und bestimmten Miethspreis; unter der Hand erfuhr man, dass er etwa hundert Dollars monatlich erwarte. Auf den Rath der Missionare, mit denen Herr von Bützow sich russisch be- rieth, gingen wir nach dem kaum tausend Schritt entfernten Grund- stück; offenbar dazu angewiesen, führte uns der Pförtner durch die um mehrere Höfe gruppirten etwas baufälligen Räume. Der Eigenthümer, der in einer anderen Gegend wohnte, schien eben dagewesen zu sein; der Pförtner wusste durchaus Bescheid und zeigte keine Spur von Ueberraschung, als die Russen ihm er- klärten, dass wir das Haus gemiethet hätten. Herr von Brandt blieb gleich dort, während ich nach der Herberge zurückfuhr, den Wirth zu bezahlen und das Gepäck zu holen. Unsere Installirung war vollendete Thatsache und konnte nicht mehr hintertrieben wer- den, als die Behörden sie erfuhren; und darauf kam es an. Herr von Bützow , der lebhaften Antheil zeigte, nahm in der neuen Wohnung von uns Abschied und trat seine Reise an. Dann gingen wir zu unseren Nachbarn in der englischen Legation. Herr Bruce war sehr überrascht und nicht ohne Bedenken über Graf Eulenburg’s Plan, versprach aber seine beste Hülfe; er billigte den Gedanken, sofort das gemiethete Haus einzurichten, und stellte dazu seinen eigenen Comprador und mehrere Arbeiter zur Verfügung; im freundschaftlichsten Ton lud er uns für alle Mahlzeiten an seinen Tisch. Ebenso zuvorkommend empfingen uns die anderen Mitglie- der der Gesandtschaft. — Nachmittags sandten wir einen Courier nach Tien-tsin , um Graf Eulenburg unsere Erwerbung zu melden. Am folgenden Morgen kamen die bestellten Handwerker, Maurer, Tapezirer, Tischler, Lackirer, etwa vierzig Mann, und gingen 4* Mandarinen-Besuch. XV. rüstig an die Arbeit. In wenig Tagen sollte das Haus bewohn- bar sein; die nöthigen Möbel zu kaufen übernahm der Comprador des englischen Gesandten. — Gegen zwei Uhr Nachmittags brachte Herr Papow die Nachricht, dass der Adjutant des Prinzen von Kuṅ ihn aufgesucht und erklärt habe, das Eindringen der Preussen in die Hauptstadt sei ungesetzlich; sie hätten sich obendrein mit Gewalt eines Hauses bemächtigt; verliessen sie Pe-kiṅ nicht sofort, so werde die Regierung sie dazu zwingen. Herr von Brandt er- wiederte, dass wir solche Eröffnung einer Mittelsperson ohne amt- liche Stellung als ungeschehen betrachten und eine directe Mitthei- lung der kaiserlichen Regierung, entweder schriftlich oder münd- lich, durch einen Beamten von angemessenem Range erwarten müssten. Wir baten Herrn Papow , dem Adjutanten das zu sagen und die Verantwortung vorzustellen, die man durch Anwendung von Gewalt gegen Mitglieder einer fremden Gesandtschaft auf sich laden möchte. Bald darauf fuhr Herr von Brandt zum Grafen Kleczkowski . Ich war allein in einem der hinteren Höfe und sah den Arbeitern zu, als der beim Pförtner postirte Seesoldat die Ankunft eines Mandarinen mit grossem Gefolge meldete. Im Vorderhause fand ich einen jungen Mann mit glattem rundem Gesicht, in eleganter Kleidung; zwei Dolmetscher, von der englischen und der franzö- sischen Gesandtschaft, begleiteten ihn; das Gefolge füllte den ganzen Hof. Nach höflicher Begrüssung setzten wir uns; ich liess Champagner und Cigarren bringen und das Gespräch begann im freundschaftlichsten Ton. Der Chinese nannte sich Tšaṅ und Ad- jutanten des Prinzen von Kuṅ . Ich überreichte dagegen auf sein Befragen die chinesische Visitenkarte, auf der Graf Eulenburg mich als Mitglied der Gesandtschaft legitimirte. Tšaṅ erklärte nun mit dem heitersten Gesicht, der Vertrag mit Preussen sei noch nicht geschlossen; das Eindringen von Fremden, denen es nicht durch Verträge ausdrücklich erlaubt sei, streite gegen das chinesische Gesetz; dazu hätten wir uns mit Gewalt eines Hauses bemächtigt; der Prinz von Kuṅ ersuche uns, die Hauptstadt sofort zu verlassen. Ich erwiederte eben so freundlich, dass wir auf Befehl des Ge- sandten handelten, dass es uns nicht zustehe, die Gesetzlichkeit seiner Anordnungen zu erörtern; wir hätten gehört, das Haus sei zu vermiethen, und dem Besitzer sagen lassen, dass wir jeden Zins in den Grenzen der Billigkeit zahlen wollten; darauf habe der XV. Höfliche Ausweisung und Widerstand. Pförtner uns bereitwillig aufgenommen, unsere Sachen hereingetra- gen und den angeordneten Arbeiten jeden Vorschub geleistet. Wir seien angewiesen, bis auf Weiteres in Pe-kiṅ zu bleiben, und müssten gehorchen. Wünsche die kaiserliche Regierung unsere Abreise, so möge sie an den Gesandten schreiben; nur auf seinen Befehl dürften wir die Hauptstadt verlassen. — Tšaṅ berührte darauf die Erstür- mung des Hauses nicht weiter, — die Anklage musste ihm lächer- lich scheinen, — behauptete aber, der Prinz könne nicht an den Gesandten schreiben, da alle Mittheilungen durch die Commissare in Tien-tsin gehen müssten. Er schlürfte dabei sein Glas mit Be- hagen und Verständniss, rauchte in vollen Zügen und verlor keinen Augenblick die gute Laune. — Alsbald kam Herr von Brandt nach Hause und bekräftigte meine Aeusserungen. Wir erklärten höflich, dass wir bleiben würden; Tšaṅ meinte lächelnd, wir müssten reisen. Er fragte, ob Graf Eulenburg selbst nach Pe-kiṅ kommen wolle, und erhielt die Antwort, dass uns dessen Entschlüsse unbe- kannt seien. Tšaṅ erzählte ferner, dass der Prinz von Kuṅ allen Würdenträgern verboten habe, die Preussen oder deren Mitthei- lungen zu empfangen; er fragte nach dem Zweck unserer Anwesen- heit und wurde freundlich bedeutet, dass wir Anstand nähmen ihn darüber zu unterrichten. Auch das verstimmte ihn nicht. Die Unterhaltung drehte sich lange im Kreise; offenbar wünschte Tšaṅ uns in Gutem los zu werden und war von seinem Erfolge schlecht erbaut; er ging aber nicht über die höfliche Aufforderung hinaus und schied gutmüthig lachend, wie er kam. Die beiden jungen Dolmetscher der englischen und der französischen Gesandtschaft förderten bestens den freundschaftlichen Ton der Unterhaltung. Der Nachmittag verging ohne Zwischenfall. Einige Mit- glieder der englischen Legation besuchten die tapferen Preussen, die an der Spitze eines Seesoldaten Pe-kiṅ überrumpelt hatten, und gaben aus ihrer Erfahrung nützliche Rathschläge für Ein- richtung des Hauses. Gegen Abend kam noch Herr Papow , um nach Tšaṅ ’s Eröffnungen zu fragen: der russische Archimandrit habe demselben dringende Vorstellungen über die falsche Auffassung der chinesischen Regierung und die schlimmen Folgen gemacht, die jeder Gewaltschritt gegen Mitglieder einer Gesandtschaft nach sich ziehen müsse. Wir nahmen wieder am späten Diner des Herrn Bruce Theil und verschwatzten den Abend mit den Briten auf ihrem schönen Hofe, der, durch ein Mattendach gegen Bedenklichkeiten. XV. die Sonnengluth des Tages geschützt, jetzt labende Kühlung bot; um Luft zu geben, wurden Abends die Matten theilweise aufgerollt, die Sterne funkelten herrlich durch die Lücken; der Hof glich einem ungeheueren, von hohen Masten getragenen Zelt. Folgenden Tages beim Frühstück war Herr Bruce etwas nachdenklich. Eben von einem Spazierritt zurückgekehrt, er- zählte er, dass vor den Thoren die Garnison von Pe-kiṅ im Feuer manövrire, was bisher niemals geschehen sei. Auf seine Frage nach der Veranlassung hatte man ihm gesagt, es sei auf den preussischen Gesandten gemünzt, der ohne Erlaubniss nach der Hauptstadt kommen wolle. — Nachher erzählte Herr Bruce , Prinz Kuṅ sei über unsere Ankunft und die Aussicht, dass Graf Eulen- burg folgen werde, ganz ausser sich gerathen; er habe dem Minister Wen-siaṅ , der zugleich Chef der Gensdarmerie war, wegen unseres Eindringens bittere Vorwürfe gemacht, auch den gemessenen Be- fehl ertheilt, dem preussischen Gesandten durch Schliessen der Thore oder andere Schritte, nöthigenfalls mit Gewalt den Eintritt in die Hauptstadt zu verwehren. Zwar könne man bei Chinesen niemals wissen, ob sie ihre Drohungen ausführten, es scheine ihm aber bedenklich, es darauf ankommen zu lassen. Seiner Ansicht nach hätte Graf Eulenburg besser gethan, von Tien-tsin aus die Erlaubniss zur Reise nachzusuchen. — Der Attaché von Brandt stellte Herrn Bruce vor, dass sie Graf Eulenburg’s letztes Mittel sei, dass er sich deshalb einer ablehnenden Antwort nicht habe aussetzen dürfen und die ihm nach dem Völkerrecht zustehende Befugniss des Eintrittes in die Hauptstadt in Anspruch nehme. — Da jedoch eine Collision unbedingt vermieden werden musste, so beschlossen wir, dass ich am folgenden Morgen dem Grafen, den wir unterwegs glaubten, entgegenreiten und die Lage der Dinge mittheilen sollte. Herr Bruce hatte keine bestimmte Aeusserung gethan über die Stellung, die er den kommenden Eventualitäten gegenüber ein- zunehmen denke; ich bat ihn deshalb um eine Unterredung. Der Gesandte besprach zunächst die politische Lage. Die den Kaiser umgebenden Staatsmänner, welche denselben zur Flucht vermocht hätten, wünschten nur die Vertreibung der Fremden. Einstweilen komme es darauf an, dass die Gesandten sich einige Jahre in Pe- kiṅ hielten und bewiesen, dass sie nicht seegeborene Ungeheuer, wie die Mehrzahl der Chinesen noch immer glaubten, sondern Männer von strengem Rechtsgefühl seien, deren Anwesenheit der XV. Gespräch mit Herrn Bruce . Regierung Vortheil bringe und den gesetzmässigen Betrieb des Handels verbürge. Deshalb dürften sie nichts verlangen, was über die Bestimmungen der Verträge hinausgehe. Auf gemeinsam ge- übte Pression würde die chinesische Regierung wahrscheinlich den gewünschten Vertrag schliessen; dann sei aber die Stellung des Prinzen und des Ministers Wen-siaṅ gefährdet, deren Einfluss allein eine gedeihliche Entwickelung des Verkehrs erwarten liesse. Deshalb könnten die Gesandten den Prinzen nur auf Preussens Stellung als Grossmacht und den Vortheil hinweisen, welchen die Anwesenheit seines Vertreters der chinesischen Regierung bringen müsse. Chinesen aber eine neue Idee einzutrichtern, sei hoffnungs- los, und deshalb die Erfüllung der preussischen Forderungen sehr zweifelhaft. Hätte Graf Eulenburg von Tien-tsin aus dem Prinzen geschrieben, dass er mit den Commissaren nicht einig werde und ihn selbst zu sprechen wünsche, so wäre solches Verlangen, von den Gesandten unterstützt, gewiss erfüllt worden. Noch immer sei das Beste, von Tien-tsin aus in diesem Sinne zu handeln. — Ich erwiederte, dass unter den waltenden Umständen andere Auskunft gefunden werden müsse; Graf Eulenburg sei gewiss schon auf dem Wege und werde nicht umkehren. Nun entspann sich ein mehr- stündiges Gespräch, in welchem Herr Bruce das sichtliche Ver- langen zeigte uns beizustehen, woran ihn wohl nur seine Instructionen und das Gefühl der auf ihm lastenden Verantwortung hinderten. Es handelte sich darum, dass der preussische Gesandte nach Pe- kiṅ käme, ohne die Erlaubniss der chinesischen Behörden einzuho- len; denn die Möglichkeit der Abweisung musste ausgeschlossen werden. Aber grade hier lag der Haken. — Nach Ablehnung mannigfacher Vermittelungsvorschläge versprach Herr Bruce mir endlich Folgendes: wenn Graf Eulenburg unterwegs, — etwa in Tuṅ-tšau , — einen Tag verweilen und von da dem Prinzen in höflichem Schreiben seine nahe Ankunft melden wolle, so werde Herr Bruce demselben die Unziemlichkeit der Weigerung so drin- gend vorstellen, dass sie unmöglich würde. Auch dafür versprach er zu sorgen, dass der Träger von Graf Eulenburgs Schreiben in die Stadt gelassen würde. Nachmittags machte ich unter freundschaftlicher Führung des englischen Attaché Herrn Wyndham einen Spazierritt durch die kaiserliche Stadt. — Unterdessen traf Herr von Brandt in dem gemietheten Hause weitere Anordnungen; es wurde grade rüstig Tši-uën . XV. gearbeitet, als der Eigenthümer erschien, ein ältlicher schmutziger Herr von kranker Gesichtsfarbe, der als Abkömmling des Herrscher- hauses das gelbe Gewand, den rothen Knopf ersten Ranges und die Pfauenfeder trug. Tši-uën war, wie man uns sagte, ein Nach- komme des Kaisers Kaṅ-gi und Bruder des Prinzen von Liaṅ , dem der Palast der englischen Gesandtschaft gehörte. Ob die Schreibart Tši-uën genau dem Klang des chinesischen Namens entspricht, kann der Verfasser in diesem Falle eben so wenig verbürgen, als bei vielen anderen Namen. Sie entspricht dem Laut, den wir dem Ohr nach in unseren Notizen niederschrieben, und unterscheidet sich von der Schreibart des Dr. Rennie » Yih-kwan « nicht mehr, als die englische Schreibart vieler anderen chinesischen Namen von dem Laut, den wir selbst heraushörten. — Als Tši-uën oder Yih-kwan sein Grundstück im Herbst 1861 an eine englische Missionsgesellschaft verkaufte, — welche daselbst ein Hospital einrichten liess, — bezeichnete er sich im Kaufact als »von der kaiserlichen Familie, Mandschu des weiss-gerandeten Banners, durch (kaiserliche) Gnade Edler vom Rang eines Tu-kuo-tšiaṅ-tšun .« — Ueber die Adelsverhältnisse unter den Tartaren konnte der Verfasser keine Klarheit gewinnen. Die Chinesen haben überhaupt keinen Adel, wohl aber die Mongolen und die Tar- taren. Unter letzteren soll es nur acht Familien geben, in denen der fürstliche Rang erblich bliebe, während in allen anderen der Adel allmälig erlösche; die Ahnen jener Familien hätten dem Kaiserhause bei der Thronerwerbung im 17. Jahrhundert wesentliche Dienste geleistet. Er begeg- nete Herrn von Brandt mit süssester Freundlichkeit, besah und lobte die neuen Einrichtungen, schlug allerlei Verbesserungen vor, liess sich den Wein schmecken und steckte beim Abschied unge- beten alle Cigarren ein, deren er habhaft werden konnte. Von unserem Hause aber, das wussten wir, fuhr er zum Prinzen von Kuṅ , uns zu verklagen. Einmal traf ihn dort Graf Kleczkowski , wie er sich heulend dem Prinzen zu Füssen warf: da hätten ihm zwei Preussen sein Haus genommen, er verlange sein Recht u. s. w. Das wiederholte er täglich; denn, so gern er das Geld ein- strich, so bangte ihm doch um seinen Kopf; die kaiserliche Ver- wandtschaft hätte ihn nicht gerettet. Nach dem Besuch am Nach- mittag des 25. Juni reichte er der Regierung sogar eine Beschwerde ein: von seinem Grundstück werde eine Thür nach dem der eng- lischen Gesandtschaft gebrochen, was nimmermehr zu dulden sei u. s. w. Auch das war gelogen. — Herr Bruce , bei welchem der Prinz über uns Klage führte, wies jede Bezüchtigung derbe zurück und beleuchtete die Sinnlosigkeit der gegen uns erhobenen Anklagen. Herr Bruce hatte auch seinen chinesischen Comprador vor den kaiserlichen Be- hörden zu schützen, welche denselben wegen des durch Zuweisung der Handwerker und den Ankauf von Hausrath uns geleisteten Beistandes belangen wollten. Dem Aermsten bangte einige Tage um seinen Hals; der Gesandte legte sich aber wirksam ins Mittel. XV. Abreise nach Ma-tau . Die von den Gesandten in Pe-kiṅ damals befolgte Politik der äussersten Mässigung beschränkte höchst unbequem ihre eigene Freiheit; sie vermieden sorgfältig den Besuch des Sommer-Palastes und anderer heiliggehaltenen Orte, sowie jeden Schritt, der die Empfindlichkeit der Chinesen hätte reizen können, mochte sie auch noch so abgeschmackt sein. Sie hofften auf diesem Wege die Rückkehr des Kaisers nach Pe-kiṅ zu bewirken, wo er nach dem strengen Hofceremoniel im Herbst wichtige Opferhandlungen zu verrichten hatte. Käme er dann nicht, so wollten sie andere Wege einschlagen. So äusserte sich der englische Gesandte am Abend jenes Tages, als wir in seinem Zelthofe der Kühle genossen. Die politische Lage wurde nochmals erörtert; Herr Bruce machte aus den reichen Erfahrungen seiner diplomatischen Laufbahn in China anziehende Mittheilungen und kam zu dem Schluss, dass, wer dort nicht an der Spitze einer Armee auftrete, mit dem von der Regie- rung willkürlich Gebotenen oder Verweigerten zufrieden sein müsse; die Nichtgewährung des Gesandtschaftsrechtes sei weder ein Scha- den noch eine Demüthigung für Preussen ; in einigen Jahren müssten die Chinesen entweder zu Verstand kommen und die Gesandten aller Mächte aufnehmen, — oder in ihre alten Vorurtheile zurück- fallen, dann würden alle Gesandtschaften unmöglich. — Ein Man- darin des weissen Knopfes, der mir auf Antrag des Herrn Bruce von der kaiserlichen Regierung zugewiesen war und bei der Rück- kehr Einlass in die Hauptstadt verschaffen sollte, meldete sich noch spät und erhielt in meiner Gegenwart seine Instructionen. Früh um vier Uhr ritt ich am 26. Juni allein aus dem Thore von Pe-kiṅ und in einem Zuge bis Tšaṅ-kia-wan , wo kurze Rast gehalten und gefrühstückt wurde, dann weiter nach Ma-tau , wo mein weissknöpfiger Begleiter und der Karren mit Matratze und Reisesack mich einholten. Hier wollte ich Graf Eulenburg erwarten, der nach unserer Berechnung denselben Tag eintreffen mochte. Um ihn möglichst früh von der Sachlage in Kenntniss zu setzen, schrieb ich jetzt einen ausführlichen Bericht, und verlangte einen Courier, der unterwegs überall nach dem Gesandten forschen sollte. Nicht leicht war es, den Boten zu instruiren; die Zuschauer ergötzten sich innig an meiner Leistung: zuerst Vorzeigung des Schreibens und mehrerer Dollars; dann die Gebehrden des Sattelns, Aufsitzens, einige Galopsprünge: Gnei-lin-pu Ho-si-wu , Ho-si-wu meio (nicht), Yaṅ-sun ; Yaṅ-sun meio, Tien-tsin ; dazwischen immer Verhandlungen in Tien-tsin . XV. Galopsprünge und suchende Gebehrden. Nach einigen Wieder- holungen hatte der Mann verstanden; der Brief kam richtig in des Grafen Hände. Ich lebte den Tag über von Apricosen und Eiern, denn Anderes war nicht aufzutreiben, und legte mich früh zur Ruhe. Die Lage schien günstig; denn nach Tšaṅ ’s Besuch waren wir im Besitz des Hauses nicht gestört worden. Die Zuweisung des Mandarinen be- wies, dass die Regierung die Verbindung aufrecht halten wolle und nur noch die Erfüllung von Höflichkeitsformen erwarte; darauf hätte der Gesandte ungehindert nach Pe-kiṅ gehen und seinen persönlichen Einfluss geltend machen können, der wohl zu glück- lichem Ende geführt hätte; doch sollte es anders kommen. Am Tage nach unserer Abreise aus Tien-tsin — den 22. Juni — richteten die Commissare ein Schreiben an den Ge- sandten, in welchem sie zunächst auf die »Grossmächte« zurück- kamen. Früher hätten sie deren nur vier, nämlich England , Frank- reich , Russland , America gekannt, dann aber erfahren, dass auch Preussen dazu gehöre. Nun spreche der Gesandte in seiner Denk- schrift von dem ihnen gänzlich unbekannten Lande Oestreich ; das sei nun schon die sechste; man könne nicht wissen, wie viel andere »Grossmächte« noch auftauchen und Gesandte schicken möchten. Preussen solle sich doch einstweilen mit der consularischen Ver- tretung begnügen; in einigen Jahren, wenn die Völker sich näher gekommen und die Rebellen besiegt wären, möge von der kaiser- lichen Gnade auch das Gesandtschaftsrecht zu erlangen sein. Von den übersandten 45 Artikeln verwärfen sie nur fünf; die übrigen könnten mit geringen Aenderungen stehen bleiben. — Zugleich baten die Commissare den Gesandten wieder um eine Unterredung, die in der öffentlichen Halle von Tien-tsin am 24. Juni um neun Uhr Morgens stattfand. Da die Chinesen um diese Stunde ihre Hauptmahlzeit halten, wurde ein reichliches Frühstück aufgetragen: zuerst Früchte und Süssigkeiten, dann Hammel-, Rinder- und Schweinebraten, zuletzt dünne Fleischbrühe. — Den Commissaren machten die »Gross- mächte« Sorgen: wenn deren fünf in Europa , eine in America wäre, wie viele möchten die anderen Welttheile wohl bergen! Nach- dem Graf Eulenburg sie darüber beruhigt, gaben sie die mögliche Gewährung des Gesandtschaftsrechtes halb und halb zu, meinten XV. Das Gesandtschaftsrecht. aber, es müsse in einem Separatartikel stipulirt und in diesem auch das Versprechen gegeben werden, es in den ersten Jahren nicht auszuüben. Von geheimen Artikeln wollten sie nichts wissen, noch weniger von einer Note, welche jenes Versprechen enthalten sollte. Graf Eulenburg verlangte dagegen die Aufnahme des Gesandt- schaftsrechtes in den Text des Vertrages, und wies auch den Vor- schlag zurück, dass die aufgeschobene Ausübung in demselben Artikel versprochen würde. Die Commissare fürchteten in dem geheimen Artikel eine Falle und wollten den Zweck solcher Fassung nicht begreifen. Es setzte einen langen Kampf mit albernen Ein- würfen ohne Ende, welche der Gesandte mit himmlischer Geduld widerlegte. Tsuṅ-luen erklärte endlich die bindende Kraft des geheimen Artikels begriffen zu haben: die anderen Minister und der Kaiser würden sie aber nicht begreifen. Er bat, dass Graf Eulenburg den Artikel nach seiner Idee aufsetze; er selbst wolle ein Gleiches thun, dann könne man beide Formen in Einklang bringen. Als der Gesandte abermals betonte, dass Preussen hinter den anderen Mächten nicht zurückstehen könne, fragte Tsuṅ-hau ganz unbefangen, warum es dann seine Forderungen nicht zu- gleich mit England und Frankreich stellte; damals hätte die Ge- währung keine Schwierigkeit gemacht. Nun erklärte ihm Graf Eulenburg , dass er im Herbst 1860 eben so gut nach China kommen konnte, als jetzt, die Verlegenheiten der kaiserlichen Regierung aber nicht zu Erpressung von Rechten benutzen wollte, welche ihm sonst verweigert würden. Nur auf gleichem Fusse wünschte er mit China zu unterhandeln. Bei der Bedrängniss im Innern könne die enge Verbindung mit auswärtigen Mächten für das Kaiserhaus nur erspriesslich sein. — Das glaube er auch, sagte Tsuṅ-luen ; der Kaiser aber und seine Räthe meinten, dass grade die Anwesen- heit der Gesandten in Pe-kiṅ zu Conflicten führen müsse. Er klagte über den Einfluss jener Männer, welche dem Prinzen von Kuṅ und seiner Parthei den Zutritt zum Kaiser verschlössen; jeder Schritt der mit den auswärtigen Angelegenheiten betrauten Minister werde von Džehol aus scharf getadelt. Diese hätten wiederholt gebeten, die diplomatischen Geschäfte Männern der anderen Parthei zu übertragen; die wollten jedoch im Verborgenen, ohne Verant- wortung ihre Macht üben. Als des Gesandten Ankunft nach Dže- hol berichtet wurde, sei die Anwort erfolgt: aus dem Eindringen dieser »Hunderte Preussen« möge man sich nun überzeugen, wohin Schreiben der Commissare. XV. die fremdenfreundliche Politik führe. — Die Commissare versprachen schliesslich, abermals zu Gunsten der preussischen Forderungen nach Pe-kiṅ zu berichten, um wo möglich deren Gewährung zu erwirken. Die Nachgiebigkeit der Commissare erweckte die Vermuthung, dass Graf Kleczkowski’s Nachrichten ungenau seien, und machte den Gesandten bedenklich über unsere Reise nach Pe-kiṅ . Un- möglich konnten sie so auftreten, wenn, wie der französische Le- gationssecretär schrieb, aus Džehol die gemessene Weisung ge- kommen war, Preussen weiter nichts zu gewähren; bei der ge- wohnten Willenlosigkeit chinesischer Bevollmächtigter musste man aus ihrer Haltung sogar schliessen, dass sie schon zu Concessionen ermächtigt seien. Somit erfolgte unsere Sendung unter falschen Voraussetzungen und konnte übele Folgen haben. Leicht durfte der Prinz über die Vorbereitungen zu Uebersiedlung des Grafen ungehalten sein und sich einer den Verhandlungen schädlichen Verstimmung hingeben; denn sie compromittirten ihn im Augen- blick der durch ihn herbeigeführten günstigen Wendung. Ein vom 23. Juni — nach unserer Ankunft in Pe-kiṅ — datirtes Schreiben des französischen Gesandten enthielt nichts Neues über die Lage; Herr von Bourboulon verwahrt sich darin nur gegen den Gedanken, dass Graf Eulenburg’s Gegenwart ihm unbequem sein könne, und bedauert, demselben wegen verzögerten Eintreffens seines Mobiliars aus Shang-hae nicht die Gastfreundschaft seines Hauses anbieten, ihn in seinen Forderungen nicht kräftiger als bisher unterstützen zu können. Am Abend des 24. Juni erhielt der Gesandte den Bericht des Attaché von Brandt über unsere Installirung in Pe-kiṅ ; in der Nacht wurde er geweckt: ein Mandarin überreichte folgendes Schrei- ben der Commissare und die darin erwähnte Note des Prinzen von Kuṅ : »Wir senden deiner Excellenz eine Mittheilung und zugleich einen amtlichen Erlass, welchen der Prinz von Kuṅ und seine Colle- gen vom Amte der auswärtigen Angelegenheiten an uns richteten, und welchen wir deiner Excellenz durch einen Beamten zur Einsicht über- senden. Wir erwarten, dass deine Excellenz, nachdem sie davon Kenntniss genommen, das Schreiben demselben Beamten ausliefern werden, damit er dasselbe zurückbringe, was erforderlich ist. Für jetzt wünschen wir dir einen glücklichen Tag. Unsere Namen folgen hierbei auf Visitenkarten.« XV. Note des Prinzen von Kuṅ . Die vom 23. Juni datirte Note des Prinzen lautet: »Das von seiner kaiserlichen Majestät mit den Angelegenheiten der fremden Staaten betraute Amt sendet diese Note, damit derselben Folge gegeben werde. Den 15. dieses Mondes (22. Juni) erstattete uns die Wache des Militär-Postens am Stadtthor einen Bericht, in welchem sie sagt, dass zwei Preussen angekommen sind, welche behaupteten, hohe vom preussischen Gesandten abgeschickte Beamten zu sein, und dass sie eigenwillig, ohne Pässe zu haben, die Stadt Pe-kiṅ betraten. Die Thorwache wollte sie daran hindern, aber sie hörten nicht, sondern begaben sich nach dem Laden Kiṅ-fuṅ und quartierten sich dort ein. Als der Herr dieses Ladens sie am Eintritt hindern wollte, haben sie sich ihres Stockes bedient, ihn geschlagen und mit Gewalt seine Woh- nung eingenommen. Am folgenden Tage haben sich die genannten Beamten nach dem Hause eines gewissen Tši-uën neben der eng- lischen Gesandtschaft begeben und es gewaltsam in Besitz genommen, nachdem sie den Herrn des Hauses daraus vertrieben hatten. Dieses Benehmen ist sehr unvernünftig und den Verträgen der Briten, Franzosen, Russen und Americaner durchaus entgegen. Wenn diese Beamten sich so schlecht und ungesetzlich betragen, bevor die Preussische Nation ihren Vertrag geschlossen hat, so geht daraus her- vor, dass diese Nation kein Vertrauen verdient. An eure Excellenzen muss daher dieses Schreiben gerichtet werden, um ihnen zu sagen, dass die Verhandlungen über einen Han- delsvertrag mit dem Königreich Preussen sofort abzubrechen sind. Es ist nicht mehr nöthig, dass mit dem Gesandten, Grafen Eulenburg , weiter unterhandelt werde, und wir erwarten, dass eure Excellenzen ein Schreiben an ihn richten, worin sie ihm von diesem Umstande Kenntniss geben, damit er inne wird, dass er die Schuld trägt, und dass es nicht unsere Regierung ist, die es an gutem Vernehmen mit ihm fehlen liess. Und in Betreff der beiden Beamten, die nach Pe- kiṅ kamen, muss an den Gesandten Grafen Eulenburg geschrieben werden, dass er sie möglichst schnell nach Tien-tsin zurückrufen soll. Und wenn er dieser Aufforderung nicht nachkommt, so wird unser Bureau dieselben durch unsere Leute nach Tien-tsin zurück- führen lassen. Ferner: wenn eure Excellenzen noch einmal auf falschem Wege betroffen werden sollten, so wird das Amt ohne die geringste Nachsicht Anklage gegen dieselben erheben. — Besondere Mittheilung. Den 16. Tag des 5. Mondes des 11. Jahres von Hien-fuṅ . (23. Juni 1861.)« Mittheilungen der Commissare. XV. Die ihnen aufgetragenen Mittheilungen an den Gesandten formulirten die Commissare in einem zweiten Schreiben und schlossen mit der Bemerkung, sie seien eben bei Abfassung eines Berichtes an den Prinzen von Kuṅ gewesen, damit derselbe vom kaiserlichen Thron für Preussen das Gesandtschaftsrecht erflehe; das ungesetz- liche Betragen der preussischen Beamten in Pe-kiṅ habe jedoch Aergerniss gegeben, und nun dürften sie nicht zu seinen Gunsten reden. — Am folgenden Morgen — den 25. Juni — besuchte Graf Eulenburg die Commissare, erklärte ihnen die Motive seines Ver- fahrens und wies die gegen seine Attachés erhobene Anklage der Gewaltsamkeit von vornherein als unbegründet zurück. Den Com- missaren selbst kam der Erlass sehr überraschend; sie hofften aber zu Fortsetzung der Verhandlungen ermächtigt zu werden, wenn Graf Eulenburg sich zu schleuniger Abberufung seiner Beamten entschlösse. Deren Ankunft in Pe-kiṅ biete der Umgebung des Kaisers willkommenen Anlass, den Prinzen von Kuṅ zu verderben; zu seiner Rechtfertigung müsse derselbe unter Androhung von Ge- walt und Abbruch der Verhandlungen auf ihre Entfernung dringen. Ohne Pass von den Behörden der Vertragsmächte werde jetzt kein Fremder in die Hauptstadt gelassen; Graf Eulenburg habe einen ernsten Conflict zu gewärtigen, wenn er selbst den Versuch wage. Der Gesandte wäre nun am liebsten auf dem einge- schlagenen Wege fortgeschritten, mit einer Escorte von der Arkona nach Pe-kiṅ aufgebrochen. Die persönliche Genugthuung solchen Auftretens musste aber practischen Rücksichten wei- chen. Den Eintritt in die Hauptstadt konnte man nicht er- zwingen; die Zurückweisung wäre eine Beleidigung gewesen, welcher Graf Eulenburg die preussische Regierung nicht aus- setzen durfte. Gelang es ihm selbst in die Hauptstadt einzu- dringen, so konnte der Prinz ihm noch immer die Audienz verweigern, und, erbittert durch seinen Trotz, den Abbruch der Verhandlungen aufrecht halten. — War die Mittheilung des französischen Secretärs genau, so musste auch jetzt noch die Reise als letztes Mittel gewagt sein; die freundschaftliche Stim- mung der Commissare bewies aber, dass es um Erfüllung der preussischen Forderungen durchaus nicht so verzweifelt stand, wie Graf Kleczkowski schrieb. Und doch beruhte dessen Mitthei- lung, wie wir später erfuhren, auf einer ausdrücklichen in Gegen- wart des Herrn de Méritens abgegebenen Erklärung des Prinzen. XV. Die Reise des Gesandten aufgegeben. — Wenige Tage darauf fanden die französischen Secretäre den- selben plötzlich ganz umgestimmt und geneigt, auf die Anträge einzugehen. Da erfolgte unsere Ankunft in Pe-kiṅ , welche Alles wieder verdarb. Diese Umstände erklärten auch unseren kühlen Empfang auf der französischen Gesandtschaft, wo wir ohne Ansage in dem Augenblick erschienen, als unsere Sache eine gün- stige Wendung nehmen wollte. Da die Reise aber nicht ungeschehen zu machen war, so verbarg man uns das dadurch angerichtete Un- heil. — Durch die mit Herrn Bruce verabredeten Schritte wäre wohl Alles wieder in’s Gleiche gekommen, und der Gesandte in Pe-kiṅ etwa leichter zum Ziel gelangt, als in Tien-tsin , — denn es kostete dort noch harte Kämpfe; — es gab aber keinen Tele- graphen, ihn davon zu benachrichtigen, und schnelles Handeln war geboten. So beschloss denn Graf Eulenburg angesichts der ver- söhnlichen Haltung der Commissare schon am 25. Juni — dem Tage meiner Verabredungen mit dem englischen Gesandten — die Reise nach Pe-kiṅ aufzugeben und uns zurückzurufen. In einem an diesem Tage an die Commissare gerichteten Schreiben besteht er auf dem unbestreitbaren Recht, die Hauptstadt des Souveräns zu betreten, bei welchem er als Gesandter beglaubigt ist. In der Absicht, dem Prinzen von Kuṅ einen Besuch zu machen, habe er ein Haus in Pe-kiṅ miethen lassen. Preussische Beamten könnten nur mit preussischen Pässen reisen; damit seien die Attachés ver- sehen gewesen. Er rufe diese zurück, um die Verhandlungen in Tien-tsin fortzusetzen, und könne nicht glauben, dass die chine- sische Regierung dieselben auf unerwiesene Anklagen hin abbrechen wolle. — In einem zweiten Schreiben vom 27. Juni formulirte Graf Eulenburg seine in der letzten Conferenz gegebenen Aufschlüsse über die Grossmächte, seine Gründe, warum das Gesandtschafts- recht im Text des Vertrages, die aufzuschiebende Ausübung aber in einem Separat-Artikel versprochen werden müsse, und fügte den Entwurf eines solchen bei. Bald darauf wurden die Verhandlungen wieder angeknüpft. Herr von Brandt erhielt in Pe-kiṅ den Befehl zur Rückkehr am Nachmittag des 26. Juni; den Tag über war ohne jede Störung in den Wohnräumen gearbeitet worden. — Herr Bruce beurtheilte das Verfahren des Gesandten sehr günstig und versprach aus freien Stücken, dessen unbestreitbares Recht , nach der Hauptstadt zu kommen, dem Prinzen gegenüber zu behaupten. Er sowohl als Rückkehr nach Tien-tsin . XV. Herr von Bourboulon , welchem der Attaché gegen Abend seinen Abschiedsbesuch machte, kamen wieder auf die zarte Schonung zurück, mit welcher unter den dermaligen Verhältnissen Prinz Kuṅ und der Minister Wen-siaṅ zu behandeln seien, und freuten sich, dass Graf Eulenburgs Schritte deren Stellung nun nicht compro- mittiren würden. — In das gemiethete Haus zurückkehrend, fand Herr von Brandt den Eigenthümer, mit welchem er nach der russischen Mission fuhr. Tši-uën weigerte sich den Miethzins zu nehmen, da die Preussen ja nur einige Tage in seinem Hause ge- wohnt und wesentliche Verbesserungen gemacht hätten; er erbot sich, dasselbe vier Wochen lang in dem Zustande zu lassen, auch zu verkaufen oder auf längere Zeit zu vermiethen. Offenbar scheute er sich, in Gegenwart der Russen Geld zu nehmen; deshalb sandte ihm Herr von Brandt durch den Pförtner eine angemessene Summe. Um die Reise schneller zu machen, nahm Herr von Brandt einen chinesischen Karren und verliess Pe-kiṅ am 26. Juni Abends. In Ma-tau weckte er mich vor Tagesgrauen aus tiefem Schlafe, theilte mir den Befehl zur Rückkehr mit und fuhr weiter. Ich entliess in der Frühe den mir beigegebenen Mandarin, bestieg meinen Tartaren und ritt allein nach Tien-tsin , eine Strecke von etwa dreizehn Meilen, die der brave Gaul bei 30° R. fast in einem Zuge machte, ohne zu vermüden. Herr von Brandt , der von Pe- kiṅ dreiundzwanzig Stunden brauchte, kam zwei Stunden vor mir an. Sein Pferd, die Diener und unser Gepäck gelangten mit Herrn Heine am 28. Juni nach Tien-tsin . Die mildere Auffassung, welche beim Prinzen von Kuṅ der ersten Aufwallung folgte, bewies schon ein Schreiben an den Ge- sandten vom 25. Juni. Vom Abbruch der Verhandlungen ist nicht mehr die Rede: der Kaiser habe ausdrücklich Tsuṅ-luen und Tsuṅ-hau mit denselben beauftragt, welche ohne des Prinzen Theil- nahme handeln sollten; an sie habe der Gesandte sich in allen Stücken zu wenden. Er möge seine Begleiter aus Pe-kiṅ zurück- rufen, da der Prinz sie sonst nach den Landesgesetzen zur Abreise zwingen müsse. Von den Beschuldigungen ist nur die gewaltsame Besitznahme des Hauses berührt, an die er wirklich glauben mochte; denn dass wir die Thorwache bezwungen und den Wirth der Her- berge mit Stockprügeln erweicht hätten, musste bei ruhiger Be- trachtung lächerlich scheinen. Offenbar deckten die Wachen ihre Achtlosigkeit, der Wirth seine Habsucht durch solche Lügen. XV. Antwort an den Prinzen von Kuṅ . In seiner Antwort an den Prinzen von Kuṅ wies Graf Eulen- burg alle in dem Erlass vom 23. Juni an die Commissare enthal- tenen Anklagen als erfunden, und die Insinuation, dass »die Preussische Nation kein Vertrauen verdiene«, als Erguss einer mo- mentanen Wallung zurück: er wolle gewiss auf die Lage der chine- sischen Regierung und die besondere Stellung des Prinzen scho- nende Rücksicht nehmen, behalte sich aber vor, das Völkerrecht gegen jede Maassregel anzurufen, welche ihn verhindern sollte, sich den an der Spitze der Verwaltung stehenden hohen Personen zu nähern. IV. 5 XVI. TIEN-TSIN . VOM 30. JUNI BIS 11. SEPTEMBER. A nfang Juli wurde die Hitze in Tien-tsin unerträglich; selbst die Nächte boten nicht Kühlung. Vom frühen Morgen zeigte das Thermometer über 30° R., in der Nacht kaum unter 28°. Zwischen drei und vier Uhr Morgens pflegten wir uns auf dem Hofe zu ver- sammeln, die lauere Luft zu athmen. Am nordwestlichen Horizont lagerten stets dichtgeballte Wolkenmassen; in Pe-kiṅ , selbst in Ho- si-wu gab es erfrischende Güsse; selten verirrte sich aber nach Tien-tsin ein leichtes Wölkchen, das wie spottend einige Tropfen über uns ausspritzte. Selbst diejenigen Engländer, welche Indiens heisseste Plätze kannten, fanden es hier viel schlimmer. Denn dort steht jedes Haus allein und ist mit wirksamen Vorrichtungen zur Kühlung versehen; Tien-tsin dagegen ist eine compacte Häuser- masse mit engen Gassen und Höfen; die Sonne brennt durch die Dächer der einstöckigen Gebäude bis in die Zimmer hinein, die Backstein- und Lehmwände saugen sich voll Gluth und strahlen sie bei abgekühlter Luft gleich Oefen wieder; Abends wird man heiss davon angeblasen. Zuweilen regte sich die Luft; aber der Hauch wehte sengend, wie aus durchglühter Wüste. Die Hygro- meter standen auf dem Nullpunct. Man fühlte ein namenloses Un- behagen; die Esslust schwand, und den brennenden Durst zu löschen fehlten oft die Mittel; denn das Wasser von Tien-tsin ist, selbst mit Alaun geklärt, ungesund, filtrirte und kohlensaure Getränke konnten nicht in genügender Menge beschafft werden. Bier und Wein erhitzten das Blut, das gewaltsam zum Gehirn strömte und häufigen Schwindel erzeugte, wogegen man sich durch Auflegen nasser Schwämme oder Uebergiessen des Kopfes mit eiskaltem Wasser zu schützen suchte. Diese Vorsicht war geboten, denn die Hitze wirkte verheerend wie eine Seuche. Von der 3800 Mann starken englischen Garnison lagen Mitte Juli 360 in den Lazarethen; XVI. Grosse Hitze. Krankheit. in den heissesten Tagen starben davon durchschnittlich 8, — vom 18. bis 24. Juli 50 Mann, — ohne dass Epidemieen herrschten, nur an den Folgen der Hitze. Der Zustand war unheimlich; die Meisten beschlich das Uebel im Schlafe und führte in einer halben Stunde zum Tode, ohne dass der Kranke zum Bewusstsein kam. Wer un- thätig zu Hause blieb, war ebensowenig davor sicher, als wer sich der Sonne aussetzte und körperlich anstrengte. Die Aerzte wussten der Krankheit keinen Namen zu geben, und fanden in den seltensten Fällen Mittel dagegen. Der beginnende Andrang des erhitzten Blutes nach dem Gehirn machte schläfrig; dann wurden die Wallungen heftiger und erstickten den Kranken, der unter hohlem Röcheln verschied. Bei der Section pflegten die Aerzte den Körper in nor- malem Zustande, nur alle zum Gehirn führenden Gefässe zum Platzen mit Blut von höchster Temperatur gefüllt zu finden; die Leiche blieb Stunden lang glühend heiss. Blutergiessungen, wie beim Gehirn- schlag, wurden niemals beobachtet. Im ersten Stadium des Schwin- dels nur halfen die kalten Uebergiessungen; nachher blieb jedes Mittel, auch das Oeffnen der nach dem Gehirn führenden Schlagadern ohne Wirkung, das die Aerzte in verzweifelten Fällen versuchten. Graf Eulenburg verlor an diesem Uebel seinen Kammerdiener Paul , einen braven zuverlässigen Mann, den wir alle schätzten. Er war an Dyssenterie erkrankt, aber ganz davon hergestellt; wegen der zurückgebliebenen Schwäche jeder Arbeit enthoben, pflegte er sich im Hause herumzubewegen und früh zur Ruhe zu gehen. Am 21. Juli besuchte ihn Dr. Lucius noch um sieben Uhr Abends in seinem Zimmer, fand ihn heiter und behaglich und merkte kein beunruhigendes Symptom. Nach Tisch plauderten wir im Hofe; der Attaché Graf Eulenburg wollte gegen zehn aus des Gesandten Räumen etwas holen und hörte in Pauls daran stossendem Zimmer ein sonderbares Schnarchen. Dr. Lucius fand ihn röchelnd, mit gebrochenem Auge. Wir hoben ihn aus dem Bett, brachten ihn in die Luft und übergossen auf Dr. Lucius Anordnung den Kopf mit kaltem Wasser. Aus dem nahen englischen Lazareth kamen mehrere Aerzte herbei, Paul athmete kaum. Es war wenig nach zehn als alle Zeichen des Lebens schwanden; aber der Körper blieb glühend heiss bis zum folgenden Morgen. Er wurde unter dem Geleit der ganzen Gesandtschaft auf dem Friedhof der englischen Garnison an der südlichen Stadtmauer beigesetzt, wohin sich damals täglich mehrere Leichenzüge bewegten. 5* Witterungsverhältnisse. XVI. Das war der einzige Todesfall bei uns in Tien-tsin ; mehr oder weniger aber griff das Klima Alle an; bei Vielen zeigten sich die Folgen erst später. Herr Bismarck musste, wie gesagt, Anfang Juli auf die Arkona gebracht werden und machte eine schwere Krankheit durch. Der Attaché von Brandt und Dr. Lucius litten seit Mitte Juli an Fieber, und am 28. Juli hatte der Dolmetscher Herr Marques einen Schlaganfall, der seine linke Seite lähmte. Die schnelle Hülfe und sorgsame Pflege des Dr. Lucius thaten gute Wirkung; schon nach wenigen Tagen kehrte Leben in das linke Bein zurück; für den Dienst jedoch wurde Herr Marques untaug- lich, und da der bejahrte Mann nach seiner Familie verlangte, so schickte der Gesandte ihn am 10. August unter Obhut des Attaché von Brandt an Bord des englischen Dampfers Feelong, der ihn nach Shang-hae brachte. Herr von Brandt blieb zu Herstellung seiner Gesundheit einige Zeit auf der Arkona. — Wie verderblich das Klima von Tien-tsin wirkte, beweist der Umstand, dass sämmt- liche als Ordonnanzen zur Gesandtschaft commandirten Seesoldaten noch vor Rückkehr der preussischen Schiffe nach der Heimath ge- storben sind. Ende Juli gab es einige Regenschauer; man fühlte sich bei 26° R. seltsam erfrischt, und fröstelte, als das Quecksilber gar einmal auf 20° R. herabsank; mit geringen Unterbrechungen aber dauerte die arge Hitze bis zum 20. August. Dann traten starke Güsse ein; zuweilen durchweichte ein Wolkenbruch die Ebene dermaassen, dass wir Tage lang von Spazierritten abstehen mussten; die Temperatur schwankte zwischen 20° und 26° R. Anfang September war es bald herbstlich kühl, bald drückend heiss. Das Wetter des Jahres 1861 soll in Nord-China abnorm gewesen sein; die Regenzeit fällt dort gewöhnlich in die Monate Juni und Juli, während August und September für trockene Monate gelten. Es war eine qualvolle Zeit, besonders für den Gesandten, dessen Geduld die chinesischen Commissare auf das härteste prüften; Wochen lang schien kein Ende der Verhandlungen abzusehen. Das trostlose Tien-tsin bot auf die Länge nicht die mindeste Anregung zu irgend welcher Thätigkeit; die furchtbare Hitze machte jede Ver- richtung zur körperlichen Qual und raubte alle Kraft zu selbst- gewählter Arbeit. — Der Besuch von der Arkona, welcher einige Abwechselung in das häusliche Leben brachte, verliess uns bald nach dem Erscheinen des herrlichen Kometen, der am Abend des XVI. Exerciren der englischen Garnison. 1. Juli bei Dunkelwerden wie hingezaubert am Himmel stand. Wir sassen im Hofe grade bei Tisch und konnten den dem Horizonte nahen Kern nicht sehen; der Schweif aber reichte weit über den Zenith hinaus. Am 2. Juli blieb der Kern bis nach elf über dem Horizont; der Schweif erstreckte sich vom Sternbilde des Luchses zwischen den Bären durch bis zum Schlangenträger. In den folgen- den Nächten näherte der Kern sich dem grossen Bären; der Schweif schrumpfte ein, bald erblasste das glänzende Bild. Wir vermutheten darin den 1264 und 1556 gesehenen Kometen, der nach chinesischen Annalen auch im 4., 7. und 10. Jahrhundert erschienen wäre. Der Verkehr mit den englischen Schicksalsgenossen erhielt neues Leben durch den Besuch einiger höheren Officiere. Anfang Juli kamen General-Lieutenant Sir John Michell , der Commandeur der englischen Truppen in China , und Capitän Lord John Hay , dessen Corvette Odin den eben geöffneten Hafen Niu-tšwaṅ be- suchen sollte. Sir John Michell verweilte einige Tage in Pe-kiṅ ; nach seiner Rückkehr fand auf der Ebene südlich von Tien-tsin ein grosses Exerciren der Garnison im Feuer statt, welchem Graf Eulenburg und seine Begleiter beiwohnten. Alle Bewegungen wur- den mit grosser Schnelligkeit und Präcision ausgeführt; sie bewie- sen, dass die englische Armee durchaus nicht hinter den Anforde- rungen der verbesserten Feuerwaffen und der dadurch veränderten Taktik zurückblieb. Sehr malerisch wirkten mehrere Schwärm- Attaquen von Fane’s Reiter-Regiment, doch gewannen unsere mili- tärischen Begleiter die Ueberzeugung, dass diese leichte indische Cavallerie keiner europäischen gewachsen ist. Ihre Attaquen waren ziemlich ungeordnet, viele Reiter stürzten, ihr Gebrüll mahnte an den Angriff wilder Horden. — Zu Ehren Sir John Michell’s fanden auch ergötzliche Aufführungen im Theater der englischen Officiere statt. Auf unsere Geselligkeit wirkte seine lebendige Unterhaltung sehr anregend; Sir John machte durchaus seinem Ruf Ehre, der ihn als abgehärteten Krieger von seltener Jugend- frische bezeichnete. Grosse Theilnahme erregte in Tien-tsin der Besuch des Major Brabazon , dessen Sohn vor der Schlacht von Tšaṅ-kia-wan mit Herrn Loch in die chinesischen Linien ritt um Consul Parkes und dessen Gefährten zu suchen, bei Auslieferung der Gefangenen aber vermisst wurde, während man die Leichen aller zu Tode ge- marterten Engländer erkannte. Allein das Schicksal des Capitän Capitän Brabazon und Abbé de Luc . XVI. Brabazon und des Abbé de Luc blieb geheimnissvoll. Des Ersteren alter Vater fand die für seinen Tod sprechenden Zeugnisse nicht beweisend und kam nun selbst gereist, nach dem Verlorenen zu forschen. In dem Glauben, dass sein Sohn irgendwo festgehalten würde, bot er 20,000 Pfd. St. für dessen Auslieferung, erlangte da- durch aber nur Gewissheit von seinem Tode; denn solche Summe hätte den härtesten Chinesen erweicht. Es war ein schmerzlicher Anblick, wie der alte Herr seines Sohnes Waffengefährten aus- fragte und seine sinkende Hoffnung an jeden Strohhalm klammerte. Niemand zweifelte an Capitän Brabazons Tod; wer mochte das aber dem Vater sagen? — Noch während die Alliirten in Pe-kiṅ standen, meldete ein chinesischer Christ von Tšen-pao ’s Heer dem französischen Bischof Anouile , dass am 21. September während der Schlacht zwei Europäer im Hofe eines Tempels nicht weit von der Brücke Pa-li-kao hingerichtet worden seien; er habe die hauptlosen Leichen und an der einen ein Crucifix gesehen, das er — als Christ — zu kaufen suchte. Darauf sandte General Montauban nach der bezeichneten Stelle ein Detachement Soldaten, welche die zer- fleischten Reste zweier Leichen, ein menschliches Haupt, ein Stück Zeug von der Kleidung eines Geistlichen und ein Stück blaues Tuch mit rothem Streifen, wahrscheinlich von Capitän Brabazons Beinkleidern herrührend, ausgruben. An dem besonderen Schnitt und der Farbe des Haares erkannten die Franzosen das Haupt des Abbé de Luc ; ein zweites wurde nicht gefunden. Jener chinesische Soldat erzählte ferner, dass bald nach Anfang der Action das Pferd des commandirenden Feldherrn Tšen-pao durch eine Granate ge- tödtet wurde; er habe ein anderes bestiegen, sei aber gleich darauf von einem Granatsplitter herabgeworfen worden, der ihm den Kinn- backen zerschmetterte. Als man ihn aufhob, habe Tšen-pao den Rückzug des Heeres und schleunige Hinrichtung der beiden Euro- päer angeordnet, das Verlangen seiner Untergebenen nach schrift- lichem Befehl zu letzterer aber unter Hinweisung auf seinen Zu- stand heftig zurückgewiesen und Gehorsam gefordert: die schrift- liche Ordre solle nachfolgen, sobald er zu schreiben vermöchte. — Später meldete sich mit diesem Zeugen noch ein anderer Soldat, der zugegen war, als die Gefangenen herausgeführt, auf die Knie geworfen und enthauptet wurden; dabei scheint es unordentlich zu- gegangen zu sein, weil kein Soldat den Henker spielen, die Verant- wortung übernehmen mochte, auf mündlichen Befehl zu handeln. XVI. Weitere Nachforschungen. — Anfang Mai 1861 besuchten die Herren Wade und Parkes den Schauplatz der Hinrichtung und fanden, mit feuchter Erde ge- mischt, das kurze Haar eines Europäers, welches der Farbe nach dem des Capitän Brabazon glich, ferner ein Stück seidener Litze, wie sie in Hong-kong für Uniformen englischer Officiere gefertigt wird. Ein Landmann, den sie dort sprachen, sah die hauptlosen, sonst aber unversehrten Leichen; nachher hätten Hunde, die, aus den zerstörten Dörfern vertrieben, heerdenweise verhungernd herum- irrten, dieselben zerfleischt; die Reste wären in eine Grube ge- worfen und leicht mit Erde bedeckt worden. Im Heere der Alliirten zweifelte schon deshalb Niemand am Tode der beiden Gefangenen, weil sie auf Lord Elgins Drohung, den Palast von Pe-kiṅ zu verbrennen, nicht herausgegeben wurden. Wie alle anderen Gefangenen, so hätten die Chinesen sicher auch diese lebendig oder todt ausgeliefert. Trotzdem stellte Herr Bruce auf Veranlassung der englischen Regierung abermals Nachforschun- gen an: der Prinz von Kuṅ befragte schriftlich Saṅ-ko-lin-sin und Tšen-pao . Ersterer antwortete kurz, dass er alle Gefangenen nach Pe-kiṅ gesandt habe. Tšen-pao erwiederte ausweichend: wenn am 21. September europäische Gefangene bei seinem Heere gewesen seien, so müssten sie in der Verwirrung des Rückzuges entweder entkommen oder von den Soldaten niedergemacht worden sein; eine andere Möglichkeit scheine ihm nicht denkbar. — Der Prinz von Kuṅ liess damals öffentlich Belohnungen, ja den Mandarinen- knopf bieten, wenn Jemand beweisende Auskunft über das Schicksal der Vermissten gäbe; aber Niemand meldete sich. Nachdem Major Brabazon in Pe-kiṅ alle Mittel erschöpft hatte, die zu Entdeckung seines Sohnes führen konnten, vertiefte er sich in den Wahn, dass Saṅ-ko-lin-sin ihn bei sich festhalte. Dieser stand, Rebellen bekämpfend, in Šan-tuṅ . Major Braba- zon suchte sich nun die Erlaubniss der chinesischen Regierung zu persönlichen Nachforschungen im Heere Saṅ-ko-lin-sin ’s auszu- wirken, musste jedoch von diesem Vorhaben abstehen, da der Prinz und Wen-siaṅ die Schwierigkeiten der Reise in die insurgirte Pro- vinz für unüberwindlich erklärten. Fesselnde Schilderungen der Tage von Tšaṅ-kia-wan und Pa-li-kao gab Herr de Méritens , der zweite dolmetschende Secretär der französischen Gesandtschaft, der im Auftrag des Baron Gros mit Herrn Parkes nach Tuṅ-tšau ging, am Morgen der Schlacht Arkona bei der grossen Mauer. XVI. von Tšaṅ-kia-wan aber noch glücklich in die Linien der Verbün- deten gelangte. Er kam am 22. Juli nach Tien-tsin , blieb mehrere Wochen und wurde auf der preussischen Gesandtschaft ein gern gesehener Gast. Nach des Herrn Marques Erkrankung stellte er sich mit Genehmigung seines Vorgesetzten zu Graf Eulenburg’s Verfügung, und förderte durch seine Gewandtheit und das Vertrauen, dessen er bei den chinesischen Ministern genoss, wesentlich den Abschluss des Vertrages. Das Napoleonsfest beging die französische Garnison mit feierlichem Tedeum und dreimaligem Salut von 21 Schüssen, welchen die englischen Batterieen erwiederten. Einem Diner, das der französische Consul, Herr Trèves , nachträglich aus diesem An- lass gab, wohnten die Attachés der preussischen Gesandt- schaft bei. Von der Arkona, die inzwischen mit dem Transportschiff Elbe eine Reise nach dem Norden der Bai von Pe-tši-li gemacht hatte, kamen am 11. August einige Officiere nach Tien-tsin . Die Schiffe liefen u. a. die Mündung des Lao-tuṅ -Flusses an, wo die grosse chinesische Mauer das Meer berührt. Ein Theil der Be- satzung landete und erstieg die Mauer. Die Mandarinen des be- nachbarten Städtchens empfingen sie mit zurückhaltender Höflich- keit. Sie berichteten darüber nach Pe-kiṅ , und die Commissare mussten den Gesandten zur Rede stellen, dass vor Unterzeichnung des Vertrages preussische Schiffe einen den Fremden nicht ge- öffneten Hafen besucht hätten. In seiner Antwort bestätigte Graf Eulenburg einfach die Thatsache und dabei blieb es. — Vom Rande des Meeres läuft die grosse Mauer, deren Sockel aus Granit be- steht, über steile Felsgebirge landeinwärts; anderthalb Meilen vom Strande soll sie schon 2500 Fuss hoch stehen. Viele Steine wan- derten als Andenken auf die Arkona, welche am 7. August nach der Pei-ho -Mündung kam, gegen Mitte desselben Monats nach den Mia-tau -Inseln fuhr, um frischen Proviant einzunehmen, dann nach der Ta-ku -Rhede zurückkehrte und erst Ende August wieder nach Tši-fu ging. Die Gesundheit der Mannschaft war vor- trefflich. Trotz der argen Hitze boten unsere Spazierritte im Juli und August einigen Genuss; in der Richtung von Pe-kiṅ prangte jetzt die Ebene im Schmuck der üppigsten Felder, besonders von Hanf und Hirse; mächtige Ricinus-Stauden säumten die Wege. Der unter XVI. Rennpreis der Gesandtschaft. der Südmauer von Tien-tsin gelegene Theil der Ebene blieb kahl; hier fanden jeden Sonnabend die Pferderennen der Džim-kana statt, denen wir regelmässig beiwohnten. In Erwiederung der ge- nossenen Gastfreundschaft verehrten Graf Eulenburg und seine Be- gleiter dem Club einen silbernen Humpen, den sie in Tien-tsin fertigen liessen. Die Vorderseite schmückte der preussische Garde- Adler, nach dem Modell auf dem Helm des Attaché Grafen zu Eulenburg in Silber getrieben, von vorzüglicher Arbeit. Ringsum waren auf mattem Grunde Lotos und Bambus als glückbringende Embleme in halb erhabener und gravirter Arbeit, und der vom chine- sischen Silberschmiede sonderbar gewählte Sinnspruch angebracht: »Der Hauch des Weisen gleicht dem süssesten Blumenduft.« Den Henkel bildete ein massiv gearbeiteter Drachen; innen war der Humpen stark vergoldet. Die Engländer veranstalteten dafür ein glänzendes Rennen, das am 31. August stattfand: eine englische Meile, einfacher Sieg. Die besten Pferde waren dafür trainirt; rege Theilnahme bewies die Höhe der Wetten. Acht Pferde liefen in lebhafter Gangart vom Pfosten, und der Kampf steigerte sich bis zuletzt. Moonraker, ein Pferd des Lieutenant Upperton , der in Capitän Fane’s Abwesenheit dessen Regiment commandirte, blieb Sieger. Nachdem die Stewards demselben den Preis zugesprochen, übergab ihm Graf Eulenburg mit herzlichen Worten den Humpen, der, mit drei Flaschen Champagner gefüllt, die Runde machte. Nach dem Schreiben des Gesandten vom 27. Juni mit dem Entwurf des Separat-Artikels wurden die Verhandlungen ohne weiteres wieder aufgenommen. Die Commissare besuchten ihn am 30. Juni in eleganter Sommerkleidung: Tsuṅ-luen trug einen langen blauen Rock von durchsichtigem Crêpe, Tsuṅ-hau ein gelbes Gewand, über weissen Unterkleidern; um den Leib hatten sie Gürtel, vorn mit Edelsteinen besetzt, auf dem Kopf den kleinen spitzen Stroh- hut, den im Sommer alle Chinesen tragen. Tsuṅ-luen schien sehr vergnügt über Erledigung des verfänglichen Zwischenfalles und sprach begeistert von den Festen, welche die Bevollmächtigten einander nach Abschluss des Vertrages geben wollten, wurde aber schwierig, als Geschäfte zur Sprache kamen: Preussen müsse ver- sprechen, auf zehn Jahre keinen Vertreter nach Pe-kiṅ zu schicken. Vertragsverhandlungen. XVI. Da nun nach Graf Eulenburgs Entwurf der Vertrag überhaupt nur zehn Jahre ohne Aenderung und Revision bestehen sollte, so hätte die Aufnahme des Gesandtschaftsrechtes bei solchem Zugeständniss überhaupt keinen Werth gehabt. Auch dieser Schritt der Manda- rinen stimmte wieder genau zu einem eben eingelaufenen Vorschlag des Grafen Kleczkowski . Der Gedanken, uns in dieser Weise zu nützen, war sehr unglücklich; denn bei der beständig urgirten So- lidarität der Interessen aller civilisirten Völker musste die chinesische Regierung glauben, dass ein von dem Gesandten einer europäischen Macht ausgehender Vorschlag von dem Vertreter einer anderen un- bedenklich anzunehmen sei. Es war gewiss keine Eifersucht darüber, dass Preussen ohne weiteres erlangen sollte, was England und Frankreich durch langjährige Unterhandlungen im Kriege erkämpft hatten; man glaubte eben nicht, dass die preussischen Forderungen auf friedlichem Wege durchzusetzen wären, und sann deshalb auf Auswege. Solche konnten nun wohl den Chinesen, nicht aber dem preussischen Bevollmächtigten zusagen, der gewissermaasen trotz denselben, nur durch zähe Beharrlichkeit und energisches Auftreten zu seinem Ziele gelangte und alle wesentlichen Puncte durchsetzte. Tsuṅ-luen bestand hartnäckig auf der zehnjährigen Frist und beantwortete alle Argumente des Gesandten mit den schon zum Ueberdruss wiederholten Bedenken: Pe-kiṅ werde mit Ge- sandten überschwemmt werden; in Džehol herrsche maassloses Misstrauen gegen den Prinzen und seine Amtsgenossen, denen es nicht gelingen werde, den allerdings richtigen Gesichtspuncten des Grafen beim Kaiser und seinen Räthen Geltung zu verschaffen; die Unruhen im Inneren verböten weiteres Anknüpfen auswärtiger Be- ziehungen u. s. w. Da Tsuṅ-luen auf letzteren Punct immer wieder zurückkam und es keineswegs für ausgemacht hielt, dass die Rebellen in fünf Jahren besiegt wären, so zeigte ihm Graf Eulenburg die Kehrseite dieser Auffassung: die kaiserliche Regierung dürfe sich bei feindlicher Politik gegen die fremden Mächte nicht wundern, wenn diese sich an eine so starke Gegenparthei hielten; es gebe Beispiele von Dynastieen, die bei Bekämpfung innerer Unruhen nur wegen ihrer schlechten Beziehungen zu fremden Mächten unterlegen seien. — Dies möge nur als Beispiel der Argumente dienen, deren der Gesandte sich in den alle menschliche Geduld erschöpfenden Besprechungen oft bedienen musste. — Tsuṅ-luen kam immer wieder auf die zehnjährige Frist zurück; er könne dann auch ohne Bericht XVI. Neue Bedingungen. an den Kaiser den Vertrag zum Abschluss bringen. Da Graf Eulen- burg aber fest blieb, so bat Tsuṅ-luen ihn endlich, die eben be- handelten Fragen zum Gegenstande eines amtlichen Schreibens zu machen. Der Gesandte erklärte nun den Commissaren schriftlich auf das bündigste, die Frist von fünf Jahren nicht um einen Monat verlän- gern zu wollen, und ersuchte Herrn Marques , ihnen auch mündlich die Ueberzeugung beizubringen, dass es ernst gemeint sei, dass kein Vertrag zu Stande kommen werde, wenn sie nicht jene Vorschläge zur Geltung brächten. Im vertrauten Gespräch mit dem Dolmetscher äusserten die Commissare, alle Schwierigkeit entspringe nur daraus, dass man sich über die preussischen Forderungen anfangs nicht klar gewesen sei. Auf die erste Eröffnung des Grafen hatte Prinz Kuṅ die Gesandten von England und Frankreich über Preussens Stellung befragt, und erfahren, dass es eine Grossmacht, sein Herr- scher mit der Königin von England verwandt sei; auf die Frage aber, ob wohl die Errichtung einer Gesandtschaft in Pe-kiṅ be- ansprucht werde, hätten die Dolmetscher geantwortet: davon sei keine Rede. In diesem Sinne sei nach Džehol berichtet, und darauf die Ernennung der Commissare befohlen worden. Nun könne man schwer dem Kaiser vorstellen, dass des Prinzen Bericht auf Irrthum beruhe, noch schwerer aber nachträglich die Gewährung des Gesandtschaftsrechtes erwirken. Den Tag nach dieser Unterredung — am dritten Juli — lief ein Schreiben des Grafen Kleczkowski ein, in welchem die Bedin- gungen des Prinzen für Gewährung des Gesandtschaftsrechtes näher bezeichnet waren: 1. sollte Preussen sich verpflichten, dieses Recht zehn Jahre lang nicht auszuüben; 2. sollte diese Verpflichtung nicht in einem geheimen, sondern in einem Additional-Artikel aus- gesprochen werden, welcher in China zu publiciren sei; 3. sollte Preussen nicht auf Accreditirung eines chinesischen Gesandten be- stehen, wenn ein solcher nach London , Paris und Petersburg ginge; 4. sollten die Ratificationen des Vertrages nach einem Jahre in Shang-hae durch den preussischen General-Consul und den chine- sischen Intendanten der geöffneten Häfen ausgetauscht werden; 5. dürften aus der Installirung eines preussischen Gesandten in Pe-kiṅ der chinesischen Regierung niemals Kosten erwachsen; 6. dürfe der preussische Vertrag keinen Artikel enthalten gleich denjenigen des englischen und französischen, nach welchen der Antwort des Gesandten. XVI. englische und der französische Text allem maassgebend wären; 7. dürfe der König von Preussen nicht mit den die Würde des chinesischen Kaisers ausdrückenden Schriftzeichen, sondern mit einem anderen bezeichnet werden, das für Ihre Majestät die Königin von Grossbritannien gebraucht worden sei. — Endlich verlange der Prinz von Kuṅ , dass Preussen nur Beamte als Consuln nach China senden, dass den Consular-Agenten aus dem Handelsstande das Recht der Ertheilung von Pässen nicht zustehen solle. Graf Eulenburg antwortete dem französischen Legations- secretär umgehend, dass er die unter 1. genannte Verpflichtung für Preussen nicht übernehmen könne, sondern bei dem Anerbieten des fünfjährigen Aufschubes, — zu rechnen vom Datum der Ratification, — oder des sechsjährigen, vom Datum der Unterzeichnung an, blei- ben müsse, wenn etwa letztere Form dem Prinzen angenehmer wäre; dass er die dritte Bedingung nicht verstehe, da im Entwurf des Vertrages ein Recht für Preussen , die Absendung eines chine- sischen Gesandten zu verlangen, durchaus nicht enthalten sei. Ge- gen den 2., 4., 6. u. 7. Punct habe er nichts zu erinnern; der 5., dass die preussische Gesandtschaft der chinesischen Regierung keine Kosten machen solle, sei schon in seinem Entwurf erledigt. — Den ferneren Wünschen des Prinzen gegenüber müsse er der preussischen Regierung und den Hansestädten das Recht wahren, die ihnen ge- eignet scheinenden Personen zu Consuln zu ernennen. Zugleich richtete der Gesandte eine Note an den Prinzen von Kuṅ , die im Ton eines freundschaftlichen Ultimatum seine Bedin- gungen als unwiderruflich hinstellte: der Prinz möge seine eigene wohlbegründete Ansicht, dass die Gewährung der preussischen For- derungen China keinen Nachtheil bringen könne, beim Throne zur Geltung bringen; der fünfjährige Aufschub für die Ausübung des Gesandtschaftsrechtes sei eine Gefälligkeit für die chinesische Re- gierung, welche bis dahin gewiss die Rebellen bewältigen werde. Schon am 5. Juli schrieb Graf Kleczkowski zurück, dass Prinz Kuṅ und der Minister Wen-siaṅ das Gesandtschaftrecht unter Be- dingung des sechsjährigen Aufschubes vom Tage der Unterzeich- nung an zu gewähren dächten, dass nun dem Abschluss nichts mehr im Wege stehe. Am 8. Juli aber kam ein Schreiben der Com- missare, die zwar jene Mittheilung bestätigten, jedoch mit dem Zu- satz, dass der ganze Entwurf des Vertrages dem Kaiser vorgelegt werden müsse und keine Aussicht auf Genehmigung habe, wenn XVI. Neue Schwierigkeiten. der Gesandte nicht folgenden Forderungen entsage: 1. dem Rechte deutscher Unterthanen, im Innern von China zu reisen; 2. dem Schutze der Christen; Nach Aufhebung aller Verbote, schrieben die Commissare, genössen alle Christen des Schutzes der chinesischen Gesetze. — Man fürchtete offenbar Unter- stützung der Tae-piṅ . 3. den neuen Bestimmungen über die Küstenschiffahrt; Dieser Artikel betraf die zollfreie Einführung chinesischer Waaren in chine- sische Häfen, welche in den anderen Verträgen nicht stipulirt war. 4. dem Rechte deutscher Kriegsschiffe, alle Häfen von China anzulaufen; 5. der Forderung, dass der deutsche Handel eventuell bei einem Kriege China’s mit einer anderen Macht keine Unterbrechung leiden solle. Letzteren Artikel verwarfen die Commissare als unheildrohend. Sie verlangten ferner, dass das Recht der Hansestädte, eigene Consuln zu ernennen, in den Haupt- vertrag aufgenommen werde, und fügten einen Gegen-Entwurf des Separat-Artikels bei, der dessen Sinn durchaus veränderte: nach fünf Jahren vom Tage der ausgewechselten Ratification an sei zu- nächst zu entscheiden, ob die militärischen Operationen im Innern von China ihr Ende erreicht hätten; anderen Falles müsse die chinesische Regierung zu Verlängerung der Frist berechtigt sein. — Die Commissare hatten zudem unter dem Schein kleiner Re- dactions-Aenderungen den Sinn fast aller Artikel umgestaltet und betonten von neuem, dass sie nur Handelsbestimmungen, keinen politischen Vertrag vereinbaren wollten. Nun stand wieder Alles in Frage. — Graf Eulenburg ant- wortete in derber Sprache, dass er nicht über die schon durch den Text der anderen Verträge festgestellten Artikel lange Correspon- denzen führen könne, sondern alle darin gewährten Rechte auch für Preussen verlange; nur den fünfjährigen Aufschub für Aus- übung des Gesandtschaftsrechtes und die Gleichstellung des chine- sischen Textes mit dem deutschen könne er zugestehen. Wären die Commissare zu Abschluss eines Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages nach dem Muster des englischen und des französischen ermächtigt, so könnten die nöthigen Aenderungen in wenigen Conferenzen erledigt werden; erklärten sie das Gegen- theil, so müsse der Gesandte den Prinzen von Kuṅ fragen, ob ihre Haltung seinen Absichten entspräche. In Folge dieser deutlichen Sprache sagten die Commissare sich sofort zur Conferenz an und erschienen am 12. Juli schon um Conferenz. XVI. acht Uhr Morgens. Tsuṅ-luen eröffnete das Gespräch mit der Aeusse- rung, dass man aus des Gesandten letztem Schreiben in Pe-kiṅ die grosse Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen erkennen werde. Dann drehte sich das Gespräch wieder eine Weile um die wichtige Frage, ob »Handelsbestimmungen« oder ein »politischer Vertrag« zu verein- baren wären; nach langem Sträuben versprach Tsuṅ-luen auf Basis des letzteren zu unterhandeln und trug auf Erörterung der ein- zelnen Artikel an: da im übersandten Entwurf viele Bestimmungen dem englischen und dem französischen Vertrage entnommen seien, deren Fassung nur der Druck des Krieges rechtfertige, so hätten die Commissare einen neuen Entwurf ausgearbeitet. Man schritt zu Berathung der einzelnen Bestimmungen; der Ein- gang wurde diesmal nur obenhin berührt. Um ein Bild der Verhandlungen zu geben, möge diese Unterredung hier im Auszuge mitgetheilt werden. Artikel 1. lautete in des Gesandten Fassung: »Zwischen den contrahirenden Staaten soll dauernder Frieden und unwandel- bare Freundschaft bestehen. Die Unterthanen derselben sollen in den beiderseitigen Staaten vollen Schutz für Person und Eigenthum geniessen, und es soll dabei für einzelne Personen oder Plätze weder Unterschied noch Ausnahme gemacht werden.« Dazu bemerkte Tsuṅ-luen : Die chinesische Regierung kann den deutschen Unterthanen ihren Schutz nur in den vertragsmässig geöffneten Handelsplätzen gewähren; daher muss der Zusatz weg- fallen, dass für einzelne Personen oder Plätze weder Unterschied noch Ausnahme gemacht werden soll. Der Gesandte. Das ist ein Irrthum. Schutz muss die chinesische Regierung deutschen Unterthanen überall angedeihen lassen. Unter welchen Bedingungen deutsche Unterthanen sich in das Innere des Landes begeben dürfen, ist im Vertrage besonders stipulirt, und geniessen sie dort selbstverständlich den Schutz der Behörden. Der Artikel lautet fast wörtlich wie der betreffende des französischen Vertrages. Tsuṅ-luen . Das haben wir nur unter Pression bewilligt. Der Gesandte. Wollen Sie denn die Deutschen überhaupt nicht in das Innere lassen, und dieselben in die vertragsmässig geöffneten Häfen einschliessen? Tsuṅ-luen . Das grade nicht; aber der von deiner Excellenz vorgeschlagene Artikel wegen der Reisen in das Innere und der da- bei erforderlichen Pässe ist unzulässig. XVI. Conferenz. Der Gesandte. Das hat ja doch mit dem den Reisenden zu gewährenden Schutz nichts zu thun. Wird ein Reisender an einem Orte betroffen, wohin zu gehn er kein Recht hat, so können die chinesischen Behörden ihn zwar zurückführen, dürfen ihm aber ihren Schutz nicht entziehen. Tsuṅ-luen . Lässt sich ein Deutscher an einem unerlaubten Orte betreffen, so mag er sich selbst schützen; den einzigen Fall ausgenommen, dass er schiffbrüchig dahin verschlagen wäre. Der Gesandte. Das wäre ein sonderbarer Freundschafts- vertrag; Schutz für die beiderseitigen Unterthanen ist ja die erste und einfachste Bedingung eines solchen. Tsuṅ-luen . Die Reisenden müssen doch immer Pässe haben. Der Gesandte. Allerdings. Es ist aber in allen Verträgen durch einen besonderen Artikel ausgemacht, dass Reisende, selbst wenn sie irgendwo ohne Pass getroffen würden, nicht schlecht be- handelt, sondern höflich zum nächsten Consulat geführt werden, also auch dann noch Schutz geniessen sollen. Tsuṅ-luen . Reisen im Innern müssen immer mit einem be- stimmten Handelszwecke unternommen werden, und dieser muss aus- drücklich im Passe angegeben sein. Der Gesandte. Zu dem Artikel über die Pässe kommen wir später. Hier handelt es sich nur um den Schutz, der jedem Unter- than einer mit China befreundeten Nation eo ipso und überall zu- steht. Der russische Vertrag, der doch nicht die Folge einer Pression ist, enthält diesen Artikel eben so klar. Tsuṅ-luen . Die freundschaftlichen Beziehungen zwischen China und Russland sind aber auch uralt. Der Gesandte. Ich erkläre positiv, dass der Artikel so stehen bleiben muss, wie ich ihn vorschlug. Wenn Sie fortfahren, mir bei jedem einzelnen Artikel Zumuthungen zu machen, die sich mit der Würde meines Landes nicht vertragen, so breche ich überhaupt die Verhandlungen ab. Mein aus den anderen Verträgen zusammen- gestellter Entwurf muss die Grundlage der Verhandlungen bleiben, wenn sie zum Ziele führen sollen. Ihre Art zu verhandeln ist auch ganz gegen die wohlwollenden Absichten des Prinzen von Kuṅ , der mir, wovon Sie garnichts zu wissen scheinen, seine Bedenken gegen meinen Vertrags-Entwurf auf anderem Wege zukommen liess; sie waren der Art, dass ich fast in allen Puncten nachgeben konnte. Conferenz. XVI. Tsuṅ-luen . Wenn wir eine Phrase nicht vernünftig finden, so müssen wir sie ändern. Die Engländer und Franzosen haben uns den Vertrag in der von ihnen adoptirten Fassung abgezwungen. Der Gesandte. Wo es sich um Phrasen handelt, will ich nach Möglichkeit nachgeben. Etwas sachlich Unvernünftiges steht aber in keinem Vertrage. Tsuṅ-luen . Darauf könnte dir Kwei-liaṅ am besten ant- worten, der jene Verträge gezwungen unterzeichnen musste. Lieber liesse ich mir den Kopf abschlagen, als ich solchen Vertrag unter- schriebe. Der Gesandte. Dann wollen wir die Verhandlungen ab- brechen. Tsuṅ-luen . Der Kaiser müsste mich mit Recht fragen, warum ich Preussen alles Das zugestanden hätte, wozu uns Eng- land und Frankreich erst durch mehrere Kriege zwangen. Der Gesandte. Ich wiederhole einfach, dass ich keinen Ver- trag auf anderer Basis schliesse, als derjenigen der meistbegünstigten Nation. Tsuṅ-luen . So kommt ein Volk nach dem anderen und sucht einen Druck auf uns zu üben, bis endlich von China garnichts mehr übrig bleiben wird. Der Gesandte. China ist ja frei, zu thun und zu lassen was es will. Wollen Sie keinen Vertrag mit Preussen auf der von mir gebotenen Basis schliessen, so lassen sie es; aber ich bitte jetzt um eine ganz bestimmte Aeusserung, ob Sie mir dieselben Rechte gewähren wollen, welche die anderen Mächte geniessen, oder nicht. Tsuṅ-luen . Wir können doch nur Vernünftiges gewähren. Der Gesandte. Das ist eine ganz unpassende Antwort; denn ich verlange nur Vernünftiges. Tsuṅ-luen . Du willst uns damit zu etwas zwingen, das wir nicht als vernünftig ansehen können. Der Gesandte. Ich begreife Sie wirklich nicht. Bis jetzt sagten Sie mir immer, Sie fänden meine Forderungen ganz natürlich und billig; die Schwierigkeiten kämen nur vom Kaiser und dessen Umgebung. Heut erklären Sie selbst meine Forderungen für un- gerechtfertigt. Wie hängt das zusammen? Tsuṅ-luen . Ich muss, nachdem ich den Vertrag geschlossen habe, Seiner Majestät dem Kaiser eine Denkschrift über jede ein- zelne Bestimmung einreichen und dieselbe rechtfertigen. XVI. Conferenz. Der Gesandte. Das ist Ihre Sache. Ich muss bei meiner Forderung wegen der Basis des Vertrages durchaus stehen bleiben, denn ich habe darüber die allerbestimmtesten Befehle. Tsuṅ-luen . Wenn ich diese Basis auch zugestände, — was sagten wohl die anderen Mandarinen in Pe-kiṅ ? Der Gesandte. Dafür sind Sie ja Bevollmächtigter und können jeden einzelnen Artikel definitiv feststellen. Tsuṅ-luen . Von Pe-kiṅ aus, wohin wir den Vertrags- entwurf mittheilten, macht man uns aber grosse Schwierigkeit. Der Gesandte. Wer erhebt denn diese Schwierigkeiten. Tsuṅ-luen . Die Mandarinen in Pe-kiṅ . Der Gesandte. Der Prinz von Kuṅ stellte mir nur fünf Be- dingungen, die ich annahm. Von allen Ihren heut erhobenen Be- denken erwähnte er auch nicht eines. Tsuṅ-luen . Der Prinz von Kuṅ ist nicht für den Vertrag verantwortlich; wir sind die Bevollmächtigten. Der Gesandte. Nun, dann beantworten Sie meine Frage; sonst muss ich an den Prinzen von Kuṅ schreiben und mich über das doppelte Spiel beklagen. — Verhandeln Sie auf der von mir aufgestellten Basis und schicken Sie das Ergebniss als mein letztes Wort an den Kaiser. Tsuṅ-luen . Wir bleiben aber als Bevollmächtigte für das Ergebniss verantwortlich. Der Gesandte. Wollen Sie das nicht, so haben wir keinen Anknüpfungspunct mehr. Wenn Sie mir gleich von Anfang im Ver- trage das einfachste Menschenrecht streitig machen, so verhandele ich nicht weiter. Tsuṅ-lueṅ . Das ist ja aber die unüberwindliche Schwierig- keit, dass deine Excellenz ganz dasselbe haben wollen, wie die anderen Mächte! Der Gesandte. Auf keinen Fall bin ich mit weniger zu- frieden. Tsuṅ-luen . Das war ja von Anfang an die Schwierigkeit; sonst hätten wir ja gar keine Einwürfe gegen deinen Vertrags- entwurf zu machen gehabt, da er nichts anderes enthält, als die anderen Verträge. Der Gesandte. O nein! Sie stellten mir bis vor kurzem immer nur das Gesandtschaftsrecht als unübersteigliches Hinderniss hin; kaum habe ich nun dasselbe durch ein wichtiges Zugeständniss IV. 6 Conferenz. XVI. erkauft, da beginnen Sie gleich beim 1. Artikel ganz dasselbe Spiel. Das ist nicht loyal. Tsuṅ-luen . Die Verträge der vier anderen Staaten ent- halten auch nicht alle Dasselbe. Der Gesandte. Wörtlich allerdings nicht; aber die Clausel der meistbegünstigten Nation sichert ihnen den Genuss aller Rechte, die in den anderen Verträgen stipulirt sind. Tsuṅ-luen . Solche Clausel haben wir auch in unseren Ver- tragsentwurf aufgenommen. Der Gesandte. Das ist unrichtig. Statt einfach meinen Ar- tikel stehen zu lassen, entwarfen Sie einen solchen, der Preussen nur in Bezug auf Handelsbestimmungen das Recht der meistbegün- stigten Nation giebt. Wenn ich Ihr ganzes Betragen während unserer Verhandlungen nach Berlin berichte, so wird man mir nicht glauben, dass es möglich ist, sich so zweideutig zu benehmen, wie Sie bisher thaten. Tsuṅ-luen . Deine Excellenz sehe unseren Vertragsentwurf doch noch einmal recht gründlich durch. Der Gesandte. Das ist ganz unnütz, wenn wir nicht von derselben Basis ausgehen. Tsuṅ-luen . In den anderen Verträgen sind auch die Han- delsbestimmungen gleichlautend. Die politischen Artikel lauten in jedem Vertrage anders. Der Gesandte. Allerdings; sie lauten aber auch in meinem Ent- wurfe anders. Dem Inhalt nach sind sie überall gleich, und alle diese Bestimmungen verlange ich als mein Recht. Preussen erscheint hier nicht, um sich einzelne Artikel zu erbetteln, sondern um das, was anderen Mächten gleichen Ranges gewährt worden ist, als sein Recht in Anspruch zu nehmen. Gestehen Sie mir das nicht zu, so muss ich mich an den Prinzen von Kuṅ wenden. Hier unterbrach die Verhandlungen das Frühstück, zu wel- chem Graf Eulenburg die Commissare einlud. Auf des Gesandten Fragen nach seinem Leben und Umgang in Pe-kiṅ äusserte Tsuṅ- luen , er könne nur mit Männern von gleichem Range verkehren, und deren gebe es wenige. In Tien-tsin gehe er garnicht aus und sehe auch Niemand bei sich; man würde ihn nur auszukundschaften suchen, um über sein Thun und Treiben nach Pe-kiṅ zu berichten. Das erwarte die Regierung von den Mandarinen in Tien-tsin , und ebenso, dass er selbst über Jene berichte. — Vor der Abreise eines XVI. Conferenz. vornehmen Beamten schickten ihm die angesehensten Bewohner des Ortes, wo er sich längere Zeit aufgehalten hätte, ein grosses Diner als Zeichen ihrer Verehrung; also ein Abschieds-Essen, an welchem die Gastgeber ihres geringen Ranges wegen nicht Theil nehmen. — Graf Eulenburg bemühte sich bei jeder Gelegenheit, die Commissare über chinesische Sitten auszuforschen, brachte aber wenig heraus. Nach dem Frühstück war Tsuṅ-luen ganz weich gestimmt; er versprach, gewisse Artikel in der früheren Fassung wieder her- zustellen, und bat den Gesandten über die fünf von den Commissaren verworfenen Bestimmungen eine Denkschrift zu verfassen, billigte auch dessen Vorschlag, dass die Verhandlungen auf der Basis des politischen Vertrages einstweilen ohne Rücksicht auf jene fünf Ar- tikel geführt werden sollten. Stiesse man auf weitere Schwierig- keiten, so sollte an den Prinzen von Kuṅ , eventuell an den Kaiser berichtet werden. — Die vierstündige Unterredung bei 30° R. hatte also zum Resultat, dass man sich über den ersten Artikel nicht einigte. Tsuṅ-luen gerieth jedesmal in lebhafte Erregung bei dem Gedanken, dass Preussen auf dem Wege der Verhandlungen fordere, was andere Staaten China nur durch Waffengewalt abzwangen. Betrachtet man seine Vergangenheit, so ist trotz aller Freundschafts- betheuerungen und aller scheinbaren Bonhommie kein Zweifel, dass Tsuṅ-luen ganz und nur auf Täuschung ausging. Die günstigen Aussichten, die er gleich anfangs und nachher wiederholt den preussischen Forderungen machte, sollten nur eitele Hoffnungen erregen, und deren periodische Zerstörung allmälig die Kräfte des Geg- ners erschöpfen. Des Gesandten Energie sollte sich langsam zu Tode zappeln; sein Rückzug wäre Tsuṅ-luen ’s höchster Triumph ge- wesen. Graf Eulenburg aber gewann eine Herrschaft über ihn, der er sich nicht zu entwinden vermochte. Ohne Anstand kann be- hauptet werden, dass es dessen persönliche Ueberlegenheit über alle an den Verhandlungen betheiligte Personen, seine eiserne Zähigkeit und Ruhe waren, welche zuletzt den Widerstand brachen und die Gegner sittlich überwanden. Leichte Arbeit war es nicht, auch abgesehen von der Unsicherheit des Erfolges und der grossen Verantwortung, die auf dem Gesandten lastete. Denn ermüdete die Art der Discussion, bei welcher von folgerechten Schlüssen und stufenweisem Fortbauen auf gewonnener Grundlage keine Rede war, schon an und für sich, so ermüdete sie doppelt durch die Art des Herrn Marques , der, ein gewissenhafter und fleissiger, aber keines- 6* Vertragsverhandlungen. XVI. wegs gewandter Dolmetscher, bei den Unterredungen bald ermattete. Dann schleppte das Gespräch unerträglich, und Graf Eulenburg , dem ohnedies schon der Boden beständig unter den Füssen wich und jede Handhabe wieder aus den Händen glitt, hatte auch noch diese Qual. Es war das Fass der Danaïden, ein schwerer Karren in tiefem trockenem Sande. An den folgenden Tagen, dem 13., 14. und 15. Juli wurden die meisten Artikel mit den Commissaren durchberathen und fest- gestellt. Auf diejenigen Bestimmungen, über welche kein Einver- ständniss zu erzielen war, vermied Graf Eulenburg zurückzukommen; denn im Wege der Discussion liess sich nichts Endgültiges erreichen. Die Verhandlungen bestanden wesentlich darin, dass der Gesandte un- wichtige Redactions-Aenderungen zugestand, welche die Commis- sare bei jedem auch nur mit einem Worte vom Text der anderen Verträge abweichenden Artikel verlangten. Sträubten sie sich ge- gen wichtige Bestimmungen, so setzte er ihnen zwar jedesmal ein- gehend seine Gründe auseinander, bestand aber nicht auf Erledigung; denn es half doch nichts. Dem Anschein nach konnten die Com- missare über gewisse Puncte keine Entscheidung treffen; sie lag beim Prinzen von Kuṅ oder gar beim Kaiser. Deshalb beschloss Graf Eulenburg nach Schluss der Berathungen die fraglichen Ar- tikel zusammenzustellen und mit erläuterndem Schreiben an den Prinzen zu senden. An Diesen verwiesen ihn die Commissare jedesmal, wenn sie etwas verweigerten; schlug dagegen der Ge- sandte einmal vor, die Entscheidung des Prinzen einzuholen, so sagten sie, derselbe habe garnichts mit der Sache zu thun, sie selbst seien die kaiserlichen Bevollmächtigten. — Der Prinz schrieb am 13. Juli dem Grafen, dass er das Gesandtschaftsrecht mit dem fünf- jährigen Aufschub der Ausübung zwar gewähre, aber darauf be- harren müsse, dass in dem Separat-Artikel die eventuelle Ver- längerung der Frist für den Fall zugestanden würde, dass die Lage von China eine solche wünschenswerth machte. Da nun dieser Punct wie der ganze Vertrag der Genehmigung des Kaisers be- dürfe, so bitte er den Grafen um Beschleunigung der Verhand- lungen. Am 16. Juli erreichte Kaiser Hien-fuṅ sein einunddreissigstes Lebensjahr. Graf Eulenburg begab sich mit allen seinen Begleitern in Uniform zu den Commissaren, — ein langer Zug von sieben Sänften mit sechsundfunfzig Trägern. Der Empfang war nach XVI. Kaiser Hien-fuṅ ’s Geburtstag. chinesischer Art glänzend: die zahlreichen Mandarinen trugen das grosse gestickte Staatskleid, Tsuṅ-luen allein den gewöhnlichen Anzug, weil er sich nicht am Orte seiner Amtsführung befand. Die Kleiderordnung ist nämlich sehr streng in China und regelt die Tracht der Beamten für jeden besonderen Umstand. — Die Staats- kleider bestanden aus durchsichtigen Seidenstoffen von derbem Ge- webe, mit reicher phantastischer Goldstickerei, deren Hauptdessein der kaiserliche Drachen in den wunderlichsten Verschlingungen bildete, mit eingestreuten Emblemen des langen Lebens, der Glück- seligkeit, und anderen heilbringenden Zeichen. Nach der Gratulation kam das unvermeidliche Frühstück, bei welchem Tsuṅ-luen dem Gesandten mit seinen Speisestöckchen die besten Bissen vorlegte, mit höchsteigenen Nägeln eine Pfirsich schälte, Eis in sein Trink- glas legte und aus seiner Theetasse kostete. Wir erhielten diesmal Messer, Gabeln, Servietten und sogar Bier, das aber Zucker und andere räthselhafte Zuthaten ungeniessbar machten. Auch zum Thee verging uns die Lust, da die halbgeleerten Tassen immer in dieselbe Kanne zurückgegossen wurden, aus welcher man ein- schenkte. Den Appetit macht bei chinesischen Mahlzeiten immer das Aussehn der Speisen befangen, welches selten die Bestand- theile verräth, und die augenscheinliche Mitwirkung der Finger beim Anrichten der niedlichen Schüsselchen. Man reichte zum Schluss den Chinesen einen nassen Lappen, der einst weiss gewesen war, zum Abwischen des Gesichtes, erliess den Gästen aber geneigtest diese Wohlthat. Die Commissare freuten sich sichtlich der erwiesenen Auf- merksamkeit und erwiederten den Besuch. Da sie früher für unsere Speisen wenig Neigung zeigten, so liess Graf Eulenburg ihnen dies- mal eine chinesische Mahlzeit bereiten, der sie tapfer zusprachen. Tsuṅ-luen fragte viel nach der Feier des königlichen Geburtstages in Preussen und war ungewöhnlich mittheilend. Am 17. Juli wurde die Berathung der einzelnen Artikel zu Ende geführt. Graf Eulenburg erklärte darauf, dass er auf Grund der erfolgten Einigung einen neuen Entwurf ausarbeiten und dem- selben die nicht festgestellten Artikel einfügen werde, deren er nicht entbehren könne, mit seinen Gründen für deren Annahme. Eine Note an den Prinzen von Kuṅ solle das an die Commissare gerichtete Document begleiten; sie möchten dasselbe mit ihrem eigenen Bericht nach Pe-kiṅ senden. — Am 18. Juli schrieb Herr Neuer Vertragsentwurf. XVI. von Bourboulon dem Gesandten, dass er seinen ganzen Einfluss für Gewährung der preussischen Forderungen aufgeboten habe und den Erfolg als gesichert ansehe; nur einzelne in anderen Verträgen nicht enthaltene Bestimmungen machten noch Schwierigkeit, und die Un- behülflichkeit der chinesischen Sprache, in der sich viele Dinge dem europäischen Bedürfniss gemäss nicht ausdrücken liessen. In seinem den neuen Vertragsentwurf begleitenden Schrei- ben vom 24. Juli bestand nun Graf Eulenburg auf Gewährung der- jenigen Artikel, welche das Recht deutscher Unterthanen, mit Pässen im Innern des Landes zu reisen, den Schutz der Christen, das Ein- laufen und die Proviantirung von Kriegsschiffen in allen chine- sischen Häfen stipulirten, liess dagegen diejenigen fallen, welche die Küstenschiffahrt und die eventuelle Fortsetzung des deutschen Handels während eines Krieges zwischen China und anderen Staaten betrafen. Letztere ergab sich von selbst aus den Verträgen. Ueber die den chinesischen Küstenhandel betreffenden neuen Bestimmun- gen unterhandelte damals auch der englische Gesandte mit den Be- hörden in Pe-kiṅ ; Graf Eulenburg hatte ihm darüber geschrieben, aber keine genügende Auskunft erhalten. Da nun mittelst der Clausel der meistbegünstigten Nation alle neu zu gewährenden Rechte der Krone Preussen von selbst zufallen mussten, so bestand Graf Eulenburg nicht auf jenem Artikel, der, für andere Nationen von gleicher Wichtigkeit, durch die Gesandten in Pe-kiṅ viel leichter durchgesetzt werden konnte. Es handelte sich um Ermässigung der Zölle für den Küstenhandel. Ein fremdes Schiff, das chinesische Waare aus einem chinesischen Hafen nach dem anderen führte, zahlte dafür die vollen Ausfuhrzölle in dem Ausfuhr-Hafen und die vollen Einfuhrzölle in dem Hafen, nach welchem es die Waaren einführte. Nach den vom preussischen Gesandten entworfenen neuen Bestimmungen sollten die Ein- fuhrzölle fortfallen, nachdem die Ausfuhrzölle entrichtet waren. Er berührte am Schluss seines Schreibens noch die gesonderte Consularvertretung der Hansestädte, welche die Commissare in den Text des Vertrages aufzunehmen wünschten, der Gesandte aber nach seinen Instructionen in einem Separat-Artikel stipuliren zu müssen glaubte. — Seine Note an den Prinzen von Kuṅ behandelte vorzüglich die eventuelle Ver- längerung des fünfjährigen Aufschubes: er sei überzeugt, dass die preussische Regierung solche bereitwillig zugestehen werde, wenn triftige Gründe vorlägen; die Entscheidung darüber, welche von Zeit und Umständen abhinge, müsse derselben aber vorbehalten XVI. Neue Wege. bleiben. Eventualitäten könnten nur durch Berathung und Cor- respondenz geregelt. nicht aber in Verträge aufgenommen werden, deren Bestimmungen positiv und bindend sein müssten. Die Commissare beantworteten den revidirten Vertrags- entwurf am 29. Juli durch ein langes Schreiben, in welchem sie nicht nur die Aufnahme der bei den Berathungen angefochtenen Artikel verweigerten, sondern auch auf viele Bestimmungen zurück- kamen, deren Redaction sie in den Conferenzen endgültig angenom- men und zum Zeichen ihrer Einwilligung eigenhändig paraphirt hatten. Zugleich lief eine Note des Prinzen von Kuṅ ein, welcher auf Formulirung des Versprechens wegen eventueller Verlängerung des Aufschubes in einem Separat-Artikel bestand. — Die langen Berathungen hatten also wieder nichts gefruchtet; noch immer wur- den die wesentlichsten Puncte bestritten. Da nun auf dem Wege des persönlichen Verkehrs und des Schriftwechsels mit den Com- missaren nichts mehr auszurichten war, so schlug der Gesandte einen anderen ein. Herrn Marques hatte nach Vollendung der Reinschrift jenes neuen Entwurfes der Schlag getroffen. Da er dadurch ausser Thä- tigkeit gesetzt wurde, so ersuchte Graf Eulenburg den kaiserlich französischen Gesandten in Pe-kiṅ , den zufällig in Tien-tsin an- wesenden Herrn de Méritens zu Uebernahme der Dolmetscher-Ar- beiten zu ermächtigen, welche derselbe bereitwillig angeboten hatte. Als dolmetschender Secretär der französischen Gesandtschaft war Herr de Méritens den Commissaren persönlich bekannt und genoss deren Vertrauen. Wohl wissend, dass er in die Verhältnisse ein- geweiht sei, unterrichteten sie ihn gleich nach seiner Ankunft in Tien-tsin aus freiem Antrieb in vertraulichster Art von der Lage der Verhandlungen, und suchten seinen Beistand. Herr de Méritens , der bei Negotiation des französischen Vertrages mitgewirkt und in Pe-kiṅ das Räderwerk der chinesischen Staatsmaschine kennen ge- lernt hatte, wies sie nicht zurück, wusste aber sehr genau, dass die Commissare nur in ihrem persönlichen Interesse, um vor dem Kaiser zu glänzen, Einwendungen und Schwierigkeiten erhoben, zu welchen sie garnicht ermächtigt waren. Graf Eulenburg bat ihn nun, denselben von seinem Gesuch an Herrn von Bourboulon nichts zu sagen, sondern einstweilen die Rolle des unpartheiischen Ver- mittlers zu spielen. Seine Uebung und Gewandtheit in der Behand- lung chinesischer Würdenträger, die Kenntniss der europäischen Das Gesandtschaftsrecht zugestanden. XVI. Verhältnisse, welche Herrn Marques gänzlich fehlte, Herrn de Mé- ritens aber befähigte, sich auf den Standpunct der preussischen Forderungen zu stellen und sie durch plausible Gründe zu unter- stützen, machten ihn zu diesem Amte sehr geeignet. — Graf Eulen- burg liess nun zunächst das Schreiben der Commissare vom 29. Juli unbeantwortet, was dieselben sehr beunruhigte. Sie schrieben täg- lich an Herrn de Méritens oder liessen ihn um Unterredungen bitten, um nach dem Eindruck ihres Schreibens und der wahrschein- lichen Antwort zu forschen, und liessen sich allmälig einreden, dass Graf Eulenburg sehr aufgebracht, und an Fortsetzung der Ver- handlungen garnicht zu denken sei, wenn sie nicht den grössten Theil ihrer Einwendungen zurückzögen. Auf des Prinzen Note antwortete der Gesandte unter Wie- derholung seiner Argumente abermals ablehnend, und erbot sich nur die rücksichtvolle Erwägung der eventuell für den weiteren Aufschub geltend zu machenden Gründe seitens der preussischen Regierung in einem amtlichen Schreiben an den Prinzen zu ver- sprechen. Dieser fügte sich endlich. In einer langen Note erklärte er dem Gesandten am 2. August, dass auf die von demselben ge- nannte Bedingung der Separat-Artikel in dessen Fassung angenom- men werden solle. Er begründet und entschuldigt gleichsam den bis dahin geleisteten Widerstand: »der Prinz fühlt das Bedürfniss, nachdem er sich die Vorstellungen des Grafen zu eigen gemacht, seiner Excellenz zu erklären, dass er bei dem Verlangen, die er- wähnten Versicherungen im Separat-Artikel niedergelegt zu sehen, nur den Gedanken hatte, in definitiver Weise alle Eventualitäten zu regeln, die zwischen den beiden Regierungen eintreten könnten.« Somit wurde Preussen das wichtigste Ehrenrecht eingeräumt, — ohne welches nach den früheren Erfahrungen alle Verträge mit China illusorisch waren, — trotz den Erklärungen des englischen und des französischen Gesandten, welche die Gewährung anfangs unmöglich glaubten. Unzweifelhaft haben Herr von Bourboulon und besonders Herr Bruce , dessen Unlust zu schreiben ihn ganz unthätig erscheinen liess, Graf Eulenburg’s Forderungen lebhaft unterstützt; wahrscheinlich hätte es aber so harten Kampfes gar- nicht bedurft, wenn nicht die Dolmetscher von vorn herein geäussert hätten, auf politische Rechte werde Preussen keinen Anspruch machen. Das Grafen zähe Willenskraft wirkte auch hier entscheidend: ernstlich redeten die beiden Gesandten erst nach unserem Attentat XVI. Weitere Verhandlungen auf die Hauptstadt seinen Forderungen das Wort, und wurden darin von dem russischen Minister-Residenten, Oberst von Balluzek , wel- cher in der zweiten Hälfte des Juli nach Pe-kiṅ kam, kräftig unterstützt. Die Commissare baten Herrn de Méritens schon nach wenigen Tagen, den Gesandten zu besänftigen: sie wollten die meisten Ein- wendungen gegen den revidirten Entwurf gänzlich fallen lassen. Graf Eulenburg beantwortete darauf am 3. August ihre Schreiben, hielt ihnen ihren Wankelmuth vor, und erklärte sich zu einigen formellen Aenderungen bereit, sofern der Sinn und Inhalt der Be- stimmungen darunter nicht litte. Zugleich meldete er den Com- missaren, dass Herr de Méritens Herrn Marques als Dolmetscher vertreten werde. — Von da an war der Gesandte der langen un- fruchtbaren Conferenzen enthoben; er konnte nach gehöriger In- struirung Herrn de Méritens die mündlichen Verhandlungen mit Sicherheit überlassen. Auf den 7. August sagten die Commissare sich zum Frühstück an und thaten dabei sehr freundschaftlich. Geschäftliches wurde kaum besprochen, denn auch sie zogen die Vermittelung des französischen Secretärs dem directen Verhandeln vor. Des Chinesischen vollkommen mächtig einigte sich derselbe leicht mit ihnen über formelle Aenderungen, welche grossentheils auf sprachliche Eleganz zielten, und setzte in allen wesentlichen Puncten die Forderungen des Gesandten fast bedingungslos durch. Die Qualität der Consuln, die Gültigkeit des deutschen Textes und das Recht der Deutschen, im Inneren von China zu reisen, boten dabei die grössten Schwierigkeiten. Im ersten Punct setzte Graf Eulenburg trotz heftigen Wider- standes der Chinesen durch, dass eine Verpflichtung der preussischen Regierung, nur Beamte, nicht Kaufleute zu Consuln zu ernennen, im Vertrage nicht ausgedrückt würde; er versprach dagegen in einem amtlichen Schreiben, dem königlichen Minister des Auswär- tigen die Nothwendigkeit der Ernennung von diplomatischen Con- suln vorzustellen, welche durchaus in den Verhältnissen begründet war. — Das Recht der Hansestädte auf gesonderte consularische Vertretung in einem Separat-Artikel auszudrücken, erlaubten die Commissare nur unter der Bedingung, dass derselbe im Text des Vertrages nicht erwähnt werde, und dass seine Ratification in der des Vertrages mit eingeschlossen sein solle. Sie hielten sich dabei an die Präcedenz des englischen und des französischen Vertrages, bei welchen es mit den Separat-Artikeln ebenso gehalten wurde. Sprachenfrage. Reisen. XVI In der Frage, welcher Text maassgebend sein solle, erlangte Graf Eulenburg ein ungehofftes Zugeständniss. Die Bedingung des englischen und des französischen Vertrages, dass nur der englische und der französische Text gelten sollten, war eine Härte, ein Er- gebniss der Gewalt, welche jene Verträge erzwang. Der Prinz und die Commissare bestanden von Anfang an fest darauf, dass solcher Artikel nicht in den preussischen Vertrag käme. Der Gesandte gab nun anfangs zu, dass für die deutschen Staaten der deutsche, für China der chinesische Text gelten solle, ohne sich die möglichen Folgen solchen Abkommens zu verhehlen. Die endlose Wortklauberei der Commissare bei den Verhandlungen aber und der grosse Werth, den sie auf Anwendung dieses oder jenes Zeichens im chinesischen Texte legten, überzeugten ihn, dass Conflicte über die Auslegung des Vertrages unter jener Voraussetzung sogar unvermeidlich sein würden. Mit grosser Mühe vermochte er nun die Commissare zu Annahme eines dritten, beiden Theilen verständlichen Textes: den deutschen und chinesischen Ausfertigungen sollte eine französische beigefügt werden, auf welche im Falle einer Meinungsverschieden- heit als auf die für beide Theile entscheidende Fassung zurückzu- gehen wäre. Dieses Abkommen sicherte die deutschen Staaten und schädigte auch China nicht, da unter den Schülern der katholischen Missionen viele des Französischen vollkommen mäch- tig waren. Gegen die Reisen im Innern von China und das Einlaufen von Kriegsschiffen in alle chinesischen Häfen sträubten sich die Commissare mit grosser Zähigkeit; sie fürchteten, dass den Rebellen Kriegsbedarf zugeführt, dass Pe-kiṅ von Reisenden überschwemmt würde. Graf Eulenburg bestand aber unerschütterlich auf diesen Rechten. Ueber die eventuelle Verlängerung der fünfjährigen Frist richtete der Gesandte eine Note an den Prinzen von Kuṅ : die chinesische Regierung möge, falls nach ihrer Ansicht die politische Lage nach fünf Jahren dazu Veranlassung gäbe, das preussische Ministerium des Auswärtigen um längere Vertagung der Accre- ditirung eines Gesandten ersuchen; solche Vorstellung werde sicher in ernste Erwägung gezogen und, wo irgend möglich, berück- sichtigt werden. Gewissenhafte Ausführung aller Bestimmungen des Vertrages sei das beste Mittel, die preussische Regierung zum Ein- gehen auf die Wünsche der chinesischen zu vermögen; man werde XVI. Tod des Kaisers Hien-fuṅ . sich zu deren Gewährung um so leichter entschliessen, wenn die Beziehungen sich auch ohne die Anwesenheit eines Vertreters in Pe-kiṅ günstig gestalteten. Der Prinz erklärte diese Fassung für genügend. Graf Eulen- burg liess nun den definitiven Text des Vertrages redigiren, welchen die Commissare am 12. August nach Pe-kiṅ zur Beförderung an den Kaiser sandten. Da der Prinz beständig in Kenntniss des In- halts gehalten wurde und sich mit allen Bestimmungen einverstanden erklärt hatte, so war die kaiserliche Genehmigung mit Sicherheit zu erwarten; wir schritten deshalb zu Anfertigung der deutschen und französischen Reinschriften in je vier Exemplaren, welche bis zum 24. August vollendet wurden. Herr de Méritens übergab die- selben den Commissaren zur Beförderung nach Pe-kiṅ , damit ihnen das Siegel des Ministeriums der Auswärtigen Angelegenheiten bei- gedruckt würde. Inzwischen kamen immer schlimmere Nachrichten von der Krankheit des Kaisers. Man wusste aus guter Quelle, dass er an heftigem Blutauswurf litt; ein Sarg war schon nach Džehol ge- schafft worden. Zwar erschien am 11. August in Pe-kiṅ ein amt- licher Maueranschlag, dass der Kaiser ausser Gefahr und sogar in der Genesung sei; aber die Hochzeitsaufzüge auf den Strassen mehrten sich auffallend, ein Zeichen, dass man im Volk nicht daran glaubte: während der Trauermonate für den Kaiser darf nämlich in China nicht geheirathet werden. Herr de Méritens , welcher zur Feier des Napoleonstages nach Pe-kiṅ ging und am 22. August nach Tien-tsin zurück- kehrte, glaubte, dass der Kaiser schon todt, der Prinz von Kuṅ zum Regenten ernannt sei. Letzterer war in Pe-kiṅ zehn Tage nicht sichtbar und während dieser Zeit vermuthlich in Džehol ge- wesen; nachher fiel Allen die Sicherheit seines Wesens und die ernste Befriedigung in seinem Ausdruck auf. Für uns waren es Tage spannender Erwartung, da Niemand wissen konnte, ob der Vertrag vom Kaiser noch genehmigt sei, ob er bei Einsetzung einer fremdenfeindlichen Regentschaft überhaupt genehmigt würde. Am Abend des 25. August brachte Herr de Méritens die Nachricht, dass nach amtlichen Aeusserungen der chinesischen Re- gierung Kaiser Hien-fuṅ am 21. August verschieden sei, am 19. aber noch den preussischen Vertrag genehmigt habe, ohne eine Silbe daran zu ändern; das mit dem kaiserlichen Siegel versehene Unterzeichnung des Vertrages. XVI. Approbationsdecret sei in Pe-kiṅ eingetroffen. Eine Mittheilung gleichen Inhalts ging dem Gesandten von den Commissaren zu, welche zugleich bemerkten, dass während des Trauermonats alle Staatsgeschäfte ruhten und nur in dringenden Fällen das blaue Trauersiegel angewendet werde; es scheine deshalb zweckmässig, die Unterzeichnung des Vertrages einen Monat zu verschieben, da- mit demselben das rothe Siegel beigedruckt werden könne. Graf Eulenburg äusserte ihnen dagegen den lebhaften Wunsch, die Unterzeichnung recht bald vollzogen zu sehen, und die Commissare versprachen, nach Kräften darauf hinzuwirken. Die auf dem preussischen Gesandtschaftshause wehende Flagge wurde der Trauer wegen drei Tage lang auf Halbmast ge- hisst; die Commissare dankten verbindlich für diese Aufmerksamkeit. Am 1. September machte Graf Eulenburg ihnen einen Condolenz- besuch und erhielt die Meldung, dass sämmtliche Exemplare des Vertrages, mit dem blauen Siegel versehen, und das Approbations- decret in Abschrift aus Pe-kiṅ eingetroffen seien: der Unterzeich- nung stehe nichts mehr im Wege. Die Commissare bedauerten, dass die Trauer jede Ausschmückung eines öffentlichen Gebäudes und die bei so feierlichem Anlass übliche Kanonade verwehre, und erboten sich, die Unterzeichnung am folgenden Tage im Hause des Gesandten zu vollziehen. Am 2. September Morgens schickten die Bevollmächtigten dem Gesandten das amtliche Schreiben über die Genehmigung des Vertrages und erschienen bald darauf selbst mit grossem Gefolge. Sämmtliche Mandarinen trugen lange Trauerkleider aus grobem weissem Baumwollenstoff und einfache Strohhüte mit kleinem schwarzem Knopf auf der Spitze. Die Mitglieder der Gesandtschaft waren in Uniform. Die Commissare überreichten die in gelbseidenem Umschlag steckende Abschrift des Approbationsdecretes; nach kurzem Gespräch schritt man zu Unterzeichnung des in vier deut- schen, vier chinesischen und vier französischen Exemplaren aus- gefertigten Vertrages. Tsuṅ-luen äusserte mit verdrehten Augen den Wunsch, dass der Himmel ihn lange genug leben lasse, um einen preussischen Gesandten in Pe-kiṅ zu sehen, und versprach voll Salbung, ein treuer Hüter des Vertrages zu werden. Nach Unterzeichnung und Auswechselung der Urkunden fand ein Früh- stück statt. Tsuṅ-luen erschöpfte sich in Wehklagen, dass die Trauer um den Kaiser ihn an Veranstaltung der vorbereiteten XVI. Correspondenz mit dem Prinzen von Kuṅ . glänzenden Festlichkeiten hindere, und lud die Gesandtschaft auf den folgenden Tag zum Frühstück ein. So wurde denn der 2. September, an welchem wir ein Jahr vorher den Taifūn bestanden und den Frauenlob verloren, in diesem Jahre durch Vollendung des mit schweren Mühen und Lei- den erkauften wichtigsten Werkes der Expedition zu einem Freuden- tage. Der preussische Vertrag war der erste von gleicher Bedeu- tung, welcher in China ohne Anwendung von Gewalt, durch freie Vereinbarung geschlossen wurde. Am 3. September lief das Antwortschreiben des Prinzen von Kuṅ auf eine Note des Grafen ein, in welcher Dieser auf des Ersteren Wunsch vor Unterzeichnung des Vertrages noch Erklärun- gen über die künftige Installirung eines preussischen Gesandten in Pe-kiṅ gab. Die chinesische Regierung wollte nicht gehalten sein, demselben ein öffentliches Gebäude dauernd als Wohnung zu über- lassen oder Privatleute zum Vermiethen eines Hauses zu zwingen; nur zu Unterstützung seiner Bemühungen um passendes Unterkom- men, schlimmsten Falles zu Anweisung eines Grundstückes, auf welchem der preussische Gesandte sich ein Haus bauen könne, wollte sie sich verpflichten. Nach Aeusserungen der Commissare hätte Lord Elgin nach dem Friedensschluss in Pe-kiṅ einen der besten Yamums , Eigen- thum eines Mandschu-Fürsten, als Sitz der britischen Gesandtschaft unter Zusicherung einer jährlichen Miethe von 1500 Tael in Be- schlag genommen; ähnlich wären die Franzosen verfahren; die Be- sitzer bestürmten den Prinzen mit Beschwerden über diese bündige Expropriation, und Dieser sei viel zu tief von deren Unrechtmässig- keit durchdrungen, um sie jemals wieder geschehen zu lassen. Die mit dem betreffenden Artikel des englischen Vertrages gleichlautende Bestimmung des preussischen verpflichtete keineswegs die chine- sische Regierung für das Unterkommen der Gesandten zu sorgen; die gemachten Erfahrungen aber rechtfertigten den Wunsch des Prinzen. Graf Eulenburg gab ohne Bedenken die verlangte Er- klärung und nahm nur den Beistand der chinesischen Regierung für die Installirung in Anspruch, damit der das Gesandtschafts- recht betreffende Artikel nicht illusorisch würde. Ein dahin gehendes Versprechen gab jetzt Prinz Kuṅ in deutlicher Fas- sung und verpflichtete sich sogar im Namen der Regierung, dem künftigen Gesandten so lange einen Yamum zur Verfügung Das Approbationsdecret. XVI. zu stellen, bis er eine angemessene Wohnung gefunden und eingerichtet hätte. Auch ein anderer Punct, dessen Aufnahme in den Vertrag die Commissare aus rein formellen Gründen nicht wünschten, wurde im Wege des Depeschenwechsels erledigt: die Abtretung von Grund- stücken in den geöffneten Handelsplätzen an deutsche Kaufleute. Die darüber mit England , Frankreich und America getroffenen Be- stimmungen waren in deren Verträgen aus den Jahren 1843 und 1844 enthalten; die Commissare wünschten aber dringend, dass die Handelsbestimmungen des preussischen Vertrages gleichlautend wären mit denen der späteren Verträge jener Staaten; deshalb ver- sprach jetzt die chinesische Regierung die Anweisung von Grund- stücken und Vermiethung von Häusern an deutsche Unterthanen unter denselben Modalitäten in einer besonderen Note. Wie es mit der schnellen Genehmigung des Vertrages, nur zwei Tage vor dem officiellen Datum von des Kaisers Tode zuging, erfuhren wir nicht. Den umlaufenden Gerüchten zufolge verschied Hien-fuṅ einige Tage früher. Die Gültigkeit der Approbation konnte dadurch nicht angefochten werden, denn allen kaiserlichen Decreten verleiht das beigedruckte Siegel, keine Unterschrift, ihre bindende Kraft. — Prinz Kuṅ wurde, offenbar gegen seine Erwar- tung, nicht zum Regenten ernannt. Das folgende, den letzten Willen des Kaisers ausdrückende Decret war, wie das Approbationsdecret des preussischen Vertrages, unter dem 19. August ausgefertigt. »Unseren ältesten, zum Thronerben ernannten Sohn Tsae- tšun sollen Tsae-yuen , Twan-wa , Kiṅ-šan , Su-tšuen , Mu-yin , Kuan-yuen , Tu-han und Tsian-yu-yiṅ Tsae-yuen , Prinz von Ei , stammte aus dem Kaiserhause; er verhandelte 1860 in Tuṅ-tšau mit den englischen Parlamentären. Twan-wa , Prinz von Tšiṅ , ein Tartarenfürst, Oberstcommandirender von Pe- kiṅ , General-Capitän der Neun Thore, war der ältere Bruder des Gross-Secretärs Su-tšuen . Kiṅ-šan war der Gemahl einer Tante des Thronerben. Mu-yin war Amtsgenosse des Tsae-yuen bei den Verhandlungen in Tuṅ- tšau . Die drei anderen Mitglieder des Regentschaftsrathes bekleideten hohe Aemter im Civildienst. in allem auf die Staats- verwaltung bezüglichen Dingen aus allen Kräften unterstützen. Ein ausserordentliches Decret.« XVI. Die Regentschaft. War nun, wie das Gerücht ging, diese letztwillige Verfügung von den darin genannten Männern nach des Kaisers Tod geschmiedet, so mussten dieselben Gegner der Fremden auch das Approbations- decret zum preussischen Vertrage gemacht haben, vielleicht nur, um der anderen Fälschung einige Haltung zu geben. Bald nach dem letztwilligen Erlass scheint nun eine Verfügung eingetroffen zu sein, welche dem Prinzen von Kuṅ die oberste Leitung aller Ge- schäfte in Pe-kiṅ übertrug, ihn aber ausdrücklich anwies dort zu bleiben, während der Prinz, wie sich nachträglich erwies, die Kai- serin Wittwe um Erlaubniss zur Reise nach Džehol gebeten hatte. Seine Befugnisse, welche sich bis dahin nur auf die auswärtigen Angelegenheiten erstreckten, wurden durch jene Verfügung erweitert; man schloss ihn aber vom persönlichen Verkehr mit dem jungen Kaiser aus und drängte ihn in eine Stellung, die nothwendig zu seinem Sturz führen musste. Tsae-yuen und Twan-wa gehörten zu den Anstiftern des an den englischen Parlamentären verübten Verrathes und wurden neben Su-tšuen laut als Urheber allen Un- glücks genannt, das China in den letzten Jahren betroffen hatte. Sie hatten mit Saṅ-ko-lin-sin , — der aus anderen Motiven han- delte, — den Kaiser zum Kriege und, gegen die offen ausgesprochene Ansicht aller verständigen Räthe der Krone, gegen die warnende Mahnung ehrlicher Patrioten zur Flucht nach Džehol vermocht. Sie waren es, die seinen verderblichen Neigungen Vorschub ge- leistet, ihn von Ausschweifung zu Ausschweifung getrieben und geflissentlich im Zustande geistiger Erschlaffung gehalten hatten, um statt seiner das Scepter zu führen. Um den Thronerben in der Hand zu haben, liessen sie diesen und seine Mutter, die, nicht mehr zu den begünstigten Frauen des Harem gehörend, Sie erhielt den Titel einer Kaiserin erst nach Hien-fuṅ ’s Tode und stand im Range unter dessen rechtmässiger Gemahlin, der Kaiserin Wittwe. bei des Kai- sers Flucht in Pe-kiṅ geblieben war, Mitte August unter dem Vor- wande nach Džehol führen, dass der Sterbende sie noch sehen wolle. Nach Pe-kiṅ mochten jene Männer aus Furcht vor der Be- völkerung nicht kommen; auch behielten sie den Prinzen von Kuṅ , der in jeder wichtigen Sache der kaiserlichen Genehmigung bedurfte, in ihrer Hand, und hofften ihn wohl bald zu verderben. Zum Glück aber waren sowohl die Kaiserin Wittwe als der junge Kaiser und seine Mutter, welche unter Aufsicht des Prinzen von Kuṅ gelebt Haltung des Prinzen von Kuṅ . XVI. hatten, demselben sehr zugethan. Er galt in Pe-kiṅ als recht- schaffener verständiger Mann, der, allen sonst in den höchsten Schichten der chinesischen Gesellschaft verbreiteten Lastern fremd, ein glückliches Familienleben führte; die Bevölkerung schätzte und liebte ihn. Dieses Bewusstsein und die Einsicht, dass es sich nicht allein um seine Existenz, sondern um die Herrschaft seines Hauses handele, mögen ihn veranlasst haben, trotz jenem Erlass nach Džehol zu gehen. — Denn ganz abgesehen von dem persönlichen Ehrgeiz der Männer im Regentschaftsrath, welcher das Schlimmste befürchten liess, konnten ihre politischen Tendenzen nur zum Bruch mit den fremden Mächten, zu neuem Kriege führen, welchen die Tsiṅ -Dynastie schwerlich überstanden hätte. Gewiss förderte die moralische Unterstützung der fremden Diplomaten wesentlich den Entschluss des Prinzen zur Reise nach Džehol , welche den Grund legte zur späteren günstigen Entwickelung. Er verliess die Hauptstadt am 1. September und kehrte am 15. dahin zurück. Sein jüngerer Bruder, der Prinz von Tšun , reiste entweder damals mit ihm oder etwas später nach Džehol , und blieb, weitere Maassregeln vorbereitend, bei den Kaiserinnen und dem Thronerben. Deren Rückkehr nach Pe-kiṅ zu betreiben, welcher sich die Regentschafts- räthe mächtig widersetzten, erklärte der Prinz von Kuṅ ganz offen als den Hauptzweck seiner Reise. Eines der ersten Decrete des jungen Kaisers, wonach derselbe zu den Exequien seines Vaters nach der Hauptstadt kommen wollte, war gewiss unter dem Ein- fluss der Kaiserinnen erlassen. Es erschien schon vor des Prinzen Abreise in der Zeitung von Pe-kiṅ , bot aber nach dessen Aussage keine Gewähr der Erfüllung. Wie klug derselbe seine Fäden spann, hat die Folge bewiesen. Sein sicheres Auftreten liess aber schon damals den Entschluss vermuthen, mit seinen Gegnern abzurechnen. Das Frühstück, das die chinesischen Commissare dem Ge- sandten und seinen Begleitern am 3. September gaben, unterschied sich in der Qualität kaum von den früheren, dauerte aber drei Stun- den. Zwei jüngere Mandarinen, welche englisch sprachen, brachten etwas Leben in die Unterhaltung. Der eine war in den Vereinigten Staaten , England und Frankreich gereist, und redete davon mit Bewunderung. Der andere, im Zollamt für den fremden Handel XVI. Reise nach Pe-kiṅ beschlossen. beschäftigt, sprach sehr freimüthig über die verschiedene Art der Steuererhebung, und gab der hergebrachten inländischen weitaus den Vorzug. Die chinesischen Zollämter für den inländischen Handel haben nämlich keine Tarife; die Einkünfte sind verpachtet, und der Beamte erpresst vom Kaufmann, so viel er irgend kann. Die Zölle für den ausländischen Handel normirt dagegen ein fester, den Verträgen angehängter Tarif. Das gefiel dem jungen Manne nicht: »In english customhouse me get wages, me no can squeeze; Consul lite Mr. Bluce , Mr. Bluce tell Plince Kung, Plince Kung my cut off button. No cut off head, but cut off button« — nämlich den Mandarinenknopf, das Zeichen der Würde. »Chinese custom- house no get wages; pay empelol, squeeze melchant.« Er erzählte begeistert, dass Tsuṅ-luen als Zollpächter in Tien-tsin jährlich nur 100,000 Tael bezahlt, aber 320,000 Tael eingenommen habe; könne der Beamte nicht zahlen, so werde er eingesteckt und sein Eigenthum confiscirt. Gern wäre der Gesandte gleich nach Abschluss des Ver- trages nach dem Süden von China und weiter nach Siam gegangen; September ist aber einer der gefährlichsten Monate in den chine- sischen Meeren, wie uns der Verlust des Frauenlob lehrte; auch ist das Klima von Hong-kong und Bankok selbst im October noch so verderblich, dass für die Schiffsmannschaft übele Folgen zu befürchten waren. Graf Eulenburg beschloss deshalb auf die Einladungen des russischen und des französischen Gesandten, zu- nächst Pe-kiṅ zu besuchen. Tsuṅ-luen und Tsuṅ-hau waren darüber sehr bestürzt, strebten aus allen Kräften die Reise zu hin- tertreiben, und beschworen endlich den Gesandten seinen Besuch so einzurichten, dass er keinen amtlichen Charakter trüge. — Nach chinesischer Etiquette musste Tsuṅ-luen bis zu des Grafen defini- tiver Abreise in Tien-tsin bleiben; auf dessen lebhafte Vorstellungen entschloss er sich aber schon in den nächsten Tagen nach Pe-kiṅ zurückzukehren und dem Prinzen von Kuṅ ein Schreiben zu über- reichen, in welchem der Gesandte seine Genugthuung über das vollendete Vertragswerk, seinen Dank für das gezeigte Entgegen- kommen aussprach, und erklärte, dass Tsuṅ-luen , — der solcher Entschuldigung zu bedürfen glaubte, — nur auf seine dringende Bitte Tien-tsin vor ihm verliesse. Seinen Besuch in Pe-kiṅ kün- digte Graf Eulenburg zugleich in kurzen Worten an, und äusserte IV. 7 Abschied von den Commissaren. XVI. die Hoffnung, dem Prinzen dort persönlich seine Hochachtung aus- drücken zu dürfen. Am 7. September vor Tagesgrauen weckte uns Feuerlärm: das anstossende Haus stand in hellen Flammen; wir packten eiligst unsere Sachen. Vom Dach des von uns bewohnten Hintergebäudes sah man in den brennenden Hof hinab; es war windstill und die Feuerwehr arbeitete tapfer. Hunderte von Löschenden wogten in gelben und blauen Röcken mit weissen Schriftzeichen darauf durch- einander; manche bedienten die kleinen Spritzen, andere trugen Wasser, die meisten aber schwenkten unter heftigem Toben und Springen bunte Fahnen und Laternen; vom Dach aus ein reizendes Schauspiel, die bunteste Maskerade bei sprühendem Feuerwerk. In einer Stunde war das Gebäude ausgebrannt und wir gingen wieder zur Ruhe. An demselben Tage machte Graf Eulenburg den Commissaren im Hause Tsuṅ-hau ’s seinen Abschiedsbesuch. Das Frühstück war diesmal erträglich und hätte noch besser gemundet, wenn man nicht immer in irgend einen Wurm oder eine gebratene Heuschrecke zu beissen gefürchtet hätte. Der Thee wurde in europäischen Tassen, sogar mit Theelöffeln servirt, als Zuckerschale diente ein Trinkglas. XVII. AUSFLUG NACH PE-KIṄ . VOM 10. SEPTEMBER BIS 6. OCTOBER. D er Gesandte und die Attachés Graf Eulenburg , von Brandt , von Bunsen machten die Reise bis Tuṅ-tšau zu Wasser und sandten ihre Pferde dahin voraus. Dr. Lucius und Maler Berg ritten den ganzen Weg. Letztere verliessen Tien-tsin am Morgen des 11. September, schliefen in Ho-si-wu , und bogen am 12. von Tšan-kia-wan nach Tuṅ-tšau ab, wo sie Nachmittags eintrafen. Der Anblick des Landes war ganz anders als im Juni; damals stan- den die Saaten niedrig, jetzt ragten Durra, Hirse und Ricinus Der pflanzenkundige Fortune macht die richtige Bemerkung, dass in der Um- gebung von Tien-tsin und Pe-kiṅ fast alle Producte des Pflanzenreiches zu riesiger Grösse gedeihen. Die hier gebaute Hirse wächst 15 Fuss hoch und darüber. Sesa- mum orientale soll im Norden von China doppelt so gross und ergiebig sein als im Süden. Sonnenblumen, die Eierpflanze, Kürbisse und andere Vegetabilien haben ebenfalls ungewöhnliche Dimensionen. den Reitern hoch über die Köpfe. Im Tempel Ta-waṅ-miao , der, in der östlichen Vorstadt von Tuṅ-tšau am Ufer des Pei-ho ge- legen, den Gesandten auf ihren Reisen nach Pe-kiṅ als Nacht- quartier zu dienen pflegte, hatte ein chinesischer Diener des Herrn de Méritens Quartier gemacht. Ein Karren mit den Matratzen blieb im Schmutz stecken und kam erst gegen zwölf Uhr Nachts, als die Reisenden längst auf harten Brettern schliefen. Die Reiseboote auf dem Pei-ho sind klein und flach gebaut; über der Mitte wölbt sich ein Schutzdach, kaum hoch genug für Erwachsene um aufrecht darunter zu stehen; ein Stuhl, ein Tisch und zwei Matratzen haben Platz in dem kajütenartigen Raum, der vorn und hinten geschlossen werden kann. Drei solcher Boote nahmen den Gesandten und seine Begleiter auf, eines die Diener- schaft, die theilweise auch auf zwei anderen als Küche und als Speisezimmer dienenden Booten hauste. Die Reisenden gingen 7* Reise auf dem Pei-ho . XVII. schon am 10. September Abends an Bord, da vor Tagesgrauen ab- gefahren werden sollte; gegen vier Uhr Morgens fingen die Boots- leute an zu lärmen, hatten dann aber am Lande noch allerlei Ver- richtungen; erst um sechs ging es fort. Fast vier Stunden lang fuhr man zwischen den Vorstädten von Tien-tsin und mehreren Dörfern hin, welche sie in ungebrochener Häuserreihe fortsetzen. Hunderte von Fahrzeugen lagen theils im Pei-ho geankert, theils benutzten sie die einsetzende Fluth zur Fahrt flussaufwärts. Die grosse hier auf dem Wasser und am Lande wohnende Menschen- menge giebt der problematisch klingenden Angabe einige Haltung, dass die Bevölkerung der Provinz Tši-li vierzig Millionen betragen soll. Eine rechte Erlösung war es, den Dünsten von Tien-tsin zu entfliehen, einmal aus voller Brust reine Luft zu athmen. Die Sonne schien hell und klar, friedlich lachte die Landschaft, welcher Weiden-, Apricosen-, Apfel-, Birn- und Pfirsichbäume und grüne Felder ein fast heimisches Ansehn gaben, wenn auch Mais. Durra, Ricinus, die Eierpflanze und andere Gewächse bei näherem Anblick den südlicheren Himmelsstrich bekunden. Wo Dörfer den Fluss säumen, kam gewöhnlich die Jugend an das Ufer gelaufen; alle weiblichen Wesen aber flohen scheu in die Häuser, wenn die »frem- den Teufel« ausstiegen. Streckenweise ist der Blick durch hohe Uferdämme beschränkt, über die nur die Wipfel der Bäume ragen. In der Nähe von Tien-tsin förderte die Fluth mehrere Stunden lang die Reise; auch höher hinauf erleichterte sie periodisch die Arbeit der Schiffer. Diese zogen, bald auf dem festen Ufer- damm, bald bis über die Knie im Schlamm, ja bis an die Brust im Wasser gehend, je zwei ein Boot am Seil hinauf und arbeiteten, mit kaum zweistündiger Pause, von fünf Uhr Morgens bis zehn Uhr Abends bei über 20° Wärme. Ihre ganze Nahrung war ein Schüsselchen Nudeln und ein Stück Teig, den sie aus Mehl und Wasser mengten und über flackerndem Rohrfeuer rösteten. Als Lagerstatt diente ihnen das Verdeck der Boote oder ein Raum darunter, der auf anderthalb Fuss Höhe kaum fünf im Geviert maass und durch Planken oben verschlossen wurde, so dass man schwer begriff, wie dort zwei Menschen nicht stickten. Die Schiffer plau- derten und scherzten den ganzen Tag bei der schwersten Arbeit und schienen die glücklichsten Menschen unter der Sonne. Junge Burschen von vierzehn Jahren zeigten die Kraft und Ausdauer des vollen Mannes, arbeiteten freudig und unverdrossen. XVII. Tuṅ-tšau . Am Abend des 11. September gelangten die Boote nach Yaṅ-sun , am 12. nach Ho-si-wu . Die dritte Nacht wurde bei Ma-tau gerastet. Das Gebirge hinter Pe-kiṅ , das schon am 13. Sep- tember im Nordwesten aufdämmerte, rückte am 14. immer näher. Nachmittags wurde die Pagode von Tuṅ-tšau sichtbar; die Reisen- den stiegen aus und trafen, am Ufer wandernd, Dr. Lucius , Maler Berg und Herrn de Méritens , der aus Pe-kiṅ angekommen war. — Vor Tuṅ-tšau verengt sich der Fluss; mühsam arbeiteten sich die Boote durch das Dschunken-Gedränge. Die Stadt ist reinlicher, dem Aussehn der Gassen nach we- niger volkreich als Tien-tsin , das Mauerviereck nicht so regel- mässig und in argem Verfall; an vielen Stellen sind die Zinnen zer- stört, der Mauerweg eingesunken. Jede Front hat ihr Thor; an die Eckthürme lehnen malerische Häuser. Das merkwürdigste Bauwerk ist die dreizehnstöckige Pagode in der nordwestlichen Ecke der Stadt; der achteckige Unterbau aus grossen Quadern macht den Eindruck hohen Alters; das Erdgeschoss krönt eine mächtige Lotosblume, ebenfalls von Quadern, aus welcher der drei- zehnstöckige Thurm fast ohne Verjüngung emporwächst. Die ge- drückten Stockwerke, eine Reihe aufeinandergestülpter vorspringen- der Dächer aus Holz und Ziegeln, haben weder Galerieen noch Thüren oder Fenster. Die Spitze krönt ein Zierrath aus vielen in einander verschlungenen Metallreifen, einem Astrolabium ähnlich, vielleicht eine symbolische Darstellung des Himmels. — Man schreibt der Pagode hohes Alter zu; ihre Bauart unterscheidet sich wesent- lich von der der süd- und mittelchinesischen, gleicht dagegen der- jenigen der Pagoden in Pe-kiṅ und scheint typisch zu sein für den Norden des Reiches. Die Umgebung von Tuṅ-tšau ist freundlich: prächtige Baum- gruppen, bunte Tempel und hübsche steinerne Brücken spiegeln sich in künstlichen Wasserbecken, welche der von Pe-kiṅ herab- fliessende Canal speist. Leider begann es am Abend des 14. Sep- tember zu regnen; am folgenden Morgen waren die Wege durch- weicht. Gegen acht gelang es, die Karren mit dem Gepäck in Marsch zu setzen; bald darauf empfing der Gesandte die Spitzen der Behörden, die sich zur Begrüssung einfanden, und brach dann zu Pferde nach Pe-kiṅ auf. Der Himmel hing voll schwerer Regen- wolken, die Luft war dick und feucht, doch sprühten nur leichte Schauer auf uns herab. Pa-li-kao . XVII. Erst verfolgten wir die gepflasterte Hauptstrasse und er- reichten nach halbstündigem Ritt die Brücke von Pa-lik-ao , nach welcher die Schlacht vom 21. September 1860 benannt wurde, ein stattliches Bauwerk von weissem Marmor. Die Truppen der Alliir- ten müssen hier arg gehaust haben: ein armer Landmann erzählte Herrn de Méritens , französische Soldaten hätten seine ganze Fa- milie umgebracht. — Wir holten bei der Brücke Tsuṅ-luen ein, der kurz vor dem Gesandten in Tuṅ-tšau eintraf und die Reise bis zum Thor der Hauptstadt in seiner Sänfte fortsetzte, dann aber einen Karren besteigen wollte; denn nur Personen aus der kaiser- lichen Familie dürften sich in Pe-kiṅ der Sänften bedienen. — Herr de Méritens führte den Gesandten zu einem abseits der Strasse gelegenen Familiengrab: eine Brücke von weissem Marmor, die, wohl symbolisch, bei solchen Anlagen auch wo der Boden ganz trocken ist niemals fehlt, bildet den Zugang; dann folgen zu beiden Seiten in regelmässigen Abständen von etwa funfzehn Fuss zuerst mehrere Säulen, dann riesige Schildkröten mit Löwenköpfen, auf dem Rücken verzierte Pfeiler mit Inschriften tragend, dann ein schönes Portal, das Alles aus weissem Marmor. Bäume stehen auf beiden Seiten dieses Ganges, der zu einem von dichten Wipfeln beschatteten Rasenplatz führt. Jenseit mündet das Thor des mauerumschlossenen Hofes, wo unter dunkelen Kiefern fünf backofen- artige roth gestrichene Gräber schmucklos auf grünem Moosteppich ruhen. Das Ganze ist gut gehalten, der Eindruck ernst und feier- lich, nicht trübe. Aehnliche Familiengräber, bei denen oft Widder-, Pferde-, Löwen- und Menschenbilder den Zugang bewachen, giebt es bei Pe-kiṅ viele. Bei der Brücke von Pa-lik-ao verliessen wir die grosse Strasse und folgten auf Feldwegen dem Südufer des Canales, der von Pe-kiṅ her starkes Gefälle hat; mehrere Schleusen auf dieser Strecke waren beim Anmarsch des Barbarenheeres 1860 vermauert worden, so dass Boote in kurzen Zwischenräumen umgeladen wer- den mussten. Dörfer und Tempel säumen die gartenartig angebauten buschigen Ufer. Ein thurmartiger Thorbau tauchte schon auf weite Entfernung vor uns auf; gegen zwölf ritten wir durch das nord- östliche Eckthor der Chinesenstadt ein, dann innerhalb unter der Südmauer der Tartarenstadt hin bis zu deren östlichem Thore Hata-men , in welches wir einbogen. Gleich links von der dort mündenden Hauptstrasse liegt an einer Nebengasse der französische XVII. Die französische Legation. Yamum Tsiṅ-kuṅ-fu , wo der Gesandte, die Attachés Graf Eulen- burg , von Brandt und der Maler Berg abstiegen, während der Attaché von Bunsen und Dr. Lucius in der wenige hundert Schritt weiter in derselben Strasse gelegenen russischen Gesandtschaft gastliche Aufnahme fanden. Der Weg dahin führt über den Korn- canal, der mit dem unter der Südmauer der Tartarenstadt hinlaufenden Graben und durch diesen mit dem nach Tuṅ-tšau führenden Canal verbunden, aber ohne Wasser ist. Eine Strecke weiter nördlich liegt am Korncanal die englische Legation, fast in gleicher Ent- fernung von der französischen und der russischen. Die Hauptgebäude der französischen Legation, welche die Wohnräume des Gesandten und einige Fremdenzimmer enthielten, umgeben zwei grosse durch einen Querbau getrennte Höfe. Die Secretäre und Dolmetscher wohnten in abgesonderten Häuschen und Pavillons, die in dem weiten Garten zerstreut liegen. Herr und Frau von Bourboulon hatten sich ganz europäisch eingerichtet; im Salon erinnerten nur einige seltene Erzeugnisse des Kunstfleisses an China ; die zwanglose anregende Geselligkeit verwischte beson- ders Abends den Eindruck der Fremde. Am Tage unserer Ankunft kamen Herr Bruce , Herr Wade , und ein der englischen Gesandt- schaft attachirter geistvoller Arzt, Dr. Rennie , zum späten Mittags- mahl; zum Thee erschienen auch der russische Minister-Resident, Herr von Balluzek und seine Gemahlin; so verfloss schon der erste Abend im unbefangenen, belebenden Austausch der Gedanken, welcher, die beste Würze des civilisirten Lebens, in der Fremde so schwer entbehrt wird. Frau von Bourboulon , eine Schottin aus dem Hochland, hatte lange in Nordamerica , Mexico und Spanien gelebt; sie verband seltene gesellige Begabung mit musikalischem Talent. Oberst von Balluzek und seine Gattin liebten deutsche Musik, und übten sie mit Geschmack und Fertigkeit. Herr Bruce , Herr Wade und andere Mitglieder der englischen Gesandtschaft hatten in China ereignissreiche Jahre verlebt; so sprudelten ringsum ergiebige Quellen der Unterhaltung. Morgens um sechs waren wir meist im Sattel und machten, geführt von Herrn und Frau von Bourboulon , Ausflüge durch die ungeheure Stadt oder ihre nächste Umgebung, denen sich Mitglieder der anderen Gesandtschaften anzuschliessen pflegten. Gegen zehn kehrte man hungrig zurück; nach dem gemeinsamen Frühstück ging Die russische Legation. XVII. Jeder an seine Beschäftigung. Der Abend pflegte den grössten Theil der diplomatischen Gesellschaft im Salon der Frau von Bour- boulon zu vereinigen. So wurden die Tage in Pe-kiṅ , begünstigt von Wetter und Jahreszeit, voll reicher fremdartiger Eindrücke, ge- würzt durch die angenehmste Geselligkeit, eine rechte Erquickung nach den Qualen von Tien-tsin . Herr von Balluzek wohnte, obwohl der Archimandrit und alle russischen Geistlichen nach dem im Norden der Tartarenstadt gelegenen Missionshause übergesiedelt waren, in seinen auf mehrere kleine Gebäude vertheilten Räumen recht beschränkt; ein grösseres Haus europäischer Bauart sollte im schattigen Garten aufgeführt werden. Glänzend war dagegen die Einrichtung der englischen Gesandtschaft. Wie alle chinesischen Anlagen dieser Art zeichnet sich auch der von Kaiser Kia-kiṅ erbaute Palast des Prinzen von Liaṅ , welcher ein Staatsamt in der Provinz bekleidete, mehr durch Breiten- als durch Höhen-Dimensionen aus, denn alle Hauptgebäude sind einstöckig. Durch Gassen und Gänge geschieden gruppiren sie sich um mehrere grosse Höfe und bilden mit den Nebengebäu- den und Dependenzen ein ganzes Stadtviertel. Herr Bruce über- nahm das »Fu« im Zustande argen Verfalles, voll Schmutz und faustdickem Staub, unter welchem die reiche Ornamentik sich kaum ahnen liess, beschränkte sich auf deren sorgfältige Restaurirung und passte die innere Einrichtung, soweit europäisches Bedürfniss erlaubt, dem chinesischen Geschmack an. So gab allein der Palast der englischen Gesandtschaft in Pe-kiṅ einen Begriff von der Pracht, dem Reichthum und Geschmack einer unlängst vergangenen Blüthezeit; alle anderen öffentlichen Gebäude, die wir sahen, waren zu verwittert, beschmutzt und verfallen, um die alte Herrlichkeit errathen zu lassen, und wirkten nur noch durch imposante Raum- vertheilung. Nach der Strasse verräth kein Zeichen den Palast. Durch die schlichteste Pforte tritt man in einen Vorhof mit Ställen und Schuppen; die Seite rechts vom Eingang schliesst ein einstöckiges Gebäude von grossen Verhältnissen ab, zu dessen erhöhtem Estrich eine Treppe hinanführt. Colossale steinerne Löwenthiere mit grim- mig verzerrtem Antlitz bewachen den Aufgang. Die Stufen sind aus Quadern, den Maassen des Hauses gemäss von unbequemer Höhe und Breite. Das schwere geschwungene Ziegeldach stützen ringsum roth lackirte Säulen von Holz, eine schattige Veranda XVII. Die englische Legation. bildend. Das Innere ist ein einziger weiter Saal mit mächtigen Flügelthoren in der Mitte der beiden langen Seiten; der kaiserliche Drachen schmückt hundertfach wiederholt die bunte Täfelung der Decke. Die Engländer bestimmten diesen Raum zum Ballspiel und körperlichen Uebungen und liessen ihn in seinem alten Zustande. Zum zweiten mit Quadern belegten Hof steigt man wieder mehrere Stufen hinab: rechts und links stehen zweistöckige Gebäude, gegen- über ein dem ersten ganz ähnliches Haus auf steinernem Sockel. Das Innere bildet wieder eine mächtige Halle mit gegenüberliegen- den Flügelthoren; es diente den Mitgliedern der Legation als Lese- und Billard-Saal; der Raum zwischen den Thüren war frei; rechts standen bequeme Divans und Sessel, Tische mit Büchern und Zei- tungen, links das grosse Billard. Der dritte Hof, zu welchem man von da hinabsteigt, ist viel grösser als die ersten; auf den kürzeren Seiten rechts und links stehen wieder zweistöckige Häuser, nicht höher als jene einstöckigen, dem Billardsaal gegenüber das Haupt- gebäude der ganzen Anlage, zu dessen Breite eine Treppenflucht aus Quadern hinanführt. Es ist in drei Räume abgetheilt: ein Empfangzimmer in der Mitte, links das grosse Speisezimmer, rechts der Salon des Gesandten. Auf vier Fuss Höhe sind hier die Wände boisirt, darüber bis zur Decke mit gitterartig durchbroche- nem Schnitzwerk belegt, und zwar im Salon auf hellrother, im Ess- zimmer auf strohgelber Unterlage. Die einfachen Möbel stören nicht die Wirkung der chinesischen Decoration; das lebensgrosse Bildniss der Königin Victoria erscheint fast winzig, so gewaltig ist die Höhe der schönen Räume. Den Boden decken feine Matten; der bunte und reich vergoldete Plafond wirkt in der Höhe durch- aus harmonisch, und der dunkelbraune Ton des Holzwerks giebt dem Ganzen bei aller echten Pracht und Kostbarkeit einen Anstrich behaglicher Wärme. Nicht wenig trägt das milde durch reich vergitterte Papierfenster einströmende Licht zum wohnlichen Ein- druck bei. Das früher beschriebene Mattendach gab dem grossen Hofe das Ansehn eines mächtigen Zeltes; um Licht und Luft einzulassen konnte man die Matten durch Seile nach Bedürfniss aufrollen; es war dort immer kühl und dämmerig. Aus dem Boden hatte Herr Bruce einen Theil der Quadern ausheben und den gewonnenen Raum mit feinem Rasen belegen lassen, auf welchem blühende Sträucher grünten. Alle diesen Hof umschliessenden Gebäude waren Die Tartarenstadt . XVII. auch äusserlich erneut, die Wände und Säulen mit glänzendem rothen Gypsstuck überzogen, das reiche Schnitzwerk der Gesimse und Balkenköpfe in Gold und leuchtenden Farben gemalt, wie sie einst gewesen. Der Blick vom Eingang des Hauptgebäudes über den grünen Prachthof, durch die offenstehenden Flügelthore der beiden Hallen in die vorderen Höfe bot eine imposante Perspective von malerischer Wirkung. An das Hauptgebäude stossen zwei Flügel von geringerer Höhe; der zur Rechten enthielt das Schlaf- und das Arbeitszimmer des Gesandten, der zur Linken die Kanzlei. Der Secretär und mehrere Attachés bewohnten die Häuser an den schmalen Seiten des grünen Hofes. — Durch eine enge Gasse von diesem Complex getrennt liegen dahinter mehrere andere Höfe, in deren weitläufigen Baulichkeiten Herr Wade mit drei Dolmetschern und neun »Student interpreters« hauste. Andere junge Leute, die sich zu Dolmetschern ausbilden wollten, wurden aus England erwartet. Die Gesandtschaften liegen im Süden der tartarischen »In- neren« Stadt, Nei-tšen , einem quadratischen Rechteck, dessen Ringmauer auf drei Seiten schnurgrade läuft und nur an der west- lichen Ecke der Nordseite etwas nach innen gekrümmt ist. Hier dehnt sich der um die ganze Stadt fliessende Graben zu einem weiteren Becken aus, das mit den Seen von Yuaṅ-miṅ-yuaṅ in Verbindung steht und durch eine gewölbte Oeffnung in der Nord- mauer die Teiche, Seen und Canäle im Inneren der Stadt speist; diese fliessen nach dem Graben vor der Südmauer der Tartaren- stadt ab, welcher, wie gesagt, an deren südöstlicher Ecke in den nach Tuṅ-tšau führenden Canal geleitet ist. Die Seen von Yuaṅ- miṅ-yuaṅ speist das nahe Gebirge; so muss Pe-kiṅ , so lange die Leitung geregelt war, beständig klares fliessendes Wasser gehabt haben, das durch jenen Canal in den Pei-ho ablief. Jetzt waren die Schleusen zerstört, die Rinnen verstopft, Abfluss und Zufluss fast ganz unterbrochen. Die Stadtgräben und Canäle lagen grossen- theils trocken; nur an tieferen Stellen ihres Bettes stand etwas Wasser. Die Teiche und Seen im Norden der Tartarenstadt er- hielten noch einige Nahrung aus dem Stadtgraben, waren aber trotzdem versumpft und mit wuchernden Wasserpflanzen fast zu- gedeckt. Der ganze Zustand der Wasserläufe machte den Eindruck einer Vernachlässigung, die viele Jahre, nicht erst seit dem Herbst XVII. Die Chinesenstadt . 1860 gedauert hatte, und stimmte zur Verkommenheit alles Uebrigen. Wurden jene Canalschleusen zwischen Pe-kiṅ und Tuṅ-tšau wirk- lich zur Abwehr der Alliirten vermauert, so förderte das vielleicht, verursachte aber gewiss nicht den Verfall der Leitung. In der östlichen, nördlichen und westlichen Mauer der Tar- tarenstadt liegen je zwei befestigte Thore; durch die Südmauer führen deren drei in die chinesische »Aeussere« Stadt, Kuei-tšen . Ein dem Mittelthor der Südfront entsprechendes grosses Doppel- gebäude in der Nordmauer dient sonderbar genug nur zu Auf- bewahrung einer grossen Glocke und einer riesigen Trommel. — Die chinesische Stadt bildet ein Rechteck, dessen nordsüdliche Ausdehnung über die Hälfte kleiner ist, als die westöstliche; in letzterer Richtung ist sie gegen 3000 Fuss breiter als die Tartaren- stadt . Ihre Mauern laufen streckenweise in leicht gekrümmten Linien und haben auf der Ost- und der West-Seite je ein, auf der Südseite drei Thore. Ausserdem liegen in den über die Südfront der Tartarenstadt auf jeder Seite hinausspringenden Mauerstücken Thore, welche von deren mächtigen Eckthürmen beherrscht werden. Die Ringmauer der Tartarenstadt hat je nach den Unebenheiten des Bodens eine Höhe von 45 bis 60 Fuss; sie besteht aus zwei gegeneinander geneigten Wänden, zwischen welchen Erde und un- gelöschter Kalk übereinander geschichtet sind. Ihre Dicke ist ver- schieden: beim Thore Hatamen misst die Südmauer an ihrer Basis über 80 Fuss, der Mauergang zwischen dem äusseren Zinnenkranz und der inneren Brustwehr, 48 Fuss; diese Esplanade ist auf der Nordmauer 50 bis 60 Fuss, auf der Ostmauer 42, auf der West- mauer 30 Fuss breit. Nach aussen springen in regelmässigen Inter- vallen Bastionen vor, die auf der Nordseite die Breite der Espla- nade stellenweise um 45 Fuss, also auf 105 Fuss, vermehren. — Der Umfang der Tartarenstadt beträgt etwa 3⅓ deutsche Meilen; die Mauern, welche die Chinesenstadt nach aussen begrenzen, sind fast zwei Meilen lang; so umschliessen über fünf deutsche Meilen Ringmauer die Doppelstadt. Der Mauergang der Tartarenstadt ist leicht nach dem In- neren der Stadt geneigt und mit Backstein gepflastert; bei den Eck- thürmen und den Thoren führen bequeme Rampen hinauf. Die Eck- thürme sind mächtige Bauten mit einer breiten Façade in jeder Mauerfront, und gleichen sonst den äusseren Thorgebäuden. Die Thore sind nämlich doppelt: das innere Gebäude fusst auf der Stadtthore. XVII. Ringmauer und überragt dieselbe um drei Stockwerke mit hölzernen Galerieen unter vorspringenden Dächern. Davor liegt ein halb- kreisförmiger oder viereckiger mauerumschlossener Hof, in welchen man durch den äusseren festungsartigen Thorbau gelangt: auf massi- vem bis zur Höhe der Ringmauer ragendem Unterbau aus Quadern erheben sich zunächst drei Stockwerke aus Backstein mit je zwölf Schiessscharten in der Hauptfront und vier auf den die Mauer flan- kirenden schmalen Seiten. Ueber dem dritten Stockwerk läuft ein Dach um das Gebäude, und darüber steht eine vierte Etage mit der gleichen Anzahl Scharten. Der schwere Dachstuhl beider Thor- gebäude ist mit grünen und gelben glasirten Ziegeln bekleidet; die Ecken der Hauptfirst schmücken aufgerollte Drachenschwänze, die herablaufenden Dachkanten groteske Thiergestalten. Die Schiess- scharten sind durch Bretterläden geschlossen, auf denen gemalte Kanonenlöcher prangen; für wirkliches Geschütz soll das tragende Gebälk zu morsch sein. Die äusseren Thorbauten haben Mandschu- Inschriften und ein neueres Aussehn als die inneren und die von Yoṅ-lo , dem dritten Kaiser des Miṅ- Hauses 1403 erbauten Ring- mauern. Dieser verlegte den Sitz der Regierung von Nan-kiṅ — dem südlichen Hof — nach der alten Mongolenresidenz Tšan- tien und nannte sie Pe-kiṅ , — den nördlichen Hof. Nur der Sockel der Mauern besteht aus Quadern, alles Uebrige aus gelbgrauen, scheinbar nur an der Luft getrockneten Backsteinen, die in den unteren Schichten mehrere Fuss lang und wenig verwittert sind. Bei einiger Sorgfalt hielten die Mauern wohl noch Jahrhunderte; sie dienen aber den Nachbarn als Steinbruch, und die Behörden hindern kaum die Verschleppung. Zahlreiche dem inneren Sockel angeklebte Hütten verrathen deutlich diesen Ursprung; die Gelegen- heit ist zu bequem, um nicht reichlich benutzt zu werden. Das Mittelthor in der Südmauer der Tartarenstadt heisst Tien-men, Himmelsthor. Wie bei allen Südthoren dient als ge- wöhnlicher Eingang eine seitliche Pforte des Vorhofes. Einmal jährlich aber wird das grosse Flügelthor für den Kaiser geöffnet, der sich zur feierlichen Verrichtung des Pflügens nach dem in der chinesischen Stadt gelegenen Tempel des Ackerbaues begiebt. Die Mauern und Thore dieser »Aeusseren« Stadt sind schlechter und niedriger als die der tartarischen; sie wurden 1544 erbaut, um die Tempel des Himmels und des Ackerbaues und die in der Vorstadt angesiedelten Kaufleute gegen Angriffe räuberischer Horden zu XVII. Die Gelbe und die Rothe Stadt . sichern. Die Mauern sind 20 Fuss hoch, auf dem Wallgang 14 Fuss breit. Innerhalb der tartarischen bildet die kaiserliche oder »Gelbe« Stadt , Huaṅ-tsen , wieder ein mauerumschlossenes nach Norden län- geres Reckteck. Ihre grössere westliche Hälfte füllen kaiserliche Gärten aus, ein langgestrecktes Becken, das »Meer der Mitte« ein- fassend, über welches eine prächtige Marmorbrücke führt. Die östliche Hälfte enthält zusammenhängende Strassen mit vielen Tem- peln und öffentlichen Gebäuden. Im Norden liegt, von Parkanlagen bedeckt, der etwa 240 Fuss hohe »Kohlenhügel«, S. Ansichten aus Japan , China und Siam . VII. der höchste Punct von Pe-kiṅ , genau im Meridian des Himmelsthores Tien- men, von welchem eine breite Steinbahn auf das Südthor der Gel- ben und weiter auf das Südthor der Rothen , Verbotenen Stadt , Huaṅ-tšan-ti-koṅ , führt. Letztere bildet, ein längliches Rechteck, den Kern der Gelben Stadt und erstreckt sich nach Norden fast bis zum Fuss des Kohlenhügels, von welchem sie der ihre Ring- mauer bespülende Wassergraben trennt. Sowohl die Gelbe als die Rothe Stadt haben je ein Thor nach jeder Himmelsrichtung. Die Rothe »Verbotene« Stadt enthält, in weiten buschigen Gärten versteckt, den kaiserlichen Palast mit zahlreichen Tempeln und Hallen. Ihre Grundfläche soll 80, die der Gelben Stadt 606 Hectaren betragen. — So ist die ganze Anlage der »Inneren Stadt« mit ge- ringen Anomalieen symmetrisch: in der westlichen Hälfte der Gelben Stadt ist die südliche Ecke rechtwinklig ausgeschnitten. Die Rothe Stadt liegt innerhalb der Gelben, letztere innerhalb der Tartaren- stadt nach Süden gedrängt. Nach dieser Himmelsgegend blickt gewissermaassen ganz Pe-kiṅ , blicken die Hauptfaçaden der darin eingeschachtelten Städte und des kaiserlichen Palastes im innersten Kern. Trotz der verschiedensten Form und Lage der Grundstücke sind auch die Paläste der englischen und der französischen Gesandt- schaft sowie sämmtliche Tempel, die wir sahen, und wahrschein- lich alle Anlagen von Bedeutung in ihrer baulichen Disposition mit dem Gesicht nach Süden gewendet, was dem Ganzen etwas orga- nisches giebt. Durch das mittelste Südthor der Chinesenstadt tritt man in eine breite Strasse, welche schnurgrade nach Norden laufend auf das Himmelsthor Tien-men stösst. In der Mitte ist sie zu Strasse der Chinesenstadt . XVII. einem breiten, mit Steinplatten belegten Damm erhöht; zu beiden Seiten der Strasse stehen an ihrer südlichen Hälfte endlose ein- förmige Mauern, die Tempelgründe des Himmels und des Acker- baues abgrenzend. Der räumliche Eindruck der langen Linien ist imposant. S. Ansichten aus Japan , China und Siam . VII. Die Strasse weiter verfolgend überschreitet man auf verfallener Marmor-Brücke einen trockenen Graben und gelangt in den belebtesten Theil der chinesischen Stadt. Der erhöhte Stein- damm setzt sich, von Budenreihen gesäumt, in der Mitte fort; zu beiden Seiten läuft ein ungepflasterter Weg, den Buden gegenüber von Häuserreihen begrenzt. So ist die Strasse dreifach; die seit- lichen Gassen gleichen, hier und da zeltartig mit Matten verhängt, einem Bazar, denn jedes Haus ist ein Kaufladen. Durch ein fünf- faches hölzernes Portal mündet sie auf eine durch Geländer in drei Bahnen getheilte Marmorbrücke; die beiden äusseren dienen dem Verkehr, die mittlere breiteste Bahn als Halteplatz für Droschken; sie fasst bequem zwei Reihen jener schmucken Maulthier-Karren, die, in munterem Trabe durch das Gewühl klappernd, alle Strassen von Pe-kiṅ beleben. Bei aller Einfachheit hat dieses Fuhrwerk eine gewisse grossstädtische Eleganz; das Holzwerk ist sauber ge- glättet, oft mit blankem Messing beschlagen, das Dach aus leich- tem Gitterwerk mit blauem Baumwollenstoff bezogen, dessen Rän- der ausgezackt und schwarz eingefasst sind; über das glatte Maul- thier breitet sich ein blaues Sonnensegel. Neben den Droschken beleben auch Packpferde, Esel und Maulthiere, den Kram der Landleute zu Markte bringend, die Strassen von Pe-kiṅ ; lange Züge zweihöckriger Kameele wanken in gemessenem Tritt durch das Gewühl. Sie dienen theils zum Schleppen von Baumaterial und anderen schweren Lasten, theils kommen sie, geritten von wilden malerischen Gestalten, mit Waaren aus der Mongolei . Auffallendes Costüm sieht man wenig; die Männer kleiden sich einfach in blaue oder gebrochene Farben; nur Frauen und Kinder gehn zuweilen in gestickten Seidengewändern, die Frauen larvenartig geschminkt. Man sieht deren überhaupt wenige auf den Strassen; Frauen von Stand verlassen ihr Haus nur in geschlossener Sänfte. Sehr vortheilhaft stechen die Tartarenfrauen durch un- verkümmerte Füsse von den Chinesinnen ab, nicht allein im Gang, sondern in der ganzen Gestalt und den Gesichtszügen, auf deren XVII. Strassenleben. Entwickelung jene Unsitte nachtheiligen Einfluss üben muss. Die Tartarinnen haben einen freien, hübschen Ausdruck, volle, gesunde, zuweilen schöne Züge und kräftige Gestalten. Die Männer zu unter- scheiden ist schwieriger; wahrscheinlich haben sich beide Stämme in Pe-kiṅ stark vermischt; im Costüm ist kein Unterschied, da ja der Chinese die Tracht der Sieger annehmen musste. Das Strassenleben ist bunt genug. Hier drängt sich die Menge um einen verkommenen Literaten, der, in den Prüfungen durchgefallen, sein Brod durch Vorlesen und Erzählen erntet: mit prächtigem Pathos trägt er, durch alle Tonarten gurgelnd und flötend, das Werk eines Classikers vor, und sammelt in den Pausen, die Grossmuth seiner Zuhörer durch salbungsvolle Sprüche weckend, milde Gaben ein. Dort schreit ein ambulanter Koch, dessen ganze Küche mit Feuerstelle, Kesseln und Pfannen auf einem Schiebkarren eingerichtet ist, mit zuversichtlicher Miene seine wohlfeile Mahlzeit aus: den wunderbarsten Thee, weisheitgebende Wassermelonen, muthbringenden Schnaps, Fische und Kuchen in Fett gebacken. Räudige Hunde und kahle Schweine drängen sich, ihr Theil an der Mahlzeit heischend, ohne Scheu zwischen die Beine der Schmau- senden, und erhalten nur bei allzugrosser Frechheit einen Fusstritt, vor dem sie heulend davon rennen. — Nah dabei hat ein wandern- der Schmied seinen Herd aufgestellt: mit einem Fusse tritt er den Blasebalg, die Hände sind mit Hammer und Zange emsig. Hier kommt ein Barbier durch das Gedränge, ein Tragholz über die Schulter, an welchem hinten ein Gestell mit Becken, Kessel und Handtuch, vorn ein Schemel und ein kleines Gong hängen, dessen Klingklang die Kunden lockt. Im dichten Gewühl geht er an die Arbeit, packt sein Opfer am Zopf, reibt den Schädel mit heissem Wasser ein und säbelt mit ungeschlachtem Messer ohne Er- barmen auf Haupt und Wangen herum. Sehr zart hantirt dagegen der fussheilende Aesculap, der mit Salben und Pflastern der Leiden- den harrend im ruhigen Winkel sitzt. Wo der Haufen sich drängt, findet man entweder einen Geldwechsler hinter Tischen mit Münze, oder ein Kasperle-Theater, aufs Haar dem unseren gleichend; da zeigt sich recht deutlich, wie abgesehen von Sprache, Kostüm und anderen conventionellen Aeusserlichkeiten das tägliche Leben aller Völker sich gleicht, wie die menschliche Natur überall die- selben Wege geht, dieselben Schmerzen des beschränkten Daseins leidet und dieselbe Heilkraft des Humors besitzt. — Auch Kinderspiele. XVII. Jongleure und Taschenspieler, deren tolle Geschicklichkeit oft Grauen und Ekel erregen, zeigen sich auf den Strassen: das Ver- schlucken von Nähnadeln, die nachher auf einen Faden gereiht durch die Nase wieder zum Vorschein kommen, soll ein gefähr- liches Kunststück sein, an welchem Mancher zu Grunde geht; ganz harmlos ist dagegen das beliebte Köpfen, bei welchem das breite Schwert im Nacken des Schlachtopfers stecken bleibt und ein Blutstrom aus der scheinbaren Wunde quillt. — In der Seitengasse vergnügt sich ein Kreis erwachsener Männer mit dem Federball, den sie mit den Füssen durch die Luft jagen und mit unfehlbarer Geschicklichkeit oft Viertelstunden lang fliegend erhalten. Wo es still ist in Pe-kiṅ hört man vom Himmel herab ein sonderbar har- monisches sanftes Pfeifen: das sind Schwärme von Tauben, denen die Pekinger, — vielleicht um Raubvögel abzuschrecken, — kleine Pfeifen unter den Schwanz binden, welche beim Fluge beständig tönen. Zerlumpte blinde Bettler ziehen, einen sehenden an der Spitze, truppweise im Gänsemarsch durch die Strassen, die eine Hand auf die Schulter des Vordermannes gelegt, in der anderen den Stab haltend. Dort kauert ein Schuhflicker mit ambulanter Werkstatt, hier ein Wahrsager mit kabalistischem Apparat; daneben räumen schmutzige Kerle den geheimen Inhalt einer besonderen Art Strohhütte aus, deren Dasein die Nase in allen Strassen ahnt. In schattigem Winkel lagert ein Haufen Bettler, leidenschaftlich in die Karten vertieft; ein Trödler hat seinen ganzen Kram von Thee- kannen, Pfeifen und buntem Allerlei auf der Erde ausgebreitet. Höker mit Leckereien sitzen an jeder Ecke, ein Glücksspiel vor sich, auf welches selbst das naschende Kind seinen Heller setzt; denn der kleine Chinese äfft alle Leidenschaften des grossen nach. Auch Pfandleihe ist ein Lieblingsspiel: mit mächtiger Brille auf der Nase entwickelt der kleine Verleiher unglaublichen Aplomb in ge- ringschätziger Behandlung der von den Spielgefährten gereichten Pfänder. Im bürgerlichen Leben des Chinesen hat nämlich die Pfandleihe als einzige Art von Creditanstalt hohe Wichtigkeit: 1860 fanden die englischen Truppen in den Leihämtern grosse Schätze aufgehäuft; aller Orten sind sie kenntlich an dem vor dem Hause aufgestellten Pfosten mit einem Drachenkopf auf halber Höhe. — Ein anderes Lieblingsspiel ist das Köpfen, das viele Kinder aus eigener Anschauung kennen und sehr geschickt nachzuahmen wissen. XVII. Märkte. Die grausame oft in Schadenfreude ausartende Indifferenz des Chi- nesen gehört zu seinen hässlichsten Zügen. Gewohnheit mag ihr Mitgefühl abstumpfen, denn Todesstrafen werden beständig auf den belebtesten Plätzen, oft in grosser Anzahl vollzogen. Aber beide Thatsachen, das brutale Hinschlachten wie die Gleichgültig- keit der Zuschauer bekunden doch die Rohheit der chinesischen Cultur. — Mitglieder der französischen Gesandtschaft kamen eines Morgens spazierenreitend auf einen Marktplatz der Chinesenstadt und gewahrten, an hohem Gerüst in Käfigen aufgehängt, über funf- zig blutige Häupter von Verbrechern, die den Tag zuvor dort hin- gerichtet waren. Einige Tage später war die Luft ringsum ver- pestet; viele Käfige hatte der Wind zerbrochen, manche Köpfe hin- gen an den Zöpfen herunter, andere lagen am Boden: — trotzdem nahm der Markt seinen ruhigen Fortgang; man feilschte, schalt und lachte; die grässliche Nähe schien Niemand zu stören. Auf diesen Märkten, die gewöhnlich an der Kreuzung zweier Hauptstrassen abgehalten werden, lässt sich die Landbevölkerung der Umgebung beobachten, stämmige Gestalten mit breitrandigem Strohhut, deren gebräunte Haut angenehm gegen die fahlen Stadt- gesichter absticht. Bauern und Bäuerinnen sitzen, ihr Pfeifchen rauchend, auf Holzschemeln oder Matten, vor sich mannshohe Haufen von Kohlköpfen, Zwiebeln und anderen Gemüsen, auch allerlei Fleisch und Wildpret. Alte steife Maulthiere und struppige Esel, welche die Waaren zu Markte schleppten, treiben sich unge- fesselt dazwischen herum und suchen ein Maul voll Grünes zu stehlen. Der rege Verkehr beschränkt sich in Pe-kiṅ ganz auf die Hauptstrassen. Die Chinesenstadt hat deren nur drei von Süden nach Norden laufende und eine dieselben kreuzende, welche das östliche Thor mit dem westlichen verbindet. Besonders in der mittelsten auf das Himmelsthor mündenden Strasse drängt sich früh und spät eine bunte emsige Menge; das ameisengleiche Treiben macht durchaus den Eindruck grossstädtischen commerciellen Lebens. In der That soll der Grosshandel von Pe-kiṅ seinen Sitz vorzüglich in der Chinesenstadt haben, wenn auch deren Kaufläden hinter vielen der Tartarenstadt an Eleganz weit zurückstehen. Die meisten Häuser jener dreifachen Strasse sind dunkel, schmutzig und ver- fallen, der Reichthum liegt hier nicht zu Tage; nur an ihrem nördlichen Ende sieht man Façaden mit hohen Säulen und goldenem Schnitzwerk. IV. 8 Hauptstrasse der Chinesenstadt . XVII. Jenseit der Marmorbrücke theilt sich die Strasse in zwei Arme, die halb- kreisförmig den Vorhof des Himmelsthores umfassen: eine Buden- reihe am Sockel der Mauer wetteifert in prachtvoller Ausstattung mit den gegenüberliegenden Läden; hier wirkt die Fülle des bunten phantastischen Zierraths fast verwirrend, aber in seiner willkür- lichen Anordnung höchst malerisch, In dieser Gegend wohnen die vornehmsten Trödler, bei welchen manches Prachtstück zu finden war: Schnitzereien in Holz und Bambus, in Jade, Serpentin, Cor- nalin und Bergkrystall, Arbeiten von Lack, Bronce, Email und Por- celan. Vieles stammte aus Yuaṅ-miṅ-yuaṅ , wo chinesische Diebe die reichste Nachlese hielten. Die Preise waren höher als in Tien tsin , besonders für Raritäten; für eine Schüssel aus der Miṅ- Zeit, etwa anderthalb Fuss im Durchmesser, auf welcher nur ein Baum- zweig gemalt war, forderte man 120 Dollars. Es giebt eben in China sammelnde Liebhaber wie bei uns; zudem verlangten die Händler immer weit höhere Preise als sie nehmen wollten. Die Engländer von der Gesandtschaft pflegten nur ein Viertel oder ein Drittel des Geforderten zu bieten und selten die Hälfte zu zahlen. Sie hatten aber selbst durch diese Art zu feilschen die Händler zu übermässigem Fordern getrieben, und gestanden, dass in Läden der Vorstädte, wo man ihre Art nicht kannte, die Ueberforderungen nicht ungebührlich waren. Feilschen will jeder chinesische Krämer; erhält er den genannten Preis, so bereut er unfehlbar keinen höheren verlangt zu haben. Der Geldwerth der bei den Trödlern in Pe- kiṅ angehäuften Schätze muss ansehnlich sein; die kostbarsten Ge- genstände bewahren sie — der Diebesgefahr wegen — in rückwärts liegenden Gemächern, zu denen man aus dem vorderen Laden über ein enges Höfchen gelangt; dieses hat eine gitterartige Bedachung entweder aus starken Latten oder aus Drahtgeflecht, an welchen Hunderte von Glöckchen — gegen Diebe hängen. — Sonderbar überrascht es, unter den chinesischen Raritäten zuweilen europäische Fabricate, alte Fernrohre, Jagdflinten, Degen, Pistolen u. s. w. zu finden; auch Revolver und Enfieldbüchsen, die von der Niederlage bei Taku 1859 herrühren, sieht man zuweilen. — Viele der werth- vollsten Stücke in den Kaufläden waren nicht Eigenthum der Trödler, sondern von den Besitzern zum Verkauf dort ausgestellt. In Folge der Invasion der Alliirten und der Flucht des Kaisers ge- riethen nämlich die vornehmsten Tartaren-Familien, welche ihre Einkünfte aus den Hofkassen bezogen, in arge Geldnoth, der sie XVII. Der Tempel des Himmels. durch Verkauf von Pretiosen zu steuern suchten. Fast täglich wur- den durch Unterhändler den Mitgliedern der Gesandtschaften die kostbarsten Arbeiten in Porcelan, Email und Jade angeboten, Fa- milienstücke, die vielleicht Jahrhunderte lang im Besitz eines vor- nehmen Hauses waren, unter anderen ein prachtvoller Thron aus Ebenholz mit Gedichten eines Kaisers auf eingelegten Emailtafeln und Zierrathen von ciselirtem Golde; nach Aussage der chinesischen Literaten durfte nur der Himmelssohn auf solchem Stuhle sitzen; der Unterhändler bot ihn im Auftrag eines kaiserlichen Prinzen ersten Ranges an, dessen Apanage in Abwesenheit des Hofes unge- zahlt blieb. So lebhaft das Gewühl der Hauptstrassen, so still ist es in den engen gewundenen Gassen der dazwischen liegenden Stadt- viertel; viele sind ganz ohne Läden, von Arbeitern bewohnt; an- dere dienen ausschliesslich einem bestimmten Handelszweige, so giebt es ganze Strassen voll Buchläden. — Die südliche Hälfte der chinesischen Stadt füllen Gärten, Felder und Tempel aus; hier liegt der See des schwarzen Drachen, He-luṅ-tšau, mit kleinem ver- fallenem Tempel, wo in trockenen Jahren Kaiser und Prinzen den König der Drachen um Regen anflehen. Das Kloster Tao- yaṅ-tiṅ, ein früher von Mandarinen begünstigter Vergnügungsort, steht auf der Spitze eines Hügels mit anmuthiger Aussicht auf die ländliche Umgebung. Die Tempel des Himmels und des Acker- baues bedecken mit ihren parkartigen Gärten ein grosses Areal; sie wurden erst nach unserer Anwesenheit den Diplomaten zugäng- lich. Nach ihren Schilderungen umgiebt den Tempel des Himmels ein weiter Park uralter immergrüner Bäume, welchen breite mit Steinplatten belegte, von Marmorgittern eingefasste Gänge durch- schneiden. Die dichten Wipfel lassen kaum einen Sonnenstrahl durch; kein Gräschen gedeiht auf dem mit moderndem Laube fuss- hoch bedeckten Boden. Kein Geräusch unterbricht die tiefe Stille, denn ausser den Wächtern und Priestern darf kein Chinese hinein. Der Umfang des kreisrunden Tempels soll 1500 Fuss betragen; er hat zwei übereinandergestülpte Dächer, deren Form einem spitzen chinesischen Strohhut verglichen wird; die blauen glasirten Dach- ziegel schimmern durch dichte Lagen von schwärzlichem Moos. Das Wandstück zwischen den Dächern ist mit hellblauen bunt be- malten Kacheln bekleidet. Vier grosse geschnitzte Schilder von lackirtem Holz, mit Inschriften und dem kaiserlichen Drachen, be- 8* Der Tempel des Himmels. XVII. zeichnen die Himmelsgegenden. Den Rumpf des Gebäudes zieren roth lackirte Holzrahmen, in welchen Füllungen von dunkelblauem Email mit goldenen Sternen sitzen; darüber läuft ein Fries von hell- blauen bunt bemalten Kacheln um das untere Dachgesims. Die Spitze des Daches krönt ein Zierrath von vergoldeter Bronce in Form einer Straussenfeder. Vier hohe Flügelthore führen in das Innere, wo riesige wurmzernagte Götzen stehen; es soll dort wüst und verfallen aussehen. Das Tempelgebäude ruht auf dreistöckigem Unterbau aus weissem Marmor, drei übereinander geschichteten Ter- rassen mit Treppenfluchten auf allen vier Seiten; die oberste Plate- form ist zwischen dem reichverzierten Geländer und der Aussen- wand des Tempels funfzig Fuss breit. Oestlich von diesem Bau- werk liegt eine lange steinerne Terrasse, welche zu einem drei- stöckigen, dem Sockel des Tempels gleichenden Marmorbau führt: das ist der grosse Altar, wo der Kaiser dem Himmel opfert. Rings- um stehen broncene Räuchergefässe und in der Mitte fünf Fuss- gestelle, auf welche die Gedenktafeln der kaiserlichen Ahnen ge- setzt werden, während der Himmelssohn sein Gebet verrichtet. Unter den schattigen Wipfeln ringsum liegen mehrere kleine Tempel und dahinter ein zum Schlachten der Opferthiere eingerichteter Hof. — Das Ganze soll den Eindruck stillen erhabenen Ernstes und heiliger Grösse machen. Man darf den Himmelstempel als den sinnbildlichen Mittelpunct der chinesischen Cultur ansehn, deren uralte Grundlage monotheistisch war; nur trat an die Stelle des persönlichen Šan-ti, den die ältesten Kaiser anbeteten, das unper- sönliche Princip des Himmels, Tien, der leitenden Weltordnung, deren Incarnation der Kaiser ist; auf dieser Gemeinschaft beruht seit urältester Zeit seine unumschränkte Gewalt. Der Kaiser ver- mittelt die Beziehungen des Volkes zu der weltleitenden ewigen geistigen Wesenheit; er allein soll am Altar des Himmels beten, der zu hoch, zu erhaben ist, als dass das Volk zu ihm aufblicken dürfte. Das Bewusstsein dieser vermittelten Beziehung zum Him- mel scheint neben allem Aberglauben der Secten in jedem Chinesen zu leben. Der Park des Ackerbau-Tempels soll arg vernachlässigt sein; dort liegen im Dickicht viel umgestürzte Bäume, die, ohne Nach- wuchs, merkliche Blössen lassen. Der Tempel selbst gleicht dem des Himmels, ist nur kleiner und hat ein dreifaches Dach; die Lack-, Porcelan-, Email- und Metallarbeiten sind besser erhalten; XVII. Der Tempel des Ackerbaues. doch soll das Ganze den Eindruck höheren Alters machen. Der Boden ist feucht; dickes Moos und Unkraut bedecken die stein- belegten graden Gänge im Park, Pilze spriessen klumpenweise aus allen Ritzen. Bei dem Tempel liegt der Acker, wo der Kaiser all- jährlich den Boden pflügt. Eine Hauptallee führt zu dem ver- fallenen Thurm, auf dessen Höhe frühere Kaiser eigenhändig Schafe zu opfern und mit durchschnittener Kehle auf das Steinpflaster des Hofes zu stürzen pflegten, damit die Wahrsager aus den rauchen- den Eingeweiden die Zukunft verkündeten. Seit lange sollen diese Opfer ruhen; bleiche Gerippe sahen die Besuchenden noch 1861 auf dem Hofe ausgestreut. — Sehr bezeichnend liegt der Tempel des Ackerbaues dem des Himmels gegenüber an der grossen Hauptstrasse der kaiserlichen Residenz zwischen dem Palast und dem nach Süden ausgebreiteten Reiche; denn nur südlich von Pe-kiṅ liegt das Land der blumigen Mitte; hinter den Gebirgen, die nörd- lich seine Ebene umkränzen, wohnen Mongolen und Tartaren, lauter Nomadenstämme, unter denen die höhere südliche Cultur der ackerbauenden Chinesen nur ein mageres, künstliches Dasein fristet. Die grosse Mauer, welche China vor diesen Horden schützen sollte, läuft nur etwa eine Tagereise westlich und nördlich von Pe-kiṅ durch das Gebirge. — Wie nun der Himmelstempel die Gemein- schaft des Kaisers mit der leitenden Weltordnung, so versinnlicht der Ackerbautempel seine Gemeinschaft mit dem Volke. Staunton schildert in dem Werk über Lord Macartney’s Reise den heiligen Brauch des Pflügens in folgenden Worten: »Nachdem der Kaiser etwa eine Stunde lang den Pflug geführt hat, — während eine Schaar Bauern um ihn her Loblieder auf den Ackerbau singen, — folgen alle Prinzen und Würdenträger des Hofes seinem Beispiel, und ziehen, einer nach dem andern, in seiner Gegenwart einige Furchen. Sie alle sowohl als der Kaiser sind in eine ihrer neuen Verrichtung angemessene Tracht gekleidet. Der Ertrag des so gepflügten Ackers wird sorgfältig gesammelt; dann verkündet ein feierlicher Erlass, dass derselbe an Menge und Güte den Ertrag jedes anderen Ackerstückes von gleicher Grösse übertrifft. Die Feier dieses Festes wird im fernsten Dorfe des Reiches bekannt ge- macht. Es soll den schlichtesten Landmann erfreuen, ihn trösten bei den durch die Veränderlichkeit der Jahreszeiten ihm oft be- reiteten Täuschungen, wenn er sich erinnert, dass sein Beruf durch seinen Fürsten geadelt worden ist, welcher durch dessen Ausübung Strassenarchitectur. XVII. der zahlreichsten und nützlichsten Classe seiner Unterthanen einver- leibt wird und ihre Interessen zu theilen scheint.« Der höhere sym- bolische Sinn des alten Brauches ist wohl, dass der Sohn des Him- mels den Boden des Reiches bestellt und der Ernte den Segen des Himmels sichert; er ist ja verantwortlich für das Wohl der Menschheit. — Das Grundstück des Ackerbautempels hat von Norden nach Süden dieselbe Länge, aber geringere Breite als das des Himmelstempels; sein Umfang beträgt etwa zwei englische Meilen. Neï-tšen , die innere oder Tartarenstadt , wird noch immer als Festung behandelt; Abends schliesst man die Thore, kein Sol- dat darf die Nacht ausserhalb zubringen. Die erobernden Mand- schu sollen den ganzen Grund und Boden an stammverwandte Kriegerfamilien ausgethan haben; jetzt scheinen Kaufleute die Masse der ansässigen Bevölkerung zu bilden. Sämmtliche Häuser der Hauptstrassen, — die auch hier schnurgerade entweder von Nord nach Süden oder von Ost nach Westen laufen, — enthalten Kaufläden, deren Façaden sehr elegant, oft mit verschwenderischer Pracht ausgestattet sind. Ihre Bauart gleicht weder der süd- oder mittelchinesischen, noch, soviel dem Verfasser bekannt, irgend einer anderen; sie scheint Pe-kiṅ allein eigen und sich hier selbstständig, wahrscheinlich in der letzten Blütheperiode unter dem Einfluss begabter Meister entwickelt zu haben. — Das saubere Mauerwerk der meist einstöckigen Häuser unterscheidet sich kaum von dem anderer chinesischen Städte, ist aber nur an den Giebelwänden sichtbar; die Strassenfront bekleidet ein reicher phantastischer Holzbau. Bei vielen Läden bilden zwei bis vier mastenartige Holz- säulen von etwa dreissig Fuss Höhe den Rahmen; manche sind über und über vergoldet, andere roth und schwarz gestrichen, mit goldenem Zierrath, einige glatt, andere bambusartig abgetheilt; die Spitze krönt ein birnenförmiger Knopf oder eine Thiergestalt. Ueber der Thürhöhe verbinden Füllungen von reichem durchbrochenem Schnitzwerk diese Säulen, bis zum letzten Drittel ihrer Höhe hinan- reichend; darüber läuft gewöhnlich von Säule zu Säule eine zier- lich geschwungene Bedachung mit geschnitzten bunt gemalten Sparren und Stützen. Aus den Säulen treten symmetrisch Drachen- köpfe hervor, an vergoldeten Ketten eine bunte Reihe sinnbildlicher Ladenzeichen tragend, die von reich geschnitztem Balken herab- hangen. Die Ladenschilder sind entweder senkrecht vor den Säulen XVII. Strassenarchitectur. befestigt, oder schief in der Mitte der Füllungen zwischen den Säulen, mit goldener Schrift auf blauem oder Scharlachgrund. Die ganze Façade lehnt sich als freistehendes Gerüst an die versteckte Dachkante; rückwärts hinter den Säulen stehen die hölzernen Pfeiler des Hauses, oben mit geschnitzten Friesen verbunden, die schreinartig unter den vorderen Füllungen hervorsehen. Die Pfeiler sowohl als der untere Theil der Säulen sind mit reichen Mustern in grünem, rothem, gelbem Gold auf dunkelem Grunde bemalt. Vorhänge von schwerem indigo-blauem oder braunrothem Baum- wollenstoff mit grossen weissen Schriftzeichen verdecken den Ein- gang. — Die vergoldete Schnitzarbeit der Füllungen, meist Blätter- werk mit eingeflochtenen Thiergestalten, zeigt die reichste Erfin- dung, grosse Schönheit der Zeichnung und vollendete Meisterschaft der Arbeit. In den Friesen finden sich reizende Linearmotive; die Drachenköpfe und andere Embleme sind breit und markig ge- schnitten. Der ausgeprägte Typus des Ganzen ist auch im Ein- zelnen durchgebildet; es wirkt trotz aller bunten Linien und Farben durchaus harmonisch. S. Ansichten aus Japan , China und Siam VIII. Die säulenlosen Façaden haben ebenfalls reich verzierte Fül- lungen, Friese und Dachgesimse; letztere tragen gewöhnlich ein buntes geschnitztes Geländer. Aus vielen Läden ragen lange Stangen mit vergoldetem Knauf, an welchem Laternen, Fahnen und andere Embleme hängen, in schräger Lage über die Strasse. — An den Kreuzungen stehen prächtige Portale mit fünffachem Thor, Ehren- pforten gleichend. Viele der älteren Bauten sind aus dem Winkel gewichen, ihre Farben und Vergoldung verstaubt und verwittert, das Schnitzwerk zerbrochen; im Ganzen aber zeigen die von Kauf- leuten bewohnten Viertel bessere Erhaltung, Pflege und Reinlichkeit als alle öffentlichen Gebäude. Die phantastische Willkür, mit welcher die einfachen Elemente dieser Architectur in endloser Abwechselung behandelt sind, verleiht den Strassen von Pe-kiṅ grossen Reiz: es giebt dort Perspectiven von der reichsten malerischen Wirkung. — Auch in der Tartarenstadt läuft häufig ein budengesäumter Damm in der Mitte der Strasse hin; die mächtigen Steinplatten der Pflaste- rung sind theils fusstief ausgefahren, theils nur in geringen Resten vorhanden; bei trockenem Wetter watet man in tiefem Sande, der Staub ist erstickend. Tempel der Tausend Lamas. XVII. Die zwischen den Hauptstrassen der Tartarenstadt liegenden Viertel sind theils von dichtem Häuserlabyrinth, theils von Gärten und Tempelgründen ausgefüllt. Im Südwesten steht, der Süd-Mauer der Gelben Sadt gegenüber, eine nach der Unterwerfung von Tur- kestan unter Kien-loṅ für die nach Pe-kiṅ geführte Turkmanen- Colonie erbaute Moschee. S. Ansichten aus Japan , China und Siam . VII. Die Strassenfaçade ist arabisch, nur ihr Dachstuhl chinesisch, und, wie die angrenzenden Wohngebäude der Turkmanen, in baulichem Verfall. Die Nackommen der Einge- wanderten, welche eine Handwerker-Innung im Dienste des Hofes bilden sollen, haben chinesische Tracht und Sprache angenommen, scheinen aber dem Islam treu geblieben zu sein. Einer der grössten Tempel ist der des »Ewigen Friedens« im Nordosten der Tartarenstadt , auch Tempel der tausend Lamas genannt, zu welchem ein reiches Kloster gehört. Man wandelt durch sieben stattliche Höfe mit colossalen broncenen Löwen und Rauchgefässen von erlesener Arbeit. Der Tempel ist ein riesiges altes Bauwerk ohne jeden Schmuck, im Inneren sehr dunkel; an den mächtigen Pfeilern hängen schwarze Holztafeln mit tibetanischen Schriftzeichen. In der Mitte steht ein kleines Götzenbild, davor ein Altar, auf welchem zur Zeit unseres Besuches Kerzen brannten; — es war eben Gottesdienst. Die Mönche — wohl sechs- bis acht- hundert — sassen in langen Reihen auf niedrigen Bänkchen, kleine Tische vor sich, und sangen in einförmig tiefem Ton und gemessenem Rythmus ihre Litanei, an bestimmten Stellen zwei Kieselsteine zu- sammenschlagend, welche sie, vielleicht um wach zu bleiben, be- ständig in den Händen hielten. Alle waren in gelbe Gewänder ge- kleidet und hatten ihre einem grossen Achilleshelm gleichende Kopf- bedeckung aus gelbem plüschartigem Wollenstoff vor sich auf den Tischen liegen; nur die zwischen den Reihen herumwandelnden Vorsteher trugen ein dunkelrothes Gewand über dem gelben, und den Wollenhelm auf dem glattgeschorenen Haupte. Sie empfingen uns sehr freundlich und zeigten das milde ruhige Wesen friedlicher, dem Leben versöhnter Männer ohne Wünsche und Leidenschaften. Der ernste feierliche Ton des Gottesdienstes wurde hier nicht, wie in anderen chinesischen Tempeln, durch profane Eindrücke entweiht. Die Engländer fanden bei späteren Besuchen in diesem Tempel noch zwei grosse Hallen, die wir nicht sahen. In der einen sitzt ein 72 Fuss hoher weiblicher Budda, in der anderen der Kriegsgott Kwaṅ-ti , welchem bei jedem von chinesischen Truppen er- fochtenen Siege der Dank der Regierung in der Zeitung von Pe-kiṅ ausgesprochen wird. XVII. Kirchen. Die Sternwarte. — Die Mönche bekennen sich zum tibetanischen Lama-Dienst, über- setzen mongolische und tibetanische Schriften in das Mandschurische und Chinesische, und drucken die Uebersetzungen in ihrem Kloster, dessen schöne Gärten ein weites Areal bedecken. Nah dabei steht im nordöstlichen Winkel der Tartarenstadt dicht unter der Ringmauer die russische Himmelfahrtskirche — einst ein chinesischer Tempel — mit dem Missionshause an einem kleinen See. Ein kahler Hügel in der Nähe bietet einen hübschen Blick über diesen Stadttheil: Pe-kiṅ gleicht von hier einem grossen Garten, aus dessen Wipfelmeer nur die Stadtthore und die Dächer einzelner Tempel und Paläste hervorragen. Der Anblick überrascht um so mehr, als das Gewühl der grossen Strassen durchaus den Eindruck einer dichtbewohnten Stadt giebt und die hinter den Häuserreihen versteckten Gärten garnicht ahnen lässt. Die katholische Cathedrale, eine stattliche Kirche im Jesuiten- styl, wurde unter Kaiser Kaṅ-gi nah dem Westthor der Südmauer erbaut, gerieth bei den Christenverfolgungen in Verfall und wurde erst nach dem Friedensschluss 1860 mit den übrigen Besitzungen der katholischen Kirche wieder den Franzosen übergeben, welche das alte portugiesische Wappen von der Façade entfernten und den Bau restaurirten. Vor gänzlicher Zerstörung soll sie nur die Inter- vention der russischen Missionare gerettet haben, welche der chine- sischen Regierung gegenüber Ansprüche auf die Kirche erhoben. Chinesisch heisst sie Nan-taṅ , die Südkirche, im Gegensatz zu der Nordkirche, Pe-taṅ , in der Gelben Stadt . Unter Kaṅ-gi wurde auch die Sternwarte neu eingerichtet und den Jesuiten übergeben, in deren Händen sie bis zu ihrer Ver- treibung blieb; sie soll unter den Mongolenkaisern gegründet sein und liegt im Südosten der Tartarenstadt hart unter der Ringmauer. Viele alte chinesische Instrumente, welche denen der Jesuiten Platz machten, werden noch heute dort aufbewahrt. — Von der Strasse öffnet sich die schwere wurmstichige Thür auf einen feuchten Hof mit alten Bäumen und verwitterten Gebäuden, wo der Wächter wohnt; hier stehen zwei Astrolabien und eine äusserst künstliche Wasseruhr, mit dickem Rost und Grünspan bedeckt. Als Obser- vatorium diente ein dicker viereckiger Thurm, der, an die Stadt- mauer gelehnt, dieselbe um zwölf Fuss überragt. Oben stehen auf drei Seiten der Plateform die astronomischen Instrumente: zwei Himmelssysteme, ein Azimutal-Horizont, ein Sextant, ein Quadrant Der Tempel des Confucius . XVII. und ein grosser Himmelsglobus mit goldenen Sternen. Nach Angaben des Pater Verbiest 1673 wahrscheinlich von Chinesen gefertigt, sind sie wahre Meisterwerke künstlerischer Behandlung. Alle Handhaben, Stützen und Träger der Instrumente bilden Drachen und andere fabelhafte Thiere in phantastischer Stellung und Verschlingung; Zeichnung, Guss und Ciselirung sind von vollendeter Schönheit. — Die Aussicht ist umfassend; auch von hier aus gleicht Pe-kiṅ einem mauerumschlossenen Park. Ausserhalb blickt man in dürftige Vor- städte; nach Osten streckt sich die grüne Fläche unabsehbar; westlich und nördlich begrenzen sie zackige Berge. Im Südosten der Tartarenstadt liegen ferner die kaiserlichen Kornspeicher und der Tempel der Gelehrten, wo die öffentlichen Prüfungen stattfinden; die ausgedehnten Gärten des letzteren ent- halten lange Reihen von Zellen für die Clausurarbeiten. Zu diesen Prüfungen sollen jedesmal gegen 40,000 Menschen aus den Provinzen nach Pe-kiṅ zusammenströmen, da die Candidaten von vielen Ver- wandten begleitet werden. — Die Gebäude der kaiserlichen Han- lin -Academie, des vornehmsten wissenschaftlichen Institutes in China , stehen im Osten der Tartarenstadt . — Im Nordosten liegt der grosse Confucius-Tempel, dessen Besuch uns die zarten Rück- sichten der Diplomaten gegen die chinesische Regierung leider ver- boten. Ihnen wurde der Tempel bald nach unserem Scheiden zu- gänglich; die darüber gedruckten Beschreibungen stimmen aber so wenig überein, dass ein Auszug daraus hier nur unter Vorbehalt mitgetheilt werden kann. Nach der Schilderung des Dr. Rennie tritt man von der Westseite in einen Hain, in welchem Reihen von Marmortafeln mit den Namen ausgezeichneter Gelehrten stehen. Ein nach Süden gewendetes dreifaches Portal von reicher schöner Arbeit führt in einen Hof mit drei tempelartigen, von hohen Bäumen be- schatteten Gebäuden an jeder Seite. In der Mitte steht auf reichem Marmorsockel der Tempel des »Vollkommenen« im schönsten Zu- stande der Erhaltung. Die Aussenwände zieren goldene Drachen auf grünem Grunde; die Holzschnitzarbeit ist durch Netze gegen Vögel geschützt. Innen ist die hohe luftige Tempelhalle ernst und einfach gehalten, die Decke getäfelt, mit goldenen Drachen auf grünem Grund in den Feldern. In einer roth angestrichenen Holz- nische steht die Gedenktafel des Confucius , ebenfalls von roth an- gemaltem Holz, mit der goldenen Inschrift: »Sitz des heiligsten Mannes Confucius«; davor ein Altar mit massiven Broncevasen und XVII. Der Elephantenhof. Der Kohlenberg. Leuchtern. An den Seitenwänden der Tempelhalle sind ähnliche Nischen mit den Gedenktafeln der vier anderen grossen Heiligen und Altäre davor; daneben stehen, nach dem Eingange zu, die Ta- feln und Altäre der zwölf chinesischen Weisen, sechs auf jeder Seite. — In einem angrenzenden Prachthofe sind alle Weisheits- sprüche des Confucius in Goldschrift auf schwarzen Marmortafeln zu lesen. Viele andere Tempel liegen in der Tartarenstadt zerstreut; hier ragt ein mächtiges blaues Ziegeldach, dort eine vielstöckige Pagode über die Häuserreihen. Die meisten bieten wenig Merk- würdiges; man fühlt sich nach Besichtigung einiger Tempel kaum versucht in andere einzudringen. Der forschende Sinologe möchte Ausbeute finden für das Studium der chinesischen Cultur: da ist ein Tempel des Mondes, ein den Herrschern aller Dynastieen ge- weihter, ein Tempel der aufgehenden Sonne, ein Heiligthum der Schamanen, wo der Kaiser seinen Ahnen opfert, u. s. w.; der Un- kundige sieht nur gleichartige Schaustellungen. Den Elephantenhof im südwestlichen Winkel der Tartaren- stadt bewohnte 1861 nur noch ein einziger einäugiger Elephant von weisslicher Farbe mit abgestumpften Stosszähnen, der nach Aeusse- rungen der Wärter über hundert Jahr alt war und aus Yun-nan stammte. Die Miṅ -Kaiser sollen für den Prunk ihrer Feste immer grosse Heerden dieser Thiere unterhalten haben; auch unter den Mandschu-Herrschern des 17. und 18. Jahrhunderts muss nach der Jesuiten Bericht die Hofhaltung noch sehr prächtig gewesen sein; bei Tau-kwaṅ ’s Regierungsantritt sollen die kaiserlichen Ställe noch 38 Elephanten enthalten haben. Beim schnellen Ruin der Finanzen liess man mit anderem Gepränge auch diesen Luxus eingehn. Jetzt sind die Ställe ganz verfallen. Den landschaftlichen Mittelpunct von Pe-kiṅ bildet der Steinkohlenberg Me-tšaen in der Gelben Stadt ; er heisst auch Kiṅ- tšaen , Berg der Hauptstadt, und Wan-sui-tšaen , Berg der zehn- tausend Jahre: Engländer nennen ihn Prospect hill. Lange Be- lagerung fürchtend, soll ein Kaiser des Miṅ -Hauses hier grosse Steinkohlenvorräthe aufgehäuft haben; die verwitterten Schichten an der Oberfläche verwandelten sich bald in eine Humusdecke; jetzt beschatten dichte Wipfel den ganzen Hügel und seine als kaiserlicher Lustgarten dienende Umgebung. Im Rechtek von Mauern umschlossen, mit Thoren nach allen vier Seiten, blickt die Das Meer der Mitte und der Goldene Hügel. XVII. Anlage südlich mit einer langen Gebäudefront auf den breiten Wassergraben der Rothen Stadt , zu deren nördlichem Portal ein Steindamm hinüberführt. Pavillons mit künstlich verschränkten Dächern aus gelben Ziegeln stehen, einander gegenüber, auf den südlichen Ecken des Kohlenberg-Gartens und den Nord-Ecken der nach der Farbe ihrer Mauern benannten Rothen Stadt . Den Gipfel des Kohlenhügels und vier Kuppen ringsum an seinen Hängen krönen Kioske mit bunten Dächern, die voll Götzenbilder stecken. Uns war der Besuch nicht gestattet. Kleine Häuser, von Bonzen und Schranzen bewohnt, und Tempelchen mit grotesken Götzen sollen im Dickicht zerstreut liegen. S. Ansichten aus Japan , China und Siam VIII. Die Marmorbrücke über den See Tai-tši , das Meer der Mitte, mündet der Nordwestecke der Rothen Stadt gegenüber unter dem Kohlenhügel; sie bietet reizende Blicke auf die Gartenufer des weiten Beckens. Nördlich liegt in der Ferne der Tempel Fa-kua , der abergläubischen Tao -Secte eigen, davor auf Inselchen die 1460 gegründeten fünf Drachenhäuschen. Rechts, nordöstlich, schiebt sich ein Hügelrücken in den See, der »Goldene Hügel«, der unter dem Namen »Frühlingsschatten der Marmor-Insel « unter die Wunder von Pe-kiṅ zählt. Früher scheint er rings umflossen gewesen zu sein; eine Marmorbrücke führt über den jetzt vertrockneten Arm, dessen Wasser ihn südlich und östlich bespülte. — Weisse Marmor- geländer fassen den verwilderten Garten ein, dessen Dickicht kost- bare Steinblöcke, verfallene Lusthäuser und Tempelchen birgt. Seit alter Zeit sollen chinesische Kaiser diese Anlage gehegt und ge- schmückt haben, in welcher der letzte Miṅ -Herrscher sich 1644 beim Eindringen des Rebellenheeres erhängte. Der Baum, der dem unglücklichen Monarchen seine Zweige lieh, wurde vom ersten Mandschu-Kaiser in schwere Ketten gelegt, die heut noch seinen verdorrten Stamm belasten sollen. Auf der Spitze des Hügels liegt das Lama-Kloster Pei-ta-se mit dem weithin sichtbaren Denkmal, das die Mandschu 1651 dem Gedächtniss jener Schauerthat wid- meten; es hat die gewöhnliche Form der Lamagräber: über massi- gem Unterbau eine oben breitere Steintrommel, auf welcher eine geringelte Kegelsäule mit hutartiger Endverzierung ruht. S. Ansichten aus Japan , China und Siam VIII. Das »Meer der Mitte«, welches sein Wasser durch einige Teiche im Norden der Tartarenstadt aus dem mit Seen in Yuaṅ-miṅ- XVII. Pe-taṅ . yuaṅ verbundenen Stadtgraben empfängt, hat jetzt nur geringen Zufluss; seine Oberfläche ist über und über mit Schilf, Lotos und anderen wuchernden Pflanzen bedeckt und gleicht einer über- schwemmten üppigen Wiese. Ganz verwahrlost geht das schöne Becken rascher Verschlammung entgegen. Jenseit der Brücke liegt am westlichen See-Ufer das katho- lische Missionshaus Pe-taṅ . Das Grundstück wurde den Jesuiten mit dem der Cathedrale und zwei anderen von Kaiser Kaṅ-gi ge- schenkt, der nach ihrem Bericht nur deshalb die Taufe nicht an- nahm, weil er der Vielweiberei entsagen sollte. Das wollte er erst auf dem Sterbebett. Um nun die Priester schnell zur Hand zu haben, schenkte er ihnen das bei der Rothen Stadt gelegene Grund- stück, wurde aber vom Tode so plötzlich überrascht, dass sie doch zu spät kamen. — Die Jesuiten hielten sich in Pe-taṅ bis 1823 und wurden auch dann nicht vertrieben: der einzige damals noch an- wesende wünschte abzureisen und erbat sich die Erlaubniss vom Kaiser, welcher ihm obenein 5000 Tael als Ersatz für das von seinem Vorfahren geschenkte Grundstück zahlen liess. Die Kirche und die Wohngebäude der Missionare, welche die Chinesen nicht brauchen konnten, wurden niedergerissen, der Garten scheint in den Besitz eines Prinzen des kaiserlichen Hauses übergegangen zu sein. Beim Friedensschluss 1860 verlangten die Franzosen die Heraus- gabe dieser und aller übrigen alten Besitzungen der Jesuiten. Die kaiserliche Regierung erklärte, dass sie das Grundstück käuflich er- worben habe, wogegen die französischen Diplomaten die Kauf- summe zu erstatten versprachen, wenn die Regierung die zerstörten Gebäude dort wieder herstellen liesse. Natürlich siegte das Un- recht des Stärkeren: die schon einmal geschenkte, dann grossmüthig zurückgekaufte Besitzung wurde ohne Entschädigung herausgegeben. — Nach dem Friedensschluss verlangten die Lazaristen, welche Pe- taṅ bezogen, auch noch die Herausgabe eines Nachbargrundstücks, wo die Jesuiten für den Himmelssohn Glas fabricirt hatten; die Regierung verwies sie aber auf die Bestimmung des zerstörten Gebäudes und verlangte als Bedingung, dass die Lazaristen dort ebenfalls Glas für den kaiserlichen Palast machen sollten. Die Capelle, von welcher die Chinesen nur ein Stück Frei- treppe stehen liessen, war bei unserem Besuch wieder aufgebaut und ein niedriger Glockenthurm angefügt worden, dessen Fortbau die Regierung sistirte; die Plateform musste sogar mit übermanns- Die katholische Mission. XVII. hoher Brüstung umgeben werden; sie bietet nämlich über den See hinweg die Aussicht in die kaiserlichen Gärten. Den Himmelssohn darf aber auch aus der Ferne kein ungeweihtes Auge schauen; bei seinen Reisen sollen drei ganz gleiche geschlossene Sänften mit- geführt werden, so dass selbst die Träger nicht wissen, wo der Kaiser ist. Auch die Frauen des Kaiserhofes bleiben unsichtbar. Während unserer Anwesenheit wurden die Diplomaten eines Tages ersucht, die nördlichen Stadttheile zu meiden, weil Hien-fuṅ ’s Mutter, die kaiserliche Wittwe des längst verstorbenen Tau-kwaṅ , mit ihren Damen in Pe-kiṅ einzöge. Alle Läden auf ihrem Wege wurden geschlossen, die Strassen abgesperrt, Niemand durfte sich blicken lassen; selbst die spalierbildenden Truppen mussten dem Zuge der Kaiserin den Rücken wenden. Die Lazaristen richteten in Pe-taṅ eine Schule ein und hatten bei unserem Besuch schon 46 Zöglinge, die in der Anstalt wohnten. Die einstöckigen Gebäude mit den Schulstuben, Wohn- und Schlafräumen umgeben mehrere Höfe; die Zöglinge schienen gesund und heiter. Wie die Jesuiten haben auch die Missionare in Pe-kiṅ den Zopf und chinesische Tracht angelegt, scheinen aber nicht allen heimathlichen Gewohnheiten entsagt zu haben: sie be- wirtheten uns mit köstlichem Kaffee und selbstgemachten Li- queuren. Trotz der langen Unterbrechung der Missionsarbeit fanden die Lazaristen in Pe-kiṅ noch über 5000 Christen, welche unter einheimischen Seelsorgern dem Ritus der römischen Kirche treu geblieben waren. In vielen Stücken soll noch heut bei den Katho- liken in Pe-kiṅ eine Nachwirkung der Concessionen des Vater Ricci und seiner verständigen Anhänger an die alten in den An- schauungen der chinesischen Cultur begründeten Bräuche und Vor- urtheile zu spüren sein: so dürfen Frauen dem kirchlichen Gottes- dienst nicht beiwohnen, in gesonderten Betsälen wird ihnen Messe gelesen. Die ersten Franzosen, die 1861 am Stillen Freitag in der Cathedrale Nan-taṅ eine von chinesischen Geistlichen administrirte Messe hörten, waren seltsam überrascht, als bei Erhebung der Hostie ein knallendes Feuerwerk am Altar losging. — Bei zufälligen Begegnungen der Europäer mit chinesischen Christen pflegen diese sogleich ein Kreuz zu schlagen, um ihre Gemeinschaft geltend zu machen. Sonderbarer Weise fühlen sich auch die zahlreichen Mos- lems in China den Fremden glaubensverwandt und suchen deren XVII. Die älteren russischen Beziehungen. Nähe. — Dass in Pe-kiṅ alle Uhrmacher Christen sind, erklärt sich aus der Berührung ihrer Ahnen mit den geschickten Jesuiten. Ihre Uhren, Gläser und Instrumente sind schweizer Arbeit, gelten aber, von Russen eingeführt, als russische. Die griechisch-katholische Gemeinde unter dem russischen Archimandriten scheint weniger zahlreich zu sein, als die römische; die Mission bestand 1860 aus vier Geistlichen und sechs Laien, welche dem Studium der Sprache, der chinesischen Institutionen und Wissenschaften lebten. Seit Jahrhunderten strebten die Czaaren nach Erweiterung der Handelsbeziehungen zum chinesischen Reich, Vorschiebung ihrer Grenzen nach Süden und Einrichtung einer stehenden Gesandtschaft in Pe-kiṅ , erlangten aber die Anerkennung ihrer politischen Gleichberechtigung nicht früher als England und Frankreich . — Die erste russische Gesandtschaft scheint 1656, also bald nach dem Sturz der Miṅ nach China gekommen zu sein: »Der König der Oros«, berichten die chinesischen Annalen, »schickte einige Grosse seines Hofes nach Pe-kiṅ , um Handelsfreiheit zwischen bei- den Staaten einzurichten. Der Kaiser befahl sie ehrenvoll zu be- handeln und liess ihnen ein Haus anweisen, vor welchem Wachen aufgestellt wurden. Die Soldaten hatten Befehl sie zu begleiten, so oft sie ausgingen. Der Hof von Pe-kiṅ forderte als Vorbedingung, dass der russische Monarch China’s Oberhoheit anerkenne und seine Geschenke als Tribut einsende. Auf diese Bedingung gingen die Russen nicht ein und kehrten unverrichteter Sache in die Heimath zurück.« S. Pauthier , Histoire des rélations de la Chine avec les puissances occi- dentales. — Die Holländer, welche zu derselben Zeit in Pe-kiṅ waren, bezeugen, dass die Russen die Verrichtung der Ko-to be- harrlich verweigerten. 1688 kam eine russische Gesandtschaft an die chinesische Grenze und meldete ihre Ankunft nach Pe-kiṅ ; Kaiser Kaṅ-gi schickte einige Mandschu-Fürsten nach » Selinga «, welche ein por- tugiesischer und ein französischer Missionar als Dolmetscher be- gleiteten. Bei Nip-tšu , dem Nertšinsk der Russen, trafen die Be- vollmächtigten am 22. August 1688 zusammen; der Gesandte des Czaaren forderte schon damals, was Russland erst 170 Jahre später im Vertrage von Tien-tsin erlangte: dass der Sakalien-ula oder Amur in der ganzen Ausdehnung seines Laufes als Grenze beider Reiche angesehen werde. Am 8. September 1688 unterzeichnete Die russischen Beziehungen. XVII. man einen Vertrag in fünf Artikeln, den ersten, welchen China überhaupt mit einer europäischen Macht geschlossen hat. Durch den russischen Dolmetscher und die beiden Missionare lateinisch redigirt, wurde er dann in das Russische und das Mandschu-Tar- tarische übersetzt, so dass jede Partei ein lateinisches Exemplar und eines in ihrer eigenen Sprache erhielt. Die lange Gebirgskette, in welcher der Kerbetši , ein Nebenfluss des Amur , entspringt, sollte hinfort die Grenze bilden, so dass alles Land südlich von seiner Kammhöhe mit allen von da in den Amur fliessenden Wassern zum chinesischen Reiche gehörte. Das Juljur-Gebirge der Karten. Eine dritte russische Gesandtschaft unter Isbrants Ides ge- langte nach dreijähriger Reise durch Sibirien im November 1693 nach Pe-kiṅ . Der Gesandte gesteht »die gebräuchlichen Ceremonieen« vollzogen zu haben, verrichtete also wohl das Ko-to , ebenso Leo Ismailoff , der 1720 als Gesandter Peter des Grossen mit reichem Gepränge in Pe-kiṅ einzog. Er verstand sich zu dem von allen Vasallen geleisteten dreimaligen Niederwerfen und neunmaligen Kopfstossen unter der Bedingung, dass ein chinesischer Grosser ersten Ranges dem Schreiben des Czaaren dieselbe Ehrfurcht er- weise. S. Mailla , Geschichte des Chinesischen Reiches . Der Arzt Bell und der Agent Lange berichten, der Kaiser habe der Gesandtschaft das Koto erlassen, der Ceremonienmeister aber dieselbe bei der Audienz dazu gezwungen. Ismailoff sollte die seit einiger Zeit aufgelösten Handels- beziehungen mit China wieder herstellen und das Recht einer stehenden Gesandtschaft in Pe-kiṅ behaupten, erreichte jedoch keines von beiden. Bei seiner Abreise im März 1721 blieb der Agent Lange in der Hauptstadt zurück, »pour travailler à loisir au règlement et à l’établissement d’une correspondance aisée entre les deux empires. Et quoique le ministère chinois s’opposât fortement à la résidence dudit sieur agent en cette cour, sous prétexte qu’elle était contraire aux constitutions fondamentales de l’empire, néanmoins le dit en- voyé extraordinaire sut si bien prendre ses mésures, que le Bogda- khan (l’empereur) y donna les mains malgré toutes les intrigues contraires des ministères.« — Lange hielt sich, ohne irgend etwas durchzusetzen, noch über ein Jahr in Pe-kiṅ , wurde aber im Juli 1722 zur Abreise gezwungen. Ein geheimer Handel muss trotz dem Verbot des Himmelssohnes bestanden haben, denn man trug in Russland nur chinesische Seide. XVII. Die russischen Verträge. Zur Revision des Grenzvertrages von 1688 erschien 1727 Graf Sava Vladislavitsch in der chinesischen Hauptstadt. Der neue Vertrag wurde im October 1727 unterzeichnet, die Ratification aber wegen des inzwischen erfolgten Ablebens der Kaiserin Katharina erst Juni 1728 im Namen Peter II. vollzogen. Die elf Artikel dieses ursprünglich in der Mandschu-Sprache redigirten, in das Latei- nische und das Russische übersetzten Freundschaftsvertrages regeln die Behandlung der Ueberläufer aus beiden Ländern, die Art des Handelsverkehrs, die Zahl der Kaufleute — bis zweihundert — welche alle drei Jahre nach Pe-kiṅ kommen durften, die Verhält- nisse einer dort zu errichtenden kirchlichen Mission und die amt- lichen Mittheilungen zwischen den beiden Reichen. Eine genauere durch Karten illustrirte Grenzbestimmung ersetzte die frühere. Die Mitglieder der damals gegründeten russischen Mission, vier Geistliche und sechs Laien, sollten alle zehn Jahre abgelöst werden. »Es soll den Oros erlaubt sein, ihren Gottesdienst mit allen dazu gehörigen Ceremonieen auszuüben und ihre Gebete zu sagen. Vier junge Russen, welche die russische und lateinische Schrift kennen, und zwei ältere, welche der Gesandte in der Haupt- stadt gelassen hat, damit sie die chinesische Sprache lernen, wer- den an demselben Orte wohnen. Ihr Unterhalt wird durch die Re- gierung bestritten, und wenn sie ihre Studien vollendet haben, sollen sie in ihre Heimath zurückkehren dürfen, sobald man es verlangt.« — Damals war die Vertreibung der Jesuiten wohl beschlossene Sache; die chinesische Regierung, der sie als Dolmetscher gedient hatten, musste auf Ersatz denken und wollte den Russen den ganzen Besitz der römischen Priester überweisen. So erklärt sich der An- spruch, den Jene auf deren Cathedrale erheben konnten, um sie vor Zerstörung zu retten. Kaiser Yuṅ-tšin soll die Jesuiten des- halb so gehasst haben, weil sie den alten Kaṅ-gi zu seiner Aus- schliessung vom Throne und Erhebung eines anderen auf den ka- tholischen Glauben getauften Prinzen zu vermögen strebten. — In Sachen der Etiquette scheint Graf Vladislavitsch Concessionen er- langt zu haben, welche zu Reibungen zwischen den Hofbeamten und dem gleichzeitig in Pe-kiṅ anwesenden portugiesischen Ge- sandten Dom Metello de Souza-y-Menezes führten. Der Vertrag von 1727 wurde 1767 in Kiakta einer Revision durch Bevollmächtigte der beiden Reiche unterworfen; das im October 1768 unterzeichnete Supplement enthielt Bestimmungen über IV. 9 Der russische Handel. XVII. die Behandlung der beiderseitigen Flüchtlinge und übergetretenen Verbrecher. Eine neue Gesandtschaft brach 1805 aus Russland auf, hatte aber an der Grenze schon Schwierigkeiten mit den Mandarinen, die sich der Grösse des Gefolges widersetzten. In der Mongolei be- gannen die Verhandlungen über das Ceremoniel des Empfanges; Graf Golovkin verweigerte unter Berufung auf die Lord Macartney bewiesene Höflichkeit das Ko-to . Bei einem Feste, das der chine- sische Vicekönig in des Kaisers Namen am 15. Januar trotz schnei- denden Frostes im Freien veranstalten wollte, hätte der russische Gesandte das Kopfstossen gar vor einem Schirm verrichten sollen, beharrte aber auf seiner Weigerung. Das Fest unterblieb, Graf Go- lovkin wurde auf Befehl des Himmelssohnes verabschiedet und musste heimreisen. 1808 und 1820 kamen abermals russische Gesandte nach Pe-kiṅ , hatten aber keine Audienzen; ihre Aufträge scheinen sich auf Inspection und Ergänzung der wissenschaftlichen und geist- lichen Mission beschränkt zu haben. Des Versuches zur Anknüpfung des Seehandels, welchen Russland 1806 durch Krusenstern in Kan-ton machte, ist in der Einleitung gedacht. Die chinesische Regierung verbot diesen Han- del: nur über Kiakta sollten zu Lande die Erzeugnisse der bei- den Reiche ausgetauscht werden. Unter dem Schutz von Mono- polen blühte dieser Tauschhandel viele Jahre; die russische Re- gierung begünstigte denselben durch ein unbedingtes Verbot der Einfuhr chinesischer Producte zur See. — Auch über Kokand gingen Karawanen nach Orenburg , und östlich von Kiakta wurde mit den Grenz-Nomaden viel unerlaubter Tauschhandel betrieben, an welchem europäische Kaufleute indirect betheiligt waren. Der Handel am Amur beschränkte sich damals auf den geringen Ver- kehr der Pelzjäger mit den chinesischen Verbannten. Seit dem Frieden von Nan-kiṅ setzte Russland Todesstrafe auf Einführung des Opium nach China , während die chinesische Regierung die Einführung damals thatsächlich freigab. Die Be- schränkungen des Handels mit Russland wurden seitdem gemildert. Das bis dahin gegen reiche chinesische Speculanten an den Grenzen von Turkestan und an der grossen Mauer aufrecht gehaltene Prohi- bitivsystem hatte zuweilen Aufstände veranlasst, deren Dämpfung der chinesischen Regierung viel Geld kostete. Zudem wünschte XVII. Der russische Handel. dieselbe sich Russland zu verbinden, zugleich auch die Loyalität und Unterwürfigkeit der Mongolenstämme durch Erschliessung neuer Erwerbsquellen zu sichern und jede Möglichkeit von Collisionen zu beseitigen. In Kurzem hob sich der Verkehr bedeutend. Da die Kaufleute der Provinz Šan-si , welche den russischen Handel be- herrschen, weit und breit in der Tartarei und in allen Landschaften nördlich vom Yaṅ-tse-kiaṅ Verbindungen haben. so gewann der Verbrauch russischer Waaren grosse Ausdehnung. Man kaufte da- mals in ganz China dickes russisches Tuch zu Preisen, welche die Fabricationskosten kaum decken konnten. Wenn nun dieser Ar- tikel in Russland nicht so billig herzustellen ist als in anderen europäischen Ländern, wenn er einen endlosen Weg durch unwirth- bare Strecken, und, an der Grenze verkauft, nochmals eine lange Wüstenreise machen muss, so lässt sich ermessen, dass die Russen ihn mit Schaden verkauften. Die Czaaren wollten die einheimische Fabrication dadurch heben und bewirkten durch das Verbot der Einfuhr chinesischer Producte zur See, dass der Verlust durch den Preis der eingetauschten Waaren ausgeglichen wurde; denn der Handel in Kiakta war lediglich Tauschhandel. 1830 wurden 154,552 Ellen russisches Tuch in China eingeführt, 1840 schon 1,328,912 Ellen. In demselben Maasse hob sich die Ausfuhr von Thee, mit welchem die Chinesen das Tuch bezahlten. Nur zu- weilen gestattete damals die Regierung des Czaaren als Ausnahme russischen Schiffen, eine Thee-Ladung nach der Ostsee zu führen, nachdem die Handelsbeschränkung von chinesischer Seite aufgehoben war. — Die russischen Tuche scheinen sich aber dermaassen ver- schlechtert zu haben, dass die Chinesen sie nicht mehr wollten; darauf versuchten die Russen deren Thee mit Silberwaaren zu be- zahlen, verwendeten aber bald so schlechtes Metall, dass die Chi- nesen auch diese zurückwiesen. Die kaiserliche Regierung soll strenge Untersuchung gegen die privilegirte Handelsgesellschaft in Moskau angeordnet haben, auf deren Rechnung diese Fälschungen kamen, und sah sich später veranlasst, das Verbot der Einfuhr zur See aufzuheben. Das eifrige Streben der russischen Regierung, ihrer Mission in Pe-kiṅ politische Bedeutung zu geben, blieb auch nach dem Frieden von Nan-kiṅ erfolglos, bis Graf Putiatine 1858 den russi- schen Vertrag von Tien-tsin unterzeichnete. Selbst dieser sicherte der Regierung des Czaaren nur die Gleichstellung im schriftlichen 9* Die Rothe Stadt . XVII. Verkehr mit den höchsten chinesischen Behörden und das Recht, bei besonderem Anlass einen diplomatischen Agenten nach Pe-kiṅ zu senden. — Als die Alliirten 1860 gegen die chinesische Haupt- stadt marschirten, war General Ignatief dort als russischer Ge- sandter anwesend. Ueber dessen vermittelnde Theilnahme am Frie- densschluss hat der Verfasser ebensowenig Klarheit gewinnen können, als über den wirklichen Inhalt des von demselben damals ab- geschlossenen Vertrages, dessen russischer und chinesischer Text wesentlich von einander abweichen sollen. Ueber die darin stipu- lirte wichtige Gebietsabtretung, welche Russland einen im Winter eisfreien Hafen sichert, äusserte sich der Prinz von Kuṅ sehr bitter gegen englische Diplomaten. Ueber das Innere der Rothen Stadt giebt es aus den ver- gangenen Jahrhunderten Berichte, deren Zuverlässigkeit der Ver- fasser weder bestätigen noch anfechten kann. Ein lebendiges Bild lässt sich daraus nicht gewinnen; Vieles ist sicher übertrieben. Bei der Vorliebe, welche die letzten Kaiser für Yuaṅ-miṅ-yuaṅ zeigten, lässt sich annehmen, dass der Palast von Pe-kiṅ ähnlich verwahr- lost ist wie andere öffentliche Gebäude; das bestätigen auch die Aussagen der Chinesen: nur diejenigen Räume seien leidlich er- halten, welche der Kaiser jährlich während einiger Wochen be- wohne. Von der Südmauer der Tartarenstadt sieht man das Portal und mehrere grosse Gebäude, welche, in der Hauptflucht der ganzen Anlage stehend, denen des englischen Gesandtschaftspalastes gleichen. Ihre Dimensionen sind gewaltig; das bedeutendste soll die kaiser- liche Audienzhalle sein; durch das Fernrohr gesehen, scheinen sie nicht besonders erhalten. Rechts und links von den breiten Ave- nuen, welche diese Paläste verbinden, stehen Reihen niedriger Ge- bäude. Alle übrigen Theile der Rothen Stadt verbergen dichte Wipfel, aus welchen hier und da ein mächtiges goldgelbes Ziegel- dach hervorsieht. Nur kaiserliche Gebäude und Lamatempel ge- niessen das Vorrecht der gelben Bedachtung. — Den breiten schilf- bewachsenen Wassergraben fasst zu beiden Seiten eine Granit- wandung ein, auf welcher jenseit die rothe Mauer, richtiger das um die ganze Verbotene Stadt laufende einstöckige Gebäude fusst. Auf den Nordecken stehen, wie gesagt, grosse Pavillons mit ver- schränkten gelben Ziegeldächern, in der Mitte der nördlichen Front ein mächtiges Portal. Die Ost- und die Westseite bilden endlose XVII. Die Vorstädte. Mauerlinien mit je einem Thor nah den südlichen Ecken. Das dreifache Hauptportal liegt auf der Südseite: die östliche Thür soll hohen Beamten, die westliche den Prinzen, die Mittelthür nur dem Kaiser erlaubt sein. Pe-kiṅ ’s Vorstädte bieten wenig Merkwürdiges. Eine der grössten erstreckt sich vor dem Thore Tšao-yaṅ-men zu beiden Seiten der Strasse nach Tuṅ-Tšau . Dort steht etwa tausend Schritt vom Thore der Tempel Tuṅ-yo-miao , dem heiligen Berge im Osten geweiht. Die chinesischen Kaiser der Vorzeit hatten nämlich auf fünf heiligen Bergen Opfer zu verrichten; das wurde aber unbe- quem, und man baute jedem Berg bei der Hauptstadt einen Tempel. Tuṅ-yo-miao soll 1317, also unter Mongolenherrschaft gegründet sein; die Gebäude sind gut erhalten. Jede Seite des ersten Hofes bildet eine Reihe von Zellen, an deren Hinterwänden colossale Götter sitzen, mit je zehn bis zwölf kleineren Götzen in zwei Reihen vor sich. In der Mitte jeder Seite liegt ein weiteres Gemach mit ähnlichem Inventar von grösserem Maassstabe; zusammen enthält allein dieser Hof über siebzig solcher Zellen. Ein Tempel, mit Goldgötzen von funfzehn bis zwanzig Fuss Höhe, colossalen Bronce- Leuchtern, Weihrauchbecken, Fahnen, Pauken, Bogen, Pfeilen und anderen Waffen geschmückt, umgeben von inscribirten Stein- platten, füllt die Mitte des Hofraumes. Solcher Höfe mit götzen- gespickten Zellen und Tempelhallen hat Tuṅ-yo-miao drei; im dritten liegen die Zellen gar zwei Stockwerke hoch, so dass eine leidliche Zahl herauskommt. Im Tempel dieses Hofes stehn rechts und links vom Hauptgötzen ein broncener und ein hölzerner ge- sattelter Maulesel; ersterer gilt am 1., 2., 15. und 16. jeden Mondes für wunderthätig: dann reiben Kranke nach Verrichtung vorgeschrie- bener Gebete mit der Hand die Stelle des broncenen Esels, welche ihrem eigenen kranken Gliede entspricht, und hoffen dadurch zu genesen. Den Bonzen bringt der wohlfeile Aberglauben reiche Beute. Nordwestlich vor der Tartarenstadt liegt der katholische Kirchhof, nach der Nationalität der frühesten Missionare gewöhn- lich der portugiesische genannt. Der letzte Jesuit übergab ihn bei seinem Scheiden den russischen Missionaren und diese lieferten ihn nach dem Friedensschluss 1860 den Franzosen aus. — Das Haus des chinesischen Wächters liegt am Eingang eines Hofes, aus dem Der portugiesische Friedhof. XVII. man zunächst in einen hübschen Garten tritt; hier stehen chinesisch verzierte Denksteine und kleine Löwen von weissem Marmor auf beiden Seiten des zum Thor des Friedhofes führenden Weinlauben- ganges. Das schöne Portal ist aus mächtigen Marmorplatten ge- fügt. Hier betritt man einen graden Weg, an dessen anderem Ende ein Altar mit grossem Crucifix steht, davor die üblichen Altargeräthe buddistischer Tempel, zwei Leuchter, zwei Vasen und ein Rauch- gefäss in der Mitte, beredte Zeugen der von Ricci den chinesischen Bräuchen gezollten Rücksicht. Alle diese Gegenstände sind, wie der Altar, das Crucifix und die Grabmale von grobkörnigem weissem Marmor. Rechts und links vom Eingang stehen innerhalb zwei Altarmonumente, den Heiligen Maria und Joseph geweiht; zu beiden Seiten des Weges liegen regelmässig geordnet die Gräber von achtzig Jesuiten, die in Pe-kiṅ starben, darunter die der Väter Ricci , Adam Schall , Verbiest und Pereira , niedrige Sarcophage mit gewölbter Decke, vor welchen Denksteine stehen; je grösser die Entfernung der Denksteine vom Grabe, desto grösser soll die Ehr- furcht vor dem Bestatteten sein. Fünf dieser Gräber liegen zu jeder Seite des Weges in einer Reihe; die der Väter Ricci , Schall , Verbiest und einiger anderen Jesuiten wurden von Kaisern gestiftet; die Denksteine davor sind gegen zehn Fuss hoch und ruhen auf dem Rücken riesiger Schildkröten, dem Emblem der kaiserlichen Gnade. Alle Inschriften sind lateinisch und chinesisch, die reiche Bildhauerarbeit des Ornamentes fast durchgängig in chinesischem Styl, dessen Vermischung mit der Kreuzesform und der lateinischen Schrift den sonderbarsten Eindruck macht. So ist dieser Fried- hof ein merkwürdiges Denkmal der einflussreichen Thätigkeit der Jesuiten und der Achtung, deren auch ihr Andenken genossen haben muss; denn die vollkommene Erhaltung der Denkmäler beweist, dass sie auch in den Zeiten grausamer Christenverfolgung unan- getastet blieben. — Zwischen den Gräbern wuchert üppiges Grün und rankt sich in dichte Wipfel hinauf, welche sie über und über beschatten; auch der Altar mit dem Crucifix leuchtet, von spielen- den Strahlen der Sonne behaucht, aus einem Rahmen dunkelen Gezweiges hervor. Zauberische Anmuth lagert auf dem stillen Garten, den man ungern verlässt. Vor dem Gan-tiṅ -Thore liegt neben dem Exercirplatz der Garnison der Tempel der Erde, in dessen Ringmauer die englischen Truppen 1860 Schiessscharten brachen, um die Mauer der Tar- XVII. Lama-Tempel. tarenstadt in Bresche zu legen; der Boden zeigt hier Spuren einer alten Umwallung von Pe-kiṅ . Jenseit des freien Platzes stehn in schattigem Hain die Lamatempel, wo Sir Hope Grant am 6. October 1860 mit der englischen Infanterie sein Lager aufschlug, während seine Cavallerie mit der französischen Colonne nach Yuaṅ-miṅ-yuaṅ zog. Es ist eine ganze Reihe von Gebäuden, die verschiedene Höfe umschliessen und von mongolischen Mönchen bewohnt werden. Mongolische Fürsten des 17. Jahrhunderts sollen sie gegründet haben. In einem nur den Mönchen zugänglichen Saale des Tem- pels der Fruchtbarkeit waren vor den Altären unzüchtige Gruppen aufgestellt, welche der fromme Eifer eines englischen Officiers hat vernichten lassen. — Der von uns besuchte Tempel, ein längliches Rechteck, zwei Stockwerke hoch aus Backstein gebaut, zeichnet sich äusserlich durch schöne Holzsculpturen aus, die gegen Zu- dringlichkeiten der Vögel durch Netze verwahrt sind. Im saal- artigen Innern, dessen farbenreiche Ornamentirung angenehm har- monisch wirkt, sitzen mehrere Götzen mit Altären davor. Trotz einer gewissen Uebereinstimmung wirkt diese Cultusstätte der mon- golischen Lamas doch typisch ganz anders als andere buddistische Tempel, etwa wie eine dem griechischen Ritus dienende Kirche sich von einer römisch-katholischen unterscheidet. In diesem Tempel verschied 1780 zum Aergerniss aller gläubigen Lamas der unsterb- liche Oberpriester dieser Secte, welcher auf den Wink des grossen Kien-loṅ mit prunkendem Gefolge aus Tibet gekommen war, um den Kaiser zu segnen und sich anbeten zu lassen. Das Lager, auf welchem er an den Blattern starb, wird in einem Zimmer des Ober- geschosses gezeigt. Zu seinem Gedächtniss soll auf kaiserlichen Befehl das grosse Marmor-Denkmal errichtet worden sein, das hinter dem Tempel in einem Hain dunkelen Nadelholzes steht. Ein aufgemauerter breiter Gang führt, mit Steinplatten belegt, von der Hinterfront nach dem Denkmal. Das freistehende dreifache Portal aus weissem Marmor, dessen oberer Theil den hölzernen chine- sischen Dachstuhl nachahmt, zeigt in der Bildhauerarbeit die höchste technische Vollendung. Eine Freitreppe führt auf den Unterbau, auf welchem von vier zierlichen Thürmen umgeben das Denkmal steht. Der achteckige Sockel hat ein reiches Profil; die ringsum laufenden Reliefdarstellungen, wahrscheinlich aus dem Le- ben des Budda, können in der Behandlung recht wohl mit italieni- schen Arbeiten des 14. Jahrhunderts verglichen werden und geben Lamagrabmal. — Ausflug. XVII. vollgültiges Zeugniss für die Blüthe der chinesischen Kunst unter Kien-loṅ ; der Styl ist ernst und einfach, die Anordnung klar und in den Linien harmonisch. Ein verziertes Gesims darüber schliesst den achteckigen Sockel ab. Oben ruht der Körper des Denkmals, eine oben breitere gedrückte Steintrommel mit Figuren in flachem Relief, auf stufenförmigem Untersatz. Die geringelte Spitze trägt eine vergoldete Krönung, welche die hohenpriesterliche Haube des Grosslama darstellen soll. Zierliche Geländer umgeben den Unter- bau, vor welchem neben der Freitreppe zwei Löwenthiere sitzen. S. Ansichten aus Japan China und Siam VIII. — Das Ganze ist zu willkürlich erfunden, zu sonderbar gegliedert, um beschrieben zu werden; der rechtwinklige Grundriss wechselt in den verschiedenen Stockwerken ohne Grund und Nothwendigkeit mit dem achteckigen und dem runden; man findet kaum Namen für die einzelnen Theile. Architectonische Schönheit zeigt das Mo- nument nur in einzelnen Verhältnissen der Profilirung und im Orna- ment. Trotzdem wirkt der typische Charakter mächtig. Die Stein- metzarbeit ist vollendet: in haarscharfer Modellirung hebt sich das phantastische Ornament vom blauen Himmel ab, der grobkörnige Marmor glitzert wie frischer Schnee durch den düsteren Hain. Am 18. September unternahm Frau von Bourboulon einen Ausflug nach dem nahen Gebirge. Früh um sechs Uhr brach man auf; der Weg ging durch den westlichen Theil der Tartarenstadt . Aus dem Thor tritt man fast unmittelbar in die ländliche Flur; Vorstädte giebt es auf dieser Seite kaum. Der breite sandige Weg führt, an den Rändern mit Gebüsch und Bäumen — namentlich Sophora japonica — bestanden, durch Felder von Hirse, Mais, Se- sam und Hülsenfrüchten. Nördlich liegen die Hügel von Yuaṅ- miṅ-yuaṅ , hinter welchen das im Halbkreis gelagerte Gebirge in die blaue Ferne verschwimmt. — Wohlhabende Dörfer und Tempel unter schattigem Wipfelgrün säumen vielfach die Strasse. Gegen zehn erreichten wir, nach gemächlichem Ritt, den Fuss des Ge- birges, wo die Pferde zurückblieben. Hier liegen nun die sanften Hänge hinauf Dorf an Dorf und Tempel an Tempel, in grüne Gärten gebettet. Erst führte der Weg durch lichte Waldung von Kiefern und Lebensbäumen; dann nahm uns eine Tempelterrasse XVII. Loṅ-waṅ-taṅ . auf, von der man auf breiter Freitreppe zu einer zweiten und so weiter von Tempel zu Tempel stieg. Ihre Mittelgebäude pflegen den goldenen Holzgötzen und das übliche Opfergeräth zu bergen; auf den Seiten liegen, um Höfe und Gärten gruppirt, viele unregel- mässige Gebäude, welche die Bonzen theils bewohnen, theils an Sommergäste vermiethen. Der Ertrag der freundlichen Gartenhäuser, wo der wohlhabende Städter die heissen Monate in frischer Luft und ländlicher Stille verlebt, fliesst in die Taschen der höflichen Mönche, die ein hübsches Dasein geniessen. Bei einer reizenden Anlage dieser Art, dem Tempel des Drachenkönigs — Loṅ-waṅ-taṅ — etwa 600 Fuss über der Sohle des Gebirges, machten wir Halt; die Priester räumten gefällig ein hübsches reinliches Zimmer ein, wo das mitgenommene Frühstück verzehrt wurde. Vom umrankten Altan sah man in ein schattiges Höfchen hinab, wie es in Toscana nicht schöner zu finden ist; dort sprudelt unter mächtigen Pinien und Lebens- bäumen ein klarer eisiger Quell in ein Becken mit Goldfischen, ge- säumt von reizenden Farren; Glycine chinensis und andere Ranken decken alle Wände, Stämme und Pfosten. Harmonisch und ange- nehm wirken sogar die bei aller Einfachheit in jedem Zollbreit echt chinesischen Gebäude. Wo ein Baustyl, allen Schmuckes entkleidet, dem Bedürfniss einfacher Lebensverhältnisse ohne Mangel und Ueppigkeit dient, erkennt man erst seinen Werth: alle chinesischen Bauten dieser Art beweisen aber in den leicht geschwungenen Dach- linien, der Raumvertheilung an den Wänden, der Profilirung des Gebälkes, der Pfosten und Einfassungen die harmonische Durch- bildung der Verhältnisse einer in sich vollendeten Gattung. Mit der Baukunst höher begabter Völker kann sich diese eben so wenig messen, als überhaupt die chinesische Cultur mit der europäischen; sie entspricht aber der gereiften Durchbildung ihrer gesunden Ele- mente. — So zeigen die ländlichen Wohnungen dieser Priester, die ein beschauliches, mässiges Leben führen, einen gleich poetischen Sinn für die Natur, wie ähnliche Anlagen in Italien , wo man deren lebendigen Elemente der Architectur so reizend einzuordnen und dienstbar zu machen wusste. Nach dem Frühstück stiegen wir weiter den Berghang hin- auf, zunächst über mehrere Tempelterrassen. Die Abwechselung, welche die Chinesen auch in diese Anlagen zu bringen wissen, ihre meisterliche Benutzung des Raumes und der Bodengestalt für landschaftliche Wirkung wecken Bewunderung. Der daraus Aussicht. XVII. redende Schönheitssinn steht in grellem Contrast zu ihrem ge- schmacklosen Cultus: in den Tempeln sitzen die grässlichsten Fratzen. In einem derselben fanden wir, in vielen Reihen eine ganze Wand bedeckend, 1200 ganz gleiche bunte Thonpuppen eines weiblichen Götzen, gegenüber sechs colossale Goldgötter von teuf- lischer Hässlichkeit. — Weiter hinauf führt der gut gehaltene Weg durch lichten Laubwald, meist Eichen; Quercus sinensis. hier und da steht ein Holzportal, ähnlich denen in Pe-kiṅ . Die letzte Strecke bis zur Kammhöhe steigt man über Geröll und Buschwerk. Die Aussicht ist herrlich: unten zwischen dichten Wipfeln die über einander ge- schichteten Tempel, der Dörferkranz am Fuss des Gebirges mit seinen Hainen und Gärten; von da wie eine Landkarte ausgebreitet die unabsehbare grüne Ebene, aus der nordöstlich die Hügel von Yuaṅ-miṅ-yuaṅ aufsteigen; in blauer Ferne die Mauern und Thore von Pe-kiṅ , das sich als eine Reihe dunkeler Linien und Puncte auf der baumreichen Ebene zeichnet; das ganze Land ein unabseh- barer Garten. Auf der anderen Seite die Einöde: über kahle schroffe Hänge blickt man in ein tiefes Thal mit ebener Sohle ohne jeden Anbau hinab; jenseit steigt in jähen zerklüfteten Massen ein hohes Felsgebirge auf, dahinter Reihe auf Reihe zackiger Gipfel; dort geht es nach der Mongolei . Langsam hinabsteigend fanden wir gegen vier unsere Pferde wieder und ritten auf anderem Wege nach Pe-kiṅ zurück. Kameele und Esel bedeckten, Kalk und Kohlen von den Bergen heran- schleppend, in langen Zügen die Landstrasse. In einem Dorf lag mitten auf dem Wege ein Bettler, gänzlich entblösst, an den abge- magerten Gliedern grässliche Schwären voll nagender Würmer, in den letzten Qualen des Todes röchelnd. Vergebens bat Herr de Méritens die Bewohner der nächsten Häuser, ihn aufzunehmen; Niemand rührte sich; vielleicht hatten sie selbst ihn dort hingelegt. Das chinesische Gesetz fordert nämlich von Demjenigen, vor dessen Haus ein Leichnam gefunden wird, Rechenschaft über seine Todes- art und verpflichtet denselben, für sein Begräbniss zu sorgen, ja sich der Hinterbliebenen anzunehmen. Der Sinn dieser Vorschrift mag menschenfreundlich sein, praktisch wirkt sie das Gegentheil; der Chinese gewöhnt sich von frühester Jugend, seinen Nächsten auf der Strasse leiden und scheiden zu sehn, ohne ihm beizu- springen. XVII. Pi-yun-se . Auf Befehl des Ministers Wen-siaṅ blieb ein Thor der Tartarenstadt bis zu unserer Rückkehr offen; gewöhnlich werden sie bei Sonnenuntergang geschlossen. Es dämmerte schon; in den Strassen drängten sich grosse Menschenmassen, meist Tagelöhner, die von der Arbeit zu kommen schienen. Unsere zwanzig Pferde starke Cavalcade wurde reichlich begafft, die Ordnung aber keinen Moment gestört; ohne Anstoss ging es durch das dichte Gewühl. Am 25. September ritten wir abermals nach den Bergen; Herr Bruce hatte beim Tempel der Weissen Wolke — Pi-yun-se — ein Frühstück vorbereitet. Vom nördlichen Thor der West- mauer ging es zunächst nach dem Friedhof, wo die Franzosen im Feldzug 1860 ihre Todten bestatteten. Der Ort ist reizlos, in einer dürren Höhlung gelegen; die gepflanzten Bäume fristen ein kümmer- liches Dasein. Vor den einfachen in einer Reihe liegenden Gräbern stehen Denksteine mit Inschriften. In elender Hütte wohnt ein katholischer Priester, der Christenkinder aus den umliegenden Dörfern unterrichtet. Der Weg zum Gebirge gleicht dem nach dem westlicher gelegenen Tempel des Drachenkönigs, führt aber in grösserer Nähe an den Gärten des Sommerpalastes vorbei. Die Ausläufer des Ge- birges, dessen Kammhöhe hier 1800 Fuss betragen mag, sind noch reicher angebaut; zwischen den Dörfern stehn palastartige Villen und kaiserliche Jagdschlösser; eine Unzahl verfallener Wachtthürme von feudalem Aussehn mit schrägen Mauern und spitzigen Zinnen ist über die Hänge ausgestreut. Ein eingefriedigter kaiserlicher Wildpark reicht von der Sohle bis zum Kamm des Rückens; vom Wilde sollen die Officiere der alliirten Armee, welche auch das Jagdschloss auf der Höhe zerstörten, wenig übrig gelassen haben. Der Tempel der Weissen Wolke liegt romantisch auf einem Bergsporn zwischen zwei feuchten schattigen Schluchten; ein kühn gewölbter Bogen führt hinüber. Man tritt in einen von Wohn- gebäuden umschlossenen Hof, an den sich Gärten mit Tempelhallen und Capellen reihen. Uralte Kiefern beschatten die breiten in fünf gewaltigen Stockwerken übereinander geschichteten Terrassen, deren höchste ein imposantes Denkmal trägt. Die endlose auf seine Façade stossende Freitreppe bietet, an jeder Terrasse in reiche Por- tale mündend, eine grossartige Perspective. Das aus weisslichem Kalkstein erbaute Denkmal gleicht eher einem indischen: auf breitem vierseitigem Unterbau steht in der Mitte ein prächtiger Tempel mit Paudämonium. XVII. pyramidalem Aufsatz, auf jeder Ecke ein runder spitzzulaufender Thurm, über und über mit Sculpturen geschmückt. Ein Buddabild sitzt in einer tiefen Nische über dem Eingang. Innen steigt eine breite Treppe hinan, die sich in zwei Arme getheilt bis zum ersten Stockwerk fortsetzt; von da führt eine Wendeltreppe bis zu der mit Geländern umgebenen Plateform, wo der Tempel und die Thürme stehen. Die Aussicht ist prächtig. Rechts und links senken sich Bergrücken herab, — wie die Flügel eines riesigen Theaters, — bedeckt mit Dörfern, Gärten, Schlössern und Warten; im Winkel der Ebene ein schlängelndes Flüsschen, weiterhin die Seen und Hügel von Yuaṅ-miṅ-yuaṅ , in der Ferne die langen Linien von Pe-kiṅ und am äussersten Horizont die Pagode von Tuṅ-tšau . Vor dem Monument steht ein reiches Portal, halb indisch, halb chinesisch; über die Wipfel dieser Terrasse sieht man auf die zahlreichen Tempel und Portale hinab, die symmetrisch um die zur Höhe führende Treppe geordnet sind; viele andere bunte Dächer liegen im dichten Wipfelgrün der Abhänge eingebettet. Der Reichthum der Aussicht ist unbeschreiblich. S. Ansichten aus Japan , China und Siam VIII. In einem der Tempel, die wir besahen, wiederholt sich das Curiosum der tausend gleichgestalteten Götzengruppen. Ein anderer bildet ein grosses Pantheon. Der Grundriss ist quadratisch: vier breite Gänge laufen die Seiten entlang, zwei andere kreuzen sich, auf diesen senkrecht, im Mittelpunct; zu beiden Seiten der Gänge stehen in dichter Reihe die colossalen Bildsäulen von 500 Wohl- thätern des Menschengeschlechtes. Der Ausdruck der Gesichter ist theils fröhlich, jovial, oft fratzenhaft verzerrt, theils ernst und beschaulich; sehr lustig wirken neben den schwungvollen phan- tastischen Gestalten der asiatischen Heroen die steife Haltung und knappe Tracht der von den Chinesen unwillkürlich carrikirten euro- päischen Krieger und Weisen. Die freundlichen Bonzen räumten der frühstückenden Gesell- schaft einen weiten Saal ein, verschmähten aber alle Theilnahme an dem lucullischen Mahl. Bald nach drei brachen wir auf und schlugen einen nördlicher liegenden Weg ein, der uns unter die Mauern des westlich an Yuaṅ-miṅ-yuaṅ grenzenden Parkes Yu- kiuan-tšan führte. Ein hoher Erdwall um die ganze Anlage soll die Schlossgärten profanen Blicken verbergen; uns diente er als Standpunct. Vor uns lag der schilfbedeckte See Si-ho mit dem XVII. Yuaṅ-miṅ-yuaṅ . Berge Yu-kiuan-tšan am Westufer. Seinen Doppelgipfel zieren ein Tempel, eine hohe spitze Pagode und das Schloss Tsiṅ-miṅ- yuaṅ . Des Berges Namen bedeutet »köstliche Quelle«; eine solche, deren Wasser die Kaiser trinken, entspringt an seinem Abhang. — Mitten im See liegt, durch eine Marmorbrücke mit dem Ufer ver- bunden, ein Insel-Palast; ein anderer im italienischen Styl, den die Kaiser mit Vorliebe bewohnten, wurde 1860 zerstört; er lag auf dem Berge des langen Lebens Wuṅ-tšen-tšan am nordöstlichen Ufer; jetzt steht nur noch der massive Grundbau. — Das eigent- liche Yuaṅ-miṅ-yuaṅ , der Garten der vollkommenen Klarheit am Ostufer des Sees lag vor unseren Blicken versteckt; die Gesandten von England und Frankreich vermieden, wie gesagt, jeden Besuch dieser Stelle. Die schriftgelehrten Chinesen der englischen Ge- sandtschaft sprachen noch immer mit grösster Wehmuth von der Zerstörung der Schätze: hätte man sie wenigstens geraubt, dann wären sie doch erhalten; das Fortgeschleppte stehe an Menge und Werth ganz ausser Vergleich zu dem Zerstörten; nicht der Kaiser allein sei von dem Verlust betroffen, sondern viele Familien der Hauptstadt, die der grösseren Sicherheit wegen ihre Kostbarkeiten nach Yuaṅ-miṅ-yuaṅ geflüchtet hätten. — Dass eine Menge der werthvollsten Sachen in der That unbeachtet blieben, beweist die Zertrümmerung vieler grösseren Stücke, deren Masse eben der Grösse wegen für Bronce gehalten wurde; Bruchstücke davon, die Ein- zelne einsteckten, erwiesen sich als massives Gold. Haṅ-ki schätzte den Verlust auf acht Millionen Tael . Der Kaiser entführte aus Yuaṅ-miṅ-yuaṅ nur die Gedenktafeln seiner Ahnen. — Im ganzen Reich wurde die Zerstörung als ein schweres Verhängniss betrauert. Die chinesischen Schriftgelehrten leugneten auch hart- näckig die Theilnahme des Kaisers an der Misshandlung der Ge- fangenen: »die Engländer hätten die Auslieferung Su-tšuen ’s und seiner Genossen fordern und an diesen grausame Rache üben sollen.« Auf dem Rückweg kreuzten wir die von Yuaṅ-miṅ-yuaṅ nach dem Thore Si-tši-men der Tartarenstadt führende Strasse und das Flüsschen Kao-liaṅ-ho , das, aus dem Si-ho -See kom- mend, die Gräben und Becken in Pe-kiṅ speist. — Es dunkelte als wir heimkehrten. Besuch bei Tsuṅ-luen . XVII. Am 26. September besuchte Graf Eulenburg den alten Tsuṅ- luen , welchen ein schleichendes Unwohlsein hinderte, den Gesandten in dessen Wohnung zu begrüssen. Sein in einer Querstrasse der Gelben Stadt gelegenes Haus zeichneten weder Eleganz noch Grösse aus: niedrige Gebäude und enge Höfe, die Zimmer fast ohne allen Hausrath. In der »Bibliothek«, wo Graf Eulenburg empfan- gen wurde, spähte man vergebens nach Büchern; nur war eine der Wände über und über mit Schriftzeichen bedeckt; vielleicht ein Katalog? — Tsuṅ-luen kam auf zwei Diener gestützt und schien sehr leidend; er trug den weissen Rock der Halbtrauer mit Kragen und Aufschlägen von hellblauer Seide; Haupthaar und Bart bleiben drei Monat ungeschoren. Gleich nach der Begrüssung erschien sein Sohn, ein wohlgenährter Jüngling von zweiundzwanzig Sommern mit rundem vergnügtem Vollmondgesicht. Seit zwei Jahren ver- heirathet wohnte er mit Gattin und Söhnchen bei seinem Vater. Der Gesandte wurde bald in ein grösseres Gemach geführt und mit dem üblichen Imbiss bewirthet. Tsuṅ-luen erzählte, dass es der 79. Geburtstag seines Freundes und Collegen Kwei-liaṅ sei, der nun dem Staate seit 55 Jahren diente und in allen achtzehn Provinzen des Reiches Aemter bekleidet hätte; von allen Würden- trägern habe er allein sich während dieser ganzen Periode in ein- flussreichen Stellungen zu behaupten gewusst, ohne jemals degradirt zu werden; — gewiss sehr wunderbar, wenn man die Schicksale von Lin , Ki-šen , I-li-pu , Ki-yiṅ und anderen Grossen erwägt, die ihr Unglück theils mit dem Tode, theils mit Verbannung oder Degradirung büssten. Der Vertrag von Tien-tsin , China’s grösste Schmach in den Augen aller Patrioten, wurde 1858 von Kwei- liaṅ unterzeichnet; Ki-yiṅ , der ihm entgegentrat, musste sich im Kerker vergiften. Auf die Frage des Gesandten, ob Tšëu-tšau , Tsuṅ-luen ’s Sprössling noch nicht im Staatsdienst sei, erwiederte der Vater, er könne sich von seinem einzigen Sohn nicht so leicht trennen, wünsche ihn auch selbst in die Geschäfte einzuweihen; die erste wissenschaftliche Prüfung habe derselbe bestanden, die zweite aber nicht; er bereite sich jetzt zu deren Wiederholung vor. Der be- häbige Jüngling musste seine Exercitien holen, kurze Sentenzen, in fusslangen Schriftzeichen auf buntes Papier gemalt. Tsuṅ-luen schien sehr stolz darauf und schenkte dem Gesandten und seinen Begleitern solche Schriftrollen zum Andenken. XVII. Tšen-pao . Tšëu-tšau erwiederte den Besuch in Vertretung seines kranken Vaters und redete ganz verständig. Offen und unbefangen beklagte er die Missbräuche in der Verwaltung und machte kein Hehl aus den amtlichen Lügen, mit welchen die Behörden das Publicum täuschten. So feierte damals die Zeitung von Pe-kiṅ den Feld- herrn Tšen-pao , der die Rebellen in Šan-tuṅ bekämpfte, durch glänzende Siegesberichte. Tšëu-tšau aber erklärte rund heraus, er sei nur ein Maulheld. Die Art, in welcher Tšen-pao nach eigenem Geständniss die Provinz beruhigt hatte, giebt ein grausiges Bild von der kalten Blutgier asiatischer Grossen; er theilte alle männlichen Bewohner der zurückgewonnenen Bezirke in zwei Kate- gorieen, gemeine Rebellen und Anführer; letztere wurden in Stücke gerissen, erstere nur geköpft, alle Frauen und Kinder nach dem Amur geschleppt. Beruhigt wurde die Provinz auf diese Weise gewiss. Tšen-pao war es, der im September 1860 bei Pa-li-kao commandirte und wahrscheinlich Capitän Brabazon und den Abbé de Luc hinrichten liess. Seine zweideutigen Aeusserungen über deren Schicksal, verglichen mit der Aussage chinesischer Soldaten, dass er sich der schriftlichen Ertheilung des Befehles geweigert habe, konnten diese Muthmaassung nur bestärken. — Im Frühjahr stand Tšen-pao mit seinen Truppen in Pe-kiṅ ; häufig wurden die Diplomaten dort durch nächtliche Gewehrsalven aufgestört und er- fuhren auf Befragen, dass diese Kraftäusserung das schlechte Ge- sindel schrecken und die Ehrfurcht des Volkes vor der Executive erhöhen sollte. Gegen die Fremden zeigten Tšen-pao ’s Truppen kein Uebelwollen; einige Engländer besuchten sogar ihr Lager im Süden der Chinesenstadt ; aus einem Zuge von Pikenreitern, der ihnen begegnete, grüssten mehrere ganz ehrerbietig, und als einer der Officiere die Engländer freundlich anredete, machte der ganze Zug ohne Commando Halt; mehrere verliessen ganz unbefangen die Glieder, um dem Gespräch zu lauschen. Anfang Mai wurde Tšen-pao nach Džehol berufen und vom Kaiser angewiesen, zu Unterstützung Saṅ-ko-lin-sin ’s nach Šan-tuṅ zu rücken. Nach Pe-kiṅ heimkehrend, gehorchte er so weit, dass er mit seinen Truppen einen Tagemarsch südlich mar- schirte, dann aber ruhig nach der Hauptstadt zurückkam, wo seine Gegenwart nothwendiger wäre. Etwas später musste er doch ins Feld. Saṅ-ko-lin-sin war mit seiner Streitmacht zurückgewichen Saṅ-ko-lin-sin . XVII. und stand kaum sechs Meilen von Tien-tsin . Diese Stadt mieden die Rebellen wegen der fremden Truppen, suchten aber Saṅ-ko- lin-sin ’s Stellung zu umgehen, um von Südwesten gegen Pe-kiṅ vorzudringen. Nach den Zeitungsberichten schien Tšen-pao das verhindert und weitere Siege erfochten zu haben; er erhielt den Oberbefehl, und Saṅ-ko-lin-sin fiel auf Su-tšuen ’s Einflüsterung wieder in Ungnade. Erst nach Hien-fuṅ ’s Tod — im October 1861 — wurde Saṅ-ko-lin-sin in Folge eines gegen die Rebellen erkämpften Sieges in alle Ehren wieder ein- gesetzt, deren er durch seine zweimalige Degradirung nach dem Fall von Ta-ku und der Niederlage bei Tšaṅ-kia-wan verlustig gegangen war. Von dem Mongolenfürsten hörten die Frem- den in Pe-kiṅ nur Gutes; Saṅ-ko-lin-sin scheint ein schlichter ehrlicher Krieger, kein Politiker gewesen zu sein. Man rühmte ihn als Vater seiner Soldaten, unter denen er strenge Zucht hielte und die Raublust mächtig unterdrückte. Der hoffährtige Trotz, mit welchem Herr Lay bei den Friedensverhandlungen in Tien- tsin 1858 den alten Kwei-liaṅ gradezu zertrat, erfüllte den Mon- golen mit bitterem Hass gegen alle Fremden; er trieb im Verein mit Su-tšuen und dessen Genossen, welche aus anderen Motiven handelten, den Kaiser, der persönlich nur Aenderungen am Ver- trage von Tien-tsin auf friedlichem Wege herbeizuführen wünschte, zu gewaltsamer Zurückweisung der Gesandten 1859 und zu hart- näckigem Widerstande. Seine Entrüstung über das hochfahrende Auftreten der Fremden gegen chinesische Würdenträger drückt sich deutlich in den wenigen Worten aus, die er vor der Schlacht von Tšaṅ-kia-wan zu dem gefangenen Parkes sprach. Seine Niederlage bei Ta-ku hatte Saṅ-ko-lin-sin nicht über die Ohn- macht seiner Waffen belehrt; er hoffte die Fremden im offenen Felde zu schlagen und scheint damals durch seine Denkschrift den ersten Impuls zur Flucht des Kaisers gegeben zu haben. Die Schlacht von Tšaṅ-kia-wan aber zeigte ihm die Fruchtlosigkeit des Kampfes; der weitere Verlauf des Feldzuges und das Auf- treten der Fremden nach dem Friedensschluss scheinen ihm auch Achtung vor deren Charakter eingeflösst zu haben; er trat nun politisch auf die Seite des Prinzen von Kuṅ . — Gegen die Rebellen kämpfend starb er später, im vordersten Treffen mit wenigen Reitern abgeschnitten, den Tod eines braven Soldaten. Tšen-pao ’s Charakter galt als zweideutig; als Feldherrn achteten ihn die meisten Chinesen. Vor der europäischen Artillerie XVII. Garnison von Pe-kiṅ . gewann er bei Pa-li-kao solchen Respect, dass er jede Erneuung des Kampfes ganz offen für thöricht erklärte. Aehnlich muss Saṅ-ko-lin-sin nach dem Tage von Tšaṅ-kia-wan gedacht haben; beide Feldherren vermieden bekanntlich jedes fernere Treffen. — Wie sehr die Ansichten der Chinesen seit dem Herbst 1860, — da die temporäre Besetzung von Tien-tsin noch als unerträglich schmachvoll und dem Throne gefährlich vor allen Bestimmungen des Friedensvertrages angefochten wurde, — sich änderten, beweist der Umstand, dass im Herbst 1861 die kaiserliche Regierung der Räumung von Tien-tsin und den Ta-ku -Forts mit der äussersten Besorgniss entgegensah, und dass sie, als ihre Bitten um deren Hinausschiebung nicht fruchteten, General Staveley um Einexer- cirung chinesischer Soldaten nach englischem Muster bat. In der That bedrohten damals die Rebellen von Šan-tuṅ ernstlich die Hauptstadt. In die Garnison, welche neben der Miliz aus 10,000 Polizei- Soldaten und etwa 70,000 Mann »Bannermännern« bestehen sollte, schienen die Behörden in Pe-kiṅ wenig Vertrauen zu setzen; und doch bilden letztere den Kern des Heeres, die eigentliche Haus- macht der Mandschu-Kaiser. Die Krieger dieser Streitmacht sind theils Mandschu-, theils mongolische Tartaren, theils Han-kiu , Abkömmlinge solcher Chinesen, welche bei der grossen Umwälzung im 17. Jahrhundert gegen die Miṅ gestritten haben. Nach Notizen des Herrn Wade ist jede dieser Nationalitäten unter 8 Banner geordnet, deren es also im Ganzen 24 giebt. Jedes Banner steht unter einem Tu-tuṅ oder General-Capitän, der zugleich als bürger- liche und Militär-Behörde fungirt. Nicht alle Bannerleute sind Sol- daten; diejenigen aber, welche weder im Civil- noch im Militär- dienst angestellt sind, beziehen vom Staate kein Gehalt, sie müssten denn den drei vornehmsten Bannern angehören. Die beiden ersten — gelb gerandet und ganz gelb, wohnen in Pe-kiṅ nördlich von der Gelben Stadt , die beiden weissen östlich, die rothen westlich, die blauen südlich davon. An die 24 Banner scheint der Grund und Boden der Hauptstadt nach der Einnahme ausgethan worden zu sein. Ihr Stand ist erblich; sie bilden eine Art Adel, dessen Mitglieder im Civil- und Militärdienst stark bevorzugt werden. — Streng gesondert von dieser Hausmacht ist die Armee der »Grünen Standarte«, in welcher nur Chinesen dienen. IV. 10 Empfang beim Prinzen von Kuṅ . XVII. Der Prinz von Kuṅ , welcher am 15. September aus Džehol zurückkehrte, hatte sich bereit erklärt, Graf Eulenburg zu empfan- gen, wenn eine passende Form dafür gefunden würde; nach chine- sischer Auffassung war nämlich der Gesandte vor Ratification des Vertrages zum Aufenthalt in Pe-kiṅ nicht berechtigt und nur in- cognito anwesend. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge; endlich wurde der Besuch auf den 27. September anberaumt. Graf Eulenburg ritt mit allen seinen Begleitern. dem Grafen Kleczkowski und Herrn de Méritens gegen zwei Uhr nach dem im Norden der Gelben Stadt gelegenen provisorischen Amtsgebäude für die Aus- wärtigen Angelegenheiten, einem verfallenen Kloster mit ärmlichem Eingang. Das Empfangszimmer fasste kaum die Gesellschaft, die Papierfenster und Tapeten waren roh geflickt, die Wände beschmutzt, alle Ecken voll dicker Spinngewebe. In solchem Raum empfing der nächste Bruder des seligen Himmelssohnes, der factische Regent eines Reiches von über dreihundert Millionen den Gesandten einer europäischen Grossmacht! — Von den anderen Mitgliedern des Auswärtigen Amtes waren Wen-siaṅ und Haṅ-ki anwesend; der alterschwache Kwei-liaṅ blieb wegen seiner Taubheit, Tsuṅ-luen als Kranker zu Hause. Des Prinzen Trauertracht unterschied sich in nichts von der aller anderen, auch der geringsten Mandarinen; ein bis auf die Füsse reichender Rock aus grobem weissem Baum- wollenstoff mit hellblauen Aufschlägen und Kragen, Stiefel von schwarzem Atlas, die schwarze Atlasmütze mit steifem aufgekremptem Rande ohne jedes Abzeichen. Der Prinz von Kuṅ mag damals kaum dreissig Jahre gezählt haben; sein blasses Gesicht ist von echt mongolischem Schnitt, das Auge aber auffallend gross, ernst blickend und ausdrucksvoll; seine Züge verrathen Entschlossenheit. Die abrupte Art, wie er anfangs mit unbeweglicher Miene die Worte ausstiess, hatte etwas kaiserlich Vornehmes, Unumschränktes; man staunte, als sich die kurz ab- gebrochenen Laute im Munde des Dolmetschers zu den verbind- lichsten Reden gestalteten. Im Laufe des Gespräches belebte sich sein Antlitz zu mildem freundlichem Ausdruck. Graf Eulenburg dankte zunächst für das Entgegenkommen der kaiserlichen Regierung und die Stellung, welche der Prinz per- sönlich zu den Vertragsarbeiten genommen habe; Prinz Kuṅ erwie- derte Aehnliches und rühmte vor Allem, dass der Gesandte in rück- sichtsvoller Würdigung der politischen Lage von China in die auf- XVII. Der Prinz von Kuṅ . geschobene Ausübung des Gesandtschaftsrechtes gewilligt habe; er ersuchte ihn, Seine Majestät den König zu versichern, dass er von hoher persönlicher Achtung für Allerhöchstdenselben be- seelt sei und dass er sich von der Entwickelung des Verkehrs zwischen Deutschland und China erspriessliche Folgen für beide Länder verspreche. — Der Prinz drückte wiederholt sein Bedauern aus, dass die Hoftrauer ihm verbiete, den Gesandten in Gala zu empfangen. Als Dieser darauf sagte, dass es ihn besonders freue, die Person des Prinzen kennen gelernt zu haben, dessen Ruf schon nach Europa gedrungen sei, unterbrach Dieser den Dolmetscher fast heftig: sein Ruf könne unmöglich so gross sein. — In der That rühmten die mit dem Prinzen verkehrenden Diplomaten seine auf- richtige Bescheidenheit: er sagte ihnen beständig, dass er bis vor Kurzem den Geschäften ganz fremd und lediglich auf sein Ver- gnügen bedacht gewesen sei; sie möchten seine einfältigen Fragen entschuldigen, da er von garnichts wisse. So naiv nun wirklich seine Fragen oft waren, so gingen sie doch immer auf die Sache und führten zu Resultaten, welche mit keinem anderen Chinesen erzielt wurden. Man trank einige Tassen Thee; die Unterhaltung wurde mit jeder Minute ungezwungener, wie zwischen Männern zu geschehen pflegt, die aneinander Gefallen finden. Zuletzt liess der Prinz sich lachend die beiden Frevler bezeichnen, die im Juni Pe-kiṅ so ruch- los überfallen hatten. Auch Freund Tšaṅ , der sie damals so höflich hinauscomplimentiren wollte, begrüsste uns jetzt mit herzlichem Lachen. — Der Prinz geleitete den Gesandten bis zur Thür; so steif der Empfang, so herzlich unbefangen war das Scheiden. Ueber die Persönlichkeit des fürstlichen Herrn hatten wir den Schmutz der Umgebung ganz vergessen; man that wohl deshalb so wenig für das Haus, weil das neue Amtsgebäude für die auswärtigen Ge- schäfte schon vollendet war und nur der Hoftrauer wegen nicht eingeweiht werden konnte. Am 28. September erwiederten die Minister Wen-siaṅ und Haṅ-ki den Besuch des Gesandten. Beide sehen intelligent aus, besonders der Tartare Wen-siaṅ , dessen Gesichtsbildung fast euro- päisch ist. Damals 44 Jahre alt hatte er ein offenes, lebendiges, resolutes Wesen, das Vertrauen weckte. Die Diplomaten in Pe- kiṅ hielten ihn für den klügsten und ehrlichsten unter allen chine- sischen Grossen. 10* Haltung der Grossen. XVII. Die dolmetschenden Gesandtschaftssecretäre und vorzüglich Herr Hart , der seit Kurzem die früher von Mr. Horatio Nelson Lay bekleidete Stellung eines Ober-Intendanten aller Zollämter für den ausländischen Handel in China hatte und einige Sommermonate in Pe-kiṅ zubrachte, kamen mit dem Prinzen von Kuṅ und den ihm beigeordneten Ministern fast täglich in Berührung. Schon nach wenigen Besuchen trat in diesem Verkehr an die Stelle des steifen amtlichen der unbefangene Ton freundschaftlicher Unterhaltung. Namentlich schienen der Prinz und Wen-siaṅ allen Argwohn ab- gestreift zu haben; sie zeigten den Fremden volles Vertrauen und suchten deren Rath und Belehrung. Wen-siaṅ arbeitete redlich und angestrengt, um sich über europäische Verhältnisse zu unter- richten, mit dem ernsten Willen, daraus Nutzen zu ziehen für poli- tische und militärische Reformen in seinem Vaterlande, zunächst aber die Zolleinrichtungen und die Verwaltung der auswärtigen An- gelegenheiten mit den gerechten Ansprüchen der Fremden in Ein- klang zu setzen. Bei näherer Bekanntschaft äusserten die Minister häufig naives Erstaunen darüber, in den Europäern gewissenhafte, redliche Männer von Geist und Bildung zu finden, deren sittliche Grundsätze und Rechtsbewusstsein in allem Wesentlichen mit dem chinesischen » Li «, dem in der göttlichen Weltordnung und altem Brauch begründeten Gefühl für Recht und Schicklichkeit in vollem Einklang standen, so sonderbar auch ihre Lebensanschauungen in Verhältnissen davon abwichen, die nicht in der menschlichen Na- tur, sondern in Convenienzen wurzeln. Sie bewunderten oft die der christlichen Cultur eigene Humanität, Selbstlosigkeit und edele Gesinnung, die sich in den alltäglichen Beziehungen zum Nächsten ausspricht, und gestanden offen, dass sie bis zu den letzten Kriegen keine Ahnung gehabt hätten, weder von der Macht und Bedeutung der fremden Völker, noch von deren Gesittung. Es lag im Interesse der Behörden in Kan-ton , dem Hof von Pe-kiṅ alle Fremden als Barbaren darzustellen, dessen Wahn zu hegen, dass sie seegeborne Ungeheuer mit Schwimmfüssen seien, die, im Wasser heimisch, sich auf dem Lande nur schwerfällig, etwa wie Seehunde bewegten, und im Dunkeln am besten sähen. Das glaubten nach eigenem Ge- ständniss noch Leute aus den besten Classen in Pe-kiṅ , als die Alliirten 1858 in Tien-tsin standen. — Im Kriege hatten die Chi- nesen einzelne schlimme Erfahrungen gemacht und diese traten, wie alle derartigen Ausnahmen, in den Vordergrund gegen das im XVII. Benehmen der Fremden. Ganzen anständige Verhalten der alliirten Truppen. Die vandalische Verwüstung des Sommerpalastes, Bei der Plünderung des Sommerpalastes ahnten die Alliirten noch nicht das furchtbare Schicksal ihrer gefangenen Parlamentäre; seine Verbrennung be- schloss Lord Elgin als einen Act der Vergeltung. die Plünderung und Zerstörung von Ortschaften am Pei-ho , wo nach der gedruckten Aussage eng- lischer Officiere viel unschuldiges Blut geflossen ist, und die rück- sichtslosen Räubereien in der Umgebung von Pe-kiṅ Nach den gedruckten Angaben des englischen Stabsarztes Dr. Rennie hätten englische Officiere im Herbst 1860 in der Umgebung von Pe-kiṅ über 300 Karren mit der Bespannung zum Transport ihrer Beute nach Tien-tsin ohne Entschädigung weggenommen und dort als »gute Beute« verkauft. Die Besitzer verloren dadurch ihr einziges Mittel zum Broderwerb. waren noch in frischem Andenken; auch konnten die Consularbehörden nach dem Friedensschluss keineswegs allem Unfug steuern, den unverständige Landsleute in rohem Muthwillen oder frevelhafter Laune begehen mochten. Hier möge eines gleichfalls von Dr. Rennie berichteten Falles gedacht sein. Zwei englische Kaufleute fanden Ergötzen daran, in einem Dorfe am Pei-ho alle Haushunde und deren Junge todtzuschiessen. Nun liebt und hegt der Chinese seinen Haushund zärtlich und die Jungen sind die Freude der Kinder. Die friedlichen Landleute wussten sich gegen diese Rohheit nicht zu schützen; erst auf Anzeige eines anderen Engländers schritt der Consul ein. — Dass Fremde in Tien-tsin wehrlose Chinesen, ja alte Lasten tragende Männer, welche nicht schnell genug aus- weichen konnten, niederritten oder zu Boden schlugen, kam nur zu häufig vor. Nur zu häufig mussten die Diplomaten in Pe-kiṅ unter der unreifen Ueberhebung von Schutzbefohlenen leiden, die ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl die Landesgesetze höhnten, Im Jahre 1861 geschah es, dass der Repräsentant des Hauses Jardine Mathe- son in Kan-ton die Ladung eines bei Wam-poa ankernden Schiffes statt dem Ge- setze gemäss in das Zollhaus, ohne Weiteres unverzollt in seine Magazine schaffen liess. Das Haus widersetzte sich sogar der Verzollung im Magazin, bis der Consul dieselbe auf Beschwerde des chinesischen Steuer-Amtes verfügte. Obgleich nun die einheimischen Behörden, welche nach den Bestimmungen des Vertrages ansehnliche Summen als Strafzahlung fordern konnten, sich dabei beruhigten, so remonstrirte das Haus Jardine beim Gesandten in Pe-kiṅ gegen die Entscheidung des Consuls, wurde aber abgewiesen. — Der gewöhnliche Hergang bei solchen Conflicten ist, dass die Europäer das erste Unrecht begehen; sie wissen, dass bei weiterer Ent- wickelung des Rechtsstreites die Chinesen, den europäischen Anschauungen fremd. Fehler machen werden, welche die Consularbehörden zwingen, auf die Seite ihrer Schutzbefohlenen zu treten. So ziehen fremde Kaufleute meist auch aus denjenigen Händeln Gewinn, in welchen sie Unrecht haben. An- stand und Sitte verletzten, in der Demüthigung und Misshandlung wehrloser Chinesen einen wohlfeilen Ruhm suchten; ihre Haltung bewies den Ministern aber bald, dass solche Excesse nur Aus- nahmen seien, dass die christliche Gesittung der chinesischen ihrem Räubereien der Grossen. XVII. inneren Gehalt nach mindestens die Waage halte. Die Gesandten strebten ernst und beharrlich den leitenden Staatsbeamten diese Ueberzeugung einzuimpfen und haben ihre Aufgabe glücklich ge- löst: der Prinz von Kuṅ und der Minister Wen-siaṅ gaben ihnen den Sommer über täglich Beweise, dass sie eifrig bemüht waren, auch den Kaiser zu ihrer Ansicht zu bekehren und ein richtiges Verhältniss zu den Fremden anzubahnen. Den klugen, mit den chinesischen Institutionen innig ver- trauten Wen-siaṅ betrachteten die Diplomaten in Pe-kiṅ als den politischen Mentor des Prinzen, der bis dahin, allen Geschäften fremd und lediglich auf sein Vergnügen bedacht, auch der chine- sischen Bevölkerung keineswegs für staatsmännisch begabt, wohl aber als redlicher Charakter galt. Aber trotz dem eisernen Fleiss des gewiegten und lebendigen Wen-siaṅ und trotz der häufigen Schläfrigkeit des Prinzen bei politischen Verhandlungen, — deren Detail ihn offenbar langweilte, — begriff Dieser oft leichter einfache, der chinesischen Anschauung widerstrebende Ideen; er war eben ohne vorgefasste Meinungen und unbefangener als der kluge Mi- nister, der, von Jugend auf im Staatsdienste, das innerste Wesen der chinesischen Verfassung in sich eingesogen und assimilirt hatte und nur mit Mühe seine Gedanken in andere Wege zwängte. Das grösste Hinderniss der von beiden Männern gewünschten Reformen bot die notorische Unredlichkeit aller Beamten und das auch an höchster Stelle stillschweigend begünstigte System der Erpressungen. Der Prinz und Wen-siaṅ erklärten unumwunden bei jedem Anlass, wo es sich um Besetzung verantwortlicher Stel- lungen handelte, dass sie keinen unbescholtenen Beamten zu nennen wüssten; deshalb wurde die oberste Verwaltung der Zollämter für den fremden Handel, welche jetzt die ergiebigste — vielleicht die einzige sichere Einnahme-Quelle des kaiserlichen Schatzes waren, ausschliesslich Europäern anvertraut. Selbst unter ihren Amts- genossen trauten sie keinem. Der alterschwache Kwei-liaṅ , des Prinzen Schwiegervater, kam nicht in Frage. Tsuṅ-luen ’s Ver- waltung als Steuerdirector in Tien-tsin und als Vice-Präsident im Finanz-Ministerium verhüllten dichte Schleier, die Niemand lüften mochte. Haṅ-ki glänzte durch die Grossartigkeit seiner Räube- reien. So eingelebt ist das System der Erpressungen, dass der Hop-po oder Steuerdirector in Kan-ton , der sich nach fünf- jähriger Verwaltung in Pe-kiṅ zu stellen hat. dem Officier der XVII. Haṅ-ki . dortigen Thorwache für jedes Verwaltungsjahr 10,000 Tael zahlen muss, welche dem General-Capitän der neun Thore zufallen. Jenes Amt hatte Haṅ-ki bekleidet. Da nun unter seiner Verwaltung der Handel fast anderthalb Jahre lang stockte, so zahlte er nur 36,000 Tael , um eingelassen zu werden. Dem Kaiser überreichte er bei jeder der beiden Audienzen nach seiner Rückkehr eine An- weisung auf 10,000 Tael , welche der hohe Herr eincassiren liess, und bei dessen Flucht nach Džehol hatte Haṅ-ki abermals 10,000 Tael zu erlegen. Diese Abgaben scheinen ihn kaum gedrückt zu haben; auf das Begräbniss seiner Mutter verwendete er im Sommer 1861 5000 Tael . Nun beträgt das Jahrgehalt des Hop-po in Kan- ton nur 2400 Tael , der gewöhnliche Aufwand seines Ya-mum aber gegen 8000; einem Beamten in vortheilhafter Stellung pflegt näm- lich in China seine ganze Sippe zu folgen und auf seine Kosten zu leben. Trotzdem rechnete man Haṅ-ki ’s Beute auf 300,000 Tael . Ueber die Art der Erpressung erhielt Mr. Hart lustigen Aufschluss von Haṅ-ki ’s erstem Beamten, welcher feierlich behauptete, dass Alles ehrlich erworben sei: der Schleichhandel auf dem Tšu-kiaṅ habe damals den Bau und die Ausrüstung vieler Regierungsschiffe erfordert; diese nothwendige Ausgabe sei pflichtgemäss verrechnet, das Geld aber nicht verwendet worden; die Regierung habe davon nur Vortheil, weil die wirkliche Ausrüstung weit mehr gekostet hätte, als Haṅ-ki aus den Staatskassen erhob. Dieses Raisonne- ment war ernst gemeint. Am kaiserlichen Hofe scheint man die Fälschungen zu begünstigen: der Hop-po erhält von da oft Auf- träge, die Tausende verschlingen, darf aber den Himmelssohn nie mit der Rechnung belästigen. Von Džehol aus soll sich Kaiser Hien-fuṅ bei dem Hop-po von Kan-ton für etwa 3000 Pfd. St. Spiegelglas bestellt haben. Die Corruption geht durch alle Classen der Mandarinen. Zum Verdruss der Gesandten suchten häufig Chinesen unter dem Vorwand, dass sie ihnen dienten, den Landesgesetzen zu trotzen. Solches Imperium in imperio hatte die Regierung von Einrichtung der fremden Gesandtschaften in Pe-kiṅ gefürchtet; selbst Prinz Kuṅ und seine Amtsgenossen wachten eifersüchtig über jeden Ein- griff in die kaiserlichen Hoheitsrechte, und die fremden Gesandt- schaften verwahrten sich bündig gegen alle Theilnahme daran. Da sie das Recht hatten, ihr Eigenthum zollfrei in Pe-kiṅ ein- zuführen, so erklärten häufig Fuhrleute an den Thoren, dass ihre Kleine Conflicte. XVII. Karren mit Waaren für diese oder jene Gesandtschaft befrachtet seien. Diesem Missbrauch zu steuern schlug Herr Bruce dem Prinzen vor, dass ein Beamter solche Karren jedesmal nach der betreffenden Legation geleiten solle, damit ihr Inhalt untersucht würde; der Prinz aber rief halb verzweifelt: Glaubt ihr denn, dass der Beamte uns nicht bestehlen, nicht ein Geschäft machen würde aus dem Einschwärzen der Waaren? — Auch von der Gewissen- losigkeit ihrer eigenen Landsleute, unter welchen, wie in der Blüthe- zeit des Opium-Schmuggels, die Repräsentanten der angesehensten Häuser besonders glänzten, hatten die Gesandten in dieser Hinsicht zu leiden. Ein Vertreter des Hauses Dent in Tien-tsin sandte mit eherner Stirn eine Menge Kisten unter Adresse des Herrn Bruce nach Pe-kiṅ , der natürlich den Betrug anzeigte. Solcher Unfug schädigte wesentlich die Stellung der Fremden; denn die Spione der feindlichen Parthei berichteten nach Džehol , dass die Diplo- maten dem Vertrage entgegen in Pe-kiṅ heimlich Handel trieben, und der Prinz hatte Noth diese Anklage zu entkräften. Auch in anderen Dingen beriefen sich Chinesen oft mit frevelhaftem Leichtsinn auf die Fremden. Nach dem Landesgesetz scheint in Pe-kiṅ Niemand ohne Erlaubniss der Behörden sein Haus niederreissen und ein neues bauen zu dürfen. Ein Nachbar der Missio- nare in Pe-taṅ hatte es trotzdem gethan und erklärte, von der Polizei belangt, die Missionare hätten es ihm erlaubt. Abgesehen von deren Competenz war die Aussage falsch und wurde am Schuldigen schwer geahndet. — Dieselben Missionare hatten ein Haus der chinesischen Stadt auf den Abbruch gekauft, um das Material zu benutzen; die damit betrauten Arbeiter schleppten aber, auf ihre Autorität fussend, auch noch die Steine und Balken eines alten Tempels zu eigenem Gebrauche fort und verwirkten durch diese Schändung die här- testen Strafen. Die Missionare selbst hatten zum Einreissen jenes Hauses nicht die Erlaubniss der Behörden eingeholt, und die Sache machte das peinlichste Aufsehn. Im Ganzen gestaltete sich das Verhältniss der Fremden zur Bevölkerung im Sommer 1861 vortrefflich. Pöbel giebt es in jeder grossen Stadt: der chinesische ist aber nicht schlimmer, als der civilisirte in Europa . In schlechten Stadtvierteln geschah es wohl, dass junge Burschen aus dem Volkshaufen, der sich fast überall um einzelne Reiter schaarte, ihnen Schimpfworte zuriefen, auch mit Steinen oder, sonderbar genug, mit Kupfermünzen nach ihnen XVII. Chinesische Litteraten. warfen; in solchen Fällen legten sich aber meist Leute aus den besseren Ständen in’s Mittel und verwiesen die Lümmel nachdrück- lich zur Ruhe. Verletzt wurde Niemand, obgleich die Mitglieder der Gesandtschaften täglich zu Fuss und zu Pferde die Stadt durchstreiften. Auf ihren Ausflügen in die Umgegend wurden sie überall freundlich aufgenommen, mit zuvorkommender Artigkeit be- wirthet und bedient. In voller Sicherheit reiste ein Einzelner weit und breit durch das Land. Einen näheren Einblick in das chinesische Leben gewannen die Bewohner der Legationen im Umgang mit Männern aus der Classe der Studirten, die ihnen als Schreiber, Sprachlehrer und Gehülfen beim Uebersetzen dienten; auf der englischen Gesandt- schaft war der damit verbundenen Dolmetscherschule wegen eine beträchtliche Zahl derselben angestellt. Die ärztliche Hülfe, welche der zur Gesandtschaft commandirte Dr. Rennie gern überall leistete, führte ihn vielfach in die Häuser dieser Linguisten, ihrer Ver- wandten und Freunde; er sah dabei ihr glückliches Familienleben und erhielt den günstigsten Eindruck von der Gesittung der Mittel- classen, die ja den maassgebenden Kern jeder Bevölkerung bilden. Nach seinen Schilderungen wären alle guten Regungen des Men- schen in seinen Beziehungen zum Nächsten bei ihnen auf das zar- teste entwickelt; er erzählt, — nicht als Ausnahmen, sondern als tägliche Erfahrung, — Beispiele rührender Krankenpflege, dank- barer Liebe und Selbstlosigkeit, welche beweisen, dass ihnen die besten Seiten des menschlichen Daseins aufgegangen sind, dass die sittlichen Keime ihrer Cultur trotz allem äusseren Verfall und der Maske sonderbarer Convenienz noch heut die schönsten Blüthen tragen. An unbegreiflichen Anomalieen, welche deren Lücken auf- decken, hat unsere eigene Gesittung eine zu reiche Fülle, um mit der chinesischen rechten zu dürfen. Der Austausch der Gedanken und Beobachtungen mit den chinesischen Schriftgelehrten führte oft zu den lustigsten Erörte- rungen. Sie bekannten täglich offener ihre Ueberraschung, in den Fremden, an deren Seehunds-Natur sie geständlich noch bis vor Kurzem glaubten, Männer von Bildung und Zartgefühl zu finden. Allmälig gewannen sie hohe Achtung vor der europäischen Cultur, konnten jedoch über gewisse Aeusserlichkeiten nicht hinwegkommen. So verletzte sie auf’s tiefste, dass Herr Bruce , der einen Wagen mit nach Pe-kiṅ brachte, eigenhändig die Zügel führte: der erhabene Einwohnerzahl. XVII. Gesandte der mächtigen britischen Nation ein Rosselenker! — Eines Tages kam Charlie, ein grosser Jagdhund des Herrn Bruce , der Liebling der ganzen Gesandtschaft, in ein Zimmer, wo sich grade der die Wache commandirende junge Officier mit einem der Dolmetscher und dessen chinesischem Sprachgelehrten Tšaṅ befand. Letzterer blickte finster, als der Officier den Hund neckte und konnte seinen Aerger kaum verbergen, als die Balgerei etwas toller wurde. Als aber der junge Krieger dem Hunde gar in’s Ohr bellte, hielt Tšaṅ sich nicht länger; er nahm seine Brille von der Nase, steckte sie würdevoll ein und schritt voll Entrüstung hinaus. — Folgenden Tages fragte er den Dolmetscher nach Rang und Stellung des hundefreundlichen Herrn und äusserte darauf, dass sein Stand Alles erkläre: auch in China hätten die Mandarinen des Kriegerstan- des keine Erziehung. Uebrigens habe Charlie selbst gebrummt, als der Officier ihm in das Ohr bellte, und damit mehr Würde bewiesen als dieser. — Charlie erwarb sich bei der chinesischen Dienerschaft bald solche Achtung, dass sie ihn nicht anders nannten als Tša- ta-lau-ye , — etwa Charles Esquire. Im vertrauten Verkehr mit ihren Linguisten, welche den grössten Theil des Tages in den Legationen zuzubringen pflegten, erhielten die Diplomaten auch wichtige Aufschlüsse über die Haupt- stadt und deren Bewohner. Die früheren Angaben über die Ein- wohnerzahl waren sehr schwankend und sicher übertrieben. Zäh- lungen wurden auch jetzt nicht veranstaltet; die Schätzungen der Linguisten beruhten aber auf langjähriger Beobachtung und zuver- lässiger Rechnung; sie stimmten ziemlich genau dahin überein, dass die Tartarenstadt in runder Zahl gegen 100,000 Hausstände enthalte. Da nun verheirathete Söhne in China meist bei den Eltern wohnen, so rechnete man jeden Hausstand durchschnittlich auf 8 Köpfe. Die Garnison war über 100,000 Mann stark. Auf die Chinesenstadt rechnete man 50,000 Hausstände; somit betrüge die Gesammt- bevölkerung gegen 1,300,000 Seelen. So tief diese Zahl unter früheren Schätzungen steht, so ist sie doch nach der allge- meinen Ansicht der Fremden eher zu hoch gegriffen. Die Be- völkerung von Pe-kiṅ hat sich vielleicht gemindert, aber gewiss nicht in dem Maasse, wie die früheren Angaben vermuthen lassen; denn offenbar ist ein grosser Theil, vielleicht über die Hälfte des von der Ringmauer umschlossenen Gebietes niemals städtisch bebaut gewesen. XVII. Su-tšuen . So ruhig und nüchtern die Bevölkerung der Hauptstadt dem Fremden scheint, so ist sie doch ein wichtiger Factor in allen politischen Angelegenheiten. Die öffentliche Meinung in anderen Städten des Reiches kümmert den kaiserlichen Hof nur wenig; mit den Bewohnern von Pe-kiṅ sucht er sich stets in Einklang zu setzen. Die Ursache liegt nah: er ist in ihren Händen, während Unzufrieden- heit und Aufruhr in anderen Theilen des Reiches ihn nur von ferne berühren. Die Bannerleute, der wichtigste Theil der Garnison, wohnen seit mehreren Generationen in Pe-kiṅ und sind mit der Bevölkerung innig verschmolzen, ja gewissermaassen die Bevölkerung selbst; denn Familienbande knüpfen sie sicher an alle Stände. Die Gunst der Bevölkerung war die Stärke des Prinzen von Kuṅ in der damaligen politischen Conjunctur. Denn abgesehen davon, dass seine Gegner den Kaiser aus selbstsüchtigen Absichten, zum tiefen Schmerz aller ehrlichen Patrioten nach Džehol getrieben hatten, war Su-tšuen , die Seele jener Camarilla, aus anderen Ursachen dem Volke verhasst, dessen Wünsche sich deutlich in einem damals umlaufenden Gerüchte spiegelten: die erste Handlung des jungen Kaisers sei der Befehl zu Su-tšuen ’s Hinrichtung gewesen. Man verabscheute ihn als Urheber der Geldnoth, welche im Som- mer 1861 ihren Gipfel erreichte und das Volk in grosse Aufregung versetzte. Seit einigen Jahren hielten nämlich die Tae-piṅ alle Kupferminen besetzt, welche die kaiserliche Münze zu versorgen pflegten; deshalb konnte kein Kupfergeld geprägt werden. Solches bildet aber das einzige Tauschmittel im Handel und Wandel des Volkes; gemünztes Silber giebt es nicht, nur ungemünztes kommt in Barren dem Gewicht nach bei grösseren Zahlungen in Anwendung. Su-tšuen liess nun als Präsident des Finanz-Departements zunächst eiserne Münzen prägen, welche die Bewohner von Pe-kiṅ entrüstet zurückwiesen und dem Urheber auf offener Strasse an den Kopf warfen. Dann liess er Papiergeld ausgeben, das die Kassen zum vollen Werthe wechselten. Allmälig aber sank der Cours, welchen vier privilegirte Banken zu normiren hatten, und man erfuhr, dass der Nominalwerth der ausgegebenen Noten die Zahlungsfähigkeit der Regierung um ein Vielfaches überstieg. Su-tšuen soll bei dieser Operation keinen Schaden gelitten haben: kurz vor dem Termin, an welchem er 1860 als Präsident des Finanz-Departements öffentlich Rechnung legen musste, gingen dessen Amtsgebäude mit sämmtlichen auf die Emission der Noten bezüglichen Documenten in Flammen Geldnoth. XVII. auf. — Im Sommer 1861 fiel nun das Papiergeld unter den dreissig- sten Theil seines Nominalwerthes, ja es kam vor, dass im Volks- gedränge an den Kassen die Notenbesitzer, um nur Münze zu haben, einander unterboten, dass die Kassirer ruhig das niedrigste Ange- bot abwarteten, während draussen Tausende harrten und bangten. In Handel und Wandel wollte Niemand mehr Papiergeld nehmen. Durch den Krieg und vorzüglich durch die Flucht des Kaisers, welcher grosse Massen Reis nach Džehol kommen liess, stieg der Preis dieses nothwendigsten, und in Folge dessen aller übrigen Lebensmittel auf das Doppelte und darüber, während das coursirende Tauschmittel werthlos wurde: so entstand denn bei den ärmeren Classen bittere Noth, als deren Urheber Su-tšuen vom Volke offen verflucht wurde. Amtlich konnte man ihn nicht belangen; die Rechnungen waren verbrannt und seine Operationen so complicirt, dass er sehr wohl die Schuld der übermässigen Ausgabe auf die damit betrauten Banken schieben konnte, während diese wieder das Finanz-Departement bezüchtigten. Die Regierung scheint sich schliesslich damit geholfen zu haben, dass sie den Aemterhandel aus- dehnte und sich bereit zeigte, einen bestimmten Theil der Kauf- summe, der früher in Silber erlegt werden musste, jetzt in Papier zu festem, wenn auch niedrigem Course anzunehmen. Dadurch wurden die Reichen veranlasst, von den ärmeren Classen die Noten aufzukaufen, welche die Regierung allmälig einzog. Trotz dem grossen Schaden, den das Volk noch immer litt, hatte sich die Aufregung zur Zeit unserer Anwesenheit in Pe-kiṅ gelegt. Uebrigens coursirten die Noten nur in der Hauptstadt, nicht in der Provinz. — Anders scheint es im 14. Jahrhundert gewesen zu sein, als die Mongolenkaiser ihre chinesischen Unterthanen durch übermässige Ausgabe von Papiergeld betrogen. In der Zwischenzeit kannte man solches nicht in China . Die von der Bevölkerung der Hauptstadt geübte politische Macht ist wohl eben so alt als das System des chinesischen Staates. Dessen Grundprincip, dass die im Himmelssohne incarnirte sittliche Weltordnung, kein Zwang die Handlungen der Menschen lenken soll, ist mit der chinesischen Cultur unzertrennlich verwachsen und überlebt jede Dynastie. Umwälzungen, welche auf Umsturz oder Modification dieses Systemes ausgehen, hat kein chinesischer Kaiser zu fürchten; es giebt dort nur Rebellionen, welche auf Beseitigung einer nicht mehr als Himmelssohn anerkannten Person und ihres XVII. Die Zeitung von Pe-kiṅ . Hauses gemünzt sind. Das halbe Reich mag in Flammen stehen ohne dass die kaiserliche Autorität darunter litte. Erhebt sich aber die Hauptstadt gegen den Herrscher, so ist seine Per- son gefährdet. Nun ging die Hausmacht der Mandschu in der Bevölkerung von Pe-kiṅ auf und nahm chinesische Cultur an; aus einem Werkzeug wurde sie ein politischer Factor, mit welchem der Hof zu rechnen hat. Wo es sich um keinen Systemwechsel handelt, da entscheidet das persönliche Schick- sal des Herrschers; so müssen die chinesischen Kaiser eifrig bedacht sein, sich die Gunst ihrer nächsten Umgebung zu sichern. Dass die Himmelssöhne von jeher mit der öffentlichen Mei- nung ihrer Hauptstadt rechneten, beweist die Zeitung von Pe-kiṅ , die wahrscheinlich älteren Ursprungs ist als alle europäischen. Sicher kennt man das Datum ihrer Entstehung nicht; Traditionen setzen sie in die Zeit der Suṅ -Dynastie, die 1366 erlosch. In den jüngst vergangenen Jahrhunderten spielte die Zeitung beständig eine Rolle. Sie ist kein amtliches Organ im eigentlichen Sinne, wohl aber bestimmt, die öffentliche Meinung zu leiten. Ihre Ver- bindung mit der Regierung soll darauf hinauslaufen, dass Beamte den Herausgebern alle amtlichen Documente zur Publication zu- stellen dürfen, welche ihnen nicht ausdrücklich als vertrauliche be- zeichnet werden; womit einfach ausgesprochen ist, dass die Behör- den Stücke auswählen, — oder verfassen, — durch welche sie auf die öffentliche Meinung wirken möchten. Die Zeitung von Pe-kiṅ ist die einzige in China , sie wird im ganzen Reiche gelesen. In der Hauptstadt erscheinen drei Ausgaben: eine in grossem Format und rothem Umschlag alle zwei Tage publicirte soll nur amtliche Documente und Bekanntmachungen enthalten; eine tägliche Aus- gabe in weissem Umschlag verbreitet sich über die in jenen Docu- menten berührten Ereignisse; eine dritte wohlfeile Ausgabe ist ein Auszug aus den beiden anderen. — Ausserdem erscheint viertel- jährlich ein amtliches »Roth-Buch« in sechs Bänden, zwei auf das Heer und vier auf den Civildienst bezüglichen, in welchen die Thätigkeit aller Staatsdiener beleuchtet wird. — Bei der vollkom- menen Freiheit, welche die Presse in ganz China geniesst, muss es Wunder nehmen, dass nicht oppositionelle Zeitungen erscheinen. Das Publicum hat die Sache billiger: alle Handlungen auch der höchsten Staatsbeamten werden in zahllosen öffentlichen Mauer- Eindruck von Pe-kiṅ . XVII. anschlägen ohne Schonung blossgestellt, oft scharf gegeisselt und verhöhnt, ohne dass die Behörden dagegen einschritten. So gross ist die Macht der Gewohnheit, dass jeder Versuch dieses alte Recht zu schmälern wahrscheinlich zum Aufruhr führen würde. In vielen Fällen sucht die Regierung selbst durch Maueranschläge auf die öffentliche Meinung zu wirken. Um Pe-kiṅ gründlich zu sehen war unser Aufenthalt zu kurz; die schonenden Rücksichten gegen die chinesische Regierung brachten uns auch um den Besuch vieles Sehenswerthen. Der aus- geprägte Typus des Ganzen machte aber Allen den mächtigsten Ein- druck, man spürt auf Schritt und Tritt den historisch merkwür- digen Boden. Die organische Anlage der Stadt mit ihrer grossen nordsüdlichen Mittelaxe, in welcher die Hauptthore, der kaiserliche Palast und der ihn schirmende Kohlenberg, das Gesicht nach Sü- den gewendet, gleichsam das Reich überschauen, die endlosen breiten Strassen mit dem prächtigen Ornament und dem bunten lebendigen Treiben, die grossen parkartigen Gärten mit ihren Denkmälern und Lusthäusern, ihren lotusbewachsenen Seen, Marmorbrücken und Granitquais, die dunkelen ehrwürdigen Tempel und Klöster, die mächtigen in schönem Ebenmaass der Verhältnisse erbauten Thor- gebäude und die gewaltigen Massen der Ringmauer bilden ein Ganzes von ernster bedeutender Wirkung. Die alte politische Grösse von China , der gebietende Willen des Himmelssohnes sprechen sich wohl nirgend so schlagend aus, wie in der Einheit dieser Anlage, vor Allem in den colossalen einfachen Mauerlinien der Festungs- werke. Doch ist es der düstere Eindruck vergangener Grösse, be- grabener, modernder Gewalt, sonderbar erhöht durch eine dicke Schicht bleichen Staubes, die, fast beständig auf Pe-kiṅ lagernd, den sinkenden Bauten das gespenstisch greisenhafte Ansehn ver- flossenen Daseins giebt. Dr. Lucius machte von Pe-kiṅ aus mit einigen Herren von der russischen Gesandtschaft einen Ausflug nach der grossen chine- sischen Mauer. Sie ritten am 28. September Morgens aus dem west- lichen Nordthor der Tartarenstadt und verfolgten die über hun- dert Schritt breite, mit alten Bäumen gesäumte Kunststrasse, welche von da schnurgrade nach Norden läuft. Karawanen schwer bela- XVII. Dr. Lucius’ Ausflug nach der Grossen Mauer. dener Kameele und Maulthiere mit mongolischen Treibern, lange Züge zweirädriger Karren mit Pferden, Ochsen und Eseln bespannt zeugten vom lebhaften Verkehr der Hauptstadt mit den Gegenden jenseit der Mauer, mit den nomadischen Stämmen des Nordens, die, durch die Grundbedingungen ihres Lebens der chinesischen Cultur fremd, das Reich Jahrtausende hindurch bedrängt, überfluthet und periodisch unterjocht haben. — Tausende von Arbeitern besserten damals unter Aufsicht von Mandarinen die Strasse für den Einzug des jungen Kaisers aus. — Vier Li 14 Li = 1 deutsche Meile. vom Thore passirt man eine breite, etwa 360 Schritt lange, aus colossalen Quadern gefügte Brücke, bis zu welcher sich Reihen von Kaufläden, Schenken und Herbergen erstrecken. Jenseit liegt ein ansehnlicher Flecken; von da läuft die Strasse durch Durra-, Mais-, Bohnen- und Solanum-Felder, die auch hier meist mit Ricinus-Stauden gesäumt sind. Die Ernte war überall im Gange. Etwa 60 Li von Pe-kiṅ führt eine der beschriebenen ähnliche Brücke in die Stadt Tša-kau , und kurz hinter derselben setzt eine eben so gewaltige über ein winziges Flüsschen. Da die Quadern des Pflasters theils auseinandergewichen, theils von fuss- tiefen Wagenspuren durchfurcht sind, so reitet oder fährt man lieber durch den Fluss. — Der ebene sandige Weg läuft immer nördlich auf das Gebirge zu und mündet endlich in eine Thalmulde, wo Mauerreste und alte Thürme stehen; hier wird die Strasse steinig und beginnt zu steigen. Etwa 10 Li weiter und 95 Li von Pe-kiṅ liegt das wenige Häuser zählende Oertchen Nam-kau , wo die Reisenden schliefen. Sie fanden dort, wie in chinesischen Herbergen gewöhnlich, gute Stallung, für sich selbst aber nur die Bequemlichkeit, die sie mit- brachten. Nach einem Ritt von sieben deutschen Meilen fehlt aber weder Appetit noch Schlaf; die Reisenden waren obenein mit allem Nothwendigen und Ueberflüssigen versehen und brachten eine be- hagliche Nacht zu. Von Nam-kau aus pflegt man der schlechten Wege halber Maulthiere zu benutzen, welche den über Kiakta nach Irkutsk gehenden russischen Courieren in vertragsmässig bestimmten Relais gestellt werden. Sie bezahlen nach Gutdünken, je nachdem sie zu- frieden sind. Da aber Dr. Lucius und seine russischen Gefährten nicht in amtlicher Eigenschaft reisten, so suchten die schlauen Chi- nesen das Mögliche zu erpressen; sie forderten 5 und nahmen nach Nam-kau . Tšue-run-kwaṅ . XVII. langem Sträuben 3 Rubel für jedes Maulthier, eine unverständige Summe nach chinesischem Maasstab für den etwa 45 Li weiten Weg nach Tša-tau und zurück. Der Weg führt von Nam-kau aus zunächst durch ein Thor, zu dessen Seiten zerfallene mit Thürmen versehene Mauern die Berge hinansteigen; hier konnte der Pass geschlossen werden. Das Thal verengt sich nun zur Breite von 400 Schritt; die 1200 bis 1800 Fuss hohen Felsgipfel zu beiden Seiten sind kahl, die Hänge nur spärlich mit magerem Grase bewachsen. Mächtige Quadern, die Reste einer alten Kunststrasse, liegen seitwärts vom steilen Wege wild übereinandergewälzt, wie Felstrümmer im Bett eines reissenden Bergstromes. Der steinige Pfad war selbst für die sicheren Maulthiere so schwierig, dass Dr. Lucius die Möglichkeit ihn mit Wagen zu machen trotz den Versicherungen seiner russi- schen Gefährten bezweifelte, bis einige von Fels zu Fels herab- polternde Karren bewiesen, dass chinesischen Fuhrleuten Alles mög- lich ist. Der Hauptverkehr wird aber durch Lastthiere vermittelt; Reisende lassen sich oft in Sänften befördern, die von zwei Maul- thieren getragen werden. Etwa 15 Li von jenem Thore liegt Tšue-run-kwaṅ , jetzt eine einzige Häuserreihe, früher, nach den Trümmern längs der alten Kunststrasse und dem zwei Meilen weiten Umfange der Ring- mauer zu urtheilen, eine ansehnliche Stadt. Die Mauer läuft in weitem Kreise durch das Thal und zu beiden Seiten bis auf die wohl 1800 Fuss hohen Gipfel hinauf, den Pass durch eine doppelte Vertheidigungslinie schliessend. Nach dem Thal zu fällt sie in treppenartigen Stufen ab, auf welchen Tausende von Bogenschützen Platz fanden. — Mitten in der einzigen Strasse steht ein alter stei- nerner Triumphbogen mit Stuck-Reliefs, welche Götter und Helden im Kampf und Sieg über feindliche Dämonen darstellen. Fünf Li von Tšue-run-kwaṅ schneidet der Weg ein kleineres Fort, dessen Ringmauern, etwa eine Stunde im Umkreis, den Pass in ähnlicher Weise doppelt sperren; nur wenige bewohnte Häuser stehen innerhalb. Von da verengt das Thal sich mehr und mehr; der Weg biegt scharf nach Westen um und tritt in die wildeste Felsöde. Hier steht ein Budda-Tempel; in der Felswand öffnet sich etwa 40 Fuss über dem Boden eine Grotte mit hölzernem Ge- länder, zu welcher in das Gestein gesprengte Stufen hinanführen; innen steht ein Budda-Bild; ein im Rufe der Heiligkeit lebender XVII. Die Grosse Mauer. Einsiedler soll dort gehaust haben. — Von diesem Punct erblickte man zuerst auf den Bergrücken die mächtigen Windungen der Grossen Mauer, welche gelb in der Sonne glänzte. Mühsam klim- men die Thiere den steilen Pfad hinan bis zur Passhöhe. Die gut erhaltene Mauer ist hier etwa 30 Fuss hoch, aus Quadern aufgebaut, mit Brustwehren aus grossen Ziegeln nach beiden Seiten. In Zwischenräumen von 300 bis 400 Schritt stehen viereckige Thürme in der Mauer, mit drei Geschützpforten über der Mauerhöhe in jeder der vier Seiten. Grosse Haufen alter eiserner Geschützrohre lagen bei dem Doppelthor des Passes und in den nächsten Thürmen, zu denen bequeme Treppen hinanführen. Verschlüsse fanden sich nirgends; Thore und Thüren standen offen. Bei dem Durchgangsthor stiegen die Reisenden auf die Mauer, welche hier sieben Schritte breit und mit Steinplatten ge- deckt ist; wo diese auseinanderwichen, drang der Regen ein und die Mauer zerfiel; hier gewahrt man, dass nur die äussere Beklei- dung aus Quadern, der Kern aber aus Schutt und Steingeröll be- steht. — Dr. Lucius verfolgte den Mauergang bis zum nächsten Gipfel, fand aber die Steinplatten vom Regen so glatt gewaschen, dass bei den starken Steigungen und Senkungen der allen Terrain- Bewegungen folgenden Mauer stellenweise das Gehen sehr beschwer- lich war. Auf der letzten Strecke zum Gipfel, wo sie einen Hang von über 45 Grad Neigung hinanklimmt, geht der Mauerweg in steile hohe Treppenstufen über. Oben ist eine weite Aussicht. Nach Südosten senkt sich das Thal, durch welches die Reisenden kamen; nach Ost und West überblickt man viele Meilen weit die massigen Werke der Mauer, welche, hier in ein Thal verschwindend, dort über 3000 Fuss hohe Felskuppen klimmend, der Bodengestaltung zu spotten scheint. Oft sind launisch die steilsten Linien, die höchsten Gipfel gewählt, als ob es kein Hinderniss gäbe. Unwillkürlich gemahnt der Bau an den trotzigen Willen des Despoten, der keine Grenze seiner Macht erkennt. So erstreckt sich die Mauer viele hundert Meilen weit und vielfach in doppelter Linie, mit seitlichen Zweigen. Um 214 soll Kaiser Ši-hoaṅ-ti den Bau begonnen haben; spätere Ge- schlechter setzten ihn fort, und dass noch in neuerer Zeit für die Erhaltung gesorgt wurde, beweist der Zustand der Mauer an vielen Stellen. Sie sollte ein Bollwerk der chinesischen Gesittung sein gegen die Eingriffe nordischer Barbaren, ist aber kaum mehr als IV. 11 Die Tartaren und die Mongolen. XVII. ein Symbol der Abwehr und vergegenwärtigt die heutige Krieg- führung der Chinesen, die mit mächtigen Mauerfronten, Tausenden unbrauchbarer Geschütze, mit gewaltigem Knallen, Fahnenschwenken, mit Grimassen und pomphaften Drohungen den Feind in die Flucht zu schlagen denken. Man möchte bezweifeln, dass die Mauer auch nur die räuberischen Streifzüge einzelner Horden hemmte; denn zur Vertheidigung ist sie zu ausgedehnt, unvertheidigt aber bietet sie kein Hinderniss. Weder die Heere der Mongolen im 13. noch die der Tartaren im 17. Jahrhundert hielt die Mauer auf. Schwache chinesische Herrscher haben immer vor diesen nur dem Namen nach tributpflichtigen Nachbarn gezittert, den Frieden erkauft. Das regierende Haus der Tsiṅ ist dem Stamm der Mandschu-Tartaren entsprossen und herrscht über China , weil es sich dessen über- legene Gesittung aneignete; denn die Masse und die Cultur des chinesischen Volkes sind zu bedeutend, um nicht immer wieder eine fremde Gewaltherrschaft abzuschütteln. Die Tsiṅ verbinden sich ihre Stammgenossen durch Verleihung einflussreicher Aemter, zu denen sich der Chinese nur durch angestrengtes Arbeiten empor- schwingen kann, und haben von dieser Seite nichts zu befürchten. Die Mongolenfürsten aber sucht das Kaiserhaus noch heut bestän- dig durch Wechselheirathen an sich zu fesseln, und ruft nur im äussersten Nothfall deren Streitkräfte in das Reich. Unterdessen dringen Chinesen colonisirend immer weiter nach Norden und Westen vor und strecken hundert Fühlfäden über die grosse Mauer hinaus. Wo sie Fuss fassen, überflügelt ihre höhere Gesittung die rohe Einfalt der Nachbarn; die wüste Hochebene Gobi setzt ihnen jedoch eine natürliche Grenze, nicht aber den wilden Nomaden, deren Heimath sie ist. Nur dem Namen nach tributpflichtig, bleiben diese ein drohendes Wettergewölk am Horizont, dessen Schlägen, wenn es sich zusammenballt, das chinesische Reich periodisch immer wieder erliegen muss. Solche Gedanken musste die Aussicht von jenem Gipfel er- wecken. Nach Norden breitet sich am Fuss der steil abfallenden Hänge eine weite grüne Fläche aus, begrenzt durch fernes Ge- birge: das ist der Abhang des unermesslichen Hochlandes Gobi . Am Fusse dieser Terrainstufe liegt Kalgan , der berühmte Sammel- platz der Karawanen aus der Mongolei , aus Tibet und Turkestan . Eine zweite Linie der grossen Mauer säumt, hart hinter Kalgan vorbeistreifend, die Wurzeln des steil ansteigenden trockenen Hoch- XVII. Rückkehr nach Tieṅ-tsin . landes. Dessen Contrast mit der üppig grünen zwischen den beiden Armen der Mauer liegenden Ebene an seinem Fusse soll wunderbar sein. Die Sonne ging den Reisenden in einem Gluthmeer hinter zackigen Gipfeln unter; sie übernachteten im nahgelegenen Tša-tau jenseit der Mauer, bestiegen dieselbe nochmals am folgenden Mor- gen und verfolgten sie eine Strecke in östlicher Richtung. Dann kehrten sie auf dem beschriebenen Wege nach Pe-kiṅ zurück. Die Zeit war in Pe-kiṅ allzuschnell verstrichen. Am 3. Oc- tober Mittags nahmen Graf Eulenburg und seine Begleiter von ihren gütigen Wirthen Abschied und ritten nach Tuṅ-tšau . Das Gepäck war vorausgeschickt und schon in die Boote gestaut; es bedurfte nur noch eines kräftigen Griffes in die Dollars, um welche sich die Bonzen, welche unsere zurückgelassenen Sachen verwahrten, Karren- führer, Packträger und dienstfertige Mandarinen mit löblichem Wetteifer bewarben. Gegen fünf Uhr wurden wir flott; es war ein köstlicher Herbsttag; die anmuthigen Ufer des Pei-ho glänzten in mildem Sonnenschein. Gegen Dunkelwerden versammelte man sich im Speise-Boot; um elf Uhr Abends wurde angelegt und die Nacht über gerastet. Ebenso die folgenden Tage. Die behagliche Ruhe der Flussfahrt mundete köstlich nach dem bewegten vollen Leben in Pe-kiṅ , an dessen Eindrücken wir lange zehrten. Den Fluss belebten viele grosse Dschunken, die Reis und Getreide nach der Hauptstadt brachten. Der Anblick des Landes war sehr verändert; die üppigen Ernten fielen in der Zwischenzeit unter der Sichel des Schnitters, und der Blick schweifte nun unbeschränkt über die flachen Ufer. So wurden viele Dörfer, Tempel und ländliche An- siedlungen sichtbar, welche die funfzehn Fuss hoch wachsende Durra früher versteckte. Wir glitten langsam den Fluss hinab und gelangten am Abend des 4. October nach Ho-si-wu . Den 5. Morgens konnte man bei günstigem Winde Segel spannen und schoss nun pfeil- schnell vorwärts. Mittags erreichten die Boote Yaṅ-tsun ; Abends legten sie bei den Vorstädten von Tien-tsin an. Bei Tagesgrauen benutzten die Schiffer die einsetzende Ebbe zur schnelleren Thal- fahrt, und bald nach sieben grüssten wir heiter und erfrischt die Räume, wo besonders der Gesandte so qualvolle Tage verlebte. 11* XVIII. ABREISE VON TIEN-TSIN . REISE DER ARKONA VON DER PEI-HO-MÜNDUNG NACN NANGASAKI UND HONG-KONG . VOM 7. OCTOBER BIS 11. NOVEMBER 1861. T ien-tsin erschien uns nach den grossartigen Eindrücken von Pe-kiṅ noch unerträglicher, ein Pfuhl von Schmutz und Elend; wir rüsteten schnell zur Abfahrt. Der Aufbruch war allgemein: ein Theil der englischen Garnison segelte schon nach Hong-kong ; Fane’s Reiter schifften sich eben ein; nur ein kleiner Theil der Truppen sollte den Winter über bleiben. Die Rebellen von Šan- tuṅ standen in erschreckender Nähe; man fürchtete das Schlimmste, wenn Tien-tsin von fremden Truppen ganz entblösst würde. Seit dem 3. October lag die Arkona wieder vor der Pei-ho - Mündung . — Am 11. machten der Gesandte und seine Begleiter Tsuṅ-hau ihren letzten Besuch, welchen derselbe am folgenden Tage früh um sechs Uhr erwiederte. Nach herzlichem Abschied von unseren englischen Nachbarn schifften wir uns dann auf dem Kanonenboote Clown ein, das Admiral Sir James Hope dem Ge- sandten zur Verfügung stellte. Der Fluss lag dicht voll Dschunken; ein Boot war vorausgegangen, um den Weg zu bahnen; so eng sich aber die Chinesen zusammendrängten, blieb doch nur ein schmaler Wasserstreifen frei, auf dem der Clown sich wie ein Aal hindurch- wand. Es war ein frischer heiterer Herbstmorgen; durch leichten Nebel goss die Sonne röthliche Strahlen über den dichten Masten- wald mit tausend bunten phantastischen Wimpeln; schläfrig blin- zelten uns die bezopften Schiffer an, die der Clown so früh aus der Ruhe störte. — In freies Wasser gelangt sauste er mit der Ebbe pfeilschnell dahin. Das frohe Bewusstsein, dass wir der Hei- math zueilten, erhöhte den Genuss der Fahrt; die schwerste Arbeit war gethan, in Siam erwartete den Gesandten kein ernster Wider- stand; dem fernsten Ziel der Reise wandten wir den Rücken, jeder Schritt brachte uns jetzt der Heimath näher. XVIII. Die Ta-ku -Forts. Den Pei-ho belebten auf der ganzen Strecke viele Dschunken von den südlichen Küsten, auch siamesische mit Reisladung. Als der Clown Nachmittags die Mündung erreichte, verbot der niedrige Wasserstand die Fahrt über die Barre; erst mit der Fluth am fol- genden Morgen konnte er hinüber. Graf Eulenburg und seine Be- gleiter nahmen deshalb die gastfreie Einladung des englischen Commandanten von Ta-ku , Major Eager und seiner Kameraden vom 31. Regiment an, die Nacht über ihr Quartier im südlichen Aussenfort zu theilen. — Am Nachmittag stattete der Gesandte dem französischen Commandanten Capitän Bourgois einen Be- such im äusseren Nordfort ab, und wurde bei seiner Rückkehr in das englische Quartier mit einem Salut von funfzehn Schüs- sen empfangen, den die über eine Meile entfernte Arkona sofort erwiederte. Zur Besichtigung der historisch merkwürdigen Festen gab es volle Musse. Die Lage ist trostlos eine unabsehbare braune Wüste mit Salzlachen, das flache sumpfige Ufer bespült von trüben Wellen. Kaum eine halbe Stunde flussaufwärts von der Mündung liegt der grosse Flecken Ta-ku , eine lehmgraue Häusermasse. Die Wälle der beiden äusseren unmittelbar an der Flussmündung liegen- den Werke werden bei Hochwasser vom Meere genetzt; zur Zeit der Ebbe bleibt ein breiter Streifen tiefen Schlammes frei, welchen mehrere den Wällen parallele Gräben und zwei Reihen von Wolfs- gruben durchfurchen. Zum Ueberfluss hatten die Chinesen über diesen Strand Tausende eiserner »Krähenfüsse« ausgestreut, welche in jeder Lage eine Spitze nach oben kehren. Die Werke selbst sind ganz aus Lehm und Holz; ein dicker Erdwall mit Zinnen, in welchem gedeckte Kanonenräume liegen, bildet die Enceinte. Im südlichen Aussenfort, dessen Grundriss länglich und unregelmässig ist, läuft auf der Landseite noch ein zweiter etwas höherer Wall, der die Bedienungsmannschaften vor dem Feuer der Schiffe sichern sollte, innerhalb mit der Enceinte parallel. Vier Cavaliere überragen letztere in diesem Fort um das Doppelte; das französische am Nordufer hat deren zwei. Im Innern der Werke stehen Reihen von Lehmhütten gleich umgestürzten Backtrögen, wo die chinesische Besatzung wohnte. Wie weit diese das Vertrauen ihrer Führer genoss beweist das Geständniss eines höheren Officiers, dass die Ta-ku -Werke, welche 1858 und 1859 auf den Flanken und im Rücken offen waren, nicht zur Abwehr Einschiffung. XVIII. des Feindes nachher ringsum geschlossen wurden, sondern um das Ausreissen der eigenen Truppen zu hindern. Der englische Commandant Major Eager hauste mit sieben Officieren und einem Arzt von seinem Regiment nun schon ein Jahr in diesem trostlosen Winkel. Im November friert der Fluss zu, aller Verkehr mit der Rhede muss aufhören; meilenweit schiebt sich der Eisrand in die See hinaus und die Werke liegen in dicke Eismassen eingebettet. So bleibt es bis zum März. Die englische Besatzung hatte sich längs der Wälle Kasematten mit dicken Wän- den gebaut und während des Winters mit den ungeheueren Balken des Gerippes geheizt, welches den Werken Festigkeit verlieh. Noch war reichlicher Vorrath da. — Das Speisezimmer der Officiere prangte mit chinesischen Carricaturen der rothhaarigen Barbaren; Major Eager und seine Kameraden bewirtheten uns dort sehr freundschaftlich, und man konnte nur staunen, wie bequem und angenehm sie sich ihre Verbannung zu machen wussten, wie heiter sie ihr Schicksal trugen. Der Abend verging im traulichen Ge- spräch. Am 13. October Morgens brachte der Clown uns auf die Rhede hinaus. Das englische Fort salutirte nochmals den Ge- sandten und Arkona antwortete; deutlich sah man jeden Schuss, hörte aber des widrigen Windes wegen keinen Laut. Gegen halb elf warf das Kanonenboot bei der Corvette Anker und setzte nach unserer Ausschiffung seine Fahrt nach Tši-fu fort. Capitän Sunde- wall empfing mit sämmtlichen Officieren, Cadetten und Beamten den Gesandten an Deck. Das Schiff war neu gemalt und lag recht stolz im hellen Sonnenschein. Die Mannschaft schien heiter und gesund. — Nah der Arkona ankerte der englische Dampfer Vulcan mit Fane’s Reitern an Bord; ihre Pferde wurden in Tien-tsin ver- kauft. Der Commandeur und einige Officiere sagten dem Gesandten auf der Arkona Lebewohl, in Naṅgasaki sollten wir sie wieder- sehen. — Gegen zwei lichtete Arkona die Anker und umkreiste unter klingendem Spiel den Vulcan; Fane’s dunkele Reiter grüssten mit gellendem Hurra und unser Schiff wandte sich ostwärts, mit leichtem günstigem Wind das gekräuselte Wasser durchfurchend. Das Wetter blieb schön; am 14. October ankerte Arkona um ein Uhr Nachmittags in der Bucht von Tši-fu neben der Elbe, deren Commandant Lieutenant z. S. Werner sofort an Bord des Flaggen- schiffes kam und traurige Dinge berichtete. Die Rebellen waren gegen XVIII. Rebellen vor Tši-fu . Džen-tai Džen-tai heisst die Stadt an der Bucht von Tši-fu . Die Fremden bezeichnen mit letzterem Namen gewöhnlich auch die Stadt. gerückt, dessen Bewohner grossentheils flüchteten, wäh- rend Tausende ausgeraubter Landleute wehklagend in die Stadt zo- gen; es soll ein jammervoller Anblick gewesen sein, wie die Frauen mit verkrüppelten Füssen die steinigen Gebirgspfade herabhink- ten. Die Verwirrung benutzend rotteten sich die Mannschaften süd- chinesischer Dschunken zusammen um die Stadt zu plündern, wurden aber handgemein mit einer anderen Schaar, die wohl dasselbe wollte. Die französischen Truppen, welche Džen-tai vom Kriege her noch besetzt hielten, mussten mit dem Bajonet die Gassen säubern und stiessen viele Chinesen nieder. — Ein englischer und ein america- nischer Missionar, die früher bei den Tae-piṅ gute Aufnahme fanden, gingen den auf Džen-tai rückenden Horden im thörichten Wahn ihres Einflusses entgegen, kehrten aber nicht zurück und wurden sicher erschlagen. Der Bruder des Americaners, der eben zu Lande von Tien-tsin kam, hörte bei Džen-tai von Ermordung zweier Frem- den durch die Banditen, ahnte aber nicht, dass sein Bruder betroffen sei. Die Frauen der beiden Missionare und andere Ansiedler flüch- teten auf die fremden Schiffe. — Am 9. October zeigten sich die Rebellen sämmtlich beritten auf den Džen-tai umschliessenden Höhen. Eine Bombe vom englischen Kanonenboot Drake, die unter ihnen platzte, schlug die ganze Horde in die Flucht; sie hielten jedoch, wie man glaubte, etwa 3000 Mann stark die Stadt in weitem Kreise umstellt. — Inzwischen war Contre-Admiral Protet aus Shang-hae eingetroffen und kurz vor unserer Ankunft mit 500 Mann landeinwärts marschirt, um sie zu züchtigen. Die Bestürzung in Džen-tai hemmte jeden Verkehr; Arkona konnte sich weder mit Wasser noch mit frischem Proviant versehen. Da nun deutsche Interessen dort nicht zu vertreten waren, so be- schlossen der Gesandte und Capitän Sundewall , die Reise noch an demselben Abend fortzusetzen. An der Elbe hatte sich plötzlich ein schlimmes Leck gezeigt; Commandant Werner erhielt den Befehl, nach thunlicher Verstopfung desselben direct nach Hong-kong zu segeln, wo das Schiff gründlich ausgebessert werden sollte. Arkona nahm den Cours auf Naṅgasaki . Die Reise nach Japan wurde aus triftigen Gründen beschlos- sen. Einmal ist der Aufenthalt in Siam auch im Spätherbst noch ungesund und den Schiffsmannschaften oft verderblich; dann waren Abfahrt von Tši-fu . XVIII. unsere Kräfte durch die Qualen in Tien-tsin so gänzlich erschöpft, dass dem Aufenthalt im tropischen Baṅkok nothwendig eine Er- frischung vorausgehen musste. Das Klima von Siam ist erschlaffend, wir konnten ihm nicht sogleich die nöthige Spannkraft entgegentra- gen. Zudem hatte der Südwest-Monsun noch nicht umgesetzt; es war die Zeit der wechselnden Winde, in welche die heftigsten Wirbelstürme fallen; erst mit dem Nordost-Monsun konnte die weite Strecke nach Hong-kong schnell und sicher zurückgelegt werden. Lebensmittel und Wasser hatte die Arkona in Tši-fu nicht erhalten, wie Capitän Sundewall sicher erwartete; und da die Elbe ihres Leckes wegen nicht nach Naṅgasaki dirigirt werden konnte, so musste Arkona dort auch mit den für die ferneren Reisen erforderlichen Kohlen und mit Holz für den Schiffsbedarf versehen werden. Bei hellem Vollmond dampfte Arkona am 14. October in die spiegelglatte See hinaus. Wir machten die Nacht über schnelle Fahrt, passirten bei Morgengrauen Cap Šan-tuṅ und genossen den ganzen Tag des herrlichsten Wetters. Während in Tien-tsin und Pe-kiṅ die Nächte schon kühl waren wehte hier milder Sommer- wind. Pfeilschnell furchte das Schiff die dunkelblaue Fluth, und mit Lust athmete man nach den dicken staubigen Dünsten der chi- nesischen Städte die reine erquickende Seeluft. — Um sieben Uhr Abends musste am 15. October die Schraube ausgehoben werden, weil die Lager zu heiss wurden; nach Ersetzung des geschmolzenen Antimons wurde sie um halb vier Uhr Morgens wieder in Gang gebracht; gegen sieben erhob sich frischer Nordostwind, so dass das Schiff unter Segel Cours halten konnte. In der Nacht zum 17. October passirten wir Alceste-Eiland . Am frühen Morgen wurde der Wind stärker, starb aber gegen acht Uhr gänzlich fort. Einer starken Dünung preisgegeben, gegen welche die Schraube nicht wirken konnte, trieben wir nun unter der grossen Insel Quel- part nach Süden, ohne dem Ziele näher zu kommen. Die Kreuzung der Wellen aus Nordost und Nordwest erzeugte den hässlichsten Seegang. Am 18. October sprang wieder Nordostwind auf; das Schiff wurde hart an den Wind gebracht, konnte aber doch nicht Cours halten und trieb noch weiter südlich; es schaukelte auf den mächtigen Wogen, dass man kaum stehen konnte. Alles was nicht niet- und nagelfest war, taumelte in den Kajüten unverständig durch- einander, und als das Musikcorps zur Feier des doppelt festlichen XVIII. Irrfahrt. Tages eine Auswahl vaterländischer Stücke vortrug, wich mancher Trompetenton krächzend aus der Lage. — Abends halsten wir nach N. N. W., das Gesicht wieder gegen China wendend; in der Nacht schlängerte das Schiff unbändig. Am 19. October wurde es ruhiger. Als gegen Mittag die Meaksima -Gruppe in Sicht kam, konnte man die Schraube nieder- lassen und auf die japanische Küste losdampfen. Nach fünf befan- den wir uns bei jener Inselgruppe, die, von schroffen Klippen um- geben, aus den Fluthen zu steiler Höhe aufsteigt. Den Abend beschien ein glänzender Mond; nur spät und ungern suchte man den Schlaf. Am Morgen des 20. October lag die japanische Küste in voller Herrlichkeit vor uns. Die Ortsbestimmungen waren unsicher; Capitän Sundewall glaubte, das Schiff sei in der Nacht noch süd- lich getrieben, dann musste der Rechnung nach unser Ziel weiter nördlich liegen; dahin wurde der Cours gerichtet. Nun fuhren wir die Küste hinauf, an Klippen, Inseln und Vorgebirgen vorüber, und sahen lauter Ufergebilde, denen von Naṅgasaki ähnlich, konnten aber den Eingang der Bucht nicht finden. Ueberall waren die Hänge angebaut; der aufsteigende Rauch verrieth die Lage vieler Dörfer in den enggeschlossenen Buchten, aus welchen zahllose Dschunken hervorschwärmten. Die Küste wurde immer fremder, aber erst die Mittagsobservation bewies mit Sicherheit, dass wir zu nördlich und Morgens in der Dämmerung Naṅgasaki vorbeigesteuert waren. Sofort liess Capitän Sundewall wenden und setzte alle Segel, unter denen das Schiff bei leichter Brise mit Hülfe der kräftigen Maschine die Bucht noch beim letzten Tageslicht erreichte. Auch jetzt erkannte man den Eingang nur mit Hülfe der genauen beim ersten Besuche gemachten Zeichnung. Arkona war nicht das erste und wird nicht das letzte Schiff sein, das dieses Schicksal hat. Capitän Krusenstern kreuzte eine volle Woche, bis er die Einfahrt fand; ähnlich soll es Vielen ergangen sein. — Morgens als wir vor- überfuhren signalisirte den Bewohnern von Naṅgasaki ein Kanonen- schuss des Observationspostens das Nahen eines Kriegsschiffes, und man war dort befremdet, dass keines einlief. Die hohen Küsten lagen im Dämmerschein und es wurde ganz dunkel, während wir die lange Bai hinaufdampften; um halb sieben ankerte das Schiff in ihrem hintersten Winkel. Der Mond ging eben zwischen Wolken auf in unbeschreiblicher Pracht. Am Naṅgasaki . XVIII. Ufer blinkte Licht an Licht, eine stattliche Lampenreihe bezeichnete die neue Ansiedlung der Fremden. Vom nahen Felsufer zur Linken spiegelten sich dunkele Tannen, ringsumher lagen viele Dschunken von zauberischem Mondlicht übergossen. — Noch am Abend kamen alte Bekannte aus Desima herübergerudert. Der Eindruck von Naṅgasaki war nach der langen Mühsal in China , wo nur der Ausflug nach Pe-kiṅ einen Lichtpunkt bildete, noch mächtiger als im Februar, da wir nach stürmischer Seefahrt die frühlingsgrünen Gestade grüssten. Voller und üppiger prangte jetzt die Pflanzendecke, dichter und dunkeler das Laubdach der schirmenden Wipfel, nicht versengt, wie sonst in gleichen Breiten, von Sommersonnengluth, sondern in strotzender Kraft der Entfaltung. Denn hier regnet es in den heissen Monaten, die Hitze ist feucht wie in den Tropen. Der niederländische General-Consul Herr de Witt war kurz vor unserer Ankunft von Yokuhama zurückgekehrt; seiner gastfreien Einladung folgend nahmen der Gesandte und der Attaché Graf zu Eulenburg in seinem Hause auf Desima Wohnung, während die anderen Passagiere der Arkona bei ihren alten Bekannten freundliche Aufnahme fanden. Fast heimathlich lachte uns auch das japanische Volksleben an; nach den selbstzufriedenen, fertigen, trockenen, stumpfen Chinesen, nach dem Staub und Schmutz und den fauligen Dünsten ihrer verfallenen Städte war das kluge, frische, aufgeweckte Wesen des frohen, thätigen Japaners, war die Erhaltung, Ordnung und Sauberkeit bis in die innersten Winkel der japanischen Häuser und Tempel eine rechte Erquickung. Man wandelte mit Lust durch die Strassen. Die anständige Höflichkeit, die gute Laune und Auf- merksamkeit, die ausgesuchte Reinlichkeit des Körpers und der Wohnung auch bei den ärmeren Volksclassen machen den ange- nehmsten Eindruck. Da sieht man kein zerbrochenes Geräth, keine beschmutzten Wände oder zerrissenen Fensterscheiben; auch im ärmlichen Haushalt ist Alles nett und ordentlich, ja ohne Vergleich besser und reinlicher gehalten als bei uns unter gleichen Verhält- nissen. Man kann sich der Achtung vor einer Cultur nicht erweh- ren, die dem Volke solche Tüchtigkeit, solches Pflichtgefühl eingeimpft hat. Besonders fiel uns nach dem mumienhaft gleich- artigen Wesen aller Chinesen aus dem Volke die individuelle Ent- wickelung der Japaner und die höhere lebendige Gesittung auf, die XVIII. Umgebung. aus dem häuslichen und bürgerlichen Leben spricht. Die Frauen und Mädchen jeden Alters bewegen sich in den Häusern, auf den Strassen bei der grössten Decenz mit unbefangener Frei- heit; da ist keine Spur von Prüderie und angewöhnter Zurückhal- tung, die versteckte Rohheit, Gefährdung des Anstandes und der guten Sitte verriethe. Die Kinder sind lustig, aufgeweckt und wohl- erzogen, unter liebreicher Obhut ihrer Eltern oder erwachsener Ge- schwister. Unter den älteren Leuten aus dem Volke fällt die grosse Anzahl gutartiger, angenehmer Physiognomieen von ausgeprägter Eigenthümlichkeit, der Ausdruck ernsten Wohlwollens und freund- licher Herzensgüte auf, der von würdig vollbrachtem Leben und innerer Befriedigung, oft auch von tief empfundenen individuellen Schicksalen redet. Trotz allen Auswüchsen muss diese Gesittung auf den gesunden Grundlagen reiner Menschlichkeit fussen; der Heroismus der Liebe, Freundschaft, des Ehr- und Pflichtgefühls ist bei den Japanern bis zur Entartung ausgebildet; selbst ihre alten politischen Einrichtungen beruhen doch bei aller Verdorben- heit auf der natürlichsten Basis der menschlichen Gesellschaft, dem patriarchalischen Leben, dessen Ausartung sich in der ganzen Welt als Feudalismus documentirt. Man verzeihe dem Verfasser diese Abschweifung, zu der ihn die Erinnerung an die frohen Tage in Naṅgasaki hinreisst; man verzeihe auch, wenn hier nochmals die landschaftliche Schönheit dieses gesegneten Erdenwinkels gepriesen wird, deren Andenken ihm seine unter dem Zauber der Gegenwart geschriebenen Briefe erwecken. Bei der köstlichen Herbstluft war es ein Hochgenuss, auf den die Stadt umkränzenden Höhen, auf den Friedhöfen her- umzustreifen, welche die Abhänge überall bedecken, wo neben riesigen Kiefern, Cryptomerien, Taxus, Podocarpus und Lebens- bäumen der dunkele dichtbelaubte Kampherbaum, zartgefiederte Bambus, zierliche Palmen, Cicadeen, Bananen und andere Tropen- bewohner grünen, wo saftige Moose und Farrenkräuter zwischen tausenderlei Gesträuch den Boden mit schwellendem Teppich be- decken und der Epheu voll und üppig in die Wipfel steigt. Auf breiten Terrassen thronen Tempel von ernstem würdigem Ansehn. Ihre Färbung ist tief gesättigt, in voller Harmonie mit der Umgebung, das Holzwerk rothbraun, bis in das Schwarze ver- tieft, mit Broncebeschlägen von schöner Patina, die Dächer schwärz- lich grau. Zahllose Grabsteine bedecken die Tempelterrassen und Friedhöfe. XVIII. bis hoch auf den Berg die schattigen Hänge. Unter breiten schir- menden Wipfeln kauern die malerischen Häuschen der Todten- gräber, mit steinbeschwertem Schindeldach, wie in deutschen Ge- birgen, und von wucherndem Epheu umklammert. Selbst grössere Denkmäler überzieht die feuchte Frische dieser Hänge bald mit üppigem Grün. Schwache Versuche der Darstellung dieser Landschaften finden sich im II. Bande dieses Werkes und im V. Heft der Ansichten aus Japan , China und Siam . — Da lagerte man im köstlichen Schatten mit dem Blick auf die Stadt und die herrliche Bai, wo in jedem Winkel Tempel und Dörfchen aus dunkelen Büschen vorlugen, auf steile Felsgestade, stille Buchten und ferne bewaldete Kämme; nur die höchsten Kuppen sind kahl und mit zackigen Klippen bekrönt. — Wunderschön bauen sich die hochgelegenen Friedhöfe über mäch- tigen Strebemauern auf, wo ein lichter Wald riesiger Kampherbäume die bemoosten von Erdbeben übereinandergestürzten Steine schirmt. Auch hier begegnet man Wanderern; denn der Japaner liebt die Natur ganz wie wir und ergeht sich an schönen Tagen gern mit Weib und Kind auf den alten Todtenäckern. Oft begegnete es dem Verfasser, dass feingekleidete Männer aus dem Bürgerstande ihn dort freundlich anredeten, bei der Hand fassten und eine Weile neben ihm hergingen; nur wenige Worte waren ihm verständlich, aber die innige Freude an der Natur und am Mitgenuss eines Gleich- gestimmten sprach unzweideutig aus jeder Gebehrde. Die Frau und Tochter des Lustwandelnden folgten dann etwa in heiterem Ge- spräch und wurden oft durch einen Scherz in die Unterhaltung ge- zogen. Ihr Wesen zeugte von innigem Familienglück, dem zartesten Freundschaftsverhältniss und derjenigen Freude an der landschaft- lichen Natur, welche überall nur in höherer Gesittung wurzelt. Die Pietät des Japaners für die Gräber seiner Lieben wird mit Recht gerühmt, selbst vor alten bemoosten Steinen sieht man frisches Grün und Blumen. Oft belauschte ich an den einsamsten Stellen Leute aus dem Volk, die in langem stillem Gebet vor den Gräbern knieten. Eine hübsche junge Frau stellte niedliches Spiel- zeug bei der Ruhestätte ihres Kindes auf und schied mit thränen- schwerem Blick. Das Gewand der Leidtragenden ist weiss wie in China ; die leuchtenden Frauengestalten erscheinen im dunkelen Schattengrün zwischen den grauen Denksteinen wandelnd oft wun- dersam gespenstisch. XVIII. Ausflug. Zu weiteren Ausflügen bietet die Umgebung von Naṅgasaki reizende Gelegenheit. So führt am Nordufer der Bai von der Maschinenfabrik des Fürsten von Fizen ein Pfad über den schma- len Gebirgskamm, auf welchem in kaum einer Stunde die jenseitige Bucht zu erreichen ist. Die umkränzenden Felsgestade fallen dort nördlich zu einer Landzunge ab, auf der ein Städtchen in’s Meer hinausspringt; dahinter bauen sich schöngeschnittene Massen auf. — Wo der Pfad das Ufer erreicht, fliesst ein murmelndes Ge- wässer in die klare Meeresfluth, deren blinkende Wellchen sacht und heimlich auf dem weissen Sande plätschern. Schwarze Boote liegen am Strand. Weiterhin steigt das Ufer in steiler Böschung auf, einzelne Klippen vorschiebend, deren grauweisses Gestein mit dem Saftgrün der bewachsenen Hänge reizend contrastirt. — Es war Abend. Leiser Hauch zitterte auf der spiegelnden See; die Sonne vergoldete die Camelien- und Lorbeergebüsche, die pinienartigen Kiefern der Höhen. Den Strand mit den dunkelen Booten deckten schon kalte tiefe Schatten; höher und höher stieg der Abend die Berge hinan. Herbstliche Kühle lagerte auf dem dunkelen Wald- weg, der mich erst nach dem letzten Verglimmen des Tages wieder über das Gebirge führte. Wir lebten auf Desima herrlich und in Freuden. Nur der Gesandte hatte Arbeiten zu vollenden, zu welchen in Pe-kiṅ die Musse fehlte. Wir anderen verbrachten beim herrlichsten Wetter den Tag meist im Freien und sammelten den löblichsten Hunger für das opulente Diner unserer gastfreien Wirthe. Bis in die späte Nacht sass man in traulichem Gespräch auf dem Altan mit dem Blick auf das Meer, dessen mondbeglänzte Stille zuweilen ein knarrendes Ruder störte. Silberne Furchen zogen die Boote auf der glatten die Gestirne spiegelnden Fläche. Herr de Witt wusste viel Anziehendes von seiner Reise nach Yeddo zu erzählen, die er von Naṅgasaki aus zu Lande mit dem englischen Gesandten Herrn Alcock machte. Nur zufälliger Um- stände wegen blieb er in Yokuhama zurück, während Herr Alcock direct nach Yeddo reiste und in der folgenden Nacht überfallen wurde. S. Bd. II., 253. Auch ein Angriff auf Herrn de Witt soll vorbereitet ge- wesen sein, der deshalb in Yokuhama blieb und erst kurz vor der Abreise auf dringendes Ersuchen der japanischen Regierung nach Yeddo kam. Dort wohnte damals in Akabane Herr von Fane’s Reiter. XVIII. Siebold , den die Regierung des Taikun als Rathgeber berufen hatte. Herr von Siebold sollte auch für Japan die Verhandlungen mit den fremden Gesandten leiten, die sich aber weigerten, denselben in amtlicher Eigenschaft zu empfangen. Sehr bezeichnend für die Schlauheit der japanischen Beamten war folgender Zwischenfall. Auf ihrer Reise nach Yeddo kamen die beiden Diplomaten an den Ort, wo das Gepäck der nach ihren Gütern reisenden Daimio ’s untersucht wird, die bekanntlich keine Frauen mitführen dürfen. Hier sollten nach dem Ansinnen der Yakunine Alle von den Pferden steigen und entblössten Hauptes einzeln an der Wache vorübergehen; nur die Gesandten dürften ihres hohen Ranges wegen die Mützen aufbehalten. Die Diplomaten verwahrten sich dagegen im Voraus und die Yakunine schienen nachzugeben. Nah bei dem Fluss, an dessen Ufer jene Wache postirt ist, baten sie nun die Gesandten zu kurzer Rast in ein Theehaus einzutreten, bis die Boote zur Ueberfahrt bereit gestellt wären. Herr de Witt sah bald darauf vor die Thür tretend, dass alle Pferde abgesattelt, die Sättel und Zäume aber verschwunden waren, und die Yakunine erklärten ganz unschuldig, das sei zu schnellerer Beförderung geschehen, die kurze Strecke bis zu den Booten könne man wohl zu Fuss gehn. Natürlich liessen sich die Herren nicht überlisten und setzten ihren Willen durch; so albern diese Dinge an und für sich scheinen, so kann doch ohne wesent- lichen Schaden kein Pünctchen nachgegeben werden; denn es han- delt sich immer darum, die Fremden in den Augen des Volkes herabzuwürdigen. Am 23. October kam unerwartet der Vulcan mit Fane’s Re- giment; das Schiff hatte einen Sturm bestanden und lief Naṅga- saki an um Kohlen zu laden. Die indischen Reiter fanden grosses Gefallen an Japan und konnten nicht begreifen, dass England es nicht nähme. — Am folgenden Tage lief auch das englische Kriegs- schiff Centaur ein, das achtzehn Train-Soldaten mit Pferden und Ausrüstung zu Bewachung der Gesandtschaft in Yeddo brachte. Am 25. October besuchten der Gesandte und Capitän Sunde- wall mit den Attachés und einigen Officieren der Arkona den neuen Gouverneur, Takahasi Mimasaka no Kami . Okabe Suruṅga no Kami , den wir im Februar kennen lernten, war vor Kurzem abgelöst worden, verweilte aber zu Ueberleitung der Geschäfte noch in Naṅgasaki . Takahasi empfing seine Gäste mit der gewohn- XVIII. Gouverneur Takahasi . ten Artigkeit vornehmer Japaner; auf der einen Seite des Zimmers nahmen die Deutschen, auf der anderen der Gouverneur und sein Gefolge Platz. Die Tische füllten sich mit Theeschalen, Saki - Gläsern und buntem Zuckerwerk. Takahasi , ein ältlicher Herr mit gutmüthigem Gesicht, entwickelte eine Kenntniss der Zeit- geschichte, die wir weder in China noch in Yeddo bei den höchsten Staatsbeamten fanden: er fragte nach den Rebellen von Šan-tuṅ und von Nan-kiṅ , nach dem americanischen Krieg, dem Suez- Canal , dem Isthmus von Panama , ja nach der Bedeutung eines »in der Nähe von Australien « geführten Krieges; — er meinte den neuseeländischen. Die genaue Auskunft, die er auf Befragen des Gesandten über die an den preussischen Vertragsverhandlungen be- theiligt gewesenen Bunyo ’s ertheilte, bewies die Unwahrheit eines früheren Gerüchtes, dass sie sämmtlich das Harakiri vollzogen hätten: Sakai bekleide noch sein früheres Amt, Muragaki den Gouverneur-Posten in Hakodade . Graf Eulenburg bat Taka- hasi , nach Yeddo zu melden, dass er die amtliche Benachrichtigung der japanischen Regierung über die nach den europäischen Staaten gehende Gesandtschaft in Tien-tsin empfangen und darüber an den preussischen Minister des Auswärtigen berichtet habe. — Der Gouverneur versprach, den Gesandten auf der Arkona zu be- suchen. Am 27. October veranstalteten die deutschen und die hollän- dischen Bewohner von Desima ein Fest auf dem 1200 Fuss hohen Berge Kompira östlich von Naṅgasaki und luden dazu den Ge- sandten, seine Begleiter und die Officiercorps der Arkona und der holländischen Kriegsbrigg Cachelot ein. Gegen zehn Uhr Mor- gens versammelten wir uns auf Desima und stiegen mit dem Musikcorps der Arkona zunächst die östlich von der Stadt gele- genen Friedhöfe hinan, von wo ein gepflasterter Weg durch ter- rassenförmig angebautes Land bequem weiter hinaufführt. Die Bucht lag in ihrer ganzen Länge zu unseren Füssen; mit jedem Schritt wurde der Blick nach Westen herrlicher, Vorgebirge ent- faltet sich auf Vorgebirge und die Meereslinie steigt immer höher. In einem Tempel auf dem zweiten Drittel der Höhe war ein Imbiss bereitet, uns für den steilen Marsch auf den Gipfel zu stärken. Hier sieht schon die Bai von Mogi mit dem 7000 Fuss hohen Wuntsen-take über den Bergrücken südlich. — Der Weg wird beschwerlicher und die Octobersonne brannte noch heftig; aber Der Kompira . XVIII. die Aussicht lohnte reichlich alle Mühe. Den Gipfel bilden steile Klippen; die Abhänge darunter sind namentlich nach Osten mit dichtem Waldgebüsch bewachsen. Westlich steht unter der Fels- kuppe ein aus roh behauenen Steinschwellen aufgebautes Tempel- chen, und rings auf den Klippen thronen Diminutiv-Götzen, welche unsere ausgelassenen Cadetten sämmtlich umdrehten, damit sie die Aussicht genössen. Wir lagerten auf der schmalen Kuppe, angehaucht von würziger Bergluft. Nur im Steigen drückend schien uns die Sonne jetzt milde und angenehm. Die neue Aussicht nach Osten erschloss sich erst auf dem Gipfel überraschend und herrlich: über dicht- bewaldete Berge und Thäler schweift der Blick nach der fernen Bucht von Omura . Südwestlich Naṅgasaki mit der vielarmigen Bai, am westlichen Horizonte schwimmend die lange Reihe der Gotto -Inseln , im Südosten der Golf von Arima mit der Halbinsel Simabara . Gesäumt von tausend Inseln und Klippen streckt das Land überall lange Arme in die See hinaus. Zwischen den Wald- gebirgen liegen fruchtbare Thäler eingebettet, der Landbau steigt in zahllosen Terrassen die Hänge hinan; von der glänzenden Meeres- fläche gleitet der Blick in tiefgeschnittene stille Buchten oder schweift von Gipfel zu Gipfel in duftige Ferne. In jenem Tempel, wo wir frühstückten, erwartete die Zurück- kehrenden eine leckere Mahlzeit. Das Musikcorps der Arkona spielte im Garten; in zahlreichen Trinksprüchen ergin sich der Dank der Gäste gegen ihre liebenswürdigen Wirthe, denen sie wie- der einen heiteren genussreichen Tag schuldeten. Zur Heimkehr schlugen wir einen anderen, schöneren Weg ein, und der Abend vereinigte Alle bei dem niederländischen Vice-Consul Herrn Met- mann , wo weiter getafelt wurde. Die ausgelassene Lustigkeit be- mächtigte sich auch unserer Musiker, die womöglich Jeder ein an- deres Stück in der eigenen Tonart blasen wollten, so dass der treffliche Kapellmeister, den seine müden Beine kaum noch trugen, oft ganz zwecklos in der Luft herumtactirte. Am 29. October wurde der Geburtstag Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Adalbert durch ein Diner an Bord der Arkona gefeiert. Für den 30. October hatte der Commandant des Cachelot, Capitän van Gogh , eine Bootsfahrt nach der zwischen Papen-Eiland und dem Festlande gelegenen Ratteninsel veranstaltet. Obwohl es XVIII. Takahasi . in der Nacht stark geregnet hatte und noch keineswegs hell wurde, vertraute sich die eingeladene Gesellschaft doch Morgens den Booten der beiden Kriegsschiffe an. Graue Wolken verhüllten den Gipfel. — Auf der Spitze der kleinen Ratteninsel war ein Zelt auf- geschlagen, aus dem die Gesellschaft alsbald durch heftige Güsse vertrieben wurde; man setzte nach einem bewohnten Inselchen über und suchte Schutz im Hause des Ortsvorstehers, wo mit der bei verregneten Landparthieen üblichen heiteren Laune gefrühstückt wurde. Unsere Musik lockte das ganze Dörfchen herbei; Einer nach dem Anderen schlich sich ein, bis das Haus gepfropft voll Japaner war. Unterdessen goss es sachte weiter, man kehrte schon früh nach Desima zurück. Am Vormittag des 31. October machte der Gouverneur Takahasi mit seinem O- metske , dem Vice-Gouverneur und grossem Gefolge einen Besuch an Bord der Arkona. Capitän Sunde- wall führte ihn nach der Begrüssung im Schiffe herum und liess die Seesoldaten einige Exercitien machen. Einem jungen Samrai , welcher begonnen hatte, bei einem deutschen Kaufmann unsere Sprache zu lernen um sich als Dolmetscher auszubilden, war er- laubt worden an Bord zu kommen. Er bedurfte zum Eintritt in den Dolmetscherdienst der Gunst des Gouverneurs, dem er jetzt am Boden liegend seine Wünsche demüthig vortrug. Taka- hasi gab gütigen Bescheid. Beim Frühstück in der Kajüte zeigte sich derselbe sehr aufgeräumt und sprach ganz männlich dem Cham- pagner zu; beim Abschied erklärte er lachend, dass er noch etwas auf Deck herumwandeln müsse um mit Sicherheit die Schiffstreppe hinabzusteigen. Nach einem Tempelchen, dessen Lage in dichtbewachsener Felsschlucht uns beim Vorbeifahren oft gelockt hatte, unternahm Graf Eulenburg mit einigen Begleitern am Nachmittag des 1. No- vember eine Bootsfahrt. Gegen zwanzig rothgestrichene Holz- pförtchen schmücken den kurzen steilen Weg vom Ufer bis zur Ca- pelle, in der rohe Bildwerke von Füchsen und Pferden stehen. Im Fuchs, Inari , ist nach dem japanischen Volksglauben ein Dämon verkörpert, dem alles mögliche Unheil, aber auch wohlthätige Ein- wirkungen auf die Schicksale der Menschen angedichtet werden. Der Glauben an seine bezaubernde Kraft ist allgemein auch bei gebildeten Japanern eingewurzelt. — Von dem Fuchstempel fuhren wir nach dem südöstlichen Ufer der Bai, wo sich aus der Ab- IV. 12 Hospital. Fest. XVIII. wechselung von Ackerland, Wald und Fels die reizendsten Land- schaften combiniren, und kehrten zu Fuss über die Hügel nach Desima zurück. Der holländische Arzt Dr. Pompe van Meerdervort , welchen die japanische Regierung zu Ausbildung junger Mediciner nach Naṅgasaki berufen hatte, führte den Gesandten am 2. November in das von ihm auf Staatskosten eingerichtete Hospital. Erst vor Kurzem vollendet barg es noch wenige Kranke; die grossen luftigen Räume, die gesunde Lage und die treffliche Eintheilung machten den vortheilhaftesten Eindruck. Die Schüler des Dr. Pompe , an deren Spitze noch immer Matsmoto stand, sollten die ärztliche Bildung weiter über das Land verbreiten und auch an anderen Orten ähnliche Anstalten gründen. — Der Abend dieses Tages vereinigte einen Theil der europäischen Gesellschaft am Tisch des Gesandten auf der Arkona. Die Batterie wurde mit Hunderten ja- panischer Laternen erhellt: Graf Eulenburg hatte die Mannschaft zur Nachfeier des mit China geschlossenen Vertrages auf eine Punschbowle eingeladen. Die Officiere und einige Freunde aus De- sima nahmen Theil an der Lustigkeit der Matrosen, die zu den Klängen der Musik bis spät in die Nacht hinein tanzten. Am 3. November lief ein Dampfer des Fürsten Fizen , ganz von Japanern geleitet, in Naṅgasaki ein. Der Dienst an Bord war durchaus europäisch organisirt, die Mannschaft gleichförmig blau gekleidet, mit geflochtenen Helmen als Kopfbedeckung. Auf der Commandobrücke und an Deck standen Posten, welche ihren Vor- gesetzten und den fremden Officieren die militärischen Honneurs machten. Man fand das mit 8 Geschützen armirte Schiff in der besten Ordnung; der Fürst benutzte dasselbe nur zu Handels- zwecken. Die Dampfschiffahrt hat sich seitdem in Japan ganz ein- gebürgert. Schon damals kauften die Japaner zu den höchsten Preisen so viel fremde Dampfer als nur aufzutreiben waren, und machten noch manche bittere Erfahrung. — Auf der Werft von Naṅgasaki wurde damals an einem Dampfschiff für die Regierung gearbeitet. Der Handel lag in Naṅgasaki , nach den Klagen der Kauf- leute zu urtheilen, ganz danieder; einige wollten sogar nach den Häfen am Yaṅ-tse-kiaṅ übersiedeln. Unterdessen hatte der Bau des neuen Fremdenquartiers hübsche Fortschritte gemacht; der XVIII. Fahrt nach Hong-kong . Quai und mehrere Häuser waren vollendet, viele andere im Bau begriffen, die Strassen breit und regelmässig. — Die Consuln be- wohnten meist reizende in Cameliengebüsch eingebettete Häuschen und Tempel an den auf die Ansiedlung blickenden Hängen. Vor dem Abschied von Naṅgasaki lud die Mannschaft der Arkona die ganze europäische Gesellschaft zu einer theatralischen Vorstellung. Die Bühne war in der Batterie eingerichtet und mit Flaggen verhängt. Einzelne Scenen aus Berliner Localpossen wur- den mit viel Humor aufgeführt; die Couplets waren voll treffender Anzüglichkeiten. In später Nacht kehrten die Gäste am 4. Novbr. mit herzlichem Lebewohl an das Land zurück. Am 5. November früh dampfte Arkona zur Bucht hinaus. Im offenen Meer wurden Segel gesetzt; der Wind starb aber fort und wir kamen wenig vorwärts. In der Nacht zum 6. begann es aus Nordost zu blasen, so stätig, dass wir den Monsun bald merkten. Die Luft war frisch, das Meer stark bewegt; zuweilen schlug eine See in die Batterie; bei einer Fahrt von zehn Knoten lässt man sich gern ein Sturzbad gefallen. So blieb es die folgenden Tage. Am 9., als wir in die Fu-kian -Strasse liefen, erstarkte der Wind fast zum Sturme. Unter dichtgerefften Marssegeln schoss Arkona vor dem unbändig anstürmenden Nordost wie ein Pfeil durch die Wogen; ächzend und stöhnend wühlte sich ihr Bug in die schäu- mende schwarzblaue Fluth. Die Luft war trübe und winterlich rauh, die Küste in dicken Dunst gehüllt, — anders als im August 1860, da die Thetis hier kreuzte. Damals lag das Meer todtenstill in der blitzenden Sonnengluth, nicht zu bergen wusste man sich vor sengendem Glanz; die Segel klappten träge an die Masten; an den Küsten schimmerten hohe Pagoden, es wimmelte von Fischern und Piraten. Am 10. November wehte es mässiger, doch immer frisch und günstig. Wir steuerten mehr westlich und sahen Vormittags den Eingang der Bucht von Swa-tau , wo das bessere Wetter eben eine Flotte von Dschunken herauslockte. Bald war der Horizont mit Segeln wie besät. Dem Lande näher kommend umschifften wir manches Vorgebirge und nahmen bald einen Lootsen an Bord, der sehr gut Bescheid wusste, durch seine affenähnliche Gestalt 12* Die Lyemoon-Passage . XVIII. aber grosse Heiterkeit erregte. Der Hang zur Lustigkeit war all- gemein. Hinter uns lagen schwere Zeiten, und eine schnelle glückliche Seefahrt wirkt immer erfrischend, doppelt aber, wenn sie heimwärts führt. — Der Gesandte versammelte an seiner Tafel einige Gäste; grade beim Essen schaukelte das Schiff so verkehrt, dass sich Flaschen und Gläser eine blutige Schlacht lieferten. In der Nacht zum 11. November rannten wir, der Küste nahend, unter queergebrasstem Grossmarssegel vor dem Winde her. Die Angaben des Lootsen stimmten genau zur Berechnung; in dunkeler Nacht fand das gute Schiff seinen Weg in die schmale gewundene Meerenge, den kürzesten Weg nach Hong-kong hinein. Gegen vier Uhr Morgens wurde Dampf gemacht, um durch die » Lyemoon-Passage « zu laufen, die an einer Stelle nur 200 Schritte breit ist. — Immer näher tauchten die hohen Felsküsten aus der schwarzen Dämmerung; kahle Riffe und Klippeninseln säumten den Weg. Bei Morgengrauen quollen kanonengespickte Dschunken aus den vielen Engen hervor; hier grüsst der Pirat den Piraten. Oft hört man in Hong-kong den Kanonendonner, wenn sie sich zwischen den Inseln schlagen. Die Oertlichkeit ist reizend geeignet zu Hinterhalt, Fallen und Wegelagerung, die auf das Meer ange- wiesene Bevölkerung der Fischer, denen ihre Felsen kein Hälm- chen bieten, zu wild und beweglich, als dass sie so bald zu zähmen wäre. Selbst bei sicherem Erwerbe würde sie das abenteuernde Fischer- und Räuberhandwerk der fleissigen Arbeit vorziehen. Je- der Boden erzeugt seine eigenen Gewächse. Wir bogen um ein Felscap: da lag die Stadt Victoria vor steilem Felsberg ausgebreitet. Nördlich gegenüber streckt sich die Halbinsel Kau-luṅ ins Meer; östlich schwimmen vor der Mündung des Perl-Flusses hohe Inseln, und in duftiger Ferne die Kämme des Festlandes. S. Ansichten aus Japan , China und Siam VIII. — Die weite sichere Rhede könnte die grössten Flotten bergen. In den seichteren Buchten ankern Dschunken von allen chinesischen Küsten; schlanke Lorcha’s mit fächerförmigen Mattensegeln gleiten pfeilschnell über die Fläche: das sind die ein- zigen auf den Kiel gebauten chinesischen Fahrzeuge. Sie sollen den portugiesischen Schiffen nachgeahmt sein, welche im 16. Jahr- hundert zuerst diese Küsten besuchten. — Vor der Stadt liegt ein abgetakelter Zweidecker, zum Hospital eingerichtet. Unter den XVIII. Begrüssung. zahlreichen fremden Schiffen, die auf der Rhede ankerten, waren viele entmastete mit zerschlagenen Borden, die der letzte Taifun gezaust hatte; man erzählte von über funfzig, darunter fünf deut- schen Schiffen, die am 19. October untergegangen wären. Als der Anker der Arkona fiel, salutirte das englische Flagg- schiff Pearl den Commodor mit 13 Schüssen; Arkona grüsste die englische Flagge mit 21 Schüssen, erhielt von den Strandbatterieen den Gegengruss und antwortete darauf dem Pearl, dessen Commandant alsbald an Bord erschien. Dann kam Lieutenant z. S. Werner von der Elbe, die in unserer Nähe ankerte. Ein Adjutant des Gouver- neurs und der preussische Consular-Agent Herr Overbeck stellten sich zur amtlichen Begrüssung des Gesandten ein. Auch Capitän Fane und Lieutenant Upperton kamen an Bord; ein Reiter ihres Regimentes, der sich bei Abfahrt des Vulcan von Naṅgasaki ver- spätete, hatte die Reise auf der Arkona gemacht und wurde jetzt ausgeliefert. — Bald war das Schiff von Taṅ-ka -Booten umringt; — so heissen die meist von Mädchen geruderten Miethsboote, die Droschken der Rhede, die in allen Richtungen dienstsuchend zu Hunderten umherschwärmen. XIX. HONG-KONG , KAN-TON , MACAO . VOM 11. NOVEMBER BIS 5. DECEMBER. D ie Insel Hong-kong ist in ihrer Grundform ein Dreieck, dessen etwa zwei Meilen lange, nach Norden blickende Basis nach innen gekrümmt und dem Festland zugekehrt ist. An dieser Seite wurde, nachdem Ki-šen im Januar 1841 die damals von wenigen Fischern bewohnte Felseninsel an England abgetreten hatte, die Stadt Victoria gegründet, von welcher die gegenüberliegende Halb- insel Kau-luṅ etwa 4000 Schritte entfernt ist. Oestlich und west- lich nähern sich die Spitzen der Insel dem Festlande; sie besteht aus nacktem Felsgebirge, dessen Gipfelhöhe 1600 Fuss betragen soll. Durch den Frieden von 1860 wurde England auch ein Stück der Halbinsel Kau-luṅ abgetreten, deren Besitz für die Colonie be- sonders aus sanitätlichen Rücksichten wünschenswerth war: das steile Gebirge im Rücken der Stadt Victoria fängt nämlich den während des ganzen Sommers wehenden Südwest-Monsun auf, so dass sie in der heissen Zeit jeder Erfrischung entbehrt . Auf Kau- luṅ wurden damals Kasernen gebaut; ein Theil der Garnison cam- pirte dort in Zelten. — Das Klima ist tropisch und galt, so lange durch die vielen Neubauten auf Hong-kong der Boden beständig aufgewühlt wurde, für äusserst ungesund. Später minderte sich die Sterblichkeit. Beim Anblick der Stadt, die damals gegen 100,000 Seelen zählte, möchte man kaum glauben, dass sie so neuen Ursprungs ist. Im östlichen Theil bewohnen die Fremden stattliche Paläste; in den westlichen Strassen geniessen viele Tausend betriebsame Chi- nesen unter englischem Schutz eine sichere Existenz. Zahlreiche Fabriken, Werfte, reizende Anlagen und öffentliche Spaziergänge, die prunkvolle Einrichtung der Wohnungen und der Mastenwald im Hafen zeugen vom Blühen der Colonie. Oestlich von der Stadt sind die Hänge bewaldet, hier und da wiegen Cocospalmen das XIX. Besuche. gefiederte Haupt: immer mehr weicht die Dürre des steinigen Bo- dens der gestaltenden Cultur. — Abends bietet Hong-kong von der Rhede gesehen einen reizenden Anblick; aus den terrassen- förmig den dunkelen Bergrücken hinansteigenden Häuserreihen er- glänzen tausend Lichter, die sich flimmernd im Meere spiegeln. Am Lande war es den Tag über drückend heiss, und der Aufenthalt an Bord so viel angenehmer, der Verkehr mit der Küste so leicht und bequem, dass der Gesandte vorzog auf der Arkona zu wohnen. Man führte trotzdem ein bewegtes Leben. Da ein grosser Theil der Garnison von Tien-tsin sich jetzt, auf der Heim- reise begriffen, in Hong-kong befand, so fühlten wir uns kaum fremd; auf Schritt und Tritt begrüsste man alte Bekannte und lebte fast im gewohnten Kreise. Als der Gesandte mit dem Commodor und den Attachés am 12. November an das Land fuhr, um den Gouverneur Sir Hercules Robinson zu besuchen, grüssten ihn die Geschütze der Strandbatterieen und eine am Ufer aufgestellte Ehrenwache. Der Gouvernements- Palast liegt reizend am Bergeshange; eben so schön wohnte der commandirende General Sir John Mitchell , welchen der Gesandte an demselben Tage begrüsste. Hohe Camelienbüsche und indische Ficus umgeben das Haus, dessen luftige Räume auf die Stadt und die Rhede hinabsehen. Am Nachmittag des 13. November besuchte der Gesandte mit dem preussischen Consul für Kan-ton , Herrn von Carlowitz , und dem Consular-Agenten Herrn Overbeck das von der Berliner Missionsgesellschaft gegründete Findelhaus, ein stattliches Gebäude am Bergeshang. Der Hausvater Herr Ladenburg besorgt mit seiner Gattin, drei Diakonissen und zwei in der Anstalt erzogenen Chinesin- nen die Pflege und den Unterricht der Kinder. Damals waren zwanzig Mädchen in der Anstalt, das älteste etwa zwölf Jahre, das jüngste kaum drei Monate alt; je sechs der kleineren versieht eine chinesische Wärterin, von der sie zunächst ihre Muttersprache lernen. Der Unterricht wird chinesisch ertheilt, doch verstehen die meisten deutsch und einige reden es auch. — Graf Eulenburg besah die Schul- und Wirthschaftsräume, und wohnte der kurzen Abend- andacht bei: unter Begleitung eines Harmonium sangen die Kinder ein geistliches Lied und beteten deutsch das Vaterunser. Es war ein rührender Anblick und eine Freude, die Kleinen so frisch und zufrieden zu sehn. Nach der Andacht reichten sie den Gästen eine Der Kindermord. XIX. Hand und sagten »Gute Nacht«. — Die Anstalt erfreute sich in Hong-kong reger Theilnahme; zum Hausbau wurden dort 5000 Dollars gesammelt, und erst kürzlich hatte ein Nachbar ihr sein Grundstück für den nominellen Jahreszins von einem Dollar über- wiesen. Der Missionar Lechler fungirte als Geistlicher des Fin- delhauses. Bei diesem Anlass muss constatirt werden, dass Gützlaff’s Berichte über das Aussetzen der Kinder auch bei den Fremden in China allgemeine Entrüstung erweckt haben und von gewissen- haften Männern, welche der Sache gründlich nachspürten, als höchst übertrieben bezeichnet werden. Die Thatsachen beschränken sich darauf, dass in den allerärmsten übervölkerten Bezirken der süd- lichen Provinzen, — wahrscheinlich nur in Kuaṅ-tuṅ , zuweilen neugeborne Mädchen ausgesetzt werden. Den Wahn, dass die Be- hörden den Kindermord stillschweigend gut heissen, widerlegen die öffentlichen Warnungen, welche im Laufe der Jahre in der Provinz Kuaṅ-tuṅ dagegen erlassen worden sind. S. Notes and queries on China and Japan . Dec. 1867. S. 4. Das Ge- setz straft die Tödtung solcher Kinder, die sich nicht durch Un- gehorsam an den Eltern vergingen, mit Geisselung und Verbannung, und eine Proclamation des Vicekönigs von Kuaṅ-tuṅ brachte noch 1866 ein vom Kaiser Kien-loṅ 1773 erlassenes Decret in Erinne- rung, welches stark betont, dass Neugeborne und Kinder in zartem Alter niemals ungehorsam sein können, dass ein an solchen began- gener Mord nach der ganzen Strenge des Gesetzes bestraft werden soll. — Knaben werden niemals ausgesetzt, Mädchen, wie gesagt, in den ärmsten Bezirken des Südens zuweilen. Gützlaff’s Erzählun- gen haben aber bei uns einen Wahn erzeugt, als ob der Kinder- mord ein durch ganz China verbreitetes, vom Staate gefördertes Verbrechen wäre. Das ist falsch. Der Chinese liebt seine Kinder so gut wie der Deutsche, und die Regierung, die sich mehr als jede andere auf eine sittliche Weltordnung stützt, war zu allen Zeiten weit entfernt, solches Verbrechen zu fördern. — Gützlaff soll von Thürmen berichtet haben, welche die Obrigkeit ausdrücklich zum Aussetzen der Kinder bauen liesse; es ist aber constatirt, dass solche Behältnisse nur zur Aufnahme von Kinder leichen der ärm- sten Classe bestimmt sind. Am 15. November fuhren Graf Eulenburg , Capitän Sunde- wall und einige andere Herren mit dem englischen Kanonenboot XIX. Umgebung. Slaney nach den an der Südküste gelegenen »Aberdeen docks«. Nach Süden und Westen liegen hundert kleinere Eilande um die Insel ausgestreut, lauter trockene Felsen, deren Ritzen kümmerliche Sträucher nähren. Hongkong selbst stürzt westlich in schroffen Wänden ab, von denen hier und da ein Bach in jähem Sprung zum Meere eilt. Die reizende Fahrt dauerte kaum eine Stunde. Um das schöne Dock, das ein Schotte aus Speculation baute, hat sich ein chinesisches Dorf angesiedelt; gegenüber liegt jenseit eines schmalen Meeresarmes ein Inselchen. Der Capitän des englischen Schiffes Vulcan, das grade dort ausgebessert wurde, führte den Gesandten über die ganze Werft und bewirthete ihn dann in seiner Kajüte. — Gegen sechs ankerte Capitän Borlace mit dem Slaney wieder auf der Rhede von Victoria und erntete den Dank seiner Gäste für den angenehmen Tag. — Abends speisten der Ge- sandte und seine Begleiter beim Gouverneur, dessen Verdienste um die Colonie allgemein gerühmt wurden. Am folgenden Nachmittag gingen wir nach dem eine halbe Stunde östlich von der Stadt gelegenen Rennplatz. Elegante Wa- gen, Reiter und viele von chinesischen Stallknechten geführte edele Pferde belebten die breite in den Felsen gesprengte Kunststrasse; abgesehen von den Zöpfen hätte man glauben sollen, bei einem fashionablen englischen Badeort zu sein. Der Rennplatz liegt in einem nach dem Meere geöffneten Thalgrund zwischen malerischen Felsgruppen und üppig bewaldeten Hängen. Im Windschutz stehen einzelne Cocos-Palmen. — Die Chaussee läuft, den Rennplatz rechts lassend, an einem bunten zwischen Felsen gebetteten Tempelchen vorbei, dann weiter östlich, hier und da eine Felsrippe schneidend, theils am Strande hin, theils in geringer Entfernung davon. Auch hier sind die Hänge bewaldet; aus kühlen schattigen Schluchten rieseln klare Gewässer dem Meere zu. Viele Dschunken und Boote liegen auf dem weissen Ufersand, wo zwischen überhängenden Klippen arme Fischer hausen. Weiterhinaus haben die Eng- länder eine seichte Bucht vom Meere abgeschnitten, um ebenen Boden zu gewinnen. Am Bergeshang jenseits thront auf hoher Terrasse ein Tempel im dichtesten Grün. Die vielen in dieser Ge- gend und am Rennplatz erbauten Villen stehen verschlossen, es soll der ungesundeste Fleck der Insel sein. Am Abend des 16. November gaben die deutschen Kaufleute dem Gesandten in den Räumen des englischen Clubhauses ein Bankett. XIX. glänzendes Bankett, zu welchem die Officiercorps der preussischen Schiffe und alle anwesenden Civilmitglieder der Expedition geladen wurden. Der grosse Speisesaal des Clubhauses war festlich er- leuchtet; in den übrigen Räumen versammelte sich allmälig fast die ganze Gesellschaft von Hong-kong , um das im Treppenhause spie- lende Musikcorps der Arkona zu hören. — Bei Tisch brachte der preussische Consular-Agent Herr Overbeck zunächst die Gesund- heit Seiner Majestät des Königs aus. Dann sprach der Consul für Kan-ton , Herr von Carlowitz . Im Namen aller in China lebenden Deutschen dankte er dem Gesandten in warmen beredten Worten für Befestigung ihrer Stellung durch den eben geschlossenen Ver- trag und entwarf ein lebendiges Bild der Schwierigkeiten und Müh- sale, welche der Erreichung des Zieles entgegentraten. Der Ge- sandte dankte für die Gunst, mit welcher seiner persönlichen Thä- tigkeit eben gedacht worden sei, und erinnerte die Gastgeber, wie der preussischen Regierung und vor Allem Seiner Majestät dem Könige der wärmste Dank dafür gebühre, dass Sie inmitten ernster politischer Verwickelungen trotz manchen Zweifeln und Wider- sprüchen eine Expedition einzig zu dem Zwecke ausgerüstet hätten, den Deutschen in Ost-Asien eine feste Basis für ihre Thätigkeit und wirksamen Rechtsschutz zu gewähren. Nun komme es darauf an das gewonnene Resultat zu wahrhaft nützlicher Geltung zu bringen; und wie er hoffe, dass die deutschen Regierungen nicht anstehen würden die zu Aufrechthaltung der Verträge nothwen- digen Mittel zu bewilligen, so erwarte er auch, dass die in Ost- Asien lebenden Deutschen, die sich schon ohne politische Rechte eine so geachtete Stellung erworben hätten, durch eigene Tüchtig- keit das Streben der Regierung fördern wollten. Der Gesandte trank auf das Wohl der Deutschen in China und sprach so warm zum Herzen, dass rauschender Jubel seiner Rede folgte. Das Ge- fühl, dass ein grosses für alle Zeiten wichtiges Werk durch auf- opfernde Arbeit und zähe Thatkraft vollendet wurde, lebte in Aller Bewusstsein. Der Vertrag war in der That für die Deutschen in China ein Ereigniss von höchster Bedeutung. Bis dahin standen sie rechtlos da; die Thätigkeit der deutschen Consuln beschränkte sich fast auf die Klarirung von Schiffen und Unterstützung noth- leidender Landsleute. Die Mandarinen verwahrten sich gegen jeden Verkehr mit denselben, weil sie Kaufleute, nicht Staatsbeamte seien. Wollte ein Deutscher Rechte gegen Chinesen verfechten, so musste XIX. Landparthie. er des englischen, französischen oder americanischen Consuls Bei- stand anrufen, der nur aus Courtoisie gewährt wurde. Anspruch darauf hatte Niemand; der deutsche Ansiedler war auf die persön- liche Gunst fremder Beamten angewiesen, welche der Wortlaut der von ihren Regierungen geschlossenen Verträge keineswegs zu Unter- stützung fremder Staatsangehörigen berechtigte. Die Schwierigkeit, diesen Schutz zu erlangen, wuchs mit den Fortschritten des deut- schen Handels. — Dass im preussischen Vertrage für die Hanse- Städte eine gesonderte consularische Vertretung stipulirt war, be- dauerten alle Hanseaten in China ; denn sie konnten von den hei- mathlichen Regierungen die Absendung diplomatischer Consuln nicht erwarten und blieben somit fast in der früheren Lage. Man hatte in den Hanse-Städten diese Frage nicht verstanden und sogar jede Theilnahme am preussischen Vertrage abgelehnt, wenn nicht die ge- sonderte Vertretung zu erwirken wäre. Dem Trinkspruch des Gesandten folgten viele andere; die preussische Armee und Marine wurden nicht vergessen. Man trennte sich erst in später Nacht. Ein glänzendes Frühstück, zu welchem Herr Overbeck den Gesandten einlud, vereinigte die deutsche Gesellschaft von Hong- kong am 18. November in einem an der Westseite der Insel hoch am Bergeshang gelegenen Hause, das nur als Zielpunct für Land- parthieen dahin gebaut ist. Morgens bald nach neun Uhr brachen wir theils zu Fuss, theils in Tragstühlen auf. Der trefflich gehaltene Weg steigt gemächlich bergan; immer herrlicher wird die Aussicht. Nach einer Strecke verliert man den Blick auf die Stadt; dafür erschliesst sich das inselbesäte Meer nach Süden in grenzenloser Weite. — Alle Quellen am Wege sind sorgfältig eingefasst und durch Röhren in eiserne oder gemauerte Behälter geleitet, von wo das Wasser in die Stadt fliesst. Nach anderthalb Stunden erreichten wir das Ziel und waren angenehm überrascht einen schattigen Garten zu finden. So weit das Auge reicht, fällt die Insel in kahlen schroffen Hängen hinab. — Nach dem Frühstück wurde ein Tempelchen in der Nähe besucht, wo der vom Berge herabrauschende Bach sich in eine Schlucht stürzt. Man verbrachte mehrere Stunden in heiterem Ge- nuss der Gegenwart und trat gegen vier Uhr den Heimweg an. — Abends war Subscriptionsball im Clubhause; die festlich beleuchte- ten Räume und die glänzende Bewirthung liessen nichts zu wünschen Kaufläden. XIX. übrig, — die Gesellschaft hatte aber nur achtzehn Damen auf- zuweisen. Die Zahl der Herren war weit über hundert. Die Stadt Victoria selbst bietet wenig Fesselndes. In den europäischen Strassen liegt ein Palast neben dem andern, lauter massive Steinbauten von grossen Verhältnissen. Das Untergeschoss enthält Waarenlager und die Dienststuben der chinesischen Buch- halter, Kassirer und Aufseher; da wird sortirt, gezählt, gepackt und gehämmert. Oben hausen die Besitzer in bequemen, luftigen Räu- men. — Kaufläden mit europäischen Erzeugnissen giebt es wenige; sie sind jedoch glänzend mit allen Luxusartikeln der civilisirten Welt ausgestattet; da steht die Gänseleberpastete neben Stiefel- wichse und kostbarem Goldschmuck auf einem allerdings ver- stimmten Clavier; Aufwand und Preise sind noch toller als in an- deren Häfen. — Die westliche Hälfte der dem Strande parallelen Hauptstrasse bewohnen chinesische Krämer; ihre Häuser sind klein und halb europäisch gebaut. Man findet dort die seit Jahren bei uns bekannten Erzeugnisse der südchinesischen Industrie: Elfenbein-, Perlmutter-, Bambus- und Sandelholz-Schnitzereien, Lackarbeiten und Seidenfabricate. Der Kan-ton -Lack kann sich dem japanischen nicht vergleichen; die feinen Goldmalereien daran sind mit fabrik- mässiger Geschicklichkeit geistlos aufgetragen, lauter einförmige hergebrachte Muster. die sich zum Ueberdruss tausendfach wieder- holen. Die Elfenbein-Schnitzereien sind einzig in ihrer Art, von wundersam künstlicher Arbeit, in den Mustern aber eben so ein- förmig wie die Lacksachen. Man hat jedes Stück schon hundert- mal gesehen. Dieselbe Sterilität spricht aus allen Arbeiten der heutigen Chinesen: sie copiren mit der höchsten technischen Vollen- dung, unendlicher Geduld und Treue, haben aber weder Erfindung noch eigene Auffassung. Den schlagendsten Beweis dafür bieten die vielen Malerläden in Hong-kong , wo zum Entzücken der fremden Seeleute für geringes Geld Bildnisse von Menschen und Schiffen mit einer buchstäblichen Treue gepinselt werden, welche der giftig- sten Kritik spottet. Viele bunte Schilder und Ladenzeichen geben dem chinesi- schen Theil der breiten Hauptstrasse ein malerisches Aussehn; daneben steigen enge schattige Gassen, von Arbeitern und Tage- löhnern bewohnt, die steilen Hänge hinan. Hielte die englische Polizei nicht auf Reinlichkeit, so röche es dort wohl bald wie in anderen chinesischen Städten. — Die Colonialregierung XIX. Fahrt nach Kan-ton . giebt grosse Summen aus, um die breiten Strassen und Plätze mit Bäumen zu bepflanzen; ihre chinesischen Unterthanen stehlen sie aber trotz aller Wachsamkeit der Polizei mit löblicher Ausdauer. Am 20. November fuhr der Gesandte mit einigen seiner Be- gleiter auf dem Dampfer »Hankow« nach Kan-ton . Das Schiff ist in America gebaut, ein Flussdampfer der besten Art, einem schwim- menden Hause vergleichbar. Ein kühnes Wagstück muss es ge- wesen sein, das Fahrzeug über den Ocean zu bringen. — Morgens um acht ging es von Hong-kong ab. Das untere Stockwerk wimmelte von Chinesen; das obere ist sehr elegant nur für westländische Reisende eingerichtet und enthält einen Speisesaal, Salon, Rauch- zimmer u. s. w. Die Maschine liegt grossentheils über dem schmalen scharfgebauten Rumpf; ihre Hebel ragen hoch über die Radkasten der ungeheuren Schaufelräder. — Die Fahrt ist reizend. Zuerst saust das Schiff in fliegender Eile durch dichtgedrängte Dschunken; jeden Augenblick glaubt man anzurennen; aber vorn an der Spitze drehen zwei Chinesen, einander so gleich wie ein Ei dem anderen, mit unbeweglicher Miene das Steuerrad; wie aus einem Guss, von einem Willen gelenkt sind ihre Bewegungen, man glaubt denselben Menschen doppelt zu sehen. Der americanische Capitän leitet hinter ihnen stehend den Gang der Maschine; auf Zollbreite streift der Coloss an den Dschunken vorbei. Ein Weilchen geht es darauf über freies Wasser, dann zwischen die Felseilande hinein. Oft scheint der Ausgang ver- sperrt; da schlüpft der Dampfer in scharfer Wendung durch einen engen Canal, den Niemand ahnte. Auch diese Inseln sind kahl: nur hier und da liegt ein Fischerdorf an heimlicher Bucht zwischen dichte Wipfel gebettet. — Nochmals öffnet sich die breite Meeres- fläche, nach Süden unabsehbar. Dann läuft das Schiff in den Perl- Fluss , dessen weite Mündung von malerischen Fahrzeugen wimmelt: da kreuzen Lorchas mit fächerförmigen Mattensegeln, und tausend Fischerdschunken, denen ihre zum Trocknen über die Raaen ge- hängten Netze die abenteuerlichste Gestalt geben. Auf überflutheten Sandbänken waten einsame Fischer, ihre Netze stellend, bis an die Hüften im Wasser. Noch schwimmen die Ufer in nebliger Ferne. Von Tšuen-pi und Ti-kok-to gewahrte man wenig; erst weiter hinauf verengt sich das Becken. Im Westen steigt die sonderbar geformte Felsengruppe auf, deren Umriss einem lie- genden Tiger verglichen wird; nach ihr nannten die Portugiesen Fahrt auf dem Tšu-kiaṅ . XIX. die Mündung des Tšu-kiaṅ Bocca Tigris . Davor liegen auf niedri- gen Felsinseln und am linken steileren Flussufer die Festungs- werke, welche die Einfahrt vertheidigen sollten und so oft zu- sammengeschossen wurden, lange kanonengespickte Mauerlinien. Je weiter hinauf, desto reicher sind die flachen Ufer angebaut, desto belebter der Fluss. Viele Dörfer, Tempel und Pagoden säu- men den Strand. — Um halb zwei hielt der Dampfer bei Wam- poa , wo die grossen Seeschiffe ankern, und war im Nu von Tan- ka -Booten umringt, aus welchen die lustigen Mädchen um die Wette schrieen und winkten. — Am Ufer liegen schmutzige Häuser- reihen mit Agenturen, Kneipen und Kramläden für den Schiffs- bedarf, daneben ausgedehnte Werfte, wo auch Fahrzeuge euro- päischen Schnittes gebaut werden. Wam-poa scheint schmutzig und übelriechend, voll Gesindel, wie mancher andere Hafenort. Die Gegend ist hügelig und hübsch bewachsen, dichte Bananen- gruppen geben ihr einen tropischen Anstrich. Oberhalb Wam-poa theilt sich der Strom in zwei Arme; der Hankow läuft in den nördlichen ein. Die Landschaft wird im- mer hübscher; auf dem linken Ufer treten die Berge näher an den Fluss, auf dem rechten stehen zwei schlanke Pagoden. Ein Dorf reiht sich an das andere, schattige Wäldchen und Bambusge- büsche grünen zwischen den Reisfeldern. Der Fluss wird enger; das Gedränge der Dschunken lässt kaum einen Durchgang frei. Eine Felsrippe durchsetzt das Wasser; rechts und links stehen zwei kleine Leuchtthürme. Der Dampfer schiesst durch das Thor und lässt bald darauf seinen Anker fallen, nachdem er 98 Seemeilen in 6 Stunden machte. Am linken nördlichen Flussufer liegt die Stadt Kan-ton , eine graue Häusermasse, das rechte bildet die Insel Ho-nan , wo damals die meisten Fremden wohnten. Noch war ein breiter Streifen zwischen dem Fluss und der Stadtmauer unbebaut, wo die verbrannten Factoreien und Vorstädte standen. — Der Fluss ist ungemein belebt. Am Ufer liegen in langer Reihe die »Flowerboats«, schwimmende Häuser mit reich geschnitzten, bemalten, vergoldeten Façaden, lauter Theehäuser und Schenken. Tausend andere von den ärmeren Volksclassen bewohnte Boote bilden Strassen und Gassen; die der Aussätzigen liegen gesondert und abgesperrt. Im Fahrwasser ankern viele Dschunken und Lorchas; dazwischen schwärmen Boote mit Marktwaaren, Werkstätten, Kramläden herum, XIX. Die Tan-ka -Boote. auch Bettler und Krüppel rudern sich Almosen heischend in kleinen Nachen durch das Gedränge. — Die meisten Passagierboote werden von Mädchen oder Frauen gerudert, die oft bei ihrer schweren Ar- beit noch ein Kind auf den Rücken gebunden tragen. Diese » Tan-ka -Boote« enthalten die ganze Häuslichkeit einer Familie, sind aber meist nur von Frauen und Kindern bewohnt; vermuth- lich fischen die Männer oder arbeiten am Lande; denn dass die Tan-ka -Chinesen, wie man erzählt, keinen festen Boden betreten dürfen, ist kaum zu glauben, — wie wären sie zu erkennen? — Ihre Boote sind flach gebaut und haben ein bewegliches Dach von Mattengeflecht, durch welches nach Bedürfniss Luft und Licht ein- gelassen werden kann. Im hintersten Winkel steht ein kleiner ver- goldeter Altarschrein mit künstlichen Blumen und anderen Zierlich- keiten, vor welchem die Schifferinnen zu gewissen Tageszeiten Kerzen anzünden und andächtig niederknieen. Sie scheinen bei aller Armuth meist heiter und zufrieden und halten ihr schwimmen- des Häuschen sehr reinlich. — Als der Hankow vor Kan-ton ankerte, umdrängte ihn eine dichte Schaar dieser Boote; wie eine Gänseheerde schnatterten die Dirnen. Herr von Carlowitz , der den Gesandten nach Kan-ton be- gleitete, hatte auf der Fahrt das Unglück, vom unteren Deck zwölf Fuss tief in den Schiffsraum hinabzustürzen. Aeusserlich nur wenig verletzt blieb er doch eine Weile besinnungslos, musste mehrere Tage das Bett hüten und konnte den Gesandten auf seinen Wande- rungen durch Kan-ton nicht führen. Graf Eulenburg stieg mit seinen Begleitern bei dem Hamburger Kaufmann Herrn Dreyer ab, der ihm sein gastfreies Haus zur Verfügung stellte. Frau von Carlo- witz machte sehr liebenswürdig die Honneurs des preussischen Con- sulates. — Die beiden folgenden Tage wurden mit Wanderungen durch die Stadt und Besuchen in den Kaufläden zugebracht, welche in Kan-ton glänzender ausgestattet sind, als irgendwo in China . Kuaṅ-tšu-fu , Kuaṅ-tuṅ oder Saṅ-tšiṅ , — so heisst Kan- ton in der Landessprache, soll schon im grauen Alterthum die wichtigste Stadt des südlichen China gewesen sein. Im 3. Jahr- hundert v. Chr. wurde sie mit Pallisaden, und 1067 zur Abwehr der räuberischen Cochin-Chinesen mit einer Ringmauer umgeben. Den Heeren der Mandschu widerstand sie lange Zeit, fiel aber 1650 nach schwerer Belagerung durch Verrath und wurde der Plünderung preisgegeben. Dabei sollen 700,000 Kantonesen um- Die Stadt Kan-ton . XIX. gekommen sein, an deren Stelle sich die Tartaren innerhalb der Ringmauer ansiedelten. Die neuere Chinesenstadt wurde südlich an jene ältere, jetzt die Tartarenstadt angebaut und ebenfalls mit einer Mauer umgeben. Der ganze Umkreis soll etwa 1¼ Meilen be- tragen. Vier Thore, die noch heute zur Nachtzeit geschlossen werden, führen aus der Chinesen-Stadt in die tartarische. — Bis zum zweiten englischen Kriege war Kan-ton der blühendste Stapelplatz des fremden Handels; auf weitem Landwege kamen die Ausfuhr-Artikel durch das rauhe Mei-liṅ -Gebirge aus den ent- ferntesten Gegenden. Durch Freigebung der nördlichen Häfen und der Schiffahrt auf dem Yaṅ-tse-kiaṅ gelangen jetzt die Erzeug- nisse der nördlichen Provinzen auf bequemeren und kürzeren We- gen in die Hände der Fremden; Kan-ton wird sich zur alten Be- deutung kaum wieder erheben. Auf dem Uferstreifen südlich von der Stadt waren noch die Grundmauern der verbrannten Factoreien, die Wege und Rasen- plätze der davorliegenden Gärten sichtbar. Die Stelle, wo Yi ’s Palast stand, hatten die Franzosen mit einer Mauer umschlossen; eine Kirche und ein Missionshaus sollten dort gebaut werden. Der zur neuen Ansiedlung der Fremden bestimmte Platz am Fluss in der Nähe der alten Factoreien war mit einem Quai eingefasst. Vor etwa drei Wochen hatten die englischen Truppen Kan-ton ge- räumt, wo den ganzen Krieg durch, so gut wie in Shang-hae , der fremde Handel ungestörten Fortgang nahm. Die nähere Berührung mit den Bewohnern während der langen Occupation trug die heil- samsten Früchte: ihre alten Vorurtheile schienen überwunden, der eingewurzelte Fremdenhass völlig ausgerottet. Ueberall begegneten sie den Fremden mit Höflichkeit und Vertrauen, auch die Haltung der Behörden liess nichts zu wünschen übrig. Die Deutschen in Kan-ton , besonders der preussische Consul, wünschten lebhaft, dass der Gesandte mit dem Vicekönig Lu in Berührung träte; der Prüfung von 8500 Candidaten wegen hatte sich Dieser jedoch seit vierzehn Tagen in dem dazu bestimmten Gebäude eingeschlossen und wollte einige Zeit ungestört bleiben. Die Bevölkerung von Kan-ton und den Vorstädten soll über eine Million betragen. Seine Gassen sind düster und winklig, hier und da so eng, dass man in der Mitte stehend mit beiden Händen die Häuser berühren kann, für eine chinesische Stadt aber auffallend reinlich. Nach früheren Schilderungen zu urtheilen, muss die XIX. Kaufläden. grössere Sauberkeit eine Folge der Occupation sein; die englische Polizei soll mit unerbittlicher Strenge darauf gehalten haben. Die Bewohner sehen schmuck und wohlhabend aus, alle Bettler und Krüppel scheinen auf den Fluss verbannt. — Den Süden merkt man in den kühlen schattigen Gassen der Chinesenstadt auf Schritt und Tritt; ihre Häuser sind von Backstein, ohne anderen Schmuck als die dichtgedrängten Ladenschilder. Die Kaufläden empfangen ihr Licht von den Strassen und der Hofseite, der ganze Waarenvorrath ist darin zur Schau gestellt. Den buntesten An- blick und eine reichere Auswahl, als irgendwo in China , bieten die Porcelan-Handlungen, wo Alles dem Bedürfniss der Fremden ange- passt ist. Wie in Japan stehen hier vollständige Tafelservice zu Kauf, aber auch schöne Gefässe von landesüblicher Form. Dem alten kann sich das heutige chinesische Porcelan nicht ent- fernt vergleichen; das Geheimniss der Farben unter der Glasur scheint verloren zu sein; die Malerei ist bunt, überladen und con- ventionell, ohne künstlerischen Werth. Zwar wechselt die Mode beständig, bringt aber nichts Neues und Eigenthümliches mehr. Auch die Masse des Porcelans soll sich verschlechtert haben. — Die Elfenbein-, Schildpatt- und Perlmutterarbeiten gleichen den in Hong-kong verkauften, nur sind die Lager von Kan-ton viel reich- haltiger. Von hoher Meisterschaft in der Kunstfertigkeit des Schnitzens zeugen besonders die Möbel in Kan-ton : die meisten Stücke sind dem europäischen Gebrauch angepasst, aus chinesi- schem Ebenholz sehr reich und prächtig gearbeitet, mit vollem und durchbrochenem Ornament von höchster technischer Vollendung. — In den Seidenläden findet man schwere geblümte Möbelstoffe von grosser Schönheit und Crêpe de Chine-Tücher mit prachtvoller Stickerei. In der Tartarenstadt sind die Kaufläden seltener, die Strassen stiller als in der chinesischen, ihr nördliches Ende lehnt sich an eine Anhöhe. Auf dem höchsten Puncte steht in der Flucht der Ringmauer die »fünfstöckige Pagode«, ein breites Tempelgebäude von alterthümlichem Aussehn. Hier warf 1841 der alte Yaṅ-faṅ dem englischen Commandeur seine goldenen Armspangen hinab und bot den Frieden. Auf dieser Seite stürmten die Truppen der Ver- bündeten auch im December 1857. S. Ansichten aus Japan , China und Siam VIII. Der Hügel beherrscht die ganze Stadt, die von hier aus einem Meer grauer Dächer gleicht; IV. 13 Yamums und Tempel. XIX. nur an wenigen Stellen ragt ein höheres Gebäude aus dem Häuser- labyrinth. Hinter der Stadt schlängelt sich der Tšu-kiaṅ wie ein silbernes Band durch die grüne Fläche, die nach Südosten unab- sehbar, nach Süden und Westen von fernen Kämmen begrenzt ist. Von Norden tritt der Fuss des steilen Gebirges hart an die Stadt heran, welche die gegenüberliegenden Höhen völlig beherrschen. Von da muss 1841 das aufgeregte Landvolk herabgestiegen sein, das während der Waffenstillstandsverhandlungen den englischen Truppen in den Rücken fiel. — In der Nähe liegt ein Stadtthor von der hergebrachten Bauart; die Wache war blau uniformirt, mit rothem Besatz. Jeder Soldat trug auf der Brust den Namen seines Regiments und auf dem Rücken in breiten Schriftzügen die Be- theuerung, dass er sehr tapfer sei. Unter den öffentlichen Gebäuden zeichneten sich die von dem englischen und dem französischen Consul bewohnten Yamums durch Grossartigkeit der Anlage aus. Endlose mit Steinplatten be- legte Avenuen führen in grader Linie durch mehrere Portale und Höfe, wo mächtige alte Bäume stehen; dann folgt eine Halle auf niedrigem steinernem Sockel, von welcher ein breiter bedeckter Gang nach dem Hauptgebäude läuft. Die ganze Flucht vom ersten Portal an mag 600 Schritte lang sein. — Die Bauwerke selbst gleichen denen der Paläste von Pe-kiṅ , sind aber sehr baufällig. Tempel giebt es in Kan-ton viele; einer der merkwürdigsten ist das grosse Pandämonium, welches dem von Pi-yun-tse im Ge- birge bei Pe-kiṅ gleicht. Auch hier stehen überlebensgrosse Portu- giesen, Engländer und Holländer in komisch knapper Tracht unter den Wohlthätern der Menschheit; die Menge der Glimmkerzen in den vor den Götzen aufgestellten Opfergefässen zeugt von der Po- pularität dieses Cultus. — Ein anderer Tempel liegt in einem hüb- schen Garten mit vielen Teichen, niedlichen Brücken, Pavillons und künstlichen Felsen, die geschnörkelte Landschaft darstellend, die man so häufig auf chinesischen Bildern sieht. Von den nord- chinesischen Bauten unterscheidet sich die Tempel-Architectur dieser Landestheile wesentlich; sie ist bunter, phantastischer, lustiger; die Ornamentik beruht auf Anwendung von Kacheln, Stuck und Bruch- stein. Pfeiler und Schwellen von sorgfältig behauenem Granit treten an die Stelle der hölzernen; feine Stuckarbeiten an die Stelle des Schnitzwerks. Gutes Bauholz scheint selten; die den nord- chinesischen und japanischen Tempeln eigene Verschwendung des XIX. Tempelarchitectur. Holzes im Dachstuhl und tragenden Gebälk sieht man im Süden nicht, der Dachstuhl ist leichter; überall tritt der Stein in den Vor- dergrund. Von Erfindung, Grazie und Sinn für schönes Verhältniss zeugt die reiche Profilirung der Pfeiler, Schwellen und Consolen; die Technik der Steinmetzarbeit ist vollendet. Die bunt geschnör- kelten Dächer haben alle dieselbe von der nordchinesischen ganz verschiedene Grundform der Verzierung. In der Mitte der hohen aus bunten Kacheln gefügten First ragt auf kelchartigem Untersatz eine grosse dunkelblaue Kugel in die Luft, an deren Seiten sich Schlangen oder Drachen durch Wolken ringeln; daneben zwei bunte Fische, den Kopf nach unten, den Schwanz hoch in die Luft geschwungen; das Alles mag symbolisch sein. Die brettartige Dach- first selbst zeigt zwei Reihen Reliefs, die obere gewöhnlich in Kacheln wie die Krönung, die untere in Stuck gearbeitet, theils figurenreiche Compositionen auf architectonischem Hintergrund, theils Blumen, Fruchtstücke, musikalische Instrumente und allerlei Embleme, das Ganze äusserst bunt. Darunter setzt die Bedachung aus grauen Ziegeln an, nur die Stirnziegel sind gemustert und bunt. Die Giebel haben verschiedene willkürliche, zackige, geschwungene, oft architectonisch widersinnige und unmögliche Formen. Unter dem Dach läuft gewöhnlich ein ornamentaler Fries von Stuck hin, der sich in der Krönung der daranstossenden Wände fortsetzt. Die Zeichnung dieses Mauerschmuckes zeigt oft die sonderbarsten Verkröpfungen, Verschlingungen, Verschiebungen der Linie; man staunt über die Extravaganzen der gedankenleeren Willkür; denn irgend ein Sinn ist in dieser Verzierung nicht zu finden, die sich weder auf Anschauungen aus der sinnlichen Welt, noch auf Sym- bolik oder die Ahnung mathematischer Gesetze gründet. — Im Innern gleichen die kantonesischen Tempel den früher beschrie- benen, nur sind sie wo möglich noch buntscheckiger. Bei den meisten ist der Mittelraum oben offen, der Hauptgötze sitzt der Eingangshalle gegenüber; auf den Altären steht das übliche Ge- räth, in den Seitenhallen verkaufen die Bonzen ihre Gebetformeln, Silberpapiere und Glimmkerzen, und bescheinigen den Opfernden die verrichtete Andacht. Lustig knallen die Schwärmer und dem Pulverdampf mischen sich die Gerüche der Brand- und Speise- opfer: — der Reiche bringt ein ganz gebratenes Mastschwein nebst hundert Schüsseln und bunten Kuchen, schleppt aber wie gesagt Alles wieder nach Hause, um es selbst zu essen; die abgeschiedene 13* Tempeldienst. Moschee. XIX. Seele labte ja der Duft, und der Bonze hat es bescheinigt. — Seine Cigarre rauchend schaut man ungestört dem Treiben zu, und wenn sie ausgeht, bringt der Bonze, ein Trinkgeld erwartend, höflich die vor dem nächsten Götzenbild brennende Glimmkerze. Etwas ehrwürdiger war der Cultus in dem grossen Kloster- tempel auf Ho-nan , einer weitläufigen alten Anlage mit labyrinthischen Höfen und schönen Gärten. Im grossen Hauptgebäude gingen Hunderte von Bonzen im Gänsemarsch, rythmisch singend, mit ge- faltenen Händen, in gewundenem Gange vielfach um die Altäre herum, während einige an hellgestimmte Becken schlugen. Darauf ordneten sie sich vor den Altären in regelmässige Gruppen und be- gannen eine Art Litanei, halb singend, halb redend, mit vielfach wechselndem Rythmus, theils in Solostimmen, theils im Chor, mit Begleitung des Gongs, das etwa von Minute zu Minute, bei lang- samen Rythmen seltener angeschlagen wurde. Sehr verschieden- artig waren die Physiognomieen der Mönche: da gab es ascetische, phlegmatische, gleichgültige, fanatische, stumpfe und blöde, auch schlaue und joviale Gesichter; einige trugen den Ausdruck gläubiger Frömmigkeit. Wahrscheinlich giebt es in Kan-ton noch andere Formen des Cultus; der chinesisch-buddistische ist der vorherrschende, der tibetanisch-buddistische Lama-Dienst scheint in den südlichen Landschaften nicht verbreitet zu sein. — Die Moschee der Moslems, deren in Kan-ton 30,000 wohnen sollen, steht in der Tartarenstadt , ein stattliches Gebäude augenscheinlich von hohem Alter, mit arabischen Anklängen im Innern, nach Mekka gewendetem Mirab und verfallenem Minaret; sonst ist das Aeussere chinesisch. Ueber die Gründung dieser Gemeinde fehlen dem Verfasser die Nach- richten; wahrscheinlich ist sie auf die arabischen Kaufleute zurück- zuführen, die vom 9. bis zum 13. Jahrhundert so zahlreich nach Kan-ton kamen. Die Umgebung der Stadt ist freundlich. Hier und da schnei- det ein Hügelkamm die Ebene. Zwischen den Reisfeldern laufen erhöhte Pfade hin; Dörfer und Tempel liegen in dichtem Bambus- gebüsch oder schattigen Wäldchen. Eine halbe Stunde flussabwärts steht auf Ho-nan eine steinerne Pagode von hübschen Verhält- nissen; im Innern sieht man bis in die Spitze des schlanken Bau- werks; kein Balken, keine Treppe hindert den Blick. Der Stand- ort auf einem Hügel bietet die schönste Aussicht nach dem be- XIX. Rückkehr nach Hong-kong . lebten Fluss, aus welchem tausend Rinnsale durch die Felder ge- leitet sind; nordwärts steigt das Gebirge auf, im Osten der Masten- wald von Wam-poa . — Die eingeborenen Ponies, auf welchen man diese Ausflüge macht, sind durch die Sicherheit ihres Trittes für die steinigen Pfade und die schmalen schlüpfrigen Brücken sehr geeignet. Die Tage in Kan-ton vergingen sehr angenehm; von den Wanderungen zurückkehrend pflegte man auf den hübschen Altanen auszuruhen, die vor den Wohnungen der Fremden auf Ho-nan in den belebten Fluss hinausgebaut sind. Bei Tage war es oft heiss; der Abend brachte labende Kühlung. — Am Abend des 22. No- vember machten der Gesandte und seine Begleiter Herrn und Frau von Carlowitz den Abschiedsbesuch und nahmen die beruhigende Ueberzeugung mit, dass der Unfall des Consuls auf dem Dampfer keine bleibenden Folgen haben würde. — Am 23. November Mor- gens schifften sie sich auf dem Hankow ein und erreichten nach angenehmer Fahrt die Rhede von Hong-kong . Am Abend desselben Tages veranstalteten die Officiere von Fane’s horse ein Tanzfest in Puk-fa-lum , dem erwähnten Pavillon an der Westküste, wohin sich die Attachés vom Hankow aus begaben. Ein englisches Ka- nonenboot führte die Officiere und das Musikcorps der Arkona an den Strand, von wo ein steiler Pfad nach Puk-fa-lum hinanführt. Abends wurde das Hinabklettern halsbrechend. Der Aufenthalt in Hong-kong schloss unter Festlichkeiten, wie er begann. — Aus dem Norden trafen alte Bekannte ein, Offi- ciere der Garnison von Tien-tsin , dann Graf Kleczkowski und Herr de Méritens ; Letzterer gab die diplomatische Laufbahn auf und trat als Zolldirector für Fu-tšau in chinesischen Dienst. Solche Stellungen locken viele sprachkundige Beamten der frem- den Missionen, da das damit verknüpfte hohe Gehalt ihnen die Sicherheit bietet, in kurzer Zeit ein Vermögen zu sammeln. — Am 28. November veranstaltete Graf Eulenburg auf der Arkona einen Ball, zu welchem die Gesellschaft von Hong-kong , die Offi- ciere der Garnison und der auf der Rhede liegenden Kriegsschiffe eingeladen wurden. — Der Besanbaum und alles Tauwerk wurden entfernt, das Sonnensegel in grosser Höhe gespannt und das ganze Deck vom Grossmast bis zum Heck in einen Tanzsaal verwandelt. Die Wände bildeten bunte Flaggen aller Nationen. Ein Stern aus Bajoneten zierte den Kreuzmast, zu dessen Seiten königliche Tanzfest. XIX. Standarten herabhingen. Die rings um den Bord laufenden Rai- lings, wo sonst bei Tage die Hangematten weggestaut werden, waren mit Erde gefüllt und eine dicke Hecke von Camelien und anderen Blüthensträuchern hineingepflanzt worden. Blumen und Guirlanden versteckten jeden Fleck, der nicht festlich aussah. Die blanken Landungsgeschütze und die mit Gewehren decorirte Com- mandobrücke allein erinnerten an das Kriegsschiff. Rings an den Borden herum standen Divans, und das Spill trug eine Lichter- pyramide; auch die Blumenhecken strahlten im hellsten Glanz der darin ausgestreuten Lichtermassen. In einer verhängten Nische am Grossmast spielte das Musikcorps. — Den Glanzpunct der Deco- ration bildete ein etwa zwölf Fuss hoher Wasserstrahl, der zwischen Bananen und blühenden Büschen aus dem Schraubenbrunnen auf- sprudelte. Ein dahin geführter Schlauch stand mit der Pumpe im Zwischendeck in Verbindung. Die Gratings über dem Schrauben- brunnen waren durch Muscheln, Steine und Moos versteckt; aus dem Deck schien das Wasser aufzusteigen und verschwand herab- fallend in den verborgenen Schacht. Ueber hundert Herren und fünfundzwanzig Damen erschienen zu dem Feste; der Gouverneur Sir Hercules Robinson , General- Lieutenant Sir John Mitchell und Mr. Burlingame , der neu er- nannte americanische Gesandte, befanden sich unter den Gästen. Das Souper wurde in der durch japanische Laternen erhellten Batterie verzehrt; bis zum Ende des Festes — gegen drei Uhr Morgens — herrschte die heiterste Stimmung. Das längere Ausbleiben des am 25. November fälligen Post- dampfers aus Singapore verzögerte die Abfahrt der Arkona von Hong-kong noch um einige Tage. Elbe ging am 30. November nach Baṅkok unter Segel. Der Photograph Bismarck und der Gärtner Schottmüller machten die Reise auf diesem Schiff. Dr. Lucius , der am 29. November von einem Ausflug nach den Philippinen zurück- kehrte, nahm wieder seinen Platz auf der Arkona ein, die am 3. December zunächst nach Macao segelte. Nach hübscher Fahrt durch die Inseln ankerte die Corvette gegen halb fünf Uhr Nach- mittags etwa vier Seemeilen von der Stadt und grüsste mit 21 Schüssen die portugiesische Flagge. Ein hochgelegenes Fort gab die Antwort. Am Lande wurden der Gesandte und seine Begleiter von Herrn von Carlowitz empfangen und nach dessen an der » Praja « gelegenem Hause geleitet, wo sie Wohnung nahmen. XIX. Macao . Die grosse Insel Hiaṅ-šan , deren Südspitze die Halbinsel Gau-mun oder Macao bildet, liegt südlich vor der Hauptmündung des Perl-Flusses , besser gesagt, vor dem Labyrinthe kleinerer Rinn- sale, in welche die Gewässer des Tšu-kiaṅ sich unterhalb Kan-ton nach Süden verzweigen. Ein schmaler Arm trennt die Insel vom Festlande. Nach Kan-ton führt von Macao aus durch dieses Netz eine vielbefahrene Wasserstrasse, die »Innere Passage« im Gegensatz zur äusseren genannt, unter welcher man den Weg an der Ostküste der Insel entlang nach der Bocca Tigris versteht. Die Halbinsel Macao ist durch einen sandigen Isthmus von kaum hundert Schritt Breite mit der Insel verbunden. Quer über denselben läuft eine Mauer, bei welcher früher portugiesische und chinesische Wachtposten zu stehen pflegten. Der ganze Umfang der Halbinsel mag fast zwei Meilen betragen. — Dicht bei dem Isthmus erhebt sich ein Felsberg mit Burgtrümmern, von welchem ein be- waldeter Höhenzug, östlich vom Meere bespült, nach Süden läuft; schroffe Klippen und losgelöste Blöcke, zwischen welchen sich malerische Fischerhütten eingenistet haben, sind in die klare stille Bucht am Isthmus hin ausgestreut. An seinem südlichen Ende bildet dieser Höhenzug ein hübsches Vorgebirge, wendet sich dann, in breiten Felsmassen ansteigend, scharf nach Westen und läuft end- lich die Halbinsel quer durchsetzend in sanfter Abdachung bis an den ihr nördliches Ufer bespülenden Meeresarm. Auf seinen Gipfeln thronen die portugiesischen Festen, die nach Süden das hohe Meer , nach Norden die fruchtbare Ebene bis zum Isthmus beherrschen. Westlich von jener Abdachung zieht sich die Halb- insel zu einem schmalen niedrigen Sattel zusammen, auf welchem die Stadt Macao liegt, und steigt jenseit derselben zu einem schroffen Felscap mit doppeltem Gipfel auf, welches spitz in die See aus- läuft. Neben diesem Vorgebirge mündet der schmale versandete Eingang des » Inneren Hafens «, der sich nordöstlich zu einem tief in die Insel schneidenden Becken mit grünen Inseln erweitert. Die Ufer säumen auch jenseit des Isthmus fruchtbare bergumkränzte Ebenen. Die vornehmere portugiesische Seite der Stadt blickt südlich auf das hohe Meer ; hier stehen an der » Praja « die stattlichsten Gebäude. Dahinter führen abschüssige Gassen über den schmalen Sattel nach dem inneren Hafenbecken, das von chinesischen Fahr- zeugen jeder Gattung wimmelt; für tiefgehende westländische Schiffe Die Portugiesen von Macao . XIX. ist die Einfahrt zu seicht. — Die Strassen sind winklig, die Häuser hoch und luftig gebaut, mit wenigen Fenstern und freundlichen Altanen wie im südlichsten Europa . Stattliche Kirchen und Klöster mit schattigen Gärten liegen in der Stadt zerstreut. Die Strassen am inneren Hafen sind vorwiegend von Chinesen bewohnt und sehr belebt; in denen der Portugiesen hört man unheimlich den eigenen Tritt. Die Gründung Macao’s und das Verhältniss der Colonie zur chinesischen Regierung wurde in einem früheren Abschnitt berührt, ihre Ansprüche auf Oberheit scheinen die Kaiser bis in neuere Zeit nicht aufgegeben zu haben. Säcke mit portugiesischen Goldstücken, der Grundzins der Colonisten, der bis 500 Tael jährlich betragen haben soll, wurden von den Alliirten 1860 in Yuaṅ-miṅ-yuaṅ gefun- den. Die portugiesischen Behörden regieren nur ihre eigenen Unter- thanen; die Chinesen, weitaus die Ueberzahl der Bevölkerung, stehen unter Jurisdiction der in der Stadt wohnenden, von der Bezirksregierung der Insel Hiaṅ-šan und dem Vicekönig von Kuaṅ- tuṅ delegirten Mandarinen. Dieses Verhältniss führte beständig zu Conflicten; der Vortheile des Handels wegen aber liessen sich die Portugiesen die ärgsten Uebergriffe gefallen. Die Opium-Einfuhr war in Macao ursprünglich erlaubt und blieb auch nach dem Ver- bot noch lange auf diese Colonie beschränkt, die erst in Verfall gerieth, seitdem die Eifersucht der Portugiesen die englischen Schmuggler nach der Insel Lin-tin vor der Mündung des Tšu-kiaṅ trieb. Seit Gründung von Hong-kong und den neueren Verträgen beschränkt sich der Handel von Macao auf wenige Einfuhr-Artikel von den Sunda-Inseln und Indien , welche die Chinesen hier am besten einschmuggeln können. Träge und hochmüthig sollen die Portugiesen der Colonie in grosser Armuth leben; viele der jüngeren Männer sind ihrer Kenntniss des Chinesischen wegen in den grossen Handlungshäusern von Hong-kong und Kan-ton angestellt, die übrigen fristen ihr Dasein im süssen Nichtsthun kleiner Bedien- stungen, an welchen die Colonialregierung reich zu sein scheint. Die Garnison kostete 1830 nach Gützlaff 29,622 Tael , die Civilverwaltung 24,470 Tael ; Kirchen und Klöster kosteten 8730 Tael , die ausserordentlichen Aus- gaben betrugen 46,629 Tael , die Ausgabe im Ganzen also 109,451 Tael gegen eine Einnahme von 69,183 Tael . — Die Bevölkerung betrug damals 1202 »Weisse« Männer, 2149 »Weisse« Frauen, keineswegs lauter reinblütige Kaukasier, 350 männliche, 779 weibliche Sclaven; 30 Männer und 118 Frauen verschiedener Abstammung. Die chinesische Bevölkerung wurde damals auf 30,000 Köpfe geschätzt. XIX. Tempel. In wenigen Familien soll sich rein portugiesisches Geblüt erhalten haben; die Heirathen mit Chinesinnen waren besonders früher an der Tagesordnung. Im Ganzen sind die Portugiesen von Macao ein vertrocknetes, unschönes Geschlecht von kleinem schwächlichem Körperbau und gelber Hautfarbe, dessen Aeusseres wenig Vertrauen erweckt. — Sonntags und Donnerstags versammelte sich die schöne Welt auf der Praja , wo gegen Abend die Militärmusik spielte. Die Garnison bestand aus 150 gut gekleideten Soldaten von der ver- schiedensten Hautfarbe, meist Mulatten und Schwarzen aus Timur , von wo auch viele Sclaven nach Macao gebracht wurden. So einsam und langweilig die Praja , so belebt sind die chinesischen Gassen am inneren Hafen; in fünf Minuten geht man hinüber. Am Quai steht dort ein bunter Tempel neuester Gründung, von der hohen Stufe der Ausbildung zeugend, auf welcher die Bau- handwerke sich in China bis heute erhalten haben. S. Ansichten aus Japan , China und Siam IX. Die Kachel- und Stuckarbeit der Dachfirst, der Friese und Krönungen ist von der höchsten technischen Vollendung, ebenso die Steinmetzarbeit der Pfeiler und Schwellen aus weissem Granit, deren kunstreiche Kehlungen und Sculpturen wie mit dem Hobel und Schnitzmesser vollendet sind. Die vergoldeten Inschriften und Embleme stehen darauf in flachem Relief gemeisselt, das ein schmaler Zinoberrand scharf vom glänzenden Grunde abhebt. Das Innere bildet ein Hypäthron, in dessen Mitte mächtiges Himmelslicht einströmt, wäh- rend die umgebenden Hallen in magische Dämmerung gehüllt sind. Eine reizende Wirkung macht es, wenn die hochstehende Sonne in den weissen Pulverdampf der im Mittelraum abgebrannten Feuer- werke hineinscheint. Am Eingang des inneren Hafens liegt westlich von der Stadt eine Tempelanlage zwischen grossen, von dichten Wipfeln beschat- teten Felsblöcken. Vom Uferquai führen einige Stufen zum Portal einer breiten mit Tempeln und Capellen umgebenen Terrasse hinan, welche den anmuthigsten Blick auf den Hafen bietet. Weitere Treppenfluchten steigen durch wild übereinandergewürfelte Fels- blöcke zu anderen Tempelchen und daran vorüber nach einem Stationspfad hinan, der an Schreinen und Götzen vorbei im won- nigsten Schatten zum Gipfel des Hügels hinanklimmt. An einem Bambusgebüsch auf der Höhe hängen allerlei Votivgaben gläubiger Schiffer, welchen der Tempel besonders lieb zu sein scheint; davon Garten des Camoens. XIX. zeugt auch die auf einem Felsblock gemalte Dschunke vor der Terrasse am Uferquai. — Reizend ist der Blick durch dunkele Wipfel auf die helle lachende Bucht mit den grünen Inseln und ferne duftige Berge, reizend auch der Blick vom Wasser auf die bunten Tempelgebäude, deren zackige Schnörkel im tiefsten Schatten dunkelgrüner Wipfel schwimmen. S. Ansichten aus Japan , China und Siam IX. Mehrere dem Hafen zugekehrte Felsblöcke tragen riesige Inschriften. Die ganze Anlage soll sehr alt sein; nach unverbürgter Tradition hätten die Portugiesen diesen » Ma-kok -Tempel« schon im 16. Jahrhundert vorgefunden und ihre Colonie danach benannt. Dass in dem geschützten Winkel am schmalen Eingang des fischreichen Binnenmeeres schon in frühen Zeiten Seefahrer angesiedelt waren, ist mehr als wahrscheinlich; der Fleck ist wie geschaffen für Piraten und Fischer, und noch jetzt der Mittelpunkt des chinesischen Schiffsverkehrs. Eine Reihe der primitivsten Hütten, deren Bedachung oft ein umgekehrtes Boot bildet, und mattengedeckte Arbeitsschuppen der Schiffszimmerleute säumen das felsige Ufer. Nach Westen strekt sich jenseit des Ma-kok -Tempels das Vorgebirge kahl und steinig in die See. Am entgegengesetzten östlichen Ende der Stadt liegt der Garten mit der »Grotte« des Camoens. Zu des Dichters Zeit mag es eine liebliche Einöde gewesen sein; alte Banyanen umklammern mit gewaltigem Wurzelnetz die wild über einander gestürzten Fels- blöcke, zwischen welchen Bambusgebüsch. Pisang und Palmen spriessen; — aber den ebenen Boden darunter decken Gemüsefelder mit graden Gartenwegen; nur an wenigen Stellen lässt sich der Eindruck unverkümmert geniessen. Die »Grotte« ist ein dunkeler Schlupfwinkel unter überhängenden Felsen, mit einer angestrichenen Büste des Dichters; darüber steht ein geschmackloser Pavillon. Begeisterte Reisende haben sich in Versen und Denksprüchen ver- ewigt; ein nüchterner Deutscher schrieb dazu das alte »Narrenhände beschmieren Tisch’ und Wände«. — Ein Pfad führt zwischen den Felsen zu einem höher gelegenen Thürmchen mit reizender Aussicht auf das Hafenbecken und die angebaute Ebene, die sich bis zum Isthmus erstreckt; hier machte La Peyrouse eine astronomische Ob- servation ehe er nach den nordchinesischen Meeren segelte; die darauf bezügliche Inschrift gilt als die letzte Spur seines Daseins. Die Ebene zwischen der Stadt und dem Isthmus gleicht einem Garten; die Chinesen haben sie mit Wassergräben durchfurcht, aus XIX. Einschiffung. welchen der fleissige Landmann nach Bedürfniss jede einzelne Pflanze netzt. Hier gedeiht unter sorgsamer Pflege die Kartoffel, welche die Fremden in Hong-kong und Kan-ton theuer bezahlen. Unter dichtem Gebüsch kauern chinesische Dörfchen am Bergeshang, und am Strande liegen malerische Ansiedlungen armer Fischer ausge- streut, die ihre verbrauchten alten Boote auf Pfähle gesetzt und zu ländlichen Wohnungen eingerichtet haben. Der portugiesische Gouverneur von Macao war abwesend; Graf Eulenburg trat in keine Beziehung zu den Behörden, besuchte aber Herrn Marques , dessen gutes Befinden völlige Heilung ver- sprach. — Zum Frühstück versammelte man sich am 4. December bei Herrn Overbeck , der auf der Arkona von Hong-kong mit herüberge- kommen war; der Abend vereinigte uns im Hause des Herrn von Carlo- witz . — Am Morgen des 5. December begab sich der Gesandte mit seinen Begleitern an Bord der Arkona, die, vom portugiesischen Fort mit 19 Schüssen salutirt, gegen Mittag in See ging. K urz vor Abfahrt der Arkona traf in Hong-kong die Nachricht von dem Staatsstreich ein, durch welchen der Prinz von Kuṅ seine Gegner beseitigte. Man erzählte schon vorher in Pe-kiṅ , die Kaiserin-Wittwe Hien-fuṅ ’s kinderlose Wittwe. Die Mutter des Thronerben war eine Frau aus dem Harem, die erst nach Hien-fuṅ ’s Tode zur »Kaiserin« erhoben wurde. An Rang scheint die Kaiserin-Wittwe über der Kaiserin-Mutter gestanden zu haben; nur von Jener ist die Rede, wo es sich um die Regentschaft handelt. habe den Prinzen bei seinem Eintreffen in Dže- hol zur Rede gestellt, weil er nicht früher gekommen wäre; dabei sei entdeckt worden, dass der Regentschaftsrath ihre bejahende Antwort auf seine Bitte um Erlaubniss zur Reise in das Gegentheil umänderte. Das hätte der Kaiserin die Augen geöffnet über die Absichten ihrer Umgebung. Auf des Prinzen Rath wäre die Ueber- siedelung nach der Hauptstadt beschlossen worden. Wie die Fäden weiter gesponnen wurden, ist unklar; die veröffentlichten Thatsachen beginnen mit dem Einzuge des jungen Kaisers in Pe-kiṅ am 1. November 1861. Der Prinz von Kuṅ ging mit starkem Gefolge dem kaiserlichen Zuge entgegen. Die Mit- glieder des Regentschaftsrathes wollten ihm den Zutritt zu den Kaiserinnen und dem Thronerben verwehren; er drohte jedoch mit Gewalt, führte den Zug in die Hauptstadt, versammelte sofort den Regentschaftsrath und verlas vor demselben folgendes kaiserliche Decret, das sein jüngerer Bruder, der Prinz von Tšuṅ , in Džehol mit den Kaiserinnen vorbereitet hatte. »Den Prinzen, Edelen und Würdenträgern des Reiches wird hiermit kundgethan, dass die Unruhen an der Seeküste im vorigen Jahr und die Aufregung in der Hauptstadt durchaus nur veranlasst wurden durch die lasterhafte Politik der betheiligten Prinzen und Mi- nister. Tsae-yuen und sein Amtsgenosse Mu-yin waren ganz beson- ders ungeschickt auf friedliche Rathschläge einzugehen, und konnten, da sie kein anderes Mittel zur Abwälzung ihrer Verantwortlichkeit fanden, nur darauf ausgehen, die englischen Unterhändler in ihre Ge- walt zu locken und gefangen zu nehmen, wodurch an den fremden Völkern Verrath geübt wurde. Ferner, als Yuaṅ-miṅ-yuaṅ und Hai-tien geplündert wurden und Seine verstorbene Majestät in Folge dessen nach Džehol reisten, war das Gemüth des Geheiligten schwer XIX. Der Staatsstreich in Pe-kin . ergriffen von solcher Bedrängniss; und nachdem zur rechten Zeit der Prinz und die Minister, welche mit der allgemeinen Verwaltung der fremden Angelegenheiten betraut sind, die zu Erledigung kommenden auswärtigen Fragen gut geordnet hatten und die gewöhnliche Ruhe der Hauptstadt innerhalb und ausserhalb der Mauern wiederhergestellt war, verlangten Seine Majestät einmal über das andere von den Prinzen und Ministern ( Tsae-yuen und Genossen) die Ausfertigung eines Decretes, welches seine Rückkehr ankündigte. Tsae-yuen , Twan-wa und Su-tšuen aber verbargen ihm, Jeder des Anderen Falschheit för- dernd, die Thatsachen, welche alle Menschen bezeugten, und erklärten beständig, dass die Fremden in Gemüth und Handlung immer An- schläge machten. Seine dahingeschiedene Majestät fanden, geängstet und abgezehrt, keine Ruhe bei Tag und Nacht. Jenseit der Grenze war auch die Kälte streng; so verschlimmerte sich das Unwohlsein des geheiligten Herrn, bis er am 17. Tage des 7. Mondes auf dem Drachen aufstieg, ein Gast in der Höhe zu sein. An den Boden gestreckt weinten wir zum Himmel; innen fühlten wir es wie Feuer brennen. Rückwärts blickend bedachten wir, dass die Schlechtigkeit des Tsae- yuen und der Anderen im Verbergen der Wahrheit nicht nur unseren bitteren Zorn, sondern den bitteren Zorn aller Beamten und Unter- thanen des Reiches verdienten; und es war bei der Thronbesteigung unser erster Wunsch, ihre Schuld mit Strenge zu bestrafen. In Be- trachtung jedoch, dass Seine dahingegangene Majestät sie in seinen letzten Augenblicken zu Ministern bestellt hatte, verzogen wir eine Weile, in Erwartung, dass sie das Vergangene gut machen sollten. Aber nichts dergleichen. Am 11. des 8. Mondes (15. September) be- riefen wir Tsae-yuen und die anderen Mitglieder des Rathes der Acht in unsere Gegenwart. Der Censor Tuṅ-yuṅ-tšuan hatte, indem er in einer Denkschrift respectvoll seine beschränkten Ansichten darlegte, gebeten, dass die Kaiserin-Wittwe auf einige Jahre als Regentin fun- giren sollte, und dass uns die Regierung übergeben würde, sobald wir dazu fähig wären; auch dass ein oder zwei Prinzen vom höchsten Range gewählt und zu Räthen ernannt würden; auch dass ein oder zwei Würdenträger des Reiches ausgewählt und zu unseren Lehrern bestellt würden; und diese drei Vorschläge entsprachen ganz unserer Neigung. — Zwar giebt es für die Regentschaft einer Kaiserin-Wittwe in unserer Dynastie kein Beispiel; aber können wir uns fest an be- stehende Regeln binden, wenn doch von allen uns von der dahin- gegangenen Majestät überkommenen Pflichten die höchste die ist, dass wir nur an die richtige Leitung des Staates und die Wohlfahrt des Volkes denken sollen? Das empfehlen die Worte »Bei Geschäften ist Der Staatsstreich in Pe-kiṅ . XIX. die Hauptsache, solche Aenderungen zu treffen, als die Umstände er- fordern«. Wir gaben deshalb persönlich Tsae-yuen und seinen Amts- genossen den ausdrücklichen Befehl, ein Decret zu erlassen, das des Censors Bitte gewährte. Als sie aber erschienen um ihre Antwort zu geben, vergassen sie so gänzlich ihre Pflichten als unsere Diener, dass sie in schreiendem Ton Einwürfe erhoben. Zweitens, als sie das Decret ausfertigten, das in unserem Namen erlassen werden sollte, sind sie unter dem Schein des Gehorsams uns im Geheimen ungehorsam gewesen, indem sie sich erkühnten Aenderungen in dem Erlass vorzunehmen, den sie dann als unsere Willensäusserung publicirten. Was in aller Welt war ihr Motiv dabei? Wenn noch dazu bei jeder Gelegenheit Tsae-yuen vorschützte, dass Dieses oder Jenes unthunlich sei, weil sie sich nicht die höchste Macht anzumaassen wagten, — was war wohl diese Handlung anderes als eine Anmaassung der höch- sten Macht? Wenn auch unsere eigene Jugend und die unvollkommene Kenntniss der Kaiserin-Wittwe von den Staatsgeschäften es in ihre Macht gelegt hätten, Betrug und Täuschung zu üben so weit wir be- theiligt sind, so könnten sie doch nicht das ganze Reich betrügen; und wollten wir länger Nachsicht üben gegen Diejenigen, welche sich so undankbar zeigten für die grosse Gunst Seiner dahingegangenen Ma- jestät, wie sollten wir es, in Ehrfurcht nach oben blickend, vor seinem Geist, der jetzt im Himmel ist, verantworten oder wie der öffentlichen Meinung des ganzen Reiches Genüge leisten? Wir befehlen also, dass Tsae-yuen , Twan-wa und Su-tšuen aus ihren Stellungen entfernt werden und dass Kiṅ-šan , Mu-yin , Kwaṅ-yuen , Tu-han , Tsian-yu-yiṅ aus dem Grossen Staatsrath scheiden; und wir beauftragen den Prinzen von Kuṅ im Einvernehmen mit dem Gross-Secretariat, den sechs Ministerien, den neun hohen Ge- richtshöfen, den Han-lin-yuen , den Šen-tse-fu und den Censoren unparteiisch zu überlegen und zu berichten über den Grad der Strafe, dessen sich jeder Einzelne dem Gesetze nach durch seine Verbrechen schuldig gemacht hat. In Bezug auf die Form, in welcher Ihre Majestät die Kaiserin- Wittwe die Regierung leiten soll, befehlen wir denselben Würdenträgern, Rath zu pflegen und uns zu berichten. Ein ausserordentliches Decret.« Nach Verlesung dieses Befehls fragte der Prinz von Kuṅ die Versammelten ohne ihnen Zeit zu Erörterungen zu lassen, ob sie gehorchten; auf ihr Ja befahl er ihnen, sich zu entfernen. Wahrscheinlich waren für den Fall der Widersetzlichkeit alle XIX. Der Staatsstreich in Pe-kiṅ . Maassregeln getroffen. Die Regentschaftsräthe sollen sich darauf in den Palast begeben haben; über das, was sich dort zu- trug, giebt folgendes Decret einigen Aufschluss, das an demselben Abend ausgefertigt wurde. »Da die drei Individuen Tsae-yuen , Twan-wa und Su-tšuen schon vor unserer Abreise von unserem Hof in Džehol ihre Stellung als unsere Diener vergessen hatten, so befahlen wir Yi-wan , Prinzen von Tšuṅ , für uns ein Decret auszufertigen, welches bestimmte, dass Tsae-yuen und die beiden anderen aus ihren Stellungen entfernt wür- den; und wir liessen heute Yi-sin , Prinzen von Kuṅ , in unsere Gegen- wart berufen, mit dem Befehl, die Gross-Secretäre Kwei-liaṅ und Tšan-tsu-pei , und Wen-siaṅ , Mitglied des Staatsraths und Vice-Prä- sidenten des Finanz-Ministeriums mitzubringen. Tsae-yuen aber und seine Genossen nahmen sich heraus, ihren Eintritt verhindern zu wollen, indem sie mit frecher Heftigkeit erklärten, es zieme sich nicht, dass wir äussere Minister (solche, die nicht zum Regentschaftsrath ge- hörten) vor uns beriefen. Wo würde solche Unverschämtheit enden? Durch unser früheres Decret wurden sie ihrer Aemter entsetzt; aber dieser Spruch steht nicht im Verhältniss zu ihrem Vergehen. Wir befehlen, das Yi-sin , Prinz von Kuṅ , Kwei-liaṅ , Tšan- tsu-pei und Wen-siaṅ sofort unseren Willen bekannt machen, dass Tsae-yuen , Twan-wa und Su-tšuen ihres erblichen Ranges entkleidet und vor Gericht gestellt werden. Ihre Angelegenheit wird vor den höchsten Gerichtshof verwiesen, mit welchem die Mitglieder des Gross- Secretariates, der neun hohen Gerichtshöfe, die Han-lin-yuen , die Šen-tse-fu und die Censoren eine strenge Strafe für ihre Vergehen aussprechen werden.« Gleich darauf erschienen am 2. November noch zwei andere Decrete: das erste befahl dem Prinzen von Tšuṅ , Su-tšuen zu ver- haften; das zweite beauftragte die höchsten Staatsbehörden mit Prüfung zweier Denkschriften, welche die Regentschaft der Kaiserin befürworteten. Die eine rührte von Kia-tšiṅ , Tšan-tsu-pei und anderen Civilbeamten, die andere von dem in diesen Blättern schon genannten Tartaren-General Tšen-pao her. Der Gross-Secretär Kia-tšiṅ stellt zunächst den Satz auf, dass die höchste Macht niemals in die Hand eines Unterthanen kommen dürfe, weil solcher sie sich mit der Zeit aneigne; ferner dürften die Gesetze der Etiquette auch nicht ein Haarbreit über- schritten werden, weil sonst Missbräuche entständen. Der Ver- fasser beweist dann aus dem Wortlaut von Hien-fuṅ ’s letztwilliger Der Staatsstreich in Pe-kiṅ . XIX. Verfügung, dass der Regentschaftsrath nur den Thronerben unter- stützen, nicht selbst regieren solle; seine Stellung sei die frühere des Grossen Staatsraths, der dem Kaiser alle Angelegenheiten vor- getragen, seinen Willen erfahren und danach die Decrete aus- gefertigt habe, welche dem Kaiser noch zur Bestätigung vorgelegt wurden. Was der Erhabene darin missbilligte, habe er mit dem Zinoberstift geändert. Bei dieser Einrichtung bleibe die höchste Macht wirklich in Händen des Herrschers; eine Fälschung seines Willens, eine Vertretung seiner Person sei dadurch ausgeschlos- sen. Der Regentschaftsrath dagegen beschliesse ganz selbstständig, zeige dem Kaiser nur einen Augenblick die ausgefertigten De- crete und versehe sie dann mit dem kaiserlichen Siegel, das ihnen bindende Kraft verleiht. So übten diese Räthe in Wahrheit die kaiserliche Macht, was mit der Zeit im ganzen Reiche Besorgniss und Zweifel erregen müsse. Die einzige angemessene Auskunft unter den waltenden Umständen wäre die Einsetzung der Kaiserin- Wittwe zur Regentin; dann hätte die Staatsverwaltung wieder einen persönlichen Mittelpunct, an den sie berichten, von dem sie Ent- scheidungen einholen könne. Nur solche Regentschaft wäre eine effective, keine fingirte. Nun werden Beispiele von Regentinnen aus der älteren chinesischen Geschichte aufgeführt. — Der junge Kaiser müsse nothwendig einige Jahre ganz dem Studium der Ge- schichte und Poesie leben, dann aber selbst das Scepter ergreifen. — Ob die Formen des Empfanges der Staatsdiener durch die Regentin dieselben wie unter den Kaisern bleiben oder geändert werden sollten, darüber müssten die Räthe der Krone ihre Vorschläge machen, Tšen-pao , der immer ein heftiger Gegner des Su-tšuen ge- gewesen sein soll, spricht in demselben Sinne noch unumwundener. Der Regentschaftsrath begehe Handlungen, die nur dem Kaiser oder der Kaiserin Wittwe ziemten. Die Zurückweisung der Denk- schrift des Censors Tuṅ-yuen-tšun verrathe seine selbstsüchtigen Zwecke. Trotz allen Bemühungen des Regentschaftsrathes, seinen Decreten Ansehn zu geben, habe das Volk doch keine Achtung davor und betrachte sie nicht als Ausfluss des kaiserlichen Willens. Allgemein herrsche die Neigung ihnen zu widerstreben u. s. w. Rebellionen müssten unterdrückt werden, aber grössere Gefahren drohten im Palaste. Beide Denkschriften scheinen mehrere Tage vor dem Staats- streich überreicht worden zu sein. Der Prinz von Tšuṅ , des Prinzen XIX. Der Staatsstreich in Pe-kiṅ . Kuṅ jüngerer Bruder, muss in Džehol seine Fäden sehr fein ge- sponnen haben, um die feindliche Parthei so sicher zu machen. Tšen-pao hielt sich wahrscheinlich zur Zeit des Staatsstreiches heimlich in Pe-kiṅ auf: nach des Kaisers Tode war er, offenbar mit politischen Zwecken, nach Džehol geeilt, vom Regentschafts- rath aber mit grobem Verweis, dass er ohne Erlaubniss seinen Posten verlassen habe, fortgeschickt worden, und kam am 1. October wieder in Pe-kiṅ an. War er am 1. November nicht selbst dort, so hatte er wohl seine Maassregeln getroffen; denn die Prinzen von Kuṅ und Tšuṅ handelten mit voller Sicherheit des Erfolges. Tsae-yuen und Twan-wa wurden am 2. November ohne Umstände verhaftet. Su-tšuen , welcher die kaiserliche Leiche zu geleiten hatte, war mit derselben eine Tagereise zurückgeblieben. Der Prinz von Tsuṅ eilt ihm mit einem Trupp zuverlässiger Reiter entgegen und trifft ihn wenige Meilen von Pe-kiṅ in einem Ya- mum übernachtend; er schreitet durch die Wachen und ruft Su- tšuen durch die verschlossene Thür des Schlafgemaches zu, er solle öffnen und sich verhaften lassen. Su-tšuen höhnt das kaiser- liche Decret, da nur der Regentschaftsrath zu befehlen habe, worauf der Prinz die Thür einschlägt und den Würdigen beim Kragen packt: »Dann verhafte ich dich auf eigene Hand.« Su- tšuen , der eine Frau seines Harems bei sich hatte, leistete weiter keinen Widerstand und wurde nach Pe-kiṅ geschleppt. Der Um- stand, dass er, die kaiserliche Leiche geleitend, sein Harem mit sich führte, war in den Augen des Volkes ein Capitalverbrechen. In Pe-kiṅ herrschte die freudigste Erregung; nun die Frev- ler verhaftet waren, schwand alle Furcht und Scheu. Das bündige Verfahren ihrer Gegner entzückte nun gar die Menge, die ja überall Gefallen findet an der Kraft, und erhöhte die Popularität der Prinzen von Kuṅ und von Tšuṅ . — Am 5. November begann der Pro- zess und am 7. Nachmittags wurde der Spruch gefällt, der auf langsame Hinrichtung aller drei Angeklagten, nach chinesischer Anschauung die schmachvollste Todesart lautete; er sollte der Kaiserin-Wittwe Anlass zu einem Gnadenact geben und wurde von ihr gemildert, für Su-tšuen auf schleunige Enthauptung, für Tsae- yuen und Twan-wa auf Selbstentleibung im Kerker. Am Morgen des 8. November mussten ihnen die Fürsten von Wui und Su , welche in Džehol zu ihrer Parthei gestanden hatten, das Urtheil mit- theilen. Tsae-yuen und Twan-wa wurden unmittelbar darauf in IV. 14 Der Staatsstreich in Pe-kiṅ . XIX. ein für solche Zwecke eingerichtetes Gemach geführt: der Ver- urtheilte tritt auf einen Schemel und steckt das Haupt in eine von der Decke herabhangende Schlinge, worauf der Schemel fortgezogen wird. — Diese Strafe zieht nicht Confiscirung der Güter nach sich wie die Enthauptung; der fürstliche Rang der Prinzen von Ei und Tšiṅ wurde jedoch ihren Neffen mit Uebergehung der eigenen Söhne zuerkannt. Su-tšuen wurde am Nachmittag des 8. November auf dem Richtplatz für gemeine Verbrecher in der Chinesenstadt enthauptet. Vorher soll man ihn in das Kerkergemach geführt haben, wo die entseelten Leiber seines Bruders und des Prinzen von Ei hin- gen. Zur Richtstätte wurde er in unbedecktem Karren gefahren, vor ihm her zwei Scharfrichter auf ähnlichem Fuhrwerk. In ele- gantem Ueberwurf von weissem Lammfell soll er mit unbeküm- merter Miene im Karren gesessen, sich zuweilen vornehm den Staub abgeschüttelt und dem Kärrner seine Achtlosigkeit verwiesen haben, wenn er gegen einen Stein fuhr. Ein Vice-Präsident des Straf- gerichtshofes las ihm auf dem Richtplatz noch einmal sein Urtheil vor; Su-tšuen aber bestritt bis zum letzten Augenblick die Com- petenz seiner Richter. »Statt sich niederzuwerfen bei Verlesung des kaiserlichen Namens,« sagte ein chinesischer Literat der eng- lischen Gesandtschaft, »und wie ein Ehrenmann zu sterben, stiess er bis zum letzten Augenblick Laute aus, die nicht ehrfurchtsvoll waren.« Der Zudrang und die Verwünschungen des Volkes sollen unbeschreiblich gewesen sein. Am Tage der Hinrichtung erschien in der Zeitung von Pe- kiṅ ein kaiserlicher Erlass, welcher die Angeklagten des Aufruhrs zeiht und das Urtheil bestätigt. Tsae-yuen , Twan-wa und Su- tšuen werden beschuldigt, sich eigenmächtig als Regentschaftsrath constituirt zu haben; Hien-fuṅ hätte sie in der Todesstunde nur mündlich angewiesen, seinen Sohn zum Nachfolger einzusetzen; ein Decret sei weder ausgefertigt, noch der Befehl dazu ertheilt worden. Auf Grund eines gefälschten Documentes hätten sich die Ange- klagten die höchste Gewalt angemaasst, den allerhöchsten Willen aber niemals befragt. Das die Vorschläge des Censors Tuṅ-yuen- tšun billigende Rescript hätten sie willkürlich geändert, und, vor die Kaiserin-Wittwe berufen, in frechem Ton erklärt, sie hätten von ihr keine Befehle zu empfangen, in Regierungssachen würde die Kaiserin nicht gefragt. Auch durch andere Handlungen hätten sie XIX. Der Staatsstreich in Pe-kiṅ . bewiesen, dass sie keinen Herrn über sich erkennten; sie hätten in ungebührlicher Weise die dem Throne zunächst stehenden Prinzen von Geblüt von der Kaiserin-Wittwe zu entfernen gesucht. — Su- tšuen wird ausserdem beschuldigt, sich gegen alles geheiligte Her- kommen auf den kaiserlichen Thron gesetzt zu haben, auf unschick- liche Weise in den inneren kaiserlichen Gemächern ein- und aus- gegangen zu sein u. s. w. Ferner wird er des Versuches bezüchtigt, die beiden Kaiserinnen durch Ohrenbläsereien mit einander zu verfeinden. Von den fünf anderen Mitgliedern des Regentschaftsrathes wurde nur Mu-yin , — Tsae-yuen ’s Genosse bei den Verhandlungen in Tuṅ-tšau — nach den Militärposten in der Mongolei verbannt; allen übrigen erliess ein Gnadenact die von den Richtern ausge- sprochene Verbannung; nur ihrer Aemter wurden sie entsetzt. Der Prinz von Kuṅ erhielt den Titel eines Ei-tšiṅ-waṅ oder Prinzen-Ministers, den Posten als Präsident und Schatzmeister des höchsten Gerichtshofes und andere Würden, welche ihm den gröss- ten Einfluss sicherten. Die ihm angetragene Gnade des erblichen Fürstentitels für seine Nachkommen schlug er aus, der junge Kaiser erklärte aber, »geleitet durch die Kaiserin-Wittwe«, in einem amt- lichen Erlass, dass er nach erlangter Selbstständigkeit seinen Oheim zu dieser Ehre zwingen werde. Kwei-liaṅ , Wen-siaṅ und der Prinz von Tšuṅ erhielten hohe einflussreiche Aemter. Die verwittwete Kaiserin galt als eine Frau von strengem Rechtsgefühl, deren Charakter für die Zukunft gute Bürgschaft leistete; mit dem Prinzen von Kuṅ scheint sie die Seele der Bewe- gung gewesen zu sein. In Pe-kiṅ angelangt erklärte sie sogar öffentlich das Regentschaftsdecret für eine Fälschung: am Tage seiner Ausfertigung sei der Kaiser schon sprachlos gewesen, sie selbst keinen Augenblick von seiner Seite gewichen. — Der Staatsstreich des Jahres 1861 bezeichnet für China den Beginn einer neuen Aera. Zum ersten Male griff der Westen ge- staltend in das Schicksal des Reiches ein, auf das die früheren Kriege nur zersetzend gewirkt hatten. Der alte Wahn von der Weltherrschaft des Himmelssohnes wurde durch die Einnahme seiner Hauptstadt gebrochen; zur Geltung kam die neue Ordnung aber erst durch den Staatsstreich, welcher deren Bekenner an das Ruder brachte. Damit wird nicht behauptet, dass der alte Dünkel ausge- rottet sei; aber die Thatkraft und Würde der europäischen Völker 14* Der Staatsstreich in Pe-kiṅ . XIX. haben sich Geltung verschafft, die Chinesen können sich nicht mehr dem Einfluss einer Gesittung entziehen, deren Ueberlegenheit sie unwillig anerkennen, deren Vortheile sie aber gern benutzen. Die schnelle Besiegung der Tae-piṅ mit Hülfe europäischer Waffen, — ein Gedanke, den Hien-fuṅ noch entrüstet zurückwies — lieferte in den folgenden Jahren einen schlagenden Beweis für den gewal- tigen Umschwung in der öffentlichen Meinung. Unzweifelhaft förderte das Verhalten der fremden Diplomaten in Pe-kiṅ wesentlich die Katastrophe vom 1. November, welche gewissermaassen den Schlussact der englischen Kriege bildet. Der Prinz von Kuṅ überzeugte sich, dass der Frieden mit den Fremden auf ihre Bedingungen nicht nur möglich, sondern der Wohlfahrt des Reiches förderlich, ja die einzige Bürgschaft für Besiegung der Rebellen sei. Blieben die Männer des Regentschaftsrathes am Ruder, so begann die Arbeit der Fremden von Frischem, ein neuer Krieg war unvermeidlich und führte muthmaasslich zum Sturze der Dynastie, wie der vom Prinzen Kuṅ im Vertrauen auf die Redlichkeit und Macht der Fremden ausgeführte Staatsstreich zu ihrer Befestigung führte. Wie schwach die Stellung des grossen Tšiṅ -Hauses im Herbst 1860 war, mögen folgende im Sommerpalast erbeutete Denkschriften zeigen, welche Hien-fuṅ ’s Flucht nach Džehol beleuchten. Saṅ- ko-lin-sin empfahl dieselbe nach dem Fall von Ta-ku , weil er die Fremden im offenen Felde zu schlagen hoffte. Ob der Gedanke von ihm ausging, weiss man nicht; von seiner politischen Tragweite hatte der Mongolenfürst wohl keinen Begriff. Saṅ-ko- lin-sin ’s Stellung zur Kriegsfrage ist niemals ganz aufgeklärt wor- den. 1859 galt er als Anstifter des Widerstandes; dass er da- mals sowohl wie 1860 in Ta-ku die Operationen leitete, ist sicher. Für seine Erbitterung gegen die Fremden zeugt auch unwiderleglich sein Auftreten gegen Herrn Parkes vor der Schlacht von Tšaṅ-kia- wan . An demselben Tage gewann aber Saṅ-ko-lin-sin Achtung vor den Alliirten, empfahl gleich darauf den Frieden und blieb dieser Gesinnung auch später treu. Den Wunsch, sich des Thrones zu bemächtigen, haben die Fremden ihm gewiss mit Unrecht angedichtet. Saṅ-ko-lin-sin ’s Denkschrift. Rein formelle Phrasen sind in diesem und den folgenden Documenten unter- drückt. Die Jahreszahlen sind in die christliche Zeitrechnung übersetzt. »Dein Knecht Saṅ-ko-lin-sin überreicht knieend eine Denk- schrift. In der Ueberzeugung, dass der Barbaren veränderliche Ge- XIX. Denkschrift des Saṅ-ko-lin-sin . müthsart es unmöglich machen wird eine friedliche Politik zu ver- folgen, bittet er im Namen der Fürsten und Herzöge der sechs Bünde Deine Majestät, eine Jagdreise anzutreten, damit die Maassregeln für den Angriff und die Vernichtung der Barbaren erleichtert werden mögen. — Dein Knecht hat kürzlich die Stellung von Ta-ku in Folge des plötzlichen gleichzeitigen Auffliegens der Pulvermagazine in den beiden nördlichen Festen, nicht durch Lässigkeit in deren Vertheidigung oder Unzulänglichkeit der Mittel verloren. Er fürchtet, dass es jetzt schwer sein wird die Barbaren zum Gehorsam zurückzuführen, und dass doch ihre Forderungen kaum erfüllt werden können. Dein Knecht hat die nöthigen Anordnungen längs der Strasse von Tien-tsin nach Tuṅ-tšau getroffen. Sollte bei Tuṅ-tšau gekämpft werden, so ist zu besorgen, dass die Bewohner von Pe-kiṅ in grosse Aufregung ge- rathen. Sieg oder Niederlage können von den Umständen eines Augen- blickes abhängen. Sollte, was ja möglich, ein Unglück geschehen, so würden die Handelsleute, welche in der Hauptstadt zusammenströmen, in Massen ausreissen, und, wenn zufällig die Soldaten den Muth ver- lieren sollten, so möchten die Folgen gewichtig sein. Dein Knecht er- fuhr von Deiner Majestät die grössten Gunstbezeugungen und hat da- für garnichts geleistet. Nach sorglicher Erwägung der jetzigen kriti- schen Lage schien ihm der beste Weg, der sich bot, — und den er auch eingeschlagen hat, — an die Fürsten und andere (Mitglieder) der sechs Bünde zu schreiben und sie zu ersuchen, mit ihren auserwähl- testen Truppen nach der Hauptstadt zu kommen, so dass sie Deine Majestät unterwegs mit gebührenden Ehren empfangen und sich dann mit den übrigen Truppen vereinigen könnten. Er bittet Deine Ma- jestät, den alten Brauch einer Jagdreise im Herbst zu befolgen und demgemäss die Hauptstadt auf einige Zeit zu verlassen; ferner auch, dass die zurückbleibenden Prinzen und Würdenträger an der Spitze der Staatsverwaltung Befehl erhalten, darauf zu achten, dass das Heer die Stadt in vollkommenem Vertheidigungszustand erhält, bis die Trup- pen der sechs Bünde zu ihnen stossen. Dann können alle zusammen den Feind angreifen und vernichten. Wenn zu dieser Zeit Deine Ma- jestät in der Hauptstadt wäre, so möchte nicht nur die Ausführung nothwendiger Anschläge behindert sein, sondern leider könnte dann auch Dein Gemüth unnütz bekümmert werden. Dein Knecht scheut sich nicht, so im Namen der Fürsten und Anderer aus den Bünden seine und ihre beschränkten Ansichten aus- zudrücken, um deren Ausführung er Deine Majestät dringend anzu- flehen fortfährt. Er hätte dann Freiheit, seine eigene Zeit und Art des Angriffs zu wählen, und könnte vorwärts oder rückwärts gehen, Kaiserliches Decret. XIX. wie die Ereignisse erheischten. Ohne Zweifel würde er die abscheu- liche Brut vom Angesicht der Erde fortfegen und seine früheren Fehler gut machen. Er richtet diese geheime Denkschrift an Deine Majestät, um Deine Entscheidung darüber zu erhalten u. s. w. Er wagt nicht, dieses durch den gewöhnlichen Boten zu senden, sondern vertraut es, nachdem er es ehrerbietig gesiegelt, dem Kuo-šui zu persönlicher Ueberreichung an u. s. w.« (Datirt vom 26. August.) Der Vorschlag, die Mongolen-Fürsten herbeizurufen, war es wohl vorzüglich, der Saṅ-ko-lin-sin bei den Fremden verdäch- tigte. Hien-fuṅ scheint sich dazu nicht entschlossen zu haben. Den Vorsatz der Flucht bekämpften wohl die meisten Räthe des Kaisers und scheuten sich nicht, deren feige Bemäntelung mit dem äussersten Freimuth in scharfen Worten zu brandmarken. Der Entwurf des ersten in den Denkschriften erwähnten »Zinober- Decretes« wurde in Yuaṅ-miṅ-yuaṅ erbeutet; vom zweiten bringt die Eingabe des Tsao-tuṅ-yuṅ den Wortlaut. Sie geben mit den anderen Documenten ein deutliches Bild jener Tage, beweisen aber auch, dass wenigstens damals noch, trotz der durch den Abbruch der Verhandlungen in Tien-tsin und das Vorrücken der Alliirten auf die Hauptstadt erweckten Bestürzung, neben den Gegnern des Prinzen von Kuṅ , welche zur Flucht trieben, auch viele andere Würdenträger zum Kriege drängten, welche die Flucht widerriethen. Die Macht der Fremden wurde von allen unterschätzt. Gegen Saṅ-ko-lin-sin ’s Person enthalten die Denkschriften kein Wort; im Gegentheil zeigen alle unbedingtes Vertrauen in seine Tüchtig- keit und Loyalität. Die »Personen in der Umgebung des Kaisers«, welche zur Flucht drängen, bezeichnen sicher Su-tšuen und seine Clique. Entwurf eines kaiserlichen Decretes in Zinoberschrift, in Hien-fuṅ ’s Zimmern gefunden. »Wir haben die Eingabe des Kwei-liaṅ und seiner Amts- genossen gelesen, in welcher sie sich über das Zusammenbrechen der Barbarenfrage verbreiten, und unsere Entrüstung ist grösser als wir ausdrücken können. Um die Bevölkerung dieses, des Bezirkes der Hauptstadt, vor den verderblichen Wirkungen des Giftes (Krieges) zu bewahren, hatten wir, in unserer Noth gezwungen, dem Versuche eines Ausgleichs unsere Zustimmung gegeben. Diese Barbaren bestanden nichtsdestoweniger mit rücksichtsloser Gewalt auf gewissen Zugeständ- nissen, so dass nichts übrig bleibt, als sie zum Tode zu bekämpfen. XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. Es ist ferner unmöglich, dass unsere Minister und Diener, Mand- schu wie Chinesen, welche Generationen hindurch Wohlthaten (unseres Hauses) empfingen, nicht dieselbe Feindschaft hegen, unseren Hass nicht theilen, dass sie sich nicht verbinden sollten, ihrem lange ange- häuften Zorn sein Recht werden zu lassen. Wir wollen jetzt an der Spitze unseres Heeres sofort nach Tuṅ-tšau rücken, um dort die Rache zu üben die der Himmel for- dert, einen Act der Strafe und Unterjochung auszuführen, dessen Folge weithin empfunden werden soll. Wir befehlen den Prinzen welche Zutritt haben, den hohen Officieren der Leibwache, den Mitgliedern des Grossen Rathes und den Würdenträgern des Hofstaates, mit grösster Eile in Berathung zu treten. Wir haben auch die vertrauliche Denkschrift des Saṅ-ko-lin- sin gelesen und für die Erwägung derselben sollen auch die Minister, die nicht den Zutritt haben und die uns heut über dieselbe Frage eine Denkschrift einreichten, zu einer Conferenz zusammentreten. Ein Special-Decret.« Die hier erwähnte Denkschrift ist wohl die nächste vom 9. September datirte, welcher andere in stürmischer Eile folgten. 1. Vom Haupt-Staatssecretär Kia-tšiṅ und fünfundzwanzig Anderen gezeichnet. »Der Minister Kia-tšiṅ und Andere überreichen knieend eine Denkschrift, in welcher sie, dem kaiserlichen Befehl gehorsam, ihre Ansichten über die gegenwärtige bedenkliche Lage ausdrücken. Am 24. Tage des 7. Mondes erhielten sie ein Zinober-Decret und zugleich eine Denkschrift des Saṅ-ko-lin-sin , von welcher sie Kenntniss nehmen sollten. Aus dem Decret ersehen sie ehrfurchtsvoll, dass ihr Kaiser sich vornahm, die Heerschaaren des Reiches in Person zu commandiren und nach Tuṅ-tšau zu gehen, um die gemeine Bar- baren-Brut auszurotten; und darin erkannten sie die feste Entschlossen- heit des geheiligten Himmelssohnes, der das Weltall beruhigt und lenkt. Aber sie bedenken, dass der fragliche Ort nicht Tan-yuen , und dass in heutiger Zeit kein Kau-tšun entstanden ist. Anspielung auf den Feldzug eines chinesischen Kaisers etwa um 1000 n. Chr., welcher die das Reich überfallenden Mongolen schlug. Der Nebel des Meeres würde durch den himmlischen Zorn zerstreut werden; aber sie glauben, dass der beabsichtigte Schritt nicht derjenige ist, welcher die Staats-Interessen am besten fördern würde, und sie meinen, dass er keinenfalls leichtfertig gethan werden müsse. Saṅ-ko-lin- sin ’s Vorschlag einer Jagdreise finden jedoch Deine Minister noch be- Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. XIX. denklicher. Wenn die von einer starken ununterbrochenen Linie von Festungswerken umgebene Hauptstadt nicht sicher ist, welchen Schutz sollen dann offene, nicht eingehegte Jagdgründe gewähren? Ferner: die Abreise Deiner Majestät würde im Gemüth der Be- völkerung die wildeste Aufregung hervorrufen.« (Hier folgen Anspie- lungen auf eine Episode der chinesischen Geschichte, aus welcher ge- folgert wird, dass der Kaiser, nachdem er einmal ausserhalb der Grossen Mauer wäre, leicht nicht zurückkehren möchte) ..... »Da die Bar- baren fähig waren Tien-tsin zu erreichen: was soll sie hindern, ebenso nach dem Loaṅ -Fluss »( Džehol )« vorzudringen. Deine Minister er- tragen nicht, bei den Gedanken zu verweilen, welche diese Erwägungen in ihrem Geiste erwecken. Ihrer stumpfen Einsicht will bedünken, dass die Menschen mit Rücksicht auf berechenbare Ereignisse handeln müssen, während sie in Unterwürfigkeit des Himmels unerforschliche Rathschlüsse erwarten. Sie können sich nur dem Glauben hingeben, dass der Himmel die humane und wohlthätige Regierung während der zweihundertjährigen Herrschaft über das Reich geschützt hat, und sie möchten sich in der gegenwärtigen Lage zur äussersten Anstrengung ermannen. Sie schlagen vor, dass Deine Majestät ein Edict erlässt, um das Volk zu beruhigen und zu muthigen Thaten anzufeuern; dass Allen, die sich auszeichneten, hohe Belohnungen verheissen würden, und dass besondere Sorgfalt aufgewendet würde, um das Heer in den Zustand vollkommener Wirksamkeit zu versetzen. Sie bitten, dass Deine Majestät den Prinzen und anderen damit Betrauten befehle, die Maassregeln für den Vertheidigungs- und Vertilgungskrieg zur Reife und Ausführung zu bringen. Sie bitten demüthig um Deiner Majestät Entscheidung u. s. w. 7. Mond. 24. Tag« (9. September.) 2. Denkschrift, unterzeichnet von Tsi-nen-kiṅ und vierzig Anderen. .... »Deine Minister finden, dass das Unternehmen einer Jagdreise wahrscheinlich die Stabilität der Regierung getährden würde, und bitten deshalb, dass Deine Majestät in der Hauptstadt bleiben möge. Deine Diener erfuhren mit äusserster Ueberraschung und Be- stürzung, dass in Folge des fehlgeschlagenen Versuches, die Barbaren zum Vergleich zu bewegen, Deine Majestät beschlossen hat eine Reise nach Džehol zu machen, und dass an die verschiedenen Banner-Abthei- lungen Befehle erlassen wurden, die nothwendigen Anstalten zu treffen. Da durch solches Verfahren die Sicherheit des Reiches gefährdet wer- den möchte, so wünschen Deine Minister im tiefen Gefühl ihrer Verant- XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. wortlichkeit die Gründe im Einzelnen darzulegen, welche, wie sie glau- ben, gegen seine Anwendung sprechen. Mehr als zweihundert Jahre sind verflossen seit Aufrichtung des Reiches durch Šun-tši und der Gründung des Tempels der Ahnen. Jetzt, da eine Zeit allgemeiner Noth und Bedrängniss eingetreten, ist es von der äussersten Wichtigkeit, dass die Gemüther des Volkes ruhig erhalten werden. Wenn aber Deine Majestät eine so ungewöhn- liche Reise in einem Augenblick unternimmt, da das Anrücken der aus- wärtigen Barbaren bevorsteht, so ist das eine Sache, welche die äusserste Bestürzung und Verwirrung erregen muss. Die täglichen Nachrichten von der gewaltsamen Wegnahme vieler Karren und Wagen an der Landstrasse hat schon viel Unruhe bei der Bevölkerung er- weckt; wenn aber Deine Majestät abreisen sollte, so würde eine Reihe von Unordnungen entstehen. Eine so gewaltige Störung der Ahnen- und Schutzgeister, wie diese willkürliche Herausforderung der Gefahr, muss gewiss später bittere aber unfruchtbare Reue im Gemüthe Deiner Majestät erzeugen. Diese Erwägungen bilden den ersten Grund, welchen Deine Minister gegen das Unternehmen der Jagdreise an- führen möchten. Die herbstliche Jagdreise wurde bis jetzt unternommen, wenn die Gelegenheit günstig schien, und nur in Perioden der Ruhe; in dieser Art war es eine Einrichtung unserer erhabenen Dynastie. Jetzt aber, da die Barbaren Unruhen erregen, da die Rebellen sich über das Land verbreiten, sieht das ganze Volk sowohl in der Hauptstadt als in den Provinzen auf Deine Majestät, die am Sitze der Regierung ge- genwärtig ist, als den Mittelpunct, von dem die Maassregeln der Staats- leitung und die Aufrechthaltung der Autorität und Ordnung ausgehen müssen. Diese plötzliche Abreise ohne irgend einen sichtbaren Zweck wird, obgleich eine Jagdreise genannt, den Anschein einer Flucht haben. Nicht allein wird sie dahin wirken, die Entschlossenheit der Truppen und ihrer Officiere in der Nähe der Hauptstadt zu erschüttern, sondern auch die Commandeure der verschiedenen Armeen in der Ferne werden mit Zweifel und Bestürzung erfüllt werden. Auch ist unzweifelhaft, dass die Nachricht davon den Muth der Rebellen sehr erhöhen wird. So müssen alle grossen Interessen des Reiches, vielleicht über die Möglichkeit der Rettung hinaus gefährdet werden. Darin liegt der zweite Grund unserer Bedenken gegen die Reise. Die kaiserliche Residenz ist sicher bewacht und der ehrwürdige Sitz der Majestät. Ein Augenblick wie der gegenwärtige, in welchem es dem Herrscher besonders ziemt darin zu bleiben, ist nicht geeignet einen Jagdzug vorzuschlagen. Zudem kann man, wenn überall Tumult Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. XIX. ist, nicht erwarten, dass die Polizei der Landstrassen in vollkommener Ordnung sei. Eine Reise nach Džehol wurde seit derjenigen des dahin- geschiedenen Kaisers Tau-kwaṅ vor vierzig Jahren nicht gemacht; die grosse Zahl der Wagen und Pferde wird die Bewohner der Gegenden durch welche sie kommen, sehr überraschen und erschrecken. Es heisst ferner, dass die Bevölkerung bei Džehol bei weitem nicht mehr so ordnungsliebend ist, wie früher. Räubereien an den Landstrassen sind häufig geworden. Die durch den Ausfall in den Bergwerken dem Elend preisgegebenen Menschen rotten sich zu Zehn und zu Hunderten zusammen und treiben sich Unruhen erregend herum. Wenn Deiner Majestät ein plötzliches Unglück zustiesse oder wenn Spione die Nachricht von Deiner Abwesenheit brächten, so wür- den die Barbaren zu neuen Unternehmungen ermuthigt werden. Wenn die Erörterungen über den Austausch der Verträge zu erfolgreichem Abschluss gebracht werden sollten, so würde es grosse Missstände verursachen, wenn auf Deiner Majestät Befehle lange ge- wartet werden müsste. Das ist der dritte Grund gegen die Reise. Seit Beginn des Krieges (wörtlich, des Aufruhrs) wurde der Schatz mehr und mehr belastet, und es ist sehr schwierig die noth- wendigen Ausgaben in der Hauptstadt zu bestreiten. Džehol ist der Sammelplatz der Mongolen, welche, wie es heisst, in den Zeiten des Kien-loṅ und Kia-kiṅ bei jeder Reise mit Ge- schenken im Belang von mehrmals zehn Millionen bedacht wurden. Der Zustand der Finanzen würde jetzt nicht erlauben diese Regel zu befolgen, und es wäre schwierig, die Unzufriedenheit der Tribut- pflichtigen über den Verlust des Geschenkes Deiner Majestät zu be- schwichtigen. Ferner: das erforderliche Geleit an Officieren, Truppen und Trabanten würde über 10,000 stark sein, von denen Viele, wenn Mangel an Vorräthen einträte, nicht am Durchgehen verhindert werden könnten. Endlich: ein grosses Stück Weges liegt längs der Grenze, wo sich Banditen nach Willkür herumtreiben, durch welche irgend ein unerwarteter Streich ausgeführt werden könnte. Diese Betrachtungen bilden den vierten Grund gegen die vor- geschlagene Reise. Möge nicht vorausgesetzt werden, dass Deine Minister ge- wichtige Argumente ohne Rücksicht auf Deiner Majestät Gefahr in einer bedenklichen Lage geltend machen, noch dass sie irgend etwas gegen eine gewöhnliche friedliche Reise vorbringen würden, wie sie in früheren Zeiten üblich war. XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. Wenn sie die Dinge vom practischen Standpunct betrachten, so können sie nicht begreifen, dass jetzt irgend eine Nothwendigkeit vor- liegt zu dem fraglichen Unternehmen. Gesteht man zu, dass die ganze Streitmacht der Barbaren kaum 10,000 Mann übersteigt und dass Saṅ- ko-lin-sin mehr als 30,000 commandirt, so haben sie keinen Zweifel, dass die Vielen die Wenigen schlagen werden. Aber sie möchten an die Thatsache erinnern, dass die Barbaren, welche fernher über den Ocean kamen, bis jetzt gezeigt haben, dass sie nur bedacht sind Han- del zu treiben. Sie schlichen sich in Kuaṅ-tuṅ , Fu-kian , Shang-hae und anderen Orten nur ein, um sich der Häfen zu bemächtigen, nicht um das Land in Besitz zu nehmen; auch haben sie keine Eroberung in China irgend versucht. Selbst der Punct ihrer Zulassung in Pe- kiṅ möchte befriedigend zu erledigen sein. So ist denn in Allem was vorgeht nichts, das ein grosses Unheil fürchten liesse. Wird aber vor dem Erscheinen der Barbaren die Flucht ausgeführt, so ist es unmög- lich zu sagen, welche Umwälzung die unmittelbare Folge sein könnte. Der Geist sträubt sich, über diesen Gegenstand nachzudenken. Weit besser wäre geziemende Ueberlegung der Sache, als spätere unfrucht- bare Reue. Noch eine Erwägung ist, dass es für Deine Majestät in ihrem jetzigen glücklichen Wohlbefinden nicht rathsam wäre, sich den Stra- pazen einer Reise während des noch heissen Herbstwetters aus- zusetzen. Das sind die beschränkten Ansichten Deiner Minister u. s. w. 7. Mond. 27. Tag« (12. September). 3. Denkschrift von Tsi-nen-kiṅ , Präsidenten der Civil-Ver- waltung, gezeichnet von dreiundzwanzig Anderen. »Dein Minister Tsi-nen-kiṅ und Andere überreichen knieend eine Denkschrift. Sie sprechen abermals ausführlich ihre Ansicht aus, um zu zeigen, dass die Abreise Deiner Majestät nach einem nördlich von Pe-kiṅ gelegenen Orte in der Hauptstadt grosse Aufregung verur- sachen muss, und dass das beste Mittel, die Ruhe herzustellen und den Geist der Armee zu stärken, sein würde, wenn Deine Majestät in Pe-kiṅ bliebe. In einer Zeit der öffentlichen Trübsal ist der Mann von he- roischer Gesinnung bereit, auf seinem Posten zu sterben; und in einer solchen Zeit schickt sich für das Benehmen der Vornehmen und Ge- ringen nur die vollkommenste Reinheit und Wahrhaftigkeit. Deiner Majestät Diener haben heute ehrfurchtsvoll das Zinober-Decret gelesen, welches erklärt, dass die Anstalten für den Jagdzug Deiner Majestät als Vorbereitungen dazu dienen sollen, persönlich in das Feld zu Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. XIX. rücken, und dass, wenn der Feind in der Gegend von Tuṅ-tšau oder Ma-tau betroffen wird, Deine Majestät mit starker Streitmacht dem ursprünglichen Beschlusse gemäss sich nach einem Orte nördlich von Pe-kiṅ verfügen und dort Stellung nehmen will. Sie bewundern die darin gezeigte schreckenverbreitende Tapferkeit und die wohl er- dachte Strategie. Aber der gemeine Haufen ist sehr langsam von Be- griff; er schöpft leicht Verdacht und schätzt nicht leicht die Dinge richtig; und man wird sagen, dass, da die Barbaren im Südosten der Hauptstadt stehen, die Veränderung des Unternehmens der Jagdreise in einen persönlichen Feldzug Deine Majestät bewegen sollte, zu Unter- stützung Saṅ-ko-lin-sin ’s in Tuṅ-tšau zu bleiben; dass das Einnehmen einer Stellung nördlich von der Hauptstadt ein Abweg vom Kriegs- schauplatz ist; und dass also, was dem Namen nach ein Feldzug, in Wahrheit eine Jagdreise sei. Das Gemüth des Volkes würde dadurch verwirrt, und den Truppen sänke der Muth. Wenn die Ausdrücke Vertheidigung und Widerstand in der That Flucht und Zerstreuung bedeuten, so wollen zwar Deine Minister Deiner Majestät nicht die Betrachtung aufdrängen, dass auf diese Weise die Tempel Deiner Ahnen und die Altäre der Schutzgeister verlassen würden (d. h., dass das Reich verloren wäre), aber sie fragen, wo könnte anders Deiner Majestät persönliche Sicherheit besser verbürgt sein als in der Hauptstadt? Jenseit des Hu-pi-kau -Passes (in der Grossen Mauer) ist der Aufenthalt der russischen Barbaren, und diese strebten beständig, zu Förderung irgend welcher verrätherischen Ab- sichten Mittheilungen an die Regierung in Pe-kiṅ zu richten. Diese Gegend wird auch von Banden berittener Räuber heimgesucht, die sich plötzlich zu Hunderten und Tausenden zusammenschaaren um Kauf- leute und Beamte anzugreifen, über die jedoch alle Berichte von den östlichen Mandarinen unterdrückt werden. Obgleich die Barbaren nahe bei Pe-kiṅ stehen mögen, so ist doch, da dessen Befestigungen stark, dessen Garnison zahlreich sind, in ihr keine Gefahr zu fürchten. Warum sollte also Deine Majestät in die Höhlen von Tigern und Wölfen gehen? Wenn behauptet wird, dass Deiner Majestät Abreise die Pläne der Barbaren durchkreuzen und sowohl die Kriegführung als den Friedensschluss erleichtern würde, je nachdem (das Eine oder das Andere) zweckmässig wäre, so sollte man auf der anderen Seite nicht vergessen, dass, wenn Unruhen in der Hauptstadt entstehen, die Urheber unserer Bedrängniss nicht die Barbaren, sondern wir selbst sein werden. Es mögen Einige in der Umgebung von Deiner Majestät Person sein, welche sagen, dass die wiederholten Versuche so vieler Deiner XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. Minister, Deine Majestät von der Reise abzubringen, aus persönlichen Motiven und aus dem Wunsche entspringen, ihre eigene Gefahr zu mindern. Darauf möchten sie erwiedern, dass eine Jagdreise bekannt- lich niemals der ganzen Körperschaft der Beamten Unbequemlichkeit verursachte, sondern im Gegentheil, dass, wenn sie ihren eigenen Vor- theil wünschen, sie das Project begünstigen würden; denn es würde ihnen selbst die Mittel bieten der Gefahr zu entrinnen. Diese drei Fragen bieten sich dar: Was geschieht, wenn Deine Majestät sich an einem ungeschützten Ort befindet? — Was geschieht, wenn Deiner Majestät Abreise Unruhen in der Hauptstadt hervorruft? — Was geschieht, wenn Deine Majestät irgendwo anders in ernstere Gefahren geräth, als in denen Du in Pe-kiṅ bist. Deine Majestät ist mit der Maxime vertraut, dass der Fürst verbunden ist sich für sein Land zu opfern. Aber ferne sei es von Deinen Ministern, in einer Zeit wie die gegenwärtige Deiner Majestät Gefühle verletzen zu wollen durch Anspielung auf solche Gedanken; und in der That, die Krisis ist durchaus nicht so ernst, um bei den- selben verweilen zu müssen. Die grosse Gefahr, die jetzt vermieden werden soll, ist der Ausbruch innerer Unruhen. Auf jede Gefahr hin legen Deine Minister die erneute Auseinandersetzung ihrer Ansichten dar, erwarten Deiner Majestät Befehle u. s. w. 7. Mond. 28. Tag.« (13. September.) 4. Denkschrift des Censor Ai-džin , von vierundsiebzig Ande- ren gezeichnet. »Dein Minister Ai-džin und Andere sprechen ehrfurchtsvoll ihre Ansicht aus, dass die Hauptstadt nicht leichtfertig verlassen wer- den darf. Am 24. Tage des gegenwärtigen Mondes empfingen die Prinzen und die Minister des Inneren Rathes ein Zinober-Decret, dahin lautend, dass Deine Majestät auf einige Zeit zur Jagd verreisen wolle. Deine Minister vernahmen das mit der äussersten Unruhe und Bestürzung. Sie möchten demüthig bemerken, dass, wenn auch die Barbarenschiffe Tien-tsin erreicht haben mögen, dieser Umstand doch in der Haupt- stadt nicht viel Furcht erregt hat. Der Thron ist es, in welchem alle Dinge gipfeln, auf welchen sich die Augen aller Menschen richten. Ein Schritt von des Kaisers Fuss erschüttert die Erde. Der fragliche Vorsatz muss also gefasst worden sein ohne ge- ziemende Erwägung der Gefahren, welche daraus entstehen würden. Unmöglich können der Hofstaat Deiner Majestät und die Prinzen und Grossen Deines Gefolges, deren Familien in Pe-kiṅ leben, geneigt sein einen sicheren Aufenthalt zu verlassen, selbst im Dienst der Denkschriften gegen das Kaisers Flucht. XIX. kaiserlichen Person. Die Menge des Gefolges würde, die Reise in Hast und Verwirrung beginnend, für Alles empfänglich sein, das ihnen Furcht einflössen könnte; und wenn sie sich auf der Reise zerstreuten, so möchte man kein Mittel finden, vorwärts oder rückwärts zu gehen. Seit (1820) dem Jahre, in welchem Seine selige Majestät die Jagdreise aussetzte, soll, wie man hört, das Land sehr verödet, die Reise-Paläste sollen verfallen und unbewohnbar sein. Wir wissen auch nicht gewiss, welche Gesinnung die jetzigen Bewohner hegen; aber das können wir mit Sicherheit behaupten, dass sie nicht so treu ergeben sind, als die Bewohner der Hauptstadt, die es seit 200 Jahren ist. Ferner ist Džehol nicht weit von San-hai-kwan , Niu-tšwaṅ und anderen den Barbaren zugänglichen Orten entfernt; es liegt auch in der Nähe der russischen Barbaren. Da nun dem so ist, wer kann es für sicher halten? Unsere Truppen sind mehrfach zahlreicher als die der Bar- baren; verliesse Deine Majestät aber den Hof, so würde Jedem der Muth sinken, panischer Schrecken würde ausbrechen, die Barbaren würden die Gelegenheit benutzen die Stadt zu nehmen, und wir würden schlimmer die Opfer ihrer Listen werden, als da die Männer von Lu Yü und Tšan-pan-tšan die Regierung einsetzten (um 1127). Von da an würde die Hauptstadt uns nicht mehr gehören und das Reich würde ihr Loos theilen. Was einen aus Prinzen und Ministern zu bildenden Regent- schaftsrath betrifft, der während Deiner Majestät zeitweiliger Abwesen- heit mit der Verwaltung beauftragt werden sollte, so möchten wir be- merken, dass die jetzige Zeit nicht mit derjenigen der Regierung des Kia-kiṅ zu vergleichen ist. Unmöglich dürfte die ordentliche Ver- waltung innerer oder auswärtiger Angelegenheiten ihm mit Sicherheit anzuvertrauen sein. Nach Erfahrungen aus alter Zeit war niemals ge- wiss, dass das Ende solcher Regentschaft mit ihrem Anfang überein- stimmte. Obwohl Tai-tsin aus dem Miṅ -Hause (1455) kein unloyaler Prinz war, so entging Yiṅ-tsiṅ , als er von seiner nördlichen Reise zu den Samo zurückkehrte, mit genauer Noth dem Schicksal, seine Tage im Süden des Landes (in Einsamkeit) zubringen zu müssen. Die Erfahrung aller früheren Regentschaften ist geeignet, in Betreff solcher Verwaltung die grösste Vorsicht einzuflössen. Seit der ersten Errichtung unserer Dynastie ist viel Verkehr gewesen zwischen Einheimischen und Ausländern, und ihr beider- seitiger Wohlstand hat geblüht; davon hatten wir kein früheres Bei- spiel. Die Barbaren des heutigen Tages sind an Wildheit nicht zu vergleichen denen der Zeit des Yuṅ-kia in der Tsiṅ -Dynastie (A. D. XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. 309) oder des Tsiṅ-kaṅ in der Suṅ -Dynastie (1127). — Wenn also auf loses Geschwätz und auf den Antrieb eines Augenblickes das Reich der Welt fortgeworfen werden soll wie ein Unkraut, so muss der den Geistern der Heiligen in der anderen Welt geschuldete Dienst unver- richtet, die Bestrebung der Regierenden und der Regierten im Weltall unerwiedert bleiben. Des Kaisers klarer Verstand möge entscheiden, wie er solchen Gedanken ertragen könnte! Wir wissen, wie im 18. Jahre des Kia-kiṅ (1813) während einer Jagdreise Seiner Majestät der Aufruhr von Sin-tsiṅ ausbrach, die Bestürzung darüber allem Handel ein Ende machte und die Läden geschlossen wurden, wie des Kaisers Rückkehr allgemeine Wonne ver- breitete und der Stadt die Ruhe wiedergab. Damals war die Gefahr sehr drohend, wie garnicht bewiesen zu werden braucht. Ein Hauch reicht jetzt hin, die Waage, in welcher der Verlust oder die Erhaltung der Nachfolge Deiner Vorfahren und die Ruhe der Schutzgötter (d. h. das Schicksal des Reiches) liegen, zum Sinken zu bringen. Wir flehen demüthig zu Deiner Majestät, aus eigenem Antriebe zu beschliessen, dass das neulich gefasste Vorhaben aufgegeben und dadurch dem Reiche Freude bereitet werde. Deine Minister bitten um noch eine Handlung der Gnade. Da Deiner Majestät Absicht zu reisen öffentlich verkündet und die Ge- müther der Menschen so sehr beunruhigt wurden, dass sie schwer zu beschwichtigen sein werden, so bitten sie, dass Du Deine Absicht, nach Deinem Palast zurückzukehren, öffentlich bekannt machen mögest, damit die falschen Gerüchte unterdrückt werden, die Ruhe wieder her- gestellt und der Verfall des Reiches abgewendet werde, und die Re- gierung einen neuen Weg des Erfolges beginnen möge. Da Deine Minister und die Anderen durch ihr Amt verpflichtet sind, die Aufmerksamkeit auf öffentliche Uebel zu lenken, so haben sie hier ihre beschränkten Ansichten in aller Demuth ausgedrückt und erwarten u. s. w. 7. Mond. 27. Tag« (12. September). 5. Denkschrift des Censors Ai-džin , gezeichnet von sechsund- siebzig Anderen. »Nachdem Deine Diener gestern eine gemeinsam unterschriebene Denkschrift eingereicht hatten, empfingen sie in Ehrfurcht ein Zinober- Decret. Nachdem sie dasselbe gelesen, waren sie tief und dankbar ergriffen von der Besorgniss, welche seinem Inhalt nach im Geiste Dei- ner Majestät erregt worden sein muss. Aber dem darin ausgedrückten Vorhaben konnten sie nicht beistimmen; deshalb wagen sie nicht, sich einer abermaligen dreisten Aeusserung ihrer Gedanken zu enthalten. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. XIX. Den persönlichen Oberbefehl über das Heer darf der Kaiser nicht leichtfertig übernehmen. Als im Jahre 1853 die kantonesischen Rebellen das Land überschwemmten und ungestüm gegen Norden vor- drangen, war die Bestürzung in der Stadt vielmal heftiger als die jetzt kundgegebene. Deine Majestät ernannte zum Glück Feldherren, fähig sich mit dem Feinde zu messen, und der herankriechende Aufruhr wurde erdrückt. Warum sollten nicht jetzt die Barbaren, kaum 10,000 an Zahl, durch die mehrfach stärkere Armee unter unseren Generalen leicht besiegt und aus dem Lande gejagt werden können? Wäre nicht die Uebernahme des Befehles für die kaiserliche Würde unziemlich, und sollte sie nicht Alle befremden, die davon hörten? Ferner: nach- dem einmal die Absicht Deiner Majestät, eine Jagdreise anzutreten, vorher kundgemacht worden war, sollte wohl die Verkündung des ge- änderten Vorhabens sicher sein allgemeinen Glauben zu finden? Wiederum: die Ruhe im Gemüthe des Volkes hängt von Deiner Ma- jestät Gegenwart am Sitze der Regierung ab und würde durch Deine Abreise von da gestört werden. Und wenn Deine Majestät sich nach dem Norden begiebt, während der Feind südlich steht, so wäre das wieder ein Umstand, der viel Zweifel und Unruhe erweckte. Bei früheren Reisen des Kaisers war es Gebrauch, verschiedene Prinzen und Würdenträger mit der Verwaltung der Angelegenheiten während seiner Abwesenheit zu betrauen, während Dinge von grosser Wichtigkeit immer noch an Seine Majestät berichtet wurden. Aber diese unruhige Zeit ist garnicht mit friedlichen Zeitläuften zu ver- gleichen. Es wäre sehr schwierig Männer zu finden, welchen die Ver- waltung des Staates mit Sicherheit anvertraut werden könnte. Würde ihnen etwas zu viel Autorität verliehen, so könnten die schwersten Uebel entstehen. Während ein aus Nachlässigkeit erwachsener Scha- den leicht geheilt werden möchte, wäre es schwer, den aus Missbrauch der Gewalt entspringenden zu bewachen, und es ist furchtbar nur daran zu denken. Alle diese Puncte haben Deine Diener reiflich erwogen u. s. w. 7. Mond. 28. Tag.« (13. September). 6. Denkschrift von Tsao-taṅ-yuṅ , Ex-Censor der Hu- kwaṅ -Provinzen . »Dein Minister Tsao-taṅ-yuṅ überreicht knieend eine Denkschrift. Da die Barbaren nach der Hauptstadt vorrücken und die Pläne für den Frieden sich als schwer ausführbar erweisen, so bittet er Deine Majestät dringend, nach Deiner Hauptstadt zurückzukehren, damit die Wünsche des Volkes erfüllt, die Würde des Thrones gewahrt, die Seelen Deiner Ahnen und die Schutzgeister besänftigt werden. XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. Seit dem diebischen Eindringen der rebellischen Barbaren in den Bezirk Tien-tsin sind, obwohl die kaiserlichen Rathschlüsse in Geheimniss gehüllt und dem Publicum unbekannt waren, verworrene Gerüchte jeder Art überall in Umlauf gewesen und haben grosse Be- stürzung erweckt. Kürzlich berichtete die Zeitung, dass Saṅ-ko-lin- sin sich nach Yaṅ-tsun , dann nach Tai-tsun zurückgezogen habe; dann wieder, dass er seiner Stellung enthoben worden sei; ferner, dass Seine Majestät Kwei-liaṅ und Haṅ-fu zu kaiserlichen Com- missaren ernannt habe, um die Angelegenheiten zu ordnen. Dann kamen unablässig Couriere mit der Schnelligkeit von 600 Li . Der gewöhnliche Ausdruck für die schnellste Art der Courier-Beförderung. Ein Gerücht sagte, dass Frieden um jeden Preis beschlossen sei, ein anderer, dass 20,000,000 Tael versprochen, die Baarzahlung von 2,000,000 Tael aber noch unentschieden sei; dann, dass mehrere Zehn- tausend Mongolen-Krieger herbeigerufen seien, dass der Krieg be- schlossen sei; ferner, dass dem Vorhaben Deiner Majestät, den Krieg fortzusetzen, von einigen Personen Widerstand bereitet werde. Die Verwirrung und Bestürzung waren unbeschreiblich; aber nichts be- fremdete so sehr als das jetzt verbreitete Gerücht, dass Deine Ma- jestät eine Reise nach Džehol machen wolle. Das hat die schreck- lichste Bestürzung verursacht; aber Dein Diener glaubt nicht daran. Und doch, da mehrere Minister Deine Majestät wiederholt angefleht haben zu Deinem Palast zurückzukehren, ohne eine günstige Antwort zu erhalten, so kann man sich einer unbeschreiblichen Furcht nicht entschlagen. Wenn das Gerücht wirklich wahr ist, so wird die Wirkung sein wie ein gewaltsamer Ausbruch der Natur, und der Schaden muss unersetzlich sein. In welchem Lichte betrachtet Deine Majestät sein Volk, in welchem Lichte die Altäre Deiner Vorfahren, den Schrein der Schutzgötter? Willst Du das Erbe Deiner Ahnen wie einen zer- rissenen Schuh fortwerfen? Was würde in tausend nachfolgenden Ge- nerationen die Geschichte von Deiner Majestät sagen? Niemals war es erhört, dass ein Fürst eine Zeit der Gefahr und des Elendes zu einer Jagdreise auswählen und glauben sollte, dadurch Unheil ab- zuwenden. Wenn die Ruhe in der Hauptstadt gestört wird, — was würde dann verhindern, dass auch in Džehol die Ruhe gestört würde? Deine Majestät wird angefleht, ohne Verzug in Deinen Palast zurück- zukehren, damit das Gemüth des Volkes beschwichtigt werde. Die Hauptstadt ist streng bewacht, der Geist aller ihrer Bewohner auf die höchste Spannung getrieben; selbst Frauen und Kinder sind ent- schlossen bis zum Letzten zu kämpfen. Vor Allem steht jetzt Saṅ-ko- lin-sin an der Spitze mehrerer Zehntausende mongolischer Truppen, IV. 15 Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. XIX. welche ihre Vorräthe mitgebracht haben und nicht den kaiserlichen Schatz belasten. Ihre Treue und Tapferkeit sind sicher erwiesen. Wären beim ersten Anlauf der Barbaren Ta-ku und Pe-taṅ ähnlich vertheidigt worden, wären die Barbaren-Fahrzeuge, wie sie vorrückten, angegriffen worden, so wären sie ausser Stande gewesen die seichten und engen Rinnsale hinaufzugehen. Diejenigen, — wer sie auch sein mögen, — welche die Friedens- politik empfahlen, haben unsere Pläne gehemmt und ihr Fehlschlagen veranlasst, das zur Occupation von Tien-tsin führte. Und wer sind die dafür verantwortlichen Personen? Zur Zeit der südlichen Suṅ - Dynastie, als das Volk von Kin aufstand, empfahl Yo-fei den Krieg; Tsin-wei widersetzte sich demselben nnd verschuldete das Verderben des Reiches. Sind nun Leute wie Tsin-wei um Deiner Majestät Per- son, so wäre billig, dass das Gesetz ihr Verbrechen ereilte. Deine Majestät könnte ein öffentliches Bėkenntniss Deines Irrthums ablegen und die Entschlossenheit des Volkes stärken. Ferner könnte die oberste Leitung des Krieges in die Hände Saṅ-ko-lin-sin ’s gelegt werden. — Als Te-tsuṅ von der Taṅ -Dynastie ein öffentliches Be- kenntniss seines Irrthums ablegte, wurden die meuterischen Krieger von Šan-tuṅ bewogen, zur Pflicht zurückzukehren. Die Einstellung von Freiwilligen im Bezirk von Tien-tsin ist ein empfehlenswerther Schritt; sie wurden beim Einbruch der kanto- nesischen Banditen im Jahre 1853 nützlich befunden, und ebenso, als die rebellischen Barbaren im vorigen Jahre gegen Tien-tsin ( Ta-ku ) vordrangen. Deine Majestät wird gebeten, dass dieselben als Hülfs- truppen bei Saṅ-ko-lin-sin ’s regulärer Streitmacht verwendet werden. Die Zahl der Barbaren übersteigt nicht einige Tausende; ein be- trächtlicher Theil ihres Heeres besteht aus gedungenen kantonesi- schen Soldaten; denn Gewinnsucht ist es vor Allem, was diesen buntscheckigen Haufen treibt. Wenn Geld verständig aufgewendet und die Vaterlandsliebe dieser Gedungenen angerufen würde, so möchte dieser ganze Haufen ohne Waffengewalt zerstreut werden können. Dein Diener kann nicht begreifen, warum das nicht geschah. Sollte Jemand gegen die Ausgabe reden, so braucht man garnicht an die 20,000,000 Tael zu erinnern, welche zu Ausführung friedlicher Maass- regeln aufgewendet werden sollen, sondern nur verlangen, dass die 2,000,000 baaren Geldes so verwendet werden. Gediehe die Friedenspolitik zum Abschluss, so möchten jedes Jahr neue Forderungen gestellt werden, für welche die rebellischen Barbaren stets einen Vorwand finden würden. Als in diesem Jahre Su-tšau und Haṅ-tšau fielen, da mehrten einige Millionen Staatsgelder die Beute der Rebellen, und der Verlust an Privat-Eigenthum war unermesslich. XIX. Denkschriften gegen des Kaisers Flucht. Deine Majestät wird gebeten, anzuordnen, dass das Geld aus dem Privatbeutel herausgegeben werde, um nach Herstellung des Frie- densschlusses zurückerstattet zu werden, wie es zweckmässig scheinen mag. Sollen die auswärtigen Barbaren nach Gebühr gezügelt werden, so darf man gewiss keinen Frieden gewähren, bis sie in einer Schlacht besiegt worden sind. Seine dahingeschiedene Majestät redet in ihrem Testament mit Reue und Scham von dem Frieden mit den englischen Barbaren. Möge Deine Majestät das beherzigen.« (Nun folgt ein Bericht des Verfassers über seine Person, welcher seine unbefugte Einmischung entschuldigen soll.) »Nachschrift. Während Deines Dieners Denkschrift aufgesetzt wurde, las er ehrfurchtsvoll das Zinober-Edict vom heutigen Tage, welches hier folgt: In Erwägung, dass das Vorrücken der Barbaren und die verschiedenen mit der jetzigen Krisis verknüpften Umstände ein Benehmen von uns fordern, welches berechnet ist die Ent- schlossenheit unseres Volkes zu stärken, haben wir befohlen, dass die Anstalten für unsere beabsichtigte Jagdreise als Vorbereitung dienen sollen zu einem persönlichen Feldzug gegen den Feind. Wei-tsin-waṅ (des Kaisers Oheim) soll Befehl geben zu zweck- mässiger Vertheilung der Garnison von Pe-kiṅ . Wird der Feind zwischen Tuṅ-tšau und Ma-tau betroffen, so werden wir unserer ersten Absicht gemäss nach dem Norden aufbrechen und mit starker Macht eine Stellung einnehmen. Der Geist unseres Heeres giebt kei- nen Grund zu der Besorgniss, dass eine Handvoll Barbaren, weniger als 10,000 Mann, nicht völlig vernichtet werden sollte. Dieses Decret soll den Prinzen und anderen Würdenträgern vorgelesen werden. Danach scheint Deiner Majestät Reise fest beschlossen zu sein. Denkt denn unser Kaiser gar nicht an sein Volk, an die Tempel seiner Ahnen und den Schrein der Schutzgötter? Wenn er wirklich zu commandiren denkt, warum redet er denn davon, nordwärts zu gehen und eine starke Stellung einzunehmen? Solche Sprache wird keinen Glauben finden beim Volke! Aber das grosse Heer unter Saṅ-ko-lin-sin ist ganz hin- reichend den Krieg mit Erfolg zu Ende zu führen; warum sollte also Deine Majestät sich den Strapazen und Gefahren eines Feldzuges aussetzen? Die Schwere der Krisis verbietet vieles Reden. Dein Diener fleht Dich nur an, dem Rath und Verlangen Aller nach- zugeben und an Deinen Hof zurückzukehren, um die Regierungs- geschäfte zu überwachen und zweifelhafte Rathschläge zu verwerfen. Datirt vom 13. September. 15* XX. REISE DER ARKONA VON MACAO NACH DER RHEDE VON PAKNAM . VOM 5. BIS 14. DECEMBER 1861. D ie Fahrt nach Siam ging langsam; der NO-Monsun hat in diesen Breiten nicht die Kraft, wie nördlicher. In den ersten Tagen wehte es bei starker Dünung von Süden noch ziemlich stätig aus ONO., das Schiff rollte unbehaglich und machte unter allen Segeln wenig Fahrt. Die Wärme nahm merklich zu, schon am dritten Tage trugen wir die leichteste Sommerkleidung; Abends mochte man kaum unter Deck gehen. Unbeschreiblich ist der Zau- ber einer tropischen Mondnacht. Wie ein riesiges Gespenst schwebt die segelschwere Bemastung, gewundene Linien am Sternhimmel zeichnend, jetzt grell beleuchtet, jetzt dunkelschwarz über dem Wasser. Im ungewissen Dämmerlicht schwankt das Vordertheil des Schiffes weit entfernt; dort regen sich dunkele Gestalten; der ge- wöhnlichste Vorgang scheint geheimnissvoll. Die plätschernde Stille der Nacht, die silberblinkende grenzenlose Einöde, die weiche bal- samische Luft, die leuchtenden Welten in der Höhe, durch welche der Blick in unendliche Räume schweift, berauschen mächtig die Phantasie. In der Nacht zum 8. December liefen wir zwischen der Mac- clesfieldsbank und den Paracels-Inseln , am Morgen des 11. December zwischen Little Catwick und Pulo Sapata durch. Häufige Regen- schauer strichen über das Schiff. Man nahte der südlichen Grenze des Monsun, der uns nur noch leise fortschob. Am 12. December wurde es ganz still; Nachmittags liess Capitän Sundewall die Kessel heizen. Am 13. December umschifften wir Cap Kamboǰa und steuer- ten westnordwestlich. — Nachmittags wurde zur Uebung der Mann- schaft Feuerlärm geschlagen: in kaum vier Minuten standen alle Mann mit Eimern auf ihrem Posten und die Spritzen arbeiteten wacker. XX. Arkona vor Paknam . Den 14. December dampften wir in glattem Wasser den Golf von Siam hinauf, zwischen Hunderten kleiner Seeschlangen hindurch. Am Morgen des 15. December kam Land in Sicht; gegen Mittag passirte Arkona das erste der vielen Inselchen, die in langer Reihe die östliche Küste säumen. Erst um sechs Uhr Abends erreichte sie die nördlichste dieser Inseln und konnte dann östlicher auf den Ankerplatz vor Paknam lossteuern, wo Thetis und Elbe vor Anker lagen. Zur Orientirung liess Capitän Sundewall von neun Uhr an Raketen steigen, Blaulichter anzünden und Geschütze abfeuern, er- hielt aber keine Antwort. Gespannt starrte Alles in den schwarzen Dunst hinaus; die lothenden Matrosen sangen immer kleinere Zahlen, immer sachter musste die Schraube arbeiten: da traten die un- klaren Umrisse schwarzer Masten ganz nah vor uns aus dem Nebel. Zwei Boote mit einem deutschen Comprador und einem englischen Post-Agenten kamen gegen elf langseit der Arkona und wiesen ihr den Ankerplatz der preussischen Schiffe. Eine halbe Stunde später grüssten wir unsere alten Reisegefährten von der Thetis. XXI. BAṄKOK . VOM 23. NOVEMBER 1861 BIS 30. JANUAR 1862. S einer Majestät Fregatte Thetis, welche mit dem Legationssecre- tär Herrn Pieschel , den Naturforschern Herren von Martens , von Richthofen und Wichura und den Kaufleuten Herren Grube und Jacob an Bord von Shang-hae aus im März 1861 eine Uebungsreise nach den Philippinen , den Seen von Celebes und Java angetreten hatte, ging von Singapore kommend nach achtzehntägiger durch widrige Winde verzögerter Fahrt am 22. November 1861 vor der Mündung des Menam zu Anker. Da Herr Pieschel das preussische Kriegsschiff der siamesischen Regierung brieflich angekündigt hatte, so war in Baṅkok Alles vorbereitet: schon am 23. November erschien auf der Rhede ein kleiner Dampfer des Prinzen Khroma-Luaṅ Woṅsa mit dessen Sohn und zwei Vertretern der deutschen Firmen Mark- wald und Thies-Pickenpack, welche den Officieren und Reisenden der Thetis die Gastfreundschaft ihrer Häuser anboten. Capitän Jachmann , mehrere Officiere, die Herren Pieschel , von Martens , von Richthofen und Grube nahmen die Einladung dankbar an, gingen noch an demselben Abend auf dem kleinen Dampfer über die Barre und weiter den Strom hinauf, und erreichten Baṅkok am frühen Morgen. Die Consulate und die Häuser der meisten fremden Kaufleute liegen unterhalb der eigentlichen Stadt am linken Stromufer. Von hübschen Gärten, Arbeitsschuppen und Speichern umgeben stehen sie ziemlich weit von einander; der Verkehr ist schwierig, denn Strassen giebt es in dieser Vorstadt nicht; die engen morastigen Pfade sind vom wuchernden Pflanzenwuchs stellenweise fast ver- sperrt und von brückenlosen Gräben durchschnitten. Diese, die breiteren Canäle und die Flussarme bilden die eigentlichen Verkehrs- wege für Handel und Wandel, ein Netz bequemer Wasserstrassen. Das Boot ersetzt in Baṅkok nicht den Wagen, sondern die Beine; XXI. Siamesische Grosse. denn die meisten Reviere dieser Waldstadt, wo es mehr Palmen als Häuser geben mag, sind auch in der trockenen Jahreszeit nur zu Wasser zugänglich. Herr Pieschel besuchte sogleich die Consuln von England und Frankreich , Sir Robert Schomburgk und Comte de Castelnau , und liess sich durch Ersteren am 25. November dem Phra-Klaṅ oder Minister des Auswärtigen, Phra-Klaṅ heisst Grossschatzmeister; Siam ’s Beziehungen zu fremden Völkern scheinen zu allen Zeiten durch Träger dieser Würde vermittelt worden zu sein. Tšau Phya Rawe Moṅs Kosadhi- puti vorstellen, der ihn freundschaftlich empfing und im voraus die Erfüllung aller Wünsche verhiess. Er stellte sofort eine hinreichende Zahl königlicher Boote zur Verfügung, wollte alle Anordnungen für die Reisen der Naturforscher treffen und das für die preussische Gesandtschaft bestimmte Gebäude sofort in Bereitschaft setzen. Dort wurde schon rüstig gearbeitet. Der Phra-Klaṅ , ein wohlgenährter Herr mit breitem pockennarbigem Antlitz, zeigte Herrn Pieschel die Räumlichkeiten und entschuldigte sich wegen deren Unzulänglichkeit: Siam sei ein armes Land und könne es nicht besser geben. — Er trug den Saroṅ , So nennen gewöhnlich die Fremden dieses Kleidungsstück, dessen siamesischer Namen nach Pallégoix Languti lautet. ein viereckiges Stück gemusterten Baumwollen- zeuges, das um die Hüften gewunden und mit einem zwischen den Lenden rückwärts durch den Gürtel gezogenen Zipfel festgehalten wird, und eine graue Merino-Jacke. Das ist die gewöhnliche Tracht der Siamesen; Schuh, Strümpfe und Wäsche mögen sie nicht; auch die Jacke legen zur heissen Tageszeit selbst die Vornehmsten ab, so dass nur jener Schurz übrig bleibt. Bei Festlichkeiten tragen die Grossen oft kostbare Gewänder, auch wohl europäische Unifor- men; im gewöhnlichen Leben unterscheiden sie sich kaum von ihren Trabanten, die gesenkten Hauptes im Staube kriechen. — Das Haar wird bei Männern und Frauen rings um den Kopf geschoren; auf dem Scheitel bleibt etwa handgross ein Schopf stehen, der zolllang geschnitten, bürstenartig aufrecht steht. Prinz Khroma-Luaṅ Woṅsa Dirai Snid , ein Halbbruder der beiden Könige, der schon seinen Sohn auf die Rhede hinausschickte, erschien mit zwei Töchtern wenige Stunden nach Herrn Pieschel’s Ankunft zu dessen Begrüssung im Hause des Herrn Markwald . Bei Erwiederung des Besuches fand ihn der Legationssecretär in dem schwimmenden Hause vor seinem Palast, das er am liebsten Siamesische Grosse. XXI. bewohnte. Es glich der Werkstatt eines Alchymisten; in der That liebte der alte Herr, — der durch einen Gehirnschlag gelähmt sich etwas schwerfällig bewegte, — die ärztlichen und Naturwissen- schaften, und besass allerlei gute Instrumente, die mit Goldgötzen, chinesischen Vasen, europäischem Porcelan, Krügen und Flaschen jeder Grösse und räthselhaften Inhalts bunt durcheinander standen. In der Tracht zeichnete sich der königliche Prinz ebenso wenig vor seiner Umgebung aus, als der Minister. Prinz Khroma-Luaṅ galt als trefflicher Charakter und aufrichtiger Gönner der Fremden, mit welchen er durch starke Betheiligung am Handel in stetem Verkehr stand. Mit dem ersten Minister oder Phra-Kalahum hatte er 1855 den Widerstand aller anderen Grossen gegen die Freigebung des Handelsverkehrs gebrochen und fuhr fort, deren Rechte mit Wärme zu schützen. Herrn Pieschel bat er dringend, alle Wünsche mit Vertrauen zu äussern; für Erfüllung wolle er sorgen. — Eben so freundlich empfing denselben der erste Minister oder Phra-Kalahum Tšau Phya Sri Suriwoṅse Samant Boṅs Bisude Maha Purus Ra- tridom Samutra , der grade von einem Ausflug nach Singapore und Penang zurückkehrte. Der vornehmsten Familie des Landes ent- stammt, der Sohn des Ministers, der, bei des letzten Königs Tode dessen Söhnen entgegentretend, mit kräftiger Hand den rechtmäs- sigen Erben auf den Thron setzte und jede Verschwörung im Keime erstickte, war Phra-Kalahum durch Geburt und Tradition zum Lenker des Staates berufen, den er rasch in die Bahn des Fort- schrittes zu treiben suchte. Er galt für den einflussreichsten Mann des Landes und soll eben so eifrig nach Reformen im Inneren, als nach Erweiterung der auswärtigen Beziehungen gestrebt haben. Die Beseitigung der im despotischen System begründeten Missbräuche, unter denen das Volk siechte, mochte unmöglich sein. Von der Wahrhaftigkeit seiner Wünsche auch nach dieser Richtung erhielten Sir John Bowring und andere Fremden den günstigsten Eindruck, während viele ihm wohl den freien Blick und Verstandesbegabung, nicht aber den redlichen Willen zuschrieben, das Volk zu heben. Als Herr Pieschel den Kalahum besuchte, wurde in der Vorhalle von dessen Palast eben Gericht gehalten: der Richter, ein alter hagerer Mann, thronte auf erhöhtem Sitz, während die Par- theien, Anwälte und Gerichtsdiener ehrerbietig am Boden kauerten. Als der Kalahum zum Empfang seines Gastes heraustrat, warf sich auch der Richter nieder und berührte mit dem Antlitz den Staub. XXI. Der Erste König. Die Wohnräume waren mit europäischem Luxus eingerichtet: am Fussboden kostbare englische Teppiche, an den Wänden grosse Spiegel, — ein Geschenk der Stadt Hamburg , — auf Tischen und Consolen prächtige Stutzuhren, Lampen, Candelaber und Vasen. — Ehe Herr Pieschel aufbrach, führte ihn der Kalahum zu seiner Ge- mahlin, die im Garten war. In einer Halle lag eine Schaar dienen- der Mädchen vor dem Ruhebett hingestreckt, von welchem Ihre Excellenz eben aufstand; neugierig blitzten die grossen kohlschwar- zen Augen den Fremden entgegen. In der Tracht unterscheiden die Frauen sich nur dadurch von den Männern, dass sie statt der Jacke einen Shawl um Brust und Schultern schlagen; selbst die Haartracht ist dieselbe bis auf zwei kurze Büschel, welche die Frauen an den Schläfen stehn lassen. Capitän Jachmann und die Officiere der Thetis hatten am 26. November die Ehre, von Seiner Majestät dem Ersten König Phra-Bat Somdetš Phra Paramendr Maha Moṅkut Phra Kom Klau Tšau Yu Hua in einer Privataudienz empfangen zu werden. Am 9. December kehrten sie auf die Fregatte zurück. In Baṅkok erregte damals das Auftreten des kaiserlich fran- zösischen Consuls Comte de Castelnau grosse Unruhe. Dieser hatte — nach Mittheilungen des Prinzen Khroma-Luaṅ — am 8. November eine Note an den Phra-Klaṅ gerichtet, welche zu peinlichen Er- örterungen über die Stellung des Siam tributpflichtigen Reiches Kamboǰa führte. Die Erfüllung der französischen Forderungen hätte den König von Siam tief gedemüthigt und seine angestammte Ober- hoheit über Kamboǰa beeinträchtigt; Prinz Khroma-Luaṅ und die Minister sprachen darüber mit Bitterkeit und leisteten zähen Wider- stand. — Anfang December kam nun die Nachricht nach Baṅkok , dass französische Streitkräfte die an der Küste von Kamboǰa gele- gene Insel Pulo Kondore besetzt hätten, welche früher der englisch- ostindischen Compagnie gehörte, nach Vertreibung ihrer schwachen Garnison durch die Eingebornen von derselben aber aufgegeben war. Für Frankreich war die Insel, welche den directen Weg von Siam nach China beherrscht, bei der Hafenlosigkeit der cochinchinesischen Küste strategisch von grosser Wichtigkeit. — Die Nachricht von diesem Schritt erregte in Siam doppelt peinliches Aufsehn, weil sie mit einem Vertragsbruch von französischer Seite zusammentraf: am 9. December erschien nämlich in Baṅkok der von der französischen Regierung gecharterte und als Kriegsschiff ausgerüstete Dampfer Auftreten des französischen Consuls. XXI. Formosa und ging vor den Consulaten zu Anker. Nach allen mit Siam geschlossenen Verträgen darf aber ein fremdes Kriegsschiff nur nach der Hauptstadt hinaufgehn, wenn es in Paknam — an der Flussmündnng — seine Kanonen ausgeladen oder die Erlaubniss des Gouverneurs zu Fortsetzung der Reise eingeholt hat. Beides unter- blieb. Die siamesische Regierung verlangte nun Zahlung der für solchen Fall vertragsmässig stipulirten Conventionalstrafe von 800 Tikal Tikal ist der den Fremden geläufige Ausdruck für die grösste coursirende Silbermünze, welche siamesisch Bat heisst. Doppelte Bat sind nicht im Cours, werden aber oft vom König verschenkt. Der Tikal oder Bat ist fast kugelrund, auf einer Seite eingekerbt, mit zwei königlichen Stempeln versehen, und hat 26 Sgr. 5 Pf. Silberwerth. Halbe Bat oder Soṅ-Saluṅ sind wenige im Umlauf, sehr häufig dagegen der Viertel- Bat oder Saluṅ und der Achtel- Bat oder Fuaṅ ; diese Münzen unterscheiden sich nur durch ihre Grösse vom Tikal . Als Kleingeld dient die Kauri - Muschel, deren je nach dem Course unter oder über 1200 auf den Fuaṅ gehen. und konnte der beharrlichen Weigerung des französischen Consuls gegenüber nur erklären, dass sie bei der kaiserlichen Regie- rung Beschwerde führen werde. Der König beschloss, ein eigenhän- diges Schreiben darüber an den Kaiser Napoleon durch einen seiner Grossen in Paris überreichen zu lassen. Am Tage, da die Formosa vor Baṅkok erschien, soll der französische Consul vor dem König in derber Sprache die Erfüllung der Kamboǰa und Cochinchina betreffenden Forderungen, und auf dessen unbedingte Weigerung als Mindestes die Abtretung eines Gebietes am Grenzfluss Mekoṅ verlangt haben, welche in jenen Forderungen enthalten war; der König hätte, des Drängens müde, die Cession unter gewissen Bedingungen zugesagt. Darauf wäre Comte de Castelnau zum Kalahum geeilt, der die unbedingte Ab- tretung des Gebietes, welche Jener auf Grund der königlichen Zu- sage forderte, verweigert und nach einer heftigen Scene das Gespräch mit den Worten abgebrochen hätte: Und ich gebe dir das Land nicht. Der Consul hätte sich schriftlich beim König beschwert, die Verhandlungen für abgebrochen erklärt und gemeldet, dass er sich auf der Formosa nach Saigun einschiffen werde. Auf den Rath des Kalahum hätte man dieses Schreiben unbeantwortet gelassen. Am 10. December traf nun auf der Rhede von Paknam ein französisches Kriegsschiff mit der aus Paris kommenden siamesischen Gesandtschaft ein. Comte de Castelnau blieb in Baṅkok und sagte Herrn Pieschel , der von ihm Abschied nehmen wollte, dass er die Formosa nach Singapore sende und erst in vierzehn Tagen nach XXI. Rückkehr der siamesischen Gesandten. Saigun gehen werde. — Das Kriegsschiff mit der siamesischen Gesandtschaft hatte auch französiche Truppen für Cochinchina an Bord. Die Gesandten brachten ein Schreiben des Kaisers Napoleon , das Grosskreuz der Ehrenlegion für den Ersten und das Officier- kreuz für den Zweiten König; das Schreiben wurde in feierlicher Procession eingeholt und mit den Ordens-Insignien dem Ersten König von seinen heimkehrenden Grossen überreicht. — Der Capitän des französischen Kriegsschiffes hatte irrthümlich geglaubt an dieser Feierlichkeit Theil nehmen zu müssen, und kam mit 17 Officieren und 50 Soldaten nach Baṅkok ; die überraschten Behörden sahen sich genöthigt, denselben auf des Consuls dringendes Ersuchen das für die preussische Gesandtschaft bestimmte Haus einzuräumen. Zum feierlichen Empfang der Franzosen war keine Veranlassuug ; sie hatten keinen Auftrag an den König und besuchten die Stadt nur zu ihrem Vergnügen; denn das kaiserliche Schreiben und die Ordens-Insignien wurden den siamesischen Gesandten schon in Paris eingehändigt. Der Erste König ertheilte den Officieren jedoch eine Privataudienz und verliess bald darauf Baṅkok , um weiteren Berüh- rungen auszuweichen. Die Reibungen mit den französischen Behörden dauerten noch Jahre; im Palast kam es zu peinlichen Auftritten, der gekränkte König gab seinem Aerger schriftlich den heftigsten Ausdruck. Das Buch der Mrs. Leonowens , The English governess at the Siamese court, London 1870, giebt darüber weiteren Aufschluss. Zwischen Siam und Frankreich lebt eben ein alter Groll. Portugiesische Ansiedler sollen schon während der Belage- rung von Malacca nach Siam gekommen sein, wo sie in verschie- denen Landestheilen Factoreien gründeten und Kirchen bauten. Die Landesherren scheinen die Einwanderung begünstigt und selbst der Bekehrung ihrer Unterthanen zum Christenthum nicht entgegen- gewirkt zu haben; in der Hauptstadt Ayutia wuchs eine zahlreiche Gemeinde heran, die sich durch Heirathen mit den Landestöch- tern stark vermehrte. Portugiesische Feldhauptleute und Söldner dienten im 16. Jahrhundert vielfach den siamesischen Königen; der Handel der Portugiesen blühte bis zur Ankunft der Holländer, welche auch hier von ihnen verschwärzt und angefeindet wurden. Portugiesen und Holländer in Siam . XXI. Nachdem 1608 ein siamesischer Gesandter, auf Einladung der Hol- länder nach Bantam und von da nach den Niederlanden reisend, sich überzeugt hatte, dass jene wirklich ein eigenes Land besässen und nicht, wie die Portugiesen sagten, heimathlose Seeräuber seien, begünstigten die Landesherren ihren Handel. 1613 wurde eine hol- ländische Factorei in Ayutia gegründet. 1624 caperten die Portu- giesen ein holländisches Schiff im Menam , mussten es aber, vom König gezwungen, wieder herausgeben. Eine Reihe von Jahren befehdeten sich darauf die Siamesen und die Portugiesen vielfach zur See. 1631 liess der König alle portugiesischen Schiffe in seinen Häfen besetzen und die Mannschaften festnehmen, deren Freiheit erst 1633 eine Gesandtschaft erwirkte. Die Feindseligkeiten müssen damit nicht aufgehört haben; 1634 liehen die Holländer dem König sechs Schiffe gegen ihre Nebenbuhler, die besonders in Patani auf der malayischen Halbinsel festen Fuss gefasst hatten. Die portu- giesischen Colonisten in Ayutia scheinen die ganze Zeit als siame- sische Unterthanen gegolten zu haben. — Von Verträgen ist in portugiesischen Berichten, so weit der Verfasser sie kennt, nicht die Rede, wohl aber von Handelsprivilegien, die ihnen verliehen wurden. Der niederländische Handel wurde anfangs mit Verlust be- trieben und hob sich erst gegen 1627 nach Gewährung einiger Vor- rechte. Wie die Portugiesen, so setzten auch die Holländer siame- sische Producte mit gutem Vortheil in Japan ab. Viele japanische Christen flohen zu Anfang des 17. Jahrhunderts nach Siam , wo alle Bekenntnisse geduldet wurden. Sprösslinge dieser japanischen Co- lonie leben heut noch in Siam . — Der niederländische Handel blühte das ganze 17. Jahrhundert. 1663 beschwerten sich die Holländer über Verletzung ihrer Privilegien; eine siamesische Ge- sandtschaft ging darauf nach Batavia , das Unrecht wurde gut ge- macht und der Verkehr wieder aufgenommen. Damals stand Siam auf dem Gipfel seiner Macht und Blüthe. Unter dem Schutz des Ministers Constantin Phaulkon , eines Halbgriechen von den Joni- schen Inseln , gewannen die Fremden grossen Einfluss. Die Ein- nahme von Malacca und die weitere Verbreitung der Holländer auf der malayischen Halbinsel war wohl die erste Ursache der Be- günstigung ihrer Erzfeinde, der Franzosen, am siamesischen Hofe. Der holländische Handel überlebte zwar deren Sturz und blühte noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts, gerieth aber bei der späteren XXI. Franzosen in Siam . Zerrüttung des Reiches in Verfall und erlosch wohl gänzlich nach der Zerstörung von Ayutia . Die Geschichte des Constantin Phaulkon , seiner Beziehungen zu Ludwig XIV. und den französischen Jesuiten ist eine der merk- würdigsten Episoden im Verkehr des Westens mit indischen Völkern. Volle Klarheit lässt sich darüber nicht gewinnen; die Be- richte der Jesuiten sind stark gefärbt, die der Gesandten oberfläch- lich und ruhmredig. So viel liest man aber, obwohl die Missio- nare mit verdächtigem Eifer das Gegentheil beschwören, sehr deut- lich zwischen den Zeilen, dass Phaulkon mit Hülfe der Franzosen dem König Phra-Narai , der ohne männliche Erben war, zu succe- diren hoffte. Dabei liegt die Vermuthung nahe, dass Ludwig XIV. die Früchte seines Beistandes selbst zu ärnten, durch Gründung eines grossen christlichen Reiches in Hinter-Indien die geträumte Weltherrschaft zur That zu machen hoffte. Phra-Narai ’s Geschichte giebt einen Begriff von der Erb- folge am siamesischen Hofe. Sein Vater Phra-Surivoṅ , einer der Grossen des Reiches, mordete 1627 den König Phra-Tšao-Soṅ-Tam , der nach Ermordung seines Neffen 1602 den Thron bestiegen hatte. Phra-Narai mordete 1655 seinen Bruder, den Surivoṅ zum Erben einsetzte, mit Hülfe seines Oheims, mordete nach einigen Monaten auch diesen, der den Thron bestiegen hatte, und regierte seit 1656. Wenige Jahre darauf kam Constantin Phaulkon nach Siam . Nach den Berichten der Jesuiten hätte er, der Sohn eines venetianischen Gouverneurs von Kephalonia und einer Griechin, nach dem Tode seiner Eltern sein Glück auf der See gesucht, hätte auf einem eng- lischen Schiff auch Siam besucht, dort selbst ein Fahrzeug erwor- ben und Reisen nach den Nachbarländern gemacht. An der mala- barischen Küste strandend, hätte er einen aus Persien zurückkehrenden siamesischen Gesandten getroffen, dessen Schiff in demselben Sturm scheiterte, hätte mit seinem geretteten Gelde ein Fahrzeug gemiethet und den Siamesen nach seiner Heimath geführt. Von diesem em- pfohlen hätte Phaulkon schnell des Königs Vertrauen gewonnen und sich zur Würde eines Ministers aufgeschwungen. Sonderbar klingt die Angabe, dass der Sohn eines Venetianers und einer Griechin sich bis dahin zur anglicanischen Kirche bekannt und erst als siamesischer Minister den katholischen Glauben angenom- men habe. Darauf soll er eine japanische Christin geheirathet und in kurzer Zeit durch Begünstigung des fremden Handels grosse Französische Missionare. XXI. Schätze gewonnen haben. — Neben der portugiesischen und hol- ländischen wird um diese Zeit auch schon eine englische Factorei in Ayutia genannt. 1662 kam der Bischof von Beyrut Monseigneur de la Mothe Lambert mit sechs französischen Geistlichen nach Ayutia . Sie hatten von den portugiesischen Priestern, deren Haupt, der Erz- bischof von Goa , sogar dem Papst die Suprematie über die katho- lischen Seelsorger in Indien bestritten zu haben scheint, starke An- fechtungen zu leiden; der Bischof flüchtete, gewaltsamer Weg- schleppung zu entgehen, erst zu den ketzerischen Holländern, dann in die Colonie der Cochinchinesen, die ihn vor seinen Glaubens- brüdern wirksam schützten und seine willigen Jünger wurden. Um den päpstlichen Schutz gegen diese Unbilden anzuflehen, sandte er 1663 einen Geistlichen De Bourges nach Rom . — Trotz den Ränken der portugiesischen Priester, die seine Bestallung als apostolischen Gross-Vicar zu verdächtigen suchten, gewann sowohl er selbst als Monseigneur Palu, Bischof von Heliopolis , der 1664 mit zwei Ge- hülfen in Ayutia eintraf, die Gunst des Ministers Phaulkon . Anfang 1665 wurde der Bischof von Beyrut Phra-Narai vorgestellt, der ihn über sein Vaterland und die katholische Reli- gion ausfragte und, nach den Berichten der Jesuiten, schon damals versprach sich taufen zu lassen, wenn die Fürbitte der christlichen Gemeinde die Heilung seines kranken Bruders bewirkte. Der Prinz wäre genesen; — der König hätte zwar nicht Wort gehal- ten, den Missionaren aber ein Grundstück in Ayutia und Ma- terial zum Bau eines Seminars und einer Kirche geschenkt, die dem Heiligen Joseph geweiht wurde. Der Zudrang soll stark gewesen sein, der König selbst, schreiben die Patres, schickte die Söhne seiner Grossen zur Schule; der Arbeitslast der Seelsorge und Er- ziehung wären ihre Kräfte weitaus nicht gewachsen. Leider sind diese Berichte so mit declamirenden Erzählungen von übernatür- lichen Gnadenwundern gespickt, dass der historische Kern sich schwer erkennen lässt. In den folgenden Jahren liess Phra-Narai sich in den christ- lichen Glaubenslehren unterrichten und erklärte laut, dass er fortan nur dem Christengott dienen wolle, verschob aber die Taufe unter dem Vorwande, dass sein offener Uebertritt zu politischen Um- wälzungen führen möchte. Einige Missionare geben auch zu ver- stehen, dass seine Neigung zu den Weibern ihn abgehalten habe. Wie XXI. Französische Missionare. weit Phaulkon , den sie als hochbegeisteten Glaubenshelden preisen, ihren Einfluss wirklich oder nur scheinbar förderte, ist unklar; man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass er nach beiden Seiten eine Maske trug. Im Februar 1669 kam De Bourges mit fünf französischen Missionaren, im Mai 1673 Monseigneur Palu nach Siam zurück, der 1665 von da nach Rom und Paris gereist war. Sie brachten päpst- liche Bullen mit ausgedehnten Vollmachten und bedeutende Geld- summen mit. Der Bischof von Beyrut hatte unterdessen eine Reise nach Cochinchina gemacht und Gemeinden in verschiedenen Lan- destheilen gestiftet; die Missionen wuchsen und blühten unter dem mächtigen Schutz des Königs und seines Ministers, deren Gunst frisch genährt wurde durch Briefe Clemens IX. und Ludwig XIV. , welche Monseigneur Palu erwirkt hatte. Beide schmeicheln der persönlichen und nationalen Eitelkeit des Königs, danken für die den Missionaren erwiesene Grossmuth und bitten um Schutz gegen deren Feinde. Aufforderungen zur Bekehrung enthalten diese Schreiben nicht; nur sagt der Papst am Schluss mit feiner Wen- dung, dass er Gott Tag und Nacht anfleht, den König mit dem Lichte der Wahrheit zu erleuchten, damit, nachdem er lange auf Erden regiert habe, »er auch ewig im Himmel regieren möchte«. — Der Brief des französischen Königs war gegengezeichnet von Colbert . — Phra-Narai nahm diese Schreiben unter grossen Feierlichkeiten ent- gegen, äusserte den Wunsch, Gesandte nach Europa zu schicken, und erschöpfte sich in Gnaden gegen die Missionare. Der Zudrang zu ihren Schulen wuchs, als der König seinen Unterthanen den Ueber- tritt zum Christenthum durch öffentliches Decret erlaubte. Der Bischof von Beyrut , der die Arbeit mit den Seinen nicht zwingen konnte, sandte damals, um Gehülfen bittend, einen Boten nach den Klöstern in Manila ; auch aus Frankreich kam beständig Zuzug. Eine neue Gunsterweisung des französischen Hofes scheint bewirkt zu haben, dass Phra-Narai seinen Unterthanen 1677 sogar den Besuch der Götzentempel untersagte. — Die Abreise der siamesischen Gesandt- schaft nach Europa verzögerte der Krieg zwischen Frankreich und Holland bis 1680; erst auf die Nachricht vom Frieden zu Nymwegen wagten sich wieder französische Schiffe auf die indischen Meere. Das Fahrzeug mit den Gesandten und reichen Geschenken des siamesischen Königs muss damals untergegangen sein; es blieb seit dem Augenblick seiner Abfahrt verschollen. Gesandtschaft Ludwig XIV. XXI. Nach dem 1679 erfolgten Tode des Bischofs von Beyrut leitete die Mission der in Siam auf päpstliche Ermächtigung von ihm consecrirte Bischof von Metellopolis , welcher besonderer Gunst bei Phra-Narai genoss. 1682 kam Monseigneur Palu von einer zweiten Reise nach Paris zurück und brachte ein neues Schrei- ben Ludwig XIV. , das weitere Gnaden für die Missionare zur Folge hatte. Da jenes Schiff mit den Gesandten verschollen war, so schickte der König 1683 abermals zwei Würdenträger mit dem Père Levachet nach Frankreich , welcher als Haupt der Gesandt- schaft beglaubigt wurde. Ihn begleiteten ferner sechs junge Sia- mesen, welche in Paris erzogen werden sollten. Père Levachet erwirkte von Ludwig XIV. die Absendung zweier Kriegsschiffe mit einer glänzenden Gesandtschaft und reichen Geschenken. Den Botschafter, Chevalier de Chaumont , begleiteten ein zahlreiches Gefolge und sechs französische Jesuiten, gelehrte Mathematiker, die zu Gehülfen des Pater Verbiest in Pe-kiṅ be- stimmt waren. Im September 1685 ankerten die Schiffe auf der Rhede von Paknam . Nach den nöthigen Vorbereitungen ging der Botschafter nach Ayutia und wurde glänzend empfangen. Er be- theuert auf jeder Seite seines langen Berichtes, dass niemals Je- mand in Siam gleiche Ehren genossen habe, und erzählt mit Wohl- gefallen, wie er selbst »dans un fauteuil«, der Bischof von Me- tellopolis ihm gegenüber »sur un petit siège« dagesessen hätten, während die siamesischen Grossen auf dem Teppich herumkrochen. Bei der Audienz durchbrach Herr von Chaumont das siamesische Ceremoniel; Phra-Narai nahm das Schreiben des allerchristlichsten Herrschers lachend entgegen und hörte geduldig die Rede seines Botschafters, die ihn gleich dem königlichen Schreiben dringend ermahnte, sich taufen zu lassen. Er hatte vom Bischof von Me- tellopolis eine Uebersetzung des Evangeliums angenommen und in einem seiner Zimmer ein Crucifix aufgestellt, scheint aber durch das heftige Drängen in seinem Zaudern bestärkt worden zu sein. Auch Phaulkon bestürmte ihn nach Chaumont’s Aussage vergebens, erwirkte dagegen leicht die Sanctionirung eines Vertrages von fünf Puncten, in welchen den Missionaren voller Schutz für ihre Thätig- keit, den Siamesen volle Freiheit zu Annahme des Christenthums, allen Getauften eximirte Gerichtsbarkeit und Befreiung von der ihren Herren geschuldeten Arbeit an Sonntagen, den Alten und Kranken Befreiung von jedem Dienst versprochen wurden. XXI. Französische Truppen in Siam . An den gelehrten Jesuiten fand Phra-Narai viel Gefallen; sie stellten in seinem Jagdschloss bei Lophaburi Die französischen Schriftsteller des 17. Jahrhunderts nennen es Louvo . zu Beobachtung einer Mondfinsterniss ihre Instrumente auf. Dahin wurde auch Chaumont beschieden, dessen wichtigste Verabredungen mit Phaul- kon natürlich geheim blieben. Nach Frankreich begleiteten ihn drei siamesische Würdenträger und Père Tachard , einer der nach Pe- kiṅ bestimmten Jesuiten, der jetzt den Auftrag erhielt, von Ludwig XIV. und dem Père La Chaize für Phra-Narai zwölf Mathematiker aus dem französischen Jesuitencollegium zu erbitten. Der aller- christlichste König gewährte nicht nur diese, sondern auch ein französisches Truppencorps, das sich unter Maréchal Des Farr- ges und Lieutenant-Général Bruant mit den Botschaftern De la Loubére und Ceberet , mit Tachard , den zwölf Jesuiten und den siamesischen Gesandten zu Brest im Februar 1687 einschiffte. — Nach der darüber geschlossenen Convention sollten die französi- schen Krieger nicht nur als Instructeure der siamesischen, sondern auch zum Schutze des siamesischen Königs und Staates dienen; sie sollten zwei feste Plätze besetzen und dort unter Autorität des Landesherrn von ihren eigenen Officieren commandirt werden. Während unterdessen die Jesuiten ihre Hoffnungen auf ein christliches Königreich Siam nährten, — denn dem Uebertritt des Königs sollte die Taufe des ganzen Volkes folgen, — zog sich das Gewölk über ihren Häuptern immer dichter zusammen. Die Be- günstigung der Christen erbitterte nicht nur die mächtige Classe der Bonzen, den ganzen einheimischen Adel und Beamtenstand, sondern auch die zahlreichen malayischen Moslem. Mit ihnen scheint Phra-Narai ähnlich wie mit den Christen coquettirt, und einem persischen Gesandten sogar Aussicht auf baldigen Uebertritt zum Islam gemacht zu haben. Zwei vertriebene Fürsten von Ma- cassar , die in Siam lebten, zettelten eine Verschwörung an und fanden starken Anhang. Das Complott wurde aber vor dem Aus- bruch verrathen und nach verzweifeltem Kampf unterdrückt. Der König begnadigte die grössere Zahl der Verschwörer, ohne sie da- durch zu versöhnen; der Groll brütete weiter und erhielt neue Nahrung. Im October 1687 ankerte das französische Geschwader vor Paknam . Nachdem der König Tachard empfangen und Phaulkon die nöthigen Anstalten für Ausschiffung der Truppen getroffen hatte, IV. 16 Neue Gesandtschaft nach Frankreich . XXI. unterschrieb man eine Convention, deren Inhalt nicht näher be- zeichnet wird. Die Gesandten und die Truppen landeten, erstere wurden mit den Jesuiten und vielen Officieren in Ayutia und Lo- phaburi eben so ehrenvoll empfangen wie Chaumont und blieben bis gegen Ende des Jahres. Anfang Januar 1688 schiffte sich auch Tachard mit Gesandten des Phra-Narai und zwölf jungen Söhnen siamesischer Grossen wieder ein, die in Paris erzogen werden sollten; er hatte den Auftrag, von Ludwig XIV. noch die Absen- dung von 200 Garde du corps zu erwirken. Phra-Narai liess den Jesuiten Häuser, eine Kirche und ein Observatorium bauen, hatte auch beständig französische Officiere bei sich in Lophaburi und erwies allen Fremden die höchste Gunst. Der grössere Theil der französischen Truppen bezog unter dem Marschall Des Farrges die Castelle von Baṅkok , — das damals nur ein Dorf war, — der kleinere unter General Bruant die Feste von Mergui an der Küste Tenasserim . Jene beherrschen den Zugang zur Hauptstadt von Süden, diese die westlichen Landschaften; man gab damit die Schlüssel des Reiches in ihre Hände. Die folgenden Ereignisse und Phaulkon’s Sturz werden so verschieden erzählt, dass die Wahrheit nicht herauszuschälen ist. Die Jesuiten machen ihn zum Märtyrer, Kämpfer und die Siamesen zum Verbrecher. Bei nüchterner Vergleichung gewinnt man unge- fähr folgendes Resultat, dessen Genauigkeit doch keineswegs ver- bürgt werden soll. Es würde zu weit führen, hier die verschiedenen Versionen wiederzugeben; nur so viel sei gesagt, dass man noch heut nicht weiss, ob Phaulkon mit oder ohne des Königs Wissen die französischen Truppen herbeirief, ob Phra-Narai ihn er- morden liess oder Phra-phet-raxa , ob Mompit des Königs Schwiegersohn, Stief- sohn, Pflegesohn oder natürlicher Sohn war, ob derselbe mit Phaulkon oder mit Phet-raxa gegen den König conspirirte, ob Phaulkon’s Gemahlin ihm nach seinem Sturz ins Gesicht spie — oder selbst als Wittwe die rührendste Treue bewahrte. Für alle diese und ähnlich einander widersprechende Angaben giebt es Autoritäten von gleichem Werth. Im Februar 1688 erkrankte Phra-Narai in Lophaburi be- denklich; die Frage der Thronfolge trat in den Vordergrund. Phaulkon widersetzte sich hartnäckig dem Wunsche des Königs, der seine einzige Tochter einem Adoptivsohn Mompit vermählen wollte, und verlangte deren Verlobung mit einem der beiden Brüder des Königs, die Phra-Narai hasste und seit lange in strengem Ge- wahrsam hielt; ihre Succession scheint unmöglich gewesen zu sein. XXI. Phaulkons Sturz. Allen Grossen verwehrte Phaulkon den Zutritt zum Kranken, und hoffte wohl mit Hülfe der französischen Truppen den Thron für sich zu gewinnen. — Unterdessen hatte einer der Vornehmsten, Phra-phet-raxa , längst die Unzufriedenen um sich geschaart und heimlich seine Anstalten getroffen; die Malayen, die Priester- schaft und der Adel hassten die Fremden und deren allmächtigen Beschützer tödtlich. Im günstigen Moment riefen die Grossen Phra-phet-raxa zum Regenten aus und bemächtigten sich des Palastes in Lophaburi . Phaulkon wurde gefangen und im Juni 1688 hingerichtet, sein Vermögen eingezogen. Pallégoix sah in Lophaburi seinen Palast und seine Kirche, auf deren Altar ein Budda stand, während auf dem Baldachin darüber noch die Worte Jesus homi- num salvator zu lesen waren. Phra-phet-raxa regierte im Namen des gefangenen Königs, der bald darauf starb, liess den Prinzen Mompit , der anfangs in die Verschwörung verwickelt ge- wesen sein muss, ermorden, und sicherte sich in wenig Wochen den unbestrittenen Besitz des Thrones. Nun galt es die Franzosen aus ihren Castellen zu treiben. Phra-phet-raxa hatte umsonst versucht, durch erzwungene Briefe des Phaulkon den Marschall Des Farrges mit seinen Truppen nach Lophaburi zu locken. Nach der Hinrichtung des Griechen bewog der Bischof von Metellopolis durch Drohungen geschreckt den französischen Marschall, allein nach Lophaburi zu kommen. Phra- Phet-raxa verlangte peremtorisch die Auslieferung der Castelle; Des Farges schrieb gezwungen eine Aufforderung zu Uebergabe der Feste von Mergui und versprach die Auslieferung von Baṅkok , wenn er da- hin reisen dürfte, musste aber seine Söhne als Geisseln zurück- lassen. Sechs französische Officiere, die beim Ausbruch der Ver- schwörung aus Lophaburi flohen, waren nach langer Verfolgung ergriffen, schimpflich misshandelt und eingekerkert worden. Die Theilnahme des Volkes an diesen Grausamkeiten beweist, dass alle Classen die Franzosen bitter hassten. General Bruant leistete in Mergui jener Aufforderung nicht Folge, vertheidigte sein Castell eine Weile gegen die feindlichen Angriffe, schlug sich dann mit einigem Verlust nach dem Hafen durch, bemächtigte sich eines englischen und eines siamesischen Schiffes, die im Hafen lagen, und entkam mit dem grössten Theil seiner Leute nach Pondichéry . — Des Farrges konnte in Baṅkok nur das eine Castell halten; das andere besetzten die Siamesen. 16* Abfahrt der Franzosen. XXI. Er hatte jedoch Lebensmittel, wies einige Wochen lang alle An- griffe ab, unterhandelte aber zugleich über die Capitulation: der König stellte den Franzosen zur Reise nach Pondichéry zwei siame- sische Schiffe, die mit zwei sie begleitenden Siamesen zurück- geschickt werden sollten; als Bürgen dafür mussten der Bischof von Metellopolis und einige andere Missionare bleiben; die mei- sten schifften sich mit den Truppen ein. Des Farrges lieferte Phaul- kon’s Gemahlin aus, die unter seinen Schutz geflüchtet war. Die Franzosen sollten nach dem Vertrage mit Waffen und Gepäck abziehen, wurden bei der Einschiffung aber gezwungen ihr Geschütz zurückzulassen. — Als Vergeltung scheint Des Farrges die siame- sischen Beamten und Schiffe festgehalten zu haben; dafür wurden der Bischof von Metellopolis und die anderen Bürgen grausam miss- handelt und mussten die schwersten Frohndienste leisten. Im August 1689 erschien Des Farrges , der bittere Rache ge- schworen hatte, mit fünf Schiffen bei der Insel Šoṅ-silaṅ an der Westküste der malayischen Halbinsel, segelte jedoch auf ein Schrei- ben des Bischofs von Metellopolis , der im Kerker mit grimmiger Härte behandelt wurde, nach Auslieferung der Siamesen ohne Feind- seligkeiten wieder ab. Ende 1690 schrieb Père Tachard von Mer- gui aus dem Minister des Phra-phet-raxa , dass er einen Brief des französischen Königs bringe und mit Herstellung des Freund- schaftsbündnisses beauftragt sei. Aus Furcht vor der wachsenden Macht der Holländer scheint der Usurpator darauf eingegangen zu sein; im April 1691 gab man dem Bischof von Metellopolis das Seminar wieder; Phra-phet-raxa schenkte ihm sogar eine Geld- summe, und die Missionare wurden nicht weiter behelligt. Der vielgeprüfte Bischof von Metellopolis starb 1697. Seine Nachfolger im apostolischen Vicariat wurden das 18. Jahrhundert hindurch vielfach in die Kabalen am siamesischen Hofe verwickelt; die Mission, welche Frankreich beständig aufrecht hielt, blühte oder litt je nach den Launen und Neigungen der unfähigen Despoten, die auf Phra-phet-raxa folgten. Durch äussere und innere Kriege sank Siam immer tiefer. Um 1760 belagerte der König von Ava Ayutia . 1766 verbrannte der König von Birma die Haupt- stadt nach zweijähriger Belagerung, verwüstete die ganze siame- sische Ebene und schleppte die Bevölkerung fort. Unter diesen Calamitäten litten natürlich sowohl die katholische Mission als der fremde Handel. XXI. Siams Wiedergeburt. Das Reich wurde hergestellt durch Phaya-tak , den Sohn eines Chinesen und einer Siamesin, der die Birmanen bezwang, in Baṅkok seine Residenz aufschlug, allmälig das ganze Land unter- warf, dann aber in Grössenwahn fiel und 1782 von seinem ersten Minister, Phra-phuti-tšao-luaṅ , dem Gründer der heut regieren- den Dynastie, gestürzt wurde, unter der das Reich wieder auf- blühte. Phra-phuti-tšao-luaṅ meisterte nach langen Kämpfen die immer wieder eindringenden Birmanen und regierte bis 1811. Sein Sohn Phendin-klaṅ herrschte in Frieden bis 1825. Bei dessen Tode zählte der rechtmässige Thronerbe Tšao-fa-moṅkut , der älteste Sohn der Königin, nur zwanzig Jahre. Sein älterer Halb- bruder, Phra-tšao-phrasat-thoṅ , der Sohn einer Concubine, war schon unter dem schwachen Phendin-klaṅ allmächtig gewesen und wusste jetzt den Thron für sich zu gewinnen; Tšao-fa-moṅkut ging für sein Leben fürchtend in ein Kloster, stieg zur Würde eines siamesischen Oberbonzen und lebte sechsundzwanzig Jahre lang theologischen, philologischen und naturhistorischen Studien, die sich nicht nur auf asiatische, sondern auch auf die christlichen Bekenntnisse und europäische Sprachen erstreckten. — König Phra-tšao-phrasat-toṅ versammelte, bedenklich erkrankt, 1851 die Grossen, um seinem Sohne die Krone zu sichern, erhielt jedoch zur Antwort, das Reich habe schon seinen Erben, und starb in bitterem Grimm. An demselben Tage bestieg Tšao- fa-moṅkut mit Beistand des ersten Ministers, welcher die Aufleh- nung des Prätendenten mit mächtiger Hand erdrückte, unter dem Namen Somdet-phra-paramendr-maha-moṅkut den siamesischen Königsthron. Der niederländische Handel blühte noch zu Anfang des 18. Jahr- hunderts, erlitt jedoch 1706 eine Störung, von der er sich nicht wieder erholte. Von seinem früheren Glanz sind die Ruinen der hollän- dischen Factorei bei Paklat wohl die einzigen Spuren. Die portu- giesische Colonie überlebte dagegen den Fall von Ayutia und mehrte sich durch Heirathen mit den Landestöchtern. Die meisten sind Halb-Siamesen, die neben dem Siamesischen wohl die Sprache ihres Mutterlandes verstehen, aber siamesisch denken und leben; stehen sie doch seit Jahrhunderten unter dem Landesgesetz. Lange war die Verbindung mit Portugal , selbst mit Goa und Macao , wohl Englische Gesandtschaft unter Crawfurd . XXI. ganz unterbrochen; nur die katholische Mission hielt die Gemeinde zusammen. Phendin-klaṅ erlaubte der portugiesischen Regierung einen Consul in Baṅkok zu ernennen, ohne demselben irgend ein Recht zu gewähren. — Der fremde Handel scheint in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ganz geruht zu haben; im Anfang des 19. fristete er unter despotischer Bedrückung ein elendes Dasein. Der König hatte das Vorkaufsrecht; auf seinen Namen erstanden die Grossen den besten Theil jeder Schiffsladung und machten da- für die Preise, Niemand anders durfte auf die eingeführten Waaren bieten. Ihre Ausfuhr mussten die Fremden von denselben Grossen kaufen, welche die Landesproducte zu den niedrigsten Preisen er- standen, aber von den Ausländern die höchsten erpressten. 1822 schickte der englische General-Gouverneur von Ost- Indien einen Agenten nach Baṅkok , der persönlich ganz glimpflich, in seiner amtlichen Eigenschaft aber mit gesuchter Grobheit be- handelt wurde. Der Empfang war elend, die angewiesene Woh- nung ein Schuppen ohne Licht und Luft, zu dem man von unten durch eine Fallthür oder durchs Fenster auf Leitern hinanstieg. Damals regierte noch der schwache Phendin-klaṅ unter Vormund- schaft seines illegitimen Sohnes, der 1825 als Phra-tšao-phrasat- thoṅ den Thron bestieg und erst 1851 das Reich dem recht- mässigen Erben hinterlassen musste. — Mr. Crawfurd und seine Begleiter sollten als Gefangene behandelt werden bis zur Audienz. die man willkürlich verzögerte. Als Dolmetscher und Vermittler dienten Malayen und andere einflussreiche Moslem, die aus den Bedrückungen des Handels Gewinn zogen; Mr. Crawfurd’s eigene Dolmetscher wurden nicht einmal zur Audienz beim Prinzen zu- gelassen, die Engländer hatten Mühe, sich der Grobheiten jener Malayen und untergeordneter Beamten zu erwehren. Ueber die feierliche Audienz wurde lange unterhandelt und jedes Pünctchen festgestellt; die Siamesen argwöhnten, Mr. Crawfurd wolle den König dabei brusquiren. Mit Gepränge wurden die Briten grade nicht zum König geführt; vom Landungsplatz bis zum Thor des Palastes trug man sie in Netz-Hängematten, an die sie sich krampf- haft festklammerten; ihre Wache und Dienerschaft blieb ausser- halb des Thores. Dann nahm man ihnen die Degen ab; ohne Schuhe mussten sie durch die weiten Höfe wandern. Der schmutzige Pomp der dort aufgestellten Garden scheint noch toller gewesen zu sein, als 1862. — Die Audienz glich in der Anordnung den XXI. Crawfurds Erfolge. späteren; nur mussten die Engländer auf dem Teppich am Boden sitzen und dreimal grüssend mit erhobenen Händen die Stirn be- rühren. Der König that herkömmliche Fragen und schloss mit der Aeusserung, er freue sich einen Gesandten des General-Gouverneurs zu sehen; dem Phra-klaṅ möge derselbe seine Anträge machen; Siam brauche vor Allem Feuerwaffen. — Während der Audienz hatte es geregnet; nachher wurden die Engländer zwei Stunden lang in den weitläufigen Strassen und Plätzen der königlichen Stadt, deren Herrlichkeiten sie bewundern sollten, ohne Schuhe durch Pfützen und über glühende Steinplatten herumgezerrt. Crawfurd’s Anträge gingen auf freien Handelsverkehr und Ermässigung der Zölle. Anfangs wollte man ihm gar keine schrift- lichen Zusagen geben, sondern den General-Gouverneur nur brief- lich auf die mündlichen Verabredungen mit seinem Agenten ver- weisen. Dieser erwirkte endlich ein Schreiben des Zolldirectors, das bindende Kraft haben sollte: alle englischen Schiffe müssten in Paknam visitirt werden und ihre Geschütze und Waffen ausliefern; dann würde der Zolldirector in Baṅkok die Geschäfte der fremden Kaufleute fördern; die Zölle sollten nicht erhöht werden. In der portugiesischen Uebersetzung stand von der Vermittelung des Zoll- directors kein Wort; nach ihr schien der freie Verkehr wirklich zugestanden. — Mündlich hatte der Phra-klaṅ zwar nicht diesen Punct, wohl aber die Ermässigung der Einfuhrzölle von 8 auf 6 Procent versprochen, welche zwei Jahre vorher einem portugie- sischen Agenten gewährt wurde. Seitdem war aber kein portu- giesisches Schiff erschienen und der Phra-klaṅ steifte sich lange darauf, dass für englische die Ermässigung nur eintreten solle, wenn jährlich fünf Schiffe kämen. In jenem Schreiben stand kein Wort davon. — Practische Folgen hatte die Sendung durchaus nicht; der Phra-klaṅ , welcher die Verhandlungen leitete, zog allzugrossen Vortheil aus den herkömmlichen Bedrückungen. Auf consularische Vertretung zu dringen trug Crawfurd Bedenken we- gen der Misshelligkeiten, die aus der Behandlung eines Repräsen- tanten der englischen Regierung erwachsen könnten: ein portugie- sischer Consul, den die Siamesen nach einem 1820 getroffenen Ab- kommen als Vorsteher der angesiedelten Gemeinde duldeten, genoss gar kein Ansehn und musste sich Alles bieten lassen. Zu einer schriftlichen Erwiederung an den General-Gou- verneur liess der König sich nicht herab; der Phra-klaṅ wollte Capitän Burney . Mr. Edmund Roberts . XXI. demselben antworten, was Mr. Crawfurd als ungehörig ablehnte. Ein Schreiben des zweiten oder stellvertretenden Phra-klaṅ an den Secretär des General-Gouverneurs wurde dagegen angenommen. Es constatirte einfach den Empfang des englischen Briefes und der dargereichten Geschenke, — »offerings«, sagt die englische Ueber- setzung, wahrscheinlich steht im Siamesischen »Tribut«; dann er- wähnt es die von dem Agenten geäusserten Wünsche und Bitten, über die er mit dem Zolldirector verhandeln solle, und giebt eine Liste der Gegengeschenke. Bald nach der Thronbesteigung des Königs Phrasat-thoṅ kam 1826 Capitän Burney nach Baṅkok . Der Hauptzweck seiner Sendung war politisch; während der Verwickelungen mit Birma hatten die Siamesen das Gebiet des den Engländern befreundeten Königs von Queda besetzt; man wollte ein Bündniss derselben mit den Birmanen abwenden und sich wo möglich ihren Beistand sichern. In allen Hauptpuncten abgewiesen schloss Capitän Burney doch ein Abkommen in vierzehn Artikeln, von denen sieben rein politischen Inhalts den verbannten König von Queda , die Aus- lieferung von Flüchtigen, die Stellung malayischer Staaten, Grenz- bestimmungen und dergleichen betrafen. Die anderen Artikel verbürgten gegenseitigen Schutz für Schiffbrüchige, sichere Beför- derung von Briefen und freien Handelsverkehr. Letzteres Zuge- ständniss wurde illusorisch durch die den Bezirksgouverneuren anheimgegebene Entscheidung, ob auch Waare genug zum Export vorhanden wäre. Ferner bestimmte der Vertrag, dass Briten in Siam unter dem siamesischen Gesetze leben sollten, dass die Lan- desbehörden sie im Bauen und Miethen von Häusern und Kaufläden beschränken dürften. Die auch in den angefügten Handelsbestim- mungen versprochene Befreiung des Verkehrs blieb ein leeres Wort; die englischen Schiffe wurden zudem noch mit übermässigen Hafenabgaben gedrückt. Am 20. März 1833 unterzeichnete Mr. Edmund Roberts in Baṅkok für die Vereinigten Staaten einen Freundschafts- und Han- delsvertrag in zehn Artikeln. Danach sollte ewiger Frieden und Freundschaft herrschen und freier Handelsverkehr zwischen Sia- mesen und Americanern erlaubt sein, ausser für die Einfuhr von Opium und Kriegsbedarf und die Ausfuhr von Reis; die Schiff- brüchigen sollten geschützt werden, ebenso Americaner, die von Piraten nach Siam geschleppt würden; americanische Schuldner XXI. Sir James Brooke . Mr. Ballestier . sollten auch im Falle der Insolvenz losgelassen werden, wenn sie ihren ganzen Besitz dem Gläubiger cedirten; im Uebrigen sollten Americaner in Siam unter dem Landesgesetz stehen; sie sollten die- selben Hafengelder zahlen wie die Briten, aber jede denselben künftig zu gewährende Begünstigung ebenfalls geniessen, auch einen Consul ernennen dürfen, wenn irgend ein anderer als der portugie- sische zugelassen würde. — Dieser Vertrag wurde eben so wenig gehalten, wie der englische. Wo das Volk jedem willkürlichen Geheiss des Despoten gehorcht, ist alle Handelsfreiheit illusorisch, bis die Machthaber selbst ihren Vortheil darin finden: das geheime Verbot, von einem Schiffe zu kaufen, lieferte jedesmal dessen La- dung in die Hände der Grossen. Die Denkweise siamesischer Grossen beleuchtet eine Aeusserung des Phra- klaṅ der auf das Gesuch des Herrn Roberts , ihm den geschlossenen Vertrag in doppeltem Exemplar zu unterzeichnen, einfach antwortete, das ginge nicht, weil der Americaner das zweite einem anderen Volke verkaufen möchte. Zudem drückte König Phrasat- thoṅ viele Producte mit schweren Abgaben und verpachtete die wichtigsten Zweige des Handels an Monopolisten. Man hinderte die Fremden, siamesische oder chinesische Fahrzeuge zu miethen und vereitelte jede Bemühung, von siamesischen Schuldnern Geld einzutreiben. Als im August 1850 Sir James Brooke als Gesandter der Königin Victoria mit zwei Kriegsdampfern vor der Mündung des Menam erschien, war König Phrasat-thoṅ schon krank und für die Thronfolge zu besorgt, um an Anderes zu denken; der eng- lische Gesandte wurde von vornherein fast feindselig behandelt und in allen Puncten abgewiesen. Am 28. September brach er die Ver- handlungen ab und schied unter dem Eindruck, dass in Siam auf friedlichem Wege kein Verhältniss anzubahnen sei. — Eben so grob wurde Mr. Ballestier abgefertigt, der gleich darauf, im Octo- ber 1850 mit americanischen Kriegsschiffen nach Baṅkok kam. Der Thronwechsel im April 1851 änderte mit einem Schlage die Stellung der Fremden in Siam . Der neue König stand im ge- reiften Mannesalter; in langjähriger Beschäftigung mit europäischen Sprachen und Wissenschaften und dem vertrauten Umgang der Missionare hatte er nicht nur die Fremden achten gelernt, sondern auch zeitig begriffen, welchen Vortheil ihm ihre Gemeinschaft brin- gen möchte. Sein erster Minister Phra-kalahum theilte zwar nicht des Königs leidenschaftlichen Hang zu gelehrter Aufklärung, er- Sir John Bowring . XXI. kannte aber mit hellem Blick, dass der Handel durch Befreiung von Monopolen und Sicherung auf fester gesetzlicher Basis zum Vortheil aller Betheiligten gedeihen und wachsen müsse. Zu- dem gestaltete sich damals das Verhältniss zum Auslande wesent- lich anders: England rückte durch seine hinterindischen Erwer- bungen 1852 und 1853 bis an die Westgrenze des siamesischen Reiches vor und eignete sich Landstriche an, die einst dazu ge- hört hatten. So wurde denn Sir John Bowring , der 1855 als Gesandter der Königin Victoria nach Baṅkok ging, nicht nur mit allen dem Botschafter einer Grossmacht gebührenden Ehren, sondern vom König persönlich mit herzlicher Freundschaft behandelt. Bei der feierlichen Audienz erregte eine einzige Frage Anstoss: die Briten sollten trotz der Gala ihre Degen ablegen, da das Waffentragen in des Königs Gegenwart in Siam ungesetzlich sei. Sir John Bowring berief sich jedoch auf die Botschafter Ludwigs XIV. und siegte auch in diesem Punct. — Bei den Vertragsberathungen trat der energische Kalahum , obgleich vieles Neue und Unerhörte verlangt wurde, wie es scheint aus Ueberzeugung auf des Gesandten Seite und brach, unterstützt vom Prinzen Khroma-luaṅ , mit eiserner Faust den Widerstand der mächtigsten Grossen. Am 18. April 1855 wurde in Baṅkok ein Vertrag unterzeichnet, welcher den Engländern vollen Schutz und freien Handelsverkehr im ganzen Reiche, die consularische Vertretung und Gerichtsbarkeit, die Erlaubniss, im Gebiete von Baṅkok Grundstücke zu kaufen, Häuser und Kirchen zu bauen, und mit Pässen ihrer Consuln im ganzen Lande zu reisen gewährte. Die Hafengebühren wurden abgeschafft und ein mässiger Tarif der Ein- und Ausfuhrsteuern festgestellt. Die Clausel der meistbegünstigten Nation sicherte den Briten alle künftig in anderen Verträgen zu gewährenden Rechte. — Mr. Parkes , der im Frühjahr 1856 den ratificirten Vertrag nach Baṅkok brachte, bearbeitete mit den siamesischen Commissaren noch einige Erklärungen und Zusätze, welche demselben mit bindender Kraft angefügt wurden. Nach dem Muster dieses englischen schlossen in den folgen- den Jahren die Vertreter der anderen Seemächte ohne Schwierigkeit ihre Verträge. König Maha-moṅkut und sein kluger Minister suchten die Freundschaft der Fremden und begriffen den Vortheil vertragsmässiger Beziehungen zu möglichst vielen civilisirten Staaten. Sass doch Siam nach der Mediatisirung von Birma im Westen und XXI. Arkona auf der Rhede von Paknam . der Eroberung von Cochinchina im Osten wie eingekeilt zwischen den beiden Mächten, die ihren eigenen Erwerbungen immer so schöne Namen geben. Als Seiner Majestät Schiff Arkona auf der Rhede von Paknam ankerte, war das für die preussische Gesandtschaft bestimmte Ge- bäude noch von französischen Militärs bewohnt. Der englische Consul Sir Robert Schomburgk stellte dem Gesandten sofort sein Haus zur Verfügung, falls Derselbe angesichts des Vorgefallenen das königliche Gebäude nicht annehmen wollte; Graf Eulenburg zog aber vor zu warten, obwohl die Bewohner nicht sogleich An- stalt zur Abreise machten und nach ihrer Entfernung einige Tage zur wohnlichen Herstellung des Hauses erforderlich waren. — Herr Pieschel , Herr von Richthofen und der Kaufmann Herr Markwald fuhren auf die Nachricht vom Eintreffen der Arkona mit dem Regierungsdampfer Blitz sofort auf die Rhede hinaus, begleitet vom achtzehnjährigen Sohne des Prinzen Khroma-luaṅ und einem Be- amten der Abtheilung des Auswärtigen. Letzterer überreichte auf der Arkona in goldener Schale ein Schreiben des Phra-klaṅ , welches die baldige Rückkehr des Königs ankündete und beschleunigte Anstalten für den Empfang des Gesandten versprach. Die Ueber- siedelung wurde auf den 21. December anberaumt. Der Aufenthalt auf der Rhede war heiss und blendend: ringsum ein endloser Wasser- spiegel, nur bei klarster Luft dämmerte am nördlichen Horizont ein Streifchen Land auf. Die glatte Fläche warf brennende Strahlen zurück, auf das Deck der Arkona lagerte sich die träge Stille des tropischen Tages. Die Post nach der Heimath und die Sichtung des Gepäckes gaben vollauf zu thun: Elbe sollte auf dem kürzesten Wege nach Deutschland zurückkehren und alles Ueberflüssige mit- nehmen. Am Abend des 19. December brachte eine Lorcha den jungen Elephanten heraus, den Sir Robert Schomburgk für Ihre Königliche Hoheit die Frau Kronprinzessin von Preussen bestimmte, mit ihm einen siamesischen Eber, der in Baṅkok sein Spielgefährte war. Auf der Elbe fühlte sich der lustige Elephant bald zu Hause und wurde der Liebling der ganzen Mannschaft. Die Lorcha, welche das Gepäck der Gesandtschaft nach Baṅkok führen sollte, trieb schon seit dem Mittag des 20. December Fahrt auf dem Menam . XXI. auf der Rhede, ohne Arkona erreichen zu können: kein Lüftchen regte sich. Am Morgen des 21. kam ein kleiner Flussdampfer des Königs, Little Eastern, mit einem Halbbruder des Phra-klaṅ und dem Hafencapitän Mr. Bush , einem Engländer. Ein grösserer, schnellerer Flussdampfer, der Volant, welchen der Kalahum dem Gesandten schickte, kam etwas verspätet mit Herrn Pieschel und dem als Dol- metscher engagirten Baptistenmissionar Herrn Smith an Bord. Auf dem Volant schifften sich der Gesandte und sein Gefolge ein, Little Eastern nahm die Seesoldaten, die Dienerschaft und das Gepäck auf; gegen 12 Uhr Mittags dampfte Volant von der Thetis salutirt auf die Flussmündung zu. Den Capitän des eleganten Schiffes, Thomas A-tšua , einen gebornen Cochinchinesen, hatte der Kalahum in London erziehen lassen; er sprach geläufig englisch und trug neben den siamesischen Kleidungsstücken Schuhe, Strümpfe und eine Marinemütze, hatte aber, obwohl erst vor kurzem mit der siame- sischen Gesandtschaft, die er als Dolmetsch begleitete, aus Europa heimgekehrt, schon wieder ziegelrothe Lippen vom Betelkauen. — Des Phra-klaṅ Halbbruder trug einen goldenen Gürtel mit edelstein- funkelnder Schnalle und juwelenbesetzte Knöpfe an seinen Jacken, die er während der Fahrt häufig wechselte. Sein zahlreiches Gefolge kauerte am Boden mit goldenen Theekannen, Schalen und Betel- büchsen, den Insignien seines Ranges. Nach halbstündiger Fahrt passirte das Schiff die Barre, Baṅkok ’s natürliches Bollwerk, denn der Fluss ist tief genug für die grössten Kriegsschiffe. Von der Barre bis zur Mündung des Menam dauerte es wieder eine halbe Stunde; der Fluss hat eine stattliche Breite, aber trübes lehmiges Wasser; seine Ufer sind dicht und üppig bewachsen. — Gegen ein Uhr landete Graf Eulen- burg in Paknam , wo der Phra-klaṅ ihn empfing; diesmal strahlte sein Anzug von Juwelen, aber Waden und Füsse waren nackt. Als der Volant anlegte, wurde auf einem Flaggenmast am Ufer die preussische Flagge gehisst; die im Waldesdickicht versteckten Forts feuerten den Salut von 21 Schüssen. In einer nach allen Seiten offe- nen Halle war ein opulentes Frühstück nach englischer Weise ange- richtet: Suppe von Vogelnestern, feine Ragouts, Hühner und Schwei- nebraten, Kuchen und Früchte, dazu Bier und französischer Rothwein. Alles Geschirr war europäisch. Der Phra-klaṅ liess nicht ab sich mit gesuchter Bescheidenheit wegen des unwürdigen Empfanges zu entschuldigen: Siam sei ein armes Land, das nichts zu bieten vermöge. XXI. Ankunft in Baṅkok . Die weitere Fahrt war anmuthig wie jede tropische Fluss- reise. Zwar spähte man vergebens nach den erwarteten Crocodilen und Affen; doch belebten Luft und Wasser und das Uferdickicht dichte Schaaren von Reihern und Raubvögeln; hier und da er- glänzte das bunte Gefieder eines Eisvogels oder Papageien. — Nah der Flussmündung steht ein befestigter Tempel mitten im Strom; das rechte Ufer säumt, im Dickicht versteckt, bis Unter- Paklat hinauf eine lange Reihe alter Schanzen, die nur theilweise armirt sind. Oberhalb dieses Fleckens macht das Strombett einen grossen Umweg, der durch enge Flussarme abgeschnitten wird: durch diese gelangen Ruderboote in kürzerer Zeit von Unter- nach Ober- Paklat , als die schnellsten Dampfer auf dem Strom. Hellgrüne Zuckerpflanzungen und heimliche Dörfchen liegen im Uferdickicht ausgestreut; meist stehen die Häuser auf hohen Pfählen am Wasser, zu welchem Leitern hinabführen. Tausend Boote furchen pfeil- schnell den Strom, Fischerbarken und Dschunken treiben Ebbe und Fluth benutzend auf- oder abwärts. Das Abendlicht malte die reichen Pflanzengebilde in schär- feren Gruppen; mächtige Tempeldächer, schlanke Spitzen und Thürmchen und gefiederte Palmenwipfel zeichneten in der kurzen Dämmerung vielversprechend die zierlichsten Silhouetten am hell- glänzenden Himmel. Leider dunkelte es schon, als der Volant Baṅ- kok erreichte. Bunte Laternen und Pechfeuer markirten die langen Reihen der schwimmenden Häuser; am Ufer standen hohe Stangen mit Leuchten zu Verscheuchung der bösen Geister. Bald nach sechs ankerte der Volant vor dem Gesandtschaftshause; an die Landungsbrücke konnte der Ebbe wegen nicht angelegt werden, hier war unter Ehrenpforten aus Palmen und Pisang die siame- sische Dienerschaft mit Fackeln aufgestellt. — Prinz Khroma-luaṅ holte selbst in seinem Boot den Gesandten vom Dampfer ab. Bald darauf sassen wir alle an einer reichbesetzten Tafel, die der Phra-klaṅ im Gesandtschaftshause hatte decken lassen. Baṅkok , die Stadt der wilden Oelbäume, oder, wie sie in den königlichen Archiven heisst, des königlichen unüberwindlichen schönen Erzengels, ist einer der merkwürdigsten Plätze des Erden- rundes. Man denke sich einen mächtigen, in starken Windungen Baṅkok . XXI. strömenden Fluss mit vielen Seitenarmen und Canälen, die Ufer nur an einigen Stellen wenige Fuss über dem höchsten Wasser- stande, — besser einen grossen von vielen Rinnsalen durch- schnittenen Sumpf mit einzelnen trockenen Stellen, wo feste Ge- bäude stehen; denn der grösste Theil von Baṅkok liegt unter dem Niveau des Hochwassers und ist zur Regenzeit überschwemmt. Den von Ringmauern umschlossenen Kern der Stadt mit den Palästen der beiden Könige umfliesst der Menam im Halbkreis; dort stehen lauter steinerne Gebäude auf trockenem Boden; der Grund ist wohl theilweise aufgeschüttet. Südlich davon und am rechten gegen- überliegenden Stromufer stehen in üppigen Gärten zerstreut ver- einzelte Paläste und Tempel auf festen Fundamenten, und an den sumpfigen Ufern der Wasserläufe auf hohe Pfähle gesetzt Reihen hölzerner Wohnhäuser, die meist nur zur trockenen Zeit von ihren Gärten zugänglich sind. Im Strom aber und seinen breiteren Seitenarmen liegen, hier und da in doppelter Reihe, zwanzig Schritt und weiter vom Ufer die schwimmenden Häuser an Pfähle gebun- den, dazwischen Tausende malerischer Fahrzeuge, und im Strome geankert grosse Schiffe, Dschunken und Dampfer. — Die Cholera soll in Baṅkok erst nachgelassen haben, seit der König befahl, auf dem Flusse zu bauen; die Zahl der schwimmenden Häuser geben die Siamesen sicher viel zu hoch auf 200,000 an. Die Einwohner- zahl ist wahrscheinlich 400,000; davon wären 80,000 Chinesen, 20,000 Birmanen, 15,000 Moslem aus Arabien , Persien und den indischen Ländern. Christen sollen gegen 4000 in Baṅkok sein; darunter 1400 cochinchinesische, 1300 portugiesischer Abkunft, 400 chinesische. Compacte Häusermassen giebt es also fast nur in der Binnen- stadt; ausserhalb derselben liegen die meisten Gebäude an den Wasserläufen, zwischen üppigen Gärten, Feldern, im wuchernden Dickicht. Ausser den Tempeln und Palästen sind alle Gebäude aus Holz und Bambus, mit Palmblättern gedeckt. Rechte Winkel sieht man trotz der sorgsamen Fügung selten; denn Ebbe und Fluth unterwühlen in beständigem Wechsel der Strömung die stützenden Pfähle, die aus der senkrechten Lage weichend ihre Last oft selt- sam auseinanderrecken. Diese Hütten mit den vielgestaltigen Booten im Schattendunkel ihres Pfahlrostes und die mächtigen ausdrucks- vollen Formen der Pflanzenwelt gruppiren sich überall zu bunten malerischen Bildern. Schwimmende Häuser giebt es nur im Strom XXI. Bazar und schwimmende Häuser. und den breiteren Seitenarmen; hier concentrirt sich alles lebendige Treiben. Aber wenige Ruderschläge führen das Boot aus dem dichten Gewühl in die Tiefe des Tropenwaldes, der seine Wipfel zusammenwölbt über allen schmaleren Rinnsalen. Dann kommt wieder eine Lichtung, wo bunte Tempel in das Grün gebettet lie- gen; man blickt vom Boot in die offenen Hallen, wo Bonzen ihre Zöglinge unterrichten. Goldene Giebel mit geschwungenen Hörnern und Adlerflügeln, spitze glänzende Thürmchen spiegeln sich in der leise gleitenden Fluth. — So ist wie gesagt Baṅkok ein dichter Wald- sumpf; jede Hütte, jeder Palast, jeder Tempel liegt im Grünen. Selbst in den belebteren Wassergassen drängen sich Bambus, Areca, Cocos, Borassus, Urania speciosa, Pandanus, Ravenala, Nipa, Musaceen, Artocarpeen und Ficus in dichten Massen an die Ufer, oder schirmen die Dächer der malerischen Hütten. Feste Brücken mit Geländer sind selten; über die kleineren Rinnsale führt hier und da eine einzelne schmale Planke, nur für Schwindelfreie gangbar, mit beiden Enden auf hohem Gepfähle ruhend, zu welchem man mit akrobatischer Gewandtheit über ein steiles Brett ohne Lehne hinanrennt. Trockenen Fusses kann man ausserhalb der Ringmauer nur in einer einzigen Strasse eine be- trächtliche Strecke, fast eine halbe Meile wandern; sie führt aus der Gegend, wo die Fremden wohnen, nach der Binnenstadt, ist aber grossentheils so eng, dass kaum zwei Menschen nebeneinander Platz haben, und, wenn auch stellenweise mit Backsteinen gepflastert, sehr schmutzig und übelriechend. In ihrer ganzen Länge bildet diese Gasse einen Bazar; die unreinlichen Hütten sind nach vorn gleichsam aufgeklappt und entfalten auf der geneigten Fläche des Ladens eine Fülle von Esswaaren, — Früchte, Gemüse, getrocknete Fische, — daneben Haufen der Cowrie-Muschel, welche das Klein- geld der Siamesen bildet. Da giebt es auch Garküchen, wo die Speisen vor des Gastes Augen nicht sehr appetitlich bereitet wer- den. Den grössten Glanz entfalten die Branntweinbuden. — In einigen Läden standen europäische Baumwollenzeuge, Glas- und Quincaillerie-Waaren zu Verkauf. Dieser Bazar, der einzige auf trockenem Boden in Baṅkok , gleicht einem elenden Krämerviertel und müsste vom einheimischen Handel einen geringen Begriff geben, wenn nicht die schwimmenden Häuser, da aller Transport zu Wasser geschieht, die bequemsten Tauschplätze für Handel und Wandel wären. Anziehendes bieten auch diese kaum, denn Siam Das Leben auf dem Fluss. XXI. hat wenig Kunstfleiss: in einigen standen Hirschgeweihe, Tiger-, Leoparden-, Otterfelle, in anderen allerlei chinesische Geräthe, Schirme, Laternen, Gongs, grosse Opferbecken zum Tempelgebrauch, englische Baumwollenzeuge, Kurzwaaren, alte Musketen u. s. w. zum Verkauf. Die meisten schwimmenden Häuser sind reinlich; der Fluss führt allen Unrath fort und lockt zur Wäsche. Auf Bambus- flössen ruhend bieten sie den Vortheil des leichtesten Ortswechsels ohne Umzug. Pfähle stehen reihenweise im Hauptstrom und den Seitenarmen; Ebbe und Fluth besorgen die Fortbewegung, ein bug- sirendes Boot die Steuerung. Die meisten Chinesen und viele reiche Siamesen wohnen in schwimmenden Häusern. Wenn Morgens die Läden geöffnet werden, fahren Hunderte kleiner Boote die Reihen entlang: in der Mitte sitzt vor zwei grossen Gefässen ein kahler glatter Bonze in faltigem Gewand, ein nackter Bube führt hinter ihm das Ruder. Er fährt von Haus zu Haus und erhält ohne Bitte und Dank die reichsten Spenden. 20,000 Bettelmönche sollen in Baṅkok von solchen Almosen leben. Ausser den schwimmenden Häusern giebt es in Baṅkok viel schwimmende Kramläden auf Booten, die Früchte, Gemüse, Schweine- fleisch, getrocknete Fische und andere Esswaaren, auch fremde und einheimische Spirituosen führen und die Wassergassen malerisch beleben; besonders hübsch sind die Obstboote mit ihrer wunder- baren Fülle von Tropenfrüchten. Mit der Fluth können diese schwimmenden Krämer fast zu allen Häusern gelangen; im ersten Viertel des Mondes steigt sie selbst in der trockenen Jahreszeit so hoch, dass auch die aufgeschütteten mit Backstein gepflasterten Wege überschwemmt werden. Dann steht das Wasser vierzehn Fuss höher als bei Ebbe; — danach ermesse man die Gewalt der Strömung. — Um dem Bedürfniss der Fremden nach körperlicher Bewegung zu genügen, liess der König damals einen Reitweg von seinem Palast nach der von ihnen bewohnten Gegend bauen. Den westlichen Theil der von einer Zinnenmauer umschlosse- nen Binnenstadt bedecken die Paläste der beiden Könige mit ihren geräumigen Höfen und Gärten, Harems, prächtigen Tempeln, Hallen, Theatern, Schatz- und Vorrathshäusern, Kasernen, Elephanten- ställen und ganzen Stadtvierteln für die königlichen Sclaven, Tra- banten, Bootsleute, Handwerker. Jede dieser Palaststädte umgiebt eine Mauer. An die Südseite derjenigen des ersten Königs grenzt XXI. Das Gesandtschaftshaus. die grösste Tempelanlage von Baṅkok , Wat-po , deren Gärten nur die Stadtmauer vom Flusse scheidet. Ihr gegenüber liegt am rechten Stromufer der Tempel von Wat-džeṅ , dessen hohe im Fluss wieder- gespiegelte Pyramide mit den gegenüberliegenden Prachtbauten von Wat-po und dem Königspalast den landschaftlichen Glanzpunct von Baṅkok bildet. Unterhalb Wat-džeṅ mündet auf der rechten Seite ein starker Arm in den Menam , welcher nordwestlich den Garten von Wat Kalaya , einem der vornehmsten Tempel begrenzt; und unterhalb dieses Grundstückes steht, durch ein schmales Rinn- sal davon getrennt, das Gebäude, welches die preussische Gesandt- schaft bezog. Von den viel weiter unterhalb am linken Stromufer gelegenen Consulaten und Häusern der fremden Kaufleute recht entfernt, befanden wir uns doch im schönsten und merkwürdigsten Theile der Stadt und in bequemer Nähe der siamesischen Grossen, mit welchen der Vertrag berathen wurde. Das Gesandtschaftshaus bestand aus einem auf den Fluss sehenden Hauptgebäude, an dessen Rückseite zwei lange Neben- flügel mit einem niedrigen Querbau einen geräumigen Hof um- schlossen. Das Erdgeschoss — Keller giebt es in Baṅkok nicht — war dunkel und feucht, von Schlangen, Scorpionen und ähnlichem Gethier der Finsterniss bewohnt; es lag voll Holz und zerbrochener Geräthe, bei hoher Fluth stieg das Wasser hinein. Massiv aus Stein gebaut bildete es nur den Sockel der bewohnbaren Stock- werke, deren das Hauptgebäude zwei, die Nebenflügel eines hatten. Nah dem Fluss begrenzte das Grundstück eine Gartenmauer: vom Landungsplatz trat man durch die Eingangsthür in ein gartenartiges Höfchen, von wo eine doppelte Holztreppe auf den vortretenden Altan des Hauptgebäudes führte. Auf diesen öffnete sich der Speisesaal, der den grössten Theil dieses Geschosses einnahm; darüber lagen des Gesandten Schlaf- und Arbeitsräume und Gast- zimmer für Commodore Sundewall und Capitän Jachmann . Jeder Nebenflügel enthielt eine lange Reihe von Zimmern mit dem Zu- gang von einer breiten schattigen Veranda, die auf den Hof sah. Die Enden der beiden Veranden verband eine Galerie des niedrigen Quergebäudes, wo die zur Gesandtschaft commandirten Seesoldaten hausten. Die Matrosen, die nur vorübergehend nach Baṅkok kamen, pflegten auf der Veranda zu schlafen, der angenehmsten Stätte in den lauen Nächten. Die darauf mündenden von den Begleitern des Gesandten bewohnten luftigen Zimmer hatten Fenster mit ver- IV. 17 Haushaltung. XXI. schliessbaren Läden, — denn Glasfenster sind in den Tropen unge- bräuchlich, in den besten Häusern giebt es nur Jalousieen. In grösserer Höhe waren noch unverschliessbare Luken angebracht, welche die Luft Tag und Nacht einströmen liessen. Die Decke bildete der schräge Dachstuhl, in dessen Sparren viel kleine giftige Schlänglein sehr graziös herumspazierten; sie wohnten in den Mauerritzen, steckten oft neugierig züngelnd den breiten Kopf daraus hervor und schienen ihre Stubengenossen wohlgefällig zu be- trachten. Ihre Nähe wäre bei Nacht nicht grade beruhigend ge- wesen, wenn nicht dichte Mosquito-Netze ihr Herabfallen auf die Betten unmöglich machten. Die siamesische Regierung versah uns nicht nur mit allem Haus-, Küchen- und Tafelgeräth, mit Silber, Tisch- und Bettwäsche, sondern wollte auch für die Bewirthung sorgen; die gelieferten Nahrungsmittel waren aber nur theilweise brauchbar. Ein portu- giesischer Comprador, den der Gesandte in Dienst nahm, schaffte alles Uebrige zu mässigen Preisen. Die grösste Schwierigkeit machte, wie in allen buddistischen Ländern, das Rindfleisch; dagegen gab es Hirsche, gute Gemüse, Fische und Seethiere, Geflügel, Eier und herrliche Tropenfrüchte in unbezwingbarer Menge. Von siamesischen Dienern wimmelte das Haus; die meisten waren Bootleute, Hörige des Königs zum Dienst der Gesandtschaft commandirt. Neben vielen anderen lagen drei sogenannte Staats- boote, lange schmale Fahrzeuge mit einer Kajüte in der Mitte, be- ständig zur Verfügung am Landungsplatz, zu jedem derselben ge- hörten ausser den Steuerern zwölf Ruderer; im Ganzen hatten wir 63 Bootleute, sämmtlich mit rothen Kattunjacken, der königlichen Livrée bekleidet. Ausserdem stellte die Regierung einen Haushof- meister, zwei Compradors, vier Köche und dreizehn Diener, die etwas englisch verstanden, als »Interpreters«, so dass wir 83 Siame- sen im Hause hatten. Die Hauptpersonen darunter waren portugie- sischer Abkunft, sämmtliche im Hause selbst beschäftigte Diener Christen, die nicht das Haar siamesisch schoren, sondern über den ganzen Kopf wachsen liessen. In Baṅkok waren bis auf Regierungsrath Wichura , der in Java fieberkrank zurückblieb, und Herrn Jacob , der von Singapore aus nach der Heimath reiste, alle Civilmitglieder der Expedition versammelt. Commodore Sundewall , Capitän Jachmann und viele Officiere der Arkona und Thetis kamen häufig zum Besuch, — die XXI. Besuche. Elbe segelte schon am 24. December nach Singapore . Der Boots- verkehr mit der Rhede war so lebhaft, dass meist gegen funfzig Matrosen und Seesoldaten auf den breiten Veranden hausten. Dort wurden unzählige Cocosnüsse mit und ohne Arrac ausgetrunken; die Seeleute schwelgten leichtsinnig in Tropengenüssen und hatten die Folgen zu tragen. Chinesische, siamesische Diener oder einen un- glücklichen Affen neckend, schmausend und Karten spielend pflegten sie in bunten Gruppen unter dem schattigem Dach vor unseren Zimmern zu lagern, eine lustige, oft lärmende Brüderschaft. Am 22. December schickte der Phra-klaṅ früh Morgens einen seiner vielen Brüder, nach dem Befinden des Gesandten zu fragen, und erschien gegen Mittag selbst in ähnlicher Tracht wie Tages zuvor. Er bat Graf Eulenburg , der ihm den Zweck seiner Sendung schon amtlich angezeigt hatte, seine Ankunft schriftlich den beiden Königen zu melden, was noch denselben Tag geschah. Nachmittags kamen vom Ersten Könige, dem Prinzen Khroma-luaṅ und dem Phra-klan Körbe voll Orangen, Bananen, Cocosnüsse, auch Fleisch- würste, Süssigkeiten und würzig duftende Blumenkränze, deren der König nachher dem Gesandten fast täglich schickte. — Seine Absicht, den Prinzen Khroma-luaṅ und den ersten Minister oder Kalahum zu besuchen musste Graf Eulenburg für diesen Tag aufgeben, da der als Dolmetsch fungirende Mr. Smith von den sonntäglichen Pflichten seines geistlichen Berufes in Anspruch genommen wurde; der Gesandte entschuldigte sich deshalb schriftlich in englischer Sprache. Der nahe wohnende Prinz fuhr darauf sofort in seinem Boote vor und liess um Verzeihung bitten, dass er die Treppen nicht steigen könne; worauf Graf Eulenburg hinabging und im Boote ein langes Gespräch mit ihm hatte. Prinz Khroma-luaṅ schien durch den Schlagfluss an geistigen Fähigkeiten nicht gelitten zu haben; er sprach sehr lebendig und freundlich, bat den Gesandten frei über ihn selbst und sein Haus zu verfügen und ja keinen Wunsch zu verschweigen, äusserte auch die Hoffnung, für den preussischen Vertrag, wie für alle früher geschlossenen, zum Be- vollmächtigten ernannt zu werden. Den Attaché Grafen zu Eulen- burg entführte der Prinz zu einem Besuch beim Kalahum , dessen Vorbereitungen zu seiner Geburtstagsfeier er sehn wollte. Am 23. December fuhr der Gesandte mit dem Legationssecretär und den Attachés nach des Prinzen schwimmendem Hause. Ueber einer Thür der Vorhalle prangten die goldenen Initialen H. R. H. 17* Besuch beim Prinzen Khroma-luaṅ . XXI. K. W., His Royal Highness Khroma-Luang Wongsa . und darüber ein Doctor-Diplom, das die Universität Neu-Braunschweig ihm verlieh. Prinz Khroma-luaṅ trug ein roth und schwarz gestreiftes europäisches Hemd, — ohne Jacke darü- ber, — einen grün und schwarz gestreiften Saroṅ , goldenen Gürtel, gelbe Strümpfe und europäische Schuhe. Nach der Begrüssung führte er den Gesandten über einen gebrechlichen Plankensteg nach seinem Palast am Ufer. In einer schmucklosen Halle sassen sie auf einem Holzdivan nieder; am Boden lagen der Sohn des Prinzen und viele Trabanten auf Knieen und Händen; auch sein dreizehnjähriges Töchterchen war zugegen, ein niedliches Mädchen in reicher Klei- dung mit schweren Goldspangen an Armen und Füssen. Sein jüng- stes zweijähriges Kind, das der Prinz dem Gesandten zeigte, trug ausser dem Goldschmuck keine Spur von Bekleidung. Der Palast, ein winkliges halb verfallenes Gebäude mit kleinen Zimmern, stand vollgepfropft mit europäischen Möbeln, chinesischem Porcelan und japanischen Lackkästchen, einer Rumpelkammer ähnlicher als einer fürstlichen Wohnung; sehenswerth war nur eine Sammlung goldener, theils emaillirter Gefässe siamesischer Arbeit. Während diese be- wundert wurden kam die Frau Prinzessin, eine unscheinbare ältliche Dame, weder durch Schönheit noch durch ihre Tracht vor den Frauen des Volkes ausgezeichnet, auf allen Vieren herein gekrochen und blieb in dieser Stellung liegen, ohne dass der Gemahl sie be- achtete. — Aus einer offenen Gartenhalle tönte Musik: da erschie- nen acht Tänzerinnen mit safrangefärbtem Antlitz in prächtigem Kostüm. Die beiden vornehmsten trugen reiche, spitz zulaufende Goldkronen, die anderen phantastische, wie aus Blumen gewirkte Diademe. Das eng am Halse schliessende Leibchen aus rothem oder grünem Brocat fiel über die Hüften herab, über dem Armloch sassen Schulterstücke in Gestalt eines kurzen breiten Hornes; der eng gefaltete bis an die Knie reichende Saroṅ zeigte deutlich die Formen der Schenkel, die Arm- und Fussgelenke schmückten gol- dene Reifen und Spangen. Um die Hüften trugen alle Tänzerinnen seidene Schärpen, bei einigen fiel von den Schultern ein mantelar- tiges Tuch herab. — Das Orchester bildeten eine Metallharmonica aus aufgehängten Glöckchen, eine Holzharmonica mit schwebend aufgereihten Tasten, eine Kesselpauke, eine Trommel, die mit der Hand und den Fingern geschlagen wurde, eine Flöte und Becken; dazu klapperten noch mehrere Frauen zuweilen mit Stöcken. Die XXI. Besuch beim Kalahum . Musik war lärmend, aber harmonisch; einige Frauen sangen Strophen zum Tanze, die ein Vorsänger aus einem Buche vorsagte. Die pantomimischen Tänze forderten langsam rythmische Bewegung des Körpers, besonders der Hände und Finger, ohne heftigen Affect, und waren bis auf gewisse Verrenkungen der Elbogen und des Handgelenkes, deren Einübung schwierig genug sein mag, recht hübsch. Die Füsse spielen dabei fast gar nicht mit: die erste Dame tanzte auf einem Divan sitzend, die zweite stehend, ohne vom Fleck zu weichen; dann führten ihrer zwei eine Scene auf, bei welcher auch die Füsse, doch nur beiläufig, mitwirkten. Nun wollte Graf Eulenburg gehen, wurde aber dringend zu einem Glase Wein gebeten. Im Laufe des Gespräches fragte er den Prinzen, ob die Siamesen europäische Möbel und Geräthe erst seit der näheren Berührung mit Fremden hätten, ob die Vornehmen sich ihrer auch beim Essen bedienten; worauf Prinz Khroma-luaṅ erwiederte, die Divans hätten schon die Moslem eingeführt, Stühle aber erst die Europäer: die beiden Könige und er selbst sässen auch beim Essen auf Stühlen, die anderen Grossen, selbst der Kalahum , hätten das noch nicht gelernt. Vom Prinzen fuhr Graf Eulenburg zum Kalahum , der ziem- lich entfernt wohnte; es ging durch enge Rinnsale mit vielen Bretter- stegen, die theilweise hochgehoben werden mussten um die Boote durchzulassen. Am Eingang des Ministerhotels standen zwei Wachtposten mit hölzernen Säbeln; dort empfing der Kalahum mit zwei Söhnen und vier Enkeln — die sämmtlich ehrfurchtsvoll auf dem Bauche lagen — den Gesandten, und führte ihn durch eine Reihe luftiger Zimmer. Für den Geburtstag des Hausherrn waren dort auf Tischen viele Porcelanvasen und andere Prachtstücke — europäische und chinesische — aufgestellt, welche die Freunde nach siamesischer Sitte zur Feier des Tages keineswegs schenkten, sondern nur liehen. Die elegante Einrichtung war gut gehalten und sauber. — Der Kalahum , damals 54 Jahre alt, hatte ein kluges durchdringendes Auge und energische Züge; er trug ein weisses europäisches Hemde, kurze Beinkleider und einen blauseidenen Rock, doch weder Strümpfe noch Schuhe. Seine Söhne waren der eine als Gesandter, der andere als Secretär der siamesichen Gesandtschaft in Europa gewesen und erst kürzlich zurückgekehrt. Mit ihren anmuthigen Kindern war auch ein vom Kalahum adop- Audienz beim Ersten König. XXI. tirter sechsjähriger Sohn des Ersten Königs da, der lustig seine grosse Cigarre rauchte. — Den Phra-klaṅ oder Minister des Aus- wärtigen besuchte der Gesandte an demselben Tage; seine Einrich- tung war weniger reich und geschmackvoll als die des Kalahum , aber besser gehalten, als die des Khroma-luaṅ . Er erschöpfte sich wieder in Freundschaftsbetheuerungen und Entschuldigungen wegen der ungenügenden Aufnahme. Vom Ersten König kam ein Schreiben in englischer Sprache: ob Graf Eulenburg nur Vollmachten zum Abschluss des Vertrages, oder auch ein Schreiben Seiner Majestät des Königs von Preussen zu überreichen habe. Der Brief war schwarz gerandet und meldete am Schluss, dass der König um seine »Royal queen consort« trauere. — Der Zweite König liess dem Gesandten sagen, dass Un- wohlsein ihn leider verhindere, denselben schriftlich oder persönlich willkommen zu heissen. — Dieser diplomatische Schnupfen ist ein stehendes Attribut der Zweiten Könige, welche dem regierenden keinen Anlass zu Eifersucht geben dürfen; er währte damals bis kurz vor des Gesandten Abreise. Am 24. December Nachmittags fuhr Graf Eulenburg mit dem Legationssecretär und den Attachés zur Privataudienz beim Ersten König. Der Phra-klaṅ empfing ihn am Thor des Palastes; in einer Halle wurde die übliche halbe Stunde gewartet. Unterdessen zogen drei Compagnieen Soldaten vorbei, mit Percussionsgewehren, schwar- zen, grünen und blauen Jacken, weissen Beinkleidern und nackten Füssen; ein französiches Trompetensignal kündigte sie an. Aus dem Wartesaal wurden der Gesandte und seine Begleiter in den Hof des europäisch gebauten Wohnpalastes geführt. Auf einem Seitenflügel steht »Royal Museum«, ferner »Protect this museum« und »Respect this ordinance«. Zur Wohnung steigt eine doppelte Freitreppe hinan. Der König empfing seine Gäste an der Thür, reichte jedem die Hand, führte sie in ein weites Gemach von hübschen Verhältnissen, liess sie neben sich an einem grossen Tische Platz nehmen und schenkte aus einer auf vergoldetem Ge- stell stehenden Flasche Jedem ein Glas Sherry ein. Nachher wurde guter Caffee gereicht. — Den Boden des Zimmers deckte ein rother Teppich, Wände und Plafond waren getäfelt; auf Tischen und in offenen Schränken ringsum standen Planetarien, Globen, astrono- mische und physikalische Instrumente. In der Vorhalle und hinter unseren Stühlen krochen und lagen vornehme Beamten, Hofleute XXI. Die Königskinder. und Trabanten herum; auf zwei Beinen bewegte sich nur eine Schaar anmuthiger Kinder von vier bis zehn Jahren, des Königs Sprossen. Damals waren es sechsundvierzig; mehrere wurden wärend unserer Anwesenheit geboren. Im sechszehnten Jahre ver- heirathet hatte der König, ehe er 1825 Priester wurde, zwei Söhne, die nicht successionsfähig waren; erst 1851, nach der Thronbesteigung durfte er wieder Frauen nehmen. — Es war eine reizende lustige Kinderschaar, deren gesundes Aussehn und auf- gewecktes Wesen von der besten Pflege und Behandlung zeugten. Sie trugen kurze seidene Höschen, um den nackten Oberkörper, Arme und Beine schwere goldene Ketten, Spangen und Reifen; nur die grösseren hatten seidene Jäckchen und malerisch um die Hüften geschlungen eine seidene Schärpe. Das Haar wird bei Kindern an den Seiten und am Hinterkopf rasirt, der stehenblei- benge Schopf in einen Knoten geschlungen und durch eine juwelen- besetzte Nadel festgehalten; viele trugen ein Kränzchen weisser duftender Blumen um diesen Schopf. Der König schien seine Kinder sehr zu lieben; wo es nicht Staatsactionen galt, begleitete ihn stets die volle Schaar. Maha- moṅkut selbst war etwa mittelgross, schlank gewachsen, von ziem- lich dunkler Gesichtsfarbe, grossen Augen und klugem Ausdruck; er trug bei dieser Audienz seidene Beinkleider, eine blauseidene mit Goldborten besetzte Jacke, das Grosskreuz der Ehrenlegion und einen anderen Ordensstern in Edelsteinen, eine schottische Mütze und gelbe Schuhe; vom Knie bis zu den Knöcheln waren die Beine nackt; den Gürtel zierte ein herrlicher Smaragd. Der früheren Erlebnisse des Königs wurde schon gedacht: während des sechsundzwanzigjährigen Priesterthumes lernte er Sanskrit, Pali, die Sprachen der abhängigen Nachbarstaaten, Latei- nisch, Englisch, beschäftigte sich eifrig mit allen Religionen und philosophischen Systemen, die ihm jene Sprachen erschlossen, und erwarb sich Kenntnisse in der Astronomie und Physik. Mit Leiden- schaft Gelehrter und vielleicht der gelehrteste Buddist seiner Zeit hatte er doch alle Fehler des vielwissenden Autodidacten; die Ge- wöhnung der despotischen Macht und die Ueberlegenheit über seine knechtische Umgebung übten merklichen Einfluss auf seinen Charakter. Den sittlichen Kern des Buddismus, — dem er ehrlich anhing, — suchte der König von abergläubischen Lehren zu be- freien, die ihn zur Unkenntlichkeit entstellen, konnte sich aber König Maha-moṅkut . XXI. von abergläubischen Gebräuchen nicht lossagen. — Die america- nischen Missionare, von welchen Maha-moṅkut Englisch lernte, hofften bei seinem fleissigen Bibelstudium und eifrigen Forschen nach den Glaubenslehren ernstlich auf seine Bekehrung, wurden aber derb zurechtgewiesen, als sie davon sprachen. Das Englische kannte der König gut und schrieb es, wenn auch fehlerhaft und ohne logische Satzfolge, ziemlich verständlich; doch konnte sein zahnloser Mund die fremden Laute nicht deutlich articuliren, die Worte polterten wie Kiesel heraus. Dazu kaute er beständig Betel. Bei jener Audienz redete er meist siamesich, Herr Smith übersetzte schnell und gewandt. Der König überreichte zunächst jedem Gast in zierlichem Couvert eine Visitenkarte mit seinem Namen Somdet Phra Para- mendr Maha Moṅkut , auf der Rückseite in seiner eigenen Hand- schrift »on the 3877 th day of reign, being the 24 th December 1861«. Er äusserte dann seine Freude über die Ankunft der Gesandtschaft, die er seit einem Jahr erwartete, fragte nach der Zahl und Grösse der Kriegsschiffe, dann sogleich, ob Preussen Colonieen besitze oder zu erwerben denke. Des Gesandten Antwort, dass, sollte es auf Gründung von Colonieen ausgehen, Preussen sein Auge schwerlich auf tropische Gegenden richten würde, schien ihn zu trösten: »er freue sich um so mehr, neue uneigennützige Freunde zu gewinnen, als die alten eben schwierig würden.« Darauf verbreitete sich der König über die Geschichte der Colonieen und zeigte dabei, so naiv manche Aeusserung auch im Munde eines Monarchen klang, sowohl historische Kenntnisse als eigenes Nachdenken über die künftige Entwickelung des Weltverkehrs. »Zuerst wurden Schiffe gesendet zu Erforschung fremder Welttheile, dann folgten andere, um Han- del zu treiben. Dann liessen sich Kaufleute nieder, die entweder von den Eingebornen befehdet wurden oder diese zu unterjochen strebten; kurz, durch Schuld und Missverständniss auf beiden Seiten entstanden Kriege. Immer weiter breiteten die Fremden ihre Macht aus, bis ihnen ganze Reiche gehörten; nun ist kaum noch ein Land übrig zu Gründung von Colonieen, ausser Oceanien, der Inselwelt in der Südsee . Die asiatischen Staaten waren in argem Nachtheil, da man das in Europa gültige Völkerrecht nicht auf sie anwendete; zum Glück beginnt man jetzt dessen Grund- sätze auch in den Beziehungen zu Asien mehr und mehr zu beobachten.« XXI. Weihnachten. Beim Abschied dankte Graf Eulenburg für den wohlwollen- den Empfang. — Im Hof präsentirten die Truppen das Gewehr auf englische Commandoworte, und machten die Griffe mit grosser Präcision. Nun kam der Heiligabend heran — Weihnachten bei 30° Wärme! Aber gefeiert musste er werden. Eine Tanne wie in Yeddo zu erlangen, war unmöglich, die wuchs nicht auf Hunderte von Meilen; nun wurde ein Weihnachtsbaum gebaut. Das schmale Quergebäude des Hofes bekleideten wir mit dicht belaubtem Bam- bus; davor wurde eine vierzig Fuss hohe Areca-Palme aufgepflanzt und der Stamm mit Bündeln der Musa umbunden, deren Blattwedel in mächtigen Garben herabfielen. In den grasartigen Tuffen des Bambus und unter den durchsichtig zarten Bananenwedeln hingen, magisches Licht strömend, hunderte Papierlaternen; auch die breiten Veranden, wo die Schiffsmannschaft hauste, erhellten bunte chi- nesische Lampen. Das Ganze wirkte sehr hübsch, wenn auch nicht weihnachtlich. Um etwas aufzubauen hatten einige Begleiter des Gesandten von den wenigen europäischen Händlern in Baṅkok alle Süssig- keiten, darunter eine Menge Pfefferkuchen aufgekauft und daraus eine Pyramide gebaut, welche Blumen- und Blättergewinde zierten. Dann wurde Punsch gebraut und trotz der Hitze ausgetrunken. So verging der Abend in heiterer Erinnerung an die liebe ferne Heimath, und wurde durch ein siamesisches Feuerwerk beschlossen. Am 26. December empfing Graf Eulenburg die Besuche des Kalahum und des Phra-klaṅ , mit welchen die letzten Verabredun- gen über die für den folgenden Tag anberaumte feierliche Audienz zu treffen waren. Abends kam der Dampfer Little Eastern, den der König auf die Rhede hinaussandte, mit den Commandeuren der Kriegsschiffe, einigen Officieren, dem Musikcorps der Arkona und vierzig Seesoldaten, so dass das Gesandtschaftshaus an jenem Abend 98 Preussen, mit dem siamesischen Gefolge 150 Personen beherbergte. Am Morgen des 27. December lagen eine Menge Staatsboote vor dem Gesandtschaftshause, lange schmale Fahrzeuge mit hoch- geschwungenem Schnabel und vergoldetem Baldachin in der Mitte; die Schnäbel waren zum Theil mit rothen goldgestickten Decken und Büscheln von weissem Yackhaar behangen. Das prächtigste Feierliche Audienz. XXI. hatte unter dem Baldachin einen reichen goldenen Schrein, in welchen die goldene Schüssel mit dem königlichen Schreiben ge- setzt wurde; wohl achtzig Fuss lang, wurde es von vierzig Rude- rern, die je zwei neben einander sassen mit kurzen Schaufelrudern fortbewegt; die anderen hatten je zwanzig bis dreissig Ruderer. Von weitem erschien der Aufzug prächtig, die passende Staffage für die bunten Prachtgebäude an beiden Ufern; in der Nähe war es schmutziger Theaterprunk, das vergoldete Schnitzwerk verstaubt und abgestossen, die goldgestickten Vorhänge und die rothen Jacken zerfetzt und verblichen. Beim Landen am Thor der Königsstadt gab es zuerst ein wildes Durcheinander, dann ordnete sich der Zug: voran eine siamesische Procession mit Musik und Fahnen, das königliche Schreiben geleitend, das jetzt mit 21 Schüssen salu- tirt wurde; dann das Musikcorps der Arkona, 40 Mann preussische Seesoldaten, der Gesandte in hohem schwankendem Sessel auf Schultern getragen, die Commandanten und Officiere der Kriegs- schiffe und die Begleiter des Gesandten theils auf ähnlichen Trag- stühlen, auf denen sie rittlings sassen, theils auf kleinen struppigen Pferden mit zerrissenem Sattelzeug. Anfangs drängte sich der Zug durch dichte Volkshaufen; weiterhin bildeten die königlichen Garden Spalier, die weder königlich noch kriegerisch aussahen: bunte, ungleiche, keineswegs saubere Kleidung, angestrichene Blech- helme, verrostete Spiesse, Hellebarden, Säbel, kein Stück gleich dem anderen. Am Palastthor, wo wir abstiegen, standen fünf Elephanten, im inneren Hofe jene drei Compagnieen Leibgarde, die schon bei der Privataudienz figurirten, auch königliche Streitrosse und eine ganze Reihe Elephanten im Prachtgeschirr. In die Halle, wo der Gesandte vor der Privataudienz wartete, hatte sich ein ziemlich nacktes siamesisches Publicum gedrängt, machte jedoch Platz, als ein Büttel aus seinem Ruthenbündel den derben Prügel zog und tüchtig dreinschlug. Prinz Khroma-luaṅ und der Phra-klaṅ be- grüssten den Gesandten; ausser Cigarren wurde diesmal auch Betel servirt. Nach einiger Zeit verkündete Musik, dass der König sich nach der Audienzhalle begebe; gleich darauf wurde gemeldet, dass er den Gesandten erwarte. Geführt vom Phra-klaṅ traten Graf Eulenburg und seine Begleiter in einen zweiten, dann durch ein Spalier holländisch uniformirter Soldaten und Musikanten in den dritten Schlosshof, wo eine breite Freitreppe zur Audienzhalle, XXI. Feierliche Audienz. einem länglichen Saale hinansteigt, dessen Eingang in der Mitte einer langen Seite liegt. Den Boden deckt ein weicher Teppich; zwei Säulenreihen laufen, schmale Nebenschiffe abtheilend, die lan- gen Wände entlang. Die Säulen sind aus kostbaren Hölzern und tragen viele Wandleuchten; an der getäfelten Decke hängen zwanzig Kronen und etwa achtzig Lampen; rings an den Wänden stehen seidene Baldachine. Licht fällt durch eine doppelte Fensterreihe in das weite Gemach, dessen architectonische Gliederung angenehm, dessen Schmuck prächtig ohne Ueberladung, farbenreich aber har- monisch ist. Dem Eingang gegenüber liegen drei in Spitzbogen auslaufende von der Rückseite zugängliche Nischen; in der mittel- sten steht, zwischen den mehrstöckigen nach oben verjüngten Schir- men, den Insignien der höchsten Würde, golden wie die umgebende Architectur, auf einer Plateform der altarähnliche Thron, auf welchem der goldene König sass. Wir glaubten einen Goldgötzen zu sehen, ein Buddabild, wie sie in den Tempeln sitzen. Rechts und links lagen am Fuss des Thrones, durch Geländer halb versteckt, einige Frauen, Kinder und Waffenträger des Königs in malerischer Gruppirung, unten im Saale die Prinzen und Grossen, die vornehmsten Siamesen, Chine- sen, Parsen, Hindu, Birmanen, Peguaner, Malayen. Laos, Kambodjer und Cochinchinesen, die königlichen Prinzen auf seidene Kissen ge- stützt, alle anderen auf dem Teppich hingestreckt, mit Kopf und Händen am Boden, das Gesicht etwas seitwärts, zum Throne auf- blickend. Der Fussboden war dicht bedeckt mit diesen in die präch- tigsten Stoffe gehüllten Gestalten; nur in der Mitte, dem Thron gegen- über, lagen Polster für den Gesandten und seine Begleiter; denn Stehen in Gegenwart des Königs ist in Siam Majestätsverbrechen; alle Unterthanen, selbst die tributpflichtigen Fürsten, müssen sich niederwerfen und auf allen Vieren kriechen; davon ist nur der Zweite König, aber keiner der Prinzen, Minister und Grossen befreit. Nach einer Verbeugung, die der König erwiederte, setzten wir uns auf die Kissen; Legationssecretär Pieschel stellte die Gold- schale mit dem königlichen Schreiben auf einen vor dem Thron stehenden Tisch; an diesen herantretend verlas der Gesandte in englischer Sprache folgende Anrede: »Königliche Majestät! Mir wurde die hohe Ehre zu Theil, von Seiner Majestät dem Könige von Preussen , meinem allergnädigsten Herrn, auserwählt Feierliche Audienz. XXI. zu werden, um Eurer Majestät eine Botschaft des Friedens und der Freundschaft zu bringen. Euer Majestät Herrschertugenden und er- leuchtete Ansichten über Völkerverkehr sind von Seiner Majestät dem Könige von Preussen und von den Ihm verbündeten deutschen Fürsten gekannt und gewürdigt; sie haben bei Seiner Majestät meinem Herrn und den Ihm verbündeten deutschen Fürsten den lebhaften Wunsch erweckt, mit Euer Majestät in nähere dauernde und freundschaftliche Beziehungen zu treten. Ich bin gesandt worden, um Euer Majestät diesen Wunsch auszudrücken, und, falls Euer Majestät denselben theilen, einen Vertrag zu unterhandeln, welcher Zeugniss von der zwischen Euer Majestät und den deutschen Fürsten bestehenden Freund- schaft ablegen und zugleich geeignet sein soll, dem Verkehr zur festen Grundlage zu dienen, welcher sich hoffentlich schnell zu gegenseitiger Befriedigung zwischen den dem Scepter der hohen contrahirenden Theile untergebenen Völkern entwickeln wird. Eurer königlichen Majestät habe ich die Ehre, mein Beglaubigungs- schreiben als Ausserordentlicher Gesandter und Bevollmächtigter Mi- nister Seiner Majestät des Königs von Preussen ehrfurchtsvoll zu überreichen. Als Seine Majestät es unterzeichneten, waren Allerhöchst- dieselben und das ganze Preussenvolk durch den Tod des letzten Königs, des Bruders Seiner jetzt regierenden Majestät, in tiefe Trauer versetzt. Ein schmerzliches Familienereigniss hat auch Euer Majestät Herz mit Kummer erfüllt. Möge der Himmel Euer Majestät Tröstung senden und eine lange und gesegnete Regierung verleihen.« Graf Eulenburg nahm darauf das königliche Schreiben aus der Goldschale und überreichte es, an die Plateform tretend, dem Könige, der vom Thron herabstieg und dem Gesandten ein Couvert mit der siamesisch geschriebenen Antwort auf seine Rede einhän- digte. Dann stieg Maha-moṅkut wieder auf seinen Thron, öffnete das Beglaubigungsschreiben und fragte, ob Preussens Sprache mit der englischen oder der französischen verwandt sei. Auf des Ge- sandten Antwort, sie sei der Englischen verwandt, sagte der König, er habe das gleich aus den Schriftzügen geschlossen. Nun musste Graf Eulenburg erwiedern, das Schreiben sei französisch, in der Sprache des diplomatischen Verkehrs abgefasst; er habe sich die englische Anrede erlaubt, weil Seine Majestät diese Sprache verstehe. — Weiter fragte der König, ob Preussen und England nicht eng verbunden wären, ob sie ihm wohl beistehen würden, wenn sich zwischen Siam und anderen Mächten Schwierigkeiten erhöben. Graf Eulenburg antwortete, der König von Preussen werde sicher- XXI. Feierliche Audienz. lich die im Vertrage anzugelobende Freundschaft halten und in solchem Falle seine guten Dienste zu Gunsten Siam ’s interponiren. Die Worte des Königs wurden vom zweiten Phra-klaṅ leise Herrn Smith wiederholt, der die Antworten des Gesandten auf demselben Wege zurückgab. — Zum Schluss las der König aus einem grossen Buch die dem Gesandten übergebene Antwort auf seine Anrede ab. »Der Gesandtschaft des Königs von Preussen sei kund gethan! Schon vor einigen Jahren wurde in Siam aus sicherer Quelle bekannt, dass Seine Majestät der König von Preussen den Wunsch hegten, mit Uns, dem König von Siam , Freundschaft zu schliessen; dass Er eine Gesandtschaft mit drei Schiffen geschickt habe, einen Freundschaftsvertrag mit uns abzuschliessen, um so dem Verkehr zwi- schen den Unterthanen beider Länder eine Bahn zu öffnen und den- selben zum Vortheil beider zu fördern, auf dass den vertragschliessenden Völkern Ruhm daraus erwachse. Nach Empfang dieser Nachricht haben wir, König von Siam , und unsere Minister schon vor mehr als einem Jahr mit Vergnügen Vorbereitungen für den Empfang der preussischen Gesandtschaft getroffen. Nunmehr sind der Gesandte Graf zu Eulenburg und andere hohe Beamten in diesem Lande angekommen und in meiner Gegen- wart erschienen, sowie in Gegenwart der königlichen Prinzen und der Minister, die sämmtlich in standesgemässem Anzug, versehen mit allen Abzeichen ihres Ranges und ihrer Würde sich eingefunden haben, um hier in diesem grossen Audienzsaal das Schreiben und die Ge- sandtschaft des Königs von Preussen mit Ehren zu empfangen. Wir, König von Siam , nahmen so eben aus den Händen des Gesandten ein Schreiben Seiner Majestät des Königs von Preussen in Empfang, und sind hoch erfreut über die uns durch dasselbe er- wiesene Ehre. Von dem Wunsche geleitet, die gebotene Freundschaft anzunehmen, werden wir uns den Inhalt des Briefes zu eigen machen und wollen gern den von Seiner Majestät dem König von Preussen aus- gesprochenen Wünschen in Allem willfahren, was zulässig ist. Wir wollen befähigte Männer ernennen, einen Vertrag zu berathen und abzuschliessen, ähnlich den mit den Herrschern anderer europäischer Staaten bereits geschlossenen Verträgen. Diese Personen sollen Voll- machten erhalten, sich mit dem Gesandten Preussens zu verständigen und unverzüglich einen Vertrag zu schliessen. — Ferner vernahmen wir, dass das Betragen der Beamten, welche beauftragt waren, den Gesandten zu empfangen und das königliche Schreiben mit gebührenden Ehren bis vor uns zu geleiten, Allen zur Zufriedenheit gereicht hat, was uns zu besonderem Wohlgefallen gereicht. Feierliche Audienz. XXI. Wir, der König von Siam , die Prinzen und Minister ergreifen mit Freuden die gebotene Hand und werden alle Bedingungen der Freundschaft erfüllen, welche von nun an zwischen den beiderseitigen Völkern und zwischen Uns und dem Könige, den königlichen Prinzen und den Ministern von Preussen bestehen soll. Als Pfand dafür mag diese meine Rede gelten, gehalten in Gegenwart der Prinzen und der Minister von Siam , vom Throne Ananta Samakon , im Palaste des Ersten Königs, am 6. Wochentage des 1. Monats, dem 10. Tage des abnehmenden Mondes, im Jahre des Hahnes ( Raka ), dem dritten des Jahrzehntes, Anno 1223 der siamesischen bürgerlichen Zeitrechnung, entsprechend dem 27. December 1861, im 11. Jahre und am 3880. Tage Unserer Regierung.« Unter dem dem Gesandten übergebenen Original stand quer über den blauen Stempel von des Königs eigener Hand geschrieben: S. P. P. Mongkut , Major Rex Siamensium on 3880 th day of reign. Der König entfernte sich, dreimal die Mütze lüftend, durch eine Thür hinter dem Thron. Seine ganze Kleidung war aus Gold- stoff; am Gürtel funkelte der grosse Smaragd; um die spitze mit einem Kranz schöner Diamanten umwundene Sammetmütze wogte eine weisse Feder. Die Beine waren vom Knie an nackt, die Füsse mit gelbledernen Schuhen bekleidet. Während der ganzen Audienz herrschte lautlose Stille; in den Stellungen der hingestreckten Prinzen, Minister und Höflinge äusserten sich allerlei Schattirungen des Ranges und der Ehrfurcht; nur die königlichen Prinzen stützten die Ellenbogen auf Sammet- kissen. Neben dem Kalahum lag der von ihm adoptirte sechsjährige Königssohn, ein wunderhübscher Knabe, bald knieend, bald auf dem Bauche, unaufhörlich eine grosse Cigarre rauchend. Viele andere rauchten ebenfalls bäuchlings hingestreckt; die meisten kau- ten Betel. Auch für den Gesandten und seine Begleiter standen Cigarren und brennende Kerzen neben ihren Kissen. Der König benahm sich sehr unbefangen, ohne einen Hauch von angenommener Würde; das Gepränge stand ihm ganz natürlich. Nach seiner Entfernung erhoben sich die Prinzen und Grossen, um den Gesandten zu begrüssen. Wir wurden dann in einen Nebensaal geführt und mit einem opulenten europäischen Frühstück bewirthet. Der Gesandte brachte auf den Wunsch des Phra-klaṅ ein dreima- liges Hoch auf Seine Siamesische Majestät aus, welche uns dann in ihre Privatgemächer rufen liess. Der König hatte seine Staats- XXI. Besuche. gewänder abgelegt; er schenkte wieder Jedem ein Gläschen Sherry ein und trank die Gesundheit Seiner Majestät des Königs von Preussen , die wir mit dreifachem Hurra begleiteten; dann reichte er Jedem eine Cigarre und zündete selbst eine an. Die Kinder be- wegten sich zutraulich unter den Gästen und sorgten, dass keiner vergessen würde. Das Musikcorps der Arkona durfte im innersten Hof einige Stücke spielen und wurde vom König inspicirt; zum Abschied reichte er uns Allen die Hand. Es dunkelte schon, bei Fackelschein kehrten wir zu den Booten zurück. Als der Gesandte am folgenden Tag beim schwimmenden Hause des Khroma-luaṅ vorbeifuhr, theilte ihm Dieser seine Ernen- nung zum ersten Bevollmächtigten für die Vertragsverhandlungen mit: der König habe ihn aus diesem Anlass ausdrücklich zur Audienz entbieten lassen, die er seiner durch den Schlagfluss verursachten Unbehülflichkeit im Liegen und Kriechen wegen gern vermieden hätte. — Nachmittags erhielt Graf Eulenburg den Besuch eines einflussreichen Halb-Siamesen, des 74jährigen Pasquale Ribeiro de Alvergeria oder Phya Wizet Soṅ Kram . Der Sohn eines por- tugiesischen Abkömmlings und einer Siamesin kleidete sich euro- päisch, hatte den Rang eines siamesischen Generals und wurde vom König als das Haupt aller katholischen Landesbewohner behandelt. Don Pasquale Soṅ Kram erschien offenbar im Auftrag des Königs, redete viel von der Wichtigkeit, welche die Freund- schaft des neutralen Preussen für Siam gegenüber seinen beiden Grenznachbarn habe, und erschöpfte sich im Lobe der preussi- schen Truppen. Abends war Concert beim Phra-klaṅ , der seine Gäste mit Liqueuren bewirthete. Das Orchester bildeten etwa zwanzig junge Mädchen mit ähnlichen Instrumenten wie die früher beschriebenen; ausser dem Saroṅ trugen sie nur einen Crêpe-Shawl über die eine Schulter geschlungen. Sie spielten auswendig zwei volle Stunden lang siamesische, birmanische, cochinchinesische, Laos, Kamboǰa Stücke und begleiteten sich zuweilen mit Gesang. Zuletzt wurden auf Geigen auch europäische Melodieen und der Yankeedoodle, natürlich sehr unvollkommen vorgetragen. Die anderen Productionen klangen etwas eintönig und gaben ebensowenig einen Begriff von den nationalen Weisen jener Stämme, als das Spiel des königlichen und anderer vornehmen Orchester. Echte Musik hörte man nur bei einem in Ungnade gefallenen Capellmeister, nach dessen schwim- Siamesische Musik. Neujahr. XXI. mendem Hause Sir Robert Schomburgk uns führte. Eine schöne siamesische Weise ist mitgetheilt in dem zu Ende des 17. Jahr- hunderts zu Paris gedruckten Buche des Mons. de La Loubère , Envoyé extraordi- naire du Roi auprès du Roi de Siam en 1687. Mit seinen Frauen und Töchtern, deren Zusammenspiel wie aus einem Gusse klang, übte er die Kunst in häuslicher Zurückgezogenheit, und brachte Stücke von der reichsten eigenthümlichsten Erfindung, tiefer Leidenschaft und Gedankenfülle zu Gehör, die uns wahrhaft ent- zückten. Ein kleines Mädchen spielte mit dem Plectrum eine grosse am Boden liegende Cither mit höchster Meisterschaft. — Vielleicht bewährt sich auch hier die Erfahrung, dass die Künste an den Höfen verflachen; denn alle Productionen, die wir bei den Grossen von Siam hörten, waren, wenn auch nicht übelklingend, doch ohne jeden tieferen Gehalt. Die Thatsache aber, dass alle Vornehmen ihre Orchester hatten, beweist die nationale Neigung zur Musik. — Maha-moṅkut hatte längst gewünscht, ein militärisches Musikcorps nach europäischem Muster zu besitzen, und liess dazu die besten Blechinstrumente aus Berlin kommen; aber Niemand konnte sie spielen. Nun bat er, dass seine Sclaven vom Musikcorps der Ar- kona unterrichtet würden, was Capitän Sundewall gern erlaubte; seitdem übten die Siamesen täglich mehrere Stunden mit unseren Bläsern und fassten so schnell, dass sie trotz der Unkenntniss aller geschriebenen Noten in wenig Wochen mehrere Märsche lernten. Die letzten Tage des Jahres vergingen unter kleinen Ausflügen und Besuchen auf den Consulaten. Am Abend des 30. December war Concert beim Prinzen Khroma-luaṅ . Den Sylvesterabend brach- ten der Gesandte und einige seiner Begleiter mit dem grössten Theil der europäischen Gesellschaft im Hause des englischen Consuls zu. Der Aufgang war festlich mit Palmen und Blattpflanzen geschmückt, die breite das Haus umgebende Veranda, wo die Gesellschaft sich am meisten bewegte, mit Flaggen decorirt. Gegen zehn wurde im Gar- ten ein hübsches Feuerwerk abgebrannt. Um Mitternacht spielte das Musikcorps der Arkona »Nun danket Alle Gott« dann wurden die Glück- wünsche unter den Klängen des Dessauer Marsches ausgetauscht. Unser Leben gestaltete sich in Baṅkok sehr angenehm. Der Vertrag machte kaum Sorgen; die Verhandlungen wären sogar in XXI. Die Binnenstadt. wenig Tagen zum Abschluss gediehen, wenn Graf Eulenburg nicht neue für den Handel wichtige Zugeständnisse verlangt hätte. Die Bevollmächtigten und vor allen Prinz Khroma-luaṅ trugen ihm aber auch für diese den besten Willen entgegen, und niemals er- hoben sich ernste Schwierigkeiten. Die materielle Arbeit war nicht so gross, dass nicht Allen viel Zeit zu Spazierfahrten in der sonder- baren Wasserstadt geblieben wäre, die eine Fülle des Merkwürdigen und landschaftlicher Schönheiten bietet. — Um elf Uhr vereinigte man sich zum Frühstück, um halb sieben zum Mittagsmahl; die Er- lebnisse des Tages gaben reichen Stoff zur Unterhaltung; um der Morgenkühle zu geniessen ging man früh zur Ruhe. Die Nächte waren jedoch keineswegs still; das Heulen der Hunde und Katzen, das Krächzen der Nachtvögel, das Lärmen der Zechbrüder in be- nachbarten Kneipen pflegten bis zum Morgen zu dauern. Für die Binnenstadt, — den einzigen Bezirk, wo es viel trockenen Boden giebt, — hatte Prinz Khroma-luaṅ ein Dutzend birmanischer Ponies mit englischen Sätteln zur Verfügung gestellt, kleine feurige Thiere, die auf dem glatten Backsteinpflaster recht sicher gingen und häufig von uns benutzt wurden. Das Thor, welches vom Stromufer in die Stadt des Ersten Königs führt, ist schmucklos aber in grossen Verhältnissen er- baut, mit einfachem Giebel als Krönung. Innerhalb stehen zu- nächst niedrige Häuserreihen und Vorrathsschuppen, dann rechts der Tempel Maha-phrasat , in welchem die siamesischen Könige gekrönt und nach ihrem Tode bis zur Verbrennung ein Jahr lang beigesetzt werden. Früher fanden hier auch die feierlichen Audienzen statt. Dem Hofgottesdienst im Maha-phrasat wohnen die Frauen des Harem hinter Vorhängen bei. In Kreuzesform er- baut, mit vierfach übereinandergeschobenem Giebeldach nach allen vier Seiten und einer vergoldeten Spitze über dem Kreuzungspunct ist es äusserlich das prächtigste Gebäude der Königsstadt. Daneben steht ein reich gearbeiteter schreinartiger Pavillon, auf vielen Pfei- lern ruhend, unter dem die Könige wahrscheinlich feierlichen Auf- zügen beiwohnen. Das zweite Heiligthum der Königsstadt, Wat Phrakeo , der Tempel der Kleinodien, darf nur mit besonderer Erlaubniss betreten werden. Die Plateform des Tempelrechtecks ist mehrere Stufen erhöht und mit Marmorplatten belegt; eine doppelte Reihe mit Goldmosaik bedeckter nach oben etwas verjüngter Pfeiler mit zier- IV. 18 Die Stadt des Ersten Königs. XXI. lichen Blättercapitälen umgiebt die Cella. Das Tempeldach breitet sich reich verziert und vergoldet über die Plateform aus und lässt nur wenig Licht in das Innere dringen. Im Hofe ringsum stehen thönerne Bildsäulen von Männern, Frauen und geflügelten Fabel- wesen, etwa zwischen Sphinx und Cherub. Die Cellawand ist äusserlich mit prächtigem Ornament in vergoldetem Stuck und Glasmosaik bedeckt; etwa drei Fuss über der Sohle läuft ein Fries von grossen Hähnen mit Menschenköpfen und langen Menschen- beinen rings herum. Besonders reich ist die Einrahmung der Fen- ster. — Inwendig sind die Tempelwände mit phantasiereichen Dar- stellungen aus der buddistischen Sagenwelt bemalt, deren unge- heuerliche Ausschweifungen sich kaum schildern lassen. Am west- lichen Ende steht, dem Hochaltar manches katholischen Münsters vergleichbar, der Aufbau mit dem berühmten Buddabild aus grünem Jade oder Jaspis Mrs. Leonowens , Pallégoix und Andere nennen es wohl mit Unrecht Sma- ragd, denn der Stein ist 12 Zoll hoch, 8 Zoll breit. In das goldene Haar und Hals- band sind Topase, Sapphire, Rubinen, Amethysten, Onyxe und Diamanten ein- geschmolzen. und anderen kostbaren Götzen in stufenartiger Verjüngung; zu unterst eine zwei Fuss hohe sitzende Statuette aus massivem Golde. Das Steinbild ist aus einem Stück geschnitten, Gewand und Zierrath aus getriebenem Golde; die birmanischen Laos sollen es einst aus Kamboǰa geraubt, dann im Kriege wieder an die Siamesen verloren haben. — Vor dem Goldgötzen stehen sechs Fuss hohe Bäume mit goldenen und mit silbernen Blättern; zwei geflügelte Figuren sollen die Asche von des Königs Vater und Grossvater enthalten. Den Fussboden decken rhomboidale Messing- platten; die von Pallégoix beschriebenen silbernen Matten sahen wir nicht. An den Wohnpalast des Königs stossen, um mehrere Höfe gruppirt, kleinere Gebäude mit den Gemächern der Königin, Sälen für Privataudienzen, Diners, und die weiten Gelasse des Harems mit einem grossen Garten. Nicht weit vom Palast stehen die Ställe der königlichen Staats- und Reit-Elephanten, mächtiger Thiere mit gewaltigen Stosszähnen, um welche dicke goldene Ringe gelegt sind. — Der weisse Elephant, den wir sahen, war kein echter, dazu fehlten ihm viele Abzeichen; aber auch die echten sind keineswegs weiss, son- dern hellchocoladenbraun. Mit fest aneinandergeschnürten Vorder- XXI. Der weisse Elephant. füssen, den einen Hinterfuss an eine Säule gefesselt, stand das heilige Thier in der Mitte seines Stalles, an dessen Wänden ein erhöhter Gang hinläuft; dort knieen fromme Siamesen betend nieder. Der weisse Elephant wird mit Bananen, Zuckerrohr und frischem Grase gefüttert; er soll seinen eigenen Hofstaat und Leibarzt haben und beim Ausgehn mit grossen Sonnenschirmen beschützt werden. Die Verehrung dieser Albinos beruht wohl auf ihrer Seltenheit: man glaubt, dass sie von den Seelen grosser Helden und Könige bewohnt werden, die, gleich der siamesischen Majestät, göttlichen Rang auf Erden gehabt hätten. Als Seinesgleichen reitet selbst der König nicht den Weissen Elephanten, was seinen Wärter nicht hindert, denselben nach Bedürfniss tüchtig zu prügeln. Ein echter weisser Elephant wurde bald nach unserer Ab- reise in einer der nördlichen Provinzen entdeckt, starb aber auf dem Wege nach Baṅkok . Sein Tod versetzte das Land in tiefe Trauer. Der König, der ihm pflichtgemäss entgegenreiste, beschrieb ihn mit folgenden Worten: »Seine Augen waren lichtblau, ihre Einfassung lachsfarben, sein Haar fein, zart und weiss, seine Stoss- zähne wie Perlen, seine Ohren gleich silbernen Schilden, sein Rüssel gleich dem Schweif von Kometen, seine Beine gleich den Füssen der Himmel, sein Tritt wie das Rollen des Donners, seine Blicke voll tiefer Betrachtung, seine Augen voll Zärtlichkeit, seine Stimme die Stimme eines mächtigen Kriegers, und seine Haltung die eines erhabenen Herrschers.« — Wie sehr der weisse Elephant das Schönheitsideal der Siamesen ist, beweist auch die Schilderung, welche die aus England zurückkehrenden Gesandten vom Aussehn Ihrer Majestät der Königin Victoria gaben: »Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie reiner Abstammung sein muss von einem Geschlechte wackerer und kriegerischer Könige und Herrscher der Erde, da ihre Augen, Hautfarbe und besonders ihre Haltung die eines schönen und majestätischen weissen Elephanten sind.« — Seit der Zerstörung von Ayutia 1767 sollen nur fünf echte entdeckt worden sein. Viele Magazine, Schatzhäuser und Werkstätten, wo Budda- bilder, Tempelornamente, die königlichen Tragsessel und andere Prunkgeräthe angefertigt werden, liegen in der Königsstadt zerstreut. Es giebt auch ganze von königlichen Handwerkern bewohnte Strassen, in deren Läden reiche Stoffe und hübsche Arbeiten in Gold und Silber zu finden sind. In den Zeughäusern stehen unzählige 18* Märkte. — Wat Borowanivet . XXI. Geschütze jeder Grösse, von einer neunzölligen achtzehn Fuss langen Kanone bis zum kleinsten Mörser. Eine der Kasernen be- wohnt die Amazonengarde von schrecklichem Aussehn. Oestlich von der Königsstadt liegt ein zu öffentlichen Lust- barkeiten bestimmter Platz; hier ersetzt die Ringmauer ein langes Gebäude mit Fenstern und einem Ausbau in der Mitte, wo der Hof den Volksbelustigungen zuschaut. Ein goldener Thron steht im mittelsten Fenster. — Zwischen den Palaststädten des Ersten und des Zweiten Königs liegt ein zu Verbrennung der Leichen aus der Königsfamilie bestimmter freier Platz, wo damals grade Vorbereitun- gen für die Verbrennung der jüngst verstorbenen Königin getroffen wurden. In der Nähe ist ein Acker mit Reis bestellt, nach dessen Ertrag man die Ernte des ganzen Landes abschätzt. — Die Palast- stadt des Zweiten Königs ist viel kleiner als die des Ersten, ent- hält aber ähnliche Tempel, Paläste, Kasernen, Höfe und Gärten. An der Ringmauer der Binnenstadt, welche östlich von den beiden Palaststädten ausgedehnte Stadtviertel einschliesst, läuft innerhalb ein breiter Weg herum; dort giebt es Marktplätze. Grosse Haufen getrockneter Fische, Gemüse und Früchte liegen da auf- gestapelt; als Tauschmittel dient die Cowrie-Muschel (Cypraea Moneta), welche die Marktfrauen auf breiten Bananenblättern auf- zuschütten pflegen. Nach diesen Blättern, die auch zur Unterlage von Süssigkeiten dienen, sind die Kühe sehr lüstern, deren sich viele in dieser Stadtgegend herumtreiben. Oft setzt es da einen lärmenden Strauss, wenn sie die erhaschten Blätter sammt dem daran klebenden Kleingeld und Zuckerwerk schlingen wollen. — 6400 Muscheln gehen auf einen Tikal oder Bat , dessen Silberwerth etwa 26 Silbergroschen beträgt. Der vornehmste Tempel der Binnenstadt ist Wat Borowa- nivet , wo König Maha-moṅkut vor seiner Thronbesteigung als Bonze lebte; alle Mönche dieses Klosters sollen aus Adelsfamilien sein. — In der südlichen Ecke der Binnenstadt liegt Wat Po , der grösste Tempel von Baṅkok , mit seinen Höfen, Gärten, Klöstern und Kapellen ein ganzes Stadtviertel bildend, das nordwestlich an die Palaststadt des Ersten Königs grenzt. Die Raumvertheilung ist unsymmetrisch, eine Folge hallenumgebener Höfe, in welchen die dem Buddacultus geweihten Bauwerke und riesige Bildsäulen stehen. Das von einigen Hundert Mönchen bewohnte Kloster bildet mehrere Strassen. Manche Höfe enthalten Gärten mit künstlichen Felsen, XXI. Wat Po . Teichen, Brücken, grotesken Steinbildern und allerlei baulichem Schnickschnack. Gleich am Eingang liegt ein solcher Hof, in dessen Teich unter Felsen und üppigen Blattpflanzen ein ausgewachsenes Crocodil haust; träge und schwerfällig lässt es, am Ufer ausgestreckt, alle Neckereien über sich ergehen ohne aufzublicken. — Vor den mit Goldstuck und Glasmosaik geschmückten Tempelportalen stehen colossale Gestalten der Thürhüter, bald aus Gypsstuck, in reicher phantastischer Goldrüstung, mit grimmigem Dämonenhaupt und langen Stosszähnen, oder im faltigen Priestergewande, mit ehr- würdiger Greisenmiene und wallendem Bart, — bald aus Stein ge- meisselt, Portugiesen und Holländer in steifen altfränkischen Uni- formen darstellend. Sowohl gute als böse Geister scheinen als Thürhüter zu fungiren; man weiss nicht recht, für welche die Fremden gemeint sind. Dem Flussthor gegenüber liegt innerhalb Wat Po ein Tem- pelchen, das über und über, selbst auf den Dachflächen mit reicher farbiger Stuckzier bedeckt ist. Dann kommt ein Hof mit drei gleichartigen Pratšedi , so heissen gewisse spitz zulaufende Monu- mente bei den siamesischen Tempeln; ihr Grundriss ist meistens vierseitig, mit verkröpften Ecken; der Sockel erhebt sich in reicher Profilirung bis zum Drittheil der ganzen Höhe; darauf steht ein Körper von schlankem Glockenprofil, gekrönt von einer spindel- förmigen Spitze. Bekleidet sind die Pratšedi von Wat Po , — die schönsten in Baṅkok , — mit bunten Kacheln, die reizende Muster bilden; die Farbenwirkung ist harmonisch und milde. Eben so schön und von der zierlichsten Zeichnung ist ein Glockenhäuschen im nächsten Hofe; die organische Entwickelung aus der Grund- form bis in die letzten Einzelnheiten des reichen Zierraths, die schlanken Verhältnisse, in denen es leicht und stolz in die Luft strebt, zeugen von hoher Meisterschaft des Architecten. Aehnliches lässt sich von anderen Bauten sagen, wenn auch das wüste Durch- einander phantastischer Motive, zu welchem asiatische Baumeister, nach Fülle und Abwechselung strebend, das ganze Thier- und Pflanzenreich mit den tollen Gebilden ihrer Fabelwelt verarbeiten, in der Nähe meist verwirrend und bedrückend wirkt. Wie weit die Baukunst der Siamesen auf dem Landesboden gewachsen oder den Nachbarländern Birma , Pegu , Laos , Kamboǰa entlehnt ist, welche so stark auf ihre Geschicke wirkten, liesse sich nur durch Vergleichung mit deren Werken erkennen. Einen aus- Siamesische Baukunst. XXI. geprägten Typus haben alle siamesischen Geräthe, Bild- und Bau- werke, von der Haarnadel bis zum thurmhohen Phra-praṅ Phra-praṅ heissen die pyramidenartigen Thürme, welche bei vielen Tempeln zu Ehren des Budda errichtet werden. Ueber den Unterschied zwischen Phra-praṅ, Phratšedi und Phra-satub giebt Dr. Bastian’s Buch über Siam (S. 80) Belehrung. Danach scheint Phra-satub der siamesische Ausdruck für die glockenförmigen Monumente zu sein, die auf Ceylon Dagoba heissen. , von der Betelbüchse bis zum mächtigen Tempelbau. Das geübte Auge würde ein nie gesehenes siamesiches Ornament unter hunderten er- kennen. Wie die Gothik auf dem Spitzbogen, so fusst die siame- sische Baukunst auf einer bestimmten Spitzwinkligkeit; wenn auch beide Grundformen der in gewissen Winkeln gegeneinander geneigten Curven und Graden nur in den gipfelden Linien rein auftreten, so haben sich doch das constructive System und die Ornamentik aus demselben entwickelt. Das spitzige Dach des schwimmenden Hauses und der Bambushütte zeigt in seinen Winkeln die elementare Form der siamesischen Königskrone und Thurmpyramide; dieselbe Spitz- winkligkeit ist in der freiesten Ausladung der Zierrathen, in den phantastisch geschwungenen Linien der siamesischen Blatt-Arabeske versteckt. — Die wenigen Bauten in Baṅkok , an welchen italienische Architecten mitgewirkt haben, bleiben hier selbstredend ausser Betrachtung. Die Schönheiten des eigentlichen Tempelbaues kommen meist nur bei kleineren Gebäuden zur Geltung; in Wat Po stehen deren reizende. Der Grundriss ist ein längliches Rechteck. Den Kern bildet eine Cella mit glatten Wänden, auf welchen das vortretende Giebeldach ruht. Die Eingangsthür liegt in der Mitte der Giebel- wand, deren spitziges Dreieck mit bunten Arabesken auf Goldgrund in Glasmosaik ausgefüllt ist. Jede Seitenwand der Cella hat eine Reihe Fenster mit Rahmen von vergoldetem Stuckornament und hölzernen Läden mit Gold-Arabesken auf schwarzem Grund. Bei etwas grösseren Tempeln tritt der Giebel von vier Pfeilern getragen über die Vorderwand heraus, eine Vorhalle bildend. Die Pfeiler sind vier oder achteckig; letztere verjüngen sich säulenartig und tragen vergoldete Blattcapitäle; das mittelste dem Eingang ent- sprechende Intercolumnium ist breiter. Bei diesen Tempeln sind die Mittelpfeiler, das verkleinerte Giebelfeld tragend, oft kürzer als die Eckpfeiler, auf welchen die Dachkanten ruhen; dann ver- bindet schreinartiges oder zackenförmig herabhangendes durchbro- XXI. Tempelarchitectur. chenes und vergoldetes Ornament die Pfeiler. Zur Vorhalle führen einige Stufen hinan. — Bei noch grösseren Tempeln schiebt sich unter den Giebel ein zweites, oft unter dieses ein drittes Dach, als wären deren so viele ungleich lange übereinandergestülpt; dann schliessen sich an die untere Dachkante, meist auch an die Grund- linie des Giebeldreiecks Vordächer von flacherer Neigung. Bei diesen Tempeln läuft eine häufig doppelte Pfeilerstellung um die ganze Cella; die Zahl der Pfeiler ist dann auch in der Giebelfront den Dimensionen entsprechend grösser, und die Vorhalle mehrere Pfeiler tief. Ein Geländer verbindet zuweilen die umlaufenden Pfeiler, die bei den grössten Tempeln meist viereckig, ohne Sockel und Capitäl sind. Die Cellawand und die Pfeiler sind weiss ge- tüncht, seltener bunt gemalt. Fast alle siamesischen Dächer sind an der First um ein Ge- ringes länger, als an der unteren Kante, so dass die Giebel un- merklich überhängen; das wirkt bei den grossen übereinander- gesattelten Tempeldächern ganz sonderbar. Die First ladet an beiden Enden in hochgeschwungene Hörner aus; von diesen läuft eine Reihe nach oben gekrümmter vergoldeter Zähne die Giebel- kanten hinab und endet unten in aufrechtstehende Adlerflügel. Wo mehrere Dächer übereinander liegen, hat jedes sein Horn an der Spitze, seine Zahnreihen und Adlerflügel. Unter den Giebelkanten läuft, das mosaikgefüllte Giebelfeld einrahmend, ein aus Holz ge- schnitztes durchbrochnes Ornament hin, das die graden steilen Linien in geschweifte auflöst. — Hier glaubt man auf den ersten Blick zuweilen gothisirende Motive zu sehen: die gipfelnden Linien stossen aber, wenn auch nach unten in hakenförmige Ausladungen geschwungen, oben niemals als Curven, sondern immer als Grade zusammen. Die Dachflächen sind mit bunten glasirten Ziegeln be- kleidet, blau, roth, grün oder gelb, mit umlaufenden breiten Rän- dern von anderer Farbe. Im Innern der Cella theilt gewöhnlich eine an den langen Wänden hinlaufende Pfeilerstellung zwei schmalere Seitenschiffe ab. Die flache Decke ist zwischen dem Gebälk zuweilen getäfelt; warm und harmonisch wirkt die gesättigte Farbe des Holzes. Die Pfeiler und Wände sind meist in bunten Mustern oder mit figuristischen Darstellungen bemalt. Dem Eingang gegenüber sitzen die Götzen. Der Haupttempel von Wat Po ist ein ungeschlachtes Ge- bäude von 80 Fuss Breite und 200 Fuss Länge; Cellawand und Tempel von Wat Po . XXI. Pfeiler sind aussen mit Marmorplatten bekleidet; in den Giebel- fronten liegen die kunstreich mit Perlmutter eingelegten Haupt- thüren. Das ganze gewaltige Mittelschiff füllt ein vergoldetes liegendes Buddabild von 159 Fuss Länge und 55 Fuss Höhe; den Eindruck des Ganzen gewinnt man nirgend, der Sockel ist etwa mannshoch und man kann nur wenige Schritte zurücktreten. Die Formen scheinen plump, die Gewandung steif, das Gesicht starr und leblos. Die Sohlen der übereinandergelegten Füsse bilden eine senkrechte Fläche, auf welchen in mehreren Hundert Feldern von etwa fünf Zoll im Quadrat die Incarnationen des Budda in Perl- mutter eingelegt sind: Elephanten, Stiere, Pferde, Schlangen, Cro- codile, Vögel und allerlei Menschenkinder. Auf den Zehen sind die zehn göttlichen Attribute dargestellt. Die Zeichnung dieser Arbeiten ist schön, die Technik vollendet. Das zur Vergoldung des Colosses verwendete Metall muss ein grosses Capital vertreten. — Die Wände und Pfeiler der Cella sind mit reichen Mustern auf rothbraunem Grunde, nur neben den Thüren und Fenstern mit figuristischen Compositionen bemalt. Die Gründe von Wat Po enthalten noch mehrere grosse und viele kleinere Tempel. In die üppigsten Massen tropischer Vegetation gebettet wirken die gelben, grünen, blauen und rothen Dächer, die goldglitzernden Hörner, Adlerflügel und Zahnschnitte, die juwelenartig funkelnde Mosaik der Giebelfelder, die bunten Pratšedi und die gleissenden Tempelwände besonders in der Abendsonne ein Bild von unbeschreiblicher Farbenpracht. — Die meisten Bauten von Wat Po sind gut erhalten, während viele andere Tempel in Baṅkok , wo vor hundert Jahren kein namhaftes Bauwerk stand, jetzt schon Ruinen gleichen. Bruchstein wird selten verwendet; Ziegel und Mörtel scheinen, von geringer Güte, der Feuchtigkeit schlecht zu widerstehen. Viele Gebäude weichen auf dem sumpfigen Baugrund bei wachsendem Gewicht vor der Vollendung aus den Fugen. Die dünnen eisernen Stangen, die überall das Skelett der feinen Spitzen und Ausladungen bilden, verrosten und verbiegen sich, die Stuckrinde blättert ab. Der Siamese baut Tempel auf Tempel und schmückt sie glänzend, baut aber schnell und flüchtig; er sucht im Tempelbau Ruhm und Verdienst, sorgt aber schlecht für die Erhaltung. Der grosse Phrapraṅ von Wat Džeṅ , der Königsstadt und Wat Po gegenüber am rechten Ufer des Menam , wurde von Phaya- XXI. Wat Džeṅ . tak , dem Gründer der Hauptstadt Baṅkok erbaut, der ursprünglich seine Residenz auf dieser Seite aufschlug. Erst sein Nachfolger, der Gründer des jetzt regierenden Hauses, verlegte den Königssitz auf das linke Stromufer. — Den Zugang zu den Tempelgründen bil- den Pavillons mit chinesischem Dachstuhl; man tritt in einen von mächtigen Banyanen beschatteten Hof, durch welchen Steinbahnen nach den Tempeln und Klosterhallen führen. Rechts liegt ein ein- gezäunter Garten mit künstlichen Felsen, Miniaturcapellen, barocken Bildsäulen holländischer Soldaten und Fabelthiere, und anderem Schnickschnack. Die Gebäude stehen unsymmetrisch, wenn auch im rechten Winkel geordnet, um den weiten Hof herum, dem Fluss- portal gegenüber ein bunter prächtiger Pavillon mit haushohen dämonischen Thürhütern; dahinter der Haupttempel in einem von niedrigen Hallen umgebenen Hof, dessen Ecken und Zugänge bunt verschränkte Dächer tragen. In den Hallen sitzen rings an den Wänden fast lebensgrosse gleichgestaltete Goldgötzen, wohl über hundert. Vor jeder Tempelfaçade stehen zwei broncirte Elephanten; ein von zierlichen Glockenhäuschen und Pratšedi unterbrochenes Geländer läuft an dem ganzen Tempel, dessen vorspringendes Dach von achteckigen Pfeilern mit vergoldeten Capitälen getragen wird. Inwendig sind die Tempelwände über und über mit gut gezeich- neten Darstellungen aus der buddistischen Mythologie bedeckt. — An der Südseite dieses Tempels stehen drei schlanke Pratšedi von reizender Farbenwirkung; etwa funfzig Schritt weiter erhebt sich der Unterbau des grossen Phrapraṅ , des prächtigsten Baudenk- mals in Baṅkok . An jeder Ecke des quadratischen Unterbaues steht ein schlanker, dem mittelsten ähnlicher Thurm, in der Mitte jeder Seite ein längliches schreinartiges Gebäude. Der Phrapraṅ selbst, nach Pallégoix 300 Fuss hoch, Diese und die meisten Schätzungen von Pallégoix sind wahrscheinlich zu hoch. steigt in reichem Profil auf acht- seitigem, an den Ecken verkröpftem Grundriss empor, eine massive mit weissem Stuck und bunter Kachel- oder vielmehr Scherben- mosaik bekleidete Backsteinmasse. In einem und zwei Fünfteln der Höhe laufen enge Galerieen um das Gebäude, zu denen leiterartige Treppen hinanführen; von der oberen baut der Thurm sich noch steiler auf und endet in ein achtseitiges cannelirtes Prisma mit rund- lich zulaufender Spitze. Die reiche künstliche Gliederung und Der Phrapraṅ von Wat Džeṅ . XXI. phantastische Ornamentik spotten jeder Beschreibung. Einige Stockwerke werden von Dämonen getragen; dann folgen phan- tastische Thiere, Blumen- und Blatt-Zierrathen. Auf den vier Hauptfaçaden schauen dreiköpfige Elephanten aus fensterartigen Nischen im obersten Stockwerk herab. — Von nahem besehen ist die Mosaik sehr roh, die bunten Scherben englischer und chine- sischer Töpferwaare scheinen wie planlos in den groben Kalk ge- steckt; doch schon in geringer Entfernung nimmt Alles Gestalt und Zeichnung an, und dem jenseitigen Stromufer zeigt der Bau sich ganz herrlich; man würde in Europa weit danach reisen. Die Verhältnisse sind edel, im Einzelnen zierlich, das Colorit trotz der Vielfarbigkeit milde und durchaus harmonisch. Vor der dem Strom zugewendeten Seite stehen zwei Tempel mit bunten Dächern und ein Portal, dessen Radius auf die Pyramide stösst, daneben riesige Banyanen. Hellglänzend steigt der Prachtbau in die Lüfte. S. Ansichten aus Japan , China und Siam Bl. 60. Von der oberen Galerie des Phrapraṅ ist die schönste Aus- sicht auf Baṅkok . Breit und herrlich wälzt sich der Strom in mächtiger Windung durch die Waldstadt, nah den Ufern gesäumt von Reihen schimmernder Häuser, malerischen Dschunken und Barken, gefurcht von tausend behenden Booten. Am jenseitigen Ufer streckt sich die Binnenstadt mit ihren in wucherndes Grün gebetteten Goldgiebeln, Thürmen und Spitzen aus, umringt von zinnengekrönter Mauer. Nur längs dem Strom sind Wohngebäude sichtbar; alle Nebenarme und engeren Wassergassen liegen tief unter dem Laubdach versteckt, aus dem hier und da ein Tempel- dach aufragt. In den fernsten Horizont verschwimmt die grüne Ebene. Unserem Wohnhaus zunächst lag unterhalb Wat Džeṅ der Tempel Wat Kalaya , nach dem Hauptgebäude von Wat Po der grösste von Baṅkok . Einen colossalen sitzenden Budda bergend, zeichnet er sich besonders durch grosse Höhe aus. Auf morastigem Pfade, über morsche Planken konnte man vom Gesandtschaftshause auch zu Fuss den schattigen Tempelgarten erreichen, in dessen Kloster neunzig Mönche wohnten. Von einem reichen Chinesen gebaut, dem der Adel verliehen wurde, soll Wat Kalaya vorzüg- lich von dessen Landsleuten besucht werden. S. Ansichten aus Japan , China und Siam Bl. 59. XXI. Wat Saket . An einem der breiteren Wasserarme auf der linken Seite des Menam liegen die Tempelgründe von Wat Saket , wo die meisten Todten verbrannt werden. Die Hauptgebäude gleichen den früher beschriebenen; in dem grössten ziert eine tolle Darstellung des Fegefeuers die Wände; in der kreuzgangartigen Halle des diesen Tempel umgebenden Hofes sitzen lauter schwarze Götzen, ähnlich den goldenen im Hof von Wat Džeṅ . — Ein colossaler vergoldeter Budda steht wieder in einem anderen Hause. Ueberall sieht man dasselbe, nur hundertfach verändert. 166 Bonzen sollen zu Wat Saket gehören. Mehrere grosse von Rasthallen umgebene Höfe sind mit schönen Palmyra-Palmen (Borassus flabelliformis) bepflanzt. Zur Verbrennung vornehmer Leichen dient ein auf vier Pfeilern ruhender gemauerter Katafalk, unter welchem ein steinerner Sockel für den Scheiterhaufen steht. Das Innere ist von Rauch geschwärzt. Auf der spitzzulaufenden Dachkuppel pflegt regungslos eine Schaar von Aasgeiern zu sitzen; unter den auf Pfählen erhöhten Rasthallen in der Nähe lauern Horden wohlgenährter Hunde. Die Kosten der Verbrennung können nur Reiche bezahlen; Aermere und Solche, die Zerfleischung vorziehen, werden auf einen an den Verbrennungs- platz grenzenden Acker geworfen, wo Hunde, Raben und Geier sie gierig verschlingen. Der üppige Wuchs der kriechenden, klettern- den Rotang-Palme und grossblättriger Sträucher, die stellenweise den Platz überwuchern, steht in grellem Contrast zur scheusslichen Staffage: im Gebüsch liegen angefressene Leichen, blutige Knochen und halbe Gerippe; hier und da qualmen Haufen von Kleidern und Geräthen der Verstorbenen. Bei ihrer Mahlzeit gestört fliehen die Bestien scheu auseinander und setzen sich gierig lauernd in der Runde. — Nach buddistischer Anschauung liegt in der völligen Vertilgung des Körpers der grösste Segen; die Zerfleischung hat für sie nichts Widerwärtiges. Die Asche der Verbrannten wird in den Fluss geworfen oder in alle Winde zerstreut, bis auf kleine Andenken für die Hinterbliebenen. Nur die Aermsten werden den Fischen zur Beute unzerfleischt dem Strom übergeben. Wir hatten Gelegenheit bei Wat Saket der Verbrennung einer vornehmen Leiche beizuwohnen. Auf dem steinernen Sockel unter jenem Gebäude war der Holzstoss aus versilberten Scheiten aufgebaut; darauf stand der hölzerne vergoldete Sarg, der oben offen, unten mit eisernen Stäben vergittert ist; ein vergoldeter Bal- Todtenverbrennung. XXI. dachin wölbte sich darüber. Arme und Beine der Leiche werden in den Gelenken gebogen und der Körper zusammengeklappt. Zu- gleich mit dem Scheiterhaufen wurden lose Holzspähne im Sarge entzündet; letzterer, dessen Wände die Bonzen fleissig mit Wasser besprengten, fiel erst nach Verkohlung der Leiche zusammen. Die Leidtragenden warfen brennende Spähne und Kerzen in die Flam- men. Ringsum stand eine Schaar Musikanten: eine schrillende Holzpfeife gab die Melodie, dazu wurden fassartige Pauken, broncene Kessel und horizontal aufgehängte Metallstäbe mit Häm- mern geschlagen, ein grässlicher Lärm. Dichte Volkshaufen drängten sich auf den Höfen; in den Rasthallen sassen die Vornehmeren, ihren Betel kauend, mit starkem Gefolge. Von gemauerten Bühnen wurden Silbermünzen unter das Volk geworfen; seitwärts standen Gerüste mit Feuerwerkskörpern zum Abbrennen bei einbrechender Dunkelheit. Unter jenen Steingebäuden werden nur Vornehme verbrannt; für geringere Leichen stehen in einem angrenzenden Hofe gemauerte Sockel unter freiem Himmel. — Von der Verbrennung eines Mannes aus dem Mittelstande wurde von Augenzeugen Folgendes erzählt. Schaaren von Geiern stürzten sich zunächst auf den Sarg und mussten mit Prügeln vertrieben werden; dann auf die Leiche, die herausgenommen und auf den Holzstoss gelegt war. Der Wächter schnitt Fetzen herunter und warf sie den Hunden zu, denen sie Geier wieder abjagten; dann wurde der Holzstoss angezündet. — Zu welchen Gräueln Gewöhnung und Aberglauben den Menschen führen können, zeigt folgender Vorfall, den Sir Robert Schomburgk dem Gesandteu mittheilte. Ein Bootsmann in seinem Dienst starb nach kurzer Krankheit an Entzündung der Eingeweide; seine Ge- fährten aber schworen, ihm sei heimtückischer Weise ein Stück Rindfleisch beigebracht worden, dessen Genuss dem Buddisten ver- boten ist; daran sei er gestorben. Sir Robert gab Geld zu seiner Verbrennung her. Die Leiche war eben halb gebraten, als plötzlich die anderen Bootsleute sich darauf stürzten, Fetzen Fleisch herunter- rissen und auffrassen. Zur Rede gestellt behaupteten sie, das sei kein Menschenfleisch, sondern das verbotene Rindfleisch, das von dem Verstorbenen gegessen allmälig wachsend den ganzen Körper verzehrt habe; der Genuss schütze sicher vor gleichem Schicksal. — Von solchen Zauberphantasieen strotzt der siamesische Volks- glauben. XXI. Tempel. Nach Sonnenuntergang wird die unheimliche Nachbarschaft gemieden. Nicht nur Todte, sondern auch Lebende sollen dort zu- weilen verbrannt, und im vorbeifliessenden Wasser bei nächtlichem Dunkel die Opfer des heimlichen Gerichtes ertränkt werden. So erzählt Mrs. Leonowens in ihrem Buche The English governess at the Siamese court. Neben Wat saket liegt die malerische Ruine einer grossen Backsteinpyramide, deren Bau zu Anfang dieses Jahrhunderts be- gonnen aber nicht fortgesetzt wurde, weil die Fundamente sanken. Acht Stockwerke von 12 Fuss Höhe, auf welchen dichtes Gesträuch wuchert, lagen stufenförmig übereinander; das oberste ist höher. Ein anderer grosser Tempel, Wat Sudat , zeichnet sich durch reiche Wandmalereien und ein geräumiges Kloster aus: die Bonzen wohnen dort in vierzig Gebäuden von hundertzwanzig Schritt Länge, die in zehn Reihen je vier hintereinander mit etwa fünf Schritt Zwischenraum stehen und lauter einzelne Zellen enthalten Für schattige Gärten ist gesorgt; auf einer Seitenterrasse stehen viele Pavillons, deren Wände ganz kunstreich mit allerlei Gethier bemalt sind. — Um die Haupttempel laufen breite Steinterrassen mit den grotesken Figuren holländischer Schildwachen. Wat Ko Kwei heisst ein Tempel am Menam , dessen Ufer- façade eine grosse Dschunke darstellt: der Rumpf aus Mauerwerk ist nach der Wirklichkeit angemalt; die Masten bilden drei hohe Pratšedi . Der eigentliche Tempel, von der gewöhnlichen Form, liegt hinter dieser Steinfaçade. Landschaftliche Reize bieten die meisten Klöster von Baṅ- kok ; das Innere zu besehen ermüdet man bei der ewigen Wieder- holung bald. Es giebt in der äusseren Stadt, an den weit verzweig- ten Flussarmen wohl Hunderte von Tempeln; dort gestaltet sich die üppige Pflanzenwelt mit den bunten Gebäuden und Hütten zu einer endlosen Fülle reizender Landschaftsbilder. Mit Benutzung von Ebbe und Fluth kann man, ohne die Ruderer zu ermüden, in kurzen Stunden weite Strecken durchmessen. Einer der breitesten Nebenarme, Kloṅ-katmei , zweigt sich oberhalb der Binnenstadt vom Strome ab und bespült eine Strecke deren östliche Mauer, fliesst dann südlich und mündet erst bei den Consulaten in den Hauptstrom. Im unteren Theil liegen in der Nähe der Fremdenhäuser viele Reisboote zusammengedrängt, lange Kähne mit gewölbter Bedachung aus Flechtwerk. Am Ufer stehen Nebenarme des Menam . XXI. dort in offenen mit Palmblättern gedeckten Schuppen eine Menge Reismühlen, wo die Körner vor der Verladung von der äusseren Hülse befreit werden. Weiter hinauf liegt ein kleines Fort im üppigsten Uferdickicht. Dann kreuzen den Kloṅ mehrere belebte in die Stadt führende Rinnsale; hier und da spiegelt sich ein schmucker Tempelbau. Nah der Binnenstadt liegen, theils im Ufer- morast vermodernd, theils in Schuppen verwahrt, Hunderte langer Kanonenboote, zum Rudern eingerichtet, mit vergoldetem Zierrath und erhöhtem Vorder- und Hintertheil, wo die Geschütze stehen sollen. Je näher der Binnenstadt, desto belebter sind die Wasser- gassen, besonders an Kreuzungen. Fünfjährige Kinder rudern sich behende in Nussschalen herum; was uns ein Paar Schuhe, das ist dem Siamesen sein Boot. Abends bei eintretender Kühlung wim- melt es in den Canälen; jeden Augenblick glaubt man anzurennen; da werden noch Lebensmittel, besonders köstliche Früchte aus- gerufen; aber die Fischboote hauchen unnahbaren Duft. — Dann kleidet sich der Himmel bis zum Zenith in glühendes Gold; ein Feuermeer spiegelt die Masten, Pyramiden und fedrige Palmen wieder. Auf die Wipfel der Tempelgründe senken sich, vom Fisch- fang heimkehrend, wolkenähnliche Reiherschaaren. Wie Kloṅ-katmei die östliche, so umfliessen zwei stärkere Arme, Kloṅ Baṅpraṅ und Kloṅ Baṅkok Noi die westliche Hälfte der Stadt. In der Nähe des Hauptstroms tragen sie Reihen schwimmender Häuser; weiter entfernt sind die Ufer ganz ländlich, nur einzelne Häuser liegen dort in dichten üppigen Gärten. In allen Wassergassen stehen, auf Pfähle gesetzt, viele winzige Tem- pelschreine von Holz, die Andächtige mit Goldflittern und Blumen schmücken. Andere grössere Capellen an den Ufern enthalten Priapusbilder von drei Fuss Höhe, die meist unter Opferkränzen und Blumen begraben sind. Das königliche Lustschloss der Lotosblume liegt an einem von Osten einströmenden Arm, dessen Ufer vorwiegend von Ma- layen bewohnt sind; ihre unsauberen Hütten stehen auf Stelzen wie in den Sumpf gesteckt. Von unglaublicher Ueppigkeit ist hier der Pflanzenwuchs: die Nipa, — eine gefiederte Pandanee, — und eine stammlose Sumpfpalme säumen das Wasser mit mächtigen Wedeln; darüber lehnen allerlei Bambus, Cocos-, Areca-Palmen und die dop- peltgefiederte Caryota urens zwischen durchsichtigen Casuarinen, XXI. Besuche. grossblättrigen Artocarpeen, dichten Ficus und hundert anderen Laubbäumen. Hier und da streckt eine Urania den breiten regel- mässigen Fächer in die Luft. — Das »Lustschloss« bilden einige Backsteinhäuschen und Holzbuden, die, obwohl noch ganz neu, doch schon baufällig waren, so verderblich wirkt die Feuchtigkeit. Am Hauptgebäude führt eine Treppe zu einer Loggia hinauf, wo der König zu thronen pflegt, während die Prinzen und Grossen auf den Stufen kauern. Daran stösst ein Teich, in dessen Mitte auf künstlichem Hügel ein verfallener Pavillon steht. Von da über- sieht man das flache Reisland, das, zur Regenzeit überschwemmt, beim Blühen des Lotos den reizendsten Anblick gewähren soll. Jenseit des Teiches liegt ein der heiligen Pflanze geweihtes Tempel- chen mit unvollendetem Pratšedi . Der Gesandte tauschte mit den siamesischen Grossen viel- fach Höflichkeiten aus und besuchte unter Anderen den Bruder des Kalahum, Phaya Muntri Sri Surivoṅ , der als Chef der Gesandt- schaft in England und Frankreich gewesen war. Eine Londoner Photographie stellte ihn im prächtigen Staatskleide dar; zu Hause trug er ausser der eigenen Haut nur einen achtzehn Zoll langen Saroṅ . Auch seine wohlbeleibte Gemahlin, zu der Surivoṅ den Gesandten führte, war nicht übermässig mit Stoffen beschwert. Seine Wohnung hatte er nach englischem Muster bequem und ge- schmackvoll eingerichtet; die Wände zierten gute Stiche und Photo- graphieen. Die siamesischen Kostbarkeiten — ausser den gewöhn- lichen Betelschalen, Kasten, Dosen und Spucknäpfen von rothem und gelbem Gold eine schöne Sammlung hinterindischer Dolche mit reichgearbeiteten Heften und Scheiden — füllten einen grossen Glasschrank. Unter den Insignien seiner Würde zeigte er besonders einen ihm vor kurzem als Zeichen des höchsten Ranges vom König verliehenen goldenen Theetopf. — Vor dem Hause lag ein hübscher Dampfer, den Surivoṅ dem Gesandten für Ausflüge zur Verfügung stellte. Bei einem Diner, das der Kalahum dem Gesandten und den Commandeuren der Kriegsschiffe gab, trugen die Grossen am Ober- körper europäische Uniform. Der Wirth erschien in grünem gold- gesticktem eng anschliessendem Waffenrock; der Saroṅ war diesmal Das Schwingfest. XXI. nicht beinkleidartig gefaltet, sondern fiel wie ein Unterrock bis auf die Knöchel herab. Der corpulente Surivoṅ und der Sohn des Kalahum , — der zweite Gesandte, — trugen sogar Schuhe und Strümpfe. Am besten kleidete die Uniform einen vierzehnjährigen Enkel des Kalahum , der ebenfalls die Gesandtschaft nach Europa begleitet und in Paris , wie seine Verwandten stolz erzählten, von der Kaiserin einen Kuss bekommen hatte. Tafelgeräth und Bedie- nung waren glänzend, die Speisen aber grossentheils kalt; die pein- liche Erregung des Wirthes, der nicht aufhörte die Dienerschaft anzuherrschen, zeigte Mangel an Uebung und Sicherheit. Im Hof spielte das Musikcorps der Arkona, dann ein siamesisches Orchester. — Die Gemächer des Kalahum sahen nicht so festlich aus wie beim ersten Besuch; alle kostbaren Geburtstagsdarlehne waren ver- schwunden. Am 8. Januar wurde auf dem früher beschriebenen freien Platz vor der Palaststadt des ersten Königs das Schwingfest gefeiert, das vorderindischen Ursprungs ist. Die Brahminen, deren Tem- pel an jenem Platze liegt, sollen zu Leitung aller bürgerlichen Feste in Siam berufen sein; beim Schwingfest sind sie die Haupt- personen. Ueber ihre Stellung zum Buddismus konnten wir keine Klarheit gewinnen; sicher haben sie bei den Hofceremonieen wichtige Functionen und stehen in directen Beziehungen zum Thron. Die weltregierende Gottheit, welche im Brahminentempel zu Baṅkok verehrt wird, scheint in das buddistische Pandämonium aufgenom- men zu sein. Auf dem Platz drängte sich eine bunte Volksmenge, als wir gegen vier Uhr Nachmittags eintrafen. Gegen halb fünf kam der königliche Zug: voran vier grosse Elephanten mit prächtigen goldgefassten Stosszähnen; dann eine Schaar Polizeidiener mit Ruthenbündeln, ähnlich den Fasces der römischen Lictoren, und auf struppigen Ponies zwei Hofdamen der verstorbenen Königin, komisch aufgeputzt in zerknitterter pariser Abendtoilette; ganz weiss geschminkt, mit modernen Chignon-Perrücken, glichen sie auf den trippelnden Pferdchen aufs Haar verkleideten Clowns aus dem Cir- cus. Hinter ihnen schritten gravitätisch vier mächtige Elephanten im reichsten Geschirr, auf den breiten Rücken eine Schaar Königs- kinder tragend, die uns jubelnd begrüssten; in Festgewänder ge- kleidet, mit schimmerndem Goldschmuck sahen sie bunt und prächtig aus. Hinter jedem Elephanten gingen, lustig plaudernd wie andere XXI. Das Schwingfest. Kammerzofen, über hundert Dienerinnen in bunten seidenen Saroṅ ’s und Schärpen; diesen Theil des Zuges begleitete zu beiden Seiten die Amazonengarde, meist alte, hässliche Weiber von schwächlichem Aussehn in ungeschickten rothen Röcken und blauen Hosen, mit verrosteten Bajonetflinten bewaffnet. Nun folgte ein bezopftes Musikcorps mit vielen Gongs, voran ein baumlanger Kerl als Fahnenträger, dann Possenreisser in Thier- masken. Der als Phaya Phollateph oder »Herr der Himmlischen Heerschaaren« fungirende jüngere Bruder der Kalahum, Phaya Wara Poṅ , wurde, in die reichsten Gewänder gehüllt, mit könig- lichem Diadem und prächtigen Spangen geschmückt, auf goldenem Sessel getragen, voraus viele Officiere und Hofbeamten in glänzender Tracht, hinterher mehrere Reihen Krieger mit zweihändigen Schwer- tern, sensenartigen Hellebarden, Lanzen und bunten seidenen Fähn- chen. Die Soldaten, — etwa tausend, — welche die Procession auf beiden Seiten escortirten, hatten bunt durcheinander orange- und rosenfarbene, gelbe, grüne, rothe Röcke an, sahen aber trotz der bunten Bewaffnung mit Schilden, Spiessen und Säbeln aller Länder und Zeiten keineswegs martialisch aus; die Kleider waren diesmal wenigstens neu, nicht abgetragen und zerlumpt, wie bei der feierlichen Audienz. — Ein zweites chinesisches Musikcorps schloss den Zug. Phaya Wara Poṅ nahm seinen Sitz unter einem Zelt, seine Begleiter, deren Säbel von Juwelen strotzten, kauerten vor ihm zur Erde; die Truppen stellten sich ringsum. Mitten auf dem Platz stand ein wohl hundert Fuss hohes Gerüst mit einer Schaukel, auf deren etwa dreissig Fuss über dem Boden schwebendem Brett vier Männer mit Galgengesichtern und spitzen weissen Mützen sassen, — keineswegs der Vorstellung entsprechend, die man sich von Brah- minen macht. An einer entferntstehenden Bambusstange war in der Schwingungscurve des Schaukelbrettes ein goldgefülltes Beutelchen aufgehängt, das die Schaukler mit den Zähnen herabreissen sollten. Als die Schwingungen gross genug waren, zog man von unten den Strick fort, der die Schaukel bewegte, und überliess das Uebrige den Brahminen, die aus allen Kräften arbeitend dieselbe wohl in Gang hielten, das Beutelchen aber mit dem Munde nicht haschen konnten und zuletzt mit den Händen abrissen. Es sah halsbrechend aus; die Länge des Pendels schätzten wir — vielleicht zu hoch — auf siebzig Fuss, und die Höhe des Aufschwunges war so bedeutend, IV. 19 Privataudienz beim Ersten König. XXI. dass die Schaukler fast wagerecht standen. Dreimal wurde das Spiel wiederholt. Darauf erschienen die zwölf Brahminen mit grossen Büffelhörnern vor dem Zelt, schritten unter rythmischen Gebehrden um ein dort aufgestelltes Becken mit Weihwasser, tauch- ten gleichzeitig die Büffelhörner hinein und bespritzten rückwärts das zudringende Volk. — Der als Phollateph fungirende Phaya Wara Poṅ hatte die ganze Zeit sein rechtes Bein über das linke Knie gelegt und hielt es mit der Hand; ihn bewachten vier Priester, die das Recht haben, ihm den kostbaren Schmuck abzunehmen, wenn sein rechter Fuss während der Ceremonie den Boden berührt. Nach altem Brauch soll der Phollateph auf dem linken Fuss die ganze Zeit aufrecht stehen. — Ueber die Bedeutung des Festes wusste Niemand rechte Auskunft zu geben. Am Nachmittag des 13. Januar begaben sich der Gesandte und seine Begleiter zu einer Privataudienz beim Ersten König, der sie in einem grossen Staatsboot abholen liess. In den inneren Höfen des Palastes, durch welche diesmal der Weg führte, standen Ge- schütze von grosser Länge; eine mächtige Volière, wohl tausend Vögel enthaltend, spannt dort ihr Drahtgitter über mehrere Bäume. In einer Halle nah dabei wurden eben die preussischen Geschenke ausgepackt, darunter das Porträt Seiner Majestät des Königs, eine Buchdruckpresse mit siamesischen Lettern und ein electromagne- tischer Telegraph. — König Maha-moṅkut kam herbei und verweilte lange sinnend vor dem Bildniss, liess sich dann den Telegraphen erklären und äusserte viel Freude über die Geschenke. Graf Eulen- burg bat einige Kleinigkeiten unter die königlichen Kinder vertheilen zu dürfen, was der Vater mit sichtlichem Vergnügen erlaubte; jauch- zend vor Lust griffen die Kleinen nach den hübschen Bernstein- und Achatsachen und anderen Spielereien; immer mehr kamen herbei, zuletzt auch die kleinsten in den Armen der Wärterinnen, darunter elf aus einem Jahrgang. Der König nahm den heitersten Antheil. Er führte den Gesandten nachher in das Gebäude, wo die Leiche der Königin bis zur Verbrennung beigesetzt war: eine nicht ganz bis zur Decke reichende Wand theilte den grossen Saal in zwei Hälften, in der einen stand auf einer mit Goldstoff und Teppichen verhängten, mit Leuchtern und Vasen bedeckten Estrade eine über fünf Fuss hohe juwelenverzierte goldene Urne, in welcher die Leiche lag. Auf der untersten Stufe waren drei Thonfiguren aufgestellt, einen Alten, einen Kranken, einen Todten darstellend; sie sollten ver- XXI. Einsargung königlicher Leichen. sinnlichen, dass jeder Mensch dem Alter, der Krankheit und dem Tode verfallen ist. Daneben hatte der König die Condolenzschrei- ben seiner europäischen Freunde niedergelegt. Rechts und links vom Katafalk lagen die Rang-Insignien der Königin; neben der Thür hing ihr photographisches Porträt nebst einer Tafel, auf der ihr Geburts- und Todestag, auch das Datum ihrer Erhebung ver- zeichnet standen. — Gegenüber diesem Raume sassen fünf Priester, Gebete singend. Der Ernst des Königs und die Andacht der Kinder, die sich betend vor der Urne niederwarfen, machten den feierlichsten Eindruck. Ueber die Einsargung von Mitgliedern des Königshauses, — die vor der Verbrennung, der König über ein Jahr, alle anderen über sechs Monate, meist bis zur trockenen Jahreszeit beigesetzt werden, — hörten wir Folgendes. Die Leiche wird von den Ver- wandten gewaschen und aus silbernen Gefässen mit kaltem Wasser gebadet, dann in sitzender Stellung eingehüllt, mit wohlriechenden Harzen übergossen, mit Weihrauch und Myrrhen bestreut, in Lei- chentücher gewickelt und in die goldene Urne gesetzt, deren Boden ein Gitter bildet. Diese Urne stellt man in eine grössere juwelen- besetzte, unten spitz zulaufende, aus welcher täglich die Flüssig- keiten abgelassen werden, bis der Körper ausgetrocknet ist; Bonzen schütten die Abgänge unter Gebeten in den Strom. Später wird die Urne mit allen Insignien des Verstorbenen nach dem Tempel Mahaphrasat gebracht und bleibt dort bis zur Verbrennung stehen. — Der Leichenzug von da zum Scheiterhaufen muss sehr prächtig sein. Die goldene Urne wird auf altfränkischem Elfenbeinwagen von vier milchweissen Pferden gezogen; voraus fahren zwei andere Wagen, der erste mit Priestern, die fromme Sprüche lesen, der zweite mit den Brüdern des Verstorbenen; ein mehrere Zoll breiter Streifen Silberbrocat läuft von der Urne über den nächsten Wagen bis zu dem der Priester und soll symbolisch die Verbindung zwischen Leben, Tod und Budda darstellen. Hinter der Urne folgt ein Wa- gen mit Sandelholzscheiten, Wachskerzen und Weihrauch. Gel- lende Musik mit Pauken und Pfeifen geleitet den Zug. Findet die Verbrennung bei einem der Tempel am jenseitigen Ufer statt, so trägt das Leichenboot einen prächtigen Baldachin und wird von vielen Staatsbooten bugsirt und begleitet. Solche Procession fuhr eines Abends am Gesandtschafts- hause vorüber nach Wat Kalaya ; alle Boote waren hell erleuchtet, 19* Todtenverbrennung. XXI besonders das grosse Staatsboot mit der Leiche, an dessen Balda- chin viele Laternen hingen. Die Verbrennung geschah am folgen- den Tage. Zwischen den Bäumen vor dem Tempel stand ein hoher Katafalk, mit weissem goldbesterntem Stoff behangen; innerhalb führten mehrere Stufen zu einer Estrade hinan, auf welcher der Holzstoss aus versilberten Scheiten aufgebaut war; oben darauf unter einem von vier vergoldeten Stäben getragenen leichten Balda- chin der sargartige unten vergitterte Kasten in weisse Decken ge- hüllt; es war die Leiche eines dem Könige nahe stehenden Grossen. Ein breiter Bandstreifen hing aus dem Sarge und wurde von fünf am Fuss der Estrade sitzenden Bonzen gehalten, die Gebete sangen und von Zeit zu Zeit das Band immer weiter herauszogen: das soll andeuten, dass Gebete die Sünden von dem Verstorbenen wegnehmen. Um den Katafalk lagerten vornehme Siamesen, am Ufer standen Soldaten aufmarschirt. In einer von Amazonen bewachten Tempelhalle befanden sich Frauen aus dem Harem des Ersten Kö- nigs, dessen Kinder ihm bei seinem Erscheinen gegen Abend froh entgegenrannten. Nun kroch Alles am Boden; nur die Spalier bil- denden Soldaten blieben zweibeinig, folgten aber, als der König auf den Katafalk zuschritt, präsentirend mit komisch verdrehtem Kör- per allen seinen Bewegungen. Vor dem Scheiterhaufen verrichtete er ein Gebet, beschenkte die Priester mit neuen Gewändern und zündete den Holzstoss an, nachdem er eine Blume in den Sarg ge- worfen. Dann traten die leidtragenden Frauen, in weisse Gewänder gehüllt, und die Königskinder heran, um Wachskerzen in das Feuer zu werfen, während einige Trabanten rothe Beutelchen mit Silber- geld unter das Volk warfen. Der König hockte eine Weile auf einem Stein und zog sich bald zurück; dann traten auch die Grossen heran, warfen Wachskerzen in die Flammen und zerstreuten sich. Die ganze Feierlichkeit dauerte eine halbe Stunde. Weit prächtiger war die Verbrennung eines Halbbruders des Königs bei Wat Džeṅ , die bald darauf stattfand. Der siebzig Fuss hohe Katafalk ruhte auf einer vier Fuss hohen Estrade, deren Wände künstliche Felsen darstellten, mit Büschen, Affen und an- deren Thieren aus Papiermasse. Zwei Treppen führten zum Estrich hinan, wo auf einer mit reicher Goldzier geschmückten Erhöhung der vergoldete Sarg mit der Leiche stand; zwei andere Särge zu seinen Füssen, einen Sohn und eine Tochter des Verstorbenen ber- XXI. Todtenverbrennung. gend, die zugleich verbrannt werden sollten, waren mit jenem durch Streifen von Goldbrocat verbunden. — Von dem mit weissem Zeug und Goldflittern ausgeschlagenen Katafalk hingen Vorhänge aus demselben Stoff herab, liessen aber, gardinenartig aufgenommen, an allen Seiten den Blick auf den Sarg frei; das reichverzierte vergoldete Dach verjüngte sich in stufenförmigen Absätzen zu einer schlanken Spitze. Das Innere zierten viele Hängelampen, Vasen und Kostbarkeiten aus Gold, Glas, Porcelan, Alabaster, künstliche Blumen, Vögel, Kinder- und Engelgestalten. — Rings um den Kata- falk standen Altäre mit sonderbarem Geräth, dazwischen die Zeichen des Königshauses, mehrstöckige Sonnenschirme aus Holz und buntem Papier, und hohe Stangen mit Feuerwerkskörpern; dieser ganze Raum war im Viereck mit schweren Vorhängen abgezäunt, inner- halb deren vor dem Katafalk eine offene Halle lag. Ausserhalb drängte sich das Volk; wir machten, von einem Bruder des Königs geleitet, einen Rundgang durch die Schaustel- lungen; da gab es chinesische Theater, malayisches, siamesisches Ballet, Puppenspiele, Jongleure, Declamatoren und Seiltänzer. Auf dem chinesischen Theater wurde mit kerniger Mimik eine Posse gespielt. Die siamesischen Tänzerinnen trugen phantastische Masken von Helden und Dämonen, kauten und spieen aber trotzdem ihren Betel und vollzogen ihre conventionellen Verdrehungen mit grossem Phlegma; hinter jeder stand eine Person im Alttagscostüm und sagte laut deren Rolle her. — An einer anderen Stelle wurden mi- mische Tänze, ebenfalls mit Declamation, von Thiermasken auf- geführt; das Orchester bestand aus halbwachsenen Kindern mit gefärbten Gesichtern in buntem Lappenputz. — Die malayischen Bayaderen waren ziemlich abschreckend, die ältere wohl sechszig- jährig, die jüngere sehr pockennarbig, ihre Kleidung schmutzig und zerlumpt. Bühne stand an Bühne; hier verschlang ein Ungeheuer den Mond, dort der Jongleur einen Stein; wir wurden des Ge- dränges bald müde. Nach Sonnenuntergang empfing Prinz Khroma-luaṅ den Ge- sandten innerhalb der verhängten Einzäunung; dort erschien gleich darauf der König, voraus die Garden, Spiessträger und Trabanten mit Revolverbüchsen. Er nahm in der Halle vor dem Katafalk Platz; etwa dreissig Schritt vor ihm lagen die Prinzen, Minister und Hofleute in Reihen auf allen Vieren. Auf einige laut gesagte Worte, die ziemlich barsch klangen, kroch die ganze Schaar in Colonnen Todtenverbrennung. XXI. bis zum Fuss des Thrones heran, um Goldgeschenke zu empfangen. — Die vollständige Ausstattung für etwa vierzig Priester enthielten ebensoviele innerhalb der Einzäunung aufgestellte Glasschränke: Ballen gelben Stoffes zu Gewändern, Theeservice, europäische Schnapsgläschen, Almosentöpfe und vielerlei Hausgeräth; auf jedem Schrank lag ein mit Gebeten beschriebener Fächer und ein baum- wollener europäischer Regenschirm, wie ihn bei uns die Bauern tragen; davor aber stand das nothwendigste Requisit des siame- sischen Bonzen, ein niedliches Ruderboot. Während der Hof seine Geschenke erhielt, warfen Trabanten von einigen Gerüsten Silbermünzen unter das Volk. Unterdessen verzehrte der Gesandte mit seinen Begleitern eine in einer Neben- halle für sie aufgetragene Mahlzeit, die leidlich zubereitet, aber kalt war. — Nachdem darauf ein Bonze unter ohrenzerreissender Musik vor dem König gepredigt hatte, wurden Schattenspiele auf- geführt: man bewegte die aus schwarzem Papier geschnittenen Fi- guren, — phantastische Krieger, Ungeheuer, Dämonen, — vor grossen von hinten beleuchteten Schirmen; auch dazu lärmten die Musikanten mörderlich. Dann zündete der König eigenhändig das Feuerwerk an und nahm mit seinen Kindern auf dem Estrich des Katafalkes Platz, wohin der Phraklaṅ auch den Gesandten führte. Im strahlenden Lampenlicht sah der Bau mit der malerischen Staffage sehr prächtig aus; der König selbst war ganz weiss, in die Farbe der Leidtragenden gekleidet. Er zeigte dem Gesandten den Entwurf eines Schreibens an Seine Majestät den König von Preussen und äusserte selbstgefällig, dass er ihn ganz allein, ohne Hülfe in englischer Sprache niedergeschrieben habe. — Das Feuerwerk war prächtig, der Jubel des Volkes laut und lärmend. Gegen halb zehn zog man sich zurück. Die Lustbarkeiten dauerten die beiden folgenden Tage; die Verbrennung geschah am zweiten gegen Abend. Der spitzige Deckel des Sarges war entfernt, der obere Theil des Katafalkes abgebaut, der freie Raum zwischen diesem und dem gegenüberliegenden Theil der Halle dicht verhängt für die Damen des Harem. In ihrer unverhüllten Hälfte thronte der König mit achtzehn seiner Kinder, setzte sich aber bald auf die oberste Treppenstufe am Eingang und rief den Gesandten heran: bei Leichenfeierlichkeiten fordere die Sitte, dass alle Anwesenden Geschenke erhielten; er wünsche diesen Brauch auf die Fremden auszudehnen. Darauf händigte er Jedem XXI. Todtenverbrennung. ein Pappkästchen mit Glasdeckel ein, in welchem zwischen künst- lichen grünen Blättern Schmetterlinge und Blumen aus dünnem Goldblech, goldene Ringe und kleine Gold- und Silbermünzen lagen, — ausserdem ein Säckchen mit Limonen, die ebenfalls voll kleiner Münzen steckten. Aehnliche Kästchen erhielt Graf Eulen- burg für Ihre Preussischen Majestäten und das kronprinzliche Paar. Bald darauf erhob sich der König, ging an den in drei Reihen auf den Stufen knieenden Bonzen vorbei, die hinter Fächern Gebete murmelten, stieg zum Sarge hinan, goss Weihwasser in den- selben, kniete dann betend auf der untersten Treppenstufe nieder, verneigte sich dreimal gegen den Sarg, dreimal gegen die Bonzen, und vertheilte an letztere Geschenke, meist Ballen gelben Stoffes, die seine Kinder ihm geschäftig zureichten. — Nun wurde das breite aus dem Sarge hängende Band entfernt; der König stieg wieder hinauf, steckte mit einer ihm gereichten Fackel den Holz- stoss an, trat bis zum Rand der Estrade zurück und setzte mit einem an langem Stabe befestigten Licht eine dünne Röhre mit Feuerwerkssatz in Brand, die um den Katafalk lief. Weiss geklei- dete Herolde mit hohen spitzen Mützen warfen unterdessen wieder Geld unter das Volk; der König kehrte zu seinem Thron in der Halle zurück und theilte münzengespickte Limonen an seine Höf- linge aus, die auf allen Vieren herankrochen. Ein Feuerwerk be- schloss den Abend. Am nächsten Morgen fuhr eine Procession prächtig decorir- ter Staatsboote den Fluss hinab; im grössten befand sich die Asche des verbrannten Prinzen, welche bis auf einen kleinen zu Andenken für die Verwandten bestimmten Theil unterhalb der Stadt in den Fluss geschüttet wurde. Oft wird die Asche in kleine Götzen aus Silberblech eingeknetet, die man in der Tasche tragen kann, zuweilen auch unter einem Pratšedi begraben, oder mit Kalkwasser vermischt zum Anstrich der Tempelwände verbraucht. Die Knochenreste der allerhöchsten Personen werden in goldener Urne im Tempel Maha-phrasat beigesetzt. Bei manchen Verbrennungen sind die Anstalten noch prächtiger; die Ausstellung unter dem Katafalk und die Lustbarkeiten dauern oft vierzehn Tage; dann wird die goldene unten vergitterte Urne auf den Holzstoss gesetzt. Die vier Hauptpfosten des Kata- falkes müssen frisch gehauene Tekastämme von gradem Wuchs bilden; man erzählt von 200 Fuss hohen Bäumen und 60 Fuss hohen Die Missionare. XXI. vergoldeten Dachspitzen, Himmeln von Goldstoff und dergleichen; Verschwendung und Phantasie scheinen dabei keine Grenzen zu kennen. Zum Anstecken des königlichen Scheiterhaufens soll nur eine am Blitz oder durch Reiben trockenen Holzes entzündete Flamme gebraucht werden. Alle Siamesen ausser den älteren Prinzen müssen nach des Königs Tode das Haupt rasiren. Die Bedeutung der abergläubischen Gebräuche zu ergründen, an denen Siam so reich ist, wäre bei der bodenlosen Ungereimtheit des verdorbenen Buddisums eine Danaidenarbeit; vergebens sucht man nach Anknüpfungspuncten in der Wirklichkeit und der mensch- lichen Natur. Eine platte Symbolik und gesuchte Allegorieen lassen sich hier und da wohl erkennen, und dass manche Gebräuche tieferen Sinn haben, soll gewiss nicht bestritten werden; das Meiste scheint aber unverfälschter Blödsinn zu sein. — Die Missionare sammeln eifrig Beiträge zur Kenntniss des Landes und Volkes; die americanischen namentlich haben in ihrem jährlich gedruckten Bankok Almanac schon allerlei Aufschlüsse gegeben. Mit den Presbyterianern und den Baptisten zählte die protestantische Mis- sion 1862 siebzehn Mitglieder, die in Baṅkok zerstreut wohnten. Die katholische Mission hat sich nie wieder zur alten Blüthe erhoben, doch wohnen in Siam und den Grenzländern zerstreut noch immer Reste der im 17. Jahrhundert gegründeten Gemeinden, die unter Aufsicht des in Baṅkok residirenden päpstlichen Vicars von französischen Seelsorgern theils verwaltet, theils bereist werden. Der Bischof von Mallos , Monseigneur Pallégoix , lebte schon über dreissig Jahre in Siam und genoss bei Eingebornen und Fremden der höchsten Achtung; König Maha-moṅkut verkehrte namentlich in der Zeit seines Klosterlebens mit ihm. Er wohnte mit seinem Caplan in einfachem siamesichem Hause bei der 1814 gebauten kleinen Kirche de l’Assomption, wo Graf Eulenburg ihn besuchte. Kaum sechzig Jahre alt machte der Bischof den Eindruck eines hinfälligen Greises; er sprach langsam und rang mühsam nach dem Ausdruck, doch zeugten seine Worte von geistiger Klarheit und Frische. Entbehrungen und Mühen verzehren im tropischen Klima schnell die Kräfte des Fremden. Die Missionare bezogen, der Bischof 1500 Francs, die zehn katholischen Seelsorger seines Sprengels ein Gehalt von 600 Francs jährlich; sie konnten davon nur siamesisch leben und hatten doch so manchem Anspruch des Elends zu genügen. Ihre 1835 neu gegründete Schule in Baṅkok XXI. Die Missionare. hatte anfangs so starken Zulauf, dass die Geistlichen der Arbeits- last nicht gewachsen waren und vielfach erkrankten; auch das Seminar zu Ausbildung eingeborner Lehrer, das unter Phra Naraï ’s Herrschaft so glänzende Erfolge hatte und später mehrfach wieder ins Leben gerufen wurde, litt damals Geldmangel. Monseigneur Pallégoix erwiederte des Gesandten Besuch und wurde bei der Unterhaltung sehr lebendig. Er hatte für die Kennt- niss des Landes viel gethan und ein umfassendes Werk darüber herausgegeben, »wollte auch, da sich seitdem neuer Stoff anhäufte, gern noch mehr über Siam schreiben, wenn er nicht seit sechs Jahren erblindet wäre«. Er überlebte unsere Anwesenheit nicht lange. — Nach dem Eindruck, den wir empfingen, ist die Wirk- samkeit der katholischen Mission heut eine weniger glänzende aber tiefer greifende, als die der Jesuiten in früheren Jahrhunderten, die in ihren Schriften mit dem Umfang der Bekehrungen unerlaubt prahlen und sich besonders der grossen Zahl — in die Tausende — von Taufen rühmen, die sie jährlich an sterbenden Kindern vollzogen. — Die Erfolge der protestantischen Missionare entziehen sich nothwendig der Beobachtung, da ihre ganze Wirksamkeit eine individuelle, keine disciplinirte ist, weil jede Secte und jede Mis- sionsgesellschaft ihren eigenen Weg geht, und die Kräfte sich zer- splittern. Auf einzelne Proselyten mögen protestantische Missionare tieferen Einfluss üben als die katholischen; die Zahl ihrer Bekeh- rungen ist aber klein. Ihr grösstes Verdienst besteht wohl in Er- forschung der siamesischen Sprache und Literatur und in Ueber- setzung von Bibelabschnitten in das Siamesische. Unser gütiger Nachbar Prinz Khroma-luaṅ ermüdete nicht in Freundschaftsbeweisen; eines Tages lud er den Gesandten zu einem Hahnenkampf ein. Die kreisrunde Arena von etwa zehn Fuss Durchmesser fasste halbmannshohes Korbgeflecht ein, um das sich viele Siamesen drängten; der Gesandte und seine Begleiter nahmen auf einer kleinen Estrade Platz. Es trat eben eine Pause ein, die nach jedem etwa sechs Minuten dauernden Gange von den Eigen- thümern benutzt wird, um den Kämpfern Wasser zu geben und die Wunden zu waschen. — Die Hähne waren so gross wie die cochin- chinesischen, doch viel schlanker gebaut. Fünf Gänge hatten sie gemacht, die Spannung der Zuschauer stieg auf das Höchste; sie begleiteten jeden Schnabelhieb mit Gebrüll und wetteten, wie der Dolmetsch sagte, zum Belang von 200 Tikal . Erwischte einer der Hahnenkampf. Musik. XXI. Kämpen einen tüchtigen Hieb, so lief er dicht an seinen Gegner heran und steckte seinen Kopf unter dessen Flügel. Nach zwei weiteren Gängen war die Schlacht entschieden: einer der Hähne wurde zweimal niedergeworfen, nahm zwar jedesmal muthig den Kampf wieder auf, drehte aber endlich seinem Gegner den Rücken, womit nach siamesischem Brauch das Spiel enden musste. Die sieg- reiche Parthei der Wettenden erhob gellendes Jubelgeschrei, die Verlierenden blieben sehr ruhig; einige der Betheiligten waren in die Arena gestiegen und rutschten hockend am Rande hin und her, um den Hähnen auszuweichen. Graf Eulenburg hatte das Musikcorps der Arkona mitgenom- men, für dessen Leistungen die Siamesen lebhaftes Interesse zeigten. Prinz Khroma-luaṅ meinte, bei uns unterscheide sich die traurige und fröhliche Musik vorzüglich durch das Zeitmaass; bei jener sei es langsam, bei dieser schnell. In Siam habe das Tempo andere Bedeutung: schnelle Stücke spiele man beim Ausmarsch von Truppen, bei öffentlichen Processionen, überall wo grössere Menschenmassen in Bewegung wären; langsame und feierliche dagegen beim Auftreten vornehmer Personen. — Der alte Dirigent der prinzlichen Capelle folgte auf einer Holzharmonika ganz richtig den Melodieen unserer Bläser; der Prinz pries dessen musikalisches Gedächtniss, das ihn be- fähige, jedes Stück nach dreimaligem Hören nachzuspielen. — An demselben Abend kamen die von Musikmeister Fritze und seinen Hautboisten seit kaum drei Wochen unterrichteten siamesischen Musikanten nach dem Gesandtschaftshause, um Graf Eulenburg etwas vorzuspielen. Sie bliesen zuerst allein, dann mit unserem Musikcorps den preussischen Präsentirmarsch, den Zapfenstreich und Heil Dir im Siegerkranz zwar nicht entzückend, aber für die kurze Zeit ihres Unterrichts doch erstaunlich richtig. Sie hatten vorher weder eine Ahnung von musikalischen Noten, noch von Be- handlung der Blasintrumente. Einige Tage darauf, am 29. Januar, spielten die siamesischen Bläser zum ersten Mal vor ihrem König, der mit seinen Frauen aus der Audienzhalle zuhörte. Zugleich fanden Ballspiele und Pferde- rennen in den Höfen statt. Zum Beschluss bliesen die Siamesen eine von Musikmeister Fritze componirte »siamesische National- hymne«, welche der König »Die glückliche Blume« taufte. An demselben Tage begann die Feier des chinesischen Neu- jahrsfestes; das Feuerwerk knallte die ganze Nacht. Unsere chine- XXI. Der Vertrag. sischen Diener stellten rings im Hause kleine Opfer von Kuchen, Glimmkerzen und Schnitzeln Silberpapier hin, schmausten, zechten, brannten uns unter der Nase ihre Schwärmer ab und horchten auf keinen Befehl. Gleich nach Ankunft in Baṅkok hatte Graf Eulenburg die ansässigen deutschen Kaufleute gefragt, ob die früher mit Siam ge- schlossenen Verträge schädliche Bestimmungen oder Lücken ent- hielten; der fast gleichlautende Entwurf des preussischen sollte nach ihren billigen Wünschen modificirt werden. Die Kaufleute bemängelten zunächst einen Artikel, nach welchem siamesische von Fremden in Dienst genommene Unterthanen, die einem bestimmten Herrn gehörten oder Dienst schuldeten und sich ohne dessen Er- laubniss verdungen hatten, von ihm reclamirt werden konnten. Nun gehört dem König innerhalb gewisser Grenzen die Zeit und Arbeitskraft aller Siamesen, auch derjenigen, die nicht seine Hö- rigen sind; viele stehen aber auch in lösbarer Knechtschaft von Privatmännern, theils für Schulden, theils weil sie sich verkauft haben oder von ihren Eltern verkauft worden sind. Zur rechtlichen Begründung solchen Verhältnisses dient die Ausstellung eines Schei- nes über die Kaufsumme, den der Herr des Geknechteten erhält. Häufig verdangen sich solche Siamesen ohne Erlaubniss ihrer Dienst- herren an Fremde; oft wurde auch die Knechtschaft nur simulirt, wenn Freien der Dienst bei den Fremden unbequem wurde. Es kam vor, dass Arbeiter unter dem Schutz jener Bestimmung plötz- lich massenweise reclamirt wurden, woraus den Kaufleuten grosser Schaden erwuchs. Deshalb entwarf Graf Eulenburg eine Bestim- mung folgenden Inhalts: Siamesische Unterthanen, welche einem bestimmten Herrn gehören oder Dienste schulden, sollen sich zwar ohne dessen Zustimmung nicht verdingen; haben sie es dennoch gethan, so gilt das Dienstverhältniss, sofern im Dienstvertrage nicht eine noch kürzere Frist verabredet ist, oder der deutsche Unterthan den siamesischen Diener nicht sogleich entlassen will, als nur auf drei Monate eingegangen; der deutsche Unterthan ist dann verpflichtet, während der genannten Zeit zwei Drittheile des be- dungenen Lohnes nicht an den siamesischen Diener, sondern an Den- jenigen zu zahlen, welchem derselbe angehört oder Dienste schuldet. Der Vertrag. XXI. Ein Artikel der früheren Verträge bestimmte, dass in der Binnenstadt von Baṅkok und bis vier englische Meilen von deren Mauern nur solche Fremden Grundbesitz erwerben dürften, die seit zehn Jahren in Siam lebten oder von der siamesischen Regierung ausdrückliche Erlaubniss erhielten. — Nun war Baṅkok fast der einzige Ort, wo Fremde mit Vortheil wohnen konnten; die Erwer- bung von Grundbesitz in Siam überhaupt erforderte also zehnjähri- gen Aufenthalt. Die neuen Ankömmlinge wurden durch jene Be- stimmung von den ältern Ansiedlern abhängig, deren Grundstücke sie um jeden Preis miethen mussten, wenn die Regierung ihnen nicht die ausdrückliche Erlaubniss zu selbstständiger Landerwerbung gab. Deshalb liess Graf Eulenburg im neuen Entwurf diese Klausel fort. Ihre Aufnahme in den englischen Vertrag, der allen anderen zum Muster diente, war theils durch altes Misstrauen gegen die Fremden, theils durch das Eigenthumsrecht der siamesischen Könige am Grund und Boden des ganzen Reiches veranlasst worden. So- viel wir erfuhren, erwirbt der Siamese Grundbesitz überhaupt nur als Erbpächter und zahlt dafür einen bestimmten Zins; der König behält das Recht, jedes von seinen Unterthanen besessene Grund- stück zu Staatszwecken ohne Entgelt, zu seinen Privatzwecken gegen Entschädigung einzuziehen. Nun fürchtete wohl die siamesi- sche Staatsgewalt mit Grund, dass Fremde sich jeder Verfügung des Königs über ihre als Eigenthum erworbenen Grundstücke widersetzen würden, und erschwerte deshalb die Erwerbung in demjenigen Gebiet, wo der König den Boden leicht einmal für seine Zwecke brauchen konnte, d. h. in der Binnenstadt und inner- halb eines vier englische Meilen von deren Mauern entfernten Um- kreises. Letzteren den Fremden bedingungslos zugänglich zu machen, schien sehr wünschenswerth; die Binnenstadt eignete sich schlecht zur Niederlassung und musste selbstredend zur freien Ver- fügung des Königs bleiben, In demselben Artikel liess Graf Eulenburg die Bestim- mung fort, nach welcher die siamesische Regierung befugt sein sollte, ein von Fremden erworbenes Grundstück gegen Erstat- tung des Kaufpreises zurückzufordern, wenn dasselbe nicht bin- nen drei Jahren cultivirt und verbessert würde. Diese unge- schickte Bestimmung konnte bei völliger Unklarheit über die Ausdrücke »Cultur und Verbesserung« leicht zu Vexationen führen. XXI. Der Vertrag. In einem anderen Artikel des ersten Entwurfes war der siamesischen Regierung das Recht eingeräumt, unter Umständen die Ausfuhr von Salz, Reis und getrockneten Fischen zu verbieten, mit der Beschränkung, dass solches Verbot auf die Erfüllung von Con- tracten, die in gutem Glauben vor seiner Publication geschlossen waren, keinen Einfluss üben solle. Reis ist der wichtigste Artikel des Ausfuhrhandels. Da nun aber die Siamesen Con- tracte über dessen Lieferung nicht zu machen pflegten, so hatte jene Beschränkung keinen Werth. Die Fremden kauften den Reis bei den Müllern, welche ihn von der Hülle befreien; diese aber steigerten, sobald ein Ausfuhrverbot in fernster Aussicht stand, ihre Preise unmässig, so dass die Fremden nicht kaufen konnten und häufig ihre vor Baṅkok der Ladung harrenden Schiffe mit grossem Verlust in Ballast fortschicken mussten. — Graf Eulenburg ver- fasste deshalb eine Clausel, nach welcher die siamesische Regierung gestattete, dass alle Schiffe, die zur Zeit der Publication des Ver- botes schon in Siam angekommen oder vor dessen Bekanntwerden aus chinesischen und hinterindischen Häfen dahin ausgelaufen wären, ohne Rücksicht auf das Ausfuhrverbot noch mit Reis be- frachtet werden dürften. Neben diesen Aenderungen erhielten die meisten Artikel des revidirten Entwurfes eine präcisere Fassung. Am 6. Januar tauschte der Gesandte beim Prinzen Khroma- luaṅ mit den siamesischen Commissaren seine Vollmachten aus; dazu hatte der König ernannt: 1. den Prinzen Khroma-luaṅ Woṅsa Diraï Snid ; 2. den ersten Minister Tšau Phya Sri Suriwoṅse Samant Boṅs Bisude Maha Purus Ratridom Samutra Phra-Kalahum ; 3. den Minister des Auswärtigen Tšau Phya Rawe Moṅs Kosadhiputi Wadi Phra-klaṅ ; 4. den Gouverneur von Baṅkok , Tšau Phya Yommerat Tšaat Semaṅ Khonzintera Mahintratebodi Witšaya Raat Mahai Saueri Boserak Pumi Petak Lookanon Tontarittera Na Khonbaan ; 5. Der Bruder des Kalahum, Phaya Muntri Sri Suriwoṅ Danruṅritrannaat Maatyatibodi Tunlakotšasiha Mutatonsepatau Piriyapaha Samuha Phra Kalahum Fainie . Die siamesische Vollmacht begleitete eine englische Uebersetzung. Die Verhandlungen, welche der Legationssecretär Pieschel mit dem Reverend Smith als Dolmetsch im Auftrag des Ge- Der Vertrag. XXI. sandten führte, begannen am 9. Januar. In wenig Tagen war ein Einverständniss mit den Siamesen erzielt, welche bis auf einen Punct auch alle vom Gesandten vorgeschlagenen Neuerungen wil- lig zugestanden: nur die geforderten Erleichterungen für Erwer- bung von Grundbesitz in Baṅkok erklärte Prinz Khroma-luaṅ im Namen aller anderen Commissare für durchaus unzulässig. Darauf lud Graf Eulenburg sämmtliche Bevollmächtigten, die sonst nur einzeln, zu zweien oder dreien zu erscheinen pflegten, auf den 20. Januar zu einer Conferenz und zeigte ihnen die Gesichtspuncte, von welchen jene Frage zu betrachten sei. Die Commissare erklärten, den Sinn und die Berechtigung seiner Aeusserungen wohl begriffen zu haben; aber der König allein könne über eine Frage entschei- den, die ihn persönlich so nah berühre. Zur Benutzung bei dem beabsichtigten Immediatvortrage übergab der Gesandte nun den Commissaren eine Denkschrift, welche seine Forderung näher be- leuchtete. Zunächst war darin volle Gegenseitigkeit beansprucht, — da ja Siamesen in Preussen ohne Beschränkung Ländereien kaufen könnten. Der Wunsch des Königs, die Niederlassung der Fremden in der Binnenstadt zu erschweren, wird als berechtigt anerkannt, die Beschränkung ausserhalb der Mauern aber als ein Zeichen des Misstrauens gegen die Fremden gedeutet, welches, nachdem andere Verträge nun schon sechs Jahre gegolten hätten, endlich der Ueberzeugung weichen sollte, dass die Ansiedlung von Europäern in Baṅkok das Reich nicht gefährde. Die beste Bürg- schaft für Erhaltung der Freundschaft zwischen zwei Völkern bestehe darin, dass jedes im Gebiete des anderen viel Ländereien besitze; fremde Truppen allein hätten Shang-hae gegen die Rebellen ge- schützt; kein Fremder komme nach Baṅkok mit der Absicht über zehn Jahre zu bleiben; könnten sie erst nach dieser Frist Grund- besitz erwerben, so würden sie fortbleiben; die erleuchtete siame- sische Regierung beweise aber durch ihr Verhalten, dass sie die ihr aus der Berührung mit der europäischen Civilisation erwach- senden Vortheile wohl zu schätzen wisse, und werde den Fremden gewiss nicht die Rechte versagen, die sie in Japan und China hätten, obgleich die dermaligen Regierungen jener Reiche keineswegs so günstig vom Völkerverkehr dächten. Die Gründe schlugen durch: der König gab die Erwerbung von Grundbesitz ausserhalb der Binnenstadt und einem kleinen der- selben am rechten Stromufer gegenüberliegenden Bezirk ohne Be- XXI. Der Vertrag. dingung frei. Deutsche durften sich nach der neuen Bestimmung an jedem Platz ausserhalb der Ringmauern niederlassen, der von da in vierundzwanzig Stunden zu erreichen wäre; diese Grenze setzten auch die anderen Verträge den Fremden. Graf Eulenburg verab- redete statt derselben mit den Commissaren bestimmte Linien, welche sie noch etwas weiter hinausschoben und jedem Streit darüber vor- beugten. — Die siamesische Regierung beschränkte überhaupt die Fremden auf dieses Gebiet nur aus Besorgniss, sie in weiterer Ent- fernung von Baṅkok nicht schützen zu können. — Der im preussi- schen Vertrage errungenen Vortheile wurden durch die Clausel der meistbegünstigten Nation auch die anderen Mächte theilhaft. In einer am 23. Januar gehaltenen Conferenz stellte Lega- tionssecretär Pieschel mit den Commissaren die definitive Fassung sämmtlicher Bestimmungen fest. Da nun für Herstellung der siame- sischen Reinschriften ein längerer Zeitraum beansprucht wurde, so beschloss Graf Eulenburg unterdessen einen Ausflug nach Phrabat zu machen. XXII. AUSFLUG NACH PHRABAT . ABREISE AUS SIAM . REISE DER ARKONA NACH SINGAPORE . VOM 30. JANUAR BIS 3. MÄRZ. SCHLUSS. K önig Maha Moṅkut hatte der Gesandtschaft seinen Dampfer Royal Seat, der Bruder des Kalahum, Phaya Muntri Suriwoṅ einen kleineren, den Arrow, zur Verfügung gestellt; auf letzterem, der schneller war, schifften sich der Gesandte, die Attachés Graf Eulenburg und von Bunsen und Maler Berg ein, auf dem Royal Seat Legationssecretär Pieschel , Attaché von Brandt , Dr. Lucius und Dr. von Richthofen . Um neun Uhr Abends fuhr Royal Seat am 30. Januar ab, Arrow zwei Stunden später; die Nacht war herrlich und hell genug, um mit voller Kraft stromauf zu dampfen. Der Fluss spiegelte Tausende von Lichtern wieder; in den schwim- menden Häusern sassen malerische Gruppen bei grellem Lampen- licht, darunter viel bezopfte Chinesen, in die Karten vertieft. — Der Royal Seat fuhr auf ein Floss, kam aber bald wieder los. Als es tagte, lag die Stadt weit hinter uns; beide Ufer waren mit dichtem Walde bedeckt; hier und da grünte ein Reisfeld. Kurz vor der alten Hauptstadt Ayutia , wo Arrow um zehn Uhr Mor- gens ankerte, verengt sich der Strom, ein labyrinthisches Netz mit vielen Armen bildend. Die Ufer sind stark bevölkert, das Wasser mit Booten belebt, doch stehen die Häuser zerstreut; aus dem Uferdickicht ragt altes Gemäuer, und den breitesten Nebenarm füllt eine schwimmende Strasse; die Lage der altberühmten Königsstadt würde aber vom Flusse aus Niemand ahnen. Wir besuchten die Ufer erst auf der Rückfahrt. Bald nach der Ankunft präsentirte sich an Bord des Arrow der vom König vorausgesandte Reisemarschall; nach einiger Zeit erschienen auch Bootsladungen der herrlichsten Früchte und Fische; die versprochenen Hühner und Enten blieben aber aus, bis unser XXII. Flussfahrt. Dolmetsch, Herr Hendrix aus Baṅkok , eine Fahrt durch die schwim- mende Strasse machte und das Geflügel für Geld erstand. Wir hörten erst später, dass die Ortsbehörden, die uns auf königliche Kosten versorgen mussten, den Einwohnern die Lebensmittel ohne Entgelt fortnahmen und dem König dafür grosse Rechnungen machten. Royal Seat, der um zwölf vor Ayutia eintraf, fuhr schon um halb zwei Uhr weiter, Arrow folgte gegen vier. Der enge Flussarm, in den sie einbogen, macht scharfe Wendungen; jeden Augenblick glaubt man anzurennen. Am steilen Lehmufer stehen malerische Bambushütten unter dichtem schattigem Laubdach; hier und da lauscht ein buntes Tempelchen im wuchernden Dickicht. Cocos, Areca, Bananen, Mango, Artocarpus, Ficus, Tamarinden sind die vorstechenden Formen der Uferflora. In stillen Buchten planschten bei sinkender Sonne die Wasservögel, Schaaren weiss- köpfiger Fischweihen schwebten nach Beute spähend über dem Fluss, bunte Eisvögel und schlanke Reiher staffirten malerisch das Ufergezweig; im Wasser lagen Heerden grauer Büffel mit mächtigen Hörnern, nur zuweilen die Nase heraussteckend, träge schnaufend, im behaglichsten Genuss ihres Büffeldaseins. Bald nach sechs zwang der niedrige Wasserstand den Royal Seat, eine Viertelmeile vor seinem Ziel, dem Flecken Tarua , Anker zu werfen. Um ihn einzuholen hätte Arrow gegen drei von Ayutia abfahren müssen, verspätete sich aber wegen der Lebensmittel. Royal Seat war dazu noch zwei Stunden von der Fluth unterstützt, Arrow musste die ganze Zeit mit der Ebbe kämpfen. Um das Mit- tagsmahl mit den Reisegefährten zu theilen, dampfte der Gesandte auf dem Arrow, wo die Küche war, in das Dunkel hinein. Im Zwielicht schnellte vor dem Schiffsbug ein vier Fuss langer Fisch so glücklich aus dem Wasser, dass er auf das Deck fiel, dem Koch willkommene Beute. Fast war es Nacht, als ein dunkeler Gegen- stand dem Arrow entgegentrieb: ein plötzlicher Krach und Hülfe- ruf, — wir hatten ein grosses Reisboot übergefahren, dessen Schiffer schliefen. Das Vordertheil sank sogleich; die Insassen, eine chine- sische Famile, stürzten sich heulend in die Nachen und wurden ge- rettet, nur Planken und Spähne trieben noch auf dem Wasser. Graf Eulenburg liess den Dampfer halten und den Besitzer des Reisbootes an Bord holen, der Gnade erflehend auf den Knieen heranrutschte. Als der Gesandte nach seinem Verlust fragte, schrie IV. 20 Halt vor Tarua . XXII. der königliche Reisemarschall Luaṅ Senna Pagdi , — der bis dahin Betel kauend in seinem dem Arrow angehängten Boote lag, — von Ersatz sei keine Rede; der Chinese möge froh sein, wenn man ihn für die Frechheit, einem königlichen Dampfer in den Weg zu fahren, nicht köpfte. Graf Eulenburg machte dem armen Schiffbrüchigen, der seine ganze Habe verlor, ein namhaftes Geldgeschenk, sagte Herrn Senna Pagdi auf deutsch einige Artigkeiten und liess ihm durch den Dolmetsch mit Beschwerden beim König drohen, wenn er sich unterstände den Chinesen zu strafen. Senna Pagdi schien den Ton dieser Musik zu verstehen und wurde sehr kleinlaut. — Um weiterem Unglück vorzubeugen liess der Gesandte jetzt Anker werfen. Gegen acht am folgenden Morgen gelangte Arrow an die Stelle, wo Royal Seat die Nacht über lag. Tarua , ein grosses Dorf mit vielen Tempeln und Rasthäusern für die Pilger, die Ende Fe- bruar aus ganz Siam nach Phrabat wallfahrten und von hier aus zu Lande reisen, konnten beide Dampfer wegen niedrigen Wassers nicht erreichen; Senna Pagdi fuhr in seinem Boot hinauf, um Pferde und Elephanten zu holen. Das rechte Ufer des Flussarmes, wo die Schiffe anlegten, war mit Buschwerk und Waldstreifen bewachsen. Schlanke Legu- minosen, zu deren Wipfeln sich der feingefiederte Rotang (Calamus Rotang) in dicken Bündeln hinaufrankt, breiten dort den tiefsten Schatten über das spärliche Unterholz, wo es von Vögeln und weissen Eichhörnchen wimmelte. Wir warteten Stunde auf Stunde. Prinz Khroma-luaṅ hatte angeordnet, dass in Tarua zwanzig Ele- phanten zu des Gesandten Verfügung stehen sollten; endlich Nach- mittags kamen deren sieben und vier Büffelkarren. Graf Eulenburg wollte nicht aufbrechen, bis alle seine Begleiter beritten wären, und entschloss sich dazu erst auf ihr dringendes Bitten. Die Karren und vier Elephanten gingen mit dem Gepäck voraus; gegen drei folgten der Gesandte auf einem Elephanten, Herr Pieschel und der Attaché Graf Eulenburg auf dem zweiten, die Herren von Bunsen und Dr. Lucius auf dem dritten. Die Zurückbleibenden schickten den Dolmetsch nach Tarua , der erst gegen fünf mit vier winzigen Gäulen wiederkam; statt der Sättel hatten sie zerrissene Kissen ohne Steigbügel, als Zaum durch das Maul gezogene Stricke. Wir klammerten uns fest und jagten getrieben von Hunger und der sinkenden Sonne drauf los. Zuerst XXII. Ritt durch den Bambuswald. ging es über versengte Grasflächen mit Waldstreifen und Busch- werk; bald überholten wir den Herrn Reisemarschall, der im Büffelkarren ausgestreckt träge seinen Betel kaute. Wir sagten ihm einige Schmeicheleien, die der Dolmetsch treulich übersetzte; denn Senna Pagdi war für die Beförderung verantwortlich, seine Indolenz oder Spitzbüberei brachte uns in die unbehaglichste Lage. Nach halbstündigem Galop überholten wir die Büffelkarren mit dem Gepäck und gelangten in den dichten Bambuswald, der, von aller- lei schönem Gethier bewohnt, von da ungebrochen die Ebene deckt. Ein kleiner Tempel und ein Rasthaus für Pilger standen am Waldsaum. Nach sechs holten wir den Gesandten ein und mussten eine Weile Schritt reiten, denn die Elephanten dulden kein Pferd in ihrer Nähe. Wo der Weg etwas breiter wurde, sprengten wir vorbei, nur der Dolmetsch blieb beim Gesandten. — Nach kurzem Zwielicht wurde es auf dem dicht überwölbten Waldweg so dunkel, dass man den Kopf seines Pferdes nicht sah; aber der Boden schien eben, wir verliessen uns auf gutes Glück und hielten die Thiere in vollstem Athem. Plötzlich sperrte etwas den Weg: mehrere Ele- phanten schnaubten wüthig die Pferde an; wir kamen aber glück- lich vorbei und bald darauf an ein anderes Hemmniss, das wir nur am Knarren der Räder für einen Zug Büffelkarren erkannten. Die Kärrner brüllten siamesisch und wir schalten deutsch; sie wollten nicht ausweichen, wurden aber bedeutet; die Räder knarrten, die Siamesen fluchten, unsere Peitschen knallten, wir streiften einander und sahen doch keine Spur. Dann ging es weiter im gestreckten Galop eine gute Weile, bis der Weg zu holprig wurde; vor dem Verirren schützte die dichte Bambuswand auf beiden Seiten. End- lich lichtete sich der Wald zur Rechten, rother Feuerschein drang durch das Laub: es war Phrabat , unser Reiseziel. Auf verschie- denen Höhen der Felsrippe, die hier jäh aus der Ebene aufsteigt, brannten viele Feuer, die zerstreut liegenden Tempel und Monu- mente grell beleuchtend. Die mit der Dienerschaft und einem Theil des Gepäcks vor- ausgeschickten Elephanten kamen mit uns zugleich an. Wir selbst waren durch den Ritt auf den scharfen Pferderücken, — denn die Kissen gingen gleich verloren, — durch Hunger und Durst ganz erschöpft. — Im Hof des ersten Rasthauses brannte ein grosses Feuer, umringt von Pilgern, nackten Gestalten und unseren hoch- 20* XXII. bepackten Elephanten mit einigen Seesoldaten und dem chinesischen Koch des Gesandten obenauf. — Nun kam der Ortsvorstand mit Fackelträgern, machte Zeichen dass er unterrichtet sei, führte uns nach einem anderen von elenden Baracken umgebenen Hof und in ein stallartiges Gebäude, dessen Fussboden voll Unrath und Steine lag. Dieses Quartier wurde zurückgewiesen; wir suchten uns einst- weilen eine Holzbaracke aus, zu der zerbrochene Leitern hinanführ- ten; da konnte man sich wenigstens auf den Boden strecken. Zu essen gab es nicht, wir waren ohne Dolmetscher hülflos. Gegen neun kam Graf Eulenburg mit den Reisegefährten. Das schmutzige Nachtquartier und der Mangel jeder Vorbereitung waren keine angenehme Ueberraschung, nachdem die Grossen in Baṅkok den glänzendsten Empfang verheissen hatten. Im Hof kauerte ein Haufen zerlumpter Siamesen um das Feuer, »Leute aus dem Walde, Holzhauer«, sagte der Ortsvorstand, »die eben wie der Gesandte hier Aufnahme fänden«. Sie sollten die engen Räume mit uns theilen. Das Haus des Prinzen Khroma-luaṅ bewohnte ein Dutzend schmutziger Bonzen: in jener von uns ausgesuchten Baracke wollte Graf Eulenburg nicht übernachten; unter freiem Himmel auf Koffern und Kasten sitzend harrten wir geduldig des Herrn Senna Pagdi , der bald nach elf Uhr ankam. Die Beschwer- den des Gesandten beantwortete er zuerst mit unverschämtem Lachen, kroch aber, hart angelassen, ganz demüthig zu Kreuze und begann sich zu rühren. Rechts und links wurden die Trabanten angeblasen, der Ortsvorstand gab es seinen Untergebenen weiter, die ganze Schaar kam in Trab. Zunächst wurden die Bonzen aus des Prinzen Hause complimentirt, hinterliessen aber solchen Schmutz und Parfüm, dass wir die Erbschaft nicht antreten mochten. Dann wurde schnell ein besseres Haus eingerichtet, wo der König bei seiner letzten Anwesenheit gewohnt hatte: man belegte den Boden mit reinlichen Matten, hing eine Menge Lampen auf, baute aus Planken und Kasten Tische und Bänke und zündete aussen ringsum grosse Feuer an. — Seit elf Uhr Morgens nüchtern hatten wir dem Ortsvorsteher oder »Governor« wie der Dolmetsch ihn nannte, seine hohe Würde nicht ahnend, zwei Tikal zum Ankauf von Hühnern gegeben. Bald erschien er dann auch mit einer gackernden schwarzen Henne und behielt sie, bald geschäftig herumrennend, bald am Boden hockend und Befehle gebend, die ganze Zeit fest im Arme geklammert; zwei Tikal , fast zwei Thaler sollte sie kosten, wofür man in Siam ein XXII. Phrabat . volles Dutzend Hühner kauft. Erst gegen ein Uhr Nachts wurde das Essen fertig; dann waren aber alle Leiden vergessen. Am nächsten Morgen stürmte es heftig, die Luft war herbst- lich kühl. Auch der Wald sah herbstlich aus, denn in der trocke- nen Zeit verlieren viele Bäume ihr Laub wie bei uns im Winter; fahle Blätter deckten den Boden. Wir verbrachten den Tag mit Spaziergängen und Besichtigung der Tempel, die sich malerisch auf schroffen Marmorklippen erheben. Der vornehmste steht über dem Fusstapfen Buddas, ein kleines quadratisches von einer Pfei- lerstellung umgebenes Gebäude, dessen vergoldetes Dach in eine spitze Spindel ausläuft. Die Wände und Pfeiler sind mit Goldstuck und Glasmosaik bekleidet, das Innere mag kaum funfzehn Fuss Seite haben; der Fusstapfen, eine fast vier Fuss lange Vertiefung im Felsboden, deren Umriss ungefähr einer Fussohle gleicht, ist ganz mit Goldblech ausgekleidet; den Boden decken Matten aus Silberstreifen, die Thürschwellen sind von massivem Silber, die Thürflügel mit glänzenden Metallen und Perlmutter eingelegt. Ueber dem Fusstapfen steht ein Baldachin aus Goldblech mit Edelsteinen und Flitterzierrath. Bei aller der Pracht ist das Tempelchen schmutzig und elend gehalten. Als der heilige Fusstapfen 1602 gefunden oder ausgehöhlt wurde, machte man zugleich die merk- würdige Entdeckung, dass Budda beim Scheiden von der Erde hier aufgetreten sei, um sich mit dem nächsten Schritt auf den Adamspic , dann in den Himmel zu schwingen. Hinter und neben diesem Gebäude liegen andere Tempel über den Felssporn ausgestreut; jede Klippe trägt ein zierliches Pratšedi . Am Fusse des Vorgebirges stehen wie in einem Palmengarten die Klostergebäude, viele Rasthallen für Pilger und die Häuser der Grossen. Von oben gesehen gruppiren sich die goldenen Tempel- dächer und schimmernden Pratšedi auf den bläulichen Klippen zu malerischen Vordergründen; aus den Felsritzen spriessen bunt- blühende Sträucher und Bambusgestrüpp. Höher hinauf deckt lichtes Gehölz die Hänge. Unten streckt sich unabsehbar der Bambuswald, den die Phantasie mit wilden Elephanten, Tigern, Rhinoceros und Crocodilen bevölkert. Angebaute Landstriche giebt es nur längs der Wasserläufe. Ein einsamer Pfad führt am südlichen Fuss des Bergsporns hin zum höheren Gebirgsstock. Auch hier bildet die Hauptmasse des Waldes der bündelartig wachsende Bambus, vermischt mit blü- Elephantenritt. XXII. henden Sträuchern und grossblättrigen Rankengewächsen. Schlanke Teca, Leguminosen, Artocarpeen und Ficus ragen vereinzelt aus dem üppigem Gebüsch der Abhänge empor; im dichten Bambuswald der Ebene treiben Heerden lärmender Meerkatzen ihr neckisches Spiel. Mit anderen verglichen sind diese Waldungen arm an Arten und Formen, dem americanischen Tropenwalde nicht ähnlich. Luaṅ Senna Pagdi , der »Governor« und ihre Untergebenen hatten Staatsgewänder angelegt und tummelten sich den ganzen Tag in unfruchtbarem Diensteifer; wie bei allen despotisch regierten Asiaten konnte auch hier nur herrische Derbheit die Höflichkeit er- zwingen; an die roheste Willkür gewöhnt kennen sie für artige Behandlung kein anderes Motiv als Furcht und Schwäche. — Erfolge der knechtischen Rührigkeit merkte man kaum; den besten Theil des Mittagsmahles bildeten ein Dutzend wilder Tauben, die wir selbst von den Bäumen schossen. Am 3. Februar gingen die Büffelkarren mit dem Gepäck schon um drei Uhr Morgens nach dem Flusse ab; wir selbst bestiegen gegen sieben die Elephanten, deren diesmal vierzehn zur Verfügung stan- den. Sie trugen Sättel mit leichtem Holzgestell, dessen platten ge- räumigen Sitz eine Gitterlehne umgiebt. Vorn sitzen die Reiter, mit den Füssen auf dem Nacken des Thieres, vor ihnen auf dem Kopf der Kornak , ein nackter Siamese, das eine Bein untergeschlagen, das andere am Ohr des Elephanten herabhangend, das er als Auf- munterung häufig damit krabbelt; als Peitsche dient eine spitzige eiserne Hacke mit kurzem Holzstiel. Mit letzterem giebt es Schläge auf den Schädel, wenn das Thier nicht weiter will; soll es stehen bleiben, so wird in der Mitte, soll es rechts oder links gehen, auf der betreffenden Seite der Stirn die eiserne Spitze fest eingesetzt, und der Coloss folgt sofort. Zum Aufsteigen krümmt er einen Vorderfuss als Steigbügel, doch ist es auch dann noch beschwerlich, deshalb stehn überall kleine Gerüste zu diesem Zweck. Manche Sättel haben ein Zeltdach zum Schutz gegen die Sonne. Den Weg nach dem Flusse, über drei deutsche Meilen, gingen die Elephanten in fünftehalb Stunden ohne zu rasten. Der Ritt war ergötzlich. Jeder Elephant trug ausser dem Kornak nur einen Reiter, die riesigen Thiere mochten die Last kaum fühlen. Wie langsam fahrende Dampfwagen schoben sie in gewaltigen Schritten unaufhaltsam vorwärts und traten an schwierigen Stellen sehr vorsichtig; die Bewegung ist sanft und angenehm. Der Rüssel XXII. Ayutia . fuchtelt dabei beständig in der Luft herum und reisst, wo immer möglich, einen Baumzweig oder Grasbüschel ab, um ihn zur Reini- gung tüchtig gegen die Vorderbeine zu schlagen und dann in das Maul zu stecken. Sie knackten mit einem Biss die dickste Cocusnuss, und frassen am liebsten beständig. Hielt der Zug einen Augenblick, so brachen sie gleich einen starken Laubzweig ab, um sich den Bauch und die Seiten zu fächeln, oder nah- men Staub in den Rüssel und bliesen ihn auf ihr Fell. Alles Ungewöhnliche am Wege erregte ihre Neugier: so betasteten alle vierzehn Elephanten unseres Zuges mit langgestrecktem Rüs- sel ein abgegeschnittenes Bambusrohr, ohne den Gang zu unter- brechen. Den Weg, den wir zwei Tage vorher im Dunklen machten, sahen wir erst jetzt, und wunderten uns, dass wir damals zu Pferde nicht die Hälse brachen; da waren Höcker und tiefe Löcher auf Schritt und Tritt. Die Elephanten müssen mit den Rüsseln getastet haben; sie stolperten nicht oder stiessen auch nur an. — Hier und da war der Bambus mit blaublühenden Ranken bedeckt; in weiten Zwischenräumen standen baufällige Rasthallen. Wir begegneten vielen Pilgern; manche trugen Strohhüte in der Form unserer Cylinder, mit breiten goldenen Bändern geziert. Die Dampfer lagen bereit; gegen halb eins fuhr Royal Seat, bald nachhar auch Arrow ab; gegen fünf erreichten wir Ayutia . Abends wurden noch die aus dem Ufergebüsch aufragenden Ruinen untersucht, mehrere verfallene Dagobas , ein Portal und ein Tempel, von dessen Cella nur die Vorderwand und eine der inneren Pfeiler- reihen standen; einige Pfeiler der Vorhalle trugen hübsche Capitäle mit Blattmotiven; das Ganze hatte schöne Verhältnisse. S. Ansichten aus Japan , China und Siam . Bl. 52. Dicht berankt und in wuchernden Tropenwald gebettet, zwischen Palmen, Bambus und dunkelen Laubwipfeln strebt die schlanke Ruine höchst malerisch in den dunkelblauen Himmel; lange kann sie, aus Luft- steinen, Holz und Lehm gebaut, dem Klima kaum noch widerstehen. — Das Portal am Flussufer glich von weitem aufs Haar einem gothischen Spitzbogen; doch waren auch hier die zusammenstossen- den Seiten nicht Kreissegmente, sondern grade, nur nach unten gekrümmte Linien. — Auf den abgebrochenen Spitzen einiger Da- goba ’s hatten sich stattliche Ficus angesiedelt und mit ihren in alle Ritzen dringenden Wurzeln den glockenförmigen Körper wie mit Ayutia . XXII. einem Netz übersponnen, das Mauerwerk zugleich auseinander- treibend und zusammenhaltend. Gewiss liegen im Waldesdickicht noch viele Ruinen zerstreut, das Gestrüpp ist aber undurchdringlich. Ayutia , das die Fran- zosen des 17. Jahrhunderts gewöhnlich » Siam« nennen, war seit seiner Gründung 1350, mit welcher die siamesische Geschichte be- ginnt, bis zur Zerstörung durch die Birmanen 1767 Hauptstadt des Reiches und Mittelpunct der Herrschaft in der glänzendsten Pe- riode seiner Geschichte. Alle seefahrenden Nationen hatten dort ihre Factoreien; der Handel muss im 17. Jahrhundert geblüht haben, wie kaum jemals nachher in diesem Lande. La Loubère , der Siam 1687 als Gesandter Ludwig XIV. besuchte, giebt in seinem Werke den Plan der Stadt, die an einem vom Menam und mehreren Zu- flüssen gebildeten Wassernetz lag. Die Ufer sind hier höher als in Baṅkok und werden wohl kaum beim höchsten Wasserstande über- schwemmt. Die eigentliche Stadt, nach dem Plan zu urtheilen eine von graden Strassen durchschnittene compacte Häusermasse, war von zwei Hauptarmen des Menam umflossen und nur durch eine Brücke mit dem anderen Ufer verbunden. Auf kleineren Inseln und Land- zungen ringsum sind die Niederlassungen oder »Lager« der Chi- nesen, Peguaner, Cochinchinesen, Macassaren, Malayen, Japaner, Portugiesen, die Seminare und Häuser der französischen und portu- giesischen Missionare verzeichnet. Die Hauptinsel soll anderthalb deutsche Meilen im Umkreise haben. Die 40,000 Einwohner, die Ayutia 1862 noch zählen sollte, merkte man nicht; sie müssen weit zerstrent wohnen. König Maha-moṅkut liess damals einen Palast und mehrere Tempel dort bauen. Am 4. Februar holten Luaṅ Senna Pagdi und der zweite Gouverneur von Ayutia den Gesandten zu Besichtigung einiger alten Bauten ab. Der Tempel Wat Džoṅ mit funfzig Fuss hohem vergoldetem Buddabilde war noch gut erhalten; dort opferten grade einige Chinesen unter schrecklicher Musik Glimmkerzen und Silberpapier, klebten auch Stückchen Blattgold an die Bildsäule. Einer nahm ein Paar Holzstäbchen aus dem Wahrsagebecher auf dem Altar und warf sie mehrmals auf die Erde; sie wollten aber nicht in der gewünschten Lage niederfallen, sein Gesicht wurde immer wehmüthiger, und nach kurzem Gebet ging er von dannen. — Ein anderer gut erhaltener Tempel am Fluss heisst Wat Putaï ; gleich unterhalb desselben bogen die Boote in einen engeren Fluss- XXII. Rückkehr nach Baṅkok . arm ein und gelangten nach einer starken Stunde zu dem grossen Phrapraṅ von Wat-pu-kau-toṅ , dem berühmtesten Wunderwerk der alten Residenz. Auf 60 Fuss hohem Unterbau steht eine gegen 120 Fuss hohe Pyramide von reichem Profil mit spindelförmiger vergoldeter Spitze; auf der Plateform des Unterbaues, zu der vier Freitreppen hinansteigen, führt von jeder Seite ein räumiger Gang in das Innere, wo unter hoher Wölbung ein colossaler vergoldeter Budda sitzt. Der ganz aus Marmor gebaute und gut erhaltene Phrapraṅ wurde 1387 gegründet und heisst gewöhnlich der Goldberg . Pallégoix schätzt die ganze Höhe, wohl zu stark, auf 400 Fuss. Bald nach eins kehrten die Reisenden zu ihren Dampfern zurück; Arrow lichtete um halb vier Uhr die Anker und holte gegen sechs den Royal Seat ein, der vorausgefahren war. Viele Boote mit Pilgern und Bonzen gingen stromaufwärts; auf einigen waren auch Frauen und Kinder, anscheinend vornehmen Standes; ihre Ruderer in bunte seidene Jacken gekleidet, vielfarbige Flaggen und Wedel von Pfauenfedern gaben den Booten das festlichste Aussehn. — Wir dampften im Mondschein bis gegen neun Uhr stromabwärts und warfen dann Anker. Am folgenden Morgen gingen die Schiffe, da die Fluth ent- gegentrieb, durch einen schmalen Nebenarm mit hübschen Ufern: Tempel und Hütten lagen auch hier in dichten Wald gebettet und gruppirten sich in endlosem Wechsel zu reizenden Bildern; hier und da wurde ein Blick auf nasse grüne Flächen frei, wo Reiher und Marabu-Störche wateten. Je näher der Hauptstadt, desto dichter sind die Ufer bebaut; Tausende von Booten liessen sich von der Fluth stromaufwärts schieben. Gegen neun Uhr Morgens legten die Dampfer bei dem Gesandtschaftshause an. Vor dem von einem chinesischen Grosshändler bewohnten Nebenhause lag dessen Dampfer Tšau-phya mit der Flagge auf Halbmast: er hatte von Singapore die Trauerkunde vom Ableben Seiner königlichen Hoheit des Prinzen Albert , des Gemahls Ihrer Majestät der Königin Victoria gebracht. Graf Eulenburg liess dem Prinzen Khroma-luaṅ und dem Phra-klaṅ seine Rückkehr melden, erfuhr aber von Ersterem, dass zwar die Abschriften der Verträge fertig, der englische und der siamesi- Unterzeichnung des Vertrages. XXII. sche Text aber noch von zwei Missionaren zu collationiren seien; da nun die Bevollmächtigten zunächst den Leichenfeierlichkeiten für einen Bruder des Königs beiwohnen müssten, der folgende Sonnabend auch kein glücklicher Tag wäre, so wünschte der Prinz die Unterzeichnung noch eine Woche zu verschieben. Der Ge- sandte erklärte dagegen, seine Zeit sei kurz gemessen, und bat um Beschleunigung. Am 6. Februar wohnte der Legationssecretär Pieschel beim Prinzen Khroma-luaṅ der Collationirung der Vertragsexemplare bei und musste die beiden für Siam bestimmten Abschriften dort lassen, da der treffliche Prinz erklärte, dass eine neue Collationirung statt- finden müsse, wenn er dieselben aus den Händen gäbe. Die Unter- zeichnung geschah am folgenden Tage. Morgens um neun Uhr verfügten sich der Legationssecretär und die Attachés in des Prinzen Palast, um die Vorbereitungen zu treffen; der Prinz erwartete sie im offenen Pavillon am Flussufer, — aber die anderen Commis- sare, und noch schlimmer deren Secretäre fehlten, denen nicht nur das Geschäft des Stempelns, sondern auch das Unterschreiben zufiel, weil die Herren das so schön nicht konnten. Erst nach einigen Stunden waren Alle versammelt und die Arbeit kam in Gang; die grossen hölzernen Stempel wurden mit rother Farbe be- strichen und die gegenseitige Stellung der Siegel verabredet. Da aber der Prinz eben noch einen Contract für Salzlieferungen unter- zeichnen musste, so kehrten die preussischen Diplomaten nach Hause zurück, um zu frühstücken. — Nachher fuhr mit dem Ge- sandten auch Herr Bismark zum Prinzen und photographirte zuerst jeden einzelnen Bevollmächtigten, dann eine Gruppe derselben, zu der sich auch Graf Eulenburg setzte; des Verzuges müde, schüt- telte Letzterer ungeduldig mit dem Kopf, und sass auf dem Bilde ganz unkenntlich zwischen den langathmigen Siamesen. Die zwölf Vertragsexemplare erhielten je dreimal Unter- schrift und Siegel jedes Bevollmächtigten, — für den Vertrag, die Handelsbestimmungen und den Tarif, — also im Ganzen 216 Siegel und ebenso viele Unterschriften; ausserdem wurde das königliche Siegel auf die zum Heften gebrauchte Seidenschnur gedrückt. Das dauerte bis drei Uhr Nachmittags. Unterdessen plauderten, kauten und spieen die Siamesen, — Herren und Diener, — nach Herzens- lust. Das letzte Exemplar wurde unter den Klängen des Hohenfried- berger Marsches und eines königlichen Salutes von der Uferbatterie XXII. Der Zweite König. unterzeichnet. Der grosse Phrapraṅ von Wat Džeṅ , Siam’s schön- stes Bauwerk, ragt kaum hundert Schritte von des Prinzen Palast in die Lüfte; gegenüber spiegelten sich die goldenen Giebel und Spitzen von Wat Po und der Palaststadt im prächtigen vielbeleb- ten Strom. Es war ungewöhnlich kühl; die Siamesen zitterten an allen Gliedern, wir selbst mussten wollene Kleider anlegen. Graf Eulenburg theilte den Vertretern der anderen Mächte die neuen Bestimmungen des preussischen Vertrages mit, deren Vortheile sie mittelst der Clausel der meistbegünstigten Nation genossen, und ärntete ihren wärmsten Dank. Der Zweite König, der bis dahin unzugänglich war, liess den Gesandten auf den 12. Februar zu einer Privataudienz be- scheiden: den feierlichen Empfang erlaube seine Gesundheit nicht, das königliche Schreiben solle jedoch mit denselben Ceremonieen abgeholt werden, wie das an den Ersten König gerichtete. Zwei Tage vor der anberaumten Audienz besuchte den Gesandten des Zweiten Königs ältester Sohn, der neben seinem siamesischen den Namen Georges Washington führte, ein junger Mann von freimüthi- gem, doch bescheidenem Auftreten, der etwas englisch sprach. Er wollte am Abend auf einem Dampfer seines Vaters nach der Rhede fahren, um die preussischen Kriegsschiffe zu sehen und Capitän Sundewall zur Theilnahme an der Audienz einzuladen. Graf Eulenburg ersuchte ihn, den Attaché von Brandt mitzunehmen, der auf der Thetis mit den Originalen der Verträge nach Singapore , von da auf dem englischen Postdampfer direct nach der Heimath reisen sollte. Prinz Georges sagte mit sichtlichem Vergnügen zu und holte Abends den Attaché ab, mit welchem sich auch Dr. Maron und der Gärtner Schottmüller auf der Thetis ein- schifften. Am 12. Februar ging die Fregatte unter Segel. — Der Prinz brachte am Abend des 11. Februar den Commodore und zwei Offiziere der Arkona mit zurück; er schien erfreut über den ihm bereiteten Empfang. Am Morgen des 12. Februar erschienen die Staatsboote des Zweiten Königs: das Schreiben Seiner Preussischen Majestät erhielt auf goldener Schale unter dem prächtigen Baldachin des Hauptbootes den Ehrenplatz. Vom Landungsplatz wurden Der Zweite König. XXII. Graf Eulenburg und seine Begleiter auf Tragstühlen durch dichte Volkshaufen nach einer grossen Halle gebracht, wo siame- sische Musikanten eine Fanfare bliesen; unter den zum Empfang dort versammelten Hofbeamten war ein Franzose, der, früher Sergeant in der Armee seines Vaterlandes, Herrn de Montigny , welcher den Vertrag schloss, als Koch und Kammerdiener nach Siam begleitete. Im siamesischen Kriegsdienst fungirte er als Instructeur der Recruten des Zweiten Königs, trieb aber, wie die Consuln erzählten, nebenbei noch immer die edele Kochkunst, indem er gegen ein Honorar von 50 Dollars die Bereitung jedes europäischen Diners zu übernehmen pflegte, das die Könige, die Prinzen oder fremde Kaufleute gaben. Er schien bei Hofe grosses Ansehn zu geniessen und äusserte sich über seine Stellung sehr zufrieden, zugleich aber bescheiden und verständig. Die von ihm instruirten Artilleristen feuerten zu Ehren des königlichen Schrei- bens sehr präcis einen Salut von 21 Schüssen; ein Product seiner Kochkunst wurde eben in der Empfangshalle aufgetragen, als Graf Eulenburg und seine Begleiter — nach längerem Warten — zum Könige beschieden wurden. Das Empfangszimmer des im Umbau begriffenen Palastes war hübsch und behaglich, aber nicht fertig eingerichtet; der Kö- nig machte darüber viele Entschuldigungen. Er trug einen blauen Ueberrock mit goldenen Knöpfen, weissseidene Beinkleider und Pantoffeln von Leder. Das Streben nach europäisch civilisirtem An- strich zeigte sich besonders auffallend darin, dass der König selbst, sein Sohn und mehrere seiner Beamten kein Betel kauten. — Auf reinlich gedeckten Tischchen standen Erfrischungen, Kuchen und Früchte; auch Cigarren wurden angeboten. Nach Ueberreichung des königlichen Schreibens stellte Graf Eulenburg seine Begleiter vor. Der König sprach und verstand viel besser englisch als Maha Moṅkut , verbarg aber unter lebhaften Gebehrden und lautem Lachen ein gewisses Missbehagen; — er soll hypochondrisch und stark dyspeptisch gewesen sein und wusste genau, wie seit zehn Jahren sein Puls ging; Dr. Lucius wurde alsbald in einer anstossenden Veranda consultirt und zu einem Besuch auf den folgenden Tag eingeladen. Die Rathschläge der europäischen Aerzte, die der Kö- nig bei jeder Gelegenheit einzuholen pflegte, blieben aber ganz unwirksam, da doch schliesslich nur die Arzneien der eingebornen Quacksalber in ungeheurer Dosis geschluckt wurden. XXII. Der Zweite König. Zur Unterhaltung zeigte der König dem Gesandten eine Sammlung europäischer Schiessgewehre, deren Construction er sehr genau kannte: eine von der Königin Victoria geschenkte Muskete, eine Büchse vom Kaiser Napoleon , Zündnadel-, Minié- und Lan- caster-Büchsen, Revolver der verschiedensten Art, Lefaucheux- Jagdflinten und andere Gewehre mit ungewöhnlichen Einrichtungen, die er geschickt zu handhaben und zu erklären wusste. Seine Zündnadelbüchse war eine englische Nachahmung der preussischen mit geringen Aenderungen; der König wünschte aber dringend, eine echte preussische zu besitzen, ein Verlangen, dem damals von Seiten des Gesandten und des Commodore nicht entsprochen werden konnte. — Unter dem Usurpator, seinem Halbbruder, der bis 1851 regierte, war der zweite König Inspecteur der Artillerie gewesen und hatte von englischen Ingenieuren, mit denen er die Werke bei Paknam baute, das Englische erlernt. Er besass eine gute Bibliothek, las mit Vorliebe Romane von Dickens und galt als thätig, scharf- sinnig, ritterlich, jedem Fortschritt günstig. Diese Eigenschaften sollen aber die Eifersucht seines älteren Bruders und Lehnsherrn erweckt und keinen Wirkungskreis gefunden haben. Später kam es zu offenem Zwist; der Zweite König versöhnte sich erst auf dem Sterbebett 1865 mit Maha Moṅkut , der ihn gleich nach der Thron- besteigung 1851 zu seiner Würde erhoben hatte. Im Gespräch mit dem Gesandten äusserte der König grosse Lust, die preussischen Schiffe zu sehen, schützte aber Unwohlsein vor; in Wahrheit hielt ihn wohl das peinliche Verhältniss zu sei- nem Bruder zurück. Die Unterhaltung drehte sich lange um die Reisen des Gesandten, um Baṅkok , Phrabat , Ayutia , und wollte kein Ende nehmen. Endlich empfahl sich Graf Eulenburg . — Unten in der Empfangshalle mussten wir zu dem ungeniessbar gewordenen Gabelfrühstück niedersitzen und machten dann einen Gang durch die Gebäude. Der grosse Audienzsaal bot nichts Merkwürdiges; in den Kasernen hingen die geputzten Waffen in guter Ordnung. Die Soldaten des Zweiten Königs, lauter Christen aus der anami- tischen Colonie, hatten in ihrer Wachtstube ein Marienbild; die Uniformirung war holländisch. Prinz Georges zeigte noch einen sehr geschätzten Elephanten mit schwarzem Maul, — Erdelephanten nannten ihn die Siamesen, — zwei Paviane und Marder von heller Farbe und einen gelblichweissen Fisch, lauter vornehme Thiere. Drei schwarze Vögel von der Art und Grösse der Drosseln ahmten Königliches Ballet. XXII. den Ton der menschlichen Stimme nach und sagten sehr deutlich siamesische Worte. — Das waren die Merkwürdigkeiten des Palastes. Als wir uns zu Hause recht ermüdet eben zu Tisch setzten, kam ein Bote des Ersten Königs: der Gesandte möchte bald zur theatralischen Vorstellung im Palast erscheinen, zu welcher er ein- geladen sei. Um halb acht stiegen wir also in die Boote und wurden drüben nach einer grossen von Holzpfeilern getragenen Halle ge- führt. An der einen Seite war die königliche Loge, ihr gegenüber das Orchester; an der dritten bildete ein dunkeler Vorhang den Hintergrund der Bühne; auf der vierten gegenüber stand eine Tri- büne für den preussischen Gesandten. Bei seinem Eintritt gab der König das Zeichen zum Beginnen. Den mythologischen Inhalt der Vorstellung konnten wir trotz allen Erklärungen nicht fassen. Die Handelnden waren theils himm- lische Wesen — Celestials sagte der König, — theils Dämonen, allegorische Masken, Fürsten, Krieger, sämmtlich von Frauen des Harem gespielt. Einige waren herrlich gewachsen; das eng an- schliessende Wamms und der zierlich gefaltete Saroṅ zeigten alle Körperformen. Der Stoff der meisten Anzüge war Gold- oder Silberbrocat mit farbigem Grunde; Juwelenschmuck und schwere goldene Spangen erhöhten ihren Werth, der sich auf etwa 5000 Thaler für jedes Kostüm belaufen sollte. Die guten Wesen im Drama trugen meist spitzzulaufende edelsteinfunkelnde Goldkronen, die bösen phantastische Thier- und Teufelsmasken. Bis zur halben Wade herauf waren die Füsse bei allen nackt. An den Händen trugen die Hauptpersonen sechs Zoll lange Fingerhüte gleich rück- wärtsgebogenen Krallen, die ihren Gebehrden Emphase gaben. Die Geschenke der Laos- und Malayen-Fürsten und freiwillige Gaben vornehmer Siamesen müssen die Kosten des königlichen Theaters bestreiten, wo nicht nur Stücke aus dem indischen Helden- und Götterepos, sondern zuweilen auch Parodieen dieser Sagen gespielt werden sollen. Die Darstellung bildeten mimische Tänze. Auf der Bühne kauerten die weiblichen Souffleure mit aufgeschlagenem Buche; doch bedurften die Tanzenden selten der Leitung. Ein Frauenchor begleitete ihre Action zuweilen mit der Stimme, meist aber nur mit rythmischem Zusammenschlagen von Bambusstäben, während ein zahlreiches Orchester von Holz- und Metall-Harmonikas, Flöten, Schalmeien, Trommeln, Becken und Pauken argen Lärm machte. XXII. Königliches Ballet. Grosse am Boden stehende Wachskerzen und viele Hängelampen erleuchteten die Bühne. Ein von bösen Geistern verfolgtes himmlisches Wesen, das sie durch Talismane auf mancherlei Weise bändigt, schien die Hauptrolle zu spielen. Glanzpuncte des Abends bildeten ein Ring- kampf und ein mit männlicher Kraft ausgeführtes Solo einer hoch- gewachsenen Tänzerin. Manche Gruppirungen waren recht schön. Für uns wäre trotzdem eine halbe Stunde des unfasslichen Spieles genug gewesen; doch hielten wir bis elf Uhr aus und verabschie- deten uns vor Beginn des letzten Actes, des letzten nur für diesen Abend; denn das Stück sollte den ganzen nächsten Tag dauern. Als Graf Eulenburg sich auf besondere Einladung dazu ge- gen elf Uhr Vormittags einstellte, gab der König das Zeichen zum Anfang. Die ersten zwei Stunden dauerten Umzüge der himmlischen und der bösen Geister. Teufelsmasken kämpften gegen eine Schaar Genien mit Affenköpfen. Dann traten — mitten hinein — zwei Da- men in französischen Abendtoiletten auf, grüssten mit rothseidenen Taschentüchern und setzten sich in der Mitte der Bühne auf Stühle. Während dann weiter gespielt wurde, schickte man sich zum Frühstück an, der König mit den Kindern in seiner Loge, die Prinzen und Grossen ringsum auf dem Bauche liegend, die Hauptactricen auf einer aus niedrigen Tischen aufgebauten Estrade, von wo sie, sich trunken stellend, bald herabstiegen, um die franzö- sisch gekleideten Damen mit Zutraulichkeiten zu necken. Auch uns wurde unterdessen ein Frühstück aufgetragen. Nach der Stärkung bekam das Spiel neues Leben; die Mi- men geriethen zuweilen in solchen Affect, dass sie ihren Gebehrden durch heftig ausgestossene Worte Nachdruck gaben. Der König erklärte, dass das bei einem von so vornehmen Damen gespielten Stück nur »incidenter« (incidentally) vorkommen dürfe; nur auf Volksbühnen werde gesprochen und declamirt. Er gab dem Ge- sandten, den er nach seiner Loge beschied, noch allerlei Erklärun- gen, welche die Aussprache seines zahnlosen Mundes unverständ- lich liess, erlaubte ihm auch die Kostüme der Tänzerinnen von nahem zu sehn, wozu eine alte Duenna sehr grimmig blickte. Unter den umherliegenden Fürsten war auch ein König der Laos mit seinem Gefolge: »We give him the title of king,« sagte Maha Moṅkut , »but we institute him.« Ununterbrochen spann das Stück sich weiter; auch Pferde kamen auf die Bühne, europäische Kinder- Abschiedsaudienzen. XXII. wagen ziehend, in welchen die Hauptpersonen eines prächtigen Aufzuges sassen. Für uns blieb es kauderwelsch und wurde mit der Zeit recht langweilig; waren auch einzelne Tänzerinnen ge- wandt, so kehrten doch die eingeschulten Gebehrden immer wie- der; die höchste Leistung scheint in der Kunst zu bestehen, den Unterarm aus dem Elbogen auszurenken und die Finger unnatür- lich gegen das Handgelenk zurückzubiegen. Graf Eulenburg benutzte die Zeit, um dem König eine Münz- sammlung aus allen deutschen Staaten zu überreichen, welche grossen Beifall fand. Der König nannte jetzt auch die Gegen- geschenke, die er für Seine Majestät den König von Preussen be- stimmte. Dem Gesandten verehrte er zum Abschied einen voll- ständigen Apparat, wie er den siamesischen Grossen nachgetragen wird: eine Theekanne, Betelbüchse, grosse Schale und Cigarren- tasche, aus Silber getrieben mit aufgelegten Goldblumen. — Wir schieden mit ermüdeten Sinnen. In den folgenden Tagen erhielt Graf Eulenburg die Ab- schiedsbesuche des Kalahum , der eine Reise in die Provinzen an- trat, und anderer siamesischen Grossen. Der König schickte auch seinen Waffenbewahrer mit sechs kostbaren, überreich mit Juwelen besetzten Schwertern von schöner Arbeit, die zur Industrie-Aus- stellung nach London gehn sollten. — Das Verlangen des Zweiten Königs, preussische Schiesswaffen wenigstens zu sehen, war so gross, dass er einen Dampfer danach auf die Rhede hinaussandte. Nach dessen Rückkehr wurde Capitän Sundewall mit seinem Schwa- ger Baron Bennett sofort zur Audienz eingeladen; der Commodore zeigte und erklärte dem König den Mechanismus des preussischen Zündnadelgewehrs und machte demselben eine ähnlich construirte Büchse zum Geschenk. Am Abend des 14. Februar kam der jüngste Bruder der Könige, um dem Gesandten die für Seine Majestät den König von Preussen bestimmten Geschenke zu zeigen und sich deren englische Namen aufzuschreiben: zwei Jagdspiesse, ein reich gearbeitetes Schwert und ein Visitenkarten-Futteral aus Gold, mit Juwelen be- setzt. — Da Graf Eulenburg leidend war, so mussten die Abschieds- audienzen bis zum 17. Februar verschoben werden. Der Zweite König, welcher den Gesandten Morgens empfing, war diesmal viel unbefangener und zeigte mit sichtlichem Vergnügen einige an der geschenkten Zündnadelbüchse von ihm selbst gemachte Verbesse- XXII. Abschiedsaudienzen. rungen. Er übergab seine für des Königs von Preussen Majestät bestimmten Gaben dem Gesandten und überreichte demselben als Andenken einen getriebenen silbernen mit Gold eingelegten Cigar- renkasten. Den Commodore versprach der Zweite König in den nächsten Tagen auf der Rhede zu besuchen. Nachmittags fuhr Graf Eulenburg zum Ersten König, welcher ihm an der Thür der grossen Audienzhalle entgegenkam, ein dort auf goldener Schale liegendes schwarz gesiegeltes und in schwarzen Stoff gehülltes Schreiben zeigte und in seiner Gegenwart eigen- händig die Adresse darauf schrieb: To His Majesty the King of Prussia . Seiner Majestät Bildniss war in der Audienzhalle auf- gehängt. Der König führte uns dann über viele Treppen und Corridore nach einem im modernsten französischen Geschmack ein- gerichteten Zimmer mit grossen Spiegeln und Möbelbezügen von geblümter Seide, schenkte den üblichen Sherry ein, während die Kinder Cigarren vertheilten, verehrte dem Gesandten ein nach seiner Angabe gearbeitetes goldenes Dintenfass und sprach den dringenden Wunsch aus, dass diese seine Erfindung in Europa all- gemein bekannt werde. — In die Audienzhalle zurückgekehrt, zeigte der König noch den Mechanismus eines fast drei Fuss langen, in einer der Thüren aufgestellten englischen Hinterladegeschützes und feuerte mit eigener Hand mehrere Platzpatronen daraus ab. Unterdessen hatte sich im Hofraum eine prächtige Procession mit Musik und Fahnen aufgestellt. Der siamesische Despot stieg auf einen Altan und setzte die Goldschale mit seinem Brief auf einen Thronsessel, auf dem sie, von einem weissgekleideten Herold gehalten, durch viele Träger in feierlichem Zuge nach dem Lan- dungsplatz gebracht wurde. — Graf Eulenburg verabschiedete sich mit dem Ausdruck des wärmsten Dankes für die ihm bereitete gast- liche Aufnahme. Wir waren etwa eine halbe Stunde zu Hause, als die Boots- processionen mit den Schreiben der beiden Könige eintrafen, welche der Gesandte auf dem Altan seiner Wohnung entgegennahm. Nach kaum zweimonatlichem Aufenthalt in Siam über dessen Einrichtungen und Zustände abzusprechen wäre vermessen; selbst bei längerem Verweilen und Kenntniss der Landessprache muss IV. 21 Politische Einrichtungen. XXII. Klarheit darüber schwer zu gewinnen sein. Alles bis jetzt Publicirte ist nur Stückwerk voll Widersprüche, die vielleicht mehr in den Einrichtungen selbst, als in den Berichten darüber liegen, denn offenbar beruhen die lose geordneten Verhältnisse auf wandelbarem Herkommen, das der Willkür starker Charaktere weicht. Nicht einmal von der Sonderung der Stände und der Stellung der Fürsten zum Volke gewannen wir deutliche Begriffe. Graf Eulenburg fragte bei jeder Gelegenheit den König und die Grossen aus und erhielt ausführliche Antworten; auch von den ansässigen Consuln, Missionaren und Kauflenten erfuhren wir Man- cherlei; aber zu klarer Erkenntniss des Organismus gestalteten sich diese Mittheilungen nicht. Sie mögen trotzdem, wie wir sie empfin- gen und ohne eigene Gewähr, als Beitrag zur Kenntniss des Landes hier wiedergegeben werden. Die Berichte anderer Reisen- den beseitigen keineswegs die Widersprüche, ebensowenig das Werk des Bischofs Pallégoix , aus welchem die meisten geschöpft haben, und das trotz manchen Lücken immer noch als die beste Beschreibung von Siam gelten muss. Die reichhaltigen französischen Werke aus dem 17. Jahrhundert passen nur theilweise auf die heutigen Einrichtungen; die Blütheperiode, welche sie behandeln, erreichte ihr Ende mit der Zerstörung von Ayutia , und das neue siamesische Reich, das Phaya-tak in Baṅkok gründete, ist von jenem älteren wesentlich verschieden. König Maha-moṅkut pflegte in komischen Zorn zu gerathen über geographische Bücher, welche die Verfassung von Siam als absolut monarchisch bezeichnen »I have no power, I am not absolute. If I point the end of my walking- stick at a man, whom, being my enemy, I wish to die, he does not die, but lives on, in spite of my »absolute« will to the contrary. What does Geographies mean? How can I be an absolute monarchy.« S. Mrs. Leonowens . ; und doch war er soweit abso- luter Herr, als nicht die öffentliche Meinung, altes Herkommen, der Einfluss der Bonzen und die materielle Macht der Grossen ihn beschränkten. Ueber der letzteren Stellung findet sich nirgend ge- nügende Auskunft; es scheint ein landbesitzender Adel zu sein, in dessen Familien alle hohen Staatsämter unter königlicher Bestäti- gung erblich sind. Die würdentragenden Häupter dieser Familien bilden wahrscheinlich den grossen Staatsrath oder Senabodi , der vorzüglich bei jedem Thronwechsel mitspricht. König Maha- moṅkut erklärte dem Gesandten in deutlichen Worten, dass thron- XXII. Senabodi . Der Zweite König. berechtigt nur solche Agnaten des Herrscherhauses seien, die auch mütterlicherseits aus königlichem Blute stammten, d. h. die Söhne einer zur Königin-Gemahlin erhobenen Prinzessin des regierenden Hauses; dass aus diesen der Senabodi den König erwähle. Pallé- goix sagt, dass die Primogenitur zwar keinen Anspruch auf den Thron begründe, dass der König aber — nach chinesischer Art — durch Testament einen seiner Söhne zum Nachfolger einsetze. Dazu stimmen aber die Thatsachen der neueren siamesischen Ge- schichte noch weniger als zu des Königs Aussagen; Phra Tšao Prasat Toṅ , der von 1825 bis 1851 regierte, stammte mütter- licherseits nicht aus dem Königshause, wurde auch weder von seinem Vater zum Nachfolger eingesetzt, noch vom Senabodi erwählt, konnte aber gegen dessen Willen seinen Sohn nicht auf den Thron bringen. Daraus wäre zu schliessen, dass ein Usurpator eben so sicher herrscht, wie der legitime Erbe, wenn er die Grossen bezwingt oder zu Freunden hat, und dass der legitime Erbe eben so gut deren Zustimmung braucht, wie der Usurpator. Ueber des Zweiten Königs Stellung weiss man eben so wenig Genaues, als über das Alter und die Bedeutung dieser Würde. Pallégoix behauptet, dass er gewöhnlich den Oberbefehl über die Kriegsheere führt, dass er in Abwesenheit des Ersten Königs von der Hauptstadt regiert, dass dieser ihn in allen wichtigen An- gelegenheiten befragt. Das Alles ist unwahrscheinlich. Die Insti- tution des zweiten Königthums mag bestimmt sein, die despotische Alleinherrschaft zu beschränken, sie bietet den Unzufriedenen stets ein Banner, um das sie sich schaaren können; aber grade deshalb wird der Zweite König nimmer Einfluss neben dem Ersten ge- winnen, und sich hüten müssen, dessen Argwohn zu wecken. Er ist das Schwert des Damokles, das stille droht, doch niemals drein- schlägt. Das war die Lage des Zweiten Königs, den wir sahen, des rechten jüngeren Bruders des Maha-moṅkut , welcher ihn gleich nach seiner Thronbesteigung mit Zustimmung des Senabodi zu dieser Würde erhob. Sein Vorrecht vor allen anderen Unterthanen ist, dass er sich vor dem Herrscher nicht niederwirft, sondern zum Gruss nur die Hände erhebt; er leistet ihm aber, wie alle anderen Grossen, jährlich zweimal den Eid der Treue. Er hat seine Sol- daten und seinen Hof, und bezieht seine Einkünfte aus dem Schatz des Ersten Königs unter dessen Genehmigung. 21* Beamten. Unterthanen. XXII. Aus dem Königsschatz, in den die gesammten Einkünfte des Landes fliessen, beziehen auch die königlichen Prinzen und deren Nachkommen bis zu bestimmten Graden der Verwandtschaft ihr Einkommen; die entfernteren Sprossen treten in den Privatstand und sind auf sich selbst angewiesen. — Sämmtliche Beamten haben vom König ein festes Jahrgehalt, das aber den kleinsten Theil ihres Einkommens ausmacht; die unbemittelten stehlen und die be- mittelten auch; Bestechlichkeit gilt kaum für schimpflich. Eine Hauptquelle des Einkommens ist der Raxakan oder königliche Dienst, dem das ganze Volk unterworfen ist, ausgenommen eingewanderte Chinesen, deren in Siam geborene Kinder dagegen als siamesische Unterthanen gelten. Das ganze Volk scheint in Freie, Clienten und Knechte zu zerfallen. Die Freien schulden dem Könige jährlich drei Monate Frohndienst, wovon sie sich oft durch Bestechung loskaufen. In den entfernteren Landestheilen sind sie statt der Arbeit — neben den anderen Steuern — zu bestimmten Naturallieferungen je nach den Erzeugnissen ihrer Gegend verbunden. Die Clienten zahlen dem König oder den Grossen, in deren Schutz sie stehen, eine bestimmte Geldsteuer und werden nur gelegentlich zu Dienst- leistungen einberufen. Die Prinzen und Grossen verfügen über zehn bis fünfhundert Clientenfamilen, welche nebenbei eine Geld- steuer an den königlichen Schatz zahlen; können sie diese nicht erschwingen, so zahlt ihr Herr bis zu einer bestimmten Summe, für welche sie dann seine Sclaven werden. Ihre Arbeit gilt für die Zinsen der Schuld. Diese Angaben sind eben so lückenhaft, wie die anderen Nachrichten über die Knechtschaft. Sclaven sind zunächst alle Kriegsgefangenen; einen Theil behält der König nach jedem Feldzug im eigenen Dienst, die anderen verschenkt er an die Grossen. Selbst diese Sclaven sollen, mit ihrem Herrn unzufrieden, in den Dienst eines anderen zu treten befugt sein, der einen gesetzlich festgestellten Preis für sie erlegt, gegen ihren Willen aber nicht verkauft werden dürfen. Ueber ihre Kinder sollen sie frei ver- fügen, auch dieselben, wie alle anderen Siamesen, verkaufen dürfen. Die Knechtschaft der verkauften Kinder, meist Mädchen, ist un- lösbar; der Verkäufer kann aber nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie entfliehen. — Die meisten Sclaven sind Schuld- sclaven. Für jedes Alter ist ein Preis bestimmt, um den ein XXII. Königsknechte. Siamese der Knechtschaft verfällt; seine Arbeit gilt für die Zinsen der geschuldeten Summe; der Herr muss ihn nähren, darf ihn gegen seinen Willen nicht verkaufen, muss ihn dagegen freilassen oder auf seinen Antrag einem Anderen abtreten, wenn die ge- schuldete Summe erlegt wird. Die Knechtschaft soll in Siam nicht hart sein, oft hört man rührende Züge der Aufopferung treuer Sclaven für ihre bedrängten Herren. Die einzige Strafe, die vom Herrn über Knechte verhängt werden kann, ist Fesselung; unver- besserliche Uebelthäter überantwortet er den königlichen Gerichten, welche sie mit Zwangsarbeit und schwerem Kerker strafen. Die königlichen Knechte, meist kriegsgefangene Malayen, Co- chinchinesen, Peguaner, Laos, Birmanen, sehen mit grossem Dünkel auf alle anderen herab. Viele dienen als Bootsleute, andere, besonders Cochinchinesen, Peguaner und Laos als Soldaten; das sind die Garden der Könige. Ausser diesen wenigen Truppen — Pallégoix schätzt ihre Zahl wohl zu hoch auf etwa zehntausend — giebt es kein stehendes Heer. Bricht ein Krieg aus, so müssen die Pro- vinzialbeamten ihre Contingente stellen, die aus allen Ständen der Bevölkerung ausgehoben werden. Für Nahrung sorgen die Sol- daten: Sold erhalten sie nicht; ihre Ausrüstung, die in den Zeughäusern von Baṅkok bereit liegt, soll bunt genug sein. Die Armee bewegt sich meist zu Wasser; auf den Landmärschen begleiten sie viele, man sagt bis tausend Elephanten, welche die Geschütze, Munition und Vorräthe tragen und mit wüthiger Tapfer- keit die feindliche Schlachtordnung, ja Pallisaden und Stadtthore einrennen. Die Officiere treiben ihre Truppen meist mit blanker Waffe in den Kampf, für den kein Siamese besondere Neigung haben soll. — Abergläubische Gebräuche begleiten alle Handlungen des Heeres und seiner Führer; z. B. muss der Obergeneral jeden Tag der Woche einen Rock von anderer Farbe tragen. Die Offi- ciere nehmen auch furchterregende Namen an, wie Löwe, Tiger, Drachen. — Die Flotte besteht vorzüglich aus Kanonenbooten — man nennt 500 bis 1000 — verschiedener Grösse, aus etwa 20 europäisch getakelten Kriegsschiffen und einer Anzahl Dampfern. Die in den Schatz des Königs fliessenden Staatseinkünfte bestehen neben den Einfuhr-, Ausfuhr- und Binnenzöllen aus dem Tribut abhängiger Fürsten, den Grund- und Landbau-Steuern, Geldstrafen und den erwähnten Abgaben der Clienten und Freien. — Die malayischen Sultane haben meist nur alle drei Jahre goldene Steuern. XXII. und silberne Bäume und gewisse Mengen Goldstaub zu liefern; die anderen Fürsten zahlen einen jährlichen Tribut in Elfenbein, Teka- Holz, Benzoin, Gummigutti, Kardamom und anderen werthvollen Stoffen. — Der gleichmässig für das ganze Reich geltende Satz der Grundsteuer ist an sich nicht hoch; sie trifft aber den Landmann deshalb hart, weil die Beamten sie zur Erntezeit in Reis erheben, und ihn zu ihrem Vortheil weit unter dem Werth taxiren. Ausser- dem zahlt jeder Frucht- und Nutzbaum im Lande eine bedeutende Abgabe; bei jedem Thronwechsel wird eine Zählung davon veran- staltet, die bis zum nächsten als Norm dient; der Landmann kann bis dahin ohne weitere Belastung so viel neue Bäume pflanzen als er will, muss dagegen auch für die eingehenden zahlen. — Die Geldstrafen aus Prozessen sollen dem König namhafte Summen brin- gen; eine Hauptquelle seines Reichthums ist aber der Handel. An Tribut abhängiger Fürsten und Abgaben der keinen Frohndienst leistenden Unterthanen fliessen jährlich in des Königs Magazin grosse Mengen der kostbarsten Landeserzeugnisse, mit denen er seine Schiffe befrachtet; ausserdem treiben sowohl die Könige als die Grossen einen ausgedehnten Reishandel, der bei günstigen Con- juncturen, besonders bei Misswachs in China reichen Gewinn bringt. — König Maha-moṅkut soll Schätze auf Schätze gehäuft haben und galt für einen der reichsten Erdenbewohner. Aus den in Einzelnem sehr von einander abweichenden Auf- schlüssen, die wir in Baṅkok erhielten, und den Berichten anderer Reisenden über die Rechtspflege ergiebt sich ungefähr Folgendes. Siam besitzt ein ausführliches Gesetzbuch von altem Ursprung, das mit dem Volke herangewachsen, aber nicht mehr in seinen Händen ist. Pallégoix nennt die Gesetze vortrefflich, dem natürlichen Recht wie dem Volkscharakter entsprechend; sie sollen aus den indischen des Manu abgeleitet sein. — Von den dreierlei Gerichtshöfen der Beamten, der Prinzen und des Königs behandeln die beiden ersteren nur unbedeutende Sachen; jeder wichtige Fall kommt vor des Kö- nigs Tribunal. Es giebt einen Justizminister oder Oberrichter, der von allen wichtigen Fällen Kenntniss nimmt, den Verhandlungen aber nicht beiwohnt. Gewöhnlich fällen Einzelrichter den Spruch. Darin stimmen alle Berichte überein, dass die ganze Justiz vom Schergen und Kerkermeister bis zum Grossrichter käuflich ist, dass trotz dem Gesetz, nach welchem jeder Rechtsstreit binnen drei Tagen entschieden sein muss, die Prozesse in die Länge gezogen XXII. Justiz. werden, bis beide Parteien kein Geld zur Bestechung mehr haben, dass schwere zu lebenslänglicher Kerkerhaft und Zwangsarbeit ver- urtheilte Verbrecher oft nach kurzer Zeit gegen Bezahlung der Schliesser entlassen werden, während minder gravirte endlos schmachten. Die Kerker sollen furchtbar sein; eng aneinander geschlossen liegen die Gefangenen dort die Nacht durch in Schmutz und Unrath; bei Tage arbeiten sie ebenfalls gefesselt, oft fünf an einer Kette, an öffentlichen Bauten. Schwere Verbrecher tragen dabei eine furchtbare Kettenlast und das Kaṅgo . — Todesstrafe scheint jetzt nur auf wenige Verbrechen, vorzüglich auf Majestäts- beleidigung und Rebellion zu stehen; die dazu Verurtheilten werden enthauptet oder gespiesst, ausser den Sprossen des Königshauses, die in Säcke genäht und zu Tode geprügelt werden, da das könig- liche Blut nicht vergossen werden darf. — Man erzählt von einer Art heimlichem Gericht, das zweimal wöchentlich in des Königs Gegenwart nächtliche Sitzungen hielte, ohne Verhör und Zeugen seine Opfer foltern und bei nächtlichem Dunkel ertränken liesse; doch ist diese Nachricht keineswegs sicher verbürgt. Schwere Verbrechen sollen in Siam selten sein; man zählte in Baṅkok bei 400,000 Einwohnern jährlich drei bis vier meist von Chinesen verübte Morde. Kleine Diebereien sind häufig; wir hatten oft darunter zu leiden, konnten aber meist durch Drohungen das Gestohlene den Dieben wieder abdringen, welche die Sache sehr leicht nahmen. Der Charakter des Siamesen ist eben leichtfertig, unbedacht, furchtsam, geduldig, sanft und heiter, träge und ver- gnügungssüchtig, allen heftigen Leidenschaften fremd. Sie be- schenken einander gern und geben dem Armen mit vollen Händen. Sie sollen aufgeweckt und zu kunstreichen Arbeiten geschickt sein; da aber der König und die Grossen jeden geschickten Mann sofort in ihre Dienste pressen, so faulenzen diese lieber oder arbeiten nur heimlich. — Jeder Siamese hat nur eine rechtmässige Frau; die Ehe und die Reinheit seiner Töchter ist ihm heilig, strenge Gesetze ahnden selbst jede unberufene Liebkosung. Die Scheidung von Ehegatten soll leicht sein: der Mann oder die Frau geht in ein Kloster. — Die barmherzige Milde der Siamesen, auch gegen Thiere, mag in den buddistischen Lehren wurzeln; sie erschlagen kaum die Mücke, die ihr Blut saugt. Pallégoix’s Gärtner wollte lieber seinen Dienst verlassen, als das Gewürm tödten, das er aus dem Boden grub. Ihre Gastfreundschaft, Achtung vor Betel. XXII. dem Gesetz, der Obrigkeit, dem Alter, und ihre Kindesliebe werden all- gemein gerühmt; Ihresgleichen sollen sie selten belügen, desto häufiger ihre Herren und Vorgesetzten aus Furcht vor Strafe oder Misshandlung. Von den Gebräuchen und Sitten ihres häuslichen Lebens, wie die Siamesen wohnen und schlafen, essen und trinken, giebt Pallégoix anziehende Schilderungen, die nacherzählt jeden Reiz verlören. Eine Gewohnheit, die sicher auf den Volkscharakter wirkt und sich nur in rein buddistischen Ländern findet, ist das Betelkauen. Jeder Siamese führt beständig ein Bündel frischer Blätter des Betel-Pfeffers (Chavica Betel), einige Nüsse der Areca- Palme (Areca Catechu) und ein Döschen mit Kalkbrei bei sich, der aus geriebenen Muscheln bereitet und mit Curcuma roth gefärbt wird. Eine Erbse gross von letzterem streicht der Siamese auf ein Betel-Blatt, rollt es wie eine Cigarre zusammen, beisst davon ab und kaut es mit einem Stück Areca-Nuss. Die Folgen sind schwarze Zähne, aufgeschwollene ziegelrothe Lippen und übermässige Abson- derung ziegelrothen Speichels, den der Kauende beständig um sich wirft. Sie kauen aber den ganzen Tag und sollen in Stumpfheit versinken, wenn sie es unterlassen; daraus dürfte man schliessen, dass die beständige Reizung erschlaffend wirkt. In der That ge- hören wohl die betelkauenden Inder und Singalesen zu den weich- lichsten Völkern, was nicht allein der Enthaltung vom Fleischgenuss und dem Klima zuzuschreiben ist: denn der Japaner isst ebensowenig Fleisch, und anderen Vegetarianern in den Tropen fehlt es keines- wegs an Thatkraft. Aerzte haben behauptet, dass Betel, Areca- Nuss und Kalk dem Organismus die nothwendigen Stoffe zuführen, die wir aus der Fleischnahrung ziehen; aber der Japaner lebt doch auch, wie der Siamese, fast lediglich von Fischen und Reis, und bedarf keines Betels. Wahrscheinlich ist das Bedürfniss des Kör- pers nach Reizung im erschlaffenden Tropenklima grösser, als in gemässigten Zonen; das zeigt sich auch im stärkeren Gebrauche des Tabaks. In Siam rauchen die Knaben vom fünften Jahre an Cigarren von einheimischem Tabak, deren Decke ein Stück Bana- nenblatt bildet. Nach fremdem und dem stärksten Tabak waren unsere Bootsleute so lüstern, dass sie sich gierig auf jeden weg- geworfenen Cigarrenstummel stürzten, nicht aus Bedürftigkeit, denn der einheimische Tabak ist für Jeden erschwinglich, sondern aus Leckerei. — Frauen und Mädchen rauchen meist nicht, aber kauen desto fleissiger Tabak. XXII. Gebräuche. Die meisten Siamesen trinken nur Thee, den die Chinesen importiren, und meiden alle geistigen Getränke; der Genuss des landesüblichen aus Reis gebrannten Arrac soll jedoch Fortschritte machen. Der Opium-Einfuhr wehrte die Regierung lange Zeit ver- gebens und übertrug dann das Monopol einem Chinesen. Nur Chi- nesen ist der Gebrauch erlaubt; trotz der darauf gesetzten Todes- strafe soll er aber auch bei reichen Siamesen einreissen. Alle Familienereignisse sind von abergläubischen Gebräuchen begleitet. Neben jeder gebärenden Frau wird ein Feuer angezündet und mehrere Wochen lang unterhalten; die dadurch erzeugte Hitze muss im tropischen Klima unerträglich sein, oft verbrennen auch Mutter und Kind, und Haus und Hof dazu. Die Mutter nährt ihre Kinder bis zum dritten und vierten Jahre, giebt ihnen aber auch Reis und Bananen; in diesem Alter können die meisten schon schwimmen. Bis zum fünften Jahr wird das ganze Haupthaar rasirt; nachher bleibt auf der Scheitel ein langer Schopf stehen, der in einen festen Knoten geschlungen und mit einer Nadel zu- sammengehalten wird. Bei eintretender Pubertät wird den Knaben wie den Mädchen der Schopf unter grossen Festlichkeiten kurz ge- schnitten; die Bonzen singen dazu ihre Litaneien und waschen dem geschmückten Festkinde den Kopf mit Weihwasser; alle Ver- wandten bringen reiche Gaben; man schmaust, zecht, raucht, kaut Betel, spielt Karten und Würfel den ganzen Tag. — Bei den Grossen dauern die Festlichkeiten mehrere Tage; die Haarbeschnei- dung der Königskinder ist mit feierlichen Processionen, allegorischen Spielen, theatralischen Aufführungen und vielerlei Hocuspocus der Bonzen und Brahminen verbunden. Nach der Haarbeschneidung werden die meisten Knaben einige Jahre in die Klöster geschickt, wo sie den prassenden Bonzen als Ruderer und Aufwärter dienen und dafür im Lesen, Schreiben und den Glaubenslehren unterrichtet werden sollen, aber nur Müssiggang, Schleckerei und Unsitte lernen. »Es ist That- sache, dass von hundert Knaben, die zehn bis zwölf Jahre im Tempel zubrachten, nicht zwanzig lesen und etwa zehn schreiben können, wenn sie diese Teufelsklöster verlassen. Die empfangene Erziehung besteht vorzüglich darin, dass sie Trägheit, Sittenver- derbniss und tausend abgeschmackte Mährchen gelernt haben. Nicht genug, dass sie Diener der Bonzen gewesen sind; die bud- distische Religion fordert auch, dass diese Knaben wenigstens auf Die Bonzen. XXII. einige Zeit selbst als Bonzen eingekleidet werden, um, wie man sagt, ihren Eltern die Schuld der Dankbarkeit abzutragen. Sie schätzen das Verdienst solcher Einkleidung für mächtig genug, um ihre Eltern aus der Hölle zu ziehen, wenn sie dahin gerathen.« Pallégoix . Déscription du Royaume Thai on Siam . I. 126. Selbst die Königssöhne gehen für einige Zeit in das Kloster; der Austritt steht Jedem frei. Pallégoix’s Entrüstung ist sicher gerecht. Selbst uns drängte sich die Ansicht auf, dass bei diesem unver- schämten Gesindel prassender Tagediebe grobe lüsterne Sinnlich- keit und alle schlimmen Leidenschaften wuchern. Viele bleiben nur Bonzen aus Hang zum Müssiggang und um sich den Dienst- leistungen der Hörigkeit zu entziehen; andere wissen sich aus den Opfergaben und dem Ertrage ihrer Andachtsübungen ein kleines Vermögen zusammenzuscharren, treten dann in das bürgerliche Le- ben zurück und heirathen. Die Regel der Bonzen ist in 227 Artikeln niedergelegt, die dem Budda Gotama Der indische Prinz Gotama stiftete die buddistische Lehre. zugeschrieben werden; Pallégoix giebt einen Auszug davon. Folgende Hauptvorschriften gelten auch für die Schüler der Bonzen: von Mittag bis zum folgenden Morgen zu fasten, nicht Blumen bei sich zu haben noch daran zu riechen, nicht auf Polstern zu sitzen, oder auf Stühlen, die höher sind als zwölf Zoll. Geboten sind ferner das tägliche Almosensammeln, das Wohnen im Kloster, das Tragen gelber Gewänder, das Cölibat, Enthaltung von Lüge, Diebstahl und Tödtung von Thieren. Letztere sieben Gebote werden nach Pallégoix dem Bonzen bei seiner Einkleidung vorgelesen. Seine und Dr. Bastian’s Schilde- rungen vom Klosterleben in Baṅkok sind nicht erbaulich. Bei Tagesanbruch erheben sich die Bonzen, läuten die Glocken, nehmen ein Bad und recitiren im Tempel gemeinschaftlich ein Gebet. Dann macht jeder von seinem Schüler gerudert die vorgeschriebene Bettelfahrt. Sie kehren mit gefüllten Töpfen zurück, wählen sich die besten Bissen und geben das Uebrige den Knaben. Dann wird geraucht und geschwatzt; den ganzen Vormittag kommen An- dächtige mit Leckerbissen, besonders für die beliebten Prediger. Um elf Uhr ist die zweite Mahlzeit, die kurz vor Mittag beendet sein muss; dann folgt die lange Siesta. Bis zum Morgen darf wohl Thee, Cocosmilch und dergleichen, aber nichts Festes genossen werden. Oft werden Bonzen in die Häuser der Reichen und Vor- XXII. Die Bonzen. nehmen zum Predigen eingeladen, erwarten dafür aber reiche Ge- schenke; selbst die Grossen bedienen sie in ihren Häusern sehr ehrerbietig. Zur Regenzeit versammeln sich die Bonzen jede Nacht in ihrem Tempel und singen Litaneien zum Lobe des Budda. Eine Zeit lang, etwa drei Wochen jedes Jahr, müssen sie in selbst- gebauten Hütten auf dem Lande zur Busse ihrer Süden nächt- liche Andachten halten, verschlafen dafür aber den Tag in ihrer Klosterzelle. Nur drei Monate im Jahre muss der Bonze in sei- nem Kloster wohnen; die übrige Zeit darf er sich nach Gefallen herumtreiben. Viele reisen von Kloster zu Kloster bis in die fernsten Wälder, theils zum Vergnügen, theils um Pflanzen und Minerale für ihre Elixire und alchymistischen Zaubereien zu suchen. Man unterscheidet königliche Klöster und solche die von Privatleuten gestiftet sind; jedes hat seinen Vorsteher oder Abt. Viele Wittwen und andere Frauen, die kein Unterkommen haben, widmen sich dem Klosterdienst; für gröbere Arbeit haben die königlichen Klöster auch Sclaven. Der König ernennt den Ober- bonzen, der über sämmtliche Aebte gesetzt ist, und verleiht einem königlichen Prinzen die Jurisdiction über alle Klöster des Landes; nur Dieser darf durch eigene Häscher die Bonzen verhaften lassen, des gelben Gewandes berauben und nach des Gesetzes Strenge be- strafen. Vor seinem Tode legt der Bonze das Priesterkleid ab, darin zu sterben gilt für ein grobes Verbrechen. Viele Klöster in Baṅkok haben kostbare Bibliotheken; auch soll es gelehrte und fromme Mönche geben, die theologische, histo- rische, sprachliche Studien treiben und ein sittliches Leben führen, — doch nicht allzuviele. Die Mädchen lernen nur kochen, selbst Nähen wäre bei der üblichen Landestracht eine brodlose Kunst. Ein grosser Theil der Feld- und Gartenarbeit fällt den Weibern schon dadurch zu, dass die Männer oft Monate lang Frohndienste leisten. In der ärmeren Classe werden die Mädchen meist ihren Bewerbern für eine Geld- summe verkauft, können aber trotzdem deren rechtmässige Gattinnen werden; doch hat der Mann das Recht, auch diese, wenn sie Schulden macht, zu verkaufen. Nur solche Frauen, die eine Mit- gift brachten, dürfen nicht verkauft werden. Die väterliche Gewalt ist fast unumschränkt; Eltern können ihre Kinder in Fesseln legen und nach Gefallen in unlösbare Knechtschaft verkaufen. Heirathen. Sterbegebräuche. XXII. Die meisten Mädchen werden im Alter von funfzehn Jahren verheirathet; warten die Eltern auf bessere Preise hoffend länger, so geht die Tochter gewöhnlich durch, kommt nach einigen Wochen mit ihrem Liebsten wieder und bittet unter dem Beistande von Verwandten in vorgeschriebener Form um Verzeihung, worauf die Eltern sich mit dem Schwiegersohn abfinden und die Hochzeit be- reiten. Erfolgt die Einigung nicht, so segnet die Behörde den Ehe- bund. — Bei der Hochzeit, die bei den Reicheren mit feierlichen Bootsprocessionen, dramatischen Aufführungen, Musik und allerlei Spielen gefeiert wird, scheinen die Bonzen keine anderen Verrich- tungen zu haben, als den Gesang von Litaneien und die Einsegnung des Ehebettes. Die Bonzen besprengen das Ehebett mit Weihwasser und umwinden es 77 Mal mit Fäden ungesponnener Baumwolle, deren Enden sie bei Recitirung der Segensformeln in den Händen halten. Die Zahlung des Kaufpreises — oder der Mitgift — scheint der die Ehe begründende Act zu sein. Die Grossen haben viele Nebenweiber, aber nur die Kinder der ersten rechtmässigen Frau sind erbberechtigt. — Bei Scheidungen, zu denen das Gericht den Ehegatten auf der Frau Verlangen zwingen kann, wird die Mitgift zurückgegeben. Das älteste, dritte und alle Kinder un- grader Zahl folgen der Mutter, die anderen dem Vater. — Die meisten Ehen sollen glücklich sein; die Frau wird mit Achtung be- handelt, hat gebührenden Einfluss auf alle häuslichen Angelegen- heiten und bewegt sich auch ausserhalb des Hauses mit voller Freiheit. Wenn es zum Sterben geht, lässt der Siamese die Bonzen kommen, die ihn unter Gebeten mit Weihwasser besprengen und im letzten Augenblick dem Sterbenden beständig das Wort Arahaṅ — Sei frei von Begehrlichkeit — in die Ohren rufen; das soll der scheidenden Seele Glück auf die Reise bringen. Dann bricht die ganze Familie in Wehklagen aus. Die Leiche wird gewaschen, in ein weisses Tuch gehüllt und in den mit Goldpapier beklebten Sarg gelegt, über den man wo möglich einen Baldachin mit Papierspitzen, Blumenguirlanden und Goldflitter baut. Nicht durch die Thür, sondern durch ein in die Wand gebrochenes Loch wird die Leiche, die Füsse voran, heraus und dann dreimal in schnellem Lauf um das Haus getragen, damit sie den Eingang vergesse und keinen Spuk treibe. — Nach Pallégoix würde nur das Fleisch Derjenigen, die es ausdrücklich verlangen, den Geiern vorgeworfen. XXII. Aberglauben. Wahrsagen. Viele Siamesen sollen ein hohes Alter erreichen. Bei Krank- heiten, die meist Dämonen zur Last gelegt werden, kommen mehr Zauberformeln in Anwendung als Arzneimittel; oft sieht man auf dem Menam niedlich aufgeputzte mit Leckereien und Blumen ge- füllte Kästchen heruntertreiben, in welche die Angehörigen eines Kranken den Kobold unter allerlei höflichen Beschwörungen com- plimentirt haben, in der Hoffnung, er werde den Rückweg ver- gessen. — Die Ueberfülle des Aberglaubens in Siam ist wohl theils im Volkscharakter, theils im Zusammenfluss so vieler verschiedener Stämme begründet. Die indischen Brahminen, die Malayen, Chine- sen und die Nachbarvölker der hinterindischen Halbinsel haben jedes ihre eigenen Mährchen mitgebracht, die in der Phantasiewelt des entarteten Buddismus üppig fortwuchern und von den Bonzen schlau benutzt werden. Die Hofastrologen und königlichen Wahr- sager scheinen jene Brahminen zu sein, die beim Palaste des Ersten Königs ihren Tempel haben; sie fungiren bei der Krönung und anderen wichtigen Ceremonieen und werden in jeder wichtigen An- gelegenheit befragt, sollen aber zuweilen auch Schläge bekommen, wenn sie falsch gerathen haben. — Das Volk befragt die Bonzen und Zauberer bei Krankheiten, Diebstählen und anderen Verlusten, beim Glücksspiel und jeder Gelegenheit; für Hochzeit, Haarbeschnei- dung und Reisen müssen sie die glücklichen Tage, beim Hausbau die beste Richtung für Thür und Fenster erforschen. Die Zahl der Zim- mer, Oeffnungen und Treppenstufen muss immer ungrade sein; Teka- Stämme, das beste Bauholz, dürfen nicht zu Pfosten verwendet wer- den. Man glaubt an Zaubermittel, die ganze Familien in Erstarrung bannen und den Dieben leichtes Spiel geben, an Liebestränke, Mittel zu Unverwundbarkeit und jeden erdenklichen Unsinn. Bei Ueberschwem- mungen werden grosse Processionen auf dem Flusse veranstaltet, den die Bonzen unter heftigen Beschwörungen zu bannen suchen; die Cho- lera mussten einst Bonzen auf Befehl des Königs den Fluss hinab in das Meer hinausjagen, was die meisten mit dem Leben gebüsst haben sollen. Nach altem Brauch wurden beim Bau von Stadt- und Festungsthoren Sclaven geopfert Pallégoix hat davon in Briefen der Jesuiten und in den siamesischen Annalen gelesen, will aber die Wahrheit nicht verbürgen. — Mrs. Leonowens erzählt, dass König Maha-moṅkut beim Bau eines Thores drei Männer habe aufgreifen und ent- haupten lassen, nachdem er sie bei glänzendem Gastmahl ermahnt hätte, als Schutz- engel das Thor treulich zu hüten und jede drohende Gefahr zu melden. — Man darf trotzdem daran zweifeln, dass dieser blutige Gebrauch noch heut im Schwange ist. , ebenso beim Vergraben von Schatzgraben. Spiele. XXII. Schätzen, damit sie als Schutzgeister darüber wachten. Noch heut wird in Siam viel nach Schätzen gegraben, besonders in Ayutia mit vielem Erfolge. Der Schatzgräber opfert Abends auf dem Fleck, wo er graben will, dem Schutzgeist Blumen, Kerzen und Reis und legt sich dort schlafen; dann erscheint ihm der Schutzgeist im Traum und verlangt einen Schweinskopf und einige Flaschen Arrac für Hebung des Schatzes, oder jagt ihn mit geschwungener Keule fort. — Mit Aufzählung ähnlicher Gebräuche liessen sich Bände füllen; sie spielen auch bei den jährlichen Festen der Siamesen, die von Pallégoix und Dr. Bastian beschrieben werden, die grösste Rolle. Die dabei üblichen Spiele sind Ringen und Boxen — auch von Weibern. — Discuswerfen, Wettläufe zu Fuss, zu Pferde und zu Wagen. Das Federballspiel, wobei, wie in China , der Ball mit den Füssen geschlagen wird, ist eine Lieblingsbelustigung der Siamesen. Ein Ballspiel der Vornehmen zu Pferde, bei welchem auf abgegrenztem Raume die Partheien ihre Bälle mit Hämmern in bestimmte Löcher treiben und die der Gegner abwehren, gleicht demjenigen, das wir in Japan sahen. Der Zweite König soll darin Meister gewesen sein. — Auch Drachenfliegen ist in Siam , wie in Japan , ein Lieblingsspiel der Erwachsenen, besonders zur Zeit des Südwindes. Sie haben ferner das chinesische Schach-, Trictrac- und Kartenspiele, und würfeln mit Leidenschaft. Reiche Chinesen haben vom König das Monopol einer Geldlotterie erkauft, an der sich viele Siamesen zu Grunde richten sollen. Die Chinesen, die jährlich zu Tausenden einwandern, saugen offenbar am Mark des Landes; wie jene Lotterie, so haben sie auch das Opiumrauchen und andere Missbräuche eingeführt. In der Periode, welche der Freigebung des Handels vorausging, hatten sie Monopole auf alle wichtigen Artikel gepachtet, die der englische Vertrag 1855 beseitigte; aber auch jetzt noch ist der grösste Theil des siamesischen Handels in Händen der Chinesen. Tausende schleppen ein Vermögen nach der Heimath; andere, vorzüglich Pflanzer, bleiben im Lande und heirathen Siamesinnen. Nach Pallé- goix wüchse Siam ’s Bevölkerung nur durch Zuzug von Chinesen; die Knechtschaft hindere zu viele Siamesen am Heirathen, als dass das Volk sich mehren könnte. — Im Gegensatz zu den Chinesen bilden die Siamesen die arbeitende, landbauende Bevölkerung und erwerben keine Schätze; Dürftigkeit ist dagegen selten, wie in allen Tropenländern, wo die Natur so verschwenderisch waltet. XXII. Verhältniss zu China . Ihre Kinder erziehen und kleiden selbst die angesiedelten Söhne der blumigen Mitte chinesisch; sie haben auch ihre eigenen Tempel und bauen sich vielfach chinesische Häuser. Chinesische Ladenschilde tragen ganze Reihen schwimmender Häuser. Fast im ganzen Reiche sind die bezopften Eindringlinge verbreitet, zu Zeiten erhoben sie sich schon gegen die Staatsgewalt; so 1847, als die Kessel ihrer Zuckerraffinerieen besteuert werden sollten. Der Auf- stand wurde gewaltsam unterdrückt; doch könnte ihr Reichthum, festes Zusammenhalten und Gemeinsinn leicht einmal den siame- sischen Thron gefährden. Einzelnen reichen Chinesen haben die Könige schon Adelstitel verliehen. Ueber Siam ’s früheres Verhältniss zu China giebt Sir John Bowring historische Notizen aus chinesischen Quellen; danach wäre es im vierten Jahrhundert n. Chr. zuerst in den Annalen erwähnt. Das heutige siamesische Reich wurde erst 1350, fast gleichzeitig mit der chinesischen Miṅ -Dynastie gegründet, die häufig, seit 1376 jährlich Tributgesandtschaften aus Ayutia empfing. 1382 erhielten die siamesischen Gesandten vom Himmelssohn einen Staatspass, der 1492 erneut wurde, »weil die Würmer den alten frassen«. Chine- sische Maasse und Gewichte erbat sich der König von Siam schon gegen Ende des 14. Jahrhunderts. Das Verhältniss blieb ein freund- schaftlich schützendes des mächtigen gegen den kleineren Fürsten; die siamesischen Herrscher suchten beständig des Himmelssohnes Gunst und ahmten dessen Hofsitten nach, erhielten auch von den Miṅ -Herrschern zuweilen Gegengeschenke für ihre kostbaren Sen- dungen. — Während der Wirren, welche dem Sturze der Miṅ vorangingen, und bis zum zehnten Jahre des Šun-tši kam keine siamesische Gesandtschaft nach China ; dann aber, und besonders seit Beginn des 18. Jahrhunderts wurde der Verkehr recht lebhaft. 1722 durfte zum ersten Mal siamesischer Reis zollfrei nach China eingeführt werden, um dieselbe Zeit begann die chinesische Ein- wanderung nach Siam ; 1744 erlaubte ein kaiserliches Decret aus- drücklich den Chinesen, in Siam Schiffe zu bauen. Den grossen Kien-loṅ sollen die siamesischen Könige viele Jahre lang verge- bens mit Anliegen um den Verkauf von Kupfer, Ginseng, Yaks, um chinesische Staatskleider und der Hofceremonieen kundige Eunuchen bestürmt haben; nur einmal wurde Kupfer, einmal Ginseng ge- schickt. Die von Bowring gegebenen Nachrichten von der Investi- tur eines siamesischen Königs durch den Hof von Pe-kiṅ 1786 Der Königshof. XXII. sind dunkel und mit sicheren Daten der siamesischen Geschichte kaum vereinbar. — Zu Anfang dieses Jahrhunderts scheinen die regelmässigen Gesandtschaften aufgehört zu haben; gelegentlich gehn noch jetzt siamesische Königsboten mit reichen Gaben nach Pe-kiṅ und müssen natürlich vor dem Kaiser das Ko-to vollziehen; ein Verhältniss wirklicher Abhängigkeit scheint trotzdem niemals bestanden zu haben, sondern nur die Unterthänigkeit des geringeren Mannes gegen den vornehmeren. Eine Engländerin, Mrs. Leonowens , die gleich nach unserer Abreise als Gouvernante der Königskinder in den Dienst des alten Maha-moṅkut trat und trotz aller Schwierigkeiten mehrere Jahre darin ausharrte, ist tiefer in die Geheimnisse des Palastes gedrun- gen, als irgend ein Fremder. Ihre Mittheilungen tragen ungeachtet mancher Schwankungen des Urtheils durchaus den Stempel der Treue, und ergänzen die Anschauungen, die sich uns aufdrängten, zu einem so deutlichen Bilde, dass sie kaum davon zu trennen sind. So möge denn hier unter Benutzung dieser ergiebigen Quelle über den siamesichen Königshof Einiges nachgetragen werden, das im Bericht unserer Erlebnisse keinen Platz fand. Der Gelehrsamkeit und des reformatorischen Strebens des Kö- nigs wurde schon früher gedacht; er erwarb sich während seiner Priesterschaft die eingehendste Kenntniss der in Sanskrit und Pali geschriebenen heiligen Bücher der Brahminen und Buddisten, com- pilirte aus letzteren eine Liturgie für den Tempeldienst und schrieb eine Abhandlung, die auf den Beweis ausgehen soll, dass Befreiung von allen selbstsüchtigen und fleischlichen Leidenschaften das hohe Ziel des Buddismus sei. Er gründete eine neue Theologenschule, die den Buddismus von allen Zuthaten des Aberglaubens zu befreien und auf seinen ethischen Grundlagen eine keineswegs atheistische Glaubenslehre aufzubauen strebte. Der König glaubte an das Ge- setz der Vergeltung, Seelenwanderung, ein endliches Niphan oder Nirwana , mit dem er den Begriff der Seligkeit verband, wider- strebte, wie er sich ausdrückt, »nur dem Begriff von Gott als ewig wirkendem Schöpfer, nicht demjenigen einer Göttlichkeit als erstem Urquell, aus deren Gedanken und Willen alle Formen des Bestehen- den flossen«, und kämpfte vor Allem gegen den Glauben an wunder- XXII. König Maha-moṅkut . thätige Einwirkung auf die Gesetze der Natur. Ueber die Klarheit und Berechtigung dieser Anschauungen soll hier nicht abgesprochen werden; sie zeugen wenigstens von selbstständigem Denken und Streben nach Wahrheit. — Maha-moṅkut schätzte die ethischen Grundlagen des Christenthumes, verlachte aber die historischen, und erwiederte einst in komischem Eifer einem americanischen Missionar, der ihn bekehren wollte: »I hate the bible mostly.« — Einem anderen sagte er: »Ihr dürft nicht glauben, dass Einer von uns jemals Christ wird, denn wir können keine Religion annehmen, die wir für albern halten.« Die göttliche Natur Christi, das gött- liche Wunder der Empfängniss, durch welches das alle Formen des animalischen und vegetabilischen Lebens durchdringende Ge- setz der Zeugung als unheilig gebrandmarkt werde, waren ihm Gräuel. Viel grösser als der christliche Gott-Heiland schien ihm Budda, weil er aus menschlicher Kraft im eigenen Her- zen nach der reinsten Menschlichkeit strebte, die nur eine Form der Göttlichkeit sei; weil er durch fromme Betrachtung die menschlichen Leidenschaften überwunden und göttliche Weisheit erlangt habe. Auf des Königs Charakter scheinen seine Ueberzeugungen wenig Einfluss geübt zu haben; Mrs. Leonowens schildert ihn als launischen, selbstsüchtigen Tyrannen, der an reine Gesinnung nicht glaubte, jeden Menschen für käuflich hielt und seine Zwecke auf jede Weise zu erreichen suchte. Tugend und Ehrlichkeit seien Chimären, die Richtschnur des reinen Bewusstseins verfolge kein Mensch, Geld sei das einzige Streben; das waren die ausgesproche- nen Ansichten des von kriechenden Sclaven umgebenen Despoten, auf dessen Schätze Tausende speculirten. Mrs. Leonowens gesteht aber, dass er gegen Leute, die ihm Achtung einflössten, redlicher war als seine Grundsätze, dass er oft in wichtigen Fällen die Tiefe des Verstandes, Klarheit des Urtheils und den echten Edelmuth practisch bewies, die seine ethischen Theorieen bedingten. Seine Kinder, — Mrs. Leonowens , die, wie gesagt, kurz nach unserer Abreise kam, fand schon siebenundsechzig vor, — behandelte der König beständig mit der äussersten Zärtlichkeit, und spielte mit ihnen, als ob er selbst eines wäre. Die älteste legitime Prinzessin, ein auffallend schönes Mädchen mit sanften träumerischen Augen war sein auserwählter Liebling; als sie im Mai 1863 wenig über acht Jahre alt an der Cholera starb, schrieb der König an Graf IV. 22 König Maha-moṅkut . XXII. Eulenburg , der sie besonders lieb gewonnen hatte, einen rührenden Brief über ihren kurzen Lebenslauf. Leidenschaftlicher Jähzorn scheint nur allzuoft die besseren Gefühle des Königs übermannt zu haben; die Frauen seines Harem mussten vorzüglich darunter leiden. Ihre Zahl belief sich auf mehrere Hunderte. Jede, auch die vornehmste Familie des Landes und der abhängigen Nachbarstämme rechnet es sich zur höchsten Ehre, ihre Töchter in des Königs Harem aufgenommen zu sehen; Maha-moṅkut hatte ausserdem Heiraths-Agenten in verschiedenen Städten von China und Bengalen , die ihn reichlich versahen; sein sehnlichster Wunsch war aber, eine Engländerin von guter Familie zu besitzen; er soll dafür grosse Schätze geboten haben, erhielt auch von seinen Agenten viele Photographieen und wurde um nam- hafte Summen geprellt; die Originale trafen aber niemals ein. Da- gegen wünschten, nach Aeusserungen der englischen Gouvernante, die ihre Briefe und Photographieen sah, etwa zwanzig Französinnen in das Harem einzutreten, wurden aber abgewiesen, da der König gallosiamesische Erben fürchtete. Das tägliche Leben der Harem-Damen und ihrer zahlreichen Dienerinnen soll ganz vergnüglich sein; sie haben schöne Gärten, wo sie mit ihren Kindern lustwandeln, Blumen pflücken, Kränze winden, die Vögel in den Volièren füttern, musiciren, tanzen und baden; sie lassen sich von Sclavinnen vorlesen, spielen Schach, Trictrac, Würfel und Karten, oft, wie es scheint, um hohe Summen. Die Kinder haben, wie bei uns, das mannigfaltigste Spielzeug, und vollziehen z. B. an ihren Puppen mit grossem Ernst die Ceremonie der Haarbeschneidung. Der Fluch des Harem war des Königs despotische Laune, vor deren vernichtendem Wink man beständig zitterte. Mrs. Leo- nowens erlebte, dass er die Tochter eines peguanischen Fürsten und andere Frauen aus geringem Anlass in Gegenwart ihrer Kinder von den Amazonen peitschen, dann in finstere Kerker werfen liess. Solche Wuthausbrüche wurden nicht etwa durch den Verdacht der Untreue, sondern durch Vergehen wie hohes Spiel, oft auch durch unschuldige Bitten hervorgerufen, die des Königs Laune verletzten. — Unter sich und mit ihren älteren Aufseherinnen und Ehrendamen sollen die Frauen in schwesterlicher Eintracht gelebt haben. Nicht nur von den königlichen Frauen, sondern auch von deren Dienerinnen wird die strengste Keuschheit verlangt; auf jeden XXII. König Maha-moṅkut . Fehltritt steht selbst bei letzteren der Tod. Sir Robert Schomburgk äusserte sich einst bei einem Aufzuge gegen einen vornehmen Siamesen beifällig über die Art, wie eine junge Hofdame zu Pferde sass. Wenige Wochen darauf erhielt er eine Zuschrift von unbe- kannter Hand: er möge beim König für jenes Mädchen interce- diren, um ihr Leben zu retten. Sie hatte, in eine Hofintrigue ver- wickelt, wiederholt mit einem verheiratheten Manne geheime Be- sprechungen; eines Tages wurde ein Zettel bei ihr gefunden, in welchem Jener sie zu einer Zusammenkunft bestellte. Das zum Tode verurtheilte Mädchen begnadigte der König zwar zu einer Gefängnissstrafe; ihr Mitschuldiger aber und sogar dessen Frau wurden enthauptet. Der Beifall der Fremden war dem König Bedürfniss; er las jede in Singapore erscheinende Zeitung, schrieb, wenn er darin ge- tadelt wurde, geharnischte Antworten und liess sie sofort im Pa- laste drucken. Sein heissester Wunsch war Beherrschung des Englischen; er lernte den ganzen Webster auswendig, ohne doch den Geist der Sprache zu erfassen. Oft liess er mitten in der Nacht den englischen Consul oder einen der Missionare wecken und in höchster Eile zu sich bescheiden, um über diesen und jenen eng- lischen Ausdruck zu fragen, welcher vorzuziehen wäre; entschied sich der Gefragte für den einfacheren oder tadelte den geschraubten, so entliess ihn der König mit verächtlichem Mitleid. Der Ruhm der Gelehrsamkeit und geistigen Verfeinerung ging ihm über Alles; in seiner eigenen Sprache, dem Pali, Sanskrit und ihrer Literatur soll er umfassende Kenntnisse gehabt haben; die englische Ortho- graphie asiatischer Namen reizte ihn zum höchsten Zorn. — In anderen Disciplinen scheint er eine Art Vielwisser gewesen zu sein. Früh um fünf Uhr pflegte der König aufzustehn und ein leichtes Frühstück zu nehmen, das die Damen der Nachtwache ihm auftrugen. Dann stieg er mit seinen Schwestern und älteren Kin- dern in eine Halle hinab, von wo ein langer mattenbelegter Gang bis zu einem der Palastthore führte. Am Ende der Matte setzte sich der König; zunächst zu seiner Linken sassen die älteren Kin- der, dann die Schwestern des Königs, die Frauen des Harem, deren Hofdamen und Dienerinnen, jede mit einer silbernen Schüssel voll gekochtem Reis, Früchten, Kuchen, auch frischen Betelblättern und Cigarren vor sich. Nun öffnete sich das »Thor des Verdienstes«, die Amazonengarde marschirte herein und bildete Spalier, durch 22* König Maha-moṅkut . XXII. das in langem Zuge 199 Bonzen, escortirt von keulentragenden Eunuchen des Harem nahten. Die Bonzen sangen: »Nimm dein Mahl, doch sieh, es ist Staub. Iss um zu leben, dich kennen zu lernen, was du hier unten bist. Und sprich stets zu dir selbst: Erde ist, was ich esse, damit ich der Erde neues Leben gebe.« Dann traten sie alle der Reihe nach vor den König, seine Kinder, Schwestern und Frauen, und empfingen deren Gaben in ein eisernes Becken, das jeder Bonze an einer Schnur um den Hals hängend unter dem Gewande tragen muss. Nachdem sie durch das »Thor der Erde« abgezogen, verfügte der König sich mit der Familie in den »zum Gedächtniss der Mutter« von ihm gebauten Privattempel, stieg allein die Altarstufen hinan, läutete die Glocke, zündete die Kerzen an, opferte weissen Lotus und Rosen, und brachte eine Stunde mit Gebeten und Vorlesen aus den heiligen Büchern zu. Dann legte er sich wieder zur Ruhe, bewacht von einer neuen Schaar Frauen; diejenigen der letzten Nachtwache kamen erst nach vierzehn Tagen wieder an die Reihe, wenn sie nicht vorher aus- drücklich befohlen wurden. Auf die Morgensiesta folgten einige Stunden Arbeit, besonders Abfassung englischer Briefe, darauf ge- gen zwölf das Frühstück: der König sass dabei an einem langen Tisch, neben dem zwölf Frauen des Harem, jede mit einer silbernen Schüssel standen, welche sie nach einander der ersten in der Reihe hinreichten. Diese nahm den silbernen Deckel ab, kostete und prä- sentirte, auf den Knieen heranrutschend, dem König die verschie- denen Suppen, Fleischsorten, Geflügel, Wild, Fische, Kuchen, Ge- lées, Früchte; Thee und Reis sind die obligaten Zuthaten jeder siamesischen Mahlzeit. — Um zwei Uhr badete und salbte sich der König mit Hülfe seiner Frauen; nachher pflegte er eine Weile mit seinen Kindern und Lieblingsfrauen zu scherzen, dann in der Audienzhalle die Grossen zu empfangen und Staatsgeschäfte zu er- ledigen. Nachmittags folgte die Hauptmahlzeit und Abends ein leichtes Souper; um neun zog der König sich in seine Gemächer zurück. Dass er aus Besorgniss vor mörderischen Anschlägen jede Nacht in einem andern Zimmer geschlafen habe, ist wohl eine Er- findung; Mrs. Leonowens , die es gewiss erzählen würde, scheint nichts davon zu wissen. In seinen letzten Jahren soll Maha-moṅkut immer arg- wöhnischer und besonders auf den Zweiten König sehr eifersüchtig geworden sein; es kam zu offenem Bruch zwischen den Brüdern, XXII. König Maha-moṅkut . als der ältere eine Anweisung des jüngeren auf den Schatz zurück- weisen liess. Seitdem zog sich der Zweite König zu dem in Ksieṅ- mai residirenden Laos -Fürsten zurück, den Maha-moṅkut bitter hasste, heirathete dessen Tochter und baute sich dort ein Schloss. 1865 wurde er sterbend nach Baṅkok zurückgebracht und versöhnte sich mit seinem Bruder. Man glaubte allgemein, dass eine Frau des Harem ihn vergiftete; Maha-moṅkut selbst scheint dieses Ge- rücht genährt zu haben; er liess die Concubine und ihren vermeint- lichen Helfershelfer foltern, in ein offenes Boot setzen und in den Golf hinausfahren, wo sie ohne Ruder dem Element überlassen wurden. Aus den umfangreichen Aufsätzen über seinen Bruder, die der König nach dessen Tode herausgab, spricht deutlich das Stre- ben, sich vor der Welt und besonders vor den Fremden von jedem Hauch des Verdachtes zu reinigen; — er hatte notorisch schon vor längerer Zeit dem Bruder einen Arzt aufgedrängt, dessen Quack- salbereien denselben fast zur Verzweiflung trieben; — doch scheint Niemand solchen Verdacht gehegt zu haben Maha-moṅkut überlebte seinen Bruder etwa zwei Jahre und starb mit grosser Seelenruhe. Seine Regierung hat dem Lande manchen Segen gebracht, vor Allem eine gerechtere Besteuerung, Abschaffung der Monopole und den Abschluss der Verträge, die dem Volke nur Vortheil bringen können. Sein ältester legitimer Sohn wurde vom Senabodi ohne Anstoss auf den Thron erhoben, und Prinz George Washington zum Nachfolger seines Vaters, des Zweiten Königs, erwählt. — Vom jungen Herrscher, der unter Auf- sicht einer alten trefflichen Grosstante sorgfältig erzogen wurde, berichten Alle, die ihn als Thronfolger kannten, nur Gutes. Welche Zukunft die europäische Cultur in Siam hat, lässt sich schwer ermessen; damals waren nur die beiden Könige und wenige ihrer Grossen leise davon angehaucht. In den physikalischen Wissenschaften, der Chemie und Mechanik hatte der allen Fremden in Baṅkok bekannte Kon-mut gute Kenntnisse, ein siamesischer Grosser, dem der König jenen Titel des »Allwissenden« beilegte. Seine Leistungen im Gebiete der Galvanoplastik und Photographie, seine genaue Bekanntschaft mit den neuesten Problemen weckten um so grösseres Staunen, als er Alles dem eigenen Fleiss verdankte. Hülfsquellen von Siam . XXII. Damals war Kon-mut mit Aufstellung einer Münze beschäftigt, die der König aus England bezog. Dass sein Streben aus edeler Ge- sinnung quoll, bewies am deutlichsten folgende Thatsache: Kon- mut druckte einst in seinem Hause das siamesische Gesetzbuch, in der Hoffnung, dessen Verbreitung im Lande zu bewirken; der König soll jedoch so heftig darüber gezürnt haben, dass er ihn zum Tode verurtheilte und nur widerstrebend begnadigte. Die gedruckten Exemplare mussten verbrannt werden. Reife Früchte könnte unsere Gesittung den Siamesen wohl nur tragen, wenn sie darin erzogen würden. Damals hatten sie sich bloss angeeignet, was mit Geld zu bezahlen ist: Uniformen, Silberzeug, Bier und Champagner, Maschinen und Dampfer. Letztere, etwa dreissig, welche die Könige und die Grossen besassen, waren meist in kläglichem Zustande. Tüchtige europäische Maschinisten sind den Siamesen zu theuer: die untergeordneten Leute, welche sie in Dienst nahmen, ergaben sich, da die Schiffe selten benutzt wurden, aus Mangel an Beschäftigung meist dem Trunke. Die ein- heimischen Maschinisten hatten wohl dunkele Begriffe vom Wasser- kochen und lernten die Hähne drehen; lockerte sich jedoch eine Schraube, so standen die Räder bis auf ferne Zeiten still. Den Schiffsbau haben die Siamesen gelernt; sie sind treffliche Zimmer- leute und besitzen im kieselhaltigen Holz der Tectona grandis wohl das beste Material der Erde. Die grossen Teka-Waldungen gehören meist dem König und müssten, gut verwaltet, unerschöpfliche Quellen des Reichthums sein. In ihnen und dem Reisbau liegt die Zukunft des Landes; denn Siam ist die grosse Kornkammer von Hinter-Asien , besonders von China , dessen Bevölkerung grössten- theils von Reisnahrung lebt. Während nur die südlichsten Striche des grossen Reiches in die Tropen hineinreichen und die Ernten dort häufig missrathen, ist in dem gleichmässigen Klima von Siam Misswachs viel seltener; die weiten Ebenen erzeugen, obgleich nur zum kleinsten Theil angebaut, weit über das Bedürfniss der Be- wohner und könnten halb Asien versorgen. Dazu müsste freilich auch die Bevölkerung wachsen, wozu bei der jetzigen Verfassung wenig Aussicht ist. Vielleicht wird einmal durch Einwanderung geholfen. Für Europäer ist das Klima ungeeignet; nicht nur würden ihre Nachkommen degeneriren, sondern auch die eingewanderten Arbeiter verlören in der weichen erschlaffenden Luft, beim geringen Wechsel der Jahreszeiten alle Spannkraft. Müssen doch selbst XXII. Chinesische Einwanderung. — Natur. europäische Kaufleute nach einer Reihe von Jahren immer wieder Erfrischung in der Heimath suchen. Von der jetzt schon beträcht- lichen Einwanderung der Chinesen aus Fu-kian , Kuaṅ-tuṅ und Kuaṅ-si , die arbeitsam, zäh, genügsam und an feuchte Hitze ge- wöhnt sind, ist in Zukunft ausgedehntere Bebauung der grossen hinterindischen Ebenen zu erwarten, die überschwellende Bevöl- kerung jener Provinzen strömt am natürlichsten nach Siam ab. Die einwandernden Chinesen scheinen auch die siamesische Sprache leicht zu lernen, die ihrer eigenen, wenn auch nicht stammverwandt, doch als monosyllabische, singende Sprache an Charakter ähnlich ist; alle mehrsilbigen Worte darin sollen fremden Ursprungs, das buchstabenreiche Alphabet aus dem Devanagari abgeleitet sein. Alle heiligen Bücher sind in Pali-Sprache geschrieben, doch besitzt auch die Sprache der Thai oder Freien, wie die heutigen Siamesen — besser Sayamesen — sich euphemistisch nennen, eine lyrische und dramatische Literatur, die das Volk versteht und weiterbildet. Des landschaftlichen Eindrucks der siamesischen Pflanzen- welt wurde in diesen Blättern mehrfach gedacht. Von wildem Ge- thier gewahrte man wenig. Ausser dem trägen Scheusal von Wat- po sah der Verfasser auch ausserhalb der Hauptstadt nicht ein ein- ziges Crocodil, von denen doch der Menam wimmelt. In Baṅkok baden die Eingeborenen ohne Scheu: »der König hat den Croco- dilen dort das Beissen verboten«. Von Rhinoceros, Bären, Tigern und anderen grossen Katzen sollen die nahen Wälder bevölkert sein, doch lebt man in Baṅkok vollkommen sicher. Als unerhörtes Ereigniss galt es, dass einst in der Nacht sämmtliche Affen des französischen Consulates erwürgt wurden; vielleicht war das Un- thier zweibeinig. Schlangen giebt es viele; selbst der Riesen-Python kommt in Baṅkok so häufig vor, dass für einen Tikal das schönste Exemplar zu kaufen ist. Niemand scheint ihn zu fürchten; oft sitzt eine Schaar halbwachsener Knaben um solches Ungeheuer herum, das sie vom Baume gezerrt haben und unbarmherzig necken. Bei aller ungeheuren Muskelkraft ist die Riesenschlange zu unbeholfen, als dass man ihrem Angriff nicht ausweichen sollte; sie greift aber den Menschen nicht an, und wie sie ein behendes Thier umschlin- gen sollte ist gar unbegreiflich. Giftzähne hat sie nicht; die kleinen Thierwelt. XXII. nadelfeinen Hakenzähne können kaum beissen und höchstens kleine Vierfüssler festhalten, die sie unversehens packt. Eines Tages kaufte Dr. Friedel von Seiner Majestät Schiff Arkona, der in Baṅkok eifrig Naturalien sammelte und schon mehrere Pythons in Spiritus eingemacht hatte, eine elf Fuss lange Riesenschlange, die er lebend mitnehmen wollte. Der Deckel ihres Behältnisses war aus starken Latten gefügt, die etwa einen Zoll auseinanderstanden. Bei Tage lag sie träge zusammengeringelt und verschmähte sogar ein zu ihr eingesperrtes lebendes Huhn. Während der Nacht stand der Kasten auf unserer Veranda. Vor Tages- grauen wurden die dort schlafenden Matrosen durch etwas Kaltes, Schuppiges geweckt, das sich über ihre Gesichter wälzte. Herr Python, dessen Taille im gewöhnlichen Zustande reichlich fünf Zoll im Durchmesser stark war, hatte sich durch die Latten gezwängt und wollte ausrücken, wurde von den Matrosen und dem vom Lärm geweckten Besitzer am Schwanze gepackt, als der Vorder- körper schon in den Hof hinabhing, klammerte sich aber mit den Bauchschuppen so fest an das Geländer, dass alles Zerren umsonst war. Nicht kaltblütig genug, um den Flüchtling auf andere Art dingfest zu machen, sprangen einige Matrosen in den Hof hinab und schlugen ihn mit Knüppeln todt. Kämpfe von Elephanten gegen einander und gegen Büffel oder Tiger, deren die Franzosen des 17. Jahrhunderts an den Höfen von Lophaburi und Ayutia so häufig erwähnen, scheinen jetzt selten zu sein. Der Kraal bei Ayutia , in welchem die Elephanten gefan- gen werden, wird noch heute benutzt, eine Verzäunung von starken Tekastämmen und einer sechs Fuss dicken Mauer, in welche die wilden Bestien durch zahme Weibchen, die man in die Wälder schickt, halb gelockt, halb getrieben werden. Die Zähmung ge- schieht durch Hunger und gutes Futter, namentlich Zuckerrohr, das die Elephanten sehr lieben. Am 18. Februar nahm Graf Eulenburg Abschied von Sir Robert Schomburgk , dem Prinzen Khroma-luaṅ und dem Phra-klaṅ . Den letzten Abend in Baṅkok gab uns noch ein bei Wat Po aus- brechendes Feuer, das alle die bunten Tempel und den grossen Phra-praṅ von Wat Džeṅ glühend erhellte, ein wunderbares Schau- XXII. Abreise von Baṅkok . spiel; noch feuriger als die Gebäude selbst am düsteren Nacht- himmel erglänzte ihr Spiegel, vom Schattenriss vorübereilender Boote durchfurcht, in den Fluthen des Menam . Das Musikcorps der Arkona, die Seesoldaten und das schwere Gepäck brachte ein königlicher Dampfer auf die Rhede hinaus. Dem Gesandten stellte die Regierung fünf grosse Reiseboote mit je sechs- zehn bis zwanzig Ruderern zur Fahrt nach Petšaburi , einem süd- westlich von Baṅkok gelegenen Städtchen zur Verfügung, wo der König ein Lustschloss hat. Die Boote hatten in der Mitte geräumige Kajüten, wo man bequem zu zweien wohnte. Der Legationssecre- tär Pieschel , die Attachés von Bunsen und Graf zu Eulenburg , Dr. Lucius , Maler Berg , der Photograph Herr Bismark und der Rev. Mr. Smith begleiteten den Gesandten. Herr von Richthofen hatte zu unserem Bedauern einige Tage zuvor die Reise durch die siamesischen Waldwüsten nach Martaban und Raṅgun angetreten, um von da nach Calcutta , dann quer durch das Punjab nach Tur- kestan und durch den Nordwesten von China nach Pe-kiṅ zu gehn. An Ausführung dieses schwierigen Unternehmens hinderten ihn end- lose Verzögerungen auf der Reise nach Raṅgun ; die Jahreszeit war bei seiner Ankunft in Calcutta zur Reise nach Turkestan zu weit vorgeschritten. — Die anderen Civilmitglieder der Expedition hatten grösstentheils Petšaburi schon früher besucht und gingen von Baṅ- kok direct auf die Kriegsschiffe. Am 19. Februar Vormittags bestiegen wir die Boote vor dem Gesandtschaftshause und bogen in den gleich oberhalb mündenden Flussarm ein; die Fluth schob uns vorwärts, doch wanden die Boote sich mühsam durch Hunderte beladener Fahrzeuge, die mehrere Stunden weit die Strasse sperrten. Die Ufer sind einförmig, theil- weise sogar baumlos. Gegen Abend fanden wir bei dem Flecken Mahatšaï den Tisch gedeckt; ein königlicher Haushofmeister war vorausgeeilt, die im Küchenboot bereiteten Speisen konnten gleich aufgetragen werden. Die Ortsbewohner brachten den Bootsleuten ein reichliches Mahl auf vielen kleinen Schüsselchen. Gegen acht Uhr Abends ging es weiter eine Strecke den Fluss Ta-tšiṅ hinauf, in den hier die Boote einbogen, dann in ein enges Rinnsal, durch das wir am Morgen in den Me-kloṅ gelangten. Die Stadt gleichen Namens, der Geburtsort der Zwillinge, liegt ganz in der Nähe am rechten Ufer. Sanfter Duft lagerte auf dem schönen Strom; man schlürfte mit Lust den erfrischten Athem des thauigen Morgens. Petšaburi . XXII. Nach kurzer Rast trieben die Schiffer, die doch in der Nacht kaum zwei Stunden ruhten, schon gegen acht zum Aufbruch. Die Fahrt ging den Me-kloṅ hinab, dessen Mündung wir in einer Stunde erreichten, von da über einen breiten Meerbusen von geringer Tiefe. Kein Lüftchen regte sich. Die Ufer sind flach und bewaldet. Gegen Mittag liefen wir in die Mündung des Flüsschens von Petšaburi ein und suchten den Schatten eines dort gelegenen Tempels; die Sonne schoss glühende Strahlen. Mit der Fluth ging es um vier Uhr weiter; die Ufer des Flüsschens sind hübsch bewachsen, doch ist die Pflanzenwelt hier weder gross noch mannigfaltig; hier und da steht unter schirmenden Wipfeln eine Hütte. Nach Crocodilen spähte man wieder vergebens; nur einige Ottern plumpten vor den Booten ins klare Wasser, und im Ufergebüsch spielten Hunderte lärmender Affen. Gegen Abend fuhren die Boote sich fest und wurden erst in der Nacht bei Hochwasser wieder flott. Die Schiffer hatten aber auch dann noch schwere Arbeit und mussten oft, im Flusse watend, die Boote schiebend und hebend über die Untiefen drücken. Am frühsten Morgen lagen wir vor Petšaburi . — Alsbald erschien der zweite Gouverneur Phra-petša-pisaï Sirisawat mit Gefolge, um den Gesandten in das ihm bestimmte Haus des Kalahum zu geleiten. Ganz neu und in Backstein erbaut bot die kleine Villa doch wenige bewohnbare Räume; über dem Eingang standen die Worte: The country house of His Excellency the Prime-Minister of Siam . A. D. 1861. Nur einige teppichbelegte Zimmer im Obergeschoss waren luftig und gut möblirt. In wenig Augenblicken hatten wir uns ein- gerichtet. — Bald machte auch der erste Gouverneur, ein alter freundlicher Herr, dem Gesandten seine Aufwartung und stellte den Marstall des Königs zur Verfügung. Nur der zweite Gouverneur, der mit der Gesandtschaft in London gewesen und ein grosser Be- wunderer alles Europäischen war, sprach etwas englisch. Petšaburi , die »Stadt der Juwelen«, streckt sich weitläufig gebaut wohl eine halbe Stunde an beiden Ufern des Flusses hin. Von Stein sind nur die Häuser der Prinzen und Grossen und eine lange Reihe Markthallen, welche der König nach dem Muster der- jenigen in Singapore bauen liess. Dort lagen Haufen der herrlichsten Früchte, — Bananen, Tamarinden, Papaya, Orangen, Pompelmusen, Melonen, Granaten, Mango, Jack und Durian. Hauptartikel des Handels ist der von der Palmyra-Palme (Borassus flabelliformis) XXII. Petšaburi . gewonnene Zucker. Die Blüthe wird vor völliger Entwickelung ab- geschnitten, der aus dem Stengel fliessende zuckerhaltige Saft in angehängten Bambusbechern gesammelt und eingedickt. Mitten in der Stadt spannt sich eine Brücke über den schmalen Fluss, der zur Regenzeit oft die Ufer arg verwüstet. An der rechten Seite stehn alte Tempeltrümmer aus behauenen Blöcken und grosse steinerne Buddabilder. Ein grosser Phra-praṅ war zur Feier eines Festes an den oberen Stockwerken ganz in Stücke des gelben Stoffes gehüllt, aus welchem die Bonzengewänder bestehen. Die Ebene um Petšaburi ist hier und da mit Reis bestellt, grösstentheils aber mit magerem Grase bewachsen und mit Tau- senden der schönen Palmyra-Palme besäet. Schroffe Kalksteinklippen steigen an vielen Stellen aus dem Boden; um sie her und aus den Klüften des verwitterten Gesteins spriessen Bambus, Tamarinden, blattlose Euphorbien mit duftenden Blüthen und mancherlei üppig Gesträuch; auf den Spitzen der Felsen stehn schlanke Dagoben. Der bewaldete Berg mit dem Lustschloss des Königs, der hier die nasse Jahreszeit zu verleben pflegt, erhebt sich inselartig etwa vier- hundert Fuss über die Ebene. Der zweite Gouverneur von Petša- buri , der das Schloss baute, rühmte sich darin Windsor castle copirt zu haben; doch ist nur die Lage ähnlich. Das Hauptgebäude krönt, auf breiter Terrasse fussend, mit den Hauptfronten nach Süden und Norden gerichtet, den höchsten Gipfel; dahinter steht ein viereckiger Thurm. Eine Menge Pavillons, Rasthäuser, Tempel, runde thurmartige Bastionen und andere Dependenzen liegen theils um das Schloss gruppirt, theils, durch aufgemauerte Wege damit verbunden, auf Nebengipfeln und vorspringenden Felsrippen. Eine bequeme mit Backstein gepflasterte Strasse führt in Windungen zum Gipfel hinan. Die europäischen Muster sind in den weissge- tünchten Gebäuden ziemlich plump und geschmacklos nachgemacht. Von oben schweift der Blick, nur nach Westen von fernem Gebirge beschränkt, über die weite Ebene. Die inselartigen in üppigen Wald gebetteten Höhen, mit welchen sie bestreut ist, sind die Sam-roi-yot oder Dreihundert Gipfel; der ferne Rücken soll die Wasserscheide zwischen dem Busen von Siam und dem Golf von Bengalen , zugleich die Grenze gegen Tenasserim bilden. Unter den dichten Wipfeln am Fuss des Schlossberges kauern nördlich die malerischen Hütten der Laos , königlicher Knechte, die sich hier ansiedeln mussten, um den Bau auszuführen. Von den siame- Petšaburi . XXII. sischen unterscheiden sich ihre Häuser durch ein gewölbtes Palm- dach, unter dem ein Altan vorspringt; aus Holz und Bambus gefügt stehen sie auf hohen Pfählen, zwischen denen zur heissen Tages- zeit Schaaren nackter Kinder in trauter Gemeinschaft ihrer grun- zenden Hausthiere zu lagern pflegten. Die Gestalt der Laos ist untersetzter als die der Siamesen, ihr Antlitz runder und voller. Das glänzende schwarze Haar wallt bei den Männern in dichten Massen über die Schultern; die Frauen schlingen es auf der Scheitel in einen Knoten; ihr Ausdruck ist milde und träumerisch, die Züge oft angenehm. Wir besuchten mehrfach diese Ansiedlung und durchstreiften auf den königlichen Rossen, — kleinen feurigen Hengsten, — die Ebene nach allen Richtungen. Zum Schlossberg führte eine gerade gepflasterte Strasse; auch anderwärts durch- schneiden aufgeschüttete Wege das umliegende Gebiet. Unter Führung des zweiten Gouverneurs ritt Graf Eulenburg in den kühlen Morgenstunden des 22. Februar nach einer etwa eine Meile entfernten Kalksteinhöhle. — Die vielfach gewundene Felsen- treppe führt in eine tiefe Kluft hinab, die sich oben zusammen- wölbt; da fällt plötzlich der Blick durch mächtige Tropfsteinbogen in einen zauberhaft erhellten Felsensaal. Die Stufen werden schlüpfrig und breiter; das Wasser tropft von colossalen Stalaktiten herab, und am Boden erheben sich, gleich weissen verschleierten Bildsäulen, wachsende Stalagmiten; von oben und unten schreitet der Pfeilerbau langsam vorwärts, bis die Spitzen zusammenwachsen; dann setzt der Kalksinter sich an den Seiten ab und verstärkt die Dicke. Einige Stützen von beträchtlichem Umfang sind fertig, und das Wasser baut fleissig weiter. — Aus der Tageshelle herabstei- gend, muss man das Auge erst an das ungewisse Halbdunkel ge- wöhnen, das sich rückwärts in schwarze Finsterniss vertieft. Unter einem Tropfsteingewölbe am Eingang ist ein Sarcophag aus dem Felsen gehauen; daneben hängt an metallener Kette eine Glocke. Am ebenen Boden der Höhle, aus den Spalten und Nischen der überhangenden Wände schimmern Goldgötzen, Glocken und weiss- getünchte Thürmchen, theils grell beleuchtet vom einströmenden Himmelslicht, theils in gespenstischen Duft gehüllt; die Wirkung ist um so schlagender, als man sich, tief in den Felsen versenkt, den Glanz nicht erklären kann. Nur auf einem kleinen Raum ist der Himmel durch die thurmhohen überhangenden Wände sichtbar; doch werfen die zerklüfteten Massen das Licht mit tausend Flächen XXII. Petšaburi . zurück. Herrlich ist der Blick aus der schwarzen Finsterniss im hintersten Winkel der Höhle, wo die vom tropfenden Gestein mit phantastischen einsturzdrohenden Riesengebilden behängte Decke den Himmel verbirgt und die Goldgötzen wie von innerem Licht- glanz durchströmt erscheinen. — Kaum lässt sich eine Oertlichkeit denken, die mächtiger auf die Phantasie wirkte. Bei Anwesen- heit des Königs strömen Tausende von Pilgern nach Petšaburi , und bringen unter Lustbarkeiten mehrere Tage im Höhlentempel zu. — Von aussen sind die Felsen, die hier nur wenig aus der Ebene ragen, mit Gebüsch bewachsen, in dem es von Affen wimmelt. An demselben Tage traf Capitän Sundewall mit mehreren Officieren der Arkona in Petšaburi ein; die Corvette lag vor der Mündung des Flüsschens. — Der Gesandte besuchte die beiden Gouverneure und lud sie an seinen Mittagstisch. Beim ersten Gou- verneur waren im Vorhause auf einem Brettergerüst zum Empfang des Gesandten Tische und Stühle aufgestellt; sonst war die Ein- richtung ganz auf Hocken und Liegen berechnet, denn der Siamese setzt sich von Natur auf seine eigenen Hacken. Beim zweiten Gouverneur sah es civilisirter aus; er zeigte dem Gesandten seinen siebenjährigen Knaben, den er Friedrich Wilhelm nannte, und ein Töchterchen in weissem Federhut und europäischem Kleide, das sie hoffentlich bald wieder ablegen durfte. Auch uns war jeder Rock zu viel. Am 23. Februar besuchte Graf Eulenburg mit den Gästen von der Arkona eine andere Tropfsteinhöhle, die sich mit mehreren Gängen sehr tief in den Felsen erstreckt, aber ganz dunkel ist. Der Rückweg führte an einem schmucklosen Tempel vorbei, auf des- sen colossalem liegendem Budda eben Wäsche getrocknet wurde. Gegen Mittag fuhr Commodore Sundewall in seiner Gig nach der Ar- kona zurück; Abends speisten wieder die Gouverneure beim Gesand- ten und wurden mit Wein, Spieldosen und anderen Gaben überrascht. Am 24. Februar fuhren unsere Boote schon bei Tagesanbruch stromabwärts. Wir selbst ritten gegen halb 8 Uhr fort und stiegen unterhalb der Untiefen ein. Von der Flussmündung brachte uns gegen Mittag des Königs Dampfer Little Eastern zu der über fünf Seemeilen vom Ufer liegenden Corvette. Die Seefahrt auf den Flussbooten ist gefährlich; noch vor Kurzem war ein solches auf der Ueberfahrt nach der Mekloṅ -Mündung umgeschlagen. — Um ein Uhr gelangten wir an Bord der Arkona und nahmen Abschied Rückkehr nach Singapore . Schluss. XXII. von Herrn Smith , dessen liebenswürdiger Charakter Allen in bester Erinnerung blieb. Auf der Fahrt nach Singapore hemmten den Lauf der Arkona Tausende von Muscheln, die sich auf der Rhede von Paknam an ihren Rumpf setzten. In den ersten Tagen hatten wir häufig Ge- genwind; später machte das Schiff sieben bis acht Knoten. Von der Mannschaft lagen schon damals viele krank; zwei Todte wurden auf dieser Fahrt in das Meer versenkt. — Am 2. März ging Arkona um drei Uhr Morgens auf der Rhede von Singapore neben der Thetis zu Anker, die am 17. Februar dort eingetroffen war. Der Gesandte fand den Befehl zur Rückkehr in die Heimath vor. Von der königlichen Admiralität war die Weisung eingetroffen, dass alle für Civilmitglieder bestimmten Kajüten abgebaut werden sollten. Nur dem Gärtner Schottmüller wurde ein leerstehendes Gelass auf der Thetis angewiesen; alle anderen kehrten auf dem Ueberlandwege nach Europa zurück. Wir versammelten uns diesmal in Singapore weder so zahl- reich, noch so gesund und heiter wie anderthalb Jahre zuvor; über Viele hatten sich die Wellen geschlossen, Andere barg die fernste fremdeste Erde. Regierungsrath Wichura lag in Java fieberkrank. Manche, die sich noch aufrecht hielten, brachen auf der Rückreise zusammen; ermüdet waren Alle. Von der Mannschaft der Schiffe erlagen noch Viele, ohne die Heimath wiederzusehen; Andere star- ben bald nach der Rückkehr. Weit mehr Opfer, als irgend Jemand befürchtete, forderten nachträglich die klimatischen Strapazen und — vielleicht — mangelhafte Ventilation auf den Kriegsschiffen; man fand bei der trefflichen Verpflegung mit frischen Nahrungsmitteln für den auf der Rückreise ausbrechenden Scorbut keine andere Erklärung. Herr von Martens blieb zu Fortsetzung seiner Studien noch in Singapore zurück; andere Expeditionsmitglieder waren schon früher auf dem Ueberlandwege vorausgegangen. Mit dem Gesandten schifften sich der Legationssecretär Herr Pieschel , die Attachés von Bunsen und Graf Eulenburg , Dr. Lucius , Maler Berg und der Photograph Bismark auf dem englischen Postdampfer zunächst nach Ceylon ein. ANHANG I. DER VERTRAG MIT CHINA . FREUNDSCHAFTS-, HANDELS- UND SCHIFFAHRTS-VERTRAG ZWI- SCHEN DEN STAATEN DES DEUTSCHEN ZOLL- UND HANDELSVEREINS, DEN GROSSHERZOGTHÜMERN MECKLENBURG-SCHWERIN UND MECK- LENBURG-STRELITZ , SOWIE DEN HANSESTÄDTEN LÜBECK , BREMEN UND HAMBURG EINERSEITS, UND CHINA ANDERERSEITS. S eine Majestät der König von Preussen , sowohl für Sich, als auch im Namen der übrigen Mit- glieder des deutschen Zoll- und Handelsvereins, nämlich: der Krone Bayern , der Krone Sachsen , der Krone Hannover , der Krone Württemberg , des Grossherzogthums Baden , des Kurfürstenthums Hessen , des Grossherzogthums Hessen , des Herzogthums Braunschweig , des Grossherzog- thums Oldenburg , des Grossherzogthums Luxemburg , des Grossherzogthums Sachsen , der Herzogthümer Sachsen- Meiningen , Sachsen-Altenburg und Sachsen-Coburg und Gotha , des Herzogthums Nassau , der Fürstenthümer Wal- deck und Pyrmont , der Herzogthümer Anhalt-Dessau- Cöthen und Anhalt-Bernburg , des Fürstenthums Lippe , der Fürstenthümer Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarz- burg-Sondershausen , Reuss älterer und Reuss jüngerer Linie , der freien Stadt Frankfurt , des Landgräflich hessi- schen Oberamts Meisenheim und Amtes Homburg , sowie: die Grossherzogthümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklen- burg-Strelitz , und die Senate der Hansestädte Lübeck , Bremen und Hamburg einerseits, und Seine Majestät der Kaiser von China andererseits, IV. 23 Der Vertrag mit China . Anh. I. von dem aufrichtigen Wunsche beseelt, freundschaftliche Beziehun- gen zwischen den vorgedachten Staaten und China zu begründen, haben beschlossen, solche durch einen gegenseitig vortheilhaften und den Unterthanen der Hohen vertragenden Mächte nützlichen Freundschafts- und Handelsvertrag zu befestigen. Zu dem Ende haben zu Ihren Bevollmächtigten ernannt: Seine Majestät der König von Preussen : den Kammerherrn Friedrich Albrecht Grafen zu Eulen- burg , Allerhöchstihren ausserordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister, Ritter des Rothen Adler-Ordens dritter Klasse mit der Schleife, Ritter des Johanniter-Ordens u. s. w., und Seine Majestät der Kaiser von China : Tsuṅ-luen , assistirendes Mitglied des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten in Pe-kiṅ , General-Di- rector der öffentlichen Vorräthe, und Kaiserlichen Commissarius, Tsuṅ-hau , Ehren-Unter-Staats-Secretär, Oberaufseher der drei Häfen des Nordens und beigeordneten Kaiser- lichen Commissarius, welche, nachdem sie ihre Vollmachten sich mitgetheilt, und solche in guter und gehöriger Form befunden haben, über nachstehende Artikel übereingekommen sind: Artikel 1. Zwischen den contrahirenden Staaten soll dauernder Friede und unwandelbare Freundschaft bestehen. Die Unterthanen der- selben sollen in den beiderseitigen Staaten vollen Schutz für Person und Eigenthum geniessen. Artikel 2. Seine Majestät der König von Preussen kann, wenn er es für gut befindet, einen diplomatischen Agenten bei dem Hofe von Pe-kiṅ accreditiren, und Seine Majestät der Kaiser von China kann in gleicher Weise, wenn er es für gut befindet, einen diplomatischen Agenten für den Hof von Berlin ernennen. Dem von Seiner Majestät dem Könige von Preussen er- nannten diplomatischen Agenten soll gestattet sein, auch die Ver- tretung der anderen contrahirenden deutschen Staaten zu über- Anh. I. Der Vertrag mit China . nehmen, welchen vertragsmässig das Recht, sich durch eigene diplo- matische Agenten beim Hofe von Pe-kiṅ vertreten zu lassen, nicht zusteht. Seine Majestät der Kaiser von China willigt ein, dass der von Seiner Majestät dem Könige von Preussen ernannte diploma- tische Agent, mit seiner Familie und seinem Haushalt, dauernd in der Hauptstadt wohnen, oder dieselbe gelegentlich besuchen darf, je nach der Wahl der preussischen Regierung. Artikel 3. Die diplomatischen Agenten Preussens und Chinas sollen gegenseitig am Orte ihres Aufenthalts die Vorrechte und Frei- heiten geniessen, welche das Völkerrecht ihnen gewährt. Ihre Person, ihre Familie, ihr Haus und ihre Correspondenz sollen unverletzlich sein. Sie sollen in der Wahl und Anstellung ihrer Beamten, Couriere, Dolmetscher, Diener u. s. w. nicht beschränkt werden. Alle Arten von Kosten, welche die diplomatischen Missionen verursachen, werden von ihren respectiven Regierungen getragen werden. Die chinesischen Behörden werden Alles thun, um dem preussischen diplomatischen Agenten, wenn er nach der Hauptstadt kommt, um daselbst seinen Wohnsitz aufzuschlagen, beim Miethen eines passenden Hauses und sonstiger Räumlichkeiten behülflich zu sein. Artikel 4. Die contrahirenden deutschen Staaten sollen das Recht haben, einen General-Consul und für jeden offenen Hafen oder jede der- gleichen Stadt in China , für welche ihre Handelsinteressen es er- heischen, einen Consul, Vice-Consul oder Consular-Agenten zu ernennen. Diese Beamten sollen mit der gebührenden Achtung von den chinesischen Behörden behandelt werden und dieselben Privilegien und Vorrechte geniessen, wie die Consular-Beamten der meist- begünstigten Nation. Im Falle der Abwesenheit eines deutschen Consular-Beamten sollen die Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten die Befugniss haben, sich an den Consul einer befreundeten Macht, oder im Nothfalle auch an den Zolldirector zu wenden, welcher es 23* Der Vertrag mit China . Anh. I. sich angelegen lassen sein soll, denselben die Vortheile dieses Ver- trages zu sichern. Artikel 5. Alle dienstlichen, von dem diplomatischen Agenten Seiner Majestät des Königs von Preussen oder von den Consular-Beamten der contrahirenden deutschen Staaten an die chinesischen Behörden gerichteten Mittheilungen sollen deutsch geschrieben werden. Bis auf Weiteres sollen sie von einer chinesischen Uebersetzung be- gleitet sein, aber unter der gegenseitigen Uebereinkunft, dass im Falle eine Verschiedenheit in der Bedeutung des deutschen und chinesischen Textes vorkommen sollte, die deutschen Regierungen den im deutschen Text ausgedrückten Sinn als den richtigen an- sehen werden. Desgleichen sollen die amtlichen Mittheilungen chinesischer Behörden an den Gesandten Preussens oder die Consuln der con- trahirenden deutschen Staaten chinesisch geschrieben werden, und wird dieser Text für die chinesischen Behörden als der richtige gelten. Man ist übereingekommen, dass die Uebersetzungen niemals als beweisend angesehen werden sollen. Was den gegenwärtigen Vertrag anbetrifft, so wird derselbe, um jede spätere Discussion zu vermeiden, und mit Rücksicht darauf, dass die französische Sprache unter allen Diplomaten Europas be- kannt ist, in deutscher, chinesischer und französischer Sprache aus- gefertigt werden. Alle diese Ausfertigungen haben denselben Sinn und dieselbe Bedeutung, aber der französische Text wird als der Urtext des Vertrages angesehen werden, dergestalt, dass wenn eine verschiedene Auslegung des deutschen und chinesischen Vertrages irgendwo stattfinden sollte, die französische Ausfertigung entschei- dend sein soll. Artikel 6. In den Häfen und Städten: Kan-ton , Swa-tau ( Tšau-tšau ), Amoi , Fu-tšau , Niṅ-po , Shang-hae , Tung-tšau , Tien-tsin , Niu- tšwaṅ , Tšin-kiaṅ , Kiu-kiaṅ , Haṅ-kau , ferner Kioṅ-tšau auf der Insel Hai-nan und Tai-wan und Tam-sui auf der Insel Formosa — ist es den Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten erlaubt, sich mit ihren Familien niederzulassen, frei zu bewegen, und Handel oder Industrie zu treiben. Sie können zwischen den- selben nach Belieben mit ihren Fahrzeugen und Waaren hin- und herfahren, daselbst Häuser kaufen, miethen oder vermiethen, Land Anh. I. Der Vertrag mit China . pachten oder verpachten, und Kirchen, Kirchhöfe und Hospitäler anlegen. Artikel 7. Handelsschiffe eines der contrahirenden deutschen Staaten sind nicht berechtigt, nach anderen Häfen zu fahren, als solchen, die in diesem Vertrage für offen erklärt worden sind. Sie sollen nicht gesetzwidrig andere Häfen anlaufen, oder heimlichen Handel längs der Küste treiben. Schiffe, welche in Zuwiderhandlung gegen diese Bestimmung betroffen werden, sollen mit ihrer Ladung der Confiscation durch die chinesische Regierung unterliegen. Artikel 8. Unterthanen der deutschen contrahirenden Staaten können auf eine Entfernung von hundert (100) Li und auf einen Zeitraum von nicht mehr als fünf (5) Tagen in die Nachbarschaft der dem Handel offenen Häfen Ausflüge machen. Diejenigen, welche sich in das Innere des Landes zu bege- ben wünschen, müssen mit Pässen versehen sein, die von den diplomatischen oder Consular-Behörden ausgestellt und von der chinesischen Localbehörde visirt sind. Diese Pässe müssen auf Ver- langen vorgezeigt werden. Wenn Reisende oder Kaufleute, welche einem der contrahi- renden deutschen Staaten angehören, ihre Pässe verlieren sollten, so soll es den chinesischen Behörden freistehen, dieselben zurück- zuhalten, bis sie sich neue Pässe haben verschaffen können, oder sie auf das nächste Consulat führen zu lassen, ohne sie jedoch schlecht zu behandeln oder zu gestatten, dass sie schlecht behan- delt werden. Dabei ist wohl verstanden, dass nach denjenigen Orten, welche von den Rebellen besetzt sind, nicht eher Pässe ausgestellt werden sollen, als bis in denselben der Friede wieder hergestellt ist. Artikel 9. Es soll den Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten gestattet sein, Compradors, Dolmetscher, Schreiber, Arbeiter, Schiffs- leute und Diener aus allen Theilen Chinas gegen eine entsprechende, durch Uebereinkunft beider Theile festzustellende Vergütigung in Dienst zu nehmen, und ebenso Boote zum Personen- oder Waaren- transport zu miethen. Desgleichen soll es ihnen erlaubt sein, von Der Vertrag mit China . Anh. I. Chinesen die Sprache oder Dialecte des Landes zu lernen, oder sie in fremden Sprachen zu unterrichten. Dem Verkaufe von deut- schen und dem Ankaufe von chinesischen Büchern soll kein Hinderniss in den Weg gelegt werden. Artikel 10. Die Bekenner und Lehrer der christlichen Religion sollen in China volle Sicherheit für ihre Personen, ihr Eigenthum und die Ausübung ihrer Religionsgebräuche geniessen. Artikel 11. Wenn ein Schiff eines der deutschen contrahirenden Staaten in den Gewässern eines dem Handel eröffneten Hafens anlangt, soll es ihm freistehen, einen Lootsen nach seiner Wahl anzunehmen, um sich in den Hafen führen zu lassen. Ebenso soll es, wenn es alle gesetzlichen Gebühren und Abgaben entrichtet hat und zur Ab- reise fertig ist, sich einen Lootsen wählen können, um es aus dem Hafen hinauszuführen. Artikel 12. Sobald ein Kauffahrteischiff, welches einem der deutschen contrahirenden Staaten angehört, in einen Hafen eingelaufen ist, soll der Zollinspector, wenn er es für gut befindet, einen oder mehrere Zollbeamte abordnen, um das Schiff zu überwachen und darauf zu sehen, dass keine Waaren geschmuggelt werden. Diese Beamten können nach ihrem Belieben in ihrem eigenen Boote bleiben, oder sich an Bord des Schiffes aufhalten. Die Kosten ihrer Besoldung, ihrer Nahrung und ihres Unter- haltes fallen der chinesischen Zollbehörde zur Last, und sie dürfen keine Entschädigung oder Belohnung irgend einer Art, weder von den Schiffscapitäns, noch von den Consignatären verlangen. Jede Zuwiderhandlung gegen diese Vorschrift soll eine dem Betrage der Erpressung angemessene Strafe nach sich ziehen, und dieser Betrag soll vollständig zurückerstattet werden. Artikel 13. Innerhalb vierundzwanzig (24) Stunden nach der Ankunft des Schiffes soll der Capitän, wenn er nicht gesetzliche Hinde- rungsursachen hat, oder statt seiner der Supercargo oder der Con- signatär sich auf das Consulat begeben und daselbst seine Schiffs- papiere und eine Abschrift des Manifestes niederlegen. Anh. I. Der Vertrag mit China . Innerhalb der folgenden vierundzwanzig (24) Stunden wird der Consul dem Zollinspector eine Note übersenden, aus welcher der Name des Schiffes, die Bemannung, der Tonnengehalt und die Beschaffenheit der Ladung desselben hervorgeht. Wenn durch Schuld des Capitäns dieser Vorschrift binnen achtundvierzig (48) Stunden nicht nachgekommen ist, so soll der- selbe einer Strafe von fünfzig (50) Piastern für jeden Tag Verzöge- rung unterliegen; der Totalbetrag der Strafe soll jedoch zwei- hundert (200) Piaster nicht übersteigen. Gleich nach Empfang der erwähnten Note wird der Zollinspec- tor einen Erlaubnissschein zum Oeffnen des Schiffsraumes ertheilen. Sollte der Capitän zu dieser Oeffnung schreiten und mit dem Ausladen beginnen, bevor er die Erlaubniss dazu erhalten hat, so soll er zu einer Geldstrafe bis zum Betrage von fünfhundert (500) Pia- ster verurtheilt werden können, und die ausgeladenen Waaren sollen confiscirt werden können. Artikel 14. So oft ein Kaufmann, welcher einem der contrahirenden deut- schen Staaten angehört, Waaren zu landen oder zu verschiffen hat, soll er die Erlaubniss dazu bei dem Zollinspector nachsuchen. Waaren, welche ohne eine solche Erlaubniss gelandet oder verschifft werden, unterliegen der Confiscation. Artikel 15. Die Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten sollen von allen Waaren, welche sie in die dem fremden Handel geöffneten Häfen ein- oder aus denselben ausführen, diejenigen Zölle bezahlen, welche in dem dem gegenwärtigen Vertrage beigefügten Tarife ver- zeichnet sind; aber in keinem Falle soll man von ihnen mehr oder andere Abgaben verlangen, als jetzt oder in Zukunft von den Unter- thanen der meistbegünstigten Nation verlangt werden. Die dem gegenwärtigen Vertrage beigefügten Handelsbestim- mungen sollen als integrirender Theil dieses Vertrages und deshalb als bindend für die Hohen contrahirenden Theile angesehen werden. Artikel 16. Was die Artikel anbetrifft, welche nach dem Tarife einer Abgabe ad valorem unterliegen, so soll, wenn der deutsche Kauf- mann mit dem chinesischen Beamten sich über den Werth nicht einigen kann, jede Parthei zwei oder drei Kaufleute zuziehen, welche Der Vertrag mit China . Anh. I. die Waaren untersuchen sollen. Der höchste Preis, zu welchem einer dieser Kaufleute sie zu kaufen Willens wäre, soll als der Werth derselben angenommen werden. Artikel 17. Die Zölle werden nach dem Nettogewicht erhoben werden, es wird also die Tara in Abzug kommen. Wenn der deutsche Kaufmann sich mit dem chinesischen Beamten über die Bestim- mung der Tara nicht einigen kann, so soll jede Parthei eine ge- wisse Anzahl von Kisten und Ballen unter den Colli, welche Gegenstand des Streites sind, wählen. Diese werden erst im Ganzen gewogen, und dann wird die Tara festgestellt. Die Durch- schnitts-Tara der so gewogenen Colli soll als Tara für alle übri- gen gelten. Artikel 18. Wenn sich im Laufe der Verification über andere Puncte ein Streit erhebt, der nicht sofort geschlichtet werden kann, so soll der deutsche Kaufmann die Vermittelung des Consularbeamten in Anspruch nehmen können. Dieser wird den Gegenstand der Meinungsverschiedenheit sofort zur Kenntniss des Zollinspectors bringen, und beide werden sich bemühen, eine Ausgleichung herbei- zuführen. Das Ansuchen an den Consul muss aber binnen vierund- zwanzig (24) Stunden geschehen, sonst wird demselben keine wei- tere Folge gegeben werden. So lange der Streit nicht entschieden ist, wird der Zoll- inspector den Gegenstand desselben nicht buchen, um auf diese Weise der gründlichen Untersuchung und Schlichtung der Angelegen- heit nicht vorzugreifen. Artikel 19. Für alle eingeführten Waaren, welche eine Beschädigung erlitten haben sollten, wird eine der Beschädigung angemessene Zollermässigung eintreten. Diese Ermässigung wird der Billigkeit gemäss normirt werden; erheben sich aber Streitigkeiten, so sollen dieselben auf dieselbe Weise zum Ende geführt werden, als solches in Artikel 16. für die mit einer ad valorem-Abgabe belasteten Waa- ren vorgeschrieben ist. Artikel 20. Jedes in einem chinesischen Hafen eingelaufene Schiff eines der contrahirenden deutschen Staaten kann, wenn der Schiffsraum Anh. I. Der Vertrag mit China . noch nicht geöffnet ist, binnen achtundvierzig (48) Stunden nach seiner Ankunft denselben verlassen und sich in einen anderen Hafen begeben, ohne Tonnengelder oder Zölle zu bezahlen, oder der Ent- richtung irgend einer anderen Abgabe zu unterliegen. Nach Ablauf der achtundvierzig (48) Stunden müssen die Tonnengelder ent- richtet werden. Artikel 21. Die Eingangszölle sind beim Landen der Güter und die Aus- gangszölle beim Verschiffen derselben fällig. Wenn die Tonnen- gelder und Zölle, welche vom Schiffe und der Ladung zu zahlen sind, vollständig berichtigt sind, soll der Zollinspector eine General- quittung darüber ausstellen, auf deren Vorzeigung der Consularbeamte dem Capitän seine Schiffspapiere zurückgeben und ihm erlauben wird, unter Segel zu gehen. Artikel 22. Der Zollinspector wird ein oder mehrere Bankierhäuser namhaft machen, welche ermächtigt sein sollen, die zu zahlenden Abgaben für Rechnung des Staates in Empfang zu nehmen. Die von diesen Bankierhäusern ausgestellten Quittungen sollen so ange- sehen werden, als seien sie von der chinesischen Regierung selbst ausgestellt. Die Zahlungen können in Barren oder in fremden Mün- zen geleistet werden, deren Verhältniss zum Ssaissie-Silber nach den jedesmaligen Umständen durch Vereinbarung zwischen den deutschen Consularbeamten und dem Zollinspector festgestellt werden soll. Artikel 23. Kauffahrteischiffe der contrahirenden deutschen Staaten von mehr als hundertfünfzig (150) Tonnen sollen vier (4) Mehss pro Tonne, und Schiffe von hundertfünfzig (150) Tonnen oder weniger, ein (1) Mehss pro Tonne des aus dem Messbriefe ersichtlichen Ton- nengehaltes als Tonnengelder zahlen. Ueber die erfolgte Zahlung der Tonnengelder soll der Zoll- inspector dem Capitän oder Consignatär eine Bescheinigung ertheilen, auf deren Vorzeigung bei den Zollbehörden anderer chinesischen Hä- fen, in welche der Capitän einzulaufen für gut befinden sollte, binnen vier (4) Monaten vom Datum der in Artikel 21. erwähnten General- quittung keine abermaligen Tonnengelder mehr verlangt werden sollen. Keine Tonnengelder sollen zu entrichten sein von Fahrzeugen, welche Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten zum Der Vertrag mit China . Anh. I. Transport von Passagieren, Gepäck, Briefen, Lebensmitteln oder sol- chen Artikeln verwenden, welche keinem Zolle unterliegen. Führen solche Eahrzeuge gleichzeitig auch zollpflichtige Waaren mit sich, so sollen sie in die Kategorie der Schiffe unter hundertfünfzig (150) Ton- nen Gehalt gerechnet werden und ein Tonnengeld von ein (1) Mehss pro Tonne entrichten. Artikel 24. Solche Waaren, von denen in einem chinesischen Hafen die tarifmässigen Zölle entrichtet worden sind, sollen in das Innere des Landes transportirt werden können, ohne irgend einer anderen Ab- gabe, als der Transitabgabe zu unterliegen. Diese soll nach den gegenwärtig geltenden Sätzen erhoben und in Zukunft nicht erhöht werden. Dasselbe gilt von Waaren, die aus dem Innern des Landes nach einem Hafen transportirt werden. Von Erzeugnissen, welche aus dem Inlande nach einem Hafen, oder von Einfuhren, welche aus einem Hafen nach dem Inlande geführt werden, können sämmtliche darauf haftende Tran- sitabgaben auf einmal entrichtet werden. Wenn chinesische Beamte, dem Inhalte dieses Artikels zu- wider, ungesetzliche oder höhere, als die gesetzlichen Abgaben erheben sollten, so sollen sie nach den chinesischen Gesetzen be- straft werden. Artikel 25. Wenn der Capitän eines Schiffes, welches einem der con- trahirenden deutschen Staaten angehört, und welches in einem chinesischen Hafen eingelaufen ist, daselbst nur einen Theil der Ladung zu löschen wünscht, so soll er auch nur für diesen Theil zur Zollentrichtung verbunden sein. Den Rest der Ladung kann er nach einem anderen Hafen führen, und daselbst verzollen und verkaufen. Artikel 26. Wenn Handeltreibende eines der contrahirenden deutschen Staaten Waaren, welche sie in einen chinesischen Hafen eingeführt und daselbst verzollt haben, wieder ausführen wollen, so sollen sie sich dieserhalb an den Zollinspector wenden, damit derselbe sich von der Identität der Waaren und davon Ueberzeugung verschafft, dass die Colli unverletzt sind. Sollen die Waaren nach einem anderen chinesischen Hafen wieder ausgeführt werden, so wird der Zollinspector den Kauf- Anh. I. Der Vertrag mit China . leuten, welche die Waaren wieder auszuführen wünschen, ein Attest darüber ausstellen, dass die auf denselben lastenden Zölle entrichtet sind. Auf Grund dieses Attestes soll der Zollinspector desjenigen chinesischen Hafens, nach welchem die Waaren geführt wer- den, einen Erlaubnissschein zum zollfreien Löschen derselben ertheilen, ohne dass dafür Gebühren oder Zollzuschläge verlangt werden könnten. Wenn sich bei Vergleichung der Waaren mit dem Atteste herausstellt, dass eine Zolldefraudation stattgefunden hat, so unterliegen die eingeschwärzten Waaren der Confiscation. Sollen die Waaren aber nach einem nicht-chinesischen Hafen wieder ausgeführt werden, so wird der Zollinspector desjenigen Hafens, aus welchem die Wiederausfuhr geschieht, ein Certificat ausfertigen, welches bescheinigt, dass der Kaufmann, der die Waaren wieder ausführt, eine Forderung an das Zollamt hat, welche dem Betrage der auf die Waaren bereits gezahlten Zölle gleichkommt. Dieses Certificat soll vom Zollamte bei jeder Ent- richtung von Einfuhr- oder Ausfuhrzöllen gleich baarem Gelde zum vollen Werthe in Zahlung angenommen werden. Artikel 27. Keine Umladung aus einem Schiffe in ein anderes kann ohne besondere Erlaubniss des Zollinspectors stattfinden. Ausgenommen den Fall, wo Gefahr im Verzuge gewesen ist, sollen Güter, welche ohne Erlaubniss von einem Schiffe auf ein anderes umgeladen sind, confiscirt werden. Artikel 28. In jedem der Häfen, welche dem fremden Handel geöffnet sind, soll der Zollinspector beim Consularbeamten eine Sammlung der beim Zollamte in Canton gebräuchlichen Maasse und Gewichte, sowie gesetzliche Waagen zum Abwiegen der Waaren und des Geldes niederlegen. Diese Normalmaasse, Normalgewichte und Waagen sollen die Grundlage aller Zolleinforderungen und Zahlun- gen bilden, und im Falle von Streitigkeiten soll auf ihre Ergebnisse zurückgegangen werden. Artikel 29. Alle Geldstrafen und Confiscationen für Zuwiderhandlungen gegen diesen Vertrag oder gegen die beigefügten Handelsbestim- mungen sollen der chinesischen Regierung zufallen. Der Vertrag mit China . Anh. I. Artikel 30. Kriegsschiffen der contrahirenden deutschen Staaten, welche zum Schutze des Handels kreuzen, oder mit Verfolgung von See- räubern beschäftigt sind, soll es freistehen, alle chinesischen Häfen ohne Unterschied zu besuchen. Beim Ankaufe von Vorräthen, Einnehmen von Wasser und bei Ausbesserungen, wenn solche nöthig werden, soll ihnen jede Erleichterung zu Theil und keine Art von Hinderniss in den Weg gelegt werden. Die Befehlshaber solcher Schiffe sollen mit den chinesischen Behörden als Gleichgestellte und auf höflichem Fusse verkehren. Abgaben irgend welcher Art sollen von solchen Schiffen nicht erhoben werden. Artikel 31. Sollte ein Kauffahrteischiff, welches einem der contrahiren- den deutschen Staaten angehört, in Folge von Havarieen oder aus anderen Gründen gezwungen sein, einen Hafen zu suchen, so soll es in jeden chinesischen Hafen ohne Unterschied einlaufen können, ohne zur Entrichtung von Tonnengeldern verbunden zu sein. Auch brauchen von den Waaren, welche es geladen hat, keine Zölle ent- richtet zu werden, falls dieselben nur behufs der Ausbesserung des Schiffes abgeladen werden und unter Aufsicht des Zollinspectors bleiben. Sollte ein solches Schiff scheitern oder stranden, so sollen die chinesischen Behörden sofort Maassregeln zur Rettung der Mannschaft und Sicherung des Schiffes und der Ladung treffen. Die gerettete Mannschaft soll gut behandelt und, wenn es nöthig ist, mit den Mitteln zur Weiterfahrt nach der nächsten Consular- station versehen werden. Artikel 32. Wenn Matrosen oder andere Individuen von Kriegs- und Handelsschiffen eines der contrahirenden deutschen Staaten deser- tiren, so soll die chinesische Behörde, auf Requisition des Consular- beamten, oder, wenn ein solcher nicht vorhanden ist, des Capitäns, die erforderlichen Schritte thun, um den Deserteur oder Flüchtling zu entdecken und in die Hände des Consularbeamten oder Capitäns zurückzuliefern. Gleichermaassen kann, wenn chinesische Deserteure oder wegen eines Verbrechens Verfolgte sich in die Häuser oder auf die Schiffe deutscher Unterthanen flüchten sollten, die Ortsbehörde Anh. I. Der Vertrag mit China . sich an den deutschen Consularbeamten wenden, welcher die nöthi- gen Maassregeln ergreifen soll, um die Auslieferung derselben zu bewerkstelligen. Artikel 33. Sollten Schiffe, welche einem der contrahirenden deutschen Staaten angehören, in chinesischen Gewässern von Seeräubern ge- plündert werden, so soll es Pflicht der chinesischen Behörden sein, alle Mittel zur Habhaftwerdung und Bestrafung der Räuber auf- zubieten. Die geraubten Waaren sollen, wo und in welchem Zu- stande sie sich auch befinden mögen, in die Hände des betreffenden Consularbeamten abgeliefert werden, welcher sie an die Berech- tigten gelangen lassen wird. Kann man weder der Räuber hab- haft werden, noch sämmtliche geraubte Gegenstände wieder erlan- gen, so sollen die chinesischen Behörden den chinesischen Gesetzen gemäss bestraft werden, ohne zum Ersatz der geraubten Gegen- stände verpflichtet zu sein. Artikel 34. Will sich ein Unterthan eines der contrahirenden deutschen Staaten an eine chinesische Behörde wenden, so muss er seine Vor- stellung dem Consularbeamten einhändigen, welcher sie, je nach- dem er sie in der Sache begründet und in der Form passend findet, weiter befördert, oder zur Abänderung zurückgiebt. Will ein Chinese sich an ein Consulat wenden, so muss er denselben Weg bei der chinesischen Behörde einschlagen, welche in derselben Art verfahren wird. Artikel 35. Wenn ein Unterthan eines der contrahirenden deutschen Staaten Ursache zur Beschwerde über einen Chinesen hat, so soll er sich zuvörderst zu dem Consularbeamten begeben und ihm den Gegenstand seiner Beschwerde auseinandersetzen. Der Consular- beamte, nachdem er die Angelegenheit untersucht hat, wird sich Mühe geben, dieselbe gütlich auszugleichen. Ebenso wird der Con- sularbeamte, wenn ein Chinese sich über einen Unterthan eines der contrahirenden deutschen Staaten zu beschweren hat, ersterem williges Gehör schenken und eine gütliche Einigung herbeizuführen suchen. Sollte eine solche aber in dem einen oder anderen Falle nicht gelingen, so wird der Consularbeamte die Mitwirkung des be- treffenden chinesischen Beamten in Anspruch nehmen, und beide Der Vertrag mit China . Anh. I. vereint werden die Angelegenheit nach den Grundsätzen der Billig- keit entscheiden. Artikel 36. Die chinesischen Behörden sollen der Person und dem Eigen- thum deutscher Unterthanen zu jeder Zeit den vollsten Schutz an- gedeihen lassen, namentlich wenn denselben Beleidigung oder Ge- walt widerfahren sollte. In allen Fällen von Brandstiftung, Raub oder Zerstörung soll die Ortsbehörde sofort die bewaffnete Macht absenden, um die Zusammenrottung zu zerstreuen, die Schuldigen zu ergreifen und sie der Strenge der Gesetze zu überliefern. Es bleibt den Beschädigten ausserdem überlassen, den Ersatz des ihnen verursachten Schadens von denjenigen zu verlangen, von welchen die Beschädigung ausgegangen ist. Artikel 37. Wenn ein Chinesischer Unterthan, welcher Schuldner eines Unterthanen eines der contrahirenden deutschen Staaten ist, es unterlässt, seine Schuld zu bezahlen, oder in betrügerischer Absicht sich entfernt, so soll die chinesische Behörde, auf Anrufen des Gläubigers, jedes ihr zu Gebote stehende Mittel anwenden, um den Flüchtigen zu verhaften und den Schuldner zur Bezahlung seiner Schuld zu zwingen. Ebenso sollen die deutschen Behörden ihr Möglichstes thun, um deutsche Unterthanen, welche ihre Schulden an chinesische Unterthanen nicht bezahlen, dazu zu zwingen, und wenn sie in be- trügerischer Absicht sich entfernt haben, vor Gericht zu ziehen. In keinem Falle aber sollen weder die chinesische Regierung, noch die Regierungen der deutschen contrahirenden Staaten für die Schul- den ihrer Unterthanen aufzukommen verpflichtet sein. Artikel 38. Chinesische Unterthanen, welche sich einer verbrecheri- schen Handlung gegen einen Unterthanen eines der contrahiren- den deutschen Staaten schuldig machen, sollen von den chinesi- schen Behörden verhaftet und nach chinesischen Gesetzen bestraft werden. Unterthanen eines der contrahirenden deutschen Staaten, wenn sie sich einer verbrecherischen Handlung gegen einen chine- sischen Unterthanen schuldig machen, sollen vom Consularbeamten Anh. I. Der Vertrag mit China . verhaftet und nach den Gesetzen des Staates, welchem sie ange- hören, bestraft werden. Artikel 39. Alle Fragen in Bezug auf Rechte des Vermögens oder der Person, welche sich zwischen Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten erheben, sollen der Jurisdiction der Behörden dieser Staaten unterworfen sein. Desgleichen werden sich die chi- nesischen Behörden in keine Streitigkeiten mischen, welche zwischen Unterthanen eines der contrahirenden deutschen Staaten und Frem- den etwa entstehen sollten. Artikel 40. Die contrahirenden Theile kommen überein, dass den deut- schen Staaten und ihren Unterthanen volle und gleiche Theilnahme an allen Privilegien, Freiheiten und Vortheilen zustehen soll, welche von Seiner Majestät dem Kaiser von China der Regierung oder den Unterthanen irgend einer anderen Nation gewährt sind, oder noch gewährt werden mögen. Namentlich sollen alle Veränderungen im Tarif oder in den Bestimmungen über Zölle, Tonnen- und Hafen- gelder, Einfuhr, Ausfuhr und Transit, welche zu Gunsten irgend einer anderen Nation getroffen werden, sobald sie in Ausführung kommen, unmittelbar und ohne besonderen neuen Vertrag auch auf den Handel aus und nach den contrahirenden deutschen Staaten und auf die ihnen zugehörigen Kaufleute, Rheder und Schiffer an- wendbar sein. Artikel 41. Wenn die contrahirenden deutschen Staaten künftig die Ab- änderung einiger Bestimmungen dieses Vertrages für zweckmässig erachten sollten, so soll es ihnen freistehen, nach Ablauf von zehn (10) Jahren, vom Tage der Auswechselung der Ratifications-Urkun- den an gerechnet, Unterhandlungen zu diesem Behufe zu eröffnen. Sie müssen aber sechs (6) Monate vor Ablauf der zehn (10) Jahre der chinesischen Regierung amtlich anzeigen, dass sie Abänderungen des Vertrages wünschen, und worin dieselben bestehen sollen. Er- folgt eine solche Anzeige nicht, so bleibt der Vertrag weitere zehn (10) Jahre unverändert in Kraft. Artikel 42. Der gegenwärtige Vertrag soll ratificirt, und sollen die Rati- ficationen innerhalb eines Jahres vom Tage der Unterzeichnung Der Vertrag mit China . Anh. I. desselben in Shang-hae oder in Tien-tsin , je nach Wahl der preussischen Regierung, ausgewechselt werden. Sobald die Aus- wechselung stattgefunden hat, soll der Vertrag zur Kenntniss aller Oberbehörden Chinas , in der Hauptstadt und in den Provinzen, ge- bracht werden, damit sie sich danach richten. Zu Urkund desselben haben die respectiven Bevollmächtigten der Hohen vertragenden Theile den gegenwärtigen Vertrag unter- zeichnet und demselben ihre Siegel beigedrückt. So geschehen in vier Ausfertigungen zu Tien-tsin den Zweiten September im Jahre unseres Herrn Eintausend Achthundert einundsechszig, entsprechend dem chinesischen Datum vom Acht- undzwanzigsten Tage des Siebenten Monats des Elften Jahres von Hien-fuṅ . (L. S.) (gez.) Graf zu Eulenburg . Tsuṅ-luen . Tsuṅ-hau . Anh. I. Der Vertrag mit China . HANDELS-BESTIMMUNGEN. Erste Bestimmung. Nicht aufgeführte Waaren . Artikel, welche in dem Ausfuhrtarif nicht angeführt sind, sich aber in dem Einfuhrtarif aufgezählt finden, sollen, wenn sie ausgeführt werden, dieselben Zölle zahlen, welche ihnen durch den Einfuhrtarif auferlegt sind. In gleicher Weise sollen die im Einfuhrtarif nicht aufgezählten Artikel, welche sich im Ausfuhrtarif verzeichnet finden, wenn sie importirt werden, dieselben Zölle zahlen, die in dem Ausfuhrtarif ihnen auferlegt sind. Artikel, welche sich weder in dem einen noch in dem an- deren dieser beiden Tarife verzeichnet finden, und auch unter den zollfreien Waaren nicht aufgeführt sind, sollen einen Zoll von fünf (5) Procent ad valorem zahlen, wobei der Marktpreis zum Grunde gelegt werden soll. Zweite Bestimmung. Zollfreie Waaren . Gold und Silber in Barren. Fremde Münzen. Mehl, Maismehl, Sago, Biscuit. Präservirtes Fleisch, präservirte Gemüse. Käse, Butter, Zuckerwaaren. Fremde Kleidungsstücke. Gold- und Juwelierwaaren. Silber- und plattirte Waaren. Parfümerieen. Seife aller Art. Holzkohlen. Brennholz. Fremde Kerzen. Fremder Tabak. Fremde Cigarren. IV. 24 Der Vertrag mit China . Anh. I. Wein, Bier und Spirituosen. Hausgeräth. Haus- und Schiffsvorräthe. Gepäck zum persönlichen Gebrauche. Papier und Scheibmaterialien. Tapisseriewaaren, Messerschmiedewaaren. Fremde Medicamente. Glas- und Krystallwaaren. Die hier aufgeführten Artikel sollen weder Einfuhr- noch Ausfuhrzoll zahlen. Mit Ausnahme von Gepäck zum persönlichen Gebrauch, Gold und Silber in Barren und fremden Münzen sollen sie aber, wenn sie nach dem Innern von China geführt werden, einem Transitzoll von zwei und einem halben (2½) Procent ad valo- rem unterliegen. Ein Fahrzeug, welches ganz oder theilweise mit zollfreien Artikeln (Gepäck zum persönlichen Gebrauch, Gold und Silber in Barren und fremde Geldmünzen ausgenommen) befrachtet ist, soll zur Entrichtung von Tonnengeldern verbunden sein, selbst wenn es keine andere Ladung an Bord haben sollte. Dritte Bestimmung. Verbotene Waaren . Die Einfuhr sowohl als die Ausfuhr folgender Gegenstände ist verboten: Schiesspulver. Kugeln. Kanonen, gross und klein. Gewehre von jedem Kaliber. Waffen, Munition und Kriegsgeräthschaften aller Art. Salz. Vierte Bestimmung. Maasse und Gewichte . Den Tarifberechnungen liegt die Annahme zum Grunde, dass das Gewicht eines (1) Pikul von hundert (100) Katti gleich ist hundertzwanzig (120) Zollpfund siebenundzwanzig (27) Loth ein (1) Quent acht (8) Cents, oder sechszig (60) Kilogramm vierhundert- dreiundfunfzig (453) Gramm; und dass die Länge eines (1) Tšaṅ von zehn (10) chinesischen Fuss gleich ist elf (11) Fuss drei (3) Anh. I. Der Vertrag mit China . Zoll neun (9) Linien preussisch oder drei (3) Meter fünfundfunfzig (55) Centimeter. Ein chinesischer Tši wird angenommen gleich dreizehn (13) Zoll sieben (7) Linien oder dreihundertfünfundfunfzig (355) Millimeter. Fünfte Bestimmung. Artikel, die früher verboten waren . Die Beschränkung des Handels mit Opium, Kupfermünze, Cerealien, Hülsenfrüchten, Schwefel, Salpeter und der unter der englischen Benennung Spelter bekannten Zinkart, sind unter fol- genden Bedingungen aufgehoben: 1) Opium soll von jetzt an dreissig (30) Taels Eingangszoll für das Pikul zahlen. Der Importeur soll es nur im Hafen verkaufen können, und in das Innere Chinas soll der Artikel nur von Chinesen und als chinesisches Eigen- thum verführt werden dürfen. Dem deutschen Kaufmann soll nicht erlaubt sein, ihn zu begleiten. Der achte (8.) Artikel des Vertrages darf also auf diesen Fall nicht ausgedehnt werden. Ebenso finden die Bestimmungen über Transitgebühren auf Opium keine Anwendung, son- dern die chinesische Regierung darf diese Waare nach Gutdünken mit Transitzöllen belegen. 2) Kupfermünze: Die Ausfuhr chinesischer Kupfermünze nach einem fremden Hafen ist verboten, aber die Unterthanen der deutschen contrahirenden Staaten können dieselben unter folgenden Bedingungen aus einem der offenen Häfen Chinas nach einem anderen verführen: Der Verschiffer muss den Betrag der Kupfermünze, welche er einzuschiffen beabsichtigt, und den Hafen, nach welchem dieselbe bestimmt ist, angeben. Er muss zwei (2) zahlungsfähige Personen als Bürgen, oder irgend eine andere vom Zollinspector genügend erachtete Caution dafür stellen, dass er innerhalb sechs (6) Monaten, vom Zeitpunkte der Klarirung ab, dem Zolleinnehmer im Hafen der Verschiffung das von demselben ausgestellte Certifi- cat zurückgeben will, und zwar mit einer darauf ent- haltenen, unter Siegel ausgefertigten Bescheinigung des Zolleinnehmers im Hafen der Bestimmung, dass die Kupfermünze daselbst angekommen ist. Bringt der Ver- 24* Der Vertrag mit China . Anh. I. schiffer dies Certificat nicht bei, so verfällt er in eine dem Betrage der verschifften Kupfermünze gleiche Geld- strafe. Die Kupfermünze soll keinen Zoll zahlen, aber eine vollständige oder theilweise Ladung dieser Münze soll das Fahrzeug, auf dem sie sich befindet, zur Zahlung von Tonnengeldern verpflichten, selbst wenn es keine andere Frachten an Bord hätte. 3) Die Ausfuhr nach einem fremden Hafen von Reis und allen anderen einheimischen oder fremden Cerealien, wo sie auch erzeugt, oder von wo sie eingeführt sein mögen, ist verboten. Aber diese Producte dürfen von deutschen Kaufleuten aus einem offenen Hafen Chinas nach dem anderen geführt werden, unter denselben Bürgschafts- Bedingungen, wie bei Kupfermünze, und gegen Zahlung der im Tarif bezeichneten Zölle im Hafen der Ein- schiffung. Kein Einfuhrzoll soll von Reis und Cerealien erhoben werden, aber eine ganze oder theilweise Ladung von Reis und Cerealien soll, wenn sich auch keine andere Ladung an Bord befindet, das Fahrzeug, das damit befrachtet ist, der Zahlung der Tonnengelder unter- werfen. 4) Hülsenfrüchte und Bohnenkuchen können aus den Häfen von Tuṅ-tšau und Niu-tšwaṅ unter der Flagge eines der contrahirenden deutschen Staaten nicht exportirt werden, doch soll diese Ausfuhr aus den anderen offenen Häfen gegen Zahlung der im Tarif verzeichneten Zölle erlaubt sein, möge die Ausfuhr nach anderen Häfen von China oder nach fremden Ländern stattfinden. 5) Salpeter, Schwefel und die unter dem Namen Spelter bekannte Zinkart werden als Kriegsmunition angesehen und dürfen durch deutsche Kaufleute nicht eingeführt werden, es sei denn auf Verlangen der chinesischen Regierung oder zum Verkauf an chinesische Unter- thanen, die vorschriftsmässig autorisirt sind, solche zu kaufen. Kein Erlaubnissschein zum Landen solcher Ge- genstände wird ertheilt werden, ehe das Zollamt sich versichert hat, dass der Käufer die nöthige Autorisation erhalten hat. Es soll deutschen Unterthanen nicht er- Anh. I. Der Vertrag mit China . laubt sein, diese Artikel den Yaṅ-tse-kiaṅ hinauf oder in andere als die an der Seeküste Chinas eröffneten Häfen einzuführen; auch dürfen sie dieselben nicht für Rech- nung von Chinesen in das Innere des Landes begleiten. Diese Artikel sollen nur in den Häfen verkauft wer- den, und an allen anderen Orten sollen sie als chinesi- sches Eigenthum angesehen werden. Jede Zuwiderhandlung gegen die hier festgesetzten Bedin- gungen, unter denen der Handel mit Opium, Kupfermünze, Cerea- lien, Hülsenfrüchten, Salpeter, Schwefel und dem unter dem Namen Spelter bekannten Zink erlaubt ist, soll mit Confiscation aller in Rede stehenden Artikel bestraft werden. Sechste Bestimmung. Formalitäten, welche von den Schiffen bei ihrer Ankunft im Hafen zu beobachten sind . Um jedes Missverständniss zu verhüten, ist man überein- gekommen, dass der Zeitraum von vierundzwanzig (24) Stunden, binnen dessen jeder Capitän laut Artikel 13. des Vertrages seine Papiere dem Consul übergeben muss, von dem Augenblick zu laufen anfangen soll, wo das Schiff innerhalb der Hafengrenzen angekommen ist. Ebenso soll die Frist von achtundvierzig (48) Stunden ge- rechnet werden, welche der Artikel 20. dieses Vertrages deutschen Schiffen im Hafen zu bleiben erlaubt, ohne Tonnengelder zu bezahlen. Die Hafengrenzen sollen von den Zollbehörden den Bedürf- nissen des Handelsstandes gemäss bestimmt werden, soweit diesel- ben mit gebührender Wahrung der Zolleinkünfte vereinbar sind. Auf dieselbe Weise sollen die Orte bestimmt werden, wo es in jedem Hafen gestattet sein wird, Güter ein- und auszuladen, und diese Orte sollen den Consuln bekannt gemacht werden, damit sie dem Publicum davon Kenntniss geben. Siebente Bestimmung. Durchfuhrzölle . Man ist übereingekommen, dass die Transit-Abgabe, von welcher im Artikel 24. des Vertrages die Rede ist, die Hälfte der im Tarife festgesetzten Zölle betragen soll, ausgenommen für die Der Vertrag mit China . Anh. I. in der zweiten Handelsbestimmung erwähnten zollfreien Waaren. die eine Transit-Abgabe von zwei und einem halben (2½) Procent ad valorem zahlen sollen. Kaufmannsgüter haben die Transitzölle berichtigt, wenn sie folgende Bedingungen erfüllt haben: Bei der Einfuhr: Dem Vorstande des Zollamtes in dem Hafen, von welchem aus die Waaren nach dem Innern versendet werden, soll von der Art und Anzahl dieser Waaren, von dem Namen des Schiffes, welches dieselben ausgeladen hat, und von den Namen der Orte, wohin sie bestimmt sind, Anzeige gemacht werden. Der Vorstand des Zollamtes wird, nachdem er sich von der Wahrheit dieser Angaben überzeugt und den Betrag der Transit- Abgaben empfangen hat, dem Importeur der Waaren ein Transit- Abgaben-Certificat aushändigen, welches bei allen Hebestellen vor- gezeigt und visirt werden muss. Keine andere Abgabe irgend einer Art kann, nach welchem Theile des Reichs diese Waaren auch gebracht werden mögen, davon erhoben werden. Für die Ausfuhr: Die im Innern von China von einem Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten gekauften Er- zeugnisse sollen an der ersten Hebestelle, welche sie auf ihrem Wege nach dem Einschiffungshafen passiren, untersucht und notirt werden. Die Person oder die Personen, welche den Transport be- sorgen, sollen eine von ihnen unterzeichnete Erklärung über die Quantität der Erzeugnisse und den Hafen, in welchem sie einge- schifft werden sollen, übergeben. Sie werden dann ein Certificat erhalten, das bei jeder Hebestelle auf dem Wege nach dem Ein- schiffungshafen vorgezeigt und visirt werden muss. Bei Ankunft der Waare an der dem Hafen zunächst gelegenen Hebestelle wird dem Zollamt dieses Hafens davon Anzeige gemacht werden, und die Waaren können, nachdem der darauf lastende Durchfuhrzoll entrichtet ist, passiren. Bei der Ausfuhr sollen die durch den Tarif festgesetzten Zölle bezahlt werden. Jeder Versuch, ein- oder auszuführende Waaren, den obigen Bestimmungen entgegen, durchzuschmuggeln, soll zur Folge haben, dass diese Waaren der Confiscation unterliegen. Waaren, welche auf die angegebene Weise als Transit- Waaren nach einem Hafen declarirt worden sind, dürfen confiscirt werden, wenn sie ohne Erlaubniss während des Transits verkauft werden. Anh. I. Der Vertrag mit China . Jeder Versuch, mehr Waaren durchzuführen, als in dem Certificate angegeben sind, lässt alle in dem Certificat aufgeführten Waaren derselben Benennung der Confiscation anheimfallen. Der Vorstand des Zollamtes soll das Recht haben, die Ein- schiffung von Waaren zu verhindern, von denen die Zahlung der darauf haftenden Transit-Abgabe nicht nachgewiesen werden kann, und das so lange, bis diese Abgaben entrichtet sind. Achte Bestimmung. Fremder Handel im Innern, auf Grund von Pässen . Man ist übereingekommen, dass der Artikel 8. des Vertrages nicht so verstanden werden soll, als erlaube er Unterthanen der deutschen contrahirenden Staaten nach der Hauptstadt von China zu kommen, um dort Handel zu treiben. Neunte Bestimmung. Aufhebung der Abgaben, die für die Umprägung der Münzen erhoben wurden . Man ist übereingekommen, dass die Unterthanen der deut- schen contrahirenden Staaten zur Entrichtung von einem (1) Tael und zwei (2) Mehss , welche früher von der chinesischen Regierung ausser den gewöhnlichen Zöllen gefordert wurden, um die Kosten der Einschmelzung und Umprägung zu decken, nicht verbunden sein sollen. Zehnte Bestimmung. Entrichtung der Zölle in den Häfen . Der von der kaiserlichen Regierung zum Ober-Aufseher des fremden Handels bestellte chinesische Beamte wird von Zeit zu Zeit entweder selbst die verschiedenen dem Handel geöffneten Hä- fen besichtigen, oder einen Delegirten dahin senden. Diesem Beamten soll freistehen, sich Unterthanen der deutschen contrahi- renden Staaten, welche er dazu geeignet hält, auszuwählen, um ihm bei Verwaltung der Zolleinnahmen zu helfen, den Schmuggel- handel zu verhindern, die Hafengrenzen zu bestimmen, die Func- tionen eines Hafen-Capitäns zu versehen und Leuchtthürme, Boyen u. s. w. aufzustellen, zu deren Unterhaltung ihm die Tonnengelder die Mittel liefern werden. Der Vertrag mit China . Anh. I. Zusatz-Bestimmung. Revision des Tarifes . Die Hohen contrahirenden Theile sind dahin übereingekom- men, dass der gegenwärtige Tarif von zehn (10) zu zehn (10) Jahren einer Revision soll unterworfen werden können, um mit den durch die Zeit herbeigeführten Werthveränderungen der Boden- und Industrie-Erzeugnisse der beiden Reiche in Einklang gebracht zu werden. (L. S.) (gez.) Graf zu Eulenburg . Tsuṅ-luen . Tsuṅ-hau . ANHANG II. DER VERTRAG MIT SIAM . FREUNDSCHAFTS-, HANDELS- UND SCHIFFAHRTS-VERTRAG ZWI- SCHEN DEN STAATEN DES ZOLLVEREINS UND DEN GROSSHERZOG- THÜMERN MECKLENBURG-SCHWERIN UND MECKLENBURG-STRELITZ EINERSEITS, UND DEM KÖNIGREICH SIAM ANDERERSEITS. S eine Majestät der König von Preussen , sowohl für Sich und in Vertretung der Ihrem Zoll- und Steuersystem angeschlossenen souveränen Länder und Landestheile, nämlich: Luxemburgs , Anhalt-Dessau-Cöthens , Anhalt-Bernburgs , Wal- decks und Pyrmonts , Lippe’s und Meisenheims , als auch im Namen der übrigen Staaten des Zollvereins, nämlich: Bayerns , Sachsens , Hannovers , Württembergs , Badens , des Kurfürstenthums Hessen , des Grossherzogthums Hessen (einschliesslich des Amtes Homburg ), der Staaten des Thüringischen Zoll- und Handelsvereins, nämlich: Sachsen- Weimar-Eisenachs , Sachsen-Meiningens , Sachsen-Alten- burgs , Sachsen-Coburg-Gothas , Schwarzburg-Rudolstadts , Schwarzburg-Sondershausens , Reuss älterer Linie und Reuss jüngerer Linie , Braunschweigs , Oldenburgs , Nassaus und der freien Stadt Frankfurt , sowie die Grossherzogthümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklen- burg-Strelitz einerseits, und Ihre Mäjestäten Phra Bat Somdetš Phra Paramendr Maha- moṅkut, Phra Kom Klau, Tšau Yu Hua , der Erste König von Siam , Der Vertrag mit Siam . Anh. II. Phra Bard Somdetsch Phra Pawarendr Ramesr Mahiswa- resr, Phra Pin Klau Tšau Yu Hua , der Zweite König von Siam , andererseits, von dem aufrichtigen Wunsche beseelt, freundschaftliche Beziehun- gen zwischen den vorgedachten Staaten und Siam zu begründen, haben beschlossen, solche durch einen gegenseitig vortheilhaften und den Unterthanen der Hohen vertragenden Mächte nützlichen Freundschafts- und Handelsvertrag zu befestigen. Zu dem Ende haben zu Ihren Bevollmächtigten ernannt: Seine Majestät der König von Preussen : den Kammerherrn Friedrich Albrecht Grafen zu Eulen- burg , Allerhöchstihren ausserordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister, Ritter des Rothen Adler-Ordens dritter Klasse mit der Schleife, Ritter des Johanniter-Ordens u. s. w. und Ihre Majestäten der Erste und Zweite König von Siam : Seine Königliche Hoheit den Prinzen Khroma Luaṅ Woṅsa Dirai Snid , Seine Excellenz Tšau Phya Sri Suriwoṅse Samutra Phra Kalahum , Oberbefehlshaber der Truppen und General- Gouverneur der südwestlichen Provinzen, Seine Excellenz Tšau Phya Rawe Moṅs Maha Kosadhiputi , Minister der auswärtigen Angelegenheiten und Ge- neral-Gouverneur der Ostküste des Golfs von Siam , Seine Excellenz Tšau Phya Yommerat , Gouverneur der Stadt Baṅkok und ihrer Umgebungen, Seine Excellenz Phaya Muntri Phra Kalahum Fainie , General-Gouverneur der nördlichen Provinzen, welche, nachdem sie ihre Vollmachten sich mitgetheilt, und solche in guter und gehöriger Form befunden haben, über nachstehende Arti- kel übereingekommen sind: Artikel 1. Zwischen den contrahirenden deutschen Staaten einerseits und Ihren Majestäten dem Ersten und Zweiten Könige von Siam , Ihren Erben und Nachfolgern andererseits, sowie desgleichen zwischen den beiderseitigen Staatsangehörigen soll dauernder Friede und unwandelbare Freundschaft bestehen. Anh. II. Der Vertrag mit Siam . Die beiderseitigen Unterthanen sollen in den Gebieten des anderen Theils vollständigen Schutz für Person und Eigenthum geniessen. Es soll den Unterthanen und Schiffen der Hohen vertrag- schliessenden Mächte vollkommene Freiheit des Handels und der Schiffahrt in jedem Theile ihrer beiderseitigen Gebiete zustehen, wo immer Handel oder Schiffahrt den Angehörigen oder Schiffen der am meisten begünstigten Nation gegenwärtig gestattet ist, oder künftig gestattet werden möchte. Artikel 2. Die Hohen vertragschliessenden Theile erkennen Sich gegen- seitig das Recht zu, in den Häfen und Städten Ihrer respectiven Staaten Generalconsuln, Consuln, Viceconsuln und Consular-Agenten zu bestellen, und sollen die erwähnten Beamten dieselben Vorrechte, Freiheiten, Befugnisse und Befreiungen geniessen, deren sich die betreffenden Beamten der meist begünstigten Nation jetzt oder künftig erfreuen möchten. Indessen sollen gedachte Consular- beamte ihre Functionen nicht eher antreten dürfen, als bis sie das Exequatur der Landesregierung erhalten haben. Die deutschen contrahirenden Staaten werden für jeden Hafen oder jede Stadt nicht mehr als einen Consularbeamten ernennen. Für diejenigen Orte aber, an welchen sie einen Generalconsul oder Consul be- stellen, sollen sie berechtigt sein, ausserdem noch einen Viceconsul oder Consular-Agenten zur Vertretung des Generalconsuls oder Con- suls in Abwesenheit oder Behinderungsfällen zu ernennen. Vice- consuln oder Consular-Agenten können auch von den ihnen vor- gesetzten Generalconsuln oder Consuln ernannt werden. Der deutsche Consularbeamte soll die Interessen der in Siam ansässigen oder daselbst ankommenden Unterthanen der contrahi- renden deutschen Staaten unter seinem Schutze, seiner Aufsicht und seiner Controle haben. Er soll sowohl sich selbst allen Be- stimmungen dieses Vertrages gemäss verhalten, als die Beobachtung derselben von Seiten deutscher Unterthanen erwirken. Desgleichen soll er alle Verordnungen und Vorschriften bekannt machen und gehörig zum Vollzuge bringen, welche zur Nachachtung deutscher Staatsangehörigen für die Art und Weise ihres Geschäftsbetriebes und für die gehörige Befolgung der Landesgesetze bereits erlassen sind, oder noch erlassen werden möchten. Der Vertrag mit Siam . Anh. II. In Fällen der Abwesenheit eines Consularbeamten der deut- schen contrahirenden Staaten können Siam besuchende oder daselbst sich aufhaltende Unterthanen dieser Staaten die Vermittelung des Consuls einer befreundeten Nation in Anspruch nehmen, oder auch sich direct an die Landesbehörden wenden, die dann die nöthigen Vorkehrungen treffen sollen, um den betreffenden Deutschen An- gehörigen alle Vortheile des gegenwärtigen Vertrages zu sichern. Artikel 3. Den Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten, welche Siam besuchen oder dort ihren Wohnsitz nehmen, soll die freie Ausübung ihrer Religion gestattet, und sie sollen befugt sein, an solchen geeigneten Orten, wo ihnen hierzu von den siamesischen Behörden die Erlaubniss gegeben wird, Kirchen zu erbauen. Eine solche Erlaubniss soll nicht versagt werden dürfen, ohne dass hin- reichende Gründe dafür angeführt werden. Artikel 4. Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten, die im Königreiche Siam sich aufzuhalten wünschen, müssen sich auf dem deutschen Consulate einzeichnen lassen, von welcher Einzeichnung den siamesischen Behörden Abschrift mitzutheilen ist. So oft ein Unterthan eines der contrahirenden deutschen Staaten sich in einer Sache an die siamesischen Behörden wenden will, hat er sein Ge- such oder seine Reclamation vorab dem deutschen Consularbeamten vorzulegen, und soll dieser die Eingabe, wenn er sie begründet und anständig abgefasst findet, befördern, anderenfalls aber den Inhalt entsprechend abändern. Artikel 5. Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten, die in Siam ihren Wohnsitz aufschlagen wollen, dürfen dieses vorerst nur in der Stadt Baṅkok oder innerhalb eines Bezirkes thun, dessen Grenzen, übereinstimmend mit den Festsetzungen der übrigen zwischen Siam und den fremden Mächten geschlossenen Verträge, folgende sind: Im Norden: der Baṅputsa -Canal , von seiner Mündung in den Tšauphya -Fluss bis an die alten Mauern der Stadt Lophaburi , und eine gerade Linie von dort bis zum Landungsplatze Pragnam am Fluss Passak in der Nähe der Stadt Saraburi . Anh. II. Der Vertrag mit Siam . Im Osten: Eine gerade Linie vom Landungsplatze Pragnam bis nach dem Zusammenflusse des Kloṅkut -Canals mit dem Flusse Baṅpakoṅ , und dieser Fluss bis zu seiner Mündung. Auf dem Küstenstrich zwischen dem Baṅpakoṅ und der Insel Simaharadtšah soll es deutschen Unterthanen freistehen, sich an allen Orten nie- derzulassen, die nicht mehr als vierundzwanzig Stunden von Baṅ- kok entfernt sind. Im Süden: die Insel Simaharadtšah , die Sitšaṅ -Inseln und die Mauern von Petšaburi . Auf der Westseite des Golfs sollen sich deutsche Unter- thanen in Petšaburi , und von dort bis zum Mekloṅ -Flusse überall innerhalb einer Entfernung von vierunzwanzig Stunden von Baṅkok niederlassen dürfen. Von der Mündung des Mekloṅ an soll dieser die Grenze bilden bis zur Stadt Raatpuri , dann eine gerade Linie von Raatpuri nach Saphanburi , und von dort nach der Mündung des Baṅputsa -Canals in den Tšauphya -Fluss . Indessen dürfen deutsche Angehörige auch ausserhalb dieser Grenzen ihren Wohnsitz nehmen, sobald sie hierzu die Erlaubniss der siamesischen Behörden erhalten. Allen Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten steht es frei, im ganzen Königreich Siam zu reisen, Handel zu trei- ben und Waaren, die nicht verboten sind, zu kaufen oder zu ver- kaufen, von wem und an wen sie wollen. Sie sind nicht ver- pflichtet, von Beamten, oder solchen, die im Besitze eines Mono- pols sind, zu kaufen, oder an dieselben zu verkaufen, und es ist Niemandem gestattet, sie in ihren Handelsgeschäften zu behindern oder zu stören. Artikel 6. Die siamesische Regierung wird deutschen Staatsangehörigen keinerlei Hindernisse in den Weg legen, siamesische Unterthanen, in welcher Eigenschaft es auch sei, in Dienst zu nehmen. Wenn je- doch ein siamesischer Unterthan irgend einem besonderen Herrn angehört oder Dienste schuldet, so darf er sich bei einem deutschen Angehörigen ohne die Zustimmung seines Herrn nicht verdingen. Hat er es dennoch gethan, so ist das Dienstverhältniss, wenn in dem Dienstvertrage nicht eine noch kürzere Frist verabredet wor- den ist, oder der deutsche Angehörige den siamesischen Diener nicht sogleich entlassen will, als nur auf drei Monate eingegangen anzusehen, und ist der deutsche Angehörige verpflichtet, während Der Vertrag mit Siam . Anh. II. dieser Zeit zwei Drittheile des bedungenen Lohnes nicht an den siamesischen Diener, sondern an denjenigen zu zahlen, welchem letzterer angehört oder Dienste schuldet. Wenn Siamesen, die im Dienste eines deutschen Unter- thanen stehen, die siamesischen Gesetze übertreten, oder wenn siamesische Verbrecher oder Flüchtlinge bei einem deutschen Unter- thanen in Siam ihre Zuflucht suchen, so soll, auf erfolgten Nach- weis ihrer Schuld oder ihres Fluchtversuches, der deutsche Con- sularbeamte die nöthigen Maassregeln ergreifen, um die Auslieferung derselben an die siamesischen Behörden zu bewerkstelligen. Artikel 7. Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten sollen nicht wider ihren Willen im Königreiche Siam zurückgehalten wer- den dürfen, es sei denn, die siamesischen Behörden könnten dem deutschen Consularbeamten darthun, dass rechtmässige Gründe für ein solches Verfahren vorliegen. Innerhalb der durch Artikel 5. dieses Vertrages festgestellten Grenzen steht es den Unterthanen der deutschen contrahirenden Staaten frei, ohne Hinderung oder Aufenthalt irgend welcher Art zu reisen, vorausgesetzt, dass sie im Besitze eines vom Consular- beamten unterzeichneten Passes sind, der in siamesischer Sprache Namen, Gewerbe und Personalbeschreibung des Reisenden enthält und von der zuständigen siamesischen Behörde gegengezeichnet ist. Sollten sie über die besagten Grenzen hinauszugehen und im Innern des Königreichs Siam zu reisen wünschen, so müssen sie sich einen auf Ansuchen des Consularbeamten ihnen zu ertheilenden Pass der siamesischen Behörden verschaffen, und darf solcher Pass niemals verweigert werden, es sei denn mit Zustimmung des Con- sularbeamten der deutschen contrahirenden Staaten. Artikel 8. Unterthanen der deutschen contrahirenden Staaten dürfen innerhalb der im Artikel 5. bezeichneten Grenzen Ländereien oder Pflanzungen kaufen und verkaufen, pachten oder verpachten, auch Häuser bauen, miethen, kaufen oder vermiethen und verkaufen. Jedoch steht die Befugniss 1) auf dem linken Flussufer innerhalb der eigentlichen Stadt Baṅkok und auf dem Terrain, welches zwischen den Stadt- Anh. II. Der Vertrag mit Siam . mauern und dem Canal Kloṅ-paduṅ-kruṅ-krasem gelegen ist, und 2) auf dem rechten Flussufer zwischen den Puncten, welche der Abzweigung des Canals Kloṅ-paduṅ-kruṅ-krasem vom Fluss und der Wiedereinmündung desselben in den Fluss gegenüberliegen, bis auf eine Entfernung von zwei englischen Meilen vom Flusse, Grundbesitz zu erwerben, nur denjenigen zu, welche eine besondere Erlaubniss dazu von der siamesischen Regierung erhalten haben, oder bereits zehn Jahre in Siam wohnen. Um in den Besitz solchen Grundeigenthums zu gelangen, können die deutschen Staatsangehöri- gen durch den Consularbeamten ein Ansuchen an die siamesische Regierung richten, worauf diese einen Beamten ernennen wird, der gemeinschaftlich mit dem Consularbeamten den Betrag der Kauf- summe der Billigkeit gemäss bestimmen und festsetzen, und die Grenzen des Grundstücks ziehen und fixiren soll. Die siamesische Regierung wird dann das Eigenthum an den deutschen Käufer über- tragen. Alles Grundeigenthum deutscher Unterthanen wird unter dem Schutze des Distriktsgouverneurs und der betreffenden Local- behörden stehen, der Eigenthümer aber hat sich in gewöhnlichen Angelegenheiten allen ihm durch dieselben zugehenden ordentlichen Anweisungen zu fügen und ist den nämlichen Steuern unterworfen, als die Unterthanen oder Bürger der meistbegünstigten Nation. Unterthanen der deutschen contrahirenden Staaten sollen ferner überall in Siam nach Minen zu schürfen und solche zu er- öffnen die Befugniss haben, und sobald die gehörigen Nachweise geliefert werden, soll der Consularbeamte in Verbindung mit den siamesischen Behörden die geeigneten Bedingungen und Bestimmungen festsetzen, damit die Minen bearbeitet werden können. Ebenso sollen, nachdem in gleicher billiger Weise die desfallsigen Bedingun- gen und Bestimmungen zwischen dem Consularbeamten und den siamesischen Behörden verabredet worden sind, deutsche Unter- thanen auch jede Art von Fabrikgeschäft anlegen und betreiben dürfen, welches den Gesetzen nicht zuwiderläuft. Artikel 9. Wenn ein im Königreiche Siam dauernd oder vorübergehend sich aufhaltender Unterthan eines der contrahirenden deutschen Staaten gegen einen Siamesen Grund zu klagen oder irgend einen IV. 25 Der Vertrag mit Siam . Anh. II. Anspruch zu machen hat, so soll er seine Beschwerde zunächst dem deutschen Consularbeamten vorlegen, und dieser, nach ge- schehener Prüfung der Sache, dieselbe gütlich auszugleichen suchen. Ebenso soll der Consularbeamte, wenn ein Siamese eine Klage gegen einen deutschen Angehörigen hat, dieselbe anhören und ein gütliches Abkommen zu treffen bemüht sein; sollte in solchen Fällen eine gütliche Einigung aber nicht herbeizuführen sein, soll der Consular- beamte sich an den competenten siamesischen Beamten wenden, und Beide sollen dann, nach gemeinschaftlicher Prüfung der Sache, der Billigkeit gemäss entscheiden. Artikel 10. In Siam verübte Verbrechen oder Vergehen sollen, wenn der Thäter ein Unterthan eines der contrahirenden deutschen Staaten ist, durch den Consularbeamten den beteffenden deutschen Gesetzen gemäss bestraft, oder der Schuldige soll zur Bestrafung nach Deutsch- land geschickt werden. Ist der Thäter ein Siamese, so soll er nach den Gesetzen seines Landes von den siamesischen Behörden be- straft werden. Artikel 11. Wenn gegen Schiffe eines der contrahirenden deutschen Staaten an der Küste oder in der Nähe des Königreichs Siam ein Akt der Seeräuberei begangen werden sollte, so sollen, auf die Nachricht davon, die Behörden des nächstgelegenen Platzes alle Mittel zur Gefangennahme der Seeräuber und Wiedererlangung des geraubten Gutes aufbieten, und soll sodann das Letztere an den Consularbeamten Behufs Rückerstattung an die Eigenthümer abge- liefert werden. Dasselbe Verfahren soll von den siamesischen Behörden in allen Fällen von Plünderung und Räuberei, die auf dem Lande gegen das Eigenthum deutscher Unterthanen begangen werden möchte, eingehalten werden. Die siamesische Regierung soll nicht verantwortlich gehalten werden für gestohlenes Eigen- thum deutscher Angehörigen, sobald bewiesen ist, dass sie alle in ihrer Macht stehenden Mittel angewandt hat, es wieder- zuerlangen, und derselbe Grundsatz soll auf siamesische Unter- thanen, die sich unter dem Schutze eines der contrahirenden deutschen Staaten befinden, und auf deren Eigenthum zur An- wendung kommen. Anh. II. Der Vertrag mit Siam . Artikel 12. Die siamesischen Behörden sollen dem deutschen Consular- beamten, auf desfallsiges schriftliches Ansuchen, alle Hülfe und Unterstützung gewähren zur Auffindung und Verhaftung deutscher Matrosen oder sonstiger Unterthanen, sowie von Personen, die unter dem Schutze einer deutschen Flagge stehen. Desgleichen soll der deutsche Consularbeamte, auf Requisition, von den siamesischen Behörden jeden erforderlichen Beistand und genügende Mannschaft erhalten, um seiner Autorität über deutsche Unterthanen gebührende Geltung zu verschaffen und die Disciplin unter der deutschen Marine in Siam aufrecht zu erhalten. In gleicher Weise haben, wenn ein der Desertion oder eines anderen Verbrechens schuldiger Siamese sich in das Haus eines Unterthanen eines der contrahirenden deut- schen Staaten oder an Bord eines Schiffes derselben flüchten sollte, die Localbehörden sich an den deutschen Consularbeamten zu wenden, und dieser wird, auf erfolgten Nachweis der Strafbarkeit des An- geklagten, sofort dessen Verhaftung genehmigen. Jede Hehlerei oder Connivenz soll beiderseits auf das Sorgfältigste vermieden werden. Artikel 13. Sollte ein Unterthan eines der deutschen contrahirenden Staaten, der im Königreich Siam ein Geschäft treibt, insolvent werden, so hat der deutsche Consularbeamte sein sämmtliches Ver- mögen in Beschlag zu nehmen, um dasselbe pro rata unter die Gläubiger vertheilen zu können. Von Seiten der siamesischen Be- hörden soll dem Consularbeamten zu dem Ende alle Unterstützung zu Theil werden. Letzterer soll kein Mittel unversucht lassen, um auch solches Vermögen zum Besten der Gläubiger einzuziehen, welches der Fallit in anderen Ländern besitzen möchte. In gleicher Weise sollen in Siam die Behörden des Königreichs das Vermögen derjenigen siamesischen Unterthanen adjudiciren und vertheilen, welche ihren Geschäftsverbindlichkeiten gegen Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten nicht sollten nachkommen können. Artikel 14. Sollte ein siamesischer Unterthan einem deutschen Staats- angehörigen die Zahlung einer Schuld verweigern oder ihr auszu- weichen suchen, so sollen die siamesischen Behörden dem Gläubi- ger jede Hülfe und Erleichterung gewähren, damit er zu dem Seinigen 25* Der Vertrag mit Siam . Anh. II. komme. In gleicher Weise soll der deutsche Consularbeamte siame- sischen Unterthanen allen Beistand leisten, um in den Besitz ihrer etwaigen Forderungen gegen Unterthanen der contrahirenden deut- schen Staaten zu gelangen. Artikel 15. Im Falle des Ablebens eines ihrer respectiven Unterthanen in dem Gebiete des einen oder des anderen der Hohen vertragenden Theile, soll sein Nachlass dem Vollstrecker seines letzten Willens, oder in dessen Ermangelung der Familie oder den Geschäftstheil- habern des Verstorbenen übergeben werden. Hat der Verstorbene auch keine Verwandte oder Geschäftstheilhaber, so soll sein Nach- lass in den Staaten der Hohen vertragenden Theile, soweit die Gesetze des Landes es gestatten, dem Gewahrsam der respectiven Consularbeamten übergeben werden, auf dass diese in üblicher Weise nach den Gesetzen und Gewohnheiten ihres Landes damit verfahren. Artikel 16. Kriegsschiffe eines der contrahirenden deutschen Staaten dürfen in den Fluss einlaufen und bei Paknam Anker werfen; wollen sie aber nach Baṅkok hinaufgehen, so müssen sie zuvor die siame- sischen Behörden davon benachrichtigen und sich mit denselben über den Ankerplatz verständigen. Artikel 17. Sollte ein deutsches Schiff einen siamesischen Hafen in Noth anlaufen, so sollen die Ortsbehörden demselben bei Vornahme der nöthigen Ausbesserungen und Einnahme von frischem Proviant jede Erleichterung gewähren, damit es im Stande ist, die Reise fortzu- setzen. Sollte ein deutsches Schiff an der Küste des Königreichs Siam scheitern, so sollen die siamesischen Behörden des nächstge- legenen Platzes auf die Nachricht davon sofort der Mannschaft allen möglichen Beistand leisten, ihrem Mangel abhelfen und alle Maass- regeln ergreifen, die zur Rettung und Sicherung des Schiffes und der Ladung nothwendig sind. Sie sollen sodann den deutschen Consularbeamten von dem, was ihrerseits geschehen, benachrichtigen, damit dieser in Gemeinschaft mit der competenten siamesischen Be- hörde die nöthigen Schritte thun kann, um die Mannschaft nach Hause zu senden, und wegen Wrack und Ladung die nöthigen Ver- fügungen zu treffen. Anh. II. Der Vertrag mit Siam . Artikel 18. Gegen Zahlung der weiter unten bemerkten Ein- und Aus- fuhrzölle sollen die einem der contrahirenden deutschen Staaten angehörenden Schiffe und deren Ladungen in den siamesischen Häfen, sowohl beim Eingehen wie beim Ausgehen, von allen Ton- nen-, Lootsen- und Ankergeldern oder sonstigen Abgaben irgend welcher Art frei sein. Solche Schiffe sollen alle Privilegien und Freiheiten geniessen, welche, sei es den Dschunken und eigenen Fahrzeugen von Siam , sei es den Schiffen der meistbegünstigten Nation, jetzt eingeräumt sind oder künftig eingeräumt werden möchten. Artikel 19. Der Zoll auf Waaren, welche in Schiffen, die einem der contrahirenden deutschen Staaten angehören, in das Königreich Siam eingeführt werden, soll drei Procent vom Werthe nicht über- steigen. Derselbe soll nach Wahl des Importeurs entweder in natura oder in Geld bezahlt werden können. Wenn der Importeur sich mit den siamesischen Zollbeamten über den Werth einer bestimmten eingeführten Waare nicht einigen kann, so soll eine Berufung an den Consularbeamten und die zuständige siamesische Behörde statt- finden, welche, nachdem sie erforderlichen Falls jeder einen oder zwei Kaufleute als beiräthige Sachverständige zugezogen haben, die Sache der Gerechtigkeit gemäss entscheiden sollen. Nach Entrichtung des genannten Einfuhrzolls von drei Pro- cent kann die Waare, frei von jeder weiteren Abgabe und Belastung, en gros oder en détail verkauft werden. Sollten Waaren gelandet, aber nicht verkauft und dann wieder zum Export verschifft wer- den, so ist der gesammte darauf bezahlte Zoll zurückzuzah- len. Ueberhaupt soll kein Zoll von nicht verkauften Ladungen erhoben werden. Auf die einmal eingeführten Waaren aber sol- len keine weiteren Zölle, Steuern oder Auflagen gelegt oder von ihnen erhoben werden, sobald dieselben in die Hände siamesi- scher Käufer übergegangen sind. Artikel 20. Der von siamesischen Erzeugnissen vor oder bei der Ver- schiffung zu zahlende Zoll soll nach dem, dem gegenwärtigen Ver- trage beigefügten Tarife erhoben werden. Jeder nach diesem Tarife Der Vertrag mit Siam . Anh. II. einem Ausfuhrzoll unterliegende Artikel soll im ganzen Königreiche Siam von allen Durchgangs- oder sonstigen Abgaben frei sein, und ebenso sollen alle diejenigen siamesischen Erzeugnisse, welche bereits einer Durchgangs- oder sonstigen Besteuerung unterlegen haben, vor oder bei der Verschiffung überall nicht weiter, weder nach Maassgabe des angeschlossenen Tarifs, noch in irgend sonstiger Weise besteuert werden dürfen. Artikel 21. Gegen Zahlung der oben genannten Zölle, welche künftig nicht erhöht werden dürfen, soll es den Unterthanen der deutschen contrahirenden Staaten freistehen, von deutschen und fremden Häfen, in das Königreich Siam einzuführen und ebenso, wohin sie wollen, auszuführen alle und jede Waare, welche nicht am Tage der Unterzeichnung des gegenwärtigen Vertrages der Gegenstand eines förmlichen Verbots oder eines besonderen Monopols ist. In- dessen behält die siamesische Regierung sich das Recht vor, die Ausfuhr von Reis zu verbieten, wenn ihrer Meinung nach Grund vorliegt, einen Mangel im Lande zu befürchten. Doch soll ein solches Verbot, welches einen Monat, bevor es in Kraft tritt, zu publiciren ist, auf die Erfüllung von Contracten, welche in gutem Glauben vor der Publication desselben abgeschlossen sind, keinen Einfluss üben, und sollen deutsche Kaufleute die siamesischen Be- hörden von jedem Contract in Kenntniss setzen, den sie vor dem Verbote abgeschlossen haben. Auch soll es erlaubt sein, dass Schiffe, welche zur Zeit der Ankündigung des Ausfuhrverbotes be- reits in Siam angekommen, oder welche von China und Singapore aus nach Siam unterwegs sind, und die dortigen Häfen eher ver- lassen haben, als das Ausfuhrverbot daselbst bekannt sein konnte, mit Reis behufs Ausfuhr desselben beladen werden. Sollte die siamesische Regierung demnächst den Zoll auf irgend welche, in siamesischen oder anderen Schiffen ein- oder ausgeführte Waaren herabsetzen, so sollen die Vortheile solcher Herabsetzung sofort auch den gleichen Erzeugnissen zu Gute kommen, welche in Schiffen der deutschen contrahirenden Staaten ein- oder ausgeführt werden. Artikel 22. Die Consularbeamten der contrahirenden deutschen Staaten haben darauf zu sehen, dass die deutschen Kaufleute und Schiffer Anh. II. Der Vertrag mit Siam . sich den Vorschriften gemäss verhalten, welche dem gegenwärtigen Vertrage beigefügt sind, und die siamesischen Behörden sollen sie zu diesem Ende unterstützen. Alle durch Uebertretungen des gegen- wärtigen Vertrages verwirkten Geldstrafen sollen der siamesischen Regierung zufallen. Artikel 23. Den contrahirenden deutschen Staaten und ihren Untertha- nen wird die freie und gleiche Theilnahme an allen Privilegien zu- gestanden, welche der Regierung, den Bürgern oder Unterthanen irgend einer anderen Nation Seitens der siamesischen Regierung, bisher bewilligt worden sind oder noch bewilligt werden möchten. Artikel 24. Nach Ablauf von zwölf Jahren, vom Tage der Ratification dieses Vertrages an gerechnet, können die contrahirenden Staaten eine Revision des gegenwärtigen Vertrages, sowie der unten ange- hängten Handelsbestimmungen und des Tarifs beantragen, um die- jenigen Abänderungen, Zusätze und Verbesserungen daran vorzu- nehmen, welche die Erfahrung als wünschenswerth dargethan haben sollte. Ein solcher Antrag muss jedoch mindestens ein Jahr zuvor angekündigt werden. Artikel 25. Der gegenwärtige Vertrag ist in deutscher, siamesischer und englischer Sprache vierfach ausgefertigt worden. Alle diese Aus- fertigungen haben denselben Sinn und dieselbe Bedeutung, aber der englische Text wird als der Urtext des Vertrages angesehen werden, dergestalt, dass, wenn eine verschiedene Auslegung des deutschen und siamesischen Textes irgendwo stattfinden sollte, die englische Ausfertigung entscheidend sein soll. Der Vertrag soll sofort in Kraft treten, und die Ratificatio- nen desselben sollen binnen achtzehn Monaten, vom heutigen Tage an gerechnet, zu Baṅkok ausgetauscht werden. Dessen zu Urkunde haben die Eingangs genannten Bevoll- mächtigten den gegenwärtigen Vertrag unterzeichnet und unter- siegelt zu Baṅkok am siebenten Tage des Monats Februar im Jahre des Herrn Eintausend Achthundert und Zwei und Sechszig, ent- sprechend dem siamesischen Datum vom achten Tage des dritten Der Vertrag mit Siam . Anh. II. Mondes im Jahre des Hahns, dem dritten des Jahrzehends und dem elften der gegenwärtigen Regierung, im Jahre Eintausend Zweihundert und Drei und Zwanzig der siamesischen bürgerlichen Zeitrechnung. (L. S.) (gez.) Graf zu Eulenburg . Khroma Luaṅ Woṅsa Dirai Snid . Tšau Phya Sri Suriwoṅse Samutra Phra Kalahum . Tšau Phya Rawe Moṅs Maha Kosadhiputi . Tšau Phya Yommerat . Phaya Muntri Phra Kalahum Fainie . Anh. II. Der Vertrag mit Siam . HANDELS-BESTIMMUNGEN. 1. Der Capitän eines jeden in Handelszwecken nach Baṅkok kommenden Schiffes eines der contrahirenden deutschen Staaten muss, je nachdem ihm das Eine oder das Andere passender er- scheint, entweder vor oder nach dem Einlaufen in den Fluss die Ankunft seines Schiffes bei dem Zollhause zu Paknam melden und zugleich die Zahl seiner Mannschaft, der mitgeführten Kanonen, sowie den Hafen, woher er kommt, angeben. Sobald sein Schiff zu Paknam Anker geworfen, hat er alle seine Kanonen und Mu- nition den Zollhausbeamten in Verwahrung zu geben, und ein Zoll- hausbeamter wird dann dem Schiffe beigegeben werden und mit demselben nach Baṅkok gehen. 2. Jedes Handelsschiff, welches an Paknam vorbeigefahren ist, wird nach Paknam zurückgeschickt werden, um jener Vorschrift nachzukommen, und hat ausserdem eine Geldstrafe bis zu acht- hundert Tikals verwirkt. Nach Ablieferung seiner Kanonen und Munition wird demselben die Rückkehr nach Baṅkok gestattet werden. 3. Sobald ein deutsches Schiff zu Baṅkok Anker geworfen, hat der Capitän desselben, wofern nicht ein Festtag dazwischen fällt, sich innerhalb vierundzwanzig Stunden nach Ankunft auf das deutsche Consulat zu begeben und daselbst die Schiffspapiere, Connossemente u. s. w. zugleich mit einem richtigen Manifeste über seine Ladung abzugeben, und, nachdem der Consularbeamte diese Einzelnheiten dem Zollhause mitgetheilt hat, wird von diesem sofort die Erlaubniss zum Löschen ertheilt werden. Sollte die Zollbehörde mit Ertheilung dieser Erlaubniss länger als vierund- zwanzig Stunden zögern, so wird letztere mit gleicher Wirkung, als ob sie von der Zollbehörde ausgegangen wäre, vom Consular- beamten ertheilt werden. Unterlässt der Capitän, seine Ankunft zu melden, oder zeigt derselbe ein falsches Manifest vor, so unterliegt er einer Strafe bis Der Vertrag mit Siam . Anh. II. zu vierhundert Tikals ; es soll ihm jedoch gestattet sein, etwaige Irrthümer in seinem Manifeste innerhalb vierundzwanzig Stunden nach Ablieferung desselben an den Consularbeamten noch nach- träglich zu berichtigen, ohne Strafe dafür gewärtigen zu müssen. 4. Ein deutsches Schiff, welches zu löschen und auszuladen an- fängt, ehe es dazu die Erlaubniss erhalten hat, oder welches schmug- gelt, sei es im Flusse oder ausserhalb der Barre, hat eine Geldstrafe bis zu achthundert Tikals und Confiscation des geschmuggelten oder ausgeladenen Gutes zu gewärtigen. 5. Sobald ein deutsches Schiff seine Ladung gelöscht und seine neue Fracht wieder eingenommen, alle Abgaben bezahlt und ein rich- tiges Manifest seiner Ausfuhrladung dem deutschen Consularbeamten übergeben hat, soll dem Schiffer ein siamesischer Clarirungsschein er- theilt werden, und der Consularbeamte wird dann, wenn nicht sonstige gesetzliche Hindernisse der Abreise des Schiffes entgegenstehen, dem Capitän die Schiffspapiere wieder zustellen und dem Schiffe die Ab- fahrt gestatten. Ein Zollhausbeamter wird das Schiff nach Paknam begleiten; dort wird es von den Zollhausbeamten dieser Station in- spicirt werden und wird die bei der Ankunft zur Verwahrung abge, lieferten Kanonen und Munition zurückerhalten. 6. Alle Zollhausbeamten sollen ein Abzeichen tragen, woran sie als solche erkannt werden können, wenn sie in Ausübung ihres Amtes begriffen sind, und es sollen immer nur zwei Zollhausbeamte auf einmal an Bord eines deutschen Schiffes kommen dürfen, es sei denn, dass eine grössere Zahl erforderlich wäre, um Schmug- gelgut in Beschlag zu nehmen. (L. S.) (gez.) Graf zu Eulenburg . Khroma Luaṅ Woṅsa Dirai Snid. Tšau Phya Sri Suriwoṅse Samutra Phra Kalahum . Tšau Phya Rawe Moṅs Maha Kosadhiputi . Tšau Phya Yommerat . Phaya Muntri Phra Kalahum Fainie . ANHANG III. DIE AUSWECHSELUNG DER RATIFICATIONS- URKUNDEN IN SHANG-HAE . D er königlich preussische General-Consul Herr von Rehfues , welcher am 18. August 1862 in Shang-hae eintraf, ersuchte von da aus den Prinzen von Kuṅ um Ernennung von Bevollmächtigten, mit welchen die Auswechselung der Ratifications-Urkunden des zwischen Preussen und China geschlossenen Vertrages vollzogen werden könnte. Erst Anfang November erhielt Derselbe von den Behörden in Shang-hae die Mittheilung, dass die betreffenden Be- fehle aus Pe-kiṅ eingegangen seien. Der zum kaiserlichen Com- missar ernannte General-Gouverneur Siuë beauftragte den Gross- richter von Kiaṅ-su , Lëu , sich über die Formen der Auswechselung mit Herrn von Rehfues zu verständigen. Die Chinesen sehen näm- lich alle Consuln ohne Unterschied für Beamten zweiten Ranges an und lassen selbst die diplomatische Eigenschaft der General- Consuln nicht gelten. Auf diesen Grundsatz gestützt weigerte sich Siuë als Mandarin des rothen Knopfes ohne Abzeichen, — also ersten Ranges, — mit Herrn von Rehfues persönlich zu verhan- deln. Der Grossrichter Lëu , vom blauen Knopfe, traf nach einigen Schwierigkeiten wegen der Zahl der auszutauschenden ratificirten Exemplare mit dem Legationssecretär Herrn von Radowitz die nöthigen Verabredungen. Im Vertrage war einfach gesagt, dass derselbe durch Seine Majestät den König von Preussen und durch den Kaiser von China ratificirt werden solle. Herr von Rehfues hatte dagegen den Auftrag, die von sämmtlichen contrahirenden deutschen Staaten einzeln ratificirten 23 Exemplare wo möglich ge- gen ebensoviele vom Kaiser von China ratificirte auszutauschen. Da aber die chinesische Form der Ratification die Auswechselung von Original -Exemplaren fordert, so war dieser Zwiespalt nicht vollständig zu lösen. Am 14. Januar 1863 wurde der feierliche Act im Yamum des höchsten Gerichtshofes zu Shang-hae vollzogen. Von chinesischer Seite war ausser dem Grossrichter und stellvertretenden Schatz- meister Lëu der Tau-tae gegenwärtig. Der erste Dolmetscher des kaiserlich französischen Consulates, Herr Lemaire , hatte die Güte, Die Ratification des Vertrages mit China . Anh. III. Herrn von Rehfues mit seiner Sprachkenntniss zu unterstützen. Nach genauer Prüfung der ausgetauschten Original-Exemplare wurde ein Protocoll verlesen und unterzeichnet, welches erklärte, dass durch die vollzogene Auswechselung der Vertrag für alle contra- hirenden deutschen Staaten in Kraft trete. Zu Erwähnung der anderen 22 Urkunden waren die chinesischen Commissare nicht zu bewegen, da sie darüber keine Instruction aus Pe-kiṅ hatten. — Das dem General-Consul übergebene deutsch-französisch-chinesische Original-Exemplar war mit dem Waṅ-ti-tši-pau , dem fünften der fünfundzwanzig kaiserlichen Reichssiegel versehen. Diese Form der Ratificirung wurde auch von allen anderen Mächten als gültig acceptirt. Am 29. April 1863 zeigte Lëu Herrn von Rehfues an, dass der Vertrag gedruckt und in allen Theilen des Reiches publicirt worden sei. Gegen die 22 Ratifications-Urkunden der anderen deutschen Staaten wurden nachträglich auf Befehl des Prinzen von Kuṅ am 29. Juli 1863 eben so viele gedruckte chinesische Exemplare des Vertrages ausgeliefert, welche auf der ersten Seite das Siegel des Grossrichters Lëu trugen. Der dem General-Consulat attachirte königlich preussische Lieutenant Prinz Friedrich zu Sayn-Wittgenstein , welcher im Auf- trage des Herrn von Rehfues nach Pe-kiṅ ging, um die Publi- cation des Vertrages und den Austausch der 22 Genehmigungs- Urkunden zu betreiben, wurde vom Prinzen von Kuṅ und dem Mi- nister Wen-siaṅ sehr freundlich empfangen. Gleichsam entschul- digend äusserten sich Dieselben über den die Ausübung des Ge- sandtschaftsrechtes hinausschiebenden Separat-Artikel, der noch unter dem Einfluss des hingerichteten Su-tšuen entstanden sei, fügten aber hinzu, der Artikel stehe nun einmal im Vertrage, und Preussen scheine die Einrichtung einer Gesandtschaft jetzt garnicht zu wünschen, da nur ein General-Consul ernannt sei. Auf die Vor- theile hingewiesen, welche der chinesischen Regierung aus der An- wesenheit eines Vertreters der deutschen Staaten erwachsen müssten, erhoben die Minister nur Schwierigkeiten untergeordneter Art, die im Laufe der an diese Unterredung geknüpften Verhand- lungen leicht beseitigt wurden. Die preussische Regierung kaufte später in Pe-kiṅ ein Haus, in welches Herr von Rehfues als erster deutscher Gesandter eingezogen ist. ANHANG IV. DAS ENDE DER TAE-PIṄ. D er Yiṅ-waṅ , der, im Frühjahr 1861 mit den drei anderen gegen Han-kau marschirenden Heerkörpern zusammenstossen sollte, besetzte am 18. März Waṅ-tšau , blieb aber ohne Unterstützung und konnte den Entsatz von Gan-kiṅ nicht bewirken. Er litt, da die kaiserliche Flotte den Strom beherrschte, bald Mangel an Le- bensmitteln, wurde dann geschlagen und bis Nan-kiṅ gedrängt. Alle auf diesem Heerzuge genommenen Städte gingen den Tae- piṅ in wenig Wochen wieder verloren. — Die Besatzung von Gan- kiṅ hielt, in den letzten Wochen nur noch vom Fleisch der Ver- hungerten lebend, den ganzen Sommer durch aus, ergab sich end- lich am 5. September und wurde niedergemetzelt. An den im Fluss geankerten englischen Schiffen trieben Tausende abgezehrter Leichen vorüber. Mit dem Fall von Gan-kiṅ war die Herrschaft der Tae- piṅ über den Yaṅ-tse und das Land westlich von Nan-kiṅ ge- brochen. Der Ei-Waṅ Ši-ta-kae stand noch, auf eigene Hand operirend, mit einem Heerhaufen in Se-tšuen , scheint aber keine Verbindung mit Nan-kiṅ gesucht zu haben. Im ganzen Strom- gebiet kehrten die vertriebenen Bewohner zum heimathlichen Herd zurück; Handel und Gewerbe blühten wieder auf. Die Streifzüge der Tae-piṅ erstreckten sich kaum zehn Meilen westlich von Nan-kiṅ . Bei Shang-hae warb der Americaner Ward , dessen in einem früheren Abschnitt gedacht wurde, im Frühjahr 1861 wieder Trup- pen gegen die Tae-piṅ ; damals waren die Fremden aber noch sehr besorgt um Erhaltung der guten Beziehungen zu denselben. Ward wurde auf Veranlassung des americanischen Consuls verhaftet und entging der Bestrafung für ungesetzliche Betheiligung an kriege- rischen Operationen nur dadurch, dass er seinem americanischen Bürgerrecht entsagte und chinesische Nationalität in Anspruch nahm. Er musste sich verbinden, einstweilen keine Europäer und Americaner anzuwerben. IV. 26 Niṅ-po und Haṅ-tšau genommen. Anh. IV. Auf Ersuchen des Admiral Sir James Hope lieferte der Tien- waṅ eine Anzahl desertirter englischer Seeleute aus, die bei den Tae-piṅ dienten und zwar keinen Sold, aber sehr viel Branntwein und die Befugniss erhielten, nach Herzenslust zu plündern. — Die Fremden strebten und hofften noch immer, strenge Neutralität zu bewahren. Vor Haṅ-tšau , der Hauptstadt von Tše-kiaṅ , wurden die Tae-piṅ im Sommer 1861 zurückgewiesen; sie nahmen aber das nahgelegene wichtige Tša-pu und erschlugen dessen Tartaren- Garnison. Im Laufe des Spätsommers besetzten der Tšun-waṅ und der Ši-waṅ alle übrigen Städte dieses Gebietes und drangen gegen Ende November östlich bis in die Nähe von Niṅ-po vor. Eine Bedrohung dieses Hafens war in den Abmachungen des Admiral Hope mit den Tae-piṅ nicht vorgesehen; die fremden Consuln sandten deshalb auf gemeinsamen Beschluss eine Deputa- tion an die beiden Führer der gegen Niṅ-po detachirten Horden. Zum Rückzug liessen dieselben sich nicht bereden, versprachen aber mündlich und schriftlich die Erfüllung aller von den Consuln geäusserten Wünsche, Respectirung der Missionen und aller Besitz- thümer der Fremden, Vermeidung unnützen Blutvergiessens und strenge Mannszucht. Die Consuln mussten für strenge Neutralität ihrer Landsleute bürgen, erwirkten aber für den Angriff einen Auf- schub von acht Tagen. Nach Ablauf dieser Frist besetzten die Insurgenten Niṅ-po fast ohne Widerstand; die Garnison schien völlig gelähmt. Alle bemittelten Einwohner waren geflohen. Den Fremden hielten die Tae-piṅ -Führer ihr Versprechen: einige Krieger, die aus Wohnun- gen der Missionare Kleinigkeiten stahlen, wurden schleunig ge- köpft. Die Bevölkerung wurde durch Maueranschlag unter dem Versprechen voller Sicherheit zur Rückkehr aufgefordert, der Han- delsverkehr aber nur in den Vorstädten erlaubt, der Mauerumkreis stark befestigt. Der Tšun-waṅ hatte im Laufe des Spätsommers Haṅ-tšau mehrmals vergebens berannt und endlich beschlossen, die volk- reiche Stadt auszuhungern: am 29. December 1861 öffneten die Be- wohner ihre Thore; gegen 500,000 Rebellen sollen sich in die Stadt gestürzt, des Mordens kein Ende gefunden haben. Ein Theil der Mandschu-Garnison sprengte sich in die Luft; die Stadtgräben füllten Zehntausende von Leichen. Anh. IV. Lage von Shang-hae und Niṅ-po . Nun widerstand in dem reichen Küstenlande südlich der Yaṅ-tse -Mündungen einzig das Gebiet von Shang-hae den Waffen der Tae-piṅ . Wie sehr sie danach gelüstete, bewiesen die Demon- strationen im Frühjahr 1861. Ihre Lage war trotz den Eroberun- gen im Süden misslich, denn sie konnten weder Nan-kiṅ entsetzen noch ihre alten Stellungen im Yaṅ-tse -Thal wiedergewinnen. Nahmen sie Shang-hae , so hörte dort alle Beaufsichtigung der Fremden durch die Consular-Behörden auf; die Tae-piṅ konnten Dampfer und Waffen kaufen, mit denen gewissenlose Speculanten sie nur zu gern betrogen, und fremde Abenteurer in Menge an sich ziehen, unter deren Leitung sie die Kaiserlichen geschlagen hätten. Dass diese Shang-hae ohne Unterstützung der Fremden nicht halten konnten, lag am Tage; seit dem Staatsstreich in Pe-kiṅ hatte sich aber deren Stellung zur kaiserlichen Regierung wesentlich ge- ändert; man hatte die beste Aussicht auf ihre dauernde Freund- schaft und gewissenhafte Ausführung der Verträge, und Vertrauen gewonnen zu ihrer Lebenskraft den Tae-piṅ gegenüber, an deren Zukunft Niemand mehr glauben konnte. Das einzige Moment ge- gen thätige Partheinahme für die kaiserliche Regierung war die Betrachtung, dass die Rebellen viele Wege nach den Thee- und den Seidenbezirken beherrschten und dem Handel von Shang-hae starken Abbruch thun konnten. Dagegen stellte sich den fremden Vertretern die wichtigere Frage, ob die Tae-piṅ , wenn Shang-hae ihnen überlassen würde, nicht ihren überall bewiesenen gewalt- thätigen Despotismus auch gegen die Fremden kehren und deren gesetzlichen Handel unterdrücken würden. Nun bot Niṅ-po ein warnendes Beispiel, wo nach dem Ein- rücken der Rebellen ausser dem ungesetzlichen Verkauf von Waffen aller Handel stillstand. Die Stadt blieb ein grosses Kriegslager; und nachdem der Waffenvorrath erschöpft war, bauten die Tae- piṅ Festungswerke, welche die fremden Consulate und Wohngebäude bedrohten. Die Consuln sahen dem eine Weile zu und gewannen bald die Ueberzeugung, dass das Rebellenheer eine jeder Organi- sation unfähige Räuberbande und die Gemeinde der Fremden in ernster Gefahr sei. Bald nach dem Fall von Haṅ-tšau sandte der Rebellen- General Ho ein drohendes Schreiben an den Commandeur der bri- tischen Truppen in Shang-hae . »Da wir nun,« heisst es darin, »mit dem Süden fertig sind, so hat der Tšun-waṅ fünf Heere entsandt, 26* Shang-hae bedroht. Anh. IV. um Shang-hae zu nehmen. — Shang-hae ist ein kleiner Ort, von dem wir nichts zu fürchten haben; da wir nun die ganzen Bezirke von Su-tšau und Tše-kiaṅ besitzen, so müssen wir Shang-hae nehmen, unser Gebiet zu vervollständigen. Es ist so; es ist keine Prahlerei. — Die Seeküste wird des Handels wegen von Fremden besucht; und wenn Truppen gesandt werden, das Volk auszurotten, so fürchten wir, dass die freundschaftlichen Beziehungen zwischen uns leiden müssen. — Aus diesem Grunde senden wir euch diese Warnung, euch nicht einzumischen an Orten, die den Kobolden ge- hören; auf diese Art werden die fremden Kaufleute vor Schaden gewahrt. Seid ihr aber närrisch und denket nur auf Gewinn, so wird nicht nur Shang-hae , sondern die ganze Welt unter unsere Botmässigkeit kommen. — Höret ihr dagegen nicht auf die Kobolde, sondern zeiget Reue und unterwerfet euch, so werdet ihr nicht nur Handel treiben können, sondern auch Thee und Seide in Menge erhalten, und Alle werden davon Vortheil ernten. Das bedenket.« Sir James Hope fuhr Ende December 1861 nochmals nach Nan-kiṅ hinauf und warnte den Tien-waṅ vor Feindseligkeiten gegen Shang-hae , erhielt jedoch die bündige Antwort, diese Stadt solle genommen werden, sobald die gewährte Frist verstrichen sei. — Am 11. Januar 1862 kam der Tšun-waṅ nach Su-tšau und rückte bald darauf das Land verwüstend gegen Shang-hae . Tage lang war der Horizont von Rauchwolken verdunkelt; viele Tausend Flüchtlinge ergossen sich, bei strenger Winterkälte in das schlimmste Elend gestürzt, über die Niederlassung der Fremden, die im Wett- eifer mit reichen Chinesen die Noth zu mildern strebten. Die An- siedler verbanden sich zu einem Freicorps. — Die Rebellen besetzten jetzt südlich von Shang-hae die Halbinsel Pu-tuṅ , deren Bewohner die Consuln um Schutz anflehten. General Staveley , welcher nach der Heimkehr des General- Lieutenant Sir John Mitchell das Obercommando über die eng- lischen Truppen in China führte, hatte sich kurz vorher in Pe-kiṅ mit dem Gesandten Herrn Bruce und dem Prinzen von Kuṅ über die Lage verständigt: Shang-hae durfte nicht preisgegeben werden. So gern die kaiserliche Regierung schon damals die Vertreter von England und Frankreich zum Vertilgungskrieg gegen die Tae-piṅ vermocht hätte, so konnten diese doch nur die Sicherheit ihrer Schutzbefohlenen im Auge haben. Die Commandeure der englischen und französischen Streitmacht beschlossen deshalb die Kaiser- Anh. IV. Organisation der Vertheidigung. lichen so weit zu unterstützen, als die Säuberung der Umgegend von Shang-hae im Radius von 30 englischen Meilen erforderte, unter der von Herrn Bruce sanctionirten Bedingung, dass die von den Alliirten genommenen Plätze von kaiserlichen Truppen besetzt und gehalten würden. General Staveley und die Admiräle ver- banden sich zu gemeinsamen Operationen mit dem Americaner Ward , der unterdessen mit dem Gelde einheimischer Kaufleute über 1000 Chinesen geworben, europäisch uniformirt und eingeübt hatte. In den nächsten Monaten verstärkte sich dieses Corps bedeutend. Die Bewaffnung war gut; tausend alte preussische Percussions- büchsen thaten die besten Dienste. Mit einer einzigen Ausnahme waren alle Officiere Fremde; die höheren Chargen erhielten 70, die Lieutenants 30 Pf. St. monatlich. Alle Unterofficiere und Gemeinen waren Chinesen; letztere erhielten einen täglichen Sold von 1½ Shil- ling und die Verpflegung im Felde. — Ward war ein entschlosse- ner Mann von treibender Thatkraft, Zähigkeit und militärischer Begabung, der sich in seiner kurzen Laufbahn allgemeine Achtung erwarb. Die ganze Streitmacht bestand aus Abtheilungen des 31., des 67. und des 99. königlich englischen Infanterie-Regimentes, dem 5. Bombay Native-Infantery-Regiment, einer englischen Batterie, 300 englischen und 800 französischen Seeleuten und Ward’s disci- plinirten Chinesen. Das von tausend Rinnsalen durchschnittene Terrain begünstigte die schnelle Beförderung dieser Truppen auf kleinen Dampfern und Kanonenbooten. — Am 21. Februar 1862 be- gannen die Operationen mit der Wegnahme von Ka-džau , dem Hauptquartier der Insurgenten im Süden der Halbinsel Pu-tuṅ . Darauf folgte in den nächsten Monaten eine Reihe von Berennun- gen und Gefechten, bei denen die Alliirten mit Ward zwar im Ganzen siegreich waren, aber doch auch häufig den Kürzeren zogen und starke Verluste litten. Dank den Waffenspeculanten und Aben- teurern in Shang-hae , welche in geheimer Verbindung mit den Rebellen standen und ehrlos ihre Landsleute verriethen, waren die Tae-piṅ jetzt gut mit Kriegsbedarf versehen: etwa ein Drittheil führte ausländische Schusswaffen. Eine Anzahl fester Städte und verschanzter Lager wurden genommen, aber keineswegs immer ge- halten, obgleich die Vertheidigung den Kaiserlichen nicht über- lassen blieb. Diese betheiligten sich an den Operationen; die Ein- mischung des Fu-tae Siue scheint aber keinesweges günstig auf den Operationen bei Shang-hae Anh. IV. Gang der Ereignisse gewirkt zu haben. — Bei Woṅ-ka-dza erhielt Sir James Hope eine Kugel in den Schenkel; bei Erstürmung von Na-dšau starb am 6. Mai Admiral Protet den Soldatentod. Am 15. und 16. Mai schlug der Tšun-waṅ mit grosser Uebermacht bei Tai-tsan die Alliirten dermaassen, dass von 7000 Mann kaum 2000 zurückkehrten. Die Tae-piṅ streiften bis unter die Mauern von Shang-hae . Der Tšun-waṅ schritt nun zur Belagerung der für Shang-hae ’s Sicherheit sehr wichtigen von Ward besetzten Städte Siṅ-pu und Suṅ-kiaṅ . Siṅ-pu fiel, nachdem am 10. Juni Ward mit Unterstützung der Engländer seine Truppen unter grossem Ver- lust aus der Stadt gezogen hatte. »Colonel« Forrester , der Zweitcommandirende in Ward’s Corps, wurde gefangen. An Händen und Füssen gefesselt blieb er bis zum folgenden Morgen ohne Nahrung und sollte dann auf Befehl des Commandirenden gemartert und ent- hauptet werden, als ein junger Tae-piṅ -Führer sich ins Mittel legte. Nach einigen Wochen Kerkerhaft bei der dürftigsten Nahrung wurde er bis auf die Haut ausge- zogen, wie ein Packthier beladen, und musste in der heissen Juli-Sonne bis Tša-pu marschiren. Dort wurde er besser gehalten und endlich gegen eine Quantität Schiess- pulver ausgeliefert. Nun war Shang-hae in grosser Gefahr und hätte nach dem Zeugniss englischer Officiere gegen des Tšun-waṅ Uebermacht kaum gehalten werden können: da wurde dieser plötzlich vom Tien-waṅ abberufen. Der Yiṅ-waṅ hatte vergebens Nan-kiṅ zu entsetzen gesucht und war dann durch Verrath gefallen. Der kaiserliche Feldherr Tseṅ-kwo-tsun rückte mit 40,000 Mann vor die Rebellenhauptstadt und setzte sich unter den Mauern fest. Nun sollte der Tšun-waṅ helfen, der auf Befehl des Tien-waṅ mit seinen besten Truppen schleunig nach Nan-kiṅ rückte, die Kaiserlichen verge- bens aus ihren festen Stellungen zu werfen suchte und degradirt wurde. Bei Shang-hae hielten englische Truppen nur Na-džau , Ward’s Chinesen Suṅ-kiaṅ den Sommer über besetzt. Ward brachte sein Corps allmälig auf 5000 Mann und verstärkte seine Artillerie. Im August erstürmte er abermals Siṅ-pu . Bald darauf zogen neue Horden das Landvolk vor sich hertreibend von Su-tšau herauf; Shang-hae füllte sich wieder mit Flüchtigen. Die Alliirten umgaben die Stadt mit Verschanzungen und organisirten aus den Ansiedlern ein berittenes Freicorps, das vielfach gegen die Tae-piṅ plänkelte. Zu ernsten Gefechten kam es den ganzen Sommer nicht. — Ward ging bald nach Erstürmung von Siṅ-pu in das Gebiet von Niṅ-po , wo sich seit dem Frühjahr viel ereignet hatte. Anh. IV. Capitän Roderick Dew vor Niṅ-po . Die Tae-piṅ hatten in Niṅ-po nur, wie gesagt, so lange ein gutes Gesicht gezeigt, als noch Waffen zu verkaufen waren. Nach- her merkte man deutlich, wie gern sie die fremde Ansiedlung ge- plündert, die gezahlten Silbermassen wieder fortgeschleppt hätten. Von den Wällen aus machten sie oft die den Fremden dienenden Chinesen und selbst das auf Pistolenschussweite vor dem englischen Consulat geankerte Kriegsschiff Ringdove zum Ziele ihrer Schiess- übungen und liessen alle Beschwerden darüber unbeachtet. Darauf sandte Admiral Hope Capitän Roderick Dew auf der Corvette En- counter nach Niṅ-po , mit der Weisung, den Ausschreitungen der Tae-piṅ ein Ende zu machen. Am 24. April 1862 ankerte der Encounter vor der Stadt. Capitän Dew’s Warnungen blieben unbeachtet; die Spannung steigerte sich. Anfang Mai erschien in der Flussmündung ein kaiserliches Geschwader, dessen Führer die Commandeure der eng- lischen und französischen Kriegsschiffe ersuchte, mit ihm gemeinsam die Stadt anzugreifen. Capitän Dew wies dieses Ansinnen zurück, erklärte, dass, wenn Schüsse der Kaiserlichen oder der Rebellen die fremde Ansiedlung träfen, das Feuer erwiedert werden solle, und ersuchte den die Dschunkenflotte commandirenden früheren Tau- tae von Niṅ-po , Tšaṅ , seinen Angriff 48 Stunden zu verschieben, damit vorher mit den Tae-piṅ unterhandelt werden könne. — Eine neue mächtige Granit-Batterie derselben bestrich mit ihren 68pfün- dern den Fluss und das Fremdenquartier; diesem gegenüber waren auch in den Scharten der Stadtmauer viele Geschütze mit losen Steinen maskirt. Capitän Dew verlangte die Entfernung aller jener Geschütze von der Stadtmauer und der Batterie und verbürgte sich dafür, dass dann kein Angriff von der Flussseite erfolgen solle. — Da keine Antwort kam, so drohte Capitän Dew am 8. Mai zugleich im Namen der französischen Flottenofficiere, die Stadt zu bombar- diren, wenn die Fremden durch Schüsse der Tae-piṅ gefährdet würden. — Der Encounter mit 14, Ringdore mit 4 Geschützen und zwei Kanonenboote bildeten das englische Geschwader; das fran- zösiche Kriegsschiff Étoile hatte 1, der Confucius 3 Kanonen. Am Morgen des 10. Mai kam die Dschunkenflotte den Fluss herauf: die Granit-Batterie gab Feuer; zugleich wurde eine Ge- wehrsalve auf den Encounter abgeschossen. Darauf bombardirten die englischen und französischen Schiffe die Werke am Ufer. Beim ersten Schuss der Batterie hatten die Kaiserlichen — noch ausser Niṅ-po genommen. Anh. IV. Schussweite — Anker geworfen, und schauten dem Geschützkampfe zu. Als darauf Ebbe eintrat, sandte Capitän Dew ein Kanonenboot hinab, sie heraufzuschleppen; Tšaṅ betheuerte aber kein Pulver zu haben und blieb standhaft auf seinem Ankerplatz. — Capitän Dew hatte gegen die 20,000 bis 30,000 Tae-piṅ über kaum 300 Mann zu verfügen, beschloss aber, in chinesischer Kriegführung erfahren, die Stadt zu stürmen. Der erste Anlauf scheiterte; die Besatzung der Mauer warf Stinkkugeln, Feuertöpfe und Steine, und stiess mit langen Spiessen die Sturmleitern um. Am zweiten Versuch be- theiligten sich 20 französische Seeleute unter Lieutenant de vaisseau Kenney , der, der erste auf der Mauer, durch die Lunge geschossen wurde. Der vorderste Engländer fiel gleichfalls, durch den Kopf geschossen. Capitän Dew fasste zuerst festen Fuss: wenige Minuten darauf säuberte eine oben aufgepflanzte Haubitze die nächsten Strassen. Einen weiteren Kampf auf der Stadtmauer hemmte eine Granate des Encounter, welche die Esplanade vor dem anstürmenden Feinde verschüttete. — Unterdessen hatte eine andere Abtheilung englischer und französischer Seeleute das Nord- thor genommen, ein Kanonenboot die Schiffbrücke gesprengt, welche das Vordringen der Kriegsschiffe hemmte. Nun landete auch Tšaṅ . Wie gierige Wölfe stürzten seine Leute durch das Nordthor in die Stadt, während die Tae-piṅ durch das Westthor flohen; Hunderte der letzteren wurden erdrückt oder von den Spiessen ihrer Came- raden durchrannt. Erst bei Yu-yao , sechs Meilen von Niṅ-po , machten die Flüchtigen Halt. Die englischen und französischen Officiere zogen ihre Leute aus der Stadt zurück; Capitän Dew übernahm jedoch auf dringen- des Bitten des Tau-tae Tšaṅ den Befehl über die Garnison, die durch 400 Mann von Ward’s Corps verstärkt wurde. Auf eine in der Umgegend verbreitete Proclamation, in welcher die Alliirten die Stadt zu schützen versprachen, kehrten die Bewohner zu Zehn- tausenden heim, und der Handel blühte auf. Ueber den Zustand der Stadt schreibt Capitän Dew : »Ich hatte Niṅ-po in seinen glänzenden Tagen gekannt, als es sich rühmte, eine der ersten Handelsstädte des Reiches zu sein. Aber jetzt, an diesem 11. Mai, möchte man glauben, dass ein Engel der Vernichtung in der Stadt und den Vorstädten gehaust hat. Letztere mit ihren reichen Kaufhäusern und Tausenden von Wohngebäuden waren der Erde gleich gemacht; in der Stadt selbst, einst der Heimath einer halben Million, war keine Spur von einem Bewohner zu sehen. Es war eine Todtenstadt. Die reichen schönen Meublements der Häuser waren als Brennstoff verbraucht oder zum Ge- Eine Bande frem- Anh. IV. Operationen bei Niṅ-po . der Spitzbuben liess Capitän Dew aufheben und den Consuln in Shang-hae ausliefern. Dem Schleichhandel mit Waffen setzte der- selbe in Niṅ-po energisch ein Ziel und organisirte ein anglo-chine- sisches Corps von 1000 Mann nach dem Muster des Ward’schen, welches durch Unterofficiere von den Kriegsschiffen eingeübt wurde. Ein franco-chinesisches erhielt seine Instructeure aus Shang-hae . Auch für Artillerie wurde gesorgt; in Kurzem befand sich Niṅ-po im besten Zustande der Abwehr. Die Kanonenboote fuhren häufig die beiden Flussarme hinauf und hatten Gefechte mit den Tae-piṅ , die von Yu-yao aus einen Angriff zu rüsten schienen. Sie begin- gen furchtbare Gräuel gegen das Landvolk, schleppten junge Burschen und Mädchen fort und pflegten älteren Personen, die sich nicht auslösen konnten, die Ohren abzuschneiden. — Capitän Dew erhielt die Weisung, die Umgegend von Niṅ-po im Dreissigmeilen- radius von Rebellen zu säubern. Der Krieg dauerte den ganzen Herbst und Winter hindurch. Noch im August nahm Capitän Dew Yu-yao und jagte den Feind landeinwärts. Im September rückten die Tae-piṅ in zwei starken Colonnen gegen Niṅ-po , nahmen zunächst die Stadt Tse-ki , und überschwemmten plündernd die Ebene; es war besonders auf die Reis-Ernte gemünzt. Am 18. September kam Ward nach Niṅ-po , rückte am 20. unterstützt von Capitän Dew gegen Tse-ki aus und nahm die Stadt am folgenden Tage, fiel aber, tödtlich getroffen. Ward verfügte in Niṅ-po bei klarem Bewusstsein über sein im Kriege er- worbenes Vermögen, 15,000 Pfd. St.; er glaubte 60,000 zu besitzen. In Shang-hae wurden bei Ankunft seiner Leiche alle Läden geschlossen; die Bewohner erwiesen ihr durch Beisetzung im Confucius-Tempel die höchste Ehre. — Die zweite Tae-piṅ -Colonne hatte die Stadt Fuṅ-wa südlich von Niṅ-po genommen und wurde nach hartnäckigem Kampfe erst am 10. October von da vertrieben. Es wurde nothwendig, die von europäischen Officieren com- mandirten Chinesen-Corps zu verstärken; die Ortsbehörden steuerten die Geldmittel. Die überall in Masse erbeutete Munition erleichterte die wirksame Fortsetzung des Krieges. Der französische Flotten- Lieutenant Le Brethon de Coligny übernahm das Commando des franco-chinesischen Corps. Capitän Dew und die in Niṅ-po com- brauch der Soldaten auf die Stadtmauern geschleppt. Die Canäle waren mit Leichen und stinkendem Unrath gefüllt. … Ich hatte das Glück, nachher noch manche andere Stadt den Tae-piṅ entwinden zu helfen, und in allen fand sich, dass die- selben teuflischen Hände gehaust hatten wie in Niṅ-po .« Tše-kiaṅ von Rebellen gesäubert. Anh. IV. mandirenden französischen Officiere mussten aus strategischen Grün- den ihre Operationen weiter ausdehnen, als ihnen befohlen war. Lieutenant Le Brethon rückte Anfang November gegen Šung-yu , das die Rebellen räumten, und unternahm gemeinschaftlich mit Dew Ende December eine Recognoscirung gegen die grosse Stadt Šau- šiṅ , die als Schlüssel der Provinz Tše-kiaṅ gilt. Von zahlreichen Horden angegriffen, schlugen und zerstreuten sie dieselben; die fliehenden Tae-piṅ , welche viele eben angezündete Dörfer und ge- schwollene Flüsse zu passiren hatten, fielen meist unter dem Messer des wüthenden Landvolks oder ertranken. Ende Januar 1863 rückte Le Brethon mit 1200 Mann Franco- Chinesen und geringer Artillerie vor Šau-šiṅ , in der Hoffnung, die Stadt durch Handstreich zu nehmen. Mit Verlust zurückgewiesen begann er die Belagerung. Ein platzendes Geschütz riss ihn in Stücke. Sein Nachfolger im Commando zog die Truppen nach Šuṅ-yu zurück. Dew sandte Unterstützung und liess schweres Ge- schütz aus Shang-hae kommen. Die Tae-piṅ hatten 40,000 Mann und reichlichen Schiessbedarf in Šau-šiṅ ; die von Dew geleitete Belagerung kostete schwere Opfer an englischen und französischen Officieren. Am 18. März 1863 räumten die Insurgenten die Stadt und zogen sich auf Haṅ-tšau zurück. Damit war der grösste Theil der Provinz Tše-kiaṅ von den Rebellen gesäubert, das An- sehn der kaiserlichen Regierung hergestellt, der fruchtbarste Land- strich des Reiches von einer schweren Geissel befreit. — Die ein- gehende Beschreibung dieses und der nächsten abenteuerlichen Feldzüge, welche sich dem Rahmen dieser Darstellung entzieht, möchte selbst in ungeschminkter Behandlung einen spannenden Ro- man bilden. Ward’s »Siegreiche Heerschaar« Das war der officielle chinesische Namen der Freischaar. war für Shang-hae unent- behrlich. Nach seinem Tode ersuchten die Mandarinen den Zweit- commandirenden »Colonel« Forrester vergebens, den Oberbefehl zu übernehmen. Der dritte im Commando war ein junger Americaner Burgevine , gleich Ward ein Seefahrer, der sich in allen Welttheilen herumgetrieben, aber ein selbstsüchtiger Phantast ohne ernste Ge- sinnung; seit seiner Kindheit nährte er den Traum von einem grossen Anh. IV. Burgevine und die Siegreiche Heerschaar. Reich im Osten, zu dessen Gründung er berufen sei. Auch Ward soll im Stillen gehofft haben, auf den Trümmern der Mandschu- und der Tae-piṅ -Herrschaft für sich selbst einen Thron zu grün- den; er wusste aber das Vertrauen der Mandarinen zu gewinnen und erwarb sich durch seine Leistungen die allgemeine Achtung. Burgevine übertrug der neue Gouverneur Li-huṅ-tšaṅ , Siue ’s Nach- folger, das Commando mit Widerwillen, — er hatte keine Wahl; — das prahlerische Wesen des aufgeblasenen Phantasten ekelte die nüchternen Chinesen. Die Ueberhebung und Zügellosigkeit des Führers theilte sich seinen Leuten mit, die mit Verachtung auf die kaiserlichen Soldaten herabsahen und jetzt auf den Feldzügen ruch- los das Landvolk plünderten. Die chinesischen Handelsherren hatten kein Vertrauen zu seinen Fähigkeiten und sträubten sich die enor- men Summen zu zahlen, welche die Siegreiche Heerschaar unter Burgevine verschlang. Unter Ward kostete das Corps in einem Jahr 36,000 Pfd. St.; unter Burge- vine soll es in drei Monaten 18,000 gekostet haben. Im November 1862 rückten die Tae-piṅ von Su-tšau wieder in zahlreichen Horden gegen Shang-hae , wurden jedoch von Li und Burgevine geschlagen. Jeder der Führer wollte allein der Sie- ger sein, und die Spannung steigerte sich. Li verdross Burgevine’s Einmischung in die eigensten Angelegenheiten der chinesischen Re- gierung; er bat General Staveley Anfang December, denselben vom Commando zu entfernen. Die Siegreiche Heerschaar und ihre Führer standen jedoch, obgleich nur in contractlichem Verhältniss, im Dienst der chinesischen Regierung; General Staveley musste deshalb seine Einmischung versagen, hielt aber selbst für wünschens- werth, dass die Siegreiche Schaar fester organisirt und von eng- lischen Linienofficieren commandirt würde, und berichtete schon damals in diesem Sinne an die heimathliche Regierung. Die meisten Officiere im Wardschen Corps waren verwegene Abenteurer ohne Gesinnung, die dem persönlichen Vortheil jede Rücksicht opferten und eben so willig gegen als für die chinesische Regierung kämpften. Burgevine blieb den December über noch im Commando. Als der Fu-tae Li ihm darauf Befehl ertheilte, mit 6000 Mann gegen Nan-kiṅ zu marschiren, versagte das Corps den Gehorsam, bis der seit zwei Monaten rückständige Sold gezahlt wäre. Burgevine begab sich mit seinen Leibtrabanten zu dem chinesischen Kaufmann Ta-ki , welcher die Zahlungen zu vermitteln hatte, schlug ihn bei der Brevet-Major Gordon . Anh. IV. Unterredung ins Gesicht und schleppte mit Gewalt eine grosse Summe fort, die grade in Ta-ki ’s Hause bereit lag. Der Fu-tae wünschte Burgevine mit Hülfe englischer Truppen verhaften zu lassen; General Staveley theilte demselben einfach mit, dass er entlassen sei, worauf er das Commando niederlegte. Einer Meuterei der Siegreichen beugte der Fu-tae durch schleunige Auszahlung des rückständigen Soldes vor. Da »Colonel« Forrester den Oberfehl beharrlich ausschlug, so erlaubte General Staveley dem Capitän Holland von den Royal marines, das Commando provisorisch zu übernehmen. Im Februar 1863 berannte derselbe die Städte Tae-tsau und Fu-šan , wurde aber an beiden Orten mit Verlust zurückgewiesen. Unterdessen war General Staveley ermächtigt worden, eng- lische Linienofficiere zur Dienstleistung bei der chinesischen Armee zu beurlauben; er bot darauf das Commando der Siegreichen dem Brevet-Major Gordon an, der in der Krim mit Auszeichnung diente, vor Sebastopol verwundet wurde, bei der Grenzregulirung zwischen Russland und der Türkei mitwirkte, dann den Krieg in China durch- machte und nachher von Pe-kiṅ aus die westlichen Provinzen China’s bereiste. Es war eine glückliche Wahl: Gordon kannte die Chinesen und wusste sie zu behandeln; er scheint eine glänzende militärische Begabung mit grossem Lebensernst und vorzüglichen Eigenschaften des Charakters verbunden zu haben, und war durch seine genaue Kenntniss des Gebietes von Shang-hae , dessen topo- graphische Aufnahme er eben beendete, ganz besonders für das Commando befähigt. Ihn selbst trieb vorzüglich die Hoffnung, durch festere Organisirung des Wardschen Corps den Kern einer künftigen chinesischen Streitmacht zu bilden, welche ihren Aufgaben besser gewachsen wäre, als das damalige kaiserliche Kuli-Heer. Die Gemeinen und Unterofficiere der Siegreichen Heerschaar stammten damals meist aus den Provinzen Kiaṅ-su und Tše-kiaṅ , deren Bewohner schlechtere Soldaten sind als die Kantonesen und die Nord-Chinesen. Später recrutirte sich das Corps meist aus übergetretenen Tae-piṅ , die im Rebellenheer nur schwere Arbeit und keinen Sold gehabt hatten, ihre Lage unter Gordon paradiesisch fanden und niemals Umstände machten, gegen ihre alten Kameraden zu kämpfen. — Die grösste Schwierigkeit bestand in Behandlung der Officiere, die aus allen Lebenskreisen zusammengewürfelt, gröss- tentheils aber Seefahrer und alte englische Soldaten waren, die sich Anh. IV. Organisation der Siegreichen Heerschaar. losgekauft hatten. Fast alle sollen fündig, tapfer, im Feuer zuver- lässig und kaltblütig, aber eifersüchtig, unlenksam und händelsüchtig in der Garnison gewesen sein. Gewöhnlich lebte die eine Hälfte des Officiercorps in der heftigsten Spannung mit der anderen, und der Reibungen war kein Ende. — Die Stärke des Corps wechselte zwischen 3000 und 5000 Mann, die in fünf bis sechs Regimenter vertheilt waren. Die Artillerie bestand in vier Belagerungs- und zwei Feldbatterieen. Vier kleine eiserne Raddampfer, — etwa 90 Fuss lang und 24 breit, 3 bis 4 Fuss tief gehend, mit je einem 32pfündigen Pivot-Geschütz vorn und einer 12pfündigen Haubitze am Heck, leisteten die besten Dienste; ihre starken 6 Fuss hohen Brustwehren waren mit Schiessscharten versehen, der Kessel und Maschinenraum durch starke Bohlenlagen gesichert. Ausserdem verfügte Gordon über 50 flachgehende chinesische Kanonenboote, die überall unter den Ufern hinschleichen und die Rebellen- lager, die Vorposten niemals ausstellten und vom Landvolk verrathen wurden, überraschen konnten. — Auf weite Strecken wurden alle Geschütze zu Wasser befördert; zum Transport über die Felder führte jede Batterie eine Anzahl Bohlen mit, denn die dazwischen hinlaufenden Pfade sind zu schmal für eine Geschützspur. Die Besoldungsverhältnisse in der Siegreichen Schaar blieben unter Gordon die früheren. Die Ausbildung der Mannschaft geschah nach englischem Muster; alle Commandos wurden englisch gegeben. Kriegsartikel hatte und brauchte man nicht; die Führung der Mann- schaft war im Ganzen vortrefflich; nur liess sich nach Erstürmung einer Stadt die Beutelust schwer zügeln. Als Strafwerkzeug diente der Bambus, kam aber selten in Anwendung. Für die Officiere gab es keine andere Strafe als Entlassung; denn ihr Verhältniss zur Regierung war rein contractlich. Die ganze Autorität lag in den Händen des Commandirenden. Li ’s Streitmacht, welche mit Gordon operirte, bestand im Gegensatz zu anderen chinesischen Heeren aus starken, gut geklei- deten und disciplinirten Soldaten; nur die Bewaffnung war schlecht. Die Subaltern-Officiere standen an Bildung kaum über den Gemeinen. Ein Mandarin des blauen Knopfes befehligte gewöhnlich ein Lager von 500 Mann. — Die chinesischen Krieger verstanden sich vor- züglich auf Schanzarbeit und bivouakirten kaum eine Nacht ohne Erdwälle um sich aufzuwerfen; ihre Schildwachen pflegten die ganze Kin-san genommen. Anh. IV. Nacht durch zu lärmen; auf das Schlafen eines Postens stand im kaiserlichen Heere der Tod. Major Gordon übernahm den Befehl am 24. März 1863 mit einem Stabe von fünf englischen Linienofficieren; ein einflussreicher Mandarin wurde ihm für die Beziehungen zu den chinesischen Be- hörden beigeordnet, Li A-doṅ , der durch seine Landeskenntniss und durch Einziehung von Kundschaft Gordon sehr nützlich wurde. Das erste Unternehmen galt der Piratenstadt Fu-šan am Yaṅ-tse , von wo Major Gordon zunächst gegen Tae-tsan marschirte. Die dortigen Rebellenführer hatten dem Fu-tae Li vorgespiegelt, dass sie übergehen wollten. Kaiserliche Truppen rückten durch das geöffnete Thor ein; plötzlich wurden die Flügel zugeschlagen, und 1500 Mann sassen mit der ganzen Ausrüstung in der Falle; 300 wurden sofort geköpft. — Die Garnison war 10,000 Mann stark; viele Geschütze wurden von Americanern und Franzosen bedient. Gordon’s Truppen, — 2800 Mann, — fanden kräftigen Widerstand. Als sie endlich die Mauer erstiegen, flohen die Tae-piṅ nach allen Richtungen und fielen in die Hände des rachedürstenden Landvolks; die bei der Vertheidigung thätigen Americaner, Franzosen und desertirten Sepoys wurden ohne Gnade niedergestossen. — Am 30. Mai nahm die »Siegreiche« die wichtige Stadt Kin-san und gewann damit eine sichere Operationsbasis gegen Su-tšau . Dort richtete Major Gordon sein Hauptquartier ein. Gordon machten damals schon die Behandlung seiner Officiere und die Eifersucht der kaiserlichen Feldhauptleute, die mit ihm operirten, das Leben schwer. Die meisten Officiere verlangten nach dem lustigen Leben unter Burgevine , der sie nur an seine Person zu fesseln suchte und für ihren materiellen Vortheil sorgte. Nach seiner Entlassung im Februar 1863 ging derselbe nach Pe-kiṅ und wusste den englischen und den americanischen Gesandten zu gewin- nen: Sir Frederick Bruce schrieb dem Prinzen von Kuṅ , er habe von Burgevine’s Fähigkeiten eine hohe Meinung; Herr Burlingame redete gar von hundert Schlachten, in welchen er für China ge- kämpft habe, — die sich in Wahrheit auf fünf Gefechte reducirten. Der Prinz von Kuṅ legte Burgevine’s Restitution in die Hände des Fu-tae Li und gab ihm einen kaiserlichen Commissar mit nach Shang-hae ; Li hatte aber in Gordon grosses Vertrauen und weigerte sich, Burgevine das Commando der Siegreichen Herrschaar wieder- zugeben. Dabei blieb es. Anh. IV. Operationen bei Su-tšau . Nun trat Burgevine in geheime Verbindung mit den Tae- piṅ in Su-tšau und warb eine Menge fremder Abenteurer an, mit welchen er zu ihnen stossen wollte. Die chinesischen Behörden in Shang-hae wurden argwöhnisch. Burgevine aber schrieb an Gor- don in Kin-san , mit welchem er auf gutem Fusse stand, am 21. Juli 1863 folgende Zeilen: »Sie mögen viele Gerüchte über mich hören, aber glauben Sie nicht daran. Ich werde hinaufkommen und ein langes Gespräch mit Ihnen haben. Bis dahin Adieu!« Daraufhin verbürgte Gordon sich schriftlich beim Fu-tae , dass Burgevine nichts zum Vortheil der Rebellen unternehmen werde. Unter Gordon’s Officieren verursachten die Gerüchte über Burgevine grosse Erregung; die goldenen Zeiten seines Commandos, da sie ein ungebundenes Leben geführt und nach Herzenslust ge- plündert hatten, waren noch in frischem Andenken. Die nächsten Bewegungen der »Siegreichen« sollten Su-tšau gelten, welches Gordon zunächst von der Verbindung mit Haṅ-tšau und den an- deren Tae-piṅ -Stellungen im Süden abzuschneiden wünschte; zu dem Zweck musste die Stadt Wo-koṅ angegriffen werden. Am 26. Juli sollten die Truppen aus Kin-san ausrücken; die Artillerie- officiere widersetzten sich aber, weil Major Gordon ihnen einen englischen Linienofficier zum Commandeur gegeben hatte. Zum Glück waren die Geschütze schon eingeschifft; die Mannschaft be- wog Gordon’s persönlicher Einfluss zum Ausrücken; am Abend baten ihn auch die Officiere brieflich um Verzeihung und wurden wieder angenommen, da nicht gleich Ersatz zu finden war. Gordon’s Streitmacht bestand aus 2200 Mann — Infanterie und Artillerie — und den armirten Dampfern Firefly und Cricket. Letztere nahmen am 27. Juli die Stadt Ka-pu am Grossen Canal , welcher dort in Verbindung steht mit dem westlich von Su-tšau gelegenen Tai-ho -See . Am 28. Juli nahm Gordon mehrere Aussen- werke von Wo-koṅ , deren 4000 Mann starke Garnison nach ver- geblichen Versuchen sich durchzuschlagen die Waffen streckte. Gleich darauf erschien der kaiserliche Feldhauptmann Tšiṅ , dessen Uebergriffe Gordon eben noch derb zurückgewiesen hatte, und wünschte die Gefangenen zu haben; Gordon überliess ihm 1500 Mann, die bei den Kaiserlichen Dienste nehmen wollten, unter der Bedingung, dass sie gut behandelt würden, hörte aber gleich Shang-hae in Gefahr. Anh. IV. darauf, dass Tšiṅ mehrere habe köpfen lassen. Dieser Wortbruch und die Weigerung des Fu-tae , gewisse nothwendige Ausgaben für sein Corps zu bestreiten, bewogen Gordon zu dem Entschluss, sein Commando niederzulegen. Am Abend des 8. August gelangte er zu Pferde nach Shang- hae , erfuhr dort sogleich, dass Burgevine mit seiner Schaar frem- der Abenteurer nach Su-tšau aufgebrochen sei, um zu den Tae- piṅ zu stossen, änderte sofort seinen Entschluss und ritt noch in derselben Nacht die weite Strecke nach Kin-san zurück. Er hielt sich durch die geleistete Bürgschaft verbunden und wollte nicht die Mandarinen in so kritischem Moment im Stiche lassen, noch die Fremden in Shang-hae einer so grossen Gefahr aussetzen, als durch Burgevine’s Einfluss auf die »Siegreichen« entstehen konnte. Ein unter den Eindrücken des Augenblickes geschriebener Brief des Colonel Hough an General-Major Brown , der seit General Sta- veley’s Abreise die englischen Truppen in China commandirte, zeich- net die Lage sehr treffend. » Burgevine ist mit der hier gesammelten Schaar Europäer zu den Rebellen übergegangen; die Zahl wird durch verschieden lautende Berichte auf 100 bis 1000 angegeben; aber 300 wird der Wahrheit näher kommen. Nach den durch Capitän Strode eingezogenen Nach- richten lauten Burgevine’s Verträge mit den Europäern auf einen Mo- nat Dienst gegen baare Erlegung des Soldes; Andere berichten auf unbeschränkte Freiheit jede Stadt zu plündern, die sie nehmen, selbst Shang-hae . Letzteres wäre eine leere Drohung, selbst bei der jetzigen Schwäche der Garnison, wenn nicht Major Gordon’s Truppen in so beunruhigender Verfassung wären: sie sollen alle die verrätherische Neigung haben, auf Burgevine’s Seite zu treten. Major Gordon’s beste Officiere bei den Landtruppen und die Commandanten der Dampfer werden offen als Verräther bezeichnet. Ist das richtig, so wäre damit unser Belagerungstrain, der jetzt bei Major Gordon ist, in die Hände der Rebellen gegeben, und wir hätten, wie Capitän Murray mir meldet, demselben kein Geschütz von gleicher Stärke entgegenzustellen. Der Fu-tae sagte gestern Abend Herrn Markman , dass Burgevine mit 65 Europäern sich unter den Mauern von Suṅ-kiaṅ des kleinen Dampfers Kitow bemächtigt und denselben nach Su-tšau gebracht hätte, wofür er zum Waṅ zweiter Classe und Obercommandeur aller Rebellentrup- pen ernannt worden sei. Auch sagte der Fu-tae , dass ihm berichtet sei, Kin-san , Major Gordon’s Hauptquartier, habe von der Garnison den Rebellen übergeben werden müssen. Wäre das wahr, so müsste Anh. IV. Pa-ta-kiao genommen. man auf das Schlimmste gefasst sein: Major Gordon gefangen, der Be- lagerungstrain verloren, und das schleunige Erscheinen der Rebellen vor diesem Ort; denn es ist müssig zu glauben, dass sie den Dreissig- meilen-Radius respectiren würden, wenn sie ausserhalb desselben keine Stadt hätten, reich genug, um ihre Pöbelhorden zu ernähren, welche übertriebene Gerüchte auf 800,000 Mann schätzen, von denen 20,000 durch Franzosen und andere seit lange in Su-tšau ansässige Euro- päer disciplinirt wären. Bei der jetzigen unvollkommenen Kenntniss des Standes der Dinge würden wir, wenn wir ausrückten, vielleicht Shang-hae den Rebellen überlassen, die sich ihren Weg wählen könnten, und deren Vormarsch man immer nur durch die Flucht des Landvolkes vor ihnen her und durch den Rauch der brennenden Städte erfahren würde.« Gordon war nicht gefangen, aber Burgevine führte 150 Aben- teurer nach Su-tšau , — ein verzweifeltes Beginnen, da man die schlechte Behandlung kannte, die alle Fremden bei den Tae-piṅ erfuhren. Burgevine rechnete sicher auf den Uebertritt der »Sieg- reichen«, mit denen er eine Streitmacht disciplinirter Chinesen unter fremden Officieren organisiren, den Tae-piṅ wie den Kaiserlichen die Spitze bieten und nach Pe-kiṅ marschiren wollte. — Uebrigens erzählten seine Freunde, dass er sich dem Trunk ergeben und sein Gehirn zerrüttet habe; anders lassen sich seine ferneren Handlungen in der That kaum erklären. Gordon fand in Kin-san Alles beim Alten, gewahrte aber in den nächsten Tagen, dass Burgevine mit seinen Leuten in Ver- bindung stehe, fürchtete Verrath und sandte das Belagerungs- geschütz nach Shang-hae . In der ersten Hälfte des August führten die den Tae-piṅ dienenden Fremden mit etwa 40,000 Mann mehrere Stösse auf Ka-pu , die vorgerückteste Stellung gegen Su-tšau aus, wurden aber von den Kaiserlichen unter General Tšiṅ zurück- gewiesen. Zu Gordon stiessen um diese Zeit ein franco-chinesisches Corps und 200 Belooches von der ostindischen Armee, welche Ge- neral Brown zur Bedeckung des den Engländern gehörenden Ar- tillerieparks nach Kin-san schickte. Er blieb noch mehrere Wochen in der Defensive, und nahm dann am 29. September 1863 das dicht bei Su-tšau am Ufer eines aus dem grossen Canal in den Tai-ho -See fliessenden Wassers gelegene Pa-ta-kiao . Das andere Ufer hielt der Feind besetzt. Auf einer Brücke, die zu IV. 27 Burgevine . Anh. IV. neutralem Boden erklärt wurde, hatten nun Gordon’s Officiere häufig Unterredungen mit den bei den Tae-piṅ dienenden Fremden, die grossentheils ihre Freunde und früheren Kameraden, und von ihrer dermaligen Lage keineswegs entzückt waren. Gordon selbst trat gleich nach Einnahme von Pa-ta-kiao mit ihnen in Verbin- dung und hatte Besprechungen mit Burgevine , welcher sich bereit erklärte, gegen sicheres Geleit mit allen seinen Anhängern überzu- treten; ein anderes Mal schlug derselbe Gordon vor, mit ihm zu- sammen ein Corps von 20,000 Mann zu organisiren, sich von beiden Partheien loszusagen und nach Pe-kiṅ zu marschiren; Su-tšau allein berge Silber genug zu Ausführung dieses Planes. — Gordon über- nahm die Bürgschaft für die Sicherheit von Burgevine’s Leuten und bot so Vielen Dienste in seinem Corps, als er anstellen konnte, war aber keineswegs sicher, dass das Ganze nicht eine Kriegslist sei, um ihn selbst aufzuheben, Es kam nachher heraus, dass Burgevine seinem Adjutanten Jones wirk- lich diesen Vorschlag machte. — Welche Art Mensch er war, beweist folgender durch die Beweisaufnahme des englischen Vice-Consuls in Shang-hae constatirter Vorfall. Burgevine lag betrunken in einem Boot, und Jones , sein vertrautester Freund, redete ihm zu, an das Land zu kommen, weil die Leute spöttische Reden führten. Auf Burgevine’s Fragen weigerte sich Jones , die Spötter zu nennen; da schoss ihm Burgevine auf kaum einen Fuss Entfernung seine Pistole in das Gesicht. Die Kugel ging zur linken Backe hinein und blieb in der Rachenhöhle stecken. Jones rief: »Du hast auf deinen besten Freund geschossen«. »Das weiss ich«, antwortete Jener, »und ich wollte, ich hätte dich todtgeschossen«. und handelte vorsichtig. Mitte October meldeten Burgevine und die Seinen Major Gordon , dass sie einen Scheinausfall machen und in seinen Schutz flüchten wollten. Der armirte Dampfer Hyson wurde an das feind- liche Ufer gelegt; die fremden Abenteurer schienen ihn zu über- fallen und wurden aufgenommen, die zu ihrem Beistand folgenden Tae-piṅ mit Kartätschen zurückgewiesen, während der Hyson abstiess und die Ueberläufer nach Gordon’s Lager brachte. Es fand sich aber, dass Burgevine und einige Europäer nicht darunter waren: man hatte sie aus Argwohn zurückbehalten. Major Gordon sandte, um ihr Leben besorgt, dem in Su-tšau commandirenden Mo-waṅ ein Geschenk nebst den sämmtlichen Enfield-Büchsen der Ueberläufer, wogegen Jene wirklich ausgeliefert wurden. — So blieben die Tae-piṅ denn wieder ohne wesentlichen Beistand von Ausländern. Burgevine wurde dem americanischen Consul in Shang-hae ausgeliefert, der auf Gordon’s Verwendung die Untersuchung nieder- Anh. IV. Su-tšau belagert. schlug. Er musste versprechen China zu verlassen und ging nach Yokuhama , kehrte jedoch Anfang 1865 nach Shang-hae zurück, und ging dann nach A-moi , wo er nochmals mit den Tae-piṅ in Ver- bindung zu treten suchte und in der Folge ein geheimnissvolles Ende fand. Die Siegreiche Schaar war vor Su-tšau 2100 Mann stark; ausserdem verfügte Gordon über 400 Franco-Chinesen. An kaiser- lichen Truppen standen 10,000 Mann vor der Stadt, und um Fu- šan concentrirt ein Corps von 25,000 Mann. Zu völliger Cernirung von Su-tšau war diese Streitmacht zu schwach; Gordon nahm aber eine feste Stellung nach der anderen und liess sie von den Kaiser- lichen besetzen. Die Tae-piṅ hatten in Su-tšau 40,000 Mann, und 20,000 in Wu-sie , nordwestlich davon; zwischen beiden Städten stand der Tšun-waṅ , der, in seine Würden restituirt, mit 18,000 Mann dem bedrängten Su-tšau zu Hülfe zog, aber ausserhalb der Stadt blieb und bald von aller Verbindung mit derselben abge- schnitten wurde; denn die Belagerer beherrschten auch den Taiho- See und die anderen Wasserstrassen. Aufgefangene Briefe des Tšun- waṅ bewiesen die verzweifelte Lage der Tae-piṅ , die auch in Nan-kiṅ hart bedrängt wurden und viele wichtige Positionen verloren. Mitte November hatte Major Gordon den kleinen Dampfer Firefly nach Shang-hae gesandt. Sein Commandant war angewiesen, nur zwei Stunden dort zu verweilen und dann zurückzukehren; General Brown aber wollte den Dampfer zu einem Besuch bei Gordon benutzen und behielt wegen schlechten Wetters den Com- mandanten die Nacht über bei sich, während der Dampfer im Fluss vor Anker lag. An Bord befanden sich vier Europäer, darunter ein Officier der englischen Artillerie. Um Mitternacht stieg eine Rotte fremder Abenteurer auf das Schiff, schloss die Zugänge der Kajüte, hob die Anker und entführte den Dampfer, dessen Kessel geheizt waren, im Dunkel der Nacht. Der Tšun-waṅ soll 20,000 Pfd. St. dafür gezahlt haben. Der Rädelsführer war ein Engländer, der unter dem Namen Lin-lee , wahrscheinlich Lindley , ein abenteuerliches Buch über den Tae-piṅ -Krieg publicirt hat. Er entkam mit seinem Raube nach England , nachdem er beim Zank über die Theilung einen seiner Spiessgesellen erschossen hatte. Ein anderer bei der Caperei betheiligter Engländer, White , wurde nachher in Shang-hae festgenommen und mit zweijährigem Gefängniss bestraft. — Die grässlich verstümmelten 27* Su-tšau übergeben. Anh. IV. Leichen der gefangenen Europäer wurden später bei Wu-sie gefunden. Auf die Nachricht von diesem Handstreich beschleunigte Major Gordon seine Operationen gegen Su-tšau , welche die Firefly unter kundiger Leitung wohl stören konnte. In der Nacht zum 27. November suchte er das Ostthor zu stürmen, wurde aber mit schwerem Verlust geworfen; am 29. November nahm er ein Aussen- werk dieses Thores. — Unterdessen verhandelten sowohl General Tšiṅ als Gordon insgeheim mit Rebellenführern in der Stadt, die, wie es scheint, jeder den anderen und alle zusammen das gemein- same Haupt, den Mo-waṅ , zu verrathen strebten, der wahr- scheinlich selbst Su-tšau übergeben und allein den Lohn ernten wollte. Ein Franzose, der des Mo-waṅ Ermordung beiwohnte, behaup- tete nachher, von demselben zu Unterhandlungen mit Gordon ermächtigt gewesen zu sein. Der Gang der Ereignisse ist dunkel; auch kommt bei dem Abgrund von Falschheit und Niederträchtigkeit unter die- sem Gesindel wenig darauf an, wer der grösste Schurke war. Der Mo-waṅ fiel unter den Dolchen der anderen Waṅ ’s, die ihren Verrath entdeckt sahen und das Prävenire spielten. — Nur um einen Begriff zu geben von der Lage, in welche ehrenhafte Euro- päer im Dienst der chinesischen Regierung gerathen können, möge hier eine Skizze der mit der Uebergabe von Su-tšau verknüpften Ereignisse folgen. Der Verfasser folgt in diesem ganzen Abschnitt meist dem Buche von Wilson »The ever victorious army«. An wen die Stadt ausgeliefert wurde, — ob an Major Gordon , General Tšiṅ oder den Fu-tae Li , — scheint ungewiss; übergeben wurde sie gleich nach des Mo-waṅ Ermordung. Kaiserliche Truppen besetzten am 5. December 1863 das Nord- und das Ostthor. Gordon zog seine Truppen zurück, damit sie nicht plünderten, forderte aber, da sie fast alle Kämpfe um Su-tšau ausgefochten hatten, und um sie zum schleunigen Marsch auf Wu-sie zu ver- mögen, vom Fu-tae Li als besondere Gratification einen zwei- monatlichen Sold für seine Schaar. Li sträubte sich; Gordon gab ihm Bedenkzeit bis drei Uhr Nachmittags; dann würde er sein Commando niederlegen. Unterdessen ging er in die Stadt und nach des Na-waṅ Hause, mit welchem er während der Belagerung in Anh. IV. Major Gordon in Su-tšau . geheimer Verbindung stand; — dort waren die anderen Waṅ ver- sammelt, heiter und guter Dinge; die Bedingungen der Capitulation würden streng gehalten, der Fu-tae habe sie alle begnadigt. — Gordon begab sich dann nach dem Hause des ermordeten Mo-waṅ , um ihn beerdigen zu lassen; doch wollte Niemand die Leiche be- rühren. Auf dem Rückweg nach seinem Quartier erfuhr er von General Tšiṅ , dass der Fu-tae zu Auszahlung eines ein monat- lichen Soldes für die »Siegreichen« bereit sei, welche sich auf diese Nachricht schleunigst formirten, um gegen den Fu-tae aus- zurücken. Um Gewaltthaten vorzubeugen, behielt nun Gordon sein Commando, und hatte Macht genug über seine Leute, um sie zu beruhigen. Am Vormittag des 6. December ging Major Gordon wieder in die Stadt und nach dem Hause des Na-waṅ , wo Alles in der besten Ordnung schien. Die Waṅ wollten eben zum Fu-tae hin- aus; die ganze Stadt sollte übergeben werden. Nach dem Ost- thore gehend, trifft Gordon kaiserliche Truppen, die brüllend und ihre Gewehre abfeuernd einziehen. General Tšiṅ , der eben durch das Thor kommt, entfärbt sich beim Anblick seines Alliirten und stammelt auf dessen Fragen nach den Waṅ unverständliche Worte, welche Gordon Schlimmes vermuthen lassen. Dieser kehrt, unbe- waffnet, wie er immer ging und nur von seinem Dolmetscher be- gleitet, nach des Na-waṅ Hause zurück, um dessen Familie zu schützen und der Plünderung vorzubeugen; das Haus ist aber schon ausgeräumt, die Familie zerstreut bis auf die Frauen, welche Gor- don auf ihr Flehen nach dem Hause eines Oheims des Na-waṅ bringt; dort umringen ihn Hunderte bewaffneter Tae-piṅ , welche aus dem Betragen der gegen die Bedingungen der Capitulation plündernden und mordenden kaiserlichen Soldaten einen Schluss auf das Schicksal ihrer Führer ziehn mochten. Bis zum Morgen des 7. December bleibt Gordon dort eingeschlossen; gegen zwei Uhr Nachts erlaubt man ihm, seinen Dolmetscher mit einem Schrei- ben hinauszuschicken, in welchem er den Seinen befiehlt, den Fu- tae aufzuheben und nicht eher loszulassen, bis er die Waṅ heraus- gäbe, — von deren Hinrichtung Gordon noch nicht wusste. Der Weg- weiser des Dolmetschers kommt mit der Nachricht zurück, dass kaiserliche Soldaten denselben misshandelt, den Brief zerrissen haben. Nun lassen die Tae-piṅ Gordon selbst hinaus; am Südthor Major Gordon und Fu-tae Li . Anh. IV. halten ihn kaiserliche Soldaten fest; auch von diesen macht er sich los und erreicht bei Tagesanbruch das Ostthor, wo er seine Leib- wache findet, die sofort nach dem Hause von des Na-waṅ Oheim marschiren muss. — Am Ostthor harrt Gordon seiner Dampfer, schickt Capitän Bonnefoi mit den Franco-Chinesen in die Stadt, um dem Morden Einhalt zu thun, und wehrt dem ferneren Ein- dringen kaiserlicher Truppen. Ein Officier seines Stabes holt aus seinem Zelt den Sohn des Na-waṅ , der ihm die Enthauptung sämmtlicher Tae-piṅ -Führer berichtet. Gordon hatte den Waṅ keineswegs ihre Sicherheit verbürgt, aber unter der Voraussetzung, dass Li ehrenhaft und menschlich handeln werde, zur Uebergabe zugeredet. Seine Entrüstung kannte keine Grenzen; mehrere Tage suchte er den Fu-tae vergebens; er wollte ihn hinrichten lassen und hatte sogar schon seinen Truppen befohlen, ihn zu greifen, kam aber noch zur Besinnung. Li war gewarnt und hielt sich verborgen. Gordon brandmarkte dessen Schandthat in einem Befehl an die »Siegreichen« auf das schärfste und erklärte, als englischer Officier der chinesischen Regierung nicht mehr dienen zu können, wenn der Fu-tae nicht exemplarisch bestraft würde. Um das Corps nicht sogleich aufzulösen, wollte er es dem General Brown zur Verfügung stellen. Prinz Kuṅ und alle Chinesen vertheidigten Li . Die Waṅ , hiess es, hätten sich auf die Bedingung ergeben, dass ihr Leben geschont würde, seien aber doch Unterthanen des Reiches und dessen Gesetzen unterworfen geblieben. Als sie zum Fu-tae hinauskamen, hatten sie ihr Haar nicht geschoren, die Waffen nicht abgelegt; ihr Benehmen »zeigte die äusserste Wildheit«. Sie be- standen darauf, dass Su-tšau unter ihrem Schutze, alle Tae-piṅ - Soldaten unter ihrem Befehle bleiben müssten, und erklärten, nur unter dieser Bedingung zur Lehnspflicht zurückkehren zu wollen. Sie weigerten sich ihr Gefolge zu entlassen, wollten drei Stadt- thore besetzt halten und verlangten Sold für ihre Truppen. Man musste die Verhandlungen abbrechen und konnte die Waṅ nicht nach der Stadt zurückkehren lassen, wo bei der Stärke der Tae- piṅ eine furchtbare Katastrophe entstanden wäre. Also , argumen- tirt der Chinese, mussten sie enthauptet werden. Hatten die Waṅ sich auch mit dem Blute ihres Führers besudelt, so blieb das Verfahren, auch wenn alle jene Angaben richtig wären, doch Anh. IV. Die Lage nach dem Fall von Su-tšau . eben so nichtswürdig, wie der Bruch aller anderen Bestimmungen der Capitulation. Li , der bis dahin allen übergetretenen Tae- piṅ -Führern Wort gehalten hatte und diese Leute sehr gut brauchen konnte, wurde wahrscheinlich gereizt und gab den Be- fehl im Zorn. Nach dem Fall von Su-tšau räumten die Tae-piṅ alle Stel- lungen in dessen unmittelbarer Nähe und behielten in Kiaṅ-su nur wenige Städte. Bei Wu-sie fand man die Firefly wieder. — In Kiaṅ-su nahmen die Kaiserlichen Wu-sie und Piṅ-waṅ , in Tše-kiaṅ Piṅ-hu , Hae-yuen , Kan- šu , Hae-niṅ . Während die kaiserlichen Generale glücklich weiter operirten und die Rebellen südlich nach Ka-šiṅ-fu in Tše- kiaṅ warfen, lag Gordon mit den »Siegreichen« unthätig in Kin- san . Ein kaiserliches Geschenk von 10,000 Tael wies derselbe in einem würdigen Schreiben unter Hinweisung auf die Unthat von Su-tšau zurük . Er wünschte die Siegreiche Heerschaar aufzulösen; das wäre aber eine Grausamkeit gegen die Bevölkerung von Kiaṅ- su gewesen, welche nur im Vertrauen auf deren Schutz zu ihren Wohnstätten zurückgekehrt war. Ein grosser Theil der »Sieg- reichen« hätte sicher bei den Tae-piṅ Dienste genommen, mit welchen sich jetzt wieder viele europäische Banditen durch grau- sames Morden dem Landvolk furchtbar machten. Ohne feste Or- ganisation und Kriegsartikel waren die »Siegreichen« nur im Felde zu brauchen, aber nicht zum Garnisondienst; des trägen Lebens in Kin-san müde sollen damals viele gewünscht haben, zu den Re- bellen überzutreten. Mit Gordon’s Hülfe konnten diese in zwei Monaten gänzlich aus Kiaṅ-su vertrieben werden; ohne ihn hätte der Kampf wohl noch ein Jahr gedauert; dem Handel von Shang- hae musste solche Verzögerung grossen Schaden bringen. Li war nun zwar nicht entlassen oder bestraft, von Pe-kiṅ aus aber ange- wiesen worden, in allen Dingen Major Gordon zu Rathe zu ziehn, den die chinesische Regierung mit Auszeichnung behandelte und durch Verleihung der höchsten Ehren zu versöhnen strebte. So beschloss denn Gordon nach zweimonatlicher Unthätigkeit, sein Commando noch einige Zeit zu behalten und wieder in das Feld zu rücken. Sir Frederick Bruce drückte ihm schriftlich seine Be- friedigung darüber aus und erklärte, dass die englische Regierung in China durchaus keine Gefühlspolitik treibe, die schnelle Unter- Feldzug der Siegreichen 1864. Anh. IV. drückung der Rebellion aber im Interesse des Handels dringend wünschen müsse. Die für die Lage sehr interessanten Briefe von Sir Frederick Bruce und Mr. Hart sind in dem Buch von Wilson , The ever victorious army, S. 212 ff. zu finden. Es war den Consularbehörden ganz besonders darum zu thun, fremde Abenteurer und americanische Flibustier von der Verbindung mit den Tae-piṅ abzuschrecken; man fürch- tete ernstlich, eines schönen Tages Burgevine oder Seinesglei- chen auf irgend einem Caperschiff der Südstaaten in chinesi- schen Fremdenhäfen erscheinen zu sehn, wo sie reiche Beute gefunden hätten. Anfang 1864 hielten die Tae-piṅ noch zwei grosse Gebiete besetzt: das eine südlich vom Tai-ho -See mit Haṅ-tšau , Ka- šiṅ-fu und anderen Städten; das andere im Nord-Westen mit Nan-kiṅ , Ta-yen , Kin-Taṅ und Tšu-yiṅ . Dazwischen liegt ein etwa zehn Meilen breiter Landstrich, durch welchen die von den Tae-piṅ besetzten Städte Ye-siṅ und Li-yaṅ die Verbindung der beiden Gebiete vermittelten. Gordon wollte nun durch Besetzung dieses Landstriches die Verbindung aufheben. Er musste be- deutende Vorräthe mitführen, denn das Land lag verwüstet; die Aecker waren nicht angebaut, die Bevölkerung fast ausgestorben, alle Wege mit den Leichen verhungerter Landleute bestreut. Die in einigen Dörfern noch übrig gebliebenen lebten nur von Menschen- fleisch und harrten oft gierig des Todes eines Genossen. Ye-siṅ wurde von den Tae-piṅ nach schwachem Wider- stande geräumt, ebenso Li-Yaṅ , dessen Besatzung zum Theil in Gordon’s Dienste trat. Nun wendete er sich dem Gebiete von Nan- kiṅ zu, erhielt aber vor Kin-taṅ schlimme Nachrichten vom Fu- tae Li . Englische Banditen hatten sich vor Shang-hae des Dampfers Tsatlee bemächtigt, für welchen der Tšun-waṅ 20,000 Pfd. St. bot Des Gebietes unkundig, fuhren die Räuber mitten in die Linien des General Tšiṅ bei Ka-šiṅ-fu hinein, wurden angehalten und in Shang-hae verurtheilt. Der Rädelsführer Morris , der auch bei Caperung der Firefly mitwirkte, büsste mit zehn Jahren Strafarbeit. ; — die Tae-piṅ hatten ein kaiserliches Heer ge- Anh. IV. Wai-su genommen. schlagen, Fu-šan genommen, bedrohten Wu-sie und belagerten das kaum 6 Meilen von Kin-san gelegene Tšan-tšu , das sie bald darauf nahmen. Gordon hob deshalb die Belagerung von Kin-taṅ auf, concentrirte am 24. März seine Truppen um Li-yaṅ , — wo dieselben unter Li A-doṅ einstweilen stehen blieben, — und eilte, obwohl verwundet, mit der leichten Artillerie und etwa 1000 Mann dem Fu-tae zu Hülfe. Schon am 26. März stiess er auf Re- bellenhorden, welche das Land verwüsteten und die Dörfer an- steckten. Um ihr Vordringen in unberührte Gebiete zu hemmen, griff er bei Wai-su mit der Artillerie ihr Centrum an; das Fuss- volk litt aber durch Fehler seines Führers eine schwere Niederlage und wurde so eingeschüchtert, dass Gordon die Truppen nach Siaṅ-tšau , etwa 3 Meilen nördlich von Wu-sie zurückzog und Verstärkung abwartete. — Am 3. April führte Fu-tae Li 6000 Mann von Su-tšau herauf, die sich eine halbe Meile von Wai-su mit den Siegreichen vereinigten. Die Tae-piṅ wurden jetzt dort enger eingeschlossen: den Yaṅ-tse in ihrem Rücken beherrschten kaiserliche Dschunken, südwestlich stand Gordon , östlich, südlich und westlich rückten kaiserliche Truppen heran. — Der Krieg im Süden war um diese Zeit fast beendet. General Tšiṅ , — der dort seine Todeswunde erhielt — hatte am 20. März Ka-šiṅ-fu , Ge- neral Tso mit Hülfe der Franco-Chinesen am 21. März Haṅ- tšau genommen. Darauf räumten die Tae-piṅ auch Hu-haṅ , und rückten theils nach Wu-tšu-fu am Süd-West-Ende des Tai- ho -Sees , theils zerstreuten sie sich, in kleine Schaaren aufgelöst in die unbewohnten Grenzgebirge der Provinzen Tše-kiaṅ und Gan-wui . Der vorgeschobene Posten der Tae-piṅ in Wai-su war, wie gesagt, eng umstellt; die Strasse nach Tan-yan , ihre einzige Rückzugslinie, blieb unbesetzt; hier hatten aber die Kaiserli- chen jenseit der Stadt Koṅ-yin , welche sie nahmen, alle Brücken abgebrochen. Von seiner Wunde fast geheilt, nahm Gordon am 6. April die Operationen wieder auf; die Tae-piṅ räumten Wai-su nach kurzem Widerstande, wurden auf der Strasse nach Tan-yan von den Kaiserlichen verfolgt und fielen meist in die Hände des zornigen Landvolks, dessen Dörfer sie vor Kurzem verbrannt hatten. Kaum 1000 sollen Tan-yan und Tšan- tšu erreicht haben. Auflösung der Siegreichen Schaar. Anh. IV. Tšan-tšu-fu wurde nun von Li und Gordon eingeschlossen, leistete aber tapferen Widerstand, bis der Fu-tae allen Ueber- läufern — ausser dem in der Festung commandirenden Hu-waṅ — vollen Pardon versprach. Da kamen Deserteure zu Tausenden. Am 11. Mai wurde die Stadt erstürmt. Von der Garnison — noch 20,000 Mann — liess der Fu-tae 1500 Mann aus Kuaṅ-tuṅ und Kuaṅ-si , die als Räuber und Marodeure galten, mit dem Hu-waṅ hinrichten. Um diese Zeit gelangte eine Note der englischen Regierung nach Shang-hae , in welcher die Beurlaubung von Linienofficieren zum Dienst gegen die Tae-piṅ verboten wurde; ihre Aufgabe war aber gelöst. Kin-taṅ und Han-yan ergaben sich gleich nach dem Fall von Tšan-tšu ; Kiaṅ-nan war fast ganz von Rebellen ge- säubert und Shang-hae vollkommen gesichert. Nan-kiṅ musste, vom Generalissimus Tseṅ-kwo-tsun belagert, in Kurzem fallen; der Bewältigung von Wu-tšu , am Süd-Ufer des Tai-ho -Sees , war Li mit 39,000 europäischen Gewehren, schwerem Geschütz und reichlicher Munition vollkommen gewachsen. Das waren die einzigen noch von den Tae-piṅ besetzten Plätze. Unter diesen Umständen musste auch die chinesische Regierung die Auflösung der Siegreichen Heerschaar wünschen, welche Gordon Ende Mai 1864 in Kin-san bewirkte. Die hohe Achtung der kaiserlichen Be- hörden bewies die ungesäumte Gewährung der grossen Summen, welche er zu Belohnung seiner Officiere und Soldaten forderte; letztere wurden in ihre Heimath, die Officiere nach Shang-hae entlassen, bis auf einige, welche in der kaiserlichen Artillerie Dienste nahmen. — Die Siegreiche Schaar unter einem unbewährten Commandeur fortbestehen zu lassen, schien sowohl den Fremden als den Chinesen bedenklich, da man immer noch fürchten musste, dieselbe zu den Tae-piṅ übertreten zu sehen, was zu neuen Schwie- rigkeiten geführt hätte. Major Gordon , dessen Uneigennützigkeit sich bewährte, er- hielt von der chinesischen Regierung mit einem sehr schmeichel- haften Schreiben den höchsten militärischen Rang eines Ti-tu , den ihm zu Ehren creirten Orden des Sternes, ein Banner und die gelbseidene Jacke, als Zeichen der höchsten kaiserlichen Gunst. Anh. IV. Der Tšun-waṅ in Nan-kiṅ . Ueber die letzten Tage des Tae-piṅ -Reiches geben die Auf- zeichnungen des Tšun-waṅ oder Treuen Königs, der an Gesinnung weit über allen seinen Genossen stand, denkwürdige Aufschlüsse. Der Stempel der Wahrhaftigkeit ist ihnen aufgeprägt; das brave, bis zum Tode treue Gemüth redet aus jeder Zeile. Der Tšun-waṅ commandirte den Feldzug, welcher im März 1864 die Tae-piṅ bis Wai-su führte, zog sich, als Tšan-tšu un- haltbar schien, auf Nan-kiṅ zurück, das die Kaiserlichen unter Tseṅ-kwo-tsun eng eingeschlossen hatten, und gelangte glücklich in die Stadt. Dort fehlte es schon am Nöthigsten. Der Tien-waṅ , welchen der Treue König zur Flucht zu bereden suchte, erwiederte alle Berichte über die Operationen des Feindes mit erhabenen Sen- tenzen über Himmel und Erde. »Ich habe die Befehle des Šan-ti und Jesus erhalten, auf die Erde herabzusteigen und das Reich zu lenken. Ich bin der alleinige Herr von zehntausend Völkern; was sollte ich fürchten? Du wirst durchaus nicht um Rath ge- fragt und die Regierung bedarf deiner Aufsicht nicht. Thue was dir beliebt, ob du gehen oder bleiben magst in der Hauptstadt. Mit eiserner Hand halte ich das Reich, die Berge und Ströme, und wenn du mir nicht beistehst, so werden es andere. Du sagst, es seien keine Soldaten da; aber meine Truppen sind zahlreicher als die Ströme. Wie sollte ich den Teufel Tseṅ fürchten? Fürchtest du den Tod, so wirst du sterben.« — Der Tien-waṅ begrub sich, nur auf Ceremonien bedacht, in die Tiefen des Harem. Mit der Gefahr wuchs seine despotische Grausamkeit: wer in amtlichen Documenten nicht reichlich den Ausdruck »himmlisch« brauchte, sollte von Pferden in Stücke gerissen werden; wer mit dem Feinde verkehrte, lebendig geschunden und zu Tode gestampft werden. Viele Tae-piṅ entkamen durch die feindlichen Linien; der Tšun- waṅ aber blieb seinem Namen treu, obgleich der Tien-waṅ ihn ganz bei Seite schob und Alles Huṅ-džin , dem Kan-waṅ oder Schildkönig überliess, der eben so feige und grausam war wie er selbst, der seine Person im Felde niemals exponirt hatte, in Nan- kiṅ aber mit wildem Blutdurst zu wüthen pflegte. Die Noth wuchs mit jedem Tage. Da der Tien-waṅ streng verboten hatte, die hungernden Bewohner aus der Stadt zu lassen, so bewirkte der Tšun-waṅ insgeheim die Entfernung von 3000 Frauen und Kindern, welche Tseṅ-kwo-tsun versorgte. Männer Nan-kiṅ genommen. Anh. IV. und Weiber flehten in den Strassen kläglich um Nahrung; unter- dess raubten und mordeten des Kan-waṅ kantonesische Trabanten nach Gefallen. »Diebe und Räuber,« sagt der Tšun-waṅ , »standen in der Stadt auf. Die nächtliche Ruhe störte beständiges Schiessen im Innern der Stadt und ganze Familien wurden ausgeplündert. Das waren Zeichen von übeler Vorbedeutung und Vorboten der Vernichtung.« Der Tod des Tien-waṅ ist in Dunkel gehüllt. Nach des Tšun-waṅ Bericht hätte das furchtbare Getöse der platzenden Minen seine Sinne verdüstert: er hätte sich am 30. Juni ver- giftet. Im Garten des Palastes fanden die Kaiserlichen den Leichnam eingescharrt, in gelbe Seide gehüllt, mit grauem Schnurrbart. — Der »Junge Herr«, Huṅ-fu-tien , bestieg wirk- lich den Thron. Am 8. Juli versuchte der Tšun-waṅ einen Ausfall, wurde aber nach hartem Kampfe zurückgetrieben. Er wünschte dem Elend ein Ende zu machen, die anderen Waṅ widersetzten sich jedoch der Uebergabe. Am 19. Juli sprengten die Kaiserlichen eine ge- waltige Mine, die ein grosses Stück der Stadtmauer niederlegte, und stürmten die Bresche. Der Tšun-waṅ schützte mit seinen Leuten bis Mitternacht des Tien-waṅ heulende Frauen in dessen Palast, steckte diesen endlich in Brand und rückte nach dem Süd- west-Thor, wo er Huṅ-fu-tien , dem »Jungen Herrn«, sein eigenes Streitross gab für einen elenden Klepper, der ihn kaum trug. »Obgleich,« schreibt er, »des Tien-waṅ Tage erfüllt, das Volk durch Andere, die seine Mühe vereitelten und ihn täuschten, ge- schädigt, und der Staat verloren waren, so konnte doch ich, der seine Gunst genossen hatte, nicht anders, als meine Treue beweisen durch das Streben, seinen Sohn zu retten.« Der Tšun-waṅ , der Kan-waṅ und Huṅ-fu-tien entkamen im Wirrwarr glücklich mit etwa tausend Mann, wurden aber von Tseṅ-kwo-tsun ’s Reiterei verfolgt und auseinandergesprengt. Der Tšun-waṅ , den sein schwacher Klepper nicht tragen konnte, ver- barg sich in einem Tempel, wo Landleute ihn erkannten und knieend unter Thränen anflehten, sein Haupt zu scheeren. Von Anderen erkannt, wurde er bald darauf festgehalten und ausgeliefert. Huṅ-džin , der Kan-waṅ , wurde ebenfalls gefangen. Huṅ- fu-tien , der »Junge Herr«, irrte, von mitleidigen Landleuten er- Anh. IV. Ende der Tae-Piṅ -Führer. halten, eine Weile umher, fiel aber endlich den Truppen des Ge- neral Tšen-pao in die Hände, der ihn schleunigst köpfen liess. Er betheuerte bei seiner Verhaftung bei allen Himmeln, dass er dem Thron entsage, und bat nur flehentlich, sich auf die Staatsprüfungen vorbereiten zu dürfen. Ueber den Tsun-waṅ und den Kan-waṅ berichtete Tseṅ- kwo-tsun nach Pe-kiṅ , liess aber noch vor der Bescheidung Beide enthaupten; der Richterspruch vom Kaiserhofe lautete auf »lang- same, schimpfliche Hinrichtung«. Der Tšun-waṅ schrieb in den acht Tagen der Kerkerschaft seine Lebensgeschichte, die, nach den übersetzten Auszügen zu urtheilen, ein Meisterwerk klarer lebendiger Darstellung ist. Er soll gehofft haben, durch die Apologie sein Leben zu retten. — Seinem Charakter wird von allen Seiten das glänzendste Zeugniss gegeben; ein Freund des Landvolkes linderte er aus eigenen Mitteln die Noth der von anderen Heerführern ver- wüsteten Gebiete und förderte überall den Wohlstand durch geregelte Verwaltung. Die Bewohner von Su-tšau setzten ihm aus Dankbarkeit ein schönes Marmor-Denkmal, das sie nach dem Fall der Stadt auf Befehl der Mandarinen wieder einreis- sen mussten. In Nan-kiṅ wüthete die vom Tšun-waṅ entzündete Feuers- brunst drei Tage lang und verwandelte den besten Stadttheil in Trümmerhaufen, aus welchen vereinzelte Reste von Steinportalen mit buntem phantastischem Ornament emporragten. Die entfernteren Strassen müssen Jahre lang unbewohnt gewesen sein; vier Fuss hohes Gesträuch machte sie unzugänglich. Von den gehofften Schätzen, der Beute so vieler Raubzüge, fand man keine Spur; nur die Plünderung einzelner Tae-piṅ -Soldaten lohnte reichlich. Des Kan-waṅ Banditen scheinen gut aufgeräumt und sich grossen- theils bei Zeiten aus dem Staube gemacht zu haben, was bei der Weite des Mauerumkreises ein Leichtes war; ihre Schätze bahnten die Wege. Bei der Einnahme soll die Besatzung von Nan-kiṅ kaum 20,000 Mann gezählt haben, von welchen 7000 hingerichtet wurden. Die Reste der Tae-piṅ . Anh. IV. In dem festen Wu-tšu-fu am Tai-ho See hielten sich die Tae-piṅ noch lange gegen die starke von 1800 Franco-Chinesen und einem neuen anglo-chinesischen Freicorps unterstützte Streit- macht des Fu-tae Li , deren Artillerie von Engländern commandirt wurde. Erst gegen Ende August räumte der Tao-waṅ die Stadt und suchte, nach Kiaṅ-si ziehend, in Verbindung mit dem Si-waṅ zu treten, der aus Nan-kiṅ kurz vor dem Falle entkommen war. In des Tao-waṅ Horden dienten, meist gezwungen, noch etwa ein Dutzend Ausländer, welche die Tae-piṅ hier und dort aufgegriffen hatten. Einer derselben, der später entkam, giebt furchtbare Schilderungen ihrer Barbarei: »Für alle Vergehen gab es nur eine Strafe, den Tod. Ich sah 160 Mann enthaupten, weil sie bei der Musterung gefehlt hatten. Zwei Knaben wurden ge- köpft, weil sie geraucht hatten; alle Gefangenen wurden geköpft, Spione oder der Spionage Verdächtigte mit den Händen auf dem Rücken an einen Pfahl gebunden und mit Strauchwerk langsam verbrannt.« Der Tao-waṅ zog am Fuss der Gebirge von Tše-kiaṅ hin nach Kiaṅ-si , wandte sich dann nach Fu-kian und nahm vereint mit dem Si-waṅ die Stadt Tšaṅ-tšau bei A-moi . Im Januar 1865 erliessen sie von da ein Manifest an die Vertreter der westlichen Völker: sie möchten, »vertrauend auf die Allmacht des Himm- lischen Vaters und Jesus , und nach den Vorschriften des Christen- thumes handelnd«, mit ihnen gemeinschaftlich die Mandschu ver- tilgen. Die Tae-piṅ wollten zu Lande, die Fremden sollten zur See angreifen, und dann das Reich ehrlich theilen. Eine Anzahl Ausländer in verzweifelten Umständen, darunter mehrere von Gor- don’s ehemaligen Officieren, liessen sich auch jetzt noch zu den Tae-piṅ locken und wurden grossentheils ermordet; andere flüchte- ten, entsetzt über die blutigen Gräuel dieser Horden, welche jetzt alle gefangenen Mandarinen lebendig brieten und einmal 1600 kaiser- liche Soldaten, die sich auf das Versprechen ihres Lebens ergaben, mit kaltem Blute schlachteten. Um diese Zeit erschien auch Burgevine in A-moi , traf mehrere seiner alten Spiessgesellen und soll im Trunke geschworen haben, dass er den Tae-piṅ helfen wolle. Bis an die Zähne be- waffnet wurde er, bei Nacht durch die Vorposten schleichend, von den Kaiserlichen festgenommen. Die Mandarinen schickten ihn Anh. IV. Mohamedanische Rebellen und Nien-fei . trotz allen Einwendungen der americanischen Consuln in A-moi und Fu-tšau gefangen zu Lande nach Shang-hae . Beim Ueber- gang eines Flusses, hiess es nachher, sei durch eine plötzliche Hochfluth die Fähre umgeschlagen, der Abenteurer mit zehn Chinesen ertrunken. Der americanische Gesandte in Pe-kiṅ drang auf Untersuchung, und die Leiche wurde ausgegraben, zeigte aber keine Spur von Gewalt. Das Ereigniss der Wasserfluth wurde constatirt, das zufällige Ertrinken aber auch dadurch nicht bewiesen. Die Miliz von Fu-kian war der Bewältigung von Tšaṅ-tšau nicht gewachsen; als aber 8000 Mann regulärer Truppen erschie- nen, räumten die Tae-piṅ in der Nacht des 16. April 1865 die Stadt und zerstreuten sich hart bedrängt in die Gebirge. Unter einem » Kan-waṅ «, der sich, obgleich viel jünger, für den echten Huṅ-džiṅ ausgab, zog eine starke Schaar nach Kuaṅ-tuṅ , wurde aber bald auseinandergesprengt. Politische Bedeutung hatte nach dem Fall von Nan-kiṅ keine dieser Horden; sie plünderten aber, aus den Gebirgen hervorbrechend, noch Jahre lang häufig das platte Land. Des Tien-waṅ älterer Bruder Ši-ta-kae , der in Se-tšuen auf eigene Hand operirte, wurde schon 1863 gefangen und hin- gerichtet. Ein Theil seiner Truppen soll sich nach der Provinz Kan-su zu den mohamedanischen Rebellen durchgeschlagen haben. Die periodischen Aufstände in dieser und der vorwiegend von Moslem bewohnten Provinz Šen-si , deren schwankende Grenzen über die Grosse Mauer hinausreichen, nehmen oft bedeutende Aus- dehnung an, ohne den Thron zu bedrohen. 1866 scheinen die kaiserlichen Heere jene Rebellen über die Reichsgrenze in das von Moslem bewohnte Land I-li gedrängt zu haben. Die mit dem Namen Nien-fei bezeichneten Rebellenhorden kommen meist aus dem Flussthal des Hoaṅ-ho . Der Gelbe Strom , China’s Geissel, bricht häufig die Dämme seines über dem Spiegel der Ebene liegenden Bettes und verwüstet weite Strecken; dann überfluthen Zehntausende heimathloser Armen raubend und stehlend die Nachbargebiete. Den Beraubten bleibt keine Wahl als sich anzuschliessen; so wachsen die Horden lawinenartig und bezwingen leicht die Miliz der Provinzen. Die Ebbe im chinesischen Staats- schatz seit dem Opiumkrieg, welche die für die Deichbauten am Die Nien-fei . Anh. IV. Hoaṅ-ho jährlich erforderlichen Ausgaben verbot, war Ursache der grossen Verbreitung der Nien-fei in den letzten Jahrzehnten. Das durch den Feldzug der Tae-piṅ gegen Pe-kiṅ 1853 hervorgerufene Elend verstärkte ihre Horden; in den nächsten Jahren operirten sie sogar häufig im Einklang mit Jenen. Als die Alliirten 1860 Pe-kiṅ besetzten, stand ein Heer der Nien-fei in der Nähe. 1861 be- drohten sie Tien-tsin und dessen Verbindung mit der Hauptstadt und schlugen Saṅ-ko-lin-sin , der später in diesem Kampf den Tod fand. Erst nach dem Fall von Nan-kiṅ konnten die Kaiserlichen mit Nachdruck gegen sie vorgehen. 1865 wurden die Nien-fei von Tseṅ-kwo-fan und Saṅ-ko-lin-sin ’s Sohn, der von Norden mon- golische Truppen heranführte, in die Provinz Šan-si gedrückt und zerstreut. Einzelne Banden sind seitdem in verschiedenen Theilen von Mittel-China wieder aufgetaucht; in Kuaṅ-tuṅ und Kuaṅ-si unternahmen die Hak-ka und Miao-tse zahlreiche Raub- züge, und man sagt mit Recht, dass bei den Chinesen die Rebellion in Permanenz ist. LITTERATUR . IV. 28 LITTERATUR. VERZEICHNISS DER BESCHREIBENDEN UND HISTORISCHEN WERKE ÜBER CHINA UND SIAM , WELCHE DEM VERFASSER DIESER BLÄTTER ZUGÄNGLICH WAREN. CHINA . Breitenbach . Lebensgeschichte des Kaisers Kienlong . Gützlaff . Geschichte des chinesischen Reiches, herausgegeb. von K. F. Neumann. Hyacinth . Beschreibung von Peking . Kreiher . Die preussische Expedition nach Ost-Asien in den Jahren 1859 — 1862. Maron . Japan und China . Reiseskizzen. Neumann . 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