Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt . Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt . Herausgegeben von J. G. Herder . Fünfte Sammlung. Riga, 1795. bei Johann Friedrich Hartknoch . Nachricht an den Buchbinder. Der Buchbinder beliebe die Bogen mit der eingeklammerten Signatur von (A) bis (K) gleich nach dem Titel und Inhalt zu binden, und dann die Bogen A, B, C, D, folgen zu lassen, so daß der 58. Brief auf den 57. so- gleich folge. — Inhalt der fuͤnften Sammlung . Br. 54. Ueber Muͤllers Bekenntnisse merkwuͤrdiger Maͤnner von sich selbst. Leibnitz Weissagung S. 1 — 55. Petrarca's Charakter und Ver- dienste. Ideal seiner Laura . S. 11 — 56. Uriel Akosta . Von Religions- verfolgungen und Beschimpfungen der Religion wegen. Verdienst der Maͤnner, die dagegen gewir- ket. Von Verbreitung der Hu- manitaͤt durch Briefe. S. 22 — 57. St. Pierre und Comenius . Verdienste des letztern. Sein Auf- ruf zu Verbesserung der menschli- chen Dinge. S. 31 Beilage . Haben wir noch das Pu- blicum und Vaterland der Alten. Eine Abhandlung. S. 52 Br. 58. Von den Meinungen der Voͤlker in den verschiednen Zeitraͤumen ih- rer Geschichte. Von Machiavells Fuͤrsten. S. 1 — 59. Fortsetzung der Materie. Hugo Grotius und seine Nachfolger. S. 14 — 60. Mehrere Gedanken von Leibnitz S. 20 — 61. Fortsetzung dieser Gedanken. Von Spielen. Leibnitz Charakter. S. 32 — 62. Von der Art, wie Leibnitz in Deutschland war. Seine Ver- dienste. S. 42 54. D er Wunsch unsres Freundes Briefe zur Befoͤrderung der Humanitaͤt. Samml. 1. Br. 5. faͤngt an in Erfuͤllung zu gehen; Bekenntnisse merkwuͤrdiger Maͤnner von sich selbst sind in zwei Baͤndchen erschienen, die zu mehreren Hoffnung erwecken und Hoffnung geben Winterthur 1791. 1793. von J. G. Muͤller . Petrarca , Augu - stin , Uriel Acosta , Franz Junius , Comenius , Holberg , Leibnitz spre- chen hier; allesammt in der eignen Sprache ihres Herzens und Geistes. Von Petrarca Fuͤnfte Samml. (A) sind seine drei Gespraͤche uͤber sich selbst, „ mein Geheimniß “ genannt, ganz uͤbersetzt; Augustins Bekenntnisse im Auszuge. Acosta's exemplar vitae hu- manae, wie es Limborch , Franz Ju - nius Lebensbeschreibung, wie sie Merula bekannt gemacht, Comenius Bekenntniß von sich aus seinem Eins ist Noth (unum necessarium) Holberg , Leibnitz aus ihren Briefen. — Koͤnnen verschiedene, alle- sammt merkwuͤrdige Maͤnner in einem enge- ren Raum auftreten, und von sich zeugen? Ihrem eignen Zeugnisse hat der Autor mit Erzaͤhlung ihrer Lebensumstaͤnde fort- geholfen; wie, duͤnkt mich, nothwendig und recht ist. Was weiß ein Sterblicher, wer oder wozu er da sei? zu welchen Zwecken ihn die Vorsehung in ihrem großen Plan brauchen werde? Er schuͤttet sein Herz aus, in Freude oder meistens in Leid, vor Gott, vor sich selbst oder vor Menschen; sein Auge blickt nieder zur Erde. Denn seiner Schwaͤchen, seiner muͤhsamen, oft eiteln Bestrebungen, seines Kampfes mit sich und mit andern demuͤthig bewußt, zaͤhlet er sich kaum, und kann und darf nicht rech- nen, was seine Ziffer zum großen Nenner der Welt bedeute oder bedeuten werde? Hier darf der Autor, der den Bekennenden als Freund vorfuͤhrt, zumal wenn er Jahr- hunderte nach ihm lebet, wohl ein Wort uͤber ihn sprechen, und auf der großen Ta- fel der Weltbegebenheiten zeigen, wo er stand? wo er kuͤnftig stehen moͤchte? Petrarca war eine der zartesten See- len, die in menschlichen Koͤrpern erschienen, Nicht seiner Sprache allein hat er jene Formen suͤßer Sonnette und Canzonen, und mit diesen zugleich die erlesensten Gedan- ken der Provenzalen, ja jenes Ideal einer (A) 2 Liebe eingedruͤckt, die sich mehr im Him- mel als auf der Erde fuͤhlet. Sondern fuͤr ganz Europa war er ein eifriger Er- wecker der Alten; fuͤr Italien, fuͤr Rom war er ein Patriot, deßgleichen es unter den Petrarchisten keinen mehr gab, und was uͤber alles geht, ein strenger Bearbei- ter seines Herzens und Geistes. Seine Briefe und andre lateinische Schriften sind eine eigentliche Schule der Bildung sein selbst , voll maͤnnlicher Unterhaltung. Eine Seele dieser Art, die allenthalben Ruhe suchte und sie nirgend fand, in einsamen Selbstgespraͤchen mit ihrem Schutzgeist spre- chen zu hoͤren, mag freilich eitele Leser er- muͤden; Beobachter menschlicher Sinnes- arten aber werden ihr angenehm lauschen, und zarte Gemuͤther, wie Petrarca selbst war, wird er tief in ihr Inneres fuͤhren. Diese Bekenntnisse und die Nachrichten zu dem Leben des Petrarca Lemgo 1774—1778. muͤssen Jedem, der fuͤrs stille Gemuͤth lieset, eine liebe Unterhaltung seyn. Augustin , (der zweite Mann, den un- ser Autor in seinem Selbstbekenntnisse dar- stellt,) war ein Kirchenvater; er ists auch in seinen Confessionen. Um die Seele eines Kirchenvaters kennen zu lernen, von der manche, die auf diesen Namen schmaͤhen, fast keinen Begrif haben, muß man sie le- sen. Die ganze Denkart, ja ich moͤchte sagen, der Witz, die Phantasie, selbst die taͤuschende Sophisterei Augustins ist in ihnen. Unser Autor ist uͤber ihn nur kurz gewesen: denn uͤber Augustin muͤßte man ein Buch schreiben. Welche Kaͤmpfe hat der arme Acosta sich zugezogen! welche Verfolgungen der redliche Junius standhaft ertragen! Auch bei Comenius siehet man seinen zwar nicht tiefdringenden, aber viel umfassenden Geist, seinen allenthalben aufs Nutzbare, auf Reform der Wissenschaften und Schu- len gestellten Sinn. Ueber ihn, der fuͤr sein Zeitalter mehr als Basedow war und noch mehr haͤtte seyn koͤnnen, wuͤnschte ich, daß Jemand ausfuͤhrlicher spraͤche. Holbergs Leben ist aͤußerst merkwuͤr- dig und unterhaltend, wie es auch der Mann selbst war. In seiner Zeit und Lage, nach einer solchen Jugend, hat er ungemein viel geleistet; er riß sich selbst uͤber die Denkart seines Landes hervor, und ward, zwar in keiner Bemuͤhung ein Stern erster Groͤße, allenthalben aber ein freundlicher Stern mitten im dichten Nebel. Manche sei- ner Schriften sind noch jetzt sehr lesbar, zu- mal sein Klimm und seine Briefe . Unter den Alten waren ihm Plutarch und Lu - cian , Terenz , Ovid , Juvenal , Pe - tron und Plinius , unter den Neuern nebst einigen Geschichtschreibern Grotius , Bayle , le Clerc , Moliere die lieb- sten; man siehet die Spuren davon in sei- nen Schriften, in denen sich nirgend ein tiefer, allenthalben aber ein heller, lebhaf- ter, vernuͤnftiger, moralischer Geist zeiget. Leibnitz endlich — hier konnte unser Autor, der die bekannten Lebensumstaͤnde nicht wiederholen wollte, wenig sagen: denn die Geschichte seines Geistes hat Leib- nitz uns nicht selbst geschrieben. Er lebt fuͤr uns in seinen Schriften, aus welchen hier einige Umstaͤnde zusammengestellt sind. Hoͤren Sie von ihm eine Weißagung: „Ich finde, daß solche (leichtsinnige, ir- religioͤse) Meinungen, indem sie je mehr und mehr unter Leuten von der großen Welt, nach welchen sich die uͤbrigen zu rich- ten pflegen, Liebhaber finden, und sich in die Modebuͤcher einschleichen, alles zu der General - Revolution , von welcher Europa bedrohet wird, zubereiten, und die Zerstoͤrung alles dessen vollenden helfen, was von den edlen Grundsaͤtzen der Grie- chen und Roͤmer, welche die Liebe des Va- terlandes, des gemeinen Wesens und die Sorge fuͤr die Nachwelt ihrem eignen Gluͤck, ja selbst dem Leben vorzogen, bis jetzt noch uͤbrig geblieben ist. Der Gemeingeist (public spirit) vermindert sich außerordent- lich, kommt je mehr und mehr aus der Mode, und wird noch mehr abnehmen, wenn er aufhoͤrt, von einer guten Moral und der wahren Religion, wie selbst die gesunde Vernunft sie uns lehrt, unterstuͤtzt zu werden. Sogar die Bessern von der entgegengesetzten Seite nehmen kein andres Principium mehr als die Ehre an. Bei ihnen aber heißt ein Mann von Ehre schon der, der nichts thut, was sie fuͤr nie- dertraͤchtig halten. Und wenn sogar einer aus Laune, oder um seine Ehrsucht zu be- friedigen, Stroͤme Blutes vergießen und alles uͤber einander werfen wuͤrde: so waͤre ihnen das Alles nichts und selbst ein He- rostrat wuͤrde ihnen ein Held seyn. Laut macht man sich uͤber die Liebe des Va - terlandes lustig; laut macht man die laͤcherlich, die fuͤr das allgemeine Beste sorgen; und zeigt jemand in der reinsten Absicht die traurigen Aussichten, die sich uns fuͤr die Zukunft eroͤfnen, so ist die Antwort: „laß diese fuͤr sich sorgen.“ — Leicht aber duͤrften solche Leute zuerst das Ungluͤck erfahren, welches sie blos fuͤr an- dre aufbewahrt glauben. Kommt man die- ser epidemischen Krankheit, deren uͤble Wir- kungen bereits sichtbar zu werden anfangen, noch in Zeiten vor: so lassen sich ihre Folgen vielleicht noch hemmen. Nimmt sie aber uͤber- hand, so wird die Vorsicht die Men - schen gerade durch die Revolution , die daraus entstehen muß , heilen , und was auch kommen mag , am Ende zum Wohl des Ganzen leiten ; ob dies gleich ohne Zuͤchtigung Derer, die durch ihre boͤsen Handlungen wider ihren Willen zur Befoͤrderung des Guten beitru- gen, weder erreicht werden wird, noch er- reicht werden kann.“ Soweit Leibnitz . Wuͤnschen Sie nicht, daß unserm Autor viele, auch ungedruckte Bekenntnisse merkwuͤrdiger Maͤn - ner zukommen moͤgen? Wenn in unserm Vaterlande der moralische Gemeingeist, uͤber dessen Abgang Leibnitz klaget noch nicht ganz ausgestorben ist, so sollte dieser ihm solche in sein Sacrarium treuer Bekenntnisse zufuͤhren. 55. A ngenehm hat mich der Name Petrarca in Ihrem Briefe geweckt; er erinnerte mich an die Zeiten, da ich, nicht etwa nur seine Sonnette und Canzonen, sondern die Nach - richten aus seinem Leben Memoires pour la Vie de Petrarque. Am- sterd. 1764. 3. Quartbaͤnde. Ihre Ueber- setzung, Lemgo 1774. ist sehr gut und zweck- maͤßig. A. d. H. und die merkwuͤrdigsten seiner Schriften und Briefe selbst las. Welch eine falsche Idee hat man gemeiniglich von Petrarca! wie falsch waͤre auch die, wenn man sich aus diesen Selbstgespraͤchen etwa nur eine bußfertige Seele, oder einen mit sich selbst Unzufrie- denen abzoͤge! Ganz ein andrer Geist lebte in Petrarca. Zuerst trug er das große, unaustilg- bare Gepraͤge der Liebe des Alter - thums in seiner Seele; ein Gepraͤge, das mir allenthalben ehrwuͤrdig ist, wo ichs gewahr werde, und das uns bei Ihm, zu seiner Zeit, unter seinen Umstaͤnden, in der Anwendung, die Er davon machte, aͤußerst wohlthut. Die Griechen kannte er wenig, und setzte sie den Roͤmern nach; er ward mit ihrer Sprache zu spaͤt bekannt, und da er die Roͤmer als seine Landsleute ansah, deren Glanz in Italien er wiederzusehen wuͤnschte; so gab ihnen dieses schon in sei- ner Seele einen Vorrang vor allen Voͤl- kern der Erde. Nie haben ihre Redner, Dichter und Weisen einen eifrigern Schuͤ- ler gehabt, als Ihn, der nicht etwa nur in der Sprache ihnen nachzubuhlen suchte, sondern ihren großen Sinn , ihre hohe Gedankenweise zur Seinigen machte. Dies zeigen seine Schriften und Briefe, seine Sammlungen von Beispielen der Vor- welt, die Grundsaͤtze, an welche er sich hielt, mit welchen er andre troͤstete oder weckte, endlich seine lateinischen Gespraͤche, Ge- dichte und andre Einkleidungen, in denen man bis zu seinen hoͤchsten Jahren hinauf den Schuͤler der Alten wahrnimmt. Hier klopft Petrarca jedem Juͤnglinge und Mann auf die Schulter: „liesest Du die Alten also? wendest Du sie also an?“ Pe- trarca's lateinischer Styl mag unrein seyn; seine Denkart war es nicht. Ein Freund des Vaterlandes, wie Tullius und Cato , weiß er die strengen Grundsaͤtze eines Se - neka durch die gesellschaftliche Theilneh - mung und Gefaͤlligkeit des Horaz anmu- thig zu mildern. Manche Briefe, in denen er seine Schwachheiten liebenswuͤrdig be- kennet und entschuldigt, ja gleichsam mit seinem eignen Herzen spielet, sind ganz in der Denkart Horaz geschrieben; und eine sittliche Urbanitaͤt ist der Charakter aller seiner Schriften. Dies Gefuͤhl also, nach welchem er ganz unter den Alten lebte, webte den Faden seiner Begebenheiten, und ward, wie man sagt, der Schmid seines Gluͤcks . Auf eine niedrige Weise nach den Begriffen sei- ner Zeit ein Gluͤck machen , konnte und wollte er nicht; er schlug dazu alle Gele- genheiten aus, die er auch nicht zu brau- chen gewußt haͤtte; dagegen erwarb er sich eine Liebe und Anhaͤnglichkeit, ein Ansehen und einen Namen, uͤber welchen man froͤ- lich erstaunet. Welche Briefe und Anre- den, die er an Kaiser, Koͤnige, Paͤpste, Car- dinaͤle, Bischoͤfe und Fuͤrsten schrieb! und welche Art, in der sie aufgenommen wur- den! Keine Veraͤnderung der paͤpstlichen und buͤrgerlichen Welt, die einigermaaßen sein Italien betraf, ging vor, ohne daß er den lebhaftesten Antheil daran genommen haͤtte; eben weil sein Vaterland so ganz in seinem Herzen wohnte. Vergleicht man in diesem Punkt, im Punkt der Achtung naͤmlich, die man dem hellen Verstande, der reinen Wis- senschaft Petrarca's erwies, seine Zeiten mit den unsrigen; welche soll man barbarisch nen- nen? Dort hatte man wenigstens eine Ach- tung fuͤr den Verstaͤndigen, der, obwohl blos ein Mann der Wissenschaft und kein Staatsdiener, bei oͤffentlichen Anlaͤßen an- munterte, rieth, warnte, lehrte; jetzt wuͤrde dem Petrarca selbst schon der poetische Lor- beerkranz auf seinem Schaͤdel allenthalben ein Stillschweigen auflegen, wo er nicht zu loben vermoͤchte. Und doch war es eben und einzig diese Liebe und Achtung fuͤr Wissenschaften, die den Zeiten aufhalf, ohne welche wir noch in der Barbarei laͤ- gen. Wer siehet nicht noch jetzt das Bild des Koͤniges Roberts von Neapel , der edlen Colonna 's und so mancher andern seiner großen Freunde in Petrarca's Schriften mit Liebe und Bewunderung an? Wie in einem Traum lieset man ihre freund- schaftlichen Briefe und hoͤrt Petrarca's Zeug- nisse von ihnen; bis man durch Zeugnisse von andern, die nicht so dachten, eben auch in denselben Briefen unangenehm aus dem Traume geweckt wird. Endlich ist das Ideal von Liebe , das Petrarca mit sich trug und in seinen Gedichten mit unglaublicher Kunst und Sorgfalt ausbildete, gewiß die kleinfuͤgige Idee Idee nicht, die man gewoͤhnlich sich an ihm denket. Laura moͤge in Person oder zum leibhaften Petrarca gewesen seyn, wer sie wolle; dem geistigen Petrarca war sie eine Idee, an die er auf Erden und im Himmel, wie an das Bild einer Ma - donna , allen Reichthum seiner Phantasie, seines Herzens, seiner Erfahrungen, end- lich auch alle Schoͤnheiten der Provenzalen vor ihm, dergestalt verwandte, daß er sie in seiner Sprache zum hoͤchsten, ewigen Bilde aller sittlichen Weibesschoͤn - heit zu machen strebte. Auf griechische Weise konnte dies nicht geschehen; eine nackte Grazie oder eine Venus Urania konnte und wollte Er nicht mahlen; er waͤhlte also die Zuͤge, die in seinem Zeit- geist, in der provenzalischen Poesie, in den Begriffen seiner Religion und ihren Dar- stellungen als Stoff eines reinen weib - Fuͤnfte Samml. (B) lichen Ideals sittlicher Humanitaͤt zerstreuet dalagen, und bildete seine Ma - donna daraus, die irrdische und himmli- sche Laura. Diese zeigte er in Wirkung auf sich, auf sein eigen Herz, und zwar in mancherlei Umstaͤnden, in Wirkung auf seine Schwachheiten sowohl als auf die ed- lere Seite seines Gemuͤths; hiedurch allein ward sie anziehend und belehrend. Denn eine Schoͤnheit, die keine Liebe erregt, eine Liebe, die nur Bewunderung ist, und ohne Kampf mit sich, ohne Fehler und Schwach- heiten seufzet, sind ohne Reiz und Anwen- dung. Von allem Sittlich-Schoͤnen im weiblichen Charakter pfluͤckte Petrarca die Bluͤthe, und wand seiner irrdischen Freun- din, die er vielleicht nur hie und da in seiner Jugend gesehen haben mag, die ei- nes andern Mannes Weib und Mutter von Kindern war, die diese Gedichte viel- leicht nicht verstand, die wenigsten sah: (denn die schoͤnsten sind nach ihrem Tode gedichtet) einen unsterblichen Kranz um ihre unschuldige Schlaͤfe. Wer den Geschmack der provenzalischen Poesie, wer die Beatrice des Dante kennet, wird hieran nicht zwei- feln, und die Muͤhe bedauren, die der Le- bensbeschreiber Petrarca's, ein Abkoͤmm- ling der angeblichen Laura, auf die An- wendung jedes Zuges, der ihre Person be- treffen soll, gewandt hat. Jeder Liebhaber kann und soll seine Laura in Petrarca's Gedichten finden; er soll sein Herz mit al- len Schwachheiten auch darin finden und die Laͤuterung wahrnehmen, die ein reiner weiblicher Charakter im Gemuͤth sowohl des Juͤnglinges als des Mannes bewirken soll und kann. Hiezu steht Laura da; und ich wuͤßte nicht, ob es einen schoͤnern Zweck der Poesie der Liebe gebe? wenn ein- (B) 2 mal diese Gattung Poesie da seyn soll. Gegen die roͤmischen Dichter des Amors, Horaz , Tibull , Properz macht Pe- trarca, der Idee seiner versi volgari nach, keinen kleineren Unterschied, als den er der Sprache, den Nationen und Zeiten selbst nach machen mußte. Von unsern erotischen Dichtern steht er in gleichem Maaße ge- sondert. Da es indessen doch wohl Nie- manden zu verargen seyn wird, wenn er in seine Liebe Gemuͤth bringet, und sie nicht blos als ein Werk des Beduͤrfnisses und der Convenienz betreibet: so sehe ich auch Petrarca's Laura als ein Ideal an, das keinen Juͤngling verfuͤhren, das jedem edelgeschaffenen Juͤnglinge als ein Madon- nen-Bild alter Zeiten in einer so schoͤnen Sprache wohlthun wird. Die Empfindun- gen Petrarca's in Ansehung der Freund- schaft gegen Freunde waren diesem Ideal nicht entgegen, und Italien, Rom, seine Sprache, die Menschheit waren seines Ge- muͤths ewige Laura . Als ich in einer schoͤnen Morgenstunde den letzten Aufent- halt seines irrdischen Daseyns voruͤberfuhr, umfing mich eine so suͤße Erinnerung sei- nes freundschaftlichen Herzens und ganzen Lebens, daß ich nicht anders als die letz- ten Worte seines letzten Briefes ausrufen konnte: valete amici, valete epistolae. Er starb im Jahr 1374; man weiß nicht recht, wie und wann? gnug, daß man den ru- higen Greis an seinem Pulte sitzend todt fand. Valete amici. 56. S o angenehm mir Petrarca war, so weh that mir Uriel Acosta in seinem letzten Selbst - Bekenntniß . Der arme Jude, von Zweifeln uͤber seine Religion ergriffen, gab alle Verhaͤltnisse seiner edlen Geburt, seines Gluͤckes und Standes auf, suchte Ruhe hie und dort, fand an seinen naͤchsten Verwandten die aͤrgsten Feinde, und endigte damit, daß er als ein Neu- aufgenommener in der Synagoge seiner Glaubensgenossen, schimpflich-entbloͤßt, mit Fuͤßen getreten, gepeitscht, verspeiet, es nicht laͤnger ertragen zu duͤrfen glaubte und sich selbst den Tod gab. Die Aufschrift seines Urlaubes aus dem Leben, exemplar humanae vitae ruͤhreten mich von jeher; und o moͤchte ein jeder, der von Menschen aus der Welt gedraͤngt, zuletzt noch einige Worte fuͤr Menschen zu schreiben, guten Willen und Kraft hat, sein Exemplar des menschlichen Lebens dem Exemplar des Acosta hinzufuͤgen! Die Menschheit erhielte damit eine Anzahl sonderbarer Exemplare. Von Kindheit auf ist mir nichts ab- scheulicher gewesen, als Verfolgungen oder persoͤnliche Beschimpfungen eines Menschen uͤber seine Religion. Wen gehet diese, als ihn selbst und Gott an? ja, wer weiß nicht, was an dem Wort Religion , so- bald es innere Ueberzeugung und Gefuͤhl betrift, fuͤr tiefe Skrupel und Schwierig- keiten haften? Dem ist Dieses , einem andern Das aufs innigste anstoͤßig; zu diesem Ausdruck kann er sich nicht ge- woͤhnen, von jener fruͤh erfaßten Vorstel- lungsart auf keine Weise sondern. An ihr hangen seine moralischen Begriffe; an ihr vielleicht seine vornehmste Triebfeder, ja sein Ideal der Moralitaͤt selbst. Dieser findet Zweifel, wo keiner sie findet; die schwarze, phantastische Fliege verfolgt ihn, ohne daß ein andrer als Er sie siehet. Wie grausam ists also, wie unvernuͤnftig, nutzlos und unmenschlich, wenn sich ein Mensch, ein Gericht, eine Synagoge das Verdammungs- das Verfolgungs-Urtheil uͤber die Religion eines andern, waͤre er auch ein Neger und Indier, anmaaßt! Mit Schauder lieset man Acosta's Er- zaͤhlung, Klagen und Seufzer, die er im tiefen Schmerz uͤber die ihm, einem Ruͤck- kehrenden, in einem Gotteshause zugefuͤgte peinliche Beschimpfung ausstoͤßt Muͤllers Bekenntnisse merkwuͤrdiger Maͤn- ner, Bd. 2. S. 169. u. f. , und die mit dem traurigen Gefuͤhl der voͤlligen Ver- lassenheit und Ohnmacht enden: „hier habt ihr die wahre Geschichte meines Lebens, und welche Person ich auf dem eiteln Schau- platz dieser Welt, in meinem unbestaͤndi- gen und ungluͤcklichen Leben gespielt habe. Richtet nun gerrcht und unpartheiisch, ihr Soͤhne der Menschen; richtet frei und nach der Wahrheit, wie es sich Maͤnnern ge- ziemt. Findet ihr etwas, das euch zum Mitleiden hinreißt, so erkennt und beweint das traurige Loos der Menschheit, das auch euch zu Theil geworden ist.“ — Dank der Menschheit sey allen Denen, die so unertraͤgliche Lasten und Fesseln, die jede unziemende Beschimpfung, jede kraͤn- kende Verfolgung, die Menschen Men- schen von goͤttlichen oder menschlichen Rechts wegen, ungescheuet, ja pflichtmaͤßig und frohlockend anthaten, in ihr wahres Licht stellten. Grotius , John Locke , William Penn , Shaftesburi , Bayle , Leibnitz , auch Spinoza , Voltaire und mehrere nicht zu vergessen, was fuͤr Gesinnungen sie uͤbrigens in an- dern Dingen haben mochten; in diesem Punct sind sie Friedensengel im Namen al- ler Derer geworden, die, (um mich eines schauderhaften Bildes der Apokalypse zu bedienen,) als Erwuͤrgte unter dem Altar um Rache rufen, und in ihrem Blut weiße Feierkleider begehren. Die Rache solcher Verfolgungen ist nie ausgeblieben und blei- bet nie aus; es waͤre aber endlich Zeit, daß wir aus bessern Gruͤnden, als aus der Furcht solcher Rache zum Gefuͤhl der Wahr- heit und Menschlichkeit gelangten. Auch unsern Deutschen Rechtslehrern, Thoma - sius , Polykarp Leyser , Hommel u. f., die uͤber die mit Blut geschriebenen Carpzowschen Gesetze hie und da die Fackel der Vernunft angezuͤndet, und mil- dere Grundsaͤtze in Gang gebracht haben, werde Dank. Sie thaten, was sie thun konnten. Vor andern, duͤnkt mich, sind in Brie - fen Gesinnungen der Humanitaͤt wirksam verbreitet worden, selbst wo sie das strenge Rechts- Staats- und Kirchensystem noch nicht aufnehmen durfte. In Briefen an Freunde schuͤttete mancher sein Herz aus, wie er es in Schriften zu thun nicht wagte, und die Briefgestalt selbst ward zur gluͤckli- chen Form, milde Gesinnungen uͤber einzelne Vorfaͤlle sowohl, als uͤber Lehren und Per- sonen Freunden oder dem Publicum ver- staͤndlich zu machen und ans Herz zu le- gen. Holbergs Briefe gehoͤren auch in diese Zahl; in England und Frankreich ist die Art eines humanisirten Vortrages durch Briefe sehr ausgebildet worden, und hat die nuͤtzlichsten Grundsaͤtze verbreitet. In England z. B. fanden Plinius Briefe eine gluͤckliche Aufnahme; die Ersten der Nation buhlten ihnen nach. Selbst die erdichteten Briefe des Phalaris schaͤtzte der Ritter Temple uͤbermaͤßig hoch, so daß seit Addison ihre Wochenschriften, seit Richardson ihre Romane vorzuͤglich die Gestalt der Briefe liebten. Die fran- zoͤsischen Briefeinkleidungen vom Tuͤrki - schen Spion an, bis zu den Persi - schen und so viel andern Briefen sind Jedermann bekannt; durch Einkleidungen solcher Art gewann nicht nur die Sprache, sondern auch der denkende Geist Leichtig- keit und Freiheit. Ohne eine Abhandlung oder Deduction schreiben zu wollen, konnte man Gedanken, Empfindungen aͤußern, seinen Verstand berichtigen, sein Urtheil am Urtheile des Andern schaͤrfen und pruͤfen. In Deutschland hat aus mehrern Ursachen diese Form meistens nur gelehrte Urtheile, Trivialitaͤten oder Romane betreffen koͤn- nen. — — Ich wuͤnschte eine Auswahl treffender Stellen aus den wahren Briefen merk - wuͤrdiger und großer Maͤnner ; dem Sammler der Selbstbekenntnisse, einem Mann von reiner, fuͤrs wahre Wohl der Menschheit gestimmten Denkart, moͤchte ich sie am liebsten empfehlen. Von Staats- maͤnnern, Kirchenvaͤtern, Reformatoren, Sektirern, von Gelehrten und Weisen al- ler Art ist eine so ungeheure Menge Briefe ans Licht gefoͤrdert worden, daß eine Aus- wahl ihrer eigensten Meinungen und Ur- theile uͤber Begebenheiten, Schriften, fremde Meinungen und Handlungsarten die lehr- reichste Unterhaltung seyn muͤßte. Wer kann, wer mag jetzt das große Epistelfach beruͤhm- ter und nicht beruͤhmter Maͤnner mit gehoͤri- gem Fleiße durchstoͤren? und doch liegt so manches Merkwuͤrdige, Angenehme und Nuͤtzliche in ihm! 57. S ie wuͤnschten, daß Jemand uͤber den menschenfreundlichen Comenius ausfuͤhr- licher spraͤche. Der bescheidene Mann spricht von sich selbst, (auch wo er es thun sollte und konnte, in seiner Kirchenge - schichte der Boͤhmischen Bruͤder ) sehr wenig; das Einzige Nothwendige lag ihm zu sehr am Herzen. Wenn ich Einen Mann unsrer Nation, (denn warum sollte man Boͤhmen und Maͤhren nicht zu Deutschland rechnen?) mit dem guten St . Pierre vergleichen moͤchte: so waͤre es Comenius ; und dies gewiß nicht zu seinem Nachtheil. St . Pierre hat durch seine Schriften, die, als sie erschienen, Wenige lasen, Meh- rere ungelesen verlachten, Andre auf eine schale Art widerlegten, ja deren offenbarste Wahrheit ihm sogar Verdruß zuzog, in der Folge mehr Gutes gewirkt, als manche blendende Schriftsteller seines Zeitalters, die ihn aus der Akademie verwiesen. Seine Traͤume von einem ewigen Frieden, von einer besseren Verwaltung der Staaten, von einer groͤßeren Nutzbarkeit des geistli- chen Standes, von einer gewissenhaftern Pflege der Menschheit, selbst seine politischen Weissagungen, koͤnnen nicht immer Traͤu - me eines honetten Mannes bleiben, wie sie damals ein duldender Minister nannte. Wenn St . Pierre wieder auf- stuͤnde, und gewahr wuͤrde, daß nicht blos, (wie d' Alembert meint,) das Wort bien- bienfaisance und gloriole von ihm in der Sprache seiner Nation geblieben, sondern daß seine Grundsaͤtze, seine Wuͤnsche, sei- ne Hoffnungen gewissermaassen der Geist aller Guten und Wuͤrdigen in Europa worden sind; der kalte, trockene Mann wuͤrde dabei nicht gleichguͤltig bleiben. Wahrscheinlich wuͤrde er gelassen sagen: „Die Zeit ist schneller fortgeschritten, als ich es ihr zutraute.„ Unser St . Pierre , Comentus , hat eine andere Gestalt. Er wurde zwar auch in einem Labyrinth von Weissagun- gen irre gefuͤhrt; (welches ihm zuletzt sehr leid that;) diese hatten auch eine viel ro- here Gestalt, als der politische Calcul des St . Pierre , seiner Erziehung und sei- nen Lebensumstaͤnden nach, haben konn- te; in ihrem Ziel aber treffen beide zu- sammen, und dieses ist das Wohl der Fuͤnfte Samml. (C) Menschheit . Ihm weihten beide, ob- wohl auf den verschiedensten Wegen, alle ihre Gedanken und Bestrebungen; beiden schien alles das entbehrliche Ueppigkeit oder haͤßliche Unsitte, was nicht dahin fuͤhrte. Beide haben eine schoͤne Klarheit des Geistes, eine beneidenswuͤrdige Ord- nung und Einfalt der Gedanken; sie sind von allem Leidenschaftlichen so fern und los; es verdrießet sie nicht, Eine Sache oft, meistens mit denselben Worten zu sa- gen, damit man sie fassen und ja nicht vergessen moͤge, daß auch in diesen lie- benswuͤrdigen Fehlern sie einander aͤhn- lich erscheinen. Der letzte Zweck ihrer Be- muͤhungen ist ganz derselbe. Comenius , wissen Sie, war der letz- te Bischof der Boͤhmischen Kirche. Er lebte in den traurigen Zeiten des dreissig- jaͤhrigen Krieges, da mit ihm so viele, viele Familien auf die haͤrteste Weise ver- trieben wurden; seit welcher Zeit dann diese bluͤhenden Gemeinen nie mehr zu ei- nigem, geschweige zu ihrem alten Flor ge- langten. Wollen Sie Ihr Inneres sanft und schrecklich erschuͤttert fuͤhlen, so unter- richten Sie sich uͤber den Zustand dieser Gemeinen von ihrer Entstehung an und endigen mit dieser traurigen Verstoßung. Keine Gemeine Deutschlands ist mir be- kannt, die mit so reinem Eifer fuͤr ihre Sprache, fuͤr Zucht und Ordnung bei ih- ren Gebraͤuchen sowohl, als in ihrem haͤuslichen Leben, ja fuͤr Unterweisung und Aufklaͤrung im Kreise ihres Nothwendi- gen und Nuͤtzlichen gesorgt, gestritten, ge- litten haͤtte, als diese. Von ihr aus ent- sprang jener Funke, der in den dunkelsten Zeiten des haͤrtesten geistlichen Despotis- mus Italien, Frankreich, England, die (C) 2 Niederlande, Deutschland wie ein Feuer durchlief, und jene vielnamigen Albigen- ser, Waldenser, Lollarden u. f. weckte. In ihr ward durch Huß und andre der Grund zu einer Reformation gelegt, die fuͤr ihre Sprache und Gegenden eine Na- tionalreform haͤtte werden koͤnnen, wie keine es in Deutschland ward; bis auf Comenius strebte dahin der Geist dieser Slavischen Voͤlker. In ihr ist eine Wirk- samkeit, eine Eintracht und Tapferkeit ge- zeigt worden, wie ausser der Schweiz dies- seit der Alpen nirgend anders; und es ist kaum zu zweifeln, daß wenn man sich vom zehnten, vierzehnten Jahrhundert an diese Thaͤtigkeit nur einigermaassen unter- stuͤtzt gedenket, Boͤhmen, Maͤhren, ja uͤberhaupt die Slavischen Laͤnder an der Ostseite Deutschlands, ein Volk worden waͤren, das seinen Nachbarn andern Nu- tzen gebracht haͤtte, als den es jetzt seinen Oberherren zu bringen vermag. Die Un- vernunft und Herrschsucht der Menschen wollte es anders. Eine Ilias beweinens- wuͤrdiger Umstaͤnde tritt dem Geschichtfor- scher vor Augen, uͤber die der Freund der Ordnung und des Fleißes seufzend erroͤ- thet. Comenius betrug sich bei Allem mit der Wuͤrde eines apostolischen Lehrers. Der Fluͤchtling nahm seine Jugendbe- schaͤftigung vor; er ward ein Lehrer der Jugend, aber in einer großen Aussicht. Seine Grundsaͤtze: „ Kinder muͤßten mit Worten zugleich Sachen ler - nen ; nicht das Gedaͤchtniß allein , sondern auch der Verstand und Wille , die Neigungen und Sitten der Menschen muͤßten von Kind - heit auf gebessert werden ; und hiezu sei Klarheit , Ordnung der Begriffe , Herzlichkeit des Umgan - ges vor Allem noͤthig “, diese Grund- saͤtze sind so einleuchtend, daß Jeder sie in Worten vorgiebt, ob er sie gleich eben nicht in Comenius Geist und Sinne be- folget. Dieser griff zur That; er gab sei- ne Janua, er gab einen Orbis pictus her- aus, die zu seiner Zeit eine unglaubliche Aufnahme fanden, in wenigen Jahren in eilf Sprachen uͤbersetzt wurden, seitdem unzaͤhliche Auflagen erlebt haben und ei- gentlich noch nicht uͤbertroffen sind: denn haben wir jetzt nach anderthalbhundert Jahren annoch ein Werk, das fuͤr unsre Zeit voͤllig das sei, was jene unvollkom- menen Werke fuͤr ihre Zeit waren? Im ganzen Nord-Europa erregte Comenius Aufmerksamkeit auf die Erziehung; der Reichstag in Schweden, das Parlament von England beachtete seine Vorschlaͤge. Nach England ward er gerufen; von Schweden aus sprach der große Canzler, Axel Oxenstirn mit ihm; er ward zu Ausarbeitung derselben unterstuͤtzt; und ob- wohl, wie leicht zu erachten war, eine Hauptreform der Erziehung in Come - nius Sinn aus zehn Ursachen nicht zu Stande kommen konnte, zumal im dama- ligen Zeitalter hundert Ungluͤcksfaͤlle da- zwischen kamen, so hatte Comenius da- bei seine Muͤhe doch nicht ganz verloh- ren. Seine Vorschlaͤge (obgleich die mei- sten seiner Werke uns die Flamme geraubt hat,) sind ans Licht gestellt, ja sie liegen groͤßtentheils, (so einfach sind sie,) in al- ler Menschen Sinne; nur erfordern sie Menschen von Comenius Betriebsamkeit und Herzenseinfalt zur Ausfuͤhrung. Wenn er auflebte, und unsre neue Erziehung be- trachtete, was wuͤrde der fromme Bischof zu mancher Marketenderei sagen? Sein Plan ging indeß noch weiter. Er sahe, daß keine Erziehungsreform ih- ren Zweck erreichte, wenn nicht die Ge- schaͤfte verbessert wuͤrden, zu denen Men- schen erzogen werden; hier griff er das Uebel in der Wurzel an. Er schrieb eine Panegersie , einen allgemeinen Aufruf zu Verbesserung der menschlichen Dinge , in welchem ihm St . Pierre an Ernst, und (ich moͤchte sagen) an hei- liger Einfalt selbst nachstehen moͤchte. Er ladet aufs menschlichste dazu ein; meint, es sei ja Unsinn, Glieder heilen zu wol- len, ohne den ganzen kranken Leib zu hei- len; ein gemeinschaftliches Gut sei eine Gemein-Freude; gemeine Gefahr fodre auch gemeinschaftliche Sorge, und schlaͤgt Mittel zur Berathschlagung vor. Die menschlichen Dinge , die er fuͤr ver- derbt haͤlt, seyn Wissenschaften , Re - ligion und Staatseinrichtung . Ih- rer Natur nach bezeichneten sie den Cha- rakter unsres Geschlechts, (Humanitaͤt,) mithin die eigentliche Menschheit, indem Wissenschaft den Verstand , Religion den Willen , die Regierung unsre Faͤhigkeit zu wirken , bestimmen und bessern sollte. Aller Menschen Bestreben gehe dahin: denn jeder wolle wissen , herrschen , und genießen ; edlere Seelen seyn nach der edelsten Macht, der wahren Wis- senschaft, und einer unzerstoͤrlichen Gluͤckseligkeit begierig; sie zu befoͤrdern opferten sie Kraͤfte, Muͤhe, ihr Leben selbst auf. In uns liegen also ewige Wur- zeln zu einem Baume der Wissen - schaft , der Macht und des Gluͤcks ; Philosophie solle uns Weisheit , politi- sche Einrichtung den Frieden , Religion innere Seligkeit geben; diese drei Dinge seyn nur Eins; sie koͤnnten nie von einander, nie vom Menschen gesondert werden, ohne daß er ein Mensch zu seyn aufhoͤre. Sie ziemten ihm allerwege und allenthalben. — Jetzt zeigt Comenius , wie und wo- durch alle drei verderbt seyn? Der Ver- stand werde von wenigen wenig ge- braucht; der Wille unterliege den Begier - den ; man suche Reichthum, Ehre, Lust, Eitelkeiten, Schatten der Dinge ; man suche sich außer- nicht in sich selbst . Man wisse nicht , was man wollen, thun, wissen solle; man theile sich in phi- losophische, politische Religionssecten; man streite, ohne einander zu uͤberzeugen, und doch sei es das einzige Zeichen, daß man selbst weiß, wenn man andre uͤberzeuget. Die Weisheit werde in Buͤcher gekerkert, nicht in der Brust getragen; unsre Buͤcher seyn also weise, nicht wir. Selten habe man bei der Wissenschaft einen wahren Zweck ; man lerne, um zu lernen, oder noch zu thoͤrichtern Absichten. Das Band der Sprache sei zerrissen; und noch habe keine einzige Sprache ihre Vollkommenheit erreicht. Die Gebrechen, deren er die Religion zeihet, fuͤhrt er nur kurz und mit Bedauren an, da sie zu offen am Ta- ge liegen. In der Politie meint er: nichts koͤnne regieren, als das Rechte, niemand andre regieren, als der sich selbst zu regieren weiß. Menschen-Regierung sei die Kunst der Kuͤnste ; ihr Zweck sei Friede . Mithin zeugen alle Kriege und Unordnungen der menschlichen Gesellschaft, daß diese Kunst noch nicht dasei; weder zu regieren, noch regiert zu werden wuͤß- ten die Menschen; von welchen Verderb- nissen er sowohl die Ursachen, als die Schaͤndlichkeit und den Schaden klar vorlegt. — Von jeher, faͤhret er fort, sei das Be- streben der Menschen dahin gegangen, die- sen Uebeln abzuhelfen; und zeigt mit gros- sem Verstande, sowohl was man bisher dazu gethan und auf welchen Wegen man's angegriffen habe, als auch weßhalb diese Mittel unhinreichend oder unwirksam ge- blieben. Indessen sei der Muth nicht auf- zugeben, sondern zu verdoppeln. Manche Krankheiten tilge die Zeit; in der verdor- benen Menschheit sei der Trieb zu ihrer Verbesserung unaustilgbar, und auch in den wildesten Abwegen wirksam. Nur muͤsse die Menschheit ihr wahres Gute, so wie die Mittel dazu, ganz und rein kennen lernen; sie muͤsse von den Ketten boͤser Gewohnheiten befreiet werden, und nicht eher nachlassen, bis sie in einer All - gemeinheit zum Zweck gelange. Zu dieser Harmonie wirke selbst der Haß der Sekten, ihre bittre Verfolgungen und Kriege gegen einander in Wissenschaften, Religion und Regierungsanstalten; alles zeige, daß eine große Veraͤnderung der Dinge im Werk sei. Ohne Uns koͤnne diese Veraͤnderung keine Verbesserung wer- den; wir muͤßten zu ihr und zwar auf bisher unversuchten Wegen, auf dem We- ge der allgemeinen Einheit , Ein - falt und einer freien Entschlies - sung (Spontaneitaͤt) mitwirken. Der Zweck der Einheit und allgemeinen Verbindung liege in unserm Geschlecht; nur durch Einfalt koͤnne unser Verstand, Wille und Handlungsweise von ihren Ver- derbnissen loskommen; dahin wiese die ein- traͤchtige Norm unsrer gemeinen Begriffe, Faͤhigkeiten und Instincte; mittelst dieser, und dieser allein kaͤme man ohne alle So- phisterei zum reinen Gute der Wahrheit. Freiheit des Willens endlich sei der Charakter des Goͤttlichen in uns; Gott zwinge nicht, und wolle nicht, daß Men- schen gezwungen, sondern gelehrt, geleitet, unterstuͤtzt werden. So weit wir vom Wege der Einigkeit , Einfalt und Sinnesfreiheit abgewichen seyn: so sei eine Ruͤckkehr dahin moͤglich, sobald wir uns nur vornaͤhmen, ohne Ausschlies- sung Alles , fuͤr Alle , auf alle Art und Weise zu verbessern. In diesen drei Worten liege das ganze Geheimniß: (om- nia, omnibus omnimode esse emendanda) denn alle bisherige Vereitelung guter Be- muͤhungen sei blos daher gekommen, daß man nicht Alles , nicht fuͤr Alle , nicht auf alle Weise habe verbessern wollen, sondern zuruͤckbehalten, geschont, geschmeichelt und dadurch das Boͤse oft aͤr- ger gemacht habe. Das Studium zu par - ticularisiren sei die ewige Grundlage der Verwirrung; jeder rathe, sorge fuͤr sich, fuͤr alle niemand. Man schaue ge- woͤhnlich auch nicht rings umher, sondern dieser auf dies, jener auf jenes; dafuͤr sei er entbrannt, und vergesse, hindere, ver- achte alles andere. Am wenigsten habe man den ganzen Apparat von Kraͤften und Mitteln angewandt , dessen die Menschheit faͤhig ist , ja den sie wirklich im Besitz hat . Sehr ernstlich begegnet Comenius den Einwuͤrfen, daß eine allgemeine Verbesse- rung unmoͤglich sei, und ein Unternehmen der Art zur Zerstoͤrung aller bisherigen Einrichtungen gereichen wuͤrde. Moͤglich sei sie allerdings; das zeigte die Haushal- tung der Natur, der Begrif der Kunst, die Identitaͤt der Menschheit; auf dem Wege der Einfalt werde man die Moͤg- lichkeit einer solchen Verbesserung wohl finden: denn sie liege allenthalben vor uns, und die Einfalt selbst sei das wirksamste Gegengift aller Verwirrung. Auch den freien Willen der Menschen glaubt Co - menius auf seiner Seite zu haben, so- bald man sie nur nicht taͤuschte, sondern in Allem fuͤr Alle rein sorgte . Nichts als das Schlechte wuͤrde zerstoͤrt; nur das Ueberfluͤßige wuͤrde hinweggethan; das Gute bliebe, mit unendlich vielem, neuen Guten vermehrt, verstaͤrkt, verei- nigt. Hiezu ladet er nun in der einfaͤltig- sten Herzenssprache die Menschen ein; der Bischof spricht zur gesammten Menschheit, wie zu seiner Gemeine. — Glauben Sie nicht, daß dergleichen Utopische Traͤume, wie man sie zu nennen pflegt, pflegt, Nutzlos seyn: die Wahrheit, die in ihnen liegt, ist nie Nutzlos. Dem Comenius konnte man sagen, was der Cardinal Fleury dem St . Pierre sag- te, da dieser ihm sein Project des ewigen Friedens und des Europaͤischen Reichsta- ges uͤberreichte: „Ein wesentlicher Artikel ist darinn vergessen, die Missionarien naͤm- lich, die das Herz der contrahirenden Fuͤr- sten zu diesem Frieden und zu diesem Reichstage disponiren;“ allein wie St . Pierre sich bei seinem Projekt auf den großen Missionar, die allge - meine Vernunft , und ihre Die- nerin, die Zeit , oder allenfalls die Noth verließ; so wahrscheinlich auch Comenius . Er schrieb eine Con - sultation , (ich weiß nicht, ob er sie umhergesandt habe) die sogar erst dreissig Jahre nach seinem Tode gedruckt Fuͤnfte Samml. (D) ward. Comenii hist. fratrum Bohemorum: accedit Ej. Panegersia, de rerum huma- nar. emendatione, edid. Buddeus Halae 1702. Rieger in seiner Geschichte der Boͤh- mischen Bruͤder fuͤhrt an, daß in der Wai- senhausbibliothek zu Halle noch mehrere Handschriften von Comenius daseyn sollen; waͤren nicht einige davon fuͤr unsre politisch- paͤdagogische Zeiten des Drucks werth? A. d. H. Da sie wenige Bogen enthaͤlt, wuͤnschte ich, daß sie uͤbersetzt erschiene, wenn auch nur zum Zeichen, wie anders man damals uͤber die Verbesserung der Dinge schrieb, als man jetzt zu schreiben gewohnt ist. Fromme Wuͤnsche der Art fliegen nicht in den Mond; sie bleiben auf der Erde, und werden zu ihrer Zeit in Thaten sichtbar. Es schweben nach Ari - osto 's schoͤner Dichtung immerdar einige Schwaͤne uͤber dem Fluß der Vergessen- heit; einige wuͤrdige Namen erhaschen sie, ehe diese hineinsinken, und schwingen sich mit ihnen zum Tempel des Andenkens empor. — Ich lege Ihnen einen Aufsatz bei, der mir Namenlos zukam; theilen Sie ihn unsern Freunden mit. Er ist nicht mit Comenischem Geist geschrieben; es laͤßt sich aber Manches daruͤber sagen. (D) 2 Haben wir noch das Publicum und Vaterland der Alten ? 1. Haben wir noch das Publicum der Alten? U m eine vorgelegte Frage zu beantwor- ten, muß man sie erst verstehen. Also: Was ist Publicum ? Ein sehr un- bestimmter Begriff, der, wenn man alle Eigenheiten des einzelnen Gebrauchs und Mißbrauchs seiner Benennung absondert, ein allgemeines Urtheil , wenigstens eine Mehrheit der Stimmen in dem Kreise , in welchem man spricht , schreibet oder handelt , zu bezeichnen scheinet. Es giebt ein reales und idea - les Publicum ; jenes, das gegenwaͤrtig um uns ist, und uns seine Stimme wo nicht zukommen laͤßt, so doch zukommen lassen kann; das ideale Publicum ist zu- weilen so zerstreut, so verbreitet, daß kein Luͤftchen uns aus der Entfernung oder aus der Nachwelt, den Laut seiner Ge- danken zufuͤhren mag. Bei jeder Gattung des Publicums aber denket man sich ein verstaͤndiges , moralisches Wesen , das an unsern Gedanken, an unserm Vortrage, an unsern Handlungen Theil nimmt, ihren Werth und Unwerth zu schaͤ- tzen vermag, das billiget oder mißbilliget, das wir also auch zu unterrichten, eines Bessern zu belehren, in Ansehung seines Geschmacks zu bilden und fortzubilden uns unterfangen duͤrfen. Wir muntern es auf, wir warnen; es ist uns Freund und Kind, aber auch Lehrer, Zurechtweiser, Zeuge, Klaͤger und Richter. Belohnung hoffen wir von ihm nicht anders als durch Bei- fall, in Empfindungen, Worten und Tha- ten. Unter den Alten verstehet man in Ansehung der Kunst die Griechen, in An- sehung der Literatur Griechen und Roͤ- mer, in Ansehung alles dessen aber, wor- uͤber das Publicum gefragt oder belehrt werden kann, jede Nation, die in fruͤhe- ren Zeiten auf uns gewirkt hat, mit der wir uns hier oder dort in Ansehung ge- faͤllter Urtheile zu vergleichen, zu messen haben. Man siehet, daß in diesem Ge- sichtspunkt sowohl die Hebraͤer, als die sogenannten Barbaren des Mittelalters von unsern Alten nicht ausgeschlossen sind: denn diese haben viele Meinungen unsres Publicums, und in Manchem sei- nen ganzen Geschmack constituiret. Wer sind nun die Wir , die sich mit diesen Alten vergleichen? Im Ganzen moͤchte man die jetzige Generation der Men- schen darunter verstehen. Da diese doch aber in einen Gesichtskreis oder gleichsam in einen großen Saal beschraͤnkt werden muß, um Zuschauerin, Hoͤrerin, Urtheile- rin, Richterin zu werden: so wird dieser Kreis bald sehr weit, bald sehr enge ge- nommen; ja vom weitesten Kreise, den unsre Einbildung kaum fassen mag, wird oft behauptet, was nur dem engesten, ei- nem sehr auserlesenen Kreise gebuͤhret. Aus Erfahrungen seiner Landes- und Stadtwelt spricht man gemeiniglich fuͤr die Christenheit, fuͤr Europa, fuͤr Welt und Nachwelt, an denen man sich immer eine mystische Person oder Ver - sammlung , eine aufgeklaͤrte oder auf- zuklaͤrende Gemeinheit denket. Um allen aus dieser Verwirrung entspringenden Mißverstaͤndnissen zu entweichen, wird's al- so noͤthig seyn, jedesmal den Gesichtskreis zu bestimmen, und in Absicht jeder Fra- ge, die an ein Publicum gelangt, Zeiten und Voͤlker zu unterscheiden. I. Vom Publicum der Ebraͤer . Das Ebraͤische Volk ward von seinem Ursprunge an als ein genetisches In - dividuum , als Ein Volk betrachtet. Der sterbende Stammvater sprach zu sei- nen Soͤhnen fuͤr die ganze Reihe zukuͤnf- tiger Zeiten; ja ehe der Sohn des Stam- mes gebohren war, geschah schon dem ganzen zukuͤnftigen Volk die Verheißung. Als es in vielen Tausenden um den Berg Sinai gelagert dastand, sprach der Gesetz- geber im Namen seines Gottes zu ihm, als zu Einer Person , die dieses Got- tes Knecht und gerettetes Kind sei; und da er vor seinem Lebensende dies Ge- setz wiederholte, ließ er das Volk als Ei - nen Mann geloben. Er foderte von ihm Achtung und Liebe des Gesetzes als von Einem moralischen Wesen . So sprachen alle Propheten, denen der Gesetz- geber ausdruͤcklich Raum zu dieser Stim- me ans gesammte Volk , als an Ein Eigenthum Gottes gelassen hatte. So klein der Kreis seyn mochte, in dem mancher Prophet sprach, oder zu seiner Zeit schrieb, so groß wird er dieser seiner Idee nach. Der Bote seines Gottes spricht zum Sohne Jacob, zum Knecht Israel fuͤr alle Zeiten. Daher der hohe, weit- schallende Ton des Patriotismus in den Ebraͤischen Psalmen und Propheten. Wo und in welcher Sprache sein Nachhall er- toͤne: er ergreift das Herz; ein Publicum wird lebendig. Man findet sich in einer Versammlung, in der Einer fuͤr Alle steht, Alle fuͤr einen. Die Last der Gebote, Segen und Fluch traͤgt das ganze Volk auf seinen Schultern. Danklieder toͤnen von Allen empor; auch uͤber die kleinsten Begegnisse des Individuum werden sie an- genommen, weil dies Individuum zum ganzen Volk gehoͤret. So traͤgt in den Bestrafungen der Propheten jeder Israelit die Schuld des Andern; der Trost des An- dern kommt auch ihm zustatten; gemein- schaftliche Wuͤnsche, eine gemeinschaftliche Aussicht erhebt das Herz des freudigen und des gedraͤngten Volkes. Auch seit- dem Israel unter alle Nationen zerstreut ward, ist dieser Prophetenton eines Na - tionalpublicum nicht verhallet. Alle seine Gesaͤnge und Gebete sprechen noch zu Gott mit der Stimme eines verlohr- nen Kindes, eines gedemuͤthigten Knech- tes. Wenn ein Geist der Poesie, der Leh- re, der Ermahnung in diesem Volke wie- der aufleben sollte, so kann er nicht anders als in solchem Ton zum Volk singen und reden. Haben Wir dies Publicum der Ebraͤ- er? Mich duͤnkt, jedes Volk habe es durch seine Sprache . Diese ist ein goͤttliches Organ der Belehrung, Strafe und Unter- weisung fuͤr Jeden, der fuͤr sie Sinn und Ohr hat. Das Band der Zunge und des Ohrs knuͤpft ein Publicum; auf diesem Wege vernehmen wir Gedanken und Rath, wir fassen Entschliessungen, und theilen mit einander Belehrung, Leid und Freu- de. Wer in derselben Sprache erzogen ward, wer sein Herz in sie schuͤtten, seine Seele in ihr ausdruͤcken lernte, der ge- hoͤrt zum Volk dieser Sprache . Ich vernehme noch Ottfrieds Stimme; die Kern- und Biederspruͤche mancher alten Deutschen, die den Charakter meines Volks in sich tragen, sprechen zu mir; Kaiser - berg , Luther predigt mir noch; und was auch von andern Nationen in meine Mundart meisterhaft uͤberging, ist die Stimme eines Publicums worden, zu dem auch ich gehoͤre. Meine Stimme, so schwach sie sei, bewegt auch Wellen dieses aͤtherischen Weltmeers. Von den Millio- nen die Deutsch reden und lesen, werden auch mich einige verstehen und hoͤren, waͤren es nur so viel als Persius sich anmaaßet, aut duo aut nemo; auch diese Zwei, lobend oder tadelnd, erregen ihre Wellen weiter. Im Publicum der Sprache hat sogar der Niemand ein Ohr; er lernt von- oder an mir, und spricht weiter. Und dies Publicum breitet sich fort, so lange die Sprache, selbst mit Ver- aͤnderungen, dauret, bis sie verstaͤndlich zu seyn aufhoͤret. Kein Gesetz kann die- sen Fortgang verbieten, keine Macht ihn aufheben, bis die Sprache vertilgt ist; und ehe diese vertilgt wird, dazu gehoͤren allmaͤchtige Kraͤfte der Zeiten. Nicht der Schriftsteller gehoͤret zu die- sem Publicum allein, sondern auch der muͤndliche Unterweiser, der Gesetzgeber, der Feldherr, der Redner und Ordner. Mittelst der Sprache wird eine Nation erzogen und gebildet; mittelst der Sprache wird sie Ordnung- und Ehrliebend, folg- sam, gesittet, umgaͤnglich, beruͤhmt, fleißig und maͤchtig. Wer die Sprache seiner Nation verachtet, entehrt ihr edelstes Pu- blicum; er wird ihres Geistes, ihres in- neren und aͤußeren Ruhms, ihrer Erfin- dungen, ihrer feineren Sittlichkeit und Betriebsamkeit gefaͤhrlichster Moͤrder. Wer die Sprache eines Volks emporhebt, und sie zum kraͤftigsten Ausdruck jeder Em- pfindung, jedes klaren und edlen Gedan- kens ausarbeitet, der hilft das weiteste und schoͤnste Publicum ausbreiten, oder in sich vereinigen und fester gruͤnden. Daß unser Deutschland durch seine Sprache sich dies Publicum in solchem Umfange, mit solcher Festigkeit gegruͤndet habe, wie es haͤtte geschehen moͤgen, ist sehr zu zweifeln. Ganze Laͤnder sind da- von abgerissen; Provinzen und Kreise ver- stehen einander kaum, nicht nur nicht in Reden, sondern oft selbst nicht in Schrif- ten. Was in manchen Gegenden fuͤr Witz gilt, wird in andern als niedriger Scherz verachtet; das Ganze hat so wenig einen gemeinschaftlichen Schritt in der Kultur gehalten, daß schwerlich eine Vorstellungs- art zu finden waͤre, die auf alle Theile desselben, als auf Ein gemeinsames Publicum , mit gleicher Macht wirkte. Nicht aber nur Provinzen und Kreise, selbst Staͤnde haben sich von einander ge- sondert, indem seit einem Jahrhunderte die sogenannten obern Staͤnde eine voͤllig fremde Sprache angenommen, eine frem- de Erziehung und Lebensweise beliebt ha- ben. In dieser fremden Sprache sind seit einem Jahrhunderte unter den genannten Staͤnden die Gesellschaftsgespraͤche gefuͤhrt, Staats-Unterhandlungen und Liebeshaͤndel getrieben, oͤffentliche und vertraute Brie- fe gewechselt worden, so daß wer einige Zeilen schreiben konnte, solche nothwendig vormals italienisch, nachher franzoͤsisch schreiben mußte. Mit wem man Deutsch sprach, der war ein Knecht, ein Diener. Dadurch also hat die Deutsche Sprache nicht nur den wichtigsten Theil ihres Pu- blicums verlohren, sondern die Staͤnde selbst haben sich dergestalt in ihrer Denk- art entzweiet, daß ihnen gleichsam ein zu - trauliches gemeinschaftliches Or - gan ihrer innigsten Gefuͤhle fehlet. Beide sind auf ihrem getrennten Wege nicht so weit fortgeschritten, als sie in Wirkung und Gegenwirkung auf einander haͤtten kommen moͤgen, indem der Eine Theil meistens an Phrasen, an Worten ohne Gegenstand, leer von innerer Bil- dung hangen bleiben mußte; dem andern hingegen bei aller Muͤhe des Fortstrebens ewig und immer eine Mauer entgegenge- stellt war, an welcher leere Schaͤlle zuruͤck- prallten. Ohne eine gemeinschaftliche Lan- des- und Muttersprache, in der alle Staͤn- de de als Sprossen Eines Baumes erzogen werden, giebt es kein wahres Ver - staͤndniß der Gemuͤther , keine ge - meinsame patriotische Bildung , keine innige Mit - und Zusammen - empfindung , kein vaterlaͤndisches Publicum mehr . Entweder bequemt man sich nach der fremden Denkart des Andern, und buhlt ohne Dank und Kraft um dessen leere Vorstellungsweise, wie um einen nichtigen Schatten; oder man spricht und schreibt nicht fuͤr ihn; er ist ein tod- tes oder ein hinderndes, oft feindlich-wir- kendes Glied der Gemeine. Wenn die Stimme des Vaterlandes die Stimme Gottes ist, so kann diese zu gemeinschaft- lichen, allumfassenden, und aufs tiefste greifenden Zwecken nur in der Sprache des Vaterlandes toͤnen; sie muß von Jugend auf, durch alle Classen der Na- Fuͤnfte Samml. (E) tion, an Herz und Geist erklungen seyn; so nur wird durch sie ein Publicum, ver- staͤndig und verstanden, hoͤrend und hoͤr- bar. Jede fremde bleibt eine entzweiende Samaritersprache. 2. Publicum der Griechen . Daß dem also sei, wollen wir schoͤner an den Griechen lernen. Wahrscheinlich war ihre Sprache Anfangs so ungebildet, als jede Volkssprache in rohen Zeiten; da stieg Calliope , da stiegen Goͤtter vom Himmel hernieder. Merkur erfand die Lyra; die Cither begleitete Apollo mit herzerweckendem Gesange; mehreren Soͤh- nen der Muse folgte Baum und Fels, es horchten ihnen Stroͤme; kurz, (ohne Fabel zu reden,) Poesie mit Musik begleitet erschuf und bildete sich ein Griechisches Publicum , in einer feinern Sprache, und einer feineren Gedankenweise. Die Fabelnamen Orpheus , Linus , Musaͤ - us sind in Absicht der Wirkung, die sie hinterliessen, keine Fabelnamen; die Form ihrer Goͤtter- und Menschengestalten, die Melodie ihrer Weisheitspruͤche und Lehren, der rhythmische Gang ihrer Empfindun- gen und Bilder ward dem Ohr, dem Ge- daͤchtniß der Hoͤrenden eingepraͤget, und ging von Munde zu Munde, endlich auch in Schriften und Gebraͤuchen auf die spaͤtere Nachwelt. Die Gesaͤnge, die Homer und andre Rhapsoden in kleineren Kreisen san- gen, waren nicht verhallet; sie kamen ge- sammlet nach Athen, sie erklangen am Pa- nathenaͤischen Feste. Die Hymnen der Ho- meriden, Lieder und Chorgesaͤnge der ver- schiedensten Art, dichterische und musikali- sche Wettstreite zierten und kraͤnzten jede Volksversammlung, jedes oͤffentliche Spiel, (E) 2 jede feierliche Religions- und Staats- handlung. So ward ein Publicum der Griechen fuͤr Poesie; bald auch fuͤr Pro- se. Herodot las seine Geschichte dem versammleten Griechenlande, wie so viele Dichter vor ihm ihre Gedichte groͤßeren oder kleineren Kreisen gesungen hatten: denn selbst die Gastmahle der Griechen hatten eine Art froͤlicher Publicitaͤt, und waren nicht ohne Musen. Auf diesem Wege entstand das Griechische Schau - spiel , das allen seinen Theilen nach ein Publicum voraussetzte, und ein Publicum vergnuͤgte. Auf diesem Wege gelangte die Griechische Kunst zu ihrer Hoͤhe: die Mu- se, die dem Kuͤnstler seine reinen, hohen Ideen eingab, hatte sich auch Gelegenhei- ten, Oerter und Plaͤtze geheiligt, wo sie solche mit Wuͤrde zeigen und einem dazu gestimmten Volk sichtbar machen konnte. Selbst in die Berathschlagungen und Zaͤn- kereien vor Gericht ging Redekunst als ein Haupterforderniß uͤber. Indem Alles vorm Publicum verhandelt wurde, so ward dies Publicum durch Rede gefesselt, durch Kunst der Rede gefuͤhrt und gelenket. Haben Wir dies Publicum der Grie- chen? Nein; und in mehreren Stuͤcken ists vielleicht gut, daß wir es nicht haben. Wo uͤber Krieg und Frieden, uͤber Leben und Tod der Beklagten, uͤber Verdienst und Belohnung die Kunst der Rede ge- bieten darf; wie vielen Verleitungen ist und bleibt die Seele eines unerzogenen Volks ausgesetzt, die mit ihrem ganzen Urtheil im Ohre wohnet! Die Geschichte der Griechischen Republiken, insonderheit Athens, zeigt uns davon eine große Gal- lerie fuͤrchterlich-schoͤn gemahlter Beispie- le, bei deren Ueberblick mancher Nordlaͤn- der oft mit frohem Schauder sagen wird: „o der leichtsinnigen Griechen! Wohl uns! diese Zeiten sind voruͤber!„ Ein Gleiches wird er vielleicht von den Religions- und Staatsfeierlichkeiten, den oͤffentlichen Spie- len, Taͤnzen, Uebungen und Wettkaͤmpfen, vielleicht auch vom ganzen Theater in Athen sagen. Und allerdings gehoͤrt Alles dorthin und in jene Zeiten. Aber warum haͤtten wir denn ein The- ater, wenn wir kein Publicum fuͤrs Thea- ter haben moͤgen? Warum haͤtten wir Kunst, wenn es nicht die Griechische seyn kann? Warum unterfingen wir uns, Ver- gnuͤgungen des Geschmacks zu haben, wenn es kein Publicum des Geschmacks geben soll? Warum endlich spielen wir mit Mu- sik, Redekunst, Poesie und Sprache, wenn diese nicht zu Zwecken angewandt werden, zu denen sie, allein und verbunden, ei- gentlich bestimmt und geschaffen sind? Ihrer Natur nach erfordern sie ein Publicum ; ohne solches sind sie todt und begraben. Ein Hymnus z. B. gehoͤrt seiner Natur nach fuͤr eine Versammlung . Der Dichter, der diese nicht um sich er- blicket, nimmt Himmel und Erde, Waͤl- der und Felsen zu seinen Zuhoͤrern und Zeugen. Die Stimme eines Lyrischen Dichters rufet ein Publicum an und auf. Der Saͤnger , ja selbst der Ge - schichtschreiber großer Begeben - heiten fodert einen Kreis von Maͤnnern, Weibern, Juͤnglingen und Kindern um sich her, denen seine Begebenheiten in Ohr und Seele toͤnen. Sie oͤfnen ihm nicht et- wa nur eine Buͤhne, auf der er in ihrem Beifall seinen ganzen Ruhm ernte, son- dern ihre Gemuͤther selbst sind seine Are - na , der Schauplatz, das Ziel, das Maas seiner Wirkung. Die Scene, die der Epische Dichter nicht also beschreibt, daß sie den Augen des Zuhoͤrers sichtbar wird, also daß auch in der Seele der Han- delnden mit gehaltenem Interesse alles vor seinen Augen vorgehet, ist keine Epische Scene; die Begebenheit, die der Ge - schichtschreiber im Zusammenhange ih- rer Folgen, wo moͤglich auch ihrer Ursa- chen, nicht also gegenwaͤrtig zu machen weiß, daß dem Zuhoͤrer sein eignes klares Urtheil daruͤber reifet, ist eine mangelhaft- erzaͤhlte Geschichte. Der Lyrische Dich - ter , der mit seiner Kunst in der Seele des Hoͤrenden nicht den Grad von Theil- nehmung trift, auf den seine Kunst als auf den Punkt ihrer Vollkommenheit rech- net, hat auf ein Nichts gearbeitet, und verfehlt seine Wirkung. Alle diese Pro- ductionen also wollen ein Publicum , aus welchem sie gleichsam hervor- auf wel- ches sie zuruͤckgehen, aus welchem sie die Regel ihrer Kunst nahmen. Wo sind nun in Deutschland die Ode- en unsrer Geschichtschreiber, unsrer Lyri- schen und Epischen Dichter? Wo sind die Schulen, in denen man die edelsten Ge- saͤnge den Juͤnglingen ans Herz legt, und sie nebst den schoͤnsten classischen Stellen der Alten nicht etwa blos declamirt, son- dern in die Seelen schreibet? Nur was selbst Gestalt hat, kann Gestalt geben; nur Flamme kann Flamme verbreiten. Ein Athem aber kann auch aus Funken eine Flamme wecken und viele todte Koh- len entzuͤnden. An gluͤhenden Funken hat es Deutschland nicht gefehlet; sie sind aber nie zur Flamme angefacht worden. Der sogenannte Minnegesang war Hofge- schmack; er ging voruͤber. Die Zeiten der Reformation brachten stehende Gefahr -, dankende Lobgesaͤnge in den Mund vie- ler; sie gingen mit der Gefahr voruͤber. Der dreissigjaͤhrige Krieg weckte Stimmen mancher Art fuͤr beide Partheien; die Feldherrn der Ligue wurden eben sowohl, als die Feldherrn und Retter der Union gepriesen, und unter den letzten sind die Namen eines Ernst von Mansfeld , Christian von Anhalt , Johann Ernst und Bernhards von Wei - mar , Gustav Adolphs , Georgs von Baden der deutschen Muse nicht fremde geblieben. Leider aber ist diese keine Toch- ter Mnemosynens , oder sie ist von ihr zwischen Schlaf und Wachen erzeuget. Nach dem Westphaͤlischen Frieden vergaß man aller Gefahr, und hat uͤber hundert Jahre, dann und wann unsanft aufgeruͤt- telt, sanft geschlafen. Alle weckende Stim- men, leise und lauter, sind vergebens ge- wesen; unsre Dichter waren oder hiessen Versmacher, Reimschmiede; seit einem hal- ben Jahrhundert las man Voltaire , und ließ die Deutsche Geschichte erroͤthen und schweigen. Sie schweigt noch, und darf an eine Geschichte des Deut - schen Geschmacks , der Deutschen Cultur , der Deutschen Festivitaͤ - ten und Lustbarkeiten nicht ohne Be- schaͤmung denken. Auf dem Theater wird ein Publicum oder ein Theil desselben einem andern Pu- blicum zur Schau vorgestellt; offenbar war dies die Idee der Griechen, im Trauer- spiel mit dem Chor, im Lustspiel mit dem einzeln- oder in Masse personificirten Vol- ke. Theater und Zuschauer hingen also wie Bild und Abbild, wie Seele und Koͤr- per zusammen; sie wirkten an- und gegen einander; Eins wurde durch das andre gehoben und belebet. In Italien und Frankreich (England kenne ich nicht) ist dies auf den besten Buͤhnen auch also: daher der Theatergeschmack in diesen Laͤn- dern solang' umherirrte, bis er einen Punkt der Vereinigung mit sei - nem Publikum fand, und sich entwe- der durch musikalisches oder durch drama- tisches Spiel in eine Mitte des Gebens und Nehmens, des gegenseitigen Genusses und Belehrens setzte. Ich zweifle, ob dies in Deutschland, wenige Charaktere und Scenen ausgenommen, je der Fall ge- wesen. Daß man es wenigstens auf die Vereinigung und gegenseitige Ausbildung des Geschmacks der Buͤhne und des Pu- blicums sehr spaͤt und aͤußerst selten an- geleget hat, ist aus der Geschichte des Deutschen Theaters klar. Außer den alten Mysterien, Klosteragenden oder Marionet- ten kam die Buͤhne als Hoffeierlich - keit nach Deutschland; das Volk ward hinzugelassen, sich an diesen praͤchtig geklei- deten Hof- und Staatsrevolutionen, die hinter den Lichtern vorgingen, als Poͤbel zu erbauen. An manchen Orten Deutsch- lands hat die Buͤhne diese Hoftheater- Gestalt und Verwaltung beibehalten, und stehet also ganz außer dem Gebiete der Kunst , weil sie zum Hof - Etiquet - te gehoͤret. In andern Provinzen ziehen Banden umher, (wie man die Schau- spieler mit dem alten deutschen Helden- namen zuweilen noch jetzt nennet;) sie ge- hen, wie es die Deutschen von jeher gern thaten, aus Bande in Bande, und neh- men Dienste, nachdem sie bezahlt und ge- dungen werden; waͤre es nicht unvernuͤnf- tig und grausam, von ihnen ein Ideal der Kunst, ein correspondirendes Publi- cum zu fordern? Einzelne Dichter und Schauspieler haben sich, ich moͤchte sagen uͤber das Moͤgliche, hinaufgeschwungen; sie konnten aber keine neue Welt um und vor sich schaffen; diese muͤssen auffuͤhren, was jene geben, wie sie es mit andern auffuͤhren koͤnnen, und wie am Ende ihr Publicum gebietet. Da ich hier keine Kritik des Theaters schreibe, so be- merke ich nur Eins, daß bei uns, wie mich duͤnkt, durchs Theater das Publicum gebildet werden muͤsse, nicht aber durchs Publicum das Theater. Fuͤrs Theater haben wir noch kein richtendes Publicum, eben weil die theatralische Kunst im Sin- ne der Griechen die Kunst der Kuͤnste ist, von der selbst nicht jeder Dichter, noch weniger jeder Liebhaber, am wenigsten end- lich der sich belustigende Poͤbel Begriff hat. Schmeichelt man dessen Gaum, und belustiget sich an seinem Beifall; so ist man am Rande; man verdirbt und ver- derbet. Welche Raͤume aber haben wir noch auszumessen, ehe nicht an ein gebil- detes Publicum, sondern nur an die Bil- dung dieses Publicum nach deutscher Sit- te und Lage zu gedenken ist! Und doch giebt es ausser einem mit Sinn und Wohlgefallen belebten Schauspiel kein Schauspiel; es wird ein Haus voll Puppen oder wir sind in schlechter Ge- sellschaft. Soll eine Nation keine Einbildungs- kraft haben: so wolle man diese auch nicht wecken; sie schlummere. Wecket man sie, so bilde man sie auch aus; man lasse nur Stuͤcke, die fuͤr sie sind, und diese auf eine Weise auffuͤhren, daß man vom boͤ- sen Geschmack des Publicums nicht ab- hange, sondern diesen Geschmack ausrotte, oder ihn zum Guten lenke. In Athen ent- stand das Theater zu Aeschylus Zeit aus dem hohen Gefuͤhl der Freiheit und des Sieges uͤber den großen Koͤnig; dies Gefuͤhl stimmte die Seele zum Anblick an- drer großen Begebenheiten, die tragisch vorgestellt wurden. In Frankreich und England ist das Theater, (die Modifica- tionen der Zeit abgerechnet,) auf aͤhnliche Weise entstanden: denn wenn man von großen Begebenheiten seiner Zeit hoͤrt oder lieset, so will man diese auch, durch Kunst bearbeitet, und von ihr vorgestellt, sehen. Das Publicum der Welt wird sodann von selbst ein Publicum des Theaters. Gleicher- gestalt fodert die Komoͤdie, die Charaktere und Sitten vorstellt, eine anschauende Kenntniß der Nation, eine leichte Exsi- stenz, stenz, eine sich selbst bestimmende morali- sche Freiheit. Der duͤrftige Knechtessinn ist eine mephitische Luft, in der jede Flam- me erstickt wird. Die Philosophie der Griechen hatte eigentlich kein Publicum, wie die Kuͤnste; ihrer Natur nach hatte sie dessen auch nicht noͤthig. Die aͤltesten Weisen der Griechen wa- ren Gesetzgeber; und wohl dem Volk, des- sen Gesetzgeber Weise sind. Sokrates er- schien in einer bedraͤngten Zeit: sein Pu- blicum waren Privatgesellschaften oder einzelne Personen ; seine Metho- de war auf die Entwickelung der Grund- saͤtze des Wahren, Guten und Schoͤnen in diesen einzelnen Personen berech- net. Und dieses duͤnkt mich sei der Zweck der wahren Philosophie, Selbstbildung . Fuͤnfte Samml. (F) Der Lehrer kann und will dabei nur eine Hebamme unsrer Gedanken, ein Mithel- fer unsrer eignen, arbeitenden Kraͤfte wer- den. Sokrates hatte seinen eignen Ge- nius, der nachher nicht oft, aber doch hie und da z. B. in Montaigne , Addi - son , Franklin u. a. wieder erschienen ist, und die eigne Bearbeitung des menschlichen Geistes und Willens zum Zweck hatte. Von der Stimme des Publicums haͤngt diese nicht ab; vielmehr wird sie oft durch solche behindert, daher Socrates mit den Sophisten, die das Pu- licum stimmten und mißstimmten, fast im- mer im Streit lag. Die Sokratische Philosophie gedieh zu mehreren Schulen; in diesen gabs exote- rische und esoterische Zuhoͤrer — aber- mals ein Unterschied, den die Natur der Sache billigt. Ein großes, unausgeson- dertes Publicum, das Metaphysik spricht und uͤber Metaphysik entscheidet, ist ein Ungeheuer; und wenn man von einer Na- tion sagen koͤnnte, sie habe nie fuͤr etwas als fuͤr Metaphysik Enthusiasmus gezei- get, so sagte man dieser Nation nicht viel Gutes nach. Xenophon und Plato behandeln die Philosophie sehr vernuͤnftig; allenthalben locken sie solche als eine Bluͤ- the des menschlichen Geistes und menschli- cher Geschaͤfte hervor. Der Denker Ari - stoteles schrieb fuͤr kein anderes Publi- cum, als fuͤr seine Schule; daher die gan- ze Form seiner Schriften. Epikur und Zeno gingen mit veraͤnderten Grundsaͤz- zen auf gleichem Wege; jedem ihrer Schuͤ- ler blieb es frei, die Metaphysik ihrer Secte an Stelle und Ort zu lassen, da- gegen aber die wahre, die praktische Phi- losophie fuͤr Leben und Publicum desto (F) 2 kraͤftiger anzuwenden. Dies ist der wah- re Sokratismus. Wenn eine Philosophische Schule als solche aufs Publicum wirken wollte, und auch hie und da maͤchtig gewirkt hat, wars der Pythagoraͤismus ; wir wis- sen aber, wie es ihm erging. Und was damals in kleinen zubereiteten Kreisen nicht geschah, wenn wird es erfolgen? Ein philosophisches Publicum ist ein hoͤch- stes Bild, zu welchem man streben kann, das man aber ja nirgend ganz und realisirt zu erblicken glaube. Wo also die Griechen standen, stehen wir in Ansehung des Publicums mehr und minder mit der Philosophie noch jetzt; jeder, der es seyn kann und werden will, muß sich selbst zum Philosophen bilden. Der Lehrer haͤlt ihm die Wahrheit vor, damit er sich solche avtonomisch zueig- ne: denn Weisheit laͤßt sich so wenig, als Tugend und Genie von andern lernen . Die Schulen der Philosophie indessen, blos als Handleiterinnen betrachtet, mit welcher erstaunlichen Macht koͤnnen sie aufs Publicum wirken! Ein Lehrer der Phi- losophie, wie er seyn soll, hat ein Reich uͤber menschliche Seelen, in welchem er maͤchtiger als ein Koͤnig gebietet. Er pflanzt Grundsaͤtze, er giebt Ideen, er stellt Ideale fest, die nachher auf tausend Gedanken und Handlungen seiner Zuhoͤ- rer, ja aller derer, auf welche sie wirken, erkannten und unerkannten Einfluß ha- ben. Unsaͤgliche Wirkungen z. B. hat die Stoische Philosophie, der Epikureismus, Platonismus, Pythagoraͤismus in der Reihe der Dinge hervorgebracht und wird sie hervorbringen, wenn auch unter neuen Namen, mit andern Modificationen und Formen. Solange es Vernunft und Wil- len im Menschen giebt: so lange wird es ein verborgenes , stilles Publicum fuͤr Philosophie geben; nur erwarte man dieses nie sichtbar auf einem Markt, oder in einer Schule. Fassen wir, was gesagt ist, zusammen: (denn vom politischen Publicum der Grie- chen wollen wir nicht reden,) so ergiebt sich, daß in Ansehung der Sprache, der Kunst und des Geschmacks gegen die Grie- chen, wie wir sie jetzt nehmen, wir ei- gentlich noch gar kein Publicum haben und gehabt haben. Mit Wohlgefallen ha- ben wir uns eine Cultur andichten lassen, von der ganze Staͤnde und Provinzen durchaus nichts wissen; und schlummern auf diesem ertraͤumten Ruhme. Ich fuͤrch- te und hoffe, daß uns die Zeit aus die- sem Schlummer wecken werde. Unsere Nation kennet sich schwerlich, bald ist es Religions- bald politische Parthei, bald die unuͤbersteigliche Grenze eines Standes und Staͤndchens, was die Stimme, ja sogar nur den Gedanken an ein theilneh- mendes Publicum, selbst in Sachen des Geschmacks und der Bildung, geschweige des allgemeinen Interesse, theilet und auf- haͤlt. Welche Werke der Wissenschaft, des Fleißes, der Vertheidigung Deutschlands oder irgend eines allgemeinen Nutzens sind zu Stande gekommen, zu denen der Bei- tritt eines ansehnlichern und reicheren Pu- blicums aus mehreren oder allen Provin- zen noͤthig war? Die reichern Staͤnde sind dabei jederzeit am untheilnehmendsten ge- blieben; und jene alten Einrichtungen, die eigentlich doch fuͤr Wissenschaften und Cul- tur der Nation bestimmt sind, Domka - pitel und Stifte , waren samt dem gan- zen Theile der Nation, der die Franzoͤsi- sche Cultur liebte, fuͤr Deutsche Wissen- schaften gewoͤhnlich ganz todt; daher wir denn, Trotz alles Privatfleißes, Trotz man- cher kuͤhner Unternehmungen voll guten Zutrauens, das dafuͤr buͤßen mußte, an Dingen dieser Art unsern Nachbarn, Brit- ten und Franzosen, ja selbst Daͤnen und Schweden weit nachstehn. Die Deutsche Litteratur, eine ruͤstige Arbeiterin und Die- nerin des Wissens, erscheint in einem Bettlermantel von Maculatur; sie richtete selten etwas mehr aus, als wohin Pri- vatfleiß, einzelnes Genie reichet. Die un- schaͤtzbaren Sammlungen der Kunst, die in vorigen Jahrhunderten ein voruͤberge- gangner Hofgeschmack zusammengebracht hat, stehen oft unter harten Gesetzen der Clausur, als Heiligenbilder da, anschau- bar, nicht immer brauchbar, noch weni- ger weckend, am wenigsten begeisternd. Ueber den Werth unsrer besten Productio- nen haben sich die Stimmen unsres Pu - blicums nach Jahren und Jahrhunder- ten noch so wenig vereiniget, daß wenn nicht Auslaͤnder den Ton angegeben und mit Gewalt festgesetzt haͤtten, selbst uͤber Leibnitz Verdienst Deutschland noch in der groͤßesten Unsicherheit waͤre. Indessen geht der Weg der stillen Bildung fort. Was uns nicht genommen werden konnte, ist Deutsche Sprache , Deutscher Verstand und guter Wille ; diese werden, wenn und sobald sie es vermoͤ- gen, einmal ein deutsches Publicum bil- den. Die Vernunft geht auch ihres Weges fort und ist in allen Zeiten und Erdraͤumen nur Eine. Der Geschmack endlich ist eine Nationalpflanze; wo sie nicht gepflegt wird, oder des Bodens und Kli- ma wegen nicht anders als in schlechten Treibhaͤusern aufkommen kann, da gehet sie durch Unfreundlichkeit des Himmels unter. Have! 3. Publicum der Roͤmer . Von diesem werde ich nur wenig sagen duͤrfen. Was in ihm Kunst und Geschmack war, stammte von den Griechen her, die meistens auch seine Mithelfer blieben. Als Ueberwinderin sammlete Rom; sie erfand aber nichts Neues. Auch die Sprache der Roͤmer bildete sich nur durch die Griechen zu einer reinen und ewigen Sprache. Das Publicum also, das fuͤr die clas- sische Denkart in Rom bluͤhete, war ein erbeutetes, kuͤnstliches Publicum; die Einrichtung der Stadt selbst war von ei- ner Art, daß vielleicht keine Reichsstadt sie sich auf daurende Zeiten wuͤnschen moͤch- te. Weder das Volk, noch der Senat verdienen, ausser der Ruͤcksicht, daß sie Herren der Welt werden wollten, und waren, absolute Hochachtung; einen Po- pulus Romanus, der mit roͤmischer An- maassung fuͤr seine Stimme Brot und Cir- censische Spiele begehret, wuͤnschten wir uns auch nicht. Eben so wenig Clienten und Candidaten nach Roͤmischer Weise. Also das Forum und den Senat an seine Orte gestellt, blieb denen Roͤmern, die ein daurendes Publicum suchten, nichts als was auch Wir haben, der Beifall und die Stimme der erlesensten edlen Roͤmer . Diese hoͤrten ihren Vor- trag oder kauften ihre Rolle; sie billigten und mißbilligten, wie es ihnen gutduͤnkte. Daß aber in den bessern Stellen ihrer Ge- dichte Lucrez und Catull , Horaz und Virgil , Ovid , Tibull , Properz u. a. so classisch-ausgearbeitet, vollendet und schoͤn schrieben, zeigt, daß sie sich feinere Vorbilder, schaͤrfere Leser und ein hoͤheres Publicum dachten, als viele unsrer Dich- ter und Schriftsteller zu denken gewohnt sind. Ihre eigne Bildung, und die Hoͤ- he, auf welcher Rom stand, trug dazu bei. Der Geschichtschreiber Roms schrieb die Geschichte der Weltmonarchin; ihre Dichter sangen in der Roͤmischen Sprache; in dieser stellten ihre Rechtsverstaͤndigen Urtheile aus, als die Stimme ihrer gros- sen Redner dahin war; — mit dem Allen koͤnnen wir uns nicht gleichen. Wenn aber unsre Sprache eine Schwester der Griechischen ist, da die Roͤmische nur die angenommene Tochter derselben war: so haͤtten wir, sobald wir uns zur Roͤmischen Denkart erheben koͤnnten, eine weitere Laufbahn vor uns als Jene. Ueberwinder der Welt wollen wir nicht werden; was aber in uns Roͤmischen oder (wenn dieser einst groͤßere Name noch einen Werth hat,) Deutschen Charakter enthaͤlt, warum soll- ten wir das einer Sprache nicht geben koͤnnen, die einst in viel roherem Zustan- de auch eine Herrinn der Welt war? Dichter und Geschichtschreiber, Rechtslehrer und Gesetzgeber, warum wurdet ihr zu solcher Zeit nicht auch wie Jene fuͤr ein fortdaurendes Publicum Herren der Erde? 4. Publicum des Christenthums . Als der Urheber des Christenthums sei- ne Stimme erhob, verbreitete er mit der- selben ein Publicum uͤber die Voͤl - ker . Er kuͤndigte ein ankommendes Reich an, zu dem alle Nationen gehoͤren, und das nicht in aͤusserlichen Cerimonien, son- dern in Uebungen des Geistes, in Voll- kommenheiten des Gemuͤths, in Reinheit des Herzens, in Beobachtung der streng- sten Billigkeit und einer verzeihenden Lie- be unter den Menschen bluͤhe. Dahin zie- len seine Reden, dazu ruͤstete er andre aus, und das Gebet, das er seine Schuͤ- ler lehrte, ist daruͤber ein bittendes Be- kenntniß. „Es soll ein Reich zu uns kom- men, in dem alles Ehrwuͤrdige geehrt, jede heilige Pflicht gethan, und der Wille Gottes auf Erden so willig und vollkom- men vollbracht werde, wie ihn die seligen Geister ausuͤben.“ Seine Stimme, die Stimme seiner Boten in Lehren und Schrif- ten erklang; es entstand eine Gemeine , ein christliches Publicum unter mehreren Nationen, das sich zu dieser Lehre, Pflicht und Hoffnung bekannte. Haben wir noch dies Publicum? Al- lerdings; die kleinste christliche Versamm- lung ist ein Symbol der Einen allgemei- nen Kirche, die unter hundert Voͤlkern der Erde lebet. Diese war und ist hie und da mit Misbraͤuchen bedeckt, mit Mißverstaͤndnissen umnebelt; der reine kla- re Sinn der Stiftung dieser Geistesver - sammlung , ihr auf alle Zeiten und zum Gebaͤude der gesammten Menschheit wir- kender Zweck bleibt aber unverkennbar. Nicht in der Prachtgestalt eines druͤckenden stolzen Gesetzes; in der aufmunternden, sanften Gestalt einer troͤstenden Friedens- botschaft wirkt dies moralische Insti - tut auch zu den strengsten Pflichten. Wo zwei oder drei versammlet sind, lebt der Stifter dieser Versammlung; im Inhalt seiner Lehre selbst liegt ihr Zweck, die Auferbauung eines moralischen Gebaͤudes , bis zum Ende der Zei- ten. Es ist traurig, wenn dieser Zweck, auf ein seiner Natur nach fortgehen - des ewiges Publicum zu wirken , hie und da verkannt wird, indem man entweder Particular-Meinungen, sogar Speculationen ins Christenthum mischte, die dazu durchaus nicht gehoͤren, oder den todten Buchstaben todtbuchstaͤblich behan- delt. Jedem Denkenden bleibe seine Pri- vatmeinung uͤber Dies und Jenes; jeder speculative Kopf schmuͤcke sein Lehrgebaͤu- de mit seiner besten Speculation aus; nur die Christenheit, als Publicum be - trachtet , bleibe damit verschonet. Die Lehre und der Zweck des Stifters sei oder werde ein reiner Strom, der, was ihm von National- und Particularmeinungen, wie ein truͤber Bodensatz anhing, mehr und mehr niederschlaͤgt und absetzt. So thaten es schon die ersten Boten des Chri- sten- stenthums mit ihren Juͤdischen Vorurthei- len, je mehr sie in die Idee eines christli- chen Publicums, eines Evangeliums fuͤr alle Voͤlker eintraten; und es kann nicht fehlen, daß diese Laͤuterung des Christen- thums durch sanfte oder rauhe Mittel nicht mit den Jahrhunderten fortgehen sollte. Es ist sehr lehrreich, die Folge zu bemerken, mit der sich in der soge- nannten Kirchengeschichte die harte Huͤlse des Christenthums gebildet, hie und da aufgeloͤset und jedesmal einen reicheren Kern, einen feineren Samen der Fort- pflanzung gewaͤhrt hat; so wird das Werk, mit oder ohne Namen des Urhebers, fort- gehen bis ans Ende der Zeiten. Manche Formen sind zerbrochen, andre werden sich aufloͤsen; nicht durch aͤussere Gewalt, sondern durch den innern treibenden Keim selbst, den die Sonne ruft, dem die gan- Fuͤnfte Samml. (G) ze Natur ihre Staͤrke zuhauchet. Gluͤck- lich, wenn man in ein Publicum tritt, an welches diese Stimme in reinem Klange toͤnet. Sie umfaßt alle Staͤnde, dringt durch alle Gewoͤlbe und trift den wesentlichen Punct der Menschheit. Ueber augenblickliche, enge Verhaͤltnisse, selbst uͤber die Schranken der Fassungskraft die - ser einzelnen Versammlung hinweggeruͤckt, ahnet man ein fortgehendes erlesenes Pu- blicum und athmet die Aura einer rein - moralischen Zukunft . 5. Publicum der Literatur. Das Christenthum hatte ein Band un- ter Voͤlkern geknuͤpft, wie es durch die Eroberungen Alexanders, der Roͤmer und Hunnen nie geknuͤpft worden; seinem Zweck nach ein Friedenstiftendes Band, so oft es auch zu Streit und Haͤndeln Gele- genheit gab oder gemißbraucht wurde. In den Haͤnden der Vorsehung ward es zugleich ein Band der Cultur , einer ge - meinschaftlichen Cultur der Voͤl - ker . Wechselseitige Rechte und Pflichten kamen dadurch zwar nicht in bleibenden Gebrauch, doch aber in ein anerkanntes Licht, in eine immer neu angefangene Ue- bung. Die Voͤlker Europens wurden sich nicht nur bekannter, sondern auch durch gegenseitige Beduͤrfnisse, bei gemeinsamen Zwecken und Bestrebungen einander un- entbehrlich; ihre Tendenz ward immer mehr und mehr auf einen Punkt gerichtet. Erfindungen kamen hiezu, die bei die- sen gemeinschaftlichen Beduͤrfnissen Ein Volk vom andern borgte, worinn Eins dem andern vorzueilen suchte; es entstand in ihrer Vervollkommnung ein Wett- eifer unter den Nationen. Nun konnten (G) 2 nicht so leicht mehr Gedanken, Versuche, Entdeckungen, Uebungen untergehen, wie in Zeitraͤumen der einst von einander ge- trennten Voͤlker; das Samenkorn, das hier und jetzt keine Wurzel fand, trug ein guͤnstiger Zephyr auf einen mildern Bo- den, wo es vielleicht unter neuem Namen gedeihete. Im Druck der Zeiten und des Klima schlossen sich Zuͤnfte zusammen, die mit gemeinsamer, oft etwas roher Hand, dem Fleiß, der Thaͤtigkeit, allmaͤ- lich auch der Erfindung und dem Geist der Menschen Schutz und Dauer verschaff- ten, die also, wiewohl sie durch Privat- leidenschaften und druͤckende Verhaͤltnisse das Werk der Vorsehung oft zu hindern schienen, zuletzt dasselbe doch foͤrdern muß- ten. Durch alles Reiben der Voͤlker, der Gesellschaften, Zuͤnfte und Glieder unter einander erwuchs immer ein groͤsseres oder feineres Publicum , das in Streit und Friede, in Liebe und Leid an- einander Theil nahm. Auf diesem Wege bekam die rohe Kunst, der vom Beduͤrfniß erpressete Fleiß der Einwohner Europens nicht nur diesen ganzen Welttheil, sondern durch ihn auch alle Welttheile zum gemein- schaftlichen Boden. Was fuͤr den Krieg und Handel, fuͤr die Seefahrt und den Luxus erfunden und ausgeuͤbt ward, ver- breitete seine guten und schaͤdlichen Wir- kungen auf alle Welttheile unsrer bewohn- ten Menschenerde; alle Voͤlker Europa's greifen hiebei in einander und halten un - sern Erdball fuͤr das Publicum , worauf sie zu wirken haben. Von fruͤhen Zeiten her sind Schulen und Universitaͤten ein Mittel gewesen, fuͤr Kenntnisse und Wissenschaften ein Pu- blicum zu verbreiten; ja sie sind es noch. Selbst die Scharfsinnigen in mehreren geist- lichen Orden fluͤchteten sich hinter ihre Schutzmauern, und breiteten von da aus ihre Meinungen weit umher. Was man nicht lehren durfte, daruͤber disputirte man nach akademischen Gesetzen, und uͤbte die Denkkraft der Menschen. Wiclef und Luther schuͤtzte die Universitaͤt; und auch Huß haͤtte sie geschuͤtzt, wenn er sich nicht auf das treulose Wort eines Kaisers ver- lassen haͤtte. Mehr noch aber als Schutz gab die Universitaͤt den Meinungen ihrer Lehrer; auch Gewicht, Staͤrke, Ausbrei- tung. Tausende junger Leute aus ver- schiedenen Laͤndern, in Jahren, da die Seele alles mit Liebe erfaßt, da Juͤnglin- ge den Lehrer nicht ohne Begeisterung an- sehen, hoͤrten ihre Stimme, und trugen ihr Wort, jeder in sein Vaterland, zu sei- nem Geschaͤfte. Jahre nach Jahren wech- seln diese Zoͤglinge der Universitaͤten; als Schaaren von Zugvoͤgeln kommen sie, rau- ben das Wort des Lehrers und fliegen da- mit in ihre Lande. Ein großes Ach - tungswuͤrdiges Publicum ! das bildsamste, Wirkungsreichste, dessen die Menschheit in ihrem jetzigen Zustande faͤhig ist, und welches noch lange, in immer verbesserter Gestalt, dauren moͤ- ge. Die Jahre des Juͤnglinges auf der Akademie sind ihm Zeitlebens die lieb- sten Jahre; was er da mit Lust zur Wissenschaft, im ersten Feuer der Be- geisterung, noch unbekannt mit Lasten und Hinderungen des Lebens, oder mit jugendlichem Muth diese verachtend, als Beute des Wissens, als Regel der Ue- bung annahm, das bleibt ihm lang' oder immer ein froh erworbener Schatz, eine heilige Regel. Haben wir noch dies Publicum der Schulen und Universitaͤten ? Wir habens noch, und es hat sich (was man auch sagen moͤge) nicht verschlimmert, son- dern verbessert. Seltner treten jetzt die rohen Heere erwachsener Streiter auf die- ses Feld des Wissens und Lernens; zartere Juͤnglinge sind es, in denen das Wort des Lehrers auch zartere, deßhalb aber nicht unkraͤftigere Wurzeln schlaͤgt. Wenn sie es nicht mit der Klinge behaupten, so hangen sie ihm desto gewissenhafter an; der Lehrer sprach fuͤr sie selbst jugendlicher und weckte ihr eignes Nachdenken, ihre mit ihm wirkende Kraͤfte. Einst lernte man und behauptete; Er cultivirt und bessert. Statt des ehemaligen Sekten- und Raufgeistes nehmen mehrere Univer- sitaͤten eine feinere Tendenz an, Gesell - schaften der Wissenschaft , pytha - gorische Schulen zu werden, in denen sich die erlesensten Juͤnglinge nicht zum Wissen der Dictaten, sondern zur Wissen- schaft, zur Uebung und Kunst ihres Le- bens oder Geschaͤfts bilden. Ein schoͤnes Publicum, wenn der Lehrer den Werth seines Geschaͤfts fuͤhlet. Glaube niemand, daß mit Wiclef , Huß , Luther diese große Wirkung der Universitaͤten voruͤber sei; die Reformation auf ihnen in jeder Wissenschaft, Facultaͤt und Lehre ist noch nicht stillgestanden; ja sie wird und kann nicht stillstehen, so lange Universitaͤten da sind. Mehrere Lehrer Einer Facultaͤt, mehrere Facultaͤten, mehrere Universitaͤten gegen einander sind gemeiniglich in Wett- streit; dieser Wettstreit muß mit den Jah- ren nicht abnehmen, sondern wachsen. Je mehr die Handwerkshindernisse geschwaͤcht werden (dies muͤssen sie nothwendig) je mehr das Werk der Akademien ein Werk des Geistes und einer freien Uebung wird, desto mehr entzuͤndet sich der Wetteifer mit reinerer Flamme. Universitaͤten sind Wacht - und Leuchtthuͤrme der Wis - senschaft ; sie spaͤhen aus, was in der Ferne und Fremde vorgeht, foͤrdern es weiter, und leuchten andern selbst vor. Universitaͤten sind Sammlungs - und Vereinigungsplaͤtze der Wissen - schaft ; aus ihrer Zusammenstellung und gegenseitigen Befehdung oder Befreundung entspringen dort und dann neue Resultate. Universitaͤten endlich sollten die letzten Freistaͤten und eine Schutzwehr der Wissenschaften seyn, wenn solche nirgend eine Freistatt faͤnden. Was al- lenthalben verkannt wuͤrde, was im Ge- schaͤft hie und da seine Stimme wehrlos erhuͤbe, sollte hier einer unpartheiischen Aufmerksamkeit und eines Beistandes ge- niessen, der von keinem Einfluß gestoͤrt wuͤrde. Irre ich nicht, so ist dies mehr- mals geschehen; die Rathschlaͤge der Leh- rer haben Verfolgungen aufgehalten, die die Rathschlaͤge der Staatsweisen nicht unterdruͤcken mochten; und so sehe ich auch fuͤr die Zukunft Rathschlaͤge der Lehrer auf Universitaͤten hervorgehen, denen die Rath- schlaͤge bloͤder Weisen kaum bestehen moͤ- gen. Bis also die Universitaͤten sich selbst unnoth machen, unterstuͤtze man ihren Werth; ihr Publicum wird noch lange durch ein Besseres nicht ersetzt werden. Zunaͤchst gilt dieses von den Universitaͤten Deutschlands; fast sind sie die einzige Gat- tung Deutscher Institute , die jedes Ausland mit Recht ehret. Ein noch groͤßeres Publicum hat uns die Buchdruckerei verschaffet; es ist sehr gemischt und fast unuͤbersehlich. Wel- che Muͤhe kostete es in aͤltern Zeiten, Buͤ- cher zu haben, mehrere zu vergleichen und uͤber einen Inbegriff von Wissenschaft zu urtheilen! Jetzt uͤberschwemmen sie uns; eine Fluth Buͤcher und Schriften, aus al- len fuͤr alle Nationen geschrieben. Ihre Blaͤtter rauschen so stark und leise um un- ser Ohr, daß manches zarte Gehoͤr schon jugendlich uͤbertaͤubt wurde. In Buͤchern spricht Alles zu Allem; niemand weiß zu Wem? Oft wissen wir auch nicht, Wer spreche? denn die Anonymie ist die gros- se Goͤttinn des Marktes. Von einem sol- chen Publicum wußte weder Rom, noch Griechenland; Guttenberg und seine Gehuͤlfen haben es fuͤr die ganze Welt gestiftet. Was ist daruͤber zu sagen? Dies, daß es, ohngeachtet aller und der schnoͤdesten Misbraͤuche, ein großes Geschenk, ein un- widerrufliches Privilegium fuͤr die mensch- liche Gesellschaft, und ein ungeheures Mit- tel der Vorsehung sei, dessen Wirkungen und Folgen noch nicht vor unserm Auge liegen. Was geschehen ist, koͤnnen wir nicht zuruͤcknehmen; die Buchdruckerei ist da; nicht nur als Nahrungszweig fuͤr Han- del und Arbeit, sondern als eine Tuba der Sprache , so weit dies oder jenes Product reichet. Alle Monarchen der Welt, wenn sie mit vereinten Kraͤften fuͤr jede Druckerstube traͤten, koͤnnten die ar- me Familie dieses Letternkastens, das Asyl und den Telegraph menschlicher Gedanken nicht zerstoͤren. Ja wer wollte es zerstoͤ- ren, da es, nebst einigem Boͤsem, so un- saͤglich viel Gutes gestiftet hat, und sei- ner unschuldigen aber kraͤftigen Natur nach nothwendig noch stiften wird. Der Redner uͤbertaͤubt mich; der Schriftsteller spricht leise und sanft; ich kann ihn be- daͤchtig lesen. Der Redner blendet mich mit seiner Gestalt, mit seinem Gefolg und Ansehn; der Schriftsteller spricht unsicht- bar, und es ist meine Schuld, wenn ich mich von seinem Wortprunk hintergehen, oder mir von seinem Geschwaͤtz die Zeit rauben lasse; ich soll ihn pruͤfen, ich darf ihn wegwerfen. Gegenseits ist auch frei- lich das Irrsal und die Verfuͤhrung des Redners voruͤbergehend und in einem Krei- se beschlossen; das Gift und Irrsal des Schriftstellers, seine Ehre und Schande dauret. Er selbst kann sie nicht, als et- wa durch Besserung, durch Widerruf zu- ruͤckrufen; und auch dadurch wird, was geschehen ist, nicht ungeschehen. Wer weiß, ob dies Blatt des Widerrufs oder der Widerlegung in die vorige Hand kommt, oder ob es dem Irrthum gleich wirket? Das Publicum der Schriftsteller ist also von eigner Art; unsichtbar und allgegenwaͤrtig, oft taub, oft stumm, und nach Jahren, nach Jahrhunderten viel- leicht sehr laut und regsam. Verloren und doch unverloren, ja unverlierbar ist, was man in seinen Schoos schuͤttet. Man kann nie mit ihm abrechnen; sein Buch ist nie geschlossen, der Proceß vor und mit ihm wird nie beendet; es lernt immer, und kommt nie zum letzten Resultat. Man hat diesem Ewig-Unmuͤndigen Vormuͤnder setzen wollen, die Censoren ; aber, wie die Erfahrung gezeigt hat, mit fruchtloser Muͤhe und meistens mit dem widrigsten Erfolg. Der Unmuͤndige kostet am liebsten, was man ihm versagte; er suchet auf, was man ihm hinterhalten wollte; das Verbot eines Vortrages an dies Publicum ist gerade das Mittel, selbst einem unnuͤtzen Wort Ansehen, Ge- wicht und Aufmerksamkeit zu geben. Und welcher bescheidne Mann wird ein Vor- mund des gesammten Menschenverstandes, des Publicums aller Zeiten und Laͤnder zu seyn wagen? Laß jeden Wei- sen und Thoren schreiben nach seiner Wei- se, wenn er in zweifelhaften Faͤl - len nur sich nennet , und niemand persoͤnlich beleidiget . Es sei mir erlaubt, mich hieruͤber zu erklaͤren. Der weiseste Censor, wenn er auch die Stimme eines ganzen, ja des aufgeklaͤrtesten Staates vorstellt, kann in Dem, was Lehre und Meinung betrifft, schwerlich die Stimme des Publicums, der sich ein Schriftsteller freiwillig unter- wirst, auf- oder uͤberwiegen wollen. Wenn sein Urtheil auch die Weisheit Sa- lomo's lomo's waͤre, wenn es die Klugheit aller vergangenen Jahrhunderte enthielte, und dem gepruͤften Verstande einer großen Zu- kunft voreilte: so fehlt ihm doch Eins, die Legitimation hiezu : denn weder die Vor- noch Nachwelt hat ihn daruͤber beurkundet. Der Schriftsteller wird also gegen ihn immer die Einrede haben, daß er dem Urtheil der Welt vorgreife, daß er sich unbefugt eine Entscheidung anmaasse, die nur dem Publicum im weitesten Sinne des Worts gebuͤhret; er wird von diesem Papst eines kleinen Staates an das all - gemeine Concilium appeliren, das allein und zwar nur in immer fortge - henden Stimmen ein Richter des Wah- ren und Falschen seyn koͤnne. Wahr- scheinlich werden ihm viele Stimmen bei- treten; und bei dem groͤßesten Recht wird der Censor, der Form nach und um der Fuͤnfte Samml. (H) Folgen willen, Unrecht behalten. Ich darf nicht wiederholen, was man, wo es Wahrheit gilt, uͤber Freiheit der Meinun- gen, die nur widerlegt, nicht aber unter- druͤckt werden duͤrfen, so oft und viel ge- sagt hat. Wenn man also dem Publicum keine, auch nicht die tollesten Meinungen rauben darf, indem der Staat, wo sie ihm falsch oder gefaͤhrlich scheinen, lieber ihre offne Widerlegung veranlassen mag, da- mit zum Vortheil der Welt die Finsterniß vom Lichte besiegt werde: so darf bei die- ser ungebundnen Freiheit, bei der Ach- tung, die der Staat selbst dem Publicum erweiset, da er ihm nichts vorenthaͤlt, was irgend ein Schriftsteller ihm darbringt, der Staat wohl auch fodern, daß jeder Schriftsteller sich nenne , der dem Publicum etwas darzubringen gutfindet . Und zwar dies in allen Schriften, uͤber jeden Gegenstand: Recen- sionen fremder Buͤcher nicht ausgenom- men. Denn wie haͤtte ich ein Recht, Anonymie zu verlangen, wo ich mich vors Publicum draͤnge, und zu ihm meine Stimme erhebe? Einen freiwilligen Lehrer der Welt und Nachwelt muß man kennen; er muß sich, wenn ihm Pflicht, Recht und Wahrheit lieb ist, nicht verbergen. Ein Mann, der oͤffentlich spricht, stehet fuͤr sein Wort; sonst nennet man ihn einen Feigen oder Luͤgner. Mit diesem einzi- gen leichten, wie mich duͤnkt nicht unge- rechten Mittel, wie mancher Keckheit, wie mancher Verlaͤumdung wuͤrde vorgebeugt, die jetzt blos hinter der Anonymie Schutz sucht. Wie vorsichtiger, uͤberdachter und gehoͤriger wuͤrde man zum Publicum spre- chen, wenn man wuͤßte, daß man nicht (H) 2 ohne eigne Ehre oder Schande zu ihm sprechen koͤnnte! Und verdient das Publi- cum, der ehrwuͤrdigste Name, der genannt werden kann, die Gesellschaft aller Guten und Edlen , nicht diese Ach- tung? Jeder Schriftsteller wuͤrde veran- laßt, in der wuͤrdigsten Gestalt vor ihm zu erscheinen, seine Stimme vor diesem großen Tribunal bescheiden hoͤren zu las- sen, dagegen aber auch, was er weise be- hauptet, standhaft zu vertheidigen, ein ehrlicher Bekenner zu seyn der von ihm dem Publicum gemeldeten Wahr - heit . Jene Winkeltraͤgereien, aufgefan- gene Geruͤchte, erstohlne Personalitaͤten verloͤren sich von selbst; kein Ehrliebender wollte mit solcher Waare oͤffentlich am Markt stehn, die schaͤndlich ist und fuͤrs Publicum nicht gehoͤret. In Griechenland und Rom schaͤmte sich kein Schriftsteller seiner Werke; auch unter uns darf sich kein Stand einer Schrift, wenn sie gut ist, schaͤmen; dem hoͤchsten, wie dem nie- drigsten Stande sollte Anonymie nicht er- laubt seyn, und uͤberhaupt dieselbe fuͤr das was sie ist, fuͤr Hinterlist , Schimpf , niedriges Gewerbe und Feigheit gelten. Wer zum Publicum spricht, spreche als ein Theil des Publi- cums, also oͤffentlich, mit seinem Namen. Noch ein viel Mehrers waͤre uͤber das Verhaͤltniß des Schriftstellers zum Publi- cum zu reden. Jede Gattung der Scri- benten schreibt fuͤr ihre Gattung Leser, die sie ihr Publicum, ihre Welt nennen. Aus froͤlichen oder traurigen Erfahrun- gen, welche Schriften am meisten gele- sen werden, kann man also auf den Ge- schmack, auf das Maas der Bildung des Publicums schliessen, dem diese Schrif- ten vor andern oder ausschliessend wohl- thun. Die mittelmaͤßigen, die leichten, uͤppigen, luͤsternen finden natuͤrlich die mei- sten Leser; viele geruͤhmte Schriftsteller ha- ben nur durch Zeugnisse anderer ihren Ruhm erlangt, und stehn auf guten Glauben , ungelesen, in den Bibliothe- ken. Das Publicum hallet nur ihre Na- men wieder. Deßhalb aber wird kein gu- ter Kopf, wenn er es nicht des Bauchs wegen thun muß, sich unwuͤrdig, (wie man sagt,) zum Publicum herabstim - men , oder seinem luͤsternen, falschen Ge- schmack froͤhnen. Der Schriftsteller soll das Publicum, nicht dies den Schriftsteller bilden. Delila schnitt Simson das Haar ab, und uͤbergab ihn Kraftlos den Phili- stern; sie verspotteten ihn und er mußte vor ihnen spielen. Nicht die Blaͤtter des Baums; die Keime, Bluͤthen und Fruͤchte sind sein edelstes Erzeugniß. Nicht das zahlreichste, sondern das verstaͤndigste Publicum ist mit seinem Beifall die Ehre des Schriftstellers, sein Zweck und Lohn. Das Urtheil die- ser vielleicht wenigen Leser dauert fort und wirkt weiter. Oft findet ein Schriftsteller diese Leser nur nach seinem Tode; Minos und Aeakus sinds, die unpartheiisch uͤber ihn richten. Dem Homer schaffte Ly - kurg und die Pisistratiden ein groͤße- res, ein Attisches Publicum; dem Mil - ton Addison , Garrik dem Shake - spear u. f. Nichts ist angenehmer, als einem verdienten Todten Gerechtigkeit zu erweisen, und uͤber seinem Grabe die Stimme eines besseren dankbaren Publi- cums zu werden. So hat Rousseau nach seinem Tode die Ehre mit Wucher genossen, die Voltaire bei seinen Lebzei- ten sich zuzueignen wußte; und so giebts bei allen Nationen andre Autoren, die beruͤhmt sind, andre die es zu seyn ver- dienen. An Liebe und Achtung gegen seine be- sten Schriftsteller, (wenige ausgenommen) stehet Deutschland seinen cultivirten Nach- barn, Franzosen, Englaͤndern, Italienern nicht vor, sondern nach; der groͤßere Theil des Publicums kennet sie nicht und traͤgt wenigstens sie nicht eben in Herz und Seele. Haben wir also hierin (ich will nicht sagen, das Publicum der Alten, sondern nur) das Publicum der Franzosen, Englaͤn- der, Italiener? Wer diese Laͤnder kennet, und Deutschland kennet, antworte. An den Schriftstellern liegt es schwerlich; sie thaten was sie konnten; manche vielleicht zu viel. An Charakter und an der Ver- fassung der Nation liegt es; an der Un- kultur und Unkultivirbarkeit (wenn mir zu Bezeichniß eines Barbarismus ein bar- barisches Wort erlaubt ist) am falschen Geschmack und der genetischen Rohheit mancher Staͤnde und Lebensarten. Bei weitem ist unsre Sprache noch nicht so gebildet, jedem Vortrage, jeder Art des Wissenswuͤrdigen so zugebildet, als die Sprachen unsrer Nachbarn; vielmehr ha- ben wir mit einer benachbarten Nation zu kaͤmpfen, daß ihre Sprache die unsere nicht ganz vertilge. Erwache also, du schlafender Gott, wenn du nicht etwa dichtest oder uͤber Feld gegangen bist; er- wache, Deutsches Publicum, und laß Dir dein Palladium nicht rauben. Aus dem traͤgen Schlummer, aus dem niedrigen Stolz, der das Beste wegwerfend verach- tet, aus der Anmaassung, die dem Schlechtsten das Privilegium des Besten ertheilen zu koͤnnen glaubt, aus der nie Theilnehmenden Kaͤlte, aus der voͤlligen Seelenentfremdung , glaube mir, wird nichts, und kann nichts werden. Die Zeit, da das Alles galt, ist voruͤber. Un- sanft aus dem Schlafe geruͤttelt, erwache und zeige, daß du kein Barbar bist, da- mit man dir nicht als einem Barbaren begegne. Deine Sprache, die Schwester der Griechischen, die Koͤniginn und Mut- ter vieler Voͤlker, fuͤr ganz Europa hast du zu sichern , auszubilden , zu be - wahren . Sollten wir aber blos in Reden und Schriften, in Lehren und Hoͤren ein Pu- blicum haben? keins fuͤr unsre Handlun- gen? keins fuͤr unser ganzes Daseyn? Kein Publicum, das auf uns wirkte, wor- auf wir durch unser Beispiel, durch unser Vorbild schweigend wirken? Zweifle daran niemand, ja auch daran niemand: daß diese stille Wirkung in einem kleinen Krei- se von maͤchtiger Wirkung sei. Sie ist reell; in ihr ist nichts Schein und Schmin- ke. Der Kreis, in dem du lebest und dein Geschaͤft treibest, ist dein Publicum; sei dies klein oder groß, du praͤgst in das- selbe das Bild deiner Exsistenz, deiner Denk- und Handlungsweise. Hiemit wirkst du unvermerkt oder bemerket auf die Deinen, die nach deinem Muster oder mit Einfluͤssen von dir fortwirken, auf dei- ne Mitarbeiter, Untergebene oder Vorge- setzte. Leise oder stuͤrmisch verbreiten sich also Wellen und Wogen mit und ohne deinen Namen auf deine Zeitgenossen und die Nachwelt fort. So haben zu allen Zeiten die wuͤrdigsten Maͤnner auf ihr Publicum gewirket; sie sprachen mit der starken Stimme ihres thaͤtigen Beispiels, und dachten nicht daran, daß im groͤßeren Publicum ihr Name genannt wuͤrde. Das schaͤrfste und edelste Publicum waren sie sich selbst , der Aufmunterer, Zeuge und Richter ihrer Handlungen, ein Gesetz, das in ihnen lebte. Wohl uns, wenn wir uns dies Publicum sind; wir haben sodann die laute, oft sehr unsichre und unreine Stimme der groͤßeren Welt nicht noͤthig. II. Haben wir noch das Vaterland der Alten ? Griechen und Roͤmern war das Wort Vaterland ein Ehrwuͤrdig-suͤßer Name. Wem sind nicht Stellen aus ihren Dich- tern und Rednern bekannt, in denen Soͤh- ne des Vaterlandes ihm als einer Mut- ter kindliche Liebe und Dankbarkeit, Lob- preisungen, Wuͤnsche und Seufzer wei- hen? Der Entfernete sehnet sich darnach zuruͤck, hoffnungsvoll oder klagend schauet er zur Gegend desselben hin, empfaͤngt die Luͤfte, die daher wehen, als Boten seiner Geliebten. Wiedergegeben dem Vaterlan- de, umfaͤngt er es, und kuͤsset seinen Bo- den mit Thraͤnen. Der in der Entfer- nung Sterbende vermacht ihm noch seine Asche; auch nur ein leeres Grabmahl des Andenkens wuͤnschet er sich bei den Sei- nen. Fuͤrs Vaterland zu leben hieß ihnen der hoͤchste Ruhm; fuͤrs Vaterland zu ster- ben der suͤßeste Tod. Wer mit Rath und That dem Vaterlande aufhalf, wer es ret- tete und mit Kraͤnzen des Ruhms schmuͤck- te, erwarb sich einen Sitz unter den Goͤt- tern; Himmels- und Erden-Unsterblich- keit war ihm gewiß. Dagegen wer das Vaterland beleidigte, es durch seine Tha- ten entehrte, wer es verrieth oder bekrieg- te; in den Busen seiner Mutter hatte der das Schwert gestoßen, er war ein Vater- ein Kinder- ein Freundes- und Bruder- moͤrder. Cariorem decet esse patriam no- bis quam nosmet ipsos. Dulce et deco- rum est, pro patria mori. u. f. Haben auch wir dies Vaterland der Alten? Und welches sind die geliebten Bande, die uns daran fesseln? Der Boden des Landes, auf dem wir gebohren sind, kann fuͤr sich allein dies Zauberband schwerlich knuͤpfen; vielmehr waͤre es die haͤrteste aller Lasten, wenn der Mensch, als Baum, als Pflanze, als Vieh betrachtet, eigen und ewig, mit Seele, Leib und allen Kraͤften dem Bo- den zugehoͤren muͤßte , auf welchem er die Welt sah. Harte Gesetze gnug hat es uͤber dergleichen Erbeigenthuͤm - lichkeit , Eigengehoͤrigkeit u. f. ge- geben, und giebt es noch; der ganze Gang der Vernunft, der Cultur, ja selbst der Industrie, und der Nutzberechnung gehet dahin, diese gebohrne Sklaven eines Mut- terleibes oder der Mutter-Erde mit sanf- tern Banden an ein Vaterland zu knuͤp- fen, und sie von der harten Scholle, die sie im Leben mit ihrem Schweiß, im To- de mit ihrer Asche duͤngen sollen, allmaͤ- lich zu entfesseln. Als noch Nomadenvoͤlker in der Welt umherzogen, wuͤste Plaͤtze Zeitenlang inne- hatten, und in diesen ihre Vaͤter begru- ben: da gab der Boden des Landes, den diese Voͤlker besaßen oder besessen hatten, Anlaß zum Namen eines Landes der Vaͤter . „An unsrer Vaͤter Graͤbern er- warten wir euch“ rief man den Feinden zu: „auch ihre Asche wollen wir schuͤtzen, und unser Land sichern.“ So ist der hei- lige Name entstanden, nicht als ob Men- schen aus dem Boden entsprossen waͤren. Nur Kinder koͤnnen das Vaterland lieben, nicht Erdegebohrne Knechte oder wie Wild gefangene Sklaven. Was uns im Vaterlande zuerst er- quickt, ist nicht die Erde, auf die wir sin- ken, sondern die Luft die wir athmen, die vaͤterlichen Haͤnde, die uns aufneh- men, die Mutterbrust, die uns saͤuget, die Sonne, die wir sehen, die Geschwi- ster, mit denen wir spielen, die freund- lichen Gemuͤther, die uns wohlthun. Un- ser erstes Vaterland ist also das Vater - haus , eine Vaterflur , Familie . In dieser kleinen Gesellschaft leben die eigent- lichen und ersten Freuden des Vaterlan- des, wie in einem Idyllenkreise; in Idyl- len len leibt und lebt das Land unsrer ersten Jngend . Sei der Boden, sei das Klima, wie es wolle; die Seele sehnt sich dahin zuruͤck, und je weniger die kleine Gesell- schaft, in der wir erzogen wurden, ein Staat war, je weniger sich Staͤnde und Menschenclassen darinn trennten, um so weniger Hindernisse findet die Einbil- dungskraft, sich in den Schoos dieses Va- terlandes zuruͤckzusehnen. Da hoͤrten und lernten wir ja die ersten Toͤne der Liebe; da schlossen wir zuerst den Bund der Freundschaft, und empfanden die Keime zarter Neigung in beiden Geschlechtern; wir sahen die Sonne, den Mond, den Himmel, den Fruͤhling mit seinen Baͤu- men, Bluͤthen und damals uns so suͤße- ren Fruͤchten. Der Weltlauf spielte vor uns; wir sahn die Jahreszeiten sich waͤl- zen, kaͤmpften mit Gefahren, mit Leid und Fünfte Samml. (I) Freude — wir sommerten und winterten uns gleichsam in die Welt ein. Diese Ein- druͤcke, moralisch und physisch, bleiben der Einbildungskraft eingegraben; die zarte Rinde des Baums empfing sie, und ohne gewaltsame Vertilgung werden sie nur mit ihm sterben. Wer hat nicht die Seufzer und Klagen gelesen, mit denen selbst Groͤnlaͤnder sich von ihrem Jugendlande entfernten, mit denen sie aus der Cultur Europa's durch alle Gefahren dahin zu- ruͤckstrebten? Wem toͤnen nicht noch die Seufzer der Afrikaner ins Ohr, die aus ihrem Vaterlande geraubt wurden? In einfachen kleinen Gesellschaften leb- ten sie da, in einem Idyllenlande der Jugend. Die Staaten, oder vielmehr Staͤdte der Griechen, denen der Name des Va- terlandes so theuer und lieb war, schlos- sen sich unmittelbar an diese kleinen Gesellschaften an; die Gesetzgebung beguͤnstigte diese, und leitete von ihnen urspruͤnglich ihre ganze Energie her. Es war das Land der Vaͤter , das man beschuͤtzte, es waren Jugendgenossen, Ge- schwister und Freunde, nach denen man sich sehnte; den Bund der Liebe, den Juͤnglinge schlossen, billigte und nuͤtzte das Vaterland. Mit seinen Freunden wollte man begraben seyn, mit ihnen genießen, leben und sterben. Und da die edlen Vor- fahren dieser Staͤmme das Gemeinwesen, zu dem sie gehoͤrten, unter dem Schutz der Goͤtter errichtet, mit ihrer Muͤhe und Arbeit bezeichnet, mit ihrem Blute besie- gelt hatten: so ward den Nachkommen der Bund solcher Gesetze, als ein morali - sches Vaterland heilig: denn hoͤher schaͤtzten die Griechen nichts, als das Ver- (I) 2 dienst der buͤrgerlichen Einrichtung , dadurch sie Griechen geworden, und uͤber alle Barbaren der Welt erhoͤhet waren. Die Goͤtter ihres Landes waren die schoͤnsten Goͤtter; seine Helden, Gesetzge- ber, Dichter und Weise waren in Einrich- tungen, Liedern, Denkmalen und Festen unsterblich; hiemit prangten ihre oͤffentliche Plaͤtze und Tempel; der Sieg der Grie- chen uͤber die Perser allein machte ihnen ihr Land, ihre Verfassung, ihre Cultur und Sprache zur Krone des Weltalls. Im Aether solcher Ideen schwammen die Griechen, wenn sie den Namen des Va- terlandes oft edel gebrauchten, oft auch mißbrauchten. Mehrere Staͤdte theilten diesen Ruhm, jede auf ihre Weise. Und was Rom sich an seiner Weltbeherrscherin, dem Sammelplatz alles Sieges und Ruhms dachte, davon zeigt die Roͤmische Geschichte. In die Zeiten Griechenlands oder Roms sich zuruͤckwuͤnschen, waͤre thoͤricht; diese Jugend der Welt, so wie auch das eiser- ne Alter der Zeiten unter Roms Herr- schaft ist voruͤber; schwerlich duͤrften wir, wenn auch ein Tausch moͤglich waͤre, in dem was wir eigentlich begehren, bei dem Tausche gewinnen. Sparta's Vaterlands- eifer druͤckte nicht nur die Heloten, sondern die Buͤrger selbst und mit der Zeit andre Griechen. Athen fiel seinen Buͤrgern und Colonien oft hart; es wollte mit suͤßen Phantomen getaͤuscht seyn. Die Roͤmische Vaterlandsliebe endlich ward nicht fuͤr Italien allein, sondern fuͤr Rom selbst und die gesammte Roͤmerwelt verderblich. Wir wollen also aufsuchen, was Wir am Vaterlande achten und lieben muͤs- sen, damit wir es wuͤrdig und rein lie- ben. I. Ists, daß einst Goͤtter vom Him- mel niederstiegen, und unsern Vaͤtern dies Land anwiesen? Ists, daß sie uns eine Religion gegeben und unsre Verfassung selbst eingerichtet haben? Ueberkam durch einen Wettkampf Minerva diese Stadt? Begeisterte Egeria unsern Numa mit Traͤu- men? — Eitler Ruhm: denn wir sind nicht unsre Vaͤter. Sind auf Minerva's heiligem Boden der großen Goͤttinn wir unwerth, reimen sich Numa's Traͤume nicht mehr mit unsern Zeiten: so steige Egeria wieder aus der Quelle, so lasse Minerva zu neuen Begeisterungen sich vom Himmel hernieder. Ohne Bilder zu reden, es ist fuͤr ein Volk gut und ruͤhmlich, große Vorfah- ren, ein hohes Alter, beruͤhmte Goͤtter des Vaterlandes zu haben, so lange diese es zu edeln Thaten aufwecken, zu wuͤrdi- gen Gesinnungen begeistern, so lange die alte Zucht und Lehre dem Volke gerecht ist. Wird sie von diesem selbst verspottet, hat sie sich uͤberlebet, oder wird gemißbraucht; „was hilft dir, (ruft Horaz seinem Va- terlande zu,) stolzer Pontischer Mast, was hilft dir deine vornehme Abkunft? was helfen dir die gemahlten Goͤtter an dei- nen Waͤnden?„ Ein muͤssig-besessener, von unsern Vorfahren traͤge-ererbter Ruhm macht uns bald eitel und unsrer Vorfahren unwerth. Wer sich einbildet, von Hause aus tapfer, edel, bieder zu seyn, kann leicht vergessen, sich als einen sol- chen zu zeigen. Er versaͤumt nach einem Kranze zu ringen, den er von seinen Ur- ahnen an schon zu besitzen glaubet. In solchem Wahn von Vaterlands-Reli- gions-Geschlechts-Ahnenstolze ging Ju- daͤa, Griechenland, Rom, ja beinah jede alte maͤchtige oder heilige Staatsverfas- sung unter. Nicht was das Vaterland einst war, sondern was es jetzt ist, koͤn- nen wir an ihm achten und lieben. 2. Dies also kann, ausser unsern Kin- dern, Verwandten und Freunden, nur seine Einrichtung, die gute Verfassung seyn, in welcher wir mit dem, was uns das Liebste ist, gern und am liebsten le- ben moͤgen. Physisch preisen wir die Lage eines Orts, der bei einer gesunden Luft unserm Koͤrper und Gemuͤth wohlthut; moralisch schaͤtzen wir uns in einem Staat gluͤcklich, in dem wir bei einer Gesetzmaͤ- ßigen Freiheit und Sicherheit vor uns selbst nicht erroͤthen, unsre Muͤhe nicht verschwenden, uns und die Unsrigen nicht verlassen sehen, sondern als wuͤrdige, thaͤ- tige Soͤhne des Vaterlandes jede unsrer Pflichten ausuͤben und solche vom Blicke der Mutter belohnt sehen duͤrfen. Grie- chen und Roͤmer hatten Recht, daß uͤber das Verdienst, einen solchen Bund gestif- tet zu haben, oder ihn zu bevestigen, zu erneuen, zu laͤutern, zu erhalten, kein andres menschliches Verdienst gehe. Fuͤr die gemeinschaftliche Sache nicht der Un- sern allein, sondern der Nachkommenschaft und des gesammten, ewigen Vaterlan- des der Menschheit zu denken, zu arbei- ten und (großes Loos!) gluͤcklich zu wir- ken: was ist hiegegen ein einzelnes Leben, ein Tagewerk weniger Minuten und Stun- den? Jeder, der auf dem Schiff in den fluthenden Wellen des Meeres ist, fuͤhlet sich zum Beistande, zur Erhaltung und Rettung des Schiffs verbunden. Das Wort Vaterland hat das Schiff am Ufer flott gemacht; er kann, er darf nicht mehr, (es sei denn, daß er sich hinaus- stuͤrze und den wilden Wellen des Meers uͤberlasse) im Schiff, als waͤr' er am Ufer, muͤssig dastehn und die Wellen zaͤhlen. Seine Pflicht ruft ihn, (denn alle seine Gefaͤhrten und Geliebten sind mit ihm im Schiffe) daß, wenn ein Sturm sich em- poͤrt, eine Gefahr droht, der Wind sich aͤndert, oder ein Schiff hinanschleudert, sein Fahrzeug zu uͤbersegeln, seine Pflicht ruft ihn, daß Er helfe und rufe. Leise oder laut, nachdem sein Stand ist, dem Bootsknecht, Steuermann oder dem Schif- fer; seine Pflicht, die gesammte Wohl- fahrt des Schiffes ruft ihn. Er sichert sich nicht einzeln; er darf sich nicht in den Kahn einer erlesenen Ufergesellschaft, der ihm hier nicht zu Gebot stehet, traͤumen; er legt Hand an das Werk, und wird wo nicht des Schiffes Retter, so doch sein treuer Fahrgenoß und Waͤchter. Woher kam es, daß manche einst hoch verehrte Staͤnde allmaͤlich in Verachtung, in Schmach versanken und noch versin- ken? Weil keiner derselben sich der gemei- nen Sache annahm, weil jeder als ein be- guͤnstigter Eigenthums- oder Ehrenstand lebte; sie schliefen im Ungewitter ruhig wie Jonas, und das Loos traf sie wie Jonas. O daß die Menschen bei sehen- den Augen an keine Nemesis glauben! An jeder verletzten oder vernachlaͤßigten Pflicht hangt nicht eben eine willkuͤhrliche, sondern die nothwendige Strafe, die sich von Geschlecht zu Geschlecht haͤufet. Ist die Sache des Vaterlandes heilig und ewig; so buͤßet sich seiner Natur nach je- des Versaͤumniß derselben, und haͤuft die Rache mit jedem verdorbneren Geschaͤft oder Geschlechte. Nicht zu gruͤbeln hast du uͤber dein Vaterland: denn du warest nicht sein Schoͤpfer; aber mithelfen mußt du ihm, wo und wie du kannst, ermun- tern, retten, bessern, und wenn du die Gans des Kapitoliums waͤrest. 3. Sollte uns also nicht, eben im Sin- ne der Alten, die Stimme jedes Buͤrgers, gesetzt daß sie auch gedruckt erschiene, als eine Vaterlandsfreiheit, als ein heiliges Scherbengericht gelten? Der Arme konnte vielleicht nichts thun, als schreiben, sonst haͤtte er wahrscheinlich etwas Besseres ge- than; wollet ihr dem Seufzenden seinen Athem, der ins wuͤste Leere hinausgeht, rauben? Noch werther aber sind dem Ver- staͤndigen die Winke und Blicke Derer, die weiter sehen. Sie muntern auf, wenn alles schlaͤft: sie seufzen vielleicht, wenn Alles tanzet. Aber sie seufzen nicht nur; in einfachern Gleichungen zeigen sie, ver- moͤge einer unzweifelhaften Kunst, hoͤhere Resultate. Wollet ihr sie zum Schweigen bringen, weil ihr blos nach der gemeinen Arithmetik rechnet? Sie schweigen leicht, und rechnen weiter; das Vaterland aber zaͤhlte auf diese stille Rechner. Ein Vor- schritt, den sie gluͤcklich angaben, ist mehr als zehentausend Cerimonien und Lobspruͤ- che werth. Sollte unser Vaterland dieser Rechen- kunst nicht beduͤrfen? Sey Deutschland tapfer und ehrlich; tapfer und ehrlich ließ es sich einst nach Spanien und Afrika, nach Gallien und England, nach Italien, Sicilien, Creta, Griechenland, Palaͤstina fuͤhren; unsre tapfren und ehrlichen Vor- fahren bluteten da, — und sind begra- ben. Tapfer und ehrlich liessen die Deut- schen innerhalb und ausserhalb ihrem Va- terlande sich, wie die Geschichte zeigt, dingen gegen einander; der Freund stritt gegen den Freund, der Bruder gegen den Bruder; das Vaterland ward zerruͤttet und blieb verwaiset. Sollte also ausser der Tapfer- und Ehrlichkeit unserm Vaterlan- de nicht noch etwas anders noth seyn? Licht, Aufklaͤrung, Gemeinsinn; edler Stolz, sich nicht von andern einrichten zu lassen, sondern sich selbst einzurichten, wie andre Nationen es von jeher thaten; Deutsche zu seyn auf eignem wohlbe - schuͤtzten Grund' und Boden. 4. Der Ruhm eines Vaterlandes kann zu unsrer Zeit schwerlich mehr jener wilde Eroberungsgeist seyn, der die Ge- schichte Roms und der Barbaren, ja man- cher stolzen Monarchieen wie ein boͤser Daͤmon durchstuͤrmte. Was waͤre es fuͤr eine Mutter, die (eine zweite aͤrgere Me- dea) ihre Kinder aufopferte, um fremde Kinder als Sklaven zu erbeuten, die ihren eignen Kindern uͤber kurtz oder lang zur Last werden? Ungluͤcklich waͤre das Kind des Va- terlandes, das, dahingegeben oder verkauft, ins Schwert laufen, verwuͤsten, morden muͤßte, um eine Eitelkeit zu befriedigen, die Niemanden Vortheil gebieret. Der Ruhm eines Vaterlandes kann zu unsrer Zeit und fuͤr die noch schaͤrfer richtende Nachwelt kein andrer seyn, als daß diese edle Mutter ihren Kindern Sicherheit, Thaͤtigkeit, An- laß zu jeder freien, wohlthaͤtigen Uebung, kurz die Erziehung verschaffe, die ihr selbst Schutz und Nutz, Wuͤrde und Ruhm ist. Alle Voͤlker Europa's, (andre Welttheile nicht ausgeschlossen,) sind jetzt im Wett- streit, nicht der koͤrperlichen sondern der Geistes - und Kunstkraͤfte mit ein- ander. Wenn Eine oder zwei Nationen in weniger Zeit Vorschritte thun, zu de- nen sonst Jahrhunderte gehoͤrten: so koͤn- nen, so duͤrfen andre Nationen sich nicht Jahrhunderte zuruͤcksetzen wollen, ohne sich selbst dadurch empfindlich zu schaden. Sie muͤssen mit jenen fort: in unsern Zeiten laͤßt sichs nicht mehr Barbar seyn; man wird als Barbar hintergangen, untertre- ten, verachtet, mißhandelt. Die Weltepo- chen bilden eine ziehende Kette, der zuletzt kein einzelner Ring sich widersetzen mag, wenn er auch wollte. Vaterlaͤndische Cultur gehoͤrt hiezu, und in dieser auch Cultur der Sprache. Was ermunterte die Griechen zu ihren ruͤhmlichen und schwersten Arbei- ten? Die Stimme der Pflicht und des Ruhmes. Wodurch duͤnkten sie sich vor- zuͤglicher, als alle Nationen der Erde? Durch ihre cultivirte Sprache und was mit- mittelst derselben unter ihnen gepflanzt war. Die imperatorische Sprache der Roͤmer gebot der Welt; eine Sprache des Gesetzes und der Thaten. Wodurch hat eine nachbarliche Nation seit mehr als ei- nem Jahrhunderte so viel Einfluß auf alle Voͤlker Europa's gewonnen? Nebst andern Ursachen vorzuͤglich auch durch ihre im hoͤchsten Sinne des Worts gebildete Na - tionalsprache . Jeder der sich an ih- ren Schriften ergoͤtzte, trat damit in ihr Reich ein und nahm Theil an ihnen. Sie bildeten und mißbildeten; sie befahlen, sie imponirten. Und die Sprache der Deut- schen, die unsre Vorfahren eine Stamm- Kern- und Heldensprache nannten, sollte wie eine Ueberwundene den Siegeswagen Andrer ziehn, und sich dabei noch in ih- rem beschwerlichen Reichs- und Hofstyl bruͤsten? Wirf ihn weg, den druͤckenden Fuͤnfte Samml. (K) Schmuck, du wider deinen eigenen Wil- len eingezwaͤngte Matrone, und sei, was du seyn kannst und ehemals warest, eine Sprache der Vernunft, der Kraft und Wahrheit. Ihr Vaͤter des Vaterlandes, ehret sie, ehret die Gaben, die sie, unauf- gefordert und unbelohnt, und dennoch nicht unruͤhmlich darbrachte. Soll jede Kunst und Thaͤtigkeit, durch welche man- cher dem Vaterlande gern zu Huͤlfe kom- men moͤchte, sich erst wie jener verlohrne Sohn ausserhalb Landes vermiethen, und die Frucht seines Fleisses oder Geistes ei- ner fremden Hand anvertrauen, damit ihr solche von da aus zu empfangen die Ehre haben moͤget? Mich duͤnkt, ich sehe eine Zeit kommen — Doch lasset uns nicht prophezeien, son- dern hinter Allem nur bemerken, daß jedes Vaterland schon mit seinem suͤßen Namen eine moralische Tendenz ha- be. Von Vaͤtern stammet es her; es bringet uns mit dem Namen Vater , die Erinnerung an unsre Jugendzeiten und Jugendspiele in den Sinn; es weckt das Andenken an alle Verdiente vor uns, an alle Wuͤrdige nach uns, denen Wir Vaͤter werden; es knuͤpft das Men- schengeschlecht in eine Kette fortgehender Glieder, die gegen einander Bruͤder, Schwestern, Verlobte, Freunde, Kinder, Eltern sind. Sollten wir uns anders auf der Erde betrachten? Muͤßte ein Vater- land nothwendig gegen ein andres, ja ge- gen jedes andre Vaterland aufstehn, das ja auch mit denselben Banden seine Glie- der verknuͤpfet? hat die Erde nicht fuͤr uns alle Raum? liegt ein Land nicht ru- hig neben dem andern? Cabinette moͤgen einander betruͤgen; politische Maschienen (K) 2 moͤgen gegen einander geruͤckt werden, bis Eine die andre zersprengt. Nicht so ruͤcken Vaterlaͤnder gegen einander; sie liegen ruhig neben einander, und ste- hen sich als Familien bei. Vaterlaͤn - der gegen Vaterlaͤnder im Blut- kampf ist der aͤrgste Barbarismus der menschlichen Sprache. 58. 58. L eibnitz Weißagung ist eine alte, be- waͤhrte Wahrheit Das Ende des 54sten Briefes. . Eine Gemeinheit ohne Gemeingeist kranket und erstirbt; ein Vaterland, ohne Einwohner die es lie- ben, wird zur Wuͤste, und ein Haus, an Meeres Ufer, auf Sand gebauet, als ein Platzregen fiel und ein Gewaͤs- ser kam, und weheten die Winde und stießen an das Haus, da fiel es und thaͤt einen großen Fall, sagt Christus. A Daß diese Gebrechlichkeit zu Leibnitz Zeiten nicht angefangen, sondern sich nur merklicher gemacht habe, bewaͤhrt die Deut- sche, ja nach Verschiedenheit der Voͤlker, Verfassungen und Laͤnder, alle Geschichte. Lesen Sie, was Schmidt vom Zustande der Deutschen Nation vorm Anfange des dreißigjaͤhrigen Krieges Schmidts neuere Geschichte der Deutschen B. 4. K. 9. u. sagt, und mit Zeugnissen beleget; nach dem Westphaͤli- schen Frieden ward die Sache gewiß nicht besser. In Sitten und Grundsaͤtzen, poli- tisch und moralisch, ging alles mehr und mehr nicht zu einer groͤßeren Consistenz, sondern zu einer Aufloͤsung hin, die auch von Moment zu Moment folgte. Daß aber durch dieses schleichende Fieber eine neue Gesundheit , wenn gleich auf Ko- sten leidender oder abgestorbener Glieder bereitet werde, dies ist ein des großen Leibnitz wuͤrdiger Gedanke. Das mensch- liche Geschlecht ist ein Phoͤnix ; auch in seinen Gliedern, ganzen Nationen, verjuͤn- get es sich, und steht aus der Asche wie- der auf. Sehr uͤbel ists, daß wir in der Ge- schichte die Meinungen und Grund - saͤtze der Voͤlker , die dort und dann herrschten , so wenig bemerkt finden. Man sieht Erfolge, oft spaͤte Erfolge, und muß die vielleicht laͤngst im Verborgenen wirkende Triebfeder truͤglich errathen. Noch seltner werden in ihr dergleichen herrschen- de Meinungen und Grundsaͤtze in ihrer Abstammung und Fortpflanzung genealogisch verfolgt; man sieht sie hie und da wie Stroͤme aus der Erde brechen und sich, indeß ihr Lauf unter der Erde A 2 fortgeht, dem Auge verlieren. Am selten- sten sind Geschichtschreiber mit wirklich moralischem Blick uͤber Vorfaͤlle und Personen . So oft man von einem Aegyptischen Todtengericht uͤber vergangene Zeiten spricht, so selten uͤbt man es aus; weil vielen Beschreibern die Biegsamkeit des Geistes, sich in vergangene Zeiten zu setzen, andern die Waage des Urtheils, der moralische Sinn fehlet. Und feh- let dieser, oder ist er schief und verdorben: so wird die Geschichte selbst verderblich. Ihr Urheber siehet mit falschem Blick, er waͤgt mit betruͤgerischen Gewichten. Beispiele davon anzufuͤhren, erlassen Sie mir: uͤber Juden, Griechen und Roͤ- mer, uͤber Christen und Barbaren, uͤber unsre und fremde Nationen sind derglei- chen in Menge vorhanden. Je taͤuschen- der geschrieben, desto verderblicher; und o wer mag den unmoralischen und un - menschlichen Stumpfsinn nennen, mit dem man Helden, Thaten, Begeben- heiten und Revolutionen unter Alten und Neuen so oft knechtisch anstaunte, Lob und Tadel wie ein gedungener Elender aus- theilte, und die unschuldig-Verfolgten zu- weilen noch im Grabe verfolget. Eine Geschichte der Meinungen , der praktischen Grundsaͤtze der Voͤlker wie sie hie und da herrschten, sich vererb- ten und im Stillen die groͤßesten Folgen erzeugten, diese Geschichte mit hellem , moralischen Sinn , in gewissenhafter Pruͤfung der Thatsachen und Zeugen geschrie- ben; waͤre eigentlich der Schluͤssel zur Tha- tengeschichte. Wegelin , ein denkender Geschichtforscher, hat diesen Gesichtspunkt oft im Blick; weil er aber zu systematisch denket, so verlieret er sich auf der unge- heuren Bahn meistens in dunkeln zu all- gemeinen Maximen Wegelin ist seitdem gestorben. Er ruhe sanft. Sein Geist hat viel gedacht, viel com- biniret. Ich wuͤnschte nicht, daß seine hin- terlassenen Schriften untergingen; jeder sei- ner Aufsaͤtze ist eine Sammlung unverarbei- teter Gedanken, die wenigstens immer eigne Gedanken veranlassen, oder verbessern und bestaͤrken. Der große Koͤnig selbst hat seine Schriften gelesen und geehrt. A. d. H. . Und doch haͤngt von diesem scharfge- haltenen Augpunkt aller Nutzen der Ge- schichte ab; die Figuren des Gemaͤldes werden untreu, verworren und dunkel, wenn man ihnen dies Licht raubet. Wie viel z. B. ist uͤber Machiavells Fuͤr - sten gesagt worden, und doch zweifle ich, ob mit ausgemachtem Resultate? indem einige dies Buch fuͤr eine Satyre, andre fuͤr ein verderbliches Lehrbuch, andre fuͤr ein wankendes, schwachkoͤpfiges Mittelding zwischen beiden halten. Und ein Schwach- kopf war wahrlich Machiavell nicht; er war ein Geschicht- und Welterfahrner, da- bei ein redlicher Mann, ein feiner Beo- bachter, und ein warmer Freund seines Vaterlandes. Daß er den Werth und die Form von mancherlei Staaten gekannt ha- be, davon zeugen seine Dekaden uͤber den Livius , und daß er kein Verraͤther der Menschheit werden wollte, beweiset jede Zeile seiner andern Schriften, so wie bis zum Alter hinan sein gefuͤhrtes Leben. Woher nun das Mißverstaͤndniß dieser Schrift eines Schriftstellers, der so be- stimmt, rein und schoͤn zu schreiben wußte? Woher, daß dies Mißverstaͤndniß sich zwei Jahrhunderte erhalten, und den feinsten Koͤpfen mitgetheilt hat, so daß ihm selbst der große Verfasser des Anti - Machia - vells nicht entkommen mochte? Und doch ging das Buch zwei und siebenzig Jahre umher, gebilligt und gelesen; niemand fand darinn Arges. Machiavell hatte es einem Fuͤrsten aus einem von ihm geliebten Hause, dem Neffen eines Papstes zugeschrie- ben, der ihn hochhielt, dem er damit ge- wiß keine Schande machen wollte. Mich duͤnkt, das ganze Mißverstaͤndniß ruͤhre da- her, daß man den Punkt nicht bemerkt, auf welchem damals das Verhaͤlt - niß der Politik und Moral stand . Beide hatten sich sichtbar und voͤllig ge- trennet. Die Zeiten Alexanders 6 und Caͤsar Borgia waren zwar voruͤber; aber auch Julius und Leo , Frank - reich und Spanien , Florenz und die kleinen Tyrannen von Italien, ja jenseit der Alpen wollte Niemand als Regent und Politiker Moralist seyn. Man lachte die Tramontaner aus, die ins Regierungs- wesen so enge Begriffe brachten: denn von Erlangung oder Erhaltung der Macht, und von den Mitteln dazu, insonderheit von Ver- schmitztheit und Klugheit sei, glaubte man, hier die Rede; nicht aber von Guͤte und Weisheit. Die Religion, von der Moral ganz abgesondert, war selbst Politik , de- ren Hauptgesetz uͤberhaupt die Staats - raison , (la ragione del stato) deren Haupt- maxime es war: Die Dinge, jedes zu sei- ner Zeit, im Punkt seiner Reife nutzen zu koͤnnen; (conocer las cosas en sa piato, en sa sazon, y saber las lograr.) Eine solche Politik brachte Karl 5 nach Deutschland; daher er auch die Reformation nie anders anzusehen vermochte; eine solche uͤbten Koͤ- nige, Fuͤrsten, Staatsminister. In allen politischen Schriften war sie anerkannt; fast jede Stadt Italiens war Jahrhunderte lang ihr Schauplatz gewesen, und war es noch. Hier schrieb Machiavell seinen Pren- cipe, ganz in den Begriffen seiner Zeit, ganz nach Vorfaͤllen, die damals jedermann in Andenken waren. Aus diesen hatte er eben seine politischen Saͤtze abgezogen; und belegte jeden derselben mit Beispielen began- gener Fehler. „Wenn dies Euer Handwerk ist, sagt er gleichsam, so lernt es recht, damit Ihr nicht so unselige Pfuscher bleibet, als ich Euch zeige, daß Ihr seyd und wa- ret. Ihr habt keinen Begrif, als von Macht und Ansehn ; wohl, so braucht wenigstens die Klugheit , die Euch zur sichern Macht, und Italien endlich einmal zur Ruhe leitet. Ich habe Euch Euer Werk nicht angewiesen; treibt Ihrs aber, so treibet es recht.“ Daß dies die Hal- tung der Gedanken in Machiavells gan- zem Buche sey, wird jeder Unpartheiische fuͤhlen. Damit wird es nun weder Satyre, noch ein moralisches Lehrbuch, noch ein Mittelding beider; es ist ein rein poli - tisches Meisterwerk fuͤr Italieni - sche Fuͤrsten damaliger Zeit , in ih - rem Geschmack , nach ihren Grund - saͤtzen , zu dem Zwecke geschrieben , den Machiavell im letzten Capitel an- giebt, Italien von den Barbaren , (gewiß auch von den ungeschickten Lehrlin- gen der Fuͤrstenkunst, den unruhigen Pla- gegeistern Italiens) zu befreien . Dies thut er ohne Liebe und Haß, ohne Anprei- sung und Tadel. Wie er die ganze Ge- schichte als eine Erzaͤhlung von Natur - begebenheiten der Menschheit an- sah: so schildert er hier auch den Fuͤrsten als ein Geschoͤpf seiner Gattung , nach den Neigungen, Trieben, und dem gesammten Habitus, der ihm beiwohnet. Nicht anders hatte er in seinen Dekaden jede andre Regierungsform beaͤuget; nicht anders hatte er seine sechs Buͤcher von der Kriegskunst , seinen goldnen Esel , den Belphagor aus der Hoͤlle, der auf Erden ein Weib nahm, seine Clitia und Mandragola geschrieben; er ließ jedes Ding in seiner Art seyn, was es war oder seyn wollte. Waͤren Sie hiemit noch nicht befriedigt, so soll meinen redlichen Staats - secretair ein Heiliger rechtfertigen, der das, was Jener mit einer feinen Reis- feder entwirft, mit einem Kirchenpinsel ausmalet. Also spricht der H. Thomas von Aquino : — Doch ich mag meinen Text mit den barbarisch-kraͤftigen Worten des Kirchenvaters nicht entweihen. Lesen Sie solche in Naudé Considerations poli- tiques sur les coups d'état, gleich im ersten Kapitel. Ich wollte, daß diese kleine Schrift des Naudé , die nach seiner Gewohnheit voll Gelehrsamkeit ist, uͤbersetzt und mit dem zu ihr gehoͤrigen historischen Commen- tar, den eine spaͤtere Ausgabe schon be- sitzt, begleitet erschiene. Ohne sarkastische Anmerkungen, mit dem ruhigen Blick, mit welchem Machiavell den Livius oder Barbeirac die Moral der Kirchen - vaͤter ansah, muͤßten auch Naudés Be - trachtungen uͤber die Staatsstrei - che beaͤugt werden. Man blickte damit in welchen dunkeln Abgrund der Zeiten! Fuͤnfte Samml. B 59. N un aͤnderten sich aber viele Dinge jen- seit und diesseit der Alpen. Die Refor- mation entstand; sie entlarvte den Unfug der kirchlichen Politik so schrecklich, daß immer auch einige, obgleich wenige Stra- len auf die Staatspolitik fallen mußten. Jesuiten entstanden, die ein feineres Ge- webe zu spinnen, und die Cabinette schlauer zu regieren wußten. Karl 5. machte in Italien Ordnung; es krystallisirten sich die kleineren Staaten, und nur den groͤße- ren, einer Katharina von Medicis , Heinrich 8., Karl 5., Philipp 2. stand es frei, in der alten großen Machia- vellischen Manier zu verfahren. Da end- lich stand ein Jesuit auf, klagte das Buch an, und es wurde verdammt, 72 Jahr nach seiner Erscheinung. Machiavells System ward verdammt, weil es von den Staaten zu grob, von den Jesuiten jetzt feiner ausgeuͤbt ward: man wollte den al- ten Meister nicht mehr anerkennen, der diese Grundsaͤtze zu klar exponirt hatte und war uͤberzeugt, der Juͤnger sei jetzt uͤber den Meister. Nicht ohne; diese Politik aber stuͤrzte sowohl den Juͤnger, als den Meister, und o waͤre sie fuͤr unser Menschengeschlecht endlich begraben! — Was ist ein Prencipe Machiavells seiner Natur und Gattung nach? Der koͤnigliche Juͤngling, der einen Anti - Machiavell schrieb, haͤtte einen Anti-Prencipe schreiben sollen, wie er ihn auch nachher, (außer vielleicht in Faͤllen der dringenden Noth oder der Convention) fuͤr B 2 Welt und Nachwelt ruͤhmlich gezeigt hat. Vivre et mourir en Roi, war sein großes Wort der Pflicht und Ehre. Zu deinem Grabe wallfahrtete ich einst, mein Anti-Machiavell, Hugo Gro - tius . Du schriebst kein Recht des Krieges und Friedens: denn du warest kein Prinz; du schriebst „ vom Rechte des Krieges und Friedens .“ Und zwar sammletest du dazu nur Collectaneen; nicht aus Ita- lien und deiner Zeit allein, sondern vorzuͤg- lich aus den guten Alten, aus den Gesetzen der Vernunft und Billigkeit, aus der Reli- gion selbst; woraus denn allmaͤlig ein Recht der Voͤlker erwuchs, wie man in den barbarischen Zeiten es nicht hatte erkennen moͤgen. Laß dich das Ungemach nicht gereuen, heilige Seele, das du deiner guten Grundsaͤtze und Bemuͤhungen wegen hier erduldetest. Religionen hast du nicht vereinigen koͤnnen, wie du es wolltest; aber Grundsaͤtze der Menschen hast du vereiniget, und auch Voͤlker werden sich einst zu ihnen verbinden. Bei Gustav Adolph fand man, als er in einem Ausritt meuchelmoͤrderisch ge- fallen war, Grotius Buch im Zelte auf seinem Tisch aufgeschlagen; die edelsten Maͤnner in Schweden, Frankreich, Holland, Deutschland liebten und ehreten ihn; die ganze Europaͤische Nachwelt ist seine Ver- buͤndete und Verbundne worden. Was seitdem uͤber Recht der Voͤlker , uͤber Natur - und Vernunftrecht geschrie- ben worden, gehet auf Grotius Bahn. Nach so ungeheuren Fortschritten der Zeit konnte man freilich auch mit Insti - tution der Prinzen nicht auf Machia - vells Wege bleiben. Er selbst waͤre bei veraͤnderten Zeitumstaͤnden nicht darauf ge- blieben; und o haͤtten wir von Machia - vell das Bild eines Fuͤrsten fuͤr unsre Tage! Außer den Jesuiten, die eine Politica de Dios noch lange trieben, standen andere Prinzenlehrer , la Motte le Vayer , Nicole , Boßuet , Fenelon auf; wie ihre Grundsaͤtze befolgt sind, zeigt die Ge- schichte. Nach den stuͤrmischen Zeiten, in denen Languet , Milton , Hobbes schrieben, gaben Algernon Sidnei , Locke , Shaftesburi , Leibnitz mildere Grundsaͤtze an, bis in unsern Tagen Rou - ßeau 's Contrat social Wirkungen erregt hat, an die sein Verfasser schwerlich dachte. Wie gern kehrt man aus dem Tumult die- ser Zeiten zu den friedlichen Geistern Gro - tius , Locke , Leibnitz zuruͤck! „Heil den Predigern der Menschen - rechte , sagt ein neuerer Lehrer des Staats- rechts; aber versaͤumen sie ja nicht, vorher Menschenpflichten zu lehren. Um jene in ihrem ganzen heiligen Umfange einzufuͤh- ren, muͤssen wir erst eine Majoritaͤt von Menschen haben, die faͤhig sind, diese in ih- rem ganzen Umfange auszuuͤben.“ — Ich lege Ihnen das kleine Buch bei Schloͤzers allgemeines Staatsrecht. Goͤt- tingen 1793. , aus dem diese Stelle genommen ist; Sie werden in ihm noch weit mehrere dieser Art finden. Sein Verfasser verspricht uns noch drei Baͤndchen dieser Art; wir wollen ihn bei sei- nem Wort halten. 60. A uch Leibnitz unter den Propheten? Beziehet sich auf das Ende des 54sten Briefes. Was es mit den gewoͤhnlichen politischen Prophezeiungen fuͤr eine Bewandschaft habe, wußte der scharfsinnige Mann besser als jemand. „Auf Ausrechnungen fuͤr die Zu- kunft, sagt er in einem Briefe Felleri Otium Hannov. p. 108. , gebe ich nichts. Jene Prophezeiungen, die man in alten Buͤchern gefunden haben will, sind von denen geschrieben, die die alten Kriege zwischen Frankreich und England im Sinne hatten; die Erfahrung aber lehrt, daß alle, die sich an so Etwas gewagt ha- ben, getaͤuscht wurden. Zuweilen koͤnnen dergleichen Prophezeiungen nuͤtzlich seyn, dem Poͤbel, wie man es nennt, durch einen frommen Betrug, Muth zu machen; bei Verstaͤndigen aber haben sie so wenigen Werth, daß sie vielmehr dem Ansehen und dem guten Ruf des Propheten Nachtheil bringen, indem sie keinen gruͤndlichen Be- weis zulassen, ohne welchen doch ein red- licher Mann, der seine Pflicht verstehet, nicht so leicht etwas behauptet. Gewisser moͤchte ich, faͤhrt er fort, das voraussagen, daß, wenn in Deutschland die Dinge nicht besser gemacht werden, * * einen laͤngern Widerstand leisten werde, als wir uns einbil- den. Wir Deutschen brauchen unsre Kraͤfte nicht gnug. — — Statt also uns mit schmeichelnden Prophezeiungen einzuschlaͤ- fern, ist guter Rath noͤthig, daß wir unsre Nerven anspannen, und mit Beiseitsetzung jeder Privatbehaglichkeit fuͤrs gemeine Beste sorgen.“ An andern Orten indeß spricht er von den Voraussagungen kluger Maͤnner an- ders. „In meiner Jugend, sagt er Epist. Leibnit. edit. Korthold. P. 1. p. 366. Feller. ot. Hannov. p. 217. , wollte ich eine Abhandlung davon schreiben,“ wobei er Seneka , Tacitus , Machia - vell , Conring , Lotichius , Dach , zum Beispiel anfuͤhret. Wir thun ihm also nicht Unrecht, wenn wir noch einige Blicke sei- ner Uebersicht uͤber die Dinge um ihn aus- zeichnen. Er blickte weithin, er sahe scharf und ohne Galle: er war frohmuͤthig und redlich. „So oft ich, sagt er Feller . Ot. Hannov. p. 121. zu seinem Freunde Ludolf , den gefaͤhrlichen Zustand der Dinge um uns her, und dabei unsre Traͤg- heit, unsre verkehrten Rathschlaͤge betrachte, so oft schaͤme ich mich unser vor den Augen der Nachwelt. Offenbar geht es dahin aus, daß in Europa sich alles druͤber und drunter kehre, und doch betraͤgt man sich: als ob alles in hoͤchster Sicherheit sei, und als ob wir Gott selbst zum Gewaͤhrsmann unsrer Ruhe haͤtten. Ueber Kleinigkeiten streitet man; ums Große bekuͤmmert sich niemand, so daß es Eckel und Ueberdruß macht, an die Geschichte der gegenwaͤrtigen Zeit nur zu denken. So gar sehr bestaͤtigen wir Deut- schen die unguͤnstigen Urtheile der Auslaͤnder von uns durch unser Betragen.“ — — „Im Felde der Wissenschaften stecken wir noch in den ersten Wegen. Ein Schick- sal verhindert uns, daß wir die Schaͤtze der Natur nicht sorgfaͤltiger aufspaͤhen und groͤßern Nutzen daraus ziehen. Ich bin der Meinung, daß die Menschen fast unglaubliche Dinge zu Stande bringen koͤnnten, wenn sie mehreren Fleiß anwende- ten. Um ihre Augen aber ist eine Binde ge- zogen, und man muß die Zeit erwarten, da alles reif sei.“ Feller . p. 412. „Wie die Englische Societaͤt Natur - versuche zusammentraͤgt: so sollte eine andre seyn, die Regeln des Lebens , nuͤtzliche Bemerkungen und ver - steckte Vorschlaͤge , wie der Zustand der Menschen zu verbessern sei , zusammentruͤge. Feller . 147. „Aus den Schriftstellern sollte man aus- ziehen, nicht nur was irgend nur Einmal , sondern von wem es zuerst gesagt sei. Hier muß man von den aͤltesten Zeiten anfangen, doch aber nicht Alles erzaͤhlen, sondern was zum Unterricht des menschlichen Ge - schlechts dienet , auswaͤhlen. Wenn die Welt noch tausend Jahre steht, und so viel Buͤcher wie heut zu Tage fortgeschrie- ben werden; so fuͤrchte ich, aus Bibliothe- ken werden ganze Staͤdte werden, deren viele dann durch mancherlei Zufaͤlle und schwere Zeitumstaͤnde ihr Ende finden wer- den. Daher waͤre es noͤthig, aus einzelnen und zwar den Original-Schriftstellern, die andre nicht ausschrieben, Eklogen wie Photius zu machen, und ihr Merkwuͤrdi- ges mit den Worten des Schriftstellers selbst zu sammeln. Was aber merkwuͤrdig sei, kann, bei der großen Verschiedenheit der Koͤpfe und der Wissenschaften freilich nicht Jeder beurtheilen.“ „Ich glaube, daß es bei euch viele ge- schickte Maͤnner giebt. Feller. p. 27. an einen Englaͤnder. Indessen mache ich einen großen Unterschied zwischen gruͤnd- lichen Kaͤnntnissen, die den Schatz des menschlichen Geschlechts vermeh - ren , und zwischen der Notiz von Thatsa- chen, die man gemeiniglich Gelehrsamkeit nennet. Ich verachte diese Gelehrsamkeit nicht, deren Werth und Nutzen ich einsehe; dennoch aber wuͤnschte ich, daß man sich mehr an das Gruͤndliche hielte: denn es giebt allenthalben zu wenig Personen, die sich mit dem Wichtigsten beschaͤftigen. Nichts ist so schoͤn und so befriedigend, als eine wahre Kaͤnntniß vom System der Natur zu haben. Wuͤrden viele dies Studium liebgewinnen, so wuͤrde man weit gelangen, nicht nur in Ruͤcksicht auf Be- quemlichkeit des Lebens und der Gesund- heit, sondern in Ruͤcksicht auf Weisheit, Tugend und Gluͤck; statt dessen, daß man sich jetzt mit Kleinigkeiten abgiebt, die uns ergoͤtzen, nicht aber vervollkommnen und veredeln. Unter Vollkommenheiten rechne ich nichts, als was uns auch nach diesem Leben bleiben kann; die Kaͤnntniß von factis ist wie die Kaͤnntniß der Straßen in London. Sie ist gut, so lange man dort ist.“ „Das goͤttliche Naturlicht in uns zu vermehren , hat man dreierlei zu thun noͤthig. Feller. p. 19. Zuerst sammle man eine Kaͤnntniß der vortreflichen Erfindungen, die schon gemacht sind; sodann erforsche man, was noch zu entdecken ist; endlich bringe man Beides, das Erfundne und noch zu Er- findende in Lobgesaͤnge an den Urheber der Natur, zu Erweckung der Liebe zu ihm und zu den Menschen. Waͤren die Sterblichen so gluͤcklich, daß ein großer Monarch diese drei Dinge einmal fuͤr sein Werk ansaͤhe; in zehn Jahren wuͤrde zur Ehre Gottes und zum Wohl des Menschengeschlechts mehr bewirkt werden, als wir sonst in vielen Jahrhunderten ausrichten moͤchten.“ „Ich hatte im Sinn, mancherlei Ge- danken, die das Wohl des Kaisers und des Reichs betreffen, unter dem Namen: „ Deutsche Rathschlaͤge “ ans Licht zu stellen; es ist aber verdrießlich, Worte in den Wind zu verhauchen, und nach Art der Declamatoren, die in Schulen uͤber die beste Form der Republik zu Athen oder Karthago reden, Dinge vorzutragen, die niemand anwendet. Die besten Gedanken werden werden veraͤchtlich, wenn man sie oͤffentlich hinstellt; unsre Feinde werden dadurch mehr gewarnt, als gebaͤndigt. Indessen besitze ich manches Ueberdachte, das auch großen Maͤnnern wichtig geschienen hat, und in unsern Zeiten dem Ganzen sehr nuͤtzlich seyn koͤnnte. Vor allem bin ich mir der Treue bewußt und der Liebe zum allgemei- nen Besten.“ Feller. p. 4. 5. Gewiß verzeihen Sie mir, daß ich von Leibnitz Weißagungen sobald auf seine Vorschlaͤge uͤbergegangen bin; eines klu- gen Mannes Weißagungen sind Vorschlaͤ - ge des Bessern . Nicht auf Visionen, sondern auf Erfahrungen und auf jene dauerhafte Vernunftprinzipien sind sie ge- bauet, die auch in die fernste Zukunft rei- chen. Da gluͤcklicher Weise die Akademie Fuͤnfte Samml. C der Wissenschaften, deren Ruhmwuͤrdiger Stifter Leibnitz war, in Manchem schon zum ersten Plan desselben zuruͤckgekehrt ist: so waͤre es vielleicht gut, daß sie in Allem dahin zuruͤckkehrte, und aus Leibnitz Schriften und Briefen saͤmmtliche Vor - schlaͤge sammlen ließe, die er zur Erwei- terung der Wissenschaften und zum Wohl des menschlichen Geschlechts seinen Freun- den oder der Welt offenbahrte. Ungeheuer Vieles ist seitdem noch nicht geschehen, was er zu thun sich vornahm oder von außen ausgefuͤhrt wuͤnschte; er ist uns in diesem Allen der naͤhere Baco , der mit genauerer Kaͤnntniß der Sache, als der Englaͤnder besaß, die Luͤcken der Wissen- schaften, die Maͤngel unsrer Erkenntnisse und Bemuͤhungen ansah und seine Ent- wuͤrfe, mit Gruͤnden unterstuͤtzt, zuweilen sehr vollstaͤndig detaillirt hat. Jungen Maͤnnern wuͤrde ich daher seine Briefe und Schriften nicht nur als eine reiche Fund- grube von Gedanken, sondern auch als ein Directorium ihrer Bemuͤhungen an- preisen: wohin sie streben sollen, was al- lenthalben fuͤr die Menschheit noch zu thun sei. Gluͤcklich ist, wer einen solchen Weg- weiser fruͤhe gebrauchet. C 2 61. O ft habe ich zu unsern Zeiten gedacht: „wenn Leibnitz lebte!“ Er lebt indessen in seinen Schriften, und wir koͤnnen aus seinen muntern Urtheilen, die sich auf alles Merkwuͤrdige seiner Zeit erstreckten, auch fuͤr jetzt viel Nutzen ziehen. Sie wissen, mit welchem Eifer Leib - nitz sich um die Vereinigung der Religion bewarb und verwandte. Fuͤr die damalige Zeit blieb seine Muͤhe fruchtlos; indessen selbst das Fruchtlose seiner Vorschlaͤge, die allenthalben voll Verstandes waren, ist fuͤr uns lehrreich. Ein damaliger Regent wollte die Sache kuͤrzer angreifen, und eine Vereinigung der Secten, nicht in Lehren, sondern in Gebraͤuchen, nicht mit gutem Willen beider Theile, sondern durch Be- fehle, durch Zwang bewirken. Ein untuͤch- tiger Rathgeber schrieb zu Beschoͤnigung dieser Mittel ein Arcanum Regium in pietistischer Form. Lesen Sie, wie sich die großen Friedensbefoͤrderer Leibnitz und Molanus daruͤber erklaͤren; Korthold. epist. Leibnit. T. i. p. 88. das Gut- achten endigt also: „Der neuen Regel, daß ein Evangelischer Fuͤrst Papst in seinem Gebiet sei, muß man nicht mißbrauchen. Bei den verstaͤndigen Katholischen selbst ist ein allgemeines Concilium der Kirche, wo nicht uͤber, doch nicht unter dem Papste.“ Hoͤren Sie, was Leibnitz von Spie- len urtheilt: „Ich wuͤnschte, daß Jemand alle Arten von Spiel mathematisch behan- delte und sowohl die Gruͤnde ihrer Regeln und Gesetze, als ihre vornehmsten Kunst- stuͤcke angaͤbe. Unsaͤglich viel zur Erfin- dungskunst Brauchbares liegt in den Spie- len. Und dieses daher, weil die Menschen im Scherz sinnreicher als im Ernst zu seyn pflegen: denn uͤberhaupt geht uns besser von der Hand, was wir mit Lust verrichten. Feller. Ot. Hannov. p. 165. „Es koͤnnte ein Spiel ausgedacht wer- den, das man das Spiel der Vorsorge oder der Zufaͤlle nennen koͤnnte: wenn Das geschiehet , was koͤnnte sich zu - tragen ? Weil diese Zufaͤlle zum Theil allgemein und auf vieles anzuwenden sind, muͤßte ein Gesetz seyn, solche bei einer neuen Frage nicht wieder zu gebrauchen, oder man koͤnnte die allgemeinen Zufaͤlle gar ausschließen — und das Gesetz machen, daß man nur Zufaͤlle anfuͤhre, die vermie- den werden koͤnnen, ohne daß die Hand- lung selbst unterbleibe. Den moͤglichen Zu- fall koͤnnte der Eine, das Mittel dagegen sein Nachbar sagen u. f.“ „Man hatte vormals ein Fragspiel:“ wozu ist das Stroh gut ? man koͤnnte es das Spiel der Effecte , oder cui bono? nennen. So koͤnnte ein Spiel der Ursa - chen oder Mittel eingefuͤhrt werden, z. B. womit kann dies oder das ge - than werden ? Solche Spiele schaͤrfen den Verstand und fuͤhren zu ernsthaft- Gutem, da andre Possen nur zu ernsthaft- Boͤsem fuͤhren. „Man hat ein Gedaͤchtnißspiel , da man sich uͤbt, etwas Auswendiggelerntes schwer-Auszusprechendes mit wachsender Rede herzusagen; dergleichen Spiele koͤnn- ten noch mehr erfunden werden, nicht zu Vermehrung der Seelenkraͤfte allein, son- dern auch zu Uebung der Tugenden. In manchen Spielen ist Bescheidenheit, Maͤßi- gung noͤthig, wie im Koͤnigsspiel u. f. Ich wollte, daß Commenius daran ge- dacht haͤtte, da er sein Buch: die Schule ein Spiel herausgab.“ Korthold. epist. Leibn. Vol. III. p. 278. Bei unsern fuͤrchterlich-großen Zeit- und Menschenspielen sind Ihnen diese Leib- nitzische Gedanken nicht bisweilen eingefal- len? Wenn Das geschieht , was koͤnn - te sich zutragen ? Wie kann es ver - mieden werden ? und wenn es sich zutraͤgt , was hilft dagegen ? Ferner: wozu ist das Stroh gut ? cui bono Dies oder Jenes ? Das ganze Leben der Menschen ist ein Spiel; wohl dem, der es froh und mit Verstande spielet. Von Spielen zur Philosophie . Die Urtheile, die Leibnitz nicht nur uͤber die Alten, sondern auch uͤber die Scholasti - ker und die Reformatoren der Phi - losophie , uͤber Jordanus Brunus , Campanella , Baco , Hobbes , uͤber Grotius , Locke , Cartes , Puffen - dorf , Shaftesburi u. f. faͤllet, sind, obwohl immer in seinem eignen Gesichts- kreise, mit einer Unpartheilichkeit, einer Milde und so allgemeinen Theilnehmung entworfen, daß ich dieses großen Gemuͤths wegen Leibnitz gern zum Schutzgeist der gesammten Philosophie wuͤnschte. Von hun- dert merkwuͤrdigen Aeußerungen hieruͤber hoͤren Sie Eine uͤber Cartes : Korthold. epist. Leibn. Vol. III. p. 392. „Ich wuͤnschte, daß trefliche Maͤnner die leere Hoffnung, Oberherren im Reich der Philosophie seyn zu koͤnnen, (arripien- dae tyrannidis in imperio philosophico) aufgaͤben und den Ehrgeiz, eine Secte stif- ten zu wollen, fahren ließen: denn eben hieraus entspringen jene ungeschickte Par- theilichkeiten, jene leere und eitle Buͤcher- kriege, die der Wissenschaft und dem Ge- brauch der kostbaren Zeit so sehr schaden. In der Geometrie kennt man keine Eukli- dianer, Archimedianer, Apollinianer; alle sind von Einer Sekte, der Wahrheit zu folgen, woher sie sich anbieten moͤge. Auch wird niemand gebohren werden, der sich das ganze Patrimonium der Gelehr - samkeit zueigne, der das ganze Menschen- geschlecht an Geist uͤbertreffe und alle Sterne um sich her ausloͤsche wie die aͤtherische Sonne. Wir wollen den Des - Cartes loben, ja gar bewundern; deßhalb aber wollen wir Andre nicht vernachlaͤßigen, bei denen sich viele und große Dinge finden, die Jener nicht bemerkt hat. — „Nichts stehet dem Fortkommen der Wissenschaft so sehr entgegen, als jener Knechtsdienst, in der Philosophie eines An- dern Gedanken zu paraphrasiren; und eben diese Paraphrasir-Kunst halte ich fuͤr die Ursache, warum von den blos-Cartesianern eben so wenig Neues und Ausnehmendes geleistet werde, als von den Aristotelikern geleistet worden, nicht aus Mangel des Genies, sondern des Sektengeists, der Par- theisucht halben. Wie naͤmlich unsre Ein- bildungskraft, wenn ihr Eine Melodie al- lein vorschwebt, schwerlich und mit Muͤhe zu einer andern uͤbergeht, wie Der, der unablaͤßig einer geschlagenen Straße folgt, keine neuen Wege entdecken wird: so sind auch die, die Einem Autor sich einverleiben, leibhafte Knechte dieses Autors, die er durch Gewohnheit in Dienst und Besitz hat; zu etwas Neuem und Verschiednem koͤnnen sie ihr Gemuͤth nicht erheben. Und doch ist bekannt, daß den Wissenschaften nichts so sehr fortgeholfen hat, als die Verschie- denheit der Wege, auf denen man die Wahrheit gesucht hat.“ Nichts verehre ich an Leibnitz mehr, als diese große, unpartheiische Jugend - seele , die bis ans Ende seiner Tage alles mit Freuden aufnahm, was irgend der Wissenschaft diente. Keine Form wies er veraͤchtlich ab; in Allem suchte er das Beste. Von ausschließenden Leibnitzianern hatte er so wenig Begriff, daß vielmehr seine Schriften und Briefe darauf arbeiten, in Zukunft alle Secten zu vernichten, aus Alten und Neuen die Wahrheit zu lernen, und auch einer sonst schlechten Schrift den Beitrag nicht abzulaͤugnen, den sie dem Gemeingute der Menschheit liefert. Ich wuͤnschte, daß seine Gedanken, seine Urtheile uͤber die verschiedensten Schriftsteller, in ihrer ganzen großen Unpartheilichkeit fuͤr Juͤnglinge ausgehoben, und als Leibnitz Geist , als die einzige, immer frische und neustroͤmende Quelle der Wissenschaft dar- gestellt wuͤrde. Vor einigen Jahren er- schien, wie mich duͤnkt, eine Schrift, die der Geist des Herrn von Leibnitz hieß; wahrscheinlich aber ists nicht der rechte Geist gewesen, denn er ist ohne Wirkung bald verschwunden. Doch was sage ich Wirkung ? Hat Leibnitz auf die Deutsche Nation gewirkt? Sogar seine Schriften sind von uns noch nicht gesammlet; und nachdem ein Auslaͤnder sie fuͤr uns zu samm- len die Muͤhe nahm, haben wir sie noch nicht einmal ergaͤnzet. 62. W ollen Sie sich uͤberzeugen, daß Leib - nitz auch bei seinen Lebenszeiten in Deutsch- land eine ziemlich fremde Pflanze gewesen, so lesen Sie das Leben , das sein naͤchster Bekannter, Eckardt , von ihm geschrieben; seine Bekanntmachung haben wir dem ge- lehrten Murr zu danken. Murrs Journal zur Kunstgeschichte, Th. 7. S. 123. Die bluͤ- hende Aloe sandte reiche Geruͤche um sich her; allenthalben wollte sie Wurzeln schla- gen, und neue Absenker pflanzen. Es ge- lang ihr hie und da, ohngeachtet des straͤu- bigen Erdbodens: und waͤre Leibnitz die Stiftung einer Akademie der Wissenschaf- ten zu Wien und Dresden so gegluͤckt, wie ihm die Akademie zu Berlin gluͤckte, welche unnennbar gute Folgen haͤtten sich seitdem verbreitet! Sein Geist lebte in ei- ner idealischen Welt, im Reich aller den- kenden, fuͤrs Wohl der Menschheit wirken- den Geister. Fuͤr diesen großen Staat schrieb er seine Aufsaͤtze, meistens auf Ver- anlassung fremder Aeußerungen und unter- hielt einen so ungeheuren Briefwechsel, daß man ihn einen Mitarbeiter und Praͤsi- denten der Gesammt-Akademie aller Euro- paͤischer Wissenschaften nennen koͤnnte. In seinen naͤheren Verhaͤltnissen aber war er hier Canzlei-Revisions-Rath, dort Ge- schichtschreiber des Fuͤrstlichen Hauses; hier schrieb er fuͤr einen Pfalzgrafen, der Koͤnig von Pohlen werden, dort fuͤr Deutsche Fuͤrsten, die Gesandte beim Friedensschluß haben wollten, u. f. Er unterhielt die Fuͤr- sten mit Curiosis, (wenn es auch nur ein wunderbargestalteter Rehbock seyn sollte,) Fuͤrstinnen mit sinnreichen philosophischen Gedanken, Neugierige, mit dem was sich in andern Laͤndern zutrug; erfand fuͤr den Bergbau Werkzeuge, Maschinen, Wind- muͤhlen, und — that doch nicht zur Gnuͤge. Zwei Jahre vor seinem Tode ward dem alten Mann nachdruͤcklich befohlen, die Hi- storie des Hauses vor allen Dingen fertig zu machen“ und als er begraben ward, „war das Einzige zu verwundern, (sagt sein getreuer Amanuensis und College, Eckard) daß da der ganze Hof ihm zu Grabe zu folgen invitirt war, außer Mir kein Mensch erschienen, so daß ich dem großen Mann die letzte Ehre einzig und allein allein erwiesen. Zur Erlaͤuterung dieses Umstandes wird in den schaͤtzbaren Zusaͤtzen zu Eckardts Lebens- beschreibung folgendes angegeben: „Der Koͤnig war damals nicht mehr in Hannover. Der Monarch stand eben nicht allzuwohl mit dem Wiener Hofe und es mißfiel ihm, daß Leib - nitz 1713 ohne Erlaubniß nach Wien gegan- gen, und uͤber anderthalb Jahre außen blieb, auch die Reichshofraths-Stelle angenommen hatte. Se. Majestaͤt sagten daher einstmals, da ein Huͤndchen, welches verlohren gegangen, zu Hannover ausgetrommelt wurde, halb im Scherz, halb im Ernst: Ich muß wohl mei - nen Leibnitz auch austrommeln las - sen , um zu erfahren, wo er jetzt stecken mag.“ — Eine merkwuͤrdige Erlaͤuterung. Im Jahr 1695 schrieb er an Burnet : „Unbequem ist mirs, daß ich nicht in einer Stadt wie Paris oder London lebe, wo viele gelehrte Maͤnner sind, deren Huͤlfe man sich bedienen, von denen man lernen kann: denn viele Dinge Fuͤnfte Samml. D sind von der Art, daß Ein Mensch allein sie nie zu Stande bringen mag. Hier findet man kaum jemand, mit dem zu sprechen ist, oder vielmehr, es ist hier zu Lande nicht hofmaͤnnisch, sich von gelehr- ten Dingen zu unterhalten. „Noch das Jahr vor seinem Tode hatte er sich vor- genommen, nach Paris zu reisen und da sein Leben zu beschliessen.„ „Weil er nicht zum Abendmal ging, sagt Eckardt , schalten die Prediger oft oͤffentlich auf ihn; er blieb aber bei seiner Weise. Gott weiß, was er vor Motiven dazu gehabt, die gemeinen Leute hiessen ihn daher insgemein auf Platdeutsch Loͤ - venix , welches qui ne croit rien heißet.“ Aus seinen Schriften und Bemuͤhungen fuͤr die Vereinigung der Kirchen kennen wir seine reinen und aufgeklaͤrten Reli- gions-Grundsaͤtze gnugsam; gewiß kann man ihm nicht den Vorwurf machen, daß er zu wenig geglaubt habe. „Kurz vor seinem letzten Augenblick wollte er noch etwas aufschreiben. Als ihm Papier, Tinte und Feder gereicht wurden, fing er an zu schreiben, das er aber nicht mehr lesen konnte, als er es bei dem Licht durchsehen wollte. Er zer- riß das Papier, warf es weg und legte sich zu Bette. Er versuchte nochmals zu schreiben, verhuͤllte sich die Augen in seine Schlafmuͤtze, legte sich auf die Seite und entschlief sanft, nachdem er sein Ruhm- volles Alter auf 70 Jahre, 4 Monathe und 24 Tage gebracht hatte.„ Lesen Sie Eckardts Lebensbeschreibung; das barba- rus hic ego sum, wird Ihnen manche Seite ins Ohr fluͤstern. Fontenelle sagt in seiner Lobschrift gar artig: aus vielen Herkules habe das D 2 Alterthum nur Einen Herkules gemacht; Er sehe keinen andern Rath, als den Ei- nen Leibnitz in viele Gelehrte zu decompo- niren: denn sonst wuͤrde bei dem bestaͤn- digen Uebergange von Schriften des ver- schiedensten Inhalts, alle zu Einer und derselben Zeit geschrieben, diese unaufhoͤr- liche Mischung von Gegenstaͤnden, die in Leibnitz Kopf seine Ideen nicht verwirrte, eine Verwirrung und ein embarras in sein Eloge bringen.„ Und doch wuͤnschte ich fast, daß Leibnitzens Vaterland diesen em- barras, diese passages brusques et fre- quens d'un sujet a un autre tout oppo- sé, qui ne l'embarrassoient point, in Leib- nitzens Arbeiten nicht gebracht haͤtte; um den Einen Herkules in mehrere Herkules zu decomponiren. Wie anders konnte Newton in England seine Werke vol- lenden! Sie wissen, daß Leibnitzens Verlassen- schaft in der Landesherrlichen Bibliothek zu Hannover aufbewahrt wird, und es ist zu erwarten, daß die Regierung, die fuͤr alle und allerlei Wissenschaften mehr als irgend eine andre in Deutschland thut und gethan hat, einem dazu tuͤchtigen Manne, unter gegebner buͤrgerlichen Treue, die Bekanntmachung des Inhalts derselben auftrage. Der Einzige Band, den Ra - spe mit Kaͤstners Vorrede von daher ans Licht stellte, ist vielleicht mehr werth, als Leibnitzens Theodicee selbst; und wer unternaͤhme es, fuͤr den kleinsten Zettel Leibnitzens in Ansehung der Idee verant- wortlich zu werden, die er darauf nur hinwarf? Dankbar erkenne ich jede Blume, die eine wuͤrdige Hand nicht auf Leibnitz ver- scharrte Asche, sondern dem ewigen Eh- renmahl streuet, das er sich selbst errichtet hat. Die Wolfische Schule, so ungleich sie seiner Denkart war, hat ihm gleichsam ein Kenotaphium gebauet; durch sie ist eine Klarheit der Begriffe und eine Praͤcision des Ausdrucks in unsre Sprache gebracht worden, die ihr vorher unbekannt waren. Sollte, da ihre Periode voruͤber ist, Jemand noch jetzt Bedenken tragen, Leibnitzens Briefwechsel mit Wolf herauszugeben, der, was er auch enthielte, dem Letztern nicht anders als zur Ehre gereichen koͤnnte? Auch ausser dieser Schule, wie jugend- lich-lieb ist mir Alles, was Leibnitz eh- ret und in sein Licht stellt! Jede Zeile, die Kaͤstner , in mancherlei Art und Form, zur Ehre und zum Verstaͤndniß seines Landsmannes schrieb; von Cochius jede kleine Abhandlung in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, (waͤren doch von ihm noch ungedruckte Abhandlungen vor- handen!) sind mir schoͤne Reste von Phi - losophen der alten Zeit . Hoͤren Sie was Leibnitz von seinem Censorgeist saget: „Niemand hat weniger Censorgeist, als ich habe. Sonderbar ists; aber mir gefaͤllt das Meiste, was ich lese. Da ich naͤmlich weiß, wie verschieden die Sachen genommen werden, so faͤllt mir waͤh- rend dem Lesen meistens bei, womit man den Schriftsteller vertheidigen oder entschuldi- gen koͤnnte. Sehr selten ists, daß mir im Lesen etwas ganz misfaͤllt, obgleich frei- lich dem Einen Dies, dem Andern Das mehr gefallen moͤchte. — Ich bin einmal so gebauet, daß ich allenthalben am lieb- sten aufsuche und bemerke, was Lobens- werth ist, nicht was Tadel verdienet.„ Koͤnnte der Geist der Philanthropie selbst billiger und milder denken? Und doch, warum erfuhren eben die friedliebenden, die billigsten Gemuͤther, Erasmus , Grotius , Comenius , Leibnitz so manchen uͤbeln Dank ihrer Zeitgenossen? Die Ursache ist leicht zu fin- den: weil sie Partheilos und jene mit Vor- urtheilen befangene streitende Partheien waren. Diesen gaben Unwissenheit, Ei- gennutz, blindes Herkommen, gekraͤnkter Stolz und zehn andre Furien das Streit- gewehr oder den Dolch der Verlaͤumdung in die Haͤnde; jene kaͤmpften friedlich hin- ter dem Schilde der Wahrheit und Guͤte. Der goldene Schild der Wahrheit und Guͤte bleibt; ihre Streiter koͤnnen persoͤn- lich fallen, aber ihr Sieg ist wachsend und unsterblich.