Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt . Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt. Herausgegeben von J. G. Herder . Vierte Sammlung. Riga, 1794. bei Johann Friedrich Hartknoch . 40. N eulich lernt' ich in der Gesellschaft un- srer Unsichtbar - sichtbaren Daß dieses keine Schwedenborgsche Geisterversammlung oder eine andre geheime Gesellschaft sei, ist aus dem letzten Briefe des zweiten Theils dieser Sammlung klar. Die Sichtbar unsichtbaren , und Unsicht - bar - sichtbaren sind nichts mehr und min- der als gedruckte Schriften . A. d. H. einen besondern Mann kennen, der sich Realis de Vienna nannte. Er nahm es als Deut- scher mit allen Auslaͤndern um den Preis der Wissenschaften, und des Verstandes auf A 3 und tadelte mehrere Schriftsteller Deutsch- lands, daß sie die Ehre ihres Vaterlandes zu sehr verkannt, Fremde zu sehr gelobt, ihnen nachgeahmt, geschmeichelt haben — — Doch Sie sollen seine Behauptungen selbst hoͤren: „Deutschlands Vorzug bestehet in diesen vier Stuͤcken, daß es nach der langen Nacht der dicken Unwissenheit die ersten, die meisten, die hoͤchsten Erfinder gehabt, und in 900 Jahren mehr Verstand erwie- sen, als die uͤbrigen 4 Meistervoͤlker zusam- men in 4000 Jahren. Man kann mit Wahrheit sagen, Gott habe die Welt durch zwei Voͤlker klug machen wollen, vor Christi Geburt durch die Griechen, nach Christo durch die Deutschen. Die Griechische Weisheit kann man das alte Vernunft- testament, die Deutsche das neue nen- nen.“ „Durch zwei Stuͤcke wird vornaͤmlich ein Volk herrlich, durch Ehrliebe und Verstand zusammen ; Tapferkeit und alles andre, was dazu hilft, muß durch jene zwei eingerichtet werden; aus ihnen kommt Reichthum und Macht, aus allen mit einander endlich Ruhm, den alle Welt sucht. Die Deutschen sind aus Mangel der Großmuͤthigkeit und Landesliebe, die uͤbrigen Europaͤer, (außer den beruͤhmten fuͤnf Hauptvoͤlkern,) aus Mangel der Er- finder und großen Weltweisen zuruͤckge- blieben. „Verachtung kommt aus Feigheit, Nie- dertracht oder Dummheit; jede allein kann arm, ohnmaͤchtig und verachtet machen. Verstand aber allein, oder Großmuͤthigkeit allein machen nicht beruͤhmt; sie muͤssen zusammen seyn.“ A 4 „Aus Wahn von der auslaͤndischen Klugheit fließt die Deutsche Niedertraͤchtig- keit; oder ist sie schon in uns, so wird sie graͤulich vermehrt und verhaͤrtet. Hierauf folgt die unsinnige Aefferei; hieraus die Verstandes-Verfinsterung, Jugend- und Zeitverlust, die Schwindelreisen, die Geld- verschleuderung und Deutsche Armuth, frem- der Nationen Reichthum, ihre Macht, Stolz, Trotz, ihre Verlaͤumdungen und der Deutschen Verachtung, das Maͤhrchen von der Deutschen Dummheit, unsre Bettelei, daß wir der Auslaͤnder Lohnsoldaten hei- ßen, stetiges Kriegen und Blutvergießen, da wir auf unsre eigne Unkosten gepeitschet werden, Verlust so vieler Laͤnder und Staͤdte, Verlust der Deutschen Vertraulich- keit, Aufrichtigkeit, Gluͤckseligkeit, mit Ver- tauschung der hochgeachteten fremden Sit- ten, Luͤderlichkeit und Blindheit. Alles dies haͤngt an einander am Maͤhrchen von der auslaͤndischen Klugheit und Deutschen Einfalt.“ „Dies Maͤhrchen scheuet man sich ins Licht zu setzen wegen der angeerbten skla- vischen Niedertracht, wegen Mangel der Wahrheitliebe, Seltenheit des gesunden Ur- theils, endlich aus Mangel der Geschicht- kenntniß. Man begnuͤgt sich mit Wider- sprechen, Wehklagen, Seufzen und Bet- teln: „die Auslaͤnder moͤchten uns doch mit in ihre Gesellschaft nehmen, wir ge- hoͤrten auch unter die fuͤnf klugen Jung- fern, u. f.“ Dies beweiset man, statt Erfin- der anzufuͤhren, mit Schulmeistern, Pfar- rern, Sprachkuͤnstlern und geduldig schwiz- zendem Volk, welche Fleiß fuͤr Verstand halten; mit Stopplern und Ausziehern, woraus eben die Auslaͤnder unsre Dumm- heit beweisen wollen. Wir haben nicht A 5 einmal das Herz unsre Erfindungen wider die Auslaͤnder zu vertheidigen; sobald sich derselben eine einer zuschreibt, so ists da- mit aus, sie ist verlohren.“ „Was geht mich ein hochbegabt Volk oder der tugendhafteste Mensch der Welt an, wenn er mich schaͤndet? Ich habe die Briefe von seiner Tugend, wenn er mich verlaͤumdet. Tugend muß man zwar auch am Feinde loben, wo es der Wahrheit Ehre fodert; sonst aber muß man von sei- nes Feindes Tugend stillschweigen, sonder- lich wo sein Lob uns Schaden bringt. Doch wird ein Tugendhafter hochbegabte Leute nimmer schimpfen.“ „Bescheidenheit wird nur gegen ehrliche Leute erfordert; Irrende muß man unter- richten, nicht schimpfen mit harten Wor- ten; Bosheit aber muß mit Beschaͤmung gestraft werden, Unterricht hat da keine Statt. Will man vorsetzliche Bosheit ehr- erbietig unterrichten, den Wolf bitten, die Schaafe nicht zu fressen, so wird Bosheit durch die Ehre gestaͤrkt, und andre zu glei- cher Bosheit gereizt; bonis nocet, malis qui parcit. Wie unzeitige Barmherzigkeit der aͤrgste Grimm ist: so stiftet unzeitige Ehrerbietung weit mehr Ungluͤck als unnoͤthiger, allzu- großer Zorn. Der Paͤbstler moͤrderischer Eifer hat mit Geißeln, Martern, Brennen die Welt nicht so verderbt, als die heim- liche Herrschsucht der bescheidnen Hoͤflichen, der heiligen Heuchler tuͤckische oder dumme Sanftmuth. Wie die abgedroschne Predigt von der Freiheit eine Eitelkeit ist: so ists mit dem Senf der Bescheidenheit ein herber Betrug, daran ein Aufrichtiger sich nicht kehret. Den Betruͤger einen Betruͤger zu nennen, gehoͤrt nicht nur zur Aufrichtigkeit, sondern auch mit zur Frei- heit; es ist eine nothwendige Sache.“ „Unsre Ehrenretter, wenn sie am eifrig- sten sind, werfen den Franzosen die laͤcher- lichsten Kindereien vor, die gar nichts be- deuten. Also, wenn sie ihnen heftig wehe thun, und sie mit Vorhaltung grober Feh- ler recht demuͤthigen wollen, so zaͤhlen sie her, wie hie und da ein Franzos Witten - berg , Altorf , Rostock nicht gekannt und diese Staͤdte fuͤr Personen gehalten. Nun ist zwar der Fehler grob genug; im- mittelst weil solche Unwissenheit aus Stolz und Verachtung unser herruͤhrt, warum wollen wir damit ihre Dummheit bewei- sen? Ihre Sachen wieder verachten, nicht bewundern, anbeten, geschweige fuͤr Millio- nen kaufen, ihnen Urtheil- und Sinnigkeit- fehler, Erfindungsmangel und Dieberei vor- halten, war die rechte Rache; diese kann demuͤthigen. Wie werden wir sie damit demuͤthigen, woraus sie Ehre suchen, naͤm- lich aus Verachtung der Deutschen Sachen, woran wir selbst Schuld sind, weil wir unsre Sachen selbst verachten.“ „Die Auslaͤnder halten's fuͤr den aͤrg- sten Spott uns etwas nachzuthun, das her- nach an ihnen unser hieße, vielweniger werden sie es mit Pralerei thun und uns dabei herausstreichen. Nehmen sie etwas von uns an, so thun sie es verstohlen, schaͤ- men sich der Annehmung und Nachahmung, und laͤugnen, daß es unser sei mit Zorn und Gift. Und der Deutschen Ehre soll die Affenkunst der Nachahmung seyn und bleiben? „Lernen ist eigentlich der Kinder Amt und Eigenschaft; daher Kinder der Strafe unterworfen sind; sie muͤssen gehorchen. Erwachsnen Leuten ists gar unanstaͤndig, lernen sollen, was sie selbst koͤnnen sollten; weit unanstaͤndiger aber ist einem ganzen Volk, einem andern Volk zu gehorchen. Nachahmen gehoͤrt entweder zum Lernen oder zur Knechtschaft. Der Schuͤler ist allezeit unterm Lehr- meister, der Erfinder hat die Ehre vorm Nachmacher; Erfindung macht Naturherrn, Nachahmung Naturknechte. „Wenn ein ganz Haus mit allen Haus- genossen alt und jung sich gegen seinen Nachbar so anstellte; der Mann ahmete dem Nachbar, die Frau der Nachbarin, Toͤchter, Soͤhne, Knechte, Maͤgde ahmten den Toͤchtern, Soͤhnen, Knechten, Maͤgden des Nachbars nach, wuͤrde nicht die ganze Stadt sagen: das Haus ist voll Narren, die drinn wohnen, sind alle unsinnig? Und trieben sie die Haserei nur aus Unbedacht- samkeit, wuͤrden nicht alle Kinder auf der Gasse von diesen tollen Klugen als Nichts- wuͤrdigen zu reden wissen? Was wuͤrde man aber sprechen, wenn diese Nachahmer den Ersten noch Geld dazu geben, daß sie derselben Narren seyn duͤrften? Von einem ganzen Lande nun ist es noch niedri- ger.“ — — In dem Ton sprach Realis de Vi - enna weiter. Er zeigte, daß die Nachah- mung zumal der Franzosen den Deutschen schaͤdlich und verderblich sei; durch sie ver- saure und verroste der Verstand, man ver- suche nichts und verzage an eignen Kraͤf- ten. Mit Nachahmung seyn die Welsch- Franzoͤsischen Laster zu uns gekommen. Wir haͤtten das Nachahmen nicht noͤthig; ja man muͤßte den Deutschen auch in nuͤtzli- chen Dingen die Aefferei nicht zulassen, weil keine Grenze bestimmt werden koͤnne, was? wie viel? wie weit nachzuaͤffen sei? Der Deutsche sei beim Nachahmen unge- schickt u. f. — Was duͤnkt Ihnen, zu diesem Autor? 41. R ealis de Vienna ist keine erdichtete Person. Er lebte zu Anfange unsres Jahr- hunderts, da die Cultur der hoͤheren Wis- senschaften durch Leibnitz auch in Deutsch- land neuen Platz gewann; zugleich aber hatte sie damals mit dem elendesten Pe- dantismus der Hof - und Schulhasen (wie Realis sie nennt,) zu streiten. An Hoͤfen bluͤhete eine franzoͤsische Galanterie, von der wir uns kaum noch einen Begriff machen koͤnnen; einige Schulpedanten woll- ten den Hofgecken nachahmen; so entstand die Talandrische, die Menantische, die Wei- Vierte Samml. B sische Schreibart. Der Verdienstreiche Christian Thomasius selbst konnte sich diesem sinkenden Boden nicht entziehen, und ward in Manchem ein Hofphilo - soph , allerdings nicht im besten Geschmack. Die Literaturgeschichte, die damals auch im Gange war, hinkte dem allgemeinen Ge- schmack nach, schmeichelte den Auslaͤndern; der Schall von Ludwig 14. hatte die Welt erfuͤllet, und in den Deutschen Glok- ken sausete er in massiverem Ton um so laͤnger nach. Da erkuͤhnte sich nun dieser Realis de Vienna den Hof- und Schulfuͤchsen Deutscher Nation entgegen zu sprechen, und schrieb eine Pruͤfung des Europaͤischen Verstandes durch die Welt - weise Geschichte . Er schrieb sie; ich zweifle, daß sie je ge- druckt worden. Das Manuscript muß son- derbare Schicksale gehabt haben: denn in der vorliegenden Schrift: „ Nachricht von Realis de Vienna Pruͤfung “ werden sonderbare Umstaͤnde lautbar. Die Handschrift, (so sagt der Verfasser) sei 21. Jahre umhergegangen, seitdem sie Prof. Adam Rechenberg in Leipzig, ( Chri - stian Thomasens Schwager,) dem Buch- fuͤhrer im Jahr 1693 entfuͤhret. Dieser habe sie unter seinen Bekannten herumge- schickt, andre auch von dieser Sache zu schreiben angereizt, endlich sie Reimannen uͤbergeben, der den Kern seiner Literatur- geschichte Deutschlandes ganz, aber aͤußerst Kraftlos und unvollstaͤndig aus diesem Werk genommen, und nur die elenden kin- dischen Schalen dazu gethan habe. U. f. Auch Kasimirs Kanonik , glaubt er, B 2 sei aus seiner sogenannten Vernunfterstat- tung gezogen u. f. So anmaassend dies alles klingt, um so mehr verdiente das Werk und die Be- hauptung des Verfassers Aufmerksamkeit und Pruͤfung. Was er uͤber Reimanns Geschichte, uͤber Thomasius Hofphiloso- phie, uͤber den Streit zwischen Leibnitz und Newton , uͤber den Ursprung der Journale, die Sprachenmischerei, uͤber die Nachahmungssucht und Demuth der Deut- schen gesagt hat, ist jetzt unser aller Ur- theil. Die Zeit hat daruͤber entschieden, und dieser unbekannte Gabriel Wag - ner Dies war Realis wahrer Name. In Joͤ - chers Lexicon findet man ihn; die Anzeige der Unternehmungen des Mannes aber ist kaum beruͤhret. A. d. H. , (ein Magister der Philosophie aus Quedlinburg, der viele Universitaͤten besucht hatte und in seinem Leben zu nichts kom- men konnte,) ist in mehreren Urtheilen sei- ner Zeit so maͤchtig vorgeschritten, daß man es bewundert, wie sehr die Stimme der Wahrheit oft aufgehalten werden koͤnne, und wie langsam die Zeit schleiche. Seine Pruͤfung des Europaͤischen Ver - standes , (der Beschreibung nach ein aus- fuͤhrliches Werk,) muß seinem Inhalt nach um so merkwuͤrdiger seyn, da er nicht etwa nur die Hof- und Schulfuͤchsereien verach- tet, sondern auch den reellen Wissenschaf- ten, der Mathematik, Philosophie, den hoͤ- heren und nuͤtzlichen Erfindungen der Voͤl- ker seine Aufmerksamkeit geschenkt zu ha- ben scheinet. Wenn also seine unterdruͤckte Handschrift sich irgendwo noch auffaͤnde; (und ich zweifle daran um so weniger, da sie durch viele Haͤnde gegangen ist, und B 3 wahrscheinlich mehrere Abschriften veran- laßt hat:) so waͤre, mit Auslassung alles dessen, was fuͤr uns nicht mehr dienet, eine gelaͤuterte Bekanntmachung derselben zu wuͤnschen. In der Nachricht, die vor mir liegt, wurde das Werk bei Froboͤsen in Greifswalde liegend angezeigt und je- dermann aufgefodert, es mit Verlag oder andrer Huͤlfe zu befoͤrdern; die damaligen Lichter Deutschlands mochten dieser Be- foͤrderung nicht hold seyn, und so blieb es begraben. Mir waͤre es kein unangeneh- mes Postpacket, wenn mir eine Fee dies irgendwo gewiß todtliegende Mscr. oder eine Nachricht davon zuschickte. Denn außer dieser Pruͤfung des Europaͤischen Verstandes , gedenkt der Verf. noch einer andern Schrift: „ Geheimstube oder Velleden - blaͤtter “ 1692. in vier Buͤchern entworfen, deren In- halt in Manchem sonderbar genug ist. A. Die Vernunft - Erstattung , (die Europaͤer von der Viehheit, Quackerei und Aberglauben wieder zur Menschheit zu brin- gen und ihnen die fuͤnf Sinne zu erstat- ten.) Statt der Kapitel zeichne ich bloß einige Grundsaͤtze aus. 1. Es giebt Gewißheit; der Mensch kann viel Wahrheit wissen. 2. Alle Gewißheit und Klarheit kommt aus reinmathematischem Grunde. 3. Zur Wahrheitforschung brauchts keiner ersten allgemeinen Wahrheitquelle. (keines principii primi. ) 4. Wahrheit ist heilsamer als Erdich- tungen. (Diese Aufgabe, sagt Wagner , mit ihren Beifuͤgungen ziehet ungewoͤhnli- che neue Saͤtze nach sich, und ist der Grund fast einer neuen Weltweisheit, die den B 4 Des - Cartes , Hobbes , Spinoza , Puffendorf , Leibnitz verbessert.) 5. Aus Wahrheit folgt nimmer Un- wahrheit; aus dieser nimmer Wahrheit. 6. Alle Unwahrheit kann widerlegt wer- den, sie sei so subtil sie wolle. 7. Der Wahrheit Thuͤr, Ursprung und Boten sind die Sinne. 8. Es ist nur Eine Vernunft. 9. Vernunft irrt nimmer. Klugheit und Wahrheitfindung entspringen beide aus der Natur Guͤtigkeit und Uebung; nicht aus Lehrsaͤtzen und Unterricht. Diese sind ein aͤußerlich geringer Vortheil und Erleich- terung dazu, geben aber weder Wahrheit noch Verstand. Wenn man sie fuͤr unent- behrlich ausgiebt, sind sie der Schulfuͤchserei Merkmal. 10. Der Mensch ist nicht vernuͤnftig, doch nicht ohne Vernunft. 11. Des Menschen Vorzug vorm Vieh ist allein die Vernunftdaͤmmerung. 12. Der Wille beherrscht den Menschen in Allem; die Vernunftdaͤmmerung in nichts. 13. Sinne verfuͤhren; Aufrichtigkeit und Vernunftdaͤmmerung sind die innern Mit- tel zur Wahrheit. 14. Die Natur ist nicht verderbt, nicht Gottes Feindin. Sie ist Gottes Buch, der Vernunftschein Gottes Licht; nach ihnen muß man alles erklaͤren. 15. Aberglaube ist kein Mittel zur Wahrheit. 16. Naturkuͤnste machen aufrichtig; Schulkuͤnste stolz und grausam. 17. Man soll alles, so viel moͤglich, nach der Natur erklaͤren. 18. Lust zu Natursachen ist ein Merk- mal der Großmuͤthigkeit. B 5 19. Stolz und Dummheit sind aller Laster und alles Ungluͤcks Ursach. 20. Weisheit besteht nicht in Eigennutz; ihr Ziel ist eigentlich allein Wahrheit. (Ob aber Aufrichtigkeit allein mit Wahrheit ohne Nutz zufrieden seyn soll? und ob Wahrheit ohne allen Nutz seyn koͤnne? sei eine andre Frage.) 21. Alle Weisheit beruhet auf vier Wis- senschaften; alles andre, was zu selbigen nicht gehoͤrt, gehoͤrt zur Schulfuͤchserei. 22. Die Deutschen Handkuͤnste zeigen Verstand; die auslaͤndischen Fleiß, Geduld, Geiz und Stolz. 23. Ein Unchrist ist kein Ungoͤtter. (Atheist.) 24. Viele Leute, insonderheit die Ge- lehrten merken ihre eigne Bosheit nicht, vielweniger ihre Dummheit. 25. Einer siehet oft mehr als alle Schu- len und das ganze Land. 26. Lehre artet den Verstand; den Wil- len greift sie nicht an. 27. Lehren ist noͤthig, auch beim Stoi- schen Glauben. 28. Der Mathematische Lehrweg ist nicht der beste; der Werkkuͤnstige Lehrweg allein findet die Wahrheit. 29. Sittenlehrige Absichten verderben die Naturkundigung. 30. Die Reisen in barbarische Laͤnder sind nuͤtzlicher als in die Hafenlaͤnder zu den freundlichen Moͤrdervoͤlkern. II. Der Naturglaube . III Der Schulen Papstthum . IV. Umbildung der Staatskunst , nach folgenden Grundsaͤtzen. 1. Gegen Natur- und Staatskuͤnste sind alle andre Kuͤnste Kinderpossen: die Naturkundigung ist aller andern Kuͤnste Meer und Kaiserin. 2. Aeußerliches oder Hofsittenwerk ist Wahnwerk, ein frei willkuͤhrlich Werk; was man fuͤr schoͤn und haͤßlich setzt, ist schoͤn und haͤßlich. 3. Das Maͤhrchen von der Auslaͤnder Klugheit und Deutschen Dummheit ist allein aus der Deutschen Geduld, und der Aus- laͤnder Pralerei entstanden. 4. Man kann fast sagen, daß weder Liebe, Geld noch Stolz so stark sei, als der Deutschen Geduld und Demuth. Der Ge- muͤths-Unadel loͤscht in uns die Mensch- heit, die allgemeine Empfindniß, Selbstliebe und Selbsterhaltung ganz aus. 5. Angenommene Großmuͤthigkeit wuͤrde das ganze Maͤhrchen in zehn Jahren um- kehren. 6. Verstandes-Ehre geht uͤber alle Eh- re, ist aller andern Ehre Grund, also nicht in den Wind zu schlagen. 7. Eines Volks Ehre haͤngt großen Theils an seiner Muttersprache; diese ist der Landesehre Fuhrwerk. Ueber sie muß man schaͤrfer halten, uͤber ihre Reinigkeit mehr eifern, als uͤber der zartesten Liebsten Ehre. 8. Mit Landsleuten muß mans, als mit Verwandten seines Geschlechts, nicht genau nehmen; gegen Auslaͤnder alles hoch span- nen. U. f. Ein Wort noch von der Deutschen grandezza , vor welcher der Gegner unsres Realis seine Landsleute warnen wollte. Realis sagt dagegen: „Die Deutschen, die gutherzigen Zigeu- ner, die armen Affen, die ewigen Schuͤler, von der grandezza wollen abhalten, ist aͤr- ger als die Schaafe vom Grimm, die Pferde vom Fleischfressen abmahnen. Mahne die Spanier von der grandezza , die Italier von der Herrschsucht, die Franzosen von der Pralerei ab; mit den Deutschen darfst du dich nicht bemuͤhen. Der Mangel noͤ- thiger grandezza oder Ehrliebe ist eben die vornehmste Ursach des uͤbeln Deutschen Na- mens.“ „In Deutschland wohnt aller Verstand außer Schulen; bei den Auslaͤndern zuwei- len in Schulen. Bei diesen sind oft die Gelehrten die kluͤgsten; in Deutschland ists umgekehrt. Das Volk ist sinnreich, fast allein, obwohl nicht allezeit; die Vornehmen sind schulfuͤchsisch, prangen mit statu quo, und sind selten klug. Ich lege das Buch bei, und bitte, daß sie die Jahrzahl nicht unbemerkt lassen. Es ist 1715 gedruckt; mich wundert, daß da die Schriften, die es ankuͤndigt, zwan- zig Jahre vorher geschrieben waren, Leib - nitz unsers sonderbaren Autors nirgend erwaͤhnet. 42. V erzeihen Sie, daß ich Ihren Realis de Vienna nicht auf einen so tragischen Fuß nehme, als er in den Bedraͤngnissen seines muͤhseligen Lebens den Ton an- stimmte. Sollten wir umsonst ein Jahr- hundert spaͤter leben, in welchem sich man- ches entwickelt hat, das Er nicht wissen konnte? Man sagt gewissen Landsleuten nach, daß ehe sie ihre Landsmannschaft nennen, sie ein Entschuldigungscompliment vorbrin- gen, daß sie die seyn, die sie sind. Unser Autor wird das fuͤr niedertraͤchtig halten; wenn es indeß gegen stolze Nationalver- wandte wandte gesagt wuͤrde, so moͤchte hinter die- ser Demuth ein Spott liegen, dem ich fast beitraͤte. Unter allen Stolzen halte ich den Nationalstolzen, so wie den Geburts- und Adelstolzen fuͤr den groͤßesten Narren. Was ist Nation? Ein großer, ungejaͤ- teter Garte voll Kraut und Unkraut. Wer wollte sich dieses Sammelplatzes von Thor- heiten und Fehlern so wie von Vortreflich- keiten und Tugenden ohne Unterscheidung annehmen, und wenn es eine bloße Mei- nung von Seelenkraͤften oder Verdiensten gilt, fuͤr diese Dulcinea gegen andre Na- tionen den Speer brechen? Lasset uns, so viel wir koͤnnen, zur Ehre der Nation bei- tragen; auch vertheidigen sollen wir sie, wo man ihr Unrecht thut, (in welchem Falle damals unser Verfasser war;) sie aber ex professo preisen, das halte ich fuͤr einen Selbstruhm ohne Wirkung. Vierte Samml. C Wir Deutschen wollten uns mit den Griechen vergleichen? Und welches waͤre der genaubestimmte, der unverfaͤlschbare Maasstab? Und wer waͤre der unpartheii- sche Richter? So auch mit andern Nationen. Die Natur hat ihre Gaben verschieden ausge- theilt; auf unterschiedlichen Staͤmmen, nach Klima und Pflege wachsen verschiedne Fruͤchte. Wer vergliche diese unter einan- der? oder erkennete einem Holzapfel vor der Traube den Preis zu? Vielmehr wollen wir uns wie der Sul- tan Solymann freuen, daß auf der bun- ten Wiese des Erdbodens es so mancher- lei Blumen und Voͤlker giebt, daß diesseit und jenseit der Alpen so verschiedene Bluͤ- then bluͤhn, so mancherlei Fruͤchte reifen! Wir wollen uns freuen, daß die große Mutter der Dinge, die Zeit, jetzt diese, jetzt andre Gaben aus ihrem Fuͤllhorn wirft, und allmaͤlich die Menschheit von allen Sei- ten bearbeitet. Denn es scheint so wohl geistige als physische Nothwendigkeit zu seyn, daß aus der Menschen-Natur mit der immer veraͤn- derten Zeitfolge alles hervorgelockt werde, was sich aus ihr hervorlocken laͤßt. Mit- hin muͤssen mit der Zeit Contrarietaͤten ans Licht kommen, die sich endlich doch auch in Harmonie aufloͤsen. Offenbar ists die Anlage der Natur, daß wie Ein Mensch, so auch Ein Geschlecht, also auch Ein Volk von und mit dem an- dern lerne, unaufhoͤrlich lerne, bis alle endlich die schwere Lection gefaßt haben: „kein Volk sei von Gott einzig auser- waͤhltes Volk der Erde; die Wahrheit muͤsse von allen gesucht, der Garte des gemeinen Bestens von allen gebauet wer- C 2 den. Am großen Schleier der Minerva sollen alle Voͤlker, jedes auf seiner Stelle, ohne Beeintraͤchtigung, ohne stolze Zwie- tracht wirken.“ Den Deutschen ists also keine Schande, daß sie von andern Nationen, alten und neuen, lernen. Das alte Vernunfttesta- ment, wie der Autor die Weisheit der Grie- chen nennt, ist gewiß nicht verjaͤhrt, noch durch die Weisheit der Neuern unkraͤftig gemacht worden. So darf sich auch kein Volk Europa's vom andern abschliessen, und thoͤricht sa- gen: „bei mir allein , bei mir wohnt alle Weisheit.“ Der menschliche Verstand ist wie die große Weltseele; sie erfuͤllt alle Gefaͤße, die sie aufzunehmen vermoͤgen; belebend, ja selbst neuorganisirend dringt sie aus allen in alle Koͤrper. Haͤtte Realis noͤthig gehabt, den Deut- schen so oft unzeitige Geduld, ja Nieder- traͤchtigkeit Schuld zu geben, wenn die Großmuth, die er zu ihrem Vorzuge ma- chen will, ihr eigenster Charakter waͤre? Kann Jahrhunderte lang ein Volk seinen Charakter dergestalt verkennen, daß es bei- nah immer im entgegengesetzten handelt? Lasset uns nicht sagen; „Hindernisse haben ihn unterdruͤckt.“ Im weiten Inbegriff der Zeit kennt ein Volk keine unuͤbersteig- liche Hindernisse; es muß zu dem gelangen, was es seyn soll. Kaͤme das Mscr., wovon wir reden, in unsre Hand; so wuͤrde es dadurch am meisten belehrend, was wir nach Ablauf eines Jahrhunderts in ihm ausstreichen oder hinzusetzen muͤßten. Wir wuͤrden se- hen, wohin sein Verfasser den Kranz fuͤr Deutschland gesteckt? und wiefern es waͤh- C 3 rend dessen diesen oder einen bessern er- reicht habe? Das gefaͤllt mir an unserm Autor, daß er, wenn auch mit Uebertreibung, die Schul- wissenschaften von den Lebenswissenschaften, die Naturkuͤnste von Wortkuͤnsten, den tuͤch- tigen Verstand in Wirklichkeiten vom blo- ßen Fassoniren der Begriffe absondert. Waͤre dieser Gesichtspunkt in seinem Werk scharf genommen und vestgehalten; so haͤt- ten wir in ihm Materialien zu einer Ge - schichte des praktischen Deutschen Verstandes , wie wir sie im ganzen ver- flossenen Jahrhunderte nur hie und da Theilweise erhalten haben Die Materie ist hiemit nicht geendet; sie hat noch einige Briefe erhalten, die spaͤterhin werden mitgetheilt werden. A. d. H. . 43. W aͤhrend Sie, m. Fr., um den Ruhm der Nationen wetteiferten, war ich in der Versammlung der bluͤhendsten Voͤlker der Erde. Alle standen friedlich neben einan- der; jedes Geschlecht, jede Art, jede Gat- tung in ihrem eignen Reiz und Charak- ter. Keine neidete, verfolgte die andre; unter dem blauen Bogen des weiten Him- mels genossen alle das goldene Licht der Sonne, die Balsamkraͤfte der erquickenden Luft, des Thaues und Regens. Als ich mit suͤßem Staunen sie ansah, sang eine Stimme: C 4 Flora, dich feiert mein Hymnus, du schoͤnste, doch seltner als Deine Schwestern, des hohen Olymps Bewohnerin- nen, gesungen! Jauchzend gebar dich die Erde dem alten chaotischen Winter, Dich, du Erstling und Stolz und Wonne der fuͤhlenden Schoͤpfung. Selig priesen sich einst in deiner Goͤtter-Um- armung Jupiter Pluvius selbst und Hyperions heilige Staͤrke. Ihnen gebahrst du Proserpinens Mutter und spaͤter Pomona, Beide schoͤn; doch schoͤner als beide die bluͤ- hende Mutter. Und eine andre Stimme antwortete: Flora, du kleidest die Erde mit hellem sma- ragdnem Gewande, Schoͤn durchwebet und bunt mit Farben des himmlischen Bogens. Praͤchtig glaͤnzt in der Nacht der Sterne fun- kelnder Gurt hin, Welcher den blauen Talar des alten Coͤlus umwallet; Aber noch reizender geht am offenen Tage die Tellus, Von dir, Flora, geschuͤrzt mit leichtem Blu- mengehaͤnge. Und es war, als versammleten sich die Genien der verschiedenen Erdezonen. Eine Stimme sprach: Zahllos ist die Menge der Blumentragenden Pflanzen, Die am saugenden Busen der all' ernaͤhrenden Mutter Mit der oberen Flaͤche der vielgebildeten Blaͤtter Trinken der Sonne Licht; den naͤchtlichen Thau mit der untern. Von den beschneiten Gebuͤrgen der nordischen langen Polarnacht, C 5 Bis zur Erdumguͤrtenden Zone des heissen Aequators Ist kein Raum so gering' im weiten Gefilde der Schoͤpfung, Keine der Alpen so steil, und keine der Step- pen so sandig, Daß sie nicht naͤhre Geschlechter der Pflanzen, der Lage geeignet. Pflanzen uͤberweben das Bett der Quellen und Stroͤme; Andre naͤhret der Rhein , und andre der Orellana . Selbst in den finstern Tiefen des Erdumguͤr- tenden Weltmeers, Wo kein Orkan sie empoͤrt, wohin kein Blei je hinabsank, Scherzen in weiten Fluren, umwallt von ra- genden Hainen Seltsam gebildeter Pflanzen, die Heerden der Amphitrite: Eine Schwesterstimme nahm das Wort auf: Sterbliche haben gewaͤhnt zu zaͤhlen die Kinder der Flora, Ihre Geschlechter zu ordnen und ihre Namen zu nennen; Zwar wer hat sie besucht der Ostwelt gruͤnende Wuͤsten? Wer die Quellen des Ganges und siebenar- migen Nilus ? Wer die geheimeren Fluren der Oceaniden des Aufgangs? Ihre Gestade beschiffeten Wuchrer; der for- schende Weise Seltner. Und wer sah sie, die Kraͤnze der Nereiden, Wenn sie die gruͤnlichen Locken umwinden im Schooße des Weltmeers. Wer hat je die Flechten, wer hat die Moose gezaͤhlet, Deren Fruͤhling beginnt, wenn Froͤste den Herbst entblaͤttern, Deren uͤppiger Wuchs die Scheitel aͤtherischer Alpen Da, wo sie Flora verlaͤßt, mit tausend Farben bekleidet? Hier unterbrach eine sichtbare Scene die Unsichtbaren. Ein Juͤngling trat aus der Laube hervor, und umwand das Haupt seines Lehrers mit einem Kranz von Blu- men, die alle ihm geweiht waren, und in der Geschichte der Pflanzen seinen unsterb- lichen Namen tragen. Er begleitete sie mit Worten der innigsten Herzensverehrung in den erlesensten Bildern und zog sich be- scheiden zuruͤck. Und von neuem erwachten Gesaͤnge von der Vermaͤhlung und der nach Jahrszei- ten geordneten Entwicklung der Blu- men. Menschenfreundliche Genien sangen also: Flora, wo Deine Hand mit hymenaͤischem Bande Nicht im Lenz vermaͤhlte der Tellus zahllose Kinder, Trauret umher die Natur in Nahrung-ent- behrender Oede. Wein- und Gesanglos schleicht Autumnus; es darbet Pomona; Nichtiges Stroh entfaltet der Fackel des Si- rius Ceres; Traurig stehet der Hain, der chaonischen Ei- cheln entbehrend: Denn es ergrauete schon im April die Hoff- nung des Jahres. Gluͤcklich ist der Hirte, der durch gesicherte Habe, Der durch leitende Weisheit und Guͤte des Staates veredelt, Lernte der Aemsigkeit Werth und Zukunft- ah- nende Vorsicht. Ihn ergreifen mit eisernem Arm des darben- den Jahres Schrecken nimmer; es spendet ihm nicht, wie dem uͤbrigen Zugvieh, Schlechte, kaͤrgliche Kost der unfreigebige Frohnherr. Ihn treibt nicht der Hunger aus Thraͤnenloser Despoten Laͤndchen, aus Deutschland hin zu des fernen Astrakans Oeden. Siehe, der reiche Gewinn von tiefer-geacker- ten eignen Saaten und uͤppiger Wiesen sich stets erneu- ernder Kleewuchs Blieb ihm von beßeren Jahren. Er theilt den Ueberfluß willig Mit dem huͤlflosen Volk angraͤnzender Skla- venlaͤnder; Aber die Treue des Jahrs, und der wieder- kehrenden Monden Milder Geschenk ersetzet ihm bald den verges- senen Miswachs. Eben als ich noch wuͤnschte, daß die Un- sichtbaren diese Worte in aller Frohnher- ren Herz singen moͤchten, weckte mich ein sanfterer Laut. Er sang die allmaͤlich an- brechende Zeit des Blumenfruͤhlings: Sieh! im waͤrmeren Strahle der ruͤckwaͤrts- kehrenden Sonne Freut sich die Blumengoͤttinn bei ihrer Kinder Entwicklung Oeffnet die Kelche der Bluͤthen und schmuͤckt die braͤutliche Tellus. Zwar es entfalten fruͤher die Schattengewaͤchse der Haine, Eh sie das Laub bedunkelt mit seiner kuͤhlen Umwoͤlbung, Ihre zaͤrteren Blumen dem ersten Strahle des Lenzes. Blaue Hepatika , Dich und das Herzer- freuende Veilchen, Euch erziehn die Dryaden zu ihren fruͤhesten Kraͤnzen. Sie durchweben ihr Blau mit dem Golde des Fruͤhlings - Crokus Und mit den Silbersternen der Anemone der Haine ; Fruͤher bluͤht der Helleborus , fruͤh die duf- tende Daphne , Und der Aurikeln Geschlecht, verpflanzte Toͤchter der Alpen. Aber die spaͤteren Blumen verschliessen die duftenden Glocken Noch dem naͤchtlichen Froste, dem Stoͤrer ih- rer Befruchtung. Waͤrmere Luͤft' umathmen den uͤppiger- schwellenden Fruͤhling; Wenn, von den Horen umtanzt, der Wagen des Sonnengottes Steileren Steileren Pfades rollt an dem hohen Bogen des Aethers; Wenn in dem jungen Laube die Voͤgel sich alle begatten, Wenn in den lauen Baͤchen sich paarend ver- folgen die Fische, Oeffnen die Blumen sich auch der allbefruch- tenden Liebe. Braͤutlich pranget im weiß- und roͤthlichen Kleide der Obstbaum, Waͤrmende Augenblicke, sanftwechselnde Regen- schauer Ueberweben mit tieferem Gruͤn, mit dichteren Blumen Sonnigte Gipfel und duftende Wiesen, in wel- chen sich Zahllos Wankende Blumen mit Blumen, mit Graͤsern Graͤser vermaͤhlen. Hymen herrschet im Hain; es neigen sich liebe- sehnend Weibliche Bluͤthenzweige zu maͤnnlich befruch- tenden Aesten. Vierte Samml. D Siehe, der Tannenwald raucht! Es oͤfnet die feuchte Nymphaͤa Ueber den Wellen den Schoos der Zeugung- foͤrdernden Sonne. Feuerfarbener Mohn und Bluͤthenbestaͤubter Waizen Taumeln unter einander, verwebt mit blauen Cyanen ; Honigsuchende Bienen und laue Luͤfte befoͤr- dern Ihren geheimeren Bund; doch keine der Arten verwirrt sich. Liebetrunken schlug die Nachtigall ein- zelne Toͤne in diese Beschreibung. Und sie fuhr fort, als eine andre Stimme die Ver- maͤhlung der Blumen von denen Geschlech- tern besang, — bei denen dieselbe Korolle In dem ambrosischen Bette voll Honigs und staͤrkender Duͤfte Mit den befruchtenden Maͤnnern die weibliche Zeugungskraft einschloß, bis zu jenen getrennten Geschlechtern, wo oft Kaum erreichbar ist der Liebesbund der Ge- trennten. Also entfaltet umsonst die weibliche, unver- maͤhlte Palme die Bluͤthentrauben in Schatten-ent- behrender Wuͤste. Aber der Araber holte, der schmachtenden Braut sich erbarmend, Oft aus fernen Hainen befruchtende Palmen- blumen. Oefter bringt ein behaartes Insekt, und auf Goldgefleckten Federn ein Colibri, gebadet im Blumenstaube, Die befruchtende Kraft des Meilenentfernten Gatten. Ernster wurden jetzo die Toͤne; liebreich- warnend und troͤstend sangen die Genien von schaͤdlichen und heilenden Kraͤu- tern : D 2 Weise hast du, Natur, der Pflanzen Erzeu- gung geordnet, Guͤtig und weise die Kraͤfte der Erde verschoͤ- nernden Pflanzen. Nicht der Schuͤler allein der rettenden Goͤt- tinn Hygea Kennt sie, die heilenden Kraͤfte der aromati- schen Staude, Fern am Ganges geholt und vom Haupte der Cordilleras , (Oft verkannt an Ufern der vaterlaͤndischen Baͤche;) Sichrer weiß der Wilde die Schmerzenlindernde Wurzel Und den geheimeren Stand der Fieberheilen- den Rinde. Aber er kennet sie auch, die toͤdtenden Gifte der Pflanzen, Kennt der Euphorbien Kraft und der gifti- gen Mancinella , Die den gefluͤgelten Pfeil mit dem schnellsten Tode bewaffnet. Friedlicher Huͤtten Bewohner! Die laͤnd- lichen Gaͤrten umbluͤhn auch Toͤdtende Kraͤuter zuweilen, vermischt mit naͤh- renden Pflanzen. Zwar es meidet das Vieh den Schierling , des Equisetum , Und der Cicuta Beruͤhrung; es meidet die Wiesenranunkel , Durch den eignen Instinkt vorm herben Tode gesichert. Aber zu oft verkannte der harmlosspielende Knabe Falbes Stramonium , dich, und die Beere der Bella - Donna , Der fruͤhbluͤhenden Daphne , der rankenden Dulcamara . Toͤdtet sorgsam, ihr Hirten, die Pflanzen; des blauen Napellus Stauden toͤdtet sie auch und der vielarmigen Wolfsmilch . D 3 Eben so menschenfreundlich nannte die Stimme die bekanntesten heilenden Kraͤu- ter: Heilend ist der Holunder an Fruͤchten, Bluͤthen und Rinde, Sanft aufloͤsend der Mohn und die Rosen- farbnen Althaͤen . Blaue Veronica , Dich und die Kerze des hohen Verbaskum , Des Taraxacon Gold, der wuchernden Graswurzel Aufguß, Herber Cichorien Saft, und des Loͤffel - krauts bittere Blaͤtter Eure lindernden Kraͤfte verkennt der weisere Arzt nicht, Sorgsam-waͤhlend; es sind des Bescheidneren Heilungsmittel, Einfach wie die Natur, und Deutschlands Himmel erzeugt sie. Der Inhalt dieser Gesaͤnge duͤnkt mir so schoͤn, daß ich Sie nicht zu ermuͤden fuͤrchte, wenn ich Sie noch einmal davon unter- halte. Auf Wiesen und Auen, in Gaͤrten und Feldern bluͤhet der Menschen Gesund- heit, Nahrung und Gluͤck; da erholet, da erquickt sich die Seele. Ihr Realis hat Recht: „Lust zu Natursachen ist ein Merk- mal der Großmuͤthigkeit. Naturkuͤnste ma- chen aufrichtig; Schulkuͤnste stolz und grau- sam.“ D 4 44. V on den heilenden Kraͤutern Deutschlands wandte sich der Genius des Menschenge- schlechts zu Pflanzen, die die Natur jeder Zone, ihr angemessen, schenkte. Sie gab — — des Betels Gewaͤchs den Voͤl- kern am Indus, Und die Rhabarbar dem Tartar der kalten Tungusischen Steppe, Gab die Ginseng -Wurzel dem feuchten Sinesischen Reisland, Ließ die Dolde der Squilla Kanopischen Suͤmpfen entbluͤhen, Und in Balsamthraͤnen zerfließen die Staude der Myrrha; Schenkte dem armen Bewohner des reichen Potosi die Coca , Ihm des Guajacks Gummi, den Fieberhei- lenden Baum ihm, Und den Sikulischen Hirten die Perlentropfen der Manna . Der Genius schien eine Biene zu wer- den, die um ihre suͤßesten Blumen umher- fliegt: Aromatischen Balsam entathmen die Pflan- zen der Huͤgel. Duftende Kalamintha , der blaue Salbey und der Thymus , Und die Melisse sind Bienen auf sonnichten Bergen ein Labsal, Wo sich der Rosmarin vermaͤhlt mit hohem Lavendel ; Jenen Bluͤthen entwenden sie Narbonensischen Honig, Und den fernher-athmenden Nektar Hymet- tus und Hybla's. D 5 Aus der Laube erscholl die Stimme: Aber wer kennt sie alle, die Kraͤfte der heilsamen Pflanzen, Oft vergessene Kunde der sorgsam-forschenden Vorzeit, Oder nach Saͤklen Erfindung der Dioskoriden der Nachwelt. Und der Genius antwortete: Wenn, von alten Systemen entfesselt, be- scheidner der Forscher Einst von Hirten auch lernt und ergrauenden Alpenbewohnern; Auch den Bergmann verschmaͤhet er nicht und des Gemsenjaͤgers Nicht stets fabelnde Kunst und angeerbtes Ge- heimniß; Siehe! dann werden Contoure der Anmuth, mit Farbenverschwendung Blumenfreunde nicht fesseln allein; der Gen - zianella Tiefgesaͤttigtes Blau, der Lobelia flammende Roͤthe, Noch der Purpur und Safran der strahlenden Poinciana , Nicht der Aurikel Sammt und die Strah- len der Ringelblume (Wenn sie die goldenen Augen dem thauenden Morgenroth aufschleußt) Fesseln allein nicht mehr der Flora sammlenden Guͤnstling. Thaͤtige Weisheit umstrahlt des Menschen- freundlichen Forschers Waͤrmere Seele, zu nuͤtzen mit Muth dem Menschengeschlechte. Jetzt erhob sich Linneus Urberg der Schoͤpfung vor mir, auf welchem vom Gipfel an bis zur niedrigsten Tiefe alle Gewaͤchse bluͤhen, deren Fruchtstaub seit- dem uͤber die ganze Erde verweht ist: Reich seyd ihr an Pflanzen von mannich- faltigen Kraͤften, Quellentrunkene Thaͤler und sonnige Huͤgel der Alpen. Neben dem Akonit entfalten die Genzia - nen , Toͤchter desselben Huͤgels die heilenden Safran- glocken. Siehe! den Teneriff' und den Flammengipfel des Aetna, Caucasus Felsenhaupt, Dich, hoͤheren Chim- borasso Decket ewiges Eis, seit euch die Fluthen um- stuͤrmten. Euer beschneyete Scheitel, dem hundert Quel- len entstuͤrzen, Der das hohe Gewoͤlbe des Himmels zu tra- gen uns scheinet, Kleidet sich uͤber den Wolken in reine aͤtheri- sche Blaͤue. Flora's Reich beginnet am Rande des ewigen Schneereichs; Groͤnlands kurzen Sommern entbluͤhn Groͤn- laͤndische Pflanzen. Malaga's Reben umranken den Fuß der Ge- birge; die Hoͤhen Decket der Saxifragen , der Diappensia Mooswuchs. Kurz ist die Lebensdauer der weißen Pigmaͤen- geschlechter, Welche das Rennthier - Moos umkreucht und die Alpenbirke , Tiefer vermaͤhlet der kleine Myrtill und des Rhododendron Purpurdolde sich mit dem Erdwaͤrts-kriechen- gen Krummholz ; Ihre Schatten verbergen die Alpenmaus und das Schneehuhn. Tiefer erhebet der Taxus sein Haupt und der dunkle Wachholder , Fruͤher als diese, die Birke , der Laryx , entblaͤttert im Winter. Ihren Fuͤßen entsteigt, gedeckt von ihrer Um- schattung, Ein unzaͤhliges Heer balsamischer Pflanzen der Alpen. Heerden irren hier in schwelgendem Ueber- flusse Um die genuͤgsame Sommerhuͤtte der Freige- bohrnen. Phoͤbus Strahl entbindet aus tausend wuͤrzi- gen Pflanzen Reinere Lebensluft und Rosenfarbne Gesund- heit. Kuͤhlende Luͤft' umwehn Euch, Soͤhne heiliger Alpen, Wuͤrziger Pflanzen Duft umsaͤuselt Euch in der Kuͤhlung; Aber betaͤubender ist der Duft von Auran - zien -Hainen, Welche der Wind ins Meer entfuͤhrt von Portugals Kuͤsten, Oder von Rose ngebuͤschen des zweimalbluͤhen- den Paͤstum; Selbst bemoosten Felsen entsteigen dort Veil- chengeruͤche. — Lieblicher seyd ihr noch, ihr Bluͤthen hei- ßerer Zonen, Tausendfarbige Toͤchter der senkrechtstehenden Sonne, Deren Hauch mit Balsam die schwuͤleren Luͤfte beschwaͤngert. Dichter sangen nur Rosen, nur Gaͤrten der Hesperiden; Niemand feierte noch die tropischen Bluͤthen des Aufgangs. Wer sang Dich o Nyctanthes , die Zierde der Ganges -Gestade, Wer, Gardenia , Dich, die Koͤniginn der Gewaͤchse, Und ambrosischer duftend als beide, den Oel - baum aus China ? Wer der Barmelia Gold? und die Fruͤchte der Mangustana ? Staunend verweilt die Muse beim Stamm der keuschen Mimosa , Reizbar wie die Thiere, des Pflanzenreiches die feinste. Und wer sang von Euch, ihr Amboinischen Haine, Welche der Golddurst mehr, als des Welt- meers stuͤrmende Brandung Rings umher verschleußt dem harmlosen Freun- de der Flora. Mitten in brennendem Sand' erhebt sich Euer Gewoͤlbe, Neben der hoͤchsten Glut der Sonne die naͤcht- lichste Kuͤhlung. Nicht der Muskatbaum nur, und die aro- matische Nelke , Auch des Brotbaums Stamm, und die Riesenhoͤhe des Cokos , Trotzen der Wuth der Orkane — Feyrliches Dunkel umhuͤllt die romantischen Zauberhaine; Keine Blumen entsprossen dem Schooße der naͤchtlichen Daͤmmrung; Aber seidener Moos und buntgemarmelte Schwaͤmme Decken den Armadill und die vielgeringelte Schlange. Statt Statt der Nachtigal Lied' erschallet der Pa- pageyen Und der Affen Geschrei aus ferner Gipfel Um- woͤlbung. Lauter konnte der Gesang nicht werden. Ich befand mich auf Amboina mitten im Paradiese der Flora, im Dufte der Blu- men, im Lustgeschrei der Affen und Papa- geyen. Da sang aus der Laube die mil- dere Stimme: Laß mich, holde Natur, den Sohn der kaͤl- teren Zone, Deiner Wunder mich immer erfreun im Reiche der Flora, Zwiefach ihrer mich freun auf schoͤnen Pan- nonischen Fluren. Denn schoͤn sind sie die Ufer, an welchen sich Vindobona Spiegelt in dem Silber des maͤchtigen Kaiser- stromes. Vierte Samml. E Und eine andre Stimme: Aber dann erheben sie sich zum reizenden Urbild' Wenn von der feinsten Empfindung und von des reinsten Geschmackes Sicherer Hand geleitet, ein Lascy oder Co - benzel Gaͤrten, wie Oberon schafft und Paradiese wie Milton — Gruppen, wie hingezaubert von Grotten und Wasserfaͤllen, Ueberwoͤlbende Schatten und duftende Laby- rinthe Seltsamgebildeter Baͤum' und Bluͤthen waͤr- merer Zonen, Scheinbare Disharmonie, die sich loͤs't in den suͤßesten Wohllaut, Wo in ihren hoͤchsten Triumphen unsichtbar die Kunst wird. Stimmen besangen Kaunitz , Laudons Gaͤrten, und eine holdere Stimme: Edle Kinski , du sammelst in Gaͤrten, wie die der Armida Jene Bluͤthen umsonst, die der westlichen At- lantide Milderen Sonnen entbluͤhn und jenen des ro- sigen Aufgangs. Siehe, von allen Blumen, die Deinen Tritten entsteigen, Die Dein schaffender Wink, genaͤhrt von Hy- perions Strahlen Und den Thraͤnen Aurorens, dem Schooß der Tellus entrufet, Ist doch keine so schoͤn, wie Du. Eine andre Stimme nannte Gaͤrten, Wo in Amerika's Buͤschen die Deutsche Nachtigal floͤtet; E 2 Unerwartet brachte endlich die Stimme des Dichters mich zu mir selbst wieder: Aber auch Ihr seyd schoͤn, Ihr meines nordischen Landes Quellentrunkene Thaͤler und gruͤnende Blu- mengestade; Flora liebet euch mehr als alle der kaͤlteren Zone Fluren; sie webet in euch sich ihre seltneren Kraͤnze. Reizend ist die Aussicht, gelagert in dunkler Umschattung Ueberwoͤlbender Buchen und Eichen aus Odins Zeiten, Welche das Meer umstuͤrmt, zu sehen im Wel- lengetuͤmmel Hundert zuͤngelnde Flaggen und Windgeschwaͤn- gerte Segel; Ueber den Wogen die Heldengestade des felsi- gen Schwedens, Rauch von ihren Staͤdten und Gipfel von ih- ren Gebirgen, In dem roͤthlichen Schimmer des sinkenden Sonnenwagens. Sei mir gegruͤßt, du muͤtterlich Land, im Feiergesange, Wo mich die Blume des Feldes als Knaben mehr schon entzuͤckte, Als Hyacinthenprunk und eitle Tulpen-Aesthe- tik, Bluͤthen ohne Frucht, des Batavischen Kraͤ- mers Erfindung. So loͤsete sich der Zauber. Ich kenne den Dichter nicht; koͤnnte ich aber eine Gestalt an mich nehmen, so wuͤrde ich in Vir - gils oder Kleists freundlicher Gestalt vor ihn treten und sagen: „Mann oder Juͤngling, du bist werth, unser Genosse zu seyn, ja eine neue Stuffe zu betreten, auf der die Wissenschaft der Natur sich mit E 3 der Kunst des Gesanges verbindet. Denn Dich umwehet der Geist der Schoͤpfung; du weißt nicht nur Namen ihrer Kinder, sondern fuͤhlest dich auch in sie, und hast ein Herz fuͤr die Freuden und Leiden der Menschheit. Die Sprache stehet dir zu Gebot; die Wechselscenen der Natur wer- den Dich immer mehr zu wechselnden Toͤ- nen begeistern. Auf! und erweitre das Feld Deines Hymnus. Die Kraͤnze, da- mit Du Deinen Lehrer schmuͤcktest, erwar- ten auch dich: Sieh', es windet Dir Flora, die Liebende dem Geliebtern, Duftende Diademe von Bluͤthen aus jeglichem Welttheil. So wuͤrde ich zu ihm reden, uͤberzeugt, daß durch das Studium und durch den Gesang der Natur, der menschliche Geist er- weitert, das menschliche Herz unschuldiger, ruhiger, wohlthaͤtiger werde. E 4 45. U nbezweifelt ists, das durch das Studium und durch den Gesang der Natur das menschliche Gemuͤth milder werde. Wer uns eine Botanische Philosophie in einem schoͤnen Lehrgedicht gaͤbe, welchen Reichthum haͤtte er vor sich! Ihm stuͤnde die gesammte Mythologie, die Aesopische Fabel, die Idyllen der Alten, und von den Neuern Reisebeschreibungen, Geschich- te, Philosophie, endlich die Naturwissenschaft selbst zur Seite. Was haben die Alten in ihren Georgi- cis gesucht, als unter mancherlei Einklei- dungen den Menschen menschlich zu ma- chen, und ihn allmaͤlich zu Beobachtung der Natur, zur Ordnung, zum Fleiß und Wohlseyn zu erheben? Auch dem Vir - gil in seinen Georgicis koͤnnen wir diesen wenigstens mittelbaren Zweck nicht abspre- chen. Er, der außer dem Kriegsgluͤck der Roͤmer gewiß noch ein ander Gluͤck der Landbesitzer und Landbewohner kannte, wollte durch sein schoͤnes, in vielen Stellen so menschliches Gedicht eben auch Dies be- foͤrdern. Die Aesopische Fabel fuͤhret uns ganz aufs Land. Hier sprechen Baͤume, Thiere, Menschen; Naturwahrheit ists, was sie sa- gen. Und wenn Leßing die Thiere wegen ihrer Charakter-Bestandheit als eigentliche Fabelactoren gerechtfertigt hat; wem bliebe mehr Bestandheit als dem Baum, der Pflanze, der Blume, der ganzen Natur- ordnung in ihrem unermeßlich-langsamen E 5 Fortschritt? Hier also ist, recht gebraucht, Weisheit und Klugheit der Natur zu ler- nen; hier oder nirgend. Immer werden uns die schoͤnen Pflanzen- und Baumfa- beln, insonderheit des Orients reizen, wo sie in ihrer stummen Sprache uns ewige suͤße Naturwahrheit sagen. Die Mythologie ist eine belebte Welt. Nur mit Entzuͤcken kann ich daran denken, wie viel Geist, Sinn und Gemuͤth man in fluͤchtige Erscheinungen, in wandelbare Ge- stalten der Natur gelegt hat, allen Men- schen zur Ansicht, und dem menschlichern Menschen zur Bildung und Lehre. Wer irgend eine schoͤne Dichtung der alten My- thologie und Naturlehre uns neu ins Ge- muͤth zu rufen weiß, hat eine Blume vom Kranz der Mutter der Goͤtter ge- pfluͤckt und in unsre Gaͤrten verpflanzet. Das Idyll der Alten, (ein unbestimm- ter Name,) hat mit dem Verfolg der Zei- ten sich gleichsam willkuͤhrlich zu Land- Schaͤfer-Hirten-Fischergedichten, kurz in Gesellschaften zuruͤckgezogen, in denen ohne politische Kunst die unschuldige Natur re- gieret. Manche von Bions , Moschus , Theokrits Gesaͤngen gehoͤren dahin; und die neuere Poesie, wenn sie der politischen Welt und der wohlluͤstigen Kreise satt war, hat ihr Daseyn dahin verleget. Virgil , dessen meiste Eclogen bloße Nachbildungen sind, entbrach sich nicht, in seinem Tity - rus , Pollio , Silen diese reizende Dichtung als eine Einfassung hoͤherer Vor- stellungen zu gebrauchen. Daher als in den mittleren Zeiten die Poesie wieder auflebte, erinnerte sie sich bald ihres ehemaligen wahren Geburts- landes unter Pflanzen und Blumen. Die Provenzal- und Romantischen Dichter lieb- ten dergleichen Beschreibungen; bei Spen - ser z. B. sind es noch immer anmuthige Stanzen, die uns schoͤne Wuͤsteneien samt ihren Gewaͤchsen und Blumen schildern. Mit außerordentlicher Liebe und einem Ue- berfluß der Phantasie sind Cowley 's sechs Buͤcher von Pflanzen, Kraͤutern und Baͤumen geschrieben; ein neuerer Britte, der den Botanischen Garten The Botanic Garden containing the Lo- ves of the Plants, with Philosophical No- tes, Lond. 1788. nach Linneus Geschlechter-System, in ihm also vorzuͤglich die Liebe der Pflanzen besang, scheint, nach Proben zu urtheilen, auch viel Artiges gereimt zu haben. Unter Deut- schen Dichtern hat von unserm alten Brockes Geßner mit Recht gesagt: „er hat die Natur in ihren mannichfaltigen Schoͤnheiten bis auf das kleinste Detail genau beobachtet: sein zartes Gefuͤhl wuͤrde durch die kleinsten Umstaͤnde geruͤhrt; ein Graͤschen mit Thautropfen an der Sonne hat ihn begeistert; seine Gemaͤlde sind oft zu weitschweifig, oft zu erkuͤnstelt; aber seine Gedichte sind doch ein Magazin von Gemaͤlden und Bildern, die gerade aus der Natur genommen sind. Sie erinnern uns an Schoͤnheiten, an Umstaͤnde, die wir oft selbst bemerkt haben und jetzt wieder ganz lebhaft denken.“ Hallers Alpen, Kleists , Geßners Gedichte , Thom - sons Jahrszeiten sprechen fuͤr sich selbst. Einer der Genannten hatte, als er sein Gedicht uͤber Pflanzen und Baͤume schrieb, sich aufs Land zuruͤckgezogen, und setzte sich daselbst als einem Lebenden folgende Grabschrift: Grabschrift eines Lebenden . Hier ruht, o Wandrer, unter dem niedern Dach Der Dichter Cowlei , selig-entronnen schon Der ach wie leeren und wie eitlen Und so entbehrlichen Menschen- muͤhe! In Armuth glaͤnzt er; aber unruͤhmlich nicht: An traͤger Muße will er kein Edler seyn. Reichthuͤmer, die der Poͤbel liebet, Haßte er stets mit der kuͤhnsten Feindschaft. Gib ihm, o Wandrer, gib dem Geschiede- nen, Den hier ein kleiner Winkel der Erde birgt, Und ihm genuͤget, Deinen Segen: „Leicht sei die Erde dir! Sorg'- entladner!“ Und streu' ihm Blumen, Rosen, die bald verbluͤhn! (Ein Abgeschiedner freuet der Blumen sich!) Und mit dem duftendsten der Kraͤnze Kroͤne die Asche des gluͤhnden Dichters. Ein sanfterer Naturdichter wuͤrde lebend und sterbend sagen: et ego in Arcadia! 46. I n einer freundschaftlichen Versammlung hoͤrte ich neulich eine Vorlesung uͤber Wahn und Wahnsinn der Men - schen , deren Abschrift ich mir erbat und Ihnen jetzt statt meines Briefes mit- theile. Ueber Wahn und Wahnsinn der Menschen. Eine Vorlesung . Ohne Zweifel haben Sie, m. H., bei der Zergliederung menschlicher Koͤrper die vielen, unendlichfeinen Striche bemerkt, die die im Gehirn dergestalt durch einander laufen, daß sie das Messer des Zergliede- rers nicht mehr verfolgen kann. Eben so fein und vielleicht noch feiner laufen in der menschlichen Seele die Linien des Wah - nes und der Wahrheit durch einander, daß man nach der sorgfaͤltigsten Pruͤfung kaum an sich selbst weiß, wo Eins sich vom Andern scheide. Wenn alles das Wahn ist, was wir ohne deutliche Gruͤnde auf guten Glauben annehmen: so ist der groͤßeste Theil unsrer Erfahrungen, unsre fruͤhgelernte Kenntnisse, unsre fruͤherworbne Gewohnheiten, und Neigungen auf Wahn gegruͤndet. Sie be- ruhen entweder auf dem Zeugniß unsrer Sinne, oder anderer Menschen, denen wir glauben, die wir unvermerkt, uns selbst un- bewußt, nachahmen, endlich am meisten auf unsrer eignen Bequemlichkeit und Disposi- Vierte Samml. F tion, lieber so als anders zu handeln. So bevestigt sich in uns allmaͤlich eine Ge - denk - eine Handlungsweise , deren Ursprung in einzelnen Faͤllen wir selten er- forschen moͤgen. Nur wenigen sehr hellen und reinen Seelen ists gegeben, uͤber die wichtigsten Striche ihrer Denkart sich un- partheiisch zu pruͤfen, Wahrheit und Irr- thum, Vorurtheil und Gewißheit in ihnen strenge zu unterscheiden, und sodann dem unschuldigen oder gar nothwendigen Wahn zwar sein Gebiet zu lassen, mit nichten ihn aber zum Gesetzgeber jeder menschlichen Wahrheit, mit nichten ihn zum Richter je- der fremden Denk- und Sinnesart zu er- heben. Diese seltnen, vom Himmel privilegir- ten Seelen sind diejenigen, die man allein tolerant nennen kann; sie schonen den Wahn des andern auch in Faͤllen, in denen er ihrem eignen liebsten Wahn entgegen- stehet. Sie sind die duldsamsten Freunde, die lehrreichsten Gesellschafter: denn auch uͤber die verwickelsten Aufgaben der Men- schengeschichte laͤßt sich mit ihnen ohne Haß und Zorn disputiren. Der gemeine Haufe der Menschen ist nur solange Freund gegen einander, als sein Lieblingswahn ge- foͤrdert oder wenigstens nicht beleidigt wird. Und wie sonderbar, wie abentheuerlich dieser Lieblingswahn seyn koͤnne, lernt man zuweilen mit der groͤßesten Verwunderung eben da einsehen, wo man dergleichen bei sonst so richtigen Begriffen und Grundsaͤz- zen je kaum vermuthet haͤtte. Der Glaube an Gespenster und an andre Dinge dieser Art ist wohl der verzeihlichste in solchem geheimen Wahnregister, da sich in ihm oft wunderlichere Artikel finden. Gemeiniglich F 2 haͤlt ihr Besitzer diese, als sein eigenstes Eigenthum theuer und werth; unvermerkt entwischen sie ihm nur, wenn nicht etwa gewaltige Leidenschaften, außerordentliche Zeitumstaͤnde und Situationen sie mit Ge- walt erpressen und herausfordern. Dann streitet er aber auch fuͤr sie, eben weil sie Schwaͤchen seiner Natur, Gebilde seiner Phantasie sind, als fuͤr seine liebsten Kin- der. Wer um die wichtigste Wahrheit mit ihm ficht, wird nie so sehr sein Gegner seyn, als wer gegen eine Lieblingsmeinung, die wie ein Polypus in sein Herz gewach- sen ist, einige Befremdung aͤußert. Gehen Sie, m. H., in Ihren Gedanken die Zahl Derer durch, die Sie in Ansehung ihres Innern am naͤchsten gekannt haben; Sie werden sich sonderbarer Wahngestalten erinnern. Das Gebiet des Wahnes erstreckt sich insonderheit auf Dinge, die den Menschen zunaͤchst angehen, auf seine Person und Gestalt, auf seinen Stand, seine Nation, seinen Zweck und Charakter. Wie es z. B. Personen giebt, die im Innern ein ganz anderes Bild von sich umhertragen, als die sie sind; sie erschrecken vor ihrer aͤu- ßern Gestalt im Spiegel als vor der Ge- stalt eines fremden Wesens; so giebt es deren noch weit mehrere, die in Ansehung ihres Innern ein fremdes Bild mit sich tragen. Ein beruͤhmter Koͤnig unsres Jahr- hunderts war in seiner Phantasie immer nur Oberster eines Regiments, und wars mit Lust; alle koͤnigliche Pflichten erfuͤllte er als eine fremde Person, als ein stren- ger Amtmann. Unzaͤhliche Wunderlichkei- ten flossen daher, die ohne dies Bild einer fremden, ihm einwohnenden Wahngestalt F 3 unerklaͤrlich blieben, durch sie aber sich alle erklaͤren. Was uns die Berichte der Aerzte von Krankheiten der Einbildungskraft er- zaͤhlen, da jener sich seine Fuͤße als Stroh- halme, dieser sein Gesaͤß glaͤsern dachte, ein dritter die Welt zu uͤberschwemmen fuͤrchtete, sobald er sein Wasser ließe, alle diese Geschichten oder Maͤhrchen sagen im Grunde weniger, als die Erfahrungen manches Wahns, den man bei den ver- nuͤnftigsten Menschen zuweilen wahrnimmt. Einige Gattungen desselben pflanzen sich in Familien fort, und mischen sich als ein Erbtheil von Vater und Mutter auf die sonderbarste Weise. Andre haften an Staͤn- den, Aemtern, Lebensarten, Zuͤnften, und bekommen den Ehrennamen esprit de corps, Gefuͤhl seines Standes , Familien - ehre . Die feinsten aber hangen von in- dividuellen Umstaͤnden und Erfahrungen ab; sie sind Abdruͤcke von der eigensten Beschaf- fenheit des Koͤrpers und der Seele des Waͤhnenden, samt den Situationen, die vorzuͤglich auf ihn wirkten, kurz, beve - stigte Luftgebilde seiner fruͤhen Jugend . Daher sind sie theoretisch oder praktisch; selten aber eins ohne das an- dre. Denn der Mensch ist nie so vergnuͤgt, als wenn er nach Wahn handeln kann, zumal nach einem von andern verdammten, von ihm selbst geformten, Lieblingswahne. Da lebt er recht in seinem Element und ist seiner Kunst Meister. Sie merken leicht, m. H., in welchen Staͤnden diese Wahnbilder am sichtbarsten seyn muͤssen; in solchen naͤmlich, die sich am freiesten aͤußern duͤrfen. Wer vor an- dern Scheu haben, wer aus Beruf und Noth auf dem gebahnten Wege angenom- mener Meinungen oder richtiger Begriffe F 4 bleiben muß; der giebt sich Muͤhe, sonder- bare Eigenheiten seines Kopfs und Her- zens zu unterdruͤcken, wenigstens verschließt er sie in der innersten Kammer, und reitet auf seinem Steckenpferde nicht eben an hellem lichten Tage, nicht auf dem Markte. Wer sich dagegen alles erlaubt und dabei sein Personale aͤußerst hoch haͤlt, der kann mit diesen Originalpoesieen seines Wesens oft nicht laut genug hervortreten; er er- findet deren eine Reihe, mit der Zeit aus bloßer Willkuͤhr und glaubt sich gar dazu in die Welt gepflanzt, andere damit zu vergnuͤgen. Die sogenannten starken Charaktere , große Geister , ex pro- fesso vornehme Leute u. f. liefern in ihrer Geschichte davon wunderbare Bei- spiele. Die alten Roͤmischen Caͤsars, eine Reihe Regenten, Helden, Religionsstifter, Schwaͤrmer, Dichter, Philosophen hatten sonderbare Wahngestalten im Kopf, die sie gewoͤhnlich andern aufzwingen wollten, und damit oft zum Ziele kamen. Denn leider ist bekannt, daß es fast nichts ansteckenderes in der Welt als Wahn und Wahnsinn gebe. Die Wahrheit muß man durch Gruͤnde muͤhsam erforschen; den Wahn nimmt man durch Nachahmung, oft unvermerkt, aus Gefaͤlligkeit, durch das bloße Zusammenseyn mit dem Waͤhnenden, durch Theilnehmung an seinen uͤbrigen gu- ten Gesinnungen, auf guten Glauben an. Wahn theilt sich mit, wie sich das Gaͤh- nen mittheilt, wie Gesichtszuͤge und Stim- mungen in uns uͤbergehen, wie Eine Saite der andern harmonisch antwortet. Kommt nun noch die Bestrebsamkeit des Waͤhnen- den dazu, uns die Lieblingsmeinungen sei- ner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen, und er weiß sich dabei recht zu nehmen; F 5 wer wird einem Freunde zu Gefallen nicht gern zuerst unschuldig mitwaͤhnen, bald maͤchtig glauben und auf andre mit eben der Bestrebsamkeit seinen Glauben fort- pflanzen? Durch guten Glauben haͤngt das Menschen-Geschlecht an einander; durch ihn haben wir wo nicht alles so doch das Nuͤtzlichste und Meiste gelernt; und ein Waͤhnender, sagt man, ist deßhalb ja noch kein Betruͤger. Der Wahn, eben weil er Wahn ist, gefaͤllt sich sogern in Gesellschaft; in ihr erquicket er sich, da er fuͤr sich selbst ohne Grund und Gewißheit waͤre; zu die- sem Zweck ist ihm auch die schlechteste Ge- sellschaft die beste. Nationalwahn ist ein furchtbarer Name. Was in einer Nation einmal Wur- zel gefaßt hat, was ein Volk anerkennet und hochhaͤlt; wie sollte das nicht Wahr- heit seyn? wer wuͤrde daran nur zweifeln? Sprache, Gesetze, Erziehung, taͤgliche Le- bensweise — alle bevestigen es, alle weisen darauf hin; wer nicht mitwaͤhnet, ist ein Idiot, ein Feind, ein Ketzer, ein Fremd- ling. Gereicht uͤberdem, wie es gewoͤhn- lich ist, der Wahn zur Bequemlichkeit eini- ger, der geehrtesten, oder wohl gar, dem Wahn nach, zum Nutzen aller Staͤnde; haben ihn die Dichter besungen, die Phi- losophen demonstrirt, ist er vom Munde des Geruͤchts als Ruhm der Nation aus- posaunt worden; wer wird ihm widerspre- chen wollen? wer nicht lieber aus Hoͤflich- keit mitwaͤhnen? Selbst durch lose Zwei- fel des Gegenwahnes wird ein angenom- mener Wahn nur bevestigt. Die Charak- tere verschiedener Voͤlker, Sekten, Staͤnde und Menschen stoßen gegen einander; eben destomehr setzt jeder sich auf seinem Mit- telpunkt vest. Der Wahn wird ein Natio- nalschild, ein Standeswappen, eine Ge- werksfahne. Schrecklich ists, wie vest der Wahn an Worten haftet , sobald er ihnen einmal mit Macht eingepraͤgt wird. Ein gelehrter Jurist hat bemerkt, was an dem Wort Blut , Blutschande, Blutsfreunde, Blutgericht fuͤr eine Reihe schaͤdlicher Wahn- bilder hange; mit dem Wort Erb , Ei - genthum , Besitzthum u. f. ists oft nicht anders. Zu unsern Zeiten haben wirs erlebt, was die Wortschaͤlle Rechte , Menschheit , Freiheit , Gleichheit bei einem lebhaften Volk fuͤr einen Tau- mel erregt; was in und außer seinen Grenzen die Sylben Aristokrat , De - mokrat fuͤr Zank und Verdacht, fuͤr Haß und Zwietracht angerichtet haben. Zu an- dern Zeiten war es das Wort Religion , Vernunft , Offenbarung , seligma - chender Glaube , Gewissen , Cove- nant, the Causes sake u. f. Unschuldige Farben, die Gruͤnen und Blauen , die Schwarzen und Weißen ; Losungs - worte , mit denen man keinen Begriff verband, Zeichen , die gar nichts sagten, haben, sobald es Partheien galt, im Wahn- sinn Gemuͤther verwirrt, Freundschaften und Familien zerrissen, Menschen gemor- det, Laͤnder verheeret. Die Geschichte ist voll solcher Abadonnischer Namen, so daß man ein Woͤrterbuch des Wahnes und Wahnsinnes der Menschen aus ihr ziehen, und dabei oft die schnell- sten Abwechselungen, die groͤbsten Gegen- saͤtze bemerken wuͤrde. Wahn und Wahnsinn sind uͤberhaupt nicht so weit von einander, als man glaubt. So lange der Wahn sich in einem Winkel der Seele aufhaͤlt, und nur wenige Ideen angreift, behaͤlt er diesen Namen; verbrei- tet er seine Herrschaft weiter und macht sich durch lebhaftere Handlungen sichtbar; so nennt man ihn Wahnsinn. Wer kann nun jeder Zeit das Mehr und Weniger bestimmen? zumal sowohl bei einzelnen Menschen als bei ganzen Voͤlkern nach Umstaͤnden und Perioden nichts als Con - vention die Waage in der Hand hat und Namen vertheilet. Die groͤßesten Veraͤnderungen der Welt sind von Halb- wahnsinnigen bewirkt worden, und zu mancher ruͤhmlichen Handlung, zu man- chem scharf verfolgten Geschaͤfte des Le- bens gehoͤrte wirklich eine Art bleibenden Wahnsinns. „Bewahre uns Gott, werden Sie sagen, m. H., vor solcher Ansicht der menschli- chen Dinge! Unsre Erde wuͤrde ja damit ein Irrenhaus, und unsre Geschichte ein Krankenregister.“ — Sollte sie in ganzen Perioden anders zu betrachten seyn? und ist es nicht nuͤtzlich, daß man sie also betrachtet? Denn nun wird man zuerst , wenn auch in dem Zeitraum, in dem wir leben, Namen aufkommen, uͤber welche Menschen einander hassen und morden, eben durch die Geschichte voriger Zeiten aufmerksam gemacht, zu pruͤfen, was hinter den Namen sei? Man wird sie weder Gedankenlos nachbeten, noch fuͤrchtend so anstaunen, als ob mit ihnen das Ende der Welt gekom- men sei; am wenigsten wird man im blin- den Taumel mit Einer der streitenden Par- theien hassen, zuͤrnen, verlaͤumden, verfol- gen. Die Geschichte belehrt uns, daß der- gleichen Zufaͤlle des menschlichen Geistes tausend- und tausendmale bereits, nur un- ter andern Namen und Zeitumstaͤnden, ihr Spiel und Ende gehabt haben; man wird also auf seiner Hut seyn, unschaͤdlichen Wahn dulden, schaͤdlichen Wahn auswei- chen; mit nichten aber weder diesen noch jenen erbittern und reizen. Denn eben durch dies Erbittern und Reizen, (dies zeigt die Geschichte) wird der Wahn Wahn- sinn. Dadurch aber habe ich weder dem Kranken, noch mir geholfen: es sei denn, daß ich ihn wirklich toll machen wollte . Eben auch die Geschichte lehrt zwei - tens , daß weder Gewalt noch Ueberredung, am wenigsten mit Ueberredung verschleierte Gewalt und mit Gewalt unterstuͤtzte Ueberre- dung den Wahn der Menschen auszutilgen oder zurecht zu bringen vermoͤge. Durch Waffen werden Irrthuͤmer weder bestritten, noch ausgerottet; der schlechteste Wahn hingegen duͤnkt sich eine Martyrer-Wahr- heit, sobald er mit Blute gefaͤrbt dastehet. Eben Eben durch dergleichen gewaltsame Schleich- mittel sind Irrthuͤmer, die sich selbst bald uͤberlebt haͤtten, Meinungen, von denen die Betrogenen in kurzem zuruͤckgekommen waͤ- ren, schaͤdlich verewiget worden. Nie hat die reine Wahrheit mit schlauer Politik etwas zu schaffen gehabt, so wenig die Politik es je zum Zweck gehabt hat, reine Wahrheit zu befoͤrdern. Jede geht ihren Gang, und nur Kinder lassen sich von po- litischen Wahrheitphrasen dieser oder jener Parthei, oder wie die Griechen sagen, von der Svada mit der Geißel in der Hand taͤuschen. Drittens . Das einzige Mittel, wie man dem Wahn beikommen kann, ist, daß man ihm nicht beizukommen scheine. Man schuͤtze sich vor ihm und lasse ihn seines We- ges wandern; oder man zerstreue ihn und bringe ihn ohne gewaltsame Ueberredung Vierte Samml. G unvermerkt auf andre Gedanken. Die Zeit allein kann ihn heilen. Man hat mehrere Beispiele, daß mitleidige Krankenwaͤrter von der Krankheit selbst angesteckt wurden; nichts aber theilet sich leichter mit, als Krankheiten der Seele. Wer gesund ist, suche gesund zu bleiben; alle Ansteckungen werden nur dadurch eingeschraͤnkt, daß man sie isoliret. Viertens . Freie Untersuchung der Wahrheit von allen Seiten ist das einzige Gegenmittel gegen Wahn und Irrthum, von welcher Art sie seyn moͤgen. Lasset den Waͤhnenden seinen Wahn, den anders Meinenden seine Meinung vertheidigen; das ist, ihre Sache. Wuͤrden beide auch nicht gebessert, so entspringt fuͤr den Unbe- fangenen aus jedem bestrittenem Irrthum gewiß ein neuer Grund, eine neue Ansicht der Wahrheit. Daß man doch ja nicht glaube, Wahrheit koͤnne je durch bewaffne- ten Wahn gefangen, oder gar ewig im Gefaͤngniß vestgehalten werden! Sie ist ein Geist und theilt sich Geistern mit, fast ohne Koͤrper. Oft darf ihr Ton an Einem Weltende geregt werden, und er erklingt in entlegenen Laͤndern; immer aber laͤutert sich der Strom des menschlichen Erkenntnisses durch Gegensaͤtze, durch starke Contraste. Hier reißt er ab, dort setzt er an; und zu- letzt gilt ein lange und vielgelaͤuterter Wahn den Menschen fuͤr Wahrheit. G 2 47. S eneka sandte seinem Freunde Lucil fast in jedem seiner Briefe einen Denkspruch zum Geschenk; was soll ich Ihnen fuͤr die mitgetheilte Vorlesung senden? Soll ich Sie nach Ariost Orlando furioso, Cant. XXIV. Str.75. 77. 79. 81. A. d. H. in jenes Mond-Thal fuͤhren, wo Astolf so viele Resultate des menschlichen Wahnes und Wahnsinnes er- blickte? Le lacrime e le sospiri degli amanti, L'inutil tempo, che si perde a gioco, E l'ozio lungo d'uomini ignoranti, Vani disegni, che non han mai loco; J vani desideri sono tanti Che la più parte ingombran di quel loco, Ció che in somma qua giù perdesti mai, La sù salendo ritrovar potrai. Lieber bleiben wir auf der Erde, und wollen, auch mitten unter gefaͤrbten Ne- beln des Wahnes und Wahnsinns die Burg der Wahrheit suchen. Nicht alles ist Wahn und Traum im Gebiet der Menschheit; es giebt fuͤr uns insonderheit im Praktischen, im Moralischen eine gewisse, sichere Wahrheit. Ihre Stimme spricht auch mitten im politischen Geraͤusch; sie spricht fuͤr jeden, der sie hoͤren will, in seinem innersten Herzen und straft jede Syrenenstimme gefaͤlliger Meinungen Luͤge. Auch in den dunkelsten Zeiten schien ihr Licht in reinere Seelen; auch in der groͤßesten Verwirrung der Welthaͤndel war G 3 sie dem Unbefangenen ein sicheres Richt- maas. Koͤnnen Sie sich z. B. verworrenere Zeiten als die Zeiten der Ligue und der Religionsgaͤhrungen in Frankreich denken? Und siehe, nebst vielen andern hellen und aufrichtigen Geistern erschien und schrieb in ihnen der Praͤsident de Thou seine Geschichte. Wollen Sie bei dem lan- gen Werk in einem kuͤrzern Inbegriff be- merken, wie hoch er sich uͤber Wahn und Vorurtheile seines Standes, seiner Geburt, seines Landes, seiner Secte, seiner Zeit hinwegschwang: so lesen Sie nur die Stel- len, die von der Spanischen Inquisition weggestrichen wurden, die Laͤsterschriften, die Scioppius und Machault gegen ihn schrieben, und seine linde Antwort da- gegen im Gedicht an die Nachwelt , Posteritati Alles dies findet man im 7ten Theil der Londner Ausgabe von Thuans Geschichte beisammen. Auch die commentarios de vita sua, in denen nebst andern das Gedicht Poste- ritati vorkommt. Die hier frei uͤbersetzte Ode Veritati steht Tom. I. voran seiner Geschichte. In Gruters deliciis Poëtar. Gallor. fehlen Thuans beste Stuͤcke gaͤnzlich. A. d. H. . Er, der den groͤßeren Sieg erkaͤmpft hatte, vom Wahne frei zu seyn, erhielt auch den viel leichteren, den Ver- laͤumdungen, den Verfolgungen des Wahns sich klug zu entziehen oder beherzt entgegen zu treten. Davon sind seine Briefe, davon die von ihm selbst uͤber sein Leben gege- bene Rechenschaft Zeuge. Hoͤren Sie die wahre Dedication seiner Geschichte, sein Gebet an die Wahrheit. G 4 Der Wahrheit . Des Himmels Tochter, freundliche Wahrheit Du, Der Erde Schreckbild, strafende Wahrheit Du, Wo bist du hingeflohn, o Goͤttinn? Du der Unschuldigen letzte Zuflucht! Wohin ich wende meinen erspaͤhnden Blick, Wohin ich richte meinen verirrten Tritt, Dich find' ich nirgend. Blindes Dunkel, Truͤgender Wahn hat die Welt um- fangen. Doch wenn du von uns, von dem unseligen Verfolgerlande zuͤrnend die Fluͤgel schwangst, Und Dich mein Zutritt nicht erreichet, Hoͤrest Du mich in der Fern' auch guͤtig. Du der Gemuͤther leuchtende Fuͤhrerinn O Du, der Nebel holde Zerstreuerinn, Die, wann der Tritt uns fast ersinket, Maͤchtigen, hebenden Arm uns reichet. Daß nie von banger, nichtiger Furcht betaͤubt, Daß nie von leerem blendenden Glanz verlockt, Die Seele sich und Den verliere, Der auch in Irre der Menschen Weg lenkt. Du, die nicht Scheu, nicht truͤgliche Hoffnung kennt, Du, die nicht Haß erschuͤttert, noch eitle Gunst, Die der Verlaͤumdung Bubenpfeile Frei von des Redlichen Brust zuruͤckwirft; Den Ruhmeswehrten giebst du Unsterblichkeit, Begrabnen Frevel ziehst du ans Licht hervor Und Recht und Unrecht bringet Deine Maͤchtige Stimm' in das Ohr der Nachwelt, G 5 Unwiderrufbar! Keine der webenden Drei Schicksalsschwestern loͤs't, was die an- dre spann; Und was der Wahrheit heiliger Recht- spruch Goͤttlich entschieden, das bleibt gerichtet. Wer Dich, o hohe Goͤttinn, wer Dich verehrt, Der betet Gott an! Immer ein Herr sein selbst Spricht er der Wahrheit Recht, und uͤbet Jede der Pflichten fuͤr Menschen mensch- lich. Nicht nach der Willkuͤhr stolzer Trimalcions Wird Er entscheiden, luͤstend nach ihrem Mahl; Wird nie ihr juckend Ohr mit suͤßem Menschenverderblichem Murmeln kitzeln. Fuͤr Freunde leben, leben fuͤrs Vaterland, Den Frevel scheuen mehr als den bittern Tod, O Wahrheit, dies ist seine Ehre, Dies sein Beruf und sein innrer Lohn dies. Herab vom Himmel senke dich, Koͤniginn, Und mit dir komme strenge Gerechtigkeit, Und Schaam und Treu' der Erde wieder Und die so lang' uns entflohne Einfalt. Wir warten Deiner. Waffen und Nerv' und Arm Erwarten alle, Goͤttinn, von Dir allein! — Der Zeiten letzte nahn; es altert Bloͤde die Welt und ertraͤumet Wahn- sinn. Schau her, wie hebt dort, Flammen und Schwertern selbst Unuͤberwindbar, trotzend die Hyder sich; Zehn Haͤupter fallen und aus jedem Blutenden steigen der Haͤupter tausend. Des Wahnes Weltmeer waͤlzet der Meinungen Auf Wellen Wellen; Religion erseufzt Im Schiffbruch, und der Liebe Bande Loͤsen sich auf und der Boden sinket. Herab vom Himmel senke Dich, Koͤniginn, Mit Deiner Rechte stuͤrzend des Unthiers Brut, Die suͤßes Gift den traͤgen Fuͤrsten Taͤuschend in goldener Schaale reichet. O Du im Schiffbruch helfende Retterinn, Dem tollen Aufruhr frevelnder Meinungen, Der Luͤsternheit und Frechheit steure, Steure der heuchelnden Luͤg', o Wahrheit. 48. G ewiß, eine Fabel muß im Kreise der Gesellschaft erfunden werden. So er- fand Aesop die Seinen; sie flogen ihm gleichsam, wie der Hauch lebendiger Ge- genstaͤnde, aus Veranlassungen zu; darum ist der Geist in ihnen auch jetzo noch le- bendig. So sind des la Fontaine , Gleims , und aller guten Fabeldichter Erzaͤhlungen entstanden; selbst wenn sie alte Erfindungen aufnahmen, verjuͤngten sie diese, und erzaͤhlten sie jetzt fuͤr ihre Gesellschaft. Wer sich hinsetzt und eine trockene Lehre, einen duͤrren Sittenspruch in eine Schale naͤhet, dem ist die wahre Fabelmuse nie erschienen. Als neulich in einer Gesellschaft von den unverstandenen Namen Aristokrat , Demokrat u. f. gesprochen und disputirt war, trat wie ein freundlicher Genius Ei- ner aus der Gesellschaft zur Koͤnigin des Festes, ruͤhrte ihre Scherpe an, und sagte diese Fabel . Laß Dir ein Maͤhrchen erzaͤhlen an Deinem heutigen Tage, Das vielleicht, wenn der Sinn dir beliebt, Vergnuͤgen Dir bringet. Seh' ich nicht hier ein Band, von Gold und Seide gewirket, Von der weicheren Huͤfte herab zur Ferse dir fließen? Davon nahmen die Faͤden das Wort, und redeten also: Der Goldfaden . „Nein! ich kann es nicht dulden, mit die- sen seidenen Faͤden Laͤnger hier in Gemeinschaft zu leben. Sie sind so gering'rer Herkunft als ich. Ich stamme vom Scepter Jupiters selber. Gold ist der Dreizack Neptuns, und golden die Krone des Pluto.“ Der Seidenfaden . „Mir gebuͤhret die Ehre! Ich bin nicht gegrabenes Gold nur, Aus der Faͤule der Erd' und rohen Felsen gescharret; Ein lebendig Geschoͤpf ernaͤhrte zu feinerem Saft mich, Zog mich aus seinem Busen und spann mit Kunst und Geschick mich. Jetzo tragen die Koͤnige mich und die Herren an Festen; Weit gefaͤlliger bin ich, als Dein beschwerlicher Reichthum.“ Der Leinfaden . „Was erzaͤhlt Ihr euch hier? und sprecht von euren Verdiensten? Bin nicht Ich der Erde, des Wassers holdester Zoͤgling? Mich erzeugte die thauende Nacht; der strah- lende Himmel Siehet mit Wohlgefallen auf mich. Die golde- nen Faͤden Unterstuͤtz' ich allein; sonst wuͤrd' ihr nichtiger Schimmer Bald verschwinden. Ich halt' und trag' empor sie zum Glanze; Und verbarg mich bescheiden, verlange nicht selber zu schimmern.“ Also Also sprachen die Drei. Und was geschahe? Sie trennten Zuͤrnend sich von einander, und rissen, und wollten nicht weiter — Nun lag ohne Zierde das Band, und ohne Gestalt da; Das in stolzer Schoͤne vorhin die Huͤfte ge- guͤrtet, Hatte nicht Form noch Werth; verachtet fiel es zur Erde. Kaum war das Maͤhrchen geendiget, als Die, an welche es gerichtet war, auf- stand und mit Genehmigung Aller die weisse Scherpe, als ein Zeichen des Friedens im Saale der Gesellschaft aufhing. Mit gu- ter Wirkung: denn wenn im Taumel der Worte nachher die genannten Friedensstoͤ- rer jemanden nur auf die Lippe traten; Vierte Samml. H sogleich ward auf die Scherpe gewiesen. Die drei Faͤden sprachen ihre stumme Lehre und der Ton der guten Gesellschaft stellte sich wieder her. 49. D er die Schickungen lenkt, laͤßt oft den froͤmmsten Wunsch, mancher Seligkeit goldnes Bild Unvollendet, und webt da Labyrinthe hin, wo ein Sterblicher gehen will — Gilt dies vom Schicksal einzelner Men- schen, wie viel mehr vom Schicksal der Voͤlker und Reiche! Eben habe ich die Geschichte des Herzogs von Bourgogne , Enkels H 2 Ludwigs 14., Vaters Ludwigs 15. mit son- derbaren Empfindungen gelesen Vie du Dauphin, Pere de Louis XV. ecrites sur les memoires de la Cour, en- richés des ecrits du même Prince, p. l'Abbè Proyart , Lion 1782. . Sie wissen, daß dieser Prinz ein Zoͤg- ling Fenelons war; die Unarten, die das koͤnigliche Kind an sich hatte, als Fe- nelon zu ihm kam, werden auch in dieser Geschichte nicht verschwiegen. Lesen Sie nun, wie Fenelon sich dabei benahm, und was fuͤr einen vortreflichen, nicht nur Hoffnungs- sondern wirklich Fruchtreichen Charakter er aus dem Prinzen gebildet; und ein suͤßes Erstaunen wird Sie ergrei- fen. Sie sehen hier den Prinzen unge- schmeichelt, in seinem ganzen Leben und Wesen, bei Hofe, im Felde, im Cabinett, zu Hause, gegen den Koͤnig, gegen seine Gemahlin, gegen Hofleute, Erzieher, Leh- rer, Hausgenossen handeln. Handeln; nicht nur sprechen oder denken. Und allent- halben ist er sich gleich; allenthalben bleibt er die edle, standhafte, in groͤßester Stille wirkende Seele. Es ist, als ob Fenelons Geist ihn nicht umschwebe, sondern erfuͤllt habe; Fenelons Denkart ist in die seinige verwebet. Sage nun jemand, daß Erziehung, wenn sie rechter Art ist, nichts fruchte! Der Mensch ist ja alles durch Erziehung; oder vielmehr er wirds, bis ans Ende sei- nes Lebens. Nur kommt es darauf an, wie er erzogen werde? Bildung der Denk- art, der Gesinnungen und Sitten ist die einzige Erziehung, die diesen Namen verdient, nicht Unterricht, nicht Lehre. Und wohl dem Prinzen, dem ein Fenelon H 3 zum Erzieher ward! Wohl jedem Erzie- her, dem Fenelon zum Muster dienet! Sage jemand, daß bei Prinzen keine Erziehung moͤglich sei. Am Hofe Lud- wigs 14., des eigensinnigsten Koͤnigs, mit- ten unter Schmeicheleien, Verderbnissen und Verfuͤhrungen der Zeit, an einem Kinde von auffahrendem, gebieterischen, Geburtsstolzen, launischen Charakter war sie moͤglich, und erprobte sich in den ver- worrensten Verhaͤltnissen, in den schwersten Scenen. Sage jemand endlich, daß Prinzen kei- ner Dankbarkeit, keiner Freundschaft faͤhig sind. Auch unter dem aͤußersten Haß Ludwigs 14. gegen Fenelon blieb der Her- zog und Dauphin seinem Freunde treu bis ans Ende seines Lebens. Und dieser schonte ihn auf keine Weise. Sie finden einige Briefe Fenelons in dieser Sammlung; die uͤbrigen (unersetzlicher Ver- lust!) verbrannte Ludwig mit eigner Hand nach seines Enkels Tode; vermuthlich, weil er sich selbst bei seinem Haß gegen diesen wuͤrdigen Mann so sehr im Unrecht fand, und mit den Briefen sein eignes Unrecht zu vertilgen glaubte. Denn nie versoͤhnte sich Ludwig mit Fenelon, auch nicht auf den Brief, den dieser ihm sterbend schrieb. Der Monarch wollte den Erzbischof nicht unrechtmaͤßiger Weise gehaßt haben. Gut, daß der Monarch die Papiere des Prinzen mit jenen Briefen, (deren keine Zeile Er schreiben konnte,) nicht auch verbrannte. Sie sind in langen Stellen hier gedruckt; Fenelons Geist athmet in jedem Grundsatz, so wie in der ganzen, sehr reinen und edeln Schreibart. Nur siehet man auch, daß ein Prinz diese Grund- saͤtze gedacht habe; sie sind, wenn ich so H 4 sagen darf, gedruͤckter, beschraͤnkter, als sie in Fenelons Seele bluͤhten; aber Ehren - voll , schoͤn , koͤniglich , fuͤrstlich . Ausziehen will ich nichts aus diesen Maximen. Dem Geist des Zeitalters und der Denkart Fenelons gemaͤß ehren sie die Staͤnde ungemein, machen die Religion zur Basis der Reichsverfassung, und sind dem Protestantismus nicht guͤnstig. Da- gegen enthalten sie von den unerlaßbaren Pflichten aller Staͤnde und des Regenten selbst alle die Grundsaͤtze, die wir in Fe - nelons vortreflichen Rathschlaͤgen an einen Koͤnig finden. Wenn diese viel eigentlicher das livre d'or sind, als was gewoͤhnlich den Namen fuͤhret: so kann man die Aufsaͤtze des Dauphins ohne Schmeichelei dem Buch des Marc - Aurels an die Seite setzen, nicht als das Werk eines Mannes, sondern als die Voruͤbung eines Juͤnglings; nicht als System, son- dern nach Zweck und Absicht. Und wie er schrieb, so handelte der koͤnigliche Juͤngling. Sobald er, welches ihm sehr schwer ward, das Zutrauen Lud- wigs gewann, veranlassete er Berichte aus allen Provinzen des Landes nach Punkten, die er selbst aufgesetzt hatte, die allenthalben ins Einzelne gingen und zeigten, daß der Kronerbe alle Bedruͤcknisse des Reichs in allen Staͤnden Classenweise kannte. Als Feldherr hatte er im Kriege sie kennen gelernt, und er besaß gerade den eisernen Fleiß, die unerschuͤtterliche Ste- tigkeit des Willens, diesen Uebeln auf den Grund zu kommen und ihnen einmal, we- nigstens Theilweise, abzuhelfen. Die Berichte liefen ein, zwei und vierzig Baͤnde in Folio; und die Be- schwerden, die Maͤngel und Mißbraͤuche H 5 uͤberstiegen den Begriff des Redacteurs, des bekannten Grafen Boulainvilliers so weit, daß er sie sich dem Prinzen nicht vorzulegen getraute. Dieser aber las doch, las dabei die eingeschickten einzelnen Kla- gen, Beschwerden und Verbesserungsvor- schlaͤge, mit dem großen Grundsatz: „daß „wenn in einem ganzen Bande chimaͤrischer „Speculationen sich auch nur Eine nuͤtz- „liche Beobachtung faͤnde, man die Zeit „nicht bedauern muͤsse, die man aufs Le- „sen verwandt hat.“ Die Mittel, diesen Verderbnissen abzuhelfen reiften in der stillen Seele des Prinzen — — Und nun? Trauren Sie, meine Freunde; die muntre Gemahlin des Prinzen, die er zaͤrtlich liebte, stirbt, von den Aerzten hin- gerichtet; innerhalb sechs Tagen stirbt der Prinz ihr nach, im dreissigsten Jahr seines bluͤhenden Lebens. Lesen Sie die Geschichte seiner Krankheit, den Eigensinn Ludwigs dabei, das Ende des Prinzen; unwissend Ihrer wird eine Thraͤne in Ihr Auge treten, und was wird dabei Ihr Wort seyn? Fenelon sagte, als er die traurige Nach- richt vernahm: „Meine Bande sind geloͤ- set; nichts haͤlt mich mehr an der Erde.“ Ludwig dagegen sagte „ich preise Gott fuͤr die Gnade, die er ihm geschenkt hat, so heilig zu sterben, als er lebte.“ Der Koͤ- nig ertrug, (so sagt ein Geschichtschreiber,) alles als Christ, glaubte daß Gott das Reich um der Suͤnden willen seines Koͤni- ges strafe, betete seinen Richter an, und keine Klage entfuhr ihm — Wir, die wir keine Koͤnige sind, duͤrfen keine so erhabne Gleichguͤltigkeit aͤußern. Wir koͤnnen aufrichtig und herzlich bedau- ern, daß die Vorsehung dem zu Grunde gerichteten Reich einen so gepruͤften, so vesten, so thaͤtigen Koͤnig, auch nur auf funfzehn oder zwanzig Jahre zu schenken nicht genehmigte. Haͤtte er in diesen nur den hundertsten Theil seiner reifgewordenen Entschluͤsse ausgefuͤhrt, und nur den tau- sendsten Theil der Uebel, deren er sich erbarmte, gehoben; wie anders waͤre der Zustand und die Geschichte Frankreichs seit einem Jahrhunderte geworden! — Nun aber kam nach wenigen Jammervollen Jahren statt unsres Bourgogne der Held aller Ausschweifungen Orleans , und statt des Staatsklugen Fenelons der ruchloseste der Menschen, Du Bois ans Ruder. Die ewige Unmuͤndigkeit Ludwig des Vielgeliebten folgte, und wie es seitdem in Frankreich beschaffen ge- wesen, ist Welt- und Staatskundig. Die Memoirs von St . Simon , Du Clos , Richelieu , du Terray u. f. fuͤhren uns in einen so tiefen Abgrund von ungebun- dener Luͤderlichkeit, und frevelhafter Unord- nung, daß Jude, Christ, Heide und Tuͤrk uͤber das Resultat aͤußerst besorgt und zu- gleich sehr einig seyn mußten — — Was ist hierauf zu sagen? Gegen die Vorsehung zu murren, waͤre albern: denn wenn wir sie auch zur eigenthuͤmlichen Schutzgoͤttinn Frankreichs und der Bour- bons personificirten, ja ihr dabei die Waage des Jupiters auf Ida selbst in die Hand gaͤben; in die Eine Schaale legt sie die Graͤuel der alten vestgewurzelten Reichs- verwaltung, einen ungeheuren Berg; in die andre Schaale den jungen, von ihr gelieb- ten Kronerben. „Was kann Er zu diesem Gebirge thun? wird er nach wenigen Jah- ren es vielleicht noch thun wollen? Er entschlafe also, den Tod eines Heiligen, eines von Gott geliebten, und es gehe der Ordnung der Dinge nach, nach welcher der fortgerollte Schneeball waͤchst, bis er schmilzt, die Graͤuel sich thuͤrmen, bis sie das Gleichgewicht verlieren. Wir sind also auch des Glaubens vom großen Ludwig, „ qui souffrit tout en Chre- „tien, il crut, que Dieu punissoit le Ro- „yaume des faults de son Roi: il adora son „Juge; nulle plainte ne lui echappa; “ erinnern uns dabei aber jenes alten Ju- dengottes, der mit unkoͤniglichem Bedau- ren sprach: Dich jammert des Kuͤrbis; und mich sollte nicht jammern u. f. Lesen Sie die Worte selbst im unruhigen emigrirten Propheten. Jonas 4, 10-12. Ueber die Vergaͤnglichkeit . Eine Ode von Sarbievius. M enschlichem Elend waͤr' es eine Lindrung, Saͤnken die Dinge wieder wie sie stiegen, Langsam; doch oft begraͤbt ein schneller Umsturz Hohe Gebaͤude. Lange begluͤckt stand nichts. Der Staͤdt' und Menschen Schickungen fliegen immer auf und nieder. Jahre bedarf ein Koͤnigreich zu steigen, Stunden zu fallen. Du, der du selbst des Todes Opfer seyn wirst, Nenne darum nicht, weil die Zeit im Stillen Menschen und Menschenwohnungen zerstoͤret, Grausam die Goͤtter. Die dich zum Leben rufte, jene Stunde Rufte zum Tode dich. Der lebte lange, Wer an Verdienst und Tugend sich ein ewig Leben erworben. 50. D ie Griechische Philomele ist noch nicht verstummt; auch hat sie ihren Schmerz noch nicht vergessen. Sie klagt das Unrecht, das ihr von Menschen geschah und erweicht mit ihrem Gesange das Herz, sich von gleichem Unrecht zu enthalten. Flet Philomela nefas; neque adhuc de pectore caedis Effluxere notae, signataque sanguine, pluma est. Als ihre Schwester, die Schwalbe, sie aus der Einsamkeit des Waldes in die Ge- sellschaft, in die Haͤuser der Menschen schmeichelnd einlud: Vierte Samml. I Komm' in das Feld, komm' in die Woh- nungen Der Menschen. Mit mir sollst du da ver- gnuͤgt, Geliebt von ihnen wohnen, wo du nicht Den Thieren mehr, wo du dem Landmann singst. Ach, sprach sie, laß mich hier in meiner Ein- samkeit; Der Menschen Umgang bringt mir nur das Unrecht, Den Schmerz zuruͤck, den ich von ihnen litt. Am liebsten nimmt diese alte Philomele an den stummen Klagen der Menschen Theil, die sich ihrer Einsamkeit nahen. Sie bemerkt die Minen ihres verschwiege- nen Grams, den sie selbst einst ihrer Schwe- ster nur in stummen Bildern entdecken konnte; seit ihr die Goͤtter ihre Stimme wiedergaben, gebraucht sie dieselbe also am liebsten zum Trost des Sprachlosen Kummers der Menschheit. Einen ihrer Gesaͤnge belauschte ich neu- lich zu einer Zeit, da Nachtigallen sonst schweigen, und theile Ihnen solchen, wie ihn ein Freund aufschrieb, mit: Philomele in T . Hast du die Klagen gehoͤrt, die juͤngst vom einsamen Aste An den Ufern der Ilm Philomela toͤnte? Mir kamen Einige Laute davon; vernimm von ihnen den Nachhall. „Wie so Blaͤtterlos ist der Hain! Wie leer das Gestraͤuche! Keine Stimme ertoͤnt, als nur der Raben und Elstern I 2 Heisres Geschrei. Es klettert und pfei ft die die- bische Meise An den Orten, die sonst nur meine Lieder erfuͤllten. Ach, wohin ist der Geist der Liebe geflohen? wo ist er, Und wo soll ich ihn finden? Wer wird ihn wieder erwecken? Wann wir umher im Kreise der schattigen Ulmen, der Pappeln, Saßen, und uns erweckten zu zaͤrtlichen Lie- dern: ein Ton sucht Lockend den andern; es schlaͤgt von der Brust des antwortenden Saͤngers Lauter die Liebe zuruͤck ans Herz des rufenden: wechselnd Streitet im bruͤnstigen Zwist der Gesang. Es schallet vom Felsen, Schallt aus dem Haine wieder; es hebt der glaͤnzende Bach sich Liebeschwellend empor; von athmenden Bluͤthen und Zweigen Haucht balsamischer Duft umher durch die Luͤfte, und leise Regt sich die schweigende Nacht mit Thaube- feuchteten Schwingen. Aber der Menschen holdes Geschlecht; wie seh' ich sie traurig Jene Gefilde durchwandeln! Wie fremd' am Blick und von Ansehn! Wohin wendt sich ihr truͤberes Aug'? Ach, hin zu den Scenen Voll des Mordes und Bluts! O ruft die Sinnen zuruͤcke! Warum sie tauchen in Graͤul und Elend der Menschen? Wer wird euch Kuͤnftig erwecken die Brust zu sanftern, hol- dern Gefuͤhlen? Wird dann das beste Gluͤck des Lebens, die Freiheit, so theuer, I 3 So mit Stroͤmen des Blutes erkauft? Wer wird sie erkennen, Wer die schmalere Grenze, wo Recht sich schei- det vom Unrecht? Blicke des Argwohns begegnen dem Freund' aus dem Auge des Freundes. Jedes festere Band des Lebens knuͤpfet und loͤs't sich Nur durch Unwill und Wuth. Ich sehe den stilleren Weisen Einsam wandeln; sein Haupt deckt truͤber Tiefsinn; es haͤnget Zitternd uͤber demselben das Schwert der Ent- scheidung; ihm toͤnen Nicht mehr die Lieder ins Ohr der zarten Liebe, der Freundschaft, Der erweckten Natur, des suͤßen traulichen Umgangs. Und o das bluͤhende Maͤdchen! Ihr Hauch belebte die Wuͤste, Wann die Wuͤste beleben sich koͤnnte. Von ihrem Gesange Uebersteigen die Stralen die meinigen. Waͤre zur Blume Sie des Haines geschaffen, kein Bluͤmchen glich ihr an Reize, Keines an himmlischem Glanz noch Duft. Sie senket ihr Auge Nieder vom nackten Gipfel der hocherhabenen Ulme Auf das veroͤdete Land, und in sich ersterben die Stralen.“ Also sang vom schwankenden Ast weißagend der Vogel, Und der Nordwind verstummte; es nahten sich lindernde Weste. Aber es schwebt' in der Hoͤh' mit ausgesprei- teten Rudern, Und mit gierigem Aug' ein Geyer, duͤrstend nach Blute. Dieser ersah den lieblichen Saͤnger, und stuͤrzt von der Hoͤhe, I 4 Faßt und druͤckt ihn gewaltig mit krummge- spitzeter Klaue, Reißt ihm die blutende Brust auf, und hackte begierig sein Leben. Nicht ein leiser wimmernder Laut ward weiter gehoͤret, Es entfloh die Seele mit stiller Wehmuth von dannen. Jlicet (heu miseram!) tua Daulias exspirauit! Jane, graui moestum tacta dolore jecur. Quid miseram dixi? Fatumne beatius vllum est, Talia cantantem quam potuisse mori? 51. W aͤren Kraͤnze der Belohnung in meiner Hand: so sollten mir außer den Einrich- tungen, die das Beduͤrfniß fodert, beson- ders auch die Bemuͤhungen werth seyn, die den gehaͤssigen Wahn der Menschen un- vermerkt zerstreuen, und gesellige Humani- taͤt befoͤrdern. Nichts ist dem Wohlseyn der lebendigen Schoͤpfung so sehr entgegen, als das Stocken ihrer Saͤfte; nichts bringt den Menschen tiefer hinab, als ein trauri- ger Stillstand seiner Gedanken, seiner Be- strebungen, Hoffnungen und Wuͤnsche. Also auch die Schriftsteller, die uns von der Stelle bringen, die das plus ultra auf I 5 leichte und schwerere Weise ausuͤben, gesetzt, daß sie auch keine neuen großen Resultate erjagten, waͤren mir sehr gefaͤllig. Ein Mensch, der sich um Wahrheit bemuͤhet, ist immer Achtenswerth, wer bei unschuldi- gen Bestrebungen nur Zwecke hat, ist nie veraͤchtlich, gesetzt, daß diese auch bei wei- tem nicht Endzwecke waͤren. Denn was ist Endzweck in der Welt? wo liegt das Ende? Jedes gute Bestreben aber hat seinen Zweck in sich. Moͤgen die Philosophen alter und neuer Zeiten keine einzige Wahrheit ausgemacht haben, (welches doch ohne Wortspiel nicht behauptet werden kann) gnug, sie bestreb- ten sich um Wahrheit. Sie erweckten den menschlichen Verstand, hielten ihn im Gange, fuͤhrten ihn weiter; alles, was er auf die- sem Gange erfunden und geuͤbt hat, haben wir also der Philosophie zu danken, wenn sie gleich selbst nichts haͤtte erfinden koͤnnen und moͤgen. Der philosophische Geist ist schaͤtzbar; die ausgemachte Meister-und Zunftphilosophie bei weitem nicht so sehr, ja sie ist dem Fortdringen oft schaͤdlich. Insonderheit ist der philosophisch - moralische Geist, der die Sitten der Menschen betrachtet, ihre Farben scheidet, und wenn ich so sagen darf, ihr Inneres auswaͤrts kehrt, eine wahre Gabe des Him- mels, ein unserm Geschlecht unentbehrliches Gut. Stimme man nicht das alte Lied an: „Menschen sind Menschen! sie sind, „was sie waren, und werden bleiben was „sie sind. Hat alle Moralphilosophie sie „gebessert?“ Denn diesem faulen truͤbsin- nigen Wahn stehet mit nichten die Wahr- heit zur Seite. Wenn wir auch nicht zum Ziel gelangten, muͤssen wir deßhalb nicht in die Rennbahn? Ja wenn das Ziel der Vollkommenheit auch nicht zu erreichen waͤre, und je naͤher wir ihm zu kommen scheinen, immer weiter von uns ruͤckte, haben wir deßhalb nicht Schritte gethan? haben wir uns nicht beweget? Was waͤre das Menschengeschlecht, wenn keine Ver- nunft, keine Moralphilosophie von ihm geuͤbt waͤre? Vor andern scheinen mir die Morali- sten Wuͤnschenswerth, die uns mit uns selbst in ernste Unterhandlung zu bringen vermoͤgen, und uns auf eine scherzende Weise durchgreifende Wahrheit sagen. Ich lasse der Akademie und Stoa ihren heiligen Werth; Plato und Mark - Aurel nebst ihren Genossen werden dem Menschen, dem seine Bildung Ernst ist, immer und immer Schutzgeister, Fuͤhrer, warnende Freunde bleiben; wenn aber z. B. Horaz auf eine ernsthaftscherzende Weise sich selbst zum Gegenstande der Moral macht, wenn er an sich und an seine Freunde im Ton der Vertraulichkeit mit leichter Hand das schaͤrf- ste Richtmaas leget, und die Heuchelei, den Aberglauben, den Sittenstolz, den Wahn und Duͤnkel von uns lieber fortlaͤchelt als fortgeisselt, wenn er an sich und andern zeigt, daß man nicht im Aether hoher Maximen schweben, sondern auf der Erde bleiben und taͤglich in Kleinigkeiten auf seiner Hut seyn muͤsse, um nicht mit der Zeit ein Unmensch zu werden; wer kann dem Dichter da den Fleiß vergelten, den er, damit seine zarten Sittengemaͤlde der Nach- welt werth wuͤrden, auf sie als auf wirk- liche Kunstwerke gewandt hat? Diese Kunst- werke sind nicht nur lebendig, sondern auch belebend; ihr moralischer Geist geht in uns uͤber; wir lernen an ihnen nicht dichten, sondern denken und handeln. Jedem, der sich mit Horaz fuͤr andre wuͤrdig beschaͤftigen konnte, moͤchte ich, wenn Verdienst sich beneiden ließe, sein Verdienst beneiden. Auch unser Deutsche Uebersetzer der Briefe und Satyren dieses Dichters, Wieland , hat vorzuͤglich durch den Com- mentar derselben, jedem feineren Menschen eine belehrende Schule der Urbanitaͤt eroͤf- net. Was Shaftesburi in seinen Schriften fuͤr den Roͤmischen Dichter uͤber- haupt ist, dessen moralische Kritik sich bei ihm allenthalben aͤußert; das ist unser Uebersetzer im schwereren Einzelnen, fuͤr Juͤnglinge sowohl als fuͤr Maͤnner. Nach der langen Nacht der Barbarei brach endlich auch unter den Europaͤischen Voͤlkern fuͤr die feinere Moral eine Mor- genroͤthe an. Die Provenzalen und Ro- mandichter der mittleren Zeiten waren ihre Vorboten; Weiber und Maͤnner aus allen, auch den vornehmsten Staͤnden, suchten die Philosophie des Lebens wieder in die Welt einzufuͤhren, und streueten ihr wenigstens Blumen. Sie erschien endlich, diese Phi- losophie, unter mehreren Nationen; und jeder Tritt soll uns heilig seyn, wo sie ge- wandelt. Sollte das boͤse Schicksal es wollen, daß ganze Laͤnder Europa's, (ver- huͤte es der gute Genius der Menschheit!) wieder in die Barbarei versaͤnken: so wol- len wir, die an den Graͤnzen des Abgrun- des stehen, die Namen und Schriften De- rer, die einst der Humanitaͤt dienten, um so heiliger bewahren. Sie sind uns als- dann Reste einer versunkenen Welt, Reli- quien zerstoͤrter Heiligthuͤmer. Du guter Montaigne , ihr Dichter und Schriftsteller voriger ruhiger oder stuͤr- mischer Zeiten Frankreichs, und ihr, die ihr guter Genius bei Zeiten hinweg rief, Rousseau , Buffon , D' Alembert , Diderot , Mably , Du - Clos ; was ihr und eure Genossen der Menschheit Gu- tes erwiesen, ist ein Gewinn fuͤr alle Voͤlker. Die Britten haben durch das was sie humour nennen, die Fehler des humour's selbst dargestellt, und dadurch die Unregel- maͤßigkeiten, das Ausschweifende und Ueber- triebne in menschlichen Charakteren dem Gelaͤchter Preisgeben, dem moralischen Ur- theil ins Licht setzen wollen. Da uns Deutschen dieser humour, (leider oder Gott- lob?) fehlet, indem unsre Thoren meistens nur abgeschmackte Thoren sind: so ists fuͤr uns, in diesen fremden Spiegel zu sehen, gewiß keine unnuͤtze Beschaͤftigung. Der Fluͤgelmann exercir t vorspringend, damit der Soldat im Gliede, und der steife Re- krut exerciren lerne. Aeußerst Aeußerst Deutsch waͤre es aber, wenn wir diese Uebertreibungen fuͤr Schoͤnheit nehmen und Shaksper 's, Addison 's, Swift 's, Fielding 's, Smollet 's Sterne 's humoristische Figuren als Vor- bilder des moralischguten Geschmacks an- sehen wollten. Dichter und Uebersetzer waͤren an diesem Stumpfsinn wenigstens sehr unschuldig. Dank also auch jedem guten Ueber- setzer guter brittischen Humoristen. Und wir wissen alle, wem wir in Deutschland vorzuͤglich hiebei Dank zu sagen haben, dem Uebersetzer Yoriks , Sterne , Fiel - ding 's, Smollets , Goldsmith 's, Cumberlands , u. f. Die Bode 'schen Uebersetzungen der empfindsamen Rei - sen , des Tristram - Shandy , Tho - mas Jones , Humphrey Klinkers , des Landpriesters von Wackefield , Vierte Samml. K des Westindiers sind in Aller Haͤn- den. Fuͤr unser Nordisches, angestrengtes und bedruͤcktes Leben sind uͤberhaupt alle Schriften wohlthaͤtig, in denen unser Geist abgespannt, erweitert und milde gemacht wird. Immerdar sich zu spornen, andre zu treiben und von ihnen sich bedraͤngt zu fuͤhlen, ist der Zustand eines Tageloͤhners, gesetzt daß wir ihn auch mit dem Titel eines Strebens nach hoͤchster Vollkom- menheit in unablaͤßigem Eifer aus- schmuͤcken wollten. Die menschliche Natur erliegt unter einer rastlosen Anstrengung; waͤhrend der Ruhe, waͤhrend des Spiels Zwangloser Uebungen gewinnt sie Mun- terkeit und Kraͤfte. Selten geht der un- ablaͤßige Eifer anders wohin aus, als auf Schwaͤrmerei und Uebertreibung, die durch nichts zurecht gebracht werden kann, als durch eine Darstellung dessen was sie ist , durch eine leichte froͤliche Nachahmung ih- rer eignen Charaktere. Da lacht der Thor, falls er noch lachen kann, uͤber sich selbst; und im leichtesten Spiel findet man, wie Leibnitz meint, die ernsteste Wahrheit. K 2 Nachschrift des Herausgebers . S tatt einer langen Anmerkung erlaube der Leser mir hier eine Stelle mitten unter fremden Briefen. Der Mann, an den zu Ende des vor- stehenden Briefes mit dem verdienten Lobe gedacht war, war mein Freund, und er ist nicht mehr. Eben da ich diesen Brief zum Druck uͤbersehe, wird seine Leiche begraben; aber ein Theil seines Geistes, und seine redliche Muͤhe wird, hoffe ich, in unsrer Sprache noch fortleben, so wie sein An- denken im Herzen seiner Freunde. Bode war mehr als Uebersetzer; er war ein selbstdenkender, ein im Urtheil ge- pruͤfter Mann, ein redlicher Freund, im Umgange ein geistiger, froher Gesellschaf- ter. Und doch war sein Charakter noch schaͤtzbarer, als sein Geist; seine biedern Grundsaͤtze waren mir immer noch werther, als die sinnreichsten Einfaͤlle seines mun- tern Umganges. Er hatte viel erlebt, viel erfahren; in seinen mannichfaltigen Ver- bindungen hatte er Menschen aus allen Staͤnden von Seiten kennen gelernt, von denen wenige andre sie kennen lernen, und wußte sie zu schaͤtzen und zu ordnen. Die Schwaͤrmerei hassete er in jeder Maske, und war ein Freund so wie der gemeinen Wohlfahrt, so auch des wahren Menschenverstandes. Der betruͤgenden Heu- chelei entgegenzutreten war ihm keine Muͤhe verdrießlich; gern opferte er diesem Ge- K 3 schaͤfte Zeit, Kosten und Seelenkraͤfte auf, die er sonst abwechselnder, vielleicht auch eintraͤglicher haͤtte anwenden moͤgen. Viele seiner Freunde in mehreren Provinzen Deutschlands kennen ihn von dieser Seite; und wer einer standhaften Muͤhe in redli- cher Absicht Gerechtigkeit wiederfahren laͤßt, wird das Verdienst eines Mannes ehren, der in seinem sehr verbreiteten Kreise vie- lem Boͤsen widerstand, und in seiner Art, (nicht politisch!) ein Franklin war, der durch die Mittel, die in seiner Hand la- gen, der Menschheit nichts als Gutes schaffen wollte, und gewiß viel Gutes ge- schafft hat. Großmuth war der Grund seines Charakters, den er in einzelnen Faͤllen mehrmals erwiesen; nach solchem nahm er sich insonderheit der Verlassenen, junger Leute, vergessener Armen, der Ge- kraͤnkten, der Irrenden an, und war, fast uͤber seine Kraͤfte, ein stiller Wohlthaͤter der Menschheit. Auch seine Uebersetzungen hatten diesen Zweck, und sein Fleiß dabei war unermuͤ- det. Er bewarb sich bei ihnen sowohl um die Eigenthuͤmlichkeit des Gedankens, als des Ausdrucks; mithin arbeitete er in bei- den Sprachen. Er, Leßings Freund und bei einer Schrift sein Mituͤbersetzer, wollte nie ein Sprachverderber, wohl aber mit Urtheil und Pruͤfung ein Erweiterer der Sprache werden. Die falschen Nachah- mungen in seiner Manier hassete er eben sowohl als die Nachaͤffungen der Charak- tere, die er dem Deutschen Publikum ver- staͤndlich machte; er uͤbersah und uͤbersetzte sein Buch als ein Mann von gesundem Verstande. Ein schaͤtzbares Geschenk, das er uns haͤtte geben koͤnnen, waͤre die Beschrei - K 4 bung seines eignen Lebens gewesen. Schonend und bieder sagte er aber: „Von meiner Seite wuͤrde es anmaassend schei- nen; andre wuͤrde es compromittiren. Ich will in Friede schlafen.“ Und so schlafe er denn in Friede! Sein Ende kam, wie seine Freunde es wuͤnsch- ten, ohne langwierige Krankheit; fast bis an seinen Tod hin war er unverdrossen ge- schaͤftig. Viele Gute halten ihn werth. Unweit dem Kuͤnstler Kranach liegt er begraben. 52. A ls ich in Ihren Briefen die Fragmente uͤber die Humanitaͤt Homers in der Iliade las, fiel mir ein Schriftstel- ler ein, der vor Jahren nicht recht nach meinem Sinne gewesen war, Thomas Gordon uͤber den Tacitus Das Englische Original kenne ich nicht. Die Franzoͤsische Uebersetzung heißt: Discours historiques, critiques et politiques sur Ta- cite p. Gordon. Amst. 1742. Die Deutsche hat den unfoͤrmlichen Titel: Die Ehre der Freiheit der Roͤmer und Britten nach Gor- dons Staatsklugen Betrachtungen uͤber den Tacitus. Nuͤrnberg, 1764. A. d. H. . In K 5 der Jugend muß man keine politische Be- trachtungen, weder Gordon noch Taci - tus lesen; sie machen uns eine zu ernste, zu saure Mine. Man siehet die Welt alsdann noch gern von der froͤhlichen Seite an und hasset den gruͤbelnden Tadel. Ueber den Tacitus aͤnderte sich mein Urtheil, als ich ihn in reifern Jahren las. Ich kam davon zuruͤck, daß er ein Sauer- topf sei, der uͤble Geruͤchte und politische Gruͤbeleien zusammengemischt haͤtte, (ein gemeines, aber aͤußerst falsches Urtheil;) wie sehr wuͤnschte ich, Ihnen auch den Areopagiten Gordon , frei von seinen Schlacken, (Brittischen Vergleichungen und Epanorthosen) bloß als einen lichten und leichten Versuch uͤber die Humanitaͤt des Tacitus zusenden zu koͤnnen! Nicht leicht hat ein Schriftsteller so viele Gemuͤ- ther tiefer an sich gezogen, als dieser Roͤ- mer; wer ihn studirte, ward mit Geist und Sinn der Seine. Daher so viele Com- mentatoren des Tacitus; je redlicher es je- mand meinte, je mehr er die politische Welt aus eigner Erfahrung kennen gelernt hatte, desto mehr liebte er den alten Ge- schichtschreiber und ward gar selbst sein Commentator. Was Gordon uͤber des Tacitus Cha- rakter, uͤber seine Denkart, seine Beschrei- bungen, seine Grundsaͤtze, seine Moral, endlich uͤber seine Schreibart behauptet, sagt eher zu wenig, als zu viel; so man- ches auch die lateinischen Stylisten, selbst der gute Lord Monboddo dagegen ein- zuwenden haben moͤchten Vor der Zweibruͤcker Ausgabe des Tacitus ist Crollius lange Vorrede uͤber diese Materie sehr schaͤtzbar. A. d. H. Nach allen Voruͤbungen, die wir im Deutschen als Versuche seiner Uebersetzung gemacht haben, wuͤnsche ich eine wahre Uebersetzung desselben; mich duͤnkt, unsre Sprache sei dazu vor allen andern faͤhig. Als Proben von der edlen Denkart des Tacitus fuͤhrt Gordon schoͤne Stellen an, z. B. wie Hermanns Gemahlin, durch Ver- rath gefangen, unter andern edeln Frauen vor Germanikus gefuͤhrt wird: „Segests „Tochter, doch gleichgesinnter dem Gemahl „als dem Vater. Auch uͤberwunden kannte „sie keine Thraͤnen, kein flehendes Wort; „sie hatte die Haͤnde uͤber ihren schwan- „gern Leib zusammengeschlagen und sah „auf ihn nieder.“ Wie Germanikus dem Teutoburger Walde nahend, in welchem die Gebeine des Varus und seiner Legio- nen noch unbegraben lagen, nun herzlich verlangt, dem erschlagenen Heerfuͤhrer und seinem Heer der Menschheit letzte Pflicht zu leisten. „Da jammern alle, die mitwa- ren, uͤber Verwandte, Freunde, uͤber Kriegs- unfaͤlle, uͤber der Menschen Schicksal. Sie kommen an den traurigen Ort; sie sehen Varus Lager, die Ueberbleibsel derer, die zuruͤckgedraͤngt Rettung hatten suchen wol- len, endlich das Feld voll weißer Gebeine, wie sie geflohen und gestanden, aus einan- dergesprengt und an einander gedraͤngt gewesen waren; neben an lagen zerbrochene Spieße, und Pferdeglieder; an Baumstaͤm- men waren angenagelte Koͤpfe; nahan im Walde standen die barbarischen Altaͤre, auf welchen Tribunen und Centurionen ge- blutet hatten. Und die dieser Schlacht, die der Gefangenschaft entkommen waren, erzaͤhlten: „Hier fielen die Anfuͤhrer der „Legionen, dort wurden die Adler erbeu- „tet; hier bekam Varus seine erste Wunde; „dort gab er sich mit ungluͤcklicher Rechte „selbst den Tod. Auf dieser Hoͤhe stand „Hermann und sprach den Seinigen Muth „zu; hier die Galgen, woran er die Ge- „fangenen knuͤpfen, dort wo er die Adler „und Feldzeichen verhoͤnen ließ.“ Nach sechs Jahren also begrub eine Roͤmische Armee ihre drei Legionen, und keiner kannte, wen er begrub, ob seinen Ver- wandten, ob einen Fremden? Jeder ward als Blutsfreund, als Verbuͤndeter bestattet, mit desto groͤßerem Zorn gegen den Feind, aufgebracht und traurig.“ So fuͤhrt Gordon die schoͤne Stelle uͤber Tiberius an: „Seine Unthaten und Laster wurden ihm selbst zur Marterstrafe: denn vergebens habe der weiseste Alte nicht gesagt, daß wenn man solcher Unmenschen Inneres aufschliessen koͤnnte, und Striemen und Wunden der Seele auch sichtbar waͤ- ren, wie Wunden des Koͤrpers, man ihr Gemuͤth nicht anders, als von Grausam- keit, Wohllust, und uͤbeln Rathgebern zer- fleischt erblicken koͤnnte.“ Dergleichen Stellen fuͤhrt Gordon meh- rere an. Aber was sind sie außer dem Zusammenhange der Geschichte, die ihnen eigentlich Urkunde und Beleg ist? Die letzte Stelle z. B. beziehet sich auf des Ti- berius meisterhaften, kurzen Brief an den Roͤmischen Rath: „ was ich Euch schreiben soll, meine Herren, oder wie ich schreiben oder was ich Euch jetzt nicht schreiben soll; alle Teufel moͤgen mich holen, (die mich taͤglich und stuͤndlich plagen,) wenn ich das weiß!“ Da konnte Tacitus hin- zusetzen: „weder Gluͤck, noch Einsamkeit konnten den Tiberius schuͤtzen, daß er die Quaal seiner Brust, und die Strafe, die er an sich selbst litt, nicht selbst bekennte.“ Soll ich Ihnen von Gordon mehr erzaͤh- len? Nur seine Capitel will ich herschrei- ben. „ Von Caͤsars unrechtmaͤßigem Besitz der Herrschaft , und warum dessen Name weniger als des Ca - tilina Name gehaͤssig ist ? Von Oc - tavius - Augustus Raͤnken , seinem rachsuͤchtigen Gemuͤth , seinem Mein - eide , Grausamkeiten , und den Be - gebenheiten , die zu seinem großen Namen beitrugen . Von der Liebe des Volks und Rathes , die er sich zu erwerben suchte . Von der Ehre , mit welcher ihm die Dichter ge - schmeichelt . Von dem falschen Glanz , den seine Nachfolger ihm verschafft haben . Vom Kaiserregi - ment . Vom Majestaͤtsgesetz . Von Anklagen und Angebern . Von der allgemeinen Entehrung der Gemuͤ - ther , ther , und von der Schmeichelei , die eine unumschraͤnkte Regierung be - gleiten . Vom Geist der Hoͤfe . Ueber Armeen und Eroberungen . Ueber die Kaiser , deren Geschichte Taci - tus beschreibt , uͤber ihre Minister , ihre Ungluͤcksfaͤlle , und die Ursa - chen ihres Sturzes . Ueber die Be - stechung der Minister . Von Finan - zen , Volk , Adel , dem Aberglau - ben der Regenten u. f. — Ein ganzes Staatssystem mit zahlrei- chen Beispielen und Spruͤchen aus Tacitus belegt; zwar nicht im scharfsinnigen Welt- geschmack des Machiavells, desto mehr aber, und bis zum Uebermaaße, mit aller Waͤrme eines ehrlichen , das Beste wollenden Mannes gezeichnet. Dide - rot rechnete Gordon unter seine liebsten Schriftsteller; schaden wenigstens wird er Vierte Samml. L Niemanden, und muntert sehr zum eignen, verstaͤndigen Lesen des Tacitus an. Haͤtte er damit nicht seinen Zweck erreichet? O daß wir den Tacitus ganz haͤtten! Warum muͤssen seine Jahrbuͤcher gerade mit dem Tode des edlen Thrasea, seine Ge- schichtbuͤcher eben vor Vespasian aufhoͤren? Seiner Germania wegen ist Deutschland ihm besondern Dank schuldig; und vielleicht hat keine Europaͤische Nation mehr Ursache als sie, in Tacitus Manier ihre Geschichte nach der vortreflichen Grundlage, die er von Deutschland selbst gemacht, fortzuschreiben. Schenkte uns indessen nur ein zweites Klo- ster Corvei den ganzen Tacitus und in Ab- sicht Deutschlandes seinen Gesellen, den Plinius wieder! 53. W ie? wenn ich Ihnen fuͤr Ihren Schot- tischen Gordon einen Deutschen Commen- tator des Tacitus nennte, der Jenem an der Seite zu stehen wohl werth, aber desto unbekannter, desto ungeschaͤtzter ist? Die bloßen Grammatiker haben von seinen An- merkungen uͤber diesen Roͤmer sehr zuruͤck- setzend gesprochen; sie sind aber voll Kennt- niß der Geschichte, voll Lebens- und Ge- schaͤftserfahrung, dabei mit so Deutscher Treue und Biederkeit, vor mehr als hun- dert Jahren geschrieben, daß sie fuͤr uns endlich doch ein lehrreiches Buch werden koͤnnten. Es sind die sogenannten politischen L 2 Anmerkungen uͤber Tacitus vom Moͤmpelgardschen Geheimenrath Forst - ner Christoph. Forstneri notae politicae ad C. Tacitum. Argent. 1650. . Moser hat sich um diesen Mann ver- dient gemacht, daß er seine Lebensgeschich- te, so gut er sie haben konnte, in sein pa - triotisches Archiv aufnahm. Eine Reihe Briefe desselben kennen Sie aus einer an- dern nuͤtzlichen Sammlung le Brets Magazin zur Geschichte. A. d. H. . Wie? wenn Jemand, jedoch mit Auswahl und Zusammenstellung, Forstners Gedanken uͤber Tacitus uͤbersetzte, und Friedrich Carl Moser sie auch nur mit Wenigem commentirte; so kaͤme dieser Reichthum bescheidener, gepruͤfter Gedanken doch ei- nigermaaßen in Umlauf. Ueberhaupt warum liegen die Betrach- tungen verdienter Deutscher Staatsmaͤnner voriger Zeiten bei uns so tief im Dunkel? Englaͤnder, Franzosen und Italiaͤner haben die Ihrigen schoͤn aufgeputzt; Wir stehen hierinn fast hinter Polen und Ungarn. Und doch ist das Geschaͤft- und Gedanken- reich verdienter, Sachkundiger Maͤnner einer Nation gleichsam der Stamm, ohne welchen sie kaum eine Nation, geschweige ein durchdachter, durch empfundener Staats- koͤrper genannt zu werden verdienet. Die geographischen Graͤnzen allein machen das Ganze einer Nation nicht aus; ein Reichs- tag der Fuͤrsten, eine gemeinschaftliche Sprache der Voͤlker bewirken es auch nicht allein; ja letztere ist in Deutschland den Provinzen nach so verschieden; (große Striche sprechen ganz und gar eine fremde Sprache, ganze Classen der Menschen neh- L 3 men an Gedanken gar keinen Theil,) daß, wenn man dies alles zusammenhaͤlt, man es den Magistern nicht uͤbel nehmen kann, wenn sie pro gradu noch bis jetzt uͤber das Thema disputiren: „welche Regimentsver- fassung Deutschland habe? oder ob die Deutschen eine Nation seyn?“ Die spot- tenden Urtheile der Auslaͤnder hieruͤber, auch wenn sie unserm Fleiß, unsrer Treue, unsrem Biedersinn Gerechtigkeit wiederfah- ren lassen, sind bekannt. Sollte es also nicht der geringste Dank seyn, den man dem verstorbenen Diener erweiset, daß man mit seinen Dienstleistungen auch die Gedanken, deren er sich dabei erkuͤhn- te, der Nachwelt nicht entziehe? Wenig- stens bilden sodann doch die treuen Die - ner eine Kette, die Jahrhunderte durch- reicht, und an die sich neue treue Die - ner anschließen moͤgen. Das Jahrhun- dert der Reformation erlaubte sich noch, auch uͤber vaterlaͤndische Sachen laut zu denken; seitdem ward Alles Rang, Form und Stand, oder ging, sobald es ein eig- ner Gedanke schien, in die Archivgraͤ- ber. Daher dann, daß uns eine Geschichte Deutschlandes so lange gefehlt hat, und in manchen Theilen noch lange fehlen wird. Daher, daß unser Sleidan keine Aus- gabe wie der Franzoͤsische Thuan erlebt hat, und unsre Mevii, Verstandreich wie sie sind, den Montesquieu 's, Claren - don 's, Sarpi 's andrer Nationen an Ruhm, Glanz, allgemeiner Bekanntschaft und Schaͤtzung wohl nachstehen muͤssen. Daher, daß die Mozambano 's, die a Lapide unter besonderm Schutz, immer also halbpartheiisch schreiben, wohl gar in fremde Laͤnder gehn, oder Fremde seyn L 4 mußten. Daher endlich, daß die besten Schriften dieses Faches in Deutschland Vergleichungsweise wenig oder keine Wir- kung thun: dem oft ist mit jeder dritten Meile das politische Interesse der Deut- schen Provinzen geaͤndert. Weit entfernt bin ich, hiemit eine Staatskluͤgelei nach Deutschland zu wuͤn- schen, die Gottlob unser Charakter nicht ist, und die jedem Volk verderblich gewe- sen. Raisonnirte Geschichte aber, raisonnirte Erfahrungen des Le - bens aus allen Staͤnden, in allen Ver- haͤltnissen und Aemtern muß Jedermann wuͤnschen. Durch die Vernunft lebt der Mensch, ob er gleich vom Brote lebet; die oft theuer erworbene Summe von Gedan- ken und Erfahrungen unsres Lebens ist auch ein Besitz , und jedes Glied des Staats gehoͤrt dem Ganzen nicht nur durch das, was es mechanisch that, sondern auch durch das, was es bei diesem mechanischen Thun dachte. Schweigen verstaͤndige Leute, so redet der Thor; der spricht sodann desto unbesonnener und lauter. Mich duͤnkt, in Deutschland war zu neueren Zeiten Moser der Erste, der in dieser Art freimuͤthiger und bescheidner Biederkeit ein Beispiel gab. Stellet man ihn mit aͤltern Deutschen sogenannten Staatsmaͤnnern, Kulpis , Reinkingk , Veit Seckendorf zusammen, welch ein Unterschied! gewiß nicht zu seinem Nach- theil. Sein Herr und Diener , seine Beherzigungen , Reliquien , pa - triotische Briefe , sein Schutt zur Wegebesserung und was fuͤr Einklei- dungen er sonst gewaͤhlet, sind einestheils mit einer so treffenden Wahrheit, andern- theils mit einer Herzlichkeit geschrieben, als L 5 ob der Verfasser einmal Luthers Freund und Amanuensis gewesen waͤre. Zuͤge der Beredsamkeit sind in ihm, deren sich mancher brittische Parlamentsredner nicht schaͤmen duͤrfte; und Alles huͤllet sich end- lich in den Mantel der Deutschen Beschei- denheit und Demuth. Sein patrioti - sches Archiv enthaͤlt treffliche Sachen; so wie durchaus keiner seiner Aufsaͤtze von Geist und Herz leer ist. Die meisten der- selben, weil sie Deutsche Dinge betreffen, lesen sich, als ob sie heute geschrieben waͤren. Schon am Ende des vorigen Jahrhun- derts entstanden periodische Schrif - ten , mancherlei Inhalts; im jetzigen mehrten sich diese nicht nur im Ganzen, sie vervielfachten sich auch in einzelnen Provinzen bis zu woͤchentlichen Blaͤt - tern und Beitraͤgen , die in Deutsch- land ein sehr guter Saame geworden sind. Moͤsers patriotische Phantasieen sind aus Beitraͤgen zum Osnabruͤckischen Wochenblatt entstanden; und was andre Zeitschriften hier, dort, und da, in den germanischen Waͤldern fuͤr Nutzen gestiftet haben, ist weniger Landkundig, als wahr und ruͤhmlich. Laß es hie und da auch Mißbraͤuche dieses Vehikuls gegeben ha- ben und geben; Mißbrauch hebt die gute Sache nicht auf. Viele unsrer Deutschen Journale sind ein Fundbuch trefflicher Materialien; ja in Deutschland fast das einzige Mittel, wodurch Provinzen und Staͤnde einander kennen lernen. Mancher boͤse Pflichttraͤger, der sich gleich Jenem im Evangelium weder vor Gott noch Menschen fuͤrchtet, scheuet sich wenigstens vor der Schande eines Journals — Ungleich hoͤher und weit voran alle die- sem stuͤnde die Geschichte , wenn sie jeder Provinz unsres Landes mit Geschmack, Verstand und Patriotismus bereits einhei- misch geworden waͤre. Wollten wir uns von einigen derselben nach und nach nicht ausfuͤhrlicher unterhalten? Wenn irgend eine Wissenschaft, so ist ja die Geschichte ein Studium der Humanitaͤt, ein Werkzeug des aͤchtesten Vaterlandsgeistes. Inhalt der vierten Sammlung . Br. 40. Realis de Vienna vom Werth der Nationen und vom ver- kannten Werthe der Deutschen. S. 1 — 41. Grundsaͤtze seiner Pruͤfung des Europaͤischen Verstandes und sei- ner Velledenblaͤtter. p S. 17 — 42. Eine Meinung uͤber die vorige Meinung. _ S. 32 — 43. Flora. p S. 39 — 44. Fortsetzung. p S. 56 — 45. Ueber Natur- und Pflanzenge- dichte. Grabschrift eines Leben- den. p S. 72 — 46. Ueber Wahn und Wahnsinn der Menschen und Voͤlker, eine Vor- lesung. p S. 80 Br. 47. Andenken an den Praͤsidenten de Thou . Dessen Ode an die Wahrheit. p S. 100 — 48. Die dreierlei Faͤden. Eine Fa- bel. p S. 109 — 49. Leben des Herzogs Bourgogne, Vater Ludwigs 15. Andenken an Fenelon. Die Vergaͤnglichkeit, eine Ode. p S. 115 — 50. Philomele in T. p S. 129 — 51. Philosophie des Lebens. Nach- schrift des Herausgebers, ein Denkmal. p S. 137 — 52. Thomas Gordon uͤber den Tacitus. S. 153 — 53. Forstners Anmerkungen zu Taci- tus. Von Mosers und andrer Schriften. Deutsche Geschichte. p S. 163