K. Gutzkow's Oeffentliche Charaktere. Erster Theil . Verbesserungen . Seite 80 Zeile 9. v. o. lies Humorist statt Hu¬ manist . " 219 " 11. v. o. lies haben statt holen . " 221 " 2. v. u. " burschikose statt prunklose . " 224 " 3. v. u. lies gern statt ganz . " 235 " 2. v. o. " Seiten statt Leiden . " 247 " 4. v. u. " sterben statt stecken . " 257 " 9. v. u. " Dinge statt Siege . " 260 " 11. u. 12. v. u. ist die Erzaͤhlung der beruͤhrten Anekdote von der Censur gestrichen. " 264 " 4. v. u. lies Modergeruch statt Modegeruch . ☞ An vielen andern Stellen wo der Zusammenhang gestoͤrt oder gaͤnzlich aufgehoben scheint, ist dies den von der Zensur gebotenen Auslassungen zuzuschreiben. Oeffentliche Charaktere . Von Karl Gutzkow . Erster Theil . Hamburg , bei Hoffmann und Campe . 1835 . Vorrede. D er groͤßere Theil der hier mitgetheilten biogra¬ phischen Skizzen wurde zuerst durch die Augsbur¬ ger Allgemeine Zeitung veroͤffentlicht. Ich schrieb sie, angeregt von der laufenden Geschichte, noch oͤfter aber aus Ueberdruß an den Begebenheiten des Tages, welche im Allgemeinen nicht viel nuͤtze sind und hoͤchstens fuͤr den Papierspeculanten ei¬ nigen Werth haben koͤnnen. Man hat sich seit der Julirevolution das Interesse fuͤr Politik angewoͤhnt, und wagt noch immer nicht, einmal eine Zeitung ungelesen zu lassen; ein Servilismus, eben so thoͤrigt, als jener, welcher in der Restaurationszeit Vorrede . herrschte, wo man sich nur um eine Saͤngerin oder einen kleinen Almanach enthusiasmirte. Wir, die wir Maͤnner der Geschichte sind, geben die Versicherung, daß nichts in der Wagschaale der Jahrhundertsfrage leichter wiegt, als die beiden Jahre, welche wir nun erlebt haben, und etwa noch zweimal soviel, welche ihnen folgen werden. Es ist schon dafuͤr gesorgt worden, die Zeit recht unannehmlich, nuͤchtern und unpoetisch zu machen. In einer solchen Zeit zieht sich der Bieder¬ mann vom oͤffentlichen Leben ein wenig seitwaͤrts, und beobachtet laͤchelnd die Menschen, welche jetzt wieder die Begebenheiten machen, beobachtet die Pompzuͤge, Vermaͤhlungsfeierlichkeiten, Sterbefaͤlle und die schweren Geburten der Ministerien, und findet daran ein Wohlgefallen, die Individualitaͤ¬ ten zu klassifiziren in Meineidige, Servile, Dum¬ koͤpfe, Gluͤckspilze, Staatsphilosophen, Kammer¬ herrn und solches Gelichter. Ein Jeder dieser oͤffentlichen Herren zieht einen langen Schweif von Vorrede . Servilismus und .... nach sich, in welchen sich seine ganze Erscheinung huͤllt, so daß drinnen kometen¬ artig nur ein ganz kleiner Kern wohnt, welcher oft nicht groͤßer ist, als ein adliger Name. Andere waren ehrlicher oder hielten besser auf den Schein, Manche sind bemitleidenswerth, weil ihre Stellung von jedem Kniff, aber nicht von der Tugend aus¬ zufuͤllen war, Einige stehen sogar noch im Vor¬ grunde, welche zu uns gehoͤren und im weißen Harnisch wie St. George glaͤnzen, und unsicht¬ bar, von Engeln geschuͤtzt werden, die wir vom Himmel auf- und niedersteigen sehen — kurz, das Interessante sind nicht mehr die Begebenheiten, son¬ dern die Menschen. Die Praͤcedentien! dies Schreckbild wandelt durch die Tagesgeschichte Europas, und fordert Rechenschaft von Apoplexie und Paralysie, welche von einer großen und titanischen Vergangenheit uͤbrig geblieben ist. O koͤnnte man tilgen, was geschehen ist! Koͤnnte man die Buͤcher all verbie¬ Vorrede . ten, welche die Wahrheit an die Nachwelt uͤber¬ liefern. Ich gestehe, daß ich neben dem Zwecke der Entlarvung auch noch einen kuͤnstlerischen hatte, und ich muß mir deshalb einen zwiefachen Vor¬ wurf gefallen lassen. Einmal wird man sagen, ich sei, um nur die plastische Einheit und Ruhe in meine Auffassung der Individualitaͤten zu bringen, oft sehr mild und schonend zu Werke gegangen und habe durch man¬ chen Hieb des Meißels getilgt, was freilich das Auge beleidigt haͤtte, was aber auch die Mensch¬ heit beleidigt. Doch wird dis immer eine Conse¬ quenz sein, die wenn ihre Praͤmissen nur da wa¬ ren, nicht genannt zu werden brauchte. Die Mi߬ lichkeit der Zeiten entschuldige mich! Ich habe die Blumen der Poesie auf die duͤrren, schlotternden Charaktere der großen Welt nicht geworfen, um die Narben ihrer Ehre, oder die offenen Schaͤden ihres Verstandes zu verdecken, sondern um Euch zu zeigen, wie erhaben Ihr steht uͤber Allen und Vorrede . wie mitleidig Ihr seid mit der fremden Schwaͤche und dem Alter, das jedoch bald treten muß vor den Thron des ewigen Gerichtes! Trauet diesen Rosen nicht, aber rechnet sie mir auch nicht an; denn ich schaͤtze den Blauduft des Himmels und lerne mein deutsches Volk liebgewinnen, seitdem es freundlich meinen Worten zulauscht, und moͤchte noch recht lange als fesselloser Fruͤhlingsbote außer dem Kaͤfig mit Euch verkehren im Scherz und Ernst. Zweitens mag gerade das, was in meinen Skizzen das Kuͤnstlerische ist, einem Vorwurfe aus¬ gesetzt sein, den ihnen die biographische Kunst selbst macht. Gewoͤhnlich verlangt die Biographie, weil sie die Rivalitaͤt der Geschichte nicht ertragen kann, daß ihre Helden dem Bereiche der Begebenheiten entfernt stehen und sie recht viel Raum geben sol¬ len fuͤr die kleine Detailentwickelung des Privaten- Charakters. Freilich hieran leiden meine Darstel¬ lungen, denn sie wissen nicht, um welch' Uhr des Morgens Martinez de la Rosa aufsteht, Vorrede . ob Wellington gern geraͤucherten Schinken ißt oder ob O'Connel sich ein Tagebuch haͤlt, worin er seine Ideen niederschreibt. Hier werden meine Berichte immer luͤckenhaft bleiben und ergaͤnzt werden muͤssen, von Varnhagen von Ense, Wach¬ ler oder sonst einem biographischen Denkmalsetzer, der noch andere Quellen zu benutzen Gelegenheit hat, als das große aufgeschlagene Buch der Ge¬ schichte, das die ganze Bibliothek ist, welche ich besitze. Ich habe nichts gethan, als aus den ob¬ jektiven Klammern der Geschichte das Alles abge¬ loͤst, was auf Rechnung der Charaktere kommt, welche dies oder jenes Faktum entweder selbst ge¬ macht oder doch gebilligt haben. Nur Menschen wollt' ich schildern, bei denen sich nichts verstecken duͤrfte; und bei denen das Nebendetail der Privat¬ verhaͤltnisse so unbedeutend ist, daß sie nicht ver¬ mißt werden. Auch nicht einmal deshalb unvollstaͤndig sind meine Darstellungen, weil ihre Gegenstaͤnde noch leben und die Geschichte keineswegs entschlossen ist, Vorrede . still zu stehen. Bei den jungen Charakteren, welche ich zeichne, wird man nur ahnen koͤnnen, daß die Tugend und der Ruhm das Steuer und der Leuchtthurm ihrer Zukunft sein wird; bei den alten wird die neueste Gnade des Fuͤrsten bald nachgetragen sein. Alles was geschehen kann, wird doch nichts Anderes sein, als bei Talleyrand ein neuer Meineid, bei Martinez de la Rosa ein neuer Irrthum, bei Chateaubriand eine neue Thorheit, bei Mehemed Ali eine neue Filzigkeit, bei den Na¬ poleoniden eine neue Schuldenmasse, bei Welling¬ ton ein neuer Steinhagel auf seine Kutsche, bei O'Connell ein neuer Triumph, bei Francia eine neue Gotteslaͤugnung, bei Ancillon eine Uebernahme des Ministeriums der Cultusangelegenheiten, bei Carrel nichts als Handlungen, so ehrenhaft und maͤnnlich wie die fruͤhern, das Alles ist aber leicht mit Rothstift an den Rand dieser Skizzen ange¬ schrieben. Welche Charaktere der zweite Band bringen wird, verrath' ich noch nicht. Denn nicht nur Vorrede . kann bis uͤber's Jahr noch mancher jugendliche Name historisch werden, sondern ich behalte auch durch Verschwiegenheit uͤber gewisse Menschen die Zuͤgel in der Hand. Diese Gallerie soll vollstaͤndig werden. Es sollen Viele und Manche hineinkom¬ men. Nur Eines erloͤst davon, naͤmlich der Tod; denn nur mit lebenden Zeitgenossen beschaͤftigen wir uns. Frankfurt a. Main, im Maͤrz 1835. Karl Gutzkow . Talleyrand . Gutzkow's Öffentl. Char. 1 F rau Grandt und der Monat Mai moͤgen besser wis¬ sen, wie oft Karl Moritz Talleyrand von Peri¬ gord falsch geschworen hat; die Geschichte sagt, daß er es sechsmal that. Sie liebt ihn aber und moralisirt nicht; denn Talleyrand war kein Ueberlaͤufer. Talley¬ rand hinkt auf dem linken Fuße, er uͤbereilte sich nie, er lief nicht. Hat man sich je mit mehr Grazie in die Zeitumstaͤnde gefuͤgt! Talleyrand machte keinen Laͤrm von seinen gebrochenen Schwuͤren, er ließ nicht die Trommel schlagen, wenn er das Lager der Partei ver¬ ließ, er ging ohne Anhang, ohne Commandostab, er ging, nur begleitet vom Abb é Desrenaudes, der fuͤr ihn Studien machte, und vom Grafen d'Hauterive, der ihm seine Reden schrieb. Talleyrand suchte die schroffen Kon¬ traste der Geschichte auszuglaͤtten, er sprang in den neuen Sattel mit einem Witze, und konnte das Blutvergießen nicht leiden. Mit einem Worte, ich finde, daß in Eu¬ 1* Talleyrand . ropa viel Sympathie fuͤr seine grazioͤsen Meineide herrscht, und es ist nicht schwer, dafuͤr eine Ursache an¬ zugeben. Es gibt Leute, welche den greisen Priester fuͤr einen verkannten Propheten ansehen. Man ver¬ gleicht ihn mit Sokrates, welcher außer seinem eigenen himmlischen Geiste noch einen besondern in Diensten hatte, der ihm Rath, Warnung und die Zukunft gab. Talleyrands Sehergeist wird bald ein Instinkt, bald eine Offenbarung genannt. Was davon zu halten sei, wis¬ sen wir nicht, wollen aber sein Leben deshalb zu Rathe ziehen. Hatte Talleyrand eine eigene Maxime, seine Kokarde bald weiß, bald bunt zu faͤrben? War sein Leben die Einfluͤsterung eines besonderen Genius, der ihn zu seinem Liebling gemacht hatte? Besaß Talley¬ rand eine unveraͤnderliche Idee, eine pensèe immuable , wie Louis Philipp? Wir wollen sehen. Es war schon einige Jahre vor der konstituirenden Versammlung, daß der junge Bischof von Autun sich in der besten und abwechselnd in der schlechtesten Gesellschaft von Paris sehen ließ. Er hatte damals nur Ein Geschaͤft: naͤm¬ lich alle Welt davon zu uͤberzeugen, daß er kein wah¬ rer Priester sei. Seine Kehle, noch heiser von der Messe, die er im Stifte hatte singen muͤssen, sein An¬ stand, noch kaͤmpfend mit dem Priesterrocke, der dem Talleyrand . lahmen Fuße nachschleppte, ein zweiter Esau, der an seinen juͤngern Bruder die Erstgeburt fuͤr die Linsenge¬ richte des bischoͤflichen Konvikts verkauft hatte, nahm er ein Betragen an, das aus Ehrgeiz, encyklopaͤdischer Philosophie und Ausschweifungen zusammengesetzt war. Er unterließ nicht, dem Hofe aufzuwarten, und ent¬ wickelte dort viel Tugend. Dieser Juͤngling von Bi¬ schof verstand es schon vortrefflich, die Maske vorzu¬ nehmen; er war galant, blumenreich, etwas salbungs¬ voll, und zog es in den meisten Faͤllen vor, zu schwei¬ gen. Man nannte dis erst Bescheidenheit, aber Tal¬ leyrand besann sich auf jenes feine Laͤcheln, das ihn auch spaͤter im auswaͤrtigen Amte von London noch nicht verlassen hat. Von diesem Augenblicke an hielt man ihn fuͤr geistreich, sein Schweigen wurde eine Au¬ toritaͤt, man wettete, daß wenn er den Mund nur oͤff¬ nen wollte, unfehlbar etwas Gescheidtes zu Tage kom¬ men wuͤrde. Talleyrand genoß diesen Triumph des Stillschweigens, empfahl sich, und eilte auf Mirabeau zu, der ihm schon lange winkte. Sie legten ihre Arme ineinander, zogen die hohen Personen durch, schwaͤrm¬ ten durch das Palais-royal, und verbrachten die Nacht am Spieltische in der Rue Quincampoir. Talleyrand und Mirabeau waren die besten Freunde. Dieser Talleyrand . ruͤhmte damals von ihm, daß er ein Mann sei, der Ideen besitze. Ich bin immer neugierig gewesen, was Talleyrand im Jahre 1786 eine Idee genannt hat. Welches mag die Philosophie gewesen sein, fuͤr die sich Talleyrand und Mirabeau unter Rosen und gemiethe¬ ten Kuͤssen damals aussprachen? Nur so viel weiß ich, es fehlte Beiden immer an Geld; und Talleyrands Haupt¬ maxime, das, was man seine Idee nennen koͤnnte, war in der Folge nur, sich davon so viel als moͤglich zu verschaffen. Die Staͤnde traten zusammen: der Bischof von Autun hatte sein Kapitel zu vertreten. Es ist be¬ kannt, was Talleyrand bei der Vereinigung mit dem dritten Stande, bei der Aufhebung der Privilegien, was er auf dem Marsfelde leistete, wo er die neue Verfassung Frankreichs durch eine Messe dem Himmel empfahl. Er hatte gut reformiren. Der Priester ver¬ folgte ihn schreckhaft, er haßte seine Bestimmung, und warf ein Vorrecht des Standes nach dem andern nie¬ der. Durch alle seine Amendements und Abstimmun¬ gen gluͤhte weniger der Enthusiasmus der Freiheit, als der des Hasses. Man konnte seine Rechnung nicht besser machen. Indem er sich fuͤr die Ungerechtigkeit seiner Eltern, fuͤr die Vigilien, bei denen er als Chor¬ knabe einschlief, fuͤr die Fasten und jenes Linsengericht Talleyrand . des Esau raͤchte, erwarb er sich zugleich eine ansehnliche Popularitaͤt. Talleyrand wußte, welcher Monarch sich auf den Thron Frankreichs setzen wuͤrde; er uͤberließ Marie Antoinette ihren Thraͤnen und Gardes du Corps, und schloß mit den Koͤnigen der Straßen und Vor¬ staͤdte eine Freundschaft, die sich belohnte. Philoso¬ phirte Talleyrand schon damals, so wußte er, daß man in den ersten Zeiten einer Aufregung nicht trotzig ge¬ nug sein Haupt erheben kann, daß man in einem Glutfieber von Illusionen leben muß, wenigstens eine Zeit lang. Er stiftete den Jacobinerklub, er fuͤhrte, wie Mephistopheles bei Goethe, das Papiergeld ein, und drang in jeder Sitzung darauf, daß man das Sil¬ bergeraͤthe der Kirche, diese fatalen Pfannen, die er im Chorrocke hatte tragen muͤssen, ohne Gnade verkaufe. Er wollte keinen andern Kultus als den der Nation. Eines Tages besann sich aber Talleyrand. Seine Haͤnde waren zu zart fuͤr eine Popularitaͤt, welche sich nicht wusch und keine Handschuhe trug. Die republikanische Tugend machte ihm Langeweile, seitdem sie ihm vor¬ warf, daß er in einer einzigen Nacht 30,000 Livres im Spiele gewann. Er sah sich in dem Spiegel, und fand, daß die phrygische Muͤtze der Jakobiner seinen guten und tadellosen franzoͤsischen Zuͤgen schlecht stand; Talleyrand . er stiftete den Klubb der Feuillans. Das war schlimm. Talleyrand wurde uͤberfluͤgelt: die Ereignisse kamen ihm zu schnell. Der Abfall Mirabeaus machte ihn wan¬ kend, das Postmeisterstuͤck in Varennes und die Emi¬ gration verwirrten ihn, die Koalition des Auslands zwang ihn, die Lage Frankreichs zn kombiniren. Er hoͤrte das Messer der Guillotine schleifen, der Bann¬ fluch des Papstes, der ihn persoͤnlich traf, weckte To¬ desgedanken, seine Popularitaͤt ging an Maͤnner uͤber, welche haͤrtere Schwielen in der Hand hatten. Talley¬ rand haßte den Ungestuͤm, die Leidenschaft und die Grausamkeit. Er draͤngt sich zum Gesandten auf, und kann mit guter Manier Paris verlassen, welches ein unsicherer Boden ist. So lange die Dinge gut stan¬ den in Frankreich, so lange nur erst Ludwig XVI. geblutet hatte, spielte Talleyrand in London einen vor¬ trefflichen Republikaner. Er hatte den Auftrag, die neue Ordnung der Dinge zu repraͤsentiren, und that es mit gleichem Wohlgefallen vor Englaͤndern und Emi¬ grirten. Seine unbezweifelte feudale Herkunft machte seinen politischen Abandon ertraͤglich, weniger seinen mo¬ ralischen. Die Koͤnigin wandte dem ausschweifenden Priester den Ruͤcken, ja seitdem der Konvent Luft spuͤrte nach seinem Kopfe, und ihn einmal uͤber das Talleyrand . andere freundschaftlich ersuchte, uͤber den Kanal zu kom¬ men, verlor er vollends alle Haltung. Seine Mission ging zu Ende. Er verzweifelte noch nicht, er rechnete auf Pitt, auf Pitt, der bei seinem Oheim, dem Erz¬ bischof von Rheims, einst Fasanen aus den Forsten von Perigord gegessen hatte. Allein Pitt, so ein gro¬ ßer Staatsmann er war, litt doch an einem schwachen Gedaͤchtnisse, und wollte sich der Fasanen nicht erin¬ nern. Talleyrand war zu stolz, sie zu erwaͤhnen, und verließ England auf Pitts Weisung. Man hielt ihn trotz seiner Verurtheilung noch immer fuͤr einen ver¬ steckten Jakobiner. In der That, Talleyrand litt nie an einer eingewurzelten Idee; denn wie schwer sich London an ihm verbrach, so liebte er es doch unaus¬ gesetzt, und war sogar im Stande, die englische Ver¬ fassung das beste Prinzip zu nennen, wo es die Klug¬ heit gebot, auf Prinzipien einen Werth zu legen. Die Tage des Exils brachte Talleyrand in Nord¬ amerika und in Hamburg zu. Die Hamburger wer¬ den sagen, daß er bei ihnen lernen wollte, was wahre Freiheit sey. Ich glaube auch in der That nicht, daß er jenseits des Ozeans die weiße Kokarde aufsteckte. Was haͤtte er damit gewinnen wollen? Die Liebe ei¬ ner reizenden Emigrantin, eine Lilie aus dem Geschlechte Talleyrand . der Montmorency oder Levis? Bis dahin stieg die Leidenschaft des geaͤchteten Priesters nicht, obschon er sich selbst die Indulgenz der Ehe gestattete. Er hatte andere Sympathien; er liebte die gute Hausfrau, und es war nur zufaͤllige Romantik, daß Frau Grandt aus Ostindien stammte. Zu der blendenden Schoͤnheit die¬ ser Dame gesellte sich eine muntre, prononcirte Ein¬ falt: der arme Exbischof mußte seiner zaͤrtlichen Nei¬ gang wegen viel leiden. Aber er setzte sich uͤber den boͤsen Leumund hinweg und sehnte sich nicht nach dem Gluͤcke, das inzwischen Herr v. Chateaubriand in den Urwaͤldern bei den Hasen- und Fuchs-Indianern em¬ pfand. Er war in Verzweiflung, daß ihn das Laby¬ rinth der Langeweile, aus welchem ihn nur zuweilen der Faden vom Strickstrumpf der Frau Grandt ret¬ tete, nicht losließ. Er sehnte sich nach dem schoͤnen Himmel von Frankreich und Navarra: die Guillotine war ermuͤdet: Talleyrand sah nichts mehr, was fuͤrch¬ terlich gewesen waͤre. Er schrieb an den Konvent, er schrieb im Tone des patriotischen Heimwehs, er weinte trotz einem Schweizer, betheuerte, daß er bei Franklin und Washington sich in seinen republikanischen Tugen¬ den immer mehr vervollkommnet habe, und verlangte die Zuruͤcknahme seines Anklagedekrets. Der Buͤrger Talleyrand . Talleyrand kehrte zuruͤck; Frau v. Stael und die Ko¬ terie jubelten, daß die neue Meinung nun nicht mehr des Glanzes der alten guillotinirten oder emigrirten Herrschaft entbehren sollte. Carnot verachtete ihn, doch Talleyrand wußte, welche Rolle er zu spielen hatte. Er besuchte die Clubbs und die Salons. Sein Beneh¬ men war ein Wechselspiel republikanischer Urtheile und royalistischer Manieren. Man bewunderte ihn; denn das Beduͤrfniß nach Ruhe und Anstand uͤberwog. Das Direktorium hatte sein Wohlgefallen an ihm. Nach¬ dem Talleyrand durch die schwache ungesicherte Gegen¬ wart zum Minister der auswaͤrtigen Angelegenheiten erhoben war, begann er, an eine starke, vorhaltende Zukunft zu denken. Seine Augen fielen auf den jun¬ gen General Bonaparte, dessen Ehrgeiz eben so feurig war, als damals seine Liebe zu Josephine Beauhar¬ nois. Talleyrand machte fuͤr beide den Unterhaͤndler; denn dem Ehrgeize traute er Frankreich an. Er ver¬ anlaßte die italienischen Siege und die große aͤgyptische Cavalcade ; er wußte, daß sich Frankreich zwar noch von keinem Herrscher, aber von dem Ruhm wuͤrde regieren lassen, und gewann fuͤr seinen Guͤnstling so viel Bun¬ desgenossen, daß die hochverraͤtherischen Bajonnette des 18. Bruͤmaire fuͤr eine Wohlthat angesehen wurden. Talleyrand . Bonaparte vergaß niemals die Dienste, welche ihm Talleyrand leistete, und konnte ihm verzeihen, selbst als der Mann spaͤter nichts als bourbonische Konspi¬ ration athmete. Er ließ ihm seinen auswaͤrtigen Ein¬ fluß. Schon eine gewisse schwaͤrmerische Sentimenta¬ litaͤt, die fuͤr den Mann unsers Jahrhunderts so cha¬ rakteristisch ist, fesselte ihn an Talleyrand, an diesen Schlaukopf, der auf Kosten der guten Meinung von seinem Verstande und auf die Gefahr hin, ausgelacht zu werden, den jungen General an das Direktorium als einen leidenschaftlichen Verehrer der Gesaͤnge Os¬ sians empfohlen hatte. Ossian war es, der Talleyrand lange Zeit geschuͤtzt hat. Napoleon verzieh dem Mi¬ nister, der sein Portefeuille benutzte, um sich den Cours der Papiere zinsbar zu machen; er verzieh ihm, daß er durch ihn der Moͤrder Enghiens wurde; er vergaß Os¬ sian nicht. Es ist zu verwundern, daß Talleyrand die Sympathien seines Herrn nicht mehr belauschte; denn Napoleon hatte noch mancherlei Eigenheiten. Napoleon liebte die Tugend; je aͤlter er wurde und maͤchtiger, desto mehr zog er die guten Sitten den Gesaͤngen Os¬ sians vor. Er glich darin allen besseren Usurpatoren, daß er sich zufriedener fuͤhlte, wenn er auch die Tugend um sich hatte. Aber Talleyrand wurde Alles, Gro߬ Talleyrand . kaͤmmerer, Vicegroßwahlherr, nur nicht tugendhaft. Er war der Rou é der Boͤrse und des Spielhauses, er liebte noch immer ohne Plan, fluͤchtig, auswaͤhlend, ja er hatte keinen Anstoß daran, daß Frau Grandt noch nicht einmal vor den Altar mit ihm getreten war. Napoleon wollte von diesen lockern Banden nichts mehr wissen, sondern drohte ihm mit seiner Ungnade, worauf sich Talleyrand murrend verheirathete. Ossian entfiel dem Gedaͤchtnisse des Kaisers immer mehr: in den polnischen Waͤldern dachte er nicht mehr daran, und Talleyrand fiel in foͤrmliche Ungnade. Es war die zweite Periode seiner Unthaͤtigkeit, die er mit Sarkas¬ men, Geldspekulationen und Verschwoͤrungen hinbrachte. Er hatte den russischen Feldzug den Anfang des En¬ des genannt, und war fruͤh genug zur Hand, dem ge¬ fallenen Helden die Krone vom Haupte zu nehmen. Er gab sie den Bourbonen. Er konnte das Degen¬ geklirr der Napoleoniden nicht mehr hoͤren und fuͤrchtete die Epauletten, welche um die Wiege des Kindes Reichstadt wuͤrden gestanden haben. Talleyrand haßte den Krieg, weil seine Entscheidungen ohne Berechnung sind und nichts sichrer, nichts die Papiere der Boͤrse beherrschender ist, als ein nicht gefahrloser Friede, ein Friede mit etwas Besorgniß und viel Diplomatie. Talleyrand . Talleyrand fing jetzt an, von Prinzipien zu sprechen, und diese Prinzipien waren fuͤr ihn die Bourbons. Er hatte ihnen seit dem polnischen Feldzuge viel Dienste geleistet; er wollte ihnen nun auch die Mittel an die Hand geben, ihn dafuͤr zu belohnen. Er bewies den Alliirten theoretisch und praktisch, wie nothwendig jetzt die weiße Kokarde waͤre. Der Kaiser von Rußland ließ sich uͤberreden, und dem Grafen von Provence wurde gehuldigt. Man muß gerecht sein gegen Tal¬ leyrand: die Restauration der Bourbone war seine glaͤn¬ zendste That. Er bot alle Mittel auf, um diesen pre¬ kaͤren Thron zu sichern, und die Ereignisse brachen so seltsam herein, daß er jetzt sogar im Stande war, ei¬ nen vortrefflichen Patriotismus zu zeigen. Er verfiel mit Alexander, der die zweite Restauration haßte, er kaͤmpfte fuͤr Frankreichs Unabhaͤngigkeit, und gab den Bourbonen so kuͤhne Vortheile, daß Louis XVIII . selbst davor erschrak. Es war Talleyrand darum zu thun, die Bourbone populair zu machen; wodurch konnte es ihm besser gelingen, als durch die Opposition gegen die Fremden? Ja er scheute sich sogar nicht, von ei¬ ner Waffenentscheidung zu sprechen. Louis zitterte vor diesen guten Diensten, Talleyrands Muth ging zu weit, der Napoleonismus hatte ihn angesteckt, und die dritte Talleyrand . Periode der Unthaͤtigkeit brach an. Talleyrand gab seine Entlassung und fungirte am Hofe nur noch als Reichs¬ kaͤmmerer. Es verstrich ihm die Restauration unter Witzen, Titeleroberungen und Promenaden nach Va¬ len ç ay. Louis und Talleyrand uͤberboten sich an feinen Bemerkungen; jener liebte das Madrigal, dieser das Wortspiel, jener das Impromptuͤ, dieser den vorberei¬ teten Hieb, jener wollte geistreich, Talleyrand nur bei¬ ßend seyn. Louis haͤtte Talleyrand gern aus Paris ge¬ habt; wie oft sprach er zu ihm von den laͤndlichen Freuden, die man fern von Geschaͤften auf Valen ç ay feiern koͤnnte! Dann pflegte ihn Talleyrand nach Gent zu fragen, oder hinzuwerfen, welch schoͤnes Wetter man am 20. Maͤrz hatte, und der Koͤnig mußte schwei¬ gen. Talleyrand war nicht unthaͤtig in der Restaura¬ tion. Er ließ sich oft in der Pairskammer sehen, und las trefliche Diskurse ab, die die boͤse Nachrede frem¬ den Federn zuschrieb. Talleyrand wußte, daß man in Zeiten der Ruhe sich ein Geschaͤft nie soll entgehen lassen, nemlich das, sich populaͤr zu machen. Er ar¬ beitete daran, ohne Anstrengung, ohne Ambition, und seine Reden gegen die Censur und dem spanischen Krieg erwarben ihm gute, ehrliche Freunde, Freunde aus der Mittelklasse, die Alles von der besten Seite ansehen. Talleyrand . Wir wagen nicht zu behaupten, daß Talleyrand zu der Konspiration Orleans gehoͤrte. Doch mußte er Louis Philipp lieben, denn beide lieben England. Talleyrand wurde die Aegide der neuen Herrschaft. Er konnte sie am besten beim Auslande repraͤsentiren. Die alten Ver¬ beugungen und Mienen waren allen Kabinetten be¬ kannt; man laͤchelte und erkannte sich wieder. Talley¬ rand gab der neuen Herrschaft ein moralisches Gepraͤge, gleichsam die Beruhigung, daß sie nicht anders seyn werde, als die fruͤhere. Es waren dieselben Manieren, nichts hatte sich veraͤndert. Talleyrand war gleichsam bestimmt, wie glattes Oel die anarchischen Wogen der Revolution zu beruhigen; er machte die Revolution von 1830 so ordinair wie jede andere Staatsveraͤn¬ derung, er ließ sie, die flog, erst gehen lernen, machte den Enthusiasmus bei Zeiten altklug, und wurde der pedantische Erzieher der jungen Franzosen des Julius, deren unkluge Streiche er sich bei den auswaͤrtigen Maͤchten zu entschuldigen erbot. Es liegt die Selbstge¬ faͤlligkeit des Alters in Talleyrands jetzigem Auftreten. Es sind die Schwierigkeiten eines alten Geschaͤftmanns. der einem jungen Aspiranten das alte Herkommen, die Formalitaͤten, als etwas Heiliges anvertraut. Talley¬ rand scheint die Diplomatie zum Selbstzwecke machen Talleyrand . zu wollen. Er liebt den Krieg jetzt noch weniger als fruͤher; denn er ist alt, steinalt, der erste Kanonen¬ schuß braͤchte ihn in Vergessenheit. Er ließ Polen un¬ tergehen, gab Italien hin; er haͤtte Belgien preisgege¬ ben, wenn die Protokolle ihre Wirkung verfehlt haͤtten; er schuf die Hauspolitik Louis Philipps, und er ists, der die Devise traͤgt: Friede um jeden Preis! Talley¬ rand ist achtzig Jahre, seine Augenhoͤhlen werden immer dunkler, er sieht gespenstisch um die Wangenknochen aus, er geht gebuͤckt und faͤllt immer mehr zusammen. Wie viele Fruͤhlinge werden ihm die Lerchen in Valen ç ay noch singen? Was wollt Ihr nun mit diesem Leben beweisen? Daß es ein Kunstwerk war? Eine Luͤge? Ich glaube keines von beiden, und laͤugne, daß Talley¬ rand ein großer Mann war. Talleyrand erschuf sich seine Schiksale nicht selbst, er machte die Ereignisse nicht. Denkt Euch andere Umstaͤnde, und immer wer¬ det Ihr wissen, was Talleyrand unter ihnen gewesen seyn wuͤrde. Louis XIV . haͤtte in ihm einen vortref¬ lichen Geschaͤftsmann gehabt, der auf Ambassaden durch seine Gewandtheit, und nebenbei in den Salons durch seinen Witz gesiegt haͤtte. Unter Louis XIII . waͤre er nicht einmal Mazarin gewesen; zwischen der Fronde und Ligue, zwischen Heute und Gestern waͤre er erdruͤckt Gutzkow's öffentl. Char. 2 Talleyrand . worden. Er brauchte ein Terrain, das großartig genug war, um sowohl Partei als die Flucht ergreifen zu koͤnnen. Dies großartige Terrain aber uͤberkam er, es war eine Erbschaft des Augenblicks an den Augenblick. Talleyrand war ein kluger Mann, er wußte es zu be¬ nutzen. Talleyrands sechs Meineide wird man vielleicht verzeihlich finden unter seinen Umstaͤnden; aber ein gro¬ ßer Charakter waͤre nie in die Verlegenheit gerathen, sie schwoͤren zu muͤssen. Eine besondere Weltanschau¬ ung blickt aus den aufgezaͤhlten Schicksalen nicht her¬ vor, wohl aber eine Reihe einzelner Maximen, die sich immer an ihrem Orte erproben konnten. Talleyrand philosophirte uͤber die Begebenheiten, uͤber die natuͤrliche Schwaͤche des menschlichen Herzens, weniger uͤber die Moral. Das Gewissen verwarf er nicht; doch galt es bei ihm nur gewissermaßen. Er sog das Mark seiner Umgebungen aus, er absorbirte Entschluͤsse, Interessen, Besorgnisse, selbst den Verstand der Außenwelt und verwandte Alles zu seinem Gewinn. Talleyrand nannte nicht Alles Betrug, was mit einer Nichteinloͤsung ei¬ nes gegebenen Wortes endete. Er brachte die Absicht des Gegners in Anschlag, und wußte, daß Einer von des Andern Leben zehre. Warum denen Wort halten, philosophirte er, die jeden Augenblick bereit sind, dich Talleyrand . selbst zu betruͤgen? Die Ereignisse entschuldigten bei ihm Alles; nur das eine glaubte er dem Himmel schul¬ dig zu sein, daß er ihnen nicht unterliege. Der Ego¬ ismus war seine Religion; er kreuzigte sich vor einer Tugend, die ihm haͤtte Schaden bringen koͤnnen. Talley¬ rand hatte einige allgemeine Maximen, welche man so¬ gar erhaben nennen koͤnnte. So huͤtete er sich von zwei gebotenen Faͤllen den zu waͤhlen, welcher den naͤch¬ sten Vortheil brachte. Sah er, daß der Umweg mehr eintrug, so konnte er sogar so großherzig seyn, z. B. gegen die Einrichtung einer Pairskammer zu stimmen, obschon sie ihm fuͤr den Augenblick eine koͤstliche Wuͤrde gebracht haͤtte. In solchen Augenblicken erhob sich seine Gestalt, seine Worte wurden edler und der Nimbus einer uneigennuͤtzigen Tugendliebe schien sich um sein Haupt zu verbreiten. Doch war er nicht geizig nach solchen Augenblicken. Er suchte sie nicht absichtlich, und begnuͤgte sich damit seinen Zweck zu erreichen, selbst wenn man die Mittel in Abrede stellen mußte. Er er¬ schrak vor dem Jesuitismus nicht, weder in der Mo¬ ral noch in der Politik, aber ich wiederhole es, er that dies Alles ohne Prinzip, ohne System, ohne feste Maxime. Eine feste Maxime hatte er, und die schloß alle uͤbrigen ein; ich habe sie schon erwaͤhnt, es war 2 * Talleyrand . die, soviel Geld als moͤglich zu erwerben. Talleyrands politische Laufbahn wuͤrde anders ausgefallen seyn, wenn er nicht das Ungluͤck gehabt haͤtte, sie mit Schul¬ den anzufangen. Es scheint, als konnte man beim Anfange der Revolution manche artige Summe ge¬ winnen, waͤhrend das Gluͤck des Spielhauses, das Talleyrand immer versuchte, ein truͤgerisches ist. Doch stuͤrzte ihn sein Exil in große Verlegenheit, er konnte nur mit geborgtem Gelde nach Paris zuruͤckkehren, und es gab Zeiten, wo er nicht die Miethkutsche be¬ zahlen konnte, die ihn in das Hotel eines der Direk¬ toren bringen sollte. Im Konsulat aber und waͤhrend der Kaiserherrschaft haͤuften sich die Reichthuͤmer. Na¬ poleon war hoͤchst freigebig, war es selbst dann noch, wenn sich Talleyrand, der schlechteste Wirth, ploͤtzlich wieder um ein gesammeltes Vermoͤgen gebracht hatte. An der Boͤrse machte der Minister das meiste Gluͤck. Unklar sind die Geldmachinationen geblieben, welche er mit dem Friedensfuͤrsten von Spanien trieb; doch scheint hinter ihnen wiederum ein sehr leichtes Gewissen zu stecken. Talleyrand war stets in der Lage, immer noch mehr zu brauchen. Oft mußte er sein Haus, seine Meubles, irgend ein Landgut verkaufen, ja es kam ihm gerade recht, daß ihm der Papst fuͤr sein Fuͤrsten¬ Talleyrand . thum Benevent mehrere Millionen zu geben erboͤtig war. Die Bourbonen waren weniger freigebig; sie hat¬ ten nur Orden und feudale Titel zu verschenken. Talleyrand war gezwungen, sich an der Boͤrse zu ent¬ schaͤdigen. Sie ist noch bis auf den heutigen Tag seine rechte Hand, die Hand, welche zahlt. Die Politik dient seinem Interesse; um den Tagespreis gewiß zu haben, wuͤrfelt er den Voͤlkern ihre Schicksale zu. Talleyrand wuͤrde vielleicht nicht so oft Wort und Schwur gewechselt haben, wenn er mehr Geld gehabt haͤtte. Wenn er sagte: es ist ein Ungluͤck, daß man leben muß! so hieß dies: es ist ein Ungluͤck, daß man die Tugend nicht lieben kann! Man ist gern geneigt, Talleyrand ein unveraͤnderliches Prinzip fuͤr die franzoͤ¬ sische Politik unterzuschieben, das gleichsam das Fun¬ dament aller seiner Unternehmungen geworden waͤre. Ich meine die Allianz mit England. Doch ist diese nicht so alt; sie fing erst nach der zweiten Restaura¬ tion an. Als republikanischer und kaiserlicher Minister kam er schwerlich in Versuchung sie anwenden zu wol¬ len. Der Haß jenseits des Kanals schien unausloͤsch¬ lich. England fuͤrchtete die Vermehrung seiner Schuld nicht, um sich diesem blindlings hinzugeben. Doch ist es wahr, daß Talleyrand fruͤh die geheimen Spring¬ Talleyrand . federn kennen lernte, welche die britische Politik in Bewegung setzen. Er verstand die Zusammensetzung des Parlaments und den hohen Werth zu schaͤtzen, wel¬ chen man auf einzelne hervorragende Familien des Lan¬ des legen mußte. Sein feiner Takt ließ ihn fruͤher schon die Wichtigkeit erkennen, welche die Familie, der Wellington angehoͤrt, fuͤr England haben wuͤrde; er machte Napoleon schon zu guter Zeit darauf aufmerk¬ sam, daß man sich durch eine Huldigung, diesem Ge¬ schlechte dargebracht, der britischen Politik in etwas bemeistern koͤnnte. Was Napoleon damals ausschlug, nahm Talleyrand nach der Schlacht bei Waterloo wie¬ der auf. Er benutzte die Zusammensetzung der Allianz, schied die Elemente, welche eine natuͤrliche Sympathie fuͤr Frankreich haben konnten, sehr bald von denen, welche in jedem Stuͤcke fremdartig blieben. Er be¬ diente sich Englands als eines Schildes gegen Ru߬ land, eine Politik, die leider Frankreich noch zu schwach war auszuhalten. Talleyrand verspielte die Gunst Louis, den persoͤnliche Eifersucht gegen England reizte, und regte den Zorn Alexanders auf, der ihn auch stuͤrzte. Nach der Juliusrevolution nahm er seine Politik da wieder auf, wo er sie vor funfzehn Jahren stehen las¬ sen mußte. Er bemuͤhte sich, jede sich verwickelnde Talleyrand . Frage in Englands Interesse zu ziehen, und auf fast indirektem Wege so den Nutzen der franzoͤsischen Allianz nachzuweisen. In der That sollte man glauben, Tal¬ leyrand sei kein Gesandter in London, sondern ein eng¬ lischer Minister. Indem er Frankreich scheinbar bei Seite laͤßt, zwingt er England zu alle dem, was das Pariser Kabinet thun zu muͤssen glauben duͤrfte, ent¬ weder beizustimmen, oder die gleiche Verantwortlichkeit oder gar die Initiative zu uͤbernehmen. England, das zoͤgerte sich uͤber Polen zu erklaͤren, zwang er dazu durch geheime aus das Parlament angewandte Mittel; Bel¬ gien machte er zu einer englischen Frage, indem er die Wahl des Herzogs von Koburg betrieb; in Sachen des Orients schuͤrt er den englischen Ehrgeiz, und zwingt das Ministerium, mit Noten und Demonstrationen vor die Fronte zu treten. Talleyrand will, daß sich Frankreichs auswaͤrtige Politik nur darauf beschraͤnken soll, die englische zu unterzeichnen, wie denn auch der Herzog von Broglie zuruͤcktreten mußte, der es ver¬ suchte, auf eigne Verantwortlichkeiten in sein Ministe¬ rium etwas Selbststaͤndigkeit und Ehre zu bringen. Die Quadrupelallianz soll durch einen coup de main in Madrid entstanden sein, und der lange Anstand ih¬ rer oͤffentlichen Bekanntmachung scheint diesen Ursprung Talleyrand . glaublich zu machen. Doch muͤssen diese Dinge sich anders verhalten, denn die Lage der pyrenaͤischen Halb¬ insel war keine solche, die erst uͤber Nacht entstand; sie ließ sich lange vorhersehen, und die Diplomatie mußte auf das Kommende gefaßt sein. Das Intervenstion¬ recht, welches dieser Allianz zum Grunde liegt, scheint vielmehr das Tageslicht etwas gescheut zu haben, und nahm, um sich besser verantworten zu lassen, den Deckmantel einer Intrigue vor, da es doch im Grunde nichts Anderes war, als eine in London getroffene Ver¬ abredung. Wir koͤnnen diese Darstellung nicht verlassen, ohne noch zum Schluß die Frage auszuwerfen, ob Tal¬ leyrand sich noch in dem Bereiche der Territorial- und Gleichgewichtsinteressenpolitik bewegt, oder ob er es an¬ erkannt hat, daß die voͤlkerrechtlichen Beziehungen sich immer mehr auf Trutz und Schutz fuͤr die beiden Sy¬ steme des Stillstandes oder der Bewegung herausstel¬ len? Wir bezweifeln das Letztere. Talleyrand ist nicht gewohnt, in der franzoͤsischen Revolution ein Prinzip zu sehen; sie ist ihm nichts als eine Katastrophe. Tal¬ leyrands erstes Geschaͤft war, der Revolution von 1830 das Außerordentliche zu nehmen. Die große Um¬ waͤlzung, welche sich aus ihr fuͤr Frankreichs auswaͤr¬ tige Politik haͤtte ergeben muͤssen, hielt er im Beginne Talleyrand . auf, und zwang sie, in das Gleis des alten betruͤ¬ gerischen Herkommens zuruͤckzukehren. Aus der Voͤlker¬ freiheit machte er Fragen des Gebiets und des Gleich¬ gewichts, wie Belgien zur Genuͤge beweist. Er be¬ treibt die Verwicklungen des Orients mit Vorliebe, weil sie eine Frage der Suprematie sind, eines alten Begriffes, dem die Voͤlker nicht mehr aufgeopfert sein wollen, und weil ihm nichts passender scheint, um Oest¬ reich von der nordischen Allianz abzuziehen. Talleyrand wuͤrde im Sinne der alten Balance sein Meisterstuͤck erreichen, wenn er Oestreich vermoͤgen koͤnnte, wieder seiner alten englischen Politik nachzugeben. Talleyrand arbeitet an etwas Unmoͤglichem. Die feinste Kombina¬ tion der Diplomatie zerstoͤrt in unserm Zeitalter ein Augenblick. Unsre jetzige Periode der Legationssekretaire kann nicht lange dauern; denn die alten Kunstgriffe, diese zierlichen Fechterstuͤcke der Parade, hauen ja doch, wie Menzel sagt, die Riesen durch. Frankreich beklagt nicht mit Unrecht, daß Talleyrand sein Vaterland an England verraͤth. Denn welchen Vortheil zog es bis jetzt aus seiner Politik? Es hat Ehre genug, „den Frieden um jeden Preis“ keinen Vortheil zu nennen. Talleyrands Politik ist ein leeres Wuͤrfelspiel. Er spielt mit den Maͤchten, wer die meisten Augen hat; aber 2 ** Talleyrand . er sollte ihnen zeigen, wer die meisten Arme hat. Talleyrand ist zum erstenmale genuͤgsam geworden. Er spielt nicht, um zu gewinnen, sondern um den Einsatz wieder zu haben, mit dem er die zweite Partie wagt. Der alte Mann will das Heft nicht aus den Haͤnden lassen, selbst wenn er damit nur in die Luft ficht. Seine Gegner verstehen ihre Sache und ihre Zeit besser; wer koͤnnte laͤugnen, daß sich die nordische Allianz auf einem hoͤchst realen Boden befindet? Sie steuert sicher ihrem Ziele zu, sie hat ihre Kanonen, ihre Kosaken, ihre Prinzipien, ihre Tendenz. Talley¬ rand hat mehr Gewandtheit; aber es ist nur ein Au¬ genblick, wo der Witzige dem Starken uͤberlegen ist. Talleyrand hat kein Ziel; denn Frankreichs Sache ver¬ steht er nicht: er ist nicht Repraͤsentant der Revolu¬ tion, sondern nur der Personen, welche zufaͤllig in sie verwickelt sind. So ist er nur gemacht, dem eignen Lande durch kleine Siege eine große Niederlage vorzu¬ bereiten. Aber wie bald wird sich in der Halle von Valen ç ay ein schwarzer Katafalk erheben. Martinez de la Rosa. D ie leichtfertigen Franzosen uͤbertreiben, wenn sie in Don Franzisco Martinez de la Rosa nichts gel¬ ten lassen wollen, als die Talente eines Theaterkostuͤ¬ miers. Es ist wahr, er lieferte ein laͤcherliches Mei¬ sterstuͤck der Poesie, als er das Kostuͤme entwarf, in welchem die Veteranen, die jungen Helden und die Tartuͤffes der spanischen Freiheit ihre Rolle als Depu¬ tirte spielen sollen. Ein Anzug der Art, wie er ihn vorschrieb, mit seinen feudalen Schleifen, seinen idylli¬ schen Baͤndern, dem Peruanischen Falbala kostete meh¬ rere Tausend Franks; die Deputirten waren unfaͤhig, in dem Augenblicke einen solchen Aufwand zu machen, zoͤgerten zu erscheinen, und es haͤtte leicht geschehen koͤnnen, daß durch die Ruͤcksicht auf die Schneider von Madrid die ganze spanische Konstitution auf Monate eine Taͤuschung geworden waͤre. Doch besitzt Martinez de la Rosa ehrenwerthe Eigenschaften, Talente und Martinez de la Rosa . Praͤzedentien, welche den Novellisten und Dichter fuͤr das Parterre vergessen machen. Nur kann man nicht laͤugnen, daß Martinez de la Rosa sich eine große Auf¬ gabe gestellt hat. Das Beispiel, welches er giebt, ist nicht einzig, aber doch selten. Die Geschichte straͤubte sich immer, Maͤnnern, welche gewohnt sind, im Reiche der Phantasie zu leben, ein irdisches Portefeuille an¬ zuvertrauen. Ich besinne mich in diesem Augenblicke nur auf Koͤnig David, Arthur vom Nordstern und Cha¬ teaubriand. Selbst Alcaͤus von Mytilene und Goethe gehoͤren nicht hierher. David, der Sohn Isai's, sang schon als Minister Sauls. Er vertauschte fruͤhe die Schleuder und den Flitzbogen mit der Leyer, der kleine Held, und verstand im Palaste, wie in den Hoͤhlen der Gebirge so den Dichter mit dem Premierminister zu verbinden, daß es zweifelhaft geblieben ist, ob er mehr durch jenen oder diesen aus den finstern, tragischen Saul wirkte. Ein herrliches Vorbild! Der Dichter mit dem Fuͤrsten „auf der Menschheit Hoͤhen!“ Doch war David ein antiker Dichter. Damals war Alles noch einfach; die Sprache, die Sitte, die Poesie kostete kein Studium, Alles war Instinkt. Die Bilder waren noch nicht verbraucht; wenn man nach ihnen jagte, traf man selten auf solche, welche schon angeschossen waren. Martinez de la Rosa . Es ist wahr, David kaͤmpfte zwar auch wie jeder Dich¬ ter mit Philistern: aber eine ganze Voͤlkermasse von Prosa ist leichter zu besiegen, als wenn sich die All¬ taͤglichkeit vereinzelt oder wohl gar die Maske der Kri¬ tik vornimmt. Kurz, einen Dichter der Vorwelt kostete sein Ruhm keine Muͤhe, seine Zukunft keine Gegen¬ wart, seine Unsterblichkeit nicht, wie den Romantiker, den Tod. Der poetische Minister Sauls durfte nur einen Blick in die Morgenroͤthe werfen, einen Blick, der ihn nichts von seinen Geschaͤften versaͤumen ließ, und das einfache Bild, das bloße Wort reichte hin, alles das auszudruͤcken, woran ein zeitgenossischer Dich¬ ter einen Tag, und Alles, was sich in einem Tage ver¬ saͤumen laͤßt, setzen muß. Dies hat unsre Zeit so mi߬ trauisch gegen Minister gemacht, welche mit dichterischen Talenten begabt sind. Eine Ungerechtigkeit ist einge¬ rissen gegen Etwas, was sich doch mit unwiderstehli¬ chem Drange in die Seele wirft, was der schoͤnste Be¬ gleiter einer dornenvollen Laufbahn ist, und auch einen Minister troͤsten kann, nach den sauern Stunden, welche eine Staͤndesitzung, ein theilnahmloser Blick des Mo¬ narchen, ein ploͤtzliches Defizit ihn kostet. Warum soll dem ersten Staatsmanne die aufgehende Sonne keine Empfindung entlocken? Warum soll er kalt bleiben, Martinez de la Rosa . wenn die Lerche ihr Morgenlied singt? Warum soll ihm uͤberhaupt der Himmel verschlossen seyn? Die grau¬ samen Franzosen! Sie machen Martinez den Vor¬ wurf, daß er Dichter ist! Wir wollen, indem wir die fluͤchtigen Schatten seines Lebens reißen, in ihm den redlichen, patriotischen und talentvollen Mann erkennen lassen. Geboren wurde Martinez de la Rosa im An¬ fang der achtziger Jahre zu Granada. Wenn Ihr den Vorzug, Deutsche zu seyn, auf einen Moment verges¬ sen koͤnnt, so beneidet ihn darum! Beneidet ihn um die Olivenwaͤlder, die am Fuße der Sierra Nevada ste¬ hen, beneidet ihn um den goldhaltigen Genil, in dem er baden konnte, und jenen zweiten Fluß, dessen Name mir entfiel, der aber gediegenes Silber mit seinen Wel¬ len fuͤhrt! Welche zaubervolle Jugend! Die alten mau¬ rischen Sagen umfluͤsterten den Knaben, wenn er beim Spiele seinen Ball in die Truͤmmer des Alhambra warf. Er hoͤrte in der wunderbaren Loͤwenhalle, wie sich die großen Emire der Wuͤste aus dem weisheits¬ vollen Koran die Spruͤche vorlesen ließen, welche an die Maͤßigung im Gluͤck und die Barmherzigkeit des Siegers des Paradieses schoͤnste Freuden knuͤpften. Er trank aus dem Brunnen im schweigsamen Hofe und fuͤhlte, wie sich fruͤhe die Gabe der Weissagung und Martinez de la Rosa . schoͤnen Rede auf seine Lippen legte. Aber nicht Alles ist verschwundene Herrlichkeit in Granada. Auf den Truͤmmern der maurischen Erinnerung pflanzte das Ritterthum und die Weltmonarchie Karls V. die Tro¬ phaͤen ihrer großen Siege. Auf dem Platze Viva¬ rambla konnte Martinez keinen Wettlauf mit seinen Gespielen anstellen, ohne daß jene die Zegris, diese die Abencerragen retten wollten. Er wurde aͤlter, und in den ungeheuern Dimensionen des Palastes Karls V . lernte er die Geschichte des Vaterlandes, die Universal¬ traͤume des spanischen Habsburgs, an dem Grabmale Ferdinands und Isabellens, wie Amerika entdeckt und die Inquisition eingesetzt wurde. Hier konnte sich fruͤh die Seele an einen maͤchtigen Fluͤgelschlag gewoͤhnen, so daß die moͤnchische Erziehung des spaͤtern Alters zwar Vieles dem Wissensdurste verweigern durfte, aber nichts nehmen, was schon da war. Martinez war reicher und angesehener Eltern Kind. Er benutzte alle Bil¬ dungsmittel, welche ihm Spanien darbot, und gab sich zuletzt dem Studium der Rechte und der Staatswirth¬ schaft hin. Das System der Reformen Karls III . ließ sich in Spanien durch eine Herrschaft der Guͤnst¬ linge und Ehebrecher nicht sogleich aufhalten. Es blieb von der encyklopaͤdischen Aufklaͤrung, von dem philo¬ Gutzkow's öffentl. Char. 3 Martinez de la Rosa . sophischen Enthusiasmus des achtzehnten Jahrhunderts, welcher auch Spanien mannichfach beruͤhrt hatte, Vie¬ les uͤbrig, was sich nach unten hin verbreitete, und ge¬ naͤhrt von den Grundsaͤtzen der franzoͤsischen Revolu¬ tion, die Hauptquelle der Bildung wurde, die spaͤterhin in der Gestalt des Liberalismus als eine politische Macht auftrat. Martinez warf sich in diesen Strom der Tendenzen und ließ sich von ihm tragen, bis er in Begebenheiten endete. Die Revolution von Aranjuez, die Abtretungen von Bayonne und Madrid, die neue Dynastie der Napoleoniden warfen Spanien in einen anarchischen Kampf von Interessen, wie sie auf einem kleinen Terrain in Europa niemals widerstreitender ge¬ wesen sind. Doch machte sich die gute Natur durch diese Verwirrung Platz, der Instinkt des Patriotismus ließ alle Differenzen vergessen, und von zahllosen sich durchkreuzenden Leidenschaften blieb nichts uͤbrig, als der Haß gegen die Franzosen. Die Cortes von 1808 traten zusammen, und Martinez de la Rosa nahm unter ihnen den Platz ein, der seinen Talenten und Kenntnissen gebuͤhrte. Er theilte die Schicksale dieser Cortes in Madrid, Sevilla und Cadiz. Ob er sich zu irgend einer Nuͤance dieser patriotischen Versammlung bekannt hat, wissen wir nicht, glauben aber, daß ihn Martinez de la Rosa . die Liebe zur Freiheit immer da hintreten hieß, wo ihre beredtesten Fuͤrsprecher standen. Noch gab es keine Doktrinairs, noch hatte die Exaltation durch gescheiterte Plane sich nicht in Mißkredit gebracht: es gab keine andre Gefahr, als die, welche eine edle Seele immer uͤbersteht, den Servilismus. Martinez reihte sich den glorreichen Rednern dieser Periode an, welche durch ihre glaͤnzende Beredsamkeit, ein Talent, welches in keine Schule gegangen war, ganz Europa zur Bewunderung zwangen. Die Restauration Ferdinands machte allen diesen Dingen ein Ende. Die Cortes waren zersprengt, der Ruͤckkehrende begruͤßte sein treues Volk mit Schaf¬ fotten und Proscriptionen. Martinez de la Rosa wurde nach der afrikanischen Kuͤste verbannt und in Ceuta wie ein Gefangener gehalten. Er scheint sich waͤhrend dieser Zeit vielen Reflexionen hingegeben zu haben. Er mag sich bemuͤht haben, Spaniens Schick¬ sal in ein Resultat zusammenzufassen, und philosophirte vielleicht uͤber Dinge, die uns entmuthigen, wenn wir uns uͤber sie stellen wollen. Welchen Eindruck mochte Porliers und Lascys Schicksal in ihm machen? Er beweinte es, aber nannte es vielleicht eine Thorheit, zu konspiriren. Fesseln entnerven: man sage nicht, daß man nach einer vierjaͤhrigen Gefangenschaft noch fuͤr 3 * Martinez de la Rosa . sich gut steht! Martinez wandte sich verzweifelnd von den politischen Kombinationen ab, und dichtete seinen Morayma. Die Sehnsucht des Verbannten trug seine Phantasie in die poetischen Erinnerungen Granadas, aber so gefesselt waren seine Gedanken an die Schick¬ sale des Vaterlandes, daß sein Drama eher den Na¬ men einer Allegorie verdiente. Er laͤßt einen der letz¬ ten maurischen Koͤnige nach Ermordung der Abencerra¬ gen den Thron besteigen. Die Erbitterung der Par¬ teien umgiebt ihn. Persoͤnliches Interesse schuͤrt die Leidenschaft, hier Intrigue und Verlaͤumdung, dort Ge¬ waltthaͤtigkeiten und Tumulte. Der Castilianer steht vor den Thoren. Der Koͤnig ist schwach und weil er zwischen beiden Parteien in der Mitte stehen will, wird er Tyrann und undankbar gegen die, welchen er seine Krone verdankt. Hier sind die Cortes, hier Ferdinand, die Franzosen. Hier aber auch schon der Gefangene von Ceuta mit seinen Grillen, die er mit den Mu¬ scheln am afrikanischen Strande aufliest; denn er sieht in Allem, was der Hebel seines Dramas ist, persoͤn¬ liche Leidenschaft, fuͤrchtet die rohe Gewalt, auch da, wo sie zum Siege seiner Partei unerlaͤßlich ist, und haßt den Tumult der Masse. Wir sehen ihn befan¬ gen nach Madrid, in die Cortes von 1820 zuruͤckkeh¬ Martinez de la Rosa . ren. Er der auf einem, fast moͤchte man sagen, ge¬ schichtlichen Wege unter die Opposition gekommen ist, findet sich jetzt umringt von Maͤnnern, die erst durch eine Betrachtung liberal wurden, von Maͤnnern, die dem einreißenden Carbonarismus verwandter waren, als den constitutionellen Erinnerungen Spaniens. Marti¬ nez mochte erstaunen, daß die Liebe zur Freiheit ein System geworden war, daß es ein Woͤrterbuch des Li¬ beralismus gab. Inzwischen trug ihn eine hohe Ver¬ ehrung empor, und gleich die erste Sitzung machte ihn zum Sekretair der Kammer, welche Spanien dem kuͤh¬ nen Muthe Riego's verdankte. Von 1820 bis zur Katastrophe des Julius 1822 faͤllt Martinez de la Rosa's glaͤnzendste Periode. In den drei Cortessessionen dieser Zeit galt er als einer der vorzuͤglichsten Redner, der mit Galiano und Au¬ gustin Arguelles, dem Goͤttlichen, wetteiferte. Sein erster Antrag stand noch unter den Eindruͤcken seiner Gefangenschaft; denn er wollte, daß Spanien die afri¬ kanische Kuͤste aufgaͤbe, und sie an den Kaiser von Marocco gegen einen Tribut abtraͤte. Dann forderte er die Minister auf, Maßregeln gegen die Raͤuberban¬ den, welche Spanien durchstreiften, zu nehmen. Er wollte nicht, daß die Pfarrer zwei Pfruͤnden besaͤßen, Martinez de la Rosa . ein Antrag, den Graf Toreno unterstuͤtzte, und ziemlich reformatorisch zu einem rein politischen machte. Ja, er sprach sogar fuͤr die Geschwornen, welche ihm in ei¬ ner neulichen Sitzung der Prokuratoren ein zu fruͤhes Geschenk waren. Er nahm sich lebhaft der Josephinos an und bewirkte eine Amnestie fuͤr sie, kurz, es gab mannichfache Gelegenheit, wo er sein Talent und sei¬ nen Patriotismus zeigen konnte. Doch sprach sich seine spaͤterhin prononzirte politische Nuͤance gleichfalls allmaͤh¬ lich aus. Viele seiner Meinungen waren gegen die politischen Klubbs gerichtet, und als am 4. September 1820 diese Frage aufs neue zur Sprache kam, treffen wir auf eine merkwuͤrdige Allianz zwischen Martinez de la Rosa, Moscoso, Garely und Toreno, die sich in unsern Tagen wieder erneuert hat. Martinez sagte da¬ mals: „Es ist nothwendig, zum Vortheile der natuͤr¬ lichen Freiheit der buͤrgerlichen und politischen Schran¬ ken zu setzen;“ ein Satz, der erst dann wahr ist, wenn man ihn umkehrt. Der doktrinaire Pedantismus, der seine jetzigen Reden auf der Ministerbank so unver¬ kennbar charakterisirt, zeigte sich auch damals schon: Martinez distinguirte gern und zog sich, wie alle poli¬ tisch Zaghaften, auf die Phrase zuruͤck, daß man die Dinge auch von der andern Seite ansehen muͤsse. Sein Martinez de la Rosa . Widerstand gegen eine Entschaͤdigung, welche Riego ver¬ langte, machte ihn unpopulaͤr, noch mehr die Debatte uͤber die unter dem Namen „die Perser” bekannten meineidigen Deputirten, und am Schlusse der Sitzung von 1821 das Repressivgesetz Toreno's, welches er eif¬ rig unterstuͤtzte. Das Volk stuͤrzte Toreno's Wagen um, und belagerte nach des Grafen Hause auch das des erschrockenen Dichters, der hier Scenen aus seinen Tragoͤdien wiederkehren sah. Nichts destoweniger erhielt er mit Anfang der Sitzung von 1822, im Februar, das Portefeuille des Auswaͤrtigen. Die Zusammense¬ tzung dieses neuen Ministeriums war unpopulaͤr genug: es war aus der Majoritaͤt der entlassenen Cortes ge¬ bildet, die sich durch ihren Servilismus dem Volke so verhaßt gemacht hatten. Die neue Kammer galt fuͤr unabhaͤngiger, als alle fruͤheren; Riego war im An¬ fange selbst ihr Praͤsident. Martinez, der sich schon lange an die ministerielle Physiognomie gewoͤhnt hatte, fand in seiner neuen Wuͤrde, fuͤr die seine Uneigennuͤ¬ tzigkeit sich nicht bezahlen ließ, einen schwierigen Stand. Der Kongreß saß drohend in Verona, die Glaubens¬ armee organisirte sich in den Gebirgen, die Camarilla Ferdinands konspirirte, in Valenzia und Pampeluna brachen royalistische Tumulte aus. Und dennoch schien Martinez de la Rosa . dem Ministerium diese Gefahr geringer, als die, welche im Lager selbst drohte. Es glaubte keinen andern Feind bekaͤmpfen zu muͤssen als den Jakobinismus der Klubbs. Die Reden in der Fontana d'Oro, die Auf¬ saͤtze der Zuriaga und des Terzerols beschaͤftigten die Minister mehr, als die Fortschritte, welche die Insur¬ rektion der Misa, Jaimes, Zabala und Quesada machte. Man kann das Ministerium des Martinez de la Rosa von jener Zeit das Direktorium der spanischen Revo¬ lution nennen: der Moderantismus desselben, welcher nicht durch vorangegangene, sondern parallele Ausschwei¬ fungen gerechtfertigt werden konnte, brachte unter Spa¬ niens damaligen Umstaͤnden nichts zuwege, als eine Keckheit des Royalismus, der immer mehr um sich griff. Der Moderantismus war, wenn nicht offene Verraͤtherei, was wir nicht glauben, doch jedenfalls die verfehlteste Maßregel, um die spanische Freiheit zu ret¬ ten. Wenn er die Demokratie kurz am Zuͤgel fassen wollte, so arbeitete er der Reaktion in die Haͤnde. Auch war die Demokratie nie maͤchtiger, als damals. Die Klubbs, die Communeros donnerten, die Cortes machten die Beschluͤsse derselben gesetzlich. Riego rauchte mit Ferdinand Cigarren zum Zeichen ihres Einverstaͤnd¬ nisses, und seine Hymne, mit der er das Heer von Martinez de la Rosa . Isla de Leon fuͤhrte, wurde, wie es damals hieß, fuͤr ordonnanzmaͤßig erklaͤrt. Unter solchen Umstaͤnden war der Moderantismus ein Fehler. Wir wiederholen nochmals, daß es unglaublich scheint, wenn das Mini¬ sterium mit Aranjuez unterhandelt haben und in seinem Hasse gegen die Demokratie so weit gegangen sein sollte, daß es mit dem Feinde innerhalb und außerhalb Iliums jene besiegen wollte. Das wuͤrde geheißen ha¬ ben, ein kleineres Uebel durch ein groͤßeres heilen. Auch unterließ Martinez nicht, Einiges zu thun, was fuͤr seinen guten Willen zeugte. Er sandte seinen Freund Toreno (Toreno ist Porliers Schwager) nach Paris, um die dortige Botschafterstelle zu uͤbernehmen, und auf das Kabinet der Tuilerien, mehr aber noch auf den Pavillon Marsan, die ultraroyalistische Coterie des Gra¬ fen Artois, und das Asyl aller spanischen Verraͤther, einzuwirken. Er unterhandelte viel mit dem franzoͤsi¬ schen Gesandten Lagarde in Madrid, den man beschul¬ digte, der Vend é e in den Gebirgen Vorschub zu leisten. Ja als das feindselige Benehmen der franzoͤsischen Re¬ gierung, die Unterstuͤtzung, welche sie den Insurgenten angedeihen ließ, immer offenkundiger wurde, verbreitete sich im Mai das Geruͤcht, Lagarde habe nach einem heftigen Wortwechsel mit Martinez seine Paͤsse ver¬ Martinez de la Rosa . langt. Auch hielt der Minister darauf eine heftige Rede vor den Cortes, worin er Frankreich Vorwuͤrfe machte, welche einer Kriegserklaͤrung gleich kamen. Dis ist der einzige energische Akt waͤhrend seines Amtes, der aber am deutlichsten seine Schwaͤche zeigte, da er ohne Folgen blieb. Die Entscheidung des 7. Julius ruͤckte heran. Man weiß, daß die Demokratie an diesem Tage ihren Triumph feierte. Die eben entlassenen Cortes wurden vom Magistrate Madrids, dem Ayun¬ tamiento, welcher die Rolle des Stadthauses aus der franzoͤsischen Revolution uͤbernahm, ersetzt. Die auf¬ ruͤhrerischen Garden mußten im Pardo nach einem hartnaͤckigen Kampfe mit der Nationalgarde (wenn uns Martinez erlaubt, die milicia urbana so zu nennen) das Gewehr strecken. Auch das Ministerium war ge¬ sprengt. Es ist kaum glaublich, daß dasselbe mit dem Aufruhre in Verkehr gestanden habe. Es war von diesem Ereignisse so uͤberrascht, wie die Nation, ein Beweis fuͤr seine Schwaͤche. Es hatte weniger An¬ theil daran als der Schlaͤchter Amerika's, Morillo, der damals eine so zweideutige Rolle spielte. In der Nacht vom 7. zum 8. saßen die Minister wie gefangen im Palaste, alle Ausgaͤnge waren besetzt, und in dieser Verlegenheit mag Martinez die politische Laufbahn ver¬ Martinez de la Rosa . wuͤnscht, und sich nach dem stillen Umgange mit den Musen gesehnt haben. Sein Leben war in Gefahr, die siegtrunkene Partei, welche viele Opfer zu betrauern hatte, wollte anfangs die Minister fuͤr das Geschehene verantwortlich machen; doch da Spanien wiederum das Ungluͤck hatte, ein abgenutztes Ministerium aus alten Truͤmmern fruͤherer, die schon gescheitert waren, zu be¬ kommen, so fiel die Anklage, und Martinez zog es vor, sich allmaͤhlich ganz vom Schauplatze des Tages zuruͤckzuziehen. Bald wurde auch der Absolutismus in Spanien zum Zweitenmale restaurirt. Die franzoͤsischen Bajonnette setzten Ferdinand in ein plein pouvoir ein, das er auch zunaͤchst gegen die Anhaͤnger der Konsti¬ tution, die er so oft falsch beschworen hatte, in blu¬ tige und konfiskatorische Anwendung brachte. Martinez de la Rosa fuͤrchtete die Tage von Ceuta und zog mit den Proscribirten uͤber die Pyrenaͤen. Die sieben Jahre der Verbannung brachte Marti¬ nez zum großen Theile in Paris zu. Er gab sich li¬ terarischen Beschaͤftigungen hin, welche immer politische Leiden am leichtesten vergessen machen. Mit seinen Landsleuten gespannt, schloß er sich selbst von ihren Konspirationen aus, dichtete, aͤsthetisirte und sammelte seine Schriften, welche mit vieler Eleganz bei Didot Martinez de la Rosa . gedruckt worden sind. Er kam nach Frankreich, noch ganz voll von Verehrung des tragischen Kothurs eines Corneille und Racine. Man wuͤrde sich taͤuschen, suchte man bei ihm die farbengluͤhende Grandezza des alten spanischen Theaters. Er ist als Dichter mehr Storch, als Flamingo. Seine Gefuͤhle gehen auf Stelzen, sein Dialog sind Wechselreden nach den Grundsaͤtzen der Rhetorik. Er war, als er die Witwe des Padilla schrieb, den Morayma und Edipo, ein Dichter der drei Einheiten, mit moralischen, kalten Tendenzen, steifer als Alfieri, aͤrmer als Arnault. Statt daß seine Per¬ sonen handeln, erzaͤhlen sie; sie reflektiren uͤber das, was sie thun sollten, und lieben es, alles bis auf den fuͤnften Akt zu verschieben, welcher der Unthaͤtigkeit endlich ein Ende macht. In seinen Untersuchungen uͤber die spanische Poesie findet er es laͤcherlich, wenn Lope de Vega den Columbus von Madrid nach Gre¬ nada, von dort nach Amerika, und von hier wieder zuruͤck nach Barcelona versetzt. Er sieht darin eine Verletzung aller Regeln, wenn derselbe Dichter in ein Drama drei Handlungen verflicht, und wiederholt gegen Shakesspeare die Vorwuͤrfe, welche vor ihm schon Vol¬ taire machte. Nichtsdestoweniger brachte der Aufent¬ halt in Paris auf Martinez poetische Ader eine neue Martinez de la Rosa . Wirkung hervor. Der Kampf des Romanticismus und der Klassiker konnte ihm nicht fremd bleiben, und seine spaͤtern Produkte bezeugen, daß er in seiner alten Stellung wankend gemacht wurde. Victor Hugo, welch' ein Beispiel! Martinez mochte seine Extravaganzen hassen, aber vielleicht ließen ihn die Lorbeeren des Dich¬ ters nicht schlafen, vielleicht quaͤlte ihn ein unerklaͤrli¬ ches Etwas aus seinen alten Ansichten heraus. Wel¬ cher wahrhafte Dichter gaͤbe sich so bald zur Ruhe! Er wird niemals mit sich zufrieden werden, und von seinem Naͤchsten immer die Hoffnung haben, daß es das Vorangegangene uͤbertreffen werde. Martinez kam mit dem franzoͤsischen Theater in Beruͤhrung, Scribe uͤbersetzte ein Lustspiel von ihm, er war nun in die Bewegung hineingerissen und versuchte, ob ihm bei veraͤndertem Glaubensbekenntnisse die Muse heißere Um¬ armungen goͤnnen wuͤrde. Sein Aben Humeya gelang ihm ungleich besser: er hat hier den Kothurn abgewor¬ fen und tritt in leichter, freier Prosa auf. Die Sprache ist frisch, leidenschaftlich, bilderreich; die Scenen sind nicht uͤbermaͤßig ausgemalt, sondern sie brechen ploͤtzlich ab, wenn ein Ereigniß dem andern folgt. In der Ver¬ schwoͤrung von Venedig, demselben Drama, das in Madrid mit einem Applaus aufgenommen wurde, der Martinez de la Rosa . den Dichter als Minister in Verlegenheit setzte, geht Martinez in der Verehrung des franzoͤsischen Theaters sogar noch weiter. Er verschmaͤht nicht mehr den Pomp und die Kunst der Scenerie, er fuͤllt einen gan¬ zen Akt mit Schaustuͤcken der Art, von denen Schle¬ gel sagt, sie wuͤrden ihm gefallen, wenn nicht Worte dabei waͤren. Und nun ich Schlegel nenne, so wolle man wissen, daß Martinez de la Rosa auch diesen kannte, und ihn oͤffentlich einer geringen Kenntniß des spanischen Thearers bezuͤchtigt hat. Es thut mir leid, hievon Erwaͤhnung thun zu muͤssen. Inzwischen zogen sich nach dem Jahre 1829 durch eine Heirath einige Wolken von dem spanischen Horizonte weg. Die Herrschaft des Beichtstuhls wurde durch die des Alko¬ vens zerstoͤrt. Ferdinand stuͤrzte durch demagogische Um¬ triebe das falsche Gesetz, und er sah sich nach Men¬ schen um, die seine Handlungen billigten. Die Erbit¬ terung gegen die Emigranten legte sich, und die am wenigsten kompromittirt waren, durften es in Hoff¬ nung der allgemeinen Amnestie wagen, uͤber die Pyre¬ naͤen zuruͤckzukehren. Ferdinand hatte wie Karl V ., aber wider Willen, bei Lebzeiten schon seine Exequien gehalten, er hoͤrte mit scheintodtem Ohre, wie ihn Ca¬ lomarde an Karl verrieth, wie man sich in die Herr¬ Martinez de la Rosa schaft theilte, und in der oͤffentlichen Meinung von ganz Europa sein Todtengericht hielt. Er hatte seinen wahren Feind kennen gelernt, und eilte jetzt, mit sei¬ nen alten Gegnern Friede zu schließen, um sie gegen den Carlismus zu verwenden. Der Name Martinez de la Rosa war in keinem der Komplotte gehoͤrt wor¬ den: welche die Sicherheit der zweiten Restauration ge¬ stoͤrt hatten; er wurde zwar nicht gerufen, aber zuge¬ lassen. Weder Mina's noch Torrijos Expedition ließ man ihn entgelten; man wußte, wenn man den Dich¬ ter feilen hoͤrte, daß es nicht den Ketten Spaniens, sondern seinen Werken galt. Marie Christine liebte an Martinez Auge den lebhaften Ausdruck, sie bewunderte die kleine weiße Hand, die so artige Reime und Ge¬ danken zusammenfuͤgte, sie hoͤrte gern die duftenden Bluͤthenflocken der Rede aus seinem Munde fallen, sie ließ sich von ihm Aesthetik vortragen, und hatte nichts dagegen, wenn er zuweilen von dieser auf die Politik uͤbersprang. Es bildete sich allmaͤhlich ein Kreis um die Koͤnigin, den das Vertrauen gezogen hatte; man berieth sich uͤber die Zukunft, waͤhrend links der kranke Koͤnig an der Magengicht stoͤhnte, rechts die kleine Isabella in ihren Windeln schrie. Marie Christine von Neapel ist keine Heroine, sie fuͤrchtet sich vor dem Er¬ Martinez de la Rosa . eigniß; sie hat nichts, als einige kleine Leidenschaften, etwas Schwaͤrmerei und will zart behandelt seyn. Sie wuͤrde genug gethan zu haben glauben, wenn sie Rizio Munnoz begluͤckte, und soll bald das Testament Fer¬ dinands vollziehen, Minister waͤhlen, Takt haben, die Garde defiliren lassen, und kriegerische Operationen un¬ terzeichnen. Sie wuͤrde alles untereinander geworfen ha¬ ben, wie auf einem Naͤhtisch, wenn nicht Martinez de la Rosa mit sanfter Rede, milden Vorwuͤrfen und bildlichen Vergleichen neben ihr stuͤnde. Marie Christine ist durch ihn eine schoͤne Seele geworden. Er liest ihr die Dekrete wie Stellen aus seinen Dramen vor, er wirft um alles ein phantastisches Kleid, er macht die Zusammenberufung der Cortes zu einer Aufgabe des Garderobiers, und hat zu dem Saale derselben ihr so viel architektonische Risse vorgelegt, daß sie durch Aus¬ wahl des schoͤnsten ihren Geschmack vor ganz Madrid bewaͤhren konnte. Wie artig sind die Reglements, welche Martinez bei Feierlichkeiten der Koͤnigin vorschrieb! Sie erschien mit ihrem Kinde, wie einst Fredegunde mit Clothar vor den Franken; sie hatte in ihrer Rolle wenige und gefuͤhlvolle Worte vorgeschrieben; alle diese Dinge arrangirte Martinez. Als die Cholera ausbrach, ließ sie nur Rizio und Martinez in la Grania ein, Martinez de la Rosa . sie beschied sich, nichts als das Unentbehrlichste um sich zu haben; ja Martinez, der Dichter, wurde kein Ge¬ schichtschreiber der franzoͤsischen Revolution, kein Thiers, und machte la Granja nicht zu Blaye und setzte keine Preise aus, um eines Judas Ischariot Deuz willen. Dies ist das enge Buͤndniß, welches die Regentin mit Martinez de la Rosa geschlossen hat. Inzwischen uͤber¬ nahm der Dichter vor den Augen der Nation seine mi¬ nisterielle Mission. Einige Splitter, welche von dem Schiffbruch Zea's noch uͤbrig geblieben waren, hemm¬ ten seinen ersten Lauf, doch entledigte er sich ihrer bald. Sein eigner Name wurde fuͤr das Werdende verant¬ wortlich. Die neue Konstitution, das Estatuto real ist sein Werk. Er versuchte es, den Zwiespalt Spaniens zu versoͤhnen, die Zukunft an die Vergangenheit zu knuͤpfen, ja er hoffte so viel von seinem guten Willen, daß er selbst das Arcanum, welches Ludwig Philipp an¬ bot, das Juste Milieu abwies. Allein der gute Wille hat in dem Staatskredit einen schlechten Cours, er ist eine Illusion in Zeiten wo alle Lebensaͤußerungen mit scharfen Raͤndern und Kanten gezeichnet sind. Der gute Wille war keine Garantie fuͤr ein so mißhandeltes Volk, das gezwungen ist, nur in seinen Erinnerungen, d. h. in seiner Rache zu leben. Man hat fuͤr Alles in Gutzkow's öffentl. Char. 4 Martinez de la Rosa . Spanien gleich einen Namen, jede Partei kann die andre mit einem kurzen Kohlenumriß an die Mauer zeichnen: Worte, Abstimmungen, alte Fehler, da ist nichts vergessen. Die Maͤnner des Ringes, die Anille¬ ros, welche Martinez in seine Naͤhe zog, waren bald erkannt, der Moderantismus ist eine Stereotype, die nur genannt zu werden braucht, um jede Befuͤrchtung auszudruͤcken. Zu den alten Namen hat die juͤngste franzoͤsische Geschichte noch neue gestellt, und allgemein wird das gegenwaͤrtige Ministerium doktrinaͤr genannt. Vor der Zusammenberufung der Cortes sagte man, Martinez wuͤrde seine Entlassung nehmen; allein dies Geruͤcht druͤckte nur das aus, was man wuͤnschte. Vielmehr war Toreno's Ernennung ein Huͤlfsdetasche¬ ment; denn Toreno ist Martinez alter Leidensgefaͤhrte, nur ist er schneller, eifriger, etwa das, was Lord Dur¬ ham unter den Whigs. — Wir sind am Ende unsrer Darstellung, da der gegenwaͤrtige Kampf der Parteien in Spanien außer ihren Graͤnzen liegt. Nur zwei Dinge erlauben wir uns noch, ein Urtheil und ein Prognostikon. Selbst die Opposition laͤßt der parla¬ mentarischen Faͤhigkeit des Ministers Gerechtigkeit wer¬ den. Es ist wahr, seine Reden zeichnen sich durch Schwung und Rundung aus, und wenn gar, was in Martinez de la Rosa . Spanien nicht anstoͤßig zu sein scheint, Deklamation und Gesten zu diesen Worten hinzukommen, so muͤs¬ sen sie in dem Saale eine großartige Wirkung hervor¬ bringen. Doch seine Zwischenreden, seine Einwaͤnde, das, was man den parlamentarischen Dialog nennen koͤnnte, sind pedantisch, mit Logik bestaͤubt, sie sind pe¬ nibel, und verrathen den Kleinmeister. Martinez de la Rosa ist immer zur Hand, wo es eine Distinktion gilt, er liebt es, am Unwesentlichen zu klauben, und auf Dinge Werth zu legen, die die Untersuchung gar nicht weiter bringen. Aber was ihn stuͤrzen muß, ist zuletzt weniger die Form, als der Inhalt seiner Diskurse. Ich glaube, er ist in seinen Handlungen weniger vorsichtig als in seinen Reden. Er gleicht den deutschen Pedan¬ ten, welche die Freiheit lieben wuͤrden, wenn sie nicht fuͤr alles gleich Beispiele haͤtten und gewohnt waͤren, die Dinge immer vom verkehrten Standpunkte anzu¬ sehen. Martinez de la Rosa hat sich aus der Ge¬ schichte der Revolutionen so viel Erfahrungen, kleine Saͤtze und Maximen abstrahirt, daß er ohne Citat kei¬ nen Schritt vorwaͤrts setzen kann. Bald schwebt ihm der Konvent vor, bald die franzoͤsische Journalistik, bald weist er auf Mirabeau, bald auf Burke hin; es ist eine Gelehrsamkeit, die ihn ersticken muß. Waͤre die 4 * Martinez de la Rosa . Kammer nicht selber so naiv, traͤte in ihr die Revolution nicht mit so vieler Angst, so scheu und besorglich auf, so muͤßte der Pedantismus des Ministers laͤngst durchgefallen sein. Wir wissen auf die Laͤnge nicht, was Martinez de la Rosa ohne Majoritaͤt fuͤr Spanien thun will. Es ist wahr, die Petition der Rechte mag eine Formalitaͤt gewesen sein, in welcher es gleichguͤltig war, zu unterliegen; aber wird die Finanzfrage sich guͤnstiger beantworten? Wird die Kammer in ihrer wahrhaft originellen, leidenschaftlosen Re¬ volution fortschleudern, und nicht bald den Sturmschritt schlagen lassen? Wird endlich die Insurrektion, dieser uner¬ traͤgliche Widerspruch gegen Spaniens Gluͤck und Wohl¬ fahrt, nicht durch anßerordentliche Maaßregeln ausgerottet werden muͤssen? Außerordentlicher Maaßregeln ist das je¬ tzige Ministerium aber nicht faͤhig. Es muß zu einer allge¬ meinen Bewaffnung kommen; denn Frankreich beweist, daß die Vendee ohne Nationalmiliz nicht getilgt werden kann. Diese praktische Freiheit aber kann Martinez de la Rosa, an die Freiheit der Koulissen, an das Phantom ge¬ woͤhnt, nicht ertragen. Er wird noch einmal in den Pal¬ last der Regentin treten, das koͤnigliche Kind mit seinen Thraͤnen benetzen, und dann die Olivenwaͤlder von Gra¬ nada aufsuchen, um in ihrem Schatten die fluͤsternden Laute der Natur zu belauschen, welche nur ein Dichter versteht. Chateaubriand. W enn man sich Talleyrand zu allen Zeiten nur wie Harpokrates, alt wie die Wintersonne, denken kann, Martinez de la Rosa in mittleren Jahren, mit buͤrger¬ lichem Embonpoint, gesetzten Zuͤgen, und einen gold¬ nen Ring an dem zarten, poetischen Schreibfinger, so gibt es fuͤr Franz August Vicomte von Chateaubriand keine andere Vorstellung, als die des Juͤnglings. Wer glaubt es, daß Chateaubriand ein alter Herr ist, der in wenig Jahren seinen siebenzigsten Geburts¬ tag feiern wird? Er, den wir uns noch immer von etwas phantastischem Aeußern denken, als den letzten Kreuzfahrer, der nie stirbt, immer bereit, noch mit neuen Epochen der Geschichte in Kollision zu gerathen, ein junges Maͤdchen zu besingen und Thorheiten zu begehen? Ihr werdet wenig Menschen kennen, welche mit so viel Jugend ihr Alter angetreten haben. Chateaubriand hat die unverwuͤstliche Physiognomie der Naivetaͤt, die Chateaubriand . er mit ins Grab nehmen wird. Er blieb sich immer gleich, ein schuͤchterner junger Mensch, der vom Lande kommt, froh am Geringfuͤgigen, uͤberrascht von Allem, ohne Voraussicht, wie ein Kind; aber auch ungedul¬ dig, zornig und ungerecht wie ein Kind. Chateaubriand ist ein Greis geworden, ohne ein Mann gewesen zu sein. Gewohnt, nur in unbegruͤnde¬ ten Hoffnungen zu leben, nahm er seine Erfahrung fuͤr eine feindselige Macht, die ihn uͤberall enttaͤuschte. Alles, was ihm geschah, hielt er fuͤr eine Vorbereitung, und rechnete, daß immer noch eine Zeit kommen werde, wo er von seiner Vergangenheit Vortheil ziehen wuͤrde. Aber daruͤber ist er alt geworden, seine Jugend hat bis an sein Grab gedauert. Koͤnnte dies die Erfahrung eines reifen Charakters gewesen seyn, so muͤßte seine Verzweiflung jetzt tra¬ gisch und des tiefsten Mitleids wuͤrdig werden; doch Chateaubriand fuͤhlt diesen Widerspruch nicht: es gibt Nichts, wofuͤr er Alles hingegeben haͤtte; er lebte ohne Plan, er hatte das sonderbare Schicksal, immer zu spaͤt zu kommen. Er hat viel verloren, ohne je etwas be¬ sessen zu haben; er ist oft gefallen, ohne daß er je aufrecht stand; man vergaß ihn immer, ohne daß man je recht an ihn dachte. Chateaubriand . Das ist es: Chateaubriand erwartete nichts; man versprach ihm nichts, man schmeichelte ihm mit keiner Hoffnung. Es ist niemals Jemand mit so wenig Opfern ungluͤcklich gewesen; wenn er fiel, so that er sich selbst am wenigsten wehe. Chateaubriand will ein Maͤrtyrer seyn; er will neben den Opfern Diocletians und den eilftausend Jungfrauen genannt sein. Das ist ein Scherz; aber lacht daruͤber nicht! Es ist ihm darum zu thun, er hat es heilig damit. Was bliebe dem sonderbaren Greise noch zum Trost uͤbrig? Nennt ihn also Maͤrtyrer, wenn er auch fuͤr Niemanden untergegangen ist, als fuͤr sich selbst! Wir haben Goethe gehabt; wir wissen, was hi¬ storischer Indifferentismus ist. Maͤnner von den groͤ߬ ten Geisteskraͤften matteten sich an kleinen Verhaͤltnis¬ sen, an geraͤuschlosen Zeiten ab. Stuͤrmische, gefahr¬ volle Epochen warfen die Mittelmaͤßigen in die Hoͤhe, und da, wo die Staͤrksten haͤtten stehen sollen, sahen wir Cretins. Maͤnner von Genie sind vor großen Er¬ eignissen geflohen. Das Erhabene ist vielfach verkannt worden, und nicht selten von denen, die ihm am ver¬ wandtesten waren. Chateaubriand war kein Genie; wir muͤssen eine Stufe herabsteigen. Chateaubriand erhielt von der Na¬ Chateaubriand . tur eine Stellung, wo ihn der Zug der Begebenheiten fassen mußte. Er war ein junger Mensch, ohne viel Muth, verzaͤrtelt, eigensinnig, er wußte noch nicht, wor¬ auf? Da er zoͤgerte, so faßte ihn der Wirbelwind uns¬ rer großen Zeitgeschichte, und warf ihn aus seinem Strome heraus. Chateaubriand war nun gar nichts mehr, nicht ein¬ mal praͤdestinirt; er haͤtte koͤnnen Kaufmann werden oder ein Gelehrter, so wenig bedurfte seiner die Zeit. Aber seine Geburt, seine Verwandten und sein Mangel an Geld brachten ihn immer wieder in die Stroͤmung der Begebenheiten hinein, in die er gar nicht gehoͤrte. Die wichtigsten Dinge, Ereignisse, welche niemals wie¬ derkehren werden, wurden eine ordinaͤre Mitgift fuͤr ihn, gleichguͤltiger als die Hasen, welche er in seinem Tor¬ nister von Thionville trug. Fuͤr den jungen blonden Menschen war die Zeit eine Familiengeschichte gewor¬ den, in welcher seine Vettern und Großoheime die Hauptrolle spielten; kurz Chateaubriand war von der Natur zu nichts Außerordentlichem bestimmt. Er sah auch lange ein, wie gut es die Natur mit ihm meinte, er beeilte sich gar nicht, sie zu beschaͤ¬ men, ja er wuͤrde sie auch niemals uͤberfluͤgelt haben, wenn ihm der Zufall nicht einen Gedanken an die Chateaubriand . Hand gegeben haͤtte, der mit seiner ganzen schreckhaften Einseitigkeit das Leben des Vicomte revolutionirte. Es ist unerwiesen, wer ihm den ersten Anstoß zum Christenthum gegeben hat, die Waͤlder Amerika's, die Erinnerungen Pascals, oder eine Wiederholung jenes Blitzstrahls, der einst auf dem Wege von Jerusalem nach Damaskus ein so großes Wunder bewirkte? Ich zweifle an allen diesen Erklaͤrungen und be¬ gnuͤge mich mit des Vicomte alter Mutter, die ihren Sohn in London zur Vermahnung zog, ihm das Gott¬ lose seiner Schrift uͤber die Revolutionen vorwarf, an die Kapelle von St. Malo und das vergoldete Gesang¬ buch, welches sie auf der Flucht dort hatten liegen las¬ sen, erinnerte, und damit eine Praͤcision der Tendenz in ihren Sohn legte, die ihn anfangs selbst uͤberraschen mochte. Jetzt hatte Chateaubriand eine Idee. Es war ein muthiges kleines Steckenpferd, bunt bemalt, das er be¬ stieg: er galoppirte damit uͤber Meere und ferne Laͤn¬ derzonen, klatschte mit der Peitsche, pfiff, fuͤhrte das Thierchen an die Krippe von Bethlehem, als sollte es da fressen, traͤnkte es im Jordan, und hoͤrte noch nicht auf zu courbettiren, als er schon in die Salons von Paris zuruͤckgekehrt war. Chateaubriand . Nach Voltaire konnte ein Kind, wie Chateaubriand, nur der Don Quixote des Christenthums werden. Er brachte nichts Neues an die alte Lehre heran, als den Schmelz seiner Sprache. Das war Alles wenig genug fuͤr eine Zeit, zu der man im Posaunentone des Welt¬ gerichts haͤtte sprechen muͤssen, wenn man aus einer Sache, die in Frankreich allenfalls Mode werden konnte, einen heiligen Ernst haͤtte machen wollen. Ja, in der That, Chateaubriand hatte das Ungluͤck, in die Mode zu kommen; man interessirte sich fuͤr ihn etwas mehr, aber nicht viel, als fuͤr Abel Remusat, der die indischen Romane aufbrachte. Chateaubriand kam in Begebenheiten, die er nicht verstand; er verwechselte das Christenthum mit sich, hielt sich fuͤr unfehlbar und beging so viel Thorheiten, daß man ihn schnell bei Seite schob. Jetzt aber saß der edle Vicomte einmal mitten drinnen in den Geschaͤften; die Weltgeschichte war bis an seine Antichambre gekommen, er hatte sich in acht Tagen, wo man kaum die Floͤte blasen lernt, auf die Hoͤhe der Zeit gestellt; es kann nirgends so ver¬ worren aussehen, als in Chateaubriands Kopf und in seinem Portefeuille, das ihm die Bourbons anvertrau¬ ten. Ich zweifle, ob dieser Spaͤtling der Croisaden sich Chateaubriand . selbst nach seinen neusten Unfaͤllen schon in die Zeit zurechtgefunden hat. Fordre er keine neue Kollision her¬ aus; sie wuͤrde ihn unfehlbar in Versuchung fuͤhren. Chateaubriand hat kein Geschick fuͤr die Geschichte. Goethe wollte seine Zeit nicht verstehen; Chateaubriand verstand sie wirklich nicht. Die Freunde des edeln Vicomte uͤbertrieben; unter Andern neulich der gutmuͤthige, oft kindische Plauderer Jules Janin, welcher eine Parallele zwischen ihm und Talleyrand zieht. Sie moͤchten, wie sie sich ausdruͤcken, ein Epos der Ueberzeugung aus ihm machen, waͤhrend er doch in diesem Falle nichts ist, als eine Tragikomoͤ¬ die derselben, ein Roman, zusammengesetzt aus Ge¬ laͤchter und Thraͤnen. Wo ist hier der heilige Schauer, der um das Ungluͤck eines großen Mannes weht? Wo sind die Schlangen, die er schon in seiner Wiege erdruͤckte? Welche greise Seherin hat die Hand auf sein Haupt gelegt und in ihm den kuͤnftigen Propheten gesegnet? Wie schwer wiegen wohl die Schilde, die er aus sei¬ nen ersten Kaͤmpfen mit der Welt heimbrachte? Dieser Maaßstab paßt hier nicht; Chateaubriand koͤmmt erst nach seinem dreißigsten Jahre zu einer Idee, zu einer Idee, die er unter dem Sattel des Pegasus Chateaubriand . muͤrbe reitet, mit der er auf Reisen geht, die er apor¬ tiren lehrt, wie einen Pudel; zu einer Idee, die bald eine Chimaͤre wurde. Wenn Ihr wollt, Chateaubriand ist auch ungluͤck¬ lich gewesen. Aber Ihr wißt, daß im Schmerz eine Wollust liegt. Chateaubriand, diese romantische Ruine, liebte es, zu leiden. Der Dichter braucht fuͤr sein Le¬ ben eine poetische Staffage, und die eines ertraͤglichen Ungluͤcks pflegt ihm die liebste zu sein. Chateaubriand ist nicht einmal ein solcher Maͤrtyrer wie Lafitte; denn wenn er zwar so arm ist wie dieser; so war er auch niemals so reich wie Lafitte. Er stuͤrzte von keinen Hoͤhen herunter; die, auf welchen er eine Zeitlang stand, hatte er im Traume bestiegen; wann hatte der kleine Kadet von der Goldkuͤste, der vor der Revolu¬ tion floh, daran gedacht, Minister zu werden? Glaubt mir, Chateaubriand huͤllte sich gern in die Schatten der Melancholie; verbannte er sich doch selbst aus Frankreich, als die Bourbone nach Holyrood zo¬ gen, und kehrte, ungeachtet der ewigen Zeiten, auf die er Frankreich in Trauer werfen wollte, wieder zuruͤck, weil es keine Kleinigkeit ist, sich selbst zu schneiden, und dann nicht einmal von Andern verbunden zu werden. Chateaubriand . Nun, was ist? Chateaubriand kokettirte so gut, wie Hr. von Holtei. Beide kamen und gingen. Beide sind nur fluͤchtige Gaͤste, die wie der Vogel Alcyon ihr Nest auf dem Meere haben. Beide machten sich ungluͤcklich, und da Niemand darauf sehen wollte, schrien sie; beide ohne Plan, und doch immer getaͤuscht; beiden macht die Ruhe Langeweile; beide schluͤrfen zitternd, aber mit Wollust den Becher, den ihnen das Leben mit herbem Weine fuͤllt. Beide werden ewig jung bleiben: Hr. von Chateaubriand wie ein Ritter des Mittelalters, wie ein Genosse des Artus, der den Graal gesehen hat; Hr. von Holtei wie Wilhelm Meister, etwas graͤmlich und fruͤhreif, beide so verschieden, wie der Genius des Christenthums und die Wiener in Berlin, und beide doch, wer sie kennt, selbst im Aeußern, so aͤhnlich. Unternehmen wir es, einige Epochen in Chateau¬ briands Leben wieder aufzufrischen. Der edle Vicomte kam nach Paris, wie in der guten alten Zeit ein junger Mann nach Paris kam — noch warm von dem muͤtterlichen Schooße, in dem er daheim gesessen, voll guter Lehren, hoffend, mit dem gereinigten Horaz und Ovid die Welt erobern zu koͤn¬ nen, das Ohr noch klingend von den Reden Bossuets, Chateaubriand . welche den Styl und die guten Sitten bildeten, mit etwas Mathematik, Lustigkeit und der Aussicht, in sei¬ ner Lieutenantsstelle bei der Garde vom Hofe bald entdeckt, hervorgezogen und geliebkoset zu werden. Noch hat Chateaubriand keine Idee. Er laͤuft durch die Straßen von Paris, schließt Freundschaften, begleitet den Koͤnig auf die Jagd, wo er einst so gluͤck¬ lich war, daß Ludwig XVI . einige Worte sprach, ge¬ rade in der Richtung, als haͤtte er sie ihm sagen wollen. Malesherbes war der Oheim des jungen Menschen, der ihn zuweilen besuchte, und in das Getriebe des Staates sehen ließ, das ihm zu verstehen sehr schwer wurde. Eines Tages trat der gute alte Herr in seinem kastanienbraunen Rocke mit den großen Taschenklappen und goldgesponnenen Knoͤpfen, das Busentuch mit Ta¬ back bestreut, die Stutzperuͤcke schlecht gekaͤmmt und schief gesetzt, in die Wohnung des jungen Gardisten au quatrième ein, sprach von Staatsverhaͤltnissen, Re¬ volution und boͤhmischen Doͤrfern, und gab dem Nef¬ fen, er war damals 25 Jahre, den Rath, den kochen¬ den Vesuv der Hauptstadt zu verlassen, und ein Mes¬ ser zu vermeiden, welches fuͤr den alten Praͤsidenten und Rosenliebhaber schon geschliffen war. Chateaubriand erschrak, und Malesherbes examinirte Chateaubriand . den jungen Lieutenant, der eben Kapitain geworden war, in der Geographie, in den Elementen des Euklid, kurz sie vereinigten sich daruͤber, daß es gar kein Spaß waͤre, wenn Einer den Weg entdeckte, welcher vom arktischen Amerika aus nach Asien fuͤhrte. Chateaubriand, der eben in den Faubourg St. Ger¬ main wollte, um dem altfranzoͤsischen Blute seine Epau¬ letts zu zeigen, der gestern noch Freude daran fand, seinen Pudel abzurichten, sprang ploͤtzlich in eine neue Sphaͤre uͤber; er umarmte seinen alten Oheim, den er fuͤr die Guillotine zuruͤckließ, und Thraͤnen der Freude erstickten den perpetuellen Ausruf: die nordwestliche Durchfahrt! die nordwestliche Durchfahrt! Jetzt hatte Chateaubriand eine Idee, wenigstens ei¬ nen Schatten davon; er verließ das knirschende, mur¬ melnde, bleiche Frankreich, und schiffte sich nach Amerika ein. Er wollte ganz allein, im Frack, in Nankinho¬ sen, auf einem Spaziergange die nordwestliche Durch¬ fahrt suchen, er uͤberlegt, er sucht auf der Karte, er orientirt sich; stoͤrt ihn nicht! Chateaubriand ist in Amerika, das sich von seiner errungenen Unabhaͤngigkeit erholt, in Amerika, das sich nach der Schlacht den Hals luͤftet, den Rock abwirft, Gutzkow's öffentl. Char. 5 Chateaubriand . recht buͤrgerlich eine Pfeife anzuͤndet, und in Hemd¬ aͤrmeln den jungen Vicomte bei sich voruͤberpilgern sieht. Haltet ihn nicht auf; er sucht mehr, als ihr; er sucht die nordwestliche Durchfahrt; er macht eine Nordpolex¬ pedition, ganz allein zu Fuß, auf eigne Kosten und auf eignen Ruhm. Fragt ihn nicht nach Frankreich; er weiß nichts von Frankreich; er weiß nur, was ihm sein Oheim gesagt hat, daß es besser sei, die nordwestliche Durchfahrt zu suchen, als in Paris die Ereignisse ab¬ zuwarten. Chateaubriand befaͤhrt den Hudson, er sieht den Niagara stuͤrzen. Fuͤrchtet nicht, daß ihn der Donner des Falles etwas vergessen machen wird; denn noch hat er nichts gelernt! Er besucht die Indianer, sie sollen ihm Auskunft geben uͤber die nordwestliche Durchfahrt. Die Indianer lieben ihn, sie lassen ihn die Pfeife der Freundschaft rauchen, er trinkt ihren Meth und bewun¬ dert ihre Taͤnze. Chateaubriand fuͤhlt sich heimisch in dem Urwalde, er belauscht das Krokodil das am Hud¬ son schlaͤft, er wiederholt die Jagden von Versailles, schießt Hasen und Fuͤchse, er vergißt die nordwest¬ liche Durchfahrt, und siedelt sich in den Schauern der ersten Schoͤpfung an. Chateaubriand . Dies waͤhrte einige Zeit, bis ihm der Zufall eine zerrissene englische Zeitung brachte. Er las hier von der Flucht nach Varennes, und leider brach das zerrissene Stuͤck da ab, wo das Interessanteste kommen sollte. Die Neugier, vielleicht auch die Stimme der Ehre, trieben ihn an, das Vaterland wieder aufzusuchen. Er sagte den Urwaͤldern, den schlummernden Krokodilen, den Atalas und Chaktas, allen den gefuͤhlvollen, nach den Grundsaͤtzen der Frau v. Genlis erzogenen Indianern Lebewohl, und schiffte sich in die Heimath ein. Ach! er traf Paris in einer beklagenswerthen Ver¬ fassung! Was gab es hier nicht Alles zu thun fuͤr ei¬ nen jungen Mann! Chateaubriand versprach auch, Hand an's Werk zu legen, aber erst mußte er sich verheira¬ then. Er war aber gerade nur so lange sicher in Pa¬ ris, als er brauchte, um den Schaͤfer zu spielen; dann floh er nach Bruͤssel zu der confédération noble et irrésistible, die sich selbst den noch „gesunden Theil der Nation“ in ihren Proklamationen nannte. Chateaubriand aber war im Gegentheil fortwaͤhrend krank; er fristete elend ein kaum mehr hoͤrbares Leben, ermannte sich eine Zeit lang, schoß bei der Belagerung von Thionville einigemal seine Flinte ab, kochte vor¬ 5 * Chateaubriand . treffliche Suppen fuͤr seine Kameraden, Suppen à la sauvage , Suppen à la Hudson , Suppen à l'Atala , ward geliebt und geherzt von ihnen, und zuletzt ver¬ wundet, von einem brennenden Balken, nicht von ei¬ nem Schusse. Unter bemitleidenswerthen Umstaͤnden kam Chateau¬ briand nach England, wo er den in Belgien schon ge¬ faßten Entschluß zur Schriftstellerei nothgedrungen in Ausfuͤhrung brachte. Er schrieb uͤber die Revolution freier, als man von einem Emigranten erwarten durfte, freier, als er spaͤter selbst billigte. Sein Prinzip, das Christenthum, stellte sich immer mehr heraus. Er brachte den Genius desselben schon vollendet uͤber den Kanal, als er gegen Ende des Jahrhunderts, die goͤtt¬ liche Sendung Napoleons, wie er dessen Konsulat be¬ nannte, benutzend, nach Frankreich zuruͤckkehrte. Wenn Napoleon waͤhlen sollte, so sah er Chateau¬ briand noch lieber, als Frau von Sta ë l. Diese neckte ihn mit den Erinnerungen der Revolution, der Ideologie und mit ihrem Witze; Chateaubriand war ebenso un¬ verbesserlich, aber er nuͤtzte den Planen des Konsuls durch seinen religioͤsen Enthusiasmus. Napoleon, der mit dem Papste gewiß Wichtiges zu verhandeln hatte, Chateaubriand . wollte „die roͤmisch-katholischen Goͤtter“ in Frankreich wieder einfuͤhren, er sah es gern, daß sich die Poesie mit dem Beichtstuhl vermaͤhlte. Chateaubriands Poesie war auch ganz dazu gemacht, Napoleon zu ergreifen, er mußte in dem Vicomte einen christlichen Talma, den Himmel selbst im Kothurn wiederfinden. Er be¬ lohnte Chateaubriand fuͤr diesen angenehmen Dienst, und schickte ihn als Legationssekretair zu seinem Oheim, dem Kardinal Fesch in Rom. Chateaubriand nichts als ein Legationssekretair! Be¬ auftragt, die Paͤsse der Fremden zu visiren, Depeschen zu entwerfen und zu versiegeln! Chateaubriand wollte nur Rom sehen; dann war er wieder in Paris. Er wurde Gesandter eines kleinen Kantons in der Schweiz. Welche Erniedrigung! Aber er wollte die Schweiz sehen, er ging, und kam in wenig Zeit wieder zuruͤck. Da fiel Enghien in Vincennes; Chateaubriand entsetzte sich, faßte einen Entschluß, und pilgerte gleich¬ sam mit Dornenstab und Muschelhut nach dem heili¬ gen Lande. Es war der vorletzte Kreuzzug um Got¬ teswillen; die Ehre des letzten ließ er selbst im Jahre Chateaubriand . 1823 dem Herzog von Angoul è me, als er nach Spa¬ nien zog. Man weiß, was Chateaubriand von Palaͤstina mit¬ brachte, — Kleinigkeiten, welche spaͤter in dem Wo¬ chenbette der Herzogin von Berry eine so große Rolle spielten, seine Maͤrtyrer, und eine Stelle im Institut. Die Maͤrtyrer sind der Kulminationspunkt der Autorschaft Chateaubriands. Hier kommen alle seine alten Phantasien, die Traͤume aus der Wildniß, noch einmal wieder, und die Kirchen- und Ketzergeschichte, die Erinnerungen des Alterthums nebst den pittoresken Resultaten seiner Reise haben sich zu ihnen gesellt. Noch nie ist zu einem erhabenen Zwecke eine solche Mischung aller Geschmacksarten und poetischen Interes¬ sen vorgekommen. Die Mythologie aller Voͤlker, die alte Literatur, die Bibel, die Acta Sanktorum, Mil¬ ton, die Archaͤologie, die Wilden und das menschliche Herz, Alles hat hier seinen Tribut zahlen muͤssen. Es ist die wunderlichste Maskerade, die sich in den Maͤr¬ tyrern Chateaubriands zusammenfindet. Die Sprache ist nicht berauscht von Enthusiasmus, sondern von Ge¬ lehrsamkeit. Die Perioden sind behangen mit griechi¬ schen Orakelbecken, heidnischen Opfermessern, mystischen Chateaubriand . Kaͤfern des Mithrasdienstes, mit Genealogie, Bibel¬ spruͤchen, Reliquien von Skeletten der Heiligen, mit Truͤmmern alter Architektur, mit malerischen Perspek¬ tiven, psychologischen Entdeckungen, kurz die Maͤrtyrer Chateaubriands, statt in Himmelsglorien aufzusteigen, winden sich keuchend und uͤberladen an den Reiserou¬ ten der Landkarte hin. Hier ist alles zum uͤppigen Ausbruch gekommen, was an Chateaubriand fruͤher vom Enthusiasmus gelobt, von der Nachsicht gebilligt und von der Wahrheit gefuͤrchtet war. In diesen Mas¬ sen pompoͤser und gelehrter Worte sucht man mit Muͤhe den poetischen Funken, Alles ist in Schwulst und Wohlrednerei aufgegangen, und nichts uͤbrig geblieben, als der eigenthuͤmliche sentimentale Schmelz, der jeder franzoͤsischen Phantasie inwohnt, ein gewisser schmach¬ tender Parfuͤm, der die Weiber und die Franzosen so entzuͤckt, und doch taͤglich große Verheerungen unter Frankreichs Talenten anrichtet. Hier kann man auch fragen, was denn Chateau¬ briand selbst von der religioͤsen Poesie hielt? Das Chri¬ stenthum war ihm eine Reliquie, die er mehr mit philologischer als katholischer Andacht verehrte. Chate¬ aubriand stand nicht einmal auf der Stufe, wie der Chateaubriand . mittelalterliche Enthusiasmus in Deutschland; er spricht nirgends vom langen Haar, von der schiefen Stellung des Halses und dem waͤsserigen Etwas in dem Auge; er ist ein Narr mit Grazie, umgaͤnglich und ohne Fa¬ natismus. Sein Christenthum ist mild, ohne Schre¬ cken; er predigt es ohne Feuer und Schwert; es ist ein Anflug, der nur ihm geworden sein soll und den ein Jeder haben kann, wenn er die Messe oder das de profundis hoͤrt. Chateaubriand kennt nur die Vergangenheit des Christenthums; er philosophirt nicht uͤber die Zukunft dieses Glaubens. Indem er uns auf die Leiden der Kirche hinweist, gewinnt er unsere Theilnahme fuͤr die Dulderin; er beschwoͤrt uns bei den ungeheuern Blut¬ stroͤmen, welche fuͤr das Leben Jesu und die Apostel¬ geschichte geflossen sind, wenigstens um die Kirche zu weinen, und nicht leichtsinnig wegzuwerfen, was die Ahnen so theuer erkauften. Das ist die schoͤne Seite, waͤhrend er sonst immer nur schildernd, interessirt spricht, niemals auffordernd. Chateaubriand wollte kein Apostel sein oder eine Schule stiften, sondern das Chri¬ stenthum sollte eine Merkwuͤrdigkeit bleiben, welche un¬ ter Hunderten zufaͤllig ihn kenntlich machte. Man Chateaubriand . sieht, wie ineinanderlaufend und ungezogen hier die Graͤnzen sind von Liebenswuͤrdigkeit, Ruͤhrung, Thor¬ heit und Koketterie. Als Napoleons Gluͤck, wie das des Polykrates, fuͤr einen Menschen daͤmonisch lange zu dauern schien, und alle Welt auf Rechnung von Ereignissen, die man noch nicht kannte, zu konspiriren anfing, schluͤpfte auch Chateaubriand unter die große ganz Europa deckende Nebelkappe der Verschwoͤrung. Indem er sich aͤußer¬ lich das Ansehen gab, als beschaͤftige er sich einzig damit, die Fruͤchte seines Ruhms fuͤr den Winter und die Zukunft einzumachen, zog ihn sein Instinkt, der immer mit der Unterdruͤckung sympathisirte, in die Interessen der Bourbone hinein. Als Napoleon zum Erstenmale so strauchelte, daß er erst in Elba wieder aufstand, zeichnete ihn und sein System, und die Tugenden der Bourbons Chateau¬ briand in einer Schrift, welche Louis XVIII . statt einer Armee konnte spielen lassen. Louis sagte dis selbst und machte den prophetischen Vicomte, den Pro¬ pheten nach ruͤckwaͤrts, zu seinem Minister der aus¬ waͤrtigen Angelegenheiten. Er war damals schon wieder in Gent, Louis 5** Chateaubriand . XVIII ., und das Terrain war groß, welches der Dich¬ ter zu besorgen hatte. Nein, wir wollen nicht spotten, es ging nicht weiter, als eine Meile im Umkreis von Gent. Chateaubriand schrieb zwar eine vortreffliche Note an Europa, aber er war eine Figur von Pappe, die nur so hingestellt war, er war die Improvisation eines Ministers, ein Minister mit einem Portefeuille, das man in die Brusttasche stecken konnte. Das gerade aber war die Thorheit der zweiten Restauration, daß sie aus dem Schattenspiele von Gent in Paris eine Wahrheit machte. Chateaubriand gab zwar sein Duodezportefeuille ab, behielt aber den Titel als Staatsminister, und trat unter die Pairs und die ersten Raͤthe des Koͤnigs. Von jetzt an wollte sich der edle Vicomte raͤchen fuͤr den brennenden Balken, der ihn bei Thionville verwundete; er, der nur das Ritterthum und die Ma¬ ria des Mittelalters bisher verkuͤndet hatte, sprach jetzt auch von den Privilegien desselben. Er trat in die Partei der Rache und des Unverstandes, und stimmte wie Labourdonnaye. Er uͤbertrug die Vergangenheit auf die Gegenwart, und traͤumte sich in einem wirkli¬ Chateaubriand . chen Kreuzzuge gegen die muselmaͤnnische und jakobini¬ sche Partei seines Vaterlandes. Schon damals ging er weiter, als Louis XVIII. verantworten konnte. Seine Vorschlaͤge waren so un¬ praktisch, seine Erlaͤuterungen der Charte so unzwei¬ deutig, sein Zweifel an der Charte sogar so imperti¬ nent, daß ihn Louis aus den Pairs strich, und fuͤrch¬ terlich beungnadigte, Louis XVIII. , der die Charte selbst verfaßt hatte, und darauf eitel war, wie ein jun¬ ger Mensch auf sein erstes Gedicht, Louis XVIII. , der mit Maͤnnern von Geist und Celebritaͤt wetteiferte, und niemals gegen Chateaubriand eine Art Neid un¬ terdruͤcken konnte. Der Pavillon Marsan griff den fallenden auf. Chateaubriand theilte die Fortschritte dieser ultraroya¬ listischen Camarilla, kaͤmpfte zu ihren Gunsten gegen Decazes und brachte es zuletzt, besonders seitdem er an die Wiege des Kindes von Frankreich mit seinem wun¬ derthaͤtigen Wasser herangetreten war, und uͤber den Herzog von Berry eine Biographie wie uͤber den hei¬ ligen Georg geschrieben hatte, wieder so weit, daß man ihm den Berliner Gesandschaftsposten anvertraute. Haͤtte ich damals von Frankreich schon mehr ge¬ Chateaubriand . wußt, als être und avoir , so wuͤrde ich mich um den frommen Gesandten bekuͤmmert haben; so aber zog mich damals der Halbmond, der unter den Linden in der Sonne wohnte, der tuͤrkische Gesandte, mehr an. Chateaubriand ging auch bald nach Verona, wo er so beredt gegen die Revolution sprach, daß er selbst ei¬ nen Montmorency, einen Namen, der das ganze Mit¬ telalter zu umfassen scheint, verdraͤngte. Chateaubriand kam nach Paris, und uͤbernahm das auswaͤrtige Ministerium, das jetzt fuͤr ihn eine Wahr¬ heit war. Man weiß, was im Jahr 1823 geschah, in jener Periode, wo fast gleichzeitig drei Dichter die auswaͤrtigen Angelegenheiten Spaniens, Frankreichs und Englands lenkten, Martinez de la Rosa, Chateaubri¬ and und Canning; denn auch Canning hatte in eine etwas stumpfe Leyer gegriffen, und Griechenlieder ge¬ sungen, wie Wilhelm Muͤller. Chateaubriand aber hatte von allen Dreien den meisten Ruhm zu verlieren, und er warf die europaͤi¬ sche Achtung in ganzen Massen von sich. Er sprach fuͤr Ferdinand wie fuͤr einen Gottfried von Bouillon, der in die Haͤnde der Sarazenen gefallen sei; er hoffte Angoul è me werde ein zweiter Napoleon werden, und Chateaubriand . das parteiische Frankreich sich in ruhmbewachten Feld¬ lagern auf bruͤderliches, gemeinschaftliches, versoͤhnendes Stroh legen. Manuel, der widersprechen wollte, wurde mit Bajonnetten aus der Kammer getrieben; das Al¬ les geschah unter Chateaubriand, der sich so wenig be¬ herrschen konnte, daß selbst Vill è le ihn desavouirte, und der Vicomte zum Zweitenmale fiel. Dismal war sogar die Camarilla mit seinem Sturze einverstanden. Daß Chateaubriand kein Heiliger war, sieht man daraus, daß er den ganz gewoͤhnlichen Weg fallender Staatsmaͤnner einschlug, naͤmlich aus dem alten Mi¬ nisterium in die Opposition des neuen uͤberzugehen. Er bekaͤmpfte als Pair die Vill è le'sche Censur, das Wahlgesetz, die Rentenreduktion, was man wollte, wie jeder Andre auch, bis ihn das oͤffentliche Leben zuletzt so aufrieb, daß er den politischen Schauplatz fast gaͤnz¬ lich verließ, und sich zur Erholung mit seinen alten poetischen und historischen Studien beschaͤftigte. Aber es war Chateaubriands Ungluͤck, daß man ihn trotz der Ungnade doch nicht ganz vergessen wollte: Talleyrand hatte das Unvermeidliche, daß er wie ein Daͤmon uͤberall spukte, Herr von Blacas, vorzugsweise Chateaubriand . l'inévitable genannt, das Unvermeidliche des Kammer¬ dieners, der uns auf allen Korridoren des Hofes ent¬ gegen tritt und bestochen sein will, Chateaubriand das Unvermeidliche, daß er bei Allem zugegen sein mußte, wo man ihn auch nicht brauchte. Er wurde wieder hervorgezogen und nach Rom gesandt, um vor dem neuen Papste eine glaͤnzende Rede zu halten, eine gaͤnzlich unkatholische Rede, eine Chrie des konstitutio¬ nellen Katholizismus. Die Kardinaͤle entsetzten sich, und Chateaubriand kehrte nach Paris zuruͤck, durch die¬ sen Freundschaftsbeweis so an die Bourbone gekettet, daß er sich in den Ereignissen des Julius mit ihnen begrub, obschon sie nie etwas von ihm wissen wollten. Die Rolle, welche Chateaubriand 1830 spielte, lebt bizarr genug in unserm Gedaͤchtniß und auf der Trommel unsres Zwerchfells. Ja es scheint, der edle Vicomte hatte sich damals in die Vogelperspektive sei¬ nes Lebens aufgeschwungen, er stellte eine Berechnung seiner Schicksale an, und zog daraus jene Schlußfolge, deren Konsequenz Europa so viel Unterhaltung ver¬ schafft hat. Chateaubriand sah ein, was ihm, dem Dichter, dem Manne der Geschichte, dem Kuͤster bei der Taufe Chateaubriand . des Mirakelkindes geziemte. Aber er begnuͤgte sich nicht mit dem schmachtenden Air des Ungluͤcks, mit der noblen Physiognomie der Zuruͤcksetzung, er legte sich nicht jenes historische Stillschweigen auf, welches fuͤr fallende Charaktere so theilnehmen macht; sondern er¬ oͤffnete auf eigene Verantwortlichkeit einen Guerillakrieg mit dem 7. August. Seine Waffen waren glaͤnzende Phrasen, der Himmel, dessen Zeichen er deutete, das Mitleid, welches er fuͤr das gesunkene Koͤnigshaus be¬ schwor. Er wußte selbst, wie schwach diese Munition fuͤr seinen Krieg war: aber er resignirte schon beim er¬ sten Schlage auf den Sieg, er wollte nichts, als eine Rolle mit Ehren ausspielen, und sah sich nicht einmal nach Bundesgenossen um. Es war eine Komoͤdie, von der man nur sagen kann, daß sie Chateaubriand mit zu vielem Nachdruck in die Scene setzte. Chateaubri¬ and verließ den Boden der Dichtung, dem seine Bro¬ chuͤren, und Protestationen noch angehoͤrten, er konspi¬ rirte und mußte ins Gefaͤngniß. Das Gefaͤngniß setzte dem Martyrium die Dor¬ nenkrone auf; hier haͤtte Chateaubriand stehen bleiben sollen, er hatte nun Alles, was er zur Rechtfertigung seines Lebens bedurfte. Allein, kaum in Freiheit ge¬ Chateaubriand . setzt, beginnt er aufs Neue seine schriftstellerische Choua¬ nerie, er heftet seinen Ruf an den Unterrock einer Frau, er kuͤßt die Fußstapfen der Herzogin von Berry, und wird der geheimnißvolle Telegraph ihrer abenteuer¬ lichen Reisen. Wir wissen, wie sich Alles in Skandal aufloͤste. Die himmlische Glorie zertheilte sich, und mit gemei¬ nem Laͤcheln trat aus ihr die Hebamme hervor. O das moderne Schicksal ist ein grausamer Hu¬ manist! Keine poetische Staffage mehr, der man trauen duͤrfte: das Erhabene zeigt ploͤtzlich einen Zopf, wie das Heidelberger Faß einen Fuchsschwanz; das Mittel¬ alter erhaͤlt Hofrathspatente. Kein Kostuͤme ist regel¬ recht; die Schneider dieser Welt erlauben sich immer etwas Laͤcherliches, und ich zweifle, ob uns je das Schicksal einen Grafen Bruͤhl unsrer historischer Ein¬ kleidung schicken wird. Chateaubriand war zerknirrscht. Seinem Pilgrims¬ kleide entfiel ein Saugbeutel; auf dem goldnen Schilde des letzten Kreuzfahrers war ein Gevatterbrief zu lesen: er kam gerade zur rechten Zeit. Doch was wollt Ihr? Chateaubriands Treue ging Chateaubriand . uͤber Alles. Er warf den Ritter von sich, und wollte nur theilnehmender Menschenfreund sein. Er machte sich anheischig, nach Blaye zu kommen, und selber die Wiege zu treten. Die Dinge waren so zu sagen auf den Punkt gekommen, daß Koͤlnisches Wasser mehr nuͤtzte als der Koͤlner Dom; das sah Chateaubriand ein, und wurde von nun an der Commis Voyageur der Graͤfin Lucchesi Palli, der auf ihre Rechnung reiste. Er war bald hier, bald dort: er betrieb die Aussoͤhnung der ungluͤcklichen Gefallenen mit ihrer Fa¬ milie. Er kam nach Prag, wo ihn Niemand mochte. Er flehte, er betheuerte, er schwur: es half Alles nichts: auf dem Hradschin wohnte nur die Tugend: Chateau¬ briand sank immer tiefer: er wurde von der Ungnade beungnadigt. Jetzt war das Stuͤck aus, der Vorhang fiel und Chateaubriand legte sich selbst ein ruͤhrendes Schweigen auf. Er schreibt in diesem Augenblicke seine Memoi¬ ren, und laͤßt in dem oͤden Theater von Versailles, vor einem Publikum, das aus Paris auf zwei Zeisel¬ wagen ankam, seine Tragoͤdien auffuͤhren. Moͤchten ihm seine Freunde dis Wagniß abrathen! Er verdient es wahrlich nicht, daß man zuletzt bei seinem Namen wohl noch gaͤhnt! Gutzkow's öffentl. Char. 6 Chateaubriand . Chateaubriand kann nie wieder in die Ereignisse verflochten werden. Denn wenn man seine politische Thaͤtigkeit in dem Ausdruck zusammenfassen kann, daß er fuͤr das Koͤnigthum und die Legitimitaͤt gestritten hat, so fehlen in Frankreich fuͤr dieselbe jetzt alle Vor¬ aussetzungen. Selbst wenn sich Chateaubriand, dem man von Seiten des Gemuͤths jede Schwaͤche zutrauen kann, dem Juliusthron befreundete, was z. B. nach einem Sterbefalle des jungen Bordeaux sich ereignen moͤchte, so waͤre doch dem Koͤnigthum mit einem Streiter die¬ ser Art wenig gedient. Chateaubriand war vielleicht der uneigennuͤtzigste Anwald der Bourbone; und doch hat er ihnen am we¬ nigsten genuͤtzt. Die wahren Freunde des Koͤnigthums haben mit den Koͤnigen eine geistige Verwandtschaft, einen gleichen Trieb der Superioritaͤt, der angeboren sein muß. Davon hatte Chateaubriand nichts. Er war von Natur untergeordnet; er wollte her¬ vorgezogen sein; den royalistischen Furor, das Marmor¬ herz eines Crillon oder Bayard hatte er nicht. Cha¬ teaubriand war nur der Schauspieler des Koͤnigthums, Chateaubriand . von dem man sagen kann, daß er trotz seines Ungluͤcks doch nicht Aufopferung genug fuͤr seine Meinung be¬ saß. Was er fuͤr das Koͤnigthum litt, war in der That etwas, was er bei seinem Unverstande, seiner unpraktischen Haltung und dem Instinkt Fehler zu machen, auch sonst haͤtte leiden muͤssen. Chateaubriand vertheidigte das Koͤnigthum nicht mit der Schroffheit eines unumschraͤnkten Befehlshabers; er war durch seine Schicksale unter die Partei getreten, welche gewohnt ist, Alles mit kalter Ruhe zu pruͤfen, die oͤffentliche Mei¬ nung zu sondiren, und Jedes von der Theilnahme zu erwarten, unter die Autoren; so kam es, daß er mit den Gegnern des Koͤnigthums zu viel unterhandelte. Solche Maͤnner, welche die Alternative fuͤrchten, koͤnnen auf einen Augenblick das Koͤnigthum retten, wo es in Gefahr ist; aber auf laͤngere Zeit untergra¬ ben sie es, und machen aus einer Thatsache der Au¬ toritaͤt ein Zugestaͤndniß der Uebereinkunft. Diese Maͤn¬ ner werden in gefahrvollen Momenten, wo die Taͤu¬ schungen schwinden, auch immer erdruͤckt werden. Ihr wollt diese Unterhaͤndler in Schutz nehmen? Ihr sehet in ihnen Maͤnner des Friedens? Nein, sie sind die gefaͤhrlichsten Feinde fuͤr das unbeschraͤnkte Koͤ¬ 6 * Chateaubriand . nigthum, wie fuͤr die Freiheit. Wer nicht fuͤr die Par¬ tei ist, ist wider sie. Gehe zu uns uͤber, wer will! Fehlen Euch Kugeln: wir geben sie! Aber Parlamen¬ taire, welche ihre weiße Binde so tragen, wie Chateau¬ briand, schickt zuruͤck. Mehemed Ali von Aegypten . W er verließe nicht gern einmal Europa, diesen Welt¬ theil mit gefurchter Stirn, Europa, den verschmachten¬ den, leberlosen Prometheus, der, angeschmiedet an die Guͤrtel der Welt, in seinem Haupte die Wissenschaft aller Jahrhunderte traͤgt, zum Spotte seiner Fesseln, Europa, diese schon veraltete Offenbarung des Weltgei¬ stes, jung nur noch in schwermuͤthigen Liedern, Men¬ schen erzeugend, welche statt das Leben zu genießen, schon in der Wiege daraus ein Kunstwerk machen muͤssen! Allerdings hat in Europa, wo Alles verarbeitet wird, Alles den Stempel einer Fabrik traͤgt, wo Reli¬ gion, Wissenschaft, Kunst in tausend Benennungen und Vorwegnahmen des natuͤrlichen Triebes versteinert sind, die Bildung der Charaktere ihre Schule aufgeschlagen; aber welche Menschen entlaͤßt sie? Das Genie mit Mehemed Ali von Aegypten . Verkuͤrzungen, das Talent als Roturier, die Tugend ohne Stolz, das Laster in einem fremden Kleide. O wir tragen alle unsre Physiognomien: wir lie¬ ben, aber ohne Entzuͤcken: wir hassen, aber unter der Asche; wir geizen nach Ehre, aber unter demuͤthigen Augenwimpern; wir sind so gerecht wie Aristides, so schlecht wie der Verraͤther der Thermopylen; aber wir sind es unter der Maske; wir scheinen nicht das, was wir sind. Fein, nuͤanzirt, kuͤnstlerisch sind die Charaktere Eu¬ ropa's, sie sind Alles, nur nicht erhaben. Es fehlt an Raum fuͤr die Erhabenheit, da nicht Jeder, wie Na¬ poleon, sich seine eigne Welt schafft; unser Horizont ist eng, die Atmosphaͤre der That so zuwider, daß man sie gleichsam umgehen muß, um zu athmen. Wir sind große Staatsmaͤnner, wenn wir die Stellen ausfuͤllen, welche man uns anweist; wir sind Helden nach den Ordonnanzen aus dem Hauptquartier; wir sind Maͤn¬ ner des Volks, aber mit kleinen Triumphzuͤgen, so weit als wir von unserm Heerde nach der Bastille brauchen; hier ist nichts erhaben. Geht uͤber den Ozean! Werdet geboren, wie das Lama, das Hausthier des Indianers, sein Junges wirft: schwebt in einer Matte von Mast zwischen zwei Mehemed Ali von Aegypten . Kokosbaͤumen; lernt spaͤt laufen, spaͤt sprechen, lernt Religion aus dem Donner, Moral aus den Liebkosun¬ gen des jungen Lama's, das mit Euch geboren wurde! Ihr habt schon manchen Stier gebaͤndigt, da tretet Ihr in eine Lancasterschule, welche Pater Gomez leitet. Ihr muͤßt Alles aus Euch selber schaffen, Alles das selber ahnen, was Basedow und Pestalozzi dem Euro¬ paͤer vorkaͤuen. Ihr fuͤhlt mit feinem Ohre, wie die Fluͤgel Eurer Seele rauschen, wie sie sich entfalten; mit jeder Sonne steigt Euer Stolz hoͤher hinauf! Der Ruf des Vaterlandes ergeht an Euch; Ihr tretet in die Verwirrung der Interessen, in eine Anarchie, welche, wie in Europa die Monarchie, von Bajonnetten starrt; die Partei ist gewaͤhlt: hier, dort, uͤberall Lorbeern! Zuerst im Kampf vor der Fronte, wie ein Held Ho¬ mers, mit der Schlinge des Gaucho; dann Parteigaͤn¬ ger, gefuͤrchtet und verheerend, wie ein Kometenschweif; zuletzt Haupt der Republik, vielleicht nur einen Tag lang, aber ein Mann des Willens, der Freiheit, zu Allem berufen, ohne Anciennitaͤt, ohne Ahnen, ohne Protektion, ein Held, erhaben noch hinter dem Sand¬ huͤgel, auf welchen Euch die Kugeln der Partei, die gerade siegt, niederstrecken! Das ist Amerika. Mehemed Ali von Aegypten . Oder geht auf die Freundschaftsinseln, unter die Wilden Guinea's, nur an Asien geht voruͤber! Asien, einst Europa so unaͤhnlich, jetzt wie auf dem Marsche zu uns. Einst so groß in seinen Thaten, ja selbst heroisch im Dulden! Asien war das Land, wo die Tyrannei keine Bos¬ heit, sondern Leidenschaft war; dort kam Alles durch den Instinkt; die Helden, die Eroberer, die Despoten wurden geboren; hier war niemals ein Epos des Wil¬ lens, sondern immer die Tragoͤdie des Schicksals. Taumel und Besinnungslosigkeit verwirrten hier einst das Hohe und das Tiefe, das Ziel und das Uebermaß, die Hunderte und Tausende in der Zahl oder in der Wuͤste des Raums. Die Groͤße schnitt sich mit schar¬ fem Rande von ihrer Folie ab; die Uebergaͤnge mil¬ derte kein Verdienst; waͤhrend Einer handelte, hielt die uͤbrige Welt ihre Arme kreuzweis uͤber die Brust zu¬ sammengeschlagen. Der Ruhm war keine Beute, wo¬ von sich das Roß und der Fuchs anmaßen durften einen Theil miterjagt zu haben; sie fiel dem Loͤwen allein zu. Aber jetzt ist die Zeit der Cyrus, Muhamed und Dschingiskhan voruͤber, auch die der Hyder Ali und Tippo Saib; die Periode der Goͤtter laͤngst schon Mehemed Ali von Aegypten . uͤbergegangen in die der Halbgoͤtter, jetzt in die der Europaͤer und Pygmaͤen. Die Dardanellen ziehen sich eng zusammen, Hero und Leander werden sich bald auf einer Bruͤcke begegnen koͤnnen. Sehet Mehemed Ali! Ordinair, klein, hager, pok¬ kennarbig, braungelb, ziegenbaͤrtig, zittert er, wie Dio¬ nys gezittert hat. Er macht aus der Geschichte eine Domaine, handelt mit Tabak und Baumwolle, fuͤhrt die Kamaschen und die Knoͤpfe der europaͤischen Civili¬ sation, und die Journalistik in das Land der Hiero¬ glyphen ein. Hier ist Alles Berechnung, Angst, Ei¬ gennutz, kein Enthusiasmus mehr, viel Merkwuͤrdiges, einiges Achtungswerthe, in seinem ganzen Leben nur eine Episode, die man im alten asiatischen Sinne er¬ haben nennen koͤnnte. Mehemed Ali ist auch selber aus Europa gebuͤrtig. Er war der Sohn eines tuͤrkischen Polizeikommissairs, der in einem Staͤdtchen des waldigen Mazedoniens fuͤr die Ordnung sorgte. Hier lernte er, wie man sich bei einem Auflaufe benehmen muͤsse, wie Parteien dadurch geschlichtet werden, daß man beide gefangen nimmt, wie die Steuer mit Nachdruck eingetrieben wird; aber dieser Unterricht waͤhrte nicht lange; denn sein Vater, der Polizeikommissair starb bald. Mehemed Ali von Aegypten . Doch zum Gluͤck hatte des Vaters Chef den klei¬ nen, anschlaͤgigen Knaben liebgewonnen. Niemand kraute dem alten Herrn so geschickt im grauen Barte; Niemand wußte ihm die Pfeife so gewandt zu stopfen oder erzaͤhlte so drollig, wenn er mit untergeschlagenen Beinen saß, und der schlaffe Bauch wie ein Beutel zu wackeln anfing, ob des Knaben Witz und Munterkeit. Der alte Chef schwur beim Barte des Propheten, daß er fuͤr diese Waise sorgen wuͤrde, und machte sie mit seinem eignen Sohne bekannt, welches ein rechter Luͤm¬ mel war, faul, tuͤrkisch, und dem Vater viel Kummer verursachte. Mehemed besaß einen Ehrgeiz, er konnte keinen Roßschweif sehen, ohne an ein kuͤnftiges Paschalik zu denken; aber inzwischen war er fleißig, handelte mit Tabak, und ließ sich von einem franzoͤsischen Kauf¬ mann, der hier zuweilen Geschaͤfte und den Jungen lieb hatte, uͤber Europa belehren, ob es von Riesen, Menschen mit Straußenkoͤpfen, oder von vierfuͤßigen Thieren bewohnt wuͤrde, welche Eier legen, oder von Voͤgeln, die lebendige Junge auf die Welt bringen. Meister Lyon, der aber aus Marseille war, mußte lachen, belehrte den jungen Zoͤgling der Tausend und Einen Nacht, und trug viel dazu bei, seine Begriffe Mehemed Ali von Aegypten . uͤber Europa aufzuklaͤren. Mehemed liebte ihn dafuͤr leidenschaftlich, und trug von ihm, als er einmal gele¬ gentlich starb, seine Neigung auf alle Franzosen uͤber. Inzwischen schenkte ihm sein Pflegevater eine Frau, richtete ihm eine Wirthschaft ein, kurz Mehemed lebte im Schooße des Gluͤcks. Er war in Kavala der reichste Tabaksspekulant, der tapferste Krieger, der verschmitzteste Staatsmann und der gluͤcklichste Familienvater. Da langte ein Befehl des Sultans an, ein Korps von 300 Mann mußte mobilisirt werden, und als Kontingent zur großen tuͤrkischen Armee stoßen, welche die Franzo¬ sen aus Aegypten vertreiben sollte. Der Erstgeborne des Chefs mußte ehrenhalber schon das Kommando uͤbernehmen, aber bald hatte der Baͤrenhaͤuter die Stra¬ pazen satt, kehrte zu seinen Baͤdern und Sklavinnen zuruͤck, und uͤberließ den Befehl an Mehemed, der ihm als Lieutenant beigegeben war. So kam Mehemed nach Aegypten. Seine Vater¬ stadt sah er nicht wieder. Dis machte ihm kein graues Haar; denn die Tuͤrken haben in Europa nur wie auf der Flucht ein Lager aufgeschlagen. Die Tuͤrken kam¬ piren nur in Europa, sagt ein Franzose. Aegyptens nicht kleinstes Wunder war um diese Zeit, daß es wie durch die Fabel zu Frankreichs Er¬ Mehemed Ali von Aegypten . oberungen gehoͤrte. Der letzte Kreuzzug gegen den Orient war unternommen worden, ein rationaler Kreuz¬ zug, ein Kreuzzug ohne Glauben und Andacht und Geluͤbde. Aegypten, das alte Land der Todten, ver¬ sandet von den Wogen der Wuͤste, nur in dem klei¬ nen Umkreise seines Pulses, des Nils, noch athmend, war noch einmal zum Leben aufgestanden. Ein neues Raͤthsel der alten Sphinx war geloͤst worden; das wun¬ derbare tausendjaͤhrige Stillschweigen der Pyramiden wurde unterbrochen von den Blitzen der franzoͤsischen Bajonnette und dem Donner fernher gelandeter Kano¬ nen. Die alten mystischen Cheopse drehten sich in ih¬ ren himmelhohen Graͤbern um, der Strauß floh mit dem wuthschnaubenden, hundertmal besiegten Araber in die Wuͤste; nur das gutmuͤthige Kameel verfing sich auf der Flucht, und kniete thraͤnenden Auges vor dem Sieger nieder, der seinen Buckel bald beritten machte. Und in Cairo, der Stadt der Reste, der Juden, Hunde und aller Nationen, thronte der große Sultan Buonaberdi, mit seinen Paschas von zwei und drei Roßschweifen und allen seinen heiligen Kriegern: die Armee eines neuen Glaubens, welche mit dem des Propheten viel Aehnlichkeit hatte. Der fraͤnkische Sul¬ tan badete sich, wie ein Muselmann, sprach Recht nach Mehemed Ali von Aegypten . dem Koran, lebte keusch und maͤßig; ja, man wuͤrde ihn angebetet haben, haͤtte er sich beschneiden lassen. Und einige der Paschas gaben auch hierin nach, schwu¬ ren einer Religion der Houris Treue und lebten mit aller orientalischen Ueppigkeit in den Armen der Skla¬ vinnen, welche ihnen aus den erbeuteten Zelten der Mamelucken mit unwiderstehlicher Verfuͤhrung entge¬ gen gekommen waren. Die syrische Expedition in der Naͤhe der heiligen Geographie war mißlungen, weil diese Kolonnen keine rechte Andacht mehr hatten. Die Empoͤrung Cairo's war mit blutiger Strenge beigelegt; im Suͤden Aegyp¬ tens, in der Naͤhe des hundertthorigen Thebens, jagte Desair, der gerechte Sultan, den verzweifelnden Mu¬ rad Bei, dessen Mamelucken so erbittert waren, daß sie bis auf den Tod verwundet, im Sande noch heran¬ krochen und ihren Siegern in die Fuͤße bissen. Die Armee, in eiserne Quarr é s gestellt, schloß „die Esel und die Gelehrten“ in die Mitte. Cairo occidentirte sich. Sogar eine Akademie, ein aͤgyptisches Institut wurde errichtet; man untersuchte die wunderliche Hieroglyphik, deren Voͤgel und Schlangen Buchstaben sein sollen, was ich gar nicht glaube; man wickelte garstige Mu¬ mien, welche von verliebten Orientalisten fuͤr schoͤn aus¬ Mehemed Ali von Aegypten . geschrien sind, aus ihren Todeswindeln, kostete aus den Seen das Natrum hervor, brachte das Wunder der Fata morgana auf eine natuͤrliche Erklaͤrung zuruͤck, und bewies, daß im Nilschlamm nur eilf Theile Was¬ ser, aber achtundvierzig Theile Alaunerde enthalten sind. Mehemed Ali kam mit seinen dreihundert Rume¬ lioten gerade zur rechten Zeit, um sich und die ganze tuͤrkische Armee noch einmal von Napoleon bei Abukir total schlagen zu lassen; denn Napoleon hatte Eile: den 18. Brumaire und die Lorbeern des zweiten ita¬ lienischen Feldzugs konnte er nicht schnell genug reifen sehen; er reiste ab. Kleber, der Sultan mit dem Goldarm, setzte den Anfang so lange fort, bis ihn selbst von Meuchelhand das Ende traf. Menou, der Gene¬ rol Abdallah Jaques Menou, der Moslem geworden war, uͤbernahm von ihm eine Sache, die schon laͤngst im Verscheiden lag. Die Englaͤnder landeten, um den franzoͤsischen Spuk aus Aegypten zu vertreiben. Es war die hoͤchste Zeit fuͤr Frankreich, diese Mythe mit Ehren zu schließen; man schiffte sich ein; die letzten Segel auf der Rhede von Alexandria verschwanden; es herrschte einen Moment hindurch ein heiliges, schwei¬ gendes Erstaunen; die alten Tuͤrken strichen ihre Baͤrte Mehemed Ali von Aegypten . und riefen: Es gibt nur Einen Gott, Gott und Ma¬ homed ist sein groͤßter Prophet! Nach jenem Abzuge wuͤtheten die Kadmeer gegen sich selbst. Der alte Kampf zwischen den Mamelucken und Tuͤrken, welchen im 16. Jahrhunderte Selims blutige Siege zum Nachtheile der erstern entschieden hatten, entbrannte aufs Neue. Die Mamelucken, zer¬ stuͤckt nach zahllosen Niederlagen, hatten zuletzt mit Frankreichs unbesiegbaren Granitkolonnen Friede ge¬ schlossen; die Tuͤrken, die ihnen zu Hilfe kommen wollten, trafen in ihnen ihre Gegner an. Aber auch zwischen den Beys der Mamelucken herrschte Trennung: Bardissy Bey und Elfy Bey stan¬ den sich feindlich gegenuͤber; dieser, Verbuͤndeter der Englaͤnder, jener, auf die Albanesen vertrauend. Me¬ hemed Ali gehoͤrte zu den Truͤmmern der ersten tuͤr¬ kischen Expedition, und hatte sich inzwischen zu einem geachteten Befehlshaber aufgeschwungen. Jetzt begann er seine Intrigue, die erst in einigen Jahren an ihr Ziel kam, aber mit desto groͤßerer Sicherheit von ihm fortgesponnen wurde. Er balancirte von einer Partei zur andern, gab entweder selbst den Ausschlag, oder stellte sich auf die Seite, welche uͤberwog, je nachdem die Umstaͤnde es geboten. Es war hier kein Ungestuͤm Gutzkow's öffentl. Char. 7 Mehemed Ali von Aegypten . eines ehrgeizigen Helden, kein angeborner Muth, der, um seinen Stolz zu retten, selbst den Erfolg in die Schanze schlaͤgt, sondern eine kluge Berechnung, die sich zu beherrschen weiß, die in Hoffnung groͤßerer kleine Vortheile aufgibt und nicht in Verzweiflung geraͤth, wenn sich ein Tag langweilig an den andern reiht. So lange Mehemed noch nicht im Zuge seiner Intrigue war, verdarb er es mit keiner Partei, weder mit der Pforte und ihren Gesandten, noch mit den Beys. Der Zwiespalt unter diesen selbst kam ihm da¬ bei trefflich zu statten. Er nahm die Miene an, als sei er dem von der Pforte geschickten Statthalter Kus¬ ruf treu ergeben, ließ sich aber zweimal von den Ma¬ melucken schlagen; Taher Pascha diente ihm, indem er Kusruf stuͤrzte, Kusruf wieder gegen Achmed Pascha, der Taher verdraͤngt hatte. Kusruf war aber nur ein Name, und Mehemed brauchte eine Macht; da that er einen Schritt, der dem Scheine nach kuͤhn war, den er aber als gefahrlos kannte: er ging ins Lager der Mamelucken und verband sich mit Bardissy. Aber auch hier, eingedenk des Grundsatzes, daß der Theilende herrscht, trennte er sogleich die Interessen, und schied sich einen neuen Hinterhalt, die Albanesen, heraus. Die Albanesen mußten ihm spaͤter zu Allem Mehemed Ali von Aegypten . dienen, sie wußten heimlich oder offen fuͤr ihn Aufruhr anzustiften; er wußte ihre Tapferkeit, ihre Tumulte, ihre Geldgier zu benutzen. Das Buͤndniß der Mame¬ lucken diente ihm, das Terrain immer mehr zu saͤu¬ bern: Gezairly, der neue Statthalter der Pforte, wurde fortgeschafft, Elfy Bey besiegt. Es blieb fuͤr den Au¬ genblick kein Gegner mehr uͤbrig, als Mehemeds Bun¬ desgenosse selbst, Bardissy. Die Albanesen mußten ihm den Gehorsam auf¬ kuͤndigen, den Sold von Bardissy verlangen; dieser druͤckte das Volk, um sie zu befriedigen, und Mehemed stellte sich zu den Scheiks und Ulemas, indem er diese durch ihn veranlaßte Unordnung glossirte und dem Volke zeigte, was die Handlungen eines Unterdruͤckers und schlechten Finanzverwalters waͤren. Mehemed war dem Ziele nahe, da trat wieder ein neuer Name da¬ zwischen, der dritte Statthalter der Pforte, Churschid. Mehemed mußte diesem wieder seine Dienste an¬ bieten; er focht gegen die Mamelucken ungluͤcklich, kehrte ohne Befehl nach Cairo zuruͤck, und zwang den Statthalter, die Stadt mit den schwersten Steuern zu belegen. Ein Sturm der Mamelucken, wurde zuruͤck¬ geschlagen, und Mehemed fand Raum zu neuen Ma¬ chinationen. Der Statthalter verschwand immer mehr 7 * Mehemed Ali von Aegypten . neben ihm. Er wollte ihn nach Syrien schicken. Me¬ hemed wuͤrde gegangen sein, wenn ihn eine veranstal¬ tete Deputation des Volks nicht gehalten haͤtte. Da entschloß sich die Pforte, ihm das Paschalik von Ged¬ dah zu geben. Mehemed beugte sich demuͤthig, nahm die Bestallung und den Ehrenpelz; doch seine Albane¬ sen fielen ihn vor dem Hause an: er sprach laͤchelnd einige Worte, und der Tumult, den er veranstaltet hatte, war zerstoben. Das Volk jauchzte seiner Macht zu, er bestieg sein Roß, warf Gold und Silber aus, und wurde mit Ehrfurcht von den Scheiks empfangen. Man machte dem Statthalter seiner Bedruͤckungen we¬ gen den Prozeß, und noch ehe seine Vertheidigung von der Festung in Cairo aus zu einer Entscheidung fuͤhrte, langte ein Ferman der Pforte an, der Mehemed Ali in seiner Usurpation bestaͤtigte. Der Divan von Konstantinopel befolgte bei den Unruhen in den Provinzen des Reiches immer die Po¬ litik, daß dasjenige das Gerechte ist, was gerade den Sieg in Haͤnden hat. Vom Julius 1805 datirt sich Mehemed Ali's Statthalterschaft uͤber Aegypten. Das einzige Hinderniß seiner Herrschaft hatte Me¬ hemed in den Mamelucken, welche noch nicht besiegt Mehemed Ali von Aegypten . waren. Sie standen seinen Entwuͤrfen noch mehr ent¬ gegen, als die Janitscharen dem Sultan, da sie in of¬ fenem Felde ihm gegenuͤberlagen. Er versuchte, sich durch List von ihrem ersten Andrange zu befreien, ließ sie von scheinbar aufruͤhrerischen Soldaten nach Cairo locken und uͤberfiel die Verrathenen, so daß er drei und achtzig Mameluckenkoͤpfe nach Konstantinopel schi¬ cken konnte. Die mißtrauische Pforte aber schwankte schon, wen sie fuͤr den Augenblick mehr fuͤrchten solle, den Pa¬ scha, oder seine Gegner, welche durch ihre Uneinigkeit auch fuͤr die Tuͤrken uͤberwindlicher waren. Sie sandte zweimal den Kapudan Pascha, um des Satrapen Schritte zu beobachten; ja zuletzt traf auch der Ferman ein, welcher Mehemed zum Pascha von Salonichi er¬ nannte und ihn somit aus Aegypten vertreiben sollte. Zu Mehemeds Schrecken versoͤhnte sich auch Elfy Bey mit den Tuͤrken; es fehlte ihm an Geld, und er wußte, daß er dadurch die Pforte sogleich umstimmen konnte. Da warf sich der Pascha seinen Albanesen in die Arme, welche sich durch ein unaufloͤsliches Band an ihn zu ketten versprachen. Sie legten die Hand auf den Koran, und schritten, ihrer siebenzig Heerfuͤh¬ rer, uͤber einen Saͤbel, den am Boden liegend zwei der Mehemed Ali von Aegypten . Aeltesten hielten. Sie erklaͤrten, daß sie Mehemed nie verlassen wuͤrden, brachten eine ansehnliche Summe aus ihren eignen Schaͤtzen zusammen und retteten so den Statthalter, welcher sich schon auf die Festung von Cairo zuruͤckgezogen hatte. Es traf Alles zusammen, was die Wolken von Mehemeds Sonne zog. Bardissy und Elfy, beide Beys starben rasch hintereinander; der Kapudan Pa¬ scha verließ Aegypten, und Mehemed konnte zwei Jahre lang an die Civilverwaltung seines Landes denken. Die Pforte ließ aber ihrem maͤchtigen Diener we¬ nig Ruhe; sie begann jetzt die Politik, welche sie bis auf die neuesten Zeiten gegen Mehemed in Anwendung gebracht hat, ihn naͤmlich im Auslande zu verwenden und seine Waffen fortwaͤhrend zu beschaͤftigen. Mehemed widersprach nicht, als ihm der Krieg ge¬ gen die Protestanten des Islam, die Wechabiten, uͤber¬ tragen wurde; aber er ließ es zwei Jahre anstehen, bis er seinem Versprechen nachkam. Er huͤtete sich wohl, ein Eigenthum zu verlassen, das in seinem eig¬ nen Hause noch so bedroht war. Er wollte die Ma¬ melucken nicht im Ruͤcken lassen, und fuͤhrte jetzt jenen tragischen Akt aus, der, in Konstantinopel gegen die Janitscharen wiederholt, Europa uͤberzeugen konnte, wie Mehemed Ali von Aegypten . weit noch die voͤllige Vermaͤhlung der Civilisation mit Asien entfernt liegt. Fuͤnfhundert achtunddreißig Mamelucken schlachtete Mehemed Ali in einem Hohlwege der Festung von Cairo ab. Er zitterte waͤhrend des Gemetzels, aber als man ihm die ersten Koͤpfe brachte, beruhigte er sich; als das Ganze geschehen war, behauptete er, Napoleon habe es mit den Bourbons nie besser gemacht. Er dachte an Enghiens Fusillade in Vincennes. Die Pforte schwieg; denn sie schliff schon selbst an ihren Messern. Dis Alles fuͤr die Civilisation! dis Al¬ les fuͤr einen regelrechten Schuß nach Kommando, fuͤr den europaͤischen Geschwindschritt „Eins, zwei, drei!“ Mehemed hatte jetzt selber das Interesse des Krie¬ ges, und wird es bei seinem Regierungssystem immer haben. Der unruhige Soldat, meuterisch im Frieden, zu Abwechselungen unter seinen Befehlshabern ge¬ stimmt, voll Haß gegen das fraͤnkische Exercitium, tobt seine Leidenschaft im Kriege am ersten aus; der Krieg beschaͤftigt den Ehrgeiz der Großen und die Habsucht der Kleinen. Darum hielt sich Mehemed immer in einem fortwaͤhrenden, in einem gleichsam eiternden Kriege, welcher nicht zuheilt, bald gegen Syrien, bald Mehemed Ali von Aegypten . gegen Feinde, welche er sich im Suͤden seiner Provinz aufsuchte. Dazu kam eine Maxime, welche er von der euro¬ paͤischen Monarchie gelernt zu haben scheint, seine Fa¬ milie so populair als moͤglich zu machen: er brauchte Kriege, um seinen Soͤhnen und Schwiegersoͤhnen Ge¬ legenheit zu glaͤnzenden Waffenthaten zu geben. Sein Erstgeborner machte im Kriege gegen die Wechabiten kein Gluͤck, er liebte die Frauen, und starb in den Ar¬ men einer schoͤnen Georgierin. Ibrahim Pascha nahm die verlorne Sache wieder auf, ein trefflicher Soldat, damals maͤßig, nuͤchtern, nicht ohne humane Grund¬ saͤtze, und selbst großmuͤthig, noch nicht verwildert durch den Kampf aus Morea. Die Wechabiten wurden ge¬ schlagen und zu neuen Angriffen unfaͤhig gemacht. Mehemed Ali hatte die Freude, seinen Sohn im glaͤn¬ zendsten Triumphe in Cairo einziehen zu sehen. Er ist ein liebender Vater, schwaͤrmerisch fuͤr seine Familie, und nicht wenig auf die Descendenz bedacht. Er hat sechs Waͤrterinnen eines Kindes, das seinem Sohne Ibrahim starb, ohne Weiteres im Nil ersaͤufen lassen. Wenn man die Reformen Mahmuds mit denen Mehemeds vergleicht, so muß man gestehen, daß der Sultan der oͤffentlichen Meinung von Europa zu im¬ Mehemed Ali von Aegypten . poniren suchte, der Vicekoͤnig aber nur, sich vor ihr zu rechtfertigen. Jener wollte das Erstaunen, dieser den Beifall Europa's. Mehemed schmeichelt der Civilisation, was Mahmud nie that. Mehemed kann weder den Emporkoͤmmling noch den Tabackshaͤndler verleugnen. Er ist der ungebildete Mann, welcher ploͤtzlich zu großem Reichthum gelangt ist, und den Umgang gescheidter Leute aufsucht, welche er ja bewirthen und bezahlen kann. Er umgibt sich mit einer Bildung, von der er selbst nichts versteht, von der aber z. B. reiche und gebildete Eltern sagen, daß ihre Kinder Alles lernen muͤssen, tanzen, franzoͤsisch, Klavierspielen und die Opera singen. Mehemed Ali ist ein Spekulant, welcher gute Ge¬ schaͤfte gemacht hat, den der Zufall und eine angeborne Schlauheit beguͤnstigt haben, und der jetzt ein ganz voll¬ kommenes, abgerundetes Ganzes vorstellt, obschon er zu dem Schatten, den er wirft, nicht den Koͤrper hat. Man wuͤrde sich irren, wenn man glaubte, Mehe¬ med Ali besaͤße den Enthusiasmus der Bildung. Er ist weit entfernt ein so großartiger Reformator zu sein, wie es Peter der Große war, welcher in den Strelizen auch seine Mamelucken zu vertilgen hatte. Peter hatte von der Natur einen beschwingten Geist erhalten, der Mehemed Ali von Aegypten . sich oft bewundernswuͤrdig aus der Materie erhob. Pe¬ ter empfand die Freude, welche die Wissenschaften ein¬ floͤßten; er zeigte uͤberall das geniale Erstaunen eines geistreichen Mannes, dem man Dinge mittheilt, welche zufaͤllig dem bisherigen Kreise seiner Bildung fremd ge¬ blieben waren. Peter der Große bekannte sich zu den Wissenschaften mit einer liebenswuͤrdigen Schaam, welche er im Namen seines ganzen Volkes empfand. Mehemed Ali ist weit von dieser Humanitaͤt ent¬ fernt. Fuͤr diesen Pascha sind die Wissenschaften eine Gemaͤldesammlung, welche sich der Gluͤckspilz anschaf¬ fen zu muͤssen glaubt, ohne von ihr etwas zu verstehen. Er wuͤrde vielleicht der Sammlung laͤngst uͤberdruͤs¬ sig geworden seyn, wenn sie ihm nicht zufaͤllig auch Nutzen braͤchte. Mehemed Ali sieht ein, daß man ohne Kultur in seinen Gewinnsten immer verkuͤrzt wird, und daß es noͤthig ist, um ein usurpirtes Land zu besitzen und zu vererben, seiner Herrschaft die Grundlagen zu geben, welche nicht nur alle uͤbrigen Staatsgebaͤude aufrecht halten, sondern auch von den Eingebornen nicht so leicht weggezogen werden koͤnnen, weil diese fuͤr die fremden Maschinen nicht die Handgriffe kennen. Mehemed Ali richtet sich Aegypten wie eine große Domaine zu. Er verwaltet sie nach ziemlich tuͤrkischen Mehemed Ali von Aegypten . Grundsaͤtzen, durch Erpressungen, Pachtgelder und Pri¬ vilegien. Er macht den Staat zu einem Ungeheuer, welches Alles verschlingt; er ist der Generalunternehmer aller Gewerbsthaͤtigkeit, der Maͤkler des ganzen aͤgypti¬ schen Handels, das große Wechselhaus, das alle Sum¬ men des Landesverkehres trassirt. Die buͤreaukratischen und Centralisationsgrundsaͤtze Europa's, die ordinaire, alte Hefe unsrer Staatsweisheit, kommen ihm hierbei zu Hilfe, und es ist moͤglich, daß sich Asien nur auf diesem Wege begluͤcken laͤßt. Seitdem die Expedition nach Morea dem Vicekoͤ¬ nig keineswegs das wieder eingebracht hat, was sie ihm kostete, seitdem die Pforte eine Demuͤthigung nach der andern erfuhr, hat auch Mehemed Ali die Verbindung mit ihr immer loser werden lassen. Der Halbmond von Konstantinopel ist in der That nur noch ein Viertel¬ mond. Aber zu bewundern ist es, wie lange der Vice¬ koͤnig mit seinem Plane zuruͤckgehalten hat: ja selbst jetzt noch, seitdem er der Sieger von Koniah geworden, hat er sich noch nicht fuͤr souverain erklaͤrt, und schickt seine gewoͤhnlichen Geschenke an den Sultan. Es ist schwer, fuͤr diese Unentschlossenheit einen rechten Grund aufzufinden; eine religioͤse Ruͤcksicht scheint nicht denk¬ Mehemed Ali von Aegypten . bar. Vielleicht glaubt Mehemed Ali sich erst in den voͤlligen Besitz Syriens setzen zu muͤssen, ehe er die Entscheidung gibt. Vielleicht gibt er sie nicht einmal, um noch Groͤßeres vorzubereiten. Man hat gesagt, in seinem Plane laͤge der Thron von Konstantinopel selbst, wenigstens fuͤr seinen Sohn. Diese Katastrophe waͤre merkwuͤrdig, und kann den po¬ litischen Witz verfuͤhren, hier schon im Voraus seine Kombinationen zu machen. Aber abgesehen davon, daß eine solche Veraͤnderung ohne Rußland nicht geschehen kann, ohne Rußland, welches uͤber Persien den Ruͤcken der Tuͤrkei umschleicht, und jede Dynastie, die es hier findet, mit zwei Armen erdruͤcken wird, laͤßt sich auch aus der ganzen Physiognomie der aͤgyptischen Herr¬ schaft, aus dieser besorglichen, zeitvergeudenden Tergi¬ versation Mehemed Ali's, und den zweifelhaften poli¬ tischen Talenten Ibrahim Pascha's, keine Zukunft die¬ ser Art voraussehen. Seit den fabelhaften Zeiten des Sesostris war Aegypten niemals ein Sitz der Eroberer, wohl aber solcher Helden, welche von ihren anderweiti¬ gen Siegen ausruhten. Vielmehr moͤchte Aegypten genug damit zu thun haben, zweien Ereignissen, welche es treffen koͤnnen, die Spitze zu bieten, entweder der Reaktion der alten mu¬ Mehemed Ali von Aegypten . selmaͤnnischen Militairherrschaft, oder der buͤrgerlichen Revolution, welche in Folge des Aussaugesystems Me¬ hemed Ali's noch mehr zu befuͤrchten ist. Wie? wenn die europaͤische Civilisation, die dem Volke eingeimpfte Neuerung, hiebei selbst eine Rolle spielte? Gaͤhrungs¬ stoffe sind zahlreich vorhanden, vom religioͤsen Fanatis¬ mus an bis zu dem Elend des Fellahs, der bei den Ueberschwemmungslaunen des empfindlichen Nil oft da nichts als Sand hat, wo er zur Frist eines kuͤmmerli¬ chen Lebens etwas Schlamm gehofft hatte. Auch hat sich ein großer Theil des europaͤischen revolutionairen Geschwuͤrs nach Aegypten hin zertheilt, von den Ex¬ erziermeistern und Renegaten an bis auf Vater En¬ fantin, welcher nicht glauben kann, daß es die Mission des St. Simonismus sei, blos die Landenge von Suez zu durchstechen. Mehemed Ali fuͤrchtet auch diesen unruhigen Geist, und hat sich den Besuch der Polen weislich verbeten. Das sind Elemente, aus welchen der Zufall oder das Schicksal eine Zukunft zusammensetzen wird. Aber das Genie, der Eroberungsgeist, spielen schwer¬ lich noch eine Rolle in Aegypten, in dem Lande des Stillschweigens und der Todten. Mehemed Ali von Aegypten . Ihr wollt aus Mehemed Ali einen Philipp, aus Ibrahim Pascha Alexander machen? Ja, aus Macedonien sind sie beide; doch hat Ibrahim, wie er jetzt ist, schon seine Feste von Ba¬ bylon gefeiert; und Mehemed Ali glaubt mehr gethan zu haben, als man von ihm erwarten konnte. Und er hat Recht; denn nicht aus jedem Sohne eines Poli¬ zeikommissarius wird ein Pascha von Syrien und Aegypten. Die Napoleoniden. E s steht keiner Gattung der ungebundenen Darstel¬ lung eine solche Veraͤnderung bevor, wie der Geschicht¬ schreibung. Wenn sich bei jenen alten und vergessenen Zei¬ ten, die mit ihren schwierigen Jahreszahlen bis zum Anfange der franzoͤsischen Revolution reichen, der Hi¬ storiker auf die Ermittelung einiger hervorragenden Er¬ scheinungen, auf einige charakteristische Anekdoten, und eine Verknuͤpfung derselben, welche die Schule sehr aͤngstlich unter dem Namen Pragmatismus empfiehlt, beschraͤnken durfte, so verlangen unsre Zeiten, die uns noch im Gedaͤchtnisse klingen, einen neuen Styl der Behandlung, dessen Prinzipien bis jetzt noch keine Rhe¬ torik entworfen hat. Jene alte Geschichte wurde gemacht vom Ruhm, von der Usurpation, von der Genealogie und von eini¬ gen wunderbaren Ereignissen, welche sich um Feldher¬ Gutzkow's öffentl. Char. 8 Die Napoleoniden . renstaͤbe, wie die der Marlborough, um ewige Porte¬ feuilles, wie die der Richelieu, und um Regierungen, welche nicht kuͤrzer waren, wie die Friedrichs III . her¬ umrankten. Ein Avanturier, ein Eroberer, ein Phan¬ tast, ein Paar Handschuhe gaben den Ausschlag, und der Historiker hat Alles gethan, wenn er in Kuͤrze be¬ richtet, was in Kuͤrze geschehen ist. Jetzt ist es anders. Die Coefficienten der Weltge¬ schichte haben sich vermehrt; jene rasirten Tafeln, Voͤl¬ ker genannt, oder Interregna oder matte Perioden, auf welche der Despotismus, die Laune, der Zufall oder gar ein demokratisches Original, das durch eine Empoͤ¬ rung oder Vision sich den Scheiterhaufen erkaufte, Ge¬ schichte schrieben, sind entweder kleiner geworden, oder haben selbst fuͤr die Ereignisse eine Rolle uͤbernommen. Die moderne Geschichte baut sich nicht mehr aus Mas¬ sen auf, sondern aus Individualitaͤten; sie laͤßt keine Luͤcken, welche fuͤr die alte Welt die Kunst, die Re¬ ligion und die Wissenschaft ausfuͤllen, sondern alle Fu¬ gen ziehen sich eng zusammen, oder wo sie offen blei¬ ben, draͤngt sich eine neue Erscheinung, die bald alles Uebrige wieder uͤberragt, hervor. Wie kurz war in unsrer Zeit das Gluͤck, wie be¬ stritten der Ruhm? Wie schnell wandelten sich die Tha¬ Die Napoleoniden . ten in Begebenheiten um, denen ihre Folgen schon wie¬ der uͤber den Kopf wuchsen! Das Schauspiel unsrer Tage hat sich vor uͤberreicher Handlung in ein Epos verwandelt, so daß der Historiker weniger Epochen als Zustaͤnde zu schildern hat, breite Dimensionen, breite Antworten nicht mehr auf die Frage: Was geschah ? sondern: Wie wurde gelebt ? Die Poesie der Geschichte war in jenen alten schlum¬ mernden Zeiten zuweilen ein fluͤchtiger Traum, ein uͤp¬ piger Auswuchs der Chronik, Oedipus im Hain der Eumeniden, Cleopatra am Strande des Meeres kosend mit Antonius, der Obolus des Belisar, Konradins Tod; kein Epos, wie jetzt; keine Kette von wunderba¬ ren Begebenheiten, wie die neue Geschichte. Wer wollte Napoleon zu einem tragischen Helden machen? Wer wollte alle die Elemente seiner Zeit (die er nicht immer bezwang, sondern nur augenblicklich beruhigte oder zur Ruhe zwang) fortlaͤugnen, diese Hindernisse und Folien, welche seine Erscheinung in die Laͤnge zo¬ gen, aus dem kurzen Drama ein gigantisches Epos mit Voͤlkern und Tendenzen als Endreimen machen, und aus den Resten dieses Meteors, aus den Pallantiden Frankreichs einen Roman, ein breites Familiengemaͤlde? Aber ich frage darnach nichts; unsre großen histori¬ 9 * Die Napoleoniden . schen Meister, ein Poͤlitz, ein Adolph Menzel, werden auch mit diesen Dingen leicht umzuspringen und das Ungeheure in ihrer Art zu uͤberwaͤltigen wissen. Als der Bellerophon — lebten wir zu den Zeiten der Apostel, wuͤrde man sagen eine Wolke — den gro¬ ßen Kaiser hinwegnahm, blieb die mannichfache Ver¬ zweigung und Verschwaͤgerung seines Blutes zuruͤck, Namen von verschiedenem Werthe, zum groͤßten Theil aber Gluͤckspilze, die neben den unausloͤschlichen Fu߬ stapfen des Kaisers aufgeschossen waren, diese Fettflecken in den Hermelinen Europa's, welche die Kugeln der heiligen Allianz nicht tilgen konnten. Seitdem ziehen sich die Napoleoniden durch die Ta¬ gesgeschichte, wie eingewirkt ihrem Gewebe, wie der ro¬ the Faden einer Vergangenheit, welche in St. Helena am Magenkrebs auf ewige Zeiten gestorben ist. Napoleons Familie ist eine Verlassenschaft ohne Rache, ungleich den Jakobiten, den Bourbonen von 1793 und 1830, ja selbst dem Hause Wasa, es ist eine Buͤrgerfamilie ohne Trotz gegen die Legitimitaͤt, welche ihnen einst Toͤchter ins Ehebett gab, und jetzt die Schulden bezahlt, welche sich in ihren versteckten Asylen aufhaͤufen; eine Verwandtschaft, welche den, der Die Napoleoniden . sie erhob, innerlich verwuͤnscht und seinen Feinden die Kostbarkeiten verkauft, welche er ihnen hinterließ. Diese Ueberreste haben ihre eigenen Straßen, welche sie in Europa nur einschlagen duͤrfen, ihre eigenen Tage, wo sie bei ihren legitimen Schwaͤgern zum Be¬ suche kommen, sie sind bei allen Dingen auf gewisse Graͤnzen angewiesen, und verschleudern den Ruhm ih¬ res Bruders, um den ihre Augen nicht mehr naß werden. Napoleon hatte sich an denen, welche aͤlter waren, als er, fuͤr die Tyrannei in der Kinderschule, beim Spiel und Vesperbrod empfindlich geraͤcht; er hatte sie in Lagen gebracht, denen sie nicht gewachsen waren, und sie nur deshalb mit Geschenken uͤberhaͤuft, um sie desto besser unter seiner Zuchtruthe zu haben. Die juͤn¬ geren zog er vor, seine Schwestern liebte er und tanzte sogar mit ihnen, ja seine erheiratheten Verwandten, den Prinzen Eugen und Hortense, betete er an mit seiner Zaͤrtlichkeit, die ihm so schoͤn stand; aber Alle hat er sie entweder so verwoͤhnt, oder so geknechtet, daß sie we¬ nig Sympathie fuͤr ihn empfanden und ihn noch jetzt anklagen, wenn einmal ihre Finanzen nicht in Ordnung sind, oder sie von den Siegern eine Zuruͤcksetzung er¬ fahren. Dies ist eine bekannte Thatsache und soll mich ver¬ Die Napoleoniden . theidigen, wenn ich von den kleinen Funken des zer¬ sprungenen Sternes Napoleon nicht mit jener Andacht spreche, welche in neuem Zeiten bei Nennung seines Namens Sitte geworden ist. Die Poesie hat sich immer sehr erhitzt, wenn sie auf Laͤtitia, die vierundachtzigjaͤhrige Mutter des erlo¬ schenen Koͤnigshauses, zu sprechen kam. Sie wurde bald mit Hekuba, bald mit Niobe verglichen; christliche Phan¬ tasten nannten sie die Rahel oder auch die Maria des neunzehnten Jahrhunderts. Warum lag in allen diesen Benennungen nichts so Erhabenes, als es das Schicksal dieser alten Dame vor¬ zustellen scheint? Vielleicht weil Niobe mit einem Schlage alle ihre Erzeugnisse hinsinken sah, Hekuba außer einer Mutter auch eine greise Gattin war, welche ihren al¬ ten Herrn Priamus zaͤrtlich liebte; vielleicht, weil Rahel in ihren gemordeten Kindern junge Keime sterben sah, Hoffnungen, die noch nicht Maͤnner geworden waren, und den Schmerz ihres Verlustes nach dem Maaße dessen, was man von ihnen noch nicht wußte, vergroͤ¬ ßerten. Verschwindet doch selbst der Schmerz einer Ma¬ ria vor den Leiden ihres Sohnes, dessen goͤttliche Voll¬ kommenheit sie uͤberstrahlte: „Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen!“ Die Napoleoniden . Laͤtitia ist keine feudale Fuͤrstin, keine trauernde Koͤnigin aus „dem Schloß am Meer,“ sie gebar nicht, um große Erscheinungen hervorzubringen; Laͤtitia kann uns nur als Mutter ruͤhren, als Mutter, wo sie im Vergleich ziemlich gluͤcklich ist; denn ist sie nicht von Enkeln und Kindern umgeben? Das gute Muͤtterchen wurde auf den Schauplatz der Welt gebracht, wie in einem Ifflandischen Stuͤcke zuletzt die alten Vaͤter und Großvaͤter aus ihren Dach¬ stuben kriechen, um das Gluͤck ihrer Kinder zu theilen, deren Tugend sie im Verlauf eines Theaterabends aus Justizraͤthen zu Praͤsidenten machte. Laͤtitia wuͤrde sich in alle die Wunder, welche ihr Sohn verrichtete, nicht gefunden haben, wenn Soͤhne, Schwiegerkinder und Stiefenkel nicht die Associ é s der Weltgeschaͤfte geworden waͤren, so daß ihr Alles in die handgreiflichste Naͤhe geruͤckt wurde. Sie sah keine Hoff¬ nungen sterben, keine Privilegien der Geschichte, keine Berechtigungen, die, wenn sie nicht eintreffen, zuweilen poetisch sind; die Fruͤchte ihres Leibes waren groͤßer als der Stamm, sie machten den Schoos vergessen, welchem die Geschichte ein so großes Ereigniß verdankt. Glaubt Ihr, daß Madame M è re so ungluͤcklich ist? Thorheit! Sie wohnt zu Rom auf der Via San Die Napoleoniden . Romoaldo, ist so alt, daß sie vielleicht hofft, der Tod werde sie uͤbergehen, und lebt doch Luciano noch, den sie lieber hatte als Napolione, Luciano, der sie nicht mit harten Worten kraͤnkte, schreibt doch auch Giuseppe zuweilen aus Nordamerika, und Girolamo besucht sie aus Florenz, Girolamo, ihr juͤngster Sohn, den Na¬ polione so sehr tyrannisirte, Girolamo, der mit Gewalt ein großer Admiral, oder wenigstens ein Koͤnig werden sollte, und doch artiger war, als alle uͤbrigen. Die gute Alte! dort liegt sie, auf dem bettarti¬ gen Sopha, ihr duͤrrer Leib, der so viel Koͤnige ent¬ hielt, in weite Shawls gewickelt, blind, aber ohne Prophezeiung, mit gedoͤrrten Zuͤgen, aber lebhaft, ge¬ schwaͤtzig, Liebhaberin von Neuigkeiten, im muntern Gespraͤch mit Onkel Fesch, nicht anders, wie einst im Pallast de l'Elis é e von Paris. Onkel Fesch, dieser verschlagene Priester im Vio¬ lettstrumpf und rothem Hut, will noch jetzt die Dinge immer besser wissen, als Napoleon; er beweist der Matrone, welche schlummernd zuhoͤrt und schlaͤfriglaͤ¬ chelnden Beifall nickt, wie es der todte Kaiser haͤtte an¬ fangen sollen, wie Alles gekommen waͤre, wenn er auf ihn gehoͤrt haͤtte, wie er aber immer tollkuͤhn und ty¬ rannisch gewesen sey. Hier seufzt Madame Laͤtitia; Die Napoleoniden . aber der weise Kardinal faͤhrt grausam fort: „Ich hatte den Papst in der Hand, den heiligen Vater, welcher es gut mit dem abtruͤnnigen Sohne der Kirche meinte. Ich schloß das Konkordat, was dem uͤbermuͤthigen Kna¬ ben mißfiel, ich haͤtte Alles machen koͤnnen; aber wollte er?“ Und die alte Dame seufzt wieder und spricht mit jener fuͤrchterlich rauhen Stimme, welche mich vor alten Italienerinnen immer zittern machte: „Ach, er glaubte nichts: ob er wohl in den Himmel koͤmmt, Fesch?“ Fesch ist grausam, zuckt die Achseln und murmelt: „Er hat uns ungluͤcklich gemacht!“ Wahrhaftig, so sprechen die Menschen uͤber eine Unsterblichkeit, an welcher sie die einzigen Nebelflecken sind. Napoleons Bruͤder waren nicht ohne Faͤhigkeiten; sie hatten eine gute Erziehung genossen, und fuͤr den juͤngsten, fuͤr Hieronymus, sorgte der Aeltere deshalb selbst. Joseph war sogar außer dem Ehebett erzeugt, und konnte wie Edmund im Lear sich dieses Vorzuges ruͤhmen, welchen die Natur den nicht zwischen Schlaf und Wachen Empfangenen zu gestatten pflegt. Lucian besaß mehr Feuer als die Uebrigen, war rasch im Han¬ deln, ohne sich um die Verantwortlichkeit zu kuͤmmern, und hat seinem Bruder gegenuͤber immer einen festen Wil¬ 8 ** Die Napoleoniden . len gezeigt. Ludwig hatte einen sanfteren Charakter, mit einem Anstrich von Schwaͤrmerei, die eine gute Ent¬ schuldigung seines Phlegma's war. Hieronymus endlich, der schon in dem Glanze seiner Familie erzogen wurde, nahm fruͤh die Eigenschaften, welche aͤchtes prinzliches Blut zu begleiten pflegen, in sich auf, im Guten wie im Boͤsen. Napoleon konnte deshalb auch daran den¬ ken, sie zu seinen Zwecken zu benutzen, waͤhrend sonst das Genie immer Noth hat, die Misere seiner Herkunft und Verwandtschaft zu verdecken. Anfangs wollte er sich aus ihnen nur Umgebungen schaffen, die ein feines Ohr, verschwiegenen Mund und beredte Zunge haͤtten; es fehlte ihm an Treue, Sicher¬ heit und Spionen des ersten Ranges; er hatte so man¬ ches Amt zu vergeben, das er von der Zuverlaͤssigkeit bekleidet wuͤnschte; ja er sah so viele freie Haͤnde ein¬ flußreicher Schoͤnheiten, daß er nicht Maͤnner genug haben konnte, denen er diese aufbewahrte. Diese letzte Kombination war die erste, welche ihm fehlschlug; denn so leicht es ihm wurde, den Ehrgeiz seiner Bruͤder zu lenken, so aufsaͤtzig zeigten sie sich doch, als er ihren Herzen die freie Wahl nehmen wollte. Die schoͤne Jouberton, die Patterson gehoͤrten nicht in Die Napoleoniden . seine Plane: man weiß, wie wenig Ludwig mit Hor¬ tense wahlverwandt war. Napoleon, darauf bedacht, sich mit einer erborgten Legitimitaͤt zu schmuͤcken, adelte vor allen Dingen zuerst sein Blut, seine Familie, und machte seine Bruͤder, welche als franzoͤsische Prinzen schon die Handgriffe und Bewegungen einer anstaͤndigen Repraͤsentation erlernt hatten, zu Koͤnigen uͤber Reiche, welche entweder erst erobert waren, oder durch Intrigue einen leeren Thron zeigten. Dies wurde fuͤr Europa eine Propaganda des fran¬ zoͤsischen Gouvernirungssystems, die, wie bald auch ihre Wirksamkeit voruͤberging, doch nicht ohne Folgen auf die spaͤtere Gestaltung unsrer Verhaͤltnisse blieb. Mit Napoleons Bruͤdern und den andern gekroͤnten Pala¬ dinen der großen Kaiserherrschaft kamen die Begriffe Centralisation und Bureaukratie uͤber uns, welche die spaͤtere Restauration adoptirte, obschon sie Ausfluͤsse der Revolution waren. Napoleons eignes Verfahren galt als Muster, seine Politik, sein Handelsgrundsatz durfte von keinem seiner Vasallen uͤberschritten werden; diese militairische Feudalherrschaft wurde mit einer Strenge ausgefuͤhrt, welche den Guͤnstlingen der kaiserlichen Gnade diese bald selbst unertraͤglich machte. Zur Gunst Die Napoleoniden . gesellte sich die Laune. Napoleons Bruͤder wurden die Abzugskanaͤle seines Unmuths. Sie waren es schon in Paris; ein widerwaͤrtiges Er¬ eigniß kam immer auf die Rechnung seiner Familie, zu der er dann hinaufstuͤrmte, die Thuͤren schlug, mit dem Degen drohte, so lange bis ihn erst seine Schwestern besaͤnftigten. Napoleon hatte nicht Unrecht; denn schon damals, als er noch General der Republik und Konsul war, ga¬ ben seine Bruͤder vielfachen Anlaß zum Unwillen; sie uͤbernahmen die Lieferungen bei der Armee, um sich zu bereichern, und machten Geschaͤfte an der Boͤrse, zu wel¬ chen sie die Politik Napoleons als versteckte Wetterfahne und Telegraphen brauchten. Joseph und Lucian leiste¬ ten in diesen Spekulationen das Moͤgliche, denn sie wa¬ ren aͤlter und italienischer als die Andern. Die spaͤtern Koͤnige mußten Napoleons Zuchtruthe noch derber fuͤhlen. An jedem militairischen Nachtheil, an einer entdeckten Verschwoͤrung, an jedem Mißge¬ schick des Kaisers waren sie Schuld; sie waͤren, sagte er, keine Franzosen, sie unterhandelten mit den Englaͤndern, mit dem Papste, sie haͤtten immer andre Dinge im Kopf als er, und er schwoͤre ihnen zu Gott, sie sollten sich in Acht nehmen. Wenn im Haag, in Neapel, in Die Napoleoniden . Madrid, in Kassel eine Depesche von Paris ankam, so zitterte man; denn die Bruͤder wußten, daß sie schon wieder Etwas nicht recht gemacht hatten. Niemand hatte von Napoleons Mißlaunen mehr zu dulden, als Ludwig, der hinter seinen Deichen und Poldern, mit einem fuͤrchterlichen Defizit der Kasse, mit Feuersbruͤnsten, auffliegenden Pulverschissen, Ueberschwem¬ mungen und republikanischen Tendenzen bemitleidens¬ werth geplagt war. Er war etwas weitlaͤuftig in sei¬ nen Bewegungen, nahm zu den kleinen Spruͤngen, die er machen durfte, immer große Anlaͤufe, und liebte es freilich, mehr zu sprechen, als Napoleons despotischer Lakonismus gut hieß. Auf Ludwig haͤufte sich des Kaisers Unmuth; er moralisirte ihm zu viel; Napo¬ leon fand es laͤcherlich, wenn sich sein Bruder, statt gefuͤrchtet, populair machen wollte, wenn er von Na¬ tionalitaͤt und republikanischen Erinnerungen und allge¬ meiner Menschenliebe sprach; er nannte mit einem sei¬ ner klassischen Ausdruͤcke diese Dinge an seinem Bru¬ der „Humanitaͤtswahnsinn“ und schrieb ihm Einmal uͤber das Andre, jetzt moͤcht' er nur machen, daß er bald zu den Englaͤndern uͤberginge. Ludwig verließ Holland, und hat sich mit seinem Bruder nie wieder ausgesoͤhnt. Die Napoleoniden . Wenn man die letzten Truͤmmer des Hauses Na¬ poleon in eine Gesammtansicht bringen will, so findet man zwar, daß sie sich unter einander begatten; doch lassen sich zwei Stroͤmungen, selbst mit verschiedenen Kennzeichen, und verschiedenartig gegen ihre Umgebun¬ gen abstechend, herausscheiden — die maͤnnliche und die weibliche Verwandtschaft Napoleons. Rechnet man zu dieser letztern noch seine Heirathen und Adoptionen, so ist sie diejenige Linie, welche sich noch in der leb¬ haftesten Korrespondenz mit der Legitimitaͤt befindet: es scheint, als wenn das weibliche Blut der Fuͤrstenhaͤu¬ ser weit schwieriger zu deprinzipelisiren ist, als das maͤnnliche. Citirt Kluͤber daruͤber nichts? Die maͤnnliche Verwandtschaft des Kaisers hat sich mehr versteckt und zuruͤckgezogen, ja sie ist sogar der Monarchie zum Theil untreu geworden und bemuͤht sich, das Gedaͤchtniß ihres großen Bruders und Oheims all¬ maͤhlich wieder mit der Demokratie zu versoͤhnen, und seinen Ruhm in die Herzen des Buͤrgerthums zu ver¬ schließen. Die weibliche Linie ist an einigen Hoͤfen gern gesehen, weil sie sich gluͤcklich fuͤhlt, eine untergeordnete Rolle zu spielen, und das zu sein, was einst in Argos Kas¬ sandra, die geraubte Tochter des Priamus, war. Nur Die Napoleoniden . die Soͤhne Muͤrats, dieses Paris unter den Napoleo¬ niden, gingen uͤber an die Demokratie, und predigen, als Enkel eines ehrlichen Buͤrgers und Gastwirths in Frankreich, die allgemeine Nivellirung, den Contrat social , und die wohlfeile, bequeme und freie Staats¬ verfassung Nordamerika's. Dies buͤrgerliche Element hat die ganze Familie auseinandergesprengt, so daß ein Glied derselben in einem Staate proscribirt seyn kann, wo das andere um die Hand einer Koͤnigstochter freien darf. Eine Reaktion dieses verzweigten Stammes ist undenkbar, weil sein Einverstaͤndniß gestoͤrt ist. Sie sind sich Alle fremd geworden. Der Graf Survilliers hat in neuerer Zeit noch ein¬ mal gegen die Geschichte des Tages protestirt. Er kam selbst uͤber den Ozean aus Nordamerika heruͤber, um den Thron von Frankreich fuͤr seinen Neffen Reichstaͤdt in Beschlag zu nehmen; doch Louis Philipp war trotz sei¬ ner Koͤrperstaͤrke schneller zur Hand. Auch der Graf Survilliers ist, von einem fabelhaf¬ ten Umfange, ohne damit zu imponiren. Sein Auge ist matt, seine Manieren sind unkoͤniglich, obschon er auf zwei Thronen gesessen hat. Es ist ein guter alter Herr, der nicht begreift, was das Schicksal mit ihm vorgehabt hat; noch heute wird ihm wunderlich zu Muthe, Die Napoleoniden . was er damals Alles thun mußte, ohne zur Besinnung zu kommen. Acht Jahre hindurch hat er in einer aͤngst¬ lichen Verlegenheit gelebt, vor Niemandem mehr zit¬ ternd als vor dem, der ihn mit Ehren uͤberhaͤufte. Weil er kein boͤses Herz hat, so glaubte er, daß seine Voͤlker unter ihm sich sehr gluͤcklich muͤssen befunden haben, und dies ist ein Trost, den er mit ins Grab zu nehmen gedenkt. Er besinnt sich etwas schwer auf seine wunderbare Vergangenheit, nur die Beleidigungen sind ihm unvergeßlich, welche ihm die kuͤhnen Marschaͤlle und Schildtraͤger seines geharnischten Bruders kek ins Gesicht sagten; doch hat er ihnen Alles vergeben, er ist der gutmuͤthigste Mann in Nordamerika. Statt Macchiavells Fuͤrsten studirt er jetzt — und ich be¬ trachte dies als seine ehrenwertheste Seite — rationelle Landwirthschaft, wittert Kohlenlager aus, und laͤßt den Delaware ausschlaͤmmen, welcher an seinen Besitzungen vorbeifließt. Er besucht die quaͤkerische Stadt Phila¬ delphia gern, und liebt es, von alten Dingen zu spre¬ chen. Seine Gemahlin, eine Kaufmannstochter, und Schwaͤgerin des jetzigen Koͤnigs von Schweden, ist keine so große Freundin der rationellen Landwirthschaft, sie hat ihn mit ihren beiden Toͤchtern verlassen, und ziert mit ihnen die bekannten Bonapartistischen Salons in Florenz. Die Napoleoniden . Der Fuͤrst von Canino lebt in Sinigaglia, nach¬ dem ihn schlechte Finanzen seine roͤmischen Pallaͤste zu verkaufen zwangen. Er stand dem Genie seines Bru¬ ders am naͤchsten, obschon er ohne Napoleon vielleicht nichts geworden waͤre, als ein guter Boͤrsenspekulant, vielleicht ein kuͤhner Parteigaͤnger der Revolution, oder ein mittelmaͤßiger Dichter. Das Terrain, worauf ihn sein Bruder stellte, kam ihm zu Huͤlfe. Was er an schroffer Energie besaß, verdeckte seine Leutseligkeit, und was ihm daran fehlte, ersetzte die Kunst der Repraͤ¬ sentation, die ihm meisterhaft zu Gebote stand. Er draͤngte sich gewandt durch die Parteien der Revolution, und riß soviel Gewalt an sich, daß er die Hauptsache am 18. Bruͤmaire seinem Bruder uͤbergeben konnte, ohne in eine abhaͤngige Stellung zu kommen. Seitdem Napoleon seinem Bruder Etwas zu verdanken hatte, hoͤrte auch ihr gutes Vernehmen auf: Napoleon ent¬ deckte an Lucian einen starren Republikanismus, oder wenigstens die Maske desselben, welche seine ehrgeizigen Absichten verbarg. Diplomatische Verdienste, die sich Lucian erwarb, und die neue Kohlen auf Napoleons Haupt sammelten, vermehrten das Mißverstaͤndniß, so daß Lucian endlich aus seiner Opposition ein Prinzip machte. Die Kaiserkrone erschoͤpfte den eifersuͤchtigen Gutzkow's öffentl. Char. 9 Die Napoleoniden . Bruder, er verließ Frankreich, und fuͤhrte nicht ohne Koketterie seinen Widerspruch so hartnaͤckig aus, daß er das Interesse der Englaͤnder verkannte, und statt in ihren Schutz in ihre Gefangenschaft gerieth. Die Er¬ eignisse von 1814 fuͤhrten ihn noch einmal nach Frank¬ reich zuruͤck, wo er im Augenblick der Gefahr die Sache seines Bruders mit Eifer betrieb, und deshalb nicht so schnoͤde abgewiesen werden konnte, wie die uͤbrigen Bruͤ¬ der, welche sich jetzt aͤngstlich um Napoleon draͤngten, und ihre eigne Verlegenheit mit dem Scheine zaͤrtlicher Theilnahme bemaͤnteln wollten. Lucians Anordnungen waren vortrefflich, haͤtte Marie Louise die Aufopferung gehabt, sich zwischen das Geschick ihres Mannes und die Triumphe der Alliirten zu werfen. Lucian wurde in Italien von Oestreich aufgehoben; doch gab ihn die Einsicht in sein bisheriges Leben frei: man wußte, daß er seines Bruders eifrigster Antagonist gewesen war, und seinen Ehrgeiz wenn auch nicht widerlegt, doch ihm das Gleichgewicht gehalten hatte. Der Prinz von Canino liebt die Kuͤnste die Wis¬ senschaften und Handelsspekulationen. Die ungluͤckli¬ chen Resultate der letztern haben den Schutz der erstern sehr einschraͤnken muͤssen. Die große Muße, welche ihm das Schicksal ließ, benutzt er, um seine Verse zu sei¬ Die Napoleoniden . len, uͤber die Schoͤnheiten Virgils zu traͤumen, und die Verkleinerer der Alten zu widerlegen. Eine seiner interessantesten Schriften ist eine in fruͤhester Zeit ver¬ faßte Geschichte des englischen Parlaments, zu welcher Napoleon in bessern Tagen Anmerkungen geschrieben hatte. Diese Notizen verrathen, wie viel Napoleon der Geschichte verdankt. Er hatte sie mit einem be¬ stimmten Zwecke studirt, und abstrahirte ihre Re¬ geln um so gluͤcklicher, als er seine Zeit zum Maa߬ stabe der Vergangenheit nahm. Er spricht von Crom¬ well wie von einem Usurpator des neunzehnten Jahrhunderts, und gibt ihm Regeln, als haͤtte er sie von ihm borgen sollen. Er spricht von den al¬ ten Helden im vertraulichsten Tone und mißt ihren Werth immer nach dem Maaßstabe, was sie eigent¬ lich wollten, oder auch nach dem, was sie unter ihren Umstaͤnden wollen durften. Anziehend ist zu¬ letzt in diesen Anmerkungen Napoleons Eifersucht auf seines Bruders Styl; man sieht, wie schwer es ihm ankoͤmmt, die Trefflichkeit desselben zuweilen ein¬ zugestehen, ein Lob, das er sogleich wieder minderte, indem er an St. Jean d'Angely erinnerte, den er in der darstellenden Kunst fuͤr unuͤbertrefflich hielt. Napoleon liebte es, durch kurze Saͤtze, durch einen 9 * Die Napoleoniden . Styl, der immer wie um die Ecke hervorschießt, uͤber¬ rascht zu werden. Der Graf St. Leu lebt zu Florenz mit dem Stolze seiner ehemals bewiesenen Herrschertugenden. Er glaubt aus den Stuͤrmen seiner Zeit das suͤße Be¬ wußtsein gerettet zu haben, daß ihn die Hollaͤnder lie¬ ben. Die Hollaͤnder! Er gibt sich selbst das Zeugniß, daß er fuͤr einen Privatmann keinen bessern Koͤnig habe abgeben koͤn¬ nen, und spricht nicht ohne Ruͤhrung von den schoͤnen Tagen in Utrecht und Harlem. Noch hoͤrt er die fuͤrchterliche Explosion des Harlemer Pulverschiffes und schildert gern, was er fuͤr Menschenliebe bei dieser Ge¬ legenheit entwickelt, wie er selbst Hand angelegt habe um zu retten, und wie viel Gulden er fuͤr ein erhal¬ tenes Leben geboten. Dann erzaͤhlt er von jenem jun¬ gen Prediger, der in seiner Gegenwart an den Him¬ mel republikanische Gebete gerichtet haͤtte. Seine Mi¬ nister wollten, er sollte den Frevler bestrafen; nein, sagte er stolz, er wolle ihn nur belehren, und ließ ihn zu sich kommen und setzte ihm den Lauf der Dinge, die Weltgeschichte und die hollaͤndische auseinander. Man kann dem Grafen nicht widersprechen, wenn er Napoleons Grausamkeit anklagt, der ihn fuͤr solche Die Napoleoniden . Handlungen verruͤckt nannte, und ihn unter Vormund¬ schaft setzen wollte. Es ist wahr, sagt der Graf, in Florenz und in seinen Memoiren, ich war derjenige unter den neuen Koͤnigen, welcher gegen den Despotis¬ mus die meiste Energie zeigte. Denn kurz vor seiner Abdankung, als die franzoͤsischen Exekutionstruppen schon die Vorstaͤdte von Leyden erreicht hatten, rief er nach einem Pferde, legte die Schaͤrpe um und wollte ganz Holland unter Wasser setzen. Was wollt Ihr? frug er die Repraͤsentanten des Landes; Krieg oder Frieden? Frieden, sagten die Hochmoͤgenden trocken; Louis laͤchelte, und verließ Holland. Der Graf St. Leu liebt die gutmuͤthige, aber huͤbsch gebaute Phrase, er hielt gern Reden, und spricht auch gern in oͤffentlichen Schriften mit, wenn von der Vergangenheit die Rede ist. Er spricht von den Pflich¬ ten eines Koͤnigs, wie ein Republikaner; wie denn immer, wer uͤber das Koͤnigthum erst philosophirt, sich zu republikanischen Grundsaͤtzen zuletzt neigen muß. Der Graf St. Leu hat aus der Monarchie ein so zauber¬ haftes Ideal gemacht, daß daraus ohne sein Wissen eine Republik geworden ist. Seine Soͤhne haben auch diese Taͤuschung durchschaut, und offen den Humani¬ taͤtsgrundsaͤtzen, welche sie von ihrem Vater erbten, den Die Napoleoniden . rechten Namen gegeben: sie sind entschiedene Republi¬ kaner geworden; der Eine, welcher in der juͤngsten ita¬ lienischen Insurrektion im Lager von Forli starb, der Andere, welcher in der Schweiz lebt, und Verdienste um die schweizerische Artillerie haben soll. Was weiß ich! Der Herzog von Montfort sollte einst ein großer Admiral werden, und es wurde nur ein Koͤnig aus ihm, der mehr als alle uͤbrigen von seinem Bruder die geheime Zusendung einer seidnen Schnur zu fuͤrchten hatte. Im Besitze mancher liebenswuͤrdigen Eigen¬ schaft, hatte ihn das Gluͤck verzogen. Er haͤtte fuͤr ei¬ nen Cousin Ludwigs XV . gelten koͤnnen, so schnell fand er sich in die neue Herrschaft, welche sein Bru¬ der etablirte. Er heirathete eine deutsche Fuͤrstentochter und bestieg einen improvisirten Thron, in dessen Naͤhe er Bacchus und Venus als Minister rief. Man hat nie so amusant in Kassel gelebt, als waͤhrend der west¬ phaͤlischen Zeit. Jerome war der gutmuͤthigste Charak¬ ter, er wollte nur Vergnuͤgen, oder wie er selbst sagte: „lustik sein;“ sich zu bereichern vergaß er. Dis war ein Fehler, den ertraͤglich zu machen, die Aufgabe seines spaͤtern Lebens geworden ist. Der Herzog von Mont¬ fort studirt seitdem an einem Systeme der Sparsam¬ keit, und rechnet, wie sich Lucullus und Harpagon ver¬ Die Napoleoniden . meiden lassen, und ein ehrlicher Mann sich einrichten muß, um sein Auskommen zu haben. Er ist krank, erschoͤpft von seiner Vergangenheit, und verlaͤugnet sich gern mit einer achtungswerthen Bescheidenheit. Aber noch liebt er Deutschland, von dessen Waͤldern er nie geglaubt haͤtte, daß man in ihnen so angenehme Sa¬ turnalien feiern koͤnnte und so podagristisch werden, er besucht es oft, und einer unsrer Bundesstaaten oͤffnet ihm gern seinen beruͤhmten Marstall, obschon er ein schlechter Reiter ist. Sein Sohn gehoͤrt zum Militair desselben Staates als Oberlieutenant. Von Napoleons Schwestern lebt nur noch Ma¬ dame Karoline, Muͤrats Gemahlin. Fuͤr die Unsterblichkeit gibt es keine groͤßere Be¬ wunderung, als wenn das Genie zufaͤllig eine Schwe¬ ster hat. Eine Schwester erkennt den Abstand der All¬ taͤglichkeit von ihrem Bruder ungemein tief, und klei¬ det sich gern mit dem Prunk des Ruhms, wenn der Held nicht die Muße hat, ihn selbst zur Schau zu tragen. Napoleon liebte seine Schwestern zaͤrtlich. Ihren Beifall nahm er fuͤr uͤberirdische Weissagung, wie einst der alte Gallier; ihr Widerstand imponirte ihm oder machte ihn lachen. Er verzieh ihnen ihr heißes Blut, Die Napoleoniden . das er durch sein eigenes entschuldigte, und wuͤrde die Aufopferung seiner Schwester Pauline, der Fuͤrstin Borghese, die sein Exil in St. Helena theilen wollte, so tief empfunden haben, wie jene kindliche Zaͤrtlichkeit des jungen Reichstadt, als der kleine Knabe an den gefesselten Prometheus, seinen lieben Papa, einen heim¬ lichen Brief schrieb, wobei ihm eine verschwiegene und gefuͤhlvolle Gouvernante die Hand fuͤhrte. Doch uͤber¬ raschte sie der Tod. Ihre Schwester Elisa starb spaͤter in Triest, zwei junge Fuͤrsten Bacciocchi hinterlassend, von welchen der eine auf Korsika wohnt, der andere aber im verwiche¬ nen Jahre bei einem Pferdesturz verungluͤckte. Die weitern von hier aus stroͤmenden Descenden¬ zen verschwimmen allmaͤlig in das breite Niveau der zahllosen italienischen Marchesen. Hie und da trifft man Personen, welche einen Tropfen vom Napoleoni¬ schen Familienblute haben und vor denen der geschicht¬ liche Enthusiasmus gern den Hut abnimmt. Man sieht diese dritten und vierten Glieder der großen Ge¬ neration oft im Theater, und staunt an die Physiog¬ nomien, welche noch immer olivenfarbig spielen, das schwarze glatte Haar, das die breite Stirn beschattet, das maͤchtige zermalmende Kinn, die untersetzte Statur Die Napoleoniden . mit einer hervorquellenden Anlage zum Fettwerden. Diese unverkennbar gezeichneten Spaͤtlinge verstehen die Richtung der Lorgnetten wohl, richten sich dann stolz auf, und legen die Arme uͤber einander, um uns vollends zu taͤuschen. Einige auch schlagen die Augen nieder, und schaͤmen sich, weil das Schicksal so unbarmherzig mit ihnen Versteckens gespielt hat. Zu der Oper hat aber das Parterre dann noch einmal so viel Lust; denn man fuͤhlt, daß ein Stuͤck Weltge¬ schichte in der Naͤhe athmet. Nur einem Seitenfluͤgel des Hauses Napoleon gelang es, sich vor dem Zusammensturz zu retten: der Familie Leuchtenberg. Es war die edelste Emana¬ tion der Kaiserherrschaft. Das Genie ist nicht immer gluͤcklich; deshalb hei¬ rathete Napoleon sein Gluͤck. Prinz Eugen wurde des großen Mannes Augapfel, der Guͤnstling einer fast an¬ tiken Liebe. Seine Sanftmuth schmeichelte sich in Napoleons weiche Empfindung ein, seine Anstelligkeit war eine vortreffliche Gewaͤhrleistung fuͤr die Gunstbe¬ zeugungen, welche der Kaiser uͤber ihn haͤufte. Prinz Eugen besaß dieselbe Humanitaͤt wie Louis Bonaparte, aber ohne Phrase, ohne Affektation; ihr Organ war nicht die Rede, sondern die Leutseligkeit. In einem Die Napoleoniden . militairisch so straff zusammengehaltenen Gouvernement, wie das Koͤnigreich Italien war, hatte der Regent Muße genug, die Tugenden des Friedens zu zeigen, und die blutigen Lorbeeren durch Palmen zu verdecken. Napoleon wußte, daß des Prinzen Benehmen keinen Kontrast werfen sollte, daß es keine Rolle, sondern In¬ stinkt und Naturell war, und fuͤrchtete die Vergoͤtte¬ rung nicht, die Italien, excentrisch in Liebe und Haß, seinem Stellvertreter zollte. Und wenn dieser seine Er¬ scheinung darnach einrichtete, daß sie dem Kaiser nicht auffallen mußte, wenn er einen militairischen Erfolg auf Andere uͤbertrug, und seinen Stiefvater mit Beschei¬ denheit und Liebkosung umarmte, so war dis weniger Maske, als Stimmung und Einsicht in den eignen Werth, der was Energie und Beruf anlangt, seiner hohen Stellung vielleicht nicht gewachsen war. Des Prinzen Verbindung mit einer deutschen Fuͤrstin rettete ihn vor der Degradation: seine Kinder haben sogar bei den mannichfaltigen Wechselfaͤllen der europaͤischen Po¬ litik Aussicht auf Avancement erhalten. Die griechi¬ sche Krone streifte nahe an dem Haupte seines aͤltesten Sohnes voruͤber, dann die belgische; eine Schwester desselben trug einige Zeit hindurch die brasilische, eine andere ist Erbin des schwedischen, und eine dritte Erbin Die Napoleoniden . des hechingischen Thrones, waͤhrend jener gluͤckliche Bruder, ausgeruͤstet mit dem Schwerte Don Pedro's, vielleicht bald auf dem Wege ist, die Braut des Ozeans heimzufuͤhren, und ein langes Gedicht durch einen Akt des Gesetzes zu schließen. Die Eifersucht Louis Phi¬ lipps im Namen eines seiner Soͤhne, noch weiß er selbst nicht, welches? verfolgt ihn; doch Liebe hilft aus Todesnetzen. Hier ist mehr als Politik; hier ist ein Roman. Was haben die Napoleoniden von der Zukunft zu hoffen? Nichts. Ihre Protestation gegen die Geschichte uͤberhoͤrt so¬ wohl die Freiheit als die Legitimitaͤt. Die Privile¬ gien ihres Blutes sind zerrissen; ja selbst die Privile¬ gien ihres Verdienstes koͤnnen nie den Umfang errei¬ chen, wie in jener illusorischen Vergangenheit, wo sie auf Alles hoffen durften. Was sie den Einen naͤh¬ men, wuͤrde unwillkommen den Andern sein, welchen sie es geben wollten. Hier gibt es keine Initiative mehr. Der breite Despotismus des Kaisers war er¬ traͤglich; aber die, welche die Despotie zerstuͤckeln, sind den Voͤlkern verhaßt. Eine Universaldespotie ist eine gluͤckliche Chance der Freiheit; denn an einem Ende sinkend, reißt sie das Die Napoleoniden . ganze unermeßliche Gebaͤude in den Untergang; waͤh¬ rend die kleinen Erben der Groͤße, die, welche theilen, eiserne Naͤgel am Sarge der Freiheit sind. Aber eine Huldigung des Weltgeistes ist es, die die Geschichte dem Heldengrabe auf St. Helena dar¬ bringt, daß sie den Enkeln einer wunderbaren Herr¬ schaft die Moͤglichkeit nimmt, ein großes Andenken schmerzlich zu machen. Starb nicht darum auch der junge Fruͤhling im Garten von Schoͤnbrunn, ehe er reifte und wurmstichige Fruͤchte trug? Eine weise Gottheit stellte an die Wiege zweifel¬ hafter Hoffnungen den Sarg einer beweinten Vollen¬ dung, damit das glaͤnzende Gedaͤchtniß des Groͤßten unsrer Tage ohne Flecken bliebe, und die Geschichte um einen Helden trauern kann, der ohne Nachahmung starb. Der Vorhang dieses Dramas ist auf Ewig gefal¬ len; nur Gebete sollt Ihr fluͤstern unter Longwoods Thraͤnenweiden! Wellington. M an kann zweifelhaft sein, ob die Hauptrolle bei der gegenwaͤrtigen englischen Krisis mehr von einem Manne oder einem Systeme gespielt wird. Es scheint fast als habe der Koͤnig, in dem noch immer hie und da der leidenschaftliche Seemann durch¬ blitzt, nichts Anderes in seine Naͤhe bringen wollen, als Kraft. Wie war nicht das kupferbodene Schiff, Al¬ bion, Kapitaͤn William bedroht! Am Steuerruder der Whiggismus; gleichviel; aber welch' ein Repraͤsentant desselben? Ein Ministerium ohne Einheit, ohne Zusammenhang, eine Improvisa¬ tion der Verlegenheit, Maͤnner, welche ihrer Stellung so wenig vertrauten, daß sie von einander losließen, und an die Nation appellirten, wie an eine Macht, von der sie voraussahen, daß die naͤchste Zukunft ihr eine Entscheidung abverlangen wuͤrde; ein Ministerium, Wellington . dessen Handlungen nur Entschuldigungen zu sein schie¬ nen, ein Ministerium auf der Flucht. Vorn mit dem Schnabel des Schiffes hatte sich Brougham identifizirt, ein rothes, aufgeblasenes Antlitz, die Augen hervorquellend, mit dem Uebermuth der Ver¬ zweiflung, der lachenden, fast lallenden Ironie der Trun¬ kenheit, ein Original, welches sein Ministerium mit schnoͤden mephistophelischen Gesten begleitete, Broug¬ ham, in der That ein Charlatan und sein eigener Spaßmacher geworden. Oben auf den Mast hatte sich ein verwegener Demagog der Salons, Lord Durham, hinaufgeschwun¬ gen. Anstaͤndiger zwar und gemaͤßigter als Mirabeau, aber gespornt vom Ehrgeiz, und eifersuͤchtig auf die Koterien der Hauptstadt, signalisirte er die Zukunft, schloß im Voraus mit jener drohenden Wolke, welche uͤber England heranzieht, eine kluge Rechnung, und ko¬ kettirte von seiner Hoͤhe herab mit den patriotischen Ge¬ sundheitstrinkern, welche ihm mit vollen Glaͤsern und Hoffnungen zuwinkten. Unten endlich, wo die Vorraͤthe des Schiffes lie¬ gen, am Huͤhner- und Schweinekoben, grunzte Cobbett von Kartoffeln, von irlaͤndischen Ferkeln, von Mennig¬ kraut fuͤr den Winter und andern geheimnißvollen Din¬ Wellington . gen, welche man erraͤth, auch ohne ein „Marshal“ zu sein. Der Koͤnig hat in diesem Laͤrm die Besinnung verloren. Es war keine Intrigue, nicht die Ermah¬ nungen einer schmollenden Koͤnigin, sondern Verlegen¬ heit und Beduͤrfniß, was Sir Arthur Wellesley wie¬ der an die Spitze Englands gestellt hat. Die Noth des Augenblicks muß dem Koͤnige so groß geschienen haben, daß er seine Zuflucht verdoppelte, und zu Wel¬ lingtons Kraft und Kaltbluͤtigkeit noch die Gewandt¬ heit und Beredtsamkeit Peel's fuͤgte. Er wollte kein System, er wollte nur die Namen haben. Ueber die Maͤnner hatte er die Partei vergessen. Dis ist das Ungluͤck. Wellington und Peel kom¬ men nicht allein; sie selber koͤnnen die Partei, den Haß und den Unverstand nicht zuruͤckhalten, wenn sie es auch wollten. Es ist ein unvermeidliches Gefolge, das sich an ihre Schritte anschließt; sie koͤnnen ihre Freunde und ihr Bekenntniß nicht zuruͤckweisen. Ich gestehe, daß in diesem fast allgemeinen Schrei des Unwillens, in dieser nationellen Verachtung des Siegers von Waterloo fuͤr mich etwas Tiefschmerzli¬ ches liegt. Wie? dieser weltberuͤhmte Glanz des Her¬ zogs, eine so glorreiche Vergangenheit, Lorbeern, welche Gutzkow's öffentl. Char. 10 Wellington . er den seit Menschengedenken tapfersten Kriegern Eu¬ ropa's entwand, diese gluͤckliche Nebenbuhlerschaft mit dem groͤßten Manne des Jahrhunderts, wirkt nichts auf ein vergeßliches Volk? Es tritt Praͤcedentien in den Koth, welche damals, als sie neu waren, vergoͤt¬ tert wurden? Es legt den Maßstab einer blinden Parteiung, die politische Kraͤmerelle an ein Leben, das mit so viel Ruhm und Unvergeßlichkeit ausgestattet ist; es mißt mit seinen oft nur zu illusorischen Grillen uͤber Staatsverfassung, mit einer mehr ideellen Vor¬ aussicht auf Zeiten, die noch Vieles werden unerfuͤllt lassen, den blutigen Ernst eines Schlachtfeldes und ei¬ ne gar fest und bestimmt in der Geschichte angeschrie¬ bene Periode? London war wegen des Sieges bei Vittoria drei Naͤchte hintereinander beleuchtet. Die Zuͤge Wellington, Victory, Vittoria fanden sich tausend¬ fach verschlungen an allen Haͤusern. Wer vor dem Pallaste des Siegers, den die damalige Marquisin, seine Frau, bewohnte, vorbeikam, mußte, dis war der despotische Befehl des jubelnden Volkes, den Hut ab¬ nehmen und die leeren Fenster gruͤßen, dieselben Fen¬ ster, welche nicht zwei Decennien spaͤter mit Brettern vernagelt werden mußten, um die Wuth des steinwer¬ fenden Publikums zuruͤckzuhalten. Ein so bald ver¬ Wellington . jaͤhrter Ruhm! Eine Grausamkeit, welche einen tiefen Blick in unsere Zeit werfen laͤßt! Und doch ist in diesem Falle nicht Alles Egoismus oder das erhabene Interesse der Voͤlkerfreiheit; es ist moͤglich, daß bei der Gleichguͤltigkeit gegen den Herzog von Wellington einige andere Triebfedern mit unter¬ laufen, welche nicht in der Zeit, oder in der Person, sondern in seinem Ruhme selbst liegen. Es ist moͤg¬ lich, daß der Herzog von Wellington in der That kein so großer Mann ist, als sieben Feldmarschallstaͤbe und drei gluͤckliche Feldzuͤge uns uͤberreden wollen. Waͤre dem so, so verriethen die ruͤcksichtslosen Anklagen des englischen Volkes einen feinen Instinkt oder eine sehr unterrichtete Kenntniß ihres großen verhaßten Helden. Wir wollen sehen, ob sich hieruͤber eine feste Meinung fassen laͤßt. Es gibt eine Anlage zum Ruhm, welche zwar mit uns geboren wird, aber nicht in unsern Talenten liegt; ein Privilegium der Unsterblichkeit, welches un¬ gleich vertheilt, und keineswegs hoffnungsvolle Jugend, blitzendes Auge, ein kraniologisches Symptom ist, son¬ dern eine Mitgift des Standes, die Laune des Zufalls, welche den groͤßten Schwachkopf in hohen Regionen geboren werden ließ. Auch hat der Soldat (natuͤrlich 10 * Wellington . im Kriege; denn im Frieden gibt es keine Soldaten, sondern nur Muͤßiggaͤnger) immer ein Formular, eine Scheda des Ruhms, welche er nur auszufuͤllen braucht, waͤhrend das groͤßte Genie vergessen wird, da es kein Terrain hatte. Alle historische Groͤße besteht darin, daß man mit imposanten Unterlagen oder Werkzeugen denkt oder handelt, daß man mit Zahlen rechnet, welche so groß sind, wie Voͤlker, Armeen, oder auch nur wie Departemente des Innern und Aeußern, Brigaden, Divisionen, tiefer, wohl nicht. Solche Rechenexempel sind oft leichter zu loͤsen, als die Aufgaben, z. B. des Schneiders, der bei einem Frack auch die Theile in der Hand hat, und wenn er das geistige Band, die Mode, so schoͤn mit ihnen zusammenschmilzt, wie kein Gene¬ ral seine einzelnen Positionen, doch nie so viel Unsterb¬ lichkeit damit einernten wird, als dieser General. Dar¬ um drehet sich Alles, was den Ruhm betrifft. Diese Logik mit imposanten Begriffen gehoͤrt dazu, um die Aufmerksamkeit zu erregen, das heißt, oft nichts, als Geburt, Gunst, Zufall, Anciennetaͤt. Dis wissen die Voͤlker, und sind seither so kalt geworden gegen die Groͤßen, welche ihre Situation patentirte; sie wollen nur die noch verehren, welche sich aus ihren angebor¬ nen Sphaͤren herausmachen und eigne Welten schaffen. Wellington . Dis ist der Grund, warum Wellington so unendlich klein gegen Napoleon, mit dem er rivalisirte, erschien: er hatte sich die Begriffe, mit denen er rechnete, diese Unterlagen seines Ruhms, die Armeen und die Kriege nicht selber gegeben, sondern sie waren ein anvertrautes Gut, eine Maschine, die in seinen Haͤnden die Opera¬ tionen machte, worauf sie abgepaßt und zusammenge¬ setzt war. Das Gewinnen von Schlachten sei etwas Leichtes fuͤr Jeden, welcher das Spielzeug einer Armee in Haͤnden hat, und seinen mathematischen Kursus machte, glauben die Englaͤnder, wenn sie uͤber die gro¬ ßen Siege ihres Herzogs spotten und uͤber seinen Ruhm die Nase ruͤmpfen. Betrachtet man das Werkzeug, mit welchem sich Wellington in die Jahrbuͤcher der Geschichte schrieb, so scheint auch hier auf den ersten Blick Alles dazu zu dienen, seinen Ruhm zu vermehren. Wer haͤtte eine große Meinung von der englischen Armee? Der Krieg ist in Großbritannien außer dem Ge¬ setze, außer der Verfassung. Das Militair, als ein Hinderniß der Freiheit betrachtet, entbehrt jenes oͤffent¬ lichen Stolzes, welcher auf dem Kontinent die Trup¬ pen bevorzugt; das Militair ist in England nicht ein¬ Wellington . mal im Stande, eine sociale Stellung zu behaupten. Zu diesem Nachtheil, den die Art der Rekrutirung, das Kantonnement und die Kaͤuflichkeit der Chargen nur noch vermehren, koͤmmt ein Heer zahlloser Mißbraͤuche, welches die Bemuͤhungen des Herzogs von York, der am Ende des vorigen Jahrhunderts das brittische Heer reformirte, nicht vollkommen haben abstellen koͤnnen. Die allgemeine Revolution der Kriegsverfassung, welche seit Napoleons Auftreten die Truppen des Kontinents ganz neu schuf, hat England nur zum Theil beruͤhrt, England, das zwar bei allen Kriegen gegenwaͤrtig war, das den Kontinent an allen seinen Ufern und Land¬ zungen mit Kriegern garnirte, und geruͤstet uͤberall aus den Nebeln des Meeres hervorblickte, und doch unbe¬ ruͤhrt von der großen ideellen Umwaͤlzung blieb, welche Napoleon unter seinen und den gegenuͤberstehenden Heeren beschleunigt hat. Die englische Armee stand, als Wellington anfing, mit ihr seine Wunder zu verrichten, noch auf dem Standpunkte der preußischen Truppen, welche vor Na¬ poleon fuͤr die klassische Armee Europa's gehalten wurde; ja selbst im gegenwaͤrtigen Augenblicke, wo Wellington mit seinem Spielzeuge, das ihm fast allein angehoͤrt, das Moͤgliche angestellt und seine verfaulten Wellington . Flecken reformirt hat, bleibt die englische Armee noch immer ein Amalgam, welches einen wunderlichen Ein¬ druck macht. Der Grund dieser Unzulaͤnglichkeit liegt in Din¬ gen, welche sich nicht ausrotten lassen, in der englischen Verfassung, die das Heer nicht beschuͤtzt, in der Stim¬ mung der Nation, die es nicht achtet, im Charakter des Landes, dessen Beschaffenheit kriegerische Evolutio¬ nen und Vorstudien nicht beguͤnstigt, und endlich im Wesen der Englaͤnder und Soldaten selbst, das sich nicht tilgen laͤßt. Die englische Armee hat weder den Instinkt der Ehre noch Gemeingeist; wenn sie stolz ist, so ist sie es auf Old-England, auf den Porter und die Beefsteaks der Heimath, auf die buͤrgerlichen Tugenden ihrer An¬ verwandten, welche zu Hause sind. Die Ehre kann nicht geweckt werden, da das Avancement dem gemei¬ nen Krieger verschlossen ist; der esprit de corps nicht, weil die Armee in ihrer Groͤße sich niemals gesehen hat, sondern uͤber alle Theile der Welt in kleinen Par¬ zellen zerbroͤckelt ist. Noch nie haben sich so viel Eng¬ laͤnder zusammenbefunden, als unter Wellington auf der pyrenaͤischen Halbinsel: der Kontinent kannte sie Wellington . bisher nur als Hilfsdetachements und Bundesge¬ nossen. Die Infanterie ist stark, aber schwerfaͤllig; die Ka¬ vallerie schoͤn, so schoͤn, daß die Franzosen sie mit dem romantischen Namen Lindors bezeichneten, aber sie greift an, wie im Wettrennen, sie haͤlt nicht Linie; sie hat außerdem keine schwere Kavallerie, und die Pferde ha¬ ben keine Schwaͤnze, was in heißen Laͤndern ein fuͤrch¬ terlicher Mangel ist; die Artillerie hat vortreffliches Material, aber in Spanien wußte man sie nicht zu verwenden, hoͤchstens zu Batterien, die unbeweglich wa¬ ren; endlich haben die Englaͤnder keine Belagerungs¬ kunst, keine Fortifikation, kein Genie, weil sie im Lande keine Festungen haben. Wenn man Alles bis in Anschlag bringt, so scheint es, als sei von der großen Meisterschaft des Herzogs von Wellington niemals zu viel gesagt wor¬ den; und doch hat das englische Heer Eigenschaften, mit welchen es alle uͤbrigen Armeen uͤbertrifft. Diese liegen alle in der Persoͤnlichkeit des Kriegers, in seiner kalten Unerschrockenheit und Todesverachtung. Dis ist nicht Servilitaͤt, wie bei den Russen, nicht Muth, wie bei den Franzosen, sondern Naturell. Die neunstraͤngige Katze, der Korporalstock, die empoͤrende Wellington . Behandlung des englischen Soldaten machten ihn nicht feig oder tuͤckisch, sondern dienten nur dazu, ihn in sei¬ nem Gleichmuth zu bestaͤrken. Der englische Soldat harrt auf seinem Posten aus, weil er in dem heftig¬ sten Feuer kalt bleibt, weil er von Natur auf der tief¬ sten Hogarthischen Stufe der Grausamkeit steht, und weil er zuletzt als Englaͤnder eine gewisse angeborene heilige Veneration des Gesetzes besitzt. Der Franzose thut Alles um die Personen, um seinen Feldherrn, um seinen Chef, und zuletzt um sich. Der Englaͤnder haßt diese Alle, auch sich, aber er be¬ folgt das Gesetz. Zum Franzosen kann man vor der Schlacht nicht genug sprechen, nicht populair genug sein, ein lakonischer Chef wuͤrde ihn außer Fassung bringen; der Englaͤnder ist froh, wenn er seine Be¬ fehlshaber gar nicht sieht, das Haranguiren ennuͤyirt ihn, ja die Schweigsamkeit wirkt auf ihn belebender, als eine Rede. Zu einem angreifenden Gebirgskriege, wie der spa¬ nische war, sind solche Eigenschaften kostbar, wenn sie auch zu einem vertheidigenden nicht passen moͤchten. Die Lebhaftigkeit des Franzosen, welche sich hie und dahin zerstreute, konnte zwar uͤberall sein, aber auch an hundert Orten geschlagen werden, eine Chance, in die Wellington . der Englaͤnder seltener kam, weil er fest zusammen¬ hielt, sich schwerfaͤllig bewegte und den Angriff im¬ mer so einrichtete, daß er mehr einer Vertheidigung gleicht. Der Stoicismus und das Phlegma des Eng¬ laͤnders sind zwei Waffen, welche ihn auf einem guͤn¬ stigen Terrain unuͤberwindlich machen; dis waren in Spanien zwei Waffen, auf welche sich die Franzo¬ sen, gewoͤhnt an die tumultuarische Kriegfuͤhrung der Eingebornen, nicht eingerichtet hatten; alle Regeln des Gebirgskriegs scheiterten an diesen Granitkolonnen, welche ein Feldherr nur aufzustellen brauchte, um sein Geschaͤft abzuthun. Wellington besitzt selbst diese laͤchelnde Kaltbluͤtigkeit im hoͤchsten Grade, welche ihm oͤfter siegen half, als sein Genie. Er stellte seine Truppen, und war gewiß, selbst durch die Fehler seiner Anordnungen zu siegen, da die Entscheidung fast immer verloren geht, wenn Feldherren die Fehler ihres ersten Entwurfes in der Schlacht selbst wieder gut machen wollen: die eiserne Konsequenz des groͤßten Fehlers bringt selbst den ge¬ wandten Gegner aus der Fassung. Wellington siegte uͤberall dadurch, daß seine Lands¬ leute zu stehen und zu feuern verstanden. Große Vor¬ theile konnte er damit nicht erringen; denn in der Wellington . That wußte Wellington niemals seinen Sieg zu be¬ nutzen; er gewann immer das Schlachtfeld; mehr wollte er nicht; er ließ seinem Gegner Zeit; sich zu sammeln, sich aufs Neue aufzustellen und wieder das alte Spiel zu beginnen. Es ist merkwuͤrdig, wie nahe sich die Schlachtfelder der Wellington'schen Siege lie¬ gen, wie zahllose Menschen er aufopferte, weil er von seinen Vortheilen und seinem Gluͤcke nicht den rechten Gebrauch zu machen verstand, wie haͤufig er das wie¬ derholte, was einmal gewonnen einem Feldherrn von Genie blut- und zeitsparende Vorspruͤnge gegeben haͤtte. Wenn ausgezeichnete Militairs versichern, daß Pic¬ ton, Crawfurd, George Murray und andere Generale, welche diese Feldzuͤge mitmachten, dieselben Erfolge ge¬ habt haͤtten unter diesen Umstaͤnden wie Wellington, so muß man das Gluͤck dieses Mannes hochpreisen, das ihm von allen Seiten lachte und ihn unterstuͤtzte. Er war der erste englische Feldherr, dem so zahlreiche Streitkraͤfte anvertraut wurden; alles, was die Ge¬ schichte von fruͤhern englischen Heeren erzaͤhlt, galt nur von 12 bis 18,000 Mann, die von Kontinentaltrup¬ pen unterstuͤtzt werden mußten, um agiren zu koͤnnen. Welche ungeheure Leidenschaften hatte nicht Wel¬ lington zu benutzen? Eine allgemeine nationale Ver¬ Wellington . zweiflung, Losungsworte auf Tod und Leben, eine Volksaufregung, wie sie die Geschichte selten gesehen hat. Dazu kamen fuͤr unsern torystischen Cid Cam¬ peador materielle Hilfsquellen, Mittel, zu verschwen¬ derischer Disposition gestellt; denn ohne Comfort und reichliches Auskommen giebt es keine englische Armee. Entbehrung und Unbequemlichkeit, Hindernisse, welche Napoleons unsterbliche Kolonnen mit dem leichtesten Muthe ertrugen, wuͤrden den Englaͤnder getoͤdtet ha¬ ben. Regelmaͤßige Mittagsmahlzeiten, vollkommne Por¬ tionen, kurz ein Ueberfluß, der die Fleischtoͤpfe Old- Englands nicht vermissen ließ, waren die Bedin¬ gungen, von denen Wellingtons Ruhm abhing. Er wußte dies, und kam bei Englands Reichthum nicht in Verlegenheit. Die Pferde der Armee fraßen in den Pyrenaͤen das Heu, das in Yorkshire gemaͤht war, und die Soldaten naͤhrten sich mit den Zwiebacken, die in Amerika gemacht waren. Die Hingebung des Parla¬ ments und des Ministeriums, der Haß gegen Napo¬ leon war so außerordentlich, daß man Millionen nicht scheute, um zu seinem Ziele zu gelangen. Wellington war frei von jeder Verantwortlichkeit; selbst von der seines Gewissens. Er verwandelte kalt¬ bluͤtig die fruchtbarsten Gegenden in Einoͤden, verschanzte Wellington . sich hinter den Linien von Torres Vedras mit seinen Tonnen Poͤkelfleisch, und richtete, um seinen Feind auszuhungern, eine Verwuͤstung an, welche jetzt noch sichtbar ist. Wo ihm seine eigenen Pferde im Wege waren, da befahl er den Leuten abzusitzen, den Hahn des Pistols zu spannen, kommandirte, und ließ die Thiere vor die Stirn schießen. Hier gab es keine Ver¬ antwortlichkeit mehr; alle Dinge waren ihm guͤnstig. Nun, dis ist, was alle Englaͤnder wissen. Sie wissen, daß sie ihrem Herzoge Alles gestatteten, daß sie selbst fuͤr ihn Alles gethan haben, und sprechen gering¬ schaͤtzig von dem großen Feldherrn der Allianz, der das Gluͤck hatte, in der seit Menschengedenken entscheidend¬ sten Schlacht bei Waterloo uͤber die kaltbluͤtigen Vierecke der Englaͤnder zu kommandiren. Seine ersten Sporen verdiente Wellington in einer Expedition nach Holland, wo seine Bewunderer, ob¬ schon er nur eine Brigade befehligte, doch schon einen Cyrus, Schulenburg, man kann hinzufuͤgen, einen Dembinski in ihm sehen wollten; denn es handelte sich um einen Ruͤckzug. Hierauf schiffte er sich mit seinem Bruder, welcher Generalgouverneur von Indien war, nach einem neuen Schauplatze seines wachsenden Ruhmes ein. Er half Wellington . Tippo Saib, einen Fuͤrsten, der in seinem Hasse gegen England nur von Napoleon uͤbertroffen wurde, in sei¬ ner Hauptstadt Seringapatnam belagern, und zeichnete sich bei der Erstuͤrmung derselben im Kommando indi¬ scher Hilfstruppen aus. Die Maratten boten neue Lorbeern an: Wellington leitete zum erstenmale eine Schlacht, die so originell geliefert wurde, daß seine Truppen uͤber die Feinde, die sich todt stellten, weggin¬ gen, und im Augenblicke der Siegerfreude im Ruͤcken von der wuͤthenden Maskerade angegriffen wurden. Die Kaltbluͤtigkeit der Englaͤnder rettete ihn; die Schlacht wurde gewonnen und Friedensunterhandlungen folgten. Auch bei diesen blieb die erste Rolle fuͤr Wellington, der sein diplomatisches Talent gegen die Maratten zu¬ erst ausbildete. Bathritter, beschenkt mit einer goldenen Vase und einem Diamanten-besetzten Ehrensaͤbel ver¬ ließ Wellington Calcutta, wurde bald darauf gegen das brennende Kopenhagen verwandt, und erhielt jetzt end¬ lich ein Kommando in der portugiesischen Expedition. Der Sieg von Vimeira machte ihn zum Oberge¬ neral derselben, und von diesem Augenblicke an begann er seine ruhmvollen Erfolge, die mit dem Tage von Waterloo endigten. Von nun an mußte er bei Allem gegenwaͤrtig seyn, was die Schicksale der Welt bestim¬ Wellington . men sollte: wenn man ihn zu Allem zog, so wußte man, daß das Gluͤck in der Naͤhe war. Die Kongresse nahmen ihren Anfang, jene chirurgischen Versuche, die Glieder des europaͤischen Staatskoͤrpers wieder einzu¬ renken. Wellington, wie ein Prinz von Gebluͤt behan¬ delt, mußte uͤberall seine Stimme zuerst geben, und man kann nicht laͤugnen, daß er sich dieser Macht mit Maͤßigung bediente. Der Grund war einfach. Waͤhrend die Alliirten in einer kosmopolitischen Aufwallung handelten, und von einer gewissen allgemeinen und gegenseitigen Gro߬ muth geleitet wurden, besann sich der Egoismus der englischen Politik zuerst von den poetischen Illusionen der heiligen Allianz, und verfolgte sein eignes insulari¬ sches Interesse, das nicht verschieden ausgefallen sein wuͤrde von der Gravitationspolitik des vorigen Jahr¬ hunderts, wenn es nicht das Beduͤrfniß eines allgemei¬ nen Kampfes gegen die Revolution wesentlich beschraͤnkt haͤtte. Man kennt die Protestationen der Castlereagh¬ schen Politik, Widerspruͤche, die man von dieser Seite nicht erwartete; aber es geht in England die Sage, daß der Torysmus allein im Stande seyn soll, eine imposante auswaͤrtige Politik aufzustellen. Dieser Wi¬ derspruch gab zu Mißverhaͤltnissen Anlaß, in welche Wellington . freilich Wellington verwickelt wurde, die aber die große Verehrung vor seinem Genie und Ruhm nicht verrin¬ gerten. Er wurde Feldmarschall fast aller Armeen des Kontinents, und uͤberall als der glaͤnzendste Gast der Residenzen empfangen. Seinem Vaterlande gegenuͤber ist Wellington der Erbe jener Grundsaͤtze, welche Pitt, Castlereagh und Liverpool hinterließen. Waͤre der Aristokratismus nicht etwas Angebornes, so haͤtte schon die Dankbarkeit den Herzog verpflichten muͤssen, die Rolle jener Staatsmaͤnner fortzufuͤhren. Sie waren es, deren unermuͤdlicher Eifer gegen Frank¬ reich seinem Ruhme Vorschub leistete, die einer bald schwaͤchern, bald staͤrkern Opposition gegenuͤber das po¬ litische System vertheidigten, welches Englands Finan¬ zen zu Gunsten der ruhmgekroͤnten Persoͤnlichkeit zer¬ ruͤttet hat. Wellington ist noch insbesondere der Repraͤsentant jenes militairischen Aristokratismus, der namentlich in einem gewissen andern Lande nicht fremd ist, und wel¬ cher die Devise fuͤhrt: „Was wollen jene Hallunken? Ein Paar Kartaͤtschenschuͤsse, und sie stieben auseinan¬ der!“ Dis ist die Politik der Faͤhndriche, eine Mei¬ nung, die auf der Wachtstube Wunder verrichtet. Wellington . Aber selbst Wellington ist nicht mehr Herr seines Hasses, wenn er der Stimme und dem Antlitze seines großen Volkes gegenuͤbertritt. Die Zunge versagt ihm, und seine fruͤhern Drohungen fallen nur leise und ge¬ maͤßigt aus dem unberedten Munde. Dis ist immer auf beiden Seiten der Fall gewe¬ sen, wenn entweder die Freiheit oder der Despotismus in die Lage versetzt wurden, gebieten zu koͤnnen. Der Demagogismus reagirt gegen sich selbst, wenn er das Portefeuille in die Haͤnde bekommt, und die Kontrere¬ volution erschrickt, wenn sie ploͤtzlich die Zuͤgel faßt, welche ihr im Privatstand dazu dienen sollten, ihre Gegner todt zu jagen. Als das Rasirmesser Castlereaghs das brittische Ministerium zerschnitt und Wellington mit Canning seinen Platz wechselte, entwickelte sich zuerst die poli¬ tische Meinung des Herzogs und seiner Opposition, zu jenem Schrecken, der sie jetzt fuͤr England ist. Es zeigte sich jene alte Wahrheit im neuen Beweis, daß die gluͤcklichen Feldherren gern die Bewaͤltiger der poli¬ tischen Rechte ihrer Mitbuͤrger werden, wie Camillus ein so großer Krieger und Feind der Volksfreiheiten war. Doch nach Cannings Tode wieder ins Ministerium berufen, hatte der Herzog nicht den Muth, seine Droh¬ Gutzkow's öffentl. Char. 11 Wellington . ungen zu erfuͤllen. Die Heiligkeit seiner Stellung uͤber¬ mannte ihn, die Verantwortlichkeit vor Millionen ist schreckhaft, er wurde wider Willen der Emanzipator Irlands. Was spaͤter folgte, ist uns Allen bekannt. Wir haben den Herzog mit zwei Knieen (es bedurfte nur ei¬ nes) vor Georg IV . sich beugen sehen, als er das Reichssiegel zuruͤckgab, haben die Wuth des Volkes erlebt, die Widerspruͤche im Oberhause und die uner¬ muͤdliche Championnerie des Lords Londonderry, den Todesstoß der Reformbill, die zweimal vereitelten Ver¬ suche in die Breschen des Whigismus einzusteigen, und jetzt einen Sieg, welchen wir fuͤr unmoͤglich hielten. Was folgen wird, liegt im Schooße der naͤchsten Zukunft und der naͤchsten Zeitungen. Gluͤckliche Fahrt fuͤr Robert Peel! Aber auch Gluͤck dem englischen Volke! Denn was ist der Sieg des Torysmus An¬ deres, als eine Chance des Fortschritts? als ein Sig¬ nalruf fuͤr die zerstreuten Parteien, welche in ihrer Liebe zum Volke nicht einig werden koͤnnen? Man kann dem Jahrhundert keinen groͤßern Dienst leisten, als wenn man es bekaͤmpft. Die Reaktion haͤlt die Kri¬ sis auf; aber sie macht sie reifer. Das englische Volk ist geruͤstet — ein Jeder steht auf seinem Posten — wir werden sehen. Daniel O'Connell. D as gruͤne Erin, dreifach geschuͤtzt durch einen Kranz von Untiefen, einen Wall von Klippen, und im In¬ nern durch ungebahnte Gebirgsstraßen, war bekanntlich nicht zu allen Zeiten eine Zugabe, welche England ins Schlepptau nahm. Bis zur Eroberung Wilhelms III . gehorchte es seinen eignen Clans, und behauptete bis zum Schluß des vorigen Jahrhunderts eine Unabhaͤngig¬ keit, welche wenigstens illusorisch und formell das be¬ saß, was die Aufhebung der Union ihm heute wieder verschaffen wuͤrde. Irland war mit seiner Unruhe, seinen barokken Einfaͤllen, mit seiner gluͤhenden katho¬ lischen Andacht immer bereit, die englische Politik zu durchkreuzen. Es war die Station des Papismus, die Freistatt religioͤser und politischer Emissaire, welche Frankreich oder Spanien sandte, und die den Adel und Pad mit seinem Irish Bull immer leichtsinnig, beweg¬ lich und bereit fanden, oft fuͤr den Hauch eines Ge¬ Daniel O'Connell . ruͤchtes, fuͤr eine leise und improvisirte Demonstration ins Feuer zu gehen. Wie oft sich auch die Irlaͤnder getaͤuscht sahen, und die Flotten, die ihren Empoͤrungen zu Hilfe kommen sollten, von den Bergen vergebens er¬ warteten, so gaben sie sich doch dem naͤchsten Priester mit fremdlaͤndischer Aussprache leichtsinnig wieder hin, und hofften, der heilige Patrik werde ihnen endlich auf einer Armada den katholischen Himmel, von welchem sie sich ganz ausgeschlossen fuͤhlen, zufuͤhren, und Alles ins Gleis bringen, was sie dann ohne Plan, tumultuarisch, auf eigne blutige Rechnung begannen. Die Erschlagenen heischten Vergeltung und die Rache gesellte sich zum Fanatismus. Das religioͤse Kolorit des Widerstandes verlor sich in den Hintergrund, und die franzoͤsische Revolution fand Irland reif zur Ansprache politischer Rechte. Die weißen Engel, die es erwartete, kamen nicht mehr aus Loretto und Compostella, son¬ dern die Emigration, die franzoͤsischen Lilien, welche Ir¬ land so geliebt hatte, daß es franzoͤsisch geworden waͤre, wenn man es nur haͤtte erobern koͤnnen, wandten sich nach St. James; die Revolution aber und der Atheis¬ mus landeten auf seiner Kuͤste, zogen ein Lager zusam¬ men und riefen zum allgemeinen Kampfe gegen Eng¬ land. So hatten die Rollen gewechselt. Daniel O'Connell . Aber die heterogenen Elemente einten sich nicht, die ganze Unternehmung scheiterte, und die Folge war fuͤr Irland die demuͤthigendste; denn es verlor den Schat¬ ten seiner eigenen Repraͤsentation, und mußte gleichsam Alles das entgelten, was England sich aͤrgerte, nicht uͤber seine amerikanischen Verluste verhaͤngen zu koͤnnen. Mit den beiden letzten Jahren des vorigen Jahr¬ hunderts hoͤrten die irischen Parlamente auf, deren pro¬ testantische Truͤmmer in das Unterhaus versetzt wurden. Die katholischen Vertreter von mehr als sechs Millio¬ nen wurden zuruͤckgewiesen, da sie ja an der Schwelle des englischen Parlaments den antipapistischen und sym¬ bolischen Eid nicht leisten konnten. Aus diesem Gewaltstreiche Pitts und des englischen Parlaments entwickelte sich der gegenwaͤrtige Zustand Irlands, eine Verwirrung, in welcher religioͤser Haß, nationelle Vorurtheile, Demagogismus und materielles Elend die ersten Rollen spielen. Die Geschichte hat es immer bewiesen, daß bis auf einen gewissen, ja vielleicht den aͤußersten Punkt die Ideen schlagender wirken, als sogar die Fragen der Existenz. Dis hungernde Irland, das sich von den wenig¬ stens fuͤr das Volk sparsamen Geschenken eines sonst Daniel O'Connell . fruchtbaren Bodens naͤhrt, dis breite Elend, das mit dem Leben wegen einer schmalen Rinde Brodes unter¬ handelt, um bei aller Noth doch noch dem unwider¬ stehlichen Zuge des Lichtes und der Luft zu folgen, die ringende Existenz wuͤrde vielleicht zuletzt auftreten, um den englischen Namen zu verfluchen; denn das, was im Menschen das Thierische ist, wird durch eine geheime Schaam verborgen gehalten, bis auf den letzten Fetzen, welcher noch hinreicht, die Bloͤße und das Gestell, worin wir uns thierisch alle gleich sehen, zu bedecken. Aber zur Empoͤrung treibt es, wenn dem glaͤnzenden genaͤhrten Leibe eine ideelle Entschuldigung gegeben wird. Der irische Bauer ertraͤgt den Reichthum neben sich und vermißt in der Lehmhuͤtte, neben seinem einzigen Besitzthum, einem Ferkel und einem Maaß Kartoffeln fuͤr den naͤchsten Tag, nichts von dem Glanze, uͤber den sein Vetter und Sohn, der in London Schuhe putzt, oder die Bettlerkunst mit witzigen Impromptus treibt, in ein schuͤchternes und uneigennuͤtziges Erstaunen ge¬ raͤth. Allein dem Gefuͤhle zugaͤnglich ist die rechtliche Beschoͤnigung des Elends, dem Gedaͤchtnisse steht die ganze Vergangenheit offen und saͤttigt es mit englischem Hasse. Die Zehntenfrage schlaͤgt in das Gebiet der Reli¬ Daniel O'Connell . gion uͤber, wo die kleine politische Reibung zuletzt un¬ versoͤhnlich wird. So oͤffnet sich bald der Blick. Ganz Irland sieht sich von Unrecht umschanzt, von einigen wenigen Fremden, welche den Reichthum und die Ge¬ setze in Haͤnden haben, welche fruͤher sogar ihre politi¬ schen Interessen vertreten wollten und deren Geistlichkeit, Pfoͤrtner eines verschmaͤhten Himmels, noch jetzt die Ge¬ faͤlle ihrer armseligen aber gutkatholischen Thaͤtigkeit eintreibt. Das Pachtverhaͤltniß, in England das Fundament der Verfassung, ist in Irland die offne Wunde, welche niemals heilt. Die Eigenthuͤmer des Bodens, meist Protestanten, oder der Adel des Landes, welcher seine Ehre darin sucht, in London die dritte Rolle zu spie¬ len, und am Glanze der Monarchie Theil zu nehmen, zerstuͤckeln ihre Laͤndereien, weil sie fuͤr große Pachtun¬ gen keinen wohlhabenden Mittelstand finden: die Kul¬ tur der kleinen Distrikte endet aber immer mit Zah¬ lungsunfaͤhigkeit, mit Auspfaͤndung, kurz mit der Grau¬ samkeit zweier Exekutoren, eines civilen und eines kirch¬ lichen, welche zur Verzweiflung treibt, und die Bruͤder¬ schaft der Weißbuben organisirt hat, einen fortwaͤhren¬ den Krieg gegen die Eigenthuͤmer und die nachfolgen¬ den Paͤchter, einen Krieg, der, wenn auch zuruͤck ge¬ 11 ** Daniel O'Connell . schlagen von den Rothroͤcken, sich doch immer wieder in den Schluchten der Gebirge zusammen findet. Diese sogenannte praͤdiale Agitation ist es, vor wel¬ cher die politische, der Demagogismus in gesetzlichen Formen, immer so emphatisch zu warnen pflegt, und welche doch der eigentliche Ruͤckhalt und gefuͤrchtete Bundesgenosse des letztern ist. Wenn auch die politi¬ sche Agitation immer die Gesetze im Munde fuͤhrt, so wuͤrde sie doch bei Weitem nicht das imposante An¬ sehen haben, wenn ihre Demonstrationen nicht durch eine ununterbrochene Kette von Excessen unterstuͤtzt wuͤrden. Ihre Verwahrungen sind nur formell und un¬ vorgreiflich: die politische Agitation, welche wir fortwaͤh¬ rend mit England oͤffentlich unterhandeln sehen, ist nichts als der gesetzmaͤßige Ausdruck dieser halben In¬ surrektion, der unantastbare Sekundant der Flinten¬ schuͤsse, welche naͤchtlich in die Pfarrein und Pachthoͤfe fallen, der gesicherte Stab einer immer bloßgegebenen Chouanerie. Der erste Sprecher aber und Parlamen¬ tair dieses gesetzmaͤßigen Demagogismus ist das irische Omega: Daniel O'Connell. Wer mit den Begebenheiten, die durch eigne oder benutzte Leidenschaften in der Geschichte hervorgerufen worden sind, vertraut ist, weiß, daß fuͤr die Dema¬ Daniel O'Connell . gogie eine Menge von Regeln vorhanden sind, welche systematisch zu ordnen keine muͤßige Erfindung ist. Das Betragen der Pisistratiden, des Perikles, der Antonius und Octavius steht auf der einen Seite, und wird auf der andern von Cleon, von den Gracchen, Catilina, von Orleans und Mirabeau ergaͤnzt. Hier ist nichts ohne Plan und Methode, hier ist nicht Alles bloße Willkuͤhr und hingestellte Absicht, sondern die Dema¬ gogie hat so gut ihre Macchiavellismen, wie die Auto¬ ritaͤt, welche sich erhalten will. O'Connell hat die Geschichte mit dieser Ruͤcksicht studirt, kann aber zu dem uͤberlieferten Systeme so viel Neues geben, daß wir einsehen, eine Agitation, wie die seinige, ist noch nicht vorhanden gewesen. Das Neue liegt bei ihm in seiner wunderbaren Stellung, in dieser kron- und scepterlosen, aber darum nicht we¬ niger anerkannten Herrschaft uͤber Millionen, in diesem Vertrauen eines ganzen Volkes, das seinen Guͤnstling und Fuͤrsprecher sogar aus eine Civilliste setzt, welche ihm den Schein eines angestammten Herrschers gibt. O'Connell ist den alten Demagogen schon darin ungleich, daß er bei aller Genugthuung seines persoͤnli¬ chen Ehrgeizes doch nicht darauf denken kann, fuͤr sich ein positives Resultat, irgend eine Wuͤrde oder erbli¬ Daniel O'Connell . ches Ansehen, kurz mehr zu erobern, als fuͤr sein Va¬ terland die unbestrittene Moͤglichkeit, sich bequem und mit Vorsorge fuͤr das allgemeine Wohl und die Ver¬ kuͤrzung des Einzelnen fuͤr die Zukunft einzurichten. Der Zweck seiner Agitation kann niemals die Devise Dan I. gewesen seyn, eine humoristische Schilderhebung, welche auf die Rechnung des Irish Bull koͤmmt; son¬ dern das Ganze ist, die genannte Zukunft sowohl zu befestigen, als zu beschleunigen. O'Connell sieht ein, daß sein ganzes System auf drei Grundsaͤtze zuruͤckkommen muß: auf die Nothwen¬ digkeit, die Wunde immer in eiterndem Zustande zu er¬ halten, auf den Schein der Gesetzmaͤßigkeit und auf die Sicherung seiner Person. Irland weiß, daß es seine Konzessionen nur er¬ zwingen kann, und daß das Drohende in der Masse liegt; daher O'Connells nie ermuͤdende Aufforderung Vereine zu bilden, und durch Symbole das auszu¬ druͤcken, was nur durch die Versoͤhnlichkeit noch in sei¬ nen Schranken zuruͤckgehalten wird. O'Connell draͤngt in allen oͤffentlichen Reden, nichts ohne den Schutz der Gesetze zu thun, und das Unrecht dadurch zu entkraͤf¬ ten, daß man es durch seine Beobachtung aufreibt. Er lockt die englichen Macbeths gleichsam durch eine Un¬ Daniel O'Connell . moͤglichkeit, daß Birnams Wald auf Dunsinan heran¬ kaͤme, und behauptet, nur die wuͤrden sie besiegen, welche nicht geboren sind vom Mutterleibe, und doch steckt hinter diesen Prophezeiungen eine delphische Schlauheit. O'Connells Gesetzmaͤßigkeit und Scheingebung er¬ reicht oft einen Grad, wo sie nahe an Satyre streift. So organisirte er z. B. kurz vor der Emanzipation das katholische Irland in der Absicht, die Aufregung ins Hoͤchste zu steigern; doch druͤckten seine Statuten gerade das Gegentheil aus von dem, was er wollte, so daß er dem Feindlichen Namen gab, die nicht freund¬ schaftlicher klingen konnten. „Alle katholischen Irlaͤnder, sagte er, alle die, welche eine moralische, politische und religioͤse Reform wollen, moͤgen sich — in Haufen von hundert und zwanzig Personen vereinigen. Diese hundert und zwan¬ zig Personen moͤgen dann unter sich einen Anfuͤhrer unter dem Namen Friedensstifter waͤhlen, der seine kirchlichen Obliegenheiten treu erfuͤllt, und wenigstens einmal des Monats zur Beichte geht.“ Der Kontrast dieser Bestimmung mit dem, was sie eigentlich sagen soll, gibt ihr eine laͤcherliche Wir¬ kung; aber sie bezeichnet vollkommen O'Connells Sy¬ Daniel O'Connell . stem, der den Einfluß der Gesetzmaͤßigkeit auf die Masse kennt, und davon uͤberzeugt ist, daß man theure und werthe Dinge der Kuͤhnheit nicht opfern duͤrfe. Selbst seinen Egoismus hat O'Connell verstanden an das Interesse der Allgemeinheit zu knuͤpfen. Er legte gerade so viel Werth auf seine Nothwendigkeit fuͤr die irische Sache, als zugleich hinreichend ist, seine eigne Person in Sicherheit zu bringen. Waͤhrend sein Mund mit dem Stachel eines feinen und spitzen Ac¬ cents nicht muͤde wird zu verwunden, und er mit scho¬ nungsloser Haͤrte jenseits in Irland das wieder erzaͤhlt, was er an Personen und Begegnissen in London erfah¬ ren hat, so gibt er nicht einmal die beguͤtigende For¬ mel hinzu, womit so viel untadelhafter Mißbrauch ge¬ trieben wird, daß er naͤmlich Keinen habe beleidigen wollen, sondern gesteht mit leiser Stimme zu, daß die Ausforderung an der rechten Stelle ist; zuckt aber dann die Achseln, sieht gen Himmel und ruft schmerz¬ lich aus: „Ich habe einmal einen Menschen erschossen, den Squire Desterre im Jahr 1812; die Kugel ging ihm mitten durchs Herz, und seitdem hab' ich der heiligen Mutter Gottes von Kirkpatrik gelobt, jedes Menschen¬ blut zu schonen!“ Daniel O'Connell . Was laͤßt sich dagegen sagen? Mit diesem seinen scheinheiligen Spiele, hat O'Connell ein Privilegium der uͤblen Nachrede, und bedient sich desselben verschwen¬ derisch, ohne seine Haut zu Markt zu tragen. Man muß eingestehen, daß dis eine fuͤr den Demagogen unerlaͤßliche Maaßregel ist; denn wo sollten seine In¬ vektiven hinaus; wenn er der Klinge jedes Faͤhnrichs von der Gegenpartei, der ihn insultirte, stehen muͤßte, oder keine Aeußerung uͤber Personen geben duͤrfte, ohne dabei fortwaͤhrend sein Leben als Siegel und Zeugniß einzusetzen? Das Bequeme und Behagliche dieser Maxime koͤmmt auch nicht einmal als Feigheit heraus; denn mit dem Herzen des Squire Desterre hat es ganz seine Richtigkeit, und Jedermann weiß davon. Einen großen Vorsprung in der Erfuͤllung seiner Aufgabe findet O'Connell namentlich in den Resten, welche ihm von seiner ersten Erziehung geblieben sind. Denn obwohl Advokat seinem Gewerbe nach, so kam doch die Peruͤcke dieses Amtes auf ein Haupt, das durch die Tonsur schon fuͤr den Priesterstand bestimmt war. O'Connell, der Sohn einer angesehenen, aber nicht vermoͤgenden Familie, sollte die Weihe nehmen und wurde deshalb, wie fast alle jungen irischen Geist¬ lichen, in dem franzoͤsischen Seminar zu St. Omer er¬ Daniel O'Connell . zogen. Der große Agitator hat einst das Meßgewand getragen und bei den Responsorien sich in der Kunst geuͤbt, zur rechten Zeit einzufallen, ohne welche man schwerlich ein gutes Parlamentsglied werden kann. O'Connell ging vom Studium des Missale auf die hei¬ ligen Vaͤter uͤber, auf Chrysostomus und Augustinus, wo ihm gewiß bei der Lektuͤre des Traktats de Civitate Dei die politischen Folgerungen noch ganz fern lagen. Man sagt, daß der junge Priester mit voller Hinge¬ bung seinen geistlichen Studien obgelegen haben soll, und kann deshalb auch nur in der naͤchsten Aufregung Irlands, in den Unabhaͤngigkeitskaͤmpfen von 1798 den Grund finden, warum er das weite Gewand des Se¬ minaristen von den Lenden that und sie mit dem Schwerte des Advokaten guͤrtete. Diese energische Anlage der Natur, diese gluͤhende Phantasie mußte einen andern Ausweg finden in einer Zeit, wo es fuͤr einen Peter von Amiens und Bern¬ hard von Clairvaux keine Kreuzzuͤge mehr zu predigen gibt. Aber das Priesterliche steht dem Agitator durch Kunst und Natur noch immer zu Gebot, und hilft ihm, die Gemuͤther der katholischen Menge zu erobern. Er ist ein Enkel des heiligen Patricius im Glauben des Volks, ein politischer Luther des Katholicismus. Daniel O'Connell . Die Parole, welche ihn uͤberall empfaͤngt, ist: Gott und O'Connell! Man sollte es nicht glauben, wenn man die par¬ teiischen und doch wieder so indifferenten Berichte der Zeitungen hoͤrt, welche Alles herunterziehen in Alltaͤg¬ lichkeit und Zweifel, daß O'Connells Name Wunder wirkt; ja der Fluch der Politik, daß man immer drau¬ ßen seyn muß auf dem laͤrmenden Markt, und sich immer preisgeben an die taͤgliche Neugier des Specu¬ lanten oder Kannengießers, zieht auch eine solche Er¬ scheinung, wie die O'Connells, in die spoͤttische Beur¬ theilung herab, und hat uns laͤngst erkaͤltet in der Wuͤrdigung dieses Mannes, der uns zu viel im Vor¬ grunde steht, der sich uͤberall praͤsentirt. Allein man abstrahire einmal von der Journali¬ stik, von den Intriguen der Londoner Kabinetszusam¬ mensetzungen, von der Taktik im Unterhause, und gehe nur zuruͤck auf Irland, so sieht man, wie O'Connell den Schmutz des englischen politischen Lebens vom Leibe schuͤttelt, sich ganz auf die Hingebung seiner gro¬ ßen Aufgabe isolirt, und mit einem gluͤhenden, an¬ daͤchtigen und ungluͤcklichen Volke zusammenschmilzt, das ihn anbetet, dessen Sprache er redet, und in des¬ sen Anschauungen er lebt. Gutzkow's öffentl. Char. 12 Daniel O'Connell . O'Connell soll aus seinem katholischen Glauben sich keinen deistischen Hausbedarf herausgenommen ha¬ ben; wie denn seine ganze Opposition keine Prinzipien¬ tendenz, sondern eine historische Nothwendigkeit ist, zu deren Organ ihn der Zufall oder das Geschick machte. Wenn sich O'Connell ganz an die natuͤrliche Empfin¬ dung seines Volkes hingibt, so ist weder von einem Jakobiner noch von einem Jesuiten ein Schein vor¬ handen; er reduzirt sich dann selbst auf eine hinreißende Einfachheit, welche ihm im Parlament, im Gewuͤhle von tausend gemachten, gelogenen und kuͤnstlichen Dingen schon die glaͤnzendsten Triumphe verschafft hat, und wovon man erst juͤngst wieder eine Probe hatte, als er uͤber die Fuͤsilirten von Rathcormac so wahre und wehmuͤthige Worte sprach. Dis ist der Rest, der O'Connell vom Priester ge¬ blieben ist; ein Schluͤssel, der ihm die Herzen seines Volkes oͤffnet: nicht pfaͤffischer Trug, sondern aͤchte Salbung und geistliche Versoͤhnung. Bei der Emanzipation Irlands lag das Historische weniger in dem Resultat. Denn den Voͤlkern ist es beim Stande der gegen¬ waͤrtigen Aufklaͤrung keine Ueberraschung mehr, wenn Daniel O'Connell . die Unterschiede des Glaubensbekenntnisses politischen Rechten keine Schranken geben sollen. Nur die Thatsache des Siegs war uͤberwaͤltigend, weil die Inkonsequenz der verweigernden Partei reich seyn mußte an Folgerungen, welche der Hoffnung auf die Zukunft und der Macht der andern Partei zu Gute kamen. Die Nation sah, daß das große Wort des Torysmus der Stimme des Volks gegenuͤber ver¬ stummen mußte, daß die Stimme der Parteien sich nach den Zeichen des Wendekreises richtet, in welche sie gerade tritt; daß es etwas Unwandelbares gibt uͤber dem Lager der Eifersucht, welches sich Weg bahnt, auch ohne den Anrufenden die Parole des Tages zu sagen. In der That glauben wir an eine tiefe Macht der Geschichte, welche verborgen ist, maulwurfsartig, wie der Geist im Hamlet, eine heimliche Kraft, welche sich selbst erzeugt und an das Werdende, an die Par¬ tei, an die Unversoͤhnlichkeit immer in der Form des Unerlaͤßlichen spricht, und die Nothwendigkeit der Kon¬ zessionen mehr herausstellt als ein gezogenes Schwert oder auflodernde Brandstiftung. Dis verhuͤllte Gesetz der Voͤlkerschicksale kann einen Augenblick hindurch einmal der Bundesgenosse irgend 12 * Daniel O'Connell . eines Feldgeschrei's seyn; doch ist es so goͤttlicher Na¬ tur und rein von den sich draͤngenden Leidenschaften, daß es selten auf der Seite des Siegers steht, des Siegers, welcher befestigen will, was er eroberte, der von dem Weltgeiste schon laͤngst wieder verworfen ist und Raum machen muß, waͤre es auch vor dem Sy¬ steme des Widerstandes; vor einem Systeme, das der verborgenen Macht unterster Handlanger ist, weil es die himmlische, die ideelle Negation, die Negation des Fortschrittes repraͤsentirt in ihrer aͤußerlichen Art, als irdische Negation, als Negation der Leidenschaft, der Thorheit und der Unverbesserlichkeit. So strauchelte auch der Torysmus nicht an der Uebermacht seiner Gegner, sondern an dem, was un¬ erlaͤßlich geworden war. Die zwischen Wellington und Winchelsea gewechselten Pistolenschuͤsse waren das iro¬ nische Laͤcheln des verborgenen Geistes, welcher auf die Maͤnner der Geschichte druͤckt wie ein Alp. Die Emanzipation der Katholiken ist eine Garan¬ tie, daß die Geschichte nicht mehr gemacht wird durch eiserne Charaktere, welche sich wechselsweise vernichten und die Herolde der Revolutionen sind, sondern durch Girouetten, die durch ihre Gegenwart ihre Vergangen¬ heit Luͤgen strafen, durch Fahnen, welche fuͤr ihre De¬ Daniel O'Connell . vise zum Tode geschworen hatten und von einem Winde gedreht werden, von dem man nicht weiß, von wan¬ nen er koͤmmt und wohin er faͤhrt. Parteien sind nur die Werkzeuge der organischen Natur der Geschichte, welche von innen heraus die Voͤlker begluͤckt, frei macht, der Wahrheit den Sieg gibt und in England auch die Emanzipation und die Reform schuͤtzen wird. Die Theologie bestreitet vielleicht, daß das Paradies am gesichertsten ist, wenn man die gefallenen Engel zwingt, sich mit stammenden Schwertern zu seinem Schutze zu stellen. Ueberhaupt welche Rolle spielt die Theologie in den Stuͤrmen unsers modemen Lebens! In England und Irland sieht man eine Geistlichkeit, welche des Erloͤsers Spruch laͤngst vergessen, daß sein Reich nicht von dieser Welt ist. Diese Kirche hat die Versuchung in der Wuͤste nicht uͤberstanden: das Fuͤllen der Eselin und die Thraͤnen von Gethsemane kennt sie nicht. Mit rauschenden Gewaͤndem wallt sie durch die Saͤle der Herodes, und findet einen Triumph der Religion darin, mit den Gastmaͤhlern der Landpfleger zu wetteifern. Das bischoͤfliche Pallium ist uͤber weltliche Kleider ge¬ zogen, und in den politischen Fundamenten des Got¬ Daniel O'Connell . tesdienstes das Heilige der Konsequenz der Heiligkeit so sehr vergessen, daß sich der Protestantismus nicht schaͤmt von einer Gemeinde bezahlt zu werden, welche ihn ver¬ kezzert, und fuͤr das Abendmahl einen Wein vom Ka¬ tholizismus zu nehmen, der im Genusse desselben Hei¬ denthum sieht. Denn es kuͤmmert freilich keinen Kauf¬ mann, einen verfluchten Heller in seiner Kasse zu ha¬ ben; doch sollte der Priester heilig achten das Nehmen und das Geben, beides nach dem guten Willen. Hier ist die Religion keine Troͤsterin mehr und die unsicht¬ bare Pforte der Ewigkeit, sondern eine Komman¬ dite jener Wechselhaͤuser, die Christus aus dem Tem¬ pel trieb. Und wer haͤtte noͤthiger fuͤr sein Allerheiligstes zu sorgen, als die Kirche? Wer setzt sich hin als das Unterpfand, daß sich das Christenthum in seiner welt¬ historischen Stellung erhaͤlt? Wer kann die Zeichen deuten, welche heraufziehen an dem Horizonte der Ge¬ muͤther und von dem Evangelium Merkmale verlan¬ gen werden, welche einst da waren (denn das Evange¬ lium war fuͤr die Ewigkeit) und welche verloren gegan¬ gen sind, waͤhrend die Juͤnger schliefen? Unsre Zeit, vor einer uͤberstarken, vereinzelten und inquisitorischen Alleinherrschaft der Kirche durch die Daniel O'Connell . Vernunft gesichert, will das Heilige vom Weltlichen trennen, damit das Eine nicht in des Andern Sturz hineingezogen werde. Die Trennung von Kirche und Staat ist wahrlich eine Forderung, die nicht von der Feindschaft ausgeht. Die englische Hochkirche hat ei¬ nen Kampf zu bestehen, der damit enden wird, daß ihre Heiligthuͤmer in den Koth geworfen werden. Man wird die goͤttliche Offenbarung mit rohen Haͤnden be¬ tasten, und den Himmel wie die Goͤtzen behandeln, welche der Muselmann unter dem Sattel eines erleg¬ ten afrikanischen Heiden findet. Wer das Christenthum liebt, ja selbst der, der es mehr als weltgeschichtliche Evolution betrachtet, oder es als eine zaͤrtliche, sagenreiche Mutter, von welcher euer Geist die erste Nahrung sog, mit kindlicher Theilnahme anschaut, sieht mit Schmerz diese Gewitter heraufzie¬ hen, welche damit enden werden, daß das Himmlische sich wieder zuruͤckziehen muß in die Schlupfwinkel der Berge, in dunkle Verstecke, aus welchen das Wild des Waldes stutzig auffaͤhrt, in eine Einsamkeit, die nicht eher aufhoͤren wird, ehe sich die Pluͤnderung nicht legte und die Entwuͤrdigungen der Ewigkeit von der rohe¬ sten Nemesis zerrissen sind. Betet, daß dieser Kelch voruͤbergehe! Daniel O'Connell . Man kann sich von diesen Gedanken nicht losma¬ chen, wenn man jenes Gemisch des Heiligen und Welt¬ lichen sieht, welches in England die Tagesordnung ausmacht. Wir glauben nicht, daß sich O'Connell seine große Aufgabe durch solche Betrachtungen truͤben wird. Er sieht eine Wirklichkeit vor sich, welche maͤchtig genug ist, ihn an den Augenblick zu fesseln, und seine Thaͤ¬ tigkeit in einzelne kleine Theile zu zerstuͤckeln. Dis ewige Wiederaufnehmen einer und derselben Frage, diese Wiederholungen von Dingen, welchen man erst Glau¬ ben schenkt, wenn sie zum Gemeinspruch geworden sind, dis Geizen mit dem Verschwenderischsten, das uns zu¬ fließt, mit der Zeit, haͤtte Jeden Andern bis zum Tod ermuͤdet. Die Dinge standen schon oft in Irland so auf der Spitze, daß die organisirte, in Banden und Uniformen das Land durchziehende Menge nur das Signal der ersten Ordner zu vollstaͤndiger Rebellion erwartete. Welches Gefuͤhl, wenn die Vernunft und die Einsicht in den Thatbestand dem kommenden Ereignisse dann wieder in die Speichen fiel, den Lauf der Dinge zu hemmen gebot, und nothwendige Ruͤckschritte nach sich zog, weil es keinen Stillstand in Begebenheiten gibt, Daniel O'Connell . die wie geladenes Feuergewehr drohen, und nur der Leute Muth oder Befehl gewaͤrtig sind! Man sprach auch schon oft davon, daß O'Connel dieser kleinen Schritte ruͤck- und vorwaͤrts herzlich muͤde sei und sich sehne nach Derrinane, an das Meeresufer und die aͤußerste Spitze Europa's gegen Amerika hin, in den Schoß einer zahlreichen Familie, die das ein¬ same Kloster und die labyrinthischen Nebengebaͤude sei¬ nes Wohnortes — eine architektonische und reizende Vermischung von Feudalismus und Bequemlichkeit — in Karawanen besucht, und sich Recht sprechen laͤßt in Familienzwisten von ihrem Advokaten-Priester, der ein patriarchalisches Ansehen unter ihnen genießt. Doch die Schuͤrzung des Knotens, die immer ver¬ worrener wird in England und Irland, ruft ihn wie¬ der zuruͤck auf die Hustings der großen Nationalver¬ sammlungen, auf die Praͤsidentenstuͤhle der politischen Gelage, aus den Sitz im Parlament. In London ver¬ wickelt er sich dann in die Intriguen der Parteien, die seine Stimme erobern moͤchten, und durch Ehrenbezeu¬ gungen einen Naturmenschen in Verlegenheit setzen. In London strauchelt er hie und da auf dem schluͤpfri¬ gen Boden der Debatte und Vorberathung: er soll dem Einen zusagen, was er schon dem Andern versprochen Daniel O'Connell . hatte, er soll es zuweilen vergessen, da einzufallen, wo man seiner bedarf, er soll bald die Radikalen compro¬ mittiren, welche ihm ihre taktischen Angriffe, bald die Minister, welche ihm ihre Geheimnisse anvertrauten. Das Ministerium Grey, so denkwuͤrdig mehr durch seine Nothwendigkeit als durch seine Individualitaͤt, ging an des Agitators Unbedachtsamkeit zu Grunde, da er in Dublin unter den Seinigen immer das zu bereuen pflegt, was er in London zugelassen hat. Diese Unbehaglichkeit einer unheimischen Stellung ist der Grund, warum O'Connell nie zu einer großen Macht im Unterhause gelangt, in irischen Angelegen¬ heiten ausgenommen, wo er der Kern eines langen Schweifes ist, der ihm treu bleibt, weil er sich zuletzt in die Nebel enger Verschwaͤgerung und Blutfreund¬ schaft verliert. O'Connells Zuͤge klaͤren sich auf, wenn sich das Ende der Session naͤhert; dann sieht man ihn schneller durch die Straßen Londons schreiten, die brei¬ ten Schultern wiegend, den Regenschirm wie ein Feld¬ wanderer uͤber die Achsel gelegt, oder damit gegen die Luft fechtend, ein irisches Volkslied summend und be¬ gruͤßt von seinen Landsleuten, den Savoyarden Englands. Er fuͤrchtet die Heimath nicht, ob er gleich schon Daniel O'Connell . oft ihr versprochen hat, sie in sechs Monaten zu dem gluͤcklichsten Lande der Erde zu machen, und im Par¬ lament die kleinste Beschwerde aufzuheben, die den Kleinsten druͤckt. Die Voͤlker tragen nichts nach: sie tragen O'Connell nicht nach, daß er einst vor Georg IV. kniete, weil er versichert, daß er sich jetzt dessen schaͤme: sie tragen ihm die Zwangsbill nicht nach, gegen die er erst stimmte, und deren Erneuerung er spaͤter zuzulassen versprach; denn sie wissen, daß er es auf Rechnung groͤßerer Zugestaͤndnisse that, zu welchen sich die Verwaltung bereit erklaͤrt hatte. Keine Macht ist gegen den guten Willen nachsichtiger, als das Volk, das sich in seiner Gesammtheit zu stark und zu gro߬ muͤthig fuͤhlt, die Schwaͤche eines Einzelnen zu ruͤgen. O'Connell kennt diese sanfte und linde Moral der Voͤlker, und ordnet sich deßhalb der Laune seiner Na¬ tion gaͤnzlich unter. Man hoͤre, wie er zitternd ein¬ lenkte, als seine neuliche Erklaͤrung uͤber den Zehnten auf einen Augenblick seine Zuhoͤrer staunen machte! Wer sich in die Seele großer Maͤnner zu versetzen weiß, wird eine Thraͤne uͤber jenes ungerechte Oh! nicht haben zuruͤckhalten koͤnnen; denn wenn es schmerzlich ist, die Treue verkannt zu sehen, so ist es noch schmerz¬ licher, wenn die Treue den Schein der Dienstbarkeit Daniel O'Connell . oder der Entaͤußerung eines gigantischen Willens an¬ nehmen muß. Aber Reibungen dieser Art vergehen wie die Laune einer Geliebten. O'Connell erreicht jetzt sein sechzigstes Jahr; ein Siegeskranz wird dem alten Kaͤmpfer gereicht von ei¬ nem Volke, dessen Sklave zu sein er sich uͤberwinden konnte. Die Magnete von Millionen Herzen werden einst seinen Sarg sichtbar schwebend erhalten, wie den des Propheten in der heiligen Mekka. Doctor Francia. A m glaͤnzendsten entfaltete sich die Macht des Chri¬ stenthums, wo es nicht zu dem Schwerte des Kriegers oder den Wuͤrden der europaͤischen Monarchien seine Zuflucht nahm, sondern zu seiner eignen Naivetaͤt und den Nuͤrnberger Spielsachen, durch welche es verbreitet worden ist unter den Indianern der neuen Welt. Die Missionarien aller Konfessionen gingen auf den Ursprung der Lehre zuruͤck, auf Jesus, den Sohn eines Zimmermanns, auf die Fischer, auf die Zoͤllner, denen die Gnade der Visionen zuerst geworden war. Das Christenthum warf seine Infuln und Tiaren ab, das bischoͤfliche Pallium und die sammtenen Maͤntel der Kardinaͤle und zeigte sich flink, handwerklichen Ur¬ sprungs, in Hemdaͤrmeln, und half, ruͤstig die Axt schwingend, die Urwaͤlder lichten, der Civilisation Wege bahnen, Huͤtten bauen und die Felle der Thiere gerben, um sich gegen Pfeile, die Mosquitos und den Regen Doktor Francia . zu schuͤtzen. Jede einzelne Profession der Apostel kam hier wieder zum Vorschein. Und wie man die Baͤume faͤllte, toͤdtete man die weinende Dryade und das Heidenthum; wie man an Bloͤcken schaͤlte, um Kanots zu bauen, erzaͤhlte man von dem See zu Kapernaum und dem Wassertreter Petrus; wie man sein Vesperbrod aß, erzaͤhlte man die Wunder der Speisung, die Geschichte von den dreitau¬ send Mann und den fuͤnf Broden, die Weinmetamor¬ phose; und wenn zuletzt der Abend kam und die Sonne ins Meer tauchte, dann setzten sich die from¬ men Wilden und ihre neuen Priester unter das Dach einer Baniane und sprachen von Gott, von der Mensch¬ werdung, und dem ewigen Leben, indem sie hinauf¬ zeigten auf das Firmament, auf die Sterne, die an dem naͤchtlichen Himmel auftauchten. Die Propaganda war es, die in Amerika dem Ka¬ tholicismus Triumphe verschaffte, gegen welche die Kaͤmpfe mit Kaiser und Reich, mit Ghibellinen und Ketzern werthlos sind. Die Schuͤler Loyola's erkennt man jenseits des Ozeans nicht wieder. Vergessen sind die fuͤrstlichen Beichtstuͤhle, vergessen die Grundsaͤtze macchiavellistischer Prinzenerziehung, vergessen die Principien des Koͤnigs¬ Doktor Francia . mordes und ihre Opfer, Ravaillac, Clement: und nichts ist zuruͤckgeblieben, als der wahre Grundsatz der Ge¬ sellschaft Jesu, die Aufklaͤrung und das Beduͤrfniß mit der Tradition und dem Dogma zu verbinden. Jede andere Ordensregel haͤtte Suͤdamerika zu Grunde gerichtet: die Dominikaner haͤtten zu viel Glau¬ ben verbreitet, und die Benediktiner zu viel Wissen¬ schaft. Die Jesuiten, diese weltlichen, mit dem Kon¬ flikt der Zeit vertrauten, man moͤchte sagen protestan¬ tischen Priester des Katholizismus, halfen allein; denn sie waren praktisch, thaͤtig, gingen nicht barfuß, ver¬ langten nicht die ewige Rotation des Rosenkranzes um die Achse einer traͤgen Hand, sie griffen zu Karst und Spaten, und lehrten die Voͤlker, nicht nur selig, son¬ dern auch gluͤcklich werden. Die Kloͤster wurden die Stationen der sich Bahn brechenden Civilisation. Der Glaube war nur das Zubrod der erleichterten Existenz, er wurde nur gepredigt durch Beispiel, durch die Ver¬ pflichtung zur Dankbarkeit, und durch Sitten, welche sich von selbst milderten. Suͤdamerika ist die Schoͤpfung des edelsten Jesui¬ tismus, und nur diejenigen, welche kein Heil fuͤr die Menschheit sehen, ehe ihr nicht so gepredigt wird, wie in der Leipziger Nikolaikirche oder im Dome von Mag¬ Gutzkow's öffentl. Char. 13 Doktor Francia . deburg, werden das Bewundernswuͤrdige dieser Thatsache nicht zu schaͤtzen wissen. Ein großer Theil des Unterschieds der suͤdamerika¬ nischen Revolutionen von dem Befreiungskampfe und der gegenwaͤrtigen Stellung der Vereinigten Staaten entwickelte sich auch zunaͤchst aus der kirchlichen Ver¬ fassung der spanischen Kolonien. Ueberall wo keine Vertheilung des Eigenthums herrscht, wo unermeßliche Laͤnderstrecken von dem Winke eines Einzigen abhaͤngen, hat die Revolution leichtern Vorschub; aber sie greift auch nicht tief hinunter in die Masse, welche von den Parteikaͤmpfen der Aristo¬ kratie nur insofern beruͤhrt wird, als sie von der letz¬ tern abhaͤngig ist. Das Geheimniß der polnischen In¬ surrektionen, die sich so schnell aufsattelten, liegt in die¬ ser Verfassung, so wie man auch in England eine kompakte, rebellirende Majoritaͤt sehen wuͤrde, wenn die Revolution ausginge von der Aristokratie. Eben so ist das Verhaͤltniß auf der negativen Seite. Der Widerstand ist leichter organisirt bei gro¬ ßem Besitz, und die katholische Kirche da, wo sie in Suͤdamerika nicht civil und wie der Jesuitismus blos paͤdagogisch geworden ist, konnte aus dieser Ruͤcksicht nur stoͤrend auf den Gang der Begebenheiten einwir¬ Doktor Francia . ken. Ihr großes Ansehen ist ihr geblieben, und die neue Ordnung der Dinge hatte sich ihr erst da ver¬ soͤhnt, als der Katholizismus in allen diesen schnell etablirten Staaten als offizielle Religion anerkannt wurde. Man schließt hieraus, wie unvorhergesehen die ganze suͤdamerikanische Emanzipation war, wie vieler aͤußerer Umstaͤnde sie bedurfte, um sich zu entwickeln, und wie lange es waͤhren kann, ehe die untern Ele¬ mente jene Konturen ausfuͤllen werden, welche fuͤr Suͤdamerika in einer genialen Improvisation gezogen worden sind. Nordamerika hatte an einer langen Vorbereitung zur Revolution erstarken koͤnnen: es hatte durch Jour¬ nale und die veroͤffentlichte Opposition freisinniger Be¬ amten sein Urtheil bilden koͤnnen; es war in politischer Ruͤcksicht befestigt, und hatte das Prinzip der Repu¬ blik uͤberall schon anerkannt, ehe man an einen Namen fuͤr die freien Verhaͤltnisse dachte. Dagegen war in Suͤdamerika das neue Ereigniß ein Facit der verschiedensten Umstaͤnde, ja sogar das Facit einer Menge von augenblicklichen Verlegenheiten, fuͤr welche sich keine andere Abhilfe finden ließ, als eine revolutionaire. Die Erschuͤtterungen des Mutter¬ 13 * Doktor Francia . landes waren in den Kolonien ohne Berechnung, so daß die Pflicht der Unterthaͤnigkeit an sich selbst irre werden mußte. Die Schiffe, welche von der Halbin¬ sel kamen, brachten die verschiedenartigsten Nachrichten. Wenn sich die Junten kaum fuͤr Ferdinand gegen Carl erklaͤrt hatten, so vernichteten die Traktate von Bayonne wieder ihren besten Willen, und zwangen sie, fuͤr Jo¬ seph Partei zu nehmen. Entschied nun die Gaͤhrung, die allerdings nicht fehlte, dennoch fuͤr die entsetzten Koͤnige, so war hier die Revolution Folge des legitim¬ sten Signals, und mußte zuerst damit enden, daß man die Autoritaͤt der Cortes anerkannte. Bald waren aber auch diese, bei ihrer heillosen, karthaginensischen Politik, die Colonien in Fesseln zu halten, wieder eine Parole der Regierungsgewalten, eine offizielle Berufung; aber wie lange? Bis die Restauration Luft geschoͤpft hatte, die Cortes abschaffte, und jene Behoͤrden in den Bann erklaͤrte, welche doch legitim handelten, und aus Ver¬ zweiflung, dem Gange der Ereignisse auf der Halbin¬ sel zu folgen, jetzt sich ohne Weitres der erstarkenden Prinzipienrevolution in die Arme warfen. Hier ist es, wo wir wieder kirchlichen Boden un¬ ter uns spuͤren, und zwar mit Fruͤchten, welche un¬ glaublich scheinen, denn Alles, was an Tendenz, an Doktor Francia . Prinzip sich in Suͤdamerika vorfindet, was aus dem Enthusiasmus neuer Ideen dort entstanden ist, war die Folge des Jesuitismus, und jener Bildung, die man auf den Universitaͤten von Cordova, Cartagena und Mexico erhalten konnte. Das kosmopolitische Prinzip des Loyolismus bil¬ dete sich allmaͤhlich zu einer freien Weltansicht aus, zu einem System der Menschenrechte und zu einer Ver¬ ehrung jener Literatur, welche auch in Europa die mor¬ schen Fundamente des politischen Gebaͤudes zu benagen anfing. Obschon so weit von Rom und Sparta ent¬ fernt, schwaͤrmte man doch fuͤr Montesquieu; der feurige, leidenschaftliche Creole wurde elektrisirt von dem Rousseau'schen retournons à la nature ; und die Werke von Robertson und Raynal studirte er mit um so groͤßerer Hingebung, als sie fuͤr Amerika selbst ge¬ schrieben waren. Aber hier ist es auch, wo wir stehen bleiben muͤs¬ sen, um den Schluͤssel zu einem verschlossenen Charak¬ ter und einem verschlossenen Lande zu finden. Bis auf die Encyklopaͤdie, vielleicht noch bis zur Deklaration der Menschenrechte, reicht die Bildung, deren genialste und originellste Repraͤsentation wir in Don Jose Gas¬ par Rodriguez Francia wiederfinden. Die Schreckens¬ Doktor Francia . herrschaft ist so eben angebrochen; Robespierre schreitet stolz einher mit dem Blumenstrauß am Fest des hoͤch¬ sten Wesens; der Despotismus der Tugend und Be¬ scheidenheit ist die blutige Ordnung des Tages. Die Gironde ist schon hingeopfert — Doktor Don Corne¬ lio Saavedra — Marat starb in seinem Blute — Doktor Don Mariano Moreno — Danton ging un¬ ter, weil er den Gott im Laster suchte — Doktor Ca¬ stelli. Die todtbleiche, grausame Maͤßigung Robes¬ pierre's herrscht — Doktor Francia — denn wie Fran¬ cia wuͤrde Robespierre geherrscht und geglaubt haben, die Menschen gluͤcklich zu machen. Hier hat die Militairherrschaft noch nicht begonnen; der kriegerische Ruhm gibt noch keine Anspruͤche, Na¬ poleon ging noch nicht uͤber den Symplon. An Paraguay jagten Siege und Niederlagen vor¬ uͤber — San Martin, ein jugendlicher Held, noch ein keuscher und aufrichtiger Revolutionair, wie die Keller¬ mann und Marceau, die gegen die Vend é e kaͤmpf¬ ten; dann die drei Heldenbruͤder Carrera, schon ange¬ steckt von dem Beispiele Napoleons, aber Napoleons so, wie er noch Bonaparte hieß, knabenhaft langes Haar trug und so schuͤchtern war, daß sich erst Weiber in ihn verlieben mußten, um seine Tapferkeit an den Doktor Francia . Tag zu bringen; dann Bolivar, Sucre, la Mar, Ga¬ marra, alle napoleonisirend und eifersuͤchtig, der auf den ersten Konsul, der auf die Nebenbuhlerschaft Klebers und Moreau's, der auf den grauen Oberrock und den kleinen Hut, der auf die Kroͤnung, und zuletzt Jtur¬ bide, eifersuͤchtig auf den Gipfel des Unglaublichen, auf die Hoffnungen von 1812, und so fruͤh geknickt, wie diese. Alle diese unermeßlichen Reiche mit ihren dreifachen klimatischen Zonen, mit ihren Goldadern, Krokodilen, Riesenschlangen und Mosquitos, zerschellen an einan¬ der, und die Freiheit siegt nur negativ, indem ihre An¬ walde unterliegen, und die Zonen, die sie begluͤcken will, kleiner werden. Fahrt hin! Wir stehen noch am Rio de la Plata und seinen Nebenfluͤssen, an den Zweigen der Andes, welche nur silberne Wurzeln haben, in den mannshohen Pampas¬ wiesen und den unermeßlichen Stromebenen, an deren Horizonte eine Wolke fliegt, bergend den Gaucho auf dem muthigen Rosse, und den amerikanischen Strauß, den Jaguar, im Sturmfluge, in dem Lande der „gu¬ ten Luͤfte,“ in Buenos-Ayres, in der silbernen, argen¬ tinischen Republik. Die Direktorialregierung von Paraguay entwickelte Doktor Francia . sich schon aus den ersten Kaͤmpfen der spanischen Ko¬ lonien mit dem Mutterlande, auf demselben Wege, welchen wir schon nannten, dem der Verlegenheit, wie man sich bei den Umwaͤlzungen der Halbinsel zu ver¬ halten habe. Paraguay war eine Provinz vom ehemaligen Vi¬ cekoͤnigreich von Rio de la Plata, und riß sich von der spanischen Herrschaft los, indem es ruhig den Er¬ eignissen folgte, welche von der Hauptstadt dieser gro¬ ßen Statthalterschaft, von Buenos-Ayres, ausgingen. Man klaͤrt sich deshalb am besten uͤber den Ursprung der Herrschaft des Doktor Francia auf, wenn man im Stande ist, sich uͤber die Revolution von Buenos-Ay¬ res eine richtige Vorstellung zu machen. Von der argentinischen Republik ging die Befrei¬ ung Suͤdamerika's aus: ihr erster Versuch gelang, und die Interessen kreuzten sich hier gerade so wunderbar, daß die Freiheit auch gleich fuͤr die Zukunft gesichert war. Denn nicht nur, daß die spanische Besatzung geringer war als auf der westlichen Kuͤste, in den gold¬ haltigen Koͤnigreichen; auch die Einmischung Englands und Portugals, welche beide nicht ohne Treulosigkeit und Interesse verfuhren, leistete der Revolution den gluͤcklichsten Vorschub. Von den ersten Kaͤmpfen ge¬ Doktor Francia . gen den Koͤnig der Fluren, den ritterlichen und kuͤhnen Artigas, bis zu dem Augenblick, welcher fuͤr die Unab¬ haͤngigkeit der rechte schien, verwickelten sich die Inter¬ essen unaufloͤslich. Die Vicekoͤnige loͤsten sich ab, waͤhrend die alten Befehlshaber sich kaum befestigt hatten; und die nach¬ folgenden kamen ohne Vollmachten, da sich der Zustand der Parteien fortwaͤhrend veraͤnderte. Der Franzose Liniers vertheidigte eine Zeit lang die Anspruͤche Euro¬ pa's, und waͤhrend man glauben mußte, daß er die Kolonie fuͤr die Usurpation seiner Landsleute retten wollte, stellte sich weiter heraus, daß er Bourbonist war, und an den alten spanischen Thron dachte, ja sogar an Brasilien, von wo aus die intrigante und leidenschaftliche Mutter der beiden feindlichen Bruͤder von Oporto ihre Minen springen ließ. So wirrte sich Alles in einen labyrinthischen Knaͤul zusammen, aus welchem die Staatsklugheit keinen Aus¬ weg mehr fand, nur die Freiheit, welche die Ruͤcksich¬ ten durchhieb, da sie nur der Zukunft und sich selbst verantwortlich war. Zu gleicher Zeit, am Schluß des ersten Decenni¬ ums unsers stuͤrmischen Jahrhunderts, traten in Cara¬ cas, in la Paz, Quito, Bogota und in Chile Regie¬ Doktor Francia . rungsjunten zusammen, und in Dolores stand der Maͤr¬ tyrer der mexicanischen Freiheit, Hidalgo, auf, um bald auf dem Blutgeruͤst Zeugniß zu geben von dem, was die Zukunft an seinem Tode raͤchen wuͤrde. In Buenos Ayres aber, wo nun die zweifarbige, blau- und weiße republikanische Fahne wehte, ging die Revolution einen gemaͤchlichen und bequemen Gang. Die Militairherrschaft war uͤber Suͤdamerika noch nicht angebrochen, weil weder die Propaganda der Losreißung noch der spanische Widerstand recht organisirt waren. Hier lag noch Alles in den Haͤnden einzelner von der oͤffentlichen Stimme bevorzugter Advokaten: nicht ein¬ mal die Kaufleute, wie in Bolivia, mischten sich ein, das System aber, das man bei diesen civilen Bewe¬ gungen befolgte, war jenes, das Fouch é einst zum gro¬ ßen Aerger des Kaisers und zu seinem eignen Nach¬ theil bezeichnet hatte. „Wenn ich sterbe, Fouch é ,“ fragte Napoleon vor der Geburt des Koͤnigs von Rom, „was werden Sie thun?“ „Sire,“ antwortete der Chef der geheimen Polizei, der sich hier selbst verrieth, „ich werde so viel Gewalt an mich reißen, als mir nur moͤg¬ lich ist.“ Das that man in Buenos-Ayres: man theilte sich in die Revolution, und Francia bewies, daß er die Doktor Francia . Grundsaͤtze herrenloser Zeiten vortrefflich inne hatte. Er schnitt die noͤrdliche Provinz von Buenos-Ayres, Paraguay, gaͤnzlich von dem weitern Verlauf der Be¬ gebenheiten ab, und beeilte sich, seine Eroberung inner¬ lich zu befestigen. Die Bewegung in den andern Provinzen war im¬ mer noch civil: immer noch begleiteten buͤrgerliche Be¬ vollmaͤchtigte, wie die ehemaligen Konventsdeputirten in Frankreich, die Kriegerhaufen, welche den spanischen Heerfuͤhrern die gluͤcklichsten Treffen lieferten, revolu¬ tionirten das Land und leiteten den Prozeß der Gefan¬ genen ein, welches immer ein ganz kurzer war. Fran¬ cia uͤberließ die Vertheidigung seines Erbtheils den Dok¬ toren und Advokaten von Buenos-Ayres, seinen Uni¬ versitaͤtsfreunden aus Cordova, und studirte ruhig in Assumcion den Macchiavell. Erst als die thaͤtigen Provinzen ausruhten, und man der spanischen Unmacht im Lande so gewiß war, daß man den aͤchten Libertador Suͤdamerika's, San Martin, uͤber die Anden und den Desaguadero in die Goldlaͤnder schicken konnte, da sah man in Buenos- Ayres ein, daß die prokonsularische Herrschaft von Pa¬ raguay eine schlechte Konsequenz der neuen Dinge sei, Doktor Francia . und schickte den General Belgrano ab, diese Provinz mit Waffengewalt der Centraljunta einzuverleiben. Noch hatte Francia kein Blut gesehen, und fuͤrch¬ tete die blinden Entscheidungen des Mars; deshalb griff er zu alten historischen Listen, forschte in Roms Geschichte vom Trasimenersee bis zu den Tagen von Capua, und leitete eine ganz humane, unblutige My¬ stifikation ein. Er stellte dem anruͤckenden Zuge keinen Widerstand entgegen, Tage lang nicht, bis derselbe in einer Nacht dicht vor Assumcion stand, und sich uͤberall von Feuer¬ zeichen auf den Bergen umgeben sah. Waren dis Maͤhrchen aus Cornelius Nepos? Wa¬ ren dis die gluͤhenden Stiere des Hannibals? Oder die zahllosen Aufgebote eines allgemeinen Landsturms? Der Exekutionsgeneral erschrak, nahm den Rath des Doktors an, der ihm laͤchelnd Proviant und Ge¬ schenke fuͤr die Junta in Buenos-Ayres und seine ter¬ roristischen Schulkameraden anbot, und zog sich, bis an die Graͤnze von Paraguay von der Illumination der Berge ringsum begleitet, in seine Kasernen am Rio de la Plata zuruͤck. Die Mutterrepublik hatte inzwischen ihren langwie¬ rigen Kampf mit dem rivalisirenden Montevideo begon¬ Doktor Francia . nen, sie mußte alle ihre Streitkraͤfte gegen Brasilien wenden, welches Anspruͤche machte auf die Banda Oriental. Diese Zwistigkeiten waͤhrten bis zum Jahr 1828, wo endlich der Friede von Rio de Janeiro der jungen Republik Athem schaffte. Rechnet man die Anstrengungen hinzu, welche die Propaganda nach Westen hin kostete, so begreift man, wie viel Zeit die Usurpation von Paraguay gewann, sich zu befestigen, sich chinesisch gegen das Ausland und die schwankende Tagesgeschichte abzuschließen, und einen Zustand zu erhalten, der uns fuͤr den vulkanischen Bo¬ den von Suͤdamerika unmoͤglich scheinen moͤchte. Paraguay selbst ist einer der fruchtbarsten Binnenstriche von Suͤdamerika. Reichthum der Vegetation wie uͤber¬ all in diesem gesegneten Welttheile. Die großen Ebe¬ nen beguͤnstigen die Zucht der Stiere und Pferde, de¬ ren Haͤute nebst dem beruͤhmten Paraguaythee die Han¬ delsartikel des Landes bilden. Warum mußte auch Bonpland so neugierig sein, und die Theepflanze so sorgfaͤltig beobachten! Man hielt ihn fuͤr einen Feind des Nationalreichthums und des persoͤnlichen Einkom¬ mens des Diktators; denn er selbst, der Doktor, ist erster Theehaͤndler und Staatsgerber. Man glaubte Doktor Francia . ihm nicht, daß er nur die Akademie, die Verbesserun¬ gen Linn é 's, und die Wissenschaft im Auge hatte. Die Bewohnerzahl ist gering, und geht kaum uͤber eine halbe Million hinaus; Creolen, Mestizen, Farben¬ schattirungen aller Art begegnen sich in Assumcion; der Rest auf dem Lande sind Indianer, zahme, halbzahme und wilde. Diese letztern koͤnnen, wie die Darmstaͤdter das R, das F nicht aussprechen, wobei also das Staatsoberhaupt immer um einen Buchstaben zu kurz kommt und keineswegs an die Freiheit, die in seinem Namen liegt, erinnern kann. Die Wilden von Paraguay haben einen großen Theil der baroken Natursitten Amerika's: ihre Frauen essen kein Fleisch, gleichsam um nicht zu verwildern, sie lassen nur ein Kind aus ihren Ehen leben, eine Gewohnheit, welche der Malthusschen Klage abhilft, aber fuͤr den Flor und die Statistik des Staates we¬ nig guͤnstig ist. Viele dieser Staͤmme sind noch nicht einmal mit dem Christenthum bekannt, woraus man auf den Be¬ kehrungseifer der Jesuiten schließen kann. Diese ehr¬ wuͤrdigen Vaͤter wollten die Voͤlker erst gluͤcklich ma¬ chen, ehe sie ihnen erlaubten, mit dem Rosenkranze zu spielen. So koͤmmt es, daß Paraguay der Antipode Doktor Francia . von Tibet ist, daß der Doktor nicht blos fuͤr einen Doktor der Theologie, sondern fuͤr die Theologie selbst gehalten wird. Eine satanische Ironie! denn Francia ist Atheist; aber keine Seltenheit fuͤr Amerika; lebte doch einer der geschaͤftigsten Gotteslaͤugner der Revolution, Billaud- Varennes, nachdem er proskribirt war, und auf den Azoren sich geuͤbt hatte, Papageien abzurichten, lange Zeit bis zu seinem Tode unter den Indianern, welche ihn, den Atheisten, als Schoͤpfer Himmels und der Erde verehrten! Man sieht, welcher Maaßstab an jene hermetisch verschlossenen Wunder von Paraguay gelegt wer¬ den muß. Ist Francia ein Tyrann? Ein Usurpator wie Cromwell? Nein, er ist ein Philosoph, der mit der Menschheit experimentirt. Ihr seyd immer gewohnt, nach Euch die Menschen zu beurtheilen, und sprecht von Francia wie von ei¬ nem Verraͤther an Euern eignen Grundsaͤtzen. Klingen nicht Eure Vorwuͤrfe, als verginge sich jener Doktor an seinem Diplom und an seinem Hute, als glaubtet Ihr, man koͤnne doch Schiller und Goͤthe oder den deutschen Liberalismus auch wohl besser verstehen, als so! Doktor Francia . Nein, wir kennen Francia: es ist Robespierre, der ploͤtzlich unter die Menschen Rousseau's versetzt wird: es ist Robespierre, der Lockes tabula rasa neu beschrei¬ ben und fuͤllen soll. Es ist eine Herrschaft, von der Ironie praͤsidirt, und grausam nur dann, wenn sich die Langeweile oder hypochondrische Laune des geistrei¬ chen Geistlichen regt. Oder wollt Ihr in ihm keinen Mann der Revo¬ lution und Jesuiten sehen, dann nehmt ihn als Phi¬ losophen! Ich rede nicht von Seneca, der den Mord einer scheußlichen Mutter, aber einer Mutter! gut hieß; nicht von den flammenden Scheiterhaufen des Servet in Genf; denkt an Plato und die Republik mit ihren Grundzuͤgen fuͤr jede Tyrannei; denkt an seinen Verkehr mit Dionys, oder an jenen andern Dionys, der von Blut troff und doch so viel Kennt¬ nisse besaß, in dem genialen Korinth noch Schulmei¬ ster werden zu koͤnnen, oder an Phalaris und seinen gluͤhenden Ochsen und die Pythagoraͤische Philosophie! Denkt an Macchiavell und den Sprung von den Dis¬ kursen uͤber Livius zum Fuͤrsten! Oder an Baco von Verulam, den Verfasser des Organons und den eng¬ lischen Kanzler! Ich thue nichts, als die Ahnen Fran¬ cia's aufzaͤhlen. Doktor Francia . Francia's Herrschaft ist das ernsthafte Mittel zu einem Scherz. Francia lacht unter seinen Wilden, die das F nicht aussprechen koͤnnen, und wenn die from¬ men Mestizen eine neue Kirche bauen wollen, nur dann ist er ungluͤcklich und ruft aus: „Wann werden die Menschen aufhoͤren blind zu seyn! eine Reihe von Geschuͤtzen an der Graͤnze ist besser, als alle Heiligen. Ich erinnere mich nur noch dunkel jener Zeit, wo ich wie Ihr ein Katholik war!“ Dis ist Francia, von welchem man geneigt ist, zu sagen, seine Herrschaft waͤre priesterlich und ein Triumph der Bigotterie. Nein, Anarcharsis Cloots ist Diktator eines Naturstaates geworden und fordert die Langmuth des Himmels heraus, dessen Blitze er seinen Untertha¬ nen aus physikalischen Ursachen erklaͤrt. In der That man muß gestehen, wenn jene Wei¬ berrepublik am Amazonenstrome eben so erwiesen ist, wie diese humoristische Herrschaft des Doktor Francia, dann wird Amerika nicht nur der Sitz der Freiheit, sondern auch der der Wunder werden. Francia fuͤrchtet nur Einen Feind: die Macht des Beispiels, die unwiderstehlich ist in schwach organisir¬ ten Staaten, und unter rohen Naturvoͤlkern, welche Gutzkow's öffentl. Char. 14 Doktor Francia . den Instinkt der Masse haben und durch fremde Ent¬ schließungen gern die eigenen entschuldigen. Die neuen Republiken rings um Paraguay her schritten ihrer innern Vollendung immer naͤher, wenn man die blutige Reaktion der Demokratie und der Creolen gegen Militairherrschaft so nennen darf. Fran¬ cia fuͤhlte es, daß er vor diesem Miasma nicht sicher war, und entschloß sich schnell zu Konzessionen, die aber so schlau und widerhakig angelegt waren, daß sie ihm ein Mittel zum Gegentheil dessen, was sie schienen, werden mußten. Mit der Verschlagenheit eines Menenius Agrippa ging er hinaus zu dem Volk, das er im Geist schon auf dem Mons sacer versammelt sah, und gab eine allgemeine Repraͤsentation zu, welche aus Urwahlen hervorgehen sollte. Statt des bisherigen kleinen Se¬ nats, der seine Macht unterstuͤtzte und die Last der Geschaͤfte theilte, berief er tausend Abgeordnete aus al¬ len Theilen seines Landes in die Hauptstadt. Hier be¬ willkommte er sie wie ein Mann von Welt, redete sie mit Hoͤflichkeiten an, durch die sie in Verlegenheit ge¬ setzt wurden, sprach von dem Beruf der Regierung, wie von einer Praͤdestination des Genie's, und dann wieder wie von dem Resultate solcher Kenntnisse, die Doktor Francia . freilich daheim in seinem Urwalde Niemand erlangt ha¬ ben konnte. Er legte ihnen Traktate vor in den aus¬ laͤndischsten Sprachen, citirte die oͤkonomischen Schrif¬ ten Xenophons, um einen kleinen Geldposten des Bud¬ gets zu erlaͤutern und verlangte von ihnen, daß sie uͤber Adam Smith und den Physiokratismus ihre Stimme abgeben sollten. Dazu kam noch, daß sein drittes Wort Uneigennuͤtzigkeit war, und er von den Deputirten so viel Patriotismus verlangte, daß sie keine Entschaͤdigung in Anspruch nehmen durften. Da sehnte sich dann Jeder aus der theuern Haupt¬ stadt nach seinem Meierhof zuruͤck: Jeder fuͤhlte, daß ohne Diaͤten und Kenntnisse auch die Demokratie eine unvollkommene Verfassung waͤre, und in einer der schoͤnen suͤdamerikanischen Naͤchte, beim Scheine der Laternenkaͤfer und goldglaͤnzenden brasilianischen Nacht¬ falter waren die Deputirten, die Revolution und die Unbequemlichkeiten des Philosophen von Assumcion ver¬ schwunden. Wir wollen uns wohl huͤten, zu scherzen, wenn Francia seine Indianer erschießen laͤßt, die sich unter¬ stehen, ihn anzublicken. Wir koͤnnen nur nicht zuge¬ ben, daß Francia eine angeborne Grausamkeit besitzt. Solche Erscheinungen, wie Nero und Francia, 14* Doktor Francia . fuͤhren tief in die Schlupfwinkel der menschlichen Seele ein, wo das Ausgezeichnetste in Bildung und Phan¬ tasie oft mit Leidenschaften gepaart ist, fuͤr welche sich keine andre zureichende Erklaͤrung finden laͤßt, als oft nur boͤse Laune der Einsamkeit und der Kitzel, ge¬ rade das zu versuchen, was die taͤgliche Gewohnheit unversucht laͤßt. In der Vorstellung Hamlets, bei ge¬ sunder Vernunft den Narren zu spielen, lag eine ge¬ heime Wollust fuͤr den daͤnischen Prinzen. Allerdings ist ein so arbitraires, launenhaftes Re¬ giment, wie das von Paraguay, ein Ungluͤck fuͤr die Menschheit; aber man verberge sich nichts: eine Allein¬ herrschaft, voruͤbergehend wie die von Paraguay, eine Herrschaft des Genie's und der Kraft, ist zur Zeit noch die gluͤcklichste Chance der jungen Freiheit Suͤd¬ amerika's. England lernte seine Magna Charta erst durch die Tyranneien der Heinrich, Elisabeth, Jakob und Karl schaͤtzen, erst durch langjaͤhrige falsche und rechte Berufung wurde die Freiheit aus einer Abstrak¬ tion eine juristische Gewohnheit. Suͤdamerika hat das Interesse einer dauernden Zer¬ spaltung: die Freiheit begluͤckt nur kleine Kreise. Diese unermeßlichen Laͤnderstrecken muͤssen sich in kleine Di¬ strikte theilen, wo sich die Freiheit anbauen laͤßt, wie Doktor Francia der Kohl, den man unter seinem Fenster wachsen, bluͤ¬ hen und gedeihen sieht. Francia haßt die Monarchie als Prinzip; er haßt die Aristokratie; er ist ein Repraͤsentant jenes sonder¬ barsten aller Despotismen, der die Welt frei machen will mit Gewalt und gluͤcklich mit Zwang. Er wirkt in seinem Lande Vortreffliches, Vorbereitungen fuͤr die blaue Zukunft, er betreibt die Kultur des Landes und der Geister, er will Menschen schaffen, welche der Frei¬ heit wuͤrdig sind. Francia experimentirt. Er haͤlt mit seinem Lande Schule. Schon ruͤckte es eine Klasse hoͤher; denn der Han¬ del mit dem Auslande ist seit einigen Jahren freigege¬ ben: solche Konzessionen sind hier, wie Noten, welche bei der jaͤhrlichen Pruͤfung dem Fleiße eines Schuͤlers gegeben werden. Francia waͤre gluͤcklich, wenn er stuͤrbe und koͤnnte seine Schuͤler sich selbst uͤberlassen; aber so fuͤhlt er, daß sie noch immer nicht reif genug sind, und mußte sich entschließen, noch in seinen ho¬ hen Tagen, in seinem siebzigsten Jahre, ein junges Maͤdchen zu freien, um einen Nachfolger erzielen zu koͤnnen. Man denkt sich hier den alten Spanier, wie den Doktor Bartolo, mit rothen Struͤmpfen, lockiger Pe¬ Doktor Francia . ruͤcke und im langen Mantel: oder wollt Ihr einen edleren Vergleich, wie den alten Dogen von Venedig, der als siegesmuͤder Loͤwe noch mit einer frischen jun¬ gen Gazelle spielt. Der Diktatorsessel von Assumcion wird aber wohl sicher seyn vor den Epigrammen eines Steno, und der alte Herr noch recht lange die Freude haben, sich von der jungen Englaͤnderin, die er heirathete, im Barte krauen zu lassen, bis er einst hingeht zu seinen Freunden Robespierre und Billaud-Varennes. Armand Carrel. A themlos in einer ewigen Bewegung draͤngen sich die Aeußerungen des politischen Lebens in Frankreich, so daß selbst der Umfang von Paris nicht groß genug zu seyn scheint, fuͤr jede derselben einen hinreichenden Raum zu lassen. Nichts ist dort vollstaͤndig: weder der Sieg noch die Niederlage. Jener muß darauf verzichten Triumphe zu feiern; diese haͤlt nur in der Stille ihre Leichenbe¬ gaͤngnisse. Auch fuͤr den Contrast ist nicht Raum genug da. Die Masse der Interessen, innerlich verwandt, oft nur ein Mehr oder Weniger, schattirt sich ineinander, so daß die Extreme durch eine lange Kette von Mittelgliedern das Unversoͤhnliche ihres Abstandes zu verlieren scheinen. In jedem andern Lande wuͤrde eine Erscheinung, wie der juͤngste Prozeß des National vor der Pairs¬ kammer, entscheidende Folgen gehabt haben; uͤberall, wo 14 ** Armand Carrel . Raum ist, wo man noch athmen kann und nicht ge¬ druͤckt wird von zahllosen Intriguen und Bestrebungen, haͤtte dis Schauspiel die oͤffentliche Meinung besiegt; denn im Contrast liegt fuͤr die Gemuͤther eine unwi¬ derstehliche Wirkung, weil sie poetisch ist. „Wir — die Maͤnner des National!“ — welche Bruͤcke fuͤhrt zu dieser stolzen Emphase? Welche Ver¬ bindung gibt es, um mit dieser kalten Resignation zu unterhandeln? Namen, welche als Parlamentaire kom¬ men wollten, werden durch diese Phrase, zusammenge¬ setzt aus Stolz, Verachtung und Drohung, zuruͤckge¬ wiesen; Ereignisse, welche jenes schroffe Jenseits er¬ obern moͤchten, koͤnnten es nur, wenn sie der Zukunft angehoͤren. „Wir — die Maͤnner des National!“ — ein Con¬ trast, der uͤberall siegen wuͤrde; der aber in Paris durch oͤffentliche Blaͤtter, durch gesellschaftliche Beruͤhrungen und tausend Seiden der Freiheit gebrochen wird, und nichts zuruͤcklaͤßt, als die Ordnung eines Tages und eine Besorgniß, welche leichtsinnig der Strudel der Be¬ gebenheiten wieder fortspuͤlt. Man sahe einen Tag lang die Maͤnner des Na¬ tional als eine repraͤsentirte Macht; umgeben von Bun¬ desgenossen und Sympathien, welche uͤberraschen; ein¬ Armand Carrel . gerichtet, schlagfertig, nur des Augenblicks, der nicht fehlen kann, harrend; man sahe diese schroffen Vernei¬ nungen vor den Schranken des hoͤchsten Gerichtshofes, die rechte Hand im Brustlatz, die Linke vornehm uͤber den Ruͤcken geschlagen; man sahe diese bleichen Antlitze, welche die Farbe der Kerkerwaͤnde, ihrer Heimath, tru¬ gen; diese scharfen und gepreßten Lippen, um welche hundert Verdicte serviler Geschwornen ein ironisches Laͤcheln unvertilgbar eingegraben haben; diese Relais und Vorposten einer Zukunft, die wenn man sie nicht zu Fuß holen will, wie Mirabeau sagte, zu Pferd kommen wird; man sprach von diesen geheimnißvollen Physiognomien einen Tag, troͤstete sich, daß was kom¬ men mag, unvermeidlich ist, und kehrte zuruͤck zu sei¬ ner Boutique, zu seinem Kinde, das sich auf die Weihnachtszeit freute, zu seinen Goͤnnern, zu seinen Kunden, zu dem ganzen Statusquo des Augenblicks, der sich fortwaͤlzen muß ohne Stegreif und Zufall. Fuͤr die Tausende, welche davon gewinnen wollen, ist das große Terrain so klein: der Eine haͤngt sich wie an einem Bergabsturze an den Andern, um sich wechselseitig fortzuschleudern; Jeder fuͤhlt, daß der Bo¬ den unter seinen Fuͤßen brennt, und daß nur der fest steht, welcher sich bewegt; der Besitz ist fortwaͤhrende Armand Carrel . Eroberung oder Vertheidigung; die Existenz ist ambu¬ lant; noch ist die Zeit der Aufopferung nicht gekom¬ men; die Contraste siegen nicht in Paris. Der Kampf des Tiersparti und der Doktrinaͤre kann niemals zu positiven Resultaten fuͤhren, wenn nicht Unvorsichtigkeit wie bei geladenen Flinten aus dem Spiele Ernst machen sollte. Der Tiersparti mag von der gelehrten Miene der Doktrin belaͤstigt seyn; er mag es beleidigend finden, wenn die Doktrin bei jedem Streit erst eine Weile schweigt, und sich dann vornehm erhebt, um die Frage auf ein ganz anderes Feld zu schieben: in Frankreich entscheidet nicht die Manier, sondern die Gesinnung. Was koͤnnte wohl der Tiersparti wollen, das die Doktrin nicht unterschriebe? Hat die Doktrin gegen den Tiersparti etwas Anderes im Schilde, als einen andern Ausdruck fuͤr dieselbe Sache? Kann der Tiersparti mit seinen buͤrgerlichen Manieren, mit seinen linkischen Complimenten, mit seinen Roͤcken von zwei Reihen Knoͤpfen, seinem kurzgeschnittenen, ungelockten Haar, mit seinen benaͤgelten Stiefeln und der Unbeholfenheit, die ihn bei einem vornehmen Diner, wo er Pasteten mit der Gabel ißt, laͤcherlich machen — kann er mit Armand Carrel . diesem formellen Ingrimme irgend Etwas im Sinne haben, was die neue Dynastie in Verlegenheit setzte? Nein, beide vereinigen sich in der Ansicht, welche sie von einer parlamentarischen Opposition haben; beide, Tiersparti und die Doktrin, halten die Opposition fuͤr etwas nothwendig Bitteres, aber fuͤr den bittern Ma¬ gensaft, welcher dem Staatskoͤrper verdauen hilft. Wer von beiden wuͤrde sagen, die Opposition solle dem Koͤnigthum so viel bittre Mandeln geben, bis es zu¬ letzt an der daraus entstehenden Blausaͤure vergiftet stirbt? Hier ist ein Kampf ohne Muth; ein Kampf, wel¬ cher die Sieger in Verlegenheit setzt. Die Doktrin taͤuscht sich hieruͤber nicht; sie erklaͤrte laͤngst, daß Du¬ pin nicht wagen wird zu siegen. Die Doktrin spielt dem Tiersparti gegenuͤber eine Rolle, welche ploͤtzlich fuͤr sie ein Interesse erregt hat. Wer saͤhe nicht mit Theilnahme auf Thiers, diesen geistreichen, aber ungezogenen Rou é , der das ganze Koͤnigthum in seiner Hand zu haben scheint, und den¬ noch ihm so verhaßt ist, weil er seinen demokrati¬ schen Ursprung nicht abstreifen konnte, weil er alte prunklose Ausdruͤcke und Formen beibehielt und sich noch immer so benimmt, wie ein junger Schuͤler des Armand Carrel . Coll è ge, der ploͤtzlich einen Wechsel von Hause bekom¬ men hat, sich mit seinen Kameraden einschließt und einige Tage lang seine Orgien feiert! Es gab eine Zeit, wo Armand Carrel mit Thiers und dem blonden Staatsrath Mignet die Namen der Freundschaft austauschte, wo ihre Schwuͤre gemein¬ schaftlichen Feinden galten, wo sie zusammen Luft¬ schloͤsser bauten, und sich wechselsweise belauschten, wie mit dem wachsenden Barte die Illusionen schwanden. Mignet, ruhig und gesetzt, von aͤngstlicher Beson¬ nenheit, der pedantische Gegenstand der Spaͤße des klei¬ nern Thiers, immer aufgezogen von seinen beiden Freunden, aber ein Mann von weiser Vorsicht, ein Meister des Styls, ganz plastischer Natur, ein Mann zu gut fuͤr die Dinge, denen er spaͤter diente. Thiers, lebhaft, Raͤsonneur, Poltron, immer Wi¬ derspruch, heute das Gegentheil von dem, was er ge¬ stern war, nicht so tief und ergruͤndend, wie Mignet, auch nicht so marmorn im Styl, aber empfaͤnglich, ein leichter Arbeiter, mit einem genialen Instinkt fuͤr das Wahre oder auch nur fuͤr das Glaͤnzende. Carrel, vielleicht nicht so unterrichtet wie Mignet, nicht so geistreich wie Thiers, aber consequent, ein Mann der That, energisch, Meister seines Ideenkreises, Armand Carrel . Meister der Menge, imponirend durch den Willen, und die moralische Macht der Wahrheit, welche elektrisirt, keines Menschen und keiner Meinung Sklave, auch nicht einmal Sklave der Republik; und doch ein Sklave — ein Sklave seiner selbst, ein Sklave seines Charakters! Die Ereignisse loͤsten diesen Bund. Die Freund¬ schaft verhuͤllte ihr Haupt und nahm weinend von ih¬ ren Juͤngern Abschied: wie sich der edle Ruͤdiger von den Nibelungen wendet und sein Schwert verflucht, das er im Dienste Chriemhildens gegen seine Freunde und Schwaͤher fuͤhren muß. Das Ungluͤck dieser Tage macht unsre Herzen kalt und mit todten Mienen gehen wir aneinander vor¬ uͤber, die wir uns liebten, damals, als es noch keine andre Partei fuͤr uns gab, wie die der Freundschaft. Armand Carrel wurde mit dem beginnenden Jahr¬ hundert geboren. Seine Kindheit nahm die glaͤnzenden Eindruͤcke der Kaiserherrschaft auf; die Phantasie mußte sich bei ihm fruͤher entwickeln, als die Meinung. Die Anbetung des Kaisers steigerte sich mit der Reife der Jahre, denn das Schicksal Frankreichs fiel bald mit der sinkenden Groͤße des Mannes zusammen: Armand Carrel . die Liebe des Vaterlandes hatte keinen andern Ausdruck, als die Vergoͤtterung einer unsterblichen Person. Glanz der Nation, die Groͤße des Kaisers, die Be¬ gierde nach Ruhm; Alles fiel in Eins zusammen; und auch in eine Thatsache zuletzt, welche die Wunder der Vergangenheit Luͤgen strafte, und großen Anfaͤngen ein beweinenswerthes Ende gab. Als Armand Carrel, wie viele tausend Juͤnglinge, sich stark genug fuͤhlte, die Bahn der Ehre und des Todes zu betreten, waren die Adler der Nation zerbro¬ chen, fremde Banner wehten im Lande und die Kna¬ ben, welche neben ihren Bruͤdern am Ebro und der Beresina liegen wollten, wurden abgewiesen; denn die Musketen, welche hinfort in Frankreich getragen wer¬ den durften, hatten die Sieger gezaͤhlt. Doch wandte sich bald die Perspektive; es schien eine geraume Zeit hindurch nicht unmoͤglich, daß Frank¬ reichs zerstampfter Boden eine neue Invasion zu fuͤrch¬ ten hatte; die Jugend eilte zu den Waffen; auch Car¬ rel entlief seinen Aelteru und ließ sich bei einem Re¬ gimente als gemeiner Soldat anwerben. Seine Aeltern haͤtten ihn ganz hinter ihren Laden¬ tisch gestellt, und ihn mit Maaß und Gewicht zu ih¬ rer und der Kundschaft Diensten ausgeruͤstet; denn es Armand Carrel . waren ansehnliche Kraͤmer, welche bei einem Tumulte ihre Boutique verschlossen, und das Heil der Welt in guten Preisen des Indigo und Pfeffers suchten. Die guten Leute waren untroͤstlich, sie schickten sich schon an, das ordinaͤre Mittel des Enterbens anzuwen¬ den, als ihr Ehrgeiz der Sache eine andre Richtung gab. Der Oberst des Regiments sprach von den vor¬ trefflichen Anlagen des jungen Mannes, von Eigen¬ schaften, welche ihn ganz fuͤr den Tod auf dem Felde der Ehre eigneten: der geschmeichelte Stolz widerstand nicht mehr. Carrel bezog die Militairschule von St. Cyr. In diesem Institute sog die franzoͤsische Jugend jene Grundsaͤtze ein, welche spaͤter bei den Regimen¬ tern in Verschwoͤrungen ausbrachen. Die alten Fecht¬ meister und Ingenieuroffiziere spruͤhten noch von bona¬ partistischen Ideen; die jungen Maͤnner griffen sie auf, und versetzten sie mit der Liebe zur Freiheit und Republik, welche in unserm Jahrhundert angeboren wird. Man verschmaͤhte den phantastischen Schmuck der Verbruͤde¬ rung auf Leben und Tod nicht, man hatte seine Erken¬ nungszeichen, seine Symbole, seine eigne Art, die Hand zu geben, seine Stichwoͤrter, wenn man Eingeweihten zu begegnen vermuthete. Es war, ein Geist der Unruhe, Gutzkow's öffentl. Char. 15 Armand Carrel . um so gefaͤhrlicher, als sich zur Poesie noch die Ein¬ fluͤsterungen und das Gutheißen von Maͤnnern ge¬ sellten, welche durch ihr graues Haar das Unwahrschein¬ liche moͤglich zu machen schienen, und das Verbrechen heiligten. Auch war nicht Alles Unbesonnenheit, nicht Alles gekraͤnkter Stolz, was die Jungen und Alten zusam¬ menbrachte; sondern selbst historische Einsicht in Frank¬ reichs betrogene Geschichte, eine Ueberzeugung, welche theoretischen Ursprungs war und sich nur der Lei¬ denschaften bediente, um Sympathie und Maͤrtyrer fuͤr sie zu wecken. Armand Carrel wurde Offizier des 29sten Regi¬ mentes. Die Militairverschwoͤrung von 1820 ver¬ zweigte sich auch in diesem Corps; die Entdeckung der¬ selben ging aber dismal noch schonend uͤber den jun¬ gen Republikaner weg, welcher fruͤh die Vorsicht des Mannes entwickelte, und von weisen Combinationen einen Vortheil zog, der der guten Sache immer zu Gute koͤmmt. Carrel wurde versetzt; doch brach seine Geduld zu¬ letzt an der fortwaͤhrenden Vereitelung der patriotischen Absichten. Die geheimen Gesellschaften waren vom Verrath untergraben: die Decimationen verringerten ihre Armand Carrel . Streitkraͤfte, und Carrel sahe ein, daß ein der Frei¬ heit geweihtes Leben nicht unterhandeln muͤsse mit Hin¬ dernissen; wie so viel scheinbare Freunde der Unabhaͤngig¬ keit ihre Unthaͤtigkeit durch das Unmoͤgliche zu beschoͤni¬ nigen pflegen. Seine Seele duͤrstete, den oft vorbereiteten und immer wieder von den Ordnern abgesagten Kampf ge¬ gen Tyrannei endlich zu bestehen, er verachtete den Egoismus der Freiheit, schwang sich auf einen kosmopo¬ litischen Standpunkt und beschloß der spanischen Sache seinen Arm und seinen Tyrannenhaß, zu weihen. Er ging nach Barcelona, kaͤmpfte gegen die Glaubensar¬ mee, und ertrug unter Mina die Muͤhseligkeiten des spaͤtern katalonischen Feldzugs. Als diese Dinge scheiterten, wurde Carrel, obgleich in eine Kapitulation einbegriffen, doch in Toulouse zum Tode verurtheilt. Die Schicksale haben in diesen Kaͤmpfen oft wun¬ derbar schnell gewechselt. Noch heute trifft es sich wohl auf der pyrenaͤischen Halbinsel, daß, nachdem an eilf Ungluͤcklichen das Todesurtheil vollstreckt ist, fuͤr den zwoͤlften die Flinte versagt und im ganzen Bereich so wenig Pulver vorhanden ist, daß man kein frisches auf die moͤrderische Pfanne schuͤtten kann. 15 * Armand Carrel . Ein prozessualischer Fehler rettete Carrel, seine Sache wurde revidirt und mit der Erfahrung, freiwil¬ lig schon einmal mit dem Leben abgeschlossen zu haben, ging er nach Paris. Wer sich nicht daran gewoͤhnt hat, in der naͤchsten Viertelstunde guillotinirt zu werden, wird in unserer ge¬ fahrvollen Zeit, nie eine große Rolle spielen. Jene in Deutschland so verbreitete Meinung, daß ein Kampf mit der Autoritaͤt auf freundschaftlichem Wege denkbar ist, kennt ein resignirter Charakter nicht. Gibt es doch unter uns Menschen, welche sich uͤber die Strafe verwundern, die die Macht uͤber das poli¬ tische Verbrechen verhaͤngt, so wie wir Leute gesehen haben, welche vom Staate Pensionen ziehen, und es nicht begreifen konnten, daß man sie auf die Festung setzt, nachdem sie mit der Revolution unter einer Decke steckten. Der erste Abschied, welchen man nehmen soll, fuͤr die Feldzuͤge der Opposition, ist der Abschied vom Leben. Nur diejenigen, deren Wandel eine ewige Verzicht¬ leistung ist, sollten das Kreuz des heiligen Kampfs nehmen. Die Censur und die imponirende Stellung des Ministeriums Vill è le hatten die Revolution eine Zeit¬ Armand Carrel . lang zuruͤckgeschreckt in die Schlupfwinkel einiger Ge¬ heimbuͤnde, noch mehr aber in die Museen der Gelehr¬ samkeit, wo an fremden Studien der Ueberdruß sich zerstreuete, und an Geschichtsdarstellungen, welche Ver¬ gleichungen mit den laufenden Dingen zuließen, die Verzweiflung eine Art von stiller Genugthuung fand. Carrel schrieb eine Geschichte Schottlands, und eine Darstellung der Contrerevolution in England unter Karl und Jakob II ., von welchen die letztere eine Pa¬ rallele seiner Zeit schien und vom Parteigeiste empfoh¬ len wurde. Die erstere veranlaßte blos das Beduͤrfniß der Exi¬ stenz, wie auch Thiers damals seine Revolutionsge¬ schichte ohne Emphase begann, und nichts im Anfang damit liefern wollte, als eine kleine Nebenarbeit, welche der spekulative Buchhandel bei ihm bestellt hatte. Trotz der beschraͤnkten Presse erreichte die Jour¬ nalistik ein seltnes Ansehen. Alles, was Kenntnisse und Geist hatte, trat in ihre Schaaren ein. Eine Aufopferung dieser Art, daß das Genie sich zersplitterte, sich dem kleinen Partisanenkriege anschloß und alle Tage wieder mit frischen Artikeln, welche nur bis zum Abend Werth hatten, zur Hand war, sahe man jetzt zum er¬ sten Male. Armand Carrel . Die Journalistik, durch keine Niederlagen entmu¬ thigt, lernte zuletzt auch siegen; denn die gesetzmaͤßige Opposition, welche unter Polignac in der Kammer bald die Oberhand erhielt, machte mit ihr gemeinschaftliche Sache, so daß die Journale in den Julitagen eine Macht waren, so positiv, wie Ragusas Kanonen. Der National, von Carrel, Mignet und Thiers ab¬ wechselnd redigirt, wagte noch nach den Ordonnanzen zu existiren; er lieferte die Protestationen der Kammer, hef¬ tete sich mit seinen begeisterten Aufrufen an die Stra¬ ßenecken, und gab sein Buͤreau als Ort der Bera¬ thung her. Carrel, der von seinen beiden furchtsamen Collegen verlassen war, entwickelte in dieser denkwuͤrdigen Krisis ein seltenes revolutionaͤres Talent, Gegenwart des Geistes, Umsicht und einen militaͤrischen Muth, wel¬ chen man der Literatur nicht zugetraut haͤtte. Der National war immer in der ersten Reihe, er schien aufzufordern, daß man ihn erst laͤse und dann zu Patronen benutze. Er war noch bis in den August thaͤtig, die Auf¬ regung lebendig zu erhalten; bis zuletzt diejenigen her¬ vortraten, welche sich bis jetzt fern vom Schauplatze Armand Carrel . gehalten, und von den Siegen, die fremdes Blut ge¬ kostet hatten, fuͤr sich Vortheile zogen. Man muß sagen, der National war eine Zeitlang von dieser Wendung der Dinge uͤberrascht; er hielt sich noch immer fuͤr den Schoͤpfer der Ereignisse, als sie schon ein fremdartiges Gepraͤge trugen, und erwachte von seiner Taͤuschung erst da, als die Zuͤgel seiner Hand entfallen waren. Er verbiß seinen Schmerz, erholte sich von seinem Aerger, sich uͤberlistet zu sehen, schlug Praͤfektur und Julidekoration aus, versagte dem neuen Koͤnigthum den Eid, und begann gegen den 7. August und den 13. Maͤrz einen Kampf, den schon mancher glaͤnzende Sieg gekroͤnt hat. Die Zukunft Frankreichs, die Republik, traͤgt bei ihren verschiednen Propheten nicht dieselbe Physiognomie. Die Republik der Tribuͤne ist keine Perspektive der Combination, sondern eine Tradition, eine blutige Er¬ innerung, eine ambulante Guillotine, welche mitten in das Gewirr des Tages hineinfaͤhrt. Es sind die al¬ ten Carmagnolen und Wohlfahrtsausschuͤsse, vielleicht ohne Blutgier, vielleicht nur Formen, die den Mangel neuer Begriffe ersetzen sollen. Die Republik der Tri¬ buͤne ist noch nicht constituirt , ihre Gesetze sind noch Armand Carrel . ungegeben, es ist mehr ein historischer Enthusiasmus, der sie verkuͤndet, ein Andenken, berauscht von dem großen Revolutionsprozesse fruͤherer Tage, berauscht von den erhabenen Phrasen, welche damals noch unter dem Beile gesprochen wurden, berauscht von der Kunst des Todes, welche seit den christlichen Maͤrtyrern nicht so meisterhaft gelehrt wurde wie damals. Die Tribuͤne faͤngt keine Grillen uͤber die Zukunft, sie ist nichts, als eine Reaktion des Jakobinismus; sie spielt mit den alten Kokarden, Muͤtzen, mit den Tages- und Monats¬ bezeichnungen, mit den Dekadi, und aͤhnlichen Neben¬ sachen, welche bei ihr die Stelle dessen vertreten, was der Zukunft anheim liegt und ihr noch keine Sorge macht. Der National beruht auf einem andern Calcuͤl. Er haͤlt die Zeit der Republik, wie sie in Frankreich schon gewesen ist, nur fuͤr einen transitorischen Zu¬ stand; die damalige Republik war nichts als Revolu¬ tion; sie stand unter der Tyrannei des Augenblicks; ihre Gesetze starben wie in werdenden Zeiten immer schnell ab, sie hatte noch keine, sie war noch keine Re¬ publik. Das Todesbeil und die Proskription, fuͤr die Tribuͤne so nothwendig, weil sie die Republik mit der Revolution verwechselt, sind fuͤr das System des Na¬ Armand Carrel . tional unwesentlich. Es ist nicht Grausamkeit, wenn er bei den nothwendigen Opfern neuer Zustaͤnde stumm die Achseln zuckt: er vergleicht das Werdende wie Mi¬ rabeau mit den Kindern, welche in Schmerz aufwach¬ sen unter tranchées maux de dens et rugissemens . Der Uebergang vom Schlechten zum Guten ist oft uͤbler, als das Schlechte selbst, aber er ist unvermeidlich. Die Philosophie des National verbietet ihm auch, zu konspiriren. Er uͤberlaͤßt den Durchbruch der Zaͤhne, um in Mirabeaus Bilde zu bleiben, den Leidenschaften, dem Unverstande und vor Allem der heiligen Nothwen¬ digkeit, welche nichts ungeschehen lassen wird, und welche noch Niemanden betrogen hat, der sich auf die Hoͤhe des Entwickelungsganges der Menschheit zu stellen wußte. Das wahre Geschaͤft des National faͤngt erst da an, wenn die Straßen vom Schutt der Zerstoͤrung gereinigt sind, wenn die Tafel der Vergangenheit rein ausgeloͤscht ist, und die Sehnsucht der Voͤlker erwacht, an die Stelle des Alten Neues, fuͤr die zerbrochenen Formen andre zu geben, welche die unabweisliche Glau¬ benslust der Gemuͤther befriedigen koͤnnen. Der National spricht nie von Truͤmmern, von Un¬ tergang, diesen gefaͤhrlichen Ausdruͤcken fuͤr Ereignisse, Armand Carrel . die auch seiner Positivitaͤt voran gehen muͤssen; er schiebt nichts auf die Bank einer kuͤnftigen Berathung, er schildert das Neue weder so, wie es gewesen ist, noch als etwas Unerhoͤrtes, wovor die Menschheit er¬ schrecken koͤnnte, sondern als einen Zustand, in welchem wir uns Alle so gleich stehen, wie jetzt, in welchem wir unsre kleinen Neigungen befriedigen moͤgen, wie immer und vom Leben alle die Vortheile ziehen, die uns mit dem Schoͤpfer versoͤhnen, wenn wir oft nicht begreifen koͤnnen, warum wir sind. Sogar die taͤgliche Opposition des National, dieser ewige Widerspruch, der sich an jede halbe Maaßregel der Regierung, an jeden Verrath der Vaterlandsehre, an die ganze Tagesordnung in Paris anknuͤpft, ist nie ohne Position; jedem Ungeschick werden die Handgriffe vorgemacht, wie sie die Zukunft, wenn sie schon ihre Rechte haͤtte, zeigen wuͤrde: nicht aus einer weiten Ab¬ straktion, aus einem idealen Jenseits, fuͤr welches es keine Bruͤcke gibt zum heutigen Leibgericht des Buͤrgers und zur guten Hoffnung seiner Ehehaͤlfte, winkt der Vorwurf mit nebelhaften Contouren, sondern der Na¬ tional ist uͤberall gegenwaͤrtig, ist unterrichtet, ist Staatsmann auf eigne Hand, ist anstaͤndig und zu¬ laͤssig in gute Gesellschaft: er hat die Praͤcedentien des Armand Carrel . gegenwaͤrtigen Ministeriums in Haͤnden; er wird auch den zukuͤnftigen so viel Leiden zeigen, daß ihnen es nicht wuͤnschenswerth scheinen wuͤrde, ihn an ihre Ver¬ legenheiten anzuketten. Wollt Ihr die staͤrkste Waffe wissen, welche im Kampf gegen die Autoritaͤt die Stelle der Kanonen vertritt, die uns nicht zu Gebote stehen? Dis ist das Genie und die Unbequemlichkeiten fuͤr Jene, welche das Beduͤrfniß fuͤhlen, alles Ausgezeich¬ nete an die Spitze des Staates zu stellen, und von dem Genie nur laͤchelnde, abschlaͤgige Antworten be¬ kommen. Wie fuͤhlbar ist schon in Frankreich dieser Mi߬ stand, wo sich zwar Alles zu beeilen scheint, der zah¬ lenden Autoritaͤt seine Dienste anzutragen; aber zugleich Dienste, welche nur im Voruͤberflug dem Leistenden Vortheile abwerfen sollen, bis zur zwoͤlften Stunde, so lange bis ihn das Gespenst der Impopularitaͤt ver¬ treibt und er so viel gewonnen hat, daß er sein ferne¬ res Gluͤck der Boͤrse anvertrauen kann! Wie fuͤhlbar in Frankreich, wo die hoͤchste Gewalt mit so vielen abgenutzten Werkzeugen umgeben ist, wo die Juristen fuͤr die Marine und die Contreadmirale fuͤr die Diplomatie sorgen sollen! Armand Carrel . Das junge Frankreich, welches zuerst die Ehre liebt, und dann die Freiheit, haͤlt sich zuruͤck von diesem Spiele alter militairischer Schatten, hirndefekter Hof¬ leute und jeden Moment die Aufdeckung ihrer Bloͤße erwartender Rou é s: die Belohnungen reizen es nicht: es spart fuͤr die Zukunft seinen Geist und seine Kennt¬ nisse, und findet bis jetzt seinen Ehrgeiz nur darin, zu¬ ruͤckzuhalten und die rechte Stunde abzuwarten. Beurtheilt man den National nur nach dem Ma߬ stabe der franzoͤsischen Revolution, so wird man sehr rasch zur Hand sein, ihn nur eine wiederholte Auflage des Feuillantismus zu nennen. Dis ist eine große Ungerechtigkeit; denn die Gi¬ ronde verbrach nicht an der Republik, sondern an der Revolution; der National aber uͤbersieht die Revolution, weil es in menschlicher Berechnung nicht liegt, die Dinge zu bestimmen, wie sie werden und wodurch sie kommen. Ja wir geben sogar zu, daß die Ungluͤcksfaͤlle der Tribuͤne die Sympathie erwecken, und ihr steter Ent¬ schluß, das Blut ihres Herzens zu verstroͤmen, der kal¬ ten Resignation des National gegenuͤber, eine Anklage gegen den letztern ist. Aber man wird bald hiervon zuruͤckkommen; denn Armand Carrel . wann hat die Partei des National einen ruhigen Au¬ genblick? Wo lebt auch sie anders, als in den Ge¬ faͤngnissen? Der Bois de Boulogne wiederhallt von den Duellen, welche man nicht abschlagen kann, ohne seiner Sache etwas zu entziehen. Der Schlaf ist nicht mehr sicher; denn Gisquets Trabanten schlagen naͤcht¬ lich an die Fensterladen, um fuͤr die neuen Bastillen neue Opfer zu holen. O dis Leben ist eine ewige Entsagung, eine stete Uebung zu hassen und zu dulden, fuͤr sanfte Gemuͤther jenes so herb, wie dis schon Gewoͤhnung. Und wofuͤr? Nicht vielleicht fuͤr eine Taͤuschung? Eine Dornenkrone fuͤr einen Glauben, der vielleicht falsch berechnet ist? Wenn nun Alles, was Ihr dach¬ tet, ihr blassen Maͤnner, die grausame Laune eines Traumes waͤre? Wenn Eure Zukunft, Eure Troͤste¬ rin und harrende Braut die Treue braͤche und den Ring des Verloͤbnisses den Herolden einer Zeit gaͤbe, die Ihr alle noch nicht kennt? Wenn Eure Appellationen und Beschwoͤrungen in dem Kommenden einsam irrten, wie die Geister unbegrabener Todten? Wenn die Toͤne Eurer Sprache verklungen waͤren in dem Gedaͤchtnisse der Menschen, und alles umsonst gewesen waͤre, war¬ Armand Carrel . um Ihr gelitten habt und den Tod kosten moͤchtet, zum Siegel Eures heiligen Glaubens? O vergebt mir diesen grausamen Zweifel — aber die blassen Kerkerwaͤnde werfen ihren Leichnamsschimmer auf die rosenfarbenen Hoffnnngen , und die Fuͤlle Eu¬ res Elends uͤberschleicht die Gedanken, welche bunt be¬ wimpelt und lustig flaggen sollten.! — — Ancillon. S elten bietet das Leben deutscher Staatsmaͤnner einen biographischen Reiz dar. Es ist aus zu gleich¬ maͤßigen, zu nuͤchternen Elementen zusammengesetzt, es koͤmmt erst dann in die Stroͤmung der Zeit und des oͤffentlichen Lebens, wenn es das Greisenalter erreicht hat; ja oft ist selbst der hoͤchste Rang, mit welchem ein deutscher Staat seine Diener bekleiden kann, gaͤnz¬ lich herausgeruͤckt aus der Sphaͤre des allgemeinen und geschichtlichen Interesses, wie groß auch die stillen und bescheidenen Verdienste sein moͤgen, welche man sich mit ihm erwerben kann. Ein heller Kopf, gute Studien, Protektion, wirk¬ liche Vorzuͤge, welche der hoͤhere Beamte bemerkt und uneigennuͤtzig belohnt, allmaͤliges Hinaufruͤcken, zuletzt die Alterspraͤrogative; das ist der loyale Gang, wel¬ chen die deutschen im Gehorsam gegen ihren Herrn Gutzkow's öffentl. Char. 16 Ancillon . ergrauten Staatsdiener fast alle gemacht haben. Die¬ ser Gang ist friedlich, ohne Stuͤrme, man hat Zeit, sich einen Privatcharakter fuͤr den Umgang nach be¬ liebigem Gefallen zu bilden, und darf darauf rechnen, fuͤr sein geduldiges Fortziehen der Staatsmaschine eine Menge geraͤuschloser, kleiner Freuden zu genießen, seine Soͤhne heranwachsen zu sehen, seine Toͤchter an solide Eidame zu verheirathen, seine Witwe zu versorgen, und sonst die Zukunft und alle ihre Wechselfaͤlle mit ruhiger Gewißheit abzuwarten. Nimmt diese politische Idylle einmal einen Auf¬ schwung, so hat man eine Commission in kuͤrzerer Zeit beendet, als die Diaͤten gezahlt worden waͤren; man entdeckt ein Complott oder einen finanziellen Rech¬ nungsfehler, mit welchem uͤber das ganze System der vaterlaͤndischen Buͤreaukratie auf einen Monat haͤtte Verwirrung kommen koͤnnen; man hat gesunde Staats¬ schuldentilgungseinfaͤlle, geistreiche Reduktionsplaͤne; man hat feine Manieren, diplomatisches Talent, man erhaͤlt eine zarte Mission an einen benachbarten Hof, um fuͤr hohe unverheirathete Personen eine Lebensgefaͤhrtin zu werben; kurz dis sind die Epochen und Einschnitte in das Leben eines deutschen Staatsmannes im Frieden. Es kann sich lange von einem solchen Ereignisse Ancillon . in einer Familie eine Tradition erhalten, man kann die Orden und Geschenke aufweisen, welche bei solchen Gelegenheiten von den Ahnen verdient wurden; doch laͤchelt dazu die Geschichte, deren Gedaͤchtniß bestuͤrmt wird von den großen Begebenheiten, die nicht einmal an dem Rande ihrer ehernen Tafeln viel Raum uͤbrig hat fuͤr das, was doch immer nichts Anderes ist, als Erfuͤllung seiner Pflicht und Ausfuͤhrung dessen, was Niemand auszufuͤhren unterlassen darf. Sie thun alle, was sie muͤssen; und dis ist ange¬ schrieben ohne Zweifel im Buche des Lebens, auf wel¬ ches das Buch der Geschichte zu verweisen pflegt, wenn man in diesem etwas vergeblich sucht. In Preußen sind solche bei Gott vortrefflich ange¬ schriebene Staatsdiener mehr als irgendwo zu finden. Die Buͤreaukratie und die Maschine bringen es so mit sich. Die kleinen konstitutionellen Staaten fordern doch wenigstens das Talent heraus und geben Raum fuͤr Kraͤfte, welche die Anciennitaͤt uͤberspringen. In Oe¬ sterreich wird eine glaͤnzende Aristokratie an die Spitze der Verwaltung gestellt: alte, historische Namen, bei denen es immer eine Auszeichnung ist, wenn ihre Ta¬ lente das Privilegium der Geburt einholen, und sie das 16* Ancillon . in der That sind, was sie zu sein keine Verpflichtung haben. Hier lauscht die Geschichte und zeichnet sich manche Thatsache auf; doch die preußischen Staatsmaͤnner koͤn¬ nen selten groͤßer sein, als ihre Verhaͤltnisse, da die letztern unverruͤcklich vorgeschrieben sind: eben die libe¬ rale Zulassung aller Staͤnde in die Carri é re, schwaͤcht die Vorspruͤnge, welche Einer vor dem Andern gewin¬ nen konnte; weil Preußen auf der einen Seite keine im Vorgrunde stehende, reiche und massenhafte Aristo¬ kratie hat, so gibt es keine natuͤrliche, mit der Geburt gegebene Praͤdestination fuͤr das Verdienst und den Ruhm; und weil es auf der andern Seite ohne Oef¬ fentlichkeit, Verfassung und Repraͤsentation ist, so gibt es auch dem talentvollen Rotuͤrier, dem Genie keine Anwartschaft, wenigstens nicht eher, als bis mit dem grauen Haar und der langen Entnervung durch die Buͤreaukratie und Collegialverwaltung das Feuer abge¬ kuͤhlt und das Außerordentliche in eine gemaͤßigte, wenn auch geistvolle Auffassung seiner Dienstpflicht verwan¬ delt ist. Neben diesen juͤngern Staatsmaͤnnern finden sich nun aber auch noch zahlreiche Reste von Preußens hi¬ storischer Vergangenheit; Namen, deren Anfaͤnge sich Ancillon . in verworrene, dann ungluͤckliche und zuletzt glaͤnzende Begebenheiten verlieren, von welchen einige schon da¬ mals Hauptrollen uͤbernommen hatten, andre durch den Conflikt der Umstaͤnde in Stellungen gekommen sind, die ihnen das Fortschreiten auf einer sonst ver¬ schlossenen Bahn ungemein erleichterten. Hier fehlt es nicht an charakteristischen Zuͤgen, an uͤberraschenden biographischen Wendungen, an Lebens¬ schicksalen, welche man mit Theilnahme verfolgt, weil sie die Erwartung spannen, das Unglaubliche wahr ma¬ chen und mit so vielen Ereignissen zusammenhaͤngen, an welche die Erinnerung mit einem angenehmen Wohlbehagen, mit einer gewissen stolzen Genugthuung und dem Gefuͤhle, wie das Gegenwaͤrtige dem Ver¬ gangenen uͤberlegen ist, herantritt. Die Schicksale dieser Maͤnner verlieren sich zuletzt in die Regierung Friedrich Wilhelms II ., welche ihres unparteiischen und unterrichteten Geschichtsschreibers harrt; in eine Zeit, wo der preußische Staat eine Ver¬ lassenschaft des Ruhms und des Genies war, wo man zum ersten Male in der Monarchie anfing, die Perso¬ nen von der Maschine zu emanzipiren, das Talent von der Cabinetsdiktatur Friedrichs II ., den Geist von der todten und starren Form. Ancillon . Die Geschichte weiß, daß von dieser erwachenden Freiheit diejenigen den meisten Gebrauch machten, wel¬ che sie nicht verdienten: es war die Zeit der Rotuͤre, der Gunst, der Hintertreppe, die Zeit des Sieges einer zaͤrtlichen Stunde; man kann daruͤber nicht so streng sein, denn die Wiedergeburt des preußischen Staates, die Aufloͤsung der alten knoͤchernen, tyrannischen For¬ men von Sanssouci ließ sich durch diese Periode der Guͤnstlinge am besten an. Welche Menschen sind da¬ mals an das Ruder der Gewalt gekommen! Sie ver¬ dienten es nicht; aber sie rissen das Herkommen ein, welches Preußen an das Militair und den Adel ver¬ kauft hatte, sie halfen das Vorurtheil gegen ihren Wil¬ len bekaͤmpfen, und machten dem demokratischen Ele¬ mente Raum, welches spaͤter den Staat gerettet hat. In diese und die folgende Zeit fallen die Anfaͤnge der meisten jener preußischen Staatsmaͤnner aus alter Schule. Sie wurden geliefert von der Clique; aber auch von der Wissenschaft, dem Zufalle, und dem Ge¬ nius des Vaterlandes. Es war damals leicht in die Geschaͤfte zu kom¬ men; die Minister waren zum großen Theile Militairs, welche sich die Kenntnisse, die sie selbst nicht besaßen, von Andern leihen mußten; die Freiheit der Presse kam Ancillon . dem Talent und der Vaterlandsliebe zu Hilfe; die Li¬ teratur hatte noch ein imponirendes Ansehen, einen Reiz der Neuheit, eine Herrschaft uͤber die oͤffentliche Meinung, welche die politische Autoritaͤt verfuͤhrte, sich mit ihrem Glanze zu bekleiden; man hoͤrte, da der Zu¬ sammensturz des Ganzen immer naͤher kam, auf die Vorschlaͤge des Privatmannes; ein geistreiches Memoire, das man heute wie aus der Luft gegriffen betrachten und vornehm zuruͤckweisen wuͤrde, fand Theilnahme und beschaͤftigte die Aufmerksamkeit der hoͤchsten Per¬ sonen. Als die Schlacht bei Jena das Schicksal des Staa¬ tes entschieden hatte, steigerte sich diese Achtung vor der Oeffentlichkeit immer mehr; denn wer haͤtte damals, als die schwatzhafte preußische Literatur von 1806 auf¬ kam, nicht behauptet, daß wenn er am Ruder gestan¬ den, die Dinge eine bessere Wendung genommen haͤt¬ ten? Jetzt glaubte man, daß der Lieutenant, Jakobi¬ ner, Schauspieler und Glashaͤndler Heinrich von Buͤ¬ low ein großer Feldherr gewesen waͤre, und beklagte es, ihn im Gefaͤngniß von Riga haben stecken zu lassen. Jetzt wurde sogar Julius von Voß aufgefordert, Preu¬ ßen zu retten, indem er Berlin durch die Moraͤste von Wusterhausen unter Wasser setzen sollte. Man suchte Ancillon . das einzuholen, was man glaubte, versaͤumt zu haben, die Appellation an die Masse, das Talent und den Zeitgeist. Unter dem Ministerium Stein feierte die Huma¬ nitaͤt einen ihrer seltensten Triumphe. Man sahe ei¬ nen Staat, erschoͤpft in den alten, wurmstichig gewor¬ denen Mitteln der Regierungskunst, sich der Natur und dem lebendig stroͤmenden Volksgeiste hingeben; eine Verjuͤngung im frischen Blute der Demokratie; eine Huldigung, die bis zu dem zweiten Einzuge in Paris dauerte. Seither hat dieser Staat wieder angefangen, sich auf seine Vergangenheit zu gruͤnden, die Maschine ist wieder in Ordnung gebracht, und nur unter Hardenberg noch war es moͤglich, gegen sein Alter und seinen Stand bevorzugt zu werden. Hardenberg brachte noch eine Anzahl von Satelliten der Gunst in die Verwal¬ tung; seitdem aber ist Regel und militairische Gewohn¬ heit auf alle Ressorts der Maschine uͤbergegangen. Die Staatsmaͤnner dieser neuen Schule bieten keinen Stoff zu einer besonderen Charakteristik: wohl aber noch die Maͤnner, deren Jugend in das alte Regime fiel, und zu welchen, wenigstens dem Alter nach, jener Ancillon . Name gehoͤrt, dessen Talenten und glaͤnzendem Lebens¬ schicksale diese Skizze gewidmet ist. Jean Pierre Fr é d é ric Ancillon wurde in Berlin als ein Nachkomme ehemaliger hugenottischer Refugi é s geboren. Seine Familie stammte aus Metz und zaͤhlte in ihrem Schooße einige Maͤnner, welche gegen die Intoleranz des Zeitalters der Dragonaden und der Tartuͤffes sich mit Nachdruck stemmten, und sich unter den Genossen ihres Glaubens und ihrer Schicksale ein ausdauerndes Gedaͤchtniß erworben haben. Wer den besondern Geist dieser jetzt in deutsche Sitte immer mehr uͤbergehenden Kolonie kennt, kann fuͤr den jungen Fr é d é ric eine Constellation seiner Zu¬ kunft stellen, welche damals in der Situation und den Zeitumstaͤnden fuͤr einen Sproͤßling der Kolonie immer die guͤnstigste war. Man denke sich eine durch gleiche Erinnerungen und gleiche Interessen zusammengehaltene Landsmann¬ schaft, welcher es gestattet blieb, in ihren eigenen Ma¬ nieren und Hausgesetzen fortzuleben. Diese Menschen hatten einen Vorsprung vor dem neuen Vaterlande voraus, in Wissenschaft und Industrie, welche ihnen Ancillon . schnell die Reichthuͤmer verschafften, die ein anderer Theil von ihnen aus Frankreich mitgebracht hatte, und welche, durch Verheirathung und Wohlthaͤtigkeit fast zu einem Gemeingut geworden, die Unterlage und Rechtfertigung einer Achtung wurden, die ihnen von allen Seiten entgegen kam. Aus dem Geburtslande des feinen An¬ stands hatten sie eine Convenienz heruͤbergebracht, mit welcher sie sich unter einander auszeichneten, und welche doch niemals in die Frivolitaͤt der franzoͤsischen Mode ausartete, da sie von dem eigensinnigen, etwas muͤrri¬ schen und aschgrauen Geiste des Calvinismus gemil¬ dert wurde. Der Begriff eines saubern und reinlichen Charakters, einer spiegelblanken Glaͤtte des Gemuͤthes und einer von aller Excentricitaͤt entfernten, immer maͤ¬ ßigen Spannung der Seele ist niemals so vollendet ausgebildet gewesen, als ehemals in den Cirkeln der Berlinischen Hugenottenkolonie. Niemals hat man die Gegenseitigkeit conventioneller Pflichten so gluͤcklich abgewogen, und in den Umgang zugleich so viel Frei¬ heit und Gesetz gebracht, wie damals. Noch heut un¬ terscheidet sich ein junger Mann aus der franzoͤsischen Kolonie auffallend von jedem andern Berlinischen Juͤng¬ ling. Dort Erziehung, hier Dilettantismus; dort ein gewaͤhlter, bestimmter, etwas altkluger Ausdruck, der Ancillon . sich fruͤh in der Familie bildete, hier endlose Geschwaͤ¬ tzigkeit oder bloͤdes und unbeholfenes Benehmen; dort immer etwas Pedantismus, ein gewisses Calvinistisches Air aus dem Coll è ge, feine Manieren, Unterordnung gegen das Alter und Tendenz nach dem Vornehmen hin; hier die Eigenschaften, welche oft gaͤnzlich entge¬ gengesetzt sind. Unter Friedrich II . waren die Aussichten fuͤr die Kolonie noch glaͤnzender; da die Neigung des Koͤnigs mit ihren Landsleuten sympathisirte, und sie noch im¬ mer den Stolz besaß, sich fuͤr ein verlornes und ver¬ schlagenes Stuͤck von Frankreich anzusehen, mit dem¬ selben Ruhme, mit derselben Aussprache, mit derselben Literatur, welche Friedrich vergoͤtterte. Seit der Koͤnig den spaͤter so einflußreichen Cabi¬ netsrath Lombard als einen jungen schuͤchternen Men¬ schen, der die Faͤhigkeit hatte einen franzoͤsischen Brief zu schreiben, aus dem Coll è ge herausnahm, mußten sich die Hoffnungen der Kolonie steigern. Lombard, wenn er weniger frivol und ausschwei¬ fend gewesen waͤre, wuͤrde vollkommen den Charakter der Kolonie repraͤsentirt haben; denn er war ehrgei¬ zig, er beneidete die franzoͤsische Literatur um ihre He¬ Ancillon roen, dichtete Chansons, und kannte keinen groͤßern Stolz, als eine Tragoͤdie zu schreiben, welche mit Vol¬ taire wetteifern sollte, und die er, nach seinem Ungluͤck in Stettin, vielleicht wirklich Muße gehabt hat, zu vol¬ lenden. Ueber alle diese Dinge sahe aber Fr é d é ric Ancillon hinweg; er erhielt von seinem Vater, einem geistvollen und gelehrten Manne, die trefflichste Erziehung, und bildete sich fuͤr das geistliche Fach aus, das von seinen Landsleuten noch jetzt immer fuͤr einen Lebensberuf ge¬ halten wird, den sie mit Waͤrme und Eifer bei den Ihrigen unterstuͤtzen zu muͤssen glauben. Man kann die Einrichtung des franzoͤsischen Se¬ minars, in welchem die kuͤnftigen Lehrer der Kolonie ihre Bildung erhalten, nicht von allen Seiten lobens¬ werth nennen. Sie schließt ihre Zoͤglinge von der leb¬ haften Theilnahme an dem wissenschaftlichen Progreß des Landes, das jetzt ihre Heimath geworden ist, mehr als billig aus; sie wacht uͤber eine alte Tradition von den theologischen Wissenschaften, die enger mit dem or¬ thodoxen Katheder von Genf zusammenhaͤngt, als die lange Entfernung der Zeit gut heißen moͤchte; man kann nicht sagen, daß durch eine hinter verschlossenen Ancillon . Thuͤren gegebene, dem Auge des Lehrers uͤberall so nahe Unterweisung die Selbststaͤndigkeit im Denken und Forschen bei jenen jungen Maͤnnern besonders beguͤn¬ stigt wird. Doch befreite sich ein heller Kopf wie Ancillon bald von diesen beengenden Schranken, und frug sich, ob denn die Zeit nicht hinausgekommen waͤre uͤber Pascal, Bossuet, Mabillon und Mallebranche? Er kaͤmpfte mit der angeborenen Verehrung dieser hohen Geister, die um so natuͤrlicher ist, je weniger die Theologen und Philosophen in Deutschland je eine solche Mei¬ sterschaft der Darstellung erreicht haben, wie jene. Ei¬ nem Franzosen, begabt mit so feinen Geschmacksner¬ ven fuͤr die Reize des Styls, mußte die hoͤlzerne Aus¬ drucksweise der Deutschen, wie sie auch noch die kriti¬ sche Philosophie entstellte, einen D é gout verursachen: noch mehr, wenn er die Beredsamkeit fuͤr ein der Theologie nothwendiges Studium haͤlt; wie konnte er Vertrauen fassen zu jenen hohlen aus Zelotismus und Ungeschmack zusammengesetzten Lehren der orthodoxen lutherischen Geistlichkeit; oder selbst zu der deistischen Gewandheit Tellers, Zoͤllners und Spaldings, deren Leistungen nicht auf Gesetze und Kunst, sondern auf Ancillon . ein gluͤckliches Naturell sich gruͤndeten, oder die doch immer eingestehen mußten, daß fuͤr sie der klassische Ausdruck des Bischofs von Meaux unerreichbar blieb. Aber Ancillon horchte mit Theilnahme in die phi¬ losophische Revolution, welche mit Kant uͤber Deutsch¬ land kam, und entschied sich fuͤr die Gironde derselben, fuͤr die Philosophie Jakobis. Das Prinzip der Unmittelbarkeit mußte einem Geiste zusagen, der sich von dem kalten Deismus sei¬ ner Zeit mit Unbehagen abwandte, und von Dogmen, welche er auf sich beruhen ließ, wenigstens an die le¬ bendige Kraft des Christenthums und die Wahrheit, welche sie fuͤr das Gemuͤth haben, appellirte. Jene wunderliche Zeit, wo die Leute ihre Koͤpfe so anstrengten, daß Mendelssohn gestand, er muͤßte nach seinen Forschungen die Ziegelsteine auf den Daͤ¬ chern zaͤhlen, um sich nur wieder zu sammeln; ging mit allen ihren Erscheinungen an Ancillon nicht ohne Revolution voruͤber; doch war er Feind des Formalis¬ mus, und scheute sich vor den Systemen, die sich blutige Schlachten lieferten und in einen unertraͤglichen philosophischen Terrorismus ausarteten. Ancillon . Noch mehr aber, als die Philosophie, wirkte auf den jungen Geistlichen die Geschichte. In welche stuͤrmische Zeit fiel hier eine Jugend, welche so viel versprach! Die franzoͤsische Revolution konnte fuͤr den aufgeklaͤrten Theil Deutschlands nicht aus den Wolken fallen; schon ihre ersten Erscheinun¬ gen mußten ein hoͤheres Interesse aufregen, als das einer bloßen Neuigkeit. Die Revolution war in ihren Prinzipien wahlverwandt mit jeder freien Ansicht des damaligen europaͤischen Staatssystemes, mit den Ah¬ nungen der Humanitaͤt. Sie riß die oͤffentliche Mei¬ nung von ganz Europa hin; und die staͤrksten und leb¬ hafteren Geister verfolgten sie auch da noch mit Erge¬ bung, als die Interessen sich in ihr schon so durchein¬ ander wirrten, daß nur die physische Gewalt der Lei¬ denschaft die ihrigen zu retten vermochte. Nirgends herrschte so viel Sympathie fuͤr die Ideen, welche jenen großartigen Ereignissen zum Grunde la¬ gen, als in der Hauptstadt Preußens, wo selbst die hoͤ¬ here Gewalt (ich erinnere nur an den Minister Hertz¬ berg) der Revolution mit Theilnahme folgte, ihrem Prinzipe huldigte, und selbst da noch, als der Schrek¬ ken statt des Gesetzes zu regieren anfing, diese blutigen Ancillon . Bewegungen mit weiser Maͤßigung wuͤrdigte, die Un¬ uͤberwindlichkeit des demokratischen Prinzips anerkannte und jede bewaffnete Intervention, jede Unterstuͤtzung der Rache bei den Ausgewanderten nachdruͤcklich widerrieth. Man kann sehr bestimmt die Graͤnze angeben, bis zu welcher die franzoͤsische Revolution von den maͤßi¬ gen und aufgeklaͤrten Maͤnnern Deutschlands, von ei¬ ner so philosophischen Weltansicht, wie die Ancillons war, gebilligt wurde. Sie sahen die Tendenz Frankreichs zu einer bluti¬ gen Zukunft schon mit der glorreichen Regierung Lud¬ wigs XIII ., mit der Ausbildung der souverainen Ge¬ walt durch Richelieu und Mazarin anbrechen; sie ga¬ ben in der allmaͤlig sich vorbereitenden Gaͤhrung dem bestrittenen, dann abgeschafften, dann wieder eingesetzten Remonstrationsrechte der Parlamente seine rechte Stel¬ lung und berechneten, ohne der Geschichte einen fatali¬ stischen Calcuͤl aufzuzwaͤngen, alle die bewiesenen That¬ sachen waͤhrend der Regentschaft und der Regierung Ludwigs XV ., die Thatsachen der Politik, der Litera¬ tur und der Sitten, welche das zuͤndbare Fundament der großen zeitgenoͤssischen Begebenheit wurden. Wir streiten hier nicht uͤber Ancillons fernere An¬ Ancillon . sicht der Revolution, nach welcher ihm zwar der Aus¬ bruch derselben unvermeidlich schien, aber ihre Folgen nur durch den Fehler, den man beging, indem man sie zu regeln unterließ, herbeigefuͤhrt sein sollen; erwaͤh¬ nen sie aber, weil sie deutlich die praktische Richtung, welche Ancillons Geschichtsstudium nahm, erkennen laͤßt. Seine Ansicht von der Revolution ist mehr die eines Geschaͤftsmannes und Publizisten, als die einer philosophischen, fast moͤchte man sagen superstitioͤsen Abstraktion, welche die Siege geschehen laͤßt und nichts in ihnen sehen will als eine blinde Nothwen¬ digkeit. Ancillon schloß sich fruͤhe jenen Schriftstellern an, welche nicht wie Burke mit einem gewissen Instinkt des Abscheues und mit Leidenschaftlichkeit gegen die neue Ordnung der Dinge in Frankreich auftraten, auch nicht wie Barruel und Robison, welche in Allem, was jenseits des Rheins geschah, Machinationen einiger Pri¬ vatmaͤnner, der Freimaurer und Illuminaten sahen; sondern welche, wie Gentz, die Revolution in ein Werk der Geschichte und der Leidenschaft, in blinde Nothwen¬ digkeit im Anfang und moralische Imputation am Ende theilten. Die historische Schule von Koch in Straßburg be¬ Gutzkow's öffentl. Char. 17 Ancillon . gann zuletzt eine Art von vergleichender Revolutions¬ geschichte. Man kann sagen, daß Ancillon dieser An¬ sicht, aus welcher auch Schoͤll hervorging, am verwand¬ testen ist. Er bereiste in den Schreckensjahren die Schweiz und Frankreich, nachdem er schon vorher als Lehrer der Geschichte bei der Militairschule in Berlin angestellt war. Es ist nicht seine Schuld, wenn die jungen Faͤhndriche und Cadetten einst nach dem Tage von Jena Leonidas und Curtius vergessen hatten; wenn sie statt Tuͤrennen und Friedrich dem Großen auf der Karte zu folgen, sich lieber von dem Geiste der Insub¬ ordination anstecken ließen, welcher durch die Gendar¬ merieoffiziere in Berlin verbreitet und von einigen ho¬ hen Personen genaͤhrt wurde. Bei welchem Spektakel im Parterre, bei welchem Fenstereinwurf war damals die Hoffnung des Vater¬ landes nicht gegenwaͤrtig? Die Aufloͤsung nahte sich schnell: sie hatte schon die Sitten ergriffen; sie griff jetzt auch die Institutionen, den Ruhm und die glaͤn¬ zenden Traditionen eines ganzen Jahrhunderts an. Preußen mußte bei der Wendung, welche die Revolu¬ tion genommen hatte, bei den Siegen, welche die Adler Ancillon . einer neuen Nation und die Entwuͤrfe eines jungen militairischen Genies kroͤnten, ein entscheidendes Gewicht in die Wagschale der Geschichte zu legen. Aber wo es hernehmen? Aus einer Vergangenheit, fuͤr welche die Gegenwart keine Beweise mehr hatte? Der Abgrund oͤffnete sich, und uͤbermuͤthig, blind, po¬ chend, schwatzend, unbedacht und drohend stuͤrzte man hinein. Von der Armee war am wenigsten zu hoffen, ob¬ schon die alten Generale derselben glaubten, Napoleon sei nur in die Welt gekommen, um sich von ihnen schlagen zu lassen. An Tapferkeit, oder wie man es damals nannte, Bravour, fehlte es nicht. Ancillon verkehrte selbst in dem Hause eines Prinzen, den die Natur zu ihrem Liebling geschaffen zu haben schien, der tapfer wie ein Held der Sage und auch gebildet wie ein Ritter der Tafelrunde war; aber jene Maͤßi¬ gung und Sophrosyne nicht kannte, welche allein faͤhig macht, zu siegen, oder das Ungluͤck mit Wuͤrde zu er¬ tragen. Welche schmerzliche Ahnung uͤber den Gang, wel¬ chen Preußen gehen wuͤrde, mußte ihn ergreifen, wenn er die Frivolitaͤt bis zu dem Grade gestiegen sahe, und 17 * Ancillon . wie sie selbst in hoͤhern Kreisen herrschte. Ancillon war einst bei dem Prinzen Louis und traf den preußischen Historiographen Johannes von Muͤller, welcher kleine Mann damals eine große Rolle spielte, und den Grafen d'Antraigues zugegen. Der Graf, ein Emigr é , haßte die neue Ordnung in Frankreich und war von Dresden nach Berlin, wo man ihn ungern sahe, gekommen, um die preußische Politik zum Kriege gegen Frankreich zu bewegen. Hier sahe Ancillon, wie weit schon der Krebs des Verfalls am Vaterlande gefressen hatte. Ancillon sah von dieser Zeit an wohl ein, daß alle diejenigen, welche sich anheischig mach¬ ten, den Staat zu retten, nur entweder fuͤr ihre Leidenschaften einen glaͤnzenden Vorwand suchten oder in den andern Sphaͤren von einer hohlen, im Raͤsonniren begriffenen, Verbesserungsmanie getrie¬ ben wurden. Er waͤhlte den richtigsten Weg und schloß sich mit der Achtung, welche man dem Ungluͤck schuldig ist und der Loyalitaͤt, welche an die Schicksale des Koͤnigs das Loos des Vaterlandes knuͤpfte, an die Familie des Herrschers an, welche sich der Ergebenheit der alten Provinzen anvertraute. Ancillon wurde Ancillon . Staatsrath und Erzieher des damals eilfjaͤhrigen Er¬ ben der preußischen Monarchie. Es gab damals in Berlin eine Philosophie, welche durch Kiesewetter repraͤsentirt wurde. Kiesewetter gab sich damit ab, die Kantische Philo¬ sophie zu trivialisiren, und behauptete in den Straßen Berlins eine Reputation, welche er mehr seinen beque¬ men Manieren und seiner Stellung verdankte, als einer besondern Faͤhigkeit, welche seinen flachen Geist ausgezeichnet haͤtte. Kiesewetter milderte den Ernst der Philosophie, er lehrte, wie Seneka, eine Wahrheit, welche zuweilen an den Scherz und die Leidenschaft ein kleines Zugestaͤndniß machte; er zog es vor, statt am Hofe den kategorischen Imperativ zu vertreten, fuͤr kleine Vergnuͤgungen zu sorgen und arrangirte Bals masqu é s, Pompzuͤge und dergleichen, wobei ihn Hof¬ rath Hirt, gleichfalls Hofpaͤdagog, unterstuͤtzte. Der Ernst der Zeit machte diesen Resten des al¬ ten Regimes ein Ende; Ancillons puritanische Strenge stach gegen die Vergangenheit grell ab; Prinzenerzie¬ hung wurde wieder ein Ideal, uͤber das man mit Enthusiasmus und Entsagung nachdachte. Die Hoff¬ nung des Vaterlandes war in des Erziehers Hand ge¬ Ancillon . geben, und die Zukunft Preußens, wenn sie an Ancil¬ lon die stumme aber beredte Frage richtet, ob er die Wissenschaft und Geschichte, die Achtung vor Herrscher¬ pflichten und den Beruf, Nationen zu begluͤcken in ein theures Herz gepflanzt hat, lebt nicht ohne die Hoff¬ nung, daß hier Alles gethan ist, was eine so kostbare Gelegenheit, ein so unwiederbringlicher Augenblick nur gebieten konnte. Ancillon, nachdem er zum Mitgliede der Akademie ernannt war, begleitete seinen Zoͤgling in den spaͤtern Jahren des Ruhms nach Paris, wo er die Genugthu¬ ung hatte, von franzoͤsischen Gelehrten collegialisch be¬ gruͤßt zu werden, so daß er als Theilnehmer zweier Li¬ teraturen gelten kann. Mit dem Frieden zuruͤckkehrend trat er endlich in die Dienste des frischen und erneuten Staates, und wurde dem auswaͤrtigen Ministerium, spaͤter auch dem Staatsrathe beigesellt. Ancillon trat darauf in jene Commission, welche die Verfassung, die Preußen noch zu erwarten hat, ent¬ werfen sollte. Die Resultate derselben sind noch unbekannt, und wir zweifeln, ob Ancillons persoͤnliche Meinung in ihr Ancillon . das Uebergewicht erhalten hat. Ancillon achtet die Constitutionen, welche auf einem historischen Funda¬ mente liegen, wie die englische; doch als Anhaͤnger ei¬ ner unbeschrankten Souverainitaͤt, mißbilligt er es, wenn die Regierungen eine Gewalt, die sie historisch be¬ sitzen, aus eigner Großmuth theilen und einer Repraͤ¬ sentation aus dem Stegreife davon abgeben. Was wir Forderung des Zeitgeistes und oͤffentliche Meinung nennen, kuͤmmert ihn nicht; denn er sieht in jener nur den unnuͤtzen Neuerungstrieb sogenannter unbefugter Schreier, die Unruhe einer Hand voll Menschen, welche eine schlechte Erziehung genossen haben; an dieser aber achtet er nur ihre negative Seite, wenn die Zurech¬ nungsfaͤhigen in einer Nation, durch ihr Stillschweigen die Handlungen der Regierung zu mißbilligen scheinen. Wenn von einer preußischen Constitution die Rede ist, so will Ancillon nichts darunter verstanden wissen, als was schon da ist in jener Monarchie, und versteht sich nur zu einer Zugabe von gleichsam freiwilligen Be¬ amten, welche das Volk ernennen und in die Haupt¬ stadt schicken mag. Dis Supplement der Regierung solle die Behoͤrde unter dem Namen von Staͤnden constituiren, und ihm Ancillon . einen consulativen Antheil an der Gesetzgebung gestat¬ ten, ohne Initiative. Natuͤrlich ist dis nur eine persoͤnliche Ansicht, wel¬ che das Gesetz uͤber die allgemeinen Reichsstaͤnde, statt zu vollziehen, umgeht, die Ansicht eines Gelehrten, wel¬ cher seine eigne Theorie des Staatsrechts hat, die An¬ sicht eines Beamten, welcher Gelegenheit hat, in den schoͤnen Mechanismus der Regierung einzusehen und keine Lebensaͤußerung fuͤr zuverlaͤssig haͤlt, als die mit Controle und im administrativen Sinne. Zur Erhaͤrtung seiner Stimme kam allerdings das Zweikammersystem, das in Deutschlands kleinen Staa¬ ten improvisirt wurde, und in Preußen keinen Beifall fand, weil man es fuͤr sonderbar hielt auf kleinem Terrain von einem erhaltenden und einem bewegenden Prinzipe zu sprechen; ferner die Unmoͤglichkeit, dem preußischen Staate eine Vergangenheit, welche er nicht besitzt, eine Aristokratie, welche mit ihrem Grundbesitz eine imposante Stellung einnaͤhme, einen gewissen go¬ thischen Modegeruch zu geben, welchen die Aufklaͤrung Friedrichs des Großen schon vertrieben hatte. Dennoch mußte man das Ganze der Constitution einstweilen fallen lassen, weil es einmal verbreitet wor¬ Ancillon . den war, daß man, wie man es damals nannte, Preußen im großen Style regieren wollte; weil es sich dabei um die Vollziehung eines sehr bestimm¬ ten Gesetzes handelte; und zuletzt die historisch-aristokra¬ tische Schule der Buͤreaukratie ein gluͤckliches Gegen¬ gewicht hielt. Es bleibt der Zukunft uͤberlassen, wie man in die¬ ser Sache die heiße Erwartung des Landes befriedi¬ gen wird. Die Restaurationsperiode forderte die auswaͤrtige Politik der Staaten wenig heraus. Es war das Zeitalter der Polizei: die Diplomatie konnte ruhen in einer Zeit, wo die Staaten ihren neuen Gegner, die Revolution, kennen zu lernen anfingen, wo man nicht noͤthig hatte, Vergroͤßerungssucht, den Ehrgeiz eines Nachbars, oder die Intrigue der Allian¬ zenpolitik zu beaufsichtigen oder zu uͤberlisten. Dieser Zustand ermunterte Ancillon wieder zu schriftstellerischer Thaͤtigkeit. Die damalige philosophisch-theologische Aufregung bestimmte ihn, in den heftigen Debatten des Tages auch seine Stimme abzugeben. Die Philosophie nahm ihre Fragen da wieder auf, wo man sie vor zwanzig Jah¬ 17 ** Ancillon . ren gelassen hatte; und in Berlin erhob sich die He¬ gelsche Lehre mit so vielem Gluͤcke, daß Alles uͤber Seyn und Nichts philosophirte. Es war die Herrschaft des Hegelschen Sammtbaretts. Jung und Alt that es der Mode nach; man fing an, sich als sich selbst zu setzen; sich zu negiren, dann sich wieder zu vermitteln, und dis logische Kopfuͤber et¬ was lange fortzusetzen, ehe man wieder zu sich selbst zuruͤckkehrte. Ancillon nahm seine Modifikationen der Jakobischen Philosophie wieder auf. Ancillons Resultate haben keinen systematischen, wohl aber einen polemisch-nega¬ tiven Werth. Er nahm die Existenzen unter das Prisma der Vernunft, und begnuͤgte sich damit, die mannichfache Strahlenbrechung desselben wiederzugeben und die Farbenschattirungen zu verfolgen. Ancillon's Prinzip ist das der Wechselseitigkeit in der Methode; er waͤgt die verschiedenen Erscheinungen der Existenzen ab, und findet die Wahrheit gleichsam in einem ju¬ ristischen Prozeß, in der wechselseitigen Gerechtigkeit des Einen gegen das Andere. Was bei Jakobi unmittel¬ barer Glaube ist, das fixirt Ancillon als einen intellek¬ tuellen Instinkt, welcher durch mannichfache Bewußt¬ Ancillon . seins-Zustaͤnde zur Vernunft sich erhebend die Philo¬ sophie macht, in dem die Vernunft mit den Existenzen gleichsam multiplizirt wird. Jakobi philosophirte um gewisse Siege, welche fuͤr ihn primitiv waren, zu retten; Ancillon laͤßt nichts in dem Zustande, wo die Dinge so zu sagen nur der Wunsch sind, daß sie waͤren; sondern sucht sie zu be¬ weisen. Er verachtet die Natur nicht, wie Jakobi; wenn sie diesem eine Verdunkelung Gottes ist, so ist sie bei Ancillon eine Huͤlle desselben: sie hat bei Jakobi in ethischer Beziehung negativen, bei Ancillon aber po¬ sitiven Werth. Ein außerordentliches Ereigniß der Zeit brach ploͤtz¬ lich diese Untersuchungen ab. Ancillon, welchen sie wieder in das Gebiet der Ge¬ schichte und Politik zur Vermittelung der Extreme gefuͤhrt hatten, mußte sich dem politischen Schauplatz mit aller Energie zuwenden; er uͤbernahm in dem er¬ sten Jahre nach der Julirevolution das Portefeuille der auswaͤrtigen preußischen Politik. Nur wer in den faktischen Folgen der neusten Be¬ wegungen unsrer Zeit nichts sieht, als die Erfolge ei¬ niger verbrecherischen Leidenschaften, oder sich dem Glau¬ Ancillon . ben hingeben kann, alle Thatsachen des Augenblicks koͤnnten durch die Reaktion einer naͤhern oder entfern¬ tern Zukunft ruͤckgaͤngig gemacht werden; nur der wird laͤugnen, daß ein großer Theil von Ancillons politi¬ schen Behauptungen durch die Erfahrung nicht bewie¬ sen worden ist. Die Einwendungen der Conservativpartei gegen die der Bewegung waren so gut Hypothesen, wie ein gro¬ ßer Theil der Traͤume, mit welchen sich die letztere schmeichelte, auf Rechnung ihrer Einbildungskraft kom¬ men mag. In der Stimmung und Laune, welche die Freude uͤber gelingende Coercitivmaaßregeln veranlaßt, entfaͤllt selbst der Besonnenheit und tiefern Einsicht in den Lauf der Geschichte ein Urtheil, gegen welches schon die naͤchste Zukunft eine Protestation einlegt, die um so siegreicher, je faktischer sie ist. Kein Faktum steht aber sichrer, als das, welches von beiden Partheien anerkannt wird. Und die preußische Po¬ litik hat somit anerkannt, was ihre Partheigaͤnger, die berufenen wie die unberufenen, vorher in die heftigste Abrede gestellt hatten. Die Stellung, welche Preußen seit der Julirevo¬ Ancillon . lution nach Außen annahm, war als eine friedliebende zwar zunaͤchst aus persoͤnlichen Stimmungen hervorge¬ gangen; allein noch mehr wurde der Frieden geboten, nicht durch das Prinzip, mit welchem der Friede stritt, sondern durch die Situation und eine Verrechnung der Umstaͤnde, deren Schuld die Vergangenheit haͤtte be¬ zahlen muͤssen. Ganz Europa hat gestanden, daß es von den Er¬ eignissen in Frankreich uͤberrascht worden ist. Wird Preußen allein sagen wollen, daß die Dinge ihm nicht neu waren? Diese Maͤßigungspolitik war, dem Monarchen ge¬ genuͤber, eine Huldigung, dargebracht seinem milden und versoͤhnlichen Sinne; den preußischen Publizisten aber gegenuͤber eine Demuͤthigung, welche zu verra¬ then schien, daß man sich auf einer falschen Combi¬ nation ertappt hatte und durch Temporisiren nur Zeit gewinnen wollte, seine fruͤhern Meinungen zu be¬ richtigen. Die auswaͤrtige preußische Politik seit der Julire¬ volution laͤßt sich in drei Perioden eintheilen: zu¬ erst die Ueberraschung, dann ein endliches Orientiren Ancillon . in den Begebenheiten, Festigkeit und Takt, welche Vorzuͤge um so wohlfeiler zu stehen kamen, je mehr die Umstaͤnde eine Allianz mit dem Norden zu ge¬ bieten schienen, gegenwaͤrtig endlich, wo die neue Ordnung der Dinge sich mit der alten assimilirt hat, wo der eine revolutionaire Schlauch, welchen Aeolus auf Europa oͤffnete, in seinem Inhalte so vertheilt ist, daß er nirgends mehr wolkenartig praͤ¬ ponderirt, jetzt eine geistreiche Taktik gegen Deutschland, von welchem die Staatsmaͤnner einsehen muͤssen, daß es fuͤr Preußen ein natuͤrlicheres Fundament ist, als Frankreich, wie die Ideologen wollen. Dem Patrioten laͤßt sich keine schoͤnere Garantie geben, als diese Politik, welche in der Frage des Zoll¬ vereins, in dem gemaͤßigten Resultate der Wiener Con¬ ferenzen und in Preußens energischer Repraͤsentation am Bundestage in die Zukunft die hoffnungsreichste Perspektive eroͤffnet. Sollen wir es gestehen, so glauben wir, daß selbst die Frage wegen Preußens Verfassung eine neue Loͤsung zu erwarten hat: wenigstens haben die Staatsmaͤnner jenseits der Elbe eingesehen, wie schwer es ist, unter Preußen eine Abstraktion Deutschlands zu verstehen Ancillon . und die staatsrechtliche Verpflichtung Beider als eine todte Maschine erkalten zu lassen. Eine Geistesrichtung, wie die Ancillons, kann die offenbarende Kraft der Geschichte, selbst in ihren vor¬ uͤbergehenden Tageserscheinungen nicht verkennen. Sie sieht ein, daß die Gesetze durch das Beduͤrfniß geboren werden, und daß unser Zeitalter nicht dasjenige ist, welches nach einem Mehr oder Minder von positiver Gewalt trachtet, sondern daß es in seinem launenhaften Hinbruͤten nur auf Ideen stoßen will, welche seine Ahnung aussprechen, und welche in einen geordneten, die Interessen nicht verletzenden und constituirten Zu¬ sammenhang zu bringen, die Aufgabe der Staatsweis¬ heit ist. Ancillon wird an diejenigen, deren Jugend von sei¬ nem Greisenalter einst die hohe Aufgabe, fuͤr Millio¬ nen zu denken, uͤbernehmen wird, das Gestaͤndniß hin¬ terlassen, daß in der Verwirrung dieser Zeit der Staats¬ mann nirgends einen so gluͤcklichen Weg geht, als in der preußischen Monarchie. Denn wo waͤren die Hindernisse, welche sich dort einer weisen Absicht entgegenstellen? Wo ist das Feld, auf dem sich bauen laͤßt, geordneter? Wo waͤre, ohne Ancillon . daß man befuͤrchten muͤßte, das Naͤchste unerfuͤllt zu lassen, noch der (nicht administrativen und untergeord¬ neten, sondern genialen und schoͤpferischen) Politik so viel Raum gelassen, um nicht nur ein erstes Terrain, Preußen, sondern auch ein zweites, Deutschland, sich zu ewigem Danke zu verpflichten? Rothschild . Gutzkow's öffentl. Char. 18 W enn es schwer ist, von dem Finanzgetriebe unse¬ rer Zeit eine gewissenhafte Meinung zu fassen, so ist es deshalb, weil das Ganze so wunderbar der Phan¬ tasie imponirt. Truͤgerische Begriffe durchkreuzen sich hier mit offiziellen Thatsachen, Fiktionen mit wesen¬ haften Resultaten, Hypothesen mit erwiesenen Schlu߬ folgen, kurz es ist ein neuer Nominalismus und Rea¬ lismus, der uͤber die Voͤlker gekommen ist, eine Iden¬ titaͤt des Idealen und Realen, welche schlagender ist als die der Hegel'schen Philosophie. Was ist Geld? Die Alten glaubten, Geld waͤre Silber oder Gold. Sie glaubten, Geld waͤge die Ge¬ genstaͤnde auf, welche man aus der gleichen Quanti¬ taͤt Metall verfertigen kann. Die Alten machten aus dem Gelde eine Waare. Erst Adam Smith sagte: Geld ist das Triebrad der Cirkulation. Das ist die 18 * Rothschild . Formel, welche alle Geldbeutel der Welt revolutionirt hat. Was Cartesius mit cogito ergo sum im Reiche der Geister wirkte, das hat fuͤr die materielle Existenz, fuͤr Luft und Athem die Phrase gethan: Geld ist das Triebrad der Cirkulation. Man riß sich los vom Be¬ griffe Geld als eines daliegenden Mammons, man war hochherzig wie Curtius, man sagte: Geld ist keine Waare, Geld ist Nennwerth, Geld ist die Formel einer Idee, Geld ist nur Chimaͤre. Man sagte: Schuͤttet die Schach¬ ten von Potosi zu! Laßt den Nymphen am Rio de la Plata des Flusses Silber, daß sie damit ihr feuchtes Haar schmuͤcken! Kredit — das ist das rechte Bergwerk, Kredit ist das eigentliche Amerika, die krediteinfloͤßenden Mienen unsers Antlitzes sind ohne Wortspiel die rech¬ ten Goldminen des neuen Jahrhunderts! Und so kam es, daß das Papiergeld geschaffen wurde. Das Geld hieß nun Werthbestimmung, und konnte somit ins Unendliche vermehrt werden; denn wer vermoͤchte den Werth aller Dinge in Zahlen aus¬ zusprechen! Geld sollte nur noch ein Umsatzmittel sein, nichts, als eine Erleichterung der Cirkulation. Das aber was cirkulirte, war im Grunde das unaussprech¬ liche Kapital an Industrie, an Handelsthaͤtigkeit, an Agrikultur und geistiger Production. Rothschild . Wie stolz, wie groß ist dieser Gedanke! Wie wuͤr¬ dig eines philosophischen und genialen Jahrhunderts! Aber der Irrthum lag wie immer darin, daß man fuͤr die Wahrheit keine Graͤnze wußte. Statt zu sagen: Geld ist der Ausdruck eines mo¬ mentanen und wahrscheinlichen Werthquantums, aber nicht Ausdruck der ganzen Werthmoͤglichkeit, kurz statt sich zu beschraͤnken und in der Papieremission vor¬ sichtig zu sein, grub man immer mehr ideelles Gold aus den Schachten der Phantasie. In einem Augen¬ blicke, wo die Menschheit ploͤtzlich Lust bekam, pro¬ saisch, nuͤchtern, mißtrauisch zu werden, wo die Ban¬ ken von Menschen, die ihr Papier in klingende Muͤnze umtauschen wollten, bestuͤrmt wurden, mußte man be¬ schaͤmt, weil mit leeren Haͤnden, dastehen. So fallir¬ ten die Banken und die Regierungen. Der Idealis¬ mus hatte einen empfindlichen Stoß erlitten. Aber schon die Philosophie an sich ist unermuͤd¬ lich; um wie viel mehr, wenn es sich um den Nerv der Dinge, um das Geld, handelt! Eine neue Phase des Idealismus entwickelte sich reeller, d. h. vorsichtiger, als die fruͤhere, und man kann es nicht laͤugnen, auf auffallende Weise fast noch ideeller. Denn ist es nicht das luftigste Phantom, Rothschild . welches uͤber Europa schweben muß, wenn man weiß, daß die Schulden aller Staaten zusammengenommen die Masse des vorhandenen Geldes bei weitem uͤber¬ steigen! Wenn es nur dis waͤre, daß die Borgenden mehr borgten, als sie kurz darauf besitzen, so kommt das alle Tage vor; aber daß selbst die Gebenden mehr gegeben haben, als uͤberhaupt Geld in der Welt ist, das ist ein Widerspruch, der unglaublich scheint. Sehet hier wieder den Satz von Adam Smith: aber nun haben sich beide Theile vorgesehen; denn die Schuldenmasse kann nie aufgekuͤndigt werden: ihr reel¬ ler Werth ist nur das, was sie an Zins betraͤgt. Jetzt haben wir eine reelle, wahrhaftige Poesie, deren einziges Ungluͤck ihre Gegner sind. Denn es gibt rauhe und empfindungslose Menschen, welche fuͤr ein so romantisches Gedicht, wie das Anleihesystem ist, gar kein Ohr haben. Sie behaupten, daß es unver¬ antwortlich waͤre, wenn die Voͤlker die Spaziergaͤnge der Kapitalisten bezahlen muͤssen. Sie sind damit noch nicht einmal zufrieden, daß blos von einer Verzinsung fremder Imaginationen die Rede ist, nicht von einer Heimzahlung des ganzen Kapitals. Sie glauben sich aus finanziellen, moralischen und politischen Gruͤnden gegen das herrschende System erklaͤren zu muͤssen. Rothschild . Sie haben keinen Sinn fuͤr den transcendentalen Idea¬ lismus des Geldes, diese Nuͤchternen, Prosaischen, diese Volksverfuͤhrer! Lasset heute das Wohl der Voͤlker bei Seite lie¬ gen, sprecht nicht von den Einfluͤssen der Geldaristo¬ kratie auf Sitten, Meinungen und Ereignisse, nicht von den Kapitalien, die dem Gewerbe und dem Acker¬ bau entzogen werden, nicht von Drohnen, die von Renten leben und ohne Verhaͤltniß besteuert sind, nicht von der Immoralitaͤt des Boͤrsenspieles. Die Anleihen sind einmal da, das große Schuld¬ buch der Nationen zeigt Namen, Datum und Jahres¬ zahl, das Geschaͤft ist im besten Gange. Fuͤnf Bruͤ¬ der kenne ich, welche den lokalen Ruf der Ehrlichkeit genießen, die originell, liebenswuͤrdig, wohlthaͤtig und reich sind und die sich Niemandem aufgedrungen ha¬ ben. Die Verpflichtungen sind eingegangen, wir koͤn¬ nen nichts thun, als einen Riesenbau von Dukaten¬ saͤulen mit Piasterkapitaͤlen und flatternden Coupons¬ guirlanden umgehen, und das blitzende Wunderwerk anstaunen. Naiv, neugierig, ganz unbetheiligt stellt sich der Autor an seine bescheidene Honorarsaͤule im Vierundzwanzigguldenfuß und betrachtet das Gewuͤhl und Rennen, das sich vor seinen Augen aufthut. Rothschild . Aphroditens Voͤgel fliegen in der Luft von Paris nach Amsterdam und haben die Kurszettel aus der Coulisse unter ihren Fittigen gebunden; ein Telegraph fingert von Paris nach Bruͤssel hinuͤber, wie hoch die 3prozentige Rente gestiegen ist; Kuriere eilen uͤber die Landstraßen auf keuchenden Rossen; die Abgesandten der wirklichen Koͤnige markten mit den ideellen Koͤni¬ gen, und Nathan Rothschild in London zeigt Euch, wenn Ihr ihn besucht, ein Kaͤstchen, das aus Brasi¬ lien mit ganz frischen, eben aufgefischten Diamanten angekommen ist, um damit die Zinsen der brasilischen laufenden Schuld zu decken. Ist dis nicht interessant? Ist es nicht interessant, daß Nathanael, des Londoner Rothschilds juͤngster Sohn, bei seiner Au¬ dienz in Konstantinopel vom Sultan, als Sonne un¬ ter den europaͤischen Bankiers begruͤßt wird; daß Karl Rothschild dem Papst die Hand kuͤßt, und Lionel, der aͤlteste Sohn des Londoner Rothschild, in Madrid zum Ritter Isabellens, der Katholischen, ernannt wird? Beschaͤftigt Euch einige Minuten mit diesem wun¬ derlichen Systeme! Ihr werdet noch immer Zeit ge¬ nug finden, es zu verdammen. Spindlers Bendavid und der Ghetto von Frankfurt sind bekannt. Schon hat die Flamme einen großen Theil dieser antiken Rothschild . Ueberlieferung zerstoͤrt; doch der groͤßere blieb zuruͤck und oͤffnet die Perspektive einer Zeit, die noch nicht lange verflossen ist. Reicht das Mittelalter der Juden nicht noch hinauf in das Jahrhundert der Aufklaͤrung? Zwei schmuzig rothe Haͤuserreihen, gebaut auf al¬ ten Urbloͤcken, die so schwer sind, wie der Stamm, den Christus auf Golgatha tragen mußte, ziehen sich in einer aͤngstlichen, finstern, schlecht gekehrten Pa¬ rallele neben einander hin, von einer unvollendeten Synagoge bis zu dem jenseitigen Thore, das ehemals naͤchtlich geschlossen wurde. Welche Charaktere verstecken sich hier hinter den originellsten Mienen! Hier lernt man, daß die Juden noch immer einen innerlichen Zusammenhang unter sich haben, daß sie eine geschlossene Kette mitten in der europaͤischen Gesellschaft bilden. Dort der mit dem Raͤnzel auf der Landstraße wandernde Hausirer, die Herberge der naͤchsten Stadt, die Kundschaft am Orte — o man lernt sich eine planmaͤßige Existenz, wie sie hinter unserm Ruͤcken von einem ganzen Volke gelebt wird, zusammenreihen. Seht jenen Sack, in dem auf der Frankfurter Judengasse der Hausirer einen Troͤd¬ ler hineinguken laͤßt; ist es nicht, als staͤken Dinge darin, die in Polen und Ostpreußen vermißt werden? Rothschild . Gewiß ist dieser Glaube grundlos, aber die Stille des Ortes naͤhrt ihn. Mitten unter Auskehricht, Resten kauscherer Mit¬ tagsmahlzeiten, mitten unter Geruͤchen, welche fuͤr ein Land berechnet scheinen, wie der Orient ist mit seinen Rosenwaͤldern, um sie zu unterdruͤcken, toͤnt hier Al¬ les fast wie eine geheime Verabredung, wie ein naͤcht¬ licher Ueberfall, wie die eben aus Portugal erhaltene Nachricht von des wahren Messias endlicher Erschei¬ nung. Stechende Blicke begleiten ein lakonisches, mit humoristischer Freiheit gesprochenes Deutsch. Die Ge¬ sichtsbildungen mit ihren barocken Unregelmaͤßigkeiten, die mir aus einem unerklaͤrlich geilen und wuchernden Triebe der juͤdischen Natur zu entstehen scheinen, das nachlaͤssige, die Hand in die Hosen gesteckte Hinleh¬ nen an die rußige Mauer, das wie von Siegellack- Roth prunkende Antlitz der Kattun-Verkaͤuferin mit ihrem angeschwollenen Leibe, kurz alles juͤdisch Cha¬ rakteristische traͤgt in sich einen vielleicht ganz harmlo¬ sen Ausdruck, aber dem boͤsen Gewissen des Christen, einer jahrtausendjaͤhrigen Verschuldung duͤnkt er wie Rache. Den Kopf haben wir voll von abgezapftem Blute, vom Feuertod, von der mittelalterlichen Ser¬ vitut der reingekehrten Gasse und den jaͤhrlich 14 Rothschild . Brautpaaren; darum versehen wir uns nichts Gutes hier an dem Quartiere Israels. Aber großmuͤthiges Volk, nichts als leben willst du, nichts als jenes unblutige, vor Moses gerechte Fleisch, das der Schaͤchter seinen Kunden zutraͤgt, nichts als die duftende Zwiebel, und Menschen, welche Lust zu handeln haben, Menschen, welche gute, hei¬ lige Kronenthaler auf Pfaͤnder nehmen! Hier ist keine Rache und ich verdamme meine Phantasie, wenn ich auf dem Gemuͤse-Markt stehe, wo die alten grauhaa¬ rigen Rebecken und Rachel mit den Hoͤkern um den Fruͤhling handeln, und ich mir uͤber Eurer dunkeln Gasse, uͤber diesem von allen Nebengebaͤuden und den Beistraßen isolirten Exil den rothen Hahn des Zigeu¬ ners unwillkuͤhrlich machen muß, als sei diese ganze romantische Antiquitaͤt dazu bestimmt, in Kurzem ein Raub der Flammen zu werden. Erschreckt nicht! Ich bin keine Cassandra! In der Frankfurter Judengasse wurde der alte Herr geboren, welcher der Stifter des Hauses Roth¬ schild war, Mayer Anselm Rothschild. Es war einige Jahre fruͤher, ehe die Frau des Patriziers Goethe in die weltberuͤhmten Wochen kam. Mayer Anselm hatte vielleicht auch einen Traum erlebt, wie der junge Wolf¬ Rothschild . gang an der schlimmen Mauer; doch waren es nicht die verfuͤhrerischen Lockungen der Poesie, welche ihn umgaukelten, sondern die heiligen Schnoͤrkel des Tal¬ mud, die glaͤnzenden Urim und Thummim des Ho¬ henpriesters blendeten seine Phantasie, er wollte auf dem Stuhle der Synagoge stehen und die Thora pre¬ digen, das Gesetz der Gerechten. In Fuͤrth holte er sich aus alten, schweinsleder¬ nen Buͤchern, aus urweltlichen, ungedruckten Perga¬ menten das lautere Wort Jehovahs, und was Mai¬ monides und Rasche beigebracht haben, um es zu er¬ klaͤren. Er lernte was Keri und Ketiph ist, und folgte der Weisheit Mayer Hallevis, des großen Rabbi von Toledo, der zuerst den Werth der Masora aufgedeckt hat. David Kimchi und David ben Jechiel, die Dic¬ tionaire der Sprache Gottes, kamen nie aus seiner Hand; noch dachte er nicht an Dividenden und Loose, er suchte statt der Wahrheit der Erde die Wahrheit des Himmels. Als sich das Projekt, im Violettkleide ein Prie¬ ster zu werden zerschlug, da war Mayer Anselm noch immer nicht auf die Praxis des Lebens gestellt, auf die klingende Muͤnze, auf die Vierundzwanziger Ma¬ rien Theresiens und den Unterschied der preußischen Rothschild . Viergroschenstuͤcke von den falschen Ephraims Friedrich des Großen; sondern er blieb noch stehen bei einer Verbindung der Wissenschaften mit der Praxis, naͤm¬ lich bei alten Muͤnzen, mochten sie nun von Gold, Bronze oder Kupfer sein. Mayer Anselm war bewandert in jeder Centurie, in persischen und byzantinischen Muͤnzen, er war ge¬ schickt, das Werk des Professors Eckhel in Wien zu rezensiren, wenn ihn die Salzburgische Literatur-Zei¬ tung dazu aufgefordert haͤtte. Er trieb in Hannover das Komptoir-Geschaͤft (denn der Vater wollte nicht glauben, daß der Muͤnzenhandel ein Geschaͤft waͤre); aber er that es wie Moses Mendelssohn, der auf der Burgstraße in Berlin das große Buch einer Seiden¬ waaren-Handlung fuͤhrte und nebenbei in dem noch groͤßeren Buch der Natur und des Geistes blaͤtterte. Nur war der Unterschied der, daß Mendelsohn fuͤr Kant, Mayer Anselm fuͤr Winkelmann schwaͤrmte. Jener unterschied das Raͤumliche von dem Zeitlichen in der Erscheinung, dieser einen Caracalla von einem He¬ liogabal. Jener wußte, wie sich das Gute von der Guͤte, das Schoͤne von der Schoͤnheit, Aristoteles von Plato, und beide wieder von Sokrates unterschieden; dieser, wie weit die Roͤmer in Deutschland vorgedrun¬ Rothschild . gen sind, wo sie ihre Todten begruben. Mayer An¬ selm war ein Antiquar, der fuͤr die Thatsachen der Geschichte schwaͤrmte. Der Landgraf von Hessen (spaͤter Kurfuͤrst) theilte die Liebhaberei seines Nachbars, und kaufte ihm Muͤn¬ zen ab, obschon Germanicus oder Domitian, die darauf abgepraͤgt waren, keine Zoͤpfe trugen. Und wie sie beide so unterhandelten und sich beide belehrten uͤber die Nacht der alten Zeiten, und die we¬ nigen aus ihr herausblinkenden Muͤnzsterne, da be¬ merkte der Landgraf in seinem Antiquar einen guten Geschaͤftsmann und eine Ehrlichkeit, die gerade so weit ging, als das erlaubte Prozent seines Verdienstes. Er fing an statt von alter Bronze auch uͤber neues Sil¬ ber mit ihm zu sprechen, und uͤbertrug ihm manches kleine Geldgeschaͤft, bis er 1801 mit der Hofagentur Mayer Anselms Verdienste belohnte. Seither blieb diese Verbindung ohne Unterbrechung, und war eine Garantie fuͤr andere Fuͤrsten, sich in Verlegenheiten ohne Scheu an das aufbluͤhende Frank¬ furter Haus zu wenden. Das Verdienst, welches sich Rothschild unter Napoleon um das kurfuͤrstliche Pri¬ vatvermoͤgen erwarb, ist bekannt genug. Er befestigte sich immer mehr in der oͤffentlichen Achtung und Rothschild . konnte davon unter Dalberg die Beweise sehen; denn dieser machte ihn zum Mitglied des Wahlkol¬ legiums. Eine schlechte Empfehlung der Republik liegt in der Reaktion, welche nach Napoleons Sturz gegen die Emancipation der Juden wieder eintrat. Rothschilds aͤltester Sohn harrt noch heute vergebens darauf, nur in das Frankfurter Casino aufgenommen zu werden. Waͤhrend Dalbergs sanfter Monarchie dagegen durfte der Vater den Stab uͤber unzuverlaͤssige Christen bre¬ chen, Boͤrne durfte wandernden christlichen Handwerks¬ burschen Paͤsse ausstellen. Mayer Anselm erlebte die Reaktion der Intole¬ ranz nicht. Er starb im Jahre 1812, nachdem er seine Soͤhne am Sterbebette versammelt, und ihnen die persische Fabel von dem Buͤndel Pfeile erzaͤhlt hatte. Vielleicht hatte er einen hollaͤndischen Dukaten in der Hand und zeigte ihnen die Pfeile und sprach leise in sich hinein: „concordia res parvae crescunt, discordia maximae dilabuntur.“ So starb er als ein Gerechter, als Vater, als Gelehrter, als Muͤnz¬ kenner. Sein Tod wurde allgemein betrauert; denn er spendete uͤberall Wohlthaten mit patriarchalischer Uneigennuͤtzigkeit. Rothschild . Erst den fuͤnf Soͤhnen Mayer Anselms war es uͤberlassen, das in Ausfuͤhrung zu bringen, was der Vater vorbereitet hatte. Sie fanden ungemeine Geld¬ mittel vor, aber dazu zwei Dinge, die dem Kaufmann noch hoͤher stehen muͤssen: Kredit und Konjunkturen. Napoleon war keine Konjunktur. Unter Napoleon hatte das System der Kontributionen geherrscht, welche fuͤr Frankreich die groͤßten Verlegenheiten deckten. Und die, welche sie zahlen mußten, stießen uͤberall auf eng¬ lische Subsidien und eine Zudringlichkeit, die den Kon¬ tinent an den Rand des Abgrundes brachte. Auch floͤßten die innern Zustaͤnde der vorzuͤglichsten Staaten den Kapitalisten kein Vertrauen ein; denn nach den Schlachten von Jena und Wagram hatte das Papier in Preußen und Oestreich seinen Werth verloren. Erst nach dem Pariser Frieden, nach dem in Wien fuͤr Europa punktirten status quo konnten Private zu den Regierungen Vertrauen fassen; der Wechsel-Verkehr zwischen Fuͤrsten und Voͤlkern war erhebend; jeder sah sich nach den besten Mitteln um, seine Wunden zu heilen; die Entschaͤdigungs-Gelder bewiesen, daß noch ungeheure Summen aus den europaͤischen Truhen konnten aufgebracht werden, und im Ruͤcken wußte man die noch immer nicht versiegenden Adern der Ge¬ Rothschild . birge, Stroͤme, auf welchen der Handel seine lustige Hoffnungsflagge wehen ließ, fruchtbare Thaͤler, ge¬ werbseifrige Staͤdte und zuletzt die blaue, liebe Luft, in welche die Spekulation viele ihrer Schloͤsser hinein¬ baute. Jetzt hatte man Lust zum Geben und zum Nehmen: Einer suchte an der Verlegenheit des Andern zu gewinnen, und beide lachten; denn beiden war ge¬ holfen. So entstanden nach Napoleons Sturz Anleihen, welche sich zu einem foͤrmlichen Systeme ausbildeten, und jetzt in den Lehren der National-Oekonomen ihre festen, sehr komplizirten Kapitel haben. Die Gebruͤder Rothschild wurden die Hierophanten der neuen Reli¬ gion, welche ihre Fanatiker so gut wie ihre Ketzer hat. Als die Gebruͤder Rothschild zu operiren anfingen, mußte zuerst ein Vorurtheil zerstoͤrt werden, naͤmlich die freiwillige Abhaͤngigkeit, in welche sich der Konti¬ nent von England zu setzen pflegte. Sollte die Mo¬ neycracy eine Autoritaͤt werden, so mußten von ihr Fuͤrsten und autorisirte Gesellschaften ausgeschlossen werden. Haͤtten die Umstaͤnde nicht fast ununterbro¬ chen seit vierzig Jahren das Buͤndniß Englands mit Preußen und Oestreich beguͤnstigt, und die politischen Gutzkow's öffentl. Char. 19 Rothschild . Maaßregeln dieser Staaten zu gemeinschaftlichen fuͤr wenigstens zwei Theile gemacht, so waͤre die Verschul¬ dung der beiden Kontinentalmaͤchte an den Staat Eng¬ land tausend Irrungen preisgegeben gewesen. Die Geld¬ maͤnner wollten keine Gemeinwesen zu Rivalen haben, sondern es sollte ein geschlossener Bund, eine Adels¬ kette des Geldes unter Privaten werden, die ihr ge¬ heimes Netz um Europa spann. Die Anleihen wur¬ den ausgeboten und an den losgeschlagen, welcher die geringste Provision nahm. Aber freilich die Bereitwilligkeit des Borgens ist wohl immer die schwaͤchste Garantie des Wiederbezah¬ lens: es mußten neue Regierungsakte hinzukommen, um den Privaten Vertrauen einzufloͤßen. Dis waren nach dem Kriege von 1815 einestheiles die Errichtung der Tilgungsfonds, sodann die Anerkennung des re¬ praͤsentativen Systems. Denn man irrt sich, glaubte man, die Geldaristokratie sei in jedem Stuͤcke mit der absoluten Monarchie verschworen. Die Geldaristokratie hat die staͤrksten Augen und eine nervoͤse Sensibilitaͤt, die sie, man moͤchte sagen, in den Zustand des Hell¬ sehens versetzt. Sie lebt von einem Handel, den man, als noch mit Tulpen statt mit Aktien gehandelt Rothschild . wurde, schon den Windhandel nannte: sie weiß, daß man uͤber den Wind der Politik nicht physikalisch be¬ stimmen kann, von wannen er koͤmmt und wohin er faͤhrt. Die Wahrscheinlichkeits-Rechnung schließt keine Chance aus. Deshalb mußte ein System in ihre Berechnungen passen, welches von der Zukunft das Ge¬ faͤhrlichste vorwegnimmt, und die Demokratie selbst, dis Schreckbild der Kapitalisten und Staatsglaͤubiger, in ihr Interesse zieht. Die Boͤrsenmaͤnner gehoͤren alle zum Juste-Milieu, zu einem Glaubensbekenntniß, das es mit Niemandem verderben will, und das uͤber¬ all unterliegen muß, wo es Doktrin ist, und mit po¬ sitiven Zwecken umgeht, da aber die Oberhand behaͤlt, wo es nur eine Maaßregel der Schlauheit und kluger Berechnung eines Einzelnen ist. Die Staͤnde sagten gut fuͤr die Schulden der Regierungen, oder mit an¬ dern Worten, jene wahrscheinliche Thatsache, daß un¬ sere Enkel die Verpflichtungen ihrer Vaͤter nicht uͤberall mehr anerkennen werden, wurde noch auf eine ziemlich ferne und nebelhafte Zeit hinausgeschoben. Weit illusorischer als das Repraͤsentativsystem ist die Fundirung eines Tilgungsfonds. Die Maaßregel diente nur dazu, einen ungefaͤhren Maaßstab des besten Wil¬ 19 * Rothschild . lens zu geben. Denn jedes neue Ereigniß, das ploͤtz¬ liche Beduͤrfnisse der Regierungen hervorruft, wird alle vorangegangenen schoͤnen Tilgungsentschluͤsse zerstoͤren. Wir erinnern an den Sinking-Fund in England. Dennoch ist es fuͤr die Regierungen vertrauenerweckend, wenn sie sich wenigstens den Anschein geben, als ver¬ mieden sie, leichtsinnig zu sein. Das erste Beispiel, in seinem Staatshaushalte zu ordnen und zu lichten, gab Oestreich. Nicht nur daß dieser Staat, der unter Napoleon in Geldsachen fast seinen ganzen Kredit verloren hatte, an Tilgung seiner Schuldenmasse dachte, sondern es wurde namentlich die Errichtung einer Nationalbank von wesentlichem In¬ teresse. Auf die Tilgung und die Bank folgte die Emission der Metalliques, eines Papiers, das gleichsam alle boͤsen Saͤfte des oͤstreichischen Schuldenwesens in sich absorbirte; denn mit ihm wurden die meisten kur¬ sirenden Schuldverschreibungen Oestreichs in Rapport gesetzt. Die Metalliques hatten in sich Schrot und Metallwerth genug, um von den ihnen beigefuͤgten Ele¬ menten nicht angerostet zu werden. Sie bleiben der rechte Nennwerth von Oestreichs unerschoͤpflichem Na¬ tionalreichthum, seinen ungarischen Bergen, welche oben Rothschild . das Gold der Rebe, unten das Gold Fafners huͤten, von seinen steierischen Eisenhaͤmmern, seinen gesegneten sonnenhellen Erblanden, von all den Naturadern, die Oestreich zum zaͤhesten und unvertilgbarsten Staate der Erde machen. Die Metalliques sind der leitende Kom¬ paß auf den Wogen der deutschen Boͤrsen. Waͤren sie nicht zu schwer, als daß sie jeder Wind herumwer¬ fen koͤnnte, so verdienten sie den Namen der deutschen Boͤrsengirouetten. Mit ihrer Emission datirt sich in Deutschland der geregelte Verkehr mit Staatspa¬ pieren. Die Gebruͤder Rothschild waren bald in das In¬ teresse der oͤstreichischen Finanzen aufgenommen. Bis zum Jahre 1840 laufen die im April 1823 emittir¬ ten kleinen Rothschild'schen Loose; in diesem Jahre (1835) sind schon abgelaufen die Pariser Rothschild'¬ schen Metalliques, welche fuͤr originaloͤstreichische fun¬ girten. Im Jahre 1821 wurden fuͤr eine Rothschild'¬ sche Anleihe die Partialobligationen kreirt. Preußen hatte schon im Jahre 1817 von dem Frankfurter Hause 5 Millionen Gulden geliehen. In Paris und London trat allerdings die Konkur¬ renz bedeutender Kapitalisten ein, Aguado, der fuͤr Rothschild . Spanien, Lafitte, der fuͤr Frankreich und Hayti nego¬ ziirte, Ardouin, Parish u. A. Doch blieben die Bruͤ¬ der bei keinem Geschaͤft unbetheiligt: sie bilden einen unbesiegbaren Phalanx. Selbst oder durch ihre Agen¬ ten beherrschen sie die vorzuͤglichsten Plaͤtze, und da sie gewohnt sind, nichts ohne Verabredung und Ueberein¬ stimmung zu unternehmen, so koͤnnen sie dabei nach einem Systeme verfahren. Die Orden und Titel der Bruͤder sind nur zur Haͤlfte ein Maaßstab der Achtung, welche sie bei den europaͤischen Souverainen genießen. Man hat gefragt, ob die Rothschilds direkten Einfluß auf die Politik ha¬ ben? Haͤngt uͤberhaupt die Geldaristokratie energisch mit den Ereignissen der neuen Geschichte zusammen? Die Phantasie und der Haß haben in dieser Ruͤck¬ sicht viel Fabelhaftes ersonnen. Mir liegt ein ameri¬ kanischer Roman vor Augen, in welchem die Fiktion eines Bundes von zehn der reichsten Erdengoͤtter, die Krieg und Frieden schließen und die Welt nach Gut¬ duͤnken regieren, auf hoͤchst anziehende Weise durchge¬ fuͤhrt wird. — „Zehn sind wir — sagt Einer von ih¬ nen — und uͤber die ganze Welt zerstreut, und doch taͤglich, ja stuͤndlich beisammen; durch keine Bande, Rothschild . und doch wieder durch die innigsten Bande verschlun¬ gen, die des gemeinschaftlichen Interesse's, das der Welt eine neue Gestaltung geben soll, fruͤher oder spaͤ¬ ter geben soll, wird, muß. In London sind wir fuͤnf. Alle Wochen versammeln wir uns, vergleichen Noten und bestimmen den Gang der Weltverhaͤltnisse. Die Mysterien der Finanzen aller Reiche und ihrer Existenz liegen klar vor unsern Augen. Kein Reich, keine Fa¬ milie, kein Stand ist unserm anatomischen Messer entgangen. Wir halten die Bindungsfaͤden unserer Existenz, jedes Standes, jeder Familie, von der aller¬ hoͤchsten bis zur niedrigsten in unserer Hand. In un¬ serm Soll stehen Milliarden, stehen Staaten und Fa¬ milien, Koͤnige und Kaiser; es sind Noten wie die im Buche des ewigen Richters. Der oͤffentliche Kredit und das haͤusliche Wohl, das Gluͤck aller Reiche der civilisirten, d. h. der schuldenden Welt, des Handels und Wandels hangen von unserm Wink und Willen ab. Was ist die geheime Polizei des Kontinents ge¬ gen die, welche wir bezahlen! Das tanzende und in seinen Fesseln knirschende Frankreich, und das phleg¬ matisch-mondsuͤchtige Deutschland, und das traͤg-bi¬ gotte Spanien und das elende an den Knochen seines dreitausendjaͤhrigen Ruhmes nagende Italien muͤssen Rothschild . sich beugen und fuͤgen, und alle Laͤnder der Erde muͤssen folgen, denn unsere Mineurs sind thaͤtig.“ Dis ist eine Allegorie. Sie druͤckt das als Machi¬ nationen aus, was die unwillkuͤhrliche Thatsache un¬ serer modernen Verhaͤltnisse ist. Ist hier etwas un¬ vermeidlich, so fuͤrchtet nicht, daß es nicht besiegt wer¬ den koͤnnte! Glaubt Ihr, daß die ganze Zukunft des Menschengeschlechts, daß das wahrhaft Welthistorische sich werde umspinnen lassen von den Metall- und Papierinteressen eines schwindelhaften Jahrhunderts? Ein franzoͤsischer Minister, der den Telegraphen hat, kann sich kleine Niedertraͤchtigkeiten zu Schulden kom¬ men lassen, aber schon muͤssen die von ihm fabrizirten Ereignisse fuͤrchten, entlarvt zu werden: nur auf ein Geruͤcht duͤrfen sie sich beschraͤnken, oder wenn sie wirklich thatsaͤchliche Wurzel haben, so gedeihen sie nicht laͤnger, als bis ein guͤnstiger Kauf abgeschlossen ist und der Telegraphen-Minister soviel eruͤbrigt hat, daß er sich damit in Zukunft fuͤr seine Dimission und seine ruinirte Popularitaͤt entschaͤdigen kann. An solche Manoeuver, an einen Einfluß auf die Politik so heilloser Art denken wir nicht, wenn von Maͤnnern die Rede ist, die wie die Gebruͤder Roth¬ Rothschild . schild im Angesichte der Welt handeln und ganz Eu¬ ropa ihr Komptoir nennen. Manches Anderweitige aber, das in die Politik eingreift, moͤchte unterlaufen, eine Idee, ein Vorschlag, eine Mission. So ist es unbezweifelt, daß das Frankfurter Haus der preußischen Regierung den Vor¬ schlag einer Nationalbank und einer daraus folgenden sublimen Finanzmetaphysik nach dem Muster Oestreichs gemacht hat. Doch hat die preußische Regierung die ansehnlichen Vortheile, die in gewissen Prozenten von dem ganzen Geschaͤft bestehen sollten, großmuͤthig von sich gewiesen. Charakteristisch war es, daß der Wi¬ derstand gegen das Projekt vom Kronprinzen von Preußen ausgegangen und von Niebuhr, einem gelern¬ ten Finanzier, heftig bestritten worden seyn soll. Sodann mochte auch die Juliusrevolution, als die Legitimitaͤt und das souveraine Volk, das de jure und de facto in Kollisionen geriethen, der Geldaristo¬ kratie, als der einzigen unangetastet gebliebenen Macht, oft eine Vermittlungsrolle uͤbertragen haben. Wenig¬ stens scheint es erwiesen, daß die Gebruͤder Rothschild von oͤstreichischer Seite her kurz nach jenem Ereignisse dazu gebraucht worden sind, die beanstandete neue Rothschild . Ordnung der Dinge in Frankreich zu vermitteln und eine Anerkennung vorzubereiten, welche die Klugheit laͤngst zugestanden hatte. Die große Krisis in den Jahren 1824 bis 1826 erschuͤtterte das Rothschildische Haus nicht. Waͤhrend durch die Aussicht auf lange Friedenszeiten sich die Papierspekulationen zu einer schwindelnden Hoͤhe gehoben hatten, waͤhrend die Noten der englischen Bank den Markt uͤberflutheten, und der Handelsgeist sich mit unermeßlichen Kreditgestattungen uͤberbot, waͤhrend end¬ lich die Rentenreduction Vill è les, welche dieser Mini¬ ster zuerst versuchte, scheiterte, und die ploͤtzlich konsti¬ tuirten Staaten Suͤdamerika's, eines Welttheils, den man fuͤr ein unerschoͤpfliches Eldorado hielt, große Sum¬ men Geldes aus Europa entfernten, wankte die Firma der Bruͤder nicht. Ein guͤnstiger Zufall wollte, daß um jene Zeit fast gar kein Wechsel auf Rothschild zir¬ kulirte. Die bedeutendsten Handlungshaͤuser (besonders B. A. Goldsmith in London) fallirten, in Frankfurt stellten zwei der angesehensten Haͤuser ihre Zahlungen ein, in Berlin war Benecke ruinirt. Nun, was ist? sagten die Rothschilds. Sie ertrugen die hessen-darmstaͤdtische Finanzkrisis; Rothschild . sie ertrugen eine noch groͤßere von neuerm Datum, die spanische. Dreizehn Millionen standen hier auf dem Spiele, die sie der Regierung vorgeschossen hat¬ ten. Zwar ließ sich Lionel in Madrid das Anlehen selbst entgehen, aber die Vorschuͤsse wurden gerettet. Fast alle diese Gluͤckszufaͤlle und Kombinationsre¬ sultate kommen auf gemeinschaftliche Rechnung. Nichts von groͤßerem Interesse wird isolirt betrieben. Sie lei¬ sten, was sie koͤnnen; doch druͤckt keiner den Andern, Niemand ist dem Bruder verantwortlich. Sogar ihre Firmen giriren sie gegenseitig; mit einziger Ausnahme des Londoner Hauses, dessen ausschließlicher Chef Na¬ than ist; eine Anomalie, welche ihren Grund in der großen Sorgfalt findet, die auf jenen ersten Platz ver¬ wandt werden muß. Die Bruͤder leben der Mahnung ihres Vaters eingedenk. Es ist anziehend, das in ih¬ nen Gemeinsame, was die Folge des Interesse's und der Verwandtschaft ist, mit der besondern Physiogno¬ mie des Charakters zu vergleichen, die ihnen, fast moͤchte man glauben unwillkuͤhrlich, von ihren getrenn¬ ten Lokalitaͤten aufgepraͤgt worden ist. Anselm, der aͤlteste Bruder, gibt in sich alle die Eigenschaften wieder, welche den Frankfurter kleiden. Rothschild . Er findet seinen Stolz in einer fast buͤrgerlichen Wohl¬ behaͤbigkeit, die mit der Diplomatie an seinem Platze nicht kokettirt, sondern nur rivalisirt. Dem Salonstone weit naͤher steht Salomon in Wien, der mit einer gewissen Kaͤlte des aͤußern Be¬ nehmens negative Formen verbindet, welche ans Di¬ plomatische streifen. Nichtsdestoweniger soll er den gro¬ ßen Blick theilen, welcher namentlich den aͤltesten Bru¬ der auszeichnet. Nathan in London repraͤsentirt vortrefflich Sitte, Gesinnung und Reichthum der City. Er packt seine Unternehmungen mit einer Riesenfaust. An ihm ist Alles kolossal. Ein Freund von mir sagte neulich uͤber diesen Mann: „Geht er auf die Jagd, so muͤs¬ sen es wenigstens Elephanten sein, die er erlegt.“ Kann man dem Bilde trauen, welches Fuͤrst Puͤckler in leisen Zuͤgen von Nathan Rothschild entwirft, so ist er ein jovialer Mann, der im Stande ist, sich uͤber seine Stellung zu erheben und eine Unbefangen¬ heit zu aͤußern, welche sogar uͤber sich selbst scherzt. Nur laͤßt es der sarkastische Fuͤrst unentschieden, ob Nathan, wenn er sich etwas breit mit seinem Reich¬ thume entfaltet, mehr der unbewußten naiven Freude Rothschild . uͤber sein Gluͤck sich ergiebt, oder ob er sich, wie wohl große Maͤnner und Genie's thun, aus Bonhommie selbst wie ein wunderherrliches Objekt betrachtet. Karl, der Neapolitaner, soll der zugaͤnglichste seyn. Denn wie vorsichtig und italienisch maskirt auch sein Benehmen in Geschaͤftsverhandlungen, so zeichnet ihn doch ein hervorstechender Zug des Herzens aus, der ihn gut und weich erscheinen laͤßt. Jacques in Paris ist Pariser, d. h. ein Charak¬ ter, woruͤber hundert und ein Schriftsteller nachdenken konnten, ohne ihn dennoch in zwoͤlf Großoktavbaͤn¬ den gruͤndlich erschoͤpft zu haben. Noch lebt die Mutter der Bruͤder. Sie ist der Genius, der uͤber sie Wache haͤlt, ein fast unsichtba¬ rer Genius; denn noch immer wohnt sie in der Frank¬ furter Judengasse. Sie kann sich nicht trennen, die alte Frau, von dem Elend ihres Volkes, und freut sich in dem schmuzigen Viertel die Einzige zu sein, welche alle vier Wochen weiße saubere Gardinen an ihre kleinen Fenster aufsteckt. Das ist ihr Stolz! Sie verlaͤßt die liebe Heimath nur, um einmal in Anselms Prachtgaͤrten die Koͤnigin der Nacht bluͤhen zu sehen, oder ein neues Gemaͤlde zu betrachten, das Rothschild . der Sohn neben Oppenheimers beruͤhmter Susanne placirt. An demselben Tage wird sie ausathmen, glaub' ich, wo Laͤtitia Bonaparte stirbt. Wie aͤhnlich sind Beide! Und wieder — welch' ein Kontrast, rie¬ sengroß wie die Welt! Der Sultan . J ene Zeit soll voruͤber sein, wo der Beherrscher der Glaͤubigen, um einen Traktat zu besiegeln, mit der ganzen Hand ins Tintefaß griff, und unten am Fuße des Pergaments seine fuͤnf Finger abdruckte. Darf man fremden Berichten trauen, so waͤre die Tuͤrkei auf dem besten Wege, die Civilisation Europa's einzu¬ holen. Der alte, aus Caschemirshawls gewundene Turban, die Zierde des Gerechten, soll einer kleinen flachen Muͤtze, welche hart auf dem Schaͤdel liegt, ha¬ ben Platz machen muͤssen; der schoͤne lockige Bart, die heilige Tradition des vielbeschwornen Bartes des Pro¬ pheten, soll ganz kurz geschnitten werden unter den jetzigen Verhaͤltnissen, kurz und starr, schaufelartig, wie Buttler von Hudibras Barte sagt: „Dachziegeln gleich an Art und Schnitt, reißt er wohl schnellen Beifall mit.“ Die weiten, bauschigen Gewaͤnder verschwinden Gutzkow's öffentl. Char. 20 Der Sultan . gegen enge und straffe Kleider, welche die Geheimnisse des Harems, krumme Beine und jede Disproportion verrathen. Kurz man ist so voll glaͤnzender Hoffnun¬ gen uͤber die Tuͤrkei, daß man jenseits und diesseits der Dardanellen, hier wo Hero, und dort wo Lean¬ der wohnte, bald die Triumphe europaͤischer Sitte und Meinung gefeiert sehen will. Wer nur den Glauben haͤtte! Wer nur so leicht¬ sinnig den Kern der europaͤischen Kultur in der Schaale faͤnde, und noch leichtsinniger von einigen mehr thea¬ tralischen, das Kostuͤme und die Coutuͤme betreffenden Metamorphosen auf die innere Revolution des Mos¬ lems, auf das alte Vermaͤchtniß einer glaͤnzenden Ver¬ gangenheit, ja noch mehr auf die Prophezeiung einer glaͤnzenderen Zukunft schließen koͤnnte! Unsere Phi¬ lanthropie sieht immer mit illusorischen Augen, kup¬ pelt Feuer und Wasser zusammen, den Sultan mit der Republik Venedig, wie das Spruͤchwort sagt, und moͤchte in einer geruͤhrten Stunde einen Streit beile¬ gen, welchen zu schlichten Jahrhunderten nicht gelin¬ gen wird. Ich glaube nicht daran, daß die Frage des Ostens eine Kulturfrage ist, sondern sie muß eine historische Der Sultan . Loͤsung finden, was man historisch nennt, eine Loͤ¬ sung durch Siegen oder Unterliegen. Was wir schon bei Mehemed Ali laͤugneten, den Enthusiasmus der Bildung hat auch Mahmud II . nicht. Seine Civilisationsversuche blicken nicht auf das hin, was Europa besitzt durch sein anstaͤndiges Beneh¬ men und seine Industrie; denn wie koͤnnte man dem stolzen Padischah so wenig Einsicht zutrauen, daß er glauben sollte, Europa's politisches System kaͤme her von den knappen Beinkleidern und den metallenen Steigbuͤgeln! Nein, die Humanitaͤt spielt hier gar keine Rolle, sondern das was man in der Tuͤrkei un¬ ter dem Namen Nizam-Dschedid verflucht, die Neuer¬ ung, hat einen ganz historischen Grund und soll ganz bestimmten, aͤcht tuͤrkischen und muselmaͤnnischen Ab¬ sichten als Erleichterung dienen. Man muß sich des¬ halb uͤber die Geschichte der Osmanen seit zweihundert Jahren aufklaͤren. Bajazet, der Blitz, wollte den Erdkreis in Flammen setzen, und seine und Amurats Siege bahnten zuerst im tuͤrkischen Reiche den Aschenweg des Unterganges. Bei einem solchen Widerstand, wie ihn Hunyad und Matthias Corvinus leisteten, mußte der Islam auf eine Befestigung seines Besitzes denken. Die Kugel, 20 * Der Sultan . welche bei der Belagerung Wiens in den Stephans¬ thurm fiel, war die letzte der alten Schreckenszeit, wo man die Tuͤrken fuͤrchtete wie den Antichrist. Seither ist die Pforte auf ihre Grenze beschraͤnkt; aber da der Islam eine Religion der Unruhe und Ausdehnung ist, da der Tuͤrke uͤberall, wo er sich niederlaͤßt, nur ge¬ wohnt ist, wie im Feldlager zu leben, so mußte mit dem schwindenden Kriegsgluͤck auch innerlich der Ver¬ fall hereinbrechen. Die Tuͤrkei wollte aus ihrem im¬ provisirten, durch die Wechselfaͤlle der Eroberung be¬ stimmten Besitze jetzt einen dauernden Zustand schaffen, und so etablirte sich aus halben, gaͤhrenden und gaͤnz¬ lich fremdartigen Verhaͤltnissen eine Herrschaft, welche sich raͤchen und auf Genuß und Vertheidigung sich be¬ schraͤnken wollte. Waͤhrend Kriegshauptleute und Guͤnstlinge auf eine tumultuarische Weise mit den Pro¬ vinzen des Reichs belehnt wurden, zogen sich die Sul¬ tane in die Serails zuruͤck, und draͤngten die osma¬ nische Geschichte von jetzt an zusammen auf das kleine Terrain haͤuslicher Intrigue, aus jene Gefaͤngnisse, in welchen Soͤhne Vaͤter, Bruͤder ihre Geschwister erdrosseln ließen, auf einen ganz kurzen Raum vom Serail bis zu einem Kiosk am Meere, wo unter Rosenhecken Mord und Verrath ersonnen wurde und Alles so still ist, daß Der Sultan . man nichts in der Ferne hoͤrt, als das Plaͤtschern der in einen Sack genaͤhten und ins Meer geworfenen, uͤber¬ listeten Favoritsultanin des schwachen und grausamen Herrschers. Das Sultanat gab die gruͤnseidne Glaubensfahne des Propheten, sein oberpriesterliches Ansehen, die Wuͤrde, ein Schatten der Gottheit zu sein, an einen hoͤchsten kirchlichen Patriarchen, den Staatsmufti ab; und das Schwert Mohammeds, das er noch an seinen verweichlichten Lenden duldete, war eher Talisman als der in die Schlacht winkende Blitzstrahl; denn den Krieg zu fuͤhren uͤbernahmen Miethlinge und Kreatu¬ turen der Hofkabale. Das Sultanat war nichts als eine Repraͤsenta¬ tion geworden. Die Muͤtter der Fuͤrsten warfen sich ihren Soͤhnen in den Weg, wenn sie in den Krieg ziehen wollten, nicht aus zaͤrtlicher Vorsorge und ban¬ ger Ahnung, sondern weil ihre Macht und ihr Leben mit dem Leben des Sohnes stand und fiel, weil keine neue Herrschaft denkbar war, ohne erst die Truͤmmer, und waͤren es Blutsverwandte gewesen, der alten auf¬ zuraͤumen. Die feigen, berauschten Sultane waren der Spielball der Intrigue, welchen sich immer drei Parteien, die Favoritinnen, die Mutter und die Eu¬ Der Sultan . nuchen zuwarfen. Wie mancher tuͤrkische Herrscher siechte von der Wiege her an heimlicher Vergiftung, und mußte doch noch fruͤher, als die guͤtige und nach¬ giebige Natur es gewollt hatte, an einer seidenen Schnur sterben, welche ihm sein eigener Sohn schickte! Das ganze Ansehen, welches die Pforte Europa und ihren eigenen Satrapen gegenuͤber noch behaup¬ ten konnte, entwickelte sich aus zwei Ursachen, aus dem Zufalle und einer Kaste: aus dem Zufalle, wel¬ cher zuweilen kraͤftige und weise Veziere an die Spitze des Reiches stellte, und aus einer Kaste, welche das Privilegium des Krieges an sich gerissen hatte, aus den Janitscharen. Diese stehende Miliz, welche sich erst nur aus den Gefangenen rekrutirte, dann aus einer bestimmten von den Griechen zu liefernden Menschenzahl, und welche deshalb einen so unbesiegbaren Korporationsgeist bekam, weil sie von Kindheit auf fuͤr ihre Stellung erzogen wurde, riß eine Gewalt an sich, welche, ob¬ schon sie die eigentliche Stuͤtze des schwankenden Staa¬ tes war, Niemandem fuͤrchterlicher wurde, als dem Staate selbst. Den roͤmischen Praͤtorianern gleich, welche außerhalb der Stadt ihr Lager hatten, zogen sie oft mit der Fahne des Aufruhrs vor die Woh¬ Der Sultan . nung des Kaisers, stuͤrzten ihre Kochkessel um, was immer das Zeichen einer großen Erbitterung war, und verlangten die Koͤpfe der Minister und Guͤnstlinge, welche sie ihren Interessen entgegen glaubten. Sie machten Krieg und Frieden, ohne ihre Stimme kam keine Thronfolge zu Stande, und wenn Mord und die im Holze von Konstantinopel wuͤthende Brand¬ fackel ihren Weg gezeichnet hatte und die Koͤpfe der verlangten Opfer an den Minarets des Serails blu¬ tig starrten, so konnte wieder die Furcht des Sultans Alles verdorben haben, was er eben gewonnen glaubte; denn er hatte mehr hinrichten lassen, als die meuteri¬ schen Cohorten wollten, er hatte irgend einen Mann des Gesetzes, einen guten Reiter, einen populairen Soldatenfreund seiner blinden Furcht geopfert, fuͤr welchen dann der eigensinnige Haufe neue Genugthu¬ ung verlangte. Die Tuͤrkei ist ein jammervolles Land. Der Geist des Opiums, die hoͤchst und ausschweifend potenzirte Offenbarung des Traumes, liegt schwer auf dem son¬ nenhellen Himmelsstriche. Hier Ermattung, Furcht und Indolenz, dort Raserei und die Wuth des Ti¬ gers, und das Alles oft in denselben Seelen! Wer sollte glauben, daß es in dieser verworrenen und er¬ Der Sultan . stickenden Atmosphaͤre in der That einige Tugenden gibt, welche uns mitunter mit dem tuͤrkischen Namen versoͤhnen koͤnnten; vorzuͤglich jene innere Gerechtigkeit, die weit mehr ist, als das was man in Europa Ehr¬ lichkeit nennt! Es ist eines der vielen Probleme unsrer Zeit, beweisen zu koͤnnen, wie in der Tuͤrkei Wahnsinn, Grausamkeit, Schwaͤche, mit Tugend im Umgang, Mannhaftigkeit und schoͤnen Sittenspruͤchen zusammen wohnen koͤnnen. Ich glaube, das Erklaͤ¬ rungsband dieses Widerspruchs liegt nicht weit ab von einer Tugend, welche nicht nur den Europaͤer vorzugs¬ weise trifft, sondern ihn auch uͤbertrifft, in des Tuͤr¬ ken unbeugsamen Stolze, in seiner großen Verach¬ tung, die er Hunden und Europaͤern zollt. Es ist eine ganz falsche und hochmuͤthige Erklaͤ¬ rung der Europaͤer, wenn sie die tuͤrkischen Neuerun¬ gen, das was man die Emancipation des Orients nennt, aus einem humanistischen Interesse fuͤr die Idee, oder aus der Scham, etwa hinter der europaͤi¬ schen Civilisation zuruͤck zu bleiben, herleitet. Der Nizam-Dschedid ist nichts, als eine durch die Noth aufgedrungene politische Maaßregel, welche keinen an¬ dern Zweck hat, als gegen die Macht der Janitscharen ein Gleichgewicht zu schaffen. Unsere Philanthropie Der Sultan . wird uͤberall auf Schwaͤrmereien ertappt. Gewiß ist der Orient nicht abgeneigt, einige kleine Bequemlichkei¬ ten des Lebens, welche der Occident in Folge seiner Industrie voraus hat, sich anzueignen; aber kann man die Einfuͤhrung der Haͤhne bei den Badewannen, ja immerhin auch die Einfuͤhrung einer neuen, kostener¬ sparenden Tracht, mit dem stolzen Namen einer Re¬ volution der Sitten und Meinungen belegen? Nicht einmal, um die europaͤische Kriegfuͤhrung zu uͤberfluͤgeln, ließ Mustapha III . den Baron Tott zu sich kommen, und sich von ihm belehren, wie man Pontons, Gußoͤfen, Bohrmaschinen und mathemati¬ sche Schulen errichtet und Bomben à ricochet wirft; sondern weit mehr, um die Janitscharen mit den neuen Handgriffen auch neue Pflichten zu lehren, und sie in eine steife und disziplinirte Haltung zu bringen, welche der meuterischen Ueppigkeit dieser Truppen ein Ende machen sollte. Warum sollte Achmed III . die Buchdruckerkunst nicht einfuͤhren? Er wird immer geglaubt haben, daß die Werke, welche seine Pressen lieferten, Alles uͤber¬ trafen, was die franzoͤsische und englische Literatur nur bieten konnte. Er wird nie Anstand genommen haben, zu laͤcheln, wenn man von Montesquieu und 20 ** Der Sultan . Montaigne haͤtte sprechen und sie vorziehen wollen zu¬ erst dem Koran, dann den Dschihan-Ruma oder dem Belvedere der Welt, dem Ussuluͤl-Hikem oder den philosophischen Grundsaͤtzen und zuletzt den „ausgewaͤhl¬ ten und wohlangereihten Perlen,“ welche Werke alle fruͤher oder spaͤter in Konstantinopel gedruckt wor¬ den sind. Der einzige Selim III . scheint nicht freigeblieben zu sein von den Aufklaͤrungsideen, welche das Zeital¬ ter Gustavs von Schweden und Josephs von Oest¬ reich charakterisirten. Alles Andere aber, was vor und nach ihm war, reformirte in unmittelbarer Beziehung auf die Janit¬ scharen. Ihr Untergang war nicht die Losung der Civilisation, sondern der Autokratie des Sultans. Die Sultane wollten weiter herrschen, als innerhalb der engen Mauern ihres Serails. Erst im gegenwaͤrtigen Augenblicke, wo die gefahr¬ volle Stuͤtze der tuͤrkischen Alleinherrschaft vernichtet ist, sollte sich die Rolle entwickeln koͤnnen, welche der Orient dem Occident gegenuͤber zu spielen gedenkt. Wir sehen das stolze Vermaͤchtniß der Khalifen, eine Herrschaft, welche die schoͤnsten Striche der Erde um¬ faßt, einen Staat, dessen Waͤchter der europaͤische Der Sultan . Schrecken war, dem unvermeidlichen Untergange nahe. Waͤhrend die Pforte zwei Feinde, die Satrapen und die Janitscharen, durcheinander vertilgen wollte, waͤh¬ rend sie sich in Konstantinopel einen festen Willen schuf, um den Provinzen Gesetze vorschreiben zu koͤn¬ nen, hat sie wiederum die Hilfsmacht verloren, welche sie dabei unterstuͤtzen mußte. So ist das beste Blut der Tuͤrkei verspritzt worden, einem Phantom zu Liebe, einer Idee, welche ohne Haltung ist, der Souveraine¬ taͤt des Sultans. Diese Souverainetaͤt bahnte sich ihren Weg uͤber die Leichen der Janitscharen, welche den Statthaltern der auswaͤrtigen Politik gegenuͤber sie erst moͤglich haͤtte machen koͤnnen. Die Pforte besitzt eine Autoritaͤt, fuͤr welche sie keine Haͤnde mehr hat. Kann hier noch die Civilisation ein Surrogot werden, welches, von unten auf heilend, den siechen Staatskoͤrper rettete? Werden kleine Muͤtzen und kurze Baͤrte fuͤr die Pforte das werden, was in Rom einst Gaͤnse waren? Ist eine originelle Persoͤnlichkeit vorhanden, welche mit nervigter Faust das Ruder ergriffe, um das Staats¬ schiff wieder auf die hohe See zu bringen? Wir wol¬ len vor das kaiserliche Thor treten. Erschreckt nicht vor den Seitennischen der Saͤulen, Der Sultan . welche es tragen; es sind nur die Koͤpfe der Verbre¬ cher, welche der Sultan hinrichten ließ, und die noch ganz frisch von Blut traͤufeln! Tretet in den ersten Hof, laßt die Kirche der heiligen Irene liegen, schau¬ dert nicht vor dem Moͤrser, in welchem die wider¬ spenstigen Haͤupter der Ulemas zerstampft werden, weil den Mufti keines Menschen Hand beruͤhren darf; las¬ set den ach, so leeren Schatz, den Marstall, den Betsaal! Jetzt tretet leiser. Wir sind in der Naͤhe des Harems. Lauschet nicht, was die cirkassische Odaliske von ihrer Heimath singt, — das Oberhaupt der schwarzen Verschnittenen dort am Fenster setzt eine gruͤne Brille auf, um eure Miene zu pruͤfen! Stumme verfolgen euch und Zwerge; ein fuͤrchterliches Schweigen liegt auf den großen Hoͤfen, deren Mittelpunkt ihr er¬ reicht habt; dort hinter jenen Vorhaͤngen wohnt der Sultan — ein verstohlener Blick — dort ruht er, er trinkt Wein, er lacht, er lallt, er ist betrunken! Keine Pedanterei! Nur aus Verzweiflung, wie man zu sagen pflegt, uͤbertritt er das Gesetz des Pro¬ pheten: sehen wir, wie er es fruͤher befolgt hat! Mahmud II . der jetzt funfzig Jahre zaͤhlt, kam in Folge einer Revolution auf den Thron. Der ein¬ zige philanthropische Reformator, der der Pforte zuge¬ Der Sultan . standen werden muß, Selim III ., beschaͤftigte sich in seiner Gefangenschaft, waͤhrend draußen Mustapha IV . herrschte, dem juͤngern Bruder des Sultans, sei¬ nem Neffen, Unterricht zu geben. Er lehrte ihn tuͤr¬ kisch und arabisch; doch blieb Mahmuds Bildung im¬ mer nur aͤußerlich. Er warf sich zuletzt auf die Kalli¬ graphie, welche er als jene Profession treibt, die die Sultane immer noch neben ihren Regentenpflichten lernen muͤssen. Mahmud ist auf die Schnoͤrkel seiner schoͤnen Handschrift so eitel, wie ein Kommis oder der Marschall von Treviso. Er uͤbte sich gerade in seiner Kunst, und ertrug unwillig die Vorwuͤrfe Selims, der ihn zu Philoso¬ phie und Mathematik antrieb, als der Laͤrm eines kriegerischen Aufstandes an sein Ohr schlug. Das Feldgeschrei war Selim, den Taher Pascha und die disziplinirten Truppen wieder auf den Thron setzen wollten; aber bald erschien der zitternde Mustapha mit seinem Oberstallmeister, und wuͤrgten den Greis, den sie heimlich uͤberfielen. Mahmud raffte seine Kalli¬ graphien zusammen, und versteckte sich vor dem Blut¬ durst und der Furcht seines Bruders so lange, bis ihn die Meuterer selbst aufsuchten, und ihn an des gefangenen Mustapha Stelle setzten. Der Sultan . Sein Patron war Bairaktar, gewiß einer der kraͤftigsten Charaktere in der neuern tuͤrkischen Geschichte. Das Resultat einer blutigen Verwirrung von vielen Wochen war allerdings der guͤnstige Tod Mustaphas, die ungestoͤrte Umguͤrtung Mahmuds mit Osmans Saͤbel, das gluͤckliche Untertauchen von fuͤnf in den Bosporus geworfenen Saͤcken, in welche ein Kind Mu¬ staphas und vier schwangere Sultaninnen eingenaͤht waren; aber auch eine an die Janitscharen verlorne Schlacht, der Tod Bairaktars, der von ihnen belagert wurde und sich heldenmuͤthig in die Luft sprengte, und eine zur boͤsen Stunde offenbarte Schwaͤche, denn der Thron und der Divan hatten mit den meuterischen Kasernen unterhandeln muͤssen. Der Sultan bekoͤstigte die Janitscharen selbst, und ihr Appetit war woͤrtlich die Temperatur, von der im Barometer der oͤffentli¬ chen Meinung sein Steigen oder Fallen abhing. Er zitterte, ob man ihm die Nachricht braͤchte, die ver¬ daͤchtigen Soldaten haͤtten den Reis unschmackhaft ge¬ funden, oder sie verschmaͤhten Brod und Salz, was in den tuͤrkischen Revolutionen ein technischer Ausdruck ist; doch der Reis quoll gut, man blieb ruhig, und der neue Herrscher wagte mit Rußland und Serbien Frieden zu schließen. Das war im Jahr 1812. Der Sultan . Die Erschoͤpfung Europa's im zweiten Decennium des Jahrhunderts theilte sich auch dem tuͤrkischen Reiche mit, das an allen Streitigkeiten der Politik seither immer aktiven Antheil, und bald fuͤr, bald ge¬ gen Napoleon Partei genommen hatte. Wenn der Sultan ein kraftvoller Charakter waͤre, in dieser Pe¬ riode hat er nichts davon verrathen. Die Ordnung in den Provinzen loͤste sich auf. Die einzelnen Pa¬ schaliks von Rumelien, Widdin, Trebisond, Damas¬ kus, Bagdad u. s. w. rissen sich mehr oder weniger von dem Staatsverbande los, die Wechabiten machten unwiderstehliche Fortschritte, und zwei Widersacher, welche bestimmt waren, spaͤterhin die ganze Kraft der Pforte zu absorbiren, umgaben sich im Geheimen mit Hilfsmitteln, gegen welche die des Sultans zuletzt nicht mehr ausreichten — Ali von Janina und Mehe¬ med von Aegypten. Der Divan uͤbersah entweder die Gefahr, oder er war so tief gesunken, daß er sich damit begnuͤgte, vom Unvermeidlichen wenigstens noch einige transitorische Vortheile zu ziehen. Er legte Tribute und Geldstra¬ fen aus, benutzte die streitenden Parteien in den Pro¬ vinzen, um eine jede zu rupfen und zu scheeren, und befolgte wohl gar die treulose Politik, seinen Paschen Der Sultan . heimlich Verlegenheiten zu schaffen, aus welchen sie sich nur durch eine gute Anzahl Piasterbeutel loskau¬ fen konnten. Inzwischen sorgte Mahmud fuͤr eine gute Polizei in seiner Hauptstadt, und uͤbte dabei eine krampfhafte, despotische Gerechtigkeit aus, mit der er den Euro¬ paͤern imponiren wollte. Den kleinsten Wortwechsel eines Soldaten mit einem Gesandtschafts-Bedienten aus Pera, strafte er durch den Tod, und strich sich stolz den Bart, wenn der beschwerdefuͤhrende Gesandte uͤber diese Genugthuung fast erschrak. Den Rest seiner Zeit brachte er mit kalligraphischen Uebungen hin; er schrieb selber seine Hattischerifs und entwarf sich ein Tagebuch, worin er niederschrieb, daß er schreibe. Aber es wurde des Lobes und Preises seiner selbst so viel, daß er sich entschloß, in das Geheimniß seiner Kunst einen Menschen hineinzuziehen, der aber nichts davon verstehen mußte. Es fiel ihm ein, daß er Je¬ manden haben mußte, der seine Scripturen sammelte und aufbewahrte; da fragte er seinen Barbier, ob er lesen und schreiben koͤnnte. Die Verneinung war ihm recht, und seither nahm er seinen Barbier zum gehei¬ men Archivar. Dieser in vertraulicher Stunde gestand Der Sultan . ihm, daß er einen Freund habe in Galata bei den Fleischerbaͤnken, der einer der groͤßten Possenreißer un¬ ter der Sonne, und ein Schreiber des Fleischervor¬ standes sei. Khalet-Effendi erschien, schrieb schlechter, als der Sultan, machte einige gute Kapriolen, und Mahmud behielt ihn zuruͤck, erst als seinen Hofnarren, dann als Hofrath, zuletzt als Groß-Wessier. So entstand der einen Tradition zufolge (welche den bekannten Liebling des Sultans von dem ehema¬ ligen Gesandten beim Hofe Napoleons trennt) eine antike und wahrhafte Freundschaft zwischen Mahmud und seinem lustigen Wessier, die vollkommen gewesen waͤre, wenn sie fuͤr die Tuͤrkei bessere Fruͤchte getra¬ gen, und nicht mit einer Treulosigkeit geendet haͤtte! Khalet-Effendi stand an der Spitze der Staats¬ angelegenheiten, d. h. er theilte mit dem Sultan den Raub, welchen die Intriguen des Divans von den Satrapen der Provinzen abgejagt hatten. Noch lange bis in den Aufstand der Griechen hinein dauerte seine Autoritaͤt, angetastet von den Geistlichen, bedroht von den Janitscharen, welche ihm die Unfaͤlle des Krieges gegen die Griechen Schuld gaben. Vergebens, daß die Boten des Divans in alle insurgirten Regionen Mord und Verstuͤmmlung brachten, vergebens das Blutbad Gutzkow's öffentl. Char. 21 Der Sultan . in Konstantinopel und die Graͤuel auf den Inseln, vergebens die Hartnaͤckigkeit gegen die fraͤnkischen Ge¬ sandten und die Weigerung, sich auf dem Kongresse von Verona uͤber Griechenland beruhigen zu lassen; die Janitscharen sahen in Khalet-Effendi, diesem nie¬ driggebornen Weintrinker, das Hinderniß ihres Gluͤckes und brachen im Jahr 1822 im wilden Aufruhr gegen das Serail heran. Berber-baschi, der Normalbarbier der ottomanischen Bartcivilisation, wurde verbannt, nach ihm Khalet-Effendi und seine Kreaturen. Khalet lachte, als er uͤber den Hellespont setzte; denn sein Freund Mahmud hatte ihn umarmt, und hatte ihm eigenhaͤndig einen Sicherheitspaß ausgestellt, der ihn so lange schuͤtzen sollte, bis sich die Verhaͤlt¬ nisse zu seiner Ruͤckberufung guͤnstiger gestellt haben wuͤrden. Aber die Empoͤrer waren mit dieser Ro¬ mantik nicht zufrieden, sondern preßten dem Sultan einen Todesbefehl ab, den er selbst uͤber seinen Freund schreiben mußte, wahrscheinlich mit derselben zierlichen Hand, mit denselben Schnoͤrkeln und Arabesken. Khalet laͤchelte noch immer, und auch da noch, als der Aga schon vor ihm stand und ihm eine seidene Schnur praͤsentirte; er zog seine Kalligraphie aus dem Brustlatz; aber indem er den neuen Hattischerif las, Der Sultan . der alles Vorangegangene, die alten Schwuͤre und Betheuerungen widerrief, hatte ihn sein Henker schon an der zugaͤnglichsten Stelle gefaßt und erdrosselt. Das ist tuͤrkische Sentimentalitaͤt. Erst da, als Griechenland seine Kreuzesfahne er¬ hob und die Brander verderbenschwanger auf den Ge¬ waͤssern kreuzten, als von den Inseln das vergossene Christenblut herabtroͤpfelte in das Meer: da haben die Europaͤer angefangen, Mahmud fuͤr einen riesigen Cha¬ rakter auszugeben, gleichsam als wenn das Aushalten¬ koͤnnen in jeder Lage Groͤße verriethe. Nein, klein war jener ohnmaͤchtige Zorn, der auf dem hoͤchsten Minaret eines Pavillons am Marmormeere in die Ferne des seit uralten Zeiten trauerumflorten aͤgaͤischen Meeres blickte und nichts als schwarze Segel heimkeh¬ ren sah. Dann zu wuͤthen wie ein angeschossenes Thier, und Mord und Tod uͤber die ganze Welt aus¬ zuheulen, und aus Verzweiflung sich zuletzt dem Trunke zu ergeben: das ist tuͤrkisch groß, aber sehr klein fuͤr die wahrhafte Charaktergroͤße, welche uͤber dem Nationalen steht und maͤßig im Zorn, kraftvoll und voraussichtig in ihren Entschluͤssen ist. Durch Mehemed Ali besiegte Mahmud die Grie¬ 21 * Der Sultan . chen. Durch Raͤnke wuͤrde er vielleicht auch die Eu¬ ropaͤer besiegt haben, wenn diese ihre diplomatischen Antraͤge durch Demonstrationen à la Navarin nicht unterstuͤtzt haͤtten. Die europaͤische Einmischung war jetzt keine Drohung mehr; die Russen verlangten den Vollzug des Friedens von Bucharest und die Raͤu¬ mung der Fuͤrstenthuͤmer; ein Vernichtungskrieg war die Folge der Weigerung. Die Riegel und Pfosten der Pforte stuͤrzten ein, und was haͤtte gehindert, daß nicht aufs Neue das Kreuz die Kuppel der Sophia¬ kirche beherrschte? Der Kern der tuͤrkischen Macht, die Janitscharen waren nicht mehr. Drei Jahre vorher hatte sie Mah¬ mud abschlachten lassen, nicht nach einem angelegten Plane, wie man wohl irrig glaubt, sondern in Folge einer benutzten Gunst des Augenblicks. Es war nur dis, daß der Sultan einen gewonnenen Erfolg konse¬ quent durchfuͤhrte. Er verbrannte die Kasernen, gab keinen Pardon und rettete sich selbst vor einer Macht, die spaͤter den Staat haͤtte retten koͤnnen. Jetzt ist Mahmud der Schatte vom Schatten Gottes, er ist der Federball der Intrigue zwischen dreien Kabineten; wollte er auch seine Statthalter, welche sich emanci¬ Der Sultan . piren, wieder zu Paaren treiben, so verbietet es ihm der Himmel; denn sein Saͤbel faͤllt ins Meer, wenn er die Schiffe seiner Hoffnung besteigt. Rußland, von der Geschichte zum Erben der eu¬ ropaͤischen Tuͤrkei bestellt, hegt und pflegt den alten Erblasser und schuͤtzt ihn treulich bis zum Tode. Ru߬ land wird der Tuͤrkei sanft und zaͤrtlich die Augen zu¬ druͤcken. Und wollte sich die Pforte in Konstantinopel nicht das Streicheln der Wangen gefallen lassen, so steht an Persiens Graͤnzen die russische Heeresmacht geruͤstet. Hier ist kein Ausweg mehr. Die Pforte muß sich schuͤtzen lassen, um eine vollstaͤndige Erober¬ ung zu bleiben. Sie muß Freunden trauen, welche nur die Zeit abwarten, wo sie ihre Masken abnehmen. Vielleicht stellen sich dieser Weissagung zwei Ge¬ schichtsansichten entgegen, die sich darin vereinigen, daß sie Kombinationen der eben genannten Art fuͤr unzu¬ laͤnglich halten, und sie mechanische und Verstandesab¬ straktionen nennen. Die erste Ansicht ist gewohnt, Alles auf den Volks¬ geist, die zweite, Alles auf die Religion ankommen zu lassen. Jene glaubt, der Racen- und Voͤlker-Unterschied, ein demokratisch-populaires Element, werde gegen die Der Sultan . wunderlichen Statusquo unsrer Tage reagiren; diese erwartet denselben Widerstand vom Glauben der Voͤl¬ ker, von einer Rache, die der Himmel selbst an der Erde nehmen werde. Wir wollen nicht darauf bestehen, daß das Traͤu¬ merische in diesen Meinungen sie schon verdaͤchtig macht, nicht darauf, daß unsre Propheten nur der Zukunft namentlich so viel Theologie zutheilen wollen, als wenn die Nachkommen das zu glauben sich anschicken wuͤrden, was wir selbst zu glauben keinen Trieb mehr haben; aber sehet auf die Tuͤrkei! Religion und Volksthum faͤllt hier zusammen; liegt im Islam irgend ein Zu¬ kunftskeim? Ist sein Fanatismus mit jener ewigen Waͤrme verbunden, welche die Anhaͤnglichkeit an geliebte Sitten und Meinungen begleitet? Nein, hier ver¬ glimmt sein gluͤhendes Entzuͤcken gegen das Christen¬ thum, welches immer eine Zukunftsreligion ist. Der Islam ist eine Religion der Masse, keine Religion des Individuums. Der Islam ist nicht Be¬ wußtsein, sondern Trunkenheit; er verleiht Trotz, aber keine Ausdauer. Kein Moslem, der einmal herausge¬ rissen ist aus dem Zusammenhang seines Glaubens, der außerhalb seiner Badeweihen, seiner Moscheen und Fa¬ sten ist, kein Moslem, der zur Annahme des Christen¬ Der Sultan . thums gezwungen wurde, wird im Stillen jene Treue bewahren, welche den Christen mitten unter heidnischen Verhaͤltnissen immer noch im Bunde mit seinem Hei¬ land erhielt. Die Ursache ist die, daß der Islam in sich kein Moment der Rechtfertigung traͤgt. Er ist eine geniale Improvision, eine immer neue Schoͤpfung, wo Poesie und Klima und Masse ihm zu Hilfe koͤmmt; aber herausgerissen aus seinem Boden und in andre Regionen verpflanzt, welkt und verdorrt er. Der Islam ist im Schematismus der Religionen nur ein Ueberbein, das sich der wandelnde Weltgeist getreten hat, er beweist nichts Unerlaͤßliches, er ist ohne die Verheißung einer historischen Zukunft. Eine Civilisation in Massen kaͤme in der Tuͤrkei nie zu einem guten Ende; wohl aber durch Isolirung, durch stuͤckweises Arrondiren in die europaͤischen Zu¬ staͤnde hinein. Da wuͤrde kein Hahn kraͤhen, daß ein Gott verlaͤugnet wurde. Niemand wuͤrde in sich schla¬ gen, und einen Groll fortpflanzen auf Kind und Kin¬ deskind. In Europa und Asien wird man griechisch beten, in Syrien bis nach Indien hin protestantisch, auf der ganzen Nordkuͤste von Afrika atheistisch, wenn einst Rußland, England und Frankreich sich getheilt haben werden. Der Sultan . Ist dis eine Chimaͤre, so scheint sie mir doch der Wahrheit naͤher zu stehen, als die Annahme, daß einst in der Kathedrale von Paris die Imans stehen werden mit ihren kameelharenen Muͤtzen und sich die junge franzoͤsische Literatur beschaͤftigen wird, Oden zu dichten auf Allah und den Propheten.