Die Wahlverwandtschaften . Zweyter Theil . Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman von Goethe . Zweyter Theil . Tuͤbingen , in der J. G. Cottaischen Buchhandlung. 1809 . Erstes Kapitel . Im gemeinen Leben begegnet uns oft was wir in der Epopoͤe als Kunstgriff des Dichters zu ruͤhmen pflegen, daß naͤmlich wenn die Hauptfiguren sich entfernen, ver¬ bergen, sich der Unthaͤtigkeit hingeben, gleich sodann schon ein zweyter, dritter, bisher kaum Bemerkter den Platz fuͤllt, und indem er seine ganze Thaͤtigkeit aͤußert, uns gleichfalls der Aufmerksamkeit, der Theilnahme, ja des Lo¬ bes und Preises wuͤrdig erscheint. So zeigte sich gleich nach der Entfernung des Hauptmanns und Eduards jener Archi¬ tect taͤglich bedeutender, von welchem die An¬ ordnung und Ausfuͤhrung so manches Unter¬ nehmens allein abhing, wobey er sich genau, verstaͤndig und thaͤtig erwies, und zugleich den Damen auf mancherley Art beystand und in stillen langwierigen Stunden sie zu unterhal¬ ten wußte. Schon sein Aeußeres war von der Art, daß es Zutrauen einfloͤßte und Nei¬ gung erweckte. Ein Juͤngling im vollen Sinne des Worts, wohlgebaut, schlank, eher ein wenig zu groß, bescheiden ohne aͤngstlich, zutraulich ohne zudringend zu seyn. Freudig uͤbernahm er jede Sorge und Bemuͤhung, und weil er mit großer Leichtigkeit rechnete, so war ihm bald das ganze Hauswesen kein Geheimniß, und uͤberall hin verbreitete sich sein guͤnstiger Einfluß. Die Fremden ließ man ihn gewoͤhnlich empfangen und er wußte einen unerwarteten Besuch entweder abzuleh¬ nen, oder die Frauen wenigstens dergestalt dar¬ auf vorzubereiten, daß ihnen keine Unbequem¬ lichkeit daraus entsprang. Unter andern gab ihm eines Tags ein junger Rechtsgelehrter viel zu schaffen, der von einem benachbarten Edelmann gesendet eine Sache zur Sprache brachte, die zwar von keiner sonderlichen Bedeutung Charlotten dennoch innig beruͤhrte. Wir muͤssen dieses Vorfalls gedenken, weil er verschiedenen Din¬ gen einen Anstoß gab, die sonst vielleicht lange geruht haͤtten. Wir erinnern uns jener Veraͤnderung, welche Charlotte mit dem Kirchhofe vorge¬ nommen hatte. Die saͤmmtlichen Monumente waren von ihrer Stelle geruͤckt und hatten an der Mauer, an dem Sockel der Kirche Platz gefunden. Der uͤbrige Raum war geebnet. Außer einem breiten Wege, der zur Kirche und an derselben vorbey zu dem jen¬ seitigen Pfoͤrtchen fuͤhrte, war das uͤbrige alles mit verschiedenen Arten Klee besaͤt, der auf das schoͤnste gruͤnte und bluͤhte. Nach einer gewissen Ordnung sollten vom Ende her¬ an die neuen Graͤber bestellt, doch der Platz jederzeit wieder verglichen und ebenfalls besaͤt werden. Niemand konnte laͤugnen, daß diese Anstalt beym sonn- und festtaͤgigen Kirch¬ gang eine heitere und wuͤrdige Ansicht ge¬ waͤhrte. Sogar der betagte und an alten Gewohnheiten haftende Geistliche, der an¬ faͤnglich mit der Einrichtung nicht sonderlich zufrieden gewesen, hatte nunmehr seine Freude daran, wenn er unter den alten Linden, gleich Philemon, mit seiner Baucis vor der Hin¬ terthuͤre ruhend, statt der holprigen Grab¬ staͤtten einen schoͤnen, bunten Teppich vor sich sah, der noch uͤberdieß seinem Haushalt zu Gute kommen sollte, indem Charlotte die Nutzung dieses Fleckes der Pfarre zusichern lassen. Allein demungeachtet hatten schon manche Gemeindeglieder fruͤher gemißbilligt, daß man die Bezeichnung der Stelle wo ihre Vorfah¬ ren ruhten, aufgehoben und das Andenken dadurch gleichsam ausgeloͤscht: denn die wohl¬ erhaltenen Monumente zeigten zwar an, wer begraben sey, aber nicht wo er begraben sey, und auf das Wo komme es eigentlich an, wie Viele behaupteten. Von eben solcher Gesinnung war eine be¬ nachbarte Familie, die sich und den Ihrigen einen Raum auf dieser allgemeinen Ruhestaͤtte vor mehreren Jahren ausbedungen und dafuͤr der Kirche eine kleine Stiftung zugewendet hatte. Nun war der junge Rechtsgelehrte abgesendet, um die Stiftung zu wiederrufen und anzuzeigen, daß man nicht weiter zahlen werde, weil die Bedingung unter welcher dieses bisher geschehen, einseitig aufgehoben und auf alle Vorstellungen und Widerreden nicht geachtet worden. Charlotte, die Urhe¬ berinn dieser Veraͤnderung, wollte den jungen Mann selbst sprechen, der zwar lebhaft, aber nicht allzu vorlaut, seine und seines Princi¬ pals Gruͤnde darlegte und der Gesellschaft manches zu denken gab. Sie sehen, sprach er, nach einem kurzen Eingang, in welchem er seine Zudringlichkeit zu rechtfertigen wußte: Sie sehen daß dem Geringsten wie dem Hoͤchsten daran gelegen ist, den Ort zu bezeichnen der die Seinigen aufbewahrt. Dem aͤrmsten Landmann, der ein Kind begraͤbt, ist es eine Art von Trost, ein schwaches hoͤlzernes Kreuz auf das Grab zu stellen, es mit einem Kranze zu zieren, um wenigstens das Andenken so lange zu er¬ halten als der Schmerz waͤhrt, wenn auch ein solches Merkzeichen, wie die Trauer selbst, durch die Zeit aufgehoben wird. Wohlha¬ bende verwandeln diese Kreuze in eiserne, be¬ festigen und schuͤtzen sie auf mancherley Weise, und hier ist schon Dauer fuͤr mehrere Jahre. Doch weil auch diese endlich sinken und un¬ scheinbar werden; so haben Beguͤterte nichts Angelegneres, als einen Stein aufzurichten, der fuͤr mehrere Generationen zu dauern ver¬ spricht und von den Nachkommen erneut und aufgefrischt werden kann. Aber dieser Stein ist es nicht, der uns anzieht, sondern das darunter Enthaltene, das daneben der Erde Vertraute. Es ist nicht sowohl vom Anden¬ ken die Rede, als von der Person selbst, nicht von der Erinnerung, sondern von der Gegenwart. Ein geliebtes Abgeschiedenes umarme ich weit eher und inniger im Grab¬ huͤgel als im Denkmal: denn dieses ist fuͤr sich eigentlich nur wenig; aber um dasselbe her sollen sich, wie um einen Markstein, Gat¬ ten, Verwandte, Freunde, selbst nach ihrem Hinscheiden noch versammeln, und der Le¬ bende soll das Recht behalten, Fremde und Miswollende auch von der Seite seiner ge¬ liebten Ruhenden abzuweisen und zu entfernen. Ich halte deswegen dafuͤr, daß mein Principal voͤllig Recht habe, die Stiftung zuruͤckzunehmen; und dieß ist noch billig ge¬ nug, denn die Glieder der Familie sind auf eine Weise verletzt, wofuͤr gar kein Ersatz zu denken ist. Sie sollen das schmerzlich suͤße Gefuͤhl entbehren, ihren Geliebten ein Tod¬ tenopfer zu bringen, die troͤstliche Hoffnung dereinst unmittelbar neben ihnen zu ruhen. Die Sache ist nicht von der Bedeutung, versetzte Charlotte, daß man sich deshalb durch einen Rechtshandel beunruhigen sollte. Meine Anstalt reut mich so wenig, daß ich die Kirche gern, wegen dessen was ihr entgeht, entschaͤdigen will. Nur muß ich Ihnen auf¬ richtig gestehen, Ihre Argumente haben mich nicht uͤberzeugt. Das reine Gefuͤhl einer endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigstens nach dem Tode, scheint mir beruhigender als dieses eigensinnige starre Fortsetzen unserer Persoͤnlichkeiten, Anhaͤnglichkeiten und Lebens¬ verhaͤltnisse. Und was sagen Sie hierzu? richtete sie ihre Frage an den Architecten. Ich moͤchte, versetzte dieser, in einer sol¬ chen Sache weder streiten, noch den Ausschlag geben. Lassen Sie mich das, was meiner Kunst, meiner Denkweise am naͤchsten liegt, bescheidentlich aͤußern. Seitdem wir nicht mehr so gluͤcklich sind, die Reste eines ge¬ liebten Gegenstandes eingeurnt an unsere Brust zu druͤcken; da wir weder reich noch heiter genug sind, sie unversehrt in großen wohl ausgezierten Sarkophagen zu verwah¬ ren; ja da wir nicht einmal in den Kirchen mehr Platz fuͤr uns und fuͤr die Unsrigen fin¬ den, sondern hinaus ins Freye gewiesen sind: so haben wir alle Ursache, die Art und Weise die Sie, meine gnaͤdige Frau, eingeleitet ha¬ ben, zu billigen. Wenn die Glieder einer Gemeinde reihenweise neben einander liegen, so ruhen sie bey und unter den Ihrigen; und wenn die Erde uns einmal aufnehmen soll, so finde ich nichts natuͤrlicher und reinlicher, als daß man die zufaͤllig entstandenen nach und nach zusammensinkenden Huͤgel unge¬ saͤumt vergleiche, und so die Decke, indem alle sie tragen, einem Jeden leichter gemacht werde. Und ohne irgend ein Zeichen des Anden¬ kens, ohne irgend etwas das der Erinne¬ rung entgegen kaͤme, sollte das alles so vor¬ uͤbergehen? versetzte Ottilie. Keineswegs! fuhr der Architect fort: nicht vom Andenken, nur vom Platze soll man sich lossagen. Der Baukuͤnstler, der Bildhauer sind hoͤchlich interessirt, daß der Mensch von ihnen, von ihrer Kunst, von ihrer Hand eine Dauer seines Daseyns erwarte; und des¬ wegen wuͤnschte ich gut gedachte, gut ausge¬ fuͤhrte Monumente, nicht einzeln und zufaͤllig ausgesaͤt, sondern an einem Orte aufgestellt, wo sie sich Dauer versprechen koͤnnen. Da selbst die Frommen und Hohen auf das Vor¬ recht Verzicht thun, in den Kirchen persoͤn¬ lich zu ruhen, so stelle man wenigstens dort, oder in schoͤnen Hallen um die Begraͤbni߬ plaͤtze, Denkzeichen, Denkschriften auf. Es giebt tausenderley Formen die man ihnen vor¬ schreiben, tausenderley Zieraten womit man sie ausschmuͤcken kann. Wenn die Kuͤnstler so reich sind, versetzte Charlotte, so sagen Sie mir doch: wie kann man sich niemals aus der Form eines klein¬ lichen Obelisken, einer abgestutzten Saͤule und eines Aschenkrugs herausfinden? Anstatt der tausend Erfindungen, deren Sie sich ruͤhmen, habe ich nur immer tausend Wiederholungen gesehen. Das ist wohl bey uns so, entgegnete ihr der Architect, aber nicht uͤberall. Und uͤber¬ haupt mag es mit der Erfindung und der schicklichen Anwendung eine eigne Sache seyn. Besonders hat es in diesem Falle manche Schwierigkeit, einen ernsten Gegenstand zu erheitern und bey einem unerfreulichen nicht ins Unerfreuliche zu gerathen. Was Ent¬ wuͤrfe zu Monumenten aller Art betrifft, de¬ ren habe ich viele gesammelt und zeige sie gele¬ gentlich; doch bleibt immer das schoͤnste Denk¬ mal des Menschen eigenes Bildniß. Dieses giebt mehr als irgend etwas anders einen Begriff von dem was er war; es ist der beste Text zu vielen oder wenigen Noten: nur muͤßte es aber auch in seiner besten Zeit gemacht seyn, welches gewoͤhnlich versaͤumt wird. Niemand denkt daran lebende Formen zu erhalten, und wenn es geschieht, so geschieht es auf unzu¬ laͤngliche Weise. Da wird ein Todter ge¬ schwind noch abgegossen und eine solche Maske auf einen Block gesetzt, und das heißt man eine Buͤste. Wie selten ist der Kuͤnstler im Stande sie voͤllig wieder zu be¬ leben! Sie haben, ohne es vielleicht zu wissen und zu wollen, versetzte Charlotte, dieß Ge¬ spraͤch ganz zu meinen Gunsten gelenkt. Das Bild eines Menschen ist doch wohl unabhaͤngig; uͤberall wo es steht, steht es fuͤr sich und wir werden von ihm nicht verlangen, daß es die eigentliche Grabstaͤtte bezeichne. Aber soll ich Ihnen eine wunderliche Empfin¬ dung bekennen, selbst gegen die Bildnisse habe ich eine Art von Abneigung: denn sie scheinen mir immer einen stillen Vorwurf zu machen; sie deuten auf etwas Entferntes, Abgeschiede¬ nes und erinnern mich, wie schwer es sey, die Gegenwart recht zu ehren. Gedenkt man, wie viel Menschen man gesehen, gekannt, und gesteht sich, wie wenig wir ihnen, wie wenig sie uns gewesen, wie wird uns da zu Mu¬ the ! Wir begegnen dem Geistreichen ohne uns mit ihm zu unterhalten, dem Gelehrten ohne von ihm zu lernen, dem Gereisten ohne uns zu unterrichten, dem Liebevollen ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen. II . 2 Und leider ereignet sich dieß nicht blos mit den Voruͤbergehenden. Gesellschaften und Familien betragen sich so gegen ihre liebsten Glieder, Staͤdte gegen ihre wuͤrdigsten Buͤr¬ ger, Voͤlker gegen ihre trefflichsten Fuͤrsten, Nationen gegen ihre vorzuͤglichsten Menschen. Ich hoͤrte fragen, warum man von den Todten so unbewunden Gutes sage, von den Lebenden immer mit einer gewissen Vorsicht. Es wurde geantwortet: weil wir von jenen nichts zu befuͤrchten haben, und diese uns noch irgendwo in den Weg kommen koͤnnten. So unrein ist die Sorge fuͤr das Andenken der andern; es ist meist nur ein selbstischer Scherz, wenn es dagegen ein heiliger Ernst waͤre, seine Verhaͤltnisse gegen die Ueberblie¬ benen immer lebendig und thaͤtig zu erhalten. Zweytes Kapitel. Aufgeregt durch den Vorfall und die dar¬ an sich knuͤpfenden Gespraͤche, begab man sich des andern Tages nach dem Begraͤbni߬ platz, zu dessen Verzierung und Erheiterung der Architect manchen gluͤcklichen Vorschlag that. Allein auch auf die Kirche sollte sich seine Sorgfalt erstrecken, auf ein Gebaͤude das gleich anfaͤnglich seine Aufmerksamkeit an sich gezogen hatte. Diese Kirche stand seit mehreren Jahr¬ hunderten, nach deutscher Art und Kunst, in guten Maaßen errichtet und auf eine gluͤckliche Weise verziert. Man konnte wohl nachkom¬ men, daß der Baumeister eines benachbarten 2 * Klosters mit Einsicht und Neigung sich auch an diesem kleineren Gebaͤude bewaͤhrt, und es wirkte noch immer ernst und angenehm auf den Betrachter, obgleich die innere neue Einrichtung zum protestantischen Gottesdienste ihm etwas von seiner Ruhe und Majestaͤt genommen hatte. Dem Architecten fiel es nicht schwer, sich von Charlotten eine maͤßige Summe zu er¬ bitten, wovon er das Aeußere sowohl als das Innere im alterthuͤmlichen Sinne herzustellen und mit dem davor liegenden Auferstehungs¬ felde zur Uebereinstimmung zu bringen ge¬ dachte. Er hatte selbst viel Handgeschick, und einige Arbeiter, die noch am Hausbau beschaͤftigt waren, wollte man gern so lange beybehalten bis auch dieses fromme Werk vollendet waͤre. Man war nunmehr in dem Falle, das Gebaͤude selbst mit allen Umgebungen und Angebaͤuden zu untersuchen, und da zeigte sich zum groͤßten Erstaunen und Vergnuͤgen des Architecten eine wenig bemerkte kleine Sei¬ tencapelle von noch geistreichern und leichte¬ ren Maaßen, von noch gefaͤlligern und fleißi¬ gern Zieraten. Sie enthielt zugleich manchen geschnitzten und gemalten Rest jenes aͤlteren Gottesdienstes, der mit mancherley Gebild und Geraͤthschaft die verschiedenen Feste zu bezeichnen und jedes auf seine eigne Weise zu feyern wußte. Der Architect konnte nicht unterlassen, die Capelle sogleich in seinen Plan mit her¬ einzuziehen und besonders diesen engen Raum als ein Denkmal voriger Zeiten und ihres Geschmacks wieder herzustellen. Er hatte sich die leeren Flaͤchen nach seiner Neigung schon verziert gedacht, und freute sich dabey sein malerisches Talent zu uͤben; allein er machte seinen Hausgenossen fuͤrs Erste ein Geheim¬ niß davon. Vor allem andern zeigte er versprochener¬ maßen den Frauen die verschiedenen Nachbil¬ dungen und Entwuͤrfe von alten Grabmonu¬ menten, Gefaͤßen und andern dahin sich naͤ¬ hernden Dingen, und als man im Gespraͤch auf die einfacheren Grabhuͤgel der nordischen Voͤlker zu reden kam, brachte er seine Samm¬ lung von mancherley Waffen und Geraͤth¬ schaften die darin gefunden worden, zur An¬ sicht. Er hatte alles sehr reinlich und trag¬ bar in Schubladen und Faͤchern auf einge¬ schnittenen mit Tuch uͤberzogenen Brettern, so daß diese alten ernsten Dinge durch seine Be¬ handlung etwas Putzhaftes annahmen und man mit Vergnuͤgen darauf, wie auf die Kaͤstchen eines Modehaͤndlers hinblickte. Und da er einmal im Vorzeigen war, da die Einsamkeit eine Unterhaltung forderte, so pflegte er jeden Abend mit einem Theil seiner Schaͤtze her¬ vorzutreten. Sie waren meistentheils deut¬ schen Ursprungs: Bracteaten, Dickmuͤnzen, Siegel und was sonst sich noch anschließen mag. Alle diese Dinge richteten die Einbil¬ dungskraft gegen die aͤltere Zeit hin, und da er zuletzt mit den Anfaͤngen des Drucks, Holzschnitten und den aͤltesten Kupfern seine Unterhaltung zierte, und die Kirche taͤglich auch, jenem Sinne gemaͤß, an Farbe und sonstiger Auszierung gleichsam der Vergangen¬ heit entgegenwuchs; so mußte man sich bey¬ nahe selbst fragen: ob man denn wirklich in der neueren Zeit lebe, ob es nicht ein Traum sey, daß man nunmehr in ganz andern Sit¬ ten, Gewohnheiten, Lebensweisen und Ueber¬ zeugungen verweile. Auf solche Art vorbereitet that ein groͤße¬ res Portefeuille, das er zuletzt herbeybrachte, die beste Wirkung. Es enthielt zwar meist nur umrißne Figuren, die aber, weil sie auf die Bilder selbst durchgezeichnet waren, ihren alterthuͤmlichen Character vollkommen erhalten hatten, und diesen, wie einnehmend fanden ihn die Beschauenden! Aus allen Gestalten blickte nur das reinste Daseyn hervor, alle mußte man, wo nicht fuͤr edel, doch fuͤr gut ansprechen. Heitere Sammlung, willige An¬ erkennung eines Ehrwuͤrdigen uͤber uns, stille Hingebung in Liebe und Erwartung war auf allen Gesichtern, in allen Gebaͤrden ausge¬ druͤckt. Der Greis mit dem kahlen Scheitel, der reichlockige Knabe, der muntere Juͤngling, der ernste Mann, der verklaͤrte Heilige, der schwebende Engel, alle schienen selig in einem unschuldigen Genuͤgen, in einem frommen Erwarten. Das gemeinste was geschah hatte einen Zug von himmlischem Leben, und eine gottesdienstliche Handlung schien ganz jeder Natur angemessen. Nach einer solchen Region blicken wohl die meisten wie nach einem verschwundenen goldenen Zeitalter, nach einem verlorenen Paradiese hin. Nur vielleicht Ottilie war in dem Fall sich unter ihres Gleichen zu fuͤhlen. Wer haͤtte nun widerstehen koͤnnen als der Architect sich erbot, nach dem Anlaß dieser Ur¬ bilder, die Raͤume zwischen den Spitzbogen der Capelle auszumalen und dadurch sein Andenken entschieden an einem Orte zu stiften, wo es ihm so gut gegangen war. Er erklaͤrte sich hieruͤber mit einiger Wehmuth: denn er konnte nach der Lage der Sache wohl einsehen, daß sein Aufenthalt in so vollkommener Gesellschaft nicht immer dauern koͤnne, ja vielleicht bald abgebrochen werden muͤsse. Uebrigens waren diese Tage zwar nicht reich an Begebenheiten, doch voller Anlaͤsse zu ernsthafter Unterhaltung. Wir nehmen daher Gelegenheit von demjenigen was Ottilie sich daraus in ihren Heft angemerkt, einiges mitzutheilen, wozu wir keinen schicklichern Uebergang finden als durch ein Gleichniß, das sich uns beym Betrachten ihrer liebens¬ wuͤrdigen Blaͤtter aufdringt. Wir hoͤren von einer besondern Einrich¬ tung bey der englischen Marine. Saͤmmtliche Tauwerke der koͤniglichen Flotte, vom staͤrk¬ sten bis zum schwaͤchsten sind, dergestalt ge¬ sponnen, daß ein rother Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswin¬ den kann ohne alles aufzuloͤsen, und woran auch die kleinsten Stuͤcke kenntlich sind, daß sie der Krone gehoͤren. Eben so zieht sich durch Ottiliens Tage¬ buch ein Faden der Neigung und Anhaͤng¬ lichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet. Dadurch werden diese Bemerkun¬ gen, Betrachtungen, ausgezogenen Sinnspruͤche und was sonst vorkommen mag, der Schrei¬ benden ganz besonders eigen und fuͤr sie von Bedeutung. Selbst jede einzelne von uns ausgewaͤhlte und mitgetheilte Stelle giebt da¬ von das entschiedenste Zeugniß. Aus Ottiliens Tagebuche. „Neben denen dereinst zu ruhen die man liebt, ist die angenehmste Vorstellung welche der Mensch haben kann, wenn er einmal uͤber das Leben hinausdenkt. Zu den Seini¬ gen versammelt werden, ist ein so herzlicher Ausdruck.“ „Es giebt mancherley Denkmale und Merkzeichen, die uns Entfernte und Abge¬ schiedene naͤher bringen. Keins ist von der Bedeutung des Bildes. Die Unterhaltung mit einem geliebten Bilde, selbst wenn es unaͤhnlich ist, hat was Reizendes, wie es manchmal etwas Reizendes hat, sich mit ei¬ nem Freunde streiten. Man fuͤhlt auf eine angenehme Weise, daß man zu zweyen ist und doch nicht auseinander kann.“ „Man unterhaͤlt sich manchmal mit einem gegenwaͤrtigen Menschen als mit einem Bilde. Er braucht nicht zu sprechen, uns nicht an¬ zusehen, sich nicht mit uns zu beschaͤftigen: wir sehen ihn, wir fuͤhlen unser Verhaͤltniß zu ihm, ja sogar unsere Verhaͤltnisse zu ihm koͤnnen wachsen, ohne daß er etwas dazu thut, ohne daß er etwas davon empfindet, daß er sich eben blos zu uns wie ein Bild verhaͤlt.“ „Man ist niemals mit einem Portraͤt zu¬ frieden von Personen die man kennt. Des¬ wegen habe ich die Portraͤtmaler immer be¬ dauert. Man verlangt so selten von den Leu¬ ten das Unmoͤgliche, und gerade von diesen fordert man's. Sie sollen einem Jeden sein Verhaͤltniß zu den Personen, seine Neigung und Abneigung mit in ihr Bild aufnehmen; sie sollen nicht blos darstellen, wie sie einen Menschen fassen, sondern wie Jeder ihn fas¬ sen wuͤrde. Es nimmt mich nicht Wunder, wenn solche Kuͤnstler nach und nach verstockt, gleichguͤltig und eigensinnig werden. Daraus moͤchte denn entstehen was wollte, wenn man nur nicht gerade daruͤber die Abbildungen so mancher lieben und theueren Menschen entbeh¬ ren muͤßte.“ „Es ist wohl wahr, die Sammlung des Architecten von Waffen und alten Geraͤth¬ schaften, die nebst dem Koͤrper mit hohen Erdhuͤgeln und Felsenstuͤcken zugedeckt waren, bezeugt uns, wie unnuͤtz die Vorsorge des Menschen sey fuͤr die Erhaltung seiner Per¬ soͤnlichkeit nach dem Tode. Und so wider¬ sprechend sind wir! Der Architect gesteht, selbst solche Grabhuͤgel der Vorfahren geoͤff¬ net zu haben und faͤhrt dennoch fort sich mit Denkmaͤlern fuͤr die Nachkommen zu be¬ schaͤftigen.“ „Warum soll man es aber so streng neh¬ men? Ist denn alles was wir thun fuͤr die Ewigkeit gethan? Ziehen wir uns nicht Mor¬ gens an, um uns Abends wieder auszuziehen? Verreisen wir nicht, um wiederzukehren? Und warum sollten wir nicht wuͤnschen, neben den Unsrigen zu ruhen, und wenn es auch nur fuͤr ein Jahrhundert waͤre.“ „Wenn man die vielen versunkenen, die durch Kirchgaͤnger abgetretenen Grabsteine, die uͤber ihren Grabmaͤlern selbst zusammen¬ gestuͤrzten Kirchen erblickt; so kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie ein zweytes Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der Ueberschrift eintritt und laͤnger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen Leben. Aber auch dieses Bild, dieses zweyte Daseyn verlischt fruͤher oder spaͤter. Wie uͤber die Menschen so auch uͤber die Denkmaͤler laͤßt sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen.“ Drittes Kapitel . Es ist eine so angenehme Empfindung sich mit etwas zu beschaͤftigen was man nur halb kann, daß Niemand den Dilettanten schelten sollte, wenn er sich mit einer Kunst abgiebt, die er nie lernen wird, noch den Kuͤnstler tadeln duͤrfte, wenn er uͤber die Graͤnze seiner Kunst hinaus, in einem be¬ nachbarten Felde sich zu ergehen Lust hat. Mit so billigen Gesinnungen betrachten wir die Anstalten des Architecten zum Aus¬ malen der Capelle. Die Farben waren be¬ reitet, die Maaße genommen, die Kartone gezeichnet; allen Anspruch auf Erfindung hatte er aufgegeben; er hielt sich an seine Umrisse: nur die sitzenden und schwebenden Figuren ge¬ schickt auszutheilen, den Raum damit geschmack¬ voll auszuzieren, war seine Sorge. Das Geruͤste stand, die Arbeit ging vor¬ waͤrts, und da schon einiges was in die Au¬ gen fiel erreicht war, konnte es ihm nicht zuwider seyn, daß Charlotte mit Ottilien ihn besuchte. Die lebendigen Engelsgesichter, die lebhaften Gewaͤnder auf dem blauen Himmels¬ grunde erfreuten das Auge, indem ihr stilles frommes Wesen das Gemuͤth zur Samm¬ lung berief und eine sehr zarte Wirkung her¬ vorbrachte. Die Frauen waren zu ihm aufs Geruͤst gestiegen, und Ottilie bemerkte kaum, wie abgemessen leicht und bequem das alles zu¬ ging, als sich in ihr das durch fruͤhern Un¬ terricht Empfangene mit einmal zu entwickeln schien, sie nach Farbe und Pinsel griff und auf erhaltene Anweisung ein faltenreiches Ge¬ wand mit soviel Reinlichkeit als Geschicklich¬ keit anlegte. Charlotte, welche gern sah wenn Ottilie sich auf irgend eine Weise beschaͤftigte und zerstreute, ließ die beyden gewaͤhren und ging, um ihren eigenen Gedanken nachzuhaͤngen, um ihre Betrachtungen und Sorgen, die sie niemanden mittheilen konnte, fuͤr sich durch¬ zuarbeiten. Wenn gewoͤhnliche Menschen, durch ge¬ meine Verlegenheiten des Tags zu einem leidenschaftlich aͤngstlichen Betragen aufge¬ regt, uns ein mitleidiges Laͤcheln abnoͤ¬ thigen; so betrachten wir dagegen mit Ehr¬ furcht ein Gemuͤth, in welchem die Saat ei¬ nes großen Schicksals ausgesaͤet worden, das die Entwickelung dieser Empfaͤngniß abwarten muß, und weder das Gute noch das Boͤse, weder das Gluͤckliche noch das Ungluͤckliche II . 3 was daraus entspringen soll, beschleunigen darf und kann. Eduard hatte durch Charlottens Boten, den sie ihm in seine Einsamkeit gesendet, freundlich und theilnehmend, aber doch eher gefaßt und ernst als zutraulich und liebevoll, geantwortet. Kurz darauf war Eduard ver¬ schwunden, und seine Gattinn konnte zu kei¬ ner Nachricht von ihm gelangen, bis sie end¬ lich von ungefaͤhr seinen Namen in den Zei¬ tungen fand, wo er unter denen, die sich bey einer bedeutenden Kriegsgelegenheit hervorge¬ than hatten, mit Auszeichnung genannt war. Sie wußte nun, welchen Weg er genommen hatte, sie erfuhr daß er großen Gefahren entronnen war; allein sie uͤberzeugte sich zu¬ gleich, daß er groͤßere aufsuchen wuͤrde, und sie konnte sich daraus nur allzusehr deuten, daß er in jedem Sinne schwerlich vom Aeu¬ ßersten wuͤrde zuruͤckzuhalten seyn. Sie trug diese Sorgen fuͤr sich allein immer in Ge¬ danken, und mochte sie hin und wieder legen wie sie wollte, so konnte sie doch bey keiner Ansicht Beruhigung finden. Ottilie, von alle dem nichts ahndend, hatte indessen zu jener Arbeit die groͤßte Nei¬ gung gefaßt, und von Charlotten gar leicht die Erlaubniß erhalten, regelmaͤßig darin fortfahren zu duͤrfen. Nun ging es rasch weiter und der azurne Himmel war bald mit wuͤrdigen Bewohnern bevoͤlkert. Durch eine anhaltende Uebung gewannen Ottilie und der Architect bey den letzten Bildern mehr Frey¬ heit, sie wurden zusehends besser. Auch die Gesichter, welche dem Architecten zu ma¬ len allein uͤberlassen war, zeigten nach und nach eine ganz besondere Eigenschaft: sie fin¬ gen saͤmmtlich an Ottilien zu gleichen. Die Naͤhe des schoͤnen Kindes mußte wohl in die Seele des jungen Mannes, der noch keine natuͤrliche oder kuͤnstlerische Physiognomie vor¬ gefaßt hatte, einen so lebhaften Eindruck 3 * machen, daß ihm nach und nach, auf dem Wege vom Auge zur Hand, nichts verloren ging, ja daß beyde zuletzt ganz gleichstimmig arbeiteten. Genug, eins der letzten Gesicht¬ chen gluͤckte vollkommen, so daß es schien als wenn Ottilie selbst aus den himmlischen Raͤu¬ men heruntersaͤhe. An dem Gewoͤlbe war man fertig; die Waͤnde hatte man sich vorgenommen einfach zu lassen und nur mit einer hellern braͤunlichen Farbe zu uͤberziehen; die zarten Saͤulen und kuͤnstlichen bildhauerischen Zieraten sollten sich durch eine dunklere auszeichnen. Aber wie in solchen Dingen immer eins zum andern fuͤhrt, so wurden noch Blumen und Fruchtgehaͤnge beschlossen, welche Himmel und Erde gleich¬ sam zusammenknuͤpfen sollten. Hier war nun Ottilie ganz in ihrem Felde. Die Gaͤrten lieferten die schoͤnsten Muster, und obschon die Kraͤnze sehr reich ausgestattet wurden; so kam man doch fruͤher als man gedacht hatte, damit zu Stande. Noch sah aber alles wuͤste und roh aus. Die Geruͤste waren durch einander geschoben, die Bretter uͤber einander geworfen, der un¬ gleiche Fußboden durch mancherley vergossene Farben noch mehr verunstaltet. Der Archi¬ tect erbat sich nunmehr, daß die Frauenzim¬ mer ihm acht Tage Zeit lassen und bis dahin die Capelle nicht betreten moͤchten. Endlich ersuchte er sie an einem schoͤnen Abende, sich beyderseits dahin zu verfuͤgen; doch wuͤnschte er sie nicht begleiten zu duͤrfen und empfahl sich sogleich. Was er uns auch fuͤr eine Ueberraschung zugedacht haben mag, sagte Charlotte als er weggegangen war; so habe ich doch gegen¬ waͤrtig keine Lust hinunter zu gehen. Du nimmst es wohl allein uͤber dich und giebst mir Nachricht. Gewiß hat er etwas Ange¬ nehmes zu Stande gebracht. Ich werde es erst in deiner Beschreibung und dann gern in der Wirklichkeit genießen. Ottilie, die wohl wußte, daß Charlotte sich in manchen Stuͤcken in Acht nahm, alle Gemuͤthsbewegungen vermied, und besonders nicht uͤberrascht seyn wollte, begab sich sogleich allein auf den Weg und sah sich unwillkuͤhr¬ lich nach dem Architecten um, der aber nirgends erschien und sich mochte verborgen haben. Sie trat in die Kirche, die sie offen fand. Diese war schon fruͤher fertig, gereinigt und eingeweiht. Sie trat zur Thuͤre der Ca¬ pelle, deren schwere mit Erz beschlagene Last sich leicht vor ihr aufthat und sie in einem bekannten Raume mit einem unerwarteten An¬ blick uͤberraschte. Durch das einzige hohe Fenster fiel ein ernstes buntes Licht herein: denn es war von farbigen Glaͤsern anmuthig zusammengesetzt. Das Ganze erhielt dadurch einen fremden Ton und bereitete zu einer eigenen Stimmung. Die Schoͤnheit des Gewoͤlbes und der Waͤnde ward durch die Zierde des Fußbodens erhoͤht, der aus besonders geformten, nach einem schoͤ¬ nen Muster gelegten, durch eine gegossene Gipsflaͤche verbundenen Ziegelsteinen bestand. Diese sowohl als die farbigen Scheiben hatte der Architect heimlich bereiten lassen, und konnte nun in kurzer Zeit alles zusammenfuͤ¬ gen. Auch fuͤr Ruheplaͤtze war gesorgt. Es hatten sich unter jenen kirchlichen Alterthuͤmern einige schoͤngeschnitzte Chorstuͤhle vorgefunden, die nun gar schicklich an den Waͤnden ange¬ bracht umherstanden. Ottilie freute sich der bekannten ihr als ein unbekanntes Ganze entgegentretenden Theile. Sie stand, ging hin und wieder, sah und besah; endlich setzte sie sich auf einen der Stuͤhle und es schien ihr, indem sie auf und umherblickte, als wenn sie waͤre und nicht waͤre, als wenn sie sich empfaͤnde und nicht empfaͤnde, als wenn dieß alles vor ihr, sie vor sich selbst verschwinden sollte, und nur als die Sonne das bisher sehr leb¬ haft beschienene Fenster verließ, erwachte Ottilie vor sich selbst und eilte nach dem Schlosse. Sie verbarg sich nicht in welche sonder¬ bare Epoche diese Ueberraschung gefallen sey. Es war der Abend vor Eduards Geburtstage. Diesen hatte sie freylich ganz anders zu feyern gehofft: wie sollte nicht alles zu diesem Feste geschmuͤckt seyn? Aber nunmehr stand der ganze herbstliche Blumenreichthum ungepfluͤckt. Diese Sonnenblumen wendeten noch immer ihr Angesicht gen Himmel; diese Astern sahen noch immer still bescheiden vor sich hin, und was allenfalls davon zu Kraͤnzen gebunden war, hatte zum Muster gedient einen Ort auszuschmuͤcken, der wenn er nicht blos eine Kuͤnstler-Grille bleiben, wenn er zu irgend et¬ was genutzt werden sollte, nur zu einer ge¬ meinsamen Grabstaͤtte geeignet schien. Sie mußte sich dabey der geraͤuschvollen Geschaͤftigkeit erinnern, mit welcher Eduard ihr Geburtsfest gefeyert, sie mußte des neu¬ gerichteten Hauses gedenken, unter dessen Decke man sich soviel Freundliches versprach. Ja das Feuerwerk rauschte ihr wieder vor Augen und Ohren, je einsamer sie war, desto mehr vor der Einbildungskraft; aber sie fuͤhlte sich auch nur um desto mehr allein. Sie lehnte sich nicht mehr auf seinen Arm, und hatte keine Hoffnung, an ihm jemals wieder eine Stuͤtze zufinden. Aus Ottiliens Tagebuch . „Eine Bemerkung des jungen Kuͤnstlers muß ich aufzeichnen: wie am Handwerker so am bildenden Kuͤnstler kann man auf das deutlichste gewahr werden, daß der Mensch sich das am wenigsten zuzueignen vermag was ihm ganz eigens angehoͤrt. Seine Werke verlassen ihn, so wie die Voͤgel das Nest worin sie ausgebruͤtet worden.“ „Der Baukuͤnstler vor allen hat hierin das wunderlichste Schicksal. Wie oft wendet er seinen ganzen Geist, seine ganze Neigung auf, um Raͤume hervorzubringen, von denen er sich selbst ausschließen muß. Die koͤ¬ niglichen Saͤle sind ihm ihre Pracht schuldig, deren groͤßte Wirkung er nicht mitgenießt. In den Tempeln zieht er eine Graͤnze zwi¬ schen sich und dem Allerheiligsten; er darf die Stufen nicht mehr betreten, die er zur Herz erhebenden Feyerlichkeit gruͤndete, so wie der Goldschmid die Monstranz nur von fern an¬ betet, deren Schmelz und Edelsteine er zu¬ sammengeordnet hat. Dem Reichen uͤbergiebt der Baumeister mit dem Schluͤssel des Palla¬ stes alle Bequemlichkeit und Behaͤbigkeit, ohne irgend etwas davon mitzugenießen. Muß sich nicht allgemach auf diese Weise die Kunst von dem Kuͤnstler entfernen, wenn das Werk, wie ein ausgestattetes Kind, nicht mehr auf den Vater zuruͤckwirkt? und wie sehr mußte die Kunst sich selbst befoͤrdern, als sie fast al¬ lein mit dem Oeffentlichen, mit dem was allen und also auch dem Kuͤnstler gehoͤrte, sich zu beschaͤftigen bestimmt war!“ „Eine Vorstellung der alten Voͤlker ist ernst und kann furchtbar scheinen. Sie dach¬ ten sich ihre Vorfahren in großen Hoͤhlen rings umher auf Thronen sitzend in stummer Unterhaltung. Dem neuen der hereintrat, wenn er wuͤrdig genug war, standen sie auf und neigten ihm einen Willkommen. Gestern als ich in der Capelle saß und meinem ge¬ schnitzten Stuhle gegenuͤber noch mehrere um¬ hergestellt sah, erschien mir jener Gedanke gar freundlich und anmuthig. Warum kannst du nicht sitzen bleiben? dachte ich bey mir selbst, still und in dich gekehrt sitzen bleiben, lange lange, bis endlich die Freunde kaͤmen, denen du aufstuͤndest und ihren Platz mit freundlichem Neigen anwiesest. Die farbigen Scheiben machen den Tag zur ernsten Daͤm¬ merung und Jemand muͤßte eine ewige Lampe stiften, damit auch die Nacht nicht ganz fin¬ ster bliebe.“ „Man mag sich stellen wie man will, und man denkt sich immer sehend. Ich glaube der Mensch traͤumt nur, damit er nicht auf¬ hoͤre zu sehen. Es koͤnnte wohl seyn, daß das innere Licht einmal aus uns heraustraͤte, so daß wir keines andern mehr beduͤrften.“ „Das Jahr klingt ab. Der Wind geht uͤber die Stoppeln und findet nichts mehr zu bewegen; nur die rothen Beeren jener schlan¬ ken Baͤume scheinen uns noch an etwas Mun¬ teres erinnern zu wollen, so wie uns der Tactschlag des Dreschers den Gedanken er¬ weckt, daß in der abgesichelten Aehre soviel Naͤhrendes und Lebendiges verborgen liegt.“ Viertes Kapitel. Wie seltsam mußte, nach solchen Ereig¬ nissen, nach diesem aufgedrungenen Gefuͤhl von Vergaͤnglichkeit und Hinschwinden, Ottilie durch die Nachricht getroffen werden, die ihr nicht laͤnger verborgen bleiben konnte, daß Eduard sich dem wechselnden Kriegsgluͤck uͤber¬ liefert habe. Es entging ihr leider keine von den Betrachtungen, die sie dabey zu machen Ursache hatte. Gluͤcklicherweise kann der Mensch nur einen gewissen Grad des Un¬ gluͤcks fassen; was daruͤber hinausgeht ver¬ nichtet ihn oder laͤßt ihn gleichguͤltig. Es giebt Lagen, in denen Furcht und Hoffnung Eins werden, sich einander wechselseitig auf¬ heben und in eine dunkle Fuͤhllosigkeit verlie¬ ren. Wie koͤnnten wir sonst die entfernten Geliebtesten in stuͤndlicher Gefahr wissen und dennoch unser taͤgliches gewoͤhnliches Leben immer so forttreiben. Es war daher als wenn ein guter Geist fuͤr Ottilien gesorgt haͤtte, indem er auf einmal in diese Stille, in der sie einsam und unbeschaͤftigt zu versinken schien, ein wildes Heer hereinbrachte, das, indem es ihr von außen genug zu schaffen gab und sie aus sich selbst fuͤhrte, zugleich in ihr das Gefuͤhl eige¬ ner Kraft anregte. Charlottens Tochter, Luciane, war kaum aus der Pension in die große Welt getreten, hatte kaum in dem Hause ihrer Tante sich von zahlreicher Gesellschaft umgeben gesehen, als ihr Gefallenwollen wirklich Gefallen er¬ regte, und ein junger, sehr reicher Mann gar bald eine heftige Neigung empfand, sie zu besitzen. Sein ansehnliches Vermoͤgen gab ihm ein Recht, das Beste jeder Art sein eigen zu nennen, und es schien ihm nichts weiter abzugehen als eine vollkommene Frau, um die ihn die Welt so wie um das uͤbrige zu beneiden haͤtte. Diese Familienangelegenheit war es, welche Charlotten bisher sehr viel zu thun gab, der sie ihre ganze Ueberlegung, ihre Correspon¬ denz widmete, insofern diese nicht darauf ge¬ richtet war, von Eduard naͤhere Nachricht zu erhalten; deswegen auch Ottilie mehr als sonst in der letzten Zeit allein blieb. Diese wußte zwar um die Ankunft Lucianens; im Hause hatte sie deshalb die noͤthigsten Vor¬ kehrungen getroffen; allein so nahe stellte man sich den Besuch nicht vor. Man wollte vor¬ her noch schreiben, abreden, naͤher bestimmen, als der Sturm auf einmal uͤber das Schloß und Ottilien hereinbrach. Angefahren kamen nun Kammerjungfern und Bediente, Brancards mit Koffern und Kisten; man glaubte schon eine doppelte und dreyfache Herrschaft im Hause zu haben; aber nun erschienen erst die Gaͤste selbst: Die Großtante mit Lucianen und einigen Freun¬ dinnen, der Braͤutigam gleichfalls nicht unbe¬ gleitet. Da lag das Vorhaus voll Vachen, Mantelsaͤcke und anderer ledernen Gehaͤuse. Mit Muͤhe sonderte man die vielen Kaͤstchen und Futterale auseinander. Des Gepaͤckes und Geschleppes war kein Ende. Dazwischen regnete es mit Gewalt, woraus manche Un¬ bequemlichkeit entstand. Diesem ungestuͤmen Treiben begegnete Ottilie mit gleichmuͤthiger Thaͤtigkeit, ja ihr heiteres Geschick erschien im schoͤnsten Glanze: denn sie hatte in kurzer Zeit alles untergebracht und angeordnet. Je¬ dermann war logirt, Jedermann nach seiner Art bequem, und glaubte gut bedient zu seyn, weil er nicht gehindert war sich selbst zu be¬ dienen. Nun haͤtten alle gern, nach einer hoͤchst beschwerlichen Reise, einige Ruhe genossen; II . 4 der Braͤutigam haͤtte sich seiner Schwieger¬ mutter gern genaͤhert, um ihr seine Liebe, sei¬ nen guten Willen zu betheuern: aber Luciane konnte nicht rasten. Sie war nun einmal zu dem Gluͤcke gelangt, ein Pferd besteigen zu duͤrfen. Der Braͤutigam hatte schoͤne Pferde, und sogleich mußte man aufsitzen. Wetter und Wind, Regen und Sturm kamen nicht in Anschlag; es war als wenn man nur lebte um naß zu werden und sich wieder zu trocknen. Fiel es ihr ein, zu Fuße auszu¬ gehen, so fragte sie nicht, was fuͤr Kleider sie anhatte und wie sie beschuht war; sie mußte die Anlagen besichtigen von denen sie vieles gehoͤrt hatte. Was nicht zu Pferde geschehen konnte, wurde zu Fuß durchrannt. Bald hatte sie alles gesehen und abgeurtheilt. Bey der Schnelligkeit ihres Wesens war ihr nicht leicht zu widersprechen. Die Gesellschaft hatte manches zu leiden, am meisten aber die Kammermaͤdchen, die mit Waschen und Buͤ¬ geln, Auftrennen und Annaͤhen, nicht fertig werden konnten. Kaum hatte sie das Haus und die Ge¬ gend erschoͤpft, als sie sich verpflichtet fuͤhlte, rings in der Nachbarschaft Besuch abzulegen. Weil man sehr schnell ritt und fuhr, so reichte die Nachbarschaft ziemlich fern umher. Das Schloß ward mit Gegenbesuchen uͤber¬ schwemmt, und damit man sich ja nicht ver¬ fehlen moͤchte, wurden bald bestimmte Tage angesetzt. Indessen Charlotte mit der Tante und dem Geschaͤftstraͤger des Braͤutigams die in¬ nern Verhaͤltnisse festzustellen bemuͤht war, und Ottilie mit ihren Untergebenen dafuͤr zu sorgen wußte, daß es an nichts, bey so gro¬ ßem Zudrang, fehlen moͤchte, da denn Jaͤger und Gaͤrtner, Fischer und Kraͤmer in Bewe¬ gung gesetzt wurden; zeigte sich Luciane im¬ mer wie ein brennender Cometenkern, der 4 * einen langen Schweif nach sich zieht. Die gewoͤhnlichen Besuchsunterhaltungen duͤnkten ihr bald ganz unschmackhaft. Kaum daß sie den aͤltesten Personen eine Ruhe am Spieltisch goͤnnte; wer noch einigermaßen beweglich war — und wer ließ sich nicht durch ihre reizen¬ den Zudringlichkeiten in Bewegung setzen? — mußte herbey, wo nicht zum Tanze, doch zum lebhaften Pfand-Straf- und Vexirspiel. Und obgleich das Alles, so wie hernach die Pfaͤnderloͤsung, auf sie selbst berechnet war, so ging doch von der andern Seite Niemand, be¬ sonders kein Mann, er mochte von einer Art seyn von welcher er wollte, ganz leer aus; ja es gluͤckte ihr, einige aͤltere Personen von Bedeutung ganz fuͤr sich zu gewinnen, indem sie ihre eben einfallenden Geburts- und Namens¬ tage ausgeforscht hatte und besonders feyerte. Dabey kam ihr ein ganz eignes Geschick zu Statten, so daß, indem alle sich beguͤnstigt sa¬ hen, jeder sich fuͤr den am meisten beguͤnstig¬ ten hielt: eine Schwachheit deren sich sogar der Aelteste in der Gesellschaft am allermerklich¬ sten schuldig machte. Schien es bey ihr Plan zu seyn, Maͤn¬ ner die etwas vorstellten, Rang, Ansehen, Ruhm oder sonst etwas Bedeutendes vor sich hatten, fuͤr sich zu gewinnen, Weisheit und Besonnenheit zu Schanden zu machen, und ihrem wilden wunderlichen Wesen selbst bey der Bedaͤchtlichkeit Gunst zu erwerben; so kam die Jugend doch dabey nicht zu kurz: Jeder hatte sein Theil, seinen Tag, seine Stunde, in der sie ihn zu entzuͤcken und zu fesseln wußte. So hatte sie den Architecten schon bald ins Auge gefaßt, der jedoch aus seinem schwarzen langlockigen Haar so unbe¬ fangen heraussah, so gerad und ruhig in der Entfernung stand, auf alle Fragen kurz und verstaͤndig antwortete, sich aber auf nichts weiter einzulassen geneigt schien, daß sie sich endlich einmal, halb unwillig halb listig, ent¬ schloß ihn zum Helden des Tages zu machen und dadurch auch fuͤr ihren Hof zu ge¬ winnen. Nicht umsonst hatte sie so vieles Gepaͤcke mitgebracht, ja es war ihr noch manches ge¬ folgt. Sie hatte sich auf eine unendliche Abwechselung in Kleidern vorgesehen. Wenn es ihr Vergnuͤgen machte, sich des Tags drey viermal umzuziehen und mit gewoͤhnlichen, in der Gesellschaft uͤblichen Kleidern vom Morgen bis in die Nacht zu wechseln; so erschien sie dazwischen wohl auch einmal im wirklichen Maskenkleid, als Baͤuerinn und Fischerinn, als Fee und Blumenmaͤdchen. Sie verschmaͤhte nicht, sich als alte Frau zu verkleiden, um desto frischer ihr junges Ge¬ sicht aus der Kutte hervorzuzeigen; und wirk¬ lich verwirrte sie dadurch das Gegenwaͤrtige und das Eingebildete dergestalt, daß man sich mit der Saalnixe verwandt und verschwaͤgert zu seyn glaubte. Wozu sie aber diese Verkleidungen haupt¬ saͤchlich benutzte, waren pantomimische Stel¬ lungen und Taͤnze, in denen sie verschiedene Character auszudruͤcken gewandt war. Ein Cavalier aus ihrem Gefolge hatte sich einge¬ richtet, auf dem Fluͤgel ihre Gebaͤrden mit der wenigen noͤthigen Musik zu begleiten; es bedurfte nur einer kurzen Abrede und sie wa¬ ren sogleich in Einstimmung. Eines Tages, als man sie bey der Pause eines lebhaften Balls, auf ihren eigenen heimlichen Antrieb, gleichsam aus dem Ste¬ gereife, zu einer solchen Darstellung aufge¬ fordert hatte; schien sie verlegen und uͤber¬ rascht und ließ sich wider ihre Gewohnheit lange bitten. Sie zeigte sich unentschlossen, ließ die Wahl, bat wie ein Improvisator um einen Gegenstand, bis endlich jener Clavier spielende Gehuͤlfe, mit dem es abgeredet seyn mochte, sich an den Fluͤgel setzte, einen Trauermarsch zu spielen anfing und sie auf¬ forderte, jene Artemisia zu geben, welche sie so vortrefflich einstudirt habe. Sie ließ sich erbitten, und nach einer kurzen Abwesenheit erschien sie, bey den zaͤrtlich traurigen Toͤnen des Todtenmarsches, in Gestalt der koͤniglichen Wittwe, mit gemessenem Schritt, einen Aschenkrug vor sich hertragend. Hinter ihr brachte man eine große schwarze Tafel und in einer goldenen Reißfeder ein wohl zuge¬ schnitztes Stuͤck Kreide. Einer ihrer Verehrer und Adjutanten, dem sie etwas ins Ohr sagte, ging sogleich den Architecten aufzufordern, zu noͤthigen und gewissermaßen herbeyzuschieben, daß er als Baumeister das Grab des Mausolus zeich¬ nen, und also keineswegs einen Statisten, sondern einen ernstlich Mitspielenden vorstellen sollte. Wie verlegen der Architect auch aͤu¬ ßerlich erschien — denn er machte in seiner ganz schwarzen knappen modernen Civilge¬ stalt einen wunderlichen Contrast mit jenen Floͤren, Creppen, Franzen, Schmelzen, Qua¬ sten und Kronen — so faßte er sich doch gleich innerlich, allein um so wunderlicher war es anzusehen. Mit dem groͤßten Ernst stellte er sich vor die große Tafel, die von ein paar Pagen gehalten wurde, und zeich¬ nete mit viel Bedacht und Genauigkeit ein Grabmal, das zwar eher einem longobardi¬ schen als einem carischen Koͤnig waͤre gemaͤß gewesen, aber doch in so schoͤnen Verhaͤltnis¬ sen, so ernst in seinen Theilen, so geistreich in seinen Zieraten, daß man es mit Ver¬ gnuͤgen entstehen sah und als es fertig war bewunderte. Er hatte sich in diesem ganzen Zeitraum fast nicht gegen die Koͤniginn gewendet, son¬ dern seinem Geschaͤft alle Aufmerksamkeit ge¬ widmet. Endlich als er sich vor ihr neigte und andeutete, daß er nun ihre Befehle voll¬ zogen zu haben glaube, hielt sie ihm noch die Urne hin, und bezeichnete das Verlan¬ gen, diese oben auf dem Gipfel abgebildet zu sehen. Er that es, obgleich ungern, weil sie zu dem Character seines uͤbrigen Entwurfs nicht passen wollte. Was Lucianen betraf, so war sie endlich von ihrer Ungeduld erloͤst: denn ihre Absicht war keineswegs eine gewis¬ senhafte Zeichnung von ihm zu haben. Haͤtte er mit wenigen Strichen nur hinskizzirt, was etwa einem Monument aͤhnlich gesehen, und sich die uͤbrige Zeit mit ihr abgegeben; so waͤre das wohl dem Endzweck und ihren Wuͤnschen gemaͤßer gewesen. Bey seinem Be¬ nehmen dagegen kam sie in die groͤßte Ver¬ legenheit: denn ob sie gleich in ihrem Schmerz, ihren Anordnungen und Andeutun¬ gen, ihrem Beyfall uͤber das nach und nach Entstehende, ziemlich abzuwechseln suchte und sie ihn einigemal beynahe herumzerrte, um nur mit ihm in eine Art von Verhaͤltniß zu kommen; so erwies er sich doch gar zu steif, dergestalt daß sie allzuoft ihre Zuflucht zur Urne neh¬ men, sie an ihr Herz druͤcken und zum Him¬ mel schauen mußte, ja zuletzt, weil sich doch dergleichen Situationen immer steigern, mehr einer Wittwe von Ephesus als einer Koͤniginn von Carien aͤhnlich sah. Die Vorstellung zog sich daher in die Laͤnge, der Clavierspie¬ ler, der sonst Geduld genug hatte, wußte nicht mehr in welchen Ton er ausweichen sollte. Er dankte Gott als er die Urne auf der Pyramide stehn sah und fiel unwillkuͤhr¬ lich, als die Koͤniginn ihren Dank ausdruͤ¬ cken wollte, in ein lustiges Thema; wodurch die Vorstellung zwar ihren Character verlor, die Gesellschaft jedoch voͤllig aufgeheitert wur¬ de, die sich denn sogleich theilte, der Dame fuͤr ihren vortrefflichen Ausdruck, und dem Architecten fuͤr seine kuͤnstliche und zierliche Zeichnung eine freudige Bewunderung zu be¬ weisen. Besonders der Braͤutigam unterhielt sich mit dem Architecten. Es thut mir leid, sagte jener, daß die Zeichnung so vergaͤnglich ist. Sie erlauben wenigstens, daß ich sie mir auf mein Zimmer bringen lasse und mich mit Ihnen daruͤber unterhalte. Wenn es Ihnen Vergnuͤgen macht, sagte der Architect, so kann ich Ihnen sorgfaͤltige Zeichnungen von der¬ gleichen Gebaͤuden und Monumenten vorlegen, wovon dieses nur ein zufaͤlliger fluͤchtiger Entwurf ist. Ottilie stand nicht fern und trat zu den beyden. Versaͤumen Sie nicht, sagte sie zum Architecten, den Herrn Baron gelegentlich Ihre Sammlung sehn zu lassen: er ist ein Freund der Kunst und des Alterthums; ich wuͤnsche daß Sie sich naͤher kennen lernen. Luciane kam herbeygefahren und fragte: Wovon ist die Rede? Von einer Sammlung Kunstwerke, ant¬ wortete der Baron, welche dieser Herr besitzt und die er uns gelegentlich zeigen will. Er mag sie mir gleich bringen, rief Lu¬ ciane. Nicht wahr, Sie bringen sie gleich? setzte sie schmeichelnd hinzu, indem sie ihn mit beyden Haͤnden freundlich anfaßte. Es moͤchte jetzt der Zeitpunkt nicht seyn, versetzte der Architect. Was! rief Luciane gebieterisch: Sie wol¬ len dem Befehl Ihrer Koͤniginn nicht gehor¬ chen? Dann legte sie sich auf ein neckisches Bitten. Seyn Sie nicht eigensinnig, sagte Ottilie halb leise. Der Architect entfernte sich mit einer Beugung, sie war weder bejahend noch ver¬ neinend. Kaum war er fort, als Luciane sich mit einem Windspiel im Saale herumjagte. Ach! rief sie aus, indem sie zufaͤllig an ihre Mut¬ ter stieß: wie bin ich nicht ungluͤcklich! Ich habe meinen Affen nicht mitgenommen; man hat mir es abgerathen, es ist aber nur die Bequemlichkeit meiner Leute, die mich um dieses Vergnuͤgen bringt. Ich will ihn aber nachkommen lassen, es soll mir Jemand hin ihn zu holen. Wenn ich nur sein Bild¬ niß sehen koͤnnte, so waͤre ich schon vergnuͤgt. Ich will ihn aber gewiß auch malen lassen und er soll mir nicht von der Seite kommen. Vielleicht kann ich dich troͤsten, versetzte Charlotte, wenn ich dir aus der Bibliothek einen ganzen Band der wunderlichsten Affen¬ bilder kommen lasse. Luciane schrie vor Freu¬ den laut auf, und der Folioband wurde ge¬ bracht. Der Anblick dieser menschenaͤhnlichen und durch den Kuͤnstler noch mehr vermensch¬ lichten abscheulichen Geschoͤpfe machte Lucianen die groͤßte Freude. Ganz gluͤcklich aber fuͤhlte sie sich, bey einem jeden dieser Thiere die Aehnlichkeit mit bekannten Menschen zu fin¬ den. Sieht der nicht aus wie der Onkel? rief sie unbarmherzig: der wie der Galanterie¬ haͤndler M—, der wie der Pfarrer S— und dieser ist der Dings — der — leibhaf¬ tig. Im Grunde sind doch die Affen die ei¬ gentlichen Incroyables und es ist unbegreiflich, wie man sie aus der besten Gesellschaft aus¬ schließen mag. Sie sagte das in der besten Gesellschaft, doch Niemand nahm es ihr uͤbel. Man war so gewohnt ihrer Anmuth vieles zu erlauben, daß man zuletzt ihrer Unart alles erlaubte. Ottilie unterhielt sich indessen mit dem Braͤutigam. Sie hoffte auf die Ruͤckkunft des Architecten, dessen ernstere, geschmackvol¬ lere Sammlungen die Gesellschaft von diesem Affenwesen befreyen sollten. In dieser Er¬ wartung hatte sie sich mit dem Baron be¬ sprochen und ihn auf manches aufmerksam gemacht. Allein der Architect blieb aus, und als er endlich wiederkam, verlor er sich unter der Gesellschaft, ohne etwas mit zu bringen, und ohne zu thun als ob von etwas die Frage gewesen waͤre. Ottilie ward einen Au¬ genblick — wie soll man's nennen? — ver¬ drießlich, ungehalten, betroffen; sie hatte ein gutes Wort an ihn gewendet, sie goͤnnte dem Braͤutigam eine vergnuͤgte Stunde nach sei¬ nem Sinne, der bey seiner unendlichen Liebe fuͤr Lucianen doch von ihrem Betragen zu leiden schien. Die Affen mußten einer Collation Platz machen. Gesellige Spiele, ja sogar noch Taͤnze, zuletzt ein freudeloses Herumsitzen und Wiederaufjagen einer schon gesunkenen Lust dauerten dießmal, wie sonst auch, weit uͤber Mitternacht. Denn schon hatte sich Luciane gewoͤhnt, Morgens nicht aus dem Bette und Abends nicht ins Bette gelangen zu koͤnnen. Um diese Zeit finden sich in Ottiliens Tagebuch Ereignisse seltner angemerkt, dage¬ gen haͤufiger auf das Leben bezuͤgliche und vom Leben abgezogene Maximen und Sen¬ tenzen. Weil aber die meisten derselben wohl nicht durch ihre eigene Reflexion ent¬ standen seyn koͤnnen; so ist es wahrscheinlich, daß man ihr irgend einen Heft mitgetheilt, aus dem sie sich was ihr gemuͤthlich war, ausgeschrieben. Manches eigene von innige¬ rem Bezug wird an dem rothen Faden wohl zu erkennen seyn. II . 5 Aus Ottiliens Tagebuche. „Wir blicken so gern in die Zukunft, weil wir das Ungefaͤhre was sich in ihr hin und her bewegt, durch stille Wuͤnsche so gern zu un¬ sern Gunsten heranleiten moͤchten.“ „Wir befinden uns nicht leicht in großer Gesellschaft, ohne zu denken: der Zufall, der so viele zusammenbringt, solle uns auch unsre Freunde herbeyfuͤhren.“ „Man mag noch so eingezogen leben, so wird man ehe man sich's versieht, ein Schuld¬ ner oder ein Glaͤubiger.“ „Begegnet uns Jemand der uns Dank schuldig ist, gleich faͤllt es uns ein. Wie oft koͤnnen wir Jemand begegnen, dem wir Dank schuldig sind, ohne daran zu denken.“ „Sich mitzutheilen ist Natur; Mitge¬ theiltes aufzunehmen wie es gegeben wird, ist Bildung.“ „Niemand wuͤrde viel in Gesellschaften sprechen, wenn er sich bewußt waͤre, wie oft er die andern mißversteht.“ „Man veraͤndert fremde Reden beym Wiederhohlen wohl nur darum so sehr, weil man sie nicht verstanden hat.“ „Wer vor andern lange allein spricht, ohne den Zuhoͤrern zu schmeicheln, erregt Widerwillen.“ „Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn.“ 5 * „Widerspruch und Schmeicheley machen beyde ein schlechtes Gespraͤch.“ „Die angenehmsten Gesellschaften sind die, in welchen eine heitere Ehrerbietung der Glie¬ der gegen einander obwaltet.“ „Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Character als durch das was sie laͤcherlich finden.“ „Das Laͤcherliche entspringt aus einem sittlichen Contrast, der, auf eine unschaͤdliche Weise, fuͤr die Sinne in Verbindung gebracht wird.“ „Der sinnliche Mensch lacht oft wo nichts zu lachen ist. Was ihn auch anregt, sein in¬ neres Behagen kommt zum Vorschein.“ „Der Verstaͤndige findet fast alles laͤcher¬ lich, der Vernuͤnftige fast nichts.“ „Einem bejahrten Manne verdachte man, daß er sich noch um junge Frauenzimmer be¬ muͤhte. Es ist das einzige Mittel, versetzte er, sich zu verjuͤngen und das will doch Jeder¬ mann.“ „Man laͤßt sich seine Maͤngel vorhalten, man laͤßt sich strafen, man leidet manches um ihrer willen mit Geduld; aber ungeduldig wird man, wenn man sie ablegen soll.“ „Gewisse Maͤngel sind nothwendig zum Daseyn des Einzelnen. Es wuͤrde uns unan¬ genehm seyn, wenn alte Freunde gewisse Ei¬ genheiten ablegten.“ „Man sagt: er stirbt bald, wenn einer etwas gegen seine Art und Weise thut.“ „Was fuͤr Maͤngel duͤrfen wir behalten, ja an uns cultiviren? Solche die den andern eher schmeicheln als sie verletzen.“ „Die Leidenschaften sind Maͤngel oder Tugenden, nur gesteigerte.“ „Unsre Leidenschaften sind wahre Phoͤnixe. Wie der alte verbrennt, steigt der neue so¬ gleich wieder aus der Asche hervor.“ „Große Leidenschaften sind Krankheiten ohne Hoffnung. Was sie heilen koͤnnte, macht sie erst recht gefaͤhrlich.“ „Die Leidenschaft erhoͤht und mildert sich durchs Bekennen. In nichts waͤre die Mit¬ telstraße vielleicht wuͤnschenswerther als im Vertrauen und Verschweigen gegen die die wir lieben.“ Fuͤnftes Kapitel . So peitschte Luciane den Lebensrausch im geselligen Strudel immer vor sich her. Ihr Hofstaat vermehrte sich taͤglich, theils weil ihr Treiben so manchen anregte und anzog, theils weil sie sich andre durch Gefaͤlligkeit und Wohlthun zu verbinden wußte. Mittheilend war sie im hoͤchsten Grade: denn da ihr durch die Neigung der Tante und des Braͤutigams so viel Schoͤnes und Koͤstliches auf einmal zugeflossen war; so schien sie nichts eigenes zu besitzen, und den Werth der Dinge nicht zu kennen, die sich um sie gehaͤuft hatten. So zauderte sie nicht einen Augenblick einen kostbaren Shawl abzunehmen und ihn einem Frauenzimmer umzuhaͤngen, das ihr gegen die uͤbrigen zu aͤrmlich geklei¬ det schien, und sie that das auf eine so neckische, geschickte Weise, daß Niemand eine solche Gabe ablehnen konnte. Einer von ihrem Hofstaat hatte stets eine Boͤrse und den Auftrag, in den Orten wo sie einkehrten, sich nach den Aeltesten und Kraͤnksten zu erkun¬ digen, und ihren Zustand wenigstens fuͤr den Augenblick zu erleichtern. Dadurch entstand ihr in der ganzen Gegend ein Name von Vortrefflichkeit, der ihr doch auch manch¬ mal unbequem ward, weil er allzuviel laͤstige Nothleidende an sie heranzog. Durch nichts aber vermehrte sie so sehr ih¬ ren Ruf, als durch ein auffallendes gutes be¬ harrliches Benehmen gegen einen ungluͤcklichen jungen Mann, der die Gesellschaft floh, weil er, uͤbrigens schoͤn und wohlgebildet, seine rechte Hand, obgleich ruͤhmlich, in der Schlacht verloren hatte. Diese Verstuͤmmlung erregte ihm einen solchen Mißmuth; es war ihm so verdrießlich, daß jede neue Bekanntschaft sich auch immer mit seinem Unfall bekannt machen sollte, daß er sich lieber versteckte, sich dem Lesen und andern Studien ergab und ein fuͤr allemal mit der Gesellschaft nichts wollte zu schaffen haben. Das Daseyn dieses jungen Mannes blieb ihr nicht verborgen. Er mußte herbey, erst in kleiner Gesellschaft, dann in groͤßerer, dann in der groͤßten. Sie benahm sich anmuthiger gegen ihn als gegen irgend einen andern, be¬ sonders wußte sie durch zudringliche Dienst¬ fertigkeit ihm seinen Verlust werth zu machen, indem sie geschaͤftig war ihn zu ersetzen. Bey Tafel mußte er neben ihr seinen Platz nehmen, sie schnitt ihm vor, so daß er nur die Gabel gebrauchen durfte. Nahmen Aeltere, Vornehmere ihm ihre Nachbarschaft weg, so erstreckte sie ihre Aufmerksamkeit uͤber die ganze Tafel hin, und die eilenden Bedienten mußten das ersetzen was ihm die Entfernung zu rauben drohte. Zuletzt munterte sie ihn auf, mit der linken Hand zu schreiben: er mußte alle seine Versuche an sie richten, und so stand sie, entfernt oder nah, immer mit ihm in Verhaͤltniß. Der junge Mann wußte nicht wie ihm geworden war, und wirklich fing er von diesem Augenblick ein neues Le¬ ben an. Vielleicht sollte man denken, ein solches Betragen waͤre dem Braͤutigam mißfaͤllig ge¬ wesen; allein es fand sich das Gegentheil. Er rechnete ihr diese Bemuͤhungen zu großem Verdienst an, und war um so mehr daruͤber ganz ruhig, als er ihre fast uͤbertriebenen Eigenheiten kannte, wodurch sie alles was im mindesten verfaͤnglich schien, von sich ab¬ zulehnen wußte. Sie wollte mit Jedermann nach Belieben umspringen, Jeder war in Gefahr, von ihr einmal angestoßen, gezerrt oder sonst geneckt zu werden; Niemand aber durfte sich gegen sie ein Gleiches erlauben, Niemand sie nach Willkuͤhr beruͤhren, Nie¬ mand auch nur im entferntesten Sinne, eine Freyheit die sie sich nahm, erwiedern; und so hielt sie die andern in den strengsten Graͤn¬ zen der Sittlichkeit gegen sich, die sie gegen andere jeden Augenblick zu uͤbertreten schien. Ueberhaupt haͤtte man glauben koͤnnen, es sey bey ihr Maxime gewesen, sich dem Lobe und dem Tadel, der Neigung und der Abneigung gleichmaͤßig auszusetzen. Denn wenn sie die Menschen auf mancherley Weise fuͤr sich zu gewinnen suchte; so verdarb sie es wieder mit ihnen gewoͤhnlich durch eine boͤse Zunge, die Niemanden schonte. So wurde kein Besuch in der Nachbarschaft abgelegt, nirgends sie und ihre Gesellschaft in Schloͤssern und Woh¬ nungen freundlich aufgenommen, ohne daß sie bey der Ruͤckkehr auf das ausgelassenste merken ließ, wie sie alle menschlichen Ver¬ haͤltnisse nur von der laͤcherlichen Seite zu nehmen geneigt sey. Da waren drey Bruͤ¬ der, welche unter lauter Complimenten, wer zuerst heiraten sollte, das Alter uͤbereilt hatte; hier eine kleine junge Frau mit einem großen alten Manne; dort umgekehrt ein kleiner munterer Mann und eine unbehuͤlfliche Rie¬ sinn. In dem einen Hause stolperte man bey jedem Schritte uͤber ein Kind; das andre wollte ihr bey der groͤßten Gesellschaft nicht voll erscheinen, weil keine Kinder gegenwaͤrtig waren. Alte Gatten sollten sich nur schnell begraben lassen, damit doch wieder einmal Jemand im Hause zum Lachen kaͤme, da ih¬ nen keine Notherben gegeben waren. Junge Eheleute sollten reisen, weil das Haushalten sie gar nicht kleide. Und wie mit den Per¬ sonen, so machte sie es auch mit den Sachen, mit den Gebaͤuden, wie mit dem Haus- und Tischgeraͤthe. Besonders alle Wandverzierun¬ gen reizten sie zu lustigen Bemerkungen. Von dem aͤltesten Hautelißteppich bis zu der neu¬ sten Papiertapete, vom ehrwuͤrdigsten Fami¬ lienbilde bis zum frivolsten neuen Kupferstich, eins wie das andre mußte leiden, eins wie das andre wurde durch ihre spoͤttischen Be¬ merkungen gleichsam aufgezehrt, so daß man sich haͤtte verwundern sollen, wie fuͤnf Meilen umher irgend etwas nur noch existirte. Eigentliche Bosheit war vielleicht nicht in diesem verneinenden Bestreben; ein selbstischer Muthwille mochte sie gewoͤhnlich anreizen: aber eine wahrhafte Bitterkeit hatte sich in ihrem Verhaͤltniß zu Ottilien erzeugt. Auf die ruhige ununterbrochene Thaͤtigkeit des lieben Kindes, die von Jedermann bemerkt und gepriesen wurde, sah sie mit Verachtung herab, und als zur Sprache kam, wie sehr sich Ottilie der Gaͤrten und der Treibhaͤuser annehme, spottete sie nicht allein daruͤber, indem sie, uneingedenk des tiefen Winters in dem man lebte, sich zu verwundern schien, daß man weder Blumen noch Fruͤchte gewahr werde; sondern sie ließ auch von nun an so viel Gruͤnes, so viel Zweige und was nur irgend keimte, herbeyhohlen und zur taͤglichen Zierde der Zimmer und des Tisches verschwen¬ den, daß Ottilie und der Gaͤrtner nicht wenig gekraͤnkt waren, ihre Hoffnungen fuͤr das naͤchste Jahr und vielleicht auf laͤngere Zeit zerstoͤrt zu sehen. Eben so wenig goͤnnte sie Ottilien die Ruhe des haͤuslichen Ganges, worin sie sich mit Bequemlichkeit fortbewegte. Ottilie sollte mit auf die Lust- und Schlittenfahrten; sie sollte mit auf die Baͤlle die in der Nachbar¬ schaft veranstaltet wurden; sie sollte weder Schnee noch Kaͤlte noch gewaltsame Nacht¬ stuͤrme scheuen, da ja soviel andre nicht davon stuͤrben. Das zarte Kind litt nicht wenig darunter, aber Luciane gewann nichts dabey: denn obgleich Ottilie sehr einfach gekleidet ging, so war sie doch, oder so schien sie we¬ nigstens immer den Maͤnnern die schoͤnste. Ein sanftes Anziehen versammelte alle Maͤnner um sie her, sie mochte sich in den großen Raͤumen am ersten oder am letzten Platze befinden, ja der Braͤutigam Lucianens selbst unterhielt sich oft mit ihr, und zwar um so mehr, als er in einer Angelegenheit die ihn beschaͤftigte, ihren Rath, ihre Mitwirkung verlangte. Er hatte den Architecten naͤher kennen lernen, bey Gelegenheit seiner Kunstsammlung viel uͤber das Geschichtliche mit ihm gespro¬ chen, in andern Faͤllen auch, besonders bey Betrachtung der Capelle, sein Talent schaͤtzen gelernt. Der Baron war jung, reich; er sammelte, er wollte bauen; seine Liebhaberey war lebhaft, seine Kenntnisse schwach; er glaubte in dem Architecten seinen Mann zu finden, mit dem er mehr als einen Zweck zugleich erreichen koͤnnte. Er hatte seiner Braut von dieser Absicht gesprochen; sie lobte ihn darum und war hoͤchlich mit dem Vor¬ schlag zufrieden, doch vielleicht mehr, um die¬ sen jungen Mann Ottilien zu entziehen — denn sie glaubte so etwas von Neigung bey ihm zu bemerken — als daß sie gedacht haͤtte, sein Talent zu ihren Absichten zu benutzen. Denn ob er gleich bey ihren extemporirten Festen sich sehr thaͤtig erwiesen und manche Resourcen bey dieser und jener Anstalt dar¬ geboten, so glaubte sie es doch immer selbst besser zu verstehen; und da ihre Erfindungen gewoͤhnlich gemein waren, so reichte, um sie auszufuͤhren, die Geschicklichkeit eines gewand¬ ten Kammerdieners eben so gut hin, als die des vorzuͤglichsten Kuͤnstlers. Weiter als zu einem Altar, worauf geopfert ward, und zu einer Bekraͤnzung, es mochte nun ein gypfer¬ nes oder ein lebendes Haupt seyn, konnte ihre Einbildungskraft sich nicht versteigen, wenn sie irgend Jemand zum Geburts- und Ehrentage ein festliches Compliment zu machen gedachte. Ottilie konnte dem Braͤutigam, der sich nach dem Verhaͤltniß des Architecten zum Hause erkundigte, die beste Auskunft geben. Sie wußte daß Charlotte sich schon fruͤher nach einer Stelle fuͤr ihn umgethan hatte: denn waͤre die Gesellschaft nicht gekommen, so haͤtte sich der junge Mann gleich nach Vollendung der Capelle entfernt, weil alle Bauten den Winter uͤber stillstehn sollten und mußten; und es war daher sehr erwuͤnscht, wenn der geschickte Kuͤnstler durch einen neuen Goͤnner wieder genutzt und befoͤrdert wurde. Das persoͤnliche Verhaͤltniß Ottiliens zum Architecten war ganz rein und unbefangen. Seine angenehme und thaͤtige Gegenwart hatte sie, wie die Naͤhe eines aͤltern Bruders, unter¬ halten und erfreut. Ihre Empfindungen fuͤr ihn blieben auf der ruhigen leidenschaftslosen Oberflaͤche der Blutsverwandtschaft: denn in ihrem Herzen war kein Raum mehr; es war von der Liebe zu Eduard ganz gedraͤngt aus¬ gefuͤllt, und nur die Gottheit, die alles durch¬ II . 6 dringt, konnte dieses Herz zugleich mit ihm besitzen. Indessen je tiefer der Winter sich senkte, je wilderes Wetter, je unzugaͤnglicher die Wege, desto anziehender schien es, in so guter Gesellschaft die abnehmenden Tage zuzubrin¬ gen. Nach kurzen Ebben uͤberflutete die Menge von Zeit zu Zeit das Haus. Offiziere von entfernteren Garnisonen, die gebildeten zu ihrem großen Vortheil, die roheren zur Unbequemlichkeit der Gesellschaft, zogen sich herbey; am Civilstande fehlte es auch nicht, und ganz unerwartet kamen eines Tages der Graf und die Baronesse zusammen ange¬ fahren. Ihre Gegenwart schien erst einen wahren Hof zu bilden. Die Maͤnner von Stand und Sitten umgaben den Grafen, und die Frauen ließen der Baronesse Gerechtigkeit wi¬ derfahren. Man verwunderte sich nicht lange, sie beyde zusammen und so heiter zu sehen: denn man vernahm, des Grafen Gemahlinn sey gestorben, und eine neue Verbindung werde geschlossen seyn sobald es die Schicklichkeit nur erlaube. Ottilie erinnerte sich jenes er¬ sten Besuchs, jedes Worts was uͤber Ehe¬ stand und Scheidung, uͤber Verbindung und Trennung, uͤber Hoffnung, Erwartung, Ent¬ behren und Entsagen gesprochen ward. Beyde Personen, damals noch ganz ohne Aussichten, standen nun vor ihr, dem gehofften Gluͤck so nahe, und ein unwillkuͤhrlicher Seufzer drang aus ihrem Herzen. Luciane hoͤrte kaum, daß der Graf ein Liebhaber von Musik sey, so wußte sie ein Conzert zu veranstalten; sie wollte sich dabey mit Gesang zur Guitarre hoͤren lassen. Es geschah. Das Instrument spielte sie nicht un¬ geschickt, ihre Stimme war angenehm; was aber die Worte betraf, so verstand man sie so wenig als wenn sonst eine deutsche Schoͤne 6 * zur Guitarre singt. Indeß versicherte Jeder¬ mann, sie habe mit viel Ausdruck gesungen, und sie konnte mit dem lauten Beyfall zu¬ frieden seyn. Nur ein wunderliches Ungluͤck begegnete bey dieser Gelegenheit. In der Ge¬ sellschaft befand sich ein Dichter, den sie auch besonders zu verbinden hoffte, weil sie einige Lieder von ihm an sie gerichtet wuͤnschte, und deshalb diesen Abend meist nur von seinen Liedern vortrug. Er war uͤberhaupt, wie alle, hoͤflich gegen sie, aber sie hatte mehr erwar¬ tet. Sie legte es ihm einigemal nahe, konnte aber weiter nichts von ihm vernehmen, bis sie endlich aus Ungeduld einen ihrer Hofleute an ihn schickte und sondiren ließ, ob er denn nicht entzuͤckt gewesen sey, seine vortrefflichen Gedichte so vortrefflich vortragen zu hoͤren. Meine Gedichte? versetzte dieser mit Erstau¬ nen. Verzeihen Sie, mein Herr, fuͤgte er hinzu: ich habe nichts als Vocale gehoͤrt und die nicht einmal alle. Unterdessen ist es mei¬ ne Schuldigkeit mich fuͤr eine so liebenswuͤr¬ dige Intention dankbar zu erweisen. Der Hofmann schwieg und verschwieg. Der andre suchte sich durch einige wohltoͤnende Compli¬ mente aus der Sache zu ziehen. Sie ließ ihre Absicht nicht undeutlich merken, auch et¬ was eigens fuͤr sie gedichtetes zu besitzen. Wenn es nicht allzu unfreundlich gewesen waͤre, so haͤtte er ihr das Alphabet uͤberrei¬ chen koͤnnen, um sich daraus ein beliebiges Lobgedicht zu irgend einer vorkommenden Me¬ lodie selbst einzubilden. Doch sollte sie nicht ohne Kraͤnkung aus dieser Begebenheit schei¬ den. Kurze Zeit darauf erfuhr sie: er habe noch selbigen Abend einer von Ottiliens Lieb¬ lingsmelodieen ein allerliebstes Gedicht unter¬ gelegt, das noch mehr als verbindlich sey. Luciane, wie alle Menschen ihrer Art, die immer durcheinander mischen was ihnen vortheilhaft und was ihnen nachtheilig ist, wollte nun ihr Gluͤck im Recitiren versuchen. Ihr Gedaͤchtniß war gut, aber wenn man aufrichtig reden sollte, ihr Vortrag geistlos und heftig ohne leidenschaftlich zu seyn. Sie recitirte Balladen, Erzaͤhlungen und was sonst in Declamatorien vorzukommen pflegt. Dabey hatte sie die ungluͤckliche Gewohnheit angenommen, das was sie vortrug mit Gesten zu begleiten, wodurch man das was eigent¬ lich episch und lyrisch ist, auf eine unange¬ nehme Weise mit dem Dramatischen mehr ver¬ wirrt als verbindet. Der Graf, ein einsichtsvoller Mann, der gar bald die Gesellschaft, ihre Neigungen, Leidenschaften und Unterhaltungen uͤbersah, brachte Lucianen, gluͤcklicher oder ungluͤcklicher Weise, auf eine neue Art von Darstellung, die ihrer Persoͤnlichkeit sehr gemaͤß war. Ich finde, sagte er, hier so manche wohlgestaltete Personen, denen es gewiß nicht fehlt, male¬ rische Bewegungen und Stellungen nachzuah¬ men. Sollten sie es noch nicht versucht ha¬ ben, wirkliche bekannte Gemaͤlde vorzustellen? Eine solche Nachbildung, wenn sie auch man¬ che muͤhsame Anordnung erfordert, bringt dagegen auch einen unglaublichen Reiz hervor. Schnell ward Luciane gewahr, daß sie hier ganz in ihrem Fach seyn wuͤrde. Ihr schoͤner Wuchs, ihre volle Gestalt, ihr regel¬ maͤßiges und doch bedeutendes Gesicht, ihre lichtbraunen Haarflechten, ihr schlanker Hals, alles war schon wie aufs Gemaͤlde berechnet; und haͤtte sie nun gar gewußt, daß sie schoͤner aussah wenn sie still stand als wenn sie sich bewegte, indem ihr im letzten Falle manch¬ mal etwas stoͤrendes Ungrazioͤses entschluͤpfte, so haͤtte sie sich mit noch mehrerem Eifer die¬ ser natuͤrlichen Bildnerey ergeben. Man suchte nun Kupferstiche nach be¬ ruͤhmten Gemaͤlden; man waͤhlte zuerst den Belisar nach van Dyk. Ein großer und wohlge¬ bauter Mann von gewissen Jahren sollte den sitzenden blinden General, der Architect den vor ihm theilnehmend traurig stehenden Krie¬ ger nachbilden, dem er wirklich etwas aͤhnlich sah. Luciane hatte sich, halb bescheiden, das junge Weibchen im Hintergrunde gewaͤhlt, das reichliche Almosen aus einem Beutel in die flache Hand zaͤhlt, indeß eine Alte sie ab¬ zumahnen und ihr vorzustellen scheint, daß sie zu viel thue. Eine andre ihm wirklich Almosen reichende Frauensperson war nicht vergessen. Mit diesen und andern Bildern beschaͤf¬ tigte man sich sehr ernstlich. Der Graf gab dem Architecten uͤber die Art der Einrichtung einige Winke, der sogleich ein Theater dazu aufstellte und wegen der Beleuchtung die noͤ¬ thige Sorge trug. Man war schon tief in die Anstalten verwickelt, als man erst bemerkte, daß ein solches Unternehmen einen ansehn¬ lichen Aufwand verlangte, und daß auf dem Lande mitten im Winter gar manches Erfor¬ derniß abging. Deshalb ließ, damit ja nichts stocken moͤge, Luciane beynah ihre saͤmmtliche Garderobe zerschneiden, um die verschiedenen Costuͤme zu liefern, die jene Kuͤnstler will¬ kuͤhrlich genug angegeben hatten. Der Abend kam herbey und die Darstel¬ lung wurde vor einer großen Gesellschaft und zu allgemeinem Beyfall ausgefuͤhrt. Eine bedeutende Musik spannte die Erwartung. Jener Belisar eroͤffnete die Buͤhne. Die Gestalten waren so passend, die Farben so gluͤcklich ausgetheilt, die Beleuchtung so kunst¬ reich, daß man fuͤrwahr in einer andern Welt zu seyn glaubte; nur daß die Gegen¬ wart des Wirklichen statt des Scheins eine Art ven aͤngstlicher Empfindung hervorbrachte. Der Vorhang fiel, und ward auf Ver¬ langen mehr als einmal wieder aufgezogen. Ein musikalisches Zwischenspiel unterhielt die Gesellschaft, die man durch ein Bild hoͤherer Art uͤberraschen wollte. Es war die bekannte Vorstellung von Poussin: Ahasverus und Esther. Dießmal hatte sich Luciane besser bedacht. Sie entwickelte in der ohnmaͤchtig hingesunkenen Koͤniginn alle ihre Reize, und hatte sich kluger Weise zu den umgebenden unterstuͤtzenden Maͤdchen lauter huͤbsche wohl¬ gebildete Figuren ausgesucht, worunter sich jedoch keine mit ihr auch nur im mindesten messen konnte. Ottilie blieb von diesem Bilde wie von den uͤbrigen ausgeschlossen. Auf den goldnen Thron hatten sie, um den Zevs gleichen Koͤnig vorzustellen, den ruͤstigsten und schoͤnsten Mann der Gesellschaft gewaͤhlt, so daß dieses Bild wirklich eine unvergleichliche Vollkommenheit gewann. Als drittes hatte man die sogenannte vaͤ¬ terliche Ermahnung von Terburg gewaͤhlt, und wer kennt nicht den herrlichen Kupfer¬ stich unseres Wille von diesem Gemaͤlde. Ei¬ nen Fuß uͤber den andern geschlagen, sitzt ein edler ritterlicher Vater und scheint seiner vor ihm stehenden Tochter ins Gewissen zu reden. Diese, eine herrliche Gestalt, im faltenreichen weißen Atlaskleide, wird zwar nur von hin¬ ten gesehen, aber ihr ganzes Wesen scheint anzudeuten, daß sie sich zusammennimmt. Daß jedoch die Ermahnung nicht heftig und beschaͤmend sey, sieht man aus der Miene und Gebaͤrde des Vaters; und was die Mut¬ ter betrifft, so scheint diese eine kleine Verle¬ genheit zu verbergen, indem sie in ein Glas Wein blickt, das sie eben auszuschluͤrfen im Begriff ist. Bey dieser Gelegenheit nun sollte Luciane in ihrem hoͤchsten Glanze erscheinen. Ihre Zoͤpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken, waren uͤber alle Begriffe schoͤn, und die Taille, von der bey den modernen antiki¬ sirenden Bekleidungen der Frauenzimmer we¬ nig sichtbar wird, hoͤchst zierlich, schlank und leicht zeigte sich an ihr in dem aͤlteren Costuͤm aͤußerst vortheilhaft; und der Architect hatte gesorgt, die reichen Falten des weißen Atlas¬ ses mit der kuͤnstlichsten Natur zu legen, so daß ganz ohne Frage diese lebendige Nachbil¬ dung weit uͤber jenes Originalbildniß hinaus¬ reichte und ein allgemeines Entzuͤcken erregte. Man konnte mit dem Wiedererlangen nicht endigen, und der ganz natuͤrliche Wunsch, einem so schoͤnen Wesen, das man genugsam von der Ruͤckseite gesehen, auch ins Angesicht zu schauen, nahm dergestalt uͤberhand, daß ein lustiger ungeduldiger Vogel die Worte, die man manchmal an das Ende einer Seite zu schreiben pflegt: tournez s'il vous plait laut ausrief und eine allgemeine Beystimmung erregte. Die Darstellenden aber kannten ihren Vortheil zu gut, und hatten den Sinn dieser Kunststuͤcke zu wohl gefaßt, als daß sie dem allgemeinen Ruf haͤtten nachgeben sollen. Die beschaͤmt scheinende Tochter blieb ruhig stehen, ohne den Zuschauern den Aus¬ druck ihres Angesichts zu goͤnnen; der Vater blieb in seiner ermahnenden Stellung sitzen, und die Mutter brachte Nase und Augen nicht aus dem durchsichtigen Glase, worin sich, ob sie gleich zu trinken schien, der Wein nicht verminderte. — Was sollen wir noch viel von kleinen Nachstuͤcken sagen, wozu man niederlaͤndische Wirthshaus- und Jahrmarkts¬ scenen gewaͤhlt hatte. Der Graf und die Baronesse reisten ab und versprachen in den ersten gluͤcklichen Wo¬ chen ihrer nahen Verbindung wiederzukehren, und Charlotte hoffte nunmehr, nach zwey muͤhsam uͤberstandenen Monaten, die uͤbrige Gesellschaft gleichfalls los zu werden. Sie war des Gluͤcks ihrer Tochter gewiß, wenn bey dieser der erste Braut- und Jugendtaumel sich wuͤrde gelegt haben: denn der Braͤutigam hielt sich fuͤr den gluͤcklichsten Menschen von der Welt. Bey großem Vermoͤgen und ge¬ maͤßigter Sinnesart schien er auf eine wun¬ derbare Weise von dem Vorzuge geschmeichelt, ein Frauenzimmer zu besitzen, das der ganzen Welt gefallen mußte. Er hatte einen so ganz eigenen Sinn, alles auf sie und erst durch sie auf sich zu beziehen, daß es ihm eine unan¬ genehme Empfindung machte, wenn sich nicht gleich ein Neuankommender mit aller Auf¬ merksamkeit auf sie richtete, und mit ihm, wie es wegen seiner guten Eigenschaften be¬ sonders von aͤlteren Personen oft geschah, eine naͤhere Verbindung suchte ohne sich sonderlich um sie zu bekuͤmmern. Wegen des Architec¬ ten kam es bald zur Richtigkeit. Aufs Neu¬ jahr sollte ihm dieser folgen und das Carne¬ val mit ihm in der Stadt zubringen, wo Luciane sich von der Wiederholung der so schoͤn eingerichteten Gemaͤlde, so wie von hundert andern Dingen, die groͤßte Gluͤckse¬ ligkeit versprach, um so mehr als Tante und Braͤutigam jeden Aufwand fuͤr gering zu ach¬ ten schienen, der zu ihrem Vergnuͤgen erfor¬ dert wurde. Nun sollte man scheiden, aber das konnte nicht auf eine gewoͤhnliche Weise geschehen. Man scherzte einmal ziemlich laut, daß Char¬ lottens Wintervorraͤthe nun bald aufgezehrt seyen, als der Ehrenmann, der den Belisar vorgestellt hatte, und freylich reich genug war, von Lucianens Vorzuͤgen hingerissen, denen er nun schon so lange huldigte, unbedachtsam ausrief: so lassen Sie es uns auf polnische Art halten! Kommen Sie nun und zehren mich auch auf, und so gehet es dann weiter in der Runde herum. Gesagt, gethan: Lu¬ ciane schlug ein. Den andern Tag war ge¬ packt und der Schwarm warf sich auf ein anderes Besitzthum. Dort hatte man auch Raum genug, aber weniger Bequemlichkeit und Einrichtung. Daraus entstand manches Unschickliche, das erst Lucianen recht gluͤcklich machte. Das Leben wurde immer wuͤster und wilder. Treibjagen im tiefsten Schnee, und was man sonst nur unbequemes auffinden konnte, wurde veranstaltet. Frauen so we¬ nig als Maͤnner durften sich ausschließen, und so zog man, jagend und reitend, schlit¬ tenfahrend und lermend, von einem Gute zum andern, bis man sich endlich der Resi¬ denz naͤherte; da denn die Nachrichten und Erzaͤhlungen, wie man sich bey Hofe und in der Stadt vergnuͤge, der Einbildungskraft ei¬ ne andre Wendung gaben, und Lucianen mit ihrer saͤmmtlichen Begleitung, indem die Tante schon vorausgegangen war, unaufhaltsam in einen andern Lebenskreis hineinzogen. Aus Ottiliens Tagebuche . „Man nimmt in der Welt Jeden wofuͤr er sich giebt; aber er muß sich auch fuͤr et¬ was geben. Man ertraͤgt die Unbequemen lieber als man die Unbedeutenden duldet.“ „Man kann der Gesellschaft alles auf¬ dringen, nur nicht was eine Folge hat.“ „Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen; wir muͤssen zu ih¬ nen gehen, um zu erfahren wie es mit ihnen steht.“ „Ich finde es beynahe natuͤrlich, daß wir an Besuchenden mancherley auszusetzen haben, II . 7 daß wir sogleich wenn sie weg sind, uͤber sie nicht zum liebevollsten urtheilen: denn wir haben so zu sagen ein Recht, sie nach un¬ serm Maaßstabe zu messen. Selbst verstaͤn¬ dige und billige Menschen enthalten sich in solchen Faͤllen kaum einer scharfen Censur.“ „Wenn man dagegen bey andern gewesen ist und hat sie mit ihren Umgebungen, Ge¬ wohnheiten, in ihren nothwendigen unaus¬ weichlichen Zustaͤnden gesehen, wie sie um sich wirken, oder wie sie sich fuͤgen; so gehoͤrt schon Unverstand und boͤser Wille dazu, um das laͤcherlich zu finden, was uns in mehr als einem Sinne ehrwuͤrdig scheinen muͤßte.“ „Durch das was wir Betragen und gute Sitten nennen, soll das erreicht werden, was außerdem nur durch Gewalt, oder auch nicht einmal durch Gewalt zu erreichen ist.“ „Der Umgang mit Frauen ist das Ele¬ ment guter Sitten.“ „Wie kann der Character, die Eigenthuͤm¬ lichkeit des Menschen, mit der Lebensart be¬ stehen? „Das Eigenthuͤmliche muͤßte durch die Lebensart erst recht hervorgehoben werden. Das Bedeutende will Jedermann, nur soll es nicht unbequem seyn.“ „Die groͤßten Vortheile im Leben uͤber¬ haupt wie in der Gesellschaft hat ein gebil¬ deter Soldat.“ „Rohe Kriegsleute gehen wenigstens nicht aus ihrem Character, und weil doch meist hinter der Staͤrke eine Gutmuͤthigkeit verbor¬ gen liegt, so ist im Nothfall auch mit ihnen auszukommen.“ „Niemand ist laͤstiger als ein taͤppischer Mensch vom Civilstande. Von ihm koͤnnte 7 * man die Feinheit fordern, da er sich mit nichts Rohem zu beschaͤftigen hat.“ „Wenn wir mit Menschen leben, die ein zartes Gefuͤhl fuͤr das Schickliche haben, so wird es uns Angst um ihretwillen, wenn etwas Ungeschicktes begegnet. So fuͤhle ich immer fuͤr und mit Charlotten, wenn Jemand mit dem Stuhle schaukelt, weil sie das in den Tod nicht leiden kann.“ „Es kaͤme Niemand mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches Gemach, wenn er wuͤßte, daß uns Frauen sogleich die Lust vergeht ihn anzusehen und uns mit ihm zu unterhalten.“ „Zutraulichkeit an der Stelle der Ehr¬ furcht ist immer laͤcherlich. Es wuͤrde Nie¬ mand den Hut ablegen, nachdem er kaum das Compliment gemacht hat, wenn er wuͤßte, wie comisch das aussieht.“ „Es giebt kein aͤußeres Zeichen der Hoͤf¬ lichkeit das nicht einen tiefen sittlichen Grund haͤtte. Die rechte Erziehung waͤre, welche dieses Zeichen und den Grund zugleich uͤber¬ lieferte.“ „Das Betragen ist ein Spiegel, in wel¬ chem jeder sein Bild zeigt.“ „Es giebt eine Hoͤflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt. Aus ihr ent¬ springt die bequemste Hoͤflichkeit des aͤußern Betragens.“ „Freywillige Abhaͤngigkeit ist der schoͤnste Zustand und wie waͤre der moͤglich ohne Liebe.“ „Wir sind nie entfernter von unsern Wuͤn¬ schen, als wenn wir uns einbilden das Ge¬ wuͤnschte zu besitzen.“ „Niemand ist mehr Sklave als der sich fuͤr frey haͤlt ohne es zu seyn.“ „Es darf sich einer nur fuͤr frey erklaͤren, so fuͤhlt er sich den Augenblick als bedingt. Wagt er es sich fuͤr bedingt zu erklaͤren, so fuͤhlt er sich frey.“ „Gegen große Vorzuͤge eines Andern giebt es kein Rettungsmittel als die Liebe.“ „Es ist was schreckliches um einen vor¬ zuͤglichen Mann, auf den sich die Dummen was zu Gute thun.“ „Es giebt, sagt man, fuͤr den Kammer¬ diener keinen Helden. Das kommt aber blos daher, weil der Held nur vom Helden aner¬ kannt werden kann. Der Kammerdiener wird aber wahrscheinlich seines Gleichen zu schaͤtzen wissen.“ „Es giebt keinen groͤßern Trost fuͤr die Mittelmaͤßigkeit als daß das Genie nicht un¬ sterblich sey.“ „Die groͤßten Menschen haͤngen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine Schwach¬ heit zusammen.“ „Man haͤlt die Menschen gewoͤhnlich fuͤr gefaͤhrlicher als sie sind.“ „Thoren und gescheide Leute sind gleich unschaͤdlich. Nur die Halbnarren und Halb¬ weisen, das sind die gefaͤhrlichsten.“ „Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknuͤpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.“ „Selbst im Augenblick des hoͤchsten Gluͤcks und der hoͤchsten Noth beduͤrfen wir des Kuͤnstlers.“ „Die Kunst beschaͤftigt sich mit dem Schweren und Guten.“ „Das Schwierige leicht behandelt zu se¬ hen giebt uns das Anschauen des Unmoͤg¬ lichen.“ „Die Schwierigkeiten wachsen je naͤher man dem Ziele kommt.“ „Saͤen ist nicht so beschwerlich als aͤrn¬ ten.“ Sechstes Kapitel . Die große Unruhe welche Charlotten durch diesen Besuch erwuchs, ward ihr dadurch verguͤtet, daß sie ihre Tochter voͤllig begreifen lernte, worin ihr die Bekanntschaft mit der Welt sehr zu Huͤlfe kam. Es war nicht zum erstenmal, daß ihr ein so seltsamer Character begegnete, ob er ihr gleich noch niemals auf dieser Hoͤhe erschien. Und doch hatte sie aus der Erfahrung, daß solche Personen durchs Leben, durch mancherley Ereignisse, durch aͤl¬ terliche Verhaͤltnisse gebildet eine sehr ange¬ nehme und liebenswuͤrdige Reife erlangen koͤnnen, indem die Selbstigkeit gemildert wird und die schwaͤrmende Thaͤtigkeit eine entschie¬ dene Richtung erhaͤlt. Charlotte ließ als Mutter sich um desto eher eine fuͤr andere viel¬ leicht unangenehme Erscheinung gefallen, als es Aeltern wohl geziemt da zu hoffen, wo Fremde nur zu genießen wuͤnschen, oder we¬ nigstens nicht belaͤstigt seyn wollen. Auf eine eigne und unerwartete Weise jedoch sollte Charlotte nach ihrer Tochter Ab¬ reise getroffen werden, indem diese nicht sowohl durch das Tadelnswerthe in ihrem Betragen, als durch das was man daran lobenswuͤrdig haͤtte finden koͤnnen, eine uͤble Nachrede hin¬ ter sich gelassen hatte. Luciane schien sich's zum Gesetz gemacht zu haben, nicht allein mit den Froͤhlichen froͤhlich, sondern auch mit den Traurigen traurig zu seyn, und um den Geist des Widerspruchs recht zu uͤben, manch¬ mal die Froͤhlichen verdrießlich und die Trau¬ rigen heiter zu machen. In allen Familien wo sie hinkam, erkundigte sie sich nach den Kran¬ ken und Schwachen, die nicht in Gesellschaft erscheinen konnten. Sie besuchte sie auf ihren Zimmern, machte den Arzt und drang einem Jeden aus ihrer Reiseapotheke, die sie bestaͤn¬ dig im Wagen mit sich fuͤhrte, energische Mittel auf; da denn eine solche Kur, wie sich vermuthen laͤßt, gelang oder mislang, wie es der Zufall herbeyfuͤhrte. In dieser Art von Wohlthaͤtigkeit war sie ganz grausam und ließ sich gar nicht ein¬ reden, weil sie fest uͤberzeugt war, daß sie vortrefflich handle. Allein es mißrieth ihr auch ein Versuch von der sittlichen Seite, und dieser war es, der Charlotten viel zu schaffen machte, weil er Folgen hatte, und Jedermann daruͤber sprach. Erst nach Lucia¬ nens Abreise hoͤrte sie davon; Ottilie, die gerade jene Partie mitgemacht hatte, mußte ihr umstaͤndlich davon Rechenschaft geben. Eine der Toͤchter eines angesehnen Hauses hatte das Ungluͤck gehabt, an dem Tode ei¬ nes ihrer juͤngeren Geschwister schuld zu seyn. und sich daruͤber nicht beruhigen noch wieder finden koͤnnen. Sie lebte auf ihrem Zimmer beschaͤftigt und still, und ertrug selbst den Anblick der Ihrigen nur wenn sie einzeln ka¬ men: denn sie argwohnte sogleich, wenn meh¬ rere beysammen waren, daß man untereinan¬ der uͤber sie und ihren Zustand reflectire. Gegen Jedes allein aͤußerte sie sich vernuͤnftig und unterhielt sich stundenlang mit ihm. Luciane hatte davon gehoͤrt und sich so¬ gleich im Stillen vorgenommen, wenn sie in das Haus kaͤme, gleichsam ein Wunder zu thun und das Frauenzimmer der Gesellschaft wiederzugeben. Sie betrug sich dabey vor¬ sichtiger als sonst, wußte sich allein bey der Seelenkranken einzufuͤhren, und soviel man merken konnte, durch Musik ihr Vertrauen zu gewinnen. Nur zuletzt versah sie es: denn eben weil sie Aufsehn erregen wollte, so brachte sie das schoͤne blasse Kind, das sie genug vorbereitet waͤhnte, eines Abends ploͤtz¬ lich in die bunte glaͤnzende Gesellschaft; und vielleicht waͤre auch das noch gelungen, wenn nicht die Societaͤt selbst, aus Neugierde und Apprehension, sich ungeschickt benommen, sich um die Kranke versammelt, sie wieder gemieden, sie durch Fluͤstern, Koͤpfe zusam¬ menstecken irre gemacht und aufgeregt haͤtte. Die zart Empfindende ertrug das nicht. Sie entwich unter fuͤrchterlichem Schreyen, das gleichsam ein Entsetzen vor einem eindrin¬ genden Ungeheuren auszudruͤcken schien. Er¬ schreckt fuhr die Gesellschaft nach allen Seiten auseinander, und Ottilie war unter denen, welche die voͤllig Ohnmaͤchtige wieder auf ihr Zimmer begleiteten. Indessen hatte Luciane eine starke Straf¬ rede nach ihrer Weise an die Gesellschaft gehal¬ ten, ohne im mindesten daran zu denken, daß sie allein alle Schuld habe, und ohne sich durch dieses und andres Mißlingen von ihrem Thun und Treiben abhalten zu lassen. Der Zustand dek Kranken war seit jener Zeit bedenklicher geworden, ja das Uebel hatte sich so gesteigert, daß die Aeltern das arme Kind nicht im Hause behalten konnten, son¬ dern einer oͤffentlichen Anstalt uͤberantworten mußten. Charlotten blieb nichts uͤbrig als durch ein besonder zartes Benehmen gegen jene Familie den von ihrer Tochter verursach¬ ten Schmerz einigermaßen zu lindern. Auf Ottilien hatte die Sache einen tiefen Eindruck gemacht; sie bedauerte das arme Maͤdchen um so mehr als sie uͤberzeugt war, wie sie auch gegen Charlotten nicht laͤugnete, daß bey einer consequenten Behandlung die Kranke gewiß herzustellen gewesen waͤre. So kam auch, weil man sich gewoͤhnlich vom vergangenen Unangenehmen mehr als vom Angenehmen unterhaͤlt, ein kleines Mi߬ verstaͤndniß zur Sprache, das Ottilien an dem Architecten irre gemacht hatte, als er jenen Abend seine Sammlung nicht vorzeigen wollte, ob sie ihn gleich so freundlich darum ersuchte. Es war ihr dieses abschlaͤgige Be¬ tragen immer in der Seele geblieben und sie wußte selbst nicht warum. Ihre Empfindun¬ gen waren sehr richtig: denn was ein Maͤdchen wie Ottilie verlangen kann, sollte ein Juͤng¬ ling wie der Architect nicht versagen. Dieser brachte jedoch auf ihre gelegentlichen leisen Vorwuͤrfe ziemlich guͤltige Entschuldigungen zur Sprache. Wenn Sie wuͤßten, sagte er, wie roh selbst gebildete Menschen sich gegen die schaͤtz¬ barsten Kunstwerke verhalten, sie wuͤrden mir verzeihen, wenn ich die meinigen nicht unter die Menge bringen mag. Niemand weiß eine Medaille am Rand anzufassen; sie be¬ tasten das schoͤnste Gepraͤge, den reinsten Grund, lassen die koͤstlichsten Stuͤcke zwischen dem Daumen und Zeigefinger hin und her¬ gehen, als wenn man Kunstformen auf diese Weise pruͤfte. Ohne daran zu denken, daß man ein großes Blatt mit zwey Haͤnden an¬ fassen muͤsse, greifen sie mit Einer Hand nach einem unschaͤtzbaren Kupferstich, einer unersetz¬ lichen Zeichnung, wie ein anmaßlicher Politiker eine Zeitung faßt und durch das Zerknittern des Papiers schon im Voraus sein Urtheil uͤber die Weltbegebenheiten zu erkennen giebt. Niemand denkt daran, daß wenn nur zwan¬ zig Menschen mit einem Kunstwerke hinter¬ einander eben so verfuͤhren, der Einund¬ zwanzigste nicht mehr viel daran zu sehen haͤtte. Habe ich Sie nicht auch manchmal, fragte Ottilie, in solche Verlegenheit gesetzt? habe ich nicht etwan Ihre Schaͤtze, ohne es zu ahnden, gelegentlich einmal beschaͤdigt? Niemals, versetzte der Architect: niemals! Ihnen waͤre es unmoͤglich: das Schickliche ist mit Ihnen geboren. Auf alle Faͤlle, versetzte Ottilie, waͤre es nicht uͤbel, wenn man kuͤnftig in das Buͤch¬ lein von guten Sitten, nach den Kapiteln, wie man sich in Gesellschaft beym Essen und Trinken benehmen soll, ein recht umstaͤndliches einschoͤbe, wie man sich in Kunstsammlungen und Museen zu betragen habe. Gewiß, versetzte der Architect, wuͤrden alsdann Custoden und Liebhaber ihre Selten¬ heiten froͤhlicher mittheilen. Ottilie hatte ihm schon lange verziehen, als er sich aber den Vorwurf sehr zu Herzen zu nehmen schien und immer aufs Neue be¬ theuerte, daß er gewiß gerne mittheile, gern fuͤr Freunde thaͤtig sey; so empfand sie, daß sie sein zartes Gemuͤth verletzt habe, und fuͤhlte sich als seine Schuldnerinn. Nicht wohl konnte sie ihm daher eine Bitte rund abschla¬ gen, die er in Gefolg dieses Gespraͤchs an sie that, ob sie gleich, indem sie schnell ihr II . 8 Gefuͤhl zu Rathe zog, nicht einsah wie sie ihm seine Wuͤnsche gewaͤhren koͤnne. Die Sache verhielt sich also. Daß Otti¬ lie durch Lucianens Eifersucht von den Ge¬ maͤldedarstellungen ausgeschlossen worden, war ihm hoͤchst empfindlich gewesen; daß Charlotte diesem glaͤnzenden Theil der geselligen Unter¬ haltung nur unterbrochen beywohnen koͤnnen, weil sie sich nicht wohl befand, hatte er gleich¬ falls mit Bedauern bemerkt: nun wollte er sich nicht entfernen, ohne seine Dankbarkeit auch dadurch zu beweisen, daß er zur Ehre der einen und zur Unterhaltung der andern, eine weit schoͤnere Darstellung veranstaltete als die bisherigen gewesen waren. Vielleicht kam hierzu, ihm selbst unbewußt, ein andrer ge¬ heimer Antrieb: es ward ihm so schwer, die¬ ses Haus, diese Familie zu verlassen, ja es schien ihm unmoͤglich von Ottiliens Augen zu scheiden, von deren ruhig freundlich gewoge¬ nen Blicken er die letzte Zeit fast ganz allein gelebt hatte. Die Weihnachtsfeyertage nahten sich und es wurde ihm auf einmal klar, daß eigentlich jene Gemaͤldedarstellungen durch runde Figu¬ ren von dem sogenannten Presepe ausgegan¬ gen, von der frommen Vorstellung, die man in dieser heiligen Zeit der goͤttlichen Mutter und dem Kinde widmete, wie sie in ihrer scheinbaren Niedrigkeit erst von Hirten bald darauf von Koͤnigen verehrt werden. Er hatte sich die Moͤglichkeit eines solchen Bildes vollkommen vergegenwaͤrtigt. Ein schoͤ¬ ner frischer Knabe war gefunden; an Hirten und Hirtinnen konnte es auch nicht fehlen; aber ohne Ottilien war die Sache nicht auszufuͤhren. Der junge Mann hatte sie in seinem Sinne zur Mutter Gottes erhoben, und wenn sie es abschlug, so war bey ihm keine Frage, daß das Unternehmen fallen muͤsse. Ottilie halb 8 * verlegen uͤber seinen Antrag wies ihn mit seiner Bitte an Charlotten. Diese ertheilte ihm gern die Erlaubniß, und auch durch sie ward die Scheu Ottiliens, sich jener heiligen Gestalt anzumaßen, auf eine freundliche Weise uͤberwunden. Der Architect arbeitete Tag und Nacht, damit am Weihnachtsabend nichts fehlen moͤge. Und zwar Tag und Nacht im eigentlichen Sinne. Er hatte ohnehin wenig Beduͤrfnisse, und Ottiliens Gegenwart schien ihm statt al¬ les Labsals zu seyn; indem er um ihretwil¬ len arbeitete, war es als wenn er keines Schlafs, indem er sich um sie beschaͤftigte, keiner Speise beduͤrfte. Zur feyerlichen Abend¬ stunde war deshalb alles fertig und bereit. Es war ihm moͤglich gewesen wohltoͤnende Blasinstrumente zu versammeln, welche die Einleitung machten und die gewuͤnschte Stim¬ mung hervorzubringen wußten. Als der Vor¬ hang sich hob, war Charlotte wirklich uͤber¬ rascht. Das Bild das sich ihr vorstellte, war so oft in der Welt wiederhohlt, daß man kaum einen neuen Eindruck davon erwarten sollte. Aber hier hatte die Wirklichkeit als Bild ihre besondern Vorzuͤge. Der ganze Raum war eher naͤchtlich als daͤmmernd, und doch nichts undeutlich im Einzelnen der Umge¬ bung. Den unuͤbertrefflichen Gedanken, daß alles Licht vom Kinde ausgehe, hatte der Kuͤnstler durch einen klugen Mechanismus der Beleuchtung auszufuͤhren gewußt, der durch die beschatteten, nur von Streiflichtern er¬ leuchteten Figuren im Vordergrunde zugedeckt wurde. Frohe Maͤdchen und Knaben stan¬ den umher; die frischen Gesichter scharf von unten beleuchtet. Auch an Engeln fehlte es nicht, deren eigener Schein von dem goͤttli¬ chen verdunkelt, deren aͤtherischer Leib vor dem goͤttlich-menschlichen verdichtet und lichts¬ beduͤrftig schien. Gluͤcklicherweise war das Kind in der an¬ muthigsten Stellung eingeschlafen, so daß nichts die Betrachtung stoͤrte, wenn der Blick auf der scheinbaren Mutter verweilte, die mit unendlicher Anmuth einen Schleyer aufgehoben hatte, um den verborgenen Schatz zu offenbaren. In diesem Augenblick schien das Bild festgehalten und erstarrt zu seyn. Physisch geblendet, geistig uͤberrascht, schien das umgebende Volk sich eben bewegt zu ha¬ ben, um die getroffnen Augen wegzuwenden, neugierig erfreut wieder hinzublinzen und mehr Verwunderung und Lust, als Bewunderung und Verehrung anzuzeigen; obgleich diese auch nicht vergessen und einigen aͤltern Figuren der Ausdruck derselben uͤbertragen war. Ottiliens Gestalt, Gebaͤrde, Miene, Blick uͤbertraf aber alles was je ein Maler dargestellt hat. Der gefuͤhlvolle Kenner, der diese Erscheinung gesehen haͤtte, waͤre in Furcht gerathen, es moͤge sich nur irgend etwas bewegen, er waͤre in Sorge gestanden, ob ihm jemals etwas wieder so gefallen koͤnne. Ungluͤcklicherweise war Niemand da, der diese ganze Wirkung aufzufassen vermocht haͤtte. Der Architect allein, der als langer schlanker Hirt von der Seite uͤber die Knieen¬ den hereinsah, hatte, obgleich nicht in dem genausten Standpunct, noch den groͤßten Ge¬ nuß. Und wer beschreibt auch die Miene der neugeschaffenen Himmelskoͤniginn? Die reinste Demuth, das liebenswuͤrdigste Gefuͤhl von Bescheidenheit bey einer großen unverdient erhaltenen Ehre, einem unbegreiflich unerme߬ lichen Gluͤck, bildete sich in ihren Zuͤgen, sowohl indem sich ihre eigene Empfindung, als indem sich die Vorstellung ausdruͤckte, die sie sich von dem machen konnte was sie spielte. Charlotten erfreute das schoͤne Gebilde, doch wirkte hauptsaͤchlich das Kind auf sie. Ihre Augen stroͤmten von Thraͤnen und sie stellte sich auf das lebhafteste vor, daß sie ein aͤhnliches liebes Geschoͤpf bald auf ihrem Schooße zu hoffen habe. Man hatte den Vorhang niedergelassen, theils um den Vorstellenden einige Erleichte¬ rung zu geben, theils eine Veraͤnderung in dem Dargestellten anzubringen. Der Kuͤnstler hatte sich vorgenommen, das erste Nacht- und Niedrigkeitsbild in ein Tag- und Glorienbild zu verwandeln, und deswegen von allen Seiten eine unmaͤßige Erleuchtung vorbereitet, die in der Zwischenzeit angezuͤn¬ det wurde. Ottilien war in ihrer halb theatralischen Lage bisher die groͤßte Beruhigung gewesen, daß außer Charlotten und wenigen Hausge¬ nossen Niemand dieser frommen Kunstmum¬ merey zugesehen. Sie wurde daher einiger¬ maßen betroffen, als sie in der Zwischenzeit vernahm, es sey ein Fremder angekommen, im Saale von Charlotten freundlich begruͤßt. Wer es war, konnte man ihr nicht sagen. Sie ergab sich darein, um keine Stoͤrung zu verursachen. Lichter und Lampen brannten und eine ganz unendliche Hellung umgab sie. Der Vorhang ging auf, fuͤr die Zuschauen¬ den ein uͤberraschender Anblick: das ganze Bild war alles Licht, und statt des voͤllig aufgehobenen Schattens blieben nur die Far¬ ben uͤbrig, die bey der klugen Auswahl eine liebliche Maͤßigung hervorbrachten. Unter ihren langen Augenwimpern hervorblickend bemerkte Ottilie eine Mannsperson neben Charlotten sitzend. Sie erkannte ihn nicht, aber sie glaubte die Stimme des Gehuͤlfen aus der Pension zu hoͤren. Eine wunderbare Empfindung ergriff sie. Wie vieles war be¬ gegnet, seitdem sie die Stimme dieses treuen Lehrers nicht vernommen! Wie im zackigen Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und Lei¬ den schnell vor ihrer Seele vorbey und regte die Frage auf: darfst du ihm alles bekennen und gestehen? Und wie wenig werth bist du unter dieser heiligen Gestalt vor ihm zu er¬ scheinen, und wie seltsam muß es ihm vor¬ kommen, dich die er nur natuͤrlich gesehen, als Maske zu erblicken? Mit einer Schnel¬ ligkeit die keines gleichen hat, wirkten Gefuͤhl und Betrachtung in ihr gegeneinander. Ihr Herz war befangen, ihre Augen fuͤllten sich mit Thraͤnen, indem sie sich zwang immerfort als ein starres Bild zu erscheinen; und wie froh war sie, als der Knabe sich zu regen anfing, und der Kuͤnstler sich genoͤthigt sah das Zeichen zu geben, daß der Vorhang wie¬ der fallen sollte. Hatte das peinliche Gefuͤhl, einem wer¬ then Freunde nicht entgegeneilen zu koͤnnen, sich schon die letzten Augenblicke zu den uͤbri¬ gen Empfindungen Ottiliens gesellt, so war sie jetzt in noch groͤßerer Verlegenheit. Sollte sie in diesem fremden Anzug und Schmuck ihm entgegengehn? sollte sie sich um¬ kleiden? Sie waͤhlte nicht, sie that das letzte und suchte sich in der Zwischenzeit zusammen¬ zunehmen, sich zu beruhigen, und war nur erst wieder mit sich selbst in Einstimmung als sie endlich im gewohnten Kleide den An¬ gekommenen begruͤßte. Siebentes Kapitel. Insofern der Architect seinen Goͤnnerin¬ nen das Beste wuͤnschte, war es ihm ange¬ nehm, da er doch endlich scheiden mußte, sie in der guten Gesellschaft des schaͤtzbaren Ge¬ huͤlfen zu wissen; indem er jedoch ihre Gunst auf sich selbst bezog, empfand er es einiger¬ maßen schmerzhaft, sich sobald, und wie es seiner Bescheidenheit duͤnken mochte, so gut, ja vollkommen, ersetzt zu sehen. Er hatte noch immer gezaudert, nun aber draͤngte es ihn hinweg: denn was er sich nach seiner Entfernung mußte gefallen lassen, das wollte er wenigstens gegenwaͤrtig nicht erleben. Zu großer Erheiterung dieser halb trauri¬ gen Gefuͤhle machten ihm die Damen beym Abschiede noch ein Geschenk mit einer Weste, an der er sie beyde lange Zeit hatte stricken sehen, mit einem stillen Neid uͤber den unbe¬ kannten Gluͤcklichen dem sie dereinst werden koͤnnte. Eine solche Gabe ist die angenehmste die ein liebender, verehrender Mann erhal¬ ten mag: denn wenn er dabey des unermuͤ¬ deten Spiels der schoͤnen Finger gedenkt, so kann er nicht umhin sich zu schmeicheln, das Herz werde bey einer so anhaltenden Arbeit doch auch nicht ganz ohne Theilnahme geblie¬ ben seyn. Die Frauen hatten nun einen neuen Mann zu bewirthen, dem sie wohlwollten und dem es bey ihnen wohl werden sollte. Das weib¬ liche Geschlecht hegt ein eignes inneres un¬ wandelbares Interesse, von dem sie nichts in der Welt abtruͤnnig macht; im aͤußern geselli¬ gen Verhaͤltniß hingegen lassen sie sich gern und leicht durch den Mann bestimmen der sie eben beschaͤftigt, und so durch Abweisen wie durch Empfaͤnglichkeit, durch Beharren und Nachgiebigkeit fuͤhren sie eigentlich das Regiment, dem sich in der gesitteten Welt kein Mann zu entziehen wagt. Hatte der Architect, gleichsam nach eigener Lust und Belieben, seine Talente vor den Freundinnen zum Vergnuͤgen und zu den Zwecken derselben geuͤbt und bewiesen; war Beschaͤftigung und Unterhaltung in diesem Sinne und nach solchen Absichten eingerichtet: so machte sich in kurzer Zeit durch die Ge¬ genwart des Gehuͤlfen eine andre Lebensweise. Seine große Gabe war, gut zu sprechen und menschliche Verhaͤltnisse, besonders in Bezug auf Bildung der Jugend, in der Unterredung zu behandeln. Und so entstand gegen die bisherige Art zu leben ein ziemlich fuͤhlbarer Gegensatz, um so mehr als der Gehuͤlfe nicht ganz dasjenige billigte, womit man sich die Zeit uͤber ausschließlich beschaͤftigt hatte. Von dem lebendigen Gemaͤlde das ihn bey seiner Ankunft empfing, sprach er gar nicht. Als man ihm hingegen Kirche, Capelle und was sich darauf bezog, mit Zu¬ friedenheit sehen ließ, konnte er seine Mey¬ nung, seine Gesinnungen daruͤber nicht zu¬ ruͤckhalten. Was mich betrifft, sagte er, so will mir diese Annaͤherung, diese Vermischung des Heiligen zu und mit dem Sinnlichen keineswegs gefallen, nicht gefallen, daß man sich gewisse besondre Raͤume widmet, weihet und aufschmuͤckt, um erst dabey ein Gefuͤhl der Froͤmmigkeit zu hegen und zu unterhalten. Keine Umgebung, selbst die ge¬ meinste nicht, soll in uns das Gefuͤhl des Goͤttlichen stoͤren, das uns uͤberall hin beglei¬ ten und jede Staͤtte zu einem Tempel ein¬ weihen kann. Ich mag gern einen Hausgot¬ tesdienst in dem Saale gehalten sehen, wo man zu speisen, sich gesellig zu versammeln, mit Spiel und Tanz zu ergetzen pflegt. Das Hoͤchste, das Vorzuͤglichste am Menschen ist gestaltlos, und man soll sich huͤthen es anders als in edler That zu gestalten. Charlotte, die seine Gesinnungen schon im Ganzen kannte und sie noch mehr in kurzer Zeit erforschte, brachte ihn gleich in seinem Fache zur Thaͤtigkeit, indem sie ihre Gartenknaben, welche der Architect vor seiner Abreise eben gemustert hatte, in dem großen Saal aufmarschiren ließ; da sie sich denn in ihren heitern reinlichen Uniformen, mit gesetz¬ lichen Bewegungen und einem natuͤrlichen lebhaften Wesen, sehr gut ausnahmen. Der Gehuͤlfe pruͤfte sie nach seiner Weise, und hatte durch mancherley Fragen und Wendungen gar bald die Gemuͤthsarten und Faͤhigkeiten der Kinder zu Tage gebracht, und ohne daß es so schien, in Zeit von weniger als einer Stun¬ de, sie wirklich bedeutend unterrichtet und ge¬ foͤrdert. Wie machen Sie das nur? sagte Char¬ lotte, indem die Knaben wegzogen. Ich habe sehr aufmerksam zugehoͤrt; es sind nichts als ganz bekannte Dinge vorgekommen, und doch wuͤßte ich nicht, wie ich es anfangen sollte, sie in so kurzer Zeit, bey so vielem Hin- und Wiederreden, in solcher Folge zur Sprache zu bringen. Vielleicht sollte man, versetzte der Gehuͤlfe, aus den Vortheilen seines Handwerks ein Geheimniß machen. Doch kann ich Ihnen die ganz einfache Maxime nicht verbergen, nach der man dieses und noch viel mehr zu leisten vermag. Fassen Sie einen Gegenstand, eine Materie, einen Begriff, wie man es nennen will; halten Sie ihn recht fest; ma¬ chen Sie sich ihn in allen seinen Theilen recht deutlich, und dann wird es Ihnen leicht seyn, Gespraͤchsweise, an einer Masse Kinder zu erfahren was sich davon schon in ihnen ent¬ wickelt hat, was noch anzuregen, zu uͤberlie¬ II . 9 fern ist. Die Antworten auf Ihre Fragen moͤgen noch so ungehoͤrig seyn, moͤgen noch so sehr ins Weite gehen, wenn nur sodann Ihre Gegenfrage Geist und Sinn wieder hereinwaͤrts zieht, wenn Sie sich nicht von Ihrem Standpunkte verruͤcken lassen; so muͤs¬ sen die Kinder zuletzt denken, begreifen, sich uͤberzeugen, nur von dem was und wie es der Lehrende will. Sein groͤßter Fehler ist der, wenn er sich von den Lernenden mit in die Weite reißen laͤßt, wenn er sie nicht auf dem Punkte festzuhalten weiß den er eben jetzt behandelt. Machen Sie naͤchstens einen Versuch und es wird zu Ihrer großen Unter¬ haltung dienen. Das ist artig, sagte Charlotte: die gute Paͤdagogik ist also gerade das Umgekehrte von der guten Lebensart. In der Gesellschaft soll man auf nichts verweilen, und bey dem Un¬ terricht waͤre das hoͤchste Gebot, gegen alle Zerstreuung zu arbeiten. Abwechselung ohne Zerstreuung waͤre fuͤr Lehre und Leben der schoͤnste Wahlspruch, wenn dieses loͤbliche Gleichgewicht nur so leicht zu erhalten waͤre! sagte der Gehuͤlfe, und wollte weiter fortfahren als ihn Charlotte aufrief, die Knaben nochmals zu betrachten, deren munterer Zug sich so eben uͤber den Hof bewegte. Er bezeigte seine Zufriedenheit, daß man die Kinder in Uniform zu gehen anhalte. Maͤnner — so sagte er — sollten von Jugend auf Uniform tragen, weil sie sich gewoͤhnen muͤssen zusammen zu handeln, sich unter ihres Gleichen zu verlieren, in Masse zu gehorchen und ins Ganze zu arbeiten. Auch befoͤrdert jede Art von Uniform einen mili¬ taͤrischen Sinn, so wie ein knapperes stracke¬ res Betragen, und alle Knaben sind ja ohne¬ hin geborne Soldaten: man sehe nur ihre Kampf- und Streitspiele, ihr Erstuͤrmen und Erklettern. 9 * So werden Sie mich dagegen nicht ta¬ deln, versetzte Ottilie, daß ich meine Maͤd¬ chen nicht uͤberein kleide. Wenn ich sie Ih¬ nen vorfuͤhre, hoffe ich Sie durch ein bun¬ tes Gemisch zu ergetzen. Ich billige das sehr, versetzte jener. Frauen sollten durchaus mannigfaltig gekleidet gehen: jede nach eigner Art und Weise, damit eine Jede fuͤhlen lernte, was ihr eigentlich gut stehe und wohl zieme. Eine wichtigere Ur¬ sache ist noch die: weil sie bestimmt sind, ihr ganzes Leben allein zu stehen und allein zu handeln. Das scheint mir sehr paradox, versetzte Charlotte; sind wir doch fast niemals fuͤr uns. O ja! versetzte der Gehuͤlfe, in Absicht auf andre Frauen ganz gewiß. Man be¬ trachte ein Frauenzimmer als Liebende, als Braut, als Frau, Hausfrau und Mutter, immer steht sie isolirt, immer ist sie allein, und will allein seyn. Ja die Eitle selbst ist in dem Falle. Jede Frau schließt die andre aus, ihrer Natur nach: denn von Jeder wird alles gefordert, was dem ganzen Geschlechte zu leisten obliegt. Nicht so verhaͤlt es sich mit den Maͤnnern. Der Mann verlangt den Mann; er wuͤrde sich einen zweyten erschaffen, wenn es keinen gaͤbe: eine Frau koͤnnte eine Ewigkeit leben, ohne daran zu denken, sich ihres Gleichen hervorzubringen. Man darf, sagte Charlotte, das Wahre nur wunderlich sagen; so scheint zuletzt das Wunderliche auch wahr. Wir wollen uns aus Ihren Bemerkungen das Beste heraus¬ nehmen und doch als Frauen mit Frauen zu¬ sammenhalten, und auch gemeinsam wirken, um den Maͤnnern nicht allzu große Vorzuͤge uͤber uns einzuraͤumen. Ja Sie werden uns eine kleine Schadenfreude nicht uͤbel nehmen, die wir kuͤnftig um desto lebhafter empfinden muͤssen, wenn sich die Herren untereinander auch nicht sonderlich vertragen. Mit vieler Sorgfalt untersuchte der ver¬ staͤndige Mann nunmehr die Art, wie Ottilie ihre kleinen Zoͤglinge behandelte, und bezeigte daruͤber seinen entschiedenen Beyfall. Sehr richtig heben Sie, sagte er, Ihre Untergebenen nur zur naͤchsten Brauchbarkeit heran. Rein¬ lichkeit veranlaßt die Kinder mit Freuden et¬ was auf sich selbst zu halten, und alles ist gewonnen, wenn sie das was sie thun, mit Munterkeit und Selbstgefuͤhl zu leisten ange¬ regt sind. Uebrigens fand er zu seiner großen Be¬ friedigung nichts auf den Schein und nach außen gethan, sondern alles nach innen und fuͤr die unerlaͤßlichen Beduͤrfnisse. Mit wie wenig Worten, rief er aus, ließe sich das ganze Erziehungsgeschaͤft aussprechen, wenn Jemand Ohren haͤtte zu hoͤren. Moͤgen Sie es nicht mit mir versuchen, sagte freundlich Ottilie. Recht gern, versetzte Jener, nur muͤssen Sie mich nicht verrathen. Man erziehe die Knaben zu Dienern und die Maͤdchen zu Muͤttern, so wird es uͤberall wohl stehn. Zu Muͤttern, versetzte Ottilie, das koͤnn¬ ten die Frauen noch hingehen lassen, da sie sich, ohne Muͤtter zu seyn, doch immer einrichten muͤssen, Waͤrterinnen zu werden; aber frey¬ lich zu Dienern wuͤrden sich unsre jungen Maͤnner viel zu gut halten, da man Jedem leicht ansehen kann, daß er sich zum Gebieten faͤhiger duͤnkt. Deswegen wollen wir es ihnen verschwei¬ gen, sagte der Gehuͤlfe. Man schmeichelt sich ins Leben hinein, aber das Leben schmei¬ chelt uns nicht. Wie viel Menschen moͤgen denn das freywillig zugestehen, was sie am Ende doch muͤssen? Lassen wir aber diese Betrachtungen, die uns hier nicht beruͤhren. Ich preise Sie gluͤcklich, daß Sie bey Ihren Zoͤglingen ein richtiges Verfahren an¬ wenden koͤnnen. Wenn Ihre kleinsten Maͤd¬ chen sich mit Puppen herumtragen und eini¬ ge Laͤppchen fuͤr sie zusammenflicken; wenn aͤltere Geschwister alsdann fuͤr die juͤngeren sorgen, und das Haus sich in sich selbst be¬ dient und aufhilft: dann ist der weitere Schritt ins Leben nicht groß, und ein solches Maͤdchen findet bey ihrem Gatten, was sie bey ihren Aeltern verließ. Aber in den gebildeten Staͤnden ist die Aufgabe sehr verwickelt. Wir haben auf hoͤ¬ here, zartere, feinere, besonders auf gesell¬ schaftliche Verhaͤltnisse Ruͤcksicht zu nehmen. Wir andern sollen daher unsre Zoͤglinge nach außen bilden; es ist nothwendig, es ist un¬ erlaͤßlich und moͤchte recht gut seyn, wenn man dabey nicht das Maaß uͤberschritte: denn indem man die Kinder fuͤr einen weiteren Kreis zu bilden gedenkt, treibt man sie leicht ins Graͤnzenlose, ohne im Auge zu behalten was denn eigentlich die innere Natur fordert. Hier liegt die Aufgabe, welche mehr oder weniger von den Erziehern geloͤst oder ver¬ fehlt wird. Bey Manchem womit wir unsere Schuͤle¬ rinnen in der Pension ausstatten, wird mir bange, weil die Erfahrung mir sagt, von wie geringem Gebrauch es kuͤnftig seyn werde. Was wird nicht gleich abgestreift, was nicht gleich der Vergessenheit uͤberantwortet sobald ein Frauenzimmer sich im Stande der Haus¬ frau, der Mutter befindet! Indessen kann ich mir den frommen Wunsch nicht versagen, da ich mich einmal diesem Geschaͤft gewidmet habe, daß es mir dereinst in Gesellschaft einer treuen Gehuͤlfinn gelingen moͤge, an meinen Zoͤglingen dasjenige rein auszubilden was sie beduͤrfen, wenn sie in das Feld eigener Thaͤtigkeit und Selbstaͤn¬ digkeit hinuͤberschreiten; daß ich mir sagen koͤnnte: in diesem Sinne ist an ihnen die Erziehung vollendet. Freylich schließt sich eine andre immer wieder an, die bey¬ nahe mit jedem Jahre unsers Lebens, wo nicht von uns selbst, doch von den Umstaͤnden veranlaßt wird. Wie wahr fand Ottilie diese Bemerkung! Was hatte nicht eine ungeahndete Leiden¬ schaft im vergangenen Jahr an ihr erzogen! was sah sie nicht alles fuͤr Pruͤfungen vor sich schweben, wenn sie nur aufs naͤchste, aufs naͤchst kuͤnftige hinblickte! Der junge Mann hatte nicht ohne Vor¬ bedacht, einer Gehuͤlfinn, einer Gattinn er¬ waͤhnt: denn bey aller seiner Bescheidenheit konnte er nicht unterlassen, seine Absichten auf eine entfernte Weise anzudeuten; ja er war durch mancherley Umstaͤnde und Vorfaͤlle aufgeregt worden, bey diesem Besuch einige Schritte seinem Ziele naͤher zu thun. Die Vorsteherinn der Pension war bereits in Jahren, sie hatte sich unter ihren Mitar¬ beitern und Mitarbeiterinnen schon lange nach einer Person umgesehen, die eigentlich mit ihr in Gesellschaft traͤte, und zuletzt dem Ge¬ huͤlfen, dem sie zu vertrauen hoͤchlich Ursache hatte, den Antrag gethan: er solle mit ihr die Lehranstalt fortfuͤhren, darin als in dem Seinigen mitwirken, und nach ihrem Tode als Erbe und einziger Besitzer eintreten. Die Hauptsache schien hiebey, daß er eine einstimmende Gattinn finden muͤsse. Er hatte im Stillen Ottilien vor Augen und im Her¬ zen; allein es regten sich mancherley Zweifel, die wieder durch guͤnstige Ereignisse einiges Gegengewicht erhielten. Luciane hatte die Pension verlassen: Ottilie konnte freyer zuruͤck¬ kehren; von dem Verhaͤltnisse zu Eduard hatte zwar etwas verlautet; allein man nahm die Sache, wie aͤhnliche Vorfaͤlle mehr, gleichguͤl¬ tig auf, und selbst dieses Ereigniß konnte zu Ottiliens Ruͤckkehr beytragen. Doch waͤre man zu keinem Entschluß gekommen, kein Schritt waͤre geschehen, haͤtte nicht ein un¬ vermutheter Besuch auch hier eine besondere Anregung gegeben. Wie denn die Erschei¬ nung von bedeutenden Menschen in irgend einem Kreise niemals ohne Folgen bleiben kann. Der Graf und die Baronesse, welche so oft in den Fall kamen, uͤber den Werth ver¬ schiedener Pensionen befragt zu werden, weil fast Jedermann um die Erziehung seiner Kin¬ der verlegen ist, hatten sich vorgenommen, diese besonders kennen zu lernen, von der so viel Gutes gesagt wurde, und konnten nun¬ mehr in ihren neuen Verhaͤltnissen zusammen eine solche Untersuchung anstellen. Allein die Baronesse beabsichtigte noch etwas anderes. Waͤhrend ihres letzten Aufenthalts bey Charlot¬ ten hatte sie mit dieser alles umstaͤndlich durch¬ gesprochen was sich auf Eduarden und Ottilien bezog. Sie bestand aber und abermals dar¬ auf: Ottilie muͤsse entfernt werden. Sie suchte Charlotten hiezu Muth einzusprechen, welche sich vor Eduards Drohungen noch im¬ mer fuͤrchtete. Man sprach uͤber die ver¬ schiedenen Auswege, und bey Gelegenheit der Pension war auch von der Neigung des Ge¬ huͤlfen die Rede, und die Baronesse entschloß sich um so mehr zu dem gedachten Besuch. Sie kommt an, lernt den Gehuͤlfen ken¬ nen, man beobachtet die Anstalt und spricht von Ottilien. Der Graf selbst unterhaͤlt sich gern uͤber sie, indem er sie bey dem neulichen Besuch genauer kennen gelernt. Sie hatte sich ihm genaͤhert, ja sie ward von ihm an¬ gezogen, weil sie durch sein gehaltvolles Ge¬ spraͤch dasjenige zu sehen und zu kennen glaub¬ te, was ihr bisher ganz unbekannt geblieben war. Und wie sie in dem Umgange mit Eduard die Welt vergaß, so schien ihr an der Gegenwart des Grafen die Welt erst recht wuͤnschenswerth zu seyn. Jede Anzie¬ hung ist wechselseitig. Der Graf empfand eine Neigung fuͤr Ottilien, daß er sie gern als seine Tochter betrachtete. Auch hier war sie der Baronesse zum zweytenmal und mehr als das erstemal im Wege. Wer weiß was diese, in Zeiten lebhafterer Leidenschaft, gegen sie angestiftet haͤtte; jetzt war es ihr genug, sie durch eine Verheiratung den Ehefrauen unschaͤdlicher zu machen. Sie regte daher den Gehuͤlfen auf eine leise doch wirksame Art kluͤglich an, daß er sich zu einer kleinen Excursion auf das Schloß einrichten und seinen Planen und Wuͤnschen, von denen er der Dame kein Geheimniß ge¬ macht, sich ungesaͤumt naͤhern solle. Mit vollkommner Beystimmung der Vor¬ steherinn trat er daher seine Reise an, und hegte in seinem Gemuͤth die besten Hoffnun¬ gen. Er weiß, Ottilie ist ihm nicht unguͤn¬ stig, und wenn zwischen ihnen einiges Mi߬ verhaͤltniß des Standes war, so glich sich dieses gar leicht durch die Denkart der Zeit aus. Auch hatte die Baronesse ihm wohl fuͤhlen lassen, daß Ottilie immer ein armes Maͤdchen bleibe. Mit einem reichen Hause verwandt zu seyn, hieß es, kann Niemanden helfen: denn man wuͤrde sich, selbst bey dem groͤßten Vermoͤgen, ein Gewissen daraus ma¬ chen, denjenigen eine ansehnliche Summe zu entziehen, die dem naͤheren Grade nach ein vollkommneres Recht auf ein Besitzthum zu haben scheinen. Und gewiß bleibt es wunder¬ bar, daß der Mensch das große Vorrecht, nach seinem Tode noch uͤber seine Habe zu disponiren, sehr selten zu Gunsten seiner Lieb¬ linge gebraucht, und wie es scheint, aus Ach¬ tung fuͤr das Herkommen, nur diejenigen be¬ guͤnstigt, die nach ihm sein Vermoͤgen besitzen wuͤrden, wenn er auch selbst keinen Willen haͤtte. Sein Gefuͤhl setzte ihn auf der Reise Ot¬ tilien voͤllig gleich. Eine gute Aufnahme er¬ hoͤhte seine Hoffnungen. Zwar fand er gegen sich Ottilien nicht ganz so offen wie sonst; aber sie war auch erwachsener, gebildeter und wenn man will, im Allgemeinen mittheilender als er sie gekannt hatte. Vertraulich ließ man ihn in manches Einsicht nehmen, was sich besonders auf sein Fach bezog. Doch wenn er seinem Zwecke sich naͤhern wollte; so hielt ihn immer eine gewisse innere Scheu zuruͤck. Einst gab ihm jedoch Charlotte hierzu Ge¬ legenheit indem sie, in Beyseyn Ottiliens, zu ihm sagte: Nun, Sie haben alles was in meinem Kreise heranwaͤchst, so ziemlich ge¬ pruͤft; wie finden Sie denn Ottilien? Sie duͤr¬ fen es wohl in ihrer Gegenwart aussprechen. Der Gehuͤlfe bezeichnete hierauf, mit sehr viel Einsicht und ruhigem Ausdruck, wie er Ottilien in Absicht eines freyeren Betragens, einer bequemeren Mittheilung, eines hoͤhern Blicks in die weltlichen Dinge, der sich mehr in ihren Handlungen als in ihren Worten bethaͤ¬ tige, sehr zu ihrem Vortheil veraͤndert finde; daß er aber doch glaube, es koͤnne ihr sehr zum Nutzen gereichen, wenn sie auf einige Zeit in die Pension zuruͤckkehre, um das in einer gewissen Folge gruͤndlich und fuͤr immer sich zuzueignen, was die Welt nur stuͤckweise und eher zur Verwirrung als zur Befriedigung, ja manch¬ mal nur allzuspaͤt uͤberliefere. Er wolle dar¬ uͤber nicht weitlaͤuftig seyn: Ottilie wisse selbst am besten aus was fuͤr zusammenhaͤngenden Lehrvortraͤgen sie damals herausgerissen worden. II . 10 Ottilie konnte das nicht laͤugnen; aber sie konnte nicht gestehen, was sie bey diesen Worten empfand, weil sie sich es kaum selbst auszulegen wußte. Es schien ihr in der Welt nichts mehr unzusammenhaͤngend, wenn sie an den geliebten Mann dachte, und sie begriff nicht, wie ohne ihn noch irgend etwas zusammenhaͤngen koͤnne. Charlotte beantwortete den Antrag mit kluger Freundlichkeit. Sie sagte, daß sowohl sie als Ottilie eine Ruͤckkehr nach der Pension laͤngst gewuͤnscht haͤtten. In dieser Zeit nur sey ihr die Gegenwart einer so lieben Freun¬ dinn und Helferinn unentbehrlich gewesen; doch wolle sie in der Folge nicht hinderlich seyn, wenn es Ottiliens Wunsch bliebe, wie¬ der auf so lange dorthin zuruͤckzukehren, bis sie das Angefangene geendet und das Unter¬ brochene sich vollstaͤndig zugeeignet. Der Gehuͤlfe nahm diese Anerbietung freudig auf; Ottilie duͤrfte nichts dagegen sagen, ob es ihr gleich vor dem Gedan¬ ken schauderte. Charlotte hingegen dachte Zeit zu gewinnen; sie hoffte Eduard sollte sich erst als gluͤcklicher Vater wieder finden und einfinden, dann, war sie uͤberzeugt, wuͤrde sich alles geben und auch fuͤr Ottilien auf eine oder die andere Weise gesorgt werden. Nach einem bedeutenden Gespraͤch, uͤber welches alle Theilnehmende nachzudenken ha¬ ben, pflegt ein gewisser Stillstand einzutreten, der einer allgemeinen Verlegenheit aͤhnlich sieht. Man ging im Saale auf und ab, der Gehuͤlfe blaͤtterte in einigen Buͤchern und kam endlich an den Folioband, der noch von Lucianens Zeiten her liegen geblieben war. Als er sah, daß darin nur Affen enthalten waren, schlug er ihn gleich wieder zu. Die¬ ser Vorfall mag jedoch zu einem Gespraͤch Anlaß gegeben haben, wovon wir die Spuren in Ottiliens Tagebuch finden. 10 * Aus Ottiliens Tagebuche. „Wie man es nur uͤber das Herz bringen kann, die garstigen Affen so sorgfaͤltig abzu¬ bilden. Man erniedrigt sich schon, wenn man sie nur als Thiere betrachtet; man wird aber wirklich boͤsartiger, wenn man dem Reize folgt, bekannte Menschen unter dieser Maske aufzusuchen.“ „Es gehoͤrt durchaus eine gewisse Verschro¬ benheit dazu, um sich gern mit Caricaturen und Zerrbildern abzugeben. Unserm guten Ge¬ huͤlfen danke ich's, daß ich nicht mit der Na¬ turgeschichte gequaͤlt worden bin: ich konnte mich mit den Wuͤrmern und Kaͤfern niemals befreunden.“ „Dießmal gestand er mir, daß es ihm eben so gehe. Von der Natur, sagte er, sollten wir nichts kennen, als was uns un¬ mittelbar lebendig umgiebt. Mit den Baͤu¬ men die um uns bluͤhen, gruͤnen, Frucht tragen, mit jeder Staude an der wir vorbey¬ gehen, mit jedem Grashalm uͤber den wir hinwandeln, haben wir ein wahres Verhaͤlt¬ niß, sie sind unsre aͤchten Compatrioten. Die Voͤgel die auf unsern Zweigen hin und wieder huͤpfen, die in unserm Laube singen, gehoͤren uns an, sie sprechen zu uns, von Jugend auf, und wir lernen ihre Sprache verstehen. Man frage sich, ob nicht ein jedes fremde, aus seiner Umgebung gerissene Geschoͤpf ei¬ nen gewissen aͤngstlichen Eindruck auf uns macht, der nur durch Gewohnheit abgestumpft wird. Es gehoͤrt schon ein buntes geraͤusch¬ volles Leben dazu, um Affen, Papageyen und Mohren um sich zu ertragen.“ „Manchmal wenn mich ein neugieriges Verlangen nach solchen abenteuerlichen Din¬ gen anwandelte, habe ich den Reisenden be¬ neidet, der solche Wunder mit andern Wun¬ dern in lebendiger alltaͤglicher Verbindung sieht. Aber auch er wird ein anderer Mensch. Es wandelt niemand ungestraft unter Pal¬ men, und die Gesinnungen aͤndern sich gewiß in einem Lande wo Elephanten und Tiger zu Hause sind.“ „Nur der Naturforscher ist verehrungs¬ werth, der uns das Fremdeste, Seltsamste, mit seiner Localitaͤt, mit aller Nachbarschaft, jedes¬ mal in dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiß. Wie gern moͤchte ich nur einmal Humboldten erzaͤhlen hoͤren.“ „Ein Naturalien-Cabinet kann uns vor¬ kommen wie eine aͤgyptische Grabstaͤtte, wo die verschiedenen Thier- und Pflanzengoͤtzen bal¬ samirt umherstehen. Einer Priester-Caste ge¬ ziemt es wohl, sich damit in geheimnißvollem Halbdunkel abzugeben; aber in den allgemei¬ nen Unterricht sollte dergleichen nicht einflie¬ ßen, um so weniger, als etwas Naͤheres und Wuͤrdigeres sich dadurch leicht verdraͤngt sieht.“ „Ein Lehrer, der das Gefuͤhl an einer einzigen guten That, an einem einzigen gu¬ ten Gedicht erwecken kann, leistet mehr als einer der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Na¬ men nach uͤberliefert: denn das ganze Resul¬ tat davon ist, was wir ohnedieß wissen koͤn¬ nen, daß das Menschengebild am vorzuͤglich¬ sten und einzigsten das Gleichniß der Gott¬ heit an sich traͤgt.“ „Dem Einzelnen bleibe die Freyheit sich mit dem zu beschaͤftigen, was ihn anzieht, was ihm Freude macht, was ihm nuͤtzlich daͤucht; aber das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch.“ Achtes Kapitel. Es giebt wenig Menschen, die sich mit dem Naͤchstvergangenen zu beschaͤftigen wis¬ sen. Entweder das Gegenwaͤrtige haͤlt uns mit Gewalt an sich, oder wir verlieren uns in die Vergangenheit und suchen das voͤllig Verlorene, wie es nur moͤglich seyn will, wieder hervorzurufen und herzustellen. Selbst in großen und reichen Familien, die ihren Vorfahren vieles schuldig sind, pflegt es so zu gehen, daß man des Großvaters mehr als des Vaters gedenkt. Zu solchen Betrachtungen ward unser Gehuͤlfe aufgefordert, als er an einem der schoͤnen Tage, an welchen der scheidende Winter den Fruͤhling zu luͤgen pflegt, durch den großen alten Schloßgarten gegangen war und die hohen Lindenalleen, die regelmaͤßigen Anlagen, die sich von Eduards Vater herschrie¬ ben, bewundert hatte. Sie waren vortreff¬ lich gediehen, in dem Sinne desjenigen der sie pflanzte, und nun, da sie erst anerkannt und genossen werden sollten, sprach Niemand mehr von ihnen; man besuchte sie kaum und hatte Liebhaberey und Aufwand gegen eine andere Seite hin ins Freye und Weite ge¬ richtet. Er machte bey seiner Ruͤckkehr Charlot¬ ten die Bemerkung, die sie nicht unguͤnstig aufnahm. Indem uns das Leben fortzieht, versetzte sie, glauben wir aus uns selbst zu handeln, unsre Thaͤtigkeit, unsre Vergnuͤgun¬ gen zu waͤhlen; aber freylich, wenn wir es genau ansehen, so sind es nur die Plane, die Neigungen der Zeit, die wir mit auszufuͤhren genoͤthigt sind. Gewiß, sagte der Gehuͤlfe: und wer wi¬ dersteht dem Strome seiner Umgebungen. Die Zeit ruͤckt fort und in ihr Gesinnungen, Meynungen, Vorurtheile und Liebhabereyen. Faͤllt die Jugend eines Sohnes gerade in die Zeit der Umwendung, so kann man versichert seyn, daß er mit seinem Vater nichts gemein haben wird. Wenn dieser in einer Periode lebte, wo man Lust hatte sich manches zuzu¬ eignen, dieses Eigenthum zu sichern, zu be¬ schraͤnken, einzuengen und in der Absonde¬ rung von der Welt seinen Genuß zu befestigen; so wird jener sodann sich auszudehnen suchen, mittheilen, verbreiten und das Verschlossene er¬ oͤffnen. Ganze Zeitraͤume, versetzte Charlotte, glei¬ chen diesem Vater und Sohn, den Sie schil¬ dern. Von jenen Zustaͤnden, da jede kleine Stadt ihre Mauern und Graͤben haben mu߬ te, da man jeden Edelhof noch in einen Sumpf baute, und die geringsten Schloͤsser nur durch eine Zugbruͤcke zugaͤnglich waren, davon koͤnnen wir uns kaum einen Begriff machen. Sogar groͤßere Staͤdte tragen jetzt ihre Waͤlle ab, die Graͤben selbst fuͤrstli¬ cher Schloͤsser werden ausgefuͤllt, die Staͤdte bilden nur große Flecken, und wenn man so auf Reisen das ansieht, sollte man glauben: der allgemeine Friede sey befestigt und das goldne Zeitalter vor der Thuͤre. Niemand glaubt sich in einem Garten behaglich, der nicht einem freyen Lande aͤhnlich sieht; an Kunst, an Zwang soll nichts erinnern, wir wollen voͤllig frey und unbedingt Athem schoͤp¬ fen. Haben Sie wohl einen Begriff, mein Freund, daß man aus diesem in einen an¬ dern, in den vorigen Zustand zuruͤckkehren koͤnne? Warum nicht? versetzte der Gehuͤlfe: je¬ der Zustand hat seine Beschwerlichkeit, der beschraͤnkte sowohl als der losgebundene. Der letztere setzt Ueberfluß voraus und fuͤhrt zur Verschwendung. Lassen Sie uns bey Ihrem Beyspiel bleiben, das auffallend genug ist. Sobald der Mangel eintritt, sogleich ist die Selbstbeschraͤnkung wiedergegeben. Menschen die ihren Grund und Boden zu nutzen ge¬ noͤthigt sind, fuͤhren schon wieder Mauern um ihre Gaͤrten auf, damit sie ihrer Er¬ zeugnisse sicher seyen. Daraus entsteht nach und nach eine neue Ansicht der Dinge. Das Nuͤtzliche erhaͤlt wieder die Oberhand und selbst der Vielbesitzende meynt zuletzt auch das alles nutzen zu muͤssen. Glauben Sie mir: es ist moͤglich, daß Ihr Sohn die saͤmmtlichen Parkanlagen vernachlaͤssigt und sich wieder hinter die ernsten Mauern und unter die hohen Linden seines Großvaters zu¬ ruͤckzieht. Charlotte war im Stillen erfreut, sich ei¬ nen Sohn verkuͤndigt zu hoͤren, und verzieh dem Gehuͤlfen deshalb die etwas unfreundliche Prophezeyung, wie es dereinst ihrem lieben schoͤnen Park ergehen koͤnne. Sie versetzte deshalb ganz freundlich: Wir sind beyde noch nicht alt genug um dergleichen Widerspruͤche mehrmals erlebt zu haben; allein wenn man sich in seine fruͤhe Jugend zuruͤckdenkt, sich erinnert woruͤber man von aͤlteren Per¬ sonen klagen gehoͤrt, Laͤnder und Staͤdte mit in die Betrachtung aufnimmt: so moͤchte wohl gegen die Bemerkung nichts einzuwenden seyn. Sollte man denn aber einem solchen Natur¬ gang nichts entgegensetzen, sollte man Vater und Sohn, Aeltern und Kinder nicht in Ue¬ bereinstimmung bringen koͤnnen? Sie haben mir freundlich einen Knaben geweissagt; muͤßte denn der gerade mit seinem Vater im Wider¬ spruch stehen? zerstoͤren was seine Aeltern erbaut haben? anstatt es zu vollenden und zu erheben wenn er in demselben Sinne fort¬ faͤhrt. Dazu giebt es auch wohl ein vernuͤnftiges Mittel, versetzte der Gehuͤlfe, das aber von den Menschen selten angewandt wird. Der Vater erhebe seinen Sohn zum Mitbesitzer, er lasse ihn mitbauen, pflanzen, und erlaube ihm, wie sich selbst, eine unschaͤdliche Will¬ kuͤhr. Eine Thaͤtigkeit laͤßt sich in die andre verweben, keine an die andre anstuͤckeln. Ein junger Zweig verbindet sich mit einem alten Stamme gar leicht und gern, an den kein erwachsener Ast mehr anzufuͤgen ist. Es freute den Gehuͤlfen, in dem Augen¬ blick da er Abschied zu nehmen sich genoͤthigt sah, Charlotten zufaͤlligerweise etwas Ange¬ nehmes gesagt und ihre Gunst aufs neue da¬ durch befestigt zu haben. Schon allzulange war er von Hause weg, doch konnte er zur Ruͤckreise sich nicht eher entschließen, als nach voͤlliger Ueberzeugung, er muͤsse die heranna¬ hende Epoche von Charlottens Niederkunft erst vorbeygehn lassen, bevor er wegen Otti¬ liens irgend eine Entscheidung hoffen koͤnne. Er fuͤgte sich deshalb in die Umstaͤnde und kehrte mit diesen Aussichten und Hoffnungen wieder zur Vorsteherinn zuruͤck. Charlottens Niederkunft nahte heran. Sie hielt sich mehr in ihren Zimmern. Die Frauen, die sich um sie versammelt hatten, waren ihre geschlossenere Gesellschaft. Ottilie besorgte das Hauswesen indem sie kaum dar¬ an denken durfte was sie that. Sie hatte sich zwar voͤllig ergeben, sie wuͤnschte fuͤr Charlotten, fuͤr das Kind, fuͤr Eduarden, sich auch noch ferner auf das dienstlichste zu bemuͤhen, aber sie sah nicht ein, wie es moͤg¬ lich werden wollte. Nichts konnte sie vor voͤlliger Verworrenheit retten, als daß sie je¬ den Tag ihre Pflicht that. Ein Sohn war gluͤcklich zur Welt gekom¬ men, und die Frauen versicherten saͤmmtlich, es sey der ganze leibhafte Vater. Nur Ottilie konnte es im Stillen nicht finden, als sie der Woͤchnerinn Gluͤck wuͤnschte und das Kind auf das herzlichste begruͤßte. Schon bey den Anstalten zur Verheiratung ihrer Tochter war Charlotten die Abwesenheit ihres Gemahls hoͤchst fuͤhlbar gewesen; nun sollte der Vater auch bey der Geburt des Sohnes nicht gegenwaͤrtig seyn; er sollte den Namen nicht bestimmen, bey dem man ihn kuͤnftig rufen wuͤrde. Der erste von allen Freunden die sich gluͤckwuͤnschend sehen ließen, war Mittler, der seine Kundschafter ausgestellt hatte um von diesem Ereigniß sogleich Nachricht zu erhal¬ ten. Er fand sich ein und zwar sehr behag¬ lich. Kaum daß er seinen Triumph in Ge¬ genwart Ottiliens verbarg, so sprach er sich gegen Charlotten laut aus, und war der Mann alle Sorgen zu heben und alle augen¬ blicklichen Hindernisse bey Seite zu bringen. Die Taufe sollte nicht lange aufgeschoben werden. Der alte Geistliche, mit einem Fuß schon im Grabe, sollte durch seinen Segen das Vergangene mit dem Zukuͤnftigen zusam¬ menknuͤpfen; Otto sollte das Kind heißen: es konnte keinen andern Namen fuͤhren als den Namen des Vaters und des Freundes. Es bedurfte der entschiedenen Zudringlich¬ keit dieses Mannes, um die hunderterley Be¬ denklichkeiten, das Widerreden, Zaudern, Stocken, Besser- und Anderswissen, das Schwanken, Meynen, Um- und Wiedermey¬ nen zu beseitigen; da gewoͤhnlich bey solchen Gelegenheiten aus einer gehobenen Bedenk¬ lichkeit immer wieder neue entstehen, und in¬ dem man alle Verhaͤltnisse schonen will, im¬ mer der Fall eintritt, einige zu verletzen. Alle Meldungsschreiben und Gevatterbriefe uͤbernahm Mittler; sie sollten gleich ausge¬ fertigt seyn: denn ihm war selbst hoͤchlich dar¬ an gelegen, ein Gluͤck das er fuͤr die Fami¬ lie so bedeutend hielt, auch der uͤbrigen mit unter mißwollenden und mißredenden Welt II . 11 bekannt zu machen. Und freylich waren die bisherigen leidenschaftlichen Vorfaͤlle dem Pu¬ blikum nicht entgangen, das ohnehin in der Ueberzeugung steht, alles was geschieht, ge¬ schehe nur dazu, damit es etwas zu reden habe. Die Feyer des Taufactes sollte wuͤrdig aber beschraͤnkt und kurz seyn. Man kam zu¬ sammen, Ottilie und Mittler sollten das Kind als Taufzeugen halten. Der alte Geistliche, unterstuͤtzt vom Kirchdiener, trat mit langsamen Schritten heran. Das Gebet war verrichtet, Ottilien das Kind auf die Arme gelegt, und als sie mit Neigung auf dasselbe heruntersah, erschrak sie nicht wenig an seinen offenen Au¬ gen: denn sie glaubte in ihre eigenen zu se¬ hen, eine solche Uebereinstimmung haͤtte Je¬ den uͤberraschen muͤssen. Mittler, der zunaͤchst das Kind empfing, stutzte gleichfalls, indem er in der Bildung desselben eine so auffallende Aehnlichkeit, und zwar mit dem Hauptmann erblickte, dergleichen ihm sonst noch nie vor¬ gekommen war. Die Schwaͤche des guten alten Geistlichen hatte ihn gehindert, die Taufhandlung mit mehrerem als der gewoͤhnlichen Liturgie zu begleiten. Mittler indessen, voll von dem Gegenstande, gedachte seiner fruͤhern Amts¬ verrichtungen und hatte uͤberhaupt die Art, sich sogleich in jedem Falle zu denken, wie er nun reden, wie er sich aͤußern wuͤrde. Die߬ mal konnte er sich um so weniger zuruͤckhalten, als es nur eine kleine Gesellschaft von lauter Freunden war, die ihn umgab. Er fing da¬ her an, gegen das Ende des Acts, mit Be¬ haglichkeit sich an die Stelle des Geistlichen zu versetzen, in einer muntern Rede seine Pathenpflichten und Hoffnungen zu aͤußern und um so mehr dabey zu verweilen, als er Charlottens Beyfall in ihrer zufriedenen Miene zu erkennen glaubte. 11 * Daß der gute alte Mann sich gern ge¬ setzt haͤtte, entging dem ruͤstigen Redner, der noch viel weniger dachte, daß er ein groͤßeres Uebel hervorzubringen auf dem Wege war: denn nachdem er das Verhaͤltniß eines jeden Anwesenden zum Kinde mit Nachdruck geschil¬ dert und Ottiliens Fassung dabey ziemlich auf die Probe gestellt hatte; so wandte er sich zuletzt gegen den Greis mit diesen Wor¬ ten: Und Sie, mein wuͤrdiger Altvater, koͤn¬ nen nunmehr mit Simeon sprechen: Herr laß deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben den Heiland dieses Hauses gesehen. Nun war er im Zuge recht glaͤnzend zu schließen, aber er bemerkte bald, daß der Alte, dem er das Kind hinhielt, sich zwar erst gegen dasselbe zu neigen schien, nachher aber schnell zuruͤcksank. Vom Fall kaum ab¬ gehalten ward er in einen Sessel gebracht und man mußte ihn, ungeachtet aller augen¬ blicklichen Beyhuͤlfe, fuͤr todt ansprechen. So unmittelbar Geburt und Tod, Sarg und Wiege neben einander zu sehen und zu denken, nicht bloß mit der Einbildungskraft, sondern mit den Augen diese ungeheuern Ge¬ gensaͤtze zusammenzufassen, war fuͤr die Um¬ stehenden eine schwere Aufgabe, je uͤberraschen¬ der sie vorgelegt wurde. Ottilie allein betrach¬ tete den Eingeschlummerten, der noch immer seine freundliche einnehmende Miene behalten hatte, mit einer Art von Neid. Das Leben ihrer Seele war getoͤdtet, warum sollte der Koͤrper noch erhalten werden? Fuͤhrten sie auf diese Weise gar manch¬ mal die unerfreulichen Begebenheiten des Tags auf die Betrachtung der Vergaͤnglichkeit, des Scheidens, des Verlierens; so waren ihr da¬ gegen wundersame naͤchtliche Erscheinungen zum Trost gegeben, die ihr das Daseyn des Geliebten versicherten und ihr eigenes be¬ festigten und belebten. Wenn sie sich Abends zur Ruhe gelegt, und im suͤßen Gefuͤhl noch zwischen Schlaf und Wachen schwebte, schien es ihr, als wenn sie in einen ganz hellen doch mild erleuchteten Raum hineinblickte. In diesem sah sie Eduarden ganz deutlich und zwar nicht gekleidet wie sie ihn sonst ge¬ sehen, sondern im kriegerischen Anzug, jedes¬ mal in einer andern Stellung, die aber voll¬ kommen natuͤrlich war und nichts Phantasti¬ sches an sich hatte: stehend, gehend, liegend, reitend. Die Gestalt bis aufs kleinste ausge¬ malt bewegte sich willig vor ihr, ohne daß sie das mindeste dazu that, ohne daß sie wollte oder die Einbildungskraft anstrengte. Manchmal sah sie ihn auch umgeben, beson¬ ders von etwas Beweglichem, das dunkler war als der helle Grund; aber sie unterschied kaum Schattenbilder, die ihr zuweilen als Menschen, als Pferde, als Baͤume und Ge¬ birge vorkommen konnten. Gewoͤhnlich schlief sie uͤber der Erscheinung ein, und wenn sie nach einer ruhigen Nacht morgens wieder er¬ wachte; so war sie erquickt, getroͤstet, sie fuͤhlte sich uͤberzeugt: Eduard lebe noch, sie stehe mit ihm noch in dem innigsten Ver¬ haͤltniß. Neuntes Kapitel. Der Fruͤhling war gekommen, spaͤter aber auch rascher und freudiger als gewoͤhnlich. Otti¬ lie fand nun im Garten die Frucht ihres Vor¬ sehens: alles keimte, gruͤnte und bluͤhte zur rechten Zeit; manches was hinter wohl ange¬ legten Glashaͤusern und Beeten vorbereitet worden, trat nun sogleich der endlich von außen wirkenden Natur entgegen, und alles was zu thun und zu besorgen war, blieb nicht bloß hoffnungsvolle Muͤhe wie bisher, sondern ward zum heitern Genusse. An dem Gaͤrtner aber hatte sie zu troͤsten uͤber manche durch Lucianens Wildheit ent¬ standene Luͤcke unter den Topfgewaͤchsen, uͤber die zerstoͤrte Symmetrie mancher Baumkrone. Sie machte ihm Muth, daß sich das alles bald wieder herstellen werde; aber er hatte zu ein tiefes Gefuͤhl, zu einen reinen Begriff von seinem Handwerk, als daß diese Trost¬ gruͤnde viel bey ihm haͤtten fruchten sollen. So wenig der Gaͤrtner sich durch andere Lieb¬ habereyen und Neigungen zerstreuen darf, so wenig darf der ruhige Gang unterbro¬ chen werden, den die Pflanze zur dauern¬ den oder zur voruͤbergehenden Vollendung nimmt. Die Pflanze gleicht den eigensinni¬ gen Menschen, von denen man alles erhalten kann, wenn man sie nach ihrer Art behan¬ delt. Ein ruhiger Blick, eine stille Conse¬ quenz, in jeder Jahrszeit, in jeder Stunde das ganz Gehoͤrige zu thun, wird vielleicht von Niemand mehr als vom Gaͤrtner ver¬ langt. Diese Eigenschaften besaß der gute Mann in einem hohen Grade, deswegen auch Ottilie so gern mit ihm wirkte; aber sein eigentliches Talent konnte er schon einige Zeit nicht mehr mit Behaglichkeit ausuͤben. Denn ob er gleich alles was die Baum- und Kuͤchengaͤrt¬ nerey betraf, auch die Erfordernisse eines aͤl¬ teren Ziergartens, vollkommen zu leisten ver¬ stand — wie denn uͤberhaupt einem vor dem andern dieses oder jenes gelingt — ob er schon in Behandlung der Orangerie, der Blu¬ menzwiebeln, der Nelken- und Aurikelnstoͤcke, die Natur selbst haͤtte herausfordern koͤnnen: so waren ihm doch die neuen Zierbaͤume und Modeblumen einigermaßen fremd geblieben, und er hatte vor dem unendlichen Felde der Botanik, das sich nach der Zeit aufthat, und den darin herumsummenden fremden Namen, eine Art von Scheu, die ihn verdrießlich machte. Was die Herrschaft voriges Jahr zu verschreiben angefangen, hielt er um so mehr fuͤr unnuͤtzen Aufwand und Verschwen¬ dung, als er gar manche kostbare Pflanze ausgehen sah, und mit den Handelsgaͤrtnern die ihn, wie er glaubte, nicht redlich genug bedienten, in keinem sonderlichen Verhaͤlt¬ nisse stand. Er hatte sich daruͤber, nach mancherley Versuchen, eine Art von Plan gemacht, in welchem ihn Ottilie um so mehr bestaͤrkte, als er auf die Wiederkehr Eduards eigentlich ge¬ gruͤndet war, dessen Abwesenheit man in die¬ sem wie in manchem andern Falle taͤglich nachtheiliger empfinden mußte. Indem nun die Pflanzen immer mehr Wurzel schlugen und Zweige trieben, fuͤhlte sich auch Ottilie immer mehr an diese Raͤume gefesselt. Gerade vor einem Jahre trat sie als Fremdling, als ein unbedeutendes Wesen hier ein; wie viel hatte sie sich seit jener Zeit nicht erworben! aber leider wie viel hatte sie nicht auch seit jener Zeit wieder verloren! Sie war nie so reich und nie so arm gewe¬ sen. Das Gefuͤhl von beydem wechselte au¬ genblicklich mit einander ab, ja durchkreuzte sich aufs innigste, so daß sie sich nicht anders zu helfen wußte, als daß sie immer wieder das Naͤchste mit Antheil, ja mit Leidenschaft ergriff. Daß alles was Eduarden besonders lieb war, auch ihre Sorgfalt am staͤrksten an sich zog, laͤßt sich denken; ja warum sollte sie nicht hoffen, daß er selbst nun bald wieder¬ kommen, daß er die vorsorgliche Dienstlich¬ keit, die sie dem Abwesenden geleistet, dank¬ bar gegenwaͤrtig bemerken werde. Aber noch auf eine viel andre Weise war sie veranlaßt fuͤr ihn zu wirken. Sie hatte vorzuͤglich die Sorge fuͤr das Kind uͤbernom¬ men, dessen unmittelbare Pflegerinn sie um so mehr werden konnte, als man es keiner Amme zu uͤbergeben, sondern mit Milch und Wasser aufzuziehen sich entschieden hatte. Es sollte in jener schoͤnen Zeit der freyen Luft genießen; und so trug sie es am liebsten selbst heraus, trug das schlafende unbewußte zwischen Blumen und Bluͤthen her, die der¬ einst seiner Kindheit so freundlich entgegen lachen sollten, zwischen jungen Straͤuchen und Pflanzen, die mit ihm in die Hoͤhe zu wach¬ sen durch ihre Jugend bestimmt schienen. Wenn sie um sich her sah, so verbarg sie sich nicht, zu welchem großen reichen Zustande das Kind geboren sey: denn fast alles wohin das Auge blickte, sollte dereinst ihm gehoͤ¬ ren. Wie wuͤnschenswerth war es zu diesem allen, daß es vor den Augen des Vaters, der Mutter, aufwuͤchse und eine erneute frohe Verbindung bestaͤtigte. Ottilie fuͤhlte dieß alles so rein, daß sie sich's als entschieden wirklich dachte und sich selbst dabey gar nicht empfand. Unter diesem klaren Himmel, bey diesem hellen Sonnen¬ schein, ward es ihr auf einmal klar, daß ihre Liebe, um sich zu vollenden, voͤllig un¬ eigennuͤtzig werden muͤsse; ja in manchen Au¬ genblicken glaubte sie diese Hoͤhe schon er¬ reicht zu haben. Sie wuͤnschte nur das Wohl ihres Freundes, sie glaubte sich faͤhig ihm zu entsagen, sogar ihn niemals wieder zu sehen, wenn sie ihn nur gluͤcklich wisse. Aber ganz entschieden war sie fuͤr sich, nie¬ mals einem andern anzugehoͤren. Daß der Herbst eben so herrlich wuͤrde wie der Fruͤhling, dafuͤr war gesorgt. Alle sogenannte Sommergewaͤchse, alles was im Herbst mit Bluͤhen nicht enden kann und sich der Kaͤlte noch keck entgegen entwickelt, Astern besonders, waren in der groͤßten Man¬ nigfaltigkeit gesaͤt und sollten nun uͤberall¬ hin verpflanzt, einen Sternhimmel uͤber die Erde bilden. Aus Ottiliens Tagebuche. „Einen guten Gedanken den wir gelesen, etwas Auffallendes das wir gehoͤrt, tragen wir wohl in unser Tagebuch. Naͤhmen wir uns aber zugleich die Muͤhe, aus den Briefen unserer Freunde eigenthuͤmliche Bemerkungen, originelle Ansichten, fluͤchtige geistreiche Worte auszuzeichnen, so wuͤrden wir sehr reich wer¬ den. Briefe hebt man auf, um sie nie wie¬ der zu lesen; man zerstoͤrt sie zuletzt einmal aus Discretion, und so verschwindet der schoͤnste unmittelbarste Lebenshauch unwieder¬ bringlich fuͤr uns und andre. Ich nehme mir vor, dieses Versaͤumniß wieder gut zu machen.“ „So wiederhohlt sich denn abermals das Jahresmaͤhrchen von vorn. Wir sind nun wieder, Gott sey Dank! an seinem artig¬ sten Kapitel. Veilchen und Mayblumen sind wie Ueberschriften oder Vignetten dazu. Es macht uns immer einen angenehmen Eindruck, wenn wir sie in dem Buche des Lebens wie¬ der aufschlagen.“ „Wir schelten die Armen, besonders die Unmuͤndigen, wenn sie sich an den Straßen herumlegen und betteln. Bemerken wir nicht, daß sie gleich thaͤtig sind, sobald es was zu thun giebt? Kaum entfaltet die Natur ihre freundlichen Schaͤtze, so sind die Kinder da¬ hinterher um ein Gewerbe zu eroͤffnen; keines bettelt mehr; jedes reicht dir einen Strauß; es hat ihn gepfluͤckt ehe du vom Schlaf er¬ wachtest, und das Bittende sieht dich so freundlich an wie die Gabe. Niemand sieht erbaͤrmlich aus, der sich einiges Recht fuͤhlt, fordern zu duͤrfen.“ „Warum nur das Jahr manchmal so kurz, manchmal so lang ist, warum es so kurz scheint und so lang in der Erinnrung! Mir ist es mit dem vergangenen so, und nir¬ gends auffallender als im Garten, wie ver¬ gaͤngliches und dauerndes in einander greift. Und doch ist nichts so fluͤchtig das nicht eine Spur, das nicht seines Gleichen zuruͤcklasse.“ „Man laͤßt sich den Winter auch gefallen. Man glaubt sich freyer auszubreiten, wenn die Baͤume so geisterhaft, so durchsichtig vor uns stehen. Sie sind nichts, aber sie decken auch nichts zu. Wie aber einmal Knospen und Bluͤten kommen, dann wird man unge¬ duldig bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkoͤrpert und der Baum sich als eine Gestalt uns entgegen draͤngt.“ „Alles Vollkommene in seiner Art muß uͤber seine Art hinausgehen, es muß etwas anderes unvergleichbares werden. In manchen II . 12 Toͤnen ist die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie uͤber ihre Classe hinuͤber und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigentlich singen heiße.“ „Ein Leben ohne Liebe, ohne die Naͤhe des Geliebten, ist nur eine Comédie à tiroir , ein schlechtes Schubladenstuͤck. Man schiebt eine nach der anderen heraus und wieder hin¬ ein und eilt zur folgenden. Alles was auch gutes und bedeutendes vorkommt, haͤngt nur kuͤmmerlich zusammen. Man muß uͤberall von vorn anfangen und moͤchte uͤberall enden.“ Zehntes Kapitel . Charlotte von ihrer Seite befindet sich munter und wohl. Sie freut sich an dem tuͤchtigen Knaben, dessen viel verspre¬ chende Gestalt ihr Auge und Gemuͤth stuͤnd¬ lich beschaͤftigt. Sie erhaͤlt durch ihn einen neuen Bezug auf die Welt und auf den Be¬ sitz. Ihre alte Thaͤtigkeit regt sich wieder; sie erblickt, wo sie auch hinsieht, im vergan¬ genen Jahre vieles gethan und empfindet Freude am Gethanen. Von einem eigenen Gefuͤhl belebt steigt sie zur Mooshuͤtte mit Ottilien und dem Kinde, und indem sie dieses auf den kleinen Tisch, als auf einen haͤuslichen Altar niederlegt, und noch zwey Plaͤtze leer sieht, gedenkt sie der vorigen Zeiten und eine 12 * neue Hoffnung fuͤr sie und Ottilien dringt hervor. Junge Frauenzimmer sehen sich bescheiden vielleicht nach diesem oder jenem Juͤngling um, mit stiller Pruͤfung, ob sie ihn wohl zum Gatten wuͤnschten; wer aber fuͤr eine Tochter oder einen weiblichen Zoͤgling zu sor¬ gen hat, schaut in einem weitern Kreis um¬ her. So ging es auch in diesem Augenblick Charlotten, der eine Verbindung des Haupt¬ manns mit Ottilien nicht unmoͤglich schien, wie sie doch auch schon ehemals in dieser Huͤtte neben einander gesessen hatten. Ihr war nicht unbekannt geblieben, daß jene Aus¬ sicht auf eine vortheilhafte Heirat wieder verschwunden sey. Charlotte stieg weiter und Ottilie trug das Kind. Jene uͤberließ sich mancherley Betrachtungen. Auch auf dem festen Lande giebt es wohl Schiffbruch; sich davon auf das schnellste zu erhohlen und herzustellen, ist schoͤn und preiswuͤrdig. Ist doch das Leben nur auf Gewinn und Verlust berechnet. Wer macht nicht irgend eine Anlage und wird dar¬ in gestoͤrt! Wie oft schlaͤgt man einen Weg ein und wird davon abgeleitet! Wie oft wer¬ den wir von einem scharf ins Auge gefaßten Ziel abgelenkt, um ein hoͤheres zu erreichen! Der Reisende bricht unterwegs zu seinem hoͤchsten Verdruß ein Rad und gelangt durch diesen unangenehmen Zufall zu den erfreulich¬ sten Bekanntschaften und Verbindungen, die auf sein ganzes Leben Einfluß haben. Das Schicksal gewaͤhrt uns unsre Wuͤnsche, aber auf seine Weise, um uns etwas uͤber unsere Wuͤnsche geben zu koͤnnen. Diese und aͤhnliche Betrachtungen waren es, unter denen Charlotte zum neuen Ge¬ baͤude auf der Hoͤhe gelangte, wo sie voll¬ kommen bestaͤtigt wurden. Denn die Um¬ gebung war viel schoͤner als man sich's hatte denken koͤnnen. Alles stoͤrende Kleinliche war rings umher entfernt; alles Gute der Land¬ schaft, was die Natur, was die Zeit daran ge¬ than hatte, trat reinlich hervor und fiel ins Au¬ ge, und schon gruͤnten die jungen Pflanzungen, die bestimmt waren, einige Luͤcken auszufuͤllen und die abgesonderten Theile angenehm zu verbinden. Das Haus selbst war nahezu bewohn¬ bar; die Aussicht, besonders aus den obern Zimmern, hoͤchst mannigfaltig. Je laͤnger man sich umsah, desto mehr Schoͤnes entdeckte man. Was mußten nicht hier die verschiede¬ nen Tagszeiten, was Mond und Sonne fuͤr Wirkungen hervorbringen! Hier zu verweilen war hoͤchst wuͤnschenswerth, und wie schnell ward die Lust zu bauen und zu schaffen in Charlotten wieder erweckt, da sie alle grobe Arbeit gethan fand. Ein Tischer, ein Tape¬ zirer, ein Maler, der mit Patronen und leichter Vergoldung sich zu helfen wußte, nur dieser bedurfte man, und in kurzer Zeit war das Gebaͤude im Stande. Keller und Kuͤche wurden schnell eingerichtet: denn in der Entfer¬ nung vom Schlosse mußte man alle Beduͤrf¬ nisse um sich versammeln. So wohnten die Frauenzimmer mit dem Kinde nun oben, und von diesem Aufenthalt, als von einem neuen Mittelpunkt, eroͤffneten sich ihnen unerwartete Spaziergaͤnge. Sie genossen vergnuͤglich in einer hoͤheren Region der freyen frischen Luft bey dem schoͤnsten Wetter. Ottiliens liebster Weg, theils allein, theils mit dem Kinde, ging herunter nach den Pla¬ tanen auf einem bequemen Fußsteig, der so¬ dann zu dem Puncte leitete, wo einer der Kaͤhne angebunden war, mit denen man uͤberzufahren pflegte. Sie erfreute sich manch¬ mal einer Wasserfahrt; allein ohne das Kind, weil Charlotte deshalb einige Besorgniß zeigte. Doch verfehlte sie nicht, taͤglich den Gaͤrtner im Schloßgarten zu besuchen und an seiner Sorgfalt fuͤr die vielen Pflanzenzoͤglinge, die nun alle der freyen Luft genossen, freundlich Theil zu nehmen. In dieser schoͤnen Zeit kam Charlotten der Besuch eines Englaͤnders sehr gelegen, der Eduarden auf Reisen kennen gelernt, einige¬ mal getroffen hatte und nunmehr neugierig war, die schoͤnen Anlagen zu sehen, von denen er so viel Gutes erzaͤhlen hoͤrte. Er brachte ein Empfehlungsschreiben vom Grafen mit und stellte zugleich einen stillen aber sehr ge¬ faͤlligen Mann als seinen Begleiter vor. In¬ dem er nun bald mit Charlotten und Otti¬ lien, bald mit Gaͤrtnern und Jaͤgern, oͤfters mit seinem Begleiter, und manchmal allein die Gegend durchstrich; so konnte man seinen Bemerkungen wohl ansehen, daß er ein Lieb¬ haber und Kenner solcher Anlagen war, der wohl auch manche dergleichen selbst ausgefuͤhrt hatte. Obgleich in Jahren nahm er auf eine heitere Weise an allem Theil, was dem Le¬ ben zur Zierde gereichen und es bedeutend machen kann. In seiner Gegenwart genossen die Frauen¬ zimmer erst vollkommen ihrer Umgebung. Sein geuͤbtes Auge empfing jeden Effect ganz frisch, und er hatte um somehr Freude an dem Entstandenen, als er die Gegend vorher nicht gekannt, und was man daran gethan, von dem was die Natur geliefert, kaum zu unterscheiden wußte. Man kann wohl sagen, daß durch seine Bemerkungen der Park wuchs und sich berei¬ cherte. Schon zum voraus erkannte er, was die neuen heranstrebenden Pflanzungen ver¬ sprachen. Keine Stelle blieb ihm unbemerkt, wo noch irgend eine Schoͤnheit hervorzuheben oder anzubringen war. Hier deutete er auf eine Quelle, welche gereinigt, die Zierde ei¬ ner ganzen Buschpartie zu werden versprach; hier auf eine Hoͤhle, die ausgeraͤumt und er¬ weitert, einen erwuͤnschten Ruheplatz geben konnte, indessen man nur wenige Baͤume zu faͤllen brauchte, um von ihr aus herrliche Felsenmassen aufgethuͤrmt zu erblicken. Er wuͤnschte den Bewohnern Gluͤck, daß ihnen so manches nachzuarbeiten uͤbrig blieb, und ersuchte sie, damit nicht zu eilen, sondern fuͤr folgende Jahre sich das Vergnuͤgen des Schaffens und Einrichtens vorzubehalten. Uebrigens war er außer den geselligen Stunden keineswegs laͤstig: denn er beschaͤf¬ tigte sich die groͤßte Zeit des Tags, die ma¬ lerischen Aussichten des Parks in einer trag¬ baren dunklen Kammer aufzufangen und zu zeichnen, um dadurch sich und andern von seinen Reisen eine schoͤne Frucht zu gewinnen. Er hatte dieses, schon seit mehreren Jahren, in allen bedeutenden Gegenden gethan und sich dadurch die angenehmste und interessan¬ teste Sammlung verschafft. Ein großes Porte¬ feuille das er mit sich fuͤhrte, zeigte er den Damen vor und unterhielt sie, theils durch das Bild, theils durch die Auslegung. Sie freuten sich, hier in ihrer Einsamkeit die Welt so bequem zu durchreisen, Ufer und Haͤfen, Berge, Seen und Fluͤsse, Staͤdte, Castelle und manches andre Local, das in der Geschichte einen Namen hat, vor sich vor¬ beyziehen zu sehen. Jede von beyden Frauen hatte ein beson¬ deres Interesse; Charlotte das allgemeinere, gerade an dem, wo sich etwas historisch merkwuͤrdiges fand, waͤhrend Ottilie sich vor¬ zuͤglich bey den Gegenden aufhielt, wovon Eduard viel zu erzaͤhlen pflegte, wo er gern verweilt, wohin er oͤfters zuruͤckgekehrt: denn jeder Mensch hat in der Naͤhe und in der Ferne gewisse oͤrtliche Einzelnheiten die ihn anziehen, die ihm, seinem Character nach, um des ersten Eindrucks, gewisser Umstaͤnde, der Gewohnheit willen, besonders lieb und aufregend sind. Sie fragte daher den Lord, wo es ihm denn am besten gefalle, und wo er nun seine Wohnung aufschlagen wuͤrde, wenn er zu waͤhlen haͤtte. Da wußte er denn mehr als Eine schoͤne Gegend vorzuzeigen, und was ihm dort widerfahren, um sie ihm lieb und werth zu machen, in seinem eigens accentuirten Fran¬ zoͤsisch gar behaglich mitzutheilen. Auf die Frage hingegen, wo er sich denn jetzt gewoͤhnlich aufhalte, wohin er am lieb¬ sten zuruͤckkehre, ließ er sich ganz unbewun¬ den, doch den Frauen unerwartet, also ver¬ nehmen. Ich habe mir nun angewoͤhnt uͤberall zu Hause zu seyn und finde zuletzt nichts be¬ quemer, als daß andre fuͤr mich bauen, pflan¬ zen und sich haͤuslich bemuͤhen. Nach mei¬ nen eigenen Besitzungen sehne ich mich nicht zuruͤck, theils aus politischen Ursachen, vorzuͤg¬ lich aber weil mein Sohn, fuͤr den ich alles eigentlich gethan und eingerichtet, dem ich es zu uͤbergeben, mit dem ich es noch zu genießen hoffte, an allem keinen Theil nimmt, sondern nach Indien gegangen ist, um sein Leben dort, wie mancher andere, hoͤher zu nutzen, oder gar zu vergeuden. Gewiß wir machen viel zu viel vorarbei¬ tenden Aufwand aufs Leben. Anstatt daß wir gleich anfingen uns in einem maͤßigen Zustand behaglich zu finden, so gehen wir immer mehr ins Breite, um es uns immer un¬ bequemer zu machen. Wer genießt jetzt meine Gebaͤude, meinen Park, meine Gaͤrten? Nicht ich, nicht einmal die Meinigen; fremde Gaͤste, Neugierige, unruhige Reisende. Selbst bey vielen Mitteln sind wir immer nur halb und halb zu Hause, besonders auf dem Lande, wo uns manches Gewohnte der Stadt fehlt. Das Buch das wir am eifrig¬ sten wuͤnschten, ist nicht zur Hand, und ge¬ rade was wir am meisten beduͤrften, ist ver¬ gessen. Wir richten uns immer haͤuslich ein, um wieder auszuziehen, und wenn wir es nicht mit Willen und Willkuͤhr thun; so wirken Verhaͤltnisse, Leidenschaften, Zufaͤlle, Noth¬ wendigkeit und was nicht alles. Der Lord ahndete nicht, wie tief durch seine Betrachtungen die Freundinnen getroffen wurden. Und wie oft kommt nicht Jeder in diese Gefahr, der eine allgemeine Betrachtung selbst in einer Gesellschaft deren Verhaͤltnisse ihm sonst bekannt sind, ausspricht. Charlot¬ ten war eine solche zufaͤllige Verletzung auch durch Wohlwollende und Gutmeynende nichts Neues; und die Welt lag ohnehin so deut¬ lich vor ihren Augen, daß sie keinen besondern Schmerz empfand, wenn gleich Jemand sie unbedachtsam und unvorsichtig noͤthigte, ihren Blick da oder dorthin auf eine unerfreuliche Stelle zu richten. Ottilie hingegen, die in halbbewußter Jugend mehr ahndete als sah, und ihren Blick wegwenden durfte ja mußte von dem was sie nicht sehen mochte und sollte, Ottilie ward durch diese traulichen Reden in den schrecklichsten Zustand versetzt: denn es zerriß mit Gewalt vor ihr der an¬ muthige Schleyer, und es schien ihr, als wenn alles was bisher fuͤr Haus und Hof, fuͤr Garten, Park und die ganze Umgebung geschehen war, ganz eigentlich umsonst sey, weil der dem es alles gehoͤrte, es nicht ge¬ noͤsse, weil auch der, wie der gegenwaͤrtige Gast, zum Herumschweifen in der Welt und zwar zu dem gefaͤhrlichsten, durch die Lieb¬ sten und Naͤchsten gedraͤngt worden. Sie hatte sich an Hoͤren und Schweigen gewoͤhnt, aber sie saß dießmal in der peinlichsten Lage, die durch des Fremden weiteres Gespraͤch eher vermehrt als vermindert wurde, das er mit heiterer Eigenheit und Bedaͤchtlichkeit fortsetzte. Nun glaub' ich, sagte er, auf dem rech¬ ten Wege zu seyn, da ich mich immerfort als einen Reisenden betrachte, der vielem entsagt, um vieles zu genießen. Ich bin an den Wechsel gewoͤhnt, ja er wird mir Beduͤrf¬ niß, wie man in der Oper immer wieder auf eine neue Decoration wartet, gerade weil schon so viele da gewesen. Was ich mir von dem besten und dem schlechtesten Wirths¬ hause versprechen darf, ist mir bekannt: es mag so gut oder schlimm seyn als es will, nirgends find' ich das Gewohnte, und am Ende laͤuft es auf Eins hinaus, ganz von einer nothwendigen Gewohnheit, oder ganz von der willkuͤhrlichsten Zufaͤlligkeit abzuhan¬ gen. Wenigstens habe ich jetzt nicht den Verdruß, daß etwas verlegt oder verloren ist, daß mir ein taͤgliches Wohnzimmer un¬ brauchbar wird, weil ich es muß repariren lassen, daß man mir eine liebe Tasse zer¬ bricht und es mir eine ganze Zeit aus keiner andern schmecken will. Alles dessen bin ich uͤberhoben, und wenn mir das Haus uͤber dem Kopf zu brennen anfaͤngt, so packen meine Leute gelassen ein und auf, und wir fahren zu Hofraum und Stadt hinaus. Und bey allen diesen Vortheilen, wenn ich es genau berechne, habe ich am Ende des Jahrs nicht mehr ausgegeben, als es mich zu Hause gekostet haͤtte. Bey dieser Schilderung sah Ottilie nur Eduarden vor sich, wie er nun auch, mit Ent¬ behren und Beschwerde, auf ungebahnten Straßen hinziehe, mit Gefahr und Noth zu Felde liege, und bey so viel Unbestand und Wagniß sich gewoͤhne heimatlos und freund¬ los zu seyn, alles wegzuwerfen nur um nicht verlieren zu koͤnnen. Gluͤcklicherweise trennte sich die Gesellschaft fuͤr einige Zeit. Ottilie fand Raum sich in der Einsamkeit auszuweinen. Gewaltsamer hatte sie kein dumpfer Schmerz ergriffen, als diese Klar¬ heit, die sie sich noch klarer zu machen streb¬ te, wie man es zu thun pflegt, daß man sich II . 13 selbst peinigt, wenn man einmal auf dem Wege ist gepeinigt zu werden. Der Zustand Eduards kam ihr so kuͤm¬ merlich, so jaͤmmerlich vor, daß sie sich ent¬ schloß, es koste was es wolle, zu seiner Wiedervereinigung mit Charlotten alles bey¬ zutragen, ihren Schmerz und ihre Liebe an irgend einem stillen Orte zu verbergen und durch irgend eine Art von Thaͤtigkeit zu betriegen. Indessen hatte der Begleiter des Lords, ein verstaͤndiger, ruhiger Mann und guter Beobachter, den Mißgriff in der Unterhal¬ tung bemerkt und die Aehnlichkeit der Zustaͤnde seinem Freunde offenbart. Dieser wußte nichts von den Verhaͤltnissen der Familie; allein jener, den eigentlich auf der Reise nichts mehr interessirte als die sonderbaren Ereignisse, welche durch natuͤrliche und kuͤnst¬ liche Verhaͤltnisse, durch den Conflict des Gesetzlichen und des Ungebaͤndigten, des Ver¬ standes und der Vernunft, der Leidenschaft und des Vorurtheils hervorgebracht werden, jener hatte sich schon fruͤher, und mehr noch im Hause selbst, mit allem bekannt gemacht was vorgegangen war und noch vorging. Dem Lord that es leid, ohne daß er daruͤber verlegen gewesen waͤre. Man muͤßte ganz in Gesellschaft schweigen, wenn man nicht manchmal in den Fall kommen sollte: denn nicht allein bedeutende Bemerkungen, sondern die trivialsten Aeußerungen koͤnnen auf eine so mißklingende Weise mit dem Interesse der Gegenwaͤrtigen zusammentreffen. Wir wollen es heute Abend wieder gut machen, sagte der Lord, und uns aller allgemeinen Gespraͤche enthalten. Geben Sie der Gesellschaft etwas von den vielen angenehmen und bedeutenden Anecdoten und Geschichten zu hoͤren, womit Sie Ihr Portefeuille und ihr Gedaͤchtni ß auf unserer Reise bereichert haben. 13 * Allein auch mit dem besten Vorsatze ge¬ lang es den Fremden nicht, die Freunde dießmal mit einer unverfaͤnglichen Unterhal¬ tung zu erfreuen. Denn nachdem der Be¬ gleiter durch manche sonderbare, bedeutende, heitere, ruͤhrende, furchtbare Geschichten die Aufmerksamkeit erregt und die Theilnahme aufs hoͤchste gespannt hatte; so dachte er mit einer zwar sonderbaren, aber sanfteren Begebenheit zu schließen, und ahndete nicht, wie nahe diese seinen Zuhoͤrern verwandt war. Die wunderlichen Nachbarskinder. Novelle. Zwey Nachbarskinder von bedeutenden Haͤusern, Knabe und Maͤdchen, in verhaͤlt¬ nißmaͤßigem Alter, um dereinst Gatten zu werden, ließ man in dieser angenehmen Aus¬ sicht mit einander aufwachsen, und die bey¬ derseitigen Aeltern freuten sich einer kuͤnftigen Verbindung. Doch man bemerkte gar bald, daß die Absicht zu mislingen schien, indem sich zwischen den beyden trefflichen Naturen ein sonderbarer Widerwille hervorthat. Viel¬ leicht waren sie einander zu aͤhnlich. Beyde in sich selbst gewendet, deutlich in ihrem Wollen, fest in ihren Vorsaͤtzen; jedes einzeln geliebt und geehrt von seinen Gespielen; im¬ mer Widersacher wenn sie zusammen waren, immer aufbauend fuͤr sich allein, immer wech¬ selsweise zerstoͤrend wo sie sich begegneten; nicht wetteifernd nach Einem Ziel, aber im¬ mer kaͤmpfend um Einen Zweck; gutartig durchaus und liebenswuͤrdig, und nur has¬ send, ja boͤsartig, indem sie sich auf einander bezogen. Dieses wunderliche Verhaͤltniß zeigte sich schon bey kindischen Spielen, es zeigte sich bey zunehmenden Jahren. Und wie die Knaben Krieg zu spielen, sich in Parteyen zu sondern, einander Schlachten zu liefern pflegen, so stellte sich das trotzig muthige Maͤdchen einst an die Spitze des einen Heers, und focht gegen das andre mit solcher Gewalt und Erbitte¬ rung, daß dieses schimpflich waͤre in die Flucht geschlagen worden, wenn ihr einzelner Widersacher sich nicht sehr brav gehalten und seine Gegnerinn doch noch zuletzt entwaffnet und gefangen genommen haͤtte. Aber auch da noch wehrte sie sich so gewaltsam, daß er, um seine Augen zu erhalten, und die Fein¬ dinn doch nicht zu beschaͤdigen, sein seidenes Halstuch abreißen und ihr die Haͤnde damit auf den Ruͤcken binden mußte. Dieß verzieh sie ihm nie, ja sie machte so heimliche Anstalten und Versuche ihn zu beschaͤdigen, daß die Aeltern, die auf diese seltsamen Leidenschaften schon laͤngst Acht ge¬ habt, sich mit einander verstaͤndigten und be¬ schlossen, die beyden feindlichen Wesen zu trennen und jene lieblichen Hoffnungen aufzu¬ geben. Der Knabe that sich in seinen neuen Ver¬ haͤltnissen bald hervor. Jede Art von Unter¬ richt schlug bey ihm an. Goͤnner und eigene Neigung bestimmten ihn zum Soldatenstande. Ueberall wo er sich fand, war er geliebt und geehrt. Seine tuͤchtige Natur schien nur zum Wohlseyn, zum Behagen anderer zu wirken, und er war in sich, ohne deutliches Bewußt¬ seyn, recht gluͤcklich, den einzigen Widersacher verloren zu haben, den die Natur ihm zu¬ gedacht hatte. Das Maͤdchen dagegen trat auf einmal in einen veraͤnderten Zustand. Ihre Jahre, eine zunehmende Bildung, und mehr noch ein gewisses inneres Gefuͤhl zogen sie von den heftigen Spielen hinweg, die sie bisher in Gesellschaft der Knaben auszuuͤben pflegte. Im Ganzen schien ihr etwas zu fehlen, nichts war um sie herum, das werth gewesen waͤre, ihren Haß zu erregen. Liebenswuͤrdig hatte sie noch Niemanden gefunden. Ein junger Mann, aͤlter als ihr ehema¬ liger nachbarlicher Widersacher, von Stand, Vermoͤgen und Bedeutung, beliebt in der Gesellschaft, gesucht von Frauen, wendete ihr seine ganze Neigung zu. Es war das erste¬ mal, daß sich ein Freund, ein Liebhaber, ein Diener um sie bemuͤhte. Der Vorzug den er ihr vor vielen gab, die aͤlter, gebildeter, glaͤnzender und anspruchsreicher waren als sie, that ihr gar zu wohl. Seine fortgesetzte Aufmerksamkeit, ohne daß er zudringlich ge¬ wesen waͤre, sein treuer Beystand bey verschie¬ denen unangenehmen Zufaͤllen, sein gegen ihre Aeltern zwar ausgesprochnes, doch ruhiges und nur hoffnungsvolles Werben, da sie frey¬ lich noch sehr jung war: das alles nahm sie fuͤr ihn ein, wozu die Gewohnheit, die aͤu¬ ßern nun von der Welt als bekannt ange¬ nommenen Verhaͤltnisse, das ihrige beytru¬ gen. Sie war so oft Braut genannt wor¬ den, daß sie sich endlich selbst dafuͤr hielt, und weder sie noch irgend Jemand dachte dar¬ an, daß noch eine Pruͤfung noͤthig sey, als sie den Ring mit demjenigen wechselte, der so lange Zeit fuͤr ihren Braͤutigam galt. Der ruhige Gang den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch das Ver¬ loͤbniß nicht beschleunigt worden. Man ließ eben von beyden Seiten alles so fortgewaͤh¬ ren; man freute sich des Zusammenlebens und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch als einen Fruͤhling des kuͤnftigen ernsteren Lebens genießen. Indessen hatte der entfernte sich zum schoͤnsten ausgebildet, eine verdiente Stufe seiner Lebensbestimmung erstiegen, und kam mit Urlaub die Seinigen zu besuchen. Auf eine ganz natuͤrliche aber doch sonderbare Weise stand er seiner schoͤnen Nachbarinn abermals entgegen. Sie hatte in der letzten Zeit nur freundliche, braͤutliche Familienem¬ pfindungen bey sich genaͤhrt, sie war mit al¬ lem was sie umgab in Uebereinstimmung; sie glaubte gluͤcklich zu seyn und war es auch auf gewisse Weise. Aber nun stand ihr zum erstenmal seit langer Zeit wieder etwas ent¬ gegen: es war nicht hassenswerth, sie war des Hasses unfaͤhig geworden; ja der kindische Haß, der eigentlich nur ein dunkles Anerken¬ nen des inneren Werthes gewesen, aͤußerte sich nun in frohem Erstaunen, erfreulichem Betrachten, gefaͤlligem Eingestehen, halb willigem halb unwilligem und doch nothwen¬ digem Annahen, und das alles war wechsel¬ seitig. Eine lange Entfernung gab zu laͤnge¬ ren Unterhaltungen Anlaß. Selbst jene kin¬ dische Unvernunft diente den Aufgeklaͤrteren zu scherzhafter Erinnerung, und es war als wenn man sich jenen neckischen Haß wenig¬ stens durch eine freundschaftliche aufmerksame Behandlung verguͤten muͤsse, als wenn jenes gewaltsame Verkennen nunmehr nicht ohne ein ausgesprochnes Anerkennen bleiben duͤrfe. Von seiner Seite blieb alles in einem verstaͤndigen, wuͤnschenswerthen Maaß. Sein Stand, seine Verhaͤltnisse, sein Streben, sein Ehrgeiz beschaͤftigten ihn so reichlich, daß er die Freundlichkeit der schoͤnen Braut als eine dankenswerthe Zugabe mit Behag¬ lichkeit aufnahm, ohne sie deshalb in irgend einem Bezug auf sich zu betrachten, oder sie ihrem Braͤutigam zu mißgoͤnnen, mit dem er uͤbrigens in den besten Verhaͤltnissen stand. Bey ihr hingegen sah es ganz anders aus. Sie schien sich wie aus einem Traum erwacht. Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erste Leidenschaft gewesen, und dieser heftige Kampf war doch nur, un¬ ter der Form des Widerstrebens, eine heftige gleichsam angeborene Neigung. Auch kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als daß sie ihn immer geliebt habe. Sie laͤchelte uͤber jenes feindliche Suchen mit den Waffen in der Hand; sie wollte sich des angenehmsten Gefuͤhls erinnern, als er sie entwaffnete; sie bildete sich ein die groͤßte Seligkeit empfunden zu haben, da er sie band, und alles was sie zu seinem Schaden und Verdruß unter¬ nommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie verwuͤnschte jene Trennung, sie bejammerte den Schlaf in den sie verfallen, sie verfluchte die schleppende, traͤumerische Ge¬ wohnheit, durch die ihr ein so unbedeutender Braͤutigam hatte werden koͤnnen, sie war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts wie man es nehmen will. Haͤtte Jemand ihre Empfindungen, die sie ganz geheim hielt, entwickeln und mit ihr theilen koͤnnen, so wuͤrde er sie nicht gescholten haben: denn freylich konnte der Braͤutigam die Vergleichung mit dem Nachbar nicht aus¬ halten, sobald man sie neben einander sah. Wenn man dem einen ein gewisses Zutrauen nicht versagen konnte, so erregte der andere das vollste Vertrauen; wenn man den einen gern zur Gesellschaft mochte, so wuͤnschte man sich den andern zum Gefaͤhrten; und dachte man gar an hoͤhere Theilnahme, an außerordentliche Faͤlle: so haͤtte man wohl an dem einen gezweifelt, wenn einem der andere vollkommene Gewißheit gab. Fuͤr solche Ver¬ haͤltnisse ist den Weibern ein besonderer Tact angeboren und sie haben Ursache so wie Ge¬ legenheit ihn auszubilden. Jemehr die schoͤne Braut solche Gesinnun¬ gen bey sich ganz heimlich naͤhrte, je weniger nur irgend Jemand dasjenige auszusprechen im Fall war, was zu Gunsten des Braͤuti¬ gams gelten konnte, was Verhaͤltnisse, was Pflicht anzurathen und zu gebieten, ja was eine unabaͤnderliche Nothwendigkeit unwieder¬ ruflich zu fordern schien; desto mehr beguͤn¬ stigte das schoͤne Herz seine Einseitigkeit, und indem sie von der einen Seite durch Welt und Familie, Braͤutigam und eigne Zusage unaufloͤslich gebunden war, von der andern der emporstrebende Juͤngling gar kein Ge¬ heimniß von seinen Gesinnungen, Planen und Aussichten machte, sich nur als ein treuer und nicht einmal zaͤrtlicher Bruder gegen sie bewies, und nun gar von seiner unmittelbaren Abreise die Rede war; so schien es als ob ihr fruͤher kindischer Geist mit allen seinen Tuͤcken und Gewaltsamkeiten wieder erwachte, und sich nun auf einer hoͤheren Lebensstufe mit Unwillen ruͤstete, bedeutender und ver¬ derblicher zu wirken. Sie beschloß zu sterben, um den ehmals Gehaßten und nun so heftig Geliebten fuͤr seine Untheilnahme zu strafen und sich, indem sie ihn nicht besitzen sollte, wenigstens mit seiner Einbildungskraft, seiner Reue auf ewig zu vermaͤhlen. Er sollte ihr todtes Bild nicht loswerden, er sollte nicht aufhoͤren sich Vorwuͤrfe zu machen, daß er ihre Gesinnungen nicht erkannt, nicht erforscht, nicht geschaͤtzt habe. Dieser seltsame Wahnsinn begleitete sie uͤberall hin. Sie verbarg ihn unter allerley Formen, und ob sie den Menschen gleich wunderlich vorkam; so war Niemand auf¬ merksam oder klug genug, die innere wahre Ursache zu entdecken. Indessen hatten sich Freunde, Verwandte, Bekannte in Anordnungen von mancherley Festen erschoͤpft. Kaum verging ein Tag, daß nicht irgend etwas neues und unerwar¬ tetes angestellt worden waͤre. Kaum war ein schoͤner Platz der Landschaft, den man nicht ausgeschmuͤckt und zum Empfang vieler frohen Gaͤste bereitet haͤtte. Auch wollte unser jun¬ ger Ankoͤmmling noch vor seiner Abreise das Seinige thun, und lud das junge Paar mit einem engeren Familienkreise zu einer Wasser¬ lustfahrt. Man bestieg ein großes schoͤnes wohlausgeschmuͤcktes Schiff, eine der Jachten die einen kleinen Saal und einige Zimmer anbieten und auf das Wasser die Bequemlich¬ keit des Landes uͤberzutragen suchen. Man fuhr auf dem großen Strome mit Musik dahin, die Gesellschaft hatte sich bey heißer Tageszeit in den untern Raͤumen ver¬ sammelt, um sich an Geistes- und Gluͤcks¬ spielen zu ergetzen. Der junge Wirth, der niemals unthaͤtig bleiben konnte, hatte sich ans Steuer gesetzt, den alten Schiffsmeister abzuloͤsen, der an seiner Seite eingeschlafen war; und eben brauchte der Wachende alle seine Vorsicht, da er sich einer Stelle nahte, wo zwey Inseln das Flußbette verengten und indem sie ihre flachen Kiesufer, bald an der einen bald an der andern Seite hereinstreck¬ ten, ein gefaͤhrliches Fahrwasser zubereiteten. Fast war der sorgsame und scharfblickende Steurer in Versuchung den Meister zu wecken, aber er getraute sich's zu und fuhr gegen die Enge. In dem Augenblick erschien auf dem Verdeck seine schoͤne Feindinn mit einem Blu¬ menkranz in den Haaren. Sie nahm ihn ab und warf ihn auf den Steuernden. Nimm dieß zum Andenken! rief sie aus. Stoͤre mich nicht! rief er ihr entgegen, indem er den Kranz auffing: ich bedarf aller meiner Kraͤfte und II . 14 meiner Aufmerksamkeit. Ich stoͤre dich nicht weiter, rief sie: du siehst mich nicht wieder! Sie sprach's und eilte nach dem Vordertheil des Schiffs, von da sie ins Wasser sprang. Einige Stimmen riefen: rettet! rettet! sie er¬ trinkt. Er war in der entsetzlichsten Verle¬ genheit. Ueber dem Lerm erwacht der alte Schiffsmeister, will das Ruder ergreifen, der juͤngere es ihm uͤbergeben; aber es ist keine Zeit die Herrschaft zu wechseln: das Schiff strandet, und in eben dem Augenblick, die laͤstigsten Kleidungsstuͤcke wegwerfend, stuͤrzte er sich ins Wasser, und schwamm der schoͤnen Feindinn nach. Das Wasser ist ein freundliches Element fuͤr den der damit bekannt ist und es zu be¬ handeln weiß. Es trug ihn, und der ge¬ schickte Schwimmer beherrschte es. Bald hatte er die vor ihm fortgerissene Schoͤne er¬ reicht; er faßte sie, wußte sie zu heben und zu tragen; beyde wurden vom Strom gewalt¬ sam fortgerissen bis sie die Inseln, die Wer¬ der, weit hinter sich hatten und der Fluß wieder breit und gemaͤchlich zu fließen an¬ fing. Nun erst ermannte, nun erholte er sich aus der ersten zudringenden Noth, in der er ohne Besinnung nur mechanisch gehan¬ delt; er blickte mit emporstrebendem Haupt umher und ruderte nach Vermoͤgen einer fla¬ chen buschigten Stelle zu, die sich angenehm und gelegen in den Fluß verlief. Dort brachte er seine schoͤne Beute aufs Trockne; aber kein Lebenshauch war in ihr zu spuͤren. Er war in Verzweiflung, als ihm ein betretener Pfad der durchs Gebuͤsch lief, in die Augen leuch¬ tete. Er belud sich aufs neue mit der theu¬ ren Last, er erblickte bald eine einsame Woh¬ nung und erreichte sie. Dort fand er gute Leute, ein junges Ehepaar. Das Ungluͤck, die Noth sprach sich geschwind aus. Was er nach einiger Besinnung forderte, ward gelei¬ stet. Ein lichtes Feuer brannte; wollne De¬ cken wurden uͤber ein Lager gebreitet; Pelze, 14 * Felle und was Erwaͤrmendes vorraͤthig war, schnell herbeygetragen. Hier uͤberwand die Begierde zu retten jede andre Betrachtung. Nichts ward versaͤumt, den schoͤnen halbstar¬ ren nackten Koͤrper wieder ins Leben zu rufen. Es gelang. Sie schlug die Augen auf, sie erblickte den Freund, umschlang seinen Hals mit ihren himmlischen Armen. So blieb sie lange; ein Thraͤnenstrom stuͤrzte aus ihren Augen und vollendete ihre Genesung. Willst du mich verlassen, rief sie aus: da ich dich so wiederfinde? Niemals, rief er, niemals! und wußte nicht was er sagte noch was er that. Nur schone dich, rief er hinzu: schone dich! denke an dich um deinet- und meinetwillen. Sie dachte nun an sich und bemerkte jetzt erst den Zustand in dem sie war. Sie konnte sich vor ihrem Liebling, ihrem Retter nicht schaͤmen; aber sie entließ ihn gern, damit er fuͤr sich sorgen moͤge: denn noch war was ihn umgab, naß und triefend. Die jungen Eheleute beredeten sich: er bot dem Juͤngling, und sie der Schoͤnen das Hochzeitkleid an, das noch vollstaͤndig da hing, um ein Paar von Kopf zu Fuß und von innen heraus zu bekleiden. In kur¬ zer Zeit waren die beiden Abenteurer nicht nur angezogen sondern geputzt. Sie sahen allerliebst aus, staunten einander an, als sie zusammentraten, und fielen sich mit unmaͤßi¬ ger Leidenschaft, und doch halb laͤchelnd uͤber die Vermummung, gewaltsam in die Arme. Die Kraft der Jugend und die Regsamkeit der Liebe stellten sie in wenigen Augenblicken voͤllig wieder her, und es fehlte nur die Musik um sie zum Tanz aufzufordern. Sich vom Wasser zur Erde, vom Tode zum Leben, aus dem Familienkreise in eine Wildniß, aus der Verzweiflung zum Ent¬ zuͤcken, aus der Gleichguͤltigkeit zur Neigung, zur Leidenschaft gefunden zu haben, alles in einem Augenblick — der Kopf waͤre nicht hinreichend das zu fassen, er wuͤrde zersprin¬ gen oder sich verwirren. Hiebey muß das Herz das beste thun, wenn eine solche Ue¬ berraschung ertragen werden soll. Ganz verloren eins ins andre, konnten sie erst nach einiger Zeit an die Angst, an die Sorgen der Zuruͤckgelassenen denken, und fast konnten sie selbst nicht ohne Angst, ohne Sorge daran denken, wie sie jenen wieder be¬ gegnen wollten. Sollen wir fliehen? sollen wir uns verbergen? sagte der Juͤngling. Wir wollen zusammen bleiben, sagte sie, indem sie an seinem Hals hing. Der Landmann, der von ihnen die Ge¬ schichte des gestrandeten Schiffs vernommen hatte, eilte ohne weiter zu fragen nach dem Ufer. Das Fahrzeug kam gluͤcklich einherge¬ schwommen; es war mit vieler Muͤhe losge¬ bracht worden. Man fuhr aufs Ungewisse fort, in Hoffnung die Verlornen wieder zu finden. Als daher der Landmann mit Rufen und Winken die Schiffenden aufmerksam machte, an eine Stelle lief, wo ein vortheil¬ hafter Landungsplatz sich zeigte, und mit Win¬ ken und Rufen nicht aufhoͤrte, wandte sich das Schiff nach dem Ufer, und welch ein Schau¬ spiel ward es, da sie landeten! Die Aeltern der beyden Verlobten draͤngten sich zuerst ans Ufer; den liebenden Braͤutigam hatte fast die Besinnung verlassen. Kaum hatten sie ver¬ nommen, daß die lieben Kinder gerettet seyen, so traten diese in ihrer sonderbaren Verklei¬ dung aus dem Busch hervor. Man erkannte sie nicht eher, als bis sie ganz herangetreten waren. Wen seh' ich? riefen die Muͤtter: was seh' ich? riefen die Vaͤter. Die Geret¬ teten warfen sich vor ihnen nieder. Eure Kinder! riefen sie aus: ein Paar. Verzeiht! rief das Maͤdchen. Gebt uns Euren Segen! rief der Juͤngling. Gebt uns Euren Segen! riefen beyde, da alle Welt staunend ver¬ stummte. Euren Segen! ertoͤnte es zum drit¬ tenmal, und wer haͤtte den versagen koͤnnen. Elftes Kapitel. Der Erzaͤhlende machte eine Pause, oder hatte vielmehr schon geendigt als er bemerken mußte, daß Charlotte hoͤchst bewegt sey; ja sie stand auf und verließ mit einer stummen Entschuldigung das Zimmer: denn die Ge¬ schichte war ihr bekannt. Diese Begebenheit hatte sich mit dem Hauptmann und einer Nachbarinn wirklich zugetragen, zwar nicht ganz wie sie der Englaͤnder erzaͤhlte, doch war sie in den Hauptzuͤgen nicht entstellt, nur im Einzelnen mehr ausgebildet und aus¬ geschmuͤckt, wie es dergleichen Geschichten zu gehen pflegt, wenn sie erst durch den Mund der Menge und sodann durch die Phantasie eines geist- und geschmackreichen Erzaͤhlers durchgehen. Es bleibt zuletzt meist alles und nichts wie es war. Ottilie folgte Charlotten, wie es die bey¬ den Fremden selbst verlangten, und nun kam der Lord an die Reihe zu bemerken, daß vielleicht abermals ein Fehler begangen, etwas dem Hause Bekanntes oder gar Ver¬ wandtes erzaͤhlt worden. Wir muͤssen uns huͤthen, fuhr er fort, daß wir nicht noch mehr Uebles stiften. Fuͤr das viele Gute und Ange¬ nehme, das wir hier genossen, scheinen wir den Bewohnerinnen wenig Gluͤck zu bringen; wir wollen uns auf eine schickliche Weise zu em¬ pfehlen suchen. Ich muß gestehen, versetzte der Begleiter, daß mich hier noch etwas anderes festhaͤlt, ohne dessen Aufklaͤrung und naͤhere Kenntniß ich dieses Haus nicht gern verlassen moͤchte. Sie waren gestern, Mylord, als wir mit der tragbaren dunklen Kammer durch den Park zogen, viel zu beschaͤftigt, sich einen wahrhaft malerischen Standpunkt auszuwaͤh¬ len, als daß sie haͤtten bemerken sollen was nebenher vorging. Sie lenkten vom Haupt¬ wege ab, um zu einem wenig besuchten Platze am See zu gelangen, der Ihnen ein reizendes Gegenuͤber anbot. Ottilie die uns begleitete, stand an zu folgen, und bat, sich auf dem Kahne dorthin begeben zu duͤrfen. Ich setzte mich mit ihr ein und hatte meine Freude an der Gewandtheit der schoͤnen Schif¬ ferinn. Ich versicherte ihr, daß ich seit der Schweiz, wo auch die reizendsten Maͤdchen die Stelle des Fuhrmanns vertreten, nicht so angenehm sey uͤber die Wellen geschaukelt worden; konnte mich aber nicht enthalten sie zu fragen, warum sie eigentlich abgelehnt jenen Seitenweg zu machen: denn wirklich war in ihrem Ausweichen eine Art von aͤngst¬ licher Verlegenheit. Wenn Sie mich nicht auslachen wollen, versetzte sie freundlich; so kann ich Ihnen daruͤber wohl einige Aus¬ kunft geben, obgleich selbst fuͤr mich dabey ein Geheimniß obwaltet. Ich habe jenen Nebenweg niemals betreten, ohne daß mich ein ganz eigener Schauder uͤberfallen haͤtte, den ich sonst nirgends empfinde und den ich mir nicht zu erklaͤren weiß. Ich vermeide da¬ her lieber, mich einer solchen Empfindung auszusetzen, um somehr als sich gleich dar¬ auf ein Kopfweh an der linken Seite einstellt, woran ich sonst auch manchmal leide. Wir landeten, Ottilie unterhielt sich mit Ihnen, und ich untersuchte indeß die Stelle, die sie mir aus der Ferne deutlich angegeben hatte. Aber wie groß war meine Verwunderung, als ich eine sehr deutliche Spur von Stein¬ kohlen entdeckte, die mich uͤberzeugt, man wuͤrde bey einigem Nachgraben vielleicht ein ergiebiges Lager in der Tiefe finden. Verzeihen Sie, Mylord: ich sehe Sie laͤcheln und weiß recht gut, daß Sie mir meine leidenschaftliche Aufmerksamkeit auf diese Dinge, an die Sie keinen Glauben haben, nur als weiser Mann und als Freund nachsehen; aber es ist mir unmoͤglich von hier zu scheiden, ohne das schoͤne Kind auch die Pendelschwin¬ gungen versuchen zu lassen. Es konnte niemals fehlen, wenn die Sache zur Sprache kam, daß der Lord nicht seine Gruͤnde dagegen abermals wiederholte, welche der Begleiter bescheiden und geduldig aufnahm, aber doch zuletzt bey seiner Meinung, bey seinen Wuͤnschen verharrte. Auch er gab wiederhohlt zu erkennen, daß man deswegen, weil solche Versuche nicht Jedermann gelaͤngen, die Sache nicht aufgeben, ja vielmehr nur desto ernsthafter und gruͤndlicher untersuchen muͤßte; da sich gewiß noch manche Bezuͤge und Verwandtschaften unorganischer Wesen un¬ tereinander, organischer gegen sie und abermals untereinander, offenbaren wuͤrden, die uns gegenwaͤrtig verborgen seyen. Er hatte seinen Apparat von goldnen Rin¬ gen, Markasiten und andern metallischen Sub¬ stanzen, den er in einem schoͤnen Kaͤstchen im¬ mer bey sich fuͤhrte, schon ausgebreitet und ließ nun Metalle, an Faͤden schwebend, uͤber liegende Metalle zum Versuche nieder. Ich goͤnne Ihnen die Schadenfreude, Mylord, sagte er dabey, die ich auf Ihrem Gesichte lese, daß sich bey mir und fuͤr mich nichts bewegen will. Meine Operation ist aber auch nur ein Vorwand. Wenn die Damen zu¬ ruͤckkehren, sollen sie neugierig werden was wir wunderliches hier beginnen. Die Frauenzimmer kamen zuruͤck. Char¬ lotte verstand sogleich was vorging. Ich habe manches von diesen Dingen gehoͤrt, sagte sie, aber niemals eine Wirkung gesehen. Da Sie alles so huͤbsch bereit haben, lassen Sie mich versuchen, ob es mir nicht auch anschlaͤgt. Sie nahm den Faden in die Hand; und da es ihr Ernst war, hielt sie ihn staͤt und ohne Gemuͤthsbewegung; allein auch nicht das mindeste Schwanken war zu bemerken. Darauf ward Ottilie veranlaßt. Sie hielt den Pendel noch ruhiger, unbefangner, unbewußter uͤber die unterliegenden Metalle. Aber in dem Augenblicke ward das schwebende wie in einem entschiedenen Wirbel fortgerissen und drehte sich, je nachdem man die Unterlage wechselte, bald nach der einen, bald nach der andern Seite, jetzt in Kreisen, jetzt in Ellipsen, oder nahm seinen Schwung in graden Linien, wie es der Begleiter nur erwarten konnte, ja uͤber alle seine Erwartung. Der Lord selbst stutzte eingermaßen, aber der andere konnte vor Lust und Begierde gar nicht enden und bat immer um Wiederholung und Vermannigfaltigung der Versuche. Ottilie war gefaͤllig genug sich in sein Verlangen zu finden, bis sie ihn zuletzt freundlich ersuchte, er moͤge sie entlassen, weil ihr Kopfweh sich wieder einstelle. Er daruͤber verwundert, ja entzuͤckt, versicherte ihr mit Enthusiasmus, daß er sie von diesem Uebel voͤllig heilen wolle, wenn sie sich seiner Kurart anvertraue. Man war einen Augenblick ungewiß; Charlotte aber die geschwind begriff wovon die Rede sey, lehnte den wohlgesinnten Antrag ab, weil sie nicht gemeynt war, in ihrer Umgebung etwas zuzulassen, wovor sie immerfort eine starke Apprehension gefuͤhlt hatte. Die Fremden hatten sich entfernt, und un¬ geachtet man von ihnen auf eine sonderbare Weise beruͤhrt worden war, doch den Wunsch zuruͤckgelassen, daß man sie irgendwo wieder antreffen moͤchte. Charlotte benutzte nunmehr die schoͤnen Tage, um in der Nachbarschaft ihre Gegenbesuche zu enden, womit sie kaum fertig werden konnte, indem sich die ganze Landschaft umher, einige wahrhaft theilneh¬ mend, andre blos der Gewohnheit wegen, bisher fleißig um sie bekuͤmmert hatten. Zu Hause belebte sie der Anblick des Kindes; es war gewiß jeder Liebe, jeder Sorgfalt werth. Man sah in ihm ein wunderbares, ja ein Wunderkind, hoͤchst erfreulich dem Anblick, an Groͤße, Ebenmaaß, Staͤrke und Gesundheit, und was noch mehr in Verwun¬ derung setzte, war jene doppelte Aehnlichkeit die sich immer mehr entwickelte. Den Gesichts¬ zuͤgen und der ganzen Form nach glich das Kind immer mehr dem Hauptmann, die Au¬ gen ließen sich immer weniger von Ottiliens Augen unterscheiden. Durch diese sonderbare Verwandtschaft und vielleicht noch mehr durch das schoͤne Gefuͤhl der Frauen geleitet, welche das Kind eines geliebten Mannes auch von einer Andern mit zaͤrtlicher Neigung umfangen, ward Otti¬ lie dem heranwachsenden Geschoͤpf so viel als eine Mutter, oder vielmehr eine andre Art von Mutter. Entfernte sich Charlotte, so II . 15 blieb Ottilie mit dem Kinde und der Waͤrte¬ rinn allein. Nanny hatte sich seit einiger Zeit, eifersuͤchtig auf den Knaben, dem ihre Herrinn alle Neigung zuzuwenden schien, trotzig von ihr entfernt und war zu ihren Aeltern zuruͤckgekehrt. Ottilie fuhr fort, das Kind in die freye Luft zu tragen, und gewoͤhnte sich an immer weitere Spazirgaͤnge. Sie hatte das Milchflaͤschchen bey sich, um dem Kinde, wenn es noͤthig, seine Nahrung zu reichen. Selten unterließ sie dabey ein Buch mitzunehmen, und so bildete sie, das Kind auf dem Arm, lesend und wandelnd, eine gar anmuthige Penserosa. Zwoͤlftes Kapitel. Der Hauptzweck des Feldzugs war er¬ reicht, und Eduard mit Ehrenzeichen ge¬ schmuͤckt, ruͤhmlich entlassen. Er begab sich sogleich wieder auf jenes kleine Gut, wo er genaue Nachrichten von den Seinigen fand, die er, ohne daß sie es bemerkten und wu߬ ten, scharf hatte beobachten lassen. Sein stiller Aufenthalt blickte ihm aufs freundlichste entgegen: denn man hatte indessen nach seiner Anordnung manches eingerichtet, gebessert und gefoͤrdert, so daß die Anlagen und Umgebun¬ gen, was ihnen an Weite und Breite fehlte, durch das Innere und zunaͤchst Genießbare ersetzten. 15 * Eduard, durch einen rascheren Lebensgang an entschiedenere Schritte gewoͤhnt, nahm sich nunmehr vor dasjenige auszufuͤhren, was er lange genug zu uͤberdenken Zeit gehabt hatte. Vor allen Dingen berief er den Major. Die Freude des Wiedersehens war groß. Jugend¬ freundschaften, wie Blutsverwandtschaften, ha¬ ben den bedeutenden Vortheil, daß ihnen Ir¬ rungen und Mißverstaͤndnisse, von welcher Art sie auch seyen, niemals von Grund aus schaden, und die alten Verhaͤltnisse sich nach einiger Zeit wieder herstellen. Zum frohen Empfang erkundigte sich Eduard nach dem Zustande des Freundes, und vernahm, wie vollkommen nach seinen Wuͤnschen ihn das Gluͤck beguͤnstigt habe. Halb scherzend vertraulich fragte Eduard so¬ dann, ob nicht auch eine schoͤne Verbindung im Werke sey. Der Freund verneinte es, mit bedeutendem Ernst. Ich kann und darf nicht hinterhaltig seyn, fuhr Eduard fort: ich muß dir meine Gesin¬ nungen und Vorsaͤtze sogleich entdecken. Du kennst meine Leidenschaft fuͤr Ottilien und hast laͤngst begriffen, daß sie es ist, die mich in diesen Feldzug gestuͤrzt hat. Ich laͤugne nicht, daß ich gewuͤnscht hatte, ein Leben los zu werden, das mir ohne sie nichts weiter nuͤtze war; allein zugleich muß ich dir gestehen, daß ich es nicht uͤber mich gewinnen konnte, vollkommen zu verzweifeln. Das Gluͤck mit ihr war so schoͤn, so wuͤnschenswerth, daß es mir unmoͤglich blieb, voͤllig Verzicht darauf zu thun. So manche troͤstliche Ahndung, so manches heitere Zeichen hatte mich in dem Glauben, in dem Wahn bestaͤrkt, Ottilie koͤnne die meine werden. Ein Glas mit unserm Namenszug bezeichnet, bey der Grundsteinle¬ gung in die Luͤfte geworfen, ging nicht zu Truͤmmern; es ward aufgefangen und ist wieder in meinen Haͤnden. So will ich mich denn selbst, rief ich mir zu, als ich an diesem einsamen Orte so viel zweifelhafte Stunden verlebt hatte: mich selbst will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen, ob unsre Verbindung moͤglich sey oder nicht. Ich gehe hin und suche den Tod, nicht als ein Rasender, sondern als einer der zu leben hofft. Ottilie soll der Preis seyn, um den ich kaͤmpfe; sie soll es seyn, die ich hinter jeder feindlichen Schlachtordnung, in jeder Ver¬ schanzung, in jeder belagerten Festung zu ge¬ winnen, zu erobern hoffe. Ich will Wunder thun, mit dem Wunsche verschont zu bleiben, im Sinne Ottilien zu gewinnen, nicht sie zu verlieren. Diese Gefuͤhle haben mich geleitet, sie haben mir durch alle Gefahren beygestan¬ den; aber nun finde ich mich auch wie einen der zu seinem Ziele gelangt ist, der alle Hin¬ dernisse uͤberwunden hat, dem nun nichts mehr im Wege steht. Ottilie ist mein, und was noch zwischen diesem Gedanken und der Ausfuͤhrung liegt, kann ich nur fuͤr nichts bedeutend ansehen. Du loͤschest, versetzte der Major, mit wenig Zuͤgen alles aus, was man dir entge¬ gensetzen koͤnnte und sollte; und doch muß es wiederhohlt werden. Das Verhaͤltniß zu dei¬ ner Frau in seinem ganzen Werthe dir zuruͤck¬ zurufen, uͤberlasse ich dir selbst; aber du bist es ihr, du bist es dir schuldig, dich hieruͤber nicht zu verdunkeln. Wie kann ich aber nur gedenken, daß Euch ein Sohn gegeben ist, ohne zugleich auszusprechen, daß ihr einander auf immer angehoͤrt, daß ihr um dieses We¬ sens willen schuldig seyd, vereint zu leben, damit ihr vereint fuͤr seine Erziehung und fuͤr sein kuͤnftiges Wohl sorgen moͤget. Es ist bloß ein Duͤnkel der Aeltern, ver¬ setzte Eduard, wenn sie sich einbilden, daß ihr Daseyn fuͤr die Kinder so noͤthig sey. Alles was lebt findet Nahrung und Beyhuͤlfe, und wenn der Sohn, nach dem fruͤhen Tode des Vaters, keine so bequeme, so beguͤnstigte Jugend hat; so gewinnt er vielleicht eben des¬ wegen an schnellerer Bildung fuͤr die Welt, durch zeitiges Anerkennen, daß er sich in andere schicken muß; was wir denn doch fruͤher oder spaͤter alle lernen muͤssen. Und hievon ist ja die Rede gar nicht: wir sind reich genug, um mehrere Kinder zu ver¬ sorgen, und es ist keineswegs Pflicht noch Wohlthat, auf Ein Haupt so viele Guͤter zu haͤufen. Als der Major mit einigen Zuͤgen Char¬ lottens Werth und Eduards lange bestande¬ nes Verhaͤltniß zu ihr anzudeuten gedachte, fiel ihm Eduard hastig in die Rede: Wir ha¬ ben eine Thorheit begangen, die ich nur all¬ zuwohl einsehe. Wer in einem gewissen Al¬ ter fruͤhere Jugendwuͤnsche und Hoffnungen realisiren will, betriegt sich immer: denn je¬ des Jahrzehend des Menschen hat sein eige¬ nes Gluͤck, seine eigenen Hoffnungen und Aussichten. Wehe dem Menschen der vor¬ waͤrts oder ruͤckwaͤrts zu greifen, durch Um¬ staͤnde oder durch Wahn veranlaßt wird! Wir haben eine Thorheit begangen; soll sie es denn fuͤrs ganze Leben seyn? Sollen wir uns, aus irgend einer Art von Bedenklich¬ keit, dasjenige versagen, was uns die Sitten der Zeit nicht absprechen? In wie vielen Dingen nimmt der Mensch seinen Vorsatz, seine That zuruͤck, und hier gerade sollte es nicht geschehen, wo vom Ganzen und nicht vom Einzelnen, wo nicht von dieser oder je¬ ner Bedingung des Lebens, wo vom ganzen Complex des Lebens die Rede ist! Der Major verfehlte nicht auf eine eben so geschickte als nachdruͤckliche Weise Eduar¬ den die verschiedenen Bezuͤge zu seiner Ge¬ mahlinn, zu den Familien, zu der Welt, zu seinen Besitzungen vorzustellen; aber es gelang ihm nicht, irgend eine Theilnahme zu erregen. Alles dieses, mein Freund, erwiederte Eduard, ist mir vor der Seele vorbeygegangen, mitten im Gewuͤhl der Schlacht, wenn die Erde vom anhaltenden Donner bebte, wenn die Ku¬ geln sausten und pfiffen, rechts und links die Ge¬ faͤhrten niederfielen, mein Pferd getroffen, mein Hut durchloͤchert ward; es hat mir vorgeschwebt beym stillen naͤchtlichen Feuer unter dem ge¬ stirnten Gewoͤlbe des Himmels. Dann tra¬ ten mir alle meine Verbindungen vor die Seele; ich habe sie durchgedacht, durchge¬ fuͤhlt; ich habe mir zugeeignet, ich habe mich abgefunden, zu wiederholten Malen, und nun fuͤr immer. In solchen Augenblicken, wie kann ich dir's verschweigen, warst auch du mir gegen¬ waͤrtig, auch du gehoͤrtest in meinen Kreis; und gehoͤren wir denn nicht schon so lange zueinander? Wenn ich dir etwas schuldig ge¬ worden, so komme ich jetzt in den Fall dir es mit Zinsen abzutragen; wenn du mir je etwas schuldig geworden, so siehst du dich nun im Stande, mir es zu vergelten. Ich weiß du liebst Charlotten, und sie verdient es; ich weiß du bist ihr nicht gleichguͤltig, und war¬ um sollte sie deinen Werth nicht erkennen! Nimm sie von meiner Hand! fuͤhre mir Ot¬ tilien zu! und wir sind die gluͤcklichsten Men¬ schen auf der Erde. Eben weil du mich mit so hohen Gaben be¬ stechen willst, versetzte der Major, muß ich desto vorsichtiger, desto strenger seyn. Anstatt daß dieser Vorschlag, den ich still verehre, die Sache erleichtern moͤchte, erschwert er sie viel¬ mehr. Es ist, wie von dir, nun auch von mir die Rede, und so wie von dem Schicksal, so auch von dem guten Namen, von der Ehre zweyer Maͤnner, die bis jetzt unbescholten, durch diese wunderliche Handlung, wenn wir sie auch nicht anders nennen wollen, in Gefahr kom¬ men, vor der Welt in einem hoͤchst seltsamen Lichte zu erscheinen. Eben daß wir unbescholten sind, versetzte Eduard, giebt uns das Recht uns auch ein¬ mal schelten zu lassen. Wer sich sein ganzes Leben als einen zuverlaͤssigen Mann bewie¬ sen, der macht eine Handlung zuverlaͤssig, die bey andern zweydeutig erscheinen wuͤrde. Was mich betrifft, ich fuͤhle mich durch die letzten Pruͤfungen die ich mir auferlegt, durch die schwierigen gefahrvollen Thaten die ich fuͤr andere gethan, berechtigt auch etwas fuͤr mich zu thun. Was dich und Charlotten be¬ trifft, so sey es der Zukunft anheim gegeben; mich aber wirst du, wird Niemand von mei¬ nem Vorsatze zuruͤckhalten. Will man mir die Hand bieten, so bin ich auch wieder zu allem erboͤtig; will man mich mir selbst uͤber¬ lassen, oder mir wohl gar entgegen seyn: so muß ein Extrem entstehen, es werde auch wie es wolle. Der Major hielt es fuͤr seine Pflicht, dem Vorsatz Eduards so lange als moͤglich Widerstand zu leisten, und er bediente sich nun gegen seinen Freund einer klugen Wen¬ dung, indem er nachzugeben schien und nur die Form, den Geschaͤftsgang zur Sprache brachte, durch welchen man diese Trennung, diese Verbindungen erreichen sollte. Da trat denn so manches Unerfreuliche, Beschwerliche, Unschickliche hervor, daß sich Eduard in die schlimmste Laune versetzt fuͤhlte. Ich sehe wohl, rief dieser endlich, nicht allein von Feinden, sondern auch von Freun¬ den muß was man wuͤnscht, erstuͤrmt werden. Das was ich will, was mir unentbehrlich ist, halte ich fest im Auge; ich werde es ergrei¬ fen und gewiß bald und behende. Derglei¬ chen Verhaͤltnisse, weiß ich wohl, heben sich nicht auf und bilden sich nicht, ohne daß manches falle was steht, ohne daß manches weiche was zu beharren Lust hat. Durch Ueberlegung wird so etwas nicht geendet; vor dem Verstande sind alle Rechte gleich, und auf die steigende Wagschale laͤßt sich immer wieder ein Gegengewicht legen. Entschließe dich also, mein Freund, fuͤr mich, fuͤr dich zu handeln, fuͤr mich, fuͤr dich diese Zustaͤnde zu entwirren, aufzuloͤsen, zu verknuͤpfen. Laß dich durch keine Betrachtungen abhalten; wir haben die Welt ohnehin schon von uns reden machen, sie wird noch einmal von uns reden, uns sodann, wie alles uͤbrige was aufhoͤrt neu zu seyn, vergessen und uns gewaͤhren lassen wie wir koͤnnen, ohne weitern Theil an uns zu nehmen. Der Major hatte keinen andern Ausweg und mußte endlich zugeben, daß Eduard ein fuͤr allemal die Sache als etwas Bekanntes und Vorausgesetztes behandelte, daß er wie alles anzustellen sey, im Einzelnen durchsprach und sich uͤber die Zukunft auf das heiterste, sogar in Scherzen erging. Dann wieder ernsthaft und nachdenklich fuhr er fort: Wollten wir uns der Hoffnung, der Erwartung uͤberlassen, daß alles sich von selbst wieder finden, daß der Zufall uns lei¬ ten und beguͤnstigen solle; so waͤre dieß ein straͤflicher Selbstbetrug. Auf diese Weise koͤn¬ nen wir uns unmoͤglich retten, unsre allseitige Ruhe nicht wiederherstellen; und wie sollte ich mich troͤsten koͤnnen, da ich unschuldig die Schuld an allem bin! Durch meine Zudring¬ lichkeit habe ich Charlotten vermocht, dich ins Haus zu nehmen, und auch Ottilie ist nur in Gefolg von dieser Veraͤnderung bey uns ein¬ getreten. Wir sind nicht mehr Herr uͤber das was daraus entsprungen ist, aber wir sind Herr, es unschaͤdlich zu machen, die Verhaͤlt¬ nisse zu unserm Gluͤcke zu leiten. Magst du die Augen von den schoͤnen und freundlichen Aussichten abwenden, die ich uns eroͤffne, magst du mir, magst du uns allen ein trauriges Ent¬ sagen gebieten, insofern du dir's moͤglich denkst, insofern es moͤglich waͤre: ist denn nicht auch alsdann, wenn wir uns vornehmen in die alten Zustaͤnde zuruͤckzukehren, manches Un¬ schickliche, Unbequeme, Verdrießliche zu uͤber¬ tragen, ohne daß irgend etwas Gutes, etwas Heiteres daraus entspraͤnge? Wuͤrde der gluͤckli¬ che Zustand in dem du dich befindest, dir wohl Freude machen, wenn du gehindert waͤrst, mich zu besuchen, mit mir zu leben? Und nach dem was vorgegangen ist, wuͤrde es doch immer peinlich seyn. Charlotte und ich wuͤrden mit allem unserm Vermoͤgen uns nur in einer traurigen Lage befinden. Und wenn du mit andern Weltmenschen glauben magst, daß Jahre, daß Entfernung solche Empfin¬ dungen abstumpfen, so tief eingegrabene Zuͤge ausloͤschen; so ist ja eben von diesen Jahren die Rede, die man nicht in Schmerz und Entbehren sondern in Freude und Behagen zubringen will. Und nun zuletzt noch das Wichtigste auszusprechen: wenn wir auch, un¬ serm aͤußern und innern Zustande nach, das allenfalls abwarten koͤnnten, was soll aus Ottilien werden, die unser Haus verlassen, in der Gesellschaft unserer Vorsorge entbehren und sich in der verruchten kalten Welt jaͤm¬ merlich herumdruͤcken muͤßte! Male mir einen Zustand worin Ottilie, ohne mich, ohne uns, gluͤcklich seyn koͤnnte, dann sollst du ein Argument ausgesprochen haben, das staͤrker ist als jedes andre, das ich, wenn ich's auch nicht zugeben, mich ihm nicht ergeben kann, dennoch recht gern aufs neue in Betrachtung und Ueberlegung ziehen will. Diese Aufgabe war so leicht nicht zu loͤ¬ sen, wenigstens fiel dem Freunde hierauf keine hinlaͤngliche Antwort ein, und es blieb ihm nichts uͤbrig, als wiederhohlt einzuschaͤrfen, wie wichtig, wie bedenklich und in manchem Sinne gefaͤhrlich das ganze Unternehmen sey, und daß man wenigstens wie es anzugrei¬ fen waͤre, auf das ernstlichste zu bedenken habe. Eduard ließ sich's gefallen, doch nur unter der Bedingung, daß ihn der Freund nicht eher verlassen wolle, als bis sie uͤber die Sache voͤllig einig geworden, und die ersten Schritte gethan seyen. II . 16 Dreyzehntes Kapitel. Voͤllig fremde und gegen einander gleich¬ guͤltige Menschen, wenn sie eine Zeit lang zusammen leben, kehren ihr Inneres wechsel¬ seitig heraus, und es muß eine gewisse Ver¬ traulichkeit entstehen. Um so mehr laͤßt sich erwarten, daß unsern beyden Freunden, in¬ dem sie wieder neben einander wohnten, taͤg¬ lich und stuͤndlich zusammen umgingen, ge¬ genseitig nichts verborgen blieb. Sie wieder¬ hohlten das Andenken ihrer fruͤheren Zustaͤn¬ de, und der Major verhehlte nicht, daß Char¬ lotte Eduarden, als er von Reisen zuruͤckge¬ kommen, Ottilien zugedacht, daß sie ihm das schoͤne Kind in der Folge zu vermaͤhlen ge¬ meynt habe. Eduard bis zur Verwirrung entzuͤckt uͤber diese Entdeckung, sprach ohne Ruͤckhalt von der gegenseitigen Neigung Char¬ lottens und des Majors, die er, weil es ihm gerade bequem und guͤnstig war, mit lebhaf¬ ten Farben ausmalte. Ganz laͤugnen konnte der Major nicht und nicht ganz eingestehen; aber Eduard befestigte, bestimmte sich nur mehr. Er dachte sich al¬ les nicht als moͤglich, sondern als schon ge¬ schehen. Alle Theile brauchten nur in das zu willigen was sie wuͤnschten; eine Schei¬ dung war gewiß zu erlangen; eine baldige Verbindung sollte folgen, und Eduard wollte mit Ottilien reisen. Unter allem was die Einbildungskraft sich Angenehmes ausmalt, ist vielleicht nichts Rei¬ zenderes, als wenn Liebende, wenn junge Gatten, ihr neues frisches Verhaͤltniß in einer neuen frischen Welt zu genießen, und einen dauernden Bund an so viel wechselnden Zu¬ 16 * staͤnden zu pruͤfen und zu bestaͤtigen hoffen. Der Major und Charlotte sollten unterdessen unbeschraͤnkte Vollmacht haben, alles was sich auf Besitz, Vermoͤgen und die irdischen wuͤn¬ schenswerthen Einrichtungen bezieht, dergestalt zu ordnen und nach Recht und Billigkeit ein¬ zuleiten, daß alle Theile zufrieden seyn koͤnn¬ ten. Worauf jedoch Eduard am allermeisten zu fußen, wovon er sich den groͤßten Vortheil zu versprechen schien, war dieß: Da das Kind bey der Mutter bleiben sollte, so wuͤrde der Major den Knaben erziehen, ihn nach seinen Einsichten leiten, seine Faͤhigkeiten entwickeln koͤnnen. Nicht umsonst hatte man ihm dann in der Taufe ihren beyderseitigen Namen Otto gegeben. Das alles war bey Eduarden so fertig geworden, daß er keinen Tag laͤnger anstehen mochte, der Ausfuͤhrung naͤher zu treten. Sie gelangten auf ihrem Wege nach dem Gute zu einer kleinen Stadt, in der Eduard ein Haus besaß, wo er verweilen und die Ruͤck¬ kunft des Majors abwarten wollte. Doch konnte er sich nicht uͤberwinden, daselbst so¬ gleich abzusteigen, und begleitete den Freund noch durch den Ort. Sie waren beyde zu Pferde, und in bedeutendem Gespraͤch ver¬ wickelt ritten sie zusammen weiter. Auf einmal erblickten sie in der Ferne das neue Haus auf der Hoͤhe, dessen rothe Zie¬ geln sie zum erstenmal blinken sahn. Eduar¬ den ergreift eine unwiderstehliche Sehnsucht; es soll noch diesen Abend alles abgethan seyn. In einem ganz nahen Dorfe will er sich verborgen halten; der Major soll die Sache Charlotten dringend vorstellen, ihre Vorsicht uͤberraschen und durch den unerwar¬ teten Antrag sie zu freyer Eroͤffnung ihrer Gesinnung noͤthigen. Denn Eduard, der seine Wuͤnsche auf sie uͤbergetragen hatte, glaubte nicht anders als daß er ihren entschiedenen Wuͤnschen entgegen komme, und hoffte eine so schnelle Einwilligung von ihr, weil er kei¬ nen andern Willen haben konnte. Er sah den gluͤcklichen Ausgang freudig vor Augen, und damit dieser dem Lauernden schnell verkuͤndigt wuͤrde, sollten einige Kano¬ nenschlaͤge losgebrannt werden, und waͤre es Nacht geworden, einige Racketen steigen. Der Major ritt nach dem Schlosse zu. Er fand Charlotten nicht, sondern erfuhr viel¬ mehr, daß sie gegenwaͤrtig oben auf dem neuen Gebaͤude wohne, jetzt aber einen Be¬ such in der Nachbarschaft ablege, von welchem sie heute wahrscheinlich nicht sobald nach Hau¬ se komme. Er ging in das Wirthshaus zuruͤck, wohin er sein Pferd gestellt hatte. Eduard indessen von unuͤberwindlicher Ungeduld getrieben, schlich aus seinem Hinter¬ halte durch einsame Pfade, nur Jaͤgern und Fischern bekannt, nach seinem Park, und fand sich gegen Abend im Gebuͤsch in der Nachbar¬ schaft des Sees, dessen Spiegel er zum er¬ stenmal vollkommen und rein erblickte. Ottilie hatte diesen Nachmittag einen Spazirgang an den See gemacht. Sie trug das Kind und las im Gehen nach ihrer Ge¬ wohnheit. So gelangte sie zu den Eichen bey der Ueberfahrt. Der Knabe war einge¬ schlafen; sie setzte sich, legte ihn neben sich nieder und fuhr fort zu lesen. Das Buch war eins von denen die ein zartes Gemuͤth an sich ziehen und nicht wieder los lassen. Sie vergaß Zeit und Stunde, und dachte nicht, daß sie zu Lande noch einen weiten Ruͤckweg nach dem neuen Gebaͤude habe; aber sie saß versenkt in ihr Buch, in sich selbst, so liebenswuͤrdig anzusehen, daß die Baͤume, die Straͤuche rings umher haͤtten belebt, mit Augen begabt seyn sollen, um sie zu bewundern und sich an ihr zu erfreuen. Und eben fiel ein roͤthliches Streiflicht der sinkenden Sonne hinter ihr her und vergoldete Wange und Schulter. Eduard, dem es bisher gelungen war, un¬ bemerkt so weit vorzudringen, der seinen Park leer, die Gegend einsam fand, wagte sich immer weiter. Endlich bricht er durch das Gebuͤsch bey den Eichen; er sieht Ottilien, sie ihn; er fliegt auf sie zu und liegt zu ihren Fuͤßen. Nach einer langen stummen Pause, in der sich beyde zu fassen suchen, erklaͤrt er ihr mit wenig Worten, warum und wie er hieher gekommen. Er habe den Major an Charlotten abgesendet, ihr gemeinsames Schick¬ sal werde vielleicht in diesem Augenblick ent¬ schieden. Nie habe er an ihrer Liebe gezwei¬ felt, sie gewiß auch nie an der seinigen. Er bitte sie um ihre Einwilligung. Sie zauder¬ te, er beschwur sie; er wollte seine alten Rech¬ te geltend machen und sie in seine Arme schließen; sie deutete auf das Kind hin. Eduard erblickt es und staunt. Großer Gott! ruft er aus: wenn ich Ursache haͤtte an meiner Frau, an meinem Freunde zu zwei¬ feln, so wuͤrde diese Gestalt fuͤrchterlich gegen sie zeugen. Ist dieß nicht die Bildung des Majors? Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen. Nicht doch! versetzte Ottilie: alle Welt sagt, es gleiche mir. Waͤr' es moͤglich, ver¬ setzte Eduard? und in dem Augenblick schlug das Kind die Augen auf, zwey große, schwar¬ ze, durchdringende Augen, tief und freund¬ lich. Der Knabe sah die Welt schon so ver¬ staͤndig an; er schien die beyden zu kennen, die vor ihm standen. Eduard warf sich bey dem Kinde nieder, er kniete zweymal vor Ot¬ tilien. Du bists! rief er aus: deine Augen sind's. Ach! aber laß mich nur in die dei¬ nigen schaun. Laß mich einen Schleyer wer¬ fen uͤber jene unselige Stunde, die diesem Wesen das Daseyn gab. Soll ich deine reine Seele mit dem ungluͤcklichen Gedanken er¬ schrecken, daß Mann und Frau entfremdet sich einander ans Herz druͤcken und einen ge¬ setzlichen Bund durch lebhafte Wuͤnsche ent¬ heiligen koͤnnen! Oder ja, da wir einmal so weit sind, da mein Verhaͤltniß zu Charlotten getrennt werden muß, da du die meinige seyn wirst, warum soll ich es nicht sagen! Warum soll ich das harte Wort nicht aussprechen: dieß Kind ist aus einem doppelten Ehbruch erzeugt! es trennt mich von meiner Gattinn und meine Gattinn von mir, wie es uns haͤt¬ te verbinden sollen. Mag es denn gegen mich zeugen, moͤgen diese herrlichen Augen den deinigen sagen, daß ich in den Armen einer andern dir gehoͤrte; moͤgest du fuͤhlen, Ottilie, recht fuͤhlen, daß ich jenen Fehler, jenes Verbrechen nur in deinen Armen ab¬ buͤßen kann! Horch! rief er aus, indem er aufsprang und einen Schuß zu hoͤren glaubte, als das Zeichen das der Major geben sollte. Es war ein Jaͤger, der im benachbarten Gebirg ge¬ schossen hatte. Es erfolgte nichts weiter; Eduard war ungeduldig. Nun erst sah Ottilie, daß die Sonne sich hinter die Berge gesenkt hatte. Noch zuletzt blinkte sie von den Fenstern des obern Ge¬ baͤudes zuruͤck. Entferne dich, Eduard! rief Ottilie. So lange haben wir entbehrt, so lange geduldet. Bedenke was wir beyde Charlotten schuldig sind. Sie muß unser Schicksal entscheiden, laß uns ihr nicht vor¬ greifen. Ich bin die Deine, wenn sie es vergoͤnnt; wo nicht, so muß ich dir entsagen. Da du die Entscheidung so nah glaubst, so laß uns erwarten. Geh in das Dorf zuruͤck, wo der Major dich vermuthet. Wie manches kann vorkommen, das eine Erklaͤrung fordert. Ist es wahrscheinlich, daß ein roher Kano¬ nenschlag dir den Erfolg seiner Unterhandlun¬ gen verkuͤnde? Vielleicht sucht er dich auf in diesem Augenblick. Er hat Charlotten nicht getroffen, das weiß ich: er kann ihr entge¬ gen gegangen seyn, denn man wußte wo sie hin war. Wie vielerley Faͤlle sind moͤglich! Laß mich! Jetzt muß sie kommen. Sie er¬ wartet mich mit dem Kinde dort oben. Ottilie sprach in Hast. Sie rief sich alle Moͤglichkeiten zusammen. Sie war gluͤcklich in Eduards Naͤhe und fuͤhlte, daß sie ihn jetzt entfernen muͤsse. Ich bitte, ich beschwoͤre dich, Geliebter! rief sie aus: Kehre zuruͤck und erwarte den Major! Ich gehorche deinen Befehlen, rief Eduard, indem er sie erst lei¬ denschaftlich anblickte und sie dann fest in sei¬ ne Arme schloß. Sie umschlang ihn mit den ihrigen und druͤckte ihn auf das zaͤrtlichste an ihre Brust. Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel faͤllt, uͤber ihre Haͤupter weg. Sie waͤhnten, sie glaubten einander anzugehoͤren; sie wechselten zum er¬ stenmal entschiedene, freye Kuͤsse und trennten sich gewaltsam und schmerzlich. Die Sonne war untergegangen und es daͤmmerte schon und duftete feucht um den See. Ottilie stand verwirrt und bewegt; sie sah nach dem Berghause hinuͤber und glaubte Charlottens weißes Kleid auf dem Altan zu sehen. Der Umweg war groß am See hin; sie kannte Charlottens ungeduldiges Harren nach dem Kinde. Die Platanen sieht sie ge¬ gen sich uͤber, nur ein Wasserraum trennt sie von dem Pfade, der sogleich zu dem Gebaͤude hinauffuͤhrt. Mit Gedanken ist sie schon druͤ¬ ben, wie mit den Augen. Die Bedenklich¬ keit, mit dem Kinde sich aufs Wasser zu wa¬ gen, verschwindet in diesem Drange. Sie eilt nach dem Kahn, sie fuͤhlt nicht daß ihr Herz pocht, daß ihre Fuͤße schwanken, daß ihr die Sinne zu vergehen drohn. Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stoͤßt ab. Sie muß Gewalt brau¬ chen, sie wiederhohlt den Stoß, der Kahn schwankt und gleitet eine Strecke Seewaͤrts. Auf dem linken Arme das Kind, in der lin¬ ken Hand das Buch, in der rechten das Ru¬ der, schwankt auch sie und faͤllt in den Kahn. Das Ruder entfaͤhrt ihr, nach der einen Seite, und wie sie sich erhalten will, Kind und Buch, nach der andern, alles ins Was¬ ser. Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen. Die freye rechte Hand ist nicht hinreichend sich umzuwenden, sich aufzu¬ richten; endlich gelingt's, sie zieht das Kind aus dem Wasser, aber seine Augen sind ge¬ schlossen, es hat aufgehoͤrt zu athmen. In dem Augenblicke kehrt ihre ganze Be¬ sonnenheit zuruͤck, aber um desto groͤßer ist ihr Schmerz. Der Kahn treibt fast in der Mitte des Sees, das Ruder schwimmt fern, sie erblickt Niemanden am Ufer und auch was haͤtte es ihr geholfen, Jemanden zu sehen! Von allem abgesondert schwebt sie auf dem treulosen unzugaͤnglichen Elemente. Sie sucht Huͤlfe bey sich selbst. So oft hatte sie von Rettung der Ertrunkenen gehoͤrt. Noch am Abend ihres Geburtstags hatte sie es erlebt. Sie entkleidet das Kind, und trocknet's mit ihrem Musselingewand. Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn zum er¬ stenmal dem freyen Himmel; zum erstenmal druͤckt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte Brust, ach! und kein Lebendiges. Die kalten Glieder des ungluͤcklichen Geschoͤpfs verkaͤlten ihren Busen bis ins innerste Herz. Unendliche Thraͤnen entquellen ihren Augen und ertheilen der Oberflaͤche des Erstarrten einen Schein von Waͤrm' und Leben. Sie laͤßt nicht nach, sie uͤberhuͤllt es mit ihrem Shawl, und durch Streicheln, Andruͤcken, Anhauchen, Kuͤssen, Thraͤnen glaubt sie jene Huͤlfsmittel zu er¬ setzen, die ihr in dieser Abgeschnittenheit ver¬ sagt sind. Alles vergebens! Ohne Bewegung liegt das Kind in ihren Armen, ohne Bewegung steht der Kahn auf der Wasserflaͤche; aber auch hier laͤßt ihr schoͤnes Gemuͤth sie nicht huͤlflos. Sie wendet sich nach oben. Knieend sinkt sie in dem Kahne nieder und hebt das erstarrte Kind mit beyden Armen uͤber ihre unschuldige Brust, die an Weiße und leider auch an Kaͤlte dem Marmor gleicht. Mit feuchtem Blick sieht sie empor und ruft Huͤlfe von daher, wo ein zartes Herz die groͤßte Fuͤlle zu finden hofft, wenn es uͤberall mangelt. Auch wendet sie sich nicht vergebens zu den Sternen, die schon einzeln hervorzublin¬ ken anfangen. Ein sanfter Wind erhebt sich und treibt den Kahn nach den Platanen. Vierzehntes Kapitel. Sie eilt nach dem neuen Gebaͤude, sie ruft den Chirurgus hervor, sie uͤbergiebt ihm das Kind. Der auf alles gefaßte Mann be¬ handelt den zarten Leichnam stufenweise nach gewohnter Art. Ottilie steht ihm in allem bey; sie schafft, sie bringt, sie sorgt, zwar wie in einer andern Welt wandelnd: denn das hoͤchste Ungluͤck wie das hoͤchste Gluͤck veraͤn¬ dert die Ansicht aller Gegenstaͤnde; und nur, als nach allen durchgegangenen Versuchen der wackere Mann den Kopf schuͤttelt, auf ihre hoffnungsvollen Fragen erst schweigend, dann mit einem leisen Nein antwortet, verlaͤßt sie das Schlafzimmer Charlottens, worin dieß alles geschehen, und kaum hat sie das Wohn¬ II . 17 zimmer betreten, so faͤllt sie, ohne den Sopha erreichen zu koͤnnen, erschoͤpft aufs Angesicht uͤber den Teppich hin. Eben hoͤrt man Charlotten vorfahren. Der Chirurg bittet die Umstehenden dringend zu¬ ruͤck zu bleiben, er will ihr entgegen, sie vor¬ bereiten; aber schon betritt sie ihr Zimmer. Sie findet Ottilien an der Erde, und ein Maͤdchen des Hauses stuͤrzt ihr mit Geschrey und Weinen entgegen. Der Chirurg tritt herein und sie erfaͤhrt alles auf einmal. Wie sollte sie aber jede Hoffnung mit einmal auf¬ geben! Der erfahrne, kunstreiche, kluge Mann bittet sie nur das Kind nicht zu sehen; er entfernt sich, sie mit neuen Anstalten zu taͤu¬ schen. Sie hat sich auf ihren Sopha gesetzt, Ottilie liegt noch an der Erde, aber an der Freundinn Kniee herangehoben, uͤber die ihr schoͤnes Haupt hingesenkt ist. Der aͤrztliche Freund geht ab und zu; er scheint sich um das Kind zu bemuͤhen, er bemuͤht sich um die Frauen. So kommt die Mitternacht herbey, die Todtenstille wird immer tiefer. Charlotte verbirgt sich's nicht mehr, daß das Kind nie wieder ins Leben zuruͤckkehre; sie verlangt es zu sehen. Man hat es in warme wollne Tuͤ¬ cher reinlich eingehuͤllt, in einen Korb gelegt, den man neben sie auf den Sopha setzt; nur das Gesichtchen ist frey; ruhig und schoͤn liegt es da. Von dem Unfall war das Dorf bald er¬ regt worden und die Kunde sogleich bis nach dem Gasthof erschollen. Der Major hatte sich die bekannten Wege hinaufbegeben; er ging um das Haus herum, und indem er einen Bedienten anhielt, der in dem Ange¬ baͤude etwas zu hohlen lief, verschaffte er sich naͤhere Nachricht und ließ den Chirurgen her¬ ausrufen. Dieser kam, erstaunt uͤber die Er¬ scheinung seines alten Goͤnners, berichtete ihm die gegenwaͤrtige Lage und uͤbernahm es, Char¬ lotten auf seinen Anblick vorzubereiten. Er 17* ging hinein, fing ein ableitendes Gespraͤch an und fuͤhrte die Einbildungskraft von einem Gegenstand auf den andern, bis er endlich den Freund Charlotten vergegenwaͤrtigte, des¬ sen gewisse Theilnahme, dessen Naͤhe dem Geiste, der Gesinnung nach, die er denn bald in eine wirkliche uͤbergehen ließ. Genug sie erfuhr, der Freund stehe vor der Thuͤr, er wisse alles und wuͤnsche eingelassen zu wer¬ den. Der Major trat herein; ihn begruͤßte Char¬ lotte mit einem schmerzlichen Laͤcheln. Er stand vor ihr. Sie hub die gruͤnseidne Decke auf, die den Leichnam verbarg, und bey dem dunk¬ len Schein einer Kerze erblickte er, nicht ohne geheimes Grausen, sein erstarrtes Ebenbild. Charlotte deutete auf einen Stuhl, und so saßen sie gegen einander uͤber, schweigend, die Nacht hindurch. Ottilie lag noch ruhig auf den Knieen Charlottens; sie athmete sanft, sie schlief, oder sie schien zu schlafen. Der Morgen daͤmmerte, das Licht ver¬ losch, beyde Freunde schienen aus einem dum¬ pfen Traum zu erwachen. Charlotte blickte den Major an und sagte gefaßt: erklaͤren Sie mir, mein Freund, durch welche Schickung kommen Sie hieher, um Theil an dieser Trau¬ erscene zu nehmen? Es ist hier, antwortete der Major ganz leise wie sie gefragt hatte, — als wenn sie Ottilien nicht aufwecken wollten — es ist hier nicht Zeit und Ort, zuruͤckzuhalten, Einlei¬ tungen zu machen und sachte heran zu treten. Der Fall, in dem ich Sie finde, ist so unge¬ heuer, daß das Bedeutende selbst weshalb ich komme, dagegen seinen Werth verliert. Er gestand ihr darauf, ganz ruhig und einfach, den Zweck seiner Sendung, in so fern Eduard ihn abgeschickt hatte; den Zweck sei¬ nes Kommens, in so fern sein freyer Wille, sein eigenes Interesse dabey war. Er trug beydes sehr zart, doch aufrichtig vor; Char¬ lotte hoͤrte gelassen zu, und schien weder dar¬ uͤber zu staunen, noch unwillig zu seyn. Als der Major geendigt hatte, antworte¬ te Charlotte mit ganz leiser Stimme, so daß er genoͤthigt war seinen Stuhl heranzuruͤckeu : In einem Falle wie dieser ist, habe ich mich noch nie befunden; aber in aͤhnlichen habe ich mir immer gesagt: wie wird es morgen seyn? Ich fuͤhle recht wohl, daß das Loos von meh¬ reren jetzt in meinen Haͤnden liegt; und was ich zu thun habe ist bey mir außer Zweifel und bald ausgesprochen. Ich willige in die Scheidung. Ich haͤtte mich fruͤher dazu ent¬ schließen sollen; durch mein Zaudern, mein Widerstreben habe ich das Kind getoͤdtet. Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnaͤckig vornimmt. Vergebens, daß Ver¬ nunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen; es soll etwas geschehen was ihm recht ist, was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir moͤgen uns gebaͤrden wie wir wollen. Doch was sag' ich! Eigentlich will das Schicksal meinen eigenen Wunsch, meinen eigenen Vorsatz, gegen die ich unbedachtsam gehandelt, wieder in den Weg bringen. Habe ich nicht selbst schon Ottilien und Eduarden mir als das schicklichste Paar zusammenge¬ dacht? Habe ich nicht selbst beyde einander zu naͤhern gesucht? Waren Sie nicht selbst, mein Freund, Mitwisser dieses Plans? Und warum konnt' ich den Eigensinn eines Man¬ nes nicht von wahrer Liebe unterscheiden? Warum nahm ich seine Hand an? da ich als Freundinn ihn und eine andre Gattinn gluͤcklich gemacht haͤtte. Und betrachten Sie nur diese ungluͤckliche Schlummernde! Ich zittere vor dem Augenblicke, wenn sie aus ih¬ rem halben Todtenschlafe zum Bewußtseyn erwacht. Wie soll sie leben, wie soll sie sich troͤsten, wenn sie nicht hoffen kann, durch ihre Liebe Eduarden das zu ersetzen, was sie ihm als Werkzeug des wunderbarsten Zufalls geraubt hat. Und sie kann ihm alles wieder¬ geben nach der Neigung, nach der Leidenschaft mit der sie ihn liebt. Vermag die Liebe alles zu dulden, so vermag sie noch vielmehr alles zu ersetzen. An mich darf in diesem Augen¬ blick nicht gedacht werden. Entfernen Sie sich in der Stille, lieber Major. Sagen Sie Eduarden, daß ich in die Scheidung willige, daß ich ihm, Ihnen, Mittlern die ganze Sache einzuleiten uͤber¬ lasse; daß ich um meine kuͤnftige Lage unbe¬ kuͤmmert bin und es in jedem Sinne seyn kann. Ich will jedes Papier unterschreiben, das man mir bringt; aber man verlange nur nicht von mir, daß ich mitwirke, daß ich be¬ denke, daß ich berathe. Der Major stand auf. Sie reichte ihm ihre Hand uͤber Ottilien weg. Er druͤckte seine Lippen auf diese liebe Hand. Und fuͤr mich, was darf ich hoffen? lispelte er leise. Lassen Sie mich Ihnen die Antwort schul¬ dig bleiben, versetzte Charlotte. Wir haben nicht verschuldet ungluͤcklich zu werden; aber auch nicht verdient zusammen gluͤcklich zu seyn. Der Major entfernte sich, Charlotten tief im Herzen beklagend, ohne jedoch das arme abgeschiedene Kind bedauern zu koͤnnen. Ein solches Opfer schien ihm noͤthig zu ihrem all¬ seitigen Gluͤck. Er dachte sich Ottilien mit einem eignen Kind auf dem Arm, als den vollkommensten Ersatz fuͤr das, was sie Eduar¬ den geraubt; er dachte sich einen Sohn auf dem Schooße, der mit mehrerem Recht sein Ebenbild truͤge, als der abgeschiedene. So schmeichelnde Hoffnungen und Bilder gingen ihm durch die Seele, als er auf dem Ruͤckwege nach dem Gasthofe Eduarden fand, der die ganze Nacht im Freyen den Major erwartet hatte, da ihm kein Feuerzeichen, kein Donnerlaut ein gluͤckliches Gelingen verkuͤnden wollte. Er wußte bereits von dem Ungluͤck und auch er, anstatt das arme Geschoͤpf zu bedauern, sah diesen Fall, ohne sich's ganz gestehen zu wollen, als eine Fuͤgung an, wo¬ durch jedes Hinderniß an seinem Gluͤck auf einmal beseitigt waͤre. Gar leicht ließ er sich daher durch den Major bewegen, der ihm schnell den Entschluß seiner Gattinn verkuͤn¬ digte, wieder nach jenem Dorfe, und sodann nach der kleinen Stadt zuruͤckzukehren, wo sie das Naͤchste uͤberlegen und einleiten wollten. Charlotte saß, nachdem der Major sie ver¬ lassen hatte, nur wenige Minuten in ihre Be¬ trachtungen versenkt: denn sogleich richtete Ottilie sich auf, ihre Freundinn mit großen Augen anblickend. Erst erhob sie sich von dem Schooße, dann von der Erde und stand vor Charlotten. Zum zweytenmal — so begann das herr¬ liche Kind mit einem unuͤberwindlichen anmu¬ thigen Ernst — zum zweytenmal widerfaͤhrt mir dasselbige. Du sagtest mir einst: es be¬ gegne den Menschen in ihrem Leben oft Aehn¬ liches auf aͤhnliche Weise, und immer in be¬ deutenden Augenblicken. Ich finde nun die Bemerkung wahr, und bin gedrungen dir ein Bekenntniß zu machen. Kurz nach meiner Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte ich meinen Schemmel an dich geruͤckt; du saßest auf dem Sopha wie jetzt; mein Haupt lag auf deinen Knieen, ich schlief nicht, ich wachte nicht; ich schlummerte. Ich vernahm alles was um mich vorging, besonders alle Reden, sehr deutlich; und doch konnte ich mich nicht regen, mich nicht aͤußern, und wenn ich auch gewollt haͤtte, nicht andeuten, daß ich meiner selbst mich bewußt fuͤhlte. Damals sprachst du mit einer Freundinn uͤber mich; du be¬ dauertest mein Schicksal, als eine arme Waise in der Welt geblieben zu seyn; du schildertest meine abhaͤngige Lage und wie mißlich es um mich stehen koͤnne, wenn nicht ein besondrer Gluͤcksstern uͤber mich walte. Ich faßte al¬ les wohl und genau, vielleicht zu streng, was du fuͤr mich zu wuͤnschen, was du von mir zu fordern schienst. Ich machte mir nach meinen beschraͤnkten Einsichten hieruͤber Ge¬ setze; nach diesen habe ich lange gelebt, nach ihnen war mein Thun und Lassen eingerich¬ tet, zu der Zeit da du mich liebtest, fuͤr mich sorgtest, da du mich in dein Haus auf¬ nahmest, und auch noch eine Zeit hernach. Aber ich bin aus meiner Bahn geschrit¬ ten, ich habe meine Gesetze gebrochen, ich habe sogar das Gefuͤhl derselben verloren, und nach einem schrecklichen Ereigniß klaͤrst du mich wieder uͤber meinen Zustand auf, der jammervoller ist als der erste. Auf deinem Schooße ruhend, halb erstarrt, wie aus einer fremden Welt vernehm' ich abermals deine leise Stimme uͤber meinem Ohr; ich verneh¬ me, wie es mit mir selbst aussieht; ich schau¬ dere uͤber mich selbst: aber wie damals habe ich auch diesmal in meinem halben Todten¬ schlaf mir meine neue Bahn vorgezeichnet. Ich bin entschlossen, wie ich's war, und wozu ich entschlossen bin, mußt du gleich er¬ fahren. Eduardens werd' ich nie! Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geoͤffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin. Ich will es buͤßen; und Niemand ge¬ denke mich von meinem Vorsatz abzubringen! Darnach, Liebe, Beste, nimm deine Maaßre¬ geln. Laß den Major zuruͤckkommen; schrei¬ be ihm, daß keine Schritte geschehen. Wie aͤngstlich war mir, daß ich mich nicht ruͤhren und regen konnte, als er ging. Ich wollte auffahren, aufschreyen: du solltest ihn nicht mit so frevelhaften Hoffnungen entlassen. Charlotte sah Ottiliens Zustand, sie em¬ pfand ihn; aber sie hoffte durch Zeit und Vorstellungen etwas uͤber sie zu gewinnen. Doch als sie einige Worte aussprach, die auf eine Zukunft, auf eine Milderung des Schmer¬ zes, auf Hoffnung deuteten: Nein! rief Ot¬ tilie mit Erhebung: sucht mich nicht zu be¬ wegen, nicht zu hintergehen! In dem Au¬ genblick, in dem ich erfahre: du habest in die Scheidung gewilligt, buͤße ich in demsel¬ bigen See meine Vergehen, meine Verbrechen. Funfzehntes Kapitel. Wenn sich in einem gluͤcklichen friedlichen Zusammenleben Verwandte, Freunde, Haus¬ genossen, mehr als noͤthig und billig ist, von dem unterhalten was geschieht oder geschehen soll; wenn sie sich einander ihre Vorsaͤtze, Unter¬ nehmungen, Beschaͤftigungen wiederhohlt mit¬ theilen, und ohne gerade wechselseitigen Rath anzunehmen, doch immer das ganze Leben gleich¬ sam rathschlagend behandeln: so findet man dagegen, in wichtigen Momenten, eben da wo es scheinen sollte, der Mensch beduͤrfe frem¬ den Beystandes, fremder Bestaͤtigung am al¬ lermeisten, daß sich die einzelnen auf sich selbst zuruͤckziehen, jedes fuͤr sich zu handeln, jedes auf seine Weise zu wirken strebt, und indem man sich einander die einzelnen Mittel ver¬ birgt, nur erst der Ausgang, die Zwecke, das Erreichte wieder zum Gemeingut werden. Nach soviel wundervollen und ungluͤckli¬ chen Ereignissen war denn auch ein gewisser stiller Ernst uͤber die Freundinnen gekommen, der sich in einer liebenswuͤrdigen Schonung aͤußerte. Ganz in der Stille hatte Charlotte das Kind nach der Kapelle gesendet. Es ruh¬ te dort als das erste Opfer eines ahndungs¬ vollen Verhaͤngnisses. Charlotte kehrte sich, so viel es ihr moͤg¬ lich war, gegen das Leben zuruͤck, und hier fand sie Ottilien zuerst, die ihres Beystandes bedurfte. Sie beschaͤftigte sich vorzuͤglich mit ihr, ohne es jedoch merken zu lassen. Sie wußte wie sehr das himmlische Kind Eduar¬ den liebte; sie hatte nach und nach die Scene die dem Ungluͤck vorher gegangen war, her¬ ausgeforscht, und jeden Umstand, theils von Ottilien selbst, theils durch Briefe des Majors erfahren. Ottilie von ihrer Seite erleichterte Char¬ lotten sehr das augenblickliche Leben. Sie war offen, ja gespraͤchig, aber niemals war von dem Gegenwaͤrtigen oder kurz Vergange¬ nen die Rede. Sie hatte stets aufgemerkt, stets beobachtet, sie wußte viel; das kam jetzt alles zum Vorschein. Sie unterhielt, sie zer¬ streute Charlotten, die noch immer die stille Hoffnung naͤhrte, ein ihr so werthes Paar verbunden zu sehen. Allein bey Ottilien hing es anders zusam¬ men. Sie hatte das Geheimniß ihres Le¬ bensganges der Freundinn entdeckt; sie war von ihrer fruͤhen Einschraͤnkung, von ihrer Dienstbarkeit entbunden. Durch ihre Reue, durch ihren Entschluß fuͤhlte sie sich auch be¬ freyt von der Last jenes Vergehens, jenes Mißgeschicks. Sie bedurfte keiner Gewalt II . 18 mehr uͤber sich selbst; sie hatte sich in der Tiefe ihres Herzens nur unter der Bedingung des voͤlligen Entsagens verziehen, und diese Bedingung war fuͤr alle Zukunft unerlaͤßlich. So verfloß einige Zeit, und Charlotte fuͤhl¬ te, wie sehr Haus und Park, Seen, Felsen- und Baumgruppen, nur traurige Empfindun¬ gen taͤglich in ihnen beyden erneuerten. Daß man den Ort veraͤndern muͤsse, war allzu deutlich; wie es geschehen solle, nicht so leicht zu entscheiden. Sollten die beyden Frauen zusammenblei¬ ben? Eduards fruͤherer Wille schien es zu ge¬ bieten, seine Erklaͤrung, seine Drohung es noͤthig zu machen: allein wie war es zu ver¬ kennen, daß beyde Frauen, mit allem guten Willen, mit aller Vernunft, mit aller Anstren¬ gung, sich in einer peinlichen Lage neben ein¬ ander befanden. Ihre Unterhaltungen waren vermeidend. Manchmal mochte man gern et¬ was nur halb verstehen, oͤfters wurde aber doch ein Ausdruck, wo nicht durch den Ver¬ stand wenigstens durch die Empfindung, mi߬ deutet. Man fuͤrchtete sich zu verletzen, und gerade die Furcht war am ersten verletzbar und verletzte am ersten. Wollte man den Ort veraͤndern und sich zugleich, wenigstens auf einige Zeit, von ein¬ ander trennen; so trat die alte Frage wieder hervor: wo sich Ottilie hinbegeben solle? Je¬ nes große reiche Haus hatte vergebliche Ver¬ suche gemacht, einer hoffnungsvollen Erbtoch¬ ter unterhaltende und wetteifernde Gespielin¬ nen zu verschaffen. Schon bey der letzten Anwesenheit der Baronesse, und neuerlich durch Briefe, war Charlotte aufgefordert worden, Ottilien dorthin zu senden; jetzt brachte sie es abermals zur Sprache. Ottilie verweigerte aber ausdruͤcklich dahin zu gehen, wo sie das¬ jenige finden wuͤrde, was man große Welt zu nennen pflegt. 18 * Lassen Sie mich, liebe Tante, sagte sie, damit ich nicht eingeschraͤnkt und eigensinnig erscheine, dasjenige aussprechen was zu ver¬ schweigen, zu verbergen in einem andern Falle Pflicht waͤre. Ein seltsam ungluͤcklicher Mensch, und wenn er auch schuldlos waͤre, ist auf eine fuͤrchterliche Weise gezeichnet. Seine Gegen¬ wart erregt in allen die ihn sehen, die ihn gewahr werden, ein Art von Entsetzen. Jeder will das Ungeheure ihm ansehen was ihm auferlegt ward; jeder ist neugierig und aͤngst¬ lich zugleich. So bleibt ein Haus, eine Stadt, worin eine ungeheure That gesche¬ hen, jedem furchtbar der sie betritt. Dort leuchtet das Licht des Tages nicht so hell, und die Sterne scheinen ihren Glanz zu ver¬ lieren. Wie groß, und doch vielleicht zu entschul¬ digen, ist gegen solche Ungluͤckliche die In¬ discretion der Menschen, ihre alberne Zu¬ dringlichkeit und ungeschickte Gutmuͤthigkeit. Verzeihen Sie mir, daß ich so rede; aber ich habe unglaublich mit jenem armen Maͤdchen gelitten, als es Luciane aus den verborgenen Zimmern des Hauses hervorzog, sich freund¬ lich mit ihm beschaͤftigte, es in der besten Absicht zu Spiel und Tanz noͤthigen wollte. Als das arme Kind bange uud immer baͤnger zuletzt floh und in Ohnmacht sank, ich es in meine Arme faßte, die Gesellschaft erschreckt aufgeregt und jeder erst recht neugierig auf die Ungluͤckselige ward: da dachte ich nicht, daß mir ein gleiches Schicksal bevorstehe; aber mein Mitgefuͤhl, so wahr und lebhaft; ist noch lebendig. Jetzt kann ich mein Mitlei¬ den gegen mich selbst wenden und mich huͤthen, daß ich nicht zu aͤhnlichen Auftritten Anlaß gebe. Du wirst aber, liebes Kind, versetzte Char¬ lotte, dem Anblick der Menschen dich nirgends entziehen koͤnnen. Kloͤster haben wir nicht, in denen sonst eine Freystatt fuͤr solche Ge¬ fuͤhle zu finden war. Die Einsamkeit macht nicht die Freystatt, liebe Tante, versetzte Ottilie. Die schaͤtzens¬ wertheste Freystatt ist da zu suchen, wo wir thaͤtig seyn koͤnnen. Alle Buͤßungen, alle Entbehrungen sind keineswegs geeignet uns einem ahndungsvollen Geschick zu entziehen, wenn es uns zu verfolgen entschieden ist. Nur, wenn ich im muͤßigen Zustande der Welt zur Schau dienen soll, dann ist sie mir wider¬ waͤrtig und aͤngstigt mich. Findet man mich aber freudig bey der Arbeit, unermuͤdet in meiner Pflicht, dann kann ich die Blicke eines Jeden aushalten, weil ich die goͤttlichen nicht zu scheuen brauche. Ich muͤßte mich sehr irren, versetzte Char¬ lotte, wenn deine Neigung dich nicht zur Pension zuruͤckzoͤge. Ja, versetzte Ottilie, ich laͤugne es nicht: ich denke es mir als eine gluͤckliche Bestim¬ mung, andre auf dem gewoͤhnlichen Wege zu erziehen, wenn wir auf dem sonderbarsten er¬ zogen worden. Und sehen wir nicht in der Geschichte, daß Menschen, die wegen großer sittlicher Unfaͤlle sich in die Wuͤsten zuruͤckzo¬ gen, dort keineswegs, wie sie hofften, verbor¬ gen und gedeckt waren. Sie wurden zuruͤck¬ gerufen in die Welt, um die Verirrten auf den rechten Weg zu fuͤhren; und wer konnte es besser als die in den Irrgaͤngen des Lebens schon Eingeweihten! Sie wurden berufen den Ungluͤcklichen beyzustehen, und wer vermochte das eher als sie, denen kein irdisches Unheil mehr begegnen konnte! Du waͤhlst eine sonderbare Bestimmung, versetzte Charlotte. Ich will dir nicht wider¬ streben: es mag seyn, wenn auch nur, wie ich hoffe, auf kurze Zeit. Wie sehr danke ich Ihnen, sagte Ottilie, daß Sie mir diesen Versuch, diese Erfahrung goͤnnen wollen. Schmeichle ich mir nicht zu sehr, so soll es mir gluͤcken. An jenem Orte will ich mich erinnern, wie manche Pruͤfun¬ gen ich ausgestanden, und wie klein, wie nich¬ tig sie waren gegen die, die ich nachher er¬ fahren mußte. Wie heiter werde ich die Ver¬ legenheiten der jungen Aufschoͤßlinge betrach¬ ten, bey ihren kindlichen Schmerzen laͤcheln und sie mit leiser Hand aus allen kleinen Ver¬ irrungen herausfuͤhren. Der Gluͤckliche ist nicht geeignet Gluͤcklichen vorzustehen: es liegt in der menschlichen Natur, immer mehr von sich und von andern zu fordern je mehr man empfangen hat. Nur der Ungluͤckliche der sich erhohlt, weiß fuͤr sich und andre das Gefuͤhl zu naͤhren, daß auch ein maͤßiges Gute mit Entzuͤcken genossen werden soll. Laß mich gegen deinen Vorsatz, sagte Char¬ lotte zuletzt nach einigem Bedenken, noch ei¬ nen Einwurf anfuͤhren, der mir der wichtigste scheint. Es ist nicht von dir, es ist von ei¬ nem Dritten die Rede. Die Gesinnungen des guten vernuͤnftigen frommen Gehuͤlfen sind dir bekannt; auf dem Wege den du gehst, wirst du ihm jeden Tag werther und unent¬ behrlicher seyn. Da er schon jetzt, seinem Gefuͤhl nach, nicht gern ohne dich leben mag, so wird er auch kuͤnftig, wenn er einmal dei¬ ne Mitwirkung gewohnt ist, ohne dich sein Geschaͤft nicht mehr verwalten koͤnnen. Du wirst ihm anfangs darin beystehen, um es ihm hernach zu verleiden. Das Geschick ist nicht sanft mit mir ver¬ fahren, versetzte Ottilie; und wer mich liebt hat vielleicht nicht viel besseres zu erwarten. So gut und verstaͤndig als der Freund ist, eben so, hoffe ich, wird sich in ihm auch die Empfindung eines reinen Verhaͤltnisses zu mir entwickeln; er wird in mir eine geweihte Person erblicken, die nur dadurch ein unge¬ heures Uebel fuͤr sich und andre vielleicht auf¬ zuwiegen vermag, wenn sie sich dem Heiligen widmet, das uns unsichtbar umgebend allein gegen die ungeheuren zudringenden Maͤchte be¬ schirmen kann. Charlotte nahm alles was das liebe Kind so herzlich geaͤußert, zur stillen Ueberlegung. Sie hatte verschiedentlich, obgleich auf das leiseste, angeforscht, ob nicht eine Annaͤherung Ottiliens zu Eduard denkbar sey; aber auch nur die leiseste Erwaͤhnung, die mindeste Hoffnung, der kleinste Verdacht schien Otti¬ lien aufs tiefste zu ruͤhren; ja sie sprach sich einst, da sie es nicht umgehen konnte, hier¬ uͤber ganz deutlich aus. Wenn dein Entschluß, entgegnete ihr Charlotte, Eduarden zu entsagen, so fest und unveraͤnderlich ist, so huͤthe dich nur vor der Gefahr des Wiedersehens. In der Entfernung von dem geliebten Gegenstande scheinen wir, je lebhafter unsere Neigung ist, desto mehr Herr von uns selbst zu werden, indem wir die ganze Gewalt der Leidenschaft, wie sie sich nach außen erstreckte, nach innen wenden; aber wie bald, wie geschwind sind wir aus diesem Irrthum gerissen, wenn dasjenige was wir entbehren zu koͤnnen glaubten, auf einmal wieder als unentbehrlich vor unsern Augen steht. Thue jetzt was du deinen Zustaͤnden am gemaͤßesten haͤltst; pruͤfe dich, ja veraͤndre lieber deinen gegenwaͤrtigen Entschluß: aber aus dir selbst, aus freyem, wollenden Her¬ zen. Laß dich nicht zufaͤllig, nicht durch Ueber¬ raschung, in die vorigen Verhaͤltnisse wieder hineinziehen: dann giebt es erst einen Zwie¬ spalt im Gemuͤth der unertraͤglich ist. Wie gesagt, ehe du diesen Schritt thust, ehe du dich von mir entfernst und ein neues Leben anfaͤngst, das dich wer weiß auf welche Wege leitet; so bedenke noch einmal, ob du denn wirklich fuͤr alle Zukunft Eduarden entsagen kannst. Hast du dich aber hierzu bestimmt; so schließen wir einen Bund, daß du dich mit ihm nicht einlassen willst, selbst nicht in eine Unterredung, wenn er dich aufsuchen, wenn er sich zu dir draͤngen sollte. Ottilie besann sich nicht einen Augenblick, sie gab Charlotten das Wort, das sie sich schon selbst gegeben hatte. Nun aber schwebte Charlotten immer noch jene Drohung Eduards vor der Seele, daß er Ottilien nur so lange entsagen koͤnne, als sie sich von Charlotten nicht trennte. Es hatten sich zwar seit der Zeit die Umstaͤnde so veraͤndert, es war so mancherley vorge¬ fallen, daß jenes vom Augenblick ihm abge¬ drungene Wort gegen die folgenden Ereignisse fuͤr aufgehoben zu achten war; dennoch wollte sie auch im entferntesten Sinne weder etwas wagen, noch etwas vornehmen das ihn verletzen koͤnnte, und so sollte Mittler in diesem Falle Eduards Gesinnungen erforschen. Mittler hatte seit dem Tode des Kindes Charlotten oͤfters, obgleich nur auf Augen¬ blicke, besucht. Dieser Unfall, der ihm die Wiedervereinigung beyder Gatten hoͤchst un¬ wahrscheinlich machte, wirkte gewaltsam auf ihn; aber immer nach seiner Sinnesweise hof¬ fend und strebend, freute er sich nun im Stillen uͤber den Entschluß Ottiliens. Er vertraute der lindernden voruͤberziehenden Zeit, dachte noch immer die beyden Gatten zu¬ sammenzuhalten und sah diese leidenschaft¬ lichen Bewegungen nur als Pruͤfungen ehe¬ licher Liebe und Treue an. Charlotte hatte gleich anfangs den Major von Ottiliens erster Erklaͤrung schriftlich un¬ terrichtet, ihn auf das instaͤndigste gebeten, Eduarden dahin zu vermoͤgen, daß keine wei¬ teren Schritte geschaͤhen, daß man sich ruhig verhalte, daß man abwarte, ob das Gemuͤth des schoͤnen Kindes sich wieder herstelle. Auch von den spaͤtern Ereignissen und Gesinnungen hatte sie das Noͤthige mitgetheilt, und nun war freylich Mittlern die schwierige Aufgabe uͤbertragen, auf eine Veraͤnderung des Zu¬ standes Eduarden vorzubereiten. Mittler aber, wohlwissend, daß man das Geschehene sich eher gefallen laͤßt, als daß man in ein noch zu Geschehendes einwilligt, uͤberredete Char¬ lotten: es sey das beste, Ottilien gleich nach der Pension zu schicken. Deshalb wurden, sobald er weg war, An¬ stalten zur Reise gemacht. Ottilie packte zu¬ sammen, aber Charlotte sah wohl, daß sie weder das schoͤne Koͤfferchen, noch irgend et¬ was daraus mitzunehmen sich anschickte. Die Freundinn schwieg und ließ das schweigende Kind gewaͤhren. Der Tag der Abreise kam herbey; Charlottens Wagen sollte Ottilien den ersten Tag bis in ein bekanntes Nacht¬ quartier, den zweyten bis in die Pension bringen; Nanny sollte sie begleiten und ihre Dienerinn bleiben. Das leidenschaftliche Maͤd¬ chen hatte sich gleich nach dem Tode des Kindes wieder an Ottilien zuruͤckgefunden und hing nun an ihr wie sonst durch Natur und Neigung; ja sie schien, durch unterhaltende Redseligkeit, das bisher Versaͤumte wieder nachbringen und sich ihrer geliebten Herrinn voͤllig widmen zu wollen. Ganz außer sich war sie nun uͤber das Gluͤck mitzureisen, fremde Gegenden zu sehen, da sie noch nie¬ mals außer ihrem Geburtsort gewesen, und rannte vom Schlosse ins Dorf, zu ihren Ael¬ tern, Verwandten, um ihr Gluͤck zu verkuͤndi¬ gen und Abschied zu nehmen. Ungluͤcklicher¬ weise traf sie dabey in die Zimmer der Ma¬ serkranken und empfand sogleich die Folgen der Ansteckung. Man wollte die Reise nicht aufschieben; Ottilie drang selbst darauf: sie hatte den Weg schon gemacht, sie kannte die Wirthsleute bey denen sie einkehren sollte, der Kutscher vom Schlosse fuͤhrte sie; es war nichts zu besorgen. Charlotte widersetzte sich nicht; auch sie eilte schon in Gedanken aus diesen Umgebun¬ gen weg, nur wollte sie noch die Zimmer die Ottilie im Schloß bewohnt hatte, wieder fuͤr Eduarden einrichten, gerade so wie sie vor der Ankunft des Hauptmanns gewesen. Die Hoff¬ nung ein altes Gluͤck wiederherzustellen flammt immer einmal wieder in dem Menschen auf, und Charlotte war zu solchen Hoffnungen abermals berechtigt, ja genoͤthigt. Sechzehntes Kapitel. Als Mittler gekommen war, sich mit Eduarden uͤber die Sache zu unterhalten, fand er ihn allein, den Kopf in die rechte Hand gelehnt, den Arm auf den Tisch ge¬ stemmt. Er schien sehr zu leiden. Plagt Ihr Kopfweh Sie wieder? fragte Mittler. Es plagt mich, versetzte jener; und doch kann ich es nicht hassen: denn es erinnert mich an Ottilien. Vielleicht leidet auch sie jetzt, denk' ich, auf ihren linken Arm gestuͤtzt, und leidet wohl mehr als ich. Und warum soll ich es nicht tragen, wie sie? Diese Schmerzen sind mir heilsam, sind mir, ich kann beynah sagen, wuͤnschenswerth: denn nur maͤchtiger, deutlicher, lebhafter schwebt mir das Bild II . 19 ihrer Geduld, von allen ihren uͤbrigen Vor¬ zuͤgen begleitet, vor der Seele; nur im Lei¬ den empfinden wir recht vollkommen alle die großen Eigenschaften, die noͤthig sind um es zu ertragen. Als Mittler den Freund in diesem Grade resignirt fand, hielt er mit seinem Anbringen nicht zuruͤck, das er jedoch stufenweise, wie der Gedanke bey den Frauen entsprungen, wie er nach und nach zum Vorsatz gereift war, historisch vortrug. Eduard aͤußerte sich kaum dagegen. Aus dem wenigen was er sagte, schien hervorzugehen, daß er jenen al¬ les uͤberlasse; sein gegenwaͤrtiger Schmerz schien ihn gegen alles gleichguͤltig gemacht zu haben. Kaum aber war er allein, so stand er auf und ging in dem Zimmer hin und wieder. Er fuͤhlte seinen Schmerz nicht mehr, er war ganz außer sich beschaͤftigt. Schon unter Mittlers Erzaͤhlung hatte die Einbildungs¬ kraft des Liebenden sich lebhaft ergangen. Er sah Ottilien, allein oder so gut als allein, auf wohlbekanntem Wege, in einem gewohn¬ ten Wirthshause, dessen Zimmer er so oft be¬ treten; er dachte, er uͤberlegte, oder vielmehr, er dachte, er uͤberlegte nicht; er wuͤnschte, er wollte nur. Er mußte sie sehn, sie sprechen. Wozu, warum, was daraus ent¬ stehen sollte? davon konnte die Rede nicht seyn. Er widerstand nicht, er mußte. Der Kammerdiener ward ins Vertrauen gezogen, und erforschte sogleich Tag und Stunde, wann Ottilie reisen wuͤrde. Der Morgen brach an; Eduard saͤumte nicht, un¬ begleitet sich zu Pferde dahin zu begeben, wo Ottilie uͤbernachten sollte. Er kam nur allzuzeitig dort an: die uͤberraschte Wirthinn empfing ihn mit Freuden: sie war ihm ein großes Familiengluͤck schuldig geworden. Er hatte ihrem Sohn, der als Soldat sich sehr brav gehalten, ein Ehrenzeichen verschafft. 19 * indem er dessen That, wobey er allein gegen¬ waͤrtig gewesen, heraushob, mit Eifer bis vor den Feldherrn brachte und die Hindernisse einiger Mißwollenden uͤberwand. Sie wußte nicht, was sie ihm alles zu Liebe thun sollte. Sie raͤumte schnell in ihrer Putzstube, die freylich auch zugleich Garderobe und Vorraths¬ kammer war, moͤglichst zusammen; allein er kuͤndigte ihr die Ankunft eines Frauenzimmers an, die hier hereinziehen sollte, und ließ fuͤr sich eine Kammer hinten auf dem Gange nothduͤrftig einrichten. Der Wirthinn erschien die Sache geheimnißvoll, und es war ihr angenehm, ihren Goͤnner, der sich dabey sehr interessirt und thaͤtig zeigte, etwas gefaͤlliges zu erweisen. Und er, mit welcher Empfin¬ dung brachte er die lange lange Zeit bis zum Abend hin! Er betrachtete das Zimmer rings umher, in dem er sie sehen sollte; es schien ihm in seiner ganzen haͤuslichen Seltsamkeit ein himmlischer Aufenthalt. Was dachte er sich nicht alles aus, ob er Ottilien uͤberraschen, ob er sie vorbereiten sollte! Endlich gewann die letztere Meynung Oberhand; er setzte sich hin und schrieb. Dieß Blatt sollte sie empfangen. Eduard an Ottilien. Indem du diesen Brief liesest, Geliebteste, bin ich in deiner Naͤhe. Du mußt nicht er¬ schrecken, dich nicht entsetzen; du hast von mir nichts zu befuͤrchten. Ich werde mich nicht zu dir draͤngen. Du siehst mich nicht eher als du es erlaubst. Bedenke vorher deine Lage, die meinige. Wie sehr danke ich dir, daß du keinen ent¬ scheidenden Schritt zu thun vorhast; aber be¬ deutend genug ist er: thu ihn nicht! Hier, auf einer Art von Scheideweg, uͤberlege noch¬ mals: kannst du mein seyn, willst du mein seyn? O du erzeigst uns allen eine große Wohlthat und mir eine uͤberschwaͤngliche. Laß mich dich wiedersehen, dich mit Freuden wiedersehen. Laß mich die schoͤne Frage muͤndlich thun, und beantworte sie mir mit deinem schoͤnen Selbst. An meine Brust, Ottilie! hieher, wo du manchmal geruht hast und wo du immer hingehoͤrst! — Indem er schrieb, ergriff ihn das Gefuͤhl, sein Hoͤchstersehntes nahe sich, es werde nun gleich gegenwaͤrtig seyn. Zu dieser Thuͤre wird sie hereintreten, diesen Brief wird sie lesen, wirklich wird sie wie sonst vor mir da¬ stehen, deren Erscheinung ich mir so oft her¬ beysehnte. Wird sie noch dieselbe seyn? Hat sich ihre Gestalt, haben sich ihre Gesinnungen veraͤndert? Er hielt die Feder noch in der Hand, er wollte schreiben wie er dachte; aber der Wagen rollte in den Hof. Mit fluͤchti¬ ger Feder setzte er noch hinzu: Ich hoͤre dich kommen. Auf einen Augenblick leb wohl! Er faltete den Brief, uͤberschrieb ihn; zum Siegeln war es zu spaͤt. Er sprang in die Kammer, durch die er nachher auf den Gang zu gelangen wußte, und Augenblicks fiel ihm ein, daß er die Uhr mit dem Petschaft noch auf dem Tisch gelassen. Sie sollte diese nicht zuerst sehen; er sprang zuruͤck und hohlte sie gluͤcklich weg. Vom Vorsaal her vernahm er schon die Wirthinn, die auf das Zimmer los¬ ging, um es dem Gast anzuweisen. Er eilte gegen die Kammerthuͤr, aber sie war zugefah¬ ren. Den Schluͤssel hatte er beym Hinein¬ springen herunter geworfen, der lag inwendig; das Schloß war zugeschnappt und er stund gebannt. Heftig draͤngte er an der Thuͤre; sie gab nicht nach. O wie haͤtte er gewuͤnscht als ein Geist durch die Spalten zu schluͤpfen! Vergebens! Er verbarg sein Gesicht an den Thuͤrpfosten. Ottilie trat herein, die Wir¬ thinn, als sie ihn erblickte, zuruͤck. Auch Ottilien konnte er nicht einen Augenblick ver¬ borgen bleiben. Er wendete sich gegen sie, und so standen die Liebenden abermals auf die seltsamste Weise gegen einander. Sie sah ihn ruhig und ernsthaft an, ohne vor oder zuruͤckzugehen, und als er eine Bewegung machte, sich ihr zu naͤhern, trat sie einige Schritte zuruͤck bis an den Tisch. Auch er trat wieder zuruͤck. Ottilie, rief er aus, laß mich das furchtbare Schweigen brechen! Sind wir nur Schatten, die einander gegenuͤber stehen? Aber vor allen Dingen hoͤre! es ist Zufall, daß du mich gleich jetzt hier findest. Neben dir liegt ein Brief, der dich vorberei¬ ten sollte. Lies, ich bitte dich, lies ihn! und dann beschließe was du kannst. Sie blickte herab auf den Brief und nach einigem Besinnen nahm sie ihn auf, erbrach und las ihn. Ohne die Miene zu veraͤndern, hatte sie ihn gelesen und so legte sie ihn leise weg; dann druͤckte sie die flachen, in die Hoͤhe gehobenen Haͤnde zusammen, fuͤhrte sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwaͤrts neigte, und sah den dringend Fordernden mit einem solchen Blick an, daß er von allem abzustehen genoͤthigt war, was er verlangen oder wuͤnschen mochte. Diese Bewegung zerriß ihm das Herz. Er konnte den Anblick, er konnte die Stellung Ottiliens nicht ertragen. Es sah voͤllig aus, als wuͤrde sie in die Kniee sinken, wenn er beharrte. Er eilte verzweif¬ lend zur Thuͤr hinaus und schickte die Wir¬ thinn zu der Einsamen. Er ging auf dem Vorsaal auf und ab. Es war Nacht geworden, im Zimmer blieb es stille. Endlich trat die Wirthinn heraus, und zog den Schluͤssel ab. Die gute Frau war geruͤhrt, war verlegen, sie wußte nicht was sie thun sollte. Zuletzt im Weggehen bot sie den Schluͤssel Eduarden an, der ihn ablehnte. Sie ließ das Licht stehen und ent¬ fernte sich. Eduard im tiefsten Kummer warf sich auf Ottiliens Schwelle, die er mit seinen Thraͤnen benetzte. Jammervoller brachten kaum jemals in solcher Naͤhe Liebende eine Nacht zu. Der Tag brach an; der Kutscher trieb, die Wirthinn schloß auf und trat in das Zim¬ mer. Sie fand Ottilien angekleidet eingeschla¬ fen, sie ging zuruͤck und winkte Eduarden mit einem theilnehmenden Laͤcheln. Beyde traten vor die Schlafende; aber auch diesen Anblick vermochte Eduard nicht auszuhalten. Die Wirthinn wagte nicht das ruhende Kind zu wecken, sie setzte sich gegenuͤber. Endlich schlug Ottilie die schoͤnen Augen auf und rich¬ tete sich auf ihre Fuͤße. Sie lehnt das Fruͤhstuͤck ab, und nun tritt Eduard vor sie. Er bittet sie instaͤndig, nur ein Wort zu re¬ den, ihren Willen zu erklaͤren: er wolle allen ihren Willen, schwoͤrt er; aber sie schweigt. Nochmals fragt er sie liebevoll und dringend, ob sie ihm angehoͤren wolle? Wie lieblich be¬ wegt sie, mit niedergeschlagnen Augen, ihr Haupt zu einem sanften Nein. Er fragt, ob sie nach der Pension wolle? Gleichguͤltig verneint sie das. Aber als er fragt, ob er sie zu Charlotten zuruͤckfuͤhren duͤrfe? bejaht sie's mit einem getrosten Neigen des Hauptes. Er eilt ans Fenster dem Kutscher Befehle zu geben; aber hinter ihm weg, ist sie wie der Blitz zur Stube hinaus, die Treppe hinab in dem Wagen. Der Kutscher nimmt den Weg nach dem Schlosse zuruͤck; Eduard folgt zu Pferde in einiger Entfernung. Siebzehntes Kapitel. Wie hoͤchst uͤberrascht war Charlotte als sie Ottilien vorfahren und Eduarden zu Pfer¬ de sogleich in den Schloßhof hereinsprengen sah. Sie eilte bis zur Thuͤrschwelle: Ottilie steigt aus und naͤhert sich mit Eduarden. Mit Eifer und Gewalt faßt sie die Haͤnde beyder Ehegatten, druͤckt sie zusammen und eilt auf ihr Zimmer. Eduard wirft sich Charlotten um den Hals und zerfließt in Thraͤnen; er kann sich nicht erklaͤren, bittet Geduld mit ihm zu haben, Ottilien beyzustehen, ihr zu helfen. Charlotte eilt auf Ottiliens Zim¬ mer und ihr schaudert da sie hineintritt: es war schon ganz ausgeraͤumt, nur die leeren Waͤnde standen da. Es erschien so weitlauftig als unerfreulich. Man hatte alles weggetra¬ gen, nur das Koͤfferchen, unschluͤssig wo man es hinstellen sollte, in der Mitte des Zimmers stehen gelassen. Ottilie lag auf dem Boden, Arm und Haupt uͤber den Koffer gestreckt, Charlotte bemuͤht sich um sie, fragt was vor¬ gegangen, und erhaͤlt keine Antwort. Sie laͤßt ihr Maͤdchen, das mit Erquickun¬ gen kommt, bey Ottilien und eilt zu Eduar¬ den. Sie findet ihn im Saal; auch er be¬ lehrt sie nicht. Er wirft sich vor ihr nieder, er badet ihre Haͤnde in Thraͤnen, er flieht auf sein Zimmer, und als sie ihm nachfolgen will, begegnet ihr der Kammerdiener, der sie aufklaͤrt soweit er vermag. Das Uebrige denkt sie sich zusammen, und dann sogleich mit Entschlossenheit an das was der Augenblick fordert. Ottiliens Zimmer ist aufs baldigste wieder eingerichtet. Eduard hat die seinigen angetroffen, bis auf das letzte Papier, wie er sie verlassen. Die Dreye scheinen sich wieder gegenein¬ ander zu finden; aber Ottilie faͤhrt fort zu schweigen, und Eduard vermag nichts als seine Gattinn um Geduld zu bitten, die ihm selbst zu fehlen scheint. Charlotte sendet Bo¬ ten an Mittlern und an den Major. Jener war nicht anzutreffen; dieser kommt. Gegen ihn schuͤttet Eduard sein Herz aus, ihm gesteht er jeden kleinsten Umstand, und so erfaͤhrt Charlotte was begegnet, was die Lage so sonderbar veraͤndert, was die Gemuͤther auf¬ geregt. Sie spricht aufs liebevollste mit ihrem Ge¬ mahl. Sie weiß keine andere Bitte zu thun als nur, daß man das Kind gegenwaͤrtig nicht bestuͤrmen moͤge. Eduard fuͤhlt den Werth, die Liebe, die Vernunft seiner Gattinn; aber seine Neigung beherrscht ihn ausschlie߬ lich. Charlotte macht ihm Hoffnung, verspricht ihm in die Scheidung zu willigen. Er traut nicht; er ist so krank, daß ihn Hoffnung und Glaube abwechselnd verlassen; er dringt in Charlotten, sie soll dem Major ihre Hand zusagen; eine Art von wahnsinnigem Unmuth hat ihn ergriffen. Charlotte, ihn zu besaͤnfti¬ gen, ihn zu erhalten, thut was er fordert. Sie sagt dem Major ihre Hand zu, auf den Fall, daß Ottilie sich mit Eduarden verbinden wolle, jedoch unter ausdruͤcklicher Bedingung, daß die beyden Maͤnner fuͤr den Augenblick zusammen eine Reise machen. Der Major hat fuͤr seinen Hof ein auswaͤrtiges Geschaͤft, und Eduard verspricht ihn zu begleiten. Man macht Anstalten und man beruhigt sich einiger¬ maßen, indem wenigstens etwas geschieht. Unterdessen kann man bemerken, daß Ot¬ tilie kaum Speise noch Trank zu sich nimmt, indem sie immerfort bey ihrem Schweigen verharrt. Man redet ihr zu, sie wird aͤngst¬ lich; man unterlaͤßt es. Denn haben wir nicht meistentheils die Schwaͤche, daß wir Jemanden auch zu seinem Besten nicht gern quaͤlen moͤgen. Charlotte sann alle Mittel durch, endlich gerieth sie auf den Gedanken, jenen Gehuͤlfen aus der Pension kommen zu lassen, der uͤber Ottilien viel vermochte, der wegen ihres unvermutheten Außenbleibens sich sehr freundlich geaͤußert, aber keine Antwort erhalten hatte. Man spricht, um Ottilien nicht zu uͤber¬ raschen, von diesem Vorsatz in ihrer Gegen¬ wart. Sie scheint nicht einzustimmen; sie bedenkt sich; endlich scheint ein Entschluß in ihr zu reifen, sie eilt nach ihrem Zimmer und sendet noch vor Abend an die Versam¬ melten folgendes Schreiben. Ottilie den Freunden. Warum soll ich ausdruͤcklich sagen, meine Geliebten, was sich von selbst versteht. Ich bin aus meiner Bahn geschritten und ich soll nicht wieder hinein. Ein feindseliger Daͤmon, der Macht uͤber mich gewonnen, scheint mich von außen zu hindern, haͤtte ich mich auch mit mir selbst wieder zur Einigkeit gefunden. Ganz rein war mein Vorsatz, Eduarden zu entsagen, mich von ihm zu entfernen. Ihm hofft' ich nicht wieder zu begegnen. Es ist anders geworden; er stand selbst gegen seinen eigenen Willen vor mir. Mein Versprechen mich mit ihm in keine Unterredung einzulas¬ sen, habe ich vielleicht zu buchstaͤblich genom¬ men und gedeutet. Nach Gefuͤhl und Ge¬ wissen des Augenblicks schwieg ich, verstummt' II . 20 ich vor dem Freunde, und nun habe ich nichts mehr zu sagen. Ein strenges Ordensgeluͤbde, welches den der es mit Ueberlegung eingeht, vielleicht unbequem aͤngstiget, habe ich zufaͤl¬ lig, vom Gefuͤhl gedrungen, uͤber mich ge¬ nommen. Laßt mich darin beharren, so lange mir das Herz gebietet. Beruft keine Mit¬ telsperson! Dringt nicht in mich, daß ich re¬ den, daß ich mehr Speise und Trank ge¬ nießen soll, als ich hoͤchstens bedarf. Helft mir durch Nachsicht und Geduld uͤber diese Zeit hinweg. Ich bin jung, die Jugend stellt sich unversehens wieder her. Duldet mich in eurer Gegenwart, erfreut mich durch eure Liebe, belehrt mich durch eure Unterhaltung; aber mein Innres uͤberlaßt mir selbst. Die laͤngst vorbereitete Abreise der Maͤn¬ ner unterblieb, weil jenes auswaͤrtige Geschaͤft des Majors sich verzoͤgerte: wie erwuͤnscht fuͤr Eduard! Nun durch Ottiliens Blatt aufs neue angeregt, durch ihre trostvollen hoffnung¬ gebenden Worte wieder ermuthigt und zu standhaftem Ausharren berechtigt, erklaͤrte er auf einmal: er werde sich nicht entfernen. Wie thoͤricht! rief er aus, das Unentbehr¬ lichste, Nothwendigste vorsaͤtzlich, voreilig weg¬ zuwerfen, das, wenn uns auch der Verlust bedroht, vielleicht noch zu erhalten waͤre. Und was soll es heißen? Doch nur, daß der Mensch ja scheine wollen, waͤhlen zu koͤnnen. So habe ich oft, beherrscht von solchem albernen Duͤnkel, Stunden ja Tage zu fruͤh, mich von Freunden losgerissen, um nur nicht von dem letzten unausweichlichen Termin entschieden ge¬ zwungen zu werden. Dießmal aber will ich bleiben. Warum soll ich mich entfernen? Ist sie nicht schon von mir entfernt? Es faͤllt mir nicht ein, ihre Hand zu fassen, sie an mein Herz zu druͤcken; sogar darf ich es nicht den¬ ken, es schaudert mir. Sie hat sich nicht von mir weg, sie hat sich uͤber mich wegge¬ hoben. 20 * Und so blieb er, wie er wollte, wie er mußte. Aber auch dem Behagen glich nichts, wenn er sich mit ihr zusammenfand. Und so war auch ihr dieselbe Empfindung geblieben; auch sie konnte sich dieser seligen Nothwen¬ digkeit nicht entziehen. Nach wie vor uͤbten sie eine unbeschreibliche, fast magische Anzie¬ hungskraft gegen einander aus. Sie wohn¬ ten unter Einem Dache; aber selbst ohne ge¬ rade an einander zu denken, mit andern Din¬ gen beschaͤftigt, von der Gesellschaft hin und her gezogen, naͤherten sie sich einander. Fan¬ den sie sich in Einem Saale, so dauerte es nicht lange und sie standen, sie saßen neben einander. Nur die naͤchste Naͤhe konnte sie beruhigen, aber auch voͤllig beruhigen, und diese Naͤhe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebaͤrde, keiner Beruͤhrung bedurfte es, nur des reinen Zu¬ sammenseyns. Dann waren es nicht zwey Menschen, es war nur Ein Mensch im be¬ wußtlosen vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt. Ja, haͤt¬ te man eins von beyden am letzten Ende der Wohnung festgehalten, das andere haͤtte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm hinbewegt. Das Leben war ihnen ein Raͤthsel, dessen Aufloͤsung sie nur mit einan¬ der fanden. Ottilie war durchaus heiter und gelassen, so daß man sich uͤber sie voͤllig beruhigen konnte. Sie entfernte sich wenig aus der Ge¬ sellschaft, nur hatte sie es erlangt, allein zu speisen. Niemand als Nanny bediente sie. Was einem jeden Menschen gewoͤhnlich begegnet, wiederhohlt sich mehr als man glaubt, weil seine Natur hiezu die naͤchste Bestim¬ mung giebt. Character, Individualitaͤt, Nei¬ gung, Richtung, Oertlichkeit, Umgebungen und Gewohnheiten bilden zusammen ein Gan¬ zes, in welchem jeder Mensch, wie in einem Elemente, in einer Atmosphaͤre, schwimmt, worin es ihm allein bequem und behaglich ist. Und so finden wir die Menschen, uͤber deren Veraͤnderlichkeit so viele Klage gefuͤhrt wird, nach vielen Jahren zu unserm Erstau¬ nen unveraͤndert, und nach aͤußern und in¬ nern unendlichen Anregungen unveraͤnderlich. So bewegte sich auch in dem taͤglichen Zusammenleben unserer Freunde fast alles wie¬ der in dem alten Gleise. Noch immer aͤußer¬ te Ottilie stillschweigend durch manche Gefaͤl¬ ligkeit ihr zuvorkommendes Wesen; und so jedes nach seiner Art. Auf diese Weise zeig¬ te sich der haͤusliche Zirkel als ein Scheinbild des vorigen Lebens, und der Wahn, als ob noch alles beym alten sey, war verzeihlich. Die herbstlichen Tage, an Laͤnge jenen Fruͤhlingstagen gleich, riefen die Gesellschaft um eben die Stunde aus dem Freyen ins Haus zuruͤck. Der Schmuck an Fruͤchten und Blumen, der dieser Zeit eigen ist, ließ glau¬ ben als wenn es der Herbst jenes ersten Fruͤh¬ lings waͤre; die Zwischenzeit war ins Ver¬ gessen gefallen. Denn nun bluͤhten die Blu¬ men, dergleichen man in jenen ersten Tagen auch gesaͤt hatte; nun reiften Fruͤchte an den Baͤumen, die man damals bluͤhen gesehen. Der Major ging ab und zu; auch Mitt¬ ler ließ sich oͤfter sehen. Die Abendsitzungen waren meistens regelmaͤßig. Eduard las ge¬ woͤhnlich; lebhafter, gefuͤhlvoller, besser, ja sogar heiterer, wenn man will, als jemals. Es war als wenn er, so gut durch Froͤhlich¬ keit als durch Gefuͤhl, Ottiliens Erstarren wieder beleben, ihr Schweigen wieder aufloͤ¬ sen wollte. Er setzte sich wie vormals, daß sie ihm ins Buch sehen konnte, ja er ward unruhig, zerstreut, wenn sie nicht hineinsah, wenn er nicht gewiß war, daß sie seinen Wor¬ ten mit ihren Augen folgte. Jedes unerfreuliche unbequeme Gefuͤhl der mittleren Zeit war ausgeloͤscht. Keines trug mehr dem andern etwas nach; jede Art von Bitterkeit war verschwunden. Der Major be¬ gleitete mit der Violine das Clavierspiel Char¬ lottens, so wie Eduards Floͤte mit Ottiliens Behandlung des Saiteninstruments wieder wie vormals zusammentraf. So ruͤckte man dem Geburtstage Eduards naͤher, dessen Feyer man vor einem Jahre nicht erreicht hatte. Er sollte ohne Festlichkeit in stillem freundlichen Behagen dießmal gefeyert werden. So war man, halb stillschweigend halb ausdruͤcklich, mit einander uͤbereingekommen. Doch je naͤher diese Epoche heranruͤckte, vermehrte sich das Feyerliche in Ottiliens Wesen, das man bis¬ her mehr empfunden als bemerkt hatte. Sie schien im Garten oft die Blumen zu mustern; sie hatte dem Gaͤrtner angedeutet, die Som¬ mergewaͤchse aller Art zu schonen, und sich besonders bey den Astern aufgehalten, die ge¬ rade dieses Jahr in unmaͤßiger Menge bluͤhten. Achtzehntes Kapitel. Das Bedeutendste jedoch was die Freunde mit stiller Aufmerksamkeit beobachteten, war, daß Ottilie den Coffer zum erstenmal ausge¬ packt und daraus verschiedenes gewaͤhlt und abgeschnitten hatte, was zu einem einzigen aber ganzen und vollen Anzug hinreichte. Als sie das Uebrige mit Beyhuͤlfe Nannys wieder einpacken wollte, konnte sie kaum damit zu Stande kommen; der Raum war uͤbervoll, obgleich schon ein Theil herausgenommen war. Das junge habgierige Maͤdchen konnte sich nicht satt sehen, besonders da sie auch fuͤr alle kleineren Stuͤcke des Anzugs gesorgt fand. Schuhe, Struͤmpfe, Strumpfbaͤnder mit Devisen, Handschuhe und so manches andere war noch uͤbrig. Sie bat Ottilien, ihr nur etwas davon zu schenken. Diese ver¬ weigerte es; zog aber sogleich die Schublade einer Commode heraus und ließ das Kind waͤhlen, das hastig und ungeschickt zugriff und mit der Beute gleich davon lief, um den uͤbrigen Hausgenossen ihr Gluͤck zu verkuͤnden und vorzuzeigen. Zuletzt gelang es Ottilien alles sorgfaͤltig wieder einzuschichten; sie oͤffnete hierauf ein verborgenes Fach das im Deckel angebracht war. Dort hatte sie kleine Zettelchen und Briefe Eduards, mancherley aufgetrocknete Blumenerinnerungen fruͤherer Spazirgaͤnge, eine Locke ihres Geliebten, und was sonst noch verborgen. Noch eins fuͤgte sie hinzu — es war das Portraͤt ihres Vaters — und verschloß das Ganze, worauf sie den zarten Schluͤssel an dem goldnen Kettchen wieder um den Hals an ihre Brust hing. Mancherley Hoffnungen waren indeß in dem Herzen der Freunde rege geworden. Char¬ lotte war uͤberzeugt, Ottilie werde auf jenen Tag wieder zu sprechen anfangen: denn sie hatte bisher eine heimliche Geschaͤftigkeit be¬ wiesen, eine Art von heiterer Selbstzufrieden¬ heit, ein Laͤcheln wie es demjenigen auf dem Gesichte schwebt, der Geliebten etwas Gutes und Erfreuliches verbirgt. Niemand wußte, daß Ottilie gar manche Stunde in großer Schwachheit hinbrachte, aus der sie sich nur fuͤr die Zeiten, wo sie erschien, durch Geistes¬ kraft emporhielt. Mittler hatte sich diese Zeit oͤfter sehen lassen und war laͤnger geblieben als sonst ge¬ woͤhnlich. Der hartnaͤckige Mann wußte nur zu wohl, daß es einen gewissen Moment giebt wo allein das Eisen zu schmieden ist. Otti¬ liens Schweigen so wie ihre Weigerung legte er zu seinen Gunsten aus. Es war bisher kein Schritt zu Scheidung der Gatten ge¬ schehen; er hoffte das Schicksal des guten Maͤdchens auf irgend eine andere guͤnstige Weise zu bestimmen; er horchte, er gab nach, er gab zu verstehen und fuͤhrte sich nach sei¬ ner Weise klug genug auf. Allein uͤberwaͤltigt war er stets sobald er Anlaß fand, sein Raͤsonnement uͤber Mate¬ rien zu aͤußern, denen er eine große Wichtig¬ keit beylegte. Er lebte viel in sich, und wenn er mit andern war, so verhielt er sich ge¬ woͤhnlich nur handelnd gegen sie. Brach nun einmal unter Freunden seine Rede los, wie wir schon oͤfter gesehen haben; so rollte sie ohne Ruͤcksicht fort, verletzte oder heilte, nutzte oder schadete, wie es sich gerade fuͤgen mochte. Den Abend vor Eduards Geburtstage saßen Charlotte und der Major, Eduarden der ausgeritten war, erwartend beysammen; Mittler ging im Zimmer auf und ab; Ottilie war auf dem ihrigen geblieben, den morgen¬ den Schmuck auseinander legend und ihrem Maͤdchen manches andeutend, welche sie voll¬ kommen verstand und die stummen Anord¬ nungen geschickt befolgte. Mittler war gerade auf eine seiner Lieb¬ lingsmaterien gekommen. Er pflegte gern zu behaupten, daß sowohl bey der Erziehung der Kinder als bey der Leitung der Voͤlker, nichts ungeschickter und barbarischer sey als Verbote, als verbietende Gesetze und Anordnungen. Der Mensch ist von Hause aus thaͤtig, sagte er, und wenn man ihm zu gebieten versteht, so faͤhrt er gleich dahinter her, handelt und richtet aus. Ich fuͤr meine Person mag lie¬ ber in meinem Kreise Fehler und Gebrechen so lange dulden, bis ich die entgegengesetzte Tugend gebieten kann, als daß ich den Feh¬ ler los wuͤrde und nichts Rechtes an seiner Stelle saͤhe. Der Mensch thut recht gern das Gute, das Zweckmaͤßige, wenn er nur dazu kommen kann; er thut es, damit er was zu thun hat, und sinnt daruͤber nicht weiter nach, als uͤber alberne Streiche, die er aus Muͤßiggang und langer Weile vornimmt. Wie verdrießlich ist mir's oft, mit anzu¬ hoͤren, wie man die Zehngebote in der Kin¬ derlehre wiederhohlen laͤßt. Das vierte ist noch ein ganz huͤbsches vernuͤnftiges gebieten¬ des Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren. Wenn sich das die Kinder recht in den Sinn schreiben, so haben sie den ganzen Tag daran auszuuͤben. Nun aber das fuͤnfte, was soll man dazu sagen? Du sollst nicht toͤdten. Als wenn irgend ein Mensch im mindesten Lust haͤtte den andern todt zu schlagen! Man haßt einen, man erzuͤrnt sich, man uͤbereilt sich und in Gefolg von dem und manchem andern kann es wohl kommen, daß man gelegentlich einen todt schlaͤgt. Aber ist es nicht eine bar¬ barische Anstalt, den Kindern Mord und Todtschlag zu verbieten? Wenn es hieße: sorge fuͤr des Andern Leben, entferne was ihm schaͤdlich seyn kann, rette ihn mit deiner eigenen Gefahr; wenn du ihn beschaͤdigst, denke daß du dich selbst beschaͤdigst: das sind Gebote wie sie unter gebildeten vernuͤnftigen Voͤlkern Statt haben, und die man bey der Catechismuslehre nur kuͤmmerlich in dem Wasistdas nachschleppt. Und nun gar das sechste, das finde ich ganz abscheulich! Was? die Neugierde vor¬ ahndender Kinder auf gefaͤhrliche Mysterien reizen, ihre Einbildungskraft zu wunderlichen Bildern und Vorstellungen aufregen, die ge¬ rade das was man entfernen will, mit Ge¬ walt heranbringen! Weit besser waͤre es, daß dergleichen von einem heimlichen Gericht will¬ kuͤhrlich bestraft wuͤrde, als daß man vor Kirch' und Gemeinde davon plappern laͤßt. In dem Augenblick trat Ottilie herein — Du sollst nicht ehebrechen, fuhr Mittler fort: Wie grob, wie unanstaͤndig! Klaͤnge es nicht ganz anders wenn es hieße: Du sollst Ehr¬ furcht haben vor der ehelichen Verbindung; wo du Gatten siehst die sich lieben, sollst du dich daruͤber freuen und Theil daran nehmen wie an dem Gluͤck eines heitern Tages. Soll¬ te sich irgend in ihrem Verhaͤltniß etwas truͤ¬ ben, so sollst du suchen es aufzuklaͤren; du sollst suchen sie zu beguͤtigen, sie zu besaͤnfti¬ gen, ihnen ihre wechselseitigen Vortheile deut¬ lich zu machen, und mit schoͤner Uneigen¬ nuͤtzigkeit das Wohl der andern foͤrdern, in¬ dem du ihnen fuͤhlbar machst was fuͤr ein Gluͤck aus jeder Pflicht und besonders aus dieser entspringt, welche Mann und Weib unaufloͤslich verbindet. Charlotte saß wie auf Kohlen, und der Zustand war ihr um so aͤngstlicher als sie uͤberzeugt war, daß Mittler nicht wußte was und wo er's sagte, und ehe sie ihn noch un¬ terbrechen konnte, sah sie schon Ottilien, deren Gestalt sich verwandelt hatte, aus dem Zim¬ mer gehen. Sie erlassen uns wohl das siebente Ge¬ bot, sagte Charlotte mit erzwungenem Laͤcheln. Alle die uͤbrigen, versetzte Mittler, wenn ich nur das rette, worauf die andern beruhen. Mit entsetzlichem Schrey hereinstuͤrzend rief Nanny: Sie stirbt! Die Fraͤulein stirbt! Kommen Sie! kommen Sie! Als Ottilie nach ihrem Zimmer schwan¬ kend zuruͤckgekommen war, lag der morgende Schmuck auf mehreren Stuͤhlen voͤllig aus¬ gebreitet, und das Maͤdchen, das betrachtend und bewundernd daran hin und herging, rief jubelnd aus: Sehen Sie nur, liebste Fraͤu¬ lein, das ist ein Brautschmuck ganz Ihrer werth! Ottilie vernahm diese Worte und sank auf den Sopha. Nanny sieht ihre Herrinn erblas¬ II . 21 sen, erstarren; sie laͤuft zu Charlotten; man kommt. Der aͤrztliche Hausfreund eilt her¬ bey; es scheint ihm nur eine Erschoͤpfung. Er laͤßt etwas Kraftbruͤhe bringen; Ottilie weist sie mit Abscheu weg, ja sie faͤllt fast in Zuckungen als man die Tasse dem Munde naͤhert. Er fragt mit Ernst und Hast, wie es ihm der Umstand eingab: was Ottilie heu¬ te genossen habe? Das Maͤdchen stockt; er wiederhohlt seine Frage, das Maͤdchen be¬ kennt, Ottilie habe nichts genossen. Nanny erscheint ihm aͤngstlicher als billig. Er reißt sie in ein Nebenzimmer, Charlotte folgt, das Maͤdchen wirft sich auf die Kniee, sie gesteht, daß Ottilie schon lange so gut wie nichts genieße. Auf Andringen Ottiliens habe sie die Speisen an ihrer Statt genossen; ver¬ schwiegen habe sie es wegen bittender und drohender Gebaͤrden ihrer Gebieterinn, und auch, setzte sie unschuldig hinzu: weil es ihr gar so gut geschmeckt. Der Major und Mittler kamen heran, sie fanden Charlotten thaͤtig in Gesellschaft des Arztes. Das bleiche himmlische Kind saß, sich selbst bewußt wie es schien, in der Ecke des Sophas. Man bittet sie sich niederzule¬ gen; sie verweigert's, winkt aber daß man das Koͤfferchen herbeybringe. Sie setzt ihre Fuͤße darauf und findet sich in einer halb lie¬ genden bequemen Stellung. Sie scheint Ab¬ schied nehmen zu wollen, ihre Gebaͤrden druͤcken den Umstehenden die zarteste Anhaͤng¬ lichkeit aus, Liebe, Dankbarkeit, Abbitte und das herzlichste Lebewohl. Eduard der vom Pferde steigt, vernimmt den Zustand, er stuͤrzt in das Zimmer, er wirft sich an ihre Seite nieder, faßt ihre Hand und uͤberschwemmt sie mit stummen Thraͤnen. So bleibt er lange. Endlich ruft er aus: Soll ich deine Stimme nicht wieder¬ hoͤren? wirst du nicht mit einem Wort fuͤr mich ins Leben zuruͤckkehren? Gut, gut! ich 21 * folge dir hinuͤber: da werden wir mit an¬ dern Sprachen reden! Sie druͤckt ihm kraͤftig die Hand, sie blickt ihn lebevoll und liebevoll an, und nach einem tiefen Athemzug, nach einer himmli¬ schen, stummen Bewegung der Lippen: Ver¬ sprich mir zu leben! ruft sie aus, mit holder zaͤrtlicher Anstrengung, doch gleich sinkt sie zuruͤck. Ich versprech' es! rief er ihr ent¬ gegen, doch er rief es ihr nur nach; sie war schon abgeschieden. Nach einer thraͤnenvollen Nacht fiel die Sorge, die geliebten Reste zu bestatten, Char¬ lotten anheim. Der Major und Mittler stan¬ den ihr bey. Eduards Zustand war zu be¬ jammern. Wie er sich aus seiner Verzweif¬ lung nur hervorheben und einigermaßen be¬ sinnen konnte, bestand er darauf: Ottilie soll¬ te nicht aus dem Schlosse gebracht, sie sollte gewartet, gepflegt, als eine Lebende behandelt werden; denn sie sey nicht todt, sie koͤnne nicht todt seyn. Man that ihm seinen Wil¬ len, insofern man wenigstens das unterließ was er verboten hatte. Er verlangte sie nicht zu sehen. Noch ein anderer Schreck ergriff, noch eine andre Sorge beschaͤftigte die Freunde. Nanny von dem Arzt heftig gescholten, durch Drohungen zum Bekenntniß genoͤthigt, und nach dem Bekenntniß mit Vorwuͤrfen uͤber¬ haͤuft, war entflohen. Nach langem Suchen fand man sie wieder; sie schien außer sich zu seyn. Ihre Aeltern nahmen sie zu sich. Die beste Begegnung schien nicht anzuschla¬ gen, man mußte sie einsperren, weil sie wie¬ der zu entfliehen drohte. Stufenweise gelang es, Eduarden der hef¬ tigsten Verzweiflung zu entreißen, aber nur zu seinem Ungluͤck: denn es ward ihm deut¬ lich, es ward ihm gewiß, daß er das Gluͤck seines Lebens fuͤr immer verloren habe. Man wagte es ihm vorzustellen, daß Ottilie in jener Capelle beygesetzt, noch immer unter den Le¬ bendigen bleiben und einer freundlichen stillen Wohnung nicht entbehren wuͤrde. Es fiel schwer seine Einwilligung zu erhalten, und nur unter der Bedingung, daß sie im offenen Sarge hinausgetragen, und in dem Gewoͤlbe allenfalls nur mit einem Glasdeckel zugedeckt und eine immerbrennende Lampe gestiftet wer¬ den sollte, ließ er sichs zuletzt gefallen und schien sich in alles ergeben zu haben. Man kleidete den holden Koͤrper in jenen Schmuck den sie sich selbst vorbereitet hatte; man setzte ihr einen Kranz von Asterblumen auf das Haupt, die wie traurige Gestirne ahndungsvoll glaͤnzten. Die Baare, die Kir¬ che, die Capelle zu schmuͤcken, wurden alle Gaͤrten ihres Schmucks beraubt. Sie lagen veroͤdet als wenn bereits der Winter alle Freude aus den Beeten weggetilgt haͤtte. Beym fruͤhsten Morgen wurde sie im offnen Sarge aus dem Schloß getragen und die auf¬ gehende Sonne roͤthete nochmals das himm¬ lische Gesicht. Die Begleitenden draͤngten sich um die Traͤger, Niemand wollte vorausgehn, Niemand folgen, Jedermann sie umgeben, Jedermann noch zum letztenmale ihre Gegen¬ wart genießen. Knaben, Maͤnner und Frauen, keins blieb ungeruͤhrt. Untroͤstlich waren die Maͤdchen, die ihren Verlust am unmittelbar¬ sten empfanden. Nanny fehlte. Man hatte sie zuruͤckge¬ halten oder vielmehr man hatte ihr den Tag und die Stunde des Begraͤbnisses verheim¬ licht. Man bewachte sie bey ihren Aeltern in einer Kammer, die nach dem Garten ging. Als sie aber die Glocken laͤuten hoͤrte, ward sie nur allzubald inne was vorging, und da ihre Waͤchterinn, aus Neugierde den Zug zu sehen, sie verließ, entkam sie zum Fenster hinaus auf einen Gang und von da, weil sie alle Thuͤren verschlossen fand, auf den Ober¬ boden. Eben schwankte der Zug den reinlichen mit Blaͤttern bestreuten Weg durchs Dorf hin. Nanny sah ihre Gebieterinn deutlich unter sich, deutlicher, vollstaͤndiger, schoͤner als alle die dem Zuge folgten. Ueberirdisch, wie auf Wolken oder Wogen getragen, schien sie ihrer Dienerinn zu winken, und diese verworren schwankend taumelnd stuͤrzte hinab. Auseinander fuhr die Menge mit einem entsetzlichen Schrey nach allen Seiten. Vom Draͤngen und Getuͤmmel waren die Traͤger genoͤthigt die Baare niederzusetzen. Das Kind lag ganz nahe daran; es schien an allen Glie¬ dern zerschmettert. Man hob es auf; und zufaͤllig oder aus besonderer Fuͤgung lehnte man es uͤber die Leiche, ja es schien selbst noch mit dem letzten Lebensrest seine geliebte Herrinn erreichen zu wollen. Kaum aber hatten ihre schlotternden Glieder Ottiliens Ge¬ wand, ihre kraftlosen Finger Ottiliens gefal¬ tete Haͤnde beruͤhrt, als das Maͤdchen auf¬ sprang, Arme und Augen zuerst gen Himmel erhob, dann auf die Kniee vor dem Sarge niederstuͤrzte und andaͤchtig entzuͤckt zu der Herrinn hinauf staunte. Endlich sprang sie wie begeistert auf und rief mit heiliger Freude: Ja, sie hat mir vergeben! Was mir kein Mensch, was ich mir selbst nicht vergeben konnte, vergiebt mir Gott durch ihren Blick, ihre Gebaͤrde, ihren Mund. Nun ruht sie wieder so still und sanft; aber Ihr habt gesehen wie sie sich auf¬ richtete und mit entfalteten Haͤnden mich seg¬ nete, wie sie mich freundlich anblickte! Ihr habt es alle gehoͤrt, Ihr seyd Zeugen daß sie zu mir sagte: Dir ist vergeben! — Ich bin nun keine Moͤrderinn mehr unter Euch; sie hat mir verziehen, Gott hat mir verzie¬ hen, und Niemand kann mir mehr etwas anhaben. Umhergedraͤngt stand die Menge; sie wa¬ ren erstaunt, sie horchten und sahen hin und wieder, und kaum wußte Jemand was er beginnen sollte. Tragt sie nun zur Ruhe! sagte das Maͤdchen: sie hat das Ihrige ge¬ than und gelitten, und kann nicht mehr unter uns wohnen. Die Baare bewegte sich weiter, Nanny folgte zuerst und man gelangte zur Kirche, zur Capelle. So stand nun der Sarg Ottiliens, zu ihren Haͤupten der Sarg des Kindes, zu ih¬ ren Fuͤßen das Koͤfferchen, in ein starkes eichenes Behaͤltniß eingeschlossen. Man hatte fuͤr eine Waͤchterinn gesorgt, welche in der ersten Zeit des Leichnams wahrnehmen sollte, der unter seiner Glasdecke gar liebenswuͤrdig dalag. Aber Nanny wollte sich dieses Amt nicht nehmen lassen; sie wollte allein, ohne Gesellinn bleiben und der zum erstenmal an¬ gezuͤndeten Lampe fleißig warten. Sie ver¬ langte dieß so eifrig und hartnaͤckig, daß man ihr nachgab, um ein groͤßeres Gemuͤthsuͤbel das sich befuͤrchten ließ, zu verhuͤthen. Aber sie blieb nicht lange allein: denn gleich mit sinkender Nacht, als das schwebende Licht sein volles Recht ausuͤbend einen helleren Schein verbreitete, oͤffnete sich die Thuͤre und es trat der Architect in die Capelle, deren fromm verzierte Waͤnde, bey so mildem Schim¬ mer, alterthuͤmlicher und ahndungsvoller, als er je haͤtte glauben koͤnnen, ihm entgegen drangen. Nanny saß an der einen Seite des Sar¬ ges. Sie erkannte ihn gleich; aber schwei¬ gend deutete sie auf die verblichene Herrinn. Und so stand er auf der andern Seite, in jugendlicher Kraft und Anmuth, auf sich selbst zuruͤckgewiesen, starr, in sich gekehrt, mit nie¬ dergesenkten Armen, gefalteten, mitleidig ge¬ rungenen Haͤnden, Haupt und Blick nach der Entseelten hingeneigt. Schon einmal hatte er so vor Belisar ge¬ standen. Unwillkuͤhrlich gerieth er jetzt in die gleiche Stellung; und wie natuͤrlich war sie auch dießmal! Auch hier war etwas unschaͤtz¬ bar Wuͤrdiges von seiner Hoͤhe herabge¬ stuͤrzt; und wenn dort Tapferkeit, Klugheit, Macht, Rang und Vermoͤgen in einem Man¬ ne als unwiederbringlich verloren bedauert wurden; wenn Eigenschaften, die der Nation, dem Fuͤrsten, in entscheidenden Momenten un¬ entbehrlich sind, nicht geschaͤtzt, vielmehr ver¬ worfen und ausgestoßen worden: so waren hier so viel andere stille Tugenden, von der Natur erst kurz aus ihren gehaltreichen Tie¬ fen hervorgerufen, durch ihre gleichguͤltige Hand schnell wieder ausgetilgt: seltene, schoͤne, liebenswuͤrdige Tugenden, deren friedliche Ein¬ wirkung die beduͤrftige Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genuͤgen umfaͤngt und mit sehn¬ suͤchtiger Trauer vermißt. Der Juͤngling schwieg, auch das Maͤdchen eine Zeit lang; als sie ihm aber die Thraͤnen haͤufig aus dem Auge quellen sah, als er sich im Schmerz ganz aufzuloͤsen schien, sprach sie mit so viel Wahrheit und Kraft, mit so viel Wohlwollen und Sicherheit, ihm zu, daß er uͤber den Fluß ihrer Rede erstaunt, sich zu fassen vermochte, und seine schoͤne Freundinn ihm in einer hoͤhern Region lebend und wir¬ kend vorschwebte. Seine Thraͤnen trockneten, seine Schmerzen linderten sich; knieend nahm er von Ottilien, mit einem herzlichen Haͤnde¬ druck von Nanny Abschied, und noch in der Nacht ritt er vom Orte weg ohne Jemand weiter gesehen zu haben. Der Wundarzt war die Nacht uͤber, ohne des Maͤdchens Wissen, in der Kirche geblie¬ ben, und fand als er sie des Morgens be¬ suchte, sie heiter und getrosten Muthes. Er war auf mancherley Verirrungen gefaßt; er dachte schon, sie werde ihm von naͤchtlichen Unterredungen mit Ottilien und von andern solchen Erscheinungen sprechen: aber sie war natuͤrlich, ruhig und sich voͤllig selbstbewußt. Sie erinnerte sich vollkommen aller fruͤheren Zeiten, aller Zustaͤnde mit großer Genauig¬ keit, und nichts in ihren Reden schritt aus dem gewoͤhnlichen Gange des Wahren und Wirklichen heraus, als nur die Begebenheit beym Leichenbegaͤngniß, die sie mit Freudig¬ keit oft wiederhohlte: wie Ottilie sich aufge¬ richtet, sie gesegnet, ihr verziehen, und sie dadurch fuͤr immer beruhigt habe. Der fortdauernd schoͤne, mehr schlaf- als todaͤhnliche Zustand Ottiliens zog mehrere Menschen herbey. Die Bewohner und An¬ wohner wollten sie noch sehen, und Jeder mochte gern aus Nanny's Munde das Un¬ glaubliche hoͤren; manche um daruͤber zu spot¬ ten, die meisten um daran zu zweifeln, und wenige um sich glaubend dagegen zu ver¬ halten. Jedes Beduͤrfniß dessen wirkliche Befrie¬ digung versagt ist, noͤthigt zum Glauben. Die vor den Augen aller Welt zerschmetterte Nanny war durch Beruͤhrung des frommen Koͤrpers wieder gesund geworden: warum sollte nicht auch ein aͤhnliches Gluͤck hier an¬ dern bereitet seyn? Zaͤrtliche Muͤtter brachten zuerst heimlich ihre Kinder, die von irgend einem Uebel behaftet waren, und sie glaubten eine ploͤtzliche Besserung zu spuͤren. Das Zutrauen vermehrte sich, und zuletzt war Nie¬ mand so alt und so schwach, der sich nicht an dieser Stelle eine Erquickung und Erleich¬ terung gesucht haͤtte. Der Zudrang wuchs und man sah sich genoͤthigt die Capelle, ja außer den Stunden des Gottesdienstes, die Kirche zu verschließen. Eduard wagte sich nicht wieder zu der Abgeschiedenen. Er lebte nur vor sich hin, er schien keine Thraͤne mehr zu haben, keines Schmerzes weiter faͤhig zu seyn. Seine Theilnahme an der Unterhaltung, sein Genuß von Speis' und Trank vermindert sich mit jedem Tage. Nur noch einige Erquickung scheint er aus dem Glase zu schluͤrfen, das ihm freylich kein wahrhafter Prophet gewe¬ sen. Er betrachtet noch immer gern die ver¬ schlungenen Namenszuͤge und sein ernstheite¬ rer Blick dabey scheint anzudeuten, daß er auch jetzt noch auf eine Vereinigung hoffe. Und wie den Gluͤcklichen jeder Nebenumstand zu beguͤnstigen, jedes Ungefaͤhr mit emporzu¬ heben scheint; so moͤgen sich auch gern die kleinsten Vorfaͤlle zur Kraͤnkung, zum Ver¬ derben des Ungluͤcklichen vereinigen. Denn eines Tages, als Eduard, das geliebte Glas zum Munde brachte, entfernte er es mit Ent¬ setzen wieder: es war dasselbe und nicht das¬ selbe; er vermißt ein kleines Kennzeichen. Man dringt in den Kammerdiener und dieser muß gestehen: das aͤchte Glas sey unlaͤngst zerbrochen, und ein gleiches, auch aus Eduards Jugendzeit, untergeschoben worden. Eduard kann nicht zuͤrnen, sein Schicksal ist ausge¬ sprochen durch die That: wie soll ihn das Gleichniß ruͤhren? Aber doch druͤckt es ihn tief. Der Trank scheint ihm von nun an zu wider¬ stehen; er scheint sich mit Vorsatz der Speise, des Gespraͤchs zu enthalten. Aber von Zeit zu Zeit uͤberfaͤllt ihn eine Unruhe. Er verlangt wieder etwas zu genie¬ ßen, er faͤngt wieder an zu sprechen. Ach! sagte er einmal zum Major, der ihm wenig von der Seite kam: was bin ich ungluͤcklich, daß mein ganzes Bestreben nur immer eine Nachahmung, ein falsches Bemuͤhen bleibt! Was ihr Seligkeit gewesen, wird mir Pein; und doch, um dieser Seligkeit willen, bin ich genoͤthigt diese Pein zu uͤbernehmen. Ich muß ihr nach, auf diesem Wege nach; aber II . 22 meine Natur haͤlt mich zuruͤck und mein Versprechen. Es ist eine schreckliche Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen. Ich fuͤhle wohl, Bester, es gehoͤrt Genie zu allem, auch zum Maͤrtyrerthum. Was sollen wir, bey diesem hoffnungs¬ losen Zustande, der ehegattlichen, freundschaft¬ lichen, aͤrztlichen Bemuͤhungen gedenken, in welchen sich Eduards Angehoͤrige eine Zeit lang hin und herwogten. Endlich fand man ihn todt. Mittler machte zuerst diese traurige Entdeckung. Er berief den Arzt und beob¬ achtete, nach seiner gewoͤhnlichen Fassung, ge¬ nau die Umstaͤnde in denen man den Verbli¬ chenen angetroffen hatte. Charlotte stuͤrzte herbey: ein Verdacht des Selbstmordes regte sich in ihr; sie wollte sich, sie wollte die andern einer unverzeihlichen Unvorsichtigkeit anklagen. Doch der Arzt aus natuͤrlichen, und Mittler aus sittlichen Gruͤnden, wußten sie bald vom Gegentheil zu uͤberzeugen. Ganz deutlich war Eduard von seinem Ende uͤberrascht worden. Er hatte, was er bisher sorgfaͤltig zu verbergen pflegte, das ihm von Ottilien uͤbrig gebliebene, in einem stillen Augenblick, vor sich aus einem Kaͤstchen, aus einer Brief¬ tasche ausgebreitet: eine Locke, Blumen in gluͤcklicher Stunde gepfluͤckt, alle Blaͤttchen die sie ihm geschrieben, von jenem ersten an das ihm seine Gattinn so zufaͤllig ahndungs¬ reich uͤbergeben hatte. Das alles konnte er nicht einer ungefaͤhren Entdeckung mit Wil¬ len preißgeben. Und so lag denn auch dieses vor kurzem zu unendlicher Bewegung aufge¬ regte Herz in unstoͤrbarer Ruhe; und wie er in Gedanken an die Heilige eingeschlafen war, so konnte man wohl ihn selig nennen. Charlotte gab ihm seinen Platz neben Ottilien und verordnete, daß Niemand weiter in die¬ sem Gewoͤlbe beygesetzt werde. Unter dieser Bedingung machte sie fuͤr Kirche und Schule, fuͤr den Geistlichen und den Schullehrer an¬ sehnliche Stiftungen. 22 * So ruhen die Liebenden neben einander. Friede schwebt uͤber ihrer Staͤtte, heitere ver¬ wandte Engelsbilder schauen vom Gewoͤlbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Au¬ genblick wird es seyn, wenn sie dereinst wie¬ der zusammen erwachen.