Aus meinem Leben Dichtung und Wahrheit. Von Goethe . Erster Theil. Ὁ μη δαρεις ανϑρωπος ου παιδευεται. Tuͤbingen , in der J. G. Cottaischen Buchhandlung. 1811. Als Vorwort zu der gegenwaͤrtigen Arbeit, welche desselben vielleicht mehr als eine andere beduͤrfen moͤchte, stehe hier der Brief eines Freundes, durch den ein solches, immer bedenkliches Unternehmen veranlaßt worden. „Wir haben, theurer Freund, nun¬ mehr die zwoͤlf Theile Ihrer dichterischen Werke beysammen, und finden, indem wir sie durchlesen, manches Bekannte, manches Unbekannte; ja manches Ver¬ gessene wird durch diese Sammlung wie¬ der angefrischt. Man kann sich nicht enthalten, diese zwoͤlf Baͤnde, welche in *2 Einem Format vor uns stehen, als ein Ganzes zu betrachten, und man moͤchte sich daraus gern ein Bild des Autors und seines Talents entwerfen. Nun ist nicht zu laͤugnen, daß fuͤr die Lebhaf¬ tigkeit, womit derselbe seine schriftstelleri¬ sche Laufbahn begonnen, fuͤr die lange Zeit die seit dem verflossen, ein Duzzend Baͤndchen zu wenig scheinen muͤssen. Eben so kann man sich bey den einzel¬ nen Arbeiten nicht verhehlen, daß mei¬ stens besondere Veranlassungen dieselben hervorgebracht, und sowohl aͤußere be¬ stimmte Gegenstaͤnde als innere entschie¬ dene Bildungsstufen daraus hervorschei¬ nen, nicht minder auch gewisse temporaͤre moralische und aͤsthetische Maximen und Ueberzeugungen darin obwalten. Im Ganzen aber bleiben diese Produktionen immer unzusammenhaͤngend; ja oft sollte man kaum glauben, daß sie von demsel¬ ben Schriftsteller entsprungen seyen. Ihre Freunde haben indessen die Nach¬ forschung nicht aufgegeben und suchen, als naͤher bekannt mit Ihrer Lebens- und Denkweise, manches Raͤthsel zu erra¬ then, manches Problem aufzuloͤsen; ja sie finden, da eine alte Neigung und ein verjaͤhrtes Verhaͤltniß ihnen beysteht, selbst in den vorkommenden Schwierig¬ keiten einigen Reiz. Doch wuͤrde uns hie und da eine Nachhuͤlfe nicht unan¬ genehm seyn, welche Sie unsern freund¬ schaftlichen Gesinnungen nicht wohl ver¬ sagen duͤrfen. Das Erste also, warum wir Sie er¬ suchen, ist, daß Sie uns Ihre, bey der neuen Ausgabe, nach gewissen innern Beziehungen geordneten Dichtwerke in einer chronologischen Folge auffuͤhren und sowohl die Lebens- und Gemuͤthszu¬ staͤnde, die den Stoff dazu hergegeben, als auch die Beyspiele, welche auf Sie gewirkt, nicht weniger die theoretischen Grundsaͤtze, denen Sie gefolgt, in ei¬ nem gewissen Zusammenhange vertrauen moͤchten. Widmen Sie diese Bemuͤhung einem engern Kreise, vielleicht entspringt daraus etwas, was auch einem groͤßern angenehm und nuͤtzlich werden kann. Der Schriftsteller soll bis in sein hoͤch¬ stes Alter den Vortheil nicht aufgeben, sich mit denen die eine Neigung zu ihm gefaßt, auch in die Ferne zu unterhal¬ ten; und wenn es nicht einem Jeden ver¬ liehen seyn moͤchte, in gewissen Jahren mit unerwarteten, maͤchtig wirksamen Erzeugnissen von neuem aufzutreten: so sollte doch gerade zu der Zeit, wo die Erkenntniß vollstaͤndiger, das Bewußt¬ seyn deutlicher wird, das Geschaͤft sehr unterhaltend und neubelebend seyn, je¬ nes Hervorgebrachte wieder als Stoff zu behandeln und zu einem Letzten zu bear¬ beiten, welches denen abermals zur Bil¬ dung gereiche, die sich fruͤher mit und an dem Kuͤnstler gebildet haben.“ Dieses so freundlich geaͤußerte Ver¬ langen erweckte bey mir unmittelbar die Lust es zu befolgen. Denn wenn wir in fruͤherer Zeit leidenschaftlich unsern ei¬ genen Weg gehen, und um nicht irre zu werden, die Anforderungen Anderer un¬ geduldig ablehnen, so ist es uns in spaͤ¬ tern Tagen hoͤchst erwuͤnscht, wenn ir¬ gend eine Theilnahme uns aufregen und zu einer neuen Thaͤtigkeit liebevoll be¬ stimmen mag. Ich unterzog mich daher sogleich der vorlaͤufigen Arbeit, die groͤ¬ ßeren und kleineren Dichtwerke meiner zwoͤlf Baͤnde auszuzeichnen und den Jah¬ ren nach zu ordnen. Ich suchte mir Zeit und Umstaͤnde zu vergegenwaͤrtigen, un¬ ter welchen ich sie hervorgebracht. Allein das Geschaͤft ward bald beschwerlicher, weil ausfuͤhrliche Anzeigen und Erklaͤ¬ rungen noͤthig wurden, um die Luͤcken zwischen dem bereits Bekanntgemachten auszufuͤllen. Denn zuvoͤrderst fehlt alles woran ich mich zuerst geuͤbt, es fehlt manches Angefangene und nicht Vollen¬ dete; ja sogar ist die aͤußere Gestalt manches Vollendeten voͤllig verschwun¬ den, indem es in der Folge gaͤnzlich um¬ gearbeitet und in eine andere Form ge¬ gossen worden. Außer diesem blieb mir auch noch zu gedenken, wie ich mich in Wissenschaften und andern Kuͤnsten be¬ muͤht, und was ich in solchen fremd scheinenden Faͤchern sowohl einzeln als in Verbindung mit Freunden, theils im Stillen geuͤbt, theils oͤffentlich bekannt gemacht. Alles dieses wuͤnschte ich nach und nach zu Befriedigung meiner Wohlwol¬ lenden einzuschalten; allein diese Bemuͤ¬ hungen und Betrachtungen fuͤhrten mich immer weiter: denn indem ich jener sehr wohl uͤberdachten Forderung zu entspre¬ chen wuͤnschte, und mich bemuͤhte, die innern Regungen, die aͤußern Einfluͤsse, die theoretisch und praktisch von mir be¬ tretenen Stufen, der Reihe nach darzu¬ stellen; so ward ich aus meinem engen Privatleben in die weite Welt geruͤckt, die Gestalten von hundert bedeutenden Menschen, welche naͤher oder entfernter auf mich eingewirkt, traten hervor; ja die ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politischen Weltlaufs, die auf mich wie auf die ganze Masse der Gleichzeitigen den groͤßten Einfluß gehabt, mußten vor¬ zuͤglich beachtet werden. Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu seyn, den Menschen in seinen Zeit¬ verhaͤltnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn beguͤnstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Kuͤnst¬ ler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hiezu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß naͤmlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, in wiefern es unter allen Umstaͤnden dasselbe ge¬ blieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, der¬ gestalt daß man wohl sagen kann, ein Jeder, nur zehn Jahre fruͤher oder spaͤ¬ ter geboren, duͤrfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden seyn. Auf diesem Wege, aus dergleichen Betrachtungen und Versuchen, aus sol¬ chen Erinnerungen und Ueberlegungen entsprang die gegenwaͤrtige Schilderung, und aus diesem Gesichtspunct ihres Ent¬ stehens wird sie am besten genossen, ge¬ nutzt, und am billigsten beurtheilt wer¬ den koͤnnen. Was aber sonst noch, be¬ sonders uͤber die halb poetische, halb hi¬ storische Behandlung etwa zu sagen seyn moͤchte, dazu findet sich wohl im Laufe der Erzaͤhlung mehrmals Gelegenheit. Am 28. August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwoͤlf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Constellation war gluͤcklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und culminirte fuͤr den Tag; Ju¬ piter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwaͤrtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichguͤltig: nur der Mond, der so eben voll ward, uͤbte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er wider¬ setzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vor¬ uͤbergegangen. Diese guten Aspecten, welche mir die Astro¬ logen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen 1 * wußten, moͤgen wohl Ursache an meiner Erhal¬ tung gewesen seyn: denn durch Ungeschicklich¬ keit der Hebamme kam ich fuͤr todt auf die Welt, und nur durch vielfache Bemuͤhungen brachte man es dahin, daß ich das Licht erblickte. Die¬ ser Umstand, welcher die Meinigen in große Noth versetzt hatte, gereichte jedoch meinen Mitbuͤrgern zum Vortheil, indem mein Gro߬ vater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor , daher Anlaß nahm, daß ein Ge¬ burtshelfer angestellt, und der Hebammen-Un¬ terricht eingefuͤhrt oder erneuert wurde; wel¬ ches denn manchem der Nachgebornen mag zu Gute gekommen seyn. Wenn man sich erinnern will, was uns in der fruͤhsten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, dasjenige was wir von an¬ dern gehoͤrt, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner anschauender Erfahrung be¬ sitzen. Ohne also hieruͤber eine genaue Untersu¬ chung anzustellen, welche ohnehin zu nichts fuͤh¬ ren kann, bin ich mir bewußt, daß wir in ei¬ nem alten Hause wohnten, welches eigentlich aus zwey durchgebrochnen Haͤusern bestand. Eine thurmartige Treppe fuͤhrte zu unzusammenhan¬ genden Zimmern, und die Ungleichheit der Stock¬ werke war durch Stufen ausgeglichen. Fuͤr uns Kinder, eine juͤngere Schwester und mich, war der untere weitlaͤuftige Hausflur der liebste Raum, welcher neben der Thuͤre ein großes hoͤl¬ zernes Gitterwerk hatte, wodurch man unmit¬ telbar mit der Straße und der freyen Luft in Verbindung kam. Einen solchen Vogelbauer, mit dem viele Haͤuser versehen waren, nannte man ein Geraͤms . Die Frauen saßen darin, um zu naͤhen und zu stricken; die Koͤchinn las ih¬ ren Salat; die Nachbarinnen besprachen sich von daher miteinander, und die Straßen gewan¬ nen dadurch in der guten Jahrezeit ein suͤdliches Ansehen. Man fuͤhlte sich frey, indem man mit dem Oeffentlichen vertraut war. So kamen auch durch diese Geraͤmse die Kinder mit den Nachbarn in Verbindung, und mich gewan¬ nen drey gegenuͤber wohnende Bruͤder von Ochsenstein , hinterlassene Soͤhne des verstor¬ benen Schultheißen, gar lieb, und beschaͤftigten und neckten sich mit mir auf mancherley Weise. Die Meinigen erzaͤhlten gern allerley Eu¬ lenspiegeleyen, zu denen mich jene sonst ernste und einsame Maͤnner angereizt. Ich fuͤhre nur einen von diesen Streichen an. Es war eben Topfmarkt gewesen, und man hatte nicht al¬ lein die Kuͤche fuͤr die naͤchste Zeit mit solchen Waaren versorgt, sondern auch uns Kindern dergleichen Geschirr im Kleinen zu spielender Beschaͤftigung eingekauft. An einem schoͤnen Nachmittag, da alles ruhig im Hause war, trieb ich im Geraͤms mit meinen Schuͤsseln und Toͤpfen mein Wesen, und da weiter nichts dabey heraus kommen wollte, warf ich ein Geschirr auf die Straße und freute mich, daß es so lustig zerbrach. Die von Ochsenstein, welche sahen, wie ich mich daran ergetzte, daß ich so gar froͤhlich in die Haͤndchen patschte, riefen: Noch mehr! Ich saͤumte nicht, sogleich einen Topf, und auf immer fortwaͤhrendes Rufen: Noch mehr! nach und nach saͤmmtliche Schuͤs¬ selchen, Tiegelchen, Kaͤnnchen gegen das Pfla¬ ster zu schleudern. Meine Nachbarn fuhren fort ihren Beyfall zu bezeigen, und ich war hoͤchlich froh ihnen Vergnuͤgen zu machen. Mein Vor¬ rath aber war aufgezehrt und sie riefen immer: Noch mehr! Ich eilte daher stracks in die Kuͤche und holte die irdenen Teller, welche nun frey¬ lich im Zerbrechen noch ein lustigeres Schau¬ spiel gaben; und so lief ich hin und wieder, brachte einen Teller nach dem andern, wie ich sie auf dem Topfbrett der Reihe nach erreichen konnte, und weil sich jene gar nicht zufrieden gaben, so stuͤrzte ich alles was ich von Ge¬ schirr erschleppen konnte, in gleiches Verder¬ ben. Nur spaͤter erschien Jemand zu hindern und zu wehren. Das Ungluͤck war gesche¬ hen, und man hatte fuͤr so viel zerbrochne Toͤpferwaare wenigstens eine lustige Ge¬ schichte, an der sich besonders die schalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergetzten. Meines Vaters Mutter, bey der wir ei¬ gentlich im Hause wohnten, lebte in einem gro¬ ßen Zimmer hinten hinaus, unmittelbar an der Hausflur, und wir pflegten unsere Spiele bis an ihren Sessel, ja wenn sie krank war, bis an ihr Bett hin auszudehnen. Ich erin¬ nere mich ihrer gleichsam als eines Geistes, als einer schoͤnen, hagern, immer weiß und rein¬ lich gekleideten Frau. Sanft, freundlich, wohl¬ wollend, ist sie mir im Gedaͤchtniß geblieben. Wir hatten die Straße, in welcher unser Haus lag, den Hirschgraben nennen hoͤren; da wir aber weder Graben noch Hirsche sahen, so wollten wir diesen Ausdruck erklaͤrt wissen. Man erzaͤhlte sodann, unser Haus stehe auf einem Raum, der sonst außerhalb der Stadt gelegen, und da wo jetzt die Straße sich befinde, sey ehmals ein Graben gewesen, in welchem eine Anzahl Hirsche unterhalten worden. Man habe diese Thiere hier bewahrt und genaͤhrt, weil nach einem alten Herkommen der Senat alle Jahre einen Hirsch oͤffentlich verspeiset, den man denn fuͤr einen solchen Festtag hier im Gra¬ ben immer zur Hand gehabt, wenn auch aus¬ waͤrts Fuͤrsten und Ritter der Stadt ihre Jagd¬ befugniß verkuͤmmerten und stoͤrten, oder wohl gar Feinde die Stadt eingeschlossen oder belagert hielten. Dieß gefiel uns sehr, und wir wuͤnsch¬ ten, eine solche zahme Wildbahn waͤre auch noch bey unsern Zeiten zu sehen gewesen. Die Hinterseite des Hauses hatte, besonders aus dem oberen Stock, eine sehr angenehme Aussicht uͤber eine beynah unabsehbare Flaͤche von Nachbarsgaͤrten, die sich bis an die Stadt¬ mauern verbreiteten. Leider aber war, bey Verwandlung der sonst hier befindlichen Ge¬ meindeplaͤtze in Hausgaͤrten, unser Haus und noch einige andere, die gegen die Straßenecke zu lagen, sehr verkuͤrzt worden, indem die Haͤuser vom Roßmarkt her weitlaͤufige Hin¬ tergebaͤude und große Gaͤrten sich zueigneten, wir aber uns durch eine ziemlich hohe Mauer unsres Hofes von diesen so nah gelegenen Paradiesen ausgeschlossen sahen. Im zweyten Stock befand sich ein Zimmer, welches man das Gartenzimmer nannte, weil man sich daselbst durch wenige Gewaͤchse vor dem Fenster den Mangel eines Gartens zu er¬ setzen gesucht hatte. Dort war, wie ich her¬ anwuchs, mein liebster, zwar nicht trauriger, aber doch sehnsuͤchtiger Aufenthalt. Ueber jene Gaͤrten hinaus, uͤber Stadtmauern und Waͤlle sah man in eine schoͤne fruchtbare Ebene; es ist die, welche sich nach Hoͤchst hinzieht. Dort lernte ich Sommerszeit gewoͤhnlich meine Lec¬ tionen, wartete die Gewitter ab, und konnte mich an der untergehenden Sonne, gegen wel¬ che die Fenster gerade gerichtet waren, nicht satt genug sehen. Da ich aber zu gleicher Zeit die Nachbarn in ihren Gaͤrten wandeln und ihre Blumen besorgen, die Kinder spielen, die Ge¬ sellschaften sich ergetzen sah, die Kegelkugeln rollen und die Kegel fallen hoͤrte; so erregte dieß fruͤhzeitig in mir ein Gefuͤhl der Einsam¬ keit und einer daraus entspringenden Sehnsucht, das dem von der Natur in mich gelegten Ernsten und Ahndungsvollen entsprechend, sei¬ nen Einfluß gar bald und in der Folge noch deutlicher zeigte. Die alte, winkelhafte, an vielen Stellen duͤstere Beschaffenheit des Hauses war uͤbrigens geeignet, Schauer und Furcht in kindlichen Ge¬ muͤthern zu erwecken. Ungluͤcklicherweise hatte man noch die Erziehungsmaxime, den Kindern fruͤhzeitig alle Furcht vor dem Ahndungsvollen und Unsichtbaren zu benehmen, und sie an das Schauderhafte zu gewoͤhnen. Wir Kinder soll¬ ten daher allein schlafen, und wenn uns dieses unmoͤglich fiel, und wir uns sacht aus den Betten hervormachten und die Gesellschaft der Bedienten und Maͤgde suchten; so stellte sich, in umgewandtem Schlafrock und also fuͤr uns verkleidet genug, der Vater in den Weg und schreckte uns in unsere Ruhestaͤtte zuruͤck. Die daraus entspringende uͤble Wirkung denkt sich Jedermann. Wie soll derjenige die Furcht los werden, den man zwischen ein doppeltes Furcht¬ bare einklemmt? Meine Mutter, stets heiter und froh, und andern das Gleiche goͤnnend, erfand eine bessere paͤdagogische Auskunft. Sie wu߬ te ihren Zweck durch Belohnungen zu erreichen. Es war die Zeit der Pfirschen, deren reichlichen Genuß sie uns jeden Morgen versprach, wenn wir Nachts die Furcht uͤberwunden haͤtten. Es gelang, und beyde Theile waren zufrieden. Innerhalb des Hauses zog meinen Blick am meisten eine Reihe roͤmischer Prospecte auf sich, mit welchen der Vater einen Vor¬ saal ausgeschmuͤckt hatte, gestochen von eini¬ gen geschickten Vorgaͤngern des Piranese , die sich auf Architectur und Perspective wohl verstanden, und deren Nadel sehr deutlich und schaͤtzbar ist. Hier sah ich taͤglich die Piazza del Popolo, das Coliseo, den Peters¬ platz, die Peterskirche von außen und innen, die Engelsburg und so manches andere. Diese Gestalten druͤckten sich tief bey mir ein, und der sonst sehr laconische Vater hatte wohl manchmal die Gefaͤlligkeit, eine Beschreibung des Gegenstandes vernehmen zu lassen. Seine Vorliebe fuͤr die italiaͤnische Sprache und fuͤr alles was sich auf jenes Land bezieht, war sehr ausgesprochen. Eine kleine Mar¬ mor- und Naturaliensammlung, die er von dorther mitgebracht, zeigte er uns auch manch¬ mal vor, und einen großen Theil seiner Zeit verwendete er auf seine italiaͤnisch verfaßte Reisebeschreibung, deren Abschrift und Re¬ daction er eigenhaͤndig, heftweise, langsam und genau ausfertigte. Ein alter heiterer italiaͤnischer Sprachmeister, Giovinazzi genannt, war ihm daran behuͤlflich. Auch sang der Alte nicht uͤbel, und meine Mutter mußte sich bequemen, ihn und sich selbst mit dem Claviere taͤglich zu accompagniren; da ich denn das Solitario bosco ombroso bald kennen lernte, und auswendig wußte, ehe ich es verstand. Mein Vater war uͤberhaupt lehrhafter Natur, und bey seiner Entfernung von Ge¬ schaͤften wollte er gern dasjenige was er wußte und vermochte, auf andre uͤbertragen. So hatte er meine Mutter in den ersten Jahren ihrer Verheiratung zum fleißigen Schreiben angehalten, wie zum Clavierspie¬ len und Singen; wobey sie sich genoͤthigt sah, auch in der italiaͤnischen Sprache einige Kenntniß und nothduͤrftige Fertigkeit zu er¬ werben. Gewoͤhnlich hielten wir uns in allen un¬ sern Freystunden zur Großmutter, in deren ge¬ raͤumigem Wohnzimmer wir hinlaͤnglich Platz zu unsern Spielen fanden. Sie wußte uns mit allerley Kleinigkeiten zu beschaͤftigen, und mit allerley guten Bissen zu erquicken. An einem Weihnachtsabende jedoch setzte sie allen ihren Wohlthaten die Krone auf, in¬ dem sie uns ein Puppenspiel vorstellen ließ, und so in dem alten Hause eine neue Welt erschuf. Dieses unerwartete Schauspiel zog die jungen Gemuͤther mit Gewalt an sich; besonders auf den Knaben machte es einen sehr starken Eindruck, der in eine große lang¬ dauernde Wirkung nachklang. Die kleine Buͤhne mit ihrem stummen Per¬ sonal, die man uns anfangs nur vorgezeigt hatte, nachher aber zu eigner Uebung und dramatischer Belebung uͤbergab, mußte uns Kindern um so viel werther seyn, als es das letzte Vermaͤchtniß unserer guten Großmutter war, die bald darauf durch zunehmende Krank¬ heit unsern Augen erst entzogen, und dann fuͤr immer durch den Tod entrissen wurde. Ihr Abscheiden war fuͤr die Familie von desto groͤßerer Bedeutung, als es eine voͤllige Ver¬ aͤnderung in dem Zustande derselben nach sich zog. So lange die Großmutter lebte, hatte mein Vater sich gehuͤtet, nur das Mindeste im Hause zu veraͤndern oder zu erneuern; aber man wußte wohl, daß er sich zu einem Hauptbau vorbereitete, der nunmehr auch so¬ gleich vorgenommen wurde. In Frankfurt, wie in mehrern alten Staͤdten, hatte man bey Auffuͤhrung hoͤlzerner Gebaͤude, um Platz zu gewinnen, sich erlaubt, nicht allein mit dem ersten, sondern auch mit den folgenden Sto¬ cken uͤberzubauen; wodurch denn freylich be¬ sonders enge Straßen etwas Duͤsteres und Aengstliches bekamen. Endlich ging ein Ge¬ setz durch, daß wer ein neues Haus von Grund auf baue, nur mit dem ersten Stock uͤber das Fundament herausruͤcken duͤrfe, die uͤbrigen aber senkrecht auffuͤhren muͤsse. Mein Vater, um den vorspringenden Raum im zweyten Stock auch nicht aufzugeben, wenig bekuͤmmert um aͤußeres architektonisches Anse¬ hen, und nur um innere gute und bequeme Einrichtung besorgt, bediente sich, wie schon mehrere vor ihm gethan, der Ausflucht, die oberen Theile des Hauses zu unterstuͤtzen und von unten herauf einen nach dem andern weg¬ zunehmen, und das Neue gleichsam einzuschal¬ ten, so daß, wenn zuletzt gewissermaßen nichts von dem Alten uͤbrig blieb, der ganz neue Bau noch immer fuͤr eine Reparatur gelten konnte. Da nun also das Einreißen und Aufrichten allmaͤhlich geschah, so hatte mein Vater sich vorgenommen, nicht aus dem Hau¬ se zu weichen, um desto besser die Aufsicht zu fuͤhren und die Anleitung geben zu koͤnnen: denn aufs Technische des Baues verstand er sich ganz gut; dabey wollte er aber auch seine Familie nicht von sich lassen. Diese neue Epo¬ che war den Kindern sehr uͤberraschend und sonderbar. Die Zimmer, in denen man sie oft enge genug gehalten und mit wenig er¬ freulichem Lernen und Arbeiten geaͤngstigt, die I. 2 Gaͤnge, auf denen sie gespielt, die Waͤnde, fuͤr deren Reinlichkeit und Erhaltung man sonst so sehr gesorgt, alles das vor der Hacke des Maurers, vor dem Beile des Zimmer¬ manns fallen zu sehen, und zwar von unten herauf, und indessen oben auf unterstuͤtzten Balken, gleichsam in der Luft zu schweben, und dabey immer noch zu einer gewissen Lec¬ tion, zu einer bestimmten Arbeit angehalten zu werden — dieses alles brachte eine Ver¬ wirrung in den jungen Koͤpfen hervor, die sich so leicht nicht wieder ins Gleiche setzen ließ. Doch wurde die Unbequemlichkeit von der Jugend weniger empfunden, weil ihr etwas mehr Spielraum als bisher, und manche Gelegenheit sich auf Balken zu schaukeln und auf Brettern zu schwingen, gelassen ward. Hartnaͤckig setzte der Vater die erste Zeit sei¬ nen Plan durch; doch als zuletzt auch das Dach theilweise abgetragen wurde, und ohngeachtet alles uͤbergespannten Wachstuches von abge¬ nommenen Tapeten, der Regen bis zu unsern Betten gelangte: so entschloß er sich, obgleich ungern, die Kinder wohlwollenden Freunden, welche sich schon fruͤher dazu erboten hatten, auf eine Zeit lang zu uͤberlassen und sie in eine oͤffentliche Schule zu schicken. Dieser Uebergang hatte manches Unange¬ nehme: denn indem man die bisher zu Hause abgesondert, reinlich, edel, obgleich streng, gehaltenen Kinder unter eine rohe Masse von jungen Geschoͤpfen hinunterstieß; so hatten sie vom Gemeinen, Schlechten, ja Niedertraͤchti¬ gen ganz unerwartet alles zu leiden, weil sie aller Waffen und aller Faͤhigkeit ermangelten, sich dagegen zu schuͤtzen. Um diese Zeit war es eigentlich, daß ich meine Vaterstadt zuerst gewahr wurde: wie ich denn nach und nach immer freyer und un¬ gehinderter, theils allein, theils mit muntern Gespielen, darin auf und abwandelte. Um 2 * den Eindruck, den diese ernsten und wuͤrdigen Umgebungen auf mich machten, einigermaßen mitzutheilen, muß ich hier mit der Schilde¬ rung meines Geburtsortes vorgreifen, wie er sich in seinen verschiedenen Theilen allmaͤhlich vor mir entwickelte. Am liebsten spazirte ich auf der großen Mainbruͤcke. Ihre Laͤnge, ihre Festigkeit, ihr gutes Ansehen machte sie zu einem bemerkenswerthen Bauwerk; auch ist es aus fruͤherer Zeit beynahe das einzige Denkmal jener Vorsorge, welche die weltliche Obrigkeit ihren Buͤrgern schuldig ist. Der schoͤne Fluß auf- und abwaͤrts zog meine Bli¬ cke nach sich; und wenn auf dem Bruͤcken¬ kreuz der goldene Hahn im Sonnenschein glaͤnzte, so war es mir immer eine erfreuliche Empfindung. Gewoͤhnlich ward alsdann durch Sachsenhausen spazirt, und die Ueberfahrt fuͤr einen Kreuzer gar behaglich genossen. Da befand man sich nun wieder diesseits, da schlich man zum Weinmarkte, bewunderte den Me¬ chanismus der Krahne, wenn Waaren aus¬ geladen wurden; besonders aber unterhielt uns die Ankunft der Marktschiffe, wo man so mancherley und mitunter so seltsame Figuren aussteigen sah. Ging es nun in die Stadt herein, so ward jederzeit der Saalhof, der wenigstens an der Stelle stand, wo die Burg Kaiser Carls des Großen und seiner Nachfol¬ ger gewesen seyn sollte, ehrfurchtsvoll gegruͤßt. Man verlor sich in die alte Gewerbstadt, und besonders Markttages gern in dem Gewuͤhl, das sich um die Bartholomaͤus-Kirche herum versammelte. Hier hatte sich, von den fruͤh¬ sten Zeiten an, die Menge der Verkaͤufer und Kraͤmer uͤbereinander gedraͤngt, und wegen einer solchen Besitznahme konnte nicht leicht in den neuern Zeiten eine geraͤumige und hei¬ tere Anstalt Platz finden. Die Buden des sogenannten Pfarreisen waren uns Kin¬ dern sehr bedeutend, und wir trugen manchen Batzen hin, um uns farbige, mit goldenen Thieren bedruckte Bogen anzuschaffen. Nur selten aber mochte man sich uͤber den be¬ schraͤnkten, vollgepfropften und unreinlichen Marktplatz hindraͤngen. So erinnere ich mich auch, daß ich immer mit Entsetzen vor den daraustoßenden, engen und haͤßlichen Fleisch¬ baͤnken geflohen bin. Der Roͤmerberg war ein desto angenehmerer Spazirplatz. Der Weg nach der neuen Stadt, durch die neue Kraͤm, war immer aufheiternd und ergetzlich; nur verdroß es uns, daß nicht neben der Liebfrauen-Kirche eine Straße nach der Zeile zuging, und wir immer den großen Umweg durch die Hasengasse oder die Catharinenpfor¬ te machen mußten. Was aber die Aufmerk¬ samkeit des Kindes am meisten an sich zog, waren die vielen kleinen Staͤdte in der Stadt, die Festungen in der Festung, die ummauer¬ ten Klosterbezirke naͤmlich, und die aus fruͤ¬ hern Jahrhunderten noch uͤbrigen mehr oder minder burgartigen Raͤume: so der Nuͤrnber¬ ger Hof, das Compostell, das Braunfels, das Stammhaus derer von Stallburg, und mehrere in den spaͤtern Zeiten zu Wohnungen und Gewerbsbenutzungen eingerichtete Vesten. Nichts architectonisch Erhebendes war damals in Frankfurt zu sehen: alles deutete auf eine laͤngst vergangne, fuͤr Stadt und Gegend sehr unruhige Zeit. Pforten und Thuͤrme, welche die Graͤnze der alten Stadt bezeichneten, dann weiterhin abermals Pforten, Thuͤrme, Mau¬ ern, Bruͤcken, Waͤlle, Graͤben, womit die neue Stadt umschlossen war, alles sprach noch zu deutlich aus, daß die Nothwendigkeit, in unruhigen Zeiten dem Gemeinwesen Sicher¬ heit zu verschaffen, diese Anstalten hervorge¬ bracht, daß die Plaͤtze, die Straßen, selbst die neuen, breiter und schoͤner angelegten, alle nur dem Zufall und der Willkuͤhr und keinem regelnden Geiste ihren Ursprung zu danken hatten. Eine gewisse Neigung zum Alter¬ thuͤmlichen setzte sich bey dem Knaben fest, welche besonders durch alte Chroniken, Holz¬ schnitte, wie z. B. den Grave'schen von der Belagerung von Frankfurt, genaͤhrt und be¬ guͤnstigt wurden; wobey noch eine andre Lust, blos menschliche Zustaͤnde in ihrer Mannig¬ faltigkeit und Natuͤrlichkeit, ohne weitern An¬ spruch auf Interesse oder Schoͤnheit, zu erfas¬ sen, sich hervorthat. So war es eine von unsern liebsten Promenaden, die wir uns des Jahrs ein paarmal zu verschaffen suchten, in¬ wendig auf dem Gange der Stadtmauer her¬ zuspaziren. Gaͤrten, Hoͤfe, Hintergebaͤude ziehen sich bis an den Zwinger heran; man sieht mehreren tausend Menschen in ihre haͤus¬ lichen, kleinen, abgeschlossenen, verborgenen Zustaͤnde. Von dem Putz- und Schaugarten des Reichen zu den Obstgaͤrten des fuͤr seinen Nutzen besorgten Buͤrgers, von da zu Fabri¬ ken, Bleichplaͤtzen und aͤhnlichen Anstalten, ja bis zum Gottesacker selbst — denn eine klei¬ ne Welt lag innerhalb des Bezirks der Stadt — ging man an dem mannigfaltigsten, wun¬ derlichsten, mit jedem Schritt sich veraͤndern¬ den Schauspiel vorbey, an dem unsre kindi¬ sche Neugier sich nicht genug ergetzen konnte. Denn fuͤrwahr der bekannte hinkende Teufel, als er fuͤr seinen Freund die Daͤcher von Ma¬ drid in der Nacht abhob, hat kaum mehr fuͤr diesen geleistet, als hier vor uns unter freyem Himmel, bey hellem Sonnenschein, gethan war. Die Schluͤssel, deren man sich auf die¬ sem Wege bedienen mußte, um durch man¬ cherley Thuͤrme, Treppen und Pfoͤrtchen durch¬ zukommen, waren in den Haͤnden der Zeug¬ herren, und wir verfehlten nicht ihren Subal¬ ternen aufs beste zu schmeicheln. Bedeutender noch und in einem andern Sinne fruchtbarer blieb fuͤr uns das Rath¬ haus, der Roͤmer genannt. In seinen untern, gewoͤlbaͤhnlichen Hallen verloren wir uns gar zu gerne. Wir verschafften uns Eintritt in das große, hoͤchst einfache Sessionszimmer des Rathes. Bis auf eine gewisse Hoͤhe ge¬ taͤfelt, waren uͤbrigens die Waͤnde so wie die Woͤlbung weiß, und das Ganze ohne Spur von Malerey oder irgend einem Bildwerk. Nur an der mittelsten Wand in der Hoͤhe las man die kurze Inschrift: Eines Manns Rede Ist keines Manns Rede: Man soll sie billig hoͤren Beede. Nach der alterthuͤmlichsten Art waren fuͤr die Glieder dieser Versammlung Baͤnke rings¬ umher an der Vertaͤfelung angebracht und um eine Stufe von dem Boden erhoͤht. Da be¬ griffen wir leicht, warum die Rangordnung unsres Senats nach Baͤnken eingetheilt sey. Von der Thuͤre linker Hand bis in die ge¬ genuͤberstehende Ecke, als auf der ersten Bank, saßen die Schoͤffen, in der Ecke selbst der Schultheiß, der einzige der ein kleines Tisch¬ chen vor sich hatte; zu seiner Linken bis gegen die Fensterseite saßen nunmehr die Herren der zweyten Bank; an den Fenstern her zog sich die dritte Bank, welche die Hand¬ werker einnahmen; in der Mitte des Saals stand ein Tisch fuͤr den Protocollfuͤhrer. Waren wir einmal im Roͤmer, so misch¬ ten wir uns auch wohl in das Gedraͤnge vor den burgemeisterlichen Audienzen. Aber groͤ¬ ßeren Reiz hatte alles, was sich auf Wahl und Kroͤnung der Kaiser bezog. Wir wußten uns die Gunst der Schließer zu verschaffen, um die neue, heitre, in Fresko gemalte, sonst durch ein Gitter verschlossene Kaisertrep¬ pe hinaufsteigen zu duͤrfen. Das mit Pur¬ purtapeten und wunderlich verschnoͤrkelten Gold¬ leisten verzierte Wahlzimmer floͤßte uns Ehr¬ furcht ein. Die Thuͤrstuͤcke, auf welchen klei¬ ne Kinder oder Genien mit dem kaiserlichen Ornat bekleidet, und belastet mit den Reichs¬ insignien, eine gar wunderliche Figur spielen, betrachteten wir mit großer Aufmerksamkeit, und hofften wohl auch noch einmal eine Kroͤ¬ nung mit Augen zu erleben. Aus dem gro¬ ßen Kaisersaale konnte man uns nur mit sehr vieler Muͤhe wieder herausbringen, wenn es uns einmal gegluͤckt war hineinzuschluͤpfen; und wir hielten denjenigen fuͤr unsern wahr¬ sten Freund, der uns bey den Brustbildern der saͤmmtlichen Kaiser, die in einer gewissen Hoͤ¬ he umher gemalt waren, etwas von ihren Thaten erzaͤhlen mochte. Von Carl dem Großen vernahmen wir manches Maͤhrchenhafte; aber das Historisch¬ interessante fuͤr uns fing erst mit Rudolph von Habsburg an, der durch seine Mannheit so großen Verwirrungen ein Ende gemacht. Auch Carl der vierte zog unsre Aufmerksam¬ keit an sich. Wir hatten schon von der gold¬ nen Bulle und der peinlichen Halsgerichtsord¬ nung gehoͤrt, auch daß er den Frankfurtern ihre Anhaͤnglichkeit an seinen edlen Gegenkai¬ ser, Guͤnther von Schwarzburg, nicht entgel¬ ten ließ. Maximilianen hoͤrten wir als einen Menschen- und Buͤrgerfreund loben, und daß von ihm prophezeyt worden, er werde der letzte Kaiser aus einem deutschen Hause seyn; welches denn auch leider eingetroffen, indem nach seinem Tode die Wahl nur zwischen dem Koͤnig von Spanien, Carl dem fuͤnften, und dem Koͤnig von Frankreich, Franz dem ersten, geschwankt habe. Bedenklich fuͤgte man hin¬ zu, daß nun abermals eine solche Weissagung oder vielmehr Vorbedeutung umgehe: denn es sey augenfaͤllig, daß nur noch Platz fuͤr das Bild eines Kaisers uͤbrig bleibe; ein Umstand, der obgleich zufaͤllig scheinend, die Patriotisch¬ gesinnten mit Besorgniß erfuͤlle. Wenn wir nun so einmal unsern Umgang hielten, verfehlten wir auch nicht, uns nach dem Dom zu begeben und daselbst das Grab jenes braven, von Freund und Feinden ge¬ schaͤtzten Guͤnther zu besuchen. Der merkwuͤr¬ dige Stein, der es ehmals bedeckte, ist in dem Chor aufgerichtet. Die gleich daneben befindliche Thuͤre, welche ins Conclave fuͤhrt, blieb uns lange verschlossen, bis wir endlich durch die obern Behoͤrden auch den Eintritt in diesen so bedeutenden Ort zu erlangen wußten. Allein wir haͤtten besser gethan, ihn durch unsre Einbildungskraft, wie bisher, auszuma¬ len: denn wir fanden diesen in der deutschen Geschichte so merkwuͤrdigen Raum, wo die maͤchtigsten Fuͤrsten sich zu einer Handlung von solcher Wichtigkeit zu versammlen pfleg¬ ten, keinesweges wuͤrdig ausgeziert, sondern noch obenein mit Balken, Stangen, Geruͤ¬ sten und anderem solchen Gesperr, das man bey Seite setzen wollte, verunstaltet. De¬ sto mehr ward unsere Einbildungskraft ange¬ regt und das Herz uns erhoben, als wir kurz nachher die Erlaubniß erhielten, beym Vor¬ zeigen der goldnen Bulle an einige vornehme Fremden, auf dem Rathhause gegenwaͤrtig zu seyn. Mit vieler Begierde vernahm der Knabe sodann, was ihm die Seinigen so wie aͤltere Verwandte und Bekannte gern erzaͤhlten und wiederholten, die Geschichten der zuletzt kurz auf einander gefolgten Kroͤnungen: denn es war kein Frankfurter von einem gewissen Al¬ ter, der nicht diese beyden Ereignisse und was sie begleitete, fuͤr den Gipfel seines Lebens gehalten haͤtte. So praͤchtig die Kroͤnung Carls des siebenten gewesen war, bey welcher besonders der franzoͤsische Gesandte, mit Ko¬ sten und Geschmack, herrliche Feste gegeben; so war doch die Folge fuͤr den guten Kaiser desto trauriger, der seine Residenz Muͤnchen nicht behaupten konnte und gewissermaßen die Gast¬ freyheit seiner Reichsstaͤdter anflehen mußte. War die Kroͤnung Franz des ersten nicht so auffallend praͤchtig wie jene, so wurde sie doch durch die Gegenwart der Kaiserinn Ma¬ ria Theresia verherrlicht, deren Schoͤnheit eben so einen großen Eindruck auf die Maͤnner scheint gemacht zu haben, als die ernste wuͤr¬ dige Gestalt und die blauen Augen Carls des siebenten auf die Frauen. Wenigstens wettei¬ ferten beyde Geschlechter, dem aufhorchenden Knaben einen hoͤchst vortheilhaften Begriff von jenen beyden Personen beyzubringen. Alle diese Beschreibungen und Erzaͤhlungen ge¬ schahen mit heitrem und beruhigtem Gemuͤth: denn der Achner Friede hatte fuͤr den Augen¬ blick aller Fehde ein Ende gemacht, und wie von jenen Feyerlichkeiten, so sprach man mit Behaglichkeit von den voruͤbergegangenen Kriegszuͤgen, von der Schlacht bey Dettin¬ gen, und was die merkwuͤrdigsten Begebenhei¬ ten der verflossenen Jahre mehr seyn moch¬ ten; und alles Bedeutende und Gefaͤhrliche schien, wie es nach einem abgeschlossenen Frie¬ den zu gehen pflegt, sich nur ereignet zu ha¬ ben, um gluͤcklichen und sorgenfreyen Men¬ schen zur Unterhaltung zu dienen. Hatte man in einer solchen patriotischen Beschraͤnkung kaum ein halbes Jahr hinge¬ bracht, so traten schon die Messen wieder ein, welche in den saͤmmtlichen Kinderkoͤpfen jederzeit eine unglaubliche Gaͤhrung hervor¬ brachten. Eine durch Erbauung so vieler Buden innerhalb der Stadt in weniger Zeit entspringende neue Stadt, das Wogen und Treiben, das Abladen und Auspacken der Waaren, erregte von den ersten Momenten des Bewußtseyns an, eine unbezwinglich thaͤti¬ ge Neugierde und ein unbegraͤnztes Verlan¬ gen nach kindischem Besitz, das der Knabe mit wachsenden Jahren, bald auf diese bald auf jene Weise, wie es die Kraͤfte seines klei¬ nen Beutels erlauben wollten, zu befriedigen suchte. Zugleich aber bildete sich die Vorstel¬ lung von dem was die Welt alles hervor¬ bringt, was sie bedarf, und was die Bewoh¬ ner ihrer verschiedenen Theile gegen einander auswechseln. Diese großen, im Fruͤhjahr und Herbst eintretenden Epochen wurden durch seltsame Feyerlichkeiten angekuͤndigt, welche um desto wuͤrdiger schienen, als sie die alte Zeit und was von dorther noch auf uns gekommen, lebhaft vergegenwaͤrtigten. Am Geleitstag war das ganze Volk auf den Beinen, draͤng¬ I. 3 te sich nach der Fahrgasse, nach der Bruͤcke, bis uͤber Sachsenhausen hinaus; alle Fenster waren besetzt, ohne daß den Tag uͤber was besonderes vorging; die Menge schien nur da zu seyn, um sich zu draͤngen, und die Zu¬ schauer, um sich unter einander zu betrach¬ ten: denn das worauf es eigentlich ankam, ereignete sich erst mit sinkender Nacht, und wurde mehr geglaubt als mit Augen gesehen. In jenen aͤltern unruhigen Zeiten naͤm¬ lich, wo ein Jeder nach Belieben Unrecht that, oder nach Lust das Rechte befoͤrderte, wurden die auf die Messen ziehenden Han¬ delsleute von Wegelagerern, edlen und uned¬ len Geschlechts, willkuͤhrlich geplagt und ge¬ plackt, so daß Fuͤrsten und andre maͤchtige Staͤnde die Ihrigen mit gewaffneter Hand bis nach Frankfurt geleiten ließen. Hier wollten nun aber die Reichsstaͤdter sich selbst und ihrem Gebiet nichts vergeben; sie zogen den Ankoͤmmlingen entgegen: da gab es denn manchmal Streitigkeiten, wie weit jene Ge¬ leitenden heran kommen, oder ob sie wohl gar ihren Einritt in die Stadt nehmen koͤnnten. Weil nun dieses nicht allein bey Handels- und Meßgeschaͤften statt fand, son¬ dern auch wenn hohe Personen in Kriegs- und Friedenszeiten, vorzuͤglich aber zu Wahltagen, sich heranbegaben; und es auch oͤfters zu Thaͤtlichkeiten kam, sobald irgend ein Gefol¬ ge, das man in der Stadt nicht dulden woll¬ te, sich mit seinem Herrn hereinzudraͤngen begehrte: so waren zeither daruͤber manche Verhandlungen gepflogen, es waren viele Re¬ cesse deshalb, obgleich stets mit beyderseitigen Vorbehalten, geschlossen worden, und man gab die Hoffnung nicht auf, den seit Jahr¬ hunderten dauernden Zwist endlich einmal bey¬ zulegen, als die ganze Anstalt, weshalb er so lange und oft sehr heftig gefuͤhrt worden war, beynah fuͤr unnuͤtz, wenigstens fuͤr uͤber¬ fluͤßig angesehen werden konnte. 3 * Unterdessen ritt die buͤrgerliche Cavallerie in mehreren Abtheilungen, mit den Ober¬ haͤuptern an ihrer Spitze, an jenen Tagen zu verschiedenen Thoren hinaus, fand an einer gewissen Stelle einige Reiter oder Husaren der zum Geleit berechtigten Reichsstaͤnde, die nebst ihren Anfuͤhrern wohl empfangen und bewirthet wurden; man zoͤgerte bis gegen Abend, und ritt alsdann, kaum von der war¬ tenden Menge gesehen, zur Stadt herein; da denn mancher buͤrgerliche Reiter weder sein Pferd noch sich selbst auf dem Pferde zu erhalten vermochte. Zu dem Bruͤckenthore kamen die bedeutendsten Zuͤge herein, und deswegen war der Andrang dorthin am staͤrksten. Ganz zuletzt und mit sinkender Nacht langte der auf gleiche Weise geleitete Nuͤrnberger Postwagen an, und man trug sich mit der Rede, es muͤsse jederzeit, dem Herkommen gemaͤß, eine alte Frau darin sitzen; weshalb denn die Straßenjungen bey Ankunft des Wagens in ein gellendes Ge¬ schrey auszubrechen pflegten, ob man gleich die im Wagen sitzenden Passagiere keineswegs mehr unterscheiden konnte. Unglaublich und wirklich die Sinne verwirrend war der Drang der Menge, die in diesem Augenblick durch das Bruͤckenthor herein dem Wagen nach¬ stuͤrzte; deswegen auch die naͤchsten Haͤuser von den Zuschauern am meisten gesucht wurden. Eine andere, noch viel seltsamere Feyer¬ lichkeit, welche am hellen Tage das Publi¬ cum aufregte, war das Pfeifergericht. Es erinnerte diese Ceremonie an jene ersten Zei¬ ten, wo bedeutende Handelsstaͤdte sich von den Zoͤllen, welche mit Handel und Gewerb in gleichem Maaße zunahmen, wo nicht zu befreyen, doch wenigstens eine Milderung derselben zu erlangen suchten. Der Kaiser, der ihrer bedurfte, ertheilte eine solche Frey¬ heit, da wo es von ihm abhing, gewoͤhnlich aber nur auf ein Jahr, und sie mußte daher jaͤhrlich erneuert werden. Dieses geschah durch symbolische Gaben, welche dem kaiser¬ lichen Schultheißen, der auch wohl gelegentlich Oberzoͤllner seyn konnte, vor Eintritt der Bartholomaͤi-Messe gebracht wurden, und zwar des Anstands wegen, wenn er mit den Schoͤffen zu Gericht saß. Als der Schultheiß spaͤterhin nicht mehr vom Kaiser gesetzt, son¬ dern von der Stadt selbst gewaͤhlt wurde, behielt er doch diese Vorrechte, und sowohl die Zollfreyheiten der Staͤdte, als die Cere¬ monien, womit die Abgeordneten von Worms, Nuͤrnberg und Alt-Bamberg diese uralte Ver¬ guͤnstigung anerkannten, waren bis auf unsere Zeiten gekommen. Den Tag vor Mariaͤ Geburt ward ein oͤffentlicher Gerichtstag ange¬ kuͤndigt. In dem großen Kaisersaale, in ei¬ nem umschraͤnkten Raume, saßen erhoͤht die Schoͤffen, und eine Stufe hoͤher der Schult¬ heiß in ihrer Mitte; die von den Parteyen bevollmaͤchtigten Procuratoren unten zur rech¬ ten Seite. Der Actuarius faͤngt an, die auf diesen Tag gesparten wichtigen Urtheile laut vorzulesen; die Procuratoren bitten um Abschrift, appelliren, oder was sie sonst zu thun noͤthig finden. Auf einmal meldet eine wunderliche Mu¬ sik gleichsam die Ankunft voriger Jahrhunder¬ te. Es sind drey Pfeifer, deren einer eine alte Schalmey, der andere einen Baß, der dritte einen Pommer oder Hoboe blaͤst. Sie tragen blaue mit Gold verbraͤmte Maͤntel, auf den Aermeln die Noten befestigt, und ha¬ ben das Haupt bedeckt. So waren sie aus ihrem Gasthause, die Gesandten und ihre Begleitung hinterdrein, Punkt zehn ausge¬ zogen, von Einheimischen und Fremden ange¬ staunt, und so treten sie in den Saal. Die Gerichtsverhandlungen halten inne, Pfeifer und Begleitung bleiben vor den Schranken, der Abgesandte tritt hinein und stellt sich dem Schultheißen gegenuͤber. Die symbolischen Ga¬ ben, welche auf das genauste nach dem alten Herkommen gefordert wurden, bestanden ge¬ woͤhnlich in solchen Waaren, womit die dar¬ bringende Stadt vorzuͤglich zu handlen pfleg¬ te. Der Pfeffer galt gleichsam fuͤr alle Waaren, und so brachte auch hier der Ab¬ gesandte einen schoͤn gedrechselten hoͤlzernen Pocal mit Pfeffer angefuͤllt. Ueber demsel¬ ben lagen ein Paar Handschuhe, wundersam geschlitzt, mit Seide besteppt und bequastet, als Zeichen einer gestatteten und angenomme¬ nen Verguͤnstigung, dessen sich auch wohl der Kaiser selbst in gewissen Faͤllen bediente. Daneben sah man ein weißes Staͤbchen, wel¬ ches vormals bey gesetzlichen und gerichtlichen Handlungen nicht leicht fehlen durfte. Es waren noch einige kleine Silbermuͤnzen hinzu¬ gefuͤgt, und die Stadt Worms brachte einen alten Filzhut, den sie immer wieder einloͤste, so daß derselbe viele Jahre ein Zeuge dieser Ceremonien gewesen. Nachdem der Gesandte seine Anrede gehal¬ ten, das Geschenk abgegeben, von dem Schult¬ heißen die Versicherung fortdauernder Beguͤnsti¬ gung empfangen; so entfernte er sich aus dem geschlossenen Kreise, die Pfeifer bliesen, der Zug ging ab, wie er gekommen war, das Gericht verfolgte seine Geschaͤfte, bis der zweyte und endlich der dritte Gesandte eingefuͤhrt wur¬ den : denn sie kamen erst einige Zeit nacheinan¬ der, theils damit das Vergnuͤgen des Publi¬ cums laͤnger daure, theils auch weil es im¬ mer dieselben alterthuͤmlichen Virtuosen waren, welche Nuͤrnberg fuͤr sich und seine Mitstaͤdte zu unterhalten und jedes Jahr an Ort und Stelle zu bringen uͤbernommen hatte. Wir Kinder waren bey diesem Feste beson¬ ders interessirt, weil es uns nicht wenig schmei¬ chelte, unsern Großvater an einer so ehrenvol¬ len Stelle zu sehen, und weil wir gewoͤhnlich noch selbigen Tag ihn ganz bescheiden zu besu¬ chen pflegten, um, wenn die Großmutter den Pfeffer in ihre Gewuͤrzladen geschuͤttet haͤtte, einen Becher und Staͤbchen, ein paar Hand¬ schuh oder einen alten Raͤder-Albus zu erhaschen. Man konnte sich diese symbolischen, das Alter¬ thum gleichsam hervorzaubernden Ceremonien nicht erklaͤren lassen, ohne in vergangene Jahr¬ hunderte wieder zuruͤckgefuͤhrt zu werden, ohne sich nach Sitten, Gebraͤuchen und Gesinnungen unserer Altvordern zu erkundigen, die sich durch wieder auferstandene Pfeifer und Abgeordnete, ja durch handgreifliche und fuͤr uns besitzbare Gaben, auf eine so wunderliche Weise verge¬ genwaͤrtigten. Solchen altehrwuͤrdigen Feyerlichkeiten folg¬ te in guter Jahrszeit manches fuͤr uns Kin¬ der lustreichere Fest außerhalb der Stadt unter freyem Himmel. An dem rechten Ufer des Mains unterwaͤrts, etwa eine halbe Stunde vom Thor, quillt ein Schwefelbrunnen, sau¬ ber eingefaßt und mit uralten Linden umgeben. Nicht weit davon steht der Hof zu den guten Leuten , ehmals ein um dieser Quelle willen erbautes Hospital. Auf den Ge¬ meinweiden umher versammelte man zu einem gewissen Tage des Jahres die Rindviehheerden aus der Nachbarschaft, und die Hirten sammt ihren Maͤdchen feyerten ein laͤndliches Fest, mit Tanz und Gesang, mit mancherley Lust und Ungezogenheit. Auf der andern Seite der Stadt lag ein aͤhnlicher nur groͤßerer Gemeinde¬ platz, gleichfalls durch einen Brunnen und durch noch schoͤnere Linden geziert. Dorthin trieb man zu Pfingsten die Schafheerden, und zu gleicher Zeit ließ man die armen ver¬ bleichten Waisenkinder aus ihren Mauern ins Freye: denn man sollte erst spaͤter auf den Ge¬ danken gerathen, daß man solche verlassene Kreaturen, die sich einst durch die Welt durch zu helfen genoͤthigt sind, fruͤh mit der Welt in Verbindung bringen, anstatt sie auf eine traurige Weise zu hegen, sie lieber gleich zum Dienen und Dulden gewoͤhnen muͤsse, und alle Ursach habe, sie von Kindesbeinen an sowohl physisch als moralisch zu kraͤftigen. Die Ammen und Maͤgde, welche sich selbst immer gern einen Spazirgang bereiten, ver¬ fehlten nicht, von den fruͤhsten Zeiten, uns an dergleichen Orte zu tragen und zu fuͤhren, so daß diese laͤndlichen Feste wohl mit zu den ersten Eindruͤcken gehoͤren, deren ich mich er¬ inneren kann. Das Haus war indessen fertig geworden und zwar in ziemlich kurzer Zeit, weil alles wohl uͤberlegt, vorbereitet und fuͤr die noͤthige Geldsumme gesorgt war. Wir fanden uns nun alle wieder versammelt und fuͤhlten uns behag¬ lich: denn ein wohlausgedachter Plan, wenn er ausgefuͤhrt dasteht, laͤßt alles vergessen, was die Mittel, um zu diesem Zweck zu gelan¬ gen, unbequemes moͤgen gehabt haben. Das Haus war fuͤr eine Privatwohnung geraͤumig genug, durchaus hell und heiter, die Treppe frey, die Vorsaͤle lustig, und jene Aussicht uͤber die Gaͤrten aus mehrern Fenstern bequem zu genießen. Der innere Ausbau und was zur Vollendung und Zierde gehoͤrt, ward nach und nach vollbracht, und diente zugleich zur Beschaͤftigung und zur Unterhaltung. Das erste was man in Ordnung brachte, war die Buͤchersammlung des Vaters, von welcher die besten, in Franz- oder Halb-Franz¬ band gebundenen Buͤcher die Waͤnde seines Arbeits- und Studirzimmers schmuͤcken sollten. Er besaß die schoͤnen hollaͤndischen Ausgaben der lateinischen Schriftsteller, welche er der aͤußern Uebereinstimmung wegen saͤmmtlich in Quart anzuschaffen suchte; sodann vieles was sich auf die roͤmischen Antiquitaͤten und die elegan¬ tere Jurisprudenz bezieht. Die vorzuͤglichsten italiaͤnischen Dichter fehlten nicht, und fuͤr den Tasso bezeigte er eine große Vorliebe. Die besten neusten Reisebeschreibungen waren auch vorhanden, und er selbst machte sich ein Ver¬ gnuͤgen daraus, den Keyßler und Ne¬ meiz zu berichtigen und zu ergaͤnzen. Nicht weniger hatte er sich mit den noͤthigsten Huͤlfs¬ mitteln umgeben, mit Woͤrterbuͤchern aus ver¬ schiedenen Sprachen, mit Reallexiken, daß man sich also nach Belieben Raths erholen konnte, so wie mit manchem andern was zum Nutzen und Vergnuͤgen gereicht. Die andere Haͤlfte dieser Buͤchersammlung, in saubern Pergamentbaͤnden mit sehr schoͤn geschriebenen Titeln, ward in einem beson¬ dern Mansardzimmer aufgestellt. Das Nach¬ schaffen der neuen Buͤcher, so wie das Binden und Einreihen derselben, betrieb er mit gro¬ ßer Gelassenheit und Ordnung. Dabey hatten die gelehrten Anzeigen, welche diesem oder jenem Wert besondere Vorzuͤge beylegten, auf ihn großen Einfluß. Seine Sammlung juristischer Dissertationen vermehrte sich jaͤhr¬ lich um einige Baͤnde. Zunaͤchst aber wurden die Gemaͤlde, die sonst in dem alten Hause zerstreut herumgehan¬ gen, nunmehr zusammen an den Waͤnden ei¬ nes freundlichen Zimmers neben der Studir¬ stube, alle in schwarzen, mit goldenen Staͤb¬ chen verzierten Ramen, symmetrisch angebracht. Mein Vater hatte den Grundsatz, den er oͤf¬ ters und sogar leidenschaftlich aussprach, daß man die lebenden Meister beschaͤftigen, und weniger auf die abgeschiedenen wenden solle, bey deren Schaͤtzung sehr viel Vorurtheil mit unterlaufe. Er hatte die Vorstellung, daß es mit den Gemaͤlden voͤllig wie mit den Rhein¬ weinen beschaffen sey, die wenn ihnen gleich das Alter einen vorzuͤglichen Werth beylege, dennoch in jedem folgenden Jahre eben so vor¬ trefflich als in den vergangenen koͤnnten hervor¬ gebracht werden. Nach Verlauf einiger Zeit werde der neue Wein auch ein alter, eben so kostbar und vielleicht noch schmackhafter. In dieser Meynung bestaͤtigte er sich vorzuͤglich durch die Bemerkung, daß mehrere alte Bilder haupt¬ saͤchlich dadurch fuͤr die Liebhaber einen großen Werth zu erhalten schienen, weil sie dunkler und braͤuner geworden, und der harmonische Ton eines solchen Bildes oͤfters geruͤhmt wur¬ de. Mein Vater versicherte dagegen, es sey ihm gar nicht bange, daß die neuen Bilder kuͤnftig nicht auch schwarz werden sollten; daß sie aber gerade dadurch gewoͤnnen, wollte er nicht zugestehen. Nach diesen Grundsaͤtzen beschaͤftigte er mehrere Jahre hindurch die saͤmmtlichen Frankfurter Kuͤnstler: den Maler Hirt , wel¬ cher Eichen- und Buchenwaͤlder, und andere sogenannte laͤndliche Gegenden, sehr wohl mit Vieh zu staffiren wußte; desgleichen Traut¬ mann , der sich den Rembrand zum Muster genommen, und es in eingeschlossenen Lichtern und Widerscheinen, nicht weniger in effectvollen Feuersbruͤnsten weit gebracht hatte, so daß er einstens aufgefordert wurde, einen Pendant zu einem Rembrandischen Bilde zu malen; ferner Schuͤtz , der auf dem Wege des Sachtle¬ ben die Rheingegenden fieißig bearbeitet; nicht weniger Junkern , der Blumen- und Fruchtstuͤcke, Stillleben und ruhig beschaͤftigte Personen, nach dem Vorgang der Niederlaͤn¬ der, sehr reinlich ausfuͤhrte. Nun aber ward durch die neue Ordnung, durch einen beque¬ mern Raum, und noch mehr durch die Be¬ kanntschaft eines geschickten Kuͤnstlers, die Liebhaberey, wieder angefrischt und belebt. Die¬ ses war Seekaz , ein Schuͤler von Brink¬ mann, darmstaͤdtischer Hofmaler, dessen Ta¬ lent und Character sich in der Folge vor uns umstaͤndlicher entwickeln wird. Man schritt auf diese Weise mit Vollen¬ dung der uͤbrigen Zimmer, nach ihren ver¬ schiedenen Bestimmungen, weiter. Reinlichkeit und Ordnung herrschten im Ganzen; vorzuͤg¬ lich trugen große Spiegelscheiben das ihrige zu einer vollkommenen Helligkeit bey, die in dem alten Hause aus mehrern Ursachen, zu¬ naͤchst aber auch wegen meist runder Fensterschei¬ ben gefehlt hatte. Der Vater zeigte sich heiter, weil ihm alles gut gelungen war; und waͤre der gute Humor nicht manchmal dadurch un¬ I. 4 terbrochen worden, daß nicht immer der Fleiß und die Genauigkeit der Handwerker seinen Forderungen entsprachen: so haͤtte man kein gluͤcklicheres Leben denken koͤnnen, zumal da manches Gute theils in der Familie selbst entsprang, theils ihr von außen zufloß. Durch ein außerordentliches Weltereigniß wurde jedoch die Gemuͤthsruhe des Knaben zum ersten Mal im Tiefsten erschuͤttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete uͤber die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine gro¬ ße praͤchtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furcht¬ barsten Ungluͤck betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Haͤuser stuͤr¬ zen ein, Kirchen und Thuͤrme daruͤber her, der koͤnigliche Palast zum Theil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speyen: denn uͤberall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sech¬ zigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zu Grunde, und der gluͤcklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Be¬ sinnung uͤber das Ungluͤck mehr gestattet ist. Die Flammen wuͤthen fort, und mit ihnen wuͤ¬ thet eine Schaar sonst verborgner, oder durch dieses Ereigniß in Freyheit gesetzter Verbrecher. Die ungluͤcklichen Uebriggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen blosgestellt; und so behauptet von allen Sei¬ ten die Natur ihre schrankenlose Willkuͤhr. Schneller als die Nachrichten hatten schon Andeutungen von diesem Vorfall sich durch große Landstrecken verbreitet; an vielen Orten waren schwaͤchere Erschuͤtterungen zu verspuͤ¬ ren, an manchen Quellen, besonders den heilsamen, ein ungewoͤhnliches Innehalten zu bemerken gewesen: um desto groͤßer war die 4 * Wirkung der Nachrichten selbst, welche erst im Allgemeinen, dann aber mit schrecklichen Einzelheiten sich rasch verbreiteten. Hierauf ließen es die Gottesfuͤrchtigen nicht an Be¬ trachtungen, die Philosophen nicht an Trost¬ gruͤnden, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen. So vieles zusammen richtete die Aufmerksamkeit der Welt eine Zeit lang auf diesen Punct, und die durch fremdes Ungluͤck aufgeregten Gemuͤther wurden durch Sorgen fuͤr sich selbst und die Ihrigen um so mehr geaͤngstigt, als uͤber die weitverbrei¬ tete Wirkung dieser Explosion von allen Or¬ ten und Enden immer mehrere und umstaͤnd¬ lichere Nachrichten einliefen. Ja vielleicht hat der Daͤmon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so maͤchtig seine Schauer uͤber die Erde verbreitet. Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schoͤpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklaͤrung des ersten Glaubens-Artikels so weise und gnaͤ¬ dig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerech¬ ten mit den Ungerechten gleichem Verderben preis gab, keineswegs vaͤterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemuͤth sich ge¬ gen diese Eindruͤcke herzustellen, welches uͤber¬ haupt um so weniger moͤglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich uͤber die Art, wie man ein solches Phaͤnomen an¬ zusehen habe, nicht vereinigen konnten. Der folgende Sommer gab eine naͤhere Gelegenheit, den zornigen Gott, von dem das alte Testament so viel uͤberliefert, unmittelbar kennen zu lernen. Unversehens brach ein Ha¬ gelwetter herein und schlug die neuen Spie¬ gelscheiben der gegen Abend gelegenen Hin¬ terseite des Hauses unter Donner und Bli¬ tzen auf das gewaltsamste zusammen, beschaͤ¬ digte die neuen Moͤbeln, verderbte einige schaͤtzbare Buͤcher und sonst werthe Dinge, und war fuͤr die Kinder um so fuͤrchterlicher, als das ganz außer sich gesetzte Hausgesinde sie in einen dunklen Gang mit fortriß, und dort auf den Knieen liegend durch schreckli¬ ches Geheul und Geschrey die erzuͤrnte Gott¬ heit zu versoͤhnen glaubte; indessen der Vater ganz allein gefaßt, die Fensterfluͤgel aufriß und aushob; wodurch er zwar manche Schei¬ ben rettete, aber auch dem auf den Hagel folgenden Regenguß einen desto offnern Weg bereitete, so daß man sich, nach endlicher Erholung, auf den Vorsaͤlen und Treppen von flutendem und rinnendem Wasser umge¬ ben sah. Solche Vorfaͤlle, wie stoͤrend sie auch im Ganzen waren, unterbrachen doch nur wenig den Gang und die Folge des Unterrichts, den der Vater selbst uns Kindern zu geben sich einmal vorgenommen. Er hatte seine Jugend auf dem Coburger Gymnasium zugebracht, welches unter den deutschen Lehranstalten eine der ersten Stel¬ len einnahm. Er hatte daselbst einen guten Grund in den Sprachen und was man sonst zu einer gelehrten Erziehung rechnete, gelegt, nachher in Leipzig sich der Rechtswissenschaft beflissen, und zuletzt in Gießen promovirt. Seine mit Ernst und Fleiß verfaßte Disser¬ tation: Electa de aditione hereditatis , wird noch von den Rechtslehrern mit Lob angefuͤhrt. Es ist ein frommer Wunsch aller Vaͤter, das was ihnen selbst abgegangen, an den Soͤhnen realisirt zu sehen, so ohngefaͤhr als wenn man zum zweyten Mal lebte und die Erfahrungen des ersten Lebenslaufes nun erst recht nutzen wollte. Im Gefuͤhl seiner Kennt¬ nisse, in Gewißheit einer treuen Ausdauer, und im Mistrauen gegen die damaligen Leh¬ rer, nahm der Vater sich vor, seine Kinder selbst zu unterrichten, und nur soviel als es noͤthig schien, einzelne Stunden durch eigent¬ liche Lehrmeister zu besetzen. Ein paͤdagogi¬ scher Dilettantismus fing sich uͤberhaupt schon zu zeigen an. Die Pedanterie und Truͤbsin¬ nigkeit der an oͤffentlichen Schulen angestell¬ ten Lehrer mochte wohl die erste Veranlassung dazu geben. Man suchte nach etwas Besserem, und vergaß, wie, mangelhaft aller Unterricht seyn muß, der nicht durch Leute vom Metier ertheilt wird. Meinem Vater war sein eigner Lebens¬ gang bis dahin ziemlich nach Wunsch gelun¬ gen; ich sollte denselben Weg gehen, aber bequemer und weiter. Er schaͤtzte meine an¬ gebornen Gaben um so mehr als sie ihm man¬ gelten: denn er hatte alles nur durch unsaͤg¬ lichen Fleiß, Anhaltsamkeit und Wiederho¬ lung erworben. Er versicherte mir oͤfters, fruͤher und spaͤter, im Ernst und Scherz, daß er mit meinen Anlagen sich ganz anders wuͤrde benommen, und nicht so liederlich da¬ mit wuͤrde gewirthschaftet haben. Durch schnelles Ergreifen, Verarbeiten und Festhalten entwuchs ich sehr bald dem Unterricht, den mir mein Vater und die uͤbrigen Lehrmeister geben konnten, ohne daß ich doch in irgend etwas begruͤndet gewesen waͤre. Die Grammatik misfiel mir, weil ich sie nur als ein willkuͤhrliches Gesetz ansah; die Regeln schienen mir laͤcherlich, weil sie durch so viele Ausnahmen aufgehoben wurden, die ich alle wieder besonders lernen sollte. Und waͤre nicht der gereimte angehende Latei¬ ner gewesen, so haͤtte es schlimm mit mir ausgesehen; doch diesen trommelte und sang ich mir gern vor. So hatten wir auch eine Geographie in solchen Gedaͤchtnißversen, wo uns die abgeschmacktesten Reime das zu Be¬ haltende am besten einpraͤgten, z. B: Ober-Yssel; viel Morast Macht das gute Land verhaßt. Die Sprachformen und Wendungen faßte ich leicht; so auch entwickelte ich mir schnell, was in dem Begriff einer Sache lag. In rhetorischen Dingen, Chrieen und dergleichen that es mir Niemand zuvor, ob ich schon wegen Sprachfehler oft hintanstehen mußte. Solche Aufsaͤtze waren es jedoch, die meinem Vater besondre Freude machten, und wegen deren er mich mit manchem, fuͤr einen Kna¬ ben bedeutenden, Geldgeschenk belohnte. Mein Vater lehrte die Schwester in dem¬ selben Zimmer Italiaͤnisch, wo ich den Cella¬ rius auswendig zu lernen hatte. Indem ich nun mit meinem Pensum bald fertig war und doch still sitzen sollte, horchte ich uͤber das Buch weg und faßte das Italiaͤnische, das mir als eine lustige Abweichung des Lateinischen auffiel, sehr behende. Andere Fruͤhzeitigkeiten in Absicht auf Ge¬ daͤchtniß und Combination hatte ich mit jenen Kindern gemein, die dadurch einen fruͤhen Ruf erlangt haben. Deshalb konnte mein Vater kaum erwarten, bis ich auf Akademie gehen wuͤrde. Sehr bald erklaͤrte er, daß ich in Leipzig, fuͤr welches er eine große Vorliebe behalten, gleichfalls Jura studiren, alsdann noch eine andre Universitaͤt besuchen, und promoviren sollte. Was diese zweyte betraf, war es ihm gleichguͤltig, welche ich waͤhlen wuͤrde; nur gegen Goͤttingen hatte er, ich weiß nicht warum, einige Abneigung, zu meinem Leidwesen: denn ich hatte gerade auf diese viel Zutrauen und große Hoffnungen gesetzt. Ferner erzaͤhlte er mir, daß ich nach Wetzlar und Regensburg, nicht weniger nach Wien und von da nach Italien gehen sollte; ob er gleich wiederholt behauptete, man muͤsse Paris voraus sehen, weil man aus Italien kommend sich an nichts mehr ergetze. Dieses Maͤhrchen meines kuͤnftigen Ju¬ gendganges ließ ich mir gern wiederholen, besonders da es in eine Erzaͤhlung von Ita¬ lien und zuletzt in eine Beschreibung von Neapel auslief. Sein sonstiger Ernst und Trockenheit schien sich jederzeit aufzuloͤsen und zu beleben, und so erzeugte sich in uns Kin¬ dern der leidenschaftliche Wunsch, auch dieser Paradiese theilhaft zu werden. Privat-Stunden, welche sich nach und nach vermehrten, theilte ich mit Nachbars¬ kindern. Dieser gemeinsame Unterricht foͤr¬ derte mich nicht; die Lehrer gingen ihren Schlendrian, und die Unarten, ja manchmal die Boͤsartigkeiten meiner Gesellen, brachten Unruh, Verdruß und Stoͤrung in die kaͤrg¬ lichen Lehrstunden. Chrestomathieen, wodurch die Belehrung heiter und mannigfaltig wird, waren noch nicht bis zu uns gekommen. Der fuͤr junge Leute so starre Cornelius Nepos, das allzu leichte, und durch Predigten und Religions-Unterricht sogar trivial gewordne Neue Testament, Cellarius und Pasor konn¬ ten uns kein Interesse geben; dagegen hatte sich eine gewisse Reim- und Versewuth, durch Lesung der damaligen deutschen Dichter, unser bemaͤchtigt. Mich hatte sie schon fruͤher er¬ griffen, als ich es lustig fand, von der rhe¬ torischen Behandlung der Aufgaben zu der poetischen uͤberzugehen. Wir Knaben hatten eine sonntaͤgliche Zu¬ sammenkunft, wo jeder von ihm selbst verfer¬ tigte Verse produciren sollte. Und hier be¬ gegnete mir etwas Wunderbares, was mich sehr lange in Unruh setzte. Meine Gedichte, wie sie auch seyn mochten, mußte ich immer fuͤr die bessern halten. Allein ich bemerkte bald, daß meine Mitwerber, welche sehr lah¬ me Dinge vorbrachten, in dem gleichen Falle waren und sich nicht weniger duͤnkten; ja was mir noch bedenklicher schien, ein guter, obgleich zu solchen Arbeiten voͤllig unfaͤhiger Knabe, dem ich uͤbrigens gewogen war, der aber seine Reime sich vom Hofmeister machen ließ, hielt diese nicht allein fuͤr die allerbesten, sondern war voͤllig uͤberzeugt, er habe sie selbst gemacht; wie er mir, in dem vertrau¬ teren Verhaͤltniß, worin ich mit ihm stand, jederzeit aufrichtig behauptete. Da ich nun solchen Irrthum und Wahnsinn offenbar vor mir sah, fiel es mir eines Tages aufs Herz, ob ich mich vielleicht selbst in dem Falle be¬ faͤnde, ob nicht jene Gedichte wirklich besser seyen als die meinigen, und ob ich nicht mit Recht jenen Knaben eben so toll als sie mir vorkommen moͤchte? Dieses beunruhigte mich sehr und lange Zeit: denn es war mir durch¬ aus unmoͤglich, ein aͤußeres Kennzeichen der Wahrheit zu finden; ja ich stockte sogar in meinen Hervorbringungen, bis mich endlich Leichtsinn und Selbstgefuͤhl und zuletzt eine Probearbeit beruhigten, die uns Lehrer und Aeltern, welche auf unsere Scherze aufmerk¬ sam geworden, aus dem Stegreif aufgaben, wobey ich gut bestand und allgemeines Lob davontrug. Man hatte zu der Zeit noch keine Biblio¬ theken fuͤr Kinder veranstaltet. Die Alten hatten selbst noch kindliche Gesinnungen, und fanden es bequem, ihre eigene Bildung der Nachkommenschaft mitzutheilen. Außer dem Orbis pictus des Amos Comenius kam uns kein Buch dieser Art in die Haͤnde; aber die große Folio-Bibel, mit Kupfern von Merian, ward haͤufig von uns durchblaͤt¬ tert; Gottfrieds Chronik, mit Kupfern dessel¬ ben Meisters, belehrte uns von den merkwuͤr¬ digsten Faͤllen der Weltgeschichte; die Acerra philologica that noch allerley Fabeln, My¬ thologieen und Seltsamkeiten hinzu; und da ich gar bald die Ovidischen Verwandlungen gewahr wurde, und besonders die ersten Buͤ¬ cher fleißig studirte: so war mein junges Gehirn schnell genug mit einer Masse von Bildern und Begebenheiten, von bedeutenden und wunderbaren Gestalten und Ereignissen angefuͤllt, und ich konnte niemals lange Wei¬ le haben, indem ich mich immerfort beschaͤf¬ tigte, diesen Erwerb zu verarbeiten, zu wie¬ derholen, wieder hervorzubringen. Einen froͤmmern sittlichern Effect, als jene mitunter rohen und gefaͤhrlichen Alter¬ thuͤmlichkeiten, machte Fenelons Telemach, den ich erst nur in der Neukirchischen Ueber¬ setzung kennen lernte, und der, auch so unvoll¬ kommen uͤberliefert, eine gar suͤße und wohl¬ thaͤtige Wirkung auf mein Gemuͤth aͤußerte. Daß Robinson Crusoe sich zeitig angeschlossen, liegt wohl in der Natur der Sache; daß die Insel Felsenburg nicht gefehlt habe, laͤßt sich denken. Lord Anson's Reise um die Welt verband das Wuͤrdige der Wahrheit mit dem Phantasiereichen des Maͤhrchens, und indem wir diesen trefflichen Seemann mit den Ge¬ danken begleiteten, wurden wir weit in alle Welt hinausgefuͤhrt, und versuchten ihm mit unsern Fingern auf dem Globus zu folgen. Nun sollte mir auch noch eine reichlichere Aerndte bevorstehn, indem ich an eine Masse Schriften gerieth, die zwar in ihrer gegenwaͤr¬ tigen Gestalt nicht vortrefflich genannt werden koͤnnen, deren Inhalt jedoch uns manches Ver¬ dienst voriger Zeiten in einer unschuldigen Weise naͤher bringt. Der Verlag oder vielmehr die Fabrik je¬ ner Buͤcher, welche in der folgenden Zeit, unter dem Titel: Volksschriften, Volksbuͤcher, bekannt und sogar beruͤhmt geworden, war in Frankfurt selbst, und sie wurden, wegen des großen Abgangs, mit stehenden Lettern auf das schrecklichste Loͤschpapier fast unleserlich ge¬ druckt. Wir Kinder hatten also das Gluͤck, diese schaͤtzbaren Ueberreste der Mittelzeit auf einem Tischchen vor der Hausthuͤre eines Buͤchertroͤdlers taͤglich zu finden, und sie uns fuͤr ein paar Kreuzer zuzueignen. Der Eu¬ lenspiegel, die vier Haimonskinder, die schoͤne Melusine, der Kaiser Octavian, die schoͤne Magelone, Fortunatus, mit der ganzen Sipp¬ schaft bis auf den ewigen Juden, alles stand l. 5 uns zu Diensten, sobald uns geluͤstete nach diesen Werken, anstatt nach irgend einer Naͤscherey zu greifen. Der groͤßte Vortheil dabey war, daß wenn wir ein solches Heft zerlesen oder sonst beschaͤdigt hatten, es bald wieder angeschafft und aufs neue verschlungen werden konnte. Wie eine Familienspazirfahrt im Sommer durch ein ploͤtzliches Gewitter auf eine hoͤchst verdrießliche Weise gestoͤrt, und ein froher Zustand in den widerwaͤrtigsten verwandelt wird, so fallen auch die Kinderkrankheiten un¬ erwartet in die schoͤnste Jahrszeit des Fruͤh¬ lebens. Mir erging es auch nicht anders. Ich hatte mir eben den Fortunatus mit sei¬ nem Seckel und Wuͤnschhuͤthlein gekauft, als mich ein Misbehagen und ein Fieber uͤberfiel, wodurch die Pocken sich ankuͤndigten. Die Einimpfung derselben ward bey uns noch im¬ mer fuͤr sehr problematisch angesehen, und ob sie gleich populare Schriftsteller schon fa߬ lich und eindringlich empfohlen; so zauderten doch die deutschen Aerzte mit einer Operation, welche der Natur vorzugreifen schien. Specu¬ lirende Englaͤnder kamen daher aufs feste Land und impften, gegen ein ansehnliches Honorar, die Kinder solcher Personen, die sie wohl¬ habend und frey von Vorurtheil fanden. Die Mehrzahl jedoch war noch immer dem alten Unheil ausgesetzt; die Krankheit wuͤthete durch die Familien, toͤdtete und entstellte viele Kinder, und wenige Aeltern wagten es, nach einem Mittel zu greifen, dessen wahrschein¬ liche Huͤlfe doch schon durch den Erfolg man¬ nigfaltig bestaͤtigt war. Das Uebel betraf nun auch unser Haus, und uͤberfiel mich mit ganz besonderer Heftigkeit. Der ganze Koͤr¬ per war mit Blattern uͤbersaͤet, das Gesicht zugedeckt, und ich lag mehrere Tage blind und in großen Leiden. Man suchte die moͤg¬ lichste Linderung, und versprach mir goldene Berge, wenn ich mich ruhig verhalten und das Uebel nicht durch Reiben und Kratzen 5 * vermehren wollte. Ich gewann es uͤber mich; indessen hielt man uns, nach herrschendem Vorurtheil, so warm als moͤglich, und schaͤrf¬ te dadurch nur das Uebel. Endlich, nach traurig verflossener Zeit, fiel es mir wie eine Maske vom Gesicht, ohne daß die Blattern eine sichtbare Spur auf der Haut zuruͤckge¬ lassen; aber die Bildung war merklich veraͤn¬ dert. Ich selbst war zufrieden, nur wieder das Tageslicht zu sehen, und nach und nach die fleckige Haut zu verlieren; aber Andere waren unbarmherzig genug, mich oͤfters an den vorigen Zustand zu erinnern; besonders eine sehr lebhafte Tante, die fruͤher Abgoͤtte¬ rey mit mir getrieben hatte, konnte mich, selbst noch in spaͤtern Jahren, selten ansehen, ohne auszurufen: Pfui Teufel! Vetter, wie garstig ist er geworden! Dann erzaͤhlte sie mir umstaͤndlich, wie sie sich sonst an mir er¬ getzt, welches Aufsehen sie erregt, wenn sie mich umhergetragen; und so erfuhr ich fruͤh¬ zeitig, daß uns die Menschen fuͤr das Ver¬ gnuͤgen, das wir ihnen gewaͤhrt haben, sehr oft empfindlich buͤßen lassen. Weder von Masern, noch Windblattern, und wie die Quaͤlgeister der Jugend heißen moͤgen, blieb ich verschont, und jedesmal ver¬ sicherte man mir, es waͤre ein Gluͤck, daß dieses Uebel nun fuͤr immer voruͤber sey; aber leider drohte schon wieder ein andres im Hintergrund und ruͤckte heran. Alle diese Dinge vermehrten meinen Hang zum Nach¬ denken, und da ich, um das Peinliche der Ungeduld von mir zu entfernen, mich schon oͤfter im Ausdauern geuͤbt hatte; so schienen mir die Tugenden, welche ich an den Stoi¬ kern hatte ruͤhmen hoͤren, hoͤchst nachahmens¬ werth, um so mehr als durch die christliche Duldungslehre ein Aehnliches empfohlen wurde. Bey Gelegenheit dieses Familienleidens will ich auch noch eines Bruders gedenken, welcher um drey Jahr juͤnger als ich, gleich¬ falls von jener Ansteckung ergriffen wurde und nicht wenig davon litt. Er war von zarter Natur, still und eigensinnig, und wir hatten niemals ein eigentliches Verhaͤltniß zusammen. Auch uͤberlebte er kaum die Kinderjahre. Un¬ ter mehrern nachgebornen Geschwistern, die gleichfalls nicht lange am Leben blieben, erin¬ nere ich mich nur eines sehr schoͤnen und an¬ genehmen Maͤdchens, die aber auch bald ver¬ schwand, da wir denn nach Verlauf einiger Jahre, ich und meine Schwester, uns allein uͤbrig sahen, und nur um so inniger und lie¬ bevoller verbanden. Jene Krankheiten und andere unangenehme Stoͤrungen wurden in ihren Folgen doppelt laͤstig: denn mein Vater, der sich einen ge¬ wissen Erziehungs- und Unterrichts-Calender gemacht zu haben schien, wollte jedes Ver¬ saͤumniß unmittelbar wieder einbringen, und be¬ legte die Genesenden mit doppelten Lectionen, welche zu leisten mir zwar nicht schwer, aber in sofern beschwerlich fiel, als es meine in¬ nere Entwicklung, die eine entschiedene Rich¬ tung genommen hatte, aufhielt und gewisser¬ maßen zuruͤckdraͤngte. Vor diesen didactischen und paͤdagogischen Bedraͤngnissen fluͤchteten wir gewoͤhnlich zu den Großaͤltern. Ihre Wohnung lag auf der friedberger Gasse und schien ehmals eine Burg gewesen zu seyn: denn wenn man her¬ ankam, sah man nichts als ein großes Thor mit Zinnen, welches zu beyden Seiten an zwey Nachbarhaͤuser stieß. Trat man hinein, so gelangte man durch einen schmalen Gang endlich in einen ziemlich breiten Hof, umgeben von ungleichen Gebaͤuden, welche nunmehr alle zu einer Wohnung vereinigt waren. Ge¬ woͤhnlich eilten wir sogleich in den Garten, der sich ansehnlich lang und breit hinter den Gebaͤuden hin erstreckte und sehr gut unter¬ halten war; die Gaͤnge meistens mit Rebge¬ laͤnder eingefaßt, ein Theil des Raums den Kuͤchengewaͤchsen, ein andrer den Blumen gewidmet, die vom Fruͤhjahr bis in den Herbst, in reichlicher Abwechslung, die Rabat¬ ten so wie die Beete schmuͤckten. Die lange, gegen Mittag gerichtete Mauer war zu wohl gezogenen Spalier-Pfirsichbaͤumen genuͤtzt, von denen uns die verbotenen Fruͤchte, den Sommer uͤber, gar appetitlich entgegenreiften. Doch vermieden wir lieber diese Seite, weil wir unsere Genaͤschigkeit hier nicht befriedigen durften, und wandten uns zu der entgegen¬ gesetzten, wo eine unabsehbare Reihe Johan¬ nis– und Stachelbeer-Buͤssche unserer Gierig¬ keit eine Folge von Aerndten bis in den Herbst eroͤffnete. Nicht weniger war uns ein alter, hoher, weitverbreiteter Maulbeerbaum bedeu¬ tend, sowohl wegen seiner Fruͤchte als auch weil man uns erzaͤhlte, daß von seinen Blaͤt¬ tern die Seidenwuͤrmer sich ernaͤhrten. In die¬ sem friedlichen Revier fand man jeden Abend den Großvater mit behaglicher Geschaͤftigkeit eigenhaͤndig die feinere Obst- und Blumen¬ zucht besorgend, indeß ein Gaͤrtner die groͤ¬ bere Arbeit verrichtete. Die vielfachen Be¬ muͤhungen, welche noͤthig sind, um eine schoͤne Nelkenflor zu erhalten und zu vermehren, ließ er sich niemals verdrießen. Er selbst band sorgfaͤltig die Zweige der Pfirsichbaͤume faͤ¬ cherartig an die Spaliere, um einen reich¬ lichen und bequemen Wachsthum der Fruͤchte zu befoͤrdern. Das Sortiren der Zwiebeln von Tulpen, Hyacinthen und verwandter Gewaͤchse, so wie die Sorge fuͤr Aufbe¬ wahrung derselben, uͤberließ er Niemanden; und noch erinnere ich mich gern, wie emsig er sich mit dem Oculiren der verschiedenen Rosenarten beschaͤftigte. Dabey zog er, um sich vor den Dornen zu schuͤtzen, jene alter¬ thuͤmlichen ledernen Handschuhe an, die ihm beym Pfeifergericht jaͤhrlich in Triplo uͤber¬ reicht wurden, woran es ihm deshalb niemals mangelte. So trug er auch immer einen ta¬ laraͤhnlichen Schlafrock, und auf dem Haupt eine faltige schwarze Sammtmuͤtze, so daß er eine mittlere Person zwischen Alcinous und Laertes haͤtte vorstellen koͤnnen. Alle diese Gartenarbeiten betrieb er eben so regelmaͤßig und genau als seine Amtsgeschaͤfte: denn eh er herunterkam, hatte er immer die Registrande seiner Proponenden fuͤr den an¬ dern Tag in Ordnung gebracht und die Acten gelesen. Eben so fuhr er Morgens aufs Rathhaus, speiste nach seiner Ruͤckkehr, nickte hierauf in seinem Großstuhl, und so ging alles einen Tag wie den andern. Er sprach wenig, zeigte keine Spur von Heftig¬ keit; ich erinnere mich nicht, ihn zornig ge¬ sehen zu haben. Alles was ihn umgab, war alterthuͤmlich. In seiner getaͤfelten Stube habe ich niemals irgend eine Neuerung wahr¬ genommen. Seine Bibliothek enthielt außer juristischen Werken nur die ersten Reisebeschrei¬ bungen, Seefahrten und Laͤnder-Entdeckungen. Ueberhaupt erinnere ich mich keines Zustandes, der so wie dieser das Gefuͤhl eines unver¬ bruͤchlichen Friedens und einer ewigen Dauer gegeben haͤtte. Was jedoch die Ehrfurcht, die wir fuͤr diesen wuͤrdigen Greis empfanden, bis zum Hoͤchsten steigerte, war die Ueberzeugung, daß derselbe die Gabe der Weissagung besitze, besonders in Dingen, die ihn selbst und sein Schicksal betrafen. Zwar ließ er sich gegen Niemand als gegen die Großmutter entschie¬ den und umstaͤndlich heraus; aber wir alle wußten doch, daß er durch bedeutende Traͤu¬ me von dem was sich ereignen sollte, unter¬ richtet werde. So versicherte er z. B. seiner Gattinn, zur Zeit als er noch unter die juͤn¬ gern Rathsherren gehoͤrte, daß er bey der naͤchsten Vakanz auf der Schoͤffenbank zu der erledigten Stelle gelangen wuͤrde. Und als wirklich bald darauf einer der Schoͤffen vom Schlage geruͤhrt starb, verordnete er am Ta¬ ge der Wahl und Kugelung, daß zu Hause im Stillen alles zum Empfang der Gaͤste und Gratulanten solle eingerichtet werden, und die entscheidende goldne Kugel ward wirklich fuͤr ihn gezogen. Den einfachen Traum, der ihn hievon belehrt, vertraute er seiner Gat¬ tinn folgendermaßen: Er habe sich in voller gewoͤhnlicher Rathsversammlung gesehen, wo alles nach hergebrachter Weise vorgegangen. Auf einmal habe sich der nun verstorbene Schoͤff von seinem Sitze erhoben, sey herab¬ gestiegen und habe ihm auf eine verbindliche Weise das Compliment gemacht: er moͤge den verlassenen Platz einnehmen, und sey darauf zur Thuͤre hinausgegangen. Etwas Aehnliches begegnete, als der Schultheiß mit Tode abging. Man zaudert in solchem Falle nicht lange mit Besetzung dieser Stelle, weil man immer zu fuͤrchten hat, der Kaiser werde sein altes Recht, einen Schultheißen zu bestellen, irgend einmal wie¬ der hervorrufen. Dießmal ward um Mitter¬ nacht eine außerordentliche Sitzung auf den andern Morgen durch den Gerichtsboten an¬ gesagt. Weil diesem nun das Licht in der Laterne verloͤschen wollte, so erbat er sich ein Stuͤmpfchen, um seinen Weg weiter fortsetzen zu koͤnnen. „Gebt ihm ein ganzes, sagte der Großvater zu den Frauen: er hat ja doch die Muͤhe um meinetwillen.“ Dieser Aeußerung entsprach auch der Erfolg: er wur¬ de wirklich Schultheiß; wobey der Umstand noch besonders merkwuͤrdig war, daß, ob¬ gleich sein Repraͤsentant bey der Kugelung an der dritten und letzten Stelle zu ziehen hatte, die zwey silbernen Kugeln zuerst her¬ aus kamen, und also die goldne fuͤr ihn auf dem Grunde des Beutels liegen blieb. Voͤllig prosaisch, einfach und ohne Spur von Phantastischem oder Wundersamem wa¬ ren auch die uͤbrigen der uns bekannt geword¬ nen Traͤume. Ferner erinnere ich mich, daß ich als Knabe unter seinen Buͤchern und Schreibcalendern gestoͤrt, und darin unter andern auf Gaͤrtnerey bezuͤglichen Anmerkun¬ gen aufgezeichnet gefunden: Heute Nacht kam N. N. zu mir und sagte . . . . . Name und Offenbarung waren in Chiffern geschrie¬ ben. Oder es stand auf gleiche Weise: Heute Nacht sah ich . . . . Das Uebrige war wie¬ der in Chiffern, bis auf die Verbindungs¬ und andre Worte, aus denen sich nichts ab¬ nehmen ließ. Bemerkenswerth bleibt es hiebey, daß Personen, welche sonst keine Spur von Ahn¬ dungsvermoͤgen zeigten, in seiner Sphaͤre, fuͤr den Augenblick die Faͤhigkeit erlangten, daß sie von gewissen gleichzeitigen, obwohl in der Entfernung vorgehenden Krankheits- und Todesereignissen durch sinnliche Wahrzei¬ chen eine Vorempfindung hatten. Aber auf keines seiner Kinder und Enkel hat eine sol¬ che Gabe fortgeerbt; vielmehr waren sie mei¬ stentheils ruͤstige Personen, lebensfroh und nur aufs Wirkliche gestellt. Bey dieser Gelegenheit gedenk' ich dersel¬ ben mit Dankbarkeit fuͤr vieles Gute, das ich von ihnen in meiner Jugend empfangen. So waren wir z. B. auf gar mannigfaltige Weise beschaͤftigt und unterhalten, wenn wir die an einen Materialhaͤndler Melbert ver¬ heiratete zweyte Tochter besuchten, deren Woh¬ nung und Laden mitten im lebhaftesten, ge¬ draͤngtesten Theile der Stadt an dem Markte lag. Hier sahen wir nun dem Gewuͤhl und Gedraͤnge, in welches wir uns scheuten zu verlieren, sehr vergnuͤglich aus den Fenstern zu; und wenn uns im Laden unter so vieler¬ ley Waaren anfaͤnglich nur das Suͤßholtz und die daraus bereiteten braunen gestempelten Zeltlein vorzuͤglich interessirten: so wurden wir doch allmaͤhlich mit der großen Menge von Gegenstaͤnden bekannt, welche bey einer solchen Handlung aus- und einfließen. Die¬ se Tante war unter den Geschwistern die lebhafteste. Wenn meine Mutter, in juͤn¬ gern Jahren, sich in reinlicher Kleidung, bey einer zierlichen weiblichen Arbeit, oder im Lesen eines Buches gefiel; so fuhr jene in der Nachbarschaft umher, um sich dort ver¬ saͤumter Kinder anzunehmen, sie zu warten, zu kaͤmmen und herumzutragen, wie sie es denn auch mit mir eine gute Weile so getrieben. Zur Zeit oͤffentlicher Feyerlichkeiten, wie bey Kroͤnungen, war sie nicht zu Hause zu halten. Als kleines Kind schon hatte sie nach dem bey solchen Gelegenheiten ausgeworfenen Gel¬ de gehascht, und man erzaͤhlte sich: wie sie einmal eine gute Partie beysammen gehabt und solches vergnuͤglich in der flachen Hand beschaut, habe ihr einer dagegen geschlagen, wodurch denn die wohlerworbene Beute auf einmal verloren gegangen. Nicht weniger wußte sie sich viel damit, daß sie dem vor¬ beyfahrenden Kaiser Carl dem siebenten, waͤh¬ rend eines Augenblicks, da alles Volk schwieg, auf einem Prallsteine stehend, ein heftiges Vivat in die Kutsche gerufen und ihn veran¬ laßt habe, den Hut vor ihr abzuziehen und fuͤr diese kecke Aufmerksamkeit gar gnaͤdig zu danken. Auch in ihrem Hause war um sie her alles bewegt, lebenslustig und munter, und wir Kinder sind ihr manche frohe Stunde schuldig geworden. In einem ruhigern, aber auch ihrer Na¬ tur angemessenen Zustande befand sich eine zweyte Tante, welche mit dem bey der St. Catharinen-Kirche angestellten Pfarrer Stark verheiratet war. Er lebte seiner Gesinnung und seinem Stande gemaͤß sehr einsam, und besaß eine schoͤne Bibliothek. Hier lernte ich zuerst den Homer kennen, und zwar in einer prosaischen Uebersetzung, wie sie im siebenten Theil der durch Herrn von Loen besorgten neuen Sammlung der merkwuͤrdigsten Reisegeschichten, unter dem Titel: Homers Beschreibung der Eroberung des trojanischen Reichs, zu finden ist, mit I. 6 Kupfern im franzoͤsischen Theatersinne geziert. Diese Bilder verdarben mir dermaßen die Ein¬ bildungskraft, daß ich lange Zeit die home¬ rischen Helden mir nur unter diesen Gestalten vergegenwaͤrtigen konnte. Die Begebenheiten selbst gefielen mir unsaͤglich; nur hatte ich an dem Werte sehr auszusetzen, daß es uns von der Eroberung Troja's keine Nachricht gebe, und so stumpf mit dem Tode Hectors endige. Mein Oheim, gegen den ich diesen Tadel aͤußerte, verwies mich auf den Virgil, wel¬ cher denn meiner Forderung vollkommen Ge¬ nuͤge that. Es versteht sich von selbst, daß wir Kin¬ der, neben den uͤbrigen Lehrstunden, auch eines fortwaͤhrenden und fortschreitenden Re¬ ligionsunterrichts genossen. Doch war der kirchliche Protestantismus, den man uns uͤber¬ lieferte, eigentlich nur eine Art von trockner Moral: an einen geistreichen Vortrag ward nicht gedacht, und die Lehre konnte weder der Seele noch dem Herzen zusagen. Des¬ wegen ergaben sich gar mancherley Absonde¬ rungen von der gesetzlichen Kirche. Es ent¬ standen die Separatisten, Pietisten, Herrn¬ huter, die Stillen im Lande und wie man sie sonst zu nennen und zu bezeichnen pflegte, die aber alle blos die Absicht hatten, sich der Gottheit, besonders durch Christum, mehr zu naͤhern, als es ihnen unter der Form der oͤffentlichen Religion moͤglich zu seyn schien. Der Knabe hoͤrte von diesen Meynungen und Gesinnungen unaufhoͤrlich sprechen: denn die Geistlichkeit sowohl als die Laien theil¬ ten sich in das Fuͤr und Wider. Die mehr oder weniger Abgesonderten waren immer die Minderzahl; aber ihre Sinnesweise zog an durch Originalitaͤt, Herzlichkeit, Beharren und Selbstaͤndigkeit. Man erzaͤhlte von diesen Tugenden und ihren Aeußerungen allerley Geschichten. Besonders ward die Antwort eines frommen Klempnermeisters bekannt, den 6 * einer seiner Zunftgenossen durch die Frage zu beschaͤmen gedachte: wer denn eigentlich sein Beichtvater sey? Mit Heiterkeit und Ver¬ trauen auf seine gute Sache erwiederte jener: Ich habe einen sehr vornehmen; es ist nie¬ mand geringeres als der Beichtvater des Koͤnigs David. Dieses und dergleichen mag wohl Ein¬ druck auf den Knaben gemacht und ihn zu aͤhnlichen Gesinnungen aufgefordert haben. Genug, er kam auf den Gedanken, sich dem großen Gotte der Natur, dem Schoͤpfer und Erhalter Himmels und der Erden, dessen fruͤhere Zorn-Aeußerungen schon lange uͤber die Schoͤnheit der Welt und das mannigfal¬ tige Gute, das uns darin zu Theil wird, vergessen waren, unmittelbar zu naͤhern; der Weg dazu aber war sehr sonderbar. Der Knabe hatte sich uͤberhaupt an den ersten Glaubensartikel gehalten. Der Gott, der mit der Natur in unmittelbarer Verbin¬ dung stehe, sie als sein Werk anerkenne und liebe, dieser schien ihm der eigentliche Gott, der ja wohl auch mit dem Menschen wie mit allem uͤbrigen in ein genaueres Verhaͤltniß tre¬ ten koͤnne, und fuͤr denselben eben so wie fuͤr die Bewegung der Sterne, fuͤr Tages- und Jahrszeiten, fuͤr Pflanzen und Thiere Sor¬ ge tragen werde. Einige Stellen des Evan¬ geliums besagten dieses ausdruͤcklich. Eine Gestalt konnte der Knabe diesem Wesen nicht verleihen; er suchte ihn also in seinen Wer¬ ken auf, und wollte ihm auf gut alttestament¬ liche Weise einen Altar errichten. Naturpro¬ ducte sollten die Welt im Gleichniß vorstellen, uͤber diesen sollte eine Flamme brennen und das zu seinem Schoͤpfer sich aufsehnende Ge¬ muͤth des Menschen bedeuten. Nun wurden aus der vorhandnen und zufaͤllig vermehrten Naturaliensammlung die besten Stufen und Exemplare herausgesucht; allein wie solche zu schichten und aufzubauen seyn moͤchten, das war nun die Schwierigkeit. Der Vater hatte einen schoͤnen rothlackirten goldgebluͤmten Mu¬ sikpult, in Gestalt einer vierseitigen Pyrami¬ de mit verschiedenen Abstufungen, den man zu Quartetten sehr bequem fand, ob er gleich in der letzten Zeit nur wenig gebraucht wurde. Dessen bemaͤchtigte sich der Knabe, und baute nun stufenweise die Abgeordneten der Natur uͤber¬ einander, so daß es recht heiter und zugleich bedeutend genug aussah. Nun sollte bey ei¬ nem fruͤhen Sonnenaufgang die erste Gottes¬ verehrung angestellt werden; nur war der junge Priester nicht mit sich einig, auf welche Weise er eine Flamme hervorbringen sollte, die doch auch zu gleicher Zeit einen guten Ge¬ ruch von sich geben muͤsse. Endlich gelang ihm ein Einfall, beydes zu verbinden, indem er Raͤucherkerzchen besaß, welche wo nicht flammend doch glimmend den angenehmsten Geruch verbreiteten. Ja dieses gelinde Ver¬ brennen und Verdampfen schien noch mehr das was im Gemuͤthe vorgeht auszudruͤcken, als eine offene Flamme. Die Sonne war schon laͤngst aufgegangen, aber Nachbarhaͤu¬ ser verdeckten den Osten. Endlich erschien sie uͤber den Daͤchern; sogleich ward ein Brenn¬ glas zur Hand genommen, und die in einer schoͤnen Porzellanschale auf dem Gipfel ste¬ henden Raͤucherkerzen angezuͤndet. Alles gelang nach Wunsch, und die Andacht war vollkommen. Der Altar blieb als eine be¬ sondre Zierde des Zimmers, das man ihm im neuen Hause eingeraͤumt hatte, stehen. Jedermann sah darin nur eine wohlaufgeputz¬ te Naturaliensammlung; der Knabe hingegen wußte besser was er verschwieg. Er sehnte sich nach der Wiederholung jener Feyerlich¬ keit. Ungluͤcklicherweise war eben, als die ge¬ legenste Sonne hervorstieg, die Porzellantasse nicht bey der Hand; er stellte die Raͤucher¬ kerzchen unmittelbar auf die obere Flaͤche des Musikpultes; sie wurden angezuͤndet, und die Andacht war so groß, daß der Priester nicht merkte, welchen Schaden sein Opfer anrichte¬ te, als bis ihm nicht mehr abzuhelfen war. Die Kerzen hatten sich naͤmlich in den ro¬ then Lack und in die schoͤnen goldnen Blu¬ men auf eine schmaͤhliche Weise eingebrannt, und gleich als waͤre ein boͤser Geist verschwun¬ den, ihre schwarzen unausloͤschlichen Fußtapfen zuruͤckgelassen. Hieruͤber kam der junge Prie¬ ster in die aͤußerste Verlegenheit. Zwar wu߬ te er den Schaden durch die groͤßesten Pracht¬ stufen zu bedecken, allein der Muth zu neuen Opfern war ihm vergangen, und fast moͤchte man diesen Zufall als eine Andeutung und Warnung betrachten, wie gefaͤhrlich es uͤber¬ haupt sey, sich Gott auf dergleichen Wegen naͤhern zu wollen. Zweytes Buch . Alles bisher Vorgetragene deutet auf jenen gluͤcklichen und gemaͤchlichen Zustand, in wel¬ chem sich die Laͤnder waͤhrend eines langen Friedens befinden. Nirgends aber genießt man eine solche schoͤne Zeit wohl mit groͤßerem Behagen als in Staͤdten, die nach ihren ei¬ genen Gesetzen leben, die groß genug sind, eine ansehnliche Menge Buͤrger zu fassen, und wohl gelegen, um sie durch Handel und Wandel zu bereichern. Fremde finden ihren Gewinn, da aus- und einzuziehen, und sind genoͤthigt Vortheil zu bringen, um Vortheil zu erlangen. Beherrschen solche Staͤdte auch kein weites Gebiet, so koͤnnen sie destomehr im Innern Wohlhaͤbigkeit bewirken, weil ih¬ re Verhaͤltnisse nach außen sie nicht zu kost¬ spieligen Unternehmungen oder Theilnahmen verpflichten. Auf diese Weise verstoß den Frankfurtern waͤhrend meiner Kindheit eine Reihe gluͤck¬ licher Jahre. Aber kaum hatte ich am 28. August 1756 mein siebentes Jahr zuruͤck¬ gelegt, als gleich darauf jener weltbekannte Krieg ausbrach, welcher auf die naͤchsten sie¬ ben Jahre meines Lebens auch großen Ein¬ fluß haben sollte. Friedrich der zweyte, Koͤ¬ nig von Preußen, war mit 60000 Mann in Sachsen eingefallen, und statt einer vor¬ gaͤngigen Kriegserklaͤrung folgte ein Manifest, wie man sagte, von ihm selbst verfaßt, welches die Ursachen enthielt, die ihn zu einem solchen ungeheuren Schritt bewogen und berechtigt. Die Welt, die sich nicht nur als Zuschau¬ er, sondern auch als Richter aufgefordert fand, spaltete sich sogleich in zwey Parteyen, und unsere Familie war ein Bild des großen Ganzen. Mein Großvater, der als Schoͤff von Frankfurt uͤber Franz dem ersten den Kroͤ¬ nungs-Himmel getragen, und von der Kai¬ serinn eine gewichtige goldene Kette mit ihrem Bildniß erhalten hatte, war mit einigen Schwiegersoͤhnen und Toͤchtern auf oͤstreichi¬ scher Seite. Mein Vater, von Carl dem siebenten zum kaiserlichen Rath ernannt, und an dem Schicksale dieses ungluͤcklichen Monarchen gemuͤthlich theilnehmend, neigte sich mit der kleinern Familienhaͤlfte gegen Preußen. Gar bald wurden unsere Zusam¬ menkuͤnfte, die man seit mehrern Jahren Sonntags ununterbrochen fortgesetzt hatte, gestoͤrt. Die unter Verschwaͤgerten gewoͤhn¬ lichen Mishelligkeiten fanden nun erst eine Form, in der sie sich aussprechen konnten. Man stritt, man uͤberwarf sich, man schwieg, man brach los. Der Großvater, sonst ein heitrer, ruhiger und bequemer Mann, ward ungeduldig. Die Frauen suchten vergebens das Feuer zu tuͤschen, und nach einigen un¬ angenehmen Scenen blieb mein Vater zuerst aus der Gesellschaft. Nun freuten wir uns ungestoͤrt zu Hause der preußischen Siege, welche gewoͤhnlich durch jene leidenschaftliche Tante mit großem Jubel verkuͤndigt wur¬ den. Alles andere Interesse mußte diesem weichen, und wir brachten den Ueberrest des Jahres in bestaͤndiger Agitation zu. Die Besitznahme von Dresden, die anfaͤngliche Maͤßigung des Koͤnigs, die zwar langsamen aber sichern Fortschritte, der Sieg bey Lowo¬ sitz, die Gefangennehmung der Sachsen waren fuͤr unsere Partey eben so viele Triumphe. Alles was zum Vortheil der Gegner ange¬ fuͤhrt werden konnte, wurde gelaͤugnet oder verkleinert, und da die entgegengesetzten Fami¬ lienglieder das Gleiche thaten; so konnten sie einander nicht auf der Straße begegnen, ohne daß es Haͤndel setzte, wie in Romeo und Julie. Und so war ich denn auch Preußisch, oder um richtiger zu reden, Fritzisch gesinnt: denn was ging uns Preußen an. Es war die Per¬ soͤnlichkeit des großen Koͤnigs, die auf alle Gemuͤther wirkte. Ich freute mich mit dem Vater unserer Siege, schrieb sehr gern die Siegslieder ab, und fast noch lieber die Spottlieder auf die Gegenpartey, so platt die Reime auch seyn mochten. Als aͤltester Enkel und Pathe hatte ich seit meiner Kindheit jeden Sonntag bey den Großaͤltern gespeist: es waren meine vergnuͤg¬ testen Stunden der ganzen Woche. Aber nun wollte mir kein Bissen mehr schmecken: denn ich mußte meinen Helden aufs graͤu¬ lichste verlaͤumden hoͤren. Hier wehte ein an¬ derer Wind, hier klang ein anderer Ton als zu Hause. Die Neigung, ja die Verehrung fuͤr meine Großaͤltern nahm ab. Bey den Aeltern durfte ich nichts davon erwaͤhnen; ich unterließ es aus eigenem Gefuͤhl und auch weil die Mutter mich gewarnt hatte. Dadurch war ich auf mich selbst zuruͤck¬ gewiesen, und wie mir in meinem sechsten Jahre, nach dem Erdbeben von Lissabon, die Guͤte Gottes einigermaßen verdaͤchtig geworden war, so fing ich nun, wegen Fried¬ richs des zweyten, die Gerechtigkeit des Publicums zu bezweifeln an. Mein Ge¬ muͤth war von Natur zur Ehrerbietung ge¬ neigt, und es gehoͤrte eine große Erschuͤtte¬ rung dazu, um meinen Glauben an irgend ein Ehrwuͤrdiges wanken zu machen. Leider hatte man uns die guten Sitten, ein anstaͤn¬ diges Betragen, nicht um ihrer selbst, sondern um der Leute willen anempfohlen; was die Leute sagen wuͤrden, hieß es immer, und ich dachte, die Leute muͤßten auch rechte Leute seyn, wuͤrden auch Alles und Jedes zu schaͤtzen wissen. Nun aber erfuhr ich das Gegentheil. Die groͤßten und augenfaͤlligsten Verdienste wurden geschmaͤht und angefein¬ det, die hoͤchsten Thaten wo nicht gelaͤugnet doch wenigstens entstellt und verkleinert; und ein so schnoͤdes Unrecht geschah dem einzigen, offenbar uͤber alle seine Zeitgenossen erhabenen Manne, der taͤglich bewies und darthat was er vermoͤge; und dieß nicht etwa vom Poͤbel, sondern von vorzuͤglichen Maͤnnern, wofuͤr ich doch meinen Großvater und meine Oheime zu halten hatte. Daß es Parteyen geben koͤnne, ja daß er selbst zu einer Partey gehoͤrte, davon hatte der Knabe keinen Begriff. Er glaubte um so viel mehr Recht zu haben und seine Gesinnung fuͤr die bessere erklaͤren zu duͤrfen, da er und die Gleichgesinnten Marien There¬ sien, ihre Schoͤnheit und uͤbrigen guten Eigen¬ schaften ja gelten ließen, und dem Kaiser Franz seine Juwelen- und Geldliebhaberen weiter auch nicht verargten; daß Graf Daun manch¬ mal eine Schlafmuͤtze geheißen wurde, glaub¬ ten sie verantworten zu koͤnnen. Bedenke ich es aber jetzt genauer, so fin¬ de ich hier den Keim der Nichtachtung, ja der Verachtung des Publicums, die mir eine ganze Zeit meines Lebens anhing und nur spaͤt durch Einsicht und Bildung, ins Gleich¬ l. 7 gebracht werden konnte. Genug, schon da¬ mals war das Gewahrwerden parteyischer Ungerechtigkeit dem Knaben sehr unangenehm, ja schaͤdlich, indem es ihn gewoͤhnte, sich von geliebten und geschaͤtzten Personen zu entfernen. Die immer auf einander folgenden Kriegs¬ thaten und Begebenheiten ließen den Par¬ teyen weder Ruhe noch Rast. Wir fanden ein verdrießliches Behagen, jene eingebildeten Uebel und willkuͤhrlichen Haͤndel immer von frischem wieder zu erregen und zu schaͤrfen, und so fuhren wir fort uns unter einander zu quaͤlen, bis einige Jahre darauf die Franzo¬ sen Frankfurt besetzten und uns wahre Unbe¬ quemlichkeit in die Haͤuser brachten. Ob nun gleich die Meisten sich dieser wich¬ tigen, in der Ferne vorgehenden Ereignisse nur zu einer leidenschaftlichen Unterhaltung bedienten; so waren doch auch andre, welche den Ernst dieser Zeiten wohl einsahen, und befuͤrchteten, daß bey einer Theilnahme Frank¬ reichs der Kriegs-Schauplatz sich auch in un¬ sern Gegenden aufthun koͤnne. Man hielt uns Kinder mehr als bisher zu Hause, und suchte uns auf mancherley Weise zu beschaͤfti¬ gen und zu unterhalten. Zu solchem Ende hatte man das von der Großmutter hinter¬ lassene Puppenspiel wieder aufgestellt, und zwar dergestalt eingerichtet, daß die Zuschauer in meinem Giebelzimmer sitzen, die spielenden und dirigirenden Personen aber, so wie das Theater selbst vom Proscenium an, in einem Nebenzimmer Platz und Raum fanden. Durch die besondere Verguͤnstigung, bald diesen bald jenen Knaben als Zuschauer einzulassen, er¬ warb ich mir anfangs viele Freunde; allein die Unruhe, die in den Kindern steckt, ließ sie nicht lange geduldige Zuschauer bleiben. Sie stoͤrten das Spiel, und wir mußten uns ein juͤngeres Publicum aussuchen, das noch allenfalls durch Ammen und Maͤgde in der Ordnung gehalten werden konnte. Wir hat¬ ten das urspruͤngliche Hauptdrama, worauf 7 * die Puppengesellschaft eigentlich eingerichtet war, auswendig gelernt, und fuͤhrten es an¬ fangs auch ausschließlich auf; allein dieß er¬ muͤdete uns bald, wir veraͤnderten die Gar¬ derobe, die Decorationen, und wagten uns an verschiedene Stuͤcke, die freylich fuͤr einen so kleinen Schauplatz zu weitlaͤuftig waren. Ob wir uns nun gleich durch diese Anma¬ ßung dasjenige was wir wirklich haͤtten leisten koͤnnen, verkuͤmmerten und zuletzt gar zerstoͤr¬ ten; so hat doch diese kindliche Unterhaltung und Beschaͤftigung auf sehr mannigfaltige Weise bey mir das Erfindungs- und Dar¬ stellungsvermoͤgen, die Einbildungskraft und eine gewisse Technik geuͤbt und befoͤrdert, wie es vielleicht auf keinem andern Wege, in so kurzer Zeit, in einem so engen Raume, mit so wenigem Aufwand haͤtte geschehen koͤnnen. Ich hatte fruͤh gelernt mit Zirkel und Lineal umzugehen, indem ich den ganzen Un¬ terricht, den man uns in der Geometrie er¬ theilte, sogleich in das Thaͤtige verwandte, und Pappenarbeiten konnten mich hoͤchlich be¬ schaͤftigen. Doch blieb ich nicht bey geome¬ trischen Koͤrpern, bey Kaͤstchen und solchen Dingen stehen, sondern ersann mir artige Lusthaͤuser, welche mit Pilastern, Freytreppen und flachen Daͤchern ausgeschmuͤckt wurden; wovon jedoch wenig zu Stande kam. Weit beharrlicher hingegen war ich, mit Huͤlfe unsers Bedienten, eines Schneiders von Profession, eine Ruͤstkammer auszustat¬ ten, welche zu unsern Schau- und Trauer¬ spielen dienen sollte, die wir, nachdem wir den Puppen uͤber den Kopf gewachsen waren, selbst aufzufuͤhren Lust hatten. Meine Ge¬ spielen verfertigten sich zwar auch solche Ruͤ¬ stungen und hielten sie fuͤr eben so schoͤn und gut als die meinigen; allein ich hatte es nicht bey den Beduͤrfnissen Einer Person bewenden lassen, sondern konnte mehrere des kleinen Heeres mit allerley Requisiten aus¬ statten, und machte mich daher unserm klei¬ nen Kreise immer nothwendiger. Daß solche Spiele auf Parteyungen, Gefechte und Schlaͤ¬ ge hinwiesen, und gewoͤhnlich auch mit Haͤn¬ deln und Verdruß ein schreckliches Ende nah¬ men, laͤßt sich denken. In solchen Faͤllen hielten gewoͤhnlich gewisse bestimmte Gespielen an mir, andre auf der Gegenseite, ob es gleich oͤfter manchen Parteywechsel gab. Ein einziger Knabe, den ich Pylades nennen will, verließ nur ein einzigmal, von den an¬ dern aufgehetzt, meine Partey, konnte es aber kaum eine Minute aushalten, mir feindselig gegenuͤber zu stehen; wir versoͤhnten uns un¬ ter vielen Thraͤnen, und haben eine ganze Weile treulich zusammen gehalten. Diesen so wie andre Wohlwollende konnte ich sehr gluͤcklich machen, wenn ich ihnen Maͤhrchen erzaͤhlte, und besonders liebten sie, wenn ich in eigner Person sprach, und hat¬ ten eine große Freude, daß mir als ihrem Gespielen so wunderliche Dinge koͤnnten be¬ gegnet seyn, und dabey gar kein Arges, wie ich Zeit und Raum zu solchen Abenteuern finden koͤnnen, da sie doch ziemlich wußten, wie ich beschaͤftigt war, und wo ich aus und einging. Nicht weniger waren zu solchen Begebenheiten Localitaͤten, wo nicht aus ei¬ ner andern Welt, doch gewiß aus einer an¬ dern Gegend noͤthig, und alles war doch erst heut oder gestern geschehen. Sie mußten sich daher mehr selbst betruͤgen, als ich sie zum besten haben konnte. Und wenn ich nicht nach und nach, meinem Naturell gemaͤß, diese Luftgestalten und Windbeuteleyen zu kunstmaͤßigen Darstellungen haͤtte verarbeiten lernen; so waͤren solche aufschneiderische An¬ faͤnge gewiß nicht ohne schlimme Folgen fuͤr mich geblieben. Betrachtet man diesen Trieb recht genau, so moͤchte man in ihm diejenige Anmaßung erkennen, womit der Dichter selbst das Un¬ wahrscheinlichste gebieterisch ausspricht, und von einem Jeden fordert, er solle dasjenige fuͤr wirklich erkennen, was ihm, dem Erfinder, auf irgend eine Weise als wahr erscheinen konnte. Was jedoch hier nur im Allgemeinen und betrachtungsweise vorgetragen worden, wird vielleicht durch ein Beyspiel, durch ein Mu¬ sterstuͤck angenehmer und anschaulicher werden. Ich fuͤge daher ein solches Maͤhrchen bey, welches mir, da ich es meinen Gespielen oft wiederholen mußte, noch ganz wohl vor der Einbildungskraft und im Gedaͤchtniß schwebt. Der neue Paris, Knabenmaͤhrchen . Mir traͤumte neulich in der Nacht vor Pfingstsonntag, als stuͤnde ich vor einem Spie¬ gel und beschaͤftigte mich mit den neuen Som¬ merkleidern, welche mir die lieben Aeltern auf das Fest hatten machen lassen. Der An¬ zug bestand, wie ihr wißt, in Schuhen von sauberem Leder, mit großen silbernen Schnal¬ len, feinen baumwollnen Struͤmpfen, schwar¬ zen Unterkleidern von Sarsche, und einem Rock von gruͤnem Berkan mit goldnen Bal¬ letten. Die Weste dazu, von Goldstoff, war aus meines Vaters Braͤutigamsweste geschnit¬ ten. Ich war frisirt und gepudert, die Lo¬ cken standen mir wie Fluͤgelchen vom Kopfe; aber ich konnte mit dem Anziehen nicht fer¬ tig werden, weil ich immer die Kleidungs¬ stuͤcke verwechselte, und weil mir immer das erste vom Leibe fiel, wenn ich das zweyte umzunehmen gedachte. In dieser großen Ver¬ legenheit trat ein junger schoͤner Mann zu mir und begruͤßte mich aufs freundlichste. Ey, seyd mir willkommen! sagte ich: es ist mir ja gar lieb, daß ich Euch hier sehe. — „Kennt Ihr mich denn?“ versetzte jener laͤ¬ chelnd. — Warum nicht? war meine gleich¬ falls laͤchelnde Antwort. Ihr seyd Merkur, und ich habe Euch oft genug abgebildet ge¬ sehen. — „Das bin ich, sagte jener, und von den Goͤttern mit einem wichtigen Auf¬ trag an dich gesandt. Siehst du diese drey Aepfel?“ — Er reichte seine Hand her und zeigte mir drey Aepfel, die sie kaum fassen konnte, und die eben so wundersam schoͤn als groß waren, und zwar der eine von rother, der andere von gelber, der dritte von gruͤner Farbe. Man mußte sie fuͤr Edelsteine hal¬ ten, denen man die Form von Fruͤchten ge¬ geben. Ich wollte darnach greifen; er aber zog zuruͤck und sagte: „Du mußt erst wissen, daß sie nicht fuͤr dich sind. Du sollst sie den drey schoͤnsten jungen Leuten von der Stadt geben, welche sodann, jeder nach sei¬ nem Loose, Gattinnen finden sollen, wie sie solche nur wuͤnschen koͤnnen. Nimm, und mach deine Sachen gut!“ sagte er scheidend, und gab mir die Aepfel in meine offnen Haͤnde; sie schienen mir noch groͤßer gewor¬ den zu seyn. Ich hielt sie darauf in die Hoͤ¬ he, gegen das Licht, und fand sie ganz durch¬ sichtig; aber gar bald zogen sie sich aufwaͤrts in die Laͤnge und wurden zu drey schoͤnen, schoͤnen Frauenzimmerchen in maͤßiger Pup¬ pengroͤße, deren Kleider von der Farbe der vorherigen Aepfel waren. So gleiteten sie sacht an meinen Fingern hinauf, und als ich nach ihnen haschen wollte, um wenigstens eine festzuhalten, schwebten sie schon weit in der Hoͤhe und Ferne, daß ich nichts als das Nachsehen hatte. Ich stand ganz verwundert und versteinert da, hatte die Haͤnde noch in der Hoͤhe und beguckte meine Finger, als waͤre daran etwas zu sehen gewesen. Aber mit einmal erblickte ich auf meinen Finger¬ spitzen ein allerliebstes Maͤdchen herumtanzen, kleiner als jene, aber gar niedlich und mun¬ ter; und weil sie nicht wie die andern fort¬ flog, sondern verweilte, und bald auf diese bald auf jene Fingerspitze tanzend hin und her trat; so sah ich ihr eine Zeit lang ver¬ wundert zu. Da sie mir aber gar so wohl gefiel, glaubte ich sie endlich haschen zu koͤn¬ nen und dachte geschickt genug zuzugreifen; allein in dem Augenblick fuͤhlte ich einen Schlag an den Kopf, so daß ich ganz be¬ taͤubt niederfiel, und aus dieser Betaͤubung nicht eher erwachte, als bis es Zeit war mich anzuziehen und in die Kirche zu gehen. Unter dem Gottesdienst wiederholte ich mir jene Bilder oft genug; auch am gro߬ aͤlterlichen Tische, wo ich zu Mittag speiste. Nachmittags wollte ich einige Freunde be¬ suchen, sowohl um mich in meiner neuen Kleidung, den Hut unter dem Arm und den Degen an der Seite, sehen zu lassen, als auch weil ich ihnen Besuche schuldig war. Ich fand Niemanden zu Hause, und da ich hoͤrte, daß sie in die Gaͤrten gegangen; so gedachte ich ihnen zu folgen und den Abend vergnuͤgt zuzubringen. Mein Weg fuͤhrte mich den Zwinger hin, und ich kam in die Gegend, welche mit Recht den Namen schlimme Mauer fuͤhrt: denn es ist dort niemals ganz geheuer. Ich ging nur lang¬ sam und dachte an meine drey Goͤttinnen, besonders aber an die kleine Nymphe, und hielt meine Finger manchmal in die Hoͤhe, in Hoffnung sie wuͤrde so artig seyn, wieder darauf zu balanciren. In diesen Gedanken vorwaͤrts gehend erblickte ich, linker Hand, in der Mauer ein Pfoͤrtchen, das ich mich nicht erinnerte je gesehen zu haben. Es schien niedrig, aber der Spitzbogen druͤber haͤtte den groͤßten Mann hindurch gelassen. Bogen und Gewaͤnde waren aufs zierlichste vom Steinmetz und Bildhauer ausgemeißelt, die Thuͤre selbst aber zog erst recht meine Aufmerksamkeit an sich. Braunes uraltes Holz, nur wenig verziert, war mit breiten, sowohl erhaben als vertieft gearbeiteten Baͤn¬ dern von Erz beschlagen, deren Laubwerk, worin die natuͤrlichsten Voͤgel saßen, ich nicht genug bewundern konnte. Doch was mir das merkwuͤrdigste schien, kein Schluͤssel¬ loch war zu sehen, keine Klinke, kein Klop¬ fer, und ich vermuthete daraus, daß diese Thuͤre nur von innen aufgemacht werde. Ich hatte mich nicht geirrt: denn als ich ihr naͤher trat, um die Zieraten zu befuͤhlen, that sie sich hineinwaͤrts auf, und es erschien ein Mann, dessen Kleidung etwas Langes, Weites und Sonderbares hatte. Auch ein ehr¬ wuͤrdiger Bart umwoͤlkte sein Kinn; daher ich ihn fuͤr einen Juden zu halten geneigt war. Er aber, eben als wenn er meine Ge¬ danken errathen haͤtte, machte das Zeichen des heiligen Kreuzes, wodurch er mir zu erkennen gab, daß er ein guter catholischer Christ sey. — „Junger Herr, wie kommt Ihr hieher, und was macht Ihr da?“ sagte er mit freundlicher Stimme und Gebaͤrde. — Ich bewundre, versetzte ich, die Arbeit dieser Pforte: denn ich habe dergleichen noch nie¬ mals gesehen; es muͤßte denn seyn auf klei¬ nen Stuͤcken in den Kunstsammlungen der Liebhaber. — „Es freut mich, versetzte er darauf daß Ihr solche Arbeit liebt. In¬ wendig ist die Pforte noch viel schoͤner: tre¬ tet herein, wenn es Euch gefaͤllt.“ Mir war bey der Sache nicht ganz wohl zu Mu¬ the. Die wunderliche Kleidung des Pfoͤrt¬ ners, die Abgelegenheit und ein sonst ich weiß nicht was, das in der Luft zu liegen schien, beklemmte mich. Ich verweilte daher, unter dem Vorwande die Außenseite noch laͤnger zu betrachten, und blickte dabey ver¬ stohlen in den Garten: denn ein Garten war es, der sich vor mir eroͤffnet hatte. Gleich hinter der Pforte sah ich einen großen beschat¬ teten Platz; alte Linden, regelmaͤßig von einander abstehend, bedeckten ihn voͤllig mit ihren dicht in einander greifenden Aesten, so daß die zahlreichsten Gesellschaften in der groͤßten Tageshitze sich darunter haͤtten erqui¬ cken koͤnnen. Schon war ich auf die Schwelle getreten, und der Alte wußte mich immer um einen Schritt weiter zu locken. Ich widerstand auch eigentlich nicht: denn ich hatte jederzeit gehoͤrt, daß ein Prinz oder Sultan in solchem Falle niemals fragen muͤsse, ob Gefahr vorhanden sey. Hatte ich doch auch meinen Degen an der Seite; und sollte ich mit dem Alten nicht fertig werden, wenn er sich feindlich erweisen wollte? Ich trat also ganz gesichert hinein; der Pfoͤrtner druͤckte die Thuͤre zu, die so leise einschnappte, daß ich es kaum spuͤrte. Nun zeigte er mir die inwendig angebrachte, wirklich noch viel kunst¬ reichere Arbeit, legte sie mir aus, und bewies mir dabey ein besonderes Wohlwollen. Hie¬ durch nun voͤllig beruhigt, ließ ich mich in dem belaubten Raume an der Mauer, die sich ins Runde, zog, weiter fuͤhren, und fand manches an ihr zu bewundern. Nischen, mit Muscheln, Corallen und Metallstufen kuͤnstlich ausgeziert, gaben aus Tritonenmaͤu¬ lern reichliches Wasser in marmorne Becken; dazwischen waren Vogelhaͤuser angebracht und andre Vergitterungen, worin Eichhoͤrnchen herumhuͤpften, Meerschweinchen hin und wie¬ der liefen, und was man nur sonst von arti¬ gen Geschoͤpfen wuͤnschen kann. Die Voͤgel riefen und sangen uns an, wie wir vorschrit¬ ten; die Staare besonders schwaͤtzten das naͤrrischste Zeug; der eine rief immer: Paris, Paris, und der andre: Narciß, Narciß, so deutlich als es ein Schulknabe nur ausspre¬ chen kann. Der Alte schien mich immer ernsthaft anzusehen, indem die Voͤgel dieses riefen; ich that aber nicht als wenn ich's merkte, und hatte auch wirklich nicht Zeit I. 8 auf ihn Acht zu geben: denn ich konnte wohl gewahr werden, daß wir in die Runde gin¬ gen, und daß dieser beschattete Raum eigent¬ lich ein großer Kreis sey, der einen andern viel bedeutendern umschließe. Wir waren auch wirklich wieder bis ans Pfoͤrtchen gelangt, und es schien als wenn der Alte mich hinauslassen wolle; allein meine Augen blieben auf ein goldnes Gitter gerichtet, welches die Mitte dieses wunderbaren Gar¬ tens zu umzaͤunen schien, und das ich auf unserm Gange hinlaͤnglich zu beobachten Gele¬ genheit fand, ob mich der Alte gleich immer an der Mauer und also ziemlich entfernt von der Mitte zu halten wußte. Als er nun eben auf das Pfoͤrtchen los ging, sagte ich zu ihm, mit einer Verbeugung: Ihr seyd so aͤußerst gefaͤllig gegen mich gewesen, daß ich wohl noch eine Bitte wagen moͤchte, ehe ich von Euch scheide. Duͤrfte ich nicht jenes goldne Gitter naͤher besehen, das in einem sehr weiten Kreise das Innere des Gartens einzuschließen scheint? — „Recht gern, ver¬ setzte jener; aber sodann muͤßt Ihr Euch einigen Bedingungen unterwerfen.“ — Wor¬ in bestehen sie? fragte ich hastig. — „Ihr muͤßt Euren Hut und Degen hier zuruͤck¬ lassen, und duͤrft mir nicht von der Hand, indem ich Euch begleite.“ — Herzlich gern! erwiederte ich, und legte Hut und Degen auf die erste beste steinerne Bank. Sogleich ergriff er mit seiner Rechten meine Linke, hielt sie fest, und fuͤhrte mich mit einiger Gewalt gerade vorwaͤrts. Als wir ans Git¬ ter kamen, verwandelte sich meine Verwunde¬ rung in Erstaunen: so etwas hatte ich nie gesehen. Auf einem hohen Sockel von Mar¬ mor standen unzaͤhlige Spieße und Partisa¬ nen neben einander gereiht, die durch ihre seltsam verzierten oberen Enden zusammenhin¬ gen und einen ganzen Kreis bildeten. Ich schaute durch die Zwischenraͤume, und sah gleich dahinter ein sanft fließendes Wasser, auf beyden Seiten mit Marmor eingefaßt, das 8 * in seinen klaren Tiefen eine große Anzahl von Gold- und Silberfischen sehen ließ, die sich bald sachte bald geschwind, bald einzeln bald zugweise, hin und her bewegten. Nun haͤtte ich aber auch gern uͤber den Canal gesehen, um zu erfahren, wie es in dem Herzen des Gartens beschaffen sey, allein da fand ich zu meiner großen Betruͤbniß, daß an der Gegenseite das Wasser mit einem gleichen Gitter eingefaßt war, und zwar so kuͤnstlicher Weise, daß auf einen Zwischenraum diesseits gerade ein Spieß oder eine Parti¬ sane jenseits paßte, und man also, die uͤbri¬ gen Zieraten mitgerechnet, nicht hindurchsehen konnte, man mochte sich stellen wie man wollte. Ueberdieß hinderte mich der Alte, der mich noch immer festhielt, daß ich mich nicht frey bewegen konnte. Meine Neugier wuchs indeß, nach allem was ich gesehen, immer mehr, und ich nahm mir ein Herz, den Alten zu fragen, ob man nicht auch hinuͤber kommen koͤnne. — „Warum nicht? versetzte jener; aber auf neue Bedingun¬ gen.“ — Als ich nach diesen fragte, gab er mir zu erkennen, daß ich mich umkleiden muͤsse. Ich war es sehr zufrieden; er fuͤhrte mich zuruͤck nach der Mauer in einen kleinen reinlichen Saal, an dessen Waͤnden mancher¬ ley Kleidungen hingen, die sich saͤmmtlich dem orientalischen Costum zu naͤhern schienen. Ich war geschwind umgekleidet; er streifte meine gepuderten Haare unter ein buntes Netz, nachdem er sie zu meinem Entsetzen gewaltig ausgestaͤubt hatte. Nun fand ich mich vor einem großen Spiegel in meiner Vermummung gar huͤbsch, und gefiel mir besser als in meinem steifen Sonntagskleide. Ich machte einige Gebaͤrden und Spruͤnge, wie ich sie von den Taͤnzern auf dem Me߬ theater gesehen hatte. Unter diesem sah ich in den Spiegel und erblickte zufaͤllig das Bild einer hinter mir befindlichen Nische. Auf ihrem weißen Grunde hingen drey gruͤne Strickchen, jedes in sich auf eine Weise ver¬ schlungen, die mir in der Ferne nicht deutlich werden wollte. Ich kehrte mich daher etwas hastig um, und fragte den Alten nach der Nische so wie nach den Strickchen. Er, ganz gefaͤllig, holte eins herunter und zeigte es mir. Es war eine gruͤnseidene Schnur von maͤßiger Staͤrke, deren beyde Enden durch ein zwiefach durchschnittenes gruͤnes Leder geschlungen, ihr das Ansehn gaben, als sey es ein Werkzeug zu einem eben nicht sehr erwuͤnschten Gebrauch. Die Sache schien mir bedenklich, und ich fragte den Alten nach der Bedeutung. Er antwortete mir ganz gelassen und guͤtig: es sey dieses fuͤr diejeni¬ gen, welche das Vertrauen misbrauchten, das man ihnen hier zu schenken bereit sey. Er hing die Schnur wieder an ihre Stelle und verlangte sogleich, daß ich ihm folgen solle: denn dießmal faßte er mich nicht an, und so ging ich frey neben ihm her. Meine groͤßte Neugier war nunmehr, wo die Thuͤre, wo die Bruͤcke seyn moͤchte, um durch das Gitter, um uͤber den Canal zu kommen: denn ich hatte dergleichen bis jetzt noch nicht ausfindig machen koͤnnen. Ich betrachtete daher die goldene Umzaͤunung sehr genau, als wir darauf zueilten; allein au¬ genblicklich verging mir das Gesicht: denn unerwartet begannen Spieße, Speere, Helle¬ barden, Partisanen sich zu ruͤtteln und zu schuͤt¬ teln, und diese seltsame Bewegung endigte damit, daß die saͤmmtlichen Spitzen sich gegen einander senkten, eben als wenn zwey alter¬ thuͤmliche, mit Piken bewaffnete Heerhaufen gegen einander losgehen wollten. Die Ver¬ wirrung fuͤrs Auge, das Geklirr fuͤr die Oh¬ ren, war kaum zu ertragen, aber unendlich uͤberraschend der Anblick, als sie voͤllig nie¬ dergelassen den Kreis des Canals bedeckten und die herrlichste Bruͤcke bildeten, die man sich denken kann: denn nun lag das bunte¬ ste Gartenparterre vor meinem Blick. Es war in verschlungene Beete getheilt, welche zusammen betrachtet ein Labyrinth von Zie¬ raten bildeten; alle mit gruͤnen Einfassungen von einer niedrigen, wollig wachsenden Pflan¬ ze, die ich nie gesehen; alle mit Blumen, jede Abtheilung von verschiedener Farbe, die ebenfalls niedrig und am Boden, den vorge¬ zeichneten Grundriß leicht verfolgen ließen. Dieser koͤstliche Anblick, den ich in vollem Sonnenschein genoß, fesselte ganz meine Au¬ gen; aber ich wußte fast nicht, wo ich den Fuß hinsetzen sollte: denn die schlaͤngelnden Wege waren aufs reinlichste von blauem Sande gezogen, der einen dunklern Himmel, oder einen Himmel im Wasser, an der Erde zu bilden schien; und so ging ich, die Augen auf den Boden gerichtet, eine Zeit lang ne¬ ben meinem Fuͤhrer, bis ich zuletzt gewahr ward, daß in der Mitte von diesem Beeten- und Blumen-Rund ein großer Kreis von Cypressen oder pappelartigen Baͤumen stand, durch den man nicht hindurchsehen konnte, weil die untersten Zweige aus der Erde her¬ vorzutreiben schienen. Mein Fuͤhrer, ohne mich gerade auf den naͤchsten Weg zu draͤn¬ gen, leitete mich doch unmittelbar nach jener Mitte, und wie war ich uͤberrascht! als ich in den Kreis der hohen Baͤume tretend, die Saͤulenhalle eines koͤstlichen Gartengebaͤudes vor mir sah, das nach den uͤbrigen Seiten hin aͤhnliche Ansichten und Eingaͤnge zu ha¬ ben schien. Noch mehr aber als dieses Mu¬ ster der Baukunst entzuͤckte mich eine himm¬ lische Musik, die aus dem Gebaͤude hervor¬ drang. Bald glaubte ich eine Laute, bald eine Harfe, bald eine Zither zu hoͤren, und bald noch etwas Klimperndes, das keinem von diesen drey Instrumenten gemaͤß war. Die Pforte, auf die wir zu gingen, eroͤffnete sich bald nach einer leisen Beruͤhrung des Alten; aber wie erstaunt war ich, als die heraustretende Pfoͤrtnerinn ganz vollkommen dem niedlichen Maͤdchen glich, das mir im Traume auf den Fingern getanzt hatte. Sie gruͤßte mich auch auf eine Weise, als wenn wir schon bekannt waͤren, und bat mich her¬ einzutreten. Der Alte blieb zuruͤck, und ich ging mit ihr durch einen gewoͤlbten und schoͤn verzierten kurzen Gang nach dem Mittelsaal, dessen herrliche domartige Hoͤhe beym Ein¬ tritt meinen Blick auf sich zog und mich in Verwunderung setzte. Doch konnte mein Auge nicht lange dort verweilen, denn es ward durch ein reizenderes Schauspiel herab¬ gelockt. Auf einem Teppich, gerade unter der Mitte der Kuppel, saßen drey Frauen¬ zimmer im Dreyeck, in drey verschiedene Farben gekleidet, die eine roth, die andre gelb, die dritte gruͤn; die Sessel waren ver¬ goldet, und der Teppich ein vollkommenes Blumenbeet. In ihren Armen lagen die drey Instrumente, die ich draußen hatte un¬ terscheiden koͤnnen: denn durch meine Ankunft gestoͤrt, hatten sie mit spielen inne gehal¬ ten. — „Seyd uns willkommen!“ sagte die mittlere, die naͤmlich, welche mit dem Ge¬ sicht nach der Thuͤre saß, im rothen Kleide und mit der Harfe. „Setzt Euch zu Aler¬ ten und hoͤrt zu, wenn Ihr Liebhaber von der Musik seyd.“ Nun sah' ich erst, daß unten quer vor ein ziemlich langes Baͤnkchen stand, worauf eine Mandoline lag. Das artige Maͤdchen nahm sie auf, setzte sich und zog mich an ihre Seite. Jetzt betrachtete ich auch die zweyte Dame zu meiner Rech¬ ten; sie hatte das gelbe Kleid an, und eine Zither in der Hand; und wenn jene Harfen¬ spielerinn ansehnlich von Gestalt, groß von Gesichtszuͤgen, und in ihrem Betragen maje¬ staͤtisch war, so konnte man der Zitherspiele¬ rinn ein leicht anmuthiges, heitres Wesen anmerken. Sie war eine schlanke Blondine, da jene dunkelbraunes Haar schmuͤckte. Die Mannigfaltigkeit und Uebereinstimmung ihrer Musik konnte mich nicht abhalten, nun auch die dritte Schoͤnheit im gruͤnen Gewande zu betrachten, deren Lautenspiel etwas Ruͤh¬ rendes und zugleich Auffallendes fuͤr mich hatte. Sie war diejenige, die am meisten auf mich Acht zu geben und ihr Spiel an mich zu richten schien; nur konnte ich aus ihr nicht klug werden: denn sie kam mir bald zaͤrtlich, bald wunderlich, bald offen, bald eigensinnig vor, je nachdem sie die Mie¬ nen und ihr Spiel veraͤnderte. Bald schien sie mich ruͤhren, bald mich necken zu wollen. Doch mochte sie sich stellen wie sie wollte, so gewann sie mir wenig ab: denn meine kleine Nachbarinn, mit der ich Ellbogen an Ellbogen saß, hatte mich ganz fuͤr sich einge¬ nommen; und wenn ich in jenen drey Da¬ men ganz deutlich die Sylphiden meines Traums und die Farben der Aepfel erblickte, so begriff ich wohl, daß ich keine Ursache haͤtte sie festzuhalten. Die artige Kleine haͤtte ich lieber angepackt, wenn mir nur nicht der Schlag, den sie mir im Traume versetzt hatte, gar zu erinnerlich gewesen waͤre. Sie hielt sich bisher mit ihrer Man¬ doline ganz ruhig; als aber ihre Gebieterin¬ nen aufgehoͤrt hatten, so befahlen sie ihr, ei¬ nige lustige Stuͤckchen zum Besten zu geben. Kaum hatte sie einige Tanzmelodieen gar aufregend abgeklimpert, so sprang sie in die Hoͤhe; ich that das Gleiche. Sie spielte und tanzte; ich ward hingerissen ihre Schritte zu begleiten, und wir fuͤhrten eine Art von kleinem Ballet auf, womit die Damen zufrie¬ den zu seyn schienen: denn sobald wir geen¬ digt, befahlen sie der Kleinen, mich derweil mit etwas Gutem zu erquicken, bis das Nachtessen herankaͤme. Ich hatte freylich vergessen, daß außer diesem Paradiese noch etwas anderes in der Welt waͤre. Alerte fuͤhrte mich sogleich in den Gang zuruͤck, durch den ich hereingekommen war. An der Seite hatte sie zwey wohleingerichtete Zim¬ mer; in dem einen, wo sie wohnte, setzte sie mir Orangen, Feigen, Pfirschen und Trau¬ ben vor, und ich genoß sowohl die Fruͤchte fremder Laͤnder, als auch die der erst kom¬ menden Monate mit großem Appetit. Zucker¬ werk war im Ueberfluß; auch fuͤllte sie einen Pocal von geschliffnem Crystall mit schaͤumen¬ dem Wein: doch zu trinken bedurfte ich nicht; denn ich hatte mich an den Fruͤchten hinreichend gelabt. — „Nun wollen wir spielen,“ sagte sie und fuͤhrte mich in das an¬ dere Zimmer. Hier sah es nun aus wie auf einem Christmarkt; aber so kostbare und feine Sachen hat man niemals in einer Weihnachtsbude gesehen. Da waren alle Arten von Puppen, Puppenkleidern und Pup¬ pengeraͤthschaften; Kuͤchen, Wochenstuben und Laͤden; und einzelne Spielsachen in Unzahl. Sie fuͤhrte mich an allen Glasschraͤnken herum: denn in solchen waren diese kuͤnstlichen Arbeiten aufbewahrt. Die ersten Schraͤnke verschloß sie aber bald wieder und sagte: „Das ist nichts fuͤr Euch, ich weiß es wohl. Hier aber, sagte sie, koͤnnten wir Baumate¬ rialien finden, Mauern und Thuͤrme, Haͤu¬ ser, Pallaͤste, Kirchen, um eine große Stadt zusammenzustellen. Das unterhaͤlt mich aber nicht; wir wollen zu etwas anderem greifen, das fuͤr Euch und mich gleich vergnuͤglich ist.“ — Sie brachte darauf einige Kasten hervor, in denen ich kleines Kriegsvolk uͤber einander geschichtet erblickte, von dem ich sogleich bekennen mußte, daß ich niemals so etwas Schoͤnes gesehen haͤtte. Sie ließ mir die Zeit nicht, das Einzelne naͤher zu be¬ trachten, sondern nahm den einen Kasten un¬ ter den Arm, und ich packte den andern auf. „Wir wollen auf die goldne Bruͤcke gehen, sagte sie; dort spielt sich's am besten mit Soldaten: die Spieße geben gleich die Rich¬ tung, wie man die Armeen gegen einander zu stellen hat.“ Nun waren wir auf dem goldnen schwankenden Boden angelangt; un¬ ter mir hoͤrte ich das Wasser rieseln und die Fische plaͤtschern, indem ich niederkniete meine Linien aufzustellen. Es war alles Reiterey, wie ich nunmehr sah. Sie ruͤhmte sich, die Koͤniginn der Amazonen zum Fuͤhrer ihres weiblichen Heeres zu besitzen; ich dagegen fand den Achill und eine sehr stattliche grie¬ chische Reiterey. Die Heere standen gegen einander, und man konnte nichts schoͤneres sehen. Es waren nicht etwa flache bleyerne Reiter, wie die unsrigen, sondern Mann und Pferd rund und koͤrperlich, und auf das feinste gearbeitet; auch konnte man kaum be¬ greifen, wie sie sich im Gleichgewicht hielten: denn sie standen fuͤr sich, ohne ein Fußbrett¬ chen zu haben. Wir hatten nun Jedes mit großer Selbst¬ zufriedenheit unsere Heerhaufen beschaut, als sie mir den Angriff verkuͤndigte. Wir hatten auch Geschuͤtz in unsern Kaͤsten gefunden; es waren naͤmlich Schachteln voll kleiner wohlpolirter Achatkugeln. Mit diesen sollten wir aus einer gewissen Entfernung gegen ein¬ ander kaͤmpfen, wobey jedoch ausdruͤcklich be¬ dungen war, daß nicht staͤrker geworfen werde, als noͤthig sey die Figuren umzustuͤrzen: denn beschaͤdigt sollte keine werden. Wechselseitig ging nun die Canonade los, und im Anfang wirkte sie zu unser beyder Zufriedenheit. Al¬ lein als meine Gegnerinn bemerkte, daß ich doch besser zielte als sie, und zuletzt den Sieg, der von der Ueberzahl der stehn ge¬ bliebenen abhing, gewinnen moͤchte, trat sie naͤher, und ihr maͤdchenhaftes Werfen hatte denn auch den erwuͤnschten Erfolg. Sie streckte mir eine Menge meiner besten Trup¬ pen nieder, und jemehr ich protestirte, desto eifriger warf sie. Dieß verdroß mich zuletzt, und ich erklaͤrte, daß ich ein Gleiches thun wuͤrde. Ich trat auch wirklich nicht allein naͤher heran, sondern warf im Unmuth viel heftiger, da es denn nicht lange waͤhrte als ein paar ihrer kleinen Centaurinnen in Stuͤcke sprangen. In ihrem Eifer bemerkte sie es nicht gleich; aber ich stand versteinert, als die zerbrochnen Figuͤrchen sich von selbst wie¬ der zusammenfuͤgten, Amazone und Pferd wieder ein Ganzes, auch zugleich voͤllig leben¬ dig wurden, im Galopp von der goldnen Bruͤcke unter die Linden setzten, und in Car¬ I. 9 riere hin und wieder rennend sich endlich ge¬ gen die Mauer, ich weiß nicht wie, verloren. Meine schoͤne Gegnerinn war das kaum ge¬ wahr worden, als sie in ein lautes Weinen und Jammern ausbrach und rief: daß ich ihr einen unersetzlichen Verlust zugefuͤgt, der weit groͤßer sey, als es sich aussprechen lasse. Ich aber, der ich schon erboßt war, freute mich ihr etwas zu Leide zu thun, und warf noch ein paar mir uͤbrig gebliebene Achatkugeln blindlings mit Gewalt unter ihren Heerhau¬ fen. Ungluͤcklicherweise traf ich die Koͤni¬ ginn, die bisher bey unserm regelmaͤßigen Spiel ausgenommen gewesen. Sie sprang in Stuͤcken, und ihre naͤchsten Adjutanten wurden auch zerschmettert; aber schnell stell¬ ten sie sich wieder her und nahmen Reißaus wie die ersten, galoppirten sehr lustig unter den Linden herum und verloren sich gegen die Mauer. Meine Gegnerinn schalt und schimpfte; ich aber, nun einmal im Gange, buͤckte mich einige Achatkugeln aufzuheben, welche an den goldnen Spießen herumrollten. Mein er¬ grimmter Wunsch war, ihr ganzes Heer zu vernichten; sie dagegen nicht faul, sprang auf mich los und gab mir eine Ohrfeige, daß mir der Kopf summte. Ich, der ich immer gehoͤrt hatte, auf die Ohrfeige eines Maͤd¬ chens gehoͤre ein derber Kuß, faßte sie bey den Ohren und kuͤßte sie zu wiederholten Ma¬ len. Sie aber that einen solchen durchdrin¬ genden Schrey, der mich selbst erschreckte; ich ließ sie fahren, und das war mein Gluͤck: denn in dem Augenblick wußte ich nicht wie mir geschah. Der Boden unter mir fing an zu beben und zu rasseln; ich merkte ge¬ schwind, daß sich die Gitter wieder in Bewe¬ gung setzten: allein ich hatte nicht Zeit zu uͤber¬ legen, noch konnte ich Fuß fassen, um zu fliehen. Ich fuͤrchtete jeden Augenblick gespießt zu wer¬ den: denn die Partisanen und Lanzen, die sich aufrichteten, zerschlitzten mir schon die Kleider; 9 * genug ich weiß nicht wie mir geschah, mir verging Hoͤren und Sehen, und ich erholte mich aus meiner Betaͤubung, von meinem Schrecken, am Fuß einer Linde, wider den mich das aufschnellende Gitter geworfen hatte. Mit dem Erwachen erwachte auch meine Bosheit, die sich noch heftig vermehrte, als ich von druͤben die Spottworte und das Ge¬ laͤchter meiner Gegnerinn vernahm, die an der andern Seite, etwas gelinder als ich, mochte zur Erde gekommen seyn. Daher sprang ich auf, und als ich rings um mich das kleine Heer nebst seinem Anfuͤhrer Achill, welche das auffahrende Gitter mit mir her¬ uͤber geschnellt hatte, zerstreut sah, ergriff ich den Helden zuerst und warf ihn wider einen Baum. Seine Wiederherstellung und seine Flucht gefielen mir nun doppelt, weil sich die Schadenfreude zu dem artigsten Anblick von der Welt gesellte, und ich war im Begriff die saͤmmtlichen Griechen ihm nachzuschicken, als auf einmal zischende Wasser von allen Seiten her, aus Steinen und Mauern, aus Boden und Zweigen hervorspruͤhten, und wo ich mich hinwendete, kreuzweise auf mich lospeitschten. Mein leichtes Gewand war in kurzer Zeit voͤllig durchnaͤßt; zerschlitzt war es schon, und ich saͤumte nicht, es mir ganz vom Leibe zu reißen. Die Pantoffeln warf ich von mir, und so eine Huͤlle nach der an¬ dern; ja ich fand es endlich bey dem warmen Tage sehr angenehm, ein solches Strahlbad uͤber mich ergehen zu lassen. Ganz nackt schritt ich nun gravitaͤtisch zwischen diesen willkommen Gewaͤssern einher, und dachte mich lange so wohl befinden zu koͤnnen. Mein Zorn verkuͤhlte sich, und ich wuͤnschte nichts mehr als eine Versoͤhnung mit meiner kleinen Gegnerinn. Doch in einem Nu schnappten die Wasser ab, und ich stand nun feucht auf einem durchnaͤßten Boden. Die Gegenwart des alten Mannes, der unvermuthet vor mich trat, war mir kei¬ neswegs willkommen; ich haͤtte gewuͤnscht, mich wo nicht verbergen, doch wenigstens verhuͤllen zu koͤnnen. Die Beschaͤmung, der Frostschauer, das Bestreben mich einigermaßen zu bedecken, ließen mich eine hoͤchst erbaͤrmliche Figur spie¬ len; der Alte benutzte den Augenblick, um mir die groͤßesten Vorwuͤrfe zu machen. „Was hindert mich, rief er aus, daß ich nicht eine der gruͤnen Schnuren ergreife und sie, wo nicht Eurem Hals, doch Eurem Ruͤcken an¬ messe!“ Diese Drohung nahm ich hoͤchst uͤbel. Huͤtet Euch, rief ich aus, vor solchen Worten, ja nur vor solchen Gedanken: denn sonst seyd Ihr und Eure Gebieterinnen ver¬ loren! — „Wer bist denn du, fragte er tru¬ tzig, daß du so reden darfst?“ — Ein Lieb¬ ling der Goͤtter, sagte ich, von dem es ab¬ haͤngt, ob jene Frauenzimmer wuͤrdige Gatten finden und ein gluͤckliches Leben fuͤhren sollen, oder ob er sie will in ihrem Zauberkloster ver¬ schmachten und veralten lassen. — Der Alte trat einige Schritte zuruͤck. „Wer hat dir das offenbart?“ fragte er erstaunt und be¬ denklich. — Drey Aepfel, sagte ich, drey Ju¬ welen. — „Und was verlangst du zum Lohn?“ rief er aus. — Vor allen Dingen das kleine Geschoͤpf, versetzte ich, die mich in diesen verwuͤnschten Zustand gebracht hat. — Der Alte warf sich vor mir nieder, ohne sich vor der noch feuchten und schlammigen Erde zu scheuen; dann stand er auf, ohne benetzt zu seyn, nahm mich freundlich bey der Hand, fuͤhrte mich in jenen Saal, kleidete mich be¬ hend wieder an, und bald war ich wieder sonntaͤgig geputzt und frisirt wie vorher. Der Pfoͤrtner sprach kein Wort weiter; aber ehe er mich uͤber die Schwelle ließ, hielt er mich an, und deutete mir auf einige Gegenstaͤnde an der Mauer druͤben uͤber den Weg, indem er zu¬ gleich ruͤckwaͤrts auf das Pfoͤrtchen zeigte. Ich verstand ihn wohl; er wollte naͤmlich, daß ich mir die Gegenstaͤnde einpraͤgen moͤchte, um das Pfoͤrtchen desto gewisser wieder zu finden, welches sich unversehens hinter mir zuschloß. Ich merkte mir nun wohl, was mir gegenuͤber stand. Ueber eine hohe Mauer ragten die Aeste uralter Nußbaͤume heruͤber, und bedeckten zum Theil das Gesimms, wo¬ mit sie endigte. Die Zweige reichten bis an eine steinerne Tafel, deren verzierte Einfas¬ sung ich wohl erkennen, deren Inschrift ich aber nicht lesen konnte. Sie ruhte auf dem Kragstein einer Nische, in welcher ein kuͤnst¬ lich gearbeiteter Brunnen, von Schale zu Schale, Wasser in ein großes Becken goß, das wie einen kleinen Teich bildete und sich in die Erde verlor. Brunnen, Inschrift, Nußbaͤume, alles stand senkrecht uͤbereinander; ich wollte es malen, wie ich es gesehn habe. Nun laͤßt sich wohl denken, wie ich diesen Abend und manchen folgenden Tag zubrach¬ te, und wie oft ich mir diese Geschichten, die ich kaum selbst glauben konnte, wieder¬ holte. Sobald mir's nur irgend moͤglich war, ging ich wieder zur schlimmen Mauer, um wenigstens jene Merkzeichen im Gedaͤcht¬ niß anzufrischen und das koͤstliche Pfoͤrtchen zu beschauen. Allein zu meinem groͤßten Erstaunen fand ich alles veraͤndert. Nußbaͤu¬ me ragten wohl uͤber die Mauer, aber sie standen nicht unmittelbar neben einander. Ei¬ ne Tafel war auch eingemauert, aber von den Baͤumen weit rechts, ohne Verzierung, und mit einer leserlichen Inschrift. Eine Nische mit einem Brunnen findet sich weit links, der aber jenem, den ich gesehen, durchaus nicht zu vergleichen ist; so daß ich beynahe glauben muß, das zweyte Abenteuer sey so gut als das erste ein Traum gewesen: denn von dem Pfoͤrtchen findet sich uͤberhaupt gar keine Spur. Das Einzige was mich troͤstet, ist die Be¬ merkung, daß jene drey Gegenstaͤnde stets den Ort zu veraͤndern scheinen: denn bey wie¬ derholtem Besuch jener Gegend glaube ich be¬ merkt zu haben, daß die Nußbaͤume etwas zusammenruͤcken, und daß Tafel und Brunnen sich ebenfalls zu naͤhern scheinen. Wahrschein¬ lich, wenn alles wieder zusammentrifft, wird auch die Pforte von neuem sichtbar seyn, und ich werde mein Moͤgliches thun, das Abenteuer wieder anzuknuͤpfen. Ob ich Euch erzaͤhlen kann, was weiter begegnet, oder ob es mir ausdruͤcklich verboten wird, weiß ich nicht zu sagen. Dieses Maͤhrchen, von dessen Wahrheit meine Gespielen sich leidenschaftlich zu uͤber¬ zeugen trachteten, erhielt großen Beyfall. Sie besuchten, Jeder allein, ohne es mir oder den andern zu vertrauen, den angedeuteten Ort, fanden die Nußbaͤume, die Tafel und den Brunnen, aber immer entfernt von ein¬ ander: wie sie zuletzt bekannten, weil man in jenen Jahren nicht gern ein Geheim¬ niß verschweigen mag. Hier ging aber der Streit erst an. Der Eine versicherte: die Gegenstaͤnde ruͤckten nicht vom Flecke und blie¬ ben immer in gleicher Entfernung unter ein¬ ander. Der Zweyte behauptete: sie beweg¬ ten sich, aber sie entfernten sich von einander. Mit diesem war der Dritte uͤber den ersten Punct der Bewegung einstimmig, doch schie¬ nen ihm Nußbaͤume, Tafel und Brunnen sich vielmehr zu naͤhern. Der Vierte wollte noch was merkwuͤrdigeres gesehen haben: die Nußbaͤume naͤmlich in der Mitte, die Tafel aber und den Brunnen auf den entgegen¬ gesetzten Seiten als ich angegeben. In Ab¬ sicht auf die Spur des Pfoͤrtchens variirten sie auch. Und so gaben sie mir ein fruͤhes Beyspiel, wie die Menschen von einer ganz einfachen und leicht zu eroͤrternden Sache die wider¬ sprechendsten Ansichten haben und behaupten koͤnnen. Als ich die Fortsetzung meines Maͤhrchens hartnaͤckig verweigerte, ward dieser erste Theil oͤfters wieder begehrt. Ich huͤtete mich, an den Umstaͤnden viel zu veraͤndern, und durch die Gleichfoͤrmigkeit meiner Erzaͤh¬ lung verwandelte ich in den Gemuͤthern mei¬ ner Zuhoͤrer die Fabel in Wahrheit. Uebrigens war ich den Luͤgen und der Verstellung abgeneigt, und uͤberhaupt keines¬ wegs leichtsinnig; vielmehr zeigte sich der in¬ nere Ernst, mit dem ich schon fruͤh mich und die Welt betrachtete, auch in meinem Aeußern, und ich ward, oft freundlich, oft auch spoͤttisch, uͤber eine gewisse Wuͤrde berufen, die ich mir herausnahm. Denn ob es mir zwar an guten, ausgesuchten Freunden nicht fehlte, so waren wir doch immer die Minderzahl gegen jene, die uns mit rohem Muthwillen anzufechten ein Ver¬ gnuͤgen fanden, und uns freylich oft sehr un¬ sanft aus jenen maͤhrchenhaften, selbstgefaͤlli¬ gen Traͤumen aufweckten, in die wir uns, ich erfindend und meine Gespielen theilnehmend, nur allzugern verloren. Nun wurden wir abermals gewahr, daß man anstatt sich der Weichlichkeit und phantastischen Vergnuͤgungen hinzugeben, wohl eher Ursache habe, sich ab¬ zuhaͤrten, um die unvermeidlichen Uebel ent¬ weder zu ertragen, oder ihnen entgegen zu wirken. Unter die Uebungen des Stoicismus, den ich deshalb so ernstlich als es einem Knaben moͤglich ist, bey mir ausbildete, gehoͤrten auch die Duldungen koͤrperlicher Leiden. Unsere Lehrer behandelten uns oft sehr unfreundlich und ungeschickt mit Schlaͤgen und Puͤffen, gegen die wir uns um so mehr verhaͤrteten, als Widersetzlichkeit oder Gegenwirkung aufs hoͤchste verpoͤnt war. Sehr viele Scherze der Jugend beruhen auf einem Wettstreit solcher Ertragungen: zum Beyspiel, wenn man mit zwey Fingern oder der ganzen Hand sich wechselsweise bis zur Betaͤubung der Glie¬ der schlaͤgt, oder die bey gewissen Spielen verschuldeten Schlaͤge mit mehr oder weniger Gesetztheit aushaͤlt; wenn man sich beym Ringen und Balgen durch die Kniffe der Halbuͤberwundenen nicht irre machen laͤßt; wenn man einen aus Neckerey zugefuͤgten Schmerz unterdruͤckt, ja selbst das Zwicken und Kitzeln, womit junge Leute so geschaͤftig gegen einander sind, als etwas Gleichguͤltiges behandelt. Dadurch setzt man sich in einen großen Vortheil, der uns von andern so ge¬ schwind nicht abgewonnen wird. Da ich jedoch von einem solchen Leidens¬ trotz gleichsam Profession machte, so wuchsen die Zudringlichkeiten der Andern; und wie eine unartige Grausamkeit keine Graͤnzen kennt, so wußte sie mich doch aus meiner Graͤnze hinauszutreiben. Ich erzaͤhle einen Fall statt vieler. Der Lehrer war eine Stunde nicht gekommen: so lange wir Kin¬ der alle beysammen waren, unterhielten wir uns recht artig; als aber die mir Wohlwol¬ lenden, nachdem sie lange genug gewartet, hinweggingen, und ich mit drey Mißwollen¬ den allein blieb: so dachten diese mich zu quaͤlen, zu beschaͤmen und zu vertreiben. Sie hatten mich einen Augenblick im Zim¬ mer verlassen und kamen mit Ruthen zuruͤck, die sie sich aus einem geschwind zerschnittenen Besen verschafft hatten. Ich merkte ihre Absicht, und weil ich das Ende der Stunde nahe glaubte, so setzte ich aus dem Stegreife bey mir fest, mich bis zum Glockenschlage nicht zu wehren. Sie fingen darauf unbarm¬ herzig an, mir die Beine und Waden auf das grausamste zu peitschen. Ich ruͤhrte mich nicht, fuͤhlte aber bald, daß ich mich verrechnet hatte, und daß ein solcher Schmerz die Minuten sehr verlaͤngert. Mit der Dul¬ dung wuchs meine Wuth, und mit dem er¬ sten Stundenschlag fuhr ich dem einen, der sich's am wenigsten versah, mit der Hand in die Nackenhaare und stuͤrzte ihn augen¬ blicklich zu Boden, indem ich mit dem Knie seinen Ruͤcken druckte; den andern, einen juͤngeren und schwaͤcheren, der mich von hin¬ ten anfiel, zog ich bey dem Kopfe durch den Arm und erdrosselte ihn fast, indem ich ihn an mich preßte. Nun war der letzte noch uͤbrig und nicht der schwaͤchste, und mir blieb nur die linke Hand zu meiner Verthei¬ digung. Allein ich ergriff ihn beym Kleide, und durch eine geschickte Wendung von mei¬ ner Seite, durch eine uͤbereilte von seiner, brachte ich ihn nieder und stieß ihn mit dem Gesicht gegen den Boden. Sie ließen es nicht an Beißen, Kratzen und Treten fehlen; aber ich hatte nur meine Rache im Sinn und in den Gliedern. In dem Vortheil in dem ich mich befand, stieß ich sie wiederholt mit den Koͤpfen zusammen. Sie erhuben zuletzt ein entsetzliches Zetergeschrey, und wir sahen uns bald von allen Hausgenossen um¬ geben. Die umhergestreuten Ruthen und meine Beine, die ich von den Struͤmpfen entbloͤßte, zeugten bald fuͤr mich. Man be¬ hielt sich die Strafe vor und ließ mich aus dem Hause; ich erklaͤrte aber, daß ich kuͤnf¬ tig, bey der geringsten Beleidigung, einem oder dem andern die Augen auskratzen, die Ohren abreißen, wo nicht gar ihn erdrosseln wuͤrde. Dieser Vorfall, ob man ihn gleich, wie es in kindischen Dingen zu geschehen pflegt, bald wieder vergaß und sogar belachte, war jedoch Ursache, daß diese gemeinsamen Unter¬ richtsstunden seltner wurden und zuletzt ganz aufhoͤrten. Ich war also wieder wie vorher mehr ins Haus gebannt, wo ich an meiner Schwester Cornelia , die nur ein Jahr weniger zaͤhlte als ich, eine an Annehmlich¬ keit immer wachsende Gesellschafterinn fand. Ich will jedoch diesen Gegenstand nicht verlassen, ohne noch einige Geschichten zu er¬ zaͤhlen, wie mancherley Unangenehmes mir von meinen Gespielen begegnet: denn das ist ja eben das Lehrreiche solcher sittlichen Mit¬ theilungen, daß der Mensch erfahre, wie es andern ergangen, und was auch er vom Le¬ ben zu erwarten habe, und daß er, es mag sich ereignen was will, bedenke, dieses wi¬ derfahre ihm als Menschen und nicht als einem besonders Gluͤcklichen oder Ungluͤcklichen. Nuͤtzt ein solches Wissen nicht viel, um die I. 10 Uebel zu vermeiden, so ist es doch sehr dien¬ lich, daß wir uns in die Zustaͤnde finden, sie ertragen, ja sie uͤberwinden lernen. Noch eine allgemeine Bemerkung steht hier an der rechten Stelle, daß naͤmlich bey dem Emporwachsen der Kinder aus den ge¬ sitteten Staͤnden ein sehr großer Widerspruch zum Vorschein kommt, ich meyne den, daß sie von Aeltern und Lehrern angemahnt und angeleitet werden, sich maͤßig, verstaͤndig, ja vernuͤnftig zu betragen, Niemanden aus Muthwillen oder Uebermuth ein Leids zuzu¬ fuͤgen und alle gehaͤssigen Regungen, die sich an ihnen entwickeln moͤchten, zu unterdruͤ¬ cken; daß nun aber im Gegentheil, waͤhrend die jungen Geschoͤpfe mit einer solchen Ue¬ bung beschaͤftigt sind, sie von andern das zu leiden haben, was an ihnen gescholten wird und hoͤchlich verpoͤnt ist. Dadurch kommen die armen Wesen zwischen dem Naturzustande und dem der Civilisation gar erbaͤrmlich in die Klemme, und werden, je nachdem die Charakter sind, entweder tuͤckisch, oder ge¬ waltsam aufbrausend, wenn sie eine Zeitlang an sich gehalten haben. Gewalt ist eher mit Gewalt zu vertrei¬ ben; aber ein gut gesinntes, zur Liebe und Theilnahme geneigtes Kind weiß dem Hohn und dem boͤsen Willen wenig entgegenzusetzen. Wenn ich die Thaͤtlichkeiten meiner Gesellen so ziemlich abzuhalten wußte; so war ich doch keineswegs ihren Sticheleyen und Mis¬ reden gewachsen, weil in solchen Faͤllen der¬ jenige, der sich vertheidigt, immer verlieren muß. Es wurden also auch Angriffe dieser Art, in sofern sie zum Zorn reizten, mit physischen Kraͤften zuruͤckgewiesen, oder sie regten wundersame Betrachtungen in mir auf, die denn nicht ohne Folgen bleiben konnten. Unter andern Vorzuͤgen misgoͤnnten mir die Uebelwollenden auch, daß ich mir in einem Verhaͤltniß gefiel, welches aus dem Schult¬ 10 * heißenamt meines Großvaters fuͤr die Fami¬ lie entsprang: denn indem er als der Erste unter seines Gleichen dastand, hatte dieses doch auch auf die Seinigen nicht geringen Einfluß. Und als ich mir einmal nach ge¬ haltenem Pfeifergerichte etwas darauf einzu¬ bilden schien, meinen Großvater in der Mitte des Schoͤffenraths, eine Stufe hoͤher als die andern, unter dem Bilde des Kaisers gleichsam thronend gesehen zu haben; so sagte einer der Knaben hoͤhnisch: ich sollte doch, wie der Pfau auf seine Fuͤße, so auf meinen Großvater vaͤterlicher Seite hinsehen, welcher Gastgeber zum Weidenhof gewesen, und wohl an die Thronen und Kronen keinen Anspruch gemacht haͤtte. Ich erwiderte darauf, daß ich davon keineswegs beschaͤmt sey, weil ge¬ rade darin das Herrliche und Erhebende un¬ serer Vaterstadt bestehe, daß alle Buͤrger sich einander gleich halten duͤrften, und daß einem Jeden seine Thaͤtigkeit nach seiner Art foͤrderlich und ehrenvoll seyn koͤnne. Es sey mir nur leid, daß der gute Mann schon so lange gestorben: denn ich habe mich auch ihn persoͤnlich zu kennen oͤfters gesehnt, sein Bildniß vielmals betrachtet, ja sein Grab besucht und mich wenigstens bey der Inschrift an dem einfachen Denkmal seines voruͤbergegan¬ genen Daseyns gefreut, dem ich das meine schuldig geworden. Ein anderer Miswollen¬ der, der tuͤckischste von allen, nahm jenen ersten bey Seite und fluͤsterte ihm etwas in die Ohren, wobey sie mich immer spoͤttisch ansahen. Schon fing die Galle mir an zu kochen, und ich foderte sie auf, laut zu re¬ den. — „Nun was ist es denn weiter, sagte der erste, wenn du es wissen willst: dieser da meynt, du koͤnntest lange herumge¬ hen und suchen, bis du deinen Großvater faͤndest.“ — Ich drohte nun noch heftiger, wenn sie sich nicht deutlicher erklaͤren wuͤrden. Sie brachten darauf ein Maͤhrchen vor, das sie ihren Aeltern wollten abgelauscht haben: mein Vater sey der Sohn eines vornehmen Mannes, und jener gute Buͤrger habe sich willig finden lassen, aͤußerlich Vaterstelle zu vertreten. Sie hatten die Unverschaͤmtheit allerley Argumente vorzubringen, z. B. daß unser Vermoͤgen blos von der Großmutter herruͤhre, daß die uͤbrigen Seitenverwandten, die sich in Friedberg und sonst aufhielten, gleichfalls ohne Vermoͤgen seyen, und was noch andre solche Gruͤnde waren, die ihr Gewicht blos von der Bosheit hernehmen konnten. Ich hoͤrte ihnen ruhiger zu als sie erwarteten, denn sie standen schon auf dem Sprung zu entfliehen, wenn ich Miene machte, nach ihren Haaren zu greifen. Aber ich versetzte ganz gelassen: auch dieses koͤnne mir recht seyn. Das Leben sey so huͤbsch, daß man voͤllig fuͤr gleichguͤltig achten koͤnne, wem man es zu verdanken habe: denn es schriebe sich doch zuletzt von Gott her, vor welchem wir alle gleich waͤren. So ließen sie, da sie nichts ausrichten konnten, die Sache fuͤr dießmal gut seyn; man spielte zu¬ sammen weiter fort, welches unter Kindern immer ein erprobtes Versoͤhnungsmittel bleibt. Mir war jedoch durch diese haͤmischen Worte eine Art von sittlicher Krankheit ein¬ geimpft, die im Stillen fortschlich. Es wollte mir gar nicht misfallen, der Enkel ir¬ gend eines vornehmen Herrn zu seyn, wenn es auch nicht auf die gesetzlichste Weise ge¬ wesen waͤre. Meine Spuͤrkraft ging auf dieser Faͤhrte, meine Einbildungskraft war angeregt und mein Scharfsinn aufgefordert. Ich fing nun an die Aufgaben jener zu un¬ tersuchen, fand und erfand neue Gruͤnde der Wahrscheinlichkeit. Ich hatte von meinem Großvater wenig reden hoͤren, außer daß sein Bildniß mit dem meiner Großmutter in einem Besuchzimmer des alten Hauses gehangen hatte, welche beyde, nach Erbauung des neuen, in einer obern Cammer aufbe¬ wahrt wurden. Meine Großmutter mußte eine sehr schoͤne Frau gewesen seyn, und von gleichem Alter mit ihrem Manne. Auch erin¬ nerte ich mich, in ihrem Zimmer das Minia¬ turbild eines schoͤnen Herrn, in Uniform mit Stern und Orden, gesehen zu haben, wel¬ ches nach ihrem Tode mit vielen andern klei¬ nen Geraͤthschaften, waͤhrend des alles um¬ waͤlzenden Hausbaues, verschwunden war. Solche wie manche andre Dinge baute ich mir in meinem kindischen Kopfe zusammen, und uͤbte fruͤhzeitig genug jenes moderne Dichter-Talent, welches durch eine abenteu¬ erliche Verknuͤpfung der bedeutenden Zustaͤnde des menschlichen Lebens sich die Theilnahme der ganzen cultivirten Welt zu verschaffen weiß. Da ich nun aber einen solchen Fall Nie¬ manden zu vertrauen, oder auch nur von ferne nachzufragen mich unterstand; so ließ ich es an einer heimlichen Betriebsamkeit nicht fehlen, um wo moͤglich der Sache et¬ was naͤher zu kommen. Ich hatte naͤmlich ganz bestimmt behaupten hoͤren, daß die Soͤhne den Vaͤtern oder Großvaͤtern oft ent¬ schieden aͤhnlich zu seyn pflegten. Mehrere un¬ serer Freunde, besonders auch Rath Schnei¬ der , unser Hausfreund, hatten Geschaͤftsver¬ bindungen mit allen Fuͤrsten und Herren der Nachbarschaft, deren, sowohl regierender als nachgeborner, keine geringe Anzahl am Rhein und Main und in dem Raume zwi¬ schen beyden ihre Besitzungen hatten, und die aus besonderer Gunst ihre treuen Geschaͤfts¬ traͤger zuweilen wohl mit ihren Bildnissen beehrten. Diese, die ich von Jugend auf vielmals an den Waͤnden gesehen, betrach¬ tete ich nunmehr mit doppelter Aufmerksam¬ keit, forschend ob ich nicht eine Aehnlichkeit mit meinem Vater, oder gar mit mir entde¬ cken koͤnnte; welches aber zu oft gelang, als daß es mich zu einiger Gewißheit haͤtte fuͤh¬ ren koͤnnen. Denn bald waren es die Au¬ gen von diesem, bald die Nase von jenem, die mir auf einige Verwandtschaft zu deuten schienen. So fuͤhrten mich diese Kennzeichen truͤglich genug hin und wieder. Und ob ich gleich in der Folge diesen Vorwurf als ein durchaus leeres Maͤhrchen betrachten mußte, so blieb mir doch der Eindruck, und ich konnte nicht unterlassen, die saͤmmtlichen Herren, deren Bildnisse mir sehr deutlich in der Phantasie geblieben waren, von Zeit zu Zeit im Stillen bey mir zu mustern und zu pruͤfen. So wahr ist es, daß alles was den Menschen innerlich in seinem Duͤnkel bestaͤrkt, seiner heimlichen Eitelkeit schmei¬ chelt, ihm dergestalt hoͤchlich erwuͤnscht ist, daß er nicht weiter fragt, ob es ihm sonst auf irgend eine Weise zur Ehre oder zur Schmach gereichen koͤnne. Doch anstatt hier ernsthafte, ja ruͤgende Betrachtungen einzumischen, wende ich lieber meinen Blick von jenen schoͤnen Zeiten hin¬ weg: denn wer waͤre im Stande von der Fuͤlle der Kindheit wuͤrdig zu sprechen! Wir koͤnnen die kleinen Geschoͤpfe, die vor uns herum wandeln, nicht anders als mit Ver¬ gnuͤgen, ja mit Bewunderung ansehen: denn meist versprechen sie mehr als sie halten, und es scheint als wenn die Natur unter andern schelmischen Streichen, die sie uns spielt, auch hier sich ganz besonders vorgesetzt, uns zum Besten zu haben. Die ersten Organe, die sie Kindern mit auf die Welt giebt, sind dem naͤchsten unmittelbaren Zustande des Ge¬ schoͤpfs gemaͤß; es bedient sich derselben kunst- und anspruchslos, auf die geschickteste Weise zu den naͤchsten Zwecken. Das Kind, an und fuͤr sich betrachtet, mit seines Gleichen und in Beziehungen die seinen Kraͤften an¬ gemessen sind, scheint so verstaͤndig, so ver¬ nuͤnftig, daß nichts druͤber geht, und zugleich so bequem, heiter und gewandt, daß man keine weitre Bildung fuͤr dasselbe wuͤnschen moͤchte. Wuͤchsen die Kinder in der Art fort, wie sie sich andeuten, so haͤtten wir lauter Genies. Aber das Wachsthum ist nicht blos Entwicklung; die verschiednen or¬ ganischen Systeme, die den Einen Menschen ausmachen, entspringen aus einander, folgen einander, verwandlen sich in einander, ver¬ draͤngen einander, ja zehren einander auf, so daß von manchen Faͤhigkeiten, von man¬ chen Kraftaͤußerungen, nach einer gewissen Zeit, kaum eine Spur mehr zu finden ist. Wenn auch die menschlichen Anlagen im Gan¬ zen eine entschiedene Richtung haben, so wird es doch dem groͤßten und erfahrensten Kenner schwer seyn, sie mit Zuverlaͤssigkeit voraus zu verkuͤnden; doch kann man hinterdrein wohl bemerken, was auf ein Kuͤnftiges hin¬ gedeutet hat. Keinesweges gedenke ich daher in diesen ersten Buͤchern meine Jugendgeschichten voͤllig abzuschließen, sondern ich werde vielmehr noch spaͤterhin manchen Faden aufnehmen und fortleiten, der sich unbemerkt durch die ersten Jahre schon hindurchzog. Hier muß ich aber bemerken, welchen staͤrkeren Einfluß nach und nach die Kriegsbegebenheiten auf unsere Gesinnungen und unsre Lebensweise ausuͤbten. Der ruhige Buͤrger steht zu den großen Weltereignissen in einem wunderbaren Ver¬ haͤltniß. Schon aus der Ferne regen sie ihn auf und beunruhigen ihn, und er kann sich, selbst wenn sie ihn nicht beruͤhren, eines Urtheils, einer Theilnahme nicht enthalten. Schnell ergreift er eine Partey, nachdem ihn sein Character oder aͤußere Anlaͤsse bestimmen. Ruͤcken so große Schicksale, so bedeutende Veraͤnderungen naͤher, dann bleibt ihm bey manchen aͤußern Unbequemlichkeiten noch im¬ mer jenes innre Misbehagen, verdoppelt und schaͤrft das Uebel meistentheils und zerstoͤrt das noch moͤgliche Gute. Dann hat er von Freunden und Feinden wirklich zu leiden, oft mehr von jenen als von diesen, und er weiß weder wie er seine Neigung, noch wie er seinen Vortheil wahren und erhalten soll. Das Jahr 1757, das wir noch in voͤllig buͤrgerlicher Ruhe verbrachten, wurde dem ungeachtet in großer Gemuͤthsbewegung ver¬ lebt. Reicher an Begebenheiten als dieses war vielleicht kein anderes. Die Siege, die Großthaten, die Ungluͤcksfaͤlle, die Wieder¬ herstellungen folgten auf einander, verschlan¬ gen sich und schienen sich aufzuheben; immer aber schwebte die Gestalt Friedrich's, sein Name, sein Ruhm, in kurzem wieder oben. Der Enthusiasmus seiner Verehrer ward im¬ mer groͤßer und belebter, der Haß seiner Feinde bitterer, und die Verschiedenheit der Ansichten, welche selbst Familien zerspaltete, trug nicht wenig dazu bey, die ohnehin schon auf mancherley Weise von einander getrenn¬ ten Buͤrger noch mehr zu isoliren. Denn in einer Stadt wie Frankfurt, wo drey Religio¬ nen die Einwohner in drey ungleiche Massen theilen, wo nur wenige Maͤnner, selbst von der herrschenden, zum Regiment gelangen koͤnnen, muß es gar manchen Wohlhabenden und Unterrichteten geben, der sich auf sich zuruͤckzieht und durch Studien und Liebhabe¬ reyen sich eine eigne und abgeschlossene Exi¬ stenz bildet. Von solchen wird gegenwaͤrtig und auch kuͤnftig die Rede seyn muͤssen, wenn man sich die Eigenheiten eines Frankfurter Buͤrgers aus jener Zeit vergegenwaͤrtigen soll. Mein Vater hatte, sobald er von Reisen zuruͤckgekommen, nach seiner eigenen Sinnes¬ art, den Gedanken gefaßt, daß er, um sich zum Dienste der Stadt faͤhig zu machen, eins der subalternen Aemter uͤbernehmen und solches ohne Emolumente fuͤhren wolle, wenn man es ihm ohne Ballotage uͤbergaͤbe. Er glaubte nach seiner Sinnesart, nach dem Be¬ griffe den er von sich selbst hatte, im Ge¬ fuͤhl seines guten Willens, eine solche Aus¬ zeichnung zu verdienen, die freylich weder gesetzlich noch herkoͤmmlich war. Daher, als ihm sein Gesuch abgeschlagen wurde, gerieth er in Aerger und Mismuth, verschwur je¬ mals irgend eine Stelle anzunehmen, und um es unmoͤglich zu machen, verschaffte er sich den Character eines kaiserlichen Rathes, den der Schultheiß und die aͤltesten Schoͤffen als einen besondern Ehrentitel tragen. Da¬ durch hatte er sich zum Gleichen der Obersten gemacht und konnte nicht mehr von unten anfangen. Derselbe Beweggrund fuͤhrte ihn auch dazu, um die aͤlteste Tochter des Schult¬ heißen zu werben, wodurch er auch auf die¬ ser Seite von dem Rathe ausgeschlossen ward. Er gehoͤrte nun unter die Zuruͤckgezogenen, welche niemals unter sich eine Societaͤt ma¬ chen. Sie stehen so isolirt gegen einander wie gegen das Ganze, und um so mehr, als sich in dieser Abgeschiedenheit das Eigenthuͤm¬ liche der Character immer schroffer ausbil¬ det. Mein Vater mochte sich auf Reisen und in der freyen Welt, die er gesehen, von einer elegantern und liberalern Lebensweise einen Begriff gemacht haben, als sie viel¬ leicht unter seinen Mitbuͤrgern gewoͤhnlich war. Zwar fand er darin Vorgaͤnger und Gesellen. Der Name von Uffenbach ist bekannt. Ein Schoͤff von Uffenbach lebte damals in gutem Ansehen. Er war in Italien gewesen, hatte sich besonders auf Musik gelegt, sang einen angenehmen Tenor, und da er eine schoͤne Sammlung von Musicalien mitgebracht hatte, wurden Concerte und Oratorien bey ihm aufgefuͤhrt. Weil er nun dabey selbst sang und die Musiker beguͤnstigte, so fand man es nicht ganz seiner Wuͤrde gemaͤß, und die eingeladenen Gaͤste sowohl als die uͤbrigen Landsleute erlaubten sich daruͤber manche lustige Anmerkung. Ferner erinnere ich mich eines Barons von Haͤkel , eines reichen Edelmanns, der verheiratet aber kinderlos ein schoͤnes Haus in der Antoniusgasse bewohnte, mit allem Zubehoͤr eines anstaͤndigen Lebens ausgestat¬ I. 11 tet. Auch besaß er gute Gemaͤlde, Kupfer¬ stiche, Antiken und manches andre, wie es bey Sammlern und Liebhabern zusammen¬ fließt. Von Zeit zu Zeit lud er die Honora¬ tioren zum Mittagessen, und war auf eine eigne achtsame Weise wohlthaͤtig, indem er in seinem Hause die Armen kleidete, ihre alten Lumpen aber zuruͤckbehielt, und ihnen nur unter der Bedingung ein woͤchentliches Almosen reichte, daß sie in jenen geschenkten Kleidern sich ihm jedesmal sauber und ordent¬ lich vorstellten. Ich erinnere mich seiner nur dunkel als eines freundlichen, wohlgebildeten Mannes; desto deutlicher aber seiner Auction, der ich vom Anfang bis zu Ende beywohnte, und theils auf Befehl meines Vaters, theils aus eigenem Antrieb manches erstand, was sich noch unter meinen Sammlungen befindet. Fruͤher, und von mir kaum noch mit Augen gesehen, machte Johann Michael von Loen in der literarischen Welt so wie in Frankfurt ziemliches Aufsehen. Nicht von Frankfurt gebuͤrtig hatte er sich daselbst nie¬ dergelassen und war mit der Schwester mei¬ ner Großmutter Textor, einer gebornen Lind¬ heim, verheiratet. Bekannt mit der Hof- und Staatswelt, und eines erneuten Adels sich erfreuend, erlangte er dadurch einen Namen, daß er in die verschiedenen Regun¬ gen, welche in Kirche und Staat zum Vor¬ schein kamen, einzugreifen den Muth hatte. Er schrieb den Grafen von Rivera , einen didactischen Roman, dessen Inhalt aus dem zweyten Titel: oder der ehrliche Mann am Hofe , ersichtlich ist. Dieses Werk wurde gut aufgenommen, weil es auch von den Hoͤ¬ fen, wo sonst nur Klugheit zu Hause ist, Sittlichkeit verlangte; und so brachte ihm seine Arbeit Beyfall und Ansehen. Ein zweytes Werk sollte dagegen desto gefaͤhrlicher fuͤr ihn werden. Er schrieb: die einzige wahre Religion , ein Buch das die Ab¬ sicht hatte, Toleranz besonders zwischen Luthe¬ II * ranern und Calvinisten zu befoͤrdern. Hier¬ uͤber kam er mit den Theologen in Streit; besonders schrieb Dr. Benner in Gießen gegen ihn. Von Loen erwiederte; der Streit wurde heftig und persoͤnlich, und die daraus entspringenden Unannehmlichkeiten veranla߬ ten den Verfasser, die Stelle eines Praͤsiden¬ ten zu Lingen anzunehmen, die ihm Friedrich der zweyte anbot, der in ihm einen aufge¬ klaͤrten, und den Neuerungen, die in Frank¬ reich schon viel weiter gediehen waren, nicht abgeneigten vorurtheilsfreyen Mann zu erken¬ nen glaubte. Seine ehemaligen Landsleute, die er mit einigem Verdruß verlassen, behaup¬ teten, daß er dort nicht zufrieden sey, ja nicht zufrieden seyn koͤnne, weil sich ein Ort wie Lingen mit Frankfurt keineswegs messen duͤrfe. Mein Vater zweifelte auch an dem Behagen des Praͤsidenten, und versicherte, der gute Oheim haͤtte besser gethan, sich mit dem Koͤnige nicht einzulassen, weil es uͤber¬ haupt gefaͤhrlich sey, sich demselben zu naͤhern, so ein außerordentlicher Herr er auch uͤbri¬ gens seyn moͤge. Denn man habe ja gese¬ hen, wie schmaͤhlich der beruͤhmte Voltaire , auf Requisition des preußischen Residenten Freytag , in Frankfurt sey verhaftet worden, da er doch vorher so hoch in Gunsten gestan¬ den und als des Koͤnigs Lehrmeister in der franzoͤsischen Poesie anzusehen gewesen. Es mangelte bey solchen Gelegenheiten nicht an Betrachtungen und Beyspielen, um vor Hoͤ¬ fen und Herrendienst zu warnen, wovon sich uͤberhaupt ein geborner Frankfurter kaum ei¬ nen Begriff machen konnte. Eines vortrefflichen Mannes, Doctor Orth , will ich hier nur dem Namen nach gedenken, indem ich verdienten Frankfurtern hier nicht sowohl ein Denkmal zu errichten habe, vielmehr derselben nur in so fern erwaͤhne, als ihr Ruf oder ihre Persoͤnlichkeit auf mich in den fruͤhsten Jahren einigen Ein¬ fluß gehabt. Doctor Orth war ein reicher Mann, und gehoͤrte auch unter die, welche niemals Theil am Regimente genommen, ob ihn gleich seine Kenntnisse und Einsichten wohl dazu berechtigt haͤtten. Die deutschen und besonders die frankfurtischen Alterthuͤmer sind ihm sehr viel schuldig geworden; er gab die Anmerkungen zu der sogenannten Frank¬ furter Reformation heraus, ein Werk, in welchem die Statuten der Reichsstadt ge¬ sammlet sind. Die historischen Capitel dessel¬ ben habe ich in meinen Juͤnglingsjahren flei¬ ßig studirt. Von Ochsenstein , der aͤltere jener drey Bruͤder, deren ich oben als unserer Nachbarn gedacht, war bey seiner eingezogenen Art zu seyn, waͤhrend seines Lebens nicht merkwuͤrdig geworden, desto merkwuͤrdiger aber nach seinem Tode, indem er eine Verordnung hinterließ, daß er morgens fruͤh, ganz im Stillen und ohne Begleitung und Gefolg, von Handwerks¬ leuten zu Grabe gebracht seyn wolle. Es ge¬ schah, und diese Handlung erregte in der Stadt, wo man an prunkhafte Leichenbegaͤng¬ nisse gewoͤhnt war, großes Aufsehn. Alle diejenigen, die bey solchen Gelegenheiten ei¬ nen herkoͤmmlichen Verdienst hatten, erhu¬ ben sich gegen die Neuerung. Allein der wackre Patrizier fand Nachfolger in allen Staͤnden, und ob man schon dergleichen Begaͤngnisse spottweise Ochsenleichen nannte; so nahmen sie doch zum Besten mancher wenig bemittelten Familien uͤberhand, und die Prunkbegaͤngnisse verloren sich immer mehr. Ich fuͤhre diesen Umstand an, weil er eins der fruͤhern Symptome jener Gesinnun¬ gen von Demuth und Gleichstellung darbie¬ tet, die sich in der zweyten Haͤlfte des vo¬ rigen Jahrhunderts von obenherein auf so manche Weise gezeigt haben und in so uner¬ wartete Wirkungen ausgeschlagen sind. Auch fehlte es nicht an Liebhabern des Alterthums. Es fanden sich Gemaͤldecabinette, Kupferstichsammlungen, besonders aber wur¬ den vaterlaͤndische Merkwuͤrdigkeiten mit Eifer gesucht und aufgehoben. Die aͤlteren Verord¬ nungen und Mandate der Reichsstadt, von denen keine Sammlung veranstaltet war, wur¬ den in Druck und Schrift sorgfaͤltig aufge¬ sucht, nach der Zeitfolge geordnet und als ein Schatz vaterlaͤndischer Rechte und Herkommen mit Ehrfurcht verwahrt. Auch die Bildnisse von Frankfurtern, die in großer Anzahl exi¬ stirten, wurden zusammengebracht und mach¬ ten eine besondre Abtheilung der Cabinette. Solche Maͤnner scheint mein Vater sich uͤber¬ haupt zum Muster genommen zu haben. Ihm fehlte keine der Eigenschaften, die zu einem rechtlichen und angesehnen Buͤrger gehoͤren. Auch brachte er, nachdem er sein Haus erbaut, seine Besitzungen von jeder Art in Ordnung. Eine vortreffliche Landchartensammlung der Schenkischen und anderer damals vorzuͤglicher geographischen Blaͤtter, jene oberwaͤhnten Ver¬ ordnungen und Mandate, jene Bildnisse, ein Schrank alter Gewehre, ein Schrank merk¬ wuͤrdiger venetianischer Glaͤser, Becher und Bocale, Naturalien, Elfenbeinarbeiten, Bron¬ zen und hundert andere Dinge wurden ge¬ sondert und aufgestellt, und ich verfehlte nicht, bey vorfallenden Auctionen, mir jederzeit ei¬ nige Auftraͤge zu Vermehrung des Vorhan¬ denen zu erbitten. Noch einer bedeutenden Familie muß ich gedenken, von der ich seit meiner fruͤhsten Ju¬ gend viel Sonderbares vernahm und von ei¬ nigen ihrer Glieder selbst noch manches Wun¬ derbare erlebte; es war die Senkenber¬ gische . Der Vater, von dem ich wenig zu sagen weiß, war ein wohlhabender Mann. Er hatte drey Soͤhne, die sich in ihrer Ju¬ gend schon durchgaͤngig als Sonderlinge aus¬ zeichneten. Dergleichen wird in einer be¬ schraͤnkten Stadt, wo sich Niemand weder im Guten noch im Boͤsen hervorthun soll, nicht zum Besten aufgenommen. Spottnamen und seltsame, sich lang im Gedaͤchtniß erhal¬ tende Maͤhrchen sind meistens die Frucht ei¬ ner solchen Sonderbarkeit. Der Vater wohn¬ te an der Ecke der Hasengasse, die von dem Zeichen des Hauses, das einen, wo nicht gar drey Hasen vorstellt, den Namen fuͤhrte. Man nannte daher diese drey Bruͤder nur die drey Hasen, welchen Spitznamen sie lange Zeit nicht los wurden. Allein, wie große Vorzuͤge sich oft in der Jugend durch etwas Wunderliches und Unschickliches ankuͤndigen, so geschah es auch hier. Der aͤlteste war der nachher so ruͤhmlich bekannte Reichs¬ hofrath von Senkenberg . Der zweyte ward in den Magistrat aufgenommen und zeigte vorzuͤgliche Talente, die er aber auf eine rabulistische, ja verruchte Weise, wo nicht zum Schaden seiner Vaterstadt, doch we¬ nigstens seiner Collegen in der Folge mis¬ brauchte. Der dritte Bruder, ein Arzt und ein Mann von großer Rechtschaffenheit, der aber wenig und nur in vornehmen Haͤusern praktizirte, behielt bis in sein hoͤchstes Alter immer ein etwas wunderliches Aeußere. Er war immer sehr nett gekleidet, und man sah ihn nie anders auf der Straße als in Schuh und Struͤmpfen und einer wohlgepuderten Lo¬ ckenperuͤcke, den Hut unterm Arm. Er ging schnell, doch mit einem seltsamen Schwanken vor sich hin, so daß er bald auf dieser bald auf jener Seite der Straße sich befand, und im Gehen ein Zickzack bildete. Spottvoͤgel sagten: er suche durch diesen abweichenden Schritt den ab¬ geschiedenen Seelen aus dem Wege zu gehen, die ihn in grader Linie wohl verfolgen moͤch¬ ten, und ahme diejenigen nach, die sich vor einem Crocodil fuͤrchten. Doch aller dieser Scherz und manche lustige Nachrede verwan¬ delte sich zuletzt in Ehrfurcht gegen ihn, als er seine ansehnliche Wohnung mit Hof, Gar¬ ten und allem Zubehoͤr, auf der Eschenhei¬ mer Gasse, zu einer medicinischen Stiftung widmete, wo neben der Anlage eines blos fuͤr Frankfurter Buͤrger bestimmten Hospitals, ein botanischer Garten, ein anatomisch Thea¬ ter, ein chemisch Laboratorium, eine ansehn¬ liche Bibliothek und eine Wohnung fuͤr den Di¬ rector eingerichtet ward, auf eine Weise, de¬ ren keine Akademie sich haͤtte schaͤmen duͤrfen. Ein andrer vorzuͤglicher Mann, dessen Persoͤnlichkeit nicht sowohl als seine Wirkung in der Nachbarschaft und seine Schriften ei¬ nen sehr bedeutenden Einfluß auf mich ge¬ habt haben, war Carl Friedrich von Moser , der seiner Geschaͤftstaͤtigkeit wegen in unserer Gegend immer genannt wurde. Auch er hatte einen gruͤndlich-sittlichen Cha¬ racter, der, weil die Gebrechen der mensch¬ lichen Natur ihm wohl manchmal zu schaffen machten, ihn sogar zu den sogenannten From¬ men hinzog; und so wollte er, wie von Loen das Hofleben, eben so das Geschaͤftsleben einer gewissenhafteren Behandlung entgegen¬ fuͤhren. Die große Anzahl der kleinen deut¬ schen Hoͤfe stellte eine Menge von Herren und Dienern dar, wovon die ersten unbeding¬ ten Gehorsam verlangten, und die andern meistentheils nur nach ihren Ueberzeugungen wirken und dienen wollten. Es entstand da¬ her ein ewiger Conflict und schnelle Veraͤnde¬ rungen und Explosionen, weil die Wirkungen des unbedingten Handelns im Kleinen viel geschwinder merklich und schaͤdlich werden als im Großen. Viele Haͤuser waren verschuldet, und kaiserliche Debit-Commissionen ernannt; andre fanden sich langsamer oder geschwinder auf demselben Wege, wobey die Diener entwe¬ der gewissenlos Vortheil zogen, oder gewissen¬ haft sich unangenehm und verhaßt machten. Moser wollte als Staats- und Geschaͤftsmann wirken; und hier gab sein ererbtes, bis zum Metier ausgebildetes Talent ihm eine ent¬ schiedene Ausbeute; aber er wollte auch zu¬ gleich als Mensch und Buͤrger handeln und seiner sittlichen Wuͤrde so wenig als moͤglich vergeben. Sein Herr und Diener , sein Daniel in der Loͤwengrube , seine Reliquien schildern durchaus die Lage, in welcher er sich zwar nicht gefoltert, aber doch immer geklemmt fuͤhlte. Sie deuten saͤmtlich auf eine Ungeduld in einem Zu¬ stand, mit dessen Verhaͤltnissen man sich nicht versoͤhnen und den man doch nicht los wer¬ den kann. Bey dieser Art zu denken und zu empfinden mußte er freylich mehrmals andere Dienste suchen, an welchen es ihm seine große Gewandtheit nicht fehlen ließ. Ich erinnere mich seiner als eines angeneh¬ men, beweglichen und dabey zarten Mannes. Aus der Ferne machte jedoch der Name Klopstock auch schon auf uns eine große Wirkung. Im Anfang wunderte man sich, wie ein so vortrefflicher Mann so wunderlich heißen koͤnne; doch gewoͤhnte man sich bald daran und dachte nicht mehr an die Bedeu¬ tung dieser Sylben. In meines Vaters Bibliothek hatte ich bisher nur die fruͤhern, besonders die zu seiner Zeit nach und nach heraufgekommenen und geruͤhmten Dichter ge¬ funden. Alle diese hatten gereimt, und mein Vater hielt den Reim fuͤr poetische Werke unerlaͤßlich. Canitz , Hagedorn , Drol¬ linger , Gellert , Kreutz , Haller stan¬ den in schoͤnen Franzbaͤnden in einer Reihe. An diese schlossen sich Neukirch's Tele¬ mach, Koppen's befreytes Jerusalem, und andre Uebersetzungen. Ich hatte diese saͤmmt¬ lichen Baͤnde von Kindheit auf fleißig durch¬ gelesen und theilweise memorirt, weshalb ich denn zur Unterhaltung der Gesellschaft oͤfters aufgerufen wurde. Eine verdrießliche Epoche im Gegentheil eroͤffnete sich fuͤr meinen Va¬ ter, als durch Klopstocks Messias, Verse die ihm keine Verse schienen, ein Gegenstand der oͤffentlichen Bewunderung wurden. Er selbst hatte sich wohl gehuͤtet dieses Werk an¬ zuschaffen; aber unser Hausfreund, Rath Schneider, schwaͤrzte es ein und steckte es der Mutter und den Kindern zu. Auf diesen geschaͤftsthaͤtigen Mann, wel¬ cher wenig las, hatte der Messias gleich bey seiner Erscheinung einen maͤchtigen Eindruck gemacht. Diese so natuͤrlich ausgedruͤckten und doch so schoͤn veredelten frommen Ge¬ fuͤhle, diese gefaͤllige Sprache, wenn man sie auch nur fuͤr harmonische Prosa gelten ließ, hatten den uͤbrigens trocknen Geschaͤftsmann so gewonnen, daß er die zehn ersten Gesaͤnge, denn von diesen ist eigentlich die Rede, als das herrlichste Erbauungsbuch betrachtete, und solches alle Jahre Einmal in der Charwoche, in welcher er sich von allen Geschaͤften zu entbinden wußte, fuͤr sich im Stillen durch¬ las und sich daran fuͤrs ganze Jahr erquickte. Anfangs dachte er seine Empfindungen seinem alten Freunde mitzutheilen; allein er fand sich sehr bestuͤrzt, als er eine unheilbare Ab¬ neigung vor einem Werke von so koͤstlichem Gehalt, wegen einer wie es ihm schien gleich¬ guͤltigen aͤußern Form, gewahr werden mußte. Es fehlte, wie sich leicht denken laͤßt, nicht an Wiederholung des Gespraͤchs uͤber diesen Gegenstand; aber beyde Theile entfernten sich immer weiter von einander, es gab hef¬ tige Scenen, und der nachgiebige Mann ließ sich endlich gefallen, von seinem Lieb¬ lingswerke zu schweigen, damit er nicht zu¬ gleich einen Jugendfreund und eine gute Sonntagssuppe verloͤre. Proselyten zu machen ist der natuͤrlichste Wunsch eines jeden Menschen, und wie sehr fand sich unser Freund im Stillen belohnt, als er in der uͤbrigen Familie fuͤr seinen Hei¬ ligen so offen gesinnte Gemuͤther entdeckte. Das Exemplar, das er jaͤhrlich nur eine Woche brauchte, war uns fuͤr die uͤbrige Zeit gewidmet. Die Mutter hielt es heim¬ lich, und wir Geschwister bemaͤchtigten uns desselben wann wir konnten, um in Frey¬ stunden, in irgend einem Winkel verborgen, die auffallendsten Stellen auswendig zu ler¬ nen, und besonders die zartesten und heftig¬ I. 12 sten so geschwind als moͤglich ins Gedaͤchtniß zu fassen. Porcia's Traum recitirten wir um die Wette, und in das wilde verzweifelnde Ge¬ spraͤch zwischen Satan und Adramelech, welche in's rothe Meer gestuͤrzt worden, hatten wir uns getheilt. Die erste Rolle, als die ge¬ waltsamste, war auf mein Theil gekommen, die andere, um ein wenig klaͤglicher, uͤber¬ nahm meine Schwester. Die wechselseitigen, zwar graͤßlichen aber doch wohlklingenden Ver¬ wuͤnschungen flossen nur so vom Munde, und wir ergriffen jede Gelegenheit, uns mit diesen hoͤllischen Redensarten zu begruͤßen. Es war ein Samstagsabend im Winter — der Vater ließ sich immer bey Licht rasi¬ ren, um Sonntags fruͤh sich zur Kirche be¬ quemlich anziehen zu koͤnnen — wir saßen auf einem Schaͤmel hinter dem Ofen und murmelten, waͤhrend der Barbier einseifte, unsere herkoͤmmlichen Fluͤche ziemlich leise. Nun hatte aber Adramelech den Satan mit eisernen Haͤnden zu fassen; meine Schwester packte mich gewaltig an, und recitirte, zwar leise genug aber doch mit steigender Leiden¬ schaft : Hilf mir! ich flehe dich an, ich bete, wenn du es forderst, Ungeheuer! dich an! Verworfner, schwar¬ zer Verbrecher, Hilf mir! ich leide die Pein des raͤchenden ewigen Todes!... Vormals konnt' ich mit heißem, mit grimmi¬ gem Hasse dich hassen! Jetzt vermag ich's nicht mehr! Auch dieß ist stechender Jammer! Bisher war alles leidlich gegangen; aber laut, mit fuͤrchterlicher Stimme, rief sie die folgen¬ den Worte: O wie bin ich zermalmt!.. 12 * Der gute Chirurgus erschrak und goß dem Vater das Seifenbecken in die Brust. Da gab es einen großen Aufstand, und eine stren¬ ge Untersuchung ward gehalten, besonders in Betracht des Ungluͤcks das haͤtte entstehen koͤnnen, wenn man schon im Rasiren begrif¬ fen gewesen waͤre. Um allen Verdacht des Muthwillens von uns abzulehnen, bekannten wir uns zu unsern teuflischen Rollen, und das Ungluͤck das die Hexameter angerichtet hatten, war zu offenbar, als daß man sie nicht aufs neue haͤtte verrufen und verbannen sollen. So pflegen Kinder und Volk das Große, das Erhabene in ein Spiel, ja in eine Posse zu verwandeln; und wie sollten sie auch sonst im Stande seyn es auszuhalten und zu er¬ tragen. Drittes Buch . Der Neujahrstag ward zu jener Zeit durch den allgemeinen Umlauf von persoͤnli¬ chen Gluͤckwuͤnschungen fuͤr die Stadt sehr belebend. Wer sonst nicht leicht aus dem Hause kam, warf sich in seine besten Kleider, um Goͤnnern und Freunden einen Augenblick freundlich und hoͤflich zu seyn. Fuͤr uns Kinder war besonders die Festlichkeit in dem Hause des Großvaters an diesem Tage ein hoͤchst erwuͤnschter Genuß. Mit dem fruͤhsten Morgen waren die Enkel schon daselbst ver¬ sammelt, um die Trommeln, die Hoboen und Clarinetten, die Posaunen und Zinken, wie sie das Militaͤr, die Stadtmusici und wer sonst alles ertoͤnen ließ, zu vernehmen. Die versiegelten und uͤberschriebenen Neu¬ jahrsgeschenke wurden von den Kindern un¬ ter die geringern Gratulanten ausgetheilt, und wie der Tag wuchs, so vermehrte sich die Anzahl der Honoratioren. Erst erschie¬ nen die Vertrauten und Verwandten, dann die untern Staatsbeamten; die Herren vom Rathe selbst verfehlten nicht ihren Schult¬ heiß zu begruͤßen, und eine auserwaͤhlte Anzahl wurde Abends in Zimmern bewirthet, welche das ganze Jahr uͤber kaum sich oͤffne¬ ten. Die Torten, Biscuitkuchen, Marzipane, der suͤße Wein uͤbte den groͤßten Reiz auf die Kinder aus, wozu noch kam, daß der Schultheiß so wie die beyden Burgemeister, aus einigen Stiftungen jaͤhrlich etwas Sil¬ berzeug erhielten, welches denn den Enkeln und Pathen nach einer gewissen Abstufung verehrt ward; genug es fehlte diesem Feste im Kleinen an nichts was die groͤßten zu verherrlichen pflegt. Der Neujahrstag 1759 kam heran, fuͤr uns Kinder erwuͤnscht und vergnuͤglich wie die vorigen, aber den aͤltern Personen be¬ denklich und ahndungsvoll. Die Durchmaͤr¬ sche der Franzosen war man zwar gewohnt, und sie ereigneten sich oͤfters und haͤufig, aber doch am haͤufigsten in den letzten Tagen des vergangenen Jahres. Nach alter reichs¬ staͤdtischer Sitte posaunte der Thuͤrmer des Hauptthurms so oft Truppen heranruͤckten, und an diesem Neujahrstage wollte er gar nicht aufhoͤren, welches ein Zeichen war, daß groͤßere Heereszuͤge von mehreren Seiten in Bewegung seyen. Wirklich zogen sie auch in groͤßeren Massen an diesem Tage durch die Stadt; man lief, sie vorbeypassiren zu sehen. Sonst war man gewohnt, daß sie nur in kleinen Partieen durchmarschirten; diese aber vergroͤßerten sich nach und nach, ohne daß man es verhindern konnte oder wollte. Ge¬ nug, am 2ten Januar, nachdem eine Co¬ lonne durch Sachsenhausen uͤber die Bruͤcke durch die Fahrgasse bis an die Constabler¬ wache gelangt war, machte sie Halt, uͤber¬ waͤltigte das kleine, sie durchfuͤhrende Comman¬ do, nahm Besitz von gedachter Wache, zog die Zeile hinunter, und nach einem gerin¬ gen Widerstand mußte sich auch die Haupt¬ wache ergeben. Augenblicks waren die fried¬ lichen Straßen in einen Kriegsschauplatz ver¬ wandelt. Dort verharrten und bivouakirten die Truppen, bis durch regelmaͤßige Einquar¬ tierung fuͤr ihr Unterkommen gesorgt waͤre. Diese unerwartete, seit vielen Jahren un¬ erhoͤrte Last druͤckte die behaglichen Buͤrger gewaltig, und Niemanden konnte sie beschwer¬ licher seyn als dem Vater, der in sein kaum vollendetes Haus fremde militaͤrische Bewoh¬ ner aufnehmen, ihnen seine wohlaufgeputzten und meist verschlossenen Staatszimmer ein¬ raͤumen, und das was er so genau zu ordnen und zu regieren pflegte, fremder Willkuͤhr Preis geben sollte; er, ohnehin preußisch gesinnt, sollte sich nun von Franzosen in sei¬ nen Zimmern belagert sehen: es war das Traurigste was ihm nach seiner Denkweise begegnen konnte. Waͤre es ihm jedoch moͤg¬ lich gewesen, die Sache leichter zu nehmen, da er gut franzoͤsisch sprach, und im Leben sich wohl mit Wuͤrde und Anmuth betragen konnte; so haͤtte er sich und uns manche truͤbe Stunde ersparen moͤgen: denn man quartierte bey uns den Koͤnigs-Lieutenant, der, obgleich Militaͤrperson, doch nur die Civilvorfaͤlle, die Streitigkeiten zwischen Sol¬ daten und Buͤrgern, Schuldensachen und Haͤndel zu schlichten hatte. Es war Graf Thorane von Grasse in der Provence, ohnweit Antibes, gebuͤrtig, eine lange hagre ernste Gestalt, das Gesicht durch die Blat¬ tern sehr entstellt, mit schwarzen feurigen Augen, und von einem wuͤrdigen zusammen¬ genommenen Betragen. Gleich sein Eintritt war fuͤr den Hausbewohner guͤnstig. Man sprach von den verschiedenen Zimmern, welche theils abgegeben werden, theils der Familie verbleiben sollten, und als der Graf ein Gemaͤldezimmer erwaͤhnen hoͤrte, so erbat er sich gleich, ob es schon Nacht war, mit Ker¬ zen die Bilder wenigstens fluͤchtig zu besehen. Er hatte an diesen Dingen eine uͤbergroße Freude, bezeigte sich gegen den ihn begleiten¬ den Vater auf das verbindlichste, und als er vernahm, daß die meisten Kuͤnstler noch leb¬ ten, sich in Frankfurt und in der Nachbar¬ schaft aufhielten; so versicherte er, daß er nichts mehr wuͤnsche, als sie baldigst kennen zu lernen und sie zu beschaͤftigen. Aber auch diese Annaͤherung von Seiten der Kunst vermochte nicht die Gesinnung mei¬ nes Vaters zu aͤndern, noch seinen Character zu beugen. Er ließ geschehen was er nicht verhindern konnte, hielt sich aber in unwirk¬ samer Entfernung, und das Außerordentliche was nun um ihn vorging, war ihm bis auf die geringste Kleinigkeit unertraͤglich. Graf Thorane indessen betrug sich muster¬ haft. Nicht einmal seine Landcharten wollte er an die Waͤnde genagelt haben, um die neuen Tapeten nicht zu verderben. Seine Leute waren gewandt, still und ordentlich; aber freylich, da den ganzen Tag und einen Theil der Nacht nicht Ruhe bey ihm ward, da ein Klagender dem andern folgte, Arre¬ stanten gebracht und fortgefuͤhrt, alle Offiziere und Adjutanten vorgelassen wurden‚ da der Graf noch uͤberdieß taͤglich offne Tafel hielt: so gab es in dem maͤßig großen, nur fuͤr eine Familie eingerichteten Hause, das nur eine durch alle Stockwerke unverschlossen durchgehende Treppe hatte, eine Bewegung und ein Gesumme wie in einem Bienenkoͤrbe, obgleich alles sehr gemaͤßigt, ernsthaft und streng zuging. Zum Vermittler zwischen einem verdrie߬ lichen, taͤglich mehr sich hypochondrisch quaͤ¬ lenden Hausherrn und einem zwar wohlwol¬ lenden aber sehr ernsten und genauen Mili¬ taͤrgast, fand sich gluͤcklicherweise ein behag¬ ticher Dolmetscher, ein schoͤner wohlbeleibter heitrer Mann, der Buͤrger von Frankfurt war und gut franzoͤsisch sprach, sich in alles zu schicken wußte und mit mancherley kleinen Unannehmlichkeiten nur seinen Spaß trieb. Durch diesen hatte meine Mutter dem Grafen ihre Lage bey dem Gemuͤthszustande ihres Gatten vorstellen lassen; er hatte die Sache so kluͤglich ausgemalt, das neue noch nicht einmal ganz eingerichtete Haus, die natuͤrliche Zuruͤckgezogenheit des Besitzers, die Beschaͤf¬ tigung mit der Erziehung seiner Familie und was sich alles sonst noch sagen ließ, zu beden¬ ken gegeben; so daß der Graf, der an seiner Stelle auf die hoͤchste Gerechtigkeit, Unbe¬ stechlichkeit und ehrenvollen Wandel den groͤ߬ ten Stolz setzte, auch hier sich als Einquar¬ tierter musterhaft zu betragen vornahm, und es wirklich die einigen Jahre seines Dablei¬ bens unter mancherley Umstaͤnden unverbruͤch¬ lich gehalten hat. Meine Mutter besaß einige Kenntniß des Italiaͤnischen, welche Sprache uͤberhaupt Nie¬ manden von der Familie fremd war: sie ent¬ schloß sich daher sogleich Franzoͤsisch zu ler¬ nen, zu welchem Zweck der Dolmetscher, dem sie unter diesen stuͤrmischen Ereignissen ein Kind aus der Taufe gehoben hatte, und der nun auch als Gevatter zu dem Hause eine doppelte Neigung spuͤrte, seiner Gevatterinn jeden abgemuͤßigten Augenblick schenkte (denn er wohnte gerade gegenuͤber) und ihr vor allen Dingen diejenigen Phrasen einlernte, welche sie persoͤnlich dem Grafen vorzutragen habe; welches denn zum besten gerieth. Der Graf war geschmeichelt von der Muͤhe, welche die Hausfrau sich in ihren Jahren gab, und weil er einen heitern geistreichen Zug in sei¬ nem Character hatte, auch eine gewisse trockne Galanterie gern ausuͤbte; so entstand daraus das beste Verhaͤltniß, und die verbuͤndeten Gevattern konnten erlangen was sie wollten. Waͤre es, wie schon gesagt, moͤglich ge¬ wesen, den Vater zu erheitern, so haͤtte die¬ ser veraͤnderte Zustand wenig Druͤckendes ge¬ habt. Der Graf uͤbte die strengste Uneigen¬ nuͤtzigkeit; selbst Gaben, die seiner Stelle ge¬ buͤhrten, lehnte er ab; das Geringste was einer Bestechung haͤtte aͤhnlich sehen koͤnnen, wurde mit Zorn, ja mit Strafe weggewiesen; seinen Leuten war aufs strengste befohlen, dem Haus¬ besitzer nicht die mindesten Unkosten zu ma¬ chen. Dagegen wurde uns Kindern reichlich vom Nachtische mitgetheilt. Bey dieser Gele¬ heit muß ich, um von der Unschuld jener Zeiten einen Begriff zu geben, anfuͤhren, daß die Mutter uns eines Tages hoͤchlich betruͤbte, indem sie das Gefrorene, das man uns von der Tafel sendete, weggoß, weil es ihr un¬ moͤglich vorkam, daß der Magen ein wahr¬ haftes Eis, wenn es auch noch so durchzuckert sey, vertragen koͤnne. Außer diesen Leckereyen, die wir denn doch allmaͤhlich ganz gut genießen und vertragen lernten, daͤuchte es uns Kindern auch noch gar behaglich, von genauen Lehrstunden und strenger Zucht einigermaßen entbunden zu seyn. Des Vaters uͤble Laune nahm zu, er konnte sich nicht in das Unvermeidliche ergeben. Wie sehr quaͤlte er sich, die Mutter und den Ge¬ vatter, die Rathsherren, alle seine Freunde, nur um den Grafen los zu werden! Vergebens stellte man ihm vor, daß die Gegenwart eines solchen Mannes im Hause, unter den gegebe¬ nen Umstaͤnden, eine wahre Wohlthat sey, daß ein ewiger Wechsel, es sey nun von Of¬ fizieren oder Gemeinen, auf die Umquartierung des Grafen folgen wuͤrde. Keins von die¬ sen Argumenten wollte bey ihm greifen. Das Gegenwaͤrtige schien ihm so unertraͤglich, daß ihn sein Unmuth ein Schlimmeres das folgen koͤnnte, nicht gewahr werden ließ. Auf diese Weise ward seine Thaͤtigkeit ge¬ laͤhmt, die er sonst hauptsaͤchlich auf uns zu wenden gewohnt war. Das was er uns auf¬ I. 13 gab, forderte er nicht mehr mit der sonstigen Genauigkeit, und wir suchten, wie es nur moͤg¬ lich schien, unsere Neugierde an militaͤrischen und andern oͤffentlichen Dingen zu befriedi¬ gen, nicht allein im Hause, sondern auch auf den Straßen, welches um so leichter anging, da die Tag und Nacht unverschlossene Haus¬ thuͤre von Schildwachen besetzt war, die sich um das Hin- und Wiederlaufen unruhiger Kinder nichts bekuͤmmerten. Die mancherley Angelegenheiten, die vor dem Richterstuhle des Koͤnigslieutenant ge¬ schlichtet wurden, hatten dadurch noch ei¬ nen ganz besondern Reiz, daß er einen eige¬ nen Werth darauf legte, seine Entscheidun¬ gen zugleich mit einer witzigen, geistreichen, heitern Wendung zu begleiten. Was er be¬ fahl, war streng gerecht; die Art wie er es ausdruͤckte, war launig und pikant. Er schien sich den Herzog von Ossuna zum Vorbilde genommen zu haben. Es verging 195 kaum ein Tag, daß der Dolmetscher nicht eine oder die andere solche Anecdote uns und der Mutter zur Aufheiterung erzaͤhlte. Es hatte dieser muntere Mann eine kleine Samm¬ lung solcher Salomonischen Entscheidungen ge¬ macht; ich erinnere mich aber nur des Ein¬ drucks im Allgemeinen, ohne im Gedaͤchtniß ein Besonderes wieder zu finden. Den wunderbaren Character des Grafen lernte man nach und nach immer mehr kennen. Dieser Mann war sich selbst, seiner Eigen¬ heiten aufs deutlichste bewußt, und weil er ge¬ wisse Zeiten haben mochte, wo ihn eine Art von Unmuth, Hypochondrie, oder wie man den boͤsen Daͤmon nennen soll, uͤberfiel; so zog er sich in solchen Stunden, die sich manchmal zu Tagen verlaͤngerten, in sein Zimmer zuruͤck, sah Niemanden als seinen Cammerdiener, und war selbst in dringenden Faͤllen nicht zu bewegen, daß er Audienz gegeben haͤtte. So¬ bald aber der boͤse Geist von ihm gewichen 13 * war, erschien er nach wie vor, mild, heiter und thaͤtig. Aus den Reden seines Cammer¬ dieners, Saint Jean , eines kleinen hagern Mannes von muntrer Gutmuͤthigkeit, konnte man schließen, daß er in fruͤhern Jahren von solcher Stimmung uͤberwaͤltigt, großes Ungluͤck angerichtet, und sich nun vor aͤhnlichen Ab¬ wegen, bey einer so wichtigen, den Blicken al¬ ler Welt ausgesetzten Stelle, zu huͤten ernstlich vornehme. Gleich in den ersten Tagen der Anwesen¬ heit des Grafen wurden die saͤmmtlichen Frankfurter Maler, als Hirt , Schuͤtz , Trautmann , Nothnagel , Junker , zu ihm berufen. Sie zeigten ihre fertigen Gemaͤl¬ de vor, und der Graf eignete sich das Verkaͤuf¬ liche zu. Ihm wurde mein huͤbsches helles Gie¬ belzimmer in der Mansarde eingeraͤumt und so¬ gleich in ein Cabinett und Atelier umgewandelt: denn er war Willens, die saͤmmtlichen Kuͤnstler, vor allen aber Seekaz in Darmstadt, des¬ sen Pinsel ihm besonders bey natuͤrlichen und unschuldigen Vorstellungen hoͤchlich gefiel, fuͤr eine ganze Zeit in Arbeit zu setzen. Er ließ daher von Grasse, wo sein aͤlterer Bruder ein schoͤnes Gebaͤude besitzen mochte, die saͤmmt¬ lichen Maße aller Zimmer und Cabinette her¬ beykommen, uͤberlegte sodann mit den Kuͤnst¬ lern die Wandabtheilungen, und bestimmte die Groͤße der hiernach zu verfertigenden an¬ sehnlichen Oelbilder, welche nicht in Ramen eingefaßt, sondern als Tapetentheile auf die Wand befestigt werden sollten. Hier ging nun die Arbeit eifrig an. Seekaz uͤber¬ nahm laͤndliche Scenen, worin die Greise und Kinder, unmittelbar nach der Natur gemalt, ganz herrlich gluͤckten; die Juͤnglinge wollten ihm nicht eben so gerathen, sie waren meist zu hager; und die Frauen misfielen aus der entgegengesetzten Ursache. Denn da er eine kleine dicke, gute aber unangenehme Person zur Frau hatte, die ihm außer sich selbst nicht wohl ein Modell zuließ; so wollte nichts Ge¬ faͤlliges zu Stande kommen. Zudem war er genoͤthigt gewesen, uͤber das Maß seiner Fi¬ guren hinaus zu gehen. Seine Baͤume hatten Wahrheit, aber ein kleinliches Blaͤtterwerk. Er war ein Schuͤler von Brinkmann , des¬ sen Pinsel in Staffeleygemaͤlden nicht zu schelten ist. Schuͤtz , der Landschaftmaler, fand sich vielleicht am besten in die Sache. Die Rhein¬ gegenden hatte er ganz in seiner Gewalt, so wie den sonnigen Ton, der sie in der schoͤnen Jah¬ reszeit belebt. Er war nicht ganz ungewohnt, in einem groͤßern Maßstabe zu arbeiten, und auch da ließ er es an Ausfuͤhrung und Hal¬ tung nicht fehlen. Er lieferte sehr heitre Bilder. Trautmann rembrandisirte einige Auf¬ erweckungswunder des neuen Testaments, und zuͤndete nebenher Doͤrfer und Muͤhlen an. Auch ihm war, wie ich aus den Aufrissen der Zimmer bemerken konnte, ein eigenes Ca¬ binett zugetheilt worden. Hirt malte eini¬ ge gute Eichen- und Buchenwaͤlder. Seine Heerden waren lobenswert. Junker , an die Nachahmung der ausfuͤhrlichsten Nieder¬ laͤnder gewoͤhnt, konnte sich am wenigsten in diesen Tapetenstyl finden; jedoch bequemte er sich, fuͤr gute Zahlung, mit Blumen und Fruͤchten manche Abtheilung zu verzieren. Da ich alle diese Maͤnner von meiner fruͤhsten Jugend an gekannt, und sie oft in ihren Werkstaͤtten besucht hatte, auch der Graf mich gern um sich leiden mochte; so war ich bey den Aufgaben, Berathschlagun¬ gen und Bestellungen, wie auch bey den Ab¬ lieferungen gegenwaͤrtig, und nahm mir, zu¬ mal wenn Skizzen und Entwuͤrfe eingereicht wurden, meine Meynung zu eroͤffnen gar wohl heraus. Ich hatte mir schon fruͤher bey Gemaͤlde-Liebhabern, besonders aber auf Auctionen, denen ich fleißig beywohnte, den Ruhm erworben, daß ich gleich zu sagen wisse, was irgend ein historisches Bild vor¬ stelle, es sey nun aus der biblischen oder der Profangeschichte oder aus der Mythologie ge¬ nommen; und wenn ich auch den Sinn der allegorischen Bilder nicht immer traf, so war doch selten Jemand gegenwaͤrtig, der es bes¬ ser verstand als ich. So hatte ich auch oͤf¬ ters die Kuͤnstler vermocht, diesen oder jenen Gegenstand vorzustellen, und solcher Vortheile bediente ich mich gegenwaͤrtig mit Lust und Liebe. Ich erinnere mich noch, daß ich ei¬ nen umstaͤndlichen Aufsatz verfertigte, worin ich zwoͤlf Bilder beschrieb, welche die Ge¬ schichte Josephs darstellen sollten: einige da¬ von wurden ausgefuͤhrt. Nach diesen, fuͤr einen Knaben allerdings loͤblichen Verrichtungen, will ich auch einer kleinen Beschaͤmung, die mir innerhalb dieses Kuͤnstlerkreises begegnete, Erwaͤhnung thun. Ich war naͤmlich mit allen Bildern wohl be¬ kannt, welche man nach und nach in jenes Zimmer gebracht hatte. Meine jugendliche Neugierde ließ nichts ungesehen und unun¬ tersucht. Einst fand ich hinter dem Ofen ein schwarzes Kaͤstchen; ich ermangelte nicht, zu forschen was darin verborgen sey, und ohne mich lange zu besinnen zog ich den Schieber weg. Das darin enthaltene Gemaͤlde war freylich von der Art, die man den Augen nicht auszustellen pflegt, und ob ich es gleich alsobald wieder zuzuschieben Anstalt machte, so konnte ich doch nicht geschwind genug da¬ mit fertig werden. Der Graf trat herein und ertappte mich. — „Wer hat Euch er¬ laubt dieses Kaͤstchen zu eroͤffnen?“ sagte er mit seiner Koͤnigslieutenants-Miene. Ich hatte nicht viel darauf zu antworten, und er sprach sogleich die Strafe sehr ernsthaft aus: „Ihr werdet in acht Tagen, sagte er, dieses Zimmer nicht betreten.“ — Ich machte eine Verbeugung und ging hinaus. Auch ge¬ horchte ich diesem Gebot aufs puͤnctlichste, so daß es dem guten Seekaz, der eben in dem Zimmer arbeitete, sehr verdrießlich war: denn er hatte mich gern um sich; und ich trieb aus einer kleinen Tuͤcke den Gehorsam so weit, daß ich Seekazen seinen Kaffe, den ich ihm gewoͤhnlich brachte, auf die Schwelle setzte; da er denn von seiner Arbeit aufstehen und ihn holen mußte, welches er so uͤbel empfand, daß er mir fast gram geworden waͤre. Nun aber scheint es noͤthig, umstaͤndli¬ cher anzuzeigen und begreiflich zu machen, wie ich mir in solchen Faͤllen in der franzoͤ¬ sischen Sprache, die ich doch nicht gelernt, mit mehr oder weniger Bequemlichkeit durch¬ geholfen. Auch hier kam mir die angeborne Gabe zu statten, daß ich leicht den Schall und Klang einer Sprache, ihre Bewegung, ihren Accent, den Ton und was sonst von aͤußern Eigenthuͤmlichkeiten, fassen konnte. Aus dem Lateinischen waren mir viele Worte bekannt; das Italiaͤnische vermittelte noch mehr, und so horchte ich in kurzer Zeit von Bedienten und Soldaten, Schildwachen und Besuchen so viel heraus, daß ich mich, wo nicht ins Gespraͤch mischen, doch wenigstens einzelne Fragen und Antworten bestehen konnte. Aber dieses war alles nur wenig gegen den Vortheil, den mir das Theater brachte. Von meinem Großvater hatte ich ein Freybillet erhalten, dessen ich mich, mit Widerwillen meines Vaters, unter dem Beystand meiner Mutter, taͤglich bediente. Hier saß ich nun im Parterre vor einer fremden Buͤhne, und paßte um so mehr auf Bewegung, mimischen und Rede-Ausdruck, als ich wenig oder nichts von dem verstand was da oben gespro¬ chen wurde, und also meine Unterhaltung nur vom Geberdenspiel und Sprachton nehmen konnte. Von der Comoͤdie verstand ich am wenigsten, weil sie geschwind gesprochen wurde und sich auf Dinge des gemeinen Lebens be¬ zog, deren Ausdruͤcke mir gar nicht bekannt waren. Die Tragoͤdie kam seltner vor, und der gemessene Schritt, das Tactartige der Alexandriner, das Allgemeine des Ausdrucks machten sie mir in jedem Sinne faßlicher. Es dauerte nicht lange, so nahm ich den Racine , den ich in meines Vaters Biblio¬ thek antraf, zur Hand, und declamirte mir die Stuͤcke nach theatralischer Art und Weise, wie sie das Organ meines Ohrs und das ihm so genau verwandte Sprachorgan gefaßt hatte, mit großer Lebhaftigkeit, ohne daß ich noch eine ganze Rede im Zusammenhang haͤtte verstehen koͤnnen. Ja ich lernte ganze Stellen auswendig und recitirte sie, wie ein eingelernter Sprachvogel; welches mir um so leichter ward, als ich fruͤher die fuͤr ein Kind meist unverstaͤndlichen biblischen Stellen auswendig gelernt, und sie in dem Ton der protestantischen Prediger zu recitiren mich ge¬ woͤhnt hatte. Das versificirte franzoͤsische Lust¬ spiel war damals sehr beliebt; die Stuͤcke von Destouches , Mariveaux , La Chaus¬ sée kamen haͤufig vor, und ich erinnere mich noch deutlich mancher charakteristischen Figu¬ ren. Von den Molierischen ist mir we¬ niger im Sinn geblieben. Was am meisten Eindruck auf mich machte, war die Hyper¬ mnestra von Lemière , die als ein neues Stuͤck mit Sorgfalt aufgefuͤhrt und wieder¬ holt gegeben wurde. Hoͤchst anmuthig war der Eindruck, den der Devin du Village, Rose et Colas, Annette et Lubin , auf mich machten. Ich kann mir die bebaͤnder¬ ten Buben und Maͤdchen und ihre Bewe¬ gungen noch jetzt zuruͤckrufen. Es dauerte nicht lange, so regte sich der Wunsch bey mir, mich auf dem Theater selbst umzusehen, wozu sich mir so mancherley Gelegenheit dar¬ bot. Denn da ich nicht immer die ganzen Stuͤcke auszuhoͤren Geduld hatte, und manche Zeit in den Corridors, auch wohl bey gelin¬ derer Jahrszeit vor der Thuͤre, mit andern Kindern meines Alters allerley Spiele trieb; so gesellte sich ein schoͤner munterer Knabe zu uns, der zum Theater gehoͤrte, und den ich in manchen kleinen Rollen, obwohl nur beylaͤufig, gesehen hatte. Mit mir konnte er sich am besten verstaͤndigen, indem ich mein Franzoͤsisch bey ihm geltend zu machen wußte; und er knuͤpfte sich um so mehr an mich, als kein Knabe seines Alters und seiner Na¬ tion beym Theater oder sonst in der Naͤhe war. Wir gingen auch außer der Theater¬ zeit zusammen, und selbst waͤhrend der Vor¬ stellungen ließ er mich selten in Ruhe. Er war ein allerliebster kleiner Aufschneider, schwaͤtzte charmant und unaufhoͤrlich, und wußte so viel von seinen Abenteuern, Haͤn¬ deln und andern Sonderbarkeiten zu erzaͤhlen, daß er mich außerordentlich unterhielt, und ich von ihm, was Sprache und Mittheilung durch dieselbe betrifft, in vier Wochen mehr lernte, als man sich haͤtte vorstellen koͤnnen; so daß Niemand wußte, wie ich auf einmal, gleichsam durch Inspiration, zu der fremden Sprache gelangt war. Gleich in den ersten Tagen unserer Be¬ kanntschaft zog er mich mit sich aufs Theater, und fuͤhrte mich besonders in die Foyers, wo die Schauspieler und Schauspielerinnen in der Zwischenzeit sich aufhielten und sich an und auskleideten. Das Local war weder guͤnstig noch bequem, indem man das Thea¬ ter in einen Concertsaal hineingezwaͤngt hatte, so daß fuͤr die Schauspieler hinter der Buͤhne keine besonderen Abtheilungen statt fanden. In einem ziemlich großen Nebenzimmer, das ehedem zu Spielpartieen gedient hatte, wa¬ ren nun beyde Geschlechter meist beysammen und schienen sich so wenig unter einander selbst als vor uns Kindern zu scheuen, wenn es beym Anlegen oder Veraͤndern der Klei¬ dungsstuͤcke nicht immer zum anstaͤndigsten herging. Mir war dergleichen niemals vor¬ gekommen, und doch fand ich es bald durch Gewohnheit, bey wiederholtem Besuch, ganz natuͤrlich. Es waͤhrte nicht lange, so entspann sich aber fuͤr mich ein eignes und besondres In¬ teresse. Der junge Derones , so will ich den Knaben nennen, mit dem ich mein Ver¬ haͤltniß immer fortsetzte, war außer seinen Aufschneidereyen ein Knabe von guten Sitten und recht artigem Betragen. Er machte mich mit seiner Schwester bekannt, die ein paar Jahre aͤlter als wir und ein gar ange¬ nehmes Maͤdchen war, gut gewachsen, von einer regelmaͤßigen Bildung, brauner Farbe, schwarzen Haaren und Augen; ihr ganzes Betragen hatte etwas Stilles, ja Trauriges. Ich suchte ihr auf alle Weise gefaͤllig zu seyn; allein ich konnte ihre Aufmerksamkeit nicht auf mich lenken. Junge Maͤdchen duͤn¬ ken sich gegen juͤngere Knaben sehr weit vor¬ geschritten, und nehmen, indem sie nach den Juͤnglingen hinschauen, ein tantenhaftes Be¬ tragen gegen den Knaben an, der ihnen seine erste Neigung zuwendet. Mit einem juͤngern Bruder hatte ich kein Verhaͤltniß. Manchmal, wenn die Mutter auf den Proben oder in Gesellschaft war, fanden wir uns in ihrer Wohnung zusammen, um zu spielen oder uns zu unterhalten. Ich ging niemals hin, ohne der Schoͤnen eine Blume, eine Frucht oder sonst etwas zu uͤberreichen, welches sie zwar jederzeit mit sehr guter Art annahm und auf das hoͤflichste dankte; al¬ lein ich sah ihren traurigen Blick sich nie¬ mals erheitern, und fand keine Spur, daß sie sonst auf mich geachtet haͤtte. Endlich glaubte ich ihr Geheimniß zu entdecken. Der Knabe zeigte mir hinter dem Bette seiner Mutter, das mit eleganten seidnen Vorhaͤn¬ gen aufgeputzt war, ein Pastellbild, das Por¬ traͤt eines schoͤnen Mannes, und bemerkte zu¬ gleich mit schlauer Miene: das sey eigentlich nicht der Papa, aber eben so gut wie der Papa; und indem er diesen Mann ruͤhmte, und nach seiner Art umstaͤndlich und prahle¬ risch manches erzaͤhlte: so glaubte ich heraus¬ zufinden, daß die Tochter wohl dem Vater, I. 14 die beyden andern Kinder aber dem Haus¬ freund angehoͤren mochten. Ich erklaͤrte mir nun ihr trauriges Ansehen und hatte sie nur um desto lieber. Die Neigung zu diesem Maͤdchen half mir die Schwindeleyen des Bruders uͤbertra¬ gen, der nicht immer in seinen Graͤnzen blieb. Ich hatte oft die weitlaͤuftigen Er¬ zaͤhlungen seiner Großthaten auszuhalten, wie er sich schon oͤfter geschlagen, ohne jedoch dem andern schaden zu wollen: es sey alles blos der Ehre wegen geschehen. Stets habe er gewußt seinen Widersacher zu entwaffnen, und ihm alsdann verziehen; ja er verstehe sich aufs Legiren so gut, daß er einst selbst in große Verlegenheit gerathen, als er den Degen seines Gegners auf einen hohen Baum geschleudert, so daß man ihn nicht leicht wie¬ der habhaft werden koͤnnen. Was mir meine Besuche auf dem Thea¬ ter sehr erleichterte, war, daß mir mein Freybillet, als aus den Haͤnden des Schult¬ heißen, den Weg zu allen Plaͤtzen eroͤffnete, und also auch zu den Sitzen im Proscenium. Dieses war nach franzoͤsischer Art sehr tief und an beyden Seiten mit Sitzen eingefaßt, die durch eine niedrige Barriere beschraͤnkt, sich in mehreren Reihen hinter einander auf¬ bauten und zwar dergestalt, daß die ersten Sitze nur wenig uͤber die Buͤhne erhoben waren. Das Ganze galt fuͤr einen beson¬ dern Ehrenplatz; nur Offiziere bedienten sich gewoͤhnlich desselben, obgleich die Naͤhe der Schauspieler, ich will nicht sagen jede Illu¬ sion, sondern gewissermaßen jedes Gefallen aufhob. Sogar jenen Gebrauch oder Mis¬ brauch, uͤber den sich Voltaire so sehr be¬ schwert, habe ich noch erlebt und mit Au¬ gen gesehen. Wenn bey sehr vollem Hause, und etwa zur Zeit von Durchmaͤrschen ange¬ sehene Offiziere nach jenem Ehrenplatz streb¬ ten, der aber gewoͤhnlich schon besetzt war; so stellte man noch einige Reihen Baͤnke und 14 * Stuͤhle ins Proscenium auf die Buͤhne selbst, und es blieb den Helden und Heldinnen nichts uͤbrig, als in einem sehr maͤßigen Raume zwischen den Uniformen und Orden ihre Geheimnisse zu enthuͤllen. Ich habe die Hypermnestra selbst unter solchen Umstaͤn¬ den auffuͤhren sehen. Der Vorhang fiel nicht zwischen den Ac¬ ten; und ich erwaͤhne noch eines seltsamen Gebrauchs, den ich sehr auffallend finden mu߬ te, da mir als einem guten deutschen Kna¬ ben das Kunstwidrige daran ganz unertraͤg¬ lich war. Das Theater naͤmlich ward als das groͤßte Heiligthum betrachtet und eine vorfallende Stoͤrung auf demselben haͤtte als das groͤßte Verbrechen gegen die Majestaͤt des Publicums sogleich muͤssen geruͤgt werden. Zwey Grenadiere, das Gewehr beym Fuß, standen daher in allen Lustspielen ganz oͤffent¬ lich zu beyden Seiten des hintersten Vor¬ hangs, und waren Zeugen von allem was im Innersten der Familie vorging. Da, wie gesagt, zwischen den Acten der Vorhang nicht niedergelassen wurde; so loͤsten, bey ein¬ fallender Musik, zwey andere dergestalt ab, daß sie aus den Culissen ganz strack vor jene hintraten, welche sich dann eben so gemessent¬ lich zuruͤckzogen. Wenn nun eine solche An¬ stalt recht dazu geeignet war, alles was man beym Theater Illusion nennt, aufzuheben; so faͤllt es um so mehr auf, daß dieses zu einer Zeit geschah, wo nach Diderots Grundsaͤtzen und Beyspielen die natuͤrlichste Natuͤrlichkeit auf der Buͤhne gefordert, und eine vollkom¬ mene Taͤuschung als das eigentliche Ziel der theatralischen Kunst angegeben wurde. Von einer solchen militaͤrischen Polizeyanstalt war jedoch die Tragoͤdie entbunden, und die Hel¬ den des Alterthums hatten das Recht sich selbst zu bewachen; die gedachten Grenadiere standen indeß nahe genug hinter den Cu¬ lissen. So will ich denn auch noch anfuͤhren, daß ich Diderot's Hausvater, und die Philosophen von Palissot gesehen habe, und mich im letztern Stuͤck der Figur des Philosophen, der auf allen Vieren geht und in ein rohes Salathaupt beißt, noch wohl erinnre. Alle diese theatralische Mannigfaltigkeit konnte jedoch uns Kinder nicht immer im Schauspielhause festhalten. Wir spielten bey schoͤnem Wetter vor demselben und in der Naͤhe, und begingen allerley Thorheiten, welche besonders an Sonn- und Festtagen keineswegs zu unsrem Aeußeren paßten: denn ich und meines Gleichen erschienen alsdann, angezogen wie man mich in jenem Maͤhrchen gesehen, den Hut unterm Arm, mit einem kleine Degen, dessen Buͤgel mit einer gro¬ ßen seidenen Bandschleife geziert war. Einst, als wir eine ganze Zeit unser Wesen getrie¬ ben, und Derones sich unter uns gemischt hatte, fiel es diesem ein, mir zu betheuern, ich hatte ihn beleidigt, und muͤsse ihm Sa¬ tisfaction geben. Ich begriff zwar nicht, was ihm Anlaß geben konnte, ließ mir aber seine Ausforderung gefallen und wollte ziehen. Er versicherte mir aber, es sey in solchen Faͤllen gebraͤuchlich, daß man an einsame Oerter gehe, um die Sache desto bequemer ausmachen zu koͤnnen. Wir verfuͤgten uns deshalb hinter einige Scheunen, und stellten uns in gehoͤrige Positur. Der Zweykampf erfolgte auf eine etwas theatralische Weise, die Klingen klirrten, und die Stoͤße gingen neben aus; doch im Feuer der Action blieb er mit der Spitze seines Degens an der Bandschleife meines Buͤgels hangen. Sie ward durchbohrt, und er versicherte mir, daß er nun die vollkommenste Satisfaction habe, umarmte mich sodann, gleichfalls recht theatralisch, und wir gingen in das naͤch¬ ste Caffeehaus, um uns mit einem Glase Mandelmilch von unserer Gemuͤthsbewegung zu erholen und den alten Freundschafts- Bund nur desto fester zu schließen. Ein andres Abenteuer, das mir auch im Schauspielhause obgleich spaͤter begegnet, will ich bey dieser Gelegenheit erzaͤhlen. Ich saß naͤmlich mit einem meiner Gespielen ganz ruhig im Parterre, und wir sahen mit Ver¬ gnuͤgen einem Solotanze zu, den ein huͤb¬ scher Knabe, ohngefaͤhr von unserm Alter, der Sohn eines durchreisenden franzoͤsischen Tanzmeisters, mit vieler Gewandtheit und Anmuth auffuͤhrte. Nach Art der Taͤnzer war er mit einem knappen Waͤmschen von rother Seide bekleidet, welches in einen kur¬ zen Reifrock ausgehend, gleich den Laufer¬ schuͤrzen, bis uͤber die Kniee schwebte. Wir hatten diesem angehenden Kuͤnstler mit dem ganzen Publicum unsern Beyfall gezollt, als mir ich weiß nicht wie einfiel, eine morali¬ sche Reflexion zu machen. Ich sagte zu mei¬ nem Begleiter: Wie schoͤn war dieser Knabe geputzt und wie gut nahm er sich aus; wer weiß in was fuͤr einem zerrissenen Jaͤckchen er heute Nacht schlafen mag! — Alles war schon aufgestanden, nur ließ uns die Menge noch nicht vorwaͤrts. Eine Frau, die neben mir gesessen hatte und nun hart an mir stand, war zufaͤlliger Weise die Mutter die¬ ses jungen Kuͤnstlers, die sich durch meine Reflexion sehr beleidigt fuͤhlte. Zu meinem Ungluͤck konnte sie Deutsch genug, um mich verstanden zu haben, und sprach es gerade so viel als noͤthig war, um schelten zu koͤnnen. Sie machte mich gewaltig herunter: Wer ich denn sey, meinte sie, daß ich Ursache haͤtte an der Familie und an der Wohlhabenheit dieses jungen Menschen zu zweifeln. Auf alle Falle duͤrfe sie ihn fuͤr so gut halten als mich, und seine Talente koͤnnten ihm wohl ein Gluͤck bereiten, wovon ich mir nicht wuͤrde traͤumen lassen. Diese Strafpredigt hieit sie mir im Gedraͤnge und machte die Umstehenden aufmerksam, welche Wunder dachten, was ich fuͤr eine Unart muͤßte be¬ gangen haben. Da ich mich weder entschul¬ digen, noch von Ihr entfernen konnte, so war ich wirklich verlegen, und als sie einen Augenblick inne hielt, sagte ich, ohne etwas dabey zu denken: Nun, wozu der Laͤrm? heute roth, morgen todt! — Auf diese Worte schien die Frau zu verstummen. Sie sah mich an und entfernte sich von mir, sobald es nur einigermaßen moͤglich war. Ich dachte nicht weiter an meine Worte. Nur einige Zeit hernach fielen sie mir auf, als der Knabe, anstatt sich nochmals sehen zu lassen, krank ward und zwar sehr gefaͤhrlich. Ob er gestorben ist, weiß ich nicht zu sagen. Dergleichen Vordeutungen durch ein un¬ zeitig, ja unschicklich ausgesprochnes Wort standen bey den Alten schon in Ansehen, und es bleibt hoͤchst merkwuͤrdig, daß die Formen des Glaubens und Aberglaubens bey allen Voͤlkern und zu allen Zeiten immer die¬ selben geblieben sind. Nun fehlte es von dem ersten Tage der Besitznehmung unserer Stadt, zumal Kin¬ dern und jungen Leuten, nicht an immer¬ waͤhrender Zerstreuung. Theater und Baͤlle, Paraden und Durchmaͤrsche zogen unsere Auf¬ merksamkeit hin und her. Die letztern be¬ sonders nahmen immer zu, und das Solda¬ tenleben schien uns ganz lustig und ver¬ gnuͤglich. Der Aufenthalt des Koͤnigs-Lieutenants in unserm Hause verschaffte uns den Vortheil, alle bedeutende Personen der franzoͤsischen Ar¬ mee nach und nach zu sehen, und besonders die Ersten, deren Name schon durch den Ruf zu uns gekommen war, in der Naͤhe zu be¬ trachten. So sahen wir von Treppen und Podesten, gleichsam wie von Galerieen, sehr bequem die Generalitaͤt bey uns voruͤbergehn. Vor allen erinnere ich mich des Prinzen Sou¬ bise als eines schoͤnen leutseligen Herrn; am deutlichsten aber des Marschalls von Broglio als eines juͤngern, nicht großen aber wohlgebauten, lebhaften, geistreich um sich blickenden, behenden Mannes. Er kam mehrmals zum Koͤnigs-Lieutenant, und man merkte wohl, daß von wichtigen Dingen die Rede war. Wir hatten uns im ersten Vierteljahr der Einquartierung kaum in diesen neuen Zustand gefunden, als schon die Nachricht sich dunkel verbreitete: die Alliirten seyen im Anmarsch, und Herzog Ferdi¬ nand von Braunschweig komme, die Fran¬ zosen vom Main zu vertreiben. Man hatte von diesen, die sich keines besondern Kriegs¬ gluͤckes ruͤhmen konnten, nicht die groͤßte Vorstellung, und seit der Schlacht von Ros¬ bach glaubte man sie verachten zu duͤrfen; auf den Herzog Ferdinand setzte man das groͤßte Vertrauen, und alle preußisch Ge¬ sinnten erwarteten mit Sehnsucht ihre Be¬ freyung von der bisherigen Last. Mein Va¬ ter war etwas heiterer, meine Mutter in Sorgen. Sie war klug genug einzuse¬ hen, daß ein gegenwaͤrtiges geringes Uebel leicht mit einem großen Ungemach vertauscht werden koͤnne: denn es zeigte sich nur allzu deutlich, daß man dem Herzog nicht entge¬ gen gehen, sondern einen Angriff in der Naͤhe der Stadt abwarten werde. Eine Niederlage der Franzosen, eine Flucht, eine Vertheidigung der Stadt, waͤre es auch nur um den Ruͤckzug zu decken und um die Bruͤcke zu behalten, ein Bombardement, eine Pluͤnderung, alles stellte sich der erregten Einbildungskraft dar, und machte beyden Parteyen Sorge. Meine Mutter, welche alles, nur nicht die Sorge ertragen konnte, ließ durch den Dolmetscher ihre Furcht bey dem Grafen anbringen; worauf sie die in solchen Faͤllen gebraͤuchliche Antwort erhielt: sie solle ganz ruhig seyn, es sey nichts zu befuͤrchten, sich uͤbrigens still halten und mit Niemand von der Sache sprechen. Mehrere Truppen zogen durch die Stadt; man erfuhr, daß sie bey Bergen Halt machten. Das Kommen und Gehen, das Reiten und Laufen vermehrte sich immer, und unser Haus war Tag und Nacht in Aufruhr. In dieser Zeit habe ich den Marschall Bro¬ glio oͤfter gesehen, immer heiter, ein wie das andre Mal an Gebaͤrden und Betragen voͤl¬ lig gleich, und es hat mich auch nachher gefreut, den Mann, dessen Gestalt einen so guten und dauerhaften Eindruck gemacht hatte, in der Geschichte ruͤhmlich erwaͤhnt zu finden. So kam denn endlich, nach einer unruhi¬ gen Charwoche, 1759 der Charfreytag heran. Eine große Stille verkuͤndigte den nahen Sturm. Uns Kindern war verboten aus dem Hause zu gehen; der Vater hatte keine Ruhe und ging aus. Die Schlacht begann; ich stieg auf den obersten Boden, wo ich zwar die Gegend zu sehen verhindert war, aber den Donner der Canonen und das Mas¬ senfeuer des kleinen Gewehrs recht gut ver¬ nehmen konnte. Nach einigen Stunden sa¬ hen wir die ersten Zeichen der Schlacht an einer Reihe Wagen, auf welchen Verwundete in mancherley traurigen Verstuͤmmelungen und Gebaͤrden sachte bey uns vorbeygefahren wur¬ den, um in das zum Lazareth umgewandelte Liebfrauen-Kloster gebracht zu werden. So¬ gleich regte sich die Barmherzigkeit der Buͤr¬ ger. Bier, Wein, Brodt, Geld ward den¬ jenigen hingereicht, die noch etwas empfan¬ gen konnten. Als man aber einige Zeit dar¬ auf blessirte und gefangne Deutsche unter diesem Zug gewahr wurde, fand das Mit¬ leid keine Graͤnze, und es schien als wollte Jeder sich von allem entbloͤßen, was er nur Bewegliches besaß, um seinen bedraͤngten Landsleuten beyzustehen. Diese Gefangenen waren jedoch Anzei¬ chen einer fuͤr die Alliirten ungluͤcklichen Schlacht. Mein Vater, in seiner Parteylich¬ keit ganz sicher, daß diese gewinnen wuͤrden, hatte die leidenschaftliche Verwegenheit den gehofften Siegern entgegen zu gehen, ohne zu bedenken, daß die geschlagene Partey erst uͤber ihn wegfliehen muͤßte. Erst begab er sich in seinen Garten, vor dem Friedberger Thore, wo er alles einsam und ruhig fand; dann wagte er sich auf die Bornheimer Haide, wo er aber bald verschiedene zer¬ streute Nachzuͤgler und Troßknechte ansichtig ward, die sich den Spaß machten nach den Graͤnzsteinen zu schießen, so daß dem neu¬ gierigen Wandrer das abprallende Bley um den Kopf sauste. Er hielt es deshalb doch fuͤr gerathner zuruͤckzugehen, und erfuhr, bey einiger Nachfrage, was ihm schon der Schall des Feurens haͤtte klar machen sollen, daß alles fuͤr die Franzosen gut stehe und an kein Weichen zu denken sey. Nach Hause gekommen, voll Unmuth, gerieth er beym Erblicken der verwundeten und gefangenen Landsleute ganz aus der gewoͤhnlichen Fassung. Auch er ließ den Vorbeyziehenden mancherley Spende reichen; aber nur die Deutschen soll¬ ten sie erhalten, welches nicht immer moͤglich war, weil das Schicksal Freunde und Feinde zusammen aufgepackt hatte. Die Mutter und wir Kinder, die wir schon fruͤher auf des Grafen Wort gebaut und deshalb einen ziemlich beruhigten Tag hingebracht hatten, waren hoͤchlich erfreut, und die Mutter doppelt getroͤstet, da sie des Morgens, als sie das Orakel ihres Schatz¬ kaͤstleins durch einen Nadelstich befragt, eine fuͤr die Gegenwart sowohl als fuͤr die Zukunft sehr troͤstliche Antwort erhalten hatte. Wir wuͤnschten unserm Vater gleichen Glauben und gleiche Gesinnung, wir schmeichelten ihm was wir konnten, wir baten ihn etwas Speise zu sich zu nehmen, die er den ganzen I. 15 Tag entbehrt hatte; er verweigerte unsre Liebkosungen und jeden Genuß, und begab sich auf sein Zimmer. Unsre Freude ward indessen nicht gestoͤrt; die Sache war ent¬ schieden; der Koͤnigs-Lieutenant, der diesen Tag gegen seine Gewohnheit zu Pferde gewe¬ sen, kehrte endlich zuruͤck, seine Gegenwart zu Hause war noͤthiger als je. Wir spran¬ gen ihm entgegen, kuͤßten seine Haͤnde und bezeigten ihm unsre Freude. Es schien ihm sehr zu gefallen. „Wohl! sagte er freundli¬ cher als sonst, ich bin auch um euertwillen vergnuͤgt, liebe Kinder!‘ Er befahl sogleich uns Zuckerwerck, suͤßen Wein, uͤberhaupt das Beste zu reichen, und ging auf sein Zimmer, schon von einer großen Masse Dringender, Fordernder und Bittender umgeben. Wir hielten nun eine koͤstliche Collation, bedauerten den guten Vater, der nicht Theil daran nehmen mochte, und drangen in die Mutter, ihn herbey zu rufen; sie aber kluͤger als wir wußte wohl, wie unerfreulich ihm solche Gaben seyn wuͤrden. Indessen hatte sie etwas Abendbrodt zurecht gemacht und haͤtte ihm gern eine Portion auf das Zim¬ mer geschickt; aber eine solche Unordnung litt er nie, auch nicht in den aͤußersten Faͤl¬ len; und nachdem man die suͤßen Gaben bey Seite geschafft, suchte man ihn zu bere¬ den, herab in das gewoͤhnliche Speisezimmer zu kommen. Endlich ließ er sich bewegen, ungern, und wir ahndeten nicht, welches Unheil wir ihm und uns bereiteten. Die Treppe lief frey durchs ganze Haus an allen Vorsaͤlen vorbey. Der Vater mußte, indem er herabstieg, unmittelbar an des Grafen Zimmer voruͤbergehn. Sein Vorsaal stand so voller Leute, daß der Graf sich entschloß, um mehrers auf Einmal abzuthun, herauszu¬ treten; und dieß geschah leider in dem Augen¬ blick als der Vater herabkam. Der Graf ging ihm heiter entgegen, begruͤßte ihn und sagte: „Ihr werdet uns und Euch Gluͤck wuͤn¬ 15* schen, daß diese gefaͤhrliche Sache so gluͤcklich abgelaufen ist.“ — Keinesweges! versetzte mein Vater, mit Ingrimm; ich wollte sie haͤtten Euch zum Teufel gejagt, und wenn ich haͤtte mitfahren sollen. — Der Graf hielt einen Augenblick inne, dann aber fuhr er mit Wuth auf: „Dieses sollt Ihr buͤßen! rief er: Ihr sollt nicht umsonst der gerechten Sache und mir eine solche Beleidigung zuge¬ fuͤgt haben!“ Der Vater war indeß gelassen herunter¬ gestiegen, setzte sich zu uns, schien heitrer als bisher, und fing an zu essen. Wir freuten uns daruͤber, und wußten nicht, auf welche bedenkliche Weise er sich den Stein vom Her¬ zen gewaͤlzt hatte. Kurz darauf wurde die Mutter herausgerufen, und wir hatten große Lust, dem Vater auszuplaudern, was uns der Graf fuͤr Suͤßigkeiten verehrt habe. Die Mutter kam nicht zuruͤck. Endlich trat der Dolmetscher herein. Auf seinen Wink schickte man uns zu Bette; es war schon spaͤt und wir gehorchten gern. Nach einer ruhig durch¬ schlafenen Nacht erfuhren wir die gewaltsame Bewegung, die gestern Abend das Haus er¬ schuͤttert hatte. Der Koͤnigs-Lieutenant hatte sogleich befohlen, den Vater auf die Wache zu fuͤhren. Die Subalternen wußten wohl, daß ihm niemals zu widersprechen war; doch hatten sie sich manchmal Dank verdient, wenn sie mit der Ausfuͤhrung zauderten. Diese Gesinnung wußte der Gevatter Dolmetsch, den die Geistesgegenwart niemals verließ, aufs lebhafteste bey ihnen rege zu machen. Der Tumult war ohnehin so groß, daß eine Zoͤgerung sich von selbst versteckte und ent¬ schuldigte. Er hatte meine Mutter heraus¬ gerufen, und ihr den Adjutanten gleichsam in die Haͤnde gegeben, daß sie durch Bitten und Vorstellungen nur einigen Aufschub erlan¬ gen moͤchte. Er selbst eilte schnell hinauf zum Grafen, der sich bey der großen Beherr¬ schung seiner selbst sogleich ins innre Zimmer zuruͤckgezogen hatte, und das dringendste Geschaͤft lieber einen Augenblick stocken ließ, als daß er den einmal in ihm erregten boͤsen Muth an einem Unschuldigen gekuͤhlt, und eine seiner Wuͤrde nachtheilige Entscheidung gegeben haͤtte. Die Anrede des Dolmetschers an den Grafen, die Fuͤhrung des ganzen Gespraͤchs hat uns der dicke Gevatter, der sich auf den gluͤcklichen Erfolg nicht wenig zu Gute that, oft genug wiederholt, so daß ich sie aus dem Gedaͤchtniß wohl noch aufzeichnen kann. Der Dolmetsch hatte gewagt das Kabi¬ net zu eroͤffnen und hineinzutreten, eine Hand¬ lung die hoͤchst verpoͤnt war. „Was wollt ihr? rief ihm der Graf zornig entgegen: Hinaus mit euch! Hier hat niemand das Recht hereinzutreten als Saint Jean.“ So haltet mich einen Augenblick fuͤr Saint Jean, versetzte der Dolmetsch. „Dazu gehoͤrt eine gute Einbildungskraft. Seiner zwey machen noch nicht einen wie ihr seyd. Entfernt euch!“ Herr Graf, Ihr habt eine große Gabe vom Himmel empfangen und an die appel¬ lire ich. „Ihr denkt mir zu schmeicheln! Glaubt nicht, daß es euch gelingen werde.“ Ihr habt die große Gabe, Herr Graf, auch in Augenblicken der Leidenschaft, in Au¬ genblicken des Zorns, die Gesinnungen an¬ derer anzuhoͤren. „Wohl, wohl! Von Gesinnungen ist eben die Rede, die ich zu lange angehoͤrt habe. Ich weiß nur zu gut, daß man uns hier nicht liebt, daß uns diese Buͤrger scheel ansehn.“ Nicht alle! „Sehr viele! Was! diese Staͤdter, Reichs¬ staͤdter wollen sie seyn? Ihren Kaiser haben sie waͤhlen und kroͤnen sehen, und wenn dieser ungerecht angegriffen seine Laͤnder zu verlieren und einem Usurpator zu unterliegen Gefahr laͤuft, wenn er gluͤcklicherweise getreue Alliirte findet, die ihr Geld, ihr Blut zu seinem Vortheil verwenden; so wollen sie die geringe Last nicht tragen, die zu ihrem Theil sie trifft, daß der Reichsfeind gedemuͤthigt werde.“ Freylich kennt Ihr diese Gesinnungen schon lange, und habt sie als ein weiser Mann ge¬ duldet; auch ist es nur die geringere Zahl. Wenige, verblendet durch die glaͤnzenden Ei¬ genschaften des Feindes, den Ihr ja selbst als einen außerordentlichen Mann schaͤtzt, wenige nur‚ Ihr wißt es! „Ja wohl! zu lange habe ich es gewußt und geduldet, sonst haͤtte dieser sich nicht un¬ terstanden, mir in den bedeutendsten Au¬ genblicken solche Beleidigungen ins Gesicht zu sagen. Es moͤgen seyn so viel ihrer wollen, sie sollen in diesem ihren kuͤhnen Repraͤsentan¬ ten gestraft werden, und sich merken was sie zu erwarten haben.“ Nur Aufschub, Herr Graf! „In gewissen Dingen kann man nicht zu geschwind verfahren.“ Nur einen kurzen Aufschub! „Nachbar! ihr denkt mich zu einem fal¬ schen Schritt zu verleiten; es soll euch nicht gelingen.“ Weder verleiten will ich Euch zu einem falschen Schritt, noch von einem falschen zu¬ ruͤckhalten; Euer Entschluß ist gerecht: er ge¬ ziemt dem Franzosen, dem Koͤnigs-Lieutenant; aber bedenkt, daß Ihr auch Graf Thorane seyd. „Der hat hier nicht mitzusprechen.“ Man sollte den braven Mann doch auch hoͤren. „Nun was wuͤrde er denn sagen?“ Herr Koͤnigs-Lieutenant! wuͤrde er sagen: Ihr habt so lange mit so viel dunklen, un¬ willigen, ungeschickten Menschen Geduld ge¬ habt, wenn sie es Euch nur nicht gar zu arg machten. Dieser hat's freylich sehr arg ge¬ macht; aber gewinnt es uͤber Euch, Herr Koͤnigs-Lieutenant! und Jedermann wird Euch deswegen loben und preisen. „Ihr wißt, daß ich eure Possen manch¬ mal leiden kann; aber misbraucht nicht mein Wohlwollen. Diese Menschen sind sie denn ganz verblendet? Haͤtten wir die Schlacht verloren, in diesem Augenblick, was wuͤrde ihr Schicksal seyn? Wir schlagen uns bis vor die Thore, wir sperren die Stadt, wir halten, wir vertheidigen uns, um unsere Reti¬ rade uͤber die Bruͤcke zu decken. Glaubt ihr, daß der Feind die Haͤnde in den Schoß ge¬ legt haͤtte? Er wirft Granaten und was er bey der Hand hat, und sie zuͤnden wo sie koͤnnen. Dieser Hausbesitzer da, was will er? In diesen Zimmern hier platzte jetzt wohl eine Feuerkugel und eine andere folgte hinterdrein; in diesen Zimmern, deren vermaledeyte Pe¬ king-Tapeten ich geschont, mich genirt habe, meine Landcharten nicht aufzunageln! Den ganzen Tag haͤtten sie auf den Knieen liegen sollen.“ Wie viele haben das gethan! „Sie haͤtten sollen den Segen fuͤr uns erstehen; den Generalen und Offizieren mit Ehren- und Freudenzeichen, den ermatteten Gemeinen mit Erquickung entgegen gehen. An¬ statt dessen verdirbt mir der Gift dieses Par¬ teygeistes die schoͤnsten, gluͤcklichsten, durch so viel Sorgen und Anstrengungen erworbenen Augenblicke meines Lebens!“ Es ist ein Parteygeist; aber ihr werdet ihn durch die Bestrafung dieses Mannes nur vermehren. Die mit ihm Gleichgesinnten wer¬ den Euch als einen Tyrannen, als einen Bar¬ baren ausschreyen; sie werden ihn als einen Maͤrtyrer betrachten, der fuͤr die gute Sache gelitten hat; und selbst die anders Gesinnten, die jetzt seine Gegner sind, werden in ihm nur den Mitbuͤrger sehen, werden ihn be¬ dauern, und indem sie Euch Recht geben, den¬ noch finden, daß Ihr zu hart verfahren seyd. „Ich habe Euch schon zu lange angehoͤrt; macht, daß Ihr fortkommt!“ So hoͤrt nur noch dieses! Bedenkt, daß es das Unerhoͤrteste ist, was diesem Manne, was dieser Familie begegnen koͤnnte. Ihr hattet nicht Ursache von dem guten Willen des Hausherrn erbaut zu seyn; aber die Haus¬ frau ist allen euren Wuͤnschen zuvorgekom¬ men, und die Kinder haben Euch als ihren Oheim betrachtet. Mit diesem einzigen Schlag werdet Ihr den Frieden und das Gluͤck dieser Wohnung auf ewig zerstoͤren. Ja ich kann wohl sagen, eine Bombe die ins Haus ge¬ fallen waͤre, wuͤrde nicht groͤßere Verwuͤ¬ stungen darin angerichtet haben. Ich habe Euch so oft uͤber Eure Fassung bewundert, Herr Graf; gebt mir dießmal Gelegenheit, Euch anzubeten. Ein Krieger ist ehrwuͤrdig, der sich selbst in Feindes Haus als einen Gast¬ freund betrachtet; hier ist kein Feind, nur ein Verirrter. Gewinnt es uͤber Euch, und es wird Euch zu ewigem Ruhme gereichen! „Das muͤßte wunderlich zugehen, versetzte der Graf, mit einem Laͤcheln.“ Nur ganz natuͤrlich, erwiederte der Dol¬ metscher. Ich habe die Frau, die Kinder nicht zu Euren Fuͤßen geschickt: denn ich weiß, daß Euch solche Scenen verdrießlich sind; aber ich will Euch die Frau, die Kin¬ der schildern, wie sie Euch danken; ich will sie Euch schildern, wie sie sich zeitlebens von dem Tage der Schlacht bey Bergen, und von Eurer Großmuth an diesem Tage unter¬ halten, wie sie es Kindern und Kindeskin¬ dern erzaͤhlen, und auch Fremden ihr Inter¬ esse fuͤr Euch einzufloͤßen wissen: eine Hand¬ lung dieser Art kann nicht untergehen! „Ihr trefft meine schwache Seite nicht, Dolmetscher. An den Nachruhm pfleg' ich nicht zu denken, der ist fuͤr andere, nicht fuͤr mich; aber im Augenblick recht zu thun, meine Pflicht nicht zu versaͤumen, meiner Ehre nichts zu vergeben, das ist meine Sorge. Wir haben schon zu viel Worte ge¬ macht; jetzt geht hin — und laßt Euch von den Undankbaren danken, die ich verschone!“ Der Dolmetsch, durch diesen unerwar¬ tet gluͤcklichen Ausgang uͤberrascht und bewegt, konnte sich der Thraͤnen nicht enthalten, und wollte dem Grafen die Haͤnde kuͤssen; der Graf wies ihn ab und sagte streng und ernst: Ihr wißt, daß ich dergleichen nicht leiden kann! Und mit diesen Worten trat er auf den Vorsaal, um die andringenden Ge¬ schaͤfte zu besorgen, und das Begehren so vieler wartenden Menschen zu vernehmen. So ward die Sache beygelegt, und wir feyerten den andern Morgen, bey den Ueber¬ bleibseln der gestrigen Zuckergeschenke, das Voruͤbergehen eines Uebels, dessen Androhen wir gluͤcklich verschlafen hatten. Ob der Dolmetsch wirklich so weise ge¬ sprochen, oder ob er sich die Scene nur so ausgemalt, wie man es wohl nach einer gu¬ ten und gluͤcklichen Handlung zu thun pflegt, will ich nicht entscheiden; wenigstens hat er bey Wiedererzaͤhlung derselben niemals variirt. Genug, dieser Tag duͤnkte ihm, so wie der sorgenvollste, so auch der glorreichste seines Lebens. Wie sehr uͤbrigens der Graf alles falsche Ceremoniel abgelehnt, keinen Titel, der ihm nicht gebuͤhrte, jemals angenommen, und wie er in seinen heitern Stunden immer geistreich gewesen, davon soll eine kleine Begebenheit ein Zeugniß ablegen. Ein vornehmer Mann, der aber auch unter die abstrusen einsamen Frankfurter ge¬ hoͤrte, glaubte sich uͤber seine Einquartierung beklagen zu muͤssen. Er kam persoͤnlich, und der Dolmetsch bot ihm seine Dienste an; Jener aber meinte derselben nicht zu beduͤr¬ fen. Er trat vor den Grafen mit einer an¬ staͤndigen Verbeugung und sagte: Excellenz! Der Graf gab ihm die Verbeugung zuruͤck, so wie die Excellenz. Betroffen von dieser Ehrenbezeigung, nicht anders glaubend als der Titel sey zu gering, buͤckte er sich tiefer, und sagte: Monseigneur! — „Mein Herr, sagte der Graf ganz ernsthaft: wir wollen nicht weiter gehen, denn sonst koͤnnten wir es leicht bis zur Majestaͤt bringen.“ — Der andere war aͤußerst verlegen und wußte kein Wort zu sagen. Der Dolmetsch, in einiger Entfernung stehend und von der ganzen Sache unterrichtet, war boshaft genug, sich nicht zu ruͤhren; der Graf aber, mit großer Hei¬ terkeit, fuhr fort: „Zum Beyspiel, mein Herr, wie heißen Sie?“ — Spangenberg, versetzte jener — „und ich, sagte der Graf, heiße Thorane. Spangenberg, was wollt Ihr von Thorane? und nun setzen wir uns, die Sache soll gleich abgethan seyn.“ Und so wurde die Sache auch gleich zu großer Zufriedenheit desjenigen abgethan, den ich hier Spangenberg genannt habe, und die Geschichte noch an selbigem Abend von dem schadenfrohen Dolmetsch in unserm Familien¬ I. 16 kreise nicht nur erzaͤhlt, sondern mit allen Umstaͤnden und Gebaͤrden aufgefuͤhrt. Nach solchen Verwirrungen, Unruhen und Bedraͤngnissen fand sich gar bald die vorige Sicherheit und der Leichtsinn wieder, mit welchem besonders die Jugend von Tag zu Tage lebt, wenn es nur einigermaßen ange¬ hen will. Meine Leidenschaft zu dem fran¬ zoͤsischen Theater wuchs mit jeder Vorstel¬ lung; ich versaͤumte keinen Abend, ob ich gleich jedesmal, wenn ich nach dem Schau¬ spiel mich zur speisenden Familie an den Tisch setzte und mich gar oft nur mit einigen Resten begnuͤgte, die steten Vorwuͤrfe des Vaters zu dulden hatte: das Theater sey zu gar nichts nuͤtze, und koͤnne zu gar nichts fuͤhren. Ich rief in solchem Falle gewoͤhnlich alle und jede Argumente hervor, welche den Vertheidigern des Schauspiels zur Hand sind, wenn sie in eine gleiche Noth wie die mei¬ nige gerathen. Das Laster im Gluͤck, die Tugend im Ungluͤck wurden zuletzt durch die poetische Gerechtigkeit wieder ins Gleichge¬ wicht gebracht. Die schoͤnen Beyspiele von bestraften Vergehungen, Miß Sara Samp¬ son und der Kaufmann von London, wurden sehr lebhaft von mir hervorgehoben; aber ich zog dagegen oͤfters den Kuͤrzern, wenn die Schelmstreiche Scapins und dergleichen auf dem Zettel standen, und ich mir das Beha¬ gen mußte vorwerfen lassen, das man uͤber die Betruͤgereyen raͤnkevoller Knechte, und uͤber den guten Erfolg der Thorheiten aus¬ gelassener Juͤnglinge im Publicum empfinde. Beyde Parteyen uͤberzeugten einander nicht; doch wurde mein Vater sehr bald mit der Buͤhne ausgesoͤhnt, als er sah, daß ich mit unglaublicher Schnelligkeit in der franzoͤsischen Sprache zunahm. Die Menschen sind nun einmal so, daß Jeder was er thun sieht, lieber selbst vor¬ naͤhme, er habe nun Geschick dazu oder 16 * nicht. Ich hatte nun bald den ganzen Cur¬ sus der franzoͤsischen Buͤhne durchgemacht; mehrere Stuͤcke kamen schon zum zweyten und dritten Mal; von der wuͤrdigsten Tra¬ goͤdie bis zum leichtfertigsten Nachspiel war mir alles vor Augen und Geist vorbeyge¬ gangen; und wie ich als Kind den Terenz nachzuahmen wagte: so verfehlte ich nunmehr nicht als Knabe, bey einem viel lebhafter dringenden Anlaß, auch die franzoͤsischen For¬ men nach meinem Vermoͤgen und Unvermoͤ¬ gen zu wiederholen. Es wurden damals einige halb mythologische, halb allegorische Stuͤcke im Geschmack des Piron gegeben; sie hatten etwas von der Parodie und gefie¬ len sehr. Diese Vorstellungen zogen mich besonders an: die goldnen Fluͤgelchen eines heitern Merkur, der Donnerkeil des verkapp¬ ten Jupiter, eine galante Danae, oder wie eine von Goͤttern besuchte Schoͤne heißen mochte, wenn es nicht gar eine Schaͤferinn oder Jaͤgerinn war, zu der sie sich herunter¬ ließen. Und da mir dergleichen Elemente aus Ovids Verwandlungen, und Pomey's Pantheon Mythicum sehr haͤufig im Kopfe herum summten, so hatte ich bald ein solches Stuͤckchen in meiner Phantasie zusammen¬ gestellt, wovon ich nur so viel zu sagen weiß, daß die Scene laͤndlich war, daß es aber doch darin weder an Koͤnigstoͤchtern, noch Prinzen, noch Goͤttern fehlte. Der Merkur besonders war mir dabey so lebhaft im Sinne, daß ich noch schwoͤren wollte, ich haͤtte ihn mit Augen gesehen. Eine von mir selbst sehr reinlich gefertigte Abschrift legte ich meinem Freunde Dero¬ nes vor, welcher sie mit ganz besonderem Anstand und einer wahrhaften Goͤnnermiene aufnahm, das Manuscript fluͤchtig durchsah, mir einige Sprachfehler nachwies, einige Re¬ den zu lang fand, und zuletzt versprach das Werk bey gehoͤriger Muße naͤher zu betrach¬ ten und zu beurtheilen. Auf meine beschei¬ dene Frage, ob das Stuͤck wohl aufgefuͤhrt werden koͤnne, versicherte er mir, daß es gar nicht unmoͤglich sey. Sehr vieles komme beym Theater auf Gunst an, und er be¬ schuͤtze mich von ganzem Herzen; nur muͤsse man die Sache geheim halten: denn er habe selbst einmal mit einem von ihm verfertigten Stuͤck die Direction uͤberrascht, und es waͤre gewiß aufgefuͤhrt worden, wenn man nicht zu fruͤh entdeckt haͤtte, daß er der Verfasser sey. Ich versprach ihm alles moͤgliche Still¬ schweigen, und sah schon im Geist den Titel meiner Piece an den Ecken der Straßen und Plaͤtze mit großen Buchstaben angeschlagen. So leichtsinnig uͤbrigens der Freund war, so schien ihm doch die Gelegenheit den Mei¬ ster zu spielen allzu erwuͤnscht. Er las das Stuͤck mit Aufmerksamkeit durch, und indem er sich mit mir hinsetzte, um einige Kleinig¬ keiten zu aͤndern, kehrte er im Laufe der Unterhaltung das ganze Stuͤck um und um, so daß auch kein Stein auf dem andern blieb. Er strich aus, setzte zu, nahm eine Person weg, substituirte eine andere, genug er verfuhr mit der tollsten Willkuͤhr von der Welt, daß mir die Haare zu Berge standen. Mein Vorurtheil, daß er es doch verstehen muͤsse, ließ ihn gewaͤhren: denn er hatte mir schon oͤfter von den drey Einheiten des Ari¬ stoteles, von der Regelmaͤßigkeit der franzoͤsi¬ schen Buͤhne, von der Wahrscheinlichkeit, von der Harmonie der Verse und allem was dar¬ an haͤngt, so viel vorerzaͤhlt, daß ich ihn nicht nur fuͤr unterrichtet, sondern auch fuͤr begruͤndet halten mußte. Er schalt auf die Englaͤnder und verachtete die Deutschen; ge¬ nug, er trug mir die ganze dramaturgische Litaney vor, die ich in meinem Leben so oft mußte wiederholen hoͤren. Ich nahm, wie der Knabe in der Fabel, meine zerfetzte Geburt mit nach Hause, und suchte sie wieder herzustellen; aber vergebens. Weil ich sie jedoch nicht ganz aufgeben wollte, so ließ ich aus meinem ersten Manuscript, nach wenigen Veraͤnderungen, eine saubere Abschrift durch unsern Schreibenden anferti¬ gen, die ich denn meinem Vater uͤberreichte und dadurch soviel erlangte, daß er mich, nach vollendetem Schauspiel, meine Abendkost eine Zeitlang ruhig verzehren ließ. Dieser mislungene Versuch hatte mich nachdenklich gemacht, und ich wollte nunmehr diese Theorieen, diese Gesetze, auf die sich Jedermann berief, und die mir besonders durch die Unart meines anmaaßlichen Mei¬ sters verdaͤchtig geworden waren, unmittelbar an den Quellen kennen lernen, welches mir zwar nicht schwer doch muͤhsam wurde. Ich las zunaͤchst Corneilie's Abhandlung uͤber die drey Einheiten, und ersah wohl daraus, wie man es haben wollte; warum man es aber so verlangte, ward mir keineswegs deutlich, und was das schlimmste war, ich gerieth sogleich in noch groͤßere Verwirrung, indem ich mich mit den Haͤndeln uͤber den Cid be¬ kannt machte, und die Vorreden las, in welchen Corneille und Racine sich gegen Kri¬ tiker und Publicum zu vertheidigen genoͤthigt sind. Hier sah ich wenigstens auf das deut¬ lichste, daß kein Mensch wußte was er wollte; daß ein Stuͤck wie Cid, das die herrlichste Wirkung hervorgebracht, auf Befehl eines allmaͤchtigen Cardinal's absolut sollte fuͤr schlecht erklaͤrt werden; daß Racine, der Ab¬ gott der zu meiner Zeit lebenden Franzosen, der nun auch mein Abgott geworden war (denn ich hatte ihn naͤher kennen lernen, als Schoͤff von Olenschlager durch uns Kinder den Britannicus auffuͤhren ließ, wor¬ in mir die Rolle des Nero zu Theil ward) daß Racine, sage ich, auch zu seiner Zeit weder mit Liebhabern noch Kunstrichtern fer¬ tig werden koͤnnen. Durch alles dieses ward ich verworrner als jemals, und nachdem ich mich lange mit diesem Hin- und Herreden, mit dieser theoretischen Salbaderey des vo¬ rigen Jahrhunderts, gequaͤlt hatte, schuͤttete ich das Kind mit dem Bade aus, und warf den ganzen Plunder desto entschiedener von mir, je mehr ich zu bemerken glaubte, daß die Autoren selbst, welche vortreffliche Sa¬ chen hervorbrachten, wenn sie daruͤber zu re¬ den anfingen, wenn sie den Grund ihres Handelns angaben, wenn sie sich vertheidigen, entschuldigen, beschoͤnigen wollten, doch auch nicht immer den rechten Fleck zu treffen wu߬ ten. Ich eilte daher wieder zu dem lebendig Vorhandenen, besuchte das Schauspiel weit eifriger, las gewissenhafter und ununterbroch¬ ner, so daß ich in dieser Zeit Racine und Moliere ganz, und von Corneille einen gro¬ ßen Theil durchzuarbeiten die Anhaltsamkeit hatte. Der Koͤnigs-Lieutenant wohnte noch im¬ mer in unserm Hause. Er hatte sein Be¬ tragen in nichts geaͤndert, besonders gegen uns; allein es war merklich, und der Gevat¬ ter Dolmetsch wußte es uns noch deutlicher zu machen, daß er sein Amt nicht mehr mit der Heiterkeit, nicht mehr mit dem Eifer verwaltete wie Anfangs, obgleich immer mit derselben Rechtschaffenheit und Treue. Sein Wesen und Betragen, das eher einen Spa¬ nier als einen Franzosen ankuͤndigte, seine Launen, die doch mitunter Einfluß auf ein Geschaͤft hatten, seine Unbiegsamkeit gegen die Umstaͤnde, seine Reizbarkeit gegen alles was seine Person oder Character beruͤhrte, dieses zusammen mochte ihn doch zuweilen mit seinen Vorgesetzten in Conflict bringen. Hiezu kam noch, daß er in einem Duell, welches sich im Schauspiel entsponnen hatte, verwundet wurde, und man dem Koͤnigs- Lieutenant uͤbel nahm, daß er selbst eine ver¬ poͤnte Handlung als oberster Polizeymeister begangen. Alles dieses mochte, wie gesagt, dazu beytragen, daß er in sich gezogner lebte und hier und da vielleicht weniger en¬ ergisch verfuhr. Indessen war nun schon eine ansehnliche Partie der bestellten Gemaͤlde abgeliefert. Graf Thorane brachte seine Freystunden mit der Betrachtung derselben zu, indem er sie in gedachtem Gibelzimmer, Bane fuͤr Bane, breiter und schmaͤler, neben einander, und weil es an Platz mangelte, sogar uͤber einan¬ der nageln, wiederabnehmen und aufrollen ließ. Immer wurden die Arbeiten aufs neue untersucht, man erfreute sich wiederholt an den Stellen, die man fuͤr die gelungensten hielt; aber es fehlte auch nicht an Wuͤnschen, dieses oder jenes anders geleistet zu sehen. Hieraus entsprang eine neue und ganz wundersame Operation. Da naͤmlich der eine Maler Figuren, der andere die Mittel¬ gruͤnde und Fernen, der dritte die Baͤume, der vierte die Blumen am besten arbeitete; so kam der Graf auf den Gedanken, ob man nicht diese Talente in den Bildern ver¬ einigen, und auf diesem Wege vollkommene Werke hervorbringen koͤnne. Der Anfang ward sogleich damit gemacht, daß man z. B. in eine fertige Landschaft noch schoͤne Herden hineinmalen ließ. Weil nun aber nicht immer der gehoͤrige Platz dazu da war, es auch dem Thiermaler auf ein paar Schafe mehr oder weniger nicht ankam; so war endlich die weiteste Landschaft zu enge. Nun hatte der Menschenmaler auch noch die Hirten und einige Wandrer hineinzubrin¬ gen; diese nahmen sich wiederum einander gleichsam die Luft, und man war verwun¬ dert, wie sie nicht saͤmtlich in der freye¬ sten Gegend erstickten. Man konnte niemals voraussehen, was aus der Sache werden wuͤrde, und wenn sie fertig war, befrie¬ digte sie nicht. Die Maler wurden verdrie߬ lich. Bey den ersten Bestellungen hatten sie gewonnen, bey diesen Nacharbeiten verloren sie, obgleich der Graf auch diese sehr gro߬ muͤthig bezahlte. Und da die von mehrern auf Einem Bilde durch einander gearbeiteten Theile, bey aller Muͤhe, keinen guten Effect hervorbrachten, so glaubte zuletzt ein Jeder, daß seine Arbeit durch die Arbeiten der an¬ dern verdorben und vernichtet worden; daher wenig fehlte, die Kuͤnstler haͤtten sich hieruͤ¬ ber entzweyt und waͤren in unversoͤhnliche Feindschaft gerathen. Dergleichen Veraͤnde¬ rungen oder vielmehr Zuthaten wurden in gedachtem Atelier, wo ich mit den Kuͤnstlern ganz allein blieb, ausgefertiget; und es un¬ terhielt mich, aus den Studien, besonders der Thiere, dieses und jenes Einzelne, diese oder jene Gruppe auszusuchen, und sie fuͤr die Naͤhe oder die Ferne in Vorschlag zu bringen; worin man mir denn manchmal aus Ueberzeugung oder Geneigtheit zu will¬ fahren pflegte. Die Theilnehmenden an diesem Geschaͤft wurden also hoͤchst muthlos, besonders See¬ kaz, ein sehr hypochondrischer und in sich gezogner Mann, der zwar unter Freunden durch eine unvergleichlich heitre Laune sich als den besten Gesellschafter bewies, aber wenn er arbeitete, allein, in sich gekehrt und voͤllig frey wirken wollte. Dieser sollte nun, wenn er schwere Aufgaben geloͤst, sie mit dem groͤßten Fleiß und der waͤrmsten Liebe, deren er immer faͤhig war, vollendet hatte, zu wiederholten Malen von Darmstadt nach Frankfurt reisen, um entweder an seinen ei¬ genen Bildern etwas zu veraͤndern, oder fremde zu staffiren, oder gar unter seinem Beystand durch einen Dritten seine Bilder ins Buntschaͤckige arbeiten zu lassen. Sein Mismuth nahm zu, sein Widerstand ent¬ schied sich, und es brauchte großer Bemuͤhun¬ gen von unserer Seite, um diesen Gevat¬ ter — denn auch er war's geworden — nach des Grafen Wuͤnschen zu lenken. Ich erin¬ nere mich noch, daß, als schon die Kasten bereit standen, um die saͤmtlichen Bilder in der Ordnung einzupacken, in welcher sie an dem Ort ihrer Bestimmung der Tapezirer ohne weiteres aufheften konnte, daß, sage ich, nur eine kleine doch unumgaͤngliche Nacharbeit er¬ fordert wurde, Seekaz aber nicht zu bewe¬ gen war heruͤberzukommen. Er hatte freylich noch zu guter Letzt das beste gethan was er vermochte, indem er die vier Elemente in Kindern und Knaben, nach dem Leben, in Thuͤrstuͤcken dargestellt, und nicht allein auf die Figuren sondern auch auf die Beywerke den groͤßten Fleiß gewendet hatte. Diese waren abgeliefert, bezahlt, und er glaubte auf immer aus der Sache geschieden zu seyn; nun aber sollte er wieder heruͤber, um einige Bilder, deren Maße etwas zu klein genom¬ men worden, mit wenigen Pinselzuͤgen zu erweitern. Ein anderer, glaubte er, koͤnne das auch thun; er hatte sich schon zu neuer Arbeit eingerichtet; kurz er wollte nicht kom¬ men. Die Absendung war vor der Thuͤre, trocknen sollte es auch noch, jeder Verzug war mislich; der Graf, in Verzweiflung, wollte ihn militaͤrisch abholen lassen. Wir alle wuͤnschten die Bilder endlich fort zu se¬ hen, und fanden zuletzt keine Auskunft, als daß der Gevatter Dolmetsch sich in einen Wagen setzte und den Widerspaͤnstigen mit Frau und Kind heruͤberholte, der dann von dem Grafen freundlich empfangen, wohl gepflegt, und zuletzt reichlich beschenkt entlas¬ sen wurde. Nach den fortgeschafften Bildern zeigte sich ein großer Friede im Hause. Das Giebel¬ zimmer im Mansard wurde gereinigt und mir uͤbergeben, und mein Vater, wie er die Kasten fortschaffen sah, konnte sich des Wun¬ sches nicht erwehren, den Grafen hinterdrein zu schicken. Denn wie sehr die Neigung des Grafen auch mit der seinigen uͤbereinstimmte; wie sehr es den Vater freuen mußte, seinen I. 17 Grundsatz, fuͤr lebende Meister zu sorgen, durch einen reicheren so fruchtbar befolgt zu sehen; wie sehr es ihn schmeicheln konnte, daß seine Sammlung Anlaß gegeben, einer Anzahl braver Kuͤnstler in bedraͤngter Zeit einen so ansehnlichen Erwerb zu verschaffen: so fuͤhlte er doch eine solche Abneigung ge¬ gen den Fremden, der in sein Haus einge¬ drungen, daß ihm an dessen Handlungen nichts recht duͤnken konnte. Man solle Kuͤnst¬ ler beschaͤftigen, aber nicht zu Tapetenmalern erniedrigen; man solle mit dem was sie nach ihrer Ueberzeugung und Faͤhigkeit geleistet, wenn es einem auch nicht durchgaͤngig behage, zufrieden seyn und nicht immer daran mark¬ ten und maͤkeln: genug, es gab, ungeachtet des Grafen eigner liberalen Bemuͤhung, ein fuͤr allemal kein Verhaͤltniß. Mein Vater besuchte jenes Zimmer bloß, wenn sich der Graf bey Tafel befand, und ich erinnere mich nur ein einziges Mal, als Seekaz sich selbst uͤbertroffen hatte, und das Verian¬ gen diese Bilder zu sehen das ganze Haus herbeytrieb, daß mein Vater und der Graf zusammentreffend an diesen Kunstwerken ein gemeinsames Gefallen bezeigten, das sie an einander selbst nicht finden konnten. Kaum hatten also die Kisten und Ka¬ sten das Haus geraͤumt, als der fruͤher eingeleitete aber unterbrochne Betrieb, den Grafen zu entfernen, wieder angeknuͤpft wur¬ de. Man suchte durch Vorstellungen die Gerechtigkeit, die Billigkeit durch Bitten, durch Einfluß die Neigung zu gewinnen, und brachte es endlich dahin, daß die Quartier¬ herren den Beschluß faßten: es solle der Graf umlogirt, und unser Haus, in Betracht der seit einigen Jahren unausgesetzt Tag und Nacht getragnen Last, kuͤnftig mit Einquar¬ tierung verschont werden. Damit sich aber hierzu ein scheinbarer Vorwand finde, so solle man in eben den ersten Stock, den bisher der Koͤnigs-Lieutenant besetzt gehabt, Mieth¬ 17 * leute einnehmen und dadurch eine neue Be¬ quartierung gleichsam unmoͤglich machen. Der Graf, der nach der Trennung von seinen geliebten Gemaͤlden kein besonderes Interesse mehr am Hause fand, auch ohnehin bald abgerufen und versetzt zu werden hoffte, ließ es sich ohne Widerrede gefallen eine an¬ dere gute Wohnung zu beziehen, und schied von uns in Frieden und gutem Willen. Auch verließ er bald darauf die Stadt und erhielt stufenweise noch verschiedene Chargen, doch, wie man hoͤrte, nicht zu seiner Zufriedenheit. Er hatte indeß das Vergnuͤgen, jene so emsig von ihm besorgten Gemaͤlde in dem Schlosse seines Bruders gluͤcklich angebracht zu sehen; schrieb einige Male, sendete Maße und ließ von den mehr genannten Kuͤnstlern verschie¬ denes nacharbeiten. Endlich vernahmen wir nichts weiter von ihm, außer daß man uns nach mehreren Jahren versichern wollte, er sey in Westindien, auf einer der franzoͤsischen Colonieen, als Gouverneur gestorben. Viertes Buch . So viel Unbequemlichkeit uns auch die franzoͤsische Einquartierung mochte verursacht haben, so waren wir sie doch zu gewohnt geworden, als daß wir sie nicht haͤtten ver¬ missen, daß uns Kindern das Haus nicht haͤtte todt scheinen sollen. Auch war es uns nicht bestimmt, wieder zur voͤlligen Fa¬ milieneinheit zu gelangen. Neue Miethleute waren schon besprochen, und nach einigem Kehren und Scheuern, Hobeln und Bohnen, Malen und Anstreichen, war das Haus voͤl¬ lig wieder hergestellt. Der Canzleydirector Moriz mit den Seinigen, sehr werthe Freunde meiner Aeltern, zogen ein. Dieser, kein geborner Frankfurter, aber ein tuͤchtiger Jurist und Geschaͤftsmann, besorgte die Rechtsangelegenheiten mehrerer kleinen Fuͤr¬ sten, Grafen und Herren. Ich habe ihn niemals anders als heiter und gefaͤllig und uͤber seinen Acten emsig gesehen. Frau und Kinder, sanft, still und wohlwollend, ver¬ mehrten zwar nicht die Geselligkeit in unserm Hause: denn sie blieben fuͤr sich; aber es war eine Stille, ein Friede zuruͤckgekehrt, den wir lange Zeit nicht genossen hatten. Ich bewohnte nun wieder mein Mansard-Zimmer, in welchem die Gespenster der vielen Gemaͤlde mir zuweilen vorschwebten, die ich denn durch Arbeiten und Studien zu verscheuchen suchte. Der Legationsrath Moriz , ein Bruder des Canzleydirectors, kam von jetzt an auch oͤfters in unser Haus. Er war schon mehr Weltmann, von einer ansehnlichen Gestalt und dabey von bequem gefaͤlligem Betragen. Auch er besorgte die Angelegenheiten verschiedener Standespersonen, und kam mit meinem Va¬ ter, bey Anlaß von Concursen und kaiserli¬ chen Commissionen, mehrmals in Beruͤhrung. Beyde hielten viel auf einander, und standen gemeiniglich auf der Seite der Creditoren, mußten aber zu ihrem Verdruß gewoͤhnlich erfahren, daß die Mehrheit der bey solcher Gelegenheit Abgeordneten fuͤr die Seite der Debitoren gewonnen zu werden pflegt. Der Legationsrath theilte seine Kenntnisse gern mit, war ein Freund der Mathematik, und weil diese in seinem gegenwaͤrtigen Lebensgange gar nicht vorkam, so machte er sich ein Vergnuͤgen daraus, mir in diesen Kenntnissen weiter zu helfen. Dadurch ward ich in den Stand gesetzt, meine architectonischen Risse genauer als bisher auszuarbeiten, und den Unterricht eines Zeichenmeisters, der uns jetzt auch taͤglich eine Stunde beschaͤftigte, besser zu nutzen. Dieser gute alte Mann war freylich nur ein Halbkuͤnstler. Wir mußten Striche machen und sie zusammensetzen, woraus denn Augen und Nasen, Lippen und Ohren, ja zuletzt ganze Gesichter und Koͤpfe entstehen sollten; allein es war dabey weder an natuͤrliche noch kuͤnstliche Form gedacht. Wir wurden eine Zeitlang mit diesem Qui pro Quo der menschlichen Gestalt gequaͤlt, und man glaubte uns zuletzt sehr weit gebracht zu haben, als wir die sogenannten Affecten von Le Bruͤn zur Nachzeichnung erhielten. Aber auch diese Zerrbilder foͤrderten uns nicht. Nun schwank¬ ten wir zu den Landschaften, zum Baumschlag und zu allen den Dingen, die im gewoͤhnli¬ chen Unterricht ohne Folge und ohne Methode geuͤbt werden. Zuletzt fielen wir auf die genaue Nachahmung und auf die Sauberkeit der Striche, ohne uns weiter um den Werth des Originals oder dessen Geschmack zu bekuͤmmern. In diesem Bestreben ging uns der Vater auf eine musterhafte Weise vor. Er hatte nie gezeichnet, wollte nun aber, da seine Kinder diese Kunst trieben, nicht zuruͤckblei¬ ben, sondern ihnen, selbst in seinem Alter, ein Beyspiel geben, wie sie in ihrer Jugend verfahren sollten. Er copirte also einige Koͤpfe des Piazzetta , nach dessen bekann¬ ten Blaͤttern in klein Octav, mit englischem Bleystift auf das feinste hollaͤndische Papier. Er beobachtete dabey nicht allein die groͤßte Reinlichkeit im Umriß, sondern ahmte auch die Schraffirung des Kupferstichs aufs genauste nach, mit einer leichten Hand, nur allzu leise, da er denn, weil er die Haͤrte vermei¬ den wollte, keine Haltung in seine Blaͤtter brachte. Doch waren sie durchaus zart und gleichfoͤrmig. Sein anhaltender unermuͤdlicher Fleiß ging so weit, daß er die ganze ansehn¬ liche Sammlung nach allen ihren Nummern durchzeichnete, indessen wir Kinder von ei¬ nem Kopf zum andern sprangen, und uns nur die auswaͤhlten, die uns gefielen. Um diese Zeit ward auch der schon laͤngst in Berathung gezogne Vorsatz, uns in der Musik unterrichten zu lassen, ausgefuͤhrt; und zwar verdient der letzte Anstoß dazu wohl einige Erwaͤhnung. Daß wir das Clavier lernen sollten, war ausgemacht; allein uͤber die Wahl des Meisters war man immer strei¬ tig gewesen. Endlich komme ich einmal zufaͤl¬ ligerweise in das Zimmer eines meiner Gesel¬ len, der eben Clavierstunde nimmt, und finde den Lehrer als einen ganz allerliebsten Mann. Fuͤr jeden Finger der rechten und linken Hand hat er einen Spitznamen, womit er ihn aufs lustigste bezeichnet, wenn er gebraucht werden soll. Die schwarzen und weißen Tasten werden gleichfalls bildlich benannt, ja die Toͤne selbst erscheinen unter figuͤrlichen Namen. Eine solche bunte Gesell¬ schaft arbeitet nun ganz vergnuͤglich durch einander. Applicatur und Tact scheinen ganz leicht und anschaulich zu werden, und indem der Schuͤler zu dem besten Humor aufgeregt wird, geht auch alles zum schoͤnsten von Statten. Kaum war ich nach Hause gekommen, als ich den Aeltern anlag, nunmehr Ernst zu machen und uns diesen unvergleichlichen Mann zum Claviermeister zu geben. Man nahm noch einigen Anstand, man erkundigte sich; man hoͤrte zwar nichts Uebles von dem Lehrer, aber auch nichts sonderlich Gutes. Ich hatte indessen meiner Schwester alle die lustigen Benennungen erzaͤhlt, wir konnten den Unterricht kaum erwarten, und setzten es durch, daß der Mann angenommen wurde. Das Notenlesen ging zuerst an, und als dabey kein Spaß vorkommen wollte, troͤ¬ steten wir uns mit der Hoffnung, daß wenn es erst ans Clavier gehen wuͤrde, wenn es an die Finger kaͤme, das scherzhafte Wesen seinen Anfang nehmen wuͤrde. Allein weder Tastatur noch Fingersetzung schien zu einigem Gleichniß Gelegenheit zu geben. So trocken wie die Noten, mit ihren Strichen auf und zwischen den fuͤnf Linien, blieben auch die schwarzen und weißen Claves, und weder von einem Daͤumerling noch Deuterling noch Goldfinger war mehr eine Sylbe zu hoͤren; und das Gesicht verzog der Mann so wenig beym trocknen Unterricht, als er es vorher beym trocknen Spaß verzogen hatte. Meine Schwester machte mir die bittersten Vorwuͤrfe, daß ich sie getaͤuscht habe, und glaubte wirk¬ lich, es sey nur Erfindung von mir gewesen. Ich war aber selbst betaͤubt und lernte wenig, ob der Mann gleich ordentlich genug zu Werke ging: denn ich wartete immer noch, die fruͤhern Spaͤße sollten zum Vorschein kommen, und vertroͤstete meine Schwester von einem Tage zum andern. Aber sie blie¬ ben aus, und ich haͤtte mir dieses Raͤthsel niemals erklaͤren koͤnnen, wenn es mir nicht gleichfalls ein Zufall aufgeloͤst haͤtte. Einer meiner Gespielen trat herein, mit¬ ten in der Stunde, und auf einmal eroͤffne¬ ten sich die saͤmmtlichen Roͤhren des humori¬ stischen Springbrunnens; die Daͤumerlinge, und Deuterlinge, die Krabler und Zabler, wie er die Finger zu bezeichnen pflegte, die Fakchen und Gakchen, wie er z. B. die No¬ ten f und g , die Fiekchen und Giekchen, wie er fis und gis benannte, waren auf ein¬ mal wieder vorhanden und machten die wun¬ dersamsten Maͤnnerchen. Mein junger Freund kam nicht aus dem Lachen, und freute sich, daß man auf eine so lustige Weise so viel lernen koͤnne. Er schwur, daß er seinen Aeltern keine Ruhe lassen wuͤrde, bis sie ihm einen solchen vortrefflichen Mann zum Lehrer gegeben. Und so war mir, nach den Grundsaͤtzen einer neuern Erziehungslehre, der Weg zu zwey Kuͤnsten fruͤh genug eroͤffnet, blos auf gut Gluͤck, ohne Ueberzeugung, daß ein an¬ gebornes Talent mich darin weiter foͤrdern koͤnne. Zeichnen muͤsse Jedermann lernen, behauptete mein Vater, und verehrte deshalb besonders Kaiser Maxmilian, welcher dieses ausdruͤcklich solle befohlen haben. Auch hielt er mich ernstlicher dazu an, als zur Musik, welche er dagegen meiner Schwester vorzuͤg¬ lich empfahl, ja dieselbe außer ihren Lehr¬ stunden eine ziemliche Zeit des Tages am Claviere festhielt. Je mehr ich aber auf diese Weise zu treiben veranlaßt wurde, desto mehr wollte ich treiben, und selbst die Freystunden wur¬ den zu allerley wunderlichen Beschaͤftigungen verwendet. Schon seit meinen fruͤhsten Zei¬ ten fuͤhlte ich einen Untersuchungstrieb gegen natuͤrliche Dinge. Man legt es manchmal als eine Anlage zur Grausamkeit aus, daß Kinder solche Gegenstaͤnde, mit denen sie eine Zeit lang gespielt, die sie bald so, bald so gehandhabt, endlich zerstuͤcken, zerreißen und zerfetzen. Doch pflegt sich auch die Neugierde, das Verlangen, zu erfahren wie solche Dinge zusammenhaͤngen, wie sie in¬ wendig aussehen, auf diese Weise an den Tag zu legen. Ich erinnere mich, daß ich als Kind Blumen zerpfluͤckt, um zu sehen, wie die Blaͤtter in den Kelch, oder auch Voͤ¬ gel berupft, um zu beobachten, wie die Fe¬ dern in die Fluͤgel eingefuͤgt waren. Ist doch Kindern dieses nicht zu verdenken, da ja selbst Naturforscher oͤfter durch Trennen und Sondern als durch Vereinigen und Ver¬ knuͤpfen, mehr durch Toͤdten als durch Bele¬ ben, sich zu unterrichten glauben. Ein bewaffneter Magnetstein, sehr zier¬ lich in Scharlachtuch eingenaͤht, mußte auch eines Tages die Wirkung einer solchen For¬ schungslust erfahren. Denn diese geheime Anziehungskraft, die er nicht allein gegen das ihm angepaßte Eisenstaͤbchen ausuͤbte, sondern die noch uͤberdieß von der Art war, daß sie sich verstaͤrken und taͤglich ein groͤßres Gewicht tragen konnte, diese geheimnißvolle Tugend hatte mich dergestalt zur Bewunde¬ rung hingerissen, daß ich mir lange Zeit blos im Anstaunen ihrer Wirkung gefiel. Zuletzt l. 18 aber glaubte ich doch einige naͤhere Auf¬ schluͤsse zu erlangen, wenn ich die aͤußere Huͤlle wegtrennte. Dieß geschah, ohne daß ich dadurch kluͤger geworden waͤre: denn die nackte Armatur belehrte mich nicht weiter. Auch diese nahm ich herab und behielt nun den bloßen Stein in Haͤnden, mit dem ich durch Feilspaͤne und Naͤhnadeln mancherley Versuche zu machen nicht ermuͤdete, aus de¬ nen jedoch mein jugendlicher Geist, außer einer mannigfaltigen Erfahrung, keinen wei¬ tern Vortheil zog. Ich wußte die ganze Vorrichtung nicht wieder zusammenzubringen, die Theile zerstreuten sich, und ich verlor das eminente Phaͤnomen zugleich mit dem Ap¬ parat. Nicht gluͤcklicher ging es mir mit der Zusammensetzung einer Electrisirmaschine. Ein Hausfreund, dessen Jugend in die Zeit ge¬ fallen war, in welcher die Electricitaͤt alle Geister beschaͤftigte, erzaͤhlte uns oͤfter, wie er als Knabe eine solche Maschine zu besitzen gewuͤnscht, wie er sich die Hauptbedingungen abgesehen, und mit Huͤlfe eines alten Spinn¬ rades und einiger Arzneyglaͤser ziemliche Wir¬ kungen hervorgebracht. Da er dieses gern und oft wiederholte, und uns dabey von der Electricitaͤt uͤberhaupt unterrichtete; so fanden wir Kinder die Sache sehr plausibel, und quaͤlten uns mit einem alten Spinnrade und einigen Arzneyglaͤsern lange Zeit herum, ohne auch nur die mindeste Wirkung hervorbringen zu koͤnnen. Wir hielten demungeachtet am Glauben fest, und waren sehr vergnuͤgt, als zur Meßzeit, unter andern Raritaͤten, Zau¬ ber- und Taschenspielerkuͤnsten, auch eine Electrisirmaschine ihre Kunststuͤcke machte, welche so wie die magnetischen, fuͤr jene Zeit schon sehr vervielfaͤltigt waren. Das Mistrauen gegen den oͤffentlichen Unterricht vermehrte sich von Tage zu Tage. Man sah sich nach Hauslehrern um, und 18 * weil einzelne Familien den Aufwand nicht bestreiten konnten, so traten mehrere zusam¬ men, um eine solche Absicht zu erreichen. Allein die Kinder vertrugen sich selten; der junge Mann hatte nicht Autoritaͤt genug, und nach oft widerholtem Verdruß, gab es nur gehaͤssige Trennungen. Kein Wunder daher, daß man auf andere Anstalten dachte, welche sowohl bestaͤndiger als vortheilhafter seyn sollten. Auf den Gedanken, Pensionen zu errich¬ ten, war man durch die Nothwendigkeit ge¬ kommen, welche Jedermann empfand, daß die franzoͤsische Sprache lebendig gelehrt und uͤberliefert werden muͤsse. Mein Vater hatte einen jungen Menschen erzogen, der bey ihm Bedienter, Cammerdiener, Secretaͤr, genug nach und nach alles in allem gewesen war. Dieser, Namens Pfeil , sprach gut franzoͤ¬ sisch und verstand es gruͤndlich. Nachdem er sich verheiratet hatte, und seine Goͤnner fuͤr ihn auf einen Zustand denken mußten; so fielen sie auf den Gedanken, ihn eine Pension errichten zu lassen, die sich nach und nach zu einer kleinen Schulanstalt er¬ weiterte, in der man alles Nothwendige, ja zuletzt sogar Lateinisch und Griechisch lehrte. Die weitverbreiteten Connexionen von Frank¬ furt gaben Gelegenheit, daß junge Franzosen und Englaͤnder, um Deutsch zu lernen und sonst sich auszubilden, dieser Anstalt anver¬ traut wurden. Pfeil, der ein Mann in sei¬ nen besten Jahren, von der wundersamsten Energie und Thaͤtigkeit war, stand dem Ganzen sehr lobenswuͤrdig vor, und weil er nie genug beschaͤftigt seyn konnte; so warf er sich bey Gelegenheit, da er seinen Schuͤlern Musikmeister halten mußte, selbst in die Musik, und betrieb das Clavierspielen mit solchem Eifer, daß er, der niemals vorher eine Taste angeruͤhrt hatte, sehr bald recht fertig und brav spielte. Er schien die Ma¬ xime meines Vaters angenommen zu haben, daß junge Leute nichts mehr aufmuntern und anregen koͤnne, als wenn man selbst schon in gewissen Jahren sich wieder zum Schuͤler erklaͤrte, und in einem Alter worin man sehr schwer neue Fertigkeiten erlangt, dennoch durch Eifer und Anhaltsamkeit, juͤngern von der Natur mehr beguͤnstigten den Rang ab¬ zulaufen suche. Durch diese Neigung zum Clavierspielen ward Pfeil auf die Instrumente selbst ge¬ fuͤhrt, und indem er sich die besten zu ver¬ schaffen hoffte, kam er in Verhaͤltnisse mit Friderici in Gera, dessen Instrumente weit und breit beruͤhmt waren. Er nahm ei¬ ne Anzahl davon in Commission, und hatte nun die Freude, nicht nur etwa einen Fluͤgel, sondern mehrere in seiner Wohnung aufge¬ stellt zu sehen, sich darauf zu uͤben und hoͤ¬ ren zu lassen. Auch in unser Haus brachte die Lebendig¬ keit dieses Mannes einen groͤßern Musikbe¬ trieb. Mein Vater blieb mit ihm, bis auf die strittigen Punkte, in einem dauernden guten Verhaͤltnisse. Auch fuͤr uns ward ein großer Fridericischer Fluͤgel angeschafft, den ich, bey meinem Clavier verweilend, wenig beruͤhrte, der aber meiner Schwester zu desto groͤßerer Qual gedieh, weil sie, um das neue Instrument gehoͤrig zu ehren, taͤglich noch einige Zeit mehr auf ihre Uebungen zu wen¬ den hatte; wobey mein Vater als Aufseher, Pfeil aber als Musterbild und antreibender Hausfreund, abwechselnd zur Seite standen. Eine besondere Liebhaberey meines Va¬ ters machte uns Kindern viel Unbequemlich¬ keit. Es war naͤmlich die Seidenzucht, von deren Vortheil, wenn sie allgemeiner verbrei¬ tet wuͤrde, er einen großen Begriff hatte. Einige Bekanntschaften in Hanau, wo man die Zucht der Wuͤrmer sehr sorgfaͤltig betrieb, gaben ihm die naͤchste Veranlassung. Von dorther wurden ihm zu rechter Zeit die Eyer gesendet; und sobald die Maulbeerbaͤume ge¬ nugsames Laub zeigten, ließ man sie aus¬ schluͤpfen, und wartete der kaum sichtbaren Geschoͤpfe mit großer Sorgfalt. In einem Mansardzimmer waren Tische und Gestelle mit Brettern aufgeschlagen, um ihnen mehr Raum und Unterhalt zu bereiten: denn sie wuchsen schnell, und waren nach der letzten Haͤutung so heißhunrgig, daß man kaum Blaͤtter genug herbeyschaffen konnte, sie zu naͤhren; ja sie mußten Tag und Nacht ge¬ fuͤttert werden, weil eben alles darauf an¬ kommt, daß sie der Nahrung ja nicht zu ei¬ ner Zeit ermangeln, wo die große und wun¬ dersame Veraͤnderung in ihnen vorgehen soll. War die Witterung guͤnstig, so konnte man freylich dieses Geschaͤft als eine lustige Unter¬ haltung ansehen; trat aber Kaͤlte ein, daß die Maulbeerbaͤume litten, so machte es große Noth. Noch unangenehmer aber war es, wenn in der letzten Epoche Regen ein¬ fiel: denn diese Geschoͤpfe koͤnnen die Feuch¬ tigkeit gar nicht vertragen; und so mußten die benetzten Blaͤtter sorgfaͤltig abgewischt und getrocknet werden, welches denn doch nicht immer so genau geschehen konnte, und aus dieser oder vielleicht auch einer andern Ur¬ sache kamen mancherley Krankheiten unter die Heerde, wodurch die armen Creaturen zu Tausenden hingerafft wurden. Die dar¬ aus entstehende Faͤulniß erregte einen wirk¬ lich pestartigen Geruch, und da man die Todten und Kranken wegschaffen und von den Gesunden absondern mußte, um nur ei¬ nige zu retten; so war es in der That ein aͤußerst beschwerliches und widerliches Ge¬ schaͤft, das uns Kindern manche boͤse Stunde verursachte. Nachdem wir nun eines Jahrs die schoͤn¬ sten Fruͤhlings- und Sommerwochen mit Wartung der Seidenwuͤrmer hingebracht, mußten wir dem Vater in einem andern Ge¬ schaͤft beystehen, das, obgleich einfacher, uns dennoch nicht weniger beschwerlich ward. Die roͤmischen Prospecte naͤmlich, welche in dem alten Hause, in schwarze Staͤbe oben und unten eingefaßt, an den Waͤnden mehrere Jahre gehangen hatten, waren durch Licht, Staub und Rauch sehr vergilbt, und durch die Fliegen nicht wenig unscheinbar geworden. War nun eine solche Unreinlichkeit in dem neuen Hause nicht zulaͤssig, so hatten diese Bilder fuͤr meinen Vater auch durch seine laͤngere Entferntheit von den vorgestellten Ge¬ genden an Werth gewonnen. Denn im An¬ fange dienen uns dergleichen Abbildungen die erst kurz vorher empfangenen Eindruͤcke aufzufrischen und zu beleben. Sie scheinen uns gering gegen diese und meistens nur ein trauriges Surrogat. Verlischt hingegen das Andenken der Urgestalten immer mehr und mehr, so treten die Nachbildungen unver¬ merkt an ihre Stelle, sie werden uns so theuer als es jene waren, und was wir An¬ fangs misgeachtet, erwirbt sich nunmehr unsre Schaͤtzung und Neigung. So geht es mit allen Abbildungen, besonders auch mit Portraͤten. Nicht leicht ist Jemand mit dem Conterfey eines Gegenwaͤrtigen zufrie¬ den, und wie erwuͤnscht ist uns jeder Schat¬ tenriß eines Abwesenden oder gar Abge¬ schiedenen. Genug, in diesem Gefuͤhl seiner bisheri¬ gen Verschwendung wollte mein Vater jene Kupferstiche soviel wie moͤglich wieder herge¬ stellt wissen. Daß dieses durch Bleichen moͤglich sey, war bekannt; und diese bey großen Blaͤttern immer bedenkliche Operation wurde unter ziemlich unguͤnstigen Localumstaͤn¬ den vorgenommen. Denn die großen Bret¬ ter, worauf die angerauchten Kupfer befeuch¬ tet und der Sonne ausgestellt wurden, stan¬ den vor Mansardfenstern in den Dachrinnen an das Dach gelehnt, und waren daher man¬ chen Unfaͤllen ausgesetzt. Dabey war die Hauptsache, daß das Papier niemals aus¬ trocknen durfte, sondern immer feucht gehal¬ ten werden mußte. Diese Obliegenheit hatte ich und meine Schwester, wobey uns denn wegen der Langenweile und Ungeduld, wegen der Aufmerksamkeit die uns keine Zerstreuung zuließ, ein sonst so sehr erwuͤnschter Muͤßig¬ gang zur hoͤchsten Qual gereichte. Die Sache ward gleichwohl durchgesetzt, und der Buch¬ binder, der jedes Blatt auf starkes Papier aufzog, that sein bestes, die hier und da durch unsre Fahrlaͤssigkeit zerrissenen Raͤnder auszugleichen und herzustellen. Die saͤmtli¬ chen Blaͤtter wurden in einen Band zusam¬ mengefaßt und waren fuͤr dießmal gerettet. Damit es uns Kindern aber ja nicht an dem Allerley des Lebens und Lernens fehlen moͤchte, so mußte sich gerade um diese Zeit ein englischer Sprachmeister melden, welcher sich anheischig machte, innerhalb vier Wo¬ chen, einen Jeden der nicht ganz roh in Spra¬ chen sey, die englische zu lehren und ihn so weit zu bringen, daß er sich mit einigem Fleiß weiter helfen koͤnne. Er nahm ein maͤßiges Honorar; die Anzahl der Schuͤler in einer Stunde war ihm gleichguͤltig. Mein Vater entschloß sich auf der Stelle den Versuch zu machen, und nahm mit mir und meiner Schwe¬ ster bey dem expediten Meister Lection. Die Stunden wurden treulich gehalten, am Re¬ petiren fehlte es auch nicht; man ließ die vier Wochen uͤber eher einige andere Uebun¬ gen liegen; der Lehrer schied von uns und wir von ihm mit Zufriedenheit. Da er sich laͤnger in der Stadt aufhielt und viele Kun¬ den fand, so kam er von Zeit zu Zeit nach¬ zusehen und nachzuhelfen, dankbar, daß wir unter die ersten gehoͤrten, welche Zutrauen zu ihm gehabt, und stolz, uns den uͤbrigen als Muster anfuͤhren zu koͤnnen. In Gefolg von diesem hegte mein Vater eine neue Sorgfalt, daß auch das Englische huͤbsch in der Reihe der uͤbrigen Sprach¬ beschaͤftigungen bliebe. Nun bekenne ich, daß es mir immer laͤstiger wurde, bald aus dieser bald aus jener Grammatik oder Beyspiel¬ sammlung, bald aus diesem oder jenem Autor den Anlaß zu meinen Arbeiten zu nehmen, und so meinen Antheil an den Gegenstaͤnden zugleich mit den Stunden zu verzetteln. Ich kam daher auf den Gedanken alles mit einmal abzuthun, und erfand einen Roman von sechs bis sieben Geschwistern, die von einander entfernt und in der Welt zerstreut sich wechselseitig Nach¬ richt von ihren Zustaͤnden und Empfindungen mittheilen. Der aͤlteste Bruder giebt in gutem Deutsch Bericht von allerley Gegenstaͤnden und Ereignissen seiner Reise. Die Schwester, in einem frauenzimmerlichen Styl, mit lau¬ ter Puncten und in kurzen Saͤtzen, unge¬ faͤhr wie nachher Siegwart geschrieben wur¬ de, erwiedert bald ihm, bald den andern Geschwistern, was sie theils von haͤusli¬ chen Verhaͤltnissen, theils von Herzensangele¬ genheiten zu erzaͤhlen hat. Ein Bruder stu¬ dirt Theologie und schreibt ein sehr foͤrm¬ liches Latein, dem er manchmal ein grie¬ chisches Postscript hinzufuͤgt. Einem folgen¬ den in Hamburg als Handlungsdiener ange¬ stellt, ward natuͤrlich die englische Correspon¬ denz zu Theil, so wie einem juͤngern der sich in Marseille aufhielt, die franzoͤsische. Zum Italiaͤnischen fand sich ein Musikus auf seinem ersten Ausflug in die Welt, und der juͤngste, eine Art von naseweisem Nestquackelchen, hat¬ te, da ihm die uͤbrigen Sprachen abgeschnit¬ ten waren, sich aufs Judendeutsch gelegt, und brachte durch seine schrecklichen Chiffern die uͤbrigen in Verzweiflung, und die Aeltern uͤber den guten Einfall zum Lachen. Fuͤr diese wunderliche Form suchte ich mir einigen Gehalt, indem ich die Geographie der Gegenden, wo meine Geschoͤpfe sich auf¬ hielten, studirte, und zu jenen trockenen Loca¬ lilaͤten allerley Menschlichkeiten hinzu erfand, die mit dem Character der Personen und ih¬ rer Beschaͤftigung einige Verwandtschaft hatten. Auf diese Weise wurden meine Exercitien¬ buͤcher viel voluminoͤser; der Vater war zu¬ friedener, und ich ward eher gewahr was mir an eigenem Vorrath und an Fertigkeiten ab¬ ging. Wie nun dergleichen Dinge, wenn sie ein¬ mal im Gang sind, kein Ende und keine Graͤnzen haben, so ging es auch hier: denn indem ich mir das barocke Judendeutsch zu¬ zueignen und es eben so gut zu schreiben suchte, als ich es lesen konnte, fand ich bald, daß mir die Kenntniß des Hebraͤischen fehlte, wovon sich das moderne verdorbene und ver¬ zerrte allein ableiten und mit einiger Sicher¬ heit behandeln ließ. Ich eroͤffnete daher mei¬ nem Vater die Nothwendigkeit, Hebraͤisch zu lernen, und betrieb sehr lebhaft seine Einwilli¬ gung: denn ich hatte noch eine hoͤhern Zweck. Ueberall hoͤrte ich sagen, daß zum Verstaͤndniß des alten Testaments so wie des neuen die Grundsprachen noͤthig waͤren. Das letzte las ich ganz bequem, weil die sogenannten Evan¬ gelien und Episteln, damit es ja auch Sonn¬ tags nicht an Uebung fehle, nach der Kirche recitirt, uͤbersetzt und einigermaßen erklaͤrt werden mußten. Eben so dachte ich es nun auch mit dem alten Testamente zu halten, das mir wegen seiner Eigenthuͤmlichkeit ganz besonders von jeher zugesagt hatte. Mein Vater, der nicht gern etwas halb that, beschloß den Rector unseres Gymna¬ siums, Doctor Albrecht , um Privatstunden zu ersuchen, die er mir woͤchentlich so lange geben sollte, bis ich von einer so einfachen Sprache das Noͤthigste gefaßt haͤtte; denn er hoffte, sie werde, wo nicht so schnell doch wenigstens in doppelter Zeit als die englische, sich abthun lassen. Der Rector Albrecht war eine der ori¬ ginalsten Figuren von der Welt, klein, nicht l. 19 dick aber breit, unfoͤrmlich ohne verwachsen zu seyn, kurz ein Aesop mit Chorrock und Peruͤcke. Sein uͤber-siebzigjaͤhriges Gesicht war durchaus zu einem sarkastischen Laͤcheln verzogen, wobey seine Augen immer groß blieben, und obgleich roth doch immer leuch¬ tend und geistreich waren. Er wohnte in dem alten Kloster zu den Barfuͤßern, dem Sitz des Gymnasiums. Ich hatte schon als Kind, meine Aeltern begleitend, ihn manch¬ mal besucht, und die langen dunklen Gaͤnge, die in Visitenzimmer verwandelten Capellen, das unterbrochne treppen- und winkelhafte Lo¬ cal mit schaurigem Behagen durchstrichen. Ohne mir unbequem zu seyn, examinirte er mich so oft er mich sah, und lobte und er¬ munterte mich. Eines Tages, bey der Trans¬ location nach oͤffentlichem Examen, sah er mich als einen auswaͤrtigen Zuschauer, waͤhrend er die silbernen silbernen praemia virtutis diligentiae austheilte, nicht weit von seinem Catheder stehen. Ich mochte gar sehnlich nach dem Beutelchen blicken, aus welchem er die Schau¬ muͤnzen hervorzog; er winkte mir, trat eine Stufe herunter und reichte mir einen solchen Silberling. Meine Freude war groß, obgleich Andre diese einem Nicht-Schulknaben gewaͤhrte Gabe außer aller Ordnung fanden. Allein dar¬ an war dem guten Alten wenig gelegen, der uͤberhaupt den Sonderling und zwar in einer auffallenden Weise spielte. Er hatte als Schul¬ mann einen sehr guten Ruf und verstand sein Handwerk, ob ihm gleich das Alter solches aus¬ zuuͤben nicht mehr ganz gestattete. Aber bey¬ nahe noch mehr als durch eigene Gebrechlichkeit fuͤhlte er sich durch aͤußere Umstaͤnde gehindert, und wie ich schon fruͤher wußte, war er weder mit dem Consistorium, noch den Scholarchen, noch den Geistlichen, noch auch den Lehrern zufrieden. Seinem Naturell, das sich zum Aufpassen auf Fehler und Maͤngel und zur Satire hinneigte ließ er sowohl in Pro¬ grammen als in oͤffentlichen Reden freyen Lauf, und wie Lucian fast der einzige Schriftsteller 19 * war, den er las und schaͤtzte, so wuͤrzte er alles was er sagte und schrieb, mit beizenden Ingredienzien. Gluͤcklicherweise fuͤr diejenigen mit wel¬ chen er unzufrieden war, ging er niemals direct zu Werke, sondern schraubte nur mit Bezuͤgen, Anspielungen, classischen Stellen und biblischen Spruͤchen auf die Maͤngel hin, die er zu ruͤgen gedachte. Dabey war sein muͤndlicher Vortrag (er las seine Reden jederzeit ab) unangenehm, unverstaͤndlich, und uͤber alles dieses manchmal durch einen Hu¬ sten, oͤfters aber durch ein hohles bauchschuͤt¬ terndes Lachen unterbrochen, womit er die beißenden Stellen anzukuͤndigen und zu be¬ gleiten pflegte. Diesen seltsamen Mann fand ich mild und willig, als ich anfing meine Stunden bey ihm zu nehmen. Ich ging nun taͤglich Abends um sechs Uhr zu ihm, und fuͤhlte immer ein heimliches Behagen, wenn sich die Klingelthuͤre hinter mir schloß, und ich nun den langen duͤstern Klostergang durchzuwandeln hatte. Wir saßen in seiner Bibliothek an einem mit Wachstuch beschlage¬ nen Tische; ein sehr durchlesener Lucian kam nie von seiner Seite. Ohngeachtet alles Wohlwollens gelangte ich doch nicht ohne Einstand zur Sache: denn mein Lehrer konnte gewisse spoͤttische Anmerkungen, und was es denn mit dem Hebraͤischen eigentlich solle, nicht unterdruͤcken. Ich verschwieg ihm die Absicht auf das Ju¬ dendeutsch, und sprach von besserem Ver¬ staͤndniß des Grundtextes. Darauf laͤchelte er und meynte, ich solle schon zufrieden seyn, wenn ich nur lesen lernte. Dieß verdroß mich im Stillen, und ich nahm alle meine Aufmerksamkeit zusammen, als es an die Buchstaben kam. Ich fand ein Alphabet das ohngefaͤhr dem griechischen zur Seite ging, dessen Gestalten faßlich, dessen Benennungen mir zum groͤßten Theil nicht fremd waren. Ich hatte dieß alles sehr bald begriffen und behalten, und dachte es sollte nun ans Lesen gehen. Daß dieses von der rechten zur lin ken Seite geschehe, war mir wohl bewußt. Nun aber trat auf Einmal ein neues Heer von kleinen Buchstaͤbchen und Zeichen hervor, von Puncten und Strichelchen aller Art, welche eigentlich die Vocale vorstellen sollten, woruͤber ich mich um so mehr verwunderte, als sich in dem groͤßern Alphabete offenbar Vocale befanden, und die uͤbrigen nur unter fremden Benennungen verborgen zu seyn schie¬ nen. Auch ward gelehrt, daß die juͤdische Nation, so lange sie gebluͤht, wirklich sich mit jenen ersten Zeichen begnuͤgt und keine andere Art zu schreiben und zu lesen gekannt habe. Ich waͤre nun gar zu gern auf die¬ sem alterthuͤmlichen, wie mir schien bequeme¬ ren Wege gegangen; allein mein Alter er¬ klaͤrte etwas streng: man muͤsse nach der Grammatik verfahren wie sie einmal beliebt und verfaßt worden. Das Lesen ohne diese Puncte und Striche sey eine sehr schwere Aufgabe, und koͤnne nur von Gelehrten und den geuͤbtesten geleistet werden. Ich mußte mich also bequemen auch diese kleinen Merk¬ zeichen kennen zu lernen; aber die Sache ward mir immer verworrner. Nun sollten einige der ersten groͤßern Urzeichen an ihrer Stelle gar nichts gelten, damit ihre kleinen Nachgebornen doch ja nicht umsonst dastehen moͤchten. Dann sollten sie einmal wieder ei¬ nen leisen Hauch, dann einen mehr oder we¬ niger harten Kehllaut andeuten, bald gar nur als Stuͤtze und Widerlage dienen. Zu¬ letzt aber, wenn man sich alles wohl gemerkt zu haben glaubte, wurden einige der großen sowohl als der kleinen Personagen in den Ruhestand versetzt, so daß das Auge immer sehr viel und die Lippe sehr wenig zu thun hatte. Indem ich nun dasjenige was mir dem Inhalt nach schon bekannt war, in einem fremden kauderwelschen Idiom herstottern sollte, wobey mir denn ein gewisses Naͤseln und Gurgeln als ein Unerreichbares nicht wenig empfohlen wurde; so kam ich gewisser¬ maßen von der Sache ganz ab, und amuͤ¬ sirte mich auf eine kindische Weise an den seltsamen Namen dieser gehaͤuften Zeichen. Da waren Kaiser, Koͤnige und Herzoge, die als Accente hie und da dominirend, mich nicht wenig unterhielten. Aber auch diese schalen Spaͤße verloren bald ihren Reiz. Doch wurde ich dadurch schadlos gehalten, daß mir beym Lesen, Uebersetzen, Wiederho¬ len, Auswendiglernen der Inhalt des Buchs um so lebhafter entgegentrat, und dieser war es eigentlich, uͤber welchen ich von meinem alten Herrn Aufklaͤrung verlangte. Denn schon vorher waren mir die Widerspruͤche der Ueberlieferung mit dem Wirklichen und Moͤglichen sehr auffallend gewesen, und ich hatte meine Hauslehrer durch die Sonne, die zu Gibeon, und den Mond, der im Thal Ajalon still stand, in manche Noth versetzt; gewisser anderer Unwahrscheinlichkei¬ ten und Incongruenzen nicht zu gedenken. Alles dergleichen ward nun aufgeregt, indem ich mich, um von dem Hebraͤischen Meister zu werden, mit dem alten Testament aus¬ schließlich beschaͤftigte, und solches nicht mehr in Luthers Uebersetzung, sondern in der woͤrt¬ lichen beygedruckten Version des Sebastian Schmidt , den mir mein Vater sogleich an¬ geschafft hatte, durchstudirte. Hier fingen unsere Stunden leider an, was die Sprach¬ uͤbungen betrifft, luͤckenhaft zu werden. Le¬ sen, Exponiren, Grammatik, Aufschreiben und Hersagen von Woͤrtern dauerte selten eine voͤllige halbe Stunde: denn ich fing sogleich an auf den Sinn der Sache loszugehen, und ob wir gleich noch in dem ersten Buche Mosis befangen waren, mancherley Dinge zur Sprache zu bringen, welche mir aus den spaͤtern Buͤchern im Sinne lagen. Anfangs suchte der gute Alte mich von solchen Ab¬ schweifungen zuruͤckzufuͤhren; zuletzt aber schien es ihn selbst zu unterhalten. Er kam nach seiner Art nicht aus dem Husten und Lachen, und wiewohl er sich sehr huͤthete mir eine Auskunft zu geben, die ihn haͤtte compromit¬ tiren koͤnnen, so ließ meine Zudringlichkeit doch nicht nach; ja da mir mehr daran gele¬ gen war, meine Zweifel vorzubringen als die Aufloͤsung derselben zu erfahren, so wurde ich immer lebhafter und kuͤhner, wozu er mich durch sein Betragen zu berechtigen schien. Uebrigens konnte ich nichts aus ihm bringen, als daß er ein uͤber das andre Mal mit seinem bauchschuͤtternden Lachen ausrief: „Er naͤrrischer Kerl! Er naͤrrischer Junge!“ Indessen mochte ihm meine, die Bibel nach allen Seiten durchkreuzende, kindische Lebhaftigkeit doch ziemlich ernsthaft und eini¬ ger Nachhuͤlfe werth geschienen haben. Er verwies mich daher nach einiger Zeit auf das große englische Bibelwerk, welches in seiner Bibliothek bereit stand, und in welchem die Auslegung schwerer und bedenklicher Stellen auf eine verstaͤndige und kluge Weise unter¬ nommen war. Die Uebersetzung hatte durch die großen Bemuͤhungen deutscher Gottesge¬ lehrten Vorzuͤge vor dem Original erhalten. Die verschiedenen Meynungen waren ange¬ fuͤhrt, und zuletzt eine Art von Vermittelung versucht, wobey die Wuͤrde des Buchs, der Grund der Religion und der Menschenver¬ stand einigermaßen neben einander bestehen konnten. So oft ich nun gegen Ende der Stunde mit hergebrachten Fragen und Zwei¬ feln auftrat, so oft deutete er auf das Re¬ positorium; ich holte mir den Band, er ließ mich lesen, blaͤtterte in seinem Lucian, und wenn ich uͤber das Buch meine Anmer¬ kungen machte, war sein gewoͤhnliches Lachen alles wodurch er meinen Scharfsinn erwie¬ derte. In den langen Sommertagen ließ er mich sitzen so lange ich lesen konnte, manch¬ mal allein; nur dauerte es eine Weile, bis er mir erlaubte einen Band nach dem andern mit nach Hause zu nehmen. Der Mensch mag sich wenden wohin er will, er mag unternehmen was es auch sey, stets wird er auf jenen Weg wieder zuruͤck¬ kehren, den ihm die Natur einmal vorge¬ zeichnet hat. So erging es auch mir im gegenwaͤrtigen Falle. Die Bemuͤhungen um die Sprache, um den Inhalt der heiligen Schriften selbst, endigten zuletzt damit, daß von jenem schoͤnen und viel gepriesenen Lande, seiner Umgebung und Nachbarschaft, so wie von den Voͤlkern und Ereignissen, welche je¬ nen Fleck der Erde durch Jahrtausende hin¬ durch verherrlichten, eine lebhaftere Vorstel¬ lung in meiner Einbildungskraft hervorging. Dieser kleine Raum sollte den Ursprung und das Wachsthum des Menschengeschlechts sehen; von dorther sollten die ersten und ein¬ zigsten Nachrichten der Urgeschichte zu uns gelangen, und ein solches Local sollte zugleich so einfach und faßlich, als mannigfaltig und zu den wundersamsten Wanderungen und An¬ siedelungen geeignet, vor unserer Einbildungs¬ kraft liegen. Hier, zwischen vier benannten Fluͤssen, war aus der ganzen zu bewohnen¬ den Erde ein kleiner hoͤchst anmuthiger Raum dem jugendlichen Menschen ausgesondert. Hier sollte er seine ersten Faͤhigkeiten entwi¬ ckeln, und hier sollte ihn zugleich das Loos treffen, das seiner ganzen Nachkommenschaft beschieden war, seine Ruhe zu verlieren, in¬ dem er nach Erkenntniß strebte. Das Para¬ dies war verscherzt; die Menschen mehrten und verschlimmerten sich; die an die Unarten dieses Geschlechts noch nicht gewohnten Elo¬ him wurden ungeduldig und vernichteten es von Grund aus. Nur wenige wurden aus der allgemeinen Ueberschwemmung gerettet; und kaum hatte sich diese graͤuliche Flut ver¬ laufen, als der bekannte vaterlaͤndische Bo¬ den schon wieder vor den Blicken der dank¬ baren Geretteten lag. Zwey Fluͤsse von vie¬ ren, Euphrat und Tigris, flossen noch in ih¬ ren Betten. Der Name des ersten blieb; den andern schien sein Lauf zu bezeichnen. Genauere Spuren des Paradieses waͤren nach einer so großen Umwaͤlzung nicht zu fordern gewesen. Das erneute Menschengeschlecht ging von hier zum zweyten Mal aus; es fand Gelegenheit sich auf alle Arten zu naͤh¬ ren und zu beschaͤftigen, am meisten aber große Heerden zahmer Geschoͤpfe um sich zu versammlen und mit ihnen nach allen Seiten hinzuziehen. Diese Lebensweise, so wie die Vermehrung der Staͤmme, noͤthigte die Voͤlker bald sich von einander zu entfernen. Sie konnten sich sogleich nicht entschließen ihre Verwandte und Freunde fuͤr immer fahren zu lassen; sie ka¬ men auf den Gedanken einen hohen Thurm zu bauen, der ihnen aus weiter Ferne den Weg wieder zuruͤck weisen sollte. Aber dieser Versuch mislang wie jenes erste Bestreben, Sie sollten nicht zugleich gluͤcklich und klug, zahlreich und einig seyn. Die Elohim ver¬ wirrten sie, der Bau unterblieb, die Men¬ schen zerstreuten sich; die Welt war bevoͤl¬ kert, aber entzweyt. Unser Blick, unser Antheil bleibt aber noch immer an diese Gegenden geheftet. End¬ lich geht abermals ein Stammvater von hier aus, der so gluͤcklich ist, seinen Nachkommen einen entschiedenen Character aufzupraͤgen, und sie dadurch fuͤr ewige Zeiten zu einer großen, und bey allem Gluͤcks- und Orts- Wechsel zusammenhaltenden Nation zu ver¬ einigen. Vom Euphrat aus, nicht ohne goͤttlichen Fingerzeig, wandert Abraham gegen Westen. Die Wuͤste setzt seinem Zug kein entschiedenes Hinderniß entgegen; er gelangt an den Jor¬ dan, zieht uͤber den Fluß und verbreitet sich in den schoͤnen mittaͤgigen Gegenden von Pa¬ laͤstina. Dieses Land war schon fruͤher in Besitz genommen und ziemlich bewohnt. Berge, nicht allzu hoch aber steinig und un¬ fruchtbar, waren von vielen bewaͤsserten, dem Anbau guͤnstigen Thaͤlern durchschnitten. Staͤdte, Flecken, einzelne Ansiedelungen lagen zerstreut auf der Flaͤche, auf Abhaͤngen des großen Thals, dessen Wasser sich im Jordan sammlen. So bewohnt, so bebaut war das Land, aber die Welt noch groß genug, und die Menschen nicht auf den Grad sorgfaͤltig, beduͤrfnißvoll und thaͤtig, um sich gleich aller ihrer Umgebungen zu bemaͤchtigen. Zwischen jenen Besitzungen erstreckten sich große Raͤume, in welchen weidende Zuͤge sich bequem hin und her bewegen konnten. In solchen Raͤu¬ men haͤlt sich Abraham auf, sein Bruder Lot ist bey ihm; aber sie koͤnnen nicht lange an solchen Orten verbleiben. Eben jene Verfas¬ sung des Landes, dessen Bevoͤlkerung bald zu¬ bald abnimmt, und dessen Erzeugnisse sich niemals mit dem Beduͤrfniß im Gleichgewicht erhalten, bringt unversehens eine Hungers¬ noth hervor, und der Eingewanderte leidet mit dem Einheimischen, dem er durch seine zufaͤllige Gegenwart die eigne Nahrung ver¬ kuͤmmert hat. Die beyden chaldaͤischen Bruͤ¬ der ziehen nach Aegypten, und so ist uns der Schauplatz vorgezeichnet, auf dem einige tausend Jahre die bedeutendsten Begebenhei¬ ten der Welt vorgehen sollten. Vom Tigris zum Euphrat, vom Euphrat zum Nil sehen wir die Erde bevoͤlkert, und in diesem Raume einen bekannten, den Goͤttern geliebten, uns schon werth gewordnen Mann mit Heerden und Guͤtern hin und wieder ziehen und sie in kurzer Zeit aufs reichlichste vermehren. Die Bruͤder kommen zuruͤck; allein gewitzigt durch die ausgestandene Noth, fassen sie den Entschluß sich von einander zu trennen. Beyde verweilen zwar im mittaͤgigen Canaan; aber indem Abraham zu Hebron gegen dem Hain Mamre bleibt, zieht sich Lot nach dem Thale I. 20 Siddim, das, wenn unsere Einbildungskraft kuͤhn genug ist, dem Jordan einen unterir¬ dischen Ausfluß zu geben, um an der Stelle des gegenwaͤrtigen Asphaltsees einen trocknen Boden zu gewinnen, uns als ein zweytes Paradies erscheinen kann und muß; um so mehr, weil die Bewohner und Umwohner desselben als Weichlinge und Frevler beruͤch¬ tigt, uns dadurch auf ein bequemes und uͤp¬ piges Leben schließen lassen. Lot wohnt un¬ ter ihnen, jedoch abgesondert. Aber Hebron und der Hain Mamre er¬ scheinen uns als die wichtige Staͤtte, wo der Herr mit Abraham spricht und ihm alles Land verheißt, so weit sein Blick nur in vier Weltgegenden reichen mag. Aus diesen stil¬ len Bezirken, von diesen Hirtenvoͤlkern, die mit den Himmlischen umgehen duͤrfen, sie als Gaͤste bewirthen und manche Zwiesprache mit ihnen halten, werden wir genoͤthigt den Blick abermals gegen Osten zu wenden, und an die Verfassung der Nebenwelt zu denken, die im Ganzen wohl der einzelnen Verfas¬ sung von Canaan gleichen mochte. Familien halten zusammen; sie vereinigen sich, und die Lebensart der Staͤmme wird durch das Local bestimmt, das sie sich zu¬ geeignet haben oder zueignen. Auf den Ge¬ birgen, die ihr Wasser nach dem Tigris hin¬ untersenden, finden wir kriegerische Voͤlker, die schon sehr fruͤhe auf jene Welteroberer und Weltbeherrscher hindeuten, und in einem fuͤr jene Zeiten ungeheuren Feldzug uns ein Vorspiel kuͤnftiger Großthaten geben. Kedor Laomor, Koͤnig von Elam, wirkt schon maͤch¬ tig auf Verbuͤndete. Er herrscht lange Zeit: den schon zwoͤlf Jahre vor Abrahams An¬ kunft in Canaan hatte er bis an den Jordan die Voͤlker zinsbar gemacht. Sie waren endlich abgefallen, und die Verbuͤndeten ruͤ¬ sten sich zum Kriege. Wir finden sie unver¬ muthet auf einem Wege, auf dem wahr¬ 20 * scheinlich auch Abraham nach Canaan ge¬ langte. Die Voͤlker an der linken und un¬ tern Seite des Jordan werden bezwungen. Kedor Laomor richtet seinen Zug suͤdwaͤrts nach den Voͤlkern der Wuͤste, sodann sich nordwaͤrts wendend schlaͤgt er die Amalekiter, und als er auch die Amoriter uͤberwunden, gelangt er nach Canaan, uͤberfaͤllt die Koͤnige des Thals Siddim, schlaͤgt und zerstreut sie, und zieht mit großer Beute den Jordan auf¬ waͤrts, um seinen Siegerzug bis gegen den Libanon auszudehnen. Unter den Gefangenen, Beraubten, mit ihrer Habe Fortgeschleppten befindet sich auch Lot, der das Schicksal des Landes theilt, worin er als Gast sich befindet. Abraham vernimmt es, und hier sehen wir sogleich den Erzvater als Krieger und Helden. Er rafft seine Knechte zusammen, theilt sie in Hau¬ fen, faͤllt auf den beschwerlichen Beutetroß, verwirrt die Sieghaften, die im Ruͤcken kei¬ nen Feind mehr vermuthen konnten, und bringt seinen Bruder und dessen Habe nebst Manchem von der Habe der uͤberwundenen Koͤnige zuruͤck. Durch diesen kurzen Kriegs¬ zug nimmt Abraham gleichsam von dem Lande Besitz. Den Einwohnern erscheint er als Beschuͤtzer, als Retter, und durch seine Unei¬ genuͤtzigkeit als Koͤnig. Dankbar empfangen ihn die Koͤnige des Thals, segnend Melchise¬ dek der Koͤnig und Priester. Nun werden die Weissagungen einer un¬ endlichen Nachkommenschaft erneut, ja sie gehen immer mehr ins Weite. Vom Wasser des Euphrat bis zum Fluß Aegyptens werden ihm die saͤmmtlichen Landstrecken versprochen; aber noch sieht es mit seinen unmittelbaren Leibeserben mißlich aus. Er ist achtzig Jahr alt und hat keinen Sohn. Sara, weniger den Goͤttern vertrauend als er, wird ungedul¬ dig; sie will nach orientalischer Sitte durch ihre Magd einen Nachkommen haben. Aber kaum ist Hagar dem Hausherrn vertraut, kaum ist Hoffnung zu einem Sohne; so zeigt sich der Zwiespalt im Hause. Die Frau begegnet ihrer eignen Beschuͤtzten uͤbel genug, und Hagar flieht, um bey andern Horden einen bessern Zustand zu finden. Nicht ohne hoͤheren Wink kehrt sie zuruͤck, und Ismael wird geboren. Abraham ist nun neun und neunzig Jahr alt, und die Verheißungen einer zahlreichen Nachkommenschaft werden noch immer wie¬ derholt, so daß am Ende beyde Gatten sie laͤcherlich finden. Und doch wird Sara zuletzt guter Hoffnung und bringt einen Sohn, dem der Name Isaak zu Theil wird. Auf gesetzmaͤßiger Fortpflanzung des Men¬ schengeschlechts ruht groͤßtentheils die Geschichte. Die bedeutendsten Weltbegebenheiten ist man bis in die Geheimnisse der Familien zu ver¬ folgen genoͤthigt; und so geben uns auch die Ehen der Erzvaͤter zu eignen Betrachtungen Anlaß. Es ist als ob die Gottheiten, welche das Schicksal der Menschen zu leiten beliebten, die ehelichen Ereignisse jeder Art hier gleich¬ sam im Vorbilde haͤtten darstellen wollen. Abraham, so lange Jahre mit einer schoͤnen, von Vielen umworbenen Frau in kinderloser Ehe, findet sich in seinem hundertsten als Gatte zweyer Frauen, als Vater zweyer Soͤhne, und in diesem Augenblick ist sein Hausfriede gestoͤrt. Zwey Frauen neben einan¬ der, so wie zwey Soͤhne von zwey Muͤttern gegen einander uͤber, vertragen sich unmoͤglich. Derjenige Theil, der durch Gesetze, Herkom¬ men und Meynung weniger beguͤnstigt ist, muß weichen. Abraham muß die Neigung zu Hagar, zu Ismael aufopfern; beyde wer¬ den entlassen und Hagar genoͤthigt, den Weg, den sie auf einer freywilligen Flucht einge¬ schlagen, nunmehr wider Willen anzutreten, anfangs, wie es scheint, zu des Kindes und ihrem Untergang; aber der Engel des Herrn, der sie fruͤher zuruͤckgewiesen, rettet sie auch dießmal, damit Ismael auch zu einem großen Volk werde, und die unwahrscheinlichste aller Verheißungen selbst uͤber ihre Graͤnzen hinaus in Erfuͤllung gehe. Zwey Aeltern in Jahren und ein einziger spaͤtgeborner Sohn: hier sollte man doch end¬ lich eine haͤusliche Ruhe, ein irdisches Gluͤck erwarten! Keineswegs. Die Himmlischen bereiten dem Erzvater noch die schwerste Pruͤfung. Doch von dieser koͤnnen wir nicht reden, ohne vorher noch mancherley Betrach¬ tungen anzustellen. Sollte eine natuͤrliche, allgemeine Religion entspringen, und sich eine besondere, geoffen¬ barte daraus entwickeln, so waren die Laͤn¬ der, in denen bisher unsere Einbildungskraft verweilt, die Lebensweise, die Menschenart wohl am geschicktesten dazu; wenigstens finden wir nicht, daß in der ganzen Welt sich etwas aͤhnlich Guͤnstiges und Heitres hervorgethan haͤtte. Schon zur natuͤrlichen Religion, wenn wir annehmen, daß sie fruͤher in dem mensch¬ lichen Gemuͤthe entsprungen, gehoͤrt viel Zart¬ heit der Gesinnung: denn sie ruht auf der Ueberzeugung einer allgemeinen Vorsehung, welche die Weltordnung im Ganzen leite. Eine besondre Religion, eine von den Goͤt¬ tern diesem oder jenem Volk geoffenbarte, fuͤhrt den Glauben an eine besondre Vorse¬ hung mit sich, die das goͤttliche Wesen gewis¬ sen beguͤnstigten Menschen, Familien, Staͤm¬ men und Voͤlkern zusagt. Diese scheint sich schwer aus dem Innern des Menschen zu entwickeln. Sie verlangt Ueberlieferung, Her¬ kommen, Buͤrgschaft aus uralter Zeit. Schoͤn ist es daher, daß die israelitische Ueberlieferung gleich die ersten Maͤnner, welche dieser besondern Vorsehung vertrauen, als Glaubenshelden darstellt, welche von jenem hohen Wesen, dem sie sich abhaͤngig erken¬ nen, alle und jede Gebote eben so blindlings befolgen, als sie ohne zu zweifeln die spaͤten Erfuͤllungen seiner Verheißungen abzuwarten nicht ermuͤden. So wie eine besondere, geoffenbarte Reli¬ gion den Begriff zum Grunde legt, daß einer mehr von den Goͤttern beguͤnstigt seyn koͤnne als der andre, so entspringt sie auch vorzuͤg¬ lich aus der Absonderung der Zustaͤnde. Nahe verwandt schienen sich die ersten Menschen, aber ihre Beschaͤftigungen trennten sie bald. Der Jaͤger war der freyeste von allen; aus ihm entwickelte sich der Krieger und der Herr¬ scher. Der Theil der den Acker baute, sich der Erde verschrieb, Wohnungen und Scheu¬ ern auffuͤhrte, um das Erworbene zu erhal¬ ten, konnte sich schon etwas duͤnken, weil sein Zustand Dauer und Sicherheit versprach. Dem Hirten an seiner Stelle schien der unge¬ messenste Zustand so wie ein graͤnzenloser Besitz zu Theil geworden. Die Vermehrung der Heerden ging ins Unendliche, und der Raum der sie ernaͤhren sollte, erweiterte sich nach allen Seiten. Diese drey Staͤnde schei¬ nen sich gleich anfangs mit Verdruß und Verachtung angesehn zu haben; und wie der Hirte dem Staͤdter ein Graͤuel war, so son¬ derte er auch sich wieder von diesem ab. Die Jaͤger verlieren sich aus unsern Augen in die Gebirge, und kommen nur als Eroberer wie¬ der zum Vorschein. Zum Hirtenstande gehoͤrten die Erzvaͤter. Ihre Lebensweise auf dem Meere der Wuͤsten und Weiden gab ihren Gesinnungen Breite und Freyheit, das Gewoͤlbe des Himmels unter dem sie wohnten, mit allen seinen naͤcht¬ lichen Sternen, ihren Gefuͤhlen Erhabenheit, und sie bedurften mehr als der thaͤtige gewandte Jaͤger, mehr als der sichre sorgfaͤltige haus¬ bewohnende Ackersmann, des unerschuͤtterlichen Glaubens, daß ein Gott ihnen zur Seite ziehe, daß er sie besuche, an ihnen Antheil nehme, sie fuͤhre und rette. Zu noch einer andern Betrachtung werden wir genoͤthigt indem wir zur Geschichtsfolge uͤbergehen. So menschlich, schoͤn und heiter auch die Religion der Erzvaͤter erscheint, so gehen doch Zuͤge von Wildheit und Grau¬ samkeit hindurch, aus welcher der Mensch herankommen, oder worein er wieder versin¬ ken kann. Daß der Haß sich durch das Blut, durch den Tod des uͤberwundenen Feindes versoͤhne, ist natuͤrlich; daß man auf dem Schlachtfelde zwischen den Reihen der Getoͤdteten einen Frieden schloß, laͤßt sich wohl denken; daß man eben so durch geschlachtete Thiere ein Buͤndniß zu befestigen glaubte, fließt aus dem Vorhergehenden; auch daß man die Goͤt¬ ter, die man doch immer als Partey, als Widersacher oder als Beystand ansah, durch Getoͤdtetes herbeyziehen, sie versoͤhnen, sie gewinnen koͤnne, uͤber diese Vorstellung hat man sich gleichfalls nicht zu verwundern. Bleiben wir aber bey den Opfern stehen, und betrachten die Art, wie sie in jener Urzeit dargebracht wurden; so finden wir einen selt¬ samen, fuͤr uns ganz widerlichen Gebrauch, der wahrscheinlich auch aus dem Kriege her¬ genommen, diesen naͤmlich: die geopferten Thiere jeder Art, und wenn ihrer noch so viel gewidmet wurden, mußten in zwey Haͤlf¬ ten zerhauen, an zwey Seiten gelegt werden, und in der Straße dazwischen befanden sich diejenigen, die mit der Gottheit einen Bund schließen wollten. Wunderbar und ahndungsvoll geht durch jene schoͤne Welt noch ein anderer schrecklicher Zug, daß alles was geweiht, was verlobt war, sterben mußte: wahrscheinlich auch ein auf den Frieden uͤbergetragener Kriegsgebrauch. Den Bewohnern einer Stadt, die sich gewalt¬ sam wehrt, wird mit einem solchen Geluͤbde gedroht; sie geht uͤber, durch Sturm oder sonst: man laͤßt nichts am Leben, Maͤnner keineswegs, und manchmal theilen auch Frauen, Kinder, ja das Vieh ein gleiches Schicksal. Uebereilter und aberglaͤubischer Weise werden, bestimmter oder unbestimmter, dergleichen Opfer den Goͤttern versprochen; und so kom¬ men die welche man schonen moͤchte, ja so gar die Naͤchsten, die eigenen Kinder, in den Fall als Suͤhnopfer eines solchen Wahnsinns zu bluten. In dem sanften, wahrhaft urvaͤterlichen Character Abrahams konnte eine so barbarische Anbetungsweise nicht entspringen; aber die Goͤtter, welche manchmal, um uns zu versu¬ chen, jene Eigenschaften hervorzukehren schei¬ nen, die der Mensch ihnen anzudichten geneigt ist, befehlen ihm das Ungeheure. Er soll seinen Sohn opfern, als Pfand des neuen Bundes, und wenn es nach dem Herge¬ brachten geht, ihn nicht etwa nur schlachten und verbrennen, sondern ihn in zwey Stuͤcke theilen, und zwischen seinen rauchenden Ein¬ geweiden sich von den guͤtigen Goͤttern eine neue Verheißung erwarten. Ohne Zaudern und blindlings schickt Abraham sich an, den Befehl zu vollziehen: den Goͤttern ist der Wille hinreichend. Nun sind Abrahams Pruͤ¬ fungen voruͤber: denn weiter konnten sie nicht gesteigert werden. Aber Sara stirbt, und dieß giebt Gelegenheit, daß Abraham von dem Lande Canaan vorbildlich Besitz nimmt. Er bedarf eines Grabes, und dieß ist das erste Mal, daß er sich nach einem Eigenthum auf dieser Erde umsieht. Eine zweifache Hoͤh¬ le gegen dem Hain Mamre mag er sich schon fruͤher ausgesucht haben. Diese kauft er mit dem daranstoßenden Acker, und die Form Rechtens, die er dabey beobachtet, zeigt wie wichtig ihm dieser Besitz ist. Er war es auch, mehr als er sich vielleicht selbst denken konnte: denn er, seine Soͤhne und Enkel sollten da¬ selbst ruhen, und der naͤchste Anspruch auf das ganze Land, so wie die immerwaͤhrende Nei¬ gung seiner Nachkommenschaft sich hier zu versammeln, dadurch am eigentlichsten begruͤn¬ tet werden. Von nun an gehen die mannigfaltigen Fa¬ milienscenen abwechselnd vor sich. Noch im¬ mer haͤlt sich Abraham streng abgesondert von den Einwohnern, und wenn Ismael, der Sohn einer Aegypterinn, auch eine Tochter dieses Landes geheiratet hat, so soll nun Isaak sich mit einer Blutsfreundinn, einer Ebenbuͤrti¬ gen vermaͤhlen. Abraham sendet seinen Knecht nach Meso¬ potamien zu den Verwandten, die er dort zu¬ ruͤckgelassen. Der kluge Eleasar kommt uner¬ kannt an, und um die rechte Braut nach Hau¬ se zu bringen, pruͤft er die Dienstfertigkeit der Maͤdchen am Brunnen. Er verlangt zu trinken fuͤr sich, und ungebeten traͤnkt Rebec¬ ca auch seine Kameele. Er beschenkt sie, er freyet um sie, die ihm nicht versagt wird. So fuͤhrt er sie in das Haus seines Herrn, und sie wird Isaak angetraut. Auch hier muß die Nachkommenschaft lange Zeit erwartet wer¬ den. Erst nach einigen Pruͤfungsjahren wird Rebecca gesegnet, und derselbe Zwiespalt, der in Abrahams Doppelehe von zwey Muͤttern entstand, entspringt hier von einer. Zwey Knaben von entgegengesetztem Sinne balgen sich schon unter dem Herzen der Mutter. Sie treten ans Licht: der aͤltere lebhaft und maͤchtig, der juͤngere zart und klug; jener wird des Va¬ ters, dieser der Mutter Liebling. Der Streit um den Vorrang, der schon bey der Geburt beginnt, setzt sich immer fort. Esau ist ruhig und gleichguͤltig uͤber die Erstgeburt, die ihm das Schicksal zugetheilt; Jakob vergißt nicht, daß ihn sein Bruder zuruͤckgedraͤngt. Aufmerk¬ sam auf jede Gelegenheit den erwuͤnschten Vortheil zu gewinnen, handelt er seinem Bru¬ der das Recht der Erstgeburt ab, und bevor¬ l. 21 theilt ihn um des Vaters Segen. Esau er¬ grimmt und schwoͤrt dem Bruder den Tod, Jakob entflieht, um in dem Lande seiner Vor¬ fahren sein Gluͤck zu versuchen. Nun, zum ersten Mal in einer so edlen Fa¬ milie erscheint ein Glied, das kein Bedenken traͤgt, durch Klugheit und List die Vortheile zu erlangen, welche Natur und Zustaͤnde ihm ver¬ sagten. Es ist oft genug bemerkt und ausge¬ sprochen worden, daß die heiligen Schriften uns jene Erzvaͤter und andere von Gott be¬ guͤnstigte Maͤnner keineswegs als Tugendbilder aufstellen wollen. Auch sie sind Menschen von den verschiedensten Charactern, mit mancherley Maͤngeln und Gebrechen; aber eine Haupt¬ eigenschaft darf solchen Maͤnnern nach dem Herzen Gottes nicht fehlen: es ist der uner¬ schuͤtterliche Glaube, daß Gott sich ihrer und der Ihrigen besonders annehme. Die allgemeine, die natuͤrliche Religion bedarf eigentlich keines Glaubens: denn die Ueberzeugung, daß ein großes, hervorbringen¬ des, ordnendes und leitendes Wesen sich gleich¬ sam hinter der Natur verberge, um sich uns faßlich zu machen, eine solche Ueberzeugung dringt sich einem Jeden auf; ja wenn er auch den Faden derselben, der ihn durchs Leben fuͤhrt, manchmal fahren ließe, so wird er ihn doch gleich und uͤberall wieder aufnehmen koͤnnen. Ganz anders verhaͤlt sich's mit der besondern Re¬ ligion, die uns verkuͤndigt, daß jenes große We¬ sen sich eines Einzelnen, eines Stammes, eines Volkes, einer Landschaft entschieden und vor¬ zuͤglich annehme. Diese Religion ist auf den Glauben gegruͤndet, der unerschuͤtterlich seyn muß, wenn er nicht sogleich von Grund aus zerstoͤrt werden soll. Jeder Zweifel gegen eine solche Religion ist ihr toͤdlich. Zur Ueberzeu¬ gung kann man zuruͤckkehren, aber nicht zum Glauben. Daher die unendlichen Pruͤfungen, das Zaudern der Erfuͤllung so wiederholter Verheißungen, wodurch die Glaubensfaͤhigkeit jener Ahnherren ins hellste Licht gesetzt wird. 21 * Auch in diesem Glauben tritt Jakob sei¬ nen Zug an, und wenn er durch List und Betrug unsere Neigung nicht erworben hat, so gewinnt er sie durch die dauernde und un¬ verbruͤchliche Liebe zu Rahel, um die er selbst aus dem Stegreife wirbt, wie Eleasar fuͤr seinen Vater um Rebecca geworben hatte. In ihm sollte sich die Verheißung eines un¬ ermeßlichen Volkes zuerst vollkommen entfal¬ ten; er sollte viele Soͤhne um sich sehen, aber auch durch sie und ihre Muͤtter manches Herzeleid erleben. Sieben Jahre dient er um die Geliebte, ohne Ungeduld und ohne Wanken. Sein Schwiegervater, ihm gleich an List, gesinnt wie er, um jedes Mittel zum Zweck fuͤr rechtmaͤßig zu halten, betriegt ihn, vergilt ihm was er an seinem Bruder gethan: Ja¬ kob findet eine Gattinn, die er nicht liebt, in seinen Armen. Zwar, um ihn zu besaͤnf¬ tigen, giebt Laban nach kurzer Zeit ihm die geliebte dazu, aber unter der Bedingung sieben neuer Dienstjahre; und so entspringt nun Verdruß aus Verdruß. Die nicht ge¬ liebte Gattinn ist fruchtbar, die geliebte bringt keine Kinder; diese will wie Sara durch eine Magd Mutter werden, jene mis¬ goͤnnt ihr auch diesen Vortheil. Auch sie fuͤhrt ihrem Gatten eine Magd zu, und nun ist der gute Erzvater der geplagteste Mann von der Welt: Vier Frauen, Kinder von dreyen, und keins von der geliebten! End¬ lich wird auch diese begluͤckt, und Joseph kommt zur Welt, ein Spaͤtling der leiden¬ schaftlichsten Liebe. Jakobs vierzehn Dienst¬ jahre sind um; aber Laban will in ihm den ersten treusten Knecht nicht entbehren. Sie schließen neue Bedingungen und theilen sich in die Heerden. Laban behaͤlt die von wei¬ ßer Farbe, als die der Mehrzahl; die schaͤk¬ kigen, gleichsam nur den Ausschuß, laͤßt sich Jakob gefallen. Dieser weiß aber auch hier seinen Vortheil zu wahren, und wie er durch ein schlechtes Gericht die Erstgeburt, und durch eine Vermummung den vaͤterlichen Se¬ gen gewonnen, so versteht er nun durch Kunst und Sympathie den besten und groͤ߬ ten Theil der Heerde sich zuzueignen, und wird auch von dieser Seite der wahrhaft wuͤrdige Stammvater des Volkes Israel und ein Musterbild fuͤr seine Nachkommen. La¬ ban und die Seinigen bemerken wo nicht das Kunststuͤck doch den Erfolg. Es giebt Ver¬ druß; Jakob flieht mit allen den Seinigen, mit aller Habe, und entkommt dem nachse¬ tzenden Laban theils durch Gluͤck, theils durch List. Nun soll ihm Rahel noch einen Sohn schenken; sie stirbt aber in der Geburt: der Schmerzensohn Benjamin uͤberlebt sie, aber noch groͤßern Schmerz soll der Altvater bey dem anscheinenden Verlust seines Sohnes Joseph empfinden. Vielleicht moͤchte Jemand fragen, warum ich diese allgemein bekannten, so oft wieder¬ holten und ausgelegten Geschichten hier aber¬ mals umstaͤndlich vortrage. Diesem duͤrfte zur Antwort dienen, daß ich auf keine an¬ dere Weise darzustellen wuͤßte, wie ich bey meinem zerstreuten Leben, bey meinem zer¬ stuͤckelten Lernen, dennoch meinen Geist, meine Gefuͤhle auf einen Punct zu einer stillen Wirkung versammelte; weil ich auf keine andere Weise den Frieden zu schildern vermoͤchte, der mich umgab, wenn es auch draußen noch so wild und wunderlich herging. Wenn eine stets geschaͤftige Einbildungskraft, wovon jenes Maͤhrchen ein Zeugniß ablegen mag, mich bald da bald dorthin fuͤhrte, wenn das Gemisch von Fabel und Geschichte, Mythologie und Religion mich zu verwirren drohte; so fluͤchtete ich gern nach jenen mor¬ genlaͤndischen Gegenden, ich versenkte mich in die ersten Buͤcher Mosis, und fand mich dort unter den ausgebreiteten Hirtenstaͤmmen zugleich in der groͤßten Einsamkeit und in der groͤßten Gesellschaft. Diese Familienauftritte, ehe sie sich in eine Geschichte des israelitischen Volks verlie¬ ren sollten, lassen uns nun zum Schluß noch eine Gestalt sehen, an der sich besonders die Jugend mit Hoffnungen und Einbildungen gar artig schmeicheln kann: Joseph, das Kind der leidenschaftlichsten ehelichen Liebe. Ruhig erscheint er uns und klar, und pro¬ phezeyt sich selbst die Vorzuͤge, die ihn uͤber seine Familie erheben sollten. Durch seine Geschwister ins Ungluͤck gestoßen, bleibt er standhaft und rechtlich in der Sklaverey, wi¬ dersteht den gefaͤhrlichsten Versuchungen, ret¬ tet sich durch Weissagung, und wird zu ho¬ hen Ehren nach Verdienst erhoben. Erst zeigt er sich einem großen Koͤnigreiche, so¬ dann den Seinigen huͤlfreich und nuͤtzlich. Er gleicht seinem Urvater Abraham an Ruhe und Großheit, seinem Großvater Isaak an Stille und Ergebenheit. Den von seinem Vater ihm angestammten Gewerbsinn uͤbt er im Großen: es sind nicht mehr Heerden, die man einem Schwiegervater, die man fuͤr sich selbst gewinnt, es sind Voͤlker mit allen ih¬ ren Besitzungen, die man fuͤr einen Koͤnig einzuhandlen versteht. Hoͤchst anmuthig ist diese natuͤrliche Erzaͤhlung, nur erscheint sie zu kurz, und man fuͤhlt sich berufen, sie ins Einzelne auszumalen. Ein solches Ausmalen biblischer, nur im Umriß angegebener Charactere und Begeben¬ heiten war den Deutschen nicht mehr fremd. Die Personen des alten und neuen Testa¬ ments hatten durch Klopstock ein zartes und gefuͤhlvolles Wesen gewonnen, das dem Kna¬ ben so wie vielen seiner Zeitgenossen hoͤchlich zusagte. Von den Bodmerischen Arbeiten die¬ ser Art kam wenig oder nichts zu ihm; aber Daniel in der Loͤwengrube , von Mo¬ ser, machte große Wirkung auf das junge Ge¬ muͤth. Hier gelangt ein wohldenkender Ge¬ schaͤfts- und Hofmann durch mancherley Truͤb¬ sale zu hohen Ehren, und seine Froͤmmigkeit, durch die man ihn zu verderben drohte, ward fruͤher und spaͤter sein Schild und seine Waffe. Die Geschichte Josephs zu bearbei¬ ten war mir lange schon wuͤnschenswerth ge¬ wesen; allein ich konnte mit der Form nicht zurecht kommen, besonders da mir keine Vers¬ art gelaͤufig war, die zu einer solchen Ar¬ beit gepaßt haͤtte. Aber nun fand ich eine prosaische Behandlung sehr bequem und legte mich mit aller Gewalt auf die Bearbeitung. Nun suchte ich die Charactere zu sondern und auszumalen, und durch Einschaltung von Incidenzien und Episoden die alte einfache Geschichte zu einem neuen und selbstaͤndigen Werke zu machen. Ich bedachte nicht, was freylich die Jugend nicht bedenken kann, daß hiezu ein Gehalt noͤthig sey, und daß dieser uns nur durch das Gewahrwerden der Er¬ fahrung selbst entspringen koͤnne. Genug, ich vergegenwaͤrtigte mir alle Begebenheiten bis ins kleinste Detail, und erzaͤhlte sie mir der Reihe nach auf das genauste. Was mir diese Arbeit sehr erleichterte, war ein Umstand, der dieses Werk und uͤber¬ haupt meine Autorschaft hoͤchst voluminoͤs zu machen drohte. Ein junger Mann von vie¬ len Faͤhigkeiten, der aber durch Anstrengung und Duͤnkel bloͤdsinnig geworden war, wohnte als Muͤndel in meines Vaters Hause, lebte ruhig mit der Familie und war sehr still und in sich gekehrt, und wenn man ihn auf seine gewohnte Weise verfahren ließ, zufrieden und gefaͤllig. Dieser hatte seine academischen Hefte mit großer Sorgfalt geschrieben, und sich eine fluͤchtige leserliche Hand erworben. Er beschaͤftigte sich am liebsten mit Schreiben, und sah es gern, wenn man ihm etwas zu copiren gab; noch lieber aber, wenn man ihm dictirte, weil er sich alsdann in seine gluͤcklichen academischen Jahre versetzt fuͤhlte. Meinem Vater, der keine expedite Hand schrieb, und dessen deutsche Schrift klein und zittrig war, konnte nichts erwuͤnschter seyn, und er pflegte daher, bey Besorgung eigner sowohl als fremder Geschaͤfte, diesem jungen Manne gewoͤhnlich einige Stunden des Tags zu dictiren. Ich fand es nicht minder be¬ quem, in der Zwischenzeit alles was mir fluͤchtig durch den Kopf ging von einer frem¬ den Hand auf dem Papier fixirt zu sehen, und meine Erfindungs- und Nachahmungs¬ gabe wuchs mit der Leichtigkeit des Auffassens und Aufbewahrens. Ein so großes Werk als jenes biblische prosaisch - epische Gedicht hatte ich noch nicht unternommen. Es war eben eine ziemlich ruhige Zeit, und nichts rief meine Einbil¬ dungskraft aus Palaͤstina und Aegypten zu¬ ruͤck. So quoll mein Manuskript taͤglich um so mehr auf, als das Gedicht strecken¬ weise, wie ich es mir selbst gleichsam in die Luft erzaͤhlte, auf dem Papier stand, und nur wenige Blaͤtter von Zeit zu Zeit umge¬ schrieben zu werden brauchten. Als das Werk fertig war: denn es kam zu meiner eignen Verwunderung wirklich zu Stande; bedachte ich, daß von den vorigen Jahren mancherley Gedichte vorhanden seyen, die mir auch jetzt nicht verwerflich schienen, welche in ein Format mit Joseph zusammen¬ geschrieben, einen ganz artigen Quartband ausmachen wuͤrden, dem man den Titel ver¬ mischte Gedichte geben koͤnnte; welches wir sehr wohl gefiel, weil ich dadurch im Stillen bekannte und beruͤhmte Autoren nachzuahmen Gelegenheit fand. Ich hatte eine gute An¬ zahl sogenannter anakreontischer Gedichte ver¬ fertigt, die mir wegen der Bequemlichkeit des Sylbenmaßes und der Leichtigkeit des Inhalts sehr wohl von der Hand gingen. Allein diese durfte ich nicht wohl aufnehmen, weil sie keine Reime hatten, und ich doch vor allem meinem Vater etwas Angenehmes zu erzeigen wuͤnschte. Destomehr schienen mir geistliche Oden hier am Platz, dergleichen ich zur Nachahmung des juͤngsten Gerichts von Elias Schlegel sehr eifrig versucht hatte. Eine zur Feyer der Hoͤllenfahrt Christi ge¬ schriebene erhielt von meinen Aeltern und Freunden viel Beyfall, und sie hatte das Gluͤck mir selbst noch einige Jahre zu gefal¬ len. Die sogenannten Texte der sonntaͤgigen Kirchenmusiken, welche jedesmal gedruckt zu haben waren, studirte ich fleißig. Sie wa¬ ren freylich sehr schwach, und ich durfte wohl glauben, daß die meinigen, deren ich meh¬ rere nach der vorgeschriebenen Art verfertigt hatte, eben so gut verdienten componirt und zur Erbauung der Gemeinde vorgetragen zu werden. Diese und mehrere dergleichen hatte ich seit laͤnger als einem Jahre mit eigener Hand abgeschrieben, weil ich durch diese Pri¬ vatuͤbung von den Vorschriften des Schreibe¬ meisters entbunden wurde. Nunmehr aber ward alles redigirt und in gute Ordnung ge¬ stellt, und es bedurfte keines großen Zure¬ dens, um solche von jenem schreibelustigen jungen Manne reinlich abgeschrieben zu sehen. Ich eilte damit zum Buchbinder, und als ich gar bald den saubern Band meinem Va¬ ter uͤberreichte, munterte er mich mit beson¬ derm Wohlgefallen auf, alle Jahre einen sol¬ chen Quartanten zu liefern; welches er mit desto groͤßerer Ueberzeugung that, als ich das alles nur in so genannten Nebenstunden geleistet hatte. Noch ein anderer Umstand vermehrte den Hang zu diesen theologischen, oder vielmehr biblischen Studien. Der Senior des Mini¬ steriums, Johann Philipp Fresenius , ein sanfter Mann, von schoͤnem gefaͤlligen Ansehen, welcher von seiner Gemeinde ja von der ganzen Stadt als ein exemplarischer Geistlicher und guter Canzelredner verehrt ward, der aber, weil er gegen die Herrnhu¬ ter aufgetreten, bey den abgesonderten From¬ men nicht im besten Ruf stand, vor der Menge hingegen sich durch die Bekehrung eines bis zum Tode blessirten freygeistischen Generals beruͤhmt und gleichsam heilig ge¬ macht hatte, dieser starb, und sein Nachfol¬ ger Plitt , ein großer schoͤner wuͤrdiger Mann, der jedoch vom Catheder (er war Professor in Marpurg gewesen) mehr die Gabe zu lehren als zu erbauen mitgebracht hatte, kuͤndigte sogleich eine Art von Reli¬ gions-Cursus an, dem er seine Predigten in einem gewissen methodischen Zusammenhang widmen wolle. Schon fruͤher, da ich doch einmal in die Kirche gehen mußte, hatte ich mir die Eintheilung gemerkt, und konnte dann und wann mit ziemlich vollstaͤndiger Recita¬ tion einer Predigt großthun. Da nun uͤber den neuen Senior manches fuͤr und wider in der Gemeine gesprochen wurde, und viele kein sonderliches Zutrauen in seine angekuͤn¬ digten didactischen Predigten setzen wollten; so nahm ich mir vor sorgfaͤltiger nachzuschrei¬ ben, welches mir um so eher gelang, als ich auf einem zum Hoͤren sehr bequemen, uͤbri¬ gens aber verborgenen Sitz schon geringere Versuche gemacht hatte. Ich war hoͤchst auf¬ merksam und behend; in dem Augenblick daß er Amen sagte, eilte ich aus der Kirche und wendete ein paar Stunden daran, das was ich auf dem Papier und im Gedaͤchtniß fixirt hatte, eilig zu dictiren, so daß ich die geschriebene Predigt noch vor Tische uͤberrei¬ chen konnte. Mein Vater war sehr glorios uͤber dieses Gelingen, und der gute Haus¬ freund, der eben zu Tische kam, mußte die Freude theilen. Dieser war mir ohnehin hoͤchst guͤnstig, weil ich mir seinen Messias so zu eigen gemacht hatte, daß ich ihm, bey meinen oͤftern Besuchen, um Siegelabdruͤcke fuͤr meine Wappensammlung zu holen, große Stellen davon vortragen konnte, so daß ihm die Thraͤnen in den Augen standen. I. 22 Den naͤchsten Sonntag setzte ich die Ar¬ beit mit gleichem Eifer fort, und weil mich der Mechanismus derselben sogar unterhielt, so dachte ich nicht nach uͤber das was ich schrieb und aufbewahrte. Das erste Viertel¬ jahr mochten sich diese Bemuͤhungen ziemlich gleich bleiben; als ich aber zuletzt, nach mei¬ nem Duͤnkel, weder besondere Aufklaͤrung uͤber die Bibel selbst, noch eine freyere An¬ sicht des Dogma's zu finden glaubte: so schien mir die kleine Eitelkeit die dabey be¬ friedigt wurde, zu theuer erkauft, als daß ich mit gleichem Eifer das Geschaͤft haͤtte fortsetzen sollen. Die erst so blaͤtterreichen Canzelreden wurden immer magerer, und ich haͤtte zuletzt diese Bemuͤhung ganz abgebro¬ chen, wenn nicht mein Vater, der ein Freund der Vollstaͤndigkeit war, mich durch gute Worte und Versprechungen dahin gebracht, daß ich bis auf den letzten Sonntag Trinita¬ tis aushielt, obgleich am Schlusse kaum et¬ was mehr als der Text, die Proposition und die Eintheilung auf kleine Blaͤtter verzeichnet wurden. Was das Vollbringen betrifft, darin hatte mein Vater eine besondere Hartnaͤckigkeit. Was einmal unternommen ward, sollte aus¬ gefuͤhrt werden, und wenn auch inzwischen das Unbequeme, Langweilige, Verdrießliche, ja Unnuͤtze des Begonnenen sich deutlich offen¬ barte. Es schien, als wenn ihm das Vol¬ bringen der einzige Zweck, das Beharren die einzige Tugend daͤuchte. Hatten wir in lan¬ gen Winterabenden im Familienkreise ein Buch angefangen vorzulesen, so mußten wir es auch durchbringen, wenn wir gleich saͤmt¬ lich dabey verzweifelten, und er mitunter selbst der erste war, der zu gaͤhnen anfing. Ich erinnere mich noch eines solchen Winters, wo wir Bowers Geschichte der Paͤbste so durchzuarbeiten hatten. Es war ein fuͤrchter¬ licher Zustand, indem wenig oder nichts was in jenen kirchlichen Verhaͤltnissen vorkommt, 22 * Kinder und junge Leute ansprechen kann. Indessen ist mir bey aller Unachtsamkeit und allem Widerwillen doch von jener Vorlesung soviel geblieben, daß ich in spaͤteren Zeiten manches daranzuknuͤpfen im Stande war. Bey allen diesen fremdartigen Beschaͤfti¬ gungen und Arbeiten, die so schnell auf ein¬ ander folgten, daß man sich kaum besinnen konnte, ob sie zulaͤssig und nuͤtzlich waͤren, verlor mein Vater seinen Hauptzweck nicht aus den Augen. Er suchte mein Gedaͤchtniß, meine Gabe etwas zu fassen und zu combini¬ ren, auf juristische Gegenstaͤnde zu lenken, und gab mir daher ein kleines Buch, in Ge¬ stalt eines Catechismus, von Hopp , nach Form und Inhalt der Institutionen gearbei¬ tet, in die Haͤnde. Ich lernte Fragen und Antworten bald auswendig, und konnte sogut den Catecheten als den Catechumenen vorstel¬ len; und wie bey dem damaligen Religions¬ unterricht eine der Hauptuͤbungen war, daß man auf das behendeste in der Bibel auf¬ schlagen lernte, so wurde auch hier eine gleiche Bekanntschaft mit dem Corpus Juris fuͤr noͤthig befunden, worin ich auch bald auf das vollkommenste bewandert war. Mein Vater wollte weiter gehen, und der kleine Struve ward vorgenommen; aber hier ging es nicht so rasch. Die Form des Bu¬ ches war fuͤr den Anfaͤnger nicht so guͤnstig, daß er sich selbst haͤtte aushelfen koͤnnen, und meines Vaters Art zu dociren nicht so liberal, daß sie mich angesprochen haͤtte. Nicht allein durch die kriegerischen Zu¬ staͤnde, in denen wir uns seit einigen Jah¬ ren befanden, sondern auch durch das buͤrger¬ liche Leben selbst, durch Lesen von Geschich¬ ten und Romanen, war es uns nur allzu deutlich, daß es sehr viele Faͤlle gebe, in welchen die Gesetze schweigen und dem Ein¬ zelnen nicht zu Huͤlfe kommen, der dann se¬ hen mag, wie er sich aus der Sache zieht. Wir waren nun heran gewachsen, und dem Schlendriane nach sollten wir auch neben an¬ dern Dingen fechten und reiten lernen, um uns gelegentlich unserer Haut zu wehren, und zu Pferde kein schuͤlerhaftes Ansehn zu haben. Was den ersten Punct betrifft, so war uns eine solche Uebung sehr angenehm: denn wir hatten uns schon laͤngst Haurapiere von Haselstoͤcken, mit Koͤrben von Weiden sauber geflochten, um die Hand zu schuͤtzen, zu verschaffen gewußt. Nun durften wir uns wirklich staͤhlerne Klingen zulegen, und das Gerassel was wir damit machten, war sehr lebhaft. Zwey Fechtmeister befanden sich in der Stadt: ein aͤlterer ernster Deutscher, der auf die strenge und tuͤchtige Weise zu Werke ging, und ein Franzose, der seinen Vortheil durch avanciren und retiriren, durch leichte fluͤchtige Stoͤße, welche stets mit einigen Ausrufungen begleitet waren, zu erreichen suchte. Die Meinungen, welche Art die beste sey, waren getheilt. Der kleinen Ge¬ sellschaft mit welcher ich Stunde nehmen sollte, gab man den Franzosen, und wir ge¬ woͤhnten uns bald, vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts zu gehen, auszufallen und uns zuruͤckzuziehen, und dabey immer in die herkoͤmmlichen Schrey¬ laute auszubrechen. Mehrere von unsern Bekannten aber hatten sich zu dem deutschen Fechtmeister gewendet, und uͤbten gerade das Gegentheil. Diese verschiedenen Arten eine so wichtige Uebung zu behandeln, die Ueber¬ zeugung eines Jeden, daß sein Meister der bessere sey, brachte wirklich eine Spaltung unter die jungen Leute, die ohngefaͤhr von einem Alter waren, und es fehlte wenig, so haͤtten die Fechtschulen ganz ernstliche Ge¬ fechte veranlaßt. Denn fast ward eben so sehr mit Worten gestritten als mit der Klinge gefochten, und um zuletzt der Sache ein Ende zu machen, ward ein Wettkampf zwi¬ schen beyden Meistern veranstaltet, dessen Er¬ folg ich nicht umstaͤndlich zu beschreiben brauche. Der Deutsche stand in seiner Posi¬ tur wie eine Mauer, paßte auf seinen Vor¬ theil, und wußte mit Battiren und Legiren seinen Gegner ein uͤber das andre Mal zu entwaffnen. Dieser behauptete, das sey nicht Raison, und fuhr mit seiner Beweglichkeit fort, den Andern in Athem zu setzen. Auch brachte er dem Deutschen wohl einige Stoͤße bey, die ihn aber selbst, wenn es Ernst ge¬ wesen waͤre, in die andre Welt geschickt haͤtten. Im Ganzen ward nichts entschieden, noch gebessert, nur wendeten sich einige zu dem Landsmann, worunter ich auch gehoͤrte. Al¬ lein ich hatte schon zu viel von dem ersten Meister angenommen, daher eine ziemliche Zeit daruͤber hinging, bis der neue mir es wieder abgewoͤhnen konnte, der uͤberhaupt mit uns Renegaten weniger als mit seinen Urschuͤlern zufrieden war. Mit dem Reiten ging es mir noch schlim¬ mer. Zufaͤlligerweise schickte man mich im Herbst auf die Bahn, so daß ich in der kuͤh¬ len und feuchten Jahreszeit meinen Anfang machte. Die pedantische Behandlung dieser schoͤnen Kunst war mir hoͤchlich zuwider. Zum ersten und letzten war immer vom Schlie¬ ßen die Rede, und es konnte einem doch Nie¬ mand sagen, worin denn eigentlich der Schluß bestehe, worauf doch alles ankommen solle: denn man fuhr ohne Steigbuͤgel auf dem Pferde hin und her. Uebrigens schien der Unterricht nur auf Prellerey und Beschaͤmung der Scholaren angelegt. Vergaß man die Kinnkette ein- oder auszuhaͤngen, ließ man die Gerte fallen oder wohl gar den Hut, jedes Versaͤumniß, jedes Ungluͤck mußte mit Geld gebuͤßt werden, und man ward noch obenein ausgelacht. Dieß gab mir den allerschlimm¬ sten Humor, besonders da ich den Uebungs¬ ort selbst ganz unertraͤglich fand. Der gar¬ stige, große, entweder feuchte oder staubige Raum, die Kaͤlte, der Modergeruch, alles zusammen war mir im hoͤchsten Grade zuwi¬ der; und da der Stallmeister den andern, weil sie ihn vielleicht durch Fruͤhstuͤcke und sonstige Gaben, vielleicht auch durch ihre Geschicklichkeit bestachen, immer die besten Pferde, mir aber die schlechtesten zu reiten gab, mich auch wohl warten ließ, und mich wie es schien hintansetzte: so brachte ich die allerverdrießlichsten Stunden uͤber einem Ge¬ schaͤft hin, das eigentlich das lustigste von der Welt seyn sollte. Ja der Eindruck von jener Zeit, von jenen Zustaͤnden ist mir so lebhaft geblieben, daß, ob ich gleich nachher leidenschaftlich und verwegen zu reiten gewohnt war, auch Tage und Wochen lang kaum vom Pferde kam, daß ich bedeckte Reitbah¬ nen sorgfaͤltig vermied, und hoͤchstens nur wenig Augenblicke darin verweilte. Es kommt uͤbrigens der Fall oft genug vor, daß wenn die Anfaͤnge einer abgeschlossenen Kunst uns uͤberliefert werden sollen, dieses auf eine peinliche und abschreckende Art geschieht. Die Ueberzeugung, wie laͤstig und schaͤdlich dieses sey, hat in spaͤtern Zeiten die Erziehungs¬ maxime aufgestellt, daß alles der Jugend auf eine leichte, lustige und bequeme Art beyge¬ bracht werden muͤsse; woraus denn aber auch wieder andere Uebel und Nachtheile entsprun¬ gen sind. Mit der Annaͤherung des Fruͤhlings ward es bey uns auch wieder ruhiger, und wenn ich mir fruͤher das Anschauen der Stadt, ihrer geistlichen und weltlichen, oͤffentlichen und Privat-Gebaͤude zu verschaffen suchte, und besonders an dem damals noch vorherr¬ schenden Alterthuͤmlichen das groͤßte Vergnuͤ¬ gen fand; so war ich nachher bemuͤht, durch die Lersner'sche Chronik und durch andre unter meines Vaters Francofurtensien befind¬ liche Buͤcher und Hefte, die Personen ver¬ gangner Zeiten mir zu vergegenwaͤrtigen; wel¬ ches mir denn auch durch große Aufmerksam¬ keit auf das Besondere der Zeiten und Sitten, und bedeutender Individualitaͤten ganz gut zu gelingen schien. Unter den alterthuͤmlichen Resten war mir, von Kindheit an, der auf dem Bruͤckenthurm aufgesteckte Schaͤdel eines Staatsverbrechers merkwuͤrdig gewesen, der von dreyen oder vieren, wie die leeren eisernen Spitzen aus¬ wiesen, seit 1616 sich durch alle Unbilden der Zeit und Witterung erhalten hatte. So oft man von Sachsenhausen nach Frankfurt zuruͤckkehrte, hatte man den Thurm vor sich und der Schaͤdel fiel ins Auge. Ich ließ mir als Knabe schon gern die Geschichte dieser Aufruͤhrer, des Fettmilch und seiner Genossen erzaͤhlen, wie sie mit dem Stadt¬ regiment unzufrieden gewesen, sich gegen das¬ selbe empoͤrt, Meuterey angesponnen, die Judenstadt gepluͤndert und graͤßliche Haͤndel erregt, zuletzt aber gefangen und von kaiserli¬ chen Abgeordneten zum Tode verurtheilt wor¬ den. Spaͤterhin lag mir daran, die naͤhern Umstaͤnde zu erfahren, und was es denn fuͤr Leute gewesen, zu vernehmen. Als ich nun aus einem alten, gleichzeitigen, mit Holzschnit¬ ten versehenen Buche erfuhr, daß zwar diese Menschen zum Tode verurtheilt, aber zugleich auch viele Rathsherrn abgesetzt worden, weil mancherley Unordnung und sehr viel Unver¬ antwortliches im Schwange gewesen; da ich nun die naͤhern Umstaͤnde vernahm, wie alles hergegangen: so bedauerte ich die ungluͤck¬ lichen Menschen, welche man wohl als Opfer, die einer kuͤnftigen bessern Verfassung gebracht worden, ansehen duͤrfe; denn von jener Zeit schrieb sich die Einrichtung her, nach welcher sowohl das altadlige Haus Limpurg, das aus einem Klubb entsprungene Haus Frauenstein, ferner Juristen, Kaufleute und Handwer¬ ker an einem Regimente Theil nehmen soll¬ ten, das durch eine auf venetianische Weise verwickelte Ballotage ergaͤnzt, von buͤrger¬ lichen Collegien eingeschraͤnkt, das Rechte zu thun berufen war, ohne zu dem Unrechten sonderliche Freyheit zu behalten. Zu den ahndungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den Juͤngling bedraͤngten, gehoͤrte besonders der Zustand der Judenstadt, eigentlich die Judengasse genannt, weil sie kaum aus etwas mehr als einer einzigen Straße besteht, welche in fruͤ¬ hen Zeiten zwischen Stadtmauer und Graben wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt worden seyn. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Accent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unan¬ genehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Thore vorbeygehend hineinsah. Es dau¬ erte lange bis ich allein mich hineinwagte, und ich kehrte nicht leicht wieder dahin zuruͤck, wenn ich einmal den Zudringlichkeiten so vie¬ ler etwas zu schachern unermuͤdet fordernder oder anbietender Menschen entgangen war. Dabey schwebten die alten Maͤhrchen von Grausamkeit der Juden gegen die Christen¬ kinder, die wir in Gottfrieds Chronik graͤßlich abgebildet gesehen, duͤster vor dem jungen Gemuͤth. Und ob man gleich in der neuern Zeit besser von ihnen dachte, so zeugte doch das große Spott- und Schandgemaͤlde, wel¬ ches unter dem Bruͤckenthurm an einer Bo¬ gen-Wand, zu ihrem Unglimpf, noch ziemlich zu sehen war, außerordentlich gegen sie: denn es war nicht etwa durch einen Privatmuth¬ willen, sondern aus oͤffentlicher Anstalt ver¬ fertigt worden. Indessen blieben sie doch das auserwaͤhlte Volk Gottes, und gingen, wie es nun mochte gekommen seyn, zum Andenken der aͤltesten Zeiten umher. Außerdem waren sie ja auch Menschen, thaͤtig, gefaͤllig, und selbst dem Eigensinn, womit sie an ihren Gebraͤuchen hingen, konnte man seine Achtung nicht ver¬ sagen. Ueberdieß waren die Maͤdchen huͤbsch, und mochten es wohl leiden, wenn ein Chri¬ stenknabe ihnen am Sabbath auf dem Fischer¬ felde begegnend, sich freundlich und aufmerk¬ sam bewies. Aeußerst neugierig war ich daher, ihre Ceremonien kennen zu lernen. Ich ließ nicht ab, bis ich ihre Schule oͤfters besucht, einer Beschneidung, einer Hochzeit beygewohnt und von dem Lauberhuͤttenfest mir ein Bild gemacht hatte. Ueberall war ich wohl aufgenommen, gut bewirthet und zur Wiederkehr eingeladen: denn es waren Per¬ sonen von Einfluß, die mich entweder hin¬ fuͤhrten oder empfahlen. So wurde ich denn als ein junger Bewoh¬ ner einer großen Stadt von einem Gegen¬ stand zum andern hin und wieder geworfen, und es fehlte mitten in der buͤrgerlichen Ruhe und Sicherheit nicht an graͤßlichen Auftritten. Bald weckte ein naͤherer oder entfernter Brand uns aus unserm haͤuslichen Frieden, bald setzte ein entdecktes großes Verbrechen, dessen Untersuchung und Bestrafung die Stadt auf viele Wochen in Unruhe. Wir mußten Zeugen von verschiedenen Executionen seyn, und es ist wohl werth zu gedenken, daß ich auch bey Verbrennung eines Buchs gegenwaͤr¬ tig gewesen bin. Es war der Verlag eines franzoͤsischen comischen Romans, der zwar den Staat, aber nicht Religion und Sitten schonte. Es hatte wirklich etwas Fuͤrchterli¬ ches, eine Strafe an einem leblosen Wesen ausgeuͤbt zu sehen. Die Ballen platzten im Feuer, und wurden durch Ofengabeln aus ein¬ ander geschuͤrt und mit den Flammen mehr in Beruͤhrung gebracht. Es dauerte nicht lange, so flogen die angebrannten Blaͤtter in der Luft herum, und die Menge haschte begierig darnach. Auch ruhten wir nicht, bis wir ein Exemplar auftrieben, und es waren nicht wenige die sich das verbotne Vergnuͤgen gleichfalls zu verschaffen wußten. Ja, wenn es dem Autor um Publicitaͤt zu thun war, so haͤtte er selbst nicht besser dafuͤr sorgen koͤnnen. l. 23 Jedoch auch friedlichere Anlaͤsse fuͤhrten mich in der Stadt hin und wieder. Mein Vater hatte mich fruͤh gewoͤhnt kleine Ge¬ schaͤfte fuͤr ihn zu besorgen. Besonders trug er mir auf, die Handwerker die er in Arbeit setzte, zu mahnen, da sie ihn gewoͤhnlich laͤn¬ ger als billig aufhielten, weil er alles genau wollte gearbeitet haben und zuletzt bey promp¬ ter Bezahlung die Preise zu maͤßigen pflegte. Ich gelangte dadurch fast in alle Werkstaͤtten, und da es mir angeboren war mich in die Zustaͤnde anderer zu finden, eine jede beson¬ dere Art des menschlichen Daseyns zu fuͤhlen und mit Gefallen daran Theil zu nehmen; so brachte ich manche vergnuͤgliche Stunde durch Anlaß solcher Auftraͤge zu, lernte eines Jeden Verfahrungsart kennen, und was die unerlaͤßlichen Bedingungen dieser und jener Le¬ bensweise fuͤr Freude, fuͤr Leid, Beschwerliches und Guͤnstiges mit sich fuͤhren. Ich naͤherte mich dadurch dieser thaͤtigen, das Untere und Obere verbindenden Classe. Denn wenn an der einen Seite diejenigen stehen, die sich mit den einfachen und rohen Erzeugnissen beschaͤftigen, an der andern solche, die schon etwas Verar¬ beitetes genießen wollen; so vermittelt der Gewerker durch Sinn und Hand, daß jene beyde etwas von einander empfangen und je¬ der nach seiner Art seiner Wuͤnsche theilhaft werden kann. Das Familienwesen eines je¬ den Handswerks, das Gestalt und Farbe von der Beschaͤftigung erhielt, war gleichfalls der Gegenstand meiner stillen Aufmerksamkeit, und so entwickelte, so bestaͤrkte sich in mir das Gefuͤhl der Gleichheit wo nicht aller Menschen, doch aller menschlichen Zustaͤnde, indem mir das nackte Daseyn als die Haupt¬ bedingung, das uͤbrige alles aber als gleich¬ guͤltig und zufaͤllig erschien. Da mein Vater sich nicht leicht eine Aus¬ gabe erlaubte, die durch einen augenblickli¬ chen Genuß sogleich waͤre aufgezehrt worden: wie ich mich denn kaum erinnre, daß wir 23 * zusammen spaziren gefahren, und auf einem Lustorte etwas verzehrt haͤtten; so war er dagegen nicht karg mit Anschaffung solcher Dinge, die bey innerm Werth auch einen gu¬ ten aͤußern Schein haben. Niemand konnte den Frieden mehr wuͤnschen als er, ob er gleich in der letzten Zeit vom Kriege nicht die mindeste Beschwerlichkeit empfand. In diesen Gesinnungen hatte er meiner Mutter eine goldne mit Diamanten besetzte Dose versprochen, welche sie erhalten sollte, sobald der Friede publicirt wuͤrde. In Hoffnung dieses gluͤcklichen Ereignisses arbeitete man schon einige Jahre an diesem Geschenk. Die Dose selbst von ziemlicher Groͤße ward in Hanau verfertigt: denn mit den dortigen Goldarbeitern, so wie mit den Vorstehern der Seidenanstalt, stand mein Vater in gu¬ tem Vernehmen. Mehrere Zeichnungen wur¬ den dazu verfertigt; den Deckel zierte ein Blumenkorb, uͤber welchem eine Taube mit dem Oelzweig schwebte. Der Raum fuͤr die Juwelen war gelassen, die theils an der Taube, theils an den Blumen, theils auch an der Stelle wo man die Dose zu oͤffnen pflegt, angebracht werden sollten. Der Ju¬ welier, dem die voͤllige Ausfuͤhrung nebst den dazu noͤthigen Steinen uͤbergeben ward, hieß Lautensak und war ein geschickter muntrer Mann, der wie mehrere geistreiche Kuͤnstler selten das Nothwendige, gewoͤhnlich aber das Willkuͤhrliche that, was ihm Vergnuͤgen machte. Die Juwelen, in der Figur wie sie auf dem Dosendeckel angebracht werden soll¬ ten, waren zwar bald auf schwarzes Wachs gesetzt und nahmen sich ganz gut aus; allein sie wollten sich von da gar nicht abloͤsen, um aufs Gold zu gelangen. Im Anfange ließ mein Vater die Sache noch so anstehen; als aber die Hoffnung zum Frieden immer leb¬ hafter wurde, als man zuletzt schon die Be¬ dingungen, besonders die Erhebung des Erz¬ herzogs Joseph zum roͤmischen Koͤnig, ge¬ nauer wissen wollte; so ward mein Vater immer ungeduldiger, und ich mußte woͤchent¬ lich ein paarmal, ja zuletzt fast taͤglich den saumseligen Kuͤnstler besuchen. Durch mein unablaͤssiges Quaͤlen und Zureden ruͤckte die Arbeit, wiewohl langsam genug, vorwaͤrts: denn weil sie von der Art war, daß man sie bald vornehmen, bald wieder aus den Haͤn¬ den legen konnte, so fand sich immer etwas, wodurch sie verdraͤngt und bey Seite gescho¬ ben wurde. Die Hauptursache dieses Benehmens in¬ deß war eine Arbeit, die der Kuͤnstler fuͤr eigene Rechnung unternommen hatte. Jeder¬ mann wußte, daß Kaiser Franz eine große Neigung zu Juwelen, besonders auch zu far¬ bigen Steinen hege. Lautensak hatte eine ansehnliche Summe, und wie sich spaͤter fand, groͤßer als sein Vermoͤgen auf derglei¬ chen Edelsteine verwandt, und daraus einen Blumenstrauß zu bilden angefangen, in wel¬ chem jeder Stein nach seiner Form und Farbe guͤnstig hervortreten und das Ganze ein Kunststuͤck geben sollte, werth in dem Schatzgewoͤlbe eines Kaisers aufbewahrt zu stehen. Er hatte nach seiner zerstreuten Art mehrere Jahre daran gearbeitet, und eilte nun, weil man nach dem bald zu hoffenden Frieden die Ankunft des Kaisers zur Kroͤ¬ nung seines Sohns in Frankfurt erwartete, es vollstaͤndig zu machen und endlich zusam¬ menzubringen. Meine Lust dergleichen Ge¬ genstaͤnde kennen zu lernen, benutzte er sehr gewandt, um mich als einen Mahnboten zu zerstreuen und von meinem Vorsatz abzulen¬ ken. Er suchte mir die Kenntniß dieser Steine beyzubringen, machte mich auf ihre Eigenschaften, ihren Werth aufmerksam, so daß ich sein ganzes Bouquet zuletzt auswen¬ dig wußte, und es eben so gut wie er einem Kunden haͤtte anpreisend vordemonstriren koͤn¬ nen. Es ist mir noch jetzt gegenwaͤrtig, und ich habe wohl kostbarere aber nicht anmuthi¬ gere Schau- und Prachtstuͤcke dieser Art ge¬ sehen. Außerdem besaß er noch eine huͤbsche Kupfersammlung und andere Kunstwerke, uͤber die er sich gern unterhielt, und ich brachte viele Stunden nicht ohne Nutzen bey ihm zu. Endlich, als wirklich der Congreß zu Hubertsburg schon festgesetzt war, that er aus Liebe zu mir ein uͤbriges, und die Taube zusammt den Blumen gelangte am Friedens¬ feste wirklich in die Haͤnde meiner Mutter. Manchen aͤhnlichen Auftrag erhielt ich denn auch, um bey den Malern bestellte Bil¬ der zu betreiben. Mein Vater hatte bey sich den Begriff festgesetzt, und wenig Menschen waren davon frey, daß ein Bild auf Holz gemalt einen großen Vorzug vor einem an¬ dern habe, das nur auf Leinwand aufgetragen sey. Gute eichene Breter von jeder Form zu besitzen, war deswegen meines Vaters große Sorgfalt, indem er wohl wußte, daß die leichtsinnigern Kuͤnstler sich gerade in die¬ ser wichtigen Sache auf den Tischer verlie¬ ßen. Die aͤltesten Bohlen wurden aufgesucht, der Tischer mußte mit Leimen, Hobeln und Zurichten derselben aufs genauste zu Werke gehen, und dann blieben sie Jahre lang in einem obern Zimmer verwahrt, wo sie ge¬ nugsam austrocknen konnten. Ein solches koͤstliches Bret ward dem Maler Junker anvertraut, der einen verzierten Blumentopf mit den bedeutendsten Blumen nach der Na¬ tur in seiner kuͤnstlichen und zierlichen Weise darauf darstellen sollte. Es war gerade im Fruͤhling, und ich versaͤumte nicht, ihm woͤ¬ chentlich einige Mal die schoͤnsten Blumen zu bringen die mir unter die Hand kamen; welche er denn auch sogleich einschaltete, und das Ganze nach und nach aus diesen Ele¬ menten auf das treulichste und fleißigste zu¬ sammenbildete. Gelegentlich hatte ich auch wohl einmal eine Maus gefangen, die ich ihm brachte, und die er als ein gar so zier¬ liches Thier nachzubilden Lust hatte, auch sie wirklich aufs genauste vorstellte, wie sie am Fuße des Blumentopfes eine Kornaͤhre benascht. Mehr dergleichen unschuldige Na¬ turgegenstaͤnde, als Schmetterlinge und Kaͤ¬ fer, wurden herbeygeschafft und dargestellt, so daß zuletzt, was Nachahmung und Aus¬ fuͤhrung betraf, ein hoͤchst schaͤtzbares Bild beysammen war. Ich wunderte mich daher nicht wenig, als der gute Mann mir eines Tages, da die Arbeit bald abgeliefert werden sollte, um¬ staͤndlich eroͤffnete, wie ihm das Bild nicht mehr gefalle, indem es wohl im Einzelnen ganz gut gerathen, im Ganzen aber nicht gut componirt sey, weil es so nach und nach entstanden, und er im Anfange das Versehen begangen, sich nicht wenigstens einen allge¬ meinen Plan fuͤr Licht und Schatten so wie fuͤr Farben zu entwerfen, nach welchem man die einzelnen Blumen haͤtte einordnen koͤn¬ nen. Er ging mit mir das waͤhrend eines halben Jahrs vor meinen Augen entstandene und mir theilweise gefaͤllige Bild umstaͤndlich durch, und wußte mich zu meiner Betruͤbniß vollkommen zu uͤberzeugen. Auch hielt er die nachgebildete Maus fuͤr einen Mißgriff: denn, sagte er, solche Thiere haben fuͤr viele Men¬ schen etwas Schauderhaftes, und man sollte sie da nicht anbringen, wo man Gefallen erregen will. Ich hatte nun, wie es demje¬ nigen zu gehen pflegt, der sich von einem Vorurtheile geheilt sieht und sich viel kluͤger duͤnkt als er vorher gewesen, eine wahre Ver¬ achtung gegen dieß Kunstwerk, und stimmte dem Kuͤnstler voͤllig bey, als er eine andere Tafel von gleicher Groͤße verfertigen ließ, worauf er, nach dem Geschmack den er be¬ saß, ein besser geformtes Gefaͤß und einen kunstreicher geordneten Blumenstrauß an¬ brachte, auch die lebendigen kleinen Beywesen zierlich und erfreulich sowohl zu waͤhlen als zu vertheilen wußte. Auch diese Tafel malte er mit der groͤßten Sorgfalt, doch freylich nur nach jener schon abgebildeten, oder aus dem Gedaͤchtniß, das ihm aber bey einer sehr langen und emsigen Praxis gar wohl zu Huͤlfe kam. Beyde Gemaͤlde waren nun fertig, und wir hatten eine entschiedene Freude an dem letzten, das wirklich kunstrei¬ cher und mehr in die Augen fiel. Der Va¬ ter ward anstatt mit einem mit zwey Stuͤ¬ cken uͤberrascht und ihm die Wahl gelassen. Er billigte unsere Meynung und die Gruͤnde derselben, besonders auch den guten Willen und die Thaͤtigkeit: entschied sich aber, nach¬ dem er beyde Bilder einige Tage betrachtet, fuͤr das erste, ohne uͤber diese Wahl weiter viele Worte zu machen. Der Kuͤnstler aͤrger¬ lich, nahm sein zweytes wohlgemeintes Bild zuruͤck, und konnte sich gegen mich der Be¬ merkung nicht enthalten, daß die gute eichne Tafel, worauf das erste gemalt stehe, zum Entschluß des Vaters gewiß das Ihrige bey¬ getragen habe. Da ich hier wieder der Malerey gedenke, so tritt in meiner Erinnerung eine große An¬ stalt hervor, in der ich viele Zeit zubrachte, weil sie und deren Vorsteher mich besonders an sich zog. Es war die große Wachstuchs¬ fabrik, welche der Maler Nothnagel er¬ richtet hatte: ein geschickter Kuͤnstler, der aber sowohl durch sein Talent als durch seine Denkweise mehr zum Fabrikwesen als zur Kunst hinneigte. In einem sehr großen Raume von Hoͤfen und Gaͤrten wurden alle Arten von Wachstuch gefertigt, von dem rohsten an, das mit der Spatel aufgetragen wird, und das man zu Ruͤstwagen und aͤhn¬ lichem Gebrauch benutzte, durch die Tapeten hindurch, welche mit Formen abgedruckt wur¬ den, bis zu den feineren und feinsten, auf welchen bald chinesische und fantastische, bald natuͤrliche Blumen abgebildet, bald Figuren, bald Landschaften durch den Pinsel geschickter Arbeiter dargestellt wurden. Diese Mannig¬ faltigkeit, die ins Unendliche ging, ergetzte mich sehr. Die Beschaͤftigung so vieler Men¬ schen von der gemeinsten Arbeit bis zu sol¬ chen, denen man einen gewissen Kunstwerth kaum versagen konnte, war fuͤr mich hoͤchst anziehend. Ich machte Bekanntschaft mit dieser Menge in vielen Zimmern hinter ein¬ ander arbeitenden juͤngern und aͤlteren Maͤn¬ nern, und legte auch wohl selbst mitunter Hand an. Der Vertrieb dieser Waare ging außerordentlich stark. Wer damals baute, oder ein Gebaͤude moͤblirte, wollte fuͤr seine Lebenszeit versorgt seyn, und diese Wachs¬ tuchtapeten waren allerdings unverwuͤstlich. Nothnagel selbst hatte genug mit Leitung des Ganzen zu thun, und saß in seinem Comtoir umgeben von Factoren und Handlungsdie¬ nern. Die Zeit die ihm uͤbrig blieb, be¬ schaͤftigte er sich mit seiner Kunstsammlung, die vorzuͤglich aus Kupferstichen bestand, mit denen er, so wie mit Gemaͤlden die er besaß, auch wohl gelegentlich Handel trieb. Zu¬ gleich hatte er das Radiren lieb gewonnen; er aͤtzte verschiedene Blaͤtter und setzte diesen Kunstzweig bis in seine spaͤtesten Jahre fort. Da seine Wohnung nahe am Eschenhei¬ mer Thore lag, so fuͤhrte mich, wenn ich ihn besucht hatte, mein Weg gewoͤhnlich zur Stadt hinaus und zu den Grundstuͤcken welche mein Vater vor den Thoren besaß. Das eine war ein großer Baumgarten, des¬ sen Boden als Wiese benutzt wurde, und worin mein Vater das Nachpflanzen der Baͤume und was sonst zur Erhaltung diente, sorgfaͤltig beobachtete, obgleich das Grund¬ stuͤck verpachtet war. Noch mehr Beschaͤfti¬ gung gab ihm ein sehr gut unterhaltener Weinberg vor dem Friedberger Thore, wo¬ selbst zwischen den Reihen der Weinstoͤcke, Spargelreihen mit großer Sorgfalt gepflanzt und gewartet wurden. Es verging in der guten Jahrszeit fast kein Tag, daß nicht mein Vater sich hinaus begab, da wir ihn denn meist begleiten durften, und so von den ersten Erzeugnissen des Fruͤhlings bis zu den letzten des Herbstes, Genuß und Freude hat¬ ten. Wir lernten nun auch mit den Garten¬ geschaͤften umgehen, die weil sie sich jaͤhrlich wiederholten, uns endlich ganz bekannt und gelaͤufig wurden. Nach mancherley Fruͤchten des Sommers und Herbstes war aber doch zuletzt die Weinlese das Lustigste und am meisten Erwuͤnschte; ja es ist keine Frage, daß wie der Wein selbst den Orten und Ge¬ genden, wo er waͤchst und getrunken wird, einen freyern Character giebt, so auch diese Tage der Weinlese, indem sie den Sommer schließen und zugleich den Winter eroͤffnen, eine unglaubliche Heiterkeit verbreiten. Lust und Jubel erstreckt sich uͤber eine ganze Ge¬ gend. Des Tages hoͤrt man von allen Ecken und Enden Jauchzen und Schießen, und des Nachts verkuͤnden bald da bald dort Raketen und Leuchtkugeln, daß man noch uͤberall wach und munter diese Feyer gern so lange als moͤglich ausdehnen moͤchte. Die nachherigen Bemuͤhungen beym Keltern und waͤhrend der Gaͤhrung im Keller gaben uns auch zu Hause eine heitere Beschaͤftigung, und so kamen wir gewoͤhnlich in den Winter hinein ohne es recht gewahr zu werden. Dieser laͤndlichen Besitzungen erfreuten wir uns im Fruͤhling 1763 um so mehr, als uns der 15te Februar dieses Jahrs, durch den Abschluß des Hubertsburger Frie¬ dens, zum festlichen Tage geworden, unter dessen gluͤcklichen Folgen der groͤßte Theil meines Lebens verfließen sollte. Ehe ich je¬ doch weiter schreite, halte ich es fuͤr meine Schuldigkeit, einiger Maͤnner zu gedenken, welche einen bedeutenden Einfluß auf meine Jugend ausgeuͤbt. Von Olenschlager , Mitglied des Hauses Frauenstein, Schoͤff und Schwieger¬ sohn des oben erwaͤhnten Doctor Orth, ein schoͤner, behaglicher, sanguinischer Mann. Er I. 24 haͤtte in seiner burgemeisterlichen Festtracht gar wohl den angesehnsten franzoͤsischen Praͤ¬ laten vorstellen koͤnnen. Nach seinen acade¬ mischen Studien hatte er sich in Hof- und Staatsgeschaͤften umgethan, und seine Reisen auch zu diesen Zwecken eingeleitet. Er hielt mich besonders werth und sprach oft mit mir von den Dingen, die ihn vorzuͤglich interes¬ sirten. Ich war um ihn, als er eben seine Erlaͤuterung der guͤldnen Bulle schrieb; da er mir denn den Werth und die Wuͤrde dieses Documents sehr deutlich herauszusetzen wußte. Auch dadurch wurde meine Einbil¬ dungskraft in jene wilden und unruhigen Zei¬ ten zuruͤckgefuͤhrt, daß ich nicht unterlassen konnte, dasjenige was er mir geschichtlich er¬ zaͤhlte, gleichsam als gegenwaͤrtig, mit Aus¬ malung der Character und Umstaͤnde und manchmal sogar mimisch darzustellen; woran er denn große Freude hatte, und durch sei¬ nen Beyfall mich zur Wiederholung aufregte. Ich hatte von Kindheit auf die wunder¬ liche Gewohnheit, immer die Anfaͤnge der Buͤcher und Abtheilungen eines Werks aus¬ wendig zu lernen, zuerst der fuͤnf Buͤcher Mosis, sodann der Aeneide und der Meta¬ morphosen. So machte ich es nun auch mit der goldenen Bulle, und reizte meinen Goͤn¬ ner oft zum Laͤcheln, wenn ich ganz ernst¬ haft unversehens ausrief: omne regnum in se divisum desolabitur: nam principes ejus facti sunt socii furum . Der kluge Mann schuͤttelte laͤchelnd den Kopf und sagte bedenklich: was muͤssen das fuͤr Zeiten gewe¬ sen seyn, in welchen der Kaiser auf einer großen Reichsversammlung seinen Fuͤrsten der¬ gleichen Worte ins Gesicht publiciren ließ. Von Olenschlager hatte viel Anmuth im Umgang. Man sah wenig Gesellschaft bey ihm, aber zu einer, geistreichen Unterhaltung war er sehr geneigt, und er veranlaßte uns junge Leute von Zeit zu Zeit ein Schauspiel 24 * aufzufuͤhren: denn man hielt dafuͤr, daß eine solche Uebung der Jugend besonders nuͤtzlich sey. Wir gaben den Kanut von Schlegel , worin mir die Rolle des Koͤnigs, meiner Schwester die Elfride, und Ulfo dem juͤn¬ gern Sohn des Hauses zugetheilt wurde. Sodann wagten wir uns an den Britanni¬ cus, denn wir sollten nebst dem Schauspieler¬ talent auch die Sprache zur Uebung bringen. Ich erhielt den Nero, meine Schwester die Agrippine, und der juͤngere Sohn den Bri¬ tannicus. Wir wurden mehr gelobt als wir verdienten, und glaubten es noch besser ge¬ macht zu haben, als wie wir gelobt wurden. So stand ich mit dieser Familie in dem be¬ sten Verhaͤltniß, und bin ihr manches Ver¬ gnuͤgen und eine schnellere Entwicklung schul¬ dig geworden. Von Reineck , aus einem altadligen Hause, tuͤchtig, rechtschaffen, aber starrsinnig, ein hagrer schwarzbrauner Mann, den ich niemals laͤcheln gesehen. Ihm begegnete das Ungluͤck, daß seine einzige Tochter durch ei¬ nen Hausfreund entfuͤhrt wurde. Er ver¬ folgte seinen Schwiegersohn mit dem heftig¬ sten Proceß, und weil die Gerichte, in ihrer Foͤrmlichkeit, seiner Rachsucht weder schnell noch stark genug willfahren wollten, uͤberwarf er sich mit diesen, und es entstanden Haͤndel aus Haͤndeln, Processe aus Processen. Er zog sich ganz in sein Haus und einen daran¬ stoßenden Garten zuruͤck, lebte in einer weit¬ laͤuftigen aber traurigen Unterstube, in die seit vielen Jahren kein Pinsel eines Tuͤn¬ chers, vielleicht kaum der Kehrbesen einer Magd gekommen war. Mich konnte er gar gern leiden, und hatte mir seinen juͤngern Sohn besonders empfohlen. Seine aͤltesten Freunde, die sich nach ihm zu richten wu߬ ten, seine Geschaͤftsleute, seine Sachwalter sah er manchmal bey Tische, und unterließ dann niemals auch mich einzuladen. Man aß sehr gut bey ihm und trank noch besser. Den Gaͤsten erregte jedoch ein großer, aus vielen Ritzen rauchender Ofen die aͤrgste Pein. Einer der vertrautesten wagte einmal dieß zu bemerken, indem er den Hausherrn fragte: ob er denn so eine Unbequemlichkeit den ganzen Winter aushalten koͤnne. Er antwortete darauf, als ein zweyter Timon und Heautontimorumenos: „Wollte Gott, dieß waͤre das groͤßte Uebel von denen die mich plagen!“ Nur spaͤt ließ er sich bereden, Tochter und Enkel wiederzusehen. Der Schwiegersohn durfte ihm nicht wieder vor Augen. Auf diesen so braven als ungluͤcklichen Mann wirkte meine Gegenwart sehr guͤnstig: denn indem er sich gern mit mir unterhielt, und mich besonders von Welt- und Staats¬ verhaͤltnissen belehrte, schien er selbst sich erleich¬ tert und erheitert zu fuͤhlen. Die wenigen alten Freunde, die sich noch um ihn versam¬ melten, gebrauchten mich daher oft, wenn sie seinen verdrießlichen Sinn zu mildern und ihn zu irgend einer Zerstreuung zu bereden wuͤnschten. Wirklich fuhr er nunmehr manch¬ mal mit uns aus, und besah sich die Gegend wieder, auf die er so viele Jahre keinen Blick geworfen hatte. Er gedachte der alten Besitzer, erzaͤhlte von ihren Charactern und Begebenheiten, wo er sich denn immer streng, aber doch oͤfters heiter und geistreich erwies. Wir suchten ihn nun auch wieder unter andere Menschen zu bringen, welches uns aber bey¬ nah uͤbel gerathen waͤre. Von gleichem, wenn nicht noch von hoͤhe¬ rem Alter als er, war ein Herr von Mala¬ part , ein reicher Mann, der ein sehr schoͤ¬ nes Haus am Roßmarkt besaß und gute Einkuͤnfte von Salinen zog. Auch er lebte sehr abgesondert; doch war er Sommers viel in seinem Garten vor dem Bockenheimer Thore, wo er eine sehr schoͤne Nelkenflor wartete und pflegte. Von Reineck war auch ein Nelkenfreund; die Zeit des Flors war da, und es geschahen einige Anregungen, ob man sich nicht wech¬ selseitig besuchen wollte. Wir leiteten die Sache ein und trieben es so lange, bis end¬ lich von Reineck sich entschloß mit uns einen Sonntag Nachmittag hinaus zu fahren. Die Begruͤßung der beyden alten Herren war sehr laconisch, ja blos pantomimisch, und man ging mit wahrhaft diplomatischem Schritt an den langen Nelkengeruͤsten hin und her. Der Flor war wirklich außerordentlich schoͤn, und die besondern Formen und Farben der verschiedenen Blumen, die Vorzuͤge der einen vor der andern und ihre Seltenheit machten denn doch zuletzt eine Art von Gespraͤch aus, welches ganz freundlich zu werden schien; woruͤber wir andern uns um so mehr freuten, als wir in einer benachbarten Laube den kost¬ barsten alten Rheinwein in geschliffenen Fla¬ schen, schoͤnes Obst und andre gute Dinge aufgetischt sahen. Leider aber sollten wir sie nicht genießen. Denn ungluͤcklicherweise sah von Reineck eine sehr schoͤne Nelke vor sich, die aber den Kopf etwas niedersenkte; er griff daher sehr zierlich mit dem Zeige- und Mit¬ telfinger vom Stengel herauf gegen den Kelch und hob die Blume von hinten in die Hoͤhe, so daß er sie wohl betrachten konnte. Aber auch diese zarte Beruͤhrung verdroß den Besi¬ tzer. Von Malapart erinnerte, zwar hoͤflich aber doch steif genug und eher etwas selbst¬ gefaͤllig, an das oculis non manibus . Von Reineck hatte die Blume schon losgelassen, fing aber auf jenes Wort gleich Feuer und sagte, mit seiner gewoͤhnlichen Trockenheit und Ernst: Es sey einem Kenner und Lieb¬ haber wohl gemaͤß, eine Blume auf die Weise zu beruͤhren und zu betrachten; worauf er denn jenen Gest wiederholte und sie noch einmal zwischen die Finger nahm. Die bey¬ derseitigen Hausfreunde — denn auch von Malapart hatte einen bey sich — waren nun in der groͤßten Verlegenheit. Sie ließen einen Hasen nach dem andern laufen (dieß war unsre spruͤchwoͤrtliche Redensart, wenn ein Gespraͤch sollte unterbrochen und auf einen andern Gegenstand gelenkt werden); allein es wollte nichts verfangen: die alten Herren waren ganz stumm geworden, und wir fuͤrch¬ teten jeden Augenblick, von Reineck moͤchte jenen Act wiederholen; da waͤre es denn um uns alle geschehn gewesen. Die beyden Hausfreunde hielten ihre Herren auseinan¬ der, indem sie selbige bald da bald dort beschaͤftigten, und das kluͤgste war, daß wir endlich aufzubrechen Anstalt machten; und so mußten wir leider den reizenden Credenztisch ungenossen mit dem Ruͤcken ansehen. Hofrath Huisgen , nicht von Frankfurt gebuͤrtig, reformirter Religion und deswegen keiner oͤffentlichen Stelle noch auch der Advo¬ catur faͤhig, die er jedoch, weil man ihm als vortrefflichem Juristen viel Vertrauen schenkte, unter fremder Signatur ganz gelassen sowohl in Frankfurt als bey den Reichsgerichten zu fuͤh¬ ren wußte, war wohl schon sechzig Jahr alt, als ich mit seinem Sohne Schreibstunde hatte und dadurch ins Haus kam. Seine Gestalt war groß, lang ohne hager, breit ohne beleibt zu seyn, Sein Gesicht, nicht allein von den Blattern entstellt, sondern auch des einen Auges beraubt, sah man die erste Zeit nur mit Apprehension. Er trug auf einem kahlen Haupte immer eine ganz weiße Glockenmuͤtze, oben mit einem Bande gebunden. Seine Schlafroͤcke von Kalmank oder Damast, waren durchaus sehr sauber. Er bewohnte eine gar heitre Zimmerflucht auf gleicher Erde an der Allee, und die Reinlichkeit seiner Umgebung entsprach dieser Heiterkeit. Die groͤßte Ord¬ nung seiner Papiere, Buͤcher, Landcharten machte einen angenehmen Eindruck. Sein Sohn, Heinrich Sebastian , der sich durch verschiedene Schriften im Kunstfach bekannt gemacht, versprach in seiner Jugend wenig. Gutmuͤthig, aber taͤppisch, nicht roh, aber doch geradezu und ohne besondre Nei¬ gung sich zu unterrichten, suchte er lieber die Gegenwart des Vaters zu vermeiden, indem er von der Mutter alles was er wuͤnschte, erhalten konnte. Ich hingegen naͤherte mich dem Alten immer mehr, je mehr ich ihn kennen lernte. Da er sich nur bedeutender Rechtsfaͤlle annahm, so hatte er Zeit genug sich auf andre Weise zu beschaͤftigen und zu unterhalten. Ich hatte nicht lange um ihn gelebt und seine Lehren vernommen; als ich wohl merken konnte, daß er mit Gott und der Welt in Opposition stehe. Eins seiner Lieblingsbuͤcher war Agrippa de vanitate Scientiarum , das er mir besonders empfahl, und mein junges Gehirn dadurch eine Zeit lang in ziemliche Verwirrung setzte. Ich war im Behagen der Jugend zu einer Art von Optimismus geneigt, und hatte mich mit Gott oder den Goͤttern ziemlich wieder ausgesoͤhnt: denn durch eine Reihe von Jah¬ ren war ich zu der Erfahrung gekommen, daß es gegen das Boͤse manches Gleichgewicht gebe, daß man sich von den Uebeln wohl wieder herstelle, und daß man sich aus Gefahren rette und nicht immer den Hals breche. Auch was die Menschen thaten und trieben sah ich laͤßlich an, und fand manches Lobens¬ wuͤrdige, womit mein alter Herr keineswegs zufrieden seyn wollte. Ja, als er einmal mir die Welt ziemlich von ihrer fratzenhaften Seite geschildert hatte, merkte ich ihm an, daß er noch mit einem bedeutenden Trumpfe zu schließen gedenke. Er druͤckte, wie in solchen Faͤllen seine Art war, das blinde linke Auge stark zu, blickte mit dem andern scharf hervor und sagte mit einer naͤselnden Stim¬ me: „Auch in Gott entdeck' ich Fehler.“ Mein timonischer Mentor war auch Ma¬ thematiker; aber seine practische Natur trieb ihn zur Mechanik, ob er gleich nicht selbst arbeitete. Eine fuͤr damalige Zeiten wenig¬ stens wundersame Uhr, welche neben den Stun¬ den und Tagen auch die Bewegungen von Sonne und Mond anzeigte, ließ er nach sei¬ ner Angabe verfertigen. Sonntags fruͤh um Zehn zog er sie jedesmal selbst auf, welches er um so gewisser thun konnte, als er niemals in die Kirche ging. Gesellschaft oder Gaͤste habe ich nie bey ihm gesehen. Angezogen und aus dem Hause gehend erinnere ich mir ihn in zehn Jahren kaum zweymal. Die verschiedenen Unterhaltungen mit die¬ sen Maͤnnern waren nicht unbedeutend, und je¬ der wirkte auf mich nach seiner Weise. Fuͤr einen jeden hatte ich so viel, oft noch mehr Aufmerksamkeit als die eigenen Kinder, und jeder suchte an mir, als an einem geliebten Sohne, sein Wohlgefallen zu vermehren, in¬ dem er an mir sein moralisches Ebenbild her¬ zustellen trachtete. Olenschlager wollte mich zum Hofmann, Reineck zum diplomatischen Geschaͤftsmann bilden, beyde, besonders letz¬ terer, suchten mir Poesie und Schriftstelle¬ rey zu verleiben. Huisgen wollte mich zum Timon seiner Art, daben aber zum tuͤchti¬ gen Rechtsgelehrten haben: ein nothwendiges Handwerk wie er meinte, damit man sich und das Seinige gegen das Lumpenpack von Menschen regelmaͤßig vertheidigen, einem Un¬ terdruͤckten beystehen, und allenfalles einem Schelmen etwas am Zeuge flicken koͤnne; letz¬ teres jedoch sey weder besonders thulich noch rathsam. Hielt ich mich gern an der Seite jener Maͤnner, um ihren Rath, ihren Fingerzeig zu benutzen, so forderten juͤngere, an Alter mir nur wenig vorausgeschrittene mich auf zum unmittelbaren Nacheifern. Ich nenne hier vor allen andern die Gebruͤder Schlosser , und Griesbach . Da ich jedoch mit diesen in der Folge in genauere Verbindung trat, welche viele Jahre ununterbrochen dauerte, so sage ich gegenwaͤrtig nur soviel, daß sie uns damals als ausgezeichnet in Sprachen und andern, die akademische Laufbahn eroͤffnenden Studien gepriesen und zum Muster aufgestellt wurden, und daß Jedermann die gewisse Er¬ wartung hegte, sie wuͤrden einst im Staat und in der Kirche etwas Ungemeines leisten. Was mich betrifft, so hatte ich auch wohl im Sinne, etwas Außerordentliches hervor¬ zubringen; worin es aber bestehen koͤnne, wollte mir nicht deutlich werden. Wie man jedoch eher an den Lohn denkt, den man er¬ halten moͤchte, als an das Verdienst, das man sich erwerben sollte; so laͤugne ich nicht, daß wenn ich an ein wuͤnschenswerthes Gluͤck dachte, dieses mir am reizendsten in der Ge¬ stalt des Lorbeerkranzes erschien, der den Dichter zu zieren geflochten ist. Fuͤnftes Buch . I. 25 Fuͤr alle Voͤgel giebt es Lockspeisen, und jeder Mensch wird auf seine eigene Art ge¬ leitet und verleitet. Natur, Erziehung, Um¬ gebung, Gewohnheit hielten mich von allem Rohen abgesondert, und ob ich gleich mit den untern Volks-Classen, besonders den Handwerkern, oͤfters in Beruͤhrung kam, so entstand doch daraus kein naͤheres Verhaͤlt¬ niß. Etwas Ungewoͤhnliches, vielleicht Ge¬ faͤhrliches zu unternehmen, hatte ich zwar Verwegenheit genug, und fuͤhlte mich wohl manchmal dazu aufgelegt; allein es mangelte mir die Handhabe es anzugreifen und zu fassen. Indessen wurde ich auf eine voͤllig uner¬ wartete Weise in Verhaͤltnisse verwickelt, die mich ganz nahe an große Gefahr, und we¬ 25 * nigstens fuͤr eine Zeit lang in Verlegenheit und Noth brachten. Mein fruͤheres gutes Verhaͤltniß zu jenem Knaben, den ich oben Pylades genannt, hatte sich bis ins Juͤng¬ lingsalter fortgesetzt. Zwar sahen wir uns seltner, weil unsre Aeltern nicht zum besten mit einander standen; wo wir uns aber tra¬ fen, sprang immer sogleich der alte freund¬ schaftliche Jubel hervor. Einst begegneten wir uns in den Alleen, die zwischen dem in¬ nern und aͤußern Sanct - Gallen - Thor einen sehr angenehmen Spazirgang darboten. Wir hatten uns kaum begruͤßt, als er zu mir sagte: „Es geht mir mit deinen Versen noch immer wie sonst. Diejenigen die du mir neulich mittheiltest, habe ich einigen lustigen Gesellen vorgelesen, und keiner will glauben, daß du sie gemacht habest.“ — Laß es gut seyn, versetzte ich; wir wollen sie machen, uns daran ergetzen, und die Andern moͤgen davon denken und sagen was sie wollen. „Da kommt eben der Unglaͤubige!“ sagte mein Freund. — Wir wollen nicht davon reden, war meine Antwort. Was hilfts, man bekehrt sie doch nicht. — „Mit nich¬ ten, sagte der Freund: ich kann es ihm nicht so hingehen lassen.“ Nach einer kurzen gleichguͤltigen Unter¬ haltung konnte es der fuͤr mich nur allzu¬ wohlgesinnte junge Gesell nicht lassen, und sagte mit einiger Empfindlichkeit gegen jenen: „Hier ist nun der Freund, der die huͤbschen Verse gemacht hat, und die ihr ihm nicht zutrauen wollt.“ — Er wird es gewiß nicht uͤbel nehmen, versetzte jener: denn es ist ja eine Ehre die wir ihm erweisen, wenn wir glauben, daß weit mehr Gelehrsamkeit dazu gehoͤre, solche Verse zu machen, als er bey seiner Jugend besitzen kann. — Ich erwie¬ derte etwas Gleichguͤltiges; mein Freund aber fuhr fort: „Es wird nicht viel Muͤhe kosten, euch zu uͤberzeugen. Gebt ihm irgend ein Thema auf, und er macht euch ein Gedicht aus dem Stegereif.“ — Ich ließ es mir gefallen, wir wurden einig, und der Dritte fragte mich: ob ich mich wohl getraue, ei¬ nen recht artigen Liebesbrief in Versen aufzu¬ setzen, den ein verschaͤmtes junges Maͤdchen an einen Juͤngling schriebe, um ihre Nei¬ gung zu offenbaren. — Nichts ist leichter als das, versetzte ich, wenn wir nur ein Schreibzeug haͤtten. — Jener brachte seinen Taschencalender hervor, worin sich weiße Blaͤtter in Menge befanden, und ich setzte mich auf eine Bank, zu schreiben. Sie gin¬ gen indeß auf und ab und ließen mich nicht aus den Augen. Sogleich faßte ich die Si¬ tuation in den Sinn und dachte mir, wie artig es seyn muͤßte, wenn irgend ein huͤb¬ sches Kind mir wirklich gewogen waͤre und es mir in Prosa oder in Versen entdecken wollte. Ich begann daher ohne Anstand meine Erklaͤrung, und fuͤhrte sie in einem, zwischen dem Knittelvers und Madrigal schwebenden Sylbenmaße mit moͤglichster Nai¬ vetaͤt in kurzer Zeit dergestalt aus, daß, als ich dieß Gedichtchen den beyden vorlas, der Zweifler in Verwunderung und mein Freund in Entzuͤcken versetzt wurde. Jenem konnte ich auf sein Verlangen das Gedicht um so weniger verweigern, als es in seinen Calen¬ der geschrieben war, und ich das Document meiner Faͤhigkeiten gern in seinen Haͤnden sah. Er schied unter vielen Versicherungen von Bewunderung und Neigung, und wuͤnschte nichts mehr als uns oͤfter zu begegnen, und wir machten aus, bald zusammen aufs Land zu gehen. Unsre Partie kam zu Stande, zu der sich noch mehrere junge Leute von jenem Schlage gesellten. Es waren Menschen aus dem mittlern, ja wenn man will, aus dem niedern Stande, denen es an Kopf nicht fehlte, und die auch, weil sie durch die Schule gelaufen, manche Kenntniß und eine gewisse Bildung hatten. In einer großen reichen Stadt giebt es vielerley Erwerb¬ zweige. Sie halfen sich durch, indem sie fuͤr die Advocaten schrieben, Kinder der ge¬ ringern Classe durch Hausunterricht etwas weiter brachten, als es in Trivialschulen zu geschehen pflegt. Mit erwachsenern Kindern, welche confirmirt werden sollten, repetirten sie den Religionsunterricht, liefen dann wie¬ der den Maͤklern oder Kaufleuten einige Wege, und thaten sich Abends, besonders aber an Sonn- Feyertagen, auf eine frugale Weise etwas zu Gute. Indem sie nun unterwegs meine Liebes¬ epistel auf das beste herausstrichen, gestan¬ den sie mir, daß sie einen sehr lustigen Ge¬ brauch davon gemacht haͤtten: sie sey naͤmlich mit verstellter Hand abgeschrieben, und mit einigen naͤhern Beziehungen einem eingebilde¬ ten jungen Manne zugeschoben worden, der nun in der festen Ueberzeugung stehe, ein Frauenzimmer, dem er von fern den Hof gemacht, sey in ihn aufs aͤußerste verliebt, und suche Gelegenheit ihm naͤher bekannt zu werden. Sie vertrauten mir dabey, er wuͤnsche nichts mehr als ihr auch in Versen antworten zu koͤnnen; aber weder bey ihm noch bey ihnen finde sich Geschick dazu, wes¬ halb sie mich instaͤndig baͤten, die gewuͤnschte Antwort selbst zu verfassen. Mystificationen sind und bleiben eine Un¬ terhaltung fuͤr muͤßige, mehr oder weniger geistreiche Menschen. Eine laͤßliche Bosheit, eine selbstgefaͤllige Schadenfreude sind ein Ge¬ nuß fuͤr diejenigen, die sich weder mit sich selbst beschaͤftigen, noch nach außen heilsam wirken koͤnnen. Kein Alter ist ganz frey von einem solchen Kitzel. Wir hatten uns in unsern Knabenjahren einander oft ange¬ fuͤhrt; viele Spiele beruhen auf solchen My¬ stificationen und Attrapen; der gegenwaͤrtige Scherz schien mir nicht weiter zu gehen: ich willigte ein; sie theilten mir manches Beson¬ dere mit, was der Brief enthalten sollte, und wir brachten ihn schon fertig mit nach Hause. Kurze Zeit darauf wurde ich durch mei¬ nen Freund dringend eingeladen, an einem Abendfeste jener Gesellschaft Theil zu nehmen. Der Liebhaber wolle es dießmal ausstatten, und verlange dabey ausdruͤcklich, dem Freunde zu danken, der sich so vortrefflich als poeti¬ scher Secretaͤr erwiesen. Wir kamen spaͤt genug zusammen, die Mahlzeit war die frugalste, der Wein trink¬ bar; und was die Unterhaltung betraf, so drehte sie sich fast gaͤnzlich um die Verhoͤh¬ nung des gegenwaͤrtigen, freylich nicht sehr aufgeweckten Menschen, der nach wiederhol¬ ter Lesung des Briefes nicht weit davon war zu glauben, er habe ihn selbst geschrieben. Meine natuͤrliche Gutmuͤthigkeit ließ mich an einer solchen boshaften Verstellung wenig Freude finden, und die Wiederholung dessel¬ ben Thema's eckelte mich bald an. Gewiß, ich brachte einen verdrießlichen Abend hin, wenn nicht eine unerwartete Erscheinung mich wieder belebt haͤtte. Bey unserer Ankunft stand bereits der Tisch reinlich und ordentlich gedeckt, hinreichender Wein aufgestellt; wir setzten uns und blieben allein, ohne Bedie¬ nung noͤthig zu haben. Als es aber doch zuletzt an Wein gebrach, rief einer nach der Magd; allein statt derselben trat ein Maͤdchen herein, von ungemeiner, und wenn man sie in ihrer Umgebung sah, von un¬ glaublicher Schoͤnheit. — „Was verlangt Ihr? sagte sie, nachdem sie auf eine freund¬ liche Weise guten Abend geboten: die Magd ist krank und zu Bette. Kann ich Euch die¬ nen?“ — Es fehlt an Wein, sagte der eine. Wenn du uns ein paar Flaschen holtest, so waͤre es sehr huͤbsch. — Thu es, Gretchen, sagte der Andre; es ist ja nur ein Katzen¬ sprung. — „Warum nicht!“ versetzte sie, nahm ein paar leere Flaschen vom Tisch und eilte fort. Ihre Gestalt war von der Ruͤck¬ seite fast noch zierlicher. Das Haͤubchen saß so nett auf dem kleinen Kopfe, den ein schlanker Hals gar anmuthig mit Nacken und Schultern verband. Alles an ihr schien auserlesen, und man konnte der ganzen Ge¬ stalt um so ruhiger folgen, als die Aufmerk¬ samkeit nicht mehr durch die stillen treuen Augen und den lieblichen Mund allein ange¬ zogen und gefesselt wurde. Ich machte den Gesellen Vorwuͤrfe, daß sie das Kind in der Nacht allein ausschickten; sie lachten mich aus, und ich war bald getroͤstet, als sie schon wiederkam: denn der Schenkwirth wohnte nur uͤber die Straße. — Setze dich dafuͤr auch zu uns, sagte der eine. Sie that es, aber leider kam sie nicht neben mich. Sie trank ein Glas auf unsre Gesundheit und entfernte sich bald, indem sie uns rieth, nicht gar lange beysammen zu bleiben und uͤberhaupt nicht so laut zu werden: denn die Mutter wolle sich eben zu Bette legen. Es war nicht ihre Mutter, sondern die unserer Wirthe. Die Gestalt dieses Maͤdchens verfolgte mich von dem Augenblick an auf allen We¬ gen und Stegen: es war der erste bleibende Eindruck, den ein weibliches Wesen auf mich gemacht hatte; und da ich einen Vorwand sie im Hause zu sehen weder finden konnte, noch suchen mochte, ging ich ihr zu Liebe in die Kirche und hatte bald ausgespuͤrt wo sie saß; und so konnte ich waͤhrend des langen protestantischen Gottesdienstes mich wohl satt an ihr sehen. Beym Herausgehen getraute ich mich nicht sie anzureden, noch weniger sie zu begleiten, und war schon seelig, wenn sie mich bemerkt und gegen einen Gruß genickt zu haben schien. Doch ich sollte das Gluͤck mich ihr zu naͤhern nicht lange entbehren. Man hatte jenen Liebenden, dessen poetischer Secretaͤr ich geworden war, glauben gemacht, der in seinem Namen geschriebene Brief sey wirklich an das Frauenzimmer abgegeben wor¬ den, und zugleich seine Erwartung aufs aͤu¬ ßerste gespannt, daß nun bald eine Antwort darauf erfolgen muͤsse. Auch diese sollte ich schreiben, und die schalkische Gesellschaft ließ mich durch Pylades aufs instaͤndigste ersu¬ chen, allen meinen Witz aufzubieten und alle meine Kunst zu verwenden, daß dieses Stuͤck recht zierlich und vollkommen werde. In Hoffnung meine Schoͤne wiederzuse¬ hen, machte ich mich sogleich ans Werk, und dachte mir nun alles was mir hoͤchst wohlge¬ faͤllig seyn wuͤrde, wenn Gretchen es mir schriebe. Ich glaubte alles so aus ihrer Ge¬ stalt, ihrem Wesen, ihrer Art, ihrem Sinn herausgeschrieben zu haben, daß ich mich des Wunsches nicht enthalten konnte, es moͤchte wirklich so seyn, und mich in Entzuͤcken ver¬ lor, nur zu denken, daß etwas Aehnliches von ihr an mich koͤnnte gerichtet werden. So mystificirte ich mich selbst, indem ich meynte einen andern zum Besten zu haben, und es sollte mir daraus noch manche Freude und manches Ungemach entspringen. Als ich abermals gemahnt wurde, war ich fertig, versprach zu kommen und fehlte nicht zur be¬ stimmten Stunde. Es war nur einer von den jungen Leuten zu Hause; Gretchen saß am Fenster und spann; die Mutter ging ab und zu. Der junge Mensch verlangte, daß ich's ihm vorlesen sollte; ich that es, und las nicht ohne Ruͤhrung, indem ich uͤber das Blatt weg nach dem schoͤnen Kinde hin¬ schielte, und da ich eine gewisse Unruhe ih¬ res Wesens, eine leichte Roͤthe ihrer Wangen zu bemerken glaubte, druͤckte ich nur besser und lebhafter aus, was ich von ihr zu ver¬ nehmen wuͤnschte. Der Vetter, der mich oft durch Lobeserhebungen unterbrochen hatte, er¬ suchte mich zuletzt um einige Abaͤnderungen. Sie betrafen einige Stellen, die freylich mehr auf Gretchens Zustand, als auf den jenes Frauenzimmers paßten, das von gutem Hause, wohlhabend, in der Stadt bekannt und angesehen war. Nachdem der junge Mann mir die gewuͤnschten Aenderungen ar¬ ticulirt und ein Schreibzeug herbeygeholt hatte, sich aber wegen eines Geschaͤfts auf kurze Zeit beurlaubte, blieb ich auf der Wandbank hinter dem großen Tische sitzen, und probierte die zu machenden Veraͤnderun¬ gen auf der großen, fast den ganzen Tisch einnehmenden Schieferplatte, mit einem Grif¬ fel, der stets im Fenster lag, weil man auf dieser Steinflaͤche oft rechnete, sich mancher¬ ley notirte, ja die Gehenden und Kommen¬ den sich sogar Notizen dadurch mittheilten. Ich hatte eine Zeit lang verschiedenes ge¬ schrieben und wieder ausgeloͤscht, als ich un¬ geduldig ausrief: es will nicht gehen! — „Desto besser! sagte das liebe Maͤdchen, mit einem gesetzten Tone; ich wuͤnschte, es ginge gar nicht. Sie sollten sich mit solchen Haͤn¬ deln nicht befassen.“ — Sie stand vom Spinnrecken auf, und zu mir an den Tisch tretend, hielt sie mir mit viel Verstand und Freundlichkeit eine Strafpredigt. „Die Sache scheint ein unschuldiger Scherz; es ist ein Scherz, aber nicht unschuldig. Ich habe schon mehrere Faͤlle erlebt, wo unsere jungen Leute wegen eines solchen Frevels in große Verlegenheit kamen.“ — Was soll ich aber thun? versetzte ich: der Brief ist geschrieben, und sie verlassen sich drauf, daß ich ihn um¬ aͤndern werde. — „Glauben Sie mir, ver¬ setzte sie, und aͤndern ihn nicht um; ja, neh¬ men Sie ihn zuruͤck, stecken Sie ihn ein, gehen Sie fort und suchen die Sache durch ihren Freund ins Gleiche zu bringen. Ich will auch ein Woͤrtchen mit drein reden: denn, sehen Sie, so ein armes Maͤdchen als ich bin, und abhaͤngig von diesen Verwand¬ ten, die zwar nichts Boͤses thun, aber doch I. 26 oft um der Lust und des Gewinns willen, manches Wagehalsige vornehmen, ich habe widerstanden und den ersten Brief nicht abgeschrieben, wie man von mir verlangte; sie haben ihn mit verstellter Hand copirt, und so moͤgen sie auch, wenn es nicht an¬ ders ist, mit diesem thun. Und Sie, ein junger Mann aus gutem Hause, wohlha¬ bend, unabhaͤngig, warum wollen Sie sich zum Werkzeug in einer Sache gebrauchen las¬ sen, aus der gewiß nichts Gutes und viel¬ leicht manches Unangenehme fuͤr Sie ent¬ springen kann?“ — Ich war gluͤcklich sie in einer Folge reden zu hoͤren: denn sonst gab sie nur wenige Worte in das Gespraͤch. Meine Neigung wuchs unglaublich, ich war nicht Herr von mir selbst, und erwiederte: Ich bin so unabhaͤngig nicht als Sie glau¬ ben, und was hilft mir wohlhabend zu seyn, da mir das Koͤstlichste fehlt, was ich wuͤn¬ schen duͤrfte. Sie hatte mein Concept der poetischen Epistel vor sich hingezogen und las es halb laut, gar hold und anmuthig. „Das ist recht huͤbsch, sagte sie, indem sie bey einer Art naiver Pointe inne hielt: nur Schade, daß es nicht zu einem bessern, zu einem wahren Gebrauch bestimmt ist.“ — Das waͤre freylich sehr wuͤnschenswert, rief ich aus: wie gluͤcklich muͤßte der seyn, der von einem Maͤdchen, das er unendlich liebt, eine solche Versicherung ihrer Neigung erhielte! — „Es gehoͤrt freylich viel dazu, versetzte sie, und doch wird manches moͤglich“ — Zum Beyspiel, fuhr ich fort, wenn Jemand der Sie kennt, schaͤtzt, verehrt und anbetet, Ih¬ nen ein solches Blatt vorlegte, und sie recht dringend, recht herzlich und freundlich baͤte, was wuͤrden Sie thun? — Ich schob ihr das Blatt naͤher hin, das sie schon wieder mir zugeschoben hatte. Sie laͤchelte, besann sich einen Augenblick, nahm, die Feder und unterschrieb. Ich kannte mich nicht vor Ent¬ 26* zuͤcken, sprang auf und wollte sie umar¬ men. — „Nicht kuͤssen! sagte sie: das ist so was Gemeines; aber lieben wenn's moͤg¬ lich ist.“ Ich hatte das Blatt zu mir ge¬ nommen und eingesteckt. Niemand soll es erhalten, sagte ich, und die Sache ist abge¬ than! Sie haben mich gerettet. — „Nun vollenden Sie die Rettung, rief sie aus: und eilen fort, ehe die Andern kommen, und Sie in Pein und Verlegenheit gerathen.“ Ich konnte mich nicht von ihr losreißen; sie aber bat mich so freundlich, indem sie mit beyden Haͤnden meine Rechte nahm und lie¬ bevoll druͤckte. Die Thraͤnen waren mir nicht weit: ich glaubte ihre Augen feucht zu sehen; ich druͤckte mein Gesicht auf ihre Haͤnde und eilte fort. In meinem Leben hatte ich mich nicht in einer solchen Verwir¬ rung befunden. Die ersten Liebes-Neigungen einer unver¬ dorbenen Jugend nehmen durchaus eine gei¬ stige Wendung. Die Natur scheint zu wol¬ len, daß ein Geschlecht in dem andern das Gute und Schoͤne sinnlich gewahr werde. Und so war auch mir durch den Anblick die¬ ses Maͤdchens, durch meine Neigung zu ihr, eine neue Welt des Schoͤnen und Vortreffli¬ chen aufgegangen. Ich las meine poetische Epistel hundertmal durch, beschaute die Un¬ terschrift, kuͤßte sie, druͤckte sie an mein Herz und freute mich dieses liebenswuͤrdigen Be¬ kenntnisses. Je mehr sich aber mein Ent¬ zuͤcken steigerte, desto weher that es mir, sie nicht unmittelbar besuchen, sie nicht wieder sehen und sprechen zu koͤnnen: denn ich fuͤrch¬ tete die Vorwuͤrfe der Vettern und ihre Zu¬ dringlichkeit. Den guten Pylades, der die Sache vermitteln konnte, wußte ich nicht an¬ zutreffen. Ich machte mich daher den naͤch¬ sten Sonntag auf nach Niederrad , wo¬ hin jene Gesellen gewoͤhnlich zu gehen pfleg¬ ten, und fand sie auch wirklich. Sehr ver¬ wundert war ich jedoch, da sie mir, anstatt verdrießlich und fremd zu thun, mit frohem Gesicht entgegen kamen. Der juͤngste beson¬ dere war sehr freundlich, nahm mich bey der Hand und sagte: „Ihr habt uns neulich einen schelmischen Streich gespielt, und wir waren auf Euch recht boͤse; doch hat uns Euer Entweichen und das Entwenden der poetischen Epistel auf einen guten Gedanken gebracht, der uns vielleicht sonst niemals auf¬ gegangen waͤre. Zur Versoͤhnung moͤget Ihr uns heute bewirthen, und dabey sollt Ihr erfahren, was es denn ist, worauf wir uns etwas einbilden, und was Euch gewiß auch Freude machen wird.“ Diese Anrede setzte mich in nicht geringe Verlegenheit: denn ich hatte ungefaͤhr so viel Geld bey mir, um mir selbst und einem Freunde et¬ was zu Gute zu thun; aber eine Gesell¬ schaft, und besonders eine solche die nicht immer zur rechten Zeit ihre Graͤnzen fand, zu gastiren, war ich keineswegs eingerichtet; ja dieser Antrag verwunderte mich um so mehr, als sie sonst durchaus sehr ehrenvoll darauf hielten, daß Jeder nur seine Zeche bezahlte. Sie laͤchelten uͤber meine Verlegen¬ heit, und der Juͤngere fuhr fort: „Laßt uns erst in die Laube sitzen und dann sollt Ihr das Weitre erfahren.“ Wir saßen, und er sagte: „Als Ihr die Liebesepistel neulich mit¬ genommen hattet, sprachen wir die ganze Sache noch einmal durch und machten die Betrachtung, daß wir so ganz umsonst, an¬ dern zum Verdruß und uns zur Gefahr, aus bloßer leidiger Schadenfreude, Euer Talent misbrauchen, da wir es doch zu unser aller Vortheil benutzen koͤnnten. Seht, ich habe hier eine Bestellung auf ein Hochzeit-Ge¬ dicht, so wie auf ein Leichen-Carmen. Das zweyte muß gleich fertig seyn, das erste hat noch acht Tage Zeit. Moͤgt Ihr sie machen, welches Euch ein Leichtes ist, so tractirt Ihr uns zweymal, und wir bleiben auf lange Zeit Eure Schuldner.“ — Dieser Vorschlag gefiel mir von allen Seiten: denn ich hatte schon von Jugend auf die Gelegenheits-Ge¬ dichte, deren damals in jeder Woche mehrere circulirten, ja besonders bey ansehnlichen Ver¬ heiratungen duzzendweise zum Vorschein ka¬ men, mit einem gewissen Neid betrachtet, weil ich solche Dinge eben so gut ja noch besser zu machen glaubte. Nun ward mir die Gelegenheit angeboten, mich zu zeigen, und besonders, mich gedruckt zu sehen. Ich erwies mich nicht abgeneigt. Man machte mich mit den Personalien, mit den Verhaͤlt¬ nissen der Familie bekannt; ich ging etwas abseits, machte meinen Entwurf und fuͤhrte einige Strophen aus. Da ich mich jedoch wieder zur Gesellschaft begab, und der Wein nicht geschont wurde; so fing das Gedicht an zu stocken, und ich konnte es diesen Abend nicht abliefern. „Es hat noch bis Morgen Abend Zeit, sagten sie, und wir wollen Euch nur gestehen, das Honorar welches wir fuͤr das Leichen - Carmen erhalten, reicht hin uns morgen noch einen lustigen Abend zu ver¬ schaffen. Kommt zu uns: denn es ist billig, daß Gretchen auch mit genieße, die uns ei¬ gentlich auf diesen Einfall gebracht hat.“ — Meine Freude war unsaͤglich. Auf dem Heimwege hatte ich nur die noch fehlenden Strophen im Sinne, schrieb das Ganze noch vor Schlafengehn nieder und den andern Morgen sehr sauber ins Reine. Der Tag ward mir unendlich lang, und kaum war es dunkel geworden, so fand ich mich wieder in der kleinen engen Wohnung neben dem aller¬ liebsten Maͤdchen. Die jungen Leute, mit denen ich auf diese Weise immer in naͤhere Verbindung kam, wa¬ ren nicht eigentlich gemeine, aber doch ge¬ woͤhnliche Menschen. Ihre Thaͤtigkeit war lo¬ benswuͤrdig, und ich hoͤrte ihnen mit Vergnuͤ¬ gen zu, wenn sie von den vielfachen Mitteln und Wegen sprachen, wie man sich etwas erwerben koͤnne, auch erzaͤhlten sie am liebsten von gegen¬ waͤrtig sehr reichen Leuten, die mit nichts an¬ gefangen. Andere haͤtten als arme Handlungs¬ diener sich ihren Patronen nothwendig gemacht, und waͤren endlich zu ihren Schwiegersoͤhnen erhoben worden; noch andre haͤtten einen klei¬ nen Kram mit Schwefelfaden und dergleichen so erweitert und veredelt, daß sie nun als reiche Kauf- und Handelsmaͤnner erschienen. Besonders sollte jungen Leuten, die gut auf den Beinen waͤren, das Beylaͤufer- und Maͤklerhandwerk und die Uebernahme von al¬ lerley Auftraͤgen und Besorgungen fuͤr unbe¬ huͤlfliche Wohlhabende, durchaus ernaͤhrend und eintraͤglich seyn. Wir alle hoͤrten das gern, und Jeder duͤnkte sich etwas, wenn er sich in dem Augenblick vorstellte, daß in ihm selbst so viel verhanden sey, nicht nur um in der Welt fortzukommen, sondern sogar ein außerordentliches Gluͤck zu machen. Niemand jedoch schien dieß Gespraͤch ernstlicher zu fuͤh¬ ren, als Pylades, der zuletzt gestand, daß er ein Maͤdchen außerordentlich liebe und sich wirklich mit ihr versprochen habe. Die Vermoͤgensumstaͤnde seiner Aeltern litten nicht, daß er auf Akademieen gehe; er habe sich aber einer schoͤnen Handschrift, des Rechnens und der neuern Sprachen befleißigt, und wolle nun, in Hoffnung auf jenes haͤusliche Gluͤck, sein Moͤglichstes versuchen. Die Vet¬ tern lobten ihn deshalb, ob sie gleich das fruͤhzeitige Versprechen an ein Maͤdchen nicht billigen wollten, und setzten hinzu, sie muͤßten ihn zwar fuͤr einen braven und guten Jun¬ gen anerkennen, hielten ihn aber weder fuͤr thaͤtig noch fuͤr unternehmend genug, etwas Außerordentliches zu leisten. Indem er nun, zu seiner Rechtfertigung, umstaͤndlich ausein¬ andersetzte, was er sich zu leisten getraue und wie er es anzufangen gedenke; so wurden die uͤbrigen auch angereizt, und Jeder fing nun an zu erzaͤhlen, was er schon vermoͤge, thue, treibe, welchen Weg er zuruͤckgelegt und was er zunaͤchst vor sich sehe. Die Reihe kam zuletzt an mich. Ich sollte nun auch meine Lebensweise und Aussichten darstellen, und in¬ dem ich mich besann, sagte Pylades: „Das einzige halte ich mir aus, damit wir nicht gar zu kurz kommen, daß er die aͤußern Vortheile seiner Lage nicht mit in Anrechnung bringe. Er mag uns lieber ein Maͤhrchen erzaͤhlen, wie er es anfangen wuͤrde, wenn er in diesem Augenblick, so wie wir, ganz auf sich selbst gestellt waͤre.“ Gretchen, die bis diesen Augenblick fort¬ gesponnen hatte, stand auf und setzte sich wie gewoͤhnlich ans Ende des Tisches. Wir hatten schon einige Flaschen geleert, und ich fing mit dem besten Humor meine hypothetische Le¬ bensgeschichte zu erzaͤhlen an. Zuvoͤrderst also empfehle ich mich Euch, sagte ich, daß Ihr mir die Kundschaft erhaltet, welche mir zuzuweisen Ihr den Anfang gemacht habt. Wenn Ihr mir nach und nach den Verdienst der saͤmtlichen Gelegenheitsgedichte zuwendet, und wir ihn nicht blos verschmausen; so will ich schon zu etwas kommen. Alsdann muͤßt Ihr mir nicht uͤbel nehmen, wenn ich auch in Euer Handwerk pfusche. Worauf ich ihnen denn vorerzaͤhlte, was ich mir aus ihren Be¬ schaͤftigungen gemerkt hatte, und zu welchen ich mich allenfalls faͤhig hielt. Ein Jeder hatte vorher sein Verdienst zu Gelde ange¬ schlagen, und ich ersuchte sie, mir auch zu Fertigung meines Etats behuͤlflich zu seyn. Gretchen hatte alles Bisherige sehr aufmerk¬ sam mit angehoͤrt, und zwar in der Stellung die sie sehr gut kleidete, sie mochte nun zuhoͤ¬ ren oder sprechen. Sie faßte mit beyden Haͤnden ihre uͤbereinander geschlagenen Arme und legte sie auf den Rand des Tisches. So konnte sie lange sitzen, ohne etwas anders als den Kopf zu bewegen, welches niemals ohne Anlaß oder Bedeutung geschah. Sie hatte manchmal ein Woͤrtchen mit eingesprochen und uͤber dieses und jenes, wenn wir in un¬ sern Einrichtungen stockten, nachgeholfen; dann war sie aber wieder still und ruhig wie gewoͤhnlich. Ich ließ sie nicht aus den Augen, und daß ich meinen Plan nicht ohne Bezug auf sie gedacht und ausgesprochen, kann man sich leicht denken, und die Neigung zu ihr gab dem was ich sagte, einen Anschein von Wahrheit und Moͤglichkeit, daß ich mich selbst einen Augenblick taͤuschte, mich so ab¬ gesondert und huͤlfslos dachte, wie mein Maͤhrchen mich voraussetzte, und mich dabey in der Aussicht sie zu besitzen hoͤchst gluͤcklich fuͤhlte. Pylades hatte seine Confession mit der Heirat geendigt, und bey uns andern war nun auch die Frage, ob wir es in unsern Planen so weit gebracht haͤtten. Ich zweifle ganz und gar nicht daran, sagte ich: denn ei¬ gentlich ist einem Jeden von uns eine Frau noͤthig, um das im Hause zu bewahren und uns im Ganzen genießen zu lassen, was wir von außen auf eine so wunderliche Weise zusammenstoppeln. Ich machte die Schilde¬ rung von einer Gattinn, wie ich sie wuͤnschte, und es muͤßte seltsam zugegangen seyn, wenn sie nicht Gretchens vollkommnes Ebenbild ge¬ wesen waͤre. Das Leichen-Carmen war verzehrt, das Hochzeit-Gedicht stand nun auch wohlthaͤtig in der Naͤhe; ich uͤberwand alle Furcht und Sorge und wußte, weil ich viel Bekannte hatte, meine eigentlichen Abendunterhaltungen vor den Mei¬ nigen zu verbergen. Das liebe Maͤdchen zu sehen und neben ihr zu seyn, war nun bald eine unerlaͤßliche Bedingung meines Wesens. Jene hatten sich eben so an mich gewoͤhnt, und wir waren fast taͤglich zusammen, als wenn es nicht anders seyn koͤnnte. Pylades hatte indessen seine Schoͤne auch in das Haus gebracht, und dieses Paar verlebte manchen Abend mit uns. Sie als Brautleute, ob¬ gleich noch sehr im Keime, verbargen doch nicht ihre Zaͤrtlichkeit; Gretchens Betragen gegen mich war nur geschickt, mich in Ent¬ fernung zu halten. Sie gab Niemanden die Hand, auch nicht mir; sie litt keine Beruͤh¬ rung: nur setzte sie sich manchmal neben mich, besonders wenn ich schrieb oder vorlas, und dann legte sie mir vertraulich den Arm auf die Schulter, sah mir ins Buch oder aufs Blatt; wollte ich mir aber eine aͤhnliche Frey¬ heit gegen sie herausnehmen, so wich sie und kam sobald nicht wieder. Doch wiederholte sie oft diese Stellung, so wie alle ihre Gesten und Bewegungen sehr einfoͤrmig waren, aber immer gleich gehoͤrig, schoͤn und reizend. Al¬ lein jene Vertraulichkeit habe ich sie gegen Niemanden weiter ausuͤben sehen. Eine der unschuldigsten und zugleich unter¬ haltendsten Lustpartieen, die ich mit verschie¬ denen Gesellschaften junger Leute unternahm, war, daß wir uns in das Hoͤchster Markt¬ schiff setzten, die darin eingepackten seltsamen Passagiere beobachteten und uns bald mit diesem bald mit jenem, wie uns Lust oder Muthwille trieb, scherzhaft und neckend ein¬ ließen. Zu Hoͤchst stiegen wir aus, wo zu gleicher Zeit das Marktschiff von Mainz ein¬ traf. In einem Gasthofe fand man eine gut besetzte Tafel, wo die Besseren der Auf- und Abfahrenden mit einander speisten und alsdann jeder seine Fahrt weiter fortsetzte: denn beyde Schiffe gingen wieder zuruͤck. Wir fuhren dann jedesmal nach eingenomme¬ nem Mittagsessen hinauf nach Frankfurt und hatten in sehr großer Gesellschaft die wohl¬ feilste Wasserfahrt gemacht, die nur moͤglich war. Einmal hatte ich auch mit Gretchens Vettern diesen Zug unternommen, als am Tisch in Hoͤchst sich ein junger Mann zu uns gesellte, der etwas aͤlter als wir seyn mochte. Jene kannten ihn und er ließ sich mir vor¬ stellen. Er hatte in seinem Wesen etwas sehr Gefaͤlliges, ohne sonst ausgezeichnet zu seyn. Von Mainz heraufgekommen fuhr er nun mit uns nach Frankfurt zuruͤck, und unterhielt sich mit mir von allerley Dingen, welche das innere Stadtwesen, die Aemter und Stellen betrafen, worin er mir ganz I. 27 wohl unterrichtet schien. Als wir uns trenn¬ ten, empfahl er sich mir und fuͤgte hinzu: er wuͤnsche, daß ich gut von ihm denken moͤge, weil er sich gelegentlich meiner Empfeh¬ lung zu erfreuen hoffe. Ich wußte nicht was er damit sagen wollte, aber die Vettern klaͤr¬ ten mich nach einigen Tagen auf; sie sprachen Gutes von ihm und ersuchten mich um ein Vorwort bey meinem Großvater, da jetzt eben eine mittlere Stelle offen sey, zu welcher dieser Freund gern gelangen moͤchte. Ich entschuldigte mich anfangs, weil ich mich nie¬ mals in dergleichen Dinge gemischt hatte; allein sie setzten mir so lange zu, bis ich mich es zu thun entschloß. Hatte ich doch schon manchmal bemerkt, daß bey solchen Aemter¬ vergebungen, welche leider oft als Gnaden¬ sachen betrachtet werden, die Vorsprache der Großmutter oder einer Tante nicht ohne Wirkung gewesen. Ich war soweit herange¬ wachsen, um mir auch einigen Einfluß anzu¬ maßen. Deshalb uͤberwand ich, meinen Freun¬ den zu lieb, welche sich auf alle Weise fuͤr eine solche Gefaͤlligkeit verbunden erklaͤrten, die Schuͤchternheit eines Enkels, und uͤber¬ nahm es, ein Bittschreiben das mir einge¬ haͤndigt wurde, zu uͤberreichen. Eines Sonntags nach Tische, als der Großvater in seinem Garten beschaͤftigt war, um so mehr als der Herbst herannahte, und ich ihm allenthalben behuͤlflich zu seyn suchte, ruͤckte ich nach einigem Zoͤgern mit meinem Anliegen und dem Bittschreiben hervor. Er sah es an und fragte mich, ob ich den jungen Menschen kenne. Ich erzaͤhlte ihm im Allge¬ meinen was zu sagen war, und er ließ es dabey bewenden. „Wenn er Verdienst und sonst ein gutes Zeugniß hat, so will ich ihm um seinet- und deinetwillen guͤnstig seyn.“ Mehr sagte er nicht, und ich erfuhr lange nichts von der Sache. 27 * Seit einiger Zeit hatte ich bemerkt, daß Gretchen nicht mehr spann, und sich dagegen mit Naͤhen beschaͤftigte und zwar mit sehr feiner Arbeit, welches mich um so mehr wunderte, da die Tage schon abgenommen hatten und der Winter herankam. Ich dachte daruͤber nicht weiter nach, nur beunruhigte es mich, daß ich sie einige Mal des Morgens nicht wie sonst zu Hause fand, und ohne Zudringlichkeit nicht erfahren konnte, wo sie hingegangen sey. Doch sollte ich eines Tages sehr wunderlich uͤberrascht werden. Meine Schwester, die sich zu einem Balle vorberei¬ tete, bat mich ihr bey einer Galanterie- Haͤndlerinn sogenannte italiaͤnische Blumen zu holen. Sie wurden in Kloͤstern gemacht, waren klein und niedlich. Myrten besonders, Zwergroͤslein und dergleichen fielen gar schoͤn und natuͤrlich aus. Ich that ihr die Liebe und ging in den Laden, in welchem ich schon oͤfter mit ihr gewesen war. Kaum war ich hineingetreten und hatte die Eigenthuͤmerinn begruͤßt, als ich im Fenster ein Frauenzimmer sitzen sah, das mir unter einem Spitzenhaͤub¬ chen gar jung und huͤbsch, und unter einer seidnen Mantille sehr wohl gebaut schien. Ich konnte leicht an ihr eine Gehuͤlfinn erken¬ nen, denn sie war beschaͤftigt, Band und Federn auf ein Huͤtchen zu stecken. Die Putz¬ haͤndlerinn zeigte mir den langen Kasten mit einzelnen mannigfaltigen Blumen vor; ich besah sie, und blickte, indem ich waͤhlte, wieder nach dem Frauenzimmerchen im Fenster: aber wie groß war mein Erstaunen, als ich eine unglaubliche Aehnlichkeit mit Gretchen gewahr wurde, ja zuletzt mich uͤberzeugen mußte, es sey Gretchen selbst. Auch blieb mir kein Zweifel uͤbrig, als sie mir mit den Augen winkte und ein Zeichen gab, daß ich unsre Bekanntschaft nicht verrathen sollte. Nun brachte ich mit Waͤhlen und Verwerfen die Putzhaͤndlerinn in Verzweiflung, mehr als ein Frauenzimmer selbst haͤtte thun koͤn¬ nen. Ich hatte wirklich keine Wahl, denn ich war aufs aͤußerste verwirrt, und zugleich liebte ich mein Zaudern, weil es mich in der Naͤhe des Kindes hielt, dessen Maske mich verdroß, und das mir doch in dieser Maske reizender vorkam als jemals. Endlich mochte die Putzhaͤndlerinn alle Geduld verlieren, und suchte mir eigenhaͤndig einen ganzen Pappen¬ kasten voll Blumen aus, den ich meiner Schwester vorstellen und sie selbst sollte waͤh¬ len lassen. So wurde ich zum Laden gleich¬ sam hinausgetrieben, indem sie den Kasten durch ihr Maͤdchen vorausschickte. Kaum war ich zu Hause angekommen, als mein Vater mich berufen ließ und mir die Eroͤffnung that, es sey nun ganz gewiß, daß der Erzherzog Joseph zum roͤmischen Koͤnig gewaͤhlt und gekroͤnt werden solle. Ein so hoͤchst bedeutendes Ereigniß muͤsse man nicht unvorbereitet erwarten, und etwa nur gaffend und staunend an sich vorbey gehen lassen. Er wolle daher die Wahl- und Kroͤ¬ nungsdiarien der beyden letzten Kroͤnungen mit mir durchgehen, nicht weniger die letzten Wahlcapitulationen, um alsdann zu bemer¬ ken, was fuͤr neue Bedingungen man im gegenwaͤrtigen Falle hinzufuͤgen werde. Die Diarien wurden aufgeschlagen, und wir beschaͤf¬ tigten uns den ganzen Tag damit bis tief in die Nacht, indessen mir das huͤbsche Maͤd¬ chen, bald in ihrem alten Hauskleide, bald in ihrem neuen Costum, immer zwischen den hoͤchsten Gegenstaͤnden des heiligen roͤmischen Reichs hin und wieder schwebte. Fuͤr diesen Abend war es unmoͤglich sie zu sehen, und ich durchwachte eine sehr unruhige Nacht. Das gestrige Studium wurde den andern Tag eifrig fortgesetzt, und nur gegen Abend machte ich es moͤglich, meine Schoͤne zu besu¬ chen, die ich wieder in ihrem gewoͤhnlichen Hauskleide fand. Sie laͤchelte, indem sie mich ansah, aber ich getraute mich nicht vor den andern etwas zu erwaͤhnen. Als die ganze Gesellschaft wieder ruhig zusammensaß. fing sie an und sagte: „Es ist unbillig, daß Ihr unserm Freunde nicht vertrauet was in diesen Tagen von uns beschlossen worden.“ Sie fuhr darauf fort zu erzaͤhlen, daß nach unsrer neulichen Unterhaltung, wo die Rede war, wie ein Jeder sich in der Welt wolle geltend machen, auch unter ihnen zur Sprache gekommen, auf welche Art ein weibliches Wesen seine Talente und Arbeiten steigern und seine Zeit vortheilhaft anwenden koͤnne. Darauf habe der Vetter vorgeschlagen, sie solle es bey einer Putzmacherinn versuchen, die jetzt eben eine Gehuͤlfinn brauche. Man sey mit der Frau einig geworden, sie gehe taͤglich so viele Stunden hin, werde gut gelohnt; nur muͤsse sie dort, um des Anstands willen, sich zu einem gewissen Anputz beque¬ men, den sie aber jederzeit zuruͤcklasse, weil er zu ihrem uͤbrigen Leben und Wesen sich gar nicht schicken wolle. Durch diese Erklaͤ¬ rung war ich zwar beruhigt, nur wollte es mir nicht recht gefallen, das huͤbsche Kind in einem oͤffentlichen Laden und an einem Orte zu wissen, wo die galante Welt gelegentlich ihren Sammelplatz hatte. Doch ließ ich mir nichts merken, und suchte meine eifersuͤchtige Sorge im Stillen bey mir zu verarbeiten. Hierzu goͤnnte mir der juͤngere Vetter nicht lange Zeit, der alsbald wieder mit dem Auf¬ trag zu einem Gelegenheits-Gedicht hervor¬ trat, mir die Personalien erzaͤhlte und sogleich verlangte, daß ich mich zur Erfindung und Disposition des Gedichtes anschicken moͤchte. Er hatte schon einige Mal uͤber die Behand¬ lung einer solchen Aufgabe mit mir gesprochen, und wie ich in solchen Faͤllen sehr redselig war, gar leicht von mir erlangt, daß ich ihm, was an diesen Dingen rhetorisch ist, umstaͤndlich auslegte, ihm einen Begriff von der Sache gab und meine eigenen und fremden Arbeiten dieser Art als Beyspiele benutzte. Der junge Mensch war ein guter Kopf, obgleich ohne Spur von poetischer Ader, und nun ging er so sehr ins Einzelne und wollte von allem Rechenschaft haben, daß ich mit der Bemerkung laut ward: Sieht es doch aus, als wolltet Ihr mir ins Handwerk greifen und mir die Kundschaft entziehen. — „Ich will es nicht laͤugnen, sagte jener laͤchelnd: denn ich thue Euch dadurch keinen Schaden. Wie lange wird's waͤhren, so geht Ihr auf die Akademie, und bis dahin laßt mich noch immer etwas bey Euch profitiren.“ — Herz¬ lich gern, versetzte ich, und munterte ihn auf, selbst eine Disposition zu machen, ein Sylbenmaß nach dem Character des Gegen¬ standes zu waͤhlen, und was etwa sonst noch noͤthig scheinen mochte. Er ging mit Ernst an die Sache; aber es wollte nicht gluͤcken. Ich mußte zuletzt immer daran so viel umschrei¬ ben, daß ich es leichter und besser von vorn herein selbst geleistet haͤtte. Dieses Lehren und Lernen jedoch, dieses Mittheilen, diese Wechselarbeit gab uns eine gute Unterhaltung; Gretchen, nahm Theil daran und hatte man¬ chen artigen Einfall, so daß wir alle vergnuͤgt, ja man darf sagen gluͤcklich waren. Sie arbeitete des Tags bey der Putzmacherinn; Abends kamen wir gewoͤhnlich zusammen, und unsre Zufriedenheit ward selbst dadurch nicht gestoͤrt, daß es mit den Bestellungen zu Gelegenheits-Gedichten endlich nicht recht mehr fortwollte. Schmerzlich jedoch empfan¬ den wir es, daß uns eins einmal mit Pro¬ test zuruͤckkam, weil es dem Besteller nicht gefiel. Indeß troͤsteten wir uns, weil wir es gerade fuͤr unsere beste Arbeit hielten, und jenen fuͤr einen schlechten Kenner erklaͤ¬ ren durften. Der Vetter, der ein fuͤr alle¬ mal etwas lernen wollte, veranlaßte nunmehr fingirte Aufgaben, bey deren Aufloͤsung wir uns zwar noch immer gut genug unterhiel¬ ten, aber freylich, da sie nichts einbrachten, unsre kleinen Gelage viel maͤßiger einrichten mußten. Mit jenem großen staatsrechtlichen Ge¬ genstande, der Wahl und Kroͤnung eines roͤ¬ mischen Koͤnigs, wollte es nun immer mehr Ernst werden. Der anfaͤnglich auf Augsburg im October 1763 ausgeschriebene churfuͤrst¬ liche Collegialtag ward nun nach Frankfurt verlegt, und sowohl zu Ende dieses Jahrs als zu Anfang des folgenden regten sich die Vorbereitungen, welche dieses wichtige Ge¬ schaͤft einleiten sollten. Den Anfang machte ein von uns noch nie gesehener Aufzug. Eine unserer Kanzleypersonen zu Pferde, von vier gleichfalls berittnen Trompetern begleitet und von einer Fußwache umgeben, verlas mit lauter und vernehmlicher Stimme an al¬ len Ecken der Stadt ein weitlaͤuftiges Edict, das uns von dem Bevorstehenden benachrich¬ tigte, und den Buͤrgern ein geziemendes und den Umstaͤnden angemessenes Betragen ein¬ schaͤrfte. Bey Rath wurden große Ueberle¬ gungen gepflogen, und es dauerte nicht lange, so zeigte sich der Reichs-Quartiermeister vom Erbmarschall abgesendet, um die Wohnungen der Gesandten und ihres Gefolges nach al¬ tem Herkommen anzuordnen und zu bezeich¬ nen. Unser Haus lag im churpfaͤlzischen Sprengel, und wir hatten uns einer neuen, obgleich erfreulichern Einquartierung zu verse¬ hen. Der mittlere Stock, welchen ehmals Graf Thorane inne gehabt, wurde einem churpfaͤlzischen Cavalier eingeraͤumt, und da Baron von Koͤnigsthal , Nuͤrnbergischer Geschaͤftstraͤger, den oberen Stock eingenom¬ men hatte, so waren wir noch mehr als zur Zeit der Franzosen zusammengedraͤngt. Die¬ ses diente mir zu einem neuen Vorwand au¬ ßer dem Hause zu seyn, und die meiste Zeit des Tages auf der Straße zuzubringen, um das was oͤffentlich zu sehen war, ins Auge zu fassen. Nachdem uns die vorhergegangene Veraͤn¬ derung und Einrichtung der Zimmer auf dem Rathhause sehenswerth geschienen, nachdem die Ankunft der Gesandten eines nach dem andern und ihre erste solenne Gesamt-Auf¬ fahrt den 6ten Februar statt gefunden; so be¬ wunderten wir nachher die Ankunft der kai¬ serlichen Commissarien und deren Auffahrt, ebenfalls auf den Roͤmer, welche mit großem Pomp geschah. Die wuͤrdige Persoͤnlichkeit des Fuͤrsten von Lichtenstein machte einen guten Eindruck; doch wollten Kenner behaup¬ ten, die praͤchtigen Livreen seyen schon einmal bey einer andern Gelegenheit gebraucht wor¬ den, und auch diese Wahl und Kroͤnung werde schwerlich an Glanz jener von Carl dem siebenten gleich kommen. Wir juͤngern ließen uns das gefallen was wir vor Augen hatten, uns daͤuchte alles sehr gut und man¬ ches setzte uns in Erstaunen. Der Wahl-Convent war endlich auf den 3ten Maͤrz anberaumt. Nun kam die Stadt durch neue Foͤrmlichkeiten in Bewegung, und die wechselseitigen Ceremonielbesuche der Ge¬ sandten hielten uns immer auf den Beinen. Auch mußten wir genau aufpassen, weil wir nicht nur gaffen, sondern alles wohl bemer¬ ken sollten, um zu Hause gehoͤrig Rechen¬ schaft zu geben, ja manchen kleinen Aufsatz auszufertigen, woruͤber sich mein Vater und Herr von Koͤnigsthal, theils zu unserer Ue¬ bung theils zu eigner Notiz, beredet hatten. Und wirklich gereichte mir dieß zu besondrem Vortheil, indem ich uͤber das Aeußerliche so ziemlich ein lebendiges Wahl- und Kroͤnungs¬ diarium vorstellen konnte. Die Persoͤnlichkeiten der Abgeordneten, welche auf mich einen bleibenden Eindruck ge¬ macht haben, waren zunaͤchst die des chur¬ mainzischen ersten Bothschafters, Barons von Erthal , nachmaligen Churfuͤrsten. Ohne irgend etwas Auffallendes in der Gestalt zu haben, wollte er mir in seinem schwarzen, mit Spitzen besetzten Talar immer gar wohl¬ gefallen. Der zweyte Bothschafter, Baron von Groschlag , war ein wohlgebauter, im Aeußern bequem aber hoͤchst anstaͤndig sich be¬ tragender Weltmann. Er machte uͤberhaupt einen sehr behaglichen Eindruck. Fuͤrst Esterhazy , der boͤhmische Gesandte, war nicht groß aber wohlgebaut, lebhaft und zu¬ gleich vornehm anstaͤndig, ohne Stolz und Kaͤlte. Ich hatte eine besondre Neigung zu ihm, weil er mich an den Marschall von Broglio erinnerte. Doch verschwand gewis¬ sermaßen die Gestalt und Wuͤrde dieser treff¬ lichen Personen uͤber dem Vorurtheil, das man fuͤr den Brandenburgischen Gesandten, Baron von Plotho , gefaßt hatte. Dieser Mann, der durch eine gewisse Spaͤrlichkeit sowohl in eigner Kleidung als in Livreen und Equipagen sich auszeichnete, war vom siebenjaͤhrigen Kriege her als diplomatischer Held beruͤhmt, hatte zu Regensburg den Notarius April , der ihm die gegen seinen Koͤnig ergangene Achtserklaͤrung von einigen Zeugen begleitet zu insinuiren gedachte, mit der lakonischen Gegenrede: Was! Er insinui¬ ren? die Treppe hinuntergeworfen oder wer¬ fen lassen. Das erste glaubten wir, weil es uns besser gefiel, und wir es auch dem klei¬ nen, gedrungnen, mit schwarzen Feueraugen hin und wieder blickenden Manne gar wohl zutrauten. Aller Augen waren auf ihn ge¬ richtet, besonders wo er ausstieg. Es ent¬ stand jederzeit eine Art von frohem Zischeln, und wenig fehlte, daß man ihm applaudirt, Vivat oder Bravo zugerufen haͤtte. So hoch stand der Koͤnig, und alles was ihm mit Leib und Seele ergeben war, in der Gunst der Menge, unter der sich außer den Frankfurtern, schon Deutsche aus allen Ge¬ genden befanden. Einerseits hatte ich an diesen Dingen manche Lust: weil alles was vorging, es mochte seyn von welcher Art es wollte, doch immer eine gewisse Deutung verbarg, irgend ein innres Verhaͤltniß anzeigte, und solche symbolische Ceremonien das durch so viele Pergamente, Papiere und Buͤcher beynah I. 28 verschuͤttete deutsche Reich wieder fuͤr einen Augenblick lebendig darstellten; andrerseits aber konnte ich mir ein geheimes Misfallen nicht verbergen, wenn ich nun zu Hause dei innern Verhandlungen zum Behuf meines Vaters abschreiben und dabey bemerken mußte, daß hier mehrere Gewalten einander gegen¬ uͤber standen, die sich das Gleichgewicht hiel¬ ten, und nur in sofern einig waren, als sie den neuen Regenten noch mehr als den alten zu beschraͤnken gedachten; daß Jeder¬ mann sich nur in sofern seines Einflusses freute, als er seine Privilegien zu erhalten und zu erweitern, und seine Unabhaͤngigkeit mehr zu sichern hoffte. Ja man war die߬ mal noch aufmerksamer als sonst, weil man sich vor Joseph dem zweyten, vor seiner Heftigkeit und seinen vermuthlichen Planen, zu fuͤrchten anfing. Bey meinem Großvater und den uͤbrigen Rathsverwandten, deren Haͤuser ich zu besu¬ chen pflegte, war es auch keine gute Zeit: denn sie hatten so viel mit Einholen der vornehmen Gaͤste, mit Becomplimentiren, mit Ueberreichung von Geschenken zu thun. Nicht weniger hatte der Magistrat im Gan¬ zen wie im Einzelnen sich immer zu wehren, zu widerstehn und zu protestiren, weil bey solchen Gelegenheiten ihm Jedermann etwas abzwacken oder aufbuͤrden will, und ihm we¬ nige von denen die er anspricht, beystehen oder zu Huͤlfe kommen. Genug, mir trat alles nunmehr lebhaft vor Augen, was ich in der Lersnerschen Chronik von aͤhnlichen Vorfaͤllen bey aͤhnlichen Gelegenheiten, mit Bewunderung der Geduld und Ausdauer je¬ ner guten Rathsmaͤnner, gelesen hatte. Mancher Verdruß entspringt auch daher, daß sich die Stadt nach und nach mit noͤthi¬ gen und unnoͤthigen Personen anfuͤllt. Ver¬ gebens werden die Hoͤfe von Seiten der Stadt an die Vorschriften der freylich veral¬ 28 * teten goldnen Bulle erinnert. Nicht allein die zum Geschaͤft Verordneten und ihre Be¬ gleiter, sondern manche Standes- und andre Personen, die aus Neugier oder zu Privat¬ zwecken herankommen, stehen unter Protec¬ tion, und die Frage: wer eigentlich einquar¬ tiert wird und wer selbst sich eine Wohnung miethen, soll? ist nicht immer sogleich entschie¬ den. Das Getuͤmmel waͤchst, und selbst diejenigen die nichts dabey zu leisten oder zu verantworten haben, fangen an sich unbehag¬ lich zu fuͤhlen. Selbst wir jungen Leute, die wir das alles wohl mit ansehen konnten, fanden doch immer nicht genug Befriedigung fuͤr unsere Augen, fuͤr unsre Einbildungskraft. Die spanischen Mantelkleider, die großen Feder¬ huͤte der Gesandten und hie und da noch ei¬ niges andere, gaben wohl ein aͤcht alterthuͤm¬ liches Ansehen; manches dagegen war wieder so halb neu oder ganz modern, daß uͤberall nur ein buntes unbefriedigendes, oͤfter sogar geschmackloses Wesen hervortrat. Sehr gluͤck¬ lich machte es uns daher, zu vernehmen, daß wegen der Herreise des Kaisers und des kuͤnftigen Koͤnigs große Anstalten gemacht wurden, daß die churfuͤrstlichen Collegial- Handlungen, bey welchen die letzte Wahlcapi¬ tulation zum Grunde lag, eifrig vorwaͤrts gingen, und daß der Wahltag auf den 27ten Maͤrz festgesetzt sey. Nun ward an die Herbeyschaffung der Reichsinsignien von Nuͤrn¬ berg und Aachen gedacht, und man erwartete zunaͤchst den Einzug des Churfuͤrsten von Mainz, waͤhrend mit seiner Gesandtschaft die Irrungen wegen der Quartiere immer fort¬ dauerten. Indessen betrieb ich meine Canzellisten- Arbeit zu Hause sehr lebhaft, und wurde da¬ bey freylich mancherley kleinliche Monita ge¬ wahr, die von vielen Seiten einliefen, und bey der neuen Capitulation beruͤcksichtigt wer¬ den sollten. Jeder Stand wollte in diesem Document seine Gerechtsame gewahrt und sein Ansehen vermehrt wissen. Gar viele solcher Bemerkungen und Wuͤnsche wurden jedoch bey Seite geschoben; vieles blieb wie es gewesen war: gleichwohl erhielten die Mo¬ nenten die buͤndigsten Versicherungen, daß ih¬ nen jene Uebergehung keineswegs zum Praͤju¬ diz gereichen solle. Sehr vielen und beschwerlichen Geschaͤf¬ ten mußte sich indessen das Reichsmarschall¬ amt unterziehen: die Masse der Fremden wuchs, es wurde immer schwieriger sie unter¬ zubringen. Ueber die Graͤnzen der verschie¬ denen churfuͤrstlichen Bezirke war man nicht einig. Der Magistrat wollte von den Buͤr¬ gern die Lasten abhalten, zu denen sie nicht verpflichtet schienen, und so gab es, bey Tag und bey Nacht, stuͤndlich Beschwerden, Re¬ curse, Streit und Mishelligkeiten. Der Einzug des Churfuͤrsten von Mainz erfolgte den 21ten Maͤrz. Hier fing nun das Canoniren an, mit dem wir auf lange Zeit mehrmals betaͤubt werden sollten. Wich¬ tig in der Reihe der Ceremonien war diese Festlichkeit: denn alle die Maͤnner, die wir bisher auftreten sahen, waren, so hoch sie auch standen, doch immer nur Untergeord¬ nete; hier aber erschien ein Souverain, ein selbstaͤndiger Fuͤrst, der erste nach dem Kaiser, von einem großen seiner wuͤrdigen Gefolge eingefuͤhrt und begleitet. Von dem Pompe dieses Einzugs wuͤrde ich hier manches zu er¬ zaͤhlen haben, wenn ich nicht spaͤter wieder darauf zuruͤckzukommen gedaͤchte, und zwar bey einer Gelegenheit, die Niemand leicht errathen sollte. An demselben Tage naͤmlich kam Lavater, auf seinem Ruͤckwege von Berlin nach Hause begriffen, durch Frankfurt, und sah diese Feyerlichkelt mit an. Ob nun gleich solche weltliche Aeußerlichkeiten fuͤr ihn nicht den mindesten Werth hatten, so mochte doch die¬ ser Zug mit seiner Pracht und allem Bey¬ wesen deutlich in seine sehr lebhafte Einbil¬ dungskraft sich eingedruckt haben: denn nach mehreren Jahren, als mir dieser vorzuͤgliche, aber eigene Mann eine poetische Paraphrase, ich glaube der Offenbarung Sanct Johannis, mittheilte, fand ich den Einzug des Anti¬ christ Schritt vor Schritt, Gestalt vor Ge¬ stalt, Umstand vor Umstand, dem Einzug des Churfuͤrsten von Mainz in Frankfurt nachge¬ bildet, dergestalt daß sogar die Quasten an den Koͤpfen der Isabell-Pferde nicht fehl¬ ten. Es wird sich mehr davon sagen lassen, wenn ich zur Epoche jener wunderlichen Dich¬ tungsart gelange, durch welche man die alt- und neutestamentlichen Mythen dem An¬ schauen und Gefuͤhl naͤher zu bringen glaubte, wenn man sie voͤllig ins Moderne travestirte, und ihnen aus dem gegenwaͤrtigen Leben, es sey nun gemeiner oder vornehmer, ein Ge¬ wand umhinge. Wie diese Behandlungsart sich nach und nach beliebt gemacht, davon muß gleichfalls kuͤnftig die Rede seyn; doch bemerke ich hier soviel, daß sie weiter als durch Lavater und seine Nacheiferer wohl nicht getrieben worden, indem einer derselben die heiligen drey Koͤnige, wie sie zu Bethle¬ hem einreiten, so modern schilderte, daß die Fuͤrsten und Herren, welche Lavatern zu be¬ suchen pflegten, persoͤnlich darin nicht zu ver¬ kennen waren. Wir lassen also fuͤr dießmal den Chur¬ fuͤrsten Emmerich Joseph so zu sagen incognito im Compostell eintreffen, und wen¬ den uns zu Gretchen, die ich, eben als die Volksmenge sich verlief, von Pylades und seiner Schoͤnen begleitet (denn diese drey schienen nun unzertrennlich zu seyn) im Ge¬ tuͤmmel erblickte. Wir hatten uns kaum er¬ reicht und begruͤßt, als schon ausgemacht war, daß wir diesen Abend zusammen zubringen woll¬ ten, und ich fand mich bey Zeiten ein. Die gewoͤhnliche Gesellschaft war beysammen, und Jedes hatte etwas zu erzaͤhlen, zu sagen, zu bemerken; wie denn dem einen dieß, dem an¬ dern jenes am meisten aufgefallen war. „Eure Reden, sagte Gretchen zuletzt, machen mich fast noch verworrner als die Begebenheiten dieser Tage selbst. Was ich gesehen, kann ich nicht zusammenreimen, und moͤchte von manchem gar zu gern wissen, wie es sich ver¬ haͤlt.“ Ich versetzte, daß es mir ein Leichtes sey, ihr diesen Dienst zu erzeigen. Sie solle nur sagen, wofuͤr sie sich eigentlich interessire. Dieß that sie, und indem ich ihr einiges erklaͤren wollte, fand sichs, daß es besser waͤre in der Ordnung zu verfahren. Ich verglich nicht unschicklich diese Feyerlichkeiten und Func¬ tionen mit einem Schauspiel, wo der Vorhang nach Belieben heruntergelassen wuͤrde, indessen die Schauspieler fortspielten, dann werde er wieder aufgezogen und der Zuschauer koͤnne an jenen Verhandlungen einigermaßen wieder Theil nehmen. Weil ich nun sehr redselig war, wenn man mich gewaͤhren ließ; so erzaͤhlte ich alles von Anfang an bis auf den heutigen Tag, in der besten Ordnung, und versaͤumte nicht, um meinen Vortrag anschaulicher zu machen, mich des vorhandenen Griffels und der großen Schiefer-Platte zu bedienen. Nur durch einige Fragen und Rechthabereyen der andern wenig gestoͤrt, brachte ich meinen Vortrag zu allge¬ meiner Zufriedenheit ans Ende, indem mich Gretchen durch ihre fortgesetzte Aufmerksam¬ keit hoͤchlich ermuntert hatte. Sie dankte mir zuletzt und beneidete, nach ihrem Aus¬ druck, alle diejenigen, die von den Sachen dieser Welt unterrichtet seyen und wuͤßten wie dieses und jenes zugehe und was es zu bedeuten habe. Sie wuͤnschte sich ein Knabe zu seyn, und wußte mit vieler Freundlichkeit anzuerkennen, daß sie mir schon manche Be¬ lehrung schuldig geworden. „Wenn ich ein Knabe waͤre, sagte sie, so wollten wir auf Universitaͤten zusammen etwas rechtes lernen.“ Das Gespraͤch ward in der Art fortgefuͤhrt, sie setzte sich bestimmt vor, Unterricht im Franzoͤsischen zu nehmen, dessen Unerlaͤßlichkeit sie im Laden der Putzhaͤndlerinn wohl gewahr worden. Ich fragte sie, warum sie nicht mehr dorthin gehe: denn in der letzten Zeit, da ich des Abends nicht viel abkommen konnte, war ich manchmal bey Tage, ihr zu Gefallen, am Laden vorbey gegangen, um sie nur einen Augenblick zu sehen. Sie erklaͤrte mir, daß sie in dieser unruhigen Zeit sich dort nicht haͤtte aussetzen wollen. Befaͤnde sich die Stadt wieder in ihrem vorigen Zustande, so denke sie auch wieder hinzugehen. Nun war von dem naͤchst bevorstehenden Wahltag die Rede. Was und wie es vor¬ gehe, wußte ich weitlaͤuftig zu erzaͤhlen, und meine Demonstration durch umstaͤndliche Zeich¬ nungen auf der Tafel zu unterstuͤtzen; wie ich denn den Raum des Conclave mit seinen Altaͤren, Thronen, Sesseln und Sitzen voll¬ kommen gegenwaͤrtig hatte. — Wir schieden zu rechter Zeit und mit sonderlichem Wohlbe¬ hagen. Denn einem jungen Paare, das von der Natur einigermaßen harmonisch gebildet ist, kann nichts zu einer schoͤnern Vereinigung ge¬ reichen, als wenn das Maͤdchen lehrbegierig und der Juͤngling lehrhaft ist. Es entsteht daraus ein so gruͤndliches als angenehmes Ver¬ haͤltniß. Sie erblickt in ihm den Schoͤpfer ih¬ res geistigen Daseyns, und er in ihr ein Ge¬ schoͤpf, das nicht der Natur, dem Zufall, oder einem einseitigen Wollen, sondern einem bey¬ derseitigen Willen seine Vollendung verdankt; und diese Wechselwirkung ist so suͤß, daß wir uns nicht wundern duͤrfen, wenn seit dem alten und neuen Abelard, aus einem solchen Zusammentreffen zweyer Wesen, die ge¬ waltsamsten Leidenschaften und so viel Gluͤck als Ungluͤck entsprungen sind. Gleich den naͤchsten Tag war große Bewe¬ gung in der Stadt, wegen der Visiten und Gegenvisiten, welche nunmehr mit dem groͤßten Ceremoniel abgestattet wurden. Was mich aber als einen Frankfurter Buͤrger besonders interessirte und zu vielen Betrachtungen ver¬ anlaßte, war die Ablegung des Sicherheits- Eides, den der Rath, das Militaͤr, die Buͤr¬ gerschaft, nicht etwa durch Repraͤsentanten, sondern persoͤnlich und in Masse leisteten: erst auf dem großen Roͤmersaale der Magi¬ strat und die Stabsoffiziere, dann auf dem großen Platze, dem Roͤmerberg, die saͤmt¬ liche Buͤrgerschaft nach ihren verschiedenen Graden, Abstufungen und Quartieren, und zuletzt das uͤbrige Militaͤr. Hier konnte man das ganze Gemein-Wesen mit einem Blick uͤberschauen, versammlet zu dem ehrenvollen Zweck, dem Haupt und den Gliedern des Reichs Sicherheit, und bey dem bevorstehen¬ den großen Werke unverbruͤchliche Ruhe anzu¬ geloben. Nun waren auch Chur-Trier und Chur-Koͤlln in Person angekommen. Am Vorabend des Wahltags werden alle Frem¬ den aus der Stadt gewiesen, die Thore sind geschlossen, die Juden in ihrer Gasse eingesperrt, und der Frankfurter Buͤrger duͤnkt sich nicht wenig, daß er allein Zeuge einer so großen Feyerlichkeit bleiben darf. Bisher war alles noch ziemlich modern hergegangen: die hoͤchsten und hohen Per¬ sonen bewegten sich nur in Kutschen hin und wieder; nun aber sollten wir sie, nach uralter Weise, zu Pferde sehen. Der Zulauf und das Gedraͤnge war außerordentlich. Ich wußte mich in dem Roͤmer, den ich wie eine Maus den heimischen Kornboden genau kannte, so lange herumzuschmiegen, bis ich an den Haupteingang gelangte, vor welchem die Churfuͤrsten und Gesandten, die zuerst in Prachtkutschen herangefahren und sich oben versammlet hatten, nunmehr zu Pferde stei¬ gen sollten. Die stattlichsten, wohlzugeritte¬ nen Rosse waren mit reich gestickten Waldrap¬ pen uͤberhangen und auf alle Weise ge¬ schmuͤckt. Churfuͤrst Emmerich Joseph, ein schoͤner behaglicher Mann, nahm sich zu Pferde gut aus. Der beyden andern erin¬ nere ich mich weniger, als nur uͤberhaupt, daß uns diese rothen mit Hermelin ausge¬ schlagenen Fuͤrstenmaͤntel, die wir sonst nur auf Gemaͤlden zu sehen gewohnt waren, un¬ ter freyem Himmel sehr romantisch vorka¬ men. Auch die Bothschafter der abwesenden weltlichen Churfuͤrsten in ihren goldstoffnen, mit Gold uͤberstickten, mit goldnen Spitzen- Tressen reich besetzten spanischen Kleidern tha¬ ten unsern Augen wohl; besonders wehten die großen Federn von den alterthuͤmlich aufge¬ krempten Huͤten aufs praͤchtigste. Was mir aber gar nicht dabey gefallen wollte, waren die kurzen modernen Beinkleider, die wei߬ seidenen Struͤmpfe und modischen Schuhe. Wir haͤtten Halbstiefelchen, so golden als man gewollt, Sandalen oder dergleichen ge¬ wuͤnscht, um nur ein etwas consequenteres Costum zu erblicken. Im Betragen unterschied sich auch hier der Gesandte von Plotho wieder vor allen andern. Er zeigte sich lebhaft und munter, und schien vor der ganzen Ceremonie nicht sonderlichen Respect zu haben. Denn als sein Vordermann, ein aͤltlicher Herr, sich nicht sogleich aufs Pferd schwingen konnte, und er deshalb eine Weile an dem großen Ein¬ gang warten mußte, enthielt er sich des La¬ chens nicht, bis sein Pferd auch vorgefuͤhrt wurde, auf welches er sich denn sehr behend hinaufschwang und von uns abermals als ein wuͤrdiger Abgesandter Friedrichs des zweyten bewundert wurde. Nun war fuͤr uns der Vorhang wieder gefallen. Ich hatte mich zwar in die Kirche zu draͤngen gesucht; allein es fand sich auch dort mehr Unbequemlichkeit als Lust. Die l. 29 Waͤhlenden hatten sich ins Allerheiligste zu¬ ruͤckgezogen, in welchem weitlaͤuftige Ceremo¬ nien die Stelle einer bedaͤchtigen Wahluͤberle¬ gung vertraten. Nach langem Harren, Draͤn¬ gen und Wogen vernahm denn zuletzt das Volk den Namen Josephs des zweyten, der zum roͤmischen Koͤnig ausgerufen wurde. Der Zudrang der Fremden in die Stadt ward nun immer staͤrker. Alles fuhr und ging in Galakleidern, so daß man zuletzt nur die ganz goldenen Anzuͤge bemerkenswerth fand. Kaiser und Koͤnig waren schon in Heusen¬ stamm, einem graͤflich Schoͤnbornischen Schlos¬ se, angelangt und wurden dort herkoͤmmlich begruͤßt und willkommen geheißen; die Stadt aber feyerte diese wichtige Epoche durch geist¬ liche Feste saͤmtlicher Religionen, durch Hoch¬ aͤmter und Predigten, und von weltlicher Sei¬ te, zu Begleitung des Te-Deum, durch un¬ ablaͤssiges Canoniren. Haͤtte man alle diese oͤffentlichen Feyer¬ lichkeiten von Anfang bis hieher als ein uͤber¬ legtes Kunstwerk angesehen, so wuͤrde man nicht viel daran auszusetzen gefunden haben. Alles war gut vorbereitet; sachte fingen die oͤffentlichen Auftritte an und wurden immer bedeutender; die Menschen wuchsen an Zahl, die Personen an Wuͤrde, ihre Umgebungen wie sie selbst an Pracht, und so stieg es mit jedem Tage, so daß zuletzt auch ein vorberei¬ tetes gefaßtes Auge in Verwirrung gerieth. Der Einzug des Churfuͤrsten von Mainz, welchen ausfuͤhrlicher zu beschreiben wir abge¬ lehnt, war praͤchtig und imposant genug, um in der Einbildungskraft eines vorzuͤglichen Mannes die Ankunft eines großen geweissag¬ ten Weltherrschers zu bedeuten. Auch wir waren dadurch nicht wenig geblendet worden. Nun aber spannte sich unsere Erwartung aufs hoͤchste, als es hieß, der Kaiser und der kuͤnftige Koͤnig naͤherten sich der Stadt. 29 * In einiger Entfernung von Sachsenhausen war ein Zelt errichtet, in welchem der ganze Magistrat sich aufhielt, um dem Oberhaupte des Reichs die gehoͤrige Verehrung zu bezei¬ gen und die Stadt-Schluͤssel anzubieten. Weiter hinaus, auf einer schoͤnen geraͤumi¬ gen Ebene, stand ein anderes, ein Pracht¬ gezelt, wohin sich die saͤmtlichen Churfuͤr¬ sten und Wahlbotschafter zum Empfang der Majestaͤten verfuͤgten, indessen ihr Gefolge sich den ganzen Weg entlang erstreckte, um nach und nach, wie die Reihe an sie kaͤme, sich wieder gegen die Stadt in Bewegung zu setzen und gehoͤrig in den Zug einzutreten. Nunmehr fuhr der Kaiser bey dem Zelt an, betrat solches, und nach ehrfurchtsvollem Empfange beurlaubten sich die Churfuͤrsten und Gesandten, um ordnungsgemaͤß dem hoͤchsten Herrscher den Weg zu bahnen. Wir andern, die wir in der Stadt geblie¬ ben, um diese Pracht innerhalb der Mauern und Straßen noch mehr zu bewundern, als es auf freyem Felde haͤtte geschehen koͤnnen, wir waren durch das von der Buͤrgerschaft in den Gassen aufgestellte Spalier, durch den Zudrang des Volks, durch mancherley dabey vorkommende Spaͤße und Unschicklich¬ keiten einstweilen gar wohl unterhalten, bis uns das Gelaͤute der Glocken und der Cano¬ nendonner die unmittelbare Naͤhe des Herr¬ schers ankuͤndigten. Was einem Frankfurter besonders wohlthun mußte, war, daß bey dieser Gelegenheit, bey der Gegenwart so vieler Souveraͤne und ihrer Repraͤsentanten, die Reichsstadt Frankfurt auch als ein kleiner Souveraͤn erschien: denn ihr Stallmeister eroͤffnete den Zug, Reitpferde mit Wappen¬ decken, worauf der weiße Adler im rothen Felde sich gar gut ausnahm, folgten ihm, Bediente und Offizianten, Pauker und Trom¬ peter, Deputirte des Raths, von Rathsbe¬ dienten in der Stadtlivree zu Fuße begleitet. Hieran schlossen sich die drey Compagnien der Buͤrger-Cavallerie, sehr wohl beritten, dieselbigen die wir von Jugend auf bey Ein¬ holung des Geleits und andern oͤffentlichen Gelegenheiten gekannt hatten. Wir erfreuten uns an dem Mitgefuͤhl dieser Ehre, und an dem Hunderttausend-Theilchen einer Souveraͤnetaͤt, welche gegenwaͤrtig in ihrem vollen Glanz erschien. Die verschiedenen Gefolge des Reichs-Erbmarschalls und der von den sechs weltlichen Churfuͤrsten abgeord¬ neten Wahlgesandten zogen sodann schritt¬ weise daher. Keins derselben bestand aus weniger denn zwanzig Bedienten und zwey Staatswagen; bey einigen aus einer noch groͤßern Anzahl. Das Gefolge der geistlichen Churfuͤrsten war nun immer im Steigen; die Bedienten und Hausoffizianten schienen unzaͤh¬ lig, Chur-Coͤln und Chur-Trier hatten uͤber zwanzig Staatswagen, Chur-Mainz allein eben so viel. Die Dienerschaft zu Pferde und zu Fuß war durchaus aufs praͤchtigste gekleidet, die Herren in den Equipagen, geist¬ liche und weltliche, hatten es auch nicht feh¬ len lassen, reich und ehrwuͤrdig angethan, und geschmuͤckt mit allen Ordenszeichen, zu erscheinen. Das Gefolg der kaiserlichen Ma¬ jestaͤt uͤbertraf nunmehr wie billig die uͤbri¬ gen. Die Bereiter, die Handpferde, die Reitzeuge, Schabracken und Decken zogen aller Augen auf sich, und sechzehn sechsspaͤn¬ nige Galawaͤgen der kaiserlichen Cammerher¬ ren, Geheimenraͤthe, des Ober-Caͤmmerers, Ober-Hofmeisters, Ober-Stallmeisters be¬ schlossen mit großem Prunk diese Abtheilung des Zugs, welche, ungeachtet ihrer Pracht und Ausdehnung, doch nur der Vortrab seyn sollte. Nun aber concentrirte sich die Reihe, indem sich Wuͤrde und Pracht steigerten, immer mehr. Denn unter einer ausgewaͤhl¬ ten Begleitung eigener Haus-Dienerschaft, die meisten zu Fuß, wenige zu Pferde, erschie¬ nen die Wahlbotschafter so wie die Churfuͤr¬ sten in Person, nach aufsteigender Ordnung, jeder in einem praͤchtigen Staatswagen. Un¬ mittelbar hinter Chur-Mainz kuͤndigten zehn kaiserliche Laufer, ein und vierzig Lakeyen und acht Heiducken die Majestaͤten selbst an. Der praͤchtigste Staatswagen, auch im Ruͤcken mit einem ganzen Spiegelglas versehen mit Malerey, Lackirung, Schnitzwerk und Ver¬ goldung ausgeziert, mit rothem gestickten Sammt obenher und inwendig bezogen, ließ uns ganz bequem Kaiser und Koͤnig, die laͤngst erwuͤnschten Haͤupter, in aller ihrer Herrlichkeit betrachten. Man hatte den Zug einen weiten Umweg gefuͤhrt, theils aus Nothwendigkeit, damit er sich nur entfalten koͤnne, theils um ihn der großen Menge Menschen sichtbar zu machen. Er war durch Sachsenhausen, uͤber die Bruͤcke, die Fahr¬ gasse, sodann die Zeile hinunter gegangen, und wendete sich nach der innern Stadt durch die Catharinenpforte, ein ehmaliges Thor, und seit Erweiterung der Stadt, ein offner Durchgang. Hier hatte man gluͤcklich bedacht, daß die aͤußere Herrlichkeit der Welt, seit einer Reihe von Jahren, sich immer mehr in die Hoͤhe und Breite ausgedehnt. Man hatte gemessen und gefunden, daß durch diesen Thor¬ weg, durch welchen so mancher Fuͤrst und Kaiser aus und eingezogen, der jetzige kaiser¬ liche Staatswagen, ohne mit seinem Schnitz¬ werk und andern Aeußerlichkeiten anzustoßen, nicht hindurchkommen koͤnne. Man berath¬ schlagte, und zu Vermeidung eines unbequemen Umwegs, entschloß man sich das Pflaster aufzuheben, und eine sanfte Ab- und Auf¬ fahrt zu veranstalten. In eben dem Sinne hatte man auch alle Wetterdaͤcher der Laͤden und Buden in den Straßen ausgehoben, da¬ mit weder die Krone, noch der Adler, noch die Genien Anstoß und Schaden nehmen moͤchten. So sehr wir auch, als dieses kostbare Gefaͤß mit so kostbarem Inhalt sich uns naͤherte, auf die hohen Personen unsere Augen gerichtet hatten, so konnten wir doch nicht umhin, unsern Blick auf die herrlichen Pferde, das Geschirr und dessen Posament- Schmuck zu wenden; besonders aber fielen uns die wunderlichen, beyde auf den Pferden sitzenden, Kutscher und Vorreiter auf. Sie sahen wie aus einer andern Nation, ja wie aus einer andern Welt, in langen schwarz- und gelbsammtnen Roͤcken und Kappen mit großen Federbuͤschen, nach kaiserlicher Hof¬ sitte. Nun draͤngte sich so viel zusammen, daß man wenig mehr unterscheiden konnte. Die Schweizergarde zu beyden Seiten des Wagens, der Erbmarschall, das saͤchsische Schwerd aufwaͤrts in der rechten Hand hal¬ tend, die Feldmarschaͤlle als Anfuͤhrer der kaiserlichen Garden hinter dem Wagen rei¬ tend, die kaiserlichen Edelknaben in Masse und endlich die Hatschiergarde selbst, in schwarzsammtnen Fluͤgelroͤcken, alle Naͤhte reich mit Gold galonirt, darunter rothe Leib¬ roͤcke und lederfarbne Camisole, gleichfalls reich mit Gold besetzt. Man kam vor lauter Sehen, Deuten und Hinweisen gar nicht zu sich selbst, so daß die nicht minder praͤchtig gekleideten Leibgarden der Churfuͤrsten kaum beachtet wurden; ja wir haͤtten uns vielleicht von den Fenstern zuruͤckgezogen, wenn wir nicht noch unsern Magistrat, der in funfzehn zweyspaͤnnigen Kutschen den Zug beschloß, und besonders in der letzten den Rathsschrei¬ ber mit den Stadtschluͤsseln auf rothsammtenem Kissen haͤtten in Augenschein nehmen wollen. Daß unsere Stadtgrenadier-Compagnie das Ende deckte, daͤuchte uns auch ehrenvoll genug, und wir fuͤhlten uns als Deutsche und als Frankfurter von diesem Ehrentag doppelt und hoͤchlich erbaut. Wir hatten in einem Hause Platz genom¬ men, wo der Aufzug, wenn er aus dem Dom zuruͤckkam, ebenfalls wieder an uns vorbey mußte. Des Gottesdienstes, der Musik, der Ceremonien und Feyerlichkeiten, der Anreden und Antworten, der Vortraͤge und Vorlesungen waren in Kirche, Chor und Conclave so viel, bis es zur Beschwoͤrung der Wahlcapitulation kam, daß wir Zeit genug hatten, eine vortreff¬ liche Collation einzunehmen, und auf die Ge¬ sundheit des alten und jungen Herrschers manche Flasche zu leeren. Das Gespraͤch verlor sich indeß, wie es bey solchen Gelegen¬ heiten zu gehen pflegt, in die vergangene Zeit, und es fehlte nicht an bejahrten Personen, welche jener vor der gegenwaͤrtigen den Vorzug gaben, wenigstens in Absicht auf ein gewisses menschliches Interesse und einer leidenschaft¬ lichen Theilnahme, welche dabey vorgewaltet. Bey Franz des ersten Kroͤnung war noch nicht alles so ausgemacht, wie gegenwaͤrtig; der Frie¬ de war noch nicht abgeschlossen, Frankreich, Chur-Brandenburg und Chur-Pfalz widersetz¬ ten sich der Wahl; die Truppen des kuͤnftigen Kaisers standen bey Heidelberg, wo er sein Hauptquartier hatte, und fast waͤren die von Aachen heraufkommenden Reichs-Insignien von den Pfaͤlzern weggenommen worden. Indes¬ sen unterhandelte man doch, und nahm von beyden Seiten die Sache nicht aufs strengste. Maria Theresia selbst, obgleich in gesegneten Umstaͤnden, kommt, um die endlich durchgesetzte Kroͤnung ihres Gemahls in Person zu sehen. Sie traf in Aschaffenburg ein und bestieg eine Jacht, um sich nach Frankfurt zu begeben. Franz, von Heidelberg aus, denkt seiner Ge¬ mahlin zu begegnen, allein er kommt zu spaͤt, sie ist schon abgefahren. Ungekannt wirft er sich in einen kleinen Nachen, eilt ihr nach, erreicht ihr Schiff, und das liebende Paar er¬ freut sich dieser uͤberraschenden Zusammenkunft. Das Maͤhrchen davon verbreitet sich sogleich, und alle Welt nimmt Theil an diesem zaͤrt¬ lichen mit Kindern reich gesegneten Ehepaar, das seit seiner Verbindung so unzertrennlich gewesen, daß sie schon einmal auf einer Rei¬ se von Wien nach Florenz zusammen an der Venetianischen Graͤnze Quarantaͤne halten muͤssen. Maria Theresia wird in der Stadt mit Jubel bewillkommt, sie betritt den Gast¬ hof zum roͤmischen Kaiser, indessen auf der Bornheimer Heide das große Zelt, zum Em¬ pfang ihres Gemahls, errichtet ist. Dort fin¬ det sich von den geistlichen Churfuͤrsten nur Mainz allein, von den Abgeordneten der welt¬ lichen nur Sachsen, Boͤhmen und Hannover. Der Einzug beginnt, und was ihm an Voll¬ staͤndigkeit und Pracht abgehen mag, ersetzt reichlich die Gegenwart einer schoͤnen Frau. Sie steht auf dem Balcon des wohlgelegnen Hauses und begruͤßt mit Vivatruf und Haͤn¬ deklatschen ihren Gemahl; das Volk stimmt ein, zum groͤßten Enthusiasmus aufgeregt. Da die Großen nun auch einmal Menschen sind, so denkt sie der Buͤrger, wenn er sie lieben will, als seines Gleichen, und das kann er am fuͤglichsten, wenn er sie als lie¬ bende Gatten, als zaͤrtliche Aeltern, als an¬ haͤngliche Geschwister, als treue Freunde sich vorstellen darf. Man hatte damals alles Gute gewuͤnscht und prophezeyt und heute sah man es erfuͤllt an dem erstgebornen Sohne, dem Jedermann wegen seiner schoͤnen Juͤng¬ lingsgestalt geneigt war, und auf den die Welt, bey den hohen Eigenschaften die er an¬ kuͤndigte, die groͤßten Hoffnungen setzte. Wir hatten uns ganz in die Vergang¬ genheit und Zukunft verloren, als einige her¬ eintretende Freunde uns wieder in die Gegen¬ wart zuruͤckriefen. Sie waren von denen die den Werth einer Neuigkeit einsehen, und sich deswegen beeilen sie zuerst zu verkuͤndigen. Sie wußten auch einen schoͤnen menschlichen Zug dieser hohen Personen zu erzaͤhlen, die wir so eben in dem groͤßten Prunk vorbeyziehen ge¬ sehn. Es war naͤmlich verabredet worden, daß unterwegs, zwischen Heusenstamm und je¬ nem großen Gezelte, Kaiser und Koͤnig den Landgrafen von Darmstadt im Wald antref¬ fen sollten. Dieser alte, dem Grabe sich naͤ¬ hernde Fuͤrst wollte noch einmal den Herrn sehen, dem er in fruͤherer Zeit sich gewidmet. Beyde mochten sich jenes Tages erinnern, als der Landgraf das Decret der Churfuͤrsten, das Franzen zum Kaiser erwaͤhlte, nach Heidelberg uͤberbrachte, und die erhaltenen kostbaren Ge¬ schenke mit Betheurung einer unverbruͤchlichen Anhaͤnglichkeit erwiederte. Diese hohen Per¬ sonen standen in einem Tannicht, und der Land¬ graf vor Alter schwach, hielt sich an eine Fichte, um das Gespraͤch noch laͤnger fortse¬ tzen zu koͤnnen, das von beyden Theilen nicht ohne Ruͤhrung geschah. Der Platz ward nachher auf eine unschuldige Weise bezeichnet, und wir jungen Leute sind einige Mal hinge¬ wandert. So hatten wir mehrere Stunden mit Er¬ innerung des Alten, mit Erwaͤgung des Neuen hingebracht, als der Zug abermals, jedoch abgekuͤrzt und gedraͤngter, vor unsern Augen vorbeywogte; und wir konnten das Einzelne naͤher beobachten, bemerken und uns fuͤr die Zukunft einpraͤgen. Von dem Augenblick an war die Stadt in ununterbrochener Bewegung: denn bis Alle und Jede, denen es zukommt und von denen es gefordert wird, den hoͤchsten Haͤuptern ihre Aufwartung gemacht und sich einzeln denselben dargestellt hatten, war des Hin- und Wieder¬ ziehens kein Ende, und man konnte den Hof¬ staat eines jeden der hohen Gegenwaͤrtigen ganz bequem im Einzelnen wiederholen. Nun kamen auch die Reichs-Insignien heran. Damit es aber auch hier nicht an hergebrachten Haͤndeln fehlen moͤge, so mu߬ ten sie auf freyem Felde den halben Tag bis in die spaͤte Nacht zubringen, wegen einer Territorial - und Geleitsstreitigkeit zwischen Chur-Mainz und der Stadt. Die letzte gab nach, die Mainzischen geleiteten die In¬ signien bis an den Schlagbaum, und somit war die Sache fuͤr dießmal abgethan. I. 30 In diesen Tagen kam ich nicht zu mir selbst. Zu Hause gab es zu schreiben und zu copiren; sehen wollte und sollte man alles, und so ging der Maͤrz zu Ende, dessen zweyte Haͤlfte fuͤr uns so festreich gewesen war. Von dem was zuletzt vorgegangen und was am Kroͤnungstag zu erwarten sey, hatte ich Gretchen eine treuliche und ausfuͤhrliche Be¬ lehrung versprochen. Der große Tag nahte heran; ich hatte mehr im Sinne, wie ich es ihr sagen wollte, als was eigentlich zu sagen sey; ich verarbeitete alles was mir unter die Augen und unter die Canzleyfeder kam, nur geschwind zu diesem naͤchsten und einzigen Ge¬ brauch. Endlich erreichte ich noch eines Abends ziemlich spaͤt ihre Wohnung, und that mir schon im voraus nicht wenig darauf zu Gute, wie mein dießmaliger Vortrag noch viel bes¬ ser als der erste unvorbereitete gelingen sollte. Allein gar oft bringt uns selbst, und andern durch uns, ein augenblicklicher Anlaß mehr Freude als der entschiedenste Vorsatz nicht ge¬ waͤhren kann. Zwar fand ich ziemlich dieselbe Gesellschaft, allein es waren einige Unbekann¬ te darunter. Sie setzten sich hin zu spielen; nur Gretchen und der juͤngere Vetter hielten sich zu mir und der Schiefertafel. Das liebe Maͤdchen aͤußerte gar anmuthig ihr Behagen, daß sie, als eine Fremde, am Wahltage fuͤr eine Buͤrgerinn gegolten habe, und ihr dieses einzige Schauspiel zu Theil geworden sey. Sie dankte mir aufs verbindlichste, daß ich fuͤr sie zu sorgen gewußt, und ihr zeither durch Pylades allerley Einlaͤsse mittels Billette, An¬ weisungen, Freunde und Vorsprache zu ver¬ schaffen die Aufmerksamkeit gehabt. Von den Reichs-Kleinodien hoͤrte sie gern erzaͤhlen. Ich versprach ihr, daß wir diese wo moͤglich zusammen sehen wollten. Sie machte einige scherzhafte Anmerkungen, als sie erfuhr, daß man Gewaͤnder und Krone dem jungen Koͤ¬ nig anprobirt habe. Ich wußte, wo sie den 30 * Feyerlichkeiten des Kroͤnungstages zusehen wuͤrde, und machte sie aufmerksam auf alles was bevorstand, und was besonders von ihrem Platze genau beobachtet werden konnte. So vergaßen wir an die Zeit zu denken; es war schon uͤber Mitternacht geworden, und ich fand, daß ich ungluͤcklicherweise den Haus¬ schluͤssel nicht bey mir hatte. Ohne das groͤßte Aufsehen zu erregen konnte ich nicht ins Haus. Ich theilte ihr meine Verlegenheit mit. „Am Ende, sagte sie, ist es das Beste, die Ge¬ sellschaft bleibt beysammen.“ Die Vettern und jene Fremden hatten schon den Gedanken ge¬ habt, weil man nicht wußte, wo man diese fuͤr die Nacht unterbringen sollte. Die Sache war bald entschieden; Gretchen ging um Caf¬ fee zu kochen, nachdem sie, weil die Lichter auszubrennen drohten, eine große messingene Familienlampe mit Docht und Oel versehen und angezuͤndet hereingebracht hatte. Der Caffee diente fuͤr einige Stunden zur Ermunterung; nach und nach aber ermattete das Spiel, das Gespraͤch ging aus; die Mutter schlief im großen Sessel; die Fremden von der Reise muͤde, nickten da und dort, Pylades und seine Schoͤne saßen in einer Ecke. Sie hatte ihren Kopf auf seine Schulter ge¬ legt und schlief; auch er wachte nicht lange. Der juͤngere Vetter, gegen uns uͤber am Schie¬ fertische sitzend, hatte seine Arme vor sich uͤbereinandergeschlagen und schlief mit auf¬ liegendem Gesichte. Ich saß in der Fenster¬ ecke hinter dem Tische und Gretchen neben mir. Wir unterhielten uns leise; aber endlich uͤbermannte auch sie der Schlaf, sie lehnte ihr Koͤpfchen an meine Schulter und war gleich eingeschlummert. So saß ich nun al¬ lein, wachend, in der wunderlichsten Lage, in der auch mich der freundliche Bruder des Todes zu beruhigen wußte. Ich schlief ein, und als ich wieder erwachte, war es schon heller Tag. Gretchen stand vor dem Spiegel und ruͤckte ihr Haͤubchen zurechte; sie war liebenswuͤrdiger als je, und druͤckte mir als ich schied gar herzlich die Haͤnde. Ich schlich durch einen Umweg nach unserm Hause: denn an der Seite, nach dem kleinen Hirschgraben zu, hatte sich mein Vater in der Mauer ein kleines Guckfenster, nicht ohne Widerspruch des Nachbarn, angelegt. Diese Seite vermie¬ den wir, wenn wir nach Hause kommend von ihm nicht bemerkt seyn wollten. Meine Mut¬ ter, deren Vermittelung uns immer zu Gute kam, hatte meine Abwesenheit des Morgens beym Thee durch ein fruͤhzeitiges Ausgehen meiner zu beschoͤnigen gesucht, und ich empfand also von dieser unschuldigen Nacht keine un¬ angenehmen Folgen. Ueberhaupt und im Ganzen genommen machte diese unendlich mannigfaltige Welt, die mich umgab, auf mich nur sehr einfachen Eindruck. Ich hatte kein Interesse als das Aeußere der Gegenstaͤnde genau zu bemerken, kein Geschaͤft als das mir mein Vater und Herr von Koͤnigsthal auftrugen, wodurch ich freylich den innern Gang der Dinge gewahr ward. Ich hatte keine Neigung als zu Gretchen, und keine andre Absicht als nur alles recht gut zu sehen und zu fassen, um es mit ihr wiederholen und ihr erklaͤren zu koͤnnen. Ja ich beschrieb oft, indem ein sol¬ cher Zug vorbey ging, diesen Zug halb laut vor mir selbst, um mich alles Einzelnen zu versichern, und dieser Aufmerksamkeit und Genauigkeit wegen von meiner Schoͤnen gelobt zu werden; und nur als eine Zugabe betrachtete ich den Beyfall und die Aner¬ kennung der Anderen. Zwar ward ich manchen hohen und vor¬ nehmen Personen vorgestellt; aber theils hatte Niemand Zeit sich um andere zu bekuͤm¬ mern, und theils wissen auch Aeltere nicht gleich, wie sie sich mit einem jungen Menschen unterhalten und ihn pruͤfen sollen. Ich von meiner Seite war auch nicht sonderlich geschickt mich den Leuten bequem darzustellen. Gewoͤhn¬ lich erwarb ich ihre Gunst, aber nicht ihren Beyfall. Was mich beschaͤftigte, war mir vollkommen gegenwaͤrtig; aber ich fragte nicht, ob es auch andern gemaͤß seyn koͤnne. Ich war meist zu lebhaft oder zu still, und schien entweder zudringlich oder stoͤckig, je nachdem die Menschen mich anzogen oder abstießen; und so wurde ich zwar fuͤr hoff¬ nungsvoll gehalten, aber dabey fuͤr wunder¬ lich erklaͤrt. Der Kroͤnungstag brach endlich an, den 3ten April 1764; das Wetter war guͤnstig und alle Menschen in Bewegung. Man hatte mir nebst mehrern Verwandten und Freunden, in dem Roͤmer selbst, in einer der obern Etagen, einen guten Platz angewiesen, wo wir das Ganze vollkommen uͤbersehen konn¬ ten. Mit dem Fruͤhsten begaben wir uns an Ort und Stelle, und beschauten nunmehr von oben, wie in der Vogelperspective, die Anstalten die wir Tags vorher in naͤheren Augenschein genommen hatten. Da war der neuerrichtete Springbrunnen mit zwey großen Kufen rechts und links, in welche der Dop¬ peladler auf dem Staͤnder, weißen Wein huͤ¬ ben und rothen Wein druͤben aus seinen zwey Schnaͤbeln ausgießen sollte. Aufgeschuͤttet zu einem Haufen lag dort der Haber, hier stand die große Bretterhuͤtte, in der man schon einige Tage den ganzen fetten Ochsen an einem ungeheuren Spieße bey Kohlenfeuer braten und schmoren sah. Alle Zugaͤnge, die vom Roͤmer aus dahin, und von andern Straßen nach dem Roͤmer fuͤhren, waren zu beyden Seiten durch Schranken und Wachen gesichert. Der große Platz fuͤllte sich nach und nach, und das Wogen und Draͤngen ward immer staͤrker und bewegter, weil die Menge wo moͤglich immer nach der Gegend hinstrebte, wo ein neuer Auftritt erschien und etwas Besonderes angekuͤndigt wurde. Bey alle dem herrschte eine ziemliche Stille, und als die Sturmglocke gelaͤutet wurde, schien das ganze Volk von Schauer und Erstaunen ergriffen. Was nun zuerst die Aufmerksamkeit aller die von oben herab den Platz uͤbersehen konnten, erregte, war der Zug, in welchem die Herren von Aachen und Nuͤrnberg die Reichs-Kleinodien nach dem Dome brachten. Diese hatten als Schutzhei¬ ligthuͤmer den ersten Platz im Wagen einge¬ nommen, und die Deputirten saßen vor ihnen in anstaͤndiger Verehrung auf dem Ruͤcksitz. Nunmehr begeben sich die drey Churfuͤrsten in den Dom. Nach Ueberreichung der Insig¬ nien an Chur-Mainz werden Krone und Schwerd sogleich nach dem kaiserlichen Quar¬ tier gebracht. Die weiteren Anstalten und mancherley Ceremoniel beschaͤftigen mittler¬ weile die Hauptpersonen so wie die Zuschauer in der Kirche, wie wir andern Unterrichteten uns wohl denken konnten. Vor unsern Augen fuhren indessen die Gesandten auf den Roͤmer, aus welchem der Baldachin von Unteroffizieren in das kaiserliche Quartier getragen wird. Sogleich besteigt der Erbmarschall Graf von Pappen¬ heim sein Pferd; ein sehr schoͤner schlankge¬ bildeter Herr, den die spanische Tracht, das reiche Wams, der goldne Mantel, der hohe Federhut und die gestraͤhlten fliegenden Haare sehr wohl kleideten. Er setzt sich in Bewe¬ gung, und unter dem Gelaͤute aller Glocken folgen ihm zu Pferde die Gesandten nach dem kaiserlichen Quartier in noch groͤßerer Pracht als am Wahltage. Dort haͤtte man auch seyn moͤgen, wie man sich an diesem Tage durchaus zu vervielfaͤltigen wuͤnschte. Wir erzaͤhlten einander indessen was dort vorgehe. Nun zieht der Kaiser seinen Hausornat an, sagten wir, eine neue Bekleidung nach dem Muster der alten caro¬ lingischen verfertigt. Die Erbaͤmter erhalten die Reichs-Insignien und setzen sich damit zu Pferde. Der Kaiser im Ornat, der roͤmische Koͤnig im spanischen Habit, bestei¬ gen gleichfalls ihre Rosse, und indem dieses geschieht, hat sie uns der vorausgeschrittene unendliche Zug bereits angemeldet. Das Auge war schon ermuͤdet durch die Menge der reichgekleideten Dienerschaft und der uͤbrigen Behoͤrden, durch den stattlich einher wandelnden Adel; und als nunmehr die Wahlbotschafter, die Erbaͤmter und zuletzt unter dem reichgestickten, von zwoͤlf Schoͤffen und Rathsherrn getragenen Baldachin, der Kaiser in romantischer Kleidung, zur Linken, etwas hinter ihm, sein Sohn in spanischer Tracht, langsam auf praͤchtig geschmuͤckten Pferden einherschwebten, war das Auge nicht mehr sich selbst genug. Man haͤtte gewuͤnscht durch eine Zauberformel die Erschei¬ nung nur einen Augenblick zu fesseln; aber die Herrlichkeit zog unaufhaltsam vorbey, und den kaum verlassenen Raum erfuͤllte sogleich wieder das hereinwogende Volk. Nun aber entstand ein neues Gedraͤnge: denn es mußte ein anderer Zugang, von dem Markte her, nach der Roͤmerthuͤre eroͤffnet und ein Bretterweg aufgebruͤckt werden, wel¬ chen der aus dem Dom zuruͤckkehrende Zug beschreiten sollte. Was in dem Dome vorgegangen, die unendlichen Ceremonien, welche die Salbung, die Kroͤnung, den Ritterschlag vorbereiten und begleiten, alles dieses ließen wir uns in der Folge gar gern von denen erzaͤhlen, die manches andere aufgeopfert hatten, um in der Kirche gegenwaͤrtig zu seyn. Wir andern verzehrten mittlerweile auf unsern Plaͤtzen eine frugale Mahlzeit: denn wir mußten an dem festlichsten Tage den wir erlebten, mit kalter Kuͤche vorlieb nehmen. Dagegen aber war der beste und aͤlteste Wein aus allen Familienkellern herangebracht worden, so daß wir von dieser Seite wenigstens dieß alterthuͤmliche Fest alterthuͤmlich feyerten. Auf dem Platze war jetzt das Sehens¬ wuͤrdigste die fertig gewordene und mit roth- gelb- und weißem Tuch uͤberlegte Bruͤcke, und wir sollten den Kaiser, den wir zuerst im Wagen, dann zu Pferde sitzend angestaunt, nun auch zu Fuße wandelnd bewundern; und sonderbar genug, auf das letzte freuten wir uns am meisten; denn uns daͤuchte diese Weise sich darzustellen so wie die natuͤrlichste, so auch die wuͤrdigste. Aeltere Personen, welche der Kroͤnung Franz des ersten beygewohnt, erzaͤhlten: Maria Theresia, uͤber die Maßen schoͤn, habe jener Feyerlichkeit an einem Balconfenster des Hauses Frauenstein, gleich neben dem Roͤmer, zuge¬ sehen. Als nun ihr Gemahl in der seltsamen Verkleidung aus dem Dome zuruͤckgekommen, und sich ihr so zu sagen als ein Gespenst Carls des großen dargestellt, habe er wie zum Scherz beyde Haͤnde erhoben und ihr den Reichsapfel, den Scepter und die wun¬ dersamen Handschuh hingewiesen, woruͤber sie in ein unendliches Lachen ausgebrochen; welches dem ganzen zuschauenden Volke zur groͤßten Freude und Erbauung gedient, indem es darin das gute und natuͤrliche Ehgatten- Verhaͤltniß des allerhoͤchsten Paares der Christenheit mit Augen zu sehen gewuͤrdiget worden. Als aber die Kaiserinn, ihren Gemahl zu begruͤßen, das Schnupftuch geschwungen und ihm selbst ein lautes Vivat zugerufen, sey der Enthusiasmus und der Jubel des Volks aufs hoͤchste gestiegen, so daß das Freudengeschrey gar kein Ende finden koͤnnen. Nun verkuͤndigte der Glockenschall und nun die Vordersten des langen Zuges, welche uͤber die bunte Bruͤcke ganz sachte einherschrit¬ ten, daß alles gethan sey. Die Aufmerksam¬ keit war groͤßer denn je, der Zug deutlicher als vorher, besonders fuͤr uns, da er jetzt gerade nach uns zu ging. Wir sahen ihn so wie den ganzen volkserfuͤllten Platz beynah im Grundriß. Nur zu sehr draͤngte sich am Ende die Pracht: denn die Gesandten, die Erbaͤm¬ ter, Kaiser und Koͤnig unter dem Baldachin, die drey geistlichen Churfuͤrsten die sich anschlos¬ sen, die schwarz gekleideten Schoͤffen und Rathsherren, der goldgestickte Himmel, alles schien nur eine Masse zu seyn, die nur von Einem Willen bewegt, praͤchtig harmonisch, und so eben unter dem Gelaͤute der Glocken aus dem Tempel tretend, als ein Heiliges uns entgegenstrahlte. Eine politisch religiose Feyerlichkeit hat einen unendlichen Reiz. Wir sehen die irdi¬ sche Majestaͤt vor Augen, umgeben von allen Symbolen ihrer Macht; aber indem sie sich vor der himmlischen beugt, bringt sie uns die Gemeinschaft beyder vor die Sinne. Denn auch der Einzelne vermag seine Ver¬ wandtschaft mit der Gottheit nur dadurch zu bethaͤtigen, daß er sich unterwirft und anbetet. Der von dem Markt her ertoͤnende Jubel verbreitete sich nun auch uͤber den großen Platz, und ein ungestuͤmes Vivat erscholl aus tausend und aber tausend Kehlen, und gewiß auch aus den Herzen. Denn dieses große Fest sollte ja das Pfand eines dauerhaften Friedens werden, der auch wirklich lange Jahre hindurch Deutschland begluͤckte. Mehrere Tage vorher war durch oͤffent¬ lichen Ausruf bekannt gemacht, daß weder die Bruͤcke, noch der Adler uͤber dem Brun¬ nen, Preis gegeben, und also nicht vom Volke wie sonst angelastet werden solle. Es geschah dieß, um manches bey, solchem Anstuͤr¬ I. 31 men unvermeidliche Ungluͤck zu verhuͤten. Allein um doch einigermaßen dem Genius des Poͤbels zu opfern, gingen eigens bestellte Personen hinter dem Zuge her, loͤs'ten das Tuch von der Bruͤcke, wickelten es banen¬ weise zusammen und warfen es in die Luft. Hiedurch entstand nun zwar kein Ungluͤck, aber ein laͤcherliches Unheil: denn das Tuch entrollte sich in der Luft und bedeckte, wie es niederfiel, eine groͤßere oder geringere Anzahl Menschen. Diejenigen nun welche die Enden faßten und solche an sich zogen, rissen alle die Mittleren zu Boden, umhuͤll¬ ten und aͤngstigten sie so lange, bis sie sich durchgerissen oder durchgeschnitten, und jeder nach seiner Weise einen Zipfel dieses, durch die Fußtritte der Majestaͤten geheiligten Gewe¬ bes davongetragen hatte. Dieser wilden Belustigung sah ich nicht lange zu, sondern eilte von meinem hohen Standorte durch allerley Treppchen und Gaͤnge hinunter an die große Roͤmerstiege, wo die aus der Ferne angestaunte so vornehme als herrliche Masse heraufwallen sollte. Das Gedraͤng war nicht groß, weil die Zugaͤnge des Rathhauses wohl besetzt waren, und ich kam gluͤcklich unmittelbar oben an das eiserne Gelaͤnder. Nun stiegen die Hauptpersonen an mir voruͤber, indem das Gefolge in den untern Gewoͤlbgaͤngen zuruͤckblieb, und ich konnte sie auf der dreymal gebrochnen Treppe von allen Seiten und zuletzt ganz in der Naͤ¬ he betrachten. Endlich kamen auch die beyden Maje¬ staͤten herauf. Vater und Sohn waren wie Menaͤchmen uͤberein gekleidet. Des Kaisers Hausornat von purpurfarbner Seide, mit Perlen und Steinen reich geziert, so wie Kro¬ ne, Scepter und Reichsapfel, fielen wohl in die Augen: denn alles war neu daran, und die Nachahmung des Alterthums geschmackvoll. So bewegte er sich auch in seinem Anzuge 31 * ganz bequem, und sein treuherzig wuͤrdiges Gesicht gab zugleich den Kaiser und den Va¬ ter zu erkennen. Der junge Koͤnig hingegen schleppte sich in den ungeheuren Gewandstuͤ¬ cken mit den Kleinodien Carls des großen, wie in einer Verkleidung einher, so daß er selbst, von Zeit zu Zeit seinen Vater ansehend, sich des Laͤchelns nicht enthalten konnte. Die Krone, welche man sehr hatte fuͤttern muͤssen, stand wie ein uͤbergreifendes Dach vom Kopf ab. Die Dalmatica, die Stola, so gut sie auch angepaßt und eingenaͤht worden, gewaͤhrte doch keinswegs ein vortheilhaftes Aussehen. Scep¬ ter und Reichsapfel setzten in Verwunderung; aber man konnte sich nicht laͤugnen, daß man lieber eine maͤchtige, dem Anzuge gewachsene Gestalt, um der guͤnstigern Wirkung willen, damit bekleidet und ausgeschmuͤckt gesehen haͤtte. Kaum waren die Pforten des großen Saales hinter diesen Gestalten wieder geschlos¬ sen, so eilte ich auf meinen vorigen Platz, der von andern bereits eingenommen nur mit einiger Noth mir wieder zu Theil wurde. Es war eben die rechte Zeit, daß ich von meinem Fenster wieder Besitz nahm: denn das Merkwuͤrdigste was oͤffentlich zu erblicken war, sollte eben vorgehen. Alles Volk hatte sich gegen den Roͤmer zu gewendet, und ein abermaliges Vivatschreyen gab uns zu erken¬ nen, daß Kaiser und Koͤnig an dem Balcon¬ fenster des großen Saales in ihrem Ornate sich dem Volke zeigten. Aber sie sollten nicht allein zum Schauspiel dienen, sondern vor ih¬ ren Augen sollte ein seltsames Schauspiel vor¬ gehen. Vor allen schwang sich nun der schoͤne schlanke Erbmarschall auf sein Roß; er hatte das Schwerd abgelegt, in seiner Rechten hielt er ein silbernes gehenkeltes Gemaͤß, und ein Streichblech in der Linken. So ritt er in den Schranken auf den großen Haferhaufen zu, sprengte hinein, schoͤpfte das Gefaͤß uͤber¬ voll, strich es ab und trug es mit großem Anstande wieder zuruͤck. Der kaiserliche Mar¬ stall war nunmehr versorgt. Der Erbcaͤm¬ merer ritt sodann gleichfalls auf jene Gegend zu und brachte ein Handbecken nebst Gießfaß und Handquele zuruͤck. Unterhaltender aber fuͤr die Zuschauer war der Erbtruchseß, der ein Stuͤck von dem gebratnen Ochsen zu holen kam. Auch er ritt mit einer silbernen Schuͤs¬ sel durch die Schranken bis zu der großen Bretterkuͤche, und kam bald mit verdecktem Gericht wieder hervor, um seinen Weg nach dem Roͤmer zu nehmen. Die Reihe traf nun den Erbschenken, der zu dem Springbrunnen ritt und Wein holte. So war nun auch die kaiserliche Tafel bestellt, und aller Augen war¬ teten auf den Erbschatzmeister, der das Geld auswerfen sollte. Auch er bestieg ein schoͤnes Roß, dem zu beyden Seiten des Sattels an¬ statt der Pistolenhalftern ein paar praͤchtige, mit dem churpfaͤlzischen Wappen gestickte Beutel befestigt hingen. Kaum hatte er sich in Bewegung gesetzt, als er in diese Taschen griff und rechts und links Gold- und Silber¬ muͤnzen freygebig ausstreute, welche jedes¬ mal in der Luft als ein metallner Regen gar lustig glaͤnzten. Tausend Haͤnde zappel¬ ten augenblicklich in der Hoͤhe, um die Gaben aufzufangen; kaum aber waren die Muͤnzen niedergefallen, so wuͤhlte die Masse in sich selbst gegen den Boden und rang gewaltig um die Stuͤcke, welche zur Erde mochten gekommen seyn. Da nun diese Bewegung von beyden Seiten sich immer wiederholte, wie der Geber vorwaͤrts ritt, so war es fuͤr die Zuschauer ein sehr belustigender Anblick. Zum Schlus¬ se ging es am allerlebhaftesten her, als er die Beutel selbst auswarf, und ein Jeder noch diesen hoͤchsten Preis zu erhaschen trachtete. Die Majestaͤten hatten sich vom Balcon zuruͤckgezogen, und nun sollte dem Poͤbel aber¬ mals ein Opfer gebracht werden, der in sol¬ chen Faͤllen lieber die Gaben rauben als sie gelassen und dankbar empfangen will. In rohern und derberen Zeiten herrschte der Ge¬ brauch, den Hafer, gleich nachdem der Erbmar¬ schall das Theil weggenommen, den Spring¬ brunnen, nachdem der Erbschenk, die Kuͤche, nachdem der Erbtruchseß sein Amt verrichtet, auf der Stelle Preis zu geben. Dießmal aber hielt man, um alles Ungluͤck zu verhuͤ¬ ten, so viel es sich thun ließ, Ordnung und Maß. Doch fielen die alten schadenfrohen Spaͤße wieder vor, daß wenn einer einen Sack Hafer aufgepackt hatte, der andre ihm ein Loch hineinschnilt, und was dergleichen Artigkeiten mehr waren. Um den gebratnen Ochsen aber wurde dießmal wie sonst ein ern¬ sterer Kampf gefuͤhrt. Man konnte sich den¬ selben nur in Masse streitig machen. Zwey Innungen, die Metzger und Weinschroͤter, hatten sich hergebrachtermaßen wieder so po¬ stirt, daß einer von beyden dieser ungeheure Braten zu Theil werden mußte. Die Metz¬ ger glaubten das groͤßte Recht an einen Och¬ sen zu haben, den sie unzerstuͤckt in die Kuͤche geliefert; die Weinschroͤter dagegen machten Anspruch, weil die Kuͤche in der Naͤhe ih¬ res zunftmaͤßigen Aufenthalts erbaut war, und weil sie das letztemal obgesiegt hatten; wie denn aus dem vergitterten Giebelfenster ihres Zunft- und Versammlungshauses die Hoͤrner jenes erbeuteten Stiers als Sieges¬ zeichen hervorstarrend zu sehen waren. Beyde zahlreichen Innungen hatten sehr kraͤftige und tuͤchtige Mitglieder; wer aber dießmal den Sieg davon getragen, ist mir nicht mehr er¬ innerlich. Wie nun aber eine Feyerlichkeit dieser Art mit etwas Gefaͤhrlichem und Schreck¬ haften schließen soll, so war es wirklich ein fuͤrchterlicher Augenblick, als die bretterne Kuͤche selbst Preis gemacht wurde. Das Dach derselben wimmelte sogleich von Men¬ schen, ohne daß man wußte wie sie hinauf¬ gekommen; die Bretter wurden losgerissen und heruntergestuͤrzt, so daß man, besonders in der Ferne, denken mußte, ein jedes werde ein paar der Zudringenden todtschlagen. In einem Nu war die Huͤtte abgedeckt, und einzelne Menschen hingen an Sparren und Balken, um auch diese aus den Fugen zu reißen; ja manche schwebten noch oben herum, als schon unten die Pfosten abgesaͤgt waren, das Gerippe hin- und wiederschwankte und jaͤhen Einsturz drohte. Zarte Personen wand¬ ten die Augen hinweg, und Jedermann er¬ wartete sich ein großes Ungluͤck; allein man hoͤrte nicht einmal von irgend einer Beschaͤ¬ digung, und alles war, obgleich heftig und gewaltsam, doch gluͤcklich voruͤbergegangen. Jedermann wußte nun, daß Kaiser und Koͤnig aus dem Cabinett, wohin sie vom Balcon abgetreten, sich wieder hervorbegeben und in dem großen Roͤmersaale speisen wuͤr¬ den. Man hatte die Anstalten dazu Tages vorher bewundern koͤnnen, und mein sehnlich¬ ster Wunsch war, heute wo moͤglich nur einen Blick hinein zu thun. Ich begab mich daher auf gewohnten Pfaden wieder an die große Treppe, welcher die Thuͤre des Saals gerade gegenuͤber steht. Hier staunte ich nun die vornehmen Personen an, welche sich heute als Diener des Reichsoberhauptes bekannten. Vier und vierzig Grafen, die Speisen aus der Kuͤche herantragend, zogen an mir vor¬ bey, alle praͤchtig gekleidet, so daß der Con¬ trast ihres Anstandes mit der Handlung fuͤr einen Knaben wohl sinnverwirrend seyn konnte. Das Gedraͤnge war nicht groß, doch wegen des kleinen Raums merklich genug. Die Saalthuͤre war bewacht, indeß gingen die Befugten haͤufig aus und ein. Ich erblickte einen Pfaͤlzischen Hausoffizianten, den ich anredete, ob er mich nicht mit hinein bringen koͤnne. Er besann sich nicht lange, gab mir eins der silbernen Gefaͤße, die er eben trug, welches er um so eher konnte, als ich sauber gekleidet war; und so gelangte ich denn in das Heiligthum. Das Pfaͤlzische Buͤffet stand links, unmittelbar an der Thuͤre, und mit einigen Schritten befand ich mich auf der Erhoͤhung desselben hinter den Schranken. Am andern Ende des Saals, unmittelbar an den Fenstern, saßen auf Thronstufen erhoͤht, unter Baldachinen, Kaiser und Koͤnig in ihren Ornaten; Krone und Zepter aber lagen auf goldnen Kissen ruͤckwaͤrts in einiger Entfernung. Die drey geistlichen Churfuͤrsten hatten, ihre Buͤffette hinter sich, auf einzel¬ nen Estraden Platz genommen: Chur-Mainz den Majestaͤten gegenuͤber, Chur-Trier zur Rechten und Chur-Coͤln zur Linken. Dieser obere Theil des Saals war wuͤrdig und erfreulich anzusehen, und erregte die Bemer¬ kung, daß die Geistlichkeit sich so lange als moͤglich mit dem Herrscher halten mag. Dage¬ gen ließen die zwar praͤchtig aufgeputzten aber herrenleeren Buͤffette und Tische der saͤmt¬ lichen weltlichen Churfuͤrsten an das Misver¬ haͤltniß denken, welches zwischen ihnen und dem Reichsoberhaupt durch Jahrhunderte allmaͤhlich entstanden war. Die Gesandten derselben hatten sich schon entfernt, um in einem Seitenzimmer zu speisen; und wenn dadurch der groͤßte Theil des Saales ein gespensterhaftes Ansehn bekam, daß so viele unsichtbare Gaͤste auf das praͤchtigste bedient wurden; so war eine große unbesetzte Tafel in der Mitte noch betruͤbter anzusehen: denn hier standen auch so viele Couverte leer, weil alle die, welche allenfalls ein Recht hatten sich daran zu setzen, Anstands halber, um an dem groͤßten Ehrentage ihrer Ehre nichts zu vergeben, ausblieben, wenn sie sich auch dermalen in der Stadt befanden. Viele Betrachtungen anzustellen erlaubten mir weder meine Jahre noch das Gedraͤng der Gegenwart. Ich bemuͤhte mich alles moͤglichst ins Auge zu fassen, und wie der Nachtisch aufgetragen wurde, da die Gesand¬ ten, um ihren Hof zu machen, wieder herein¬ traten, suchte ich das Freye, und wußte mich bey guten Freunden in der Nachbarschaft nach dem heutigen Halbfasten wieder zu erqui¬ cken und zu den Illuminationen des Abends vorzubereiten. Diesen glaͤnzenden Abend gedachte ich auf eine gemuͤthliche Weise zu feyern: denn ich hatte mit Gretchen, mit Pylades und der Seinigen abgeredet, daß wir uns zur naͤchti¬ gen Stunde irgendwo treffen wollten. Schon leuchtete die Stadt an allen Ecken und Enden, als ich meine Geliebten antraf. Ich reichte Gretchen den Arm, wir zogen von einem Quartier zum andern, und befanden uns zusammen sehr gluͤcklich. Die Vettern waren anfangs auch bey der Gesellschaft, verloren sich aber nachher unter der Masse des Volks. Vor den Haͤusern einiger Gesandten, wo man praͤchtige Illuminationen angebracht hatte, (die churpfaͤlzische zeichnete sich vorzuͤglich aus,) war es so hell wie es am Tage nur seyn kann. Um nicht erkannt zu werden, hatte ich mich einigermaßen vermummt, und Gret¬ chen fand es nicht uͤbel. Wir bewunderten die verschiedenen glaͤnzenden Darstellungen und die feenmaͤßigen Flammengebaͤude, womit immer ein Gesandter den andern zu uͤberbie¬ ten gedacht hatte. Die Anstalt des Fuͤrsten Esterhazy jedoch uͤbertraf alle die uͤbrigen. Unsere kleine Gesellschaft war von der Erfin¬ dung und Ausfuͤhrung entzuͤckt, und wir wollten eben das Einzelne recht genießen, als uns die Vettern wieder begegneten und von der herrlichen Erleuchtung sprachen, womit der Brandenburgische Gesandte sein Quartier ausgeschmuͤckt habe. Wir ließen uns nicht verdrießen, den weiten Weg von dem Ro߬ markte bis zum Saalhof zu machen, fanden aber, daß man uns auf eine frevle Weise zum Besten gehabt hatte. Der Saalhof ist nach dem Main zu ein regelmaͤßiges und ansehnliches Gebaͤude, des¬ sen nach der Stadt gerichteter Theil aber uralt, unregelmaͤßig und unscheinbar. Kleine, weder in Form noch Groͤße uͤbereinstimmende, noch auf eine Linie, noch in gleicher Entfer¬ nung gesetzte Fenster, unsymmetrisch angebrachte Thore und Thuͤren, ein meist in Kramlaͤden verwandeltes Untergeschoß bilden eine verwor¬ rene Außenseite, die von Niemand jemals betrachtet wird. Hier war man nun der zufaͤlligen, unregelmaͤßigen, unzusammenhaͤn¬ genden Architektur gefolgt, und hatte jedes Fenster, jede Thuͤre, jede Oeffnung fuͤr sich mit Lampen umgeben, wie man es allenfalls bey einem wohlgebauten Hause thun kann, wodurch aber hier die schlechteste und misge¬ bildetste aller Façaden ganz unglaublich in das hellste Licht gesetzt wurde. Hatte man sich nun hieran, wie etwa an den Spaͤßen des Pagliasso ergetzt, obgleich nicht ohne Bedenklichkeiten, weil Jedermann etwas Vor¬ saͤtzliches darin erkennen mußte; wie man denn schon vorher uͤber das sonstige aͤußre Benehmen des uͤbrigens sehr geschaͤtzten Plo¬ tho glossirt, und da man ihm nun einmal gewogen war, auch den Schalk in ihm bewun¬ dert hatte, der sich uͤber alles Ceremoniell wie sein Koͤnig hinauszusetzen pflege: so ging man doch lieber in das Esterhazysche Feenreich wieder zuruͤck. Dieser hohe Bothschafter hatte, diesen Tag zu ehren, sein unguͤnstig gelegenes Quar¬ tier ganz uͤbergangen, und dafuͤr die große Lindenesplanade am Roßmarkt, vorn mit einem farbig erleuchteten Portal, im Hinter¬ grund aber mit einem wohl noch praͤchtigern Prospecte verzieren lassen. Die ganze Ein¬ fassung bezeichneten Lampen. Zwischen den Baͤumen standen Licht-Pyramiden und Kugeln auf durchscheinenden Piedestalen; von einem Baum zum andern zogen sich leuchtende Guirlanden, an welchen Haͤngeleuchter schweb¬ l. 32 ten. An mehreren Orten vertheilte man Brod und Wuͤrste unter das Volk und ließ es an Wein nicht fehlen. Hier gingen wir nun zu Vieren aneinan¬ dergeschlossen hoͤchst behaglich auf und ab, und ich an Gretchens Seite daͤuchte mir wirklich in jenen gluͤcklichen Gefilden Elysiums zu wandeln, wo man die crystallnen Gefaͤße vom Baume bricht, die sich mit dem gewuͤnschten Wein sogleich fuͤllen, und wo man Fruͤchte schuͤttelt, die sich in jede beliebige Speise verwandeln. Ein solches Beduͤrfniß fuͤhlten wir denn zuletzt auch, und geleitet von Pyla¬ des fanden wir ein ganz artig eingerichtetes Speisehaus; und da wir keine Gaͤste weiter antrafen, indem alles auf den Straßen umherzog, ließen wir es uns um so wohler seyn, und verbrachten den groͤßten Theil der Nacht im Gefuͤhl von Freundschaft, Liebe und Neigung auf das heiterste und gluͤcklichste. Als ich Gretchen bis an ihre Thuͤre begleitet hatte, kuͤßte sie mich auf die Stirn. Es war das erste und letzte Mal, daß sie mir diese Gunst erwies: denn leider sollte ich sie nicht wiedersehen. Den andern Morgen lag ich noch im Bette, als meine Mutter verstoͤrt und aͤngst¬ lich hereintrat. Man konnte es ihr gar leicht ansehen, wenn sie sich irgend bedraͤngt fuͤhlte. — „Steh auf, sagte sie, und mache dich auf etwas Unangenehmes gefaßt. Es ist herausgekommen, daß du sehr schlechte Gesellschaft besuchst und dich in die gefaͤhr¬ lichsten und schlimmsten Haͤndel verwickelt hast. Der Vater ist außer sich, und wir haben nur soviel von ihm erlangt, daß er die Sache durch einen Dritten untersuchen will. Bleib auf deinem Zimmer und erwarte was bevorsteht. Der Rath Schneider wird zu dir kommen; er hat sowohl vom Vater als von der Obrigkeit den Auftrag: denn 32 * die Sache ist schon anhaͤngig und kann eine sehr boͤse Wendung nehmen.“ Ich sah wohl, daß man die Sache viel schlimmer nahm als sie war; doch fuͤhlte ich mich nicht wenig beunruhigt, wenn auch nur das eigentliche Verhaͤltniß entdeckt werden soll¬ te. Der alte Messianische Freund trat endlich herein, die Thraͤnen standen ihm in den Au¬ gen; er faßte mich beym Arm und sagte: „Es thut mir herzlich Leid, daß ich in solcher An¬ gelegenheit zu Ihnen komme. Ich haͤtte nicht gedacht, daß Sie sich so weit verirren koͤnnten. Aber was thut nicht schlechte Gesellschaft und boͤses Beyspiel; und so kann ein junger un¬ erfahrner Mensch Schritt vor Schritt bis zum Verbrechen gefuͤhrt werden.“ — Ich bin mir keines Verbrechens bewußt, versetzte ich darauf, so wenig als schlechte Gesellschaft besucht zu haben. — „Es ist jetzt nicht von einer Vertheidigung die Rede, fiel er mir ins Wort, sondern von einer Untersuchung, und Ihrerseits von einem aufrichtigen Bekennt¬ niß.“ — Was verlangen Sie zu wissen? sagte ich dagegen. Er setzte sich und zog ein Blatt hervor und fing zu fragen an: „Haben Sie nicht den N. N. Ihrem Großvater als einen Clienten zu einer *** Stelle empfohlen?“ Ich antwortete: ja. — „Wo haben Sie ihn ken¬ nen gelernt?“ — Auf Spaziergaͤngen. — „In welcher Gesellschaft?“ — Ich stutzte: denn ich wollte nicht gern meine Freunde ver¬ rathen. — „Das Verschweigen wird nichts helfen, fuhr er fort: denn es ist alles schon genugsam bekannt.“ — Was ist denn be¬ kannt? sagte ich. — „Daß Ihnen dieser Mensch durch andere seines Gleichen ist vor¬ gefuͤhrt worden und zwar durch ***“. Hier nannte er die Namen von drey Personen, die ich niemals gesehen noch gekannt hatte; welches ich dem Fragenden denn auch sogleich erklaͤrte. — „Sie wollen, fuhr jener fort, diese Menschen nicht kennen, und haben doch mit ihnen oͤftre Zusammenkuͤnfte gehabt!“ — Auch nicht die geringste, versetzte ich: denn wie gesagt, außer dem ersten, kenne ich kei¬ nen und habe auch den niemals in einem Hause gesehen. — „Sind Sie nicht oft in der * * * Straße gewesen?“ — Niemals, ver¬ setzte ich. Dieß war nicht ganz der Wahr¬ heit gemaͤß. Ich hatte Pylades einmal zu seiner Geliebten begleitet, die in der Straße wohnte; wir waren aber zur Hinterthuͤre hereingegangen und im Gartenhause geblieben. Daher glaubte ich mir die Ausflucht erlauben zu koͤnnen, in der Straße selbst nicht gewe¬ sen zu seyn. Der gute Mann that noch mehr Fragen, die ich alle verneinen konnte: denn es war mir von alle dem, was er zu wissen verlangte, nichts bekannt. Endlich schien er verdrießlich zu werden und sagte: „Sie belohnen mein Vertrauen und meinen guten Willen sehr schlecht; ich komme, um Sie zu retten. Sie koͤnnen nicht laͤugnen, daß Sie fuͤr diese Leute selbst oder fuͤr ihre Mitschuldigen Briefe ver¬ faßt, Aufsaͤtze gemacht und so zu ihren schlech¬ ten Streichen behuͤlflich gewesen. Ich kom¬ me, um Sie zu retten: denn es ist von nichts Geringerem als nachgemachten Handschriften, falschen Testamenten, untergeschobnen Schuld¬ scheinen und aͤhnlichen Dingen die Rede. Ich komme nicht allein als Hausfreund; ich komme im Namen und auf Befehl der Obrigkeit, die in Betracht Ihrer Familie und Ihrer Jugend, Sie und einige andre Juͤng¬ linge verschonen will, die gleich Ihnen ins Netz gelockt worden.“ — Es war mir auffallend, daß unter den Personen die er nannte, sich gerade die nicht fanden, mit denen ich Um¬ gang gepflogen. Die Verhaͤltnisse trafen nicht zusammen, aber sie beruͤhrten sich, und ich konnte noch immer hoffen, meine jungen Freunde zu schonen. Allein der wackre Mann ward immer dringender. Ich konnte nicht laͤugnen, daß ich manche Naͤchte spaͤt nach Hause gekommen war, daß ich mir ei¬ nen Hausschluͤssel zu verschaffen gewußt, daß ich mit Personen von geringem Stand und verdaͤchtigem Aussehen, an Lustorten mehr als einmal bemerkt worden, daß Maͤdchen mit in die Sache verwickelt seyen; genug, alles schien entdeckt bis auf die Namen. Dieß gab mir Muth, standhaft im Schweigen zu seyn. — „Lassen Sie mich, sagte der brave Freund, nicht von Ihnen weggehen. Die Sache leidet keinen Aufschub; unmittelbar nach mir wird ein andrer kommen, der Ih¬ nen nicht soviel Spielraum laͤßt. Verschlim¬ mern Sie die ohnehin boͤse Sache nicht durch Ihre Hartnaͤckigkeit.“ Nun stellte ich mir die guten Vettern, und Gretchen besonders, recht lebhaft vor; ich sah sie gefangen, verhoͤrt, bestraft, geschmaͤht, und mir fuhr wie ein Blitz durch die Seele, daß die Vettern denn doch, ob sie gleich ge¬ gen mich alle Rechtlichkeit beobachtet, sich in so boͤse Haͤndel konnten eingelassen haben, wenigstens der aͤlteste, der mir niemals recht gefallen wollte, der immer spaͤter nach Hause kam und wenig Heiters zu erzaͤhlen wußte. Noch immer hielt ich mein Bekenntniß zuruͤck. — Ich bin mir, sagte ich, persoͤnlich nichts Boͤses bewußt, und kann von der Seite ganz ruhig seyn; aber es waͤre nicht unmoͤglich, daß diejenigen mit denen ich umgegangen bin, sich einer verwegnen oder gesetzwidrigen Hand¬ lung schuldig gemacht haͤtten. Man mag sie suchen, man mag sie finden, sie uͤberfuͤhren und bestrafen, ich habe mir bisher nichts vorzuwerfen, und will auch gegen die nichts verschulden, die sich freundlich und gut ge¬ gen mich benommen haben. — Er ließ mich nicht ausreden, sondern rief mit einiger Bewegung: „Ja man wird sie finden. In drey Haͤusern kamen diese Boͤsewichter zusam¬ men. (Er nannte die Straßen, er bezeich¬ nete die Haͤuser, und zum Ungluͤck befand sich auch das darunter, wohin ich zu gehen pfleg¬ te.) Das erste Nest ist schon ausgehoben, fuhr er fort, und in diesem Augenblick werden es die beyden andern. In wenig Stunden wird alles im Klaren seyn. Entziehen Sie sich, durch ein redliches Bekenntniß, einer ge¬ richtlichen Untersuchung, einer Confrontation und wie die garstigen Dinge alle heißen.“ — Das Haus war genannt und bezeichnet. Nun hielt ich alles Schweigen fuͤr unnuͤtz; ja, bey der Unschuld unsrer Zusammenkuͤnfte, konnte ich hoffen, jenen noch mehr als mir nuͤtzlich zu seyn. — Setzen Sie sich, rief ich aus, und holte ihn von der Thuͤre zuruͤck: ich will Ihnen alles erzaͤhlen, und zugleich mir und Ihnen das Herz erleichtern: nur das Eine bitte ich, von nun an keine Zweifel in meine Wahrhaftigkeit. Ich erzaͤhlte nun dem Freunde den ganzen Hergang der Sache, anfangs ruhig und ge¬ faßt; doch jemehr ich mir die Personen, Ge¬ genstaͤnde, Begebenheiten ins Gedaͤchtniß rief und vergegenwaͤrtigte, und so manche un¬ schuldige Freude, so manchen heitern Genuß gleichsam vor einem Criminalgericht deponi¬ ren sollte, destomehr wuchs die schmerzlichste Empfindung, so daß ich zuletzt in Thraͤnen ausbrach und mich einer unbaͤndigen Leiden¬ schaft uͤberließ. Der Hausfreund, welcher hoffte, daß eben jetzt das rechte Geheim¬ niß auf dem Wege seyn moͤchte sich zu offen¬ baren (denn er hielt meinen Schmerz fuͤr ein Symptom, daß ich im Begriff stehe mit Widerwillen ein Ungeheures zu bekennen) suchte mich, da ihm an der Entdeckung alles gelegen war, aufs beste zu beruhigen; welches ihm zwar nur zum Theil gelang, aber doch insofern, daß ich meine Geschichte nothduͤrftig auserzaͤhlen konnte. Er war, obgleich zufrie¬ den uͤber die Unschuld der Vorgaͤnge, doch noch einigermaßen zweifelhaft, und erließ neue Fragen an mich, die mich abermals aufregten und in Schmerz und Wuth versetzten. Ich ver¬ sicherte endlich, daß ich nichts weiter zu sagen habe, und wohl wisse, daß ich nichts zu fuͤrch¬ ten brauche: denn ich sey unschuldig, von gutem Hause und wohl empfohlen; aber jene koͤnnten eben so unschuldig seyn, ohne daß man sie da¬ fuͤr anerkenne oder sonst beguͤnstige. Ich er¬ klaͤrte zugleich, daß wenn man jene nicht wie mich schonen, ihren Thorheiten nachsehen, und ihre Fehler verzeihen wolle, wenn ihnen nur im mindesten hart und unrecht geschehe, so wuͤrde ich mir ein Leids anthun, und daran solle mich Niemand hindern. Auch hieruͤber suchte mich der Freund zu beruhigen; aber ich traute ihm nicht, und war, als er mich zu¬ letzt verließ, in der entsetzlichsten Lage. Ich machte mir nun doch Vorwuͤrfe, die Sache erzaͤhlt und alle die Verhaͤltnisse ans Licht ge¬ bracht zu haben. Ich sah voraus, daß man die kindlichen Handlungen, die jugendlichen Neigungen und Vertraulichkeiten ganz anders auslegen wuͤrde, und daß ich vielleicht den guten Pylades mit in diesen Handel verwi¬ ckeln und sehr ungluͤcklich machen koͤnnte. Alle diese Vorstellungen draͤngten sich lebhaft hintereinander vor meiner Seele, schaͤrften und spornten meinen Schmerz, so daß ich mir vor Jammer nicht zu helfen wußte, mich die Laͤnge lang auf die Erde warf, und den Fußboden mit meinen Thraͤnen benetzte. Ich weiß nicht, wie lange ich mochte gelegen haben, als meine Schwester herein¬ trat, uͤber meine Gebaͤrde erschrak und al¬ les moͤgliche that mich aufzurichten. Sie er¬ zaͤhlte mir, daß eine Magistratsperson unten beym Vater die Ruͤckkunft des Hausfreundes erwartet, und nachdem sie sich eine Zeit lang eingeschlossen gehalten, seyen die beyden Herren weggegangen, und haͤtten untereinan¬ der sehr zufrieden, ja mit Lachen geredet, und sie glaube die Worte verstanden zu haben: es ist recht gut, die Sache hat nichts zu bedeuten. — „Freylich, fuhr ich auf, hat die Sache nichts zu bedeuten, fuͤr mich, fuͤr uns: denn ich habe nichts verbrochen, und wenn ich es haͤtte, so wuͤrde man mir durch¬ zuhelfen wissen; aber jene, jene, rief ich aus, wer wird ihnen beystehn!“ — Meine Schwe¬ ster suchte mich umstaͤndlich mit dem Argu¬ mente zu troͤsten, daß wenn man die Vorneh¬ meren retten wolle, man auch uͤber die Fehler der Geringern einen Schleyer werfen muͤsse. Das alles half nichts. Sie war kaum weg¬ gegangen, als ich mich wieder meinem Schmerz uͤberließ, und sowohl die Bilder meiner Nei¬ gung und Leidenschaft als auch des gegenwaͤr¬ tigen und moͤglichen Ungluͤcks immer wechsels¬ weise hervorrief. Ich erzaͤhlte mir Maͤhrchen auf Maͤhrchen, sah nur Ungluͤck auf Ungluͤck, und ließ es besonders daran nicht fehlen, Gretchen und mich recht elend zu machen. Der Hausfreund hatte mir geboten auf meinem Zimmer zu bleiben und mit Niemand mein Geschaͤft zu pflegen, außer den Unsri¬ gen. Es war mir ganz recht, denn ich befand mich am liebsten allein. Meine Mutter und Schwester besuchten mich von Zeit zu Zeit, und ermangelten nicht mir mit allerley gutem Trost auf das kraͤftigste beyzustehen; ja sie kamen sogar schon den zweyten Tag, im Namen des nun besser unterrichteten Vaters mir eine voͤllige Amnestie anzubieten, die ich zwar dankbar annahm, allein den Antrag, daß ich mit ihm ausgehen und die Reichs¬ insignien, welche man nunmehr den Neugie¬ rigen vorzeigte, beschauen sollte, hartnaͤckig ablehnte, und versicherte, daß ich weder von der Welt, noch von dem roͤmischen Reiche etwas weiter wissen wolle, bis mir bekannt geworden, wie jener verdrießliche Handel, der fuͤr mich weiter keine Folgen haben wuͤrde, fuͤr meine armen Bekannten ausgegangen. Sie wußten hieruͤber selbst nichts zu sagen und ließen mich allein. Doch machte man die folgenden Tage noch einige Versuche, mich aus dem Hause und zur Theilnahme an den oͤffentlichen Feyerlichkeiten zu bewegen. Vergebens! weder der große Galatag, noch was bey Gelegenheit so vieler Standeserhoͤ¬ hungen vorfiel, noch die oͤffentliche Tafel des Kaisers und Koͤnigs, nichts konnte mich ruͤh¬ ren. Der Churfuͤrst von Pfalz mochte kom¬ men um den beyden Majestaͤten aufzuwarten, diese mochten die Churfuͤrsten besuchen, man mochte zur letzten churfuͤrstlichen Sitzung zu¬ sammen fahren, um die ruͤckstaͤndigen Puncte zu erledigen und den Churverein zu erneuern, nichts konnte mich aus meiner leidenschaftli¬ chen Einsamkeit hervorrufen. Ich ließ am Dankfeste die Glocken laͤuten, den Kaiser sich in die Kapuzinerkirche begeben, die Churfuͤr¬ sten und den Kaiser abreisen, ohne deshalb einen Schritt von meinem Zimmer zu thun. Das letzte Canoniren, so unmaͤßig es auch seyn mochte, regte mich nicht auf, und wie der Pulverdampf sich verzog und der Schall verhallte, so war auch alle diese Herrlichkeit vor meiner Seele weggeschwunden. Ich empfand nun keine Zufriedenheit, als im Wiederkaͤuen meines Elends und in der tausendfachen imaginaͤren Vervielfaͤltigung des¬ selben. Meine ganze Erfindungsgabe, meine Poesie und Rhetorik hatten sich auf diesen kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade durch diese Lebensgewalt, Leib und Seele in eine unheilbare Krankheit zu verwickeln. In diesem traurigen Zustande kam mir nichts mehr wuͤnschenswerth, nichts begehrenswerth mehr vor. Zwar ergriff mich manchmal ein unendliches Verlangen, zu wissen wie es mei¬ nen armen Freunden und Geliebten ergehe, was sich bey naͤherer Untersuchung ergeben, in wiefern sie mit in jene Verbrechen verwi¬ ckelt oder unschuldig moͤchten erfunden seyn. Auch dies malte ich mir auf das mannigfal¬ tigste umstaͤndlich aus, und ließ es nicht feh¬ len sie fuͤr unschuldig und recht ungluͤcklich zu halten. Bald wuͤnschte ich mich von die¬ ser Ungewißheit befreyt zu sehen, und schrieb heftig drohende Briefe an den Hausfreund, daß er mir den weitern Gang der Sache nicht vorenthalten solle. Bald zerriß ich sie I. 33 wieder, aus Furcht mein Ungluͤck recht deut¬ lich zu erfahren und des phantastischen Trostes zu entbehren, mit dem ich mich bis jetzt wech¬ selsweise gequaͤlt und aufgerichtet hatte. So verbrachte ich Tag und Nacht in großer Unruhe, in Rasen und Ermattung, so daß ich mich zuletzt gluͤcklich fuͤhlte, als eine koͤrperliche Krankheit mit ziemlicher Hef¬ tigkeit eintrat, wobey man den Arzt zu Huͤlfe rufen und darauf denken mußte, mich auf alle Weise zu beruhigen. Man glaubte es im Allgemeinen thun zu koͤnnen, indem man mir heilig versicherte, daß alle in jene Schuld mehr oder weniger verwickelte mit der groͤ߬ ten Schonung behandelt worden, daß meine naͤchsten Freunde, so gut wie ganz schuldlos, mit einem leichten Verweise entlassen worden, und daß Gretchen sich aus der Stadt entfernt habe und wieder in ihre Heimat gezogen sey. Mit dem letztern zauderte man am laͤngsten, und ich nahm es auch nicht zum besten auf: denn ich konnte darin keine freywillige Abreise, sondern nur eine schmaͤhliche Verbannung ent¬ decken. Mein koͤrperlicher und geistiger Zustand verbesserte sich dadurch nicht: die Noth ging nun erst recht an, und ich hatte Zeit genug mir den seltsamsten Roman von traurigen Ereignissen und einer unvermeidlich tragischen Catastrophe selbstquaͤlerisch auszumalen.