Gespräche mit Goethe. Dritter Theil . Gespraͤche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Von Johann Peter Eckermann. Dritter Theil. Magdeburg: Heinrichshofen'sche Buchhandlung. 1848. Ihro Kaiserlichen Hoheit der regierenden Frau Großherzogin zu Sachsen-Weimar und Eisenach, Maria Paulowna, Großfürstin von Rußland, in erneuter Dankbarkeit unterthänigst zugeeignet. Vorrede . I ndem ich endlich diesen längst versprochenen dritten Theil meiner Gespräche mit Goethe abge¬ schlossen vor mir sehe, beglückt mich das freudige Gefühl überwundener großer Hindernisse. Mein Fall war sehr schwierig. Er glich dem eines Schiffers, der nicht mit dem Winde segeln kann, der heute weht, sondern mit großer Geduld oft Wochen und Monate lang einen Fahrwind erwarten muß, wie er vor Jahren geweht hat. — Als ich so glücklich war, die beiden ersten Theile zu schreiben, konnte ich gewissermaßen mit gutem Winde gehen, weil mir damals das frisch gespro¬ chene Wort noch in den Ohren klang und der lebendige Verkehr mit jenem wunderbaren Manne mich in dem Element einer Begeisterung erhielt, wodurch ich mich zum Ziele getragen fühlte wie auf Flügeln. Jetzt aber, wo jene Stimme schon seit vielen Jahren verstummt ist, und das Glück jener per¬ sönlichen Berührungen so weit hinter mir liegt, konnte ich die so nöthige Begeisterung nur in sol¬ chen Stunden erlangen, wo es mir vergönnt war, in mein eigenes Inneres zu gehen und in unge¬ störter Vertiefung das Vergangene wieder zu fri¬ schen Farben zu beleben, wo es denn anfing, sich zu regen, und ich große Gedanken und große Cha¬ rakterzüge vor mir liegen sah, gleich Gebirgen, fernen zwar, aber deutlich und wie von der Sonne des wirklichen Tages beschienen. So kam mir denn die Begeisterung aus der Freude am Großen; das Einzelne des Ideengan¬ ges und mündlichen Ausdruckes ward wieder frisch, als ob ich es gestern erlebt hätte. Der lebendige Goethe war wieder da; ich hörte wieder den be¬ sondern lieben Klang seiner Stimme, die mit keines Anderen zu vergleichen. Ich sah ihn wieder Abends in schwarzem Frack und Stern bei heller Erleuchtung seiner Zimmer im geselligen Kreise scherzen und lachen und heiteres Gespräch führen. Dann an¬ deren Tages bei schönem Wetter war er im Wa¬ gen neben mir, im braunen Oberrock und blauer Tuchmütze, den hellgrauen Mantel über seine Kniee gelegt. Seine Gesichtsfarbe braun-gesund, wie die frische Luft; sein Gespräch geistreich in die freie Welt hinein, das Geräusch des Wagens übertönend. Oder ich sah mich Abends bei stil¬ lem Kerzenlicht wieder in sein Studierzimmer versetzt, wo er im weißen flanellenen Schlafrock am Tische mir gegenüber saß, milde, wie die Stimmung eines gut verlebten Tages. Wir spra¬ chen über große und gute Dinge, er kehrte das Edelste, was in seiner Natur lag, mir entgegen; mein Geist entzündete sich an dem seinigen. Es war zwischen uns die innigste Harmonie; er reichte mir über den Tisch herüber seine Hand, die ich drückte. Dann ergriff ich wohl ein neben mir stehendes gefülltes Glas, das ich, ohne etwas zu sagen, ihm zutrank, indem meine Blicke über den Wein hin in seinen Augen ruhten. So war ich ihm in voller Lebendigkeit wieder zugesellt und seine Worte klangen wieder wie ehemals. Aber wie es auch sonst im Leben zu gehen pflegt, daß wir wohl eines geliebten Todten ge¬ denken, doch bei dem Geräusch des fordernden Tages oft Wochen und Monate lang nur flüch¬ tig, und daß die stillen Augenblicke einer solchen Vertiefung, wo wir ein vor uns dahingegangenes Geliebtes in der ganzen Frische des Lebens wieder zu besitzen glauben, zu den seltenen schönen Stun¬ den gehören, so erging es mir auch mit Goethe. Es vergingen oft Monate, wo meine Seele, durch Berührungen des täglichen Lebens hinge¬ nommen, für ihn todt war und er meinem Geiste mit keinem Worte zusprach. Und wieder¬ um traten andere Wochen und Monate unfrucht¬ barer Stimmung ein, wo in meinem Gemüth nichts keimen und nichts blühen wollte. Solche nichtige Zeiten mußte ich mit großer Geduld nutz¬ los vorübergehen lassen, denn das in solchen Zu¬ ständen Geschriebene wäre nichts werth gewesen. Ich mußte vom guten Glück die Wiederkehr von Stunden erwarten, wo das Vergangene mir in voller Lebendigkeit gegenwärtig und mein Inneres an geistiger Kraft und sinnlichem Behagen auf einer Höhe stand, um zur Einkehr Goethe'scher Gedanken und Empfindungen eine würdige Be¬ hausung zu seyn. Denn ich hatte es mit einem Helden zu thun, den ich nicht durfte sinken lassen. In der ganzen Milde der Gesinnung, in der vol¬ len Klarheit und Kraft des Geistes und in der gewohnten Würde einer hohen Persönlichkeit mußte er erscheinen, um wahr zu seyn, — und das war keineswegs etwas Geringes! Mein Verhältniß zu ihm war eigenthümlicher Art und sehr zarter Natur. Es war das des Schülers zum Meister, das des Sohnes zum Vater, das des Bildungs-Bedürftigen zum Bil¬ dungs-Reichen. Er zog mich in seine Kreise und ließ mich an den geistigen und leiblichen Genüssen eines höheren Daseyns Theil nehmen. Oft sah ich ihn nur alle acht Tage, wo ich ihn in den Abendstunden besuchte; oft auch jeden Tag, wo ich Mittags mit ihm, bald in größerer Gesellschaft, bald tête à tête zu Tisch zu seyn das Glück hatte. Seine Unterhaltung war mannigfaltig, wie seine Werke. Er war immer Derselbige und im¬ mer ein Anderer. Bald occupirte ihn irgend eine große Idee und seine Worte quollen reich und unerschöpflich. Sie glichen oft einem Garten im Frühling, wo Alles in Blüthe stand und man, von dem allgemeinen Glanz geblendet, nicht daran dachte, sich einen Strauß zu pflücken. Zu an¬ deren Zeiten dagegen fand man ihn stumm und einsilbig, als lagerte ein Nebel auf seiner Seele; ja es konnten Tage kommen, wo es war, als wäre er voll eisiger Kälte und als striche ein schar¬ fer Wind über Reif- und Schneefelder. Und wiederum wenn man ihn sah, war er wieder wie ein lachender Sommertag, wo alle Sänger des Waldes uns aus Büschen und Hecken ent¬ gegenjubeln, der Kuckuck durch blaue Lüfte ruft und der Bach durch blumige Auen rieselt. Dann war es eine Lust, ihn zu hören; seine Nähe war dann bese¬ ligend und das Herz erweiterte sich bei seinen Worten. Winter und Sommer, Alter und Jugend schienen bei ihm im ewigen Kampf und Wechsel zu seyn; doch war es an ihm, dem Siebzig- bis Achtzigjährigen, wohl zu bewundern, daß die Ju¬ gend immer wieder obenauf war und jene an¬ gedeuteten Herbst- und Wintertage zu seltenen Ausnahmen gehörten. Seine Selbstbeherrschung war groß, ja sie bildete eine hervorragende Eigenthümlichkeit seines Wesens. Sie war eine Schwester jener hohen Besonnenheit, wodurch es ihm gelang, immer Herr seines Stoffes zu seyn, und seinen einzelnen Werken diejenige Kunstvollendung zu geben, die wir an ihnen bewundern. Durch eben jene Ei¬ genschaft aber ward er, so wie in manchen sei¬ ner Schriften, so auch in manchen mündlichen Aeußerungen, oft gebunden und voller Rück¬ sicht. Sobald aber in glücklichen Momenten ein mächtigerer Dämon in ihm rege wurde, und jene Selbstbeherrschung ihn verließ, dann ward sein Gespräch jugendlich dahinbrausend, gleich einem aus der Höhe herabkommenden Bergstrome. In solchen Augenblicken sagte er das Größte und Beste, was in seiner reichen Natur lag, und von solchen Augenblicken ist es wohl zu verstehen, wenn seine früheren Freunde über ihn geäußert, daß sein gesprochenes Wort besser sey, als sein geschriebenes und gedrucktes. So sagte Mar¬ montel von Diderot , daß, wer diesen nur aus seinen Schriften gekannt, ihn nur halb gekannt; daß er aber, sobald er bei mündlicher Unterhaltung lebhaft geworden, einzig und hinreißend gewesen. Darf ich nun hoffen, daß von jenen glück¬ lichen Momenten in diesen Gesprächen Manches festzuhalten mir gelungen, so mag es diesem Bande nicht weniger zu Gute kommen, daß darin eine doppelte Spiegelung von Goethe's Persön¬ lichkeit stattfindet, einmal nämlich gegen mich, und dann gegen einen jungen Freund. Herr Soret aus Genf, als freisinniger Republikaner zur Leitung der Erziehung Sr. K. H. des Erbgroßherzogs im Jahre 1822 nach Weimar berufen, hatte von gedachtem Jahre bis zu Goethe's Tode zu ihm gleichfalls ein sehr nahes Verhältniß. Er war in Goethe's Hause ein häufiger Tischgenosse, auch in seinen Abend¬ gesellschaften ein oft und gerne gesehener Gast. Außerdem boten seine naturwissenschaftlichen Kennt¬ nisse vielfache Berührungspunkte zu einem dauern¬ den Umgange. Als gründlicher Mineraloge ord¬ nete er Goethe's Crystalle, sowie seine Kenntnisse der Botanik ihn fähig machten, Goethe's Meta¬ morphose der Pflanze ins Französische zu über¬ setzen und dadurch jener wichtigen Schrift eine größere Verbreitung zu geben. Seine Stellung am Hofe ferner führte ihn gleichfalls oft in Goe¬ the's Nähe, indem er bald den Prinzen zu ihm begleitete, bald Aufträge Sr. Königlichen Hoheit des Großherzogs und Ihrer Kaiserlichen Hoheit der Frau Großherzogin ihm zu Besuchen bei Goethe Veranlassung gaben. Von solchen persönlichen Berührungen hat nun Herr Soret in seinen Tagebüchern häufig Notiz genommen, und vor einigen Jahren die Güte gehabt, ein daraus zusammengestelltes klei¬ nes Manuscript mir in dem Sinne zu übergeben, daß es mir gestattet seyn solle, das Beste und Interessanteste in meinen dritten Band chrono¬ logisch zu verweben. Diese in französischer Sprache abgefaßten No¬ tizen waren bald ausführlich, bald aber nur flüchtig und lückenhaft, so wie die eiligen, oft sehr geschäftsreichen Tage des Verfassers es ihm hatten erlauben wollen. Da jedoch in dem gan¬ zen Manuscript kein Gegenstand vorgekommen, der nicht zwischen Goethe und mir wiederholt und ausführlich wäre besprochen worden, so waren meine eigenen Tagebücher ganz geeignet, das von Soret Geschriebene zu ergänzen, dort gelassene Lücken auszufüllen und das oft nur Angedeutete in hinlänglicher Entwickelung darzustellen. Alle Gespräche jedoch, bei denen das Manuscript von Soret zu Grunde liegt oder stark benutzt worden, wie es besonders in den beiden ersten Jahren der Fall, sind oben am Datum mit einem * bezeich¬ net, um sie von denen, die bloß von mir sind, und welche, bis auf Weniges, die Jahre 1824 bis 1829 und einen großen Theil von 1830, 1831 und 1832 ausmachen, zu unterscheiden. Und so wüßte ich nun weiter nichts hinzu¬ zufügen, als daß ich diesem lange und mit Liebe gehegten dritten Band dieselbe gute Auf¬ nahme wünsche, wie sie in so reichlichem Maße den beiden ersten zu Theil geworden. Weimar , den 21. December 1847. 1822. III . 1 Sonnabend, den 21. September 1822*. D iesen Abend bei Goethe mit Hofrath Meyer. Die Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um Mineralogie, Chemie und Physik. Die Phänomene der Polarisation des Lichts schienen ihn besonders zu interessiren. Er zeigte mir verschiedene Vorrichtungen, größtentheils nach seinen eigenen Angaben construirt, und äußerte den Wunsch, mit mir einige Experimente zu machen. Goethe ward im Laufe des Gesprächs immer freier und mittheilender. Ich blieb länger als eine Stunde und er sagte mir beim Abschiede viel Gutes. Seine Gestalt ist noch schön zu nennen, seine Stirn und Augen sind besonders majestätisch. Er ist groß und wohlgebaut und von so rüstigem Ansehen, daß man nicht wohl begreift, wie er sich schon seit Jahren hat für zu alt erklären können, um noch in Gesellschaft und an Hof zu gehen. Dienstag, den 24. September 1822*. Den Abend bei Goethe zugebracht mit Meyer, Goethe's Sohn, Frau v. Goethe und seinem Arzt, 1* Hofrath Rehbein. Goethe war heute besonders lebhaft. Er zeigte mir prächtige Lithographien aus Stuttgart, etwas so Vollkommenes in dieser Art, wie ich noch nicht gesehen. Darauf sprachen wir über wissenschaft¬ liche Dinge, besonders über die Fortschritte der Chemie. Das Jod und das Chlor beschäftigten Goethe vorzugs¬ weise; er sprach über diese Substanzen mit einem Erstaunen, als ob ihn die neuen Entdeckungen der Chemie ganz unvermuthet überrascht hätten. Er ließ sich etwas Jod hereinbringen und verflüchtigte es vor unsern Augen an der Flamme einer Wachskerze, wobei er nicht verfehlte, uns den violetten Dunst bewundern zu lassen, als freudige Bestätigung eines Gesetzes seiner Theorie der Farben. Dienstag, den 1. October 1822*. Bei Goethe zu einer Abendgesellschaft. Ich fand unter den Anwesenden auch Herrn Canzler v. Müller, Präsidenten Peucer, Dr . Stephan Schütze, und Regie¬ rungsrath Schmidt, welcher letztere einige Sonaten von Beethoven mit einer seltenen Vollkommenheit vortrug. Hohen Genuß gewährte mir auch die Unter¬ haltung Goethes und seiner Schwiegertochter, die, jugend¬ lich heiter, mit einem liebenswürdigen Naturell unendlich viel Geist verbindet. Donnerstag, den 10. October 1822*. In einer Abendgesellschaft bei Goethe mit dem berühmten Blumenbach aus Göttingen. Blumenbach ist alt, aber von lebhaftem und heiterem Ausdruck; er hat sich die ganze Beweglichkeit der Jugend zu bewahren gewußt. Sein Benehmen ist der Art, daß man nicht denkt, daß man einen Gelehrten vor sich habe. Seine Herzlichkeit ist frei und froh; er macht keine Umstände und man ist bald mit ihm auf einem sehr bequemen Fuß. Seine Bekanntschaft war mir so interessant wie angenehm. Dienstag, den 5. November 1822*. Abendgesellschaft bei Goethe. Unter den Anwesenden befand sich auch der Maler Kolbe . Man zeigte uns von ihm ein trefflich ausgeführtes Gemälde, eine Copie der Venus von Titian der Dresdener Galerie. Auch Herrn von Eschwege und den berühmten Hummel fand ich diesen Abend bei Goethe. Hummel improvisirte fast eine Stunde lang auf dem Piano, mit einer Kraft und einem Talent, wovon es unmöglich ist sich einen Begriff zu machen, wenn man ihn nicht gehört hat. Ich fand seine Unterhaltung einfach und natürlich, und ihn selbst, für einen Virtuosen von so großer Berühmtheit, auffallend bescheiden. Dienstag, den 3. December 1822*. Bei Goethe in einer Abendgesellschaft. Die Herren Riemer, Coudray, Meyer, Goethe's Sohn und Frau v. Göthe waren unter den Anwesenden. Die Studenten in Jena sind in Aufstand begriffen; man hat eine Compagnie Artillerie hingeschickt, um sie zu beruhigen. Riemer las eine Sammlung von Liedern, die man ihnen verboten und die dadurch Anlaß oder Vorwand der Revolte gegeben. Alle diese Lieder erhielten beim Vorlesen entschiedenen Beifall, besonders wegen des Talentes das darin sichtbar; Goethe selbst fand sie gut und versprach sie mir zur ruhigen Durchsicht. Nachdem wir darauf eine Zeit lang Kupferstiche und kostbare Bücher betrachtet hatten, machte Goethe uns die Freude, das Gedicht Charon zu lesen. Die klare, deutliche und energische Art mußte ich bewundern, womit Goethe das Gedicht vortrug. Nie habe ich eine so schöne Declamation gehört. Welches Feuer! Welche Blicke! Und welche Stimme! abwechselnd donnernd, und dann wieder sanft und milde. Vielleicht entwickelte er an einigen Stellen zu viele Kraft für den kleinen Raum in dem wir uns befanden; aber doch war in seinem Vortrage nichts, was man hätte hinwegwünschen mögen. Goethe sprach darauf über Literatur und seine Werke, sowie über Frau v. Stael und Verwandtes. Er be¬ schäftigt sich gegenwärtig mit der Uebersetzung und Zusammenstellung der Fragmente vom Pha ë ton des Euripides. Er hat diese Arbeit bereits vor einem Jahre angefangen und in diesen Tagen wieder vor¬ genommen. Donnerstag, den 5. December 1822*. Diesen Abend bei Goethe, hörte ich die Probe des ersten Acts einer im Entstehen begriffenen Oper, der Graf von Gleichen, von Eberwein . Seit Goethe die Direction des Theaters niedergelegt, sey dieß das erste¬ mal, sagte man mir, daß er ein so großes Personal der Oper bei sich sehe. Herr Eberwein dirigirte den Gesang. Bei den Chören assistirten auch einige Damen aus der Bekanntschaft Goethe's, während die Solo¬ parthieen durch Mitglieder der Oper gesungen wurden. Einige Stücke erschienen mir sehr merkwürdig, besonders ein Canon zu vier Stimmen. Dienstag, den 17. December 1822*. Abends bei Goethe. Er war sehr heiter und behandelte das Thema, daß die Thorheiten der Väter für ihre Kinder verloren seyen, mit vielem Geist. Die Nachforschungen, die man jetzt zur Entdeckung von Salzquellen anstellt, interessirten ihn sichtbar. Er schalt auf die Dummheit gewisser Unternehmer, welche die äußeren Spuren und die Lage und Folge der Schichten, unter denen Steinsalz liegt und durch die der Bohrer gehen muß, ganz außer Acht lassen, und die, ohne den rechten Fleck zu wissen und zu finden, immer ein einziges Bohrloch an einer und derselbigen Stelle auf's Gerathewohl hartnäckig verfolgen. 1823. Montag, den 9. Februar 1823*. A bends bei Goethe, den ich allein fand, in Gesprächen mit Meyer. Ich durchblätterte ein Album vergangener Jahrhunderte mit einigen sehr berühmten Handschriften, wie z. B. von Luther, Erasmus, Mosheim und Anderen. Der letztere hatte in lateinischer Sprache folgendes merkwürdige Wort geschrieben: Der Ruhm eine Quelle von Mühe und Leiden ; die Dunkelheit eine Quelle des Glücks . Montag, den 23. Februar 1823*. Goethe ist seit einigen Tagen gefährlich krank geworden; gestern lag er ohne Hoffnung. Doch hat sich heute eine Krisis eingestellt, wodurch er gerettet zu werden scheint. Noch diesen Morgen äußerte er, daß er sich für verloren halte; später, Mittags, schöpfte er Hoffnung, daß er es überwinden werde; und wieder Abends meinte er, wenn er davon komme, so müsse man gestehen, daß er für einen Greis ein zu hohes Spiel gespielt. Dienstag, den 24. Februar 1823*. Der heutige Tag war in Bezug auf Goethe noch sehr beunruhigend, indem diesen Mittag die Besserung nicht erfolgte wie gestern. In einem Anfall von Schwäche sagte er zu seiner Schwiegertochter: „Ich fühle, daß der Moment gekommen, wo in mir der Kampf zwischen Leben und Tod beginnt.“ Doch hatte der Kranke am Abend sein volles geistiges Bewußtseyn und zeigte schon wieder einigen scherzhaften Uebermuth. „Ihr seyd zu furchtsam mit Euren Mitteln, sagte er zu Rehbein, Ihr schont mich zu sehr! — Wenn man einen Kranken vor sich hat, wie ich es bin, so muß man ein wenig Napoleonisch mit ihm zu Werke gehen.“ Er trank darauf eine Tasse eines Decocts von Arnica, welche gestern, im gefährlichsten Moment von Huschke angewendet, die glückliche Krisis bewirkt hatte. Goethe machte eine gracieuse Beschreibung dieser Pflanze und erhob ihre energischen Wirkungen in den Himmel. — Man sagte ihm, daß die Aerzte nicht hätten zugeben wollen, daß der Großherzog ihn sehe. „Wäre ich der Großherzog, rief Goethe, so würde ich viel gefragt und mich viel um Euch bekümmert haben.“ In einem Augenblick, wo er sich besser befand und wo seine Brust freier zu seyn schien, sprach er mit Leichtigkeit und klarem Geiste, worauf Rehbein einem der Nahestehenden in's Ohr flisterte: „Eine bessere Re spiration pflegt eine bessere In spiration mit sich zu führen.“ Goethe, der es gehört, rief darauf mit großer Heiterkeit: „Das weiß ich längst; aber diese Wahrheit paßt nicht auf Euch, Ihr Schelm!“ Goethe saß aufrecht in seinem Bette, der offenen Thür seines Arbeitzimmers gegenüber, wo seine näheren Freunde versammelt waren, ohne daß er es wußte. Seine Züge erschienen mir wenig verändert, seine Stimme war rein und deutlich; doch war darin ein feierlicher Ton, wie der eines Sterbenden. „Ihr scheint zu glauben, sagte er zu seinen Kindern, daß ich besser bin; aber Ihr betrügt Euch.“ Man suchte ihm jedoch seine Appre¬ hensionen scherzend auszureden, welches er sich denn auch gefallen zu lassen schien. Es waren indeß immer noch mehr Personen in das Zimmer hereingetreten, welches ich keineswegs für gut finden konnte, indem die Gegenwart so vieler Menschen unnöthigerweise die Luft verschlechterte und der Bedienung des Kranken im Wege war. Ich konnte nicht unterlassen, mich darüber auszu¬ sprechen, und ging hinab in das untere Zimmer, von wo aus ich meine Bülletins der Kaiserlichen Hoheit zuschickte. Mittwoch, den 25. Februar 1823*. Goethe hat sich Rechenschaft ablegen lassen über das Verfahren, das man bisher mit ihm beobachtet; auch hat er die Listen der Personen gelesen, die sich bisher nach seinem Befinden erkundiget und deren Zahl täglich sehr groß war. Er empfing darauf den Großherzog und schien später von dem Besuch nicht angegriffen. In seinem Arbeitszimmer fand ich heute weniger Per¬ sonen, woraus ich zu meiner Freude schloß, daß meine gestrige Bemerkung etwas gefruchtet hatte. Nun aber, da die Krankheit gehoben ist, scheint man die Folgen zu fürchten. Seine linke Hand ist geschwollen und es zeigen sich drohende Vorboten der Wassersucht. Erst in einigen Tagen wird man wissen, was man von dem endlichen Ausgang der Krankheit zu halten hat. Goethe hat heute das erstemal nach einem seiner Freunde verlangt, nämlich nach seinem ältesten Freunde Meyer. Er wollte ihm eine seltene Medaille zeigen, die er aus Böhmen erhalten hat und worüber er entzückt ist. Ich kam um zwölf Uhr, und da Goethe hörte, daß ich dort war, ließ er mich in seine Nähe rufen. Er reichte mir die Hand, indem er mir sagte: „Sie sehen in mir einen vom Tode Erstandenen.“ Er beauftragte mich sodann, Ihrer Kaiserlichen Hoheit für die Theilnahme zu danken, die sie ihm während seiner Krankheit be¬ wiesen. „Meine Genesung wird sehr langsam seyn, fügte er darauf hinzu, aber den Herren Aerzten bleibt doch nichtsdestoweniger die Ehre, ein kleines Wunder an mir gethan zu haben.“ Nach ein paar Minuten zog ich mich zurück. Seine Farbe ist gut, allein er ist sehr abgemagert und athmet noch mit einiger Beschwerde. Es kam mir vor, als würde ihm das Sprechen schwieriger als gestern. Die Geschwulst des linken Armes ist sehr sichtbar; er hält die Augen geschlossen und öffnet sie nur wenn er spricht. Montag, den 2. März 1823*. Diesen Abend bei Goethe, den ich in mehreren Tagen nicht gesehen. Er saß in seinem Lehnstuhl und hatte seine Schwiegertochter und Riemer bei sich. Er war auffallend besser. Seine Stimme hatte wieder ihren natürlichen Klang, sein Athemholen war frei, seine Hand nicht mehr geschwollen, sein Aussehen wieder wie in gesundem Zustand, und seine Unterhaltung leicht. Er stand auf und ging ohne Umstände in sein Schlaf¬ zimmer und wieder zurück. Man trank den Thee bei ihm, und da es heute wieder das erstemal war, so machte ich Frau v. Goethe scherzhaft Vorwürfe, daß sie vergessen habe, einen Blumenstrauß auf das Theebrett zu stellen. Frau von Goethe nahm sogleich ein farbiges Band von ihrem Hut und band es an die Theemaschine. Dieser Scherz schien Goethen viel Vergnügen zu machen. Wir betrachteten darauf eine Sammlung nachgemach¬ ter Edelsteine, die der Großherzog hatte von Paris kommen lassen. Sonnabend, den 22. März 1823*. Man hat heute im Theater Goethe's Tasso zur Feier seiner Genesung gegeben, mit einem Prolog von Riemer, den Frau von Heigendorf gesprochen. Seine Büste ward unter lautem Beifall der gerührten Zuschauer mit einem Lorbeerkranze geschmückt. Nach beendigter Vor¬ stellung ging Frau v. Heigendorf zu Goethe. Sie war noch im Costüm der Leonore und überreichte ihm den Kranz des Tasso, den Goethe nahm, um damit die Büste der Großfürstin Alexandra zu schmücken. Mittwoch, den 1. April 1823*. Ich brachte Goethen von Seiten Ihrer Kaiserlichen Hoheit eine Nummer des Französischen Modejournals, worin von einer Uebersetzung seiner Werke die Rede war. Wir sprachen bei dieser Gelegenheit über Rameau's Neffen , wovon das Original lange verloren gewesen. Verschiedene Deutsche glauben, daß jenes Original nie existirt habe und daß Alles Goethe's eigene Erfindung sey. Goethe aber versichert, daß es ihm durchaus unmöglich gewesen seyn würde, Diderot's geistreiche Dar¬ stellung und Schreibart nachzuahmen, und daß der deutsche Rameau nichts weiter sey, als eine sehr treue Uebersetzung. Freitag, den 3. April 1823*. Einen Theil des Abends bei Goethe zugebracht in Gesellschaft des Herrn Oberbaudirectors Coudray. Wir sprachen über das Theater und die Verbesserungen, die dabei seit einiger Zeit eingetreten sind. „Ich bemerke es, ohne hinzugehen, sagte Goethe lachend. Noch vor zwei Monaten kamen meine Kinder des Abends immer mißvergnügt nach Hause. Sie waren nie mit dem Plaisir zufrieden, das man ihnen hatte bereiten wollen. Aber jetzt hat sich das Blatt gewendet; sie kommen mit freudeglänzenden Gesichtern, weil sie doch einmal sich recht hätten satt weinen können . Gestern haben sie diese „Wonne der Thränen“ einem Drama von Kotzebue zu verdanken gehabt.“ Montag, den 13. April 1823*. Abends mit Goethe allein. Wir sprachen über Literatur, Lord Byron, dessen Sardanapal und Werner. Sodann kamen wir auf den Faust, über den Goethe oft und gerne redet. Er möchte, daß man ihn ins Französische übersetzte, und zwar im Charakter der Zeit des Marot. Er betrachtet ihn als die Quelle, aus der Byron die Stimmung zu seinem Manfred geschöpft. Goethe findet, daß Byron in seinen beiden letzten Tragödien entschiedene Fortschritte gemacht, indem er darin weniger düster und misanthropisch erscheint. Wir sprachen sodann über den Text der Zauberflöte, wovon Goethe die Fortsetzung gemacht, aber noch keinen Com¬ ponisten gefunden hat, um den Gegenstand gehörig zu III . 2 behandeln. Er giebt zu, daß der bekannte erste Theil voller Unwahrscheinlichkeiten und Späße sey, die nicht Jeder zurechtzulegen und zu würdigen wisse; aber man müsse doch auf alle Fälle dem Autor zugestehen, daß er im hohen Grade die Kunst verstanden habe, durch Contraste zu wirken und große theatralische Effecte herbeizuführen. Mittwoch, den 15. April 1823*. Abends bei Goethe mit Gräfin Caroline Egloffstein. Goethe scherzte über die deutschen Almanache und andere periodische Erscheinungen, alle von einer lächer¬ lichen Sentimentalität durchdrungen, die an der Ord¬ nung des Tages zu seyn scheine. Die Gräfin bemerkte, daß die deutschen Romanschreiber den Anfang gemacht, den Geschmack ihrer zahlreichen Leser zu verderben, und daß nun wiederum die Leser die Romanschreiber ver¬ dürben, die, um für ihre Manuscripte einen Verleger zu finden, sich jetzt ihrerseits dem herrschenden schlechten Geschmack des Publicums bequemen müßten. Sonntag, den 26. April 1823*. Ich fand Coudray und Meyer bei Goethe. Man sprach über verschiedene Dinge. „Die Großherzogliche Bibliothek, sagte Goethe unter Anderem, besitzt einen Globus, der unter der Regierung Carls des Fünften von einem Spanier verfertigt worden. Es finden sich auf ihm einige merkwürdige Inschriften, wie z. B. die folgende: „Die Chinesen sind ein Volk, das sehr viele Aehnlichkeit mit den Deutschen hat.“ „In älteren Zeiten, fuhr Goethe fort, waren auf den Landcharten die afrikanischen Wüsten mit Abbildungen wilder Thiere bezeichnet. Heut zu Tage aber thut man dergleichen nicht; vielmehr ziehen die Geographen vor, uns carte blanche zu lassen.“ Mittwoch, den 6. Mai 1823*. Abends bei Goethe. Er suchte mir einen Begriff seiner Farbenlehre zu geben. „Das Licht, sagte er, sey keineswegs eine Zusammensetzung verschiedener Farben; auch könne das Licht allein keine Farben hervor¬ bringen, vielmehr gehöre immer dazu eine gewisse Modification und Mischung von Licht und Schatten . Dienstag, den 13. Mai 1823*. Ich fand Goethe beschäftigt, seine kleinen Gedichtchen und Blättchen an Personen zusammen zu suchen. „In früheren Zeiten, sagte er, wo ich leichtsinniger mit meinen Sachen umging und Abschriften zu nehmen unter¬ ließ, sind hunderte solcher Gedichte verloren gegangen.“ Montag, den 2. Juni 1823*. Der Canzler, Riemer und Meyer waren bei Goethe. Man sprach über die Gedichte von B é ranger und 2* Goethe commentirte und paraphrasirte einige derselben mit großer Originalität und guter Laune. Sodann war von Physik und Meteorologie die Rede. Goethe ist im Begriff, die Theorie einer Witterungslehre auszuarbeiten, wobei er das Steigen und Fallen des Barometers gänzlich den Wirkungen des Erdballs und dessen Anziehung und Entlassung der Atmosphäre zuschreiben wird. „Die Herren Gelehrten, und namentlich die Herren Mathematiker, fuhr Goethe fort, werden nicht verfehlen, meine Ideen durchaus lächerlich zu finden; oder auch, sie werden noch besser thun, sie werden sie vornehmer¬ weise völlig ignoriren. Wissen Sie aber warum? Weil sie sagen, ich sey kein Mann vom Fache.“ Der Castengeist der Gelehrten, erwiederte ich, wäre wohl zu verzeihen. Wenn sich in ihre Theorieen einige Irrthümer eingeschlichen haben und darin fortgeschleppt werden, so muß man die Ursache darin suchen, daß sie dergleichen zu einer Zeit als Dogmen überliefert be¬ kommen haben, wo sie selber noch auf den Schulbänken saßen. „Das ist's eben! rief Goethe. Eure Gelehrten machen es wie unsere Weimar'schen Buchbinder. Das Meisterstück, das man von ihnen verlangt, um in die Gilde aufgenommen zu werden, ist keineswegs ein hübscher Einband nach dem neuesten Geschmack. Nein, weit entfernt! Es muß noch immer eine dicke Bibel in Folio geliefert werden, ganz wie sie vor zwei bis drꝛ Jahrhunderten Mode war, mit plumpen Deckeln und in starkem Leder. — Die Aufgabe ist eine Absurdität. Aber es würde dem armen Handwerker schlecht gehen, wenn er behaupten wollte, seine Examinatoren wären dumme Leute.“ Freitag, den 24. October 1823*. Abends bei Goethe. Madame Szymanowska, deren Bekanntschaft er diesen Sommer in Marienbad gemacht, phantasirte auf dem Flügel. Goethe, im Anhören verloren, schien mitunter sehr ergriffen und bewegt. Dienstag, den 11. November 1823*. Kleine Abendgesellschaft bei Goethe, der seit längerer Zeit wieder leidend ist. Seine Füße hatte er in eine wollene Decke gewickelt, die ihn seit dem Feldzuge in der Champagne überall hin begleitet. Bei Gelegenheit dieser Decke erzählte er uns eine Anekdote aus dem Jahre 1806, wo die Franzosen Jena occupirt hatten und der Caplan eines französischen Regiments Behänge zum Schmuck seines Altars requirirte. „Man hatte ihm ein Stück glänzend carmoisinrothes Zeug geliefert, sagte Goethe, das ihm aber noch nicht gut genug war. Er beschwerte sich darüber bei mir. Schicken Sie mir jenes Zeug, antwortete ich ihm, ich will sehen, ob ich Ihnen etwas Besseres verschaffen kann. Indessen h atten wir auf unserm Theater ein neues Stück zu geben und ich benutzte den prächtigen rothen Stoff, um damit meine Schauspieler herauszuputzen. Was aber meinen Caplan betraf, so erhielt er weiter nichts; er ward vergessen und er hat sehen müssen, wie er sich selber half.“ Sonntag, den 16. November 1823*. Goethe ist immer noch nicht besser. Die Frau Großfürstin schickte ihm diesen Abend durch mich einige sehr schöne Medaillen, deren Betrachtung ihm vielleicht einige Zerstreuung und Aufheiterung gewähren möchte. Goethe war über diese zarte Aufmerksamkeit seiner hohen Fürstin sichtbar erfreut. Er klagte mir darauf, daß er den¬ selbigen Schmerz an der Seite des Herzens fühle, wie er seiner schweren Krankheit vom vorigen Winter vorangegangen. „Ich kann nicht arbeiten, sagte er; ich kann nicht lesen, und selbst das Denken gelingt mir nur in glücklichen Augenblicken der Erleichterung.“ Montag, den 17. November 1823*. Humboldt ist hier. Ich war heute einen Augenblick bei Goethe, wo es mir schien, als ob die Gegenwart und die Unterhaltung Humboldt's einen günstigen Ein¬ fluß auf ihn gehabt habe. Sein Uebel scheint nicht bloß physischer Art zu seyn. Es scheint vielmehr, daß die leidenschaftliche Neigung, die er diesen Sommer in Marienbad zu einer jungen Dame gefaßt und die er jetzt zu bekämpfen sucht, als Hauptursache seiner jetzigen Krankheit zu betrachten ist. Freitag, den 28. November 1823*. Der erste Theil von Meyers Kunstgeschichte, der so eben erschienen, scheint Goethe sehr angenehm zu be¬ schäftigen. Er sprach darüber heute in Ausdrücken des höchsten Lobes. Freitag, den 5. December 1823*. Ich brachte Goethen einige Mineralien, besonders ein Stück thonigen Oker, den Deschamps zu Cormayan gefunden, und wovon Herr Massot viel Rühmens macht. Wie sehr aber war Goethe erstaunt, als er in dieser Farbe ganz dieselbige erkannte, die Angelika Kaufmann zu den Fleischpartieen ihrer Gemälde zu benutzen pflegte! „Sie schätzte das Wenige, das sie davon besaß, sagte er, nach dem Gewicht des Goldes. Der Ort indeß, wo es herstammte und wo es zu finden, war ihr unbekannt.“ Goethe meinte gegen seine Tochter, ich behandele ihn wie einen Sultan, dem man täglich neue Geschenke bringe. Er behandelt Sie vielmehr wie ein Kind! erwiederte Frau v. Goethe; worüber er sich denn nicht enthalten konnte zu lächeln. Sonntag, den 7. December 1823*. Ich fragte Goethen, wie er sich heute befinde. „Nicht ganz so schlecht als Napoleon auf seiner Insel“, war die seufzende Antwort. Der sich sehr in die Länge ziehende krankhafte Zustand scheint denn doch nach und nach sehr auf ihn zu wirken. Sonntag, den 21. December 1823*. Goethe's gute Laune war heute wieder glänzend. Wir haben den kürzesten Tag erreicht, und die Hoffnung, jetzt mit jeder Woche die Tage wieder bedeutend zunehmen zu sehen, scheint auf seine Stimmung den günstigsten Einfluß auszuüben. „Heute feiern wir die Wiedergeburt der Sonne!“ rief er mir froh entgegen, als ich diesen Vormittag bei ihm eintrat. Ich höre, daß er jedes Jahr die Wochen vor dem kürzesten Tage in deprimirter Stimmung zu verbringen und zu verseufzen pflegt. Frau v. Goethe trat herein, um ihren Schwiegerpapa zu benachrichtigen, daß sie nach Berlin zu reisen im Begriff sey, um dort mit ihrer nächstens zurückkommenden Mutter zusammen zu treffen. Als Frau v. Goethe gegangen war, scherzte Goethe mit mir über die lebendige Einbildungskraft, welche die Jugend charakterisire. „Ich bin zu alt, sagte er, um ihr zu widersprechen und ihr begreiflich zu machen, daß die Freude, ihre Mutter dort oder hier zuerst wieder¬ zusehen, ganz dieselbige seyn würde. Diese Winterreise ist viel Mühe um nichts; aber ein solches Nichts ist der Jugend oft unendlich viel. — Und im Ganzen genommen, was thut's! Man muß oft etwas Tolles unternehmen, um nur wieder eine Zeit lang leben zu können. In meiner Jugend habe ich es nicht besser gemacht, und doch bin ich noch ziemlich mit heiler Haut davon gekommen.“ Dienstag, den 30. December 1823.* Abends mit Goethe allein, in allerlei Gesprächen. Er sagte mir, daß er die Absicht habe, seine Reise in die Schweiz vom Jahre 1797 in seine Werke aufzunehmen. Sodann war die Rede vom Werther, den er nicht wieder gelesen habe, als einmal, ungefähr zehn Jahre nach seinem Erscheinen. Auch mit seinen anderen Schriften habe er es so gemacht. Wir sprachen darauf von Übersetzungen, wobei er mir sagte, daß es ihm sehr schwer werde, englische Gedichte in deutschen Versen wiederzugeben. „Wenn man die schlagenden einsilbigen Worte der Engländer, sagte er, mit vielsilbigen oder zusammengesetzten deutschen ausdrücken will, so ist gleich alle Kraft und Wirkung verloren.“ Von seinem Rameau sagte er, daß er die Uebersetzung in vier Wochen gemacht und Alles dictirt habe. Wir sprachen sodann über Naturwissenschaften, ins¬ besondere über die Kleingeisterei, womit diese und jene Gelehrten sich um die Priorität streiten. „Ich habe durch nichts die Menschen besser kennen gelernt, sagte Goethe, als durch meine wissenschaftlichen Bestrebungen. Ich habe es mich viel kosten lassen und es ist mit manchen Leiden verknüpft gewesen; aber ich freue mich dennoch die Erfahrung gemacht zu haben.“ In den Wissenschaften, bemerkte ich, scheint auf eine besondere Weise der Egoismus der Menschen angeregt zu werden; und wenn dieser einmal in Bewegung gesetzt ist, so pflegen sehr bald alle Schwächen des Charakters zum Vorschein zu kommen. „Die Fragen der Wissenschaft, versetzte Goethe, sind sehr häufig Fragen der Existenz. Eine einzige Entdeckung kann einen Mann berühmt machen und sein bürgerliches Glück begründen. Deßhalb herrscht auch in den Wissen¬ schaften diese große Strenge und dieses Festhalten und diese Eifersucht auf das Aper ç ü eines Andern. Im Reich der Aesthetik dagegen ist Alles weit läßlicher; die Gedanken sind mehr oder weniger ein angeborenes Eigenthum aller Menschen, wobei Alles auf die Behand¬ lung und Ausführung ankommt und billigerweise wenig Neid stattfindet. Ein einziger Gedanke kann das Fundament zu hundert Epigrammen hergeben und es fragt sich bloß, welcher Poet denn nun diesen Gedanken auf die wirksamste und schönste Weise zu versinnlichen gewußt habe.“ „Bei der Wissenschaft aber ist die Behandlung null, und alle Wirkung liegt im Aper ç ü. Es ist dabei wenig Allgemeines und Subjectives, sondern die einzelnen Manifestationen der Naturgesetze liegen alle sphynxartig, starr, fest und stumm außer uns da. Jedes wahr¬ genommene neue Phänomen ist eine Entdeckung, jede Entdeckung ein Eigenthum. Taste aber nur Einer das Eigenthum an, und der Mensch mit seinen Leidenschaften wird sogleich daseyn.“ „Es wird aber, fuhr Goethe fort, in den Wissen¬ schaften auch zugleich dasjenige als Eigenthum angesehen, was man auf Academieen überliefert erhalten und gelernt hat. Kommt nun Einer, der etwas Neues bringt, das mit unserm Credo, das wir seit Jahren nachbeten und wiederum Anderen überliefern, in Widerspruch steht und es wohl gar zu stürzen droht, so regt man alle Leidenschaften gegen ihn auf und sucht ihn auf alle Weise zu unterdrücken. Man sträubt sich dagegen, wie man nur kann; man thut, als höre man nicht, als verstände man nicht; man spricht darüber mit Gering¬ schätzung, als wäre es gar nicht der Mühe werth es nur anzusehen und zu untersuchen; und so kann eine neue Wahrheit lange warten, bis sie sich Bahn macht. Ein Franzose sagte zu einem meiner Freunde in Bezug auf meine Farbenlehre: Wir haben funfzig Jahre lang gearbeitet, um das Reich Newton's zu gründen und zu befestigen; es werden andere funfzig Jahre nöthig seyn, um es zu stürzen.“ „Die mathematische Gilde hat meinen Namen in der Wissenschaft so verdächtig zu machen gesucht, daß man sich scheut, ihn nur zu nennen. Es kam mir vor einiger Zeit eine Broschüre in die Hand, worin Gegen¬ stände der Farbenlehre behandelt waren; und zwar schien der Verfasser ganz durchdrungen von meiner Lehre zu seyn und hatte Alles auf dieselben Fundamente gebaut und zurückgeführt. Ich las die Schrift mit großer Freude; allein zu meiner nicht geringen Ueber¬ raschung mußte ich sehen, daß der Verfasser mich nicht einmal genannt hatte. Später ward mir das Räthsel gelöst. Ein gemeinschaftlicher Freund besuchte mich und gestand mir: der talentreiche junge Verfasser habe durch jene Schrift seinen Ruf zu gründen gesucht und habe mit Recht gefürchtet, sich bei der gelehrten Welt zu schaden, wenn er es gewagt hätte, seine vorgetragenen Ansichten durch meinen Namen zu stützen. — Die kleine Schrift machte Glück, und der geistreiche junge Ver¬ fasser hat sich mir später persönlich vorgestellt und sich entschuldigt.“ Der Fall erscheint mir um so merkwürdiger, versetzte ich, da man in allen anderen Dingen auf Ihre Autorität stolz zu seyn Ursache hat und Jedermann sich glücklich schätzet, in Ihrer Zustimmung vor der Welt einen mächtigen Schutz zu finden. Bei Ihrer Farbenlehre scheint mir das Schlimme zu seyn, daß Sie es dabei nicht bloß mit dem berühmten, von Allen anerkannten Newton, sondern auch mit seinen in der ganzen Welt verbreiteten Schülern zu thun haben, die ihrem Meister anhängen und deren Zahl Legion ist. Gesetzt auch, daß Sie am Ende recht behalten, so werden Sie gewiß noch eine geraume Zeit mit Ihrer neuen Lehre allein stehen. „Ich bin es gewohnt und bin darauf gefaßt, er¬ wiederte Goethe. Aber sagen Sie selbst, fuhr er fort, konnte ich nicht stolz seyn, wenn ich mir seit zwanzig Jahren gestehen mußte, daß der große Newton und alle Mathematiker und erhabenen Rechner mit ihm in Bezug auf die Farbenlehre sich in einem entschiedenen Irrthum befänden und daß ich unter Millionen der Einzige sey, der in diesem großen Natur-Gegenstande allein das Rechte wisse? Mit diesem Gefühl der Supe¬ riorität war es mir denn möglich, die stupide Anma߬ lichkeit meiner Gegner zu ertragen. Man suchte mich und meine Lehre auf alle Weise anzufeinden und meine Ideen lächerlich zu machen; aber ich hatte nichtsdesto¬ weniger über mein vollendetes Werk eine große Freude. Alle Angriffe meiner Gegner dienten mir nur, um die Menschen in ihrer Schwäche zu sehen.“ Während Goethe so mit einer Kraft und einem Reichthum des Ausdruckes sprach, wie ich in ganzer Wahrheit wiederzugeben nicht im Stande bin, glänzten seine Augen von einem außerordentlichen Feuer. Man sah darin den Ausdruck des Triumphs, während ein ironisches Lächeln um seine Lippen spielte. Die Züge seines schönen Gesichtes waren imposanter als je. Mittwoch, den 31. December 1823. Bei Goethe zu Tische, in mancherlei Gesprächen. Er zeigte mir ein Portefeuille mit Handzeichnungen, unter denen besonders die Anfänge von Heinrich Füßli merkwürdig. Wir sprachen sodann über religiöse Dinge und den Mißbrauch des göttlichen Namens. „Die Leute tractiren ihn, sagte Goethe, als wäre das unbegreifliche, gar nicht auszudenkende höchste Wesen nicht viel mehr, als ihres Gleichen. Sie würden sonst nicht sagen: Der Herr Gott, der liebe Gott, der gute Gott. Er wird ihnen, besonders den Geistlichen, die ihn täglich im Munde führen, zu einer Phrase, zu einem bloßen Namen, wobei sie sich auch gar nichts denken. Wären sie aber durchdrungen von seiner Größe, sie würden verstummen und ihn vor Verehrung nicht nennen mögen.“ 1824. Freitag, den 2. Januar 1824. B ei Goethe zu Tisch in heiteren Gesprächen. Eine junge Schönheit der Weimarischen Gesellschaft kam zur Erwähnung, wobei einer der Anwesenden bemerkte, daß er fast auf dem Punkte stehe, sie zu lieben, obgleich ihr Verstand nicht eben glänzend zu nennen. „Pah! sagte Goethe lachend, als ob die Liebe etwas mit dem Verstande zu thun hätte! Wir lieben an einem jungen Frauenzimmer ganz andere Dinge, als den Verstand. Wir lieben an ihr das Schöne, das Jugendliche, das Neckische, das Zutrauliche, den Cha¬ rakter, ihre Fehler, ihre Capricen, und Gott weiß was alles Unaussprechliche sonst; aber wir lieben nicht ihren Verstand. Ihren Verstand achten wir, wenn er glänzend ist, und ein Mädchen kann dadurch in unsern Augen unendlich an Werth gewinnen. Auch mag der Verstand gut seyn, uns zu fesseln, wenn wir bereits lieben. Allein der Verstand ist nicht dasjenige, was fähig wäre, uns zu entzünden und eine Leidenschaft zu erwecken.“ Man fand an Goethe's Worten viel Wahres und Ueberzeugendes und war sehr bereit, den Gegenstand ebenfalls von dieser Seite zu betrachten. III . 3 Nach Tische und als die Uebrigen gegangen waren blieb ich bei Goethe sitzen und verhandelte mit ihm noch mancherlei Gutes. Wir sprachen über die englische Literatur, über die Größe Shakspeare's, und welch einen ungünstigen Stand alle englischen dramatischen Schriftsteller gehabt, die nach jenem poetischen Riesen gekommen. „Ein dramatisches Talent, fuhr Goethe fort, wenn es bedeutend war, konnte nicht umhin, von Shakspeare Notiz zu nehmen, ja es konnte nicht umhin, ihn zu studiren. Studirte es ihn aber, so mußte ihm bewußt werden, daß Shakspeare die ganze Menschennatur nach allen Richtungen hin, und in allen Tiefen und Höhen, bereits erschöpft habe, und daß im Grunde für ihn, den Nachkömmling, nichts mehr zu thun übrig bleibe. Und woher hätte Einer den Muth nehmen sollen, nur die Feder anzusetzen, wenn er sich solcher bereits vor¬ handener unergründlicher und unerreichbarer Vortrefflich¬ keiten in ernster anerkennender Seele bewußt war!“ „Da hatte ich es freilich vor funfzig Jahren in meinem lieben Deutschland besser. Ich konnte mich sehr bald mit dem Vorhandenen abfinden, es konnte mir nicht lange imponiren und mich nicht sehr aufhalten. Ich ließ die deutsche Literatur und das Studium derselben sehr bald hinter mir und wendete mich zum Leben und zur Production. So nach und nach vorschreitend ging ich in meiner natürlichen Entwickelung fort und bildete mich nach und nach zu den Productionen heran, die mir von Epoche zu Epoche gelangen. Und meine Idee vom Vortrefflichen war auf jeder meiner Lebens- und Entwickelungsstufen nie viel größer, als was ich auch auf jeder Stufe zu machen im Stande war. Wäre ich aber als Engländer geboren, und wären alle jene viel¬ fältigen Meisterwerke bei meinem ersten jugendlichen Erwachen mit all ihrer Gewalt auf mich eingedrungen, es hätte mich überwältigt und ich hätte nicht gewußt, was ich hätte thun wollen. Ich hätte nicht so leichten, frischen Muthes vorschreiten können, sondern mich sicher erst lange besinnen und umsehen müssen, um irgendwo einen neuen Ausweg zu finden.“ Ich lenkte das Gespräch auf Shakspeare zurück. Wenn man ihn, sagte ich, aus der englischen Literatur gewissermaßen herausreißt und als einen Einzelnen nach Deutschland versetzt und betrachtet, so kann man nicht umhin, seine riesenhafte Größe als ein Wunder anzustaunen. Sucht man ihn aber in seiner Heimath auf, versetzt man sich auf den Boden seines Landes und in die Atmosphäre des Jahrhunderts in dem er lebte, studirt man ferner seine Mitlebenden und unmit¬ telbaren Nachfolger, athmet man die Kraft, die uns aus Ben Jonson, Massinger, Marlow und Beaumont und Fletcher anweht, so bleibt zwar Shakspeare immer noch eine gewaltig hervorragende Größe, aber man kommt doch zu der Ueberzeugung, daß viele Wunder seines 3* Geistes einigermaßen zugänglich werden und daß Vieles von ihm in der kräftigen productiven Luft seines Jahr¬ hunderts und seiner Zeit lag. „Sie haben vollkommen Recht, erwiederte Goethe. Es ist mit Shakspeare wie mit den Gebirgen der Schweiz. Verpflanzen Sie den Montblanc unmittelbar in die große Ebene der Lüneburger Heide, und Sie werden vor Erstaunen über seine Größe keine Worte finden. Besuchen Sie ihn aber in seiner riesigen Heimath, kommen Sie zu ihm über seine großen Nach¬ barn: die Jungfrau, das Finsteraarhorn, den Eiger, das Wetterhorn, den Gotthart und Monte Rosa, so wird zwar der Montblanc immer ein Riese bleiben, allein er wird uns nicht mehr in ein solches Erstaunen setzen.“ „Wer übrigens nicht glauben will, fuhr Goethe fort, daß Vieles von der Größe Shakspeare's seiner großen kräftigen Zeit angehört, der stelle sich nur die Frage, ob er denn eine solche Staunen erregende Erscheinung in dem heutigen England von 1824, in diesen schlechten Tagen kritisirender und zersplitternder Journale, für möglich halte?“ „Jenes ungestörte, unschuldige, nachtwandlerische Schaffen, wodurch allein etwas Großes gedeihen kann, ist gar nicht mehr möglich. Unsere jetzigen Talente liegen alle auf dem Präsentirteller der Oeffentlichkeit. Die täglich an funfzig verschiedenen Orten erscheinenden kritischen Blätter, und der dadurch im Publicum bewirkte Klatsch, lassen nichts Gesundes aufkommen. Wer sich heut zu Tage nicht ganz davon zurückhält und sich nicht mit Gewalt isolirt, ist verloren. Es kommt zwar durch das schlechte, größtentheils negative, ästhetisirende und kritisirende Zeitungswesen eine Art Halbcultur in die Massen, allein dem hervorbringenden Talent ist es ein böser Nebel, ein fallendes Gift, das den Baum seiner Schöpfungskraft zerstört, vom grünen Schmuck der Blätter bis in das tiefste Mark und die verbor¬ genste Faser.“ „Und dann, wie zahm und schwach ist seit den lumpigen paar hundert Jahren nicht das Leben selber geworden! Wo kommt uns noch eine originelle Natur unverhüllt entgegen! Und wo hat Einer die Kraft, wahr zu seyn und sich zu zeigen, wie er ist! Das wirkt aber zurück auf den Poeten, der Alles in sich selber finden soll, während von Außen ihn Alles in Stich läßt.“ Das Gespräch wendete sich auf den Werther . „Das ist auch so ein Geschöpf, sagte Goethe, das ich gleich dem Pelikan mit dem Blute meines eigenen Herzens gefüttert habe. Es ist darin so viel Inner¬ liches aus meiner eigenen Brust, so viel von Empfin¬ dungen und Gedanken, um damit wohl einen Roman von zehn solcher Bändchen auszustatten. Uebrigens habe ich das Buch, wie ich schon öfter gesagt, seit seinem Erscheinen nur ein einzigesmal wieder gelesen und mich gehütet, es abermals zu thun. Es sind lauter Brandraketen! — Es wird mir unheimlich dabei und ich fürchte, den pathologischen Zustand wieder durch¬ zuempfinden, aus dem es hervorging.“ Ich erinnerte an sein Gespräch mit Napoleon , das ich aus der Skizze kenne, die unter seinen ungedruckten Papieren vorhanden, und die ich ihn wiederholt ersucht habe, weiter auszuführen. Napoleon, sagte ich, bezeich¬ net gegen Sie im Werther eine Stelle, die ihm, einer scharfen Prüfung gegenüber, nicht Stich zu halten scheint, welches Sie ihm auch zugeben. Ich möchte sehr gerne wissen, welche Stelle er gemeint hat. „Rathen Sie!“ sagte Goethe mit einem geheimnißvollen Lächeln. Nun, sagte ich, ich dächte fast, es wäre die, wo Lotte Werthern die Pistolen schickt, ohne gegen Alberten ein Wort zu sagen und ohne ihm ihre Ahnungen und Befürchtungen mitzutheilen. Sie haben sich zwar alle Mühe gegeben, dieses Schwei¬ gen zu motiviren, allein es scheint doch Alles gegen die dringende Nothwendigkeit, wo es das Leben des Freundes galt, nicht Stich zu halten. „Ihre Bemer¬ kung, erwiederte Goethe, ist freilich nicht schlecht. Ob aber Napoleon dieselbe Stelle gemeint hat, oder eine andere, halte ich für gut, nicht zu verrathen. Aber wie gesagt, Ihre Beobachtung ist eben so richtig wie die seinige.“ Ich brachte zur Erwähnung, ob denn die große Wirkung, die der Werther bei seinem Erscheinen gemacht, wirklich in der Zeit gelegen. Ich kann mich, sagte ich, nicht zu dieser allgemein verbreiteten Ansicht bekennen. Der Werther hat Epoche gemacht, weil er erschien, nicht weil er in einer gewissen Zeit erschien. Es liegt in jeder Zeit so viel unausgesprochenes Leiden, so viel heimliche Unzufriedenheit und Lebensüberdruß, und in einzelnen Menschen so viele Mißverhältnisse zur Welt, so viele Conflicte ihrer Natur mit bürgerlichen Ein¬ richtungen, daß der Werther Epoche machen würde und wenn er erst heute erschiene. „Sie haben wohl Recht, erwiederte Goethe, weßhalb denn auch das Buch auf ein gewisses Jünglingsalter noch heute wirkt, wie damals. Auch hätte ich kaum nöthig gehabt, meinen eigenen jugendlichen Trübsinn aus allgemeinen Einflüssen meiner Zeit und aus des Lectüre einzelner englischer Autoren herzuleiten. Er waren vielmehr individuelle nahe liegende Verhältnisse, die mir auf die Nägel brannten und mir zu schaffen machten, und die mich in jenen Gemüthszustand brachten, aus dem der Werther hervorging. Ich hatte gelebt, geliebt, und sehr viel gelitten! — Das war es.“ „Die viel besprochene Wertherzeit gehört, wenn man es näher betrachtet, freilich nicht dem Gange der Welt¬ cultur an, sondern dem Lebensgange jedes Einzelnen, der mit angeborenem freiem Natursinn sich in die beschränkenden Formen einer veralteten Welt finden und schicken lernen soll. Gehindertes Glück, gehemmte Thä¬ tigkeit, unbefriedigte Wünsche, sind nicht Gebrechen einer besonderen Zeit, sondern jedes einzelnen Menschen, und es müßte schlimm seyn, wenn nicht Jeder einmal in seinem Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der Werther käme, als wäre er bloß für ihn geschrieben.“ Sonntag, den 4. Januar 1824. Heute nach Tische ging Goethe mit mir das Porte¬ feuille von Raphael durch. Er beschäftigt sich mit Raphael sehr oft, um sich immerfort im Verkehr mit dem Besten zu erhalten, und sich immerfort zu üben, die Gedanken eines hohen Menschen nachzudenken. Dabei macht es ihm Freude, mich in ähnliche Dinge einzuführen. Hernach sprachen wir über den Divan ; besonders über das Buch des Unmuths, worin Manches aus¬ geschüttet, was er gegen seine Feinde auf dem Herzen hatte. „Ich habe mich übrigens sehr mäßig gehalten, fügte er hinzu; — wenn ich Alles hätte aussprechen wollen, was mich wurmte und mir zu schaffen machte, so hätten die wenigen Seiten wohl zu einem ganzen Bande an¬ wachsen können.“ „Man war im Grunde nie mit mir zufrieden und wollte mich immer anders, als es Gott gefallen hatte, mich zu machen. Auch war man selten mit dem zufrie¬ den, was ich hervorbrachte. Wenn ich mich Jahr und Tag mit ganzer Seele abgemüht hatte, der Welt mit einem neuen Werke etwas zu Liebe zu thun, so verlangte sie, daß ich mich noch obendrein bei ihr bedanken sollte, daß sie es nur erträglich fand. — Lobte man mich, so sollte ich das nicht in freudigem Selbstgefühl als einen schuldigen Tribut hinnehmen, sondern man er¬ wartete von mir irgend eine ablehnende bescheidene Phrase, worin ich demüthig den völligen Unwerth meiner Person und meines Werkes an den Tag lege. Das aber widerstrebte meiner Natur und ich hätte müssen ein elender Lump seyn, wenn ich so hätte heucheln und lügen wollen. Da ich nun aber stark genug war, mich in ganzer Wahrheit so zu zeigen, wie ich fühlte, so galt ich für stolz, und gelte noch so bis auf den heutigen Tag.“ „In religiösen Dingen, in wissenschaftlichen und politischen, überall machte es mir zu schaffen, daß ich nicht heuchelte und daß ich den Muth hatte, mich aus¬ zusprechen, wie ich empfand.“ „Ich glaubte an Gott und die Natur, und an den Sieg des Edlen über das Schlechte; aber das war den frommen Seelen nicht genug, ich sollte auch glauben, daß Drei Eins sey und Eins Drei; das aber wider¬ strebte dem Wahrheitsgefühl meiner Seele; auch sah ich nicht ein, daß mir damit auch nur im mindesten wäre geholfen gewesen.“ „Ferner bekam es mir schlecht, daß ich einsah, die Newton'sche Lehre vom Licht und der Farbe sey ein Irrthum, und daß ich den Muth hatte, dem allgemeinen Credo zu widersprechen. Ich erkannte das Licht in seiner Reinheit und Wahrheit und ich hielt es meines Amtes, dafür zu streiten. Jene Partei aber trachtete in allem Ernst, das Licht zu verfinstern, denn sie be¬ hauptete: das Schattige sey ein Theil des Lichtes . Es klingt absurd, wenn ich es so ausspreche, aber doch ist es so. Denn man sagte: die Farben , welche doch ein Schattiges und Durchschattetes sind, seyen das Licht selber , oder, was auf eins hinaus¬ kommt, sie seyen des Lichtes bald so und bald so gebrochene Strahlen .“ Goethe schwieg, während auf seinem bedeutenden Gesicht ein ironisches Lächeln verbreitet war. Er fuhr fort: „Und nun gar in politischen Dingen! — Was ich da für Noth und was ich da zu leiden gehabt, mag ich gar nicht sagen. Kennen sie meine Aufgeregten?“ Erst gestern, erwiederte ich, habe ich wegen der neuen Ausgabe Ihrer Werke das Stück gelesen, und von Herzen bedauert, daß es unvollendet geblieben. Aber wie es auch ist, so wird sich jeder Wohldenkende zu Ihrer Gesinnung bekennen. „Ich schrieb es zur Zeit der französischen Revolution, fuhr Goethe fort, und man kann es gewissermaßen als mein politisches Glaubensbekenntniß jener Zeit ansehen. Als Repräsentanten des Adels hatte ich die Gräfin hingestellt und mit den Worten, die ich ihr in den Mund gelegt, ausgesprochen, wie der Adel eigentlich denken soll. Die Gräfin kommt so eben aus Paris zurück, sie ist dort Zeuge der revolutionären Vorgänge gewesen und hat daraus für sich selbst keine schlechte Lehre gezogen. Sie hat sich überzeugt, daß das Volk wohl zu drücken, aber nicht zu unterdrücken ist, und daß die revolutionären Aufstände der unteren Klassen eine Folge der Ungerechtigkeit der Großen sind. Jede Handlung, die mir unbillig scheint, sagt sie, will ich künftig streng vermeiden, auch werde ich über solche Handlungen Ande¬ rer, in der Gesellschaft und bei Hofe meine Meinung laut sagen. Zu keiner Ungerechtigkeit will ich mehr schweigen, und wenn ich auch unter dem Namen einer Demokratin verschrieen werden sollte.“ „Ich dächte, fuhr Goethe fort, diese Gesinnung wäre durchaus respectabel. Sie war damals die meinige und ist es noch jetzt. Zum Lohne dafür aber belegte man mich mit allerlei Titeln, die ich nicht wiederholen mag.“ Man braucht nur den Egmont zu lesen, versetzte ich, um zu erfahren, wie Sie denken. Ich kenne kein deutsches Stück, wo der Freiheit des Volkes mehr das Wort geredet würde, als in diesem. „Man beliebt einmal, erwiederte Goethe, mich nicht so sehen zu wollen, wie ich bin, und wendet die Blicke von Allem hinweg, was mich in meinem wahren Lichte zeigen könnte. Dagegen hat Schiller, der, unter uns, weit mehr ein Aristokrat war als ich, der aber weit mehr bedachte was er sagte als ich, das merkwürdige Glück, als besonderer Freund des Volkes zu gelten. Ich gönne es ihm von Herzen und tröste mich damit, daß es Anderen vor mir nicht besser gegangen.“ „Es ist wahr, ich konnte kein Freund der französi¬ schen Revolution seyn, denn ihre Gräuel standen mir zu nahe und empörten mich täglich und stündlich, wäh¬ rend ihre wohlthätigen Folgen damals noch nicht zu ersehen waren. Auch konnte ich nicht gleichgültig dabei seyn, daß man in Deutschland künstlicher Weise ähnliche Scenen herbeizuführen trachtete, die in Frank¬ reich Folge einer großen Nothwendigkeit waren.“ „Ebensowenig aber war ich ein Freund herrischer Willkür. Auch war ich vollkommen überzeugt, daß irgend eine große Revolution nie Schuld des Volkes ist, sondern der Regierung. Revolutionen sind ganz unmöglich, sobald die Regierungen fortwährend gerecht und fortwährend wach sind, so daß sie ihnen durch zeitgemäße Verbesserungen entgegenkommen, und sich nicht so lange sträuben, bis das Nothwendige von unten her erzwungen wird.“ „Weil ich nun aber die Revolutionen haßte, so nannte man mich einen Freund des Bestehenden . Das ist aber ein sehr zweideutiger Titel, den ich mir verbitten möchte. Wenn das Bestehende alles vortrefflich, gut und gerecht wäre, so hätte ich gar nichts dawider. Da aber neben vielem Guten zugleich viel Schlechtes, Un¬ gerechtes und Unvollkommenes besteht, so heißt ein Freund des Bestehenden oft nicht viel weniger als ein Freund des Veralteten und Schlechten.“ „Die Zeit aber ist in ewigem Fortschreiten begriffen und die menschlichen Dinge haben alle funfzig Jahre eine andere Gestalt, so daß eine Einrichtung, die im Jahre 1800 eine Vollkommenheit war, schon im Jahre 1850 vielleicht ein Gebrechen ist.“ „Und wiederum ist für eine Nation nur das gut, was aus ihrem eigenen Kern und ihrem eigenen allge¬ meinen Bedürfniß hervorgegangen, ohne Nachäffung einer anderen. Denn was dem einen Volk auf einer gewissen Altersstufe eine wohlthätige Nahrung seyn kann erweist sich vielleicht für ein anderes als ein Gift. Alle Versuche, irgend eine ausländische Neuerung einzuführen, wozu das Bedürfniß nicht im tiefen Kern der eigenen Nation wurzelt, sind daher thöricht, und alle beabsichtigten Revolutionen solcher Art ohne Erfolg; denn sie sind ohne Gott , der sich von solchen Pfuschereien zurückhält . Ist aber ein wirkliches Bedürfniß zu einer großen Reform in einem Volke vorhanden, so ist Gott mit ihm und sie gelingt. Er war sichtbar mit Christus und seinen ersten Anhängern, denn die Erscheinung der neuen Lehre der Liebe war den Völkern ein Bedürfniß; er war ebenso sichtbar mit Luthern, denn die Reinigung jener durch Pfaffen¬ wesen verunstalteten Lehre war es nicht weniger. Beide genannten großen Kräfte aber waren nicht Freunde des Bestehenden; vielmehr waren Beide lebhaft durchdrungen, daß der alte Sauerteig ausgekehrt werden müsse und daß es nicht ferner im Unwahren, Ungerechten und Mangelhaften so fortgehen und bleiben könne.“ Mittwoch, den 5. Mai 1824. Die Papiere, welche die Studien enthalten, die Goethe mit den Schauspielern Wolf und Grüner ge¬ macht, haben mich diese Tage lebhaft beschäftigt und es ist mir gelungen, diese höchst zerstückelten Notizen in eine Art Form zu bringen, so daß daraus etwas entstanden ist, das wohl für den Anfang eines Catechis¬ mus für Schauspieler gelten könnte. Ich sprach heute mit Goethe über diese Arbeit und wir gingen die einzelnen Gegenstände durch. Besonders wichtig wollte uns erscheinen, was über die Aussprache und Ablegung von Provinzialismen angedeutet worden. „Ich habe in meiner langen Praxis, sagte Goethe, Anfänger aus allen Gegenden Deutschlands kennen gelernt. Die Aussprache der Norddeutschen ließ im Ganzen wenig zu wünschen übrig. Sie ist rein und kann in mancher Hinsicht als musterhaft gelten. Da¬ gegen habe ich mit geborenen Schwaben, Oestreichern und Sachsen oft meine Noth gehabt. Auch Eingeborene unserer lieben Stadt Weimar haben mir viel zu schaffen gemacht. Bei diesen entstehen die lächerlichsten Mi߬ griffe daraus, daß sie in den hiesigen Schulen nicht angehalten werden, das B. vom P. und das D. vom T. durch eine markirte Aussprache stark zu unterscheiden. Man sollte kaum glauben, daß sie B. P. D. und T. überhaupt für vier verschiedene Buchstaben halten, denn sie sprechen nur immer von einem weichen und einem harten B. und von einem weichen und einem harten D. und scheinen dadurch stillschweigend anzu¬ deuten, daß P. und T. gar nicht existiren. Aus einem solchen Munde klingt denn Pein wie Bein, Paß wie Baß, und Teckel wie Deckel.“ Ein hiesiger Schauspieler, versetzte ich, der das T. und D. gleichfalls nicht gehörig unterschied, machte in diesen Tagen einen Fehler ähnlicher Art, der sehr auffallend erschien. Er spielte einen Liebhaber, der sich eine kleine Untreue hatte zu Schulden kommen lassen, worüber ihm das erzürnte junge Frauenzimmer allerlei heftige Vorwürfe macht. Ungeduldig, hatte er zuletzt auszurufen: „o ende!“ Er konnte aber das T. vom D. nicht unterscheiden und rief: „o ente!“, (O Ente!) welches denn ein allgemeines Lachen erregte. „Der Fall ist sehr artig, erwiederte Goethe, und verdiente wohl in unsern Theater - Catechismus mit aufgenommen zu werden.“ Eine hiesige junge Sängerin, fuhr ich fort, die das T. und D. gleichfalls nicht unterscheiden konnte, hatte neulich zu sagen: „Ich will dich den Eingeweihten übergeben.“ Da sie aber das T. wie D. sprach, so klang es, als sagte sie: „Ich will dich den Eingeweiden übergeben.“ So hatte neulich, fuhr ich fort, ein hiesiger Schau¬ spieler, der eine Bedientenrolle spielte, einem Fremden zu sagen: „Mein Herr ist nicht zu Haus, er sitzt im Rathe.“ Da er aber das T. vom D. nicht unterschied, so klang es, als sagte er: „Mein Herr ist nicht zu Haus, er sitzt im Rade.“ „Auch diese Fälle, sagte Goethe, sind nicht schlecht und wir wollen sie uns merken. So wenn Einer das P. und B. nicht unterscheidet und ausrufen soll: Packe ihn an! aber statt dessen ruft: Backe ihn an! so ist es abermals lächerlich.“ „Gleicherweise, fuhr Goethe fort, wird hier das Ü häufig wie I ausgesprochen, wodurch nicht weniger die schändlichsten Mißverständnisse veranlaßt werden. So habe ich nicht selten statt Küstenbewohner — Kisten¬ bewohner, statt Thürstück — Thierstück, statt gründlich — grindlich, statt Trübe — Triebe, und statt Ihr müßt — Ihr mißt vernehmen müssen, nicht ohne An¬ wandlung von einigem Lachen.“ Dieser Art, versetzte ich, ist mir neulich im Theater ein sehr spaßhafter Fall vorgekommen, wo eine Dame in einer mißlichen Lage einem Manne folgen soll, den sie vorher nie gesehen. Sie hatte zu sagen: „Ich kenne Dich zwar nicht, aber ich setze mein ganzes Vertrauen in den Edelmuth Deiner Züge.“ Da sie aber das Ü. wie I. sprach, so sagte sie: „Ich kenne Dich zwar nicht, aber ich setze mein ganzes Vertrauen in den Edelmuth Deiner Ziege.“ Es entstand ein großes Gelächter. „Dieser Fall ist abermals gar nicht schlecht, erwie¬ derte Goethe, und wir wollen ihn uns gleichfalls merken. So auch, fuhr er fort, wird hier das G. und K. häufig mit einander verwechselt, und statt G. — K. und statt K. — G. gesprochen, wahrscheinlich abermals aus der Ungewißheit, ob ein Buchstabe weich oder hart sey, eine Folge der hier so beliebten Lehre. Sie werden im hiesigen Theater wahrscheinlich sehr oft Kartenhaus für Gartenhaus, Kasse für Gasse, klauben für glauben, bekränzen für begrenzen, und Kunst für Gunst bereits gehört haben, oder noch künftig hören.“ Etwas Aehnliches, erwiederte ich, ist mir allerdings vorgekommen. Ein hiesiger Schauspieler hatte zu sagen: „Dein Gram geht mir zu Herzen.“ Er sprach aber das G. wie K. und sagte sehr deutlich: „Dein Kram geht mir zu Herzen.“ „Dergleichen Verwechselungen von G. und K., versetzte Goethe, hören wir übrigens nicht bloß von Schauspielern, sondern auch wohl von sehr gelehrten III . 4 Theologen. Mir passirte einst persönlich ein Fall der Art, den ich Ihnen doch erzählen will.“ „Als ich nämlich vor einigen Jahren mich einige Zeit in Jena aufhielt und im Gasthof „Zur Tanne“ logirte, ließ sich eines Morgens ein Studiosus der Theologie bei mir melden. Nachdem er sich eine Weile mit mir ganz hübsch unterhalten, rückte er beim Ab¬ schiede gegen mich mit einem Anliegen ganz eigener Art hervor. Er bat mich nämlich, ihm doch am nächsten Sonntage zu erlauben, statt meiner predi¬ gen zu dürfen . Ich merkte sogleich, woher der Wind wehte, und daß der hoffnungsvolle Jüngling einer von denen sey, die das G. und K. verwechseln. Ich er¬ wiederte ihm also mit aller Freundlichkeit, daß ich ihm in dieser Angelegenheit zwar persönlich nicht helfen könne, daß er aber sicher seinen Zweck erreichen würde, wenn er die Güte haben wolle, sich an den Herrn Archidiaco¬ nus Koethe zu wenden.“ Dienstag, den 18. Mai 1824. Abends bei Goethe in Gesellschaft mit Riemer. Goethe unterhielt uns von einem englischen Gedicht, das die Geologie zum Gegenstande hat. Er machte uns davon erzählungsweise eine improvisirte Uebersetzung mit so vielem Geist, Einbildungskraft und guter Laune, daß jede Einzelnheit lebendig vor Augen trat, als wäre Alles eine im Moment entstehende Erfindung von ihm selber. Man sah den Helden des Gedichts, den König Coal , in glänzendem Audienzsaal auf seinem Throne sitzen, seine Gemahlin Pyrites an seiner Seite, in Erwartung der Großen des Reichs. — Nach ihrer Rangordnung eintretend, erschienen nach und nach und wurden dem Könige vorgestellt: Herzog Granit , Mar¬ quis Schiefer , Gräfin Porphyry , und so die Uebrigen, die Alle mit einigen treffenden Beiwörtern und Späßen charakterisirt wurden. Es tritt ferner ein: Sir Lorenz Urkalk , ein Mann von großen Besitzungen und bei Hofe wohlgelitten. Er entschuldigt seine Mutter die Lady Marmor , weil ihre Wohnung etwas entfernt sey; übrigens wäre sie eine Dame von großer Cultur- und Politur-Fähigkeit. Daß sie heute nicht bei Hofe erscheine, hätte übrigens wohl einen Grund in einer Intrigue, in welche sie sich mit Canova eingelassen, der ihr sehr schön thue. Tuffstein , mit Eidechsen und Fischen sein Haar verziert, schien etwas betrunken. Hans Mergel und Jacob Thon kommen erst gegen das Ende; letzterer der Königin besonders lieb, weil er ihr eine Muschelsammlung versprochen. Und so ging die Darstellung in dem heitersten Tone eine ganze Weile fort; doch war das Detail zu groß, als daß ich mir den weiteren Verlauf hätte merken können. „Ein solches Gedicht, sagte Goethe, ist ganz darauf berechnet, die Weltleute zu amüsiren, indem es zugleich eine Menge nützlicher Kenntnisse verbreitet, die 4* eigentlich Niemandem fehlen sollten. Es wird dadurch in den höheren Kreisen der Geschmack für die Wissen¬ schaft angeregt und man weiß immer nicht, wie viel Gutes in der Folge aus einem so unterhaltenden Halb- Scherz entstehen kann. Mancher gute Kopf wird viel¬ leicht veranlaßt, im Kreise seines persönlichen Bereichs selber zu beobachten. Und solche individuelle Wahrneh¬ mungen aus der uns umgebenden nächsten Natur sind oft um so schätzbarer, je weniger der Beobachtende ein eigentlicher Mann vom Fache war.“ Sie scheinen also andeuten zu wollen, versetzte ich, daß man um so schlechter beobachte, jemehr man wisse? „Wenn das überlieferte Wissen mit Irrthümern ver¬ bunden, erwiederte Goethe, allerdings! — Sobald man in der Wissenschaft einer gewissen beschränkten Confession angehört, ist sogleich jede unbefangene treue Auffassung dahin. Der entschiedene Vulkanist wird immer nur durch die Brille des Vulkanisten sehen, sowie der Neptunist und der Bekenner der neuesten Hebungstheorie durch die seinige. Die Weltanschauung aller solcher in einer einzigen ausschließenden Richtung befangener Theo¬ retiker hat ihre Unschuld verloren und die Objecte erschei¬ nen nicht mehr in ihrer natürlichen Reinheit. Geben sodann diese Gelehrten von ihren Wahrnehmungen Rechenschaft, so erhalten wir, ungeachtet der höchsten persönlichen Wahrheitsliebe des Einzelnen, dennoch keines¬ wegs die Wahrheit der Objecte; sondern wir empfangen die Gegenstände immer nur mit dem Geschmack einer sehr starken subjectiven Beimischung.“ „Weit entfernt aber bin ich, zu behaupten, daß ein unbefangenes rechtes Wissen der Beobachtung hinder¬ lich wäre, vielmehr behält die alte Wahrheit ihr Recht, daß wir eigentlich nur Augen und Ohren für das haben, was wir kennen . Der Musiker vom Fach hört beim Zusammenspiel des Orchesters jedes Instru¬ ment und jeden einzelnen Ton heraus, während der Nichtkenner in der massenhaften Wirkung des Ganzen befangen ist. So sieht ferner der bloß genießende Mensch nur die anmuthige Fläche einer grünen oder blumigen Wiese, während dem beobachtenden Botaniker ein unendliches Detail der verschiedenartigsten einzelnen Pflänzchen und Gräser in die Augen fällt.“ „Doch hat Alles sein Maß und Ziel, und wie es schon in meinem Götz heißt, daß das Söhnlein vor lauter Gelehrsamkeit seinen eigenen Vater nicht erkennt, so stoßen wir auch in der Wissenschaft auf Leute, die vor lauter Gelehrsamkeit und Hypothesen nicht mehr zum Sehen und Hören kommen. Es geht bei solchen Leuten Alles rasch nach Innen; sie sind von dem, was sie in sich herumwälzen, so occupirt, daß es ihnen geht wie einem Menschen in Leidenschaft, der in der Straße seinen liebsten Freunden vorbeirennt, ohne sie zu sehen. Es gehört zur Naturbeobachtung eine gewisse ruhige Reinheit des Innern, das von gar nichts gestört und präoccupirt ist. Dem Kinde entgeht der Käfer an der Blume nicht, es hat alle seine Sinne für ein ein¬ ziges einfaches Interesse beisammen, und es fällt ihm durchaus nicht ein, daß zu gleicher Zeit etwa auch in der Bildung der Wolken sich etwas Merkwürdiges ereignen könne, um seine Blicke zugleich auch dorthin zu wenden.“ Da könnten also, erwiederte ich, die Kinder und ihres Gleichen recht gute Handlanger in der Wissen¬ schaft abgeben. „Wollte Gott, fiel Goethe ein, wir wären Alle nichts weiter, als gute Handlanger. Eben weil wir mehr seyn wollen und überall einen großen Apparat von Philosophie und Hypothesen mit uns herumführen, verderben wir es.“ Es entstand eine Pause im Gespräch, die Riemer unterbrach, indem er den Lord Byron und dessen Tod zur Erwähnung brachte. Goethe machte darauf eine glänzende Auseinandersetzung seiner Schriften und war voll des höchsten Lobes und der reinsten Anerkennung. „Uebrigens, fuhr er fort, obgleich Byron so jung gestorben ist, so hat doch die Literatur hinsichtlich einer gehinderten weiteren Ausdehnung nicht wesentlich ver¬ loren. Byron konnte gewissermaßen nicht weiter gehen. Er hatte den Gipfel seiner schöpferischen Kraft erreicht, und was er auch in der Folge noch gemacht haben würde, so hätte er doch die seinem Talent gezogenen Grenzen nicht erweitern können. In dem unbegreif¬ lichen Gedicht seines jüngsten Gerichts hat er das Aeußerste gethan, was er zu thun fähig war.“ Das Gespräch lenkte sich sodann auf den italie¬ nischen Dichter Torquato Tasso, und wie sich dieser zu Lord Byron verhalte; wo denn Goethe die große Ueberlegenheit des Engländers an Geist, Welt und productiver Kraft nicht verhehlen konnte. „Man darf, fügte er hinzu, beide Dichter nicht mit einander ver¬ gleichen, ohne den Einen durch den Andern zu vernichten. Byron ist der brennende Dornstrauch, der die heilige Ceder des Libanon in Asche legt. Das große Epos des Italieners hat seinen Ruhm durch Jahrhunderte behauptet; aber mit einer einzigen Zeile des Don Juan könnte man das ganze Befreite Jerusalem vergiften.“ Mittwoch, den 26. Mai 1824. Ich nahm heute Abschied von Goethe, um meine Lieben in Hannover und sodann den Rhein zu besuchen, wie es längst meine Absicht gewesen. Goethe war sehr herzlich und schloß mich in seine Arme. „Wenn Sie in Hannover bei Rehberg's , sagte er, vielleicht meine alte Jugendfreundin, Charlotte Kestner , sehen, so sagen Sie ihr Gutes von mir. In Frankfurt werde ich Sie meinen Freunden Willemers , dem Grafen Reinhardt - und Schlosser's empfehlen. Auch ins Heidelberg und Bonn finden Sie Freunde, die mir treu ergeben sind und bei denen Sie die beste Auf¬ nahme finden werden. Ich hatte vor, diesen Sommer wieder einige Zeit in Marienbad zuzubringen, doch werde ich nicht eher gehen als bis Sie zurück sind.“ Der Abschied von Goethe ward mir schwer; doch ging ich mit der festen Zuversicht, ihn nach zwei Monaten gesund und froh wiederzusehen. Indeß war ich am andern Tage glücklich, als der Wagen mich meiner lieben Hannover'schen Heimath ent¬ gegen führte, nach der meine innigste Sehnsucht fort¬ während gerichtet ist. 1825. Dienstag, den 22. März 1825. D iese Nacht, bald nach zwölf Uhr, wurden wir durch Feuerlärm geweckt; man rief: es brenne im Theater ! Ich warf mich sogleich in meine Kleider und eilte an Ort und Stelle. Die allgemeine Be¬ stürzung war groß. Noch vor wenigen Stunden waren wir durch das treffliche Spiel von La Roche im Juden von Cumberland entzückt worden und Seidel hatte durch gute Laune und Späße allgemeines Lachen erregt. Und jetzt ras'te an dieser selbigen Stelle kaum genossener geistiger Freuden das schrecklichste Element der Vernichtung. Das Feuer schien, durch Heitzung veranlaßt, im Parterre ausgebrochen zu seyn, hatte bald die Bühne und das dürre Lattenwerk der Conlissen ergriffen, und so, durch die reichlichste Nahrung brennbarer Stoffe schnell zum Ungeheuer erwachsen, dauerte es nicht lange, bis die Flamme überall zum Dache herausschlug und die Sparren zusammenkrachten. In den Anstalten zum Löschen war kein Mangel. Das Gebäude war nach und nach ganz mit Spritzen umstellt, die eine Unmasse von Wasser in die Gluth gossen. Allein es war Alles ohne Erfolg. Die Flamme ras'te nach wie vor aufwärts und trieb unerschöpflich eine Masse glühender Funken und brennende Stücke leichter Stoffe gegen den dunkelen Himmel, die sodann mit geringem Lufthauche seitwärts über die Stadt zogen. Der Lärm und das Rufen und Schreien der an den Feuerleitern und Spritzen arbeitenden Menschen¬ masse war groß. Alle Kräfte waren in Aufregung, man schien mit Gewalt siegen zu wollen. Ein wenig seitwärts, so nahe die Gluth es erlaubte, stand ein Mann im Mantel und Militair-Mütze, in der ruhigsten Fassung eine Cigarre rauchend. Er schien beim ersten Anblick ein müßiger Zuschauer zu seyn; allein er war es nicht. Personen gingen von ihm aus, denen er mit wenigen Worten Befehle ertheilte, die sogleich vollzogen wurden. Es war der Großherzog Carl August. Er hatte bald gesehen, daß das Gebäude selbst nicht zu retten war; er befahl daher, es in sich zusammenzustürzen und alle nur entbehrlichen Spritzen gegen die Nachbarhäuser zu wenden, die von der nahen Gluth sehr zu leiden hatten. Er schien in fürstlicher Resignation zu denken: „Das brenne nieder! — Schöner bau't sich's wieder auf.“ Er hatte nicht Unrecht. Das Theater war alt, keineswegs schön, und lange nicht geräumig genug, um ein sich mit jedem Jahre vergrößerndes Publicum zu fassen. Allein immerhin war es zu bedauern, gerade dieses Gebäude, an das sich für Weimar so viele Erinnerungen einer großen und lieben Vergangenheit knüpften, rettungslos verloren zu sehen. Ich sah in schönen Augen viele Thränen, die seinem Untergange flossen. Nicht weniger rührte mich ein Mitglied der Capelle. Er weinte um seine verbrannte Geige. Als der Tag anbrach, sah ich viele bleiche Gesichter. Ich bemerkte verschiedene junge Mädchen und Frauen der höheren Stände, die den Verlauf des Brandes die ganze Nacht abgewartet hatten und nun in der kalten Morgenluft einiges Frösteln verspürten. Ich ging nach Hause, um ein wenig zu ruhen, dann im Laufe des Vormittags zu Goethe. Der Bediente sagte mir, er sey unwohl und im Bette. Doch ließ Goethe mich in seine Nähe rufen. Er streckte mir seine Hand entgegen. „Wir haben Alle verloren, sagte er, allein was ist zu thun! Mein Wölfchen kam diesen Morgen früh an mein Bette. Er faßte meine Hand, und indem er mich mit großen Augen ansah, sagte er: So geht's den Menschen ! Was läßt sich weiter sagen, als dieses Wort meines lieben Wolf, womit er mich zu trösten suchte. Der Schauplatz meiner fast dreißigjährigen liebevollen Mühe liegt in Schutt und Trümmer. Allein, wie Wolf sagt: So geht's den Menschen! Ich habe die ganze Nacht wenig geschlafen; ich sah aus meinen vorderen Fenstern die Flamme unaufhörlich gegen den Himmel steigen. Sie mögen denken, daß mir mancher Gedanke an die alten Zeiten, an meine vieljährigen Wirkungen mit Schiller, und an das Herankommen und Wachsen manches lieben Zöglings durch die Seele gegangen ist und daß ich nicht ohne einige innere Bewegung davon gekommen bin. Ich denke mich daher heute auch ganz weislich zu Bette zu halten.“ Ich lobte ihn wegen seiner Vorsicht. Doch schien er mir nicht im Geringsten schwach und angegriffen, vielmehr ganz behaglich und heiterer Seele. Es schien mir vielmehr dieses im Bette Liegen eine alte Kriegslist zu seyn, die er bei irgend einem außerordentlichen Ereigniß anzuwenden pflegt, wo er den Zudrang vieler Besuche fürchtet. Goethe bat mich, auf einem Stuhl vor seinem Bette Platz zu nehmen und ein wenig dazubleiben. „Ich habe viel an Euch gedacht und Euch bedauert, sagte er. Was wollt Ihr nun mit Euren Abenden anfan¬ gen!“ Sie wissen, erwiederte ich, wie leidenschaftlich ich das Theater liebe. Als ich vor zwei Jahren hierher kam, kannte ich, außer drei bis vier Stücken, die ich in Hannover gesehen, so gut wie gar nichts. Nun war mir Alles neu, Personal wie Stücke; und da ich nun nach Ihrem Rath mich ganz den Eindrücken der Gegen¬ stände hingab, ohne darüber viel denken und reflectiren zu wollen, so kann ich in Wahrheit sagen, daß ich diese beiden Winter im Theater die harmlosesten, lieblichsten Stunden verlebt habe, die mir je zu Theil geworden. Auch war ich in das Theater so vernarrt, daß ich nicht allein keine Vorstellung versäumte, sondern mir auch Zutritt zu den Proben verschaffte; ja, auch damit noch nicht zufrieden, konnte ich wohl am Tage, wenn ich im Vorbeigehen zufällig die Thüren offen fand, mich halbe Stunden lang auf die leeren Bänke des Parterr's setzen und mir Scenen imaginiren, die man etwa jetzt spielen könnte. „Ihr seid eben ein verrückter Mensch, erwiederte Goethe lachend; aber so hab' ich's gerne. Wollte Gott, das ganze Publicum bestände aus solchen Kindern! — Und im Grunde habt Ihr Recht, es ist was. Wer nicht ganz verwöhnt und hinlänglich jung ist, findet nicht leicht einen Ort, wo es ihm so wohl sein könnte, als im Theater. Man macht an Euch gar keine An¬ sprüche; Ihr braucht den Mund nicht aufzuthun, wenn Ihr nicht wollt, vielmehr sitzt Ihr im völligen Behagen wie ein König und laßt Euch Alles bequem vorführen und Euch Geist und Sinne tractiren, wie Ihr es nur wün¬ schen könnt. Da ist Poesie, da ist Malerei, da ist Gesang und Musik, da ist Schauspielkunst, und was nicht noch Alles! Wenn alle diese Künste und Reize von Jugend und Schönheit an einem einzigen Abend, und zwar auf bedeutender Stufe, zusammenwirken, so giebt es ein Fest, das mit keinem andern zu vergleichen. Wäre aber auch Einiges schlecht und nur Einiges gut, so ist es immer noch mehr, als ob man zum Fenster hinaus sähe, oder in irgend einer geschlossenen Gesellschaft beim Dampf von Cigarren eine Partie Whist spielte. Das Weimar'sche Theater ist, wie Sie fühlen, noch keineswegs zu verachten; es ist immer noch ein alter Stamm aus unserer besten Zeit da, dem sich neuere frische Talente zugebildet haben, und wir können immer noch etwas produciren, das reizt und gefällt und wenig¬ stens den Schein eines Ganzen bietet.“ Ich hätte es vor zwanzig, dreißig Jahren sehen mögen! versetzte ich. „Das war freilich eine Zeit, erwiederte Goethe, die uns mit großen Avantagen zu Hülfe kam. Denken Sie sich, daß die langweilige Periode des französischen Geschmackes damals noch nicht gar lange vorbei und das Publicum noch keineswegs überreizt war, daß Shakspeare noch in seiner ersten Frische wirkte, daß die Opern von Mozart jung, und endlich, daß die Schiller¬ schen Stücke erst von Jahr zu Jahr hier entstanden und auf dem Weimar'schen Theater, durch ihn selber einstudirt, in ihrer ersten Glorie gegeben wurden, und Sie können sich vorstellen, daß mit solchen Gerichten Alte und Junge zu tractiren waren und daß wir immer ein dankbares Publicum hatten.“ Aeltere Personen, bemerkte ich, die jene Zeit erlebt haben, können mir nicht genug rühmen, auf welcher Höhe das Weimar'sche Theater damals gestanden. „Ich will nicht läugnen, erwiederte Goethe, es war etwas. — Die Hauptsache aber war dieses, daß der Großherzog mir die Hände durchaus frei ließ und ich schalten und machen konnte, wie ich wollte. Ich sah nicht auf prächtige Decorationen und eine glänzende Garderobe, aber ich sah auf gute Stücke. Von der Tragödie bis zur Posse, mir war jedes Genre recht; aber ein Stück mußte etwas seyn, um Gnade zu finden. Es mußte groß und tüchtig, heiter und graziös, auf alle Fälle aber gesund seyn und einen gewissen Kern haben. Alles Krankhafte, Schwache, Weinerliche und Sentimentale, sowie alles Schreckliche, Gräuelhafte und die gute Sitte Verletzende war ein- für allemal ausgeschlossen; ich hätte gefürchtet, Schauspieler und Publicum damit zu verderben.“ „Durch die guten Stücke aber hob ich die Schau¬ spieler. Denn das Studium des Vortrefflichen und die fortwährende Ausübung des Vortrefflichen mußte noth¬ wendig aus einem Menschen, den die Natur nicht im Stich gelassen, etwas machen. Auch war ich mit den Schauspielern in beständiger persönlicher Berührung. Ich leitete die Leseproben und machte Jedem seine Rolle deutlich; ich war bei den Hauptproben gegen¬ wärtig und besprach mit ihnen, wie etwas besser zu III . 5 thun; ich fehlte nicht bei den Vorstellungen und bemerkte am andern Tage Alles, was mir nicht recht erschienen.“ „Dadurch brachte ich sie in ihrer Kunst weiter. — Aber ich suchte auch den ganzen Stand in der äußern Achtung zu heben, indem ich die Besten und Hoffnungs¬ vollsten in meine Kreise zog und dadurch der Welt zeigte, daß ich sie eines geselligen Verkehrs mit mir werth achtete. Hierdurch geschah aber, daß auch die übrige höhere Weimar'sche Gesellschaft hinter mir nicht zurückblieb und daß Schauspieler und Schau¬ spielerinnen in die besten Zirkel bald einen ehrenvollen Zutritt gewannen. Durch Alles mußte für sie eine große innere wie äußere Cultur hervorgehen. Mein Schüler Wolf in Berlin, sowie unser Dürand, sind Leute von dem feinsten geselligen Tact. Herr Oels und Graff haben hinreichende höhere Bildung, um der besten Gesellschaft Ehre zu machen.“ „Schiller verfuhr in demselbigen Sinne, wie ich. Er verkehrte mit Schauspielern und Schauspielerinnen sehr viel. Er war gleich mir bei allen Proben gegen¬ wärtig, und nach jeder gelungenen Vorstellung von einem seiner Stücke pflegte er sie zu sich einzuladen und sich mit ihnen einen guten Tag zu machen. Man freuete sich gemeinsam an dem, was gelungen, und besprach sich über das, was etwa das nächstemal besser zu thun sey. Aber schon als Schiller bei uns eintrat, fand er Schauspieler wie Publicum bereits im hohen Grade gebildet vor und es ist nicht zu leugnen, daß es dem raschen Erfolg seiner Stücke zu Gute kam.“ Es machte mir viele Freude, Goethe so ausführlich über einen Gegenstand sprechen zu hören, der für mich immer ein großes Interesse hatte und der besonders durch das Unglück dieser Nacht bei mir obenauf war. Der heutige Brand des Hauses, sagte ich, in welchem Sie und Schiller eine lange Reihe von Jahren so viel Gutes gewirkt, beschließt gewissermaßen auch äußerlich eine große Epoche, die für Weimar so bald nicht zurück¬ kommen dürfte. Sie müssen doch in jener Zeit bei Ihrer Leitung des Theaters und bei dem außerordent¬ lichen Erfolg den es hatte, viele Freude erlebt haben! „Auch nicht geringe Last und Noth!“ erwiederte Goethe mit einem Seufzer. Es mag schwer seyn, sagte ich, ein so vielköpfiges Wesen in gehöriger Ordnung zu halten. „Sehr viel, erwiederte Goethe, ist zu erreichen durch Strenge, mehr durch Liebe. Das Meiste aber durch Einsicht und eine unparteiische Gerechtigkeit, bei der kein Ansehen der Person gilt.“ „Ich hatte mich vor zwei Feinden zu hüten, die mir hätten gefährlich werden können. Das Eine war meine leidenschaftliche Liebe des Talents, das leicht in den Fall kommen konnte, mich parteiisch zu machen. Das Andere will ich nicht aussprechen, aber Sie werden es errathen. Es fehlte bei unserm Theater nicht an 5* Frauenzimmern, die schön und jung und dabei von großer Anmuth der Seele waren. — Ich fühlte mich zu Mancher leidenschaftlich hingezogen; auch fehlte es nicht, daß man mir auf halbem Wege entgegenkam. Allein ich faßte mich und sagte: Nicht weiter ! — Ich kannte meine Stellung und wußte, was ich ihr schuldig war. Ich stand hier nicht als Privatmann, sondern als Chef einer Anstalt, deren Gedeihen mir mehr galt, als mein augenblickliches Glück. Hätte ich mich in irgend einen Liebeshandel eingelassen, so würde ich geworden seyn wie ein Compaß, der unmöglich recht zeigen kann, wenn er einen einwirkenden Magnet an seiner Seite hat.“ „Dadurch aber, daß ich mich durchaus rein erhielt und immer Herr meiner Selbst blieb, blieb ich auch Herr des Theaters, und es fehlte mir nie die nöthige Achtung, ohne welche jede Autorität sehr bald dahin ist.“ Dieses Bekenntniß Goethe's war mir sehr merk¬ würdig. Ich hatte bereits von Andern etwas Aehn¬ liches über ihn vernommen und freuete mich, jetzt aus seinem eigenen Munde die Bestätigung zu hören. Ich liebte ihn mehr als je, und verließ ihn mit einem herz¬ lichen Händedruck. Ich ging nach der Brandstelle zurück, wo aus dem großen Trümmerhaufen noch Flammen und Qualm¬ säulen emporstiegen. Man war noch fortwährend mit Löschen und Auseinanderzerren beschäftigt. Ich fand in der Nähe angebrannte Stücke einer geschriebenen Rolle. Es waren Stellen aus Goethe's Tasso. Donnerstag, den 24. März 1825. Bei Goethe zu Tisch. Der Verlust des Theaters bildete fast den ausschließlichen Gegenstand des Ge¬ sprächs. Frau v. Goethe und Fräulein Ulrike lebten in Erinnerung glücklicher Stunden, die sie in dem alten Hause genossen. Sie hatten sich aus dem Schutt einige Reliquien gesucht, die sie für unschätzbar hielten; es war aber am Ende weiter nichts, als einige Steine und angebrannte Stücke einer Tapete. Aber diese Stücke sollten gerade von der Stelle seyn, wo sie auf dem Balcon ihre Plätze gehabt! „Die Hauptsache ist, sagte Goethe, daß man sich schnell fasse und sich so schnell als möglich wieder einrichte. — Ich würde schon in nächster Woche wieder spielen lassen. Im Fürstenhause, oder im großen Saale des Stadthauses, gleichviel. Nur darf keine zu lange Pause eintreten, damit das Publicum für seine lang¬ weiligen Abende sich nicht erst andere Ressourcen suche.“ Aber von Decorationen ist ja so gut wie gar nichts gerettet! bemerkte man. „Es bedarf keiner vielen Decorationen, erwiederte Goethe. Auch bedarf es keiner großen Stücke. Auch ist gar nicht nöthig, daß man ein Ganzes gebe, noch weniger ein großes Ganze. Die Hauptsache ist, daß man Sachen wähle, bei denen kein großer Ortswechsel stattfindet. Irgend ein einactiges Lustspiel, oder eine einactige Posse oder Operette. Dann irgend eine Arie, irgend ein Duett, irgend ein Finale einer beliebten Oper, — und Ihr werdet schon ganz passabel zufrieden seyn. Es ist nur, daß der April leidlich vorüber gehe, im May habt Ihr schon die Sänger des Waldes.“ „Indessen, fuhr Goethe fort, werdet Ihr das Schauspiel haben, im Laufe der Sommermonate ein neues Haus hervorsteigen zu sehen. Dieser Brand ist mir sehr merkwürdig. Ich will Euch nur verrathen, daß ich die langen Abendstunden des Winters mich mit Coudray beschäftigt habe, den Riß eines für Weimar passenden neuen schönen Theaters zu machen. Wir hatten uns von einigen der vorzüglichsten deutschen Theater Grund- und Durchschnitts-Risse kommen lassen, und indem wir daraus das Beste benutzten und das uns fehlerhaft Scheinende vermieden, haben wir einen Riß zu Stande gebracht, der sich wird können sehen lassen. Sobald der Großherzog ihn genehmigt, kann mit dem Bau begonnen werden, und es ist keine Klei¬ nigkeit, daß dieses Unheil uns sehr merkwürdigerweise so durchaus vorbereitet findet.“ Wir begrüßten diese Nachricht Goethe's mit großer Freude. In dem alten Hause, fuhr Goethe fort, war für den Adel gesorgt durch den Balcon, und für die dienende Klasse und jungen Handwerker durch die Gallerie. Die große Zahl des wohlhabenden und vornehmen Mittel¬ standes aber war oft übel daran; denn wenn bei gewissen Stücken das Parterre durch die Studenten eingenommen war, so wußten Jene nicht, wohin. Die paar kleinen Logen hinter dem Parterre und die wenigen Bänke des Parkets waren nicht hinreichend. Jetzt haben wir besser gesorgt. Wir lassen eine ganze Reihe Logen um das Parterre laufen und bringen zwischen Balcon und Gallerie noch eine Reihe Logen zweiten Ranges. Dadurch gewinnen wir sehr viel Platz, ohne das Haus sonderlich zu vergrößern.“ Wir freueten uns dieser Nachricht und lobten Goethe, daß er es so gut mit dem Theater und Publicum im Sinne habe. Um auch meinerseits für das hübsche künftige Theater etwas zu thun, ging ich nach Tisch mit meinem Freunde Robert Doolan nach Oberweimar, wo wir in der dor¬ tigen Schenke bei einer Tasse Caffee anfingen, nach der Issipile des Metastasio einen Operntext zu bilden. Unser Erstes war, vor allen Dingen den Comödien¬ zettel zu schreiben und das Stück mit den beliebtesten Sängern und Sängerinnen des Weimar'schen Theaters zu besetzen. Große Freude machte uns dieß. Es war fast, als säßen wir schon wieder vor dem Orchester. Dann fingen wir wirklich in allem Ernste an und vollendeten einen großen Theil des ersten Actes. Sonntag, den 27. März 1825. Bei Goethe zu Tisch in größerer Gesellschaft. Er zeigte uns den Riß des neuen Theaters. Er war so wie er uns vor einigen Tagen gesagt hatte; der Riß versprach sowohl für das Aeußere als das Innere ein sehr schönes Haus. Es ward bemerkt, daß ein so hübsches Theater auch schöne Decorationen und bessere Anzüge als bisher verlange. Auch war man der Meinung, daß auch das Personal anfange, nach und nach lückenhaft zu werden, und daß sowohl für das Schauspiel als die Oper einige ausgezeichnete junge Mitglieder müßten engagirt werden. Zugleich aber verhehlte man sich nicht, daß alles dieses mit einem bedeutenden Kostenaufwande verbunden sey, wozu die bisherigen Mittel der Casse nicht reichen dürften. „Ich weiß recht gut, fiel Goethe ein, man wird, unter dem Vorwand die Casse zu schonen, einige Per¬ sönchen engagiren, die nicht viel kosten. Aber man denke nur nicht mit solchen Maßregeln der Casse zu nützen. Nichts schadet der Casse mehr, als in solchen wesentlichen Dingen sparen zu wollen. Man muß daran denken, jeden Abend ein volles Haus zu bekommen. Und da thut ein junger Sänger, eine junge Sängerin, ein tüchtiger Held und eine tüchtige junge Heldin von ausgezeichnetem Talent und einiger Schönheit sehr viel. Ja, stände ich noch an der Spitze der Leitung, ich würde jetzt zum Besten der Casse noch einen Schritt weiter gehen, und Ihr solltet erfahren, daß mir das nöthige Geld nicht ausbliebe.“ Man fragte Goethe, was er zu thun im Sinne habe. „Ein ganz einfaches Mittel würde ich anwenden, erwiederte er. Ich würde auch die Sonntage spielen lassen. Dadurch hätte ich die Einnahme von wenig¬ stens vierzig Theaterabenden mehr, und es müßte schlimm seyn, wenn die Casse dabei nicht jährlich zehn bis funfzehn Tausend Thaler gewinnen sollte.“ Diesen Ausweg fand man sehr praktisch. Es kam zur Erwähnung, daß die große arbeitende Klasse, die an den Wochentagen gewöhnlich bis spät in die Nacht beschäftiget sey, den Sonntag als einzigen Erholungs¬ tag habe, wo sie denn das edlere Vergnügen des Schauspiels dem Tanz und Bier in einer Dorfschenke sicher vorziehen würde. Auch war man der Meinung, daß sämmtliche Pächter und Gutsbesitzer, sowie die Beam¬ ten und wohlhabenden Einwohner der kleinen Städte in der Umgegend, den Sonntag als einen erwünschten Tag ansehen würden, um in das Weimar'sche Theater zu fahren. Auch sey bisher der Sonntagabend in Weimar für Jeden, der nicht an Hof gehe, oder nicht Mitglied eines glücklichen Familienkreises oder einer geschlossenen Gesellschaft sey, sehr schlimm und langwei¬ lig; denn der Einzelne wisse nicht wohin. Und doch mache man Ansprüche, als müsse am Abend eines Sonn¬ tags sich irgend ein Ort finden lassen, wo es Einem wohl sey und man die Plage der Woche vergesse. Goethe's Gedanke, auch die Sonntage spielen zu lassen, wie es in den übrigen deutschen Städten üblich, fand also die vollkommenste Zustimmung und ward als ein sehr glücklicher begrüßt. Nur erhob sich ein leiser Zweifel, ob es auch dem Hofe recht seyn würde. „Der Weimar'sche Hof, erwiederte Goethe, ist zu gut und weise, als daß er eine Maßregel hindern sollte, die zum Wohl der Stadt und einer bedeutenden Anstalt gereicht. Der Hof wird gewiß gern das kleine Opfer bringen und seine Sonntags-Soir é en auf einen anderen Tag verlegen. Wäre dieß aber nicht annehm¬ lich, so gäbe es ja für die Sonntage Stücke genug, die der Hof ohnedieß nicht gerne sieht, die aber für das eigentliche Volk durchaus geeignet sind und ganz trefflich die Casse füllen.“ Das Gespräch wendete sich auf die Schauspieler und es ward über den Gebrauch und Mißbrauch ihrer Kräfte sehr viel hin und wieder geredet. „Ich habe in meiner langen Praxis, sagte Goethe, als Hauptsache gefunden, daß man nie ein Stück oder gar eine Oper einstudiren lassen solle, wovon man nicht einen guten Succeß auf Jahre hin mit einiger Bestimmtheit voraussieht. Niemand bedenkt hinreichend das Aufgebot von Kräften, die das Einstudiren eines fünfactigen Stückes oder gar einer Oper von gleicher Länge in Anspruch nimmt. Ja, Ihr Lieben, es gehört viel dazu, ehe ein Sänger eine Partie durch alle Scenen und Acte durchaus inne habe, und sehr viel, ehe die Chöre gehen, wie sie gehen müssen. Es kann mich gelegentlich ein Grauen überfallen, wenn ich höre, wie leichtsinnig man oft den Befehl zum Einstudiren einer Oper giebt, von deren Succeß man eigentlich nichts weiß und wovon man nur durch einige sehr unsichere Zeitungsnachrichten gehört hat. Da wir in Deutschland schon ganz leidliche Posten besitzen, ja sogar anfangen Schnellposten zu bekommen, so würde ich bei der Nachricht von irgend einer auswärts gege¬ benen und gepriesenen neuen Oper den Regisseur oder ein anderes zuverlässiges Mitglied der Bühne an Ort und Stelle schicken, damit er sich durch seine persönliche Gegenwart bei einer wirklichen Aufführung überzeuge, inwiefern die gepriesene neue Oper gut und tüchtig, und inwiefern unsere Kräfte dazu hinreichen oder nicht. Die Kosten einer solchen Reise kommen gar nicht in Betracht in Vergleich der enormen Vortheile, die da¬ durch erreicht, und der unseligen Mißgriffe, die dadurch verhütet werden.“ „Und dann, ist einmal ein gutes Stück oder eine gute Oper einstudirt, so soll man sie in kurzen Zwischen¬ pausen so lange hintereinander geben, als sie irgend zieht und irgend das Haus füllet. Dasselbe gilt von einem guten älteren Stück oder einer guten älteren Oper, die vielleicht seit Jahr und Tag geruhet hat und nun gleichfalls eines nicht geringen erneueten Studiums bedurfte, um wieder mit Succeß gegeben werden zu können. Eine solche Vorstellung soll man in kurzen Zwischenpausen gleichfalls so oft wiederholen, als das Publicum irgend sein Interesse daran zu er¬ kennen giebt. Die Sucht, immer etwas Neues haben und ein mit unsäglicher Mühe einstudirtes gutes Stück oder Oper nur einmal, höchstens zweimal sehen zu wollen, oder auch zwischen solchen Wiederholungen lange Zeiträume von sechs bis acht Wochen verstreichen zu lassen, wo denn immer wieder ein neues Studium nöthig wird, ist ein wahrer Verderb des Theaters und ein Mißbrauch der Kräfte des ausübenden Personals, der gar nicht zu verzeihen ist.“ Goethe schien diese Angelegenheit so wichtig zu halten und sie schien ihm so sehr am Herzen zu liegen, daß er darüber in eine Wärme gerieth, wie sie ihn bei seiner großen Ruhe selten anwandelt. „In Italien, fuhr Goethe fort, giebt man eine und dieselbige Oper vier bis sechs Wochen lang jeden Abend und die italienischen großen Kinder verlangen darin keineswegs eine Aenderung. Der gebildete Pariser sieht die classischen Stücke seiner großen Dichter so oft, daß er sie auswendig weiß und für die Betonung einer jeden Sylbe ein geübtes Ohr hat. Hier in Weimar hat man mir wohl die Ehre erzeigt, meine Iphigenie und meinen Tasso zu geben; allein wie oft? — Kaum alle drei bis vier Jahre einmal. Das Publicum findet sie langweilig. Sehr begreiflich! Die Schauspieler sind nicht geübt, die Stücke zu spielen, und das Publi¬ cum ist nicht geübt, sie zu hören. Würden die Schau¬ spieler durch öftere Wiederholung sich in ihre Rollen so hineinspielen, daß die Darstellung ein Leben gewönne, als wäre es nicht eingelernt, sondern als entquölle Alles aus ihrem eigenen Herzen, so würde das Publicum sicher auch nicht ohne Interesse und ohne Empfindung bleiben.“ „Ich hatte wirklich einmal den Wahn, als sey es möglich, ein deutsches Theater zu bilden. Ja ich hatte den Wahn, als könne ich selber dazu beitragen und als könne ich zu einem solchen Bau einige Grundsteine legen. Ich schrieb meine Iphigenie und meinen Tasso und dachte in kindischer Hoffnung, so würde es gehen. Allein es regte sich nicht und rührte sich nicht und blieb Alles wie zuvor. — Hätte ich Wirkung gemacht und Beifall gefunden, so würde ich Euch ein ganzes Dutzend Stücke wie die Iphigenie und den Tasso geschrieben haben. An Stoff war kein Mangel. Allein, wie gesagt, es fehlten die Schauspieler, um dergleichen mit Geist und Leben darzustellen, und es fehlte das Publicum, dergleichen mit Empfindung zu hören und aufzunehmen.“ Mittwoch, den 30. März 1825. Abends großer Thee bei Goethe, wo ich außer den hiesigen jungen Engländern auch einen jungen Ameri¬ kaner fand. Auch hatte ich die Freude, Gräfin Julie von Egloffstein zu sehen und mit ihr allerlei gute Unterhaltung zu führen. Mittwoch, den 6. April 1825. Man hatte Goethe's Rath befolgt und spielte heute Abend zuerst im großen Saale des Stadthauses, und zwar gab man kleine Sachen und Bruchstücke, wie das beschränkte Local und der Mangel an Decorationen es bedingte. Die kleine Oper, „das Hausgesinde,“ gelang vollkommen so gut, wie im Theater. Sodann ein belieb¬ tes Quartett aus der Oper „Graf von Gleichen“ von Eberwein ward mit entschiedenem Beifall aufgenommen. Unser erster Tenor, Herr Moltke, sang darauf ein oft vernommenes Lied aus der Zauberflöte, worauf, nach einer Pause, das große Finale des ersten Actes von Don Juan mächtig eintrat und so dieses heutige erste Surrogat eines Abends im Theater grandios und wür¬ dig beschloß. Sonntag, den 10. April 1825. Bei Goethe zu Tisch. „Ich habe Euch die gute Nachricht zu vermelden, sagte er, daß der Großherzog unsern Riß des neuen Theaters genehmigt hat und daß mit Legung des Grundes ungesäumt begonnen wird.“ Ich war über diese Eröffnung sehr froh. „Wir hatten mit allerlei Gegenwirkungen zu kämpfen, fuhr Goethe fort, allein wir sind zuletzt glücklich durch¬ gedrungen. Wir haben dabei sehr viel dem Geheimen¬ rath Schweitzer zu verdanken, der, wie sich von ihm erwarten ließ, mit tüchtiger Gesinnung treu auf unserer Seite stand. Der Riß ist vom Großherzog eigenhän¬ dig unterschrieben und erleidet nunmehr keine weitere Aenderung. Freuet Euch also, denn Ihr bekommt ein sehr gutes Theater.“ Donnerstag, den 14. April 1825. Abends bei Goethe. Da unsere Gespräche über Theater und Theaterleitung einmal an der Zeit waren, so fragte ich ihn, nach welchen Maximen er bei der Wahl eines neuen Mitglieds verfahren. „Ich könnte es kaum sagen, erwiederte Goethe. Ich verfuhr sehr verschieden. Ging dem neuen Schauspieler ein bedeutender Ruf voran, so ließ ich ihn spielen und sah wie er sich zu den Andern passe, ob seine Art und Weise unser Ensemble nicht störe, und ob durch ihn überhaupt bei uns eine Lücke ausgefüllt werde. War es aber ein junger Mensch, der zuvor noch keine Bühne betreten, so sah ich zunächst auf seine Persönlichkeit, ob ihm etwas für sich Einnehmendes, Anziehendes, inwohne, und vor allen Dingen, ob er sich in der Gewalt habe. Denn ein Schauspieler, der keine Selbstbeherrschung besitzt und sich einem Fremden gegenüber nicht so zeigen kann, wie er es für sich am günstigsten hält, hat über¬ haupt wenig Talent. Sein ganzes Metier verlangt ja ein fortwährendes Verläugnen seiner selbst und ein fortwährendes Eingehen und Leben in einer fremden Maske! —“ „Wenn mir nun sein Aeußeres und sein Benehmen gefiel, so ließ ich ihn lesen, um sowohl die Kraft und den Umfang seines Organs, als auch die Fähigkeiten seiner Seele zu erfahren. Ich gab ihm etwas Erhabe¬ nes eines großen Dichters, um zu sehen, ob er das wirklich Große zu empfinden und auszudrücken fähig; dann etwas Leidenschaftliches, Wildes, um seine Kraft zu prüfen. Dann ging ich wohl zu etwas klar Ver¬ ständigem, Geistreichen, Ironischen, Witzigen über, um zu sehen, wie er sich bei solchen Dingen benehme und ob er hinlängliche Freiheit des Geistes besitze. Dann gab ich ihm etwas, worin der Schmerz eines verwunde¬ ten Herzens, das Leiden einer großen Seele dargestellt war, damit ich erführe, ob er auch den Ausdruck des Rührenden in seiner Gewalt habe.“ „Genügte er mir nun in allen diesen mannigfaltigen Richtungen, so hatte ich gegründete Hoffnung, aus ihm einen sehr bedeutenden Schauspieler zu machen. War er in einigen Richtungen entschieden besser, als in andern, so merkte ich mir das Fach, für welches er sich vorzugs¬ weise eigne. Auch kannte ich jetzt seine schwachen Seiten und suchte bei ihm vor Allem dahin zu wirken, daß er diese stärke und ausbilde. Bemerkte ich Fehler des Dialekts und sogenannte Provincialismen, so drang ich darauf, daß er sie ablege, und empfahl ihm zu geselligem Umgange und freundlicher Uebung ein Mitglied der Bühne, das davon durchaus frei war. Dann fragte ich ihn, ob er tanzen und fechten könne, und wenn dieses nicht der Fall, so übergab ich ihn auf einige Zeit dem Tanz- und Fechtmeister.“ „War er nun so weit, um auftreten zu können, so gab ich ihm zunächst solche Rollen, die seiner Indi¬ vidualität gemäß waren, und ich verlangte vorläufig nichts weiter, als daß er sich selber spiele. Erschien er mir nun etwas zu feuriger Natur, so gab ich ihm phleg¬ matische, erschien er mir aber zu ruhig und langsam, so gab ich ihm feurige, rasche Charaktere, damit er lerne, sich selber abzulegen und in eine fremde Persönlichkeit einzugehen.“ Die Unterhaltung wendete sich auf die Besetzung von Stücken, wobei Goethe unter Anderem Folgendes aussprach, welches mir merkwürdig erschien. III . 6 „Es ist ein großer Irrthum, sagte er, wenn man denkt, ein mittelmäßiges Stück auch mit mittelmäßigen Schauspielern besetzen zu können. Ein Stück zweiten, dritten Ranges kann durch Besetzung mit Kräften ersten Ranges unglaublich gehoben und wirklich zu etwas Gu¬ tem werden. Wenn ich aber ein Stück zweiten, dritten Ranges auch mit Schauspielern zweiten, dritten Ranges besetze, so wundere man sich nicht, wenn die Wirkung vollkommen null ist.“ „Schauspieler secondärer Art sind ganz vortrefflich in großen Stücken. Sie wirken dann wie in einem Gemälde, wo die Figuren im Halbschatten ganz herrliche Dienste thun, um diejenigen, welche das volle Licht haben, noch mächtiger erscheinen zu lassen.“ Sonnabend, den l6. April 1825. Bei Goethe zu Tisch mit D'Alton , dessen Bekannt¬ schaft ich vorigen Sommer in Bonn gemacht und welchen wiederzusehen ich große Freude hatte. D'Alton ist ganz ein Mann nach Goethe's Sinne; auch findet zwischen Beiden ein sehr schönes Verhältniß statt. In seiner Wissenschaft erscheint er von großer Bedeutung, so daß Goethe seine Aeußerungen werth hält und jedes seiner Worte beachtet. Dabei ist D'Alton als Mensch liebens¬ würdig, geistreich, und von einer Redegabe und einer Fülle hervorquellender Gedanken, daß er wohl Wenige seines Gleichen hat, und man nicht satt wird ihm zu¬ zuhören. Goethe, der in seinen Bestrebungen, die Natur zu ergründen, gern das All umfassen möchte, steht gleich¬ wohl gegen jeden einzelnen Naturforscher von Bedeu¬ tung, der ein ganzes Leben einer speciellen Richtung widmet, im Nachtheil. Bei diesem findet sich die Be¬ herrschung eines Reiches unendlichen Details, während Goethe mehr in der Anschauung allgemeiner großer Gesetze lebt. Daher kommt nun, daß Goethe, der immer irgend einer großen Synthese auf der Spur ist, dem aber, aus Mangel an Kenntniß der einzelnen Facta, die Bestätigung seiner Ahnungen fehlt, mit so entschiedener Liebe jedes Verhältniß zu bedeutenden Naturforschern ergreift und festhält. Denn bei ihnen findet er was ihm mangelt, bei ihnen findet er die Ergänzung dessen, was bei ihm selber lückenhaft ge¬ blieben. Er wird nun in wenigen Jahren achtzig Jahre alt, aber des Forschens und Erfahrens wird er nicht satt. In keiner seiner Richtungen ist er fertig und abgethan; er will immer weiter, immer weiter! immer lernen, immer lernen! und zeigt sich eben dadurch als ein Mensch von einer ewigen, ganz unverwüstlichen Jugend. Diese Betrachtungen wurden bei mir diesen Mittag bei seiner lebhaften Unterhaltung mit D'Alton ange¬ regt. D'Alton sprach über die Nagethiere und die Bildungen und Modificationen ihrer Skelette, und 6 * Goethe konnte nicht satt werden, immer noch mehr einzelne Facta zu vernehmen. Mittwoch, den 27. April 1825. Gegen Abend zu Goethe, der mich zu einer Spazier¬ fahrt in den untern Garten hatte einladen lassen. „Ehe wir fahren, sagte er, will ich Ihnen doch einen Brief von Zelter geben, den ich gestern erhalten, und worin er auch unsere Theaterangelegenheit berührt.“ „Daß Du der Mann nicht bist, schreibt Zelter unter Anderem, dem Volk in Weimar ein Theater zu bauen, hätte ich Dir schon eher angesehen. Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen. Das möchten nur auch andere Hoheiten bedenken, die den Wein in der Gohre pfropfen wollen. Freunde, wir habens erlebt, ja erleben es.“ Goethe sah mich an und wir lachten. „Zelter ist brav und tüchtig, sagte er, aber er kommt mitunter in den Fall, mich nicht ganz zu verstehen und meinen Worten eine falsche Auslegung zu geben.“ „Ich habe dem Volk und dessen Bildung mein gan¬ zes Leben gewidmet, warum sollte ich ihm nicht auch ein Theater bauen! — Allein hier in Weimar, in dieser kleinen Residenz, die, wie man scherzhafterweise sagt, zehntausend Poeten und einige Einwohner hat, wie kann da viel von Volk die Rede seyn, — und nun gar von einem Volks-Theater! — Weimar wird ohne Zweifel einmal eine recht große Stadt werden, allein wir können immer noch einige Jahrhunderte warten, bis das Weimar'sche Volk eine hinlängliche Masse bildet, um ein Theater bauen und erhalten zu können.“ Es war indessen angespannt und wir fuhren in den untern Garten. Der Abend war still und milde, fast etwas schwül, und es zeigten sich große Wolken, die sich gewitterhaft zu Massen zusammenzogen. Wir gingen in dem trockenen Sandwege auf und ab, Goethe still neben mir, scheinbar von allerlei Gedanken bewegt. Ich horchte indeß auf die Töne der Amsel und Drossel, die auf den Spitzen der noch unbelaubten Eschen jenseit der Ilm dem sich bildenden Gewitter entgegen sangen. Goethe ließ seine Blicke umherschweifen, bald an den Wolken, bald über das Grün hin, das überall an den Seiten des Weges und auf der Wiese, wie an Bü¬ schen und Hecken, mächtig hervorquoll. „Ein warmer Gewitterregen, wie der Abend es verspricht, sagte er, und der Frühling wird in der ganzen Pracht und Fülle abermals wieder daseyn.“ Indessen ward das Gewölk drohender, man hörte ein dumpfes Donnern, auch einige Tropfen fielen, und Goethe fand es gerathen, wieder in die Stadt zurückzu¬ fahren. „Wenn Sie nichts vorhaben, sagte er, als wir an seiner Wohnung abstiegen, so gehen Sie wohl mit hinauf und bleiben noch ein Stündchen bei mir.“ Wel¬ ches denn mit großer Freude von mir geschah. Zelter's Brief lag noch auf dem Tische. „Es ist wunderlich, gar wunderlich, sagte Goethe, wie leicht man zu der öffentlichen Meinung in eine falsche Stellung geräth! — Ich wüßte nicht, daß ich je etwas gegen das Volk gesündigt, aber ich soll nun ein- für allemal kein Freund des Volkes seyn. Freilich bin ich kein Freund des revolutionären Pöbels, der auf Raub, Mord und Brand ausgeht, und hinter dem falschen Schilde des öffentlichen Wohles nur die gemeinsten egoistischen Zwecke im Auge hat. Ich bin kein Freund solcher Leute, ebensowenig als ich ein Freund eines Ludwigs des Funfzehnten bin. Ich hasse jeden gewaltsamen Um¬ sturz, weil dabei ebensoviel Gutes vernichtet, als gewonnen wird. Ich hasse die, welche ihn ausführen, wie die, welche dazu Ursache geben. Aber bin ich darum kein Freund des Volkes? — Denkt denn jeder rechtlich gesinnte Mann etwa anders?“ „Sie wissen, wie sehr ich mich über jede Verbesserung freue, welche die Zukunft uns etwa in Aussicht stellt. Aber, wie gesagt, jedes Gewaltsame, Sprunghafte, ist mir in der Seele zuwider, denn es ist nicht natur¬ gemäß .“ „Ich bin ein Freund der Pflanze, ich liebe die Rose, als das Vollkommenste, was unsere deutsche Natur als Blume gewähren kann; aber ich bin nicht Thor genug, um zu verlangen, daß mein Garten sie mir schon jetzt, Ende April, gewähren soll. Ich bin zufrieden, wenn ich jetzt die ersten grünen Blätter finde; zufrieden, wenn ich sehe, wie ein Blatt nach dem andern den Stengel von Woche zu Woche weiter bildet; ich freue mich, wenn ich im Mai die Knospe sehe, und bin glück¬ lich, wenn endlich der Juni mir die Rose selbst in aller Pracht und in allem Duft entgegen reicht. Kann aber Jemand die Zeit nicht erwarten, der wende sich an die Treibhäuser.“ „Nun heißt es wieder, ich sey ein Fürstendiener, ich sey ein Fürstenknecht. — Als ob damit etwas gesagt wäre! — Diene ich denn etwa einem Tyrannen? einem Despoten? — Diene ich denn etwa einem Solchen, der auf Kosten des Volkes nur seinen eigenen Lüsten lebt? — Solche Fürsten und solche Zeiten liegen gottlob längst hinter uns. Ich bin dem Großherzog seit einem halben Jahrhundert auf das innigste verbunden und habe ein halbes Jahrhundert mit ihm gestrebt und gearbeitet; aber lügen müßte ich, wenn ich sagen wollte, ich wüßte einen einzigen Tag, wo der Großherzog nicht daran gedacht hatte, etwas zu thun und auszuführen, das dem Lande zum Wohl gereichte und das geeignet wäre, den Zustand des Einzelnen zu verbessern. — Für sich per¬ sönlich, was hatte er denn von seinem Fürstenstande als Last und Mühe! — Ist seine Wohnung, seine Kleidung und seine Tafel etwa besser bestellt, als die eines wohl¬ habenden Privatmannes? — Man gehe nur in unsere Seestädte und man wird Küche und Keller eines angesehenen Kaufmannes besser bestellt finden, als die seinigen.“ „Wir werden, fuhr Goethe fort, diesen Herbst den Tag feiern, an welchem der Großherzog seit funfzig Jahren regiert und geherrscht hat. Allein, wenn ich es recht bedenke, dieses sein Herrschen, was war es weiter, als ein beständiges Dienen! Was war es, als ein Dienen in Erreichung großer Zwecke, ein Dienen zum Wohl seines Volkes! — Soll ich denn also mit Gewalt ein Fürstenknecht seyn, so ist es wenigstens mein Trost, daß ich doch nur der Knecht eines Solchen bin, der selber ein Knecht des allgemeinen Besten ist.“ Freitag, den 29. April 1825. Der Bau des neuen Theaters war diese Zeit her rasch vorgeschritten, die Grundmauern stiegen schon überall empor und ließen ein baldiges sehr schönes Gebäude hoffen. Heute aber, als ich den Bauplatz besuchte, sah ich zu meinem Schrecken, daß die Arbeit eingestellt war; auch hörte ich gerüchtweise, daß eine andere Partei gegen Goethe's und Coudray's Plan noch endlich obgesiegt habe, daß Coudray von der Leitung des Baues zurück¬ trete und daß ein anderer Architekt nach einem neuen Riß den Bau ausführen und den bereits gelegten Grund danach ändern werde. Dieses zu sehen und zu hören betrübte mich tief; denn ich hatte mich mit Vielen darauf gefreut, in Wei¬ mar ein Theater entstehen zu sehen, das nach Goethe's praktischer Ansicht von einer zweckmäßigen innern Ein¬ richtung ausgeführt und hinsichtlich der Schönheit seinem hochgebildeten Geschmack gemäß seyn würde. Aber auch wegen Goethe und Coudray betrübte es mich, die durch dieses Weimar'sche Ereigniß sich Beide mehr oder weniger verletzt fühlen mußten. Sonntag, den 1. Mai 1825. Bei Goethe zu Tisch. Es ist zu denken, daß der veränderte Theaterbau das Erste war, das zwischen uns zur Sprache kam. Ich hatte, wie gesagt, gefürchtet, daß die höchst unerwartete Maßregel Goethe tief ver¬ letzen würde. Allein keine Spur! — Ich fand ihn in der mildesten, heitersten Stimmung, durchaus über jede kleine Empfindlichkeit erhaben. „Man hat, sagte er, dem Großherzog von Seiten des Kosten-Punktes und großer Ersparungen, die bei dem veränderten Bauplan zu machen, beizukommen gesucht, und es ist ihnen gelungen. Mir kann es ganz recht seyn. Ein neues Theater ist am Ende doch immer nur ein neuer Scheiterhaufen, den irgend ein Ungefähr über kurz oder lang wieder in Brand steckt. Damit tröste ich mich. Uebrigens ein Bißchen mehr oder weniger, ein Bißchen auf oder ab, ist nicht der Rede werth. Ihr werdet immerhin ein ganz leidliches Haus bekommen, wenn auch nicht gerade so, wie ich es mir gewünscht und gedacht hatte. Ihr werdet hineingehen, und ich werde auch hineingehen, und es wird am Ende Alles ganz artig ausfallen.“ „Der Großherzog, fuhr Goethe fort, äußerte gegen mich die Meinung, ein Theater brauche keines¬ wegs ein architektonisches Prachtwerk zu seyn; wogegen im Ganzen freilich nichts einzuwenden. Er meinte ferner, es sey doch immer nur ein Haus, das den Zweck habe, Geld zu verdienen . Diese Ansicht klingt beim ersten Anhören etwas materiell; allein es fehlt ihr, recht bedacht, auch keineswegs eine höhere Seite. Denn will ein Theater nicht bloß zu seinen Kosten kommen, sondern obendrein noch Geld erübrigen und Geld verdienen, so muß eben Alles durchaus ganz vortrefflich seyn. Es muß die beste Leitung an der Spitze haben, die Schauspieler müssen durchweg zu den besten gehören, und man muß fortwährend so gute Stücke geben, daß nie die Anziehungskraft ausgehe, welche dazu gehört, um jeden Abend ein volles Haus zu machen. Das ist aber mit wenigen Worten sehr viel gesagt und fast das Unmögliche.“ Die Ansicht des Großherzogs, sagte ich, mit dem Theater Geld verdienen zu wollen, scheint also eine durchaus praktische zu seyn, indem in ihr eine Nöthi¬ gung liegt, sich fortwährend auf der Höhe des Vortreff¬ lichen zu erhalten. „Shakspeare und Moliere, erwiederte Goethe, hatten auch keine andere. Beide wollten auch vor allen Dingen mit ihren Theatern Geld verdienen. Damit sie aber diesen ihren Hauptzweck erreichten, mußten sie dahin trachten, daß fortwährend Alles im besten Stande und neben dem alten Guten immer von Zeit zu Zeit etwas tüchtiges Neues dasey, das reize und anlocke. Das Verbot des Tartüff war für Moliere ein Donner¬ schlag; aber nicht sowohl für den Poeten, als für den Director Moliere, der für das Wohl einer bedeuten¬ den Truppe zu sorgen hatte, und der sehen mußte, wie er für sich und die Seinigen Brod schaffte.“ „Nichts, fuhr Goethe fort, ist für das Wohl eines Theaters gefährlicher, als wenn die Direction so gestellt ist, daß eine größere oder geringere Einnahme der Casse sie persönlich nicht weiter berührt, und sie in der sorglosen Gewißheit hinleben kann, daß dasjenige, was im Laufe des Jahres an der Einnahme der Theater- Casse gefehlt hat, am Ende desselben aus irgend einer andern Quelle ersetzt wird. Es liegt einmal in der menschlichen Natur, daß sie leicht erschlafft, wenn per¬ sönliche Vortheile oder Nachtheile sie nicht nöthigen. Nun ist zwar nicht zu verlangen, daß ein Theater in einer Stadt wie Weimar sich selbst erhalten solle und daß kein jährlicher Zuschuß aus der fürstlichen Casse nöthig sey. Allein es hat doch Alles sein Ziel und seine Grenze, und einige tausend Thaler jährlich mehr oder weniger sind doch keineswegs eine gleichgültige Sache, besonders da die geringere Einnahme und das Schlechterwerden des Theaters natürliche Gefährten sind, und also nicht bloß das Geld verloren geht, sondern die Ehre zugleich.“ „Wäre ich der Großherzog, so würde ich künftig, bei einer etwa eintretenden Veränderung der Direction, als jährlichen Zuschuß ein- für allemal eine feste Summe bestimmen; ich würde etwa den Durchschnitt der Zu¬ schüsse der letzten zehn Jahre ermitteln lassen, und danach eine Summe ermäßigen, die zu einer anstän¬ digen Erhaltung als hinreichend zu achten wäre. Mit dieser Summe müßte man haushalten. — Dann würde ich aber einen Schritt weiter gehen und sagen: wenn der Director mit seinen Regisseuren durch eine kluge und energische Leitung es dahin bringt, daß die Casse am Ende des Jahres einen Ueberschuß hat, so soll von diesem Ueberschuß dem Director, den Regisseuren und den vorzüglichsten Mitgliedern der Bühne eine Remu¬ neration zu Theil werden. Da solltet Ihr einmal sehen, wie es sich regen und wie die Anstalt aus dem Halb¬ schlafe, in welchen sie nach und nach gerathen muß, erwachen würde.“ „Unsere Theatergesetze, fuhr Goethe fort, haben zwar allerlei Strafbestimmungen, allein sie haben kein einziges Gesetz, das auf Ermunterung und Belohnung ausgezeichneter Verdienste ginge. Dieß ist ein großer Mangel. Denn wenn mir bei jedem Versehen ein Abzug von meiner Gage in Aussicht steht, so muß mir auch eine Ermunterung in Aussicht stehen, wenn ich mehr thue, als man eigentlich von mir verlangen kann. Dadurch aber, daß Alle mehr thun, als zu erwarten und zu verlangen, kommt ein Theater in die Höhe.“ Frau v. Goethe und Fräulein Ulrike traten herein, Beide wegen des schönen Wetters sehr anmuthig sommer¬ haft gekleidet. Die Unterhaltung über Tisch war leicht und heiter. Man sprach über allerlei Vergnügungs- Partieen der vergangenen Woche, sowie über Aus¬ sichten ähnlicher Art für die nächste. „Wenn wir die schönen Abende behalten, sagte Frau v. Goethe, so hätte ich große Lust, in diesen Tagen im Park beim Gesang der Nachtigallen einen Thee zu geben. Was sagen Sie, lieber Vater?“ „Das könnte sehr artig seyn! erwiederte Goethe. „Und Sie, Ecker¬ mann, sagte Frau v. Goethe, wie steht's mit Ihnen? Darf man Sie einladen?“ — „Aber Ottilie! fiel Fräulein Ulrike ein, wie kannst Du nur den Doctor einladen! — Er kommt ja doch nicht; und wenn er kommt, so sitzt er wie auf Kohlen und man sieht es ihm an, daß seine Seele wo anders ist und daß er je eher je lieber wieder fort möchte.“ Wenn ich ehr¬ lich sagen soll, erwiederte ich, so streife ich freilich lieber mit Doolan im Felde umher. Thee und Theegesellschaft und Theegespräch widerstrebt meiner Natur so sehr, daß es mir schon unheimlich wird, wenn ich nur daran denke. „Aber Eckermann! sagte Frau v. Goethe, bei einem Thee im Park sind Sie ja im Freien und ganz in Ihrem Element.“ Im Gegentheil! sagte ich. Wenn ich der Natur so nahe bin, daß ich alle Düfte wittere, und doch nicht eigentlich hinein kann, so wird es mir ungeduldig, wie einer Ente, die man in die Nähe des Wassers bringt, aber am Hineintauchen hindert. „Sie könnten auch sagen, bemerkte Goethe lachend, es würde Ihnen zu Sinne, wie einem Pferde, das seinen Kopf zum Stalle hinaus streckt und auf einer gedehnten Weidenfläche vor sich andere Pferde frei umherjagen sieht. Es riecht zwar alle Wonne und Freiheit der frischen Natur, aber es kann nicht hinein. Doch laßt nur den Eckermann, er ist wie er ist, und Ihr macht ihn nicht anders. Aber sagen Sie, mein Allerbester, was treiben Sie denn mit Ihrem Doolan die schönen langen Nachmittage im freien Felde?“ Wir suchen irgend ein einsames Thal, sagte ich, und schießen mit Pfeil und Bogen. „Hm! sagte Goethe, das mag kein schlechtes Vergnügen seyn.“ Es ist herrlich, sagte ich, um die Gebrechen des Winters los zu werden. „Wie aber in aller Welt, sagte Goethe, sind Sie hier in Weimar zu Pfeil und Bogen gekommen?“ Zu den Pfeilen, erwie¬ derte ich, habe ich mir in dem Feldzuge von 1814 ein Modell aus Brabant mitgebracht. Das Schießen mit Pfeil und Bogen ist dort allgemein. Es ist keine Stadt so gering, die nicht ihre Bogen-Gesellschaften hätte. Sie haben ihren Stand in irgend einer Schenke, ähnlich unseren Kegelbahnen, und vereinigen sich gewöhn¬ lich spät am Nachmittage, wo ich ihnen oft mit dem größten Vergnügen zugesehen. Was waren das für wohlgewachsene Männer und was für malerische Stel¬ lungen, wenn sie die Senne zogen! — Wie waren die Kräfte entwickelt, und wie waren sie geschickte Treffer! Sie schossen gewöhnlich in einer Entfernung von sechzig bis achtzig Schritt nach einer Papierscheibe auf einer nassen Lehmwand; sie schossen rasch hintereinander und ließen die Pfeile stecken. Und da war es nicht selten, daß von funfzehn Pfeilen fünf im Centrum staken, von der Größe eines Thalers, und die übrigen in der Nähe umher. Wenn Alle geschossen hatten, gingen sie hin und Jeder zog seinen Pfeil aus der weichen Wand und das Spiel ging von vorne. Ich war damals für dieses Bogenschießen so begeistert, daß ich dachte, es sey etwas Großes, es in Deutschland einzuführen, und ich war so dumm, daß ich glaubte, es sey möglich. Ich handelte wiederholt auf einen Bogen; allein unter zwanzig Franken war keiner zu haben, und wie sollte ich armer Feldjäger so viel Geld auftreiben! Ich be¬ schränkte mich daher auf einen Pfeil, als das wichtigere und künstlichere, den ich in einer Fabrik zu Brüssel für einen Franken kaufte und neben einer Zeichnung als meine einzige Eroberung mit in meine Heimath brachte. „Das sieht Ihnen ähnlich, erwiederte Goethe. Aber denken Sie nur nicht, man könnte etwas Natürliches und Schönes populär machen. Zum wenigsten will es Zeit haben und verlangt verzweifelte Künste. Aber ich kann mir denken, es mag schön seyn, dieses Brabanter Schießen. Unser deutsches Kegelbahn-Vergnügen erscheint dagegen roh und ordinär und hat sehr viel vom Phi¬ lister.“ Das Schöne beim Bogenschießen ist, erwiederte ich, daß es den Körper gleichmäßig entwickelt und die Kräfte gleichmäßig in Anspruch nimmt. Da ist der linke Arm, der den Bogen hinaushält, straff, stark und ohne Wan¬ ken; da ist der rechte, der mit dem Pfeil die Senne zieht und nicht weniger kräftig seyn muß. Zugleich beide Füße und Schenkel strack zum Boden gestreckt, dem Oberkörper als feste Basis. Das zielende Auge, die Muskeln des Halses und Nackens, Alles in hoher Spannung und Thätigkeit. Und nun das Gefühl und die Freude, wenn der Pfeil hinauszischt und im erwünsch¬ ten Ziele steckt! Ich kenne keine körperliche Uebung, die nur irgend damit zu vergleichen. „Es wäre etwas für unsere Turn-Anstalten, versetzte Goethe. Und da sollte es mich nicht wundern, wenn wir nach zwanzig Jahren in Deutschland tüchtige Bogenschützen zu Tausenden hätten. Ueberhaupt mit einer erwachsenen Generation ist nie viel zu machen, in kör¬ perlichen Dingen, wie in geistigen, in Dingen des Geschmacks, wie des Charakters. Seid aber klug und fanget in den Schulen an, und es wird gehen.“ Aber unsere deutschen Turnlehrer, erwiederte ich, wissen mit Pfeil und Bogen nicht umzugehen. „Nun, antwortete Goethe, da mögen sich einige Turn-Anstalten vereinigen und einen tüchtigen Schützen aus Flandern oder Brabant kommen lassen. Oder sie mögen auch einige hübsche wohlgewachsene junge Turner nach Brabant schicken, daß sie sich dort zu guten Schützen ausbilden und auch lernen, wie man die Bogen schnitze und die Pfeile mache. Diese könnten dann in deutschen Turn-Anstalten als Lehrer eintreten, als wandernde Lehrer, die sich bald bei dieser Anstalt eine Zeitlang aufhielten und bald bei einer andern.“ „Ich bin, fuhr Goethe fort, den deutschen Turn- Uebungen durchaus nicht abgeneigt. Umsomehr hat es mir Leid gethan, daß sich sehr bald allerlei Politisches dabei einschlich, so daß die Behörden sich genöthigt sahen, sie zu beschränken, oder wohl gar zu verbieten und aufzuheben. Dadurch ist nun das Kind mit dem Bade verschüttet. Aber ich hoffe, daß man die Turn- Anstalten wieder herstelle, denn unsere deutsche Jugend bedarf es, besonders die studirende, der bei dem vielen geistigen und gelehrten Treiben alles körperliche Gleich¬ III . 7 gewicht fehlt und somit jede nöthige Thatkraft zugleich. Aber sagen Sie mir noch etwas von Ihrem Pfeil und Bogen. Also einen Pfeil haben Sie sich aus Brabant mitgebracht? Ich möchte ihn sehen!“ Er ist längst verloren, erwiederte ich. Aber ich hatte ihn so gut in Gedanken, daß es mir gelungen ist, ihn wieder herzustellen, und zwar statt des Einen ein ganzes Dutzend. Das war aber gar nicht so leicht als ich mir dachte, und ich habe dabei allerlei vergebliche Versuche gemacht und allerlei Mißgriffe gethan, aber eben dadurch endlich auch allerlei gelernt. Zuerst kam es auf den Schaft an, und zwar, daß dieser gerade sey und nach einiger Zeit sich nicht werfe; sodann, daß er leicht sey und zugleich so fest, daß er bei dem Anprallen an einen harten Gegenstand nicht zersplittere. Ich machte Versuche mit dem Holz der Pappel, dann der Fichte, dann der Birke; aber es erwies sich Alles in einer oder der anderen Hinsicht als mangelhaft und war nicht das, was es seyn sollte. Dann machte ich Ver¬ suche mit dem Holz der Linde, und zwar aus einem schlanken, gerade gewachsenen Stammende, und ich fand durchaus was ich wünschte und suchte. Ein solcher Pfeilschaft war leicht, gerade, und fest wegen sehr feiner Faser. Nun war das Nächste, das untere Ende mit einer Hornspitze zu versehen; aber es zeigte sich bald, daß nicht jedes Horn tauglich und daß es aus dem Kerne geschnitten seyn müsse, um beim Schuß auf einen harten Gegenstand nicht zu zersplittern. Das Schwie¬ rigste und Künstlichste war aber jetzt noch zu thun, nämlich den Pfeil zu befiedern. Was habe ich da gepfuscht und für Mißgriffe gethan, ehe es mir gelang und ich es darin zu einiger Geschicklichkeit brachte! „Nicht wahr, sagte Goethe, die Federn werden nicht in den Schaft eingelassen, sondern aufgeleimt?“ Sie werden aufgeleimt, erwiederte ich; aber das muß so fest, zierlich und gut geschehen, daß es aussieht, als wären sie mit dem Schafte eins und aus ihm her¬ vor gewachsen. Auch ist es nicht gleichgültig, welchen Leim man nimmt. Ich habe gefunden, daß Hausenblase, einige Stunden in Wasser eingeweicht und dann mit etwas hinzugegossenem Spiritus über gelindem Kohlen¬ feuer schleimartig aufgelöst, das Beste war. Auch sind die aufzuleimenden Federn nicht von einerlei Brauch¬ barkeit. Zwar sind die abgezogenen Fahnen der Schwung¬ federn jedes großen Vogels gut, doch habe ich die rothen Flügelfedern des Pfau's, die großen Federn des Truthahn's, besonders aber die starken und prächtigen von Adler und Trappe als die vorzüglichsten gefunden. „Ich höre dieses Alles mit großem Interesse, sagte Goethe. Wer Sie nicht kennt, sollte kaum glauben, daß Ihre Richtungen so lebendig wären. Aber sagen Sie mir nun auch, wie Sie zu einem Bogen gekommen.“ Ich habe mir selber einige gemacht, erwiederte ich. Aber dabei anfänglich auch wieder ganz entsetzlich 7* gepfuscht. Dann habe ich mich mit Tischlern und Wagnern berathen, alle Holzarten der hiesigen Gegend durchprobirt, und bin nun endlich zu ganz guten Resul¬ taten gekommen. Ich hatte bei der Wahl des Holzes dahin zu trachten, daß der Bogen sich weich aufziehe, daß er rasch und stark zurückschnelle, und daß die Feder¬ kraft von Dauer. Ich machte zuerst Versuche mit der Esche, und zwar dem astlosen Stamm einer etwa zehn¬ jährigen von der Dicke eines mäßigen Armes. Ich kam aber beim Ausarbeiten auf den Kern, welches nicht gut war und wo ich das Holz grob und lose fand. Man rieth mir darauf, einen Stamm zu nehmen, der stark genug sey, um ihn schlachten zu können, und zwar zu vier Theilen. „Schlachten, fragte Goethe, was ist das?“ Es ist ein Kunstausdruck der Wagner, erwiederte ich, und heißt soviel als spalten, und zwar wird dabei ein Keil durch den Stamm der Länge nach von einem Ende bis zum andern durchgetrieben. War nun der Stamm gerade gewachsen, ich meine: strebte die Faser in gerader Richtung aufwärts, so werden auch die ge¬ schlachteten Stücke gerade seyn und sich durchaus zum Bogen eignen. War aber der Stamm gewunden, so werden die geschlachteten Stücke, indem der Keil der Faser nachgeht, eine gekrümmte, gewundene Richtung haben und zum Bogen nicht zu gebrauchen seyn. „Wie wäre es aber, sagte Goethe, wenn man einen solchen Stamm mit der Säge in vier Theile schnitte? da bekäme man doch auf jeden Fall gerade Stücke.“ Man würde, erwiederte ich, bei einem Stamm mit etwas gewundener Richtung die Faser durchschneiden, und das würde die Theile zu einem Bogen durchaus unbrauchbar machen. „Ich begreife, sagte Goethe: ein Bogen mit durch¬ schnittener Faser würde brechen. Doch erzählen Sie weiter, die Sache interessirt mich.“ Ich machte also, fuhr ich fort, meinen zweiten Bo¬ gen aus einem Stück geschlachteter Esche. Es war an der Rückseite keine Faser durchschnitten, der Bogen war stark und fest, aber es zeigte sich der Fehler, daß er beim Aufziehen nicht weich, sondern hart war. „Sie werden, sagte der Wagner, ein Stück Samen-Esche ge¬ nommen haben, welches immer ein sehr steifes Holz ist; nehmen Sie aber von der zähen , wie sie bei Hopf¬ garten und Zimmern wächst, so wird es besser gehen.“ Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, daß zwischen Esche und Esche ein großer Unterschied, und daß bei allen Holzarten sehr viel auf den Ort und auf den Boden ankomme, wo sie gewachsen. Ich erfuhr, daß das Holz des Ettersberges als Nutzholz weniger Werth habe; daß dagegen das Holz aus der Umgegend von Nohra eine besondere Festigkeit besitze, weßhalb denn die Wei¬ mar'schen Fuhrleute zu Wagenreparaturen, die in Nohra gemacht, ein ganz besonderes Vertrauen hätten. Ich machte im Lauf meiner weiteren Bemühungen die Er¬ fahrung, daß alles auf der Winterseite eines Abhanges gewachsene Holz fester und von geraderer Faser befunden wird, als das auf der Sommerseite gewachsene. Auch ist es begreiflich. Denn ein junger Stamm, der in der schattigen Nordseite eines Abhanges aufwächst, hat nur Licht und Sonne nach oben zu suchen, weßhalb er denn, sonnenbegierig, fortwährend aufwärts strebt und die Faser in gerader Richtung mit emporzieht. Auch ist ein schattiger Stand der Bildung einer feineren Faser günstig, welches sehr auffallend an solchen Bäumen zu sehen ist, die einen so freien Stand hatten, daß ihre Südseite lebenslänglich der Sonne ausgesetzt war, während ihre Nordseite fortwährend im Schatten blieb. Liegt ein solcher Stamm in Theile zersägt vor uns da, so bemerkt man, daß der Punkt des Kernes sich keines¬ wegs in der Mitte befindet, sondern bedeutend nach der einen Seite zu. Und diese Verschiebung des Mittel¬ punktes rührt daher, daß die Jahres-Ringe der Süd¬ seite durch fortwährende Sonnenwirkung sich bedeutend stärker entwickelt haben und daher breiter sind, als die Jahresringe der schattigen Nordseite. Tischler und Wagner, wenn es ihnen um ein festes feines Holz zu thun ist, wählen daher lieber die feiner ent¬ wickelte Nordseite eines Stammes, welches sie die Winterseite nennen, und dazu ein besonderes Ver¬ trauen haben. „Sie können denken, sagte Goethe, daß Ihre Be¬ obachtungen für mich, der sich ein halbes Leben mit dem Wachsthum der Pflanzen und Bäume beschäftiget hat, von besonderem Interesse sind. Doch erzählen Sie weiter! Sie machten also wahrscheinlich darauf einen Bogen von der zähen Esche.“ Ich that so, erwiederte ich, und zwar nahm ich ein gut geschlachtetes Stück von der Winterseite, wo ich auch eine ziemlich feine Faser fand. Auch war der Bogen weich im Aufziehen und von guter Schnell¬ kraft. Allein nachdem er einige Monate in Gebrauch gewesen, zeigte sich bereits eine merkliche Krümmung, und es war deutlich, daß die Spannkraft nicht Stich halte. Ich machte dann Versuche mit dem Stamm einer jungen Eiche, welches auch ganz gutes Holz war, wobei ich aber nach einiger Zeit denselbigen Fehler fand; dann mit dem Stamm der Wallnuß, welches besser, und zuletzt mit dem Stamme des feinblättrigen Ahorns, des sogenannten Masholder, welches das beste war und nichts weiter zu wünschen übrig ließ. „Ich kenne das Holz, erwiederte Goethe, man findet es auch häufig in Hecken. Ich kann mir denken, daß es gut ist. Doch habe ich selten einen jungen Stamm gefunden, der ohne Aeste war, und Sie bedürfen doch wohl zum Bogen ein Holz, das ganz frei von Aesten ist?“ Ein junger Stamm, erwiederte ich, ist freilich nicht ohne Aeste; doch wenn man ihn zum Baume aufzieht, so werden ihm die Aeste genommen; oder wenn er im Dickicht aufwächst, so verlieren sie sich mit der Zeit von selber. War nun ein Stamm, als man ihm die Aeste nahm, etwa drei bis vier Zoll im Durch¬ messer, und läßt man ihn nun fortwachsen und jährlich neues Holz von außen sich anbilden, so wird, nach Verlauf von funfzig bis achtzig Jahren, das astreiche Innere mit mehr als einem halben Fuß gesunden ast¬ freien Holzes überwachsen seyn. Ein solcher Stamm steht dann mit der glattesten Außenseite vor uns; aber man weiß freilich nicht, was er im Innern für Tücke hat. Man wird daher auf jeden Fall sicher gehen, wenn man bei einer aus solchem Stamm gesägten Bohle sich gleichfalls an die Außenseite hält und einige Zoll von demjenigen Stück sich abschneiden läßt, was zunächst unter der Rinde war, also den Splint und was ihm folgt, welches überhaupt das jüngste, zäheste und zu einem Bogen das tauglichste Holz ist. „Ich meinte, versetzte Goethe, das Holz zu einem Bogen dürfte nicht gesägt, sondern müßte gespalten, oder, wie Sie es nennen, geschlachtet werden.“ Wenn es sich schlachten läßt, erwiederte ich, aller¬ dings. Die Esche, die Eiche, auch wohl der Wallnuß, läßt sich schlachten, weil es Holz von grober Faser ist. Der Masholder aber nicht. Denn es ist ein Holz von so feiner, fest ineinander gewachsener Faser, daß es sich in der Faser-Richtung durchaus nicht trennt, sondern herüber und hinüber reißt, ganz gegen alle Faser und alle natürlich gewachsene Richtung. Das Holz des Masholder muß daher mit der Säge getrennt werden, und zwar ohne alle Gefahr für die Kraft des Bogens. „Hm! Hm! sagte Goethe. Sie sind übrigens durch Ihre Bogen-Tendenz zu ganz hübschen Kenntnissen gekommen. Und zwar zu lebendigen, die man nur auf praktischem Wege erlangt. Das ist aber immer der Vortheil irgend einer leidenschaftlichen Richtung, daß sie uns in das Innere der Dinge treibt. Auch ist das Suchen und Irren gut, denn durch Suchen und Irren lernt man. Und zwar lernt man nicht bloß die Sache, sondern den ganzen Umfang. Was wüßte ich von der Pflanze und der Farbe, wenn man meine Theorie mir fertig überliefert und ich Beides auswendig gelernt hätte! Aber daß ich eben Alles selber suchen und fin¬ den und auch gelegentlich irren mußte, dadurch kann ich sagen, daß ich von beiden Dingen etwas weiß, und zwar mehr, als auf dem Papiere steht. — Aber sagen Sie mir noch Eins von Ihrem Bogen. Ich habe schottische gesehen, die bis zu den Spitzen hinaus ganz gerade, andere dagegen, deren Spitzen gekrümmt waren. Welche halten Sie für die besten?“ Ich halte dafür, erwiederte ich, daß bei einem Bo¬ gen mit rückwärts geschweiften Enden die Federkraft bei weitem mächtiger ist. Anfangs machte ich sie gerade, weil ich nicht verstand, die Enden zu biegen. Nachdem ich aber gelernt, damit umzugehen, mache ich die Enden geschweift, und ich finde, daß der Bogen dadurch nicht allein ein schöneres Ansehen, sondern auch eine größere Gewalt erlangt. „Nicht wahr, sagte Goethe, man bewirkt die Krüm¬ mung durch Hitze?“ Durch feuchte Hitze, erwiederte ich. Wenn der Bogen soweit fertig, daß die Spannkraft gleichmäßig vertheilt und er nirgendwo mehr schwächer oder stärker ist, als er seyn soll, so stelle ich ihn mit dem einen Ende in kochendes Wasser, etwa sechs bis acht Zoll tief, und lasse ihn eine Stunde kochen. Dieses er¬ weichte Ende schraube ich dann in voller Hitze zwischen zwei kleine Klötze, deren innere Linie die Form der Biegung hat, die ich dem Bogen zu geben wünsche. In solcher Klemme lasse ich ihn sodann wenigstens einen ganzen Tag und eine Nacht stehen, damit er völlig austrockene, und verfahre darauf mit dem anderen Ende auf gleiche Weise. So behandelte Spitzen stehen sodann unverwüstlich, als wären sie in solcher Krümmung ge¬ wachsen. „Wissen Sie was? versetzte Goethe, mit einem geheimnißvollen Lächeln. Ich glaube, ich habe etwas für Sie, das Ihnen nicht unlieb wäre. Was dächten Sie, wenn wir zusammen hinuntergingen und ich Ihnen einen ächten Baschkirenbogen in die Hände legte!“ Einen Baschkirenbogen? rief ich voll Begeisterung, und einen ächten? — „Ja, närrischer Kerl, einen ächten! sagte Goethe. Kommen Sie nur.“ Wir gingen hinab in den Garten. Goethe öffnete das untere Zimmer eines kleinen Nebengebäudes, das auf den Tischen und an den Wänden umher mit Selten¬ heiten und Merkwürdigkeiten aller Art vollgepfropft erschien. Ich überlief alle diese Schätze nur flüchtig, meine Augen suchten den Bogen. „Hier haben Sie ihn, sagte Goethe, indem er ihn in einem Winkel aus einem Haufen von allerlei seltsamen Geräthschaften hervornahm. Ich sehe, er ist noch in demselbigen Stande, wie er im Jahre 1814 von einem Baschkiren- Häuptling mir verehrt wurde. Nun? was sagen Sie!“ Ich war voller Freude, die liebe Waffe in meinen Händen zu halten. Es schien Alles unversehrt und auch die Senne noch vollkommen brauchbar. Ich pro¬ birte ihn in meinen Händen und fand ihn auch noch von leidlicher Schnellkraft. Es ist ein guter Bogen, sagte ich. Besonders aber gefällt mir die Form, die mir künftig als Modell dienen soll. „Von welchem Holz, denken Sie, ist er gemacht?“ sagte Goethe. Er ist, wie Sie sehen, erwiederte ich, mit feiner Birkenschale so überdeckt, daß von dem Holz wenig sichtbar und nur die gekrümmten Enden frei geblieben. Und auch diese sind durch die Zeit so angebräunt, daß man nicht recht sehen kann, was es ist. Auf den ersten Anblick sieht es aus wie junge Eiche, und dann wieder wie Nußbaum. Ich denke es ist Nußbaum, oder ein Holz, das dem ähnlich. Ahorn oder Masholder ist es nicht. Es ist ein Holz von grober Faser, auch sehe ich Merkmale, daß es geschlachtet worden. „Wie wäre es, sagte Goethe, wenn Sie ihn einmal probirten! Hier haben Sie auch einen Pfeil. Doch hüten Sie sich vor der eisernen Spitze! sie könnte vergiftet seyn.“ Wir gingen wieder in den Garten und ich spannte den Bogen. „Nun wohin?“ sagte Goethe. Ich dächte, erst einmal in die Luft, erwiederte ich. „Nur zu!“ sagte Goethe. Ich schoß hoch gegen die sonnigen Wol¬ ken in blauer Luft. Der Pfeil hielt sich gut, dann bog er sich und sauste wieder herab und fuhr in die Erde. „Nun lassen Sie mich einmal“, sagte Goethe. Ich war glücklich, daß er auch schießen wollte. Ich gab ihm den Bogen und holte den Pfeil. Goethe schob die Kerbe des Pfeiles in die Senne, auch faßte er den Bogen richtig, doch dauerte es ein Weilchen, bis er damit zurechte kam. Nun zielte er nach oben und zog die Senne. Er stand da, wie der Apoll, mit unverwüstlicher innerer Jugend, doch alt an Körper. Der Pfeil erreichte nur eine sehr mäßige Höhe und senkte sich wieder zur Erde. Ich lief und holte den Pfeil. „Noch einmal!“ sagte Goethe. Er zielte jetzt in horizontaler Richtung den sandigen Weg des Gartens hinab. Der Pfeil hielt sich etwa dreißig Schritt ziemlich gut, dann senkte er sich und schwirrte am Boden hin. Goethe gefiel mir bei diesem Schießen mit Pfeil und Bogen über die Maßen. Ich dachte an die Verse: Läßt mich das Alter im Stich? Bin ich wieder ein Kind? Ich brachte ihm den Pfeil zurück. Er bat mich, auch einmal in horizontaler Richtung zu schießen, und gab mir zum Ziel einen Fleck im Fensterladen seines Arbeitszimmers. Ich schoß. Der Pfeil war nicht weit vom Ziele, aber so tief in das weiche Holz ge¬ fahren, daß es mir nicht gelang, ihn wieder heraus zu bringen. „Lassen Sie ihn stecken, sagte Goethe, er soll mir einige Tage als eine Erinnerung an unsere Späße dienen.“ Wir gingen bei dem schönen Wetter im Garten auf und ab; dann setzten wir uns auf eine Bank, mit dem Rücken gegen das junge Laub einer dicken Hecke. Wir sprachen über den Bogen des Odysseus, über die Helden des Homer, dann über die griechischen Tragiker, und endlich über die vielverbreitete Meinung, daß das griechische Theater durch Euripides in Verfall gerathen. Goethe war dieser Meinung keineswegs. „Ueberhaupt, sagte er, bin ich nicht der Ansicht, daß eine Kunst durch irgend einen einzelnen Mann in Verfall gerathen könne. Es muß dabei sehr Vieles zusammenwirken, was aber nicht so leicht zu sagen. Die tragische Kunst der Griechen konnte sowenig durch Euripides in Verfall gerathen, als die bildende Kunst durch irgend einen großen Bildhauer, der neben Phidias lebte, aber geringer war. Denn die Zeit, wenn sie groß ist, geht auf dem Wege des Besseren fort und das Geringere bleibt ohne Folge.“ „Was war aber die Zeit des Euripides für eine große Zeit! Es war nicht die Zeit eines rückschreitenden, sondern die Zeit eines vorschreitenden Geschmackes. Die Bildhauerei hatte ihren höchsten Gipfel noch nicht erreicht und die Malerei war noch im früheren Wer¬ den.“ „Hatten die Stücke des Euripides, gegen die des So¬ phokles gehalten, große Fehler, so war damit nicht gesagt, daß die nachkommenden Dichter diese Fehler nachahmen und an diesen Fehlern zu Grunde gehen mußten. Hat¬ ten sie aber große Tugenden, so daß man einige sogar den Stücken des Sophokles vorziehen mochte, warum strebten denn die nachkommenden Dichter nicht diesen Tugenden nach und warum wurden sie denn nicht we¬ nigstens so groß als Euripides selber! —“ „Erschien aber nach den bekannten drei großen Tragikern dennoch kein ebenso großer vierter, fünfter und sechster, so ist das freilich eine Sache, die nicht so leicht zu beantworten ist, worüber man jedoch seine Vermuthungen haben und der man wohl einigermaßen nahe kommen kann.“ „Der Mensch ist ein einfaches Wesen. Und wie reich, mannigfaltig und unergründlich er auch seyn mag, so ist doch der Kreis seiner Zustände bald durchlaufen.“ „Wären es Umstände gewesen, wie bei uns armen Deutschen, wo Lessing zwei bis drei, ich selber drei bis vier, und Schiller fünf bis sechs passable Theaterstücke geschrieben, so wäre auch wohl noch für einen vierten, fünften und sechsten tragischen Poeten Raum gewesen.“ „Allein bei den Griechen und dieser Fülle ihrer Production, wo jeder der drei Großen über hundert oder nahe an hundert Stücke geschrieben hatte und die tragischen Süjets des Homer und der Heldensage zum Theil drei- bis viermal behandelt waren, bei solcher Fülle des Vorhandenen, sage ich, kann man wohl annehmen, daß Stoff und Gehalt nach und nach er¬ schöpft war und ein auf die drei großen folgender Dichter nicht mehr recht wußte, wo hinaus.“ „Und im Grunde, wozu auch! — War es denn nicht endlich für eine Weile genug! Und war das von Aeschylos, Sophokles und Euripides Hervorge¬ brachte nicht der Art und Tiefe, daß man es hören und immer wieder hören konnte, ohne es trivial zu machen und zu tödten? — Sind doch diese auf uns gekommenen wenigen grandiosen Trümmer schon von solchem Umfang und solcher Bedeutung, daß wir armen Europäer uns bereits seit Jahrhunderten damit beschäf¬ tigen und noch einige Jahrhunderte daran werden zu zehren und zu thun haben.“ Montag, den 5. Juni 1826. G oethe erzählte mir, daß Preller bei ihm gewesen und Abschied genommen, um auf einige Jahre nach Italien zu gehen. „Als Reisesegen, sagte Goethe, habe ich ihm ge¬ rathen, sich nicht verwirren zu lassen, sich besonders an Poussin und Claude Lorrain zu halten, und vor Allem die Werke dieser beiden Großen zu studiren, damit ihm deutlich werde, wie sie die Natur angesehen und zum Ausdruck ihrer künstlerischen Anschauungen und Empfindungen gebraucht haben.“ „Preller ist ein bedeutendes Talent und mir ist für ihn nicht bange. Er erscheint mir übrigens von sehr ernstem Charakter und ich bin fast gewiß, daß er sich eher zu Poussin als zu Claude Lorrain neigen wird. Doch habe ich ihm den letzteren zu besonderem Studium empfohlen, und zwar nicht ohne Grund. Denn es ist mit der Ausbildung des Künstlers wie mit der Aus¬ bildung jedes anderen Talentes. Unsere Stärken bil¬ den sich gewissermaßen von selber, aber diejenigen Keime und Anlagen unserer Natur, die nicht unsere tägliche Richtung und nicht so mächtig sind, wollen eine besondere Pflege, damit sie gleichfalls zu Stärken werden.“ „So können einem jungen Sänger, wie ich schon oft gesagt, gewisse Töne angeboren seyn, die ganz vortreff¬ lich sind und die nichts weiter zu wünschen übrig lassen. Andere Töne seiner Stimme aber können we¬ niger stark, rein und voll befunden werden. Aber eben diese muß er durch besondere Uebung dahin zu bringen suchen, daß sie den anderen gleich werden.“ „Ich bin gewiß, daß Prellern einst das Ernste, Großartige, vielleicht auch das Wilde, ganz vortrefflich gelingen wird. Ob er aber im Heiteren, Anmuthigen und Lieblichen gleich glücklich seyn werde, ist eine andere Frage, und deßhalb habe ich ihm den Claude Lorrain ganz besonders ans Herz gelegt, damit er sich durch Studium dasjenige aneigne, was vielleicht nicht in der eigentlichen Richtung seines Naturells liegt.“ „Sodann war noch Eins, worauf ich ihn aufmerk¬ sam gemacht. Ich habe bisher viele Studien nach der Natur von ihm gesehen. Sie waren vortrefflich und mit Energie und Leben aufgefaßt; aber es waren Alles nur Einzelnheiten, womit später bei eigenen Erfindungen wenig zu machen ist. Ich habe ihm nun gerathen, künftig in der Natur nie einen einzelnen III . 8 Gegenstand allein herauszuzeichnen, nie einen einzelnen Baum, einen einzelnen Steinhaufen, eine einzelne Hütte, sondern immer zugleich einigen Hintergrund und einige Umgebung mit.“ „Und zwar aus folgenden Ursachen. Wir sehen in der Natur nie Etwas als Einzelnheit, sondern wir sehen Alles in Verbindung mit etwas Anderem, das vor ihm, neben ihm, hinter ihm, unter ihm und über ihm sich befindet. Auch fällt uns wohl ein einzelner Gegenstand als besonders malerisch auf; es ist aber nicht der Gegenstand allein, der diese Wirkung hervor¬ bringt, sondern es ist die Verbindung, in der wir ihn sehen, mit dem, was neben, hinter und über ihm ist, und welches Alles zu jener Wirkung beiträgt.“ „So kann ich bei einem Spaziergange auf eine Eiche stoßen, deren malerischer Effect mich überrascht. Zeichne ich sie aber alleine heraus, so wird sie vielleicht gar nicht mehr erscheinen was sie war, weil dasjenige fehlt, was zu ihrem malerischen Effect in der Natur beitrug und ihn steigerte. So kann ferner ein Stück Wald schön seyn, weil gerade dieser Himmel, dieses Licht und dieser Stand der Sonne einwirkt. Lasse ich aber in meiner Zeichnung dieses Alles hinweg, so wird sie vielleicht ohne alle Kraft als etwas Gleich¬ gültiges dastehen, dem der eigentliche Zauber fehlt.“ „Und dann noch Dieses. Es ist in der Natur nichts schön, was nicht naturgesetzlich als wahr moti¬ virt wäre. Damit aber jene Naturwahrheit auch im Bilde wahr erscheine, so muß sie durch Hinstellung der einwirkenden Dinge begründet werden.“ „Ich treffe an einem Bach wohlgeformte Steine, deren der Luft ausgesetzte Stellen mit grünem Moos malerisch überzogen sind. Es ist aber nicht die Feuchtigkeit des Wassers allein, was diese Moosbil¬ dung verursachte; sondern es ist etwa ein nördlicher Abhang, oder schattende Bäume und Gebüsch, was an dieser Stelle des Baches auf jene Bildung ein¬ wirkte. Lasse ich aber diese einwirkenden Ursachen in meinem Bilde hinweg, so wird es ohne Wahrheit seyn und ohne die eigentliche überzeugende Kraft.“ „So hat der Stand eines Baumes, die Art des Bodens unter ihm, andere Bäume hinter und neben ihm, einen großen Einfluß auf seine Bildung. Eine Eiche, die auf der windigen westlichen Spitze eines felsigen Hügels steht, wird eine ganz andere Form erlangen, als eine andere, die unten im weichen Boden eines geschützten Thales grünt. Beide können in ihrer Art schön seyn, aber sie werden einen sehr ver¬ schiedenen Charakter haben und können daher in einer künstlerisch erfundenen Landschaft wiederum nur für einen solchen Stand gebraucht werden, wie sie ihn in der Natur hatten. Und deßhalb ist dem Künstler die mitgezeichnete Umgebung, wodurch der jedesmalige Stand ausgedrückt worden, von großer Bedeutung.“ 8* „Wiederum aber würde es thörigt seyn, allerlei prosaische Zufälligkeiten mitzeichnen zu wollen, die so wenig auf die Form und Bildung des Hauptgegen¬ standes, als auf dessen augenblickliche malerische Er¬ scheinung Einfluß hatten.“ „Von allen diesen kleinen Andeutungen habe ich Prellern die Hauptsachen mitgetheilt, und ich bin gewiß, daß es bei ihm, als einem geborenen Talent, Wurzel schlagen und gedeihen werde.“ 1827. Mittwoch, den 21. Februar 1827. B ei Goethe zu Tisch. — Er sprach viel und mit Bewunderung über Alexander von Humboldt , des¬ sen Werk über Cuba und Columbien er zu lesen angefan¬ gen und dessen Ansichten über das Project eines Durch¬ stiches der Landenge von Panama für ihn ein ganz beson¬ deres Interesse zu haben schienen. „Humboldt, sagte Goethe, hat mit großer Sachkenntniß noch andere Punkte angegeben, wo man mit Benutzung einiger in den Mexi¬ kanischen Meerbusen fließenden Ströme vielleicht noch vortheilhafter zum Ziele käme, als bei Panama. Dieß ist nun Alles der Zukunft und einem großen Unter¬ nehmungsgeiste vorbehalten. So viel ist aber gewiß, gelänge ein Durchstich der Art, daß man mit Schiffen von jeder Ladung und jeder Größe durch solchen Canal aus dem Mexikanischen Meerbusen in den stillen Ocean fahren könnte, so würden daraus für die ganze civili¬ sirte und nichtcivilisirte Menschheit ganz unberechenbare Resultate hervorgehen. Wundern sollte es mich aber, wenn die vereinigten Staaten es sich sollten entgehen lassen, ein solches Werk in ihre Hände zu bekommen. Es ist vorauszusehen, daß dieser jugendliche Staat, bei seiner entschiedenen Tendenz nach Westen, in dreißig bis vierzig Jahren auch die großen Landstrecken jenseits der Felsengebirge in Besitz genommen und bevölkert haben wird. — Es ist ferner vorauszusehen, daß an dieser ganzen Küste des stillen Oceans, wo die Natur bereits die geräumigsten und sichersten Häfen gebildet hat, nach und nach sehr bedeutende Handelsstädte ent¬ stehen werden, zur Vermittelung eines großen Verkehrs zwischen China nebst Ostindien und den vereinigten Staa¬ ten. In solchem Fall wäre es aber nicht bloß wünschens¬ werth, sondern fast nothwendig, daß sowohl Handels- als Kriegsschiffe zwischen der nordamerikanischen westlichen und östlichen Küste eine raschere Verbindung unterhielten, als es bisher durch die langweilige, widerwärtige und kostspielige Fahrt um das Cap Horn möglich gewesen. Ich wiederhole also: es ist für die vereinigten Staaten durchaus unerläßlich, daß sie sich eine Durchfahrt aus dem Mexikanischen Meerbusen in den stillen Ocean bewerkstelligen, und ich bin gewiß, daß sie es erreichen.“ „Dieses möchte ich erleben; aber ich werde es nicht. Zweitens möchte ich erleben; eine Verbindung der Donau mit dem Rhein hergestellt zu sehen. Aber dieses Un¬ ternehmen ist gleichfalls so riesenhaft, daß ich an der Ausführung zweifle, zumal in Erwägung unserer deutschen Mittel. Und endlich drittens möchte ich die Engländer im Besitz eines Canals von Suez sehen. Diese drei großen Dinge möchte ich erleben, und es wäre wohl der Mühe werth, ihnen zu Liebe es noch einige funfzig Jahre auszuhalten.“ Donnerstag, den 1. März 1827. Bei Goethe zu Tisch. — Er erzählte mir, daß er eine Sendung vom Grafen Sternberg und Zauper er¬ halten, die ihm Freude mache. Sodann verhandelten wir viel über die Farbenlehre, über die subjectiven pris¬ matischen Versuche und über die Gesetze, nach denen der Regenbogen sich bildet. Er freute sich über meine fortwährend sich vergrößernde Theilnahme an diesen schwierigen Gegenständen. Mittwoch, den 21. März 1827. Goethe zeigte mir ein Büchelchen von Hinrichs über das Wesen der antiken Tragödie. „Ich habe es mit großem Interesse gelesen, sagte er. — Hinrichs hat besonders den Oedip und die Antigone von Sophokles als Grundlage genommen, um daran seine Ansichten zu entwickeln. Es ist sehr merkwürdig und ich will es Ihnen mitgeben, damit Sie es auch lesen und wir darüber sprechen können. Ich bin nun keineswegs seiner Meinung; aber es ist im hohen Grade lehrreich, zu sehen, wie ein so durch und durch philosophisch ge¬ bildeter Mensch von dem eigenthümlichen Standpunkt seiner Schule aus ein dichterisches Kunstwerk ansieht. Ich will heute nichts weiter sagen, um Ihnen nicht vorzugreifen. Lesen Sie nur, und Sie werden sehen, daß man dabei zu allerlei Gedanken kommt.“ Mittwoch, den 28. März 1827. Ich brachte Goethen das Buch von Hinrichs zurück, das ich indeß eifrig gelesen. Auch hatte ich sämmtliche Stücke des Sophokles abermals durchgenommen, um im vollkommenen Besitz des Gegenstandes zu seyn. „Nun? sagte Goethe, wie haben Sie ihn gefunden? Nicht wahr? er geht den Dingen zu Leibe.“ Ganz wunderlich, sagte ich, geht es mir mit diesem Buche. — Es hat keins so viele Gedanken in mir angeregt als dieses, und doch bin ich mit keinem so oft in Widerspruch gerathen, als gerade mit diesem. „Das ist's eben! sagte Goethe. — Das Gleiche läßt uns in Ruhe; aber der Widerspruch ist es, der uns productiv macht.“ Seine Intentionen, sagte ich, sind mir im hohen Grade respectabel erschienen; auch haftet er keineswegs an der Oberfläche der Dinge. Allein er verliert sich oft so sehr im Feinen und Innerlichen der Verhältnisse, und zwar auf so subjective Weise, daß er darüber die wahre Anschauung des Gegenstandes im Einzelnen, wie die Uebersicht des Ganzen verliert, und man in den Fall kommt, sich und den Gegenständen Gewalt anthun zu müssen, um so zu denken wie er. — Auch ist es mir oft vorgekommen, als wären meine Organe zu grob, um die ungewöhnliche Subtilität seiner Unter¬ scheidungen aufzufassen. „Wären sie philosophisch präparirt, wie er, sagte Goethe, so würde es besser gehen. Wenn ich aber ehrlich sagen soll, so thut es mir leid, daß ein ohne Zweifel kräftig geborener Mensch von der norddeutschen Seeküste, wie Hinrichs, durch die Hegel'sche Philosophie so zugerichtet worden, daß ein unbefangenes natürliches Anschauen und Denken bei ihm ausgetrieben und eine künstliche und schwerfällige Art und Weise sowohl des Denkens wie des Ausdruckes ihm nach und nach an¬ gebildet worden, so daß wir in seinem Buch auf Stellen gerathen, wo unser Verstand durchaus stille steht und man nicht mehr weiß, was man lieset.“ Das ist mir nicht besser gegangen, sagte ich. Doch habe ich mich gefreut, auch auf Stellen zu stoßen, die mir durchaus menschlich und klar erschienen sind, wie z. B. seine Relation der Fabel des Oedip. „Hiebei, sagte Goethe, mußte er sich freilich scharf an der Sache halten. Es giebt aber in seinem Buche nicht wenige Stellen, bei denen der Gedanke nicht rückt und fortschreitet und wobei sich die dunkele Sprache immer auf demselbigen Fleck und immer in demselbigen Kreise bewegt, völlig so, wie das Einmaleins der Hexe in meinem Faust. Geben Sie mir doch einmal das Buch! Von seiner sechsten Vorlesung über den Chor habe ich so viel wie gar nichts verstanden. Was sagen Sie z. B. zu diesem, welches nahe am Ende steht:“ „„Diese Wirklichkeit (nämlich des Volkslebens) ist als die wahre Bedeutung derselben deßhalb auch allein nur ihre wahrhafte Wirklichkeit, die zugleich als sich selber die Wahrheit und Gewißheit, darum die allgemein geistige Gewißheit ausmacht, welche Gewißheit zugleich die versöhnende Gewißheit des Chors ist, so daß allein in dieser Gewißheit, die sich als das Resultat der ge¬ sammten Bewegung der tragischen Handlung erwiesen, der Chor erst wahrhaft dem allgemeinen Volksbewußt¬ seyn gemäß sich verhält, und als solcher nicht bloß das Volk mehr vorstellt, sondern selbst an und für sich das¬ selbe seiner Gewißheit nach ist.““ „Ich dächte wir hätten genug! — Was sollen erst die Engländer und Franzosen von der Sprache unserer Philosophen denken, wenn wir Deutschen sie selber nicht verstehen.“ Und trotz alle dem, sagte ich, sind wir darüber einig, daß dem Buch ein edles Wollen zu Grunde liege und daß es die Eigenschaft habe, Gedanken zu erregen. „Seine Idee von Familie und Staat, sagte Goethe, und daraus hervorgehen könnenden tragischen Conflicten ist allerdings gut und fruchtbar; doch kann ich nicht zugeben, daß sie für die tragische Kunst die beste, oder gar die einzig richtige sey.“ „Freilich leben wir Alle in Familien und im Staat und es trifft uns nicht leicht ein tragisches Schicksal, das uns nicht als Glieder von Beiden träfe. Doch können wir auch ganz gut tragische Personen seyn und wären wir bloße Familien- oder wären wir bloße Staatsglieder. Denn es kommt im Grunde bloß auf den Conflict an, der keine Auflösung zuläßt, und dieser kann entstehen aus dem Widerspruch welcher Verhält¬ nisse er wolle, wenn er nur einen ächten Naturgrund hinter sich hat und nur ein ächt tragischer ist. So geht der Ajas zu Grunde an dem Dämon verletzten Ehrgefühls, und der Hercules an dem Dämon liebender Eifersucht. In beiden Fällen ist nicht der geringste Conflict von Familienpietät und Staatstugend vor¬ handen, welches doch, nach Hinrichs, die Elemente der griechischen Tragödie seyn sollen.“ Man sieht deutlich, sagte ich, daß er bei dieser Theorie bloß die Antigone im Sinne hatte. Auch scheint er bloß den Charakter und die Handlungsweise dieser Heldin vor Augen gehabt zu haben, als er die Behauptung hinstellte, daß die Familienpietät am reinsten im Weibe erscheine und am allerreinsten in der Schwester, und daß die Schwester nur den Bruder ganz rein und geschlechtslos lieben könne. „Ich dächte, erwiederte Goethe, daß die Liebe von Schwester zur Schwester noch reiner und geschlechts¬ loser wäre! Wir müßten denn nicht wissen, daß un¬ zählige Fälle vorgekommen sind, wo zwischen Schwester und Bruder, bekannter- und unbekannterweise, die sinnlichste Neigung stattgefunden.“ „Ueberhaupt, fuhr Goethe fort, werden Sie be¬ merkt haben, daß Hinrichs bei Betrachtung der griechischen Tragödie ganz von der Idee ausgeht, und daß er sich auch den Sophokles als einen Solchen denkt, der bei Erfindung und Anordnung seiner Stücke gleichfalls von einer Idee ausging und danach seine Charaktere und deren Geschlecht und Stand bestimmte. Sophokles ging aber bei seinen Stücken keineswegs von einer Idee aus, vielmehr ergriff er irgend eine längst fertige Sage seines Volkes, worin bereits eine gute Idee vorhanden, und dachte nur darauf, diese für das Theater so gut und wirksam als möglich darzustellen. Den Ajas wollen die Atreiden auch nicht beerdigen lassen; aber so wie in der Antigone die Schwester für den Bruder strebt, so strebt im Ajas der Bruder für den Bruder. Daß sich des unbeerdigten Polineikes die Schwester und des gefallenen Ajas der Bruder an¬ nimmt, ist zufällig und gehört nicht der Erfindung des Dichters, sondern der Ueberlieferung, welcher der Dichter folgte und folgen mußte.“ Auch was er über die Handlungsweise des Kreon sagt, versetzte ich, scheint ebensowenig Stich zu halten. Er sucht durchzuführen, daß dieser bei dem Verbot der Beerdigung des Polineikes aus reiner Staatstugend handele; und da nun Kreon nicht bloß ein Mann, sondern auch ein Fürst ist, so stellt er den Satz auf, daß, da der Mann die tragische Macht des Staates vorstelle, dieses kein Anderer seyn könne, als derjenige, welcher die Persönlichkeit des Staates selber sey , nämlich der Fürst , und daß von allen Personen der Mann als Fürst diejenige Person sey, welche die sittlichste Staatstugend übe. „Das sind Behauptungen, erwiederte Goethe mit einigem Lächeln, an die wohl Niemand glauben wird. Kreon handelt auch keineswegs aus Staatstugend, son¬ dern aus Haß gegen den Todten. Wenn Polineikes sein väterliches Erbtheil, woraus man ihn gewaltsam vertrieben, wieder zu erobern suchte, so lag darin keines¬ wegs ein so unerhörtes Vergehen gegen den Staat, daß sein Tod nicht genug gewesen wäre und daß es noch der Bestrafung des unschuldigen Leichnams be¬ durft hätte.“ „Man sollte überhaupt nie eine Handlungsweise eine Staatstugend nennen, die gegen die Tugend im Allgemeinen geht. Wenn Kreon den Polineikes zu beerdigen verbietet und durch den verwesenden Leich¬ nam nicht bloß die Luft verpestet, sondern auch Ursache ist, daß Hunde und Raubvögel die abgerissenen Stücke des Todten umherschleppen und damit sogar die Altäre besudeln, so ist eine solche Menschen und Götter belei¬ digende Handlungsweise keinesweges eine Staats- Tugend , sondern vielmehr ein Staats- Verbrechen . Auch hat er das ganze Stück gegen sich. Er hat die Aeltesten des Staats, welche den Chor bilden, gegen sich; er hat das Volk im Allgemeinen gegen sich; er hat den Teiresias gegen sich; er hat seine eigene Familie gegen sich. Er aber hört nicht, sondern frevelt eigen¬ sinnig fort, bis er alle die Seinigen zu Grunde gerichtet hat und er selber am Ende nur noch ein Schatten ist.“ Und doch, sagte ich, wenn man ihn reden hört, so sollte man glauben, daß er einiges Recht habe. „Das ist's eben, erwiederte Goethe, worin So¬ phokles ein Meister ist und worin überhaupt das Leben des Dramatischen besteht. Seine Charaktere besitzen alle eine solche Redegabe und wissen die Motive ihrer Handlungsweise so überzeugend darzulegen, daß der Zuhörer fast immer auf der Seite dessen ist, der zuletzt gesprochen hat.“ „Man sieht, er hat in seiner Jugend eine sehr tüch¬ tige rhetorische Bildung genossen, wodurch er denn geübt worden, alle in einer Sache liegenden Gründe und Scheingründe aufzusuchen. Doch verleitete ihn diese seine große Fähigkeit auch zu Fehlern, indem er mitunter in den Fall kam, zu weit zu gehen.“ „So kommt in der Antigone eine Stelle vor, die mir immer als ein Flecken erscheint, und worum ich Vieles geben möchte, wenn ein tüchtiger Philologe uns bewiese, sie wäre eingeschoben und unächt.“ „Nachdem nämlich die Heldin im Laufe des Stückes die herrlichsten Gründe für ihre Handlung ausge¬ sprochen und den Edelmuth der reinsten Seele ent¬ wickelt hat, bringt sie zuletzt, als sie zum Tode geht, ein Motiv vor, das ganz schlecht ist und fast an's Komische streift.“ „Sie sagt, daß sie das, was sie für ihren Bruder gethan, wenn sie Mutter gewesen wäre, nicht für ihre gestorbenen Kinder und nicht für ihren gestorbenen Gatten gethan haben würde. Denn, sagt sie, wäre mir ein Gatte gestorben, so hätte ich einen anderen ge¬ nommen, und wären mir Kinder gestorben, so hätte ich mir von dem neuen Gatten andere Kinder zeugen lassen. Allein mit meinem Bruder ist es ein Anderes. Einen Bruder kann ich nicht wieder bekommen, denn da mein Vater und meine Mutter todt sind, so ist Niemand da, der ihn zeugen könnte.“ „Dieß ist wenigstens der nackte Sinn dieser Stelle, die nach meinem Gefühl in dem Munde einer zum Tode gehenden Heldin die tragische Stimmung stört, und die mir überhaupt sehr gesucht und gar zu sehr als ein dialektisches Calcül erscheint. — Wie gesagt, ich möchte sehr gerne, daß ein guter Philologe uns bewiese, die Stelle sey unächt.“ Wir sprachen darauf über Sophokles weiter und daß er bei seinen Stücken weniger eine sittliche Tendenz vor Augen gehabt, als eine tüchtige Behandlung seines III . 9 jedesmaligen Gegenstandes, besonders mit Rücksicht auf theatralische Wirkung. „Ich habe nichts dawider, sagte Goethe, daß ein dramatischer Dichter eine sittliche Wirkung vor Augen habe; allein wenn es sich darum handelt, seinen Ge¬ genstand klar und wirksam vor den Augen des Zuschauers vorüberzuführen, so können ihm dabei seine sittlichen Endzwecke wenig helfen und er muß vielmehr ein gro¬ ßes Vermögen der Darstellung und Kenntniß der Bretter besitzen, um zu wissen, was zu thun und zu lassen. Liegt im Gegenstande eine sittliche Wirkung, so wird sie auch hervorgehen, und hätte der Dichter weiter nichts im Auge, als seines Gegenstandes wirk¬ same und kunstgemäße Behandlung. Hat ein Poet den hohen Gehalt der Seele wie Sophokles, so wird seine Wirkung immer sittlich seyn, er mag sich stellen, wie er wolle. Uebrigens kannte er die Bretter und verstand sein Metier wie Einer.“ Wie sehr er das Theater kannte, versetzte ich, und wie sehr er eine theatralische Wirkung im Auge hatte, sieht man an seinem Philoktet und der großen Aehn¬ lichkeit, die dieses Stück in der Anordnung und dem Gange der Handlung mit dem Oedip in Kolonos hat. In beiden Stücken sehen wir den Helden in einem hülflosen Zustande, Beide alt und an körperlichen Ge¬ brechen leidend. Der Oedip hat als Stütze die füh¬ rende Tochter zur Seite; der Philoktet den Bogen. Nun geht die Aehnlichkeit weiter. Beide hat man in ihrem Leiden verstoßen; aber nachdem das Orakel über Beide ausgesagt, daß nur mit ihrer Hülfe der Sieg erlangt werden könne, so sucht man Beider wieder habhaft zu werden. Zum Philoktet kommt der Odysseus, zum Oedip der Kreon. Beide beginnen ihre Reden mit List und süßen Worten; als aber diese nichts fruch¬ ten, so brauchen sie Gewalt, und wir sehen den Phi¬ loktet des Bogens und den Oedip der Tochter beraubt. „Solche Gewaltthätigkeiten, sagte Goethe, gaben Anlaß zu trefflichen Wechselreden, und solche hülflose Zustände erregten die Gemüther des hörenden und schauenden Volkes, weßhalb denn solche Situationen vom Dichter, dem es um Wirkung auf sein Publicum zu thun war, gerne herbeigeführt wurden. Um diese Wirkung beim Oedip zu verstärken, läßt ihn Sophokles als schwachen Greis auftreten, da er doch, allen Um¬ ständen nach, noch ein Mann in seiner besten Blüthe seyn mußte. Aber in so rüstigem Alter konnte ihn der Dichter in diesem Stück nicht gebrauchen, er hätte keine Wirkung gethan, und er machte ihn daher zu einem schwachen, hülfsbedürftigen Greise.“ Die Aehnlichkeit mit dem Philoktet, fuhr ich fort, geht weiter. Beide Helden des Stückes sind nicht handelnd, sondern duldend . Dagegen hat jeder dieser passiven Helden der handelnden Figuren zwei gegen sich. Der Oedip den Kreon und Polineikes, der Phi¬ 9* loktet den Neoptolemos und Odyß. Und zwei solcher gegenwirkenden Figuren waren nöthig, um den Gegen¬ stand von allen Seiten zur Sprache zu bringen und um auch für das Stück selbst die gehörige Fülle und Körperlichkeit zu gewinnen. „Sie könnten noch hinzufügen, nahm Goethe das Wort, daß beide Stücke auch darin Aehnlichkeit haben, daß wir in beiden die höchst wirksame Situation eines freudigen Wechsels sehen, indem dem einen Helden in seiner Trostlosigkeit die geliebte Tochter, und dem andern der nicht weniger geliebte Bogen zurückgegeben wird.“ „Auch sind die versöhnenden Ausgänge beider Stücke sich ähnlich, indem beide Helden aus ihren Leiden Er¬ lösung erlangen; der Oedip, indem er selig entrückt wird, der Philoktet aber, indem wir durch Götterspruch seine Heilung vor Ilion durch den Aeskulap voraus¬ sehen.“ „Wenn wir übrigens, fuhr Goethe fort, für unsere modernen Zwecke lernen wollen, uns auf dem Theater zu benehmen, so wäre Moli è re der Mann, an den wir uns zu wenden hätten.“ „Kennen Sie seinen Malade imaginaire ? Es ist darin eine Scene, die mir, so oft ich das Stück lese, immer als Symbol einer vollkommenen Bretter-Kenntniß er¬ scheint. Ich meine die Scene, wo der eingebildete Kranke seine kleine Tochter Louison befragt, ob nicht in dem Zimmer ihrer älteren Schwester ein junger Mann gewesen.“ „Nun hätte ein Anderer, der das Metier nicht so gut verstand, wie Moli è re, die kleine Louison das Fac¬ tum sogleich ganz einfach erzählen lassen, und es wäre gethan gewesen.“ „Was bringt aber Moli è re durch allerlei retardirende Motive in diese Examination für Leben und Wirkung, indem er die kleine Louison zuerst thun läßt, als ver¬ stehe sie ihren Vater nicht; dann läugnet, daß sie etwas wisse; dann, von der Ruthe bedroht, wie todt hinfällt; dann, als der Vater in Verzweiflung ausbricht, aus ihrer fingirten Ohnmacht wieder schelmisch-heiter auf¬ springt, und zuletzt nach und nach Alles gesteht.“ „Diese meine Andeutung giebt Ihnen von dem Le¬ ben jenes Auftritts nur den allermagersten Begriff; aber lesen Sie die Scene selbst und durchdringen Sie sich von ihrem theatralischen Werthe, und Sie werden geste¬ hen, daß darin mehr praktische Lehre enthalten, als in sämmtlichen Theorieen.“ „Ich kenne und liebe Moli è re, fuhr Goethe fort, seit meiner Jugend und habe während meines ganzen Lebens von ihm gelernt. Ich unterlasse nicht, jährlich von ihm einige Stücke zu lesen, um mich immer im Verkehr des Vortrefflichen zu erhalten. Es ist nicht bloß das vollendete künstlerische Verfahren, was mich an ihm entzückt, sondern vorzüglich auch das liebenswürdige Naturell, das hochgebildete Innere des Dichters. Es ist in ihm eine Grazie und ein Tact für das Schick¬ liche, und ein Ton des feinen Umgangs, wie es seine angeborene schöne Natur nur im täglichen Verkehr mit den vorzüglichsten Menschen seines Jahrhunderts er¬ reichen konnte. — Von Menander kenne ich nur die wenigen Bruchstücke; aber diese geben mir von ihm gleichfalls eine so hohe Idee, daß ich diesen großen Griechen für den einzigen Menschen halte, der mit Mo¬ li è re wäre zu vergleichen gewesen.“ Ich bin glücklich, erwiederte ich, Sie so gut über Moli è re reden zu hören. Das klingt freilich ein wenig anders als Herr v. Schlegel! Ich habe noch in diesen Tagen in seinen Vorlesungen über dramatische Poesie mit großem Widerwillen verschluckt, was er über Mo¬ li è re sagt. Er behandelt ihn, wie Sie wissen, ganz von oben herab, als einen gemeinen Possenreißer, der die gute Gesellschaft nur aus der Ferne gesehen und dessen Gewerbe es gewesen, zur Ergötzung seines Herrn allerlei Schwänke zu erfinden. In solchen niedrig¬ lustigen Schwänken sey er noch am glücklichsten gewesen; doch habe er das Beste gestohlen. Zu der höheren Gattung des Lustspiels habe er sich zwingen müssen, und es sey ihm nie damit gelungen. „Einem Menschen wie Schlegel, erwiederte Göthe, ist freilich eine so tüchtige Natur wie Moli è re ein wahrer Dorn im Auge; er fühlt, daß er von ihm keine Ader hat, er kann ihn nicht ausstehen. Der Misanthrop, den ich, als eins meiner liebsten Stücke in der Welt, immer wieder lese, ist ihm zuwider; den Tartüff lobt er gezwungenerweise ein Bißchen, aber er setzt ihn sogleich wieder herab, so viel er nur kann. Daß Moli è re die Affectationen gelehrter Frauen lächer¬ lich gemacht, kann Schlegel ihm nicht verzeihen; er fühlt wahrscheinlich, wie einer meiner Freunde bemerkte, daß er ihn selbst lächerlich gemacht haben würde, wenn er mit ihm gelebt hätte.“ „Es ist nicht zu läugnen, fuhr Göthe fort, Schlegel weiß unendlich viel, und man erschrickt fast über seine außerordentlichen Kenntnisse und seine große Belesenheit. Allein damit ist es nicht gethan. Alle Gelehrsamkeit ist noch kein Urtheil. Seine Kritik ist durchaus ein¬ seitig, indem er fast bei allen Theaterstücken bloß das Skelett der Fabel und Anordnung vor Augen hat, und immer nur kleine Aehnlichkeiten mit großen Vorgängern nachweiset, ohne sich im Mindesten darum zu beküm¬ mern, was der Autor uns von anmuthigem Leben und Bildung einer hohen Seele entgegenbringt. Was helfen aber alle Künste des Talents, wenn aus einem Theater¬ stücke uns nicht eine liebenswürdige oder große Per¬ sönlichkeit des Autors entgegenkommt! dieses Einzige, was in die Cultur des Volkes übergeht.“ „In der Art und Weise, wie Schlegel, das Fran¬ zösische Theater behandelt, finde ich das Recept zu einem schlechten Recensenten, dem jedes Organ für die Verehrung des Vortrefflichen mangelt, und der über eine tüchtige Natur und einen großen Charakter hin¬ geht, als wäre es Spreu und Stoppel.“ Den Shakspeare und Calderon dagegen, versetzte ich, behandelt er gerecht, und sogar mit entschiedener Neigung. „Beide, erwiederte Göthe, sind freilich der Art, daß man über sie nicht Gutes genug sagen kann, wiewohl ich mich auch nicht wundern würde, wenn Schlegel sie gleichfalls ganz schmählich herabgesetzt hätte. So ist er auch gegen Aeschylus und Sophokles gerecht; allein dieß scheint nicht sowohl zu geschehen, weil er von ihrem ganz außerordentlichen Werthe lebendig durch¬ drungen wäre, als weil es bei den Philologen herkömm¬ lich ist, Beide sehr hoch zu stellen. Denn im Grunde reicht doch Schlegel's eigenes Persönchen nicht hin, so hohe Naturen zu begreifen und gehörig zu schätzen. Wäre dieß, so müßte er auch gegen Euripides gerecht seyn und auch gegen diesen ganz anders zu Werke ge¬ hen, als er gethan. Von diesem weiß er aber, daß die Philologen ihn nicht eben sonderlich hoch halten, und er verspürt daher kein geringes Behagen, daß es ihm, auf so große Autorität hin, vergönnt ist, über diesen großen Alten ganz schändlich herzufallen und ihn zu schulmeistern, wie er kann.“ „Ich habe nichts dawider, daß Euripides seine Fehler habe; allein er war von Sophokles und Aeschylus doch immerhin ein sehr ehrenwerther Mitstreiter. Wenn er nicht den hohen Ernst und die strenge Kunstvollendung seiner beiden Vorgänger besaß und dagegen als Theater¬ dichter die Dinge ein wenig läßlicher und menschlicher tractirte, so kannte er wahrscheinlich seine Athenienser hinreichend, um zu wissen, daß der von ihm angestimmte Ton für seine Zeitgenossen eben der rechte sey. Ein Dichter aber, den Socrates seinen Freund nannte, den Aristoteles hochstellte, den Menander bewunderte, und um den Sophokles und die Stadt Athen bei der Nach¬ richt von seinem Tode Trauerkleider anlegte, mußte doch wohl in der That etwas seyn. Wenn ein moderner Mensch, wie Schlegel, an einem so großen Alten Fehler zu rügen hätte, so sollte es billig nicht anders geschehen, als auf den Knieen.“ Sonntag, den 1. April 1827. Abends bei Goethe. Ich sprach mit ihm über die gestrige Vorstellung seiner Iphigenie , worin Herr Krüger , vom Königlichen Theater zu Berlin, den Orest spielte, und zwar zu großem Beifall. „Das Stück, sagte Goethe, hat seine Schwierig¬ keiten. Es ist reich an innerem Leben, aber arm an äußerem. Daß aber das innere Leben hervorgekehrt werde, darin liegt's. Es ist voll der wirksamsten Mittel, die aus den mannigfaltigsten Gräueln hervorwachsen, die dem Stück zu Grunde liegen. Das gedruckte Wort ist freilich nur ein matter Widerschein von dem Leben, das in mir bei der Erfindung rege war. Aber der Schauspieler muß uns zu dieser ersten Gluth, die den Dichter seinem Sujet gegenüber beseelte, wieder zurück¬ bringen. Wir wollen von der Meerluft frisch ange¬ wehte, kraftvolle Griechen und Helden sehen, die, von mannigfaltigen Uebeln und Gefahren geängstigt und be¬ drängt, stark herausreden, was ihnen das Herz im Bu¬ sen gebietet. Aber wir wollen keine schwächlich empfin¬ denden Schauspieler, die ihre Rollen nur so obenhin aus¬ wendig gelernt haben; am wenigsten aber solche, die ihre Rollen nicht einmal können.“ „Ich muß gestehen, es hat mir noch nie gelingen wollen, eine vollendete Aufführung meiner Iphigenie zu erleben. Das war auch die Ursache, warum ich gestern nicht hineinging. Denn ich leide entsetzlich, wenn ich mich mit diesen Gespenstern herumschlagen muß, die nicht so zur Erscheinung kommen, wie sie sollten.“ Mit dem Orest, wie Herr Krüger ihn gab, sagte ich, würden Sie wahrscheinlich zufrieden gewesen seyn. Sein Spiel hatte eine Deutlichkeit, daß nichts begreif¬ licher, nichts faßlicher war, als seine Rolle. Es drang sich Alles ein, und ich werde seine Bewegungen und Worte nicht vergessen. Dasjenige, was in dieser Rolle der exaltirten An¬ schauung, der Vision, gehört, trat durch seine körper¬ lichen Bewegungen und den veränderten abwechselnden Ton seiner Stimme so aus seinem Innern heraus, daß man es mit leiblichen Augen zu sehen glaubte. Beim Anblick dieses Orest hätte Schiller die Furien sicher nicht vermißt; sie waren hinter ihm her, sie waren um ihn herum. Die bedeutende Stelle, wo Orest, aus seiner Er¬ mattung erwachend, sich in die Unterwelt versetzt glaubt, gelang zu hohem Erstaunen. Man sah die Reihen der Ahnherren in Gesprächen wandeln, man sah Orest sich ihnen gesellen, sie befragen und sich an sie anschließen. Man fühlte sich selbst versetzt und in die Mitte dieser Seligen mit aufgenommen, so rein und tief war die Empfindung des Künstlers und so groß sein Vermögen, das Unfaßlichste uns vor die Augen zu bringen. „Ihr seid doch noch Leute, auf die sich wirken läßt! erwiederte Göthe lachend. Aber fahren Sie fort und sagen Sie weiter. Er scheint also wirklich gut gewesen zu seyn und seine körperlichen Mittel von Bedeutung?“ Sein Organ, sagte ich, war rein und wohltönend, auch viel geübt und dadurch der höchsten Biegsamkeit und Mannigfaltigkeit fähig. Physische Kraft und kör¬ perliche Gewandtheit standen ihm sodann bei Aus¬ führung aller Schwierigkeiten zur Seite. Es schien, daß er es sein Lebelang an der mannigfaltigsten körper¬ lichen Ausbildung und Uebung nicht hatte fehlen lassen. „Ein Schauspieler, sagte Goethe, sollte eigentlich auch bei einem Bildhauer und Maler in die Lehre ge¬ hen. So ist ihm, um einen griechischen Helden darzu¬ stellen, durchaus nöthig, daß er die auf uns gekom¬ menen antiken Bildwerke wohl studirt und sich die ungesuchte Grazie ihres Sitzens, Stehens und Gehens wohl eingeprägt habe.“ „Auch ist es mit dem Körperlichen noch nicht ge¬ than. Er muß auch durch ein fleißiges Studium der besten alten und neuen Schriftsteller seinem Geiste eine große Ausbildung geben, welches ihm denn nicht bloß zum Verständniß seiner Rolle zu Gute kommen, sondern auch seinem ganzen Wesen und seiner ganzen Haltung einen höheren Anstrich geben wird. Doch erzählen Sie weiter! Was war denn noch sonst Gutes an ihm zu bemerken?“ Es schien mir, sagte ich, als habe ihm eine große Liebe für seinen Gegenstand beigewohnt. Er hatte durch ein emsiges Studium sich alles Einzelne klar gemacht, so daß er in seinem Helden mit großer Frei¬ heit lebte und webte und nichts übrig blieb, was nicht durchaus wäre das Seinige geworden. Hieraus ent¬ stand denn ein richtiger Ausdruck und eine richtige Betonung jedes einzelnen Wortes, und eine solche Sicherheit, daß für ihn der Souffleur eine ganz über¬ flüssige Person war. „Das freut mich, sagte Goethe, und so ist es recht. Nichts ist schrecklicher, als wenn die Schauspieler nicht Herr ihrer Rolle sind und bei jedem neuen Satze nach dem Souffleur horchen müssen, wodurch ihr Spiel sogleich null ist, und sogleich ohne alle Kraft und Leben. Wenn bei einem Stück, wie meine Iphigenie, die Schauspieler in ihren Rollen nicht durchaus fest sind, so ist es besser, die Aufführung zu unterlassen. Denn das Stück kann bloß Erfolg haben, wenn Alles sicher, rasch und lebendig geht.“ „Nun, nun! — Es ist mir lieb, daß es mit Krü¬ gern so gut abgelaufen. Zelter hatte ihn mir empfohlen, und es wäre mir fatal gewesen, wenn es mit ihm nicht so gut gegangen wäre, wie es ist. Ich werde ihm auch meinerseits einen kleinen Spaß machen und ihm ein hübsch eingebundenes Exemplar der Iphigenie zum Andenken verehren, mit einigen eingeschriebenen Versen in Bezug auf sein Spiel.“ Das Gespräch lenkte sich auf die Antigone von Sophokles, auf die darin waltende hohe Sittlichkeit, und endlich auf die Frage: wie das Sittliche in die Welt gekommen? „Durch Gott selber, erwiederte Goethe, wie alles andere Gute. Es ist kein Product menschlicher Reflec¬ tion, sondern es ist angeschaffene und angeborene schöne Natur. Es ist mehr oder weniger den Menschen im Allgemeinen angeschaffen, im hohen Grade aber einzel¬ nen, ganz vorzüglich begabten Gemüthern. Diese haben durch große Thaten oder Lehren ihr göttliches Innere offenbaret, welches sodann durch die Schönheit seiner Erscheinung die Liebe der Menschen ergriff und zur Verehrung und Nacheiferung gewaltig fortzog.“ „Der Werth des Sittlich-Schönen und Guten aber konnte durch Erfahrung und Weisheit zum Bewußtseyn gelangen, indem das Schlechte sich in seinen Folgen als ein Solches erwies, welches das Glück des Einzelnen wie des Ganzen zerstörte, dagegen das Edle und Rechte als ein Solches, welches das besondere und allgemeine Glück herbeiführte und befestigte. So konnte das Sitt¬ lich-Schöne zur Lehre werden und sich als ein Ausge¬ sprochenes über ganze Völkerschaften verbreiten.“ Ich las neulich irgendwo die Meinung ausgesprochen, versetzte ich, die griechische Tragödie habe sich die Schön¬ heit des Sittlichen zum besondern Gegenstand gemacht. „Nicht sowohl das Sittliche, erwiederte Goethe, als das Rein-Menschliche in seinem ganzen Umfange; be¬ sonders aber in den Richtungen, wo es, mit einer rohen Macht und Satzung in Conflict gerathend, tragi¬ scher Natur werden konnte. In dieser Region lag denn freilich auch das Sittliche, als ein Haupt-Theil der menschlichen Natur.“ „Das Sittliche der Antigone ist übrigens nicht von Sophokles erfunden, sondern es lag im Süjet, welches aber Sophokles um so lieber wählen mochte, als es neben der sittlichen Schönheit so viel Dramatisch-Wirk¬ sames in sich hatte.“ Goethe sprach sodann über den Charakter des Kreon und der Ismene , und über die Nothwendigkeit dieser beiden Figuren zur Entwickelung der schönen Seele der Heldin. „Alles Edle, sagte er, ist an sich stiller Natur und scheint zu schlafen, bis es durch Widerspruch geweckt und herausgefordert wird. Ein solcher Widerspruch ist Kreon, welcher theils der Antigone wegen da ist, damit sich ihre edle Natur und das Recht, was auf ihrer Seite liegt, an ihm hervorkehre, theils aber um sein selbst willen, damit sein unseliger Irrthum uns als ein Hassenswürdiges erscheine.“ „Da aber Sophokles uns das hohe Innere seiner Heldin auch vor der That zeigen wollte, so mußte noch ein anderer Widerspruch daseyn, woran sich ihr Charakter entwickeln konnte, und das ist die Schwester Ismene . In dieser hat der Dichter uns nebenbei ein schönes Maaß des Gewöhnlichen gegeben, woran uns die ein solches Maaß weit übersteigende Höhe der Antigone desto auffallender sichtbar wird.“ Das Gespräch wendete sich auf dramatische Schrift¬ steller im Allgemeinen, und welche bedeutende Wirkung auf die große Masse des Volkes von ihnen ausgehe und ausgehen könne. „Ein großer dramatischer Dichter, sagte Goethe, wenn er zugleich productiv ist und ihm eine mächtige edle Gesinnung beiwohnt, die alle seine Werke durch¬ dringt, kann erreichen, daß die Seele seiner Stücke zur Seele des Volkes wird. Ich dächte, das wäre etwas, das wohl der Mühe werth wäre. Von Cor¬ neille ging eine Wirkung aus, die fähig war, Helden¬ seelen zu bilden. Das war etwas für Napoleon, der ein Heldenvolk nöthig hatte; weßhalb er denn von Corneille sagte, daß, wenn er noch lebte, er ihn zum Fürsten machen würde. Ein dramatischer Dichter, der seine Bestimmung kennt, soll daher unablässig an seiner höheren Entwickelung arbeiten, damit die Wirkung, die von ihm auf das Volk ausgeht, eine wohlthätige und edle sey.“ „Man studire nicht die Mitgeborenen und Mit¬ strebenden, sondern große Menschen der Vorzeit, deren Werke seit Jahrhunderten gleichen Werth und gleiches Ansehen behalten haben. Ein wirklich hochbegabter Mensch wird das Bedürfniß dazu ohnedieß in sich fühlen, und gerade dieses Bedürfniß des Umgangs mit großen Vorgängern ist das Zeichen einer höheren An¬ lage. Man studire Moli è re, man studire Shakspeare, aber vor allen Dingen die alten Griechen und immer die Griechen.“ Für hochbegabte Naturen, bemerkte ich, mag das Studium der Schriften des Alterthums allerdings ganz unschätzbar seyn; allein im Allgemeinen scheint es auf den persönlichen Charakter wenig Einfluß auszuüben. Wenn das wäre, so müßten ja alle Philologen und Theologen die vortrefflichsten Menschen seyn. Dieß ist aber keineswegs der Fall, und es sind solche Kenner der griechischen und lateinischen Schriften des Alterthums eben tüchtige Leute, oder auch arme Wichte, je nach den guten oder schlechten Eigenschaften, die Gott in ihre Natur gelegt, oder die sie von Vater und Mutter mitbrachten. „Dagegen ist nichts zu erinnern, erwiederte Göthe; aber damit ist durchaus nicht gesagt, daß das Studium der Schriften des Alterthums für die Bildung eines Charakters überall ohne Wirkung wäre. Ein Lump bleibt freilich ein Lump, und eine kleinliche Natur wird durch einen selbst täglichen Verkehr mit der Großheit antiker Gesinnung um keinen Zoll größer werden. Allein ein edler Mensch, in dessen Seele Gott die Fähigkeit künftiger Charaktergröße und Geisteshoheit gelegt, wird durch die Bekanntschaft und den vertrau¬ lichen Umgang mit den erhabenen Naturen griechischer und römischer Vorzeit sich auf das Herrlichste entwickeln und mit jedem Tage zusehends zu ähnlicher Größe heranwachsen.“ Mittwoch, den 18. April 1827. Mit Göthe vor Tisch spazieren gefahren eine Strecke die Straße nach Erfurt hinaus. Es begegnete uns allerhand Frachtfuhrwerk mit Waaren für die Leipziger III . 10 Messe. Auch einige Züge Koppelpferde, worunter sehr schöne Thiere. „Ich muß über die Aesthetiker lachen, sagte Göthe, welche sich abquälen, dasjenige Unaussprechliche, wofür wir den Ausdruck schön gebrauchen, durch einige ab¬ stracte Worte in einen Begriff zu bringen. Das Schöne ist ein Urphänomen, das zwar nie selber zur Erschei¬ nung kommt, dessen Abglanz aber in tausend verschie¬ denen Aeußerungen des schaffenden Geistes sichtbar wird, und so mannigfaltig und so verschiedenartig ist, als die Natur selber.“ Ich habe oft aussprechen hören, sagte ich, die Na¬ tur sey immer schön; sie sey die Verzweiflung des Künstlers, indem er selten fähig sey, sie ganz zu er¬ reichen. „Ich weiß wohl, erwiederte Goethe, daß die Natur oft einen unerreichbaren Zauber entfaltet; allein ich bin keineswegs der Meinung, daß sie in allen ihren Aeuße¬ rungen schön sey. Ihre Intentionen sind zwar immer gut, allein die Bedingungen sind es nicht, die dazu gehören, sie stets vollkommen zur Erscheinung gelangen zu lassen.“ „So ist die Eiche ein Baum, der sehr schön seyn kann. Doch wie viele günstige Umstände müssen zu¬ sammentreffen, ehe es der Natur einmal gelingt, ihn wahrhaft schön hervorzubringen! Wächst die Eiche im Dickicht des Waldes heran, von bedeutenden Nachbar¬ stämmen umgeben, so wird ihre Tendenz immer nach oben gehen, immer nach freier Luft und Licht. Nach den Seiten hin wird sie nur wenige schwache Aeste treiben, und auch diese werden im Laufe des Jahrhun¬ derts wieder verkümmern und abfallen. Hat sie aber endlich erreicht, sich mit ihrem Gipfel oben im Freien zu fühlen, so wird sie sich beruhigen und nun anfangen sich nach den Seiten hin auszubreiten und eine Krone zu bilden. Allein sie ist auf dieser Stufe bereits über ihr mittleres Alter hinaus, ihr vieljähriger Trieb nach oben hat ihre frischesten Kräfte hingenommen, und ihr Bestreben, sich jetzt noch nach der Breite hin mächtig zu erweisen, wird nicht mehr den rechten Erfolg haben. Hoch, stark und schlankstämmig wird sie nach vollen¬ detem Wuchse dastehen, doch ohne ein solches Verhält¬ niß zwischen Stamm und Krone, um in der That schön zu seyn.“ „Wächst hinwieder die Eiche an feuchten, sumpfigen Orten und ist der Boden zu nahrhaft, so wird sie, bei gehörigem Raum, frühzeitig viele Aeste und Zweige nach allen Seiten treiben; es werden jedoch die widerstre¬ benden, retardirenden Einwirkungen fehlen, das Knorrige, Eigensinnige, Zackige wird sich nicht entwickeln, und, aus einiger Ferne gesehen, wird der Baum ein schwaches, lindenartiges Ansehen gewinnen, und er wird nicht schön seyn, wenigstens nicht als Eiche.“ „Wächst sie endlich an bergigen Abhängen, auf dürf¬ 10 * tigem steinigten Erdreich, so wird sie zwar im Ueber¬ maß zackig und knorrig erscheinen, allein es wird ihr an freier Entwickelung fehlen, sie wird in ihrem Wuchs frühzeitig kümmern und stocken, und sie wird nie errei¬ chen, daß man von ihr sage: es walte in ihr etwas, das fähig sey, uns in Erstaunen zu setzen.“ Ich freute mich dieser guten Worte. Sehr schöne Eichen, sagte ich, habe ich gesehen, als ich vor einigen Jahren von Göttingen aus mitunter kleine Touren ins Weserthal machte. Besonders mächtig fand ich sie im Solling in der Gegend von Höxter. „Ein sandiger oder mit Sand gemischter Boden, fuhr Goethe fort, wo ihr nach allen Richtungen hin mächtige Wurzeln zu treiben vergönnt ist, scheint ihr am günstigsten zu seyn. Und dann will sie einen Stand, der ihr gehörigen Raum gewährt, alle Einwir¬ kungen von Licht und Sonne und Regen und Wind von allen Seiten her in sich aufzunehmen. Im behag¬ lichen Schutz vor Wind und Wetter herangewachsen, wird aus ihr nichts; aber ein hundertjähriger Kampf mit den Elementen macht sie stark und mächtig, so daß nach vollendetem Wuchs ihre Gegenwart uns Erstaunen und Bewunderung einflößt.“ Könnte man nicht aus diesen Ihren Andeutungen, versetzte ich, ein Resultat ziehen und sagen: ein Ge¬ schöpf sey dann schön, wenn es zu dem Gipfel seiner natürlichen Entwickelung gelangt sey? „Recht wohl, erwiederte Goethe; doch müßte man zuvor aussprechen, was man unter dem Gipfel der natürlichen Entwickelung wolle verstanden haben.“ Ich würde damit, erwiederte ich, diejenige Periode des Wachsthums bezeichnen, wo der Charakter, der diesem oder jenem Geschöpf eigenthümlich ist, vollkom¬ men ausgeprägt erscheint. „In diesem Sinne, erwiederte Goethe, wäre nichts dagegen einzuwenden, besonders wenn man noch hinzu¬ fügte, daß zu solchem vollkommen ausgeprägten Cha¬ rakter zugleich gehöre, daß der Bau der verschiedenen Glieder eines Geschöpfes dessen Naturbestimmung an¬ gemessen und also zweckmäßig sey.“ „So wäre z. B. ein mannbares Mädchen, dessen Naturbestimmung ist, Kinder zu gebären und Kinder zu säugen, nicht schön ohne gehörige Breite des Beckens und ohne gehörige Fülle der Brüste. Doch wäre auch ein Zuviel nicht schön, denn das würde über das Zweck¬ mäßige hinausgehen.“ „Warum konnten wir vorhin einige der Reitpferde, die uns begegneten, schön nennen, als eben wegen der Zweckmäßigkeit ihres Baues. Es war nicht bloß das Zierliche, Leichte, Graziöse ihrer Bewegungen, sondern noch etwas mehr, worüber ein guter Reiter und Pferde¬ kenner reden müßte und wovon wir Anderen bloß den allgemeinen Eindruck empfinden.“ Könnte man nicht auch, sagte ich, einen Karrengaul schön nennen, wie uns vorhin einige sehr starke vor den Frachtwagen der Brabanter Fuhrleute begegneten? „Allerdings! erwiederte Goethe; und warum nicht? Ein Maler fände an dem stark ausgeprägten Charakter, an dem mächtigen Ausdruck von Knochen, Sehnen und Muskeln eines solchen Thieres wahrscheinlich noch ein weit mannigfaltigeres Spiel von allerlei Schönheiten, als an dem milderen, egaleren Charakter eines zier¬ lichen Reitpferdes.“ „Die Hauptsache ist immer, fuhr Goethe fort, daß die Ra ç e rein und der Mensch nicht seine verstümmelnde Hand angelegt hat. Ein Pferd, dem Schweif und Mähne abgeschnitten, ein Hund mit gestutzten Ohren, ein Baum, dem man die mächtigsten Zweige genommen und das Uebrige kugelförmig geschnitzelt hat, und über Alles eine Jungfrau, deren Leib von Jugend auf durch Schnürbrüste verdorben und entstellt worden, alles die¬ ses sind Dinge, von denen sich der gute Geschmack ab¬ wendet und die bloß in dem Schönheits-Katechismus der Philister ihre Stelle haben.“ Unter diesen und ähnlichen Gesprächen waren wir wieder zurückgekehrt. Wir machten vor Tisch noch einige Gänge im Hausgarten. Das Wetter war sehr schön; die Frühlingssonne fing an mächtig zu werden und an Büschen und Hecken schon allerlei Laub und Blüthen hervorzulocken. Goethe war voller Gedanken und Hoff¬ nungen eines genußreichen Sommers. Darauf bei Tisch, waren wir sehr heiter. Der junge Goethe hatte die Helena seines Vaters gelesen und sprach darüber mit vieler Einsicht eines natürlichen Verstandes. Ueber den im antiken Sinne gedichteten Theil ließ er eine entschiedene Freude blicken, während ihm die opernartige romantische Hälfte, wie man mer¬ ken konnte, beim Lesen nicht lebendig geworden. „Du hast im Grunde recht, und es ist ein eigenes Ding, sagte Goethe. Man kann zwar nicht sagen, daß das Vernünftige immer schön sey; allein das Schöne ist doch immer vernünftig, oder wenigstens es sollte so seyn. Der antike Theil gefällt dir aus dem Grunde, weil er faßlich ist, weil du die einzelnen Theile über¬ sehen und du meiner Vernunft mit der deinigen bei¬ kommen kannst. In der zweiten Hälfte ist zwar auch allerlei Verstand und Vernunft gebraucht und verarbeitet worden; allein es ist schwer und erfordert einiges Studium, ehe man den Dingen beikommt und ehe man mit eigener Vernunft die Vernunft des Autors wieder herausfindet.“ Goethe sprach darauf mit allerlei Lob und Aner¬ kennung über die Gedichte der Madame Tastü, mit deren Lectüre er sich in diesen Tagen beschäftiget. Als die Uebrigen gingen und ich mich auch anschickte zu gehen, bat er mich, noch ein wenig zu bleiben. Er ließ ein Portefeuille mit Kupferstichen und Radierungen Niederländischer Meister herbeibringen. „Ich will Sie doch, sagte er, zum Nachtisch noch mit etwas Gutem tractiren.“ Mit diesen Worten legte er mir ein Blatt vor, eine Landschaft von Rubens . — „Sie haben, sagte er, dieses Bild zwar schon bei mir gesehen; allein man kann etwas Vortreffliches nicht oft genug betrachten, und dießmal handelt es sich noch dazu um etwas ganz Besonderes. Möchten Sie mir wohl sagen, was Sie sehen?“ Nun, sagte ich, wenn ich von der Tiefe anfange, so haben wir im äußersten Hintergrunde einen sehr hellen Himmel, wie eben nach Sonnenuntergang. Dann, gleichfalls in der äußersten Ferne, ein Dorf und eine Stadt, in der Helle des Abendlichtes. In der Mitte des Bildes sodann einen Weg, worauf eine Heerde Schafe dem Dorfe zueilet. Rechts im Bilde allerlei Heuhaufen und einen Wagen, der soeben voll geladen worden. Angeschirrte Pferde grasen in der Nähe. Ferner, seitwärts in Gebüschen zerstreut, mehrere wei¬ dende Stuten mit ihren Fohlen, die das Ansehen haben, als würden sie in der Nacht draußen bleiben. Sodann, näher dem Vordergrunde zu, eine Gruppe großer Bäume, und zuletzt, ganz im Vordergrunde links, ver¬ schiedene nach Hause gehende Arbeiter. „Gut, sagte Goethe, das wäre wohl Alles. Aber die Hauptsache fehlt noch. Alle diese Dinge, die wir dargestellt sehen: die Heerde Schafe, der Wagen mit Heu, die Pferde, die nach Hause gehenden Feldarbeiter, von welcher Seite sind sie beleuchtet?“ Sie haben das Licht, sagte ich, auf der uns zuge¬ kehrten Seite und werfen die Schatten in das Bild hinein. Besonders die nach Hause gehenden Feldarbei¬ ter im Vordergrunde sind sehr im Hellen, welches einen trefflichen Effect thut. „Wodurch hat aber Rubens diese schöne Wirkung hervorgebracht?“ Dadurch, antwortete ich, daß er diese hellen Figuren auf einem dunkeln Grunde erscheinen läßt. „Aber dieser dunkle Grund, erwiederte Goethe, wo¬ durch entsteht er?“ Es ist der mächtige Schatten, sagte ich, den die Baumgruppe den Figuren entgegenwirft. — Aber wie? fuhr ich mit Ueberraschung fort, die Figuren werfen den Schatten in das Bild hinein, die Baumgruppe dagegen wirft den Schatten dem Beschauer entgegen? — Da haben wir ja das Licht von zwei entgegengesetzten Sei¬ ten, welches aber ja gegen alle Natur ist! „Das ist eben der Punkt, erwiederte Goethe mit einigem Lächeln. Das ist es, wodurch Rubens sich groß erweiset und an den Tag legt, daß er mit freiem Geiste über der Natur steht und sie seinen höheren Zwecken gemäß tractirt. Das doppelte Licht ist aller¬ dings gewaltsam, und Sie können immerhin sagen, es sey gegen die Natur. Allein, wenn es gegen die Natur ist, so sage ich zugleich, es sey höher als die Natur, so sage ich, es sey der kühne Griff des Meisters, wo¬ durch er auf geniale Weise an den Tag legt, daß die Kunst der natürlichen Nothwendigkeit nicht durchaus unterworfen ist, sondern ihre eigenen Gesetze hat.“ „Der Künstler, fuhr Goethe fort, muß freilich die Natur im Einzelnen treu und fromm nachbilden, er darf in dem Knochenbau und der Lage von Sehnen und Muskeln eines Thieres nichts willkürlich ändern, so daß dadurch der eigenthümliche Charakter verletzt würde. Denn das hieße die Natur vernichten. Allein in den höheren Regionen des künstlerischen Verfah¬ rens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bilde wird, hat er ein freieres Spiel, und er darf hier sogar zu Fictionen schreiten, wie Rubens in dieser Landschaft mit dem doppelten Lichte gethan.“ „Der Künstler hat zur Natur ein zwiefaches Ver¬ hältniß: er ist ihr Herr und ihr Sklave zugleich. Er ist ihr Sklave, insofern er mit irdischen Mitteln wirken muß, um verstanden zu werden; ihr Herr aber, insofern er diese irdischen Mittel seinen höheren Intentionen unterwirft und ihnen dienstbar macht.“ „Der Künstler will zur Welt durch ein Ganzes sprechen; dieses Ganze aber findet er nicht in der Na¬ tur, sondern es ist die Frucht seines eigenen Geistes, oder, wenn Sie wollen, des Anwehens eines befruchten¬ den göttlichen Odems.“ „Betrachten wir diese Landschaft von Rubens nur so obenhin, so kommt uns Alles so natürlich vor, als sey es nur geradezu von der Natur abgeschrieben. Es ist aber nicht so. Ein so schönes Bild ist nie in der Natur gesehen worden, ebensowenig als eine Landschaft von Poussin oder Claude Lorrain, die uns auch sehr natürlich erscheinet, die wir aber gleichfalls in der Wirklichkeit vergebens suchen.“ Ließen sich nicht auch, sagte ich, ähnliche kühne Züge künstlerischer Fiction, wie dieses doppelte Licht von Ru¬ bens, in der Literatur finden? „Da brauchten wir nicht eben weit zu gehen, er¬ wiederte Goethe nach einigem Nachdenken. Ich könnte sie Ihnen im Shakspeare zu Dutzenden nachweisen. — Nehmen Sie nur den Macbeth. Als die Lady ihren Gemahl zur That begeistern will, sagt sie: Ich habe Kinder aufgesäugt ꝛc. Ob dieses wahr ist oder nicht, kommt gar nicht darauf an; aber die Lady sagt es, und sie muß es sagen, um ihrer Rede dadurch Nachdruck zu geben. — Im späte¬ ren Verlauf des Stückes aber, als Macduff die Nach¬ richt von dem Untergange der Seinen erfährt, ruft er im wilden Grimme aus: Er hat keine Kinder! Diese Worte des Macduff kommen also mit denen der Lady in Widerspruch; aber das kümmert Shak¬ speare nicht. Ihm kommt es auf die Kraft der jedes¬ maligen Rede an, und so wie die Lady zum höchsten Nachdruck ihrer Worte sagen mußte: „Ich habe Kinder aufgesäugt“, so mußte auch eben diesem Zweck Macduff sagen: „Er hat keine Kinder!“ „Ueberall, fuhr Goethe fort, sollen wir es mit dem Pinselstriche eines Malers, oder dem Worte eines Dichters nicht so genau und kleinlich nehmen; vielmehr sollen wir ein Kunstwerk, das mit kühnem und freiem Geiste gemacht worden, auch wo möglich mit eben sol¬ chem Geiste wieder anschauen und genießen.“ „So wäre es thöricht, wenn man aus den Worten des Macbeth: Gebier mir keine Töchter ꝛc. den Schluß ziehen wollte, die Lady sey ein ganz ju¬ gendliches Wesen, das noch nicht geboren habe. Und ebenso thöricht wäre es, wenn man weiter gehen und verlangen wollte, die Lady müsse auf der Bühne als eine solche sehr jugendliche Person dargestellt werden.“ „Shakspeare läßt den Macbeth diese Worte keines¬ wegs sagen, um damit die Jugend der Lady zu be¬ weisen, sondern diese Worte, wie die vorhin angeführten der Lady und des Macduff, sind bloß rethorischer Zwecke wegen da, und wollen weiter nichts beweisen, als daß der Dichter seine Personen jedesmal das reden läßt, was eben an dieser Stelle gehörig, wirksam und gut ist, ohne sich viel und ängstlich zu bekümmern und zu calculiren, ob diese Worte vielleicht mit einer anderen Stelle in scheinbaren Widerspruch gerathen möchten.“ „Ueberhaupt hat Shakspeare bei seinen Stücken schwerlich daran gedacht, daß sie als gedruckte Buch¬ staben vorliegen würden, die man überzählen und gegen einander vergleichen und berechnen möchte; vielmehr hatte er die Bühne vor Augen, als er schrieb; er sah seine Stücke als ein Bewegliches, Lebendiges an, das von den Brettern herab den Augen und Ohren rasch vorüberfließen würde, das man nicht festhalten und im Einzelnen bekritteln könnte, und wobei es bloß darauf ankam, immer nur im gegenwärtigen Moment wirksam und bedeutend zu seyn.“ Dienstag, den 24. April 1827. August Wilhelm v. Schlegel ist hier. Goethe machte mit ihm vor Tisch eine Spazierfahrt ums We¬ bicht und gab ihm zu Ehren diesen Abend einen großen Thee, wobei auch Schlegel's Reisegefährte, Herr Doctor Lassen, gegenwärtig. Alles in Weimar, was irgend Namen und Rang hatte, war dazu eingeladen, so daß das Getreibe in Goethe's Zimmern groß war. Herr von Schlegel war ganz von Damen umringt, denen er aufgerollte schmale Streifen mit indischen Götterbildern vorzeigte, sowie den ganzen Text von zwei großen in¬ dischen Gedichten, von denen, außer ihm selbst und Dr . Lassen, wahrscheinlich Niemand etwas verstand. Schle¬ gel war höchst sauber angezogen und höchst jugendlichen, blühenden Ansehens, so daß einige der Anwesenden be¬ haupten wollten, er scheine nicht unerfahren in Anwen¬ dung kosmetischer Mittel. Goethe zog mich in ein Fenster. „Nun? wie ge¬ fällt er Ihnen.“ Noch ganz so, wie sonst, erwiederte ich. „Er ist freilich in vieler Hinsicht kein Mann, fuhr Goethe fort; aber doch kann man ihm, seiner vielseitigen gelehrten Kenntnisse und seiner großen Verdienste wegen, schon etwas zu Gute halten.“ Mittwoch, den 25. April 1827. Bei Goethe zu Tische mit Herrn Dr . Lassen. Schle¬ gel war heute abermals an Hof zur Tafel gezogen. Herr Lassen entwickelte große Kenntnisse der indischen Poesie, die Goethen höchst willkommen zu seyn schienen, um sein eigenes immerhin nur sehr lückenhaftes Wissen in diesen Dingen zu ergänzen. Ich war Abends wieder einige Augenblicke bei Goethe. Er erzählte mir, daß Schlegel in der Däm¬ merung bei ihm gewesen und daß er mit ihm ein höchst bedeutendes Gespräch über literarische und historische Gegenstände geführt, das für ihn sehr belehrend ge¬ wesen. „Nur muß man, fügte er hinzu, keine Trauben von den Dornen und keine Feigen von den Disteln ver¬ langen; übrigens ist Alles ganz vortrefflich.“ Donnerstag, den 3. Mai 1827. Die höchst gelungene Uebersetzung der dramatischen Werke Goethe's von Stapfer hat in dem zu Paris er¬ scheinenden Globe des vorigen Jahres durch Herrn J . J . Amp è re eine Beurtheilung gefunden, die nicht weniger vortrefflich ist, und die Göthen so angenehm berührte, daß er sehr oft darauf zurückkam und sich sehr oft mit großer Anerkennung darüber ausließ. „Der Standpunkt des Herrn Amp è re, sagte er, ist ein sehr hoher. Wenn deutsche Recensenten bei ähn¬ lichen Anlässen gern von der Philosophie ausgehen und bei Betrachtung und Besprechung eines dichterischen Erzeugnisses auf eine Weise verfahren, daß dasjenige, was sie zu dessen Aufklärung beibringen, nur Philo¬ sophen ihrer eigenen Schule zugänglich, für andere Leute aber weit dunkler ist als das Werk, das sie er¬ läutern wollen, selber, so benimmt sich dagegen Herr Amp è re durchaus praktisch und menschlich. — Als Einer, der das Metier aus dem Grunde kennt, zeigt er die Verwandtschaft des Erzeugten mit dem Erzeuger, und beurtheilt die verschiedenen poetischen Productionen als verschiedene Früchte verschiedener Lebensepochen des Dichters.“ „Er hat den abwechselnden Gang meiner irdischen Laufbahn und meiner Seelenzustände im Tiefsten studirt und sogar die Fähigkeit gehabt, das zu sehen, was ich nicht ausgesprochen und was, so zu sagen, nur zwischen den Zeilen zu lesen war. Wie richtig hat er bemerkt, daß ich in den ersten zehn Jahren meines Weimar'schen Dienst- und Hoflebens so gut wie gar nichts gemacht, daß die Verzweiflung mich nach Italien getrieben, und daß ich dort, mit neuer Lust zum Schaffen, die Geschichte des Tasso ergriffen, um mich in Behandlung dieses angemessenen Stoffes von demjenigen frei zu machen, was mir noch aus meinen Weimar'schen Eindrücken und Erinnerungen Schmerzliches und Lästiges anklebte. Sehr treffend nennt er daher auch den Tasso einen gesteigerten Werther.“ „Sodann über den Faust äußert er sich nicht weni¬ ger geistreich, indem er nicht bloß das düstere, unbe¬ friedigte Streben der Hauptfigur, sondern auch den Hohn und die herbe Ironie des Mephistopheles als Theile meines eigenen Wesens bezeichnet.“ In dieser und ähnlicher anerkennenden Weise sprach Goethe über Herrn Amp è re sehr oft; wir faßten für ihn ein entschiedenes Interesse, wir suchten uns seine Persönlichkeit klar zu machen, und wenn uns dieses auch nicht gelingen konnte, so waren wir doch darüber einig, daß es ein Mann von mittleren Jahren seyn müsse, um die Wechselwirkung von Leben und Dichten so aus dem Grunde zu verstehen. Sehr überrascht waren wir daher, als Herr Amp è re vor einigen Tagen in Weimar eintraf und sich uns als ein lebensfroher Jüngling von einigen zwanzig Jahren darstellte; und nicht weniger überrascht waren wir, als er gegen uns im Laufe eines weiteren Verkehrs äußerte, daß sämmtliche Mitarbeiter des Globe, dessen Weisheit, Mäßigung und hohe Bildungsstufe wir oft bewundert, lauter junge Leute wären, wie er. Ich begreife wohl, sagte ich, daß Einer jung seyn kann, um Bedeutendes zu produciren und, gleich M é ¬ rim é e, im zwanzigsten Jahre treffliche Stücke zu schreiben; allein daß Einem bei ähnlich jungen Jahren eine solche Uebersicht und so tiefe Einblicke zu Gebote stehen, um eine solche Höhe des Urtheils zu besitzen, wie die Her¬ ren des Globe, das ist mir durchaus etwas Neues. „Ihnen in Ihrer Haide, erwiederte Goethe, ist es freilich nicht so leicht geworden, und auch wir Andern im mittleren Deutschland haben unser Bischen Weisheit schwer genug erkaufen müssen. Denn wir führen doch im Grunde Alle ein isolirtes armseliges Leben! Aus dem eigentlichen Volke kommt uns sehr wenige Cultur entgegen und unsere sämmtlichen Talente und guten Köpfe sind über ganz Deutschland ausgesäet. Da sitzt Einer in Wien, ein Anderer in Berlin, ein Anderer in Königsberg, ein Anderer in Bonn oder Düsseldorf, Alle durch fünfzig bis hundert Meilen von einander getrennt, so daß persönliche Berührungen und ein persönlicher Austausch von Gedanken zu den Seltenheiten gehört. Was dieß aber wäre, empfinde ich, wenn Männer wie Alexander von Humboldt hier durchkommen und mich III . 11 in dem, was ich suche, und mir zu wissen nöthig, in einem einzigen Tage weiter bringen, als ich sonst auf meinem einsamen Wege in Jahren nicht erreicht hätte.“ „Nun aber denken Sie sich eine Stadt wie Paris, wo die vorzüglichsten Köpfe eines großen Reiches auf einem einzigen Fleck beisammen sind und in täglichem Verkehr, Kampf und Wetteifer sich gegenseitig belehren und stei¬ gern; wo das Beste aus allen Reichen der Natur und Kunst des ganzen Erdbodens der täglichen Anschauung offen steht; diese Weltstadt denken Sie sich, wo jeder Gang über eine Brücke oder einen Platz an eine große Vergangenheit erinnert und wo an jeder Straßenecke ein Stück Geschichte sich entwickelt hat. Und zu diesem Allen denken Sie sich nicht das Paris einer dumpfen geistlosen Zeit, sondern das Paris des neunzehnten Jahrhunderts, in welchem seit drei Menschenaltern durch Männer wie Moli è re, Voltaire, Diderot und ihres Gleichen eine solche Fülle von Geist in Cours gesetzt ist, wie sie sich auf der ganzen Erde auf einem einzigen Fleck nicht zum zweitenmale findet, und Sie werden begreifen, daß ein guter Kopf wie Amp è re, in solcher Fülle aufgewachsen, in seinem vier und zwanzigsten Jahre wohl etwas seyn kann.“ „Sie sagten doch vorhin, fuhr Goethe fort, Sie könnten sich sehr wohl denken, daß Einer in seinem zwanzigsten Jahre so gute Stücke schreiben könne, wie M é rim é e. Ich habe gar nichts dawider, und bin auch im Ganzen recht wohl Ihrer Meinung, daß eine jugendlich¬ tüchtige Production leichter sey, als ein jugendlich-tüch¬ tiges Urtheil. Allein in Deutschland soll Einer es wohl bleiben lassen, so jung wie M é rim é e etwas so Reifes hervorzubringen, als er in den Stücken seiner Clara Gazul gethan. Es ist wahr, Schiller war recht jung, als er seine Räuber, seine Kabale und Liebe und seinen Fiesco schrieb. Allein, wenn wir aufrichtig seyn wollen, so sind doch alle diese Stücke mehr Aeußerun¬ gen eines außergewöhnlichen Talents, als daß sie von großer Bildungsreife des Autors zeugten. Daran ist aber nicht Schiller Schuld, sondern der Culturzustand seiner Nation und die große Schwierigkeit, die wir Alle erfahren, uns auf einsamem Wege durchzuhelfen.“ „Nehmen Sie dagegen B é ranger . Er ist der Sohn armer Eltern, der Abkömmling eines armen Schneiders, dann armer Buchdrucker-Lehrling, dann mit kleinem Gehalte angestellt in irgend einem Bureau; er hat nie eine gelehrte Schule, nie eine Universität besucht, und doch sind seine Lieder so voll reifer Bildung, so voll Grazie, so voll Geist und feinster Ironie, und von einer solchen Kunstvollendung und meisterhaften Be¬ handlung der Sprache, daß er nicht bloß die Bewun¬ derung von Frankreich, sondern des ganzen gebildeten Europa's ist.“ „Denken Sie sich aber diesen selben B é ranger, an¬ statt in Paris geboren und in dieser Weltstadt heran¬ 11* gekommen, als den Sohn eines armen Schneiders zu Jena oder Weimar, und lassen Sie ihn seine Laufbahn an gedachten kleinen Orten gleich kümmerlich fortsetzen, und fragen Sie sich, welche Früchte dieser selbe Baum, in einem solchen Boden und in einer solchen Atmos¬ phäre aufgewachsen, wohl würde getragen haben.“ „Also, mein Guter, ich wiederhole: es kommt dar¬ auf an, daß in einer Nation viel Geist und tüchtige Bildung in Cours sey, wenn ein Talent sich schnell und freudig entwickeln soll.“ „Wir bewundern die Tragödieen der alten Griechen; allein, recht besehen, sollten wir mehr die Zeit und die Nation bewundern, in der sie möglich waren, als die einzelnen Verfasser. — Denn wenn auch diese Stücke unter sich ein wenig verschieden, und wenn auch der eine dieser Poeten ein wenig größer und vollendeter erscheint als der andere, so trägt doch, im Groben und Ganzen betrachtet, Alles nur einen einzigen durch¬ gehenden Charakter. Dieß ist der Charakter des Gro߬ artigen, des Tüchtigen, des Gesunden, des Menschlich- Vollendeten, der hohen Lebensweisheit, der erhabenen Denkungsweise, der reinkräftigen Anschauung, und welche Eigenschaften man noch sonst aufzählen könnte. — Finden sich nun aber alle diese Eigenschaften nicht bloß in den auf uns gekommenen dramatischen, sondern auch in den lyrischen und epischen Werken; finden wir sie ferner bei den Philosophen, Rhetoren und Geschichts¬ schreibern, und in gleich hohem Grade in den auf uns gekommenen Werken der bildenden Kunst, so muß man sich wohl überzeugen, daß solche Eigenschaften nicht bloß einzelnen Personen anhafteten, sondern daß sie der Nation und der ganzen Zeit angehörten und in ihr in Cours waren.“ „Nehmen Sie Burns . Wodurch ist er groß, als daß die alten Lieder seiner Vorfahren im Munde des Volkes lebten, daß sie ihm, so zu sagen, bei der Wiege gesungen wurden, daß er als Knabe unter ihnen heran¬ wuchs, und die hohe Vortrefflichkeit dieser Muster sich ihm so einlebte, daß er darin eine lebendige Basis hatte, worauf er weiter schreiten konnte. — Und ferner, wodurch ist er groß, als daß seine eigenen Lieder in seinem Volke sogleich empfängliche Ohren fanden, daß sie ihm alsobald im Felde von Schnittern und Binde¬ rinnen entgegen klangen und er in der Schenke von heiteren Gesellen damit begrüßt wurde. Da konnte es freilich etwas werden!“ „Wie ärmlich sieht es dagegen bei uns Deutschen aus! — Was lebte denn in meiner Jugend von unsern nicht weniger bedeutenden alten Liedern im eigentlichen Volke? — Herder und seine Nachfolger mußten erst anfangen, sie zu sammeln und der Vergessenheit zu entreißen; dann hatte man sie doch wenigstens gedruckt in Bibliotheken. — Und später, was haben nicht Bür¬ ger und Voß für Lieder gedichtet! Wer wollte sagen, daß sie geringer und weniger volksthümlich wären, als die des vortrefflichen Burns! Allein, was ist davon lebendig geworden, so daß es uns aus dem Volke wie¬ der entgegenklänge? — Sie sind geschrieben und ge¬ druckt worden und stehen in Bibliotheken, ganz gemäß dem allgemeinen Loose deutscher Dichter. — Von mei¬ nen eigenen Liedern, was lebt denn? Es wird wohl eins und das andere einmal von einem hübschen Mäd¬ chen am Klaviere gesungen, allein im eigentlichen Volke ist Alles stille. Mit welchen Empfindungen muß ich der Zeit gedenken, wo italienische Fischer mir Stellen des Tasso sangen!“ — „Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig cultivirt; allein es können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren Landsleuten so viel Geist und höhere Cultur eindringe und allgemein werde, daß sie gleich den Grie¬ chen der Schönheit huldigen, daß sie sich für ein hüb¬ sches Lied begeistern, und daß man von ihnen wird sagen können, es sey lange her, daß sie Barbaren ge¬ wesen.“ Freitag, den 4. Mai 1827. Zu Ehren Amp è re's und seines Freundes Stapfer großes Diner bei Goethe. Die Unterhaltung war laut, heiter und bunt durcheinander. Amp è re erzählte Goe¬ then viel von M é rim é e, Alfred de Vigny und anderen bedeutenden Talenten. Auch ward sehr viel über B é ¬ ranger gesprochen, dessen unvergleichliche Lieder Goethe täglich in Gedanken hat. Es kam zur Erwähnung, ob B é ranger's heitere Liebeslieder vor seinen politischen den Vorzug verdienten, wobei Goethe seine Meinung dahin entwickelte, daß im Allgemeinen ein rein poetischer Stoff einem politischen so sehr voranstehe, als die reine, ewige Naturwahrheit der Parteiansicht. „Uebrigens, fuhr er fort, hat B é ranger in seinen politischen Gedichten sich als Wohlthäter seiner Nation erwiesen. Nach der Invasion der Alliirten fanden die Franzosen in ihm das beste Organ ihrer gedrückten Gefühle. Er richtete sie auf durch vielfache Erinnerun¬ gen an den Ruhm der Waffen unter dem Kaiser, dessen Andenken noch in jeder Hütte lebendig, und dessen große Eigenschaften der Dichter liebt, ohne jedoch eine Fortsetzung seiner despotischen Herrschaft zu wünschen. Jetzt, unter den Bourbonen, scheint es ihm nicht zu behagen. Es ist freilich ein schwach gewordenes Ge¬ schlecht! Und der jetzige Franzose will auf dem Throne große Eigenschaften, obgleich er gerne selber mitherrscht und selber gerne ein Wort mitredet.“ Nach Tisch verbreitete sich die Gesellschaft im Gar¬ ten und Goethe winkte mir zu einer Spazierfahrt um das Gehölz auf dem Wege nach Tiefurt. Er war im Wagen sehr gut und liebevoll. Er freute sich, daß mit Amp é re ein so hübsches Verhältniß angeknüpft worden, wovon er sich für die Anerkennung und Verbreitung der deutschen Literatur in Frankreich die schönsten Folgen verspreche. „Amp è re, fügte er hinzu, steht freilich in seiner Bildung so hoch, daß die nationalen Vorurtheile, Appre¬ hensionen und Bornirtheiten vieler seiner Landsleute weit hinter ihm liegen, und er seinem Geiste nach weit mehr ein Weltbürger ist, als ein Bürger von Paris. Ich sehe übrigens die Zeit kommen, wo er in Frank¬ reich Tausende haben wird, die ihm gleich denken.“ Sonntag, den 6. Mai 1827. Abermalige Tischgesellschaft bei Goethe, wobei die¬ selbigen Personen zugegen, wie vorgestern. Man sprach sehr viel über die Helena und den Tasso. Goethe er¬ zählte uns darauf, wie er im Jahre 1797 den Plan gehabt, die Tage vom Tell als episches Gedicht in Hexametern zu behandeln. „Ich besuchte, sagte er, im gedachten Jahre noch einmal die kleinen Cantone und den Vierwaldstädter See, und diese reizende, herrliche und großartige Natur machte auf mich abermals einen solchen Eindruck, daß es mich anlockte, die Abwechselung und Fülle einer so unvergleichlichen Landschaft in einem Gedicht darzu¬ stellen. Um aber in meine Darstellung mehr Reiz, Interesse und Leben zu bringen, hielt ich es für gut, den höchst bedeutenden Grund und Boden mit ebenso bedeutenden menschlichen Figuren zu staffiren, wo denn die Sage vom Tell mir als sehr erwünscht zu statten kam.“ „Den Tell dachte ich mir als einen urkräftigen, in sich selbst zufriedenen, kindlich-unbewußten Helden¬ menschen, der als Lastträger die Cantone durchwandert, überall gekannt und geliebt ist, überall hülfreich, übri¬ gens ruhig sein Gewerbe treibend, für Weib und Kin¬ der sorgend, und sich nicht kümmernd, wer Herr oder Knecht sey.“ „Den Geßler dachte ich mir dagegen zwar als einen Tyrannen, aber als einen von der behaglichen Sorte, der gelegentlich Gutes thut, wenn es ihm Spaß macht, und gelegentlich Schlechtes thut, wenn es ihm Spaß macht, und dem übrigens das Volk und dessen Wohl und Wehe so völlig gleichgültige Dinge sind, als ob sie gar nicht existirten.“ „Das Höhere und Bessere der menschlichen Natur dagegen, die Liebe zum heimathlichen Boden, das Ge¬ fühl der Freiheit und Sicherheit unter dem Schutze vaterländischer Gesetze, das Gefühl ferner der Schmach, sich von einem fremden Wüstling unterjocht und gele¬ gentlich mißhandelt zu sehen, und endlich die zum Ent¬ schluß reifende Willenskraft, ein so verhaßtes Joch abzuwerfen, — alles dieses Höhere und Gute hatte ich den bekannten edlen Männern Walter Fürst , Stauffacher , Winkelried und Andern zugetheilt, und dieses waren meine eigentlichen Helden, meine mit Bewußtseyn handelnden höheren Kräfte, während der Tell und Geßler zwar auch gelegentlich handelnd auf¬ traten, aber im Ganzen mehr Figuren passiver Natur waren.“ „Von diesem schönen Gegenstande war ich ganz voll, und ich summte dazu schon gelegentlich meine Hexameter. Ich sah den See im ruhigen Mondschein, erleuchtete Nebel in den Tiefen der Gebirge. Ich sah ihn im Glanz der lieblichsten Morgensonne, ein Jauch¬ zen und Leben in Wald und Wiesen. Dann stellte ich einen Sturm dar, einen Gewittersturm, der sich aus den Schluchten auf den See wirft. Auch fehlte es nicht an nächtlicher Stille und an heimlichen Zusam¬ menkünften über Brücken und Stegen.“ „Von allem diesen erzählte ich Schillern, in dessen Seele sich meine Landschaften und meine handelnden Figuren zu einem Drama bildeten. Und da ich andere Dinge zu thun hatte und die Ausführung meines Vor¬ satzes sich immer weiter verschob, so trat ich meinen Gegenstand Schillern völlig ab, der denn darauf sein bewundernswürdiges Gedicht schrieb.“ Wir freuten uns dieser Mittheilung, die Allen interessant zu hören war. Ich machte bemerklich, daß es mir vorkomme, als ob die in Terzinen geschriebene prächtige Beschreibung des Sonnenaufgangs in der ersten Scene vom zweiten Theile des Faust aus der Erinnerung jener Natureindrücke des Vierwaldstädter See's entstanden seyn möchte. „Ich will es nicht läugnen, sagte Goethe, daß diese Anschauungen dort herrühren; ja ich hätte ohne die frischen Eindrücke jener wundervollen Natur den In¬ halt der Terzinen gar nicht denken können. Das ist aber auch Alles, was ich aus dem Golde meiner Tell- Localitäten mir gemünzt habe. Das Uebrige ließ ich Schillern, der denn auch davon, wie wir wissen, den schönsten Gebrauch gemacht.“ Das Gespräch wendete sich auf den Tasso , und welche Idee Goethe darin zur Anschauung zu bringen gesucht. „ Idee ? sagte Goethe, — daß ich nicht wüßte! Ich hatte das Leben Tasso's, ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammenwarf, entstand in mir das Bild des Tasso , dem ich, als prosaischen Contrast, den Antonio entgegenstellte, wozu es mir auch nicht an Vorbildern fehlte. Die weiteren Hof-Lebens- und Liebesverhältnisse waren übrigens in Weimar wie in Ferrara, und ich kann mit Recht von meiner Darstellung sagen: sie ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch .“ „Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! — Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwerer, als billig. — Ei! so habt doch endlich einmal die Courage, Euch den Eindrücken hin¬ zugeben , Euch ergötzen zu lassen, Euch rühren zu lassen, Euch erheben zu lassen, ja Euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermuthigen zu lassen; aber denkt nur nicht immer, es wäre Alles eitel, wenn es nicht irgend abstracter Gedanke und Idee wäre!“ „Da kommen sie und fragen: welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern gesucht? — Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte! — Vom Himmel durch die Welt zur Hölle , das wäre zur Noth etwas; aber das ist keine Idee, sondern Gang der Handlung. Und ferner, daß der Teufel die Wette verliert, und daß ein aus schweren Verirrungen immer¬ fort zum Besseren aufstrebender Mensch zu erlösen sey, das ist zwar ein wirksamer, Manches erklärender guter Gedanke, aber es ist keine Idee , die dem Gan¬ zen und jeder einzelnen Scene im Besondern zu Grunde liege. Es hätte auch in der That ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und so höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im Faust zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!“ „Es war im Ganzen, fuhr Goethe fort, nicht meine Art, als Poet nach Verkörperung von etwas Ab¬ stractem zu streben. Ich empfing in meinem Innern Eindrücke , und zwar Eindrücke sinnlicher, lebens¬ voller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine rege Einbildungskraft es mir darbot; und ich hatte als Poet weiter nichts zu thun, als solche Anschauun¬ gen und Eindrücke in mir künstlerisch zu runden und auszubilden und durch eine lebendige Darstellung so zum Vorschein zu bringen, daß Andere dieselbigen Ein¬ drücke erhielten, wenn sie mein Dargestelltes hörten oder lasen.“ „Wollte ich jedoch einmal als Poet irgend eine Idee darstellen, so that ich es in kleinen Gedichten, wo eine entschiedene Einheit herrschen konnte und wel¬ ches zu übersehen war, wie z. B. die Metamorphose der Thiere , die der Pflanze , das Gedicht Ver¬ mächtniß , und viele anderen. Das einzige Product von größerem Umfang, wo ich mir bewußt bin, nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben, wären etwa meine Wahlverwandtschaften . Der Roman ist dadurch für den Verstand faßlich ge¬ worden; aber ich will nicht sagen, daß er dadurch besser geworden wäre! Vielmehr bin ich der Mei¬ nung: je incommensurabeler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produc¬ tion , desto besser .“ Dienstag, den 15. Mai 1827. Herr von Holtey , aus Paris kommend, ist seit einiger Zeit hier und wegen seiner Person und Talente überall herzlich empfangen. Auch zwischen ihm und Goethe und dessen Familie hat sich ein sehr freundliches Verhältniß gebildet. Goethe ist seit einigen Tagen auf seinen Garten gezogen, wo er in stiller Thätigkeit sich sehr beglückt findet. Ich besuchte ihn heute dort mit Herrn von Holtey und Grafen Schulenburg , welcher Erstere Abschied nahm, um mit Amp è re nach Berlin zu gehen. Mittwoch, den 25. Juli 1827. Goethe hat in diesen Tagen einen Brief von Wal¬ ter Scott erhalten, der ihm große Freude machte. Er zeigte ihn mir heute, und da ihm die englische Handschrift etwas sehr unleserlich vorkam, so bat er mich, ihm den Inhalt zu übersetzen. Es scheint, daß Goethe dem berühmten Englischen Dichter zuerst ge¬ schrieben hatte und daß dieser Brief darauf eine Er¬ wiederung ist. „Ich fühle mich sehr geehrt, schreibt Walter Scott, daß irgend eine meiner Productionen so glücklich ge¬ wesen ist, die Beachtung Goethe's auf sich zu ziehen, zu dessen Bewunderern ich seit dem Jahre 1798 gehöre, wo ich, trotz meiner geringen Bekanntschaft mit der deutschen Sprache, kühn genug war, den Götz von Berlichingen ins Englische zu übertragen. Ich hatte bei diesem jugendlichen Unternehmen ganz vergessen, daß es nicht genug sey, die Schönheit eines genialen Werkes zu fühlen, sondern daß man auch die Sprache, worin es geschrieben, aus dem Grunde verstehen müsse, ehe es uns gelingen könne, solche Schönheit auch An¬ deren fühlbar zu machen. Dennoch lege ich auf jenen jugendlichen Versuch noch jetzt einigen Werth, weil er doch wenigstens zeigt, daß ich einen Gegenstand zu wählen wußte, der der Bewunderung würdig war.“ „Ich habe oft von Ihnen gehört, und zwar durch meinen Schwiegersohn Lockart , einen jungen Mann von literarischer Bedeutung, der vor einigen Jahren, ehe er meiner Familie verbunden war, die Ehre hatte dem Vater der deutschen Literatur vorgestellt zu werden. Es ist unmöglich, daß Sie unter der großen Zahl derer, die sich gedrängt fühlen Ihnen ihre Ehrfurcht zu bezeigen, sich jedes Einzelnen erinnern sollten; aber ich glaube, es ist Ihnen Niemand inniger ergeben, als eben jenes junge Mitglied meiner Familie.“ „Mein Freund Sir John Hope von Pinkie hat kürzlich die Ehre gehabt Sie zu sehen, und ich hoffte Ihnen zu schreiben, und nahm auch später mir wirklich diese Freiheit durch zwei seiner Verwandten, die Deutsch¬ land zu bereisen die Absicht hatten; allein sie wurden durch Krankheit behindert ihr Vorhaben auszuführen, so daß mir denn mein Brief nach zwei bis drei Mo¬ naten zurückkam. Ich habe also Goethe's Bekanntschaft schon früher zu suchen mich erdreistet, und zwar noch vor jener schmeichelhaften Notiz, die er so freundlich gewesen ist, von mir zu nehmen.“ „Es giebt allen Bewunderern des Genies ein wohlthätiges Gefühl, zu wissen, daß eins der größten Europäischen Vorbilder einer glücklichen und ehrenvollen Zurückgezogenheit in einem Alter genießt, in welchem er auf eine so ausgezeichnete Weise sich geehrt sieht. Dem armen Lord Byron ward leider vom Schicksal kein so günstiges Loos zu Theil, indem es ihn in der Blüthe seiner Jahre hinwegnahm, und so Vieles, was noch von ihm gehofft und erwartet wurde, für immer zerschnitt. Er schätzte sich glücklich in der Ehre, die Sie ihm erzeigten, und fühlte, was er einem Dichter schuldig war, dem alle Schriftsteller der lebenden Ge¬ neration so viel verdanken, daß sie sich verpflichtet fühlen, mit kindlicher Verehrung zu ihm hinauf zu blicken.“ „Ich habe mir die Freiheit genommen, die Herren Treuttel und Würtz zu ersuchen, Ihnen meinen Ver¬ such einer Lebensgeschichte jenes merkwürdigen Mannes zu senden, der so viele Jahre lang einen so fürchterli¬ chen Einfluß auf die Welt hatte, die er beherrschte. Ich weiß übrigens nicht, ob ich ihm nicht irgend einige Verbindlichkeiten schuldig geworden, da er mich zwölf Jahre lang unter die Waffen brachte, während welcher Zeit ich in einem Corps unserer Landmiliz diente und trotz einer frühen Lahmheit ein guter Reiter, Jäger und Schütze wurde. Diese guten Fähigkeiten haben jedoch in der letzten Zeit mich ein wenig verlassen, indem der Rheumatismus, diese traurige Plage unseres nördlichen Klima's, seinen Einfluß auf meine Glieder gelegt hat. Doch klage ich nicht, da ich meine Söhne jetzt die Jagdvergnügungen treiben sehe, seitdem ich sie habe aufgeben müssen.“ „Mein ältester Sohn hat eine Schwadron Husaren, welches für einen fünf und zwanzigjährigen jungen Mann immer viel ist. Mein jüngerer Sohn hat neu¬ lich zu Oxford den Grad eines Baccalaureus der schönen Wissenschaften erhalten und wird jetzt einige Monate zu Hause zubringen, ehe er in die Welt geht. Da es Gott gefallen hat, mir ihre Mutter zu neh¬ men, so führt meine jüngste Tochter mein Hauswesen. Meine älteste ist verheirathet und hat eine Familie für sich.“ „Dieß sind die häuslichen Zustände eines Mannes, nach dem Sie so gütig sich erkundiget haben. Uebri¬ gens besitze ich genug, um ganz so zu leben, wie ich wünsche, ungeachtet einiger sehr schwerer Verluste. Ich bewohne ein stattliches altes Schloß, in welchem jeder Freund Goethe's zu jeder Zeit willkommen seyn wird. Die Vorhalle ist mit Rüstungen angefüllt, die selbst für Jaxthausen gepaßt haben würden; ein großer Schweißhund bewacht den Eingang.“ „Ich habe übrigens Den vergessen, der dafür zu III . 12 sorgen wußte, daß man ihn nicht vergaß, während er lebte. Ich hoffe, Sie werden die Fehler des Werkes verzeihen, indem Sie berücksichtigen, daß der Autor von dem Wunsch beseelt war, gegen das Andenken jenes außerordentlichen Mannes so aufrichtig zu ver¬ fahren, wie seine insularischen Vorurtheile nur immer erlauben wollten.“ „Da diese Gelegenheit, Ihnen zu schreiben, sich mir plötzlich und zufällig durch einen Reisenden darbietet und keinen Aufschub erleidet, so fehlt mir die Zeit etwas Weiteres zu sagen, als daß ich Ihnen eine fort¬ gesetzte gute Gesundheit und Ruhe wünsche, und mich mit der aufrichtigsten und tiefsten Hochachtung unter¬ zeichne.“ Edinburg, den 9. Juli 1827. Walter Scott. Goethe hatte, wie gesagt, über diesen Brief große Freude. Er war übrigens der Meinung, als enthalte er zu viel Ehrenvolles für ihn, als daß er nicht sehr Vieles davon auf Rechnung der Höflichkeit eines Man¬ nes von Rang und hoher Weltbildung zu setzen habe. Er erwähnte sodann die gute und herzliche Art, womit Walter Scott seine Familienverhältnisse zur Sprache bringe, welches ihn, als Zeichen eines brüder¬ lichen Vertrauens, im hohen Grade beglücke. „Ich bin nun wirklich, fuhr er fort, auf sein Le¬ ben Napoleon's begierig, welches er mir ankündigt. Ich höre so viel Widersprechendes und Leidenschaftliches über das Buch, daß ich im Voraus gewiß bin: es wird auf jeden Fall sehr bedeutend seyn.“ Ich fragte nach Lockart , und ob er sich seiner noch erinnere. „Noch sehr wohl! erwiederte Goethe. Seine Per¬ sönlichkeit macht einen entschiedenen Eindruck, so daß man ihn sobald nicht wieder vergißt. Er soll, wie ich von reisenden Engländern und meiner Schwiegertochter höre, ein junger Mann seyn, von dem man in der Literatur gute Dinge erwartet.“ „Uebrigens wundere ich mich fast, daß Walter Scott kein Wort über Carlyle sagt, der doch eine so ent¬ schiedene Richtung auf das Deutsche hat, daß er ihm sicher bekannt seyn muß.“ „An Carlyle ist es bewundernswürdig, daß er bei Beurtheilung unserer deutschen Schriftsteller besonders den geistigen und sittlichen Kern, als das eigentlich Wirksame, im Auge hat. Carlyle ist eine moralische Macht von großer Bedeutung. Es ist in ihm viel Zukunft vorhanden, und es ist gar nicht abzusehen, was er Alles leisten und wirken wird.“ Mittwoch, den 26. September 1827. Goethe hatte mich auf diesen Morgen zu einer Spa¬ 12* zierfahrt nach der Hottelstedter Ecke, der westlichsten Höhe des Ettersberges, und von da nach dem Jagd¬ schloß Ettersburg einladen lassen. Der Tag war über¬ aus schön und wir fuhren zeitig zum Jacobsthore hinaus. Hinter Lützendorf, wo es stark bergan geht und wir nur Schritt fahren konnten, hatten wir zu allerlei Beobachtungen Gelegenheit. Goethe bemerkte rechts in den Hecken hinter dem Kammergut eine Menge Vögel und fragte mich: ob es Lerchen wären ? — Du Großer und Lieber, dachte ich, der Du die ganze Natur wie wenig Andere durchforschet hast, in der Ornithologie scheinst Du ein Kind zu seyn. Es sind Ammern und Sperlinge, erwiederte ich, auch wohl einige verspätete Grasmücken, die nach abge¬ warteter Mauser aus dem Dickicht des Ettersberges herab in die Gärten und Felder kommen und sich zum Fortzuge anschicken; aber Lerchen sind es nicht. Es ist nicht in der Natur der Lerche, sich auf Büsche zu setzen. Die Feld- oder Himmels-Lerche steigt in die Luft aufwärts und geht wieder zur Erde herab, zieht auch wohl im Herbst schaarenweis durch die Luft hin und wirft sich wiederum auf irgend ein Stoppelfeld nieder, aber sie geht nicht auf Hecken und Gebüsche. Die Baumlerche dagegen liebt den Gipfel hoher Bäume, von wo aus sie singend in die Luft steigt und wieder auf ihren Baumgipfel herabfällt. Dann giebt es noch eine andere Lerche, die man in einsamen Gegenden an der Mittagsseite von Waldblößen antrifft und die einen sehr weichen, flötenartigen, doch etwas melancholischen Gesang hat. Sie hält sich nicht am Ettersberge auf, der ihr zu lebhaft und zu nahe von Menschen umwohnt ist; aber auch sie geht nicht in Gebüsche. „Hm! sagte Goethe, Sie scheinen in diesen Dingen nicht eben ein Neuling zu seyn.“ Ich habe das Fach von Jugend auf mit Liebe ge¬ trieben, erwiederte ich, und immer Augen und Ohren dafür offen gehabt. Der ganze Wald des Ettersberges hat wenige Stellen, die ich nicht zu wiederholten ma¬ len durchstreift bin. Wenn ich jetzt einen einzigen Ton höre, so getraue ich mir zu sagen, von welchem Vogel er kommt. Auch bin ich so weit, daß wenn man mir irgend einen Vogel bringt, der in der Gefangenschaft durch verkehrte Behandlung das Gefieder verloren hat, ich mir getraue, ihn sehr bald vollkommen gesund und wohl befiedert wieder herzustellen. „Das zeigt allerdings, erwiederte Goethe, daß Sie in diesen Dingen bereits Vieles durchgemacht haben. Ich möchte Ihnen rathen, das Studium ernstlich fort zu treiben; es muß bei Ihrer entschiedenen Richtung zu sehr guten Resultaten führen. Aber sagen Sie mir etwas über die Mauser. Sie sprachen vorhin von ver¬ späteten Grasmücken, die nach vollendeter Mauser aus dem Dickicht des Ettersberges in die Felder herabge¬ kommen. Ist denn die Mauser an eine gewisse Epoche gebunden und mausern sich alle Vögel zugleich?“ Bei den meisten Vögeln, erwiederte ich, tritt sie sogleich nach vollendeter Brütezeit ein; das heißt, sobald die Jungen des letzten Geheckes so weit sind, daß sie sich selber helfen können. Nun fragt es sich aber, ob der Vogel von diesem Zeitpunkte des fertigen letzten Geheckes, bis zu dem seines Wegzugs, zur Mauser noch den gehörigen Raum hat. Hat er ihn, so mau¬ sert er sich hier und zieht mit frischem Gefieder fort. Hat er ihn nicht, so zieht er mit seinem alten Ge¬ fieder fort und mausert sich später im warmen Süden. Denn die Vögel kommen im Frühling nicht zu gleicher Zeit zu uns, auch ziehen sie im Herbst nicht zu gleicher Zeit fort. Und dieses rührt daher, daß die eine Art sich aus einiger Kälte und rauhem Wetter weniger macht und sie mehr ertragen kann, als eine andere. Ein Vogel aber, der früh bei uns ankommt, zieht spät weg, und ein Vogel, der spät bei uns ankommt, zieht früh weg. So ist schon unter den Grasmücken, die doch zu einem Geschlecht gehören, ein großer Unterschied. Die klappernde Grasmücke, oder das Müllerchen, läßt sich schon Ende März bei uns hören; vierzehn Tage spä¬ ter kommt die schwarzköpfige, oder der Mönch; sodann etwa nach einer Woche die Nachtigall; und erst ganz zu Ende April, oder Anfangs May, die graue. Alle diese Vögel mausern sich im August bei uns, so auch die Jungen ihres ersten Geheckes, weßhalb man denn Ende August junge Mönche fängt, die schon das schwarze Köpfchen haben. Die Jungen des letzten Geheckes aber ziehen mit ihrem ersten Gefieder fort und mausern sich später in südlichen Ländern, aus welchem Grunde man denn Anfangs September junge Mönche fangen kann, und zwar junge Männchen, die noch das rothe Köpfchen haben, wie ihre Mutter. „Ist denn die graue Grasmücke, fragte Goethe, der späteste bei uns ankommende Vogel, oder kommen andere noch später?“ Der sogenannte gelbe Spottvogel und der prächtige goldgelbe Pirol, erwiederte ich, kommen erst gegen Pfingsten. Beide ziehen nach vollendeter Brütezeit, gegen die Mitte August, schon wieder fort, und mausern sich mit ihren Jungen im Süden. Hat man sie im Käfig, so mausern sie sich bei uns im Winter, weßhalb denn diese Vögel sehr schwer durchzubringen sind. Sie verlangen sehr viele Wärme. Hängt man sie aber in die Nähe des Ofens, so verkümmern sie aus Mangel an fruchtbarer Luft; bringt man sie dagegen in die Nähe des Fensters, so verkümmern sie in der Kälte der langen Nächte. „Man hält dafür, sagte Goethe, daß die Mauser eine Krankheit, oder wenigstens von körperlicher Schwäche begleitet sey.“ Das möchte ich nicht sagen, erwiederte ich. Es ist ein Zustand gesteigerter Productivität, der in freier Luft herrlich von Statten geht, ohne die geringste Beschwerde, ja bei einigermaßen kräftigen Individuen auch vollkommen gut im Zimmer. Ich habe Gras¬ mücken gehabt, die während der ganzen Mauser ihren Gesang nicht aussetzten, ein Zeichen, daß es ihnen durchaus wohl war. Zeigt sich aber ein Vogel im Zimmer während der Mauser kränklich, so ist daraus zu schließen, daß er mit dem Futter oder frischer Luft und Wasser nicht gehörig behandelt worden. Ist er im Zimmer im Laufe der Zeit, aus Mangel an Luft und Freiheit, so schwach geworden, daß ihm die pro¬ ductive Kraft fehlt um in die Mauser zu kommen, so bringe man ihn an die fruchtbare frische Luft, und die Mauser wird sogleich auf das Beste von Statten gehen. Bei einem Vogel in freier Wildniß dagegen verläuft sie sich so sanft und so allmälig, daß er es kaum ge¬ wahr wird. „Aber doch schienen Sie vorhin anzudeuten, versetzte Goethe, daß die Grasmücken sich während der Mauser in das Dickicht der Wälder ziehen.“ Sie bedürfen während dieser Zeit, erwiederte ich, allerdings einiges Schutzes. Zwar verfährt die Natur auch in diesem Falle mit solcher Weisheit und Mäßi¬ gung, daß ein Vogel während der Mauser nie mit einemmale so viele Federn verliert, daß er unfähig würde, so gut zu fliegen, als die Erreichung seines Futters es verlangt. Allein es kann doch kommen, daß er z. B. mit einemmale die vierte, fünfte und sechste Schwungfeder des linken und die vierte, fünfte und sechste Schwungfeder des rechten Flügels verliert, wobei er zwar immer noch ganz gut fliegen kann, allein nicht so gut, um dem verfolgenden Raubvogel, besonders aber dem sehr schnellen und gewandten Baumfalken, zu entgehen, und da kommt ihm denn ein buschiges Dickicht sehr zu Statten. „Das läßt sich hören, erwiederte Goethe. Schreitet aber die Mauser, fuhr er fort, an beiden Flügeln gleichmäßig und gewissermaßen symmetrisch vor?“ Soweit meine Beobachtungen reichen, allerdings, erwiederte ich. Und das ist sehr wohlthätig. Denn verlöre ein Vogel z. B. drei Schwungfedern des lin¬ ken Flügels und nicht zugleich dieselben Federn des rechten, so würde den Flügeln alles Gleichgewicht fehlen und der Vogel würde sich und seine Bewegung nicht mehr in gehöriger Gewalt haben. Er würde seyn, wie ein Schiff, dem an der einen Seite die Segel zu schwer und an der andern zu leicht sind. „Ich sehe, erwiederte Goethe, man mag in die Natur eindringen, von welcher Seite man wolle, man kommt immer auf einige Weisheit.“ Wir waren indeß immerfort mühsam bergan gefah¬ ren und waren nun nach und nach oben, am Rande der Fichten. Wir kamen an einer Stelle vorbei, wo Steine gebrochen waren und ein Haufen lag. Goethe ließ halten und bat mich, abzusteigen und ein wenig nachzusehen ob ich nichts von Versteinerungen ent¬ decke. Ich fand einige Muscheln, auch einige zerbro¬ chene Ammonshörner, die ich ihm zureichte, indem ich mich wieder einsetzte. Wir fuhren weiter. „Immer die alte Geschichte! sagte Goethe. Immer der alte Meeresboden! — Wenn man von dieser Höhe auf Weimar hinabblickt und auf die mancherlei Dörfer umher, so kommt es Einem vor wie ein Wunder, wenn man sich sagt, daß es eine Zeit gegeben, wo in dem weiten Thale dort unten die Wallfische ihr Spiel ge¬ trieben. Und doch ist es so, wenigstens höchst wahr¬ scheinlich. Die Möve aber, die damals über dem Meere flog, das diesen Berg bedeckte, hat sicher nicht daran gedacht, daß wir Beide heute hier fahren würden. Und wer weiß, ob nach vielen Jahrtausenden die Möve nicht abermals über diesem Berge fliegt.“ Wir waren jetzt oben auf der Höhe und fuhren rasch weiter. Rechts an unserer Seite hatten wir Eichen und Buchen und anderes Laubholz. Weimar war rückwärts nicht mehr zu sehen. Wir waren auf der westlichsten Höhe angelangt, das breite Thal der Unstrut, mit vielen Dörfern und kleinen Städten, lag in der heitersten Morgensonne vor uns. „Hier ist gut seyn! sagte Goethe, indem er halten ließ. Ich dächte, wir versuchten, wie in dieser guten Luft uns etwa ein kleines Frühstück behagen möchte!“ Wir stiegen aus und gingen auf trockenem Boden am Fuße halbwüchsiger, von vielen Stürmen verkrüp¬ pelter Eichen einige Minuten auf und ab, während Friedrich das mitgenommene Frühstück auspackte und auf einer Rasenerhöhung ausbreitete. Die Aussicht von dieser Stelle, in der klaren Morgenbeleuchtung der reinsten Herbstsonne, war in der That herrlich. Nach Süden und Südwesten hin übersah man die ganze Reihe des Thüringerwald-Gebirges; nach Westen, über Erfurt hinaus, das hochliegende Schloß Gotha und den Inselsberg; weiter nördlich sodann die Berge hinter Langensalza und Mühlhausen, bis sich die Aussicht, nach Norden zu, durch die blauen Harzgebirge ab¬ schloß. Ich dachte an die Verse: „Weit, hoch, herrlich der Blick Rings ins Leben hinein! Von Gebirg' zu Gebirg' Schwebet der ewige Geist, Ewigen Lebens ahndevoll.“ Wir setzten uns mit dem Rücken nach den Eichen zu, so daß wir während dem Frühstück die weite Aus¬ sicht über das halbe Thüringen immer vor uns hatten. Wir verzehrten indeß ein Paar gebratene Rebhühner mit frischem Weißbrod und tranken dazu eine Flasche sehr guten Wein, und zwar aus einer biegsamen feinen goldenen Schale, die Goethe, in einem gelben Leder¬ futteral, bei solchen Ausflügen gewöhnlich bei sich führt. „Ich war sehr oft an dieser Stelle, sagte er, und dachte in späteren Jahren sehr oft, es würde das letzte¬ mal seyn, daß ich von hier aus die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten überblickte. Allein es hält immer noch einmal zusammen und ich hoffe, daß es auch heute nicht das letztemal ist, daß wir Beide uns hier einen guten Tag machen. Wir wollen künftig öfter hieher kommen. Man verschrumpft in dem engen Hauswesen. Hier fühlt man sich groß und frei, wie die große Natur, die man vor Augen hat, und wie man eigentlich immer seyn sollte.“ „Ich übersehe von hier aus, fuhr Goethe fort, eine Menge Punkte, an die sich die reichsten Erinnerungen eines langen Lebens knüpfen. Was habe ich nicht drüben in den Bergen von Ilmenau in meiner Jugend Alles durchgemacht! Dann dort unten im lieben Er¬ furt, wie manches gute Abenteuer erlebt! Auch in Gotha war ich in frühester Zeit oft und gerne; doch seit langen Jahren so gut wie gar nicht.“ Seit ich in Weimar bin, bemerkte ich, erinnere ich mich nicht, daß Sie dort waren. „Das hat so seine Bewandniß, erwiederte Goethe lachend. Ich bin dort nicht zum Besten angeschrieben. Ich will Ihnen davon eine Geschichte erzählen. Als die Mutter des jetzt regierenden Herrn noch in hübscher Jugend war, befand ich mich dort sehr oft. Ich saß eines Abends bei ihr alleine am Theetisch, als die beiden zehn- bis zwölfjährigen Prinzen, zwei hübsche blondlockige Knaben, hereinsprangen und zu uns an den Tisch kamen. Uebermüthig, wie ich seyn konnte, fuhr ich den beiden Prinzen mit meinen Händen in die Haare, mit den Worten: Nun , Ihr Semmelköpfe , was macht Ihr ? — Die Buben sahen mich mit großen Augen an, im höchsten Erstaunen über meine Kühnheit, — und haben es mir später nie vergessen!“ „Ich will nun just eben nicht damit prahlen; aber es war so und lag tief in meiner Natur. Ich hatte vor der bloßen Fürstlichkeit, als solcher, wenn nicht zugleich eine tüchtige Menschennatur und ein tüchtiger Menschenwerth dahinter steckte, nie viel Respect. — Ja es war mir selber so wohl in meiner Haut und ich fühlte mich selber so vornehm, daß, wenn man mich zum Fürsten gemacht hätte, ich es nicht eben sonderlich merkwürdig gefunden haben würde. Als man mir das Adelsdiplom gab, glaubten Viele, wie ich mich dadurch möchte erhoben fühlen. Allein, unter uns, es war mir nichts, gar nichts! Wir Frankfurter Patricier hielten uns immer dem Adel gleich, und als ich das Diplom in Händen hielt, hatte ich in meinen Gedanken eben nichts weiter, als was ich längst besessen.“ Wir thaten noch einen guten Trunk aus der golde¬ nen Schale und fuhren dann um die nördliche Seite des Ettersberges herum, nach dem Jagdschlosse Etters¬ burg. Goethe ließ sämmtliche Zimmer aufschließen, die mit heiteren Tapeten und Bildern behängt waren. In dem westlichen Eckzimmer des ersten Stockes sagte er mir, daß Schiller dort einige Zeit gewohnt. „Wir haben überhaupt, fuhr er fort, in frühester Zeit hier manchen guten Tag gehabt und manchen guten Tag verthan. Wir waren Alle jung und voll Uebermuth und es fehlte uns im Sommer nicht an allerlei impro¬ visirtem Comödienspiel und im Winter nicht an allerlei Tanz und Schlittenfahrten mit Fackeln.“ Wir gingen wieder ins Freie und Goethe führte mich in westlicher Richtung einen Fußweg ins Holz. „Ich will Ihnen doch auch die Buche zeigen, sagte er, worin wir vor funfzig Jahren unsere Namen ge¬ schnitten. — Aber wie hat sich das verändert und wie ist das Alles herangewachsen! — Das wäre denn der Baum! — Sie sehen, er ist noch in der vollsten Pracht! — Auch unsere Namen sind noch zu spüren; doch so verquollen und verwachsen, daß sie kaum noch herauszubringen. Damals stand diese Buche auf einem freien trockenen Platz. Es war durchaus sonnig und anmuthig umher und wir spielten hier an schönen Som¬ mertagen unsere improvisirten Possen. Jetzt ist es hier feucht und unfreundlich. Was sonst nur niederes Ge¬ büsch war, ist indeß zu schattigen Bäumen herange¬ wachsen, so daß man die prächtige Buche unserer Jugend kaum noch aus dem Dickicht herausfindet.“ Wir gingen wieder nach dem Schlosse, und nachdem wir noch die ziemlich reiche Waffensammlung besehen, fuhren wir nach Weimar zurück. Donnerstag, den 27. September 1827. Nachmittags einen Augenblick bei Goethe, wo ich Herrn Geheimerath Streckfuß aus Berlin kennen lernte, der diesen Vormittag mit ihm eine Spazierfahrt gemacht und dann zu Tisch geblieben war. Als Streck¬ fuß ging, begleitete ich ihn und machte noch einen Gang durch den Park. Bei meiner Zurückkunft über den Markt begegnete ich dem Canzler und Raupach , mit denen ich in den Elephanten ging. Abends wieder bei Goethe, der mit mir ein neues Heft von Kunst und Alterthum besprach, desgleichen zwölf Blätter Bleistift¬ umrisse, in welchen die Gebrüder Riepenhausen die Gemälde Polygnots in der Lesche zu Delphi, nach einer Beschreibung des Pausanias, wieder herzustellen versucht; ein Unternehmen, welches Goethe nicht genug anzuerkennen wußte. Montag, den 1. October 1827. Im Theater das Bild von Houwald. Ich sah zwei Acte und ging dann zu Goethe, der mir die zweite Scene seines neuen Faust vorlas. „Ich habe in dem Kaiser, sagte er, einen Fürsten darzustellen gesucht, der alle möglichen Eigenschaften hat, sein Land zu verlieren, welches ihm denn auch spä¬ ter wirklich gelingt.“ „Das Wohl des Reichs und seiner Unterthanen macht ihm keine Sorge; er denkt nur an sich und wie er sich von Tag zu Tag mit etwas Neuem amüsire . Das Land ist ohne Recht und Gerechtigkeit, der Rich¬ ter selber mitschuldig und auf der Seite der Verbrecher, die unerhörtesten Frevel geschehen ungehindert und un¬ gestraft. Das Heer ist ohne Sold, ohne Disciplin, und streift raubend umher, um sich seinen Sold selber zu verschaffen und sich selber zu helfen, wie es kann. Die Staatskasse ist ohne Geld und ohne Hoffnung weiterer Zuflüsse. Im eigenen Haushalte des Kaisers sieht es nicht besser aus: es fehlt in Küche und Keller. Der Marschall, der von Tag zu Tage nicht mehr Rath zu schaffen weiß, ist bereits in den Händen wuchernder Juden, denen Alles verpfändet ist, so daß auf den Kaiserlichen Tisch vorweggegessenes Brod kommt.“ „Der Staatsrath will Sr. Majestät über alle diese Gebrechen Vorstellungen thun und ihre Abhülfe bera¬ then; allein der gnädigste Herr ist sehr ungeneigt, solchen unangenehmen Dingen sein hohes Ohr zu lei¬ hen; er möchte sich lieber amüsiren . Hier ist nun das wahre Element für Mephisto, der den bisherigen Nar¬ ren schnell beseitigt und als neuer Narr und Rathgeber sogleich an der Seite des Kaisers ist.“ Goethe las die Scene und das Zwischen-Gemurmel der Menge ganz vortrefflich und ich hatte einen sehr guten Abend. Sonntag, den 7. October 1827. Diesen Morgen, bei sehr schönem Wetter, befand ich mich mit Goethe bereits vor acht Uhr im Wagen und auf dem Wege nach Jena, wo er bis morgen Abend zu verweilen die Absicht hatte. Dort zeitig angekommen, fuhren wir zunächst am botanischen Garten vor, wo Goethe alle Sträuche und Gewächse in Augenschein nahm und Alles in schönster Ordnung und im besten Gedeihen fand. Wir besahen ferner das mineralogische Cabinet und einige andere naturwissenschaftliche Sammlungen und fuhren darauf zu Herrn v. Knebel , der uns zu Tisch erwartete. Knebel, im höchsten Alter, eilte Goethen halb stol¬ pernd an der Thür entgegen, um ihn in seine Arme zu schließen. Darauf bei Tisch ging Alles sehr herzlich und munter zu; von Gesprächen jedoch entwickelte sich nichts von einiger Bedeutung. Die beiden alten Freunde hatten genug am beiderseitigen menschlich nahen Bei¬ sammenseyn. Nach Tisch machten wir eine Spazierfahrt in süd¬ lll . 13 licher Richtung an der Saale hinauf. Ich kannte diese reizende Gegend bereits aus früherer Zeit; doch wirkte Alles wieder so frisch, als hätte ich es vorher nie gesehen. Als wir uns wieder in den Straßen von Jena befanden, ließ Goethe an einem Bach hinauf fahren und an einem Hause halten, das äußerlich eben kein bedeutendes Ansehen hatte. „Hier hat Voß gewohnt, sagte er, und ich will Sie doch auch auf diesem classischen Boden einführen.“ Wir durchschritten das Haus und traten in den Garten. Von Blumen und anderer Art feiner Cultur war wenig zu spüren, wir gingen auf Rasen unter lauter Obstbäumen. „Das war etwas für Ernestinen, sagte Goethe, die auch hier ihre trefflichen Eutiner Aepfel nicht vergessen konnte und die sie mir rühmte als Et¬ was ohne Gleichen. Es waren aber die Aepfel ihrer Kindheit gewesen,— darin lag's! Ich habe übrigens hier mit Voß und seiner trefflichen Ernestine manchen schönen Tag gehabt und gedenke der alten Zeit sehr gerne. Ein Mann wie Voß wird übrigens sobald nicht wiederkommen. Es haben wenig Andere auf die höhere deutsche Cultur einen solchen Einfluß gehabt als er. Es war an ihm Alles gesund und derb, weßhalb er auch zu den Griechen kein künstliches, sondern ein rein natürliches Verhältniß hatte, woraus denn für uns Anderen die herrlichsten Früchte erwachsen sind. Wer von seinem Werthe durchdrungen ist, wie ich, weiß gar nicht, wie er sein Andenken würdig genug ehren soll.“ Es war indeß gegen sechs Uhr geworden und Goethe fand es an der Zeit, in unser Nachtquartier zu gehen, das er im Gasthof „Zum Bären“ hatte be¬ stellen lassen. Man gab uns ein geräumiges Zimmer nebst einem Alkoven mit zwei Betten. Die Sonne war noch nicht lange hinab, der Abendschein lag auf unsern Fenstern, und es war uns gemüthlich, noch eine Zeitlang ohne Licht zu sitzen. Goethe lenkte das Gespräch auf Voß zurück. „Er war mir sehr werth, sagte er, und ich hätte ihn gerne der Academie und mir erhalten. Allein die Vortheile, die man ihm von Heidelberg her anbot, waren zu be¬ deutend, als daß wir, bei unsern geringen Mitteln, sie hätten aufwiegen können. Ich mußte ihn mit schmerzlicher Resignation ziehen lassen.“ „Ein Glück für mich war es indeß, fuhr Goethe fort, daß ich Schillern hatte. Denn so verschieden unsere beiderseitigen Naturen auch waren, so gingen doch unsere Richtungen auf Eins, welches denn unser Verhältniß so innig machte, daß im Grunde Keiner ohne den Andern leben konnte.“ Goethe erzählte mir darauf von seinem Freunde einige Anekdoten, die mir sehr charakteristisch erschienen. „Schiller war, wie sich bei seinem großartigen 13* Charakter denken läßt, sagte er, ein entschiedener Feind aller hohlen Ehrenbezeigungen und aller faden Vergötterung, die man mit ihm trieb oder treiben wollte. Als Kotzebue vorhatte, eine öffentliche Demon¬ stration zu seinem Ruhme zu veranstalten, war es ihm so zuwider, daß er vor innerem Ekel darüber fast krank wurde. Ebenso war es ihm zuwider, wenn ein Fremder sich bei ihm melden ließ. Wenn er augen¬ blicklich behindert war, ihn zu sehen, und er ihn etwa auf den Nachmittag vier Uhr bestellte, so war in der Regel anzunehmen, daß er um die bestimmte Stunde vor lauter Apprehension krank war. Auch konnte er in solchen Fällen gelegentlich sehr ungeduldig und auch wohl grob werden. Ich war Zeuge, wie er einst einen fremden Chirurgus, der, um ihm seinen Besuch zu machen, bei ihm unangemeldet eintrat, sehr heftig an¬ fuhr, so daß der arme Mensch, ganz verblüfft, nicht wußte, wie schnell er sich sollte zurückziehen.“ „Wir waren, wie gesagt und wie wir Alle wissen, fuhr Goethe fort, bei aller Gleichheit unserer Richtun¬ gen, Naturen sehr verschiedener Art, und zwar nicht bloß in geistigen Dingen, sondern auch in physischen. Eine Luft, die Schillern wohlthätig war, wirkte auf mich wie Gift. Ich besuchte ihn eines Tages, und da ich ihn nicht zu Hause fand und seine Frau mir sagte, daß er bald zurückkommen würde, so setzte ich mich an seinen Arbeitstisch, um mir Dieses und Jenes zu notiren. Ich hatte aber nicht lange gesessen, als ich von einem heimlichen Uebelbefinden mich überschlichen fühlte, welches sich nach und nach steigerte, so daß ich endlich einer Ohnmacht nahe war. Ich wußte anfäng¬ lich nicht, welcher Ursache ich diesen elenden, mir ganz ungewöhnlichen Zustand zuschreiben sollte, bis ich end¬ lich bemerkte, daß aus einer Schieblade neben mir ein sehr fataler Geruch strömte. Als ich sie öffnete, fand ich zu meinem Erstaunen, daß sie voll fauler Aepfel war. Ich trat sogleich an ein Fenster und schöpfte frische Luft, worauf ich mich denn augenblicklich wieder hergestellt fühlte. Indeß war seine Frau wieder herein¬ getreten, die mir sagte, daß die Schieblade immer mit faulen Aepfeln gefüllt seyn müsse, indem dieser Geruch Schillern wohlthue und er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne.“ „Morgen früh, fuhr Goethe fort, will ich Ihnen auch zeigen, wo Schiller hier in Jena gewohnt hat.“ Es war indeß Licht gebracht, wir nahmen ein klei¬ nes Abendessen und saßen nachher noch eine Weile in allerlei Erinnerungen und Gesprächen. Ich erzählte Goethen einen merkwürdigen Traum aus meinen Knabenjahren, der am anderen Morgen buchstäblich in Erfüllung ging. Ich hatte, sagte ich, mir drei junge Hänflinge er¬ zogen, woran ich mit ganzer Seele hing und die ich über Alles liebte. Sie flogen frei in meiner Kammer umher und flogen mir entgegen und auf meine Hand, sowie ich in die Thür hereintrat. Ich hatte eines Mittags das Unglück, daß bei meinem Hereintre¬ ten in die Kammer einer dieser Vögel über mich hinweg und zum Hause hinausflog, ich wußte nicht wohin. Ich suchte ihn den ganzen Nachmittag auf allen Dächern, und war untröstlich, als es Abend ward und ich von ihm keine Spur gefunden hatte. Mit betrübten herzlichen Gedanken an ihn schlief ich ein, und hatte gegen Morgen folgenden Traum. Ich sah mich nämlich, wie ich an unsern Nachbarhäusern umherging und meinen verlorenen Vogel suchte. Auf einmal höre ich den Ton seiner Stimme und sehe ihn hinter dem Gärtchen unserer Hütte auf dem Dache eines Nachbarhauses sitzen; ich sehe, wie ich ihn locke, und wie er näher zu mir herabkommt, wie er futter¬ begierig die Flügel gegen mich bewegt, aber doch sich nicht entschließen kann, auf meine Hand herabzufliegen. Ich sehe darauf, wie ich schnell durch unser Gärtchen in meine Kammer laufe und die Tasse mit gequollenem Rübsamen herbeihole; ich sehe, wie ich ihm sein belieb¬ tes Futter entgegenreiche, wie er herab auf meine Hand kommt und ich ihn voller Freude zu den beiden andern zurück in meine Kammer trage. Mit diesem Traum wache ich auf. Und da es be¬ reits vollkommen Tag war, so werfe ich mich schnell in meine Kleider und habe nichts Eiligeres zu thun, als durch unser Gärtchen zu laufen, nach dem Hause hin, wo ich den Vogel gesehen. Wie groß war aber mein Erstaunen, als der Vogel wirklich da war! Es geschah nun buchstäblich Alles, wie ich es im Traume gesehen. Ich locke ihn, er kommt näher; aber er zögert, auf meine Hand zu fliegen. Ich laufe zurück und hole das Futter, und er fliegt auf meine Hand und ich bringe ihn wieder zu den andern. „Dieses Ihr Knabenereigniß, sagte Goethe, ist aller¬ dings höchst merkwürdig. Aber dergleichen liegt sehr wohl in der Natur, wenn wir auch dazu noch nicht den rechten Schlüssel haben. Wir wandeln Alle in Geheim¬ nissen. Wir sind von einer Atmosphäre umgeben, von der wir noch gar nicht wissen, was sich Alles in ihr regt und wie es mit unserm Geiste in Verbindung steht. So viel ist wohl gewiß, daß in besondern Zu¬ ständen die Fühlfäden unserer Seele über ihre körper¬ lichen Grenzen hinausreichen können, und ihr ein Vor¬ gefühl, ja auch ein wirklicher Blick in die nächste Zu¬ kunft gestattet ist.“ Etwas Aehnliches, erwiederte ich, habe ich erst neu¬ lich erlebt, wo ich von einem Spaziergange auf der Erfurter Chaussee zurückkam, und ich etwa zehn Minu¬ ten vor Weimar den geistigen Eindruck hatte, wie an der Ecke des Theaters mir eine Person begegnete, die ich seit Jahr und Tag nicht gesehen, und an die ich sehr lange ebensowenig gedacht. Es beunruhigte mich, zu denken, daß sie mir begegnen könnte, und mein Erstaunen war daher nicht gering, als sie mir, sowie ich um die Ecke biegen wollte, wirklich an der¬ selbigen Stelle so entgegen trat, wie ich es vor etwa zehn Minuten im Geiste gesehen hatte. „Das ist gleichfalls sehr merkwürdig und mehr als Zufall, erwiederte Goethe. Wie gesagt, wir tappen Alle in Geheimnissen und Wundern. Auch kann eine Seele auf die andere durch bloße stille Gegenwart ent¬ schieden einwirken, wovon ich mehrere Beispiele erzäh¬ len könnte. Es ist mir sehr oft passirt, daß wenn ich mit einem guten Bekannten ging und lebhaft an etwas dachte, dieser über das, was ich im Sinne hatte, so¬ gleich an zu reden fing. So habe ich einen Mann gekannt, der, ohne ein Wort zu sagen, durch bloße Geistesgewalt eine in heitern Gesprächen begriffene Ge¬ sellschaft plötzlich stille zu machen im Stande war. Ja er konnte auch eine Verstimmung hineinbringen, so daß es Allen unheimlich wurde.“ „Wir haben Alle etwas von elektrischen und mag¬ netischen Kräften in uns, und üben, wie der Magnet selber, eine anziehende und abstoßende Gewalt aus, je nachdem wir mit etwas Gleichem oder Ungleichem in Berührung kommen. Es ist möglich, ja sogar wahr¬ scheinlich, daß wenn ein junges Mädchen in einem dunkeln Zimmer sich, ohne es zu wissen, mit einem Manne befände, der die Absicht hätte, sie zu ermor¬ den, sie von seiner ihr unbewußten Gegenwart ein unheimliches Gefühl hätte, und daß eine Angst über sie käme, die sie zum Zimmer hinaus und zu ihren Hausgenossen triebe.“ Ich kenne eine Opern-Scene, entgegnete ich, worin zwei Liebende, die lange Zeit durch große Entfernung getrennt waren, sich, ohne es zu wissen, in einem dunkeln Zimmer zusammen befinden. Sie sind aber nicht lange beisammen, so fängt die magnetische Kraft an, zu wirken, Eins ahnet des Anderen Nähe, sie wer¬ den unwillkürlich zu einander hingezogen und es dauert nicht lange, so liegt das junge Mädchen in den Armen des Jünglings. „Unter Liebenden, versetzte Goethe, ist diese magne¬ tische Kraft besonders stark und wirkt sogar sehr in die Ferne. Ich habe in meinen Jünglingsjahren Fälle genug erlebt, wo auf einsamen Spaziergängen ein mäch¬ tiges Verlangen nach einem geliebten Mädchen mich überfiel, und ich so lange an sie dachte, bis sie mir wirklich entgegenkam. Es wurde mir in meinem Stüb¬ chen unruhig, sagte sie, ich konnte mir nicht helfen, ich mußte hierher.“ „So erinnere ich mich eines Falles aus den ersten Jahren meines Hierseyns, wo ich sehr bald wieder in leidenschaftliche Zustände gerathen war. Ich hatte eine größere Reise gemacht und war schon seit einigen Tagen zurückgekehrt, aber durch Hofverhältnisse, die mich spät bis in die Nacht hielten, immer behindert gewesen, die Geliebte zu besuchen. Auch hatte unsere Neigung be¬ reits die Aufmerksamkeit der Leute auf sich gezogen und ich trug daher Scheu, am offenen Tage hinzugehen, um das Gerede nicht zu vergrößern. Am vierten oder fünften Abend aber konnte ich es nicht länger aushal¬ ten, und ich war auf dem Wege zu ihr und stand vor ihrem Hause, ehe ich es dachte. Ich ging leise die Treppe hinauf und war im Begriff, in ihr Zimmer zu treten, als ich an verschiedenen Stimmen hörte, daß sie nicht allein war. Ich ging unbemerkt wieder hinab und war schnell wieder in den dunkeln Straßen, die damals noch keine Beleuchtung hatten. Unmuthig und leidenschaftlich durchstreifte ich die Stadt in allen Rich¬ tungen wohl eine Stunde lang und immer einmal wie¬ der vor ihrem Hause vorbei, voll sehnsüchtiger Gedan¬ ken an die Geliebte. Ich war endlich auf dem Punkte, wieder in mein einsames Zimmer zurückzukehren, als ich noch einmal an ihrem Hause vorbeiging und be¬ merkte, daß sie kein Licht mehr hatte. Sie wird aus¬ gegangen seyn! sagte ich zu mir selber; aber wohin in dieser Dunkelheit der Nacht? und wo soll ich ihr be¬ gegnen? Ich ging abermals durch mehrere Straßen, es begegneten mir viele Menschen, und ich war oft ge¬ täuscht, indem ich ihre Gestalt und ihre Größe zu sehen glaubte, aber bei näherem Hinzukommen immer fand, daß sie es nicht war. Ich glaubte schon damals fest an eine gegenseitige Einwirkung, und daß ich durch ein mächtiges Verlangen sie herbeiziehen könne. Auch glaubte ich mich unsichtbar von höheren Wesen umge¬ ben, die ich anflehte, ihre Schritte zu mir, oder die meinigen zu ihr zu lenken. Aber was bist du für ein Thor! sagte ich dann wieder zu mir selber. Noch ein¬ mal es versuchen und noch einmal zu ihr gehen, wolltest du nicht, und jetzt verlangst du Zeichen und Wunder!“ „Indessen war ich an der Esplanade hinunter ge¬ gangen und bis an das kleine Haus gekommen, das in spätern Jahren Schiller bewohnte, als es mich an¬ wandelte, umzukehren und zurück nach dem Palais und von dort eine kleine Straße rechts zu gehen. Ich hatte kaum hundert Schritte in dieser Richtung gethan, als ich eine weibliche Gestalt mir entgegen kommen sah, die der ersehnten vollkommen gleich war. Die Straße war nur von dem schwachen Licht ein wenig dämmerig, das hin und wieder durch ein Fenster drang, und da mich diesen Abend eine scheinbare Aehnlichkeit schon oft getäuscht hatte, so fühlte ich nicht den Muth, sie auf's Ungewisse anzureden. Wir gingen dicht aneinander vorbei, so daß unsere Arme sich berührten; ich stand still und blickte mich um, sie auch. „Sind Sie es?“ sagte sie. Und ich erkannte ihre liebe Stimme. „Endlich!“ sagte ich, und war beglückt bis zu Thränen. Unsere Hände ergriffen sich. „Nun!“ sagte ich, meine Hoffnung hat mich nicht betrogen. Mit dem größten Verlangen habe ich Sie gesucht, mein Gefühl sagte mir, daß ich Sie sicher finden würde, und nun bin ich glücklich und danke Gott, daß es wahr geworden.“ „Aber, Sie Böser! sagte sie, warum sind Sie nicht ge¬ kommen? Ich erfuhr heute zufällig, daß Sie schon seit drei Tagen zurück, und habe den ganzen Nachmit¬ tag geweint, weil ich dachte, Sie hätten mich vergessen. Dann vor einer Stunde ergriff mich ein Verlangen und eine Unruhe nach Ihnen, ich kann es nicht sagen. Es waren ein paar Freundinnen bei mir, deren Besuch mir eine Ewigkeit dauerte. Endlich, als sie fort waren, griff ich unwillkürlich nach meinem Hut und Mäntelchen, es trieb mich, in die Luft zu gehen, in die Dunkelheit hinaus, ich wußte nicht wohin. Dabei lagen Sie mir immer im Sinn, und es war mir nicht anders, als müßten Sie mir begegnen.“ Indem sie so aus treuem Herzen sprach, hielten wir unsere Hände noch immer gefaßt und drückten uns und gaben uns zu verstehen, daß die Abwesenheit unsere Liebe nicht erkaltet. Ich begleitete sie bis vor die Thür, bis in ihr Haus. Sie ging auf der finstern Treppe mir voran, wobei sie meine Hand hielt und mich ihr gewissermaßen nachzog. Mein Glück war unbeschreiblich, sowohl über das end¬ liche Wiedersehen, als auch darüber, daß mein Glaube mich nicht betrogen und mein Gefühl von einer unsicht¬ baren Einwirkung mich nicht getäuscht hatte.“ Goethe war in der liebevollsten Stimmung, ich hätte ihm noch Stunden lang zuhören mögen. Allein er schien nach und nach müde zu werden, und so gingen wir denn in unserm Alkoven sehr bald zu Bette. Jena, Montag, den 8. October 1827. Wir standen frühzeitig auf. Während dem Anklei¬ den erzählte Goethe mir einen Traum der vorigen Nacht, wo er sich nach Göttingen versetzt gesehen und mit dortigen Professoren seiner Bekanntschaft allerlei gute Unterhaltung gehabt. Wir tranken einige Tassen Kaffee und fuhren sodann an dem Gebäude vor, welches die naturwissenschaftlichen Sammlungen enthält. Wir besahen das anatomische Cabinet, allerlei Skelette von Thieren und Urthieren, auch Skelette von Menschen früherer Jahrhunderte, bei welchen Goethe die Bemerkung machte, daß ihre Zähne eine sehr moralische Race andeuteten. Er ließ darauf nach der Sternwarte fahren, wo Herr Doctor Schrön uns die bedeutendsten Instrumente vorzeigte und erklärte. Auch das anstoßende meteoro¬ logische Cabinet ward mit besonderem Interesse betrach¬ tet, und Goethe lobte Herrn Doctor Schrön wegen der in allen diesen Dingen herrschenden großen Ordnung. Wir gingen sodann in den Garten hinab, wo Goethe auf einem Steintisch in einer Laube ein kleines Frühstück hatte arrangiren lassen. „Sie wissen wohl kaum, sagte er, an welcher merkwürdigen Stelle wir uns eigentlich befinden. Hier hat Schiller gewohnt. In dieser Laube, auf diesen jetzt fast zusammengebro¬ chenen Bänken haben wir oft an diesem alten Stein¬ tisch gesessen und manches gute und große Wort mit¬ einander gewechselt. Er war damals noch in den drei¬ ßigen, ich selber noch in den vierzigen, Beide noch in vollstem Aufstreben, und es war etwas. Das geht Alles hin und vorüber; ich bin auch nicht mehr, der ich gewesen, aber die alte Erde hält Stich, und Luft und Wasser und Boden sind noch immer dieselbigen.“ „Gehen Sie doch nachher einmal mit Schrön hin¬ auf und lassen sich von ihm in der Mansarde die Zim¬ mer zeigen, die Schiller bewohnt hat.“ Wir ließen uns indeß in dieser anmuthigen Luft und an diesem guten Orte das Frühstück sehr wohl schmecken. Schiller war dabei wenigstens in unserem Geiste gegenwärtig und Goethe widmete ihm noch man¬ ches gute Wort eines liebevollen Andenkens. Ich ging darauf mit Schrön in die Mansarde und genoß aus Schiller's Fenstern die herrlichste Aussicht. Die Richtung war ganz nach Süden, so daß man Stunden weit den schönen Strom, durch Gebüsch und Krümmungen unterbrochen, heranfließen sah. Auch hatte man einen weiten Horizont. Der Aufgang und Untergang der Planeten war von hieraus herrlich zu beobachten, und man mußte sich sagen, daß dieß Local durchaus günstig sey, um das Astronomische und Astro¬ logische im Wallenstein zu dichten. Ich ging wieder zu Goethe hinab, der zu Herrn Hof¬ rath Döbereiner fahren ließ, den er sehr hoch schätzt und der ihm einige neue chemische Experimente zeigte. Es war indeß Mittag geworden. Wir saßen wie¬ der im Wagen. „Ich dächte, sagte Goethe, wir führen nicht zu Tisch nach dem Bären, sondern genössen den herrlichen Tag im Freien. Ich dächte, wir gingen nach Burgau. Wein haben wir bei uns und dort finden wir auf jeden Fall einen guten Fisch, den man ent¬ weder sieden oder braten mag.“ Wir thaten so und es war gar herrlich. Wir fuh¬ ren an den Ufern der Saale hinauf, an Gebüschen und Krümmungen vorbei, den anmuthigsten Weg, wie ich ihn vorhin aus Schiller's Mansarde gesehen. Wir waren sehr bald in Burgau. Wir stiegen in dem klei¬ nen Gasthofe ab, nahe am Fluß und an der Brücke, wo es hinüber nach Lobeda geht, welches Städtchen wir, über Wiesen hin, nahe vor Augen hatten. In dem kleinen Gasthofe war es so wie Goethe gesagt. Die Wirthin entschuldigte, daß sie auf nichts eingerichtet sey, daß es uns aber an einer Suppe und einem guten Fisch nicht fehlen solle. Wir promenirten indeß im Sonnenschein auf der Brücke hin und her und freuten uns des Flusses, der durch Flößer belebt war, die auf zusammengebundenen fichtenen Bohlen von Zeit zu Zeit unter der Brücke hinglitten und bei ihrem mühsamen nassen Geschäft überaus heiter und laut waren. Wir aßen unsern Fisch im Freien und blieben so¬ dann noch bei einer Flasche Wein sitzen und hatten allerlei gute Unterhaltung. Ein kleiner Falke flog vorbei, der in seinem Flug und seiner Gestalt große Aehnlichkeit mit dem Kuckuck hatte. „Es gab eine Zeit, sagte Goethe, wo das Studium der Naturgeschichte noch so weit zurück war, daß man die Meinung allgemein verbreitet fand, der Kuckuck sey nur im Sommer ein Kuckuck, im Winter aber ein Raubvogel.“ Diese Ansicht, erwiederte ich, existirt im Volke auch jetzt noch. Ja man dichtet dem guten Vogel auch an, daß, sobald er völlig ausgewachsen sey, er seine eigenen Eltern verschlucke. Und so gebraucht man ihn denn als ein Gleichniß des schändlichsten Undanks. Ich kenne noch im gegenwärtigen Augenblick Leute, die sich diese Absurditäten durchaus nicht wollen ausreden las¬ sen, und die daran so fest hängen, wie an irgend einem Artikel ihres christlichen Glaubens. „Soviel ich weiß, sagte Goethe, classificirt man den Kuckuck zu den Spechten.“ Man thut so mitunter, erwiederte ich, wahrscheinlich aus dem Grunde, weil zwei Zehen seiner schwachen Füße eine Richtung nach hinten haben. Ich möchte ihn aber nicht dahin stellen. Er hat für die Lebens¬ art der Spechte so wenig den starken Schnabel, der fähig wäre irgend eine abgestorbene Baumrinde zu brechen, als die scharfen, sehr starken Schwanzfedern, die geeignet wären ihn bei einer solchen Operation zu stützen. Auch fehlen seinen Zehen die zum Anhalten nöthigen scharfen Krallen, und ich halte daher seine kleinen Füße nicht für wirkliche Kletterfüße, sondern nur für scheinbare. „Die Herren Ornithologen, versetzte Goethe, sind wahrscheinlich froh, wenn sie irgend einen eigenthüm¬ lichen Vogel nur einigermaßen schicklich untergebracht haben; wogegen aber die Natur ihr freies Spiel treibt und sich um die von beschränkten Menschen gemachten Fächer wenig kümmert.“ So wird die Nachtigall, fuhr ich fort, zu den Grasmücken gezählt, während sie in der Energie ihres Naturells, ihren Bewegungen und ihrer Lebensweise weit mehr Aehnlichkeit mit den Drosseln hat. Aber auch zu den Drosseln möchte ich sie nicht zählen. Sie ist ein Vogel, der zwischen Beiden steht, ein Vogel für sich, so wie auch der Kuckuck ein Vogel für sich ist, mit so scharf ausgesprochener Individualität wie einer. „Alles was ich über den Kuckuck gehört habe, sagte Goethe, giebt mir für diesen merkwürdigen Vogel ein III . 14 großes Interesse. Er ist eine höchst problematische Natur, ein offenbares Geheimniß; das aber nichts¬ destoweniger schwer zu lösen, weil es so offenbar ist. Und bei wie vielen Dingen finden wir uns nicht in demselbigen Falle! — Wir stecken in lauter Wundern, und das letzte und beste der Dinge ist uns ver¬ schlossen. Nehmen wir nur die Bienen. Wir sehen sie nach Honig fliegen, Stunden weit, und zwar immer einmal in einer anderen Richtung. Jetzt fliegen sie wochenlang westlich nach einem Felde von blühenden Rübsamen. Dann eben so lange nördlich nach blühen¬ der Haide. Dann wieder in einer anderen Richtung nach der Blüthe des Buchweizens. Dann irgendwohin auf ein blühendes Kleefeld. Und endlich wieder in einer anderen Richtung nach blühenden Linden. Wer hat ihnen aber gesagt: jetzt fliegt dorthin, da giebt es etwas für euch! Und dann wieder dort, da giebt es etwas Neues! Und wer führt sie zurück nach ihrem Dorf und ihrer Zelle! Sie gehen wie an einem un¬ sichtbaren Gängelbande hierhin und dorthin; was es aber eigentlich sey, wissen wir nicht. Ebenso die Lerche. Sie steigt singend auf über einem Halmenfeld, sie schwebt über einem Meer von Halmen, das der Wind hin- und herwiegt, und wo die eine Welle aussieht wie die andere; sie fährt wieder hinab zu ihren Jun¬ gen und trifft, ohne zu fehlen, den kleinen Fleck, wo sie ihr Nest hat. Alle diese äußeren Dinge liegen klar vor uns wie der Tag, aber ihr inneres geistiges Band ist uns verschlossen.“ Mit dem Kuckuck, sagte ich, ist es nicht anders. Wir wissen von ihm, daß er nicht selber brütet, sondern sein Ey in das Nest irgend eines anderen Vogels legt. Wir wissen ferner, daß er es legt: in das Nest der Grasemücke, der gelben Bachstelze, des Mönches; ferner in das Nest der Braunelle, in das Nest des Rothkehl¬ chens, und in das Nest des Zaunkönigs. Dieses wissen wir. Auch wissen wir gleichfalls, daß dieses Alles In¬ secten-Vögel sind und es seyn müssen, weil der Kuckuck selber ein Insecten-Vogel ist, und der junge Kuckuck von einem Saamen fressenden Vogel nicht könnte er¬ zogen werden. Woran aber erkennt der Kuckuck, daß dieses Alles auch wirklich Insecten-Vögel sind? da doch alle diese Genannten, sowohl in ihrer Gestalt als in ihrer Farbe, von einander so äußerst abweichen! — und auch in ihrer Stimme und in ihren Locktönen so äußerst abweichen! — Und ferner: wie kommt es, daß der Kuckuck sein Ey und sein zartes Junges Nestern anvertrauen kann, die in Hinsicht auf Structur und Temperatur, auf Trockenheit und Feuchte, so verschieden sind, wie nur immer möglich! — Das Nest der Grase¬ mücke ist von dürren Grashälmchen und einigen Pferde¬ haaren so leicht gebaut, daß jede Kälte eindringt und jeder Luftzug hindurchweht, auch von oben offen und ohne Schutz; aber der junge Kuckuck gedeiht darin 14* vortrefflich. Das Nest des Zaunkönigs dagegen ist äußerlich von Moos, Halmen und Blättern dicht und fest gebaut und innen mit allerlei Wolle und Federn sorgfältig ausgefüttert, so daß kein Lüftchen hin¬ durchdringen kann. Auch ist es oben gedeckt und gewölbt und nur eine kleine Oeffnung zum Hinein- und Hinausschlüpfen des sehr kleinen Vogels gelassen. Man sollte denken, es müßte in heißen Junitagen in solcher geschlossenen Höhle eine Hitze zum Ersticken seyn. Allein der junge Kuckuck gedeiht darin auf's Beste. Und wiederum wie anders ist das Nest der gelben Bachstelze! — Der Vogel lebt am Wasser, an Bächen und in allerlei Nassem. Er baut sein Nest auf feuchten Triften, in einem Büschel von Binsen. Er scharrt ein Loch in die feuchte Erde und legt es dürftig mit einigen Grashälmchen aus, so daß der junge Kuckuck durchaus im Feuchten und Kühlen ge¬ brütet wird und heranwachsen muß. Und dennoch ge¬ deiht er wiederum vortrefflich. Was ist das aber für ein Vogel, für den im zartesten Kindesalter Feuchtes und Trockenes, Hitze und Kälte, Abweichungen die für jeden anderen Vogel tödtlich wären, durchaus gleich¬ gültige Dinge sind. Und wie weiß der alte Kuckuck, daß sie es sind, da er doch selber im erwachsenen Alter für Nässe und Kälte so sehr empfindlich ist. — „Wir stehen hier, erwiederte Goethe, eben vor einem Geheimniß. Aber sagen Sie mir doch, wenn Sie es beobachtet haben, wie bringt der Kuckuck sein Ey in das Nest des Zaunkönigs, da es doch nur eine so geringe Oeffnung hat, daß er nicht hineinkommen und er sich nicht selber darauf setzen kann.“ Er legt es auf irgend eine trockene Stelle, erwie¬ derte ich, und bringt es mit dem Schnabel hinein. Auch glaube ich, daß er nicht bloß beim Zaunkönig, sondern auch bei den übrigen Nestern so thut. Denn auch die Nester der andern Insecten-Vögel, wenn sie auch oben offen, sind doch so klein, oder so nahe von Zweigen umgeben, daß der große langschwänzige Kuckuck sich nicht darauf setzen könnte. Dieß ist sehr wohl zu denken. Allein wie es kommen mag, daß der Kuckuck ein so außerordentlich kleines Ey legt, ja so klein als wäre es das Ey eines kleinen Insecten-Vo¬ gels, das ist ein neues Räthsel, das man im Stillen bewundert, ohne es lösen zu können. — Das Ey des Kuckucks ist nur um ein Weniges größer als das der Grasemücke, und es darf im Grunde nicht größer seyn, wenn die kleinen Insecten-Vögel es brüten sollen. Dieß ist durchaus gut und vernünftig. Allein daß die Natur, um im speciellen Fall weise zu seyn, von einem durchgehenden großen Gesetz abweicht, wonach vom Kolibri bis zum Strauß zwischen der Größe des Eyes und der Größe des Vogels ein entschiedenes Verhält¬ niß stattfindet, dieses willkürliche Verfahren, sage ich, ist durchaus geeignet uns zu überraschen und uns in Erstaunen zu setzen. „Es setzt uns allerdings in Erstaunen, erwiederte Goethe, weil unser Standpunkt zu klein ist, als daß wir es übersehen könnten. Wäre uns mehr eröffnet, so würden wir auch diese scheinbaren Abweichungen wahrscheinlich im Umfange des Gesetzes finden. Doch fahren Sie fort und sagen Sie mir mehr. Weiß man denn nicht, wie viele Eyer der Kuckuck legen mag?“ Wer darüber etwas mit Bestimmtheit sagen wollte, antwortete ich, wäre ein großer Thor. Der Vogel ist sehr flüchtig, er ist bald hier und bald dort, man findet von ihm in einem einzigen Nest immer nur ein einziges Ey. Er legt sicherlich mehrere; allein wer weiß, wo sie hingerathen, und wer kann ihm nachkommen! —Gesetzt aber, er legte fünf Eyer, und diese würden alle fünf glücklich ausgebrütet und von liebevollen Pflegeeltern herangezogen, so hat man wiederum zu bewundern, daß die Natur sich entschließen mag, für fünf junge Kuckucke wenigstens funfzig Junge unserer besten Singvögel zu opfern. „In dergleichen Dingen, erwiederte Goethe, pflegt die Natur auch in anderen Fällen nicht eben scrupulös zu seyn. Sie hat einen großen Etat von Leben zu vergeu¬ den, und sie thut es gelegentlich ohne sonderliches Be¬ denken. Wie aber kommt es, daß für einen einzigen jun¬ gen Kuckuck so viele junge Singvögel verloren gehen?“ Zunächst, erwiederte ich, geht die erste Brut ver¬ loren. Denn im Fall auch die Eyer des Singvogels neben dem Kuckucks-Ey, wie es wohl geschieht, mit ausgebrütet würden; so haben doch die Eltern über den entstandenen größeren Vogel eine solche Freude und für ihn eine solche Zärtlichkeit, daß sie nur an ihn denken und nur ihn füttern, worüber denn ihre eigenen kleinen Jungen zu Grunde gehen und aus dem Neste verschwinden. Auch ist der junge Kuckuck immer begierig und bedarf so viel Nahrung, als die kleinen Insecten-Vögel nur immer herbeischleppen kön¬ nen. Es dauert sehr lange, ehe er seine vollständige Größe und sein vollständiges Gefieder erreicht, und ehe er fähig ist das Nest zu verlassen und sich zum Gipfel eines Baumes zu erheben. Ist er aber auch längst ausgeflogen, so verlangt er doch noch fortwährend gefüttert zu werden, so daß der ganze Sommer darü¬ ber hingeht und die liebevollen Pflegeeltern ihrem gro¬ ßen Kinde immer nachziehen und auch an eine zweite Brut nicht denken. Aus diesem Grunde gehen denn über einen einzigen jungen Kuckuck so viele andere junge Vögel verloren. „Das ist sehr überzeugend, erwiederte Goethe. Doch sagen Sie mir, wird denn der junge Kuckuck, sobald er ausgeflogen ist, auch von anderen Vögeln gefüttert, die ihn nicht gebrütet haben? Es ist mir, als hätte ich dergleichen gehört.“ Es ist so, antwortete ich. Sobald der junge Kuckuck sein niederes Nest verlassen und seinen Sitz etwa in dem Gipfel einer hohen Eiche genommen hat, läßt er einen lauten Ton hören, welcher sagt, daß er da sey. Nun kommen alle kleinen Vögel der Nachbarschaft, die ihn gehört haben, herbei, um ihn zu begrüßen. Es kommt die Grasemücke, es kommt der Mönch, die gelbe Bachstelze fliegt hinauf, ja der Zaunkönig, dessen Na¬ turell es ist beständig in niederen Hecken und dichten Gebüschen zu schlüpfen, überwindet seine Natur und erhebt sich, dem geliebten Ankömmling entgegen, zum Gipfel der hohen Eiche. Das Paar aber, das ihn erzogen hat, ist mit dem Füttern treuer, während die Uebrigen nur gelegentlich mit einem guten Bissen her¬ zufliegen. „Es scheint also, sagte Goethe, zwischen dem jungen Kuckuck und den kleinen Insecten-Vögeln eine große Liebe zu bestehen.“ Die Liebe der kleinen Insecten-Vögel zum jungen Kuckuck, erwiederte ich, ist so groß, daß, wenn man einem Neste nahe kommt, in welchem ein junger Kuckuck gehegt wird, die kleinen Pflegeeltern vor Schreck und Furcht und Sorge nicht wissen, wie sie sich gebärden sollen. Besonders der Mönch drückt eine große Ver¬ zweiflung aus, so daß er fast wie in Krämpfen am Boden flattert. „Merkwürdig genug, erwiederte Goethe; aber es läßt sich denken. Allein etwas sehr problematisch erscheint mir, daß z. B. ein Grasemückenpaar, das im Begriff ist, die eigenen Eyer zu brüten, dem alten Kuckuck er¬ laubt ihrem Neste nahe zu kommen und sein Ey hinein zu legen.“ Das ist freilich sehr räthselhaft, erwiederte ich; doch nicht so ganz. Denn eben dadurch, daß alle kleinen Insecten-Vögel den ausgeflogenen Kuckuck füttern, und daß ihn also auch die füttern, die ihn nicht gebrütet haben, dadurch entsteht und erhält sich zwischen Beiden eine Art Verwandtschaft, so daß sie sich fortwährend kennen und als Glieder einer einzigen großen Familie betrachten. Ja es kann sogar kommen, daß derselbige Kuckuck, den ein Paar Grasemücken im vorigen Jahre ausgebrütet und erzogen haben, ihnen in diesem Jahre sein Ey bringt. „Das läßt sich allerdings hören, erwiederte Goethe, so wenig man es auch begreift. Ein Wunder aber bleibt es mir immer, daß der junge Kuckuck auch von solchen Vögeln gefüttert wird, die ihn nicht gebrütet und erzogen.“ Es ist freilich ein Wunder, erwiederte ich; doch giebt es wohl etwas Analoges. Ja ich ahne in dieser Richtung sogar ein großes Gesetz, das tief durch die ganze Natur geht. Ich hatte einen jungen Hänfling gefangen, der schon zu groß war, um sich von Menschen füttern zu lassen, aber noch zu jung, um allein zu fressen. Ich gab mir mit ihm einen halben Tag viele Mühe; da er aber durchaus nichts annehmen wollte, so setzte ich ihn zu einem alten Hänfling hinein, einem guten Sänger, den ich schon seit Jahr und Tag im Käfig gehabt und der außen vor meinem Fenster hing. Ich dachte: wenn der Junge sieht wie der Alte frißt, so wird er vielleicht auch ans Futter gehen und es ihm nachmachen. Er that aber nicht so, sondern er öffnete seinen Schnabel gegen den Alten und bewegte mit bittenden Tönen die Flügel gegen ihn, worauf denn der alte Hänfling sich seiner sogleich erbarmte und ihn als Kind annahm und ihn fütterte, als wäre es sein eigenes. Ferner brachte man mir eine graue Grasemücke und drei Junge, die ich zusammen in einen großen Käfig that und die die Alte fütterte. Am andern Tage brachte man mir zwei bereits ausgeflogene junge Nach¬ tigallen, die ich auch zu der Grasemücke that und die von ihr gleichfalls adoptirt und gefüttert wurden. Darauf nach einigen Tagen setzte ich noch ein Nest mit beinahe flüggen jungen Müllerchen hinein, und ferner noch ein Nest mit fünf jungen Plattmönchen. Diese alle nahm die Grasemücke an und fütterte sie und sorgte für sie als treue Mutter. Sie hatte immer den Schnabel voll Ameiseneyer und war bald in der einen Ecke des geräumigen Käfigs und bald in der andern, und wo nur immer eine hungrige Kehle sich öffnete, da war sie da. — Ja noch mehr! — Auch das eine indeß herangewachsene Junge der Grasmücke fing an, einige der Kleineren zu füttern, zwar noch spielend und etwas kinderhaft, aber doch schon mit ent¬ schiedenem Triebe, es der trefflichen Mutter nachzuthun. „Da stehen wir allerdings vor etwas Göttlichem, sagte Goethe, das mich in ein freudiges Erstaunen setzt. Wäre es wirklich, daß dieses Füttern eines Frem¬ den als etwas Allgemein-Gesetzliches durch die Natur ginge, so wäre damit manches Räthsel gelös't, und man könnte mit Ueberzeugung sagen: daß Gott sich der ver¬ wais'ten jungen Raben erbarme, die ihn anrufen.“ Etwas Allgemein-Gesetzliches, erwiederte ich, scheint es allerdings zu seyn; denn ich habe auch im wilden Zustande dieses hülfreiche Füttern und dieses Erbarmen gegen Verlassene beobachtet. Ich hatte im vorigen Sommer in der Nähe von Tiefurt zwei junge Zaunkönige gefangen, die wahr¬ scheinlich erst ganz kürzlich ihr Nest verlassen hatten; denn sie saßen in einem Busch auf einem Zweig nebst sieben Geschwistern in einer Reihe und ließen sich von ihren Alten füttern. Ich nahm die jungen Vögel in mein seidenes Taschentuch und ging in der Richtung nach Weimar bis an's Schießhaus, dann rechts nach der Wiese an der Ilm hinunter und an dem Badeplatz vorüber, und dann wieder links in das kleine Gehölz. Hier, dachte ich, hast du Ruhe, um einmal nach deinen Zaunkönigen zu sehen. Als ich aber das Tuch öffnete, entschlüpften sie mir beide und waren sogleich im Ge¬ büsch und Grase verschwunden, so daß mein Suchen nach ihnen vergebens war. Am dritten Tage kam ich zufällig wieder an dieselbige Stelle, und da ich die Locktöne eines Rothkehlchens hörte, so vermuthete ich ein Nest in der Nähe, welches ich nach einigem Umher¬ spähen auch wirklich fand. Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich in diesem Nest, neben beinahe flüg¬ gen jungen Rothkehlchen, auch meine beiden jungen Zaunkönige fand, die sich hier ganz gemüthlich unter¬ gethan hatten und sich von den alten Rothkehlchen füttern ließen. Ich war im hohen Grade glücklich über diesen höchst merkwürdigen Fund. Da ihr so klug seyd, dachte ich bei mir selber, und euch so hübsch habt zu helfen gewußt, und da auch die guten Rothkehlchen sich eurer so hülfreich angenommen, so bin ich weit entfernt so gastfreundliche Verhältnisse zu stören, im Gegentheil wünsche ich euch das allerbeste Gedeihen. „Das ist eine der besten ornithologischen Geschich¬ ten, die mir je zu Ohren gekommen, sagte Goethe. Stoßen Sie an, Sie sollen leben, und Ihre glücklichen Beobachtungen mit! — Wer das hört und nicht an Gott glaubt, dem helfen nicht Moses und die Prophe¬ ten. Das ist es nun, was ich die Allgegenwart Gottes nenne, der einen Theil seiner unendlichen Liebe überall verbreitet und eingepflanzt hat, und schon im Thiere dasjenige als Knospe andeutet, was im edlen Menschen zur schönsten Blüthe kommt. Fahren Sie ja in Ihren Studien und Ihren Beobachtungen fort! Sie scheinen darin ein besonderes Glück zu haben und können noch ferner zu ganz unschätzbaren Resultaten kommen.“ Indeß wir nun so an unserm Tische in freier Natur uns über gute und tiefe Dinge unterhielten, neigte sich die Sonne den Gipfeln der westlichen Hügel zu, und Goethe fand es an der Zeit, unsern Rückweg anzutre¬ ten. Wir fuhren rasch durch Jena, und nachdem wir im Bären bezahlt und noch einen kurzen Besuch bei Frommann's gemacht, ging es im scharfen Trapp nach Weimar. Donnerstag, den 18. October 1827. Hegel ist hier, den Goethe persönlich sehr hoch schätzt, wenn auch einige seiner Philosophie entsprossenen Früchte ihm nicht sonderlich munden wollen. Goethe gab ihm zu Ehren diesen Abend einen Thee, wobei auch Zelter gegenwärtig, der aber noch diese Nacht wieder abzureisen im Sinne hatte. Man sprach sehr viel über Hamann , wobei beson¬ ders Hegel das Wort führte und über jenen außerordent¬ lichen Geist so gründliche Ansichten entwickelte, wie sie nur aus dem ernstesten und gewissenhaftesten Studium des Gegenstandes hervorgehen konnten. Sodann wendete sich das Gespräch auf das Wesen der Dialektik . — Es ist im Grunde nichts weiter, sagte Hegel, als der geregelte, methodisch ausgebildete Widerspruchsgeist, der jedem Menschen inwohnt, und welche Gabe sich groß erweiset in Unterscheidung des Wahren vom Falschen. „Wenn nur, fiel Goethe ein, solche geistigen Künste und Gewandtheiten nicht häufig gemißbraucht und dazu verwendet würden, um das Falsche wahr und das Wahre falsch zu machen!“ Dergleichen geschieht wohl, erwiederte Hegel; aber nur von Leuten, die geistig krank sind. „Da lobe ich mir, sagte Goethe, das Studium der Natur, das eine solche Krankheit nicht aufkommen läßt. Denn hier haben wir es mit dem unendlich und ewig Wahren zu thun, das Jeden, der nicht durchaus rein und ehrlich bei Beobachtung und Behandlung sei¬ nes Gegenstandes verfährt, sogleich als unzulänglich verwirft. Auch bin ich gewiß, daß mancher dialektisch Kranke im Studium der Natur eine wohlthätige Hei¬ lung finden könnte.“ Wir waren noch im besten Gespräch und in der heitersten Unterhaltung, als Zelter aufstand und, ohne ein Wort zu sagen, hinausging. Wir wußten, es that ihm leid von Goethen Abschied zu nehmen, und daß er diesen zarten Ausweg wähle, um über einen schmerz¬ lichen Moment hinwegzukommen. 1828. Dienstag, den 11. März 1828. I ch bin seit mehreren Wochen nicht ganz wohl. Ich schlafe schlecht, und zwar in den unruhigsten Träu¬ men, vom Abend bis zum Morgen, wo ich mich in sehr verschiedenartigen Zuständen sehe, allerlei Gespräche mit bekannten und unbekannten Personen führe, mich herumstreite und zanke, und zwar Alles so lebendig, daß ich mir jeder Einzelnheit am andern Morgen noch deutlich bewußt bin. Dieses Traumleben aber zehrt von den Kräften meines Gehirns, so daß ich mich am Tage schlaff und abgespannt fühle, zu jeder geistigen Thätig¬ keit ohne Lust und Gedanken. Ich hatte Goethen wiederholt meinen Zustand ge¬ klagt und er hatte mich wiederholt getrieben, mich doch meinem Arzte zu vertrauen. „Was Euch fehlt, sagte er, ist gewiß nicht der Mühe werth; wahrscheinlich nichts als eine kleine Stockung, die durch einige Gläser Mi¬ neralwasser oder ein wenig Salz zu heben ist. Aber laßt es nicht länger so fortschlendern, sondern thut dazu!“ Goethe mochte ganz recht haben, und ich sagte mir selber, daß er recht habe; allein jene Unentschlossenheit III . 15 und Unlust wirkte auch in diesem Falle, und ich ließ wiederum unruhige Nächte und schlechte Tage verstrei¬ chen, ohne das Mindeste zur Abstellung meines Uebels zu thun. Als ich nun heute nach Tisch abermals nicht ganz frei und heiter vor Goethe erschien, riß ihm die Ge¬ duld und er konnte nicht umhin, mich ironisch anzu¬ lächeln und mich ein wenig zn verhöhnen. „Ihr seyd der zweite Shandy, sagte er, der Vater jenes berühmten Tristram, den ein halbes Leben eine knarrende Thür ärgerte, und der nicht zu dem Entschluß kommen konnte, seinen täglichen Verdruß durch ein paar Tropfen Oel zu beseitigen.“ „Aber so ist's mit uns Allen! Des Menschen Ver¬ düsterungen und Erleuchtungen machen sein Schicksal ! Es thäte uns Noth, daß der Dämon uns täglich am Gängelbande führte und uns sagte und triebe, was immer zu thun sey. Aber der gute Geist verläßt uns und wir sind schlaff und tappen im Dunkeln.“ „Da war Napoleon ein Kerl! — Immer erleuchtet, immer klar und entschieden, und zu jeder Stunde mit der hinreichenden Energie begabt, um das, was er als vortheilhaft und nothwendig erkannt hatte, sogleich ins Werk zu setzen. Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg. Von ihm könnte man sehr wohl sagen, daß er sich in dem Zustande einer fortwährenden Erleuchtung befunden, weßhalb auch sein Geschick ein so glänzendes war, wie es die Welt vor ihm nicht sah und vielleicht auch nach ihm nicht sehen wird.“ „Ja, ja, mein Guter, das war ein Kerl, dem wir es freilich nicht nachmachen können!“ Goethe schritt im Zimmer auf und ab. Ich hatte mich an den Tisch gesetzt, der zwar bereits abgeräumt war, aber auf dem sich noch einige Reste Wein befanden, nebst einigem Biscuit und Früchten. Goethe schenkte mir ein und nöthigte mich, von bei¬ den etwas zu genießen. „Sie haben zwar verschmäht, sagte er, diesen Mittag unser Gast zu seyn, doch dürfte ein Glas von diesem Geschenk lieber Freunde Ihnen ganz wohl thun!“ Ich ließ mir so gute Dinge gefallen, während Goethe fortfuhr im Zimmer auf und ab zu gehen und aufge¬ regten Geistes vor sich hinzubrummen und von Zeit zu Zeit unverständliche Worte herauszustoßen. Das, was er soeben über Napoleon gesagt, lag mir im Sinn, und ich suchte das Gespräch auf jenen Gegenstand zurückzuführen. Doch scheint es mir, begann ich, daß Napoleon sich besonders in dem Zustande jener fortwährenden Er¬ leuchtung befunden, als er noch jung und in aufsteigen¬ der Kraft war, wo wir denn auch einen göttlichen Schutz und ein beständiges Glück ihm zur Seite sehen. In späteren Jahren dagegen scheint ihn jene Erleuch¬ 15* tung verlassen zu haben, so wie sein Glück und sein guter Stern. „Was wollt Ihr! erwiederte Goethe. Ich habe auch meine Liebeslieder und meinen Werther nicht zum zweitenmal gemacht. Jene göttliche Erleuchtung, wo¬ durch das Außerordentliche entsteht, werden wir immer mit der Jugend und der Productivität im Bunde finden, wie denn Napoleon einer der productivsten Menschen war, die je gelebt haben.“ „Ja, ja, mein Guter, man braucht nicht bloß Ge¬ dichte und Schauspiele zu machen, um productiv zu seyn, es giebt auch eine Productivität der Tha¬ ten , und die in manchen Fällen noch um ein Bedeu¬ tendes höher steht. — Selbst der Arzt muß productiv seyn, wenn er wahrhaft heilen will; ist er es nicht, so wird ihm nur hin und wieder, wie durch Zufall, etwas gelingen, im Ganzen aber wird er nur Pfuscherei machen.“ Sie scheinen, versetzte ich, in diesem Fall Producti¬ vität zu nennen, was man sonst Genie nannte. „Beides sind auch sehr nahe liegende Dinge, erwie¬ derte Goethe. Denn was ist Genie anders, als jene productive Kraft, wodurch Thaten entstehen, die vor Gott und der Natur sich zeigen können, und die eben deßwegen Folge haben und von Dauer sind. Alle Werke Mozart's sind dieser Art; es liegt in ihnen eine zeugende Kraft, die von Geschlecht zu Geschlecht fort¬ wirket und sobald nicht erschöpft und verzehrt seyn dürfte. Von andern großen Komponisten und Künst¬ lern gilt dasselbe. Wie haben nicht Phidias und Ra¬ phael auf nachfolgende Jahrhunderte gewirkt, und wie nicht Dürer und Holbein! — Derjenige, der zuerst die Formen und Verhältnisse der altdeutschen Baukunst er¬ fand, so daß im Laufe der Zeit ein Straßburger Mün¬ ster und ein Kölner Dom möglich wurde, war auch ein Genie, denn seine Gedanken haben fortwährend pro¬ ductive Kraft behalten, und wirken bis auf die heutige Stunde. Luther war ein Genie sehr bedeutender Art; er wirkt nun schon manchen guten Tag, und die Zahl der Tage, wo er in fernen Jahrhunderten aufhören wird, productiv zu seyn, ist nicht abzusehen. Lessing wollte den hohen Titel eines Genies ablehnen; allein seine dauernden Wirkungen zeugen wider ihn selber. Dagegen haben wir in der Literatur andere und zwar bedeutende Namen, die, als sie lebten, für große Ge¬ nies gehalten wurden, deren Wirken aber mit ihrem Leben endete, und die also weniger waren, als sie und Andere dachten. Denn, wie gesagt, es giebt kein Genie ohne productiv fortwirkende Kraft, und ferner: es kommt dabei gar nicht auf das Geschäft, die Kunst und das Metier an, das Einer treibt, es ist Alles dasselbige. Ob Einer sich in der Wissenschaft genial erweiset, wie Oken und Humboldt , oder im Krieg und der Staatsverwaltung, wie Friedrich, Peter der Große und Napoleon, oder ob Einer ein Lied macht wie B é ranger, es ist Alles gleich und kommt bloß darauf an, ob der Gedanke, das Aper ç u, die That lebendig sey und fort¬ zuleben vermöge.“ „Und dann muß ich noch sagen: nicht die Masse der Erzeugnisse und Thaten, die von Jemandem aus¬ gehen, deuten auf einen productiven Menschen. Wir haben in der Literatur Poeten, die für sehr productiv gehalten werden, weil von ihnen ein Band Gedichte nach dem andern erschienen ist. Nach meinem Begriff aber sind diese Leute durchaus unproductiv zu nennen, denn, was sie machten, ist ohne Leben und Dauer. Goldsmith dagegen hat so wenige Gedichte gemacht, daß ihre Zahl nicht der Rede werth; allein dennoch muß ich ihn als Poeten für durchaus productiv erklä¬ ren, und zwar eben deßwegen, weil das Wenige, was er machte, ein inwohnendes Leben hat, das sich zu er¬ halten weiß.“ Es entstand eine Pause, während welcher Goethe fortfuhr im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich war indeß begierig, über diesen wichtigen Punkt noch etwas Weiteres zu hören, und suchte daher Goethen wieder in Anregung zu bringen. Liegt denn, sagte ich, diese geniale Productivität bloß im Geiste eines bedeutenden Menschen, oder liegt sie auch im Körper? „Wenigstens, erwiederte Goethe, hat der Körper darauf den größten Einfluß . — Es gab zwar eine Zeit, wo man in Deutschland sich ein Genie als klein, schwach, wohl gar buckelig dachte; allein ich lobe mir ein Genie, das den gehörigen Körper hat.“ — „Wenn man von Napoleon gesagt, er sey ein Mensch aus Granit, so gilt dieses besonders auch von seinem Körper. Was hat sich der nicht Alles zugemu¬ thet und zumuthen können! — Von dem brennenden Sande der syrischen Wüste bis zu den Schneefeldern von Moskau, welche Unsumme von Märschen, Schlach¬ ten und nächtlichen Bivouacs liegen da nicht in der Mitte! — und welche Strapazen und körperliche Ent¬ behrungen hat er dabei nicht aushalten müssen! Wenig Schlaf, wenig Nahrung, und dabei immer in der höch¬ sten geistigen Thätigkeit! — Bei der fürchterlichen An¬ strengung und Aufregung des achtzehnten Brumaire ward es Mitternacht, und er hatte den ganzen Tag noch nichts genossen! und ohne nun an seine körper¬ liche Stärkung zu denken, fühlte er sich Kraft genug, um noch tief in der Nacht die bekannte Proclamation an das französische Volk zu entwerfen. — Wenn man er¬ wägt, was der alles durchgemacht und ausgestanden, so sollte man denken, es wäre in seinem vierzigsten Jahre kein heiles Stück mehr an ihm gewesen; allein er stand in jenem Alter noch auf den Füßen eines vollkommenen Helden.“ „Aber Sie haben ganz recht, der eigentliche Glanz¬ punkt seiner Thaten fällt in die Zeit seiner Jugend. Und es wollte etwas heißen, daß Einer aus dunkler Herkunft und in einer Zeit, die alle Capacitäten in Bewegung setzte, sich so herausmachte, um in seinem sieben und zwanzigsten Jahre der Abgott einer Nation von dreißig Millionen zu seyn! — Ja, ja, mein Gu¬ ter, man muß jung seyn, um große Dinge zu thun. Und Napoleon ist nicht der Einzige!“ Sein Bruder Lucian, bemerkte ich, war auch schon früh sehr hohen Dingen gewachsen. Wir sehen ihn als Präsidenten der Fünfhundert und darauf als Mi¬ nister des Innern im kaum vollendeten fünf und zwan¬ zigsten Jahre. „Was wollen Sie mit Lucian? fiel Goethe ein. Die Geschichte bietet uns der tüchtigsten Leute zu Hunderten , die sowohl im Cabinet als im Felde in noch jugendlichem Alter den bedeutendsten Dingen mit großem Ruhme vorstanden.“ „Wäre ich ein Fürst, fuhr er lebhaft fort, so würde ich zu meinen ersten Stellen nie Leute nehmen, die bloß durch Geburt und Anciennetät nach und nach heraufge¬ kommen sind und nun in ihrem Alter in gewohntem Gleise langsam gemächlich fortgehen, wobei denn freilich nicht viel Gescheutes zu Tage kommt. — Junge Män¬ ner wollte ich haben! — aber es müßten Capacitäten seyn, mit Klarheit und Energie ausgerüstet, und dabei vom besten Wollen und edelsten Charakter. Da wäre es eine Lust, zu herrschen und sein Volk vorwärts zu brin¬ gen! — Aber wo ist ein Fürst, dem es so wohl würde und der so gut bedient wäre!“ — „Große Hoffnung setze ich auf den jetzigen Kron¬ prinzen von Preußen . Nach Allem, was ich von ihm kenne und höre, ist er ein sehr bedeutender Mensch! und das gehört dazu, um wieder tüchtige und talent¬ volle Leute zu erkennen und zu wählen. Denn, man sage was man will, das Gleiche kann nur vom Glei¬ chen erkannt werden, und nur ein Fürst, der selber große Fähigkeiten besitzt, wird wiederum große Fähigkeiten in seinen Unterthanen und Dienern gehörig erkennen und schätzen. Dem Talente offene Bahn ! war der bekannte Spruch Napoleon's, der freilich in der Wahl seiner Leute einen ganz besondern Tact hatte, der jede bedeutende Kraft an die Stelle zu setzen wußte, wo sie in ihrer eigentlichen Sphäre erschien, und der daher auch in seinem Leben bei allen großen Unternehmungen bedient war wie kaum ein Anderer.“ Goethe gefiel mir diesen Abend ganz besonders. Das Edelste seiner Natur schien in ihm rege zu seyn; dabei war der Klang seiner Stimme und das Feuer seiner Augen von solcher Kraft, als wäre er von einem frischen Auflodern seiner besten Jugend durchglüht. — Merkwürdig war es mir, daß er, der selbst in so ho¬ hen Jahren noch einem bedeutenden Posten vorstand, so ganz entschieden der Jugend das Wort redete, und die ersten Stellen im Staat, wenn auch nicht von Jüng¬ lingen, doch von Männern in noch jugendlichem Alter besetzt haben wollte. Ich konnte nicht umhin, einige hochstehende deutsche Männer zu erwähnen, denen im hohen Alter die nöthige Energie und jugendliche Be¬ weglichkeit zum Betrieb der bedeutendsten und mannig¬ faltigsten Geschäfte doch keineswegs zu fehlen scheine. „Solche Männer und ihres Gleichen, erwiederte Goethe, sind geniale Naturen, mit denen es eine eigene Bewandniß hat; sie erleben eine wiederholte Pu¬ bertät , während andere Leute nur einmal jung sind.“ „Jede Entelechie nämlich ist ein Stück Ewigkeit, und die paar Jahre, die sie mit dem irdischen Körper verbunden ist, machen sie nicht alt. — Ist diese Ente¬ lechie geringer Art, so wird sie während ihrer körper¬ lichen Verdüsterung wenig Herrschaft ausüben, viel¬ mehr wird der Körper vorherrschen, und wie er altert, wird sie ihn nicht halten und hindern. Ist aber die Entelechie mächtiger Art, wie es bei allen genialen Naturen der Fall ist, so wird sie, bei ihrer belebenden Durchdringung des Körpers, nicht allein auf dessen Organisation kräftigend und veredelnd einwirken, son¬ dern sie wird auch, bei ihrer geistigen Uebermacht, ihr Vorrecht einer ewigen Jugend fortwährend geltend zu machen suchen. Daher kommt es denn, daß wir bei vorzüglich begabten Menschen, auch während ihres Alters, immer noch frische Epochen besonderer Productivität wahrnehmen; es scheint bei ihnen immer einmal wieder eine temporäre Verjüngung einzutreten, und das ist es, was ich eine wiederholte Pubertät nennen möchte.“ „Aber jung ist jung, und wie mächtig auch eine Entelechie sich erweise, sie wird doch über das Körper¬ liche nie ganz Herr werden, und es ist ein gewaltiger Unterschied, ob sie an ihm einen Alliirten oder einen Gegner findet.“ „Ich hatte in meinem Leben eine Zeit, wo ich täglich einen gedruckten Bogen von mir fordern konnte, und es gelang mir mit Leichtigkeit. Meine Geschwister habe ich in drei Tagen geschrieben. Meinen Clavigo , wie Sie wissen, in acht. — Jetzt soll ich dergleichen wohl bleiben lassen; und doch kann ich über Mangel an Pro¬ ductivität, selbst in meinem hohen Alter, mich keineswegs beklagen. Was mir aber in meinen jungen Jahren täglich und unter allen Umständen gelang, gelingt mir jetzt nur periodenweise und unter gewissen günstigen Bedingungen. — Als mich vor zehn zwölf Jahren, in der glücklichen Zeit nach dem Befreiungskriege, die Ge¬ dichte des Divan in ihrer Gewalt hatten, war ich productiv genug, um oft in einem Tage zwei bis drei zu machen; und auf freiem Felde, im Wagen oder im Gasthof, es war mir Alles gleich. Jetzt, am zweiten Theil meines Faust, kann ich nur in den frühen Stun¬ den des Tages arbeiten, wo ich mich vom Schlaf er¬ quickt und gestärkt fühle und die Fratzen des täglichen Lebens mich noch nicht verwirrt haben. Und doch, was ist es, das ich ausführe! Im allerglücklichsten Fall eine geschriebene Seite; in der Regel aber nur so viel, als man auf den Raum einer Handbreit schreiben könnte, und oft, bei unproductiver Stimmung, noch weniger.“ Giebt es denn im Allgemeinen, sagte ich, kein Mittel, um eine productive Stimmung hervorzubringen, oder, wenn sie nicht mächtig genug wäre, sie zu steigern? „Um diesen Punkt, erwiederte Goethe, steht es gar wunderlich, und wäre darüber allerlei zu denken und zu sagen.“ „Jede Productivität höchster Art , jedes bedeu¬ tende Aper ç ü, jede Erfindung, jeder große Gedanke der Früchte bringt und Folge hat, steht in Niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes, zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat. Es ist dem Dämonischen verwandt, das über¬ mächtig mit ihm thut wie es beliebt und dem er sich bewußtlos hingiebt, während er glaubt, er handele aus eigenem Antriebe. In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Welt¬ regierung zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses. — Ich sage dieß, indem ich erwäge, wie oft ein einziger Gedanke ganzen Jahrhunderten eine andere Gestalt gab, und wie einzelne Menschen durch das, was von ihnen ausging, ihrem Zeitalter ein Gepräge aufdrückten, das noch in nachfolgenden Geschlechtern kenntlich blieb und wohlthätig fortwirkte.“ „Sodann aber giebt es eine Productivität anderer Art, die schon eher irdischen Einflüssen unterworfen ist und die der Mensch schon mehr in seiner Gewalt hat, obgleich er auch hier immer noch sich vor etwas Gött¬ lichem zu beugen Ursache findet. In diese Region zähle ich alles zur Ausführung eines Planes Gehörige, alle Mittelglieder einer Gedankenkette, deren Endpunkte bereits leuchtend dastehen; ich zähle dahin alles das¬ jenige, was den sichtbaren Leib und Körper eines Kunstwerkes ausmacht.“ „So kam Shakspearen der erste Gedanke zu seinem Hamlet , wo sich ihm der Geist des Ganzen als uner¬ warteter Eindruck vor die Seele stellte, und er die einzelnen Situationen, Charaktere und Ausgang des Ganzen in erhöheter Stimmung übersah, als ein reines Geschenk von oben, worauf er keinen unmittelbaren Einfluß gehabt hatte, obgleich die Möglichkeit, ein solches Aper ç ü zu haben, immer einen Geist wie den seinigen voraussetzte. — Die spätere Ausführung der einzelnen Scenen aber und die Wechselreden der Per¬ sonen hatte er vollkommen in seiner Gewalt, so daß er sie täglich und stündlich machen und daran wochenlang fortarbeiten konnte wie es ihm nur beliebte. — Und zwar sehen wir an Allem, was er ausführte, immer die gleiche Kraft der Production, und wir kommen in allen seinen Stücken nirgend auf eine Stelle, von der man sagen könnte, sie sey nicht in der rechten Stim¬ mung und nicht mit dem vollkommensten Vermögen geschrieben. Indem wir ihn lesen, erhalten wir von ihm den Eindruck eines geistig wie körperlich durchaus und stets gesunden kräftigen Menschen.“ „Gesetzt aber, eines dramatischen Dichters körper¬ liche Constitution wäre nicht so fest und vortrefflich, und er wäre vielmehr häufigen Kränklichkeiten und Schwächlichkeiten unterworfen, so würde die zur täg¬ lichen Ausführung seiner Scenen nöthige Productivität sicher sehr häufig stocken und oft wohl Tage lang gänz¬ lich mangeln. Wollte er nun, etwa durch geistige Ge¬ tränke, die mangelnde Productivität herbeinöthigen und die unzulängliche dadurch steigern, so würde das allen¬ falls auch wohl angehen, allein man würde es allen Scenen, die er auf solche Weise gewissermaßen for¬ cirt hätte, zu ihrem großen Nachtheil anmerken.“ „Mein Rath ist daher, nichts zu forciren und alle unproductiven Tage und Stunden lieber zu vertän¬ deln und zu verschlafen, als in solchen Tagen etwas machen zu wollen, woran man später keine Freude hat.“ Sie sprechen, erwiederte ich, etwas aus, was ich selber sehr oft erfahren und empfunden und was man sicher als durchaus wahr und richtig zu ver¬ ehren hat. — Aber doch will mir scheinen, als ob wohl Jemand durch natürliche Mittel seine productive Stimmung steigern könnte, ohne sie gerade zu forciren. Ich war in meinem Leben sehr oft in dem Fall, bei gewissen complicirten Zuständen zu keinem rechten Ent¬ schluß kommen zu können. Trank ich aber in solchen Fällen einige Gläser Wein, so war es mir sogleich klar, was zu thun sey, und ich war auf der Stelle entschieden. — Das Fassen eines Entschlusses ist aber doch auch eine Art Productivität, und wenn nun einige Gläser Wein diese Tugend bewirkten, so dürfte ein solches Mittel doch nicht ganz zu verwerfen seyn. „Ihrer Bemerkung, erwiederte Goethe, will ich nicht widersprechen; was ich aber vorhin sagte, hat auch seine Richtigkeit, woraus wir denn sehen, daß die Wahrheit wohl einem Diamant zu vergleichen wäre, dessen Strahlen nicht nach einer Seite gehen, sondern nach vielen . — Da Sie übrigens meinen Divan so gut kennen, so wissen Sie, daß ich selber gesagt habe Wenn man getrunken hat, Weiß man das Rechte, und daß ich Ihnen also vollkommen beistimme. — Es liegen im Wein allerdings productivmachende Kräfte sehr bedeutender Art; aber es kommt dabei Alles auf Zustände und Zeit und Stunde an, und was dem Einen nützet, schadet dem Andern. Es liegen ferner productivmachende Kräfte in der Ruhe und im Schlaf; sie liegen aber auch in der Bewegung. Es liegen solche Kräfte im Wasser, und ganz besonders in der Atmosphäre. — Die frische Luft des freien Feldes ist der eigentliche Ort wo wir hingehören; es ist als ob der Geist Gottes dort den Menschen unmittelbar an¬ wehete und eine göttliche Kraft ihren Einfluß ausübte. Lord Byron, der täglich mehrere Stunden im Freien lebte, bald zu Pferde am Strande des Meeres reitend, bald im Boote segelnd oder rudernd, dann sich im Meere badend und seine Körperkraft im Schwimmen übend, war einer der productivsten Menschen, die je gelebt haben.“ Goethe hatte sich mir gegenüber gesetzt und wir sprachen noch über allerlei Dinge. Dann verweilten wir wieder bei Lord Byron und es kamen die mancher¬ lei Unfälle zur Erwähnung, die sein späteres Leben getrübt, bis zuletzt ein zwar edles Wollen, aber ein unseliges Geschick, ihn nach Griechenland geführt und vollends zu Grunde gerichtet. „Ueberhaupt, fuhr Goethe fort, werden Sie finden, daß im mittleren Leben eines Menschen häufig eine Wendung eintritt und daß, wie ihn in seiner Jugend Alles begünstigte und Alles ihm glückte, nun mit einem¬ mal Alles ganz anders wird, und ein Unfall und ein Mißgeschick sich auf das andere häuft.“ „Wissen Sie aber, wie ich es mir denke? — Der Mensch muß wieder ruinirt werden ! — Jeder außerordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter vonnö¬ then, und die Vorsehung verwendet ihn wieder zu etwas Anderem. Da aber hienieden Alles auf natürlichem Wege geschieht, so stellen ihm die Dämonen ein Bein nach dem andern, bis er zuletzt unterliegt. So ging es Napoleon und vielen Anderen. Mozart starb in seinem sechs und dreißigsten Jahre. Raphael in glei¬ chem Alter. Byron nur um Weniges älter. Alle aber hatten ihre Mission auf das Vollkommenste erfüllt, und es war wohl Zeit daß sie gingen, damit auch anderen Leuten in dieser, auf eine lange Dauer berech¬ neten, Welt noch etwas zu thun übrig bliebe.“ Es war indeß tief Abend geworden, Goethe reichte mir seine liebe Hand, und ich ging. Mittwoch, den 12. März 1828. Nachdem ich Goethe gestern Abend verlassen hatte, lag mir das mit ihm geführte bedeutende Gespräch fort¬ während im Sinne. Auch von den Kräften des Meeres und der See¬ luft war die Rede gewesen, wo denn Goethe die Meinung äußerte, daß er alle Insulaner und Meer- Anwohner des gemäßigten Klima's bei weitem für pro¬ III . 16 ductiver und thatkräftiger halte, als die Völker im Innern großer Continente. War es nun, daß ich mit diesen Gedanken und mit einer gewissen Sehnsucht nach den belebenden Kräften des Meeres einschlief, genug, ich hatte in der Nacht folgenden anmuthigen und mir sehr merkwürdigen Traum. Ich sah mich nämlich in einer unbekannten Gegend unter fremden Menschen überaus heiter und glücklich. Der schönste Sommertag umgab mich in einer reizenden Natur, wie es etwa an der Küste des mittelländischen Meeres im südlichen Spanien oder Frankreich, oder in der Nähe von Genua seyn möchte. — Wir hatten Mittags an einer lustigen Tafel gezecht und ich ging mit anderen, etwas jüngeren Leuten, um eine weitere Nachmittagspartie zu machen. — Wir waren durch buschige angenehme Niederungen geschlendert, als wir uns mit einemmale im Meere auf der kleinsten Insel sahen, auf einem herausragenden Felsstück, wo kaum fünf bis sechs Menschen Platz hatten und wo man sich nicht rühren konnte, ohne Furcht, in's Wasser zu gleiten. Rückwärts, wo wir hergekommen waren, er¬ blickte man nichts als die See; vor uns aber lag die Küste in der Entfernung einer Viertelstunde auf das Einladendste ausgebreitet. Das Ufer war an einigen Stellen flach, an anderen felsig und mäßig erhöhet, und man erblickte zwischen grünen Lauben und weißen Zel¬ ten ein Gewimmel lustiger Menschen in hellfarbigen Kleidern, die sich bei schöner Musik, die aus den Zelten herübertönte, einen guten Tag machten. „Da ist nun weiter nichts zu thun, sagte Einer zum Andern, wir müssen uns entkleiden und hinüber schwimmen.“ — Ihr habt gut reden, sagte ich, ihr seid jung und schön und überdieß gute Schwimmer. Ich aber schwimme schlecht und es fehlt mir die ansehnliche Gestalt, um mit Lust und Behagen vor den fremden Leuten am Ufer zu er¬ scheinen. „Du bist ein Thor, sagte einer der schönsten; entkleide dich nur und gieb mir deine Gestalt, du sollst indeß die meinige haben“. Auf dieses Wort ent¬ kleidete ich mich schnell und war im Wasser und fühlte mich im Körper des Anderen sofort als einen kräftigen Schwimmer. Ich hatte bald die Küste erreicht und trat mit dem heitersten Vertrauen nackt und triefend unter die Menschen. — Ich war glücklich im Gefühl dieser schönen Glieder, mein Benehmen war ohne Zwang, und ich war sogleich vertraut mit den Fremden vor einer Laube an einem Tisch, wo es lustig herging. Meine Cameraden waren auch nach und nach an's Land gekommen und hatten sich zu uns gesellt, und es fehlte mir noch der Jüngling mit meiner Gestalt, in dessen Gliedern ich mich so wohl fühlte. — Endlich kam auch er in die Nähe des Ufers und man fragte mich: ob ich denn nicht Lust habe mein früheres Ich zu sehen? Bei diesen Worten wandelte mich ein gewisses 16 * Unbehagen an, theils weil ich keine große Freude an mir selber zu haben glaubte, theils auch, weil ich fürch¬ tete, jener Freund möchte seinen eigenen Körper sogleich zurück verlangen. Dennoch wandte ich mich zum Wasser und sah mein zweites Selbst ganz nahe heranschwim¬ men, und, indem er den Kopf etwas seitwärts wandte, lachend zu mir heraufblicken. „Es steckt keine Schwimm¬ kraft in deinen Gliedern!“ rief er mir zu, ich habe gegen Wellen und Brandung gut zu kämpfen gehabt und es ist nicht zu verwundern, daß ich so spät komme und von Allen der Letzte bin.“ Ich erkannte sogleich das Gesicht; es war das meinige, aber verjüngt und etwas voller und breiter und von der frischesten Farbe. Jetzt trat er ans Land, und indem er, sich aufrichtend, auf dem Sande die ersten Schritte that, hatte ich den Ueberblick seines Rückens und seiner Schenkel und freuete mich über die Vollkommenheit dieser Gestalt. Er kam das Felsufer herauf zu uns Anderen, und als er neben mich trat, hatte er vollkommen meine neue Größe. Wie ist doch, dachte ich bei mir selbst, dein kleiner Körper so schön heran gewachsen! — Haben die Urkräfte des Meeres so wunderbar auf ihn gewirkt, oder ist es, weil der jugendliche Geist des Freundes die Glieder durchdrungen hat? — Indem wir darauf eine gute Weile vergnügt beisammen gewesen, wunderte ich mich im Stillen, daß der Freund nicht that, als ob er seinen eigenen Körper einzutauschen Neigung habe. Wirklich, dachte ich, sieht er auch so recht stattlich aus, und es könnte ihm im Grunde einerlei seyn; mir aber ist es nicht einerlei, denn ich bin nicht sicher, ob ich in jenem Leibe nicht wieder zusammengehe und nicht wie¬ der so klein werde, wie zuvor. — Um über diese An¬ gelegenheit ins Gewisse zu kommen, nahm ich meinen Freund auf die Seite und fragte ihn: wie er sich in meinen Gliedern fühle? Vollkommen gut! sagte er, ich habe dieselbe Empfindung meines Wesens und mei¬ ner Kraft, wie sonst; ich weiß nicht, was du gegen deine Glieder hast! sie sind mir völlig recht, und du siehst, man muß nur etwas aus sich machen. Bleibe in meinem Körper, so lange du Lust hast, denn ich bin vollkommen zufrieden, für alle Zukunft in dem deinigen zu verharren.“ Ueber diese Erklärung war ich sehr froh, und indem auch ich in allen meinen Empfindun¬ gen, Gedanken und Erinnerungen mich völlig wie sonst fühlte, kam mir im Traum der Eindruck einer vollkom¬ menen Unabhängigkeit unserer Seele und der Möglich¬ keit einer künftigen Existenz in einem andern Leibe. „Ihr Traum ist sehr artig, sagte Goethe, als ich ihm heute nach Tisch die Hauptzüge davon mittheilte. Man sieht, fuhr er fort, daß die Musen Sie auch im Schlaf besuchen, und zwar mit besonderer Gunst; denn Sie werden gestehen, daß es Ihnen im wachen Zustande schwer werden würde, etwas so Eigenthümliches und Hübsches zu erfinden.“ Ich begreife kaum, wie ich dazu gekommen bin, er¬ wiederte ich, denn ich fühlte mich alle die Tage her so niedergeschlagenen Geistes, daß die Anschauung eines so frischen Lebens mir sehr ferne stand. „Es liegen in der menschlichen Natur wunderbare Kräfte, erwiederte Goethe, und eben wenn wir es am wenigsten hoffen hat sie etwas Gutes für uns in Be¬ reitschaft. Ich habe in meinem Leben Zeiten gehabt, wo ich mit Thränen einschlief; aber in meinen Träumen kamen nun die lieblichsten Gestalten, mich zu trösten und zu beglücken, und ich stand am andern Morgen wieder frisch und froh auf den Füßen.“ „Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder weniger allen herzlich schlecht; unsere Zustände sind viel zu künstlich und complicirt, unsere Nahrung und Le¬ bensweise ist ohne die rechte Natur, und unser geselliger Verkehr ohne eigentliche Liebe und Wohlwollen. — Je¬ dermann ist fein und höflich, aber Niemand hat den Muth, gemüthlich und wahr zu seyn, so daß ein red¬ licher Mensch mit natürlicher Neigung und Gesinnung einen recht bösen Stand hat. Man sollte oft wünschen, auf einer der Südsee-Inseln als sogenannter Wilder geboren zu seyn, um nur einmal das menschliche Da¬ seyn, ohne falschen Beigeschmack, durchaus rein zu ge¬ nießen.“ „Denkt man sich bei deprimirter Stimmung recht tief in das Elend unserer Zeit hinein, so kommt es Einem oft vor, als wäre die Welt nach und nach zum jüngsten Tage reif. Und das Uebel häuft sich von Ge¬ neration zu Generation! Denn nicht genug, daß wir an den Sünden unserer Väter zu leiden haben, sondern wir überliefern auch diese geerbten Gebrechen, mit un¬ seren eigenen vermehrt, unseren Nachkommen.“ Mir gehen oft ähnliche Gedanken durch den Kopf, versetzte ich; allein wenn ich sodann irgend ein Regiment deutscher Dragoner an mir vorüber reiten sehe und die Schönheit und Kraft der jungen Leute erwäge, so schöpfe ich wieder einigen Trost, und ich sage mir, daß es denn doch um die Dauer der Menschheit noch nicht so gar schlecht stehe. „Unser Landvolk, erwiederte Goethe, hat sich freilich fortwährend in guter Kraft erhalten, und wird hoffent¬ lich noch lange im Stande seyn, uns nicht allein tüch¬ tige Reiter zu liefern, sondern uns auch vor gänzlichem Verfall und Verderben zu sichern. Es ist als ein De¬ pot zu betrachten, aus dem sich die Kräfte der sinken¬ den Menschheit immer wieder ergänzen und anfrischen. Aber gehen Sie einmal in unsere großen Städte, und es wird Ihnen anders zu Muthe werden. Halten Sie einmal einen Umgang an der Seite eines zweiten hin¬ kenden Teufels, oder eines Arztes von ausgedehnter Praxis, und er wird Ihnen Geschichten zuflüstern, daß Sie über das Elend erschrecken und über die Gebrechen erstaunen, von denen die menschliche Natur heimgesucht ist und an denen die Gesellschaft leidet.“ „Doch wir wollen uns der hypochondrischen Gedan¬ ken entschlagen. Wie geht es Ihnen? Was machen Sie? Wie haben Sie sonst heute gelebt? Erzählen Sie mir und geben Sie mir gute Gedanken.“ Ich habe in Sterne gelesen, erwiederte ich, wo Yo¬ rik in den Straßen von Paris umherschlendert und die Bemerkung macht, daß der zehnte Mensch ein Zwerg sey. Ich dachte so eben daran, als Sie der Gebrechen der großen Städte erwähnten. Auch erinnere ich mich, zur Zeit Napoleon's, unter der französischen Infanterie ein Bataillon gesehen zu haben, das aus lauter Parisern bestand, und welches alles so schmächtige kleine Leute waren, daß man nicht wohl begriff, was man im Kriege mit ihnen wolle ausrichten. „Die Bergschotten des Herzogs von Wellington, versetzte Goethe, mögen freilich andere Helden gewesen seyn!“ Ich habe sie ein Jahr vor der Waterloo-Schlacht in Brüssel gesehen, erwiederte ich. Das waren in der That schöne Leute! Alle stark, frisch und behende, wie aus der ersten Hand Gottes. Sie trugen alle den Kopf so frei und froh, und schritten mit ihren kräftigen nackten Schenkeln so leicht einher, als gebe es für sie keine Erbsünde und keine Gebrechen der Väter. „Es ist ein eigenes Ding, erwiederte Goethe. Liegt es in der Abstammung, liegt es im Boden, liegt es in der freien Verfassung, liegt es in der gesunden Erziehung, — genug! die Engländer überhaupt scheinen vor vielen Andern etwas voraus zu haben. Wir sehen hier in Weimar ja nur ein Minimum von ihnen, und wahrscheinlich keineswegs die besten; aber was sind das alles für tüchtige, hübsche Leute! Und so jung und siebzehnjährig sie hier auch ankommen, so fühlen sie sich doch in dieser deutschen Fremde keineswegs fremd und verlegen; vielmehr ist ihr Auftreten und ihr Be¬ nehmen in der Gesellschaft so voller Zuversicht und so bequem, als wären sie überall die Herren und als ge¬ höre die Welt überall ihnen. Das ist es denn auch, was unsern Weibern gefällt und wodurch sie in den Herzen unserer jungen Dämchen so viele Verwüstungen anrichten. Als deutscher Hausvater, dem die Ruhe der Seinigen lieb ist, empfinde ich oft ein kleines Grauen, wenn meine Schwiegertochter mir die erwartete baldige Ankunft irgend eines neuen jungen Insulaners ankün¬ digt. Ich sehe im Geiste immer schon die Thränen, die ihm dereinst bei seinem Abgange fließen werden. — Es sind gefährliche junge Leute; aber freilich, daß sie gefährlich sind, das ist eben ihre Tugend.“ Ich möchte jedoch nicht behaupten, versetzte ich, daß unsere Weimar'schen jungen Engländer gescheuter, geist¬ reicher, unterrichteter und von Herzen vortrefflicher wä¬ ren, als andere Leute auch. „In solchen Dingen, mein Bester, erwiederte Goethe, liegt's nicht. Es liegt auch nicht in der Geburt und im Reichthum. Sondern es liegt darin, daß sie eben die Courage haben, das zu seyn wozu die Natur sie gemacht hat. Es ist an ihnen nichts verbildet und verbogen, es sind an ihnen keine Halbheiten und Schief¬ heiten; sondern, wie sie auch sind, es sind immer durchaus complete Menschen. Auch complete Narren mitunter, das gebe ich von Herzen zu; allein es ist doch was und hat doch auf der Wage der Natur immer einiges Gewicht.“ „Das Glück der persönlichen Freiheit, das Bewußt¬ seyn des englischen Namens und welche Bedeutung ihm bei andern Nationen beiwohnt, kommt schon den Kindern zu Gute, so daß sie sowohl in der Familie, als in den Unterrichtsanstalten, mit weit größerer Ach¬ tung behandelt werden und einer weit glücklich-freieren Entwickelung genießen, als bei uns Deutschen.“ „Ich brauche nur in unserm lieben Weimar zum Fenster hinauszusehen, um gewahr zu werden, wie es bei uns steht. Als neulich der Schnee lag und meine Nachbarskinder ihre kleinen Schlitten auf der Straße probiren wollten, sogleich war ein Polizeidiener nahe, und ich sah die armen Dingerchen fliehen, so schnell sie konnten. Jetzt, wo die Frühlingssonne sie aus den Häusern lockt und sie mit ihres Gleichen vor ihren Thüren gerne ein Spielchen machten, sehe ich sie immer genirt, als wären sie nicht sicher und als fürchteten sie das Herannahen irgend eines polizeilichen Macht¬ habers. Es darf kein Bube mit der Peitsche knallen, oder singen, oder rufen, sogleich ist die Polizei da, es ihm zu verbieten. Es geht bei uns Alles dahin, die liebe Jugend frühzeitig zahm zu machen und alle Na¬ tur, alle Originalität und alle Wildheit auszutreiben, so daß am Ende nichts übrig bleibt, als der Philister.“ „Sie wissen, es vergeht bei mir kaum ein Tag, wo ich nicht von durchreisenden Fremden besucht werde. Wenn ich aber sagen sollte, daß ich an den persönlichen Erscheinungen, besonders junger deutscher Gelehrten aus einer gewissen nordöstlichen Richtung, große Freude hätte, so müßte ich lügen. — Kurzsichtig, blaß, mit eingefallener Brust, jung ohne Jugend, das ist das Bild der Meisten, wie sie sich mir darstellen. Und wie ich mit ihnen mich in ein Gespräch einlasse, habe ich sogleich zu bemerken, daß ihnen dasjenige, woran unser¬ einer Freude hat, nichtig und trivial erscheint, daß sie ganz in der Idee stecken und nur die höchsten Probleme der Speculation sie zu interessiren geeignet sind. Von gesunden Sinnen und Freude am Sinnlichen ist bei ihnen keine Spur, alles Jugendgefühl und alle Jugend¬ lust ist bei ihnen ausgetrieben, und zwar unwiederbring¬ lich; denn wenn Einer in seinem zwanzigsten Jahre nicht jung ist, wie soll er es in seinem vierzigsten seyn!“ Goethe seufzte und schwieg. Ich dachte an die glückliche Zeit des vorigen Jahr¬ hunderts, in welche Goethe's Jugend fiel; es trat mir die Sommerluft von Seesenheim vor die Seele und ich erinnerte ihn an die Verse: Nachmittage saßen wir Junges Volk im Kühlen. „Ach! seufzte Goethe, das waren freilich schöne Zeiten! — Doch wir wollen sie uns aus dem Sinne schlagen, damit uns die grauen Nebeltage der Gegen¬ wart nicht ganz unerträglich werden.“ „Es thäte Noth, sagte ich, daß ein zweiter Erlöser käme, um den Ernst, das Unbehagen und den ungeheu¬ ren Druck der jetzigen Zustände uns abzunehmen. „Käme er, antwortete Goethe, man würde ihn zum zweitenmale kreuzigen. Doch wir brauchten keineswegs ein so Großes. Könnte man nur den Deutschen, nach dem Vorbilde der Engländer, weniger Philosophie und mehr Thatkraft, weniger Theorie und mehr Praxis bei¬ bringen, so würde uns schon ein gutes Stück Erlösung zu Theil werden, ohne daß wir auf das Erscheinen der persönlichen Hoheit eines zweiten Christus zu warten brauchten. Sehr viel könnte geschehen von unten, vom Volke, durch Schulen und häusliche Erziehung, sehr viel von oben durch die Herrscher und ihre Nächsten.“ „So z. B. kann ich nicht billigen, daß man von den studirenden künftigen Staatsdienern gar zu viele theoretisch-gelehrte Kenntnisse verlangt, wodurch die jungen Leute vor der Zeit geistig wie körperlich rui¬ nirt werden. Treten sie nun hierauf in den praktischen Dienst, so besitzen sie zwar einen ungeheueren Vorrath an philosophischen und gelehrten Dingen, allein er kann in dem beschränkten Kreise ihres Berufs gar nicht zur Anwendung kommen und muß daher als unnütz wieder vergessen werden. Dagegen aber, was sie am meisten bedurften, haben sie eingebüßt: es fehlt ihnen die nö¬ thige geistige wie körperliche Energie, die bei einem tüchtigen Auftreten im praktischen Verkehr ganz uner¬ läßlich ist.“ „Und dann! bedarf es denn im Leben eines Staats¬ dieners, in Behandlung der Menschen, nicht auch der Liebe und des Wohlwollens? Und wie soll Einer ge¬ gen Andere Wohlwollen empfinden und ausüben, wenn es ihm selber nicht wohl ist?“ — „Es ist aber den Leuten allen herzlich schlecht! Der dritte Theil der an den Schreibtisch gefesselten Gelehrten und Staatsdiener ist körperlich anbrüchig und dem Dä¬ mon der Hypochondrie verfallen. Hier thäte es Noth, von oben her einzuwirken, um wenigstens künftige Ge¬ nerationen vor ähnlichem Verderben zu schützen.“ „Wir wollen indeß, fügte Goethe lächelnd hinzu, hoffen und erwarten, wie es etwa in einem Jahrhun¬ dert mit uns Deutschen aussieht, und ob wir es sodann dahin werden gebracht haben, nicht mehr abstracte Ge¬ lehrte und Philosophen, sondern Menschen zu seyn.“ Freitag, den 16. Mai 1828*. Mit Goethe spazieren gefahren. Er amüsirte sich an der Erinnerung seiner Streitigkeiten mit Kotzebue und Consorten und recitirte einige sehr lustige Epi¬ gramme gegen den Ersteren, die übrigens mehr spaßhaft als verletzend waren. Ich fragte ihn: warum er sie nicht in seine Werke aufgenommen? „Ich habe eine ganze Sammlung solcher Gedichtchen, erwiederte Goethe, die ich geheim halte und nur gelegentlich den Vertrau¬ testen meiner Freunde zeige. Es war dieß die einzige unschuldige Waffe, die mir gegen die Angriffe meiner Feinde zu Gebote stand. Ich machte mir dadurch im Stillen Luft und befreiete und reinigte mich dadurch von dem fatalen Gefühl des Mißwollens, das ich sonst gegen die öffentlichen und oft boshaften Häkeleien meiner Gegner hätte empfinden und nähren müssen. Durch jene Gedichtchen habe ich mir also persönlich einen wesentlichen Dienst geleistet. Aber ich will nicht das Publicum mit meinen Privathändeln beschäftigen oder noch lebende Personen dadurch verletzen. In spä¬ terer Zeit jedoch wird sich davon Dieß oder Jenes ganz ohne Bedenken mittheilen lassen.“ Freitag, den 6. Juni 1828*. Der König von Baiern sandte vor einiger Zeit seinen Hofmaler Stieler nach Weimar, um das Por¬ trait Goethe's zu machen. Als eine Art Empfehlungs¬ brief und als Zeugniß seiner Geschicklichkeit brachte Stieler das vollendete lebensgroße Bildniß eines sehr schönen jungen Frauenzimmers mit, nämlich das der Münchener Schauspielerin Fräulein v . Hagen . Goethe gewährte darauf Herrn Stieler alle gewünsch¬ ten Sitzungen und sein Bild ward nun vor einigen Tagen fertig. Diesen Mittag war ich bei ihm zu Tisch und zwar alleine. Beim Dessert stand er auf und führte mich in das den Speisesaal angrenzende Cabinet und zeigte mir die jüngst vollendete Arbeit Stieler's. — Darauf, sehr geheimnißvoll, führte er mich weiter in das soge¬ nannte Majolika-Zimmer, wo sich das Bild der schönen Schauspielerin befand. „Nicht wahr, sagte er, nachdem wir es eine Weile betrachtet, das ist der Mühe werth! — Stieler war gar nicht dumm! — Er brauchte die¬ sen schönen Bissen bei mir als Lockspeise, und indem er mich durch solche Künste zum Sitzen brachte, schmeichelte er meiner Hoffnung, daß auch jetzt unter seinem Pinsel ein Engel entstehen würde, indem er den Kopf eines Alten malte.“ Freitag, den 26. September 1828*. Goethe zeigte mir heute seine reiche Fossilien-Samm¬ lung, die sich in dem freistehenden Pavillon an seinem Hausgarten befindet. Die Sammlung ist durch ihn selber angelegt, durch seinen Sohn stark vermehrt, und besonders merkwürdig durch eine zahlreiche Folge ver¬ steinerter Knochen, die alle in der Umgebung von Wei¬ mar gefunden worden. Montag, den 6. October 1828*. Bei Goethe zu Tisch mit Herrn v. Martius , der seit einigen Tagen hier ist und sich mit Goethe über botanische Gegenstände bespricht. Besonders ist es die Spiraltendenz der Pflanzen, worin Herr v. Martius wichtige Entdeckungen gemacht, die er Goethen mittheilt, dem sich dadurch ein neues Feld eröffnet. Goethe schien die Idee seines Freundes mit einer Art jugendlicher Leidenschaftlichkeit aufzunehmen. „Für die Physiologie der Pflanzen, sagte er, ist damit sehr viel gewonnen. Das neue Aper ç ü der Spiraltendenz ist meiner Me¬ tamorphosenlehre durchaus gemäß, es ist auf demselbi¬ gen Wege gefunden, aber es ist damit ein ungeheurer Schritt vorwärts gethan.“ Freitag, den 17. October 1828*. Goethe liest seit einiger Zeit sehr eifrig den Globe und macht dieses Blatt sehr oft zum Gegenstand seines Gesprächs. Die Bemühungen Cousin's und seiner Schule erscheinen ihm besonders wichtig. „Diese Männer, sagte er, sind ganz auf dem Wege, eine Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland zu bewirken, indem sie eine Sprache bilden, die durch¬ aus geeignet ist, den Ideen-Verkehr zwischen beiden Nationen zu erleichtern.“ Auch hat der Globe für Goethe dadurch noch ein besonderes Interesse, daß die neuesten Producte der schönen Literatur Frankreichs darin besprochen und die Freiheiten der romantischen Schule, oder vielmehr die Befreiung von den Fesseln nichtssagender Regeln, darin oft sehr lebhaft vertheidigt werden. „Was will der ganze Plunder gewisser Regeln einer steifen veralteten Zeit! sagte er heute, und was will all der Lärm über classisch und romantisch ! Es kommt darauf an, daß ein Werk durch und durch gut und tüchtig sey, und es wird auch wohl classisch seyn.“ Donnerstag, den 23. October 1828. Goethe sprach heute mit großer Anerkennung über eine kleine Schrift des Canzlers, die den Großherzog Carl August zum Gegenstande hat und das thaten¬ reiche Leben dieses seltenen Fürsten in gedrängter Kürze vorüberführt. „Die kleine Schrift ist wirklich sehr gelungen, sagte Goethe, das Material mit großer Umsicht und großem III . 17 Fleiß zusammengebracht, sodann Alles vom Hauch der innigsten Liebe beseelt, und zugleich die Darstellung so knapp und kurz, daß That auf That sich drängt und bei dem Anblick einer solchen Fülle von Leben und Thun es uns zu Muthe wird, als würden wir von einem geistigen Schwindel ergriffen. Der Canzler hat seine Schrift auch nach Berlin geschickt, und darauf vor einiger Zeit einen höchst merkwürdigen Brief von Alexander von Humboldt erhalten, den ich nicht ohne tiefe Rührung habe lesen können. Humboldt war dem Großherzog während eines langen Lebens auf das Innigste befreundet, welches freilich nicht zu verwundern, indem die reich angelegte tiefe Natur des Fürsten im¬ mer nach neuem Wissen bedürftig und gerade Humboldt der Mann war, der bei seiner großen Universalität auf jede Frage die beste und gründlichste Antwort immer bereit hatte.“ „Nun fügte es sich in der That wunderbar, daß der Großherzog gerade die letzten Tage vor seinem Tode in Berlin in fast beständiger Gesellschaft mit Humboldt verleben und daß er über manches wichtige Problem, was ihm am Herzen lag, noch zuletzt von seinem Freunde Aufschluß erhalten konnte; und wiederum war es nicht ohne höhere günstige Einwirkung, daß einer der größten Fürsten, die Deutschland je besessen, einen Mann wie Humboldt zum Zeugen seiner letzten Tage und Stunden hatte. Ich habe mir von dem Briefe eine Abschrift nehmen lassen und will Ihnen doch Einiges daraus mittheilen.“ Goethe stand auf und ging zu seinem Pult, wo er den Brief nahm und sich wieder zu mir an den Tisch setzte. Er las eine Weile im Stillen. Ich sah Thrä¬ nen in seinen Augen. „Lesen Sie es für sich, sagte er dann, indem er mir den Brief zureichte. Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab, während ich las. „Wer konnte mehr durch das schnelle Hinscheiden des Verewigten erschüttert werden, schreibt Humboldt, als ich, den er seit dreißig Jahren mit so wohlwollender Auszeichnung, ich darf sagen, mit so aufrichtiger Vor¬ liebe behandelt hatte. Auch hier wollte er mich fast zu jeder Stunde um sich haben; und, als sey eine solche Lucidität, wie bei den erhabenen schneebedeckten Alpen, der Vorbote des scheidenden Lichtes, nie habe ich den großen menschlichen Fürsten lebendiger, geist¬ reicher, milder und an aller ferneren Entwickelung des Volkslebens theilnehmender gesehen, als in den letzten Tagen, die wir ihn hier besaßen.“ „Ich sagte mehrmals zu meinen Freunden ahnungs¬ voll und beängstigt, daß diese Lebendigkeit, diese ge¬ heimnißvolle Klarheit des Geistes, bei so viel körperlicher Schwäche, mir ein schreckhaftes Phänomen sey. Er selbst oscillirte sichtbar zwischen Hoffnung der Gene¬ sung und Erwartung der großen Catastrophe.“ „Als ich ihn vier und zwanzig Stunden vor dieser 17* sah, beim Frühstück, er krank und ohne Neigung etwas zu genießen, fragte er noch lebendig nach den von Schweden herüber gekommenen Granitgeschieben baltischer Länder, nach Kometschweifen, welche sich unserer At¬ mosphäre trübend einmischen könnten, nach der Ursache der großen Winterkälte an allen östlichen Küsten.“ „Als ich ihn zuletzt sah, drückte er mir zum Ab¬ schied die Hand mit den heiteren Worten: „Sie glau¬ ben, Humboldt, Töplitz und alle warmen Quellen seyen wie Wasser, die man künstlich erwärmt? Das ist nicht Küchenfeuer! Darüber streiten wir in Töplitz, wenn Sie mit dem Könige kommen. Sie sollen sehen, Ihr altes Küchenfeuer wird mich doch noch einmal wieder zusammenhalten.“ Sonderbar! denn Alles wird be¬ deutend bei so einem Manne.“ „In Potsdam saß ich mehrere Stunden allein mit ihm auf dem Kanapee; er trank und schlief abwechselnd, trank wieder, stand auf, um an seine Gemahlin zu schreiben, dann schlief er wieder. Er war heiter, aber sehr erschöpft. In den Intervallen bedrängte er mich mit den schwierigsten Fragen über Physik, Astronomie, Meteorologie und Geognosie, über Durchsichtigkeit eines Kometenkerns, über Mond-Atmosphäre, über die farbi¬ gen Doppelsterne, über Einfluß der Sonnenflecke auf Temperatur, Erscheinen der organischen Formen in der Urwelt, innere Erdwärme. Er schlief mitten in seiner und meiner Rede ein, wurde oft unruhig, und sagte dann, über seine scheinbare Unaufmerksamkeit milde und freundlich um Verzeihung bittend: „Sie sehen, Humboldt, es ist aus mit mir!“ „Auf einmal ging er desultorisch in religiöse Ge¬ spräche über. Er klagte über den einreißenden Pietis¬ mus und den Zusammenhang dieser Schwärmerei mit politischen Tendenzen nach Absolutismus und Nieder¬ schlagen aller freieren Geistesregungen. Dazu sind es unwahre Bursche, rief er aus, die sich dadurch den Fürsten angenehm zu machen glauben, um Stellen und Bänder zu erhalten! — Mit der poetischen Vorliebe zum Mittelalter haben sie sich eingeschlichen.“ „Bald legte sich sein Zorn, und nun sagte er, wie er jetzt viel Tröstliches in der christlichen Religion finde. „Das ist eine menschenfreundliche Lehre, sagte er; aber von Anfang an hat man sie verunstaltet. Die ersten Christen waren die Freigesinnten unter den Ultra's.“ Ich gab Goethen über diesen herrlichen Brief meine innige Freude zu erkennen. „Sie sehen, sagte Goethe, was für ein bedeutender Mensch er war. Aber wie gut ist es von Humboldt, daß er diese wenigen letzten Züge aufgefaßt, die wirklich als Symbol gelten können, worin die ganze Natur des vorzüglichen Fürsten sich spiegelt. Ja, so war er! — Ich kann es am besten sagen, denn es kannte ihn im Grunde Niemand so durch und durch wie ich selber. Ist es aber nicht ein Jammer, daß kein Unterschied ist, und daß auch ein solcher Mensch so früh dahin muß! — Nur ein lum¬ piges Jahrhundert länger, und wie würde er an so hoher Stelle seine Zeit vorwärts gebracht haben! — Aber wissen Sie was? Die Welt soll nicht so rasch zum Ziele, als wir denken und wünschen. Immer sind die retardirenden Dämonen da, die überall dazwischen und überall entgegen treten, so daß es zwar im Gan¬ zen vorwärts geht, aber sehr langsam. Leben Sie nur fort, und Sie werden schon finden, daß ich Recht habe.“ Die Entwicklung der Menschheit, sagte ich, scheint auf Jahrtausende angelegt. „Wer weiß, erwiederte Goethe, — vielleicht auf Mil¬ lionen! Aber laß die Menschheit dauern, so lange sie will, es wird ihr nie an Hindernissen fehlen, die ihr zu schaffen machen, und nie an allerlei Noth, damit sie ihre Kräfte entwickele. Klüger und einsichtiger wird sie werden, aber besser, glücklicher und thatkräftiger nicht, oder doch nur auf Epochen. Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an ihr hat und er abermals Alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung. Ich bin gewiß, es ist Alles danach angelegt und es steht in der fernen Zukunft schon Zeit und Stunde fest, wann diese Verjüngungs- Epoche eintritt. Aber bis dahin hat es sicher noch gute Weile, und wir können noch Jahrtausende und aber Jahrtausende auf dieser lieben alten Fläche, wie sie ist, allerlei Spaß haben.“ Goethe war in besonders guter, erhöhter Stimmung. Er ließ eine Flasche Wein kommen, wovon er sich und mir einschenkte. Unser Gespräch ging wieder auf den Großherzog Carl August zurück. „Sie sehen, sagte Goethe, wie sein außerordentlicher Geist das ganze Reich der Natur umfaßte. Physik, Astronomie, Geognosie, Meteorologie, Pflanzen- und Thier-Formen der Urwelt, und was sonst dazu gehört, er hatte für Alles Sinn und für Alles Interesse. Er war achtzehn Jahre alt als ich nach Weimar kam; aber schon damals zeigten seine Keime und Knospen, was einst der Baum seyn würde. Er schloß sich bald auf das Innigste an mich an und nahm an Allem, was ich trieb, gründlichen Antheil. Daß ich fast zehn Jahre älter war, als er, kam unserm Verhältniß zu Gute. Er saß ganze Abende bei mir in tiefen Gesprächen über Gegenstände der Kunst und Natur und was sonst allerlei Gutes vorkam. Wir saßen oft tief in die Nacht hinein und es war nicht selten, daß wir nebeneinander auf meinem Sopha einschliefen. Funfzig Jahre lang haben wir es miteinander fortgetrieben und es wäre kein Wunder, wenn wir es endlich zu etwas gebracht hätten.“ — Eine so gründliche Bildung, sagte ich, wie sie der Großherzog gehabt zu haben scheint, mag bei fürstlichen Personen selten vorkommen. „Sehr selten! erwiederte Goethe. Es giebt zwar viele, die fähig sind, über Alles sehr geschickt mitzu¬ reden; aber sie haben es nicht im Innern und krabbeln nur an den Oberflächen. Und es ist kein Wunder, wenn man die entsetzlichen Zerstreuungen und Zerstücke¬ lungen bedenkt, die das Hofleben mit sich führt und denen ein junger Fürst ausgesetzt ist. Von Allem soll er Notiz nehmen. Er soll ein Bißchen Das kennen und ein Bißchen Das, und dann ein Bißchen Das und wieder ein Bißchen Das. Dabei kann sich aber nichts setzen und nichts Wurzel schlagen, und es gehört der Fond einer gewaltigen Natur dazu, um bei solchen Anforderungen nicht in Rauch aufzugehen. Der Gro߬ herzog war freilich ein geborener großer Mensch, womit Alles gesagt und Alles gethan ist.“ Bei allen seinen höheren wissenschaftlichen und gei¬ stigen Richtungen, sagte ich, scheint er doch auch das Regieren verstanden zu haben. „Er war ein Mensch aus dem Ganzen, erwiederte Goethe, und es kam bei ihm Alles aus einer einzigen großen Quelle. Und wie das Ganze gut war, so war das Einzelne gut, er mochte thun und treiben was er wollte. Uebrigens kamen ihm zur Führung des Regi¬ ments besonders drei Dinge zu Statten. Er hatte die Gabe, Geister und Charaktere zu unterscheiden und Jeden an seinen Platz zu stellen. Das war sehr viel. Dann hatte er noch Etwas, was ebensoviel war, wo nicht noch mehr: Er war beseelt von dem edelsten Wohlwollen, von der reinsten Menschenliebe, und wollte mit ganzer Seele nur das Beste. Er dachte immer zuerst an das Glück des Landes und ganz zuletzt erst ein wenig an sich selber. Edlen Menschen entgegen zu kommen, gute Zwecke befördern zu helfen, war seine Hand immer bereit und offen. Es war in ihm viel Göttliches. Er hätte die ganze Menschheit beglücken mögen. Liebe aber erzeugt Liebe. Wer aber geliebt ist, hat leicht regieren.“ „Und drittens: Er war größer, als seine Umgebung. Neben zehn Stimmen, die ihm über einen gewissen Fall zu Ohren kamen, vernahm er die elfte, bessere, in sich selber. Fremde Zuflisterungen glitten an ihm ab, und er kam nicht leicht in den Fall, etwas Unfürstliches zu begehen, indem er das zweideutig gemachte Verdienst zurücksetzte und empfohlene Lumpe in Schutz nahm. Er sah überall selber, urtheilte selber, und hatte in allen Fäl¬ len in sich selber die sicherste Basis. Dabei war er schweig¬ samer Natur und seinen Worten folgte die Handlung.“ Wie leid thut es mir, sagte ich, daß ich nicht viel mehr von ihm gekannt habe als sein Aeußeres; doch das hat sich mir tief eingeprägt. Ich sehe ihn noch immer auf seiner alten Droschke, im abgetragenen grauen Mantel und Militairmütze und eine Cigarre rauchend, wie er auf die Jagd fuhr, seine Lieblings- Hunde nebenher. Ich habe ihn nie anders fahren sehen, als auf dieser unansehnlichen alten Droschke. Auch nie anders als zweispännig. Ein Gepränge mit sechs Pferden und Röcke mit Ordenssternen scheint nicht sehr nach seinem Geschmack gewesen zu seyn.“ „Das ist, erwiederte Goethe, jetzt bei Fürsten über¬ haupt kaum mehr an der Zeit. Es kommt jetzt darauf an, was Einer auf der Wage der Menschheit wiegt; alles Uebrige ist eitel. Ein Rock mit dem Stern und ein Wagen mit sechs Pferden imponirt nur noch allen¬ falls der rohesten Masse, und kaum dieser. Uebrigens hing die alte Droschke des Großherzogs kaum in Fe¬ dern. Wer mit ihm fuhr, hatte verzweifelte Stöße auszuhalten. Aber das war ihm eben recht. Er liebte das Derbe und Unbequeme und war ein Feind aller Verweichlichung.“ Spuren davon, sagte ich, sieht man schon in Ihrem Gedicht „ Ilmenau “, wo Sie ihn nach dem Leben ge¬ zeichnet zu haben scheinen. „Er war damals sehr jung, erwiederte Goethe; doch ging es mit uns freilich etwas toll her. Er war wie ein edler Wein, aber noch in gewaltiger Gährung. Er wußte mit seinen Kräften nicht wo hinaus und wir waren oft sehr nahe am Halsbrechen. Auf Parfor ç e- Pferden über Hecken, Gräben und durch Flüsse, und bergauf bergein sich tagelang abarbeiten, und dann Nachts unter freiem Himmel campiren, etwa bei einem Feuer im Walde: das war nach seinem Sinne. Ein Herzogthum geerbt zu haben, war ihm nichts, aber hätte er sich eines erringen, erjagen und erstürmen können, das wäre ihm etwas gewesen.“ „Das Ilmenauer Gedicht, fuhr Goethe fort, ent¬ hält als Episode eine Epoche, die im Jahre 1783, als ich es schrieb, bereits mehrere Jahre hinter uns lag, so daß ich mich selber darin als eine historische Figur zeichnen und mit meinem eigenen Ich früherer Jahre eine Unterhaltung führen konnte. Es ist darin, wie Sie wissen, eine nächtliche Scene vorgeführt, etwa nach einer solchen halsbrechenden Jagd im Gebirge. Wir hatten uns am Fuße eines Felsen kleine Hütten gebaut und mit Tannenreisern gedeckt, um darin auf trockenem Boden zu übernachten. Vor den Hütten brannten mehrere Feuer und wir kochten und brieten, was die Jagd gegeben hatte. Knebel, dem schon damals die Tabackspfeife nicht kalt wurde, saß dem Feuer zunächst und ergötzte die Gesellschaft mit allerlei trockenen Spä¬ ßen, während die Weinflasche von Hand zu Hand ging. Seckendorf, der schlanke, mit den langen feinen Glie¬ dern, hatte sich behaglich am Stamm eines Baumes hingestreckt und summte allerlei Poetisches. — Abseits, in einer ähnlichen kleinen Hütte, lag der Herzog im tiefen Schlaf. Ich selber saß davor, bei glimmenden Kohlen, in allerlei schweren Gedanken, auch in An¬ wandlungen von Bedauern über mancherlei Unheil, das meine Schriften angerichtet. Knebel und Seckendorf erscheinen mir noch jetzt gar nicht schlecht gezeichnet, und auch der junge Fürst nicht, in diesem düstern Un¬ gestüm seines zwanzigsten Jahres.“ „Der Vorwitz lockt ihn in die Weite, Kein Fels ist ihm zu schroff, kein Steg zu schmal; Der Unfall lauert an der Seite Und stürzt ihn in den Arm der Qual. Dann treibt die schmerzlich überspannte Regung Gewaltsam ihn bald da, bald dort hinaus, Und von unmuthiger Bewegung Ruht er unmuthig wieder aus. Und düster wild an heitern Tagen, Unbändig ohne froh zu seyn, Schläft er, an Seel' und Leib verwundet und zerschlagen, Auf einem harten Lager ein.“ „So war er ganz und gar. Es ist darin nicht der kleinste Zug übertrieben. Doch aus dieser Sturm- und Drang-Periode hatte sich der Herzog bald zu wohlthä¬ tiger Klarheit durchgearbeitet, so daß ich ihn zu seinem Geburtstage im Jahre 1783 an diese Gestalt seiner früheren Jahre sehr wohl erinnern mochte.“ „Ich läugne nicht, er hat mir anfänglich manche Noth und Sorge gemacht. Doch seine tüchtige Natur reinigte sich bald und bildete sich bald zum Besten, so daß es eine Freude wurde, mit ihm zu leben und zu wirken.“ Sie machten, bemerkte ich, in dieser ersten Zeit mit ihm eine einsame Reise durch die Schweiz. „Er liebte überhaupt das Reisen, erwiederte Goethe; doch war es nicht sowohl, um sich zu amüsiren und zu zerstreuen, als um überall die Augen und Ohren offen zu haben und auf allerlei Gutes und Nützliches zu achten, das er in seinem Lande einführen könnte. Ackerbau, Viehzucht und Industrie sind ihm auf diese Weise unendlich viel schuldig geworden. Ueberhaupt waren seine Tendenzen nicht persönlich, egoistisch, sondern rein productiver Art, und zwar productiv für das all¬ gemeine Beste. Dadurch hat er sich denn auch einen Namen gemacht, der über dieses kleine Land weit hin¬ ausgeht.“ Sein sorgloses einfaches Aeußere, sagte ich, schien anzudeuten, daß er den Ruhm nicht suche und daß er sich wenig aus ihm mache. Es schien, als sey er be¬ rühmt geworden, ohne sein weiteres Zuthun, bloß wegen seiner stillen Tüchtigkeit. „Es ist damit ein eigenes Ding, erwiederte Goethe. Ein Holz brennt, weil es Stoff dazu in sich hat, und ein Mensch wird berühmt, weil der Stoff dazu in ihm vorhanden. Suchen läßt sich der Ruhm nicht und alles Jagen danach ist eitel. Es kann sich wohl Je¬ mand durch kluges Benehmen und allerlei künstliche Mittel eine Art von Namen machen. Fehlt aber dabei das innere Juwel, so ist es eitel und hält nicht auf den andern Tag.“ „Ebenso ist es mit der Gunst des Volkes. Er suchte sie nicht und that den Leuten keineswegs schön; aber das Volk liebte ihn, weil es fühlte, daß er ein Herz für sie habe.“ Goethe erwähnte sodann die übrigen Glieder des Großherzoglichen Hauses, und wie durch alle der Zug eines edlen Charakters gehe. Er sprach über die Her¬ zensgüte des jetzigen Regenten, über die großen Hoff¬ nungen, zu denen der junge Prinz berechtige, und ver¬ breitete sich mit sichtbarer Liebe über die seltenen Eigen¬ schaften der jetzt regierenden hohen Fürstin, welche im edelsten Sinne große Mittel verwende, um überall Leiden zu lindern und gute Keime zu wecken. „Sie ist von jeher für das Land ein guter Engel gewesen, sagte er, und wird es mehr und mehr, je länger sie ihm verbun¬ den ist. Ich kenne die Großherzogin seit dem Jahre 1805, und habe Gelegenheit in Menge gehabt, ihren Geist und Charakter zu bewundern. Sie ist eine der besten und bedeutendsten Frauen unserer Zeit, und würde es seyn, wenn sie auch keine Fürstin wäre. Und das ist's eben, worauf es ankommt, daß, wenn auch der Purpur abgelegt worden, noch sehr viel Großes, ja eigentlich noch das Beste, übrig bleibe.“ Wir sprachen sodann über die Einheit Deutschlands, und in welchem Sinne sie möglich und wünschenswerth. „Mir ist nicht bange, sagte Goethe, daß Deutsch¬ land nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das Ihrige thun. Vor Allem aber sey es eins in Liebe untereinander! und immer sey es eins gegen den auswärtigen Feind. Es sey eins, daß der deutsche Thaler und Groschen im ganzen Reiche gleichen Werth habe; eins, daß mein Reisekoffer durch alle sechs und dreißig Staaten unge¬ öffnet passiren könne. Es sey eins, daß der städtische Reisepaß eines Weimar'schen Bürgers von dem Grenz¬ beamten eines großen Nachbarstaates nicht für unzu¬ länglich gehalten werde, als der Paß eines Auslän¬ ders . Es sey von Inland und Ausland unter deut¬ schen Staaten überall keine Rede mehr. Deutschland sey ferner eins in Maaß und Gewicht, in Handel und Wandel, und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht alle nennen kann und mag.“ „Wenn man aber denkt, die Einheit Deutschlands bestehe darin, daß das sehr große Reich eine einzige große Residenz habe, und daß diese eine große Residenz, wie zum Wohl der Entwickelung einzelner großer Ta¬ lente, so auch zum Wohl der großen Masse des Volkes gereiche, so ist man im Irrthum.“ „Man hat einen Staat wohl einem lebendigen Kör¬ per mit vielen Gliedern verglichen, und so ließe sich wohl die Residenz eines Staates dem Herzen verglei¬ chen, von welchem aus Leben und Wohlseyn in die einzelnen nahen und fernen Glieder strömt. Sind aber die Glieder sehr ferne vom Herzen, so wird das zuströ¬ mende Leben schwach und immer schwächer empfunden werden. Ein geistreicher Franzose, ich glaube Dupin, hat eine Karte über den Culturzustand Frankreichs ent¬ worfen, und die größere oder geringere Aufklärung der verschiedenen Departements mit helleren oder dunkleren Farben zur Anschauung gebracht. Da finden sich nun, besonders in südlichen, weit von der Residenz entlegenen Provinzen, einzelne Departements, die in ganz schwar¬ zer Farbe daliegen, als Zeichen einer dort herrschenden großen Finsterniß. Würde das aber wohl seyn, wenn das schöne Frankreich, statt des einen großen Mittel¬ punktes, zehn Mittelpunkte hätte, von denen Licht und Leben ausginge?“ „Wodurch ist Deutschland groß, als durch eine be¬ wundernswürdige Volks-Cultur, die alle Theile des Reichs gleichmäßig durchdrungen hat. Sind es aber nicht die einzelnen Fürstensitze, von denen sie ausgeht und welche ihre Träger und Pfleger sind? — Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Cultur stände? ja auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Cultur Hand in Hand geht!“ „Deutschland hat über zwanzig im ganzen Reich vertheilte Universitäten, und über hundert ebenso ver¬ breitete öffentliche Bibliotheken. An Kunstsammlungen und Sammlungen von Gegenständen aller Naturreiche gleichfalls eine große Zahl; denn jeder Fürst hat dafür gesorgt, dergleichen Schönes und Gutes in seine Nähe heranzuziehen. Gymnasien und Schulen für Technik und Industrie sind im Ueberfluß da. Ja es ist kaum ein deutsches Dorf, das nicht seine Schule hätte. Wie steht es aber um diesen letzten Punkt in Frankreich!“ — „Und wiederum die Menge deutscher Theater, deren Zahl über siebenzig hinausgeht und die doch auch als Träger und Beförderer höherer Volksbildung keines¬ wegs zu verachten. Der Sinn für Musik und Gesang und ihre Ausübung ist in keinem Lande verbreitet, wie in Deutschland, und das ist auch etwas!“ „Nun denken Sie aber an Städte wie Dresden, München, Stuttgart, Cassel, Braunschweig, Hannover, und ähnliche; denken Sie an die großen Lebenselemente, die diese Städte in sich selber tragen; denken Sie an die Wirkungen, die von ihnen auf die benachbarten Provinzen ausgehen, und fragen Sie sich, ob das Alles seyn würde, wenn sie nicht seit langen Zeiten die Sitze von Fürsten gewesen?“ „Frankfurt, Bremen, Hamburg, Lübeck sind groß und glänzend, ihre Wirkungen auf den Wohlstand von Deutschland gar nicht zu berechnen. Würden sie aber wohl bleiben, was sie sind, wenn sie ihre eigene Souverai¬ netät verlieren und irgend einem großen deutschen Reich als Provinzialstädte einverleibt werden sollten? — Ich habe Ursache, daran zu zweifeln.“ Mittwoch, den 3. December 1828*. Heute hatte ich mit Goethen einen anmuthigen Spaß ganz besonderer Art. Madame Duval zu Car¬ III . 18 tigny im Canton Genf nämlich, die sehr geschickt in Zubereitung von Confituren ist, hatte mir als Producte ihrer Kunst einige Cedraten für die Frau Großfürstin und Goethe geschickt, völlig überzeugt, daß ihre Con¬ fituren alle anderen so weit übertreffen, als die Gedichte Goethe's diejenigen der meisten seiner deutschen Mitbe¬ werber. Die älteste Tochter jener Dame hatte nun schon längst eine Handschrift Goethe's gewünscht, — worauf es mir einfiel, daß es klug seyn würde, durch die süße Lockspeise der Cedraten Goethen zu einem Gedicht für meine junge Freundin anzukörnen. Mit der Miene eines mit einem wichtigen Geschäft beauftragten Diplomaten ging ich daher zu ihm und unterhandelte mit ihm als Macht gegen Macht, indem ich für die offerirten Cedraten ein Originalgedicht seiner Hand zur Bedingung machte. Goethe lachte über die¬ sen Scherz, den er sehr wohl aufnahm, und sich sogleich die Cedraten erbat, die er ganz vortrefflich fand. We¬ nige Stunden darauf war ich sehr überrascht, folgende Verse als ein Weihnachtsgeschenk für meine junge Freun¬ din ankommen zu sehen: Glücklich Land, allwo Cedraten Zur Vollkommenheit gerathen! Und zu reizendem Genießen Kluge Frauen sie durchsüßen! ꝛc. Als ich ihn wieder sah, scherzte er über den Vor¬ theil, den er jetzt aus seinem poetischen Metier zu zie¬ hen im Stande sey, während er in seiner Jugend zu seinem Götz keinen Verleger habe finden können. „Ihren Handelsvertrag, sagte er, nehme ich an; wenn meine Cedraten verschmaus't seyn werden, vergessen Sie ja nicht andere zu kommandiren; ich werde pünktlich mit mei¬ nen poetischen Wechseln zahlen.“ Sonntag, den 21. December 1828. Ich hatte in voriger Nacht einen wunderlichen Traum, den ich diesen Abend Goethen erzählte und den er sehr artig fand. Ich sah mich nämlich in einer fremden Stadt, in einer breiten Straße gegen Südost, wo ich mit einer Menge Menschen stand und den Him¬ mel betrachtete, der wie mit leisen Dünsten bedeckt schien und im hellsten Gelb leuchtete. Jedermann war erwartungsvoll, was sich ereignen würde, als sich zwei feurige Punkte bildeten, die, gleich Meteorsteinen, mit Krachen vor uns niederfuhren, nicht weit von der Stelle, wo wir standen. Man eilte hin, um zu sehen was herabgekommen war, und siehe! es trat mir ent¬ gegen: Faust und Mephistopheles . — Ich war erfreut-verwundert, und gesellte mich zu ihnen, als zu Bekannten, und ging neben ihnen her in heiterer Unterhaltung, indem wir um die nächste Straßenecke bogen. Was wir sprachen, ist mir nicht geblieben; doch der Eindruck ihres körperlichen Wesens war so eigener Art, daß er mir vollkommen deutlich und nicht 18* leicht zu vergessen ist. Beide waren jünger, als man sie gewöhnlich zu denken pflegt, und zwar mochte Me¬ phistopheles ein und zwanzig Jahre seyn, wenn Faust sieben und zwanzig haben konnte. Ersterer erschien durchaus vornehm, heiter und frei; er schritt so leicht einher, wie man sich etwa den Merkur denkt. Sein Gesicht war schön, ohne bösartig, und man hätte nicht erkennen mögen, daß es der Teufel sey, wenn nicht von seiner jugendlichen Stirn zwei zierliche Hörner sich erhoben und seitwärts gebogen hätten, so wie wohl ein schöner Haarwuchs sich erhebt und zu beiden Sei¬ ten umbiegt. Als Faust im Gehen sein Gesicht redend mir zuwandte, war ich erstaunt über den eigenartigen Ausdruck. Die edelste Sittlichkeit und Herzensgüte sprach aus jedem Zuge, als das Vorwaltende, Ursprüng¬ liche seiner Natur. Man sah ihm an, als wären alle menschlichen Freuden, Leiden und Gedanken, trotz seiner Jugend, bereits durch seine Seele gegangen, — so durch¬ gearbeitet war sein Gesicht! Er war ein wenig blaß und so anziehend, daß man sich nicht satt an ihm sehen konnte; ich suchte mir seine Züge einzuprägen, um sie zu zeichnen. Faust ging rechts, Mephistopheles zwischen uns Beiden, und es ist mir der Eindruck geblieben, wie Faust sein schönes eigenartiges Gesicht herumwandte, um mit Mephistopheles oder mit mir zu reden. Wir gingen durch die Straßen und die Menge verlief sich, ohne weiter auf uns zu achten. 1830–1832. Montag, den 18. Januar 1830*. G oethe sprach über Lavater und sagte mir viel Gutes von seinem Charakter. Auch Züge von ihrer früheren intimen Freundschaft erzählte mir Goethe, und wie sie zu jener Zeit oft brüderlich zusammen in einem und demselbigen Bette geschlafen. „Es ist zu bedauern, fügte er hinzu, daß ein schwacher Mysticismus dem Aufflug, seines Genies so bald Grenzen setzte!“ Freitag, den 22. Januar 1830*. Wir sprachen über die Geschichte Napoleon's von Walter Scott . „Es ist wahr, sagte Goethe, man kann dem Ver¬ fasser dabei große Ungenauigkeiten und eine ebenso große Parteilichkeit vorwerfen; allein gerade diese beiden Män¬ gel geben seinem Werke in meinen Augen einen ganz besonderen Werth. — Der Erfolg des Buches war in England über alle Begriffe groß, und man sieht also, daß Walter Scott eben in seinem Haß gegen Napoleon und die Franzosen der wahre Dolmetscher und Re¬ präsentant der englischen Volksmeinung und des eng¬ lischen Nationalgefühls gewesen ist. Sein Buch wird keineswegs ein Document für die Geschichte Frankreichs, allein es wird eins für die Geschichte Englands seyn. Auf jeden Fall aber ist es eine Stimme, die bei diesem wichtigen historischen Proceß nicht fehlen durfte.“ „Ueberhaupt ist es mir angenehm, über Napoleon die entgegengesetztesten Meinungen zu hören. Ich lese jetzt das Werk von Bignon, welches mir einen ganz besonderen Werth zu haben scheint.“ Montag, den 25. Januar 1830*. Ich brachte Goethen die Verzeichnisse, die ich über die hinterlassenen Schriften Dumont's , als Vorbereitung einer Herausgabe derselben, gemacht hatte. — Goethe las sie mit vieler Sorgfalt und schien erstaunt über die Masse von Kenntnissen, Interessen und Ideen, die er bei dem Autor so verschiedener und reichhaltiger Ma¬ nuscripte vorauszusetzen Ursache habe. „Dumont, sagte er, muß ein Geist von großem Um¬ fange gewesen seyn. Unter den Gegenständen, die er ebhandelt hat, ist nicht ein einziger, der nicht an sich interessant und bedeutend wäre; und die Wahl der Gegenstände zeigt immer, was Einer für ein Mann und weß Geistes Kind er ist. Nun kann man zwar nicht verlangen, daß der menschliche Geist eine solche Univer¬ salität besitze, um alle Gegenstände mit einem gleichen Talent und Glück zu behandeln; aber wenn es auch dem Autor mit allen nicht auf gleiche Weise gelungen seyn sollte, so giebt schon der bloße Vorsatz und Wille, sie zu behandeln, mir von ihm eine sehr hohe Meinung. Ich finde besonders merkwürdig und schätzbar, daß bei ihm überall eine praktische, nützliche und wohlwollende Tendenz vorwaltet.“ Ich hatte ihm zugleich die ersten Capitel der Reise nach Paris mitgebracht, die ich ihm vorlesen wollte, die er aber vorzog allein zu betrachten. Er scherzte darauf über die Schwierigkeit des Le¬ sens und den Dünkel vieler Leute, die ohne alle Vor¬ studien und vorbereitenden Kenntnisse sogleich jedes phi¬ losophische und wissenschaftliche Werk lesen möchten, als wenn es eben nichts weiter als ein Roman wäre. „Die guten Leutchen, fuhr er fort, wissen nicht, was es Einem für Zeit und Mühe gekostet, um lesen zu lernen . Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht, und kann noch jetzt nicht sagen, daß ich am Ziele wäre.“ Mittwoch, den 27. Januar 1830. Mittags mit Goethe sehr vergnügt bei Tisch. Er sprach mit großer Anerkennung über Herrn von Mar¬ tius . „Sein Aper ç u der Spiraltendenz, sagte er, ist von der höchsten Bedeutung. Hätte ich bei ihm noch etwas zu wünschen, so wäre es, daß er sein entdecktes Urphänomen mit entschiedener Kühnheit durchführte, und daß er die Courage hätte, ein Factum als Gesetz auszusprechen, ohne die Bestätigung allzusehr im Wei¬ ten zu suchen.“ Er zeigte mir darauf die Verhandlungen der natur¬ forschenden Versammlung zu Heidelberg, mit hinterge¬ druckten Facsimile's der Handschriften, die wir betrach¬ ten und auf den Charakter schließen. „Ich weiß recht gut, sagte Goethe, daß bei diesen Versammlungen für die Wissenschaft nicht so viel her¬ auskommt, als man sich denken mag; aber sie sind vortrefflich, daß man sich gegenseitig kennen und mög¬ licherweise lieben lerne, woraus denn folgt, daß man irgend eine neue Lehre eines bedeutenden Menschen wird gelten lassen, und dieser wiederum geneigt seyn wird, uns in unseren Richtungen eines anderen Faches anzuerkennen und zu fördern. Auf jeden Fall sehen wir, daß etwas geschieht, und Niemand kann wissen, was dabei herauskommt.“ Goethe zeigte mir sodann einen Brief eines eng¬ lischen Schriftstellers mit der Adresse: An Sr . Durch¬ laucht den Fürsten Goethe . „Diesen Titel, sagte Goethe lachend, habe ich wahrscheinlich den deutschen Journalisten zu danken, die mich aus allzugroßer Liebe wohl den deutschen Dichterfürsten genannt haben. Und so hat denn der unschuldige deutsche Irrthum den eben¬ so unschuldigen Irrthum des Engländers zur Folge gehabt.“ Goethe kam darauf wieder auf Herrn von Martius zurück und rühmte an ihm, daß er Einbildungskraft besitze. „Im Grunde, fuhr er fort, ist ohne diese hohe Gabe ein wirklich großer Naturforscher gar nicht zu denken. Und zwar meine ich nicht eine Einbildungs¬ kraft, die ins Vage geht und sich Dinge imaginirt, die nicht existiren; sondern ich meine eine solche, die den wirklichen Boden der Erde nicht verläßt, und mit dem Maßstab des Wirklichen und Erkannten zu geahne¬ ten, vermutheten Dingen schreitet. Da mag sie denn prüfen, ob denn dieses Geahnete auch möglich sey und ob es nicht in Widerspruch mit anderen bewußten Ge¬ setzen komme. Eine solche Einbildungskraft setzt aber freilich einen weiten, ruhigen Kopf voraus, dem eine große Uebersicht der lebendigen Welt und ihrer Gesetze zu Gebote steht.“ Während wir sprachen, kam ein Paket mit einer Uebersetzung der Geschwister ins Böhmische, die Goethen große Freude zu machen schien. Sonntag, den 31. Januar 1830*. Besuch bei Goethe in Begleitung des Prinzen. Er empfing uns in seinem Arbeitszimmer. Wir sprachen über die verschiedenen Ausgaben sei¬ ner Werke, wobei es mir auffallend war, von ihm zu hören, daß er den größten Theil dieser Editionen sel¬ ber nicht besitze. Auch die erste Ausgabe seines römi¬ schen Carnevals, mit Kupfern nach eigenen Original¬ zeichnungen, besitze er nicht. Er habe, sagte er, in einer Auction sechs Thaler dafür geboten, ohne sie zu erhalten. Er zeigte uns darauf das erste Manuscript seines Götz von Berlichingen, ganz in der ursprünglichen Ge¬ stalt, wie er es vor länger als funfzig Jahren auf Anregung seiner Schwester in wenigen Wochen geschrie¬ ben. Die schlanken Züge der Handschrift trugen schon ganz den freien klaren Charakter, wie ihn seine deutsche Schrift später immer behalten und auch noch jetzt hat. Das Manuscript war sehr reinlich, man las ganze Sei¬ ten ohne die geringste Correctur, so daß man es eher für eine Copie, als für einen ersten raschen Entwurf hätte halten sollen. Seine frühesten Werke hat Goethe, wie er uns sagte, alle mit eigener Hand geschrieben, auch seinen Werther; doch ist das Manuscript verloren gegangen. In späterer Zeit dagegen hat er fast Alles dictirt, und nur Gedichte und flüchtig notirte Pläne finden sich von seiner eigenen Hand. Sehr oft hat er nicht daran ge¬ dacht, von einem neuen Product eine Abschrift nehmen zu lassen; vielmehr hat er häufig die kostbarste Dich¬ tung dem Zufall preisgegeben, indem er öfter als ein¬ mal das einzige Exemplar, das er besaß, nach Stutt¬ gart in die Druckerei schickte. Nachdem wir das Manuscript des Berlichingen ge¬ nugsam betrachtet, zeigte Goethe uns das Original seiner italienischen Reise. In diesen täglich niederge¬ schriebenen Beobachtungen und Bemerkungen finden sich in Bezug auf die Handschrift dieselbigen guten Eigen¬ schaften, wie bei seinem Götz. Alles ist entschieden, fest und sicher, nichts ist corrigirt, und man sieht, daß dem Schreibenden das Detail seiner augenblicklichen Notizen immer frisch und klar vor der Seele stand. Nichts ist veränderlich und wandelbar, ausgenommen das Papier, das in jeder Stadt, wo der Reisende sich aufhielt, in Format und Farbe stets ein anderes wurde. Gegen das Ende dieses Manuscripts fand sich eine geistreich hingeworfene Federzeichnung von Goethe, näm¬ lich die Abbildung eines italienischen Advocaten, wie er in seiner großen Amtskleidung vor Gericht eine Rede hält. Es war die merkwürdigste Figur, die man sich denken konnte, und sein Anzug so auffallend, daß man hätte glauben sollen, er habe ihn gewählt, um auf eine Maskerade zu gehen. Und doch war Alles nur eine treue Darstellung nach dem wirklichen Leben. Den Zeigefinger auf die Spitze des Daumens und die übri¬ gen Finger ausgestreckt haltend, stand der dicke Redner behaglich da, und diese wenige Bewegung paßte recht gut zu der großen Perücke, womit er sich behängt hatte. Mittwoch, den 3. Februar 1830*. Wir sprachen über den Globe und Temps, und dieß führte auf die französische Literatur und Literatoren. „ Guizot , sagte Goethe unter andern, ist ein Mann nach meinem Sinne, er ist solide. Er besitzt tiefe Kennt¬ nisse, verbunden mit einem aufgeklärten Liberalismus, der, über den Parteien stehend, seinen eigenen Weg geht. Ich bin begierig, zu sehen, welche Rolle er in den Kammern spielen wird, wozu man ihn jetzt ge¬ wählt hat.“ Leute, die ihn nur oberflächlich zu kennen scheinen, erwiederte ich, haben mir ihn als etwas pedantisch ge¬ schildert. „Es bleibt zu wissen übrig, entgegnete Goethe, welche Sorte von Pedanterie man ihm vorwirft. Alle bedeutenden Menschen, die in ihrer Lebensweise eine gewisse Regelmäßigkeit und feste Grundsätze besitzen, die viel nachgedacht haben und mit den Angelegenheiten des Lebens kein Spiel treiben, können sehr leicht in den Augen oberflächlicher Beobachter als Pedanten er¬ scheinen. Guizot ist ein weitsehender, ruhiger, festhal¬ tender Mann, der der französischen Beweglichkeit gegen¬ über gar nicht genug zu schätzen und gerade ein solcher ist, wie sie ihn brauchen.“ „ Villemain , fuhr Goethe fort, ist vielleicht glän¬ zender als Redner; er besitzt die Kunst einer gewandten Entwickelung aus dem Grunde; er ist nie verlegen um schlagende Ausdrücke, wodurch er die Aufmerksamkeit fesselt und seine Hörer zu lautem Beifall fortreißt; aber er ist weit oberflächlicher, als Guizot, und weit weniger praktisch.“ „Was Cousin betrifft, so kann er zwar uns Deut¬ schen wenig geben, indem die Philosophie, die er seinen Landsleuten als etwas Neues bringt, uns seit vielen Jahren bekannt ist; allein er ist für die Franzosen von großer Bedeutung. Er wird ihnen eine ganz neue Richtung geben.“ „ Cuvier , der große Naturkenner, ist bewunderns¬ würdig durch seine Darstellung und seinen Styl. Nie¬ mand exponirt ein Factum besser, als er. Allein er besitzt fast gar keine Philosophie. Er wird sehr unter¬ richtete Schüler erziehen, aber wenig tiefe.“ Alles dieses zu hören, war mir um so interessanter, als es mit den Ansichten Dumont's über die gedachten Männer sehr nahe zusammentraf. Ich versprach Goe¬ then, ihm die betreffenden Stellen aus dessen Manu¬ scripten abzuschreiben, damit er sie mit seiner eigenen Meinung gelegentlich vergleichen möge. Die Erwähnung Dumont's brachte das Gespräch auf dessen Verhältniß zu Bentham , worüber sich Goethe also äußerte: „Es ist für mich ein interessantes Problem, sagte er, wenn ich sehe, daß ein so vernünftiger, so gemäßig¬ ter und so praktischer Mann, wie Dumont, der Schüler und treue Verehrer dieses Narren Bentham seyn konnte.“ Bentham, erwiederte ich, ist gewissermaßen als eine doppelte Person zu betrachten. Ich unterscheide Ben¬ tham das Genie , das die Prinzipien ersann, die Dumont der Vergessenheit entzog, indem er sie aus¬ arbeitete, und Bentham den leidenschaftlichen Mann , der aus übertriebenem Nützlichkeitseifer die Grenzen seiner eigenen Lehre überschritt und dadurch sowohl in der Politik, als in der Religion, zum Radi¬ calen ward. „Das aber, erwiederte Goethe, ist eben ein neues Problem für mich, daß ein Greis die Laufbahn eines langen Lebens damit beschließen kann, in seinen letzten Tagen noch ein Radicaler zu werden.“ Ich suchte diesen Widerspruch zu lösen, indem ich bemerkte, daß Bentham, in der Ueberzeugung von der Vortrefflichkeit seiner Lehre und seiner Gesetzgebung, und bei der Unmöglichkeit, sie ohne eine völlige Verände¬ rung des herrschenden Systems in England einzuführen, sich um so mehr von seinem leidenschaftlichen Eifer habe fortreißen lassen, als er mit der äußern Welt wenig in Berührung komme und die Gefahr eines gewaltsamen Umsturzes nicht zu beurtheilen vermöge. Dumont dagegen, fuhr ich fort, der weniger Leiden¬ schaft und mehr Klarheit besitzt, hat die Ueberspannung Bentham's nie gebilligt, und ist weit entfernt gewesen, selber in einen ähnlichen Fehler zu fallen. Er hat überdieß den Vortheil gehabt, die Prinzipien Bentham's in einem Lande in Anwendung zu bringen, das in Folge politischer Ereignisse zu jener Zeit gewissermaßen als ein neues zu betrachten war, nämlich in Genf, wo denn auch Alles vollkommen gelang und der glück¬ liche Erfolg den Werth des Prinzips an den Tag legte. „Dumont, erwiederte Goethe, ist eben ein gemäßig¬ ter Liberaler, wie es alle vernünftigen Leute sind und seyn sollen, und wie ich selber es bin und in welchem Sinne zu wirken ich während eines langen Lebens mich bemüht habe.“ „Der wahre Liberale, fuhr er fort, sucht mit den Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, so viel Gutes zu bewirken, als er nur immer kann; aber er hütet sich, die oft unvermeidlichen Mängel sogleich mit Feuer und Schwert vertilgen zu wollen. Er ist bemüht, durch ein kluges Vorschreiten die öffentlichen Gebrechen nach und nach zu verdrängen, ohne durch gewaltsame Maßregeln zugleich oft eben so viel Gutes mit zu verderben. Er begnügt sich in dieser stets unvollkommenen Welt so lange mit dem Guten, bis ihn, das Bessere zu errei¬ chen, Zeit und Umstände begünstigen.“ Sonnabend, den 6. Februar 1830. Bei Frau v. Goethe zu Tische. Der junge Goethe erzählte einiges Artige von seiner Großmutter, der Frau Rath Goethe zu Frankfurt , die er vor zwanzig Jahren als Student besucht habe, und mit der er eines Mittags beim Fürsten Primas zur Tafel geladen worden. III. 19 Der Fürst sey der Frau Rath aus besonderer Höf¬ lichkeit auf der Treppe entgegen gekommen; da er aber seine gewöhnliche geistliche Kleidung getragen, so habe sie ihn für einen Abb é gehalten und nicht sonderlich auf ihn geachtet. Auch habe sie anfänglich bei Tafel, an seiner Seite sitzend, nicht eben das freundlichste Ge¬ sicht gemacht. Im Laufe des Gesprächs aber sey ihr an dem Benehmen der übrigen Anwesenden nach und nach beigegangen, daß es der Primas sey. Der Fürst habe darauf ihre und ihres Sohnes Ge¬ sundheit getrunken, worauf denn die Frau Rath auf¬ gestanden und die Gesundheit Sr. Hoheit ausgebracht. Mittwoch, den 10. Februar 1830*. Heute nach Tisch war ich einen Augenblick bei Goethe. Er freute sich des herannahenden Frühlings und der wieder länger werdenden Tage. Dann spra¬ chen wir über die Farbenlehre. Er schien an der Mög¬ lichkeit zu zweifeln, seiner einfachen Theorie Bahn zu machen. „Die Irrthümer meiner Gegner, sagte er, sind seit einem Jahrhundert zu allgemein verbreitet, als daß ich auf meinem einsamen Wege hoffen könnte, noch diesen oder jenen Gefährten zu finden. Ich werde allein bleiben! — Ich komme mir oft vor wie ein Mann in einem Schiffbruch, der ein Brett ergreift, das nur einen Einzigen zu tragen im Stande ist. Dieser Eine rettet sich, während alle Uebrigen jämmerlich ersaufen.“ Sonntag, den 14. Februar 1830*. Der heutige Tag war für Weimar ein Tag der Trauer; die Großherzogin Luise starb diesen Mittag halb zwei Uhr. Die regierende Frau Großherzogin befahl mir, bei Fräulein v. Waldner und Goethe in Ihrem Namen einen Condolenzbesuch zu machen. Ich ging zuerst zu Fräulein v. Waldner. Ich fand sie in Thränen und tiefer Betrübniß, und sich ganz dem Gefühl ihres erlittenen Verlustes überlassend. „Ich war, sagte sie, seit länger als fünfzig Jahren im Dienst der verewigten Fürstin. Sie hatte mich selbst zu ihrer Ehrendame erwählt, und diese freie Wahl ihrerseits war mein Stolz und mein Glück. Ich habe mein Va¬ terland verlassen, um ihrem Dienste zu leben. Hätte sie mich doch auch jetzt mit sich genommen, damit ich nicht nach einer Wiedervereinigung mit ihr so lange zu seufzen brauchte!“ Ich ging darauf zu Goethe. Aber wie ganz anders waren die Zustände bei ihm! — Er fühlte den ihn betroffenen Verlust gewiß nicht weniger tief; allein er schien seiner Empfindungen auf alle Weise Herr bleiben zu wollen. Ich fand ihn noch mit einem guten Freunde bei Tische sitzen und eine Flasche Wein trinken. Er sprach lebhaft und schien überall in sehr heiterer Stim¬ mung. „Wohlan! sagte er, als er mich sah, kommen Sie her, nehmen Sie Platz! Der Schlag, der uns lange gedroht, hat endlich getroffen, und wir haben 19* wenigstens nicht mehr mit der grausamen Ungewißheit zu kämpfen. Wir müssen nun sehen, wie wir uns mit dem Leben wieder zurecht setzen.“ Dort sind ihre Tröster, sagte ich, indem ich auf seine Papiere zeigte. Die Arbeit ist ein treffliches Mittel, uns in Leiden wieder emporzurichten. „So lange es Tag ist, erwiederte Goethe, wollen wir den Kopf schon oben halten, und so lange wir noch hervorbringen können, werden wir nicht nachlassen.“ Er sprach darauf über Personen, die ein hohes Alter erreicht, und erwähnte auch die berühmte Ninon . „Noch in ihrem neunzigsten Jahre, sagte er, war sie jung; aber sie verstand es auch, sich im Gleichgewicht zu erhalten, und machte sich aus den irdischen Dingen nicht mehr als billig. Selbst der Tod konnte ihr keinen übermäßigen Respect einflößen. Als sie in ih¬ rem achtzehnten Jahre von einer schweren Krankheit genas und die Umstehenden ihr die Gefahr schilderten, in der sie geschwebt, sagte sie ganz ruhig: „Was wäre es denn weiter gewesen! Hätte ich doch lauter Sterb¬ liche zurückgelassen! —“ Sie lebte darauf noch über siebenzig Jahre, liebenswürdig und geliebt, und alle Freuden des Lebens genießend; aber bei diesem ihr eigenthümlichen Gleichmuth sich stets über jeder ver¬ zehrenden Leidenschaftlichkeit erhaben haltend. Ninon verstand es! — Es giebt Wenige, die ihr es nachthun.“ Er reichte mir sodann einen Brief des Königs von Baiern , den er heute erhalten hatte und der zu seiner heiteren Stimmung wahrscheinlich nicht wenig beige¬ tragen. „Lesen Sie, sagte er, und gestehen Sie, daß das Wohlwollen, das der König mir fortwährend be¬ wahrt, und das lebhafte Interesse, das er an den Fortschritten der Literatur und höheren menschlichen Entwickelung nimmt, durchaus geeignet ist, mir Freude zu machen. Und daß ich diesen Brief gerade heute er¬ hielt, dafür danke ich dem Himmel, als für eine beson¬ dere Gunst.“ Wir sprachen darauf über das Theater und drama¬ tische Poesie. „Gozzi, sagte Goethe, wollte behaupten, daß es nur sechs und dreißig tragische Situationen gebe. Schiller gab sich alle Mühe, noch mehrere zu finden; allein er fand nicht einmal so viele als Gozzi.“ Dieß führte auf einen Artikel des Globe, und zwar auf eine kritische Beleuchtung des „Gustav Wasa“ von Arnault. Die Art und Weise, wie der Recensent sich dabei benommen, machte Goethen viel Vergnügen und fand seinen vollkommenen Beifall. Der Beurthei¬ lende hatte sich nämlich damit begnügt, alle Remi¬ niscenzen des Autors namhaft zu machen, ohne ihn selber und seine poetischen Grundsätze weiter anzu¬ greifen. „Der Temps, fügte Goethe hinzu, hat sich in seiner Kritik nicht so weise benommen. Er maßt sich an, dem Dichter den Weg vorschreiben zu wollen, den er hätte gehen müssen. Dieß ist ein großer Fehler; denn damit erreicht man nicht, ihn zu bessern. Es giebt überhaupt nichts Dümmeres, als einem Dichter zu sagen: Dieß hättest Du müssen so machen und dieses so! Ich spreche als alter Kenner. Man wird aus einem Dichter nie etwas Anderes machen, als was die Natur in ihn gelegt hat. Wollt ihr ihn zwingen, ein Anderer zu seyn, so werdet ihr ihn vernichten.“ „Meine Freunde, die Herren vom Globe, wie ge¬ sagt, machen es sehr klug. Sie drucken eine lange Liste aller Gemeinplätze, die der Herr Arnault aus allen Ecken und Enden her geliehen hat. Und indem sie dieses thun, deuten sie sehr geschickt die Klippe an, vor welcher der Autor sich künftig zu hüten hat. Es ist fast unmöglich, heutzutage noch eine Situation zu finden, die durchaus neu wäre. Bloß die Anschauungs¬ weise und die Kunst, sie zu behandeln und darzustellen, kann neu seyn, und hiebei muß man um so mehr vor jeder Nachahmung sich in Acht nehmen.“ Goethe erzählte uns darauf die Art und Weise, wie Gozzi sein Theater del Arte zu Venedig einge¬ richtet hatte und wie seine improvisirende Truppe be¬ liebt gewesen. „Ich habe, sagte er, zu Venedig noch zwei Actricen jener Truppe gesehen, besonders die Brighella, und habe noch mehreren solcher improvisirten Stücke mit beigewohnt. Die Wirkung die diese Leute hervorbrachten war außerordentlich.“ Goethe sprach sodann über den Neapolitaner Pulci¬ nell . „Ein Hauptspaß dieser niedrig-comischen Personage, sagte er, bestand darin, daß er zuweilen auf der Bühne seine Rolle als Schauspieler auf einmal ganz zu ver¬ gessen schien. Er that, als wäre er wieder nach Hause gekommen, sprach vertraulich mit seiner Familie, erzählte von dem Stücke, in welchem er gespielt, und von einem anderen, worin er noch spielen solle; auch genirte er sich nicht, kleinen Naturbedürfnissen ungehinderte Frei¬ heit zu lassen. „Aber, lieber Mann, rief ihm sodann seine Frau zu, Du scheinst Dich ja ganz zu vergessen; bedenke doch die werthe Versammlung, vor welcher Du Dich befindest! —“ E vero ! E vero ! erwiederte darauf Pulcinell, sich wieder besinnend, und kehrte unter gro¬ ßem Applaus der Zuschauer in sein voriges Spiel zurück. Das Theater des Pulcinell ist übrigens von solchem Ruf, daß Niemand in guter Gesellschaft sich rühmt, darin gewesen zu seyn. Frauen, wie man den¬ ken kann, gehen überall nicht hin, es wird nur von Männern besucht.“ „Der Pulcinell ist in der Regel eine Art lebendige Zeitung. Alles, was den Tag über sich in Neapel Auffallendes zugetragen hat, kann man Abends von ihm hören. Diese Localinteressen, verbunden mit dem niedern Volksdialekt, machen es jedoch dem Fremden fast unmöglich, ihn zu verstehen.“ Goethe lenkte das Gespräch auf andere Erinnerun¬ gen seiner früheren Zeit. Er sprach über sein geringes Vertrauen zum Papiergelde und welche Erfahrungen er in dieser Art gemacht. Als Bestätigung erzählte er uns eine Anekdote von Grimm , und zwar aus der Zeit der französischen Revolution, wo dieser, es in Paris nicht mehr für sicher haltend, wieder nach Deutsch¬ land zurückgekehrt war und in Gotha lebte. „Wir waren, sagte Goethe, eines Tages bei Grimm zu Tische. Ich weiß nicht mehr wie das Gespräch es herbeiführte, genug, Grimm rief mit einemmale: „Ich wette, daß kein Monarch in Europa ein Paar so kost¬ bare Handmanschetten besitzt als ich, und daß Keiner dafür einen so hohen Preis bezahlt hat als ich es habe.“ — Es läßt sich denken, daß wir ein lautes ungläubiges Erstaunen ausdrückten, besonders die Da¬ men, und daß wir Alle sehr neugierig waren, ein Paar so wunderbare Handmanschetten zu sehen. Grimm stand also auf und holte aus seinem Schränkchen ein Paar Spitzenmanschetten von so großer Pracht, daß wir Alle in laute Verwunderung ausbrachen. Wir versuch¬ ten es, sie zu schätzen, konnten sie jedoch nicht höher halten, als etwa zu hundert bis zweihundert Louisd'or. Grimm lachte und rief: „Ihr seyd sehr weit vom Ziele! ich habe sie mit zweimal hundert und f u nfzig Tausend Franken bezahlt, und war noch glücklich, meine Assignaten so gut angebracht zu haben. Am nächsten Tage galten sie keinen Groschen mehr.“ Montag, den 15. Februar 1830*. Ich war diesen Vormittag einen Augenblick bei Goethe, um mich im Namen der Frau Großherzogin nach seinem Befinden zu erkundigen. Ich fand ihn betrübt und gedankenvoll und von der gestrigen etwas gewaltsamen Aufgeregtheit keine Spur. Er schien die Lücke, die der Tod in ein funfzigjähriges freundschaft¬ liches Verhältniß gerissen, heute tief zu empfinden. „Ich muß mit Gewalt arbeiten, sagte er, um mich oben zu halten und mich in diese plötzliche Trennung zu schicken. Der Tod ist doch etwas so Seltsames, daß man ihn, unerachtet aller Erfahrung, bei einem uns theuren Gegenstande nicht für möglich hält und er immer als etwas Unglaubliches und Unerwartetes ein¬ tritt. Er ist gewissermaßen eine Unmöglichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird. Und dieser Uebergang aus einer uns bekannten Existenz in eine andere, von der wir auch gar nichts wissen, ist etwas so Gewalt¬ sames, daß es für die Zurückbleibenden nicht ohne die tiefste Erschütterung abgeht“. Freitag, den 5. März 1830*. Eine nahe Verwandte der Jugendgeliebten Goethe's, Fräulein von Türkheim, war einige Zeit in Weimar. Ich drückte heute gegen Goethe mein Bedauern über ihre Abreise aus. Sie ist so jung, sagte ich, und zeigt eine so erhabene Gesinnung und einen so reifen Geist, wie man ihn bei solchem Alter selten findet. Ihr Er¬ scheinen hat überhaupt in Weimar großen Eindruck gemacht. Wäre sie länger geblieben, sie hätte für Manchen gefährlich werden können. „Wie sehr thut es mir leid, erwiederte Goethe, daß ich sie nicht öfter gesehen und daß ich anfänglich immer verschoben habe, sie einzuladen, um mich ungestört mit ihr zu unterhalten und die geliebten Züge ihrer Ver¬ wandten in ihr wieder aufzusuchen.“ „Der vierte Band von Wahrheit und Dichtung , fuhr er fort, wo Sie die jugendliche Glücks- und Lei¬ dens-Geschichte meiner Liebe zu Lili erzählt finden werden, ist seit einiger Zeit vollendet. Ich hätte ihn längst früher geschrieben und herausgegeben, wenn mich nicht gewisse zarte Rücksichten gehindert hätten, und zwar nicht Rücksichten gegen mich selber, sondern gegen die damals noch lebende Geliebte. Ich wäre stolz gewesen, es der ganzen Welt zu sagen, wie sehr ich sie geliebt; und ich glaube, sie wäre nicht erröthet, zu ge¬ stehen, daß meine Neigung erwiedert wurde. Aber hatte ich das Recht, es öffentlich zu sagen, ohne ihre Zustimmung? Ich hatte immer die Absicht, sie darum zu bitten; doch zögerte ich damit hin, bis es denn endlich nicht mehr nöthig war.“ „Indem Sie, fuhr Goethe fort, mit solchem An¬ theil über das liebenswürdige junge Mädchen reden, das uns jetzt verläßt, erwecken Sie in mir alle meine alten Erinnerungen. Ich sehe die reizende Lili wieder in aller Lebendigkeit vor mir, und es ist mir, als fühlte ich wieder den Hauch ihrer beglückenden Nähe. Sie war in der That die Erste, die ich tief und wahr¬ haft liebte. Auch kann ich sagen, daß sie die Letzte gewesen; denn alle kleinen Neigungen, die mich in der Folge meines Lebens berührten, waren, mit jener ersten verglichen, nur leicht und oberflächlich.“ „Ich bin, fuhr Goethe fort, meinem eigentlichen Glücke nie so nahe gewesen, als in der Zeit jener Liebe zu Lili. Die Hindernisse, die uns auseinander hielten, waren im Grunde nicht unübersteiglich, — und doch ging sie mir verloren!“ „Meine Neigung zu ihr hatte etwas so Delicates und etwas so Eigenthümliches, daß es jetzt, in Dar¬ stellung jener schmerzlich-glücklichen Epoche, auf meinen Styl Einfluß gehabt hat. Wenn Sie künftig den vier¬ ten Band von Wahrheit und Dichtung lesen, so werden Sie finden, daß jene Liebe etwas ganz Anderes ist, als eine Liebe in Romanen.“ Dasselbige, erwiederte ich, könnte man auch von Ihrer Liebe zu Gretchen und Friederike sagen. Die Darstellung von Beiden ist gleichfalls so neu und ori¬ ginell, wie die Romanschreiber dergleichen nicht erfinden und ausdenken. Es scheint dieses von der großen Wahrhaftigkeit des Erzählers herzurühren, der das Er¬ lebte nicht zu bemänteln gesucht, um es zu größerem Vortheil erscheinen zu lassen, und der jede empfindsame Phrase vermieden, wo schon die einfache Darlegung der Ereignisse genügte. Auch ist die Liebe selbst, fügte ich hinzu, sich nie¬ mals gleich; sie ist stets original und modificirt sich stets nach dem Charakter und der Persönlichkeit derje¬ nigen, die wir lieben. „Sie haben vollkommen Recht, erwiederte Goethe; denn nicht bloß wir sind die Liebe, sondern es ist es auch das uns anreizende liebe Object. Und dann, was nicht zu vergessen, kommt als ein mächtiges Drit¬ tes noch das Dämonische hinzu, das jede Leidenschaft zu begleiten pflegt und das in der Liebe sein eigent¬ liches Element findet. In meinem Verhältniß zu Lili war es besonders wirksam; es gab meinem ganzen Le¬ ben eine andere Richtung und ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß meine Herkunft nach Weimar und mein jetziges Hierseyn davon eine unmittelbare Folge war.“ Sonnabend, den 6. März 1830*. Goethe liest seit einiger Zeit die Memoiren von St . Simon . — „Mit dem Tode von Ludwig dem Vierzehnten, sagte er mir vor einigen Tagen, habe ich jetzt Halt gemacht. Bis dahin hat mich das Dutzend Bände im hohen Grade interessirt, und zwar durch den Contrast der Willens¬ richtungen des Herrn und der aristocratischen Tugend des Dieners. Aber von dem Augenblick an, wo jener Monarch abgeht und eine andere Personage auftritt, die zu schlecht ist, als daß St. Simon sich zu seinem Vortheil neben ihr ausnehmen könnte, machte die Lec¬ türe mir keine Freude mehr; der Widerwille trat ein, und ich verließ das Buch da, wo mich der „ Tyran “ verließ.“ Auch den Globe und Temps, den Goethe seit meh¬ reren Monaten mit dem größten Eifer las, hat er seit etwa vierzehn Tagen zu lesen aufgehört. Sowie die Nummern bei ihm unter Kreuzband ankommen, legt er sie uneröffnet bei Seite. Indeß bittet er seine Freunde, ihm zu erzählen was in der Welt vorgeht. Er ist seit einiger Zeit sehr productiv und ganz vertieft im zwei¬ ten Theile seines Faust. Besonders ist es die classische Walpurgisnacht, die ihn seit einigen Wochen ganz hin¬ nimmt und die dadurch auch rasch und bedeutend heran¬ wächst. In solchen durchaus productiven Epochen liebt Goethe die Lectüre überhaupt nicht, es wäre denn, daß sie als etwas Leichtes und Heiteres ihm als ein wohl¬ thätiges Ausruhen diente, oder auch, daß sie mit dem Gegenstande, den er eben unter Händen hat, in Harmonie stände und dazu behülflich wäre. Er meidet sie dagegen ganz entschieden, wenn sie so bedeutend und aufregend wirkte, daß sie seine ruhige Production stö¬ ren und sein thätiges Interesse zersplittern und ab¬ lenken könnte. Das Letztere scheint jetzt mit dem Globe und Temps der Fall zu seyn. „Ich sehe, sagte er, es bereiten sich in Paris bedeutende Dinge vor; wir sind am Vorabend einer großen Explosion. Da ich aber darauf keinen Einfluß habe, so will ich es ruhig ab¬ warten, ohne mich von dem spannenden Gang des Drama's unnützerweise täglich aufregen zu lassen. Ich lese jetzt so wenig den Globe, als den Temps, und meine Walpurgisnacht rückt dabei gar nicht schlecht vorwärts.“ Er sprach darauf über den Zustand der neuesten französischen Literatur, die ihn sehr interessirt. „Was die Franzosen, sagte er, bei ihrer jetzigen literarischen Richtung für etwas Neues halten, ist im Grunde wei¬ ter nichts, als der Wiederschein desjenigen, was die deutsche Literatur seit funfzig Jahren gewollt und ge¬ worden. Der Keim der historischen Stücke, die bei ihnen jetzt etwas Neues sind, findet sich schon seit einem halben Jahrhundert in meinem Götz. Uebrigens, fügte er hinzu, haben die deutschen Schriftsteller niemals daran gedacht und nie in der Absicht geschrieben, auf die Franzosen einen Einfluß ausüben zu wollen. Ich selbst habe immer nur mein Deutschland vor Augen gehabt, und es ist erst seit gestern oder ehegestern, daß es mir einfällt, meine Blicke westwärts zu wenden, um auch zu sehen, wie unsere Nachbarn jenseits des Rhei¬ nes von mir denken. Aber auch jetzt haben sie auf meine Productionen keinen Einfluß. Selbst Wieland, der die französischen Formen und Darstellungsweisen nachgeahmt, ist im Grunde immer deutsch geblieben und würde sich in einer Uebertragung schlecht ausnehmen.“ Sonntag, den 14. März 1830. Abends bei Goethe. Er zeigte mir alle jetzt geord¬ neten Schätze der Kiste von David , mit deren Aus¬ packung ich ihn vor einigen Tagen beschäftigt fand. Die Gyps-Medaillons mit den Profilen der vorzüg¬ lichsten jungen Dichter Frankreichs hatte er in großer Ordnung auf Tischen nebeneinander gelegt. Er sprach dabei abermals über das außerordentliche Talent Da¬ vid's, das ebensogroß sey in der Auffassung, als in der Ausführung. Auch zeigte er mir eine Menge der neuesten Werke, die ihm, durch die Vermittelung Da¬ vid's, von den ausgezeichnetsten Talenten der roman¬ tischen Schule als Autor-Geschenke verehrt worden. Ich sah Werke von St. Beuve, Ballanche, Victor Hugo, Balzac, Alfred de Vigny, Jules Janin, und Anderen. „David, sagte er, hat mir durch diese Sendung schöne Tage bereitet. Die jungen Dichter beschäftigen mich nun schon die ganze Woche und gewähren mir durch die frischen Eindrücke, die ich von ihnen empfange, ein neues Leben. Ich werde über die mir sehr lieben Por¬ traits und Bücher einen eigenen Catalog machen und beiden in meiner Kunstsammlung und Bibliothek einen besonderen Platz geben.“ Man sah es Goethen an, daß diese Huldigung der jungen Dichter Frankreichs ihn innerlichst beglückte. Er las darauf Einiges in den „ Studien “ von Camille Deschamps. Die Uebersetzung der „ Braut von Corinth “ lobte er, als treu und sehr gelungen. „Ich besitze, sagte er, das Manuscript einer italieni¬ schen Uebersetzung dieses Gedichts, welches das Original bis zum Rythmus wiedergiebt.“ Die Braut von Corinth gab Goethen Anlaß, auch von seinen übrigen Balladen zu reden. „Ich verdanke sie größtentheils Schillern, sagte er, der mich dazu trieb, weil er immer etwas Neues für seine Horen brauchte. Ich hatte sie alle schon seit vielen Jahren im Kopf, sie beschäftigten meinen Geist als anmuthige Bilder, als schöne Träume, die kamen und gingen und womit die Phantasie mich spielend beglückte. Ich entschloß mich ungern dazu, diesen mir seit so lange befreundeten glänzenden Erscheinungen ein Lebewohl zu sagen, indem ich ihnen durch das ungenügende dürftige Wort einen Körper verlieh. Als sie auf dem Papiere standen, be¬ trachtete ich sie mit einem Gemisch von Wehmuth; es war mir, als sollte ich mich auf immer von einem ge¬ liebten Freunde trennen.“ „Zu anderen Zeiten, fuhr Goethe fort, ging es mir mit meinen Gedichten gänzlich anders. Ich hatte da¬ von vorher durchaus keine Eindrücke und keine Ahnung, sondern sie kamen plötzlich über mich und wollten augenblicklich gemacht seyn, so daß ich sie auf der Stelle instinktmäßig und traumartig niederzuschreiben mich getrieben fühlte. In solchem nachtwandlerischen Zustande geschah es oft, daß ich einen ganz schief lie¬ genden Papierbogen vor mir hatte, und daß ich dieses erst bemerkte, wenn Alles geschrieben war, oder wenn ich zum Weiterschreiben keinen Platz fand. Ich habe mehrere solcher in der Diagonale geschriebenen Blätter besessen; sie sind mir jedoch nach und nach abhanden gekommen, so daß es mir leid thut, keine Proben sol¬ cher poetischen Vertiefung mehr vorzeigen zu können.“ Das Gespräch lenkte sich sodann auf die französische Literatur zurück, und zwar auf die allerneueste ultra¬ romantische Richtung einiger nicht unbedeutenden Ta¬ lente. Goethe war der Meinung, daß diese im Werden begriffene poetische Revolution der Literatur selber im hohen Grade günstig, den einzelnen Schriftstellern aber, die sie bewirken, nachtheilig sey. „Bei keiner Revolution, sagte er, sind die Extreme zu vermeiden. Bei der politischen will man anfänglich ge¬ wöhnlich nichts weiter als die Abstellung von allerlei Mißbräuchen; aber ehe man es sich versieht, steckt man tief in Blutvergießen und Gräueln. So wollten auch die Franzosen bei ihrer jetzigen literarischen Umwälzung anfänglich nichts weiter als eine freiere Form; aber dabei bleiben sie jetzt nicht stehen, sondern sie verwerfen III . 20 neben der Form auch den bisherigen Inhalt. — Die Darstellung edler Gesinnungen und Thaten fängt man an für langweilig zu erklären, und man versucht sich in Behandlung von allerlei Verruchtheiten. An die Stelle des schönen Inhalts griechischer Mythologie tre¬ ten Teufel, Hexen und Vampyre, und die erhabenen Helden der Vorzeit müssen Gaunern und Galeeren¬ sklaven Platz machen. Dergleichen ist pikant! das wirkt! — Nachdem aber das Publicum diese stark ge¬ pfefferte Speise einmal gekostet und sich daran gewöhnt hat, wird es nur immer nach Mehrerem und Stärkerem begierig. Ein junges Talent, das wirken und aner¬ kannt seyn will, und nicht groß genug ist, auf eigenem Wege zu gehen, muß sich dem Geschmack des Tages bequemen, ja es muß seine Vorgänger im Schreck- und Schauerlichen noch zu überbieten suchen. In diesem Jagen nach äußeren Effectmitteln aber wird jedes tie¬ fere Studium und jedes stufenweise gründliche Ent¬ wickeln des Talentes und Menschen von Innen heraus ganz außer Acht gelassen. Das ist aber der größte Schaden, der dem Talent begegnen kann, wiewohl die Literatur im Allgemeinen bei dieser augenblicklichen Richtung gewinnen wird.“ Wie kann aber, versetzte ich, ein Bestreben, das die einzelnen Talente zu Grunde richtet, der Literatur im Allgemeinen günstig seyn? — „Die Extreme und Auswüchse, die ich bezeichnet habe, erwiederte Goethe, werden nach und nach ver¬ schwinden; aber zuletzt wird der sehr große Vortheil bleiben, daß man neben einer freieren Form auch einen reicheren, verschiedenartigeren Inhalt wird erreicht haben und man keinen Gegenstand der breitesten Welt und des mannigfaltigsten Lebens als unpoetisch mehr wird ausschließen. Ich vergleiche die jetzige literarische Epoche dem Zustande eines heftigen Fiebers, das zwar an sich nicht gut und wünschenswerth ist, aber eine bessere Gesundheit als heitere Folge hat. Dasjenige wirklich Verruchte, was jetzt oft den ganzen Inhalt eines poe¬ tischen Werkes ausmacht, wird künftig nur als wohl¬ thätiges Ingredienz eintreten; ja man wird das augenblicklich verbannte durchaus Reine und Edle bald mit desto größerem Verlangen wieder hervorsuchen.“ Es ist mir auffallend, bemerkte ich, daß auch Me¬ rim é e, der doch zu Ihren Lieblingen gehört, durch die abscheulichen Gegenstände seiner Guzla gleichfalls jene ultra-romantische Bahn betreten hat. „Merim é e, erwiederte Goethe, hat diese Dinge ganz anders tractirt als seine Mitgesellen. Es fehlt freilich diesen Gedichten nicht an allerlei schauerlichen Motiven von Kirchhöfen, nächtlichen Kreuzwegen, Gespenstern und Vampyren; allein alle diese Widerwärtigkeiten be¬ rühren nicht das Innere des Dichters, er behandelt sie vielmehr aus einer gewissen objectiven Ferne und gleich¬ sam mit Ironie. Er geht dabei ganz zu Werke wie 20* ein Künstler, dem es Spaß macht, auch einmal so et¬ was zu versuchen. Er hat sein eigenes Innere, wie gesagt, dabei gänzlich verläugnet, ja er hat dabei so¬ gar den Franzosen verläugnet, und zwar so sehr, daß man diese Gedichte der Guzla anfänglich für wirklich illyrische Volksgedichte gehalten und also nur wenig gefehlt hat, daß ihm die beabsichtigte Mystification ge¬ lungen wäre.“ „Merim é e, fuhr Goethe fort, ist freilich ein ganzer Kerl! wie denn überhaupt zum objectiven Behandeln eines Gegenstandes mehr Kraft und Genie gehört, als man denkt. So hat auch Byron, trotz seiner stark vorwaltenden Persönlichkeit, zuweilen die Kraft gehabt sich gänzlich zu verläugnen, wie dies an einigen seiner dramatischen Sachen, und besonders an seinem Marino Faliero, zu sehen. Bei diesem Stück vergißt man ganz, daß Byron, ja daß ein Engländer es geschrieben. Wir leben darin ganz und gar zu Venedig, und ganz und gar in der Zeit, in der die Handlung vorgeht. Die Personen reden ganz aus sich selber und aus ihrem eigenen Zustande heraus, ohne etwas von subjectiven Gefühlen, Gedanken und Meinungen des Dichters an sich zu haben. Das ist die rechte Art! — Von unsern jungen französischen Romantikern der übertriebenen Sorte ist das freilich nicht zu rühmen. Was ich auch von ihnen gelesen: Gedichte, Romane, dramatische Ar¬ beiten, es trug Alles die persönliche Farbe des Autors, und es machte mich nie vergessen, daß ein Pariser, daß ein Franzose es geschrieben; ja selbst bei behandelten ausländischen Stoffen blieb man doch immer in Frank¬ reich und Paris, durchaus befangen in allen Wünschen, Bedürfnissen, Conflicten und Gährungen des augen¬ blicklichen Tages.“ Auch B é ranger, warf ich versuchend ein, hat nur Zustände der großen Hauptstadt und nur sein eigenes Innere ausgesprochen. „Das ist auch ein Mensch danach, erwiederte Goethe, dessen Darstellung und dessen Inneres etwas werth ist. Bei ihm findet sich der Gehalt einer bedeutenden Per¬ sönlichkeit. B é ranger ist eine durchaus glücklich begabte Natur, fest in sich selber begründet, rein aus sich selber entwickelt, und durchaus mit sich selber in Harmonie. Er hat nie gefragt: Was ist an der Zeit? was wirkt? was gefällt? und was machen die Anderen? damit er es ihnen nachmache. Er hat immer nur aus dem Kern seiner eigenen Natur heraus gewirkt, ohne sich zu be¬ kümmern, was das Publicum, oder was diese oder jene Partei erwarte. Er hat freilich in verschiedenen bedenk¬ lichen Epochen nach den Stimmungen, Wünschen und Bedürfnissen des Volkes hingehorcht; allein das hat ihn nur in sich selber befestigt, indem es ihm sagte, daß sein eigenes Innere mit dem des Volkes in Har¬ monie stand; aber es hat ihn nie verleitet, etwas An¬ deres auszusprechen, als was bereits in seinem eigenen Herzen lebte.“ „Sie wissen, ich bin im Ganzen kein Freund von sogenannten politischen Gedichten; allein solche, wie B é ranger sie gemacht hat, lasse ich mir gefallen. Es ist bei ihm nichts aus der Luft gegriffen, nichts von bloß imaginirten oder imaginären Interessen, er schießt nie ins Blaue hinein, vielmehr hat er stets die entschiedensten und zwar immer bedeutende Gegenstände. Seine liebende Bewunderung Napoleon's und das Zurück¬ denken an die großen Waffenthaten, die unter ihm ge¬ schehen, und zwar zu einer Zeit, wo diese Erinnerung den etwas gedrückten Franzosen ein Trost war; dann sein Haß gegen die Herrschaft der Pfaffen und gegen die Verfinsterung, die mit den Jesuiten wieder einzu¬ brechen droht: das sind denn doch Dinge, denen man wohl seine völlige Zustimmung nicht versagen kann. — Und wie meisterhaft ist bei ihm die jedesmalige Be¬ handlung! Wie wälzt und rundet er den Gegenstand in seinem Innern, ehe er ihn ausspricht! Und dann, wenn Alles reif ist, welcher Witz, Geist, Ironie und Persiflage, und welche Herzlichkeit, Naivetät und Grazie werden nicht von ihm bei jedem Schritt entfaltet! Seine Lieder haben jahraus jahrein Millionen froher Menschen gemacht; sie sind durchaus mundrecht auch für die arbeitende Classe, während sie sich über das Niveau des Gewöhnlichen so sehr erheben, daß das Volk im Umgange mit diesen anmuthigen Geistern ge¬ wöhnt und genöthigt wird, selbst edler und besser zu denken. Was wollen Sie mehr? und was läßt sich überhaupt Besseres von einem Poeten rühmen?“ Er ist vortrefflich! ohne Frage! erwiederte ich. Sie wissen selbst, wie sehr ich ihn seit Jahren liebe; auch können Sie denken, wie wohl es mir thut, Sie so über ihn reden zu hören. Soll ich aber sagen, welche von seinen Liedern ich vorziehe, so gefallen mir denn doch seine Liebesgedichte besser, als seine politischen, bei denen mir ohnehin die speziellen Bezüge und An¬ spielungen nicht immer deutlich sind. „Das ist Ihre Sache! erwiederte Goethe; auch sind die politischen gar nicht für Sie geschrieben; fra¬ gen Sie aber die Franzosen , und sie werden Ihnen sagen, was daran Gutes ist. Ein politisches Gedicht ist überhaupt im glücklichsten Falle immer nur als Or¬ gan einer einzelnen Nation, und in den meisten Fällen nur als Organ einer gewissen Partei zu betrachten; aber von dieser Nation und dieser Partei wird es auch, wenn es gut ist, mit Enthusiasmus ergriffen werden. Auch ist ein politisches Gedicht immer nur als Product eines gewissen Zeitzustandes anzusehen; der aber freilich vorübergeht und dem Gedicht für die Folge denjenigen Werth nimmt, den es vom Gegenstande hat. B é ranger hatte übrigens gut machen! Paris ist Frankreich. Alle bedeutenden Interessen seines großen Vaterlandes con¬ centriren sich in der Hauptstadt und haben dort ihr eigentliches Leben und ihren eigentlichen Wiederhall. Auch ist er in den meisten seiner politischen Lieder kei¬ neswegs als bloßes Organ einer einzelnen Partei zu betrachten, vielmehr sind die Dinge, denen er entgegen¬ wirkt, größtentheils von so allgemein nationalem In¬ teresse, daß der Dichter fast immer als große Volks ¬ stimme vernommen wird. Bei uns in Deutschland ist dergleichen nicht möglich. Wir haben keine Stadt, ja wir haben nicht einmal ein Land, von dem wir entschie¬ den sagen könnten: Hier ist Deutschland ! Fragen wir in Wien, so heißt es: Hier ist Oestreich! und fra¬ gen wir in Berlin, so heißt es: Hier ist Preußen! — Bloß vor sechszehn Jahren, als wir endlich die Fran¬ zosen los seyn wollten, war Deutschland überall. — Hier hätte ein politischer Dichter allgemein wirken kön¬ nen; — allein es bedurfte seiner nicht! Die allgemeine Noth und das allgemeine Gefühl der Schmach hatte die Nation als etwas Dämonisches ergriffen; das be¬ geisternde Feuer, das der Dichter hätte entzünden kön¬ nen, brannte bereits überall von selber. Doch will ich nicht läugnen, daß Arndt , Körner und Rückert Einiges gewirkt haben.“ Man hat Ihnen vorgeworfen, bemerkte ich etwas unvorsichtig, daß Sie in jener großen Zeit nicht auch die Waffen ergriffen, oder wenigstens nicht als Dichter eingewirkt haben. „Lassen wir das, mein Guter! erwiederte Goethe. Es ist eine absurde Welt, die nicht weiß, was sie will, und die man muß reden und gewähren lassen. — Wie hätte ich die Waffen ergreifen können ohne Haß! und wie hätte ich hassen können ohne Jugend! Hätte je¬ nes Ereigniß mich als einen Zwanzigjährigen getroffen, so wäre ich sicher nicht der Letzte geblieben; allein es fand mich als Einen, der bereits über die ersten sechszig hinaus war.“ „Auch können wir dem Vaterlande nicht auf gleiche Weise dienen, sondern Jeder thut sein Bestes, je nach¬ dem Gott es ihm gegeben. Ich habe es mir ein hal¬ bes Jahrhundert lang sauer genug werden lassen. Ich kann sagen, ich habe in den Dingen, die die Natur mir zum Tagewerk bestimmt, mir Tag und Nacht keine Ruhe gelassen und mir keine Erholung gegönnt, sondern immer gestrebt und geforscht und gethan, so gut und so viel ich konnte. Wenn Jeder von sich dasselbe sagen kann, so wird es um Alle gut stehen.“ Im Grunde, versetzte ich begütigend, sollte Sie jener Vorwurf nicht verdrießen, vielmehr könnten Sie sich darauf etwas einbilden. Denn was will das anders sagen, als daß die Meinung der Welt von Ihnen so groß ist, daß sie verlangen, daß derjenige, der für die Cultur seiner Nation mehr gethan, als irgend ein An¬ derer, nun endlich Alles hätte thun sollen! „Ich mag nicht sagen, wie ich denke, erwiederte Goethe. Es versteckt sich hinter jenem Gerede mehr böser Wille gegen mich, als Sie wissen. Ich fühle darin eine neue Form des alten Hasses, mit dem man mich seit Jahren verfolgt und mir im Stillen beizukom¬ men sucht. Ich weiß recht gut, ich bin Vielen ein Dorn im Auge, sie wären mich Alle sehr gerne los; und da man nun an meinem Talent nicht rühren kann, so will man an meinen Charakter. Bald soll ich stolz seyn, bald egoistisch, bald voller Neid gegen junge Talente, bald in Sinnenlust versunken, bald ohne Christenthum, und nun endlich gar ohne Liebe zu meinem Vaterlande und meinen lieben Deutschen. — Sie kennen mich nun seit Jahren hinlänglich, und fühlen, was an alle dem Gerede ist. Wollen Sie aber wissen, was ich gelitten habe, so lesen Sie meine Xenien , und es wird Ihnen aus meinen Gegenwirkungen klar werden, womit man mir abwechselnd das Leben zu verbittern gesucht hat.“ „Ein deutscher Schriftsteller, ein deutscher Märty¬ rer! — Ja, mein Guter! Sie werden es nicht anders finden! Und ich selbst kann mich kaum beklagen; es ist allen Andern nicht besser gegangen, den Meisten so¬ gar schlechter, und in England und Frankreich ganz wie bei uns. Was hat nicht Moli è re zu leiden gehabt! und was nicht Rousseau und Voltaire! Byron ward durch die bösen Zungen aus England getrieben und würde zuletzt ans Ende der Welt geflohen seyn, wenn ein früher Tod ihn nicht den Philistern und ihrem Haß enthoben hätte.“ „Und wenn noch die bornirte Masse höhere Men¬ schen verfolgte! — Nein! ein Begabter und ein Ta¬ lent verfolgt das andere; Platen ärgert Heine, und Heine Platen, und Jeder sucht den Andern schlecht und verhaßt zu machen, da doch zu einem friedlichen Hin¬ leben und Hinwirken die Welt groß und weit genug ist, und Jeder schon an seinem eigenen Talent einen Feind hat, der ihm hinlänglich zu schaffen macht.“ „Kriegslieder schreiben und im Zimmer sitzen! — Das wäre meine Art gewesen! — Aus dem Bivouac heraus, wo man Nachts die Pferde der feindlichen Vor¬ posten wiehern hört: da hätte ich es mir gefallen lassen! Aber das war nicht mein Leben und nicht meine Sache, sondern die von Theodor Körner . Ihn kleiden seine Kriegslieder auch ganz vollkommen. Bei mir aber, der ich keine kriegerische Natur bin und keinen kriegerischen Sinn habe, würden Kriegslieder eine Maske gewesen seyn, die mir sehr schlecht zu Ge¬ sicht gestanden hätte.“ „Ich habe in meiner Poesie nie affectirt. — Was ich nicht lebte und was mir nicht auf die Nägel brannte und zu schaffen machte, habe ich auch nicht gedichtet und ausgesprochen. Liebesgedichte habe ich nur gemacht, wenn ich liebte. Wie hätte ich nun Lieder des Hasses schreiben können ohne Haß! — Und, unter uns, ich haßte die Franzosen nicht, wiewohl ich Gott dankte, als wir sie los waren. Wie hätte auch ich, dem nur Cultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu den cultivirtesten der Erde gehört und der ich einen so großen Theil meiner eigenen Bildung verdankte!“ „Ueberhaupt, fuhr Goethe fort, ist es mit dem Na¬ tionalhaß ein eigenes Ding. — Auf den untersten Stu¬ fen der Cultur werden Sie ihn immer am stärksten und heftigsten finden. Es giebt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht, und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eige¬ nen begegnet. Diese Culturstufe war meiner Natur gemäß, und ich hatte mich darin lange befestigt, ehe ich mein sechszigstes Jahr erreicht hatte.“ Montag, den 15. März 1830. Abends ein Stündchen bei Goethe. Er sprach viel über Jena und die Einrichtungen und Verbesserungen, die er in den verschiedenen Branchen der Universität zu Stande gebracht. Für Chemie, Botanik und Mine¬ ralogie, die früher nur, in so weit sie zur Pharmacie gehörig, behandelt worden, habe er besondere Lehrstühle eingeführt. Vor Allem sey für das naturwissenschaftliche Museum und die Bibliothek von ihm manches Gute be¬ wirkt worden. Bei dieser Gelegenheit erzählte er mir abermals mit vielem Selbstbehagen und guter Laune die Geschichte seiner gewaltsamen Besitzergreifung eines an die Biblio¬ thek grenzenden Saales, den die medicinische Facultät inne gehabt, aber nicht habe hergeben wollen. „Die Bibliothek, sagte er, befand sich in einem sehr schlechten Zustande. Das Local war feucht und enge, und bei weitem nicht geeignet, seine Schätze gehöriger Weise zu fassen, besonders seit durch den Ankauf der Büttner schen Bibliothek von Seiten des Großherzogs abermals 13000 Bände hinzugekommen waren, die in großen Haufen am Boden umherlagen, weil es, wie gesagt, an Raum fehlte, sie gehörig zu placiren. Ich war wirklich dieserhalb in einiger Noth. Man hätte zu einem neuen Anbau schreiten müssen; allein dazu fehlten die Mittel; auch konnte ein neuer Anbau noch recht gut vermieden werden, indem unmittelbar an die Räume der Bibliothek ein großer Saal grenzte, der leer stand und ganz geeignet war, allen unsern Bedürf¬ nissen auf das Herrlichste abzuhelfen. Allein dieser Saal war nicht im Besitz der Bibliothek, sondern im Gebrauch der Facultät der Mediciner, die ihn mitunter zu ihren Conferenzen benutzten. Ich wendete mich also an diese Herren mit der sehr höflichen Bitte: mir diesen Saal für die Bibliothek abzutreten. Dazu aber woll¬ ten die Herren sich nicht verstehen. Allenfalls seyen sie geneigt, nachzugeben, wenn ich ihnen für den Zweck ihrer Conferenzen einen neuen Saal wolle bauen lassen, und zwar sogleich. Ich erwiederte ihnen, daß ich sehr bereit sey, ein anderes Local für sie herrichten zu lassen, daß ich aber einen sofortigen Neubau nicht versprechen könne. Diese meine Antwort schien aber den Herren nicht genügt zu haben. Denn als ich am andern Mor¬ gen hinschickte, um mir den Schlüssel ausbitten zu lassen, hieß es: er sey nicht zu finden!“ „Da blieb nun weiter nichts zu thun, als erobe¬ rungsweise einzuschreiten. Ich ließ also einen Maurer kommen und führte ihn in die Bibliothek vor die Wand des angrenzenden gedachten Saales. „Diese Mauer, mein Freund, sagte ich, muß sehr dick seyn, denn sie trennt zwei verschiedene Wohnungspartieen. Versuchet doch einmal und prüfet, wie stark sie ist.“ Der Mau¬ rer schritt zu Werke, und kaum hatte er fünf bis sechs herzhafte Schläge gethan, als Kalk und Backsteine fie¬ len und man durch die entstandene Oeffnung schon einige ehrwürdige Perrücken herdurchschimmern sah, wo¬ mit man den Saal decorirt hatte. „Fahret nur fort, mein Freund, sagte ich, ich sehe noch nicht hell genug. Genirt Euch nicht und thut ganz, als ob Ihr zu Hause wäret.“ Diese freundliche Ermunterung wirkte auf den Maurer so belebend, daß die Oeffnung bald groß ge¬ nug ward, um vollkommen als Thür zu gelten, worauf denn meine Bibliotheksleute in den Saal drangen, Jeder mit einem Arm voll Bücher, die sie als Zeichen der Besitzergreifung auf den Boden warfen. Bänke, Stühle und Pulte verschwanden in einem Augenblick, und meine Getreuen hielten sich so rasch und thätig dazu, daß schon in wenigen Tagen sämmtliche Bücher in ihren Reposituren in schönster Ordnung an den Wänden um¬ herstanden. Die Herren Mediciner, die bald darauf durch ihre gewohnte Thür in corpore in den Saal tra¬ ten, waren ganz verblüfft, eine so große und unerwar¬ tete Verwandlung zu finden. Sie wußten nicht, was sie sagen sollten, und zogen sich still wieder zurück; aber sie bewahrten mir Alle einen heimlichen Groll. Doch wenn ich sie einzeln sehe, und besonders wenn ich Einen oder den Andern von ihnen bei mir zu Tisch habe, so sind sie ganz scharmant und meine sehr lieben Freunde. Als ich dem Großherzog den Verlauf dieses Abenteuers erzählte, das freilich mit seinem Einver¬ ständniß und seiner völligen Zustimmung eingeleitet war, amüsirte es ihn königlich, und wir haben später recht oft darüber gelacht.“ Goethe war in sehr guter Laune und glücklich in diesen Erinnerungen. „Ja, mein Freund, fuhr er fort, man hat seine Noth gehabt, um gute Dinge durchzu¬ setzen. Später, als ich wegen großer Feuchtigkeit der Bibliothek einen schädlichen Theil der ganz nutzlosen alten Stadtmauer wollte abreißen und hinwegräumen lassen, ging es mir nicht besser. Meine Bitten, guten Gründe und vernünftigen Vorstellungen fanden kein Gehör, und ich mußte auch hier endlich eroberungs¬ weise zu Werke gehen. Als nun die Herren der Stadt¬ verwaltung meine Arbeiter an ihrer alten Mauer im Werke sahen, schickten sie eine Deputation an den Gro߬ herzog, der sich damals in Dornburg aufhielt, mit der ganz unterthänigen Bitte: daß es doch Seiner Hoheit gefallen möge, durch ein Machtwort mir in dem gewalt¬ samen Einreißen ihrer alten ehrwürdigen Stadtmauer Einhalt zu thun. Aber der Großherzog, der mich auch zu diesem Schritt heimlich authorisirt hatte, antwortete sehr weise: „Ich mische mich nicht in Goethe's Angele¬ genheiten. Er weiß schon, was er zu thun hat, und muß sehen, wie er zurechte kommt. Geht doch hin und sagt es ihm selbst, wenn Ihr die Courage habt!“ „Es ließ sich aber Niemand bei mir blicken, fügte Goethe lachend hinzu; ich fuhr fort, von der alten Mauer niederreißen zu lassen, was mir im Wege stand, und hatte die Freude, meine Bibliothek endlich trocken zu sehen.“ Mittwoch, den 17. März 1830*. Abends ein paar Stündchen bei Goethe. Ich brachte ihm im Auftrag der Frau Großfürstin Gemma von Art zurück, und äußerte gegen ihn über dieses Stück alles Gute, was ich darüber in Gedanken hatte. „Ich freue mich immer, erwiederte er, wenn etwas her¬ vorgebracht worden, das in der Erfindung neu ist und überall den Stempel des Talentes trägt.“ Darauf, indem er den Band zwischen beide Hände nahm und ihn ein wenig von der Seite ansah, fügte er hinzu: „Aber es will mir nie recht gefallen, wenn ich sehe, daß dramatische Schriftsteller Stücke machen, die durch¬ aus zu lang sind, um so gegeben werden zu können, wie sie geschrieben. Diese Unvollkommenheit nimmt mir die Hälfte des Vergnügens, das ich sonst darüber empfinden würde. Sehen Sie nur, was Gemma von Art für ein dicker Band ist.“ Schiller, erwiederte ich, hat es nicht viel besser ge¬ macht, und doch ist er ein sehr großer dramatischer Schriftsteller. „Auch er hat freilich darin gefehlt, erwiederte Goethe. Besonders seine ersten Stücke, die er in der ganzen Fülle der Jugend schrieb, wollen gar kein Ende nehmen. Er hatte zu viel auf dem Herzen und zu viel zu sagen, als daß er es hätte beherrschen können. Später, als er sich dieses Fehlers bewußt war, gab er sich unendliche Mühe und suchte ihn durch Studium und Arbeit zu überwinden; aber es hat ihm damit nie recht gelingen wollen. Seinen Gegenstand gehörig be¬ herrschen und sich vom Leibe zu halten, und sich nur auf das durchaus Nothwendige zu concentriren, erfor¬ dert freilich die Kräfte eines poetischen Riesen und ist schwerer als man denkt.“ Hofrath Riemer ließ sich melden und trat herein. III . 21 Ich schickte mich an, zu gehen, weil ich wußte, daß es der Abend war, wo Goethe mit Riemer zu arbeiten pflegt. Allein Goethe bat mich, zu bleiben, welches ich denn sehr gerne that und wodurch ich Zeuge einer Unterhaltung wurde voll Uebermuth, Ironie und me¬ phistophelischer Laune von Seiten Goethe's. „Da ist der Sömmering gestorben, fing Goethe an, kaum elende 75 Jahre alt. Was doch die Menschen für Lumpe sind, daß sie nicht die Courage haben, län¬ ger auszuhalten als das! Da lobe ich mir meinen Freund Bentham, diesen höchst radicalen Narren; er hält sich gut, und doch ist er noch einige Wochen älter als ich.“ Man könnte hinzufügen, erwiederte ich, daß er Ih¬ nen noch in einem andern Punkte gleicht, denn er arbeitet noch immer mit der ganzen Thätigkeit der Jugend. „Das mag seyn, erwiederte Goethe; aber wir befin¬ den uns an den beiden entgegengesetzten Enden der Kette: er will niederreißen, und ich möchte erhalten und aufbauen. In seinem Alter so radical zu seyn, ist der Gipfel aller Tollheit.“ Ich denke, entgegnete ich, man muß zwei Arten von Radicalismus unterscheiden. Der eine, um künftig aufzubauen, will vorher reine Bahn machen und Alles niederreißen; während der andere sich begnügt, auf die schwachen Partieen und Fehler einer Staatsverwaltung hinzudeuten, in Hoffnung das Gute zu erreichen ohne die Anwendung gewaltsamer Mittel. In England ge¬ boren, würden Sie dieser letzten Art sicher nicht ent¬ gangen seyn. „Wofür halten Sie mich? erwiederte Goethe, der nun ganz die Miene und den Ton seines Mephisto annahm. Ich hätte sollen Mißbräuchen nachspüren, und noch obendrein sie aufdecken und sie namhaft machen, ich, der ich in England von Mißbräuchen würde gelebt haben? — In England geboren, wäre ich ein reicher Herzog gewesen, oder vielmehr ein Bi¬ schof mit jährlichen 30,000 Pfund Sterling Einkünfte.“ Recht hübsch! erwiederte ich; aber wenn Sie zufällig nicht das große Loos, sondern eine Niete gezogen hät¬ ten? Es giebt so unendlich viele Nieten. „Nicht Jeder, mein Allerbester, erwiederte Goethe, ist für das große Loos gemacht. Glauben Sie denn, daß ich die Sottise begangen haben würde, auf eine Niete zu fallen? — Ich hätte vor allen Dingen die Partie der 39 Artikel ergriffen; ich hätte sie nach allen Seiten und Richtungen hin verfochten, besonders den Artikel 9, der für mich ein Gegenstand einer ganz be¬ sondern Aufmerksamkeit und zärtlichen Hingebung ge¬ wesen seyn würde. Ich hätte in Reimen und Prosa so lange und so viel geheuchelt und gelogen, daß meine 30,000 Pfund jährlich mir nicht hätten entgehen sollen. Und dann, einmal zu dieser Höhe gelangt, würde ich 21* nichts unterlassen haben, mich oben zu erhalten. Be¬ sonders würde ich Alles gethan haben, die Nacht der Unwissenheit wo möglich noch finsterer zu machen. O wie hätte ich die gute einfältige Masse cajoliren wollen, und wie hätte ich die liebe Schuljugend wollen zurichten lassen, damit ja Niemand hätte wahrnehmen, ja nicht einmal den Muth hätte haben sollen, zu be¬ merken, daß mein glänzender Zustand auf der Basis der schändlichsten Mißbräuche fundirt sey.“ Bei Ihnen, versetzte ich, hätte man doch wenigstens den Trost gehabt, zu denken, daß Sie durch ein vor¬ zügliches Talent zu solcher Höhe gelangt. In England aber sind oft gerade die Dummsten und Unfähigsten im Genuß der höchsten irdischen Güter, die sie keines¬ wegs dem eigenen Verdienst, sondern der Protection, dem Zufall und vor Allem der Geburt zu verdanken haben. „Im Grunde, erwiederte Goethe, ist es gleichviel, ob Einem die glänzenden Güter der Erde durch eigene Eroberung, oder durch Erbschaft zugefallen. Die ersten Besitzergreifer waren doch auf jeden Fall Leute von Genie, welche die Unwissenheit und Schwäche der An¬ deren sich zu Nutze machten. — Die Welt ist so voller Schwachköpfe und Narren, daß man nicht nöthig hat sie im Tollhause zu suchen. Hierbei fällt mir ein, daß der verstorbene Großherzog, der meinen Wider¬ willen gegen Tollhäuser kannte, mich durch List und Ueberraschung einst in ein solches einführen wollte. Ich roch aber den Braten noch zeitig genug und sagte ihm, daß ich keineswegs ein Bedürfniß verspüre, auch noch diejenigen Narren zu sehen, die man einsperre, vielmehr schon an denen vollkommen genug habe, die frei umhergehen. Ich bin sehr bereit, sagte ich, Eurer Hoheit, wenn es seyn muß, in die Hölle zu folgen, aber nur nicht in die Tollhäuser.“ „O welch ein Spaß würde es für mich seyn, die 39 Artikel auf meine Weise zu tractiren und die ein¬ fältige Masse in Erstaunen zu setzen!“ Auch ohne Bischof zu seyn, sagte ich, könnten Sie sich dieses Vergnügen machen. „Nein, erwiederte Goethe, ich werde mich ruhig verhalten; man muß sehr gut bezahlt seyn, um so zu lügen. Ohne Aussicht auf die Bischofsmütze und meine 30,000 Pfund jährlich könnte ich mich nicht dazu ver¬ stehen. Uebrigens habe ich schon ein Pröbchen in die¬ sem Genre abgelegt. Ich habe als sechszehnjähriger Knabe ein dithyrambisches Gedicht über die Höllenfahrt Christi geschrieben, das sogar gedruckt, aber nicht be¬ kannt geworden, und das erst in diesen Tagen mir wieder in die Hände kommt. Das Gedicht ist voll orthodoxer Bornirtheit und wird mir als herrlicher Paß in den Himmel dienen. Nicht wahr Riemer? Sie kennen es.“ Nein, Excellenz, erwiederte Riemer, ich kenne es nicht. Aber ich erinnere mich, daß Sie im ersten Jahre nach meiner Ankunft schwer krank waren und in Ihrem Phantasiren mit einemmale die schönsten Verse über den¬ selbigen Gegenstand recitirten. Es waren dieß ohne Zweifel Erinnerungen aus jenem Gedicht Ihrer frühen Jugend. „Die Sache ist sehr wahrscheinlich, sagte Goethe. Es ist mir ein Fall bekannt, wo ein alter Mann ge¬ ringen Standes, der in den letzten Zügen lag, ganz unerwartet die schönsten griechischen Sentenzen recitirte. Man war vollkommen überzeugt, daß dieser Mann kein Wort griechisch verstehe, und schrie daher Wunder über Wunder; ja die Klugen singen schon an, aus dieser Leichtgläubigkeit der Thoren Vortheil zu ziehen, als man unglücklicherweise entdeckte, daß jener Alte in seiner frühen Jugend war genöthigt worden allerlei griechische Sprüche auswendig zu lernen, und zwar in Gegenwart eines Knaben von hoher Familie, den man durch sein Beispiel anzuspornen trachtete. Er hatte je¬ nes wirklich classische Griechisch ganz maschinenmäßig gelernt, ohne es zu verstehen, und hatte seit fünfzig Jahren nicht wieder daran gedacht, bis endlich in sei¬ ner letzten Krankheit jener Wortkram mit einemmale wieder anfing sich zu regen und lebendig zu werden.“ Goethe kam darauf mit derselbigen Malice und Ironie nochmals auf die enorme Besoldung der eng¬ lischen hohen Geistlichkeit zurück und erzählte sodann sein Abenteuer mit dem Lord Bristol , Bischof von Derby. „Lord Bristol, sagte Goethe, kam durch Jena, wünschte meine Bekanntschaft zu machen und veranlaßte mich, ihn eines Abends zu besuchen. Er gefiel sich darin, gelegentlich grob zu seyn; wenn man ihm aber ebenso grob entgegentrat, so war er ganz tractabel. Er wollte mir im Laufe unseres Gesprächs eine Pre¬ digt über den Werther halten und es mir in's Ge¬ wissen schieben, daß ich dadurch die Menschen zum Selbstmord verleitet habe. „Der Werther, sagte er, ist ein ganz unmoralisches, verdammungswürdiges Buch!“ — Halt! rief ich. Wenn Ihr so über den armen Wer¬ ther redet, welchen Ton wollt Ihr denn gegen die Großen dieser Erde anstimmen, die durch einen einzigen Federzug hundert Tausend Menschen in's Feld schicken, wovon achtzig Tausend sich tödten und sich gegenseitig zu Mord, Brand und Plünderung anreizen. Ihr dan¬ ket Gott nach solchen Gräueln und singet ein Te Deum darauf! — Und ferner, wenn Ihr durch Eure Predig¬ ten über die Schrecken der Höllenstrafen die schwachen Seelen Eurer Gemeinden ängstiget, so daß sie darüber den Verstand verlieren und ihr armseliges Daseyn zu¬ letzt in einem Tollhause endigen! — Oder wenn Ihr durch manche Eurer orthodoxen, vor der Vernunft un¬ haltbaren Lehrsätze in die Gemüther Eurer christlichen Zuhörer die verderbliche Saat des Zweifels säet, so daß diese halb starken, halb schwachen Seelen in einem Labyrinth sich verlieren, aus dem für sie kein Ausweg ist, als der Tod! — Was sagt Ihr da zu Euch selber, und welche Strafrede haltet Ihr Euch da? — Und nun wollt Ihr einen Schriftsteller zur Rechenschaft zie¬ hen und ein Werk verdammen, das, durch einige be¬ schränkte Geister falsch aufgefaßt, die Welt höchstens von einem Dutzend Dummköpfen und Taugenichtsen befreit hat, die gar nichts Besseres thun konnten, als den schwachen Rest ihres Bißchen Lichtes vollends aus¬ zublasen. — Ich dachte, ich hätte der Menschheit einen wirklichen Dienst geleistet und ihren Dank verdient, und nun kommt Ihr und wollt mir diese gute kleine Waffenthat zum Verbrechen machen, während Ihr An¬ deren, Ihr Priester und Fürsten, Euch so Großes und Starkes erlaubt!“ „Dieser Ausfall that auf meinen Bischof eine herr¬ liche Wirkung. Er ward so sanft, wie ein Lamm, und benahm sich von nun an gegen mich in unserer weite¬ ren Unterhaltung mit der größten Höflichkeit und dem feinsten Tact. Ich verlebte darauf mit ihm einen sehr guten Abend. Denn Lord Bristol, so grob er seyn konnte, war ein Mann von Geist und Welt, und durch¬ aus fähig, in die verschiedenartigsten Gegenstände ein¬ zugehen. Bei meinem Abschied gab er mir das Geleit und ließ darauf durch seinen Abb é die Honneurs fort¬ setzen. Als ich mit diesem auf die Straße gelangt war, rief er mir zu: O Herr von Goethe! wie vortrefflich haben Sie gesprochen, und wie haben Sie dem Lord gefallen und das Geheimniß verstanden, den Weg zu seinem Herzen zu finden. Mit etwas weniger Derbheit und Entschiedenheit würden Sie von Ihrem Besuch sicher nicht so zufrieden nach Hause gehen, wie Sie es jetzt thun.“ Sie haben wegen Ihres Werther allerlei zu ertra¬ gen gehabt, bemerkte ich. Ihr Abenteuer mit Lord Bristol erinnert mich an Ihre Unterredung mit Napo¬ leon über diesen Gegenstand. War nicht auch Talley¬ rand dabei? „Er war zugegen, erwiederte Goethe. Ich hatte mich jedoch über Napoleon nicht zu beklagen. Er war äußerst liebenswürdig gegen mich und tractirte den Gegenstand wie es sich von einem so grandiosen Geiste erwarten ließ.“ Vom Werther lenkte sich das Gespräch auf Romane und Schauspiele im Allgemeinen und ihre moralische oder unmoralische Wirkung auf das Publicum. „Es müßte schlimm zugehen, sagte Goethe, wenn ein Buch unmoralischer wirken sollte, als das Leben selber, das täglich der skandalösen Scenen im Ueberfluß, wo nicht vor unseren Augen, doch vor unseren Ohren entwickelt. Selbst bei Kindern braucht man wegen der Wirkungen eines Buches oder Theaterstückes keineswegs so ängst¬ lich zu seyn. Daß tägliche Leben ist, wie gesagt, lehr¬ reicher, als das wirksamste Buch.“ Aber doch, bemerkte ich, sucht man sich bei Kindern in Acht zu nehmen, daß man in ihrer Gegenwart nicht Dinge spricht, welche zu hören wir für sie nicht gut halten. „Das ist recht löblich, erwiederte Goethe, und ich thue es selbst nicht anders; allein ich halte diese Vor¬ sicht durchaus für unnütz. Die Kinder haben, wie die Hunde, einen so scharfen und feinen Geruch, daß sie Alles entdecken und auswittern, und das Schlimme vor allem Anderen. Sie wissen auch immer ganz ge¬ nau, wie dieser oder jener Hausfreund zu ihren Eltern steht, und da sie nun in der Regel noch keine Verstel¬ lung üben, so können sie uns als die trefflichsten Ba¬ rometer dienen, um an ihnen den Grad unserer Gunst oder Ungunst bei den Ihrigen wahrzunehmen.“ „Man hatte einst in der Gesellschaft schlecht von mir gesprochen, und zwar erschien die Sache für mich von solcher Bedeutung, daß mir sehr viel daran liegen mußte, zu erfahren, woher der Schlag kam. Im All¬ gemeinen war man hier überaus wohlwollend gegen mich gesinnt; ich dachte hin und her und konnte gar nicht herausbringen, von wem jenes gehässige Gerede könne ausgegangen seyn. Mit einemmale bekomme ich Licht. Es begegneten mir nämlich eines Tages in der Straße einige kleine Knaben meiner Bekanntschaft, die mich nicht grüßten, wie sie sonst zu thun pflegten. Dieß war mir genug, und ich entdeckte auf dieser Fährte sehr bald, daß es ihre lieben Eltern waren, die ihre Zungen auf meine Kosten auf eine so arge Weise in Bewegung gesetzt hatten.“ Montag, den 29. März 1830*. Abends einige Augenblicke bei Goethe. Er schien sehr ruhig und heiter und in der mildesten Stimmung. Ich fand ihn umgeben von seinem Enkel Wolf und Gräfin Caroline Egloffstein, seiner intimen Freundin. Wolf machte seinem lieben Großvater viel zu schaffen. Er kletterte auf ihm herum und saß bald auf der einen Schulter und bald auf der andern. Goethe erduldete Alles mit der größten Zärtlichkeit, so unbequem das Gewicht des zehnjährigen Knaben seinem Alter auch seyn mochte. „Aber, lieber Wolf, sagte die Gräfin, plage doch Deinen guten Großvater nicht so entsetzlich! er muß ja von Deiner Last ganz ermüdet werden.“ Das hat gar nichts zu sagen, erwiederte Wolf; wir gehen bald zu Bette, und da wird der Großvater Zeit haben, sich von dieser Fatigue ganz vollkommen wieder auszuruhen. „Sie sehen, nahm Goethe das Wort, daß die Liebe immer ein wenig impertinenter Natur ist.“ Das Gespräch wendete sich auf Campe und dessen Kinderschriften. „Ich bin mit Campe, sagte Goethe, nur zweimal in meinem Leben zusammengetroffen. Nach einem Zwischenraum von vierzig Jahren sah ich ihn zuletzt in Carlsbad. Ich fand ihn damals sehr alt, dürr, steif und abgemessen. Er hatte sein ganzes Le¬ benlang nur für Kinder geschrieben; ich dagegen gar nichts für Kinder, ja nicht einmal für große Kinder von zwanzig Jahren. Auch konnte er mich nicht aus¬ stehen. Ich war ihm ein Dorn im Auge, ein Stein des Anstoßes, und er that Alles, um mich zu vermei¬ den. Doch führte das Geschick mich eines Tages ganz unerwartet an seine Seite, so daß er nicht umhin konnte, einige Worte an mich zu wenden. „Ich habe, sagte er, vor den Fähigkeiten Ihres Geistes allen Re¬ spect! Sie haben in verschiedenen Fächern eine erstaun¬ liche Höhe erreicht. Aber, sehen Sie! das sind Alles Dinge, die mich nichts angehen und auf die ich gar nicht den Werth legen kann, den andere Leute darauf legen.“ — Diese etwas ungalante Freimüthigkeit ver¬ droß mich keineswegs und ich sagte ihm dagegen aller¬ lei Verbindliches. Auch halte ich in der That ein großes Stück auf Campe. Er hat den Kindern un¬ glaubliche Dienste geleistet; er ist ihr Entzücken und so zu sagen ihr Evangelium. — Bloß wegen zwei oder drei ganz schrecklicher Geschichten, die er nicht bloß die Ungeschicklichkeit gehabt hat zu schreiben, sondern auch in seine Sammlung für Kinder mit aufzunehmen, möchte ich ihn ein wenig gezüchtigt sehen. Warum soll man die heitere, frische, unschuldige Phantasie der Kinder so ganz unnöthigerweise mit den Eindrücken solcher Gräuel belasten!“ Montag, den 5. April 1830. Es ist bekannt, daß Goethe kein Freund von Bril¬ len ist. „Es mag eine Wunderlichkeit von mir seyn, sagte er mir bei wiederholten Anlässen, aber ich kann es einmal nicht überwinden. Sowie ein Fremder mit der Brille auf der Nase zu mir hereintritt, kommt sogleich eine Verstimmung über mich, der ich nicht Herr werden kann. Es genirt mich so sehr, daß es einen großen Theil meines Wohlwollens sogleich auf der Schwelle hinwegnimmt und meine Gedanken so verdirbt, daß an eine unbefangene natürliche Entwickelung meines eige¬ nen Innern nicht mehr zu denken ist. Es macht mir immer den Eindruck des Desobligeanten, ungefähr so, als wollte ein Fremder mir bei der ersten Begrüßung sogleich eine Grobheit sagen. Ich empfinde dieses noch stärker, nachdem ich seit Jahren es habe drucken lassen, wie fatal mir die Brillen sind. Kommt nun ein Fremder mit der Brille, so denke ich gleich: er hat deine neuesten Gedichte nicht gelesen! — und das ist schon ein wenig zu seinem Nachtheil; oder er hat sie gelesen, er kennt deine Eigenheit und setzt sich darüber hinaus, und das ist noch schlimmer. Der einzige Mensch, bei dem die Brille mich nicht genirt, ist Zelter; bei allen Anderen ist sie mir fatal. Es kommt mir immer vor, als sollte ich den Fremden zum Gegenstand genauer Untersuchung dienen, und als wollten sie durch ihre gewaffneten Blicke in mein geheimstes Innere dringen und jedes Fältchen meines alten Gesichtes erspähen. Während sie aber so meine Bekanntschaft zu machen suchen, stören sie alle billige Gleichheit zwischen uns, indem sie mich hindern, zu meiner Entschädigung auch die ihrige zu machen. Denn was habe ich von einem Menschen, dem ich bei seinen mündlichen Aeußerungen nicht ins Auge sehen kann und dessen Seelenspiegel durch ein paar Gläser, die mich blenden, verschleiert ist!“ Es hat Jemand bemerken wollen, versetzte ich, daß das Brillentragen die Menschen dünkelhaft mache, in¬ dem die Brille sie auf eine Stufe sinnlicher Vollkom¬ menheit hebe, die weit über das Vermögen ihrer eige¬ nen Natur erhaben, wodurch denn zuletzt sich die Täu¬ schung bei ihnen einschleiche, daß diese künstliche Höhe die Kraft ihrer eigenen Natur sey. „Die Bemerkung ist sehr artig, erwiederte Goethe, sie scheint von einem Naturforscher herzurühren. Doch genau besehen, ist sie nicht haltbar. Denn wäre es wirklich so, so müßten ja alle Blinden sehr bescheidene Menschen seyn, dagegen alle mit trefflichen Augen be¬ gabten dünkelhaft. Dieß ist aber durchaus nicht so; vielmehr finden wir, daß alle geistig wie körperlich durchaus naturkräftig ausgestatteten Menschen in der Regel die bescheidensten sind, dagegen alle besonders geistig Verfehlten weit eher einbilderischer Art. Es scheint, daß die gütige Natur allen denen, die bei ihr in höherer Hinsicht zu kurz gekommen sind, die Ein¬ bildung und den Dünkel als versöhnendes Ausgleichungs- und Ergänzungsmittel gegeben hat.“ „Uebrigens sind Bescheidenheit und Dünkel sittliche Dinge so geistiger Art, daß sie wenig mit dem Körper zu schaffen haben. Bei Bornirten und geistig Dunkeln findet sich der Dünkel; bei geistig Klaren und Hochbe¬ gabten aber findet er sich nie. Bei solchen findet sich höchstens ein freudiges Gefühl ihrer Kraft; da aber diese Kraft wirklich ist, so ist dieses Gefühl alles An¬ dere, aber kein Dünkel.“ Wir unterhielten uns noch über verschiedene andere Gegenstände und kamen zuletzt auch auf das „ Chaos “, dieser von Frau v. Goethe geleiteten Weimar'schen Zeit¬ schrift, woran nicht bloß hiesige deutsche Herren und Damen, sondern vorzüglich auch die hier sich aufhal¬ tenden jungen Engländer, Franzosen und andere Fremd¬ linge Theil nehmen, so daß denn fast jede Nummer ein Gemisch fast aller bekanntesten Europäischen Spra¬ chen darbietet. „Es ist doch hübsch von meiner Tochter, sagte Goethe, und man muß sie loben und es ihr Dank wissen, daß sie das höchst originelle Journal zu Stande ge¬ bracht und die einzelnen Mitglieder unserer Gesellschaft so in Anregung zu erhalten weiß, daß es doch nun bald ein Jahr besteht. Es ist freilich nur ein dilet¬ tantischer Spaß, und ich weiß recht gut, daß nichts Großes und Dauerhaftes dabei herauskommt; allein es ist doch artig und gewissermaßen ein Spiegel der geistigen Höhe unserer jetzigen Weimar'schen Gesell¬ schaft. Und dann, was die Hauptsache ist, es giebt unse¬ ren jungen Herren und Damen, die oft gar nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen, etwas zu thun; auch haben sie dadurch einen geistigen Mittelpunkt, der ihnen Gegenstände der Besprechung und Unterhaltung bietet und sie also gegen den ganz nichtigen und hohlen Klatsch schützet. Ich lese jedes Blatt, so wie es frisch aus der Presse kommt, und kann sagen, daß mir im Ganzen noch nichts Ungeschicktes vorgekommen ist, vielmehr mitunter sogar einiges recht Hübsche. Was wollen Sie z. B. gegen die Elegie der Frau von Bechtolsheim auf den Tod der Frau Großherzogin Mutter einwenden? Ist das Gedicht nicht sehr artig? Das Einzige, was sich gegen dieses, sowie gegen das Meiste unserer jungen Damen und Herren sagen ließe, wäre etwa, daß sie, gleich zu saftreichen Bäumen, die eine Menge Schmarotzer-Schößlinge treiben, einen Ueber¬ fluß von Gedanken und Empfindungen haben, deren sie nicht Herr sind, so daß sie sich selten zu beschrän¬ ken und da aufzuhören wissen, wo es gut wäre. Die¬ ses ist auch der Frau v. Bechtolsheim passirt. Um einen Reim zu bewahren, hatte sie einen anderen Vers hinzugefügt, der dem Gedicht durchaus zum Nachtheil gereichte, ja es gewissermaßen verdarb. Ich sah diesen Fehler im Manuscript und konnte ihn noch zeitig ge¬ nug ausmerzen. Man muß ein alter Praktikus seyn, fügte er lachend hinzu, um das Streichen zu verstehen. Schiller war hierin besonders groß. Ich sah ihn ein¬ mal bei Gelegenheit seines Musenalmanachs ein pom¬ pöses Gedicht von zwei und zwanzig Strophen auf sieben reduciren, und zwar hatte das Product durch diese furchtbare Operation keineswegs verloren, vielmehr enthielten diese sieben Strophen noch alle gu¬ ten und wirksamen Gedanken jener zwei und zwanzig.“ Montag, den 19. April 1830*. Goethe erzählte mir von dem Besuch zweier Russen, die heute bei ihm gewesen. „Es waren im Ganzen recht hübsche Leute, sagte er; aber der Eine zeigte sich mir nicht eben liebenswürdig, indem er während der ganzen Visite kein einziges Wort hervorbrachte. Er kam mit einer stummen Verbeugung herein, öffnete während seiner Anwesenheit nicht die Lippen, und nahm nach einem halben Stündchen mit einer stummen Ver¬ beugung wieder Abschied. Er schien bloß gekommen zu seyn, mich anzusehen und zu beobachten. Er ließ, während ich ihnen gegenüber saß, seine Blicke nicht von mir. Das ennüyirte mich; weßhalb ich denn an¬ III . 22 fing das tolleste Zeug hin und her zu schwatzen, so wie es mir gerade in den Kopf fuhr. Ich glaube, ich hatte die vereinigten Staaten von Nordamerika mir zum Thema genommen, das ich auf die leichtsinnigste Weise behandelte und davon sagte, was ich wußte und was ich nicht wußte, immer gerade in den Tag hinein. Das schien aber meinen beiden Fremden eben recht zu seyn, denn sie verließen mich, dem Anscheine nach, durch¬ aus nicht unzufrieden.“ Donnerstag, den 22. April 1830*. Bei Goethe zu Tisch. Frau v. Goethe war gegen¬ wärtig und die Unterhaltung angenehm belebt; doch ist mir davon wenig oder nichts geblieben. Während der Tafel ließ ein durchreisender Fremder sich melden, mit dem Bemerken, daß er keine Zeit habe sich aufzuhalten und morgen früh wieder abreisen müsse. Goethe ließ ihm sagen, daß er sehr bedauere, heute Niemanden sehen zu können; vielleicht aber morgen Mittag. „Ich denke, fügte er lächelnd hinzu, das wird genug seyn.“ Zu gleicher Zeit aber versprach er seiner Tochter, daß er den Besuch des von ihr empfohlenen jungen Henning nach Tisch erwarten wolle, und zwar in Rücksicht seiner braunen Augen, die denen seiner Mutter gleichen sollten. Mittwoch, den 12. Mai 1830*. Vor Goethe's Fenster stand ein kleiner broncener Moses, eine Nachbildung des berühmten Originals von Michel Angelo. Die Arme erschienen mir im Ver¬ hältniß zum übrigen Körper zu lang und zu stark, welche meine Meinung ich gegen Goethe offen aus¬ sprach. „Aber die beiden schweren Tafeln mit den zehn Geboten! rief er lebhaft, — glaubt Ihr denn, daß es eine Kleinigkeit war, die zu tragen? Und glaubt Ihr denn ferner, daß Moses, der eine Armee Juden zu commandiren und zu bändigen hatte, sich mit ganz ordinären Armen hätte begnügen können?“ Goethe lachte, indem er dieses sagte, so daß ich nicht erfuhr, ob ich wirklich Unrecht hatte, oder ob er sich mit der Vertheidigung seines Künstlers nur einen Spaß machte. Montag, den 2. August 1830*. Die Nachrichten von der begonnenen Juli-Revolu¬ tion gelangten heute nach Weimar und setzten Alles in Aufregung. Ich ging im Laufe des Nachmittags zu Goethe. „Nun? rief er mir entgegen, was denken Sie von dieser großen Begebenheit? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen; Alles steht in Flammen, und es ist nicht ferner eine Verhandlung bei geschlossenen Thüren!“ 22* Eine furchtbare Geschichte! erwiederte ich. Aber was ließ sich bei den bekannten Zuständen und bei einem solchen Ministerium Anderes erwarten, als daß man mit der Vertreibung der bisherigen Königlichen Familie endigen würde. „Wir scheinen uns nicht zu verstehen, mein Aller¬ bester, erwiederte Goethe. Ich rede gar nicht von je¬ nen Leuten; es handelt sich bei mir um ganz andere Dinge! Ich rede von dem in der Academie zum öffentlichen Ausbruch gekommenen, für die Wissenschaft so höchst bedeutenden Streit zwischen Cüvier und Geoffroy de Saint-Hilaire !“ Diese Aeußerung Goethe's war mir so unerwartet, daß ich nicht wußte was ich sagen sollte, und daß ich während einiger Minuten einen völligen Stillstand in meinen Gedanken verspürte. „Die Sache ist von der höchsten Bedeutung, fuhr Goethe fort, und Sie können sich keinen Begriff machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli empfinde. Wir haben jetzt an Geoffroy de Saint- Hilaire einen mächtigen Alliirten auf die Dauer. Ich sehe aber zugleich daraus, wie groß die Theilnahme der französischen wissenschaftlichen Welt an dieser Ange¬ legenheit seyn muß, indem, trotz der furchtbaren poli¬ tischen Aufregung, die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefüllten Hause stattfand. Das Beste aber ist, daß die von Geoffroy in Frankreich einge¬ führte synthetische Behandlungsweise der Natur jetzt nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die Angelegen¬ heit ist durch die freien Discussionen in der Academie, und zwar in Gegenwart eines großen Publicums, jetzt öffentlich geworden, sie läßt sich nicht mehr an geheime Ausschüsse verweisen und bei geschlossenen Thüren ab¬ thun und unterdrücken. Von nun an wird auch in Frankreich bei der Naturforschung der Geist herrschen und über die Materie Herr seyn. Man wird Blicke in große Schöpfungsmaximen thun, in die geheimni߬ volle Werkstatt Gottes! — Was ist auch im Grunde aller Verkehr mit der Natur, wenn wir auf analytischem Wege bloß mit einzelnen materiellen Theilen uns zu schaffen machen, und wir nicht das Athmen des Geistes empfinden, der jedem Theile die Richtung vorschreibt und jede Ausschweifung durch ein inwohnendes Gesetz bändigt oder sanctionirt!“ „Ich habe mich seit funfzig Jahren in dieser großen Angelegenheit abgemüht; anfänglich einsam, dann unter¬ stützt, und zuletzt zu meiner großen Freude überragt durch verwandte Geister. Als ich mein erstes Aper ç ü vom Zwischenknochen an Peter Camper schickte, ward ich zu meiner innigsten Betrübniß völlig ignorirt. Mit Blumenbach ging es mir nicht besser, obgleich er, nach persönlichem Verkehr, auf meine Seite trat. Dann aber gewann ich Gleichgesinnte an Sömmering, Oken, Dalton, Carus und anderen gleich trefflichen Män¬ nern. Jetzt ist nun auch Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle seine bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Die¬ ses Ereigniß ist für mich von ganz unglaublichem Werth, und ich jubele mit Recht über den endlich erlebten allgemeinen Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewidmet habe und die ganz vorzüglich auch die meinige ist.“ Sonnabend, den 21. August 1830*. Ich empfahl Goethen einen hoffnungsvollen jungen Menschen. Er versprach, etwas für ihn zu thun, doch schien er wenig Vertrauen zu haben. „Wer wie ich, sagte er, ein ganzes Leben lang kostbare Zeit und Geld mit der Protection junger Ta¬ lente verloren hat, und zwar Talente, die anfänglich die höchsten Hoffnungen erweckten, aus denen aber am Ende gar nichts geworden ist, dem muß wohl der Enthusiasmus und die Lust, in solcher Richtung zu wirken, nach und nach vergehen. Es ist nun an euch jüngeren Leuten, den Mäcen zu spielen und meine Rolle zu übernehmen.“ Ich verglich bei dieser Aeußerung Goethe's die täuschenden Versprechungen der Jugend mit Bäumen, die doppelte Blüthen, aber keine Früchte tragen. Mittwoch, den 13. October 1830*. Goethe zeigte mir Tabellen, wohinein er in latei¬ nischer und deutscher Sprache viele Namen von Pflan¬ zen geschrieben hatte, um sie auswendig zu lernen. Er sagte mir, daß er ein Zimmer gehabt, das ganz mit solchen Tabellen austapezirt gewesen, und worin er, an den Wänden umhergehend, studirt und gelernt habe. „Es thut mir leid, fügte er hinzu, daß es später über¬ weißt worden. Auch hatte ich ein anderes, das mit chronologischen Notizen meiner Arbeiten während einer langen Reihe von Jahren beschrieben war und worauf ich das Neueste immer nachtrug. Auch dieses ist leider übertüncht worden, welches ich nicht wenig bedauere, indem es mir gerade jetzt herrliche Dienste thun könnte.“ Mittwoch, den 20. October 1830*. Ein Stündchen bei Goethe, um mit ihm im Auf¬ trag der Frau Großherzogin wegen eines silbernen Wappenschildes Rücksprache zu nehmen, das der Prinz der hiesigen Armbrustschützen-Gesellschaft verehren soll, deren Mitglied er geworden. Unsere Unterhaltung wendete sich bald auf andere Dinge, und Goethe bat mich, ihm meine Meinung über die Saint-Simonisten zu sagen. Die Hauptrichtung ihrer Lehre, erwiederte ich, scheint dahin zu gehen, daß Jeder für das Glück des Ganzen arbeiten solle, als unerläßliche Bedingung seines eigenen Glückes. „Ich dächte, erwiederte Goethe, Jeder müsse bei sich selber anfangen und zunächst sein eigenes Glück machen, woraus denn zuletzt das Glück des Ganzen unfehlbar entstehen wird. Uebrigens erscheint jene Lehre mir durchaus unpraktisch und unausführbar. Sie widerspricht aller Natur, aller Erfahrung, und allem Gang der Dinge seit Jahrtausenden. Wenn Jeder nur als Einzelner seine Pflicht thut und Jeder nur in dem Kreise seines nächsten Berufes brav und tüchtig ist, so wird es um das Wohl des Ganzen gut stehen. Ich habe in mei¬ nem Beruf als Schriftsteller nie gefragt: was will die große Masse und wie nütze ich dem Ganzen? sondern ich habe immer nur dahin getrachtet, mich selbst einsich¬ tiger und besser zu machen, den Gehalt meiner eigenen Persönlichkeit zu steigern, und dann immer nur aus¬ zusprechen, was ich als gut und wahr erkannt hatte. Dieses hat freilich, wie ich nicht läugnen will, in einem großen Kreise gewirkt und genützt; aber dies war nicht Zweck, sondern ganz nothwendige Folge , wie sie bei allen Wirkungen natürlicher Kräfte statt¬ findet. Hätte ich als Schriftsteller die Wünsche des großen Haufens mir zum Ziel machen und diese zu befriedigen trachten wollen, so hätte ich ihnen Histör¬ chen erzählen und sie zum Besten haben müssen, wie der selige Kotzebue gethan.“ Dagegen ist nichts zu sagen, erwiederte ich. Es giebt aber nicht bloß ein Glück, was ich als einzelnes Individuum, sondern auch ein solches, was ich als Staatsbürger und Mitglied einer großen Gesammtheit genieße. Wenn man nun die Erreichung des möglich¬ sten Glückes für ein ganzes Volk nicht zum Princip macht, von welcher Basis soll da die Gesetzgebung ausgehen! „Wenn Sie da hinaus wollen, erwiederte Goethe, so habe ich freilich gar nichts einzuwenden. In solchem Falle könnten aber nur sehr wenige Auserwählten von Ihrem Princip Gebrauch machen. Es wäre nur ein Recept für Fürsten und Gesetzgeber; wiewohl es mir auch da scheinen will, als ob die Gesetze mehr trachten müßten, die Masse der Uebel zu vermindern, als sich anmaßen zu wollen, die Masse des Glückes herbeizu¬ führen.“ Beides, entgegnete ich, würde wohl ziemlich auf Eins hinauskommen. Schlechte Wege erscheinen mir z. B. als ein großes Uebel. Wenn aber der Fürst in seinem Staate, bis auf die letzte Dorfgemeinde, gute Wege einführt, so ist nicht bloß ein großes Uebel ge¬ hoben, sondern zugleich für sein Volk ein großes Glück erreicht. Ferner ist eine langsame Justiz ein großes Unglück. Wenn aber der Fürst durch Anordnung eines öffentlichen mündlichen Verfahrens seinem Volke eine rasche Justiz gewährt, so ist abermals nicht bloß ein großes Uebel beseitigt, sondern abermals ein großes Glück da. „Aus diesem Tone, fiel Goethe ein, wollte ich Euch noch ganz andere Lieder pfeifen. Aber wir wollen noch einige Uebel unangedeutet lassen, damit der Menschheit etwas bleibe, woran sie ihre Kräfte ferner entwickele. Meine Hauptlehre aber ist vorläufig diese: Der Vater sorge für sein Haus, der Handwerker für seine Kunden, der Geistliche für gegenseitige Liebe, und die Polizei störe die Freude nicht.“ Dienstag, den 4. Januar 1831*. Ich durchblätterte mit Goethe einige Hefte Zeich¬ nungen meines Freundes Töpfer in Genf, dessen Talent als Schriftsteller, wie als bildender Künstler, gleich groß ist, der es aber bis jetzt vorzuziehen scheint, die lebendigen Anschauungen seines Geistes durch sicht¬ bare Gestalten, statt durch flüchtige Worte, auszudrücken. Das Heft, welches in leichten Federzeichnungen die Abenteuer des Doctor Festus enthielt, machte voll¬ kommen den Eindruck eines komischen Romans und ge¬ fiel Goethen ganz besonders. „Es ist wirklich zu toll! rief er von Zeit zu Zeit, indem er ein Blatt nach dem andern umwendete; es funkelt Alles von Talent und Geist! Einige Blätter sind ganz unübertrefflich! Wenn er künftig einen weniger frivolen Gegenstand wählte und sich noch ein Bißchen mehr zusammennähme, so würde er Dinge machen, die über alle Begriffe wären.“ Man hat ihn mit Rabelais vergleichen und ihm vorwerfen wollen, bemerkte ich, daß er Jenen nachge¬ ahmt und von ihm Ideen entlehnt habe. „Die Leute wissen nicht, was sie wollen, erwiederte Goethe. Ich finde durchaus nichts von dergleichen. Töpfer scheint mir im Gegentheil ganz auf eigenen Füßen zu stehen, und so durchaus originell zu seyn, wie mir nur je ein Talent vorgekommen.“ Mittwoch, den 17. Januar 1831*. Ich fand Coudray bei Goethe in Betrachtung architektonischer Zeichnungen. Ich hatte ein Fünf-Fran¬ ken-Stück von 1830 mit dem Bildniß Carl's des Zehn¬ ten bei mir, das ich vorzeigte. Goethe scherzte über den zugespitzten Kopf. „Das Organ der Religiosität erscheint bei ihm sehr entwickelt, bemerkte er. Ohne Zweifel hat er aus übergroßer Frömmigkeit nicht für nöthig gehalten, seine Schuld zu bezahlen; dagegen sind wir sehr tief in die seinige gerathen, indem wir es seinem Geniestreich verdanken, daß man jetzt in Europa so bald nicht wieder zur Ruhe kommen wird.“ Wir sprachen darauf über „ Rouge et Noir “, welches Goethe für das beste Werk von Stendhal hält. „Doch kann ich nicht läugnen, fügte er hinzu, daß ei¬ nige seiner Frauen-Charaktere ein wenig zu romantisch sind. Indessen zeugen sie alle von großer Beobachtung und psychologischem Tiefblick, so daß man denn dem Autor einige Unwahrscheinlichkeiten des Details gerne verzeihen mag.“ Dienstag, den 23. Januar 1831*. Mit dem Prinzen bei Goethe. Seine Enkel amü¬ sirten sich mit Taschenspieler-Kunststückchen, worin be¬ sonders Walther geübt ist. „Ich habe nichts dawider, sagte Goethe, daß die Knaben ihre müßigen Stunden mit solchen Thorheiten ausfüllen. Es ist, besonders in Gegenwart eines kleinen Publicums, ein herrliches Mit¬ tel zur Uebung in freier Rede und Erlangung einiger körperlichen und geistigen Gewandtheit, woran wir Deutschen ohnehin keinen Ueberfluß haben. Der Nach¬ theil allenfalls entstehender kleiner Eitelkeit wird durch solchen Gewinn vollkommen aufgewogen.“ Auch sorgen schon die Zuschauer für die Dämpfung solcher Regungen, bemerkte ich, indem sie dem kleinen Künstler gewöhnlich sehr scharf auf die Finger sehen und schadenfroh genug sind, seine Fehlgriffe zu ver¬ höhnen, und seine kleinen Geheimnisse zu seinem Ver¬ druß öffentlich aufzudecken. „Es geht Ihnen wie den Schauspielern, versetzte Goethe, die heute gerufen und morgen gepfiffen wer¬ den, wodurch denn Alles im schönsten Gleise bleibt.“ Mittwoch, den 10. März 1831*. Diesen Mittag ein halbes Stündchen bei Goethe. Ich hatte ihm die Nachricht zu bringen, daß die Frau Großherzogin beschlossen habe, der Direction des hie¬ sigen Theaters ein Geschenk von tausend Thalern zu¬ stellen zu lassen, um zur Ausbildung hoffnungsvoller junger Talente verwandt zu werden. Diese Nachricht machte Goethen, dem das fernere Gedeihen des Thea¬ ters am Herzen liegt, sichtbare Freude. Sodann hatte ich einen Auftrag anderer Art mit ihm zu bereden. Es ist nämlich die Absicht der Frau Großherzogin, den jetzigen besten deutschen Schriftsteller, insofern er ohne Amt und Vermögen wäre und bloß von den Früchten seines Talentes leben müßte, nach Weimar berufen zu lassen und ihm hier eine sorgenfreie Lage zu bereiten, dergestalt, daß er die gehörige Muße fände, jedes seiner Werke zu möglichster Vollendung heranreifen zu lassen, und nicht in den traurigen Fall käme, aus Noth flüchtig und übereilt zu arbeiten, zum Nachtheil seines eigenen Talents und der Literatur. „Die Intention der Frau Großherzogin, erwiederte Goethe, ist wahrhaft Fürstlich, und ich beuge mich vor ihrer edlen Gesinnung; allein es wird sehr schwer hal¬ ten, irgend eine passende Wahl zu treffen. Die vor¬ züglichsten unserer jetzigen Talente sind bereits durch Anstellung im Staatsdienst, Pensionen, oder eigenes Vermögen, in einer sorgenfreien Lage. Auch paßt nicht Jeder hierher und nicht Jedem wäre wirklich damit ge¬ holfen. Ich werde indeß die edle Absicht im Auge be¬ halten und sehen, was die nächsten Jahre uns etwa Gutes bringen.“ Mittwoch, den 31. März 1831*. Goethe war in der letzten Zeit abermals sehr un¬ wohl, so daß er nur seine vertrautesten Freunde bei sich sehen konnte. Vor einigen Wochen mußte ihm ein Aderlaß verordnet werden; dann zeigten sich Beschwer¬ den und Schmerzen im rechten Beine, — bis denn zuletzt sein inneres Uebel durch eine Wunde am Fuße sich Luft machte, worauf sehr schnelle Besserung erfolgte. Auch diese Wunde ist nun seit einigen Tagen wieder heil und er ist wieder heiter und graziös wie vorher. Heute hatte die Frau Großherzogin ihm einen Be¬ such gemacht und kam sehr zufrieden von ihm zurück. Sie hatte nach seinem Befinden gefragt; worauf er denn sehr galant geantwortet, daß er bis heute seine Genesung noch nicht gespürt, daß aber Ihre Gegenwart ihm das Glück der wiedererlangten Gesundheit auf's Neue empfinden lasse. Mittwoch, den 14. April 1831*. Soir é e beim Prinzen. Einer der älteren anwesen¬ den Herren, der sich noch mancher Dinge aus den ersten Jahren von Goethe's Hierseyn erinnerte, erzählte uns folgendes sehr Charakteristische. Ich war dabei, sagte er, als Goethe im Jahre 1784 seine bekannte Rede bei der feierlichen Eröffnung des Ilmenauer Bergwerks hielt, wozu er alle Beamten und Interessenten aus der Stadt und Umgegend ein¬ geladen hatte. Er schien seine Rede gut im Kopfe zu haben, denn er sprach eine Zeit lang ohne allen An¬ stoß und vollkommen geläufig. Mit einemmal aber schien er wie von seinem guten Geist gänzlich verlassen, der Faden seiner Gedanken war wie abgeschnitten und er schien den Ueberblick des ferner zu Sagenden gänz¬ lich verloren zu haben. Dieß hätte jeden Andern in große Verlegenheit gesetzt; ihn aber keineswegs. Er blickte vielmehr, wenigstens zehn Minuten lang, fest und ruhig in dem Kreise seiner zahlreichen Zuhörer umher, die durch die Macht seiner Persönlichkeit wie gebannt waren, so daß während der sehr langen, ja fast lächerlichen Pause Jeder vollkommen ruhig blieb. Endlich schien er wieder Herr seines Gegenstandes ge¬ worden zu seyn, er fuhr in seiner Rede fort und führte sie sehr geschickt ohne Anstoß bis zu Ende, und zwar so frei und heiter, als ob gar nichts passirt wäre. Sonntag, den 20. Juni 1831. Diesen Nachmittag ein halbes Stündchen bei Goethe, den ich noch bei Tisch fand. Wir verhandelten über einige Gegenstände der Na¬ turwissenschaft, besonders über die Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit der Sprache, wodurch Irrthümer und falsche Anschauungen verbreitet würden, die später so leicht nicht wieder zu überwinden wären. „Die Sache ist ganz einfach diese, sagte Goethe. Alle Sprachen sind aus nahe liegenden menschlichen Bedürfnissen, menschlichen Beschäftigungen und allge¬ mein menschlichen Empfindungen und Anschauungen entstanden. Wenn nun ein höherer Mensch über das geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahnung und Einsicht gewinnt, so reicht seine ihm überlieferte Sprache nicht hin, um ein solches von menschlichen Dingen durchaus Fernliegende auszudrücken. Es müßte ihm die Sprache der Geister zu Gebote stehen, um sei¬ nen eigenthümlichen Wahrnehmungen zu genügen. Da dieses aber nicht ist, so muß er bei seiner Anschauung ungewöhnlicher Naturverhältnisse stets nach menschlichen Ausdrücken greifen, wobei er denn fast überall zu kurz kommt, seinen Gegenstand herabzieht oder wohl gar verletzt und vernichtet.“ Wenn Sie das sagen, erwiederte ich, der Sie doch Ihren Gegenständen jedesmal sehr scharf auf den Leib gehen und, als Feind aller Phrase, für Ihre höheren Wahrnehmungen stets den bezeichnendsten Ausdruck zu finden wissen, so will das etwas heißen. Ich dächte aber, wir Deutschen könnten überhaupt noch allenfalls zufrieden seyn. Unsere Sprache ist so außerordentlich reich, ausgebildet und fortbildungsfähig, daß, wenn wir auch mitunter zu einem Tropus unsere Zuflucht nehmen müssen, wir doch ziemlich nahe an das eigent¬ lich Auszusprechende herankommen. Die Franzosen aber stehen gegen uns sehr im Nachtheil. Bei ihnen wird der Ausdruck eines angeschauten höheren Natur¬ verhältnisses durch einen gewöhnlich aus der Technik hergenommenen Tropus sogleich materiell und gemein, so daß er der höheren Anschauung keineswegs mehr genügt. „Wie sehr Sie Recht haben, fiel Goethe ein, ist mir noch neulich bei dem Streit zwischen Cüvier und Geoffroy de Saint-Hilaire vorgekommen. Geoffroy de Saint-Hilaire ist ein Mensch, der wirklich in das geistige Walten und Schaffen der Natur eine hohe Einsicht hat; allein seine französische Sprache, insofern er sich herkömm¬ licher Ausdrücke zu bedienen gezwungen ist, läßt ihn durchaus im Stich. Und zwar nicht bloß bei geheimni߬ voll-geistigen, sondern auch bei ganz sichtbaren, rein kör¬ perlichen Gegenständen und Verhältnissen. Will er die einzelnen Theile eines organischen Wesens ausdrücken, so hat er dafür kein anderes Wort, als Materialien , wodurch denn z. B. die Knochen, welche als gleichartige Theile das organische Ganze eines Armes bilden, mit den Steinen, Balken und Brettern, woraus man ein Haus macht, auf eine Stufe des Ausdrucks kommen.“ III . 23 „Ebenso ungehörig, fuhr Goethe fort, gebrauchen die Franzosen, wenn sie von Erzeugnissen der Natur reden, den Ausdruck Composition . Ich kann aber wohl die einzelnen Theile einer stückweise gemachten Maschine zusammensetzen und bei einem solchen Gegen¬ stande von Composition reden, aber nicht, wenn ich die einzelnen lebendig sich bildenden und von einer ge¬ meinsamen Seele durchdrungenen Theile eines organi¬ schen Ganzen im Sinne habe.“ Es will mir sogar scheinen, versetzte ich, als ob der Ausdruck Composition auch bei echten Erzeugnissen der Kunst und Poesie ungehörig und herabwürdigend wäre. „Es ist ein ganz niederträchtiges Wort, erwiederte Goethe, das wir den Franzosen zu danken haben, und das wir sobald wie möglich wieder loszuwerden suchen sollten. Wie kann man sagen, Mozart habe seinen Don Juan componirt ! — Composition ! — Als ob es ein Stück Kuchen oder Biscuit wäre, das man aus Eiern, Mehl und Zucker zusammenrührt! — Eine geistige Schö¬ pfung ist es, das Einzelne wie das Ganze aus einem Geiste und Guß und von dem Hauche eines Lebens durchdrungen, wobei der Producirende keineswegs ver¬ suchte und stückelte und nach Willkür verfuhr, sondern wo¬ bei der dämonische Geist seines Genies ihn in der Gewalt hatte, so daß er ausführen mußte, was jener gebot.“ Sonntag, den 27. Juni 1831*. Wir sprachen über Victor Hugo . „Er ist ein schönes Talent, sagte Goethe; aber ganz in der unselig- romantischen Richtung seiner Zeit befangen, wodurch er denn, neben dem Schönen, auch das Allerunerträglichste und Häßlichste darzustellen verführt wird. Ich habe in diesen Tagen seine Notre Dame de Paris gelesen und nicht geringe Geduld gebraucht, um die Qualen aus¬ zustehen, die diese Lectüre mir gemacht hat. Es ist das abscheulichste Buch, das je geschrieben worden! Auch wird man für die Folterqualen, die man auszustehen hat, nicht einmal durch die Freude entschädigt, die man etwa an der dargestellten Wahrheit menschlicher Natur und menschlicher Charaktere empfinden könnte. Sein Buch ist im Gegentheil ohne alle Natur und ohne alle Wahrheit! Seine vorgeführten sogenannten handelnden Personen sind keine Menschen mit lebendigem Fleisch und Blut, sondern elende hölzerne Puppen, mit denen er umspringt wie er Belieben hat, und die er allerlei Verzerrungen und Fratzen machen läßt, so wie er es für seine beabsichtigten Effecte eben braucht. Was ist das aber für eine Zeit, die ein solches Buch nicht allein möglich macht und hervorruft, sondern es sogar ganz erträglich und ergötzlich findet! —“ Mittwoch, den 14. Juli 1831*. Ich begleitete mit dem Prinzen Se. Majestät den 23* König von Würtemberg zu Goethe. Der König schien bei unserer Zurückkunft sehr befriedigt und trug mir auf, Goethen für das Vergnügen zu danken, das dieser Besuch ihm gemacht habe. Donnerstag, den 15. Juli 1831*. Einen Augenblick bei Goethe, dem ich meine gestrige Commission des Königs ausrichtete. Ich fand ihn be¬ schäftigt in Studien in Bezug auf die Spiral-Tendenz der Pflanze, von welcher neuen Entdeckung er der Mei¬ nung ist, daß sie sehr weit führen und auf die Wissen¬ schaft großen Einfluß ausüben werde. „Es geht doch nichts über die Freude, fügte er hinzu, die uns das Studium der Natur gewährt. Ihre Geheimnisse sind von einer unergründlichen Tiefe; aber es ist uns Men¬ schen erlaubt und gegeben, immer weitere Blicke hinein¬ zuthun. Und gerade, daß sie am Ende doch unergründ¬ lich bleibt, hat für uns einen ewigen Reiz, immer wie¬ der zu ihr heranzugehen und immer wieder neue Ein¬ blicke und neue Entdeckungen zu versuchen.“ Dienstag, den 20. Juli 1831*. Nach Tisch ein halbes Stündchen bei Goethe, den ich sehr heiterer, milder Stimmung fand. Wir sprachen über allerlei Dinge, zuletzt auch über Carlsbad, und er scherzte über die mancherlei Herzensabenteuer, die er daselbst erlebt. „Eine kleine Liebschaft, sagte er, ist das Einzige, was uns einen Badeaufenthalt erträglich ma¬ chen kann; sonst stirbt man vor langer Weile. Auch war ich fast jedesmal so glücklich, dort irgend eine kleine Wahlverwandtschaft zu finden, die mir während der wenigen Wochen einige Unterhaltung gab. Besonders erinnere ich mich eines Falles, der mir noch jetzt Ver¬ gnügen macht.“ „Ich besuchte nämlich eines Tages Frau von Reck . Nachdem wir uns eine Weile nicht sonderlich unterhalten und ich wieder Abschied genommen hatte, begegnete mir im Hinausgehen eine Dame mit zwei sehr hübschen jungen Mädchen. „Wer war der Herr, der soeben von Ihnen ging?“ fragte die Dame. „Es war Goethe,“ antwortete Frau von Reck. „O wie leid thut es mir, erwiederte die Dame, daß er nicht geblieben ist, und daß ich nicht das Glück gehabt habe, seine Bekanntschaft zu machen!“ „O daran haben Sie durchaus nichts verloren, meine Liebe, sagte die Reck. Er ist sehr langweilig unter Damen, es sey denn, daß sie hübsch genug wären, ihm einiges Interesse einzu¬ flößen. Frauen unseres Alters dürfen nicht daran denken, ihn beredt und liebenswürdig zu machen.“ „Als die beiden Mädchen mit ihrer Mutter nach Hause gingen, gedachten sie der Worte der Frau v. Reck. Wir sind jung, wir sind hübsch, sagten sie, laßt doch sehen, ob es uns nicht gelingt, jenen berühmten Wilden einzufangen und zu zähmen! Am anderen Morgen auf der Promenade am Sprudel, machten sie mir im Vorübergehen wiederholt die graziösesten, lieb¬ lichsten Verbeugungen, worauf ich denn nicht unter¬ lassen konnte, mich gelegentlich ihnen zu nähern und sie anzureden. Sie waren scharmant! ich sprach sie wieder und wieder, sie führten mich zu ihrer Mutter, und so war ich denn gefangen. Von nun an sahen wir uns täglich, ja wir verlebten ganze Tage mitein¬ ander. Um unser Verhältniß noch inniger zu machen, ereignete es sich, daß der Verlobte der Einen ankam, worauf ich mich denn um so ungetheilter an die An¬ dere schloß. Auch gegen die Mutter war ich, wie man sich denken kann, sehr liebenswürdig. Genug, wir waren alle miteinander überaus zufrieden, und ich ver¬ lebte mit dieser Familie so glückliche Tage, daß sie mir noch jetzt eine höchst angenehme Erinnerung sind. Die beiden Mädchen erzählten mir sehr bald die Unterre¬ dung zwischen ihrer Mutter und Frau v. Reck, und welche Verschwörung sie zu meiner Eroberung ange¬ zettelt und zu glücklicher Ausführung gebracht.“ — Hiebei fällt mir eine Anekdote anderer Art ein, die Goethe mir früher erzählte und die hier einen Platz finden mag. „Ich ging, sagte er mir, mit einem guten Bekann¬ ten einst in einem Schloßgarten gegen Abend spazieren, als wir unerwartet am Ende der Allee zwei andere Personen unseres Kreises bemerkten, die in ruhigen Ge¬ sprächen an einander hingingen. Ich kann Ihnen so wenig den Herrn als die Dame nennen; aber es thut nichts zur Sache. Sie unterhielten sich also und schienen an nichts zu denken, — als mit einemmal ihre Köpfe sich gegen einander neigten und sie sich gegen¬ seitig einen herzhaften Kuß gaben. Sie schlugen darauf ihre erste Richtung wieder ein und setzten sehr ernst ihre Unterhaltung fort, als ob nichts passirt wäre. „Haben Sie es gesehen? rief mein Freund voll Erstau¬ nen; darf ich meinen Augen trauen?“ Ich habe es gesehen, erwiederte ich ganz ruhig, — aber ich glaube es nicht!“ Montag, den 2. August 1831*. Wir sprachen über die Metamorphose der Pflanze, und namentlich über Decandolle's Lehre von der Sym¬ metrie , die Goethe für eine bloße Illusion hält. „Die Natur fügte er hinzu, ergiebt sich nicht einem Jeden. Sie erweiset sich vielmehr gegen Viele wie ein neckisches junges Mädchen, das uns durch tausend Reize anlockt, aber in dem Augenblick, wo wir es zu fassen und zu besitzen glauben, unsern Armen ent¬ schlüpft.“ Mittwoch, den 19. October 1831*. Heute war zu Belvedere die Versammlung der Ge¬ sellschaft zur Beförderung des Ackerbaues; auch erste Ausstellung von Früchten und Gegenständen der In¬ dustrie, welche reicher war, als man erwartet hatte. Darauf großes Diner der zahlreich anwesenden Mit¬ glieder. Goethe trat herein, zu freudiger Ueberraschung aller Anwesenden. Er verweilte einige Zeit und be¬ trachtete sodann die ausgestellten Gegenstände mit sicht¬ barem Interesse. Sein Erscheinen machte den glücklich¬ sten Eindruck, besonders auch auf Solche, die ihn früher noch nicht gesehen. Donnerstag, den 1. December 1831. Ein Stündchen bei Goethe in allerlei Gesprächen. Dann kamen wir auch auf Soret . „Ich habe, sagte Goethe, in diesen Tagen ein sehr hübsches Gedicht von ihm gelesen, und zwar eine Tri¬ logie , deren beide ersten Theile einen heiter ländli¬ chen, der letzte aber, unter dem Titel „Mitternacht“, einen schauerlich-düstern Charakter trägt. Diese „Mit¬ ternacht“ ist ihm ganz vorzüglich gelungen. Man ath¬ met darin wirklich den Hauch der Nacht, fast wie in den Bildern von Rembrandt, in denen man auch die nächtliche Luft zu empfinden glaubt. Victor Hugo hat ähnliche Gegenstände behandelt, allein nicht mit solchem Glück. In den nächtlichen Darstellungen dieses un¬ streitig sehr großen Talents wird es nie wirklich Nacht, vielmehr bleiben die Gegenstände immer noch so deut¬ lich und sichtbar, als ob es in der That noch Tag und die dargestellte Nacht bloß eine erlogene wäre. Soret hat den berühmten Victor Hugo in seiner Mit¬ ternacht ohne Frage übertroffen.“ Ich freuete mich dieses Lobes und nahm mir vor, die gedachte Trilogie von Soret baldmöglichst zu lesen. Wir besitzen in unserer Literatur sehr wenige Trilo¬ gieen, bemerkte ich. „Diese Form, erwiederte Goethe, ist bei den Mo¬ dernen überall selten. Es kommt darauf an, daß man einen Stoff finde, der sich naturgemäß in drei Partieen behandeln lasse, so daß in der ersten eine Art Exposition, in der zweiten eine Art Catastrophe, und in der dritten eine versöhnende Ausgleichung stattfinde. In meinen Gedichten vom Junggesellen und der Mülle¬ rin finden sich diese Erfordernisse beisammen, wiewohl ich damals, als ich sie schrieb, keineswegs daran dachte, eine Trilogie zu machen. Auch mein Paria ist eine vollkommene Trilogie, und zwar habe ich diesen Cyclus sogleich mit Intention als Trilogie gedacht und be¬ handelt. Meine sogenannte Trilogie der Leiden¬ schaft dagegen ist ursprünglich nicht als Trilogie con¬ cipirt, vielmehr erst nach und nach und gewissermaßen zufällig zur Trilogie geworden. Zuerst hatte ich, wie Sie wissen, bloß die Elegie als selbstständiges Ge¬ dicht für sich. Dann besuchte mich die Szimanowska, die denselbigen Sommer mit mir in Marienbad gewe¬ sen war und durch ihre reizenden Melodieen einen Nachklang jener jugendlich-seligen Tage in mir er¬ weckte. Die Strophen, die ich dieser Freundin wid¬ mete, sind daher auch ganz im Versmaß und Ton jener Elegie gedichtet und fügen sich dieser wie von selbst als versöhnender Ausgang. Dann wollte Weygand eine neue Ausgabe meines Werther veranstalten und bat mich um eine Vorrede, welches mir denn ein höchst willkommener Anlaß war, mein Gedicht an Werther zu schreiben. Da ich aber immer noch einen Rest jener Leidenschaft im Herzen hatte, so gestaltete sich das Ge¬ dicht wie von selbst als Introduction zu jener Elegie. So kam es denn, daß alle drei jetzt beisammenstehen¬ den Gedichte von demselbigen liebesschmerzlichen Ge¬ fühle durchdrungen worden und jene Trilogie der Leidenschaft sich bildete, ich wußte nicht wie.“ „Ich habe Soret gerathen, mehr Trilogieen zu schrei¬ ben, und zwar soll er es auch machen wie ich eben erzählt. Er soll sich nicht die Mühe nehmen, zu irgend einer Trilogie einen eigenen Stoff zu suchen, vielmehr soll er aus dem reichen Vorrath seiner ungedruckten Poesieen irgend ein prägnantes Stück auswählen und gelegentlich eine Art Introduction und versöhnenden Abschluß hinzudichten, doch so, daß zwischen jeder der drei Productionen eine fühlbare Lücke bleibe. Auf diese Weise kommt man weit leichter zum Ziele und erspart sich viel Denken, welches bekanntlich, wie Meyer sagt, eine gar schwierige Sache ist.“ Wir sprachen darauf über Victor Hugo, und daß seine zu große Fruchtbarkeit seinem Talent im hohen Grade nachtheilig. „Wie soll Einer nicht schlechter werden und das schönste Talent zu Grunde richten, sagte Goethe, wenn er die Verwegenheit hat, in einem einzigen Jahre zwei Tragödieen und einen Roman zu schreiben, und ferner, wenn er nur zu arbeiten scheint, um ungeheure Geld¬ summen zusammen zu schlagen. Ich schelte ihn keines¬ wegs, daß er reich zu werden, auch nicht, daß er den Ruhm des Tages zu ernten bemüht ist; allein wenn er lange in der Nachwelt zu leben gedenkt, so muß er anfangen weniger zu schreiben und mehr zu arbeiten.“ Goethe ging darauf die Marie de Lorme durch und suchte mir deutlich zu machen, daß der Gegenstand nur Stoff zu einem einzigen guten und zwar recht tragi¬ schen Act enthalten habe, daß aber der Autor durch Rücksichten ganz secundärer Art sich habe verführen lassen, seinen Gegenstand auf fünf lange Acte über¬ mäßig auszudehnen. „Hiebei, fügte Goethe hinzu, haben wir bloß den Vortheil gehabt, zu sehen, daß der Dichter auch in Darstellung des Details bedeutend ist, welches freilich auch nichts Geringes, und allerdings etwas heißen will.“ Donnerstag, den 5. Januar 1832*. Von meinem Freunde Töpfer in Genf waren einige neue Hefte Feder-Zeichnungen und Aquarell- Bilder eingegangen, größtentheils landschaftliche An¬ sichten aus der Schweiz und Italien, die er auf seinen Fußreisen nach und nach zusammengebracht. Goethe war von der Schönheit dieser Zeichnungen, besonders der Aquarell-Bilder, so sehr frappirt, daß er sagte, es sey ihm, als sähe er Werke des berühmten Lory. Ich bemerkte, daß dieß noch keineswegs das Beste von Töpfer sey und daß er ganz andere Dinge zu senden habe. „Ich weiß nicht, was Ihr wollt! erwiederte Goethe. Was sollte es denn noch besser seyn! Und was hätte es zu sagen, wenn es auch wirklich noch etwas besser wäre! Sobald ein Künstler zu einer ge¬ wissen Höhe von Vortrefflichkeit gelangt ist, wird es ziemlich gleichgültig, ob eins seiner Werke etwas vollkommener gerathen ist als ein anderes. Der Ken¬ ner sieht in jedem doch immer die Hand des Meisters und den ganzen Umfang seines Talentes und seiner Mittel.“ Freitag, den 17. Februar 1832*. Ich hatte Goethen ein in England gestochenes Portrait von Dümont zugeschickt, das ihn sehr zu interessiren schien. „Ich habe das Bild des bedeutenden Mannes oft und wiederholt betrachtet, sagte er, als ich ihn heute gegen Abend besuchte. Anfangs hatte es etwas Zurück¬ stoßendes für mich, welches ich jedoch der Behandlung des Künstlers zuschreiben möchte, der die Züge etwas zu hart und tief eingegraben. Aber je länger ich den im hohen Grade merkwürdigen Kopf ansah, destomehr verschwanden alle Härten und es trat aus dem dunke¬ len Grunde ein schöner Ausdruck von Ruhe, Güte und geistreich-feiner Milde hervor, wie sie den klugen, wohl¬ wollenden und für das allgemeine Beste thätigen Mann charakterisiren und der Seele des Beschauers so wohl thun.“ Wir sprachen darauf weiter über Dümont, beson¬ ders aber über die Memoiren , die er in Bezug auf Mirabeau geschrieben, und worin er die mannigfalti¬ gen Hülfsquellen aufdeckt, die Mirabeau zu benutzen verstanden, auch die vielen Leute von Talent namhaft macht, die er zu seinen Zwecken in Bewegung gesetzt und mit deren Kräften er gearbeitet. „Ich kenne kein lehrreicheres Buch, sagte Goethe, als diese Memoiren, wodurch wir in die geheimsten Winkel jener Zeit tiefe Blicke thun, und wodurch uns das Wunder Mirabeau natürlich wird, ohne daß dieser Held dadurch irgend etwas von seiner Größe verliert. Nun kommen aber die neuesten Recensenten der französischen Journale, die über diesen Punkt ein wenig anders denken. Die guten Leute glauben, der Verfasser jener Memoiren wolle ihnen ihren Mirabeau verderben, indem er das Geheimniß seiner übermenschlichen Thätigkeit enthüllt und auch anderen Leuten einigen Antheil an dem gro¬ ßen Verdienst vindicirt, das bisher der Name Mirabeau allein verschlang.“ „Die Franzosen erblicken in Mirabeau ihren Her¬ kules; und sie haben vollkommen Recht. Allein sie vergessen, daß auch der Coloß aus einzelnen Theilen besteht und daß auch der Herkules des Alterthums ein collectives Wesen ist, ein großer Träger seiner eigenen Thaten und der Thaten Anderer.“ „Im Grunde aber sind wir Alle collective Wesen, wir mögen uns stellen, wie wir wollen. Denn wie Weni¬ ges haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigenthum nennen! Wir müssen Alle empfangen und lernen, sowohl von denen die vor uns waren, als von denen die mit uns sind. Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es Alles seinem eigenen Innern verdanken wollte. Das begreifen aber viele sehr gute Menschen nicht und tappen mit ihren Träumen von Originalität ein halbes Leben im Dun¬ keln. Ich habe Künstler gekannt, die sich rühmten keinem Meister gefolgt zu seyn, vielmehr Alles ihrem eigenen Genie zu danken haben. Die Narren! als ob das überall anginge! Und als ob sich die Welt ihnen nicht bei jedem Schritt aufdränge und aus ihnen, trotz ihrer eigenen Dummheit, etwas machte! Ja ich be¬ haupte, wenn ein solcher Künstler nur an den Wänden dieses Zimmers vorüberginge und auf die Handzeich¬ nungen einiger großen Meister, womit ich sie behängt habe, nur flüchtige Blicke würfe, er müßte, wenn er überall einiges Genie hätte, als ein Anderer und Hö¬ herer von hier gehen.“ „Und was ist denn überhaupt Gutes an uns, wenn es nicht die Kraft und Neigung ist, die Mittel der äußern Welt an uns heranzuziehen und unseren höheren Zwecken dienstbar zu machen. Ich darf wohl von mir selber reden und bescheiden sagen, wie ich fühle. Es ist wahr, ich habe in meinem langen Leben man¬ cherlei gethan und zu Stande gebracht, dessen ich mich allenfalls rühmen könnte. Was hatte ich aber, wenn wir ehrlich seyn wollen, das eigentlich mein war, als die Fähigkeit und Neigung, zu sehen und zu hören, zu unterscheiden und zu wählen, und das Gesehene und Gehörte mit einigem Geist zu beleben und mit einiger Geschicklichkeit wiederzugeben. Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner eigenen Weisheit allein, son¬ dern tausenden von Dingen und Personen außer mir, die mir dazu das Material boten. Es kamen Narren und Weise, helle Köpfe und bornirte, Kindheit und Jugend wie das reife Alter; Alle sagten mir, wie es ihnen zu Sinne sey, was sie dachten, wie sie lebten und wirkten und welche Erfahrungen sie sich gesam¬ melt, und ich hatte weiter nichts zu thun, als zuzugrei¬ fen und das zu ernten, was Andere für mich gesäet hatten.“ „Es ist im Grunde auch Alles Thorheit, ob Einer etwas aus sich habe, oder ob er es von Andern habe; ob Einer durch sich wirke oder ob er durch Andere wirke; die Hauptsache ist, daß man ein großes Wollen habe und Geschick und Beharrlich¬ keit besitze , es auszuführen ; alles Uebrige ist gleichgültig. — Mirabeau hatte daher vollkommen Recht, wenn er sich der äußeren Welt und ihrer Kräfte bediente, wie er konnte. Er besaß die Gabe, das Talent zu unterscheiden, und das Talent fühlte sich von dem Dämon seiner gewaltigen Natur angezogen, so daß es sich ihm und seiner Leitung willig hin¬ gab. So war er von einer Masse ausgezeichneter Kräfte umgeben, die er mit seinem Feuer durchdrang und zu seinen höheren Zwecken in Thätigkeit setzte. Und eben, daß er es verstand, mit Anderen und durch Andere zu wirken, das war sein Genie, das war seine Originalität, das war seine Größe.“ Sonntag, den 11. März 1832. Abends ein Stündchen bei Goethe, in allerlei guten Gesprächen. Ich hatte mir eine englische Bibel gekauft, in der ich zu meinem großen Bedauern die apokry¬ phischen Bücher nicht enthalten fand; und zwar waren sie nicht aufgenommen, als nicht für echt gehalten und als nicht göttlichen Ursprungs. Ich vermißte den durch und durch edlen Tobias, dieses Musterbild eines from¬ men Wandels; ferner die Weisheit Salomonis und Jesus Sirach, alles Schriften von so großer geistiger und sittlicher Höhe, daß wenig andere ihnen gleichkom¬ men. Ich sprach gegen Goethe mein Bedauern aus über die höchst enge Ansicht, wonach einige Schriften des Alten Testaments als unmittelbar von Gott einge¬ geben betrachtet werden, andere gleich treffliche aber nicht; und als ob denn überhaupt etwas Edles und Großes entstehen könne, das nicht von Gott komme und das nicht eine Frucht seiner Einwirkung. „Ich bin durchaus Ihrer Meinung, erwiederte Goethe. Doch giebt es zwei Standpunkte, von welchen aus die biblischen Dinge zu betrachten. Es giebt den Standpunkt einer Art Ur-Religion, den der reinen Natur und Vernunft, welcher göttlicher Abkunft. Die¬ ser wird ewig derselbige bleiben und wird dauern und gelten so lange gottbegabte Wesen vorhanden. Doch ist er nur für Auserwählte und viel zu hoch und edel, um allgemein zu werden. Sodann giebt es den Stand¬ punkt der Kirche, welcher mehr menschlicher Art. Er ist gebrechlich, wandelbar und im Wandel begriffen; doch auch er wird in ewiger Umwandlung dauern, so lange schwache menschliche Wesen seyn werden. Das Licht ungetrübter göttlicher Offenbarung ist viel zu rein und glänzend, als daß es den armen, gar schwachen III . 24 Menschen gemäß und erträglich wäre. Die Kirche aber tritt als wohlthätige Vermittlerin ein, um zu dämpfen und zu ermäßigen, damit Allen geholfen und damit Vielen wohl werde. Dadurch daß der christlichen Kirche der Glaube beiwohnt, daß sie, als Nachfolgerin Christi, von der Last menschlicher Sünde befreien könne, ist sie eine sehr große Macht. Und sich in dieser Macht und diesem Ansehen zu erhalten, und so das kirchliche Ge¬ bäude zu sichern, ist der christlichen Priesterschaft vor¬ zügliches Augenmerk.“ „Sie hat daher weniger zu fragen, ob dieses oder jenes biblische Buch eine große Aufklärung des Gei¬ stes bewirke, und ob es Lehren hoher Sittlichkeit und edler Menschennatur enthalte, als daß sie vielmehr in den Büchern Mose auf die Geschichte des Sündenfalles und die Entstehung des Bedürfnisses nach dem Erlöser Bedeutung zu legen, ferner in den Propheten die wie¬ derholte Hinweisung auf Ihn, den Erwarteten, sowie in den Evangelien sein wirkliches irdisches Erscheinen und seinen Tod am Kreuze, als unserer menschlichen Sünden Sühnung, im Auge zu halten hat. Sie sehen also, daß für solche Zwecke und Richtungen und auf solcher Wage gewogen so wenig der edle Tobias, als die Weisheit Salomonis und die Sprüche Sirach's, einiges bedeutende Gewicht haben können.“ „Uebrigens echt oder unecht sind bei Dingen der Bibel gar wunderliche Fragen. Was ist echt, als das ganz Vortreffliche, das mit der reinsten Natur und Vernunft in Harmonie steht und noch heute unserer höchsten Entwickelung dient! Und was ist unecht, als das Absurde, Hohle und Dumme, was keine Frucht bringt, wenigstens keine gute! — Sollte die Echtheit einer biblischen Schrift durch die Frage entschieden wer¬ den: ob uns durchaus Wahres überliefert worden? so könnte man sogar in einigen Punkten die Echtheit der Evangelien bezweifeln, wovon Marcus und Lucas nicht aus unmittelbarer Ansicht und Erfahrung, sondern erst spät nach mündlicher Ueberlieferung geschrieben, und das letzte, von dem Jünger Johannes, erst im höchsten Alter. Dennoch halte ich die Evangelien alle vier für durchaus echt, denn es ist in ihnen der Ab¬ glanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art, wie nur je auf Er¬ den das Göttliche erschienen ist. Fragt man mich: ob es in meiner Natur sey, ihm anbetende Ehrfurcht zu erweisen? so sage ich: Durchaus! — Ich beuge mich vor ihm, als der göttlichen Offenbarung des höchsten Prin¬ cips der Sittlichkeit. — Fragt man mich: ob es in meiner Natur sey, die Sonne zu verehren? so sage ich abermals: Durchaus! Denn sie ist gleichfalls eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Erdenfindern wahrzunehmen vergönnt ist. Ich anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben, weben und sind, und alle Pflanzen und Thiere mit uns. Fragt man mich aber: ob ich geneigt sey, mich vor einem Daumenknochen des Apostels Petri oder Pauli zu bücken? so sage ich: Ver¬ schont mich und bleibt mir mit euren Absurditäten vom Leibe!“ „Den Geist dämpfet nicht!“ sagt der Apostel. „Es ist gar viel Dummes in den Satzungen der Kirche. Aber sie will herrschen, und da muß sie eine bornirte Masse haben, die sich duckt und die ge¬ neigt ist, sich beherrschen zu lassen. Die hohe, reich dotirte Geistlichkeit fürchtet nichts mehr, als die Auf¬ klärung der unteren Massen. Sie hat ihnen auch die Bibel lange genug vorenthalten, so lange als irgend möglich. Was sollte auch ein armes christliches Ge¬ meindeglied von der fürstlichen Pracht eines reich dotir¬ ten Bischofes denken, wenn es dagegen in den Evan¬ gelien die Armuth und Dürftigkeit Christi sieht, der mit seinen Jüngern in Demuth zu Fuße ging, während der fürstliche Bischof in einer von sechs Pferden gezo¬ genen Karosse einherbrauset!“ — „Wir wissen gar nicht, fuhr Goethe fort, was wir Luthern und der Reformation im Allgemeinen Alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Bornirtheit, wir sind in Folge unserer fort¬ wachsenden Cultur fähig geworden, zur Quelle zurück¬ zukehren und das Christenthum in seiner Reinheit zu fassen. Wir haben wieder den Muth, mit festen Füßen auf Gottes Erde zu stehen und uns in unserer gottbe¬ gabten Menschennatur zu fühlen. Mag die geistige Cultur nun immer fortschreiten, mögen die Naturwissen¬ schaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachsen und der menschliche Geist sich erweitern, wie er will, — über die Hoheit und sittliche Cultur des Chri¬ stenthums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen!“ „Je tüchtiger aber wir Protestanten in edler Ent¬ wickelung voranschreiten, desto schneller werden die Ka¬ tholiken folgen. Sobald sie sich von der immer weiter um sich greifenden großen Aufklärung der Zeit ergriffen fühlen, müssen sie nach, sie mögen sich stellen wie sie wollen, und es wird dahin kommen, daß endlich Alles nur Eins ist.“ „Auch das leidige protestantische Sektenwesen wird aufhören und mit ihm Haß und feindliches Ansehen zwischen Vater und Sohn, zwischen Bruder und Schwe¬ ster. Denn sobald man die reine Lehre und Liebe Christi, wie sie ist, wird begriffen und in sich eingelebt haben, so wird man sich als Mensch groß und frei füh¬ len und auf ein Bißchen so oder so im äußeren Cultus nicht mehr sonderlichen Werth legen.“ „Auch werden wir Alle nach und nach aus einem Christenthum des Wortes und Glaubens immer mehr zu einem Christenthum der Gesinnung und That kommen.“ Das Gespräch wendete sich auf große Menschen, die vor Christus gelebt, unter Chinesen, Indiern, Per¬ sern und Griechen, und daß die Kraft Gottes in ihnen ebenso wirksam gewesen, als in einigen großen Juden des Alten Testamentes. Auch kamen wir auf die Frage: wie es mit Gottes Wirkungen stehe in großen Naturen der jetzigen Welt, in der wir leben? „Wenn man die Leute reden hört, sagte Goethe, so sollte man fast glauben, sie seyen der Meinung, Gott habe sich seit jener alten Zeit ganz in die Stille zurückgezogen, und der Mensch wäre jetzt ganz auf eigene Füße gestellt und müsse sehen, wie er ohne Gott und sein tägliches unsichtbares Anhauchen zurecht komme. In religiösen und moralischen Dingen giebt man noch allenfalls eine göttliche Einwirkung zu, allein in Din¬ gen der Wissenschaft und Künste glaubt man, es sey lauter Irdisches und nichts weiter als ein Product rein menschlicher Kräfte.“ „Versuche es aber doch nur Einer und bringe mit menschlichem Wollen und menschlichen Kräften etwas hervor, das den Schöpfungen, die den Namen Mozart , Raphael oder Shakspeare tragen, sich an die Seite setzen lasse. Ich weiß recht wohl, daß diese drei Edlen keineswegs die Einzigen sind, und daß in allen Gebie¬ ten der Kunst eine Unzahl trefflicher Geister gewirkt hat, die vollkommen so Gutes hervorgebracht, als jene Genannten. Allein, waren sie so groß als Jene, so überragten sie die gewöhnliche Menschennatur in eben dem Verhältniß und waren ebenso gottbegabt als Jene.“ „Und überall, was ist es und was soll es? — Gott hat sich nach den bekannten imaginirten sechs Schöpfungstagen keineswegs zur Ruhe begeben, viel¬ mehr ist er noch fortwährend wirksam, wie am ersten. Diese plumpe Welt aus einfachen Elementen zusammen¬ zusetzen und sie jahraus jahrein in den Strahlen der Sonne rollen zu lassen, hätte ihm sicher wenig Spaß gemacht, wenn er nicht den Plan gehabt hätte, sich auf dieser materiellen Unterlage eine Pflanzschule für eine Welt von Geistern zu gründen. So ist er nun fortwährend in höheren Naturen wirksam, um die ge¬ ringeren heranzuziehen.“ Goethe schwieg. Ich aber bewahrte seine großen und guten Worte in meinem Herzen. Druck: Pansa 'sche Buchdruckerei (G . Hubbe ) in Magdeburg.