Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman von Goethe . Erster Theil . Tuͤbingen , in der J. G. Cottaischen Buchhandlung. 1809 . Die Wahlverwandtschaften. Erster Theil . I . 1 Erstes Kapitel . Eduard — so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter — Eduard hatte in seiner Baumschule die schoͤnste Stun¬ de eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Staͤm¬ me zu bringen. Sein Geschaͤft war eben vollendet; er legte die Geraͤthschaften in das Futteral zusammen und betrachtete seine Ar¬ beit mit Vergnuͤgen, als der Gaͤrtner hinzu¬ trat und sich an dem theilnehmenden Fleiße des Herrn ergetzte. Hast du meine Frau nicht gesehen? frag¬ te Eduard, indem er sich weiter zu gehen an¬ schickte. I * Druͤben in den neuen Anlagen, versetzte der Gaͤrtner. Die Mooshuͤtte wird heute fertig, die sie an der Felswand, dem Schlos¬ se gegenuͤber gebaut hat. Alles ist recht schoͤn geworden und muß Ew. Gnaden gefallen. Man hat einen vortrefflichen Anblick: unten das Dorf, ein wenig rechter Hand die Kir¬ che, uͤber deren Thurmspitze man fast hin¬ wegsieht; gegenuͤber das Schloß und die Gaͤrten. Ganz recht, versetzte Eduard; einige Schritte von hier konnte ich die Leute arbei¬ ten sehen. Dann, fuhr der Gaͤrtner fort, oͤffnet sich rechts das Thal und man sieht uͤber die rei¬ chen Baumwiesen in eine heitere Ferne. Der Stieg die Felsen hinauf ist gar huͤbsch ange¬ legt. Die gnaͤdige Frau versteht es; man arbeitet unter ihr mit Vergnuͤgen. Geh zu ihr, sagte Eduard, und ersuche sie, auf mich zu warten. Sage ihr, ich wuͤnsche die neue Schoͤpfung zu sehen und mich daran zu erfreuen. Der Gaͤrtner entfernte sich eilig und Eduard folgte bald. Dieser stieg nun die Terrassen hinunter, musterte, im Vorbeygehen, Gewaͤchshaͤuser und Treibebeete, bis er ans Wasser, dann uͤber einen Steg an den Ort kam, wo sich der Pfad nach den neuen Anlagen in zwey Arme theilte. Den einen, der uͤber den Kirchhof ziemlich gerade nach der Felswand hinging, ließ er liegen um den andern ein¬ zuschlagen, der sich links etwas weiter durch anmuthiges Gebuͤsch sachte hinaufwand; da wo beyde zusammentrafen, setzte er sich fuͤr einen Augenblick auf einer wohlangebrachten Bank nieder, betrat sodann den eigentlichen Stieg, und sah sich durch allerley Treppen und Absaͤtze, auf dem schmalen, bald mehr bald weniger steilen Wege endlich zur Mooshuͤtte geleitet. An der Thuͤre empfing Charlotte ihren Gemahl und ließ ihn dergestalt niedersitzen, daß er durch Thuͤre und Fenster die verschie¬ denen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick uͤberse¬ hen konnte. Er freute sich daran, in Hoff¬ nung daß der Fruͤhling bald alles noch reich¬ licher beleben wuͤrde. Nur eines habe ich zu erinnern, setzte er hinzu: die Huͤtte scheint mir etwas zu eng. Fuͤr uns beyde doch geraͤumig genug, ver¬ setzte Charlotte. Nun freylich, sagte Eduard, fuͤr einen Dritten ist auch wohl noch Platz. Warum nicht? versetzte Charlotte, und auch fuͤr ein Viertes. Fuͤr groͤßere Gesell¬ schaft wollen wir schon andere Stellen be¬ reiten. Da wir denn ungestoͤrt hier allein sind, sagte Eduard, und ganz ruhigen heiteren Sinnes; so muß ich dir gestehen, daß ich schon einige Zeit etwas auf dem Herzen habe, was ich dir vertrauen muß und moͤchte, und nicht dazu kommen kann. Ich habe dir so etwas angemerkt, ver¬ setzte Charlotte. Und ich will nur gestehen, fuhr Eduard fort, wenn mich der Postbote morgen fruͤh nicht draͤngte, wenn wir uns nicht heut ent¬ schließen muͤßten, ich haͤtte vielleicht noch laͤn¬ ger geschwiegen. Was ist es denn? fragte Charlotte freund¬ lich entgegenkommend. Es betrifft unsern Freund, den Haupt¬ mann, antwortete Eduard. Du kennst die traurige Lage, in die er, wie so mancher an¬ dere, ohne sein Verschulden gesetzt ist. Wie schmerzlich muß es einem Manne von seinen Kenntnissen, seinen Talenten und Fertigkeiten seyn, sich außer Thaͤtigkeit zu sehen und — ich will nicht lange zuruͤckhalten mit dem was ich fuͤr ihn wuͤnsche: ich moͤchte daß wir ihn auf einige Zeit zu uns naͤhmen. Das ist wohl zu uͤberlegen und von mehr als einer Seite zu betrachten, versetzte Char¬ lotte. Meine Ansichten bin ich bereit dir mitzu¬ theilen, entgegnete ihr Eduard. In seinem letzten Briefe herrscht ein stiller Ausdruck des tiefsten Mismuthes; nicht daß es ihm an ir¬ gend einem Beduͤrfniß fehle: denn er weiß sich durchaus zu beschraͤnken und fuͤr das Nothwen¬ dige habe ich gesorgt; auch druͤckt es ihn nicht etwas von mir anzunehmen: denn wir sind unsre Lebzeit uͤber einander wechselseitig so viel schuldig geworden, daß wir nicht berechnen koͤnnen, wie unser Credit und Debet sich ge¬ gen einander verhalte — daß er geschaͤftlos ist, das ist eigentlich seine Qual. Das Vielfache, was er an sich ausgebildet hat, zu Andrer Nutzen taͤglich und stuͤndlich zu gebrauchen, ist ganz allein sein Vergnuͤgen, ja seine Lei¬ denschaft. Und nun die Haͤnde in den Schoos zu legen, oder noch weiter zu studiren, sich wei¬ tere Geschicklichkeit zu verschaffen, da er das nicht brauchen kann, was er in vollem Maa¬ ße besitzt — genug, liebes Kind, es ist eine peinliche Lage, deren Qual er doppelt und dreyfach in seiner Einsamkeit empfindet. Ich dachte doch, sagte Charlotte, ihm waͤren von verschiedenen Orten Anerbietun¬ gen geschehen. Ich hatte selbst, um seinet¬ willen, an manche thaͤtige Freunde und Freun¬ dinnen geschrieben, und soviel ich weiß, blieb dieß auch nicht ohne Wirkung. Ganz recht, versetzte Eduard; aber selbst diese verschiedenen Gelegenheiten, diese An¬ erbietungen machen ihm neue Qual, neue Un¬ ruhe. Keines von den Verhaͤltnissen ist ihm gemaͤß. Er soll nicht wirken; er soll sich auf¬ opfern, seine Zeit, seine Gesinnungen, seine Art zu seyn, und das ist ihm unmoͤglich. Jemehr ich das alles betrachte, jemehr ich es fuͤhle, desto lebhafter wird der Wunsch ihn bey uns zu sehen. Es ist recht schoͤn und liebenswuͤrdig von dir, versetzte Charlotte, daß du des Freundes Zustand mit so viel Theilnahme bedenkst; al¬ lein erlaube mir dich aufzufordern, auch dei¬ ner, auch unser zu gedenken. Das habe ich gethan, entgegnete ihr Eduard. Wir koͤnnen von seiner Naͤhe uns nur Vortheil und Annehmlichkeit versprechen. Von dem Aufwande will ich nicht reden, der auf alle Faͤlle gering fuͤr mich wird, wenn er zu uns zieht; besonders wenn ich zugleich be¬ denke, daß uns seine Gegenwart nicht die mindeste Unbequemlichkeit verursacht. Auf dem rechten Fluͤgel des Schlosses kann er wohnen, und alles andre findet sich. Wie viel wird ihm dadurch geleistet, und wie manches Angenehme wird uns durch seinen Umgang, ja wie mancher Vortheil! Ich haͤtte laͤngst ei¬ ne Ausmessung des Gutes und der Gegend ge¬ wuͤnscht; er wird sie besorgen und leiten. Deine Absicht ist, selbst die Guͤter kuͤnftig zu verwalten, sobald die Jahre der gegenwaͤrtigen Paͤchter verflossen sind. Wie bedenklich ist ein solches Unternehmen! Zu wie manchen Vorkenntnissen kann er uns nicht verhelfen! Ich fuͤhle nur zu sehr, daß mir ein Mann die¬ ser Art abgeht. Die Landleute haben die rechten Kenntnisse; ihre Mittheilungen aber sind confus und nicht ehrlich. Die Studirten aus der Stadt und von den Akademieen sind wohl klar und ordentlich; aber es fehlt an der unmittelbaren Einsicht in die Sache. Vom Freunde kann ich mir beydes versprechen; und dann entspringen noch hundert andre Verhaͤlt¬ nisse daraus, die ich mir alle gern vorstellen mag, die auch auf dich Bezug haben und wo¬ von ich viel Gutes voraussehe. Nun danke ich dir, daß du mich freundlich angehoͤrt hast; itzt sprich aber auch recht frey und umstaͤndlich und sage mir alles was du zu sagen hast, ich will dich nicht unterbrechen. Recht gut, versetzte Charlotte: so will ich gleich mit einer allgemeinen Bemerkung anfan¬ gen. Die Maͤnner denken mehr auf das Einzelne, auf das Gegenwaͤrtige, und das mit Recht, weil sie zu thun, zu wirken beru¬ fen sind; die Weiber hingegen mehr auf das was im Leben zusammenhaͤngt, und das mit gleichem Rechte, weil ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Familien, an diesen Zusammen¬ hang geknuͤpft ist, und auch gerade dieses Zu¬ sammenhaͤngende von ihnen gefordert wird. Laß uns deswegen einen Blick auf unser ge¬ genwaͤrtiges, auf unser vergangenes Leben werfen, und du wirst mir eingestehen, daß die Berufung des Hauptmanns nicht so ganz mit unsern Vorsaͤtzen, unsern Planen, unsern Einrichtungen zusammentrifft. Mag ich doch so gern unserer fruͤhsten Verhaͤltnisse gedenken! Wir liebten einander als junge Leute recht herzlich; wir wurden getrennt: du von mir, weil dein Vater, aus nie zu saͤttigender Begierde des Besitzes, dich mit einer ziemlich aͤlteren reichen Frau ver¬ band; ich von dir, weil ich, ohne sonderli¬ che Aussichten, einem wohlhabenden, nicht ge¬ liebten aber geehrten Manne meine Hand rei¬ chen mußte. Wir wurden wieder frey; du fruͤher, indem dich dein Muͤtterchen im Besitz eines großen Vermoͤgens ließ; ich spaͤter, eben zu der Zeit, da du von Reisen zuruͤckkamst. So fanden wir uns wieder. Wir freuten uns der Erinnerung, wir liebten die Erinnerung, wir konnten ungestoͤrt zusammen leben. Du drangst auf eine Verbindung; ich willigte nicht gleich: denn da wir ohngefaͤhr von denselben Jahren sind, so bin ich als Frau wohl aͤlter geworden, du nicht als Mann. Zuletzt wollte ich dir nicht versagen, was du fuͤr dein einzi¬ ges Gluͤck zu halten schienst. Du wolltest von allen Unruhen, die du bey Hof, im Militaͤr, auf Reisen erlebt hattest, dich an meiner Sei¬ te erhohlen, zur Besinnung kommen, des Le¬ bens genießen; aber auch nur mit mir allein. Meine einzige Tochter that ich in Pension, wo sie sich freylich mannigfaltiger ausbildet, als bey einem laͤndlichen Aufenthalte geschehen koͤnnte; und nicht sie allein, auch Ottilien, meine liebe Nichte, that ich dorthin, die vielleicht zur haͤuslichen Gehuͤlfinn unter mei¬ ner Anleitung am besten herangewachsen waͤre. Das alles geschah mit deiner Einstimmung, bloß damit wir uns selbst leben, bloß damit wir das fruͤh so sehnlich gewuͤnschte, endlich spaͤt erlangte Gluͤck ungestoͤrt genießen moͤchten. So haben wir unsern laͤndlichen Aufenthalt angetreten. Ich uͤbernahm das Innere, du das Aeußere und was ins Ganze geht. Meine Einrichtung ist gemacht, dir in allem entgegen zu kommen, nur fuͤr dich allein zu leben; laß uns wenigstens eine Zeit lang versuchen, in wie fern wir auf diese Weise mit einander aus¬ reichen. Da das Zusammenhaͤngende, wie du sagst, eigentlich euer Element ist, versetzte Eduard; so muß man euch freylich nicht in einer Fol¬ ge reden hoͤren, oder sich entschließen euch Recht zu geben, und du sollst auch Recht ha¬ ben bis auf den heutigen Tag. Die Anlage, die wir bis jetzt zu unserm Daseyn gemacht haben, ist von guter Art; sollen wir aber nichts weiter darauf bauen, und soll sich nichts weiter daraus entwickeln? Was ich im Gar¬ ten leiste, du im Park, soll das nur fuͤr Ein¬ siedler gethan seyn? Recht gut! versetzte Charlotte, recht wohl! Nur daß wir nichts hinderndes, fremdes her¬ ein bringen. Bedenke, daß unsre Vorsaͤtze, auch was die Unterhaltung betrifft, sich ge¬ wissermaßen nur auf unser beyderseitiges Zu¬ sammenseyn bezogen. Du wolltest zuerst die Tagebuͤcher deiner Reise mir in ordentlicher Folge mittheilen, bey dieser Gelegenheit so manches dahin gehoͤrige von Papieren in Ord¬ nung bringen, und unter meiner Theilnahme, mit meiner Beyhuͤlfe, aus diesen unschaͤtzba¬ ren aber verworrenen Heften und Blaͤttern ein fuͤr uns und andre erfreuliches Ganze zu¬ sammenstellen. Ich versprach dir an der Ab¬ schrift zu helfen, und wir dachten es uns so bequem, so artig, so gemuͤthlich und heimlich, die Welt, die wir zusammen nicht sehen soll¬ ten, in der Erinnerung zu durchreisen. Ja der Anfang ist schon gemacht. Dann hast du die Abende deine Floͤte wieder vorgenommen, begleitest mich am Clavier; und an Besuchen aus der Nachbarschaft und in die Nachbar¬ schaft fehlt es uns nicht. Ich wenigstens ha¬ be mir aus allem diesem den ersten wahrhaft froͤhlichen Sommer zusammengebaut, den ich in meinem Leben zu genießen dachte. Wenn mir nur nicht, versetzte Eduard in¬ dem er sich die Stirne rieb, bey alle dem, was du mir so liebe oll und verstaͤndig wie¬ derhohlst, immer der Gedanke beyginge, durch die Gegenwart des Hauptmanns wuͤrde nichts gestoͤrt, ja vielmehr alles beschleunigt und neu belebt. Auch er hat einen Theil meiner Wanderungen mitgemacht; auch er hat man¬ ches, und in verschiedenem Sinne, sich ange¬ merkt: wir benutzten das zusammen, und als¬ dann wuͤrde es erst ein huͤbsches Ganze wer¬ den. So laß mich denn dir aufrichtig gestehen, entgegnete Charlotte mit einiger Ungeduld, daß diesem Vorhaben mein Gefuͤhl wider¬ spricht, daß eine Ahndung mir nichts Gutes weissagt. I . 2 Auf diese Weise waͤret Ihr Frauen wohl unuͤberwindlich, versetzte Eduard: erst verstaͤn¬ dig, daß man nicht widersprechen kann, liebe¬ voll, daß man sich gern hingiebt, gefuͤhlvoll, daß man Euch nicht weh thun mag, ahndungs¬ voll, daß man erschrickt. Ich bin nicht aberglaͤubisch, versetzte Char¬ lotte, und gebe nichts auf diese dunklen An¬ regungen, insofern sie nur solche waͤren; aber es sind meistentheils unbewußte Erinnerungen gluͤcklicher und ungluͤcklicher Folgen, die wir an eigenen oder fremden Handlungen erlebt haben. Nichts ist bedeutender in jedem Zu¬ stande, als die Dazwischenkunft eines Dritten. Ich habe Freunde gesehen, Geschwister, Lie¬ bende, Gatten, deren Verhaͤltniß durch den zufaͤlligen oder gewaͤhlten Hinzutritt einer neuen Person ganz und gar veraͤndert, deren Lage voͤllig umgekehrt worden. Das kann wohl geschehen, versetzte Edu¬ ard, bey Menschen, die nur dunkel vor sich hin leben, nicht bey solchen, die schon durch Erfahrung aufgeklaͤrt sich mehr bewußt sind. Das Bewußtseyn, mein Liebster, entgeg¬ nete Charlotte, ist keine hinlaͤngliche Waffe, ja manchmal eine gefaͤhrliche, fuͤr den der sie fuͤhrt; und aus diesem allen tritt wenigstens so viel hervor, daß wir uns ja nicht uͤberei¬ len sollen. Goͤnne mir noch einige Tage, ent¬ scheide nicht! Wie die Sache steht, erwiederte Eduard, werden wir uns, auch nach mehreren Tagen, immer uͤbereilen. Die Gruͤnde fuͤr und da¬ gegen haben wir wechselsweise vorgebracht; es kommt auf den Entschluß an, und da waͤr' es wirklich das beste, wir gaͤben ihn dem Loos anheim. Ich weiß, versetzte Charlotte, daß du in zweifelhaften Faͤllen gerne wettest oder wuͤr¬ 2 * felst; bey einer so ernsthaften Sache hinge¬ gen wuͤrde ich dieß fuͤr einen Frevel halten. Was soll ich aber dem Hauptmann schrei¬ ben? rief Eduard aus: denn ich muß mich gleich hinsetzen. Einen ruhigen, vernuͤnftigen, troͤstlichen Brief, sagte Charlotte. Das heißt soviel wie keinen, versetzte Eduard. Und doch ist es in manchen Faͤllen, ver¬ setzte Charlotte, nothwendig und freundlich lie¬ ber Nichts zu schreiben als nicht zu schreiben. Zweytes Kapitel . Eduard fand sich allein auf seinem Zim¬ mer, und wirklich hatte die Wiederhohlung seiner Lebensschicksale aus dem Munde Char¬ lottens, die Vergegenwaͤrtigung ihres beyder¬ seitigen Zustandes, ihrer Vorsaͤtze, sein leb¬ haftes Gemuͤth angenehm aufgeregt. Er hatte sich in ihrer Naͤhe, in ihrer Gesellschaft so gluͤcklich gefuͤhlt, daß er sich einen freund¬ lichen, theilnehmenden, aber ruhigen und auf nichts hindeutenden Brief an den Hauptmann ausdachte. Als er aber zum Schreibtisch ging und den Brief des Freundes aufnahm, um ihn nochmals durchzulesen, trat ihm sogleich wieder der traurige Zustand des trefflichen Mannes entgegen; alle Empfindungen, die ihn diese Tage gepeinigt hatten, wachten wieder auf, und es schien ihm unmoͤglich, seinen Freund einer so aͤngstlichen Lage zu uͤberlassen. Sich etwas zu versagen, war Eduard nicht gewohnt. Von Jugend auf das einzige, verzogene Kind reicher Aeltern, die ihn zu einer seltsamen aber hoͤchst vortheilhaften Hei¬ rat mit einer viel aͤltern Frau zu bereden wußten, von dieser auch auf alle Weise ver¬ zaͤrtelt, indem sie sein gutes Betragen gegen sie durch die groͤßte Freygebigkeit zu erwiedern suchte, nach ihrem baldigen Tode sein eigener Herr, auf Reisen unabhaͤngig, jeder Abwech¬ selung jeder Veraͤnderung maͤchtig, nichts Ue¬ bertriebenes wollend, aber viel und vielerley wollend, freymuͤthig, wohlthaͤtig, brav, ja tapfer im Fall — was konnte in der Welt seinen Wuͤnschen entgegenstehen! Bisher war alles nach seinem Sinne ge¬ gangen, auch zum Besitz Charlottens war er gelangt, den er sich durch eine hartnaͤckige, ja romanenhafte Treue doch zuletzt erworben hatte; und nun fuͤhlte er sich zum erstenmal widersprochen, zum erstenmal gehindert, eben da er seinen Jugendfreund an sich heranziehen, da er sein ganzes Daseyn gleichsam abschlie¬ ßen wollte. Er war verdrießlich, ungeduldig, nahm einigemal die Feder und legte sie nie¬ der, weil er nicht einig mit sich werden konnte, was er schreiben sollte. Gegen die Wuͤnsche seiner Fran wollte er nicht, nach ihrem Ver¬ langen konnte er nicht; unruhig wie er war sollte er einen ruhigen Brief schreiben, es waͤre ihm ganz unmoͤglich gewesen. Das na¬ tuͤrlichste war, daß er Aufschub suchte. Mit wenig Worten bat er seinen Freund um Ver¬ zeihung, daß er diese Tage nicht geschrieben, daß er heut nicht umstaͤndlich schreibe, und versprach fuͤr naͤchstens ein bedeutenderes, ein beruhigendes Blatt. Charlotte benutzte des andern Tags auf einem Spaziergang nach derselben Stelle die Gelegenheit das Gespraͤch wieder anzuknuͤpfen, vielleicht in der Ueberzeugung, daß man einen Vorsatz nicht sichrer abstumpfen kann, als wenn man ihn oͤfters durchspricht. Eduarden war diese Wiederhohlung er¬ wuͤnscht. Er aͤußerte sich nach seiner Weise freundlich und angenehm: denn wenn er, em¬ pfaͤnglich wie er war, leicht aufloderte, wenn sein lebhaftes Begehren zudringlich ward, wenn seine Hartnaͤckigkeit ungeduldig machen konnte; so waren doch alle seine Aeußerungen durch eine vollkommene Schonung des andern der¬ gestalt gemildert, daß man ihn immer noch liebenswuͤrdig finden mußte, wenn man ihn auch beschwerlich fand. Auf eine solche Weise brachte er Char¬ lotten diesen Morgen erst in die heiterste Lau¬ ne, dann durch anmuthige Gespraͤchswendun¬ gen ganz aus der Fassung, so daß sie zuletzt ausrief: Du willst gewiß, daß ich das was ich dem Ehmann versagte, dem Liebhaber zu¬ gestehen soll. Wenigstens, mein Lieber, fuhr sie fort, sollst du gewahr werden, daß deine Wuͤnsche, die freundliche Lebhaftigkeit womit du sie aus¬ druͤckst, mich nicht ungeruͤhrt, mich nicht un¬ bewegt lassen. Sie noͤthigen mich zu einem Gestaͤndniß. Ich habe dir bisher auch etwas verborgen. Ich befinde mich in einer aͤhnli¬ chen Lage wie du, und habe mir schon eben die Gewalt angethan, die ich dir nun uͤber dich selbst zumuthe. Das hoͤr' ich gern, sagte Eduard; ich merke wohl, im Ehstande muß man sich manchmal streiten, denn dadurch erfaͤhrt man was von einander. Nun sollst du also erfahren, sagte Char¬ lotte, daß es mir mit Ottilien geht, wie dir mit dem Hauptmann. Hoͤchst ungern weiß ich das liebe Kind in der Pension, wo sie sich in sehr druͤckenden Verhaͤltnissen befindet. Wenn Luciane, meine Tochter, die fuͤr die Welt ge¬ boren ist, sich dort fuͤr die Welt bildet, wenn sie Sprachen, Geschichtliches und was sonst von Kenntnissen ihr mitgetheilt wird, so wie ihre Noten und Variationen vom Blatte weg¬ spielt; wenn bey einer lebhaften Natur und bey einem gluͤcklichen Gedaͤchtniß sie, man moͤchte wohl sagen, alles vergißt und im Au¬ genblicke sich an alles erinnert; wenn sie durch Freyheit des Betragens, Anmuth im Tanze, schickliche Bequemlichkeit des Gespraͤchs sich vor allen auszeichnet, und durch ein an¬ gebornes herrschendes Wesen sich zur Koͤniginn des kleinen Kreises macht; wenn die Vorste¬ herinn dieser Anstalt sie als eine kleine Gott¬ heit ansieht, die nun erst unter ihren Haͤnden recht gedeiht, die ihr Ehre machen, Zutrauen erwerben und einen Zufluß von andern jungen Personen verschaffen wird; wenn die ersten Seiten ihrer Briefe und Monatsberichte im¬ mer nur Hymnen sind uͤber die Vortrefflichkeit eines solchen Kindes, die ich denn recht gut in meine Prose zu uͤbersetzen weiß: so ist da¬ gegen, was sie schließlich von Ottilien er¬ waͤhnt, nur immer Entschuldigung auf Ent¬ schuldigung, daß ein uͤbrigens so schoͤn heran¬ wachsendes Maͤdchen sich nicht entwickeln, keine Faͤhigkeiten und keine Fertigkeiten zeigen wolle. Das wenige was sie sonst noch hinzufuͤgt ist gleichfalls fuͤr mich kein Raͤthsel, weil ich in diesem lieben Kinde den ganzen Character ih¬ rer Mutter, meiner werthesten Freundinn, gewahr werde, die sich neben mir entwickelt hat und deren Tochter ich gewiß, wenn ich Erzieherinn oder Aufseherinn seyn koͤnnte, zu einem herrlichen Geschoͤpf heraufbilden wollte. Da es aber einmal nicht in unsern Plan geht, und man an seinen Lebensverhaͤltnissen nicht so viel zupfen und zerren, nicht immer was neues an sie heranziehen soll; so trag ich das lieber, ja ich uͤberwinde die unangenehme Empfindung, wenn meine Tochter, welche recht gut weiß, daß die arme Ottilie ganz von uns abhaͤngt, sich ihrer Vortheile uͤbermuͤthig gegen sie bedient, und unsre Wohlthat dadurch ge¬ wissermaßen vernichtet. Doch wer ist so gebildet, daß er nicht seine Vorzuͤge gegen andre manchmal auf eine grausame Weise geltend machte? Wer steht so hoch, daß er unter einem solchen Druck nicht manchmal leiden muͤßte? Durch diese Pruͤfun¬ gen waͤchst Ottiliens Werth; aber seitdem ich den peinlichen Zustand recht deutlich einsehe, habe ich mir Muͤhe gegeben, sie anderwaͤrts unterzubringen. Stuͤndlich soll mir eine Ant¬ wort kommen, und alsdann will ich nicht zau¬ dern. So steht es mit mir, mein Bester. Du siehst, wir tragen beyderseits dieselben Sorgen in einem treuen freundschaftlichen Her¬ zen. Laß uns sie gemeinsam tragen, da sie sich nicht gegeneinander aufheben. Wir sind wunderliche Menschen, sagte Eduard laͤchelnd. Wenn wir nur etwas das uns Sorge macht, aus unserer Gegenwart verbannen koͤnnen, da glauben wir schon, nun sey es abgethan. Im Ganzen koͤn¬ nen wir vieles aufopfern, aber uns im Ein¬ zelnen herzugeben, ist eine Forderung, der wir selten gewachsen sind. So war meine Mut¬ ter. So lange ich als Knabe oder Juͤngling bey ihr lebte, konnte sie der augenblicklichen Besorgnisse nicht los werden. Verspaͤtete ich mich bey einem Ausritt, so mußte mir ein Ungluͤck begegnet seyn; durchnetzte mich ein Regenschauer, so war das Fieber mir gewiß. Ich verreiste, ich entfernte mich von ihr, und nun schien ich ihr kaum anzugehoͤren. Betrachten wir es genauer, fuhr er fort, so handeln wir beyde thoͤrigt und unverant¬ wortlich, zwey der edelsten Naturen, die unser Herz so nahe angehen, im Kummer und im Druck zu lassen, nur um uns keiner Ge¬ fahr auszusetzen. Wenn dieß nicht selbstsuͤchtig genannt werden soll, was will man so nen¬ nen! Nimm Ottilien, laß mir den Haupt¬ mann, und in Gottes Namen sey der Ver¬ such gemacht! Es moͤchte noch zu wagen seyn, sagte Char¬ lotte bedenklich, wenn die Gefahr fuͤr uns allein waͤre. Glaubst du denn aber, daß es raͤthlich sey, den Hauptmann mit Ottilien als Hausgenossen zu sehen, einen Mann ohnge¬ faͤhr in deinen Jahren, in den Jahren — daß ich dir dieses Schmeichelhafte nur gerade unter die Augen sage — wo der Mann erst liebe¬ faͤhig und erst der Liebe werth wird, und ein Maͤdchen von Ottiliens Vorzuͤgen? — Ich weiß doch auch nicht, versetzte Eduard, wie du Ottilien so hoch stellen kannst! Nur dadurch erklaͤre ich mir's, daß sie deine Neigung zu ihrer Mutter geerbt hat. Huͤbsch ist sie, das ist wahr, und ich erinnre mich, daß der Hauptmann mich auf sie aufmerksam machte, als wir vor einem Jahre zuruͤckkamen und sie mit dir bey deiner Tante trafen. Huͤbsch ist sie, besonders hat sie schoͤne Augen; aber ich wuͤßte doch nicht, daß sie den min¬ desten Eindruck auf mich gemacht haͤtte. Das ist loͤblich an dir, sagte Charlotte, denn ich war ja gegenwaͤrtig; und ob sie gleich viel juͤnger ist als ich, so hatte doch die Ge¬ genwart der aͤltern Freundinn so viele Reize fuͤr dich, daß du uͤber die aufbluͤhende ver¬ sprechende Schoͤnheit hinaussahest. Es gehoͤrt auch dieß zu deiner Art zu seyn, deshalb ich so gern das Leben mit dir theile. Charlotte, so aufrichtig sie zu sprechen schien, verhehlte doch etwas. Sie hatte naͤmlich damals dem von Reisen zuruͤckkehren¬ den Eduard Ottilien absichtlich vorgefuͤhrt, um dieser geliebten Pflegetochter eine so gro¬ ße Parthie zuzuwenden: denn an sich selbst, in Bezug auf Eduard, dachte sie nicht mehr. Der Hauptmann war auch angestiftet, Eduar¬ den aufmerksam zu machen; aber dieser, der seine fruͤhe Liebe zu Charlotten hartnaͤckig im Sinne behielt, sah weder rechts noch links, und war nur gluͤcklich in dem Gefuͤhl, daß es moͤglich sey, eines so lebhaft gewuͤnschten und durch eine Reihe von Ereignissen schein¬ bar auf immer versagten Gutes endlich doch theilhaft zu werden. Eben stand das Ehpaar im Begriff die neuen Anlagen herunter nach dem Schlosse zu gehen, als ein Bedienter ihnen hastig entge¬ gen stieg und mit lachendem Munde sich schon von unten herauf vernehmen ließ. Kommen Ew. Gnaden doch ja schnell heruͤber! Herr Mittler ist in den Schloßhof gesprengt. Er hat uns alle zusammengeschrieen, wir sollen Sie aufsuchen, wir sollen Sie fragen, ob es Noth thue? Ob es Noth thut, rief er uns nach: Hoͤrt ihr? aber geschwind, geschwind! Der drollige Mann! rief Eduard aus: kommt er nicht gerade zur rechten Zeit, Char¬ lotte? Geschwind zuruͤck! befahl er dem Be¬ dienten: sage ihm: es thue Noth, sehr Noth! Er soll nur absteigen. Versorgt sein Pferd, fuͤhrt ihn in den Saal, setzt ihm ein Fruͤhstuͤck vor; wir kommen gleich. Laß uns den naͤchsten Weg nehmen, sagte er zu seiner Frau, und schlug den Pfad uͤber den Kirchhof ein, den er sonst zu vermeiden pflegte. Aber wie verwundert war er, als er fand, daß Charlotte auch hier fuͤr das Gefuͤhl gesorgt habe. Mit moͤglichster Scho¬ nung der alten Denkmaͤler hatte sie alles so zu vergleichen und zu ordnen gewußt, daß es ein angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gern ver¬ weilte. Auch dem aͤltesten Stein hatte sie seine Ehre gegoͤnnt. Den Jahren nach waren sie I . 3 an der Mauer aufgerichtet, eingefuͤgt oder sonst angebracht; der hohe Sockel der Kirche selbst war damit vermannigfaltigt und geziert. Eduard fuͤhlte sich sonderbar uͤberrascht, wie er durch die kleine Pforte herein trat; er druͤckte Charlotten die Hand und im Auge stand ihm eine Thraͤne. Aber der naͤrrische Gast verscheuchte sie gleich. Denn dieser hatte keine Ruh im Schloß gehabt, war spornstreichs durchs Dorf bis an das Kirchhofthor geritten, wo er still hielt und seinen Freunden entgegen rief: Ihr habt mich doch nicht zum besten? Thut's wirklich Noth, so bleibe ich zu Mittage hier. Haltet mich nicht auf: ich habe heute noch viel zu thun. Da Ihr Euch so weit bemuͤht habt, rief ihm Eduard entgegen; so reitet noch vollends herein, wir kommen an einem ernsthaften Orte zusammen, und seht wie schoͤn Charlotte diese Trauer ausgeschmuͤckt hat. Hier herein, rief der Reiter, komm' ich weder zu Pferde, noch zu Wagen, noch zu Fuße. Diese da ruhen in Frieden, mit ihnen habe ich nichts zu schaffen. Gefallen muß ich mir's lassen, wenn man mich einmal die Fuͤße voran hereinschleppt. Also ist's Ernst? Ja, rief Charlotte, recht Ernst! Es ist das erstemal, daß wir neue Gatten in Noth und Verwirrung sind, woraus wir uns nicht zu helfen wissen. Ihr seht nicht darnach aus, versetzte er: doch will ich's glauben. Fuͤhrt Ihr mich an, so laß ich Euch kuͤnftig stecken. Folgt ge¬ schwinde nach; meinem Pferde mag die Er¬ hohlung zu gut kommen. 3 * Bald fanden sich die Dreye im Saale zu¬ sammen; das Essen ward aufgetragen, und Mittler erzaͤhlte von seinen heutigen Thaten und Vorhaben. Dieser seltsame Mann war fruͤherhin Geistlicher gewesen und hatte sich bey einer rastlosen Thaͤtigkeit in seinem Amte dadurch ausgezeichnet, daß er alle Streitig¬ keiten, sowohl die haͤuslichen, als die nach¬ barlichen, erst der einzelnen Bewohner, so¬ dann ganzer Gemeinden und mehrerer Guts¬ besitzer, zu stillen und zu schlichten wußte. So lange er im Dienste war, hatte sich kein Ehpaar scheiden lassen, und die Landescolle¬ gien wurden mit keinen Haͤndeln und Pro¬ cessen von dorther behelliget. Wie noͤthig ihm die Rechtskunde sey, ward er zeitig ge¬ wahr. Er warf sein ganzes Studium darauf, und fuͤhlte sich bald den geschicktesten Advoca¬ ten gewachsen. Sein Wirkungskreis dehnte sich wunderbar aus, und man war im Be¬ griff ihn nach der Residenz zu ziehen, um das von oben herein zu vollenden, was er von unten herauf begonnen hatte, als er einen ansehnlichen Lotteriegewinnst that, sich ein maͤßiges Gut kaufte, es verpachtete und zum Mittelpunct seiner Wirksamkeit machte, mit dem festen Vorsatz, oder vielmehr nach alter Gewohnheit und Neigung, in keinem Hause zu verweilen, wo nichts zu schlichten und nichts zu helfen waͤre. Diejenigen die auf Namensbedeutungen aberglaͤubisch sind, behaupten, der Name Mittler habe ihn ge¬ noͤthigt, diese seltsamste aller Bestimmungen zu ergreifen. Der Nachtisch war aufgetragen, als der Gast seine Wirthe ernstlich vermahnte, nicht weiter mit ihren Entdeckungen zuruͤckzuhalten, weil er gleich nach dem Kaffee fortmuͤsse. Die beyden Ehleute machten umstaͤndlich ihre Bekenntnisse; aber kaum hatte er den Sinn der Sache vernommen, als er verdrießlich vom Tische auffuhr, ans Fenster sprang und sein Pferd zu satteln befahl. Entweder Ihr kennt mich nicht, rief er aus, Ihr versteht mich nicht, oder Ihr seyd sehr boshaft. Ist denn hier ein Streit? ist denn hier eine Huͤlfe noͤthig? Glaubt Ihr, daß ich in der Welt bin, um Rath zu ge¬ ben? Das ist das duͤmmste Handwerk das einer treiben kann. Rathe sich jeder selbst und thue was er nicht lassen kann. Geraͤth es gut, so freue er sich seiner Weisheit und seines Gluͤcks; laͤuft's uͤbel ab, dann bin ich bey der Hand. Wer ein Uebel los seyn will, der weiß immer was er will; wer was bes¬ sers will als er hat, der ist ganz staarblind — Ja ja! lacht nur — er spielt Blindekuh, er ertappt's vielleicht; aber was? Thut was Ihr wollt: es ist ganz einerley! Nehmt die Freunde zu Euch, laßt sie weg: alles einerley! Das Vernuͤnftigste habe ich mislingen sehen, das Abgeschmackteste gelingen. Zerbrecht Euch die Koͤpfe nicht, und wenn's auf eine oder die andre Weise uͤbel ablaͤuft, zerbrecht sie Euch auch nicht. Schickt nur nach mir, und Euch soll geholfen seyn. Bis dahin Euer Diener! Und so schwang er sich aufs Pferd, ohne den Kaffee abzuwarten. Hier siehst du, sagte Charlotte, wie we¬ nig eigentlich ein Dritter fruchtet, wenn es zwischen zwey nah verbundenen Personen nicht ganz im Gleichgewicht steht. Gegenwaͤrtig sind wir doch wohl noch verworrner und ungewisser, wenn's moͤglich ist, als vor¬ her. Beyde Gatten wuͤrden auch wohl noch eine Zeit lang geschwankt haben, waͤre nicht ein Brief des Hauptmanns im Wechsel gegen Eduards letzten angekommen. Er hatte sich entschlossen, eine der ihm angebotenen Stellen anzunehmen, ob sie ihm gleich keineswegs ge¬ maͤß war. Er sollte mit vornehmen und reichen Leuten die Langeweile theilen indem man auf ihn das Zutrauen setzte, daß er sie vertreiben wuͤrde. Eduard uͤbersah das ganze Verhaͤltniß recht deutlich und mahlte es noch recht scharf aus. Wollen wir unsern Freund in einem solchen Zustande wissen? rief er: Du kannst nicht so grausam seyn, Charlotte! Der wunderliche Mann, unser Mittler, versetzte Charlotte, hat am Ende doch Recht. Alle solche Unternehmungen sind Wagestuͤcke. Was daraus werden kann sieht kein Mensch voraus. Solche neue Verhaͤltnisse koͤnnen fruchtbar seyn an Gluͤck und an Ungluͤck, ohne daß wir uns dabey Verdienst oder Schuld sonderlich zurechnen duͤrfen. Ich fuͤhle mich nicht stark genug dir laͤnger zu widerstehen. Laß uns den Versuch machen. Das einzige was ich dich bitte: es sey nur auf kurze Zeit angesehen. Erlaube mir, daß ich mich thaͤtiger als bisher fuͤr ihn verwende, und meinen Ein¬ fluß, meine Verbindungen eifrig benutze und aufrege, ihm eine Stelle zu verschaffen, die ihm nach seiner Weise einige Zufriedenheit ge¬ waͤhren kann. Eduard versicherte seine Gattinn auf die anmuthigste Weise der lebhaftesten Dankbarkeit. Er eilte mit freyem frohen Gemuͤth seinem Freunde Vorschlaͤge schriftlich zu thun. Char¬ lotte mußte in einer Nachschrift ihren Bey¬ fall eigenhaͤndig hinzufuͤgen, ihre freundschaft¬ lichen Bitten mit den seinen vereinigen. Sie schrieb mit gewandter Feder gefaͤllig und ver¬ bindlich, aber doch mit einer Art von Hast, die ihr sonst nicht gewoͤhnlich war; und was ihr nicht leicht begegnete, sie verunstaltete das Papier zuletzt mit einem Tintenfleck, der sie aͤrgerlich machte und nur groͤßer wurde, in¬ dem sie ihn wegwischen wollte. Eduard scherzte daruͤber, und weil noch Platz war fuͤgte er eine zweyte Nachschrift hinzu: der Freund solle aus diesen Zeichen die Ungeduld sehen womit er erwartet werde, und nach der Eile womit der Brief geschrieben, die Eilfertigkeit seiner Reise einrichten. Der Bote war fort und Eduard glaubte seine Dankbarkeit nicht uͤberzeugender ausdruͤ¬ cken zu koͤnnen, als indem er aber und abermals darauf bestand: Charlotte solle so¬ gleich Ottilien aus der Pension hohlen lassen. Sie bat um Aufschub und wußte diesen Abend bey Eduard die Lust zu einer musica¬ lischen Unterhaltung aufzuregen. Charlotte spielte sehr gut Clavier; Eduard nicht eben so bequem die Floͤte: denn ob er sich gleich zu Zeiten viel Muͤhe gegeben hatte, so war ihm doch nicht die Geduld, die Ausdauer verliehen, die zur Ausbildung eines solchen Talentes gehoͤrt. Er fuͤhrte deshalb seine Par¬ tie sehr ungleich aus, einige Stellen gut, nur vielleicht zu geschwind; bey andern wieder hielt er an, weil sie ihm nicht gelaͤufig waren, und so waͤr' es fuͤr jeden Andern schwer ge¬ wesen ein Duett mit ihm durchzubringen. Aber Charlotte wußte sich darein zu finden; sie hielt an und ließ sich wieder von ihm fortreißen, und versah also die doppelte Pflicht eines guten Kapellmeisters und einer klugen Hausfrau, die im Ganzen immer das Maaß zu erhalten wissen, wenn auch die einzelnen Passagen nicht immer im Tact bleiben sollten. Drittes Kapitel. Der Hauptmann kam. Er hatte einen sehr verstaͤndigen Brief vorausgeschickt, der Charlotten voͤllig beruhigte. So viel Deutlich¬ keit uͤber sich selbst, so viel Klarheit uͤber seinen eigenen Zustand, uͤber den Zustand sei¬ ner Freunde, gab eine heitere und froͤhliche Aussicht. Die Unterhaltungen der ersten Stunden waren, wie unter Freunden zu geschehen pflegt die sich eine Zeit lang nicht gesehen haben, leb¬ haft, ja fast erschoͤpfend. Gegen Abend ver¬ anlaßte Charlotte einen Spaziergang auf die neuen Anlagen. Der Hauptmann gefiel sich sehr in der Gegend und bemerkte jede Schoͤn¬ heit welche durch die neuen Wege erst sichtbar und genießbar geworden. Er hatte ein geuͤb¬ tes Auge und dabey ein genuͤgsames; und ob er gleich das wuͤnschenswerthe sehr wohl kannte, machte er doch nicht, wie es oͤfters zu gesche¬ hen pflegt, Personen die ihn in dem Ihrigen herumfuͤhrten, dadurch einen uͤblen Humor, daß er mehr verlangte als die Umstaͤnde zu¬ ließen, oder auch wohl gar an etwas Voll¬ kommneres erinnerte das er anderswo gesehen. Als sie die Mooshuͤtte erreichten, fanden sie solche auf das lustigste ausgeschmuͤckt, zwar nur mit kuͤnstlichen Blumen und Wintergruͤn, doch darunter so schoͤne Buͤschel natuͤrlichen Weizens und anderer Feld- und Baumfruͤchte angebracht, daß sie dem Kunstsinn der An¬ ordnenden zur Ehre gereichten. Obschon mein Mann nicht liebt, daß man seinen Geburts¬ oder Namenstag feyre, so wird er mir doch heute nicht verargen, einem dreyfachen Feste diese wenigen Kraͤnze zu widmen. Ein dreyfaches? rief Eduard. Ganz ge¬ wiß! versetzte Charlotte: unseres Freundes An¬ kunft behandlen wir billig als ein Fest; und dann habt Ihr beyde wohl nicht daran ge¬ dacht, daß heute Euer Namenstag ist. Heißt nicht einer Otto so gut als der andere? Beyde Freunde reichten sich die Haͤnde uͤber den kleinen Tisch. Du erinnerst mich, sagte Eduard, an dieses jugendliche Freundschafts¬ stuͤck. Als Kinder hießen wir beyde so; doch als wir in der Pension zusammenlebten und manche Irrung daraus entstand, so trat ich ihm freywillig diesen huͤbschen laconischen Namen ab. Wobey du denn doch nicht gar zu gro߬ muͤthig warst, sagte der Hauptmann. Denn ich erinnere mich recht wohl, daß dir der Name Eduard besser gefiel, wie er denn auch von angenehmen Lippen ausgesprochen einen be¬ sonders guten Klang hat. Nun saßen sie also zu dreyen um dassel¬ bige Tischchen, wo Charlotte so eifrig gegen die Ankunft des Gastes gesprochen hatte. Eduard in seiner Zufriedenheit wollte die Gattinn nicht an jene Stunden erinnern; doch enthielt er sich nicht zu sagen: fuͤr ein Viertes waͤre auch noch recht gut Platz. Waldhoͤrner ließen sich in diesem Augen¬ blick vom Schloß heruͤber vernehmen, bejah¬ ten gleichsam und bekraͤftigten die guten Ge¬ sinnungen und Wuͤnsche der beysammen ver¬ weilenden Freunde. Stillschweigend hoͤrten sie zu, indem jedes in sich selbst zuruͤckkehrte, und sein eigen Gluͤck in so schoͤner Verbin¬ dung doppelt empfand. Eduard unterbrach die Pause zuerst, in¬ dem er aufstand und vor die Mooshuͤtte hin¬ austrat. Laß uns, sagte er zu Charlotten, den Freund gleich voͤllig auf die Hoͤhe fuͤhren, damit er nicht glaube, dieses beschraͤnkte Thal nur sey unser Erbgut und Aufenthalt; der Blick wird oben freyer und die Brust erwei¬ tert sich. So muͤssen wir dießmal noch, versetzte Charlotte, den alten, etwas beschwerlichen Fu߬ pfad erklimmen; doch, hoffe ich, sollen meine Stufen und Steige naͤchstens bequemer bis ganz hinauf leiten. Und so gelangte man denn uͤber Felsen, durch Busch und Gestraͤuch zur letzten Hoͤhe, die zwar keine Flaͤche, doch fortlaufende frucht¬ bare Ruͤcken bildete. Dorf und Schloß hin¬ terwaͤrts waren nicht mehr zu sehen. In der Tiefe erblickte man ausgebreitete Teiche; druͤben bewachsene Huͤgel, an denen sie sich hinzogen; endlich steile Felsen, welche senk¬ recht den letzten Wasserspiegel entschieden begraͤnzten und ihre bedeutenden Formen auf der Oberflaͤche desselben abbildeten. Dort in der Schlucht, wo ein starker Bach den Tei¬ chen zufiel, lag eine Muͤhle halb versteckt, die mit ihren Umgebungen als ein freundli¬ ches Ruheplaͤtzchen erschien. Mannigfaltig wechselten im ganzen Halbkreise den man uͤber¬ sah, Tiefen und Hoͤhen, Buͤsche und Waͤlder, deren erstes Gruͤn fuͤr die Folge den fuͤllereich¬ sten Anblick versprach. Auch einzelne Baum¬ gruppen hielten an mancher Stelle das Auge fest. Besonders zeichnete zu den Fuͤßen der schauenden Freunde sich eine Masse Pappeln und Platanen zunaͤchst an dem Rande des mittleren Teiches vortheilhaft aus. Sie stand in ihrem besten Wachsthum, frisch, gesund, empor und in die Breite strebend. Eduard lenkte besonders auf diese die Auf¬ merksamkeit seines Freundes. Diese habe ich, rief er aus, in meiner Jugend selbst gepflanzt. Es waren junge Staͤmmchen, die ich rettete, als mein Vater, bey der Anlage zu einem neuen Theil des großen Schloßgartens, sie mitten im Sommer ausroden ließ. Ohne I . 4 Zweifel werden sie auch dieses Jahr sich durch neue Triebe wieder dankbar hervorthun. Man kehrte zufrieden und heiter zuruͤck. Dem Gaste ward auf dem rechten Fluͤgel des Schlosses ein freundliches geraͤumiges Quar¬ tier angewiesen, wo er sehr bald Buͤcher, Pa¬ piere und Instrumente aufgestellt und geord¬ net hatte, um in seiner gewohnten Thaͤtigkeit fortzufahren. Aber Eduard ließ ihm in den ersten Tagen keine Ruhe; er fuͤhrte ihn uͤber¬ all herum, bald zu Pferde bald zu Fuße, und machte ihn mit der Gegend, mit dem Gute bekannt; wobey er ihm zugleich die Wuͤnsche mittheilte, die er zu besserer Kennt¬ niß und vortheilhafterer Benutzung desselben seit langer Zeit bey sich hegte. Das erste was wir thun sollten, sagte der Hauptmann, waͤre, daß ich die Gegend mit der Magnetnadel aufnaͤhme. Es ist das ein leichtes heiteres Geschaͤft, und wenn es auch nicht die groͤßte Genauigkeit gewaͤhrt, so bleibt es doch immer nuͤtzlich und fuͤr den Anfang erfreulich; auch kann man es ohne große Bey¬ huͤlfe leisten und weiß gewiß, daß man fertig wird. Denkst du einmal an eine genauere Ausmessung, so laͤßt sich dazu wohl auch noch Rath finden. Der Hauptmann war in dieser Art des Aufnehmens sehr geuͤbt. Er hatte die noͤthige Geraͤthschaft mitgebracht und fing sogleich an. Er unterrichtete Eduarden, einige Jaͤger und Bauern, die ihm bey dem Geschaͤft behuͤlflich seyn sollten. Die Tage waren guͤnstig; die Abende und die fruͤhsten Morgen brachte er mit Aufzeichnen und Schraffiren zu. Schnell war auch alles lavirt und illuminirt, und Eduard sah seine Besitzungen auf das deut¬ lichste, aus dem Papier, wie eine neue Schoͤp¬ fung, hervorgewachsen. Er glaubte sie jetzt erst kennen zu lernen; sie schienen ihm jetzt erst recht zu gehoͤren. 4 * Es gab Gelegenheit uͤber die Gegend, uͤber Anlagen zu sprechen, die man nach einer solchen Uebersicht viel besser zu Stande bringe, als wenn man nur einzeln, nach zufaͤlligen Ein¬ druͤcken, an der Natur herumversuche. Das muͤssen wir meiner Frau deutlich machen, sagte Eduard. Thue das nicht! versetzte der Hauptmann, der die Ueberzeugungen anderer nicht gern mit den seinigen durchkreuzte, den die Erfahrung gelehrt hatte, daß die Ansichten der Menschen viel zu mannigfaltig sind, als daß sie, selbst durch die vernuͤnftigsten Vorstellungen, auf einen Punct versammelt werden koͤnnten. Thue es nicht! rief er: sie duͤrfte leicht irre werden. Es ist ihr, wie allen denen, die sich nur aus Liebhaberey mit solchen Dingen be¬ schaͤftigen, mehr daran gelegen, daß sie et¬ was thue, als daß etwas gethan werde. Man tastet an der Natur, man hat Vorliebe fuͤr dieses oder jenes Plaͤtzchen; man wagt nicht dieses oder jenes Hinderniß wegzuraͤumen, man ist nicht kuͤhn genug etwas aufzuopfern; man kann sich voraus nicht vorstellen was ent¬ stehen soll, man probiert, es geraͤth, es mis¬ raͤth, man veraͤndert, veraͤndert vielleicht was man lassen sollte, laͤßt was man veraͤndern sollte, und so bleibt es zuletzt immer ein Stuͤckwerk, das gefaͤllt und anregt, aber nicht befriedigt. Gesteh mir aufrichtig, sagte Eduard, du bist mit ihren Anlagen nicht zufrieden. Wenn die Ausfuͤhrung den Gedanken er¬ schoͤpfte, der sehr gut ist, so waͤre nichts zu erinnern. Sie hat sich muͤhsam durch das Gestein hinaufgequaͤlt und quaͤlt nun jeden, wenn du willst, den sie hinauffuͤhrt. Weder neben einander, noch hinter einander schreitet man mit einer gewissen Freyheit. Der Tact des Schrittes wird jeden Augenblick unter¬ brochen; und was ließe sich nicht noch alles einwenden. Waͤre es denn leicht anders zu machen gewesen? fragte Eduard. Gar leicht, versetzte der Hauptmann; sie durfte nur die eine Felsenecke, die noch da¬ zu unscheinbar ist, weil sie aus kleinen Theilen besteht, wegbrechen; so erlangte sie eine schoͤn geschwungene Wendung zum Aufstieg und zu¬ gleich uͤberfluͤssige Steine, um die Stellen her¬ aufzumauern, wo der Weg schmal und ver¬ kruͤppelt geworden waͤre. Doch sey dieß im engsten Vertrauen unter uns gesagt: sie wird sonst irre und verdrießlich. Auch muß man was gemacht ist, bestehen lassen. Will man weiter Geld und Muͤhe aufwenden, so waͤre von der Mooshuͤtte hinaufwaͤrts und uͤber die Anhoͤhe noch mancherley zu thun und viel angenehmes zu leisten. Hatten auf diese Weise die beyden Freun¬ de am Gegenwaͤrtigen manche Beschaͤftigung, so fehlte es nicht an lebhafter und vergnuͤgli¬ cher Erinnerung vergangener Tage, woran Charlotte wohl Theil zu nehmen pflegte. Auch setzte man sich vor, wenn nur die naͤchsten Arbeiten erst gethan waͤren, an die Reise¬ journale zu gehen und auch auf diese Weise die Vergangenheit hervorzurufen. Uebrigens hatte Eduard mit Charlotten allein weniger Stoff zur Unterhaltung, be¬ sonders seitdem er den Tadel ihrer Parkan¬ lagen, der ihm so gerecht schien, auf dem Herzen fuͤhlte. Lange verschwieg er was ihm der Hauptmann vertraut hatte; aber als er seine Gattinn zuletzt beschaͤftigt sah, von der Mooshuͤtte hinauf zur Anhoͤhe wieder mit Stuͤfchen und Pfaͤdchen sich empor zu arbeiten; so hielt er nicht laͤnger zuruͤck, sondern machte sie nach einigen Umschweifen mit seinen neuen Einsichten bekannt. Charlotte stand betroffen. Sie war geist¬ reich genug, um schnell einzusehen, daß jene Recht hatten; aber das Gethane widersprach, es war nun einmal so gemacht; sie hatte es recht, sie hatte es wuͤnschenswerth gefunden, selbst das Getadelte war ihr in jedem einzel¬ nen Theile lieb; sie widerstrebte der Ueber¬ zeugung, sie vertheidigte ihre kleine Schoͤp¬ fung, sie schalt auf die Maͤnner, die gleich ins Weite und Große gingen, aus einem Scherz, aus einer Unterhaltung gleich ein Werk ma¬ chen wollten, nicht an die Kosten denken, die ein erweiteter Plan durchaus nach sich zieht. Sie war bewegt, verletzt, verdrießlich; sie konnte das Alte nicht fahren lassen, das Neue nicht ganz abweisen; aber entschlossen wie sie war, stellte sie sogleich die Arbeit ein und nahm sich Zeit, die Sache zu bedenken und bey sich reif werden zu lassen. Indem sie nun auch diese thaͤtige Unter¬ haltung vermißte, da indeß die Maͤnner ihr Geschaͤft immer geselliger betrieben und be¬ sonders die Kunstgaͤrten und Glashaͤuser mit Eifer besorgten, auch dazwischen die gewoͤhn¬ lichen ritterlichen Uebungen fortsetzten, als Jagen, Pferde Kaufen, Tauschen, Bereiten und Einfahren; so fuͤhlte sich Charlotte taͤglich einsamer. Sie fuͤhrte ihren Briefwechsel, auch um des Hauptmanns willen, lebhafter, und doch gab es manche einsame Stunde. Desto angenehmer und unterhaltender waren ihr die Berichte, die sie aus der Pensionsan¬ stalt erhielt. Einem weitlaͤuftigen Briefe der Vorstehe¬ rinn, welcher sich wie gewoͤhnlich uͤber der Tochter Fortschritte mit Behagen verbreitete, war eine kurze Nachschrift hinzugefuͤgt, nebst einer Beylage von der Hand eines maͤnnli¬ chen Gehuͤlfen am Institut, die wir beyde mittheilen. Nachschrift der Vorsteherinn. Von Ottilien, meine Gnaͤdige, haͤtte ich eigentlich nur zu wiederholen, was in meinen vorigen Berichten enthalten ist. Ich wuͤßte sie nicht zu schelten und doch kann ich nicht zufrieden mit ihr seyn. Sie ist nach wie vor bescheiden und gefaͤllig gegen andre; aber dieses Zuruͤcktreten, diese Dienstbarkeit will mir nicht gefallen. Ew. Gnaden haben ihr neulich Geld und verschiedene Zeuge geschickt. Das erste hat sie nicht angegriffen; die andern liegen auch noch da, unberuͤhrt. Sie haͤlt freylich ihre Sachen sehr reinlich und gut, und scheint nur in diesem Sinn die Kleider zu wechseln. Auch kann ich ihre große Maͤßig¬ keit im Essen und Trinken nicht loben. An unserm Tisch ist kein Ueberfluß; doch sehe ich nichts lieber als wenn die Kinder sich an schmackhaften und gesunden Speisen satt essen. Was mit Bedacht und Ueberzeugung aufge¬ tragen und vorgelegt ist, soll auch aufgegessen werden. Dazu kann ich Ottilien niemals bringen. Ja sie macht sich irgend ein Ge¬ schaͤft, um eine Luͤcke auszufuͤllen, wo die Die¬ nerinnen etwas versaͤumen, nur um eine Speise oder den Nachtisch zu uͤbergehen. Bey diesem allen kommt jedoch in Betrachtung, daß sie manchmal, wie ich erst spaͤt erfahren habe, Kopfweh auf der linken Seite hat, das zwar voruͤbergeht, aber schmerzlich und bedeutend seyn mag. Soviel von diesem uͤbri¬ gens so schoͤnen und lieben Kinde. Beylage des Gehuͤlfen. Unsre vortreffliche Vorsteherinn laͤßt mich gewoͤhnlich die Briefe lesen, in welchen sie Beobachtungen uͤber ihre Zoͤglinge den Aeltern und Vorgesetzten mittheilt. Diejenigen die an Ew. Gnaden gerichtet sind lese ich immer mit doppelter Aufmerksamkeit, mit doppeltem Ver¬ gnuͤgen: denn indem wir Ihnen zu einer Tochter Gluͤck zu wuͤnschen haben, die alle jene glaͤnzenden Eigenschaften vereinigt, wo¬ durch man in der Welt emporsteigt; so muß ich wenigstens Sie nicht minder gluͤcklich preisen, daß Ihnen in Ihrer Pflegetochter ein Kind beschert ist, das zum Wohl, zur Zufrieden¬ heit anderer und gewiß auch zu seinem eigenen Gluͤck geboren ward. Ottilie ist fast unser ein¬ ziger Zoͤgling, uͤber den ich mit unserer so sehr verehrten Vorsteherinn nicht einig werden kann. Ich verarge dieser thaͤtigen Frau kei¬ nesweges, daß sie verlangt, man soll die Fruͤchte ihrer Sorgfalt aͤußerlich und deutlich sehen; aber es giebt auch verschlossene Fruͤchte, die erst die rechten kernhaften sind, und die sich fruͤher oder spaͤter zu einem schoͤnen Le¬ ben entwickeln. Dergleichen ist gewiß Ihre Pflegetochter. So lange ich sie unterrichte sehe ich sie immer gleichen Schrittes gehen, langsam, langsam vorwaͤrts, nie zuruͤck. Wenn es bey einem Kinde noͤthig ist, vom Anfange anzufangen, so ist es gewiß bey ihr. Was nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift sie nicht. Sie steht unfaͤhig, ja stoͤckisch vor einer leicht faßlichen Sache, die fuͤr sie mit nichts zusammenhaͤngt. Kann man aber die Mittelglieder finden und ihr deutlich machen, so ist ihr das schwerste begreiflich. Bey diesem langsamen Vorschreiten bleibt sie gegen ihre Mitschuͤlerinnen zuruͤck, die mit ganz andern Faͤhigkeiten immer vorwaͤrts ei¬ len, alles, auch das Unzusammenhaͤngende, leicht fassen, leicht behalten und bequem wie¬ der anwenden. So lernt sie, so vermag sie bey einem beschleunigten Lehrvortrage gar nichts; wie es der Fall in einigen Stunden ist, welche von trefflichen, aber raschen und ungeduldigen Lehrern gegeben werden. Man hat uͤber ihre Handschrift geklagt, uͤber ihre Unfaͤhigkeit die Regeln der Grammatik zu fassen. Ich habe diese Beschwerde naͤher untersucht: es ist wahr, sie schreibt langsam und steif wenn man so will, doch nicht zag¬ haft und ungestalt. Was ich ihr von der franzoͤsischen Sprache, die zwar mein Fach nicht ist, schrittweise mittheilte, begriff sie leicht. Freilich ist es wunderbar, sie weiß vieles und recht gut, nur wenn man sie fragt, scheint sie nichts zu wissen. Soll ich mit einer allgemeinen Bemerkung schließen, so moͤchte ich sagen: sie lernt nicht als eine die erzogen werden soll, sondern als eine die erziehen will; nicht als Schuͤlerinn, sondern als kuͤnftige Lehrerinn. Vielleicht kommt es Ew. Gnaden sonderbar vor, daß ich selbst als Erzieher und Lehrer jemanden nicht mehr zu loben glaube, als wenn ich ihn fuͤr meines gleichen erklaͤre. Ew. Gna¬ den bessre Einsicht, tiefere Menschen- und Weltkenntniß wird aus meinen beschraͤnkten wohlgemeinten Worten das Beste nehmen. Sie werden sich uͤberzeugen, daß auch an diesem Kinde viel Freude zu hoffen ist. Ich empfehle mich zu Gnaden und bitte um die Erlaubniß wieder zu schreiben, sobald ich glaube, daß mein Brief etwas Bedeutendes und Angenehmes enthalten werde. Charlotte freute sich uͤber dieses Blatt. Sein Inhalt traf ganz nahe mit den Vor¬ stellungen zusammen, welche sie von Ottilien hegte; dabey konnte sie sich eines Laͤchelns nicht enthalten, indem der Antheil des Leh¬ rers herzlicher zu seyn schien, als ihn die Einsicht in die Tugenden eines Zoͤglings her¬ vorzubringen pflegt. Bey ihrer ruhigen, vor¬ urtheilsfreyen Denkweise ließ sie auch ein sol¬ ches Verhaͤltniß, wie so viele andre, vor sich liegen; die Theilnahme des verstaͤndigen Mannes an Ottilien hielt sie werth: denn sie hatte in ihrem Leben genugsam einsehen gelernt, wie hoch jede wahre Neigung zu schaͤtzen sey, in einer Welt wo Gleichguͤltig¬ keit und Abneigung eigentlich recht zu Hause sind. Viertes Kapitel. Die topographische Charte, auf welcher das Gut mit seinen Umgebungen, nach einem ziemlich großen Maaßstabe, charakteristisch und faßlich durch Federstriche und Farben darge¬ stellt war, und welche der Hauptmann durch einige trigonometrische Messungen sicher zu gruͤnden wußte, war bald fertig: denn weni¬ ger Schlaf, als dieser thaͤtige Mann, be¬ durfte kaum Jemand, so wie sein Tag stets dem augenblicklichen Zwecke gewidmet und deswegen jederzeit am Abende etwas gethan war. Laß uns nun, sagte er zu seinem Freun¬ de, an das Uebrige gehen, an die Gutsbe¬ I . 5 schreibung, wozu schon genugsame Vorarbeit da seyn muß, aus der sich nachher Pachtan¬ schlaͤge und anderes schon entwickeln werden. Nur eines laß uns festsetzen und einrichten: trenne alles was eigentlich Geschaͤft ist vom Leben. Das Geschaͤft verlangt Ernst und Strenge, das Leben Willkuͤhr; das Geschaͤft die reinste Folge, dem Leben thut eine Incon¬ sequenz oft noth, ja sie ist liebenswuͤrdig und erheiternd. Bist du bey dem einen sicher, so kannst du in dem andern desto freyer seyn; anstatt daß bey einer Vermischung das Sichre durch das Freye weggerissen und aufgehoben wird. Eduard fuͤhlte in diesen Vorschlaͤgen einen leisen Vorwurf. Zwar von Natur nicht un¬ ordentlich, konnte er doch niemals dazu kom¬ men, seine Papiere nach Faͤchern abzutheilen. Das was er mit andern abzuthun hatte, was blos von ihm selbst abhing, es war nicht ge¬ schieden; so wie er auch Geschaͤfte und Be¬ schaͤftigung, Unterhaltung und Zerstreuung nicht genugsam von einander absonderte. Jetzt wurde es ihm leicht, da ein Freund diese Bemuͤhung uͤbernahm, ein zweytes Ich die Sonderung bewirkte, in die das eine Ich nicht immer sich spalten mag. Sie errichteten auf dem Fluͤgel des Haupt¬ manns eine Repositur fuͤr das Gegenwaͤrtige, ein Archiv fuͤr das Vergangene; schafften alle Documente, Papiere, Nachrichten, aus ver¬ schiedenen Behaͤltnissen, Kammern, Schraͤn¬ ken und Kisten herbey, und auf das geschwin¬ deste war der Wust in eine erfreuliche Ord¬ nung gebracht, lag rubricirt in bezeichneten Faͤchern. Was man wuͤnschte ward vollstaͤn¬ diger gefunden als man gehofft hatte. Hier¬ bey ging ihnen ein alter Schreiber sehr an die Hand, der den Tag uͤber, ja einen Theil der Nacht, nicht vom Pulte kam, und mit dem Eduard bisher immer unzufrieden gewe¬ sen war. 5 * Ich kenne ihn nicht mehr, sagte Eduard zu seinem Freund, wie thaͤtig und brauchbar der Mensch ist. Das macht, versetzte der Haupt¬ mann, wir tragen ihm nichts Neues auf, als bis er das Alte nach seiner Bequemlich¬ keit vollendet hat, und so leistet er, wie du siehst, sehr viel; sobald man ihn stoͤrt, ver¬ mag er gar nichts. Brachten die Freunde auf diese Weise ihre Tage zusammen zu, so versaͤumten sie Abends nicht Charlotten regelmaͤßig zu besuchen. Fand sich keine Gesellschaft von benachbarten Orten und Guͤtern, welches oͤfter geschah; so war das Gespraͤch, wie das Lesen, meist solchen Gegenstaͤnden gewidmet, welche den Wohl¬ stand, die Vortheile und das Behagen der buͤrgerlichen Gesellschaft vermehren. Charlotte, ohnehin gewohnt die Gegen¬ wart zu nutzen, fuͤhlte sich, indem sie ihren Mann zufrieden sah, auch persoͤnlich gefoͤr¬ dert. Verschiedene haͤusliche Anstalten, die sie laͤngst gewuͤnscht, aber nicht recht einleiten koͤnnen, wurden durch die Thaͤtigkeit des Hauptmanns bewirkt. Die Hausapotheke, die bisher nur aus wenigen Mitteln bestan¬ den, ward bereichert, und Charlotte, sowohl durch faßliche Buͤcher als durch Unterredung, in den Stand gesetzt ihr thaͤtiges und huͤlf¬ reiches Wesen oͤfter und wirksamer als bisher in Uebung zu bringen. Da man auch die gewoͤhnlichen und dem¬ ungeachtet nur zu oft uͤberraschenden Noth¬ faͤlle durchdachte; so wurde alles was zur Rettung der Ertrunkenen noͤthig seyn moͤchte um so mehr angeschafft, als bey der Naͤhe so mancher Teiche, Gewaͤsser und Wasserwerke, oͤfters ein und der andre Unfall dieser Art vorkam. Diese Rubrik besorgte der Haupt¬ mann sehr ausfuͤhrlich, und Eduarden ent¬ schluͤpfte die Bemerkung, daß ein solcher Fall in dem Leben seines Freundes auf die selt¬ samste Weise Epoche gemacht. Doch als die¬ ser schwieg und einer traurigen Erinnerung auszuweichen schien, hielt Eduard gleichfalls an, so wie auch Charlotte, die nicht weniger im Allgemeinen davon unterrichtet war, uͤber jene Aeußerungen hinausging. Wir wollen alle diese vorsorglichen An¬ stalten loben, sagte eines Abends der Haupt¬ mann; nun geht uns aber das Nothwendigste noch ab, ein tuͤchtiger Mann, der das alles zu handhaben weiß. Ich kann hiezu einen mir bekannten Feldchirurgus vorschlagen, der jetzt um leidliche Bedingung zu haben ist, ein vorzuͤglicher Mann in seinem Fache, und der mir auch in Behandlung heftiger innerer Ue¬ bel oͤfters mehr Genuͤge gethan hat als ein beruͤhmter Arzt; und augenblickliche Huͤlfe ist doch immer das, was auf dem Lande am meisten vermißt wird. Auch dieser wurde sogleich verschrieben und beyde Gatten freuten sich, daß sie so manche Summe, die ihnen zu willkuͤhrlichen Ausgaben uͤbrig blieb, auf die noͤthigsten zu verwenden Anlaß gefunden. So benutzte Charlotte die Kenntnisse, die Thaͤtigkeit des Hauptmanns auch nach ihrem Sinne und fing an mit seiner Gegenwart voͤllig zufrieden und uͤber alle Folgen beruhigt zu werden. Sie bereitete sich gewoͤhnlich vor, manches zu fragen, und da sie gern leben mochte, so suchte sie alles Schaͤdliche, alles Toͤdtliche zu entfernen. Die Bleyglasur der Toͤpferwaren, der Gruͤnspan kupferner Gefaͤße hatte ihr schon manche Sorge gemacht. Sie ließ sich hieruͤber belehren, und natuͤrlicher¬ weise mußte man auf die Grundbegriffe der Physik und Chemie zuruͤckgehen. Zufaͤlligen aber immer willkommenen An¬ laß zu solchen Unterhaltungen gab Eduards Neigung, der Gesellschaft vorzulesen. Er hatte eine sehr wohlklingende tiefe Stimme und war fruͤher, wegen lebhafter gefuͤhlter Recitation dichterischer und rednerischer Ar¬ beiten, angenehm und beruͤhmt gewesen. Nun waren es andre Gegenstaͤnde die ihn beschaͤf¬ tigten, andre Schriften woraus er vorlas und eben seit einiger Zeit vorzuͤglich Werke physischen, chemischen und technischen Inhalts. Eine seiner besondern Eigenheiten, die er jedoch vielleicht mit mehrern Menschen theilt, war die, daß es ihm unertraͤglich fiel, wenn Jemand ihm beym Lesen in das Buch sah. In fruͤherer Zeit, beym Vorlesen von Gedich¬ ten, Schauspielen, Erzaͤhlungen, war es die natuͤrliche Folge der lebhaften Absicht, die der Vorlesende so gut als der Dichter, der Schau¬ spieler, der Erzaͤhlende hat, zu uͤberraschen, Pausen zu machen, Erwartungen zu erregen; da es denn freylich dieser beabsichtigten Wir¬ kung sehr zuwider ist, wenn ihm ein Drit¬ ter wissentlich mit den Augen vorspringt. Er pflegte sich auch deswegen in solchem Falle immer so zu setzen, daß er Niemand im Ruͤ¬ cken hatte. Jetzt zu dreyen war diese Vor¬ sicht unnoͤthig; und da es dießmal nicht auf Erregung des Gefuͤhls, auf Ueberraschung der Einbildungskraft angesehen war; so dachte er selbst nicht daran, sich sonderlich in Acht zu nehmen. Nur eines Abends fiel es ihm auf, als er sich nachlaͤssig gesetzt hatte, daß Charlotte ihm in das Buch sah. Seine alte Ungeduld erwachte und er verwies es ihr, gewisserma¬ ßen unfreundlich. Wollte man sich doch sol¬ che Unarten, wie so manches andre was der Gesellschaft laͤstig ist, ein fuͤr allemal abge¬ woͤhnen. Wenn ich Jemand vorlese, ist es denn nicht als wenn ich ihm muͤndlich etwas vortruͤge? Das Geschriebene, das Gedruckte tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes, meines eigenen Herzens; und wuͤrde ich mich wohl zu reden bemuͤhen, wenn ein Fensterchen vor meiner Stirn, vor meiner Brust ange¬ bracht waͤre, so daß der, dem ich meine Ge¬ danken einzeln zuzaͤhlen, meine Empfindungen einzeln zureichen will, immer schon lange vor¬ her wissen koͤnnte, wo es mit mir hinaus wollte? Wenn mir Jemand ins Buch sieht, so ist mir immer als wenn ich in zwey Stuͤ¬ cke gerissen wuͤrde. Charlotte, deren Gewandtheit sich in groͤ¬ ßeren und kleineren Zirkeln besonders dadurch bewies, daß sie jede unangenehme, jede hef¬ tige, ja selbst nur lebhafte Aeußerung zu be¬ seitigen, ein sich verlaͤngerndes Gespraͤch zu unterbrechen, ein stockendes anzuregen wußte, war auch dießmal von ihrer guten Gabe nicht verlassen. Du wirst mir meinen Fehler ge¬ wiß verzeihen, wenn ich bekenne was mir diesen Augenblick begegnet ist. Ich hoͤrte von Verwandtschaften lesen, und da dacht' ich eben gleich an meine Verwandten, an ein Paar Vettern, die mir gerade in diesem Augen¬ blick zu schaffen machen. Meine Aufmerk¬ samkeit kehrt zu deiner Vorlesung zuruͤck; ich hoͤre daß von ganz leblosen Dingen die Rede ist, und blicke dir ins Buch, um mich wie¬ der zurecht zu finden. Es ist eine Gleichnißrede, die dich ver¬ fuͤhrt und verwirrt hat, sagte Eduard. Hier wird freylich nur von Erden und Mineralien gehandelt, aber der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich uͤberall gern selbst; er legt sich als Folie der ganzen Welt unter. Ja wohl! fuhr der Hauptmann fort: so behandelt er alles was er außer sich findet; seine Weisheit wie seine Thorheit, seinen Willen wie seine Willkuͤhr leicht er den Thie¬ ren, den Pflanzen, den Elementen und den Goͤttern. Moͤchtet Ihr mich, versetzte Charlotte, da ich Euch nicht zu weit von dem augen¬ blicklichen Interesse wegfuͤhren will, nur kuͤrz¬ lich belehren, wie es eigentlich hier mit den Verwandtschaften gemeint sey. Das will ich wohl gerne thun, erwiederte der Hauptmann, gegen den sich Charlotte ge¬ wendet hatte; freylich nur so gut als ich es vermag, wie ich es etwa vor zehn Jahren ge¬ lernt, wie ich es gelesen habe. Ob man in der wissenschaftlichen Welt noch so daruͤber denkt, ob es zu den neuern Lehren paßt, wuͤßte ich nicht zu sagen. Es ist schlimm genug, rief Eduard, daß man jetzt nichts mehr fuͤr sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend em¬ pfangen; wir aber muͤssen jetzt alle fuͤnf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen. Wir Frauen, sagte Charlotte, nehmen es nicht so genau; und wenn ich aufrichtig seyn soll, so ist es mir eigentlich nur um den Wortverstand zu thun: denn es macht in der Gesellschaft nichts laͤcherlicher, als wenn man ein fremdes, ein Kunst-Wort falsch anwen¬ det. Deshalb moͤchte ich nur wissen, in welchem Sinne dieser Ausdruck eben bey die¬ sen Gegenstaͤnden gebraucht wird. Wie es wissenschaftlich damit zusammenhaͤnge, wollen wir den Gelehrten uͤberlassen, die uͤbrigens, wie ich habe bemerken koͤnnen, sich wohl schwerlich jemals vereinigen werden. Wo fangen wir aber nun an, um am schnellsten in die Sache zu kommen? fragte Eduard nach einer Pause den Hauptmann, der sich ein wenig bedenkend bald darauf er¬ wiederte: Wenn es mir erlaubt ist, dem Scheine nach weit auszuhohlen, so sind wir bald am Platze. Seyn Sie meiner ganzen Aufmerksamkeit versichert, sagte Charlotte, indem sie ihre Ar¬ beit bey Seite legte. Und so begann der Hauptmann: an allen Naturwesen, die wir gewahr werden, bemer¬ ken wir zuerst, daß sie einen Bezug auf sich selbst haben. Es klingt freylich wunderlich, wenn man etwas ausspricht was sich ohnehin versteht; doch nur indem man sich uͤber das Bekannte voͤllig verstaͤndigt hat, kann man mit einander zum Unbekannten fortschreiten. Ich daͤchte, fiel ihm Eduard ein, wir machten ihr und uns die Sache durch Bey¬ spiele bequem. Stelle dir nur das Wasser, das Oel, das Quecksilber vor, so wirst du eine Einigkeit, einen Zusammenhang ihrer Theile finden. Diese Einung verlassen sie nicht, außer durch Gewalt oder sonstige Be¬ stimmung. Ist diese beseitigt, so treten sie gleich wieder zusammen. Ohne Frage, sagte Charlotte beystimmend. Regentropfen vereinigen sich schnell zu Stroͤ¬ men. Und schon als Kinder spielen wir er¬ staunt mit dem Quecksilber, indem wir es in Kuͤgelchen trennen und es wieder zusammen¬ laufen lassen. Und so darf ich wohl, fuͤgte der Haupt¬ mann hinzu, eines bedeutenden Punctes im fluͤchtigen Vorbeygehen erwaͤhnen, daß naͤm¬ lich dieser voͤllig reine, durch Fluͤssigkeit moͤg¬ liche Bezug sich entschieden und immer durch die Kugelgestalt auszeichnet. Der fallende Wassertropfen ist rund; von den Quecksilber¬ kuͤgelchen haben Sie selbst gesprochen; ja ein fallendes geschmolzenes Bley, wenn es Zeit hat voͤllig zu erstarren, kommt unten in Ge¬ stalt einer Kugel an. Lassen Sie mich voreilen, sagte Char¬ lotte, ob ich treffe, wo Sie hinwollen. Wie jedes gegen sich selbst einen Bezug hat, so muß es auch gegen andere ein Verhaͤltniß haben. Und das wird nach Verschiedenheit der Wesen verschieden seyn, fuhr Eduard eilig fort. Bald werden sie sich als Freunde und alte Bekannte begegnen, die schnell zusam¬ mentreten, sich vereinigen, ohne an einander etwas zu veraͤndern, wie sich Wein mit Was¬ ser vermischt. Dagegen werden andre fremd neben einander verharren und selbst durch mechanisches Mischen und Reiben sich keines¬ weges verbinden; wie Oel und Wasser zu¬ sammengeruͤttelt sich den Augenblick wieder aus einander sondert. Es fehlt nicht viel, sagte Charlotte, so sieht man in diesen einfachen Formen die Menschen, die man gekannt hat; besonders aber erinnert man sich dabey der Societaͤten, in denen man lebte. Die meiste Aehnlichkeit jedoch mit diesen seelenlosen Wesen haben die Massen, die in der Welt sich einander gegen¬ uͤber stellen, die Staͤnde, die Berufsbestim¬ mungen, der Adel und der dritte Stand, der Soldat und der Civilist. Und doch, versetzte Eduard, wie diese durch Sitten und Gesetze vereinbar sind, so giebt es auch in unserer chemischen Welt Mit¬ telglieder, dasjenige zu verbinden, was sich einander abweist. So verbinden wir, fiel der Hauptmann ein, das Oel durch Laugensalz mit dem Wasser. Nur nicht zu geschwind mit Ihrem Vor¬ trag, sagte Charlotte, damit ich zeigen kann, daß ich Schritt halte. Sind wir nicht hier schon zu den Verwandtschaften gelangt? Ganz richtig, erwiederte der Hauptmann, und wir werden sie gleich in ihrer vollen I . 6 Kraft und Bestimmtheit kennen lernen. Die¬ jenigen Naturen, die sich beym Zusammen¬ treffen einander schnell ergreifen und wechsel¬ seitig bestimmen, nennen wir verwandt. An den Alcalien und Saͤuren, die, obgleich ein¬ ander entgegengesetzt und vielleicht eben des¬ wegen, weil sie einander entgegengesetzt sind, sich am entschiedensten suchen und fassen, sich modificiren und zusammen einen neuen Koͤrper bilden, ist diese Verwandtschaft auffallend ge¬ nug. Gedenken wir nur des Kalks, der zu allen Saͤuren eine große Neigung, eine ent¬ schiedene Vereinigungslust aͤußert. Sobald unser chemisches Cabinet ankommt, wollen wir Sie verschiedene Versuche sehen lassen, die sehr unterhaltend sind und einen bessern Begriff geben als Worte, Namen und Kunstausdruͤcke. Lassen Sie mich gestehen, sagte Charlotte, wenn Sie diese Ihre wunderlichen Wesen verwandt nennen, so kommen sie mir nicht sowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Gei¬ stes- und Seelenverwandte vor. Auf eben diese Weise koͤnnen unter Menschen wahrhaft bedeutende Freundschaften entstehen: denn ent¬ gegengesetzte Eigenschaften machen eine inni¬ gere Vereinigung moͤglich. Und so will ich denn abwarten, was Sie mir von diesen ge¬ heimnißvollen Wirkungen vor die Augen brin¬ gen werden. Ich will dich — sagte sie zu Eduard gewendet — jetzt im Vorlesen nicht weiter stoͤren, und um so viel besser unter¬ richtet, deinen Vortrag mit Aufmerksamkeit vernehmen. Da du uns einmal aufgerufen hast, ver¬ setzte Eduard; so kommst du so leicht nicht los: denn eigentlich sind die verwickelten Faͤlle die interessantesten. Erst bey diesen lernt man die Grade der Verwandtschaften, die naͤhern, staͤrkern, entferntern, geringern Beziehungen kennen; die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidun¬ gen bewirken. 6 * Kommt das traurige Wort, rief Char¬ lotte, das man leider in der Welt jetzt so oft hoͤrt, auch in der Naturlehre vor? Allerdings, erwiederte Eduard. Es war sogar ein bezeichnender Ehrentitel der Chemi¬ ker, daß man sie Scheidekuͤnstler nannte. Das thut man also nicht mehr, versetzte Charlotte, und thut sehr wohl daran. Das Vereinigen ist eine groͤßere Kunst, ein groͤ¬ ßeres Verdienst. Ein Einungskuͤnstler waͤre in jedem Fache der ganzen Welt willkommen. — Nun so laßt mich denn, weil Ihr doch einmal im Zuge seyd, ein Paar solche Faͤlle wissen. So schließen wir uns denn gleich, sagte der Hauptmann, an dasjenige wieder an, was wir oben schon benannt und besprochen haben. Z. B. was wir Kalkstein nennen ist eine mehr oder weniger reine Kalkerde, innig mit einer zarten Saͤure verbunden, die uns in Luftform bekannt geworden ist. Bringt man ein Stuͤck solchen Steines in verduͤnnte Schwefelsaͤure, so ergreift diese den Kalk und erscheint mit ihm als Gyps; jene zarte luf¬ tige Saͤure hingegen entflieht. Hier ist eine Trennung, eine neue Zusammensetzung ent¬ standen und man glaubt sich nunmehr berech¬ tigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft an¬ zuwenden, weil es wirklich aussieht als wenn ein Verhaͤltniß dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwaͤhlt wuͤrde. Verzeihen Sie mir, sagte Charlotte, wie ich dem Naturforscher verzeihe; aber ich wuͤr¬ de hier niemals eine Wahl, eher eine Na¬ turnothwendigkeit erblicken, und diese kaum: denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhaͤltnisse wie sie Diebe macht; und wenn von Ihren Naturkoͤrpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl blos in den Haͤnden des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zu¬ sammenbringt. Sind sie aber einmal bey¬ sammen, dann gnade ihnen Gott! In dem ge¬ genwaͤrtigen Falle dauert mich nur die arme Luftsaͤure, die sich wieder im Unendlichen her¬ umtreiben muß. Es kommt nur auf sie an, versetzte der Hauptmann, sich mit dem Wasser zu verbin¬ den und als Mineralquelle Gesunden und Kranken zur Erquickung zu dienen. Der Gyps hat gut reden, sagte Charlotte, der ist nun fertig, ist ein Koͤrper, ist ver¬ sorgt, anstatt daß jenes ausgetriebene Wesen noch manche Noth haben kann bis es wieder unterkommt. Ich muͤßte sehr irren, sagte Eduard laͤ¬ chelnd, oder es steckt eine kleine Tuͤcke hinter deinen Reden. Gesteh' nur deine Schalkheit! Am Ende bin ich in deinen Augen der Kalk, der vom Hauptmann, als einer Schwefel¬ saͤure ergriffen, deiner anmuthigen Gesellschaft entzogen und in einen refractaͤren Gyps ver¬ wandelt wird. Wenn das Gewissen, versetzte Charlotte, dich solche Betrachtungen machen heißt; so kann ich ohne Sorge seyn. Diese Gleichni߬ reden sind artig und unterhaltend, und wer spielt nicht gern mit Aehnlichkeiten? Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe uͤber jene Elemente erhoͤht, und wenn er hier mit den schoͤnen Worten Wahl und Wahlverwandt¬ schaft etwas freygebig gewesen; so thut er wohl, wieder in sich selbst zuruͤckzukehren und den Werth solcher Ausdruͤcke bey diesem An¬ laß recht zu bedenken. Mir sind leider Faͤlle genug bekannt, wo eine innige unaufloͤslich scheinende Verbindung zweyer Wesen, durch ge¬ legentliche Zugesellung eines Dritten, aufgeho¬ ben, und eins der erst so schoͤn verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward. Da sind die Chemiker viel galanter, sagte Eduard: sie gesellen ein viertes dazu, damit keines leer ausgehe. Ja wohl! versetzte der Hauptmann: diese Faͤlle sind allerdings die bedeutendsten und merkwuͤrdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtseyn, dieses Verlassen, dieses Ver¬ einigen gleichsam uͤbers Kreuz, wirklich dar¬ stellen kann; wo vier, bisher je zwey zu zwey verbundene Wesen in Beruͤhrung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen und Suchen, glaubt man wirklich eine hoͤhere Bestimmung zu sehen; man traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Waͤhlen zu, und haͤlt das Kunstwort Wahlverwandtschaften vollkommen gerechtfertigt. Beschreiben Sie mir einen solchen Fall, sagte Charlotte. Man sollte dergleichen, versetzte der Hauptmann, nicht mit Worten abthun. Wie schon gesagt! sobald ich Ihnen die Versuche selbst zeigen kann, wird alles anschaulicher und angenehmer werden. Jetzt muͤßte ich Sie mit schrecklichen Kunstworten hinhalten, die Ihnen doch keine Vorstellung gaͤben. Man muß diese todtscheinenden und doch zur Thaͤtigkeit innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Theilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergrei¬ fen, zerstoͤren, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt her¬ vortreten: dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Ver¬ stand zu, weil wir unsere Sinne kaum ge¬ nuͤgend fuͤhlen, sie recht zu beobachten, und unsre Vernunft kaum hinlaͤnglich, sie zu fassen. Ich laͤugne nicht, sagte Eduard, daß die seltsamen Kunstwoͤrter demjenigen der nicht durch sinnliches Anschauen, durch Begriffe mit ihnen versoͤhnt ist, beschwerlich, ja laͤcherlich werden muͤssen. Doch koͤnnten wir leicht mit Buchstaben einstweilen das Verhaͤltniß aus¬ druͤcken, wovon hier die Rede war. Wenn Sie glauben, daß es nicht pedan¬ tisch aussieht, versetzte der Hauptmann, so kann ich wohl in der Zeichensprache mich kuͤrzlich zusammenfassen. Denken sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich eben so zu einem D verhaͤlt; bringen Sie nun die beyden Paare in Beruͤh¬ rung: A wird sich zu D, C zu B werfen, ohne daß man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zu¬ erst wieder verbunden habe. Nun denn! fiel Eduard ein: bis wir alles dieses mit Augen sehen, wollen wir diese For¬ mel als Gleichnißrede betrachten, woraus wir uns eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch ziehen. Du stellst das A vor, Charlotte, und ich dein B: denn eigentlich haͤnge ich doch nur von dir ab und folge dir, wie dem A das B. Das C ist ganz deutlich der Ca¬ pitain, der mich fuͤr dießmal dir einigermaßen entzieht. Nun ist es billig, daß wenn du nicht ins Unbestimmte entweichen sollst, dir fuͤr ein D gesorgt werde, und das ist ganz ohne Frage das liebenswuͤrdige Daͤmchen Otti¬ lie, gegen deren Annaͤherung du dich nicht laͤnger vertheidigen darfst. Gut! versetzte Charlotte, wenn auch das Beyspiel, wie mir scheint, nicht ganz auf unsern Fall paßt; so halte ich es doch fuͤr ein Gluͤck, daß wir heute einmal voͤllig zu¬ sammentreffen, und daß diese Natur- und Wahlverwandtschaften unter uns eine vertrau¬ liche Mittheilung beschleunigen. Ich will es also nur gestehen, daß ich seit diesem Nach¬ mittage entschlossen bin, Ottilien zu berufen: denn meine bisherige treue Beschließerinn und Haushaͤlterinn wird abziehen, weil sie heiratet. Dieß waͤre von meiner Seite und um meinetwillen; was mich um Ottiliens willen bestimmt, das wirst du uns vorlesen. Ich will dir nicht ins Blatt sehen, aber frey¬ lich ist mir der Inhalt schon bekannt. Doch lies nur, lies! Mit diesen Worten zog sie einen Brief hervor und reichte ihn Eduarden. Fuͤnftes Kapitel. Brief der Vorsteherinn. Ew. Gnaden werden verzeihen, wenn ich mich heute ganz kurz fasse: denn ich habe nach vollendeter oͤffentlicher Pruͤfung dessen was wir im vergangenen Jahr an unsern Zoͤglingen geleistet haben, an die saͤmmtlichen Aeltern und Vorgesetzten den Verlauf zu mel¬ den; auch darf ich wohl kurz seyn, weil ich mit Wenigem Viel sagen kann. Ihre Fraͤu¬ lein Tochter hat sich in jedem Sinne als die erste bewiesen. Die beyliegenden Zeugnisse, ihr eigner Brief, der die Beschreibung der Preise enthaͤlt die ihr geworden sind, und zugleich das Vergnuͤgen ausdruͤckt das sie uͤber ein so gluͤckliches Gelingen empfindet, wird Ihnen zur Beruhigung, ja zur Freude gereichen. Die meinige wird dadurch einiger¬ maßen gemindert, daß ich voraussehe, wir werden nicht lange mehr Ursache haben ein so weit vorgeschrittenes Frauenzimmer bey uns zuruͤck zu halten. Ich empfehle mich zu Gna¬ den und nehme mir die Freyheit naͤchstens meine Gedanken uͤber das was ich am vor¬ theilhaftesten fuͤr sie halte, zu eroͤffnen. Von Ottilien schreibt mein freundlicher Gehuͤlfe. Brief des Gehülfen. Von Ottilien laͤßt mich unsre ehrwuͤrdige Vorsteherinn schreiben, theils weil es ihr, nach ihrer Art zu denken, peinlich waͤre das¬ jenige was zu melden ist zu melden, theils auch weil sie selbst einer Entschuldigung be¬ darf, die sie lieber mir in den Mund legen mag. Da ich nur allzuwohl weiß, wie wenig die gute Ottilie das zu aͤußern im Stande ist, was in ihr liegt und was sie vermag; so war mir vor der oͤffentlichen Pruͤfung einigermaßen bange, um so mehr als uͤberhaupt dabey keine Vorbereitung moͤglich ist, und auch, wenn es nach der gewoͤhnlichen Weise seyn koͤnnte, Ottilie auf den Schein nicht vor¬ zubereiten waͤre. Der Ausgang hat meine Sorge nur zu sehr gerechtfertigt; sie hat kei¬ nen Preis erhalten und ist auch unter denen die kein Zeugniß empfangen haben. Was soll ich viel sagen? Im Schreiben hatten andere kaum so wohlgeformte Buchstaben, doch viel freyere Zuͤge; im Rechnen waren alle schnel¬ ler, und an schwierige Aufgaben, welche sie besser loͤst, kam es bey der Untersuchung nicht. Im Franzoͤsischen uͤberparlirten und uͤberexpo¬ nirten sie manche; in der Geschichte waren ihr Namen und Jahrzahlen nicht gleich bey der Hand; bey der Geographie vermißte man Aufmerksamkeit auf die politische Eintheilung. Zum musicalischen Vortrag ihrer wenigen be¬ scheidenen Melodieen fand sich weder Zeit noch Ruhe. Im Zeichnen haͤtte sie gewiß den Preis davon getragen: ihre Umrisse waren rein und die Ausfuͤhrung bey vieler Sorgfalt geistreich. Leider hatte sie etwas zu Großes unternommen und war nicht fertig geworden. Als die Schuͤlerinnen abgetreten waren, die Pruͤfenden zusammen Rath hielten und uns Lehrern wenigstens einiges Wort dabey goͤnnten, merkte ich wohl bald, daß von Ot¬ tilien gar nicht, und wenn es geschah, wo nicht mit Misbilligung doch mit Gleichguͤltig¬ keit gesprochen wurde. Ich hoffte durch eine offne Darstellung ihrer Art zu seyn, einige Gunst zu erregen, und wagte mich daran mit doppeltem Eifer, einmal weil ich nach meiner Ueberzeugung sprechen konnte, und sodann weil ich mich in juͤngeren Jahren in eben demselben traurigen Fall befunden hatte. Man hoͤrte mich mit Aufmerksamkeit an; doch als ich geendigt hatte, sagte mir der vorsitzende Pruͤfende zwar freundlich aber la¬ conisch: Faͤhigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten werden. Dieß ist der Zweck aller Erziehung, dieß ist die laute deut¬ liche Absicht der Aeltern und Vorgesetzten, die stille nur halbbewußte der Kinder selbst. Dieß ist auch der Gegenstand der Pruͤfung, wobey zugleich Lehrer und Schuͤler beurtheilt wer¬ den. Aus dem was wir von Ihnen verneh¬ men, schoͤpfen wir gute Hoffnung von dem Kinde, und Sie sind allerdings lobenswuͤrdig, indem Sie auf die Faͤhigkeiten der Schuͤle¬ rinnen genau Acht geben. Verwandeln Sie solche bis uͤbers Jahr in Fertigkeiten, so wird es Ihnen und Ihrer beguͤnstigten Schuͤlerinn nicht an Beyfall mangeln. In das was hierauf folgte hatte ich mich schon ergeben; aber ein noch Uebleres nicht I . 7 befuͤrchtet, das sich bald darauf zutrug. Un¬ sere gute Vorsteherinn, die wie ein guter Hirte auch nicht eins von ihren Schaͤfchen verloren, oder wie es hier der Fall war, un¬ geschmuͤckt sehen moͤchte, konnte, nachdem die Herren sich entfernt hatten, ihren Unwillen nicht bergen und sagte zu Ottilien, die ganz ruhig, indem die andern sich uͤber ihre Preise freuten, am Fenster stand: aber sagen Sie mir, ums Himmelswillen! wie kann man so dumm aussehen, wenn man es nicht ist? Ottilie versetzte ganz gelassen: verzeihen Sie, liebe Mutter; ich habe gerade heute wieder mein Kopfweh und ziemlich stark. Das kann niemand wissen! versetzte die sonst so theil¬ nehmende Frau und kehrte sich verdrießlich um. Nun es ist wahr: Niemand kann es wis¬ sen; denn Ottilie veraͤndert das Gesicht nicht, und ich habe auch nicht gesehen, daß sie ein¬ mal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt haͤtte. Das war noch nicht alles. Ihre Fraͤu¬ lein Tochter, gnaͤdige Frau, sonst lebhaft und freymuͤthig, war im Gefuͤhl ihres heutigen Triumphs ausgelassen und uͤbermuͤthig. Sie sprang mit ihren Preisen und Zeugnissen in den Zimmern herum, und schuͤttelte sie auch Ottilien vor dem Gesicht. Du bist heute schlecht gefahren! rief sie aus. Ganz gelassen antwortete Ottilie: es ist noch nicht der letzte Pruͤfungstag. Und doch wirst du immer die letzte bleiben! rief die Fraͤulein und sprang hinweg. Ottilie schien gelassen fuͤr jeden andern, nur nicht fuͤr mich. Eine innre unangenehme lebhafte Bewegung, der sie widersteht, zeigt sich durch eine ungleiche Farbe des Gesichts. Die linke Wange wird auf einen Augenblick roth, indem die rechte bleich wird. Ich sah dieß Zeichen und meine Theilnehmung konnte sich nicht zuruͤckhalten. Ich fuͤhrte unsre Vor¬ steherinn bey Seite, sprach ernsthaft mit ihr 7 * uͤber die Sache. Die treffliche Frau erkannte ihren Fehler. Wir beriethen, wir besprachen uns lange, und ohne deshalb weitlaͤufiger zu seyn, will ich Ew. Gnaden unsern Beschluß und unsre Bitte vortragen: Ottilien auf ei¬ nige Zeit zu sich zu nehmen. Die Gruͤnde werden Sie sich selbst am besten entfalten. Bestimmen Sie sich hiezu, so sage ich mehr uͤber die Behandlung des guten Kindes. Ver¬ laͤßt uns dann Ihre Fraͤulein Tochter, wie zu vermuthen steht; so sehen wir Ottilien mit Freuden zuruͤckkehren. Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergessen koͤnnte: ich habe nie gesehen, daß Ottilie etwas verlangt, oder gar um etwas dringend gebethen haͤtte. Dagegen kommen Faͤlle, wiewohl selten, daß sie etwas abzuleh¬ nen sucht was man von ihr fordert. Sie thut das mit einer Gebaͤrde, die fuͤr den der den Sinn davon gefaßt hat unwiderstehlich ist. Sie druͤckt die flachen Haͤnde, die sie in die Hoͤhe hebt, zusammen und fuͤhrt sie ge¬ gen die Brust, indem sie sich nur wenig vor¬ waͤrts neigt und den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, daß er gern von allem absteht was er verlangen oder wuͤn¬ schen moͤchte. Sehen Sie jemals diese Ge¬ baͤrde, gnaͤdige Frau, wie es bey Ihrer Be¬ handlung nicht wahrscheinlich ist; so gedenken Sie meiner und schonen Ottilien. — Eduard hatte diese Briefe vorgelesen, nicht ohne Laͤcheln und Kopfschuͤtteln. Auch konnte es an Bemerkungen uͤber die Personen und uͤber die Lage der Sache nicht fehlen. Genug! rief Eduard endlich aus: es ist entschieden, sie kommt! Fuͤr dich waͤre gesorgt, meine Liebe, und wir duͤrfen nun auch mit un¬ serm Vorschlag hervorruͤcken. Es wird hoͤchst noͤthig, daß ich zu dem Hauptmann auf den rechten Fluͤgel hinuͤber ziehe. Sowohl Abends als Morgens ist erst die rechte Zeit zusam¬ men zu arbeiten. Du erhaͤltst dagegen fuͤr dich und Ottilien auf deiner Seite den schoͤnsten Raum. Charlotte ließ sich's gefallen, und Eduard schilderte ihre kuͤnftige Lebensart. Unter an¬ dern rief er aus: es ist doch recht zuvorkom¬ mend von der Nichte, ein wenig Kopfweh auf der linken Seite zu haben; ich habe es manchmal auf der rechten. Trifft es zusam¬ men und wir sitzen gegeneinander, ich auf den rechten Elbogen, sie auf den linken ge¬ stuͤtzt, und die Koͤpfe nach verschiedenen Sei¬ ten in die Hand gelegt; so muß das ein Paar artige Gegenbilder geben. Der Hauptmann wollte das gefaͤhrlich fin¬ den; Eduard hingegen rief aus: nehmen Sie sich nur, lieber Freund, vor dem D in Acht! Was sollte B denn anfangen, wenn ihm C entrissen wuͤrde? Nun, ich daͤchte doch, versetzte Charlotte, das verstuͤnde sich von selbst. Freylich, rief Eduard: es kehrte zu sei¬ nem A zuruͤck, zu seinem A und O! rief er, indem er aufsprang und Charlotten fest an seine Brust druͤckte. Sechstes Kapitel. Ein Wagen der Ottilien brachte war an¬ gefahren. Charlotte ging ihr entgegen; das liebe Kind eilte sich ihr zu naͤhern, warf sich ihr zu Fuͤßen und umfaßte ihre Kniee. Wozu die Demuͤthigung! sagte Charlotte, die einigermaßen verlegen war und sie aufhe¬ ben wollte. Es ist so demuͤthig nicht gemeynt, versetzte Ottilie, die in ihrer vorigen Stel¬ lung blieb. Ich mag mich nur so gern jener Zeit erinnern, da ich noch nicht hoͤher reichte als bis an Ihre Kniee und Ihrer Liebe schon so gewiß war. Sie stand auf und Charlotte umarmte sie herzlich. Sie ward den Maͤnnern vorgestellt und gleich mit besonderer Achtung als Gast behandelt. Schoͤnheit ist uͤberall ein gar will¬ kommner Gast. Sie schien aufmerksam auf das Gespraͤch, ohne daß sie daran Theil ge¬ nommen haͤtte. Den andern Morgen sagte Eduard zu Charlotten: es ist ein angenehmes unterhal¬ tendes Maͤdchen. Unterhaltend? versetzte Charlotte mit Laͤ¬ cheln: sie hat ja den Mund noch nicht auf¬ gethan. So? erwiederte Eduard, indem er sich zu besinnen schien: das waͤre doch wunderbar! Charlotte gab dem neuen Ankoͤmmling nur wenige Winke, wie es mit dem Hausgeschaͤfte zu halten sey. Ottilie hatte schnell die ganze Ordnung eingesehen, ja was noch mehr ist, empfunden. Was sie fuͤr alle, fuͤr einen Je¬ den insbesondre zu besorgen hatte, begriff sie leicht. Alles geschah puͤnctlich. Sie wußte anzuordnen, ohne daß sie zu befehlen schien, und wo Jemand saͤumte, verrichtete sie das Geschaͤft gleich selbst. Sobald sie gewahr wurde, wie viel Zeit ihr uͤbrig blieb, bat sie Charlotten ihre Stun¬ den eintheilen zu duͤrfen, die nun genau be¬ obachtet wurden. Sie arbeitete das Vorge¬ setzte auf eine Art, von der Charlotte durch den Gehuͤlfen unterrichtet war. Man ließ sie gewaͤhren. Nur zuweilen suchte Charlotte sie anzuregen. So schob sie ihr manchmal abgeschriebene Federn unter, um sie auf einen freyeren Zug der Handschrift zu leiten; aber auch diese waren bald wieder scharf geschnitten. Die Frauenzimmer hatten untereinander festgesetzt, franzoͤsisch zu reden wenn sie allein waͤren; und Charlotte beharrte um so mehr dabey, als Ottilie gespraͤchiger in der frem¬ den Sprache war, indem man ihr die Uebung derselben zur Pflicht gemacht hatte. Hier sagte sie oft mehr als sie zu wollen schien. Besonders ergetzte sich Charlotte an einer zu¬ faͤlligen, zwar genauen aber doch liebevollen Schilderung der ganzen Pensionsanstalt. Ot¬ tilie ward ihr eine liebe Gesellschafterinn, und sie hoffte dereinst an ihr eine zuverlaͤssige Freundinn zu finden. Charlotte nahm indeß die aͤlteren Papiere wieder vor, die sich auf Ottilien bezogen, um sich in Erinnerung zu bringen, was die Vor¬ steherinn, was der Gehuͤlfe uͤber das gute Kind geurtheilt, um es mit ihrer Persoͤnlich¬ keit selbst zu vergleichen. Denn Charlotte war der Meynung, man koͤnne nicht geschwind genug mit dem Character der Menschen be¬ kannt werden, mit denen man zu leben hat, um zu wissen, was sich von ihnen erwarten, was sich an ihnen bilden laͤßt, oder was man ihnen ein fuͤr allemal zugestehen und verzei¬ hen muß. Sie fand zwar bey dieser Untersuchung nichts neues, aber manches Bekannte ward ihr bedeutender und auffallender. So konnte ihr z. B. Ottiliens Maͤßigkeit im Essen und Trinken wirklich Sorge machen. Das naͤchste was die Frauen beschaͤftigte war der Anzug. Charlotte verlangte von Ot¬ tilien, sie solle in Kleidern reicher und mehr ausgesucht erscheinen. Sogleich schnitt das gute thaͤtige Kind die ihr fruͤher geschenkten Stoffe selbst zu und wußte sie sich, mit ge¬ ringer Beyhuͤlfe anderer, schnell und hoͤchst zierlich anzupassen. Die neuen, modischen Gewaͤnder erhoͤhten ihre Gestalt: denn indem das Angenehme einer Person sich auch uͤber ihre Huͤlle verbreitet, so glaubt man sie im¬ mer wieder von neuem und anmuthiger zu sehen, wenn sie ihre Eigenschaften einer neuen Umgebung mittheilt. Dadurch ward sie den Maͤnnern, wie von Anfang so immer mehr, daß wir es nur mit dem rechten Namen nennen, ein wahrer Au¬ gentrost. Denn wenn der Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesicht wohl thut, ja sogar einige Heilkraft an diesem edlen Sinn ausuͤbt; so wirkt die menschliche Schoͤnheit noch mit weit groͤßerer Gewalt auf den aͤu¬ ßern und inneren Sinn. Wer sie erblickt, den kann nichts uͤbles anwehen; er fuͤhlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Ueber¬ einstimmung. Auf manche Weise hatte daher die Ge¬ sellschaft durch Ottiliens Ankunft gewonnen. Die beyden Freunde hielten regelmaͤßiger die Stunden, ja die Minuten der Zusammen¬ kuͤnfte. Sie ließen weder zum Essen, noch zum Thee, noch zum Spaziergang laͤnger als billig auf sich warten. Sie eilten, besonders Abends, nicht sobald von Tische weg. Char¬ lotte bemerkte das wohl und ließ beyde nicht unbeobachtet. Sie suchte zu erforschen, ob einer vor dem andern hiezu den Anlaß gaͤbe; aber sie konnte keinen Unterschied bemerken. Beyde zeigten sich uͤberhaupt geselliger. Bey ihren Unterhaltungen schienen sie zu bedenken, was Ottiliens Theilnahme zu erregen geeignet seyn moͤchte, was ihren Einsichten, ihren uͤbri¬ gen Kenntnissen gemaͤß waͤre. Beym Lesen und Erzaͤhlen hielten sie inne, bis sie wieder¬ kam. Sie wurden milder und im Ganzen mittheilender. In Erwiederung dagegen wuchs die Dienst¬ beflissenheit Ottiliens mit jedem Tage. Je mehr sie das Haus, die Menschen, die Ver¬ haͤltnisse kennen lernte, desto lebhafter griff sie ein, desto schneller verstand sie jeden Blick, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut. Ihre ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer gleich, so wie ihre gelassene Regsamkeit. Und so war ihr Sitzen, Aufstehen, Gehen, Kom¬ men, Hohlen, Bringen, wieder Niedersitzen, ohne einen Schein von Unruhe ein ewiger Wechsel, eine ewige angenehme Bewegung. Dazu kam, daß man sie nicht gehen hoͤrte, so leise trat sie auf. Diese anstaͤndige Dienstfertigkeit Ottiliens machte Charlotten viele Freude. Ein einziges was ihr nicht ganz angemessen vorkam, ver¬ barg sie Ottilien nicht. Es gehoͤrt, sagte sie eines Tages zu ihr, unter die lobenswuͤrdi¬ gen Aufmerksamkeiten, daß wir uns schnell buͤcken, wenn Jemand etwas aus der Hand fallen laͤßt, und es eilig aufzuheben suchen. Wir bekennen uns dadurch ihm gleichsam dienstpflichtig; nur ist in der groͤßern Welt dabey zu bedenken, wem man eine solche Er¬ gebenheit bezeigt. Gegen Frauen will ich dir daruͤber keine Gesetze vorschreiben. Du bist jung. Gegen Hoͤhere und Aeltere ist es Schuldigkeit, gegen deines Gleichen Artig¬ keit, gegen Juͤngere und Niedere zeigt man sich dadurch menschlich und gut; nur will es einem Frauenzimmer nicht wohl geziemen, sich Maͤnnern auf diese Weise ergeben und dienstbar zu bezeigen. Ich will es mir abzugewoͤhnen suchen, versetzte Ottilie. Indessen werden Sie mir diese Unschicklichkeit vergeben, wenn ich Ih¬ nen sage, wie ich dazu gekommen bin. Man hat uns die Geschichte gelehrt; ich habe nicht so viel daraus behalten, als ich wohl gesollt haͤtte: denn ich wußte nicht wozu ich's brau¬ chen wuͤrde. Nur einzelne Begebenheiten sind mir sehr eindruͤcklich gewesen; so fol¬ gende: Als Carl der Erste von England vor sei¬ nen sogenannten Richtern stand, fiel der goldne Knopf des Stoͤckchens das er trug herunter. Gewohnt, daß bey solchen Gelegenheiten sich alles fuͤr ihn bemuͤhte, schien er sich umzu¬ sehen und zu erwarten, daß ihm Jemand auch dießmal den kleinen Dienst erzeigen sollte. Es regte sich Niemand; er buͤckte sich selbst, um den Knopf aufzuheben. Mir kam das so schmerzlich vor, ich weiß nicht ob mit Recht, daß ich von jenem Augenblick an Niemanden kann etwas aus den Haͤnden fal¬ len sehn, ohne mich darnach zu buͤcken. Da es aber freylich nicht immer schicklich seyn mag, und ich, fuhr sie laͤchelnd fort, nicht jederzeit meine Geschichte erzaͤhlen kann; so will ich mich kuͤnftig mehr zuruͤckhalten. Indessen hatten die guten Anstalten, zu denen sich die beyden Freunde berufen fuͤhl¬ ten, ununterbrochenen Fortgang. Ja taͤglich fanden sie neuen Anlaß etwas zu bedenken und zu unternehmen. Als sie eines Tages zusammen durch das Dorf gingen, bemerkten sie mißfaͤllig, wie I . 8 weit es an Ordnung und Reinlichkeit hinter jenen Doͤrfern zuruͤckstehe, wo die Bewohner durch die Kostbarkeit des Raums auf beydes hingewiesen werden. Du erinnerst dich, sagte der Hauptmann, wie wir auf unserer Reise durch die Schweiz den Wunsch aͤußerten, eine laͤndliche sogenannte Parkanlage recht eigentlich zu verschoͤnern, in¬ dem wir ein so gelegenes Dorf, nicht zur Schweizer-Bauart, sondern zur Schweizer- Ordnung und Sauberkeit, welche die Benu¬ tzung so sehr befoͤrdern, einrichteten. Hier z. B., versetzte Eduard, ginge das wohl an. Der Schloßberg verlaͤuft sich in einen vorspringenden Winkel herunter; das Dorf ist ziemlich regelmaͤßig im Halbzirkel ge¬ genuͤber gebaut; dazwischen fließt der Bach, gegen dessen Anschwellen sich der eine mit Steinen, der andre mit Pfaͤhlen, wieder ei¬ ner mit Balken, und der Nachbar sodann mit Planken verwahren will, keiner aber den andern foͤrdert, vielmehr sich und den uͤbrigen Schaden und Nachtheil bringt. So geht der Weg auch in ungeschickter Bewegung bald herauf, bald herab, bald durchs Wasser, bald uͤber Steine. Wollten die Leute mit Hand anlegen, so wuͤrde kein großer Zuschuß noͤthig seyn, um hier eine Mauer im Halbkreis auf¬ zufuͤhren, den Weg dahinter bis an die Haͤu¬ ser zu erhoͤhen, den schoͤnsten Raum herzu¬ stellen, der Reinlichkeit Platz zu geben und durch eine ins Große gehende Anstalt alle kleine unzulaͤngliche Sorge auf einmal zu ver¬ bannen. Laß es uns versuchen, sagte der Haupt¬ mann, indem er die Lage mit den Augen uͤberlief und schnell beurtheilte. Ich mag mit Buͤrgern und Bauern nichts zu thun haben, wenn ich ihnen nicht geradezu befehlen kann, versetzte Eduard. 8 * Du hast so Unrecht nicht, erwiederte der Hauptmann: denn auch mir machten derglei¬ chen Geschaͤfte im Leben schon viel Verdruß. Wie schwer ist es, daß der Mensch recht ab¬ waͤge, was man aufopfern muß gegen das was zu gewinnen ist! wie schwer, den Zweck zu wollen und die Mittel nicht zu verschmaͤ¬ hen! Viele verwechseln gar die Mittel und den Zweck, erfreuen sich an jenen, ohne die¬ sen im Auge zu behalten. Jedes Uebel soll an der Stelle geheilt werden, wo es zum Vorschein kommt, und man bekuͤmmert sich nicht um jenen Punct, wo es eigentlich seinen Ursprung nimmt, woher es wirkt. Deswe¬ gen ist es so schwer Rath zu pflegen, beson¬ ders mit der Menge, die im Taͤglichen ganz verstaͤndig ist, aber selten weiter sieht als auf Morgen. Kommt nun gar dazu, daß der eine bey einer gemeinsamen Anstalt gewinnen, der andre verlieren soll, da ist mit Vergleich nun gar nichts auszurichten. Alles eigentlich gemeinsame Gute muß durch das unumschraͤnkte Majestaͤtsrecht gefoͤrdert werden. Indem sie standen und sprachen, bettelte sie ein Mensch an, der mehr frech als be¬ duͤrftig aussah. Eduard, ungern unterbrochen und beunruhigt, schalt ihn, nachdem er ihn einigemal vergebens gelassener abgewiesen hatte; als aber der Kerl sich murrend, ja gegen¬ scheltend, mit kleinen Schritten entfernte, auf die Rechte des Bettlers trotzte, dem man wohl ein Almosen versagen, ihn aber nicht beleidigen duͤrfe, weil er so gut wie jeder an¬ dere unter dem Schutze Gottes und der Obrig¬ keit stehe, kam Eduard ganz aus der Fassung. Der Hauptmann, ihn zu beguͤtigen, sagte darauf: laß uns diesen Vorfall als eine Auf¬ forderung annehmen, unsere laͤndliche Polizey auch hieruͤber zu erstrecken. Almosen muß man einmal geben; man thut aber besser, wenn man sie nicht selbst giebt, besonders zu Hause. Da sollte man maͤßig und gleichfoͤrmig in al¬ lem seyn, auch im Wohlthun. Eine allzu¬ reichliche Gabe lockt Bettler herbey, anstatt sie abzufertigen; dagegen man wohl auf der Reise, im Vorbeyfliegen, einem Armen an der Straße in der Gestalt des zufaͤlligen Gluͤcks erscheinen und ihm eine uͤberraschende Gabe zuwerfen mag. Uns macht die Lage des Dorfes, des Schlosses, eine solche An¬ stalt sehr leicht; ich habe schon fruͤher daruͤber nachgedacht. An dem einen Ende des Dorfes liegt das Wirthshaus, an dem andern wohnen ein Paar alte gute Leute; an beyden Orten mußt du eine kleine Geldsumme niederlegen. Nicht der ins Dorf hereingehende, sondern der hinaus¬ gehende erhaͤlt etwas; und da die beyden Haͤu¬ ser zugleich an den Wegen stehen die auf das Schloß fuͤhren, so wird auch alles was sich hinaufwenden wollte, an die beyden Stellen gewiesen. Komm, sagte Eduard, wir wollen das gleich abmachen; das Genauere koͤnnen wir immer noch nachhohlen. Sie gingen zum Wirth und zu dem alten Paare, und die Sache war abgethan. Ich weiß recht gut, sagte Eduard, indem sie zusammen den Schloßberg wieder hinauf¬ stiegen, daß alles in der Welt ankommt auf einen gescheiden Einfall und auf einen festen Entschluß. So hast du die Parkanlagen mei¬ ner Frau sehr richtig beurtheilt, und mir auch schon einen Wink zum Bessern gegeben, den ich ihr, wie ich gar nicht laͤugnen will, so¬ gleich mitgetheilt habe. Ich konnte es vermuthen, versetzte der Hauptmann, aber nicht billigen. Du hast sie irre gemacht; sie laͤßt alles liegen und trutzt in dieser einzigen Sache mit uns: denn sie vermeidet davon zu reden und hat uns nicht wieder zur Mooshuͤtte geladen, ob sie gleich mit Ottilien in den Zwischenstunden hinauf¬ geht. Dadurch muͤssen wir uns, versetzte Eduard, nicht abschrecken lassen. Wenn ich von et¬ was Gutem uͤberzeugt bin, was geschehen koͤnnte und sollte, so habe ich keine Ruhe bis ich es gethan sehe. Sind wir doch sonst klug etwas einzuleiten. Laß uns die engli¬ schen Parkbeschreibungen mit Kupfern zur Abendunterhaltung vornehmen, nachher deine Guts-Charte. Man muß es erst problema¬ tisch und nur wie zum Scherz behandeln, der Ernst wird sich schon finden. Nach dieser Verabredung wurden die Buͤ¬ cher aufgeschlagen, worin man jedesmal den Grundriß der Gegend und ihre landschaftliche Ansicht in ihrem ersten rohen Naturzustande gezeichnet sah, sodann auf andern Blaͤttern die Veraͤnderung vorgestellt fand, welche die Kunst daran vorgenommen, um alles das be¬ stehende Gute zu nutzen und zu steigern. Hie¬ von war der Uebergang zur eigenen Besitzung, zur eignen Umgebung, und zu dem was man daran ausbilden koͤnnte, sehr leicht. Die von dem Hauptmann entworfene Charte zum Grunde zu legen war nunmehr eine angenehme Beschaͤftigung, nur konnte man sich von jener ersten Vorstellung, nach der Charlotte die Sache einmal angefangen hatte, nicht ganz losreißen. Doch erfand man einen leichtern Aufgang auf die Hoͤhe; man wollte oberwaͤrts am Abhange vor einem angenehmen Hoͤlzchen ein Lustgebaͤude auf¬ fuͤhren; dieses sollte einen Bezug aufs Schloß haben, aus den Schloßfenstern sollte man es uͤbersehen, von dorther Schloß und Gaͤrten wieder bestreichen koͤnnen. Der Hauptmann hatte alles wohl uͤber¬ legt und gemessen, und brachte jenen Dorf¬ weg, jene Mauer am Bache her, jene Aus¬ fuͤllung wieder zur Sprache. Ich gewinne, sagte er, indem ich einen bequemen Weg zur Anhoͤhe hinauf fuͤhre, gerade soviel Steine, als ich zu jener Mauer bedarf. Sobald eins ins andre greift, wird beydes wohlfeiler und geschwinder bewerkstelligt. Nun aber, sagte Charlotte, kommt meine Sorge. Nothwendig muß etwas Bestimmtes ausgesetzt werden; und wenn man weiß, wieviel zu einer solchen Anlage erforderlich ist, dann theilt man es ein, wo nicht auf Wochen, doch wenigstens auf Monate. Die Kasse ist unter meinem Beschluß; ich zahle die Zettel, und die Rechnung fuͤhre ich selbst. Du scheinst uns nicht sonderlich viel zu vertrauen, sagte Eduard. Nicht viel in willkuͤhrlichen Dingen, ver¬ setzte Charlotte. Die Willkuͤhr wissen wir besser zu beherrschen als ihr. Die Einrichtung war gemacht, die Arbeit rasch angefangen, der Hauptmann immer ge¬ genwaͤrtig, und Charlotte nunmehr fast taͤg¬ lich Zeuge seines ernsten und bestimmten Sin¬ nes. Auch er lernte sie naͤher kennen, und beyden wurde es leicht, zusammen zu wirken und etwas zu Stande zu bringen. Es ist mit den Geschaͤften wie mit dem Tanze; Personen die gleichen Schritt halten, muͤssen sich unentbehrlich werden; ein wech¬ selseitiges Wohlwollen muß nothwendig dar¬ aus entspringen, und daß Charlotte dem Hauptmann, seitdem sie ihn naͤher kennen ge¬ lernt, wirklich wohlwollte, davon war ein siche¬ rer Beweis, daß sie ihn einen schoͤnen Ruhe¬ platz, den sie bey ihren ersten Anlagen besonders ausgesucht und verziert hatte, der aber seinem Plane entgegenstand, ganz gelassen zerstoͤren ließ, ohne auch nur die mindeste unangeneh¬ me Empfindung dabey zu haben. Siebentes Kapitel. Indem nun Charlotte mit dem Haupt¬ mann eine gemeinsame Beschaͤftigung fand, so war die Folge, daß sich Eduard mehr zu Ottilien gesellte. Fuͤr sie sprach ohnehin seit einiger Zeit eine stille freundliche Neigung in seinem Herzen. Gegen Jedermann war sie dienstfertig und zuvorkommend; daß sie es ge¬ gen ihn am meisten sey, das wollte seiner Selbstliebe scheinen. Nun war keine Frage: was fuͤr Speisen und wie er sie liebte, hatte sie schon genau bemerkt; wieviel er Zucker zum Thee zu nehmen pflegte, und was der¬ gleichen mehr ist, entging ihr nicht. Beson¬ ders war sie sorgfaͤltig, alle Zugluft abzuweh¬ ren, gegen die er eine uͤbertriebene Empfind¬ lichkeit zeigte, und deshalb mit seiner Frau, der es nicht lustig genug seyn konnte, manch¬ mal in Widerspruch gerieth. Eben so wußte sie im Baum- und Blumengarten Bescheid. Was er wuͤnschte suchte sie zu befoͤrdern, was ihn ungeduldig machen konnte, zu verhuͤthen, dergestalt, daß sie in kurzem wie ein freund¬ licher Schutzgeist ihm unentbehrlich ward und er anfing ihre Abwesenheit schon peinlich zu empfinden. Hiezu kam noch, daß sie ge¬ spraͤchiger und offner schien sobald sie sich allein trafen. Eduard hatte bey zunehmenden Jahren immer etwas Kindliches behalten, das der Jugend Ottiliens besonders zusagte. Sie er¬ innerten sich gern fruͤherer Zeiten, wo sie ein¬ ander gesehen; es stiegen diese Erinnerungen bis in die ersten Epochen der Neigung Eduards zu Charlotten. Ottilie wollte sich der beyden noch als des schoͤnsten Hofpaares erinnern; und wenn Eduard ihr ein solches Gedaͤchtniß aus ganz fruͤher Jugend absprach, so behaup¬ tete sie doch besonders einen Fall noch vollkom¬ men gegenwaͤrtig zu haben, wie sie sich ein¬ mal, bey seinem Hereintreten, in Charlottens Schooß versteckt, nicht aus Furcht, sondern aus kindischer Ueberraschung. Sie haͤtte da¬ zu setzen koͤnnen: weil er so lebhaften Ein¬ druck auf sie gemacht, weil er ihr gar so wohl gefallen. Bey solchen Verhaͤltnissen waren manche Geschaͤfte, welche die beyden Freunde zusam¬ men fruͤher vorgenommen, gewissermaßen in Stocken gerathen, so daß sie fuͤr noͤthig fan¬ den sich wieder eine Uebersicht zu verschaffen, einige Aufsaͤtze zu entwerfen, Briefe zu schrei¬ ben. Sie bestellten sich deshalb auf ihre Canzley, wo sie den alten Copisten muͤßig fanden. Sie gingen an die Arbeit und ga¬ ben ihm bald zu thun, ohne zu bemerken, daß sie ihm manches aufbuͤrdeten, was sie sonst selbst zu verrichten gewohnt waren. Gleich der erste Aufsatz wollte dem Haupt¬ mann, gleich der erste Brief Eduarden nicht gelingen. Sie quaͤlten sich eine Zeit lang mit Concipiren und Umschreiben, bis endlich Eduard, dem es am wenigsten von statten ging, nach der Zeit fragte. Da zeigte sich denn, daß der Hauptmann vergessen hatte seine chronometrische Secunden- Uhr aufzuziehen, das erstemal seit vielen Jah¬ ren; und sie schienen, wo nicht zu empfin¬ den, doch zu ahnden, daß die Zeit anfange ihnen gleichguͤltig zu werden. Indem so die Maͤnner einigermaßen in ihrer Geschaͤftigkeit nachließen, wuchs viel¬ mehr die Thaͤtigkeit der Frauen. Ueberhaupt nimmt die gewoͤhnliche Lebensweise einer Fa¬ milie, die aus den gegebenen Personen und aus nothwendigen Umstaͤnden entspringt, auch wohl eine außerordentliche Neigung, eine werdende Leidenschaft, in sich wie in ein Ge¬ faͤß auf, und es kann eine ziemliche Zeit ver¬ gehen, ehe dieses neue Ingrediens eine merk¬ liche Gaͤrung verursacht und schaͤumend uͤber den Rand schwillt. Bey unsern Freunden waren die entstehen¬ den wechselseitigen Neigungen von der ange¬ nehmsten Wirkung. Die Gemuͤther oͤffneten sich, und ein allgemeines Wohlwollen ent¬ sprang aus dem besonderen. Jeder Theil fuͤhlte sich gluͤcklich und goͤnnte dem andern sein Gluͤck. Ein solcher Zustand erhebt den Geist, in¬ dem er das Herz erweitert, und alles was man thut und vornimmt, hat eine Richtung gegen das Unermeßliche. So waren auch die Freunde nicht mehr in ihrer Wohnung be¬ fangen. Ihre Spazirgaͤnge dehnten sich wei¬ ter aus, und wenn dabey Eduard mit Ottilien, die Pfade zu waͤhlen, die Wege zu bahnen, vorauseilte; so folgte der Hauptmann mit Charlotten in bedeutender Unterhaltung, theil¬ nehmend an manchem neuentdeckten Plaͤtzchen, an mancher unerwarteten Aussicht, geruhig der Spur jener rascheren Vorgaͤnger. Eines Tages leitete sie ihr Spazirgang durch die Schloßpforte des rechten Fluͤgels hinunter nach dem Gasthofe, uͤber die Bruͤcke gegen die Teiche zu, an denen sie hingingen, so weit man gewoͤhnlich das Wasser verfolgte, dessen Ufer sodann von einem buschigen Huͤ¬ gel und weiterhin von Felsen eingeschlossen aufhoͤrte gangbar zu seyn. Aber Eduard, dem von seinen Jagdwande¬ rungen her die Gegend bekannt war, drang mit Ottilien auf einem bewachsenen Pfade weiter vor, wohl wissend, daß die alte, zwischen Fel¬ sen versteckte Muͤhle nicht weit abliegen konnte. Allein der wenig betretene Pfad verlor sich bald, und sie fanden sich im dichten Gebuͤsch zwischen moosigem Gestein verirrt, doch nicht I . 9 lange: denn das Rauschen der Raͤder ver¬ kuͤndigte ihnen sogleich die Naͤhe des gesuchten Ortes. Auf eine Klippe vorwaͤrts tretend sahen sie das alte schwarze wunderliche Holzgebaͤude im Grunde vor sich, von steilen Felsen so wie von hohen Baͤumen umschattet. Sie entschlossen sich kurz und gut uͤber Moos und Felstruͤmmer hinabzusteigen: Eduard voran; und wenn er nun in die Hoͤhe sah, und Ot¬ tilie leicht schreitend, ohne Furcht und Aengst¬ lichkeit, im schoͤnsten Gleichgewicht von Stein zu Stein ihm folgte, glaubte er ein himmli¬ sches Wesen zu sehen, das uͤber ihm schwebte. Und wenn sie nun manchmal an unsicherer Stelle seine ausgestreckte Hand ergriff, ja sich auf seine Schulter stuͤtzte, dann konnte er sich nicht verlaͤugnen, daß es das zarteste weibliche Wesen sey, das ihn beruͤhrte. Fast haͤtte er gewuͤnscht, sie moͤchte straucheln, glei¬ ten, daß er sie in seine Arme auffangen, sie an sein Herz druͤcken koͤnnte. Doch dieß haͤtte er unter keiner Bedingung gethan, aus mehr als einer Ursache: er fuͤrchtete sie zu beleidi¬ gen, sie zu beschaͤdigen. Wie dieß gemeint sey, erfahren wir so¬ gleich. Denn als er nun herabgelangt, ihr unter den hohen Baͤumen am laͤndlichen Ti¬ sche gegenuͤber saß, die freundliche Muͤllerinn nach Milch, der bewillkommende Muͤller Char¬ lotten und dem Hauptmann entgegen gesandt war, fing Eduard mit einigem Zaudern zu sprechen an. Ich habe eine Bitte, liebe Ottilie: ver¬ zeihen Sie mir die, wenn Sie mir sie auch versagen. Sie machen kein Geheimniß dar¬ aus, und es braucht es auch nicht, daß Sie unter Ihrem Gewand, auf Ihrer Brust ein Miniaturbild tragen. Es ist das Bild Ih¬ res Vaters, des braven Mannes, den Sie kaum gekannt, und der in jedem Sinne eine 9 * Stelle an Ihrem Herzen verdient. Aber ver¬ geben Sie mir: das Bild ist ungeschickt groß, und dieses Metall, dieses Glas macht mir tau¬ send Aengsten, wenn Sie ein Kind in die Hoͤhe heben, etwas vor sich hintragen, wenn die Kutsche schwankt, wenn wir durchs Ge¬ buͤsch dringen, eben jetzt, wie wir vom Fel¬ sen herabstiegen. Mir ist die Moͤglichkeit schrecklich, daß irgend ein unvorgesehener Stoß, ein Fall, eine Beruͤhrung Ihnen schaͤdlich und verderblich seyn koͤnnte. Thun Sie es mir zu Liebe, entfernen Sie das Bild, nicht aus Ihrem Andenken, nicht aus Ihrem Zimmer; ja geben Sie ihm den schoͤnsten, den heiligsten Ort Ihrer Wohnung: nur von Ihrer Brust entfernen Sie etwas, dessen Naͤhe mir, viel¬ leicht aus uͤbertriebener Aengstlichkeit, so ge¬ faͤhrlich scheint. Ottilie schwieg, und hatte waͤhrend er sprach vor sich hingesehen; dann, ohne Ueber¬ eilung und ohne Zaudern, mit einem Blick mehr gen Himmel als auf Eduard gewendet, loͤste sie die Kette, zog das Bild hervor, druͤckte es gegen ihre Stirn und reichte es dem Freunde hin, mit den Worten: heben Sie mir es auf, bis wir nach Hause kom¬ men. Ich vermag Ihnen nicht besser zu be¬ zeigen, wie sehr ich Ihre freundliche Sorg¬ falt zu schaͤtzen weiß. Der Freund wagte nicht das Bild an seine Lippen zu druͤcken, aber er faßte ihre Hand und druͤckte sie an seine Augen. Es waren vielleicht die zwey schoͤnsten Haͤnde, die sich jemals zusammenschlossen. Ihm war, als wenn ihm ein Stein vom Herzen gefal¬ len waͤre, als wenn sich eine Scheidewand zwischen ihm und Ottilien niedergelegt haͤtte. Vom Muͤller gefuͤhrt langten Charlotte und der Hauptmann auf einem bequemeren Pfade herunter. Man begruͤßte sich, man erfreute und erquickte sich. Zuruͤck wollte man denselben Weg nicht kehren, und Eduard schlug einen Felspfad auf der andern Seite des Baches vor, auf welchem die Teiche wie¬ der zu Gesicht kamen, indem man ihn mit einiger Anstrengung zuruͤcklegte. Nun durch¬ strich man abwechselndes Gehoͤlz und erblickte, nach dem Lande zu, mancherley Doͤrfer, Fle¬ cken, Meyereyen mit ihren gruͤnen und frucht¬ baren Umgebungen; zunaͤchst ein Vorwerk, das an der Hoͤhe, mitten im Holze gar ver¬ traulich lag. Am schoͤnsten zeigte sich der groͤßte Reichthum der Gegend, vor und ruͤck¬ waͤrts, auf der sanfterstiegenen Hoͤhe, von da man zu einem lustigen Waͤldchen gelangte, und beym Heraustreten aus demselben sich auf dem Felsen den Schlosse gegenuͤber befand. Wie froh waren sie, als sie daselbst ge¬ wissermaßen unvermuthet ankamen. Sie hat¬ ten eine kleine Welt umgangen; sie standen auf dem Platze wo das neue Gebaͤude hin¬ kommen sollte, und sahen wieder in die Fen¬ ster ihrer Wohnung. Man stieg zur Mooshuͤtte hinunter, und saß zum erstenmal darin zu vieren. Nichts war natuͤrlicher, als daß einstimmig der Wunsch ausgesprochen wurde, dieser heutige Weg, den sie langsam und nicht ohne Be¬ schwerlichkeit gemacht, moͤchte dergestalt ge¬ fuͤhrt und eingerichtet werden, daß man ihn gesellig, schlendernd und mit Behaglichkeit zu¬ ruͤcklegen koͤnnte. Jedes that Vorschlaͤge, und man berechnete, daß der Weg, zu welchem sie mehrere Stunden gebraucht hatten, wohl ge¬ bahnt in einer Stunde zum Schloß zuruͤck¬ fuͤhren muͤßte. Schon legte man in Gedan¬ ken, unterhalb der Muͤhle, wo der Bach in die Teiche fließt, eine Wegverkuͤrzende und die Landschaft zierende Bruͤcke an, als Char¬ lotte der erfindenden Einbildungskraft einigen Stillstand gebot, indem sie an die Kosten er¬ innerte, welche zu einem solchen Unternehmen erforderlich seyn wuͤrden. Hier ist auch zu helfen, versetzte Eduard. Jenes Vorwerk im Walde, das so schoͤn zu liegen scheint, und so wenig eintraͤgt, duͤrfen wir nur veraͤußern und das daraus Geloͤste zu diesen Anlagen verwenden; so genießen wir vergnuͤglich auf einem unschaͤtzbaren Spa¬ zirgange die Interessen eines wohlangelegten Capitals, da wir jetzt mit Mismuth, bey letzter Berechnung am Schlusse des Jahrs, eine kuͤmmerliche Einnahme davon ziehen. Charlotte selbst konnte als gute Haushaͤl¬ terin nicht viel dagegen erinnern. Die Sache war schon fruͤher zur Sprache gekommen. Nun wollte der Hauptmann einen Plan zu Zerschlagung der Grundstuͤcke unter die Wald¬ bauern machen; Eduard aber wollte kuͤrzer und bequemer verfahren wissen. Der gegen¬ waͤrtige Pachter, der schon Vorschlaͤge gethan hatte; sollte es erhalten, Terminweise zahlen und so Terminweise wollte man die planmaͤ¬ ßigen Anlagen von Strecke zu Strecke vor¬ nehmen. So eine vernuͤnftige gemaͤßigte Einrich¬ tung mußte durchaus Beyfall finden, und schon sah die ganze Gesellschaft im Geiste die neuen Wege sich schlaͤngeln, auf denen und in deren Naͤhe man noch die angenehmsten Ruhe- und Aussichtsplaͤtze zu entdecken hoffte. Um sich alles mehr im Einzelnen zu ver¬ gegenwaͤrtigen nahm man Abends zu Hause sogleich die neue Charte vor. Man uͤbersah den zuruͤckgelegten Weg und wie er vielleicht an einigen Stellen noch vortheilhafter zu fuͤh¬ ren waͤre. Alle fruͤheren Vorsaͤtze wurden nochmals durchgesprochen und mit den neue¬ sten Gedanken verbunden, der Platz des neuen Hauses, gegen dem Schloß uͤber, nochmals gebilligt und der Kreislauf der Wege bis da¬ hin abgeschlossen. Ottilie hatte zu dem allen geschwiegen, als Eduard zuletzt den Plan, der bisher vor Charlotten gelegen, vor sie hinwandte und sie zugleich einlud, ihre Meinung zu sagen, und als sie einen Augenblick anhielt, sie liebevoll ermunterte, doch ja nicht zu schweigen: al¬ les sey ja noch gleichguͤltig, alles noch im Werden. Ich wuͤrde, sagte Ottilie, indem sie den Finger auf die hoͤchste Flaͤche der Anhoͤhe setzte, das Haus hieher bauen. Man saͤhe zwar das Schloß nicht: denn es wird von dem Waͤldchen bedeckt; aber man befaͤnde sich auch dafuͤr wie in einer andern und neuen Welt, indem zugleich das Dorf und alle Woh¬ nungen verborgen waͤren. Die Aussicht auf die Teiche, nach der Muͤhle, auf die Hoͤhen, in die Gebirge, nach dem Lande zu, ist außer¬ ordentlich schoͤn; ich habe es im Vorbeygehen bemerkt. Sie hat Recht! rief Eduard: wie konnte uns das nicht einfallen? Nicht wahr, so ist es gemeint, Ottilie? — Er nahm einen Bley¬ stift und strich ein laͤngliches Viereck recht stark und derb auf die Anhoͤhe. Dem Hauptmann fuhr das durch die Seele: denn er sah einen sorgfaͤltigen, reinlich gezeich¬ neten Plan ungern auf diese Weise verun¬ staltet; doch faßte er sich nach einer leisen Misbilligung und ging auf den Gedanken ein. Ottilie hat Recht, sagte er: Macht man nicht gern eine entfernte Spazirfahrt, um einen Kaffee zu trinken, einen Fisch zu genießen, der uns zu Hause nicht so gut ge¬ schmeckt haͤtte. Wir verlangen Abwechselung und fremde Gegenstaͤnde. Das Schloß haben die Alten mit Vernunft hieher gebaut: denn es liegt geschuͤtzt vor den Winden, und nah an allen taͤglichen Beduͤrfnissen; ein Gebaͤude hingegen, mehr zum geselligen Aufenthalt als zur Wohnung, wird sich dorthin recht wohl schicken und in der guten Jahrszeit die ange¬ nehmsten Stunden gewaͤhren. Jemehr man die Sache durchsprach desto guͤnstiger erschien sie, und Eduard konnte sei¬ nen Triumph nicht bergen, daß Ottilie den Gedanken gehabt. Er war so stolz darauf als ob die Erfindung sein gewesen waͤre. Achtes Kapitel. Der Hauptmann untersuchte gleich am fruͤhsten Morgen den Platz, entwarf erst ei¬ nen fluͤchtigen, und als die Gesellschaft an Ort und Stelle sich nochmals entschieden hat¬ te, einen genauen Riß nebst Anschlag und allem Erforderlichen. Es fehlte nicht an der noͤthigen Vorbereitung. Jenes Geschaͤft we¬ gen Verkauf des Vorwerks ward auch sogleich wieder angegriffen. Die Maͤnner fanden zu¬ sammen neuen Anlaß zur Thaͤtigkeit. Der Hauptmann machte Eduarden bemerk¬ lich, daß es eine Artigkeit, ja wohl gar eine Schuldigkeit sey, Charlottens Geburtstag durch Legung des Grundsteins zu feyern. Es bedurfte nicht viel, die alte Abneigung Edu¬ ards gegen solche Feste zu uͤberwinden: denn es kam ihm schnell in den Sinn, Ottiliens Geburtstag, der spaͤter fiel, gleichfalls recht feyerlich zu begehen. Charlotte, der die neuen Anlagen, und was deshalb geschehen sollte, bedeutend, ernst¬ lich, ja fast bedenklich vorkamen, beschaͤftigte sich damit, die Anschlaͤge, Zeit- und Geld¬ eintheilungen nochmals fuͤr sich durchzugehen. Man sah sich des Tages weniger, und mit desto mehr Verlangen suchte man sich des Abends auf. Ottilie war indessen schon voͤllig Herrinn des Haushaltes, und wie konnte es anders seyn, bey ihrem stillen und sichern Betragen. Auch war ihre ganze Sinnesweise dem Hause und dem Haͤuslichen mehr als der Welt, mehr als dem Leben im Freyen zugewendet. Edu¬ ard bemerkte bald, daß sie eigentlich nur aus Gefaͤlligkeit in die Gegend mitging, daß sie nur aus geselliger Pflicht Abends laͤnger drau¬ ßen verweilte, auch wohl manchmal einen Vorwand haͤuslicher Thaͤtigkeit suchte, um wie¬ der hinein zu gehen. Sehr bald wußte er daher die gemeinschaftlichen Wanderungen so einzurichten, daß man vor Sonnenuntergang wieder zu Hause war, und fing an, was er lange unterlassen hatte, Gedichte vorzulesen, solche besonders, in deren Vortrag der Aus¬ druck einer reinen doch leidenschaftlichen Liebe zu legen war. Gewoͤhnlich saßen sie Abends um einen kleinen Tisch, auf hergebrachten Plaͤtzen: Charlotte auf dem Sopha, Ottilie auf einem Sessel gegen ihr uͤber, und die Maͤnner nah¬ men die beyden andern Seiten ein. Ottilie saß Eduarden zur Rechten, wohin er auch das Licht schob, wenn er las. Alsdann ruͤckte sich Ottilie wohl naͤher, um ins Buch zu sehen: denn auch sie traute ihren eigenen Augen mehr als fremden Lippen; und Edu¬ ard gleichfalls ruͤckte zu, um es ihr auf alle Weise bequem zu machen; ja er hielt oft laͤngere Pausen als noͤthig, damit er nur nicht eher umwendete, bis auch sie zu Ende der Seite gekommen. Charlotte und der Hauptmann bemerkten es wohl und sahen manchmal einander laͤchelnd an; doch wurden beyde von einem andern Zeichen uͤberrascht, in welchem sich Ottiliens stille Neigung gelegentlich offenbarte. An einem Abende, welcher der kleinen Gesellschaft durch einen laͤstigen Besuch zum Theil verloren gegangen, that Eduard den Vorschlag noch beysammen zu bleiben. Er fuͤhlte sich aufgelegt seine Floͤte vorzunehmen, welche lange nicht an die Tagesordnung ge¬ kommen war. Charlotte suchte nach den So¬ naten, die sie zusammen gewoͤhnlich auszufuͤh¬ ren pflegten, und da sie nicht zu finden wa¬ ren, gestand Ottilie nach einigem Zaudern, daß sie solche mit auf ihr Zimmer genommen. Und Sie koͤnnen, Sie wollen mich auf dem Fluͤgel begleiten? rief Eduard, dem die Augen vor Freude glaͤnzten. Ich glaube wohl, versetzte Ottilie, daß es gehn wird. Sie brachte die Noten herbey und setzte sich ans Clavier. Die Zuhoͤrenden waren aufmerksam und uͤberrascht, wie vollkommen Ottilie das Musikstuͤck fuͤr sich selbst eingelernt hatte, aber noch mehr uͤberrascht, wie sie es der Spielart Eduards anzupassen wußte. Anzu¬ passen wußte ist nicht der rechte Ausdruck: denn wenn es von Charlottens Geschicklichkeit und freyem Willen abhing, ihrem bald zoͤ¬ gernden bald voreilenden Gatten zu Liebe, hier anzuhalten, dort mitzugehen; so schien Otti¬ lie, welche die Sonate von jenen einigemal spielen gehoͤrt, sie nur in dem Sinne einge¬ lernt zu haben, wie jener sie begleitete. Sie hatte seine Maͤngel so zu den ihrigen gemacht, l . 10 daß daraus wieder eine Art von lebendigem Ganzen entsprang, das sich zwar nicht tact¬ gemaͤß bewegte, aber doch hoͤchst angenehm und gefaͤllig lautete. Der Componist selbst haͤtte seine Freude daran gehabt, sein Werk auf eine so liebevolle Weise entstellt zu sehen. Auch diesem wundersamen, unerwarteten Begegniß sahen der Hauptmann und Char¬ lotte stillschweigend mit einer Empfindung zu, wie man oft kindische Handlungen betrachtet, die man wegen ihrer besorglichen Folgen ge¬ rade nicht billigt und doch nicht schelten kann, ja vielleicht beneiden muß. Denn eigentlich war die Neigung dieser beyden eben so gut im Wachsen als jene, und vielleicht nur noch gefaͤhrlicher dadurch, daß beyde ernster, siche¬ rer von sich selbst, sich zu halten faͤhiger waren. Schon fing der Hauptmann an zu fuͤh¬ len, daß eine unwiderstehliche Gewohnheit ihn an Charlotten zu fesseln drohte. Er gewann es uͤber sich, den Stunden auszuweichen, in denen Charlotte nach den Anlagen zu kom¬ men pflegte, indem er schon am fruͤhsten Morgen aufstand, alles anordnete und sich dann zur Arbeit auf seinen Fluͤgel ins Schloß zuruͤckzog. Die ersten Tage hielt es Char¬ lotte fuͤr zufaͤllig; sie suchte ihn an allen wahr¬ scheinlichen Stellen; dann glaubte sie ihn zu verstehen und achtete ihn nur um desto mehr. Vermied nun der Hauptmann mit Char¬ lotten allein zu seyn, so war er desto emsiger, zur glaͤnzenden Feyer des herannahenden Ge¬ burtsfestes die Anlagen zu betreiben und zu beschleunigen: denn indem er von unten hin¬ auf, hinter dem Dorfe her, den bequemen Weg fuͤhrte, so ließ er, vorgeblich um Steine zu brechen, auch von oben herunter arbeiten, und hatte alles so eingerichtet und berechnet, daß erst in der letzten Nacht die beyden Theile 10 * des Weges sich begegnen sollten. Zum neuen Hause oben war auch schon der Keller mehr gebrochen als gegraben, und ein schoͤner Grundstein mit Faͤchern und Deckplatten zu¬ gehauen. Die aͤußere Thaͤtigkeit, diese kleinen freund¬ lichen geheimnißvollen Absichten, bey innern mehr oder weniger zuruͤckgedraͤngten Empfin¬ dungen, ließen die Unterhaltung der Gesell¬ schaft, wenn sie beysammen war, nicht lebhaft werden, dergestalt daß Eduard, der etwas luͤckenhaftes empfand, den Hauptmann eines Abends aufrief, seine Violine hervorzunehmen und Charlotten bey dem Clavier zu begleiten. Der Hauptmann konnte dem allgemeinen Ver¬ langen nicht widerstehen, und so fuͤhrten bey¬ de, mit Empfindung, Behagen und Freyheit, eins der schwersten Musikstuͤcke zusammen auf, daß es ihnen und dem zuhoͤrenden Paar zum groͤßten Vergnuͤgen gereichte. Man versprach sich oͤftere Wiederhohlung und mehrere Zu¬ sammenuͤbung Sie machen es besser, als wir, Ottilie! sagte Eduard. Wir wollen sie bewundern, aber uns doch zusammen freuen. Neuntes Kapitel. Der Geburtstag war herbeygekommen und alles fertig geworden: die ganze Mauer die den Dorfweg gegen das Wasser zu einfaßte und erhoͤhte, eben so der Weg an der Kirche vor¬ bey, wo er eine Zeit lang in dem von Char¬ lotten angelegten Pfade fortlief, sich dann die Felsen hinaufwaͤrts schlang, die Mooshuͤtte links uͤber sich, dann nach einer voͤlligen Wen¬ dung links unter sich ließ und so allmaͤhlig auf die Hoͤhe gelangte. Es hatte sich diesen Tag viel Gesellschaft eingefunden. Man ging zur Kirche, wo man die Gemeinde im festlichen Schmuck versam¬ melt antraf. Nach dem Gottesdienste zogen Knaben, Juͤnglinge und Maͤnner, wie es an¬ geordnet war, voraus; dann kam die Herr¬ schaft mit ihrem Besuch und Gefolge; Maͤd¬ chen, Jungfrauen und Frauen machten den Beschluß. Bey der Wendung des Weges war ein erhoͤhter Felsenplatz eingerichtet; dort ließ der Hauptmann Charlotten und die Gaͤste aus¬ ruhen. Hier uͤbersahen sie den ganzen Weg, die hinaufgeschrittene Maͤnnerschaar, die nach¬ wandelnden Frauen, welche nun vorbeyzogen. Es war bey dem herrlichen Wetter ein wun¬ derschoͤner Anblick. Charlotte fuͤhlte sich uͤber¬ rascht, geruͤhrt und druͤckte dem Hauptmann herzlich die Hand. Man folgte der sachte fortschreitenden Menge, die nun schon einen Kreis um den kuͤnftigen Hausraum gebildet hatte. Der Bau¬ herr, die Seinigen und die vornehmsten Gaͤ¬ ste wurden eingeladen in die Tiefe hinabzu¬ steigen, wo der Grundstein an einer Seite unterstuͤtzt eben zum Niederlassen bereit lag. Ein wohlgeputzter Maurer, die Kelle in der einen, den Hammer in der andern Hand, hielt in Reimen eine anmuthige Rede, die wir in Prosa nur unvollkommen wiedergeben koͤnnen. Drey Dinge, fing er an, sind bey einem Gebaͤude zu beobachten: daß es am rechten Fleck stehe, daß es wohl gegruͤndet, daß es vollkommen ausgefuͤhrt sey. Das erste ist eigentlich die Sache des Bauherrn: denn wie in der Stadt nur der Fuͤrst und die Gemeine bestimmen koͤnnen, wohin gebaut werden soll; so ist es auf dem Lande das Vorrecht des Grundherren, daß er sage: hier soll meine Wohnung stehen und nirgends anders. Eduard und Ottilie wagten nicht bey die¬ sen Worten einander anzusehen, ob sie gleich nahe gegen einander uͤber standen. Das dritte, die Vollendung, ist die Sorge gar vieler Gewerken; ja wenige sind, die nicht dabey beschaͤftigt waͤren. Aber das zweyte, die Gruͤndung, ist des Maurers Angelegen¬ heit, und daß wir es nur keck heraussagen, die Hauptangelegenheit des ganzen Unterneh¬ mens. Es ist ein ernstes Geschaͤft und unsre Einladung ist ernsthaft: denn diese Feyerlich¬ keit wird in der Tiefe begangen. Hier inner¬ halb dieses engen ausgegrabenen Raums er¬ weisen Sie uns die Ehre als Zeugen unseres geheimnißvollen Geschaͤftes zu erscheinen. Gleich werden wir diesen wohl zugehauenen Stein niederlegen und bald werden diese mit schoͤnen und wuͤrdigen Personen gezierten Erd¬ waͤnde nicht mehr zugaͤnglich, sie werden aus¬ gefuͤllt seyn. Diesen Grundstein, der mit seiner Ecke die rechte Ecke des Gebaͤudes, mit seiner Rechtwinkligkeit die Regelmaͤßigkeit desselben, mit seiner wasser- und senkrechten Lage, Loth und Wage aller Mauern und Waͤnde bezeich¬ net, koͤnnten wir ohne weiteres niederlegen: denn er ruhte wohl auf seiner eignen Schwere. Aber auch hier soll es am Kalk, am Bin¬ dungsmittel nicht fehlen: denn so wie Men¬ schen die einander von Natur geneigt sind, noch besser zusammenhalten, wenn das Ge¬ setz sie verkittet; so werden auch Steine de¬ ren Form schon zusammenpaßt, noch besser durch diese bindenden Kraͤfte vereinigt: und da es sich nicht ziemen will unter den Thaͤtigen muͤßig zu seyn, so werden Sie nicht verschmaͤhen auch hier Mitarbeiter zu werden. Er uͤberreichte hierauf seine Kelle Char¬ lotten, welche damit Kalk unter den Stein warf. Mehreren wurde ein Gleiches zu thun angesonnen und der Stein alsobald niederge¬ senkt; worauf denn Charlotten und den uͤbri¬ gen sogleich der Hammer gereicht wurde, um durch ein dreymaliges Pochen die Verbin¬ dung des Steins mit dem Grunde ausdruͤck¬ lich zu segnen. Des Maurers Arbeit, fuhr der Redner fort, zwar jetzt unter freyem Himmel, ge¬ schieht wo nicht immer im Verborgnen doch zum Verborgnen. Der regelmaͤßig aufgefuͤhrte Grund wird verschuͤttet, und sogar bey den Mauern die wir am Tage auffuͤhren, ist man unser am Ende kaum eingedenk. Die Arbei¬ ten des Steinmetzen und Bildhauers fallen mehr in die Augen, und wir muͤssen es sogar noch gut heißen, wenn der Tuͤncher die Spur unserer Haͤnde voͤllig ausloͤscht und sich unser Werk zueignet, indem er es uͤberzieht, glaͤttet und faͤrbt. Wem muß also mehr daran gelegen seyn, das was er thut sich selbst recht zu machen, indem er es recht macht, als dem Maurer? Wer hat mehr als er das Selbstbewußtseyn zu naͤhren Ursach? Wenn das Haus aufge¬ fuͤhrt, der Boden geplattet und gepflastert, die Außenseite mit Zieraten uͤberdeckt ist; so sieht er durch alle Huͤllen immer noch hinein und erkennt noch jene regelmaͤßigen sorgfaͤl¬ tigen Fugen, denen das Ganze sein Daseyn und seinen Halt zu danken hat. Aber wie Jeder, der eine Uebelthat be¬ gangen, fuͤrchten muß, daß ungeachtet alles Abwehrens, sie dennoch ans Licht kommen werde; so muß derjenige erwarten, der ins Geheim das Gute gethan, daß auch dieses wi¬ der seinen Willen an den Tag komme. Des¬ wegen machen wir diesen Grundstein zugleich zum Denkstein. Hier in diese unterschiedlichen gehauenen Vertiefungen soll verschiedenes ein¬ gesenkt werden, zum Zeugniß fuͤr eine ent¬ fernte Nachwelt. Diese metallnen zugeloͤ¬ theten Koͤcher enthalten schriftliche Nachrich¬ ten; auf diese Metall-Platten ist allerley Merkwuͤrdiges eingegraben; in diesen schoͤnen glaͤsernen Flaschen versenken wir den besten al¬ ten Wein, mit Bezeichnung seines Geburts¬ jahrs; es fehlt nicht an Muͤnzen verschiede¬ ner Art, in diesem Jahre gepraͤgt: alles die¬ ses erhielten wir durch die Freygebigkeit un¬ sers Bauherrn. Auch ist hier noch mancher Platz, wenn irgend ein Gast und Zuschauer etwas der Nachwelt zu uͤbergeben Belieben truͤge. Nach einer kleinen Pause sah der Geselle sich um; aber wie es in solchen Faͤllen zu gehen pflegt, Niemand war vorbereitet, Je¬ dermann uͤberrascht, bis endlich ein junger munterer Officier anfing und sagte: wenn ich etwas beytragen soll, das in dieser Schatz¬ kammer noch nicht niedergelegt ist; so muß ich ein Paar Knoͤpfe von der Uniform schnei¬ den, die doch wohl auch verdienen auf die Nachwelt zu kommen. Gesagt, gethan! und nun hatte mancher einen aͤhnlichen Einfall. Die Frauenzimmer saͤumten nicht von ihren kleinen Haarkaͤmmen hineinzulegen; Riech¬ flaͤschchen und andre Zierden wurden nicht ge¬ schont: nur Ottilie zauderte, bis Eduard sie durch ein freundliches Wort aus der Betrach¬ tung aller der beygesteuerten und eingelegten Dinge herausriß. Sie loͤste darauf die gold¬ ne Kette vom Halse, an der das Bild ihres Vaters gehangen hatte, und legte sie mit lei¬ ser Hand uͤber die anderen Kleinode hin, wor¬ auf Eduard mit einiger Hast veranstaltete, daß der wohlgefugte Deckel sogleich aufge¬ stuͤrzt und eingekittet wurde. Der junge Gesell, der sich dabey am thaͤ¬ tigsten erwiesen, nahm seine Rednermiene wieder an und fuhr fort: wir gruͤnden diesen Stein fuͤr ewig, zur Sicherung des laͤngsten Genusses der gegenwaͤrtigen und kuͤnftigen Besitzer dieses Hauses. Allein indem wir hier gleichsam einen Schatz vergraben, so denken wir zugleich, bey dem gruͤndlichsten aller Ge¬ schaͤfte, an die Vergaͤnglichkeit der menschli¬ chen Dinge: wir denken uns eine Moͤglich¬ keit, daß dieser festversiegelte Deckel wieder aufgehoben werden koͤnne, welches nicht anders geschehen duͤrfte, als wenn das alles wieder zerstoͤrt waͤre, was wir noch nicht einmal aufgefuͤhrt haben. Aber eben, damit dieses aufgefuͤhrt werde, zuruͤck mit den Gedanken aus der Zukunft, zuruͤck ins Gegenwaͤrtige! Laßt uns, nach be¬ gangenem heutigen Feste, unsre Arbeit so¬ gleich foͤrdern, damit keiner von den Gewer¬ ken, die auf unserm Grunde fortarbeiten, zu feyern brauche, daß der Bau eilig in die Hoͤhe steige und vollendet werde, und aus den Fenstern, die noch nicht sind, der Haus¬ herr mit den Seinigen und seinen Gaͤsten sich froͤhlich in der Gegend umschaue, deren aller so wie saͤmmtlicher Anwesenden Gesund¬ heit hiermit getrunken sey! Und so leerte er ein wohlgeschliffenes Kelch¬ glas auf Einen Zug aus und warf es in die Luft: denn es bezeichnet das Uebermaß einer Freude, das Gefaͤß zu zerstoͤren, dessen man sich in der Froͤhlichkeit bedient. Aber die߬ mal ereignete es sich anders: das Glas kam nicht wieder auf den Boden, und zwar ohne Wunder. Man hatte naͤmlich, um mit dem Bau vorwaͤrts zu kommen, bereits an der entge¬ gengesetzten Ecke den Grund voͤllig herausge¬ schlagen, ja schon angefangen die Mauern aufzufuͤhren, und zu dem Endzweck das Ge¬ ruͤst erbaut, so hoch als es uͤberhaupt noͤthig war. Daß man es besonders zu dieser Feyer¬ lichkeit mit Brettern belegt und eine Menge Zuschauer hinaufgelassen hatte, war zum Vor¬ theil der Arbeitsleute geschehen. Dort hinauf flog das Glas und wurde von Einem aufge¬ fangen, der diesen Zufall als ein gluͤckliches Zei¬ chen fuͤr sich ansah. Er wieß es zuletzt herum, ohne es aus der Hand zu lassen, und man sah darauf die Buchstaben E und O in sehr zierlicher Verschlingung eingeschnitten: es war eins der Glaͤser, die fuͤr Eduarden in seiner Jugend verfertigt worden. Die Geruͤste standen wieder leer, und die leichtesten unter den Gaͤsten stiegen hinauf, sich umzusehen, und konnten die schoͤne Aus¬ sicht nach allen Seiten nicht genugsam ruͤh¬ men: denn was entdeckt der nicht alles, der auf einem hohen Puncte nur um ein Geschoß hoͤher steht. Nach dem Innern des Landes zu kamen mehrere neue Doͤrfer zum Vorschein; den silbernen Streifen des Flusses erblickte man deutlich; ja selbst die Thuͤrme der Haupt¬ stadt wollte Einer gewahr werden. An der Ruͤckseite, hinter den waldigen Huͤgeln, erho¬ ben sich die blauen Gipfel eines fernen Ge¬ birges, und die naͤchste Gegend uͤbersah man im Ganzen. Nun sollten nur noch, rief einer, die drey Teiche zu einem See vereinigt wer¬ I . II den; dann haͤtte der Anblick alles was groß und wuͤnschenswerth ist. Das ließe sich wohl machen, sagte der Hauptmann: denn sie bildeten schon vor Zei¬ ten einen Bergsee. Nur bitte ich meine Platanen- und Pap¬ pelgruppe zu schonen, sagte Eduard, die so schoͤn am mittelsten Teich steht. Sehen Sie — wandte er sich zu Ottilien, die er einige Schritte vorfuͤhrte, indem er hinabwies — diese Baͤume habe ich selbst gepflanzt. Wie lange stehen sie wohl schon? fragte Ottilie. Etwa so lange, versetzte Eduard, als Sie auf der Welt sind. Ja, liebes Kind, ich pflanzte schon, da Sie noch in der Wiege lagen. Die Gesellschaft begab sich wieder in das Schloß zuruͤck. Nach aufgehobener Ta¬ fel wurde sie zu einem Spazirgang durch das Dorf eingeladen, um auch hier die neuen An¬ stalten in Augenschein zu nehmen. Dort hat¬ ten sich, auf des Hauptmanns Veranlassung, die Bewohner vor ihren Haͤusern versammelt; sie standen nicht in Reihen, sondern Fami¬ lienweise natuͤrlich gruppirt, theils wie es der Abend forderte beschaͤftigt, theils auf neuen Baͤnken ausruhend. Es ward ihnen zur an¬ genehmen Pflicht gemacht, wenigstens jeden Sonntag und Festtag, diese Reinlichkeit, diese Ordnung zu erneuen. Eine innre Geselligkeit mit Neigung, wie sie sich unter unseren Freunden erzeugt hatte, wird durch eine groͤßere Gesellschaft immer nur unangenehm unterbrochen. Alle viere waren zufrieden sich wieder im großen Saale allein zu finden; doch ward dieses haͤusliche Gefuͤhl einigermaßen gestoͤrt, indem ein Brief, der Eduarden uͤberreicht wurde, neue Gaͤste auf morgen ankuͤndigte. 11 * Wie wir vermutheten, rief Eduard Char¬ lotten zu: der Graf wird nicht ausbleiben, er kommt morgen. Da ist also auch die Baronesse nicht weit, versetzte Charlotte. Gewiß nicht! antwortete Eduard: sie wird auch morgen von ihrer Seite anlangen. Sie bitten um ein Nachtquartier und wollen uͤber¬ morgen zusammen wieder fortreisen. Da muͤssen wir unsre Anstalten bey Zei¬ ten machen, Ottilie! sagte Charlotte. Wie befehlen Sie die Einrichtung? fragte Ottilie. Charlotte gab es im Allgemeinen an, und Ottilie entfernte sich. Der Hauptmann erkundigte sich nach dem Verhaͤltniß dieser beyden Personen, das er nur im Allgemeinsten kannte. Sie hatten fruͤher, beyde schon anderwaͤrts verheiratet, sich leidenschaftlich liebgewonnen. Eine dop¬ pelte Ehe war nicht ohne Aufsehn gestoͤrt; man dachte an Scheidung. Bey der Baro¬ nesse war sie moͤglich geworden, bey dem Grafen nicht. Sie mußten sich zum Scheine trennen, allein ihr Verhaͤltniß blieb; und wenn sie Winters in der Residenz nicht zusam¬ menseyn konnten, so entschaͤdigten sie sich Sommers auf Lustreisen und in Baͤdern. Sie waren beyde um etwas aͤlter als Eduard und Charlotte und saͤmmtlich genaue Freunde aus fruͤher Hofzeit her. Man hatte immer ein gu¬ tes Verhaͤltniß erhalten, ob man gleich nicht alles an seinen Freunden billigte. Nur die߬ mal war Charlotten ihre Ankunft gewisser¬ maßen ganz ungelegen, und wenn sie die Ur¬ sache genau untersucht haͤtte, es war eigent¬ lich um Ottiliens willen. Das gute reine Kind sollte ein solches Beyspiel so fruͤh nicht gewahr werden. Sie haͤtten wohl noch ein paar Tage weg¬ bleiben koͤnnen, sagte Eduard als eben Otti¬ lie wieder hereintrat, bis wir den Vorwerks¬ verkauf in Ordnung gebracht. Der Aufsatz ist fertig; die eine Abschrift habe ich hier, nun fehlt es aber an der zweyten und unser alter Canzellist ist recht krank. Der Haupt¬ mann bot sich an, auch Charlotte; dagegen waren einige Einwendungen zu machen. Ge¬ ben Sie mir's nur! rief Ottilie, mit eini¬ ger Hast. Du wirst nicht damit fertig, sagte Char¬ lotte. Freylich muͤßte ich es uͤbermorgen fruͤh haben und es ist viel, sagte Eduard. Es soll fertig seyn, rief Ottilie, und hatte das Blatt schon in Haͤnden. Des andern Morgens, als sie sich aus dem obern Stock nach den Gaͤsten umsahen, denen sie entgegen zu gehen nicht verfehlen woll¬ ten, sagte Eduard: wer reitet denn so lang¬ sam dort die Straße her? Der Hauptmann beschrieb die Figur des Reiters genauer. So ist er's doch, sagte Eduard: denn das Ein¬ zelne, das du besser siehst als ich, paßt sehr gut zu dem Ganzen, das ich recht wohl sehe. Es ist Mittler. Wie kommt er aber dazu, langsam und so langsam zu reiten? Die Figur kam naͤher und Mittler war es wirklich. Man empfing ihn freundlich, als er langsam die Treppe heraufstieg. Warum sind Sie nicht gestern gekommen? rief ihm Eduard entgegen. Laute Feste lieb' ich nicht, versetzte jener. Heute komm' ich aber den Geburtstag mei¬ ner Freundinn mit Euch im Stillen nachzu¬ feyern. Wie koͤnnen Sie denn so viel Zeit gewin¬ nen? fragte Eduard scherzend. Meinen Besuch, wenn er Euch etwas werth ist, seyd Ihr einer Betrachtung schul¬ dig, die ich gestern gemacht habe. Ich freute mich recht herzlich den halben Tag in einem Hause wo ich Frieden gestiftet hatte, und dann hoͤrte ich, daß hier Geburtstag gefeyert werde. Das kann man doch am Ende selb¬ stisch nennen, dachte ich bey mir, daß du dich nur mit denen freuen willst die du zum Frieden bewogen hast. Warum freust du dich nicht auch einmal mit Freunden die Frie¬ den halten und hegen? Gesagt, gethan! Hier bin ich, wie ich mir vorgenommen hatte. Gestern haͤtten Sie große Gesellschaft ge¬ funden, heute finden Sie nur kleine, sagte Charlotte. Sie finden den Grafen und die Baronesse, die Ihnen auch schon zu schaffen gemacht haben. Aus der Mitte der vier Hausgenossen, die den seltsamen willkommenen Mann um¬ geben hatten, fuhr er mit verdrießlicher Leb¬ haftigkeit heraus, indem er sogleich nach Hut und Reitgerte suchte. Schwebt doch immer ein Unstern uͤber mir, sobald ich einmal ruhen und mir wohlthun will! Aber warum gehe ich auch aus meinem Character heraus! Ich haͤtte nicht kommen sollen, und nun werd' ich vertrieben. Denn mit Jenen will ich nicht unter Einem Dache bleiben; und nehmt Euch in Acht: sie bringen nichts als Unheil! Ihr Wesen ist wie ein Sauerteig, der seine An¬ steckung fortpflanzt. Man suchte ihn zu beguͤtigen; aber ver¬ gebens. Wer mir den Ehstand angreift, rief er aus, wer mir durch Wort, ja durch That, diesen Grund aller sittlichen Gesell¬ schaft untergraͤbt, der hat es mit mir zu thun; oder wenn ich ihn nicht Herr werden kann, habe ich nichts mit ihm zu thun. Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Cul¬ tur. Sie macht den Rohen mild, und der Gebildetste hat keine beßre Gelegenheit seine Milde zu beweisen. Unaufloͤslich muß sie seyn: denn sie bringt so vieles Gluͤck, daß alles einzelne Ungluͤck dagegen gar nicht zu rechnen ist. Und was will man von Ungluͤck reden? Ungeduld ist es, die den Menschen von Zeit zu Zeit anfaͤllt, und dann beliebt er sich un¬ gluͤcklich zu finden. Lasse man den Augen¬ blick voruͤbergehen, und man wird sich gluͤck¬ lich preisen, daß ein so lange Bestandenes noch besteht. Sich zu trennen giebt's gar keinen hinlaͤnglichen Grund. Der menschliche Zu¬ stand ist so hoch in Leiden und Freuden ge¬ setzt, daß gar nicht berechnet werden kann, was ein Paar Gatten einander schuldig wer¬ den. Es ist eine unendliche Schuld, die nur durch die Ewigkeit abgetragen werden kann. Unbequem mag es manchmal seyn, das glaub' ich wohl, und das ist eben Recht. Sind wir nicht auch mit dem Gewissen verheiratet? das wir oft gerne los seyn moͤchten, weil es unbequemer ist als uns je ein Mann oder eine Frau werden koͤnnte. So sprach er lebhaft und haͤtte wohl noch lange fortgesprochen, wenn nicht blasende Po¬ stillions die Ankunft der Herrschaften verkuͤn¬ digt haͤtten, welche wie abgemessen von beyden Seiten zu gleicher Zeit in den Schloßhof her¬ einfuhren. Als ihnen die Hausgenossen ent¬ gegen eilten, versteckte sich Mittler, ließ sich das Pferd an den Gasthof bringen, und ritt verdrießlich davon. Zehntes Kapitel. Die Gaͤste waren bewillkommt und einge¬ fuͤhrt; sie freuten sich das Haus, die Zimmer wieder zu betreten, wo sie fruͤher so manchen guten Tag erlebt und die sie eine lange Zeit nicht gesehn hatten. Hoͤchst angenehm war auch den Freunden ihre Gegenwart. Den Grafen so wie die Baronesse konnte man un¬ ter jene hohen schoͤnen Gestalten zaͤhlen, die man in einem mittlern Alter fast lieber als in der Jugend sieht: denn wenn ihnen auch etwas von der ersten Bluͤthe abgehn moͤchte, so erregen sie doch nun mit der Neigung ein entschiedenes Zutrauen. Auch dieses Paar zeigte sich hoͤchst bequem in der Gegenwart. Ihre freye Weise die Zustaͤnde des Lebens zu nehmen und zu behandlen, ihre Heiter¬ keit und scheinbare Unbefangenheit theilte sich sogleich mit, und ein hoher Anstand begraͤnzte das Ganze, ohne daß man irgend einen Zwang bemerkt haͤtte. Diese Wirkung ließ sich augenblicks in der Gesellschaft empfinden. Die Neueintretenden, welche unmittelbar aus der Welt kamen, wie man sogar an ihren Kleidern, Geraͤthschaften und allen Umgebungen sehen konnte, machten gewissermaßen mit unsern Freunden, ihrem laͤndlichen und heimlich leidenschaftlichen Zu¬ stande, eine Art von Gegensatz, der sich je¬ doch sehr bald verlor, indem alte Erinnerun¬ gen und gegenwaͤrtige Theilnahme sich ver¬ mischten, und ein schnelles lebhaftes Gespraͤch alle geschwind zusammenverband. Es waͤhrte indessen nicht lange, als schon eine Sonderung vorging. Die Frauen zogen sich auf ihren Fluͤgel zuruͤck und fanden da¬ selbst, indem sie sich mancherley vertrauten und zugleich die neusten Formen und Zu¬ schnitte von Fruͤhkleidern, Huͤten und der¬ gleichen zu mustern anfingen, genugsame Un¬ terhaltung; waͤhrend die Maͤnner sich um die neuen Reisewaͤgen, mit vorgefuͤhrten Pfer¬ den, beschaͤftigten und gleich zu handeln und zu tauschen anfingen. Erst zu Tische kam man wieder zusammen. Die Umkleidung war geschehen und auch hier zeigte sich das angekommene Paar zu seinem Vortheile. Alles was sie an sich trugen war neu und gleichsam ungesehen und doch schon durch den Gebrauch zur Gewohnheit und Be¬ quemlichkeit eingeweiht. Das Gespraͤch war lebhaft und abwech¬ selnd, wie denn in Gegenwart solcher Per¬ sonen alles und nichts zu interessiren scheint. Man bediente sich der franzoͤsischen Sprache, um die Aufwartenden von dem Mitverstaͤnd¬ niß auszuschließen, und schweifte mit muth¬ willigem Behagen uͤber hohe und mittlere Weltverhaͤltnisse hin. Auf einem einzigen Punct blieb die Unterhaltung laͤnger als bil¬ lig haften, indem Charlotte nach einer Ju¬ gendfreundinn sich erkundigte und mit einiger Befremdung vernahm, daß sie ehstens geschie¬ den werden sollte. Es ist unerfreulich, sagte Charlotte, wenn man seine abwesenden Freunde irgend einmal geborgen, eine Freundinn, die man liebt, ver¬ sorgt glaubt; eh' man sich's versieht, muß man wieder hoͤren, daß ihr Schicksal im Schwan¬ ken ist und daß sie erst wieder neue und viel¬ leicht abermals unsichre Pfade des Lebens be¬ treten soll. Eigentlich, meine Beste, versetzte der Graf, sind wir selbst Schuld, wenn wir auf solche Weise uͤberrascht werden. Wir moͤgen uns die irdischen Dinge, und besonders auch die ehlichen Verbindungen gern so recht dauerhaft vorstellen, und was den letzten Punct betrifft, so verfuͤhren uns die Lustspiele, die wir im¬ mer wiederhohlen sehen, zu solchen Einbildun¬ gen, die mit dem Gange der Welt nicht zu¬ sammentreffen. In der Comoͤdie sehen wir eine Heirat als das letzte Ziel eines durch die Hindernisse mehrerer Acte verschobenen Wunsches, und im Augenblick, da es erreicht ist, faͤllt der Vorhang und die momentane Befriedigung klingt bey uns nach. In der Welt ist es anders; da wird hinten immer fort gespielt, und wenn der Vorhang wieder aufgeht, mag man gern nichts weiter davon sehen noch hoͤren. Es muß doch so schlimm nicht seyn, sagte Charlotte laͤchelnd, da man sieht, daß auch Personen die von diesem Theater abgetreten sind, wohl gern darauf wieder eine Rolle spielen moͤgen. Dagegen ist nichts einzuwenden, sagte der Graf. Eine neue Rolle mag man gern wie¬ der uͤbernehmen, und wenn man die Welt kennt, so sieht man wohl, auch bey dem Ehe¬ stande ist es nur diese entschiedene ewige Dau¬ er zwischen so viel Beweglichem in der Welt, die etwas Ungeschicktes an sich traͤgt. Einer von meinen Freunden, dessen gute Laune sich meist in Vorschlaͤgen zu neuen Gesetzen her¬ vorthat, behauptete: eine jede Ehe solle nur auf fuͤnf Jahren geschlossen werden. Es sey, sagte er, dieß eine schoͤne ungrade heilige Zahl und ein solcher Zeitraum eben hinrei¬ chend um sich kennen zu lernen, einige Kin¬ der heran zu bringen, sich zu entzweyen und, was das schoͤnste sey, sich wieder zu versoͤh¬ nen. Gewoͤhnlich rief er aus: wie gluͤcklich wuͤrde die erste Zeit verstreichen! Zwey, drey Jahre wenigstens gingen vergnuͤglich hin. Dann wuͤrde doch wohl dem einen Theil dar¬ an gelegen seyn, das Verhaͤltniß laͤnger dau¬ ern zu sehen, die Gefaͤlligkeit wuͤrde wachsen, I . 12 jemehr man sich dem Termin der Aufkuͤndi¬ gung naͤherte. Der gleichguͤltige, ja selbst der unzufriedene Theil wuͤrde durch ein solches Betragen beguͤtigt und eingenommen. Man vergaͤße, wie man in guter Gesellschaft die Stunden vergißt, daß die Zeit verfließe, und faͤnde sich aufs angenehmste uͤberrascht, wenn man nach verlaufnem Termin erst bemerkte, daß er schon stillschweigend verlaͤngert sey. So artig und lustig dieß klang und so gut man, wie Charlotte wohl empfand, die¬ sem Scherz eine tiefe moralische Deutung ge¬ ben konnte, so waren ihr dergleichen Aeuße¬ rungen, besonders um Ottiliens willen, nicht angenehm. Sie wußte recht gut, daß nichts gefaͤhrlicher sey, als ein allzufreyes Gespraͤch, das einen strafbaren oder halbstrafbaren Zu¬ stand als einen gewoͤhnlichen, gemeinen, ja loͤblichen behandelt; und dahin gehoͤrt doch gewiß alles was die eheliche Verbindung an¬ tastet. Sie suchte daher nach ihrer gewand¬ ten Weise das Gespraͤch abzulenken; da sie es nicht vermochte, that es ihr leid, daß Ottilie alles so gut eingerichtet hatte um nicht auf¬ stehen zu duͤrfen. Das ruhig aufmerksame Kind verstand sich mit dem Haushofmeister durch Blick und Wink, daß alles auf das trefflichste gerieth, obgleich ein paar neue un¬ geschickte Bedienten in der Livree staken. Und so fuhr der Graf, Charlottens Ab¬ lenken nicht empfindend, uͤber diesen Gegen¬ stand sich zu aͤußern fort. Ihm, der sonst nicht gewohnt war im Gespraͤch irgend laͤstig zu seyn, lastete diese Sache zu sehr auf dem Herzen, und die Schwierigkeiten, sich von seiner Gemahlinn getrennt zu sehen, machten ihn bitter gegen alles was eheliche Verbin¬ dung betraf, die er doch selbst mit der Baro¬ nesse so eifrig wuͤnschte. Jener Freund, so fuhr er fort, that noch einen andern Gesetzvorschlag. Eine Ehe sollte 12 * nur alsdann fuͤr unaufloͤslich gehalten wer¬ den, wenn entweder beyde Theile, oder we¬ nigstens der eine Theil, zum drittenmal ver¬ heiratet waͤre. Denn was eine solche Per¬ son betreffe, so bekenne sie unwidersprechlich, daß sie die Ehe fuͤr etwas unentbehrliches halte. Nun sey auch schon bekannt gewor¬ den, wie sie sich in ihren fruͤhern Verbin¬ dungen betragen, ob sie Eigenheiten habe, die oft mehr zur Trennung Anlaß geben als uͤble Eigenschaften. Man habe sich also wech¬ selseitig zu erkundigen; man habe eben so gut auf Verheiratete wie auf Unverheiratete Acht zu geben, weil man nicht wisse, wie die Faͤlle kommen koͤnnen. Das wuͤrde freylich das Interesse der Gesellschaft sehr vermehren, sagte Eduard: denn in der That jetzt, wenn wir verheira¬ tet sind, fragt Niemand weiter mehr nach unsern Tugenden, noch unsern Maͤngeln. Bey einer solchen Einrichtung, fiel die Baronesse laͤchelnd ein, haͤtten unsre lieben Wirthe schon zwey Stufen gluͤcklich uͤberstie¬ gen, und koͤnnten sich zu der dritten vorbe¬ reiten. Ihnen ist's wohl gerathen, sagte der Graf: hier hat der Tod willig gethan, was die Consistorien sonst nur ungern zu thun pflegen. Lassen wir die Todten ruhen, versetzte Charlotte, mit einem halb ernsten Blicke. Warum? versetzte der Graf, da man ih¬ rer in Ehren gedenken kann. Sie waren be¬ scheiden genug sich mit einigen Jahren zu be¬ gnuͤgen, fuͤr mannigfaltiges Gute das sie zu¬ ruͤckließen. Wenn nur nicht gerade, sagte die Ba¬ ronesse mit einem verhaltenen Seufzer, in solchen Faͤllen das Opfer der besten Jahre gebracht werden muͤßte. Ja wohl, versetzte der Graf: man muͤßte daruͤber verzweifeln, wenn nicht uͤberhaupt in der Welt so weniges eine gehoffte Folge zeig¬ te. Kinder halten nicht was sie versprechen; junge Leute sehr selten, und wenn sie Wort halten, haͤlt es ihnen die Welt nicht. Charlotte, welche froh war, daß das Ge¬ spraͤch sich wendete, versetzte heiter: Nun! wir muͤssen uns ja ohnehin bald genug ge¬ woͤhnen, das Gute stuͤck- und theilweise zu genießen. Gewiß, versetzte der Graf, Sie haben beyde sehr schoͤner Zeiten genossen. Wenn ich mir die Jahre zuruͤckerinnere, da Sie und Eduard das schoͤnste Paar bey Hof waren; weder von so glaͤnzenden Zeiten noch von so hervorleuchtenden Gestalten ist jetzt die Rede mehr. Wenn Sie beyde zusammen tanzten, aller Augen waren auf Sie gerichtet und wie umworben beyde, indem Sie sich nur in ein¬ ander bespiegelten. Da sich so manches veraͤndert hat, sagte Charlotte, koͤnnen wir wohl so viel Schoͤnes mit Bescheidenheit anhoͤren. Eduarden habe ich doch oft im Stillen getadelt, sagte der Graf, daß er nicht beharr¬ licher war: denn am Ende haͤtten seine wun¬ derlichen Aeltern wohl nachgegeben; und zehn fruͤhe Jahre gewinnen ist keine Kleinigkeit. Ich muß mich seiner annehmen, fiel die Baronesse ein. Charlotte war nicht ganz ohne Schuld, nicht ganz rein von allem Um¬ hersehen, und ob sie gleich Eduarden von Herzen liebte und sich ihn auch heimlich zum Gatten bestimmte; so war ich doch Zeuge, wie sehr sie ihn manchmal quaͤlte, so daß man ihn leicht zu dem ungluͤcklichen Entschluß draͤngen konnte, zu reisen, sich zu entfernen, sich von ihr zu entwoͤhnen. Eduard nickte der Baronesse zu und schien dankbar fuͤr ihre Vorsprache. Und dann muß ich eins, fuhr sie fort, zu Charlottens Entschuldigung beyfuͤgen: der Mann der zu jener Zeit um sie warb, hatte sich schon lange durch Neigung zu ihr aus¬ gezeichnet und war, wenn man ihn naͤher kannte, gewiß liebenswuͤrdiger als ihr andern gern zugestehen moͤgt. Liebe Freundinn, versetzte der Graf etwas lebhaft: bekennen wir nur, daß er Ihnen nicht ganz gleichguͤltig war, und daß Char¬ lotte von Ihnen mehr zu befuͤrchten hatte als von einer andern. Ich finde das einen sehr huͤbschen Zug an den Frauen, daß sie ihre Anhaͤnglichkeit an irgend einen Mann so lange noch fortsetzen, ja durch keine Art von Tren¬ nung stoͤren oder aufheben lassen. Diese gute Eigenschaft besitzen vielleicht die Maͤnner noch mehr, versetzte die Baro¬ nesse; wenigstens an Ihnen, lieber Graf, habe ich bemerkt, daß Niemand mehr Ge¬ walt uͤber Sie hat als ein Frauenzimmer dem Sie fruͤher geneigt waren. So habe ich gesehen, daß Sie auf die Vorsprache ei¬ ner solchen sich mehr Muͤhe gaben, um et¬ was auszuwirken, als vielleicht die Freun¬ dinn des Augenblicks von Ihnen erlangt haͤtte. Einen solchen Vorwurf darf man sich wohl gefallen lassen, versetzte der Graf; doch was Charlottens ersten Gemahl betrifft, so konnte ich ihn deshalb nicht leiden, weil er mir das schoͤne Paar auseinander sprengte, ein wahrhaft praͤdestinirtes Paar, das ein¬ mal zusammengegeben weder fuͤnf Jahre zu scheuen, noch auf eine zweyte oder gar dritte Verbindung hinzusehen brauchte. Wir wollen versuchen, sagte Charlotte, wieder einzubringen was wir versaͤumt haben. Da muͤssen Sie sich dazu halten, sagte der Graf. Ihre ersten Heiraten, fuhr er mit einiger Heftigkeit fort, waren doch so ei¬ gentlich rechte Heiraten von der verhaßten Art; und leider haben uͤberhaupt die Heira¬ ten — verzeihen Sie mir einen lebhafteren Ausdruck — etwas Toͤlpelhaftes; sie verder¬ ben die zartesten Verhaͤltnisse, und es liegt doch eigentlich nur an der plumpen Sicher¬ heit, auf die sich wenigstens ein Theil etwas zu Gute thut. Alles versteht sich von selbst, und man scheint sich nur verbunden zu haben damit eins wie das andre nunmehr seiner Wege gehe. In diesem Augenblick machte Charlotte, die ein fuͤr allemal dieß Gespraͤch abbrechen wollte, von einer kuͤhnen Wendung Gebrauch; es gelang ihr. Die Unterhaltung ward all¬ gemeiner, die beyden Gatten und der Haupt¬ mann konnten daran Theil nehmen; selbst Ottilie ward veranlaßt sich zu aͤußern, und der Nachtisch ward mit der besten Stim¬ mung genossen, woran der in zierlichen Frucht¬ koͤrben aufgestellte Obstreichthum, die bunteste in Prachtgefaͤßen schoͤn vertheilte Blumenfuͤlle, den vorzuͤglichsten Antheil hatte. Auch die neuen Parkanlagen kamen zur Sprache, die man sogleich nach Tische besuch¬ te. Ottilie zog sich unter dem Vorwande haͤuslicher Beschaͤftigungen zuruͤck; eigentlich aber setzte sie sich wieder zur Abschrift. Der Graf wurde von dem Hauptmann unterhal¬ ten; spaͤter gesellte sich Charlotte zu ihm. Als sie oben auf die Hoͤhe gelangt waren, und der Hauptmann gefaͤllig hinunter eilte um den Plan zu hohlen, sagte der Graf zu Char¬ lotten: dieser Mann gefaͤllt mir außerordent¬ lich. Er ist sehr wohl und im Zusammen¬ hang unterrichtet. Eben so scheint seine Thaͤ¬ tigkeit sehr ernst und folgerecht. Was er hier leistet, wuͤrde in einem hoͤhern Kreise von viel Bedeutung seyn. Charlotte vernahm des Hauptmanns Lob mit innigem Behagen. Sie faßte sich jedoch und bekraͤftigte das Gesagte mit Ruhe und Klarheit. Wie uͤberrascht war sie aber, als der Graf fortfuhr: diese Bekanntschaft kommt mir sehr zu gelegener Zeit. Ich weiß eine Stel¬ le, an die der Mann vollkommen paßt, und ich kann mir durch eine solche Empfehlung, in¬ dem ich ihn gluͤcklich mache, einen hohen Freund auf das allerbeste verbinden. Es war wie ein Donnerschlag der auf Charlotten herabfiel. Der Graf bemerkte nichts: denn die Frauen, gewohnt sich jeder¬ zeit zu baͤndigen, behalten in den außeror¬ dentlichsten Faͤllen immer noch eine Art von scheinbarer Fassung. Doch hoͤrte sie schon nicht mehr was der Graf sagte, indem er fortfuhr: Wenn ich von etwas uͤberzeugt bin, geht es bey mir geschwind her. Ich habe schon meinen Brief im Kopfe zusammenge¬ stellt, und mich draͤngt's ihn zu schreiben. Sie verschaffen mir einen reitenden Boten, den ich noch heute Abend wegschicken kann. Charlotte war innerlich zerrissen. Von diesen Vorschlaͤgen so wie von sich selbst uͤber¬ rascht, konnte sie kein Wort hervorbringen. Der Graf fuhr gluͤcklicherweise fort von sei¬ nen Planen fuͤr den Hauptmann zu sprechen, deren Guͤnstiges Charlotten nur allzusehr in die Augen fiel. Es war Zeit, daß der Haupt¬ mann herauftrat und seine Rolle vor dem Grafen entfaltete. Aber mit wie andern Au¬ gen sah sie den Freund an, den sie verlieren sollte! Mit einer nothduͤrftigen Verbeugung wandte sie sich weg und eilte hinunter nach der Mooshuͤtte. Schon auf halbem Wege stuͤrzten ihr die Thraͤnen aus den Augen, und nun warf sie sich in den engen Raum der kleinen Einsiedeley und uͤberließ sich ganz einem Schmerz, einer Leidenschaft, einer Verzweiflung, von deren Moͤglichkeit sie we¬ nig Augenblicke vorher auch nicht die leiseste Ahndung gehabt hatte. Auf der andern Seite war Eduard mit der Baronesse an den Teichen hergegangen. Die kluge Frau, die gern von allem unter¬ richtet seyn mochte, bemerkte bald in einem tastenden Gespraͤch, daß Eduard sich zu Otti¬ liens Lobe weitlaͤuftig herausließ, und wußte ihn auf eine so natuͤrliche Weise nach und nach in den Gang zu bringen, daß ihr zuletzt kein Zweifel uͤbrig blieb, hier sey eine Leidenschaft nicht auf dem Wege, sondern wirklich angelangt. Verheiratete Frauen, wenn sie sich auch untereinander nicht lieben, stehen doch still¬ schweigend mit einander, besonders gegen junge Maͤdchen, im Buͤndniß. Die Folgen einer sol¬ chen Zuneigung stellten sich ihrem weltgewand¬ ten Geiste nur allzugeschwind dar. Dazu kam noch, daß sie schon heute fruͤh mit Charlot¬ ten uͤber Ottilien gesprochen und den Aufent¬ halt dieses Kindes auf dem Lande, besonders bey seiner stillen Gemuͤthsart, nicht gebilligt und den Vorschlag gethan hatte, Ottilien in die Stadt zu einer Freundinn zu bringen, die sehr viel an die Erziehung ihrer einzigen Tochter wende, und sich nur nach einer gut¬ artigen Gespielinn umsehe, die an die zweyte Kindesstatt eintreten und alle Vortheile mit¬ genießen solle. Charlotte hatte sich's zur Ue¬ berlegung genommen. Nun aber brachte der Blick in Eduards Gemuͤth diesen Vorschlag bey der Baronesse ganz zur vorsaͤtzlichen Festigkeit, und um so schneller dieses in ihr vorging, um desto mehr schmeichelte sie aͤußerlich Eduards Wuͤnschen. Denn Niemand besaß sich mehr als diese Frau, und diese Selbstbeherrschung in außerordentli¬ chen Faͤllen gewoͤhnt uns sogar einen gemei¬ nen Fall mit Verstellung zu behandeln, macht uns geneigt, indem wir so viel Gewalt uͤber uns selbst uͤben, unsre Herrschaft auch uͤber die andern zu verbreiten, um uns durch das was wir aͤußerlich gewinnen, fuͤr dasjenige was wir innerlich entbehren, gewissermaßen schadlos zu halten. An diese Gesinnung schließt sich meist eine Art heimlicher Schadenfreude uͤber die Dun¬ kelheit der andern, uͤber das Bewußtlose, womit sie in eine Falle gehen. Wir freuen uns nicht allein uͤber das gegenwaͤrtige Ge¬ lingen, sondern zugleich auch auf die kuͤnftig uͤberraschende Beschaͤmung. Und so war die Baronesse boshaft genug, Eduarden zur Wein¬ lese auf ihre Guͤter mit Charlotten einzula¬ den und die Frage Eduards: ob sie Ottilien mitbringen duͤrften, auf eine Weise die er beliebig zu seinen Gunsten auslegen konnte, zu beantworten. Eduard sprach schon mit Entzuͤcken von der herrlichen Gegend, dem großen Flusse, den Huͤgeln, Felsen und Weinbergen, von alten Schloͤssern, von Wasserfahrten, von dem Ju¬ bel der Weinlese, des Kelterns u. s. w. wo¬ bey er in der Unschuld seines Herzens sich schon zum Voraus laut uͤber den Eindruck freute, den dergleichen Scenen auf das frische Gemuͤth Ottiliens machen wuͤrden. In die¬ sem Augenblick sah man Ottilien heran kom¬ men, und die Baronesse sagte schnell zu Edu¬ ard: Er moͤchte von dieser vorhabenden Herbstreise ja nichts reden: denn gewoͤhnlich geschaͤhe das nicht worauf man sich so lange voraus freue. Eduard versprach, noͤthigte sie aber Ottilien entgegen geschwinder zu gehen, und eilte ihr endlich, dem lieben Kinde zu, I . 13 mehrere Schritte voran. Eine herzliche Freude druͤckte sich in seinem ganzen Wesen aus. Er kuͤßte ihr die Hand, in die er einen Strauß Feldblumen druͤckte, die er unterwegs zusam¬ mengepfluͤckt hatte. Die Baronesse fuͤhlte sich bey diesem Anblick in ihrem Innern fast er¬ bittert. Denn wenn sie auch das was an dieser Neigung strafbar seyn mochte, nicht billi¬ gen durfte, so konnte sie das was daran lie¬ benswuͤrdig und angenehm war, jenem unbe¬ deutenden Neuling von Maͤdchen keineswegs goͤnnen. Als man sich zum Abendessen zusammen gesetzt hatte, war eine voͤllig andre Stimmung in der Gesellschaft verbreitet. Der Graf, der schon vor Tische geschrieben und den Bo¬ ten fortgeschickt hatte, unterhielt sich mit dem Hauptmann, den er auf eine verstaͤndige und bescheidene Weise immer mehr ausforschte, indem er ihn diesen Abend an seine Seite gebracht hatte. Die zur Rechten des Gra¬ fen sitzende Baronesse fand von daher we¬ nig Unterhaltung; eben so wenig an Eduard, der erst durstig, dann aufgeregt, des Weines nicht schonte und sich sehr lebhaft mit Ottilien unterhielt die er an sich gezogen hatte, wie von der andern Seite neben dem Hauptmann Charlotte saß, der es schwer, ja beynahe unmoͤglich ward, die Bewegungen ihres Inn¬ ren zu verbergen. Die Baronesse hatte Zeit genug, Beob¬ achtungen anzustellen. Sie bemerkte Char¬ lottens Unbehagen, und weil sie nur Eduards Verhaͤltniß zu Ottilien im Sinn hatte; so uͤberzeugte sie sich leicht, auch Charlotte sey bedenklich und verdrießlich uͤber ihres Gemahls Benehmen, und uͤberlegte, wie sie nun¬ mehr am besten zu ihren Zwecken gelangen koͤnne. Auch nach Tische fand sich ein Zwiespalt in der Gesellschaft. Der Graf, der den 13 * Hauptmann recht ergruͤnden wollte, brauchte bey einem so ruhigen, keineswegs eitlen und uͤberhaupt laconischen Manne verschiedene Wen¬ dungen, um zu erfahren was er wuͤnschte. Sie gingen miteinander an der einen Seite des Saals auf und ab, indeß Eduard, auf¬ geregt von Wein und Hoffnung, mit Ottilien an einem Fenster scherzte, Charlotte und die Baronesse aber stillschweigend an der andern Seite des Saals nebeneinander hin und wieder gingen. Ihr Schweigen und muͤßiges Umherstehen brachte denn auch zuletzt eine Stockung in die uͤbrige Gesellschaft. Die Frauen zogen sich zuruͤck auf ihren Fluͤgel, die Maͤnner auf den andern, und so schien die¬ ser Tag abgeschlossen. Elftes Kapitel. Eduard begleitete den Grafen auf sein Zimmer und ließ sich recht gern durchs Ge¬ spraͤch verfuͤhren, noch eine Zeit lang bey ihm zu bleiben. Der Graf verlor sich in vorige Zeiten, gedachte mit Lebhaftigkeit an die Schoͤnheit Charlottens, die er als ein Ken¬ ner mit vielem Feuer entwickelte. Ein schoͤ¬ ner Fuß ist eine große Gabe der Natur. Diese Anmuth ist unverwuͤstlich. Ich habe sie heute im Gehen beobachtet; noch immer moͤchte man ihren Schuh kuͤssen, und die zwar etwas barbarische aber doch tief gefuͤhlte Ehrenbezeugung der Sarmaten wiederhohlen, die sich nichts besseres kennen, als aus dem Schuh einer geliebten und verehrten Person ihre Gesundheit zu trinken. Die Spitze des Fußes blieb nicht allein der Gegenstand des Lobes unter zwey vertrau¬ ten Maͤnnern. Sie gingen von der Person auf alte Geschichten und Abenteuer zuruͤck und kamen auf die Hindernisse, die man ehe¬ mals den Zusammenkuͤnften dieser beyden Lie¬ benden entgegengesetzt, welche Muͤhe sie sich gegeben, welche Kunstgriffe sie erfunden, nur um sich sagen zu koͤnnen, daß sie sich liebten. Erinnerst du dich, fuhr der Graf fort, welch Abenteuer ich dir recht freundschaft¬ lich und uneigennuͤtzig bestehen helfen, als unsre hoͤchsten Herrschaften ihren Oheim be¬ suchten und auf dem weitlaͤuftigen Schlosse zusammenkamen? Der Tag war in Feyerlich¬ keiten und Feyerkleidern hingegangen, ein Theil der Nacht sollte wenigstens unter frey¬ em liebevollen Gespraͤch verstreichen. Den Hinweg zu dem Quartier der Hof¬ damen hatten Sie sich wohl gemerkt, sagte Eduard. Wir gelangten gluͤcklich zu meiner Geliebten. Die, versetzte der Graf, mehr an den Anstand als an meine Zufriedenheit gedacht und eine sehr haͤßliche Ehrenwaͤchterinn bey sich behalten hatte; da mir denn, indessen ihr euch mit Blicken und Worten sehr gut unterhieltet, ein hoͤchst unerfreuliches Loos zu Theil ward. Ich habe mich noch gestern, versetzte Edu¬ ard, als Sie sich anmelden ließen, mit mei¬ ner Frau an die Geschichte erinnert, beson¬ ders an unsern Ruͤckzug. Wir verfehlten den Weg und kamen an den Vorsaal der Garden. Weil wir uns nun von da recht gut zu fin¬ den wußten, so glaubten wir auch hier ganz ohne Bedenken hindurch und an dem Posten, wie an den uͤbrigen, vorbey gehen zu koͤnnen. Aber wie groß war beym Eroͤffnen der Thuͤ¬ re unsere Verwunderung! Der Weg war mit Matratzen verlegt, auf denen die Riesen in mehreren Reihen ausgestreckt lagen und schlie¬ fen. Der einzige Wachende auf dem Posten sah uns verwundert an; wir aber im jugend¬ lichen Muth und Muthwillen stiegen ganz gelassen uͤber die ausgestreckten Stiefel weg, ohne daß auch nur einer von diesen schnar¬ chenden Enakskindern erwacht waͤre. Ich hatte große Lust zu stolpern, sagte der Graf, damit es Laͤrm gegeben haͤtte: denn welch eine seltsame Auferstehung wuͤrden wir gesehen haben! In diesem Augenblick schlug die Schlo߬ glocke Zwoͤlf. Es ist hoch Mitternacht, sagte der Graf laͤchelnd, und eben gerechte Zeit. Ich muß Sie, lieber Baron, um eine Gefaͤlligkeit bit¬ ten: fuͤhren Sie mich heute wie ich Sie da¬ mals fuͤhrte; ich habe der Baronesse das Versprechen gegeben sie noch zu besuchen. Wir haben uns den ganzen Tag nicht allein gesprochen, wir haben uns so lange nicht ge¬ sehen, und nichts ist natuͤrlicher als daß man sich nach einer vertraulichen Stunde sehnt. Zeigen Sie mir den Hinweg, den Ruͤckweg will ich schon finden und auf alle Faͤlle werde ich uͤber keine Stiefel wegzustolpern haben. Ich will Ihnen recht gern diese gastliche Gefaͤlligkeit erzeigen, versetzte Eduard; nur sind die drey Frauenzimmer druͤben zusammen auf dem Fluͤgel. Wer weiß, ob wir sie nicht noch beyeinander finden, oder was wir sonst fuͤr Haͤndel anrichten, die irgend ein wunder¬ liches Ansehn gewinnen. Nur ohne Sorge! sagte der Graf: die Baronesse erwartet mich. Sie ist um diese Zeit gewiß auf ihrem Zimmer und allein. Die Sache ist uͤbrigens leicht, versetzte Eduard, und nahm ein Licht, dem Grafen vorleuchtend eine geheime Treppe hinunter, die zu einem langen Gang fuͤhrte. Am Ende desselben oͤffnete Eduard eine kleine Thuͤre. Sie erstiegen eine Wendeltreppe; oben auf einem engen Ruheplatz deutete Eduard dem Grafen, dem er das Licht in die Hand gab, nach einer Tapetenthuͤre rechts, die beym ersten Versuch sogleich sich oͤffnete, den Grafen auf¬ nahm und Eduard in dem dunklen Raum zu¬ ruͤckließ. Eine andre Thuͤre links ging in Charlot¬ tens Schlafzimmer. Er hoͤrte reden und horchte. Charlotte sprach zu ihrem Kammer¬ maͤdchen: ist Ottilie schon zu Bette? Nein, versetzte jene; sie sitzt noch unten und schreibt. So zuͤnde Sie das Nachtlicht an, sagte Char¬ lotte, und gehe Sie nur hin: es ist spaͤt. Die Kerze will ich selbst ausloͤschen und fuͤr mich zu Bette gehen. Eduard hoͤrte mit Entzuͤcken, daß Ottilie noch schreibe. Sie beschaͤftigt sich fuͤr mich! dachte er triumphirend. Durch die Finster¬ niß ganz in sich selbst geengt sah er sie sitzen, schreiben; er glaubte zu ihr zu treten, sie zu sehen, wie sie sich nach ihm umkehrte; er fuͤhlte ein unuͤberwindliches Verlangen ihr noch einmal nahe zu seyn. Von hier aber war kein Weg in das Halbgeschoß wo sie wohnte. Nun fand er sich unmittelbar an seiner Frauen Thuͤre, eine sonderbare Ver¬ wechselung ging in seiner Seele vor, er suchte die Thuͤre aufzudrehen, er fand sie verschlos¬ sen, er pochte leise an, Charlotte hoͤrte nicht. Sie ging in dem groͤßeren Nebenzimmer lebhaft auf und ab. Sie wiederhohlte sich aber und abermals was sie seit jenem uner¬ warteten Vorschlag des Grafen oft genug bey sich um und um gewendet hatte. Der Haupt¬ mann schien vor ihr zu stehen. Er fuͤllte noch das Haus, er belebte noch die Spazir¬ gaͤnge und er sollte fort, das alles sollte leer werden! Sie sagte sich alles was man sich sagen kann, ja sie anticipirte, wie man ge¬ woͤhnlich pflegt, den leidigen Trost, daß auch solche Schmerzen durch die Zeit gelindert wer¬ den. Sie verwuͤnschte die Zeit, die es braucht um sie zu lindern; sie verwuͤnschte die todten¬ hafte Zeit, wo sie wuͤrden gelindert seyn. Da war denn zuletzt die Zuflucht zu den Thraͤnen um so willkommner, als sie bey ihr selten statt fand. Sie warf sich auf den So¬ pha und uͤberließ sich ganz ihrem Schmerz. Eduard seinerseits konnte von der Thuͤre nicht weg; er pochte nochmals, und zum dritten¬ mal etwas staͤrker, so daß Charlotte durch die Nachtstille es ganz deutlich vernahm und erschreckt auffuhr. Der erste Gedanke war: es koͤnne, es muͤsse der Hauptmann seyn; der zweyte: das sey unmoͤglich! Sie hielt es fuͤr Taͤuschung; aber sie hatte es gehoͤrt, sie wuͤnschte, sie fuͤrchtete es gehoͤrt zu ha¬ ben. Sie ging ins Schlafzimmer, trat leise zu der verriegelten Tapetenthuͤre. Sie schalt sich uͤber ihre Furcht: wie leicht kann die Graͤfinn etwas beduͤrfen! sagte sie zu sich selbst und rief gefaßt und gesetzt: Ist jemand da? Eine leise Stimme antwortete: Ich bins. Wer? entgegnete Charlotte, die den Ton nicht unterscheiden konnte. Ihr stand des Hauptmanns Gestalt vor der Thuͤre. Etwas lauter klang es ihr entgegen: Eduard! Sie oͤffnete und ihr Gemahl stand vor ihr. Er begruͤßte sie mit einem Scherz. Es ward ihr moͤglich in diesem Tone fortzufahren. Er ver¬ wickelte den raͤthselhaften Besuch in raͤthsel¬ hafte Erklaͤrungen. Warum ich denn aber ei¬ gentlich komme, sagte er zuletzt, muß ich dir nur gestehen. Ich habe ein Geluͤbde gethan, heute Abend noch deinen Schuh zu kuͤssen. Das ist dir lange nicht eingefallen, sagte Charlotte. Desto schlimmer, versetzte Eduard, und desto besser! Sie hatte sich in einen Sessel gesetzt, um ihre leichte Nachtkleidung seinen Blicken zu entziehen. Er warf sich vor ihr nieder und sie konnte sich nicht erwehren, daß er nicht ihren Schuh kuͤßte, und daß, als dieser ihm in der Hand blieb, er den Fuß ergriff und ihn zaͤrtlich an seine Brust druͤckte. Charlotte war eine von den Frauen, die von Natur maͤßig, im Ehestande, ohne Vor¬ satz und Anstrengung, die Art und Weise der Liebhaberinnen fortfuͤhren. Niemals reiz¬ te sie den Mann, ja seinem Verlangen kam sie kaum entgegen; aber ohne Kaͤlte und ab¬ stoßende Strenge glich sie immer einer liebe¬ vollen Braut, die selbst vor dem Erlaub¬ ten noch innige Scheu traͤgt. Und so fand sie Eduard diesen Abend in doppeltem Sinne. Wie sehnlich wuͤnschte sie den Gatten weg: denn die Luftgestalt des Freundes schien ihr Vorwuͤrfe zu machen. Aber das was Eduar¬ den haͤtte entfernen sollen, zog ihn nur mehr an. Eine gewisse Bewegung war an ihr sichtbar. Sie hatte geweint, und wenn wei¬ che Personen dadurch meist an Anmuth verlie¬ ren, so gewinnen diejenigen dadurch unendlich, die wir gewoͤhnlich als stark und gefaßt ken¬ nen. Eduard war so liebenswuͤrdig, so freund¬ lich, so dringend; er bat sie, bey ihr bleiben zu duͤrfen, er forderte nicht, bald ernst bald scherzhaft suchte er sie zu bereden, er dachte nicht daran, daß er Rechte habe und loͤschte zuletzt muthwillig die Kerze aus. In der Lampendaͤmmerung sogleich behaup¬ tete die innre Neigung, behauptete die Ein¬ bildungskraft ihre Rechte uͤber das Wirkliche. Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen; Charlotten schwebte der Hauptmann naͤher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Ge¬ genwaͤrtiges reizend und wonnevoll durchein¬ ander. Und doch laͤßt sich die Gegenwart ihr un¬ geheures Recht nicht rauben. Sie brachten einen Theil der Nacht unter allerley Gespraͤ¬ chen und Scherzen zu, die um desto freyer waren als das Herz leider keinen Theil dar¬ an nahm. Aber als Eduard des andern Morgens an dem Busen seiner Frau erwach¬ te, schien ihm der Tag ahndungsvoll herein¬ zublicken, die Sonne schien ihm ein Verbre¬ chen zu beleuchten; er schlich sich leise von ihrer Seite, und sie fand sich, seltsam genug, allein als sie erwachte. Zwoͤlftes Kapitel. Als die Gesellschaft zum Fruͤhstuͤck wieder zusammen kam, haͤtte ein aufmerksamer Beob¬ achter an dem Betragen der Einzelnen die Verschiedenheit der innern Gesinnungen und Empfindungen abnehmen koͤnnen. Der Graf und die Baronesse begegneten sich mit dem heitern Behagen, das ein paar Liebende em¬ pfinden, die sich, nach erduldeter Trennung, ihrer wechselseitigen Neigung abermals ver¬ sichert halten; dagegen Charlotte und Eduard gleichsam beschaͤmt und reuig dem Hauptmann und Ottilien entgegen traten. Denn so ist die Liebe beschaffen, daß sie allein Recht zu haben glaubt und alle anderen Rechte vor ihr verschwinden. Ottilie war kindlich heiter, I . 14 nach ihrer Weise konnte man sie offen nennen. Ernst erschien der Hauptmann; ihm war bey der Unterredung mit dem Grafen, indem dieser alles in ihm aufregte was einige Zeit ge¬ ruht und geschlafen hatte, nur zu fuͤhlbar ge¬ worden, daß er eigentlich hier seine Bestim¬ mung nicht erfuͤlle und im Grunde blos in einem halbthaͤtigen Muͤßiggang hinschlendere. Kaum hatten sich die beyden Gaͤste entfernt, als schon wieder neuer Besuch eintraf, Char¬ lotten willkommen, die aus sich selbst heraus zu gehen, sich zu zerstreuen wuͤnschte; Eduar¬ den ungelegen, der eine doppelte Neigung fuͤhl¬ te sich mit Ottilien zu beschaͤftigen; Ottilien gleichfalls unerwuͤnscht, die mit ihrer auf morgen fruͤh so noͤthigen Abschrift noch nicht fertig war. Und so eilte sie auch, als die Fremden sich spaͤt entfernten, sogleich auf ihr Zimmer. Es war Abend geworden. Eduard, Char¬ lotte und der Hauptmann, welche die Frem¬ den, ehe sie sich in den Wagen setzten, eine Strecke zu Fuß begleitet hatten, wurden ei¬ nig noch einen Spazirgang nach den Tei¬ chen zu machen. Ein Kahn war angekom¬ men, den Eduard mit ansehnlichen Kosten aus der Ferne verschrieben hatte. Man wollte versuchen, ob er sich leicht bewegen und len¬ ken lasse. Er war am Ufer des mittelsten Teiches nicht weit von einigen alten Eichbaͤumen ange¬ bunden, auf die man schon bey kuͤnftigen Anlagen gerechnet hatte. Hier sollte ein Lan¬ dungsplatz angebracht, unter den Baͤumen ein architectonischer Ruhesitz aufgefuͤhrt werden, wonach diejenigen die uͤber den See fahren, zu steuern haͤtten. Wo wird man denn nun druͤben die Lan¬ dung am besten anlegen? fragte Eduard. Ich sollte denken bey meinen Platanen. 14 * Sie stehen ein wenig zu weit rechts, sagte der Hauptmann. Landet man weiter unten, so ist man dem Schlosse naͤher; doch muß man es uͤberlegen. Der Hauptmann stand schon im Hinter¬ theile des Kahns und hatte ein Ruder ergrif¬ fen. Charlotte stieg ein, Eduard gleichfalls und faßte das andre Ruder; aber als er eben im Abstoßen begriffen war, gedachte er Ottili¬ ens, gedachte daß ihn diese Wasserfahrt verspaͤ¬ ten, wer weiß erst wann zuruͤckfuͤhren wuͤrde. Er entschloß sich kurz und gut, sprang wieder ans Land, reichte dem Hauptmann das andre Ruder und eilte, sich fluͤchtig entschuldigend, nach Hause. Dort vernahm er: Ottilie habe sich ein¬ geschlossen, sie schreibe. Bey dem angenehmen Gefuͤhle, daß sie fuͤr ihn etwas thue, em¬ pfand er das lebhafteste Misbehagen sie nicht gegenwaͤrtig zu sehen. Seine Ungeduld ver¬ mehrte sich mit jedem Augenblicke. Er ging in dem großen Saale auf und ab, versuchte allerley und nichts vermochte seine Aufmerk¬ samkeit zu fesseln. Sie wuͤnschte er zu sehen, allein zu sehen, ehe noch Charlotte mit dem Hauptmann zuruͤckkaͤme. Es ward Nacht, die Kerzen wurden angezuͤndet. Endlich trat sie herein, glaͤnzend von Lie¬ benswuͤrdigkeit. Das Gefuͤhl etwas fuͤr den Freund gethan zu haben, hatte ihr ganzes Wesen uͤber sich selbst gehoben. Sie legte das Original und die Abschrift vor Eduard auf den Tisch. Wollen wir collationiren? sagte sie laͤchelnd. Eduard wußte nicht was er erwiedern sollte. Er sah sie an, er besah die Abschrift. Die ersten Blaͤtter waren mit der groͤßten Sorgfalt, mit einer zarten weib¬ lichen Hand geschrieben; dann schienen sich die Zuͤge zu veraͤndern, leichter und freyer zu werden: aber wie erstaunt war er, als er die letzten Seiten mit den Augen uͤberlief! Um Gotteswillen! rief er aus, was ist das? Das ist meine Hand! Er sah Ottilien an und wieder auf die Blaͤtter; besonders der Schluß war ganz als wenn er ihn selbst ge¬ schrieben haͤtte. Ottilie schwieg, aber sie blickte ihm mit der groͤßten Zufriedenheit in die Au¬ gen. Eduard hob seine Arme empor: Du liebst mich! rief er aus: Ottilie du liebst mich! und sie hielten einander umfaßt. Wer das andere zuerst ergriffen, waͤre nicht zu un¬ terscheiden gewesen. Von diesem Augenblick an war die Welt fuͤr Eduarden umgewendet, er nicht mehr was er gewesen, die Welt nicht mehr was sie ge¬ wesen. Sie standen vor einander, er hielt ihre Haͤnde, sie sahen einander in die Augen, im Begriff sich wieder zu umarmen. Charlotte mit dem Hauptmann trat her¬ ein. Zu den Entschuldigungen eines laͤngeren Außenbleibens laͤchelte Eduard heimlich. O wie viel zu fruͤh kommt ihr! sagte er zu sich selbst. Sie setzten sich zum Abendessen. Die Per¬ sonen des heutigen Besuchs wurden beurtheilt. Eduard liebevoll aufgeregt sprach gut von ei¬ nem Jeden, immer schonend, oft billigend. Charlotte, die nicht durchaus seiner Meinung war, bemerkte diese Stimmung und scherzte mit ihm, daß er, der sonst uͤber die scheidende Ge¬ sellschaft immer das strengste Zungengericht er¬ gehen lasse, heute so mild und nachsichtig sey. Mit Feuer und herzlicher Ueberzeugung rief Eduard: Man muß nur Ein Wesen recht von Grund aus lieben, da kommen einem die uͤbri¬ gen alle liebenswuͤrdig vor! Ottilie schlug die Augen nieder, und Charlotte sah vor sich hin. Der Hauptmann nahm das Wort und sagte: Mit den Gefuͤhlen der Hochachtung, der Verehrung, ist es doch auch etwas aͤhnliches. Man erkennt nur erst das Schaͤtzenswerthe in der Welt, wenn man solche Gesinnungen an Ei¬ nem Gegenstande zu uͤben Gelegenheit findet. Charlotte suchte bald in ihr Schlafzim¬ mer zu gelangen, um sich der Erinnerung dessen zu uͤberlassen, was diesen Abend zwi¬ schen ihr und dem Hauptmann vorgegangen war. Als Eduard ans Ufer springend den Kahn vom Lande stieß, Gattinn und Freund dem schwankenden Element selbst uͤberantwor¬ tete, sah nunmehr Charlotte den Mann, um den sie im Stillen schon so viel gelitten hatte, in der Daͤmmerung vor sich sitzen und durch die Fuͤhrung zweyer Ruder das Fahrzeug in beliebiger Richtung fortbewegen. Sie em¬ pfand eine tiefe, selten gefuͤhlte Traurigkeit. Das Kreisen des Kahns, das Plaͤtschern der Ruder, der uͤber den Wasserspiegel hinschau¬ ernde Windhauch, das Saͤuseln der Rohre, das letzte Schweben der Voͤgel, das Blinken und Wiederblinken der ersten Sterne, alles hatte etwas Geisterhaftes in dieser allgemeinen Stille. Es schien ihr, der Freund fuͤhre sie weit weg, um sie auszusetzen, sie allein zu lassen. Eine wunderbare Bewegung war in ihrem Innern, und sie konnte nicht weinen. Der Hauptmann beschrieb ihr unterdessen, wie nach seiner Absicht die Anlagen werden sollten. Er ruͤhmte die guten Eigenschaften des Kahns, daß er sich leicht mit zwey Ru¬ dern von Einer Person bewegen nnd regieren lasse. Sie werde das selbst lernen, es sey eine angenehme Empfindung manchmal allein auf dem Wasser hinzuschwimmen und sein eigner Faͤhr- und Steuermann zu seyn. Bey diesen Worten fiel der Freundinn die bevorstehende Trennung aufs Herz. Sagt er das mit Vorsatz? dachte sie bey sich selbst: Weiß er schon davon? vermuthet er's? oder sagt er es zufaͤllig? so daß er mir bewußtlos mein Schicksal vorausverkuͤndigt. Es ergriff sie eine große Wehmuth, eine Ungeduld; sie bat ihn, baldmoͤglichst zu landen und mit ihr nach dem Schlosse zuruͤckzukehren. Es war das erstemal, daß der Hauptmann die Teiche befuhr, und ob er gleich im Allge¬ meinen ihre Tiefe untersucht hatte, so waren ihm doch die einzelnen Stellen unbekannt. Dunkel fing es an zu werden, er richtete sei¬ nen Lauf dahin, wo er einen bequemen Ort zum Aussteigen vermuthete und den Fußpfad nicht entfernt wußte, der nach dem Schlosse fuͤhrte. Aber auch von dieser Bahn wurde er einigermaßen abgelenkt, als Charlotte mit ei¬ ner Art von Aengstlichkeit den Wunsch wieder¬ hohlte, bald am Lande zu seyn. Er naͤherte sich mit erneuten Anstrengungen dem Ufer, aber leider fuͤhlte er sich in einiger Entfernung da¬ von angehalten; er hatte sich fest gefahren und seine Bemuͤhungen wieder los zu kommen waren vergebens. Was war zu thun? Ihm blieb nichts uͤbrig als in das Wasser zu stei¬ gen, das seicht genug war, und die Freundinn an das Land zu tragen. Gluͤcklich brachte er die liebe Buͤrde hinuͤber, stark genug um nicht zu schwanken oder ihr einige Sorge zu geben, aber doch hatte sie aͤngstlich ihre Ar¬ me um seinen Hals geschlungen. Er hielt sie fest und druͤckte sie an sich. Erst auf einem Rasenabhang ließ er sie nieder, nicht ohne Bewegung und Verwirrung. Sie lag noch an seinem Halse; er schloß sie aufs neue in seine Arme und druͤckte einen lebhaften Kuß auf ihre Lippen; aber auch im Augenblick lag er zu ihren Fuͤßen, druͤckte seinen Mund auf ihre Hand und rief: Charlotte, werden Sie mir vergeben? Der Kuß, den der Freund gewagt, den sie ihm beynahe zuruͤck gegeben, brachte Char¬ lotten wieder zu sich selbst. Sie druͤckte seine Hand, aber sie hob ihn nicht auf. Doch in¬ dem sie sich zu ihm hinunterneigte und eine Hand auf seine Schultern legte, rief sie aus: Daß dieser Augenblick in unserm Leben Epo¬ che mache, koͤnnen wir nicht verhindern; aber daß sie unser werth sey, haͤngt von uns ab. Sie muͤssen scheiden, lieber Freund, und Sie werden scheiden. Der Graf macht Anstalt Ihr Schicksal zu verbessern; es freut und schmerzt mich. Ich wollte es verschweigen bis es gewiß waͤre; der Augenblick noͤthigt mich dieß Geheimniß zu entdecken. Nur in sofern kann ich Ihnen, kann ich mir verzeihen, wenn wir den Muth haben unsre Lage zu aͤndern, da es von uns nicht abhaͤngt unsre Gesinnung zu aͤndern. Sie hub ihn auf und ergriff seinen Arm um sich darauf zu stuͤtzen, und so kamen sie stillschweigend nach dem Schlosse. Nun aber stand sie in ihrem Schlafzim¬ mer, wo sie sich als Gattinn Eduards empfin¬ den und betrachten mußte. Ihr kam bey die¬ sen Widerspruͤchen ihr tuͤchtiger und durchs Leben mannigfaltig geuͤbter Character zu Huͤlfe. Immer gewohnt sich ihrer selbst bewußt zu seyn, sich selbst zu gebieten, ward es ihr auch jetzt nicht schwer, durch ernste Betrachtung sich dem erwuͤnschten Gleichgewichte zu naͤ¬ hern; ja sie mußte uͤber sich selbst laͤcheln, indem sie des wunderlichen Nachtbesuches gedachte. Doch schnell ergriff sie eine seltsa¬ me Ahndung, ein freudig baͤngliches Erzit¬ tern, das in fromme Wuͤnsche und Hoffnun¬ gen sich aufloͤste. Geruͤhrt kniete sie nieder, sie wiederhohlte den Schwur den sie Eduar¬ den vor dem Altar gethan. Freundschaft, Neigung, Entsagen gingen vor ihr in heitern Bildern voruͤber. Sie fuͤhlte sich innerlich wieder hergestellt. Bald ergreift sie eine suͤße Muͤdigkeit und ruhig schlaͤft sie ein. Dreyzehntes Kapitel. Eduard von seiner Seite ist in einer ganz verschiedenen Stimmung. Zu schlafen denkt er so wenig, daß es ihm nicht einmal ein¬ faͤllt sich auszuziehen. Die Abschrift des Documents kuͤßt er tausendmal, den An¬ fang von Ottiliens kindlich schuͤchterner Hand; das Ende wagt er kaum zu kuͤssen, weil er seine eigene Hand zu sehen glaubt. O daß es ein andres Document waͤre! sagt er sich im Stillen; und doch ist es ihm auch so schon die schoͤnste Versicherung, daß sein hoͤch¬ ster Wunsch erfuͤllt sey. Bleibt es ja doch in seinen Haͤnden, und wird er es nicht im¬ merfort an sein Herz druͤcken, obgleich ent¬ stellt durch die Unterschrift eines Dritten! Der abnehmende Mond steigt uͤber den Wald hervor. Die warme Nacht lockt Edu¬ arden ins Freye; er schweift umher, er ist der unruhigste und der gluͤcklichste aller Sterb¬ lichen. Er wandelt durch die Gaͤrten; sie sind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit. Nach dem Schlosse zieht es ihn zuruͤck; er findet sich unter Otti¬ liens Fenstern. Dort setzt er sich auf eine Terrassentreppe. Mauern und Riegel, sagt er zu sich selbst, trennen uns jetzt, aber unsre Herzen sind nicht getrennt. Stuͤnde sie vor mir, in meine Arme wuͤrde sie fallen, ich in die ihrigen, und was bedarf es weiter als diese Gewißheit! Alles war still um ihn her, kein Luͤftchen regte sich, so still war's, daß er das wuͤhlende Arbeiten emsiger Thiere un¬ ter der Erde vernehmen konnte, denen Tag und Nacht gleich sind. Er hing ganz seinen gluͤcklichen Traͤumen nach, schlief endlich ein und erwachte nicht eher wieder als bis die Sonne mit herrlichem Blick heraufstieg und die fruͤhsten Nebel gewaͤltigte. Nun fand er sich den ersten Wachenden in seinen Besitzungen. Die Arbeiter schienen ihm zu lange auszubleiben. Sie kamen; es schienen ihm ihrer zu wenig, und die vorge¬ setzte Tagesarbeit fuͤr seine Wuͤnsche zu gering. Er fragte nach mehreren Arbeitern: man ver¬ sprach sie und stellte sie im Laufe des Tages. Aber auch diese sind ihm nicht genug, um seine Vorsaͤtze schleunig ausgefuͤhrt zu sehen. Das Schaffen macht ihm keine Freude mehr: es soll schon alles fertig seyn, und fuͤr wen? Die Wege sollen gebahnt seyn, damit Otti¬ lie bequem sie gehen, die Sitze schon an Ort und Stelle, damit Ottilie dort ruhen koͤnne. Auch an dem neuen Hause treibt er was er kann: es soll an Ottiliens Geburts¬ tage gerichtet werden. In Eduards Gesin¬ nungen, wie in seinen Handlungen ist kein Maaß mehr. Das Bewußtseyn zu lieben und geliebt zu werden treibt ihn ins Unend¬ liche. Wie veraͤndert ist ihm die Ansicht von allen Zimmern, von allen Umgebungen! Er findet sich in seinem eigenen Hause nicht mehr. Ottiliens Gegenwart verschlingt ihm alles: er ist ganz in ihr versunken; keine andre Be¬ trachtung steigt vor ihm auf, kein Gewissen spricht ihm zu; alles was in seiner Natur gebaͤndigt war bricht los, sein ganzes Wesen stroͤmt gegen Ottilien. Der Hauptmann beobachtet dieses leiden¬ schaftliche Treiben und wuͤnscht den traurigen Folgen zuvorzukommen. Alle diese Anlagen, die jetzt mit einem einseitigen Triebe uͤbermaͤ¬ ßig gefoͤrdert werden, hatte er auf ein ruhig freundliches Zusammenleben berechnet. Der Verkauf des Vorwerks war durch ihn zu Stande gebracht, die erste Zahlung geschehen, Charlotte hatte sie der Abrede nach in ihre Casse genommen. Aber sie muß gleich in der ersten Woche Ernst und Geduld und Ordnung I . 15 mehr als sonst uͤben und im Auge haben: denn nach der uͤbereilten Weise wird das Ausgesetzte nicht lange reichen. Es war viel angefangen und viel zu thun. Wie soll er Charlotten in dieser Lage lassen! Sie berathen sich und kommen uͤberein, man wolle die planmaͤßigen Arbeiten lieber selbst beschleunigen, zu dem Ende Gelder aufneh¬ men, und zu deren Abtragung die Zahlungs¬ termine anweisen, die vom Vorwerksverkauf zuruͤckgeblieben waren. Es ließ sich fast ohne Verlust, durch Cession der Gerechtsame thun; man hatte freyere Hand; man leistete, da alles im Gange, Arbeiter genug vorhanden waren, mehr auf Einmal und gelangte gewiß und bald zum Zweck. Eduard stimmte gern bey, weil es mit seinen Absichten uͤbereintraf. Im innern Herzen beharrt indessen Char¬ lotte bey dem was sie bedacht und sich vorge¬ setzt, und maͤnnlich steht ihr der Freund mit gleichem Sinn zur Seite. Aber eben da¬ durch wird ihre Vertraulichkeit nur vermehrt. Sie erklaͤren sich wechselseitig uͤber Eduards Lei¬ denschaft; sie berathen sich daruͤber. Charlotte schließt Ottilien naͤher an sich, beobachtet sie strenger, und jemehr sie ihr eigen Herz gewahr worden, desto tiefer blickt sie in das Herz des Maͤdchens. Sie sieht keine Rettung, als sie muß das Kind entfernen. Nun scheint es ihr eine gluͤckliche Fuͤgung, daß Luciane ein so ausgezeichnetes Lob in der Pension erhalten: denn die Großtante, davon unterrichtet, will sie nun ein fuͤr allemal zu sich nehmen, sie um sich haben, sie in die Welt einfuͤhren. Ottilie konnte in die Pen¬ sion zuruͤckkehren; der Hauptmann entfernte sich, wohlversorgt; und alles stand wie vor wenigen Monaten, ja um so viel besser. Ihr eigenes Verhaͤltniß hoffte Charlotte zu Eduard bald wieder herzustellen, und sie legte das al¬ les so verstaͤndig bey sich zurecht, daß sie sich 15 * nur immer mehr in dem Wahn bestaͤrkte: in einen fruͤhern beschraͤnktern Zustand koͤnne man zuruͤckkehren, ein gewaltsam Entbundenes lasse sich wieder ins Enge bringen. Eduard empfand indessen die Hindernisse sehr hoch, die man ihm in den Weg legte. Er bemerkte gar bald, daß man ihn und Ottilien auseinander hielt, daß man ihm er¬ schwerte sie allein zu sprechen, ja sich ihr zu naͤhern, außer in Gegenwart von mehreren; und indem er hieruͤber verdrießlich war, ward er es uͤber manches andere. Konnte er Otti¬ lien fluͤchtig sprechen, so war es nicht nur sie seiner Liebe zu versichern, sondern sich auch uͤber seine Gattinn, uͤber den Hauptmann zu beschweren. Er fuͤhlte nicht, daß er selbst durch sein heftiges Treiben die Casse zu er¬ schoͤpfen auf dem Wege war; er tadelte bitter Charlotten und den Hauptmann, daß sie bey dem Geschaͤft gegen die erste Abrede handel¬ ten, und doch hatte er in die zweyte Abrede gewilligt, ja er hatte sie selbst veranlaßt und nothwendig gemacht. Der Haß ist parteyisch, aber die Liebe ist es noch mehr. Auch Ottilie entfremdete sich einigermaßen von Charlotten und dem Hauptmann. Als Eduard sich einst gegen Ot¬ tilien uͤber den letztern beklagte, daß er als Freund und in einem solchen Verhaͤltnisse nicht ganz aufrichtig handle, versetzte Ottilie unbe¬ dachtsam: es hat mir schon fruͤher mißfallen, daß er nicht ganz redlich gegen Sie ist. Ich hoͤrte ihn einmal zu Charlotten sagen, wenn uns nur Eduard mit seiner Floͤtendudeley ver¬ schonte: es kann daraus nichts werden und ist fuͤr die Zuhoͤrer so laͤstig. Sie koͤnnen denken, wie mich das geschmerzt hat, da ich Sie so gern accompagnire. Kaum hatte sie es gesagt, als ihr schon der Geist zufluͤsterte, daß sie haͤtte schweigen sollen; aber es war heraus. Eduards Ge¬ sichtszuͤge verwandelten sich. Nie hatte ihn etwas mehr verdrossen: er war in seinen liebsten Forderungen angegriffen, er war sich eines kindlichen Strebens ohne die mindeste Anmaßung bewußt. Was ihn unterhielt, was ihn erfreute, sollte doch mit Schonung von Freunden behandelt werden. Er dachte nicht, wie schrecklich es fuͤr einen Dritten sey, sich die Ohren durch ein unzulaͤngliches Talent verletzen zu lassen. Er war beleidigt, wuͤ¬ thend um nicht wieder zu vergeben. Er fuͤhlte sich von allen Pflichten losgesprochen. Die Nothwendigkeit mit Ottilien zu seyn, sie zu sehen, ihr etwas zuzufluͤstern, ihr zu vertrauen, wuchs mit jedem Tage. Er ent¬ schloß sich ihr zu schreiben, sie um einen ge¬ heimen Briefwechsel zu bitten. Das Streif¬ chen Papier, worauf er dieß laconisch genug gethan hatte, lag auf dem Schreibtisch und ward vom Zugwind heruntergefuͤhrt, als der Kammerdiener hereintrat, ihm die Haare zu kraͤuseln. Gewoͤhnlich, um die Hitze des Ei¬ sens zu versuchen, buͤckte sich dieser nach Pa¬ pierschnitzeln auf der Erde; dießmal ergriff er das Billet, zwickte es eilig und es war versengt. Eduard den Mißgriff bemerkend riß es ihm aus der Hand. Bald darauf setzte er sich hin, es noch einmal zu schreiben; es wollte nicht ganz so zum zweytenmal aus der Feder. Er fuͤhlte einiges Bedenken, einige Besorgniß, die er jedoch uͤberwand. Ottilien wurde das Blaͤttchen in die Hand gedruͤckt, den ersten Augenblick wo er sich ihr naͤhern konnte. Ottilie versaͤumte nicht ihm zu antworten. Ungelesen steckte er das Zettelchen in die Weste, die modisch kurz es nicht gut verwahrte. Es schob sich heraus und fiel, ohne von ihm bemerkt zu werden, auf den Boden. Charlotte sah es und hob es auf, und reichte es ihm mit einem fluͤchtigen Ueberblick. Hier ist etwas von deiner Hand, sagte sie, das du vielleicht ungern verloͤrest. Er war betroffen. Verstellt sie sich? dachte er. Ist sie den Inhalt des Blaͤttchens gewahr geworden, oder irrt sie sich an der Aehnlichkeit der Haͤnde? Er hoffte, er dachte das letztre. Er war gewarnt, doppelt gewarnt, aber diese sonderbaren zufaͤlligen Zeichen, durch die ein hoͤheres Wesen mit uns zu sprechen scheint, wa¬ ren seiner Leidenschaft unverstaͤndlich; vielmehr indem sie ihn immer weiter fuͤhrte, empfand er die Beschraͤnkung in der man ihn zu hal¬ ten schien, immer unangenehmer. Die freund¬ liche Geselligkeit verlor sich. Sein Herz war verschlossen, und wenn er mit Freund und Frau zusammen zu seyn genoͤthigt war, so gelang es ihm nicht, seine fruͤhere Neigung zu ihnen in seinem Busen wieder aufzufinden, zu beleben. Der stille Vorwurf, den er sich selbst hieruͤber machen mußte, war ihm un¬ bequem und er suchte sich durch eine Art von Humor zu helfen, der aber, weil er ohne Liebe war, auch der gewohnten Anmuth er¬ mangelte. Ueber alle diese Pruͤfungen half Charlot¬ ten ihr inneres Gefuͤhl hinweg. Sie war sich ihres ernsten Vorsatzes bewußt, auf eine so schoͤne edle Neigung Verzicht zu thun. Wie sehr wuͤnscht sie jenen beyden auch zu Huͤlfe zu kommen. Entfernung, fuͤhlte sie wohl, wird nicht allein hinreichend seyn, ein solches Uebel zu heilen. Sie nimmt sich vor die Sache gegen das gute Kind zur Sprache zu bringen; aber sie vermag es nicht; die Erinnerung ihres eignen Schwankens steht ihr im Wege. Sie sucht sich daruͤber im All¬ gemeinen auszudruͤcken; das Allgemeine paßt auch auf ihren eignen Zustand, den sie aus¬ zusprechen scheut. Ein jeder Wink, den sie Ottilien geben will, deutet zuruͤck in ihr eignes Herz. Sie will warnen und fuͤhlt, daß sie wohl selbst noch einer Warnung beduͤrfen koͤnnte. Schweigend haͤlt sie daher die Liebenden noch immer auseinander, und die Sache wird dadurch nicht besser. Leise Andeutungen, die ihr manchmal entschluͤpfen, wirken auf Ottilien nicht: denn Eduard hatte diese von Charlot¬ tens Neigung zum Hauptmann uͤberzeugt, sie uͤberzeugt, daß Charlotte selbst eine Scheidung wuͤnsche, die er nun auf eine anstaͤndige Weise zu bewirken denke. Ottilie getragen durch das Gefuͤhl ihrer Unschuld, auf dem Wege zu dem erwuͤnschte¬ sten Gluͤck, lebt nur fuͤr Eduard. Durch die Liebe zu ihm in allem Guten gestaͤrkt, um seinetwillen freudiger in ihrem Thun, aufge¬ schlossener gegen andre, findet sie sich in einem Himmel auf Erden. So setzen alle zusammen, jeder auf seine Weise, das taͤgliche Leben fort, mit und ohne Nachdenken; alles scheint seinen ge¬ woͤhnlichen Gang zu gehen, wie man auch in ungeheuren Faͤllen, wo alles auf dem Spiele steht, noch immer so fort lebt, als wenn von nichts die Rede waͤre. Vierzehntes Kapitel. Von dem Grafen war indessen ein Brief an den Hauptmann angekommen, und zwar ein doppelter, einer zum Vorzeigen, der sehr schoͤne Aussichten in die Ferne darwies, der andre hingegen, der ein entschiedenes Anerbie¬ ten fuͤr die Gegenwart enthielt, eine bedeu¬ tende Hof- und Geschaͤftsstelle, den Charakter als Major, ansehnlichen Gehalt, und andre Vortheile, sollte wegen verschiedener Neben¬ umstaͤnde noch geheim gehalten werden. Auch unterrichtete der Hauptmann seine Freunde nur von jenen Hoffnungen und verbarg was so nahe bevorstand. Indessen setzte er die gegenwaͤrtigen Ge¬ schaͤfte lebhaft fort und machte in der Stille Einrichtungen, wie alles in seiner Abwesen¬ heit ungehinderten Fortgang haben koͤnnte. Es ist ihm nun selbst daran gelegen, daß fuͤr manches ein Termin bestimmt werde, daß Ottiliens Geburtstag manches beschleunige. Nun wirken die beyden Freunde, obschon ohne ausdruͤckliches Einverstaͤndniß, gern zu¬ sammen. Eduard ist nun recht zufrieden, daß man durch das Vorauserheben der Gel¬ der die Casse verstaͤrkt hat; die ganze Anstalt ruͤckt auf das rascheste vorwaͤrts. Die drey Teiche in einen See zu ver¬ wandeln haͤtte jetzt der Hauptmann am lieb¬ sten ganz widerrathen. Der untere Damm war zu verstaͤrken, die mittlern abzutragen, und die ganze Sache in mehr als einem Sinne wichtig und bedenklich. Beyde Arbeiten aber, wie sie ineinander wirken konnten, waren schon angefangen, und hier kam ein junger Architect, ein ehemaliger Zoͤgling des Haupt¬ manns, sehr erwuͤnscht, der theils mit An¬ stellung tuͤchtiger Meister, theils mit Verdin¬ gen der Arbeit, wo sich's thun ließ, die Sache foͤrderte und dem Werke Sicherheit und Dauer versprach; wobey sich der Haupt¬ mann im Stillen freute, daß man seine Ent¬ fernung nicht fuͤhlen wuͤrde. Denn er hatte den Grundsatz, aus einem uͤbernommenen un¬ vollendeten Geschaͤft nicht zu scheiden, bis er seine Stelle genugsam ersetzt saͤhe. Ja er ver¬ achtete diejenigen, die, um ihren Abgang fuͤhl¬ bar zu machen, erst noch Verwirrung in ihrem Kreise anrichten, indem sie als ungebildete Selbstler das zu zerstoͤren wuͤnschen, wobey sie nicht mehr fortwirken sollen. So arbeitete man immer mit Anstrengung, um Ottiliens Geburtstag zu verherrlichen, ohne daß man es aussprach, oder sich's recht auf¬ richtig bekannte. Nach Charlottens obgleich neidlosen Gesinnungen konnte es doch kein entschiedenes Fest werden. Die Jugend Ot¬ tiliens, ihre Gluͤcksumstaͤnde, das Verhaͤltniß zur Familie berechtigten sie nicht als Koͤniginn eines Tages zu erscheinen. Und Eduard wollte nicht davon gesprochen haben, weil alles wie von selbst entspringen, uͤberraschen und natuͤr¬ lich erfreuen sollte. Alle kamen daher stillschweigend in dem Vorwande uͤberein, als wenn an diesem Tage, ohne weitere Beziehung, jenes Lusthaus ge¬ richtet werden sollte, und bey diesem Anlaß konnte man dem Volke so wie den Freunden ein Fest ankuͤndigen. Eduards Neigung war aber graͤnzenlos. Wie er sich Ottilien zuzueignen begehrte; so kannte er auch kein Maaß des Hingebens, Schenkens, Versprechens. Zu einigen Gaben, die er Ottilien an diesem Tage verehren wollte, hatte ihm Charlotte viel zu aͤrmliche Vorschlaͤge gethan. Er sprach mit seinem Kammerdiener, der seine Garderobe besorgte und mit Handels¬ leuten und Modehaͤndlern in bestaͤndigem Ver¬ haͤltniß blieb; dieser, nicht unbekannt sowohl mit den angenehmsten Gaben selbst als mit der besten Art sie zu uͤberreichen, bestellte sogleich in der Stadt den niedlichsten Koffer mit rothem Saffian uͤberzogen, mit Stahlnaͤgeln beschla¬ gen, und angefuͤllt mit Geschenken einer solchen Schale wuͤrdig. Noch einen andern Vorschlag that er Eduarden. Es war ein kleines Feuerwerk vorhanden, das man immer abzubrennen ver¬ saͤumt hatte. Dieß konnte man leicht verstaͤr¬ ken und erweitern. Eduard ergriff den Ge¬ danken und jener versprach fuͤr die Ausfuͤh¬ rung zu sorgen. Die Sache sollte ein Ge¬ heimniß bleiben. Der Hauptmann hatte unterdessen, je naͤ¬ her der Tag heranruͤckte, seine polizeylichen Einrichtungen getroffen, die er fuͤr so noͤthig hielt, wenn eine Masse Menschen zusammen berufen oder gelockt wird. Ja sogar hatte er wegen des Bettelns, und andrer Unbequem¬ lichkeiten, wodurch die Anmuth eines Festes gestoͤrt wird, durchaus Vorsorge genommen. Eduard und sein Vertrauter dagegen be¬ schaͤftigten sich vorzuͤglich mit dem Feuerwerk. Am mittelsten Teiche vor jenen großen Eich¬ baͤumen sollte es abgebrannt werden; gegen¬ uͤber unter den Platanen sollte die Gesell¬ schaft sich aufhalten, um die Wirkung aus gehoͤriger Ferne, die Abspiegelung im Wasser, und was auf dem Wasser selbst brennend zu schwimmen bestimmt war, mit Sicherheit und Bequemlichkeit anzuschauen. Unter einem andern Vorwand ließ daher Eduard den Raum unter den Platanen von Gestraͤuch, Gras und Moos saͤubern, und nun erschien erst die Herrlichkeit des Baum¬ wuchses sowohl an Hoͤhe als Breite auf dem gereinigten Boden. Eduard empfand dar¬ uͤber die groͤßte Freude. — Es war ungefaͤhr I . 16 um diese Jahreszeit als ich sie pflanzte. Wie lange mag es her seyn? sagte er zu sich selbst. — Sobald er nach Hause kam, schlug er in alten Tagebuͤchern nach, die sein Vater, besonders auf dem Lande, sehr ordentlich ge¬ fuͤhrt hatte. Zwar diese Pflanzung konnte nicht darin erwaͤhnt seyn, aber eine andre haͤuslich wichtige Begebenheit an demselben Tage, deren sich Eduard noch wohl erinnerte, mußte nothwendig darin angemerkt stehen. Er durchblaͤttert einige Baͤnde; der Um¬ stand findet sich: aber wie erstaunt, wie er¬ freut ist Eduard, als er das wunderbarste Zusammentreffen bemerkt. Der Tag, das Jahr jener Baumpflanzung ist zugleich der Tag, das Jahr von Ottiliens Geburt. Funfzehntes Kapitel. Endlich leuchtete Eduarden der sehnlich er¬ wartete Morgen und nach und nach stellten viele Gaͤste sich ein: denn man hatte die Einladungen weit umher geschickt, und manche die das Legen des Grundsteins versaͤumt hat¬ ten, wovon man so viel artiges erzaͤhlte, woll¬ ten diese zweyte Feyerlichkeit um so weniger verfehlen. Vor Tafel erschienen die Zimmerleute mit Musik im Schloßhofe, ihren reichen Kranz tragend, der aus vielen stufenweise uͤberein¬ ander schwankenden Laub- und Blumenreifen zusammengesetzt war. Sie sprachen ihren Gruß, und erbaten sich zur gewoͤhnlichen Aus¬ 16 * schmuͤckung seidene Tuͤcher und Baͤnder von dem schoͤnen Geschlecht. Indeß die Herrschaft speiste, setzten sie ihren jauchzenden Zug wei¬ ter fort, und nachdem sie sich eine Zeit lang im Dorfe aufgehalten und daselbst Frauen und Maͤdchen gleichfalls um manches Band gebracht; so kamen sie endlich, begleitet und erwartet von einer großen Menge, auf die Hoͤhe wo das gerichtete Haus stand. Charlotte hielt nach der Tafel die Gesell¬ schaft einigermaßen zuruͤck. Sie wollte keinen feyerlichen foͤrmlichen Zug und man fand sich daher in einzelnen Partieen, ohne Rang und Ordnung, auf dem Platz gemaͤchlich ein. Charlotte zoͤgerte mit Ottilien und machte da¬ durch die Sache nicht besser: denn weil Ot¬ tilie wirklich die letzte war die herantrat, so schien es als wenn Trompeten und Pauken nur auf sie gewartet haͤtten, als wenn die Feyerlichkeit bey ihrer Ankunft nun gleich be¬ ginnen muͤßte. Dem Hause das rohe Ansehn zu nehmen, hatte man es mit gruͤnem Reisig und Blu¬ men, nach Angabe des Hauptmanns, architec¬ tonisch ausgeschmuͤckt, allein ohne dessen Mit¬ wissen hatte Eduard den Architecten veranlaßt, in dem Gesims das Datum mit Blumen zu bezeichnen. Das mochte noch hingehen; allein zeitig genug langte der Hauptmann an, um zu verhindern, daß nicht auch der Name Ot¬ tiliens im Giebelfelde glaͤnzte. Er wußte dieses Beginnen auf eine geschickte Weise ab¬ zulehnen und die schon fertigen Blumenbuch¬ staben bey Seite zu bringen. Der Kranz war aufgesteckt und weit um¬ her in der Gegend sichtbar. Bunt flatterten die Baͤnder und Tuͤcher in der Luft und eine kurze Rede verscholl zum groͤßten Theil im Winde. Die Feyerlichkeit war zu Ende, der Tanz auf dem geebneten und mit Lauben um¬ kreiseten Platze vor dem Gebaͤude sollte nun angehen. Ein schmucker Zimmergeselle fuͤhrte Eduarden ein flinkes Bauermaͤdchen zu, und forderte Ottilien auf, welche daneben stand. Die beyden Paare fanden sogleich ihre Nach¬ folger und bald genug wechselte Eduard, in¬ dem er Ottilien ergriff und mit ihr die Runde machte. Die juͤngere Gesellschaft mischte sich froͤhlich in den Tanz des Volks, indeß die aͤlteren beobachteten. Sodann, ehe man sich auf den Spazir¬ gaͤngen zerstreute, ward abgeredet, daß man sich mit Untergang der Sonne bey den Pla¬ tanen wieder versammeln wolle. Eduard fand sich zuerst ein, ordnete alles und nahm Abrede mit dem Kammerdiener, der auf der andern Seite, in Gesellschaft des Feuerwerkers, die Lusterscheinungen zu besorgen hatte. Der Hauptmann bemerkte die dazu getrof¬ fenen Vorrichtungen nicht mit Vergnuͤgen; er wollte wegen des zu erwartenden Andrangs der Zuschauer mit Eduard sprechen, als ihn derselbe etwas hastig bat, er moͤge ihm die¬ sen Theil der Feyerlichkeit doch allein uͤber¬ lassen. Schon hatte sich das Volk auf die ober¬ waͤrts abgestochenen und vom Rasen entbloͤßten Daͤmme gedraͤngt, wo das Erdreich uneben und unsicher war. Die Sonne ging unter, die Daͤmmerung trat ein, und in Erwartung groͤßerer Dunkelheit wurde die Gesellschaft unter den Platanen mit Erfrischungen be¬ dient. Man fand den Ort unvergleichlich und freute sich in Gedanken, kuͤnftig von hier die Aussicht auf einen weiten und so mannig¬ faltig begraͤnzten See zu genießen. Ein ruhiger Abend, eine vollkommene Windstille versprachen das naͤchtliche Fest zu beguͤnstigen, als auf einmal ein entsetzliches Geschrey entstand. Große Schollen hatten sich vom Damme losgetrennt, man sah mehrere Menschen ins Wasser stuͤrzen. Das Erdreich hatte nachgegeben unter dem Draͤngen und Treten der immer zunehmenden Menge. Je¬ der wollte den besten Platz haben und nun konnte Niemand vorwaͤrts noch zuruͤck. Jedermann sprang auf und hinzu, mehr um zu schauen als zu thun: denn was war da zu thun wo Niemand hinreichen konnte. Nebst einigen Entschlossenen eilte der Haupt¬ mann, trieb sogleich die Menge von dem Damm herunter nach den Ufern, um den Huͤlfreichen freye Hand zu geben, welche die Versinkenden herauszuziehen suchten. Schon waren alle, theils durch eignes, theils durch fremdes Bestreben, wieder auf dem Trocknen, bis auf einen Knaben, der durch allzu aͤngst¬ liches Bemuͤhen, statt sich dem Damm zu naͤhern, sich davon entfernt hatte. Die Kraͤfte schienen ihn zu verlassen, nur einigemal kam noch eine Hand, ein Fuß in die Hoͤhe. Un¬ gluͤcklicher Weise war der Kahn auf der an¬ dern Seite, mit Feuerwerk gefuͤllt, nur lang¬ sam konnte man ihn ausladen und die Huͤlfe verzoͤgerte sich. Des Hauptmanns Entschluß war gefaßt, er warf die Oberkleider weg, aller Augen richteten sich auf ihn, und seine tuͤchtige kraͤftige Gestalt floͤßte Jedermann Zu¬ trauen ein; aber ein Schrey der Ueberraschung drang aus der Menge hervor, als er sich ins Wasser stuͤrzte. Jedes Auge begleitete ihn, der als geschickter Schwimmer den Knaben bald erreichte und ihn, jedoch fuͤr todt, an den Damm brachte. Indessen ruderte der Kahn herbey, der Hauptmann bestieg ihn und forschte genau von den Anwesenden, ob denn auch wirklich alle gerettet seyen. Der Chirurgus kommt und uͤbernimmt den todtgeglaubten Knaben; Char¬ lotte tritt hinzu, sie bittet den Hauptmann nur fuͤr sich zu sorgen, nach dem Schlosse zuruͤckzukehren und die Kleider zu wechseln. Er zaudert, bis ihm gesetzte verstaͤndige Leute, die ganz nahe gegenwaͤrtig gewesen, die selbst zur Rettung der einzelnen beygetragen, auf das heiligste versichern, daß alle gerettet seyen. Charlotte sieht ihn nach Hause gehen, sie denkt, daß Wein und Thee, und was sonst noͤ¬ thig waͤre, verschlossen ist, daß in solchen Faͤllen die Menschen gewoͤhnlich verkehrt handeln; sie eilt durch die zerstreute Gesellschaft, die sich noch unter den Platanen befindet; Eduard ist be¬ schaͤftigt Jedermann zuzureden: man soll blei¬ ben; in kurzem gedenkt er das Zeichen zu geben und das Feuerwerk soll beginnen; Char¬ lotte tritt hinzu und bittet ihn, ein Vergnuͤ¬ gen zu verschieben das jetzt nicht am Platze sey, das in dem gegenwaͤrtigen Augenblick nicht genossen werden koͤnne; sie erinnert ihn, was man dem Geretteten und dem Retter schuldig sey. Der Chirurgus wird schon seine Pflicht thun, versetzte Eduard. Er ist mit allem versehen und unser Zudringen waͤre nur eine hinderliche Theilnahme. Charlotte bestand auf ihrem Sinne und winkte Ottilien, die sich sogleich zum Weg¬ gehn anschickte. Eduard ergriff ihre Hand und rief: Wir wollen diesen Tag nicht im La¬ zareth endigen! Zur barmherzigen Schwester ist sie zu gut. Auch ohne uns werden die Scheintodten erwachen und die Lebendigen sich abtrocknen. Charlotte schwieg und ging. Einige folg¬ ten ihr, andere diesen; endlich wollte Niemand der letzte seyn und so folgten alle. Eduard und Ottilie fanden sich allein unter den Pla¬ tanen. Er bestand darauf zu bleiben, so dringend, so aͤngstlich sie ihn auch bat, mit ihr nach dem Schlosse zuruͤckzukehren. Nein, Ottilie! rief er: das Außerordentliche geschieht nicht auf glattem gewoͤhnlichen Wege. Dieser uͤberraschende Vorfall von heute Abend bringt uns schneller zusammen. Du bist die meine! Ich habe dir's schon so oft gesagt und ge¬ schworen; wir wollen es nicht mehr sagen und schwoͤren, nun soll es werden! Der Kahn von der andern Seite schwamm heruͤber. Es war der Kammerdiener, der verlegen anfragte: was nunmehr mit dem Feuerwerk werden sollte. Brennt es ab! rief er ihm entgegen. Fuͤr dich allein war es be¬ stellt, Ottilie, und nun sollst du es auch allein sehen! Erlaube mir an deiner Seite sitzend, es mit zu genießen. Zaͤrtlich bescheiden setzte er sich neben sie ohne sie zu beruͤhren. Raketen rauschten auf, Kanonenschlaͤge donnerten, Leuchtkugeln stiegen, Schwaͤrmer schlaͤngelten und platzten, Raͤder gischten, je¬ des erst einzeln, dann gepaart, dann alle zusammen, und immer gewaltsamer hinter¬ einander und zusammen. Eduard dessen Bu¬ sen brannte, verfolgte mit lebhaft zufriedenem Blick diese feurigen Erscheinungen. Ottiliens zartem, aufgeregten Gemuͤth war dieses rau¬ schende blitzende Entstehen und Verschwinden eher aͤngstlich als angenehm. Sie lehnte sich schuͤchtern an Eduard, dem diese Annaͤhe¬ rung, dieses Zutrauen das volle Gefuͤhl gab, daß sie ihm ganz angehoͤre. Die Nacht war kaum in ihre Rechte wie¬ der eingetreten, als der Mond aufging und die Pfade der beyden Ruͤckkehrenden beleuch¬ tete. Eine Figur, den Hut in der Hand, vertrat ihnen den Weg, und sprach sie um ein Almosen an, da er an diesem festlichen Tage versaͤumt worden sey. Der Mond schien ihm ins Gesicht und Eduard erkannte die Zuͤge jenes zudringlichen Bettlers. Aber so gluͤck¬ lich wie er war, konnte er nicht ungehalten seyn, konnte es ihm nicht einfallen, daß be¬ sonders fuͤr heute das Betteln hoͤchlich ver¬ poͤnt worden. Er forschte nicht lange in der Tasche und gab ein Goldstuͤck hin. Er haͤtte jeden gern gluͤcklich gemacht, da sein Gluͤck ohne Graͤnzen schien. Zu Hause war indeß alles erwuͤnscht ge¬ lungen. Die Thaͤtigkeit des Chirurgen, die Bereitschaft alles Noͤthigen, der Beystand Charlottens, alles wirkte zusammen und der Knabe ward wieder zum Leben hergestellt. Die Gaͤste zerstreuten sich, sowohl um noch etwas vom Feuerwerk aus der Ferne zu se¬ hen, als auch, um nach solchen verworrnen Scenen ihre ruhige Heimat wieder zu betreten. Auch hatte der Hauptmann, geschwind umgekleidet, an der noͤthigen Vorsorge thaͤti¬ gen Antheil genommen; alles war beruhigt und er fand sich mit Charlotten allein. Mit zutraulicher Freundlichkeit erklaͤrte er nun, daß seine Abreise nahe bevorstehe. Sie hatte diesen Abend so viel erlebt, daß diese Ent¬ deckung wenig Eindruck auf sie machte; sie hatte gesehen, wie der Freund sich aufopferte, wie er rettete und selbst gerettet war. Diese wunderbaren Ereignisse schienen ihr eine be¬ deutende Zukunft aber keine ungluͤckliche zu weissagen. Eduarden, der mit Ottilien hereintrat, wurde die bevorstehende Abreise des Haupt¬ manns gleichfalls angekuͤndigt. Er argwohnte, daß Charlotte fruͤher um das Naͤhere gewußt habe, war aber viel zu sehr mit sich und sei¬ nen Absichten beschaͤftigt, als daß er es haͤtte uͤbel empfinden sollen. Im Gegentheil vernahm er aufmerksam und zufrieden die gute und ehrenvolle Lage in die der Hauptmann versetzt werden sollte. Unbaͤndig drangen seine geheimen Wuͤnsche den Begebenheiten vor. Schon sah er jenen mit Charlotten verbunden, sich mit Ottilien. Man haͤtte ihm zu diesem Fest kein groͤßeres Geschenk machen koͤnnen. Aber wie erstaunt war Ottilie, als sie auf ihr Zimmer trat und den koͤstlichen klei¬ nen Coffer auf ihrem Tische fand. Sie saͤumte nicht ihn zu eroͤffnen. Da zeigte sich alles so schoͤn gepackt und geordnet, daß sie es nicht auseinander zu nehmen, ja kaum zu luͤften wagte. Musselin, Battist, Seide, Shawls und Spitzen wetteiferten an Fein¬ heit, Zierlichkeit und Kostbarkeit. Auch war der Schmuck nicht vergessen. Sie begriff wohl die Absicht, sie mehr als einmal vom Kopf bis auf den Fuß zu kleiden: es war aber alles so kostbar und fremd, daß sie sich's in Gedanken nicht zuzueignen getraute. Sechzehntes Kapitel. Des andern Morgens war der Haupt¬ mann verschwunden, und ein dankbar ge¬ fuͤhltes Blatt an die Freunde von ihm zuruͤck¬ geblieben. Er und Charlotte hatten Abends vorher schon halben und einsylbigen Abschied genommen. Sie empfand eine ewige Tren¬ nung und ergab sich darein: denn in dem zweyten Briefe des Grafen, den ihr der Hauptmann zuletzt mittheilte, war auch von einer Aussicht auf eine vortheilhafte Heirat die Rede; und obgleich er diesem Punkt keine Aufmerksamkeit schenkte, so hielt sie doch die Sache schon fuͤr gewiß und entsagte ihm rein und voͤllig. I . 17 Dagegen glaubte sie nun auch die Gewalt, die sie uͤber sich selbst ausgeuͤbt, von andern fordern zu koͤnnen. Ihr war es nicht un¬ moͤglich gewesen, andern sollte das Gleiche moͤglich seyn. In diesem Sinne begann sie das Gespraͤch mit ihrem Gemahl, um somehr offen und zuversichtlich, als sie empfand, daß die Sache ein fuͤr allemal abgethan werden muͤsse. Unser Freund hat uns verlassen, sagte sie: wir sind nun wieder gegen einander uͤber wie vormals, und es kaͤme nun wohl auf uns an, ob wir wieder voͤllig in den alten Zu¬ stand zuruͤckkehren wollten. Eduard, der nichts vernahm als was seiner Leidenschaft schmeichelte, glaubte daß Charlotte durch diese Worte den fruͤheren Wittwenstand bezeichnen und, obgleich auf unbestimmte Weise, zu einer Scheidung Hoffnung machen wolle. Er antwortete des¬ halb mit Laͤcheln: Warum nicht? Es kaͤme nur darauf an, daß man sich verstaͤndigte. Er fand sich daher gar sehr betrogen, als Charlotte versetzte: Auch Ottilien in eine an¬ dre Lage zu bringen, haben wir gegenwaͤrtig nur zu waͤhlen; denn es findet sich eine dop¬ pelte Gelegenheit, ihr Verhaͤltnisse zu geben die fuͤr sie wuͤnschenswerth sind. Sie kann in die Pension zuruͤckkehren, da meine Toch¬ ter zur Großtante gezogen ist; sie kann in ein angesehenes Haus aufgenommen werden, um mit einer einzigen Tochter alle Vortheile einer standesmaͤßigen Erziehung zu genießen. Indessen, versetzte Eduard ziemlich gefaßt, hat Ottilie sich in unserer freundlichen Gesell¬ schaft so verwoͤhnt, daß ihr eine andre wohl schwerlich willkommen seyn moͤchte. Wir haben uns alle verwoͤhnt, sagte Char¬ lotte, und du nicht zum letzten. Indessen ist 17 * es eine Epoche, die uns zur Besinnung auf¬ fordert, die uns ernstlich ermahnt, an das Beste saͤmmtlicher Mitglieder unseres kleinen Zirkels zu denken und auch irgend eine Auf¬ opferung nicht zu versagen. Wenigstens finde ich es nicht billig, ver¬ setzte Eduard, daß Ottilie aufgeopfert werde, und das geschaͤhe doch wenn man sie gegen¬ waͤrtig unter fremde Menschen hinunter stieße. Den Hauptmann hat sein gutes Geschick hier aufgesucht; wir duͤrfen ihn mit Ruhe, ja mit Behagen von uns wegscheiden lassen. Wer weiß was Ottilien bevorsteht; warum sollten wir uns uͤbereilen? Was uns bevorsteht ist ziemlich klar, ver¬ setzte Charlotte mit einiger Bewegung, und da sie die Absicht hatte ein fuͤr allemal sich auszusprechen, fuhr sie fort: Du liebst Otti¬ lien, du gewoͤhnst dich an sie. Neigung und Leidenschaft entspringt und naͤhrt sich auch von ihrer Seite. Warum sollen wir nicht mit Worten aussprechen, was uns jede Stunde gesteht und bekennt? Sollen wir nicht soviel Vorsicht haben, uns zu fragen, was das wer¬ den wird? Wenn man auch sogleich darauf nicht ant¬ worten kann, versetzte Eduard, der sich zu¬ sammennahm; so laͤßt sich doch soviel sagen, daß man eben alsdann sich am ersten ent¬ schließt abzuwarten was uns die Zukunft leh¬ ren wird, wenn man gerade nicht sagen kann, was aus einer Sache werden soll. Hier vorauszusehen, versetzte Charlotte, bedarf es wohl keiner großen Weisheit, und soviel laͤßt sich auf alle Faͤlle gleich sagen, daß wir beyde nicht mehr jung genug sind, um blindlings dahin zu gehen, wohin man nicht moͤchte oder nicht sollte. Niemand kann mehr fuͤr uns sorgen; wir muͤssen unsre eigenen Freunde seyn, unsre eigenen Hofmeister. Nie¬ mand erwartet von uns, daß wir uns in ein Aeußerstes verlieren werden, Niemand erwar¬ tet uns tadelnswerth oder gar laͤcherlich zu finden. Kannst du mir's verdenken, versetzte Eduard, der die offne reine Sprache seiner Gattinn nicht zu erwiedern vermochte: kannst du mich schelten, wenn mir Ottiliens Gluͤck am Herzen liegt? und nicht etwa ein kuͤnftiges, das im¬ mer nicht zu berechnen ist; sondern ein gegen¬ waͤrtiges. Denke dir, aufrichtig und ohne Selbstbetrug, Ottilien aus unserer Gesellschaft gerissen, und fremden Menschen untergeben — ich wenigstens fuͤhle mich nicht grausam genug, ihr eine solche Veraͤnderung zuzu¬ muthen. Charlotte ward gar wohl die Entschlossen¬ heit ihres Gemahls hinter seiner Verstellung gewahr. Erst jetzt fuͤhlte sie, wie weit er sich von ihr entfernt hatte. Mit einiger Bewe¬ gung rief sie aus: Kann Ottilie gluͤcklich seyn, wenn sie uns entzweyt! wenn sie mir einen Gatten, seinen Kindern einen Vater entreißt! Fuͤr unsere Kinder, daͤchte ich, waͤre ge¬ sorgt, sagte Eduard laͤchelnd und kalt; etwas freundlicher aber fuͤgte er hinzu: Wer wird auch gleich das Aeußerste denken! Das Aeußerste liegt der Leidenschaft zu allernaͤchst, bemerkte Charlotte. Lehne, so lange es noch Zeit ist, den guten Rath nicht ab, nicht die Huͤlfe die ich uns biete. In truͤben Faͤllen muß derjenige wirken und hel¬ fen der am klaͤrsten sieht. Dießmal bin ich's. Lieber, liebster Eduard, laß mich ge¬ waͤhren! Kannst du mir zumuthen, daß ich auf mein wohlerworbnes Gluͤck, auf die schoͤn¬ sten Rechte, auf dich so geradehin Verzicht leisten soll? Wer sagt das? versetzte Eduard mit eini¬ ger Verlegenheit. Du selbst, versetzte Charlotte: indem du Ottilien in der Naͤhe behalten willst, gestehst du nicht alles zu, was daraus entspringen muß? Ich will nicht in dich dringen; aber wenn du dich nicht uͤberwinden kannst, so wirst du wenigstens dich nicht lange mehr be¬ truͤgen koͤnnen. Eduard fuͤhlte wie Recht sie hatte. Ein ausgesprochnes Wort ist fuͤrchterlich, wenn es das auf einmal ausspricht, was das Herz lange sich erlaubt hat; und um nur fuͤr den Augenblick auszuweichen, erwiederte Eduard: Es ist mir ja noch nicht einmal klar, was du vorhast. Meine Absicht war, versetzte Charlotte, mit dir die beyden Vorschlaͤge zu uͤberlegen. Bey¬ de haben viel Gutes. Die Pension wuͤrde Ottilien am gemaͤßesten seyn, wenn ich be¬ trachte, wie das Kind jetzt ist. Jene groͤßere und weitere Lage verspricht aber mehr, wenn ich bedenke, was sie werden soll. Sie legte darauf umstaͤndlich ihrem Gemahl die beyden Verhaͤltnisse dar und schloß mit den Worten: Was meine Meynung betrifft; so wuͤrde ich das Haus jener Dame der Pension vorziehen aus mehreren Ursachen, besonders aber auch, weil ich die Neigung, ja die Leidenschaft des jungen Mannes, den Ottilie dort fuͤr sich ge¬ wonnen, nicht vermehren will. Eduard schien ihr Beyfall zu geben, nur aber um einigen Aufschub zu suchen. Char¬ lotte, die darauf ausging etwas Entscheiden¬ des zu thun, ergriff sogleich die Gelegenheit, als Eduard nicht unmittelbar widersprach, die Abreise Ottiliens, zu der sie schon alles im Stillen vorbereitet hatte, auf die naͤchsten Tage festzusetzen. Eduard schauderte; er hielt sich fuͤr ver¬ rathen und die liebevolle Sprache seiner Frau fuͤr ausgedacht, kuͤnstlich und planmaͤßig, um ihn auf ewig von seinem Gluͤcke zu trennen. Er schien ihr die Sache ganz zu uͤberlassen; allein schon war innerlich sein Entschluß ge¬ faßt. Um nur zu Athem zu kommen, um das bevorstehende unabsehliche Unheil der Ent¬ fernung Ottiliens abzuwenden, entschied er sich sein Haus zu verlassen, und zwar nicht ganz ohne Vorbewußt Charlottens, die er jedoch durch die Einleitung zu taͤuschen verstand, daß er bey Ottiliens Abreise nicht gegenwaͤr¬ tig seyn, ja sie von diesem Augenblick an nicht mehr sehen wolle. Charlotte, die ge¬ wonnen zu haben glaubte, that ihm allen Vorschub. Er befahl seine Pferde, gab dem Kammerdiener die noͤthige Anweisung was er einpacken und wie er ihm folgen solle, und so, wie schon im Stegreife, setzte er sich hin und schrieb. Eduard an Charlotten. Das Uebel, meine Liebe, das uns befal¬ len hat, mag heilbar seyn oder nicht, dieß nur fuͤhl' ich, wenn ich im Augenblicke nicht verzweifeln soll, so muß ich Aufschub finden fuͤr mich, fuͤr uns alle. Indem ich mich aufopfre kann ich fordern. Ich verlasse mein Haus und kehre nur unter guͤnstigern ruhi¬ gern Aussichten zuruͤck. Du sollst es indessen besitzen, aber mit Ottilien. Bey dir will ich sie wissen, nicht unter fremden Menschen. Sorge fuͤr sie, behandle sie wie sonst, wie bisher, ja nur immer liebevoller, freundlicher und zarter. Ich verspreche kein heimliches Verhaͤltniß zu Ottilien zu suchen. Laßt mich lieber eine Zeit lang ganz unwissend, wie ihr lebt; ich will mir das Beste denken. Denkt auch so von mir. Nur, was ich dich bitte, auf das innigste, auf das lebhafteste: mache keinen Versuch Ottilien sonst irgendwo unter¬ zugeben, in neue Verhaͤltnisse zu bringen. Außer dem Bezirk deines Schlosses, deines Parks, fremden Menschen anvertraut, gehoͤrt sie mir und ich werde mich ihrer bemaͤchtigen. Ehrst du aber meine Neigung, meine Wuͤn¬ sche, meine Schmerzen; schmeichelst du mei¬ nem Wahn, meinen Hoffnungen: so will ich auch der Genesung nicht widerstreben, wenn sie sich mir anbietet. — Diese letzte Wendung floß ihm aus der Feder, nicht aus dem Herzen. Ja wie er sie auf dem Papier sah, fing er bitterlich zu weinen an. Er sollte auf irgend eine Weise dem Gluͤck, ja dem Ungluͤck Ottilien zu lie¬ ben, entsagen! Jetzt erst fuͤhlte er was er that. Er entfernte sich, ohne zu wissen was daraus entstehen konnte. Er sollte sie we¬ nigstens jetzt nicht wiedersehen, ob er sie je wiedersaͤhe, welche Sicherheit konnte er sich daruͤber versprechen? Aber der Brief war ge¬ schrieben; die Pferde standen vor der Thuͤr; jeden Augenblick mußte er fuͤrchten Ottilien irgendwo zu erblicken und zugleich seinen Entschluß vereitelt zu sehen. Er faßte sich; er dachte daß es ihm doch moͤglich sey, jeden Augenblick zuruͤckzukehren und durch die Ent¬ fernung gerade seinen Wuͤnschen naͤher zu kommen. Im Gegentheil stellte er sich Ottilien vor, aus dem Hause gedraͤngt, wenn er blie¬ be. Er siegelte den Brief, eilte die Treppe hinab und schwang sich aufs Pferd. Als er beym Wirthshause vorbeyritt, sah er den Bettler in der Laube sitzen, den er gestern Nacht so reichlich beschenkt hatte. Dieser saß behaglich an seinem Mittagsmahle, stand auf und neigte sich ehrerbietig, ja an¬ betend vor Eduarden. Eben diese Gestalt war ihm gestern erschienen, als er Ottilien am Arm fuͤhrte; nun erinnerte sie ihn schmerz¬ lich an die gluͤcklichste Stunde seines Lebens. Seine Leiden vermehrten sich; das Gefuͤhl dessen was er zuruͤckließ war ihm unertraͤg¬ lich; nochmals blickte er nach dem Bettler: O du Beneidenswerther! rief er aus: du kannst noch am gestrigen Almosen zehren, und ich nicht mehr am gestrigen Gluͤcke! Siebzehntes Kapitel. Ottilie trat ans Fenster als sie Jemanden wegreiten hoͤrte und sah Eduarden noch im Ruͤcken. Es kam ihr wunderbar vor, daß er das Haus verließ, ohne sie gesehen, ohne ihr einen Morgengruß geboten zu haben. Sie ward unruhig und immer nachdenklicher, als Charlotte sie auf einen weiten Spazirgang mit sich zog und von mancherley Gegenstaͤnden sprach, aber des Gemahls, und wie es schien, vorsaͤtzlich, nicht erwaͤhnte. Doppelt betroffen war sie daher, bey ihrer Zuruͤckkunft den Tisch nur mit zwey Gedecken besetzt zu finden. Wir vermissen ungern geringscheinende Gewohnheiten, aber schmerzlich empfinden wir erst ein solches Entbehren in bedeutenden Faͤllen. Eduard und der Hauptmann fehlten, Charlotte hatte seit langer Zeit zum ersten¬ mal den Tisch selbst angeordnet, und es wollte Ottilien scheinen als wenn sie abgesetzt waͤre. Die beyden Frauen saßen gegen einander uͤber; Charlotte sprach ganz unbefangen von der Anstellung des Hauptmanns und von der wenigen Hoffnung ihn bald wieder zu sehen. Das einzige troͤstete Ottilien in ihrer Lage, daß sie glauben konnte, Eduard sey, um den Freund noch eine Strecke zu begleiten, ihm nachgeritten. Allein, da sie von Tische aufstanden, sahen sie Eduards Reisewagen unter dem Fenster, und als Charlotte einigermaßen unwillig fragte: wer ihn hieher bestellt habe; so antwortete man ihr, es sey der Kammerdiener, der hier noch einiges aufpacken wolle. Ottilie brauchte ihre ganze Fassung, um ihre Verwunderung und ihren Schmerz zu verbergen. Der Kammerdiener trat herein und ver¬ langte noch einiges. Es war eine Mund¬ tasse des Herrn, ein paar silberne Loͤffel und mancherley was Ottilien auf eine weitere Reise, auf ein laͤngeres Außenbleiben zu deu¬ ten schien. Charlotte verwies ihm sein Be¬ gehren ganz trocken: sie verstehe nicht was er damit sagen wolle; denn er habe ja alles was sich auf den Herrn beziehe, selbst im Beschluß. Der gewandte Mann, dem es freylich nur darum zu thun war, Ottilien zu sprechen, und sie deswegen unter irgend ei¬ nem Vorwande aus dem Zimmer zu locken, wußte sich zu entschuldigen und auf seinem Verlangen zu beharren, das ihm Ottilie auch zu gewaͤhren wuͤnschte; allein Charlotte lehnte es ab, der Kammerdiener mußte sich entfer¬ nen, und der Wagen rollte fort. I . 18 Es war fuͤr Ottilien ein schrecklicher Au¬ genblick. Sie verstand es nicht, sie begriff es nicht; aber daß ihr Eduard auf geraume Zeit entrissen war, konnte sie fuͤhlen. Char¬ lotte fuͤhlte den Zustand mit und ließ sie al¬ lein. Wir wagen nicht ihren Schmerz, ihre Thraͤnen zu schildern, sie litt unendlich. Sie bat nur Gott, daß er ihr nur uͤber diesen Tag weghelfen moͤchte; sie uͤberstand den Tag und die Nacht, und als sie sich wieder¬ gefunden, glaubte sie ein anderes Wesen anzu¬ treffen. Sie hatte sich nicht gefaßt, sich nicht er¬ geben, aber sie war, nach so großem Verluste, noch da und hatte noch mehr zu befuͤrchten. Ihre naͤchste Sorge, nachdem das Bewußt¬ seyn wiedergekehrt, war sogleich: sie moͤchte nun, nach Entfernung der Maͤnner, gleichfalls entfernt werden. Sie ahndete nichts von Eduards Drohungen, wodurch ihr der Auf¬ enthalt neben Charlotten gesichert war; doch diente ihr das Betragen Charlottens zu eini¬ ger Beruhigung. Diese suchte das gute Kind zu beschaͤftigen und ließ sie nur selten, nur ungern von sich; und ob sie gleich wohl wußte, daß man mit Worten nicht viel gegen eine entschiedene Leidenschaft zu wirken vermag, so kannte sie doch die Macht der Besonnenheit, des Bewußtseyns, und brachte daher manches zwischen sich und Ottilien zur Sprache. So war es fuͤr diese ein großer Trost, als jene gelegentlich, mit Bedacht und Vor¬ satz, die weise Betrachtung anstellte: Wie leb¬ haft ist, sagte sie, die Dankbarkeit derjenigen denen wir mit Ruhe uͤber leidenschaftliche Verlegenheiten hinaushelfen. Laß uns freu¬ dig und munter in das eingreifen, was die Maͤnner unvollendet zuruͤckgelassen haben; so bereiten wir uns die schoͤnste Aussicht auf ihre Ruͤckkehr, indem wir das was ihr stuͤrmendes ungeduldiges Wesen zerstoͤren moͤchte, durch unsre Maͤßigung erhalten und foͤrdern. 18 * Da Sie von Maͤßigung sprechen, liebe Tante, versetzte Ottilie; so kann ich nicht ber¬ gen, daß mir dabey die Unmaͤßigkeit der Maͤn¬ ner, besonders was den Wein betrifft, ein¬ faͤllt. Wie oft hat es mich betruͤbt und ge¬ aͤngstigt, wenn ich bemerken mußte, daß rei¬ ner Verstand, Klugheit, Schonung anderer, Anmuth und Liebenswuͤrdigkeit, selbst fuͤr meh¬ rere Stunden, verloren gingen, und oft statt alles des Guten was ein trefflicher Mann her¬ vorzubringen und zu gewaͤhren vermag, Unheil und Verwirrung hereinzubrechen drohte. Wie oft moͤgen dadurch gewaltsame Entschließungen veranlaßt werden. Charlotte gab ihr Recht; doch setzte sie das Gespraͤch nicht fort: denn sie fuͤhlte nur zu wohl, daß auch hier Ottilie bloß Eduarden wieder im Sinne hatte, der zwar nicht ge¬ woͤhnlich, aber doch oͤfter als es wuͤnschens¬ werth war, sein Vergnuͤgen, seine Gespraͤchig¬ keit, seine Thaͤtigkeit durch einen gelegentli¬ chen Weingenuß zu steigern pflegte. Hatte bey jener Aeußerung Charlottens sich Ottilie die Maͤnner, besonders Eduarden, wieder heran denken koͤnnen; so war es ihr um desto auffallender, als Charlotte von einer bevorstehenden Heirat des Hauptmanns, wie von einer ganz bekannten und gewissen Sache sprach, wodurch denn alles ein andres Ansehn gewann, als sie nach Eduards fruͤhern Ver¬ sicherungen sich vorstellen mochte. Durch alles dieß vermehrte sich die Aufmerksamkeit Otti¬ liens auf jede Aeußerung, jeden Wink, jede Handlung, jeden Schritt Charlottens. Ottilie war klug, scharfsinnig, argwoͤhnisch geworden ohne es zu wissen. Charlotte durchdrang indessen das Ein¬ zelne ihrer ganzen Umgebung mit scharfem Blick und wirkte darin mit ihrer klaren Ge¬ wandtheit, wobey sie Ottilien bestaͤndig Theil zu nehmen noͤthigte. Sie zog ihren Haus¬ halt, ohne Baͤnglichkeit, ins Enge; ja, wenn sie alles genau betrachtete, so hielt sie den leidenschaftlichen Vorfall fuͤr eine Art von gluͤcklicher Schickung. Denn auf dem bishe¬ rigen Wege waͤre man leicht ins Graͤnzenlose gerathen und haͤtte den schoͤnen Zustand reich¬ licher Gluͤcksguͤter, ohne sich zeitig genug zu besinnen, durch ein vordringliches Leben und Treiben, wo nicht zerstoͤrt, doch erschuͤttert. Was von Parkanlagen im Gange war, stoͤrte sie nicht. Sie ließ vielmehr dasjenige fortsetzen, was zum Grunde kuͤnftiger Aus¬ bildung liegen mußte; aber dabey hatte es auch sein Bewenden. Ihr zuruͤckkehrender Ge¬ mahl sollte noch genug erfreuliche Beschaͤftigung finden. Bey diesen Arbeiten und Vorsaͤtzen konnte sie nicht genug das Verfahren des Architecten loben. Der See lag in kurzer Zeit ausge¬ breitet vor ihren Augen, und die neu entstan¬ denen Ufer zierlich und mannigfaltig bepflanzt und beraset. An dem neuen Hause ward alle rauhe Arbeit vollbracht, was zur Erhaltung noͤthig war, besorgt, und dann machte sie einen Abschluß da wo man mit Vergnuͤgen wieder von vorn anfangen konnte. Dabey war sie ruhig und heiter; Ottilie schien es nur: denn in allem beobachtete sie nichts als Symptome, ob Eduard wohl bald erwartet werde, oder nicht. Nichts interessirt sie an allem als diese Betrachtung. Willkommen war ihr daher eine Anstalt, zu der man die Bauerknaben versammelte und die darauf abzielte, den weitlaͤuftig ge¬ wordenen Park immer rein zu erhalten. Edu¬ ard hatte schon den Gedanken gehegt. Man ließ den Knaben eine Art von heitrer Mon¬ tirung machen, die sie in den Abendstunden anzogen, nachdem sie sich durchaus gereinigt und gesaͤubert hatten. Die Garderobe war im Schloß; dem verstaͤndigsten, genausten Knaben vertraute man die Aufsicht an; der Architect leitete das Ganze, und ehe man sich's versah, so hatten die Knaben alle ein gewisses Geschick. Man fand an ihnen eine bequeme Dressur und sie verrichteten ihr Geschaͤft nicht ohne eine Art von Manoͤver. Gewiß, wenn sie mit ihren Scharreisen, ge¬ stielten Messerklingen, Rechen, kleinen Spa¬ den und Hacken und wedelartigen Besen ein¬ herzogen; wenn andre mit Koͤrben hinterdrein kamen, um Unkraut und Steine bey Seite zu schaffen; andre das hohe große eiserne Walzenrad hinter sich herzogen: so gab es ei¬ nen huͤbschen erfreulichen Aufzug, in welchem der Architect eine artige Folge von Stellun¬ gen und Thaͤtigkeiten fuͤr den Fries eines Gartenhauses sich anmerkte; Ottilie hingegen sah darin nur eine Art von Parade welche den ruͤckkehrenden Hausherrn bald begruͤßen sollte. Dieß gab ihr Muth und Lust ihn mit et¬ was Aehnlichem zu empfangen. Man hatte zeither die Maͤdchen des Dorfes im Naͤhen, Stricken, Spinnen und andern weiblichen Ar¬ beiten zu ermuntern gesucht. Auch diese Tu¬ genden hatten zugenommen seit jenen Anstal¬ ten zu Reinlichkeit und Schoͤnheit des Dor¬ fes. Ottilie wirkte stets mit ein; aber mehr zufaͤllig, nach Gelegenheit und Neigung. Nun gedachte sie es vollstaͤndiger und folgerechter zu machen. Aber aus einer Anzahl Maͤdchen laͤßt sich kein Chor bilden, wie aus einer Anzahl Knaben. Sie folgte ihrem guten Sinne, und ohne sich's ganz deutlich zu machen, suchte sie nichts als einem jeden Maͤdchen Anhaͤnglichkeit an sein Haus, seine Aeltern und seine Geschwister einzufloͤßen. Das gelang ihr mit vielen. Nur uͤber ein kleines, lebhaftes Maͤdchen wurde immer geklagt, daß sie ohne Geschick sey, und im Hause nun ein fuͤr allemal nichts thun wolle. Ottilie konnte dem Maͤdchen nicht feind seyn, denn ihr war es besonders freundlich. Zu ihr zog es sich, mit ihr ging und lief es, wenn sie es erlaubte. Da war es thaͤtig, munter und unermuͤdet. Die Anhaͤnglichkeit an eine schoͤne Herrinn schien dem Kinde Be¬ duͤrfniß zu seyn. Anfaͤnglich duldete Ottilie die Begleitung des Kindes; dann faßte sie selbst Neigung zu ihm; endlich trennten sie sich nicht mehr und Nanny begleitete ihre Herrinn uͤberall hin. Diese nahm oͤfters den Weg nach dem Garten und freute sich uͤber das schoͤne Ge¬ deihen. Die Beeren- und Kirschenzeit ging zu Ende, deren Spaͤtlinge jedoch Nanny sich besonders schmecken ließ. Bey dem uͤbrigen Obste, das fuͤr den Herbst eine so reichliche Aernte versprach, gedachte der Gaͤrtner be¬ staͤndig des Herrn und niemals ohne ihn her¬ beyzuwuͤnschen. Ottilie hoͤrte dem guten alten Manne so gern zu. Er verstand sein Hand¬ werk vollkommen und hoͤrte nicht auf, ihr von Eduard vorzusprechen. Als Ottilie sich freute, daß die Pfropfreiser dieses Fruͤhjahrs alle so gar schoͤn bekommen, erwiederte der Gaͤrtner bedenklich: ich wuͤnsche nur, daß der gute Herr viel Freude daran erleben moͤge. Waͤre er diesen Herbst hier, so wuͤrde er sehen, was fuͤr koͤstliche Sorten noch von seinem Herrn Vater her im alten Schloßgarten stehen. Die jetzigen Herren Obstgaͤrtner sind nicht so zuverlaͤssig als sonst die Carthaͤuser waren. In den Catalogen findet man wohl lauter honette Namen. Man pfropft und erzieht und endlich wenn sie Fruͤchte tragen, so ist es nicht der Muͤhe werth, daß solche Baͤume im Garten stehen. Am wiederhohltesten aber fragte der treue Diener, fast so oft er Ottilien sah, nach der Ruͤckkunft des Herrn, und nach dem Termin derselben. Und wenn Ottilie ihn nicht ange¬ ben konnte, so ließ ihr der gute Mann nicht ohne stille Betruͤbniß merken, daß er glaube sie vertraue ihm nicht, und peinlich war ihr das Gefuͤhl der Unwissenheit, das ihr auf diese Weise recht aufgedrungen ward. Doch konnte sie sich von diesen Rabatten und Bee¬ ten nicht trennen. Was sie zusammen zum Theil gesaͤt, alles gepflanzt hatten, stand nun im voͤlligen Flor; kaum bedurfte es noch ei¬ ner Pflege, außer daß Nanny immer zum Gießen bereit war. Mit welchen Empfindun¬ gen betrachtete Ottilie die spaͤteren Blumen, die sich erst anzeigten, deren Glanz und Fuͤlle dereinst an Eduards Geburtstag, dessen Feyer sie sich manchmal versprach, prangen, ihre Neigung und Dankbarkeit ausdruͤcken sollten. Doch war die Hoffnung dieses Fest zu sehen nicht immer gleich lebendig. Zweifel und Sorgen umfluͤsterten stets die Seele des guten Maͤdchens. Zu einer eigentlichen offnen Uebereinstim¬ mung mit Charlotten konnte es auch wohl nicht wieder gebracht werden. Denn freylich war der Zustand beyder Frauen sehr verschie¬ den. Wenn alles beym Alten blieb, wenn man in das Gleis des gesetzmaͤßigen Lebens zuruͤckkehrte, gewann Charlotte an gegenwaͤr¬ tigem Gluͤck, und eine frohe Aussicht in die Zu¬ kunft oͤffnete sich ihr; Ottilie hingegen verlor alles, man kann wohl sagen, alles: denn sie hatte zuerst Leben und Freude in Eduard ge¬ funden, und in dem gegenwaͤrtigen Zustande fuͤhlte sie eine unendliche Leere, wovon sie fruͤher kaum etwas geahndet hatte. Denn ein Herz das sucht, fuͤhlt wohl daß ihm et¬ was mangle, ein Herz das verloren hat, fuͤhlt daß es entbehre. Sehnsucht verwandelt sich in Unmuth und Ungeduld, und ein weibliches Gemuͤth, zum Erwarten und Abwarten ge¬ woͤhnt, moͤchte nun aus seinem Kreise heraus¬ schreiten, thaͤtig werden, unternehmen und auch etwas fuͤr sein Gluͤck thun. Ottilie hatte Eduarden nicht entsagt. Wie konnte sie es auch, obgleich Charlotte klug genug, gegen ihre eigne Ueberzeugung, die Sache fuͤr bekannt annahm, und als ent¬ schieden voraussetzte, daß ein freundschaftliches ruhiges Verhaͤltniß zwischen ihrem Gatten und Ottilien moͤglich sey. Wie oft aber lag diese Nachts, wenn sie sich eingeschlossen, auf den Knieen vor dem eroͤffneten Koffer und betrach¬ tete die Geburtstagsgeschenke, von denen sie noch nichts gebraucht, nichts zerschnitten, nichts gefertigt. Wie oft eilte das gute Maͤdchen mit Sonnenaufgang aus dem Hause, in dem sie sonst alle ihre Gluͤckseligkeit gefunden hatte, ins Freye hinaus, in die Gegend, die sie sonst nicht ansprach. Auch auf dem Boden mochte sie nicht verweilen. Sie sprang in den Kahn, und ruderte sich bis mitten in den See: dann zog sie eine Reisebeschreibung her¬ vor, ließ sich von den bewegten Wellen schau¬ keln, las, traͤumte sich in die Fremde und immer fand sie dort ihren Freund; seinem Herzen war sie noch immer nahe geblieben, er dem ihrigen. Achtzehntes Kapitel. Daß jener wunderlich thaͤtige Mann, den wir bereits kennen gelernt, daß Mittler, nach¬ dem er von dem Unheil, das unter diesen Freunden ausgebrochen, Nachricht erhalten, obgleich kein Theil noch seine Huͤlfe angeru¬ fen, in diesem Falle seine Freundschaft, seine Geschicklichkeit zu beweisen, zu uͤben geneigt war, laͤßt sich denken. Doch schien es ihm raͤthlich, erst eine Weile zu zaudern: denn er wußte nur zu wohl, daß es schwerer sey, ge¬ bildeten Menschen bey sittlichen Verworrenhei¬ ten zu Huͤlfe zu kommen, als ungebildeten. Er uͤberließ sie deshalb eine Zeit lang sich selbst; allein zuletzt konnte er es nicht mehr aushalten, und eilte Eduarden aufzusuchen, dem er schon auf die Spur gekommen war. Sein Weg fuͤhrte ihn zu einem angeneh¬ men Thal, dessen anmuthig gruͤnen baumrei¬ chen Wiesengrund die Wasserfuͤlle eines immer lebendigen Baches bald durchschlaͤngelte bald durchrauschte. Auf den sanften Anhoͤhen zo¬ gen sich fruchtbare Felder und wohlbestandene Obstpflanzungen hin. Die Doͤrfer lagen nicht zu nah an einander, das Ganze hatte ei¬ nen friedlichen Charakter und die einzelnen Partieen, wenn auch nicht zum Malen, schie¬ nen doch zum Leben vorzuͤglich geeignet zu seyn. Ein wohlerhaltenes Vorwerk mit einem reinlichen bescheidenen Wohnhause, von Gaͤr¬ ten umgeben, fiel ihm endlich in die Augen. Er vermuthete, hier sey Eduards gegenwaͤrti¬ ger Aufenthalt, und er irrte nicht. Von diesem einsamen Freunde koͤnnen wir soviel sagen, daß er sich im Stillen dem Gefuͤhl seiner Leidenschaft ganz uͤberließ und dabey mancherley Plane sich ausdachte, man¬ cherley Hoffnungen naͤhrte. Er konnte sich nicht laͤugnen, daß er Ottilien hier zu sehen wuͤn¬ sche, daß er wuͤnsche sie hieher zu fuͤhren, zu locken, und was er sich sonst noch Erlaubtes und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte. Dann schwankte seine Einbildungskraft in al¬ len Moͤglichkeiten herum. Sollte er sie hier nicht besitzen, nicht rechtmaͤßig besitzen koͤnnen, so wollte er ihr den Besitz des Gutes zueignen. Hier sollte sie still fuͤr sich, unabhaͤngig leben; sie sollte gluͤcklich seyn, und wenn ihn eine selbstquaͤlerische Ein¬ bildungskraft noch weiter fuͤhrte, vielleicht mit einem Andern gluͤcklich seyn. So verflossen ihm seine Tage in einem ewigen Schwanken zwischen Hoffnung und Schmerz, zwischen Thraͤnen und Heiterkeit, I . 19 zwischen Vorsaͤtzen, Vorbereitungen und Ver¬ zweiflung. Der Anblick Mittlers uͤberraschte ihn nicht. Er hatte dessen Ankunft laͤngst erwartet, und so war er ihm auch halb will¬ kommen. Glaubte er ihn von Charlotten ge¬ sendet, so hatte er sich schon auf allerley Ent¬ schuldigungen und Verzoͤgerungen und sodann auf entscheidendere Vorschlaͤge bereitet; hoffte er nun aber von Ottilien wieder etwas zu vernehmen, so war ihm Mittler so lieb als ein himmlischer Bote. Verdrießlich daher und verstimmt war Eduard als er vernahm, Mittler komme nicht von dorther, sondern aus eignem Antriebe. Sein Herz verschloß sich und das Gespraͤch wollte sich anfangs nicht einleiten. Doch wußte Mittler nur zu gut, daß ein liebevoll beschaͤftigtes Gemuͤth das dringende Beduͤrf¬ niß hat sich zu aͤußern, das was in ihm vor¬ geht, vor einem Freunde auszuschuͤtten, und ließ sich daher gefallen, nach einigem Hin- und Wiederreden, dießmal aus seiner Rolle her¬ auszugehen, und statt des Vermittlers den Vertrauten zu spielen. Als er hiernach, auf eine freundliche Weise, Eduarden wegen seines einsamen Le¬ bens tadelte, erwiederte dieser: O ich wuͤßte nicht, wie ich meine Zeit angenehmer zubrin¬ gen sollte! Immer bin ich mit ihr beschaͤftigt, immer in ihrer Naͤhe. Ich habe den unschaͤtz¬ baren Vortheil mir denken zu koͤnnen, wo sich Ottilie befindet, wo sie geht, wo sie steht, wo sie ausruht. Ich sehe sie vor mir thun und handeln wie gewoͤhnlich, schaffen und vornehmen, freylich immer das was mir am meisten schmeichelt. Dabey bleibt es aber nicht: denn wie kann ich fern von ihr gluͤck¬ lich seyn! Nun arbeitet meine Phantasie durch, was Ottilie thun sollte sich mir zu naͤhern. Ich schreibe suͤße zutrauliche Briefe in ihrem Namen an mich; ich antworte ihr und ver¬ wahre die Blaͤtter zusammen. Ich habe ver¬ 19 * sprochen keinen Schritt gegen sie zu thun, und das will ich halten. Aber was bindet sie, daß sie sich nicht zu mir wendet? Hat etwa Charlotte die Grausamkeit gehabt, Versprechen und Schwur von ihr zu fordern, daß sie mir nicht schreiben, keine Nachricht von sich geben wolle? Es ist natuͤrlich, es ist wahrscheinlich und doch finde ich es unerhoͤrt, unertraͤglich. Wenn sie mich liebt, wie ich glaube, wie ich weiß, warum entschließt sie sich nicht, warum wagt sie es nicht, zu fliehen und sich in mei¬ ne Arme zu werfen? Sie sollte das, denke ich manchmal, sie koͤnnte das. Wenn sich et¬ was auf dem Vorsaale regt, sehe ich gegen die Thuͤre. Sie soll hereintreten! denk' ich, hoff' ich. Ach! und da das Moͤgliche un¬ moͤglich ist, bilde ich mir ein, das Unmoͤgliche muͤsse moͤglich werden. Nachts wenn ich aufwache, die Lampe einen unsichern Schein durch das Schlafzimmer wirft, da sollte ihre Gestalt, ihr Geist, eine Ahndung von ihr, voruͤberschweben, herantreten, mich ergreifen, nur einen Augenblick, daß ich eine Art von Ver¬ sicherung haͤtte, sie denke mein, sie sey mein. Eine einzige Freude bleibt mir noch. Da ich ihr nahe war, traͤumte ich nie von ihr; jetzt aber in der Ferne sind wir im Traume zu¬ sammen, und sonderbar genug, seit ich andre liebenswuͤrdige Personen hier in der Nachbar¬ schaft kennen gelernt, jetzt erst erscheint mir ihr Bild im Traum, als wenn sie mir sagen wollte: siehe nur hin und her! du findest doch nichts schoͤneres und lieberes als mich. Und so mischt sich ihr Bild in jeden meiner Traͤume. Alles was mir mit ihr begegnet, schiebt sich durch- und uͤbereinander. Bald unterschreiben wir einen Contract; da ist ihre Hand und die meinige, ihr Name und der meinige, beyde loͤschen einander aus, beyde verschlingen sich. Auch nicht ohne Schmerz sind diese wonnevollen Gaukeleyen der Phan¬ tasie. Manchmal thut sie etwas, das die reine Idee beleidigt, die ich von ihr habe; dann fuͤhl' ich erst, wie sehr ich sie liebe, indem ich uͤber alle Beschreibung geaͤngstet bin. Manchmal neckt sie mich ganz gegen ihre Art und quaͤlt mich; aber sogleich ver¬ aͤndert sich ihr Bild, ihr schoͤnes, rundes himmlisches Gesichtchen verlaͤngert sich: es ist eine andre. Aber ich bin doch gequaͤlt, unbe¬ friedigt und zerruͤttet. Laͤcheln Sie nicht, lieber Mittler, oder, laͤcheln Sie auch! O ich schaͤme mich nicht dieser Anhaͤnglichkeit, dieser, wenn Sie wollen, thoͤrigen rasenden Neigung. Nein, ich habe noch nie geliebt; jetzt erfahre ich erst, was das heißt. Bisher war alles in meinem Le¬ ben nur Vorspiel, nur Hinhalten, nur Zeit¬ vertreib, nur Zeitverderb, bis ich sie kennen lernte, bis ich sie liebte und ganz und eigent¬ lich liebte. Man hat mir, nicht gerade ins Gesicht, aber doch wohl im Ruͤcken, den Vorwurf gemacht: ich pfusche, ich stuͤmpere nur in den meisten Dingen. Es mag seyn, aber ich hatte das noch nicht gefunden worin ich mich als Meister zeigen kann. Ich will den sehen, der mich im Talent des Liebens uͤbertrifft. Zwar es ist ein jammervolles, ein schmer¬ zen- ein thraͤnenreiches; aber ich finde es mir so natuͤrlich, so eigen, daß ich es wohl schwer¬ lich je wieder aufgebe. Durch diese lebhaften herzlichen Aeußerun¬ gen hatte sich Eduard wohl erleichtert, aber es war ihm auch auf einmal jeder einzelne Zug seines wunderlichen Zustandes deutlich vor die Augen getreten, daß er vom schmerz¬ lichen Widerstreit uͤberwaͤltigt in Thraͤnen aus¬ brach, die um so reichlicher flossen, als sein Herz durch Mittheilung weich geworden war. Mittler, der sein rasches Naturell, seinen unerbittlichen Verstand um so weniger ver¬ laͤugnen konnte, als er sich durch diesen schmerz¬ lichen Ausbruch der Leidenschaft Eduards weit von dem Ziel seiner Reise verschlagen sah, aͤußerte aufrichtig und derb seine Misbilli¬ gung. Eduard — hieß es — solle sich er¬ mannen, solle bedenken, was er seiner Man¬ neswuͤrde schuldig sey; solle nicht vergessen, daß dem Menschen zur hoͤchsten Ehre gereiche im Ungluͤck sich zu fassen, den Schmerz mit Gleichmuth und Anstand zu ertragen, um hoͤch¬ lich geschaͤtzt, verehrt und als Muster aufge¬ stellt zu werden. Aufgeregt, durchdrungen von den peinlich¬ sten Gefuͤhlen, wie Eduard war, mußten ihm diese Worte hohl und nichtig vorkommen. Der Gluͤckliche, der Behagliche hat gut Re¬ den, fuhr Eduard auf: aber schaͤmen wuͤrde er sich, wenn er einsaͤhe, wie unertraͤglich er dem Leidenden wird. Eine unendliche Geduld soll es geben, einen unendlichen Schmerz will der starre Behagliche nicht anerkennen. Es giebt Faͤlle, ja es giebt deren! wo jeder Trost niedertraͤchtig und Verzweiflung Pflicht ist. Verschmaͤht doch ein edler Grieche, der auch Helden zu schildern weiß, keineswegs, die seinigen bey schmerzlichem Drange weinen zu lassen. Selbst im Spruͤchwort sagt er: thraͤnenreiche Maͤnner sind gut. Verlasse mich Jeder, der trocknes Herzens, trockner Augen ist! Ich verwuͤnsche die Gluͤcklichen, denen der Ungluͤckliche nur zum Spectakel dienen soll. Er soll sich in der grausamsten Lage koͤrperlicher und geistiger Bedraͤngniß noch edel gebaͤrden, um ihren Beyfall zu erhalten; und damit sie ihm beym Verscheiden noch applaudiren, wie ein Gladiator mit Anstand vor ihren Augen umkommen. Lieber Mittler, ich danke Ihnen fuͤr Ihren Besuch; aber Sie erzeigten mir eine große Liebe, wenn Sie sich im Garten, in der Gegend um¬ saͤhen. Wir kommen wieder zusammen. Ich suche gefaßter und Ihnen aͤhnlicher zu werden. Mittler mochte lieber einlenken als die Unterhaltung abbrechen, die er so leicht nicht wieder anknuͤpfen konnte. Auch Eduarden war es ganz gemaͤß, das Gespraͤch weiter fortzusetzen, das ohnehin zu seinem Ziele ab¬ zulaufen strebte. Freylich, sagte Eduard, hilft das Hin- und Wiederdenken, das Hin- und Wieder¬ reden zu nichts; doch unter diesem Reden bin ich mich selbst erst gewahr worden, habe ich erst entschieden gefuͤhlt, wozu ich mich entschließen sollte, wozu ich entschlossen bin. Ich sehe mein gegenwaͤrtiges, mein zukuͤnftiges Leben vor mir; nur zwischen Elend und Genuß habe ich zu waͤhlen. Bewirken Sie, bester Mann, eine Scheidung die so nothwendig, die schon geschehen ist; schaffen Sie mir Charlottens Einwilligung. Ich will nicht weiter ausfuͤhren, warum ich glaube daß sie zu erlangen seyn wird. Gehen Sie hin, lieber Mann, beruhigen Sie uns alle, machen Sie uns gluͤcklich! Mittler stockte. Eduard fuhr fort: Mein Schicksal und Ottiliens ist nicht zu trennen und wir werden nicht zu Grunde gehen. Sehen Sie dieses Glas! Unsere Namenszuͤge sind darein geschnitten. Ein froͤhlich Jubeln¬ der warf es in die Luft; Niemand sollte mehr daraus trinken; auf dem felsigen Boden sollte es zerschellen, aber es ward aufgefangen. Um hohen Preis habe ich es wieder eingehan¬ delt und ich trinke nun taͤglich daraus, um mich taͤglich zu uͤberzeugen: daß alle Verhaͤlt¬ nisse unzerstoͤrlich sind, die das Schicksal be¬ schlossen hat. O wehe mir, rief Mittler, was muß ich nicht mit meinen Freunden fuͤr Geduld ha¬ ben! Nun begegnet mir noch gar der Aber¬ glaube, der mir als das schaͤdlichste was bey den Menschen einkehren kann, verhaßt bleibt. Wir spielen mit Voraussagungen, Ahndungen und Traͤumen und machen dadurch das all¬ taͤgliche Leben bedeutend. Aber wenn das Le¬ ben nun selbst bedeutend wird, wenn alles um uns sich bewegt und braust, dann wird das Gewitter durch jene Gespenster nur noch fuͤrchterlicher. Lassen Sie in dieser Ungewißheit des Le¬ bens, rief Eduard, zwischen diesem Hoffen und Bangen, dem beduͤrftigen Herzen doch nur eine Art von Leitstern, nach welchem es hinblicke, wenn es auch nicht darnach steuern kann. Ich ließe mir's wohl gefallen, versetzte Mittler, wenn dabey nur einige Consequenz zu hoffen waͤre; aber ich habe immer gefun¬ den, auf die warnenden Symptome achtet kein Mensch, auf die schmeichelnden und ver¬ sprechenden allein ist die Aufmerksamkeit ge¬ richtet und der Glaube fuͤr sie ganz allein lebendig. Da sich nun Mittler sogar in die dunklen Regionen gefuͤhrt sah, in denen er sich immer unbehaglicher fuͤhlte, je laͤnger er darin ver¬ weilte; so nahm er den dringenden Wunsch Eduards, der ihn zu Charlotten gehen hieß, etwas williger auf. Denn was wollte er uͤberhaupt Eduarden in diesem Augenblicke noch entgegensetzen? Zeit zu gewinnen, zu er¬ forschen wie es um die Frauen stehe, das war es, was ihm selbst nach seinen eignen Gesinnungen zu thun uͤbrig blieb. Er eilte zu Charlotten, die er wie sonst gefaßt und heiter fand. Sie unterrichtete ihn gern von allem was vorgefallen war: denn aus Eduards Reden konnte er nur die Wir¬ kung abnehmen. Er trat von seiner Seite behutsam heran, konnte es aber nicht uͤber sich gewinnen, das Wort Scheidung auch nur im Vorbeygehn auszusprechen. Wie verwun¬ dert, erstaunt und, nach seiner Gesinnung, erheitert war er daher, als Charlotte ihm, in Gefolg so manches Unerfreulichen, endlich sagte: Ich muß glauben, ich muß hoffen, daß alles sich wieder geben, daß Eduard sich wieder naͤhern werde. Wie kann es auch wohl an¬ ders seyn, da Sie mich guter Hoffnung fin¬ den. Versteh' ich Sie recht? fiel Mittler ein — Vollkommen, versetzte Charlotte — Tau¬ sendmal gesegnet sey mir diese Nachricht! rief er, die Haͤnde zusammenschlagend. Ich kenne die Staͤrke dieses Arguments auf ein maͤnn¬ liches Gemuͤth. Wie viele Heiraten sah ich dadurch beschleunigt, befestigt, wieder herge¬ stellt! Mehr als tausend Worte wirkt eine solche gute Hoffnung, die fuͤrwahr die beste Hoffnung ist die wir haben koͤnnen. Doch, fuhr er fort, was mich betrifft, so haͤtte ich alle Ursache verdrießlich zu seyn. In diesem Falle, sehe ich wohl, wird meiner Eigenliebe nicht geschmeichelt. Bey Euch kann meine Thaͤtigkeit keinen Dank verdienen. Ich komme mir vor, wie jener Arzt, mein Freund, dem alle Kuren gelangen, die er um Gottes willen an Armen that, der aber selten einen Reichen heilen konnte, der es gut bezahlen wollte. Gluͤckli¬ cherweise hilft sich hier die Sache von selbst, da meine Bemuͤhungen, mein Zureden fruchtlos geblieben waͤren. Charlotte verlangte nun von ihm, er solle die Nachricht Eduarden bringen, einen Brief von ihr mitnehmen und sehen, was zu thun, was herzustellen sey. Er wollte das nicht eingehen. Alles ist schon gethan, rief er aus. Schreiben Sie! ein jeder Bote ist so gut als ich. Muß ich doch meine Schritte hinwen¬ den wo ich noͤthiger bin. Ich komme nur wieder, um Gluͤck zu wuͤnschen, ich komme zur Taufe. Charlotte war dießmal, wie schon oͤfters, uͤber Mittlern unzufrieden. Sein rasches We¬ sen brachte manches Gute hervor, aber seine I . 20 Uebereilung war Schuld an manchem Mislin¬ gen. Niemand war abhaͤngiger von augen¬ blicklich vorgefaßten Meynungen als er. Charlottens Bote kam zu Eduarden, der ihn mit halbem Schrecken empfing. Der Brief konnte eben so gut fuͤr Nein als fuͤr Ja entscheiden. Er wagte lange nicht ihn aufzubrechen, und wie stand er betroffen, als er das Blatt gelesen, versteinert bey folgender Stelle, womit es sich endigte. „Gedenke jener naͤchtlichen Stunden, in denen du deine Gattinn abenteuerlich als Liebender besuchtest, sie unwiderstehlich an dich zogst, sie als eine Geliebte, als eine Braut in die Arme schlossest. Laß uns in die¬ ser seltsamen Zufaͤlligkeit eine Fuͤgung des Him¬ mels verehren, die fuͤr ein neues Band unserer Verhaͤltnisse gesorgt hat, in dem Augenblick da das Gluͤck unsres Lebens auseinander zu fallen und zu verschwinden droht.“ Was von dem Augenblick an in der Seele Eduards vorging wuͤrde schwer zu schildern seyn. In einem solchen Gedraͤnge treten zuletzt alte Gewohnheiten, alte Neigun¬ gen wieder hervor, um die Zeit zu toͤdten und den Lebensraum auszufuͤllen. Jagd und Krieg sind eine solche fuͤr den Edelmann immer bereite Aushuͤlfe. Eduard sehnte sich nach aͤuße¬ rer Gefahr, um der innerlichen das Gleichge¬ wicht zu halten. Er sehnte sich nach dem Unter¬ gang, weil ihm das Daseyn unertraͤglich zu werden drohte; ja es war ihm ein Trost zu denken, daß er nicht mehr seyn werde und eben dadurch seine Geliebten, seine Freunde gluͤcklich machen koͤnne. Niemand stellte sei¬ nem Willen ein Hinderniß entgegen, da er seinen Entschluß verheimlichte. Mit allen Foͤrmlichkeiten setzte er sein Testament auf: es war ihm eine suͤße Empfindung, Ottilien das Gut vermachen zu koͤnnen. Fuͤr Char¬ lotten, fuͤr das Ungeborne, fuͤr den Haupt¬ mann, fuͤr seine Dienerschaft war gesorgt. 20 * Der wieder ausgebrochne Krieg beguͤnstigte sein Vorhaben. Militaͤrische Halbheiten hatten ihm in seiner Jugend viel zu schaffen gemacht; er hatte deswegen den Dienst verlassen: nun war es ihm eine herrliche Empfindung, mit einem Feldherrn zu ziehen, von dem er sich sagen konnte: unter seiner Anfuͤhrung ist der Tod wahrscheinlich und der Sieg gewiß. Ottilie, nachdem auch ihr Charlottens Ge¬ heimniß bekannt geworden, betroffen wie Edu¬ ard, und mehr, ging in sich zuruͤck. Sie hatte nichts weiter zu sagen. Hoffen konnte sie nicht, und wuͤnschen durfte sie nicht. Ei¬ nen Blick jedoch in ihr Inneres gewaͤhrt uns ihr Tagebuch, aus dem wir einiges mitzu¬ theilen gedenken.