Wilhelm Meisters Lehrjahre . Ein Roman. Herausgegeben von Goethe . Dritter Band . Frankfurt und Leipzig. 1795. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Fuͤnftes Buch . A 2 Erstes Capitel . S o hatte Wilhelm zu seinen zwey kaum geheilten Wunden abermals eine frische drit¬ te, die ihm nicht wenig unbequem war. Au¬ relie wollte nicht zugeben, daß er sich eines Wundarztes bediente; sie verband ihn selbst unter allerley wunderlichen Reden, Zeremo¬ nien und Sprüchen, und setzte ihn dadurch in eine sehr peinliche Lage. Doch nicht er allein, sondern alle Personen die sich in ih¬ rer Nähe befanden, litten durch ihre Unru¬ he und Sonderbarkeit; niemand aber mehr als der kleine Felix. Das lebhafte Kind war unter einem solchen Druck höchst unge¬ duldig und zeigte sich immer unartiger, je mehr sie es tadelte und zurecht wieß. Der Knabe gefiel sich in gewissen Eigen¬ heiten, die man auch Unarten zu nennen pflegt, und die sie ihm keineswegs nachzu¬ sehn gedachte. Er trank, zum Beyspiel, lie¬ ber aus der Flasche als aus dem Glase, und offenbar schmeckten ihm die Speisen aus der Schüssel besser als von dem Teller. Eine solche Unschicklichkeit wurde nicht übersehen, und wenn er nun gar die Thüre aufließ oder zuschlug, und, wenn ihm etwas befohlen wurde, entweder nicht von der Stelle wich oder ungestüm davon rannte: so mußte er eine große Lection anhören, ohne daß er darauf je einige Besserung hätte spüren las¬ sen. Vielmehr schien die Neigung zu Aure¬ lien sich täglich mehr zu verlieren; in seinem Tone war nichts zärtliches wenn er sie Mut¬ ter nannte, er hing vielmehr leidenschaftlich an der alten Amme, die ihm denn freylich allen Willen ließ. Aber auch diese war seit einiger Zeit so krank geworden, daß man sie aus dem Hau¬ se in ein stilles Quartier bringen mußte, und Felix hätte sich ganz allein gesehen, wäre nicht Mignon auch ihm als ein liebevoller Schutzgeist erschienen. Auf das artigste un¬ terhielten sich beide Kinder mit einander; sie lehrte ihn kleine Lieder und er, der ein sehr gutes Gedächtniß hatte, rezitirte sie oft zur Verwunderung der Zuhörer. Auch wollte sie ihm die Landkarten erklären, mit denen sie sich noch immer sehr abgab, wobey sie je¬ doch nicht mit der besten Methode verfuhr. Denn eigentlich schien sie bey den Ländern kein anderes Interesse zu haben, als ob sie kalt oder warm seyen? Von den Weltpo¬ len, von dem schrecklichen Eise daselbst, und von der zunehmenden Wärme, je mehr man man sich von ihnen entfernte, wußte sie sehr gut Rechenschaft zu geben. Wenn jemand reis’te, fragte sie nur, ob er nach Norden oder nach Süden gehe, und bemühte sich die Wege auf ihren kleinen Karten aufzufinden. Besonders wenn Wilhelm von Reisen sprach war sie sehr aufmerksam, und schien sich im¬ mer zu betrüben so bald das Gespräch auf eine andere Materie überging. So wenig man sie bereden konnte, eine Rolle zu über¬ nehmen, oder auch nur wenn gespielt wurde, auf das Theater zu gehen; so gern und fleißig lernte sie Oden und Lieder auswen¬ dig und erregte, wenn sie ein solches Ge¬ dicht, gewöhnlich von der ernsten und feyer¬ lichen Art, oft unvermuthet wie aus dem Stegereif declamirte, bey jedermann Er¬ staunen. Serlo, der auf jede Spur eines aufkei¬ menden Talentes zu achten gewohnt war, suchte sie aufzumuntern; am meisten aber empfahl sie sich ihm durch einen sehr artigen, manigfaltigen und manchmal selbst muntern Gesang, und auf eben diesem Wege hatte sich der Harfenspieler seine Gunst erworben. Serlo, ohne selbst Genie zur Musik zu haben, oder irgend ein Instrument zu spie¬ len, wußte ihren hohen Werth zu schätzen; er suchte sich so oft als möglich diesen Ge¬ nuß, der mit keinem andern verglichen wer¬ den kann, zu verschaffen. Er hatte wöchent¬ lich einmal Concert, und nun hatte sich ihm durch Mignon, den Harfenspieler und Laer¬ tes, der auf der Violine nicht ungeschickt war, eine wunderliche kleine Hauskapelle ge¬ bildet. Er pflegte zu sagen: der Mensch ist so geneigt sich mit dem Gemeinsten abzugeben, Geist und Sinne stumpfen sich so leicht ge¬ gen die Eindrücke des Schönen und Voll¬ kommnen ab, daß man die Fähigkeit es zu empfinden, bey sich auf alle Weise erhalten sollte. Denn einen solchen Genuß kann nie¬ mand ganz entbehren, und nur die Unge¬ wohntheit etwas Gutes zu genießen ist Ur¬ sache, daß viele Menschen schon am Alber¬ nen und Abgeschmackten, wenn es nur neu ist, Vergnügen finden. Man sollte, sagte er, alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Ge¬ mählde sehen, und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen. Bey diesen Gesinnungen, die Serlo ge¬ wissermaßen natürlich waren, konnte es den Personen, die ihn umgaben, nicht an ange¬ nehmer Unterhaltung fehlen. Mitten in die¬ sem vergnüglichen Zustande brachte man Wilhelmen eines Tags einen schwarzgesiegel¬ ten Brief. Werners Petschaft deutete auf eine traurige Nachricht, und er erschrack nicht wenig, als er den Tod seines Vaters nur mit einigen Worten angezeigt fand. Nach einer unerwarteten kurzen Krankheit war er aus der Welt gegangen, und hatte seine häuslichen Angelegenheiten in der besten Ord¬ nung hinterlassen. Diese unvermuthete Nachricht traf Wil¬ helm im Innersten. Er fühlte tief, wie un¬ empfindlich man oft Freunde und Verwand¬ te, so lange sie sich mit uns des irdischen Aufenthaltes erfreuen, vernachlässigt, und nur dann erst die Versäumniß bereut, wenn das schöne Verhältniß wenigstens für die߬ mal aufgehoben ist. Auch konnte der Schmerz über das zeitige Absterben des braven Man¬ nes nur durch das Gefühl gelindert werden, daß er auf der Welt wenig geliebt, und durch die Überzeugung, daß er wenig genossen habe. Wilhelms Gedanken wandten sich nun bald auf seine eigenen Verhältnisse, und er fühlte sich nicht wenig beunruhigt. Der Mensch kann in keine gefährlichere Lage versetzt werden, als wenn durch äußere Um¬ stände eine große Veränderung seines Zu¬ standes bewirkt wird, ohne daß seine Art zu empfinden und zu denken darauf vorbereitet ist. Es giebt alsdann eine Epoche ohne Epo¬ che, und es entsteht nur ein desto größerer Widerspruch, je weniger der Mensch bemerkt, daß er zu dem neuen Zustande noch nicht ausgebildet sey. Wilhelm sah sich in einem Augenblicke frey, in welchem er mit sich selbst noch nicht einig werden konnte. Seine Gesinnungen waren edel, seine Absichten lauter und seine Vorsätze schienen nicht verwerflich. Das al¬ les durfte er sich mit einigem Zutrauen selbst bekennen; allein er hatte Gelegenheit genug gehabt zu bemerken, daß es ihm an Erfah¬ rung fehle, und er legte daher auf die Er¬ fahrung anderer und auf die Resultate, die sie daraus mit Überzeugung ableiteten, einen übermäßigen Werth, und kam dadurch nur immer mehr in die Irre. Was ihm fehlte, glaubte er am ersten zu erwerben, wenn er alles Denkwürdige, was ihm in Büchern und im Gespräche vorkommen mochte, zu erhalten und zu sammlen unternähme. Er schrieb daher fremde und eigene Meynungen und Ideen, ja ganze Gespräche die ihm interes¬ sant waren, auf, und hielt leider auf diese Weise das Falsche so gut als das Wahre fest, blieb viel zu lange an Einer Idee, ja man möchte sagen an Einer Sentenz hän¬ gen, und verlies dabei seine natürliche Denk- und Handelsweise, indem er oft fremden Lichtern als Leitsternen folgte. Aureliens Bitterkeit und seines Freundes Laertes kalte Verachtung der Menschen bestachen öfter als billig war sein Urtheil; niemand aber war ihm gefährlicher gewesen als Jarno, ein Mann, dessen heller Verstand von gegenwär¬ tigen Dingen ein richtiges, strenges Urtheil fällte, dabey aber den Fehler hatte, daß er diese einzelnen Urtheile mit einer Art von Allgemeinheit aussprach, da doch die Aus¬ sprüche des Verstandes eigentlich nur Ein¬ mal und zwar in dem bestimmtesten Falle gelten, und schon unrichtig werden, wenn man sie auf den nächsten anwendet. So entfernte sich Wilhelm, indem er mit sich selbst einig zu werden strebte, immer mehr von der heilsamen Einheit, und bey dieser Verwirrung ward es seinen Leidenschaf¬ ten um so leichter alle Zurüstungen zu ihrem Vortheil zu gebrauchen, und ihn über das was er zu thun hatte nur noch mehr zu verwirren, Serlo benutzte die Todespost zu seinem Vortheil, und wirklich hatte er auch täglich immer mehr Ursache an eine andre Einrich¬ tung tung seines Schauspiels zu denken. Er mu߬ te entweder seine alten Contracte erneuern, wozu er keine große Lust hatte, indem meh¬ rere Mitglieder, die sich für unentbehrlich hielten, täglich unleidlicher wurden; oder er mußte, wohin auch sein Wunsch ging, der Gesellschaft eine ganz neue Gestalt geben. Ohne selbst in Wilhelmen zu dringen, regte er Aurelien und Philinen auf, und die übrigen Gesellen, die sich nach Engagement sehnten, ließen unserm Freunde gleichfalls keine Ruhe, so daß er mit ziemlicher Verle¬ genheit an einem Scheidwege stand. Wer hätte gedacht, daß ein Brief von Wernern, der ganz im entgegen gesetzten Sinne ge¬ schrieben war, ihn endlich zu einer Ent¬ schließung hindrängen sollte. Wir lassen nur den Eingang weg und geben übrigens das Schreiben mit weniger Veränderung. W. Meisters Lehrj. 3. B Zweytes Capitel , » — S o war es und so muß es denn auch wohl recht seyn, daß jeder bey jeder Gele¬ genheit seinem Gewerbe nachgeht und seine Thätigkeit zeigt. Der gute Alte war kaum verschieden, als auch in der nächsten Viertel¬ stunde schon nichts mehr nach seinem Sinne im Hause geschah. Freunde, Bekannte und Verwandte drängten sich zu, besonders aber alle Menschenarten, die bey solchen Gelegen¬ heiten etwas zu gewinnen haben. Man brachte, man trug, man zahlte, schrieb und rechnete; die einen hohlten Wein und Ku¬ chen, die andern tranken und aßen; nieman¬ den sah ich aber ernsthafter beschäftigt, als die Weiber, indem sie die Trauer aussuchten. Du wirst mir also verzeihen, mein Lie¬ ber, wenn ich bey dieser Gelegenheit auch an meinen Vortheil dachte, mich deiner Schwester so hülfreich und thätig als mög¬ lich zeigte und ihr, so bald es nur einiger¬ maßen schicklich war, begreiflich machte, daß es nunmehr unsre Sache sey, eine Verbin¬ dung zu beschleunigen, die unsre Väter aus allzugroßer Umständlichkeit bisher verzögert hatten. Nun mußt du aber ja nicht denken, daß es uns eingefallen sey, das große leere Haus in Besitz zu nehmen. Wir sind bescheidner und vernünftiger; unsern Plan sollst du hö¬ ren. Deine Schwester zieht nach der Hei¬ rath gleich in unser Haus herüber, und so¬ gar auch deine Mutter mit. Wie ist das möglich? wirst du sagen, ihr habt ja selbst in dem Neste kaum Platz. Das ist eben die Kunst, mein Freund! Die geschickte Einrichtung macht alles möglich, B 2 und du glaubst nicht wieviel Platz man fin¬ det, wenn man wenig Raum braucht. Das große Haus verkaufen wir, wozu sich so¬ gleich eine gute Gelegenheit darbietet; das daraus gelöste Geld soll hundertfältige Zin¬ sen tragen. Ich hoffe du bist damit einverstanden, und wünsche daß du nichts von den un¬ fruchtbaren Liebhabereyen deines Vaters und Großvaters geerbt haben mögest. Dieser setzte seine höchste Glückseligkeit in eine An¬ zahl unscheinbarer Kunstwerke, die niemand, ich darf wohl sagen niemand mit ihm ge¬ nießen konnte: jener lebte in einer kostbaren Einrichtung, die er niemand mit sich genie¬ ßen ließ. Wir wollen es anders machen, und ich hoffe deine Beystimmung. Es ist wahr, ich selbst behalte in unserm ganzen Hause keinen Platz als den an mei¬ nem Schreibepulte, und noch seh ich nicht ab, wo man künftig eine Wiege hinsetzen will; aber dafür ist der Raum außer dem Hause desto größer. Die Kaffeehäuser und Clubbs für den Mann, die Spatziergänge und Spatzierfahrten für die Frau, und die schönen Lustörter auf dem Lande für beyde. Dabey ist der größte Vortheil, daß auch un¬ ser runder Tisch ganz besetzt ist und es dem Vater unmöglich wird Freunde zu sehen, die sich nur desto leichtfertiger über ihn aufhal¬ ten, je mehr er sich Mühe gegeben hat sie zu bewirthen. Nur nichts überflüssiges im Hause! nur nicht zu viel Möbeln, Geräthschaften, nur keine Kutsche und Pferde! Nichts als Geld, und dann auf eine vernünftige Weise jeden Tag gethan was dir beliebt; nur keine Gar¬ derobe, immer das neuste und beste auf dem Leibe; der Mann mag seinen Rock abtragen und die Frau den ihrigen vertrödeln, so bald er nur einigermaßen aus der Mode kömmt. Es ist mir nichts unerträglicher, als so ein alter Kram von Besitzthum. Wenn man mir den kostbarsten Edelstein schenken woll¬ te, mit der Bedingung ihn täglich am Fin¬ ger zu tragen, ich würde ihn nicht anneh¬ men; denn wie läßt sich bei einem todten Capital nur irgend eine Freude denken? Das ist also mein lustiges Glaubensbekennt¬ niß: seine Geschäfte verrichtet, Geld geschaft, sich mit den Seinigen lustig gemacht und um die übrige Welt sich nicht mehr beküm¬ mert, als in so fern man sie nutzen kann. Nun wirst du aber sagen: wie ist denn in eurem saubern Plane an mich gedacht? Wo soll ich unterkommen, wenn ihr mir das väterliche Haus verkauft, und in dem euri¬ gen nicht der mindeste Raum übrig bleibt? Das ist freylich der Hauptpunkt, Brüder¬ chen, und auf den werde ich dir gleich die¬ nen können, wenn ich dir vorher das gebüh¬ rende Lob über deine vortrefflich angewende¬ te Zeit werde entrichtet haben. Sage nur, wie hast du es angefangen, in so wenigen Wochen ein Kenner aller nütz¬ lichen und interessanten Gegenstände zu wer¬ den? So viel Fähigkeiten ich an dir kenne, hätte ich dir doch solche Aufmerksamkeit und solchen Fleiß nicht zugetraut. Dein Tage¬ buch hat uns überzeugt, mit welchem Nutzen du die Reise gemacht hast; die Beschreibung der Eisen- und Kupferhämmer ist vortreff¬ lich und zeigt von vieler Einsicht in die Sache. Ich habe sie ehemals auch besucht, aber meine Relation, wenn ich sie dagegen halte, sieht sehr stümpermäßig aus. Der ganze Brief über die Leinwandfabrication ist lehrreich und die Anmerkung über die Concurrenz sehr treffend. An einigen Orten hast du Fehler in der Addition gemacht, die jedoch sehr verzeihlich sind. Was aber mich und meinen Vater am meisten und höchsten freut, sind deine gründ¬ lichen Einsichten in die Bewirthschaftung und besonders in die Verbesserung der Feldgüter. Wir haben Hoffnung, ein großes Gut, das in Sequestration liegt, in einer sehr frucht¬ baren Gegend zu erkaufen. Wir wenden das Geld, das wir aus dem väterlichen Hau¬ se lösen, dazu an; ein Theil wird geborgt, und ein Theil kann stehen bleiben; und wir rechnen auf dich, daß du dahin ziehst, den Verbesserungen vorstehst, und so kann, um nicht zu viel zu sagen, das Gut in einigen Jahren um ein Drittel an Werth steigen; man verkauft es wieder, sucht ein größeres, verbessert und handelt wieder, und dazu bist du der Mann. Unsre Federn sollen in¬ deß zu Hause nicht müßig seyn, und wir wollen uns bald in einen beneidenswerthen Zustand versetzen. Jetzt lebe wohl! Genieße das Leben auf der Reise, und ziehe hin, wo du es vergnüg¬ lich und nützlich findest. Vor dem ersten halben Jahre bedürfen wir deiner nicht; du kannst dich also nach Belieben in der Welt umsehen, denn die beste Bildung findet ein gescheuter Mensch auf Reisen. Lebe wohl, ich freue mich, so nahe mit dir verbunden, auch nunmehr im Geist der Thätigkeit mit dir vereint zu werden.» So gut dieser Brief geschrieben war, und so viel ökonomische Wahrheiten er enthalten mochte, mißfiel er doch Wilhelmen auf mehr als eine Weise. Das Lob, das er über sei¬ ne fingirten statistischen, technologischen und ruralischen Kenntnisse erhielt, war ihm ein stiller Vorwurf; und das Ideal, das ihm sein Schwager vom Glück des bürgerlichen Lebens vorzeichnete, reizte ihn keineswegs; vielmehr ward er durch einen heimlichen Geist des Widerspruchs mit Heftigkeit auf die entgegen gesetzte Seite getrieben. Er überzeugte sich, daß er nur auf dem Theater die Bildung, die er sich zu geben wünschte, vollenden könne, und schien in seinem Ent¬ schlusse nur destomehr bestärkt zu werden, je lebhafter Werner, ohne es zu wissen, sein Gegner geworden war. Er faßte darauf alle seine Argumente zusammen und bestä¬ tigte bey sich seine Meynung nur um desto¬ mehr, je mehr er Ursache zu haben glaubte sie dem klugen Werner in einem günstigen Lichte darzustellen, und auf diese Weise ent¬ stand eine Antwort, die wir gleichfalls ein¬ rücken. Drittes Capitel . D ein Brief ist so wohl geschrieben, und so gescheut und klug gedacht, daß sich nichts mehr dazu setzen läßt. Du wirst mir aber verzeihen, wenn ich sage, daß man gerade das Gegentheil davon meynen, behaupten und thun und doch auch recht haben kann. Deine Art zu seyn und zu denken geht auf einen unbeschränkten Besitz und auf eine leichte lustige Art zu genießen hinaus, und ich brauche dir kaum zu sagen, daß ich dar¬ an nichts was mich reizte finden kann. Zuerst muß ich dir leider bekennen, daß mein Tagebuch aus Noth, um meinem Va¬ ter gefällig zu seyn, mit Hülfe eines Freun¬ des aus mehreren Büchern zusammen ge¬ schrieben ist, und daß ich wohl die darin enthaltenen Sachen und noch mehrere dieser Art weiß, aber keineswegs verstehe, noch mich damit abgeben mag. Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabriziren, wenn mein eige¬ nes Innere voller Schlacken ist? und was, ein Landgut in Ordnung zu bringen, wenn ich mit mir selber immer uneins bin? Daß ich dir’s mit Einem Worte sage, mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubil¬ den, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. Noch hege ich eben diese Gesinnungen, nur daß mir die Mittel, die mir es möglich machen werden, etwas deutlicher sind. Ich habe mehr Welt gesehen, als du glaubst, und sie besser benutzt, als du denkst. Schenke deswegen dem, was ich sage, einige Aufmerksamkeit, wenn es gleich nicht ganz nach deinem Sinne seyn sollte. Wäre ich ein Edelmann, so wäre unser Streit bald abgethan; da ich aber nur ein Bürger bin, so muß ich einen eigenen Weg nehmen, und ich wünsche daß du mich ver¬ stehen mögest. Ich weiß nicht wie es in fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemei¬ ne, wenn ich sagen darf personelle Ausbil¬ dung möglich. Ein Bürger kann sich Ver¬ dienst erwerben und zur höchsten Noth sei¬ nen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen wie er will. Indem es dem Edelmann, der mit den Vornehmsten umgeht, zur Pflicht wird, sich selbst einen vornehmen Anstand zu geben, indem dieser Anstand, da ihm weder Thür noch Thor verschlossen ist, zu einem freyen Anstand wird, da er mit seiner Figur, mit seiner Person, es sey bey Hofe oder bey der Armee, bezahlen muß, so hat er Ursache etwas auf sie zu halten, und zu zeigen, daß er etwas auf sie hält. Eine gewisse feyerli¬ che Grazie bey gewöhnlichen Dingen, eine Art von leichtsinniger Zierlichkeit bey ernst¬ haften und wichtigen kleidet ihn wohl, weil er sehen läßt, daß er überall im Gleichge¬ wicht steht. Er ist eine öffentliche Person, und je ausgebildeter seine Bewegungen, je sonorer seine Stimme, je gehaltner und ge¬ meßner sein ganzes Wesen ist, desto voll¬ kommener ist er, und wenn er gegen hohe und niedre, gegen Freunde und Verwandte immer eben derselbe bleibt, so ist nichts an ihm auszusetzen, man darf ihn nicht anders wünschen. Er sey kalt, aber verständig; ver¬ stellt, aber klug. Wenn er sich äußerlich in jedem Momente seines Lebens zu beherrschen weiß, so hat niemand eine weitere Forde¬ rung an ihn zu machen, und alles übrige was er an und um sich hat, Fähigkeit, Ta¬ lent, Reichthum, alles scheinen nur Zugaben zu seyn. Nun denke dir irgend einen Bürger, der an jene Vorzüge nur einigen Anspruch zu machen gedachte; durchaus muß es ihm mi߬ lingen, und er müßte nur desto unglücklicher werden, je mehr sein Naturell ihm zu jener Art zu seyn Fähigkeit und Trieb gegeben hätte. Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Gränzen kennt, wenn man aus ihm Könige oder königähnliche Figuren er¬ schaffen kann; so darf er überall mit einem stillen Bewußtseyn vor seines gleichen tre¬ ten; er darf überall vorwärts dringen, an¬ statt daß dem Bürger nichts besser ansteht, als das reine stille Gefühl der Gränzlinie die ihm gezogen ist. Er darf nicht fragen: was bist du? sondern nur: was hast du? Welche Einsicht, welche Kenntniß, welche Fähigkeit, wieviel Vermögen? Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Per¬ son alles giebt, so giebt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll nichts ge¬ ben. Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur seyn, und was er scheinen will ist lächerlich oder abgeschmackt. Jener soll thun und wirken, dieser soll leisten und schaffen; er soll einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon voraus gesetzt, daß in seinem Wesen keine Harmonie sey, noch seyn dürfe, weil er, um sich auf Eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachläßigen muß. An diesem Unterschiede ist nicht etwa die Anmaßung der Edelleute und die Nachgie¬ bigkeit der Bürger, sondern die Verfassung der Gesellschaft selbst Schuld; ob sich daran einmal was ändern wird und was sich än¬ dern wird, bekümmert mich wenig; genug, ich habe, wie die Sachen jetzt stehen, an mich selbst zu denken, und wie ich mich selbst und und das was mir ein unerläßliches Bedürf¬ niß ist, rette und erreiche. Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwidersteh¬ liche Neigung. Ich habe, seit ich dich verlassen, durch Leibesübung viel gewon¬ nen; ich habe viel von meiner gewöhnlichen Verlegenheit abgelegt und stelle mich so ziem¬ lich dar. Eben so habe ich meine Sprache und Stimme ausgebildet, und ich darf ohne Eitelkeit sagen, daß ich in Gesellschaften nicht mißfalle. Nun läugne ich dir nicht, daß mein Trieb täglich unüberwindlicher wird, eine öffentliche Person zu seyn, und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wir¬ ken. Dazu kömmt meine Neigung zur Dicht¬ kunst und zu allem, was mit ihr in Verbin¬ dung steht, und das Bedürfniß meinen Geist und Geschmack auszubilden, damit ich nach W. Meisters Lehrj. 3. C und nach auch bey dem Genuß, den ich nicht entbehren kann, nur das Gute wirklich für gut und das Schöne für schön halte. Du siehst wohl, daß das alles für mich nur auf dem Theater zu finden ist, und daß ich mich in diesem einzigen Elemente nach Wunsch rühren und ausbilden kann. Auf den Bret¬ tern erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glanz als in den obern Klassen; Geist und Körper müssen bey jeder Bemühung gleichen Schritt gehen, und ich werde da so gut seyn und scheinen können, als irgend anderswo. Suche ich daneben noch Beschäftigungen, so giebt es dort me¬ chanische Quälereyen genug, und ich kann meiner Geduld tägliche Übung verschaffen. Disputire mit mir nicht darüber; denn eh’ du mir schreibst, ist der Schritt schon ge¬ schehen. Wegen der herrschenden Vorurthei¬ le will ich meinen Nahmen verändern, weil ich mich ohnehin schäme als Meister aufzu¬ treten. Lebe wohl. Unser Vermögen ist in so guter Hand, daß ich mich darum gar nicht bekümmere; was ich brauche, verlange ich gelegentlich von dir; es wird nicht viel seyn, denn ich hoffe daß mich meine Kunst auch nähren soll.» Der Brief war kaum abgeschickt, als Wilhelm auf der Stelle Wort hielt und zu Serlo’s und der übrigen großen Verwunde¬ rung sich auf einmal erklärte: daß er sich zum Schauspieler widme und einen Contract auf billige Bedingungen eingehen wolle. Man war hierüber bald einig; denn Serlo hatte schon früher sich so erklärt, daß Wil¬ helm und die übrigen damit gar wohl zu¬ frieden seyn konnten. Die ganze verunglück¬ te Gesellschaft, mit der wir uns so lange unterhalten haben, ward auf einmal ange¬ nommen, ohne daß jedoch, außer etwa Laer¬ C 2 tes, sich einer gegen Wilhelmen dankbar er¬ zeigt hätte. Wie sie ohne Zutrauen gefor¬ dert hatten, so empfingen sie ohne Dank. Die meisten wollten lieber ihre Anstellung dem Einflusse Philinens zuschreiben, und richteten ihre Danksagungen an sie. Indes¬ sen wurden die ausgefertigten Contracte unterschrieben, und durch eine unerklärliche Verknüpfung von Ideen entstand vor Wil¬ helms Einbildungskraft, in dem Augenblicke als er seinen fingirten Nahmen unterzeichne¬ te, das Bild jenes Waldplatzes, wo er ver¬ wundet in Philinens Schooß gelegen. Auf einem Schimmel kam die liebenswürdige Amazone aus den Büschen, nahte sich ihm und stieg ab. Ihr menschenfreundliches Be¬ mühen hieß sie gehen und kommen; endlich stand sie vor ihm. Das Kleid fiel von ih¬ ren Schultern, ihr Gesicht, ihre Gestalt fin¬ gen an zu glänzen und sie verschwand. So schrieb er seinen Nahmen nur mechanisch hin, ohne zu wissen was er that, und fühlte erst, nachdem er unterzeichnet hatte, daß Mignon an seiner Seite stand, ihn am Arm hielt nnd ihm die Hand leise wegzu¬ ziehen versucht hatte. Viertes Capitel . E ine der Bedingungen, unter denen Wil¬ helm sich aufs Theater begab, war von Ser¬ lo nicht ohne Einschränkung zugestanden worden. Jener verlangte, daß Hamlet ganz und unzerstückt aufgeführt werden sollte, und dieser ließ sich das wunderliche Begeh¬ ren in so fern gefallen, als es möglich seyn würde. Nun hatten sie hierüber bisher man¬ chen Streit gehabt; denn was möglich oder nicht möglich sey, und was man von dem Stücke weglassen könne, ohne es zu zerstück¬ ken, darüber waren beyde sehr verschiedener Meynung. Wilhelm befand sich noch in den glückli¬ chen Zeiten, da man nicht begreifen kann, daß an einem geliebten Mädchen, an einem verehrten Schriftsteller irgend etwas man¬ gelhaft seyn könne. Unsere Empfindung von ihnen ist so ganz, so mit sich selbst überein¬ stimmend, daß wir uns auch in ihnen eine solche vollkommene Harmonie denken müs¬ sen. Serlo hingegen sonderte gern und bey¬ nah zu viel; sein scharfer Verstand wollte in einem Kunstwerke gewöhnlich nur ein mehr oder weniger unvollkommenes Ganze erken¬ nen. Er glaubte, so wie man die Stücke finde, habe man wenig Ursache mit ihnen so gar bedächtig umzugehen, und so mußte auch Shakespear, so mußte besonders Ham¬ let vieles leiden. Wilhelm wollte gar nicht hören, wenn jener von der Absonderung der Spreu von dem Weizen sprach. Es ist nicht Spreu und Weizen durcheinander, rief dieser, es ist ein Stamm, Äste, Zweige, Blätter, Knospen, Blüthen und Früchte. Ist nicht eins mit dem andern und durch das andere? Jener behauptete, man bringe nicht den ganzen Stamm auf den Tisch, der Künstler müsse goldne Äpfel in silbernen Schalen seinen Gä¬ sten reichen. Sie erschöpften sich in Gleich¬ nissen, und ihre Meynungen schienen sich im¬ mer weiter von einander zu entfernen. Gar verzweifeln wollte unser Freund, als Serlo ihm einst nach langem Streit das einfachste Mittel anrieth, sich kurz zu resol¬ viren, die Feder zu ergreifen und in dem Trauerspiele, was eben nicht gehen wolle noch könne, abzustreichen, mehrere Personen in Eine zu drängen, und wenn er mit die¬ ser Art noch nicht bekannt genug sey, oder noch nicht Herz genug dazu habe, so solle er ihm die Arbeit überlassen, und er wolle bald fertig seyn. Das ist nicht unserer Abrede gemäß, ver¬ setzte Wilhelm. Wie können Sie bei so viel Geschmack so leichtsinnig seyn? Mein Freund, rief Serlo aus, Sie wer¬ den es auch schon werden. Ich kenne das Abscheuliche dieser Manier nur zu wohl, die vielleicht noch auf keinem Theater in der Welt statt gefunden hat. Aber wo ist auch eins so verwahrlost als das unsere? Zu dieser ekelhaften Verstümmelung zwingen uns die Autoren, und das Publikum erlaubt sie. Wie viel Stücke haben wir denn, die nicht über das Maaß des Personals, der Dekorationen und Theatermechanik, der Zeit, des Dialogs und der physischen Kräfte des Acteurs hinausschritten? und doch sollen wir spielen und immer spielen und immer neu spielen. Sollen wir uns dabey nicht unsres Vortheils bedienen, da wir mit zerstückelten Werken eben so viel ausrichten als mit gan¬ zen? Setzt uns das Publikum doch selbst in den Vortheil! Wenig Deutsche, und vielleicht nur wenige Menschen aller neuern Nationen, haben Gefühl für ein ästhetisches Ganze; sie loben und tadeln nur stellen¬ weise; sie entzücken sich nur stellenweise: und für wen ist das ein größeres Glück als für den Schauspieler, da das Theater doch im¬ mer nur ein gestoppeltes und gestückeltes Wesen bleibt. I st! versetzte Wilhelm; aber muß es denn auch so bleiben, muß denn alles blei¬ ben was ist? Überzeugen Sie mich ja nicht, daß Sie recht haben; denn keine Macht in der Welt würde mich bewegen können, einen Contract zu halten, den ich nur im gröbsten Irrthum geschlossen hätte. Serlo gab der Sache eine lustige Wen¬ dung und ersuchte Wilhelmen, ihre öftern Gespräche über Hamlet nochmals zu beden¬ ken, und selbst die Mittel zu einer glückli¬ chen Bearbeitung zu ersinnen. Nach einigen Tagen, die er in der Ein¬ samkeit zugebracht hatte, kam Wilhelm mit frohem Blicke zurück. Ich müßte mich sehr irren, rief er aus, wenn ich nicht gefunden hätte, wie dem Ganzen zu helfen ist; ja ich bin überzeugt, daß Shakespear es selbst so würde gemacht haben, wenn sein Genie nicht auf die Hauptsache so sehr gerichtet, und nicht vielleicht durch die Novellen, nach de¬ nen er arbeitete, verführt worden wäre. Lassen Sie hören, sagte Serlo, indem er sich gravitätisch aufs Kanapee setzte, ich wer¬ de ruhig aufhorchen, aber auch desto stren¬ ger richten. Wilhelm versetzte: Mir ist nicht bange; hören Sie nur. Ich unterscheide, nach der genausten Untersuchung, nach der reiflichsten Überlegung, in der Composition dieses Stücks, zweyerley: das erste sind die großen innern Verhältnisse der Personen und der Begeben¬ heiten, die mächtigen Wirkungen, die aus den Characteren und Handlungen der Haupt¬ figuren entstehen, und diese sind einzeln für¬ trefflich, und die Folge, in der sie aufgestellt sind, unverbesserlich. Sie können durch keine Art von Behandlung zerstöhrt, ja kaum verunstaltet werden. Diese sinds, die jeder¬ mann zu sehen verlangt, die niemand anzu¬ tasten wagt, die sich tief in die Seele ein¬ drücken und die man, wie ich höre, beynahe alle auf das deutsche Theater gebracht hat. Nur hat man, wie ich glaube, darin ge¬ fehlt, daß man das zweyte, was bey diesem Stück zu bemerken ist, ich meyne die äußern Verhältnisse der Personen, wodurch sie von einem Orte zum andern gebracht, oder auf diese und jene Weise durch gewisse zufällige Begebenheiten verbunden werden, für allzuun¬ bedeutend angesehen, nur im vorbeygehn da¬ von gesprochen, oder sie gar weggelassen hat. Freilich sind diese Fäden nur dünn und lose. aber sie gehen doch durchs ganze Stück, und halten zusammen, was sonst auseinander fie¬ le, auch wirklich auseinander fällt, wenn man sie wegschneidet, und ein übriges ge¬ than zu haben glaubt, wenn man die En¬ den stehen läßt. Zu diesen äußern Verhältnissen zähle ich die Unruhen in Norwegen, den Krieg mit dem jungen Fortinbras, die Gesandtschaft an den alten Oheim, den geschlichteten Zwist, den Zug des jungen Fortinbras nach Polen und seine Rückkehr am Ende. Ingleichen die Rückkehr des Horatio von Wittenberg, die Lust Hamlets dahin zu gehen, die Reise des Laertes nach Frankreich, seine Rückkunft, die Verschickung Hamlets nach England, seine Gefangenschaft beym Seeräuber, der Tod der beyden Hofleute auf den Uriasbrief; alles dieses sind Umstände und Begebenhei¬ ten, die einen Roman weit und breit machen können, die aber der Einheit dieses Stücks, in dem besonders der Held keinen Plan hat, auf das äußerste schaden und höchst fehler¬ haft sind. So höre ich Sie einmal gerne! rief Serlo. Fallen Sie mir nicht ein, versetzte Wil¬ helm, Sie möchten mich nicht immer loben. Diese Fehler sind wie flüchtige Stützen eines Gebäudes, die man nicht wegnehmen darf, ohne vorher eine feste Mauer unterzuziehen, Mein Vorschlag ist also, an jenen ersten gros¬ sen Situationen gar nicht zu rühren, son¬ dern sie sowohl im Ganzen als Einzelnen möglichst zu schonen, aber diese äußern, ein¬ zelnen, zerstreuten und zerstreuenden Motive alle auf einmal weg zu werfen und ihnen ein Einziges zu substituiren. Und das wäre? fragte Serlo, indem er sich aus seiner ruhigen Stellung aufhob. Es liegt auch schon im Stücke, erwieder¬ te Wilhelm, nur mache ich den rechten Ge¬ brauch davon. Es sind die Unruhen in Norwegen. Hier haben Sie meinen Plan zur Prüfung. Nach dem Tode des alten Hamlet wer¬ den die ersteroberten Norweger unruhig. Der dortige Statthalter schickt seinen Sohn Horatio, einen alten Schulfreund Hamlets, der aber an Tapferkeit und Lebensklugheit allen andern vorgelaufen ist, nach Dänne¬ mark, auf die Ausrüstung der Flotte zu dringen, welche unter dem neuen der Schwel¬ gerey ergebenen König nur saumselig von Statten geht. Horatio kennt den alten Kö¬ nig, denn er hat seinen letzten Schlachten beygewohnt, hat bey ihm in Gunsten ge¬ standen, und die erste Geisterscene wird da¬ durch nicht verlieren. Der neue König giebt sodann dem Horatio Audienz und schickt den Laertes nach Norwegen mit der Nach¬ richt, daß die Flotte bald anlanden werde, indeß Horatio den Auftrag erhält, die Rü¬ stung derselben zu beschleunigen; dagegen will die Mutter nicht einwilligen, daß Ham¬ let, wie er wünschte, mit Horatio zur See gehe. Gott sey Dank! rief Serlo, so werden wir auch Wittenberg und die hohe Schule los, die mir immer ein leidiger Anstoß war. Ich finde Ihren Gedanken recht gut, denn außer den zwey einzigen fernen Bildern, Norwegen und der Flotte, braucht der Zu¬ schauer sich nichts zu denken ; das übrige sieht er alles, das übrige geht alles vor, anstatt daß sonst seine Einbildungskraft in der ganzen Welt herum gejagt würde. Sie sehen leicht, versetzte Wilhelm, wie ich nunmehr auch das übrige zusammen hal¬ ten kann. Wenn Hamlet dem Horatio die Misse¬ Missethat seines Stiefvaters entdeckt, so räth ihm dieser mit nach Norwegen zu gehen, sich der Armee zu versichern und mit gewaff¬ neter Hand zurück zu kehren. Da Hamlet dem König und der Königinn zu gefährlich wird, haben sie kein näheres Mittel ihn los zu werden, als ihn nach der Flotte zu schik¬ ken und ihm Rosenkranz und Güldenstern zu Beobachtern mitzugeben; und da indeß Laertes zurück kommt, soll dieser bis zum Meuchelmord erhitzte Jüngling ihm nachge¬ schickt werden. Die Flotte bleibt wegen ungünstigem Winde liegen; Hamlet kehrt nochmals zurück; seine Wanderung über den Kirchhof kann vielleicht glücklich motivirt werden; sein Zusammentreffen mit Laertes in Opheliens Grabe ist ein großer unent¬ behrlicher Moment. Hierauf mag der Kö¬ nig bedenken, daß es besser sey Hamlet auf der Stelle los zu werden; das Fest der Ab¬ W. Meisters Lehrj. 3. D reise, der scheinbaren Versöhnung mit Laer¬ tes wird nun feyerlich begangen, wobey man Ritterspiele hält und auch Hamlet und Laertes fechten. Ohne die vier Leichen kann ich das Stück nicht schließen; es darf nie¬ mand übrig bleiben. Hamlet giebt, da nun das Wahlrecht des Volks wieder eintritt, seine Stimme sterbend dem Horatio. Nur geschwind, versetzte Serlo, setzen Sie sich hin und arbeiten das Stück aus; die Idee hat völlig meinen Beyfall, nur daß die Lust nicht verraucht. Fünftes Capitel . W ilhelm hatte sich schon lange mit einer Übersetzung Hamlets abgegeben; er hatte sich dabei der geistvollen Wielandschen Ar¬ beit bedient, durch die er überhaupt Sha¬ kespearn zuerst kennen lernte. Was in der¬ selben ausgelassen war, fügte er hinzu, und so war er im Besitz eines vollständigen Exemplars in dem Augenblicke, da er mit Serlo über die Behandlung so ziemlich einig geworden war. Er fing nun an nach sei¬ nem Plane auszuheben und einzuschieben, zu trennen und zu verbinden, zu verändern und oft wieder herzustellen; denn so zufrie¬ den er auch mit seiner Idee war, so schien ihm doch bey der Ausführung immer, daß das Original nur verdorben werde. Sobald er fertig war, las er es Serlo D 2 und der übrigen Gesellschaft vor. Sie be¬ zeugten sich sehr zufrieden damit, besonders machte Serlo manche günstige Bemerkung. Sie haben, sagte er unter andern, sehr richtig empfunden, daß äußere Umstände dieses Stück begleiten, aber einfacher seyn müssen, als sie uns der große Dichter gege¬ ben hat. Was außer dem Theater vorgeht, was der Zuschauer nicht sieht, was er sich vorstellen muß, ist wie ein Hintergrund, vor dem die spielenden Figuren sich bewegen. Die große einfache Aussicht auf die Flotte und Norwegen wird dem Stück sehr gut thun; nähme man sie ganz weg, so ist es nur eine Familienscene, und der große Be¬ grif, daß hier ein ganzes königliches Haus durch innere Verbrechen und Ungeschicklich¬ keiten zu Grunde geht, wird nicht in seiner ganzen Würde dargestellt. Bliebe aber je¬ ner Hintergrund selbst mannichfaltig, beweg¬ lich, confus; so thäte er dem Eindrucke der Figuren Schaden. Wilhelm nahm nun wieder die Parthie Shakespears, und zeigte, daß er für Insu¬ laner geschrieben habe, für Engländer, die selbst im Hintergrunde nur Schiffe und See¬ reisen, die Küste von Frankreich und Caper zu sehen gewohnt sind, und daß das, was jenen etwas ganz gewöhnliches sey, uns schon zerstreue und verwirre. Serlo mußte nachgeben, und beyde stimm¬ ten darin überein, daß, da das Stück nun einmal auf das deutsche Theater solle, dieser ernstere einfachere Hintergrund für unsre Vorstellungsart am besten passen werde. Die Rollen hatte man schon früher aus¬ getheilt; den Polonius übernahm Serlo; Aurelie, Ophelien; Laertes war durch seinen Namen schon bezeichnet; ein junger, unter¬ setzter, muntrer, neuangekommener Jüngling erhielt die Rolle des Horatio; nur wegen des Königs und des Geistes war man in einiger Verlegenheit. Für beyde Rollen war nur der alte Polterer da. Serlo schlug den Pedanten zum Könige vor; wogegen Wil¬ helm aber aufs äußerste protestirte. Man konnte sich nicht entschließen. Ferner hatte Wilhelm in seinem Stücke die beyden Rollen von Rosenkranz und Gül¬ denstern stehen lassen. Warum haben Sie diese nicht in Eine verbunden? fragte Serlo, diese Abbreviatur ist doch so leicht gemacht. Gott bewahre mich vor solchen Verkür¬ zungen, die zugleich Sinn und Wirkung aufheben, versetzte Wilhelm. Das was die¬ se beyden Menschen sind und thun, kann nicht durch Einen vorgestellt werden. In solchen Kleinigkeiten zeigt sich Shakespears Größe. Dieses leise Auftreten, dieses Schmie¬ gen und Biegen, dies Ja sagen, Streicheln und Schmeicheln, diese Behendigkeit, dieses Schwenzeln, diese Allheit und Leerheit, diese rechtliche Schurkerey, diese Unfähigkeit, wie kann sie durch Einen Menschen ausgedruckt werden? Es sollten ihrer wenigstens ein Dutzend seyn, wenn man sie haben könnte, denn sie sind bloß etwas in Gesellschaft; sie sind die Gesellschaft, und Shakespear war sehr bescheiden und weise, daß er nur zwey solche Repräsentanten auftreten ließ. Über¬ dies brauche ich sie in meiner Bearbeitung als ein Paar, das mit dem Einen, guten, trefflichen Horatio contrastirt. Ich verstehe Sie, sagte Serlo, und wir können uns helfen. Den einen geben wir Elmiren (so nannte man die älteste Tochter des Polterers); es kann nicht schaden, wenn sie gut aussehen, und ich will die Puppen putzen und dressiren, daß es eine Lust seyn soll. Philine freute sich außerordentlich, daß sie die Herzoginn in der kleinen Comödie spielen sollte. Das will ich so natürlich ma¬ chen, rief sie aus, wie man in der Geschwin¬ digkeit einen zweyten heurathet, nachdem man den ersten ganz außerordentlich geliebt hat. Ich hoffe mir den größten Beyfall zu erwerben, und jeder Mann soll wünschen der dritte zu werden. Aurelie machte ein verdrießliches Gesicht bey diesen Äußerungen; ihr Widerwille ge¬ gen Philinen nahm mit jedem Tage zu. Es ist recht schade, sagte Serlo, daß wir kein Ballet haben, sonst sollten Sie mir mit Ihrem ersten und zweyten Manne ein Pas de deux tanzen, und der Alte sollte nach dem Takt einschlafen, und Ihre Füßchen und Wädchen würden sich dort hinten auf dem Kindertheater ganz allerliebst ausnehmen. Von meinen Wädchen wissen Sie ja wohl nicht vie l, versetzte sie schnippisch, und was meine Füßchen betrift, rief sie indem sie schnell unter den Tisch reichte, ihre Pantöf¬ felchen herauf holte und neben einander vor Serlo hinstellte, hier sind die Stelzchen, und ich gebe Ihnen auf niedlichere zu finden. Es war Ernst! sagte er, als er die zier¬ lichen Halbschuhe betrachtete. Gewiß, man konnte nicht leicht was artigers sehen! Sie waren Pariser Arbeit; Philine hatte sie von der Gräfin zum Geschenk erhalten, einer Dame, deren schöner Fuß berühmt war. Ein reitzender Gegenstand! rief Serlo, das Herz hüpft mir wenn ich sie ansehe. Welche Verzuckungen! sagte Philine. Es geht nichts über ein paar Pantöffel¬ chen von so feiner schöner Arbeit, rief Ser¬ lo ; doch ist ihr Klang noch reitzender, als ihr Anblick. Er hub sie auf und ließ sie einigemal hinter einander wechselsweise auf den Tisch fallen. Was soll das heißen? Nur wieder her damit! rief Philine. Darf ich sagen, versetzte er mit verstell¬ ter Bescheidenheit und schalkhaftem Ernst, wir andern Junggesellen, die wir Nachts meist allein sind, und uns doch wie andre Menschen fürchten, und im Dunkeln uns nach Gesellschaft sehnen, besonders in Wirths¬ häusern und fremden Orten wo es nicht ganz geheuer ist, wir finden es gar tröstlich, wenn ein gutherziges Kind uns Gesellschaft und Beystand leisten will. Es ist Nacht, man liegt im Bette, es raschelt, man schaudert, die Thüre thut sich auf, man erkennt ein liebes pisperndes Stimmchen, es schleicht was herbey, die Vorhänge rauschen, klipp! klapp! die Pantoffeln fallen, und husch! man ist nicht mehr allein. Ach der liebe, der ein¬ zige Klang, wenn die Absätzchen auf den Boden aufschlagen! Je zierlicher sie sind, je feiner klingts. Man spreche mir von Philomelen, von rauschenden Bächen, vom Säuseln der Winde, und von allem was je georgelt und gepfiffen worden ist, ich halte mich an das Klipp! Klapp! — Klipp! Klapp! ist das schönste Thema zu einem Rondeau, das man immer wieder von vorne zu hören wünscht. Philine nahm ihm die Pantoffeln aus den Händen und sagte: wie ich sie krumm getreten habe! sie sind mir viel zu weit. Dann spielte sie damit und rieb die Sohlen gegen einander. Was das heiß wird! rief sie aus, indem sie die eine Sohle flach an die Wange hielt, dann wieder rieb und sie gegen Serlo hinreichte. Er war gutmüthig genug nach der Wärme zu fühlen, und Klipp! Klapp! rief sie, indem sie ihm einen derben Schlag mit dem Absatz versetzte, daß er schreyend die Hand zurück zog. Ich will euch lehren bey meinen Pantoffeln was anders denken, sagte Philine lachend. Und ich will dich lehren alte Leute wie Kinder anführen! rief Serlo dagegen, sprang auf, faßte sie mit Heftigkeit und raubte ihr manchen Kuß, deren jeden sie sich mit ernst¬ lichem Widerstreben gar künstlich abzwingen ließ. Über dem Balgen fielen ihre langen Haare herunter und wickelten sich um die Gruppe, der Stuhl schlug an den Boden, und Aurelie, die von diesem Unwesen inner¬ lich beleidigt war, stand mit Verdruß auf. Sechstes Capitel . O bgleich bey der neuen Bearbeitung Ham¬ lets manche Personen weggefallen waren, so blieb die Anzahl derselben doch immer noch groß genug, und fast wollte die Gesellschaft nicht hinreichen. Wenn das so fort geht, sagte Serlo, wird unser Soufleur auch noch aus dem Lo¬ che hervorsteigen müssen, unter uns wan¬ deln, und zur Person werden. Schon oft habe ich ihn an seiner Stelle bewundert, versetzte Wilhelm. Ich glaube nicht, daß es einen vollkom¬ menern Einhelfer giebt, sagte Serlo. Kein Zuschauer wird ihn jemals hören; wir auf dem Theater verstehen jede Sylbe. Er hat sich gleichsam ein eigen Organ dazu gemacht, und ist wie ein Genius, der uns in der Noth vernehmlich zulispelt. Er fühlt wel¬ chen Theil seiner Rolle der Schauspieler voll¬ kommen inne hat, und ahndet von weitem wenn ihn das Gedächtniß verlassen will. In einigen Fällen, da ich die Rolle kaum überlesen konnte, da er sie mir Wort vor Wort vorsagte, spielte ich sie mit Glück; nur hat er Sonderbarkeiten, die jeden an¬ dern unbrauchbar machen würden: er nimmt so herzlichen Antheil an den Stücken, daß er pathetische Stellen nicht eben declamirt, aber doch affectvoll rezitirt. Mit dieser Un¬ art hat er mich mehr als einmal irre gemacht. So wie er mich, sagte Aurelie, mit einer andern Sonderbarkeit einst an einer sehr ge¬ fährlichen Stelle stecken ließ. Wie war das bei seiner Aufmerksamkeit möglich? fragte Wilhelm. Er wird, versetzte Aurelie, bey gewissen Stellen so gerührt, daß er heiße Thränen weint, und einige Augenblicke ganz aus der Fassung kommt; und es sind eigentlich nicht die sogenannten rührenden Stellen, die ihn in diesen Zustand versetzen; es sind, wenn ich mich deutlich ausdrücke, die schönen Stellen, aus welchen der reine Geist des Dichters gleichsam aus hellen offenen Augen hervorsieht, Stellen, bey denen wir andern uns nur höchstens freuen, und über die viele Tausend wegsehen. Und warum erscheint er mit dieser zarten Seele nicht auf dem Theater? Ein heischeres Organ und ein steifes Be¬ tragen schließen ihn von der Bühne, und seine hypochondrische Natur von der Gesell¬ schaft aus, versetzte Serlo. Wieviel Mühe habe ich mir nicht gegeben, ihn an mich zu gewöhnen? aber vergebens. Er ließt vor¬ trefflich, wie ich nicht wieder habe lesen hö¬ ren; niemand hält wie er die zarte Gränz¬ linie zwischen Declamation und affectvoller Recitation. Gefunden! rief Wilhelm, gefunden! Welch eine glückliche Entdeckung! Nun haben wir den Schauspieler, der uns die Stelle vom rauhen Pyrrhus reziti¬ ren soll. Man muß so viel Leidenschaft haben wie Sie, versetzte Serlo, um alles zu seinem Endzwecke zu nutzen. Gewiß ich war in der größten Sorge, rief Wilhelm, daß vielleicht diese Stelle weg¬ bleiben müßte, und das ganze Stück würde dadurch gelähmt werden. Das kann ich doch nicht einsehen, ver¬ setzte Aurelie. Ich hoffe Sie werden bald meiner Mey¬ nung seyn, sagte Wilhelm. Shakespear führt die ankommenden Schauspieler zu ei¬ nem nem doppelten Entzweck herein. Erst macht der Mann, der den Tod des Priamus mit so viel eigner Rührung declamirt, tiefen Ein¬ druck auf den Prinzen selbst; er schärft das Gewissen des jungen schwankenden Man¬ nes: und so wird diese Scene das Prälu¬ dium zu jener, in welcher das kleine Schau¬ spiel so große Wirkung auf den König thut. Hamlet fühlt sich durch den Schau¬ spieler beschämt, der an fremden, an fingir¬ ten Leiden so großen Theil nimmt; und der Gedanke auf eben die Weise einen Versuch auf das Gewissen seines Stiefvaters zu ma¬ chen, wird dadurch bey ihm sogleich erregt. Welch ein herrlicher Monolog ists, der den zweyten Act schließt! Wie freue ich mich darauf, ihn zu rezitiren: »O! welch ein Schurke, welch ein nie¬ driger Sklave bin ich! — Ist es nicht un¬ geheuer, daß dieser Schauspieler hier, nur W. Meisters Lehrj. 3. E durch Erdichtung, durch einen Traum von Leidenschaft, seine Seele so nach seinem Wil¬ len zwingt, daß ihre Wirkung sein ganzes Gesicht entfärbt: — Thränen im Auge! Ver¬ wirrung im Betragen! Gebrochne Stimme! Sein ganzes Wesen von Einem Gefühl durchdrungen! und das alles um nichts — um Hekuba! — Was ist Hekuba für ihn oder er für Hekuba, daß er um sie weinen sollte? Wenn wir nur unsern Mann auf das Theater bringen können, sagte Aurelie. Wir müssen, versetzte Serlo, ihn nach und nach hinein führen. Bey den Proben mag er die Stelle lesen, und wir sagen daß wir einen Schauspieler, der sie spielen soll, erwarten, und so sehen wir, wie wir ihm näher kommen. Nachdem sie darüber einig waren, wen¬ dete sich das Gespräch auf den Geist . Wil¬ helm konnte sich nicht entschließen, die Rolle des lebenden Königs dem Pedanten zu über¬ lassen, damit der Polterer den Geist spielen könne, und glaubte eher, daß man noch ei¬ nige Zeit warten sollte, indem sich doch noch einige Schauspieler gemeldet hätten, und sich unter ihnen der rechte Mann finden könnte. Man kann sich daher denken wie ver¬ wundert Wilhelm war, als er, unter der Addresse seines Theaternamens, Abends fol¬ gendes Billet mit wunderbaren Zügen ver¬ siegelt auf seinem Tische fand: »Du bist, o sonderbarer Jüngling, wir wissen es, in großer Verlegenheit. Du fin¬ dest kaum Menschen zu deinem Hamlet, ge¬ schweige Geister. Dein Eifer verdient ein Wunder; Wunder können wir nicht thun, aber etwas Wunderbares soll geschehen. Hast du Vertrauen, so soll zur rechten Stunde der Geist erscheinen ! Habe Muth und bleibe E 2 gefaßt! Es bedarf keiner Antwort, dein Entschluß wird uns bekannt werden.» Mit diesem seltsamen Blatte eilte er zu Serlo zurück, der es las und wieder las, und endlich mit bedenklicher Miene versi¬ cherte: die Sache sey von Wichtigkeit, man müsse wohl überlegen ob man es wagen dürfe und könne. Sie sprachen vieles hin und wieder; Aurelie war still und lächelte von Zeit zu Zeit, und als nach einigen Ta¬ gen wieder davon die Rede war, gab sie nicht undeutlich zu verstehen, daß sie es für einen Scherz von Serlo halte. Sie bat Wilhelmen völlig außer Sorge zu seyn, und den Geist geduldig zu erwarten. Überhaupt war Serlo von dem besten Humor; denn die abgehenden Schauspieler gaben sich alle mögliche Mühe gut zu spie¬ len, damit man sie ja recht vermissen sollte, und von der Neugierde auf die neue Gesell¬ schaft konnte er auch die beste Einnahme erwarten. Sogar hatte der Umgang Wilhelms auf ihn einigen Einfluß gehabt. Er fing an mehr über Kunst zu sprechen, denn er war am Ende doch ein Deutscher, und diese Na¬ tion giebt sich gern Rechenschaft von dem was sie thut. Wilhelm schrieb sich manche solche Unterredung auf; und wir werden, da die Erzählung hier nicht so oft unterbrochen werden darf, denjenigen unsrer Leser die sich dafür interessiren, solche dramaturgische Ver¬ suche bey einer andern Gelegenheit vor¬ legen. Besonders war Serlo eines Abends sehr lustig, als er von der Rolle des Polonius sprach, wie er sie zu fassen gedachte. Ich verspreche, sagte er, diesmal einen recht wür¬ digen Mann zum Besten zu geben; ich wer¬ de die gehörige Ruhe und Sicherheit, Leer¬ heit und Bedeutsamkeit, Annehmlichkeit und geschmackloses Wesen, Freyheit und Aufpas¬ sen, treuherzige Schalkheit und erlogene Wahrheit, da wo sie hin gehören, recht zier¬ lich aufstellen. Ich will einen solchen grauen, redlichen, ausdauernden, der Zeit dienenden Halbschelmen aufs allerhöflichste vorstellen und vortragen, und dazu sollen mir die et¬ was rohen und groben Pinselstriche unsers Autors gute Dienste leisten. Ich will reden wie ein Buch, wenn ich mich vorbereitet habe, und wie ein Thor, wenn ich bey gu¬ ter Laune bin. Ich werde abgeschmackt seyn um jedem nach dem Maule zu reden, und immer so fein, es nicht zu merken wenn mich die Leute zum Besten haben. Nicht leicht habe ich eine Rolle mit solcher Lust und Schalkheit übernommen. Wenn ich nur auch von der meinigen so viel hoffen könnte, sagte Aurelie. Ich habe weder Jugend noch Weichheit genug, um mich in diesen Charakter zu finden. Nur eins weiß ich leider: daß Gefühl, das Ophe¬ lien den Kopf verrückt, wird mich nicht ver¬ lassen. Wir wollen es ja nicht so genau neh¬ men, sagte Wilhelm: denn eigentlich hat mein Wunsch den Hamlet zu spielen, mich bey al¬ lem Studium des Stücks, aufs Äußerste irre geführt. Je mehr ich mich in die Rolle stu¬ diere, desto mehr sehe ich, daß in meiner ganzen Gestalt kein Zug der Physiognomie ist, wie Shakespear seinen Hamlet aufstellt. Wenn ich es recht überlege, wie genau in der Rolle alles zusammen hängt, so getraue ich mir kaum eine leidliche Wirkung hervor zu bringen. Sie treten mit großer Gewissenhaftig¬ keit in Ihre Laufbahn, versetzte Serlo: der Schauspieler schickt sich in die Rolle wie er kann, und die Rolle richtet sich nach ihm wie sie muß. Wie hat aber Shakespear seinen Hamlet vorgezeichnet? Ist er Ihnen denn so ganz unähnlich? Zuförderst ist Hamlet blond, erwiederte Wilhelm. Das heiß ich weit gesucht, sagte Aurelie. Woher schließen Sie das? Als Däne, als Nordländer, ist er blond von Hause aus, und hat blaue Augen. »Sollte Shakespear daran gedacht ha¬ ben?» Bestimmt find’ ich es nicht ausgedruckt, aber in Verbindung mit andern Stellen scheint es mir unwidersprechlich. Ihm wird das Fechten sauer, der Schweis läuft ihm vom Gesichte, und die Königinn spricht: er ist fett, laßt ihn zu Athem kommen. Kann man sich ihn da anders als blond und wohl¬ behäglich vorstellen, denn braune Leute sind in ihrer Jugend selten in diesem Falle. Paßt nicht auch seine schwankende Melancholie, seine weiche Trauer, seine thätige Unentschlos¬ senheit, besser zu einer solchen Gestalt, als wenn Sie sich einen schlanken, braunlocki¬ gen Jüngling denken, von dem man mehr Entschlossenheit und Behendigkeit erwartet? Sie verderben mir die Imagination, rief Aurelie, weg mit Ihrem fetten Hamlet! stel¬ len Sie uns ja nicht Ihren wohlbeleibten Prinzen vor! Geben Sie uns lieber irgend ein Quiproquo, das uns reizt, das uns rührt. Die Intention des Autors liegt uns nicht so nahe als unser Vergnügen, und wir verlan¬ gen einen Reiz, der uns homogen ist. Siebentes Capitel . E inen Abend stritt die Gesellschaft ob der Roman oder das Drama den Vorzug ver¬ diene? Serlo versicherte, es sey ein vergeb¬ licher, mißverstandner Streit; beyde könnten in ihrer Art vortrefflich seyn, nur müßten sie sich in den Gränzen ihrer Gattung halten. Ich bin selbst noch nicht ganz im Klaren darüber, versetzte Wilhelm. Wer ist es auch? sagte Serlo, und doch wäre es der Mühe werth, daß man der Sa¬ che näher käme. Sie sprachen viel herüber und hinüber, und endlich war folgendes ohngefähr das Resultat ihrer Unterhaltung: Im Roman wie im Drama sehen wir menschliche Natur und Handlung. Der Un¬ terschied beyder Dichtungsarten liegt nicht bloß in der äußern Form, nicht darin, daß die Personen in dem einen sprechen, und daß in dem andern gewöhnlich von ihnen erzählt wird. Leider viele Dramas sind nur dialo¬ girte Romane, und es wäre nicht unmöglich ein Drama in Briefen zu schreiben. Im Roman sollen vorzüglich Gesinnun ¬ gen und Begebenheiten vorgestellt wer¬ den; im Drama Charactere und Thaten . Der Roman muß langsam gehen, und die Gesinnungen der Hauptfigur müssen, es sey auf welche Weise es wolle, des Vordringen des Ganzen zur Entwickelung aufhalten. Das Drama soll eilen, und der Charakter der Hauptfigur muß sich nach dem Ende drängen, und nur aufgehalten werden. Der Romanenheld muß leidend, wenigstens nicht im hohen Grade wirkend seyn; von dem dramatischen verlangt man Wirkung und That. Grandison, Clarisse, Pamela, der Landpriester von Wakefield, Tom Jones selbst sind, wo nicht leidende, doch retardi¬ rende Personen, und alle Begebenheiten wer¬ den gewissermaßen nach ihren Gesinnungen gemodelt. Im Drama modelt der Held nichts nach sich, alles widersteht ihm, und er räumt und rückt die Hindernisse aus dem Wege, oder unterliegt ihnen. So vereinigte man sich auch darüber, daß man dem Zufall im Roman gar wohl sein Spiel erlauben könne; daß er aber im¬ mer durch die Gesinnungen der Personen gelenkt und geleitet werden müsse; daß hin¬ gegen das Schicksal, das die Menschen, ohne ihr Zuthun, durch unzusammenhängende äu¬ ßere Umstände zu einer unvorgesehenen Ca¬ tastrophe hindrängt, nur im Drama statt habe; daß der Zufall wohl pathetische, nie¬ mals aber tragische, Situationen hervorbrin¬ gen dürfe; das Schicksal hingegen müsse im¬ mer fürchterlich seyn, und werde im höchsten Sinne tragisch, wenn es schuldige und un¬ schuldige von einander unabhängige Thaten in eine unglückliche Verknüpfung bringt. Diese Betrachtungen führten wieder auf den wunderlichen Hamlet, und auf die Eigen¬ heiten dieses Stücks. Der Held, sagte man, hat eigentlich auch nur Gesinnungen; es sind nur Begebenheiten die zu ihm stoßen, und deswegen hat das Stück etwas von dem gedehnten des Romans: weil aber das Schicksal den Plan gezeichnet hat, weil das Stück von einer fürchterlichen That ausgeht, und der Held immer vorwärts zu einer fürchterlichen That gedrängt wird, so ist es im höchsten Sinne tragisch, und leidet keinen andern als einen tragischen Ausgang. Nun sollte Leseprobe gehalten werden, welche Wilhelm eigentlich als ein Fest an¬ sah. Er hatte die Rollen vorher collationirt, daß also von dieser Seite kein Anstoß seyn konnte. Die sämmtlichen Schauspieler wa¬ ren mit dem Stücke bekannt, und er suchte sie nur, ehe sie anfingen, von der Wichtigkeit einer Leseprobe zu überzeugen. Wie man von jedem Musikus verlange, daß er, bis auf einen gewissen Grad, vom Blatte spie¬ len könne, so solle auch jeder Schauspieler, ja jeder wohlerzogene Mensch, sich üben vom Blatte zu lesen, einem Drama, einem Ge¬ dicht, einer Erzählung sogleich ihren Cha¬ rakter abzugewinnen, und sie mit Fertigkeit vorzutragen. Alles Memoriren helfe nichts, wenn der Schauspieler nicht vorher in den Geist und Sinn des guten Schriftstellers ein¬ gedrungen sey, der Buchstabe könne nichts wirken. Serlo versicherte, daß er jeder andern Probe, ja der Hauptprobe nachsehen wolle, sobald der Leseprobe ihr Recht wiederfahren sey: denn gewöhnlich, sagte er, ist nichts lu¬ stiger, als wenn Schauspieler von Studieren sprechen; es kommt mir eben so vor, als wenn die Freymäurer von Arbeiten reden. Die Probe lief nach Wunsch ab, und man kann sagen, daß der Ruhm und die gute Einnahme der Gesellschaft sich auf diese wenigen wohlangewandten Stunden grün¬ dete. Sie haben wohl gethan, mein Freund, sagte Serlo, nachdem sie wieder allein wa¬ ren, daß Sie unsern Mitarbeitern so ernst¬ lich zusprachen, wenn ich gleich fürchte, daß sie Ihre Wünsche schwerlich erfüllen werden. Wie so? versetzte Wilhelm. Ich habe gefunden, sagte Serlo, daß so leicht man der Menschen Imagination in Bewegung setzen kann, so gern sie sich Mährchen erzählen lassen, eben so selten ist es, eine Art von productiver Imagination bey ihnen zu finden. Bey den Schauspie¬ lern ist dieses sehr auffallend. Jeder ist sehr wohl zufrieden eine schöne lobenswürdige brillante Rolle zu übernehmen; selten aber thut einer mehr, als sich mit Selbstgefällig¬ keit an die Stelle des Helden zu setzen, ohne sich im mindesten zu bekümmern, ob ihn auch jemand dafür halten werde. Aber mit Lebhaftigkeit zu umfassen was sich der Au¬ tor beym Stück gedacht hat, was man von seiner Individualität hingeben müsse um einer Rolle genug zu thun, wie man durch eigene Überzeugung, man sey ein ganz ande¬ rer Mensch, den Zuschauer gleichfalls zur Überzeugung hinreisse; wie man, durch eine innere Wahrheit der Darstellungskraft, diese Bretter in Tempel, diese Pappen in Wälder verwandelt, ist wenigen gegeben. Diese in¬ nere Stärke des Geistes, wodurch ganz al¬ lein lein der Zuschauer getäuscht wird, diese erlo¬ gene Wahrheit, die ganz allein Wirkung hervorbringt, wodurch ganz allein die Illusion erzielt wird, wer hat davon einen Begriff? Lassen Sie uns daher ja nicht zu sehr auf Geist und Empfindung dringen! Das sicherste Mittel ist, wenn wir unsern Freun¬ den mit Gelassenheit zuerst den Sinn des Buchstabens erklären, und ihnen den Ver¬ stand eröffnen. Wer Anlage hat, eilt als¬ dann selbst dem geistreichen und empfin¬ dungsvollen Ausdrucke entgegen; und wer sie nicht hat, wird wenigstens niemals ganz falsch spielen uud rezitiren. Ich habe aber bey Schauspielern, so wie überhaupt, keine schlimmere Anmaßung gefunden, als wenn jemand Ansprüche an Geist macht, so lange ihm der Buchstabe noch nicht deutlich und geläufig ist. W. Meisters Lehrj. 3. F Achtes Capitel . W ilhelm kam zur ersten Theaterprobe sehr zeitig und fand sich auf den Brettern allein, Das Lokal überraschte ihn, und gab ihm die wunderbarsten Erinnerungen. Die Wald- und Dorfdekoration stand genau so, als auf der Bühne seiner Vaterstadt, auch bey einer Probe, als ihm an jenem Morgen Mariane lebhaft ihre Liebe bekannte, und ihm die er¬ ste glückliche Nacht zusagte. Die Bauern¬ häuser glichen sich auf dem Theater wie auf dem Lande, die wahre Morgensonne beschien, durch einen halb offenen Fensterladen herein¬ fallend, einen Theil der Bank die neben der Thüre schlecht befestigt war, nur leider schien sie nicht wie damals auf Marianens Schooß und Busen. Er setzte sich nieder, dachte die¬ ser wunderbaren Übereinstimmung nach, und glaubte zu ahnden, daß er sie vielleicht auf diesem Platze bald wieder sehen werde. Ach, und es war weiter nichts, als daß ein Nach¬ spiel, zu welchem diese Dekoration gehörte, damals auf dem deutschen Theater sehr oft gegeben wurde. In diesen Betrachtungen störten ihn die übrigen ankommenden Schauspieler, mit de¬ nen zugleich zwey Theater- und Gardero¬ benfreunde herein traten, und Wilhelmen mit Enthusiasmus begrüßten. Der eine war gewissermaßen an Madam Melina attachirt; der andere aber ein ganz reiner Freund der Schauspielkunst, und beyde von der Art, wie sich jede gute Gesellschaft Freunde wün¬ schen sollte. Man wußte nicht zu sagen, ob sie das Theater mehr kannten oder lieb¬ ten? Sie liebten es zu sehr um es recht zu kennen, sie kannten es genug um das Gute zu schätzen und das Schlechte zu verbannen. F 2 Aber bey ihrer Neigung war ihnen das Mit¬ telmäßige nicht unerträglich, und der herrli¬ che Genuß, mit dem sie das Gute vor und nach kosteten, war über allen Ausdruck. Das Mechanische machte ihnen Freude, das Gei¬ stige entzückte sie, und ihre Neigung war so groß, daß auch eine zerstückelte Probe sie in eine Art von Illusion versetzte. Die Män¬ gel schienen ihnen jederzeit in die Ferne zu treten, das Gute berührte sie wie ein naher Gegenstand. Kurz sie waren Liebhaber, wie sie sich der Künstler in seinem Fache wünscht. Ihre liebste Wanderung war von den Cou¬ lissen ins Parterr, vom Parterr in die Cou¬ lissen, ihr angenehmster Aufenthalt in der Garderobe, ihre emsigste Beschäftigung an der Stellung, Kleidung, Recitation und De¬ clamation der Schauspieler etwas zuzustutzen, ihr lebhaftestes Gespräch über den Effekt, den man hervorgebracht hatte, und ihre be¬ ständigste Bemühung, den Schauspieler auf¬ merksam, thätig und genau zu erhalten, ihm etwas zu gute oder zu lieb zu thun, und, ohne Verschwendung, der Gesellschaft man¬ chen Genuß zu verschaffen. Sie hatten sich beyde das ausschließliche Recht verschaft, bey Proben und Aufführungen auf dem Theater zu erscheinen. Sie waren, was die Auffüh¬ rung Hamlets betraf, mit Wilhelmen nicht bey allen Stellen einig; hie und da gab er nach, meistens aber behauptete er seine Mey¬ nung, und im Ganzen diente diese Unterhal¬ tung sehr zur Bildung seines Geschmacks. Er ließ die beyden Freunde sehen wie sehr er sie schätze, und sie dagegen weissagten nichts weniger von diesen vereinten Bemü¬ hungen, als eine neue Epoche fürs deutsche Theater. Die Gegenwart dieser beyden Männer war bey den Proben sehr nützlich. Beson¬ ders überzeugten sie unsre Schauspieler, daß man bey der Probe Stellung und Action, wie man sie bey der Aufführung zu zeigen gedenke, immerfort mit der Rede verbinden und alles zusammen durch Gewohnheit me¬ chanisch vereinigen müsse. Besonders mit den Händen solle man ja bey der Probe ei¬ ner Tragödie keine gemeine Bewegung vor¬ nehmen; ein tragischer Schauspieler, der in der Probe Toback schnupft, mache sie im¬ mer bange, denn höchst wahrscheinlich werde er an einer solchen Stelle, bey der Auffüh¬ rung, die Prise vermissen. Ja sie hielten da¬ vor, daß niemand in Stiefeln probiren solle, wenn die Rolle in Schuhen zu spielen sey. Nichts aber, versicherten sie, schmerze sie mehr, als wenn die Frauenzimmer in den Proben ihre Hände in die Rockfalten ver¬ steckten. Außerdem ward durch das Zureden die¬ ser Männer noch etwas sehr gutes bewirkt, daß nämlich alle Mannspersonen exerciren lernten. Da so viele Militärrollen vorkom¬ men, sagten sie, sieht nichts betrübter aus als Menschen, die nicht die mindeste Dressur zeigen, in Hauptmanns- und Majors-Uniform auf dem Theater herum schwanken zu sehen. Wilhelm und Laertes waren die ersten, die sich der Pädagogik eines Unterofficiers unterwarfen, und setzten dabey ihre Fecht¬ übungen mit großer Anstrengung fort. So viel Mühe gaben sich beyde Männer mit der Ausbildung einer Gesellschaft, die sich so glücklich zusammen gefunden hatte. Sie sorgten für die künftige Zufriedenheit des Publikums, indeß sich dieses über ihre entschiedene Liebhaberey gelegentlich aufhielt. Man wußte nicht wieviel Ursache man hat¬ te ihnen dankbar zu seyn, besonders da sie nicht versäumten den Schauspielern oft den Hauptpunkt einzuschärfen, daß es nämlich ihre Pflicht sey laut und vernehmlich zu sprechen. Sie fanden hierbey mehr Wider¬ stand und Unwillen, als sie anfangs gedacht hatten. Die meisten wollten so gehört seyn wie sie sprachen, und wenige bemühten sich so zu sprechen, daß man sie hören könnte. Einige schoben den Fehler aufs Gebäude, andere sagten, man könne doch nicht schreyen, wenn man natürlich, heimlich oder zärtlich zu sprechen habe. Unsre Theaterfreunde, die eine unsägliche Geduld hatten, suchten auf alle Weise diese Verwirrung zu lösen, diesem Eigensinne bey¬ zukommen. Sie sparten weder Gründe noch Schmeicheleyen, und erreichten zuletzt doch ihren Endzweck, wobey ihnen das gute Bey¬ spiel Wilhelms besonders zu statten kam. Er bat sich aus, daß sie sich bey den Pro¬ ben in die entferntsten Ecken setzen, und so¬ bald sie ihn nicht vollkommen verstünden mit dem Schlüssel auf die Bank pochen möchten. Er artikulirte gut, sprach gemäßigt aus, steigerte den Ton stufenweise, und über¬ schrie sich nicht in den heftigsten Stellen. Die pochenden Schlüssel hörte man bey je¬ der Probe weniger; nach und nach ließen sich die andern dieselbe Operation gefallen, und man konnte hoffen, daß das Stück end¬ lich in allen Winkeln des Hauses von jeder¬ mann würde verstanden werden. Man sieht aus diesem Beyspiel wie gern die Menschen ihren Zweck nur auf ihre ei¬ gene Weise erreichen möchten; wieviel Noth man hat, ihnen begreiflich zu machen was sich eigentlich von selbst versteht, und wie schwer es ist, denjenigen, der etwas zu lei¬ sten wünscht, zur Erkenntniß der ersten Be¬ dingungen zu bringen, unter denen sein Vor¬ haben allein möglich wird. Neuntes Capitel . M an fuhr nun fort, die nöthigen Anstalten zu Dekorationen und Kleidern und was sonst erforderlich war zu machen. Über ei¬ nige Scenen und Stellen hatte Wilhelm besondere Grillen, denen Serlo nachgab, theils in Rücksicht auf den Contract, theils aus Überzeugung, und weil er hoffte, Wil¬ helmen durch diese Gefälligkeit zu gewinnen, und in der Folge destomehr nach seinen Ab¬ sichten zu lenken. So sollte zum Beyspiel König und Kö¬ nigin bey der ersten Audienz auf dem Thro¬ ne sitzend erscheinen, die Hofleute an den Seiten und Hamlet unbedeutend unter ih¬ nen stehen. Hamlet, sagte er, muß sich ru¬ hig verhalten, seine schwarze Kleidung un¬ terscheidet ihn schon genug. Er muß sich eher verbergen als zum Vorschein kommen. Nur dann, wenn die Audienz geendigt ist, wenn der König mit ihm als Sohn spricht, dann mag er herbey treten und die Scene ihren Gang gehen. Noch eine Hauptschwierigkeit machten die beyden Gemählde, auf die sich Hamlet in der Scene mit seiner Mutter so heftig be¬ zieht. Mir sollen, sagte Wilhelm, in Le¬ bensgröße beyde im Grunde des Zimmers neben der Hauptthüre sichtbar seyn, und zwar muß der alte König in völliger Rü¬ stung, wie der Geist, auf eben der Seite hängen wo dieser hervortritt. Ich wünsche daß die Figur mit der rechten Hand eine befehlende Stellung annehme, etwas ge¬ wandt sey und gleichsam über die Schulter sehe, damit sie dem Geiste völlig gleiche, in dem Augenblicke da dieser zur Thüre hin¬ aus geht. Es wird eine sehr große Wir¬ kung thun, wenn in diesem Augenblick Ham¬ let nach dem Geiste und die Königin nach dem Bilde sieht. Der Stiefvater mag dann im königlichen Ornat, doch unscheinbarer als jener vorgestellt werden. So gab es noch verschiedene Punkte, von denen wir zu sprechen vielleicht Gele¬ genheit haben. Sind Sie auch unerbittlich, daß Hamlet am Ende sterben muß? fragte Serlo. Wie kann ich ihn am Leben erhalten, sagte Wilhelm, da ihn das ganze Stück zu Tode drückt? Wir haben ja schon so weit¬ läuftig darüber gesprochen. Aber das Publikum wünscht ihn le¬ bendig. Ich will ihm gern jeden andern Gefallen thun, nur diesmal ists unmöglich. Wir wünschen auch, daß ein braver nützlicher Mann, der an einer chronischen Krankheit stirbt, noch länger leben möge. Die Fami¬ lie weint und beschwört den Arzt, der ihn nicht halten kann: und so wenig als dieser einer Natur-Nothwendigkeit zu widerstehen vermag, so wenig können wir einer aner¬ kannten Kunstnothwendigkeit gebieten. Es ist eine falsche Nachgiebigkeit gegen die Menge, wenn man ihnen die Empfindungen erregt, die sie haben wollen , und nicht die sie haben sollen . »Wer das Geld bringt, kann die Waare nach seinem Sinne verlangen.» Gewissermaßen; aber ein großes Publi¬ kum verdient daß man es achte, daß man es nicht wie Kinder, denen man das Geld abnehmen will, behandle. Man bringe ihm nach und nach durch das Gute — Gefühl und Geschmack für das Gute bey, und es wird sein Geld mit doppeltem Vergnügen einlegen, weil ihm der Verstand, ja die Ver¬ nunft selbst bey dieser Ausgabe nichts vor¬ zuwerfen hat. Man kann ihm schmeicheln wie einem geliebten Kinde, schmeicheln um es zu bessern, um es künftig aufzuklären; nicht wie einem Vornehmen und Reichen, um den Irrthum, den man nutzt, zu ver¬ ewigen. So handelten sie noch manches ab, das sich besonders auf die Frage bezog: was man noch etwa an dem Stücke verändern dürfe, und was man unberührt lassen müsse? Wir lassen uns hierauf nicht weiter ein, son¬ dern legen vielleicht künftig die neue Bear¬ beitung Hamlets selbst demjenigen Theile unsrer Leser vor, der sich etwa dafür inte¬ ressiren könnte. Zehntes Capitel . Die Hauptprobe war vorbey. Sie hatte übermäßig lange gedauert. Serlo und Wil¬ helm fanden noch manches zu besorgen; denn ungeachtet der vielen Zeit, die man zur Vorbereitung verwendet hatte, waren doch sehr nothwendige Anstalten bis auf den letz¬ ten Augenblick verschoben worden. So waren, zum Beyspiel, die Gemählde der beyden Könige noch nicht fertig, und die Scene zwischen Hamlet und seiner Mut¬ ter, von der man einen so großen Effekt hoffte, sah noch sehr mager aus, indem we¬ der der Geist noch sein gemahltes Ebenbild dabey gegenwärtig war. Serlo scherzte bey dieser Gelegenheit und sagte: wir wären doch im Grunde recht übel angeführt, wenn der Geist ausbliebe, die Wache wirklich mit der Luft fechten, und unser Soufleur aus der Coulisse den Vortrag des Geistes suppliren müßte. Wir wollen den wunderbaren Freund nicht durch unsern Unglauben verscheuchen, versetzte Wilhelm; er kommt gewiß zur rech¬ ten Zeit, und wird uns so gut als die Zu¬ schauer überraschen. Gewiß, rief Serlo, ich werde froh seyn, wenn das Stück morgen gegeben ist, es macht uns mehr Umstände als ich geglaubt habe. Aber niemand in der Welt wird froher seyn als ich, wenn das Stück morgen ge¬ spielt ist, versetzte Philine, so wenig mich meine Rolle drückt. Denn immer und ewig von Einer Sache reden zu hören, wobey doch nichts weiter heraus kommt als eine Repräsentation, die, wie so viele hundert andere, vergessen werden wird, dazu will meine meine Geduld nicht hinreichen. Macht doch in Gottesnahmen nicht so viel Umstände! Die Gäste die vom Tische aufstehen, haben nachher an jedem Gerichte was auszusetzen; ja wenn man sie zu Hause reden hört, so ist es ihnen kaum begreiflich, wie sie eine solche Noth haben ausstehen können. Lassen Sie mich Ihr Gleichniß zu mei¬ nem Vortheile brauchen, schönes Kind, ver¬ setzte Wilhelm. Bedenken Sie was Natur und Kunst, was Handel, Gewerke und Ge¬ werbe zusammen schaffen müssen, bis ein Gastmahl gegeben werden kann. Wie viel Jahre muß der Hirsch im Walde, der Fisch im Fluß oder Meere zubringen, bis er unsre Tafel zu besetzen würdig ist, und was hat die Hausfrau, die Köchin nicht alles in der Küche zu thun? Mit welcher Nachlässigkeit schlürft man die Sorge des entferntesten Winzers, des Schiffers, des Kellermeisters, W. Meisters Lehrj. 3. G beym Nachtische hinunter, als müsse es nur so seyn. Und sollten deswegen alle diese Menschen nicht arbeiten, nicht schaffen und bereiten, sollte der Hausherr das alles nicht sorgfältig zusammenbringen und zusammen halten, weil am Ende der Genuß nur vor¬ übergehend ist? Aber kein Genuß ist vor¬ übergehend; denn der Eindruck den er zurück¬ läßt ist bleibend, und was man mit Fleiß und Anstrengung thut, theilt dem Zuschauer selbst eine verborgene Kraft mit, von der man nicht wissen kann wie weit sie wirkt. Mir ist alles einerley, versetzte Philine, nur muß ich auch dießmal erfahren, daß Männer immer im Widerspruch mit sich selbst sind. Bey all eurer Gewissenhaftig¬ keit, den großen Autor nicht verstümmeln zu wollen, laßt ihr doch den schönsten Ge¬ danken aus dem Stücke. Den schönsten? rief Wilhelm. »Gewiß den schönsten, auf den sich Ham¬ let selbst was zu gute thut.» Und der wäre? rief Serlo. Wenn Sie eine Perücke auf hätten, ver¬ setzte Philine, würde ich sie Ihnen ganz säu¬ berlich abnehmen; denn es scheint nöthig, daß man Ihnen das Verständniß eröffne. Die andern dachten nach, und die Unter¬ haltung stockte. Man war aufgestanden, es war schon spät, man schien auseinander ge¬ hen zu wollen. Als man so unentschlossen da stand, fing Philine ein Liedchen, auf eine sehr zierliche und gefällige Melodie, zu singen an. Singet nicht in Trauertönen Von der Einsamkeit der Nacht, Nein, sie ist, o holde Schönen, Zur Geselligkeit gemacht. Wie das Weib dem Mann gegeben Als die schönste Hälfte war, Ist die Nacht das halbe Leben, Und die schönste Hälfte zwar. G 2 Könnt ihr euch des Tages freuen Der nur Freuden unterbricht? Er ist gut sich zu zerstreuen, Zu was anderm taugt er nicht. Aber wenn in nächt’ger Stunde Süßer Lampe Dämmrung fließt, Und vom Mund zum nahen Munde Scherz und Liebe sich ergießt; Wenn der rasche lose Knabe, Der sonst wild und feurig eilt, Oft, bey einer kleinen Gabe, Unter leichten Spielen weilt; Wenn die Nachtigall Verliebten Liebevoll ein Liedchen singt, Das Gefangnen und Betrübten Nur wie Ach und Wehe klingt: Mit wie leichtem Herzensregen Horchet ihr der Glocke nicht, Die mit zwölf bedächt’gen Schlägen Ruh und Sicherheit verspricht! Darum an dem langen Tage Merke dir es, liebe Brust: Jeder Tag hat seine Plage Und die Nacht hat ihre Lust. Sie machte eine leichte Verbeugung als sie geendigt hatte, und Serlo rief ihr ein lautes Bravo zu. Sie sprang zur Thür hinaus und eilte mit Gelächter fort. Man hörte sie die Treppe hinunter singen und mit den Absätzen klappern. Serlo ging in das Seitenzimmer, und Aurelie blieb vor Wilhelmen, der ihr eine gute Nacht wünschte, noch einige Augenblicke stehen und sagte: Wie sie mir zuwider ist! recht meinem innern Wesen zuwider! bis auf die kleinsten Zufälligkeiten. Die rechte braune Augen¬ wimper bey den blonden Haaren, die der Bruder so reizend findet, mag ich gar nicht ansehn, und die Schramme auf der Stirne hat mir so was widriges, so was niedriges, daß ich immer zehen Schritte von ihr zurück treten möchte. Sie erzählte neulich als ei¬ nen Scherz, ihr Vater habe ihr in ihrer Kindheit einen Teller an den Kopf gewor¬ fen, davon sie noch das Zeichen trage. Wohl ist sie recht an Augen und Stirne gezeich¬ net, daß man sich vor ihr hüten möge. Wilhelm antwortete nichts, und Aurelie schien mit mehr Unwillen fortzufahren: Es ist mir beynahe unmöglich ein freund¬ liches höfliches Wort mit ihr zu reden, so sehr hasse ich sie, und doch ist sie so an¬ schmiegend. Ich wollte wir wären sie los. Auch Sie, mein Freund, haben eine gewisse Gefälligkeit gegen dieses Geschöpf, ein Be¬ tragen, das mich in der Seele kränkt, eine Aufmerksamkeit, die an Achtung gränzt, und die sie bey Gott nicht verdient! Wie sie ist, bin ich ihr Dank schuldig, versetzte Wilhelm; ihre Aufführung ist zu ta¬ deln, ihrem Charakter muß ich Gerechtigkeit wiederfahren lassen. Charakter! rief Aurelie: glauben Sie, daß so eine Creatur einen Charakter hat? O ihr Männer, daran erkenne ich euch! Solcher Frauen seyd ihr werth! Sollten Sie mich in Verdacht haben, meine Freundin? versetzte Wilhelm. Ich will von jeder Minute Rechenschaft geben, die ich mit ihr zugebracht habe. Nun, nun, sagte Aurelie, es ist spät, wir wollen nicht streiten. Alle wie einer, einer wie alle! Gute Nacht mein Freund! gute Nacht mein feiner Paradiesvogel! Wilhelm fragte, wie er zu diesem Ehren¬ titel komme? Ein andermal, versetzte Aurelie, ein an¬ dermal. Man sagt, sie hätten keine Füße, sie schwebten nur in der Luft, und nährten sich vom Äther. Es ist aber ein Mährchen, fuhr sie fort, eine poetische Fiction. Gute Nacht, laßt euch was schönes träumen wenn ihr Glück habt. Sie ging in ihr Zimmer und ließ ihn al¬ lein ; er eilte auf das seinige. Halb unwillig ging er auf und nieder. Der scherzende aber entschiedne Ton Aure¬ liens hatte ihn beleidigt; er fühlte tief wie Unrecht sie ihm that. Philinen konnte er nicht widrig, nicht unhold begegnen; sie hat¬ te nichts gegen ihn verbrochen, und dann fühlte er sich so fern von jeder Neigung zu ihr, daß er recht stolz und standhaft vor sich selbst bestehen konnte. Eben war er im Begriffe sich auszuzie¬ hen, nach seinem Lager zu gehen und die Vorhänge aufzuschlagen, als er zu seiner größten Verwunderung ein Paar Frauen¬ pantoffeln vor dem Bett erblickte; der eine stand, der andere lag. — Es waren Phili¬ nens Pantoffeln, die er nur zu gut erkann¬ te; er glaubte auch eine Unordnung an den Vorhängen zu sehen, ja es schien als be¬ wegten sie sich; er stand und sah mit unver¬ wandten Augen hin. Eine neue Gemüthsbewegung, die er für Verdruß hielt, versetzte ihm den Athem; und nach einer kurzen Pause, in der er sich er¬ hohlt hatte, rief er gefaßt: Stehen Sie auf, Philine! was soll das heißen? Wo ist Ihre Klugheit, Ihr gutes Betragen? Sollen wir morgen das Mähr¬ chen des Hauses werden? Es rührte sich nichts. Ich scherze nicht, fuhr er fort, diese Nek¬ kereyen sind bei mir übel angewandt. Kein Laut! Keine Bewegung! Entschlossen und unmuthig ging er end¬ lich auf das Bette zu, und riß die Vorhän¬ ge von einander. Stehen Sie auf, sagte er, wenn ich Ihnen nicht das Zimmer diese Nacht überlassen soll. Mit großem Erstaunen fand er sein Bet¬ te leer, die Kissen und Decken in schönster Ruhe. Er sah sich um, suchte nach, suchte alles durch, und fand keine Spur von dem Schalk. Hinter dem Bette, dem Ofen, den Schränken war nichts zu sehen; er suchte ämsiger und ämsiger; ja ein boshafter Zu¬ schauer hätte glauben mögen, er suche um zu finden. Kein Schlaf stellte sich ein; er setzte die Pantoffeln auf seinen Tisch, ging auf und nieder, blieb manchmal bey dem Tische ste¬ hen, und ein schelmischer Genius, der ihn belauschte, will versichern: er habe sich einen großen Theil der Nacht mit den allerlieb¬ sten Stelzchen beschäftigt; er habe sie mit einem gewissen Interesse angesehen, behan¬ delt, damit gespielt, und sich erst gegen Mor¬ gen in seinen Kleidern aufs Bette geworfen, wo er unter den seltsamsten Phantasien einschlummerte. Und wirklich schlief er noch, als Serlo herein trat und rief: wo sind Sie? Noch im Bette? Unmöglich! Ich suchte Sie auf dem Theater, wo noch so mancherley zu thun ist. Eilftes Capitel . V or und Nachmittag verflossen eilig. Das Haus war schon voll und Wilhelm eilte sich anzuziehen. Nicht mit der Behaglichkeit, mit der er die Maske zum erstenmal anpro¬ birte, konnte er sie gegenwärtig anlegen; er zog sich an um fertig zu werden. Als er zu den Frauen ins Versammlungszimmer kam, beriefen sie ihn einstimmig daß nichts recht sitze; der schöne Federbusch sey verscho¬ ben, die Schnalle passe nicht; man fing wie¬ der an aufzutrennen, zu nähen, zusammen zu stecken. Die Symphonie ging an, Phili¬ ne hatte etwas gegen die Krause einzuwen¬ den, Aurelie viel an dem Mantel auszu¬ setzen. Laßt mich, ihr Kinder! rief er, diese Nachlässigkeit wird mich erst recht zum Ham¬ let machen. Die Frauen ließen ihn nicht los und fuhren fort zu putzen. Die Sym¬ phonie hatte aufgehört und das Stück war angegangen. Er besah sich im Spiegel, drückte den Hut tiefer ins Gesicht und er¬ neuerte die Schminke. In diesem Augenblick stürzte jemand her¬ ein und rief: der Geist! der Geist! Wilhelm hatte den ganzen Tag nicht Zeit gehabt, an die Hauptsorge zu denken, ob der Geist auch kommen würde? Nun war sie ganz weggenommen, und man hatte die wunderlichste Gastrolle zu erwarten. Der Theatermeister kam und fragte über dieses und jenes; Wilhelm hatte nicht Zeit sich nach dem Gespenst umzusehen, und eilte nur sich am Throne einzufinden, wo König und Königinn schon von ihrem Hofe umgeben in aller Herrlichkeit glänzten; er hörte nur noch die letzten Worte des Horatio, der über die Erscheinung des Geistes ganz verwirrt sprach, und fast seine Rolle vergessen zu ha¬ ben schien. Der Zwischenvorhang ging in die Höhe und er sah das volle Haus vor sich. Nach¬ dem Horatio seine Rede gehalten und vom Könige abgefertigt war, drängte er sich an Hamlet, und als ob er sich ihm, dem Prin¬ zen präsentire, sagte er: der Teufel steckt in dem Harnische! Er hat uns alle in Furcht gejagt. In der Zwischenzeit sah man nur zwey große Männer in weißen Mänteln und Ca¬ puzen in den Coulissen stehen, und Wilhelm, dem in der Zerstreuung, Unruhe und Verle¬ genheit der erste Monolog, wie er glaubte, mißglückt war, trat, ob ihn gleich ein leb¬ hafter Beyfall beym Abgehen begleitete, in der kalten Winternacht wirklich recht un¬ behaglich auf. Doch nahm er sich zusammen, und sprach die so zweckmäßig angebrachte Stelle, über das Schmausen und Trinken der Nordländer, mit der gehörigen Gleichgültig¬ keit, vergaß, so wie die Zuschauer, darüber des Geistes, und erschrak wirklich, als Ho¬ ratio ausrief: seht her, es kommt! Er fuhr mit Heftigkeit herum, und die edle große Gestalt, der leise, unhörbare Tritt, die leich¬ te Bewegung in der schwer scheinenden Rü¬ stung, machten einen so starken Eindruck auf ihn, daß er wie versteinert da stand, und nur mit halber Stimme: ihr Engel und himmlischen Geister beschützt uns! ausrufen konnte. Er starrte ihn an, hohlte einigemal Athem, und brachte die Anrede an den Geist so verwirrt, zerstückt und gezwungen vor, daß die größte Kunst sie nicht so trefflich hätte ausdrücken können. Seine Übersetzung dieser Stelle kam ihm sehr zu statten. Er hatte sich nahe an das Original gehalten, dessen Wortstellung ihm die Verfassung eines überraschten, erschreck¬ ten, von Entsetzen ergriffenen Gemüths ein¬ zig auszudrücken schien. »Sey du ein guter Geist, sey ein ver¬ dammter Kobold, bringe Düfte des Himmels mit dir oder Dämpfe der Hölle, sey Gutes oder Böses dein Beginnen, du kommst in so einer würdigen Gestalt, ja ich rede mit dir, ich nenne dich Hamlet, König, Vater, o antworte mir!» — Man spürte im Publiko die größte Wir¬ kung. Der Geist winkte, der Prinz folgte ihm unter dem lautesten Beyfall. Das Theater verwandelte sich, und als sie auf den entfernten Platz kamen, hielt der Geist unvermuthet inne und wandte sich um; dadurch kam ihm Hamlet etwas zu nahe zu stehen. Mit Verlangen und Neu¬ gierde sah Wilhelm sogleich zwischen das niedergelassene Visir hinein, konnte aber nur tief¬ tiefliegende Augen neben einer wohlgebilde¬ ten Nase erblicken. Furchtsam ausspähend stand er vor ihm; allein als die ersten Töne aus dem Helme hervordrangen, als eine wohl¬ klingende, nur ein wenig rauhe Stimme sich in den Worten hören ließ: ich bin der Geist deines Vaters, trat Wilhelm einige Schritte schaudernd zurück, und das ganze Publikum schauderte. Die Stimme schien jedermann bekannt, und Wilhelm glaubte eine Ähnlich¬ keit mit der Stimme seines Vaters zu be¬ merken. Diese wunderbaren Empfindungen und Erinnerungen, die Neugierde den selt¬ samen Freund zu entdecken und die Sorge ihn zu beleidigen, selbst die Unschicklichkeit ihm als Schauspieler in dieser Situation zu nahe zu treten, bewegten Wilhelmen nach entgegengesetzten Seiten. Er veränderte während der langen Erzählung des Geistes seine Stellung so oft, schien so unbestimmt W. Meisters Lehrj. 3. H und verlegen, so aufmerksam und so zer¬ streut, daß sein Spiel eine allgemeine Be¬ wunderung, so wie der Geist ein allgemeines Entsetzen erregte. Dieser sprach mehr mit einem tiefen Gefühl des Verdrusses als des Jammers, aber eines geistigen, langsamen und unübersehlichen Verdrusses. Es war der Mißmuth einer großen Seele, die von allem Irdischen getrennt ist, und doch unend¬ lichen Leiden unterliegt. Zuletzt versank der Geist, aber auf eine sonderbare Art: denn ein leichter, grauer, durchsichtiger Flor, der wie ein Dampf aus der Versenkung zu stei¬ gen schien, legte sich über ihn weg und zog sich mit ihm hinunter. Nun kamen Hamlets Freunde zurück und schwuren auf das Schwerdt. Da war der alte Maulwurf so geschäftig unter der Erde, daß er ihnen, wo sie auch stehen moch¬ ten, immer unter den Füßen rief: schwört! und sie, als ob der Boden unter ihnen brennte, schnell von einem Ort zum andern eilten. Auch erschien da, wo sie standen, je¬ desmal eine kleine Flamme aus dem Boden, vermehrte die Wirkung, und hinterließ bey allen Zuschauern den tiefsten Eindruck. Nun ging das Stück unaufhaltsam sei¬ nen Gang fort, nichts mißglückte, alles ge¬ rieth; das Publikum bezeigte seine Zufrie¬ denheit; die Lust und der Muth der Schau¬ spieler schien mit jeder Scene zuzunehmen. H 2 Zwölftes Capitel . D er Vorhang fiel und der lebhafteste Bey¬ fall erscholl aus allen Ecken und Enden. Die vier fürstlichen Leichen sprangen behend in die Höhe und umarmten sich vor Freu¬ den. Polonius und Ophelia kamen auch aus ihren Gräbern hervor und hörten noch mit lebhaftem Vergnügen, wie Horatio, als er zum Ankündigen heraustrat, auf das hef¬ tigste beklatscht wurde. Man wollte ihn zu keiner Anzeige eines andern Stücks lassen, sondern begehrte mit Ungestüm die Wieder¬ holung des heutigen. Nun haben wir gewonnen, rief Serlo, aber auch heute Abend kein vernünftig Wort mehr! Alles kommt auf den ersten Eindruck an. Man soll ja keinem Schauspieler übel neh¬ men, wenn er bei seinen Debüts vorsichtig und eigensinnig ist. Der Cassier kam und überreichte ihm eine schwere Casse. Wir haben gut debütirt, rief er aus, und das Vorurtheil wird uns zu statten kommen. Wo ist denn nun das versprochene Abendessen? Wir dürfen es uns heute schmecken lassen! Sie hatten ausgemacht, daß sie in ihren Theaterkleidern beysammen bleiben und sich selbst ein Fest feyern wollten. Wilhelm hat¬ te unternommen das Lokal, und Madam Melina das Essen zu besorgen. Ein Zimmer, worin man sonst zu mah¬ len pflegte, war aufs beste gesäubert, mit allerley kleinen Dekorationen umstellt und so herausgeputzt worden, daß es halb einem Garten, halb einem Säulengange ähnlich sah. Beym Hereintreten wurde die Gesell¬ schaft von dem Glanz vieler Lichter geblen¬ det, die einen feyerlichen Schein durch den Dampf des süßesten Räucherwerks, das man nicht gespart hatte, über eine wohl geschmück¬ te und bestellte Tafel verbreiteten. Mit Aus¬ rufungen lobte man die Anstalten und nahm wirklich mit Anstand Platz; es schien, als wenn eine königliche Familie im Geisterrei¬ che zusammen käme. Wilhelm saß zwischen Aurelien und Madam Melina; Serlo zwi¬ schen Philinen und Elmiren; niemand war mit sich selbst noch mit seinem Platze unzu¬ frieden. Die beyden Theaterfreunde, die sich gleich¬ falls eingefunden hatten, vermehrten das Glück der Gesellschaft. Sie waren einige¬ mal während der Vorstellung auf die Büh¬ ne gekommen, und konnten nicht genug von ihrer eignen und von des Publikums Zu¬ friedenheit sprechen; nunmehr ging’s aber ans Besondere, jedes ward für seinen Theil reichlich belohnt. Mit einer unglaublichen Lebhaftigkeit ward ein Verdienst nach dem andern, eine Stelle nach der andern herausgehoben. Dem Soufleur, der bescheiden am Ende der Tafel saß, ward ein großes Lob über seinen rau¬ hen Pyrrhus; die Fechtübung Hamlets und Laertes konnte man nicht genug erheben; Opheliens Trauer war über allen Ausdruck schön und erhaben; von Polonius Spiel durfte man gar nicht sprechen; jeder Gegen¬ wärtige hörte sein Lob in dem andern und durch ihn! Aber auch der abwesende Geist nahm sei¬ nen Theil Lob und Bewunderung hinweg. Er hatte die Rolle mit einem sehr glücklichen Organ und in einem großen Sinne gespro¬ chen, und man wunderte sich am meisten, daß er von allem, was bey der Gesellschaft vorgegangen war, unterrichtet schien. Er glich völlig dem gemahlten Bilde als wenn er dem Künstler gestanden hätte, und die Theaterfreunde konnten nicht genug rühmen, wie schauerlich es ausgesehen habe, als er unfern von dem Gemählde hervorgetreten und vor seinem Ebenbilde vorbey geschritten sey. Wahrheit und Irrthum habe sich da¬ bey so sonderbar vermischt, und man habe wirklich sich überzeugt, daß die Königinn die eine Gestalt nicht sehe. Madam Meli¬ na ward bey dieser Gelegenheit sehr gelobt, daß sie bei dieser Stelle in die Höhe nach dem Bilde gestarrt, indeß Hamlet nieder auf den Geist gewiesen. Man erkundigte sich wie das Gespenst habe hereinschleichen können, und erfuhr vom Theatermeister, daß zu einer hintern Thüre, die sonst immer mit Dekorationen verstellt sey, diesen Abend aber, weil man den gothischen Saal gebraucht, frey gewor¬ den, zwey große Figuren in weißen Män¬ teln und Capuzen hereingekommen, die man von einander nicht unterscheiden können, und so seyen sie nach geendigtem dritten Act wahrscheinlich auch wieder hinausgegangen. Serlo lobte besonders an ihm, daß er nicht so schneidermäßig gejammert und sogar am Ende eine Stelle, die einem so großen Helden besser zieme seinen Sohn zu befeuern, angebracht habe. Wilhelm hatte sie im Ge¬ dächtniß behalten und versprach sie ins Ma¬ nuscript nachzutragen. Man hatte in der Freude des Gastmahls nicht bemerkt, daß die Kinder und der Har¬ fenspieler fehlten; bald aber machten sie ei¬ ne sehr angenehme Erscheinung. Denn sie traten zusammen herein, sehr abentheuerlich ausgeputzt; Felix schlug den Triangel, Mig¬ non das Tambourin und der Alte hatte die schwere Harfe umgehangen und spielte sie, indem er sie vor sich trug. Sie zogen um den Tisch und sangen allerley Lieder. Man gab ihnen zu essen und die Gäste glaubten den Kindern eine Wohlthat zu erzeigen, wenn sie ihnen so viel süßen Wein gäben, als sie nur trinken wollten. Denn die Ge¬ sellschaft selbst hatte die köstlichen Flaschen nicht geschont, welche diesen Abend, als ein Geschenk der Theaterfreunde, in einigen Kör¬ ben angekommen waren. Die Kinder spran¬ gen und sangen fort und besonders war Mignon ausgelassen, wie man sie niemals gesehen. Sie schlug das Tambourin mit al¬ ler möglichen Zierlichkeit und Lebhaftigkeit, indem sie bald mit druckendem Finger auf dem Felle schnell hin und her schnurrte, bald mit dem Rücken der Hand bald mit den Knöcheln drauf pochte, ja mit abwechselnden Rhytmen das Pergament bald wider die Kniee bald wider den Kopf schlug, bald schüttelnd die Schellen allein klingen ließ, und so aus dem einfachsten Instrumente gar verschiedene Töne hervorlockte. Nachdem sie lange gelärmt hatten, setzten sie sich in einen Lehnsessel, der gerade Wilhelmen gegenüber am Tische leer geblieben war. Bleibt von dem Sessel weg! rief Serlo, er steht vermuthlich für den Geist da; wenn er kommt, kanns euch übel gehen. Ich fürchte ihn nicht, rief Mignon; kommt er, so stehen wir auf. Es ist mein Oheim, er thut mir nichts zu leide. Diese Rede verstand niemand, als wer wußte, daß sie ihren vermeintlichen Vater den großen Teufel genannt hatte. Die Gesellschaft sah einander an, und ward noch mehr in dem Verdacht bestärkt, daß Serlo um die Erscheinung des Geistes wisse. Man schwatzte und trank und die Mädchen sahen von Zeit zu Zeit furchtsam nach der Thüre. Die Kinder, die in dem großen Sessel sitzend nur wie Pulcinellpuppen aus dem Ka¬ sten über den Tisch hervorragten, fingen an, auf diese Weise ein Stück aufzuführen. Mignon machte den schnarrenden Ton sehr artig nach, und sie stießen zuletzt die Köpfe dergestalt zusammen und auf die Tischkante, wie es eigentlich nur Holzpuppen aushalten können. Mignon ward bis zur Wuth lu¬ stig, und die Gesellschaft, so sehr sie Anfangs über den Scherz gelacht hatte, mußte zuletzt Einhalt thun. Aber wenig half das Zure¬ den, denn nun sprang sie auf und raste, die Schellentrommel in der Hand, um den Tisch herum. Ihre Haare flogen, und in¬ dem sie den Kopf zurück und alle ihre Glie¬ der gleichsam in die Luft warf, schien sie ei¬ ner Mänade ähnlich, deren wilde und bey¬ nah unmögliche Stellungen uns auf alten Monumenten noch oft in Erstaunen setzen. Durch das Talent der Kinder und ihren Lärm aufgereizt, suchte jedermann zur Un¬ terhaltung der Gesellschaft etwas beyzutra¬ gen. Die Frauenzimmer sangen einige Ka¬ nons, Laertes ließ eine Nachtigall hören, und der Pedant gab ein Concert pianissimo auf der Maultrommel. Indessen spielten die Nachbarn und Nachbarinnen allerley Spiele, wobey sich die Hände begegnen und vermischen, und es fehlte manchem Paare nicht am Ausdruck einer hoffnungsvollen Zärtlichkeit. Madam Melina besonders schien eine lebhafte Neigung zu Wilhelmen nicht zu verhehlen. Es war spät in der Nacht, und Aurelie, die fast allein noch Herrschaft über sich behalten hatte, ermahn¬ te die übrigen, indem sie aufstand, auseinan¬ der zu gehen. Serlo gab noch zum Abschied ein Feuer¬ werk, indem er mit dem Munde, auf eine fast unbegreifliche Weise, den Ton der Ra¬ keten, Schwärmer und Feuerräder nachzuah¬ men wußte. Man durfte die Augen nur zumachen, so war die Täuschung vollkom¬ men. Indessen war jedermann aufgestanden, und man reichte den Frauenzimmern den Arm sie nach Hause zu führen. Wilhelm ging zuletzt mit Aurelien. Auf der Treppe begegnete ihnen der Theatermeister, und sag¬ te: hier ist der Schleyer, worin der Geist verschwand. Er ist an der Versenkung hän¬ gen geblieben und wir haben ihn eben ge¬ funden. Eine wunderbare Reliquie! rief Wilhelm, und nahm ihn ab. In dem Augenblicke fühlte er sich am linken Arme ergriffen und zugleich einen sehr heftigen Schmerz. Mignon hatte sich versteckt gehabt, hatte ihn angefaßt und ihn in den Arm gebissen. Sie fuhr an ihm die Treppe hinunter und verschwand. Als die Gesellschaft in die freye Luft kam, merkte fast jedes, daß man für diesen Abend des Guten zu viel genossen hatte. Ohne Abschied zu nehmen verlor man sich auseinander. Wilhelm hatte kaum seine Stube er¬ reicht, als er seine Kleider abwarf und nach ausgelöschtem Licht ins Bette eilte. Der Schlaf wollte sogleich sich seiner bemeistern, allein ein Geräusch das in seiner Stube hin¬ ter dem Ofen zu entstehen schien, machte ihn aufmerksam. Eben schwebte vor seiner erhitzten Phantasie das Bild des geharnisch¬ ten Königs; er richtete sich auf, das Gespenst anzureden, als er sich von zarten Armen um¬ schlungen, seinen Mund mit lebhaften Küssen verschlossen, und eine Brust an der seinigen fühlte, die er wegzustoßen nicht Muth hatte. Dreizehntes Capitel . W ilhelm fuhr des andern Morgens mit ei¬ ner unbehaglichen Empfindung in die Höhe, und fand sein Bette leer. Von dem nicht völlig ausgeschlafenen Rausche war ihm der Kopf düster, und die Erinnerung an den un¬ bekannten nächtlichen Besuch machte ihn un¬ ruhig. Sein erster Verdacht fiel auf Phili¬ linen, und doch schien der liebliche Körper, den er in seine Arme geschlossen hatte, nicht der ihrige gewesen zu seyn. Unter lebhaften Liebkosungen war unser Freund an der Sei¬ te dieses seltsamen, stummen Besuches einge¬ schlafen und nun war weiter keine Spur mehr davon zu entdecken. Er sprang auf, und indem er sich anzog fand er seine Thü¬ re, die er sonst zu verriegeln pflegte, nur angelehnt, und wußte sich nicht zu erin¬ nern, nern, ob er sie gestern Abend zugeschlossen hatte. Am wunderbarsten aber erschien ihm der Schleyer des Geistes, den er auf seinem Bette fand. Er hatte ihn mit herauf gebracht und wahrscheinlich selbst dahin geworfen. Es war ein grauer Flor, an dessen Saum er eine Schrift mit schwarzen Buchstaben ge¬ stickt sah. Er entfaltete sie und las die Worte: Zum ersten und letztenmal ! Flieh ! Jüngling , flieh ! Er war be¬ troffen und wußte nicht was er sagen sollte. In eben dem Augenblick trat Mignon herein und brachte ihm das Frühstück. Wil¬ helm erstaunte über den Anblick des Kindes, ja man kann sagen er erschrack. Sie schien diese Nacht größer geworden zu seyn; sie trat mit einem hohen edlen Anstand vor ihn hin und sah ihm sehr ernsthaft in die Au¬ gen, so daß er den Blick nicht ertragen W. Meisters Lehrj. 3. I konnte. Sie rührte ihn nicht an wie sonst, da sie gewöhnlich ihm die Hand drückte, sei¬ ne Wange, seinen Mund, seinen Arm, oder seine Schulter küßte, sondern ging, nachdem sie seine Sachen in Ordnung gebracht, still¬ schweigend wieder fort. Die Zeit einer angesetzten Leseprobe kam nun herbey, man versammelte sich und alle waren durch das gestrige Fest verstimmt. Wilhelm nahm sich zusammen so gut er konnte, um nicht gleich anfangs gegen seine so lebhaft gepredigten Grundsätze zu versto¬ ßen. Seine große Übung half ihm durch; denn Übung und Gewohnheit müssen in je¬ der Kunst die Lücken ausfüllen, welche Genie und Laune so oft lassen würden. Eigentlich aber konnte man bey dieser Gelegenheit die Bemerkung recht wahr fin¬ den, daß man keinen Zustand, der länger dauern, ja der eigentlich ein Beruf, eine Le¬ bensweise werden soll, mit einer Feyerlichkeit anfangen dürfe. Man feyre nur was glück¬ lich vollendet ist, alle Zeremonien zum An¬ fange erschöpfen Lust und Kräfte, die das Streben hervor bringen und uns bey einer fortgesetzten Mühe beystehen sollen. Unter allen Festen ist das Hochzeitfest das unschick¬ lichste; keines sollte mehr in Stille, Demuth und Hoffnung begangen werden als dieses. So schlich der Tag nun weiter, und Wil¬ helmen war noch keiner jemals so alltäglich vorgekommen. Statt der gewöhnlichen Un¬ terhaltung Abends fing man zu gähnen an; das Interesse an Hamlet war erschöpft und man fand eher unbequem daß er des folgen¬ den Tages zum zweytenmal vorgestellt wer¬ den sollte. Wilhelm zeigte den Schleyer des Geistes vor, man mußte daraus schließen, daß er nicht wieder kommen würde. Serlo war besonders dieser Meynung; er schien I 2 mit den Rathschlägen der wunderbaren Ge¬ stalt sehr vertraut zu seyn; dagegen ließen sich aber die Worte: Flieh Jüngling, flieh! nicht erklären. Wie konnte Serlo mit je¬ manden einstimmen, der den vorzüglichsten Schauspieler seiner Gesellschaft zu entfernen die Absicht zu haben schien. Nothwendig war es nunmehr, die Rolle des Geistes dem Polterer und die Rolle des Königs dem Pedanten zu geben. Beyde er¬ klärten, daß sie schon einstudirt seyen, und es war kein Wunder, denn bey den vielen Proben und der weitläuftigen Behandlung dieses Stücks waren alle so damit bekannt geworden, daß sie sämmtlich gar leicht mit den Rollen hätten wechseln können. Doch probirte man einiges in der Geschwindigkeit und als man spät genug auseinander ging, flüsterte Philine beym Abschiede Wilhelmen leise zu: Ich muß meine Pantoffeln holen, du schiebst doch den Riegel nicht vor? Diese Worte setzten ihn als er auf seine Stube kam, in ziemliche Verlegenheit; denn die Vermuthung, daß der Gast der vorigen Nacht Philine gewesen, ward dadurch be¬ stärkt, und wir sind auch genöthigt uns zu dieser Meynung zu schlagen, besonders da wir die Ursachen, welche ihn hierüber zwei¬ felhaft machten und ihm einen andern son¬ derbaren Argwohn einflößen mußten, nicht entdecken können. Er ging unruhig einige¬ mal in seinem Zimmer auf und ab, und hatte wirklich den Riegel noch nicht vorgeschoben. Auf einmal stürzte Mignon in das Zim¬ mer, faßte ihn an und rief: Meister! rette das Haus! es brennt! Wilhelm sprang vor die Thüre und ein gewaltiger Rauch drängte sich die obere Treppe herunter ihm entgegen. Auf der Gasse hörte man schon das Feuer¬ geschrey, und der Harfenspieler kam, sein In¬ strument in der Hand, durch den Rauch athemlos die Treppe herunter. Aurelie stürzte aus ihrem Zimmer und warf den kleinen Felix in Wilhelms Arme. Retten Sie das Kind! rief sie, wir wol¬ len nach dem übrigen greifen. Wilhelm, der die Gefahr nicht für so groß hielt, gedachte zuerst nach dem Ursprun¬ ge des Brandes hinzudringen, um ihn viel¬ leicht noch im Anfange zu ersticken. Er gab dem Alten das Kind, und befahl ihm die steinerne Wendeltreppe hinunter, die durch ein klei¬ nes Gartengewölbe in den Garten führte, zu eilen, und mit den Kindern im Freyen zu bleiben. Mignon nahm ein Licht ihm zu leuchten. Wilhelm bat darauf Aurelien ihre Sachen auf eben diesem Wege zu retten. Er selbst drang durch den Rauch hinauf; allein vergebens setzte er sich der Gefahr aus. Die Flamme schien von dem benachbarten Hause herüber zu dringen und hatte schon das Holz¬ werk des Bodens und eine leichte Treppe ge¬ faßt; andre die zur Rettung herbey eilten, litten wie er, von Qualm und Feuer. Doch sprach er ihnen Muth ein und rief nach Wasser; er beschwor sie, der Flamme nur Schritt vor Schritt zu weichen, und versprach bey ihnen zu bleiben. In diesem Augenblick sprang Mignon herauf und rief: Meister! rette deinen Felix! der Alte ist rasend! der Alte bringt ihn um! Wilhelm sprang ohne sich zu besinnen die Treppe hinab und Mig¬ non folgte ihm an den Fersen. Auf den letzten Stufen die ins Gartenge¬ wölbe führten, blieb er mit Entsetzen stehen. Große Bündel Stroh und Reisholz, die man daselbst aufgehäuft hatte, brannten mit hel¬ ler Flamme; Felix lag am Boden und schrie; der Alte stand mit niedergesenktem Haupte seitwärts an der Wand. Was machst du Unglücklicher? rief Wilhelm. Der Alte schwieg, Mignon hatte den Felix aufgeho¬ ben, und schleppte mit Mühe den Knaben in den Garten, indeß Wilhelm das Feuer aus¬ einander zu zerren und zu dämpfen strebte, aber nur dadurch die Gewalt und Lebhaftig¬ keit der Flamme vermehrte. Endlich mußte er mit verbrannten Augenwimpern und Haa¬ ren auch in den Garten fliehen, indem er den Alten mit durch die Flamme riß, der ihm mit versengtem Barte unwillig folgte. Wilhelm eilte sogleich die Kinder im Gar¬ ten zu suchen. Auf der Schwelle eines ent¬ fernten Lusthäuschens fand er sie, und Mig¬ non that ihr möglichstes den Kleinen zu be¬ ruhigen. Wilhelm nahm ihn auf den Schoos, fragte ihn, befühlte ihn und konnte nichts zusammenhängendes aus beyden Kindern her¬ ausbringen. Indessen hatte das Feuer gewaltsam meh¬ rere Häuser ergriffen und erhellte die ganze Gegend. Wilhelm besah das Kind beym ro¬ then Schein der Flamme; er konnte keine Wunde, kein Blut, ja keine Beule wahrneh¬ men. Er betastete es überall, es gab kein Zeichen von Schmerz von sich, es beruhigte sich vielmehr nach und nach und fing an sich über die Flamme zu verwundern, ja sich über die schönen, der Ordnung nach, wie eine Il¬ lumination, brennenden Sparren und Gebälke zu erfreuen. Wilhelm dachte nicht an die Kleider und was er sonst verlohren haben konnte, er fühlte stark wie werth ihm diese beyde mensch¬ liche Geschöpfe seyen, die er einer so großen Gefahr entronnen sah. Er drückte den Klei¬ nen mit einer ganz neuen Empfindung an sein Herz, und wollte auch Mignon mit freu¬ diger Zärtlichkeit umarmen, die es aber sanft ablehnte, ihn bey der Hand nahm und sie fest hielt. Meister, sagte sie (noch niemals, als die¬ sen Abend, hatte sie ihm diesen Nahmen ge¬ geben, denn Anfangs pflegte sie ihn Herr, und nachher Vater zu nennen.) Meister! wir sind einer großen Gefahr entronnen, dein Fe¬ lix war am Tode. Durch viele Fragen erfuhr endlich Wil¬ helm, daß der Harfenspieler, als sie in das Gewölbe gekommen, ihr das Licht aus der Hand gerissen und das Stroh sogleich ange¬ zündet habe. Darauf habe er den Felix nie¬ dergesetzt, mit wunderlichen Geberden die Hände auf des Kindes Kopf gelegt und ein Messer gezogen, als wenn er ihn opfern wolle. Sie sey zugesprungen und habe ihm das Messer aus der Hand gerissen; sie habe ge¬ schrien, und einer vom Hause, der einige Sa¬ chen nach dem Garten zu gerettet, sey ihr zu Hülfe gekommen, der müsse aber, in der Verwirrung wieder weggegangen seyn, und den Alten und das Kind allein gelassen haben. Zwey bis drey Häuser standen in vollen Flammen. In den Garten hatte sich nie¬ mand retten können, wegen des Brandes im Gartengewölbe. Wilhelm war verlegen we¬ gen seiner Freunde, weniger wegen seiner Sa¬ chen. Er getraute sich nicht die Kinder zu verlassen, und sah das Unglück sich immer vergrößern. Er brachte einige Stunden in einer bäng¬ lichen Lage zu. Felix war auf seinem Schoo¬ ße eingeschlafen, Mignon lag neben ihm und hielt seine Hand fest. Endlich hatten die getroffenen Anstalten dem Feuer Einhalt ge¬ than. Die ausgebrannten Gebäude stürzten zusammen, der Morgen kam herbey, die Kin¬ der fingen an zu frieren und ihm selbst ward in seiner leichten Kleidung der fallende Thau fast unerträglich. Er führte sie zu den Trüm¬ mern des zusammen gestürzten Gebäudes, und sie fanden neben einen Kohlen- und Aschenhaufen eine sehr behagliche Wärme. Der anbrechende Tag brachte nun alle Freunde und Bekannte nach und nach zu¬ sammen. Jedermann hatte sich gerettet, nie¬ mand hatte viel verloren. Wilhelms Koffer fand sich auch wieder und Serlo trieb, als es gegen zehn Uhr ging, zur Probe von Hamlet, wenigstens einiger Scenen, die mit neuen Schauspielern besetzt waren. Er hatte darauf noch einige Debat¬ ten mit der Polizey. Die Geistlichkeit ver¬ langte: daß nach einem solchen Strafgerichte Gottes das Schauspielhaus geschlossen blei¬ ben sollte, und Serlo behauptete: daß theils zum Ersatz dessen, was er diese Nacht ver¬ lohren, theils zur Aufheiterung der erschreck¬ ten Gemüther, die Aufführung eines interes¬ santen Stückes mehr als jemals am Platz sey. Diese letzte Meynung drang durch und das Haus war gefüllt. Die Schauspieler spielten mit seltenem Feuer und mit mehr leidenschaftlicher Freyheit als das erstemal. Die Zuschauer, deren Gefühl durch die schreck¬ liche nächtliche Scene erhöht, und durch die Langeweile eines zerstreuten und verdorbenen Tages noch mehr auf eine interessante Un¬ terhaltung gespannt war, hatten mehr Em¬ pfänglichkeit für das Außerordentliche. Der größte Theil waren neue, durch den Ruf des Stücks herbeygezogene Zuschauer, die keine Vergleichung mit dem ersten Abend anstellen konnten. Der Polterer spielte ganz im Sin¬ ne des unbekannten Geistes, und der Pedant hatte seinem Vorgänger gleichfalls gut auf¬ gepaßt, darneben kam ihm seine Erbärmlich¬ keit sehr zu statten, daß ihm Hamlet wirk¬ lich nicht Unrecht that, wenn er ihn, trotz seines Purpurmantels und Hermelinkragens, einen zusammen geflickten Lumpen-König schalt. Sonderbarer als er war vielleicht niemand zum Throne gelangt, und obgleich die Übri¬ gen, besonders aber Philine, sich über seine neue Würde äußerst lustig machten, so ließ er doch merken, daß der Graf, als ein gro¬ ßer Kenner, das und noch viel mehr von ihm beym ersten Anblick voraus gesagt habe; da¬ gegen ermahnte ihn Philine zur Demuth und versicherte: sie werde ihm gelegentlich die Rockermel pudern, damit er sich jener un¬ glücklichen Nacht im Schlosse erinnern, und die Krone mit Bescheidenheit tragen möge. Vierzehntes Capitel . M an hatte sich in der Geschwindigkeit nach Quartieren umgesehen, und die Gesellschaft war dadurch sehr zerstreut worden. Wilhelm hatte das Lusthaus in dem Garten, bey dem er die Nacht zugebracht, liebgewonnen; er erhielt leicht die Schlüssel dazu und richtete sich daselbst ein; da aber Aurelie in ihrer neuen Wohnung sehr eng war, mußte er den Felix bey sich behalten und Mignon wollte den Knaben nicht verlassen. Die Kinder hatten ein artiges Zimmer in dem ersten Stock eingenommen, Wilhelm hatte sich in dem untern Saale eingerichtet. Die Kinder schliefen, aber er konnte keine Ruhe finden. Neben dem anmuthigen Garten, den der eben aufgegangene Vollmond herrlich erleuch¬ tete, standen die traurigen Ruinen, von de¬ nen hier und da noch Dampf aufstieg, die Luft war angenehm und die Nacht außeror¬ dentlich schön! Philine hatte, beym Heraus¬ gehen aus dem Theater, ihn mit dem Ellen¬ bogen angestrichen und ihm einige Worte zu¬ gelispelt, die er aber nicht verstanden hatte. Er war verwirrt und verdrießlich, und wußte nicht was er erwarten oder thun sollte. Phi¬ line hatte ihn einige Tage gemieden und ihm nur diesen Abend wieder ein Zeichen gegeben. Leider war nun die Thüre verbrannt, die er nicht zuschließen sollte, und die Pantöffelchen waren im Rauch aufgegangen. Wie die Schöne in den Garten kommen wollte, wenn es ihre Absicht war, wußte er nicht. Er wünschte sie nicht zu sehen, und doch hätte er sich gar zu gern mit ihr erklären mögen. Was ihm aber noch schwerer auf dem Herzen lag, war das Schicksal des Harfen¬ spielers, spielers, den man nicht wieder gesehen hatte. Wilhelm fürchtete, man würde ihm beym Auf¬ räumen todt unter dem Schutte finden. Wil¬ helm hatte gegen jedermann den Verdacht verborgen den er hegte, daß der Alte Schuld an dem Brande sey. Denn er kam ihm zu¬ erst von dem brennenden und rauchenden Bo¬ den entgegen, und die Verzweiflung im Gar¬ tengewölbe schien die Folge einer solchen un¬ glücklichen Ereigniß zu seyn. Doch ward es bey der Untersuchung, welche die Polizey so¬ gleich anstellte, wahrscheinlich geworden, daß nicht in dem Hause wo sie wohnten, sondern in dem dritten davon der Brand entstanden sey, der sich auch sogleich unter den Dächern weggeschlichen hatte. Wilhelm überlegte das alles in einer Laube sitzend, als er in einem nahen Gange jeman¬ den schleichen hörte. An dem traurigen Ge¬ sange, der sogleich angestimmt ward, erkannte W. Meisters Lehrj. 3. K er den Harfenspieler. Das Lied, das er sehr wohl verstehen konnte, enthielt den Trost ei¬ nes Unglücklichen, der sich dem Wahnsinne ganz nahe fühlt. Leider hat Wilhelm davon nur die letzte Strophe behalten. An die Thüren will ich schleichen, Still und sittsam will ich stehn, Frommer Hand wird Nahrung reichen Und ich werde weiter gehn. Jeder wird sich glücklich scheinen Wenn mein Bild vor ihm erscheint, Eine Thräne wird er weinen, Und ich weiß nicht was er weint. Unter diesen Worten war er an die Gar¬ tenthüre gekommen, die nach einer entlege¬ nen Straße ging; er wollte, da er sie ver¬ schlossen fand, an den Spaliren übersteigen; allein Wilhelm hielt ihn zurück und redete ihm freundlich an. Der Alte bat ihn auf¬ zuschließen, weil er fliehen wolle und müsse. Wilhelm stellte ihm vor: daß er wohl aus dem Garten aber nicht aus der Stadt könne, und zeigte ihm, wie sehr er sich durch einen solchen Schritt verdächtig mache; allein ver¬ gebens! Der Alte bestand auf seinem Sinne. Wilhelm gab nicht nach und drängte ihn endlich halb mit Gewalt ins Gartenhaus, schloß sich daselbst mit ihm ein und führte ein wunderbares Gespräch mit ihm, das wir aber, um unsere Leser nicht mit unzusammen¬ hängenden Ideen und bänglichen Empfin¬ dungen zu quälen, lieber verschweigen als ausführlich mittheilen. K 2 Fnnfzehntes Capitel . A us der großen Verlegenheit, worin sich Wil¬ helm befand, was er mit dem unglücklichen Alten beginnen sollte, der so deutliche Spu¬ ren des Wahnsinns zeigte, riß ihn Laertes noch am selbigen Morgen. Dieser, der nach seiner alten Gewohnheit überall zu seyn pflegte, hatte auf dem Kaffehaus einen Mann gesehen, der vor einiger Zeit die heftigsten Anfälle von Melancholie erduldete. Man hatte ihn einem Landgeistlichen anvertraut, der sich ein besonderes Geschäft daraus machte dergleichen Leute zu behandeln. Auch dies¬ mal war es ihm gelungen; noch war er in der Stadt und die Familie des Wiederher¬ gestellten erzeigte ihm große Ehre. Wilhelm eilte sogleich den Mann aufzu¬ suchen, vertraute ihm den Fall und ward mit ihm einig. Man wußte unter gewissen Vorwänden ihm den Alten zu übergeben. Die Scheidung schmerzte Wilhelmen tief, und nur die Hoffnung, ihn wiederhergestellt zu sehen, konnte sie ihm einigermaßen erträglich machen, so sehr war er gewohnt den Mann um sich zu sehen und seine geistreichen und herzlichen Töne zu vernehmen. Die Harfe war mit verbrannt; man suchte eine andere, die man ihm auf die Reise mitgab. Auch hatte das Feuer die kleine Garde¬ robe Mignons verzehrt, und als man ihr wieder etwas neues schaffen wollte, that Au¬ relie den Vorschlag, daß man sie doch end¬ lich als Mädchen kleiden sollte. Nun gar nicht! rief Mignon aus und bestand mit großer Lebhaftigkeit auf ihrer alten Tracht, worin man ihr denn auch will¬ fahren mußte. Die Gesellschaft hatte nicht viel Zeit, sich zu besinnen; die Vorstellungen gingen ih¬ ren Gang. Wilhelm horchte oft ins Publikum, und nur selten kam ihm eine Stimme entgegen, wie er sie zu hören wünschte, ja öfters ver¬ nahm er was ihn betrübte oder verdroß. So erzählte zum Beyspiel, gleich nach der er¬ sten Aufführung Hamlets, ein junger Mensch mit großer Lebhaftigkeit, wie zufrieden er an jenem Abend im Schauspielhause gewesen. Wilhelm lauschte und hörte, zu seiner gro¬ ßen Beschämung, daß der junge Mann zum Verdruß seiner Hintermänner, den Huth auf¬ behalten und ihn hartnäckig das ganze Stück hindurch nicht abgethan hatte, welcher Hel¬ denthat er sich mit dem größten Vergnügen erinnerte. Ein anderer versicherte: Wilhelm habe die Rolle des Laertes sehr gut gespielt, hin¬ gegen mit dem Schauspieler, der den Hamlet unternommen, könne man nicht eben so zu¬ frieden seyn. Diese Verwechslung war nicht ganz unnatürlich, denn Wilhelm und Laer¬ tes glichen sich, wiewohl in einem sehr ent¬ fernten Sinne. Ein dritter lobte sein Spiel, besonders in der Scene mit der Mutter aufs lebhafteste, und bedauerte nur: daß eben in diesem feu¬ rigen Augenblick ein weißes Band unter der Weste hervorgesehen habe, wodurch die Illu¬ sion äußerst gestöhrt worden sey. In dem Innern der Gesellschaft gingen indessen allerley Veränderungen vor. Phili¬ ne hatte seit jenem Abend nach dem Brande Wilhelmen auch nicht das geringste Zeichen einer Annäherung gegeben. Sie hatte, wie es schien vorsetzlich, ein entfernteres Quartier gemiethet, vertrug sich mit Elmiren und kam seltener zu Serlo, womit Aurelie wohl zu¬ frieden war. Serlo, der ihr immer gewogen blieb, besuchte sie manchmal, besonders da er Elmiren bey ihr zu finden hoffte, und nahm eines Abends Wilhelmen mit sich. Beyde waren im hereintreten sehr verwundert, als sie Philinen in dem zweyten Zimmer, in den Armen eines jungen Officiers sahen, der eine rothe Uniform und weiße Unterkleider an hatte, dessen abgewendetes Gesicht sie aber nicht sehen konnten. Philine kam ihren be¬ suchenden Freunden in das Vorzimmer ent¬ gegen und verschloß das andre. Sie über¬ raschen mich bey einem wunderbaren Aben¬ theuer! rief sie aus. So wunderbar ist es nicht, sagte Serlo: lassen Sie uns den hübschen, jungen, benei¬ denswerthen Freund sehen; Sie haben uns ohnedem schon so zugestutzt, daß wir nicht eifersüchtig seyn dürfen. Ich muß Ihnen diesen Verdacht noch ei¬ ne Zeitlang lassen, sagte Philine scherzend; doch kann ich Sie versichern, daß es nur eine gute Freundin ist, die sich einige Tage unbekannt bey mir aufhalten will. Sie sol¬ len ihre Schicksale künftig erfahren, ja viel¬ leicht das interessante Mädchen selbst kennen lernen, und ich werde wahrscheinlich alsdann Ursache haben, meine Bescheidenheit und Nachsicht zu üben, denn ich fürchte, die Her¬ ren werden über ihre neue Bekanntschaft ihre alte Freundin vergessen. Wilhelm stand versteinert da; denn gleich beym ersten Anblick hatte ihn die rothe Uni¬ form an den so sehr geliebten Rock Maria¬ nens erinnert; es war ihre Gestalt, es wa¬ ren ihre blonden Haare, nur schien ihm der gegenwärtige Officier etwas größer zu seyn. Um des Himmels Willen! rief er aus, lassen Sie uns mehr von Ihrer Freundin wissen, lassen Sie uns das verkleidete Mäd¬ chen sehen. Wir sind nun einmal Theilneh¬ mer des Geheimnisses; wir wollen verspre¬ chen, wir wollen schwören, aber lassen Sie uns das Mädchen sehen! O wie er in Feuer ist! rief Philine, nur gelassen, nur geduldig, heute wird einmal nichts draus. So lassen Sie uns nur ihren Nahmen wissen! rief Wilhelm. Das wäre alsdann ein schönes Geheim¬ niß, versetzte Philine. Wenigstens nur den Vornahmen. Wenn Sie ihn rathen, meinetwegen. Dreymal dürfen Sie rathen, aber nicht öf¬ ter; Sie könnten mich sonst durch den gan¬ zen Kalender durchführen. Gut, sagte Wilhelm: Cecilie also? Nichts von Cecilien! Henriette? Keineswegs! Nehmen Sie sich in Acht! Ihre Neugierde wird ausschlafen müssen. Wilhelm zauderte und zitterte; er wollte seinen Mund aufthun, aber die Sprache versagte ihm. Mariane? stammelte er end¬ lich, Mariane! Bravo! rief Philine, getroffen! indem sie sich nach ihrer Gewohnheit auf dem Ab¬ satze herum drehte. Wilhelm konnte kein Wort hervorbrin¬ gen, und Serlo, der seine Gemüthsbewe¬ gung nicht bemerkte, fuhr fort in Phili¬ nen zu dringen, daß sie die Thüre öffnen sollte. Wie verwundert waren daher beyde, als Wilhelm auf einmal heftig ihre Neckerey un¬ terbrach, sich Philinen zu Füßen warf und sie mit dem lebhaftesten Ausdrucke der Lei¬ denschaft bat und beschwor. Lassen Sie mich das Mädchen sehen, rief er aus, sie ist mein, es ist meine Mariane! Sie, nach der ich mich alle Tage meines Lebens gesehnt habe, sie, die mir noch immer statt aller andern Weiber in der Welt ist! Gehen Sie wenig¬ stens zu ihr hinein, sagen Sie ihr daß ich hier bin, daß der Mensch hier ist, der seine erste Liebe und das ganze Glück seiner Ju¬ gend an sie knüpfte. Er will sich rechtferti¬ gen, daß er sie unfreundlich verließ, er will sie um Verzeihung bitten, er will ihr verge¬ ben, was sie auch gegen ihm gefehlt haben mag, er will sogar keine Ansprüche an sie mehr machen, wenn er sie nur noch einmal sehen kann, wenn er nur sehen kann daß sie lebt und glücklich ist! Philine schüttelte den Kopf und sagte: mein Freund, reden Sie leise! Betrügen wir uns nicht! und ist das Frauenzimmer wirklich Ihre Freundin, so müssen wir sie schonen, denn sie vermuthet keinesweges Sie hier zu sehen. Ganz andere Angelegenhei¬ ten führen sie hierher, und das wissen Sie doch, man mögte oft lieber ein Gespenst als einen alten Liebhaber zur unrechten Zeit vor Augen sehen. Ich will sie fragen, ich will sie vorbereiten und wir wollen überlegen, was zu thun ist. Ich schreibe Ihnen mor¬ gen ein Billet, zu welcher Stunde Sie kom¬ men sollen, oder ob Sie kommen dürfen; ge¬ horchen Sie mir pünktlich, denn ich schwöre, niemand soll gegen meinen und meiner Freun¬ din Willen dieses liebenswürdige Geschöpf mit Augen sehen. Meine Thüren werde ich besser verschlossen halten, und mit Axt und Beil werden Sie mich nicht besuchen wollen. Wilhelm beschwor sie, Serlo redete ihr zu, vergebens! beyde Freunde mußten zu¬ letzt nachgeben, das Zimmer und das Haus räumen. Welche unruhige Nacht Wilhelm zubrachte, wird sich jedermann denken. Wie langsam die Stunden des Tages dahinzogen, in de¬ nen er Philinens Billet erwartete, läßt sich begreifen. Unglücklicherweise mußte er selbi¬ gen Abend spielen; er hatte niemals eine größere Pein ausgestanden. Nach geendig¬ tem Stücke eilte er zu Philinen, ohne nur zu fragen, ob er eingeladen worden. Er fand ihre Thüre verschlossen und die Hausleute sagten: Mademoiselle sey heute früh mit ei¬ nem jungen Officier weggefahren; sie habe zwar gesagt, daß sie in einigen Tagen wie¬ derkomme, man glaube es aber nicht, weil sie alles bezahlt und ihre Sachen mitgenom¬ men habe. Wilhelm war außer sich über diese Nach¬ richt. Er eilte zu Laertes, und schlug ihm vor, ihr nachzusetzen, und, es koste was es wolle, über ihren Begleiter Gewißheit zu er¬ langen. Laertes dagegen verwies seinem Freunde seine Leidenschaft und Leichtgläubig¬ keit. Ich will wetten, sagte er, es ist nie¬ mand anders als Friedrich. Der Junge ist von gutem Hause, ich weiß es recht wohl; er ist unsinnig in das Mädchen verliebt, und hat wahrscheinlich seinen Verwandten so viel Geld abgelockt, daß er wieder eine Zeitlang mit ihr leben kann. Durch diese Einwendungen ward Wilhelm nicht überzeugt, doch zweifelhaft. Laertes stellte ihm vor, wie unwahrscheinlich das Mährchen sey, das Philine ihnen vorgespie¬ gelt hatte, wie Figur und Haar sehr gut auf Friedrichen passe, wie sie bey zwölf Stunden Vorsprung so leicht nicht einzuholen seyn würden, und hauptsächlich wie Serlo keinen von ihnen beyden beym Schauspiele entbeh¬ ren könne. Durch alle diese Gründe wurde Wilhelm endlich nur so weit gebracht, daß er Verzicht darauf that, selbst nachzusetzen. Laertes wu߬ te noch in selbiger Nacht einen tüchtigen Mann zu schaffen, dem man den Auftrag ge¬ ben konnte. Es war ein gesetzter Mann, der mehreren Herrschaften auf Reisen als Ku¬ rier und Führer gedient hatte, und eben jetzt ohne Beschäftigung stille lag. Man gab ihm Geld, man unterrichtete ihn von der ganzen Sache, mit dem Auftrage, daß er die Flücht¬ linge aufsuchen und einhohlen, sie alsdenn nicht aus den Augen lassen und die Freunde sogleich wo und wie er sie fände benachrich¬ tigen solle. Er setzte sich in derselbigen Stunde zu Pferde und ritt dem zweydeutigen Paare nach, und Wilhelm war durch diese Anstalt wenigstens einigermaßeu beruhigt. Sech¬ Sechzehntes Capitel . D ie Entfernung Philinens machte keine auf¬ fallende Sensation weder auf dem Theater noch im Publiko. Es war ihr mit allem we¬ nig Ernst; die Frauen haßten sie durchgän¬ gig, und die Männer hätten sie lieber unter vier Augen als auf dem Theater gesehen, und so war ihr schönes, und für die Bühne selbst glückliches Talent verlohren. Die übri¬ gen Glieder der Gesellschaft gaben sich desto mehr Mühe; Madam Melina besonders that sich durch Fleiß und Aufmerksamkeit sehr her¬ vor. Sie merkte, wie sonst, Wilhelmen seine Grundsätze ab, richtete sich nach seiner Theo¬ rie und seinem Beyspiel, und hatte zeither ein ich weiß nicht was in ihren Wesen, das sie interessanter machte. Sie erlangte bald ein richtiges Spiel und gewann den natür¬ W. Meisters Lehrj. 3. L lichen Ton der Unterhaltung vollkommen, und den der Empfindung bis auf einen gewis¬ sen Grad. Sie wußte sich in Serlos Launen zu schicken und befliß sich des Singens ihm zu gefallen, worin sie auch bald so weit kam, als man dessen zur geselligen Unterhaltung bedarf. Durch einige neu angenommene Schau¬ spieler war die Gesellschaft noch vollständi¬ ger, und indem Wilhelm und Serlo jeder in seiner Art wirkte, jener bey jedem Stücke auf den Sinn und Ton des Ganzen drang, dieser die einzelnen Theile gewissenhaft durch¬ arbeitete; belebte ein lobenswürdiger Eifer auch die Schauspieler, und das Publikum nahm an ihnen einen lebhaften Antheil. Wir sind auf einem guten Wege, sagte Serlo einst, und wenn wir so fortfahren, wird das Publikum auch bald auf dem rech¬ ten seyn. Man kann die Menschen sehr leicht durch tolle und unschickliche Darstellun¬ gen irre machen; aber man lege ihnen das Vernünftige und Schickliche auf eine interes¬ sante Weise vor, so werden sie gewiß dar¬ nach greifen. Was unserm Theater hauptsächlich fehlt, und warum weder Schauspieler noch Zu¬ schauer zur Besinnung kommen, ist, daß es darauf im Ganzen zu bunt aussieht, und daß man nirgends eine Grenze hat, woran man sein Urtheil anlehnen könnte. Es scheint mir kein Vortheil zu seyn, daß wir unser Theater gleichsam zu einem unendlichen Na¬ turschauplatze ausgeweitet haben, doch kann jetzt weder Direktor noch Schauspieler sich in die Enge ziehen, bis vielleicht der Ge¬ schmack der Nation in der Folge den rechten Kreis selbst bezeichnet. Eine jede gute So¬ cietät existirt nur unter gewissen Bedingun¬ gen, so auch ein gutes Theater. Gewisse L 2 Manieren und Redensarten, gewisse Gegen¬ stände und Handelsweisen müssen ausge¬ schlossen seyn. Man wird nicht ärmer, wenn man sein Hauswesen zusammen zieht. Sie waren hierüber mehr oder weniger einig und uneinig. Wilhelm und die mei¬ sten waren auf der Seite des englischen; Serlo und einige auf der Seite des franzö¬ sischen Theaters. Man ward einig in leeren Stunden; de¬ ren ein Schauspieler leider so viele hat, in Gesellschaft die berühmtesten Schauspiele beyder Theater durchzugehen, und das beste und nachahmenswerthe derselben zu bemer¬ ken. Man machte auch wirklich einen An¬ fang mit einigen französischen Stücken. Au¬ relie entfernte sich jedesmal sobald die Vor¬ lesung anging. Anfangs hielt man sie für krank, einst aber fragte sie Wilhelm darüber, dem es aufgefallen war. Ich werde bey keiner solchen Vorlesung gegenwärtig seyn, sagte sie, denn wie soll ich hören und urtheilen, wenn mir das Herz zerrissen ist. Ich hasse die französische Spra¬ che von ganzer Seele. Wie kann man einer Sprache feind seyn? rief Wilhelm aus, der man den größten Theil seiner Bildung schuldig ist, und der wir noch viel schuldig werden müssen, ehe unser Wesen eine Gestalt gewinnen kann. Es ist kein Vorurtheil! versetzte Aurelie, ein unglücklicher Eindruck, eine verhaßte Er¬ innerung an meinen treulosen Freund hat mir die Lust an dieser schönen und ausgebil¬ deten Sprache geraubt. Wie ich sie jetzt von ganzem Herzen hasse! Während der Zeit unserer freundschaftlichen Verbindung schrieb er deutsch, und welch ein herzliches, wahres, kräftiges Deutsch! nun da er mich los seyn wollte, fing er an französisch zu schreiben, das vorher manchmal nur im Scherze geschehen war. Ich fühlte, ich merkte was es bedeuten sollte. Was er in seiner Muttersprache zu sagen erröthete, konnte er nun mit gutem Gewissen hinschreiben. Zu Reservationen, Halbheiten und Lügen ist es eine treffliche Sprache; sie ist eine perfide Sprache! ich finde, Gott sey Dank! kein deutsches Wort, um perfid in seinem ganzen Umfange auszudrücken. Unser armseliges treulos ist ein unschuldiges Kind dagegen. Perfid ist treulos mit Genuß, mit Übermuth und Schadenfreude. O, die Ausbildung ei¬ ner Nation ist zu beneiden, die so feine Schattirungen in Einem Worte auszudrü¬ cken weiß! Französisch ist recht die Sprache der Welt, werth die allgemeine Sprache zu seyn, damit sie sich nur recht alle unter ein¬ ander betrügen und belügen können! Seine französischen Briefe ließen sich noch immer gut genug lesen. Wenn man sichs einbilden wollte, klangen sie warm und selbst leiden¬ schaftlich; doch genau besehen waren es Phrasen, vermaledeyte Phrasen! Er hat mir alle Freude an der ganzen Sprache, an der französischen Litteratur, selbst an dem schö¬ nen und köstlichen Ausdruck edler Seelen in dieser Mundart verdorben; mich schaudert wenn ich ein französisches Wort höre! Auf diese Weise konnte sie stundenlang fortfahren ihren Unmuth zu zeigen, und jede andere Unterhaltung zu unterbrechen oder zu verstimmen. Serlo machte früher oder später ihren launigen Äußerungen mit eini¬ ger Bitterkeit ein Ende; aber gewöhnlich war für diesen Abend das Gespräch zerstört. Überhaupt ist es leider der Fall, daß al¬ les was durch mehrere zusammentreffende Menschen und Umstände hervorgebracht wer¬ den soll, keine lange Zeit sich vollkommen erhalten kann. Von einer Theatergesellschaft so gut wie von einem Reiche, von einem Zirkel Freunde so gut wie von einer Armee läßt sich gewöhnlich der Moment angeben, wenn sie auf der höchsten Stufe ihrer Voll¬ kommenheit, ihrer Übereinstimmung, ihrer Zufriedenheit und Thätigkeit standen; oft aber verändert sich schnell das Personal, neue Glieder treten hinzu, die Personen passen nicht mehr zu den Umständen, die Umstände nicht mehr zu den Personen; es wird al¬ les anders, und was vorher verbunden war, fällt nunmehr bald auseinander. So konnte man sagen, daß Serlos Gesellschaft eine Zeitlang so vollkommen war, als irgend eine deutsche sich hatte rühmen können. Die meisten Schauspieler standen an ihrem Platze; alle hatten genug zu thun, und alle thaten gern was zu thun war. Ihre persönlichen Verhältnisse waren leidlich und jedes schien in seiner Kunst viel zu versprechen, weil je¬ des die ersten Schritte mit Feuer und Mun¬ terkeit that. Bald aber entdeckte sich, daß ein Theil doch nur Automaten waren, die nur das erreichen konnten, wohin man ohne Gefühl gelangen kann, und bald mischten sich die Leidenschaften darzwischen, die ge¬ wöhnlich jeder guten Einrichtung im Wege stehen und alles so leicht auseinander zerren, was vernünftige und wohldenkende Men¬ schen zusammen zu halten wünschen. Philinens Abgang war nicht so unbedeu¬ tend als man Anfangs glaubte. Sie hatte mit großer Geschicklichkeit Serlo zu unter¬ halten, und die Übrigen mehr oder weniger zu reizen gewußt. Sie ertrug Aureliens Hef¬ tigkeit mit großer Geduld, und ihr eigenstes Geschäft war Wilhelmen zu schmeicheln. So war sie eine Art von Bindungsmittel fürs Ganze, und ihr Verlust mußte bald fühlbar werden. Serlo konnte ohne eine kleine Liebschaft nicht leben. Elmire, die in weniger Zeit herangewachsen und man könnte beynahe sagen schön geworden war, hatte schon lange seine Aufmerksamkeit erregt, und Philine war klug genug, diese Leidenschaft, die sie merkte, zu begünstigen. Man muß sich, pflegte sie zu sagen, bey Zeiten aufs Kuppeln legen, es bleibt uns doch weiter nichts übrig wenn wir alt werden. Dadurch hatten sich Serlo und Elmire dergestalt genähert, daß sie nach Philinens Abschiede bald einig wur¬ den, und der kleine Roman interessirte sie beyde um so mehr, als sie ihn vor dem Al¬ ten, der über eine solche Unregelmäßigkeit keinen Scherz verstanden hätte, geheim zu halten alle Ursache hatten. Eimirens Schwe¬ ster war mit im Verständniß, und Serlo mußte beyden Mädchen daher vieles nachse¬ hen. Eine ihrer größten Untugenden war eine unmäßige Näscherey, ja wenn man will eine unleidliche Gefräßigkeit, worin sie Phi¬ linen keinesweges glichen, die dadurch einen neuen Schein von Liebenswürdigkeit erhielt, daß sie gleichsam nur von der Luft lebte, sehr wenig aß und nur den Schaum eines Champagnerglases mit der größten Zierlich¬ keit wegschlurfte. Nun aber mußte Serlo, wenn er seiner Schönen gefallen wollte, das Frühstück mit dem Mittagessen verbinden, und an dieses durch ein Vesperbrod das Abendessen an¬ knüpfen. Dabey hatte Serlo einen Plan, dessen Ausführung ihn beunruhigte. Er glaubte eine gewisse Neigung zwischen Wil¬ helm und Aurelien zu entdecken, und wünschte sehr, daß sie ernstlich werden möchte. Er hofte den ganzen mechanischen Theil der Theaterwirthschaft Wilhelmen aufzubürden, und an ihm, wie an seinem ersten Schwa¬ ger, ein treues und fleißiges Werkzeug zu finden. Schon hatte er ihm nach und nach den größten Theil der Besorgung unmerklich übertragen, Aurelie führte die Casse, und Serlo lebte wieder wie in früheren Zeiten ganz nach seinem Sinne. Doch war etwas, was sowohl ihm als seine Schwester heim¬ lich kränkte. Das Publikum hat eine eigene Art, gegen öffentliche Menschen von anerkannten Ver¬ dienste zu verfahren; es fängt nach und nach an gleichgültig gegen sie zu werden, und be¬ günstigt viel geringere aber neu erscheinende Talente, es macht an jene übertriebene For¬ derungen, und läßt sich von diesen alles ge¬ fallen. Serlo und Aurelie hatten Gelegenheit genug hierüber Betrachtungen anzustellen. Die neuen Ankömmlinge, besonders die jun¬ gen und wohlgebildeten, hatten alle Auf¬ merksamkeit, allen Beyfall auf sich gezogen, und beyde Geschwister mußten die meiste Zeit, nach ihren eifrigsten Bemühungen, oh¬ ne den willkommenen Klang der zusammen¬ schlagenden Hände abtreten. Freylich kamen dazu noch besondere Ursachen. Aureliens Stolz war auffallend, und von ihrer Verach¬ tung des Publikums waren viele unterrich¬ tet. Serlo schmeichelte zwar jedermann im Einzelnen, aber seine spitzen Reden über das Ganze waren doch auch öfters herumgetra¬ gen und wiederholt worden. Die neuen Glie¬ der hingegen waren theils fremd und unbe¬ kannt, theils jung, liebenswürdig und hülfs¬ bedürftig, und hatten also auch sämmtlich Gönner gefunden. Nun gab es auch bald innerliche Unru¬ hen und manches Mißvergnügen; denn kaum bemerkte man, daß Wilhelm die Be¬ schäftigung eines Regisseurs übernommen hat¬ te, so fingen die meisten Schauspieler um desto mehr an unartig zu werden, als er nach seiner Weise etwas mehr Ordnung und Genauigkeit in das Ganze zu bringen wünsch¬ te, und besonders darauf bestand, daß alles mechanische vor allen Dingen pünktlich und ordentlich gehen solle. In kurzer Zeit ward das ganze Verhält¬ niß, das wirklich eine Zeitlang beynahe ide¬ alisch gehalten hatte, so gemein, als man es nur irgend bey einem herumreisenden Thea¬ ter finden mag. Und leider in dem Augen¬ blicke, als Wilhelm durch Mühe, Fleiß und Anstrengung sich mit allen Erfordernissen des Metiers bekannt gemacht und seine Person sowohl als seine Geschäftigkeit vollkommen dazu gebildet hatte, schien es ihm endlich in trüben Stunden, daß dieses Handwerk weni¬ ger als irgend ein anders, den nöthigen Auf¬ wand von Zeit und Kräften verdiene. Das Geschäft war lästig und die Belohnung ge¬ ring. Er hätte jedes andere lieber übernom¬ men, bey dem man doch, wenn es vorbey ist, der Ruhe des Geistes genießen kann, als dieses, wo man nach überstandenen me¬ chanischen Mühseligkeiten noch durch die höchste Anstrengung des Geistes und der Em¬ pfindung erst das Ziel seiner Thätigkeit er¬ reichen soll. Er mußte die Klagen Aureliens über die Verschwendung des Bruders hören, er mußte die Winke Serlos mißverstehen, wenn dieser ihn zu einer Heyrath mit der Schwester von ferne zu leiten suchte. Er hatte dabey seinen Kummer zu verbergen, der ihn auf das tiefste drückte, indem der nach dem zweydeutigen Officier fortgeschickte Bote nicht zurück kam, auch nichts von sich hören ließ, und unser Freund daher seine Mariane zum zweytenmal verlohren zu ha¬ ben fürchten mußte. Zu eben der Zeit fiel eine allgemeine Trauer ein, wodurch man genöthigt ward, das Theater auf einige Wochen zu schließen. Er ergriff die Zwischenzeit, um jenen Geistli¬ chen zu besuchen, bey welchem der Harfen¬ spieler in der Kost war. Er fand ihn in ei¬ ner angenehmen Gegend, und das erste was er in dem Pfarrhofe erblickte war der Alte, der einem Knaben auf seinem Instrument Lec¬ tion gab. Er bezeugte viel Freude Wilhelmen wieder zu sehen, stand auf und reichte ihm die Hand und sagte: Sie sehen, daß ich in der Welt doch noch zu etwas nütze bin; Sie erlauben daß ich fortfahre, denn die Stun¬ den sind eingetheilt. Der Geistliche begrüßte Wilhelmen auf das freundlichste und erzählte ihm, daß der Alte sich schon recht gut anlasse und daß man Hoffnung zu seiner völligen Genesung habe. Ihr Ihr Gespräch fiel natürlich auf die Me¬ thode, Wahnsinnige zu kuriren. Außer dem Physischen, sagte der Geistli¬ che, das uns oft unüberwindliche Schwierig¬ keiten in den Weg legt und worüber ich ei¬ nen denkenden Arzt zu Rathe ziehe, finde ich die Mittel vom Wahnsinne zu heilen sehr einfach. Es sind eben dieselben, wodurch man gesunde Menschen hindert wahnsinnig zu werden. Man errege ihre Selbstthätig¬ keit, man gewöhne sie an Ordnung, man gebe ihnen einen Begriff, daß sie ihr Seyn und Schicksal mit so vielen gemein haben, daß das außerordentliche Talent, das größte Glück und das höchste Unglück nur kleine Abweichungen von dem gewöhnlichen sind; so wird sich kein Wahnsinn einschleichen, und wenn er da ist, nach und nach wieder ver¬ schwinden. Ich habe des alten Mannes Stunden eingetheilt, er unterrichtet einige W. Meisters Lehrj. 3. M Kinder auf der Harfe, er hilft im Garten arbeiten und ist schon viel heiterer. Er wünscht von dem Kohle zu genießen, den er pflanzt, und wünscht meinen Sohn, dem er die Harfe auf den Todesfall geschenkt hat, recht emsig zu unterrichten, damit sie der Knabe ja auch brauchen könne. Als Geist¬ licher suche ich ihm über seine wunderbaren Scrupel nur wenig zu sagen, aber ein thä¬ tiges Leben führt so viele Ereignisse herbey, daß er bald fühlen muß: daß jede Art von Zweifel nur durch Wirksamkeit gehoben wer¬ den kann. Ich gehe sachte zu Werke, wenn ich ihm aber noch seinen Bart und seine Kutte wegnehmen kann, so habe ich viel ge¬ wonnen, denn es bringt uns nichts näher dem Wahnsinn, als wenn wir uns vor andern aus¬ zeichnen, und nichts erhält so sehr den gemei¬ nen Verstand, als im allgemeinen Sinne mit vielen Menschen zu leben, Wie vieles ist lei¬ der nicht in unserer Erziehung und in unsern bürgerlichen Einrichtungen, wodurch wir uns und unsre Kinder zur Tollheit vorbereiten. Wilhelm verweilte bey diesem vernünfti¬ gen Manne einige Tage, und erfuhr die in¬ teressantesten Geschichten, nicht allein von verrückten Menschen, sondern auch von sol¬ chen, die man für klug, ja für weise zu hal¬ ten pflegt, und deren Eigenthümlichkeiten nahe an den Wahnsinn grenzen. Dreyfach belebt aber ward die Unterhal¬ tung, als der Medikus eintrat, der den Geist¬ lichen, seinen Freund, öfters zu besuchen, und ihm bey seinen menschenfreundlichen Bemü¬ hungen beyzustehen pflegte. Es war ein ält¬ licher Mann, der bey einer schwächlichen Ge¬ sundheit viele Jahre in Ausübung der edel¬ sten Pflichten zugebracht hatte. Er war ein großer Freund vom Landleben und konnte fast nicht anders als in freyer Luft seyn; M 2 dabey war er äußerst gesellig und thätig, und hatte seit vielen Jahren eine besondere Neigung mit allen Landgeistlichen Freund¬ schaft zu stiften. Jedem, dem er eine nützli¬ che Beschäftigung kannte, suchte er auf alle Weise beyzustehen; andern, die noch unbe¬ stimmt waren, suchte er eine Liebhaberey einzureden, und da er zugleich mit den Edel¬ leuten, Amtmännern und Gerichtshaltern in Verbindung stand, so hatte er in Zeit von zwanzig Jahren sehr viel im Stillen zur Kultur mancher Zweige der Landwirthschaft beygetragen, und alles was dem Felde, Thie¬ ren und Menschen ersprieslich ist, in Bewe¬ gung gebracht, und so die wahrste Aufklä¬ rung befördert. Für den Menschen, sagte er, sey nur das eine ein Unglück, wenn sich ir¬ gend eine Idee bey ihm festsetze, die keinen Einfluß ins thätige Leben habe oder ihn wohl gar vom thätigen Leben abziehe. Ich habe, sagte er, gegenwärtig einen solchen Fall an einem vornehmen und reichen Ehepaar, wo mir bis jetzt noch alle Kunst mißglückt ist; fast gehört der Fall in Ihr Fach, lieber Pastor, und dieser junge Mann wird ihn nicht weiter erzählen. In der Abwesenheit eines vornehmen Mannes verkleidet man, mit einem nicht ganz lobenswürdigen Scherze, einen jungen Men¬ schen in die Hauskleidung dieses Herren. Seine Gemahlin sollte dadurch angeführt werden, und ob man mir es gleich nur als eine Posse erzählt hat, so fürchte ich doch sehr, man hatte die Absicht, die edle, liebens¬ würdige Dame vom rechten Wege abzuleiten. Der Gemahl kommt unvermuthet zurück, tritt in sein Zimmer, glaubt sich selbst zu sehen, und fällt von der Zeit an in eine Melancho¬ lie, in der er die Überzeugung nährt, daß er bald sterben werde. Er überläßt sich Personen, die ihm mit religiösen Ideen schmeicheln, und ich sehe nicht wie er abzuhalten ist, mit seiner Ge¬ mahlin unter die Herrenhuter zu gehen, und den größten Theil seines Vermögens, da er keine Kinder hat, seinen Verwandten zu entziehen. Mit seiner Gemahlin? rief Wilhelm, den diese Erzählung nicht wenig erschreckt hatte, ungestüm aus. Und leider, versetzte der Arzt, der in Wil¬ helms Ausrufung nur eine menschenfreundli¬ che Theilnahme zu hören glaubte, ist diese Dame mit einem noch tiefern Kummer behaf¬ tet, der ihr eine Entfernung von der Welt nicht widerlich macht. Eben dieser junge Mensch nimmt Abschied von ihr, sie ist nicht vorsichtig genug eine aufkeimende Neigung zu verbergen; er wird kühn, schließt sie in seine Arme, und drückt ihr das große mit Brillianten besetzte Portrait ihres Gemahls gewaltsam wider die Brust. Sie empfindet einen heftigen Schmerz, der nach und nach vergeht, erst eine kleine Röthe und dann keine Spur zurück läßt. Ich bin als Mensch überzeugt, daß sie sich nichts weiter vorzu¬ werfen hat, ich bin als Arzt gewiß, daß die¬ ser Druck keine üblen Folgen haben werde, aber sie läßt sich nicht ausreden, es sey eine Verhärtung da, und wenn man ihr durch das Gefühl den Wahn benehmen will, so behauptet sie, nur in diesem Augenblick sey nichts zu fühlen; sie hat sich fest eingedruckt, es werde dieses Übel mit einem Krebsschaden sich endigen, und so ist ihre Jugend, ihre Liebenswürdigkeit für sie und andere völlig verlohren. Ich unglückseliger! rief Wilhelm, indem er sich vor die Stirne schlug und aus der Gesellschaft ins Feld lief. Er hatte sich noch nie in einem solchen Zustande befunden. Der Arzt und der Geistliche, über diese seltsame Entdeckung höchlich erstaunt, hatten Abends genug mit ihm zu thun, als er zu¬ rückkam und bey dem umständlichern Be¬ kenntniß dieser Begebenheit sich aufs lebhaf¬ teste anklagte. Beyde Männer nahmen den größten Antheil an ihm, besonders da er ih¬ nen seine übrige Lage nun auch mit schwar¬ zen Farben der augenblicklichen Stimmung mahlte. Den andern Tag ließ sich der Arzt nicht lange bitten mit ihm nach der Stadt zu ge¬ hen, um ihm Gesellschaft zu leisten, um Au¬ relien, die ihr Freund in bedenklichen Um¬ ständen zurückgelassen hatte, wo möglich Hülfe zu verschaffen. Sie fanden sie auch wirklich schlimmer, als sie vermutheten. Sie hatte eine Art von überspringendem Fieber, dem um so weniger beyzukommen war, als sie die Anfälle nach ihrer Art vorsetzlich unterhielt und verstärkte. Der Fremde ward nicht als Arzt eingeführt, und betrug sich sehr gefällig und klug. Man sprach über den Zustand ihres Körpers und ihres Geistes, und der neue Freund erzählte manche Geschichten, wie Personen, ohngeach¬ tet einer solchen Kränklichkeit, ein hohes Al¬ ter erreichen könnten, nichts aber sey schäd¬ licher in solchen Fällen, als eine vorsetzliche Erneuerung leidenschaftlicher Empfindungen. Besonders verbarg er nicht, daß er diejenige Person sehr glücklich gefunden habe, die bey einer nicht ganz herzustellenden kränklichen Anlage wahrhaft religiöse Gesinnungen bey sich zu nähren bestimmt gewesen wären. Er sagte das auf eine sehr bescheidene Weise und gleichsam historisch, und versprach dabey sei¬ nen neuen Freunden eine sehr interessante Lektüre an einem Manuscript zu verschaffen, das er aus den Händen einer nunmehr ab¬ geschiedenen vortrefflichen Freundin erhalten habe. Es ist mir unendlich werth, sagte er, und ich vertraue Ihnen das Original selbst an. Nur der Titel ist von meiner Hand, Bekenntnisse einer schönen Seele . Über diätetische und medizinische Behand¬ lung der unglücklichen aufgespannten Aurelie, vertraute der Arzt Wilhelmen noch seinen be¬ sten Rath, versprach zu schreiben und wo möglich selbst wieder zu kommen. Inzwischen hatte sich in Wilhelms Abwe¬ senheit eine Veränderung vorbereitet, die er nicht vermuthen konnte. Wilhem hatte wäh¬ rend der Zeit seiner Regie das ganze Geschäft mit einer gewissen Freyheit und Liberalität behandelt, vorzüglich auf die Sache gesehen, und besonders bey Kleidungen, Dekorationen und Requisiten alles reichlich und anständig angeschaft, auch um den guten Willen der Leute zu erhalten ihrem Eigennutze geschmei¬ chelt, da er ihnen durch edlere Motive nicht beykommen konnte, und er fand sich hierzu um so mehr berechtigt, als Serlo selbst keine Ansprüche machte, ein genauer Wirth zu seyn, den Glanz seines Theaters gerne loben hörte und zufrieden war, wenn Aurelie, wel¬ che die ganze Haushaltung führte, nach Ab¬ zug aller Kosten, versicherte daß sie keine Schulden habe, und noch so viel hergab als nöthig war die Schulden abzutragen, die Serlo unterdessen durch außerordentliche Frey¬ gebigkeit gegen seine Schönen und sonst etwa auf sich geladen haben mochte. Melina, der indessen die Garderobe be¬ sorgte, hatte, kalt und heimtückisch wie er war, der Sache im stillen zugesehen, und wußte bey der Entfernung Wilhelms und bey der zunehmenden Krankheit Aureliens Serlo fühlbar zu machen, daß man eigent¬ lich mehr einnehmen, weniger ausgeben, und entweder etwas zurücklegen oder doch am Ende nach Willkühr noch lustiger leben könne. Serlo hörte das gern und Melina wagte sich mit seinem Plane hervor. Ich will, sagte er, nicht behaupten, daß einer von den Schauspielern gegenwärtig zu viel Gage hat; es sind verdienstvolle Leute und sie würden an jedem Orte willkommen seyn; allein für die Einnahme, die sie uns verschaffen, erhalten sie doch zu viel. Mein Vorschlag wäre eine Oper einzurichten, und was das Schauspiel betrifft, so muß ich Ihnen sagen, Sie sind der Mann allein ein ganzes Schauspiel auszumachen. Müssen Sie jetzt nicht selbst erfahren, daß man Ihre Verdienste verkennt. Nicht, weil Ihre Mitspieler vor¬ trefflich, sondern weil sie gut sind, läßt man Ihrem außerordentlichen Talente keine Ge¬ rechtigkeit mehr wiederfahren. Stellen Sie sich, wie wohl sonst gesche¬ hen ist, nur allein hin, suchen Sie mittelmä¬ ßige, ja ich darf sagen schlechte Leute für ge¬ ringe Gage an sich zu ziehen, stutzen Sie das Volk, wie Sie es so sehr verstehen, im Mechanischen zu, wenden Sie das übrige an die Oper und Sie werden sehen, daß Sie mit derselben Mühe und mit denselben Ko¬ sten mehr Zufriedenheit erregen, und ungleich mehr Geld als bisher gewinnen werden. Serlo war zu sehr geschmeichelt, als daß seine Einwendungen einige Stärke hätten haben sollen. Er gestand Melina gern zu, daß er bey seiner Liebhaberey zur Musik längst so etwas gewünscht habe, doch sehe er freylich ein, daß die Neigung des Publi¬ kums dadurch noch mehr auf Abwege gelei¬ tet und daß bey so einer Vermischung eines Theaters, das nicht recht Oper nicht recht Schauspiel sey, nothwendig der Überrest von Geschmack, an einen bestimmten und aus¬ führlichen Kunstwerke sich völlig verlieren müsse. Melina scherzte nicht ganz fein über Wil¬ helms pedantische Ideale dieser Art, über die Anmaßung das Publikum zu bilden, statt sich von ihm bilden zu lassen, und beyde ver¬ einigten sich mit großer Überzeugung, daß man nur Geld einnehmen, reich werden oder sich lustig machen solle und verbargen sich kaum, daß sie nur jener Personen los zu seyn wünschten, die ihren Plane im Wege standen. Melina bedauerte, daß die schwäch¬ liche Gesundheit Aureliens ihr kein langes Leben verspreche, dachte aber gerade das Ge¬ gentheil. Serlo schien zu beklagen, daß Wilhelm nicht Sänger sey und gab dadurch zu verstehen, daß er ihn für bald entbehrlich halte. Melina trat mit einem ganzen Re¬ gister von Ersparnissen, die zu machen seyen, hervor, und Serlo sah in ihm seinen ersten Schwager dreyfach ersetzt. Sie fühlten wohl, daß sie sich über diese Unterredung das Ge¬ heimniß zuzusagen hatten, wurden dadurch nur noch mehr an einander geknüpft und nahmen Gelegenheit insgeheim über alles was vorkam, sich zu besprechen, was Aure¬ lie und Wilhelm unternahmen zu tadeln und ihr neues Projeckt in Gedanken immer mehr auszuarbeiten. So verschwiegen auch beyde über ihren Plan seyn mochten, und so wenig sie durch Worte sich verriethen, so waren sie doch nicht politisch genug, ihre Gesinnungen in der Handelsweise zu verbergen. Melina wider¬ setzte sich Wilhelmen in manchen Fällen, die in seinem Kreise lagen, und Serlo, der nie¬ mals glimpflich mit seiner Schwester umge¬ gangen war, ward nur bitterer, jemehr ihre Kränklichkeit zunahm, und jemehr sie bey ihren ungleichen, leidenschaftlichen Launen Schonung verdient hätte. Zu eben dieser Zeit nahm man Emilie Galotti vor. Dieses Stück war sehr glück¬ lich besetzt, und alle konnten in dem beschränk¬ ten Kreise dieses Trauerspiels die ganze Ma¬ nigfaltigkeit ihres Spieles zeigen. Serlo war als Marinelli an seinem Platze, Odo¬ ardo ward sehr gut vorgetragen, Madam Melina spielte die Mutter mit vieler Ein¬ sicht, Elmire zeichnete sich in der Rolle Emi¬ liens zu ihrem Vortheil aus, Laertes trat als Appiani mit vielen Anstand auf, und Wilhelm hatte ein Studium von mehreren Monaten auf die Rolle des Prinzen verwen¬ det. Bey dieser Gelegenheit hatte er sowohl mit sich selbst als mit Serlo und Aurelien die Frage oft abgehandelt: welch ein Unter¬ schied sich zwischen einem edlen und vorneh¬ men Betragen zeige, und in wiefern jenes in diesem, dieses aber nicht in jenem enthal¬ ten zu seyn brauche. Serlo Serlo der selbst als Marinelli den Hof¬ mann rein, ohne Karrikatur vorstellte, äußerte über diesen Punkt manchen guten Gedanken. Der vornehme Anstand, sagte er, ist schwer nachzuahmen, weil er eigentlich negativ ist, und eine lange anhaltende Übung voraus¬ setzt. Denn man soll nicht etwa in seinem Benehmen etwas darstellen, das Würde an¬ zeigt, denn leicht fällt man dadurch in ein förmliches stolzes Wesen, man soll vielmehr nur alles vermeiden, was Unwürdig was Ge¬ mein ist, man soll sich nie vergessen, immer auf sich und andere acht haben, sich nichts vergeben, andern nicht zu viel, nicht zu we¬ nig thun, durch nichts gerührt scheinen, durch nichts bewegt werden, sich niemals übereilen, sich in jedem Momente zu fassen wissen, und so ein äußeres Gleichgewicht erhalten, inner¬ lich mag es stürmen wie es will. Der edle Mensch kann sich in Momenten vernachläs¬ W. Meisters Lehrj. 3. N sigen, der vornehme nie. Dieser ist wie ein sehr wohlgekleideter Mann, er wird sich nir¬ gends anlehnen, und jedermann wird sich hü¬ ten an ihn zu streichen; er unterscheidet sich vor andern, und doch darf er nicht allein stehen bleiben; denn wie in jeder Kunst also auch in dieser, soll zuletzt das schwerste mit Leichtigkeit ausgeführt werden, so soll der Vornehme, ohngeachtet aller Absonderung, immer mit andern verbunden scheinen, nir¬ gends steif, überall gewandt seyn, immer als der erste erscheinen und sich nie als ein sol¬ cher aufdringen. Man sieht also, daß man, um vornehm zu scheinen, wirklich vornehm seyn müsse; man sieht warum Frauen im Durchschnitt sich eher dieses Ansehen geben können als Männer, warum Hofleute und Soldaten am schnellsten zu diesem Anstande gelangen. Wilhelm verzweifelte nun fast an seiner Rolle, allein Serlo half ihm wieder auf, in¬ dem er ihm über das Einzelne die feinsten Bemerkungen mittheilte, und ihn dergestalt ausstattete, daß er bey der Aufführung, we¬ nigstens in den Augen der Menge, einen recht feinen Prinzen darstellte. Serlo hatte versprochen ihm nach der Vorstellung die Bemerkungen mitzutheilen, die er noch allenfalls über ihn machen wür¬ de; allein ein unangenehmer Streit zwischen Bruder und Schwester hinderte jede critische Unterhaltung. Aurelie hatte die Rolle der Orsina auf eine Weise gespielt, wie man sie wohl niemals wieder sehen wird. Sie war mit der Rolle überhaupt sehr bekannt, und hatte sie in den Proben gleichgültig behan¬ delt; bey der Aufführung selbst aber zog sie, möchte man sagen, alle Schleusen ihres in¬ dividuellen Kummers auf, und es ward da¬ durch eine Darstellung, wie sie sich kein Dich¬ N 2 ter in dem ersten Feuer der Empfindung hätte denken können. Ein unmäßiger Bey¬ fall des Publikums belohnte ihre schmerzlichen Bemühungen, aber sie lag auch halb ohn¬ mächtig in einem Sessel als man sie nach der Aufführung aufsuchte. Serlo hatte schon über ihr übertriebenes Spiel, wie er es nannte, und über die Ent¬ blößung ihres innersten Herzens vor dem Publikum, das doch mehr oder weniger mit jener fatalen Geschichte bekannt war, seinen Unwillen zu erkennen gegeben, und, wie er es im Zorn zu thun pflegte, mit den Zähnen geknirscht und mit den Füßen gestampft. Laßt sie, sagte er, als er sie von den Übri¬ gen umgeben in dem Sessel fand, sie wird noch eh’stens ganz nackt auf das Theater treten, und dann wird erst der Beyfall recht willkommen seyn. Undankbarer! rief sie aus, Unmenschli¬ cher! man wird mich bald nackt dahin tra¬ gen, wo kein Beyfall mehr zu unsern Ohren kommt! Mit diesen Worten sprang sie auf und eilte nach der Thüre. Die Magd hatte versäumt ihr den Mantel zu bringen, die Portechaise war nicht da; es hatte geregnet und ein sehr rauher Wind zog durch die Straßen. Man redete ihr vergebens zu, denn sie war übermäßig erhitzt; sie ging vor¬ setzlich langsam und lobte die Kühlung, die sie recht begierig einzusaugen schien. Kaum war sie zu Hause, als sie vor Heiserkeit kaum ein Wort mehr sprechen konnte; sie gestand aber nicht, daß sie im Nacken und den Rü¬ cken hinab eine völlige Steifigkeit fühlte. Nicht lange so überfiel sie eine Art von Läh¬ mung der Zunge, so daß sie ein Wort fürs andere sprach; man brachte sie zu Bette, durch häufig angewandte Mittel legte sich ein Übel, indem sich das andere zeigte. Das Fieber ward stark und ihr Zustand gefähr¬ lich. Den andern Morgen hatte sie eine ru¬ hige Stunde. Sie ließ Wilhelm rufen und übergab ihm einen Brief. Dieses Blatt, sagte sie, wartet schon lange auf diesen Au¬ genblick. Ich fühle daß das Ende meines Lebens bald heran naht; versprechen Sie mir, daß Sie es selbst abgeben und daß Sie durch wenige Worte meine Leiden an dem Ungetreuen rächen wollen. Er ist nicht fühl¬ los und wenigstens soll ihn mein Tod einen Augenblick schmerzen. Wilhelm übernahm den Brief, indem er sie jedoch tröstete und den Gedanken des To¬ des von ihr entfernen wollte. Nein, versetzte sie, benehmen Sie mir nicht meine nächste Hoffnung. Ich habe ihn lange erwartet und will ihn freudig in die Arme schließen. Kurz darauf kam das vom Arzt versprochene Manuscript an. Sie ersuchte Wilhelmen ihr daraus vorzulesen, und die Wirkung die es that wird der Leser am besten beurtheilen können, wenn er sich mit dem folgenden Bu¬ che bekannt gemacht hat. Das heftige und trotzige Wesen unsrer armen Freundin ward auf einmal gelinder. Sie nahm den Brief zurück und schrieb einen andern, wie es schien in sehr sanfter Stimmung, auch forderte sie Wilhelmen auf, ihren Freund, wenn er ir¬ gend durch die Nachricht ihres Todes betrübt werden sollte, zu trösten, ihm zu versichern, daß sie ihm verziehen habe, und daß sie ihm alles Glück wünsche. Von dieser Zeit an war sie sehr still und schien sich nur mit wenigen Ideen zu beschäf¬ tigen, die sie sich aus dem Manuscript eigen zu machen suchte, woraus ihr Wilhelm von Zeit zu Zeit vorlesen mußte. Die Abnahme ihrer Kräfte war nicht sichtbar und unver¬ muthet fand sie Wilhelm eines Morgens todt, als er sie besuchen wollte. Bey der Achtung, die er für sie gehabt, und bey der Gewohnheit, mit ihr zu leben, war ihm ihr Verlust sehr schmerzlich. Sie war die einzige Person, die es eigentlich gut mit ihm meynte, und die Kälte Serlos in der letzten Zeit hatte er nur allzusehr gefühlt. Er eilte daher die aufgetragene Botschaft auszurichten und wünschte sich auf einige Zeit zu entfernen. Von der andern Seite war für Melina diese Abreise sehr erwünscht, denn dieser hatte sich bey der weitläuftigen Correspondenz, die er unterhielt, gleich mit einem Sänger und einer Sängerin eingelas¬ sen, die das Publikum einstweilen durch Zwi¬ schenspiele zur künftigen Oper vorbereiten sollten. Der Verlust Aureliens und Wilhelms Entfernung sollten auf diese Weise in der ersten Zeit übertragen werden, und unser Freund war mit allem zufrieden was ihm seinen Urlaub auf einige Wochen erleichterte. Er hatte sich eine sonderbar wichtige Idee von seinem Auftrage gemacht. Der Tod sei¬ ner Freundin hatte ihn tief gerührt und da er sie so frühzeitig von dem Schauplatze ab¬ treten sah, mußte er nothwendig gegen den, der ihr Leben verkürzt, und dieses kurze Le¬ ben ihr so qualvoll gemacht, feindselig ge¬ sinnt seyn. Ohngeachtet der letzten gelinden Worte der Sterbenden, nahm er sich doch vor bey Überreichung des Briefs ein strenges Gericht über den ungetreuen Freund ergehen zu las¬ sen, und da er sich nicht einer zufälligen Stimmung vertrauen wollte, dachte er an ei¬ ne Rede, die in der Ausarbeitung pathetischer als billig ward. Nachdem er sich völlig von der guten Composition seines Aufsatzes über¬ zeugt hatte, machte er, indem er ihn auswen¬ dig lernte, Anstalt zu seiner Abreise. Mig¬ non war beym Einpacken gegenwärtig und fragte ihn, ob er nach Süden oder nach Norden reise? und als sie das letzte von ihm erfuhr, sagte sie: so will ich Dich hier wieder erwarten. Sie bat ihn um die Per¬ lenschnur Marianens, die er dem lieben Ge¬ schöpf nicht versagen konnte; das Halstuch hatte sie schon. Dagegen steckte sie ihm den Schleyer des Geistes in den Mantelsack, ob er ihr gleich sagte, daß ihm dieser Flor zu keinem Gebrauch sey. Melina übernahm die Regie, und seine Frau versprach auf die Kinder ein mütterli¬ ches Auge zu haben, von denen sich Wilhelm ungern losriß. Felix war sehr lustig beym Abschied und als man ihn fragte: was er wolle mitgebracht haben, sagte er: Höre! bringe mir einen Vater mit. Mignon nahm den Scheidenden bey der Hand, und indem sie ihm, auf die Zehen gehoben, einen treu¬ herzigen und lebhaften Kuß, doch ohne Zärt¬ lichkeit, auf die Lippen drückte, sagte sie: Meister! vergiß uns nicht und komm bald wieder. Und so lassen wir unsern Freund unter tausend Gedanken und Empfindungen seine Reise antreten, und zeichnen hier noch zum Schlusse ein Gedicht auf, das Mignon mit großem Ausdruck einigemal rezitirt hatte, und das wir früher mitzutheilen durch den Drang so mancher sonderbaren Ereignisse verhindert worden. Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen Denn mein Geheimniß ist mir Pflicht; Ich mögte dir mein ganzes Innre zeigen, Allein das Schicksal will es nicht. Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf Die finstre Nacht, und sie muß sich erhellen, Der harte Fels schließt seinen Busen auf Mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen. Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh, Dort kann die Brust in Klagen sich ergießen; Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen. Wilhelm Meisters Lehrjahre . Sechstes Buch . Bekenntnisse einer schönen Seele . B is in mein achtes Jahr war ich ein ganz gesundes Kind, weiß mich aber von dieser Zeit so wenig zu erinnern, als von dem Ta¬ ge meiner Geburt. Mit dem Anfange des achten Jahres bekam ich einen Blutsturz und in dem Augenblick war meine Seele ganz Empfindung und Gedächtniß. Die kleinsten Umstände dieses Zufalls stehn mir noch vor Augen als hätte er sich gestern ereignet. Während des neun monatlichen Kranken¬ lagers, das ich mit Gedult aushielt, ward, so wie mich dünkt, der Grund zu meiner ganzen Denkart gelegt, indem meinem Geiste die ersten Hülfsmittel gereicht wurden, sich nach seiner eigenen Art zu entwickeln. Ich litt und liebte, das war die eigentli¬ che Gestalt meines Herzens. In dem heftig¬ sten Husten und abmattenden Fieber war ich stille wie eine Schnecke, die sich in ihr Haus zieht; so bald ich ein wenig Luft hatte, wollte ich etwas Angenehmes fühlen, und da mir aller übrige Genuß versagt war, suchte ich mich durch Augen und Ohren schadlos zu halten. Man brachte mir Puppenwerk und Bilderbücher und wer Sitz an meinem Bette haben wollte, mußte mir etwas erzählen. Von meiner Mutter hörte ich die bibli¬ schen Geschichten gern an; der Vater unter¬ hielt mich mit Gegenständen der Natur. Er besaß ein artiges Kabinet. Davon brachte er gelegentlich eine Schublade nach der andern her¬ herunter, zeigte mir die Dinge und erklärte sie mir nach der Wahrheit. Getrocknete Pflanzen und Insekten und manche Arten von anatomischen Präparaten. Menschenhaut, Knochen, Mumien und dergleichen kamen auf das Krankenbette der Kleinen; Vögel und Thiere, die er auf der Jagd erlegte, wur¬ den mir vorgezeigt, ehe sie nach der Küche gingen, und damit doch auch der Fürst der Welt eine Stimme in dieser Versammlung behielte, erzählte mir die Tante Liebesge¬ schichten und Feenmärchen. Alles ward an¬ genommen und alles faßte Wurzel. Ich hatte Stunden, in denen ich mich lebhaft mit dem unsichtbaren Wesen unterhielte, ich weiß noch einige Verse, die ich der Mutter damals in die Feder dictirte. Oft erzählte ich dem Vater wieder, was ich von ihm gelernt hatte. Ich nahm nicht leicht eine Arzeney, ohne zu fragen, wo wach¬ W. Meisters Lehrj. 3. O sen die Dinge, aus denen sie gemacht ist? Wie sehen sie aus? Wie heißen sie? Aber die Erzählungen meiner Tante waren auch nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte mich in schöne Kleider und begegnete den al¬ lerliebsten Prinzen, die nicht ruhen noch ra¬ sten konnten, bis sie wußten, wer die unbe¬ kannte Schöne war. Ein ähnliches Aben¬ theuer mit einem reizenden kleinen Engel, der im weißen Gewand und goldnen Flü¬ geln sich sehr um mich bemühte, setzte ich so lange fort, daß meine Einbildungskraft sein Bild fast bis zur Erscheinung erhöhte. Nach Jahresfrist war ich ziemlich wieder hergestellt; aber es war mir aus der Kind¬ heit nichts Wildes übrig geblieben. Ich konnte nicht einmal mit Puppen spielen, ich verlangte nach Wesen, die meine Liebe erwie¬ derten. Hunde, Katzen und Vögel, derglei¬ chen mein Vater von allen Arten ernährte, vergnügten mich sehr; aber was hätte ich nicht gegeben, ein Geschöpf zu besitzen, das in einem der Märchen meiner Tante eine sehr wichtige Rolle spielte. Es war ein Schäfchen, das von einem Bauermädchen in dem Walde aufgefangen und ernährt wor¬ den war, aber in diesem artigen Thiere stack ein verwünschter Prinz, der sich endlich wie¬ der als schöner Jüngling zeigte und seine Wohlthäterin durch seine Hand belohnte. So ein Schäfchen hätte ich gar zu gerne besessen! Nun wollte sich aber keines finden, und da alles neben mir so ganz natürlich zuging, mußte mir nach und nach die Hoffnung auf einen so köstlichen Besitz fast vergehen. Un¬ terdessen tröstete ich mich, indem ich solche Bücher las, in denen wunderbare Begeben¬ heiten beschrieben wurden. Unter allen war mir der christliche deutsche Herkules der lieb¬ O 2 ste; die andächtige Liebesgeschichte war ganz nach meinem Sinne. Begegnete seiner Va¬ liska irgend etwas, und es begegneten ihr grausame Dinge, so betete er erst, eh er ihr zu Hülfe eilte, und die Gebete standen aus¬ führlich im Buche. Wie wohl gefiel mir das! Mein Hang zu dem Unsichtbaren, den ich immer auf eine dunkle Weise fühle, ward dadurch nur vermehrt; denn ein für allemal sollte Gott auch mein Vertrauter seyn. Als ich weiter heran wuchs, las ich, der Himmel weiß was alles durch einander; aber die römische Octavia behielt vor allen den Preis. Die Verfolgungen der ersten Christen in einen Roman gekleidet, erregten bey mir das lebhafteste Interesse. Nun fing die Mutter an über das stete Lesen zu schmälen; der Vater nahm ihr zu Liebe mir einen Tag die Bücher aus der Hand und gab sie mir den andern wieder. Sie war klug genug zu bemerken, daß hier nichts auszurichten war, und drang nur dar¬ auf, daß auch die Bibel eben so fleißig ge¬ lesen wurde. Auch dazu ließ ich mich nicht treiben, und ich las die heiligen Bücher mit vielem Antheil. Dabey war meine Mutter immer sorgfältig, daß keine verführerischen Bücher in meine Hände kämen, und ich selbst würde jede schändliche Schrift aus der Hand geworfen haben, denn meine Prinzen und Prinzessinnen waren alle äußerst tugendhaft, und ich wußte übrigens von der natürlichen Geschichte des menschlichen Geschlechts mehr als ich merken ließ, und hatte es meistens aus der Bibel gelernt. Bedenkliche Stellen hielt ich mit Worten und Dingen die mir vor Augen kamen zusammen, und brachte bey meiner Wißbegierde und Combinationsgabe die Wahrheit glücklich heraus. Hätte ich von Hexen gehört, so hätte ich auch mit der Hexerey bekannt werden müssen. Meiner Mutter und dieser Wißbegierde hatte ich es zu danken, daß ich bey dem hef¬ tigen Hang zu Büchern doch kochen lernte; aber dabey war etwas zu sehen. Ein Huhn, ein Ferkel aufzuschneiden, war für mich ein Fest. Den Vater brachte ich die Eingeweide und er redete mit mir darüber wie mit ei¬ nem jungen Studenten, und pflegte mich oft mit inniger Freude seinen mißrathenen Sohn zu nennen. Nun war das zwölfte Jahr zurückgelegt. Ich lernte französisch, tanzen und zeichnen, und erhielt den gewöhnlichen Religionsunter¬ richt. Bey dem letzten wurden manche Em¬ pfindungen und Gedanken rege, aber nichts was sich auf meinen Zustand bezogen hätte. Ich hörte gern von Gott reden, ich war stolz darauf besser als meinesgleichen von ihm re¬ den zu können; ich las nun mit Eifer man¬ che Bücher, die mich in den Stand setzten von Religion zu schwatzen, aber nie fiel es mir ein zu denken, wie es denn mit mir stehe, ob meine Seele auch so gestaltet sey, ob sie einem Spiegel gleiche, von dem die ewige Sonne wieder glänzen könnte, das hatte ich ein vor allemal schon vorausgesetzt. Französisch lernte ich mit vieler Begierde. Mein Sprachmeister war ein wackrer Mann. Er war nicht ein leichtsinniger Empiriker, nicht ein trockner Grammatiker; er hatte Wissenschaften, er hatte die Welt gesehen. Zugleich mit dem Sprachunterrichte sättigte er meine Wißbegierde auf mancherley Weise. Ich liebte ihn so sehr, daß ich seine Ankunft immer mit Herzklopfen erwartete. Das Zeich¬ nen fiel mir nicht schwer, und ich würde es weiter gebracht haben, wenn mein Meist er Kopf und Kenntnisse gehabt hätte; er hatte aber nur Hände und Übung. Tanzen war Anfangs nur meine geringste Freude; mein Körper war zu empfindlich und ich lernte nur in der Gesellschaft meiner Schwester. Durch den Einfall unsers Tanz¬ meisters allen seinen Schülern und Schüle¬ rinnen einen Ball zu geben, ward aber die Lust zu dieser Übung ganz anders belebt. Unter vielen Knaben und Mädchen zeich¬ neten sich zwey Söhne des Hofmarschalls aus; der jüngste so alt wie ich, der andere zwey Jahr älter; Kinder von einer solchen Schönheit, daß sie nach dem allgemeinen Ge¬ ständniß alles übertrafen, was man je von schönen Kindern gesehen hatte. Auch ich hatte sie kaum erblickt, so sah ich niemand mehr vom ganzen Haufen. In dem Augenblicke tanzte ich mit Aufmerksamkeit und wünschte schön zu tanzen. Wie es kam, daß auch diese Knaben unter allen andern mich vorzüglich bemerkten? — Genug in der ersten Stunde waren wir die besten Freunde, und die kleine Lustbarkeit ging noch nicht zu Ende, so hat¬ ten wir schon ausgemacht, wo wir uns näch¬ stens wieder sehen wollten. Eine große Freu¬ de für mich! aber ganz entzückt war ich, als beyde den andern Morgen jeder in einem gallanten Billet, das mit einem Blumen¬ strauß begleitet war, sich nach meinem Be¬ finden erkundigten. So fühlte ich nie mehr, wie ich da fühlte! Artigkeiten wurden mit Artigkeiten, Briefchen mit Briefchen erwiedert. Kirche und Promenaden wurden von nun an zu Rendesvous; unsre jungen Bekannten lu¬ den uns schon jederzeit zusammen ein, wir aber waren schlau genug, die Sache derge¬ stalt zu verdecken, daß die Eltern nicht mehr davon einsahen, als wir für gut hielten. Nun hatte ich auf einmal zwey Liebhaber bekommen. Ich war für keinen entschieden; sie gefielen mir beyde, und wir standen aufs beste zusammen. Auf einmal ward der Äl¬ teste sehr krank, ich war selbst schon oft sehr krank gewesen und wußte dem Leidenden durch Übersendung mancher Artigkeiten und für einen Kranken schicklicher Leckerbissen zu erfreuen, daß seine Eltern die Aufmerksam¬ keit dankbar erkannten, der Bitte des lieben Sohns Gehör gaben und mich sammt mei¬ nen Schwestern, so bald er nur das Bette verlassen hatte, zu ihm einluden. Die Zärt¬ lichkeit, womit er mich empfing, war nicht kin¬ disch, und von dem Tage an war ich für ihn entschieden. Er warnte mich gleich, vor sei¬ nem Bruder geheim zu seyn; allein das Feuer war nicht mehr zu verbergen, und die Ei¬ fersucht des Jüngsten machte den Roman vollkommen. Er spielte uns tausend Strei¬ che, mit Lust vernichtete er unsre Freude, und vermehrte dadurch die Leidenschaft, die er zu zerstören suchte. Nun hatte ich denn wirklich das gewünschte Schäfchen gefunden, und diese Leidenschaft hatte wie sonst eine Krankheit die Wirkung auf mich, daß sie mich still machte und mich von der schwärmenden Freude zurück zog. Ich war einsam und gerührt und Gott fiel mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter, und ich weiß wohl, mit welchen Thränen ich für den Knaben, der fortkränkelte, zu beten anhielt. So viel kindisches in dem Vorgang war, so viel trug er zur Bildung meines Herzens bey. Unserm französischen Sprachmeister mu߬ ten wir täglich, statt der sonst gewöhnlichen Übersetzung, Briefe von unsrer eignen Erfin¬ dung schreiben. Ich brachte meine Liebesge¬ schichte unter dem Namen Phyllis und Da¬ mon zu Markte. Der Alte sah bald durch, und, um mich treuherzig zu machen, lobte er meine Arbeit gar sehr. Ich wurde immer kühner, ging offenherzig heraus und war bis ins Detail der Wahrheit getreu. Ich weiß nicht mehr, bey welcher Stelle er einst Gele¬ genheit nahm, zu sagen: wie das artig, wie das natürlich ist! Aber die gute Phillis mag sich in Acht nehmen, es kann bald ernsthaft werden. Mich verdroß, daß er die Sache nicht schon für ernsthaft hielt, und fragte ihn pi¬ quirt, was er unter ernsthaft verstehe? Er ließ sich nicht zweymal fragen, und erklärte sich so deutlich, daß ich meinen Schrecken kaum verbergen konnte. Doch da sich gleich darauf bey mir der Verdruß einstellte, und ich ihm übel nahm, daß er solche Gedanken hegen könne, faßte ich mich, wollte meine Schöne rechtfertigen und sagte mit feuerro¬ then Wangen: aber mein Herr, Phyllis ist ein ehrbares Mädchen. Nun war er boshaft genug, mich mit meiner ehrbaren Heldin aufzuziehen, und, in¬ dem wir französisch sprachen, mit dem »hone¬ te» zu spielen, um die Ehrbarkeit der Phyl¬ lis durch alle Bedeutungen durchzuführen. Ich fühlte das Lächerliche und war äußerst verwirrt. Er, der mich nicht furchtsam ma¬ chen wolte, brach ab, brachte aber das Ge¬ spräch bey andern Gelegenheiten wieder auf die Bahn. Schauspiele und kleine Geschich¬ ten, die ich bey ihm las und übersetzte, ga¬ ben ihm oft Anlaß zu zeigen, was für ein schwacher Schutz die sogenannte Tugend ge¬ gen die Aufforderungen eines Affeckts sey. Ich widersprach nicht mehr, ärgerte mich aber immer heimlich, und seine Anmerkungen wur¬ den mir zur Last. Mit meinem guten Damon kam ich nach und nach aus aller Verbindung. Die Chi¬ kanen des jüngsten hatten unsern Umgang zerrissen. Nicht lange Zeit darauf starben beyde blühende Jünglinge. Es that mir weh, aber bald waren sie vergessen. Phyllis wuchs nun schnell heran, war ganz gesund und fing an die Welt zu sehen. Der Erbprinz vermählte sich und trat bald darauf nach dem Tode seines Vaters die Re¬ gierung an. Hof und Stadt waren in leb¬ hafter Bewegung. Nun hatte meine Neu¬ gierde mancherley Nahrung. Nun gab es Comödien, Bälle und was sich daran an¬ schließt, und ob uns gleich die Eltern so viel als möglich zurück hielten, so mußte man doch bey Hof, wo ich eingeführt war, erschei¬ nen. Die Fremden strömten herbey, in allen Häusern war große Welt, an uns selbst wa¬ ren einige Cavaliere empfohlen und andre introduzirt, und bey meinem Oheim waren alle Nationen anzutreffen. Mein ehrlicher Mentor fuhr fort, mich auf eine bescheidene und doch treffende Weise zu warnen, und ich nahm es ihm immer heimlich übel. Ich war keinesweges von der Wahrheit seiner Behauptung überzeugt, und vielleicht hatte ich auch damals Recht, viel¬ leicht hatte er Unrecht, die Frauen unter al¬ len Umständen für so schwach zu halten; aber er redete zugleich so zudringlich, daß mir einst bange wurde, er möchte Recht ha¬ ben, da ich denn sehr lebhaft zu ihm sagte: weil die Gefahr so groß und das menschliche Herz so schwach ist, so will ich Gott bitten, daß er mich bewahre. Die naive Antwort schien ihn zu freuen; er lobte meinen Vorsatz; aber es war bey mir nichts weniger als ernstlich gemeynt; diesmal war es nur ein leeres Wort; denn die Empfindungen für den Unsichtbaren wa¬ ren bey mir fast ganz verloschen. Der große Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerstreute mich und riß mich wie ein starker Strom mit fort. Es waren die leersten Jahre meines Lebens. Tagelang von nichts zu reden, kei¬ nen gesunden Gedanken zu haben, und nur zu schwärmen, das war meine Sache. Nicht einmal der geliebten Bücher wurde gedacht. Die Leute, mit denen ich umgeben war, hat¬ ten keine Ahndung von Wissenschaften; es waren deutsche Hofleute und diese Klasse hatte damals nicht die mindeste Kultur. Ein solcher Umgang, sollte man denken, hätte mich an den Rand des Verderbens führen müssen. Ich lebte in sinnlicher Mun¬ terkeit nur so hin, ich sammlete mich nicht, ich betete nicht, ich dachte nicht an mich noch an Gott; aber ich seh es als eine Führung an, daß mir keiner von den vielen schönen, reichen und wohlgekleideten Männern gefiel. Sie waren liederlich und versteckten es nicht, das schreckte mich zurück; ihr Gespräch zier¬ ten sie mit Zweydeutigkeiten, das beleidigte mich mich und ich hielt mich kalt gegen sie; ihre Unart überstieg manchmal allen Glauben, und ich erlaubte mir, grob zu seyn. Überdieß hatte mir mein Alter einmal vertraulich eröffnet, daß mit den meisten die¬ ser leidigen Bursche nicht allein die Tugend sondern auch die Gesundheit eines Mädchens in Gefahr sey. Nun graute mir erst vor ihnen, und ich war schon besorgt, wenn mir einer auf irgend eine Weise zu nahe kam. Ich hüthete mich vor Gläsern und Tassen wie vor dem Stuhle, von dem einer aufge¬ standen war. Auf diese Weise war ich mo¬ ralisch und physisch sehr isolirt, und alle die Artigkeiten, die sie mir sagten, nahm ich stolz für schuldigen Weyrauch auf. Unter den Fremden, die sich damals bey uns aufhielten, zeichnete sich ein junger Mann besonders aus, den wir im Scherz Narciß nannten. Er hatte sich in der diplomati¬ W. Meisters Lehrj. 3. P schen Laufbahn guten Ruf erworben, und hoffte bey den verschiedenen Veränderungen, die an unsern neuen Hofe vorgingen, vor¬ theilhaft placirt zu werden. Er ward mit meinem Vater bald bekannt, und seine Kennt¬ nisse und sein Betragen öffneten ihm den Weg in eine geschlossene Gesellschaft der wür¬ digsten Männer. Mein Vater sprach viel zu seinem Lobe, und seine schöne Gestalt hät¬ te noch mehr Eindruck gemacht, wenn sein ganzes Wesen nicht eine Art von Selbstge¬ fälligkeit gezeigt hätte. Ich hatte ihn gese¬ hen, dachte gut von ihm, aber wir hatten uns nie gesprochen. Auf einem großen Balle, auf dem er sich auch befand, tanzten wir eine Menuet zu¬ sammen; auch das ging ohne nähere Be¬ kanntschaft ab. Als die heftigen Tänze an¬ gingen, die ich meinem Vater zu liebe, der für meine Gesundheit besorgt war, zu ver¬ meiden pflegte, begab ich mich in ein Neben¬ zimmer, und unterhielt mich mit ältern Freun¬ dinnen, die sich zum Spiele gesetzt hatten. Narciß, der eine Weile mit herumgesprun¬ gen war, kam auch einmal in das Zimmer, in dem ich mich befand, und fing, nachdem er sich von einem Nasenbluten, das ihn beym Tanzen überfiel, erhohlt hatte, mit mir über mancherley zu sprechen an. Binnen einer halben Stunde war der Discours so inte¬ ressant, ob sich gleich keine Spur von Zärt¬ lichkeit drein mischte, daß wir nun beyde das Tanzen nicht mehr vertragen konnten. Wir wurden bald von den andern darüber ge¬ neckt, ohne daß wir uns dadurch irre machen ließen. Den andern Abend konnten wir un¬ ser Gespräch wieder anknüpfen und schonten unsre Gesundheit sehr. Nun war die Bekanntschaft gemacht. Narciß wartete mir und meinen Schwestern P 2 auf, und nun fing ich erst wiede ran gewahr zu werden, was ich alles wußte, worüber ich gedacht, was ich empfunden hatte, und wor¬ über ich mich im Gespräche auszudrücken verstand. Mein neuer Freund, der von je¬ her in der besten Gesellschaft gewesen war, hatte außer dem historischen und politischen Fache, das er ganz übersah, sehr ausgebreite¬ te literarische Kenntnisse, und ihm blieb nichts Neues, besonders was in Frankreich herauskam, unbekannt. Er brachte und sen¬ dete mir manch angenehmes und nützliches Buch, doch das mußte geheimer als ein ver¬ botenes Liebesverständniß gehalten werden. Man hatte die gelehrten Weiber lächerlich gemacht, und man wollte auch die unterrich¬ teten nicht leiden, wahrscheinlich, weil man für unhöflich hielt, so viel unwissende Män¬ ner beschämen zu lassen. Selbst mein Vater, den diese neue Gelegenheit, meinen Geist aus¬ zubilden, sehr erwünscht war, verlangte aus¬ drücklich, daß dieses literarische Commerz ein Geheimniß bleiben sollte. So währte unser Umgang beynahe Jahr und Tag, und ich konnte nicht sagen, daß Narciß auf irgend eine Weise Liebe oder Zärtlichkeit gegen mich geäußert hätte. Er blieb artig und verbindlich, aber zeigte kei¬ nen Affekt, vielmehr schien der Reiz meiner jüngsten Schwester, die damals außerordent¬ lich schön war, ihn nicht gleichgültig zu las¬ sen. Er gab ihr im Scherze allerley freund¬ liche Namen aus fremden Sprachen, deren mehrere er sehr gut sprach, und deren eigen¬ thümliche Redensarten er gern ins deutsche Gespräch mischte. Sie erwiederte seine Ar¬ tigkeiten nicht sonderlich; sie war von einem andern Fädchen gebunden, und da sie über¬ haupt sehr rasch und er empfindlich war, so wurden sie nicht selten über Kleinigkeiten uneins. Mit der Mutter und den Tanten wußte er sich gut zu halten, und so war er nach und nach ein Glied der Familie ge¬ worden. Wer weiß wie lange wir noch auf diese Weise fortgelebt hätten, hätte nicht ein son¬ derbarer Zufall unsere Verhältnisse auf ein¬ mal verändert. Ich ward mit meinen Schwe¬ stern in ein gewisses Haus gebeten, wohin ich nicht gerne ging. Die Gesellschaft war zu gemischt, und es fanden sich dort oft Menschen, wo nicht vom rohsten doch vom plattsten Schlage mit ein; dießmal war Narciß auch mit geladen, und um seinet¬ willen war ich geneigt hin zu gehen; denn ich war doch gewiß jemanden zu finden, mit dem ich mich auf meine Weise unterhalten konnte. Schon bey Tafel hatten wir man¬ ches auszustehen, denn einige Männer hat¬ ten stark getrunken; nach Tische sollten und mußten Pfänder gespielt werden. Es ging dabey sehr rauschend und lebhaft zu. Nar¬ ciß hatte ein Pfand zu lösen; man gab ihm auf, der ganzen Gesellschaft etwas ins Ohr zu sagen, das jedermann angenehm wäre. Er mochte sich bey meiner Nachbarin, der Frau eines Hauptmanns, zu lange verwei¬ len. Auf einmal gab ihm dieser eine Ohr¬ feige, daß mir, die ich gleich daran saß, der Puder in die Augen flog. Als ich die Au¬ gen ausgewischt und mich vom Schrecken ei¬ nigermaßen erholt hatte, sah ich beyde Män¬ ner mit bloßen Degen. Narciß blutete, und der andere, außer sich von Wein, Zorn und Eifersucht, konnte kaum von der ganzen übrigen Gesellschaft zurück gehalten werden. Ich nahm Narcissen beym Arm und führte ihn zur Thüre hinaus eine Treppe hinauf in ein ander Zimmer, und weil ich meinen Freund vor seinem tollen Gegner nicht sicher glaubte, riegelte ich die Thüre sogleich zu. Wir hielten beyde die Wunde nicht für ernsthaft, denn wir sahen nur einen leichten Hieb über die Hand; bald aber wurden wir einen Strom von Blut, der den Rücken hin¬ unterfloß, gewahr, und es zeigte sich eine große Wunde auf dem Kopfe. Nun ward mir bange. Ich eilte auf den Vorplatz um nach Hülfe zu schicken, konnte aber niemand ansichtig werden, denn alles war unten ge¬ blieben, den rasenden Menschen zu bändigen. Endlich kam eine Tochter des Hauses her¬ auf gesprungen und ihre Munterkeit ängstig¬ te mich nicht wenig, da sie sich über den tol¬ len Spectakel und über die verfluchte Co¬ mödie fast zu Tode lachen wollte. Ich bat sie dringend mir einen Wundarzt zu schaffen, und sie, nach ihrer wilden Art, sprang gleich die Treppe hinunter, selbst einen zu hohlen. Ich ging wieder zu meinem Verwunde¬ ten, band ihm mein Schnupftuch um die Hand und ein Handtuch das an der Thüre hing, um den Kopf. Er blutete noch immer heftig, kein Wundarzt kam, der Verwunde¬ te erblaßte und schien in Ohnmacht zu sin¬ ken. Niemand war in der Nähe, der mir hätte beystehen können; ich nahm ihn sehr ungezwungen in den Arm und suchte ihn durch Streicheln und Schmeicheln aufzumun¬ tern. Es schien die Wirkung eines geistigen Lebensmittels zu thun; er blieb bey sich, aber saß todtenbleich da. Nun kam endlich die thätige Hausfrau und wie erschrak sie nicht, als sie den Freund in dieser Gestalt in meinen Armen liegen und uns alle beyde mit Blut überströmt sahe, denn niemand hatte sich vorgestellt, daß Narciß verwundet sey, alle meynten, ich habe ihn glücklich hinaus gebracht. Nun war Wein, wohlriechendes Wasser und was nur erquicken und erfrischeu konn¬ te, im Überfluß da, nun kam auch der Wund¬ arzt und ich hätte wohl abtreten können; allein Narciß hielt mich fest bey der Hand, und ich wäre ohne gehalten zu werden ste¬ hen geblieben. Ich fuhr während des Ver¬ bandes fort, ihn mit Wein anzustreichen und achtete es wenig, daß die ganze Gesellschaft nunmehr umher stand. Der Wundarzt hat¬ te geendigt, der Verwundete nahm einen stummen verbindlichen Abschied von mir und wurde nach Hause getragen. Nun führte mich die Hausfrau in ihr Schlafzimmer; sie mußte mich ganz ausklei¬ den und ich darf nicht verschweigen, daß ich, da man sein Blut von meinem Körper ab¬ wusch, zum erstenmal zufällig im Spiegel gewahr wurde, daß ich mich auch ohne Hül¬ le für schön halten durfte. Ich konnte kei¬ nes meiner Kleidungsstücke wieder anziehn, und da die Personen im Hause alle kleiner oder stärker waren als ich, so kam ich in ei¬ ner seltsamen Verkleidung zum größten Er¬ staunen meiner Eltern nach Hause. Sie wa¬ ren über mein Schrecken, über die Wunden des Freundes, über den Unsinn des Haupt¬ manns, über den ganzen Vorfall äußerst verdrießlich. Wenig fehlte, so hätte mein Va¬ ter selbst, seinen Freund auf der Stelle zu rächen, den Hauptmann heraus gefordert. Er schalt die anwesenden Herren, daß sie ein solches meuchelmörderisches Beginnen nicht auf der Stelle geahndet; denn es war nur zu offenbar, daß der Hauptmann sogleich, nachdem er geschlagen, den Degen gezogen und Narcissen von hinten verwundet habe; der Hieb über die Hand war erst geführt worden, als Narciß selbst zum Degen griff. Ich war unbeschreiblich alterirt und afficirt, oder wie soll ich es ausdrücken; der Affekt, der im tiefsten Grunde des Herzens ruhte, war auf einmal losgebrochen, wie eine Flam¬ me die Luft bekömmt. Und wenn Lust und Freude sehr geschickt sind, die Liebe zuerst zu erzeugen und im Stillen zu nähren; so wird sie, die von Natur herzhaft ist, durch den Schrecken am leichtesten angetrieben, sich zu entscheiden und zu erklären. Man gab dem Töchterchen Arzney ein und legte es zu Bet¬ te. Mit dem frühsten Morgen eilte mein Vater zu dem verwundeten Freund, der an einem starken Wundfieber recht krank dar¬ nieder lag. Mein Vater sagte mir wenig von dem, was er mit ihm geredet hatte, und suchte mich wegen der Folgen, die dieser Vorfall haben könnte, zu beruhigen. Es war die Rede, ob man sich mit einer Abbitte begnü¬ gen könne, ob die Sache gerichtlich werden müsse und was dergleichen mehr war. Ich kannte meinen Vater zu wohl, als daß ich ihm geglaubt hätte, daß er diese Sache ohne Zweykampf geendigt zu sehen wünschte; al¬ lein ich blieb still, denn ich hatte von mei¬ nem Vater früh gelernt, daß Weiber in sol¬ che Händel sich nicht zu mischen hätten. Übrigens schien es nicht, als wenn zwischen den beyden Freunden etwas vorgefallen wä¬ re, das mich betroffen hätte; doch bald ver¬ traute mein Vater den Inhalt seiner wei¬ tern Unterredung meiner Mutter. Narciß, sagte er, sey äußerst gerührt von meinem ge¬ leisteten Beystand, habe ihn umarmt, sich für meinen ewigen Schuldner erklärt, be¬ zeigt, er verlange kein Glück, wenn er es nicht mit mir theilen sollte, er habe sich die Erlaubniß ausgebeten, ihn als Vater ansehn zu dürfen. Mama sagte mir das alles treu¬ lich wieder, hängte aber die wohlmeynende Erinnerung daran, auf so etwas, das in der ersten Bewegung gesagt worden, dürfe man so sehr nicht achten. Ja freylich, antworte¬ te ich mit angenommener Kälte, und fühlte der Himmel weiß was und wieviel dabey. Narciß blieb zwey Monate krank, konn¬ te wegen der Wunde an der rechten Hand nicht einmal schreiben, bezeigte mir aber in¬ zwischen sein Andenken durch die verbindlich¬ ste Aufmerksamkeit. Alle diese mehr als ge¬ wöhnliche Höflichkeiten hielt ich mit dem, was ich von der Mutter erfahren hatte, zu¬ sammen, und beständig war mein Kopf vol¬ ler Grillen. Die ganze Stadt unterhielt sich von der Begebenheit. Man sprach mit mir davon in einem besondern Tone, man zog Folgerungen daraus, die, so sehr ich sie abzulehnen suchte, mir immer sehr nahe gin¬ gen. Was vorher Tändeley und Gewohn¬ heit gewesen war, ward nun Ernst und Nei¬ gung. Die Unruhe in der ich lebte, war um so heftiger, je sorgfältiger ich sie vor al¬ len Menschen zu verbergen suchte. Der Ge¬ danke ihn zu verlieren, erschreckte mich und die Möglichkeit einer nähern Verbindung machte mich zittern. Der Gedanke des Ehe¬ standes hat für ein halbkluges Mädchen ge¬ wiß etwas Schreckhaftes. Durch diese heftigen Erschütterungen ward ich wieder an mich selbst erinnert. Die bun¬ ten Bilder eines zerstreuten Lebens, die mir sonst Tag und Nacht vor den Augen schweb¬ ten, waren auf einmal weggeblasen. Meine Seele fing wieder an sich zu regen; allein die sehr unterbrochene Bekanntschaft mit dem unsichtbaren Freunde war so leicht nicht wie¬ der hergestellt. Wir blieben noch immer in ziemlicher Entfernung; es war wieder etwas, aber gegen sonst ein großer Unterschied. Ein Zweykampf, worin der Hauptmann stark verwundet wurde, war vorüber, ohne daß ich etwas davon erfahren hatte, und die öffentliche Meynung war in jedem Sin¬ ne auf der Seite meines Geliebten, der end¬ lich wieder auf dem Schauplatze erschien. Vor allen Dingen ließ er sich mit verbund¬ nem Haupt und eingewickelter Hand in un¬ ser Haus tragen. Wie klopfte mir das Herz bey diesem Besuche! Die ganze Familie war gegenwärtig; es blieb auf beyden Sei¬ ten nur bey allgemeinen Danksagungen und Höflichkeiten, doch fand er Gelegenheit mir einige geheime Zeichen seiner Zärtlichkeit zu geben, wodurch meine Unruhe nur zu sehr vermehrt ward. Nachdem er sich völlig wie¬ der erhohlt, besuchte er uns den ganzen Win¬ ter auf eben dem Fuß wie ehemals, und bey allen leisen Zeichen von Empfindung und Liebe, die er mir gab, blieb alles unerörtert. Auf diese Weise ward ich in steter Übung gehal¬ gehalten. Ich konnte mich keinem Menschen vertrauen und von Gott war ich zu weit entfernt. Ich hatte diesen während vier wil¬ der Jahre ganz vergessen, nun dachte ich dann und wann wieder an ihn, aber die Bekanntschaft war erkaltet; es waren nur Cerimonienvisiten, die ich ihm machte, und da ich überdies, wenn ich vor ihm erschien, immer schöne Kleider anlegte, meine Tugend, Ehrbarkeit und Vorzüge, die ich vor andern zu haben glaubte, ihm mit Zufriedenheit vorwies; so schien er mich in dem Schmucke gar nicht zu bemerken. Ein Höfling würde, wenn sein Fürst, von dem er sein Glück erwartet, sich so gegen ihn betrüge, sehr beunruhigt werden; mir aber war nicht übel dabey zu Muthe, ich hatte was ich brauchte, Gesundheit und Bequem¬ lichkeit, wollte sich Gott mein Andenken ge¬ fallen lassen, so war es gut, wo nicht, so W. Meisters Lehrj. 3. Q glaubte ich doch meine Schuldigkeit gethan zu haben. So dachte ich freylich damals nicht von mir; aber es war doch die wahrhafte Gestalt meiner Seele. Meine Gesinnungen zu än¬ dern und zu reinigen waren aber auch schon Anstalten gemacht. Der Frühling kam heran, und Narciß be¬ suchte mich unangemeldet zu einer Zeit, da ich ganz allein zu Hause war. Nun erschien er als Liebhaber und fragte mich, ob ich ihm mein Herz, und wenn er eine ehrenvolle, wohlbesoldete Stelle erhielte, auch dereinst meine Hand schenken wollte? Man hatte ihn zwar in unsre Dienste genommen; allein zum Anfange hielt man ihn, weil man sich vor seinem Ehrgeiz fürch¬ tete, mehr zurück, als daß man ihn schnell em¬ por gehoben hätte und ließ ihn, weil er eignes Vermögen hatte, bey einer kleinen Besoldung. Bey aller meiner Neigung zu ihm wußte ich, daß er der Mann nicht war, mit dem man ganz gerade handeln konnte. Ich nahm mich daher zusammen und verwies ihn an meinen Vater, an dessen Einwilligung er nicht zu zweifeln schien, und mit mir erst auf der Stelle einig seyn wollte. Endlich sagte ich Ja, indem ich die Beystimmung meiner Eltern zur nothwendigen Bedingung machte. Er sprach alsdann mit beyden förmlich; sie zeigten ihre Zufriedenheit, man gab sich das Wort auf den bald zu hoffenden Fall, daß man ihn weiter avanciren werde. Schwe¬ stern und Tanten wurden davon benachrich¬ tigt, und ihnen das Geheimnis auf das strengste anbefohlen. Nun war aus einem Liebhaber ein Bräu¬ tigam geworden. Die Verschiedenheit zwi¬ schen beyden zeigte sich sehr groß. Könnte jemand die Liebhaber aller wohldenkenden Q 2 Mädchen in Bräutigame verwandeln, so wäre es eine große Wohlthat für unser Ge¬ schlecht, selbst wenn auf dieses Verhältniß keine Ehe erfolgen sollte. Die Liebe zwischen beyden Personen nimmt dadurch nicht ab, aber sie wird vernünftiger. Unzählige kleine Thorheiten, alle Koketterien und Launen fal¬ len gleich hinweg. Äußert uns der Bräuti¬ gam, daß wir ihm in einer Morgenhaube besser als in dem schönsten Aufsatze gefallen, dann wird einem wohldenkenden Mädchen gewiß die Frisur gleichgültig, und es ist nichts natürlicher, als daß er auch solid denkt und lieber sich eine Hausfrau als der Welt eine Putzdocke zu bilden wünscht. Und so geht es durch alle Fächer durch. Hat ein solches Mädchen dabey das Glück, daß ihr Bräutigam Verstand und Kenntnisse besitzt, so lernt sie mehr als hohe Schulen und fremde Länder geben können. Sie nimmt nicht nur alle Bildung gern an, die er ihr giebt, sondern sie sucht sich auch auf diesem Wege so immer weiter zu bringen. Die Liebe macht vieles Unmögliche möglich, und endlich geht die dem weiblichen Geschlecht so nöthige und anständige Unterwerfung sogleich an; der Bräutigam herrscht nicht wie der Ehemann; er bittet nur, und seine Geliebte sucht ihm abzumerken, was er wünscht, um es noch eher zu vollbringen als er bittet. So hat mich die Erfahrung gelehrt, was ich nicht um vieles missen möchte. Ich war glücklich, wahrhaft glücklich, wie man es in der Welt seyn kann, daß heißt, auf kurze Zeit. Ein Sommer ging unter diesen stillen Freuden hin. Narciß gab mir nicht die min¬ deste Gelegenheit zu Beschwerden; er ward mir immer lieber, meine ganze Seele hing an ihm, das wußte er wohl und wußte es zu schätzen. Inzwischen entspann sich aus anscheinenden Kleinigkeiten etwas, das un¬ serm Verhältnisse nach und nach schädlich wurde Narciß ging als Bräutigam mit mir um, und nie wagte er es, das von mir zu begeh¬ ren, was uns noch verboten war. Allein über die Grenzen der Tugend und Sittsam¬ keit waren wir sehr verschiedener Meynung. Ich wollte sicher gehen und erlaubte durch¬ aus keine Freyheit, als welche allenfalls die ganze Welt hätte wissen dürfen. Er, an Näschereyen gewöhnt, fand diese Diät sehr streng; hier setzte es nun beständigen Wider¬ spruch; er lobte mein Verhalten und suchte meinen Entschluß zu untergraben. Mir fiel das ernsthaft meines alten Sprachmeisters wieder ein, und zugleich das Hülfsmittel, das ich damals dagegen ange¬ geben hatte. Mit Gott war ich wieder ein wenig be¬ kannter geworden. Er hatte mir so einen lieben Bräutigam gegeben und dafür wußte ich ihm Dank. Die irdische Liebe selbst con¬ centrirte meinen Geist und setzte ihn in Be¬ wegung, und meine Beschäftigung mit Gott widersprach ihr nicht. Ganz natürlich klagte ich ihm, was mich bange machte, und bemerkte nicht, daß ich selbst das, was mich bange mach¬ te, wünschte und begehrte. Ich kam mir sehr stark vor und betete nicht etwa: bewahre mich vor Versuchung, über die Versuchung war ich meinen Gedanken nach weit hinaus. In diesem losen Flitterschmuck eigner Tugend erschien ich dreist vor Gott; er stieß mich nicht weg, auf die geringste Bewegung zu ihm hinterließ er einen sanften Eindruck in meiner Seele, und dieser Eindruck bewegte mich ihn immer wieder aufzusuchen. Die ganze Welt war mir ausser Narcis¬ sen todt, nichts hatte außer ihm einen Reiz für mich. Selbst meine Liebe zum Putz hatte nur den Zweck, ihm zu gefallen; wußte ich, daß er mich nicht sah, so konnte ich keine Sorgfalt darauf wenden. Ich tanzte gern, wenn er aber nicht dabey war, so schien mir, als wenn ich die Bewegung nicht vertragen könnte. Auf ein brillantes Fest, bey dem er nicht zugegen war, konnte ich mir weder etwas neues anschaffen, noch das alte der Mode gemäß aufstutzen. Einer war mir so lieb als der andere, doch möchte ich lieber sagen, einer so lästig als der andere. Ich glaubte meinen Abend recht gut zugebracht zu haben, wenn ich mir mit ältern Personen ein Spiel ausmachen konnte, wozu ich sonst nicht die mindeste Lust hatte, und wenn ein alter gu¬ ter Freund mich etwa scherzhaft darüber aufzog, lächelte ich vielleicht das erstemal den ganzen Abend. So ging es mit Pro¬ menaden und allen gesellschaftlichen Vergnü¬ gungen, die sich nur denken lassen: Ich hatt’ ihn einzig mir erkohren; Ich schien mir nur für ihn gebohren, Begehrte nichts als seine Gunst. So war ich oft in der Gesellschaft ein¬ sam, und die völlige Einsamkeit war mir meistens lieber. Allein mein geschäftiger Geist konnte weder schlafen noch träumen; ich fühlte und dachte und erlangte nach und nach eine Fertigkeit, von meinen Empfindun¬ gen und Gedanken mit Gott zu reden. Da entwickelten sich Empfindungen anderer Art in meiner Seele, die jenen nicht widerspra¬ chen. Denn meine Liebe zu Narciß war dem ganzen Schöpfungsplane gemäß und stieß nirgend gegen meine Pflichten an. Sie wi¬ dersprachen sich nicht und waren doch unend¬ lich verschieden. Narciß war das einzige Bild, das mir vorschwebte, auf das sich meine ganze Liebe bezog; aber das andere Gefühl bezog sich auf kein Bild und war unaus¬ sprechlich angenehm. Ich habe es nicht mehr und kann es mir nicht mehr geben. Mein Geliebter, der sonst alle meine Ge¬ heimnisse wußte, erfuhr nichts hiervon. Ich merkte bald daß er anders dachte; er gab mir öfters Schriften, die alles, was man Zu¬ sammenhang mit dem Unsichtbaren heißen kann, mit leichten und schweren Waffen be¬ stritten. Ich las die Bücher, weil sie von ihm kamen, und wußte am Ende kein Wort von allem dem, was darin gestanden hatte. Über Wissenschaften und Kenntnisse ging es auch nicht ohne Widerspruch ab; er machte es wie alle Männer, spottete über gelehrte Frauen und bildete unaufhörlich an mir. Über alle Gegenstände, die Rechtsgelehrsam¬ keit ausgenommen, pflegte er mit mir zu sprechen, und indem er mir Schriften aller¬ ley Art beständig zubrachte, wiederholte er oft die bedenkliche Lehre: daß ein Frauen¬ zimmer sein Wissen heimlicher halten müßte, als der Calvinist seinen Glauben im katho¬ lischen Lande, und indem ich wirklich auf eine ganz natürliche Weise vor der Welt mich nicht klüger und unterrichteter als sonst zu zeigen pflegte, war er der erste, der gele¬ gentlich der Eitelkeit nicht widerstehen konnte, von meinen Vorzügen zu sprechen. Ein berühmter und damals wegen seines Einflusses, seiner Talente und seines Geistes sehr geschätzter Weltmann, fand an unserm Hofe großen Beyfall. Er zeichnete Narcis¬ sen besonders aus und hatte ihn beständig um sich. Sie stritten auch über die Tugend der Frauen. Narciß vertraute mir weitläuf¬ tig ihre Unterredung; ich blieb mit meinen Anmerkungen nicht dahinten, und mein Freund verlangte von mir einen schriftlichen Aufsatz. Ich schrieb ziemlich geläufig französisch; ich hatte bey meinem Alten einen guten Grund gelegt. Die Correspondenz mit meinem Freunde war in dieser Sprache geführt, und eine feinere Bildung konnte man überhaupt damals nur aus französischen Büchern neh¬ men. Mein Aufsatz hatte dem Grafen ge¬ fallen; ich mußte einige kleine Lieder herge¬ ben, die ich vor kurzen gedichtet hatte. Ge¬ nug, Narciß schien sich auf seine Geliebte ohne Rückhalt etwas zu gute zu thun, und die Geschichte endigte zu seiner großen Zu¬ friedenheit mit einer geistreichen Epistel in französischen Versen, die ihm der Graf bey seiner Abreise zusandte, worin ihres freund¬ schaftlichen Streites gedacht war, und mein Freund am Ende glücklich gepriesen wurde, daß er nach so manchen Zweifeln und Irr¬ thümern in den Armen einer reizenden und tugendhaften Gattin, was Tugend sey, am sichersten erfahren würde. Dieses Gedicht ward mir vor allen und dann aber auch fast jederman gezeigt, und jeder dachte dabey was er wollte. So ging es in mehreren Fällen und so mußten alle Fremden, die er schätzte, in unserm Hause be¬ kannt werden. Eine gräfliche Familie hielt sich wegen unsres geschickten Arztes eine Zeitlang hier auf. Auch in diesem Hause war Narciß wie ein Sohn gehalten; er führte mich da¬ selbst ein, man fand bey diesen würdigen Personen eine angenehme Unterhaltung für Geist und Herz, und selbst die gewöhnlichen Zeitvertreibe der Gesellschaft schienen in die¬ sem Hause nicht so leer wie anderwärts. Jedermann wußte wie wir zusammen stan¬ den, man behandelte uns, wie es die Um¬ stände mit sich brachten, und ließ das Haupt¬ verhältniß unberührt. Ich erwähne dieser einen Bekanntschaft, weil sie in der Folge meines Lebens manchen Einfluß auf mich hatte. Nun war fast ein Jahr unserer Verbin¬ dung verstrichen, und mit ihm war auch unser Frühling dahin. Der Sommer kam, und alles wurde ernsthafter und heißer. Durch einige unerwartete Todesfälle wa¬ ren Ämter erledigt, auf die Narciß Anspruch machen konnte. Der Augenblick war nahe, in dem sich mein ganzes Schicksal entschei¬ den sollte, und indeß Narciß und alle Freun¬ de sich bey Hofe die möglichste Mühe ga¬ ben, gewisse Eindrücke, die ihm ungünstig waren, zu vertilgen, und ihm den erwünsch¬ ten Platz zu verschaffen, wendete ich mich mit meinem Anliegen zu dem unsichtbaren Freunde. Ich war so freundlich aufgenom¬ men, daß ich gern wiederkam. Ganz frey gestand ich meinen Wunsch, Narciß möchte zu der Stelle gelangen; allein meine Bitte war nicht ungestüm, und ich forderte nicht, daß es um meines Gebets willen geschehen sollte. Die Stelle ward durch einen viel gerin¬ geren Concurrenten besetzt. Ich erschrak hef¬ tig über die Zeitung, und eilte in mein Zimmer, das ich fest hinter mir zumachte. Der erste Schmerz löste sich in Thränen auf, der nächste Gedanke war: es ist aber doch nicht von ohngefähr geschehen, und sogleich folgte die Entschließung, es mir recht wohl gefallen zu lassen, weil auch dieses anschei¬ nende Übel zu meinem wahren Besten gerei¬ chen würde. Nun drangen die sanftesten Empfindungen, die alle Wolken des Kum¬ mers zertheilten, herbey; ich fühlte, daß sich mit dieser Hülfe alles ausstehn ließ. Ich ging heiter zu Tische zum größten Erstaunen meiner Hausgenossen. Narciß hatte weniger Kraft als ich, und ich mußte ihn trösten. Auch in seiner Fa¬ milie begegneten ihm Widerwärtigkeiten, die ihn sehr drückten, und bey dem wahren Vertrauen, das unter uns Statt hatte, ver¬ traute er mir alles. Seine Negotiationen in fremde Dienste zu gehen, waren auch nicht glücklicher, alles fühlte ich tief um seinet- und meinetwillen, und alles trug ich zuletzt an den Ort, wo mein Anliegen so wohl auf¬ genommen wurde. Je sanfter diese Erfahrungen waren, desto öfter suchte ich sie zu erneuern, und ich such¬ te immer da den Trost, wo ich ihn so oft gefunden hatte; allein ich fand ihn nicht immer, es war mir wie einem, der sich an der Sonne wärmen will, und dem etwas im Wege steht, das Schatten macht. Was ist das? fragte ich mich selbst. Ich spürte der Sache eifrig nach, und bemerkte deutlich, daß daß alles von der Beschaffenheit meiner Seele abhing; wenn die nicht ganz in der geradesten Richtung zu Gott gekehrt war, so blieb ich kalt; ich fühlte seine Rückwir¬ kung nicht, und konnte seine Antwort nicht vernehmen. Nun war die zweyte Frage: was verhindert diese Richtung? Hier war ich in einem weiten Felde, und verwickelte mich in eine Untersuchung, die beynah das ganze zweyte Jahr meiner Liebesgeschichte fortdauerte. Ich hätte sie früher endigen können, denn ich kam bald auf die Spur, aber ich wollte es nicht gestehen, und suchte tausend Ausflüchte. Ich fand sehr bald, daß die gerade Rich¬ tung meiner Seele durch thörichte Zerstreuung und Beschäftigung mit unwürdigen Sachen gestöhrt werde; das Wie und Wo war mir bald klar genug. Nun aber wie heraus¬ kommen? in einer Welt wo alles gleichgül¬ W. Meisters Lehrj. 3. R tig oder toll ist. Gern hätte ich die Sache an ihren Ort gestellt seyn lassen, und hätte auf geradewohl hingelebt wie andere Leute auch, die ich ganz wohlauf sah; allein ich durfte nicht, mein Innres widersprach mir zu oft. Wollte ich mich der Gesellschaft ent¬ ziehen und meine Verhältnisse verändern, so konnte ich nicht. Ich war nun einmal in einen Kreis hinein gesperrt; gewisse Verbin¬ dungen konnte ich nicht los werden, und in der mir so angelegenen Sache drängten und häuften sich die Fatalitäten. Ich legte mich oft mit Thränen zu Bette, und stand nach einer schlaflosen Nacht auch wieder so auf; ich bedurfte einer kräftigen Unterstützung, und die verlieh mir Gott nicht, wenn ich mit der Schellenkappe herum lief. Nun ging es an ein Abwiegen aller und jeder Handlungen; Tanzen und Spielen wurden am ersten in Untersuchung genom¬ men. Nie ist etwas vor oder gegen diese Dinge geredet, gedacht, o der geschrieben wor¬ den, das ich nicht aufsuchte, besprach, las, erwog, vermehrte, verwarf, und mich uner¬ hört herumplagte. Unterließ ich diese Dinge, so war ich gewiß, Narcissen zu beleidigen. Denn er fürchtete sich äußerst vor dem Lä¬ cherlichen, das uns der Anschein ängstlicher Gewissenhaftigkeit vor der Welt giebt. Weil ich nun das, was ich für Thorheit, für schädliche Thorheit hielt, nicht einmal aus Geschmack, sondern blos um seinetwillen that, so wurde mir alles entsetzlich schwer. Ohne unangenehme Weitläuftigkeiten und Wiederholungen würde ich die Bemühungen nicht darstellen können, welche ich anwende¬ te, um jene Handlungen, die mich nun ein¬ mal zerstreuten und meinen innern Frieden stöhrten, so zu verrichten, daß dabey mein Herz für die Einwirkungen des unsichtbaren R 2 Wesens offen bliebe, und wie schmerzlich ich empfinden mußte, daß der Streit auf diese Weise nicht beygelegt werden könne. Denn sobald ich mich in das Gewand der Thor¬ heit kleidete, blieb es nicht bloß bey der Maske, sondern die Narrheit durchdrang mich sogleich durch und durch. Darf ich hier das Gesetz einer blos hi¬ storischen Darstellung überschreiten, und eini¬ ge Betrachtungen über dasjenige machen, was in mir vorging? Was konnte das seyn, das meinen Geschmack und meine Sinnes¬ art so änderte, daß ich im zwey und zwan¬ zigsten Jahre, ja früher, kein Vergnügen an Dingen fand, die Leute von diesem Alter unschuldig belustigen können? Warum wa¬ ren sie mir nicht unschuldig? Ich darf wohl antworten: eben weil sie mir nicht unschul¬ dig waren, weil ich nicht wie andre meines gleichen unbekannt mit meiner Seele war. Nein, ich wußte aus Erfahrungen, die ich ungesucht erlangt hatte, daß es höhere Em¬ pfindungen gebe, die uns ein Vergnügen wahrhaftig gewährten, das man vergebens bey Lustbarkeiten sucht, und daß in diesen höhern Freuden zugleich ein geheimer Schatz zur Stärkung im Unglück aufbewahrt sey. Aber die geselligen Vergnügungen und Zerstreuungen der Jugend mußten doch noth¬ wendig einen starken Reiz für mich haben, weil es mir nicht möglich war, sie zu thun, als thäte ich sie nicht. Wie manches könnte ich jetzt mit großer Kälte thun, wenn ich nur wollte, was mich damals irre machte, ja Meister über mich zu werden drohete. Hier konnte kein Mittelweg gehalten wer¬ den, ich mußte entweder die reizenden Ver¬ gnügungen oder die erquickenden innerlichen Empfindungen entbehren. Aber schon war der Streit in meiner Seele ohne mein eigentliches Bewußtseyn entschieden. Wenn auch etwas in mir war, das sich nach den sinnlichen Freuden hin¬ sehnte, so konnte ich sie doch nicht mehr ge¬ nießen. Wer den Wein noch so sehr liebt, dem wird alle Lust zum Trinken vergehen, wenn er sich bey vollen Fässern in einem Keller befände, in welchem die verdorbene Luft ihn zu ersticken drohete. Reine Luft ist mehr als Wein, das fühlte ich nur zu leb¬ haft, und es hätte gleich von Anfang an wenig Überlegung bey mir gekostet, das Gute dem Reizenden vorzuziehen, wenn mich die Furcht, Narcissens Gunst zu verlieren, nicht abgehalten hätte. Aber da ich endlich nach tausendfältigem Streit, nach immer wiederholter Betrachtung, auch scharfe Blicke auf das Band warf, das mich an ihn fest hielt, entdeckte ich, daß es nur schwach war, daß es sich zerreissen lasse. Ich erkannte auf einmal, daß es nur eine Glasglocke sey, die mich in den luftleeren Raum sperrte; nur noch so viel Kraft sie entzwey zu schla¬ gen, und du bist gerettet. Gedacht gewagt. Ich zog die Maske ab und handelte jedesmal wie mirs ums Herz war. Narcissen hatte ich immer zärt¬ lich lieb; aber das Thermometer, das vorher im heißen Wasser gestanden, hing nun an der natürlichen Luft; es konnte nicht höher steigen, als die Atmosphäre warm war. Unglücklicherweise erkältete sie sich sehr. Narciß fing an sich zurück zu ziehen und fremd zu thun, das stand ihm frey; aber mein Thermometer fiel, so wie er sich zurück zog. Meine Familie bemerkte es, man be¬ fragte mich, man wollte sich verwundern. Ich erklärte mit männlichem Trotz, daß ich mich bisher genug aufgeopfert habe, daß ich bereit sey, noch ferner und bis ans Ende meines Lebens alle Widerwärtigkeiten mit ihm zu theilen, daß ich aber für meine Hand¬ lungen völlige Freyheit verlange, daß mein Thun und Lassen von meiner Überzeugung abhängen müsse; daß ich zwar niemals ei¬ gensinnig auf meiner Meynung beharren, vielmehr jede Gründe gerne anhören wollte, aber da es mein eigenes Glück betreffe, müs¬ se die Entscheidung von mir abhängen, und keine Art von Zwang würde ich dulden. So wenig das Raisonnement des größten Arztes mich bewegen würde, eine sonst viel¬ leicht ganz gesunde und von vielen sehr ge¬ liebte Speise zu mir zu nehmen, so bald mir meine Erfahrung bewiese, daß sie mir jeder¬ zeit schädlich sey, wie ich den Gebrauch des Kaffees zum Beyspiel anführen könnte, so wenig und noch viel weniger würde ich mir irgend eine Handlung, die mich verwirrte, als für mich moralisch zuträglich aufdemon¬ striren lassen. Da ich mich so lange im Stillen vorbe¬ reitet hatte, so waren mir die Debatten hier¬ über eher angenehm als verdrießlich. Ich machte meinem Herzen Luft, und fühlte den ganzen Werth meines Entschlusses. Ich wich nicht ein Haar breit, und wem ich nicht kind¬ lichen Respect schuldig war, der wurde derb abgefertigt. In meinem Hause siegte ich bald. Meine Mutter hatte von Jugend auf ähnliche Gesinnungen, nur waren sie bey ihr nicht zur Reife gediehen; keine Noth hatte sie gedrängt, und den Muth ihre Über¬ zeugung durchzusetzen erhöht. Sie freute sich durch mich ihre stillen Wünsche erfüllt zu sehen. Die jüngere Schwester schien sich an mich anzuschließen; die zweyte war auf¬ merksam und still. Die Tante hatte am meisten einzuwenden. Die Gründe, die sie vorbrachte, schienen ihr unwiderleglich, und waren es auch, weil sie ganz gemein waren. Ich war endlich genöthigt, ihr zu zeigen, daß sie in keinem Sinne eine Stimme in dieser Sache habe, und sie ließ nur selten merken, daß sie auf ihrem Sinne verharre. Auch war sie die einzige, die diese Begebenheit von nahen ansah und ganz ohne Empfin¬ dung blieb. Ich thue ihr nicht zu viel, wenn ich sage, daß sie kein Gemüth und die eingeschränktesten Begriffe hatte. Der Vater benahm sich ganz seiner Denk¬ art gemäß. Er sprach wenig, aber öfter mit mir über die Sache, und seine Gründe wa¬ ren verständig, und als seine Gründe un¬ widerleglich; nur das tiefe Gefühl meines Rechts gab mir Stärke, gegen ihn zu dispu¬ tiren. Aber bald veränderten sich diese Sce¬ nen; ich mußte an sein Herz Anspruch ma¬ chen. Gedrängt von seinem Verstande brach ich in die affektvollsten Vorstellungen aus. Ich ließ meiner Zunge und meinen Thränen freyen Lauf. Ich zeigte ihm, wie sehr ich Narcissen liebte, und welchen Zwang ich mir seit zwey Jahren angethan hatte, wie ge¬ wiß ich sey, daß ich recht handle, daß ich bereit sey diese Gewißheit mit dem Verlust des geliebten Bräutigams und anscheinenden Glücks, ja wenn es nöthig wäre, mit Haab und Gut zu versiegeln; daß ich lieber mein Vaterland, Eltern und Freunde verlassen, und mein Brod in der Fremde verdienen, als gegen meine Einsichten handeln wollte. Er verbarg seine Rührung, schwieg einige Zeit stille und erklärte sich endlich öffentlich für mich. Narciß vermied seit jener Zeit unser Haus, und nun gab mein Vater die wöchentliche Gesellschaft auf, in der sich dieser befand. Die Sache machte Aufsehn bey Hofe und in der Stadt. Man sprach darüber wie ge¬ wöhnlich in solchen Fällen, an denen das Publikum heftigen Theil zu nehmen pflegt, weil es verwöhnt ist, auf die Entschließun¬ gen schwacher Gemüther einigen Einfluß zu haben. Ich kannte die Welt genug, und wußte, daß man oft von eben den Personen über das getadelt wird, wozu man sich durch sie hat bereden lassen, und auch ohne das würden mir bey meiner innern Verfassung alle solche vorübergehende Meynungen we¬ niger als nichts gewesen seyn. Dagegen versagte ich mir nicht, meiner Neigung zu Narcissen nachzuhängen. Er war mir unsichtbar geworden, und mein Herz hatte sich nicht gegen ihn geändert. Ich liebte ihn zärtlich, gleichsam auf das neue und viel gesetzter als vorher. Wollte er meine Überzeugung nicht stöhren, so war ich die Seine, ohne diese Bedingung hätte ich ein Königreich mit ihm ausgeschlagen. Mehrere Monate lang trug ich diese Em¬ pfindungen und Gedanken mit mir herum, und da ich mich endlich still und stark ge¬ nug fühlte, um ruhig und gesetzt zu Werke zu gehen, so schrieb ich ihm ein höfliches, nicht zärtliches, Billet, und fragte ihn, war¬ um er nicht mehr zu mir komme? Da ich seine Art kannte, sich selbst in geringern Dingen nicht gern zu erklären, sondern stillschweigend zu thun, was ihm gut däuchte; so drang ich gegenwärtig mit Vor¬ satz in ihn. Ich erhielt eine lange und wie mir schien abgeschmackte Antwort, in einem weitläuftigen Styl und unbedeutenden Phra¬ sen: daß er ohne bessere Stellen sich nicht einrichten, und mir seine Hand anbieten kön¬ ne, daß ich am besten wisse, wie hinderlich es ihm bisher gegangen, daß er glaube, ein so lang fortgesetzter fruchtloser Umgang kön¬ ne meiner Renommée schaden, ich würde ihm erlauben, sich in der bisherigen Entfernung zu halten; so bald er im Stande wäre, mich glücklich zu machen, würde ihm das Wort, das er mir gegeben, heilig seyn. Ich antwortete ihm auf der Stelle: da die Sache aller Welt bekannt sey, möge es zu spät seyn, meine Renommée zu menagiren, und für diese wären mir mein Gewissen und meine Unschuld die sichersten Bürgen; Ihm aber gäbe ich hiermit sein Wort ohne Be¬ denken zurück, und wünschte, daß er dabey sein Glück finden möchte. In eben der Stunde erhielt ich eine kurze Antwort, die im Wesentlichen mit der ersten völlig gleich¬ lautend war. Er blieb dabey, daß er nach erhaltener Stelle bey mir anfragen würde, ob ich sein Glück mit ihm theilen wollte. Mir hieß das nun so viel als nichts ge¬ sagt. Ich erklärte meinen Verwandten und Bekannten, die Sache sey abgethan und sie war es auch wirklich. Denn als er neun Monate hernach auf das erwünschteste beför¬ dert wurde, ließ er mir seine Hand nochmals antragen, freylich mit der Bedingung, daß ich als Gattin eines Mannes, der ein Haus machen müßte, meine Gesinnungen würde zu ändern haben. Ich dankte höflich, und eilte mit Herz und Sinn von dieser Geschichte weg, wie man sich aus dem Schauspielhause heraus sehnt, wenn der Vorhang gefallen ist. Und da er kurze Zeit darauf, wie es ihm nun sehr leicht war, eine reiche und an¬ sehnliche Partie gefunden hatte, und ich ihn nach seiner Art glücklich wußte, so war meine Beruhigung ganz vollkommen. Ich darf nicht mit Stillschweigen überge¬ hen, daß einigemal, noch eh er eine Bedie¬ nung erhielt, auch nachher ansehnliche Hei¬ rathsanträge an mich gethan wurden, die ich aber ganz ohne Bedenken ausschlug, so sehr Vater und Mutter mehr Nachgiebigkeit von meiner Seite gewünscht hätten. Nun schien mir nach einem stürmischen März und April das schönste Maywetter beschert zu seyn. Ich genoß bey einer guten Gesundheit eine unbeschreibliche Gemüths¬ ruhe; ich mochte mich umsehen, wie ich wollte, so hatte ich bey meinem Verluste noch ge¬ wonnen. Jung und voll Empfindung wie ich war, däuchte mir die Schöpfung tausend¬ mal schöner als vorher, da ich Gesellschaften und Spiele haben mußte, damit mir die Weile in dem schönen Garten nicht zu lang wurde. Da ich mich einmal meiner Fröm¬ migkeit nicht schämte, so hatte ich Herz meine Liebe zu Künsten und Wissenschaften nicht zu verbergen. Ich zeichnete, mahlte, las und fand Menschen genug, die mich unter¬ stützten; statt der großen Welt, die ich ver¬ lassen hatte, oder vielmehr, die mich verließ, bildete sich eine kleinere um mich her, die weit reicher und unterhaltender war. Ich hatte hatte eine Neigung zum gesellschaftlichen Le¬ ben, und ich läugne nicht, daß mir, als ich meine ältern Bekanntschaften aufgab, vor der Einsamkeit grauete. Nun fand ich mich hinlänglich, ja vielleicht zu sehr entschädigt. Meine Bekanntschaften wurden erst recht weitläuftig, nicht nur mit Einheimischen, de¬ ren Gesinnungen mit den meinigen überein¬ stimmten, sondern auch mit Fremden. Meine Geschichte war ruchtbar geworden, und es waren viele Menschen neugierig, das Mäd¬ chen zu sehen, die Gott mehr schätzte als ih¬ ren Bräutigam. Es war damals überhaupt eine gewisse religiöse Stimmung in Deutsch¬ land bemerkbar. In mehreren fürstlichen und gräflichen Häusern war eine Sorge für das Heil der Seele lebendig. Es fehlte nicht an Edelleuten die gleiche Aufmerksamkeit heg¬ ten, und in den geringern Ständen war durchaus diese Gesinnung verbreitet. W. Meisters Lehrj. 3. S Die gräfliche Familie, deren ich oben er¬ wähnt, zog mich nun näher an sich. Sie hatte sich indessen verstärkt, indem sich einige Verwandte in die Stadt gewendet hatten. Diese schätzbaren Personen suchten meinen Umgang, wie ich den ihrigen. Sie hatten große Verwandtschaft, und ich lernte in die¬ sem Hause einen großen Theil der Fürsten, Grafen und Herrn des Reichs kennen. Meine Gesinnungen waren niemanden ein Geheim¬ niß, und man mochte sie ehren oder auch nur schonen, so erlangte ich doch meinen Zweck und blieb ohne Anfechtung. Noch auf eine andere Weise sollte ich wieder in die Welt geführt werden. Zu eben der Zeit verweilte ein Stiefbruder meines Vaters, der uns sonst nur im Vorbeygehn besucht hatte, länger bey uns. Er hatte die Dienste seines Hofes, wo er geehrt und von Einfluß war, nur deswegen verlassen, weil nicht alles nach seinem Sinne ging. Sein Verstand war richtig und sein Charakter streng, und er war darin meinem Vater sehr ähnlich; nur hatte dieser dabey einen gewis¬ sen Grad von Weichheit, wodurch ihm leich¬ ter ward in Geschäften nachzugeben und et¬ was gegen seine Überzeugung nicht zu thun, aber geschehen zu lassen, und den Unwillen darüber alsdann entweder in der Stille für sich oder vertraulich mit seiner Familie zu verkochen. Mein Oheim war um vieles jün¬ ger, und seine Selbstständigkeit ward durch seine äußern Umstände nicht wenig bestätigt. Er hatte eine sehr reiche Mutter gehabt, und hatte von ihren nahen und fernen Ver¬ wandten noch ein großes Vermögen zu hof¬ fen; er bedurfte keines fremden Zuschusses, anstatt daß mein Vater bey seinem mäßigen Vermögen durch Besoldung an den Dienst fest geknüpft war. S 2 Noch unbiegsamer war mein Oheim durch häusliches Unglück geworden. Er hatte eine liebenswürdige Frau und einen hoff¬ nungsvollen Sohn früh verloren, und er schien von der Zeit an alles von sich entfernen zu wollen, was nicht von seinem Willen abhing. In der Familie sagte man sich gelegent¬ lich mit einiger Selbstgefälligkeit in die Oh¬ ren, daß er wahrscheinlich nicht wieder heira¬ then werde, und daß wir Kinder uns schon als Erben seines großen Vermögens ansehen könnten. Ich achtete nicht weiter darauf; allein das Betragen der übrigen ward nach diesen Hoffnungen nicht wenig gestimmt Bey der Festigkeit seines Charakters hatte er sich gewöhnt, in der Unterredung niemand zu wi¬ dersprechen, vielmehr die Meynung eines je¬ den freundlich anzuhören, und die Art wie sich jeder eine Sache dachte noch selbst durch Argumente und Beyspiele zu erheben. Wer hn nicht kannte glaubte stets mit ihm einer¬ ley Meynung zu seyn, denn er hatte einen überwiegenden Verstand und konnte sich in alle Vorstellungsarten versetzen. Mit mir ging es ihm nicht so glücklich, denn hier war von Empfindungen die Rede, von denen er gar keine Ahndung hatte, und so schonend, theilnehmend und verständig er mit mir über meine Gesinnungen sprach, so war es mir doch auffallend, daß er von dem, worin der Grund aller meiner Handlungen lag, offenbar keinen Begriff hatte. So geheim er übrigens war, entdeckte sich doch der Entzweck seines ungewöhnlichen Auffenthalts bey uns nach einiger Zeit. Er hatte, wie man endlich bemerken konnte, sich unter uns die jüngste Schwester ausersehen, um sie nach seinem Sinne zu verheirathen und glücklich zu machen; und gewiß sie konnte nach ihren körperlichen und geistigen Gaben, besonders wenn sich ein ansehnliches Vermö¬ gen noch mit auf die Schaale legte, auf die ersten Partien Anspruch machen. Seine Ge¬ sinnungen gegen mich gab er gleichfalls pan¬ tomimisch zu erkennen, indem er mir den Platz einer Stiftsdame verschafte, wovon ich sehr bald auch die Einkünfte zog. Meine Schwester war mit seiner Für¬ sorge nicht so zufrieden und nicht so dankbar wie ich. Sie entdeckte mir eine Herzensan¬ gelegenheit, die sie bisher sehr weislich ver¬ borgen hatte, denn sie fürchtete wohl, was auch wirklich geschah, daß ich ihr auf alle mögliche Weise die Verbindung mit einem Manne, der ihr nicht hätte gefallen sollen, widerrathen würde. Ich that mein möglich¬ stes, und es gelang mir. Die Absichten des Oheims waren zu ernsthaft und zu deutlich, und die Aussicht für meine Schwester, bey ihrem Weltsinne, so reizend, als daß sie nicht eine Neigung, die ihr Verstand selbst mißbilligte, aufzugeben Kraft hätte haben sollen. Da sie nun den sanften Leitungen des Oheims nicht mehr wie bisher auswich, so war der Grund zu seinem Plane bald ge¬ legt. Sie ward Hofdame an einem benach¬ barten Hofe, wo er sie einer Freundin, die als Oherhofmeisterin in großem Ansehn stand, zur Aufsicht und Ausbildung übergeben konn¬ te. Ich begleitete sie zu dem Ort ihres neuen Aufenthaltes. Wir konnten beyde mit der Aufnahme, die wir erfuhren, sehr zufrieden seyn, und manchmal mußte ich über die Per¬ son, die ich nun als Stiftsdame, als junge und fromme Stiftsdame, in der Welt spielte, heimlich lächeln. In frühern Zeiten würde ein solches Ver¬ hältniß mich sehr verwirrt, ja mir vielleicht den Kopf verrückt haben; nun aber war ich bey allem, was mich umgab, sehr gelassen. Ich ließ mich in großer Stille ein paar Stunden frisiren, putzte mich und dachte nichts dabey, als daß ich in meinem Ver¬ hältnisse diese Gallalivrée anzuziehen schuldig sey. In den angefüllten Sälen sprach ich mit allen und jeden, ohne daß mir irgend eine Gestalt oder ein Wesen einen starken Eindruck zurück gelassen hätte. Wenn ich wieder nach Hause kam, waren müde Beine meist alles Gefühl, was ich mit zurück brachte. Meinem Verstande nützten die vielen Men¬ schen, die ich sah, und als Muster aller menschlichen Tugenden eines guten und edlen Betragens lernte ich einige Frauen, beson¬ ders die Oberhofmeisterin, kennen, unter der meine Schwester sich zu bilden das Glück hatte. Doch fühlte ich bey meiner Rückkunft nicht so glückliche körperliche Folgen von dieser Reise. Bey der größten Enthaltsam¬ keit und der genausten Diät war ich doch nicht wie sonst Herr von meiner Zeit und meinen Kräften. Nahrung, Bewegung, Auf¬ stehn und Schlafengehn, Ankleiden und Aus¬ fahren hing nicht wie zu Hause von meinem Willen und meinem Empfinden ab. Im Laufe des geselligen Kreises darf man nicht stocken, ohne unhöflich zu seyn, und alles was nöthig war, leistete ich gern, weil ich es für Pflicht hielt, weil ich wußte, daß es bald vorüber gehen würde, und weil ich mich ge¬ sunder als jemals fühlte. Demohngeachtet mußte dieses fremde unruhige Leben auf mich stärker als ich fühlte gewirkt haben. Denn kaum war ich zu Hause angekommen und hatte meine Eltern mit einer befriedigenden Erzählung erfreut, so überfiel mich ein Blut¬ sturz, der, ob er gleich nicht gefährlich war und schnell vorüber ging, doch lange Zeit eine merkliche Schwachheit hinterließ. Hier hatte ich nun wieder eine neue Lek¬ tion aufzusagen. Ich that es freudig; nichts fesselte mich an die Welt, und ich war über¬ zeugt, daß ich hier das Rechte niemals fin¬ den würde, und so war ich in dem heitersten und ruhigsten Zustande, und ward, indem ich Verzicht aufs Leben gethan hatte, beym Le¬ ben erhalten. Eine neue Prüfung hatte ich auszustehen, da meine Mutter mit einer drückenden Be¬ schwerde überfallen wurde, die sie noch fünf Jahre trug, ehe sie die Schuld der Natur bezahlte. In dieser Zeit gab es manche Übung. Oft wenn ihr die Bangigkeit zu stark wurde, ließ sie uns des Nachts alle vor ihr Bette rufen, um wenigstens durch unsre Ge¬ genwart zerstreut, wo nicht gebessert zu wer¬ den. Schwerer, ja kaum zu tragen, war der Druck, als mein Vater auch elend zu werden anfing. Von Jugend auf hatte er öfters heftige Kopfschmerzen, die aber aufs längste nur sechs und dreißig Stunden anhielten. Nun aber wurden sie bleibend und wenn sie auf einen hohen Grad stiegen, so zerriß der Jammer mir das Herz. Bey diesen Stür¬ men fühlte ich meine körperliche Schwäche am meisten, weil sie mich hinderte, meine hei¬ ligsten liebsten Pflichten zu erfüllen, oder mir doch ihre Ausübung äußerst beschwerlich machte. Nun konnte ich mich prüfen, ob auf dem Wege, den ich eingeschlagen, Wahrheit oder Phantasie sey, ob ich vielleicht nur nach an¬ dern gedacht, oder ob der Gegenstand mei¬ nes Glaubens eine Realität habe, und zu meiner größten Unterstützung fand ich immer das letzte. Die gerade Richtung meines Herzens zu Gott, der Umgang mit den belo¬ ved ones hatte ich gesucht und gefunden und das war was mir alles erleichterte. Wie der Wanderer in den Schatten, so eilte meine Seele nach diesem Schutzort. Wenn mich alles von außen drückte und kam nie¬ mals leer zurück. In der neuern Zeit haben einige Verfech¬ ter der Religion, die mehr Eifer als Gefühl für dieselbe zu haben scheinen, ihre Mitgläu¬ bigen aufgefordert, Beyspiele von wirklichen Gebetserhörungen bekannt zu machen, wahr¬ scheinlich, weil sie sich Brief und Siegel wünschten, um ihren Gegnern recht diploma¬ tisch und juristisch zu Leibe zu gehen. Wie unbekannt muß ihnen das wahre Gefühl seyn, und wie wenig ächte Erfahrungen mö¬ gen sie selbst gemacht haben. Ich darf sagen, ich kam nie leer zurück, wenn ich unter Druck und Noth Gott ge¬ sucht hatte. Es ist unendlich viel gesagt, und doch kann und darf ich nicht mehr sa¬ gen. So wichtig jede Erfahrung in dem kritischen Augenblicke für mich war, so matt, so unbedeutend, unwahrscheinlich würde die Erzählung werden, wenn ich einzelne Fälle anführen wollte. Wie glücklich war ich, daß tausend kleine Vorgänge zusammen, so ge¬ wiß als das Athemholen Zeichen meines Le¬ bens ist, mir bewiesen: daß ich nicht ohne Gott auf der Welt sey. Er war mir nahe, ich war vor ihm. Das ists, was ich mit ge¬ flissentlicher Vermeidung aller theologischen Systemsprache mit größter Wahrheit sagen kann. Wie sehr wünschte ich, daß ich mich auch damals ganz ohne System befunden hätte; aber wer kommt früh zu dem Glücke, sich seines eigenen Selbsts, ohne fremde Formen in reinen Zusammenhang bewußt zu seyn. Mir war es Ernst mit meiner Seligkeit. Ich vertraute bescheiden fremdem Ansehn; ich er¬ gab mich völlig dem hallischen Bekehrungs¬ system, und mein ganzes Wesen wollte auf keine Wege hineinpassen. Nach diesem Lehrplan muß die Verände¬ rung des Herzens mit einem tiefen Schrecken über die Sünde anfangen; das Herz muß in dieser Noth bald mehr bald weniger die verschuldete Strafe erkennen und den Vor¬ schmack der Hölle kosten, der die Lust der Sünde verbittert. Endlich muß man eine sehr merkliche Versicherung der Gnade füh¬ len, die aber im Fortgange sich oft versteckt und mit Ernst wieder gesucht werden muß. Das alles traf bey mir weder nahe noch ferne zu. Wenn ich Gott aufrichtig suchte, so ließ er sich finden, und hielt mir von ver¬ gangenen Dingen nichts vor. Ich sah hin¬ ten nach wohl ein, wo ich unwürdig gewesen und wußte auch, wo ich es noch war; aber die Erkenntniß meiner Gebrechen war ohne alle Angst. Nicht einen Augenblick ist mir eine Furcht vor der Hölle angekommen, ja die Idee eines bösen Geistes und eines Straf- und Quälortes nach dem Tode konnte kei¬ nesweges in dem Kreise meiner Ideen Platz finden. Ich fand die Menschen, die ohne Gott lebten, deren Herz dem Vertrauen und der Liebe gegen den Unsichtbaren zugeschlossen war, schon so unglücklich, daß eine Hölle und äußere Strafen mir eher für sie eine Linde¬ rung zu versprechen, als eine Schärfung der Strafe zu drohen schienen. Ich durfte nur Menschen auf dieser Welt ansehen, die ge¬ hässigen Gefühlen in ihrem Busen Raum geben, die sich gegen das Gute von irgend einer Art verstocken und sich und andern das Schlechte aufdringen wollen, die lieber bey Tage die Augen zuschließen, um nur behaup¬ ten zu können, die Sonne gebe keinen Schein von sich; wie über allen Ausdruck schienen mir diese Menschen elend! Wer hätte eine Hölle schaffen können, um ihren Zustand zu verschlimmern. Diese Gemüthsbeschaffenheit blieb mir ei¬ nen Tag wie den andern zehn Jahre lang. Sie erhielt sich durch viele Proben, auch am schmerzhaften Sterbebette meiner geliebten Mutter. Ich war offen genug, um bey die¬ ser Gelegenheit meine heitere Gemüthsver¬ fassung frommen aber ganz schulgerechten Leuten nicht zu verbergen, und ich mußte darüber manchen freundschaftlichen Verweis erdulden. Man meynte mir eben zur rech¬ ten Zeit vorzustellen, welchen Ernst man an¬ zuwenden hätte, um in gesunden Tagen ei¬ nen guten Grund zu legen. An Ernst wollte ich es auch nicht fehlen lassen. Ich ließ mich für den Augenblick über¬ überzeugen und wäre um mein Leben gern traurig und voll Schrecken gewesen. Wie verwundert war ich aber, da es ein für alle¬ mal nicht möglich war. Wenn ich an Gott dachte, war ich heiter und vergnügt, auch bey meiner lieben Mutter schmerzensvollen Ende graute mich vor dem Tode nicht. Doch lernte ich vieles und ganz andre Sachen, als meine unberufenen Lehrmeister glaubten, in diesen großen Stunden. Nach und nach ward ich an den Einsich¬ ten so mancher hochberühmten Leute zweifel¬ haft nnd bewahrte meine Gesinnungen in der Stille. Eine gewisse Freundin, der ich erst zu viel eingeräumt hatte, wollte sich im¬ mer in meine Angelegenheiten mengen; auch von dieser war ich genöthigt mich los zu ma¬ chen, und einst sagte ich ihr ganz entschieden: sie sollte ohne Mühe bleiben, ich brauchte ihren Rath nicht; ich kannte meinen Gott W. Meisters Lehrj. 3. T und wollte ihn ganz allein zum Führer ha¬ ben. Sie fand sich sehr beleidigt und ich glaube, sie hat mirs nie ganz verziehen. Dieser Entschluß, mich dem Rathe und der Einwirkung meiner Freunde in geistlichen Sachen zu entziehen, hatte die Folge, daß ich auch in äußerlichen Verhältnissen meinen eigenen Weg zu gehen Muth gewann. Ohne den Beystand meines treuen unsichtbaren Führers hätte es mir übel gerathen können, und noch muß ich über die weise und glück¬ liche Leitung erstaunen. Niemand wußte ei¬ gentlich worauf es bey mir ankam, und ich wußte es selbst nicht. Das Ding, das noch nie erklärte böse Ding, das uns von dem Wesen trennt, von dem wir das Leben empfangen haben und aus dem alles, was Leben genannt werden soll, sich unterhalten muß, das Ding das man Sünde nennt, kannte ich noch gar nicht. In dem Umgange mit dem unsichtbaren Freunde fühlte ich den süßesten Genuß aller meiner Lebenskräfte. Das Verlangen, dieses Glück immer zu genießen, war so groß, daß ich gern unterließ, was diesen Umgang störte, und hierin war die Erfahrung mein bester Lehrmeister. Allein es ging mir wie den Kranken die keine Arzney haben und sich mit der Diät zu helfen suchen. Es thut et¬ was, aber lange nicht genug. In der Einsamkeit konnte ich nicht immer bleiben, ob ich gleich in ihr das beste Mit¬ tel gegen die mir so eigene Zerstreuung der Gedanken fand. Kam ich nachher in Ge¬ tümmel, so machte es einen desto größern Eindruck auf mich. Mein eigentlichster Vor¬ theil bestand darin, daß die Liebe zur Stille herrschend war, und ich mich am Ende im¬ mer dahin wieder zurück zog. Ich erkannte wie in einer Art von Dämmerung, mein T 2 Elend und meine Schwäche, und ich suchte mir dadurch zu helfen, daß ich mich schonte, daß ich mich nicht aussetzte. Sieben Jahre lang hatte ich meine diä¬ tetische Vorsicht ausgeübt. Ich hielt mich nicht für schlimm und fand meinen Zustand wünschenswerth. Ohne sonderbare Umstände und Verhältnisse wäre ich auf dieser Stufe stehen geblieben, und ich kam nur auf einem sonderbaren Wege weiter; gegen den Rath aller meiner Freunde knüpfte ich ein neues Verhältniß an. Ihre Einwendungen mach¬ ten mich anfangs stutzig. Sogleich wandte ich mich an meinen unsichtbaren Führer, und da dieser es mir vergönnte, ging ich ohne Bedenken auf meinem Wege fort. Ein Mann von Geist, Herz und Talen¬ ten hatte sich in der Nachbarschaft angekauft. Unter den Fremden, die ich kennen lernte, war auch er und seine Familie. Wir stimmten in unsern Sitten, Hausverfassungen und Ge¬ wohnheiten sehr überein, und konnten uns daher bald an einander anschließen. Philo, so will ich ihn nennen, war schon in gewissen Jahren, und meinem Vater, des¬ sen Kräfte abzunehmen anfingen, in gewis¬ sen Geschäften von der größten Beyhülfe. Er ward bald der innige Freund unseres Hauses, und da er, wie er sagte, an mir eine Person fand, die nicht das Ausschweifende und Leere der großen Welt, und nicht das Trockne und Ängstliche der Stillen im Lande habe; so waren wir bald vertraute Freunde. Er war mir sehr angenehm und sehr brauchbar. Ob ich gleich nicht die mindeste Anlage noch Neigung hatte, mich in weltliche Ge¬ schäfte zu mischen und irgend einen Einfluß zu suchen; so hörte ich doch gerne davon, und wußte gern, was in der Nähe und Ferne vorging. Von weltlichen Dingen liebte ich, mir eine gefühllose Deutlichkeit zu verschaf¬ fen. Emfindung, Innigkeit, Neigung be¬ wahrte ich für meinen Gott, für die meini¬ gen und für meine Freunde. Diese letzten waren, wenn ich so sagen darf, auf meine neue Verbindung mit Philo eifersüchtig, und hatten dabey von mehr als einer Seite Recht, wenn sie mich hierüber warnten. Ich litt viel in der Stille, denn ich konnte selbst ihre Einwendungen nicht ganz für leer oder eigennützig halten. Ich war von jeher gewohnt, meine Einsichten unterzuordnen, und doch wollte diesmal meine Überzeugung nicht nach. Ich flehte zu mei¬ nem Gott, auch hier mich zu warnen, zu hindern, zu leiten, und da mich hierauf mein Herz nicht abmahnte, so ging ich meinen Pfad getrost fort. Philo hatte im Ganzen eine entfernte Ähnlichkeit mit Narcissen, nur hatte eine fromme Erziehung sein Gefühl mehr zusam¬ men gehalten und belebt. Er hatte weniger Eitelkeit, mehr Charakter, und wenn jener in weltlichen Geschäften fein, genau, anhaltend und unermüdlich war, so war dieser klar, scharf, schnell, und arbeitete mit einer unglaub¬ lichen Leichtigkeit. Durch ihn erfuhr ich die innersten Verhältnisse fast aller der vorneh¬ men Personen, deren Äußeres ich in der Ge¬ sellschaft hatte kennen lernen und ich war froh von meiner Warte dem Getümmel von weiten zuzusehen. Philo konnte mir nichts mehr verhehlen; er vertraute mir nach und nach seine äußern und innern Verbindungen. Ich fürchtete für ihn, denn ich sah gewisse Umstände und Verwickelungen voraus, und das Übel kam schneller als ich vermuthet hatte. Denn er hatte mit gewissen Bekenntnissen immer zurückgehalten und auch zuletzt ent¬ deckte er mir nur so viel, daß ich das Schlimmste vermuthen konnte. Welche Wirkung hatte das auf mein Herz! Ich gelangte zu Erfahrungen, die mir ganz neu waren. Ich sah mit unbe¬ schreiblicher Wehmuth einen Agathon, der in den Hainen von Delphos erzogen, das Lehrgeld noch schuldig war, und es nun mit schweren rückständigen Zinsen abzahlte, und dieser Agathon war mein genau verbunde¬ ner Freund. Meine Theilnahme war leb¬ haft und vollkommen; ich litt mit ihm, und wir befanden uns beyde in dem sonderbar¬ sten Zustande. Nachdem ich mich lange mit seiner Ge¬ müthsverfassung beschäftigt hatte, wendete sich meine Betrachtung auf mich selbst. Der Gedanke, du bist nicht besser als er, stieg wie eine kleine Wolke vor mir auf, breitete sich nach und nach aus, und verfinsterte mei¬ ne ganze Seele. Nun dachte ich nicht mehr bloß, du bist nicht besser als er; ich fühlte es, und fühlte es so, daß ich es nicht noch einmal fühlen möchte: Und es war kein schneller Übergang. Mehr als ein Jahr mußte ich empfinden, daß wenn mich eine unsichtbare Hand nicht umschränkt hätte, ich ein Girard, ein Car¬ touche, ein Damiens und welches Ungeheuer man nennen will, hätte werden können: die Anlage dazu fühlte ich deutlich in meinem Herzen. Gott welche Entdeckung! Hatte ich nun bisher die Wirklichkeit der Sünde in mir durch die Erfahrung nicht einmal auf das leiseste gewahr werden kön¬ nen; so war mir jetzt die Möglichkeit der¬ selben in der Ahndung aufs schrecklichste deutlich geworden, und doch kannte ich das Übel nicht, ich fürchtete es nur; ich fühlte, daß ich schuldig seyn könnte, und hatte mich nicht anzuklagen. So tief ich überzeugt war, daß eine sol¬ che Geistesbeschaffenheit, wofür ich die mei¬ nige anerkennen mußte, sich nicht zu einer Vereinigung mit dem höchsten Wesen, die ich nach dem Tode hofte, schicken können; so wenig fürchtete ich, in eine solche Trennung zu gerathen. Bey allem Bösen, das ich in mir entdeckte, hatte ich ihn lieb und haßte was ich fühlte, ja ich wünschte es noch ernst¬ licher zu hassen, und mein ganzer Wunsch war, von dieser Krankheit, und dieser Anla¬ ge zur Krankheit erlöst zu werden, und ich war gewiß, daß mir der große Arzt seine Hülfe nicht versagen würde. Die einzige Frage war: was heilt diesen Schaden? Tugendübungen? An die konnte ich nicht einmal denken. Denn zehn Jahre hatte ich schon mehr als nur bloße Tugend geübt, und die nun erkannten Greuel hat¬ ten dabey tief in meiner Seele verborgen gelegen; hätten sie nicht auch wie bey Da¬ vid losbrechen können, als er Bathseba er¬ blickte, und war er nicht auch ein Freund Gottes, und war ich nicht im Innersten überzeugt, daß Gott mein Freund sey? Sollte es also wohl eine unvermeidliche Schwäche der Menschheit seyn? müssen wir uns nun gefallen lassen, daß wir irgend ein¬ mal die Herrschaft unsrer Neigung empfin¬ den, und bleibt uns bey dem besten Willen nichts anders übrig als den Fall, den wir gethan, zu verabscheuen, und bey einer ähn¬ lichen Gelegenheit wieder zu fallen? Aus der Sittenlehre konnte ich keinen Trost schöpfen. Weder ihre Strenge, wo¬ durch sie unsre Neigung bemeistern will, noch ihre Gefälligkeit, mit der sie unsre Neigun¬ gen zu Tugenden machen möchte, konnte mir genügen. Die Grundbegriffe die mir der Um¬ gang mit dem unsichtbaren Freunde einge¬ flößt hatte, hatten für mich schon einen viel entschiedenern Werth. Indem ich einst die Lieder studierte, wel¬ che David nach jener häßlichen Katastrophe gedichtet hatte, war mir sehr auffallend, daß er das in ihm wohnende Böse schon in dem Stoff, woraus er geworden war, erblickte; daß er aber entsündigt seyn wollte, und daß er auf das dringendste um ein reines Herz flehte. Wie nun aber dazu zu gelangen? Die Antwort aus den symbolischen Büchern wu߬ te ich wohl; es war mir auch eine Bibel¬ wahrheit, daß das Blut Jesu Christi uns von allen Sünden reinige. Nun aber be¬ merkte ich erst, daß ich diesen so oft wieder¬ holten Spruch noch nie verstanden hatte. Die Fragen: was heißt das? Wie soll das zugehen? arbeiteten Tag und Nacht in mir sich durch. Endlich glaubte ich bey einem Schimmer zu sehen, daß das, was ich suchte, in der Menschwerdung des ewigen Worts, durch das alles und auch wir erschaffen sind, zu suchen sey. Daß der Uranfängliche sich in die Tiefen, in denen wir stecken, die er durchschaut und umfaßt, einstmal als Be¬ wohner begeben habe, durch unser Verhält¬ niß von Stufe zu Stufe von der Empfäng¬ nis und Geburt bis zu dem Grabe durch¬ gegangen sey, daß er durch diesen sonderba¬ ren Umweg wieder zu den lichten Höhen aufgestiegen, wo wir auch wohnen sollten, um glücklich zu seyn: das ward mir, wie in einer dämmernden Ferne, offenbart. O warum müssen wir, um von solchen Dingen zu reden, Bilder gebrauchen, die nur äußere Zustände anzeigen? Wo ist vor ihm etwas Hohes oder Tiefes, etwas Dunkles oder Helles; wir nur haben ein Oben und Unten, einen Tag und eine Nacht. Und eben darum ist er uns ähnlich geworden, weil wir sonst keinen Theil an ihm haben könnten. Wie können wir aber an dieser unschätz¬ baren Wohlthat Theil nehmen? Durch den Glauben, antwortet uns die Schrift. Was ist denn Glauben? Die Erzählung einer Begebenheit für wahr zu halten, was kann mir das helfen? ich muß mir ihre Wirkun¬ gen, ihre Folgen zueignen können. Dieser zueignende Glaube muß ein eigener, dem natürlichen Menschen ungewöhnlicher Zu¬ stand des Gemüths seyn. Nun, Allmächtiger! so schenke mir Glau¬ ben, flehte ich einst in dem größten Druck des Herzens. Ich lehnte mich auf einen kleinen Tisch, an dem ich saß, und verbarg mein bethräntes Gesicht in meinen Händen. Hier war ich in der Lage, in der man seyn muß, wenn Gott auf unser Gebet achten soll, und in der man selten ist. Ja wer nun schildern könnte, was ich da fühlte. Ein Zug brachte meine Seele nach dem Kreuze hin, an dem Jesus einst erblaßte; ein Zug war es, ich kann es nicht anders nennen; demjenigen völlig gleich, wodurch unsre Seele zu einem abwesenden Geliebten geführt wird, ein Zunahen, das vermuthlich viel wesentlicher und wahrhafter ist, als wir nicht vermuthen. So nahte meine Seele dem Menschgewordnen und am Kreuz gestorbenen, und in dem Augen¬ blicke wußte ich, was Glauben war. Das ist Glauben, sagte ich, und sprang wie halb erschreckt in die Höhe. Ich suchte nun meiner Empfindung, meines Anschauens gewiß zu werden, und im Kurzen war ich überzeugt, daß mein Geist eine Fähigkeit sich aufzuschwingen erhalten habe, die ihm ganz neu war. Bey diesen Empfindungen verlassen uns die Worte. Ich konnte sie ganz deutlich von aller Phantasie unterscheiden; sie waren ganz ohne Phantasie, ohne Bild, und ga¬ ben doch eben die Gewißheit eines Gegen¬ standes, auf den sie sich bezogen, als die Ein¬ bildungskraft, indem sie uns die Züge eines abwesenden Geliebten vormahlt. Als das erste Entzücken vorüber war, bemerkte ich, daß mir dieser Zustand der Seele schon vorher bekannt gewesen; allein ich hatte ihn nie in dieser Stärke empfun¬ den. Ich hatte ihn niemals fest halten, nie zu eigen behalten können. Ich glaube über¬ haupt, daß jede Menschenseele ein und das anderemal davon etwas empfunden hat. Ohne Zweifel ist Er das, was einem jeden lehrt, daß ein Gott ist. Mit dieser mich ehemals von Zeit zu Zeit nur anwandelnden Kraft war ich bisher sehr zufrieden gewesen, und wäre mir nicht durch sonderbare Schickung seit Jahr und Tag die unerwartete Plage wiederfahren, wäre wäre nicht dabey mein Können und Vermö¬ gen bey mir selbst außer allen Credit ge¬ kommen, so wäre ich vielleicht mit jenem Zu¬ stande immer zufrieden geblieben. Nun hatte ich aber seit jenem großen Augenblicke Flügel bekommen. Ich konnte mich über das was mich vorher bedrohete aufschwingen, wie ein Vogel singend über den schnellsten Strom ohne Mühe fliegt, vor welchem das Hündchen ängstlich bellend stehen bleibt. Meine Freude war unbeschreiblich, und ob ich gleich niemand etwas davon entdeck¬ te, so merkten doch die meinigen eine unge¬ wöhnliche Heiterkeit an mir, ohne begreifen zu können, was die Ursache meines Vergnü¬ gens wäre. Hätte ich doch immer geschwie¬ gen, und die reine Stimmung in meiner Seele zu erhalten gesucht! Hätte ich mich doch nicht durch Umstände verleiten lassen, W. Meisters Lehrj. 3. U mit meinem Geheimnisse hervor zu treten; so hätte ich mir abermals einen großen Um¬ weg ersparen können. Da in meinem vorhergehenden zehnjähri¬ gen Christenlauf diese nothwendige Kraft nicht in meiner Seele war, so hatte ich mich in dem Fall anderer redlichen Leute auch be¬ funden ; ich hatte mir dadurch geholfen, daß ich die Phantasie immer mit Bildern erfüll¬ te, die einen Bezug auf Gott hatten, und auch dieses ist schon wahrhaft nützlich; denn schädliche Bilder und ihre bösen Folgen wer¬ den dadurch abgehalten. Sodann ergreift unsre Seele oft ein und das andere von den geistigen Bildern, und schwingt sich ein we¬ nig damit in die Höhe, wie ein junger Vo¬ gel von einem Zweige auf den andern flat¬ tert. So lange man nichts besseres hat, ist doch diese Übung nicht ganz zu verwerfen. Auf Gott zielende Bilder und Eindrücke verschaffen uns kirchliche Anstalten, Glocken, Orgeln und Gesänge, und besonders die Vor¬ träge unserer Lehrer. Auf sie war ich ganz unsäglich begierig; keine Witterung, keine körperliche Schwäche hielt mich ab, die Kir¬ chen zu besuchen, und nur das sonntägige Geläute konnte mir auf meinem Kranken¬ bette einige Ungeduld verursachen. Unsern Oberhofprediger, der ein trefflicher Mann war, hörte ich mit großer Neigung, auch seine Collegen waren mir werth, und ich wußte die goldnen Äpfel des göttlichen Wor¬ tes auch aus irdenen Schalen unter gemei¬ nem Obste heraus zu finden. Den öffentli¬ chen Übungen wurden alle mögliche Privat¬ erbauungen, wie man sie nennt, hinzugefügt und auch dadurch nur Phantasie und feine¬ re Sinnlichkeit genährt. Ich war so an die¬ sen Gang gewöhnt, ich respectirte ihn so sehr, daß mir auch jetzt nichts höheres ein¬ U 2 fiel. Denn meine Seele hat nur Fühlhör ¬ ner und keine Augen; sie tastet nur und sieht nicht; ach! daß sie Augen bekäme und schauen dürfte! Auch jetzt ging ich voll Verlangen in die Predigten; aber ach! wie geschahe mir. Ich fand das nicht mehr was ich sonst gefunden. Diese Prediger stumpften sich die Zähne an den Schalen ab, indessen ich den Kern ge¬ noß. Ich mußte ihrer nun bald müde wer¬ den; aber mich an den allein zu halten, den ich doch zu finden wußte, dazu war ich zu verwöhnt. Bilder wollte ich haben, äußere Eindrücke bedurfte ich, und glaubte ein rei¬ nes geistiges Bedürfniß zu fühlen. Philos Eltern hatten mit der Herrnhu¬ thischen Gemeinde in Verbindung gestanden; in seiner Bibliothek fanden sich noch viele Schriften des Grafen. Er hatte mir einige¬ mal sehr klar und billig darüber gesprochen, und mich ersucht, einige dieser Schriften durchzublättern, und wäre es auch nur, um ein psychologisches Phänomen kennen zu ler¬ nen. Ich hielt den Grafen für einen gar zu argen Ketzer; so ließ ich auch das Ebers¬ dorfer Gesangbuch bey mir liegen, das mir der Freund in ähnlicher Absicht gleichsam aufgedrungen hatte. In dem völligen Mangel aller äußeren Ermunterungsmittel ergriff ich wie von ohn¬ gefähr das gedachte Gesangbuch, und fand zu meinem Erstaunen wirklich Lieder darin, die, freylich unter sehr seltsamen Formen, auf dasjenige zu deuten schienen, was ich fühlte; die Originalität und Naivität der Ausdrücke zog mich an. Eigene Empfindun¬ gen schienen auf eine eigene Weise ausge¬ druckt; keine Schulterminologie erinnerte an etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward überzeugt, die Leute fühlten was ich fühlte, und ich fand mich nun sehr glücklich, ein solches Verschen ins Gedächtniß zu fassen und mich einige Tage damit zu tragen. Seit jenem Augenblick, in welchem mir das Wahre geschenkt worden war, verflossen auf diese Weise ohngefähr drey Monate. Endlich faßte ich den Entschluß, meinem Freunde Philo alles zu entdecken, und ihn um die Mittheilung jener Schriften zu bit¬ ten, auf die ich nun über die Maßen neu¬ gierig geworden war. Ich that es auch wirklich, ohnerachtet mir ein Etwas im Her¬ zen ernstlich davon abrieth. Ich erzählte Philo die ganze Geschichte umständlich, und da er selbst darin eine Hauptperson war, da meine Erzählung auch für ihn die strengste Bußpredigt enthielt, war er äußerst betroffen und gerührt. Er zerfloß in Thränen. Ich freute mich, und glaubte, auch bey ihm sey eine völlige Sin¬ nesänderung bewirkt worden. Er versorgte mich mit allen Schriften, die ich nur verlangte, und nun hatte ich überflüßige Nahrung für meine Einbildungs¬ kraft. Ich machte große Fortschritte in der Zinzendorfischen Art zu denken und zu spre¬ chen. Man glaube nicht, daß ich die Art und Weise des Grafen nicht auch gegenwär¬ tig zu schätzen wisse, ich lasse ihm gern Ge¬ rechtigkeit wiederfahren; er ist kein leerer Phantast; er spricht von großen Wahrhei¬ ten meist mit einem kühnen Fluge der Ein¬ bildungskraft, und die ihn geschmäht haben, wußten seine Eigenschaften weder zu schät¬ zen, noch zu unterscheiden. Ich gewann ihn unbeschreiblich lieb. Wäre ich mein eigner Herr gewesen, so hätte ich gewiß Vaterland und Freunde verlassen, wäre zu ihm gezogen; unfehlbar hätten wir uns verstanden und schwerlich hätten wir uns lange vertragen. Dank sey meinem Genius, der mich da¬ mals in meiner häuslichen Verfassung so ein¬ geschränkt hielt! Es war schon eine große Reise, wenn ich nur in den Hausgarten ge¬ hen konnte. Die Pflege meines alten und schwächlichen Vaters machte mir Arbeit ge¬ nug, und in den Ergötzungsstunden war die edle Phantasie mein Zeitvertreib. Der ein¬ zige Mensch, den ich sah, war Philo, den mein Vater sehr liebte, dessen offnes Verhält¬ niß zu mir aber durch die letzte Erklärung einigermaßen gelitten hatte. Bey ihm war die Rührung nicht tief gedrungen, und da ihm einige Versuche, in meiner Sprache zu reden, nicht gelungen waren, so vermied er diese Materie um so leichter, als er durch seine ausgebreiteten Kenntnisse immer neue Gegenstände des Gesprächs herbey zu führen wußte. Ich war also eine herrnhuthische Schwe¬ ster auf meine eigene Hand, und hatte diese neue Wendung meines Gemüths und meiner Neigungen besonders vor dem Oberhofpredi¬ ger zu verbergen, den ich als meinen Beicht¬ vater zu schätzen sehr Ursache hatte, und des¬ sen große Verdienste auch gegenwärtig durch seine äußerste Abneigung gegen die herrnhu¬ thische Gemeinde in meinen Augen nicht ge¬ schmälert wurden. Leider sollte dieser wür¬ dige Mann an mir und andern viele Be¬ trübniß erleben! Er hatte vor mehreren Jahren auswärts einen Cavalier als einen redlichen frommen Mann kennen lernen, und war mit ihm, als einem der Gott ernstlich suchte, in einem un¬ unterbrochenen Briefwechsel geblieben. Wie schmerzhaft war es daher für seinen geistli¬ chen Führer, als dieser Cavalier sich in der Folge mit der herrnhuthischen Gemeinde ein¬ ließ, und sich lange unter den Brüdern auf¬ hielt; daher jener eifrige Mann, als sein Freund sich mit den Brüdern wieder entzwey¬ te, in seiner Nähe zu wohnen sich entschloß, und sich seiner Leitung aufs neue völlig zu überlassen schien. Nun wurde der Neuangekommene gleich¬ sam im Triumph allen besonders geliebten Schäfchen des Oberhirten vorgestellt. Nur in unser Haus ward er nicht eingeführt, weil mein Vater niemand mehr zu sehen pflegte. Der Cavalier fand große Approbation; er hatte das Gesittete des Hofs und das Ein¬ nehmende der Gemeinde, dabey viel schöne natürliche Eigenschaften, und ward bald der große Heilige für alle, die ihn kennen lern¬ ten, worüber sich sein geistlicher Gönner äus¬ serst freute. Leider war jener nur über äus¬ sere Umstände mit der Gemeine brouillirt, und im Herzen noch ganz Herrnhuther. Er hing wirklich an der Realität der Sache, al¬ lein auch ihm war das Tändelwerk, das der Graf darum gehängt hatte, höchst angemes¬ sen. Er war an jene Vorstellungs- und Redensarten nun einmal gewöhnt, und wenn er sich nunmehr vor seinem alten Freunde sorgfältig verbergen mußte, so war es ihm desto nothwendiger, so bald er ein Häufchen vertrauter Personen um sich erblickte, mit seinen Verschen, Litaneyen und Bilderchen hervor zu rücken, und er fand, wie man denken kann, großen Beyfall. Ich wußte von der ganzen Sache nichts, und tändelte auf meine eigene Art fort. Lange Zeit blieben wir uns unbekannt. Einst besuchte ich, in einer freyen Stun¬ de, eine kranke Freundin. Ich traf mehrere Bekannte dort an, und merkte bald, daß ich sie in einer Unterredung gestöhrt hatte. Ich ließ mir nichts merken; erblickte aber, zu meiner großen Verwunderung, an der Wand einige herrnhuthische Bilder, in zierlichen Rahmen. Ich faßte geschwinde, was in der Zeit, da ich nicht im Hause gewesen, vorge¬ gangen seyn mochte, und bewillkommte diese neue Erscheinung mit einigen angemessenen Versen. Man denke sich das Erstaunen meiner Freundinnen. Wir erklärten uns, und wa¬ ren auf der Stelle einig und vertraut. Ich suchte nun öfter Gelegenheit auszu¬ gehn. Leider fand ich sie nur alle drey bis vier Wochen, ward mit dem adelichen Apo¬ stel und nach und nach mit der ganzen heim¬ lichen Gemeinde bekannt. Ich besuchte, wenn ich konnte, ihre Versammlungen, und bey meinem geselligen Sinn war es mir unend¬ lich angenehm, das von andern zu verneh¬ men und andern mitzutheilen, was ich nur bisher in und mit mir selbst ausgearbeitet hatte. Ich war nicht so eingenommen, daß ich nicht bemerkt hätte, wie nur wenige den Sinn der zarten Worte und Ausdrücke fühl¬ ten, und wie sie dadurch auch nicht mehr, als ehemals durch die kirchlich symbolische Sprache, gefördert waren. Demohngeachtet ging ich mit ihnen fort, und ließ mich nicht irre machen. Ich dachte, daß ich nicht zur Untersuchung und Herzensprüfung berufen sey. War ich doch auch durch manche un¬ schuldige Übung zum Besseren vorbereitet worden. Ich nahm meinen Theil hinweg, drang, wo ich zur Rede kam, auf den Sinn, der bey so zarten Gegenständen eher durch Worte versteckt als angedeutet wird, und ließ übrigens mit stiller Verträglichkeit einen jeden nach seiner Art gewähren. Auf diese ruhigen Zeiten des heimlichen gesellschaftlichen Genusses, folgten bald die Stürme öffentlicher Streitigkeiten und Wi¬ derwärtigkeiten, die am Hofe und in der Stadt große Bewegungen erregten, und ich möchte beynahe sagen, manches Skandal verursachten. Der Zeitpunct war gekommen, in welchem unser Oberhofprediger, dieser große Widersacher der herrnhuthischen Ge¬ meinde, zu seiner gesegneten Demüthigung entdecken sollte, daß seine besten und sonst anhänglichsten Zuhörer sich sämmtlich auf die Seite der Gemeinde neigten. Er war äußerst gekränkt, vergaß im ersten Augen¬ blicke alle Mäßigung und konnte in der Folge sich nicht, selbst wenn er gewollt hät¬ te, zurück ziehn. Es gab heftige Debatten, bey denen ich glücklicher weise nicht genannt wurde, da ich nur ein zufälliges Mitglied der so sehr verhaßten Zusammenkünfte war, und unser eifriger Führer meinen Vater und meinen Freund in bürgerlichen Angelegenhei¬ ten nicht entbehren konnte. Ich erhielt mei¬ ne Neutralität mit stiller Zufriedenheit; denn von solchen Empfindungen und Gegenstän¬ den mich selbst mit wohlwollenden Menschen zu unterhalten, war mir schon verdrießlich, wenn sie den tiefsten Sinn nicht fassen konn¬ ten, und nur auf der Oberfläche verweilten. Nun aber gar über das mit Widersachern zu streiten, worüber man sich kaum mit Freunden verstund, schien mir unnütz, ja verderblich. Denn bald konnte ich bemer¬ ken, daß liebevolle edle Menschen, die in diesem Falle ihr Herz von Widerwillen und Haß nicht rein halten konnten, gar bald zur Ungerechtigkeit übergingen, und, um eine äußere Form zu vertheidigen, ihr bestes In¬ nerstes beynah zerstöhrten. So sehr auch der würdige Mann in die¬ sem Falle Unrecht haben mochte, und so sehr man mich auch gegen ihn aufzubringen such¬ te; konnte ich ihm doch niemals eine herzli¬ che Achtung versagen. Ich kannte ihn ge¬ nau; ich konnte mich in seine Art, diese Sa¬ chen anzusehen, mit Billigkeit versetzen. Ich hatte niemals einen Menschen ohne Schwä¬ che gesehen, nur ist sie auffallender bey vor¬ züglichen Menschen. Wir wünschen und wollen nun ein für alle mal, daß die, die so sehr privilegirt sind, auch gar keinen Tribut, keine Abgaben zahlen sollen. Ich ehrte ihn als einen vorzüglichen Mann, und hoffte den Einfluß meiner stillen Neutralität, wo nicht zu einem Frieden, doch zu einem Waf¬ fenstillstande zu nutzen. Ich weiß nicht, was ich bewirkt hätte; Gott faßte die Sache kürzer, und nahm ihn zu sich. Bey seiner Bahre weinten alle, die noch kurz vorher um Worte mit ihm gestritten hatten. Seine Rechtschaffenheit, seine Gottesfurcht hatte niemals jemand bezweifelt. Auch ich mußte um diese Zeit das Pup¬ pen¬ penwerk aus den Händen legen, das mir durch diese Streitigkeiten gewissermaßen in einem andern Lichte erschienen war. Der Oheim hatte seine Plane auf meine Schwe¬ ster in der Stille durchgeführt. Er stellte ihr einen jungen Mann von Stande und Vermögen als ihren Bräutigam vor, und zeigte sich in einer reichlichen Aussteuer, wie man es von ihm erwarten konnte. Mein Vater willigte mit Freuden ein, die Schwe¬ ster war frey und vorbereitet, und veränder¬ te gerne ihren Stand. Die Hochzeit wurde auf des Oheims Schloß ausgerichtet, Fami¬ lie und Freunde waren eingeladen, und wir kamen alle mit heiterm Geiste. Zum erstenmal in meinem Leben erregte mir der Eintritt in ein Haus Bewunderung. Ich hatte wohl oft von des Oheims Ge¬ schmack, von seinem italiänischen Baumeister, von seinen Sammlungen und seiner Biblio¬ W. Meisters Lehrj 3. X thek reden hören; ich verglich aber das alles mit dem, was ich schon gesehen hatte, und machte mir ein sehr buntes Bild davon in Gedanken. Wie verwundert war ich daher über den ernsten und harmonischen Eindruck, den ich beym Eintritt in das Haus empfand, und der sich in jedem Saal und Zimmer verstärkte. Hatte Pracht und Zierrath mich sonst nur zerstreut; so fühlte ich mich hier gesammlet und auf mich selbst zurück geführt. Auch in allen Anstalten zu Feierlichkeiten und Festen erregten Pracht und Würde ein stilles Gefallen, und es war mir eben so unbegreiflich, daß Ein Mensch das alles hät¬ te erfinden und anordnen können, als daß mehrere sich vereinigen könnten, um in einem so großen Sinne zusammen zu wirken. Und bey dem allen schienen der Wirth und die Seinigen so natürlich; es war keine Spur von Steifheit noch von leerem Ceremoniel zu bemerken. Die Trauung selbst ward unvermuthet auf eine herzliche Art eingeleitet, eine vor¬ trefliche Vocalmusik überraschte uns, und der Geistliche wußte dieser Ceremonie alle Feierlichkeit der Wahrheit zu geben. Ich stand neben Philo, und statt mir Glück zu wünschen, sagte er mit einem tiefen Seufzer: als ich die Schwester sah die Hand hinge¬ ben, war mir’s, als ob man mich mit sied¬ heißen Wasser begossen hätte. Warum? fragte ich. Es ist mir allezeit so, wenn ich eine Copulation ansehe, versetzte er. Ich lachte über ihn, und habe nachher oft genug an seine Worte zu denken gehabt. Die Heiterkeit der Gesellschaft, worunter viel junge Leute waren, schien noch einmal so glänzend, indem alles, was uns umgab, würdig und ernsthaft war. Aller Hausrath, Tafelzeug, Service und Tischaufsätze stimm¬ ten zu dem Ganzen, und wenn mir sonst X 2 die Baumeister mit den Conditorn aus einer Schule entsprungen zu seyn schienen; so war hier Conditor nnd Tafeldecker bey dem Ar¬ chitekten in die Schule gegangen. Da man mehrere Tage zusammen blieb, hatte der geistreiche und verständige Wirth für die Unterhaltung der Gesellschaft auf das mannigfaltigste gesorgt. Ich wiederholte hier nicht die traurige Erfahrung, die ich so oft in meinem Leben gehabt hatte, wie übel eine große gemischte Gesellschaft sich befinde, die sich selbst überlassen zu den allgemeinsten und schalsten Zeitvertreiben greifen muß, da¬ mit ja eher die guten als die schlechten Sub¬ jecte Mangel der Unterhaltung fühlen. Ganz anders hatte es der Oheim veran¬ staltet. Er hatte zwey bis drey Marschälle, wenn ich sie so nennen darf, bestellt; der ei¬ ne hatte für die Freuden der jungen Welt zu sorgen. Tänze, Spazierfahrten, kleine Spiele waren von seiner Erfindung, und standen unter seiner Direction, und da junge Leute gern im Freyen leben, und die Ein¬ flüsse der Luft nicht scheuen; so war ihnen der Garten und der große Gartensaal über¬ geben, an den zu diesem Endzwecke noch ei¬ nige Galerien und Pavillons angebauet wa¬ ren, zwar nur von Brettern und Leinwand aber in so edlen Verhältnissen, daß man nur an Stein und Marmor dabey erinnert ward. Wie selten ist eine Fete, wobey derjenige, der die Gäste zusammen beruft, auch die Schuldigkeit empfindet, für ihre Bedürfnisse und Bequemlichkeiten auf alle Weise zu sorgen. Jagd und Spielparthien, kurze Promena¬ den, Gelegenheiten zu vertraulichen einsamen Gesprächen waren für die ältern Personen bereitet, und derjenige, der am frühsten zu Bette ging, war auch gewiß am weitesten von allem Lärm einquartirt. Durch diese gute Ordnung schien der Raum, in dem wir uns befanden, eine kleine Welt zu seyn, und doch, wenn man es bey nahem betrachtete, war das Schloß nicht groß, und man würde ohne genaue Kennt¬ niß desselben und ohne den Geist des Wir¬ thes wohl schwerlich so viele Leute darin be¬ herbergt, und jeden nach seiner Art bewir¬ thet haben. So angenehm uns der Anblick eines wohl¬ gestalteten Menschen ist, so angenehm ist uns eine ganze Einrichtung, aus der uns die Gegenwart eines verständigen, vernünf¬ tigen Wesens fühlbar wird. Schon in ein reinliches Haus zu kommen, ist eine Freude, wenn es auch sonst geschmacklos gebauet und verziert ist; denn es zeigt uns die Gegen¬ wart wenigstens von Einer Seite gebildeter Menschen. Wie doppelt angenehm ist es uns also, wenn aus einer menschlichen Woh¬ nung uns der Geist einer höhern, obgleich auch nur sinnlichen, Kultur entgegen spricht! Mit vieler Lebhaftigkeit ward mir dieses auf dem Schlosse meines Oheims anschau¬ lich. Ich hatte vieles von Kunst gehört und gelesen, Philo selbst war ein großer Liebha¬ ber von Gemälden, und hatte eine schöne Sammlung; auch ich selbst hatte viel ge¬ zeichnet; aber theils war ich zu sehr mit meinen Empfindungen beschäftigt, und trach¬ tete nur das eine, was Noth ist, erst recht ins Reine zu bringen, theils schienen doch alle die Sachen, die ich gesehen hatte, mich wie die übrigen weltlichen Dinge zu zer¬ streuen. Nun war ich zum erstenmal durch etwas Äußerliches auf mich selbst zurück ge¬ führt, und ich lernte den Unterschied zwischen dem natürlichen vortreflichen Gesang der Nachtigall und einem vierstimmigen Halle¬ lujah aus gefühlvollen Menschenkehlen zu meiner größten Verwunderung erst kennen. Ich verbarg meine Freude über diese neue Anschauung meinem Oheim nicht, der, wenn alles andere in sein Theil gegangen war, sich mit mir besonders zu unterhalten pflegte. Er sprach mit großer Bescheidenheit von dem, was er besaß und hervorgebracht hatte, mit großer Sicherheit von dem Sin¬ ne, in dem es gesammlet und aufgestellt wor¬ den war, und ich konnte wohl merken, daß er mit Schonung für mich redete, indem er nach seiner alten Art das Gute, wovon er Herr und Meister zu seyn glaubte, demjeni¬ gen unterzuordnen schien, was nach meiner Überzeugung das rechte und beste war. Wenn wir uns, sagte er einmal, als möglich denken können, daß der Schöpfer der Welt selbst die Gestalt seiner Creatur angenommen, und auf ihre Art und Weise sich eine Zeitlang auf der Welt befunden habe; so muß uns dieses Geschöpf schon un¬ endlich vollkommen erscheinen, weil sich der Schöpfer so innig damit vereinigen konnte. Es muß also in dem Begriff des Menschen kein Widerspruch mit dem Begriff der Gott¬ heit liegen, und wenn wir auch oft eine ge¬ wisse Unähnlichkeit und Entfernung von ihr empfinden, so ist es doch um desto mehr un¬ sere Schuldigkeit, nicht immer wie der Ad¬ vokat des bösen Geistes nur auf die Blößen und Schwächen unserer Natur zu sehen, sondern eher alle Vollkommenheiten aufzusu¬ chen, wodurch wir die Ansprüche unsrer Gott¬ ähnlichkeit bestätigen können. Ich lächelte und versetzte: beschämen Sie mich nicht zu sehr, lieber Oheim, durch die Gefälligkeit in meiner Sprache zu reden! Das was Sie mir zu sagen haben, ist für mich von so großer Wichtigkeit, daß ich es in Ihrer eigensten Sprache zu hören wünsch¬ te, und ich will alsdann, was ich mir davon nicht ganz zueignen kann, schon zu überse¬ tzen suchen. Ich werde, sagte er darauf, auch auf meine eigenste Weise, ohne Veränderung des Tons fortfahren können. Des Menschen größtes Verdienst bleibt wohl, wenn er die Umstände so viel als möglich bestimmt und sich so wenig als möglich von ihnen bestim¬ men läßt. Das ganze Weltwesen liegt vor uns, wie ein großer Steinbruch vor dem Baumeister, der nur dann den Nahmen ver¬ dient, wenn er aus diesen zufälligen Natur¬ massen, ein in seinem Geiste entsprungenes Urbild mit der größten Ökonomie, Zweckmä¬ ßigkeit und Festigkeit zusammen stellt. Alles außer uns ist nur Element, ja ich darf wohl sagen, auch alles an uns; aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu er¬ schaffen vermag, was seyn soll, und uns nicht ruhen und rasten läßt, bis wir es au¬ ßer uns oder an uns auf eine oder die an¬ dere Weise dargestellt haben. Sie, liebe Nichte, haben vielleicht das beste Theil er¬ wählt; Sie haben Ihr sittliches Wesen, Ihre tiefe liebevolle Natur mit sich selbst und mit dem höchsten Wesen übereinstimmend zu machen gesucht, indeß wir andere wohl auch nicht zu tadeln sind, wenn wir den sinnlichen Menschen in seinem Umfange zu kennen und thätig in Einheit zu bringen suchen. Durch solche Gespräche wurden wir nach und nach vertrauter, und ich erlangte von ihm, daß er mit mir, ohne Condescendenz, wie mit sich selbst sprach. Glauben Sie nicht, sagte der Oheim zu mir, daß ich Ih¬ nen schmeichle, wenn ich Ihre Art zu denken und zu handeln lobe. Ich verehre den Men¬ schen, der deutlich weiß, was er will, unab¬ lässig vorschreitet, die Mittel zu seinem Zwecke kennt und sie zu ergreifen und zu brauchen weiß; in wie fern sein Zweck groß oder klein sey, Lob oder Tadel verdiene, das kommt bey mir erst nachher in Betrachtung. Glauben Sie mir, meine Liebe, der größte Theil des Unheils und dessen was man bös in der Welt nennt, entsteht bloß, weil die Men¬ schen zu nachlässig sind ihre Zwecke recht kennen zu lernen, und wenn sie solche ken¬ nen, ernsthaft darauf los zu arbeiten. Sie kommen mir vor wie Leute, die den Begriff haben, es könne und müsse ein Thurm ge¬ bauet werden, und die doch an den Grund nicht mehr Steine und Arbeit verwenden, als man allenfalls einer Hütte unterschlüge. Hätten Sie meine Freundin, deren höchstes Bedürfniß war, mit Ihrer innern sittlichen Natur ins reine zu kommen, anstatt der großen und kühnen Aufopferungen, sich zwi¬ schen Ihrer Familie, einem Bräutigam, viel¬ leicht einem Gemahl nur so hin beholfen, Sie würden, in einem ewigen Widerspruch mit sich selbst, niemals einen zufriedenen Au¬ genblick genossen haben. Sie brauchen, versetzt ich hier, das Wort Aufopferung, und ich habe manchmal gedacht, wie wir einer höhern Absicht, gleichsam wie einer Gottheit, das geringere zum Opfer darbringen, ob es uns schon am Herzen liegt, wie man ein geliebtes Schaf für die Gesund¬ heit eines verehrten Vaters gern und willig zum Altar führte. Was es auch sey, versetzte er, der Ver¬ stand oder die Empfindung, das uns eins für das andere hingeben, eins vor dem an¬ dern wählen heißt, so ist Entschiedenheit und Folge, nach meiner Meynung, das vereh¬ rungswürdigste am Menschen. Man kann die Waare und das Geld nicht zugleich ha¬ ben! und der ist eben so übel daran, dem es immer nach der Waare gelüstet, ohne daß er das Herz hat das Geld hinzugeben, als der, den der Kauf reut, wenn er die Waare in Händen hat. Aber ich bin weit entfernt, die Menschen deshalb zu tadeln, denn sie sind eigentlich nicht Schuld, sondern die ver¬ wickelte Lage, in der sie sich befinden, und in der sie sich nicht zu regieren wissen. So werden Sie, zum Beyspiel, im Durchschnitt, weniger üble Wirthe auf dem Lande als in den Städten finden, und wieder in kleinen Städten weniger als in großen, und warum? Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage gebohren, einfache, nahe, bestimmte Zwecke, vermag er einzusehen, und er gewöhnt sich die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur Hand sind; sobald er aber ins weite kommt, weiß er weder was er will, noch was er soll, und es ist ganz einerley, ob er durch die Menge der Gegenstände zerstreut, oder ob er durch die Höhe und Würde derselben au¬ ßer sich gesetzt werde. Es ist immer sein Un¬ glück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regel¬ mäßige Selbstthätigkeit nicht verbinden kann. Fürwahr, fuhr er fort, ohne Ernst ist in der Welt nichts möglich, und unter denen, die wir gebildete Menschen nennen, ist eigent¬ lich wenig Ernst zu finden, sie gehen, ich möchte sagen, gegen Arbeiten und Geschäfte, gegen Künste, ja gegen Vergnügungen nur mit einer Art von Selbstvertheidigung zu Werke, man lebt wie man ein Pack Zeitun¬ gen liest, nur damit man sie los werde, und es fällt mir dabey jener junge Engländer in Rom ein, der Abends, in einer Gesellschaft, sehr zufrieden erzählte: daß er doch heute sechs Kirchen und zwey Gallerien bey Seite gebracht habe. Man will mancherley wissen und kennen, und gerade das was einen am wenigsten angeht, und man bemerkt nicht, daß kein Hunger dadurch gestillt wird, wenn man nach der Luft schnappt. Wenn ich ei¬ nen Menschen kennen lerne, frage ich sogleich, womit beschäfftigt er sich? und wie und in welcher Folge? und mit der Beantwortung der Frage ist auch mein Interesse an ihm auf Zeitlebens entschieden. Sie sind, lieber Oheim, versetzte ich dar¬ auf, vielleicht zu strenge und entziehen man¬ chem guten Menschen, dem Sie nützlich seyn könnten, Ihre hülfreiche Hand. Ist es dem zu verdenken, antwortete er, der so lange vergebens an ihnen und um sie gearbeitet hat. Wie sehr leidet man nicht in der Jugend von Menschen die uns zu einer angenehmen Lustparthie einzuladen glauben, wenn sie uns in der Gesellschaft der der Danaiden, oder des Sysiphus zu bringen versprechen. Gott sey Dank, ich habe mich von ihnen los gemacht, und wenn einer un¬ glücklicher Weise in meinen Kreis kommt, suche ich ihn auf die höflichste Art hinaus zu komplimentiren; denn grade von diesen Leuten hört man die bittersten Klagen über den verworrenen Lauf der Welthändel, über die Seichtigkeit der Wissenschaften, über den Leichtsinn der Künstler, über die Leerheit der Dichter und was alles noch mehr ist. Sie bedenken am wenigsten, daß eben sie selbst und die Menge, die ihnen gleich ist, grade das Buch nicht lesen würden, das geschrieben wäre wie sie es fordern, daß ihnen die ächte Dichtung fremd sey, und daß selbst ein gutes Kunstwerk nur durch Vorurtheil ihren Bey¬ fall erlangen könne. Doch lassen Sie uns abbrechen, es ist hier keine Zeit zu schelten noch zu klagen. W. Meisters Lehrj. 3. Y Er leitete meine Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Gemählde, die an der Wand aufgehängt waren, mein Auge hielt sich an die, deren Anblick reizend, oder deren Gegen¬ stand bedeutend war; er ließ es eine Weile geschehen, dann sagte er: gönnen Sie nun auch dem Genius, der diese Werke hervorge¬ bracht hat, einige Aufmerksamkeit. Gute Ge¬ müther sehen so gerne den Finger Gottes in der Natur, warum sollte man nicht auch der Hand seines Nachahmers einige Betrachtung schenken? Er machte mich sodann auf un¬ scheinbare Bilder aufmerksam, und suchte mir begreiflich zu machen, daß eigentlich die Ge¬ schichte der Kunst uns bloß den Begriff von dem Werth und der Würde eines Kunstwerks geben könne, daß man erst die beschwerlichen Stufen des Mechanismus und des Hand¬ werks, an denen der fähige Mensch sich Jahr¬ hunderte lang hinauf arbeitet, kennen müsse um zu begreifen wie es möglich sey, daß das Genie auf dem Gipfel, bey dessen blo¬ ßen Anblick uns schwindelt, sich frey und fröhlich bewege. Er hatte in diesem Sinne eine schöne Reihe zusammen gebracht, und ich konnte mich nicht enthalten als er mir sie auslegte, die moralische Bildung hier wie im Gleich¬ nisse vor mir zu sehen. Als ich ihm meine Gedanken äußerte, versetzte er: Sie haben vollkommen Recht, und wir sehen daraus: daß man nicht wohl thut, der sittlichen Bil¬ dung, einsam, in sich selbst verschlossen, nach¬ zuhängen; vielmehr wird man finden daß derjenige, dessen Geist nach einer moralischen Cultur strebt, alle Ursache hat, seine feinere Sinnlichkeit zugleich mit auszubilden, damit er nicht in Gefahr komme, von seiner mora¬ lischen Höhe herab zu gleiten, indem er sich den Lockungen einer regellosen Phantasie Y 2 übergiebt, und sich in Gefahr setzt, seine edlere Natur durch Vergnügen an geschmacklosen Tändeleyen, wo nicht an was schlimmerem herab zu würdigen. Ich hatte ihn nicht in Verdacht, daß er auf mich ziele, aber ich fühlte mich getroffen, wenn ich zurück dachte, daß unter den Lie¬ dern, die mich erbauet hatten, manches abge¬ schmackte mochte gewesen seyn, und daß die Bildchen, die sich an meine geistlichen Ideen anschlossen, wohl schwerlich vor den Augen des Oheims würden Gnade gefunden haben. Philo hatte sich indessen öfters in der Bi¬ bliothek aufgehalten, und führte mich nun¬ mehr auch in selbiger ein. Wir bewunderten die Auswahl und dabey die Menge der Bü¬ cher. Sie waren in jedem Sinne gesammlet; denn es waren beynahe auch nur solche darin zu finden, die uns zur deutlichen Erkenntniß führen, oder uns zur rechten Ordnung an¬ weisen; die uns entweder rechte Materialien geben, oder uns von der Einheit unsres Gei¬ stes überzeugen. Ich hatte in meinen Leben unsäglich ge¬ lesen und in gewissen Fächern war mir fast kein Buch unbekannt, um desto angenehmer war mirs hier von der Übersicht des Gan¬ zen zu sprechen, und Lücken zu bemerken, wo ich sonst nur eine beschränkte Verwirrung oder eine unendliche Ausdehnung gesehen hatte. Zugleich machten wir die Bekanntschaft eines sehr interessanten stillen Mannes. Er war Arzt und Naturforscher, und schien mehr zu den Penaten als zu den Bewohnern des Hauses zu gehören. Er zeigte uns das Naturalienkabinet, das, wie die Bibliothek, in verschlossenen Glasschränken, zugleich die Wände der Zimmer verzierte und den Raum veredelte ohne ihn zu verengern. Hier erin¬ nerte ich mich mit Freuden meiner Jugend, und zeigte meinem Vater mehrere Gegen¬ stände, die er ehemals auf das Krankenbette seines, kaum in die Welt blickenden Kindes gebracht hatte. Dabey verhehlte der Arzt so wenig als bey folgenden Unterredungen, daß er sich mir, in Absicht auf religiöse Ge¬ sinnungen nähere, lobte dabey den Oheim außerordentlich wegen seiner Toleranz und Schätzung von allem, was den Werth und die Einheit der menschlichen Natur anzeige und befördere, nur verlange er freylich von allen andern Menschen ein gleiches und pflege nichts so sehr, als individuellen Dünkel und ausschließende Beschränktheit, zu verdammen oder zu fliehen. Seit der Trauung meiner Schwester sah’ dem Oheim die Freude aus den Augen, und er sprach verschiedene mal mit mir über das, was er für sie und ihre Kinder zu thun denke. Er hatte schöne Güter, die er selbst bewirthschaftete, und die er, in dem besten Zustande, seinen Neffen zu übergeben hoffte. Wegen des kleinen Guthes, auf dem wir uns befanden, schien er besondere Gedanken zu hegen: ich werde es, sagte er, nur einer Person überlassen, die zu kennen, zu schätzen und zu genießen weiß was es enthält, und die einsieht, wie sehr ein Reicher und Vor¬ nehmer, besonders in Deutschland, Ursache habe etwas mustermäßiges aufzustellen. Schon war der größte Theil der Gäste nach und nach verflogen, wir bereiteten uns zum Abschied und glaubten die letzte Scene der Feyerlichkeit erlebt zu haben, als wir aufs neue durch seine Aufmerksamkeit, uns ein würdiges Vergnügen zu machen, über¬ rascht wurden. Wir hatten ihm das Ent¬ zücken nicht verbergen können, das wir fühl¬ ten, als bey meiner Schwester Trauung ein Chor Menschenstimmen sich, ohne alle Be¬ gleitung irgend eines Instruments, hören ließ. Wir legten es ihm nahe genug, uns das Vergnügen noch einmal zu verschaffen; er schien nicht darauf zu merken. Wie über¬ rascht waren wir daher, als er eines Abends zu uns sagte: die Tanzmusik hat sich ent¬ fernt; die jungen, flüchtigen Freunde haben uns verlassen; das Ehepaar selbst sieht schon ernsthafter aus als vor einigen Tagen, und in einer solchen Epoche von einander zu schei¬ den, da wir uns vielleicht nie, wenigstens anders wiedersehen, regt uns zu einer feyer¬ lichen Stimmung, die ich nicht edler nähren kann, als durch eine Musik, deren Wieder¬ hohlung Sie schon früher zu wünschen schienen. Er ließ durch das indeß verstärkte und im Stillen noch mehr geübte Chor, uns vier und achtstimmige Gesänge vortragen, die uns, ich darf wohl sagen, wirklich einen Vor¬ schmack der Seeligkeit gaben. Ich hatte bisher nur den frommen Gesang gekannt, in welchem gute Seelen oft mit heiserer Kehle, wie die Waldvögelein, Gott zu loben glau¬ ben, weil sie sich selbst eine angenehme Em¬ pfindung machen; dann die eitle Musik der Concerte, in denen man allenfalls zur Be¬ wunderung eines Talents, selten aber, auch nur zu einem vorübergehenden Vergnügen hingerissen wird. Nun vernahm ich eine Musik aus dem tiefsten Sinne der trefflich sten menschlichen Naturen entsprungen, die, durch bestimmte und geübte Organe in har¬ monischer Einheit wieder zum tiefsten besten Sinne des Menschen sprach und ihn wirk¬ lich in diesem Augenblicke seine Gottähnlich¬ keit lebhaft empfinden ließ. Alles waren lateinische, geistliche Gesänge, die sich, wie Juwelen, in dem goldnen Ringe einer gesit¬ teten weltlichen Gesellschaft ausnahmen, und mich, ohne Anforderung einer so genannten Erbauung, auf das geistigste erhoben und glücklich machten. Bey unserer Abreise wurden wir alle auf das edelste beschenkt. Mir überreichte er das Ordenskreuz meines Stiftes, kunstmäßiger und schöner gearbeitet und emaillirt, als man es sonst zu sehen gewohnt war. Es hing an einem großen Brillanten, wodurch es zu¬ gleich an das Band befestigt wurde, und den er als den edelsten Stein einer Naturalien¬ sammlung anzusehen bat. Meine Schwester zog nun mit ihrem Ge¬ mahl auf seine Güter; wir andern kehrten alle nach unsern Wohnungen zurück und schienen uns, was unsere äußre Umstände anbetraf, in ein ganz gemeines Leben zurück gekehrt zu seyn. Wir waren, wie aus einem Feenschloß, auf die platte Erde gesetzt, und mußten uns nach unsrer Weise wieder beneh¬ men und behelfen. Die sonderbaren Erfahrungen die ich in jenem neuen Kreise gemacht hatte, ließen ei¬ nen schönen Eindruck bey mir zurück, doch blieb er nicht lange in seiner ganzen Lebhaf¬ tigkeit, obgleich der Oheim ihn zu unterhal¬ ten und zu erneuern suchte, indem er mir, von Zeit zu Zeit, von seinen besten und ge¬ fälligsten Kunstwerken zusandte, und wenn ich sie lange genug genossen hatte, wieder mit andern vertauschte. Ich war zu sehr gewohnt, mich mit mir selbst zu beschäftigen, die Angelegenheiten meines Herzens und meines Gemüthes in Ordnung zu bringen, und mich davon mit ähnlich gesinnten Personen zu unterhalten, als daß ich mit Aufmerksamkeit ein Kunst¬ werk hätte betrachten sollen, ohne bald auf mich selbst zurück zu kehren. Ich war ge¬ wohnt, ein Gemählde und einen Kupferstich nur anzusehen, wie die Buchstaben eines Buchs. Ein schöner Druck gefällt wohl, aber wer wird ein Buch des Druckes wegen in die Hand nehmen? So sollte mir auch eine bildliche Darstellung etwas sagen, sie sollte mich belehren, rühren, bessern, und der Oheim mochte in seinen Briefen, mit denen er seine Kunstwerke erläuterte, reden was er wollte, so blieb es mit mir doch immer beym Alten. Doch mehr als meine eigene Natur zo¬ gen mich äußere Begebenheiten, die Verän¬ derungen in meiner Familie von solchen Be¬ trachtungen, ja eine Weile von mir selbst ab; ich mußte dulden und würken, mehr, als meine schwachen Kräfte zu ertragen schienen. Meine ledige Schwester war bisher mein rechter Arm gewesen; gesund, stark und un¬ beschreiblich gütig hatte sie die Besorgung der Haushaltung über sich genommen, wie mich die persönliche Pflege des alten Vaters beschäftigte. Es überfällt sie ein Kathar, woraus eine Brustkrankheit wird, und in drey Wochen liegt sie auf der Bahre; ihr Tod schlug mir Wunden, deren Narben ich jetzt noch nicht gerne ansehe. Ich lag krank zu Bette, ehe sie noch be¬ erdiget war; der alte Schaden auf meiner Brust schien aufzuwachen, ich hustete heftig, und war so heiser daß ich keinen lauten Ton hervorbringen konnte. Die verheirathete Schwester kam vor Schrecken und Betrübniß zu früh in die Wochen. Mein alter Vater fürchtete, seine Kinder und die Hoffnung seiner Nachkom¬ menschaft auf einmal zu verliehren, seine gerechte Thränen vermehrten meinen Jam¬ mer; ich flehte zu Gott um Herstellung einer leidlichen Gesundheit, und bat ihn nur mein Leben bis nach dem Tode des Vaters zu fristen. Ich genaß, und war nach meiner Art wohl, konnte wieder meine Pflichten, obgleich nur auf eine kümmerliche Weise, er¬ füllen. Meine Schwester ward wieder guter Hoffnung. Mancherley Sorgen, die in sol¬ chen Fällen der Mutter anvertraut werden, wurden mir mitgetheilt; sie lebte nicht ganz glücklich mit ihrem Manne, das sollte dem Vater verborgen bleiben, ich mußte Schieds¬ richter seyn, und konnte es um so eher, da mein Schwager Zutrauen zu mir hatte, und beyde wirklich gute Menschen waren, nur daß beyde, anstatt einander nachzusehen, mit einander rechteten, und aus Begierde, völlig mit einander überein zu leben, niemals einig werden konnten. Nun lernte ich auch die weltlichen Dinge mit Ernst angreifen, und das ausüben, was ich sonst nur gesungen hatte. Meine Schwester gebahr einen Sohn, die Unpäßlichkeit meines Vaters verhinderte ihn nicht, zu ihr zu reisen. Beym Anblick des Kindes war er unglaublich heiter und froh, und bey der Taufe erschien er mir ge¬ gen seine Art wie begeistert, ja ich möchte sagen, als ein Genius mit zwey Gesichtern. Mit dem einen blickte er freudig vorwärts in jene Regionen, in die er bald einzugehen hoffte; mit dem andern auf das neue, hoff¬ nungsvolle irdische Leben, das in dem Kna¬ ben entsprungen war, der von ihm abstamm¬ te. Er ward nicht müde auf dem Rückwege mich von dem Kinde zu unterhalten, von seiner Gestalt, seiner Gesundheit, und dem Wunsche, daß die Anlagen dieses neuen Welt¬ bürgers glücklich ausgebildet werden möch¬ ten. Seine Betrachtungen hierüber dauer¬ ten fort, als wir zu Hause anlangten, und erst nach einigen Tagen bemerkte man eine Art Fieber, das sich nach Tisch ohne Frost und durch eine etwas ermattende Hitze äus¬ serte. Er legte sich jedoch nicht nieder, fuhr des morgens aus und versah treulich seine Amtsgeschäfte, bis ihn endlich anhaltende, ernsthafte Symptome davon abhielten. Nie werde ich die Ruhe des Geistes, die Klarheit und Deutlichkeit vergessen, womit er die Angelegenheiten seines Hauses, die Besorgung seines Begräbnisses, als wie das Geschäft eines andern, mit der größten Ord¬ nung vornahm. Mit einer Heiterkeit, die ihm sonst nicht eigen war, und die bis zu einer lebhaften Freude stieg, sagte er zu mir: wo ist die Todesfurcht hingekommen, die ich sonst noch wohl empfand? sollt ich zu sterben scheuen? ich habe einen gnädigen Gott, das Grab er¬ weckt mir kein Grauen, ich habe ein ewiges Leben. Mir Mir die Umstände seines Todes zurück zu rufen, der bald darauf erfolgte, ist in mei¬ ner Einsamkeit eine meiner angenehmsten Unterhaltungen, und die sichtbaren Wirkun¬ gen einer höhern Kraft dabey wird mir nie¬ mand wegräsonniren. Der Tod meines lieben Vaters veränder¬ te meine bisherige Lebensart. Aus dem strengsten Gehorsam, aus der größten Ein¬ schränkung kam ich in die größte Freiheit, und ich genoß ihrer wie einer Speise die man lange entbehrt hat. Sonst war ich sel¬ ten zwey Stunden außer dem Hause, nun verlebte ich kaum Einen Tag in meinem Zimmer. Meine Freunde, bey denen ich sonst nur abgerissene Besuche machen konnte, wollten sich meines anhaltenden Umgangs, so wie ich mich des ihrigen, erfreuen, öfters wurde ich zu Tische geladen, Spazierfahrten und kleine Lustreisen kamen hinzu, und ich W. Meisters Lehrj. 3. Z blieb nirgends zurück. Als aber der Zirkel durchlaufen war, so sahe ich, daß das un¬ schätzbare Glück der Freiheit nicht darin besteht, daß man alles thut, was man thun mag, und wozu uns die Umstände einladen sondern, daß man das ohne Hinderniß und Rückhalt, auf dem graden Wege, thun kann, was man für recht und schicklich hält, und ich war alt genug, in diesem Falle, ohne Lehrgeld zu der schönen Überzeugung zu ge¬ langen. Was ich mir nicht versagen konnte, war, sobald als nur möglich, den Umgang mit den Gliedern der Herrnhuthischen Gemeine fortzusetzen, und fester zu knüpfen, und ich eilte eine ihrer nächsten Einrichtungen zu be¬ suchen: aber auch da fand ich keinesweges, was ich mir vorgestellt hatte. Ich war ehr¬ lich genug meine Meinung merken zu lassen, und man suchte mir hinwieder beyzubringen: diese Verfassung sey gar nichts gegen eine ordentlich eingerichtete Gemeine. Ich konn¬ te mir das gefallen lassen, doch hätte nach meiner Überzeugung der wahre Geist, aus einer kleinen so gut, als aus einer großen Anstalt, hervorblicken sollen. Einer ihrer Bischöfe, der gegenwärtig war, ein unmittelbarer Schüler des Grafen, beschäftigte sich viel mit mir; er sprach voll¬ kommen Englisch; und weil ich es ein we¬ nig verstand, meinte er, es sey ein Wink, daß wir zusammen gehörten; ich meinte es aber ganz und gar nicht, sein Umgang konn¬ te mir nicht im geringsten gefallen. Er war ein Messerschmidt, ein gebohrner Mähre, seine Art zu denken konnte das handwerks¬ mäßige nicht verleugnen. Besser verstand ich mich mit dem Herrn von L*, der Ma¬ jor in französischen Diensten gewesen war; aber zu der Unterthänigkeit, die er gegen Z 2 seinen Vorgesetzten bezeigte, fühlte ich mich niemals fähig; ja es war mir als wenn man mir eine Ohrfeige gäbe, wenn ich die Ma¬ jorin und andere, mehr oder weniger ange¬ sehene, Frauen dem Bischof die Hand küssen sah. Indessen wurde doch eine Reise nach Holland verabredet, die aber, und gewiß zu meinem Besten, niemals zu Stande kam. Meine Schwester war mit einer Tochter niedergekommen, und nun war die Reihe an uns Frauen zufrieden zu seyn, und zu den¬ ken, wie sie dereinst, uns ähnlich, erzogen werden sollte. Mein Schwager war dage¬ gen sehr unzufrieden, als in dem Jahre dar¬ auf abermals eine Tochter erfolgte; er wünschte bey seinen großen Gütern Kna¬ ben um sich zu sehen, die ihm einst in der Verwaltung beystehen könnten. Ich hielt mich bey meiner schwachen Ge¬ sundheit still, und bey einer ruhigen Lebens¬ art ziemlich im Gleichgewicht, ich fürchtete den Tod nicht, ja ich wünschte zu sterben, aber ich fühlte in der Stille, daß mir Gott Zeit gebe, meine Seele zu untersuchen und ihm immer näher zu kommen. In den vielen schlaflosen Nächten habe ich besonders etwas empfunden, das ich eben nicht deutlich be¬ schreiben kann. Es war als wenn meine Seele ohne Ge¬ sellschaft des Körpers dächte, sie sah den Körper selbst als ein, ihr fremdes, Wesen an, wie man etwa ein Kleid ansieht. Sie stellte sich mit einer außerordentlichen Leb¬ haftigkeit die vergangenen Zeiten und Bege¬ benheiten vor, und fühlte daraus, was fol¬ gen werde. Alle diese Zeiten sind dahin, was folgt wird auch dahin gehen; der Kör¬ per wird wie ein Kleid zerreißen, aber Ich, das wohlbekannte Ich, Ich bin. Diesem großen, erhabenen und tröstlichen Gefühle so wenig als nur möglich nachzu¬ hängen, lehrte mich ein edler Freund, der sich mir immer näher verband; es war der Arzt, den ich in dem Hause meines Oheims hatte kennen lernen, und der sich von der Verfassung meines Körpers und meines Gei¬ stes sehr gut unterrichtet hatte; er zeigte mir wie sehr diese Empfindungen, wenn wir sie, unabhängig von äußern Gegenständen, in uns nähren, uns gewissermaßen aushöh¬ len und den Grund unseres Daseyns unter¬ graben. Thätig zu seyn, sagte er, ist des Menschen erste Bestimmung, und alle Zwi¬ schenzeiten, in denen er auszuruhen genöthi¬ get ist, sollte er anwenden eine deutliche Er¬ kenntniß der äusserlichen Dinge zu erlangen, die ihm in der Folge abermals seine Thä¬ tigkeit erleichtert. Da der Freund meine Gewohnheit kann¬ te, meinen eigenen Körper als einen äußern Gegenstand anzusehn, und da er wußte, daß ich meine Constitution, mein Übel, und die medicinischen Hülfsmittel ziemlich kannte, und ich wirklich durch anhaltende eigene und fremde Leiden ein halber Arzt geworden war, so leitete er meine Aufmerksamkeit von der Kenntniß des menschlichen Körpers und der Specereyen, auf die übrigen nachbarlichen Gegenstände der Schöpfung, und führte mich wie im Paradiese umher, und nur zuletzt, wenn ich mein Gleichniß fortsetzen darf, ließ er mich den in der Abendkühle im Garten wandelnden Schöpfer aus der Entfernung ahnden. Wie gerne sah ich nunmehr Gott in der Natur, da ich ihn mit solcher Gewißheit im Herzen trug, wie interessant war mir das Werk seiner Hände, und wie dankbar war ich, daß er mich mit dem Athem seines Mun¬ des hatte beleben wollen. Wir hofften aufs neue, mit meiner Schwe¬ ster, auf einen Knaben, dem mein Schwager so sehnlich entgegen sah, und dessen Geburt er leider nicht erlebte. Der wackere Mann starb an den Folgen eines unglücklichen Sturzes vom Pferde, und meine Schwester folgte ihm, nachdem sie der Welt einen schö¬ nen Knaben gegeben hatte. Ihre vier hin¬ terlassenen Kinder konnte ich nur mit Weh¬ muth ansehn. So manche gesunde Person war vor mir, der Kranken, hingegangen, soll¬ te ich nicht vielleicht von diesen hoffnungs¬ vollen Blüthen manche abfallen sehen? Ich kannte die Welt genug, um zu wissen, un¬ ter wie vielen Gefahren ein Kind, besonders in dem höheren Stande, herauf wächst, und es schien mir, als wenn sie seit der Zeit mei¬ ner Jugend sich für die gegenwärtige Welt noch vermehrt hätten. Ich fühlte daß ich, bey meiner Schwäche, wenig oder nichts für die Kinder zu thun im Stande sey, um desto erwünschter war mir des Oheims Ent¬ schluß, der natürlich aus seiner Denkungsart entsprang, seine ganze Aufmerksamkeit auf die Erziehung dieser liebenswürdigen Ge¬ schöpfe zu verwenden. Und gewiß, sie ver¬ dienten es in jedem Sinne, sie waren wohl¬ gebildet, und versprachen, bey ihrer großen Verschiedenheit, sämmtlich gutartige und ver¬ ständige Menschen zu werden. Seitdem mein guter Arzt mich aufmerk¬ sam gemacht hatte, betrachtete ich gern die Familienähnlichkeit in Kindern und Ver¬ wandten. Mein Vater hatte sorgfältig die Bilder seiner Vorfahren aufbewahrt, sich selbst und seine Kinder von leidlichen Mei¬ stern mahlen lassen, auch war meine Mut¬ ter und ihre Verwandten nicht vergessen worden. Wir kannten die Charactere der ganzen Familie genau, und da wir sie oft unter einander verglichen hatten, so suchten wir nun bey den Kindern die Ähnlichkeiten des äussern und innern wieder auf. Der älteste Sohn meiner Schwester schien seinem Großvater, väterlicher Seite, zu gleichen, von dem ein jugendliches Bild sehr gut ge¬ mahlt in der Sammlung unseres Oheims aufgestellt war, auch liebte er wie jener, der sich immer als ein braver Officier gezeigt hatte, nichts so sehr als das Gewehr, wo¬ mit er sich immer, so oft er mich besuchte, beschäftigte. Denn mein Vater hatte einen sehr schönen Gewehrschrank hinterlassen, und der Kleine hatte nicht eher Ruhe, bis ich ihm ein Paar Pistolen und eine Jagdflinte schenkte, und bis er heraus gebracht hatte, wie ein deutsches Schloß aufzuziehen sey. Übrigens war er in seinen Handlungen und seinem ganzen Wesen nichts weniger als rauh, sondern vielmehr sanft und verständig. Die älteste Tochter hatte meine ganze Neigung gefesselt, und es mochte wohl da¬ her kommen, weil sie mir ähnlich sah, und weil sie sich von allen vieren am meisten zu mir hielt. Aber ich kann wohl sagen, je genauer ich sie beobachtete, da sie heran wuchs, desto mehr beschämte sie mich, und ich konnte das Kind nicht ohne Bewunde¬ rung, ja ich darf beynahe sagen, nicht ohne Verehrung ansehn. Man sah nicht leicht eine edlere Gestalt, ein ruhiger Gemüth und eine immer gleiche, auf keinen Gegenstand eingeschränkte, Thätigkeit. Sie war keinen Augenblick ihres Lebens unbeschäftigt, und jedes Geschäft ward unter ihren Händen zur würdigen Handlung. Alles schien ihr gleich, wenn sie nur das verrichten konnte, was in der Zeit und am Platz war, und eben so konnte sie ruhig, ohne Ungeduld, bleiben, wenn sich nichts zu thun fand. Diese Thä¬ tigkeit ohne Bedürfniß einer Beschäftigung habe ich in meinem Leben nicht wieder gese¬ hen. Unnachahmlich war von Jugend auf ihr Betragen gegen Nothleidende und Hülfs¬ bedürftige. Ich gestehe gern, daß ich nie¬ mals das Talent hatte, mir aus der Wohl¬ thätigkeit ein Geschäft zu machen; ich war nicht karg gegen Arme, ja ich gab oft in meinem Verhältnisse zu viel dahin, aber ge¬ wissermaßen kaufte ich mich nur los, und es mußte mir jemand angebohren seyn, wenn er mir meine Sorgfalt abgewinnen wollte. Grade das Gegentheil lobe ich an meiner Nichte. Ich habe sie niemals einem Armen Geld geben sehen, und was sie von mir zu diesem Endzweck erhielt, verwandelte sie im¬ mer erst in das nächste Bedürfniß. Nie¬ mals erschien sie mir liebenswürdiger, als wenn sie meine Kleider- und Wäschschränke plünderte; immer fand sie etwas, das ich nicht trug und nicht brauchte, und diese al¬ ten Sachen zusammen zu schneiden und sie irgend einem zerlumpten Kinde anzupassen, war ihre größte Glückseligkeit. Die Gesinnungen ihrer Schwester zeigten sich schon anders, sie hatte vieles von der Mutter, versprach schon frühe sehr zierlich und reizend zu werden und scheint ihr Ver¬ sprechen halten zu wollen, sie ist sehr mit ih¬ rem Äußern beschäfftigt und wußte sich, von früher Zeit an, auf eine in die Augen fallende Weise zu putzen und zu tragen. Ich erin¬ nere mich noch immer, mit welchem Entzük¬ ken sie sich als ein kleines Kind im Spiegel besah, als ich ihr die schönen Perlen, die mir meine Mutter hinterlassen hatte, und die sie von ungefähr bey mir fand, umbin¬ den mußte. Wenn ich diese verschiedenen Neigungen betrachtete, war es mir angenehm zu den¬ ken, wie meine Besitzungen, nach meinem Tode, unter sie zerfallen und durch sie wieder lebendig werden würden. Ich sah die Jagd¬ flinten meines Vaters schon wieder auf dem Rücken des Neffen im Felde herumwandeln, und aus seiner Jagdtasche schon wieder Hüh¬ ner heraus fallen; ich sah meine sämmtliche Garderobe bey der Osterconfirmation, lauter kleinen Mädchen angepaßt, aus der Kirche herauskommen und mit meinen besten Stof¬ fen ein sittsames Bürgermädchen an ihrem Brauttage geschmückt; denn zu Ausstattung solcher Kinder und ehrbarer armer Mädchen hatte Natalie eine besondere Neigung, ob sie gleich, wie ich hier bemerken muß, selbst keine Art von Liebe, und wenn ich so sagen darf, kein Bedürfniß einer Anhänglichkeit an ein sichtbares oder unsichtbares Wesen, wie es sich bey mir in meiner Jugend so lebhaft gezeigt hatte, auf irgend eine Weise mer¬ ken ließ. Wenn ich nun dachte, daß die Jüngste an eben demselben Tage meine Perlen und Juwelen nach Hofe tragen werde, so sah ich mit Ruhe meine Besitzungen, wie meinem Körper, den Elementen wiedergegeben. Die Kinder wuchsen heran, und sind zu meiner Zufriedenheit gesunde, schöne und wackre Geschöpfe. Ich ertrage es mit Geduld, daß der Oheim sie von mir entfernt hält, und sehe sie, wenn sie in der Nähe oder auch wohl gar in der Stadt sind, selten. Ein wunderbarer Mann, den man für einen französischen Geistlichen hält, ohne daß man recht von seiner Herkunft unterrichtet ist, hat die Aufsicht über die sämmtlichen Kinder, welche an verschiedenen Orten erzo¬ gen werden und bald hier bald da in der Kost sind. Ich konnte anfangs keinen Plan in dieser Erziehung sehn, bis mir mein Arzt zuletzt eröffnete: der Oheim habe sich durch den Ab¬ bé überzeugen lassen, daß, wenn man an der Erziehung des Menschen etwas thun wolle, müsse man sehen, wohin seine Neigungen und seine Wünsche gehen? sodann müsse man ihn in die Lage versetzen, jene, sobald als möglich zu befriedigen, diese, sobald als möglich zu erreichen, damit der Mensch, wenn er sich geirrt habe, früh genug seinen Irrthum gewahr werde, und wenn er das getroffen hat, was für ihn paßt, desto eifri¬ ger daran halte und sich desto emsiger fort¬ bilde. Ich wünsche daß dieser sonderbare Versuch gelingen möge, bey so guten Natu¬ ren ist es vielleicht möglich. Aber das, was ich nicht an diesen Erzie¬ hern billigen kann, ist, daß sie alles von den Kindern zu entfernen suchen, was sie zu dem Umgange mit sich selbst und mit dem unsicht¬ baren, einzigen treuen Freund führen könne. Ja Ja es verdrießt mich oft von dem Oheim, daß er mich deßhalb für die Kinder für ge¬ fährlich hält. Im praktischen ist doch kein Mensch tolerant! denn wer auch versichert, daß er jedem seine Art und Wesen gerne lassen wolle, sucht doch immer diejenigen von der Thätigkeit auszuschließen, die nicht so denken wie er. Diese Art, die Kinder von mir zu entfer¬ nen, betrübt mich desto mehr, je mehr ich von der Realität meines Glaubens überzeugt seyn kann. Warum sollte er nicht einen göttlichen Ursprung, nicht einen wirklichen Gegenstand haben, da er sich im praktischen so wirksam erweiset. Werden wir durchs praktische doch unseres eigenen Daseyns selbst erst recht gewiß, warum sollten wir uns nicht auch auf eben dem Wege von jenem Wesen überzeugen können, das uns zu allem Guten die Hand reicht? W. Meisters Lehrj. 3. A a Daß ich immer vorwärts, nie rückwärts gehe, daß meine Handlungen immer mehr der Idee ähnlich werden, die ich mir von der Vollkommenheit gemacht habe, daß ich täg¬ lich mehr Leichtigkeit fühle das zu thun, was ich für Recht halte, selbst bey der Schwäche meines Körpers, der mir so manchen Dienst versagt; läßt sich das alles aus der mensch¬ lichen Natur, deren Verderben ich so tief eingesehen habe, erklären? Für mich nun einmal nicht. Ich erinnere mich kaum eines Gebotes, nichts erscheint mir in Gestalt eines Gesetzes, es ist ein Trieb der mich leitet und mich im¬ mer recht führet; ich folge mit Freiheit mei¬ nen Gesinnungen, und weiß so wenig von Einschränkung, als von Reue. Gott sey Dank, daß ich erkenne wem ich dieses Glück schuldig bin und daß ich an diese Vorzüge nur mit Demuth denken darf. Denn niemals werde ich in Gefahr kommen, auf mein eig¬ nes Können und Vermögen stolz zu werden, da ich so deutlich erkannt habe, welch Unge¬ heuer in jedem menschlichen Busen, wenn eine höhere Kraft uns nicht bewahrt, sich er¬ erzeugen und nähren könne.