Goͤttingische gelehrte Anzeigen . Unter der Aufsicht der koͤnigl. Gesellschaft der Wissenschaften. Der erste Band auf das Jahr 1831. Goͤttingen , gedruckt bey Friedrich Ernst Huth . Goͤttingische gelehrte Anzeigen unter der Aufsicht der Koͤnigl. Gesellschaft der Wissenschaften. 64. Stuͤck. Den 23. April 1831 . Goͤttingen . Eine am 15. April von dem Hofr. Gauß der Koͤnigl. Societaͤt uͤberreichte Vorlesung: Theo- ria residuorum biquadraticorum, commen- tatio secunda, ist die Fortsetzung der bereits im sechsten Bande der Commentationes novae ab- gedruckten Abhandlung, wovon auch in unsern Blaͤttern zu seiner Zeit 1825 S. 59 eine Anzeige gemacht war. Auch diese Fortsetzung, obgleich mehr als doppelt staͤrker wie die erste Abhand- lung, erschoͤpft den uͤberaus reichhaltigen Gegen- stand noch nicht, und erst einer kuͤnftigen dritten Abhandlung wird die Vollendung des Ganzen vorbehalten bleiben. Obgleich die Grundbegriffe dieser Lehren und der Inhalt der ersten Abhandlung als allen, die aus der hoͤhern Arithmetik ein Studium gemacht haben, bekannt vorausgesetzt werden koͤnnen, wol- len wir doch jene zur Bequemlichkeit solcher Freun- de dieses Theils der Mathematik, welchen die erste Abhandlung nicht gleich zur Hand ist, hier [56] Goͤttingische gel. Anzeigen kurz in Erinnerung bringen. In Beziehung auf eine beliebige ganze Zahl p heißt eine andere k ein biquadratischer Rest, wenn es Zahlen der Form x 4 — k gibt, die durch p theilbar sind; im entgegengesetzten Fall heißt sie biquadratischer Nicht-Rest von p . Es ist zureichend, sich hiebey auf den Fall einzuschraͤnken, wo p eine Primzahl der Form 4 n + 1, und k durch dieselbe nicht theilbar ist, da alle andere Faͤlle entweder fuͤr sich klar, oder auf diesen zuruͤckzufuͤhren sind. Fuͤr einen solchen gegebenen Werth von p zerfallen saͤmmtliche durch p nicht theilbare Zah- len in vier Klassen, wovon die eine die biqua- dratischen Reste, eine zweyte solche biquadratische Nicht-Reste, die quadratische Reste von p sind, enthaͤlt, und in die beiden uͤbrigen die biquadra- tischen Nicht-Reste, welche zugleich quadratische Nicht-Reste sind, vertheilt werden. Das Prin- cip dieser Vertheilung besteht darin, daß allemahl entweder k n — 1, oder k n + 1, oder k n — f , oder k n + f durch p theilbar seyn wird, wo f eine ganze Zahl bedeutet, die ff + 1 durch p theilbar macht. Jeder, dem die elementarische Terminologie bekannt ist, sieht von selbst, wie diese Worterklaͤrungen in dieselbe eingekleidet werden. Die Theorie dieser Classificierung nicht nur fuͤr den an der Oberflaͤche liegenden Fall k = — 1, sondern auch fuͤr die, subtile Huͤlfsuntersuchun- gen erfordernden Faͤlle k = ± 2, findet sich in der erster Abhandlung ganz vollendet. Im An- fang der gegenwaͤrtigen Abhandlung wird nun zu groͤßern Werthen von k fortgeschritten: man braucht aber dabey zunaͤchst nur solche in Betracht zu ziehen, die selbst Primzahlen sind, und der Erfolg zeigt, daß die Resultate am einfachsten ausfallen, wenn man die Werthe positiv oder 64. St., den 23. April 1831. negativ nimmt, je nachdem sie, absolut betrach- tet, von der Form 4 m + 1 oder 4 m + 3 sind. Die Induction gibt hier sofort mit großer Leich- tigkeit eine reiche Ernte von neuen Lehrsaͤtzen, wovon wir hier nur ein Paar anfuͤhren. Die Numerierung der Classen mit 1, 2, 3, 4 wird auf die Faͤlle bezogen, wo k n den Zahlen 1, f , — 1, — f congruent wird; zugleich ist fuͤr die Zahl f immer derjenige Werth angenommen, wel- cher a + bf durch p theilbar macht, wenn aa + bb die Zerlegung von p in ein ungerades und ein gerades Quadrat vorstellt. So findet sich durch die Induction, daß die Zahl — 3 allemal zu der Classe 1, 2, 3, 4 gehoͤrt, je nachdem b , a + b , a , a — b durch 3 theilbar ist; daß die Zahl + 5 der Reihe nach zu jenen Classen gehoͤrt, je nach- dem b , a — b , a , a + b durch 5 theilbar ist; daß die Zahl — 7 in die Classe 1 faͤllt, wenn a oder b ; in die Classe 1, wenn a — 2 b oder a — 3 b ; in die Classe 2, wenn a — b oder a + b ; in die Classe 3, wenn a + 2 b oder a + 3 b durch 7 theilbar ist. Aehnliche Theore- me ergeben sich in Beziehung auf die Zahlen — 11, + 13, + 17, — 19, — 23 u. s. f. So leicht sich aber alle dergleichen specielle Theo- reme durch die Induction entdecken lassen, so schwer scheint es, auf diesem Wege ein allgemei- nes Gesetz fuͤr diese Formen aufzufinden, wenn auch manches Gemeinschaftliche bald in die Au- gen faͤllt, und noch viel schwerer ist es, fuͤr diese Lehrsaͤtze die Beweise zu finden. Die fuͤr die Zahlen + 2 und — 2 in der ersten Abhandlung gebrauchten Methoden vertragen hier keine An- wendung mehr, und wenn gleich andere Metho- den ebenfalls das, was sich auf die erste und dritte Classe bezieht, zu erledigen dienen koͤnn- [56] * Goͤttingische gel. Anzeigen ten, so zeigen sich doch solche zur Begruͤndung von vollstaͤndigen Beweisen untauglich. Man erkennt demnach bald, daß man in die- ses reiche Gebiet der hoͤhern Arithmetik nur auf ganz neuen Wegen eindringen kann. Der Verf. hatte schon in der ersten Abhandlung eine An- deutung gegeben, daß dazu eine eigenthuͤmliche Erweiterung des ganzen Feldes der hoͤhern Arith- metik wesentlich erforderlich ist, ohne damals sich naͤher daruͤber zu erklaͤren, worin dieselbe beste- he: die gegenwaͤrtige Abhandlung ist dazu be- stimmt, diesen Gegenstand ins Licht zu setzen. Es ist dieses nichts anders, als daß fuͤr die wahre Begruͤndung der Theorie der biquadrati- schen Reste das Feld der hoͤhern Arithmetik, wel- ches man sonst nur auf die reellen ganzen Zah- leu ausdehnte, auch uͤber die imaginaͤren erstreckt werden, und diesen das voͤllig gleiche Buͤrger- recht mit jenen eingeraͤumt werden muß. So bald man dieß einmahl eingesehen hat, erscheint jene Theorie in einem ganz neuen Lichte, und ihre Resultate gewinnen eine hoͤchst uͤberraschende Einfachheit. Ehe jedoch in diesem erweiterten Zahlengebiet die Theorie der biquadratischen Reste selbst ent- wickelt werden kann, muͤssen in jenem die dieser Theorie vorangehenden Lehren der hoͤhern Arith- metik, die bisher nur in Beziehung auf reelle Zahlen bearbeitet sind, an dieser Erweiteruug Theil nehmen. Von diesen vorgaͤngigen Unter- suchungen koͤnnen wir hier nur Einiges anfuͤhren. Der Verf. nennt jede Groͤße a + b i , wo a und b reelle Groͤßen bedeuten, und i der Kuͤrze we- gen anstatt √ — 1 geschrieben ist, eine complexe ganze Zahl, wenn zugleich a und b ganze Zah- len sind. Die complexen Groͤßen stehen also nicht den reellen entgegen, sondern enthalten diese, 64. St., den 23. April 1831. als einen speciellen Fall, wo b = 0, unter sich. Zur bequemen Handhabung war es erforderlich, mehrere auf die complexen Groͤßen sich beziehende Begriffsbildungen mit besondern Benennungen zu belegen, welche wir aber in dieser Anzeige zu umgehen suchen werden. So wie in der Arithmetik der reellen Zahlen nur von zwey Einheiten, der positiven und ne- gativen, die Rede ist, so haben wir in der Arithmetik der complexen Zahlen vier Einheiten + 1, — 1, + i , — i . Zusammengesetzt heißt eine complexe ganze Zahl, wenn sie das Product aus zwey von den Einheiten verschiede- nen ganzen Factoren ist; eine complexe Zahl hin- gegen, die eine solche Zerlegung in Facto- ren nicht zulaͤßt, heißt eine complexe Primzahl. So ist z. B. die reelle Zahl 3, auch als com- plexe Zahl betrachtet eine Primzahl, waͤhrend 5 als complexe Zahl zusammengesetzt ist = (1 + 2 i ) (1 — 2 i ). Eben so wie in der hoͤhern Arithmetik der reellen Zahlen spielen auch in dem erweiterten Felde dieser Wissenschaft die Primzahlen eine Hauptrolle. Wird eine complexe ganze Zahl a + bi als Modu- lus angenommen, so lassen sich aa + bb unter sich nicht congruente, und nicht mehrere, complexe Zahlen aufstellen, von denen einer jede vorgegebene ganze complexe Zahl congruent seyn muß, und die man ein vollstaͤndiges System incongruenter Reste nen- nen kann. Die sogenannten kleinsten und abso- lut kleinsten Reste in der Arithmetik der reellen Zahlen haben auch hier ihr vollkommenes Analo- gon. So besteht z. B. fuͤr den Modulus 1 + 2 i das vollstaͤndige System der absolut kleinsten Reste aus den Zahlen 1, i , — 1 und — i . Fast die saͤmmtlicheu Untersuchungen der vier ersten Ab- schnitte der Disquisitiones Arithmeticae fin- Goͤttingische gel. Anzeigen den, mit einigen Modificationen, auch in der erweiterten Arithmetik ihren Platz. Das beruͤhmte Fermatsche Theorem z. B. nimmt hier folgende Gestalt an: Wenn a + b i eine complexe Prim- zahl ist, und k eine durch jene nicht theilbare complexe Zahl, so ist immer k aa + bb — 1 √ 1 fuͤr den Modulus a + b i . Ganz besonders merk- wuͤrdig ist es aber, daß das Fundamentaltheorem fuͤr die quadratischen Reste in der Arithmetik der complexen Zahlen sein vollkommenes, nur hier noch einfacheres, Gegenstuͤck hat; sind naͤmlich a + b i , A + B i complexe Primzahlen, so daß a und A ungerade, b und B gerade sind, so ist die erste quadratischer Rest der zweyten, wenn die zweyte quadratischer Rest der ersten ist, hin- gegen die erste quadratischer Nichtrest der zwey- ten, wenn die zweyte quadratischer Nichtrest der ersten ist. Indem die Abhandlung nach diesen Vorunter- suchungen zu der Lehre von den biquadratischen Resten selbst uͤbergeht, wird zuvoͤrderst anstatt der bloßen Unterscheidung zwischen biquadrati- schen Resten und Nichtresten eine Vertheilung der durch den Modulus nicht theilbaren Zahlen in vier Klassen festgesetzt. Ist naͤmlich der Mo- dulus eine complexe Primzahl a + b i , wo im- mer a ungerade b gerade vorausgesetzt, und der Kuͤrze wegen p statt aa + bb geschrieben wird, und k eine complexe durch a + bi nicht theilbare Zahl, so wird allemahl k ¼ ( p — 1) einer der Zah- len + 1, + i , — 1, — i congruent seyn, und dadurch eine Vertheilung saͤmmtlicher durch a + bi nicht theilbarer Zahlen in vier Classen begruͤn- det, denen der Reihe nach der biquadratische Character 0, 1, 2, 3 beygelegt wird. Offenbar bezieht sich der Character 0 auf die biquadrati- schen Reste, die uͤbrigen auf die biquadratischen 64. St., den 23. April 1831. Nichtreste, und zwar so, daß dem Character 2 zugleich quadratische Reste, den Charactern 1 und 3 hingegen quadratische Nichtreste entsprechen. Man erkennt leicht, daß es hauptsaͤchlich darauf ankommt, diesen Character bloß fuͤr solche Wer- the von k bestimmen zu koͤnnen, die selbst com- plexe Primzahlen sind, und hier fuͤhrt sogleich die Induction zu hoͤchst einfachen Resultaten. Wird zuerst k = 1 + i gesetzt, so zeigt sich, daß der Character dieser Zahl allemahl √ ⅛ (— aa + 2 ab — 3 bb + 1) ( mod. 4) wird, und aͤhnliche Ausdruͤcke finden sich fuͤr die Faͤlle k = 1 — i , k = — 1 + i , k = — 1 — i . Ist hingegen k = α + ϐ i eine solche Primzahl, wo α ungerade und ϐ gerade ist, so ergibt sich durch die Induction sehr leicht ein dem Funda- mentaltheorem fuͤr die quadratischen Reste ganz analoges Reciprocitaͤtsgesetz, welches am einfach- sten auf folgende Art ausgedruͤckt werden kann: Wenn sowohl α + ϐ — 1 als a + b — 1 durch 4 theilbar sind (auf welchen Fall alle uͤbrigen leicht zuruͤckgefuͤhrt werden koͤnnen), und der Cha- racter der Zahl α + ϐ i in Beziehung auf den Modulus a + b i durch λ , hingegen der Cha- racter von a + b i in Beziehung auf den Mo- dulus α + ϐ i durch ι bezeichnet wird: so ist λ = ι , wenn zugleich eine der Zahlen ϐ, b (oder beide) durch 4 theilbar ist, hingegen λ = ι ± 2, wenn keine der Zahlen ϐ, b durch 4 theilbar ist. Diese Theoreme enthalten im Grunde alles Wesentliche der Theorie der biquadratischen Reste in sich: so leicht es aber war, sie durch In- duction zu entdecken, so schwer ist es, strenge Beweise fuͤr sie zu geben, besonders fuͤr das zweyte, das Fundamentaltheorem der biquadra- tischen Reste. Wegen des großen Umfanges, zu welchem schon die gegenwaͤrtige Abhandlung an- Goͤttingische gel. Anzeigen gewachsen ist, sah sich der Verfasser genoͤthigt, die Darstellung des Beweises fuͤr das letztere Theorem, in dessen Besitz er seit 20 Jahren ist, fuͤr eine kuͤnftige dritte Abhandlung zuruͤckzulas- sen. Dagegen ist in vorliegender Abhandlung noch der vollstaͤndige Beweis fuͤr das erstere die Zahl 1 + i betreffende Theorem (von welchem die anderen fuͤr 1 — i , — 1 + i , — 1 — i ab- haͤngig sind) mitgetheilt, welcher schon einigen Begriff von der Verwicklung des Gegenstandes geben kann. Wir haben nun noch einige allgemeine An- merkungen beyzufuͤgen. Die Versetzung der Lehre von den biquadratischen Resten in das Gebiet der complexen Zahlen koͤnnte vielleicht manchem, der mit der Natur der imaginaͤren Groͤßen we- niger vertraut und in falschen Vorstellungen da- von befangen ist, anstoͤßig und unnatuͤrlich schei- nen, und die Meinung veranlassen, daß die Un- tersuchung dadurch gleichsam in die Luft gestellt sey, eine schwankende Haltung bekomme, und sich von der Anschaulichkeit ganz entferne. Nichts wuͤrde ungegruͤndeter seyn, als eine solche Mei- nung. Im Gegentheil ist die Arithmetik der complexen Zahlen der anschaulichsten Versinnli- chung faͤhig, und wenn gleich der Verf. in sei- ner dießmahligen Darstellung eine rein arithme- tische Behandlung befolgt hat, so hat er doch auch fuͤr diese die Einsicht lebendiger machende und deshalb sehr zu empfehlende Versinnlichung die noͤthigen Andeutungen gegeben, welche fuͤr selbst- denkende Leser zureichend seyn werden. So wie die absoluten ganzen Zahlen durch eine in einer geraden Linie unter gleichen Entfernungen geord- nete Reihe von Puncten dargestellt werden, in der der Anfangspunct die Zahl 0, der naͤchste die Zahl 1 u. s. w. vertritt; und so wie dann 64. St., den 23. April 1831. zur Darstellung der negativen Zahlen nur eine unbegrenzte Verlaͤngerung dieser Reihe auf der entgegengesetzten Seite des Anfangspuncts erfor- derlich ist: so bedarf es zur Darstellung der com- plexen ganzen Zahlen nur des Zusatzes, daß jene Reihe als in einer bestimmten unbegrenzten Ebe- ne befindlich angesehen, und parallel mit ihr auf beiden Seiten eine unbeschraͤnkte Anzahl aͤhnli- cher Reihen in gleichen Abstaͤnden von einander angenommen werde, so daß wir anstatt einer Reihe von Puncten ein System von Puncten vor uns haben, die sich auf eine zwiefache Art in Reihen von Reihen ordnen lassen, und zur Bildung einer Eintheilung der ganzen Ebene in lauter gleiche Quadrate dienen. Der naͤchste Punct bey 0 in der ersten Nebenreihe auf der einen Seite der Reihe welche die reellen Zahlen repraͤsentiert, bezieht sich dann auf die Zahl i , so wie der naͤchste Punct bey 0 in der ersten Nebenreihe auf der andern Seite auf — i u. s. f. Bey dieser Darstellung wird die Ausfuͤhrung der arithmetischen Operationen in Beziehung auf die complexen Groͤßen, die Congruenz, die Bil- dung eines vollstaͤndigen Systems incongruenter Zahlen fuͤr einen gegebenen Modulus u. s. f. ei- ner Versinnlichung faͤhig, die nichts zu wuͤnschen uͤbrig laͤßt. Von der andern Seite wird hierdurch die wahre Metaphysik der imaginaͤren Groͤßen in ein neues helles Licht gestellt. Unsere allgemeine Arithmetik, von deren Um- fang die Geometrie der Alten so weit uͤberfluͤ- gelt wird, ist ganz die Schoͤpfung der neuern Zeit. Urspruͤnglich ausgehend von dem Begriff der absoluten ganzen Zahlen hat sie ihr Gebiet stufenweise erweitert; zu den ganzen Zahlen sind die gebrochenen, zu den rationalen die irratio- Goͤttingische gel. Anzeigen nalen, zu den positiven die negativen, zu den reellen die imaginaͤren hinzugekommen. Dieß Vorschreiten ist aber immer anfangs mit furcht- sam zoͤgerndem Schritt geschehen. Die ersten Algebraisten nannten noch die negativen Wurzeln der Gleichungen falsche Wurzeln, und sie sind es auch, wo die Aufgabe, auf welche sie sich be- ziehen, so eingekleidet vorgetragen ist, daß die Beschaffenheit der gesuchten Groͤße kein Entge- gengesetztes zulaͤßt. Allein so wenig man in der Allgemeinen Arithmetik Bedenken hat, die gebrochenen Zahlen mit aufzunehmen, obgleich es so viele zaͤhlbare Dinge gibt, wobey eine Bruch- zahl ohne Sinn ist, eben so wenig durften in jener den negativen Zahlen gleiche Rechte mit den positiven deshalb versagt werden, weil un- zaͤhlige Dinge kein Entgegengesetztes zulassen: die Realitaͤt der negativen Zahlen ist hinreichend gerechtfertigt, da sie in unzaͤhligen andern Faͤl- len ein adaͤquates Substrat finden. Daruͤber ist man nun freylich seit langer Zeit im Klaren- Allein die den reellen Groͤßen gegenuͤbergestellten imaginaͤren — ehemals, und hin und wieder noch jetzt, obwohl unschicklich, unmoͤgliche ge- nannt — sind noch immer weniger eingebuͤrgert als nur geduldet, und erscheinen also mehr wie ein an sich inhaltleeres Zeichenspiel, dem man ein denkbares Substrat unbedingt abspricht, oh- ne doch den reichen Tribut, welchen dieses Zei- chenspiel zuletzt in den Schatz der Verhaͤltnisse der reellen Groͤßen steuert, verschmaͤhen zu wollen. Der Verf. hat diesen hochwichtigen Theil der Mathematik seit vielen Jahren aus einem ver- schiedenen Gesichtspunct betrachtet, wobey den imaginaͤren Groͤßen eben so gut ein Gegenstand untergelegt werden kann, wie den negativen: es hat aber bisher an einer Veranlassung gefehlt, 64. St., den 23. April 1831. dieselbe oͤffentlich bestimmt auszusprechen, wenn gleich aufmerksame Leser die Spuren davon in der 1799 erschienenen Schrift uͤber die Gleichun- gen, und in der Preisschrift uͤber die Umbil- dung der Flaͤchen leicht wiederfinden werden. In der gegenwaͤrtigen Abhandlung sind die Grund- zuͤge davon kurz angegeben; sie bestehen in Fol- gendem. Positive und negative Zahlen koͤnnen nur da eine Anwendung finden, wo das gezaͤhlte ein Entgegengesetztes hat, was mit ihm vereinigt gedacht der Vernichtung gleich zu stellen ist. Ge- nau besehen findet diese Voraussetzung nur da Statt, wo nicht Substanzen (fuͤr sich denkbare Gegenstaͤnde) sondern Relationen zwischen je zweyen Gegenstaͤnden das gezaͤhlte sind. Postu- liert wird dabey, daß diese Gegenstaͤnde auf ei- ne bestimmte Art in eine Reihe geordnet sind z. B. A , B , C , D ...., und daß die Re- lation des A zu B als der Relation des B zu C u. s. w. gleich betrachtet werden kann. Hier gehoͤrt nun zu dem Begriff der Entgegensetzung nichts weiter als der Umtausch der Glieder der Relation, so daß wenn die Relation (oder der Uebergang) von A zu B als + 1 gilt, die Relation von B zu A durch — 1 dargestellt werden muß. Insofern also eine solche Reihe auf beiden Seiten unbegrenzt ist, repraͤsentiert jede reelle ganze Zahl die Relation eines belie- big als Anfang gewaͤhlten Gliedes zu einem be- stimmten Gliede der Reihe. Sind aber die Gegenstaͤnde von solcher Art, daß sie nicht in Eine, wenn gleich unbegrenzte, Reihe geordnet werden koͤnnen, sondern sich nur in Reihen von Reihen ordnen lassen, oder was dasselbe ist, bilden sie eine Mannigfaltigkeit von zwey Dimensionen; verhaͤlt es sich dann mit den Goͤttingische gel. Anzeigen Relationen einer Reihe zu einer andern oder den Uebergaͤngen aus einer in die andere auf eine aͤhnliche Weise wie vorhin mit den Uebergaͤngen von einem Gliede einer Reihe zu einem andern Gliede derselben Reihe, so bedarf es offenbar zur Abmessung des Ueberganges von einem Glie- de des Systems zu einem andern außer den vo- rigen Einheiten + 1 und — 1 noch zweyer an- dern unter sich auch entgegengesetzten + i und — i . Offenbar muß aber dabey noch postuliert werden, daß die Einheit i allemahl den Ueber- gang von einem gegebenen Gliede einer Reihe zu einem bestimmten Gliede der unmittelbar angrenzenden Reihe bezeichne. Auf diese Weise wird also das System auf eine doppelte Art in Reihen von Reihen geordnet werden koͤnnen. Der Mathematiker abstrahiert gaͤnzlich von der Beschaffenheit der Gegenstaͤnde und dem In- halt ihrer Relationen; er hat es bloß mit der Abzaͤhlung und Vergleichung der Relationen un- ter sich zu thun: insofern ist er eben so, wie er den durch + 1 und — 1 bezeichneten Relatio- nen, an sich betrachtet, Gleichartigkeit beylegt, solche auf alle vier Elemente + 1, — 1, + i und — i zu erstrecken befugt. Zur Anschauung lassen sich diese Verhaͤltnisse nur durch eine Darstellung im Raume bringen, und der einfachste Fall ist, wo kein Grund vor- handen ist, die Symbole der Gegenstaͤnde an- ders als quadratisch anzuordnen, indem man naͤmlich eine unbegrenzte Ebene durch zwey Sy- steme von Parallellinien, die einander rechtwink- lich durchkreuzen, in Quadrate vertheilt, und die Durchschnittspuncte zu den Symbolen waͤhlt. Jeder solche Punct A hat hier vier Nachba- ren, und wenn man die Relation des A zu einem benachbarten Puncte durch + 1 bezeich- 64. St., den 23. April 1831. net, so ist die durch — 1 zu bezeichnende von selbst bestimmt, waͤhrend man, welche der bei- den andern man will, fuͤr + i waͤhlen, oder den sich auf + i beziehenden Punct nach Ge- fallen rechts oder links nehmen kann. Die- ser Unterschied zwischen rechts und links ist, so bald man vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts in der Ebne, und oben und unten in Beziehung auf die bei- den Seiten der Ebne einmahl (nach Gefallen) festgesetzt hat, in sich voͤllig bestimmt, wenn wir gleich unsere Anschauung dieses Unterschie- des andern nur durch Nachweisung an wirklich vorhandenen materiellen Dingen mittheilen koͤn- nen Beide Bemerkungen hat schon Kant gemacht, aber man begreift nicht, wie dieser scharfsinnige Philo- soph in der ersteren einen Beweis für seine Mei- nung, daß der Raum nur Form unserer äußern Anschauung sey, zu finden glauben konnte, da die zweyte so klar das Gegentheil, und daß der Raum unabhängig von unserer Anschauungsart eine reelle Bedeutung haben muß, beweiset. . Wenn man aber auch uͤber letzteres sich entschlossen hat, sieht man, daß es doch von unserer Willkuͤhr abhing, welche von den bei- den in Einem Puncte sich durchkreuzenden Rei- hen wir als Hauptreihe, und welche Richtung in ihr man als auf positive Zahlen sich bezie- hend ansehen wollten; man sieht ferner, daß wenn wir die vorher als + i behandelte Re- lation fuͤr + 1 nehmen will, man nothwendig die vorher durch — 1 bezeichnete Relation fuͤr + i nehmen muß. Das heißt aber, in der Sprache der Mathematiker, + i ist mittlere Pro- portionalgroͤße zwischen + 1 und — 1 oder ent- spricht dem Zeichen √ — 1: wir sagen absicht- lich nicht die mittlere Proportionalgroͤße, denn — i hat offenbar gleichen Anspruch. Hier ist Goͤttingische gel. Anzeigen also die Nachweisbarkeit einer anschaulichen Be- deutung von √ — 1 vollkommen gerechtfertigt, und mehr bedarf es nicht, um diese Groͤße in das Gebiet der Gegenstaͤnde der Arithmetik zu- zulassen. Wir haben geglaubt, den Freunden der Ma- thematik durch diese kurze Darstellung der Haupt- momente einer neuen Theorie der sogenannten imaginaͤren Groͤßen einen Dienst zu erweisen. Hat man diesen Gegenstand bisher aus einem falschen Gesichtspunct betrachtet und eine ge- heimnißvolle Dunkelheit dabey gefunden, so ist dieß großentheils den wenig schicklichen Benen- nungen zuzuschreiben. Haͤtte man + 1, — 1, √ — 1 nicht positive, negative, imaginaͤre (oder gar unmoͤgliche) Einheit, sondern etwa directe, inverse, laterale Einheit genannt, so haͤtte von einer solchen Dunkelheit kaum die Rede seyn koͤnnen. Der Verf. hat sich vorbehalten, den Gegenstand, welcher in der vorliegenden Abhand- lung eigentlich nur gelegentlich beruͤhrt ist, kuͤnf- tig vollstaͤndiger zu bearbeiten, wo dann auch die Frage, warum die Relationen zwischen Din- gen, die eine Mannigfaltigkeit von mehr als zwey Dimensionen darbieten, nicht noch andere in der allgemeinen Arithmetik zulaͤssige Arten von Groͤßen liefern koͤnnen, ihre Beantwortung finden wird.