Volksrecht und Juristenrecht. Von Dr. Georg Beseler , Geh. Justizrathe und Professor zu Greifswald . Leipzig, Weidmann’sche Buchhandlung. 1843 . Vorrede . E s war ursprünglich meine Absicht, den Inhalt dieser Schrift, welche jetzt ein zusammenhaͤngendes Ganzes bildet, in einer Reihe einzelner Abhandlungen zu bear- beiten, und zwar nach der Beschaffenheit des Gegen- standes theils in der Form einer freien wissenschaftli- chen Erörterung, theils als ausführliche, mit dem voll- staͤndigen gelehrten Apparat ausgestattete Monogra- phien. Ich weiß nun freilich sehr wohl, daß ich, in- dem ich von diesem Plane abging und die gegenwär- tige Form des Werkes wählte, den wichtigen Vortheil aus der Hand gab, auch die einzelnen darin behandel- ten Lehren so, wie es die unbefangene Darlegung ei- ner genauen Forschung allein vermag, zu begründen. Indessen schien es mir doch vor Allem darauf anzu- kommen, die leitenden Gedanken, um deren Ausfuͤhrung es mir zunaͤchst zu thun war, zur gehoͤrigen Klarheit * und Anschaulichkeit zu erheben, und so trug ich kein Bedenken, in ihrem Dienste das von mir zusammen gebrachte Material zu verwenden. Mag diese Schrift dadurch auch nach einer Seite hin an Wirksamkeit verloren haben, so gelingt es ihr dafür vielleicht um so eher, eine allgemeinere und lebendigere Theilnahme zu erregen, und das wuͤrde ich fuͤr einen entschiedenen Gewinn halten. Denn es kommen hier Fragen zur Erwägung, bei deren Loͤsung nicht allein die Juristen betheiligt sind und die Entscheidung abzugeben haben. Greifswald im Julius 1843. G. B. Inhalt . Volksrecht und Juristenrecht . Seite Erstes Kapitel . Historische Einleitung 1 Zweites Kapitel . Feststellung des Gegenstandes 58 Drittes Kapitel . Das gemeine Recht und seine Gegensaͤtze 91 I. Das Volksrecht . Viertes Kapitel . Erkenntnißquellen des Volksrechts 109 Fuͤnftes Kapitel . Das Volksrecht als gemeines Landrecht 140 Sechstes Kapitel . Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft 158 Siebentes Kapitel . Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht 193 Achtes Kapitel . Das Volksrecht in seinem Verhaͤltniß zur Gesetzgebung 230 Seite Neuntes Kapitel . Das Volksrecht in seinem Verhaͤltniß zu dem Gerichtswesen 246 II. Das Juristenrecht . Zehntes Kapitel . Methode des Juristenrechts 299 Eilftes Kapitel . Das Juristenrecht nach dem Umfange seiner Geltung 328 Zwoͤlftes Kapitel . Werth des Juristenrechts 342 Volksrecht und Juristenrecht. Beseler , Volksrecht. 1 Erstes Kapitel. Historische Einleitung . U m Wiederholungen zu vermeiden und fuͤr die weitere Ent- wicklung die rechte Grundlage zu gewinnen, habe ich es fuͤr noͤthig gehalten, bevor ich zu dem eigentlichen Gegenstande die- ser Abhandlung uͤbergehe, eine kurze historische Einleitung vor- auszuschicken. Die Aufgabe derselben ist leicht zu bestimmen: sie soll in wenigen, einfachen Zuͤgen die Geschichte des deut- schen Rechts von den aͤltesten Zeiten bis auf die Gegenwart geben, und nicht bloß zeigen, in welcher Weise und aus wel- chen Elementen sich der heutige Rechtszustand in Deutschland gebildet hat, sondern auch namentlich darthun, wie zu allen Zeiten die Beschaffenheit des Rechts mit dem ganzen oͤffentli- chen Leben der Nation in dem engsten Zusammenhange ge- standen und von demselben bedingt worden ist. Durch eine solche Betrachtung wird sich uͤber Manches, was bei einer einseitigen, bloß juristischen Auffassung kaum erklaͤrlich scheint, das rechte Verstaͤndniß gewinnen lassen, vor Allem auch uͤber die Aufnahme des roͤmischen Rechts in Deutschland und deren Bedeutung fuͤr die Gegenwart. Aber es stehen auch einer Darstellung, welche den angegebenen Zweck erreichen soll, keine geringen Schwierigkeiten entgegen. Aus dem ganzen reichen Material kann nur mit einer, allein durch den richtigen Tact 1* Erstes Kapitel . bestimmten Auswahl das Allerwesentlichste hervorgehoben wer- den; und, was besonders zu erwaͤgen ist, der Stoff darf nicht bloß aus den eigentlichen Rechtsquellen entnommen werden, da diese theils unzureichend sind, theils aber haͤufig das gel- tende und zur Anwendung gebrachte Recht nicht genau ange- ben. Denn die Wirklichkeit und namentlich die des germani- schen Mittelalters sieht oft ganz anders aus, als die dafuͤr gesetzten Rechtsnormen es erwarten lassen, und selten kommt eine in dem innern Rechtsleben einer Nation vorgehende Ver- aͤnderung zum Durchbruch, ohne daß nicht vorher in langem Kampfe ein Theil des positiven Rechts der neuen Idee hat unterliegen muͤssen, bis diese sich auch aͤußerlich und foͤrmlich sanctionirt an dessen Stelle setzt, um dann vielleicht schon wie- der von einer andern Richtung, die sich geltend machen will, bedroht zu werden. So muß die Rechtsgeschichte, wenn sie nicht bloß das Werk einer einseitigen, todten Quellenforschung seyn soll, als integrirender Theil der allgemeinen politischen Ge- schichte in ihrem weitesten Umfange aufgefaßt werden; sie muß das Rechtsleben der Nation in seiner Fuͤlle und seinem Wech- sel zur deutlichen Anschauung zu bringen wissen. — Bei die- ser Hoͤhe der Aufgabe darf die folgende Skizze freilich nur ein bescheidenes Verdienst fuͤr sich in Anspruch nehmen. Die aͤltesten Nachrichten uͤber unser Volk zeigen dasselbe noch nicht in einer formell ausgepraͤgten, politischen Vereini- gung. Die ungebundene Freiheit roher Naturmenschen, welche nur in dem Willen jedes Einzelnen und in der Macht des Staͤrkeren ihre Beschraͤnkung findet, treffen wir freilich bei den Historische Einleitung . Deutschen, wie sie zuerst in der beglaubigten Geschichte auf- treten, nicht mehr an; es zeigt sich vielmehr bei ihnen schon jede Anlage, welche zur hoͤheren menschlichen Bildung befaͤhigt, und der Anfang geordneter politischer Verhaͤltnisse. Aber diese waren doch erst im Entstehen begriffen, und hatten noch nicht die Kraft, die Einzelnen zu einer bewußten Volkseinheit zu- sammen zu fuͤhren. Auf der allgemeinen Grundlage mensch- licher Verbindungen, der Familie, waren die weiteren Vereine erwachsen, welche sich genossenschaftlich abschlossen, und inso- fern sie sich an einen bestimmten Grundbesitz knuͤpften, zu Gemeinden sich ausbildeten. Aus diesen traten wieder Ein- zelne zu freien Gefolgschaften zusammen, indem sie sich unter gefeierten Haͤuptlingen zu Kaͤmpfen und Abentheuern verban- den, und uͤber die Grenzen hinausschweifend, der nachdraͤngen- den Volksmacht oft die Bahn zu Eroberungen und neuen An- siedlungen wiesen. So entwickelten sich die einzelnen Voͤlker- schaften und Stammesgenossenschaften, welche aber erst im fuͤnften Jahrhundert nach Christus unter dem Einfluß der durch die Roͤmerkriege hervorgerufenen Buͤndnisse zu einer ge- wissen Staͤtigkeit und Abgeschlossenheit kamen. Sie standen aͤußerlich getrennt neben einander, ja oft feindlich sich gegen- uͤber; aber alle hielt doch das Band gleicher Abstammung zu- sammen: Religion, Sprache, Sitte und Recht waren aus der- selben Wurzel hervorgegangen, und entfalteten sich, ungeachtet so vieler und bedeutender Abweichungen, im Ganzen doch in einer bewunderungswuͤrdigen Harmonie. Tritt dieser Bil- dungsproceß aͤußerlich auch nur bei den einzelnen Staͤmmen hervor, so zeigt sich der tieferen Betrachtung doch bald, daß hier eine nationale Entwicklung vor sich gehe, der spaͤter auch die mehr formelle Vereinigung nicht fehlen werde. Erstes Kapitel . Dem ganzen Stammesleben aber entsprach das Recht der aͤlteren Zeit: es war noch ganz mit der Religion und der Sitte verwachsen, wenn es sich auch schon, trotz der symboli- schen Umkleidung, in bestimmten Instituten erkennbar heraus- stellt; es ging unmittelbar aus den Lebensverhaͤltnissen hervor, wie sie sich bei der allgemeinen nationalen Anlage und den besondern Beduͤrfnissen der engeren Kreise gestalteten. Die freien Genossen der Volksgemeinde sind die eigentlichen Traͤ- ger der oͤffentlichen Gewalt; der Unfreie ist außer dem Volks- rechte gestellt, ohne politische Berechtigung. Jene aber treten im Thing zusammen, und verhandeln hier ihre Angelegenhei- ten, — bald nach kleineren Bezirken, wie das Interesse der Familie, der Mark, des Gaus es erheischt; bald in groͤßeren Versammlungen, welche in wichtigen Faͤllen den ganzen Stamm darstellen koͤnnen. Doch ist auch unter den Freien keine voͤl- lige Gleichheit: das Ansehen des Hausvaters, des Hofbesitzers mit einer selbstaͤndigen Berechtigung am Gemeindeland mußte sich unter natuͤrlichen Verhaͤltnissen von selbst geltend machen; fuͤr gemeinschaftliche Opfer und andere religioͤse Handlungen konnten Priester nicht entbehrt werden; es zeigen sich fruͤh einzelne hervorragende Geschlechter mit einer bevorzugten Stel- lung in der Gemeinde und bei den Versammlungen, ja selbst das Koͤnigthum, wie man die beschraͤnkte Macht der Stam- meshaͤuptlinge zu nennen pflegt, ist schon zu Tacitus Zeiten bei den meisten Voͤlkerschaften hergebracht. Aber wenigstens bei denen, welche fruͤhe zu festen Sitzen gekommen waren und sich unvermischt mit den Roͤmern erhielten, blieb die ge- meine Freiheit doch der eigentliche Mittelpunct und Kern der Verfassung. So war auch die Handhabung des Rechts bei der Gemeinde, welche den Volksfrieden zu schuͤtzen hatte; nur Historische Einleitung . griff sie nicht in regelmaͤßiger Wirksamkeit ein, sondern uͤber- wachte und leitete hauptsaͤchlich, so gut es ging, die Fehden der einzelnen Genossen, die aber seltner mit Waffen als mit Ei- den ausgekaͤmpft wurden, und in der Zahlung einer Buße an den Verletzten regelmaͤßig ihre Erledigung fanden. Doch erhob sie vom Friedbrecher in selbstaͤndiger Berechtigung auch noch das Fredum, und wer sich direct an der Gesammtheit verging, den traf die Strafe des Verraͤthers. Im Felde wird aber uͤberhaupt ein strengeres Kriegsrecht gegolten haben. In dieser Lage blieben die im heutigen Deutschland an- gesessenen Volksstaͤmme, (denn nur mit diesen haben wir es hier zunaͤchst zu thun) bis zwei Ereignisse eintraten, welche zu einander in naher Beziehung stehend, einen welthistorischen Einfluß auf sie ausuͤbten: ihre Bekehrung zum Christenthume und ihre Einverleibung in die fraͤnkische Monarchie. Die christliche Religion, fuͤr welche gerade bei den Germanen die groͤßte Empfaͤnglichkeit vorhanden war, hat sie befaͤhigt, an der allgemeinen Entwicklung der abendlaͤndischen Cultur Theil zu nehmen, und uͤberhaupt auf das Rechtswesen bedeutungs- voll einwirkend, vor Allem in der eigenthuͤmlichen Stellung der Geistlichkeit ein neues Element der Verfassung hervorge- rufen. In der fraͤnkischen Monarchie aber kamen die Deut- schen unter die Gewalt des auf dem eroberten roͤmischen Bo- den entwickelten Koͤnigthums, welches die Souverainitaͤt der einzelnen Volksstaͤmme und ihrer Herzoͤge beschraͤnkte, und sie zu einer, wenn auch nur aͤußerlichen politischen Einheit zu- sammenfuͤhrte, in der sich schon ein geordnetes Staatsleben geltend machte. Karl’s des Großen Sieg uͤber die Sachsen bildet den Wendepunct in dieser Periode der deutschen Ge- schichte, wie denn uͤberhaupt die Bedeutung des fraͤnkischen Erstes Kapitel . Einflusses sich am Entschiedensten in der Regierung dieses ge- waltigen Fuͤrsten darstellt, dessen Schoͤpfungen die sicherste Ge- waͤhr der Dauer in sich trugen, weil sie dem Geiste der Zeit und wahrhaft nationalen Beduͤrfnissen entsprachen. Um nun die Stellung der Deutschen in der fraͤnkischen Monarchie richtig aufzufassen, muß die eigenthuͤmliche Lage der oͤffentlichen Verhaͤltnisse gehoͤrig gewuͤrdigt, und namentlich der Gegensatz, in welchem sich die rein deutschen Staͤmme zu den in den roͤmischen Provinzen angesiedelten befanden, bestimmt hervorgehoben werden. Die letzteren, als deren Repraͤsentan- ten die in Gallien ansaͤssig gewordenen Franken genommen werden koͤnnen, waren fruͤh christianisirt, der aͤußern Cultur und mancher Verwaltungsformen der Provinzialen theilhaftig geworden; sie waren ferner, was besonders zu erwaͤgen, zum großen Theile aus Gefolgschaften hervorgegangen, und deswe- gen geneigt, in ein bestimmtes Dienstverhaͤltniß zum Koͤnige zu treten, welches dem urspruͤnglichen Princip der gemeinen Freiheit, wenn auch nicht geradezu widerstrebte, doch wesentli- chen Abbruch that. Dieses tritt daher bei den Franken all- maͤlig zuruͤck, und die hohe Geistlichkeit und die vornehmen Dienstmannen, in der Reichsversammlung vereinigt, erscheinen neben dem Koͤnige als der politisch berechtigte Theil der Na- tion. Als nun nach und nach die in Deutschland gebliebenen Voͤlkerschaften unterworfen, und den Franken als freie Ge- nossen zugesellt wurden, so kam zu dem fraͤnkischen Dienst- mannenrecht, welches schon das Lehenwesen im Keime in sich trug, die alte germanische Volksfreiheit hinzu, welche in der Heimath treu bewahrt worden war. Daraus ergab sich nun ein doppeltes Element der Verfassung, welches wir unter den ersten Karolingern, und namentlich unter Karl dem Großen Historische Einleitung . gleichmaͤßig gewahrt sehen. Das fraͤnkische Element uͤberwog, wo es sich von allgemeinen Reichsangelegenheiten handelte, und das eigentliche Staatsprincip zur Frage stand; nament- lich die Reichsversammlung und die Stellung der koͤniglichen Beamten war darauf basirt. Die Volksfreiheit dagegen blieb mit voller Wirksamkeit in den engeren Kreisen der Staͤmme, Provinzen und Gemeinden bestehen, nur daß ein koͤniglicher Beamter die formelle Leitung hatte und namentlich den Bann (das imperium ) handhabte; ja mit einer großartigen Conse- quenz hatte Karl das Kriegswesen auf die Volksbewaffnung (den Heerbann) zuruͤckgefuͤhrt. Bei dieser Verfassung war nun allerdings schon ein ener- gisches Eingreifen der hoͤchsten Gewalt in der Monarchie moͤg- lich, und unter kraͤftigen Herrschern kommt es auch mit ent- schiedenem Erfolg vor. Es wurden allgemeine Reichsgesetze von großer Bedeutung erlassen; die Verwaltung, nach be- stimmten Regeln geordnet, war schon vielfach im Interesse des oͤffentlichen Wohles thaͤtig; die oͤffentlichen Strafen mehrten sich; die Rechtspflege trat der Privatgewalt der Einzelnen be- stimmter gegenuͤber, und das Fehdewesen ward beschraͤnkt. Doch fuͤhrte dieß zu keiner Unterdruͤckung des alten Volks- rechts, weil sich dasselbe in den engeren Kreisen des oͤffentli- chen Lebens frei bewegen durfte. Kein Gesetz ist unter Karl dem Großen fuͤr einen einzelnen Volksstamm ohne dessen Zu- stimmung erlassen worden; auf den Provinziallandtagen, in den Versammlungen der Gaue, Hunderte und Gemarkungen wurden noch immer die Geschaͤfte von den freien Eingesessenen selbstaͤndig abgemacht. Auch die Rechtspflege lag in ihren Haͤnden, denn die Quelle des Rechts war noch die Ueberzeu- gung der Gemeinde: gesetzliche Verfuͤgungen kommen nament- Erstes Kapitel . lich fuͤr das Privatrecht nur selten vor. Aber eine große, leb- haft bewegte Versammlung, bei der kein parlamentarisch ge- ordneter Geschaͤftsgang angenommen werden darf, paßt nicht fuͤr eine sich regelmaͤßig wiederholende richterliche Thaͤtigkeit; es kommt nur darauf an, daß diese unter der Aufsicht und Billigung der Gemeinde geuͤbt werde. Daher findet sich schon fruͤhe, daß nach Verhandlung der Sache, die in lebendiger Rede und Gegenrede vor sich ging, Einer oder Mehre der Genossen das Urtheil einsetzten, welches bestehen blieb, wenn die Uebrigen (der Umstand) es nicht verwarfen. Auf diesem Princip beruhte auch die sogenannte Karolingische Schoͤffen- verfassung, indem unter Leitung eines Sendboten von dem Grafen und seiner Gemeinde bestimmte Personen aus dieser fuͤr die Dauer erwaͤhlt wurden, um vorstimmend das Urtheil zu finden, was denn in den gebotenen Gerichten, wo die Ge- meinde nicht gegenwaͤrtig zu seyn brauchte, als eine wahre Jurisdiction sich darstellen mußte. Auf diese Weise schien fuͤr einen großen Theil des Abend- landes eine Staatsform gefunden zu seyn, welche die verschie- denen Voͤlkerschaften, durch gemeinschaftliche Abstammung und das Band des Christenthums unter einander verbunden, auf die Dauer zu einem Staatsganzen vereinen, und ihnen doch zugleich die ihrer Eigenthuͤmlichkeit entsprechende Freiheit der Bewegung gewaͤhren koͤnne. Aber als Karl’s starke Hand nicht mehr uͤber das Reich waltete, da zeigte sich doch bald, wie aͤußerlich die Einheit desselben gewesen war; die Natio- nalitaͤt der Deutschen trat immer entschiedener im Gegensatz zu der der Romanen hervor, und mußte uͤber kurz oder lang eine Trennung herbeifuͤhren. Mit der Aufloͤsung der fraͤnki- schen Monarchie hoͤrte jedoch nicht der Einfluß auf, den sie Historische Einleitung . auf den Charakter und die Staatsbildung der Deutschen aus- geuͤbt hatte. Manches ward freilich leicht wieder ausgestoßen: so die isolirten Vorschriften des roͤmischen Rechts, welche in die Gesetze einzelner Volksstaͤmme uͤbergegangen waren; auch das Fehdewesen war bald wieder mehr im Schwange. Aber viele und wichtige Einrichtungen blieben als die Grundlage der weiteren Entwicklung im Mittelalter bestehen. Dahin ist, wenigstens theilweise, das Recht der Kirche zu zaͤhlen; des- gleichen die Grafengewalt, die Schoͤffenverfassung und das Le- henwesen. Doch hat das Letztere in Deutschland, wo das Princip der gemeinen Freiheit lange noch festgehalten ward, nie die tief eingreifende Bedeutung erhalten, wie bei den ro- manischen Voͤlkern und namentlich den Franzosen; es ist oft nur die aͤußere Form fuͤr Verhaͤltnisse geworden, die einen selbstaͤndigen Charakter hatten, und sich diesem gemaͤß ent- wickelten. Mit dieser Ausruͤstung nun begannen die Deutschen nach dem Ausgang der Karolinger ihr selbstaͤndiges politisches Le- ben. Anfangs schien es freilich zweifelhaft, ob es nur zu ei- ner dauernden Vereinigung der wichtigsten Volksstaͤmme kom- men werde; denn diese, die Franken, Schwaben, Sachsen und Baiern, standen noch in schroffer Abgeschlossenheit neben ein- ander; es entwickelte sich unter ihnen wieder die volksthuͤm- liche Gewalt des Herzogthums, welches mit dem bloß eine Amtswuͤrde darstellenden fraͤnkischen Ducate nicht verwechselt werden darf, und das Bewußtseyn einer nationalen Einheit war noch nicht allgemein vorhanden. Indessen trat es doch bald hervor, und fand namentlich in den großen Koͤnigen der saͤchsischen Dynastie seine lebendige Vertretung. So bekam Deutschland in dem Koͤnigthum einen politischen Mittelpunct, Erstes Kapitel . und der Glanz desselben ward noch wesentlich durch die damit verbundene Kaiserwuͤrde erhoͤht. Aber die Deutschen haben die Ehre, daß ihr Koͤnig an der Spitze der Christenheit stand, auch theuer bezahlen muͤssen; es lag darin fuͤr sie ein wesent- liches Hinderniß, zu einer fest bestimmten Staatseinheit zu ge- langen; die besten Kraͤfte, welche auf deren Pflege haͤtten ver- wandt werden koͤnnen, gingen in Italien verloren, oder wur- den doch im Kampfe mit dem Papstthume verzehrt. Die fraͤnkischen Kaiser und die Hohenstaufen wußten freilich noch das Reich in seiner Einheit zusammen zu halten und zu ver- treten; aber der Trieb nach Vereinzelung, der von jeher bei den Deutschen stark war, fand doch in dem eigentlichen Na- tionalsinn und in den Formen der Verfassung kein entspre- chendes Gegengewicht, und so konnte es geschehen, daß, als die Stammesverschiedenheit sich mehr zu verwischen begann, in der Territorialitaͤt dem gemeinen Wesen ein noch gefaͤhrli- cherer Feind erwuchs. Ein solcher Umwandlungsproceß, der im Innern einer Nation vor sich geht, laͤßt sich nur in sei- nen allmaͤligen Uebergaͤngen historisch verfolgen und begreifen; doch kommen wohl bestimmte Epochen vor, in denen es we- nigstens deutlich hervortritt, nach welcher Seite hin sich unter den im Kampf begriffenen Gegensaͤtzen der Sieg neigen wird. Fuͤr Deutschland war die erste Haͤlfte des 13. Jahrhunderts eine solche Zeit der Entscheidung, in welcher die spaͤtere Ge- schichte der Nation ihre bestimmte Richtung erhielt; es ist da- her angemessen, bei der Betrachtung des deutschen Rechts im Mit- telalter hier einen Abschnitt zu machen, um den eigenthuͤmlichen Charakter der verschiedenen Perioden gehoͤrig feststellen zu koͤnnen. Bis zu jener Zeit nun kommt es im deutschen Rechts- wesen hauptsaͤchlich noch auf den Gegensatz zwischen Freiheit Historische Einleitung . und Unfreiheit an. Jene entspricht im Wesentlichen noch dem in der alten Volksverfassung gewaͤhrten Rechte, nur daß an dem allgemeinen Reichsregiment nicht alle Freien Theil neh- men konnten; insofern bildete sich fruͤh eine Abstufung der politischen Berechtigung, welche man in die Formen des Le- henwesens brachte. Aber eine Verschiedenheit der Staͤnde im spaͤteren Sinne ward dadurch nicht begruͤndet; auch der Ge- meinfreie nahm sein Recht nur von seinen Genossen, vor ei- nem unter dem Koͤnigsbann gehegten Gerichte, dem auch, wenn nicht besondere Verhaͤltnisse in Betracht kamen, die Her- ren aus den ersten Geschlechtern unterworfen waren. Wer von einem andern als dem Koͤnige ein Lehen annahm, der erniedrigte freilich seinen Heerschild, und trat in seinem Range zuruͤck; aber das Lehenrecht selbst enthielt doch im Allgemeinen ganz gleichmaͤßige Bestimmungen, und in dem Landrecht war das gemeine Recht der Freien enthalten, welches noch in allen Faͤllen zur Anwendung kam, die nicht speciell unter dem Le- henrecht standen, ja noch im 12. Jahrhundert zuweilen gegen dessen Principien aufrecht erhalten ward. Nimmt man nun dazu die beschraͤnkte Erblichkeit der deutschen Lehen, welche nicht an die Seitenverwandten kamen, und sieht man, wie hoch noch in spaͤten Zeiten das Gluͤck und die Ehre, auf freiem Allod zu sitzen, von den Deutschen angeschlagen wurden, so tritt die Bedeutung des Landrechts mit uͤberwiegender Wich- tigkeit hervor. — Fuͤr die rechte Kunde und Wuͤrdigung die- ser Verhaͤltnisse ist uns aus der Zeit Friedrich Barbarossas eine unschaͤtzbare Quelle erhalten worden, — naͤmlich das Rechtsbuch des Sachsenspiegels, welches nicht bloß das Ver- staͤndniß der damaligen Zustaͤnde eroͤffnet, sondern auch fuͤr die spaͤtere Entwicklung des deutschen Rechts einen festen Anhalt Erstes Kapitel . gewaͤhrt hat. Denn es findet sich in diesem Werke nicht bloß das particulaͤre Recht des saͤchsischen Volksstammes verzeich- net; der Inhalt desselben ist viel weiter und bedeutender. Es verhaͤlt sich naͤmlich damit also. Die nationale Einheit des deutschen Rechts, welche sich in allen wesentlichen Puncten schon fuͤr die aͤltere Zeit der noch gesonderten Stammes- verfassung nachweisen laͤßt, war waͤhrend der Vereinigung der einzelnen Voͤlkerschaften in der fraͤnkischen Monarchie und spaͤter im deutschen Reich noch erhoͤht und verstaͤrkt worden; denn das gemeinsame Staatsleben fuͤhrte auch in anderen Be- ziehungen zur groͤßeren Einheit zusammen. So stellt sich ein gemeines deutsches Recht, ein Kaiserrecht, dar, welches in sei- nen Grundprincipien uͤbereinstimmend, zum Theil selbst auf Reichsgesetzen beruhend, fuͤr alle freien Reichssassen gleichmaͤßig zur Anwendung kam. Aber neben diesem gemeinen Land- und Lehenrechte machten sich von jeher eigenthuͤmliche Grund- saͤtze des Rechts der einzelnen Staͤmme geltend, wodurch jenes modificirt ward und seine besondere Faͤrbung erhielt. Der Sachsenspiegel giebt nun das gemeine Recht, wie es sich bei dem saͤchsischen Volksstamme besonders gestaltet hatte; seine wesentliche Grundlage war aber durchaus dem ganzen freien Volke gemeinsam, so daß er, auch abgesehen von den Lehren, welche das Reich als Gesammtheit betrafen, fuͤr die Bearbei- tung des Rechts der andern Staͤmme benutzt werden konnte. Man mußte dann nur das besondere saͤchsische Element des Rechts- buches mit dem Rechte des Stammes, dem es angeeignet wer- den sollte, vertauschen. Aus einer solchen Ueberarbeitung ist der sogenannte Schwabenspiegel hervorgegangen. Eine aͤhn- liche Operation war noͤthig, wenn man das Landrecht, wel- ches sich zunaͤchst auf die Verhaͤltnisse der freien Grundbesitzer Historische Einleitung . bezog, in ein Stadtrecht umarbeiten, und der eigenthuͤmlichen Entwicklung, welche das staͤdtische Buͤrgerthum genommen hatte, anpassen wollte. Dem Recht der Freien stand nun das der Unfreien ge- genuͤber. Diesem aber fehlte das einheitliche Princip, aus welchem es sich selbstaͤndig haͤtte entwickeln koͤnnen; denn die Stellung des Hoͤrigen zu seinem Herrn gab doch zunaͤchst die Norm des Verhaͤltnisses, so daß Herkommen und Vertrag die verschiedenartigsten Rechtsformen hervorrufen konnten, welche nicht bloß zwischen den entferntesten Gliedern der Kette, den leibeigenen Bauern und den zu Kriegs- und Hofdiensten ver- wandten Dienstmannen, einen großen Abstand moͤglich mach- ten, sondern auch in derselben Classe der unfreien Bevoͤlkerung zu einer vielgestaltigen Rechtsbildung fuͤhrten. Zwar zeigt sich auch hier eine gewisse Regelmaͤßigkeit der Entwicklung, welche unter gleichen Verhaͤltnissen ziemlich denselben Gang nahm. Das Hofrecht tritt in bestimmten Instituten auf, deren allge- meine Bedeutung leicht erkennbar ist, und welche sich meistens als Nachbildungen freiheitlicher Einrichtungen in schwaͤcheren Formen darstellen; die wichtigsten Institute des Familienrechts, eine Gewere am Grundbesitz, eine Vereinigung in Genossen- schaften und Gemeinden fehlte nicht; die maͤchtigeren Dienst- mannen, namentlich der geistlichen Stifter, brachten es schon zu einer Art politischer Berechtigung, und deuteten ihre spaͤter eintretende Verschmelzung mit den gemeinfreien Grundbesitzern an, ja sie nahmen wohl gar vor den Geringeren unter diesen, in Folge des Ritterdienstes, des Reichthums und der Macht ihrer Herren, einen Vorzug in Anspruch. Aber das Alles giebt keinen sicheren Anhalt fuͤr die genauere Beurtheilung dieser Verhaͤltnisse, welche stets den speciellen Rechtsquellen entnom- Erstes Kapitel . men werden muß. Das ist auch sehr bestimmt von dem Ver- fasser des saͤchsischen Landrechts ( III. 42.) ausgesprochen wor- den, indem er sagt: „Nu ne latet juͤk nicht wunderen, dat dit buk so luͤttel seget von dienstluͤde rechte, went it is so manich valt, dat is nieman to ende komen kan; under jewelkem bi- schope unde abbede unde ebbedischen (Aebtissin) hebben die dienstluͤde sunderlik recht, dar umme ne kan ik is nicht besceiden.“ Dagegen entwickelte sich mit um so groͤßerer Consequenz und Selbstaͤndigkeit neben dem gemeinen Landrecht das be- sondere Standesrecht der Geistlichkeit, nachdem es der roͤmi- schen Curie gelungen war, der Kirche eine unabhaͤngige Stel- lung im Staate zu verschaffen, und die geistlichen Gerichts- hoͤfe, von der immer thaͤtiger werdenden paͤpstlichen Gesetzge- bung beherrscht, sich eine weite Competenz verschafft hatten, welche sie stets in ihrem Interesse auszudehnen strebten. — Aehnlich erhoben sich seit dem 11. Jahrhundert die deutschen Staͤdte zu einer selbstaͤndigen Bedeutung, und indem sie von dem Gauverbande eximirt, das Landrecht nach ihren besonde- ren Beduͤrfnissen autonomisch umbildeten, legten sie den Grund zu einer neuen Rechtsentwicklung, welche sich nicht mehr in den Grenzen der alten Freiheit und Unfreiheit bewegte. Fragt man nun, wie dieß verschiedenartige Recht in sei- nen mannichfaltigen Erscheinungen doch mit Sicherheit hat erkannt und angewandt werden koͤnnen, so laͤßt sich dieß aus seiner allgemeinen Beschaffenheit, mit welcher die Gerichtsver- fassung durchaus uͤbereinstimmte, zur Genuͤge erklaͤren. Denn es war fast ganz ein Volksrecht, aus den Lebensverhaͤltnissen unmittelbar hervorgegangen, und in seinen Grundzuͤgen wie Historische Einleitung . in seiner speciellen Gestaltung jedem geschaͤftserfahrenen Manne bekannt und gelaͤufig, insofern es uͤberhaupt in den Kreis sei- ner buͤrgerlichen Thaͤtigkeit eingriff. Daher konnte die alte Schoͤffenverfassung sich auch noch in voller Wirksamkeit erhal- ten, und selbst in der Sphaͤre des Hofrechts sich in verwand- ten Instituten wiederholen. Die Schoͤffen, durch Rechtskunde und Erfahrung ausgezeichnet, waren die Vertreter des Volkes in seinen gerichtlichen Functionen, ohne deswegen einen beson- deren Stand zu bilden, und eine juristische Geheimlehre zu be- sitzen, welche nur ihnen zugaͤnglich gewesen waͤre. Es war ihr Ruhm und ihre Pflicht, daß sie das Organ fü r die Ueber- zeugung der Gemeinde wurden; gelang ihnen dieses nicht, so mochte ihr Urtheil mit Fug gescholten werden, — gewiß ein schlimmes Ereigniß, welches bei einer Stellung, die wesentlich auf dem Vertrauen der Genossen beruhte, empfindlich gefuͤhlt werden mußte. — Dazu kam noch, daß die freien Landgerichte von Reichs wegen gehegt wurden, unter dem Vorsitz eines Beamten, welcher den Koͤnigsbann unmittelbar vom Kaiser empfing, wenn er auch mit seinem Amte, welches regelmaͤßig die Grafschaft war, oft nur zur zweiten Hand beliehen ward. Das gab dem ganzen Verfahren eine besondere Wuͤrde, und erhielt auch die einzelnen Dingpflichtigen in lebendiger Bezie- hung zur Gesammtheit. Freilich ward dadurch auch in dieser Rechtssphaͤre nicht immer die Vollziehung der gefundenen Ur- theile gesichert; neben dem gerichtlichen Verfahren bestand noch immer das Recht der Selbsthuͤlfe in einer gewissen gesetzlichen Sanction, wodurch die Maͤchtigen, welchen ihr Rechtsgefuͤhl und die Reichsgewalt nur zu oft keine festen Schranken setz- ten, zu den schlimmsten Gewaltthaten hingerissen wurden. Aber das lag doch zunaͤchst in dem allgemeinen Charakter der Zeit, Beseler , Volksrecht. 2 Erstes Kapitel . welche sich noch nicht zu einem vollkommen geordneten Staats- wesen erheben konnte, zum Theil freilich auch in dem Ver- haͤngniß der groͤßten Kaiser und namentlich der Hohenstaufen, ihre besten Kraͤfte im Kampfe mit dem Papstthum und in Italien verzehren zu muͤssen. Wenden wir uns nun nach dieser kurzen Betrachtung des Rechtszustandes, welcher sich in Deutschland bis zum 13. Jahr- hundert findet, zu der weiteren Entwicklung desselben in den spaͤteren Zeiten. Dabei ist vor Allem der Umstand hervorzu- heben, daß waͤhrend bei fast allen andern europaͤischen Voͤl- kern Alles auf die Ausbildung einer bestimmten Nationalitaͤt und einer in der Erbmonarchie dargestellten Staatseinheit hin- strebte, in Deutschland die Kraft und Bedeutung der Reichs- gewalt immer mehr abnahm, und das Gemeinsame und Na- tionale vor dem Particularismus entschieden zuruͤcktrat. Die letzten Hohenstaufen, durch Parteiungen und fremde Interessen, die sich in die Nation eingeschlichen hatten, so vielfach ge- hemmt, waren schon nicht mehr die Herren dieser Bewegung; aber in ihnen war doch noch das lebendige Bewußtseyn von der Wuͤrde und Macht des alten Kaiserthums. Ihre Nach- folger, ohne hoͤheren Schwung und großartige Begabung, an eigener Macht den schnell erstarkten Landesherrn kaum gewach- sen, nur durch Wahl im persoͤnlichen Besitz des Thrones, faß- ten ihre Stellung unter einem weit beschraͤnkteren Gesichts- puncte auf. Das Kaiserthum verlor dadurch die Hoͤhe seiner nationalen Bestimmung; es ward, statt die Einheit und Ma- jestaͤt des deutschen Volkes wuͤrdig zu vertreten, mehr eine aͤußere Zierde, eine persoͤnliche Machtvermehrung, ein Mittel fuͤr den Inhaber, sich egoistisch eine bluͤhende Hausmacht zu begruͤnden. Selbst einzelne bedeutendere Erscheinungen, wie Historische Einleitung . Heinrich VII. mit seiner deutschen kaiserlichen Gesinnung, zie- hen nach kurzem Glanze spurlos voruͤber; das deutsche Reich hoͤrt auf, der Mittelpunct der deutschen Geschichte zu seyn, und die einzelnen Theile treten in selbstaͤndiger Bedeutung an die Stelle des Ganzen. Hier sind nun zunaͤchst die vornehmen Geschlechter zu erwaͤhnen, welche durch Geburt und Macht unter den Ge- meinfreien hervorragend, auf die Angelegenheiten des Reichs den entschiedensten Einfluß gewannen, und demselben gegen- uͤber eine selbstaͤndige Territorialgewalt begruͤndeten. Sie zo- gen vor Allem Vortheil aus dem Sturz der großen Stam- mesherzogthuͤmer, welche noch eine Art Vermittlung zwischen dem Kaiser und den Reichsangehoͤrigen gebildet hatten; die großen Reichsaͤmter, und namentlich die Grafschaft, welche sie, nachdem die Bischoͤfe dem Sonderinteresse der Kirche aus- schließlich gewonnen waren, fast ohne Ausnahme verwalteten, wurden der eigentliche Kern fuͤr ihre politische Berechtigung. Denn indem dieselben nach den Grundsaͤtzen des Lehenrechts verliehen wurden, verwandelten sie sich in einen erblichen Be- sitz, und erhielten den Charakter einer selbstaͤndigen Gewalt, welche auf Kosten des Reichs immer mehr erweitert ward, so daß die meisten Gemeinfreien in die Pflege der Landesherrn ka- men, und die letzteren schon wichtige Regalien im eigenen Na- men ausuͤben konnten. An diese oͤffentliche Gewalt setzte sich nun Alles an, was zur weiteren Ausbildung der Hausmacht dienen konnte: lehensherrliche und voigteiherrliche Rechte und dazu die großen Grundherrschaften, welche in dem echten Ei- genthume ihrer Inhaber waren. Allein diese verschiedenen Rechte bestanden doch urspruͤnglich nur neben einander, und gaben den weltlichen Großen (denn bei den geistlichen verhielt 2* Erstes Kapitel . es sich anders) keine Sicherheit der vollkommenen Concentra- tion und der Dauer, so lange ihre Familien dem gemeinen Land- und Lehenrecht unterworfen waren. Daher entwickelte sich allmaͤlig auf dem Wege der Autonomie das besondere Fa- milienrecht des hohen Adels, welches das Haus in seiner ge- nossenschaftlichen Gestaltung als selbstaͤndiges Rechtssubject er- scheinen laͤßt, dem sich das Sonderinteresse der einzelnen Mit- glieder fuͤgen muß, — eine Rechtsbildung, welche zuletzt in den Primogeniturordnungen zum Abschluß kam. Allein nicht alle Reichsangehoͤrigen wurden der Territo- rialgewalt der Landesherrn unterworfen. Ein großer Theil derselben trug noch das starke Bewußtseyn deutscher Reichs- freiheit in sich, und war keineswegs geneigt, sich derselben zu begeben. Dahin gehoͤrten die maͤchtigeren Staͤdte, denen es gelang, die landesherrliche Voigtei fern zu halten oder wohl auch, wenn sie begruͤndet war, von sich abzuschuͤtteln; ferner einige gemeinfreie Landcommuͤnen; endlich die alten freien Ge- schlechter, welche von jeher nur dem Reichsbanner gefolgt wa- ren, nur kaiserliche Gerichte besucht hatten, und die Fuͤrsten als ebenbuͤrtige, wenn auch bevorzugte Genossen ansahen. Ein- zeln waren diese alle freilich nicht im Stande, sich eine selb- staͤndige und gesicherte Stellung zu verschaffen, und in dem Kaiserthume fanden sie auch nicht den gehoͤrigen Anhalt; aber indem das Gleichartige sich genossenschaftlich zusammen schloß, und seinem besonderen Zwecke diente, entstanden allenthalben Associationen, Eidgenossenschaften, Staͤdte- und Adelsbuͤndnisse, welche ihren Schwerpunct und ihre Haltung vor Allem in sich selbst suchen mußten, und oft, je kraͤftiger sie sich entwik- kelten, dem Reiche fast ganz entfremdet wurden. Doch war in diesen Elementen, welche noch zu Ende des 15. Jahrhun- Historische Einleitung . derts in voller Kraft bestanden, offenbar ein hinreichender Stoff vorhanden, um eine politische Regeneration Deutschlands im nationalen Interesse zu verwirklichen, zumal wenn auch die Reichsfuͤrsten geneigt wurden, von ihrer Territorialgewalt et- was aufzuopfern, um dafuͤr eine wuͤrdige Stellung in einem großen einheitlichen Staatsverbande einzutauschen. Und in der That findet sich, daß von den Reichsstaͤnden selbst, unter Lei- tung eines patriotischen Mannes, des Churfuͤrsten Berthold von Mainz, ein solcher Versuch unternommen worden ist. Aber weder Friedrich III. noch Maximilian I. waren geneigt, sich an die Spitze dieser Bestrebungen zu stellen, welche doch auch zunaͤchst nur bezweckten, ein aristokratisches Reichsregi- ment in kraͤftiger Haltung an die Stelle des schwachen Kai- serthums zu setzen, ohne dem Werk eine breite, volksthuͤmliche Basis zu geben. So scheiterte dieser Plan, und nur die Auf- regung des reichsfreien Adels, der Mißmuth der Staͤdte, die schrecklichen Bauernkriege zeigten, wie tief die Bewegung und das Beduͤrfniß einer politischen Reform in der Nation gewe- sen waren. Inzwischen kam die kirchliche Reformation zum Durchbruch, und zog fast alle Kraͤfte und alles Interesse an sich; aber auch sie ward nicht als ein gemeinsames, nationa- les Werk durchgefuͤhrt, und vollendete die innere Zerruͤttung und Zersplitterung Deutschlands, welches nun bloß in seinen einzelnen Territorien die Form des modernen Staates auszu- bilden vermochte. Doch waͤhrte es auch hier lange, bis sich die verschiedenen Elemente der landesherrlichen Gewalt zu dem bestimmten staatsrechtlichen Begriff der Landeshoheit consoli- dirten. Denn die Rechte der einzelnen Districte und der nach Staͤnden geschiedenen Bevoͤlkerung konnten in demselben Lande sehr von einander abweichen, und es war nicht bloß die au- Erstes Kapitel . tonomisch abgeschlossene Stellung des regierenden Hauses, son- dern auch die Vereinigung der einzelnen politisch berechtigten Staͤnde zur landstaͤndischen Corporation noͤthig, um eine Ter- ritorialeinheit zu begruͤnden. Wo das Eine oder das Andere fehlte, da blieb die Verbindung meistens eine sehr zufaͤllige und lose, und griff nicht tief in das particulaͤre Rechtsleben ein, welches uͤberhaupt noch vorzugsweise in den einzelnen Ge- nossenschaften und Gemeinden concentrirt war. Werfen wir nach dieser allgemeinen Betrachtung nun einmal einen pruͤfenden Blick auf den Rechtszustand, welcher am Schluß des Mittelalters in Deutschland begruͤndet war. Der alte Gegensatz von Freiheit und Unfreiheit hatte sich verwischt; nur die einer Grundherrschaft frohnenden Bauern galten noch fuͤr Hoͤrige: in der landsaͤssigen Ritterschaft, der staͤdtischen Buͤrgerschaft und dem voigteipflichtigen Landvolk waren aus freien und unfreien Elementen gemischt neue Rechts- bildungen erwachsen, welche wir als Staͤnde bezeichnen. Denn entsprechend den verschiedenen Kreisen des oͤffentlichen Lebens, in denen sich jetzt die Nation, ohne von einem gemeinschaftli- chen Princip beherrscht zu werden, bewegte, bildeten sich auch fuͤr dieselben besondere Rechte und Vorrechte aus. Voran das Standesrecht des hohen Adels, in verschiedenen Formen, aber im Wesentlichen doch gleichartig durch die Familienau- tonomie ausgepraͤgt; dann in eigenthuͤmlicher Haltung das Recht der landsaͤssigen Ritterschaft, fuͤr welche, wie fuͤr die reichsfreien Geschlechter, welche es nicht zur Reichsstandschaft brachten, die autonomische Beliebung der einzelnen Familie freilich keine volle Geltung hatte, welche aber in den Princi- pien der alten Allodialsuccession, des Lehenrechts und in den Statuten und Observanzen der neu entstandenen genossenschaft- Historische Einleitung . lichen Verbindungen einigen Ersatz fanden; in freien Land- commuͤnen die alte Sitte und das alte Recht; unter den hoͤ- rigen und voigteipflichtigen Landleuten ein durch Herkommen und Vertrag sehr verschiedenartig gestaltetes Bauernrecht mit beschraͤnkter Freiheit des Eigenthums und, bei ersteren wenig- stens, auch der Personen; in den Staͤdten ein auf der Herr- schaft des Verkehrs und des beweglichen Vermoͤgens basirtes Statutarrecht, welches die uͤberwiegende Bedeutung des Grund- besitzes und die strengen Familienbande in den freieren Orga- nismus der Gemeinde hatte aufgehen lassen; fuͤr die Geistlich- keit endlich das roͤmisch-canonische Recht in der Verarbeitung der Canonisten, auf welches das deutsche Volksrecht nur noch einen sehr geringen und sehr indirecten Einfluß ausuͤbte. — Betrachtet man diese so mannichfach gestalteten Rechtsformen, wie sie ohne einen bestimmten gemeinsamen Anhalt unter dem Einfluß der Stammesverschiedenheit, der territorialen Tren- nung und der gesonderten Standesinteressen aus dem beweg- ten Volksleben hervorgegangen sind: so muß man allerdings die Energie des schaffenden Triebes in der Nation bewun- dern; aber die Befuͤrchtung liegt auch nahe, daß Alles ohne einheitliche Principien aus einander gefahren sey, und daß ei- gentlich von einem gemeinsamen deutschen Rechte gar nicht mehr die Rede seyn koͤnne. In der That laͤßt es sich auch nicht verkennen, daß mit der Schwaͤchung des Kaiserthums und mit dem allmaͤligen Zuruͤcktreten der gemeinen Freiheit, welche als der eigentliche Kern des aͤlteren deutschen Rechts erscheint, die wichtigsten Stuͤtzen fuͤr die gemeinsame Entwicklung desselben gefallen wa- ren, und daß sich statt dessen, der politischen Lage des Reichs entsprechend, eine krause Mannichfaltigkeit der aͤußeren Formen Erstes Kapitel . gebildet hatte. Allein man darf dieser Erscheinung, so bedeu- tungsvoll sie auch war, doch auch kein zu großes Gewicht bei- legen. Denn der Einfluß der Stammesverschiedenheit war nicht mehr von solchem Belang wie fruͤher; die Zersplitterung in einzelne Territorien, welche zum Theil ganz zufaͤlligen Um- staͤnden ihre Entstehung verdankten, hatte auf die Rechtsbil- dung noch nicht wesentlich eingewirkt, da eine Landesgesetzge- bung noch so gut wie gar nicht bestand, und die unmittelbare Entwicklung des Rechts im Volke auf dem Wege der Ge- wohnheit und der Autonomie im Ganzen unabhaͤngig von der Territorialitaͤt vor sich ging. Desto nachhaltiger war dagegen allerdings der Einfluß geworden, welchen die im spaͤteren Mit- telalter schroff ausgebildete Sonderung der Staͤnde auf das Rechtswesen ausgeuͤbt hatte, indem nur fuͤr die einzelnen Clas- sen der Bevoͤlkerung gleichartige Institute galten, welche wie- der in dem statutarischen Recht der einzelnen Corporationen ihre genauere Bestimmung erhielten. Indessen ist dabei auch nicht zu uͤbersehen, daß die Grundlage in dem Recht der ver- schiedenen Staͤnde doch etwas Gemeinsames und Nationales war, welches bei aller Mannichfaltigkeit im Einzelnen einen gewissen innern Zusammenhang bewahrte, und das Verstaͤnd- niß des Rechts auch uͤber den naͤchsten Lebenskreis hinaus, in dem sich jeder bewegte, ausnehmend befoͤrdern mußte. Denn so schroff, wie in fruͤheren Zeiten die Freiheit und Unfreiheit, standen sich jetzt doch die Principien, welche das Recht der einzelnen Staͤnde beherrschten, nicht mehr gegenuͤber, wenig- stens nicht in denjenigen, welche eben aus einer Vermischung jener aͤlteren Volksclassen hervorgegangen waren, also bei der landsaͤssigen Ritterschaft, den Stadtbuͤrgern und den voigtei- pflichtigen Landleuten. Und je mehr in der allmaͤligen Ent- Historische Einleitung . wicklung des modernen Staatsbuͤrgerthums diese staͤndischen Gegensaͤtze sich verwischten und zur Ausgleichung kamen, desto entschiedener mußte wieder das Gemeinsame, dem alten Land- recht vergleichbar, hervortreten und zur Geltung gelangen, was denn fuͤr die einheitliche Entwicklung des deutschen Rechts, wenn sie ungehindert haͤtte vor sich gehen koͤnnen, sehr foͤrder- lich gewesen waͤre. Dazu kam, daß es auch nicht an aͤuße- ren Huͤlfsmitteln fehlte, welche selbst im spaͤteren Mittelalter auf die aͤußere Gleichmaͤßigkeit der Rechtsbildung nachhaltig einwirkten; man braucht bloß an die große und allgemeine Verbreitung der Rechtsbuͤcher und an die tief eingreifende Thaͤ- tigkeit der bedeutenderen Oberhoͤfe zu denken, welche, auch wenn sie nicht zu den noch bestehenden kaiserlichen Hof- und Landgerichten gehoͤrten, eine sehr ausgebreitete Competenz hatten. Bei dieser Lage der Sachen wird es nur natuͤrlich er- scheinen, daß in den engeren Kreisen des oͤffentlichen Lebens, und namentlich in den Genossenschaften und Gemeinden, wel- che sich im Allgemeinen, soweit nicht Voigtei- und Hoͤrigkeits- verhaͤltnisse einwirkten, der freiesten Bewegung erfreuten, die volle Anschauung des sie betreffenden Rechts noch in dieser Periode vorhanden war. Konnte es auch in einer vielbeweg- ten, gewaltigen Zeit nicht fehlen, daß manche Verhaͤltnisse sich verwirrten und sich nicht allenthalben zu einer festen Ordnung durchzubilden vermochten, so sind das doch nur vereinzelte Er- scheinungen, welche, wenn sie nicht die Reichsverfassung betra- fen, die allerdings im Argen lag, — ein allgemeines Urtheil nicht bestimmen duͤrfen. Namentlich hatte sich die alte Ge- richtsverfassung, insofern sie auf dem Schoͤffenthum gebaut war, im Wesentlichen erhalten, und wirkte noch wie fruͤher fort, wenn auch der Koͤnigsbann zum großen Theil in die Erstes Kapitel . Haͤnde der Landesherrn uͤbergegangen war. So fand das Recht in den Volksgerichten noch sein natuͤrliches Organ, durch welches es auf eine dem Beduͤrfniß entsprechende Weise ge- handhabt ward. Man braucht nur die Schoͤffenurtheile und Weisthuͤmer aus dem 15. und dem Anfang des 16. Jahr- hunderts, von denen gerade in neuester Zeit manche interes- sante Sammlungen veroͤffentlicht sind, zu betrachten, um sich zu uͤberzeugen, wie lebendig das Recht noch im Volke war, und mit welcher Sicherheit und Gewandheit die Schoͤffen es anzuwenden wußten. Denselben Eindruck machen die zahlrei- chen Statute, welche namentlich aus dem 15. Jahrhundert er- halten worden sind, und welche es bezeugen, daß man wich- tige Institute des geltenden Rechts klar und bestimmt aufzu- fassen und festzustellen wußte. — Aber diesen erfreulichen Er- scheinungen ist doch auch kein zu hoher Werth beizulegen; denn sie beweisen nur, daß das deutsche Volksleben in seiner corporativen Vereinzelung noch eine kerngesunde Natur hatte, und daß es in dieser Beschraͤnkung seine Tuͤchtigkeit bewaͤhrte. Ist es nun eine alte Wahrheit, daß die Gesundheit eines or- ganischen Wesens nicht bloß von der Beschaffenheit der einzel- nen Glieder, sondern vor Allem von dem Gesammtorganismus und dessen Befinden abhaͤngt, und daß hier der eigentliche Sitz der Lebenskraft ist; so kann auch der damalige Zustand des deutschen Volkes, dessen Reichsverfassung ganz und gar zer- ruͤttet war, unmoͤglich sich als befriedigend herausstellen. Es fehlte ja eben, wie wir gesehen haben, an einem festen politi- schen Mittelpuncte, an welchen sich die nationale Entwicklung haͤtte ansetzen koͤnnen; bei Kaiser und Reich war nicht die ge- hoͤrige Macht, um Recht und Ordnung kraͤftig zu schuͤtzen; jeder Theil sorgte zunaͤchst fuͤr sich selbst, und war, wollte er Historische Einleitung . nicht dem Maͤchtigeren unterliegen, auf die eigene Faust und den Beistand seiner Genossen angewiesen. So standen die einzelnen Staͤnde, Fuͤrsten, Buͤndnisse und Corporationen ein- ander drohend gegenuͤber und der Fehden und Vergewaltigun- gen wurde kein Ende. Es war aber uͤberhaupt die Zeit des 15. und 16. Jahr- hunderts eine Uebergangsperiode von einer solchen Bedeutung, wie sie selten in der Weltgeschichte vorgekommen ist. Das Mittelalter hatte sich uͤberlebt; der Geist des classischen Alter- thums war uͤber das germanische Wesen gekommen, und rief die Cultur der modernen Welt hervor. Das Feudalwesen und die corporative Beschraͤnkung entsprachen der politischen Auf- gabe der abendlaͤndischen Voͤlker nicht mehr, welche in ihrer weiteren Entwicklung die Verwirklichung des hoͤheren Staats- princips anstrebten. Im Rechte aber waren uͤberhaupt tief eingreifende Reformen unabweisbar geworden, welche nur von der bewußten Kraft einer großartigen Gesetzgebung durchge- fuͤhrt werden konnten. Nicht bloß das Fehdewesen und die Unsicherheit der Urtheilsvollstreckung war zu beseitigen; dem Kirchenrecht stand eine voͤllige Umaͤnderung bevor; auch das Strafrecht verlangte eine neue Gestaltung; der Proceß, zum Theil mit unnoͤthigen Formalitaͤten uͤberhaͤuft, war auf einfa- chere Grundsaͤtze zuruͤck zu bringen, und das ganze Beweis- verfahren mußte eine andere Grundlage erhalten, da Gottes- urtheile und Eideshelfer der juristischen Ueberzeugung nicht mehr genuͤgten. Sollte es aber uͤberhaupt zu einem einheitli- chen Staatswesen in Deutschland kommen, so mußte auch das Privatrecht in seiner regellosen Mannichfaltigkeit beschraͤnkt und auf einfachere Formen zuruͤckgefuͤhrt werden. Denn man konnte sich dann nicht mehr damit begnuͤgen, daß in den klei- Erstes Kapitel . neren Kreisen des oͤffentlichen Lebens jeder sein specielles Recht genau kenne; auch fuͤr den Gesetzgeber und die hoͤchsten Ge- richts- und Verwaltungsbehoͤrden war dieselbe Kunde unerlaͤß- lich, und uͤberdieß giebt es ja manche Institute, deren Gel- tung sich nicht auf bestimmte, enge Grenzen beschraͤnken laͤßt, welche vielmehr, namentlich bei dem erweiterten Verkehr, eine allgemeinere Theilnahme in Anspruch nehmen und deswegen eine gemeinsame Feststellung verlangen. Freilich wird ein ge- sundes Volksleben selbst in dieser Beziehung schon das Meiste thun, und auch die Wissenschaft kann wesentlich zur groͤßeren Vereinfachung und zu einer principienmaͤßigen Beherrschung des Rechtsstoffs beitragen; aber auch die Gesetzgebung muß sich dabei thaͤtig zeigen, namentlich wenn es darauf ankommt, positive Hindernisse und unorganische Gestaltungen, welche ge- gen die freie Entwicklung einen hartnaͤckigen Widerstand lei- sten, zu beseitigen. Obgleich nun, wie fruͤher gezeigt worden, die Reform der deutschen Reichsverfassung im Geiste des nationalen Beduͤrf- nisses mißlungen ist, so ward doch Einzelnes von der so eben angedeuteten Aufgabe der damaligen Zeit geloͤst. Das Fehde- wesen ward durchaus verboten, fuͤr die Rechtssicherheit uͤber- haupt durch die Einsetzung des Reichskammergerichts gesorgt; das Strafrecht neu geordnet, das Beweisverfahren, wenigstens in Criminalsachen, wenn auch nicht gluͤcklich, so doch nach be- stimmten Principien festgestellt. Aber freilich blieb dieß Alles ein morscher, unvollendeter Bau, in dem fuͤr ein großes, na- tionales Volksleben keine sichere Staͤtte war, und der auch bald im Vergleich mit der weiteren Entwicklung der Territo- rialverfassung fast alle Bedeutung verlor. Es trat aber außer- dem noch ein Ereigniß ein, welches auf das deutsche Rechts- Historische Einleitung . wesen einen ganz außerordentlichen Einfluß ausgeuͤbt, und des- sen eigenthuͤmliche Gestaltung in der neueren Zeit vorzugs- weise bestimmt hat. Das ist die Aufnahme des roͤmi- schen Rechts , von welcher hier etwas umstaͤndlicher gehan- delt werden muß. Schon fruͤher, als die Germanen den großen Kampf ge- gen die Roͤmer siegreich beendigt hatten, und mit ihnen durch die Eroberung in dauernde Verbindung getreten waren, machte sich der Einfluß des roͤmischen Rechts auf die Sieger geltend. Doch war dieß nur fuͤr die romanischen Voͤlker, welche ja gerade aus einer Mischung germanischer und roͤmischer Ele- mente hervorgingen, von dauernder Wirkung; den rein deut- schen Staͤmmen blieb jenes Recht fast ganz fern, und wenn ausnahmsweise einzelne Saͤtze desselben bei der Aufzeichnung der Volksrechte oder durch die Capitularien der fraͤnkischen Koͤnige ihnen zugekommen waren, so stießen sie dieselben doch nach der Aufloͤsung der großen fraͤnkischen Monarchie wieder von sich. Selbst die Geistlichkeit, welche doch schon fruͤhe vor- zugsweise auf das roͤmische Recht als ihr Personalrecht hin- gewiesen war, scheint dasselbe bis ins 12. Jahrhundert in Deutschland so gut wie gar nicht gebraucht zu haben, was aus der geringen Kenntniß, die man davon hatte, und aus der groͤßeren Unabhaͤngigkeit, deren sich die deutsche Kirche bis dahin erfreute, sehr wohl erklaͤrt werden kann. Seit Gre- gor VII. entwickelte sich die Herrschaft der roͤmischen Curie uͤber dieselbe freilich sehr schnell, und als spaͤtere Paͤpste, na- mentlich Innocenz III, gestuͤtzt auf das wieder mehr zugaͤng- lich gewordene roͤmische Recht, eine umfassende kirchliche Ge- setzgebung in den Decretalen begruͤndeten, und besonders auch ein eigenthuͤmliches Verfahren fuͤr die geistlichen Gerichte aus- Erstes Kapitel . bildeten, so konnte es freilich nicht anders kommen, als daß auch die deutsche Kirche dem roͤmisch-canonischen Rechte, wie es sich in den Decretalen, der Praxis der Gerichtshoͤfe, na- mentlich der Rota romana, und den Schriften der Decretisten entwickelte, unterworfen ward. Aber auf die Rechtsverhaͤlt- nisse der Layen hatte das urspruͤnglich keinen unmittelbaren Einfluß; nur die rein geistlichen Sachen, z. B. die Ehever- bote wegen Verwandschaft, wurden allgemein davon beruͤhrt. Sonst galt noch im 13. Jahrhundert der Grundsatz, welcher gerade im Gegensatz zu einem Gesetze Innocenz III. in den spaͤteren Recensionen des Sachsenspiegels ausgesprochen ist: „Wende de paves ne mach nen recht setten, dar he unse lantrecht oder lenrecht mede erger.“ Indessen konnte es doch nicht fehlen, daß der große Ein- fluß der Geistlichkeit ihrem Standesrechte eine gewisse, wenn auch anfangs sehr beschraͤnkte Einwirkung auf das Recht der Layen bereitete, sey es nun, daß ein solches Uebergreifen im besonderen Interesse der Geistlichkeit unmittelbar von ihr er- strebt ward, oder daß die Anerkennung gewisser Grundsaͤtze fuͤr sie auch wiederum die Geltung derselben fuͤr die Layen zur Folge hatte. Aus dem ersteren Grunde erklaͤrt sich die fruͤhe Verbreitung der dem roͤmischen Recht nachgebildeten letzt- willigen Verfuͤgungen, weil dadurch die den Geistlichen so wichtigen Seelgeraͤthe auf dem Todtenbette moͤglich wurden, und sich zugleich fuͤr das in den Staͤdten vorherrschende Mo- biliarvermoͤgen eine bequeme Form der Zuwendung darbot. Zu den Rechtsinstituten der anderen Art, welche man dem geistlichen Recht nachbildete, ist die Verjaͤhrung zu rechnen, welche auch, da das Princip der rechten Gewere nur eine be- Historische Einleitung . stimmte Sphaͤre beherrschte, eine Luͤcke des deutschen Rechts ausfuͤllen konnte. Desgleichen hat bei den Schwankungen, welche uͤber die Anwendung der wichtigsten germanischen Be- weismittel im spaͤteren Mittelalter eintraten, das geistliche Recht in dieser Lehre schon fruͤh einen bedeutenden Einfluß ausge- uͤbt, und auch sonst finden sich, namentlich im suͤdwestlichen Deutschland, seit dem Ende des 13. Jahrhunderts, einzelne Saͤtze des roͤmischen Rechts auf die Verhaͤltnisse der Layen angewandt, namentlich in dem, wahrscheinlich von einem Pfaf- fen verfaßten Schwabenspiegel. Aber das Alles hat das un- abhaͤngige Leben und den innern Zusammenhang des einhei- mischen Rechts unmittelbar noch gar nicht gefaͤhrdet; dasselbe bewahrte vielmehr noch bis ans Ende des 15. Jahrhunderts durchaus seine selbstaͤndige Haltung, und selbst die spaͤteren Rechtsbuͤcher nach dem Sachsenspiegel haben von dem roͤmisch- canonischen Rechte wohl kaum so viel aufgenommen, als es nur das englische Rechtsbuch des Bracton gethan hat. Man muß sich nur nicht durch einzelne Erscheinungen irre leiten las- sen, welche allerdings die allgemeinere Geltung des roͤmischen Rechts in einer fruͤheren Zeit zu beweisen scheinen, aber, rich- tig verstanden, nichts der Art darthun. So hat man ein be- sonderes Gewicht darauf gelegt, daß schon seit dem 13. Jahr- hundert in Urkunden haͤufig Verzichte auf roͤmische Klagen, Einreden u. dgl. vorkommen; aber das erklaͤrt sich einfach daraus, daß die Notare, welche meistens Geistliche oder doch in den geistlichen Gerichten eingeuͤbt waren, die dort gebraͤuch- lichen Formulare mit den hergebrachten Cautelen, oft unge- schickt genug, auch den unter Layen abgeschlossenen Geschaͤften bei der schriftlichen Redaction zu Grunde legten. Einen an- dern Umstand, der allerdings von groͤßerer Bedeutung ist, hebt Erstes Kapitel . Eichhorn Staats- und Rechtsgesch. III. §. 444. Note e. hervor. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts kommen naͤmlich Glossen zum Sachsenspiegel vor, welche den Inhalt des Rechtsbuchs aus dem fremden Rechte zu erklaͤren suchen, und zwar in einer wiederholten Ueberarbeitung, so daß es scheint, als ob diese an sich freilich widersinnige Methode einem Beduͤrfnisse entsprochen, und in der Praxis Beifall ge- funden habe, worauf auch die ziemlich betraͤchtliche Anzahl der von dieser Glosse erhaltenen Handschriften hinweist. Allein auf diesen letzteren Punct ist doch wenig Gewicht zu legen, weil auch eine gelehrte Ostentation und das Interesse, welches die Geistlichkeit an dem in den weltlichen Gerichten geltenden Rechte nehmen mußte, die Verbreitung der scheinbar gelehrten Arbeiten veranlassen konnten. Die Entstehung derselben aber erklaͤrt sich wohl zur Genuͤge, wenn man bedenkt, daß bei dem damaligen Zustande der Kritik ein in dem geistlichen Rechte bewanderter Mann sich leicht aufgefordert finden konnte, das einheimische Rechtsbuch nach den ihm gelaͤufigen Namen zu erklaͤren, wozu die Veranlaßung um so naͤher lag, da schon im 14. Jahrhundert ein großer Theil des Sachsenspiegels an- tiquirt, und in den Gerichten durch eine neuere Rechtsbildung ersetzt war. Daß jene Glossen practisch keine irgend wie be- deutende Geltung erlangt haben koͤnnen, folgt schon aus ih- rem Inhalt, welcher dazu ganz unbrauchbar war, und in sei- nen wesentlichen Bestandtheilen den noch fungirenden Volks- schoͤffen durchaus unzugaͤnglich seyn mußte, wenn sie sich auch vielleicht das Werk, namentlich in Verbindung mit dem Texte, manchmal abschreiben ließen. Daß aber dennoch ein so verkehrtes Historische Einleitung . Unternehmen, wie jene Glossirung, spaͤter von mehren Perso- nen fortgesetzt werden konnte, darf billig nicht Wunder neh- men, wenn man nur erwaͤgt, daß die Gruͤnde, welche die erste Veranlassung dazu gaben, auch spaͤter noch wirksam wa- ren, ja bei dem groͤßeren Andringen des roͤmischen Rechts noch verstaͤrkt wurden, und daß uͤberhaupt manche literaͤrische Ar- beiten des spaͤteren Mittelalters bei einer kritischen Betrachtung als rein unsinnig erscheinen. Ob noch speciell die besonderen Verhaͤltnisse der Mark, in welcher das roͤmische Recht fruͤher als in manchen andern Gegenden zur Geltung kam, auf die Beschaffenheit jener Glossen einen bestimmten Einfluß ausge- uͤbt haben, wage ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls irrt Eichhorn ganz entschieden, wenn er aus diesen fortgesetzten Versuchen, den Sachsenspiegel aus dem fremden Rechte zu er- klaͤren, den Schluß zieht, daß das Verstaͤndniß des einheimi- schen Rechts sich waͤhrend des 15. Jahrhunderts allmaͤlig ver- loren habe. Dafuͤr spricht außerdem keine einzige Thatsache, waͤhrend umgekehrt aus den fruͤher schon angefuͤhrten Gruͤn- den das Gegentheil bestimmt hervorgeht. Gerade bei den saͤchsischen Schoͤffen hat sich, ungeachtet jener Glossen, noch ins 16. Jahrhundert hinein eine umfassende und lebendige Kunde des einheimischen Rechts erhalten. Wir haben aus der ersten Haͤlfte des genannten Jahrhunderts eine Samm- lung saͤchsischer Schoͤffenurtheile (abgedruckt im Anhange zu Zobel’s Ausgabe des saͤchsischen Weichbildes), welche deutsch- rechtliche Institute der verschiedensten Art mit der groͤßten Si- cherheit behandeln, und selbst da, wo einzelne roͤmischrechtliche Grundsaͤtze angewandt werden, wie bei der Verjaͤhrung und bei den Kaufvertraͤgen, dieß mit entschiedener Klarheit und Maͤßigung thun. Woher kaͤmen auch wohl die Klagen der Beseler , Volksrecht. 3 Erstes Kapitel . Romanisten aus dem 15. und dem Anfange des 16. Jahr- hunderts uͤber die geringe Geltung des roͤmischen Rechts in den deutschen Gerichten und uͤber die Bevorzugung einheimi- scher Gewohnheiten, wenn diese nicht in voller Wirksamkeit gewesen waͤren? Es ist jedoch nicht in Abrede zu stellen, daß seit dem 14. Jahrhundert der Einfluß der Romanisten in Deutschland anfing sich geltend zu machen, und daß dieselben im Laufe des 16. Jahrhunderts zu einer fast unumschraͤnkten Herrschaft uͤber das ganze Rechtswesen gelangten. Fassen wir die Ursa- chen dieser allerdings einzigen Erscheinung etwas naͤher ins Auge. Einmal kommt dabei die enge Verbindung zwischen Deutschland und Italien, wo das roͤmische Recht bald festen Fuß faßte, in Betracht, — eine Verbindung, welche nament- lich unter den Luxemburgern wieder erneuert ward, und auf die Ansichten der hoͤheren Kreise in Deutschland einen großen Einfluß ausuͤbte. Man fing nun an, in einer der wunderli- chen Ideenverwirrungen, woran das Mittelalter so reich ist, die Justinianische Compilation als das Gesetzeswerk eines roͤmi- schen Kaisers und zwar eines Vorgaͤngers im deutschen Reich anzusehen, durch welche Auffassung freilich die unmittelbare Geltung des roͤmischen Rechts nicht allein, und nicht einmal vorzugsweise herbeigefuͤhrt worden ist, welche aber doch in Ver- bindung mit dem Einfluß der Kirche und bei der allgemeinen Verbreitung von Rechtsbuͤchern, zu denen auch das Corpus Juris gerechnet werden konnte, wesentlich darauf eingewirkt hat, namentlich insofern Kaiser und Reich dabei betheiligt wa- ren. Wir wissen ja aber auch schon, daß einzelne Lehren des roͤmischen Rechts bereits in weltlichen Sachen Anwendung ge- funden hatten, was denn zur Folge hatte, daß fuͤr deren rich- Historische Einleitung . tige Beurtheilung hie und da einzelne Romanisten bei der Rechtspflege betheiligt wurden. Allein darauf beschraͤnkte sich deren Geschaͤftsthaͤtigkeit nicht. Ihnen kam uͤberhaupt die Achtung zu Statten, welche ein nach geistiger Bildung rin- gendes Geschlecht vor den, wenn auch noch so rohen Vertre- tern classischer Studien hegte, — eine Achtung, welche auch dadurch nicht beseitigt werden konnte, daß die gepriesene Weis- heit der Doctoren zum großen Theile nur im Nachbeten ihrer waͤlschen Auctoritaͤten bestand, und welche gerade bei der halb- gebildeten vornehmen Welt am Groͤßten gewesen seyn wird, waͤhrend der gesunde Witz und das tiefere Rechtsgefuͤhl des Volkes den Schein eher von der Wirklichkeit zu unterscheiden wußte In mancher Beziehung erinnert das Auftreten der Romanisten in Deutschland an das der Franzosen oder franzoͤsirten Deutschen des 17. und 18. Jahrhunderts. Kaiser Maximilian I., ein Mann von schlichter deutscher Art, mochte sie daher auch nicht, wie Fugger im Ehrenspiegel von ihm erzaͤhlt (bei Senckenberg, method. jur. in app. III. §. 54. Note 6): „Sonsten wie er wol alle Gelehrten lieb und wert hielte, so hat er doch die Juristen, welche des Bartoli und Baldi Schrifften und Mei- nungen als ohnfelbare Oracula und Goͤtter-Ausspruͤche zu allegiren und anzufuͤhren pflegten, gehasset, und nit an sich leiden moͤgen.“ — Wie schlimm es den Romanisten zuweilen in den Schoͤffengerichten erging, sieht man aus mehren Erzaͤhlungen; vgl. Maurer , Geschichte des altgerman. Gerichtsverf. S. 253. 311. . Aber die Romanisten hatten doch in jedem Fall den Vorzug einer groͤßeren formellen Geistescultur voraus; sie wa- ren der lateinischen Sprache maͤchtig und hatten sich uͤber- haupt den Geschaͤftsstyl der damaligen Zeit angeeignet, was sie namentlich zu diplomatischen Verhandlungen befaͤhigte und in den Rath der Fuͤrsten und der angesehenen Corporationen brachte. Hier vertraten sie, im Gegensatz zu den convulsivi- schen Bewegungen einer anarchischen Zeit, die Herrschaft des 3* Erstes Kapitel . geschriebenen Rechts, dem sie fast blindlings folgten, und wuß- ten dadurch nicht bloß das Interesse der Maͤchtigen, denen sie dienten, zu foͤrdern, sondern trafen auch mit dem Bestreben der Besseren zur Herstellung eines geordneten Rechtszustandes in Deutschland zusammen. Zu diesem Allen kam nun noch ein aͤußeres Ereigniß hinzu, welches fuͤr die Aufnah me des roͤmischen Rechts in Deutschland von der groͤßten Bedeutung geworden ist. Im Jahre 1495 ward das Reichskammergericht eingesetzt, und da man schon auf die Geltung roͤmischrechtlicher Lehren Ruͤcksicht nehmen mußte und in den Doctoren die gewandtesten Ge- schaͤftsleute hatte, so ward die Haͤlfte der Stellen mit diesen besetzt. Nun war es aber nicht anders moͤglich, als daß sie gerade in dem hoͤchsten Reichsgerichte bald das allerentschie- denste Uebergewicht bekamen. Denn es ward hier fuͤr ganz Deutschland Recht gesprochen. Das deutsche Recht aber hatte, wie wir gesehen haben, nicht den Charakter eines gemeinen Nationalrechts gewonnen, sondern lebte nur in den engeren Kreisen, vor Allem in den Genossenschaften und Gemeinden, welche die allgemeinen Institute, schon durch die Einfluͤsse der Staͤndeunterschiede durchbrochen, in specieller Gestaltung ausgebildet hatten. Kamen auch noch tief eingreifende Grund- saͤtze und Rechtsformen in einer allgemeinen Geltung vor, so werden sie als ein gemeinsames, nationales Recht doch nur selten im Bewußtseyn der Einzelnen lebendig gewesen seyn. Das deutsche Recht trat also regelmaͤßig in seiner aͤußern Erscheinung als ein particulaͤres auf, was bei den heimischen Gerichten, wo die Schoͤffen es sicher beherrschten, kein Hinder- niß der Anwendung war, vor dem entfernten Reichsgerichte aber die groͤßten Schwierigkeiten bereitete, besonders wenn die Historische Einleitung . damals geltende Theorie der gelehrten Juristen von dem Be- weise des Gewohnheitsrechts und der Statute durchgefuͤhrt wurde. Wie anders aber waren die Doctoren mit ihrem fremden Rechte gestellt: sie zweifelten nicht an seiner absoluten Geltung, wußten es fuͤr alle Faͤlle applicabel zu machen, und verachteten die Grundsaͤtze des einheimischen Rechts meistens als wunderliche und unvernuͤnftige Irregularitaͤten. Rechnet man dazu noch ihre Geschaͤftsgewandheit, ihre Lust zur Arbeit, durch Ehrgeiz und Eifer fuͤr die Sache erhoͤht, so erklaͤrt es sich leicht, wie gerade am Reichskammergerichte zuerst das roͤmische Recht zur Herrschaft kam. Waͤre nun Deutschland mit einem kraͤftigen politischen Nationalleben in die moderne Zeit uͤberge- treten, und haͤtte auch die formelle Gemeinschaft in seiner Rechtsbildung wiedergefunden, so wuͤrde das roͤmische Recht als ein wenn auch wichtiges Element darin aufgegangen, und wesentlich germanisirt seyn, eine Entwicklung, worauf noch die peinliche Halsgerichtsordnung Karl V. hinweist. Aber so wie die deutsche Geschichte seit dem 16. Jahrhunderte sich gestaltet hat, war die Herrschaft der Romanisten und des roͤmischen Rechts vorlaͤufig entschieden. Freilich ist unter allen rein ger- manischen Voͤlkern das deutsche das einzige gewesen, welches diesen Entwicklungsproceß hat durchmachen muͤssen; und daß gerade der Einfluß des Reichskammergerichts entscheidend dar- auf eingewirkt hat, zeigt der Umstand, daß die seiner Compe- tenz entzogenen deutschen Voͤlkerschaften, wie die Schweizer und die Nordfranzosen, auch die Herrschaft des roͤmischen Rechts von sich fern gehalten haben. Auch mußte natuͤrlich die Auctoritaͤt des hoͤchsten Gerichtshofs an und fuͤr sich und die einschneidende Wirkung der von ihm im romanistischen Sinne erlassenen reformatorischen Erkenntnisse von den wichtigsten Erstes Kapitel . Folgen seyn. So wird schon im Jahre 1501, also sechs Jahre nach Errichtung des Reichskammergerichts, in Baiern eine landschaftliche Beschwerde uͤber die zu große Anzahl der Doctoren in den Hofgerichten dahin beantwortet: „Item auf den ersten Artikel die Hofgerichte antreffend, waͤre den Landleuten zu antworten, daß Ew. Gnad. es der Landleute und Doctoren halben ungefaͤhrlich bis- her gehalten habe: will es fuͤran auch thun. Daß aber der Doctoren an den Hofgerichten so viel, ist die Ur- sache, nachdem sie der Rechten mehr, denn die Layen, verstaͤndig sind, daß desto foͤrmlicher und rechtmaͤßiger Urtheil gesprochen, und die Leute mit ungebuͤhrlichen Urtheilen und wann die an das Kammergericht wuchsen , nicht beschwert und zu Schaden gebracht werden.“ Worin die Ungebuͤhrlichkeit der Urtheile bestanden, wel- cher die Doctoren gegen den Wunsch und Willen der Bethei- ligten abhelfen sollen, ist nicht schwer zu errathen. — Nach dem Vorbilde des Reichskammergerichts kamen auch die obern Gerichtshoͤfe der einzelnen deutschen Laͤnder bald ganz oder doch zum großen Theil in die Haͤnde der Romanisten, und da man sich nun einmal des roͤmischen Rechts nicht mehr erweh- ren konnte, sahen sich die untern Gerichtsstellen und die Par- teien fortwaͤhrend genoͤthigt, Rechtsbelehrungen einzuholen, die man Anfangs gewoͤhnlich nur von einzelnen bewaͤhrten Juri- sten, spaͤter meistens von den juristischen Facultaͤten sich geben ließ. Daraus entwickelte sich fuͤr die letzteren, welche bis da- hin geringen Antheil an der deutschen Rechtsentwicklung ge- nommen hatten, ihre sehr wichtige und einflußreiche Stellung Historische Einleitung . als Spruchcollegien; sie bekamen thatsaͤchlich eine uͤber das ganze Reich ausgedehnte Jurisdiction, und traten auf gewisse Weise an die Stelle der alten Oberhoͤfe, welche vor dem frem- den Rechte und der neueren Territorialverfassung ganz ver- schwanden oder doch ihre eigenthuͤmliche Bedeutung verloren. Es konnte nun freilich diese Aufnahme des roͤmischen Rechts, welches, so weit es irgend moͤglich war, in dem gan- zen Umfange der Justinianeischen Sammlung als geschriebenes Gesetz zur Anwendung gebracht wurde, nicht ohne die gewalt- samste Erschuͤtterung des deutschen Rechtswesens vor sich ge- hen. Die Landesherrn durften sich noch am Ersten dabei be- ruhigen, da ihnen durch die auf dem roͤmischen Recht gegruͤn- dete Theorie eine entschiedene Erweiterung ihrer oͤffentlichen Ge- walt zugebracht wurde, und sie, vermoͤge ihrer Stellung, am Ersten Gelegenheit hatten, die Juristen fuͤr ihr Interesse in Thaͤtigkeit zu setzen. Doch standen diese nicht ausschließlich im Dienste der Fuͤrsten; auch die Landstaͤnde, die Staͤdte und an- dere Corporationen hielten sich geschickte Consulenten, welche ihre Angelegenheiten betrieben. Wichtiger noch war es, daß das Standesrecht des hohen Adels, von einem selbstaͤndigen Princip beherrscht, schon eine so bestimmte Richtung genom- men, und im Allgemeinen durch die Autonomie sich schon so befestigt hatte, daß es durch das roͤmische Recht nicht mehr bedroht wurde, und man nur darauf bedacht war, eine gewisse aͤußere Uebereinstimmung zwischen beiden nachzuweisen. Desto entschiedener aber wurden alle uͤbrigen Classen der Nation, außer der Geistlichkeit, in ihren hergebrachten Rechtsverhaͤltnis- sen von der Lehre der Romanisten gefaͤhrdet; Adel, Buͤrger, Bauern, welche nach der Vaͤter Sitte ihr Recht bewahrt und selbstaͤndig es gehandhabt hatten, sahen sich ploͤtzlich unter die Erstes Kapitel . Herrschaft von Gesetzen gestellt, die ihnen nach Form und In- halt fremd waren, und deren practische Durchfuͤhrung alles Bestehende zu erschuͤttern schien. Daher erhob sich von allen Seiten eine heftige Opposition gegen die Romanisten, welche man als die Quelle dieser Neuerung erkannte. Am Kraͤftig- sten sprach sich die baierische Ritterschaft 1499 in einer Be- schwerde aus: In judicibus intolerabilis error. Non enim eli- guntur judices more antiquo, sed multi juris Ro- mani professores, pauci magistratus, nobiles at- que provinciales. — Cum jus municipale servan- dum sit, et antiquae consuetudines pro legibus habendae sint, fit, ut multa his contraria fiant, unde deceptiones, errores et turbae oriuntur. Illi enim juris professores nostrum morem ignorant, nec etiam si sciant, illis nostris consuetudinibus quicquam tribuere volunt. Aehnliche Klagen wurden, wenn auch gleich erfolglos, von den Wuͤrtembergischen Landstaͤnden, der unmittelbaren Reichsritterschaft in Franken, der Stadt Luͤbeck und von andern Seiten erhoben; und Ulrich von Hutten, der die Sache von einem hoͤheren nationalen Standpuncte auffaßte, kaͤmpfte kaum erbitterter gegen die roͤmischen Curtisanen und Papisten, als gegen die Bartolisten und Rabulisten, welche dem Volke sein gutes Recht und seine freie Gerichtsverfassung entzoͤgen. Auch war in der That die Verletzung des materiellen Rechtes nicht die schlimmste Folge von der Herrschaft der Romanisten und ihrer Lehre; noch hoͤher muß der Nachtheil angeschlagen wer- den, daß das Recht, bis dahin im Bewußtseyn des Volkes Historische Einleitung . lebendig, ihm nun als eine fremde, unheimliche Macht gegen- uͤber trat, und daß die Rechtspflege aus den Haͤnden der Schoͤffen in die der studirten Juristen uͤberging, welche bald die ganze Noth des roͤmisch-canonischen Processes mit seinem heimlichen, schriftlichen Verfahren in die sonst offenen deutschen Gerichtssaͤle brachten. Es begann jetzt die Entfremdung des Volkes von seinen eigensten Angelegenheiten, jene Bevormun- dung von oben her, welche spaͤter, als von den Landstaͤnden und den Gemeinden die rechte Kraft und Tuͤchtigkeit gewichen war, auch auf die Verwaltung ausgedehnt wurde, und das frische Leben, welches die Nation noch aus dem Mittelalter in die neue Zeit heruͤber gebracht hatte, vollends zerstoͤrte. Indessen wuͤrde es der historischen Unbefangenheit nicht entsprechen, wenn man die Aufnahme des roͤmischen Rechts in Deutschland nur von der Schattenseite betrachten wollte. Es ist nicht zu verkennen, daß bei der immer bestimmter hervor- tretenden Aufloͤsung der Reichsverfassung und dem stets uͤber- maͤchtiger sich gestaltenden Particularismus in dem roͤmischen Recht und der sich daran lehnenden juristischen Theorie ein Mittelpunct fuͤr eine gemeinsame deutsche Rechtsbildung ge- wonnen ward, welche dem uͤppig wuchernden Particularrecht lange einen festen Damm entgegengesetzt hat. Auch trug das roͤmische Recht, eben weil seine absolute Geltung in Anspruch genommen wurde, dazu bei, daß die schroffen Gegensaͤtze des Standerechts sich mehr ausglichen, und einer mehr einheitli- chen Entwicklung des Rechts unterthan wurden. Endlich ist im roͤmischen Recht, trotz seiner byzantinischen Ueberarbeitung, noch Vieles von der hohen Kraft und plastischen Vollendung der Antike bewahrt worden, welches auf das germanische We- sen einen heilsamen Einfluß ausgeuͤbt hat. Dieses Alles haͤtte Erstes Kapitel . freilich auch erlangt werden koͤnnen, wenn man mit besonnener Maͤßigung sich des fremden Rechts bedient haͤtte, um das ein- heimische darnach zu bilden und formell zu veredeln; die un- bedingte Reception des vollstaͤndigen Materials und die Unter- druͤckung und Verkruͤppelung des eigenen Rechtslebens, welche nothwendig daraus folgten, bleiben immer ein Nationalungluͤck, welches der Patriot nur beklagen kann, wenn es auch aus der Verkettung der Verhaͤltnisse wie mit Nothwendigkeit her- vorgegangen scheint. Doch bietet auch hier die tiefere Betrach- tung der geschichtlichen Entwicklung Trost und Beruhigung. Wie bedeutungsvoll auch ein historisches Factum auftritt, und wie nachhaltig seine Einwirkung auf die menschlichen Zustaͤnde erscheint, so bleibt es doch im Laufe der Zeiten nicht in der urspruͤnglichen Art gleichmaͤßig wirksam; sondern selbst einem hoͤheren Gesetze dienstbar, wird es in den allgemeinen Entwick- lungsproceß hineingezogen, und dadurch bestimmt und veraͤn- dert. Diese Betrachtung findet auch auf die Reception des roͤmischen Rechts in Deutschland ihre Anwendung. Dieselbe ist nie eine abgeschlossene, zum Stillstand gekommene That- sache geworden; sie hat in den verschiedenen Perioden der mo- dernen deutschen Rechtsentwicklung eine verschiedene Bedeutung gehabt, und namentlich zum einheimischen Recht, welches nie vollstaͤndig durch sie ist uͤberwaͤltigt worden, eine schwankende Stellung eingenommen. Wenn es sich nun nachweisen ließe, daß in der Tiefe des nationalen Lebens noch immer eine selb- staͤndige, schoͤpferische Kraft thaͤtig geblieben ist, und daß sie, wenn auch unter sehr wechselnden Formen und mit oft gerin- gem Erfolge, doch im Gegensatze zum fremden Rechte das na- tionale Element zu vertreten, ja in neuerer Zeit jenem einen betraͤchtlichen Theil des usurpirten Gebietes wieder zu entrei- Historische Einleitung . ßen vermocht hat; so wuͤrde daraus die wichtigste Folgerung abzuleiten seyn. Denn die Herrschaft des roͤmischen Rechts wuͤrde sich dann nur als eine Episode in der deutschen Rechtsgeschichte darstellen , und nicht unbegruͤndet erschiene die Hoffnung, daß allmaͤlig jener Kampf der widerstrebenden Elemente zu deren organischer Verbindung fuͤhren, und diese wieder von einem wesentlichen, nationalen Princip werde beherrscht werden. Die Loͤsung dieser Frage haͤngt von der Zukunft, und namentlich von der weiteren po- litischen Gestaltung Deutschlands ab; aber daß die Art, wie man die Reception des roͤmischen Rechts verstanden hat, nicht immer dieselbe gewesen, sondern zu den verschiedenen Zeiten nach den angedeuteten Momenten gewechselt hat, soll hier in der Kuͤrze gezeigt werden. Die Juristen, welche zuerst als die Verbreiter des roͤmi- schen Rechts in Deutschland auftraten, hatten ihre Kenntniß von demselben nicht unmittelbar aus den Quellen geschoͤpft; sie schlossen sich vielmehr, insofern sie nicht bloß das geistliche Recht ins Auge faßten, genau an die Lehre der Italiener, der Glossatoren und deren Nachfolger, namentlich des Bartolus und Baldus, an. Bei diesen glaubte man das sichere Ergeb- niß einer gelehrten, uͤber alle Kritik erhabenen Quellenfor- schung zu finden, und kam dadurch in den Besitz eines Ma- terials, welches fuͤr die Verhaͤltnisse des modernen Lebens schon einigermaaßen zugerichtet war. Fuͤr diese juristische Gemein- lehre, deren Kern nur das roͤmische Recht bildete, ward denn die unbedingte Geltung in Anspruch genommen. So blieb es, bis im Anfange des 16. Jahrhunderts die Deutschen und besonders Ulrich Zasius selbstaͤndige Studien im roͤmischen Rechte machten. Mit diesem ausgezeichneten Manne, der eine Erstes Kapitel . elegante classische Bildung mit einem großen practischen Ta- lente verband, beginnt eigentlich die moderne deutsche Rechts- wissenschaft; er hat durch Vorlesungen, Schriften, Rechtsbe- lehrungen und legislative Arbeiten einen außerordentlichen Ein- fluß ausgeuͤbt, und noch spaͤter durch seine Schuͤler die Ent- wicklung der deutschen Jurisprudenz beherrscht. Bei Zasius nun ist das reine roͤmische Recht die ratio, die absolute Ver- nunft; die Meinungen der Juristen gelten ihm nur etwas, insofern sie eine quellenmaͤßige Begruͤndung haben, und Statute und Gewohnheiten duͤrfen jener ratio wenigstens nicht widersprechen, wenn sie uͤberhaupt zur Anwendung kommen sollen Ueber die beschraͤnkte Geltung der einheimischen Rechtsinstitute spricht Zasius sich an mehren Orten aus, z. B. in novum Dig. de V. O. L. 61. cap. II. concl. 1. und cap. III. concl. 1. Die Bedeutung, welche er der communis DD. opinio beilegt, erhellt am bestimmtesten aus einem Briefe an Bonif. Amerbach vom Jahre 1530 ( in opp. tom. V. p. 183): Dominus Montaigne, vir doctus, tractavit, ut videre po- tui, locum illum substitutionis, de quo nuper nonnulla, in utram- que partem satis eleganter, nisi quod pro utraque parte potius te- stes, id est consilia et scriptores, quam textus alleget. Perpetua pestis in jure nostro, quod textibus non possumus, id testibus velle convincere. Mihi nec Accursius curae est nec Bartolus nec Baldus, nisi quatenus jure fundati sunt . — . Daher ist nur das roͤmische Recht ein jus commune, welches unbedingt zur Anwendung zu brin- gen ist, — etwa mit den an sich nicht tief eingreifenden Modificationen der Reichsgesetze und des canonischen Rechts, dessen genauere Beruͤcksichtigung aber den Decretisten uͤber- lassen blieb; nur dem longobardischen Lehenrechte, dem man eine dem roͤmischen Recht fast gleichstehende Bedeutung bei- legte, ward fuͤr seine Sphaͤre eine selbstaͤndige Bewegung eingeraͤumt. Doch konnte diese strenge Theorie in der Praxis Historische Einleitung . nicht consequent durchgefuͤhrt werden, da es unmoͤglich war, das roͤmische Recht ohne irgend eine Vermittlung und Verar- beitung auf die modernen Lebensverhaͤltnisse anzuwenden. Da- her ist selbst Zasius in seinen legislativen Arbeiten zuweilen genoͤthigt gewesen, ein dem roͤmischen Recht widerstrebendes Institut anzuerkennen, und außerdem war er, ganz nach Art der spaͤteren italienischen Juristen, bemuͤht, mit einem großen Aufwande von Scharfsinn und Gelehrsamkeit, aber freilich mit geringer Kritik, die Geltung deutschrechtlicher Institute nach roͤmischen Analogien zu rechtfertigen; ja er kommt einmal, fast unwillkuͤhrlich, zu dem Bekenntniß, das Rechtsleben sey rei- cher, als der Buchstabe des Gesetzes (des roͤmischen Rechts); es finde sich einiges Anomalische, was schwer darunter zu be- fassen U. Zasius, sing. respons. lib. II. cap. 7. in opp. tom. V. pag. 36. . Diese Auffassung des jus commune, welche wir bei Zasius finden, ward nun nach ihm bestimmter dahin ausge- bildet, daß ein Gewohnheitsrecht und ein Statut, wenn sie nur guͤltig zu beweisen waͤren, unabhaͤngig vom gemeinen Recht eine selbstaͤndige Geltung in Anspruch nehmen koͤnnten. Mit dem Beweise des Gewohnheitsrechts hatte es nun freilich bei der herrschenden Theorie uͤber dessen Erfordernisse, seine großen Schwierigkeiten; aber desto eifriger bediente man sich des jus statuendi, um einen Theil des einheimischen Rechts festzustellen und vor der Mißhandlung durch die Romanisten zu retten. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts entwickelte die Territorialgesetzgebung, welche von dem Landesherrn unter Zuziehung der Staͤnde ausging, so wie die Autonomie der Erstes Kapitel . freigestellten Corporationen eine große Thaͤtigkeit, um nament- lich die wichtigsten deutschrechtlichen Principien uͤber das Fa- milienrecht, mit Einschluß eines Theils des Erbrechts, das Recht des Grundbesitzes und den Formalismus der Rechtsge- schaͤfte zu bewahren, und in ein bestimmtes Verhaͤltniß zum gemeinen Rechte zu setzen. Die legislativen Arbeiten (in de- nen sich zum Theil die Kraft der großen deutschen Reforma- tionszeit klar abspiegelt, wenn sie auch den Beduͤrfnissen der Gegenwart und den Anspruͤchen, welche diese an die Gesetzge- bung stellt, nicht mehr entsprechen), lagen nun freilich vor- zugsweise wieder in den Haͤnden der Romanisten, ohne die man sich nicht mehr auf dem Rechtsgebiete bewegen konnte, und es ist durch sie auch manches fremdartige, manche unor- ganische Bildung hineingekommen; aber sie waren hier doch mehr auf das unmittelbare Beduͤrfniß des Lebens und den Willen der Betheiligten hingewiesen, und im Ganzen mit der Anerkennung deutschrechtlicher Grundsaͤtze weniger schwierig, als da, wo es sich zunaͤchst um das gemeine Recht handelte. Freilich stellte man nun die Regel auf, daß die Statute moͤg- lichst nach dem letzteren zu interpretiren seyen, und eroͤffnete so dem roͤmischen Recht eine breite Pforte, durch welche es auch auf dieses Gebiet eindringen konnte. Aber der Buch- stabe des Statuts blieb doch, und fand, wenigstens bei den zunaͤchst competenten Gerichten, in dem Volksleben und dessen Einwirkung eine bestimmte Stuͤtze. Ueberhaupt aber faßte die strenge Ansicht des Zasius von der Unverbindlichkeit der ge- meinen Meinung der Juristen keinen festen Fuß; man er- kannte bald entschieden diese Form der Rechtsbildung wieder an, welche sich, namentlich als die hoͤheren Gerichte einen be- deutenderen Antheil daran gewannen, als ein wahres Juristen- Historische Einleitung . recht herausstellte, und, wenn auch nicht dem Volksbeduͤrfniß entsprechend, dem roͤmischen Recht doch Manches von seinem schroffen Gegensatz gegen so viele deutsche Lebensverhaͤltnisse entzog. Dazu kam nun aber noch ein neues Moment der Entwicklung. Das alte Volksrecht, welches nie ganz beseitigt werden konnte, trat auch da, wo es nicht in Gesetzesform fest- gestellt war, mit einer gewissen Unabhaͤngigkeit auf und ver- langte eine Anerkennung, welche die Juristen demselben nur gegen den civilproceßmaͤßigen Beweis seiner gewohnheitsrecht- lichen Geltung gewaͤhren wollten, die aber namentlich in den Untergerichten, welche oft noch mit unstudirten Richtern besetzt waren, und uͤberhaupt dem Volksleben naͤher standen, meistens leichter zu erlangen war. In diesen Erscheinungen zeigte sich denn zuweilen eine gemeinsame, nationale Rechtsbildung thaͤ- tig, welche den Juristen freilich unverstaͤndlich war, die sie aber doch seit dem Ende des 16. Jahrhunderts insofern an- erkannten, als sie die Moͤglichkeit allgemeiner Gewohnheiten zugaben, und fuͤr deren Darlegung sich auch wohl mit dem Zeugniß angesehener Schriftsteller, statt eines formellen Bewei- ses, genuͤgen ließen, wodurch einzelne jener Rechtsgrundsaͤtze nach und nach dem Juristenrecht einverleibt wurden. Beson- ders wichtig aber war es, daß zur angegebenen Zeit in den saͤchsischen Gerichtshoͤfen, wo der Sachsenspiegel noch einen ge- wissen aͤußern Anhalt fuͤr die Bewahrung deutschrechtlicher In- stitute bot, ein sogenanntes jus commune saxonicum aus- gebildet ward, welches noch vor dem gemeinen Reichsrecht zur Anwendung kommen sollte. Die wissenschaftliche Behand- lung, welche dieses saͤchsische Particularrecht fand, und uͤber- haupt die große Auctoritaͤt der saͤchsischen Juristen, welche laͤn- gere Zeit die Praxis eines betraͤchtlichen Theils von Deutsch- Erstes Kapitel . land jetzt wieder, wie fruͤher durch den Sachsenspiegel, be- herrschten, haben dem gemeinen Sachsenrecht eine außerordent- liche Bedeutung verschafft, und dasselbe zu dem Kern gemacht, an den sich spaͤter das jus commune germanicum (jus germanicum privatum) ansetzte. Waͤhrend so dem roͤmischen Recht und dessen absoluter Geltung gegenuͤber das einheimische Recht wieder auftauchte, und zwar unverkennbar von dem noch in der Tiefe der Na- tion wurzelnden Volksrechte getragen, brach im Laufe des 17. Jahrhunderts in Deutschland jener schreckliche Buͤrgerkrieg aus, welcher die besten Kraͤfte zerstoͤrte, und namentlich die letzten Traͤger der deutschen Freiheit, die Ritterschaft und die Staͤdte, in ihrem Wohlstande und ihrer politischen Bedeutung unend- lich zuruͤcksetzte. Die nationale Entwicklung Deutschlands ward nun fuͤr lange Zeit gelaͤhmt; an die Stelle eines frischen Volkslebens, das sich wenigstens noch in einzelnen Territorien und Communen erhalten hatte, trat das Zeitalter Ludwig XIV. mit seiner Despotie und seiner polizeilichen Bevormundung des Volkes, freilich auch mit der Entfaltung des feudalistisch ge- gliederten staͤndischen Wesens zur modernen Staatseinheit, welche vor Allem in dem großen Churfuͤrsten von Branden- burg und seinen Nachfolgern eine bewußte Vertretung fand. Dadurch ward freilich fuͤr die Gesetzgebung ein groͤßerer Ein- fluß begruͤndet; aber die mehr innerliche Ausbildung des Rechts im Gegensatz zum beschraͤnkten Romanismus schien doch we- sentlich bedroht zu seyn. Wenn sie dennoch ihren sicheren Fortgang genommen hat, so ist dieß vor Allem die Folge ei- ner freieren und tuͤchtigeren Richtung in der Jurisprudenz selbst gewesen, indem die Wissenschaft auch hier ihre selbstaͤn- dige Kraft bewaͤhrte. Damit soll freilich nicht gesagt seyn, Historische Einleitung . daß sich der Juristenstand ploͤtzlich und allgemein uͤber seinen beschraͤnkten Standpunct erhoben, und einen hoͤheren Schwung bekommen habe. Nein, die große Masse schaffte wie fruͤher so vor sich hin: das roͤmische Recht gab zum groͤßten Theile die Rechtsnormen her, insofern es nicht in den schon ange- fuͤhrten Modificationen des gemeinen Rechts eine Beschraͤnkung fand, und auch die Statute wurden noch vorzugsweise dar- nach interpretirt. Daher war es schon ein kuͤhner Schritt von Mevius, der uͤberhaupt einer der genialsten deutschen Ju- risten war, daß er es in einer wichtigen Lehre wagte, die Praͤ- sumtion gegen das roͤmische Recht zu Gunsten einer allgemei- nen deutschen Gewohnheit zu stellen, und dem, der ihre Gel- tung leugne, den Beweis aufzulegen. Denn sonst sprach man allgemein dem roͤmischen Recht die fundata intentio zu, und war hoͤchstens in der publicistischen Literatur fuͤr das eigent- liche Staatsrecht (nicht fuͤr das oͤffentliche Recht uͤberhaupt) mehr geneigt, dem einheimischen Recht seine selbstaͤndige Be- deutung einzuraͤumen. Aber auch Mevius, wie seine Vorgaͤn- ger, die Mynsinger, Fichard, Gaill, Pistoris u. s. w., waren nur bemuͤht, das roͤmische Recht in einen gewissen Einklang mit den bestehenden Lebensverhaͤltnissen zu bringen, und gin- gen nicht uͤber die Beachtung der juristischen Praxis und uͤber das in den Statuten und Gewohnheiten ausgesprochene vater- laͤndische Recht hinaus. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts, also gleichzeitig mit Mevius, machte sich aber eine neue Be- wegung in der deutschen Jurisprudenz geltend, welche, sich in eine zwiefache Richtung zerspaltend, doch in dem Puncte zu- sammen hielt, daß man dem roͤmischen Recht in Beziehung auf seinen innern Werth und auf seine Bedeutung fuͤr die Gegenwart fester ins Auge sah, und uͤberhaupt eine freiere Beseler , Volksrecht. 4 Erstes Kapitel . Betrachtung des Rechtsstoffs wagte. Diese Richtung spricht sich eines Theils in der philosophischen Rechtslehre aus, wie sie von Grotius und Pufendorf begruͤndet, durch die deutsche Literatur ging, in die spaͤtere Schulphilosophie umschlug, und dann durch das Kantische Naturrecht zu der neueren Rechts- philosophie sich entwickelte. Practisch hat sie freilich vorzugs- weise nur auf das Voͤlkerrecht und das Criminalrecht einge- wirkt, welches letztere wegen seiner rein menschlichen Beziehun- gen und wegen des psychologischen Interesses von allen Rechts- theilen am Ersten dem unmittelbaren Einfluß der Philosophie unterworfen worden ist. Von Thomasius bis auf Feuerbach ist die Reform des Criminalrechts daher hauptsaͤchlich von die- ser Seite ausgegangen. Die andere Richtung, von der Phi- losophie im Allgemeinen unterstuͤtzt, hat doch einen ganz an- dern Weg verfolgt: es ist der der historisch-nationalen Rechts- entwicklung. Als naͤmlich Hermann Conring erst das Fun- dament zu einer deutschen Rechtsgeschichte gelegt, und die aͤl- teren deutschen Rechtsquellen, fruͤher fast nur in einem anti- quarischen Interesse edirt und bearbeitet, der juristischen Be- trachtung eroͤffnet hatte, begnuͤgte sich eine Anzahl der bedeu- tendsten Juristen nicht mehr damit das Studium des einhei- mischen Rechts bloß auf die einzelnen noch geltenden Landes- rechte und Statute zu beschraͤnken, und so ein dem roͤmischen Recht doch sehr untergeordnetes deutschrechtliches Material zu cultiviren; sondern sie zogen nun auch das aͤltere deutsche Recht, wie es vor der Aufnahme des roͤmischen bestanden hatte, in den Kreis ihrer Forschungen, und eroͤffneten sich auf diese Weise ein ganz neues Feld, in welchem die noch practischen deutschrechtlichen Institute zum großen Theile ihre Wurzel hatten. Ausgezeichnete Maͤnner, wie Schilter und Sencken- Historische Einleitung . berg und namentlich viele der in Halle und spaͤter in Goͤttin- gen lehrenden Juristen verfolgten diese zuerst von Conring be- tretene Bahn. Sie waren freilich bei der Anwendung dieser Richtung auf die Praxis noch vielfach von dem in anerkann- ter Wirksamkeit bestehenden roͤmischen Rechte gehemmt; die von ihnen behandelten deutschrechtlichen Lehren tragen die deut- lichen Spuren der Schwaͤche an sich, welche bei der noch un- entwickelten germanistischen Methode und dem beschraͤnkten Kreis der Forschungen unvermeidlich war. Dazu kam der traurige Zustand des deutschen Gerichtswesens, welches durch die Reichs- gesetzgebung nur von seinen alleraͤrgsten Auswuͤchsen befreit ward; uͤberhaupt war die ganze Zeit einer nationalen Entwick- lung durchaus unguͤnstig, und ließ jenen patriotischen Bestre- bungen doch nur, fern von der frischen Luft eines bewegten Volkslebens, in der Schule einen gewissen Spielraum. So konnte es geschehen, daß man nicht einmal das im Volke noch bewahrte einheimische Recht, und noch weniger die neu sich bildenden Rechtsinstitute gehoͤrig zu erfassen vermochte, und daß man sich fast ausschließlich mit der Ergruͤndung des Pri- vatrechts beschaͤftigte, ohne namentlich an eine Reform des Processes zu denken. Aber nichts desto weniger haben sich diese aͤlteren Germanisten ein großes Verdienst erworben. Es bildete sich doch neben der romanisirenden Rechtsgelehrsamkeit eine deutsche Jurisprudenz heran, welche fuͤr ihre Lehre die Bedeutung des gemeinen subsidiaͤren Rechts mit Erfolg in An- spruch nahm; auch in die Behandlung des particulaͤren Rechts, fuͤr dessen Interpretation nun eine neue reiche Quelle eroͤffnet war, kam ein frischer Geist; und was das Wichtigste ist, es ward fuͤr spaͤtere, einer nationalen Erhebung guͤnstigere Zeiten und fuͤr eine freiere Gestaltung des Rechtslebens eine bedeu- 4* Erstes Kapitel . tende Vorarbeit gethan, an welche sich umfassendere Bestre- bungen anschließen konnten. Es fehlte jenen Maͤnnern der hoͤhere, nationale Impuls, die staatsmaͤnnische Weihe, welche J. Moͤser so einzig groß erscheinen lassen; aber daß uns die Romanisten nicht ganz eingesponnen haben, daß sich ein Kern echtdeutschen Rechtes wieder zum wissenschaftlichen Bewußtseyn herausbilden konnte, ist doch vorzugsweise ihr Verdienst. In dem Verhaͤltniß nun, wie diese germanistische Rich- tung an Boden gewann, mußte das roͤmische Recht daran einbuͤßen. Es verlor seine Herrschaft uͤber die Statute, und da, wo es sonst unbedingt zur Anwendung gekommen war, auf dem Gebiete des gemeinen Rechts, mußte es das deutsche als ebenbuͤrtigen Genossen neben sich anerkennen. Aber die formelle Geltung des Corpus Juris, welches man als eine eigentliche lex scripta zu behandeln gewohnt gewesen war, ward unter den Haͤnden der Romanisten selbst immer schwan- kender, je mehr die selbstaͤndige Bedeutung des Juristenrechts zum wissenschaftlichen Bewußtseyn kam. Es ist daher auch eine ganz consequente Auffassung, welche gewiß immermehr An- erkennung finden wird, wenn Kierulff den Inhalt des Corpus Juris nur als ein Element des jetzt geltenden Rechtssystems anerkennt, welches nicht deswegen, weil es geschrieben steht, sondern deswegen, weil es in die moderne Rechtsbildung uͤber- gegangen ist, auf eine positive Geltung Anspruch machen kann; und nicht weniger bezeichnend ist es, wenn v. Savigny das ganze oͤffentliche Recht der Auctoritaͤt des roͤmischen Rechts entziehen will. Vergleicht man mit solchen Erscheinungen die Lehre der Romanisten zur Zeit, als die Reception des fremden Rechts in Deutschland begruͤndet ward, so stellt sich recht deut- lich heraus, wie verschieden der Einfluß ist, den dieses Ereig- Historische Einleitung . niß fruͤher gehabt hat und den es auf das heutige deutsche Recht ausuͤbt. Wenn aber auch in diesem Entwicklungsproceß ein all- maͤliger Fortschritt nicht zu verkennen ist, so ward doch das Bessere dadurch mehr vorbereitet, als unmittelbar begruͤndet. Der unsichere und schwankende Zustand des gemeinen Rechts, in welchem das fremde Element noch immer uͤberwiegend war, und das Volksrecht noch so wenig Anerkennung fand; die regellose und zum Theil ganz willkuͤhrliche Mannichfaltigkeit der Landrechte und Statute; der Mangel einer organischen Durchbildung, welche sowohl die verschiedenen Theile des ge- meinen Rechts als auch dieses und das particulaͤre zu einer innern Einheit verbunden haͤtte; die Beschaffenheit des bloß auf aͤußerliche Garantien gebauten, unerhoͤrt schleppenden und kostspieligen Processes, — das waren Gebrechen, welche dem deutschen Rechtswesen noch immer anhingen, und deren Be- seitigung theilweise wenigstens nur von dem energischen Ein- greifen der Gesetzgebung erwartet werden konnte. Diese war nun fast ausschließlich in die Haͤnde der Landesherrn gekom- men, da von dem Reiche kein tuͤchtiges, gemeinsames Werk mehr ausgehen konnte, die Landstaͤnde immer mehr an Bedeu- tung verloren und die eigenthuͤmliche Wirksamkeit der Autono- mie mit der Freiheit und Selbstaͤndigkeit den Corporationen fast ganz zuruͤcktrat. In der Landeshoheit concentrirte sich uͤberhaupt eine große Fuͤlle oͤffentlicher Gewalt, welche in dem westphaͤlischen Frieden eine staatsrechtliche Anerkennung gefun- den hatte; sie naͤherte sich, wenigstens in den groͤßeren Terri- torien, immermehr dem Begriff einer einheitlichen Staatsge- walt, womit in Verbindung stand, daß die fruͤhere landesherr- liche Dienerschaft, welche das besondere Interesse des Landes- Erstes Kapitel . herrn und seines Hauses wahrzunehmen hatte, zur Bedeutung der fuͤr das gemeine Wohl thaͤtigen Staatsbeamten sich erhob. Aber die Ausbildung der Volksfreiheit hielt mit der des Staats- princips keinen gleichen Schritt. Es ward nun von oben her bis in das kleinste Detail der Verwaltung herunter regiert und administrirt, bald unter dem Titel der fuͤrstlich-obrigkeit- lichen Gewalt oder der allgemeinen Landespolizei, bald in Folge der neu ausgebildeten Lehre von den Regalien und uͤberhaupt im fiscalischen Interesse der Finanz, fuͤr welche an vielen Or- ten die strenge Sonderung des Domanii von dem Steuerwe- sen nicht mehr festgehalten ward. Auf diese Weise bekam je- des deutsche Land einen ganzen Codex einzelner landesherrli- cher Verordnungen, welche sich an keine strenge Rechtsentwick- lung bindend oft mehr den Charakter von Instructionen fuͤr die Beamten, als von foͤrmlich publicirten Gesetzen hatten. Fuͤr das eigentliche Rechtswesen selbst geschah wenig, die reformir- ten Land- und Stadtrechte, an denen das 16. Jahrhundert so reich war, werden seit dem Ausbruch des 30jaͤhrigen Krie- ges seltner, und verlieren auch an Bedeutung und Originali- taͤt. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts zeigt sich wieder eine groͤßere Thaͤtigkeit auf diesem Gebiete, welche darauf ge- richtet war, die Fortschritte der Bildung und der Staatsent- wicklung auch in der Gesetzgebung zu bethaͤtigen. Und nicht bloß auf die Entfernung einzelner Mißbraͤuche war man be- dacht; man beschaͤftigte sich schon mit der zeitgemaͤßen Fest- stellung des gesammten geltenden Rechts, worauf das practische Beduͤrfniß, die germanistische Tendenz der Juristen und die naturrechtliche Betrachtungsweise der damaligen Zeit hindraͤng- ten. In Baiern ward schon ein Theil des gemeinrechtlichen Usus modernus verarbeitet und in das Gesetzbuch aufgenom- Historische Einleitung . men; doch fand diese Richtung erst in der preußischen Codifi- cation eine vollstaͤndige und consequente Vertretung. Preußen hatte sich an der Stelle von Chursachsen an die Spitze des protestantischen Deutschlands gestellt, und fand auch an Braunschweig-Luͤneburg keinen gefaͤhrlichen Nebenbuhler mehr, seitdem das dortige Churhaus nach England verpflanzt worden war. Es hatte unter seinen großen Fuͤrsten zuerst eine energische Regierung in Deutschland erhalten, und sah diese im Sinne des modernen Staates consequent ausgebildet. Frie- drich der Große vertrat dieses Princip mit der ganzen Kraft seiner Persoͤnlichkeit nach allen Seiten hin; von ihm ging auch die Idee der Codification des preußischen Rechts aus, welches seinem ganzen Umfange nach gesetzlich festgestellt wer- den, und in selbstaͤndiger Haltung von dem gemeinen deutschen Recht abgeschlossen bleiben sollte. Dieselbe Tendenz verfolgte gleichzeitig Oesterreich, und hat sie ebenfalls realisirt. So ent- zogen sich die beiden ersten Staaten Deutschlands dem unmit- telbaren Einfluß der gemeinsamen deutschen Rechtsentwicklung, — ein Ereigniß, welches in den aͤußern Verhaͤltnissen der da- maligen Zeit begruͤndet scheinen mag, aber doch als ein großes nationales Ungluͤck betrachtet werden muß. Im Uebrigen ist freilich nicht zu verkennen, daß durch diese großen legislativen Arbeiten, neben welchen noch die franzoͤsische Gesetzgebung ihre selbstaͤndige Bedeutung in Anspruch nimmt, das gesammte moderne Rechtswesen und namentlich auch das deutsche außer- ordentlich gefoͤrdert und gehoben ist. Selbst das preußische Landrecht, welches, als das erste dieser Werke, mit vielen ei- genthuͤmlichen Schwierigkeiten zu kaͤmpfen hatte, verdient die groͤßte Anerkennung; die Maͤngel, mit denen es behaftet ist, sind vorzugsweise solche, welche in den Verhaͤltnissen, unter Erstes Kapitel . denen es entstanden, ihre Veranlassung gehabt haben. Die Idee, welche den Staat Friedrich des Großen beherrschte, schloß jede freie Bewegung eines volksthuͤmlichen Rechtslebens aus; auch die selbstaͤndige Haltung der Jurisprudenz, der man die bestehende Rechtsunsicherheit Schuld gab, sollte gebrochen wer- den; die kluge Berechnung des Zweckmaͤßigen war der leitende Gedanke der Arbeit, die sich gerade da, wo es darauf ankam, etwas Neues zu schaffen, wie in der Gerichtsordnung, am Wenigsten bewaͤhrt hat. Dazu kommt, daß bei der Schwaͤche der damaligen Theorie manche, namentlich deutschrechtliche In- stitute nur unvollkommen behandelt sind, und daß man sich uͤber die Bedeutung der Provinzialrechte und uͤber deren Stel- lung zum Landrechte nicht ganz klar war. Wie hoch man daher auch den Werth dieser Gesetzgebung anschlagen mag: die gruͤndliche Durcharbeitung des Materials, den verstaͤndigen, practischen Sinn, die humane und freisinnige Feststellung wich- tiger Lehren; — wahr bleibt doch, daß die moderne deutsche Rechtsentwicklung darin auch fuͤr Preußen noch nicht ihre le- gislative Erledigung gefunden hat. Aber waͤre es denn nicht das Beste, sofort Hand anzu- legen, und fuͤr ganz Deutschland ein gemeinsames Gesetzbuch abzufassen? Es sind nun bald 30 Jahre verflossen, seitdem Thibaut zu einem solchen Werke aufforderte. Damals waren die oͤffentlichen Angelegenheiten Deutschlands noch nicht auf dem Wiener Congresse geordnet, und es war die Hoffnung auf eine groͤßere politische Einheit des Vaterlandes noch bei vielen lebendig; die Moͤglichkeit, daß sich ein Organ fuͤr eine gemeinsame Gesetzgebung werde herstellen lassen, lag noch vor, und in den zerruͤtteten Rechtszustaͤnden schien fuͤr die im kraͤf- tigen Aufschwung begriffene Nation eine dringende Aufforde- Historische Einleitung . rung zur Begruͤndung eines großartigen Neubaus gegeben. Allein die Ereignisse zeigten bald, daß schon aus allgemeinen politischen Gruͤnden jener Plan nicht werde durchgefuͤhrt wer- den koͤnnen, und so nahm der Streit uͤber dessen Werth und Bedeutung, der auch nur mit besonderer Ruͤcksicht auf das buͤrgerliche Recht gefuͤhrt ward, den Charakter einer wissen- schaftlichen Eroͤrterung an. Was aber damals nicht erreich- bar war, das ist es jetzt noch weniger, und es muͤssen beson- ders guͤnstige Verhaͤltnisse eintreten, wenn es zu einer formel- len Einheit in der deutschen Gesetzgebung kommen soll. Viel- leicht wird auch hierzu der große deutsche Handelsverein in seiner weiteren Entwicklung die Veranlassung geben. Wie die Sachen jetzt stehen, ist zunaͤchst nur zu wuͤnschen, daß die Ge- setzgebung der einzelnen deutschen Staaten sich moͤglichst gleich- foͤrmig und im Sinne des nationalen Fortschritts ausbilde. Dazu wird es aber vor Allem der kraͤftigeren Entfaltung eines gemeinsamen Volkslebens und der Wissenschaft des gemeinen Rechts in ihrer hoͤheren Entwicklung beduͤrfen; das sind die beiden Maͤchte, in denen auch jede spaͤtere, tiefer greifende Re- form des deutschen Rechtswesens ihre besten Stuͤtzen finden wird. Zweites Kapitel. Feststellung des Gegenstandes . Es ist ein großes Verdienst, welches v. Savigny sich nicht bloß um die deutsche Rechtswissenschaft erworben, daß er zu- erst die Entstehung des Rechts in ihrer tieferen geschichtlichen Begruͤndung dargestellt, und, was schon von Anderen mehr oder weniger klar erkannt worden war, zum wissenschaftlichen Bewußtseyn herausgebildet hat. Auch ist der Einfluß seiner Lehre auf die Gegenwart in Theorie und Praxis unverkenn- bar, und nicht leicht wird eine allgemeine Betrachtung uͤber die gegenseitigen Beziehungen zwischen Recht und Volk und Staat und Wissenschaft umhin koͤnnen, sich in ein bestimmtes Verhaͤltniß zu jener auch formell so gelungenen Darlegung zu setzen, sey es nun, daß sie zum Ausgangspunct einer weiteren wissenschaftlichen Entwicklung gemacht wird, oder daß man sich abwehrend und feindselig dagegen verhaͤlt. Auch diese Schrift, wenn gleich ihren eigenen Weg verfolgend, lehnt sich im We- sentlichen an die durch v. Savigny vertretene Grundansicht an; sie ist durch sie hervorgerufen und auf gewisse Weise uͤber- haupt erst moͤglich geworden. Es wird daher angemessen seyn, zuvoͤrderst in kurzen Zuͤgen das Wesen der historischen Rechts- lehre anzugeben, um das Verhaͤltniß, in welcher diese Schrift sich zu ihr befindet, bestimmt festzustellen, und fuͤr die folgende Eroͤrterung die rechte Grundlage zu gewinnen. Den besten Anhalt gewaͤhren dafuͤr natuͤrlich des Meisters eigene Werke Hier kommen besonders in Betracht: Vom Beruf unserer Zeit fuͤr Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg 1814, 2. Aufl. 1828; System des heutigen Roͤmischen Rechts. Band 1. Berlin 1840. ; Feststellung des Gegenstandes . doch ist auch auf Puchta’s Gewohnheitsrecht (2 Baͤnde, Er- langen 1828 und 1837) besondere Ruͤcksicht zu nehmen, weil darin nicht bloß die v. Savigny’schen Ansichten weiter ausge- fuͤhrt, sondern auch zum Theil neu und selbstaͤndig begruͤndet sind, so daß wiederum der erste Band des Systems des heu- tigen roͤmischen Rechts in wesentlichen Puncten darauf beruht. Stahl ist in seiner Rechtsphilosophie auf diese Seite der Rechts- lehre weniger selbstaͤndig eingegangen. Das Recht ist in seiner ersten Entstehung nicht das Pro- duct des Zufalls oder der menschlichen Willkuͤhr, Ueberlegung und Weisheit; weder die Gesetzgebung, noch die philosophische Abstraction hat es geschaffen. Auf der breiten Basis allge- mein menschlicher Verhaͤltnisse entwickelt es sich unmittelbar im Volksleben, wie die Sitte und die Sprache; es ist leben- dig in dem gemeinsamen Bewußtseyn des Volkes, von dessen individueller Beschaffenheit es auch seinen besonderen Charakter erhaͤlt. Die einfachen Zustaͤnde, in denen sich die Voͤlker in ihrer Jugendzeit finden, gestatten eine solche unmittelbare An- schauung der Rechtsinstitute, welche fern von aller bewußten Reflexion, mit einer gewissen Nothwendigkeit das Richtige trifft, und deswegen eben, wie ein Theil des Volksglaubens, gleichmaͤßig die Gesammtheit erfuͤllt. Die Zeit des Volksrechts ist auch die der Volksgerichte. — Aber in der weiteren Ent- wicklung der menschlichen Dinge nehmen die urspruͤnglich so einfachen Verhaͤltnisse allmaͤlig eine krausere Gestalt an; die Rechtsinstitute bekommen eine Geschichte; das Volk in seiner Gesammtheit verliert die sichere und unmittelbare Beherrschung seines Rechts, welches in allen Beziehungen nur von denen, die sich besonders damit beschaͤftigen, richtig erkannt und an- gewandt wird. Denn es scheiden sich auch schon die Staͤnde, Zweites Kapitel . nicht bloß nach der Geburt, sondern auch nach der Beschaͤfti- gung und dem Beruf; eine Theilung der Arbeit tritt ein. Dem Rechte wird freilich noch der innere Zusammenhang mit dem Wesen und Charakter des Volkes bewahrt; aber dieß ge- schieht vorzugsweise nur noch durch die Vermittlung besonde- rer Organe: die gesetzgebende Gewalt und der Juristenstand entwickeln jetzt ihre tief eingreifende Thaͤtigkeit. — „Das Ge- setz ist das Organ des Volksrechtes. Wollte man daran zweifeln, so muͤßte man den Gesetzgeber als außer der Nation stehend denken; er steht aber vielmehr in ihrem Mittelpunct, so daß er ihren Geist, ihre Gesinnungen, ihre Beduͤrfnisse in sich concentrirt, und daß wir ihn als wahren Vertreter des Volksgeistes anzusehen haben.“ (v. Savigny, System. I. S. 39). — Der Einfluß des Gesetzgebers auf das Recht zeigt sich aber in zwiefacher Weise: als ergaͤnzende Nachhuͤlfe fuͤr das positive Recht und und , was noch wichtiger ist, als Un- terstuͤtzung seines allmaͤligen Fortschreitens, indem die vom Volke gewichene oder doch in demselben geschwaͤchte rechtsbil- dende Kraft von dem Gesetzgeber ersetzt wird. Nicht weniger bedeutend ist der Einfluß, den die Thaͤtig- keit des Juristenstandes auf das Recht ausuͤbt. „Es liegt in dem natuͤrlichen Entwicklungsgang der Voͤlker, daß bei fort- schreitender Bildung einzelne Thaͤtigkeiten und Kenntnisse sich absondern, und so den eigenthuͤmlichen Lebensberuf besonderer Staͤnde bilden. So auch wird das Recht, urspruͤnglich Ge- meingut des gesammten Volkes, durch die sich mehr verzwei- genden Verhaͤltnisse des thaͤtigen Lebens ins Einzelne ausge- bildet, daß es durch die im Volke gleichmaͤßig verbreitete Kenntniß nicht mehr beherrscht werden kann. Dann wird sich ein besonderer Stand der Rechtskundigen bilden, welcher, selbst Feststellung des Gegenstandes . Bestandtheil des Volkes, in diesem Kreise des Denkens die Gesammtheit vertritt. Das Recht ist im besondern Bewußt- seyn dieses Standes nur eine Fortsetzung und eigenthuͤmliche Entwicklung des Volksrechts. Es fuͤhrt daher nun ein zwie- faches Leben: seinen Grundzuͤgen nach lebt es fort im gemein- samen Bewußtseyn des Volks, die genauere Ausbildung und Anwendung im Einzelnen ist der besondere Beruf des Juri- stenstandes. Die aͤußern Formen der Thaͤtigkeit dieses Stan- des geben ein Bild von der sehr allmaͤligen Entwicklung des- selben. Zuerst erscheint er bloß als Rath gebend in einzelnen Faͤllen, theils durch Gutachten uͤber die Entscheidung eines Rechtsstreits, theils durch Belehrung uͤber die richtige Abfas- sung feierlicher Rechtsgeschaͤfte. Daneben finden sich dann als erste literarische Versuche gewoͤhnlich Formulare, mechanische Anweisungen zur genauen Besorgung von Rechtsgeschaͤften. Nach und nach wird die Thaͤtigkeit geistiger und bildet sich zur Wissenschaft aus. Nun erscheinen als theoretische For- men Darstellungen des Rechts theils in mannichfaltigen Buͤ- chern, theils in muͤndlicher Lehre: als praktische Formen aber die Urtheilsspruͤche der Gerichte, die sich von den alten Volks- gerichten theils durch die wissenschaftliche Bildung der Mitglie- der, theils durch die Tradition bleibender Collegien unterschei- den. Man kann hiernach bei dem Juristenstande eine zwie- fache Wirksamkeit unterscheiden: eine materielle, indem sich die rechtserzeugende Thaͤtigkeit des Volks großentheils in ihn zu- ruͤckzieht, und von ihm, als dem Repraͤsentanten des Ganzen, fortwaͤhrend geuͤbt wird: und eine formelle, rein wissenschaft- liche, indem von ihm das Recht uͤberhaupt, wie es auch ent- standen seyn moͤge, in wissenschaftlicher Weise zum Bewußt- seyn gebracht und dargestellt wird.“ — — Zweites Kapitel . „Aus der bisherigen Darstellung geht hervor, daß urspruͤng- lich alles positive Recht Volksrecht ist, und daß dieser ur- spruͤnglichen Rechtserzeugung (oft schon in fruͤhen Zeiten) Ge- setzgebung ergaͤnzend und unterstuͤtzend zur Seite tritt. Kommt dann, durch fortschreitende Entwicklung des Volks, Rechtswis- senschaft hinzu, so sind dem Volksrecht in dem Gesetz und der Wissenschaft zwei Organe gegeben, deren jedes zugleich sein ei- genes Leben fuͤr sich fuͤhrt. Nimmt endlich in spaͤteren Zei- ten die rechtsbildende Kraft des Volkes in seiner Totalitaͤt ab, so lebt sie fort in diesen Organen. Dann aber ist auch von dem alten Volksrecht meist wenig mehr in seiner urspruͤngli- chen Gestalt sichtbar, indem dasselbe, seinem groͤßten und wich- tigsten Theile nach, in Gesetzgebung und Wissenschaft verar- beitet seyn wird, und nur noch in dieser unmittelbar erscheint.“ (v. Savigny a. a. O. S. 45 ff.). Auf diese Weise ist also fuͤr die Entstehung des Rechts ein organischer Entwicklungsproceß nachgewiesen, und die An- sicht, daß das Gewohnheitsrecht den Grund seiner Geltung in der langen Uebung, in der fortgesetzten Anwendung gleich- artiger Regeln habe, beseitigt. Die Gewohnheit ist das Kenn- zeichen des ungeschriebenen Rechts, nicht dessen Entstehungs- grund, und im Allgemeinen kann man sagen: das Gewohn- heitsrecht ist Volksrecht. Nur insofern manche ins Einzelne gehende Bestimmungen noch nicht ins volle Bewußtseyn des Volkes uͤbergetreten sind, kann es durch die oͤftere Uebung der- selben erlangt werden, daß dieses geschehe, und daß sie da- durch ein sichereres Daseyn gewinnen. „Außerdem liegt auch in der Natur vieler Bestimmungen eine relative Gleichguͤltig- keit: es kommt bei ihnen nur darauf an, daß irgend eine feste Regel gelte und als geltend bekannt sey, welche es auch sey. Feststellung des Gegenstandes . Dahin gehoͤren die vielen Faͤlle, in welchen die Rechtsregel ir- gend eine Zahl in sich schließt, und wobei innerhalb gewisser Extreme stets ein großer Spielraum der Willkuͤhr uͤbrig bleibt, wie bei den Verjaͤhrungszeiten; eben so die Rechtsregeln, die bloß die aͤußere Form eines Rechtsgeschaͤfts zum Gegenstand haben. In allen Faͤllen dieser Art werden wir, mit unsrem fruͤheren Denken und Wollen, eine Autoritaͤt fuͤr uns selbst in jeder spaͤteren Anwendung, und so kann allerdings die Ge- wohnheit als solche auf die Rechtsbildung Einfluß haben. Es wirkt hier das Gesetz der Continuitaͤt menschlicher Gesinnun- gen, Handlungen und Zustaͤnde: ein Gesetz, welches auch in manchen einzelnen Rechtsinstituten von ausgedehntem Einfluß ist.“ (A. a. O. S. 36). Verweilen wir nun erst einmal bei dieser allgemeinen Darstellung der historischen Rechtslehre, ehe wir uns zu der Betrachtung der besonderen deutschen Zustaͤnde wenden. Ge- wiß hat v. Savigny einen tiefen Blick in das innere Rechts- leben gethan, wie es sich bei edlen Voͤlkern in seinen ersten Anfaͤngen gestaltet; auch liegt in der Art, wie die weitere Ent- wicklung desselben geschildert wird, viel Treffendes und Wah- res. Koͤnnte man auch vielleicht geneigt seyn, den Einfluß, welchen die Gewohnheit auf die Rechtsbildung auszuuͤben pflegt, fuͤr zu gering angeschlagen zu halten, so wird dieser Einwand doch da, wo es sich von der Darlegung eines ganz normalen, ohne besondere aͤußere Stoͤrungen organisch vor sich gehenden Processes handelt, kaum gerechtfertigt erscheinen. Da- gegen laͤßt sich in Beziehung auf einen andern Punct schon hier ein Widerspruch erheben, der in folgender Betrachtung Zweites Kapitel . seine Begruͤndung findet. v. Savigny stellt die bei der Rechts- erzeugung unmittelbar thaͤtige Kraft des Volkes so dar, daß sie Anfangs allein wirksam erscheint, allmaͤlig aber nachlaͤßt und zuletzt fast ganz von der Gesetzgebung und dem Juristen- stande als den beiden Organen des Volksrechts vertreten wird. Nun ist es freilich außer Frage, daß das Volk in vorgeruͤck- ten Zeiten sich die unmittelbare Herrschaft uͤber das Recht nicht mehr in seinem ganzen Umfange erhalten kann, und daß es daher auch bei der Fortbildung desselben einer Huͤlfe be- darf, welche ihm die Gesetzgebung und der Juristenstand ge- waͤhren. Allein daß diese nun an seine Stelle treten, es fast von jeder unmittelbaren Theilnahme an der Rechtsbildung ausschließen sollen, das ist eine Ansicht, welche, so allgemein hingestellt wenigstens, der innern Begruͤndung entbehren moͤchte. Denn es wuͤrde darin der Satz ausgesprochen seyn, daß ein Volk, welches einen gewissen Grad der Cultur erreicht haͤtte, auf ein frisches Leben in urspruͤnglicher Kraft und Freiheit nothwendig verzichten muͤsse, weil, so lange dieses besteht, auch neue Rechtsformen daraus hervorwachsen und zur unmittelba- ren Geltung gelangen werden. Die Gesetzgebung kann eine solche Entwicklung freilich sehr befoͤrdern; sie kann ihr auch hindernd entgegen treten, wenn z. B. in einem bestimmten Staate nur der geschriebenen Satzung die Kraft einer binden- den Rechtsregel zuerkannt wird: allein das sind doch Zufaͤl- ligkeiten, welche das Wesen der Sache nicht veraͤndern. Der Juristenstand aber wird eine jede neue Erscheinung auf dem Gebiete des positiven Rechts anzuerkennen und in den Kreis seiner Rechtskunde aufzunehmen haben. Wenn daher nur die allgemeinen Voraussetzungen, von denen uͤberhaupt die Entste- hung des Volksrechts abhaͤngt, vorhanden sind, so kann es Feststellung des Gegenstandes . sich auch noch in spaͤterer Zeit selbstaͤndig entwickeln, und die Geschichte zeigt, daß dieß bei lebenskraͤftigen, gesunden Voͤl- kern allerdings der Fall gewesen ist. Man darf nur, um dieß zu erkennen, seinen Blick nicht vorzugsweise auf die roͤ- mische Kaiserzeit richten, in der ja fast jede Spur einer schaf- fenden Volkskraft verschwunden war. Diese allgemeine Betrachtung aber fuͤhrt zu einer weite- ren Erwaͤgung der Stellung, welche v. Savigny der Gesetz- gebung und dem Juristenstande einraͤumt, und welche noch et- was genauer zu pruͤfen ist. 1. Die Bedeutung der Gesetzgebung fuͤr die Rechtsbil- dung ist so eben im Gegensatz zu v. Savigny’s Lehre be- schraͤnkt worden; aber von einer andern Seite betrachtet, scheint sie von ihm nicht hoch genug angeschlagen zu seyn. Sie soll das Volksrecht nachhelfend ergaͤnzen und es spaͤter in Verbin- dung mit dem Juristenstande fortfuͤhren. Allein jene beschraͤnkte Aufgabe, welche ihr fuͤr die fruͤhere Periode angewiesen ist, entspricht nicht ganz dem maͤchtigen Einfluß, den zu allen Zei- ten und bei allen Voͤlkern die schaffende und ordnende Kraft, die bewußte That des Gesetzgebers ausgeuͤbt hat. Das Pri- vatrecht freilich pflegt den Weg der stillen, naiven Entwicklung zu gehen, und bedarf nur unter besondern Verhaͤltnissen einer umfassenden legislativen Feststellung; aber in dem Privatrecht ist nicht das ganze Recht, nicht einmal der wichtigste Theil desselben enthalten. Das oͤffentliche Recht in seinem weitesten Umfange pflegt sich nicht auf eine so friedliche, leichte Weise zu gestalten. Allerdings ist auch hier die im Volke ruhende Kraft und Begabung, gewissermaaßen seine Aussteuer fuͤr den ihm bestimmten Lebensweg, das eigentlich Maaßgebende bei jeder Gestaltung, und der Nomothet wuͤrde fuͤr die Dauer Beseler , Volksrecht. 5 Zweites Kapitel . wenig vermoͤgen, welcher nicht im Geiste seines Volkes und gerade des in der bestimmten Zeit vorhandenen Volkes die Tafeln des Gesetzes ausfuͤllte. Aber es giebt hohe, gewaltige Naturen, in deren Anschauung sich das Allen Gemeinsame zum schoͤneren Bilde verklaͤrt, und welche die schoͤpferische Kraft haben, es concret hinzustellen, damit es den Uebrigen zum Muster diene und ihren Sinn erhebe. Ein Solcher erfaßt als Staatsmann, als Gesetzgeber seine Gegenwart ganz, aber er blickt auch prophetisch in die Zukunft, und zeigt dem Volke die Bahnen an, welche zu durchlaufen es bestimmt ist. Das Alterthum, uͤberhaupt concreter und plastischer, war reicher an solchen Erscheinungen, als die germanische Welt; aber auch dieser haben sie nicht gefehlt: ich nenne nur Karl den Großen und Luther. — Es ist jedoch nicht nothwendig, daß sich die legislative Kraft in einer bestimmten Person, die ja auch ihre Gehuͤlfen haben muß, concentrirt darstellt; sie kann sich auch als eine gemeinsame Thaͤtigkeit Mehrer oder Vieler geltend machen, und als der formell bestimmte Wille der Gesammt- heit in einem Volksbeschluß, einer autonomischen Beliebung sich aussprechen, indem es von der Verfassung des einzelnen Staatswesens abhaͤngt, wer gerade die Traͤger der gesetzgeben- den Gewalt sind. — Wir sehen also, daß die Gesetzgebung schon fruͤhe neben der unbewußt wirkenden Volkskraft als eine das Recht erzeugende Macht auftritt, und zwar nicht immer als eine vereinzelte Erscheinung, sondern zuweilen auch mit ei- ner consequent fortgesetzten, dauernden Wirksamkeit. So ha- ben, um ein recht bezeichnendes Beispiel zu waͤhlen, die Is- laͤnder mit einer solchen bewußten Thaͤtigkeit ihre eigenthuͤm- liche Rechtsverfassung gebildet, welche uns durch Dahlmann’s meisterhafte Schilderung erst recht zur Anschauung gebracht, Feststellung des Gegenstandes . den Beweis liefert, wie schoͤpferisch auch das alte Germanen- thum, wenn die Verhaͤltnisse es verlangten, sein Staatswesen zu ordnen wußte. Ist aber fuͤr die aͤltesten, im ersten Naturleben der Voͤl- ker noch so kraͤftigen Zeiten die selbstaͤndige Bedeutung der Gesetzgebung schon so hoch anzuschlagen, so zeigt sie sich doch in einer spaͤteren Periode der Entwicklung nicht weniger groß. Allerdings wird es dann nicht so sehr darauf ankommen, die Idee des Staates, welche schon in festen Institutionen ausge- praͤgt ist, zur Verwirklichung zu bringen; allein dafuͤr wird sich die gesetzgebende Gewalt in einer mehr regelmaͤßigen und gleichartigen Wirksamkeit bewegen. Nur dann, wenn ein in seiner organischen Entwicklung gestoͤrtes und gehemmtes Volks- leben nach den ihm gemaͤßen Formen ringt und sie auf dem Wege der allmaͤligen Entwicklung nicht gewinnen kann, wird auch ein großer constituirender Act der Gesetzgebung noͤthig seyn, um die verwilderten Zustaͤnde unter eine neue Ordnung zu brin- gen, und die Herrschaft von einfachen, dem Beduͤrfniß entspre- chenden Satzungen zu begruͤnden. Eine solche Reform, welche als Revolution auftritt, wenn die bestehende Verfassung nicht elastisch genug ist, die neue Bildung in sich aufzunehmen, ist am Ende des Mittelalters in den deutschen Reichsangelegen- heiten ohne Erfolg versucht, waͤhrend sie fuͤr die Kirche we- nigstens theilweise durchgefuͤhrt worden ist. 2. Eine weitere Erwaͤgung verdient noch die Stellung, welche nach v. Savigny’s Ansicht der Juristenstand einnimmt. Betrachtet man naͤmlich unbefangen die Rechtszustaͤnde in den verschiedenen Perioden der Staatsentwicklung, so werden sich wohl kaum so schroffe Gegensaͤtze als naturgemaͤß herausstel- len, wie sie zu bestehen scheinen, wenn man sich das Recht in 5* Zweites Kapitel . der einen Zeit durchaus in dem gemeinsamen Bewußtseyn des Volkes denkt, und dann nach einigen Uebergaͤngen von der unmittelbaren Anschauung des Volkes losgetrennt in der Hand eines besonderen Juristenstandes. Zu jeder Zeit und auch in den ersten Anfaͤngen eines geordneten Volkslebens wird sich in der Rechtskunde der Einfluß geltend machen, den Erfah- rung, Einsicht und ein gerechter Sinn nothwendig verschaf- fen, und bei der Gesetzgebung wie im Gericht wird sich nach dem Grade, in welchem der Einzelne diese Vorzuͤge besitzt, seine Stellung verschieden ausnehmen; ja es ist ganz natuͤr- lich, daß man gerade solche Maͤnner aus dem Volke, welche sich besonders zur Handhabung des Rechts eignen, hervorzieht, um ihre Kraͤfte im Interesse der Gesammtheit zu gebrauchen. Aber deswegen bilden sie noch keinen eigenen Stand, wenn man diesen Begriff auch im weiteren Sinne nimmt, da sie sich nicht gerade ausschließlich oder nur vorzugsweise mit der Rechts- pflege beschaͤftigen, oder, wenn dieß der Fall ist, es doch nur in Folge einer allgemeineren, von ihnen besonders ernsthaft genommenen Buͤrgerpflicht thun. So hat sich in Athen nie ein eigentlicher Juristenstand entwickelt Die Zweifel, welche ich uͤber diesen Punct etwa noch hegte, hat eine Mittheilung meines gelehrten Collegen Schoͤmann gehoben. ; ebenso wenig war das in Rom bis zu den letzten Zeiten der Republik, also waͤh- rend der eigentlichen Bluͤthe derselben, der Fall, und auch die deutschen Schoͤffen des 14. und 15. Jahrhunderts, welche doch, namentlich in den groͤßeren Handelsstaͤdten, so umfas- sende und verwickelte Rechtsverhaͤltnisse, wie sie nur gegenwaͤr- tig vorkommen, zu beurtheilen hatten, zeigen sich nicht in der erwaͤhnten Abgeschlossenheit. In allen diesen Faͤllen finden Feststellung des Gegenstandes . wir aber ein lebendiges oͤffentliches Leben, eine unmittelbare Theilnahme des Volks an den Angelegenheiten des Staats oder der Gemeinde, so daß die Beziehung dieser Theilnahme auf die Gesetzgebung und die Rechtspflege nur die Folge all- gemeiner Zustaͤnde und Verhaͤltnisse ist, und das Volksrecht noch in fast ungeschwaͤchter Herrschaft fortbesteht. Dagegen ist es gar nicht nothwendig, daß die literarische Thaͤtigkeit der Rechtskundigen sich in solchen Zeiten auf untergeordnete, fast nur das Formelle der Rechtsgeschaͤfte betreffende Arbeiten be- schraͤnkt. So viel wir wissen ist der Verfasser des Sachsenspiegels in seiner ganzen Fuͤlle und Tuͤchtigkeit als Schriftsteller auf- getreten, ohne daß er bestimmte Vorgaͤnger vor Augen gehabt haͤtte; denn die Formelsammlungen aus den Zeiten der fraͤn- kischen Monarchie und die auf dem Gebiete des geistlichen Rechts entstandenen Werke, die auch stets einen eigenthuͤmli- chen Charakter hatten, kommen hier nicht in Betracht. — Wir duͤrfen daher annehmen, daß der Einfluß der Rechtskun- digen von v. Savigny theils zu hoch, theils zu niedrig ist an- geschlagen worden. Die unbedingte Herrschaft eines besonde- ren Juristenstandes uͤber das gesammte Rechtswesen wird aber unter keinen Umstaͤnden als etwas Heilsames und dem hoͤhe- ren Staatsprincip Entsprechendes aufgefaßt werden duͤrfen. In Rom mag unter den gegebenen Verhaͤltnissen ein solcher Zustand, insofern er sich mit der Alleinherrschaft der Caͤsaren vertrug, unvermeidlich gewesen seyn und beziehungsweise wohl- thaͤtig eingewirkt haben; aber die roͤmische Kaiserzeit kann nicht als Vorbild fuͤr die Zustaͤnde anderer, sey es noch unentwickel- ter oder hochgebildeter Nationen benutzt werden. Ein freies Volk darf schon aus politischer Klugheit und im Interesse der Zweites Kapitel . Freiheit die Herrschaft uͤber das Recht nicht ganz aus seinen Haͤnden geben; und wenn es zur Erlangung einer groͤßeren Rechtssicherheit und aus Ruͤcksicht auf die Foͤrderung und Si- cherung der Geschaͤfte einen eigenen Juristenstand aufkommen laͤßt, so wird es doch darnach streben, ihn in seiner Thaͤtigkeit durch feste Institutionen zu beschraͤnken und uͤberhaupt arg- woͤhnisch uͤberwachen. So ist es in England. — Daher er- klaͤrt es sich auch, daß in Deutschland, seitdem es wieder zu einem regeren politischen Leben erwacht ist, die fast ausschließ- liche Herrschaft der Juristen uͤber das Recht schwer gefuͤhlt wird, und daß eine Reaction dagegen im Volke sich zu regen beginnt. v. Savigny (a. a. O. S. 48) sucht nun freilich durch folgende Bemerkung einer solchen Mißstimmung jede Begruͤndung abzusprechen: „Es erscheint also hierin ein mannichfaltiger Einfluß des Juristenstandes auf das positive Recht. Gegen die Behauptung dieses Einflusses ist zuweilen der Vorwurf einer unbefugten Anmaaßung erhoben worden. Dieser Vorwurf koͤnnte nur dann gegruͤndet seyn, wenn die Juristen einen geschlossenen Stand bilden wollten. Da aber Jeder Jurist werden kann, der die noͤthige Kraft darauf wendet, so liegt in jener Behauptung nur der einfache Satz, daß, Wer das Recht zu seinem Lebens- beruf macht, durch seine groͤßere Sachkenntniß mehr als Andere auf das Recht Einfluß haben wird.“ Allein wenn man den Vorwurf nur anders formulirt, und nicht gegen die Juristen, welche die Herrschaft ausuͤben, sondern gegen die Rechtsverfassung selbst, in welcher sie noth- wendig ist, richtet, so wird jene Argumentation ihn nicht en. Feststellung des Gegenstandes . kraͤften. Denn das ist eben das Uebel, daß wer nur irgend eine genuͤgende Kunde des Rechts erlangen und seinen Ein- fluß darauf geltend machen will, es eben zu seinem Lebensbe- ruf machen muß; daß Einsicht, Erfahrung, Weisheit, Gerech- tigkeit nichts vermoͤgen, wenn nicht ein gelehrtes Studium hinzukommt, welches hoͤchst selten mit einem andern Lebensbe- ruf verbunden werden kann. Die Juristen trifft dabei nur insofern ein Tadel, als sie diesen ungluͤckseligen Zustand haben herbeifuͤhren helfen, und sich etwa seiner Reform aus Be- schraͤnktheit oder Egoismus widersetzen. Hier sind wir nun aber bei einem Puncte angelangt, welcher sich wieder unmittelbar an die oben begonnene Dar- stellung der v. Savigny’schen Rechtslehre anschließt, indem es zur Frage gestellt wird, wie es sich denn mit ihrer Anwen- dung auf Deutschland, auf unser geltendes Recht verhaͤlt? Be- denkt man nun, wie dasselbe beschaffen, und wie namentlich das nationale Volksrecht durch die Aufnahme des roͤmischen Rechts eingeengt, ja fast ganz erdruͤckt worden ist, so duͤrfte wohl die Antwort erwartet werden, daß hier seit jenem Ereigniß keine organische Fortbildung vor sich gegangen, sondern daß der innere Entwicklungsproceß durch aͤußere Umstaͤnde gehemmt und gebrochen worden sey. Aber so wird von jener Seite die Sache nicht dargestellt; es wird vielmehr die Aufnahme des roͤmischen Rechts als ein innerlich begruͤndetes, fast nothwen- dig gewordenes Factum den bestimmenden Momenten der deut- schen Rechtsgeschichte eingereiht, und nun, ohne den unge- heuren dadurch veranlaßten Gegensatz hervorzuheben, die wei- tere Construction des deutschen Rechtes nach den allgemeinen, fruͤher angegebenen Grundzuͤgen der Rechtserzeugung unbefan- gen fortgefuͤhrt. Zweites Kapitel . Puchta sagt, indem er von der Ungunst handelt, welche die Romanisten dem einheimischen Recht erwiesen: „Und in der That, um das Factum auch von dieser Seite zu betrachten: wer, der unserer Geschichte einen freien Blick zuwendet, kann ihnen daraus einen Vorwurf ma- chen? Weder das Verfahren jener deutschen Juristen selbst, die das deutsche Recht gegen das roͤmische in den Hinter- grund stellten, noch seine Folgen sind von der Beschaffen- heit, daß sie die Schmaͤhungen verdienen, mit welchen un- sere Germanisten (gehoͤrte Ulrich Hutten auch dazu?) sie uͤberschwemmt haben. Daß sie dem roͤmischen Recht sich zuwandten, kann ihnen nur zum Lobe gereichen. Denn wer damals wissenschaftlichen Sinn und das Beduͤrfniß geistiger Bildung in diesem Zweige empfand, konnte kei- nen andern Weg einschlagen, als diesen, welcher die wis- senschaftlichen Bemuͤhungen zu einem Gegenstand fuͤhrte, der selbst ein wissenschaftlicher und dieses in einem sehr hohen Grade war. Es war aber auch kein Grund vor- handen, welcher einen redlichen, ja patriotischen Mann da- von zuruͤck zu halten vermocht haͤtte. Nicht etwa die Ei- genschaft des roͤmischen Rechts als eines fremden, denn dieß war es nicht fuͤr jene Zeit (?!); wir verdanken diese Ansicht von demselben erst dem gutgemeinten, aber sehr uͤbel angebrachten Eifer der Germanisten. Nicht ferner seine Unangemessenheit fuͤr Deutschland, denn auch diese ist nicht vorhanden; das roͤmische Recht hatte im ganzen durch die klassischen Juristen und durch die Modificationen, welche es unter der kaiserlichen Gesetzgebung erlitt, voll- kommen die Eigenschaft erhalten, wodurch es ein Weltrecht werden, und worin es sich mit den verschiedensten Natio- Feststellung des Gegenstandes . naleigenthuͤmlichkeiten vertragen konnte, wie es denn diese Probe wirklich schon in dem roͤmischen, aus den mannigfaltigsten Volkscharakteren zusammengesetzten Reich bestanden hatte G. F. Puchta, das Gewohnheitsrecht. Th. 1. S. 202. .“ v. Savigny aͤußert sich uͤber denselben Gegenstand folgender Maaßen: „Der groͤßte und merkwuͤrdigste Act eines allgemeinen Gewohnheitsrechts in diesem Anfang der neuen Zeit war eben die Reception des Roͤmischen Rechts selbst. — — Diese Reception aber hatte eine verschiedene Bedeutung in verschiedenen Nationen des neueren Europa, so daß die daraus hervorgehende Neuerung des Rechtszustandes in sehr verschiedenen Graden fuͤhlbar werden mußte. In Ita- lien war das Justinianische Recht niemals verschwunden: neu war also hier nur theils dessen Wiederbelebung, theils die eigenthuͤmliche und bestimmte Begraͤnzung, in welcher es nunmehr anerkannt wurde. In Frankreich war zwar auch das Roͤmische Recht nicht verschwunden, aber die be- sondere Gestalt desselben in der Justinianischen Gesetzgebung war hier schon voͤllig neu. Weit fuͤhlbarer aber mußte jene Reception in Deutschland werden, wo das Roͤmische Recht selbst ein ganz neues, bisher unbekanntes Rechtsele- ment war: freilich den neu entstandenen Lebensverhaͤltnis- sen angemessen, da es nur dadurch Eingang finden konnte. Gerade hier nun ging ein langer und lebhafter Widerstreit der entschiedenen Reception vorher, und dadurch wurde diese Einwirkung des Gewohnheitsrechts sowohl vorbereitet als constatirt C. F. von Savigny, System des heutigen roͤmischen Rechts. Band 1 S. 78. 79. .“ Zweites Kapitel . Von Puchta’s praͤdestinirtem Weltrecht braucht hier nun nicht weitlaͤuftiger gehandelt zu werden. Nichts widerstreitet der Grundansicht der historischen Rechtslehre so entschieden, als die Annahme, daß es ein fuͤr alle Zeiten und Voͤlker pas- sendes sogenanntes Weltrecht geben koͤnne; denn das heißt gerade die Bedeutung der Volksindividualitaͤt, welche doch das bestimmende Moment der Rechtsentwicklung seyn soll, vernei- nen. Es ist dieß die alte, gerade von v. Savigny so erfolg- reich bestrittene, naturrechtliche Lehre von dem einen , noth- wendigen Vernunftrecht; nur daß Puchta an die Stelle der Vernunft die roͤmische Geschichte setzt. Einem Zasius, der im ersten Enthusiasmus eines noch jungen Studiums und vom Geiste des Alterthums trunken, nur im roͤmischen Recht die ratio findet, mag eine solche Exaltation verziehen werden; aber jetzt sind wir doch, im gewohnten Besitz der Bildung, nuͤch- tern genug geworden, um so etwas nicht mehr zu dulden. Eine solche verspaͤtete Reaction gegen die deutschrechtliche Richtung in unserer Jurisprudenz wird sich, selbst unter den Romani- sten, nicht viele Anhaͤnger gewinnen. Lassen wir also dieses. Aber auch was v. Savigny anfuͤhrt: das roͤmische Recht sey den neu entstandenen Lebensverhaͤltnissen angemessen gewesen, und habe nur dadurch Eingang bei den Deutschen finden koͤn- nen, — giebt der Reception desselben noch keine innere Be- gruͤndung. Zuerst fragt sich, was denn unter jenen neu entstandenen Lebensverhaͤltnissen zu verstehen sey? Daß v. Savigny damit nicht hat sagen wollen, am Ende des Mittelalters seyen die Lebensverhaͤltnisse ganz und gar anders geworden, und haͤtten nicht mehr nach dem fruͤher geltenden Rechte beurtheilt wer- den koͤnnen, ist doch wohl kaum anzunehmen; denn ich wuͤßte Feststellung des Gegenstandes . in der That auch nicht das Geringste fuͤr diese so allgemein ge- faßte Behauptung anzufuͤhren. Es wird also wohl nur an ein- zelne Lebensverhaͤltnisse zu denken seyn, welche sich, als Deutsch- land aus dem Mittelalter in die moderne Zeit uͤbertrat, neu entwickelt haben. Doch moͤchten diese gerade in der Sphaͤre des Privatrechts, fuͤr welches die Herrschaft des roͤmischen Rechts ja vorzugsweise begruͤndet worden ist, am Spaͤrlichsten anzutreffen seyn, wenigstens insofern es das Recht der Fa- milie und des Grundbesitzes betrifft. Am Ersten noch waͤre wohl fuͤr das Recht der Forderungen eine solche Umaͤnderung anzunehmen, obgleich sie durchaus nicht allgemein eintrat, und jedenfalls sehr langsam vor sich ging; denn noch bis in das 17. Jahrhundert hinein behielten z. B. der Rentenkauf und die nutzbare Pfandsetzung ein entschiedenes Uebergewicht uͤber das zinsbare Darlehn. Wenn sich aber auch wirklich einzelne neue Lebensverhaͤltnisse zeigten, welche den Satzungen des aͤl- teren deutschen Rechts entwachsen waren, so duͤrfte man doch wohl, vom Standpuncte der historischen Rechtslehre aus, zu der Annahme berechtigt seyn, daß sich ihnen auch gleichzeitig eine entsprechende Rechtsbildung in selbstaͤndiger Entwicklung angeschlossen habe. Und daß so etwas wirklich in Deutsch- land vorgegangen ist, zeigen z. B. die allmaͤligen Veraͤnde- rungen, welche in dem Guͤterrecht der Ehegatten eintraten; desgleichen die große Ausbildung, welche das deutsche Obliga- tionenrecht, namentlich insofern es sich auf das Handelsrecht bezog, erfuhr, woruͤber die von Michelsen herausgegebenen Ur- theile des Luͤbecker Oberhofs so interessante Belege liefern. — Aber gesetzt auch, fuͤr die neuen Lebensverhaͤltnisse waͤre das roͤmische Recht die passende Quelle der Entscheidung gewesen, so ist es ja fuͤr das Privatrecht und einen großen Theil des Zweites Kapitel . oͤffentlichen Rechts ganz im Allgemeinen recipirt, und auch auf die althergebrachten Rechtsverhaͤltnisse angewandt worden! Darin laͤßt sich doch offenbar nur etwas Willkuͤhrliches, Gewaltthaͤti- ges erkennen, zumal wenn man bedenkt, daß der Act der Re- ception unter dem lebhaftesten Widerstande von Seiten des Volkes gegen die Romanisten und ihre Lehre vor sich ging. Wenn nun v. Savigny dennoch den Grund der Reception im Gewohnheitsrechte sucht, und dieses gerade dadurch, daß jener Widerstand besiegt worden, constatirt findet, so ist dagegen al- lerdings, insofern es sich von dem aͤußeren Factum handelt, nichts einzuwenden; aber seine innere Begruͤndung hat dieses dadurch noch nicht erhalten. Das scheint nun freilich mit dem, was fruͤher uͤber die Bedeutung des Gewohnheitsrechts gesagt ist, in Widerspruch zu stehen; denn es ist ja angenommen worden, daß es, abgesehen von einzelnen Faͤllen, die hier nicht in Betracht kommen, durchaus mit dem Volksrecht zusammen faͤllt, und dadurch auch in jeder bestimmten Erscheinung ge- rechtfertigt ist, so daß die Gewohnheit nicht als der Grund, sondern nur als das Kennzeichen seiner Geltung erscheint. Aber gerade hier, wo es sich um den Begriff des Ge- wohnheitsrechts handelt, ist ein Punct, bei welchem diese Schrift wieder wesentlich von der fruͤheren historischen Rechtslehre ab- weicht, ja von dem sie gewissermaaßen ihren eigentlichen Aus- gang genommen hat. Dabei ist naͤmlich Folgendes in Be- tracht zu nehmen. Wenn ich fruͤher der so eben gedachten Auffassung des Gewohnheitsrechts beistimmte, so geschah es unter der aus- druͤcklichen Beschraͤnkung, daß es sich dabei von der Darle- gung einer ganz normalen, ohne besondere aͤußere Stoͤrung organisch sich entwickelnden Rechtsbildung handle. Eine solche Feststellung des Gegenstandes . kann man nun wohl als das Ideal hinstellen, in welchem die einzelnen Erscheinungen der Geschichte ihr Verstaͤndniß und ihre Wuͤrdigung finden; aber wie die menschlichen Dinge nun einmal nicht vollkommen sind, so wird auch die Rechtserzeu- gung in einem bestimmten Volke nicht immer in einer ideellen Weise vor sich gehen. Es sind so viele aͤußere Einfluͤsse moͤg- lich, welche unter den gegebenen Umstaͤnden ihre Herrschaft geltend machen, und auf die Gestaltung des positiven Rechts entschieden einwirken, daß es wenigstens zufaͤllig ist, ob und in wieweit demselben der Charakter eines Volkrechts bewahrt bleibt. Ein solcher aͤußerer Einfluß kann nun sofort mit ei- ner bindenden Kraft auftreten, was dann der Fall ist, wenn von der gesetzgebenden Gewalt im Staate schlechte Gesetze er- lassen werden; er kann aber auch, an und fuͤr sich nicht ein- mal formell berechtigt, durch die Dauer der Einwirkung auf den Rechtszustand („nach dem Gesetze der Continuitaͤt“) eine solche Macht erlangen, daß sich daraus am Ende wahre Rechts- normen entwickeln, die jeder fuͤr verbindlich haͤlt und halten muß, und die also einen Theil des positiven Rechts ausma- chen. Umstaͤnde verschiedener Art werden freilich zusammen- treffen muͤssen, um eine solche Rechtserzeugung moͤglich zu machen; der letzte Grund der formellen Geltung ist dann aber die Gewohnheit, welche also nicht mehr, wie bei dem Volks- rechte, ein bloßes Kennzeichen des Rechts ist, sondern dieses selbst produciren hilft und zwar oft im Gegensatz zu dem Geiste des Volks und der Vernunft der Dinge. Das hat auch schon der Verfasser des Sachsenspiegels lebhaft gefuͤhlt, und sich in seiner schlichten, einfachen Betrachtungsweise daruͤber ausgesprochen. Indem er naͤmlich von der Unfreiheit handeln will, (Saͤchs. Landr. III, 42.) hebt er an: Zweites Kapitel . „Got hevet den man na ime selve gebeldet, und hevet ine mit siner martern geledeget, den enen also den an- deren, ime is die arme also besvas als die rieke.“ Aber wie kommt es doch, daß so viele Menschen unfrei sind? „An minen sinnen ne kan ik is nicht upgenemen, na der warheit, dat jeman des anderen sole sin; ok ne hebbe wie’s nen orkuͤnde.“ Die Schriftgelehrten wissen freilich Gruͤnde genug beizubrin- gen, um die Unfreiheit aus der Bibel zu rechtfertigen; aber sie uͤberzeugen den frommen Spiegler nicht: „Na rechter warheit so hevet egenscap begin von ge- dvange unde von vengnisse unde von unrechter walt, die man von aldere in unrechte wonheit getogen hevet, unde nu vore recht hebben wel .“ Wir muͤssen also neben dem Volksrecht ein Gewohnheits- recht annehmen, welches nicht allein gleichguͤltig neben jenem hergehen, sondern demselben auch feindlich entgegentreten, ja es verderben kann, wie auch die schlechte Gesetzgebung es ver- mag. Indem v. Savigny diese Entartung der Rechtserzeu- gung nicht anerkennt, sondern stets einen naturgemaͤßen Ent- wicklungsproceß vor sich gehen laͤßt, sieht er sich genoͤthigt, den heutigen deutschen Rechtszustand nach den von ihm fest- gehaltenen Principien kuͤnstlich zu construiren, — ein Versuch, der schon deswegen mißlingen mußte, weil die Reception des roͤmischen Rechts in ihrem geschichtlichen Verlaufe sich nur als ein Ausfluß des Gewohnheitsrechts im Gegensatz zum Volks- recht erklaͤren laͤßt. Denn selbst wenn man annehmen will, Feststellung des Gegenstandes . wie v. Savigny es thut, daß das letztere in seiner spaͤteren Erscheinung vorzugsweise als Juristenrecht auftritt, so kann doch auch dieses, insoweit es das recipirte roͤmische Recht zu seinem Inhalte hat, nicht als eine Fortsetzung des Volksrechts erscheinen. Werfen wir nun einen Blick auf die vorhergehende Er- oͤrterung zuruͤck, und fassen wir das Ergebniß derselben in kur- zen Saͤtzen zusammen, so lassen sich deren folgende aufstellen, welche als die Grundlage dieser Schrift anzusehen sind: I. Das Recht ist in seiner ersten Entstehung Volksrecht, wenn auch durch den Einfluß der Gesetzgebung we- sentlich bedingt. II. Das Volksrecht kann auch in den Zeiten einer vor- geruͤckten Cultur noch bestehen, und vom Volke un- mittelbar erzeugt werden. III. Dem Volksrecht steht das Gewohnheitsrecht gegen- uͤber, bald in gleichguͤltiger, bald in feindlicher Haltung. IV. Das Juristenrecht ist nicht nothwendig eine Fortfuͤh- rung des Volksrechts, es kann auch bloßes Gewohn- heitsrecht seyn. Diese Saͤtze, hier nur kurz hervorgehoben, werden im wei- teren Verlaufe der Schrift ihre naͤhere Begruͤndung und Ent- wicklung erhalten. Die Aufgabe geht zunaͤchst dahin, das noch jetzt im deutschen Rechtsleben geltende Volksrecht zum wissen- schaftlichen Verstaͤndniß zu bringen, und das Wesen und den Werth des deutschen Juristenrechts zu pruͤfen, — Beides aber vom Standpuncte des gemeinen Rechts aus, welches einer sol- chen Untersuchung vor Allem zu beduͤrfen scheint. Bevor nun Zweites Kapitel . zur Erwaͤgung des Einzelnen uͤbergegangen wird, ist noch eine genauere Bestimmung der Begriffe Volksrecht und Juri- stenrecht zu geben, und (im folgenden Kapitel) die Bedeutung des gemeinen Rechts naͤher festzustellen. I. Das Volksrecht . Der fruͤheren Theorie war der Begriff des Volksrechts fremd; sie ließ ihn ganz in den des Gewohnheitsrechts aufge- hen. Erst v. Savigny hat das Volksrecht in seiner selbstaͤn- digen Bedeutung gewuͤrdigt, und Puchta in einer weiteren Ent- wicklung seiner Ideen und im Gegensatz zur aͤlteren Lehre das Gewohnheitsrecht als gleichbedeutend mit dem Volksrecht dar- gestellt, worin ihm denn auch wieder v. Savigny, wenn auch mit einigen Beschraͤnkungen gefolgt ist. Allein beide Begriffe, welche nur das mit einander gemein haben, daß sie dem un- geschriebenen Rechte angehoͤren, sind bestimmt auseinander zu halten. Zwar kann zwischen dem Volksrecht und Gewohn- heitsrecht allerdings eine gewisse Wechselwirkung bestehen. Das Erstere wird immer einer, wenn auch oft nur kurzen Zeit be- duͤrfen, um sich auf dem Grunde der Sitte und der Lebens- verhaͤltnisse zum eigentlichen Rechte zu condensiren; auch kann es durch die lange Dauer der Anwendung mehr befestigt, und uͤberhaupt zur bessern Erkenntniß und zum bestimmteren Be- wußtseyn gebracht werden. Dagegen ist es auf der andern Seite moͤglich, daß die lange Uebung eines urspruͤnglich zu- faͤlligen Rechtssatzes denselben so sehr mit der Sitte und Rechts- anschauung des Volkes verwebt, daß er endlich selbst zum Volksrechte wird, und sich als einen Theil desselben darstellt. Auf diese Weise sind einzelne Institute des roͤmischen Rechts, z. B. die letztwilligen Verfuͤgungen, in das Bewußtseyn der Feststellung des Gegenstandes . Nation uͤbergegangen, zum wahren deutschen Volksrechte ge- worden. Auch besteht hinsichtlich der verbindlichen Kraft zwi- schen beiden kein Unterschied; sie wirken, wenn sie einmal zur Existenz gekommen sind, mit demselben aͤußern Erfolge, da sie beide dem positiven Rechte angehoͤren. — Nichts desto weni- niger ist es doch von Wichtigkeit, sie gehoͤrig von einander zu unterscheiden. Denn das Gewohnheitsrecht wird sein Daseyn doch vorzugsweise eben in der Gewohnheit bethaͤtigen, und diese wird also unter den Erkenntnißquellen desselben nicht ent- behrt werden koͤnnen; beim Volksrecht dagegen verhaͤlt es sich hiermit anders. Aber auch in Beziehung auf den innern Werth besteht ein wesentlicher Unterschied. Zwar kann eine althergebrachte Rechtsnorm, abgesehen von dem Grund ihrer Entstehung, eine gewisse Gunst der Beurtheilung fuͤr sich in Anspruch nehmen, indem der Umstand, daß man sich einmal an sie gewoͤhnt hat, mit dem Grade ihrer Zweckmaͤßigkeit ab- gewogen wird; es kann auch das, was einmal ein wahres, auf der Nationalsitte beruhendes Volksrecht gewesen ist, im Laufe der Zeiten zu einem laͤstigen, unsittlichen Institut herab- sinken, und sich bloß noch durch die Kraft der Gewohnheit in Geltung erhalten: aber es leuchtet doch ein, wie viel be- deutender und achtungswerther an und fuͤr sich dasjenige seyn muß, was von Haus aus auf der breiten, natuͤrlichen Basis des Volkslebens erwachsen ist, als dasjenige, was zunaͤchst nur aͤußeren, zufaͤlligen Umstaͤnden seine Existenz verdankt. Das Volksrecht ist nun aber nicht nothwendig ein dem bestimmten Volke ganz eigenthuͤmliches Recht. Man kann es allerdings in dieser engeren Bedeutung fassen. Allein so wie eine Nation in ihrer Individualitaͤt ein Bild der Menschheit im Kleinen darstellt, und obgleich an sich ein Ganzes, doch Beseler , Volksrecht. 6 Zweites Kapitel . auch wiederum nur ein Theil ist, so kann man auch das Recht, welches der gesammten Menschheit oder doch mehren gleichzei- tig oder doch unter gleichen Bedingungen lebenden Voͤlkern gemeinschaftlich ist, in der besonderen Faͤrbung und mit den Eigenthuͤmlichkeiten, welche es bei dem einzelnen Volke an- nimmt, zu dessen Volksrecht zaͤhlen. Je naͤher nun die Voͤl- ker durch Zeit, Bildung, Religion, Verfassung, wechselseitigen Verkehr u. s. w. einander geruͤckt sind, desto mehr wird sich die Verschiedenheit der Rechte verwischen, und eine gewisse Gleichmaͤßigkeit an deren Stelle treten, welche zu Vergleichun- gen auffordert, und eine reiche Quelle der Erkenntniß auch fuͤr das einzelne Recht werden kann. Aber man huͤte sich auch hier vor Uebertreibungen. So lange die Voͤlker uͤberhaupt noch eine bestimmte Nationalitaͤt bewahren, wird diese sich un- ter allen Umstaͤnden auch auf die Rechtsbildung geltend ma- chen, und einem verbreiteten Rechtsinstitute, welches sich unter aͤhnlichen Verhaͤltnissen bei verschiedenen Voͤlkern ausgebildet hat, wird stets noch etwas Eigenthuͤmliches, eine besondere, nationale Faͤrbung anhaͤngen, deren Vernachlaͤssigung die schlimm- sten Folgen herbeifuͤhren muͤßte. Darum ist es so wichtig, daß man jedes einzelne Recht und auch das fremde, wenn man sich damit beschaͤftigt, nicht bloß fragmentarisch, sondern in seiner vollen Totalitaͤt auffasse und erkenne, — eine Vor- sicht, welche die comparative Jurisprudenz der neueren Zeit so oft aus den Augen setzt. Es entsteht nun aber die weitere Frage, wer denn ei- gentlich das bei der Bildung des Volksrechts thaͤtige Subject ist? Wir antworten: das Volk , und zwar als das Natur- ganze, welches die Grundlage des Staates ausmacht, und in seiner individuellen Gestaltung als lebendiger Organismus ein Feststellung des Gegenstandes . selbstaͤndiges Daseyn fuͤhrt Vgl. v. Savigny, System I. S. 30. . In diesem Sinn ist das Volk nicht der Regierung gegenuͤbergestellt als Inbegriff der Ge- horchenden, der Unterthanen; es umschließt auch die Regie- rung, nur nicht als solche, sondern in ihren einzelnen Traͤ- gern, welche auch die Genossen der Gesammtheit sind. Dahin gehoͤrt selbst der Souverain und das regierende Haus, wie denn ja auch der hohe Adel deutscher Nation, zu dem die deutschen Souveraine auch jetzt noch in gewisser Beziehung zu rechnen sind, einen eigenen Stand ausmacht und ein besonderes Stan- desrecht gebildet hat, ohne deswegen jedes allgemeineren Ein- flusses auf die Rechtsbildung beraubt gewesen zu seyn. — Das Volk fuͤhrt aber nicht bloß in der Gesammtheit ein selb- staͤndiges Leben, und bewaͤhrt bloß darin seine rechtsbildende Kraft; sondern es tritt uns in demselben ein geordneter Orga- nismus entgegen, in dem sich das Ganze wieder nach engeren Kreisen abtheilt, welche, obgleich von jenem bestimmt und um- schlossen, doch auch fuͤr sich ein eigenthuͤmliches Leben fuͤhren. Diese engeren Kreise des Volksorganismus sind nun entweder auf dem Wege der unbewußten, naturgemaͤßen Entwicklung entstanden, wie die Theilung des Volkes nach Staͤmmen, Staͤnden und meistens auch nach Corporationen; oder es ist in Folge bewußter That oder zufaͤlliger Ereignisse eine aͤußere Abgrenzung der Theile entstanden, welche auch wiederum auf deren besondere Ausbildung von Einfluß seyn kann. Dahin gehoͤrt die politische Zerlegung eines Volkes nach der Abgren- zung des Staatsgebietes in Territorien, Provinzen, Kreise u. s. w. zum Theil auch in Gemeinden, insofern diese nicht genossenschaftlich sich entwickelt haben. Das Volksrecht bildet 6* Zweites Kapitel . sich nun entweder in der Gesammtheit oder in den einzelnen Gliedern derselben, und kann daher sehr verschiedenen Umfangs seyn. Das charakteristische Merkmal desselben bleibt aber in allen Faͤllen: die unmittelbare Entstehung des Rechts aus der Sitte und den Lebensmomenten der Nation heraus, sey es nun, daß diese nur in ihrer Allgemeinheit wirksam sind, oder daß auch die engeren Zustaͤnde und Beziehungen ihren Ein- fluß geltend machen. Die Art und Weise dieser Rechtsbil- dung laͤßt sich in ihrem stillen Wachsthume nur mit der schoͤ- pferischen Thaͤtigkeit der Natur vergleichen; es ruht daruͤber ein gewisses Geheimniß, welches sich der unmittelbaren An- schauung nie vollstaͤndig erschließt, wie lange auch die sinnende Betrachtung bei der aͤußeren Erscheinung weilt. Aber diese selbst, das Recht in seiner festen Gestaltung, kann mit Sicher- heit erkannt werden. Daß nun dieses Volksrecht nicht bloß unter dem Ein- fluß einfacher Naturzustaͤnde entsteht, sondern auch von einem noch lebenskraͤftigen Volke in den Zeiten der vorgeruͤckten Bil- dung erzeugt wird, ist schon fruͤher hervorgehoben worden. Al- lerdings aber wird die Macht der Gewohnheit, der Einfluß der Gesetzgebung und des Juristenstandes seine unmittelbare Herr- schaft schwaͤchen, mag es nun unter unguͤnstigen Verhaͤltnissen seinem eigenen Wesen untreu werden und entarten, oder in dem Gesetzes- und Juristenrecht eine consequente Fortbildung erlangt haben. Im letzteren Fall wird es oft geschehen, daß das Volksrecht seinem Inhalte nach bewahrt bleibt, und nur formell in einer neuen Gestalt auftritt. — Auch in Deutsch- land, dessen Rechtszustand nicht zu den gluͤcklichen gehoͤrt, ist es hart bedraͤngt, gebrochen und umgeformt worden; denn dem Volke selbst ward die freie Bewegung verkuͤmmert, und Feststellung des Gegenstandes . die Gesetzgebung und der Juristenstand haben sich hier nicht als die Organe einer nationalen Rechtsbildung bewaͤhrt. Wenn daher v. Savigny annimmt (System. I. S. 86), seit der Re- ception des roͤmischen Rechts sey das Volksrecht mit dem wis- senschaftlichen Recht identisch geworden, so ist dieß eine An- sicht, welche die Geschichte nicht bestaͤtigt. Aber er irrt auch, wenn er sagt: „daß die dem gemeinen Recht angehoͤrenden Gewohnheiten ohne Ausnahme durch das Medium wissenschaft- licher Verarbeitung und Anerkennung hindurch gegangen sind“ (a. a. O. S. 193). Denn auch die Germanisten, welche doch vor Allem dieses muͤßten zu Wege gebracht haben, sind in der Erfuͤllung ihrer Aufgabe noch nicht so weit gekommen. — Wenn dessenungeachtet das Volksrecht in Deutschland noch nicht ganz untergegangen ist, ja wenn die Nation unter den unguͤnstigsten Verhaͤltnissen noch nicht alle Kraft verloren hat, selbstaͤndig an der Rechtserzeugung Theil zu nehmen, so hat sie dadurch wohl auf das Buͤndigste den Beweis gefuͤhrt, daß sie sich ihren eingeborenen, germanischen Charakter und ihre kerngesunde Natur zu bewahren wußte, und daß sie noch das Vermoͤgen zu einer kraͤftigen Erhebung in sich traͤgt. II. Das Juristenrecht . Wenn man unter dem Juristenrecht oder, wie v. Sa- vigny es nennt, dem wissenschaftlichen Recht das ganze posi- tive Rechtsmaterial in seiner vollstaͤndigen wissenschaftlichen Verarbeitung verstehen wollte, so wuͤrde darin jede Verschie- denheit des Rechts nach seinen besonderen Quellen und seiner urspruͤnglichen Beschaffenheit aufgehen, und wir haͤtten dann ein, wenigstens in formeller Beziehung einheitliches Rechtsganze vor uns. Denn die Wissenschaft in ihrer doppelten Richtung Zweites Kapitel . als Rechtslehre und Rechtsanwendung bringt den vorhandenen Stoff in eine systematische Einheit; sie zieht das Volksrecht so gut wie das Gesetzesrecht in den Kreis ihrer Thaͤtigkeit, wuͤrdigt jedes in seiner besonderen Bedeutung, bestimmt das Verhaͤltniß der einzelnen Theile zu einander und zum Gan- zen, stellt die nicht speciell normirten Rechtssatzungen durch die Entwicklung aus den Principien des positiven Rechts und aus der Natur der Dinge fest, und bildet vielleicht in ihrer freiesten Bewegung selbstaͤndige Rechtsinstitute. In diesem Sinne wuͤrde also das Juristenrecht nichts Anderes seyn, als das Recht in in seiner wissenschaftlichen Verarbeitung, und es ist jedenfalls willkuͤhrlich, wenn man dann das Volksrecht darin aufgehen laͤßt, nicht aber das Gesetzesrecht. Denn seiner urspruͤnglichen Entstehung nach ist jenes eben so selbstaͤndig wie dieses, und ob es aus dem Gesammtbewußtseyn des Volkes spaͤter her- ausgetreten ist, und sich bei der uͤberwiegenden Herrschaft des Juristenstandes in dessen Rechtsanschauung concentrirt hat, das ist immer etwas Zufaͤlliges, eine quaestio facti, deren Loͤ- sung von der genauen Untersuchung des einzelnen Falls ab- haͤngt; aus allgemeinen Principien laͤßt es sich nicht deduciren. In dieser Auffassung wuͤrde also mit dem Ausdrucke Ju- ristenrecht oder Recht der Wissenschaft kein nach seiner Quelle bestimmter Rechtstheil, sondern ein bestimmter Zustand des Rechts uͤberhaupt bezeichnet seyn. Das ist es aber nicht, wor- auf es hier ankommt, und wir wuͤrden also jenen weiten Be- griff auch dann nicht gebrauchen koͤnnen, wenn es auch wirk- lich der Fall waͤre, daß unsere Juristen sich das gesammte ge- meine Recht zum wissenschaftlichen Bewußtseyn gebracht haͤt- ten. Es soll im Juristenrecht vielmehr ein Gegensatz zum Volks- und Gesetzesrecht liegen, und der Begriff desselben Feststellung des Gegenstandes . muß also nach der Verschiedenheit der Rechtsquellen enger gefaßt werden, und zwar dahin, daß es das durch den Juri- stenstand erzeugte Recht ist. Aber auch in dieser Fassung kann man damit einen weiteren und einen engeren Sinn verbinden. Ersteres ist der Fall, wenn man zum Juristenrecht auch dieje- jenigen Normen zaͤhlt, welche durch die Deduction aus dem Geiste des positiven Rechts und aus dem Wesen der Rechts- verhaͤltnisse gewonnen werden. Allein das Ergebniß einer sol- chen Operation kann nicht als auf einer eigentlich rechtsbil- denden Thaͤtigkeit des Juristenstandes beruhend angenommen werden. Jene Rechtsnormen sind schon als solche implicite in dem allgemeinen Princip enthalten; denn wenn dieses ein- mal zur Geltung gebracht ist, so sind auch alle daraus zu entnehmenden Folgerungen gesetzt, und kommen zur Anwen- dung, insofern sie nicht durch eine specielle Vorschrift oder durch das Uebergreifen anderer Principien beschraͤnkt oder be- seitigt werden. Nun sind freilich gerade die Juristen darauf angewiesen, auf dem Wege der Deduction und Combination solche scheinbar verborgene Rechtsnormen mit der gehoͤrigen Evidenz ans Licht zu foͤrdern und sie practisch anzuwenden. Aber theils kommt ihnen diese Beschaͤftigung nicht ausschließ- lich zu, da in vielen Faͤllen vom Volke selbst eine solche Ope- ration unmittelbar, wenn auch nicht nothwendig als eine rich- terliche Function, vorgenommen wird; theils liegt in jener Thaͤ- tigkeit uͤberhaupt keine Rechtsbildung, so wenig der Bergmann das Erz bildet, welches er aus dem Innern der Erde auf die Oberflaͤche bringt. Nur dann wuͤrde der Juristenstand fuͤr diese Art der Thaͤtigkeit die Bedeutung einer Rechtsquelle in Anspruch nehmen koͤnnen, wenn er den aufgefundenen Rechts- satz unter seinen Haͤnden zu einer neuen Gestalt umpraͤgte, so Zweites Kapitel . zu sagen eine Specification daran vornaͤhme, und sich also zu dem gegebenen Stoff schaffend verhielte. Wenn nun aber eine wahre Rechtserzeugung von den Juristen ausgeht, sie ein Juristenrecht im engeren Sinn be- gruͤnden, so koͤnnen sie dabei auf eine doppelte Weise verfah- ren. Entweder gehen sie mit Bewußtseyn zu Werke, indem sie im Vertrauen auf die Stellung, welche sie im Staate ein- nehmen, und auf die sichere Herrschaft, welche sie uͤber den Rechtsstoff ausuͤben, den bestimmten Willen haben, neues Recht zu schaffen; oder ihre Wirksamkeit ist in dieser Bezie- hung mehr eine unbewußte, welche nur allmaͤlig, nach Art des Gewohnheitsrechts, mit der Rechtsbildung zu Stande kommt. Von der ersten Art war die Thaͤtigkeit der classischen roͤmischen Juristen zur Kaiserzeit, unterstuͤtzt, aber nicht noth- wendig bedingt von dem jus respondendi; in der zweiten Art hat sich das gemeine deutsche Juristenrecht entwickelt. Wie dieß zugegangen, wird sich erst spaͤter bei der Darstellung des Einzelnen genauer nachweisen lassen; hier ist nur der allge- meine Grund anzugeben, der einfach in der Thatsache beruht, daß die Juristen das moderne deutsche Rechtswesen fast unbe- schraͤnkt beherrscht haben, und daß daher das, was sie fuͤr po- sitives Recht hielten und als solches anwandten, auch wirklich zur Geltung kam. So ist das roͤmische Recht recipirt, modi- ficirt, so sind ganze Rechtslehren abgeschafft, umgeaͤndert, neu begruͤndet worden. Die Gewohnheit hat diesem Treiben der Juristen die rechtliche Sanction gegeben. Daß sie dabei zu- weilen ein Organ des Volksrechts gewesen sind, oder doch eine vernuͤnftige Rechtsbildung befoͤrdert haben, soll gar nicht ge- leugnet werden; aber das ist wahrlich nicht immer der Fall ge- wesen, und an und fuͤr sich etwas Zufaͤlliges, aus welchem Feststellung des Gegenstandes . die Berechtigung zu einer solchen Machtvollkommenheit nicht hergeleitet werden darf. Von dieser Ansicht weicht freilich eine andere ganz und gar ab, welche namentlich von Puchta ausgefuͤhrt, im We- sentlichen auch von Savigny gebilligt worden ist, und die, wie schon bemerkt worden, darauf beruht, daß das Juristen- recht eine Fortfuͤhrung des Volksrechts sey. „Wir haben also,“ sagt Puchta (Gewohnheitsrecht II. S. 20) „eine doppelte Art des auf die unmittelbare Volks- uͤberzeugung gegruͤndeten Rechts zu unterscheiden. Ein Gewohnheitsrecht ist vorhanden, nicht bloß wenn der Uebung eines Satzes 1) eine gemeinsame Ueberzeugung der Volks- glieder uͤberhaupt, sondern auch wenn ihr 2) eine solche der Rechtskundigen, der Juristen als Vertreter des Volks zu Grunde liegt.“ — — Daher soll auch das Juristenrecht nur insofern, als sich darin wirklich eine Repraͤsentation des Volksgeistes, der sich unter andern Verhaͤltnissen als unmittelbares Volksrecht gel- tend machen wuͤrde, ausspricht, einen Anspruch auf positive Geltung haben. Ich muß es vorlaͤufig dem Leser uͤberlassen, in der angefuͤhrten Schrift von Puchta selbst nachzusehen, wie er das deutsche Juristenrecht von diesem Standpuncte aus zu rechtfertigen gesucht hat, und empfehle in dieser Beziehung na- mentlich das vierte Buch: „Von der Gewohnheit im oͤffentli- chen und im Kirchenrechte“ — zum Nachlesen. Besonders bezeichnend ist aber die Art, wie der Fall behandelt wird, wenn ein Irrthum der Juristen die Veranlassung eines Rechtssatzes geworden ist, — worauf sich etwa auch die Reception des roͤ- mischen Rechts in Deutschland zuruͤckfuͤhren ließe. Daran denkt Puchta nun freilich nicht; seine Beispiele sind bescheide- Zweites Kapitel . ner. So sucht er z. B. darzuthun (a. a. O. S. 68 ff.), daß die Ausdehnung, in der die sogenannte Quasi-Pupillar- substitution von den Juristen aufgefaßt worden ist, auf einer nationellen Ueberzeugung beruhe! Einer solchen willkuͤhrlichen, weil unbegruͤndeten Beschraͤn- kung des Juristenrechts, welche doch nur zu spitzfindigen De- ductionen oder, wenn diese nicht anerkannt werden, zur Rechts- unsicherheit fuͤhren kann, — ist nun schon Maurenbrecher Maurenbrecher hat an verschiedenen Orten uͤber das Juristenrecht gehandelt; zuletzt und am Weitlaͤuftigsten in seinem Lehrbuch des gesamm- ten heutigen gemeinen deutschen Privatrechts. 2. Aufl. Band 1. §. 28 ff. mit Nachdruck entgegengetreten. Von der Art wie er das Juristenrecht vertheidigt (es soll auf dem Vertrauen, dessen der Juristenstand sich erfreut, auf dessen Stellung als Staatsver- treter beruhen!) ist nun freilich nicht viel zu halten; und auch, was er uͤber die Methode desselben vorbringt, grenzt theilweise an das Absurde. Aber in jenem Punct, daß dem- selben eine selbstaͤndige Bedeutung nicht abzusprechen ist, und daß es in sich den Grund seiner Geltung traͤgt, hat er das Richtige getroffen. Drittes Kapitel. Das gemeine Recht und seine Gegensaͤtze . Was man gewoͤhnlich als gemeines Recht bezeichnet, ist kein bestimmter, abgeschlossener Begriff, sondern hat zwei we- sentlich verschiedene Seiten an sich, welche namentlich dann, wenn man es mit seinen Gegensaͤtzen zusammen haͤlt, deutlich hervortreten. Einmal verbindet man naͤmlich damit die Be- deutung, daß es in einer gewissen Allgemeinheit zur Anwen- dung kommt, und zwar in Beziehung auf einen bestimmten Staat oder ein bestimmtes Volk, daß es seine Geltung uͤber das Ganze ausdehnt, und nicht bloß in einzelnen, geographisch abgeschlossenen Theilen herrscht. In dieser Auffassung pflegt man das gemeine Recht wohl jus generale zu nennen, und ihm das jus speciale als Particularrecht, Statut u. s. w. gegenuͤber zu stellen. Davon ist nun die andere Bedeutung des gemeinen Rechts verschieden, welche zunaͤchst auf die Be- schaffenheit der darin enthaltenen Rechtsregeln bezogen wird, indem von diesen nur solche dahin gerechnet werden, welche mit dem Geiste des gesammten positiven Rechts uͤbereinstim- men, der ratio juris entsprechen. In diesem Sinne heißt das gemeine Recht ein jus commune, und den Gegensatz davon bildet das jus singulare, das besondere oder anomalische Recht, welches nicht auf dem reinen Rechtsgebiet entsprungen ist, sondern den Grund seiner Geltung in der Beruͤcksichti- gung eigenthuͤmlicher Verhaͤltnisse hat, so daß darin eine Ab- weichung von den allgemeinen Rechtsregeln liegt. — Auf diese Drittes Kapitel . Weise kann es geschehen, daß sich das anomalische Recht als jus generale darstellt, und daß umgekehrt das jus com- mune in einzelnen Instituten durch specielle Rechtsnormen fast ganz außer Kraft gesetzt ist. Indessen ist die Zerlegung des Rechtsstoffs nach diesen Begriffsbestimmungen keine durchaus nothwendige, und nicht fuͤr jedes positive Recht begruͤndet. Der Gegensatz von jus generale und speciale ist immer nur zufaͤllig, und von der Rechtsverfassung der einzelnen Staaten bedingt. So kennt das roͤmisch-justinianische Recht, abgesehen etwa von einigen unbedeutenden Ortsgebraͤuchen, gar keine speciellen Rechtsnor- men, und auch das franzoͤsische Recht ist auf aͤhnliche Weise generalisirt worden. Aber auch der Gegensatz von jus com- mune und singulare, welcher allerdings eine mehr innerliche Begruͤndung hat, ist doch auch nicht immer derselbe; denn er setzt schon, um consequent durchgefuͤhrt zu werden, eine sehr bestimmte Abgrenzung des reinen Rechtsgebietes voraus, und eine Einheit und Sicherheit der Principien, welche sich nicht allenthalben gleichmaͤßig finden, und nicht bloß von der allge- meinen Beschaffenheit des Rechts, sondern auch von dessen formeller Ausbildung wesentlich abhaͤngen. — Fragen wir nun, wie es sich mit dem Begriff des gemeinen Rechts in Deutsch- land verhalte, so zeigt sich einer aufmerksamen Betrachtung bald, daß die Sache hier ihre ganz besondere Schwierigkeit hat, und daß sie auch in der Wissenschaft noch nicht zu ei- nem voͤlligen Abschluß gediehen ist. Das kommt theils von der großen, verwirrenden Mannichfaltigkeit her, welche uͤber- haupt das deutsche Rechtswesen charakterisirt; theils hat es darin seinen Grund, daß wir zwei wesentlich verschiedene Ele- mente in unserm Rechte haben, ein deutsches und ein roͤmi- Das gemeine Recht und seine Gegensaͤtze . sches, welche sich noch nicht vollstaͤndig durchdrungen und zur hoͤheren, organischen Einheit verbunden haben. Zum naͤheren Verstaͤndniß ist hier aber noch Folgendes zu bemerken. In fruͤherer Zeit laͤßt sich unter den Deutschen ein, seinen wesentlichen Grundzuͤgen nach uͤbereinstimmendes Recht des freien Volkes nachweisen, welches jedoch durch den Einfluß der Stammesverschiedenheit mannigfach modificirt war. Im spaͤteren Mittelalter schied sich die freie Bevoͤlkerung immer mehr nach Staͤnden, und dieß hatte zur Folge, daß die Ein- heit des aͤlteren Rechts sich in ein verschiedenes Staͤnderecht aufloͤste, welches wieder in den engeren Kreisen der einzelnen Territorien, Provinzen, Corporationen u. s. w. seine besondere Ausbildung erhielt. Diesem Staͤnderecht stand nun, nachdem es einmal begruͤndet war, kein gemeines Landrecht als das ei- gentlich Herrschende und Bestimmende gegenuͤber, wenigstens nicht in der Bedeutung, daß es die eigentliche Rechtsregel, die ratio juris enthalten haͤtte, von welcher das Staͤnderecht in seiner Eigenthuͤmlichkeit nur eine besondere Ausnahme bildete. Dieses trug vielmehr seine Regel in sich selbst, es ward von selbstaͤndigen Principien beherrscht, welche sich keinem gemein- samen, nationalen Rechtsleben unterwuͤrfig zeigten; und nur insofern bei den verschiedenen Staͤnden dieselben Institute gleich- artig oder unter gewissen Modificationen wiederkehrten, und nicht durch die specielle Rechtsbildung eine eigenthuͤmliche Nor- mirung erhalten hatten, laͤßt sich noch von einem gemeinen Recht im Sinne der aͤlteren Zeit sprechen. — In diesem Zu- stande befand sich das deutsche Recht, als das roͤmische reci- pirt ward. Wie verschieden aber war dessen ganze Natur gerade in der hier besprochenen Beziehung. Es war durchweg ein in der ganzen roͤmischen Monarchie gleichmaͤßig geltendes Drittes Kapitel . Recht gewesen, welches die Staͤnde im germanischen Sinne mit einem selbstaͤndigen Lebensprincip gar nicht kannte. Jede Person, jede Sache, jedes Rechtsgeschaͤft steht unter der allge- meinen Regel; nur fuͤr besondere Faͤlle ist eine Abweichung von der ratio juris gemacht worden, sey es aus Gruͤnden der Zweckmaͤßigkeit, der Billigkeit oder der politischen Berechnung. Aber in diesen Ausnahmen, wenn sie auch fuͤr die Personen und Rechtsverhaͤltnisse, auf welche sie sich beziehen, eine allge- meine Geltung haben, spricht sich doch keine selbstaͤndige Rechts- bildung aus; sie haben eben nur ihre Bedeutung durch den Gegensatz, in dem sie zur herrschenden Rechtsregel stehen. Das roͤmische Recht nun ward auf Deutschland uͤbertra- gen; es sollte gelten, das war die urspruͤngliche Idee der Ro- manisten, wie in der roͤmischen Monarchie selbst, — unmittel- bar, unbedingt oder doch mit moͤglichst wenigen Beschraͤnkun- gen. Dadurch wurden nun nicht bloß die allgemeinen Insti- tute des deutschen Rechts bedroht, sondern auch das Recht der verschiedenen Staͤnde in seiner gemeinsamen Gestaltung und in seinen speciellen Erscheinungen; auch erkannten die Roma- nisten in der That weder das Eine noch das Andere an, in- dem sie nur aus besonderen Gruͤnden dem Lehenrecht eine selb- staͤndige Bedeutung einraͤumten. Fast gleichzeitig schloß sich Deutschland nun in getrennten Territorien ab, was zu den schon bestehenden speciellen Rechtsformen noch die Ausbildung der besonderen Particularrechte hervorrief, und zu einer be- schraͤnkten Anwendung des roͤmischen Rechts noͤthigte. Dieses ward nun schlechthin als das gemeine Recht aufgefaßt, und zwar in dem doppelten Sinne des jus commune und jus generale. In Beziehung auf den ersten Punct sah man darin allein die wahre Rechtsregel, die ratio juris, und jede Das gemeine Recht und seine Gegensaͤtze . Abweichung davon, mochte sie nun im Staͤnderecht oder in einer speciellen Rechtsbildung ihren Grund haben, oder auf allgemeinen deutschen Rechtsideen beruhen, war ein jus sin- gulare, dessen Geltung mit unguͤnstigen Augen angesehen und moͤglichst beschraͤnkt ward. Als jus generale kam das roͤmische Recht aber im ganzen Reich und in allen seinen Theilen zur Anwendung, so daß demselben durch eine speciellere Rechts- norm nur dann sollte derogirt werden koͤnnen, wenn diese foͤrmlich zu beweisen war. Auf dieser Ansicht beruht die Auf- fassung des roͤmischen Rechts als eines subsidiaͤren, welches stets in subsidium, zur Aushuͤlfe, wenn engere Rechtsquellen fehlten, zur Anwendung kommen sollte, — eine Auffassung, welche sich aber erst dann geltend machte, als die Particular- rechte auch in den Augen der Juristen schon eine gewisse selbstaͤndige Bedeutung gewonnen hatten. — Daß das roͤmische Recht es zu einer solchen intensiven Kraft und einem solchen Umfang der Geltung bringen konnte, erklaͤrt sich theils aus aͤußeren Umstaͤnden, theils aber auch daraus, daß die Entwick- lung des modernen Staatsprincips, welches das abgeschlossene staͤndische Wesen nach und nach zersetzend, zu einer einheitlichen Rechtsbildung hindraͤngte, in Deutschland zu keinem nationalen Abschluß kam, und daher nicht maͤchtig genug war, das roͤmische Recht in ein einheimisches gemeines Recht aufgehen zu lassen, und sich daher mit jenem als dem Surrogat des letzteren nothduͤrftig behalf. Dieß ward nun um so eher moͤglich, da das jus commune immermehr von seinem roͤmischen Inhalt fallen ließ, und sich zu einem auch das Einheimische und Mo- derne beachtenden Juristenrechte umsetzte, wie es schon im s. g. usus modernus uns entgegentritt. Aber je mehr das deutsch- rechtliche Element dieser Lehre ausgebildet ward und sich fuͤhlen Drittes Kapitel . lernte, desto mehr schied es sich von dem Pandectenrecht aus, und nahm am Ende als jus germanicum neben dem jus romanum die Bedeutung eines gemeinen, subsidiaͤren Rechts fuͤr sich in Anspruch, doch so, daß noch Vieles, was der ein- heimischen Rechtsbildung angehoͤrte, der Herrschaft des fremden Rechts uͤberlassen blieb, oder gar nicht zu einer wissenschaftlichen Behandlung gelangte. Ersteres ist namentlich bei manchen Lehren des Juristenrechts, letzteres bei einem Theile des Volks- rechts der Fall gewesen. — Dieß ist nun noch im Wesentlichen der Zustand des heutigen gemeinen Rechts in Deutschland, welches durch die Aufloͤsung der Reichsverfassung seine Natur und Wirksamkeit nicht veraͤndert hat, wohl aber in seiner allge- meinen Geltung dadurch beschraͤnkt ist, daß in Folge der moder- nen Codificationen ein großer Theil Deutschlands seiner unmit- telbaren Herrschaft entzogen worden. Das heutige gemeine deutsche Recht ist also kein jus generale in dem Sinn, daß es an allen Orten zur Anwen- dung kaͤme; es umfaßt aber auch nicht bloß das jus com- mune, da auch diejenigen Rechtsinstitute, welche von der strengen ratio juris abweichen, und zu dieser einen Gegensatz bilden, oder ihr eigenes Princip in sich tragen, dazu gehoͤren. Das Charakteristische des gemeinen Rechts besteht vielmehr darin, daß es nur solche Regeln enthaͤlt, welche eine allgemeinere Natur haben, und keine Folge einer bloß speciellen Rechtsbil- dung sind, wenn diese auch verhaͤltnißmaͤßig eine weite Geltung haben sollte. Aber damit ist nicht gesagt, daß es seiner Be- schaffenheit nach ganz gleichmaͤßig ist; es giebt im Kreise des gemeinen Rechts wieder nicht unbedeutende Verschiedenheiten, welche großen Theils auf dem Grundsatze beruhen daß die An- wendung einer Rechtsregel von dem Daseyn des Verhaͤltnisses, Das gemeine Recht und seine Gegensaͤtze . worauf sie sich bezieht, bedingt ist, und welche sich im Wesent- lichen auf folgende Hauptpuncte zuruͤckfuͤhren lassen. 1. Manche Rechtsinstitute tragen einen solchen Charakter der Allgemeinheit an sich, daß sie unter den gegebenen Ver- haͤltnissen allenthalben vorkommen koͤnnen, und um zur Gel- tung zu gelangen, keine besonderen Bedingungen voraussetzen. Wenn diese Institute sich nun zugleich in einer principien- maͤßigen Einheit entwickelt haben, ohne daß namentlich die Theilung des geltenden Rechtsstoffs nach deutschen und roͤmi- schen Elementen verschiedenartige Bildungen hervorgerufen, so steht ihrer allgemeinen Anwendung nichts entgegen. Dann liegt ein absolut oder unbedingt gemeines Recht vor, welches nur inso- fern unter dem Einfluß der speciellen Satzung, sey es des geschrie- benen oder ungeschriebenen Rechtes steht, daß diese es mit Ruͤck- sicht auf das bestimmte Gebiet ganz ausschließen, oder doch in seiner principienmaͤßigen Geltung beschraͤnken kann. Ist weder das Eine noch das Andere der Fall, so stehen die Verhaͤltnisse unter der unmittelbaren Herrschaft des gemeinen Rechts. 2. Andere Rechtsinstitute haben nicht diesen allgemeinen Charakter; sie setzen entweder besondere Lebensverhaͤltnisse oder eine specielle Anerkennung in dem Particularrechte voraus, um eine Anwendung zu finden, oder sie haben sich doch so verschie- denartig gestaltet, daß man in jedem einzelnen Fall wissen muß, welche bestimmte Form des Instituts es ist, um deren subsidiaͤre Geltung es sich handelt. Es genuͤgt dazu also nicht, daß das Particularrecht dem gemeinrechtlichen Princip nur nicht hem- mend entgegentritt, sondern es wird auch noch vorausgesetzt daß es sie ausdruͤcklich anerkennt, oder daß doch im engeren Kreise des Rechtslebens die besonderen Verhaͤltnisse, um deren Normirung es sich handelt, thatsaͤchlich vorhanden sind. Das Beseler , Volksrecht. 7 Drittes Kapitel . ist das hypothetisch oder bedingt geltende gemeine Recht, dessen Natur also bald von der Beschaffenheit der Rechtsverhaͤltnisse, bald aber auch von der verschiedenartigen Ausbildung des Rechts selbst bestimmt wird. 3. Diesen beiden Arten des gemeinen Rechts, welche als gemeines Landrecht zu bezeichnen sind, kann man nun noch eine dritte unter der Bezeichnung: gemeines Staͤnderecht hinzu- fuͤgen. Dasselbe befaßt dann die gemeinrechtlichen Principien des deutschen Staͤnderechts, und gehoͤrt mit Ruͤcksicht auf die Unmittelbarkeit und den Umfang seiner Geltung, wenigstens in wichtigen Beziehungen, dem unbedingt gemeinen Recht, wegen seiner Beschraͤnkung auf die einzelnen Staͤnde aber im Gegensatz zu der uͤbrigen Bevoͤlkerung dem bedingt gemeinen Rechte an. Dem Begriff nach ist also dessen selbstaͤndige Bedeutung, dem gemeinen Landrecht gegenuͤber, durchaus gerechtfertigt; es fragt sich nur, ob im heutigen Rechtsleben die Staͤndeunterschiede noch von einer solchen Wichtigkeit sind, daß es angemessen ist, darauf eine besondere Art des gemeinen Rechts zu begruͤnden. Aber diese Frage wird sich erst weiter unten, wo von dem Staͤnderechte als Volksrecht genauer zu handeln ist, (Kap. 7.) erledigen lassen; jedenfalls ist schon in dem Angefuͤhrten die gegebene Eintheilung vom Standpuncte der Theorie aus in das gehoͤrige Licht gestellt. Jene Eintheilung des gemeinen Rechts in ein unbedingtes und bedingtes laͤßt sich nun auf den gesammten Rechtsstoff, ohne Ruͤcksicht auf seinen Gegenstand, uͤbertragen, insofern er uͤberhaupt zu einer gemeinrechtlichen Ausbildung gekommen ist. Denn wenn es z. B. im Bereiche des Staatsrechts manche Lehren giebt, die bis jetzt nur eine specielle Normirung erhalten haben, und denen noch keine gemeinrechtliche Durchbildung im Leben Das gemeine Recht und seine Gegensaͤtze . und in der Wissenschaft zu Theil geworden ist, so kann fuͤr diese natuͤrlich auch noch von keiner Geltung gemeinrechtlicher Principien die Rede seyn; es wird an deren Stelle nur eine allgemeinere Betrachtung particularrechtlicher Institute eintreten koͤnnen. Das ist aber nicht bloß im Staatsrecht, sondern auch in andern Rechtstheilen und namentlich im Privatrecht der Fall; aber wenn es in jenem sich auch haͤufiger so verhaͤlt, so ist es doch irrig, deswegen das wirklich Gemeinrechtliche mancher andern Institute desselben verleugnen zu wollen. — Die Eintheilung paßt aber nicht bloß auf den ganzen Rechts- stoff, sondern auch auf die verschiedenen Elemente, aus denen er zusammengesetzt ist, moͤgen sie nun fremde oder einheimische seyn. Die Ansicht namentlich, daß nur das roͤmische Recht mit seinen spaͤteren Fortbildungen den Charakter des gemeinen Rechts an sich trage, darf gegenwaͤrtig als beseitigt angesehen werden; wenn sie auch noch hie und da einmal wieder auf- taucht, so sind das Anklaͤnge einer bereits uͤberwundenen, aus- schließlich romanistischen Richtung der aͤlteren Jurisprudenz. Allein weiter verbreitet ist noch die mehr oder weniger klar ausgesprochene Meinung, daß die Natur des roͤmischen und des deutschen Rechts in ihrer gemeinrechtlichen Bedeutung eine verschiedene sey, und zwar in der Art, daß das erstere den Charakter eines unbedingt, das letztere nur den eines bedingt geltenden gemeinen Rechts habe. Es ist dieß eigentlich dieselbe Ansicht, welche die aͤltere Jurisprudenz so ausdruͤckte: wer sich auf das roͤmische Recht beruft, hat fundatam intentionem fuͤr sich, und wer die Geltung einer davon abweichenden Rechtsregel, eines demselben fremden Rechtsgeschaͤfts fuͤr sich anfuͤhrt, der muß den Beweis derselben uͤbernehmen. In dieser Regel, welche uͤbrigens schon von Mevius durchbrochen worden, spiegelt 7* Drittes Kapitel . sich noch die crasse Rechtslehre der aͤlteren Romanisten ab, und es ist daher nicht zu verwundern, daß sie fruͤher bestanden hat, sondern nur daß sie noch so lange im Schwange bleiben koͤnnen, nachdem auch das aus deutschrechtlichen Elementen gebildete gemeine Recht zur Anerkennung gelangt ist. Denn es ist ja unzweifelhaft, daß gewisse Institute desselben, z. B. die Fami- lienfideicommisse, die Erbvertraͤge, so wie einzelne Rechtsregeln, z. B. die Aufhebung der vaͤterlichen Gewalt durch Errichtung eines selbstaͤndigen Haushalts, — dem unbedingt gemeinen Rechte angehoͤren. Daß das roͤmische Recht, wenigstens bis jetzt noch, quantitativ reicher an solchen Instituten ist, wie das deutsche, kann offenbar nichts ausmachen, wenn es sich um die Feststellung der Begriffe handelt. — Waͤre dieß nun aber auch anzuerkennen, so koͤnnte man doch versuchen, der Sache eine andere Wendung zu geben, indem man sagte: das roͤmische Recht bleibe doch stets ein unbedingt gemeines, wenn es auch deutschrechtliche Institute mit derselben Bedeutung neben sich dulde; der Begriff des bedingt gemeinen Rechts finde sich nur im deutschen, und wenn jenes daher in einer Lehre einmal recipirt worden, so enthalte es, den bedingt gemeinrechtlichen Instituten des einheimischen Rechts gegenuͤber, stets die Regel, und koͤnne die Vermuthung der Geltung fuͤr sich in Anspruch nehmen. — In der That ist diese Ansicht noch neulich von einer gewichtigen Auctoritaͤt vertreten worden. Chr. L. Runde aͤußert sich daruͤber mit Beziehung auf zwei wichtige Rechtslehren in der angefuͤhrten Weise. Ueber das Guͤterrecht der Ehegatten sagt er: „Das getrennte Guͤterrecht des roͤmischen Rechts muß freilich in Deutschland, so weit Justinians Gesetzsammlung als gemeines subsidiarisches Recht gilt, als Regel ange- nommen werden, welche keines Beweises bedarf. Denn das Das gemeine Recht und seine Gegensaͤtze . roͤmische Recht ist im Ganzen recipirt, und findet in der Ehe und in dem Vermoͤgen der deutschen Ehegatten einen Gegenstand, der zur Anwendung seiner Rechtsgrundsaͤtze voll- kommen geeignet ist. Es laͤßt sich dagegen kein System der Guͤtervereinigung, auch nicht des Nießbrauchs- und Verwal- tungsrechts des Ehemanns am Paraphernalgute der Frau, als ein in ganz Deutschland subsidiar erhaltenes Rechtsinstitut, behaupten: sondern die Nachweisung muß auf die Beibehal- tung oder Einfuͤhrung in einzelnen Laͤndern gerichtet seyn. Und wenn sich auch leicht statistisch darthun laͤßt, daß bei weitem der groͤßte Theil der Bewohner Deutschlands in deutschen Guͤterverhaͤltnissen lebt, so uͤberhebt doch ein solches Resultat nicht der Nachweisung in einem Falle, wo die Erhaltung dieser Verhaͤltnisse bestritten wird Chr. L. Runde, deutsches eheliches Guͤterrecht (Oldenburg. 1841.) §. 4. .“ Aehnlich heißt es von der gerichtlichen Auflassung: „— — Die gerichtliche Auflassung ist in der letzten Haͤlfte des 16. Jahrhunderts der Einwirkung des roͤmischen Rechts gewichen. Nur particularrechtlich hat sich neben der roͤmischen Erwerbart durch Tradition in ihren verschiedenen Formen noch eine deutsche erhalten oder gebildet: — eine Art gerichtlicher Auflassung, oder schriftliche Ausfertigung mit gerichtlicher Bestaͤtigung und Eintragung in Contracts- buͤcher, oder Umschreibung in Cataster und Lagerbuͤcher, oder Ingrossation in die Grund- und Hypothekenbuͤcher neuerer Einrichtung unter Berichtigung des Besitztitels. Bei der Vielseitigkeit dieser Formen und der Verschiedenheit ihres Zweckes und der Wirkung, der Folgen der Nichtbeachtung Drittes Kapitel . unter den Contrahenten wie gegen Dritte, kann hierin kein gemein- deutsches Institut unter dem Namen der Investitur anerkannt werden, welches nur bei Lehnguͤtern in dem als gemeines Recht recipirten longobardischen Lehnrechte Grund findet. Und wo nicht die eine oder die andere particular- rechtlich als nothwendig zum Uebergang des dinglichen Rechts nachgewiesen werden kann, da genuͤgt die gemeinrechtliche Erwerbart des roͤmischen Rechts Derselbe in der Zeitschrift fuͤr deutsches Recht, Band 7. Heft 1. No. 1. S. 7. 8. .“ Zunaͤchst nun draͤngt sich bei dieser Darstellung das Be- denken auf, daß es wohl uͤberhaupt nicht angemessen ist, bei einer Collision deutscher und roͤmischer Rechtsinstitute von einem Beweise zu sprechen, der noͤthig seyn soll, um die dem einen Theil guͤnstige Praͤsumtion fuͤr den andern zu beseitigen. Das erinnert doch zu sehr an die von Puchta siegreich be- kaͤmpfte Theorie uͤber den Beweis des Gewohnheitsrechts, welche durchaus der Wuͤrde und freien Stellung des Richteramtes widerspricht, und sich nur unter dem Einfluß eines ganz ver- kuͤmmerten Rechtszustandes ausbilden konnte. Wenn bei einer Collision der angefuͤhrten Art von einer Vermuthung die Rede seyn soll, so darf dabei doch wohl auf keinen Fall an die pro- cessualische praesumtio juris und an ein gewoͤhnliches Be- weisverfahren gedacht werden; denn wie will man die Frage, ob ein deutschrechtliches Institut irgendwo gelte, davon abhaͤngig machen, ohne die Regel, daß der Richter das Recht kennen soll, willkuͤhrlich zu beschraͤnken, und die Anwendung des Rechts von Zufaͤlligkeiten bestimmen zu lassen! Wird es doch wohl uͤberhaupt nicht leicht geschehen, daß man bei Instituten, die Das gemeine Recht und seine Gegensaͤtze . fast taͤglich in den Rechtsverhaͤltnissen jeder Familie und jedes Geschaͤftsmanns zur Sprache kommen, wirklich im Zweifel ist, ob sie in einem bestimmten Bezirke gelten oder nicht, und in welcher Form und mit welcher Wirkung sie daselbst vorkommen. Treten aber ausnahmsweise solche Zweifel ein, so sind zu ihrer Beseitigung andere Mittel noͤthig, als die Beweisfuͤhrung der Parteien, welche nur adminiculirend dabei eingreifen kann. — Wollte man aber die Sache auch anders auffassen, und mit der Vermuthung fuͤr das roͤmische Recht etwa nur so viel sagen, daß so lange die Geltung der deutschrechtlichen Grundsaͤtze nicht ganz fest stehe, nach jenem erkannt werden muͤsse, so fehlt es doch auch fuͤr eine solche Ansicht an genuͤgenden Gruͤnden. Runde hebt deren namentlich zwei hervor. 1. Das roͤmische Recht sey im Ganzen recipirt worden, und muͤsse daher auch fuͤr die Verhaͤltnisse, fuͤr welche es uͤber- haupt applicabel sey, im Zweifel zur Anwendung kommen. Darauf erwidere ich, daß allerdings die urspruͤngliche Absicht der Ro- manisten darauf gerichtet war, die Reception vollstaͤndig durch- zufuͤhren; daß ihnen dieß ja aber eben nicht gelungen ist. Viele roͤmische Institute, namentlich aus dem oͤffentlichen Rechte, sind gar nicht practisch geworden, weil sich eben die Unmoͤg- lichkeit zeigte, sie zur Geltung zu bringen, und man sich damit begnuͤgen mußte, das einheimische Recht mehr oder weniger zu romanisiren; in andern Lehren drang das roͤmische Recht aller- dings durch, aber nur so, daß die gegenuͤberstehenden deutsch- rechtlichen Institute davon nicht ganz unterdruͤckt wurden, son- dern neben den roͤmischen ihre selbstaͤndige Haltung bewahrten. Das ist gerade in den von Runde behandelten Faͤllen, bei dem ehelichen Guͤterrecht und bei der Erwerbung dinglicher Rechte am Grundbesitz geschehen; ja das einheimische Recht hat hier Drittes Kapitel . offenbar nicht bloß die groͤßere statistische Ausdehnung fuͤr sich, sondern auch intensiv einen uͤberwiegenden Einfluß behauptet, so daß Hasse z. B. geneigt ist, die gemeinrechtliche Praͤsumtion zu Gunsten der gerichtlichen Auflassung zu stellen. Dieß hat aber auch wieder sein Bedenkliches; vielmehr scheint das allein Rich- tige zu seyn, daß man in einem solchen Collisionsfall alle in Betracht kommenden Verhaͤltnisse unbefangen erwaͤgt, ohne daß man dem Umstande, ob ein Institut roͤmischen oder deutschen Ursprungs ist, irgend eine entscheidende Wirkung beilegte. Da- durch wird auch der so nahe liegende Einwand beseitigt, daß viele Institute gar nicht mehr einen rein roͤmischen oder rein deutschen Charakter haben, sondern aus einer Vereinigung jener beiden Ele- mente unsers heutigen Rechts ihre jetzige Gestalt erlangt haben. — Nur wenn es sich bestimmt darthun ließe, daß eine Lehre, z. B. die des roͤmischen Rechts uͤber die Vindication der Mobi- lien, unbedingt gemeinrechtlich geworden ist, kann man sie, bis man sich von der Geltung einer ihr widerstrebenden Regel fuͤr den besondern Fall uͤberzeugt hat, unbedenklich zur Anwendung bringen. 2. Einen zweiten Grund entnimmt Runde dem Umstande, daß das roͤmische Recht sich als ein abgeschlossenes, einheitliches System darstellt, waͤhrend das deutsche, wenigstens bei den oben angefuͤhrten Lehren, eine große Mannichfaltigkeit der Er- scheinungen aufweist, und daher jenem nicht mit derselben Be- stimmtheit entgegentritt. Das erschwert allerdings die praktische Durchfuͤhrung dieser deutschrechtlichen Institute in ihrer gemein- rechtlichen Wirksamkeit außerordentlich; denn es genuͤgt nicht, daß man fuͤr den gegebenen Fall wisse, es sey darauf das einheimische Recht zur Anwendung zu bringen, sondern man muß nun noch weiter untersuchen, welches besondere Institut Das gemeine Recht und seine Gegensaͤtze . denn eben vorliege; und dabei kann es denn auch wohl geschehen, daß man, selbst wenn dieses festgestellt worden, noch im Zweifel bleibt, nach welchen Grundsaͤtzen dasselbe zu beurtheilen ist. Diese Rechtsunsicherheit ist die unselige Folge unserer unter- brochenen und verkuͤmmerten Rechtsbildung; sie ist ein großes Uebel und kann, zum Theil wenigstens, nur durch die Gesetz- gebung gehoben werden. Aber es liegt darin kein Grund, der Herrschaft des roͤmischen Rechts eine Ausdehnung zu geben, welche demselben nicht an und fuͤr sich nach der Stellung, die es im heutigen Rechte einnimmt, gebuͤhrt; ein solches Verfahren wuͤrde den Charakter der Willkuͤhr an sich tragen, welche das Uebel nur aͤußerlich verdeckte, und leicht zu den schlimmsten Rechtswidrigkeiten fuͤhren koͤnnte. — Man wird also in einem Fall, wo es zweifelhaft erscheint, ob das Guͤterrecht der Ehe- gatten nach roͤmischem oder deutschem Recht zu beurtheilen ist, die Frage nicht so stellen duͤrfen: gilt hier das Dotalsystem oder die Guͤtergemeinschaft? sondern man wird sie dahin for- muliren muͤssen: welches Recht ist auf diesen Fall anzuwenden? und nun naͤher zu untersuchen haben, ob es das reine roͤmische ist, oder irgend eine Form des deutschen Rechts oder etwa eine Mischung von beidem, wie sie sich gerade auf diesem Gebiete so haͤufig findet. Eben so hat man sich denn in aͤhnlichen Faͤllen zu benehmen, z. B. bei dem baͤuerlichen Guͤterrecht. Nach Runde’s Ansicht wuͤrde man auch bei der Erbpacht im Zweifel fuͤr die roͤmische Emphyteuse vermuthen muͤssen, und das, glaube ich, wird der beruͤhmte Bearbeiter unseres Bauern- rechts selbst am Wenigsten gelten lassen wollen. Ich fasse nun noch einmal das Ergebniß dieser Eroͤrterung kurz zusammen. Das Recht ist entweder gemeines oder par- ticulaͤres (specielles) Recht, und jenes wieder Landrecht oder Drittes Kapitel. Das gemeine Recht ꝛc . Staͤnderecht, und zwar bald mit der Kraft einer unbedingten, bald nur mit der einer bedingten Geltung. Diese Eintheilung befaßt das gesammte gemeine Recht, mag es nun fremden oder einheimischen Ursprungs seyn. Auch das Volksrecht und das Juristenrecht werden dadurch nach dem Umfang ihrer Geltung naͤher bestimmt, und koͤnnen also in der weitesten Ausdehnung und in der engsten Begrenzung ihre Anwendung finden. Doch ist der Sitz des Juristenrechts vor Allem in dem gemeinen Land- recht zu suchen, waͤhrend das Volksrecht sich haͤufig auch in den engeren Kreisen der Gemeinde, der Provinz u. s. w. dar- stellt. Gerade hier hat sich, namentlich unter dem Bauern- stande, ein reicher Schatz von sinnvollen und echtnationalen Rechtsformen und Gebraͤuchen erhalten, welche von einem, der Gegenwart zugewandten Jacob Grimm erforscht und zusam- mengestellt, fuͤr die lebendige Kunde des einheimischen Rechts von großer Bedeutung werden koͤnnten. Auch in dem Par- ticularrecht der einzelnen deutschen Staaten findet sich das Volksrecht in manchen eigenthuͤmlichen Erscheinungen, welche nicht bloß eine allgemeine nationale Rechtsidee unter besonderen Modificationen wiedergeben. Daß sich eben in dieser Sphaͤre solche originelle Rechtsbildungen von wahrhaft volksthuͤmlichem Gehalt nicht noch haͤufiger zeigen, als es in der That der Fall ist, erklaͤrt sich wohl nur daraus, daß auf die Entstehung der meisten deutschen Staaten so viel Zufaͤlliges eingewirkt hat, welches es nicht zu einem organischen Verwachsen der einzelnen Theile und zu einer entsprechenden Rechtsbildung kommen ließ. I. Das Volksrecht . Viertes Kapitel. Erkenntnißquellen des Volksrechts . N immt man das Volksrecht in seiner eigentlichen Bedeutung als das im Volke entstandene und in dessen Bewußtseyn lebende Recht, so kann uͤber die Loͤsung der Frage, wie es erkannt wird, nicht leicht ein Zweifel bestehen. Das Volk in seiner Gesammtheit oder in seinen engeren Kreisen, wie nun der Um- fang des Rechts sich darstellt, hat von demselben eine unmit- telbare Anschauung, welche in den Zustaͤnden und Verhaͤltnissen des buͤrgerlichen Lebens die darin enthaltenen rechtlichen Mo- mente erfaßt, und mit jenen zugleich die sie beherrschende Norm kennt und handhabt. Ebenso verhaͤlt es sich mit jedem Ein- zelnen, in dessen Bewußtseyn sich vermoͤge seiner Stellung und seiner Lebens- und Geschaͤftserfahrung die gemeinsame Rechts- kunde abspiegelt; er bedarf keiner besonderen Mittel, um dazu zu gelangen, sondern es genuͤgt ihm, wenn er sich eben nur seines Zusammenhangs mit der Gesammtheit in dieser Hinsicht sicher ist. Sollte aber jemand, der außerhalb des Volkslebens und der Volksanschauung staͤnde, geneigt seyn, sich die Kenntniß des darin enthaltenen Rechtes zu verschaffen, so wuͤrde er ganz nach Art eines Naturforschers zu Werke gehen muͤssen, indem er auf dem Wege der Beobachtung sich die ihm urspruͤnglich fremden Zustaͤnde aneignete Wie weit ihm dieß gelingen wird, Viertes Kapitel . das haͤngt von der Beschaffenheit des Gegenstandes, von guͤn- stiger Gelegenheit, und vor Allem von der Geschicklichkeit, dem Fleiße und der Treue des Forschers ab. — In der oben an- gegebenen Weise wird sich die Rechtskunde unter den deutschen Voͤlkerschaften zur Zeit ihres ersten Auftretens in der Geschichte verhalten haben; und als ein Beispiel des gelungenen Forschens vom Standpuncte des fremden Beobachters aus tritt uns das Werk des Tacitus uͤber unsere Vorfahren entgegen. Bei der weiterschreitenden staatlichen Entwicklung konnte aber jene durchaus naive Auffassung des Rechts im Volke nicht ganz ungetruͤbt bleiben; die Verwicklung der menschlichen Dinge in ihrer allmaͤligen Ausbildung schwaͤcht die Urspruͤng- lichkeit und Klarheit der Anschauung, und wenn positive Satzun- gen durch Gesetzgebung und Autonomie eingreifen, so ist schon eine sinnende Ueberlegung, eine gewisse Kritik noͤthig, um sich des aͤußerlich festgestellten Materials im Zusammenhange mit dem gesammten volksthuͤmlichen Rechtsstoff bewußt zu werden. In beiden Beziehungen ist fuͤr das Volk ein Anhalt, eine Lei- tung noͤthig, welche ihm durch die Thaͤtigkeit besonders erfah- rener und weiser Maͤnner in der Lehre und Anwendung des Rechts geboten wird. So treten schon zur Zeit der alten Leges die Sapientes hervor, die offenbar einen mehr als gewoͤhnlichen Einfluß hatten, und deren sich Karl der Große bei seiner Ge- setzgebung wohl zu bedienen wußte. Auch Eike von Repkow, so sehr er aus der Fuͤlle seiner Erfahrung und im Bewußtseyn, nur als Organ des Volks etwas zu bedeuten, sein unsterbliches Werk schrieb, hatte schon neben dem schlichten Volksrecht ein positives Rechtsmaterial vor sich, dessen er sich nicht ohne Studium bemaͤchtigen konnte. Denn er mußte die Kaisergesetze beachten, Landrecht und Lehenrecht, geistliches und weltliches, Erkenntnißquellen des Volksrechts . saͤchsisches und schwaͤbisches Recht gegen einander abwaͤgen, und das schon damals so verzwickte Hof- und Dienstrecht zeigte sich keiner gemeinsamen Rechtsanschauung, sondern nur der genauen Erwaͤgung in den engen Kreisen seiner Geltung zugaͤnglich. — Spaͤter mit dem politischen Verfall der deut- schen Nation zog sich der einheitliche Kern des gemeinen Land- und Lehenrechts immermehr zusammen, und nur fuͤr das Recht der einzelnen Staͤnde in ihren verschiedenen Verzwei- gungen blieb die volle Sicherheit der unmittelbaren Rechtsan- schauung bestehen. Auch diese ward durch die Reception des roͤmischen Rechts gebrochen; die neue Lehre, welche allenthal- ben eindrang, stand dem Volke ganz und gar fern, und ward nur durch den Juristenstand, der nicht mehr der Leiter und Fuͤhrer, sondern der ausschließliche Vertreter des Volkes seyn wollte, getragen und angewandt. Das mußte denn freilich fuͤr diejenigen Institute des Volksrechts, welche sich noch in Geltung erhalten, oder unter der Einwirkung des modernen Lebens neu gestaltet hatten, von der groͤßten Bedeutung seyn. Die Juristen, welche hier ihre Schwaͤche fuhlten, wußten sich nur durch die Anwendung der ihnen thatsaͤchlich beiwohnenden Machtvollkommenheit zu helfen: Abweichungen vom roͤmischen Recht mit einer gemein- rechtlichen Wirksamkeit ließen sie nur dann gelten, wenn die Auctoritaͤt ihres Standes sie anerkannte, ohne daß man sich eben die Muͤhe nahm, diese auch wieder nach ihren letzten Gruͤnden zu pruͤfen; fuͤr speciellere Rechtsnormen dagegen for- derten sie ganz willkuͤhrlich, aber durch die Noth dazu gedrun- gen, einen civilproceßmaͤßigen Beweis, sey es durch die Pro- ducirung eines guͤltigen Statuts oder die Darlegung eines Gewohnheitsrechts. Denn wenn es auch der Theorie nach Viertes Kapitel . eine allgemeine Gewohnheit seyn konnte, fuͤr welche man eine Beweisfuͤhrung zuließ, so war doch deren Beschaffenheit von der Art, daß das Gelingen derselben in dieser Anwendung so gut als unmoͤglich war. Man dachte naͤmlich nicht an das Daseyn eines selbstaͤndigen Volksrechts und an die Moͤglich- keit, dieses unmittelbar zu erfassen; der Begriff war in den des Gewohnheitsrechts aufgegangen, dessen eigentliche Begruͤn- dung eben in der Gewohnheit gefunden ward. Daher suchte man die Bedeutung des Rechts in einer Reihe aͤußerer Hand- lungen, in denen es sich offenbart hatte, und stellte nur auf diese den Beweis, indem man den Richter in der Rechtsfin- dung aͤhnlich beschraͤnkte, wie in der Pruͤfung jeder andern Beweisfuͤhrung uͤber processualische Thatsachen. Neben dieser Theorie uͤber den Beweis des Gewohnheits- rechts entwickelte sich aber seit der Mitte des 17. Jahrhun- derts in Folge der germanistischen Richtung in der Jurispru- denz eine ganz neue Lehre, indem man die selbstaͤndige Exi- stenz einheimischer Rechtsinstitute annahm, und diesen neben dem roͤmischen Recht den Charakter der Gemeinrechtlichkeit bei- legte. Insofern dieses deutsche Recht nicht mit dem schon fest- gestellten Juristenrecht zusammen fiel, mußte dafuͤr natuͤrlich eine besondere Methode zur Anwendung gebracht werden, und zwar eine solche, welche auf anderen Principien beruhte, als auf denen einer fuͤr das Studium des geschriebenen Rechts nothwendigen Exegese. So wie man aber lange Zeit uͤber den eigentlichen Charakter dieses deutschen Rechts selbst nicht recht ins Klare und zu einer vollen Uebereinstimmung kommen konnte, so schwankte man auch uͤber die dafuͤr aufzustellende Methode. Man sah wohl ein, daß die Herbeiziehung ganz fernstehender roͤmischer Analogien zu keinem wissenschaftlichen Erkenntnißquellen des Volksrechts . Resultate fuͤhre; aber wie man den einheimischen Rechtsinsti- tuten selbstaͤndig beikommen sollte, das war eben die schwer zu loͤsende Frage. Bald suchte man sich auf dem Wege der historischen Forschung das noͤthige Material zu verschaffen, ohne aber zu dessen vollstaͤndiger Einsicht zu gelangen; man berief sich auch auf die Auctoritaͤt der Juristen und nament- lich auf die Spruͤche der Gerichtshoͤfe, wodurch man aber nicht uͤber die bloß aͤußerliche Geltung eines Juristenrechts hinaus- kam; man wollte auch wohl das Volksleben selbst beobachten, begnuͤgte sich jedoch meistens damit, daß man sich auf die oft dunklen und unsicheren Rechtssprichwoͤrter verließ; endlich suchte man von den Particularrechten einen gemeinrechtlichen In- halt abzuziehen, den man denn als das Wesen der Institute und die Natur der Sache hinstellte. Allein alle diese Bestre- bungen entbehrten der sicheren Grundlage eines wissenschaftli- chen Princips, und in der Ausfuͤhrung oft der gehoͤrigen Um- sicht und des richtigen Tactes. Auch sah man sich allenthal- ben vom roͤmischen Recht eingeengt, welches in der Praxis der Gerichtshoͤfe durchaus vorherrschte, und zu dem man nicht die rechte Stellung zu gewinnen wußte. — Wie es sich nun aber auch mit dem Werthe dieser aͤlteren germanistischen Me- thode verhalten mag, so steht doch jedenfalls so viel fest, daß sie Rechtssaͤtze, die wenigstens theilweise als Volksrecht sich herausstellen, zur allgemeinen Geltung bringen wollte, ohne daß von einem strengen Beweise des Gewohnheitsrechts die Rede gewesen waͤre: vielmehr ward ein solcher fuͤr die einmal wissenschaftlich anerkannten Normen des einheimischen Rechts von den Germanisten fuͤr uͤberfluͤssig gehalten, oder man ver- langte hoͤchstens die Anerkennung des betreffenden Instituts im Particularrechte. Diese beiden Wege, das einheimische Beseler , Volksrecht. 8 Viertes Kapitel . Recht kennen zu lernen, gingen nun eine Zeit lang neben ein- ander her: die aͤltere Theorie uͤber den Beweis des Gewohn- heitsrechts ward fuͤr die specielleren Rechtsformen festgehalten, auch von den Germanisten, die hierin keine Neuerung versuch- ten, wenn auch ausnahmsweise wohl einmal von einem Ge- richtshofe nach einem geltenden Rechtssatze unmittelbar im Volke geforscht ward; dagegen bekam die jener Theorie dem Princip nach durchaus feindliche germanistische Methode im- mer mehr Haltung, und fand selbst, je mehr man sich auf dem Catheder und in den hoͤheren Gerichtshoͤfen damit be- freundete, auch unter den Romanisten mehr Anerkennung. Diese mochten froh seyn, einige Lehren, welche sich dem roͤmischen Recht doch so gar nicht anbequemen ließen, aus den Pandecten los zu werden, und so traten sie allmaͤlig den Germanisten ein, wenn auch nur enges Gebiet ab, indem es diesen uͤber- lassen blieb, sich dasselbe nach eigenem Ermessen selbst zu be- stellen, und hoͤchstens einige bedenkliche Bemerkungen uͤber die angebliche Gemeinrechtlichkeit der deutschrechtlichen Lehren ver- nommen wurden. In neuester Zeit ist nun freilich die Wissenschaft des deut- schen Rechts um Vieles weiter gekommen, und auch die wun- derliche Theorie von dem Beweise des Gewohnheitsrechts hat durch die von Puchta dagegen erhobene Polemik (ein Haupt- verdienst seines Werkes uͤber das Gewohnheitsrecht!) eine un- heilbare Wunde erhalten; aber dessenungeachtet bestehen doch noch der Schwierigkeiten genug, wenn es sich um die rechte Erkenntniß des Volksrechts handelt. Das groͤßte Hinderniß bleibt immer dieses, daß wir uns in einem so verworrenen, unorganisch gestalteten Rechtszustande befinden, in welchem die verschiedenartigsten Elemente unverbunden neben einander lie- Erkenntnißquellen des Volksrechts . gen, das fremde Recht noch uͤberwiegt, und das Verhaͤltniß zwi- schen diesem und dem einheimischen, wie zwischen dem gemeinen und particulaͤren Rechte weder in der Wissenschaft noch in der Praxis gehoͤrig befestigt ist. Hat dieser Zustand schon uͤber- haupt dem Volksrecht einen großen Theil der ihm gebuͤhren- den Bedeutung geraubt, so hat er sich demselben auch darin feindlich bewiesen, daß es selbst in seinem gegenwaͤrtigen Be- stande vereinzelt dasteht, ohne sich an eine allgemeine, ihm ent- sprechende Rechtsbildung anzulehnen, und daß es in vieler Hin- sicht von fremden, ja feindlichen Principien beengt und durch- kreuzt wird, denen es nur wie durch ein Wunder nicht ganz erlegen ist. Das Volksrecht muß daher in einer zwiefachen Beziehung aufgefaßt werden: einmal seinem selbstaͤndigen Ge- halte nach, und dann in seinem Verhaͤltnisse zu den andern Rechtsquellen. Wenn man nun auch in ersterer Hinsicht sa- gen duͤrfte: das Princip der Erkenntniß beruht noch immer auf der unmittelbaren Anschauung des Volkes selbst, und wer deren nicht von Haus aus theilhaftig ist, der muß auf dem Wege der Beobachtung dazu zu gelangen suchen; so stellt sich in jener andern Ruͤcksicht auf das Verhaͤltniß zu dem sonst geltenden Rechte doch immer die Anforderung einer besonde- ren, nur durch ein gelehrtes juristisches Studium zu gewin- nenden Rechtskunde heraus. Aber auch jene selbstaͤndige Auf- fassung des Volksrechts aus der unmittelbaren Anschauung der Lebensverhaͤltnisse ist nur moͤglich, wenn es sich wirklich noch ganz rein und mit fremdartigen Bestandtheilen unversetzt darin abspiegelt. Hat schon die Gesetzgebung, die Jurisprudenz, vielleicht mit roher Hand, darein gegriffen; ist im Laufe der Zeiten den nationalen Rechtsinstituten ihre wesentliche Basis entzogen, ragen sie nur wie halbverfallene Ruinen aus einer 8* Viertes Kapitel . fruͤheren, von andern Ideen getragenen Zeit heruͤber, und sind statt der sicheren Anschauung nur noch mehr oder weniger un- klare Vorstellungen von ihrer eigentlichen Bedeutung geblieben: da laͤßt sich aus dem Volksleben allein nicht mehr die volle Rechtskunde schoͤpfen, und selbst die Wissenschaft mit allem Apparate der historischen Forschung und der Entwicklung aus der Vernunft der Dinge wird dann kaum vermoͤgen, fuͤr das geltende Recht einen vollkommen ausgefuͤhrten und festen Bau zu errichten. So viel wird aber im Allgemeinen anzunehmen seyn, daß die Art und Weise, wie man zur Erkenntniß des Volks- rechts gelange, wenigstens dem Princip nach dieselbe seyn muß, mag man dabei nun einen wissenschaftlichen oder einen beson- deren practischen Zweck verfolgen. Jene Trennung einer eige- nen germanistischen Methode und einer strengen Beweisfuͤh- rung Behufs der Anwendung des Gewohnheitsrechts vor Ge- richt hat, insofern das Volksrecht dabei in Betracht kommt, keinen inneren Grund, und hat sich wohl nur deswegen so lange erhalten, weil man theils dem wissenschaftlichen Ergeb- niß der germanistischen Studien, die an sich noch weit davon entfernt waren, den ganzen noch vorhandenen Rechtsstoff des Volksrechts zum Verstaͤndniß und zur Anerkennung zu brin- gen, kein rechtes Vertrauen abgewinnen konnte; theils aber un- ter dem Gewohnheitsrecht nicht bloß wahres Volksrecht ver- standen wurde, sondern auch manche durch die Laͤnge der Zeit zu Recht gewordene factische Zustaͤnde, wobei denn unter dem Namen der Observanz auch wohl solche Verhaͤltnisse herbeige- zogen wurden, welche dem Recht im objectiven Sinne eigent- lich gar nicht angehoͤrten, und nur nach den Grundsaͤtzen der unvordenklichen Verjaͤhrung zu beurtheilen waren. Indem ich Erkenntnißquellen des Volksrechts . daher jetzt daran gehe, die Erkenntnißquellen des Volksrechts genauer zu betrachten, darf ich die Erwaͤgung, zu welchem be- sonderen Zwecke das Recht erkundet werden soll, ganz bei Seite. lassen. 1. Es ist schon bemerkt worden, daß das Volksrecht in seiner urspruͤnglichen Beschaffenheit am Unmittelbarsten und Sichersten vom Volke selbst, in dem es lebendig ist, erkannt wird. Wenn dieß nun im Allgemeinen auch nicht bestritten werden kann, so entsteht doch die weitere Frage, wie es sich mit diesem Lebendigseyn verhalte, und auf welche Weise es sich bewaͤhre. Man kommt naͤmlich, wenn man sich diese wei- teren Beziehungen nicht klar macht, leicht dahin, die Rechts- kunde im Volke fuͤr etwas anzusehen, was sich von selbst ver- steht, und mit einer gewissen Nothwendigkeit jedem Einzelnen, der in der großen Gemeinschaft ist, wie etwa die Sprache sich aufdraͤngt. Allein ein solches Verhaͤltniß wird selbst bei einer ganz naturgemaͤßen Entwicklung der Dinge nicht durchweg be- stehen. Allgemeine Rechtswahrheiten, die sich bei einer gewis- sen Ausbildung der buͤrgerlichen Gesellschaft als unabweisliche Anforderungen der menschlichen Natur herausstellen; Rechts- grundsaͤtze, die aus der Tiefe der nationalen Sitte hervortre- ten, und uͤber das gesammte Volk oder dessen einzelne Gliede- rungen einen unmittelbaren und gleichmaͤßigen Einfluß aus- uͤben: diese werden von jedem verstaͤndigen Individuum erfaßt, und wenn auch mit groͤßerer oder geringerer Klarheit und Sicherheit, gewußt und befolgt werden. Aber das Recht be- steht nicht bloß aus solchen Allgemeinheiten; es praͤgt sich bei der Mannichfaltigkeit der Lebensverhaͤltnisse und deren gegen- seitigen Beziehungen in einer Fuͤlle verschiedenartiger Institute aus, deren genaue Kunde sich nur denen erschließt, welche Viertes Kapitel . durch ihre aͤußere Lage und ihre Geschaͤfte in einer fortdauern- den Beruͤhrung mit dem practischen Leben stehen, und erst durch die Erfahrung sich fuͤr dasselbe die gehoͤrige Sicherheit und Einsicht erwerben. Das ist gleichmaͤßig der Fall bei den Instituten, welche dem oͤffentlichen Recht angehoͤren, oder den Grundbesitz betreffen, oder auf die Verhaͤltnisse der Gewerbe und des Verkehrs sich beziehen; ja selbst da, wo eine weitere Betheiligung der Einzelnen statt findet, wird sich nach dem verschiedenen Grade, in welchem es der Fall ist, eine dem Um- fange nach verschiedene Rechtskunde ergeben. Man nehme nur das Familienrecht, und denke sich hier die besondere Stel- lung des Hausvaters, der Frau, der Soͤhne und Toͤchter. Selbst wenn hier noch die schoͤne, einfache Idee des deutschen Familienrechts, welche sich in dem Mundium darstellt, rein zur Anwendung kaͤme, und das Recht und die Pflicht des Schutzes uͤber Personen und Sachen in den verschiedenen Beziehungen dem Bewußtseyn der Betheiligten klar vorlaͤge; so wuͤrde man doch wohl zunaͤchst beim Hausvater das vollkommene Ver- staͤndniß der Verhaͤltnisse erwarten, wenn auch die andern Fa- milienglieder die sie betreffende Seite derselben genau kennen, und mehr oder weniger mit dem Ganzen vertraut seyn sollten. Wir duͤrfen daher annehmen, daß die umfassende und le- bendige Rechtskunde im Volke nicht bei Allen gleichmaͤßig sich finden kann, und daß gewisse Classen und Personen in dieser Beziehung als die Vertreter der Gesammtheit sich herausstel- len. Es bedarf auch keiner weiteren Ausfuͤhrung, daß dieß ein ganz anderes Verhaͤltniß ist, als wenn ein besonderer Ju- ristenstand die ausschließliche Herrschaft uͤber das Recht aus- uͤbt; denn wir denken uns hier die Kunde desselben nicht auf diejenigen beschraͤnkt, welche durch Studium und Berufswahl Erkenntnißquellen des Volksrechts . sie sich zu eigen machen, sondern wir erkennen eben nur den natuͤrlichen und wohlbegruͤndeten Vorzug an, welcher mit der bedeutenderen Stellung, der groͤßeren Erfahrung und, was sich von selbst versteht, mit der hoͤheren persoͤnlichen Begabung der einzelnen Volksgenossen verbunden ist. Handelt es sich denn noch von einem besonderen Standesrecht und uͤberhaupt von den ihrer Geltung nach beschraͤnkten Lehren des Volksrechts, so ist natuͤrlich auch hierauf wieder die noͤthige Ruͤcksicht zu nehmen. Denn wer wollte wohl so thoͤricht seyn, die Kunde des Handelsrechts bei dem Bauernstande zu erwarten, oder bei den Schwaben nach einem eigenthuͤmlichen fraͤnkischen Rechtsinstitute zu forschen. — Aus diesem Allen wird es deut- lich seyn, was unter der Rede zu verstehen ist: das Volksrecht lebt in dem Bewußtseyn des Volkes, und bei diesem ist zu- naͤchst die Kunde desselben zu suchen. Die aufgestellten Grundsaͤtze passen nun aber gleichmaͤßig, mag ein Volksrecht noch in seinem ganzen Umfange bestehen, oder nur sporadisch in einzelnen Instituten und Rechtsan- schauungen sich erhalten haben. Denn im letzteren Fall liegt im Wesentlichen fuͤr die noch geltenden Normen dasselbe Ver- haͤltniß vor, und der Unterschied besteht nicht in der Beschaf- fenheit, sondern in dem Umfange der Rechtskunde. Daher duͤrfen wir nun aber auch weiter annehmen: wer das Volks- recht anders als aus der unmittelbaren Anschauung und Le- benserfahrung kennen lernen will, der ist auf die Beobachtung und Erforschung desselben an geeigneter Stelle hingewie- sen. In einer solchen Lage aber befindet sich regelmaͤßig der deutsche Jurist, welcher das noch geltende Volksrecht in den Kreis seiner Kenntnisse aufnehmen will. Die Beschaffenheit unserer Gerichtsverfassung und der Gang des juristischen Stu- Viertes Kapitel . diums, welches durchaus eine gelehrte Richtung hat, halten ihn, wenn nicht ganz besonders guͤnstige Umstaͤnde vorliegen, vom eigentlichen Volksleben fern, und stellen ihn, wenigstens in vielen Beziehungen, auf den Standpunct eines außerhalb desselben befindlichen Beobachters. Am Guͤnstigsten ist noch die Lage des Advocaten, der mit den Parteien im unmittelba- ren Verkehr steht, und dem sie unbefangen ihr Herz aufschlie- ßen; ihm am Naͤchsten kommt der Unterrichter; schlimmer ist schon das Mitglied eines hoͤheren Gerichtshofs gestellt, welches fast nur mit Acten verkehrt; am Meisten ist aber der Univer- sitaͤtsgelehrte als solcher dem Rechtsleben entfremdet, nament- lich seitdem die Thaͤtigkeit der Spruchcollegien so beschraͤnkt worden ist. Und doch sind es gerade die zuletzt genannten Classen der Juristen, welche vorzugsweise die Foͤrderung un seres Rechtes in Haͤnden haben. — Vor Allem nun liegt es dem Juristen ob, bei der Erkun- dung des Volksrechts mit voller Unbefangenheit zu Werke zu gehen. Das ist freilich eine Anforderung, welche sich ganz von selbst versteht, und daher, scheint es, kaum besonders her- vorgehoben zu werden braucht. Aber bei dem uͤberwiegenden Einfluß, welchen das Studium des roͤmischen Rechts auf die heutige juristische Bildung ausuͤbt, und bei der noch unvoll- kommenen Entwicklung, welche dem einheimischen Rechte bis jetzt zu Theil geworden ist, trifft es sich nur zu haͤufig, daß selbst derjenige, welcher das im Volke lebende Recht sich an- zueignen bemuͤht ist, fremdartige Begriffe auf dasselbe uͤber- traͤgt, und mit Analogien sich begnuͤgend, oder doch das ei- gentliche Lebensprincip uͤbersehend, zur wahren Erkenntniß nicht gelangen kann. Der unbefangene, verstaͤndige Sinn, der un- getruͤbte, natuͤrliche Blick, der Eifer fuͤr das Wirkliche und Erkenntnißquellen des Volksrechts . Wahre: das sind bei dieser wie bei jeder andern Beobachtung die wesentlichen Erfordernisse, um zur rechten Einsicht zu ge- langen. Im Einzelnen koͤnnen dann freilich die Mittel und Wege, welche dahin fuͤhren, sehr verschieden seyn, je nachdem die Beschaffenheit des Gegenstandes und die zur Erforschung gebotene Gelegenheit sich gerade verhalten. Oft wird man nicht umhin koͤnnen, literaͤrische Huͤlfsmittel zu gebrauchen, welche, wenn sie nur uͤberhaupt zuverlaͤssig sind, wichtige Dienste leisten, und bei der gehoͤrigen Kritik und Sorgfalt den Man- gel der unmittelbaren Wahrnehmung, wenigstens theilweise, ersetzen koͤnnen. Aehnlich verhaͤlt es sich mit den Erkundi- gungen, welche bei den Betheiligten selbst eingezogen werden. Wendet man sich zu diesem Zweck an erfahrene und zuver- laͤssige Leute, denen die betreffenden Rechtsverhaͤltnisse ganz ge- laͤufig sind, und von denen man nach ihrer Stellung und ihrem Charakter erwarten darf, daß sie die Wahrheit nach be- stem Wissen sagen werden, so laͤßt sich hier oft die sicherste Auskunft erlangen. In dieser Beziehung koͤnnten z. B. die kaufmaͤnnischen Pareres (ein Institut, welches noch mancher Ausbildung faͤhig und sich auch auf andere Verhaͤltnisse an- wenden ließe) fuͤr die Wissenschaft und die Praxis eine Be- deutung bekommen, welche weit uͤber die bloße Feststellung von Ortsgebraͤuchen hinausginge; und die autonomische Belie- bung, in der sich fruͤher so oft das Volksrecht aussprach, kann unter Umstaͤnden auch jetzt noch als Zeugniß desselben benutzt werden. Auch in Gesetzen findet sich zuweilen die im Volke herrschende Rechtsidee klar und rein ausgesprochen, obgleich oft auch eine beschraͤnkte juristische Theorie oder verungluͤckte legislative Experimente den urspruͤnglichen Charakter verwischt haben. — Geht man aber mit seinen Erkundigungen direct Viertes Kapitel . ans Volk, so darf nicht vergessen werden, daß dasselbe bei der gegenwaͤrtigen Beschaffenheit des ganzen Rechtswesens die ein- zelnen Institute, die es noch unmittelbar lebendig erhaͤlt, nicht immer mit einem ganz sicheren Tacte beurtheilt; daß hier zu- weilen Verwechslungen zwischen zufaͤlligen Motiven und der eigentlichen, in den Verhaͤltnissen ruhenden Rechtsregel vorkom- men, welche nicht leicht statt finden werden, wenn die Rechts- uͤbung mit dem Geschaͤftsleben Hand in Hand geht, und nicht ausschließlich den geschulten Juristen uͤberlassen ist. Freilich wird es sich oft herausstellen, daß, wenn der Jurist solche Ver- wirrung zu finden glaubt, der schlichte Geschaͤftsmann, wie man zu sagen pflegt, den Nagel auf den Kopf getroffen hat, waͤhrend jener, in seinen angelernten Rechtsbegriffen eingespon- nen, den innern Zusammenhang der Regel und der thatsaͤchli- chen Verhaͤltnisse nicht durchschaut. Aber zuweilen liegt auch die Schuld auf der andern Seite, und es muß in einem sol- chen Fall gerade die Gewoͤhnung an die juristische Zergliede- rung und Deduction den Mann von Fach sicher stellen, daß er sich nicht zur Annahme eines unbegruͤndeten Rechtssatzes ver- leiten laͤßt. Hier die rechte Mitte zwischen Zweifel und Glau- ben zu halten, ist die Aufgabe des wissenschaftlichen und prac- tischen Tactes, welcher uͤberhaupt bei einer so freien Thaͤtigkeit, wie die bezeichnete ist, von bedeutendem Einfluß seyn muß. Allein auch eine solche Erkundigung im Volke nach den Rechtsansichten desselben bleibt immer nur eine mittelbare, wenn auch noch so wichtige Quelle der Erkenntniß. Es wird daher unten (Kap. 9.) noch besonders zur Frage gestellt werden, ob nicht durch eine zweckmaͤßige Umbildung der gegenwaͤrtigen deutschen Gerichtsverfassung dem Volksrechte eine mehr unmittelbare Ver- tretung gesichert werden kann. Jedenfalls wuͤrde es auch den Erkenntnißquellen des Volksrechts . Juristen eher zum Ziele fuͤhren, wenn er sich durch die genaue Beobachtung der Rechtsverhaͤltnisse und Geschaͤfte eine selbstaͤn- dige Ansicht verschaffen, sich selbst als einen Genossen des Vol- kes fuͤhlen lernen, und die in den Thatsachen ruhende ratio ohne weitere Vermittlung verstehen koͤnnte Und in der That, bei gewissen allgemeinen Rechtsinstituten kann auch der Jurist zu einer solchen unmittelbaren Wahrnehmung gelangen. Er steht so gut in seiner Nation, wie jeder Andere, und wenn un- gluͤcklicher Weise sein Studium von der Art ist, daß es ihn eher von deren Ansichten entfernt, als daß es sie recht ausbil- dete und entwickelte, so ist das doch kein Hinderniß, welches durch den rechten Ernst und das rechte Streben nicht sollte beseitigt werden koͤnnen. Sind aber auch die Schwierigkeiten groß, und bei dem eigentlichen Staͤnderecht oft unuͤbersteiglich, weil dieses eben wieder einen besonderen buͤrgerlichen Wirkungs- kreis voraussetzt: so wird doch der gewissenhafte Jurist stets nach Kraͤften dahin streben muͤssen, sich in die Denkweise des Volkes zu versetzen, und so viel moͤglich sich selbst als einen Traͤger des Volksrechts zu fuͤhlen. Dann wird auch jede Be- trachtung der Rechtsverhaͤltnisse ihm eine ganz andere Ausbeute geben, als wenn er sich damit beschiede, von außen her als ein Fremder die Sachen anzusehen, und er wird namentlich der Gefahr entgehen, das, was lebendig wirkend vor ihm liegt, bloß als eine todte Regel in sich aufzunehmen, die er nur seinem Gedaͤchtnisse einzupraͤgen und auf das untergelegte Factum an- zuwenden habe. Aber es kommt nicht bloß darauf an, sich den Rechtsstoff moͤglichst vollstaͤndig anzueignen, und ihn in seiner wahren Be- deutung zu erfassen. Wenn die Wissenschaft einmal an einen Gegenstand tritt, so kann sie ihn nicht als etwas Einzelnes Viertes Kapitel . oder als ein Aggregat von Einzelnheiten gelten lassen; sie muß sich des darin herrschenden Gedankens bemaͤchtigen, und die Principien erfassen, in denen das Wesen der Dinge enthalten ist. Auch das Volksrecht, so wie es einmal in den Kreis der Rechts- wissenschaft gezogen worden, muß diesen Proceß durchmachen. Doch braucht bei dem gegenwaͤrtigen Stande der Wissenschaft wohl kaum die Verwahrung hinzugefuͤgt zu werden, daß hier nicht an die Unterordnung des lebendigen Rechts unter Be- griffe, die nicht in der Sache selbst liegen, sondern anders wo- her geholt werden, zu denken ist. Die Aufgabe bleibt viel- mehr die, die Principien des zur Erkenntniß gebrachten Rechts- stoffs nachzuweisen, und in ihrer innern Consequenz darzustellen. In dieser Hinsicht kann die Wissenschaft auch dem Leben einen großen Dienst erweisen. Denn es stehen vielleicht alle Geschaͤfte in voller Harmonie mit der sie beherrschenden Rechtsregel, und in jedem einzelnen Fall wird das Richtige getroffen; aber die, welche bei der Abschließung derselben thaͤtig sind, haben kein bestimmtes Bewußtsein von der allgemeinen Idee, welche sie leitet, sie folgen nur ihrer Geschaͤftskunde und ihrem richtigen Gefuͤhle. Die Wissenschaft stellt nun das Princip klar und bestimmt hin, und verschafft dadurch auch seiner Durchfuͤhrung im Einzelnen die gehoͤrige Sicherheit und Anerkennung. Ein Beispiel mag dieß verdeutlichen. Man kann wohl sagen, daß fast alle eigenthuͤmlichen Erscheinungen des Handelsrechts, welche sich unmittelbar auf den Handelsverkehr der Kaufleute beziehen, auf das Princip des kaufmaͤnnischen Credits zu- ruͤckzufuͤhren sind; daß dieß der eigentliche leitende Gedanke ist, welcher die verschiedenartigsten Rechtsinstitute hervorgerufen hat, und ihre besondere Natur und ihr gegenseitiges Verhaͤltniß bestimmt. So praͤgt sich dieses Princip in bestimmten, allge- Erkenntnißquellen des Volksrechts . mein anerkannten Einrichtungen auf das Deutlichste aus, und jeder reelle Kaufmann geht bei jedem einzelnen Geschaͤfte, wel- ches er abschließt, von der Voraussetzung aus, daß auch in dem besonderen Falle die Contrahenten gegenseitig alle Regeln, welche der kaufmaͤnnische Credit auferlegt, stillschweigend aner- kennen, und auf dieser Basis (secundum bonam fidem) operiren. Der kaufmaͤnnische Credit (der hier aber natuͤrlich im weiteren Sinne, und nicht bloß in Beziehung auf spaͤter zu leistende Zahlungen aufgefaßt wird) ist so zu sagen die Seele des Handelsrechts; er bringt die oft scheinbar so singu- laͤren Handelsgebraͤuche zum rechten Verstaͤndniß, und gewaͤhrt fuͤr manche dunkle Institute erst die rechte Einsicht. Die schwie- rigsten Lehren des Wechselrechts, die Frage uͤber die rechtliche Wirkung derC onnossemente , uͤber die Perfection brieflich abge- schlossener Vertraͤge u. s. w. lassen sich nach diesem Princip leicht und mit Sicherheit loͤsen. — Aber freilich ist unsere Ju- risprudenz noch weit davon entfernt, sich auf diese Weise mit dem Volksrecht zu identificiren, und dasselbe zum hoͤheren, wis- senschaftlichen Verstaͤndniß zu erheben, so nothwendig das auch gerade unter den gegenwaͤrtigen Verhaͤltnissen, wo keine Volks- gerichte die Rechtspflege in Haͤnden haben, seyn kann. Denn der Kaufmann z. B. findet die Anerkennung und Befolgung der in der Handelswelt allgemein angenommenen Normen so natuͤrlich, und nimmt sie so sehr als sich von selbst verstehend an, daß er weiter nicht uͤber den letzten Grund ihrer Geltung reflectirt, und auf Befragen vielleicht gar nichts als den allge- meinen Brauch dafuͤr anzufuͤhren weiß, was denn nach der aͤlteren Theorie noch eine besondere Beweisfuͤhrung noͤthig ma- chen wuͤrde. — Wie nachtheilig es aber wirkt, wenn die Ju- risprudenz dem Volksrechte ein falsches Princip unterbreitet, Viertes Kapitel . das zeigt, um bei dem Handelsrecht stehen zu bleiben, unser deutsches Wechselrecht; denn zu welchen Ungerechtigkeiten und zu welchen Verirrungen in der Gesetzgebung und der Theorie hat die Ansicht, welche das Wesen des Wechselbriefs in den rigor cambialis, die Wechselstrenge setzte, schon Veranlassung gegeben, und wie lange wird das noch nachwirken, auch seit- dem sie von Einert C. Einert, das Wechselrecht nach dem Beduͤrfniß des Wechselge- schaͤfts im 19. Jahrhundert. Leipzig, 1839. in seinem vortrefflichen Werke wissen- schaftlich vernichtet worden ist. 2. Die bisherige Ausfuͤhrung ist von der Ansicht ausge- gangen, daß das Volksrecht noch wirklich im Volksbewußtseyn lebendig sey. Das muß nun auf gewisse Weise immer der Fall seyn, wenn man nicht dahin kommen will, auch das Ab- gestorbene dem geltenden Rechte beizufuͤgen, oder Institute zum Volksrechte zu zaͤhlen, welche ihrer ganzen Natur nach nicht zu diesem, sondern zu andern Rechtstheilen zu stellen sind. Indessen kann doch auch die Kunde von solchen Instituten, welche urspruͤnglich dahin gehoͤrt haben, im Volke geschwaͤcht werden, und zwar bis zu einem solchen Grade, daß die Si- cherheit und Klarheit der Anschauung verloren geht, und es selbst dem schaͤrfsten Auge schwer wird, den eigentlichen Charak- ter in der noch bestehenden Rechtsform zu erkennen. Eine solche Erscheinung kann verschiedene Ursachen haben. Zuwei- len hat ein Institut in Folge einer im Staats- und Rechts- leben vorgegangenen Umaͤnderung seine fruͤhere Bedeutung ver- loren, ohne durch neue Bildungen vollstaͤndig verdraͤngt zu seyn, so daß die allgemeine Idee, worauf es beruhte, wirkungs- los geworden ist, und das daran haͤngende Recht nun ohne Erkenntnißquellen des Volksrechts . ein lebendiges Princip haltungslos da steht. Anders stellt sich schon die Sache, wenn zwar das alte Princip erhalten wor- den ist, aber nicht in dem fruͤheren Umfang seiner Geltung, vielleicht auch eine neue Form bekommen hat, und in dieser noch nicht zur vollstaͤndigen Durchbildung gelangt ist. Kommt nun zu solchen Erscheinungen noch eine allgemeine Hemmung und Unterbrechung der Rechtsbildung hinzu, und sinkt das Volk in Folge unheilvoller Ereignisse zu einer energielosen Pas- sivitaͤt herab, wie es seit dem 17. Jahrhundert in Deutschland geschehen: so wird, wie leicht zu erachten, die Beobachtung des Rechts im Volke selbst keine genuͤgende Kunde desselben gewaͤhren koͤnnen, und die erhaltenen Ueberreste fruͤherer Rechts- zustaͤnde muͤssen, soweit es uͤberhaupt moͤglich ist, noch auf andere Weise zum Verstaͤndniß gebracht werden. Dann bekommt aber das Verhaͤltniß der Wissenschaft zum Volksrecht eine eigenthuͤmliche Bedeutung; sie zeigt sich nicht mehr bloß beobachtend und ordnend, sondern sie tritt selbstaͤndi- ger auf, indem sie sich auf dem Gebiete der historischen For- schung bewegt, und hier das Material fuͤr die Construction der Rechtsinstitute aufsucht. Doch stehen diese beiden Richtungen der Methode sich nicht schroff einander gegenuͤber; sie haben das Gemeinsame, daß sie sich in den Besitz der leitenden Principien zu setzen suchen, und schließen sich nicht einander aus, sondern gehen sich ergaͤnzend neben einander her, in der Art, daß sie bald von fast gleicher Bedeutung fur eine Lehre sind, bald aber die eine vor der andern mehr oder weniger zuruͤck tritt. — Fragen wir nun, welcher von diesen beiden Wegen bis jetzt am Meisten betreten worden, so zeigt sich offenbar derjenige, welcher durch das Volksleben zur wissenschaftlichen Erkenntniß fuhrt, im Vergleich mit dem anderen sehr vernach- Viertes Kapitel . laͤssigt. Fuͤr das Handelsrecht ist beziehungsweise in dieser Richtung noch das Meiste geschehen, indem theils die Betrach- tung des Geschaͤftsverkehrs unabweislich war, theils auch die Leistungen anderer Nationen unmittelbar benutzt werden konn- ten; auch sonst ist im Einzelnen dadurch schon Manches ge- foͤrdert worden. Aber allgemeinere Versuche, das Volksrecht im Volksleben selbst zu erforschen, sind kaum angestellt wor- den; und wenn einige bedeutende Maͤnner, unter denen na- mentlich J. Moͤser zu nennen ist, ihr Streben darauf gerichtet haben, so blieben sie vereinzelt stehen, und fanden fast gar keine Nachfolger. Auch die historische Erforschung unseres Rechts hat freilich noch nicht die Ergebnisse geliefert, welche allen Anforderungen der Wissenschaft entsprechen, oder auch nur immer das naͤchste practische Beduͤrfniß befriedigen koͤnnen; al- lein hier ist, namentlich durch die Verdienste von Eichhorn und J. Grimm, die Arbeit doch viel umfassender, zusammenhaͤn- der und vergleichsweise auch erfolgreicher geworden. — Be- trachten wir nun auch dieses Verfahren, um zu sehen, wie darin eine Erkenntnißquelle des Volksrechts vorhanden ist. Zunaͤchst ist hier eine allgemeine Bemerkung voraus zu schicken, welche fuͤr den wahren Historiker freilich sehr uͤberfluͤs- sig erscheinen wird, aber dennoch gerade in Beziehung auf die geschichtliche Behandlung unseres Rechts nicht erspart werden kann. Die Geschichte hat es mit der Vergangenheit zu thun, und zwar in ihrem ganzen Umfange, so daß sie erst da auf- hoͤrt, wo die naͤchste Gegenwart beginnt, welche ihren Aus- gangspunct bildet. Auch diese hat wieder ihre selbstaͤndige Bedeutung, welche unmittelbar erfaßt und begriffen werden will; sie fuͤgt den uͤberlieferten Momenten neue Bildungen hinzu, und bekommt so fuͤr die Zukunft selbst den Charakter Erkenntnißquellen des Volksrechts . einer historischen Auctoritaͤt. Es ist daher nichts unwahrer und unhistorischer, als das Verfahren mancher Leute, welche der Gegenwart jede unbefangene Anerkennung versagend, nur in dem Alter der Institute die Gewaͤhr ihrer inneren Begruͤndung finden. Aber auch bei dieser Auffassung geht man oft auf das Allerwillkuͤhrlichste zu Werke, greift aus der fruͤheren Zeit gewisse Perioden heraus, die fuͤr besondere Zwecke einen An- haltspunct zu gewaͤhren scheinen, und errichtet aus diesen vereinzelten Bruchstuͤcken dann ein Gebaͤude, fuͤr welches man die ausschließliche historische Begruͤndung in Anspruch nimmt. So giebt es eine ganze Schule von Politikern in Deutschland, welche die urspruͤngliche germanische Rechtsbildung, wie sie sich in der Herrschaft des gemeinen Rechts und der gemeinen Frei- heit darstellt, durchaus ignorirt, und ebenfalls dem welthistori- schen Bildungsproceß der modernen Zeit jede hoͤhere, nicht bloß thatsaͤchliche Geltung abspricht, so daß nur die verhaͤltnißmaͤ- ßig kurze Periode der deutschen Geschichte, in welcher die schroffe Sonderung des Staͤndewesens und das privatrechtliche Princip des Patrimonialstaates sich auspraͤgten, als das Muster und Ideal echtgermanischer Rechtsbildung dargestellt wird, deren Wiederherstellung vor Allem Noth thue. Vorurtheile mancher Art, egoistisches Interesse, Unwissenheit und geistige Beschraͤnkt- heit wirken dann zusammen, um einer solchen Lehre eine, wenn auch nur geringe, doch sehr eifrige Schaar von Anhaͤngern zuzufuͤhren. — Andere, welche sich mehr auf dem Gebiete des Civilrechts bewegen, schließen die Geschichte des deutschen Rechts mit der Reception des roͤmischen Rechts ab, und erkennen von da an nur eine gewisse aͤußerliche Bewegung in der Jurispru- denz und der Gesetzgebung an, indem sie anzunehmen scheinen, daß die stille und nachhaltige Kraft, mit welcher jede nicht Beseler , Volksrecht. 9 Viertes Kapitel . ganz verkommene Nation auf ihre Rechtsbildung einwirkt, seit jenem verhaͤngnißvollen Ereigniß in Deutschland fuͤr immer gebrochen sey. Das einseitige, den freien Blick fuͤr das That- saͤchliche truͤbende Studium des fremden Rechts, welches einen vorzugsweise gelehrten Standpunct voraussetzt, ist der gewoͤhn- liche Grund einer solchen Verirrung. Wenn wir aber in der historischen Forschung eine wichtige und fruchtbare Quelle fuͤr die Erkenntniß des Volksrechts finden, so denken wir sie uns ohne jene willkuͤhrliche und unwissenschaftliche Beschraͤnkung; das ganze Gebiet der Geschichte ist ihr zur Ausbeute eroͤffnet, und wenn sie bei der Gegenwart angelangt ist, so weiß sie diese im Zusammenhange mit der Vergangenheit zu erfassen, und geht in die unmittelbare Beobachtung und Wuͤrdigung der heutigen Zustaͤnde uͤber. Wie jeder andere Geschichtschreiber hat nun auch der Rechtshistoriker alle Momente zusammen zu fassen, welche ihm die einzelnen geschichtlich begruͤndeten Ereignisse und Zustaͤnde zur Anschauung und zum Verstaͤndniß bringen; er hat ihren innern Zusammenhang zu erkennen, und die allgemeinen Rechts- ideen in ihrer historischen Bewegung aus den Thatsachen dar- zustellen. So gewaͤhrt er nicht bloß die rechte Einsicht in das gesammte Rechtsleben der Nation, sondern stellt auch die einzelnen Lehren klar und bestimmt in ihrer eigenthuͤmlichen Bedeutung hin. — Um zu zeigen, wie sich die historische For- schung eines Instituts in seiner geschichtlichen Entwicklung be- maͤchtigen kann, und wie dann die gewonnenen Resultate sich auch fuͤr das Recht der Gegenwart als hoͤchst fruchtbar und einflußreich herausstellen, waͤhle ich ein Beispiel an der Auf- lassung , deren Wesen und Bedeutung erst in neuerer Zeit recht erkannt worden ist. Erkenntnißquellen des Volksrechts . Soweit sich die Quellen des deutschen Rechts verfolgen lassen, findet sich in denselben der Grundsatz ausgepraͤgt, daß dingliche Rechte an Grundstuͤcken nicht durch Besitzeinraͤumung und Vertrag, sondern nur durch eine feierliche, oͤffentliche Hand- lung uͤbertragen werden koͤnnen, welche in ihrer spaͤteren Form vor dem ordentlichen Gerichte der belegenen Sache vorgenom- men werden mußte. Urspruͤnglich war dieß fuͤr freies Eigen das ungebotene Echteding, welches alle schoͤffenbaren Dingpflich- tigen besuchen mußten, und wo daher regelmaͤßig jeder Wider- spruch gegen die vorzunehmende Auflassung (so nenne ich jenen feierlichen Act der Uebertragung) sofort von dem Betheiligten oder dessen gesetzlichen Vertreter geltend gemacht werden konnte; wer dieß, obgleich er gegenwaͤrtig war, unterließ, der hatte sich seines Rechtes verschwiegen. Indessen beruhte die Anwesenheit aller Betheiligten doch nur auf einer Fiction, und es konnte daher nicht fehlen, daß zuweilen eine bereits vollzogene Auf- lassung angefochten ward, selbst wenn man das namentlich in den nordischen Rechten ausgebildete Institut der vorhergehen- den Verkuͤndigung angewandt hatte. Solche Anfechtungen mußten besonders haͤufig werden, als sich das Beispruchsrecht der naͤchsten Erben bei Veraͤußerungen des Grundbesitzes zur allgemeinen Geltung erhoben hatte, und die Anfechtungsgruͤnde dadurch so sehr vermehrt worden waren. Neben der Auflas- sung entwickelte sich daher zu ihrer Unterstuͤtzung eine besondere Verjaͤhrung, indem der Empfaͤnger, welchem der Tradent so lange Gewaͤhr zu leisten hatte, erst nach Ablauf von Jahr und Tag gegen die dingliche Klage des Verletzten, der nicht sofort seinen Widerspruch hatte erheben koͤnnen, gesichert ward (die rechte Gewere erhielt). Das ward nun um so wichtiger, als die alte Landesgemeinde der schoͤffenbar Freien im Echte- 9* Viertes Kapitel . ding immermehr an Bedeutung verlor, und die Lehen- und Voigtsgerichte, in den Staͤdten auch die Schoͤffenbank oder der Stadtrath die Auflassung der zu ihrer Competenz gehoͤri- gen Guͤter vor sich vollziehen ließen. Denn die jetzt mehr Platz greifende richterliche Voruntersuchung, welche namentlich das Recht an Erbguͤtern feststellte, hatte doch nicht eine solche Bedeutung, daß dadurch jede spaͤtere Anfechtung unmoͤglich ward, da von einer eventuellen Haftung des Gerichts wegen mangelhafter Berichtigung des Legitimationspunctes wohl vor den neueren Gesetzgebungen keine Spuren vorkommen. Immer aber blieb, so lange die deutsche Gerichtsverfassung bestand, die gerichtliche Auflassung die einzige Form, welche neben der Erbfolge und dem Richterspruch das Eigenthum oder irgend ein dingliches Recht (die Gewere) an Immobilien uͤbertrug, und wenn auch seit dem 13. Jahrhunderte, namentlich in den Staͤdten, die schriftliche Aufzeichnung der vollzogenen Auflas- sung hinzukam, so war dieß nichts Wesentliches, und diente bloß zur Sicherung des Beweises, ersetzte wenigstens die feier- liche Handlung selbst nicht. — Durch das Princip der Auf- lassung ward nun dem deutschen Recht des Grundbesitzes eine außerordentliche Festigkeit und Sicherheit gegeben; es ward da- durch der Besitztitel des Eigenthuͤmers unter die Garantie der Oeffentlichkeit gestellt, und jedes dingliche Recht in Beziehung auf den Erwerb und die Prioritaͤt vollstaͤndig geschuͤtzt und controlirt. Spaͤter, als das roͤmische Recht aufgenommen, die deutsche Gerichtsverfassung gesprengt ward, aͤnderte sich das Verhaͤltniß: die Romanisten, welche die mancipatio und in jure cessio als einen etwaigen Anhalt im Justinianischen Rechte nicht mehr vorfanden, uͤbersahen ganz die Bedeutung des deutschrechtlichen Instituts, und erkannten statt dessen fuͤr Erkenntnißquellen des Volksrechts . das gemeine Recht nur die Besitzuͤbertragung und den Ver- trag an. In Particularrechten und namentlich in manchen Stadtrechten erhielt sich freilich noch die alte Einrichtung, aber in der vereinzelten Stellung verlor sie viel von ihrer urspruͤng- lichen Bedeutung, da uͤberhaupt die Oeffentlichkeit dem neu ausgebildeten Gerichtswesen fremd war, und die Juristen sich mit zum Theil ganz abgeschmackten Analogien aus dem roͤ- mischen Recht die Sache zu erklaͤren suchten, und sie daher immer mehr verwirrten. Die Grundsaͤtze uͤber das pignus publicum, uͤber die gerichtliche Confirmation der Vertraͤge und die Anmeldung einer großen Schenkung sind in verschiedener Weise auf die Lehre von der Auflassung angewandt worden. — Durch diese Umkehrung aber, welche das Recht des Grund- besitzes erfuhr, und durch die Herrschaft, welche das in dieser Hinsicht fuͤr uns fast ganz unbrauchbare roͤmische Recht er- langte, hat Deutschland einen großen Schaden genommen: der Mangel eines gesicherten Besitztitels mußte zu einer ver- derblichen Rechtsunsicherheit fuͤhren, und der ganze Realcredit ward auf das Tiefste erschuͤttert, als das elende roͤmische Hy- pothekenwesen mit seinen Legal- und Conventionalpfaͤndern und seinen Privilegien eine gemeinrechtliche Geltung erhielt. — Aber gerade dieses Unheil fuͤhrte zur besseren, freilich theuer erkauf- ten Einsicht. Schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts hatten einige ausgezeichnete Bearbeiter des saͤchsischen und luͤ- bischen Rechts das Wesen der dort noch erhaltenen Auflassung richtiger erkannt, und dadurch auch zur allgemeineren Wuͤrdi- gung derselben wesentlich beigetragen. In spaͤterer Zeit nun, als die Gesetzgebung auf eine Reform jener schlimmen Zu- staͤnde bedacht war, lehnte sie sich dabei wieder an das noch nicht ganz untergegangene Institut des alten Volksrechts an, Viertes Kapitel . indem sie dessen Princip adoptirte, und demselben nur eine an- dere, zeitgemaͤße Form gab. Durch das Steuerwesen war man schon darauf hingewiesen, den Grundbesitz zu individua- lisiren, und die einzelnen Grundstuͤcke in oͤffentlichen Buͤchern genau zu verzeichnen. Der leitende Gedanke der neueren Hy- pothekenordnungen besteht nun darin, solche oͤffentliche Buͤcher als Grundlage des Realcredits zu benutzen, und die Erwerbung eines dinglichen Rechts von der Eintragung in das Hypothe- kenbuch abhaͤngig zu machen. Diese erscheint also als eine Auf- lassung in foro rei sitae, nur daß die Schrift an die Stelle des feierlichen, symbolischen Actes getreten ist, und nicht mehr die Parteien selbst unmittelbar dabei thaͤtig sind, sondern, durch sie veranlaßt, die oͤffentliche Behoͤrde die entscheidende Hand- lung vornimmt, indem man den Mangel des alten Echtedings durch Edictalcitationen zu ersetzen sucht. Oft mag man sich frei- lich gar nicht daruͤber klar geworden seyn, daß man sich mit dem sogenannten Princip der Publicitaͤt und Specialitaͤt wie- der auf dem Wege der altgermanischen Rechtsbildung befinde; manche Gesetzgebung der angefuͤhrten Art laͤßt auch bald die Consequenz und Strenge, bald die Elasticitaͤt des aͤlteren Rechts, welches die Auflassung nicht nothwendig auf einzelne Grundstuͤcke beschraͤnkte, gar sehr vermissen; man hat oft die verschiedene Vertheilung des Grundbesitzes und namentlich die Moͤglichkeit der freien Zerstuͤckelung im Gegensatz zu den ge- schlossenen Stellen nicht gehoͤrig erwogen, und sich so eine un- geheure Last der Katastrirung und Buchfuͤhrung aufgeladen, bei der Mittel und Zweck in keinem Verhaͤltnisse stehen; die Feststellung des Legitimationspunctes ist zum Theil mit einer wahrhaft pedantischen Aengstlichkeit geordnet. Solchen und aͤhnlichen Ausstellungen sind diese neueren Gesetzgebungen viel- Erkenntnißquellen des Volksrechts . fach ausgesetzt; aber geht man naͤher darauf ein, so wird sich sehr oft ergeben, daß gerade die mangelhafte Kenntniß von dem Institut der Auflassung in seiner fruͤheren, lebensvollen Wirksamkeit, welche nicht durch eine vollendete legislative Kunst ersetzt ward, diese Fehler begehen ließ. Auch in mancher an- dern Beziehung wird die historische Forschung, welche den in- nern Zusammenhang der ganzen Rechtsentwicklung aufdeckt, und namentlich die verschiedenen Mittel, deren man sich in den verschiedenen Zeiten zur Sicherung des Privatcredits be- dient hat, darlegt, der scheinbar modernen Schoͤpfung erst ihr rechtes Verstaͤndniß sichern. Dadurch gewinnt aber die Lehre von der Auflassung, obgleich sie sich zunaͤchst immer als ein Institut des speciellen Rechts darstellt, auch einen bestimm- ten gemeinrechtlichen Inhalt, und wenn sie auch in ihren einzelnen Erscheinungen meistens erst durch die neuere Gesetz- gebung begruͤndet worden ist, so hat sie doch, als Ganzes be- trachtet, ihre Wurzel im Volksrecht. Bei solchen historischen Deductionen kommen namentlich zwei Gesichtspuncte in Betracht, die man stets festhalten muß, um sich die wissenschaftliche Sicherheit und Unbefangenheit zu bewahren. Zuvoͤrderst hat man das Institut, um welches es sich handelt, in seiner urspruͤnglichen Beschaffenheit zu erfor- schen und die dasselbe beherrschenden Principien darzulegen; dann aber muß man ihm in seiner weiteren Ausbildung oder Verbildung nachgehen, um seine Stellung im Recht der Ge- genwart gehoͤrig zu begreifen. Dabei darf freilich die volle Freiheit der wissenschaftlichen Forschung in Anspruch genom- men werden; bald laͤßt sich in weit entfernten Zeiten das Princip noch bestehender Einrichtungen, welche fruͤher vielleicht einer groͤßeren Lebenskraft sich erfreuten, nachweisen, bald kann Viertes Kapitel . man umgekehrt durch die Anschaung der naͤchsten Umgebung zum Verstaͤndniß des Alterthums gefuͤhrt werden. Wo das rechte Gleichgewicht zwischen dem ausgebildeten Sinn des Ge- schichtsforschers und des Beobachters sich findet, da werden die reichsten Fruͤchte der Arbeit zu erwarten seyn. — Es ist auf- fallend, wie sehr dieß von unseren Germanisten oft verkannt wird. Wie viele Muͤhe haben sie sich z. B. gegeben, das Princip der ehelichen Guͤtergemeinschaft festzustellen; wie viel historische Gelehrsamkeit und juristischer Scharfsinn ist darauf verwandt worden! Hat aber auch nur Einer schon einmal den Weg eingeschlagen, welcher bei einem, wie es scheint, noch in frischer Geltung stehenden Institute doch so leicht gebahnt war, und sich unbefangen an das Volk gewandt, um zu se- hen, wie dieses denn die Sache auffaßt, und wie sich in sei- ner Anschauungsweise die Verhaͤltnisse ausnehmen? Freilich wird man dann vielleicht zu Resultaten kommen, welche den roͤmisch zugespitzten Rechtsbegriffen der Schule kaum faßlich erscheinen; aber wenn wir dem vorhandenen Rechtsstoff unsere Begriffe entlehnen, und diese nicht von Außen her in densel- ben hineintragen wollen, so werden sich auch schon die Mittel finden, um eine eigenthuͤmliche deutsche Rechtsanschauung dem juristischen Verstaͤndniß zu erschließen. — Indessen kann es allerdings geschehen, daß gewisse allgemeine Rechtsideen sich allmaͤlig aus dem Volksleben zuruͤckziehen, ohne daß zugleich die Institute, welche sie urspruͤnglich beherrschten, ihre aͤußere Geltung verlieren. Es wird spaͤter noch zur Frage kommen, ob so etwas nicht bei der ehelichen Guͤtergemeinschaft vorge- gangen sey; ohne Zweifel ist es bei dem Lehenrecht der Fall gewesen, da dessen eigentliches Princip, die Lehenstreue in die Unterthanentreue und Buͤrgerpflicht des modernen Staates Erkenntnißquellen des Volksrechts . aufgegangen ist; desgleichen bei den Reallasten, welche, we- nigstens in ihrer fruͤheren Bedeutung, dem gegenwaͤrtigen Rechts- leben in Beziehung auf die Verhaͤltnisse des Grundeigenthums und des Verkehrs nicht mehr entsprechen. In solchen Faͤllen kann die historische Forschung das abgestorbene Princip natuͤr- lich nicht wieder ins Leben rufen; sie muß sich darauf be- schraͤnken, den Thatbestand festzustellen und zu erklaͤren, und es der Praxis uͤberlassen, sich fuͤr den einzelnen Fall auf ir- gend eine Weise die entsprechende Norm der Entscheidung zu verschaffen. Das kann denn freilich leicht zur Unsicherheit und Verwirrung fuͤhren; aber die willkuͤhrliche Annahme, daß das aͤltere Recht noch das unbedingt geltende sey, ist nicht das rechte Mittel, sie zu beseitigen. Wenn einem Institute jede wahre Lebenskraft ausgegangen ist, so erscheint es doch nur rein zufaͤllig, wenn es uͤberhaupt noch existirt; und vermag das Volk selbst nicht, es auszustoßen oder durch neue Bildun- gen zu ersetzen, so ist es die Aufgabe der Gesetzgebung, hier reformatorisch einzugreifen, und das gehoͤrige Gleichgewicht zwi- schen der Rechtsregel und den Rechtsverhaͤltnissen wieder her- zustellen. Nach dieser allgemeinen Eroͤrterung laͤßt sich nun auch die Bedeutung des particulaͤren und statutarischen Rechts fuͤr die historische Erforschung des Volksrechts bestimmen. Abge- sehen naͤmlich von den besonderen Instituten, welche in jenen Rechtsquellen auf eine eigenthuͤmliche Weise ausgebildet wor- den sind und ihre selbstaͤndige Behandlung verlangen, ist in denselben nur ein Huͤlfsmittel fuͤr die Begruͤndung des gemei- nen Rechts enthalten, ohne daß dieses ausschließlich aus ihnen geschoͤpft werden koͤnnte. Man hat zwar wohl gemeint, aus der Uebereinstimmung mehrer oder vieler Particularrechte auf Viertes Kapitel . die gemeinrechtliche Geltung gewisser Rechtssaͤtze schließen zu koͤnnen; allein wenn auch daraus eine gewisse Wahrscheinlich- keit fuͤr ein solches Verhaͤltniß folgen mag, so fehlt demselben doch jede Gewaͤhr einer wirklich nothwendigen Begruͤndung. Denn bei dem selbstaͤndigen Gange, den namentlich seit dem 16. Jahrhundert die Entwicklung der Particularrechte genom- men hat, und bei der oft durch aͤußere Einwirkungen bestimm- ten Aehnlichkeit, die manche unter ihnen haben, laͤßt sich von solchen speciellen Satzungen allein noch kein sicherer Schluß auf die gemeinrechtliche Regel machen. Viele Mißverstaͤndnisse sind dabei untergelaufen, und manche Einrichtung ist nur aus aͤußeren Ruͤcksichten der Zweckmaͤßigkeit getroffen worden. Da- zu kommt, daß die speciellen Gesetzgebungen meistens unter dem unmittelbaren Einfluß der gerade herrschenden Theorie entstanden sind, welche sich in der bestimmten Zeit und unter den gegebenen Verhaͤltnissen allerdings mit einer gewissen All- gemeinheit geltend machte, ohne jedoch bei der allmaͤligen Um- bildung vieler gemeinrechtlichen Lehren anders als in den ein- zelnen Gesetzen fuͤr die Dauer fixirt zu seyn. Man hat daher in jedem einzelnen Fall zu erwaͤgen, ob und in welcher Weise die allgemeine Rechtsidee durch eine solche Gesetzgebung eigen- thuͤmlich modificirt worden ist. Bedenkt man nun noch, daß es unter diesen Umstaͤnden ganz zufaͤllig seyn kann, ob ein Institut, welches auf verschiedene Weise aufgefaßt worden, gerade in seiner rechten Bedeutung die weiteste Verbreitung gefunden hat, und daß in der Wissenschaft die Zahl nicht auch nothwendig das Gewicht der Gruͤnde bestimmt, so wird wohl die Annahme, daß die Uebereinstimmung mehrer Particular- rechte gemeines Recht bilde, keiner weiteren Widerlegung be- duͤrfen. Oft stellt sich ja auch die Sache so, daß eine ge- Erkenntnißquellen des Volksrechts . meinrechtliche Lehre in verschiedenen Formen ausgebildet wor- den ist, und daß man sich damit begnuͤgen muß, das gemein- same Princip mit wenigen allgemein guͤltigen Folgerungen daraus anzugeben, dann aber die einzelnen Erscheinungen, in denen es sich gruppenweise in den Particularrechten darstellt, besonders zu betrachten, und die Regel, von der sie wieder be- herrscht werden, nachzuweisen, bis man endlich, den Boden des gemeinen Rechts verlassend, zu der speciellen Normirung in den engeren Kreisen der Landesrechte und Statute gelangt. — Doch sind diese speciellen Rechtsquellen auch fuͤr die historische Erforschung des gemeinen Volksrechts von der groͤßten Wich- tigkeit. Denn es zeigt sich in ihnen, wie sich die allgemeinen Principien in dem Rechtsleben der einzelnen Laͤnder und Be- zirke ausgepraͤgt haben; ob das Institut, falls es schon von einem hoͤheren Alter ist, in seiner urspruͤnglichen Reinheit er- halten, oder ob es veraͤndert, beseitigt und vielleicht von Neuem wieder hergestellt worden ist. Fünftes Kapitel. Das Volksrecht als gemeines Landrecht . Es sind schon fruͤher die Ursachen angegeben worden, warum das Volksrecht gerade auf dem Gebiete des gemeinen Landrechts, welches sowohl zum particulaͤren Rechte als auch zum Staͤnderechte einen Gegensatz bildet, nur in einer beschraͤnk- ten Geltung vorkommt. Denn gerade in dieser Sphaͤre hat sich das roͤmische Recht festgesetzt, und durch das Juristenrecht seine Umbildung und weitere Entwicklung erhalten, so daß von einer allgemeinen Herrschaft des Volksrechts nicht die Rede seyn kann. Dasselbe kommt hier vielmehr nur insofern in Betracht, als es sich dem roͤmischen Recht gegenuͤber selbstaͤn- dig geltend gemacht, oder doch dem Juristenrecht seinen In- halt und seine bestimmte Richtung gegeben hat. Um nun die Bedeutung des Volksrechts in dieser Beziehung zu wuͤrdigen, wird es zuvoͤrderst noͤthig seyn, das gemeine Landrecht in sei- nen einzelnen Theilen genauer zu betrachten, und die Beschaf- fenheit seines Inhalts von dem bezeichneten Standpuncte aus zu bestimmen. Es ist dabei aber nicht auf eine vollstaͤndige Erwaͤgung des Details abgesehen, wofuͤr es auch noch an den noͤthigen Vorarbeiten fehlt; der Zweck der folgenden Ausfuͤh- rung geht vielmehr nur dahin, eine allgemeine Charakteristik des Einflusses, welchen das Volksrecht in dieser Sphaͤre aus- geuͤbt hat, an die Darlegung des Einzelnen anzuknuͤpfen. I. Das Privatrecht . Hier findet sich das Volksrecht theilweise noch in einer sehr ausgebreiteten Wirksamkeit. Namentlich das Fami- Das Volksrecht als gemeines Landrecht . lienrecht ist trotz seiner romanistischen Faͤrbung dadurch in sehr wesentlichen Puncten der nationalen Rechtsanschauung treu erhalten worden. Das stellt sich zunaͤchst in dem Recht der Ehe dar. Es giebt kein tieferes, juristisch und sittlich voll- endeteres Symbol im heutigen Rechtsleben als die Trauung, welche, in Verbindung mit den vorbereitenden Handlungen, den strengsten Formalismus und die weiteste Publicitaͤt mit der frommen Innigkeit des deutschen Familiensinns in sich vereinigt; sie ist es, von der die protestantische Volkssitte das Daseyn der Ehe abhaͤngig macht, ohne dafuͤr in einem fran- zoͤsischen Civilact, oder gar in der sogenannten Gewissensehe, dem gehaltlosen Product juristischer Sophistik, einen Ersatz zu finden. Es ist daher nicht genug zu beklagen, daß gerade der auf das Gebiet der gemischten Ehe verlegte Streit der kirchli- chen Parteien der Durchfuͤhrung der Trauung als einer fuͤr die Eingehung der Ehe wesentlichen Form große politische Hin- dernisse entgegensetzt, und daß selbst innerhalb der protestanti- schen Kirche sich uͤber diesen Punct ein Conflict der geistlichen und weltlichen Macht vorzubereiten scheint. Diese letztere Ge- fahr moͤchte nun freilich, wenn die Staatsgewalt nur die rechte Maͤßigung und Energie zeigt, nicht schwer zu beseitigen seyn; aber in Beziehung auf das zuerst genannte Hinderniß kann es allerdings nothwendig werden, daß die Gesetzgebung sich nach einer die Trauung formell ersetzenden Aushuͤlfe um- sehe. Es ist indessen mit Sicherheit anzunehmen, daß die Volkssitte die schoͤne Form, so weit es nur irgend moͤglich, treu bewahren wird, und sie hat dazu um so mehr Veranlas- sung, da sie das feierliche Verloͤbniß gegen die formlose spon- satio hat zuruͤcktreten lassen. Auch darin hat sich der Pro- testantismus dem deutschen Volkscharakter wieder angeschlos- Fuͤnftes Kapitel . sen, daß er die Ehe aus dem Bann des Sacraments befreit hat, und statt der verzwickten Nichtigkeitsgruͤnde und anderer Umwege des katholischen Kirchenrechts die Scheidung ehrlich anerkennt. Aber dieß gehoͤrt schon nicht mehr zu der privat- rechtlichen Seite des Eherechts; darunter faͤllt vor Allem die gegenseitige Stellung der Chegatten zu einander, mit besonde- rer Beziehung auf ihr beiderseitiges Vermoͤgen. In dieser Hin- sicht hat sich nun freilich eine bedeutende Abweichung von der aͤlteren deutschen Rechtsanschauung geltend gemacht, seitdem die eheliche Voigtei des Mannes uͤber die Frau entweder ganz beseitigt, oder doch sehr veraͤndert worden ist; aber daß nichts desto weniger noch gegenwaͤrtig in dem privatrechtlichen Theile des Eherechts ein wesentlich germanisches Element vorherrscht, und sich, wenn auch in sehr verschiedenen Formen, als eine selbstaͤndige Rechtsbildung darstellt, ergiebt auch eine oberflaͤch- liche Vergleichung der heutigen Zustaͤnde mit den Satzungen des roͤmischen Rechts. — Ebenso verhaͤlt es sich mit der Stel- lung der Eltern und der ehelichen Kinder. Ich denke hier- bei nicht bloß an die mittelbare Einwirkung, welche die ehe- liche Guͤtergemeinschaft und die damit in Verbindung stehen- den Institute auch auf das Recht der Kinder ausuͤben, son- dern namentlich auch an die gegenwaͤrtige Gestaltung der vaͤ- terlichen Gewalt. Es ist freilich nicht richtig, wenn man die- ser eine selbstandige muͤtterliche Gewalt gegenuͤber stellt, da das, was man damit bezeichnen will, mehr in der Sitte wur- zelt, als sich zum bestimmten Rechtsbegriff ausgebildet hat. Auch will ich nicht behaupten, daß die Gewalt des deutschen Hausvaters uͤber seine Kinder ihrem Umfange nach beschraͤnk- ter gewesen sey, als es nach dem spaͤteren roͤmischen Rechte der Fall ist; denn wenn so etwas heut zu Tage zuweilen be- Das Volksrecht als gemeines Landrecht . gruͤndet erscheint, so ist das mehr ein Abfall von der alten Zucht und dem ernsten Hausregiment, vor welchem verbildete Schwaͤchlinge zuruͤckschrecken, als ein Ausfluß urspruͤnglich deutscher Sitte und Art. Aber die Gewalt des Vaters ist bei uns nie dem egoistischen Princip der einseitigen Berechtigung unterworfen gewesen; es hat von jeher auch die entsprechende Verpflichtung, den Kindern gegenuͤber, in sich getragen, so daß das Recht nicht erst von einer außer ihm stehenden Sitte be- stimmt zu werden brauchte. Davon ist die wichtige Folge ge- blieben, daß die vaͤterliche Gewalt erlischt, wenn sie den Ver- haͤltnissen nicht mehr entspricht, das Kind des Schutzes und der Vertretung nicht mehr bedarf: also die Aufhebung durch die Ehe der Tochter, welche sich nun an den Mann anlehnt, und durch die Errichtung eines selbstaͤndigen Hauswesens von Seiten des Sohnes, so daß das peculium profectitium, ca- strense und quasi castrense fast gar keine practische Be- deutung bei uns haben. — Diesen Verhaͤltnissen nahe ver- wandt ist die Vormundschaft, welche auch in ihrer gemeinrecht- lichen Ausbildung wesentlich germanisirt, nur durch die Gesetz- gebung oft zu sehr unter die Herrschaft bloß aͤußerlicher, uͤber- trieben laͤstiger Garantien gestellt worden ist, und dadurch den urspruͤnglichen Charakter, welcher der des Familiensinns und des Vertrauens ist, verloren hat. Was diesem Institut aͤu- ßerlich noch von unpassenden roͤmischen Verbraͤmungen an- haͤngt, z. B. der Unterschied zwischen tutela und cura mino- rum, ist durch das Volksleben thatsaͤchlich schon lange besei- tigt worden, indem sich nur der natuͤrliche Abstand zwischen Kindern und Erwachsenen bei den verschiedenen Altersstufen des Muͤndels geltend macht. Oder wird noch die Person des Vormundes gewechselt, wenn die tutela beendigt ist? und hat Fuͤnftes Kapitel . auch fuͤr den Juristen der Unterschied von auctoritas und consensus eine andere Bedeutung, als die einer rechtsge- schichtlichen Notiz? Dagegen hat sich, getrennt von der Vor- mundschaft, aber doch auf verschiedene Weise von ihr bestimmt, die Lehre von der Guͤterpflege, der cura bonorum, im mo- dernen Rechtsleben entwickelt, ohne jedoch ihrem ganzen Detail nach schon zu einer vollstaͤndigen gemeinrechtlichen Durchbil- dung gelangt zu seyn. Dem Familienrecht stehen nun auch theilweise diejenigen Rechtsverhaͤltnisse nahe, welche man gewoͤhnlich unter dem Begriff der Dienstmiethe zusammen zu fassen pflegt, die aber dadurch einen eigenthuͤmlichen Charakter bekommen, daß sie in einer bestimmten Beziehung zum Hauswesen sich befinden, und auf gewisse Weise ein Mittelglied zwischen der Familien- verbindung und dem rein obligatorischen Vertragsverhaͤltnisse bilden. Bei den Roͤmern wurden, abgesehen von der Stel- lung der Haussoͤhne, die Geschaͤfte der Privatpersonen vorzugs- weise durch Sklaven verrichtet; wo diese nicht ausreichten, da trat der Vertrag ergaͤnzend hinzu, sey es in Folge eines Man- dats, dem sich die negotiorum gestio anschloß, oder einer Dienstmiethe. Im Mittelalter waren es vorzugsweise die Hoͤ- rigen in ihrer verschiedenen Abstufung, welche im Interesse ih- rer Herren handelten, denn eigentliche Privatarbeiten wurden selten in die Form des Lehenrechts gebracht; in den Staͤdten bildete sich aber das Handwerk und das Gesindewesen zu ei- ner eigenthuͤmlichen Gestaltung aus. Die moderne Zeit kennt in Deutschland und dem uͤbrigen civilisirten Europa außerhalb der Familie nur freie Arbeit in Folge eines Vertrags: aber wie in manchen andern Faͤllen ist die Wirkung solcher Ver- traͤge keine rein obligatorische. Ich sehe hier ab von solchen Das Volksrecht als gemeines Landrecht . Dienstleistungen, welche von jemanden in Folge seiner oͤffent- lichen Stellung gegen ein Honorar uͤbernommen werden, wie die des Arztes, des Advocaten sind; auch wird hier uͤberhaupt nicht an eine solche Arbeit gedacht, die entweder nur vereinzelt in Folge einer besonderen Verabredung geleistet wird, oder doch, wenn sie auch einen gewissen Charakter der Dauer an sich traͤgt, den Dienenden nicht in das Hauswesen des Brod- herrn eintreten laͤßt. Wo dieß aber auch der Fall ist, kann nach der Art der Arbeit und dem Stand und der Bildung der Dienenden ein großer Unterschied bestehen. Die Wirth- schaftsbeamten auf Landguͤtern und in Fabriken, die Hand- lungsgehuͤlfen stehen, wenn die Jugend nicht eine gewisse Zucht noͤthig macht, als freie Hausgenossen der Familie nahe, und haben sich der Hausordnung und was Recht und Sitte verlangt, zu unterwerfen, ohne in ihrer persoͤnlichen Freiheit weiter beschraͤnkt zu seyn, als ihr Dienstverhaͤltniß es erfor- dert. Anders stellt sich die Sache schon bei den Handwer- kern, wenigstens fuͤr die Lehrlinge; besonders hervorzuheben ist aber die Lage des Gesindes, d. h. solcher Personen, welche gegen Kost und Lohn gemeine Koͤrperdienste leisten, fuͤr welche wenigstens regelmaͤßig keine besondere handwerksmaͤßige Ge- schicklichkeit erfordert wird. Das ist jedoch nicht das Eigen- thuͤmliche des Verhaͤltnisses; dieses muß vielmehr darin gesucht werden, daß Personen niederen Standes sich dem Hauswesen eines Anderen beigesellen, um demselben in einer untergeord- neten Stellung durch taͤgliche Dienstleistung zu nuͤtzen. Der Dienstbote, mag er nun im Hause oder außerhalb desselben verwandt werden (der Betrieb der Landwirthschaft ist hier nicht ausgeschlossen) tritt in eine dauernde Unterordnung zu seiner Herrschaft, und begiebt sich fur die Dienstzeit eines we- Beseler , Volksrecht. 10 Fuͤnftes Kapitel . sentlichen Theils seiner Freiheit, indem er nicht bloß die con- tractlich uͤbernommene Arbeit, sondern uͤberhaupt den in dem Verhaͤltniß begruͤndeten Gehorsam zu leisten hat. Aber er ist nicht bloß der einseitig Verpflichtete, gegen Kost und Lohn und Herberge der Laune des Herrn uͤberlassen; auch darf er, so lange er dem Hauswesen angehoͤrt, als Hausgenosse auf Sorge und Pflege Anspruch machen. Das Gesinderecht enthaͤlt nun die leitenden Grundsaͤtze fuͤr dieß eigenthuͤmlich gestaltete Rechts- verhaͤltniß, welches nur aus einer unbefangenen Betrachtung des Lebens und der darin waltenden Sitte juristisch erfaßt werden kann. Noch andere Momente kommen aber in Be- tracht, wenn auf Landguͤtern Tageloͤhnerfamilien ihre Heimath haben, und in der Sorge der Gutsherrschaft einen, wenn auch oft schwachen Ersatz des ihnen fehlenden Gemeindeverbandes finden. Was vorher von dem Einfluß des Volksrechts auf das Familienrecht gesagt worden, das ist auch, insofern es sich auf das Verhaͤltniß der Ehegatten und der Eltern und Kinder be- zieht, bei der Darstellung des Erbrechts von Bedeutung. Denn das Recht der Guͤtergemeinschaft und das der statuta- rischen Erbgebuͤhr beschraͤnken in wesentlichen Puncten die ge- setzliche Erbfolge des roͤmischen Rechts, welche sonst bis auf einige, durch das Staͤndewesen begruͤndete Modificationen, ge- meines Landrecht geworden ist. Eine ganz moderne Rechts- bildung zeigt sich dagegen in dem Institut der Erbvertraͤge, welche in ihrer heutigen Gestalt auch dem aͤlteren deutschen Rechtswesen fremd waren, und vorzugsweise unter dem Ein- fluß des Juristenrechts entstanden sind, da das Volksrecht ih- rer nur in einer sehr beschraͤnkten Anwendung bedurfte. Auch die roͤmische Testamentslehre hat manche gemeinrechtliche Mo- Das Volksrecht als gemeines Landrecht . dificationen erfahren, namentlich was die Form und die Voll- streckung der letztwilligen Verfuͤgungen anlangt, und zwar ur- spruͤnglich durch die Einwirkung des Volksrechts, an dessen Stelle aber bald die Theorie der Juristen trat. Im Sachenrecht ist, namentlich fuͤr das Recht der Immobilien, noch Manches aus der aͤlteren deutschen Rechts- anschauung uͤbrig geblieben, sowohl in Beziehung auf den ei- gentlichen Begriff der Gewere als auch ruͤcksichtlich der Art ihrer Bestellung. Was das Erstere betrifft, so erinnere ich nur an die Nachbarverhaͤltnisse der Grundbesitzer, an das Recht der Selbsthuͤlfe gegen Beschaͤdigung, namentlich durch fremdes Vieh, vermoͤge der Pfaͤndung; in Beziehung aber auf die Er- langung einer Gewere oder, nach jetzigem Sprachgebrauch, ei- nes dinglichen Rechts an Immobilien, ist vor Allem als ein wichtiges, dem alten Volksrecht entlehntes Institut die Auf- lassung in ihrer modernen Gestaltung hierher zu rechnen, indem sie das Recht des Grundbesitzes an den meisten Orten beherrscht, und namentlich, wie fruͤher gezeigt worden, fuͤr die neueren, auf der sogenannten Publicitaͤt und Specialitaͤt ge- bauten Hypothekenordnungen den einzigen gemeinrechtlichen Anhalt gewaͤhrt. Dadurch ist denn auch ein Ersatz geboten fuͤr den, seit dem 17. Jahrhundert durch das zinsbare Dar- lehn fast ganz verdraͤngten deutschrechtlichen Rentenkauf, wenig- stens insofern, als die bei dem letzteren Geschaͤft sofort mit der Constitunung der Rente gesetzte dingliche Sicherheit durch die in foro rei sitae bestellte oͤffentliche Hypothek wiedergegeben ist. Der andere Punct freilich, wo Rentenkauf und Darlehn sich scheiden, naͤmlich die groͤßere Unabhaͤngigkeit des Schuldners und fol- geweise des Grundbesitzers, welche durch die Unkuͤndbarkeit der Rente von Seiten des Kapitalisten herbeigefuͤhrt ward, ist 10* Fuͤnftes Kapitel . nicht zur Ausgleichung gekommen. Indessen ließe sich doch gegenwaͤrtig, bei dem großen Gelduͤberfluß der langen Frie- densjahre und dem solider begruͤndeten Wohlstande der deut- schen Grundbesitzer, eine entschiedene Tendenz erkennen, auch hinsichtlich der Unkuͤndbarkeit das aͤltere Princip des deutschen Rechts wieder in Geltung zu bringen, und namentlich die rit- terschaftlichen Creditvereine haben zum Theil in dieser Rich- tung operirt. In solchen Faͤllen, wo die Unkuͤndbarkeit der Schuldscheine, welche auf den Grundbesitz radicirt sind, von dem Anleiher dem Glaͤubiger gegenuͤber stipulirt worden, und dieser sich, wenn er baares Geld haben will, durch Verkauf (Cession) helfen muß, tritt das Institut des fruͤheren Volks- rechts, wenn auch mit wesentlichen Modificationen, wieder practisch auf, und stellt sich als den eigentlich gemeinrechtli- chen Kern des ganzen Rechtsverhaͤltnisses dar. Doch ist da- bei vorauszusetzen, daß dieses sich wirklich im Particularrechte die bestimmte Anerkennung seiner Eigenthuͤmlichkeit erworben hat, und daß Alles nicht bloß auf der, auch nach der roͤmi- schen Vertragslehre moͤglichen obligatorischen Beschraͤnkung des Glaͤubigers beruht. In dem so eben angefuͤhrten Beispiele, dem sich das so wichtige Recht der Staatspapiere nahe anschließt, zeigt es sich auch, daß das roͤmische Obligationenrecht doch nicht so unbedingt bei uns zur Anwendung kommt, als es von den Romanisten angenommen zu werden pflegt. Dasselbe erhellt auch aus dem, was fruͤher von der Dienstmiethe gesagt wor- den ist; aber noch in manchen anderen Beziehungen macht sich auf diesem Gebiete der Einfluß des Volksrechts geltend. Na- mentlich ist dieß der Fall bei Pachtungen von Landguͤtern mit Ruͤcksicht auf das Inventar und die so gebraͤuchliche Praͤnu- Das Volksrecht als gemeines Landrecht . meration des Pachtgeldes; desgleichen bei der Pachtung von Nutzvieh und bei dem sogenannten Viehverstellvertrage. Ei- nige Institute des Handelsrechts ferner haben einen ganz all- gemeinen Charakter, und sind nicht bloß auf den Handels- stand beschraͤnkt. Besonders hervorzuheben sind aber die so- genannten gewagten Geschaͤfte, in denen sich das Volksrecht oft noch rein darstellt, und deren Bedeutung man ganz und gar verkennt, wenn man sie unter den Gegensatz des roͤmi- schen Rechts von Spiel und Wette bringen zu koͤnnen glaubt. Schon fuͤr das Spiel im engeren Sinne, welches ja ganz auf der Volkssitte beruht, hat das heutige Recht eigenthuͤmliche Grundsaͤtze; ganz selbstaͤndig aber treten andere Geschaͤfte auf, welche von der groͤßten Bedeutung sind, in alle Lebensverhaͤlt- nisse tief eingreifen, und zum Theil, um mit Erfolg betrieben werden zu koͤnnen, besondere Staatsanstalten oder doch das genossenschaftliche Zusammenwirken vieler Einzelnen voraus- setzen. Dahin gehoͤren die Assecuranzgeschaͤfte in ihren ver- schiedenen Erscheinungen, der Leibrentenvertrag, das Lotterie- spiel — leider durch die Schuld der Regierungen fast zur Volkssitte geworden! u. a. m. 2. Das Criminalrecht . Das gemeine deutsche Strafrecht stellt sich fast ganz als ein Juristenrecht dar, mit einer uͤberwiegend romanistischen Faͤr- bung, so daß das Volksrecht nur einen sehr mittelbaren Ein- fluß darauf ausgeuͤbt hat. Das zeigt sich sowohl in Bezie- hung auf die Begriffsbestimmung der Verbrechen, als auch auf die Art und das Maaß der Strafe. Was das Erstere betrifft, so wird man freilich sagen, daß, wenn die buͤrgerliche Gesell- Fuͤnftes Kapitel . schaft einen gewissen Grad der Ausbildung erlangt hat, im Allgemeinen das, was fuͤr ein Verbrechen gelten soll, gleich- maͤßig bestimmt seyn wird, und daß die Juristen, welche in dieser Hinsicht keine wesentliche Luͤcke gelassen, ihre Aufgabe erfuͤllt haben, und zwar im Sinne der deutschen Rechtsbil- dung, welche fuͤr sie in der peinlichen Halsgerichtsordnung Karl V. vertreten war. So haben sie den deutschrechtlichen Begriff der Vergiftung, des Diebstahls u. s. w. sich angeeig- net, und wenn sie auch in andern Faͤllen das roͤmische Recht ohne Noth herangezogen, indem sie z. B. statt der Vergewal- tigung das crimen vis aufstellten, so sey dieß ohne alle Be- deutung, da die strafbare Handlung als solche doch genuͤgend bestimmt werde. Ich will dagegen nun nicht die volksthuͤm- liche Bedeutung des Strafrechts hervorheben, und das Juri- stenrecht von diesem Standpuncte aus einer Kritik unterzie- hen; denn hier handelt es sich bloß davon, das noch beste- hende Volksrecht nachzuweisen, und dazu bietet sich, wie schon gesagt, gerade in diesem Rechtstheile nur selten die Veranlas- sung dar. Denn wenn die Carolina auch im Ganzen von dem roͤmischen Rechte nur wenig aufgenommen hat, so ist sie doch in der Begriffsbestimmung der Verbrechen sehr frag- mentarisch, hat auch ihre Vorschriften nicht immer gerade dem Volksrecht entlehnt, und Manches selbstaͤndig geordnet. Nur der Fall waͤre hier noch einer besondern Eroͤrterung zu unter- ziehen, wenn sich im Gegensatz zu der von den Juristen ver- tretenen Rechtsbildung eine bestimmte Rechtsanschauung im Volke erhalten haͤtte, und zwar mit einer solchen intensiven Kraft, daß sie sich als positives Recht darstellte, dem auch der Richter folgen muͤßte, wenn er uͤberhaupt dem Volksrechte die ihm zukommende Bedeutung einraͤumen wollte. Ein sol- Das Volksrecht als gemeines Landrecht . cher Fall wird sich freilich gerade auf diesem Gebiete selten finden; denn meistens wird die Volksansicht nur mit einer solchen Bestimmtheit hervortreten, daß sie etwa die Veranlas- sung zu einer neuen Gesetzgebung geben, auf das bestehende Recht jedoch keinen unmittelbaren Einfluß ausuͤben kann. In- dessen moͤchte das Letztere doch nicht unbedingt zu behaupten seyn. So ist z. B. der Begriff der Nothwehr weiter zu fas- sen, als es von den Juristen gewoͤhnlich geschieht, indem sie die im Volksrecht begruͤndete Ansicht, daß die Vertheidigung von Leib, Gut und Ehre bis aufs Aeußerste gegen widerrecht- liche Angriffe dadurch gerechtfertigt wird, ganz willkuͤhrlichen Beschraͤnkungen unterworfen, und dem natuͤrlichen Rechtsge- fuͤhle mit einer rein polizeilichen Betrachtungsweise entgegen- treten, den Fall aber, daß jemand die Vertheidigung eines Andern, der sich im Nothstande befindet, uͤbernimmt, fast gar nicht beruͤcksichtigen. — Was ferner die Beschaffenheit und das Maaß der Strafen betrifft, so hat sich in dieser Bezie- hung gegen die Grausamkeit des Mittelalters eine Reaction geltend gemacht, welche von der Bildung der neueren Zeit hervorgerufen, auch in dem Juristenrecht ein Organ gefunden hat. Zu bedauern ist nur, daß man dabei kein Mittel gefun- den hat, die so wirksamen Ehrenstrafen des aͤlteren Rechts auf eine angemessene Weise zur Anwendung zu bringen, — ein Uebelstand, der aber auch darin seinen Grund haben mag, daß mit dem Verfall des oͤffentlichen Lebens in Deutschland die Ehre selbst und folgeweise die Aufhebung und Beschraͤnkung derselben an Bedeutung verlieren mußte. 3. Der Proceß . Hier ist es mit dem Volksrechte am Schlimmsten bestellt: Fuͤnftes Kapitel . im Civil- und Criminalproceß sind die Juristen von der Na- tion abgefallen, und haben sich ihr eigenes System errichtet. Weder in der Verfassung noch in dem Verfahren der deut- schen Gerichte, wie sie nach dem gemeinen Recht geordnet sind, vermag ich ein volksrechtliches Element zu erkennen. 4. Das Staatsrecht . Der eigentliche Schwerpunct des heutigen deutschen Staats- rechts liegt in dem zur Verwirklichung gekommenen Staats- begriff, dessen deutlichste Manifestation in der Souverainitaͤt enthalten ist. Denn wie der Souverain als der selbstberech- tigte Traͤger einer einheitlichen Staatsgewalt erscheint, so ist dadurch auch ihm gegenuͤber ein Staatsbuͤrgerthum entstanden, welches die einzelnen Classen der Unterthanen in wesentlichen Puncten gleichmaͤßig erfaßt; es ist, statt der einseitigen Ver- tretung gesonderter staͤndischer Interessen, eine Repraͤsentation des Volkes in seiner Gesammtheit in den Reichsstaͤnden noth- wendig geworden, und im Gegensatz zu der landesherrlichen Dienerschaft der aͤlteren Zeit hat sich das Institut der Staats- beamten entwickelt, welche nicht mehr berufen sind, dem Lande gegenuͤber die besonderen fuͤrstlichen Interessen zu wahren, son- dern den im Gesetz ausgepraͤgten Staatswillen zur Ausuͤbung zu bringen und als die Organe des Souverains in freier Thaͤtigkeit fuͤr das gemeine Beste zu sorgen und zu wirken. Die Genossenschaften und Gemeinden und die weiteren Ter- ritorialbezirke stehen daher auch nicht mehr in abgeschlossener Haltung neben einander, nur durch das Regierhaus und den landstaͤndischen Verband zusammengehalten, sondern sie kom- men als die organischen Glieder des Staatswesens in Betracht, Das Volksrecht als gemeines Landrecht . und vermitteln zugleich die Beziehungen der Einzelnen zu den naͤchsten Genossen und zur Gesammtheit, insofern diese sie nicht unmittelbar zu Recht und Pflicht heranzieht. In dieser Gestaltung des oͤffentlichen Rechts hat sich ein nothwendiger Entwicklungsproceß ausgepraͤgt, der auf der nationalen Erhe- bung aus dem Particularismus des spaͤteren Mittelalters be- ruht, aber leider bis jetzt nur in den einzelnen Staaten und auch hier nicht vollkommen, in einer gemeinsamen Reichsver- fassung aber gar nicht zur Durchbildung gekommen ist. Da- her laͤßt sich auch mit Bestimmtheit behaupten: wenn das deutsche Staatsrecht oft kuͤnstlich, unzusammenhaͤngend und verworren erscheint, so ist das regelmaͤßig die Folge der Hem- mungen und Hindernisse, welche die Nation bei der Vollzie- hung jenes Bildungsprocesses gefunden und nicht hat uͤber- winden koͤnnen. 5. Das Kirchenrecht . Wenn der religioͤse Glaube eines Volkes wie Recht und Sitte und Sprache auf dem Boden seiner Nationalitaͤt er- wachsen ist, und sich die allgemein menschliche Hingebung an die Gottheit in einer eigenthuͤmlichen Form des Cultus aus- gepraͤgt hat, so kann man sagen, daß eine nationale Religion besteht, welche, insoweit sie eine rechtliche Seite darbietet, dem Volksrechte angehoͤrt. So muͤssen wir uns den Naturcultus des germanischen Heidenthums denken. Anders aber stellte sich die Sache, als das Christenthum eingefuͤhrt ward, und um seiner ewigen Wahrheit willen, ohne Ruͤcksicht auf die be- sondere Nationalitaͤt, welche erst allmaͤlig von demselben durch- drungen werden mußte, zur Herrschaft gelangte. Die christ- Fuͤnftes Kapitel . liche Kirche hat, insofern sie auf ein unwandelbares Dogma errichtet ist, keinen Platz fuͤr das besondere Volksrecht. Aber so wie, abgesehen von gewissen Fundamentallehren, das Chri- stenthum in den verschiedenen Zeiten verschieden ist aufgefaßt und verstanden worden, ja selbst nach der Individualitaͤt der einzelnen Bekenner von den Zeitgenossen nicht auf die gleiche Weise begriffen wird; so hat auch die Nationalitaͤt allmaͤlig einen gewissen Einfluß auf dasselbe gewonnen, welcher in sei- ner Richtung nach außen hin dem Kirchenrecht eine gewisse nationale Faͤrbung gegeben hat. Konnte der Katholicismus nur im Mittelpunct der romanischen Welt zu seiner mittelal- trigen Gestaltung sich entwickeln, so tritt wiederum die Refor- mation als die Reaction des germanischen Geistes gegen jene, seinem innersten Wesen widerstrebende Erscheinung auf. Ja inner- halb des katholischen Kirchenrechts selbst zeigen sich gewisse nach den Nationen verschiedene Eigenthuͤmlichkeiten, welche man als Nationalkirchen bezeichnet, so daß es auch nicht auf- fallen kann, wenn in der evangelischen Kirche sich verschiedene Formen der Verfassung ausgebildet haben, und das Regiment derselben an verschiedenen Stellen gesucht werden muß. Daß in dieser Hinsicht das Volksrecht seine besondere Bedeutung hat, ist gar nicht zu verkennen, und erklaͤrt sich leicht, wenn man das in der evangelischen Kirche herrschende Princip der Freiheit bedenkt, und sich das Zeitalter der Reformation in seiner tiefen, fuͤr Deutschland durchaus nationalen Aufregung vergegenwaͤrtigt. Es kommt dabei namentlich darauf an, die selbstaͤndige Bedeutung der Gemeinde im Gegensatz zu der streng durchgefuͤhrten Consistorialverfassung gehoͤrig zu wuͤrdi- gen, — ein Gesichtspunct, der neulich von einem hochgestell- ten Geistlichen so treffend bezeichnet worden ist, daß ich es Das Volksrecht als gemeines Landrecht . mir nicht versagen kann, die Worte des wuͤrdigen Mannes hier anzufuͤhren S. R. Fr. Eylert, Charakter-Zuͤge und historische Fragmente aus dem Leben des Koͤnigs v. Preußen Friedrich Wilhelm III. Th. I. S. 153 ff. . „Mit dem weltlichen Regimente in der Kirche, oder der hier zu Lande (in der Mark) herrschenden, sogenannten Re- gierungs-Consistorial-Verfassung, konnte ich mich nicht be- freunden. Ich kannte in vieljaͤhriger fruͤherer Erfahrung und Praxis die bessere, die Presbyterial-Synodal-Verfassung, wie sie von der Reformation an in der evangelischen Kirche in meinem Vaterlande, in der Grafschaft Mark, Cleve, Juͤ- lich und Berg, im Segen bestanden hat und bestehet. In dieser liegt das Kirchen-Regiment in der Kirche selbst, in den Gemeinden und ihrer unmittelbaren thaͤtigen Theilnahme an allen ihren Angelegenheiten. In jener befinden sich die Gemeinden im Zustande der Passivitaͤt, da Alles was ge- schehen soll, von der Behoͤrde vorgeschrieben und befohlen wird. Wenn jene ein lebendiges Interesse weckt und naͤhrt, so erzeugt diese nothwendig Indifferentismus; denn wo nichts Gemeinschaftliches in der Fuͤrsorge und Pflege ist, da kann auch keine Gemeinschaft in der Sache sein. Was sich uns nicht mittheilt und unsere Theilnahme nicht in Anspruch nimmt, daran nehmen wir kein Interesse, haben kein’s und koͤnnen kein’s haben. Wenn jene, in freier selbst- gehaltener Wahl der Prediger und Schullehrer, die Gemein- den, ihre Aeltesten, Diakonen (Armenvorsteher) und alle Fa- milienvaͤter elektrisirt und in Thaͤtigkeit setzt, so daß sie in dem Gewaͤhlten den fuͤr sie passenden, ansprechenden Mann ihrer Wahlverwandtschaft ehren, lieben, hegen und pflegen, Fuͤnftes Kapitel . und der Tag, an welchem er sein Amt antritt, ein Volks- fest ist: so giebt und schickt diese den Gemeinden einen un- bekannten Fremden, an dem eben in der Befoͤrderungsliste nun gerade die Reihe zur Anstellung war, er mag der indi- viduell rechte Mann sein oder nicht. Wenn jene, durch das Hineinziehen in das gemeinschaftliche Interesse der Gemeinde, in jedem Mitgliede das Gefuͤhl und Bewußtsein der Ge- meinschaft und des innigen, fest verknuͤpften Zusammenhangs erhaͤlt und immer auffrischt, und eben dadurch von Innen heraus der kirchliche Geist waͤchst, bluͤht und Fruͤchte traͤgt, so isolirt diese, haͤlt Alles aus einander und degradirt die Kirche zu einer polizeilichen Anstalt der Regierung. Geho- ben, gestaͤrkt, begeistert durch jene, durchkaͤltete mich diese. Die oft knechtische Verehrung, die der sein Departement bereisende, visitirende Consistorialrath findet, konnte mich nicht blenden und entschaͤdigen, und da ich sonst zu Hamm, als Presbyter im Presbyterium, als Mitglied der Kreis- und Provinzial-Synode, an den freisinnigen, offenen, from- men und redlich-ernsten kirchlichen Berathungen frohen An- theil genommen, so konnte, ich gestehe es freimuͤthig, mir nicht gefallen der gruͤne Regierungstisch, an welchem geist- liche und weltliche Raͤthe, diese in der Mehrzahl, die Ange- legenheiten der Kirche dictatorisch, oft in gegenseitiger colle- gialischer Connivenz, oft in persoͤnlicher Opposition, leiteten und entschieden. An dem Urbilde der christlichen Kirche und ihrer ersten apostolischen Verfassung mit Liebe und Sehn- sucht hangend, wollte und konnte ich nicht in Sympathie kommen mit diesem buͤreaukratischen Mechanismus, und ich bin gewiß, daß wenn der Herr der Kirche kommen, sie visi- tiren und seine Tenne fegen sollte, er, wie einst im Tem- Das Volksrecht als gemeines Landrecht . pel zu Jerusalem, so auch hier, die Tische umstuͤrzen und die Kraͤmer auseinander treiben wuͤrde.“ Schon aus dieser kurzen Darstellung ergiebt sich die un- mittelbar practische Bedeutung des Volksrechts fuͤr das ge- meine Landrecht, welche um so hoͤher anzuschlagen ist, wenn man die so ganz unguͤnstigen Verhaͤltnisse bedenkt, unter denen die volksthuͤmliche Rechtsbildung in Deutschland zu leiden hatte. Noch bestimmter aber wird sich das Volksrecht in sei- nem ganzen Werthe zeigen, wenn dasselbe im Einzelnen an einem Institute nachgewiesen werden kann, welches fast nach allen Seiten hin seine Zweige ausdehnt, und fuͤr das ganze Volks- und Rechtsleben der Gegenwart von der allergroͤßten Wichtigkeit ist, — einem Institute, welches so recht im deut- schen Nationalcharakter seine Wurzel hat, und eben deswegen von dem roͤmischen Recht und den Romanisten auf alle Weise beengt, gehemmt und unterdruͤckt, doch stets bei den traurig- sten Zustaͤnden des Vaterlandes sein Leben fristere, in neuester Zeit aber, da sich in der Nation der Anfang einer freieren Er- hebung zeigt, sofort seine volle Kraft wieder entwickelt, und auf die großartigste Weise in das oͤffentliche und Privatleben eingreift. Das ist die Association, oder wie ich es mit einem guten deutschen Worte nenne, die Genossenschaft , deren rechtliche Natur und Bedeutung hier in kurzen Zuͤgen dem juristischen Bewußtseyn der Gegenwart naͤher gebracht werden soll, indem versucht wird, dem ih m einwohnenden Princip, wel- ches schon in den mannichfaltigsten Gestaltungen sich offenbart hat, auch den wissenschaftlichen Begriff abzugewinnen. Sechstes Kapitel. Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . I. Geschichtliche Einleitung . Der Geselligkeitstrieb ist dem Menschen eingeboren; die Familie und der Staat beruhen darauf, ohne ihn laͤßt sich keine dauernde Vereinigung zu gemeinsamen Zwecken denken. Aber die Wirksamkeit dieses Triebes ist selbst bei den edleren Voͤlkern verschieden, indem er bald in wenigen festen Bildun- gen, welche den ganzen Menschen in Anspruch nehmen, sich abschließt, bald eine große Mannichfaltigkeit aͤußerer Erscheinun- gen hervorruft, in denen die besonderen Beduͤrfnisse und Zwecke der Einzelnen auf die Dauer ihre Befriedigung finden. Zwar setzt die hoͤchste Entfaltung der Menschheit im Staate stets voraus, daß schon ein gewisser Bildungsproceß vorhergegangen, waͤhrend dessen sich die Voͤlker in niedrigeren Formen zum Hoͤ- heren vorbereiten, und so kann auch dem antiken Staat die ihm entsprechende Erscheinung des Mittelalters nicht verglichen werden, da dieses die Entwicklung des modernen Staates erst vorbereiten mußte, wie auch die Voͤlker der alten Welt eine solche Vorschule durchlaufen haben. Aber stellen wir auch nur das Gleichartige zusammen: eine wie ganz andere war doch, verglichen mit dem politischen Leben unserer Tage, die Anziehungskraft, welche der antike Staat in seiner Bluͤthe ausuͤbte, vor dem das eigentliche Familienleben und die niede- ren Stufen des Gemeinwesens fast ganz verschwanden, mit dem keine Persoͤnlichkeit selbstberechtigt in Widerspruch gerathen Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . durfte. — Forschen wir nun dem tieferen Zusammenhange die- ser Erscheinung nach, so stellt sich der wesentliche Unterschied heraus, daß der antike Staat von einer verhaͤltnißmaͤßig gerin- gen Zahl freier Buͤrger getragen ward, waͤhrend es die Auf- gabe der modernen, durch das Christenthum gelaͤuterten Zeit ist, die Idee des Vaterlandes und der Freiheit in einer zahl- reichen, im Wesentlichen gleich berechtigten Bevoͤlkerung zur Geltung zu bringen. Wie aber nun einmal die Natur des Menschen ist, so laͤßt sich die Menge von dem Hoͤchsten und Allgemeinsten nicht fortwaͤhrend beherrschen, sie will das, woran ihr Leben in Freude und Leid gebunden ist, in unmittelbarer Naͤhe erfassen; auch ist bei den heutigen, selbst raͤumlichen Verhaͤltnissen der Staaten, die Theilnahme Aller an der Aus- uͤbung der hoͤchsten Gewalt undenkbar, und doch ist es die unmittelbare Ausuͤbung eines Rechts, die Macht, wonach Alle streben. Die Vorsehung hat daher wunderbar fuͤr die Mensch- heit gesorgt, als sie, nachdem das Alterthum in der grauen- vollen Oede des roͤmischen Principats untergegangen war, die Germanen zur Begruͤndung eines neuen Lebens in der Welt- geschichte auftreten ließ, ausgeruͤstet nicht nur mit der noͤthi- gen Naturkraft, um koͤrperlich und geistig eine umfassende Re- generation zu bewirken, sondern auch mit dem tiefen Familien- sinn und mit jenem Associationsgeiste, welcher, der hoͤchsten Entwicklung zum Staate faͤhig, sich doch auch in den niedern Sphaͤren des Lebens, in der Gemeinde und der Genossenschaft, mit einer beschraͤnkteren Wirksamkeit genuͤgen ließ, so wie neben der Liebe zum großen Vaterlande auch die zur trauten Hei- math sich erhalten konnte. Das germanische Mittelalter be- wegte sich daher vorzugsweise in jenen engeren Kreisen, und auch die deutsche Geschichte bietet noch zur Zeit, als die Na- Sechstes Kapitel . tion schon politisch in Verfall gerathen war, in dem corpora- tiven Leben ein Bild der Fuͤlle und Tuͤchtigkeit dar. Aber vor der seit dem 17. Jahrhundert einseitig erweiterten Fuͤrsten- gewalt trat auch die Selbstaͤndigkeit und freie Bewegung der Corporationen zuruͤck, welche keinen nationalen Anhalt fanden, an dem sie sich haͤtten erheben koͤnnen; es ward auf ihre Ko- sten eine einheitliche Staatsgewalt begruͤndet, welche sich in der unmittelbaren Herrschaft auch uͤber das Einzelne und Kleine gefiel, und den Deutschen blieb von ihrer urspruͤngli- chen Ausruͤstung fast nur der Familiensinn uͤbrig. So erlosch auch der Associationsgeist in seiner bildenden Kraft fast ganz da ihm seine erste Bedingung, die Freiheit, versagt war, und allein England zeigte noch, was er zu wirken vermoͤge. — In neuerer Zeit aber hat sich Manches gebessert: hat es die Na- tion auch noch nicht erreicht, in den hoͤheren Beziehungen des Staatslebens zu einem befriedigten Daseyn zu gelangen, so ist doch an dem festen Unterbau der politischen Freiheit mit Erfolg gearbeitet worden; die Gemeinden namentlich haben eine wuͤrdigere Stellung erhalten, und auch der Associations- geist regt sich wieder mit frischer Kraft, und vereint die Ein- zelnen zur gemeinsamen Bestrebung. Daher ist aber die juri- stische Beurtheilung der Genossenschaften auch vorzugsweise dem Rechtsleben der Gegenwart zu entnehmen, indem die hi- storische Deduction an die Zeit anzuknuͤpfen hat, in welcher jener Geist noch in ungeschwaͤchter Wirksamkeit unter den Deut- schen thaͤtig war. Das 17. und 18. Jahrhundert, in denen gerade das heutige Juristenrecht ausgebildet worden, gewaͤhren in dieser Hinsicht fast gar keine Ausbeute, und nur bei der Betrachtung einzelner Institute ist auf sie Ruͤcksicht zu nehmen. Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . II. Begriff und Arten der Genossen- schaften . Es ist hier zuerst der Gattungsbegriff festzuhalten, unter den auch die Genossenschaft faͤllt, und das ist der der Corpo- ration. Die Corporation aber ist die Vereinigung mehrer Per- nen, zur Erreichung gemeinschaftlicher Zwecke auf die Dauer errichtet. Schon durch diese beabsichtigte Dauer des Zusam- menwirkens unterscheidet sie sich von der bloßen Gemeinschaft ( communio ), sey diese nun zufaͤllig oder durch Vertrag ent- standen, und erhaͤlt dadurch einen gewissen organischen Cha- rakter, der sie befaͤhigt, nachhaltig in das ganze Staats- und Rechtsleben einzugreifen. Außerdem ist aber noch ein wesent- liches Merkmal der Corporation, daß dabei nicht die einzelnen Mitglieder als solche ausschließlich oder nur vorzugsweise in Betracht kommen, sondern daß eben durch die Vereinigung ein selbstaͤndiges Rechtssubject hervorgerufen wird, welches, wenn auch durch die einzelnen Mitglieder in ihrem allmaͤligen Wechsel getragen, doch in sich selbst seine Bestimmung hat, und durch seinen Zweck, seine Verfassung und den verfassungs- maͤßigen Beschluß der Gesammtheit oder ihrer Vertreter un- abhaͤngig von dem Willen der Einzelnen da steht. In dieser Hinsicht liegt der Corporation der weitere Begriff der juristi- schen Person unter, von der sie eine besondere Art bildet; sie unterscheidet sich aber von der Stiftung und aͤhnlichen Insti- tuten dadurch, daß eben eine Mehrheit von Personen ihr Sub- strat bildet, und von dem Collegium, wenigstens nach der ge- woͤhnlichen Bedeutung eines solchen, durch den selbstaͤndigen Zweck, welchen sie verfolgt, waͤhrend jenes nur die als Einheit sich darstellende Vereinigung mehrer coordinirten Beamten ist. Die Corporation theilt sich aber wieder in zwei Arten; Beseler, Volksrecht . 11 Sechstes Kapitel . sie ist entweder eine Gemeinde oder eine Genossenschaft. Die erstere ist an einen bestimmten geographischen Bezirk gebun- den, und erfaßt, wenn auch auf verschiedene Weise, alle Be- wohner desselben, so daß eine Ausnahme davon besonders be- gruͤndet seyn muß, und diejenigen, welche nicht im Gemein- deverband stehen, als Eximirte oder als Fremde zu betrachten sind; sie hat ferner eine unmittelbare politische Bedeutung, und schließt sich als ein vermittelndes Glied zwischen den Ein- zelnen und der Gesammtheit, dem Staatsorganismus als in- tegrirender Theil an. Die Genossenschaft dagegen ist nicht nothwendig und nicht einmal gewoͤhnlich auf einen bestimmten Bezirk beschraͤnkt, und hat keine so gleichmaͤßig wirkenden Zwecke wie die Gemeinde; sie zieht daher nicht alle Bewohner in ihre Rechtssphaͤre, sondern nur solche, welche aus besonde- ren Gruͤnden ihr angehoͤren. Auch bildet sie, so groß auch im Allgemeinen ihre politische Bedeutung seyn kann, fuͤr ge- woͤhnlich doch keinen Theil der Staatsverfassung, und wenn in einzelnen Faͤllen eine solche Beziehung besteht, eine Stadt- verfassung z. B. auf Zuͤnften beruht, oder die Provinzialritter- schaft in einer Landesverfassung eine bestimmte Stellung ein- nimmt, so ist das nicht die Folge des genossenschaftlichen Prin- cips, sondern einer Verschmelzung desselben mit andern Insti- tutionen. Es kann freilich unter Umstaͤnden wohl gar ein Zweifel bestehen, ob man eine Corporation als Genossenschaft oder als Gemeinde aufzufassen hat, z. B. bei dem Deichver- bande und der sogenannten Markengenossenschaft, welche oft die Grundlage eines wahren Gemeindewesens sind, aber doch, wenn sie auch einen ganzen Bezirk gleichmaͤßig erfassen, ihrer urspruͤnglichen Bestimmung nach nur die Erreichung eines einzelnen Zweckes zum Ziele hatten. Indessen ist auch zu er- Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . waͤgen, daß uͤberhaupt die Rechtsinstitute in ihrer freien Ent- faltung nicht immer so von einander getrennt bleiben, daß sie nach bestimmten juristischen Begriffen genau zu classificiren sind, und daß namentlich in Zeiten, welche noch keine scharf ausgepraͤgte Staatsgewalt kennen, das rein politische und das privatrechtliche Element der Rechtsbildung vielfach in einander uͤberzugreifen pflegen. Es kommt dann vor Allem darauf an das Gemeinsame in dem hoͤheren Institute, welches hier die Corporation ist, darzustellen, und dem Besonderen, der Genos- senschaft, wiederum eine selbstaͤndige Betrachtung zu widmen. In Beziehung auf diese Verhaͤltnisse besteht nun aber eine große Verschiedenheit zwischen dem roͤmischen und deut- schen Rechte. Jenes kennt fuͤr die Vereinigung der Menschen zu bestimmten Zwecken, abgesehen von der uͤbrigens durchweg als communio behandelten Ehe, nur zwei, einander schroff gegenuͤberstehende Formen: die universitas und die communio, welche, wenn sie durch Vertrag eingegangen ist, societas heißt. Erstere tritt als die reine Durchfuͤhrung des Begriffs der juristi- schen Person auf: die einzelnen Mitglieder kommen nur in ihrer Beziehung zur Gesammtheit in Betracht, und diese ist in den Angelegenheiten der Corporation ausschließlich berech- tigt und verpflichtet. Die Bedeutung einer solchen universi- tas aber war, wie leicht zu erachten, in dem roͤmisch-byzanti- nischen Reiche nicht erheblich; nur die Stadtgemeinden nehmen wenigstens ein juristisches Interesse in Anspruch; die Genos- senschaften dagegen kommen, abgesehen von einigen aͤrmlichen, polizeilich beschraͤnkten Erscheinungen, fast gar nicht vor: es fehlte dazu der Associationsgeist und die Freiheit der Bewe- gung. — Im Gegensatz zur univcrsitas beruht nun die communio durchaus auf dem Willen der Einzelnen: nur diese 11* Sechstes Kapitel sind pro rata berechtigt und verpflichtet, und selbst eine soli- darische Verhaftung muß erst durch andere Mittel, z. B. durch ein Mandat begruͤndet werden. Die Gemeinschaft als solche hat keine selbstaͤndige Persoͤnlichkeit, sie haͤngt in ihrer Existenz davon ab, ob die Einzelnen ihre Mitglieder bleiben oder blei- ben wollen: der Tod oder der freiwillige Ruͤcktritt eines Ein- zigen hebt die ganze Vereinigung auf; an einen Uebergang auf die Erben ist nicht zu denken; selbst vertragsmaͤßige Ver- abredungen uͤber die Dauer koͤnnen nur auf bestimmte Zeit, hoͤchstens bis auf den Tod eines Gesellschafters geschlossen werden. — Zwischen diesen Extremen kennt das roͤmische Recht keine Vermittlung; es gestattet stets die Frage: liegt im Fall einer solchen Vereinigung eine universitas oder eine com- munio vor? Ganz anders aber verhaͤlt sich die Sache nach deutschem Rechte. Selbst in der Gemeinde finden sich hier Modificatio- nen des strengen Begriffs der juristischen Person, indem na- mentlich in Beziehung auf gewisse Gemeindeguͤter Sonder- rechte der einzelnen Mitglieder vorkommen, fuͤr welche das roͤmische Recht keine entsprechenden Begriffe hat. Noch mehr aber haben solche Abweichungen bei der deutschen Genossen- schaft statt, indem hier unter den mannichfaltigsten Combina- tionen das Recht der Gesammtheit mit dem der einzelnen Mitglieder durchwachsen ist, und namentlich in Beziehung auf das Vermoͤgen eine Verbindung der universitas mit der communio vorliegt. Daraus sind denn ganz selbstaͤndige Institute hervorgegangen, deren rechtliche Beurtheilung nur dann moͤglich wird, wenn man dem allgemeinen Princip, wel- ches hier gewaltet hat, nachgeht, und zugleich jede besondere Erscheinung in ihrer Eigenthuͤmlichkeit auffaßt. Man kann Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . dieß in der juristischen Terminologie so ausdruͤcken, daß bei jeder Art der Genossenschaft zu untersuchen ist, in wieweit der Begriff der universitas von dem der communio modificirt wird; nur versteht es sich von selbst, daß beide nicht in bloß aͤußerlicher Verbindung neben einander gedacht werden duͤrfen, sondern daß sie sich eben zu einem organischen Gefuͤge zusam- mengethan haben, welches gerade das Wesen des Instituts ausmacht So hat z. B. Mittermaier (Grundsaͤtze des deutschen Privatrechts [6. Aufl.] I. §. 251.) richtig erkannt, daß die Gewerkschaft im Bergrecht weder eine reine universitas noch eine societas ist; aber er laͤßt beide Begriffe nur neben einander bestehen, ohne zu zeigen, wie sie zu einer neuen, selbstaͤndigen Rechtsbildung zusammengeflossen sind. , aber in seinen verschiedenen Erscheinungen wieder verschieden gestaltet seyn kann, je nachdem der besondere Zweck der Vereine und ihre eigenthuͤmlichen Verfassungen es mit sich bringen. Im Folgenden sollen nun zuvoͤrderst die wichtigsten Arten der Genossenschaften, wie sie im heutigen Rechtsleben vorkommen, kurz angegeben werden. 1. Genossenschaften von unmittelbar politi- scher Bedeutung . Dahin kann man auf gewisse Weise den deutschen Bund rechnen; desgleichen den deutschen Zoll- verein, wenn er nicht mehr auf Kuͤndigung staͤnde. Außerdem sind die einzelnen regierenden Haͤuser zu nennen, sowohl in ihrer Gesammtheit als auch in den selbstaͤndigen Linien; die Corporationen der landsaͤssigen Ritterschaft, insofern sie be- stimmte politische Rechte ausuͤben; die Universitaͤten und geist- lichen Stifter unter derselben Voraussetzung; die Zuͤnfte und Gilden, wenn auf ihnen noch die staͤdtische Verfassung beruht. 2. Genossenschaften der Grundbesitzer eines bestimmten Bezirkes . Hier kommen die Ueberreste der Sechstes Kapitel . alten Markengenossenschaften in Betracht; ferner die Deich- und Siehlverbaͤnde. — Fuͤr landwirthschaftliche Zwecke, na- mentlich in Beziehung auf die Berieselung und den Wiesen- bau, hat sich in Deutschland der Associationsgeist noch nicht so thaͤtig erwiesen, als zu wuͤnschen waͤre. Dagegen finden sich in den wasserarmen Staͤdten haͤufig Genossenschaften fuͤr die Herbeischaffung des noͤthigen Wasservorraths durch die entsprechenden Anstalten. 3. Kirchliche Genossenschaften . Das Kirchspiel hat uͤberwiegend den Charakter der Gemeinde, wenn es auch nicht immer mit der rein politischen Commune zusammen faͤllt; auch diejenigen Genossenschaften, welche sich zu besonderen re- ligioͤsen Zwecken innerhalb oder neben der Kirche gebildet ha- ben, kommen erst unten (Nr. 7.) in Betracht. Hier sind also nur solche kirchliche Vereine zu nennen, welche in selbstaͤndiger Haltung und nicht mit andern Einrichtungen, z. B. einer Uni- versitaͤt, einer Garnison verbunden, außerhalb der allgemeinen Landes-Kirchenverfassung errichtet worden sind. Die tolerir- ten Secten pflegen sich so zu constituiren. 4. Genossenschaften fuͤr Handel und Gewerbe (Fabrikation und Handwerke). In dieser Beziehung sind zwei Arten zu unterscheiden: die Verbindung der Betheiligten zur Wahrung ihrer gemeinsamen Interessen bei getrennter Arbeit, worauf die alten Innungen beruhen, und zur Foͤrderung ge- meinschaftlicher Unternehmungen mit gemeinsamen Kraͤften, um daraus directen Gewinn zu ziehen. Dahin gehoͤren die großen industriellen und commerciellen Unternehmungen, welche regelmaͤßig als Actiengesellschaften auftreten; die Assecuranz- compagnien, welche dritte Personen gegen Gefahr versichern; die Gewerkschaften beim Bergbau, die Pfaͤnnerschaften bei den Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . Salinen; die Schiffsrhedereien, welche freilich, wenn sie sich nur auf ein einzelnes Schiff beziehen, verhaͤltnißmaͤßig von kurzer Dauer, und ohne die rechte corporative Haltung sind. Die offene Handelsgesellschaft und die Commandite dagegen stellen sich mehr als eine durch das genossenschaftliche Princip modificirte Form des Gesellschaftsvertrags heraus; nur nach außen hin treten sie formell in der gemeinschaftlichen Firma und Geschaͤftsfuͤhrung als ein Ganzes auf, und sind auch ruͤcksichtlich des Erloͤschens nicht an die strengen Grundsaͤtze der roͤmischen societas gebunden. 5. Genossenschaften zur Befoͤrderung der Communicationsmittel . Das Unterscheidende ist hier, daß die Erlangung eines unmittelbaren Gewinns nicht der Hauptzweck bei der Errichtung solcher Vereine ist, sondern ein allgemeineres oͤffentliches Interesse sie hervorruft. Das pflegt namentlich bei den Eisenbahnbauten der Fall zu seyn, welche von Actiengesellschaften ausgehen. 6. Genossenschaften gegen eine gemeinschaft- liche Gefahr . Sie beruhen auf dem Princip der gegensei- tigen Versicherung, und sollen nur von dem Einzelnen einen zu befuͤrchtenden Schaden abwenden, aber keinen Gewinn ab- werfen. Die Seeassecuranz wird wohl selten so bewirkt, desto haͤufiger aber die Versicherung gegen Feuer- und Hagelscha- den; auch manche Lebensversicherungsgesellschaften, Todtenbe- liebungen, Versorgungsanstalten fuͤr Wittwen und Waisen ge- hoͤren hierher; desgleichen die so wichtigen ritterschaftlichen Cre- ditvereine, insofern sie den Genossen eine Garantie gegen das Sinken des Realcredits gewaͤhren sollen, wenn schon bei der Stiftung wohl meistens die Absicht, den schon gesunkenen Cre- dit zu heben, vorherrschend gewesen ist. Sechstes Kapitel . 7. Genossenschaften fuͤr religioͤse, sittliche, wissenschaftliche, kuͤnstlerische, oͤkonomische und gesellige Zwecke . Solcher Vereine ist gerade in der neue- sten Zeit wieder eine große Zahl entstanden, welche zuweilen freilich bei ihrem kurzen Bestande und der Unvollstaͤndigkeit ihrer Organisation noch keine rechte juristische Haltung in sich tragen, oft aber schon zu einer festen Begruͤndung gelangt sind. Zu den religioͤsen Genossenschaften sind die noch er- haltenen oder wieder belebten Vereine zu rechnen, an denen der Katholicismus des Mittelalters so reich war; ferner die neu entstandenen Bibel- und Missionsgesellschaften. Sitt- liche Zwecke werden vorzugsweise durch die Vereine fuͤr Ar- men- und Krankenpflege, fuͤr Unterricht und Erziehung ver- wahrloster Kinder, fuͤr Besserung entlassener Straͤflinge, durch Maͤßigkeitsvereine u. s. w. angestrebt; wissenschaftliche Zwecke durch die uͤberall verbreiteten Vereine der Naturfor- scher, Aerzte, Historiker, Philologen; kuͤnstlerische Zwecke finden in den Kunst- und Musikvereinen, den Liedertafeln ihre Befriedigung; oͤkonomische in den Vereinen der Land- wirthe und Industriellen, gesellige Beduͤrfnisse, wie Spiel, Conversation, Lectuͤre, in den Klubbs, deren fast keine Stadt mehr entbehren kann. Eine eigenthuͤmliche Stellung nehmen noch die Freimaurerlogen ein. 8. Die Genossenschaften in der Familie . Die Familie des hohen Adels bildet an sich schon eine Genossen- schaft; der niedere Adel hat es nur durch besondere Veran- staltungen (gesammte Hand im Lehenrecht, Ganerbschaften) zu entsprechenden Instituten bringen koͤnnen, welche aber gegen- waͤrtig ihre eigentliche Bedeutung verloren haben, und fast ganz durch das Familienfideicommiß absorbirt sind. Von ganz Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . allgemeinem Einfluß dagegen, obgleich durchaus eigenthuͤmli- cher Art und gegenwaͤrtig vielfach beschraͤnkt und gebrochen, ist die eheliche Genossenschaft des germanischen Rechts. Doch kommt hier das genossenschaftliche Princip nur beschraͤnkt zur Anwendung; denn die Dauer der Vereinigung ist eine be- schraͤnkte, da sie nur auf zwei bestimmte Personen geht, und die Fortfuͤhrung uͤber den Tod des einen Ehegatten hinaus, zwischen dem uͤberlebenden und den Kindern, an sich schon zufaͤllig und in der Wirkung beschraͤnkt, nur mittelbar mit ihr zusammenhaͤngt; auch bringt es die Verbindung der Ehegatten, so innig sie ist, zu keiner selbstaͤndigen Persoͤnlichkeit der Ehe, welche als solche weder berechtigt noch verpflichtet wird. Die deutsche eheliche Genossenschaft ist daher eher eine Rechtsge- meinschaft zu nennen, aber eine solche, welche nicht von dem strengen Princip der roͤmischen communio beherrscht wird. III. Entstehung der Genossenschaften . Die Genossenschaft kann auf eine zwiefache Weise entste- hen: entweder auf dem Wege der historischen Entwicklung oder durch einen bestimmten Act der Constituirung. Im ersten Fall fuͤhrt das Beduͤrfniß und der im Associationsgeiste begruͤndete Trieb allmaͤlig zur genossenschaftlichen Vereinigung, indem die Verbindung der Einzelnen nach und nach so innig mit dem gemeinsamen Zweck sich identificirt, daß die Gemeinschaft selbst als eine selbstaͤndige Persoͤnlichkeit hervortritt, und sich gleich- maͤßig in ihr eine Verfassung entwickelt, welche der freien Be- wegung im Innern und nach außen die gehoͤrige Form und Haltung gewaͤhrt. So sehen wir im Mittelalter die Marken- genossenschaften, die Eides- und Fehdebuͤndnisse freier Ge- schlechter, die Innungen der Stadtbuͤrger, die ritterschaftlichen Sechstes Kapitel . Corporationen, die Familien des hohen Adels u. s. w. in lang- samer Entwicklung, oft unter Kampf und Noth, sich zur ge- nossenschaftlichen Verbindung gestalten, und in festen Formen sich abschließend endlich eine bestimmte corporative Stellung gewinnen. Es laͤßt sich dieser Entwicklungsproceß mit der allmaͤligen, zum Theil unbewußten Entfaltung des Gemeinde- und Staatswesens vergleichen, und gerade die Genossenschaft war es, welche im Mittelalter nicht wenig von dem an sich zog, was jetzt dem Staate und dessen allgemeiner Organisa- tion gebuͤhrt. Jene Vereine gewannen, indem sie zum Da- seyn gelangten, einen betraͤchtlichen Antheil an der oͤffentlichen Gewalt, welche noch nicht in einer geordneten Staatsverfas- sung ihre volle Ausbildung erlangt hatte; oder sie setzten sich mit den herrschenden Maͤchten in ein bestimmtes Verhaͤltniß, indem sie bald durch Kampf auf ihre Kosten sich staͤrkten, bald durch Unterwerfung Anerkennung und Schutz so wie Freiheiten und Rechte mancher Art sich zu verschaffen wußten. — Anders als durch eine solche allmaͤlige Entwicklung sind manche Genossenschaften sofort durch einen bestimmten juristi- schen Act constituirt worden, indem Einzelne zu einem gemein- samen Zweck, wie weit oder eng dieser nun war, sich auf die Dauer vereinigten, und durch die ganze Anlage ihrer Verbin- dung und durch die Verfassung, welche sie sich gaben, es gleichfalls zur Corporation brachten, welche denn, je nach den Umstaͤnden, ganz unabhaͤngig da stand, insofern die Genossen sich innerhalb ihrer Rechtssphaͤre hielten, und kraͤftig genug waren, diese selbstaͤndig zu schirmen, oder der Anerkennung und dem Schutz der Oberen unterworfen ward, wie es eben nothwendig oder raͤthlich erschien. Auf diese Weise sehen wir Staͤdtebuͤndnisse, landschaftliche Corporationen, Erbverbruͤderun- Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . gen, Ganerbschaften, religioͤse Vereine, geistliche Ritterorden u. s. w. entstehen. Doch soll damit nicht gesagt seyn, daß stets die eine Art der Genossenschaften so, die andere anders begruͤndet worden: die reiche Mannichfaltigkeit des mittelaltri- gen Rechtslebens hat sich auch dabei auf die verschiedenste Weise geltend gemacht. Fragen wir nun, ob denn auch gegenwaͤrtig, im moder- nen Staate die Genossenschaft noch auf jene zwiefache Art her- vorgerufen werde, so soll nicht durchaus in Abrede gestellt wer- den, daß es nicht auf dem Wege der allmaͤligen Entwicklung auch jetzt noch geschehen koͤnne; es ist sogar anzunehmen, daß die eine oder die andere der vielen vorhandenen Genossenschaf- ten in der angegebenen Weise auch in neuerer Zeit zum Be- wußtseyn ihrer Existenz, zur organischen Gestaltung und zur allgemeinen Anerkennung gekommen ist. Aber gegenwaͤrtig, wo uͤberhaupt die bewußte That statt der stillen Naturbildung einzugreifen pflegt, wenn uͤberhaupt tuͤchtige Kraͤfte vorhanden sind und sich frei bewegen koͤnnen, — gegenwaͤrtig wird doch regelmaͤßig eine neue Genossenschaft durch einen bestimmten juristischen Act constituirt werden, indem die Einzelnen, welche den Verein gruͤnden wollen, nachdem sie uͤber den Zweck und die Organisation desselben einig geworden sind, die Erklaͤrung abgeben, daß die Genossenschaft, der jetzt auch ein bestimmter Name beigelegt zu werden pflegt, als solche bestehen soll, und daß sie, die Gruͤnder, sich nun als Mitglieder derselben anse- hen. Insofern diese Willenserklaͤrung durch die Uebereinstim- mung der Einzelnen erst moͤglich wird, beruht sie nothwendig auf einem Vertrage; allein an und fuͤr sich ist sie kein Ver- trag, wenigstens nicht im gewoͤhnlichen Sinne, sondern eben ein constituirender Act, mit welchem sich der Gesammtwille Sechstes Kapitel . von dem Einzelwillen abloͤst, und zu einer neuen Form sich verkoͤr- pert. Der Associationsgeist mit seiner schaffenden Kraft, der auch in der Stille der geschichtlichen Entwicklung sich verbergen kann, tritt hier mit einer concentrirten Wirksamkeit auf, und ruft ein be- wußtes Handeln und durch dieses die Genossenschaft hervor. Allein diese Auffassung der Sache ist nicht die gewoͤhn- liche; vielmehr ist die Ansicht allgemein verbreitet, daß jede juristische Person und also auch die Genossenschaft nicht durch Privatwillkuͤhr, sondern nur durch die Staatsgewalt ins Leben gerufen werden kann. Dabei herrscht freilich in der weitern Durchfuͤhrung der Lehre keine Uebereinstimmung: bald soll der Act der Constituirung nur vom Staate ausgehen koͤnnen, so daß jede andere dabei entwickelte Thaͤtigkeit juristisch nicht in Betracht zu kommen scheint, oder die ertheilte Confirmation gar nur als eine beliebig zuruͤckzuziehende Concession gedeutet wird; bald wird die ausdruͤckliche Staatsgenehmigung als eine nothwendige Form verlangt, welche dem Act der Begruͤndung nur das Siegel der Legalitaͤt aufdruͤckt; bald soll auch die stillschweigende Genehmigung des Staates durch wissentliche Duldung und thatsaͤchliche Anerkennung genuͤgen, so daß es ausreichend ist, wenn der Staat nur Kunde von der juristi- schen Person erhalten hat, und nicht verbietend dagegen ein- schreitet. Daß diese Ansichten, welche sich nicht selten bei dem- selben Schriftsteller in bunter Mischung neben einander finden, ihrem Wesen nach verschieden sind, liegt auf flacher Hand: die erste sieht in der Staatsgewalt die ausschließliche Quelle der juristischen Person; die zweite verlangt nur bei der Be- gruͤndung ihre Mitwirkung, und laͤßt dabei also auch andere Factoren zu; die dritte endlich raͤumt die Moͤglichkeit der Exi- stenz auch unabhaͤngig von der Staatsgewalt ein, da, was ge- Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . duldet wird, schon bestehen muß. — Daß nun der Staat sich im Allgemeinen zur juristischen Person nicht gleichguͤltig ver- halten kann, und daß ihm ein bestimmter Einfluß auf die- selbe gebuͤhrt, ist nicht in Abrede zu stellen; zunaͤchst fragt es sich aber, ob und inwiefern ihre Begruͤndung von seinem Willen abhaͤngt, und die Privatwillkuͤhr hierbei ausgeschlossen ist. Das soll nun mit besonderer Beziehung auf die Genos- senschaft hier erwogen werden, wobei die verschiedenen daruͤber bestehenden Ansichten einer Kritik zu unterziehen sind. 1. Gewoͤhnlich behauptet man, jede juristische Person sey als solche eine Fiction, und koͤnne deswegen nur durch die hoͤchste Gewalt im Staate zur Existenz kommen. Allein Bei- des ist nicht richtig. Die Genossenschaft namentlich und die Gemeinde sind so wenig eine Fiction, als der Staat es selber ist; es liegt in der so geordneten Gesammtheit ein organi- sches Leben, eine Persoͤnlichkeit, deren Bedeutung man ganz mißversteht, wenn man sie bloß im Gegensatz zu der des einzelnen Menschen auffaßt, so wie es auch nicht richtig ist, wenn man sie ausschließlich auf den civilrechtlichen, freilich besonders wichtigen Punct der Vermoͤgensfaͤhigkeit bezieht. Daß aber ferner eine solche Persoͤnlichkeit, die immerhin als eine juristische bezeichnet werden mag, nur durch den Staats- willen soll entstehen koͤnnen, ist einfach eine petitio principii, welche durch die Geschichte und das Rechtsleben der germani- schen Voͤlker widerlegt wird. Auch ist schon auf den Wider- spruch aufmerksam gemacht worden, dessen sich diejenigen schul- dig machen, welche dem ausdruͤcklichen Staatswillen die still- schweigende Anerkennung und Duldung substituiren. Es ver- haͤlt sich damit, wie mit der aͤlteren Theorie von der Entste- hung des Gewohnheitsrechts: weil man sich das Gesetz als Sechstes Kapitel . die ausschließliche Quelle des Rechts dachte, so ließ man das Gewohnheitsrecht nur durch die ausdruͤckliche oder stillschwei- gende Genehmigung des Staats entstehen, und nahm, um ein falsches Princip aufrecht zu erhalten, zu Fictionen seine Zuflucht. 2. Die Nothwendigkeit der Staatsgenehmigung wird auch auf das roͤmische Recht zuruͤckgefuͤhrt. Allein dieses, ohne Ahnung von dem germanischen Associationsgeiste und den dadurch hervorgerufenen Instituten, verlangt nur aus po- lizeilichen Gruͤnden, welche mit der Verfassung der Monarchie zusammenhingen, eine Bestaͤtigung der collegia und cor- pora, die erst in Folge ausdruͤcklicher Gesetze beliebt ward, und das heutige Recht und namentlich die deutschrechtliche Genossenschaft nicht beruͤhrt. Zwar koͤnnte man hiergegen einwenden wollen, das Juristenrecht habe diese beschraͤnkende Vorschrift in Deutschland recipirt und generalisirt; allein wenn auch die Juristen in dieser Beziehung die gleichen Principien verfochten haͤtten, was, wie gezeigt, nicht der Fall gewesen ist, so wuͤrde doch die Beobachtung des im Volke waltenden Rechtslebens zeigen, daß sie mit ihrer Ansicht nicht durchge- drungen sind. Denn es finden sich in deutschen Laͤndern, wo das roͤmische Princip nicht ausdruͤcklich sanctionirt worden ist, viele Genossenschaften, die keine Staatsgenehmigung erhalten haben, und welche doch auch der entschiedenste Romanist nicht, ohne sich laͤcherlich zu machen, selbst in Beziehung auf das Vermoͤgen, als bloße communio behandeln duͤrfte. Man denke sich nur einen schon lange in anerkannter Wirksamkeit bestehenden geselligen Klubb, der nicht confirmirt worden, mit einem bedeutenden Vermoͤgen, und lasse ein austretendes Mitglied oder die Erben eines verstorbenen die Theilungsklage anstellen! Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . 3. Eine eigenthuͤmliche Auffassung der hier behandelten Frage findet sich bei v. Savigny. Er sagt System des heutigen roͤmischen Rechts. II. S. 277. 278. : „Die Nothwendigkeit der Staatsgenehmigung zur Ent- stehung jeder juristischen Person hat, unabhaͤngig von poli- tischen Ruͤcksichten, einen durchgreifenden juristischen Grund. Der einzelne Mensch traͤgt seinen Anspruch auf Rechtsfaͤ- higkeit schon in seiner leiblichen Erscheinung mit sich: weit allgemeiner als bei den Roͤmern, deren zahlreiche Sklaven eine so wichtige Ausnahme bildeten. Durch diese Erschei- nung weiß jeder Andere, daß er in ihm eigene Rechte zu ehren, jeder Richter, daß er in ihm solche Rechte zu schuͤtzen hat. Wird nun die natuͤrliche Rechtsfaͤhigkeit des einzelnen Men- schen durch Fiction auf ein ideales Subject uͤbertragen, so fehlt jene natuͤrliche Beglaubigung gaͤnzlich; nur der Wille der hoͤchsten Gewalt kann dieselbe ersetzen, indem er kuͤnst- liche Rechtssubjecte schafft, und wollte man dieselbe Macht der Privatwillkuͤhr uͤberlassen, so wuͤrde unvermeidlich die hoͤchste Ungewißheit des Rechtszustandes entstehen, selbst ab- gesehen von dem großen Misbrauch, der durch unredlichen Willen moͤglich waͤre. Zu diesem durchgreifenden juristi- schen Grunde treten aber noch politische und staatswirth- schaftliche Gruͤnde hinzu u. s. w.“ Ich sehe nicht ein, wie dieser Grund mit Fug ein juri- stischer genannt werden kann. Denn ein solcher muß doch aus einer Rechtsregel herzuleiten seyn; die erhoͤhte Rechtssicherheit aber, welche durch die Staatsgenehmigung erlangt werden soll, ist kein juristisches, sondern ein politisches Moment, da sie auf der Zweckmaͤßigkeit beruht. Mit demselben Rechte koͤnnte man Sechstes Kapitel . die Formlosigkeit der Vertraͤge, welche nach heutigem gemeinen Rechte als Regel gilt, vom Standpuncte der Rechtssicherheit aus anfechten. Auch verliert dieser, von v. Savigny hervor- gehobene Grund seine beweisende Kraft dadurch, daß (a. a. O. S. 275) angenommen wird, die Staatsgenehmigung koͤnne „auch stillschweigend, durch wissentliche Duldung und thatsaͤch- liche Anerkennung, ertheilt werden.“ Denn wenn dieses der Fall ist, so tritt ja gerade die formelle Bedeutung der Staats- genehmigung, die nur bei deren ausdruͤcklicher Ertheilung ge- wahrt werden koͤnnte, ganz in den Hintergrund. Außerdem aber fragt es sich, ob nicht die Rechtssicherheit eben so gut und noch besser auf andere Weise zu erlangen seyn sollte, z. B. durch die Vorschrift, daß jede Constituirung einer juristischen Person bei der Ortsobrigkeit anzuzeigen und durch oͤffentliche Blaͤtter bekannt zu machen sey. Denn wenn selbst die Staats- genehmigung nicht gehoͤrig veroͤffentlicht wuͤrde, so duͤrfte der Rechtssicherheit damit doch nur auf beschraͤnkte Weise gehol- fen seyn, — namentlich in Beziehung auf das groͤßere Pu- blicum; denn dem Richter fehlt es auch ohne dieß nicht an Anhaltspuncten, die rechtliche Natur solcher Vereine zu erfor- schen, und noͤthigenfalls kann er ja zu einer Beweisauflage schreiten. 4. Es bleibt jetzt nur noch zu erwaͤgen, ob es Gruͤnde giebt, welche vom Standpuncte des modernen Staates aus und im Interesse des oͤffentlichen Wohls die Staatsgenehmi- gung der Genossenschaft als durchaus nothwendig erscheinen lassen. Daß dieses nun ganz allgemein fuͤr alle Institute die- ser Art der Fall sey, laͤßt sich nicht behaupten. Denn es muß, im Gegensatz zu der in Deutschland so uͤbertriebenen Bevor- mundung freier Buͤrger durch die Staatsgewalt, der Grund- Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . satz einer nationalen Politik und einer gesunden Jurisprudenz festgehalten werden, daß nur da, wo das hoͤhere Interesse der Gesammtheit es zum allgemeinen Besten dringend erheischt, der Staat sich mit den Angelegenheiten der Einzelnen befasse, und sie in ihrer freien Bewegung durch Genehmigung und Ober- aufsicht beschraͤnke. Daraus lassen sich folgende Regeln ableiten. a. Der Staat hat vermoͤge seines Oberaufsichtsrechts (der hohen Staatspolizei) die Aufgabe, die genossenschaftlichen Verbindungen im Allgemeinen zu uͤberwachen, die Entartung des Associationsgeistes zu verhindern, und wenn sich derselbe in verderblichen und gefaͤhrlichen Erscheinungen offenbart, mit Verboten und Strafgesetzen dagegen einzuschreiten. Aber es steht schon schlimm, wenn eine solche Handlungsweise von Sei- ten der Staatsgewalt nothwendig wird; noch schlimmer ist es, wenn sie aus uͤbertriebener Aengstlichkeit zu leicht zur po- lizeilichen Praͤvention greift, und dem gesunden Sinn des Vol- kes und der Macht der Oeffentlichkeit zu wenig vertraut. Denn vor Allem ist dahin zu streben, den guten Kraͤften die rechte Bahn anzuweisen und sie darauf zu erhalten, nicht aber sie aus Furcht vor Mißbrauch zu schwaͤchen oder zu toͤdten. Ge- rade der Associationsgeist der Deutschen, im Geiste einer frei- sinnigen und nationalen Politik geleitet, kann zur Kraͤftigung und Concentrirung der Nation sehr wesentlich beitragen, da er sich in seiner Wirksamkeit nicht auf einzelne Staatsgebiete beschraͤnkt. Daß aber Vereine mit einer verbrecherischen Ten- denz nie eine juristische Existenz erhalten duͤrfen, versteht sich von selbst, so wenig die Staatsgenehmigung solchen Genossen- schaften, welche unter dem Schein der Gesetzlichkeit ein verbo- tenes Ziel verfolgen, zu Statten kommen darf. b. Alle Genossenschaften, welche eine unmittelbare poli- Beseler , Volksrecht. 12 Sechstes Kapitel . tische Bedeutung in Anspruch nehmen, und uͤberhaupt in die allgemeine Staatsverfassung eingreifen, koͤnnen so wenig wie die Gemeinde einseitig durch Privatwillkuͤhr, ohne Zuthun der Staatsgewalt errichtet werden. So hat seit dem Anfange des vorigen Jahrhunderts der alte Landesadel in Mecklenburg be- harrlich darnach gestrebt, sich innerhalb der Ritterschaft als eine besondere Corporation zu constituiren, ohne daß ihm die- ses nach gemeinem deutschen Staatsrecht und nach der dorti- gen Landesverfassung haͤtte gelingen koͤnnen. — Den rein po- litischen Corporationen muͤssen auch die entsprechenden kirchli- chen gleich geachtet werden; ja es kann hier, außer der Ge- nehmigung des Staates, auch noch die der Kirchenobern noth- wendig werden. Eine volle Freiheit der kirchlichen Association setzt die Trennung der Kirche vom Staat, oder doch die An- erkennung der Privatwillkuͤhr in dieser Rechtssphaͤre voraus; aber weder das Eine noch das Andere ist ja in Deutschland Rechtens. Daher stellt sich das Verfahren der sogenannten Altlu- theraner in Preußen, welche nach oͤffentlichen Blaͤttern damit um- gehen, eigenmaͤchtig neben der Landeskirche fuͤr sich ein besonderes kirchliches Geweinwesen zu begruͤnden, als unstatthaft heraus. c. Genossenschaften, welche uͤber ihre eigentliche Sphaͤre hinaus Rechte in Anspruch nehmen, wodurch sie Dritte be- schraͤnken und verletzen wuͤrden, beduͤrfen, abgesehen von dem Widerspruchsrecht der Betheiligten, der Staatsgenehmigung. So koͤnnte es in einem Lande, wo Gewerbefreiheit herrscht, an und fuͤr sich unbedenklich seyn, wenn in gewissen Gewer- ken sich genossenschaftliche Vereine zur gegenseitigen Foͤrderung und Unterstuͤtzung bildeten; wollten diese aber einseitig die Be- treibung des Gewerbes durch Ungenossen von besonderen Vor- schriften abhaͤngig machen, vielleicht gar die Abgeschlossenheit Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . und das Monopolwesen der Zuͤnfte wieder einfuͤhren, so wuͤrde das durchaus rechtswidrig seyn. d. Unternehmungen von großartigem Umfange, welche fuͤr den Staat und das gemeine Beste von unmittelbarem In- teresse sind, z. B. bedeutende Eisenbahnbauten, koͤnnen nicht einseitig von Privatvereinen ausgehen; die Staatsgenehmigung mit einer voraufgehenden Voruntersuchung ist hier fuͤr noth- wendig zu halten, so daß, bevor sie ertheilt worden, nur vor- bereitende Verhandlungen stattfinden, und erst, nachdem sie er- folgt ist, der Act der Constituirung vor sich gehen kann. Denn daß dieser durch die Staatsgenehmigung ersetzt werde, laͤßt sich nicht annehmen; er wird dadurch nur rechtlich moͤglich ge- macht. Wann aber ein solcher Fall vorliegt, wo die Privat- willkuͤhr zur Begruͤndung der Genossenschaft nicht ausreicht, das ist, in Ermangelung eines Gesetzes, nach der Erwaͤgung der besonderen Verhaͤltnisse zu entscheiden; gewoͤhnlich wird die Staatsgewalt aber schon dadurch in Stand gesetzt seyn, ihre Cognition geltend zu machen, daß ohne sie die Durchfuͤh- rung des genossenschaftlichen Zweckes nicht zu erreichen ist, in- dem z. B. eine Eisenbahngesellschaft ohne die Anwendung ei- nes Expropriationsgesetzes, ohne ein Abkommen mit der Post u. s. w. keine Aussicht auf Erfolg hat. e ) Schwieriger ist die Frage, wie der Staat sich bei solchen Genossenschaften zu verhalten habe, welche an sich von bedeutender Wichtigkeit, das oͤffentliche Wohl doch nur mittel- bar beruͤhren, wie das mehr oder weniger bei den meisten in- dustriellen und commerciellen Unternehmungen der Fall ist. Denn diese koͤnnen bald durch Schwindelei und Betrug, bald durch unsolide Begruͤndung, z. B. bei Assecuranzcompagnien, die Einzelnen, welche sich dabei betheiligen, in großen Schaden 12* Sechstes Kapitel . bringen, indem leichtsinnige und betruͤgerische Speculanten auf Kosten ihrer getaͤuschten Mitbuͤrger sich bereichern. Kann man auch, in Erwaͤgung dieser Uebelstaͤnde, geneigt werden, fuͤr solche Unternehmungen die Staatsgenehmigung stets fuͤr wuͤn- schenswerth zu halten, so bleibt es doch zweifelhaft, ob sie wirk- lich ein sicheres Gegenmittel enthaͤlt, und ob nicht der Scha- den, den eine uͤbertriebene Bevormundung mit sich fuͤhrt, die Nachtheile, welche durch sie beseitigt werden sollen, uͤberwiegt. Am Ende wird sich doch der Grundsatz auch hier bewaͤhren, daß jeder Einzelne fuͤr seinen Vortheil am besten zu sorgen pflegt, und wo ein tuͤchtiges oͤffentliches Leben besteht, welches namentlich in den Volksgerichten und der freien Presse seine Organe findet, da wird auch das Volk selbst schon im Allge- meinen eine Controle auszuuͤben wissen. Der Staat sorge nur durch angemessene Strafgesetze fuͤr eine strenge Ahndung wirklich betruͤgerischer Schwindeleien. f. Daß uͤberhaupt eine weise Gesetzgebung, welche das Recht der Genossenschaft umfaßte, und namentlich hinsichtlich ihrer Entstehung einen festen Formalismus wahrte, sehr wohl- thaͤtig einwirken und sowohl die Rechtssicherheit befoͤrdern, als auch uͤberhaupt der Entartung des Associationsgeistes mit Er- folg entgegen treten koͤnnte, soll gar nicht in Abrede gestellt werden. Nur waͤre zu wuͤnschen, daß eine solche Gesetzgebung eben das ganze Institut, und nicht bloß die Actiengesellschaft ins Auge faßte, so wie es ihre Hauptaufgabe seyn muͤßte, die leitenden Principien nur insoweit zu fixiren, daß die freie Be- wegung des Rechtslebens in seiner organischen Entfaltung da- durch nicht bedroht wuͤrde. Namentlich moͤchte auch darauf Ruͤcksicht zu nehmen seyn, ob nicht manche Genossenschaften in ein bestimmtes Verhaͤltniß zur Gemeinde gebracht werden Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . koͤnnten, damit, wenn auch eine Anerkennung und Beaufsich- tigung noͤthig seyn sollte, die hoͤchste Staatsgewalt nicht im- mer mit solchen Kleinigkeiten behelligt wuͤrde. IV. Verfassung der Genossenschaft . Im Associationsgeist liegt nicht bloß der Trieb, welcher die Einzelnen zur genossenschaftlichen Vereinigung zusammen- fuͤhrt, sondern es ist darin auch die organisirende Kraft ent- halten, welche eine dem Zweck und Beduͤrfniß entsprechende Gestaltung der Genossenschaft hervorruft. Dabei kommt es nun theils auf die Thaͤtigkeit der einzelnen Mitglieder an, theils auf die Stellung, welche die Gesammtheit als solche einnimmt. Die erstere bietet wieder eine doppelte Seite dar, je nachdem der Zweck der Genossenschaft unmittelbar durch die Leistungen der einzelnen Mitglieder ganz oder doch theilweise erfuͤllt wird, so daß der Verein nur die Richtung derselben auf das gemein- same Ziel und ihre zweckmaͤßige Verbindung und Verwendung bestimmt; oder nur die Genossenschaft als solche fuͤr die Er- reichung ihres Zieles nach außen hin thaͤtig wirkend auftritt, so daß das Verhaͤltniß der einzelnen Mitglieder nur insofern sie die Traͤger der Gesammtheit sind, einer Bestimmung be- darf. Bei denjenigen Genossenschaften aber, welche die Errei- chung eines Gewinnes fuͤr die Mitglieder bezwecken, oder doch am Vermoͤgen der Gesammtheit bestimmte Sonderrechte zu- lassen, kommt in Beziehung auf diese Verhaͤltnisse noch man- ches Eigenthuͤmliche zur Erwaͤgung. — Der Inbegriff derje- nigen Satzungen nun, welche das Recht der Genossenschaft in Beziehung auf ihre innere Organisation und ihre Thaͤtigkeit nach außen hin enthalten, bildet die Verfassung . Diese bestimmt die Art und Weise, Sechstes Kapitel . 1) wie der Wille der Genossenschaft als solcher zu Stande kommt, damit er als ein einheitlicher Wille der Ge- sammtheit gelte; 2) wie die Geschaͤftsfuͤhrung in den Angelegenheiten der Gesammtheit vor sich geht; 3) wie die einzelnen Mitglieder rechtlich zur Gesammtheit stehen. So wie es sich nun von den Angelegenheiten der Ge- nossenschaft als solcher handelt, scheint es das Natuͤrlichste zu seyn, daß alle Mitglieder gleichmaͤßig daran Theil nehmen, und daß namentlich, wenn es sich von der Fassung eines Be- schlusses handelt, die Einstimmigkeit oder doch das Mehr der Stimmen entscheide. Aber das laͤßt sich doch nur bei sehr einfachen Verhaͤltnissen durchfuͤhren; gewoͤhnlich beschraͤnkt sich die Thaͤtigkeit aller, in der Generalversammlung repraͤsentirten Mitglieder nur auf die wichtigeren Angelegenheiten, waͤhrend die Abmachung der laufenden Geschaͤfte und die Vollziehung der Corporationsbeschluͤsse den besonders dazu constituirten Be- hoͤrden uͤberlassen ist. Wie es sich damit nun in den einzelnen Faͤllen verhalten soll, das pflegt sofort bei der Errichtung der Genossenschaft ausdruͤcklich in ihren Statuten ausgesprochen zu seyn, welche auch meistens den Zweck des Vereins bestimmt angeben, und außerdem uͤber die Aufnahme neuer Mitglieder und deren Austritt oder Ausschließung, uͤber die Beitraͤge, uͤber die etwaige Aufloͤsung des Vereins u. s. w. das Naͤhere vor- schreiben. Die Statuten sind das Gesetz der Genossenschaft, welches sie sich vermoͤge der Autonomie giebt: denn diese ist die, urspruͤnglich auch den Gemeinden zustehende Befugniß freier Corporationen, innerhalb ihrer Rechtssphaͤre d. h. soweit nicht die Rechte Dritter oder ein bestimmtes oͤffentliches In- Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . teresse dabei in Betracht kommt, ihre Verfassung selbstaͤndig zu ordnen, und dauernde Normen, welche die Corporation als solche und also auch alle einzelnen Mitglieder binden, guͤltig zu erlassen. Den Gemeinden ist diese Autonomie fast ganz entrissen, obgleich sie denselben erst die rechte Selbstaͤndigkeit giebt, und weise beschraͤnkt und den Anforderungen des mo- dernen Staats unterworfen, das beste Mittel seyn wuͤrde, die so laͤstige und demuͤthigende Bevormundung der Buͤrger durch eine stets thaͤtige Regierungsgewalt zu beseitigen. Den Ge- nossenschaften steht die Autonomie noch zu, insofern nicht die Anforderungen des Staates und die Rechte dritter Personen ihre Ausuͤbung beschraͤnken. In der Regel ist daher die Verfassung jeder einzelnen Ge- nossenschaft nach ihren besonderen Statuten und, was diesen gleichkommt, nach der Observanz zu beurtheilen; doch lassen sich einige allgemeine Grundsaͤtze aufstellen, welche, wenn nicht specielle Gruͤnde entgegenstehen, ihre Anwendung finden muͤssen. 1. Der Wille der Genossenschaft spricht sich in der Ma- joritaͤt der stimmberechtigten Mitglieder aus, und zwar derje- nigen, welche in einer Generalversammlung erschienen sind, vorausgesetzt, daß alle dazu ordnungsmaͤßig geladen, was je- doch auch durch eine Bekanntmachung in oͤffentlichen Blaͤt- tern geschehen kann, und daß dabei die Gegenstaͤnde der Ver- handlung und Beschlußnahme ausdruͤcklich angegeben worden sind. Denn unter dieser Voraussetzung muͤssen die Ausblei- benden sich dem Beschluß der Majoritaͤt fuͤgen, weil anzuneh- men ist, daß sie fuͤr den besonderen Fall auf ihr Stimmrecht verzichtet haben. Eine Uebertragung der Stimme des Aus- bleibenden auf einen andern Genossen oder die Abgabe der Stimme durch einen Bevollmaͤchtigten laͤßt sich juristisch kaum Sechstes Kapitel . rechtfertigen, wenn die Statuten es nicht ausdruͤcklich gestat- ten, und hat auch unter dem Gesichtspuncte der Zweckmaͤßig- keit betrachtet, Manches gegen sich. 2. Stimmberechtigt ist im Zweifel jeder Genosse. In solchen Vereinen, bei welchen die Mitgliedschaft von dem Er- werb einer bestimmten Quote am Gesammtvermoͤgen, welche das Sonderrecht des Einzelnen repraͤsentirt, abhaͤngt, muͤssen die Stimmen nach der Zahl solcher Quoten, welche jeder Ein- zelne inne hat, berechnet werden: also bei der Actiengesellschaft nach Actien, bei der Gewerkschaft nach Kuxen, bei der Rhe- derei nach Schiffsparten. Doch kann hier eine Beschraͤnkung auf ein Maximum der Stimmen, welche der Einzelne, auch wenn er hoͤher bei dem Verein interessirt ist, fuͤhren darf, sehr angemessen seyn. 3. Ueber wohlerworbene Sonderrechte des Einzelnen kann ohne dessen Zustimmung von der Majoritaͤt nicht verfuͤgt wer- den, es sey denn, daß die Verfassung daruͤber etwas Anderes bestimmt. Ein solches Sonderrecht hat aber der Genosse als Mitglied des Vereins, nicht in seiner Stellung außerhalb des- selben; in dieser Beziehung tritt er als ein tertius auf, z. B. wenn er als Kaufmann mit dem Verein contrahirt hat. 4. Die in der Genossenschaft verfassungsmaͤßig consti- tuirten Gewalten (Vorsteher, Ausschuß, Deputation, Direction, Administration u. dgl.) haben, soweit ihre Amtssphaͤre reicht, im Innern der Genossenschaft eine freie Bewegung, sind aber sowohl der Gesammtheit als auch den einzelnen Mitgliedern wegen ihrer Sonderrechte verhaftet. In derselben Weise ver- treten sie die Genossenschaft nach außen hin, und beduͤrfen nur dann eines besonderen Syndicats, wenn sie sich nicht durch die Statuten und das Wahlprotokoll gehoͤrig legitimiren koͤnnen. Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . V. Vermoͤgensverhaͤltnisse der Genossen- schaften, insbesondere vom Gesammt- eigenthum . Wie schon erwaͤhnt worden, kommt bei der Genossenschaft der Begriff der juristischen Person nicht immer rein zur An- wendung; es koͤnnen dabei Sonderrechte der einzelnen Genos- sen bestehen, welche eher dem Recht der communio, als dem der universitas zu entsprechen scheinen, und gerade bei den Vermoͤgensverhaͤltnissen ist dieß vorzugsweise der Fall. Es ist aber damit nur der allgemeine Gesichtspunct angegeben, wel- chen man bei der juristischen Beurtheilung festhalten muß; bei der Verschiedenheit des Zwecks und der Verfassung, welche sich bei den einzelnen Arten der Genossenschaften finden, treten wie- der sehr wesentliche Modificationen jenes Princips ein, welche hier vor Allem naͤher zu betrachten sind. 1. Wenn das Vermoͤgen der Genossenschaft bloß dem Vereinszwecke dient, ohne daß ein besonderes Interesse der ein- zelnen Mitglieder dabei in Betracht kommt, so sind diese un- mittelbar nicht dabei betheiligt, und das ganze Rechtsverhaͤltniß wird nach dem strengen Princip der juristischen Person beurtheilt. Dasselbe gilt, wenn den einzelnen Genossen gewisse Vortheile zufließen, aber nur in Folge der Verfassung oder einer be- stimmten Beschlußnahme, ohne daß ihnen eine unmittelbare Berechtigung am Vermoͤgen der Gesammtheit zusteht, wenn also z. B. ein Kunstverein unter seinen Mitgliedern Gemaͤhlde ausloosen oder Kupferstiche vertheilen laͤßt. 2. Anders stellt sich die Sache schon, wenn in der Ge- nossenschaft, wie es auch in der deutschen Gemeinde der Fall seyn kann, den einzelnen Mitgliedern bestimmte Sonderrechte an dem Corporationsgut als Nutzungsrechte zustehen, welche Sechstes Kapitel . einen selbstaͤndigen dinglichen Charakter an sich tragen, und den Berechtigten nicht ohne ihre Zustimmung entzogen werden koͤnnen, so daß, wenn dieß aus hoͤheren Staatszwecken. doch geschieht, das Princip der Expropriation zur Anwendung ge- bracht wird. Solche Verhaͤltnisse finden sich namentlich bei den Markengenossenschaften, aber zuweilen auch bei den Deich- verbaͤnden, geistlichen Stiftern, Zuͤnften, Gilden u. s. w. Das Recht der Einzelnen kann aber dabei seinem Umfange und seinem Inhalte nach sehr verschieden seyn, so daß es bald nur einzelne Nutzungsrechte an einzelnen Guͤtern der Corporation befaßt, bald aber das ganze gemeinsame Vermoͤgen davon ergriffen wird. Dabei bekommt denn die Art der Ausuͤbung ihre naͤ- here Bestimmung in der Verfassung der Genossenschaft, welche das Recht der Gesammtheit und das der Einzelnen in ihrer wechselseitigen Beziehung fest stellt, und die harmonische Durch- fuͤhrung des so bestimmten Verhaͤltnisses sichert. Dasselbe Prin- cip findet auch bei der Familie des hohen Adels seine Anwen- dung, nur daß es hier durch die bevorzugte Stellung des Fa- milienhauptes eigenthuͤmlich modificirt wird. 3. Die dritte Classe, welche unter den Genossenschaften in Beziehung auf das Vermoͤgensrecht hervorzuheben ist, hat das Besondere, daß die im Eigenthum enthaltenen Rechte nicht bloß zwischen der Gesammtheit und den einzelnen Mit- gliedern vertheilt sind, sondern daß sich die doppelte Seite des ganzen Instituts in der Weise an dem Vermoͤgen darstellt, daß dasselbe zugleich als einheitliches Corporationsgut, unter dem Gesichtspunct der universitas, und in ideelle Theile zer- legt, als Miteigenthum der einzelnen Genossen nach dem Prin- cip der communio in Betracht kommt. Die Vermittlung die- ser Begriffe liegt wieder in der Verfassung der Genossenschaft, Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . welche die Substanz des Vermoͤgens auf die Dauer mit der Gesammtheit verbindet, es aber zugleich seinem Werthe nach in einzelne Theile zerlegt, an welchen den Mitgliedern ein pri- vatives Eigenthum zusteht. Schon im aͤlteren deutschen Rechte finden sich solche Verhaͤltnisse in den Ganerbschaften, den Ge- werkschaften der Bergbauinteressenten u. s. w. ausgebildet; im modernen Rechte sind noch die so sehr wichtigen Actienvereine hinzugekommen. Fassen wir diese letzteren etwas naͤher ins Auge. Der Actienverein ist eine Genossenschaft, und das Ver- moͤgen gehoͤrt der Corporation als solcher und dient deren Zwecken; besondere Nutzungsrechte der einzelnen Genossen, wie sie noch bei den Gemeinern der Ganerbschaft in Beziehung auf Wohnung, Wiese, Wald, Jagd u. s. w. sich finden, kommen hier nicht vor. Aber das Corporationsvermoͤgen dient nicht bloß der Gesammtheit, sondern auch dem Interesse der Einzel- nen: es wird nach Bruchtheilen, welche dem Einlagecapital entsprechen, in ideelle Theile zerlegt, und diese, durch die Actie repraͤsentirt, gehoͤren dem Inhaber zu vollem Eigenthum, inso- fern es nicht von dem Princip der Genossenschaft beschraͤnkt wird. Eine solche Beschraͤnkung aber besteht darin, daß die Theilungsklage fuͤr die Actionaͤre wegfaͤllt, und daß uͤberhaupt in allen Beziehungen, wo nicht der ideelle Vermoͤgenstheil als solcher oder dessen Repraͤsentant, die Actie, in Betracht kommt, das corporative Princip dem Sonderrechte uͤberlegen ist. a. Die Actie ist dem Privatverkehr uͤberlassen, und kann durch bloße Aushaͤndigung in das Eigenthum eines Andern uͤbergehen. Mit dem Erwerb der Actie ist zugleich fuͤr den Inhaber die Wirkung verbunden, daß er dadurch in die Ge- nossenschaft aufgenommen wird, aͤhnlich, wie es bei der Rhe- derei durch Erwerbung von Schiffsparten und bei den Ge- Sechstes Kapitel . werkschaften durch die einer Kuxe geschieht, nur daß im letzte- ren Fall die Eigenschaft der Sache als eines Immobile eine besondere Form der Uebertragung (die Auflassung durch Ein- tragung in das Gegenbuch) noͤthig macht. b. Zuweilen geschieht es, daß eine Genossenschaft durch Actienzeichnung ein Capital aufbringt, welches ihrem Interesse dient, ohne daß gerade jedes Mitglied Actionaͤr zu seyn braucht, oder die Actien auch nur nothwendig in den Haͤnden der Ge- nossen sich befinden. Dann liegt ein eigenthuͤmliches Verhaͤlt- niß vor: die Contrahirung einer Schuld von Seiten der Ge- nossenschaft in der Form der Actienzeichnung, und die Actio- naͤre sind hier die Glaͤubiger, ihre Actie ist ein Schuldschein, der sich regelmaͤßig bestimmt verzinst, unkuͤndbar ist und auf den Inhaber lautet. — Diese Glaͤubiger kommen daher in Beziehung auf die Genossenschaft als Dritte zu stehen, und koͤn- nen, wenn sie ihr auch anderweitig angehoͤren, im Allgemeinen keine bevorzugte Stellung in derselben in Anspruch nehmen; aber daß sie mit ihren Anspruͤchen auf Verzinsung u. s. w. befriedigt werden muͤssen, ehe fuͤr die Genossen als solche von einer Dividende die Rede seyn kann, folgt schon aus der all- gemeinen Beschaffenheit des Rechtsverhaͤltnisses. c. Bei den Genossenschaften, welche commercielle und industrielle Unternehmungen zu ihrem Zwecke haben, und fuͤr die Genossen einen Gewinn direct beabsichtigen oder doch nicht ausschließen, repraͤsentirt die Actie nicht die bestimmte Quote des urspruͤnglichen Einlagecapitals, worauf sie lautet, sondern die Quote des relativen Werthes, den das Corporationsvermoͤ- gen in seiner Totalitaͤt hat, also mit Beruͤcksichtigung des Be- triebes, der Conjuncturen, des oͤffentlichen Credits u. s. w., wie er sich im Course darstellt. Dem Actionaͤr kommt daher jede Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . Steigerung dieses Werthes zu Gute, unmittelbar durch die Dividende, mittelbar durch eine Erhoͤhung des Verkaufsprei- ses er muß sich aber auch die Verminderung desselben gefal- len lassen, sey es nun, daß diese durch aͤußere Umstaͤnde her- beigefuͤhrt wird, oder daß die verfassungsmaͤßige Thaͤtigkeit der Genossenschaft durch Anleihen, Neubauten u. s. w. darauf ein- wirkt. Daher kommt es, daß der Preis solcher Actien, ganz ohne Verhaͤltniß zur gegenwaͤrtigen Dividende, schwanken kann, und daß sie zum Gegenstande der Speculation und der Agiotage gemacht werden. — In den Faͤllen, wo nur gesellschaftliche Zwecke durch die Herbeischaffung des Einlagecapitals verfolgt werden sollen, stellt sich die Sache anders, namentlich dann, wenn nicht einmal die Verzinsung der Einschuͤsse beabsichtigt wird, sondern diese als ein Opfer der Einzelnen fuͤr das ge- meinsame Interesse erscheinen, welches sie in der Genossenschaft und als deren Mitglieder verfolgen. Dann hoͤrt die Actie uͤberhaupt auf, als Vermoͤgenstheil etwas zu bedeuten. 4. Da fruͤher die eheliche Genossenschaft erwaͤhnt wor- den, so ist auch von dem Guͤterrechte derselben hier kurz zu handeln. Es bestand nach dem aͤlteren deutschen Rechte, um Runde’s sehr bezeichnenden Ausdruck zu gebrauchen, eine Guͤ- tervereinigung unter den Ehegatten, indem das beiderseitige Vermoͤgen sich waͤhrend der Ehe als ein Ganzes darstellte, welches aber nach deren Aufhebung wieder in seine urspruͤng- lichen Theile aufgeloͤst ward, so daß also durch die nur tem- poraͤre Vereinigung die Eigenthumsverhaͤltnisse nicht unmittel- bar umgestaltet, sondern nur dem besonderen Recht der Ehe dienstbar gemacht wurden. Das bestimmende Princip dabei war das Mundium oder die Voigtei des Ehemannes, welcher auch in Beziehung auf das Vermoͤgen als das Organ der Sechstes Kapitel . Gemeinschaft die aͤußere Herrschaft ausuͤbte und die Leitung der Oeconomie hatte, waͤhrend die Frau ihn nur bei Veraͤuße- rungen von Immobilien beschraͤnkte, und im engeren Kreise der Haushaltung sich einer ihr nach deutscher Sitte gebuͤh- renden groͤßeren Selbstaͤndigkeit erfreute. Daher sagt der Sach- senspiegel: es giebt kein gezweiet Gut in der Ehe; und: der Mann nimmt der Frauen Gut in seine Gewere zu rechter Vormundschaft, — zwei Grundsaͤtze, welche dem gemeinen Landrecht angehoͤrten, und nur in dem Recht der einzelnen Staͤmme und Staͤnde, namentlich mit Ruͤcksicht auf die ehe- liche Errungenschaft und die Erbgebuͤhr, welche dem uͤberleben- den Ehegatten am Vermoͤgen des verstorbenen zukam, naͤher bestimmt und modificirt waren. — Indessen konnte es doch auch schon nach aͤlterem Rechte geschehen, daß die Ehegatten sich wahre Eigenthumsrechte an ihrem Vermoͤgen zuwandten, was vermittelst einer wechselseitigen Vergabung von Todeswe- gen durch die Auflassung geschah. Dadurch ward die bloß temporaͤre Guͤtervereinigung zu einer wahren Guͤtergemeinschaft umgebildet. Der Ehemann behielt zwar die in seiner Voigtei liegenden Rechte, aber er war nun auch bei Veraͤußerung der von ihm eingebrachten Immobilien an die Zustimmung der Frau gebunden, und nach Aufhebung der Ehe bekam der uͤber- lebende Ehegatte das ganze in der Gemeinschaft vorhandene Vermoͤgen nach Eigenthumsrecht. Dieses Rechtsverhaͤltniß, welches urspruͤnglich nur durch ein besonderes Geschaͤft hervor- gerufen werden konnte, ward spaͤter in manchen Landesrechten und Statuten die gesetzliche Regel, so daß die Eingehung der Ehe dasselbe bewirkte, wie die wechselseitige Vergabung. Dar- auf beruht das Princip der sogenannten innern oder materiel- len Guͤtergemeinschaft, welche freilich sowohl hinsichtlich ihres Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . Umfangs als auch ihrer rechtlichen Natur wieder in verschie- denartigen Erscheinungen vorkommt, da das leitende Princip nicht immer streng durchgefuͤhrt worden ist. Die sogenannte aͤußere oder formelle Guͤtergemeinschaft dagegen entspricht im Wesentlichen noch dem aͤlteren Rechte, und weicht von demsel- ben meistens nur durch die Erweiterung der ehelichen Erbge- buͤhr ab. — Dieß besondere Vermoͤgensverhaͤltniß wird aber in beiden Faͤllen bestimmt und uͤberhaupt moͤglich gemacht durch das Wesen der deutschen Ehe selbst, also, wenn man will, durch die Verfassung der Genossenschaft: denn nur durch die bestimmte Stellung, welche der Ehemann vermoͤge seiner Voigtei, die Frau als Vorsteherin der Haushaltung einnehmen, koͤnnen die, an sich einander schroff begrenzenden Eigenthums- rechte in die gehoͤrige Ausgleichung gebracht werden. Doch macht das moderne Rechtsleben auch hier seine besonderen An- spruͤche geltend: die uͤberwiegende Bedeutung des Grundbesitzes hat sich allmaͤlig verloren, und so entspricht es dem Wesen der Sache nicht mehr, daß der Mann unbedingt uͤber die Fahrniß, mit Einschluß der Capitalien, welche fruͤher in den unbeweglichen Renten enthalten waren, soll schalten koͤnnen. In dieser Bezie- hung ist im Interesse der Frau eine Beschraͤnkung zu machen, welche sich auch aus dem heutigen Volksrecht deduciren laͤßt, wie denn ja auch in aͤlterer Zeit die Verfuͤgung des Mannes uͤber alle beweglichen Sachen in den besonderen Verhaͤltnissen ihre Grenze gehabt haben muß, und z. B. gewiß nicht unbe- dingt und unmittelbar uͤber die Gerade, uͤber Kleider, Kleino- dien u. s. w. sich erstreckt hat, wenn auch eine eventuelle Ver- haftung des ganzen Frauenguts fuͤr die Schulden des Man- nes bestand. — Allein noch ein Einwand laͤßt sich gegen die oben gegebene Darstellung der ehelichen Guͤtergemeinschaft er- Sechstes Kapitel . heben, welcher neulich wirklich gemacht worden, und zu dem verzweiflungsvollen Schritt gefuͤhrt hat, den Mann fuͤr den alleinigen Eigenthuͤmer der vereinigten Vermoͤgensmasse zu er- klaͤren. Duncker L. Duncker, das Gesammteigenthum (Marburg 1843) S. 217 ff. behauptet naͤmlich, das Mundium des Ehe- mannes, die eheliche Voigtei bestehe gegenwaͤrtig gar nicht mehr als ein gemeinrechtliches Institut, und koͤnne daher auch nicht benutzt werden, um ein anderes gemeinschaftliches Insti- tut darauf zu begruͤnden. Wenn Eichhorn behaupte, die ehe- liche Vormundschaft koͤnne als eine Wirkung der besondern ehelichen Guͤterverhaͤltnisse vorkommen, so kehre er das ganze Verhaͤltniß gerade um, denn in dem aͤlteren Rechte erscheine das Guͤterverhaͤltniß als eine Wirkung der ehelichen Vormund- schaft. — Allein wenn es auch richtig ist, daß die Geschlechts- vormundschaft uͤberhaupt in ihrer allgemeinen Geltung dem modernen Rechtsleben entfremdet worden, so ist damit nicht gesagt, daß sie nicht in dem besonderen Verhaͤltniß der Ehe- gatten noch eine ausgedehnte Wirksamkeit hat bewahren koͤn- nen, und daß diese nicht gerade durch das Institut der Guͤ- tergemeinschaft festgehalten worden ist. Betrachtet man un- befangen das gegenwaͤrtige Rechtsleben, so erscheint die ehe- liche Guͤtergemeinschaft im Wesentlichen noch ebenso wirksam, wie sie unter dem Einfluß der Voigtei des Ehemanns sich ausgebildet hat, und in den speciellen Rechtsquellen festgestellt worden ist. Sie hat sich also nicht bloß in einer beschraͤnkten, bloß aͤußerlichen Geltung erhalten, sondern als ein lebensvolles Institut, mit allen ihren Voraussetzungen und Consequenzen, und also auch mit der Voigtei des Ehemanns, insofern diese fuͤr ihre Durchfuͤhrung wesentlich nothwendig ist. Es liegt Fortsetzung. — Das Recht der Genossenschaft . hier eine organische Rechtsbildung vor, deren einzelne Bestand- theile sich gegenseitig bedingen, und welche in ihrer Totalitaͤt anerkannt zu werden verlangt. Der Umstand, daß sich der Begriff der ehelichen Voigtei außerhalb dieser Sphaͤre nicht in seiner fruͤheren Geltung erhalten hat, ist noch kein Grund, ihn auch hier fuͤr beseitigt zu halten; und wenn die aͤlteren Juri- sten, seine Bedeutung verkennend, die Guͤtergemeinschaft ohne ein solches leitendes Princip bloß aus dem Begriff eines soge- nannten dominium in solidum glaubten deduciren zu koͤn- nen, so war das eine Verirrung, deren schlimme Folgen ge- rade durch die richtige, im Volksrecht begruͤndete Theorie, so weit es vom Standpuncte des gemeinen Rechts aus geschehen kann, zu bekaͤmpfen sind. — Nur dann, wenn die Guͤtergemein- schaft nicht nach dem Gesetze eintritt, sondern durch Vertrag bestellt wird, kann es zur Frage kommen, ob damit zugleich die eheliche Voigtei, welche doch zum oͤffentlichen Recht gehoͤrt, guͤltig constituirt worden. Dagegen wuͤrde sich mit den von Duncker angefuͤhrten Gruͤnden Erhebliches einwenden lassen; aber es wuͤrde dann auch die Erwaͤgung der weiteren Frage nicht wohl zu vermeiden seyn: ob uͤberhaupt die vertragsmaͤ- ßige Eingehung der Guͤtergemeinschaft unbedingt gemeines Land- recht ist, und ohne alle Ruͤcksicht auf die particulaͤre Rechts- verfassung einseitig von den Ehegatten beliebt werden kann. Es waͤre zu wuͤnschen, daß dieß einmal zum Gegenstande einer genauen Untersuchung gemacht wuͤrde. Im Obigen ist nur eine Skizze von den Vermoͤgensver- haͤltnissen der Genossenschaften enthalten. Das Eigenthuͤmliche besteht, wie gezeigt worden, darin, daß sich neben den Anspruͤ- chen der Gesammtheit selbstaͤndige Sonderrechte der einzelnen Genossen darstellen, oder daß doch die Vereinigung das Recht Beseler , Volksrecht. 13 Sechstes Kapitel . der Einzelnen zu einer Gemeinschaft zusammenfuͤhrt, fuͤr deren harmonische Bewegung und Leitung in der besonderen genos- senschaftlichen Verfassung die entsprechenden Mittel gegeben sind. — Den Inbegriff dieser Vermoͤgensrechte in ihrer ver- schiedenartigen Zusammenstellung und Gestaltung nenne ich das Gesammteigenthum , welches also an und fuͤr sich ein weiter Begriff ist, und erst durch die Beschaffenheit der einzelnen Genossenschaft (und beziehungsweise der einzelnen Ge- meinde), in der es sich findet, seine naͤhere Bestimmung er- haͤlt Aus dem Vorstehenden ergiebt sich, daß ich der fruͤher in der Lehre von den Erbvertraͤgen aufgestellten Theorie uͤber das Gesammteigenthum durchaus treu geblieben bin, von so verschiedenen Seiten sie auch angefoch- ten worden ist. Nur in der a. a. O. Th. I. S. 88. gegebenen Defini- tion heißt es besser statt „Proprictaͤt“: Eigenthum, — damit es nicht scheine, daß bloß an die roͤmische proprietas im Gegensatz zu den im Ei- genthum liegenden Nutzungsrechten zu denken sey. — Auf eine Widerle- gung der Gegner und namentlich Dunckers, der mit so vielem Scharfsinn meine Ansicht bekaͤmpft hat, kann ich hier nicht eingehen; doch moͤchte schon in diesem ganzen Kapitel ein Beitrag dazu gegeben seyn, da es da- bei vor Allem auf eine Verstaͤndigung uͤber das Wesen und die Bedeutung der Genossenschaft ankommt. Siebentes Kapitel. Das Volksrecht als gemeines Ständerecht . Es giebt wenige Begriffe in unserem Rechte, deren Fest- stellung so schwierig ist, als der eines Standes im juristisch- politischen Sinne. Schon die Vieldeutigkeit des Wortes fuͤhrt leicht zur Verwirrung, da man ganz verschiedene Verhaͤltnisse damit bezeichnet. So spricht man von einem Stande der Freiheit, der Civitaͤt, und versteht darunter eine gewisse Qua- lification der einzelnen Individuen nach gemeinsamen Merkma- len; in einer andern Bedeutung wird der Ausdruck unmit- telbar auf eine bestimmte Person bezogen, welche zur Theil- nahme an der Ausuͤbung gewisser Hoheitsrechte befugt ist (Reichsstand, Landstand), und in der Mehrheit bezeichnet man damit wohl die Gesammtheit dieser Personen als ein corpora- tives Ganze gedacht (Landstaͤnde, Staͤnde). Außerdem denkt man sich unter einem Stande eine gewisse Classe der Bevoͤl- kerung im Gegensatz zu dem Volksganzen, indem man bei derselben etwas Gemeinsames, besonders Charakteristisches fin- det, welches sie von den uͤbrigen unterscheidet. Faßt man nun aber auch die Staͤnde, wie es gewoͤhnlich geschieht, in diesem letzte- ren Sinne auf, so kommt es doch weiter darauf an, jenes un- terscheidende Merkmal, wodurch sie sich von der uͤbrigen Bevoͤl- kerung absondern, genau anzugeben, und das hat wieder seine Schwierigkeiten. Denn der Sprachgebrauch des gemeinen Le- bens, der auch auf die Jurisprudenz und die Gesetzgebung zu- ruͤckgewirkt hat, ist hier sehr unbestimmt und schwankend. 13* Siebentes Kapitel . Bald denkt man vorzugsweise an eine gewisse Gleichheit durch Geburt und Herkunft, und spricht z. B. von einem Adels- stande; bald sieht man auf den Beruf und die Hauptbeschaͤf- tigung der Einzelnen, und unterscheidet einen besondern Stand der Staatsbeamten, Soldaten, Aerzte, Advocaten, Fabrikanten, Handwerker u. s. w.; bald endlich legt man den Nachdruck auf die Stellung der Einzelnen in der Gesellschaft, und nimmt hoͤhere und niedere, vornehme und geringe Staͤnde an. — Be- vor nun von den Staͤnden und ihrem Rechte uͤberhaupt ge- handelt werden kann, ist es vor Allem noͤthig, den juristischen Begriff, welcher dabei zum Grunde liegt, genauer festzustellen. 1. Wir haben es hier mit den Staͤnden in der zuletzt angefuͤhrten Bedeutung zu thun, nach welcher darunter ge- wisse Classen der Bevoͤlkerung im Gegensatz zu dem Volks- ganzen zu verstehen sind. Was sonst noch mit demselben Aus- druck bezeichnet wird, findet keine weitere Beruͤcksichtigung. 2. Das Unterscheidende, welches einer gewissen Classe ge- meinsam, sie zur Bedeutung eines Standes erhebt, kommt nur dann in Betracht, wenn es wirklich eine rechtliche Natur hat, und juristisch erfaßt werden kann. Eine bloß sociale Auszeichnung, eine Stellung, welche nur im Allgemeinen ein politisches Ge- wicht giebt, genuͤgt noch nicht, auch wenn eine groͤßere Anzahl von Personen daran Theil nimmt, um fuͤr sie den Rechtsbe- griff eines eigenen Standes zu begruͤnden. Man wird dabei mit gewissen Abstufungen auf den allgemeinen Gegensatz zwi- schen der gebildeten und ungebildeten Bevoͤlkerung hingefuͤhrt werden, der freilich von großer politischer und socialer Bedeu- tung ist, aber den allgemeinen Modificationen des Staatsbuͤr- gerthums und nicht dem besonderen Staͤndewesen angehoͤrt. Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . 3. Zur naͤheren Begriffsbestimmung eines Standes ist ferner noch das Merkmal hinzuzunehmen, daß er ein selbstaͤndiges Le-bensprincip in sich traͤgt, und mit diesem die besondere Sphaͤre in welcher er sich bewegt, ausfuͤllt. Wenn daher eine gewisse Classe von Personen ihre eigentliche Bestimmung und Bedeutung nur von au- ßen her erhaͤlt, und sich in ihrer Thaͤtigkeit nur einer hoͤheren Anfor- derung dienstbar zeigt, so ist sie nicht zu den Staͤnden im en- geren juristischen Sinne zu rechnen. Dieser Gesichtspunct ist namentlich in Beziehung auf die Staatsbeamten fest zu hal- ten; er kommt aber auch bei andern Personen, welche einem bestimmten Beruf nachgehen, und durch ihre Beschaͤftigung zu einer gewissen Gemeinschaft verbunden sind, also bei den Kuͤnst- lern, Gelehrten, Aerzten u. s. w. in Betracht. 4. Dieses selbstaͤndige Lebensprincip, welches die einzel- nen Staͤnde beherrscht, ruft auch das bestimmte, abgesonderte Interesse hervor, welches sie in ihrer allgemeinen Richtung und mit den ihnen eigenthuͤmlichen Institutionen verfolgen; es begruͤndet ferner die abgeschlossene Haltung, welche sie un- ter einander und der uͤbrigen Bevoͤlkerung gegenuͤber einneh- men, und die sich ganz von selbst geltend macht, so bald es sich nicht von dem einzelnen Mitgliede als solchem, sondern von dem Stande als Ganzes betrachtet, handelt. Fassen wir nun in diesem engeren Sinn den Begriff eines Standes auf, und betrachten wir dann unbefangen das deutsche Volk in seiner gegenwaͤrtigen socialen und politischen Verfassung, so wird sich wohl bald ergeben, daß von einem consequent durchgebildeten Staͤndewesen in seiner schroffen Ab- sonderung nicht mehr die Rede seyn kann. Diese Form der Rechtsbildung, welche sich im spaͤteren Mittelalter entwickelte, Siebentes Kapitel . als das Princip der gemeinen Freiheit in seiner einheitlichen Kraft gebrochen war, ist wieder durch die im Staate ausge- praͤgte Idee des gemeinsamen politischen Lebens besiegt wor- den; das Staͤndewesen in seiner fruͤheren ausschließlichen Herr- schaft ist zu Grabe getragen, und was sich von demselben noch erhalten hat, darf doch nur auf eine beschraͤnkte Geltung An- spruch machen, da es nur neben und in der Gesammtheit, nicht aber im Conflict mit dieser bestehen kann. Nur insofern hat es noch in Deutschland eine gewisse Selbstaͤndigkeit bewahrt, als es bloß der Entwickelung des staatlichen Princips hat weichen muͤssen, nicht aber dem einer rein nationalen Durchbil- dung dienstbar geworden ist. Bei einer Darstellung des Staͤnderechts kommt es nun darauf an, das demselben Eigenthuͤmliche bestimmt hervorzu- heben, und zugleich die Grenze zu bezeichnen, wo seine Herr- schaft aufhoͤrt, und es in den hoͤheren Begriff des Staatsbuͤr- gerthums und des gemeinen Landrechts aufgeht. Wenn das Staͤndewesen in dieser doppelten Beziehung betrachtet, und nicht bloß in einzelnen positiven Instituten, sondern als eine Seite des nationalen Rechtslebens der Gegenwart aufgefaßt wird, so wird sich auch bestimmen lassen, inwiefern sich darin noch wirkliches Volksrecht abspiegelt, oder es nur als ein ver- kuͤmmerter Ueberrest abgestorbener Zustaͤnde und Verhaͤltnisse dasteht. Zu der großen Schwierigkeit, mit welcher eine solche Darstellung im Allgemeinen zu kaͤmpfen hat, kommt aber noch der besondere Umstand hinzu, daß sich gerade in dieser Lehre die politische Anschauung mit der juristischen leicht vermischen, ja die letztere ganz uͤberwaͤltigen wird. Das ernste Streben, das geltende Recht in seiner positiven Bestimmtheit unbefan- gen aufzufassen, wird gegen die einseitige Vernachlaͤssigung Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . oder Ueberschaͤtzung thatsaͤchlich bestehender Verhaͤltnisse und noch wirksamer Elemente allein bewahren, waͤhrend umgekehrt deren juristisches Verstaͤndniß ohne die gehoͤrige Erwaͤgung ih- rer innern politischen Bedeutung nicht zu erlangen ist, wenn man nicht eine todte Theorie fuͤr eine lebendige Rechtskunde eintauschen will. Die folgende Darstellung hat es aber allein mit dem gemeinen deutschen Staͤnderecht zu thun; was nur particularrechtlich von den Instituten des aͤlteren Rechts fort- besteht oder zu einer eigenthuͤmlichen Gestaltung umgebildet ist, findet keine weitere Beruͤcksichtigung, wie interessant und wich- tig uͤbrigens auch die naͤhere Betrachtung desselben seyn mag. Faßt man nun die staͤndischen Elemente, welche noch im heutigen gemeinen Rechte vorhanden sind, scharf ins Auge, so findet man sie vorzugsweise auf dem Gebiete, welches den Be- sitz und den Verkehr im weiteren Sinne umschließt, und wo der Gegensatz von Stadt und Land bei den gesonderten In- teressen und Beduͤrfnissen eine bestimmte Abgrenzung zulaͤßt. Darnach waͤre denn der Stand der Grundbesitzer und der Ge- werbtreibenden zu unterscheiden, und bei der weiteren Ausfuͤh- rung wuͤrden auf der einen Seite die Gutsbesitzer und Bauern, auf der andern die Kaufleute, Fabrikanten und Handwerker in ihrer rechtlichen Verschiedenheit naͤher zu betrachten seyn. Doch ist auch die Bedeutung der Geburtsstaͤnde in Erwaͤgung zu ziehen, und so ist es am Zweckmaͤßigsten, die Eroͤrterung an die hergebrachte Eintheilung in den Stand des Adels, der Bauern und der Stadtbuͤrger anzuschließen. I. Der Adel . Der Charakter eines mit bestimmten Vorrechten versehe- nen, abgeschlossenen Geburtsstandes laͤßt sich bloß bei dem Siebentes Kapitel . hohen Adel erkennen, d. h. bei dem Inbegriff der fruͤher reichs- staͤndischen Familien und derjenigen fruͤher reichsfreien Dyna- stengeschlechter, welche etwa ausnahmsweise mit jenen ein glei- ches Familienrecht haben und nachweisen koͤnnen. Obgleich nun der hohe Adel Deutschlands unter dem Einfluß der neue- ren Geschichte in souveraine und mediatisirte Haͤuser zerfallen, und dadurch in wichtigen Beziehungen eine Ungleichheit unter ihnen begruͤndet ist, so betrifft diese doch mehr die aͤußere poli- tische Stellung, als das innere Recht der Familie, welches seiner wesentlichen Grundlage nach fuͤr alle gemeinschaftlich geblieben. Hier finden wir nun noch ein ganz eigenthuͤmlich durchgebildetes Standesrecht, welches von selbstaͤndigen Princi- pien beherrscht, in seiner Sphaͤre dem gemeinen Landrecht voll- berechtigt gegenuͤber tritt. Das Gesammthaus und die einzel- nen selbstaͤndigen Linien desselben treten als eine Genossen- schaft auf, welche auch den einzelnen Mitgliedern gegenuͤber eine bestimmte, und zum Theil eine das Sonderinteresse der- selben beherrschende Stellung und Berechtigung einnimmt; das Organ der Gesammtheit ist die autonomische Beliebung, mag diese sich nun in der Form eines Vertrags der vollberechtigten Agnaten oder in der Disposition des Familienhauptes aussprechen. Da- her kommt die hochadliche Familie unter die allgemeine Lehre von den Genossenschaften zu stehen, und ihr eigenthuͤmliches Recht, namentlich auch in Beziehung auf das Familienvermoͤ- gen, laͤßt sich nur unter diesem Gesichtspuncte richtig auffas- sen. Die Abgeschlossenheit und innere Einheit des Standes aber zeigt sich, auch abgesehen von den einzelnen Instituten, vor Allem in dem Princip der Ebenbuͤrtigkeit, welches selbst die Bundesgesetzgebung als ein Recht der Mediatisirten anerkannt hat. — Betrachtet man nun dieses Standesrecht des hohen Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . Adels in seiner Entstehung und thatsaͤchlichen Begruͤndung, in seinem Verhaͤltniß zu der allgemeinen Rechtsbildung in Deutsch- land und namentlich auch mit Ruͤcksicht auf die Rechtsan- schauung, welche sich bei den Betheiligten und bei den uͤbri- gen Classen der Nation findet, so ist nicht zu verkennen, daß man es hier mit einem Volksrechte zu thun hat, welches frei- lich, wie jedes Standesrecht, nur in einer bestimmten Sphaͤre gilt, aber in dieser auch mit einer absoluten Wirksamkeit dem gemeinen Landrecht derogirt. Fuͤr die souverainen Haͤuser ist dieß Verhaͤltniß auch in der Weise ausgepraͤgt, daß ihre Ver- fassung mit der der einzelnen deutschen Staaten organisch ver- bunden ist; aber auch den mediatisirten Familien, welche, frei- lich zum großen Vortheil der politischen Entwicklung der Na- tion, ihre wesentlichen Hoheitsrechte verloren haben, ist noch eine sehr bevorzugte Stellung geblieben, welche namentlich dann, wenn sie dieselbe, eingedenk der fruͤheren Zeiten, im allgemeinen deut- schen Interesse benutzen, die hoͤhere vaterlaͤndische und politische Weihe erlangen, und eine allgemeine, freudige Anerkennung fin- den wird. Ganz verschieden nun von dem Recht des hohen Adels ist dasjenige, welches fuͤr den niederen Adel in Deutschland gilt; es stellt sich gewissermaaßen als die schwache Nachah- mung des in jenem vollzogenen Entwicklungsprocesses dar, welche nicht zur vollen juristischen Ausbildung gekommen ist. — Die Entstehung des niedern Adels faͤllt in die Zeit, in der sich aus den gemeinfreien Grundbesitzern und den ange- sehenen Dienstmannen eine landsaͤssige Ritterschaft bildete, der dann die alten Dynastengeschlechter einverleibt wurden, in- sofern sie nicht die Reichsstandschaft erwarben und in den ho- hen Adel uͤbergingen, oder sich nicht der unmittelbaren Reichs- Siebentes Kapitel . ritterschaft anschlossen. Die letztere nahm nun allerdings, so lange die Reichs versassung bestand, eine exceptionelle Stellung ein, hat aber gegenwaͤrtig ihre gemeinrechtliche Bedeutung ver- loren, und ist fuͤr eine allgemeine Darstellung des geltenden deutschen Adelsrechtes von untergeordneter Wichtigkeit; wir koͤnnen daher zunaͤchst die landsaͤssige Ritterschaft ausschließ- lich ins Auge fassen. Diese aber war einer Landeshoheit un- terworfen, und konnte politisch nur in der Territorialverfassung eine Bedeutung gewinnen: das unterschied sie schon wesent- lich vom Reichsadel. Es fehlte ihr ferner die genossenschaft- liche Abgeschlossenheit der einzelnen Familien, und folgeweise deren Autonomie; nur durch die corporative Verbindung der ritterschaftlichen Geschlechter eines bestimmten Bezirkes ward etwas Aehnliches erreicht, und die einzelnen Familien suchten durch Ganerbschaften und die gesammte Hand im Lehenrecht, so wie spaͤter durch Fideicommißstiftungen ein gemeinschaftliches Vermoͤgen zu constituiren, fuͤr welches namentlich die Unver- aͤußerlichkeit und die Untheilbarkeit der Substanz in Anspruch genommen ward. Doch stellt sich dieses Bestreben nur in vereinzelten Erscheinungen heraus, ohne daß es mit dem We- sen der Ritterschaft im nothwendigen Zusammenhange gestanden haͤtte; diese war vielmehr im Allgemeinen auf Geburt, ritter- liche Lebensart und einen entsprechenden Grundbesitz begruͤn- det, jedoch so, daß das letztere Erforderniß oft uͤberwog, inso- fern die Lehnsfaͤhigkeit nicht immer auf einen bestimmten Ge- burtsstand beschraͤnkt war, und der Inbegriff der roßdienstpflich- tigen Vasallen in manchen Laͤndern den politisch berechtigten Ritterstand ausmachte. Denn das Lehenrecht, welches nach und nach die einzelnen Dienstrechte in sich aufnahm, war vor- zugsweise fuͤr diese Verhaͤltnisse normirend. — Indessen hatte Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . sich die Ritterschaft, wenn auch mit manchen Abweichungen, in den einzelnen deutschen Laͤndern doch mit einer gewissen Gleichfoͤrmigkeit ausgebildet, und durch die uͤberwiegende Be- deutung, welche sie in den landstaͤndischen Corporationen ge- wonnen, eine sichere Haltung erlangt, welche sich auch den ih- rem Interesse dienstbaren Instituten mittheilte; fuͤr eine gewisse Periode, die etwa vom Ende des 14. bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts gerechnet werden kann, ist daher auch ein eige- ner Stand der Ritterschaft mit einem besonderen Rechte, wel- ches wenigstens den Charakter der bedingten Gemeinrechtlichkeit an sich trug, anzuerkennen. Allein in neuerer Zeit hat sich dieß Verhaͤltniß wesentlich veraͤndert. Die Bedeutung der landstaͤndischen Verfassung trat immermehr vor der zur wahren Staatsgewalt heranwachsen- den Landeshoheit zuruͤck, wodurch schon im Allgemeinen die selbstaͤndige Haltung der Ritterschaft wesentlich bedroht ward. Dazu kam, daß mit der Veraͤnderung des Militairwesens die alten Roßdienste außer Uebung kamen, was, in Verbindung mit der neu begruͤndeten Staats- und Finanzwirthschaft, dem Lehenrecht sein eigentliches Lebensprincip entzog, und es zu einem besonders modificirten Recht des Grundbesitzes herunter- druͤckte. Indem nun gleichzeitig in Folge großer oͤkonomischer Verwirrungen und der uͤberwiegenden Macht des beweglichen Vermoͤgens ein betraͤchtlicher Theil der Landguͤter in fremde Haͤnde uͤberging, verlor sich die selbstaͤndige Bedeutung eines besonderen Ritterstandes, und was in dieser Hinsicht aus der aͤlteren Verfassung noch bestehen blieb, ward fast allgemein in der Form eigenthuͤmlicher Realrechte an den ritterschaftlichen Grundbesitz gebunden. Das Recht des Ritterstandes loͤste sich in das Recht der Ritterguͤter auf, trat also aus dem Staͤnde- Siebentes Kapitel . recht in das Sachenrecht uͤber. Wo sich daher auch noch eine eigene Landes- oder Provinzialritterschaft in corporativer Abge- schlossenheit erhalten hat, da fehlt doch regelmaͤßig fuͤr dieselbe die Eigenschaft eines besonderen Geburtsstandes, und es ist nur das eigenthuͤmliche Interesse der großen Grundbesitzer, welches die Einzelnen in ihrer Vereinigung gleichmaͤßig erfaßt, und ihnen theils dem Buͤrger- und Bauernstande gegenuͤber, theils in ihrer Beziehung zur Staatsgewalt eine bestimmte Stellung anweist. Allein wenn diesem Interesse auch die wei- teste politische Vertretung gegeben wird, so erzeigt sich das doch nur nach außen hin und im Verhaͤltniß zur Gesammt- heit wirksam; im Innern des Standes findet sich kein beson- deres Recht, und namentlich die einzelne Familie, deren selb- staͤndige Bedeutung dem Adelsrecht seine bestimmte Richtung giebt, wird davon unmittelbar nicht betroffen. Es ist nun aber, dem Begriff der landsaͤssigen Ritterschaft gegenuͤber, der des niedern Adels zu betrachten, um zu sehen, inwiefern sich in diesem Institut ein bestimmtes Standesrecht nachweisen laͤßt. Hier tritt nun freilich die Familie als das entscheidende Moment hervor; denn wenn der niedere Adel uͤberhaupt einen eigenen Stand bildet, so ist es allein der Vor- zug der Geburt, welcher ihn dazu macht: andere Erfordernisse, namentlich eine ritterliche Lebensart und ein gewisser Grund- besitz, kommen dabei nicht in Betracht. Aber es erscheint uͤber- haupt bedenklich, einen solchen Stand im rechtlichen Sinne anzunehmen. Einmal ist naͤmlich zu erwaͤgen, daß der niedere Adel nicht bloß durch die Geburt, sondern auch durch die Ver- leihung erworben werden kann, und daß uͤberhaupt der hoͤhere Staatsdienst, sowie gewisse Ritterorden und Titel diejenigen Vorrechte zu ertheilen pflegen, welche man gewoͤhnlich als die Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . des Adelsstandes anfuͤhrt. Betrachtet man diese aber vom Standpuncte des gemeinen Rechts aus, so ergiebt sich, daß sie weniger eine juristische als eine sociale Bedeutung haben, und je- denfalls nicht von einer solchen intensiven Kraft sind, daß darauf ein besonderes Standesrecht begruͤndet werden koͤnnte. Aehn- lich verhaͤlt es sich mit dem Wappenrecht, dessen sich auch manche nichtadeliche Familien erfreuen, ohne daß sie dazu eines besonderen Wappenbriefes beduͤrften; beim Adel ist der her- koͤmmliche Gebrauch eines besonderen Wappens nur gebraͤuch- licher, wie er denn uͤberhaupt ein groͤßeres Gewicht auf seine Familie legt, als in andern Kreisen der Bevoͤlkerung gewoͤhn- lich ist. Damit ist aber die genossenschaftliche Abschließung, wie beim hohen Adel, noch nicht gegeben, und was man die Autonomie des niedern Adels nennt, ist nichts anders als der haͤufigere Gebrauch der Fideicommißstiftungen, der sich bei dem- selben findet, ohne daß er gemeinrechtlich dabei besonders pri- vilegirt waͤre. Auch enthaͤlt das Familienfideicommiß nicht, wie die autonomische Beliebung, ein Gesetz, welches unmittelbar die Familie und nur mittelbar das Vermoͤgen erfaßt; sondern es ist eben eine Disposition, die unmittelbar auf das letztere geht, und namentlich den Grundbesitz nach Art einer andern Real- belastung, wenn auch auf besondere Weise, afficirt. Von den einzeln vorkommenden Stammguͤtern, bei denen sich in verschie- dener Weise die Wirkung des Beispruchsrechts der naͤch- sten Erben und die Bevorzugung der Agnaten bei der Suc- cession in den Grundbesitz erhalten haben, kann ebensowenig ein besonderes Standesrecht des niedern Adels hergeleitet wer- den; dasselbe ist vielmehr im Zweifel auch hinsichtlich des Ver- moͤgens nach den Grundsaͤtzen des gemeinen Landrechts zu beurtheilen. Siebentes Kapitel . Das fruͤhere Standesrecht der landsaͤssigen Ritterschaft ist daher gegenwaͤrtig ebensowenig bei der Gesammtheit der Rittergutsbesitzer als bei den zum niedern Adel gehoͤrigen Per- sonen zu finden; jenen fehlt die unmittelbare Beziehung zwi- schen den Geburtsrechten und dem Grundbesitz, und diesen mangelt, ein wie großes Gewicht auch auf Herkunft und Fa- milie gelegt werden mag, die materielle Basis eines entspre- chenden Vermoͤgens, um die in Anspruch genommene bevor- zugte Stellung mit einer so allgemeinen Wirksamkeit, wie es bei einem Stande erwartet werden darf, durchzufuͤhren. Doch soll damit nicht behauptet werden, daß nicht von den fruͤheren Zustaͤnden noch sehr bemerkliche Spuren im gegenwaͤrtigen Rechtsleben vorhanden sind. Es ist verhaͤltnißmaͤßig noch der groͤßte Theil der Ritterguͤter im Besitz adlicher Familien; die- selben liefern noch jetzt der stehenden Armee die meisten Offi- ciere; in mancher Landes- und Provinzialverfassung ferner ist dem adelichen Theil der Ritterschaft eine bevorzugte Stellung ge- waͤhrt; auch zeigt sich gerade hier ein Bestreben, durch Fidei- commißstiftungen mit besonderen Successionsordnungen ein be- stimmtes Vermoͤgen an die Familie zu knuͤpfen, und deren Glanz, wenn auch auf Kosten der einzelnen Mitglieder, auf- recht zu erhalten. Mit diesen Erscheinungen steht denn auch der Plan patriotischer Maͤnner in Verbindung, den Adel uͤber- haupt mit dem ritterschaftlichen Grundbesitz zu identificiren, und durch die Beschraͤnkung der gemeinrechtlichen Erbfolge einen selbstaͤndigen, in der Zahl seiner Mitglieder beschraͤnkten Ritterstand zu begruͤnden, von dem man sich namentlich große politische Vortheile verspricht. Bringt man es nun zur Frage, ob eine solche Einrichtung den gegenwaͤrtigen deutschen Verhaͤltnissen angemessen seyn moͤchte, so ist natuͤrlich die erste unabweisbare Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . Voraussetzung, daß es dabei nicht auf eine Bevorrechtung des neu zu schaffenden Ritterstandes in Beziehung auf die allge- meinen Lasten und Pflichten, welche der Staat den Einzelnen auferlegt, abgesehen ist; daß vielmehr, so weit eine Abweichung nicht durchaus nothwendig erscheint, das Princip der Gleich- heit vor dem Gesetze streng durchgefuͤhrt werde. Es ist also der Plan nur darauf gerichtet, die politische Berechtigung der Standesgenossen auf eine dem heutigen Staatsleben entspre- chende Weise zu erhoͤhen, gewissermaaßen neben der gemeinen Freiheit eine besondere zu begruͤnden, aͤhnlich wie es sich schon zur Zeit der altgermanischen Volksverfassung verhalten konnte. Wenn nun auch fuͤr eine solche Einrichtung manche Gruͤnde und namentlich das gewichtige Beispiel Englands zu sprechen scheinen, so stellt sich bei einer naͤheren Erwaͤgung die Sache doch als so bedenklich im Princip und so schwierig in der Aus- fuͤhrung dar, daß wohl besser ganz darauf verzichtet, und die politische Regeneration des Volkes von einer andern Seite ver- sucht wird. Es sind dabei namentlich folgende Puncte zu be- ruͤcksichtigen: 1. Es fehlt einer solchen Institution fuͤr Deutschland die rechte geschichtliche Vorbereitung; sie wuͤrde sich als eine neue Schoͤpfung erst zu consolidiren und dabei mit den allergroͤß- ten Hindernissen zu kaͤmpfen haben. Denn sie wuͤrde gleich- maͤßig im Widerspruch stehen mit der allgemeinen Richtung der Zeit, welche zur moͤglichsten Gleichstellung der Staatsbuͤr- ger hindraͤngt, und mit dem Familiensinn des deutschen Adels, welcher sich in allen seinen einzelnen Gliedern wieder erkennen will. Auch widerspricht die Zuruͤcksetzung der meisten Fami- lienglieder, welche bei der Majoratsordnung unvermeidlich ist, der heutigen allgemeinen Rechtsanschauung im Volke; solche Siebentes Kapitel . Rittergutsbesitzer, welche dieselbe theilen, wuͤrden sich daher frei- willig nicht leicht zu einer bloßen Abfindung der Toͤchter und juͤngeren Soͤhne verstehen wollen, da sie nur ausnahmsweise so bedeutend werden koͤnnte, daß dadurch eine standesmaͤßige Versorgung gesichert waͤre. Die geistlichen Stifter des Mit- telalters, welche in dieser Beziehung so Vieles leisteten, sind ja bis auf wenige Ueberreste verschwunden; und um neue zu errichten fehlt es, auch wenn das Vermoͤgen da waͤre, an der rechten Neigung zur frommen Aufopferung und Freigebigkeit. Gerade der Umstand, daß die Familien des hohen Adels regel- maͤßig so beguͤtert sind, daß sie alle ihre Mitglieder standes- maͤßig versorgen koͤnnen, sichert am besten ihre unabhaͤngige und abgeschlossene Stellung; auch ist in dieser Sphaͤre ein solcher Sinn heimisch, daß der Einzelne, ohne sich verletzt zu fuͤhlen, vor dem Interesse der Familie und des Standes zuruͤcktritt, die alther- gebrachten Beschraͤnkungen wenigstens ohne Murren ertraͤgt. 2. Der Umstand aber, daß eben diese Vermoͤgenskraͤfte und diese Gesinnungen bei denjenigen Familien, aus welchen der neue Majoratsadel zu bilden waͤre, nur selten gefunden werden duͤrften, enthaͤlt einen sittlichen und einen politischen Grund gegen die ganze Institution. Einen sittlichen Grund — weil Unfriede und Hader und Neid in den Familien dar- aus entstehen wuͤrden; einen politischen — weil zu befuͤrchten, daß der Majoratsadel seinen uͤberwiegenden Einfluß darauf verwenden wuͤrde, die juͤngeren Soͤhne moͤglichst fruͤh und leicht im Staatsdienst vortheilhaft unterzubringen, wenn auch das gemeine Beste und andere gleich oder mehr befaͤhigte Be- werber darunter leiden sollten. Trotz des ungeheuren Privat- erichthums in England und der durch die Colonien gebotenen Gelegenheit zur leichteren Versorgung muͤssen doch die Hoch- Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . kirche und die Armee dazu dienen, um die zuruͤckgesetzten Mit- glieder der vornehmen Haͤuser, die nicht etwa durch eine Hei- rath ihr Gluͤck machen, unterzubringen, — von den Pensionen und Sinecuren gar nicht zu reden. Was wuͤrde erst bei aͤhn- lichen Anforderungen einer weit zahlreicheren Aristokratie in dem verhaͤltnißmaͤßig armen Deutschland geschehen! Man sagt zwar, der nicht adelige Theil der Familie tritt in den Buͤrgerstand uͤber; aber es wird immer eine nicht gewoͤhnliche Tuͤchtigkeit verlangt, wenn die Betreibung eines buͤrgerlichen Gewerbes ohne bedeutende Capitalien so gelingen soll, daß sie die Anspruͤche, welche der adelige Sproͤßling aus dem elterli- chen Hause mitbringt, befriedigt. Auf ein sicheres Fortkom- men der Einzelnen ist hier nicht zu rechnen. 3. Auch das ist nicht zu uͤbersehen, daß durch einen maͤchtigen Majoratsadel allerdings eine gewisse Stabilitaͤt der oͤffentlichen Verhaͤltnisse gesichert wird, falls er zu der ganzen Staatsverfassung und der Rechtsanschauung des Volkes im rechten Verhaͤltniß steht; daß aber, wenn ohne die umsichtige Beruͤcksichtigung aller Interessen den großen Grundbesitzern eine uͤberwiegende Gewalt gegeben wuͤrde, gerade dadurch sehr leicht eine sehr entschiedene Bewegung des uͤbrigen Volkes ge- gen jenes Uebergewicht hervorgerufen werden koͤnnte. Ueber- haupt aber ist, um eine maͤchtige, wohl organisirte Aristokratie ohne Gefahr zu ertragen, eine fest gegruͤndete Volksfreiheit noͤ- thig; soll jene in Deutschland erhoͤht werden, so muß auch diese sich gleichmaͤßig in freier Bewegung entfalten koͤnnen. II. Der Bauernstand . Beim Adel haben wir gesehen, wie die groͤßere Rechts- gleichheit im modernen Staate seine bevorzugte Stellung ge- Beseler , Volksrecht. 14 Siebentes Kapitel . schwaͤcht hat; bei dem Bauernstande laͤßt sich die entgegenge- setzte Bemerkung machen, daß die allmaͤlig erfolgte Emancipa- tion der Person und des Grundbesitzes sein Recht erhoͤht, und durch die Aufhebung oder Milderung der fruͤheren Belastun- gen ihn dem gemeinen Recht und der gemeinen Freiheit zu- gefuͤhrt hat. Denn wenn man sonst von einem besonderen Bauernstande und Bauernrechte handelte, so dachte man da- bei fast nur an die in Folge der Hoͤrigkeit oder der Voigtei in ihrem Rechte beschraͤnkte laͤndliche Bevoͤlkerung; die von Alters her freien Bauern, wie die friesischen, deren Blut nach altgermanischer Rechtsanschauung reiner und edler ist, wie das der adeligen Familien, welche je zu den Dienstmannen gehoͤrt haben, — die befaßte man mit ihrem freien Communalwesen und ihrem unbelasteten Grundbesitz wenigstens gemeinrechtlich nicht unter dem Bauernstande. Aber gerade die Hoͤrigkeit der Bauern ist, was die Person betrifft, ganz aufgehoben, und die neueren Abloͤsungsordnungen haben den Zweck, auch die druͤckendsten Belastungen des baͤuerlichen Grundbesitzes zu ent- fernen; die Voigteipflichtigkeit aber, wenigstens insoweit sie dem Landesherrn gegenuͤber bestand, ist wie die Lehenstreue des Vasallen in die dem Souverain als Traͤger der hoͤchsten Staatsgewalt schuldige Unterthanenpflicht aufgegangen. — Was bildet denn jetzt noch das Charakteristische des Bauernstandes? und ist ein solcher noch uͤberhaupt im juristischen Sinne an- zunehmen? Bei der Beantwortung dieser Fragen ist ein dop- pelter Gesichtspunct ins Auge zu fassen, naͤmlich einmal die persoͤnliche Lage der Bauern, und dann die besondere Beschaf- fenheit ihres Grundbesitzes, der Bauernguͤter. Soll nun der Bauernstand in Beziehung auf seine Be- schaͤftigung und seinen naͤchsten Lebensberuf naͤher bestimmt Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . werden, so laͤßt er sich von den Besitzern der Ritterguͤter und groͤßeren Freihoͤfe im Allgemeinen dadurch unterscheiden, daß er den Landbau nicht bloß als Hauptgewerbe treibt, sondern daß er auch mit eigener Hand unmittelbar dabei thaͤtig ist, und sich nicht auf die allgemeine Leitung und Beaufsichti- gung des mehr fabrikmaͤßig gefuͤhrten Betriebes beschraͤnkt. Vor den Tageloͤhnern zeichnet er sich dagegen dadurch aus, daß er die Landwirthschaft fuͤr eigene Rechnung und in der Regel auf eigenem Grund und Boden treibt, waͤhrend er sich von den Ackerbuͤrgern durch seine Wohnung auf dem Lande und seine Theilnahme am laͤndlichen Communalwesen im Ge- gensatz vom staͤdtischen unterscheidet. Durch diese naͤhere Be- grenzung des Bauernstandes wird freilich im Allgemeinen seine Lebensart, sein Betrieb und das ihm eigenthuͤmliche Interesse bestimmter hervorgehoben; aber das besondere Standesrecht bekommt dadurch noch nicht seinen Inhalt: es ließen sich die- selben Verhaͤltnisse auch unter der Herrschaft des gemeinen Landrechts in vollstaͤndiger Wirksamkeit denken. Man kann jedoch noch ein neues Moment hinzunehmen, welches, wenn es allgemein zur Anwendung kaͤme, der Beurtheilung schon eine bestimmtere juristische Seite darboͤte: das ist die beschraͤnkte Rechtsfaͤhigkeit der Bauern bei der Abschließung ihrer wichti- geren Geschaͤfte, namentlich insofern sie sich auf die Verhaͤlt- nisse der Familie und des Grundbesitzes beziehen, — eine Be- schraͤnkung, die theils aus der Gutsherrschaft und Voigtei, theils aus einer allgemeinen Tendenz der Staatsgewalt auf Bevormundung der Unterthanen hervorgegangen ist. Aller- dings liegt darin ein Moment, welches auch fuͤr das geltende Recht noch von Bedeutung ist, aber doch kaum mehr von ei- ner so großen und allgemein wirksamen, daß man darauf ein 14* Siebentes Kapitel . eigenes Standesrecht gruͤnden koͤnnte. Einmal darf man naͤm- lich nicht uͤbersehen, daß oft, wenn die Bestaͤtigung baͤuerlicher Contracte durch die Obrigkeit nothwendig ist, keine Beschraͤn- kung der Rechtsfaͤhigkeit vorliegt, sondern nur die Neigung des Volkes zu einem strengen Formalismus seiner wichtigeren Ge- schaͤfte sich geltend gemacht hat, und also in den bestehenden Einrichtungen ein Beduͤrfniß befriedigt worden ist, welches alle Staͤnde theilen, wodurch bei den Bauern aber gerade die Ge- richtlichkeit der Geschaͤfte vorzugsweise beguͤnstigt wird. Außer- dem hat jene Beschraͤnkung, insofern sie die Familienverhaͤlt- nisse betrifft, nach Aufhebung der Leibeigenschaft und bei ei- ner allgemeineren Anerkennung der staatsbuͤrgerlichen Frei- heit wesentlich in ihrer Bedeutung verloren; und auch in Beziehung auf die den Grundbesitz betreffenden Geschaͤfte ist durch die veraͤnderte Lage des Gegenstandes Manches ver- aͤndert worden. Dieser Punct ist nun noch genauer zu be- trachten. Wenn man die neueren Gesetzgebungrn, durch welche eine bessere Stellung des Bauernstandes in Beziehung auf seine agrarischen Verhaͤlnisse bezweckt wird, beurtheilt, so pflegt man darin oft eine einseitige, wenn auch politisch nothwendige Be- guͤnstigung jenes Standes zu finden, fuͤr welche keine streng juristische Begruͤndung gegeben werden koͤnne. Das ist nun auf gewisse Weise auch ganz richtig; denn der durch das Her- kommen festgestellte Zustand war allerdings von der Art, daß die Umwandlung desselben ein neues Recht schaffen mußte, welches dem Bauernstande im Allgemeinen die groͤßeren Vor- theile gewaͤhrt, obgleich die Abloͤsung der Reallasten nicht un- entgeldlich, sondern nach dem Princip der Expropriation ge- schieht. Wenn man jedoch nicht bloß die naͤchste Vergangen- Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . heit ins Auge faßt, sondern auch die fruͤheren Zeiten beachtet, so ergiebt sich, daß der Bauernstand auch manche arge Unbill in Deutschland erlitten hat, fuͤr welche er wohl durch eine milde Beruͤcksichtigung seiner Beduͤrfnisse eine Verguͤtung ver- diente. Ich denke hier nicht bloß an die Bedruͤckungen, wo- durch die minder maͤchtigen Gemeinfreien im spaͤteren Mittel- alter um viele wichtigen Rechte an ihren Guͤtern und nament- lich am Gemeindevermoͤgen gebracht worden sind; auch die Bauern, welche von jeher hoͤrig waren, sind oft in dem Recht, welches sie am Grundbesitz hatten, schmaͤhlich gekraͤnkt wor- den. Wie sehr auch die Hoͤrigkeit mit ihren Frohnden und Zinsen auf ihnen lastete, so laͤßt sich doch ziemlich allgemein nachweisen, daß sie eine gewisse dingliche Berechtigung an ih- rem Baugut hatten, welche ihnen willkuͤhrlich nicht entzogen werden durfte. Seit dem 16. Jahrhundert aber, als die Guts- herrn den eigenen Betrieb der Landwirthschaft unmittelbar vom Hofe aus immermehr erweiterten, und die Romanisten geneigt waren, dem deutschen Colonat die roͤmische Zeitpacht unterzu- breiten, sind viele Bauernfamilen um ihr Recht gebracht wor- den, indem man sie eigenmaͤchtig legte und ihren Besitz mit dem Hoffelde vereinigte. Aehnliches ist auch hie und da bei der Aufhebung der Leibeigenschaft geschehen, indem man den fruͤher Hoͤrigen zwar die persoͤnliche Freiheit gab, dafuͤr aber die auf das Baugut Berechtigten zu Tageloͤhnern oder Zeitpaͤch- tern herunterdruͤckte. Bedenkt man solche Ereignisse, und erwaͤgt ferner, wie sehr „der arme Mann“ durch Dienstzwang und willkuͤhrliche Belastung im Einzelnen oft bedraͤngt worden ist, so stellen sich die neueren Abloͤsungsordnungen, insoweit sie den Bauern- stand beguͤnstigen, als einen Act der in der Geschichte walten- Siebentes Kapitel . den Gerechtigkeit, und nicht als eine einseitige Bevorzugung heraus. Wie es sich nun aber auch damit verhalten mag, so viel steht jedenfalls fest, daß in Folge jener Gesetze und der dadurch bewirkten Aufhebung der Reallasten das Eigenthuͤm- liche des Bauernrechts, insofern es auf der besonderen Be- schraͤnkung des Grundbesitzes beruhen soll, immermehr sich ver- wischt, und daß vielleicht die Zeit nicht fern ist, wo in den deutschen Staaten ein solches Rechtsverhaͤltniß nach alter Weise durchgefuͤhrt, fuͤr eine particularrechtliche Singularitaͤt gilt. Wird dann etwa auch noch zuweilen ein fester Zins auf eine Bauernhufe gelegt, so stellt sich das nach heutiger Rechtsan- schauung ja kaum anders heraus, als wenn ein Grundstuͤck fuͤr eine bestimmte Summe mit einer oͤffentlichen Hypothek belastet worden; an eine Gewere am ganzen Gut mit den dar- aus folgenden Rechten denkt jetzt in einem solchen Fall ja kei- ner mehr. Der baͤuerliche Grundbesitz bietet aber der juristischen Be- trachtung noch eine andere Seite dar, naͤmlich seine Untheil- barkeit. Wir finden etwas Aehnliches auch bei Ritterguͤtern, aber nur in Folge der Einwirkung des adeligen Familienrechts und der politischen Verhaͤltnisse, welche sich aus dem Lehen- wesen und der landstaͤndischen Verfassung herschreiben, so daß das Interesse des landwirthschaftlichen Betriebes nur einen un- tergeordneten Einfluß darauf ausgeuͤbt hat. Bei den Bauern- guͤtern hat aber gerade diese letzte Ruͤcksicht die Untheilbarkeit vorzugsweise begruͤndet, indem uͤberhaupt die eigenthuͤmliche Gestaltung des Bauernrechts mehr von dem Beduͤrfniß der Landwirthschaft bedingt ist, als umgekehrt diese einem allge- meineren Standesinteresse dienstbar gemacht hat. Dazu kam nun, daß die Anspruͤche der Gutsherrschaft und der landes- Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . herrlichen Kammer am Sichersten von wohlarrondirten, geschlos- senen Stellen befriedigt wurden, und daß auch das eigenthuͤm- liche Verhaͤltniß der einzelnen Hufe zu der Gemeinde und den Gemeindeguͤtern in dieser Sphaͤre eine große Stabilitaͤt des Besitzes begruͤndeten. Das Bauernrecht bekam aber durch die Untheilbarkeit der geschlossenen Hufen zum großen Theil seine eigenthuͤmliche Haltung, so daß die wichtigsten Rechtsinstitute unmittelbar daran geknuͤpft waren. Dieß gilt namentlich von der besondern Erbfolge in Bauernguͤter; aber auch die Guts- abtretung mit Altentheil und die Interimswirthschaft haͤngen nahe damit zusammen, wenn sie auch urspruͤnglich aus der Nothwendigkeit, daß in der baͤuerlichen Oeconomie ein tuͤchti- ger Wirth an der Arbeit selbst Theil nehmen muß, hervorge- gangen sind. — In neuerer Zeit ist nun bekanntlich von verschie- denen Seiten her die freie Theilbarkeit des baͤuerlichen Grund- besitzes verlangt worden, waͤhrend man umgekehrt von einem andern Standpuncte aus darin nur Unheil und Verderben er- blickt hat. Ohne auf diesen Streit, der so ganz allgemein, ohne Ruͤcksicht auf die besondere Bodencultur und Landesver- fassung nicht wohl entschieden werden kann, hier naͤher einzu- gehen, ist nur die Thatsache festzuhalten, daß in vielen Gegen- den wirklich der geschlossene baͤuerliche Grundbesitz gesprengt worden ist, und daß es wahrscheinlich immer haͤufiger gesche- hen wird, je weniger ein specielles Interesse der Gutsherrschaft und auch der Finanzen, welche sich immermehr den indirecten Abgaben zuwenden, gegen ein solches Verfahren ankaͤmpft. Damit geht denn aber wieder eine wichtige Eigenthuͤmlichkeit des Bauernrechts verloren. — Eine andere Ursache, welche dasselbe Ergebniß herbeifuͤhrt, ist darin zu suchen, daß durch die jetzt so haͤufige Auftheilung der Gemeindeguͤter das Siebentes Kapitel . laͤndliche Communalwesen seinen urspruͤnglichen Haltpunct verliert. Die Bauerngemeinde ist, wenigstens in vielen Gegenden, aus der Markengenossenschaft hervorgegangen, so daß die Stellung des Einzelnen in der Gemeinde wesentlich von seiner Berechtigung an der Allmende bedingt wurde. Ist es nun auch nicht zu billigen, wenn da, wo dieses Verhaͤltniß noch thatsaͤchlich begruͤndet war, die neueren Communalordnungen keine Ruͤcksicht darauf genommen, sondern nach abstracten Grund- saͤtzen das Gemeindewesen geordnet haben; so ist doch auch so viel klar, daß, wenn jene alten Zustaͤnde entweder allmaͤlig verkommen, oder durch eine Separation der Feldmark beseitigt worden sind, sie nicht mehr dazu dienen koͤnnen, die Grund- lage fuͤr eine tuͤchtige und organische Gestaltung der Bauern- schaften abzugeben. Durch diese Veraͤnderungen, welche nichts Willkuͤhrliches, sondern nur eine Folge der allgemeinen Um- gestaltung der Landwirthschaft gewesen sind, ist nun aber eine Reform der Landgemeinden vorbereitet worden. Denn sie ha- ben dadurch den ihnen noch anhaͤngenden privatrechtlichen Cha- rakter verloren, und sind einer hoͤheren Ausbildung im Sinne der politischen Organisation um Vieles zugaͤnglicher gemacht. Namentlich ist dadurch die Durchfuͤhrung einer groͤßeren Rechts- gleichheit fuͤr die ganze laͤndliche Bevoͤlkerung, die ja immer- mehr einen gemischten Charakter bekommt, sehr erleichtert wor- den; denn wenn auch in Betreff der agrarischen Verhaͤltnisse die Grundbesitzer und namentlich die Vollbauern als vorzugs- weise interessirt erscheinen, und stets auf gewisse Weise den Kern der Gemeinde ausmachen werden, so fehlt es doch auch nicht an Beziehungen, welche eine allgemeinere Theilnahme an den Angelegenheiten derselben wuͤnschenswerth machen. Will Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . man aber auch nur diejenigen, welche ein bestimmtes Landei- genthum in der Feldmark haben, zur politischen Berechtigung in der Gemeinde zulassen, so muß doch, wenn das alte Maaß verloren gegangen ist, ein neues, den bestehenden Verhaͤltnissen entsprechendes aufgefunden, oder das alte muß, wenn es nicht mehr genuͤgt, auf eine zeitgemaͤße Weise umgeaͤndert werden. Aber gerade hierin liegt zum großen Theil die Schwierigkeit, welche einer Regeneration des laͤndlichen Communalwesens ent- gegensteht. Es ist nicht bloß zu bestimmen, welche Rechte die Landgemeinde ausuͤben soll, sondern auch, wie sie zu organisi- ren ist, und namentlich, aus welchen Elementen man sie zu- sammensetzen will. Dabei steht sich denn das Interesse der Gutsherrn und der Bauern oft schroff entgegen, wenigstens insofern jene eine Exemtion von der Gemeinde und vielleicht gar eine Bevormundung derselben in Anspruch nehmen; und uͤberhaupt ist die große Umwandlung der agrarischen Verhaͤlt- nisse, die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts in Deutsch- land begonnen hat, in den meisten Laͤndern noch gar nicht zum Abschluß gekommen. Wir stehen noch mitten in der Bewegung, deren welt- historische Bedeutung oft auf eine merkwuͤrdige Weise ver- kannt wird. Fassen wir das Gesagte nun noch einmal kurz zusammen, so laͤßt sich im Allgemeinen behaupten: daß auch der Bauern- stand mit seinem besonderen Rechte in neuerer Zeit Vieles von seiner Eigenthuͤmlichkeit verloren hat, ja daß er in den wich- tigsten Beziehungen den uͤbrigen gemeinfreien Staatsbuͤrgern gleichgestellt worden ist. Dieser Entwicklungsproceß wird denn in seinem weiteren Verlaufe dahin fuͤhren, daß auch die noch Siebentes Kapitel . bestehenden Ueberreste schon veralteter Zustaͤnde einer neuen Rechtsbildung weichen muͤssen. Die Gutsobrigkeit namentlich, insofern sie nicht als Dienstherrschaft auftritt, und die Patri- monialgerichtsbarkeit werden vor dem herrschenden Princip des Staates und der freien Gemeinde verschwinden. Daß aber der Bauernstand noch immer in einer mehr eigenthuͤmlichen und abgeschlossenen Haltung dasteht, als andere Classen der Bevoͤlkerung, das erklaͤrt sich theils aus seiner Beschaͤftigung und aͤußeren Lage, theils aber auch aus seiner besonderen Na- tur und Gemuͤthsart. Im Allgemeinen haͤngen die Bauern an dem Hergebrach- ten und Alten, wenn sie auch keine Neuerung scheuen, welche ihrem klar erkannten Interesse dient; die Familien vermischen sich nur selten mit solchen aus andern Staͤnden, und selbst bei einem durch die Umstaͤnde gebotenen Wechsel des Besitzes kommt nicht leicht ein fremdes Element in ihre Reihen. Da- her hat sich, wie auch die aͤußern Verhaͤltnisse sonst veraͤndert seyn moͤgen, gerade hier noch Vieles von alter Sitte und Art erhalten, dessen Kunde fuͤr die richtige Beurtheilung des wirk- lich Bestehenden oft wichtiger ist, als das Studium der posi- tiven Gesetze. Auch wird sich ohne Zweifel aus den neu be- gruͤndeten Verhaͤltnissen unter guͤnstigen Umstaͤnden wieder manche eigenthuͤmliche Rechtsbildung entwickeln, sobald fuͤr be- sondere Institute ein bestimmtes Beduͤrfniß vorliegt, und das gemeine Landrecht zu deren Befriedigung nicht ausreicht. Denn es fehlt gerade in diesem Kreise noch am Wenigsten an der natuͤrlichen Kraft und Begabung, durch welche auf dem Wege der unbewußten Entwicklung das Angemessene und Billige zur bindenden Norm umgewandelt wird. Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . III. Der Buͤrgerstand . Wir haben es hier nicht mit dem Staatsbuͤrgerthume zu thun, noch mit dem sogenannten dritten Stande im Gegensatz zu den beiden bevorzugten Classen des mittelalterigen Feudal- wesens. Der Buͤrgerstand, von dem hier die Rede, ist der staͤdtische, wie er sich aus dem staͤdtischen Gemeinwesen und dem gewoͤhnlichen Betriebe staͤdtischer Gewerbe herausgebildet hat. In dieser bestimmten Erscheinung ist das Buͤrgerthum ein Product des spaͤteren Mittelalters, und haͤngt mit der be- sondern Gestaltung der Stadtverfassung im Gegensatz zu der Ritterschaft und den Landgemeinden nahe zusammen; seine letzte Entwicklung ist namentlich in der Zeit zu suchen, als es den Handwerkerinnungen fast allgemein gelang, die Herrschaft der Geschlechter und der Kaufherren zu stuͤrzen, oder doch ne- ben ihnen in selbstaͤndiger Berechtigung sich bei dem Stadtre- gimente zu betheiligen. Denn nun ging der Genuß der Frei- heitsrechte, welche die staͤdtische Verfassung gewaͤhrte, auf die ganze Buͤrgerschaft uͤber, und diese strebte in ihrem einseitigen Interesse nach einer ausschließlichen Ausuͤbung ihrer Gewerbe, wodurch die Trennung von Stadt und Land erst recht ausge- bildet und befestigt ward. Aber auch diese Verhaͤltnisse sind den maͤchtigen Einwirkungen der modernen Zeit nicht entgan- gen, und die Alles erfassende Kraft des Staates so wie der große Umschwung, der im Handel und in der Industrie statt gefunden, haben die wichtigsten Veraͤnderungen hervorgerufen. Die besonderen Corporationsrechte, in welche die staͤdtische Gemeinde fruͤher ihre Ehre und ihre Sicherheit setzte, haben in der neuesten Zeit, welche ein wuͤrdig ausgestattetes Commu- nalwesen als eine organische Gliederung des Staates mit einer allgemeinen Wirksamkeit in Anspruch nimmt, schon Vieles von Siebentes Kapitel . ihrer Bedeutung verloren, und werden es immer mehr thun. Steht aber auch jetzt noch die Stadtgemeinde in einer bevor- zugten Haltung da, so ist es doch nicht gerade der Buͤrgerstand im engeren Sinne, der sich darin ausschließlich vertreten sieht. Denn die Staͤdte umschließen jetzt mehr wie je eine sehr ge- mischte Bevoͤlkerung, von der ein bedeutender Theil ohne alle Beziehung zum staͤdtischen Gewerbe steht, waͤhrend er doch ge- rade durch Intelligenz, Bildung und Reichthum fuͤr die Com- mun von der groͤßten Bedeutung ist, und namentlich wenn er den entsprechenden Grundbesitz erworben hat, auch thaͤtig in das oͤffentliche Wesen eingreifen kann, falls hier nicht eine veraltete Verfassung engherzige Beschraͤnkungen macht. Die- sem Theile der Bevoͤlkerung sehr nahe stehen die Kaufleute, welche bei dem groͤßeren Handelsverkehr betheiligt sind, und ihre Geschaͤfte nicht auf die Stadt und deren naͤchste Umge- bung beschraͤnken. Die Handwerker dagegen sind theils durch die Einfuͤhrung der Gewerbefreiheit unter das gemeine Recht der Gegenwart gestellt, welche die freie Concurrenz der Arbeit will; oder wo sie noch ihre alten Privilegien zum großen Nachtheile des Gemeinwesens bewahrt haben, da sehen sie sich vielfach von der Fabrikation uͤberfluͤgelt oder abhaͤngig ge- macht, und in dieser liegt jedenfalls eine Bestimmung, welche uͤber die fruͤher hergebrachten Grenzen des buͤrgerlichen Gewer- bes hinausragt. Zu diesem Allen kommt nun noch der Um- stand hinzu, daß die verschiedenen Bestandtheile der Bevoͤlke- rung im Staate immer mehr zusammen fließen, und daß na- mentlich die scharfe Grenze zwischen Stadt und Land immer- mehr verwischt wird. Es giebt einmal eine große Anzahl klei- nerer Landstaͤdte, in denen der Ackerbau uͤberwiegt, und ein duͤrftiges Gewerbewesen nur die wenig lohnende Nebenbeschaͤf- Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . tigung der Hauswirthe ist. Solche Ortschaften, die meistens nur mit Muͤhe die Last einer eigenen, verhaͤltnißmaͤßig kostspie- ligen Verwaltung tragen, werden jetzt durch das fruͤher werth- volle Stadtrecht sehr beschwert, und es wuͤrde ihnen sowohl als dem Staate am Besten damit gedient seyn, wenn sie in die Ordnung der Flecken oder Doͤrfer zuruͤcktreten koͤnnten. Der Landmann dagegen strebt bei erhoͤhter Freiheit und verbes- sertem Wohlstande immermehr nach staͤdtischen Gebraͤuchen und Gewerben; der reiche Handelsstand kommt durch den Erwerb von Landguͤtern, durch Heirathen zwischen der Geburts- und Geldaristokratie der Ritterschaft immer naͤher zu stehen, und die Fabrikation endlich bindet sich nicht an das staͤdtische Weich- bild, sondern geht den Orten nach, wo Wasserkraft und wohl- feile Handarbeit zu finden ist. Bedenkt man nun, daß die Landgemeinde durch Theilung der Gemeindeguͤter, die Stadt- gemeinde aber durch die Aufhebung oder das Herabkommen des Zunftwesens immer mehr von ihrer Eigenthuͤmlichkeit ver- lieren, und daß gewisse Interessen, auch wenn sie sich nicht unmittelbar auf das Staatsganze beziehen, doch einen gemein- schaftlichen Charakter an sich tragen, so ist eine allmaͤlige Ausgleichung und Annaͤherung zwischen Stadt und Land fast nothwendig gegeben. Ja wo der Grundbesitz frei veraͤußerlich und theilbar, und neben einer vollen Gewerbefreiheit eine bluͤ- hende Fabrikation besteht, da wird, wenigstens fuͤr gewisse all- gemeine Beziehungen, die gleichmaͤßige Ausbildung des Ge- meindeverbandes nur natuͤrlich erscheinen. Verlangen aber auch die agrarischen Verhaͤltnisse der Landgemeinde im Gegensatz zu dem in den Staͤdten concentrirten Gewerbe ihre selbstaͤndige Vertretung, so gestattet doch jedenfalls die hoͤhere Gliederung des Communalwesens in Kreisen, Provinzen u. dgl. eine ge- Siebentes Kapitel . meinschaftliche Organisation, in welcher die verschiedenen Inter- essen neben einander zur Geltung kommen, und in dem ge- meinsamen Ziele ihre Ausgleichung und Vereinigung finden. Soll also von einem besonderen Rechte des Buͤrgerstan- des die Rede seyn, so muß dasselbe seinen Schwerpunct an- derswo als in der staͤdtischen Gemeinde haben. In dem Privat- recht, Criminalrecht, Proceß u. s. w. ist er aber auch nicht zu suchen; denn was sich in dieser Beziehung im Laufe der Zei- ten statutarisch entwickelt hat, ist entweder vor der modernen Gesetzgebung gefallen, oder traͤgt doch keine natuͤrliche Lebens- kraft mehr in sich. Hoͤchstens koͤnnen Modificationen einzelner Rechtstheile, z. B. des ehelichen Guͤterrechts, hier frei gestellt werden, ohne daß dadurch auch nur dem gemeinen Landrecht ein wesentlicher Abbruch zu geschehen brauchte. Soll in dieser Sphaͤre also noch ein selbstaͤndiges Staͤnderecht gelten, so muß es im staͤdtischen Gewerbe begruͤndet seyn; aber hier reicht eine allgemeine Betrachtung nicht aus. Noch mehr fast, wie Ritterschaft und Bauern, scheidet sich der Handwerker vom Fa- brikanten und von beiden wieder der Kaufmann; dieser Unter- schied muß festgehalten werden, wobei aber zugleich wieder- holt darauf aufmerksam zu machen ist, daß namentlich der Fa- brikant nicht an die Stadt gebunden erscheint. 1. Das Recht der Handwerker und Fabri- kanten . Es gab eine Zeit, in welcher die corporative Ver- fassung der Gewerke in ihrer zunftmaͤßigen Ausbildung eine tiefe Bedeutung hatte, und unmittelbar aus dem Volksleben her- ausgewachsen, dem staͤdtischen Buͤrgerthum einen kraͤftigen Haltpunct gewaͤhrte. Das Beduͤrfniß fuͤhrte zu diesen genos- senschaftlichen Vereinen, welche dem Gewerbe Wuͤrde und Kraft verliehen, die kunstfertige Betreibung derselben foͤrderten Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . und auf eine einflußreiche Stellung in der staͤdtischen Verfas- sung einen wohlbegruͤndeten Anspruch hatten. Es ist nichts ehrenhafter, als die deutsche Handwerkerzunft zur Zeit ihrer Bluͤthe, da sie die Anforderungen der Industrie noch befrie- digte, und in ihrem Kreise Gewerbfleiß mit einem tuͤchtigen Buͤrgersinn und einem wuͤrdigen Familienleben verbunden war. Auch heute noch sind nicht alle Spuren der fruͤheren Zustaͤnde verwischt, und der Meister, welcher nach den verschiedenen Sei- ten seiner Wirksamkeit hin seine Stellung tuͤchtig ausfuͤllt, ge- hoͤrt zum Kern des staͤdtischen Mittelstandes. Aber mit dem eigentlichen Wesen des alten Handwerkerrechts ist es doch vor- bei: die Zunftverfassung in ihrer Abgeschlossenheit und aus- schließlichen Berechtigung, welche urspruͤnglich ein so natuͤrli- ches und gesundes Lebensprincip in sich trug, ist unter den veraͤnderten Verhaͤltnissen der neueren Zeit zu einer laͤstigen Beschraͤnkung der Industrie geworden, welche, wie jede gereifte Kraft, vor Allem der freien Bewegung bedarf, und wenn sie auch in bestimmten Formen ihr weises Maaß finden kann, dieses nicht aus einer entschwundenen Zeit in abgestorbenen Instituten heruͤbernehmen darf. Die Staatsgewalt, das Wohl der Gesammtheit im Auge haltend, hat, wenn ihr die noͤthige Energie beiwohnt, diese Fesseln zu brechen, sollte es auch ohne eine augenblickliche Verletzung des Privatrechts nicht geschehen koͤnnen; dagegen wird sie die Ausbildung genossenschaftlicher Vereine in zeitgemaͤßer Form unter den Gewerken billig be- guͤnstigen, weil sich darin nur der Associationsgeist mit seinen heilsamen Folgen bethaͤtigen kann. — Nun ist freilich die Zunftverfassung noch bei weitem nicht in ganz Deutschland aufgehoben; aber wo sie noch in alter Weise vorkommt, kann sie keinen Anspruch mehr darauf machen, ein Institut des le- Siebentes Kapitel . bendigen Volksrechts zu seyn: sie ist, wenn auch verbrieft und versiegelt, zu einem bloßen Gewohnheitsrecht heruntergesunken. Und wie duͤrftig und unbedeutend sind auch die Rechtsverhaͤlt- nisse, die sich gegenwaͤrtig in dieser Sphaͤre darstellen: ein todtes Formenwesen, ohne frische Kraft und inneres Leben, kaum unterbrochen durch aͤrgerliche Competenzstreitigkeiten der einzelnen verwandten Zuͤnfte unter einander oder durch ein kleinliches Ueberwachen der Pfuscher und Landhandwerker, stets bedroht durch die Anforderung der Mitbuͤrger auf freie Concur- renz und durch die Uebermacht der Fabrikation. Die Fabrikanten dagegen verfolgen ein bestimmtes und gemeinschaftliches Interesse, welches sich vorzugsweise im Ge- gensatze zu dem der Landwirthe geltend macht. Erst in neue- ster Zeit ist man in Deutschland der richtigen Einsicht naͤher gekommen, daß zuletzt doch diese scheinbar so getrennten In- teressen in dem hoͤheren Ziele der nationalen Kraft und Wohl- fahrt ihre Vereinigung finden; aber noch besteht der Kampf, und ganz kann er der Natur der Verhaͤltnisse nach nie aufhoͤ- ren. Hier die weise Vermittlung, auch in der Landesverfas- sung durchzufuͤhren, ist die Aufgabe der staatsmaͤnnischen Weis- heit, welche bei der Beruͤcksichtigung des Theiles stets das Ganze im Auge behaͤlt. Aber zu einem eigenen Stande der Fabrikanten hat man es doch nicht gebracht, und dazu wird es auch nicht kommen, wenn auch an und fuͤr sich, wenigstens in Staaten, wo die Industrie dauernd und solide begruͤndet worden, dazu dieselbe Veranlassung gegeben ist, als etwa fuͤr die Abschließung der großen Grundbesitzer in einem Stande der Ritterschaft. Denn die moderne Zeit widerstrebt uͤberhaupt dem gesonderten Staͤndewesen, und die Fabrikanten so wenig wie die Kaufleute machen einen Anspruch darauf, sich dem Staats- Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . buͤrgerthume in einer selbstaͤndigen Haltung gegenuͤber zu stel- len. Was sich aber etwa als ein eigenes Recht der Fabri- kanten herausstellt, das haben sie fast ganz mit den Kaufleu- ten gemein, indem manche Institute des Handelsrechts, welche sich nicht auf den streng kaufmaͤnnischen Verkehr beziehen, auch ihnen zu Gute kommen. 2. Das Recht der Kaufleute . Insofern dieses ei- nen eigenthuͤmlichen Charakter an sich traͤgt, ist es im Han- delsrecht enthalten; denn außerhalb seines Geschaͤftsverkehrs ist der Kaufmann dem gemeinen Landrecht unbedingt unter- worfen. Im heutigen Handelsrecht aber, welches hier im wei- teren Sinn mit Einschluß des See- und Wechselrechts ge- nommen wird, zeigt sich freilich Alles voller Leben und Fri- sche, wie es von einer Zeit zu erwarten ist, in welcher Indu- strie und Verkehr einen so unerhoͤrten Aufschwung genommen haben, und mit ihren guten und schlimmen Folgen das ganze Volksleben durchdringen, so daß selbst der Grundbesitz bedroht ist, als Waare in den Kreis der kaufmaͤnnischen Speculation gezogen zu werden. Daß wir es nun beim Handelsrecht mit einem lebendi- gen, unmittelbar aus dem Geschaͤftsverkehr hervorgegangenen Volksrechte zu thun haben, steht fuͤr den Kundigen außer Frage: das roͤmische Recht, die Gesetze, das Juristenrecht und bloße Gewohnheiten sind fuͤr das gemeine Handelsrecht nur Quellen von untergeordneter Bedeutung; es ist vielmehr in den Rechtsverhaͤltnissen selbst enthalten, und will aus dem Le- ben erkannt werden. Hier finden sich die leitenden Principien, welche der geschaͤftskundige Mann in unmittelbarer Anschauung mit Sicherheit anwendet, und der Jurist nur zur consequenten Beseler , Volksrecht. 15 Siebentes Kapitel . Deduction zu benutzen und fuͤr besondere Faͤlle in die rechte Beziehung zu den positiven Gesetzen und zu allgemeinen Rechts- grundsaͤtzen zu bringen hat. Damit ist aber nicht gesagt, daß das Handelsrecht ein durchaus anomalisches Recht sey. Es zeigen sich hier vielmehr Principien von einer ganz selbstaͤndi- gen Bedeutung wirksam, welche nur deswegen eine beschraͤnk- tere Geltung haben, weil an dem Verkehr, worauf sie sich be- ziehen, nicht die ganze Bevoͤlkerung Theil nimmt. Doch be- schraͤnkt sich derselbe auch nicht ausschließlich auf die Kauf- leute. Es ist schon bemerkt worden, daß manche Institute des Handelsrechts auch fuͤr die Fabrikanten von Wichtigkeit sind; der Gutsbesitzer, welcher seine Producte absetzt, wird gleichfalls in diesen Kreis hineingezogen, wenn auch schon der Umstand, daß er keine kaufmaͤnnische Buchfuͤhrung hat, fuͤr ihn wesentliche Modificationen noͤthig macht; das Seerecht er- faßt in wichtigen Beziehungen auch den Schiffer und das Schiffsvolk; in manchen Gegenden an der Seekuͤste sind die Landleute ihre eigenen Rheder und Commissionaͤre, und trei- ben, wenn auch meistens nur im Kleinen, Handelsgeschaͤfte mit ihren Producten; am Wechselgeschaͤft nimmt, wenn auch in beschraͤnkter Weise, taͤglich eine große Zahl von Personen aus allen Classen Antheil, und der Capitalist endlich kann als stiller Gesellschafter oder als Inhaber von Actien und Schiffs- parten ohne alle Kunde der kaufmaͤnnischen Geschaͤfte doch da- bei betheiligt seyn. Betrachtet man die Sache unter diesem Gesichtspuncte, so braucht man es nicht fuͤr eine Inconsequenz der franzoͤsischen Gesetzgebung zu halten, wenn sie, obgleich allem Staͤndeunterschiede feindlich, doch das Handelsrecht und die Handelsgerichte in ihrer selbstaͤndigen Geltung anerkannt Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . hat; und in England, so viel ich weiß, gehen diese Institute ganz in das common law auf, welches eben nur nach dieser Seite hin seine besondere Ausbildung erhalten hat. — Will man das Handelsrecht daher ein Standesrecht der Kaufleute nen- nen, so ist dieß doch nur in einem sehr beschraͤnkten Sinne zu nehmen; denn keine ausschließliche Berechtigung macht es da- zu, sondern allein der thatsaͤchlich begruͤndete Umstand, daß die Kaufleute sich vorzugsweise und in einigen Beziehungen aus- schließlich desselben bedienen, und daß es folgeweise durch sie und ihre Geschaͤfte seinen eigenthuͤmlichen Charakter erhalten und bewahrt hat. Es kann aber noch besonders zur Frage kommen, ob das Handelsrecht nur uͤberhaupt als ein Volksrecht aufzufassen ist, und ob es nicht vielmehr als ein Voͤlkerrecht im Sinne des roͤmischen jus gentium betrachtet werden muß. Schon im 2. Kapitel ist hieruͤber im Allgemeinen gehandelt und gezeigt wor- den, daß das Volksrecht nicht nothwendig ein ausschließlich nationales zu seyn braucht. Doch kommen hier freilich noch besondere Momente in Betracht. Es ist naͤmlich ein Unter- schied, ob sich bei verschiedenen Voͤlkern unter dem Einfluß derselben Beduͤrfnisse und bei uͤbereinstimmenden Verhaͤltnissen gewisse Rechtsinstitute gleichartig, aber doch in einer selbstaͤndi- gen Entwicklung ausgebildet haben, oder ob der Geschaͤftsver- kehr, der im Welthandel die verschiedenen Voͤlker zusammen- fuͤhrt, das Recht als sein unmittelbares Product hervorruft, und die einzelne Nation sich nur als einen der großen Facto- ren dieser Rechtsbildung darstellt. Und in der That verhaͤlt es sich also mit dem Handelsrecht in seiner ganzen Composi- tion und seinen wichtigsten Instituten, so daß die besondere 15* Siebentes Kapitel . Gestaltung desselben bei den einzelnen Voͤlkern nur als eine Modification der allgemeinen Rechtsideen der gebildeten Welt erscheint. Indessen darf man doch auch hier dieser bestimm- ten Auspraͤgung des Allgemeinen in seiner nationalen Erschei- nung keine zu geringe Bedeutung beilegen. Denn theils sind doch die Verschiedenheiten, welche darin bei den einzelnen Voͤl- kern vorkommen, nicht gering; theils aber nimmt das Han- delsrecht in seiner speciellen Beschraͤnkung den Charakter eines wahren Volksrechts an, indem es sich bei dem Handelsstande eines bestimmten Volkes in unmittelbarer Geltung festgesetzt, mit diesem sich gewissermaaßen identificirt hat, so daß es in dessen Bewußtseyn selbstaͤndig existirt, und in das fremde Recht nicht aufgeht, wenn es auch in demselben sich im Wesentlichen wiederholt, und in manchen Stuͤcken daraus ergaͤnzt werden kann. Da nun das gemeine deutsche Handelsrecht von einer solchen Beschaffenheit ist, daß es in seiner Eigenthuͤmlichkeit und selbstaͤndigen Haltung eine entschieden nationale Faͤrbung an sich traͤgt, so duͤrfen wir es auch als einen integrirenden Theil unseres gemeinen Rechts betrachten, wie das auch von anderen Voͤlkern geschieht, welche in der allgemeinen Bewe- gung des Welthandels doch ihrer eigenen Persoͤnlichkeit auch in dieser Beziehung sich bewußt bleiben. Das nationale Ele- ment des deutschen Handelsrechts zeigt sich aber nicht bloß in der Modification einzelner Institute, sondern auch in ganz ei- genthuͤmlichen Rechtsbildungen, wie denn z. B. der deutsche Buchhandel in voller Selbstaͤndigkeit sich entwickelt hat. Ueber- haupt aber ist das Handelsrecht den Deutschen nicht von Außen her fertig zugetragen worden, sondern sie haben selbst an der Ausbildung desselben thaͤtigen Antheil genommen; das zeigt die allgemeine Geschichte des Handels, und ergiebt sich auch Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht . aus einzelnen quellenmaͤßigen Zeugnissen, welche bis ins 12. Jahrhundert hinauf verfolgt werden koͤnnen In der Verfassungsurkunde, welche Conrad von Zaͤhringen im Jahre 1120 der Stadt Freiburg im Breisgau ertheilte, kommt folgende Stelle vor, welche fast woͤrtlich in die Handfeste der Stadt Bern von 1218 uͤbergegangen ist: Si quando disceptatio vel questio inter bur- genses meos orta fuerit, non secundum meum arbitrium vel recto- ris eorum discucietur. Sed pro consuetudinario et legitimo jure omnium mercatorum precipue autem Coloniensium examinabitur judicio. — In dieser aͤltesten Verfassungsurkunde von Freiburg kommt keine andere Beziehung auf das Recht von Koͤlln und namentlich keine auf die Verfassung dieser Stadt vor; so daß die auf einen weniger deut- lichen Ausdruck des spaͤteren Stadtrodels begruͤndete Ansicht von einer Uebertragung der Koͤllner Stadtverfassung auf Freiburg mit den daraus hergeleiteten Folgerungen sich wohl als ganz unhaltbar herausstellt. Die jura Colonie des Stadtrodels bezeichnen eben das zu Koͤlln geltende Handelsrecht. . Achtes Kapitel. Das Volksrecht in seinem Verhaͤltnisse zur Ge- setzgebung . Die Frage, in welchem Verhaͤltniß das Volksrecht zur Gesetzgebung steht, ist schon fruͤher (im 2. Kap.) beilaͤufig er- oͤrtert worden. Es ward angenommen, daß sich die Gesetzge- bung selbst bei einer ganz normalen Rechtsbildung nicht noth- wendig auf eine bloß nachhelfende und ergaͤnzende Thaͤtigkeit zu beschraͤnken brauche, sondern daß sie auch, das Recht im Geiste der Nation entwickelnd, einen selbstaͤndigen schoͤpferischen Einfluß geltend machen koͤnne. Eine besondere Bedeutung ward ihr aber fuͤr den Fall beigelegt, wenn sich die Nothwen- digkeit einer durchgreifenden Reform des ganzen Rechtswesens zeigt, so daß es nicht bloß auf die Befestigung und Fortbil- dung des Volksrechts ankommt, sondern durch die Wegraͤu- mung der bestehenden Hindernisse einer nationalen Rechtsent- wicklung uͤberhaupt erst freie Bahn gemacht werden muß. — Ich knuͤpfe hier an jene Eroͤrterung wieder an, um sie mit besonderer Ruͤcksicht auf den gegenwaͤrtigen Rechtszustand in Deutschland weiter zu fuͤhren, — ohne Anspruch freilich auf eine erschoͤpfende Behandlung des eben so schwierigen als wich- tigen Gegenstandes, sondern nur in der Absicht, einige der wichtigsten Puncte, auf welche es dabei ankommt, hervor zu heben, und zur Verstaͤndigung uͤber die ganze Frage einen Beitrag zu liefern. Betrachtet man nun unbefangen den Zustand des gegen- waͤrtigen deutschen Rechtswesens, so ergiebt sich wohl so viel, Das Volksrecht und die Gesetzgebung . und daruͤber sind auch alle, denen in diesen Sachen ein Ur- theil zusteht, einverstanden, daß die Gesetzgebung hier noch eine weite und schwierige Aufgabe vor sich habe. Der Grund davon ist in der mangelhaften Beschaffenheit des gemeinen sowohl als des particulaͤren Rechtes zu suchen, und diese erklaͤrt sich wieder aus dem gehemmten und gestoͤrten Entwicklungsgange, welchen das deutsche Volk waͤhrend der letzten Jahrhunderte in seinen nationalen und politischen Beziehungen genommen hat. Das gemeine Recht ist seinem ganzen Wesen nach und in seinen Hauptbestandtheilen unter dem vorherrschenden Ein- fluß der Juristen ausgebildet worden, welche es aber nicht ver- mocht haben, dasselbe in Beziehung auf seinen materiellen In- halt und auf seine formelle Gestaltung so, wie es das Be- duͤrfniß des Volkes erheischte, festzustellen. Namentlich herrscht das roͤmische Recht darin noch auf eine ganz unziemliche Weise vor, und auch die Verbindung desselben mit dem deutschrecht- lichen Elemente zu einer hoͤheren, organischen Einheit ist bis jetzt nicht gelungen. So erscheint es oft zweifelhaft, von wel- cher Seite her die Normen fuͤr die Beurtheilung bestimmter Rechtsverhaͤltnisse zu entnehmen sind, und durch das ganze gemeine Recht zieht sich ein Dualismus hindurch, welcher dem richtigen Verstaͤndniß und der sicheren Anwendung desselben hindernd entgegen tritt. — Noch groͤßer aber und gefaͤhrlicher ist die Verwirrung, welche in dem particulaͤren Rechte herrscht. Die Entstehung desselben reicht zum großen Theile in die Zei- ten hinauf, wo die heutige Abgrenzung der deutschen Staats- gebiete noch nicht festgestellt war, sondern die einzelnen politi- schen Bezirke, die jetzt meistens nur eine provinziale oder lo- cale Bedeutung haben, einer gewissen Selbstaͤndigkeit sich er- freuten. Diese machte sich nun, namentlich im 16. und 17. Achtes Kapitel . Jahrhundert dadurch geltend, daß man der damaligen gemein- rechtlichen Theorie gegenuͤber, das einheimische Recht in seiner particulaͤren Geltung durch die Gesetzgebung oder die Autono- mie zu bewahren suchte, wodurch denn eine große Anzahl ein- zelner Landes- und Statutarrechte hervorgerufen wurden. Schon im Allgemeinen ist diesen speciellen Rechtsquellen, welche in den meisten deutschen Staaten in wunderlichen Verschlingun- gen neben einander herlaufen, kein zu großer Werth beizule- gen; es sind großen Theils sehr unvollkommene Arbeiten, de- nen man die geringe Ausbildung, welche zur Zeit ihrer Abfas- sung die Kunst der Gesetzgebung erlangt hatte, deutlich an- sieht, — oft voll von Willkuͤhrlichkeiten und Mißverstaͤndnis- sen, ohne eine tiefere Beziehung zu dem noch vorhandenen Volksrecht. Sind aber auch manche dieser Gesetzgebungen von hoͤherem Werth, und haben sie auch uͤberhaupt als ein Damm gegen das roͤmische Recht einen nicht geringen Nutzen geleistet, so ist doch gegenwaͤrtig, wo das einheimische Recht in seiner selbstaͤndigen Haltung anerkannt wird, ihre Bestim- mung als erfuͤllt anzusehen. Ja sie treten jetzt einem freieren Rechtsleben hindernd entgegen, weil sie den modernen Rechts- verhaͤltnissen nicht mehr entsprechen, und auch mit der fortge- schrittenen Theorie des gemeinen Rechts nicht mehr uͤberein- stimmen. — Aehnlich wie mit diesen Gesetzgebungen verhaͤlt es sich mit den aͤlteren landesherrlichen Verordnungen, welche oft, obgleich sie aͤußerlich noch gelten, mit der heutigen Gestal- tung des oͤffentlichen Wesens kaum zu vereinigen sind; als aber mit dem Verfall der alten landstaͤndischen Verfassung die Gesetzge- bung ausschließlich in die Haͤnde des Landesherrn, oder, wie sich die Sache meistens thatsaͤchlich gestaltete, der Beamten kam, da brach eine wahre Suͤndfluth von zum Theil sehr un- Das Volksrecht und die Gesetzgebung . reifen Gesetzen uͤber Deutschland ein, welche auch namentlich, bei der mangelhaften Organisation der gesetzgebenden Gewalt, den Nachtheil brachte, daß sich die Grenze zwischen der Rechts- pflege und der Verwaltung immermehr verwischte, und die Re- gulirung der Verhaͤltnisse vom Standpunct einer bloß polizeili- chen Betrachtungsweise aus vorzugsweise das leitende Princip der Regierungen ward. So ist es gekommen, daß fast jeder deutsche Staat, auch der kleinste, eine Gesetzsammlung aufzuweisen hat, vor deren Umfang die wenigen organischen Gesetze großer und maͤchtiger Reiche beschaͤmt zuruͤckstehen muͤssen; daß aber auch diese Masse meistens als ein todter unorganischer Klumpen da liegt, bei aller Weitlaͤuftigkeit und allem Detail unvollendet und frag- mentarisch, ohne bestimmt ausgepraͤgte Principien und innere Einheit, oft selbst im Einzelnen ohne die sichere Beglaubigung der gesetzlichen Sanction. Daher erklaͤrt es sich, daß das Stu- dium der Particularrechte so schwierig und oft so wenig loh- nend ist; ja wenn man die sehr tuͤchtigen Arbeiten, welche na- mentlich in neuester Zeit auf diesem Gebiet geliefert sind, be- trachtet, so besteht ihr Verdienst oft mehr darin, daß sie, wenn auch vielleicht unbewußt, die Schwaͤche und Unhaltbarkeit der vorhandenen Zustaͤnde nachgewiesen, als in dem, was sie wirk- lich zum Verstaͤndniß des geltenden Rechts beigetragen haben. Leider beschraͤnken sich diese Arbeiten auch fast immer nur auf das geschriebene Particularrecht, so daß man uͤber das eigent- liche Volksrecht, wie es noch in der Sitte und den Lebens- verhaͤltnissen sich ausspricht, so gut wie gar keinen Aufschluß erhaͤlt. — Wo nun aber das Particularrecht nicht ausreicht, da kommt das gemeine Recht zur Anwendung. Allein auch dieses hat, wie schon erwaͤhnt, seine großen Schwaͤchen, und Achtes Kapitel . betrachtet man es namentlich in seiner Bedeutung als subsidiaͤ- res Recht, so stellt sich der schlimme Uebelstand heraus, daß in Folge der eigenthuͤmlichen Satzungen des particulaͤren und der davon unabhaͤngigen Fortbildung des gemeinen Rechts zwischen beidem keine innere organische Verbindung besteht. Ist daher die Lehre der aͤlteren Theorie, jedes Statut sey moͤg- lichst nach dem roͤmischen Recht zu interpretiren und zu ergaͤn- zen, gegenwaͤrtig auch fuͤr beseitigt zu halten, so setzt es doch oft eine schwierige rechtshistorische Untersuchung voraus, um nur zu bestimmen, ob fuͤr ein Statut deutsches oder roͤmisches Recht, und ferner welches Princip des deutschen Rechts, aus welcher Periode seiner Entwicklung die ergaͤnzende Norm zu liefern hat. Wie es bei einem solchen Stande der Sachen mit der Rechtssicherheit und uͤberhaupt mit der Rechtspflege in Deutschland bestellt ist, laͤßt sich leicht denken; um diesen Uebelstaͤnden aber gruͤndlich abzuhelfen, bedarf es einer durch- greifenden Reform, welche nicht bloß die einer zeitgemaͤßen, nationalen Rechtsbildung entgegenstehenden Hindernisse ent- fernt, sondern auch neue, dem Beduͤrfniß entsprechende Schoͤ- pfungen hervorruft. Fragt man nun, welches denn die Mittel und Wege sind, die dem deutschen Volke fuͤr ein solches Werk zu Gebote ste- hen, so wird dazu ein vereinzeltes Unternehmen, eine beschraͤnkte Anwendung der vorhandenen Kraͤfte nicht ausreichen; es ist ein allgemeiner nationaler Aufschwung, die auf das gemein- same Ziel hin gerichtete Bewegung aller Factoren der Rechts- bildung noͤthig, um etwas Wuͤrdiges fuͤr die Dauer zu errei- chen. Diese Factoren sind aber: das Volksleben, die Wissen- senschaft und die Gesetzgebung; in ihrer vereinten Wirksamkeit ist die Kraft vorhanden, welche eine Regeneration unseres Rechts- Das Volksrecht und die Gesetzgebung . wesens zu Stande bringen kann; vereinzelt wird keine zum Ziele kommen. Die Gesetzgebung aber ist vor Allem darauf angewiesen, durch Wegschaffung des Unorganischen, Unpassen- den und Veralteten dem ganzen Entwicklungsproceß eine freie Bahn zu bereiten, die Rechtsinstitute, welche das Volksleben und die Wissenschaft ausgebildet haben, zu befestigen und zu vollenden, und endlich mit freier, schoͤpferischer Kunst Neues hervorzurufen und zu begruͤnden. Ist ihr aber diese Aufgabe im Allgemeinen mit Bestimmtheit zu vindiciren, so kann es doch geschehen, daß wieder daruͤber verschiedene Ansichten be- stehen, in welchem Umfange und bis zu welchem Grade sie thaͤtig einzugreifen hat, — ein Streit, der in mancher Hinsicht mehr noch durch die gegebenen Verhaͤltnisse, als durch eine allgemein guͤltige Beweisfuͤhrung seine Erledigung finden wird. Wie es sich nun in dieser Beziehung mit der Aufgabe der Gesetzgebung in Deutschland verhaͤlt, und auf welche Weise man dieselbe auffassen und naͤher bestimmen kann, das soll hier in der Kuͤrze angedeutet werden. 1. Das kuͤhnste und großartigste Unternehmen waͤre nun ohne Zweifel dieses, wenn der ganze in Deutschland vorhan- dene Rechtsstoff einer Revision unterzogen, und in freier, prin- cipienmaͤßiger Durchbildung durch einen großen, constituiren- den Act der Gesetzgebung geordnet und festgestellt wuͤrde. Bei diesem Werke, welches man mit dem Ausdruck Codification zu bezeichnen pflegt, wuͤrde es denn vor Allem darauf ankom- men, die allgemeinen Rechtsgrundsaͤtze und die einzelnen Rechts- institute in ihren leitenden Principien klar und bestimmt hin- zustellen, und nur da, wo es fuͤr die Rechtssicherheit durchaus noͤthig waͤre, wie im Proceß und uͤberhaupt wo es sich um bestimmte Formen und Fristen handelt, ein fein ausgearbeite- Achtes Kapitel . tes Detail zu geben. Dem gemeinen Recht, und zwar in sei- ner unbedingten Geltung, wuͤrde dadurch die weiteste Herrschaft bereitet werden, indem specielle Rechtsbildungen nur dann, wenn ein dringendes Beduͤrfniß sie erheischte, anzuerkennen waͤren, was namentlich in einzelnen Partien des Staatsrechts und im Recht des laͤndlichen Grundbesitzes, sowohl wegen sei- ner eigenen Beschaffenheit als auch hinsichtlich des Staͤndewe- sens und der Familie, der Fall seyn moͤchte. So wie aber eine solche Codification nur durch eine einheitliche gesetzgebende Gewalt ins Leben gerufen werden koͤnnte, so muͤßte auch al- lein durch sie eine Abaͤnderung und Fortbildung des Gesetz- buchs moͤglich seyn; die weitere Ausfuͤhrung seines Inhalts aber koͤnnte, innerhalb der vom Gesetz gezogenen Grenzen, dem Volksleben, der Jurisprudenz und der Autonomie uͤberlassen werden. Mit diesen Anforderungen waͤre denn aber zugleich gesetzt, daß es sich nicht um eine bloß aͤußerliche Feststellung des Rechtsstoffs handle; das Ganze wuͤrde uͤber den Begriff einer gewoͤhnlichen Codification, welche doch nur in einem ein- heitlich geordneten Staatswesen vor sich gehen kann, hinaus- greifen, und den Charakter einer politischen Reconstituirung der Nation an sich tragen, welche dadurch aus dem Particularis- mus und der Zerrissenheit zur organischen, auch formell in der Verfassung ausgepraͤgten Einheit sich erhoͤbe. Es fehlt freilich nicht an patriotisch gesinnten Maͤnnern, welche der An- sicht sind, daß eine Codification in Deutschland durch eine freie Vereinigung der Regierungen auf dem Wege einer com- missarischen Verhandlung zu Stande kommen koͤnne, und daß es dazu einer eigentlichen Verfassungsveraͤnderung nicht beduͤrfe. Aber abgesehen davon, daß das Staatsrecht dann doch von dem Plane ausgeschlossen bliebe; angenommen ferner, daß auf Das Volksrecht und die Gesetzgebung . dem angedeuteten Wege wirklich das große Ziel erreicht wer- den koͤnnte: so ist doch schon von vorn herein mit Fug zu bezweifeln, daß es nur zu einer friedlichen Verstaͤndigung uͤber das gemeinsame Unternehmen kommen wird. Bedenkt man alle Voraussetzungen, welche dazu noͤthig sind, und alle Con- sequenzen, welche daran haͤngen, so scheinen, damit das Werk nur uͤberhaupt in Angriff genommen werde, und noch mehr, damit es die Gewaͤhr der Dauer erlange, große Veraͤnderun- gen in der politischen Gestaltung Deutschlands noͤthig zu seyn, deren Moͤglichkeit freilich nicht in Abrede zu stellen ist, auf die aber nicht mit Wahrscheinlichkeit gerechnet werden darf, und welche daher auch nicht als Basis eines sofort in der Gegen- wart zu beginnenden Unternehmens dienen koͤnnen. Dazu taugt nur das, was den bestehenden Verhaͤltnissen entspricht, und diese zeigen uns bei der in ihrer organischen Ausbildung so unvollkommenen Bundesverfassung keine concentrirte ein- heitliche Gewalt in Deutschland, welche zur Durchfuͤhrung ei- ner gemeinsamen Gesetzgebung durchaus noͤthig seyn wuͤrde, sondern eine Reihe neben einander stehender, zu Trutz und Schutz verbundener Souverainitaͤten, bei denen die Bereitwil- ligkeit, wesentliche Hoheitsrechte zu opfern, kaum anzunehmen seyn moͤchte, auch wenn die so verschieden berechtigten Land- staͤnde, deren Beirath und Zustimmung doch einzuholen waͤre, kein Hinderniß bereiten sollten. In fruͤherer Zeit, als das alte Reich noch nicht ganz gebrochen war, haͤtte sich die Sache, wenigstens was das Aeußere der Verfassung betrifft, noch leichter gemacht; aber damals fehlte es der Form an dem rech- ten Geist und der noͤthigen Kraft, und Herrmann Conring, der Vater der deutschen Rechtsgeschichte, schloß sein beruͤhmtes Werk ebenso vergeblich mit einem Antrage auf die Abfassung Achtes Kapitel . eines volksthuͤmlichen deutschen Gesetzbuchs H. Conring, de origine juris Germanici (Helmstad. 1643) cap. XXXV. , als Thibaut ei- nen aͤhnlichen Vorschlag vor Eroͤffnung des Wiener Congres- ses wiederholte. Sollte jetzt der Geist so stark geworden seyn, daß er auch die Form bezwaͤnge? Ich bezweifle es; aber wollte Gott, daß ich mich irrte. Die Hindernisse, welche einer Codification in Deutschland entgegen stehen, sind also zunaͤchst rein politischer Natur; ob es auch noch andere giebt? ob unsere Zeit fuͤr ein solches Un- ternehmen den Beruf hat? ob es auch nur dem deutschen Rechte heilsam? das sind Fragen, deren Loͤsung freilich schwer, ja mit voller Sicherheit erst dann moͤglich ist, wenn auch der Erfolg bei der Beurtheilung zu Rathe gezogen werden kann. Was namentlich den Beruf unserer Zeit betrifft, so scheint es freilich nicht, als ob die deutsche Nation (denn mit dieser ha- ben wir es nur zu thun) in ihrem gegenwaͤrtigen Bestande zu großartigen politischen Schoͤpfungen besonders befaͤhigt ist, und eine solche wuͤrde doch immer eine umfassende Codification seyn. Sie setzt, wenn sie nicht bloß das Bestehende registri- ren will, eine Energie in der Arbeit und Vollziehung voraus, wie sie auch bei hochbegabten Voͤlkern nur selten zu finden ist; selbst die Entwerfung und Durchfuͤhrung des großen deut- schen Zollvereins, der schoͤnsten Hoffnung des Vaterlandes, ist damit nicht zu vergleichen, wenn auch das freilich noch nicht ganz gesicherte Gelingen dieses großartigen Unternehmens ge- eignet ist, Muth und Zuversicht und Vertrauen auf die Zu- kunft der Nation zu erwecken. Daß es uns aber an der Macht der Sprache, an der rechten Bildung und wissenschaft- Das Volksrecht und die Gesetzgebung . lichen Begabung fehlen sollte, um einen großen Act der Ge- setzgebung auf wuͤrdige Weise zu vollziehen, das moͤchte ich nicht behaupten; in dieser Beziehung scheint die Gegenwart vor Allem dazu berufen. Auch daß die lebendige Kunde des gesammten positiven Rechts, namentlich in seinen germanisti- schen Bestandtheilen, noch nicht gewonnen ist, duͤrfte kein we- sentliches Hinderniß seyn; denn wenn wir uns nur im Besitz der richtigen wissenschaftlichen Methode befinden, so laͤßt sich ein solcher Mangel durch das auf ein bestimmtes Ziel gerich- tete Studium bald ersetzen, und selbst wenn ein tieferes Ein- gehen, als eben moͤglich, noch manche Luͤcken ausfuͤllen koͤnnte, so wird die Kunst des Gesetzgebers, von der rechten politischen Einsicht und einer nationalen Rechtsanschauung getragen, da- fuͤr schon einen Ersatz zu geben wissen. Ueberhaupt entziehen einzelne Schwaͤchen, welche allem Menschlichen anhaͤngen, ei- nem an sich großen und guten Werke noch nicht sein Ver- dienst. Leisten wir, was wir vermoͤgen, so haben wir unsere Schuldigkeit gethan, und koͤnnen es getrostes Muthes den Nachkommen uͤberlassen, unsere Fehler zu verbessern; denn auch nur Weniges vollbringen ist wuͤrdiger und maͤnnlicher, als traͤge zu ruhen und den Spaͤteren die ganze Arbeit zu uͤber- lassen. — Aber wuͤrde eine solche Codification auch nur heil- sam seyn? Wuͤrde sie nicht der freien Bewegung der Rechts- bildung im Volke und in der Wissenschaft ein Hinderniß be- reiten? Es ist wohl außer Zweifel, daß ein mißlungenes Ge- setzbuch den groͤßten Schaden anrichten kann; ein solches wer- den wir jedoch nicht machen wollen, und, wenn nur die rech- ten Kraͤfte, welche in der Nation vorhanden sind, darauf ver- wandt werden, auch nicht machen. Es wird aber uͤberhaupt schwer seyn, ohne die Rechtssicherheit, auf deren Erlangung Achtes Kapitel . doch so Vieles ankommt, zu gefaͤhrden, dem Gesetzbuch eine solche Elasticitaͤt zu verleihen, daß sich fuͤr jedes auftauchende Beduͤrfniß unmittelbar aus den Verhaͤltnissen heraus sofort die entsprechende Norm gestalten kann. Der selbstaͤndigen Entwicklung des Volksrechts wird da- her leicht ein Abbruch geschehen, wofuͤr auch die groͤßte Sorg- falt und Wachsamkeit der gesetzgebenden Gewalt nicht immer einen Ersatz bieten duͤrfte. Auch die Wissenschaft wuͤrde in der Behandlung des Gegenstandes mehr gebunden seyn, was indessen, da es sich nur auf die practische Application bezoͤge, weniger zu bedeuten haͤtte, indem sie ihren Einfluß auf die Gesetzgebung mittelbar immer geltend machen koͤnnte. Dage- gen ist zu bedenken, daß wenn nur wirklich der gesammte na- tionale Rechtsstoff in seinen leitenden Principien von dem Ge- setzbuch umschlossen wird, sich nicht leicht eine neue Rechtsbil- dung zeigen kann, welche nicht an ein bestehendes Institut in organischer Verschmelzung anzulehnen waͤre; und vor Allem ist darauf der Nachdruck zu legen, aus einer wie großen Verwir- rung und Belastung die Nation durch eine umfassende Codifi- cation erloͤst werden wuͤrde, und wie dieselbe, eben weil sie eine gemeinsame waͤre, dem stets sich vordraͤngenden Particularis- mus mit dem entschiedensten Erfolge entgegen wirken muͤßte. 2 Ist nun aber auch auf eine umfassende Codification fuͤr Deutschland, wenigstens wie die Sachen jetzt stehen, nicht zu hoffen, so ließe sich doch wohl fuͤr einzelne Rechtstheile und Institute eine gewisse Gemeinschaft der Gesetzgebung erreichen. In der That hat ja auch die Bundesversammlung Einiges dieser Art zu Stande gebracht, und in einem beschraͤnkteren Kreise ist etwas Aehnliches im Zollverein geschehen, dem sich, auch wenn er nicht uͤber das ganze Bundesgebiet ausgedehnt wer- Das Volksrecht und die Gesetzgebung . den sollte, doch eine gemeinsame Regulirung des Muͤnzwesens, der Communicationsmittel u. dgl. anschließen koͤnnte. Jeder Schritt, der in dieser Beziehung zu einer groͤßeren nationa- len Einheit fuͤhrt, ist als ein gluͤckliches Ereigniß zu preisen; aber zu einer recht organischen Durchbildung und Gestaltung ist es in diesen gemeinsamen Anordnungen, die vorzugsweise den Charakter von administrativen Maaßregeln an sich tragen, doch noch nicht gekommen. Die Thaͤtigkeit namentlich, welche die Bundesversammlung in dieser Richtung entwickelt hat, ist keine erfreuliche, dem nationalen Beduͤrfniß entsprechende gewesen; und wenn man dieß auch als eine zufaͤllige, aus den beson- deren Zeitverhaͤltnissen hervorgegangene Erscheinung mildernd erklaͤren wollte, so zeigt sich doch das Uebel tief in der Ver- fassung begruͤndet, welche, in sich unvollendet, einer freien, schaf- fenden Wirksamkeit fast unuͤbersteigliche Hindernisse entgegen setzt. So wie eine gemeinsame Gesetzgebung, sey es fuͤr den ganzen deutschen Bund oder fuͤr einzelne Staaten, welche sich genossenschaftlich naͤher an einander geschlossen haben, in fester Haltung auftreten und die hoͤheren Interessen des Staats- und Volkslebens ihrer nationalen Entwicklung entgegen fuͤhren will, so werden sich fast dieselben Schwierigkeiten ergeben, welche vorher als einer allgemeinen Codification entgegen stehend besonders hervorgehoben worden sind. Hat doch weder der Bund noch der Zollverein bis jetzt auch nur den Versuch ge- macht, eins der dringendsten Beduͤrfnisse zu erfuͤllen, und eine gemeinsame Handelsgesetzgebung zu begruͤnden, so sehr man auch sonst geneigt ist, die materiellen Interessen zu beguͤnstigen. Noch schwerer wird es daher halten, fuͤr andere Rechtstheile dergleichen ins Werk zu richten, wenn es auch fuͤr die Wissen- schaft eine wuͤrdige Aufgabe ist, darzuthun, daß aus der Be- Beseler , Volksrecht. 16 Achtes Kapitel . schaffenheit des Rechtes selbst kein Grund gegen ein solches Unternehmen herzunehmen ist. 3. Nach diesem Allen steht es also fest, daß nur in den einzelnen deutschen Staaten gegenwaͤrtig eine freie Bewegung der Gesetzgebung moͤglich ist; und in diesem engeren Kreise ist denn auch eine große Thaͤtigkeit derselben wahrzunehmen. Da- bei kann nun aber eine doppelte Richtung eingeschlagen wer- den. Entweder begnuͤgt man sich damit, einzelne Rechtstheile und Institute, fuͤr welche eine legislative Normirung besonders dringend erscheint, particularrechtlich fest zu stellen, oder man strebt, nach dem Vorgange von Oesterreich und Preußen, eine vollstaͤndige Codification an, indem man darauf ausgeht, das ganze gemeinrechtliche Material zugleich mit dem Particular- recht zu verarbeiten, und dadurch fuͤr den einzelnen Staat eine selbstaͤndige Rechtsbildung zu begruͤnden. Gegen ein solches Unternehmen ist nun freilich vom nationalen Standpuncte aus manches gegruͤndete Bedenken zu erheben; denn wohin soll es mit unserer, im gemeinen Recht vertretenen Rechtseinheit kom- men, wenn ein Staat nach dem andern sich davon abloͤst, und unbekuͤmmert um die andern, sein Wesen fuͤr sich bestellt! Auf der andern Seite kann aber nicht in Abrede gestellt werden, daß der unsichere und schwankende Zustand des gemeinen Rechts in Verbindung mit der mangelhaften Beschaffenheit der Par- ticularrechte nicht wohl zu ertragen ist, und daß es sich als die unabweisbare Aufgabe einer gewissenhaften Staatsregierung darstellt, das gemeine Beste auch in dieser Beziehung, so weit es an ihr liegt, durch eine zeitgemaͤße Gesetzgebung zu foͤrdern. Dabei koͤnnte man freilich, wie es in fruͤherer Zeit zu geschehen pflegte, den Weg einschlagen, daß man das gemeine Recht in seiner allgemeinen Geltung fortbestehen ließe, und es nur durch Das Volksrecht und die Gesetzgebung . specielle Satzungen veraͤnderte und beschraͤnkte. Allein fuͤr ge- wisse Rechtstheile erscheint dieß Verfahren gegenwaͤrtig doch bedenklich. Die meisten deutschen Staatsgebiete sind erst in neuester Zeit aus verschiedenen, urspruͤnglich einander fremden Elementen zusammengewachsen, und es ist daher, wenn es zu einer organischen Verschmelzung derselben kommen soll, die Aufstellung eines Staatsgrundgesetzes noͤthig geworden, in welchem die wichtigsten Puncte der Staatsverfassung ihre feste Ordnung und Bestimmung erhalten. Bei einem solchen Werke wird man schon, wenn man sich auch von allgemeinen natio- nalen Ideen, die einmal in der Gegenwart ihre Verwirklichung finden wollen, leiten laͤßt, doch eine gewisse Selbstaͤndigkeit und Vollstaͤndigkeit anstreben muͤssen, da das gemeine Recht nur selten eine ganz sichere Aushuͤlfe gewaͤhrt, bei den politi- schen Schwankungen der gegenwaͤrtigen Zeit aber der Streit gerade auf diesem Gebiet um so gefaͤhrlicher werden kann, weil dasselbe dem ergaͤnzenden und befestigenden Einfluß der Ge- richtspraxis fast ganz entzogen ist. Man sagt wohl, solche Verfassungsverhaͤltnisse muͤßten sich, wie in England, allmaͤlig aus dem Volke entwickeln; aber man bedenkt dabei nicht, daß es sich in Deutschland zunaͤchst nur um die legislative Fest- stellung schon lange vorbereiteter Zustaͤnde handelt, und wie viel Blut und Noth den Englaͤndern ihre Verfassung gekostet hat. Es waͤre doch wohl der Muͤhe werth, den Versuch zu machen, ob nicht durch eine weise Benutzung der fruͤher ge- machten Erfahrungen und mit den Huͤlfsmitteln, welche die fortgeschrittene Bildung an die Hand giebt, so schwere Opfer erspart werden koͤnnten. So sehen wir denn auch die Ver- fassungsurkunden, welche in Deutschland bereits rechtsbestaͤndig geworden sind, in selbstaͤndiger Haltung und ohne sich als eine 16* Achtes Kapitel . bloße Modification des gemeinen Rechts anzukuͤndigen, da ste- hen, und in den Staaten, wo sie noch fehlen, wird die Sache wohl denselben Entwicklungsgang nehmen. — Auch die par- ticulaͤren Gesetzgebungen uͤber das Criminalrecht pflegen den- selben absoluten Charakter an sich zu tragen, was nur zu bil- ligen ist, da die nothwendige Reform des gemeinen Rechts sich hier nicht mit einigen Specialgesetzen durchfuͤhren laͤßt. Ebenso wird es mit den Proceßordnungen kommen, wenn auch diese ihre definitive Feststellung erlangen; nur wird hier schon die Loͤsung der Aufgabe unendlich schwieriger seyn, so daß die in den kleineren Staaten vorhandenen Kraͤfte dazu wohl kaum ausreichen werden. Das ist aber in einem noch hoͤheren Grade bei der Abfassung eines buͤrgerlichen Gesetzbuchs der Fall; und es waͤre gut, wenn man sich, ehe an ein solches Werk Hand angelegt wuͤrde, erst recht gewissenhaft pruͤfte, ob man dazu auch den Beruf und die Gewaͤhr des Gelingens habe. Auch ist hier das Beduͤrfniß doch nicht so dringend, wie in den an- dern Rechtstheilen, und schon dadurch Bedeutendes zu errei- chen, wenn nur das Unbrauchbare und Veraltete entfernt, und einzelne Partien, z. B. der Formalismus der Rechtsgeschaͤfte, das Guͤterrecht der Ehegatten, das Hypothekenwesen, tuͤchtig und fest geordnet wuͤrden. Dabei koͤnnte man denn namentlich auch darauf sein Bestreben richten, den noch bestehenden Insti- tuten des Volksrechts zur allgemeinen Anerkennung und zur freien Bewegung zu verhelfen, wie dieß oben in Beziehung auf das Recht der Genossenschaften angedeutet worden ist. Ueberhaupt aber wird es die Aufgabe der gesetzgebenden Ge- walt seyn, eine solche Thaͤtigkeit zu entwickeln, daß sie die Rechtsideen, welche schon im Volke vorhanden sind und nach einer Verkoͤrperung ringen, klar und bestimmt ins Leben ruft, Das Volksrecht und die Gesetzgebung . oder solche Institute schafft, welche dem wahren Beduͤrfniß des Volks- und Staatslebens entsprechen. Weiß sie hier das Rechte zu treffen, so wird auch die neue Schoͤpfung bald mit dem Bestehenden verwachsen, und in das gemeinsame Bewußtseyn uͤbergehen. Es ist nicht meine Absicht, es weiter auszufuͤhren, wie in dem angegebenen Sinne eine Reform unseres Rechtswesens unter den bestehenden Verhaͤltnissen anzustreben sey; koͤnnten doch auch bei einer solchen Aufgabe die Kraͤfte des Einzelnen nur Unvollkommenes leisten. Nur dem Gerichtswesen will ich in dieser Beziehung noch eine besondere Betrachtung widmen, weil kein Rechtstheil inniger mit dem Volksrecht verknuͤpft ist, und von der Art, wie jenes kuͤnftig bei uns geordnet wird, auch die Geltung und Bedeutung des letzteren wesentlich be- dingt ist. Neuntes Kapitel. Das Volksrecht in seinem Verhaͤltniß zu dem Gerichtswesen . Wie uͤberhaupt die verschiedenen Institutionen, in denen sich das Rechtsleben eines Volkes darstellt, mit einer fort- dauernden Wechselwirkung in einander uͤbergreifen, und von denselben allgemeinen Ideen beherrscht, sich gegenseitig voraus- setzen und bedingen; so verhaͤlt es sich auch mit dem Gerichts- wesen in seiner Beziehung zu dem gesammten positiven Rechte und zu dessen einzelnen Theilen. Es kommt hier nicht bloß die eigentliche Staatsverfassung in Betracht, mit welcher die Verfassung der Gerichte in der naͤchsten Verbindung steht, ja zu der sie, wenigstens ihren Grundzuͤgen nach, unmittelbar ge- rechnet werden kann; sondern der allgemeine Charakter, der in einem bestimmten Rechte ausgepraͤgt ist, wird sich auch, wenn nicht ganz besondere Umstaͤnde eingewirkt haben, bei der Ge- richtsverfassung und dem gerichtlichen Verfahren finden, und deren Beschaffenheit bestimmen. Dadurch wird nun aber eine Mannichfaltigkeit der Rechtsbildung moͤglich, welche nicht bloß in den eigenthuͤmlichen Sitten und Einrichtungen der Voͤlker, also uͤberhaupt in der Nationalitaͤt ihren Grund hat, sondern auch von den verschiedenen Entwicklungsperioden, in denen sich das Recht eines Volkes befinden kann, abhaͤngt. Denn je nachdem die Kunde desselben mehr oder weniger allgemein verbreitet ist, oder sich nur im Besitze eines besonderen Juri- stenstandes befindet, werden auch die Organisation und die Das Volksrecht und das Gerichtswesen . ganze Stellung der Behoͤrden, von denen es anzuwenden ist, verschieden seyn. Es zeigen sich in dieser Beziehung dieselben Gegensaͤtze und dieselben Uebergaͤnge, welche bereits fruͤher bei der allgemeinen Eroͤrterung uͤber die Natur und die Bedeu- tung des Volksrechts betrachtet worden sind; auch mußte da- bei auf das Gerichtswesen schon einige Ruͤcksicht genommen werden. Indessen verlangt dieses noch eine besondere Unter- suchung, welche naͤher auf die Sache eingehen, und sich mit einigen Fragen von der hoͤchsten practischen Wichtigkeit, welche gerade jetzt in Deutschland an der Tagesordnung sind, ausfuͤhr- licher beschaͤftigen kann. Es ist dabei aber bestimmter, als es haͤufig geschieht, die Verfassung der Gerichte von dem gericht- lichen Verfahren zu trennen, wenn auch beides wieder in ei- nem nothwendigen und engen Zusammenhange steht. I. Die Verfassung der Gerichte . Sieht man einmal von den weniger wesentlichen Bezie- hungen ab, welche bei der Gerichtsverfassung in Betracht kom- men koͤnnen, so wird sich deren Verschiedenheit auf drei For- men zuruͤckfuͤhren lassen, welche von der Art und Weise, wie die Gerichte besetzt werden, ihre Bestimmung erhalten. Ent- weder naͤmlich ist die Rechtspflege in den Haͤnden von Rich- tern, welche, ohne daß von ihnen ein besonderes Rechtsstudium verlangt wuͤrde, aus dem Volke genommen werden; oder die Gerichte werden nur mit Juristen besetzt, welche sich zu ihrer Amtsfuͤhrung besonders vorbereitet haben, und dieselbe als ih- ren Hauptberuf ansehen; oder endlich man hat eine Einrich- tung getroffen, wodurch eine Vermittlung zwischen jenen bei- den Formen herbeigefuͤhrt wird, indem zugleich Volksrichter und Juristen an der Rechtspflege Theil nehmen. Darnach hat Neuntes Kapitel . man Volksgerichte, Juristengerichte und gemischte Gerichte zu unterscheiden. 1. Die Volksgerichte . Sie setzen einen Rechtszu- stand voraus, in welchem sich noch die Herrschaft des Volks- rechts in ihrem ganzen Umfange findet. Das ist freilich, wie schon fruͤher bemerkt worden, nicht so zu verstehen, daß uͤber die ganze Bevoͤlkerung gleichmaͤßig die Rechtskunde ausgegos- sen sey; aber das Recht muß doch eine solche Beschaffenheit haben, daß es seinen Grundzuͤgen nach in dem allgemeinen Bewußtseyn des Volkes lebt, und auch in seinen Einzelnhei- ten dem klugen und erfahrenen Geschaͤftsmanne zugaͤnglich und verstaͤndlich ist. Persoͤnliche Begabung, practische Uebung und besondere Neigung, der es um eine recht gruͤndliche Kenntniß des Rechts zu thun ist, koͤnnen dann wohl dem Einzelnen eine uͤberwiegende Auctoritaͤt verschaffen; aber es ist nur der Grad und nicht die eigenthuͤmliche Art seines Wissens, was ihn vor Andern auszeichnet. Daher ist in Zeiten, wo das Recht noch das Gemeingut der Buͤrger ist, die Handhabung desselben in großen Versammlungen moͤglich; und wenn aus Gruͤnden der Zweckmaͤßigkeit fruͤhe schon eine geringere Anzahl von Schoͤf- fen damit betraut wird, so bleibt doch im Wesentlichen das alte Verhaͤltniß bestehen, indem namentlich die Besetzung der offenen Stellen aus der ganzen schoͤffenbaren Gemeinde gesche- hen kann. 2. Die Juristengerichte . Diese setzen schon die Bildung eines besonderen Juristenstandes voraus, dem die Rechtspflege ausschließlich zugefallen ist. Man braucht dabei aber natuͤrlich nicht an ploͤtzliche Uebergaͤnge zu denken, so wie es auch gar nicht nothwendig ist, daß das Volk, selbst wenn schon die Jurisprudenz in groͤßter Feinheit sich ausgebildet Das Volksrecht und das Gerichtswesen . hat, ganz aus den Gerichten weiche. Allein in Deutschland haben sich seit dem 16. Jahrhundert die Verhaͤltnisse that- saͤchlich so gestaltet, daß mit wenigen Ausnahmen fast nur die Juristen als Richter thaͤtig sind, was denn mit der Re- ception des roͤmischen Rechts und mit der ganzen Entwicklung unseres Staats- und Rechtswesens auf das Engste zusam- men haͤngt. 3. Die gemischten Gerichte . Dieselben Ursachen, welche bei einem Volke einen besonderen Juristenstand hervor- rufen, machen auch eine Umaͤnderung in der Gerichtsverfassung noͤthig. Denn so lange die Kunde weniger und leicht faßli- cher Gesetze, die unbefangene Betrachtung und verstaͤndige Wuͤrdigung der Lebensverhaͤltnisse ausreichen, um mit Sicher- heit das Recht zu finden, so lange kann dieß Geschaͤft auch dem Volksgericht uͤberlassen bleiben. Wenn aber in Folge der geschichtlichen Entwicklung die umfassende Rechtskunde nur von Einzelnen durch ein besonderes Studium erlangt wird, so ist es natuͤrlich, daß diese auch bei der Rechtspflege einen her- vorragenden Einfluß gewinnen. Die Volksgerichte gehen dann, wie wir gesehen haben, in die Juristengerichte uͤber, oder sie erleiden doch eine wesentliche Modification, indem ihnen ein besonderes juristisches Element beigesellt wird. Dieß kann nun aber wieder auf verschiedene Weise geschehen. Der eine Fall ist dieser, wenn man die richterliche Thaͤtigkeit trennt, je nach- dem sie auf die Feststellung der Thatsache, um deren Beur- theilung es sich handelt, oder auf die Anwendung des Rechts- satzes gerichtet ist. Das Erkenntniß uͤber das factum uͤber- laͤßt man den Geschwornen, welche im steten Wandel aus dem Volke hervorgehen; uͤber das jus aber haben nur die Juristen zu entscheiden. Schon den Roͤmern war diese Theilung der Neuntes Kapitel . Richtergewalt, wenn auch nur in einer beschraͤnkten Anwen- dung, bekannt; sie hat sich aber auch selbstaͤndig bei germani- schen Voͤlkern, namentlich bei den Englaͤndern in der jury oder dem Schwurgericht geltend gemacht. Zwar laͤßt sich diese Einrichtung ihrer urspruͤnglichen Entstehung nach nicht auf eine solche uͤberlegte Vermittlung zwischen Volks- und Juristenge- richte zuruͤck fuͤhren; denn in Rom hatte sie in der Jurisdic- tion des Praͤtors ihre besondere Veranlassung, und als sie zuerst unter den germanischen Voͤlkern aufkam, gab es bei ih- nen noch keinen eigenen Juristenstand. Aber es ist unzwei- felhaft, daß wenigstens die englische Nation mit dem merk- wuͤrdigen politischen Tacte, der ihr eigen ist, das alte Institut zu diesem Zwecke benutzt hat, und daß man mit dessen spaͤte- ren Nachbildungen in anderen Staaten dasselbe hat erreichen wollen. — Von dieser Modification der reinen Volksgerichte ist eine andere zu unterscheiden. Es wird im Ganzen die ur- spruͤngliche Gerichtsverfassung beibehalten; allein man verfaͤhrt bei der Besetzung der Gerichte auf eine solche Weise, daß darin sowohl Volksrichter als auch Juristen ihren Platz finden, welche sich mit ihren Kenntnissen und ihrer Anschauungsweise gegen- seitig ergaͤnzen, indem sie in ihrer Vereinigung nicht nur die schlichte und einfach verstaͤndige Betrachtungsweise der Lebens- verhaͤltnisse, sondern auch die umfassende Kunde des positiven Rechts und die Consequenz und Schaͤrfe der juristischen De- duction vertreten. Eine Hinweisung auf diese Combination enthalten schon die rechtskundigen Berather, welche in den al- ten deutschen Volksrechten vorkommen; spaͤter zeigt sich ein solches Beduͤrfniß in der Sitte der Gerichte, Rechtsbelehrungen einzuholen, wodurch die Competenz der Oberhoͤfe hervorgerufen und auch die eigenthuͤmliche Stellung der Juristenfacultaͤten Das Volksrecht und das Gerichtswesen . als Spruchcollegien begruͤndet ward. Zu einer festen und durch- gebildeten Gestaltung schien die Einrichtung solcher gemischten Gerichte aber seit dem 16. Jahrhundert in Deutschland gelan- gen zu wollen, als man nach dem Vorgange des Reichskam- mergerichts bei den meisten collegialisch zusammengesetzten Ju- stizhoͤfen einen Theil der Stellen mit gelehrten und einen Theil mit ungelehrten Richtern besetzte, und auf diese Weise nament- lich dem roͤmischen Recht einen gewissen Einfluß sichern wollte, der aber freilich bald uͤbermaͤchtig ward, und auch das volks- thuͤmliche Element in der Gerichtsverfassung fast ganz unter- druͤckte. Wo dagegen das roͤmische Recht keine so unmittel- bare und allgemeine Geltung erhielt, und die Volksfreiheit nicht ganz vor der Beamtenherrschaft zuruͤcktrat, wie in den meisten Kantonen der Schweiz, da hat sich jene Einrichtung, welche noch immer als Schoͤffengericht passend bezeichnet wird, in lebendiger Wirksamkeit erhalten, und selbst in Deutschland hat man neuerlich mit einigen Handelsgerichten und mit den wuͤrtembergischen Oberamtsgerichten den Versuch ihrer Wieder- einfuͤhrung gemacht. Wenn man nun diese verschiedenen Formen der Gerichts- versassung aufmerksam pruͤft, und es namentlich zur Frage stellt, welche von ihnen wohl diejenige seyn moͤchte, der sich fuͤr die gegenwaͤrtigen Beduͤrfnisse Deutschlands der beste Er- folg versprechen lasse; so wird sich wohl soviel bald herausstel- len, daß die reinen Volksgerichte nicht wieder herzustellen sind. Es bedarf, um zu dieser Ansicht zu gelangen, gar nicht erst einer besonderen Untersuchung, ob uͤberhaupt eine solche Ein- richtung noch moͤglich ist, wenn das Rechtswesen bereits bis zu einem gewissen Grade der Ausbildung gelangt ist; denn es kann wenigstens immer noch zweifelhaft bleiben, wann denn Neuntes Kapitel . der Zeitpunct gekommen, wo eine Umaͤnderung nothwendig ge- worden ist. Allein wir Deutschen haben einmal im Verlauf unserer Geschichte und namentlich in Folge der Aufnahme des roͤmischen Rechts ein Element in unsere ganze Denk- und Le- bensweise aufgenommen, welches nicht bloß an die aͤußere Auctoritaͤt der Gesetze gebunden, sondern mit unserm ganzen Rechtswesen verwachsen ist, und nur von einer gebildeten Ju- risprudenz richtig erfaßt werden kann. Die weiteste und gruͤnd- lichste Reform, welche in dieser Beziehung durchgefuͤhrt wuͤrde, waͤre nicht im Stande, dieses rein juristische Element ganz zu vertilgen; sie koͤnnte nur darauf ausgehen, dasselbe auf be- stimmte einfache und durchgreifende Principien zuruͤck zu fuͤh- ren, und diese namentlich in das rechte Verhaͤltniß zu der im Volke lebendigen Rechtsanschauung zu setzen. Da es sich nun nie mit Sicherheit voraussehen laͤßt, ob nicht den einfachsten Rechtsverhaͤltnissen, fuͤr welche dem Volke ein vollkommen kla- res Verstaͤndniß gegeben waͤre, auch etwas Juristisches anhaͤngt, fuͤr dessen sichere Beurtheilung eine besondere Rechtskunde noͤ- thig wird, so folgt, daß ein reines Volksgericht nur in ganz besonderen Faͤllen ausnahmsweise die Rechtspflege mit genuͤ- gender Sicherheit handhaben koͤnnte. Dagegen ließe sich nun wohl einwenden, daß eine vollstaͤndige Reform unseres Rechts- wesens nur durch eine umfassende Codification zu erreichen sey, diese aber so eingerichtet werden muͤsse, daß jeder verstaͤndige und gebildete Mann aus dem Volke in den Stand gesetzt werde, das Recht kennen zu lernen und vermoͤge seiner gesun- den Urtheilskraft auch als Richter anzuwenden. Allein wenn in dieser Hinsicht ohne Zweifel auch Vieles geleistet werden kann, und wenn das vollstaͤndige Scheitern solcher Plaͤne, wie sie wenigstens urspruͤnglich der preußischen Gesetzgebung zu Das Volksrecht und das Gerichtswesen . Grunde lagen, noch keinen sicheren Beweis gegen die Aus- fuͤhrbarkeit derselben liefert, da es dabei nicht bloß auf die po- pulaͤre Form und selbst auf den Inhalt der Gesetze, sondern auch auf die einem frischen Rechtsleben guͤnstige Staatsverfas- sung und uͤberhaupt auf das ganze oͤffentliche Leben einer Na- tion ankommt; so laͤßt sich doch mit Fug bezweifeln, ob unter den gegenwaͤrtigen socialen Verhaͤltnissen ein Gesetzbuch die angegebene Aufgabe sollte erfuͤllen koͤnnen. Das richtige Ver- staͤndniß der Rechtsprincipien in ihrem innern Zusammenhange und die consequente Deduction aus denselben, die Interpretation des Textes, und waͤre er auch noch so klar und durchsichtig gefaßt, dann die Benutzung der literaͤrischen Huͤlfsmittel, der fruͤheren Praͤjudicate u. s. w. — dieß Alles erheischt immer eine so intensive und nachhaltige Beschaͤftigung mit dem Recht, auch wenn es in einem Gesetzbuch zusammengefaßt ist, und mit dessen Anwendung, daß die Juristen, welche daraus ihren besonderen Beruf machen, nicht entbehrt werden koͤnnen. Sind wir nun aber genoͤthigt die reinen Volksgerichte, wenigstens als ein allgemeines Institut, fuͤr unsere Zeit zu verwerfen, so ist damit noch nicht die Rechtfertigung der Ju- ristengerichte gegeben; gegen diese lassen sich vielmehr sehr ge- wichtige Gruͤnde vorbringen. Es ist schon eine beachtungswer- the Thatsache, daß sich gegen sie in Deutschland eine allge- meine Mißstimmung verbreitet hat, welche dem aufmerksamen Beobachter auch bei der Unvollkommenheit der Organe, welche bei uns die oͤffentliche Meinung hat, nicht entgehen kann. Da- bei kommt freilich zur Erwaͤgung, daß der Grund dieser Un- zufriedenheit zum großen Theil in der verworrenen und un- volksthuͤmlichen Beschaffenheit unseres Rechtswesens uͤberhaupt, und nicht bloß in der Mangelhaftigkeit der Gerichtsverfassung Neuntes Kapitel . liegt, so wie auch Manches auf diese uͤbertragen wird, was zunaͤchst das gerichtliche Verfahren angeht. Es ist wohl un- zweifelhaft, daß ein tuͤchtiges Gesetzbuch und ein geordneter, rascher Proceßgang mit Oeffentlichkeit und Muͤndlichkeit des Verfahrens Viele mit der bestehenden Gerichtsverfassung aus- soͤhnen wuͤrde. Aber diese selbst hat doch ihre großen Gebre- chen, welche hier einzeln hervorzuheben sind. 1. Fassen wir zuvoͤrderst die politische Seite der Sache naͤher ins Auge, so stellt sich namentlich der Nachtheil heraus, daß das Volk, von jeder Theilnahme an den richterlichen Ge- schaͤften ausgeschlossen, seinen eigenen Angelegenheiten entfrem- det wird, und sich nur zu leicht daran gewoͤhnt, die uͤber ihm stehende Macht als eine feindliche anzusehen oder doch mit Mißtrauen zu betrachten; daß es aber jedenfalls, wie schon J. Moͤser so klar dargethan hat, das Gefuͤhl der Ehre und Frei- heit verliert, welches nur durch eine selbstaͤndige Berechtigung im oͤffentlichen Leben erhalten und genaͤhrt wird. Es zeigen sich hier die Erscheinungen, welche uͤberhaupt durch die Unter- druͤckung eines freien Staats- und Gemeindewesens und durch die ewige Bevormundung der Unterthanen von Seiten der herrschenden Classen hervorgerufen werden, — und welche es, in Verbindung mit unserer politischen Zerrissenheit dahin ge- bracht haben, daß die sonst so edle und stolze deutsche Nation an fester Haltung und Selbstvertrauen unendlich verlieren, und dem Auslande fast zum Gespoͤtte werden konnte. 2. Dieses Uebel wird nun aber noch vergroͤßert, wenn die Juristen, mit denen die Gerichte ausschließlich besetzt sind, als Staatsbeamte in einer gewissen Abhaͤngigkeit von der Re- gierungsgewalt stehen, wodurch die erste Bedingung einer gu- ten Rechtspflege bedroht wird. Und leugnen laͤßt es sich nicht, Das Volksrecht und das Gerichtswesen . daß die deutsche Gerichtsverfassung in dieser Hinsicht ihre gro- ßen Schwaͤchen hat. Man hat es freilich nicht an Bemuͤ- hungen fehlen lassen, sichere Garantien fuͤr die Unabhaͤngigkeit der Richter und fuͤr eine unparteiische Justiz zu begruͤnden. Als schon die alte volksthuͤmliche Gerichtsverfassung gebrochen und die Herrschaft des Juristenstandes entschieden war, zeigte man sich doch gerade in der Aufstellung solcher Mittel sehr thaͤtig: die Concurrenz der Landstaͤnde bei der Besetzung der hoͤheren Landesgerichte, die Competenz der Reichsgerichte und das Institut der Actenversendung sind darunter besonders her- vorzuheben. Noch mehr aber wirkte vielleicht der eigenthuͤm- liche Sinn des Juristenstandes, der, wie es haͤufig bei bevor- zugten Classen der Fall ist, mit seinen Vorurtheilen und An- maaßungen doch ein sehr ehrenhaftes Selbstgefuͤhl und eine hohe Meinung von der richterlichen Amtspflicht verband, und dadurch, namentlich in den hoͤheren Justizcollegien, angetrieben wurde, sich eine vollkommen unabhaͤngige Haltung zu bewah- ren. Dessen ungeachtet aber zeigt sich, wenn man tiefer in das Rechtsleben der letzten Jahrhunderte bildet, wie wenig oft die Wirklichkeit den Anforderungen des positiven Rechts entsprach; wie selbst die Reichsgerichte dem oft gegruͤndeten Verdacht der Parteilichkeit und einer elenden Venalitaͤt nicht entgehen konn- ten, und wie schwach es uͤberhaupt mit einem Rechtswesen bestellt ist, welches ohne von dem lebendigen Geist der Frei- heit beseelt zu seyn, sich nur in einem aͤußerlichen Mechanis- mus hinschleppt. — Mehr Beweglichkeit, Kraft und Elastici- taͤt hat nun freilich, seitdem das alte Reich zu Grunde gegan- gen ist, das Regiment in Deutschland erhalten; wie Vieles wird jetzt auf administrativem Wege rasch abgemacht, was fruͤher den schwerfaͤlligen Justizgang durchzumachen hatte. Aber Neuntes Kapitel . so nothwendig und heilsam das in mancher Beziehung seyn mag, — fuͤr die Unabhaͤngigkeit der Richtergewalt liegt darin auch eine gefaͤhrliche Klippe. Denn weil sowohl die Admini- stration wie die Justiz gleichmaͤßig von Beamten und zwar von Juristen besorgt zu werden pflegt, so theilt sich leicht die mehr polizeiliche Behandlung der Geschaͤfte und eine gewisse diplomatische Betrachtungsweise der Rechtspflege mit, selbst wenn sie formell in besonderen Behoͤrden getrennt organisirt ist. Dazu kommt, daß nur noch in wenigen Laͤndern eine Concurrenz der Landstaͤnde bei der Besetzung der Richterstellen statt findet; daß die Reichsgerichte ganz und die Competenz der Juristenfacultaͤten als Spruchcollegien so gut wie ganz beseitigt sind. Dafuͤr finden sich freilich wieder andere Ga- rantien: die Bundesversammlung nimmt Beschwerden wegen Cabinetsjustiz an, und die Unabsetzbarkeit der Richter, außer durch Urtheil und Recht, kann als ein Princip des gemeinen deutschen Staatsrechts angesehen werden. Aber der Begriff der Cabinetsjustiz ist in der Praxis ein sehr schwankender ge- worden, und an dem Princip der Unabsetzbarkeit der Richter ist schon hie und da geruͤttelt. Auch ist es nicht bloß die of- fene Gewalt, welche die Unabhaͤngigkeit in Gefahr bringt; es giebt auch formell untadelige Mittel der Einschuͤchterung und Verfuͤhrung, gegen welche nur eine nicht gewoͤhnliche Charak- terfestigkeit sich gehoͤrig zu schuͤtzen weiß. In Civilsachen wird freilich eine Regierung es nicht leicht der Muͤhe werth halten, die Unabhaͤngigkeit der Richter auf die Probe zu stellen; aber in Criminalsachen und namentlich in politischen Processen liegt die Versuchung doch nahe, einen hoͤheren Einfluß geltend zu machen, der in den Zeiten heftiger Parteikaͤmpfe und großer Bewegung vielleicht selbst dem sonst gewissenhaften Staats- Das Volksrecht und das Gerichtswesen . mann gerechtfertigt erscheint. — Diesen in der Verfassung der Gerichte begruͤndeten Maͤngeln koͤnnen nun freilich der Geist, welcher das Volk wie die Regierung durchdringt, die Form der Staatsverfassung und die Oeffentlichkeit des gerichtlichen Ver- fahrens heilsam entgegen wirken; aber die Rechtssicherheit, ich meine die Unabhaͤngigkeit und Unparteilichkeit der Rechtspflege, ist ein so unschaͤtzbares Gut, daß sie nicht gehoͤrig gewahrt scheint, so lange noch ein Mittel uͤbrig ist, durch welches sie noch mehr erhoͤht werden kann. 3. Es bleibt aber nun noch zu erwaͤgen, ob die Juri- sten, auch abgesehen von den bisher eroͤrterten Puncten, am Meisten geeignet sind, die Rechtspflege auf die vollkommenste Weise zu handhaben. Dieß scheint auf den ersten Anblick al- lerdings der Fall zu seyn. Denn es laͤßt sich bei ihnen doch die genaueste Kunde des Rechts erwarten, und die fortwaͤhrende Beschaͤftigung mit der juristischen Praxis sollte ihnen doch, scheint es, eine Sicherheit und Gewandtheit in der Anwendung der Rechtsregel auf die einzelnen Faͤlle und Verhaͤltnisse geben, womit die Geschaͤftserfahrung und der schlichte, aber weniger geuͤbte Verstand der Layen schwerlich sich vergleichen duͤrften. Betrachten wir aber diese beiden Beziehungen etwas naͤher. a. Insofern die Rechtskunde nur durch eine wissenschaft- liche Thaͤtigkeit erlangt werden kann, wird sie sich vorzugs- weise in dem Besitz derjenigen befinden, welche darauf ein gruͤndliches und umfassendes Studium verwenden, und das sind eben die Juristen. Wenn es daher auf die Interpreta- tion geschriebener Gesetze ankommt, oder wenn das Recht auf dem Wege der historischen Forschung und einer doctrinellen Methode erst gefunden werden muß, so laͤßt sich nicht abse- hen, wie man der Juristen dabei entbehren will. Allein es Beseler , Volksrecht. 17 Neuntes Kapitel . giebt auch ein wichtiges Element im positiven Rechte, welches unmittelbar von den Lebensverhaͤltnissen selbst getragen wird, und welches wir in seiner selbstaͤndigen Haltung als Volks- recht bezeichnet haben. Von diesem hat der Jurist, der ver- moͤge seines besonderen Berufs dem Volksleben ferner steht, meistens nur eine abgeleitete Kunde, indem es ihm an der Fuͤlle der unmittelbaren Anschauung fehlt, deren sich derjenige erfreut, welcher selbst an den Geschaͤften und Rechtsverhaͤltnis- sen, um die es sich handelt, betheiligt ist. Die Juristengerichte sind daher auch genoͤthigt gewesen, in Faͤllen, wo das Volks- recht seine Anwendung finden soll, sich nach einer Aushuͤlfe umzusehen, worauf die Lehre vom Beweis des Gewohnheitsrechts in der deutschen Praxis beruht. Ist nun auch die abgeschmackte Theorie der aͤlteren Schule, welche hier die Regeln des Civil- rechts uͤber die Beweisfuͤhrung der Parteien anwandte, in neuerer Zeit namentlich durch Puchta, wenn auch noch nicht aus der Praxis verdraͤngt, so doch wissenschaftlich vernichtet worden; und muß auch zugegeben werden, daß die von die- sem Gelehrten vertretene Ansicht um Vieles besser und gesuͤn- der ist: so ist doch dadurch dem in der Gerichtsverfassung be- gruͤndeten Uebel noch nicht abgeholfen. Denn wenn der Jurist als Richter auch berechtigt und verpflichtet seyn soll, auf jede Weise nach dem Daseyn des Volksrechts zu forschen, und er dabei den Beweis der Parteien nur als ein Huͤlfsmittel anzu- sehen hat: so bleibt doch die doppelte Schwierigkeit, einmal, daß er nicht immer mit Sicherheit wissen kann, wann wirk- lich Grund vorhanden ist, nach dem Volksrecht sich zu erkun- digen, und dann ist keine Gewaͤhr gegeben, daß er es wirk- lich findet und richtig auffaßt; denn er wird sich regelmaͤßig darauf beschraͤnken muͤssen, uͤber die Geltung einzelner Rechts- Das Volksrecht und das Gerichtswesen . saͤtze sich zu unterrichten, waͤhrend doch nur die umfassende Kunde und die klare Anschauung aller in Betracht kommen- den Verhaͤltnisse zur Einsicht uͤber das, was Recht ist, fuͤhren koͤnnen. Man denke sich nur einen Richter, welcher uͤber ei- nen verwickelten, nur mit vollstaͤndiger Geschaͤftskunde richtig zu entscheidenden Fall aus dem Handelsrecht urtheilen soll, uͤber den seine Buͤcher nichts oder nicht das Richtige enthal- ten, und der nun genoͤthigt ist, die Rechtsregel zu formuliren, uͤber welche er seine Erkundigung einzuziehen hat; — wie schwankend und unsicher wird da nicht leicht seine ganze Stel- lung! Darauf wird man nun freilich erwidern, daß man ja die Nothwendigkeit besonderer Handelsgerichte gerne einraͤume, obgleich manche Juristen auch zu diesem Zugestaͤndniß sich un- gerne entschließen werden. Allein man taͤuscht sich sehr, wenn man glaubt, daß bloß in Handelssachen das Volksrecht eine solche Bedeutung hat. Das Recht der Genossenschaften und Gemeinden, die noch geltenden Institute des Staͤnderechts, die agrarischen Verhaͤltnisse und viele andere Faͤlle, welche der ge- meinrechtlichen Darstellung kaum erreichbar sind, aber in den engeren Kreisen des Rechtslebens sich zur juristischen Beur- theilung darbieten, — sie alle verlangen eine andere Rechts- kunde, als sie in den Juristengerichten zu finden ist, und wenn man billig seyn will, bei ihnen erwartet werden darf. Ja es wird uͤberhaupt nur wenige Rechtsfaͤlle geben, wo nicht we- nigstens eine Seite, ein Punct sich zeigt, fuͤr welche eine solche Beurtheilung unmittelbar aus den Lebensverhaͤltnissen heraus nothwendig wird. Wie viel haben in dieser Beziehung die Roͤmer dem officium judicis, d. h. des Volksrichters im Ge- gensatze zum Praͤtor uͤberlassen! Das bezieht sich freilich zunaͤchst nur auf die Civilge- 17* Neuntes Kapitel . richte; denn das Criminalrecht ist seiner Natur nach viel ein- facher und bestimmter; hier strebt Alles nach festen, positiven Gesetzen, und wo sie fehlen, da ist eine legislative Abhuͤlfe dringend nothwendig, mag nun das Volksrecht oder das Ju- ristenrecht die bestehende Luͤcke bisher ausgefuͤllt haben. Die ausschließliche Besetzung der Criminalgerichte mit Juristen ist daher auch weniger deswegen anzufechten, weil man bei ihnen nicht die genuͤgende Kunde des Rechts voraussetzen kann, als deswegen, weil ihnen die Anwendung desselben nicht unbedingt uͤberlassen werden darf. So viel aber ist doch mit Grund zu behaupten: wenn wirklich uͤber die Verbrechen und deren Bestrafung eine Unsicherheit in den Gesetzen bestehen sollte, und die Willkuͤhr nur durch das billige Ermessen der Gerichte eine Grenze erhielte; so wuͤrde es im Allgemeinen besser seyn, daß auch die Volksansicht dabei eine unmittelbare Vertretung faͤnde, und daß die Ausuͤbung einer so gefaͤhrlichen Machtvoll- kommenheit nicht ausschließlich den Juristen uͤberlassen bliebe. b. Wenn schon angenommen werden mußte, daß die Ju- ristengerichte fuͤr die practische Rechtskunde nicht ausreichen, so gilt dieß noch viel mehr fuͤr die Anwendung des Rechts, welche ja die eigentliche Aufgabe der richterlichen Amtsthaͤtigkeit ist. Gewoͤhnlich denkt man hierbei an eine bloß logische Schluß- folgerung, indem die Unterordnung der Thatsache unter die Rechtsregel das Urtheil hervorrufen soll, und es also nur dar- auf anzukommen scheint, die Praͤmissen gehoͤrig festgestellt zu haben, um mit Sicherheit die Conclusion zu ziehen. Aber wenn damit auch die Operation im Ganzen richtig bezeichnet ist, so kommen bei deren Vollziehung doch noch ganz beson- dere Schwierigkeiten vor, welche namentlich daraus hervorge- hen, daß sich jus und factum nicht immer auf einem ge- Das Volksrecht und das Gerichtswesen . trennten Gebiete neben einander befinden, sondern das Erstere oft unmittelbar in dem Letzteren enthalten ist, und von dem- selben bestimmt und bedingt wird. Es kommt dann fuͤr den Richter darauf an, die in den Thatsachen ruhende Rechtsregel in der Weise zu erfassen, daß sie ihrer allgemeinen Natur nach und mit den besonderen Modificationen des einzelnen Falls richtig erkannt wird. Diese Beruͤcksichtigung der thatsaͤchlichen Verhaͤltnisse, auf welcher die Herrschaft der bona fides be- ruht, ist namentlich in Civilsachen unerlaͤßlich, wenn nicht statt einer lebendigen, das Wesen der Dinge durchdringenden Ge- rechtigkeit ein starres Formenwesen oder gar die bloß das Aeu- ßerliche erfassende Urtheilsfabrication einer oberflaͤchlichen Rou- tine zur Geltung gelangen soll; sie setzt aber auch den practi- schen Blick und die Umsicht und Erfahrung des verstaͤndigen Geschaͤftsmanns voraus, — Eigenschaften, welche sich der Ju- rist wohl im Allgemeinen fuͤr sein Fach, aber unmoͤglich fuͤr alle zu seiner Cognition kommenden Rechtsverhaͤltnisse verschaf- fen kann, zumal in der modernen Welt, fuͤr die sich, im Ge- gensatz zu der antiken, mit der Fuͤlle und verworrenen Man- nichfaltigkeit der Lebensverhaͤltnisse auch die Schwierigkeit, sie nach allen Seiten hin richtig und sicher aufzufassen, unendlich gesteigert hat. Aus diesem Grunde erscheint die ausschließliche Besetzung der Civilgerichte mit Juristen sehr bedenklich; aber auch fuͤr die Criminalgerichte verhaͤlt es sich nicht anders. Im Allgemeinen tritt freilich in peinlichen Sachen die Rechtsregel den Thatsachen, auf welche sie angewandt werden soll, be- stimmter gegenuͤber, als es in Civilsachen der Fall zu seyn pflegt; denn in dem Verbrechen selbst kann nicht die Norm seiner Beurtheilung liegen, sondern diese steht schon an und fuͤr sich fest, und wird demselben als Strafe feindlich gegen- Neuntes Kapitel . uͤber gestellt. Die Schwierigkeit ist hier vielmehr in der juri- stischen Feststellung des Thatsaͤchlichen zu suchen, naͤmlich in der vom Gericht abzugebenden Entscheidung: ob eine Person eine bestimmte verbrecherische Handlung begangen hat, und welche Art und welchen Grad des Verschuldens sie in sich schließt. Eine solche Entscheidung wird aber namentlich dann im hoͤchsten Grade schwierig, wenn ohne directe Beweismittel bloß aus Anzeigen erkannt werden soll, und gerade mit Ruͤck- sicht auf solche Faͤlle wird auch die ausschließliche Besetzung der Criminalgerichte mit Juristen am Lebhaftesten angefoch- ten. Auch scheint es ganz richtig zu seyn, wenn dagegen her- vorgehoben wird, daß die geistige Thaͤtigkeit, welche der Rich- ter dabei entwickeln muß, keine eigenthuͤmlich juristische ist; und es laͤßt sich nicht leugnen, daß verstaͤndige und gebildete Layen in der Regel aus der Totalitaͤt der Anschauung, welche auf einer genauen Kunde aller in Betracht kommenden that- saͤchlichen Verhaͤltnisse und Persoͤnlichkeiten beruht, einen eben- so sicheren Schluß auf Schuld und Unschuld werden ziehen koͤnnen, als die Juristen, denen in einem solchen Fall keine besondere Erkenntnißquellen zu Gebote stehen. Daraus folgt denn allerdings, daß die gesetzlichen Vorschriften uͤber den An- zeigebeweis nichts Anderes enthalten koͤnnen, als eine Art An- leitung zum richtigen Urtheilen, und etwa eine Schranke ge- gen reine Willkuͤhrlichkeiten und Unbesonnenheiten; daß man aber das Unmoͤgliche anstrebt, wenn man dadurch eine juristi- sche Garantie fuͤr die Richtigkeit des Urtheils gewinnen will. Eine Nothwendigkeit der Juristengerichte fuͤr Criminalsachen liegt daher nicht vor; es fragt sich nur, ob es bestimmte Gruͤnde giebt, welche fuͤr ihre Beibehaltung oder Abschaffung sprechen. Diese Frage ist hier aber ohne Ruͤcksicht auf die Das Volksrecht und das Gerichtswesen . fruͤher hervorgehobenen Puncte zu eroͤrtern; denn was uͤberhaupt gegen die ausschließliche Competenz der Juristengerichte spricht, das wird es auch namentlich bedenklich erscheinen lassen, die Criminalurtheile ganz in ihre Haͤnde zu legen. Fassen wir also die Sache moͤglichst bestimmt, und stellen es zur Erwaͤ- gung: wer bei der Wuͤrdigung eines Anzeigebeweises mehr ge- eignet ist das Wahre zu finden, ob der Jurist oder der Laye. Fuͤr jenen laͤßt sich anfuͤhren, daß im Allgemeinen doch Uebung und Studium einen Vorzug in den Geschaͤften geben, und daß also besondere Gruͤnde vorliegen muͤßten, wenn es nicht auch hier der Fall seyn sollte. Die Aufgabe des Richters bei der Beurtheilung eines Indicienbeweises hat man sich doch so zu denken, daß er auf den Grund der ihm dargelegten Thatsachen und der ihm bekannt gewordenen Persoͤnlichkeit des Angeschul- digten dessen Verhalten sich psychologisch construiren, und sich daraus uͤber Schuld oder Unschuld eine bestimmte Ueberzeu- gung bilden muß. Der tuͤchtige Criminalist wird aber eine solche Verstandesoperation mit mehr Sicherheit und Klarheit vornehmen koͤnnen, als der ungeuͤbte Laye es wenigstens re- gelmaͤßig zu thun im Stande ist; und wenn man auch dar- auf ein besonderes Gewicht legen will, daß der unbefangene Sinn in Folge der lebendigen Anschauung und des schlichten Rechtsgefuͤhls sehr oft das Rechte trifft, ohne eine systematische Reflexion uͤber die einzelnen Momente, auf welche es ankommt, und uͤber deren inneren Zusammenhang anzustellen; so laͤßt sich doch nicht absehen, wie die Gruͤndlichkeit dieser Reflexion, die, weil sie eben das Nachdenken vor dem Schluß ist, nie ganz fehlen kann, der Wahrheit nicht nuͤtzen sollte. Diejeni- gen, welche dem Juristen diesen Vorzug nicht einraͤumen wol- len, ja ihm die gewoͤhnliche Faͤhigkeit zur Beurtheilung eines Neuntes Kapitel . Indicienbeweises absprechen, denken auch gewoͤhnlich nur an seine Stellung als Richter der That, nicht aber an die wichti- gen Functionen des Anwaldes, welcher doch nur dann erfolg- reich wirken kann, wenn er alle in Betracht kommenden Mo- mente nicht nur im Einzelnen richtig zu erfassen, sondern auch mit der groͤßten Klarheit in ein bestimmtes Resultat zusam- men zu fuͤhren weiß. Man wende dagegen nicht ein, daß der Advocat nothwendig einseitig sey; denn wenn er auch nur die eine Seite zu vertreten hat, so wuͤrde er damit doch wenig ausrichten, wenn er nicht Alles, was ihr gegenuͤber steht, eben- so klar und bestimmt vor Augen haͤtte. — Scheint nun aus dieser Erwaͤgung ein Uebergewicht des Juristen uͤber den Layen hervorzugehen, so ist doch auch nicht zu verkennen, daß die ei- genthuͤmliche Beschaͤftigung des Ersteren ihn leicht dahin fuͤhrt, zu viel Gewicht auf das Einzelne und Spitzige zu legen, und daß er in Gefahr ist, den einfachen und großen Ueberblick uͤber die Verhaͤltnisse zu verlieren. Man hat die Bemerkung ge- macht, daß große Juristen selten auch große Staatsmaͤnner sind, und der Grund, welcher sich in dieser Erscheinung aus- spricht, mag es auch rechtfertigen, wenn man ihnen die Cri- minalurtheile nicht ausschließlich uͤberlassen will; daß es viel- mehr passend erscheint, ihrer Schaͤrfe und Consequenz die ein- fache und natuͤrliche Betrachtungsweise nicht juristisch gebilde- ter Maͤnner beizugesellen, damit beides sich gegenseitig trage und ergaͤnze. Fassen wir nun das bisher Gesagte zusammen, so stellt sich als dessen Ergebniß heraus, daß, obgleich die reinen Volks- gerichte nicht mehr an der Zeit, doch auch die reinen Juristen- gerichte nicht zu vertheidigen sind, weil darunter der politische Geist des Volkes leidet, die Unabhaͤngigkeit der Richter in ih- Das Volksrecht und das Gerichtswesen . nen nicht gehoͤrig gewahrt ist, und die Rechtspflege selbst nur unvollkommen geuͤbt werden kann. Das weist denn auf die dritte Art der Gerichte hin, naͤmlich auf die gemischten , mit denen wir es nun noch besonders zu thun haben. Die beiden verschiedenen Formen, in denen sie vorkommen, naͤmlich als Schwurgerichte und Schoͤffengerichte, sind bereits oben kurz charakterisirt worden; hier ist nun aber naͤher auf ihr Wesen und ihre Bedeutung einzugehen. In England, wo bekanntlich das Schwurgericht seine moderne Ausbildung erhalten hat, kommt es fuͤr Civilsachen so gut wie fuͤr Criminalsachen vor, und zwar, wenn auch mit manchen Abweichungen, im Allgemeinen doch zu demselben Zweck, indem naͤmlich den Juristen eine gewisse Anzahl von Maͤnnern aus dem Volke beigeordnet wird, um uͤber das Fac- tische des Processes, uͤber den beigebrachten Beweis ein Ur- theil abzugeben. Es ist eine gruͤndlichere Einsicht in das We- sen des englischen Civilprocesses noͤthig, als ich mir habe ver- schaffen koͤnnen, und vor Allem wohl die unmittelbare Beob- achtung der Gerichtspraxis selber, um daruͤber zu entscheiden, ob und in wiefern die Wirksamkeit der Geschwornen in dieser Anwendung von großer Bedeutung und von durchaus guͤnsti- gem Erfolge ist. Ohne Zweifel wird dadurch die Abwaͤgung der Beweismittel mehr unter den Einfluß einer freien und le- bendigen Rechtsanschauung gebracht, so daß neben der law of evidence die unbefangene Erwaͤgung der Totalitaͤt des ganzen Rechtsfalls, welche durch das Verfahren in den engli- schen Gerichten so sehr beguͤnstigt wird, moͤglich, und ein Mit- tel gegeben ist, welches den Mangel eines strengen Formalis- mus, der stets auf den juristischen Beweis der Rechtsgeschaͤfte bedacht ist, einigermaaßen ersetzt. Die Franzosen haben die Neuntes Kapitel . Geschwornen in Civilsachen nicht aufgenommen, und dafuͤr im Notariat ein Institut aufgestellt, welches fuͤr die formelle Rechts- sicherheit außerordentlich viel leistet, freilich aber auch große Opfer verlangt, welche scheint es vermieden werden koͤnnten, wenn die aͤußere Form weniger ausschließlich in der Schrift und namentlich in den Acten der Notare concentrirt waͤre. Der deutsche Proceß, wenigstens der gemeinrechtliche, ist in die- ser Beziehung ganz verwildert, seitdem die Juristen den Grund- satz von der Klagbarkeit der formlosen Vertraͤge aufgebracht haben, und fuͤr die daraus erwachsene Verlegenheit kein ande- res Gegenmittel, als den Schiedseid aufzustellen wußten. Daß hier eine Aushuͤlfe Noth thut, ist außer Zweifel; es fragt sich nur, ob man sich dem Princip des englischen oder dem des franzoͤsischen anschließen, d. h. ob man dem Richter eine freiere Stellung bei der Beurtheilung des Factischen einraͤumen, oder wieder zu einem strengeren Formalismus zuruͤckkehren soll. Ich glaube nun, daß in unserem Rechtsleben noch die An- haltspuncte fuͤr das Letztere vorhanden sind, ohne daß man genoͤthigt waͤre, sich zu der Einseitigkeit der franzoͤsischen Ge- setzgebung, von welcher auch die preußische, wenn gleich in anderer Art, nicht frei ist, hinzuwenden Ich habe uͤber diesen Gegenstand weitlaͤuftiger gehandelt in der Lehre von den Erbvertraͤgen II. 1. §. 2. ; aber auch wenn der andere Weg einzuschlagen, oder wenn von beiden Seiten auf eine Reform hinzuarbeiten waͤre, so wuͤrde doch noch zu unter- suchen seyn, ob man dazu gerade der Geschwornen beduͤrfte, und ob nicht passender eine andere Einrichtung zu treffen sey. Das fuͤhrt denn zu der Erwaͤgung, welche Bedeutung die an- dere Art der gemischten Gerichte, naͤmlich die Schoͤffengerichte fuͤr die Civilsachen haben koͤnnen. Das Volksrecht und das Gerichtswesen . Wenn nun fruͤher hervorgehoben ist, daß die Juristenge- richte deswegen nicht ausreichen, weil die unmittelbare Kunde des Volksrechts und die gehoͤrige Beruͤcksichtigung aller dem Rechtsleben entnommenen Momente von ihnen nicht erwartet werden kann, so scheint es doch, daß auch die Geschwornen, welche nur uͤber das Factische ohne unmittelbare Beziehung auf das Recht erkennen sollen, fuͤr diesen Mangel keine Aus- huͤlfe gewaͤhren. Ließe sich aber eine solche Einrichtung tref- fen, daß neben den Juristen auch Maͤnner aus dem Volke an der Rechtspflege in ihrem ganzen Umfange und ohne jene Trennung der Functionen Theil naͤhmen, so wuͤrde eines Theils jenes populaͤre Element des Rechts im Gegensatz zu der ei- gentlichen Jurisprudenz vertreten seyn, und andern Theils koͤnnte dann auch dem Gerichte eher eine freiere Beurtheilung des Factischen uͤberlassen werden, da hier, wenn auch in an- derer Weise als bei dem Schwurgericht, durch die nicht juri- stisch gebildeten Schoͤffen die Volksansicht sich geltend machen wuͤrde. Die Schwierigkeit, welche der Durchfuͤhrung einer solchen, gewiß heilsamen Reform entgegensteht, moͤchte haupt- saͤchlich in der Beschaffenheit unseres ganzen Rechtswesens zu suchen seyn, welches durch und durch verworren und gelehrt, einer volksthuͤmlichen Betrachtungsweise kaum zugaͤnglich er- scheint. Daher erklaͤrt es sich auch, daß in den Gerichten, bei welchen in Folge fruͤherer Einrichtungen noch jetzt eine solche Combination der Beisitzer besteht, die aus dem Volke fast ohne allen Einfluß auf die Urtheilsfassung sind, und daß auch da, wo man etwas Aehnliches wieder einzufuͤhren gesucht hat, wie in den wuͤrtembergischen Oberamtsgerichten, sich kein rechter Erfolg heraus stellen will. Indessen darf man doch auf solche einzelne Erscheinungen kein zu großes Gewicht le- Neuntes Kapitel . gen; der in Wuͤrtemberg gemachte Versuch namentlich ist doch noch sehr unvollkommen und mangelhaft geblieben Vgl. Zeller, das Institut der wuͤrtembergischen Oberamtsgerichts- beisitzer. Stuttgart, 1841. , waͤhrend andere Einrichtungen aͤhnlicher Art besonders bei den Handelsgerichten zu uͤberraschenden Resultaten gefuͤhrt haben. Daß aber in fruͤheren Zeiten das den Gerichten beigegebene volksthuͤmliche Element dem juristischen gegenuͤber keine selb- staͤndige Haltung bewahren konnte, wird nicht auffallen, wenn man bedenkt, wie die practische Jurisprudenz fast ganz auf das roͤmische Recht gebaut war, und auch in ihren deutsch- rechtlichen Bestandtheilen fast ohne alle lebendige Beziehung zu dem Volksleben stand. Dazu kam nun, daß die Juristen- und Beamtenherrschaft nach allen Seiten hin fest begruͤndet wurde, und daß es dem Volke in seinem eingeengten und gebroche- nen Gemeindewesen an dem gehoͤrigen Muth und Selbstver- trauen fehlte, um jenen Maͤchten gegenuͤber seine Ansichten und Beduͤrfnisse geltend zu machen. In neuerer Zeit hat sich aber in der Wissenschaft wie im Leben Vieles guͤnstiger gestal- tet, und es laͤßt sich mit Sicherheit annehmen, daß wenn es auch in Deutschland zu keiner umfassenden Codification kom- men sollte, das Rechtswesen doch einen mehr volksthuͤmlichen und natuͤrlichen Charakter erhalten wird. Geht nun die Ein- fuͤhrung jener Schoͤffenverfassung Hand in Hand mit der Er- weiterung der buͤrgerlichen Freiheit, und lehnt sie sich nament- lich an ein wohl organisirtes, wuͤrdig gestelltes Gemeindewesen an, so ist mit Grund zu hoffen, daß das ganze Institut, auf eine zeitgemaͤße Weise geordnet, seine Bestimmung erfuͤllen wird, zumal wenn es nicht auf einzelne Staaten vielleicht ge- Das Volksrecht und das Gerichtswesen . ringen Umfangs beschraͤnkt bleibt, sondern zu einer allgemeine- ren Geltung gelangt, und dadurch in den Kreis der gemein- samen, nationalen Rechtsbildung hineingezogen wird. Dann wird auch der zum Schoͤffen erkorene Buͤrger dem Juristen gegenuͤber mehr Selbstvertrauen und Haltung gewinnen, und waͤhrend er dessen Auctoritaͤt in Fragen, welche zu ihrer rich- tigen Beurtheilung eine tiefere Rechtskenntniß voraussetzen, gerne anerkennt, wird er doch auch uͤber die ihm gelaͤufigen Rechtsverhaͤltnisse seine eigene Meinung geltend zu machen wissen. Eine solche gemischte Besetzung der Gerichte muͤßte dann aber, etwa mit Ausnahme eines Cassationshofes, durch alle Instanzen gehen; denn wenn sie nur in der untersten statt finden sollte, so wuͤrde es leicht geschehen, daß die verschiedene Zusammensetzung der Gerichte auch auf die Entscheidungen einen nachhaltigen Einfluß ausuͤbte, und die Wirksamkeit der ganzen Einrichtung bedrohte, — ein Uebelstand, der sich prac- tisch schon recht sehr bemerklich gemacht hat, wo die Appella- tion von Handelsgerichten an Juristengerichte geht. In die- ser Beziehung kann ich daher auch nicht mit Reyscher uͤber- einstimmen, der in einem interessanten Aufsatze die Schoͤffen- verfassung aͤhnlich, wie hier geschehen, vertheidigt hat, sie aber auf die erste Instanz beschraͤnken zu wollen scheint S. Zeitschrift fuͤr deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft. VI. 2. S. 363 ff. Es ist nun aber weiter zu untersuchen, ob die Schoͤffen- gerichte nicht auch fuͤr die Criminalsachen einzufuͤhren sind, und zwar zu dem Zweck, die oben geruͤgten Maͤngel der Ju- ristengerichte dadurch zu beseitigen, ohne daß man zu dem In- stitut der Schwurgerichte seine Zuflucht zu nehmen brauchte. Neuntes Kapitel . Denn wenn auch eine Einrichtung deswegen, weil sie fremden Ursprungs, noch nicht verwerflich ist, vielmehr, wenn entschei- dende Gruͤnde fuͤr ihre Annahme sprechen, diese durchaus ge- rechtfertigt, ja nothwendig erscheint; so wird man doch zu ei- ner solchen Nachahmung nicht greifen wollen, wenn sich durch die organische Fortbildung einheimischer Institute dasselbe oder noch mehr erreichen laͤßt. Von Alters her sind aber in Deutsch- land stehende Gerichte mit der ungetheilten Competenz auch uͤber das Factische hergebracht gewesen, und so lange sich un- ser Rechtswesen eines gesunden Zustandes erfreute, hat diese Verfassung den Beifall und das Vertrauen der Nation fuͤr sich gehabt. Erst als man sich in Folge der Reaction gegen die unertraͤglich gewordene Juristen- und Beamtenherrschaft nach einer Abhuͤlfe umsah, hat man nach dem Vorgange der Franzosen und anderer Nationen eine Nachbildung der engli- schen Schwurgerichte auch fuͤr Deutschland in Antrag gebracht. Es ist nun auch außer Zweifel, daß große Vorzuͤge mit dieser Einrichtung verbunden sind, und, was nicht hoch genug ange- schlagen werden kann, sie hat die Probe der Erfahrung auch in den Laͤndern, die sie aufgenommen haben, bestanden, eine tuͤchtige Wirksamkeit bewaͤhrt und die Liebe der Voͤlker ge- wonnen. Aber es bleibt doch immer zu erwaͤgen, wie viel zu diesem Erfolge das mit dem Schwurgerichte verbundene ge- richtliche Verfahren, namentlich die Oeffentlichkeit und Muͤnd- lichkeit der Verhandlungen und die Theilnahme des Volkes an der Rechtspflege, welches beides aber auch der Schoͤffen- verfassung zu vindiciren ist, beigetragen haben, und ob nicht gerade der Gegensatz zu den deutschen Juristengerichten jenem Institute einen so großen Glanz geben mußte. In der Schweiz, wo man sich doch auch auf die Freiheit versteht, Das Volksrecht und das Gerichtswesen . und im Ganzen dem franzoͤsischen Wesen nicht abhold ist, haͤlt man nicht viel auf das Schwurgericht, und zieht ihm die deutsche Schoͤffenverfassung vor, welche sich hier noch zum Theil in ununterbrochener Wirksamkeit und urspruͤnglicher Rein- heit erhalten hat. Pruͤfen wir nun einmal unbefangen, wie im Allgemeinen der Werth beider Institute gegen einander ab- gewogen zu stehen kommt. 1. Man hat einen Haupteinwand gegen die Jury in der Schwierigkeit gefunden, welche der Trennung von jus und factum auch in Criminalsachen entgegen steht. Freilich ist es in England nicht ganz unbestritten, in wieweit die Geschwor- nen auch uͤber den Rechtspunct entscheiden koͤnnen; allein die Praxis ist doch gegen eine solche Ausdehnung ihrer Functio- nen, und wenn es sich um eine Nachahmung des Instituts han- delt, so denkt man, wie in Frankreich, zunaͤchst an jene Thei- lung des Richteramts. In der That ist diese aber in aller Strenge des Begriffs nicht durchzufuͤhren, da das Verdict der Geschwornen, wenigstens unter gewissen Umstaͤnden, nicht bloß ein Urtheil uͤber das Daseyn von Thatsachen enthaͤlt, sondern darin auch deren Beschaffenheit mit besonderer Ruͤcksicht auf die Willensbestimmung des Angeschuldigten und uͤberhaupt de- ren Beziehung zum Strafgesetz, wodurch sie unter den Begriff eines Verbrechens fallen, festgestellt wird, was nicht ohne eine gewisse Unterordnung des factum unter das jus zu denken ist. Dem Richter bleibt nun freilich, abgesehen von der Lei- tung der Verhandlungen, die Entwerfung der Fragen, welche den Geschwornen vorgelegt werden, und in deren Beantwor- tnng ihr Verdict besteht, so wie, wenn auf Schuldig erkannt worden, die Bestimmung des Strafmaaßes, und das ist aller- dings der wichtigste Theil der Rechtsanwendung; aber wenn Neunts Kapitel . auch nur etwas davon den Geschwornen uͤberlassen ist, so muß dieß bedenklich erscheinen, da dieselben doch nach der ganzen Art ihrer Zusammensetzung und nach dem Princip des Insti- tuts zu einer solchen Function nicht bestimmt sind. Indessen hat die Erfahrung gezeigt, daß dieser Umstand der Wirksam- keit der Schwurgerichte keinen Abbruch thut, daß vielmehr eine solche beschraͤnkte Theilnahme an der Rechtsanwendung den Volksrichtern anvertraut werden kann, so daß sich also das Institut maͤchtiger zeigt, als der demselben untergebreitete Begriff. Aber man kann nun noch einen Schritt weiter ge- hen, und es zur Erwaͤgung stellen, ob es nicht angemessen seyn sollte, den Juristen eine Theilnahme an der Thaͤtigkeit der Geschwornen einzuraͤumen, und diese umgekehrt zu den Functionen der Juristen mit herbei zu ziehen. Denn wenn jene Thaͤtigkeit dadurch einer Seits eine groͤßere Sicherheit be- kommen wuͤrde, welche die uͤbersichtliche Darstellung des Ge- richtspraͤsidenten nicht ganz ersetzen kann, so ist es andrer Seits nicht zu verkennen, daß ein gewisser Einfluß der Ge- schwornen auf die Formirung der Fragen, von welcher die Feststellung des Verbrechens abhaͤngt, und auf die Bestim- mung des Strafmaaßes oft sehr wuͤnschenswerth waͤre. Das weist denn eben darauf hin, die beiden Elemente der Schwur- gerichte in ein Collegium zusammen zu ruͤcken, und es dann dem eigenthuͤmlichen Gewichte jedes Theils zu uͤberlassen, daß es sich nach seiner Weise geltend mache. Dadurch wuͤrde eine gegenseitige Ergaͤnzung und Beschraͤnkung der einzelnen Be- standtheile des Gerichts begruͤndet werden, deren innerliche und vollstaͤndige Durchdringung die Gesammtheit zur gemeinschaft- lichen Anschauung und Beschlußnahme fuͤhrte. Bei den Schwur- gerichten ist es dagegen nicht wohl zu vermeiden, daß die Jury Das Volksrecht und das Gerichtswesen . bei der Abgabe ihres Verdicts nicht zuweilen von der Be- schaffenheit der gesetzlichen Strafe, auf deren Abmessung sie unmittelbar nicht einwirken kann, sich bestimmen laͤßt, und so der Versuchung unterliegt, den ihr zur Beurtheilung vorgeleg- ten Thatsachen Gewalt anzuthun. 2. Die Anforderungen, welche auch an die nicht juristi- schen Mitglieder der Schoͤffengerichte gemacht werden, sind nun freilich von der Art, daß ihre Erfuͤllung nicht in dem gleichen Grade von jedem unbescholtenen Buͤrger erwartet werden kann. Es ist dafuͤr eine Umsicht, Selbstaͤndigkeit und Geschaͤftserfah- rung noͤthig, welche es wenigstens sehr wuͤnschenswerth ma- chen, daß nur besonders geeignete Personen mit dem Schoͤf- fenamte bekleidet werden. Daher geschieht hier die Besetzung der Stellen durch Wahl oder Verleihung. Auch ist bei dem großen Werthe, den Uebung und Erfahrung fuͤr die richterli- chen Functionen haben, und wegen der nothwendigen Gleich- stellung der Volksrichter mit den Juristen, eine gewisse Dauer des Amtes, wenn auch nicht gerade die lebenslaͤngliche, uner- laͤßlich. Anders bei den Geschwornen. Man sieht deren Thaͤ- tigkeit fuͤr eine solche an, welche unter gewissen allgemeinen Voraussetzungen jeder Buͤrger gleichmaͤßig auszuuͤben vermag, und wenn daher an und fuͤr sich die Richter der That auch stehende seyn koͤnnten, so laͤßt man sie doch aus den in den Geschwornenlisten enthaltenen Namen durch das Loos und nur fuͤr die einzelnen Assisen bestellen. Die Verschiedenheit die- ser Einrichtungen haͤngt genau mit dem Wesen der beiden In- stitute zusammen, und kann also nur im Zusammenhang mit deren Werth und Bedeutung im Allgemeinen, nicht aber ohne Ruͤcksicht darauf gehoͤrig gewuͤrdigt werden; sonst moͤchte, wenn man die Sache bloß fuͤr sich betrachtet, der Vorzug doch ent- Beseler , Volksrecht. 18 Neuntes Kapitel . schieden auf Seiten des Schoͤffenthums seyn. Denn wie leicht man sich auch die Aufgabe der Geschwornen denkt (und wir haben schon bemerkt, daß sie doch nicht so ganz einfach sey), so sprechen doch erhebliche Gruͤnde dafuͤr, daß das mit beson- ders geeigneten, in den richterlichen Geschaͤften erfahrenen Maͤn- nern besetzte Collegium im Allgemeinen mehr leisten, und das Rechte sicherer treffen wird, als ein anderes, bei dessen Zusam- mensetzung so Vieles vom Zufall abhaͤngt. In England frei- lich, wo von Alters her die Einstimmigkeit der Jury zur Ver- urtheilung noͤthig ist, liegt darin eine große Garantie, indem, wenn auch in der Regel die Majoritaͤt ihre Ansicht durchsetzen wird, den dissentirenden Mitgliedern ein Mittel gegeben ist, ihre feste Ueberzeugung bis auf das Aeußerste zu vertheidigen. Wenn das Verdict daher endlich zu Stande kommt, so stellt es sich als die Stimme der Gesammtheit heraus, in welcher der Eng- laͤnder sein ganzes Land vertreten sieht, und diesem wird sich am Ende jeder Einzelne bereitwillig unterwerfen. Aber die nothwendige Einstimmigkeit der Jury, deren Durchfuͤhrung in Folge langer Gewoͤhnung und einer bestimmt ausgebildeten Praxis in England moͤglich ist, wird sich nicht fuͤglich bei der Verpflanzung des ganzen Instituts in die Fremde mit uͤber- tragen lassen; auch hat man sich allenthalben, wo das Schwur- gericht aufgenommen worden, mit einer Mehrheit der Stim- men begnuͤgt, deren verschiedene Feststellung immer den Cha- rakter einer gewissen Willkuͤhrlichkeit an sich traͤgt, sobald die absolute Majoritaͤt nicht ausreichen soll. Daß man aber Be- denken findet, diese bei den Geschwornen gelten zu lassen, waͤh- rend man bei den stehenden Richtercollegien darin keine Gefahr sieht, weist doch darauf hin, daß fuͤr die Richtigkeit des Ver- Das Volksrecht und das Gerichtswesen . dicts mehr Garantien wuͤnschenswerth scheinen, als fuͤr die des richterlichen Urtheils. 3. Dagegen fragt es sich, ob das Schwurgericht nicht ruͤcksichtlich der Unabhaͤngigkeit und Unparteilichkeit einen Vor- zug in Anspruch nehmen kann. So viel sit nun auch jeden- falls gewiß, daß ein so weites Recusationsrecht, wie hier, bei einem Schoͤffengericht nicht wohl statt finden kann, wenn sich gleich bei demselben durch die Aufstellung von Ersatzmaͤnnern auch in dieser Beziehung mehr thun laͤßt, als bei den Juri- stengerichten. Es ist aber uͤberhaupt nicht zu leugnen, daß die Art, wie die Geschwornen bestellt werden, eine wichtige Garantie fuͤr ihre Unabhaͤngigkeit giebt; denn wenn nur die Entwerfung der ersten Listen unbefangenen Haͤnden anvertraut ist, so scheint die Ausuͤbung eines unrechtmaͤßigen Einflusses auf die Jury, namentlich insofern dazu eine gewisse Vorberei- tung, ein Aufwand von Zeit und langsam wirkenden Mitteln noͤthig ist, fast unmoͤglich zu seyn. In jenen beiden Puncten liegt auch offenbar die Staͤrke des Instituts, und wenn das Schoͤffengericht keine entsprechende Garantie bieten koͤnnte, so waͤre dieß schon genuͤgend, den Vorzug des Schwurgerichts vor demselben zu rechtfertigen; betrachten wir die Sache daher etwas genauer. a. Es kommt Vieles auf die Art und Weise an, wie das Schoͤffencollegium besetzt wird. Von den juristischen Mit- gliedern desselben wird freilich im Allgemeinen gelten, was oben von den Juristengerichten gesagt worden ist, und nur der Un- terschied bestehen, daß eben die Beiordnung eines volkthuͤmli- chen Eiements ihnen mehr Haltung und eine freiere Stellung gewaͤhrt. Die nicht juristischen Mitglieder aber muͤssen nicht nur aus dem Volke hervorgehen, sondern es ist auch ange- 18* Neuntes Kapitel . messen, daß ihre Ernennung nicht einseitig von der Regierung geschehe, sondern von der Gemeinde vorgenommen werde, wenn auch unter einer gewissen Controle der Regierung. Nimmt man dann noch hinzu, daß auf sie dasjenige nicht paßt, was von der Abhaͤngigkeit der Juristen als Staats- beamten gesagt worden ist, und die Wahl in der Regel nicht nur auf die geschicktesten, sondern auch auf die rechtlichsten und ehrenhaftesten Maͤnner fallen wird, so kann im Allgemei- nen ihre eigene Unabhaͤngigkeit und durch sie die des ganzen Gerichts vollkommen gewahrt erscheinen. b. Die Unabhaͤngigkeit der Gerichte ist aber nicht bloß gegen unrechtmaͤßige Einwirkungen, welche, sey es von oben oder von unten her, versucht werden moͤchten, zu sichern; es ist auch eine Verirrung der oͤffentlichen Meinung durch Miß- verstaͤndnisse, Vorurtheile, Leidenschaften und absichtliche Auf- regung moͤglich, welche, wenn sie auf die Entscheidung der Ge- richte irgend einen Einfluß ausuͤben sollte, nicht weniger ver- derblich wirken wuͤrde, als die Cabinetsjustiz. Nach dieser Seite hin aber scheint das Schoͤffengericht eine groͤßere Garantie dar- zubieten, als das Schwurgericht. Denn wenn auch beide im Volke wurzeln, und an der allgemeinen Stimmung, welche in demselben vorherrscht, Theil nehmen, so ist es doch ein großer Unterschied, ob jemand, welcher als Mitglied eines geschlossenen Gerichtshofes sich dieser Stellung bewußt ist, uͤber gewisse Ver- haͤltnisse, die gerade dem Tagesinteresse verfallen sind, sich ein Urtheil bildet, oder ob es ein solcher thut, welcher ganz uner- wartet unter die Geschwornen kommen kann. Iener wird sich bemuͤhen, in Beziehung auf solche Thatsachen, uͤber welche er wahrscheinlich als Richter wird entscheiden muͤssen, so viel an ihm liegt, sich die Unbefangenheit seines Urtheils zu bewahren, Das Volksrecht und das Gerichtswelen . waͤhrend der letztere sich wie jeder andere den aͤußern Eindruͤ- cken hingiebt, dadurch vielleicht zu einer ganz einseitigen An- sicht gelangt, und diese nun, ohne daß er es will, mit sich in den Gerichtshof nimmt. Freilich wird der gewissenhafte Mann dadurch nicht unmittelbar sich bestimmen lassen; aber daß sein den Verhandlungen entnommenes Urtheil durch eine solche vor- gefaßte Meinung leicht eine schiefe Richtung erhalten kann, ist doch wohl unzweifelhaft. c. Was endlich das Recusationsrecht des Angeschuldig- ten betrifft, so kann dieß allerdings gegen die Schoͤffen nicht so weit zugelassen werden, als gegen die Geschwornen; allein ihre oͤffentliche Stellung muß sie auch gegen eine ganz un- motivirte Verwerfung schuͤtzen, und wenn Gruͤnde dafuͤr ange- geben werden (die sich uͤbrigens gegen ein bestimmtes Gerichts- personal nicht so haͤufig finden werden, als gegen die erste große Geschwornenliste), so kann stets die gehoͤrige Ruͤcksicht darauf genommen werden. Dagegen ist von einem staͤndigen Richtercollegium außer der Erwaͤgung der allgemeinen Buͤr- gerpflicht und der moralischen und juristischen Verantwortlichkeit auch die Wahrung der Amtsehre zu erwarten, welche sich bei dem steten Wandel der Geschwornen unter diesen nicht wohl in derselben Weise ausbilden kann. 4. Die Verfassung der Schoͤffengerichte, welche ein ge- ringeres Personal in Anspruch nehmen, gestattet es, daß sie fuͤr einen verhaͤltnißmaͤßig kleineren Bezirk angeordnet werden, als die Schwurgerichte. Das kann nun unter Umstaͤnden, na- mentlich bei einer duͤnnen Bevoͤlkerung und bei unvollkomme- nen Communicationsmitteln von großer Bedeutung werden, und ist jedenfalls fuͤr die Personal- und Localkenntniß des Ge- richts, so wie fuͤr die Bequemlichkeit der Dingpflichtigen von Neuntes Kapitel . Wichtigkeit. Ja es moͤchte uͤberhaupt angemessen seyn, die Scheidung zwischen Polizeigerichten, wo nur Juristen fungiren, und Schwurgerichten nach der Beschaffenheit der Verbrechen ganz fallen zu lassen, und dafuͤr die Schoͤffengerichte allgemein durchzufuͤhren, in der Art, daß das niedere Gericht, fuͤr einen kleineren Bezirk eingesetzt, nur fuͤr die geringeren Vergehen competent waͤre, das hoͤhere aber, welches den vollen Blutbann haͤtte, uͤber die schwereren Verbrechen aburtheilte. Ließe sich eine solche Einrichtung durchfuͤhren, und dadurch das reine Juristengericht ganz verbannen, so wuͤrde (das wird jeder zu- geben, der uͤberhaupt gegen das Letztere eingenommen ist) Vie- les gewonnen seyn. Denn es hat doch etwas Unnatuͤrliches an sich und ist nur durch die Nothwendigkeit zu entschuldigen, wenn jemand, dessen Ehre, Freiheit und Vermoͤgen, kurz des- sen ganzes Lebensgluͤck auch durch eine geringere Strafe be- droht ist, nicht aller Garantien, welche das Recht gewaͤhren kann, sich soll erfreuen duͤrfen. Eine Durchfuͤhrung der Schwur- gerichte auf alle diese Faͤlle hat aber große Bedenken, und ist bis jetzt auch nicht versucht worden. 5. Auch der Punct darf nicht unbeachtet bleiben, daß es von Wichtigkeit ist, ein und dasselbe Princip in der Rechts- pflege herrschen zu lassen. Fuͤr Civilgerichte ist, wie gezeigt worden, das Schoͤffenthum der Jury unbedingt vorzuziehen; wollte man nun diese fuͤr die Criminalsachen einfuͤhren, so kaͤme ein Dualismus in die Gerichtsverfassung, was freilich kein absolutes Uebel ist, aber doch wo moͤglich vermieden wer- den muß. Auch in dieser Hinsicht war das altdeutsche Recht consequent, wie es jetzt das englische ist; denn wie hier die Geschwornen, waren dort die Schoͤffen in beiden Faͤllen thaͤ- tig. Ist aber eine solche Einheit in der Gerichtsverfassung Das Volksrecht und das Gerichtswesen . zu empfehlen, so soll damit doch natuͤrlich nicht gesagt seyn, daß nicht die Civil- und Criminalgerichtsbarkeit nach der Com- petenz der Behoͤrden getrennt seyn koͤnnte. 6. Eine solche allgemeine Einfuͤhrung der Schoͤffenge- richte mit nicht juristischen Beisitzern wuͤrde freilich die Thaͤ- tigkeit des Volks mehr, wie bei der vereinzelten Anwendung der Jury, in Anspruch nehmen, und von den Einzelnen ein nicht geringes Opfer an Zeit und Muͤhe fuͤr das allgemeine Beste erheischen. Das wuͤrde namentlich in solchen Bezirken schwer empfunden werden, wo es an einer groͤßeren Anzahl von Personen fehlte, deren buͤrgerliche Lage ihnen eine gewisse Freiheit von taͤglich wiederkehrenden Berufsarbeiten und Muße und Neigung fuͤr die oͤffentlichen Geschaͤfte gestattet. Zwar wuͤrde sich, wie in andern gemischten Behoͤrden, Manches durch die juristischen Beisitzer allein abthun lassen; aber in dieser Beziehung waͤre doch ein gewisses Maaß zu halten, weil große Vorsicht noͤthig, daß dadurch nicht ein entschiedenes Uebergewicht auf Seiten der Juristen sich bilde. Man darf sich in dieser Hinsicht keiner Taͤuschung uͤberlassen, und muß eine Frage zur bestimmten Entscheidung bringen. Entweder will die Nation von der ausschließlichen Herrschaft der Beam- ten auch in den niederen Kreisen des buͤrgerlichen Lebens be- freit werden, und selbstaͤndigen Antheil an den oͤffentlichen Ge- schaͤften nehmen; dann muß sie auch die Opfer nicht scheuen, welche damit nothwendig verbunden sind. Oder sie ist schon so sehr in der Gewoͤhnung der ewigen Bevormundung verfan- gen, daß sie sich von ihrer Bequemlichkeit, Selbstsucht und Vergnuͤgungssucht nicht losreißen kann, und lieber, als selbst handeln, andere fuͤr sich will schalten und walten lassen; dann entsage sie auch den Streben nach wahrhaft politischer Freiheit, Neuntes Kapitel . und begnuͤge sich mit den Genuͤssen, welche das materielle Wohlergehen auch dem Sklaven gewaͤhren kann. Denn die Freiheit ist nicht fuͤr ein erschlafftes und egoistisches Geschlecht; sie ist in jeder Hinsicht ein theures Gut, und will mit harter Arbeit und schwerem Dienst errungen und erhalten seyn. — Als die Schoͤffen von Magdeburg zur Zeit, da die staͤdtische Buͤrgerfreiheit noch in Bluͤthe stand, gefragt wurden: Ab dy scheppin icht vorteyls alzo an geschosse (Abga- ben) habin mogin durch erbit wille eris amechtis (von wegen der Muͤhe ihres Amtes)? Da antworteten sie: Lybin frunde. Ir habit uns in ewern brifen lassin vorstehin, das Ir wenig nutzes von ewrim amecht des scheppin stulis. Darczu kuͤnnen wir nicht (nichts) czu sagin; wenne (denn) wer sich yn stetin (Staͤdten) erli- chir amecht undirwyndet und annympt, wenne (wenn) her (er) darczu gekorn und geheyssen wirt, der muß erbit unde sorge habin, umb das, das her das amecht wol unde getrewlich vorstehe. Wen (Sonst) wir weldin euch wohl gonnen, das Ir vil fromen und nutcz davon hettit. Fasse ich nun das Resultat der obigen Eroͤrterung kurz zusammen, so ist es dieses: das Schwurgericht, wenn auch dem reinen Juristengericht vorzuziehen, steht doch dem Schoͤffen- thume nach, und da wir in Deutschland noch zu waͤhlen ha- ben, so ist fuͤr die Einfuͤhrung des Letzteren zu stimmen. Da- bei zeigt sich aber allerdings eine Schwierigkeit, welche nicht unberuͤcksichtigt bleiben darf. In den Provinzen des linken Rheinufers besteht schon das Schwurgericht, und ist bei der dortigen Bevoͤlkerung in einem solchen Grade populaͤr, daß Das Volksrecht und das Gerichtswesen . an eine freiwillige Aufgebung kaum zu denken seyn wird, waͤhrend es ihr doch ohne ihre Zustimmung nicht entzogen werden kann. Dagegen ist es aber doch aus vielen Gruͤnden durchaus wuͤnschenswerth, daß sich die deutsche Gerichtsverfas- sung wo moͤglich nach demselben einheitlichen Princip gestalte, und namentlich fuͤr diejenigen Staaten, zu denen die gedachten Provinzen gehoͤren, ist es eine sehr nahe liegende Aufgabe, die in ihrem Innern bestehende Verschiedenheit des Rechtswesens auszugleichen und zu vermitteln. Dieser Erfolg ließe sich nun, scheint es, am Besten dadurch erreichen, wenn man die deut- schen Juristengerichte, welche doch einer Reform beduͤrfen, auf- gaͤbe und sie mit dem rheinischen Schwurgerichte vertauschte. Allein es fragt sich eben, ob dieser Schritt durchaus nothwen- dig ist, um jene Rechtsgleichheit zu erlangen, und ob nicht ge- rade in dem Schoͤffengericht das Mittel gegeben seyn sollte, eine Ausgleichung zwischen den beiden sich gegenuͤberstehenden Systemen herbeizufuͤhren. Gerade der fraͤnkische Stamm, zu welchem die Bevoͤlkerung am Mittel- und Niederrhein gehoͤrt, hat ja am Ersten und am Consequentesten das Schoͤffenthum ausgebildet; sollte es nicht, in freisinniger und zeitgemaͤßer Weise entwickelt, auch jetzt noch dort eine solche Anerkennung finden, daß das Schwurgericht freiwillig dafuͤr hingegeben wuͤrde? Es versteht sich von selbst, daß die uͤbrigen Vorzuͤge des Gerichtswesens, deren jene Provinzen sich erfreuen, und namentlich die Oeffentlichkeit und Muͤndlichkeit des Verfahrens ihnen nicht bloß bewahrt bleiben, sondern noch in einer freie- ren, dem deutschen Geiste entsprechenden Ausbildung dargeboten werden muͤßten. Auch wuͤrden sie dann ein wuͤrdig gestalte- tes Gemeindewesen als die Basis des Schoͤffenthums gewin- nen, und dadurch eines Gutes, fuͤr dessen Erlangung in neue- Neuntes Kapitel . ster Zeit so schoͤne Bestrebungen in ihrer Mitte rege geworden sind, theilhaftig werden. Zum Schluß dieser Eroͤrterung ist nun noch in kurzen Zuͤgen anzudeuten, wie etwa die Verfassung der Schoͤffenge- richte einzurichten sey, damit sie ihrem Zweck entsprechen koͤnnen. 1. Der Begriff der gemischten Gerichte setzt voraus, daß sie aus einer Mehrheit von Personen bestehen. In welchem Verhaͤltniß dabei die Juristen und die Volksrichter vertreten werden, ist im Gesetz genau zu bestimmen, im Allgemeinen aber das Princip fest zu halten, daß stets die Mehrzahl der Stellen mit den letzteren besetzt wird. Denn die groͤßere Rechts- kunde und Uebung der Juristen wird diesen doch leicht einen uͤberwiegenden Einfluß verschaffen, dem auf die angegebene Weise ein Gegengewicht bereitet werden kann. Der Praͤsident sey stets ein Jurist, die geringste Zahl der Richter aber drei; nur da, wo sich Polizei und Rechtspflege in minder wichtigen Sachen begegnen, wird das Institut der Friedensrichter oder ein aͤhnliches nicht wohl zu vermeiden seyn. 2. Die Gerichtsbezirke schließen sich passend der Gemeinde an, und zwar so, daß die Competenz nach dem engeren und weiteren Umfang des Communalverbandes bestimmt wird. Der Staat ernenne die juristischen, die Gemeinde die nicht juristi- schen Schoͤffen. Die Patrimonialgerichtsbarkeit als Ausfluß der gutsherrlichen Gewalt, der exemte Gerichtsstand und aͤhn- liche Ueberreste fruͤherer unstaatlicher Rechtszustaͤnde muͤssen gaͤnzlich verschwinden. — Das Alles setzt freilich eine orga- nisch durchgebildete Gemeindeverfassung und uͤberhaupt die frei- heitliche Entwicklung der deutschen Staatsverhaͤltnisse voraus: aber ohne eine umfassende Reform des ganzen Rechtswesens Das Volksrecht und das Gerichtswesen . hoffe man nicht, einen Theil desselben tuͤchtig und groß zu ge- stalten. Hier haͤngt Alles zusammen und bedingt sich wech- selsweise. 3. Das Schoͤffenamt sey fuͤr die juristischen Mitglieder le- benslaͤnglich, und ernaͤhre sie anstaͤndig; fuͤr die Volksrichter aber werde es auf gewisse Jahre beschraͤnkt, etwa auf sechs, doch so, daß die Wiedererwaͤhlung des Abtretenden, wenn er sie genehmigt, frei bleibt. Dem Volksrichter bringe sein Amt nur Ersatz fuͤr unmittelbare Auslagen und Kosten, also auch Diaͤten fuͤr die Zeit der Amtsfunction am dritten Ort; aber es gereiche ihm zur hohen, auch aͤußerlich in der politischen Berechtigung dar- gestellten Ehre, und mache ihn frei von jedem andern Staats- und Gemeindedienst, dem er sich nicht freiwillig unterzieht. 4. Den Anwaͤlden werde eine wuͤrdige Stellung gege- ben, wie es ihr hochwichtiger Beruf und das Interesse einer guten Rechtspflege durchaus erfordern; der Thaͤtigkeit der Winkeladvocaten beuge das Gesetz vor, ohne das Recht der Vertretung vor Gericht durch dritte Personen unnoͤthig zu be- schraͤnken. II. Das gerichtliche Verfahren . Es kommt hier vor Allem auf die Erledigung der Frage an, ob Oeffentlichkeit und Muͤndlichkeit wieder das Princip des deutschen Processes werden, oder ob es bei dem geltenden geheimen, schriftlichen Verfahren sein Bewenden haben soll. Das ist der eigentliche Mittelpunct eines Kampfes, der jetzt in Deutschland mit so großem Eifer gefuͤhrt wird, und von dessen Ausgang so unendlich viel nicht bloß fuͤr das Rechts- wesen, sondern fuͤr die ganze politische Zukunft der Nation abhaͤngt. Denn man uͤberlasse sich uͤber die Bedeutung des Neuntes Kapitel . in Frage gestellten Princips keinen Taͤuschungrn : dasselbe steht nicht vereinzelt da, und laͤßt sich nicht aus seinem Zusammen- hang herausnehmen, um etwa fuͤr einen wohlfeilen Preis an- dere Anforderungen damit abzukaufen, oder gewissen Maͤngeln des Gerichtswesens dadurch abzuhelfen. Nein, es haͤngt auf das Innigste zusammen mit der ganzen Gestaltung des politi- schen Lebens und mit dem Geiste, welcher dasselbe kuͤnftig bei uns beherrschen soll. Die Oeffentlichkeit ist ein so maͤchtiges Princip, daß es sich nicht willkuͤhrlich auf eine bestimmte, enge Grenze beschraͤnken laͤßt: ist es fuͤr die Verhandlungen vor den Gerichtshoͤfen als gemeines Recht anerkannt worden, so wird sich daneben, wenigstens in politisch bewegten Zeiten, das Geheimniß der Buͤreaukratie, der Preßzwang nicht lange hal- ten koͤnnen, oder es kommt in Folge des klar gewordenen Zwiespalts in der Verfassung zu einseitigen Beschraͤnkungen, welche das Wesen der Einrichtung selbst wieder bedrohen. Da- her erklaͤrt es sich auch, daß der Kampf um Oeffentlichkeit und Muͤndlichkeit im gerichtlichen Verfahren ein so hohes po- litisches Interesse erweckt, und nicht bloß mit den Gruͤnden der juristischen Zweckmaͤßigkeit gefuͤhrt werden kann. Wo diese auch vorangestellt werden, da ruhen doch meistens allgemeinere Ansichten und Tendenzen im Hintergrunde, moͤgen sie nun zum Bewußtseyn gekommen, die Meinung des Kaͤmpfenden bestimmen, oder ihm unbewußt auf sein Urtheil einwirken. — Bei diesem Stande der Sache ist eine wiederholte Pruͤfung der Frage nicht uͤberfluͤssig, selbst nachdem schon so manches gewichtige Wort daruͤber gesprochen worden ist; es bleibt doch leicht noch der eine oder der andere Punct uͤbrig, der in ein besseres Licht gestellt werden kann, oder durch die besondere Art der Behandlung dem allgemeinen Verstaͤndniß naͤher ge- Das Volksrecht und das Gerichtswesen . bracht wird. Eine vollstaͤndige, alle Seiten der Frage ins Auge fassende Eroͤrterung derselben wird hier aber nicht beab- sichtigt. Zuvoͤrderst wird es nicht uͤberfluͤssig seyn, ausdruͤcklich zu bemerken, daß das Princip, welches der Oeffentlichkeit und Muͤndlichkeit des gerichtlichen Verfahrens zum Grunde liegt, keinen absoluten Gegensatz zu demjenigen bildet, welches in dem heimlichen, schriftlichen Proceß ausgepraͤgt ist. Mit der Schriftlichkeit der Verhandlungen laͤßt sich freilich keine wahre Oeffentlichkeit verbinden, da die Bekanntmachung aller Acten- stuͤcke durch die Presse, wenn auch an und fuͤr sich moͤglich, doch vernuͤnftiger Weise nie als Regel verlangt werden kann, und auch nur eine hoͤchst unvollkommene Aushuͤlfe seyn wuͤrde. Dagegen laͤßt es sich allerdings denken, daß eine muͤndliche Verhandlung statt faͤnde, ohne daß die Oeffentlichkeit derselben sich weiter als auf die dabei durchaus nothwendigen Personen erstreckte. Aber auch wenn man den Gegensatz zwischen bei- den Formen des gerichtlichen Verfahrens so auffaßt, wie er sich thatsaͤchlich darstellt, und nur die Oeffentlichkeit und Muͤnd- lichkeit in ihrer vereinigten Durchfuͤhrung als diejenige Einrich- tung anerkennt, um welche der Kampf gefuͤhrt wird; so laͤßt sich doch nicht in Abrede nehmen, daß eine gewisse Beimischung des heimlich-schriftlichen Processes nicht nur moͤglich ist, son- dern auch nicht ganz entbehrt werden kann. Selbst im Civil- proceß wird man Bedenken tragen, die Berathung und Ab- stimmung des Gerichts vor dem Publicum geschehen zu lassen, und wenn im Criminalproceß der Hauptverhandlung auch nur eine vorlaͤufige Untersuchung zur Ermittlung der Schuld vor- hergeht, sey es um ein Gestaͤndniß zu erlangen oder um Indi- cien zu sammeln, so wird die volle Publicitaͤt dabei nicht wohl Neuntes Kapitel . statt haben koͤnnen, wenn auch die spaͤtere Wiederholung aller relevanten Handlungen noͤthig ist. Ebenso verhaͤlt es sich mit der Muͤndlichkeit: in schwierigen und verwickelten Civilsachen wird man alle Schriftsaͤtze zur Einleitung des Verfahrens und zur Feststellung des Streitgegenstandes nicht ganz vermeiden koͤnnen, und die Voruntersuchung im Criminalproceß muß gleichfalls zu Papier gebracht werden, wie denn uͤberhaupt das Gerichtsprotokoll der ganzen Verhandlung in ihren Grund- zuͤgen zu folgen hat, und fuͤr gewisse Faͤlle selbst die Zuzie- hung von Schnellschreibern sehr dienlich seyn kann. Es kommt dabei immer nur auf das Wesentliche, auf das Princip der Sache an, und dieses wird gewahrt seyn, wenn nur alle Hauptverhandlungen, von denen das richterliche Urtheil unmit- telbar abhaͤngt, oͤffentlich und muͤndlich vor sich gehen. Dem verstaͤndigen Ermessen bleibt es dann uͤberlassen, den Punct zu bestimmen, wo eine Modification ohne Gefahr, den Zweck der ganzen Einrichtung zu bedrohen, zugelassen werden kann, oder wo die Sache selbst aufgegeben wird, und nur ein kuͤmmerli- ches Zugestaͤndniß inhaltsloser Formen den Schein geben soll, als ob wirklich etwas Reelles geboten sey, was doch nur eitel Blendwerk und Spiegelfechterei ist. — In dieser Beziehung wird man sich aber auch nicht aͤngstlich an die Grundsaͤtze des altdeutschen Processes halten duͤrfen, der, abgesehen von seinem Princip, manche Maͤngel hatte und in seinen Formen und Symbolen der Gegenwart fast ganz entfremdet ist. Selbst die Oeffentlichkeit erheischt jetzt zum Theil andere Mittel, als in fruͤheren Zeiten. Wie wollte man z. B. bei den politi- schen und socialen Zustaͤnden der Gegenwart ein ungebotenes Echteding in regelmaͤßiger Wiederkehr zusammen bringen, und so die ganze Gemeinde, die Weiber, Kinder und uͤbrigen Das Volksrecht und das Gerichtswesen . Schutzpflichtigen durch ihre Voigte vertreten, in einer Ver- sammlung vereinigen? Wie viele wuͤrden schon wegen ehe- hafter Noth ausbleiben; die Weiber haben in der Regel keinen Geschlechtsvormund mehr; die fruͤher Hoͤrige waren, sind jetzt persoͤnlich frei, aber oft nicht geeignet, mit voller politischer Berechtigung auch nur in der Gemeinde aufzutreten. Statt solcher Einrichtungen, die nur noch ausnahmsweise als die Urversammlung der stimmberechtigten Gemeindeglieder vorkom- men koͤnnen, dient jetzt die Presse, welche ja uͤberhaupt das wichtigste Mittel der modernen Publicitaͤt ist, so daß sie, wenn auch nur die Moͤglichkeit des freien Zutritts zu den Verhand- lungen fuͤr wenige besteht, doch allen die Fruͤchte desselben zukommen laͤßt. Daher koͤnnen Zeitungsberichte, oͤffentliche Bekanntmachungen, namentlich die Edictalcitationen gegenwaͤr- tig Manches von dem, was man mit dem alten Echteding bezweckte, ersetzen. Welches Princip ist denn nun aber im Proceß vorzuzie- hen, das der Oeffentlichkeit und Muͤndlichkeit, oder das der Heimlichkeit und Schriftlichkeit? In einem Werke, welches von dem deutschen Volksrecht handelt, wird sich die Antwort schon von selbst ergeben. Wir haben freilich schon an die drei- hundert Jahre uns mit dem fremdlaͤndischen, roͤmisch-canoni- schen Kunstwerk der Juristen herumgetragen, und die Form unseres Rechtslebens in diese Bande geschlagen. Aber wenn noch die Kraft einer lebensvollen und organischen Regenera- tion in der Nation ist; wenn der goͤttliche Funken altgermani- scher Freiheit, der in England zur hellen Flamme aufgeschla- gen ist, und selbst das erstarrte Leben der romanischen Voͤlker geistig durchwaͤrmt hat, in Deutschland, seiner Heimath, nicht ganz verkommen ist, sondern, unter der Asche fortglimmend, Neuntes Kapitel . zum neuen Glanze aufgeregt werden kann; — wenn wir uͤberhaupt noch auf ein freies und nationales Rechts- und Staatsleben hoffen duͤrfen: so wird auch ein frischer und tuͤchtiger Geist in unsere Gerichtshoͤfe wieder einziehen, und statt der Actennoth und elender Geheimnißkraͤmerei wieder das offene Wort und die besonnene, aber energische Entschlossen- heit darin herrschen. Wir muͤssen aus der Schriftgelehrsamkeit heraus zur lebendigen That, so wie in allen Beziehungen des oͤffentlichen Lebens, so auch namentlich in dem gerichtlichen Verfahren. Und auch daruͤber ist kein Zweifel: wenn der Rich- ter seine Kenntniß der Sache nur aus den Acten heraus lesen kann, so ist es mit einer volksthuͤmlichen Reform unserer Ge- richtsverfassung vorbei. Denn es waͤre baarer Unsinn, die Maͤnner aus dem Volke, welche als Schoͤffen oder Geschworne fungiren sollen, zu einer solchen Arbeit anhalten zu wollen, bei der selbst der studirte Jurist, dem sie Lebensberuf ist, so oft seine geistige Frische und Unbefangenheit zusetzt. Die unmit- telbare Anschauung der lebendig vor die Sinne gebrachten Mo- mente, in wuͤrdiger Sammlung und mit ernstem Wahrheits- eifer zur letzten Entscheidung zusammen gefaßt, — das ist es, was den Richter in seinem Urtheil bestimmen muß, und was nie durch die Schrift ersetzt werden kann, wenn sie auch da- bei als Aushuͤlfe zu gebrauchen ist. — Fassen wir die Sache aber nach ihren einzelnen Beziehungen noch etwas naͤher ins Auge. 1. Ein wesentlicher Vorzug des oͤffentlich-muͤndlichen Verfahrens besteht darin, daß es eine so wirksame Garantie fuͤr die Unabhaͤngigkeit, Unparteilichkeit und uͤberhaupt fuͤr die Gewissenhaftigkeit der Gerichte gewaͤhrt. Denn in der Oef- fentlichkeit der Verhandlungen erwaͤchst der Gerechtigkeit eine Das Volksrecht und das Gerichtswesen . Stuͤtze, gegen die, wenn uͤberhaupt ein dffentlicher Geist im Lande ist, kein ungesetzlicher Einfluß auf die Dauer et- was vermag. Einen merkwuͤrdigen Beleg fuͤr diese Be- hauptung bietet die Stellung, welche die Gerichtshoͤfe in Frankreich einnehmen. Man gefaͤllt sich von einer gewissen Seite darin, den moralischen Verfall der franzoͤsischen Nation recht hervorzuheben, und wenn es dabei auch nicht an augen- scheinlichen Uebertreibungen fehlt, so kann die Thatsache doch nicht in Abrede gestellt werden, daß wenigstens in gewissen Classen Ostentation, Genußsucht und uͤberhaupt ein gottloses, egoistisches Treiben auf eine traurige Weise uͤberhand genom- men haben. Aber die Rechtspflege ist von diesem boͤsen We- sen unberuͤhrt geblieben; die Gerichtshoͤfe stehen rein und ma- kellos da, und in dem von Parteiungen zerrissenen Lande ha- ben sie sich einen unangetasteten Ruf und das volle Vertrauen der Volkes erhalten. Moͤgen auch manche Umstaͤnde zusam- men kommen, um dieses glaͤnzende Resultat hervorzurufen, und ist selbst der tradionell fortgepflanzte Unabhaͤngigkeitssinn der alten Parlamente nicht ohne Einfluß darauf, — der Haupt- grund, worauf diese Erscheinung in ihrer Dauer beruht, ist doch ohne Zweifel in der Oeffentlichkeit des gerichtlichen Ver- fahrens zu suchen. 2. Bei dem schriftlichen Verfahren ist ein schneller Pro- ceßgang nicht moͤglich. Das ergiebt sich schon aus formellen Gruͤnden, und die Erfahrung der deutschen Gerichte, welche mit Ruͤckstaͤnden uͤberhaͤuft zu seyn pflegen, und deren Lang- samkeit sprichwoͤrtlich geworden ist, bezeugt es. Nun sind wir freilich uͤberhaupt kein feuriges und rasches Volk; aber um so mehr ist es eben noͤthig, daß wir durch die Form nicht noch mehr zuruͤckgehalten werden. Von welcher Bedeutung aber Beseler , Volksrecht. 19 Neuntes Kapitel . diese gerade in dieser Hinsicht ist, das zeigt der Umstand, daß auch in Deutschland da, wo das oͤffentlich-muͤndliche Ver- fahren consequent durchgefuͤhrt worden, die Beschwerden uͤber Justizverzoͤgerung aufhoͤren, — ein Erfolg, der in Verbindung mit der groͤßeren Wohlfeilheit der Processe, fast allein schon genuͤgt, der ganzen Einrichtung die Liebe des Volkes zu ge- winnen. 3. Wie schon bemerkt worden, giebt das muͤndliche Ver- fahren eine Lebendigkeit der Anschauung, welche in der Art dem Papier nie zu entnehmen ist, selbst wenn die Schriftsaͤtze und Protokolle eine Vollstaͤndigkeit und Genauigkeit erhielten, welche in der Wirklichkeit nicht zu erreichen ist. Dazu kommt, daß, wo das schriftliche Verfahren besteht, in den meisten Faͤl- len nach den Vortraͤgen der Referenten entschieden werden muß, und das ganze Collegium nicht einmal die vollstaͤndige Kennt- niß der Acten erhaͤlt. 4. Man sagt wohl, das muͤndliche Verfahren schade der Gruͤndlichkeit und schließe die ruhige und umsichtige Erwaͤgung aus. Aber nicht die Laͤnge der Zeit, welche auf das Nach- denken verwandt wird, giebt die Gewaͤhr, daß das Rechte ge- funden werde; es kommt vor Allem auf die Energie und Sammlung an, mit welcher der Geist thaͤtig ist. Was in die- ser Hinsicht fester Wille und Uebung thun koͤnnen, das zeigt nicht bloß die Erfahrung, das lehrt auch die Psychologie; und im Nothfall kann ja das Gericht seinen Spruch aussetzen. Auch bei dem muͤndlichen Verfahren werden freilich Fehler und Versehen vorkommen; aber gewiß nicht haͤufiger und keine schlimmeren, als sie jetzt taͤglich unter der Herrschaft des ge- meinen deutschen Processes begangen werden. 5. Die Oeffentlichkeit der Verhandlungen belebt das Das Volksrecht und das Gerichtswesen . Rechtsgefuͤhl des Volkes und giebt ihm Vertrauen zur Justiz. Diese bleibt nicht mehr die unheimliche Macht, welche wie ein Fatum uͤber den Haͤuptern der Buͤrger schwebt; sondern sie tritt menschlich unter die Menschen, und laͤßt sich in ihrer Werkstaͤtte beschauen. So ist schon in der Oeffentlichkeit eine Garantie gegeben, welche in Verbindung mit einer weise geord- neten Gerichtsverfassung die Anwendung aͤußerer Mittel, um die Gerechtigkeit der Urtheile zu documentiren, cntbehrlicher macht. Die muͤhsame und zeitraubende Ausarbeitung der Ent- scheidungsgruͤnde wird, zumal wenn kein Instanzenzug statt findet, in der Regel unterbleiben koͤnnen. 6. Allein ein Einwand wird gegen die Muͤndlichkeit und folgeweise gegen die Oeffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens erhoben, der von Bedeutung ist, und manchen gewissenhaften Juristen dagegen gestimmt hat, — das ist die Erschwerung des Gebrauchs der Rechtsmittel. In der That ist dieß ein Umstand, welcher alle Aufmerksamkeit verdient, weil dadurch fuͤr das schriftliche Verfahren ein wesentlicher Vorzug be- gruͤndet scheint. Denn in der wiederholten Pruͤfung eines Rechtsfalls durch ein hoͤheres Gericht liegt allerdings eine wichtige Garantie fuͤr die Gerechtigkeit der endlichen Entschei- dung; dieß in Abrede stellen zu wollen, ist baare Sophisterei. Es fragt sich nur, ob der Vortheil, welcher dadurch gewonnen wird, von solcher Wichtigkeit ist, daß er alle Vorzuͤge des oͤf- fentlich-muͤndlichen Verfahrens aufhebt und fuͤr das entgegen- gesetzte Princip den Ausschlag giebt, und das laͤßt sich mit Fug verneinen. An und fuͤr sich ist der Gebrauch der Rechtsmittel auch beim oͤffentlichen Verfahren nicht ausgeschlossen. Schon im aͤlteren deutschen Proceß kam ein Zugrecht an die Oberhoͤfe 19* Neuntes Kapitel . vor, dessen Zweck freilich meistens die Einholung einer Rechts- belehrung war, ohne daß die Verhandlungen der ersten In- stanz wiederholt zu werden brauchten; auch das franzoͤsische Recht laͤßt ja unbedingt eine Cassation der gesprochenen Ur- theile wegen Nullitaͤt zu, und gewaͤhrt in allen Faͤllen, wo die Gerichte ohne Zuziehung von Geschwornen geurtheilt ha- ben, einen regelmaͤßigen Instanzenzug. Diese Unterscheidung aber scheint da, wo das Schoͤffenthum consequent durchgefuͤhrt worden, nicht begruͤndet, so wie sie ja auch von selbst weg- fiele, wenn die Geschwornen stets zur Entscheidung herbeige- zogen wuͤrden; es wird daher die Frage, in wiefern Rechts- mittel mit dem oͤffentlichen Verfahren zu vereinigen sind, bei einer ganz gleichmaͤßigen Einrichtung der Gerichtsverfassung nach andern, in der Natur der Sache liegenden Momenten zu bestimmen seyn. Dabei kommt es denn namentlich darauf an, ob der Spruch einer hoͤheren Instanz moͤglich wird ohne die Wiederholung der ganzen vorhergegangenen Verhandlung, oder ob die Grundlage, worauf das erste Urtheil erwachsen ist, fuͤr das spaͤtere nicht maaßgebend seyn kann. Das fuͤhrt aber darauf, zwischen Civil- und Criminalsachen zu unterscheiden. In jenen, wo nach der Verhandlungsmaxime das Princip des Verzichtes von Einfluß ist, und der einmal festgestellte That- bestand nicht einseitig veraͤndert werden kann, wird es in der Regel moͤglich seyn, die relevanten Thatsachen und namentlich auch das Resultat der Beweisfuͤhrung in den Schriftsaͤtzen der Parteien, so weit diese zulaͤssig sind, und im Gerichtsprotokoll zu fixiren. Auf diese Grundlage wird sich in Verbindung mit den Entscheidungsgruͤnden der unteren Instanz eine neue muͤndliche Verhandlung vor dem hoͤheren Gerichte einleiten lassen, ohne daß die Wiederholung des fruͤheren Verfahrens Das Volksrecht und das Gerichtswesen . durchaus nothwendig waͤre. Anders verhaͤlt es sich dagegen mit den Criminalsachen; denn hier faͤllt das Princip des Ver- zichtes weg, es kommt nur auf das materielle Recht an. Auch haͤngt das Meiste von der unmittelbaren Anschauung der Rich- ter ab, von dem Eindruck, den das Benehmen, die besondere Subjectivitaͤt des Angeschuldigten und der Zeugen, kurz die Totalitaͤt der gesammten Verhandlung hervorbringen. Sollte nun dennoch auf die in der ersten Instanz erwachsenen Acten das zweite Urtheil abgegeben werden, so wuͤrde fuͤr dieses ge- rade die Hauptgarantie fuͤr das ganze oͤffentlich-muͤndliche Ver- fahren verloren gehen, auch abgesehen davon, daß man Alles so weitlaͤuftig zu Papier bringen muͤßte, als es nur bei dem rein schriftlichen Verfahren noͤthig ist. — Es wird also anzu- nehmen seyn, daß in Civilsachen ein regelmaͤßiger Instanzenzug neben der Oeffentlichkeit bestehen kann, ohne daß die Wieder- holung der fruͤheren Verhandlungen anders als ausnahmsweise noͤthig waͤre; daß diese aber in Criminalsachen als die Regel eintreten muß, wenn das Verfahren nicht an einer wesentlichen Unvollkommenheit leiden soll. Dadurch wuͤrde aber ein sol- cher Aufwand von Zeit und Kosten entstehen, und die Hand- habung der Rechtspflege wuͤrde im Allgemeinen so erschwert werden, daß die allgemeine Zulassung von Rechtsmitteln in Criminalsachen sehr bedenklich erscheint. Sie muͤßten wohl je- denfalls auf bestimmte Faͤlle beschraͤnkt, und auch nicht ganz der Willkuͤhr des Angeschuldigten uͤberlassen werden; vielleicht ließe sich z. B. ein solches Auskunftsmittel treffen, daß eine bestimmte Minoritaͤt der Richter das Erkenntniß unter gewissen Umstaͤnden schelten, und an ein anderes Gericht ziehen koͤnnte. Nun ist es freilich von großer Bedeutung, daß dieselbe Sache wiederholt von unbefangenen Richtern gepruͤft werde, Neuntes Kapitel . und namentlich in Criminalsachen, bei denen es sich um die hoͤchsten Guͤter der Menschen handelt, scheint eine Einrichtung, wodurch eine solche wiederholte Pruͤfung unter allen Umstaͤn- den moͤglich gemacht wird, noch mehr noͤthig zu seyn, als in Civilsachen. Aber auf der andern Seite laͤßt es sich doch nicht leugnen, daß darin nur ein Mittel gegeben ist, die Gerech- tigkeit der Urtheile zu sichern. Fuͤr den heutigen deutschen Proceß mußte diese Garantie absolut nothwendig erscheinen, weil er sonst so haltungslos da stand, und daher erklaͤrt es sich, daß man, was ihm an innerm Werthe abging, durch aͤu- ßere Mittel zu ersetzen suchte, und ein so großes Gewicht auf die drei Instanzen und auf die Motivirung der Urtheile legte; aber es fragt sich eben, ob nicht durch eine volksthuͤmliche Gestaltung der Gerichtsverfassung und die Oeffentlichkeit der Verhandlungen ein Resultat erreicht werden kann, welches an sich schon das Vertrauen zur Rechtspflege erhoͤht, und die be- schraͤnkte Anwendung jener aͤußeren Garantien moͤglich macht. Das ist eben der Punct, worauf es ankommt: man hat die Wahl zwischen dem heimlich-schriftlichen Verfahren mit sei- nen Garantien und dem entgegenstehenden Systeme; eine vollstaͤndige Verschmelzung beider Institute, die Aneignung al- ler Vortheile ohne alles Opfer ist nicht wohl moͤglich. Er- waͤgt man nun aber die großen Vorzuͤge einer volksthuͤmlichen Gerichtsverfassung mit oͤffentlich-muͤndlichem Verfahren; be- denkt man, daß gerade das Bewußtseyn, in erster und letzter Instanz zu entscheiden, fuͤr den Richter die groͤßte Aufforde- rung zur moͤglichst umsichtigen und besonnenen Entscheidung enthaͤlt; nimmt man ferner in Betracht, daß auch bei der ausgedehntesten Anwendung der Rechtsmittel doch immer eine willkuͤhrlich gezogene Grenze bestehen muß, und daß auch da- Das Volksrecht und das Gerichtswesen . durch, wie durch andere Mittel, nur die Wahrscheinlichkeit fuͤr die Gerechtigkeit des Urtheils erhoͤht, aber doch keine Gewiß- heit dafuͤr gegeben wird; beachtet man endlich, daß sich unter allen Voͤlkern, welche sich einer volksthuͤmlichen Gestaltung ih- res Gerichtswesens erfreuen, kein Verlangen nach jener ausge- dehnten Anwendung der Rechtsmittel zeigt, waͤhrend sie in Deutschland doch kein rechtes Vertrauen und keine wahre Be- friedigung hervorrufen konnte; so laͤßt sich mit Fug behaup- ten, daß auch dieser Grund nicht fuͤr den gemeinen deutschen Proceß spricht, und die Wage zu seinen Gunsten nicht sin- ken macht. Es koͤnnte hier noch manches Andere, und namentlich auch die Frage eroͤrtert werden, ob fuͤr den Proceß die Un- tersuchungs- oder die Verhandlungsmaxime zur Geltung zu bringen ist; doch will ich auf das Weitere nicht naͤher einge- hen. Was insbesondere den eben hervorgehobenen Punct betrifft, so ist fuͤr Civilsachen die Verhandlungsmaxime die des gemeinen Rechts, und eine Abweichung davon, welche in Preußen versucht worden, hat in ihrem Erfolge eben nur die wohl zu beachtende Lehre gegeben, wie gefaͤhrlich es ist, wenn eine par- ticulaͤre Gesetzgebung in selbstaͤndiger Haltung eine Reform durchfuͤhren will, welche nicht auf einem wahrhaft nationalen Princip beruht, sondern bloß theoretisch aus scheinbaren Gruͤn- den der Zweckmaͤßigkeit abstrahirt ist. Was aber den Crimi- nalproceß betrifft, so sind daruͤber doch nachgerade auch alle freisinnigen und unbefangenen Juristen einig, daß fuͤr diesen eine gruͤndliche Aenderung noͤthig ist, welche zum accusatorischen Verfahren mit einem oͤffentlichen Anklaͤger zuruͤckfuͤhren muß, Neuntes Kapitel. Das Volksrecht ꝛc . wenn auch eine voraufgehende Untersuchung damit in Verbin- dung zu setzen ist. Das Alles haͤngt freilich mit einer Re- form unseres ganzen Gerichtswesens, wie sie im Obigen eroͤr- tert worden, genau zusammen; doch wuͤrde eine genauere Be- handlung des Gegenstandes uͤber den Plan dieser Schrift hin- ausfuͤhren. II. Das Juristenrecht . Zehntes Kapitel. Methode des Juristenrechts . D as Daseyn eines selbstaͤndigen deutschen Juristenrechts ist ein geschichtliches Factum, welches als solches seine volle An- erkennung verlangt. In der That hat man es auch seit sei- ner Entstehung, welche mit der Aufnahme des roͤmischen Rechts zusammenfaͤllt, zu allen Zeiten als einen Theil des positiven Rechts gelten lassen und zur Anwendung gebracht, wenn man auch nicht immer dieselben Ausdruͤcke dafuͤr gebrauchte, und uͤber den Grund und Umfang seiner Geltung, so wie uͤber die Art seiner Erkenntniß in mannichfachen Schwankungen und Irrthuͤmern begriffen war. Anfangs nahm man mit dem roͤ- mischen Recht die von den italienischen Juristen ausgebildete Lehre von der communis Doctorum opinio auf, welche von dem unter den gegebenen Verhaͤltnissen ganz richtigen Grund- satze ausging, daß die gemeinsame Ueberzeugung des Juristen- standes oder doch die uͤberwiegend vorherrschende Meinung sei- ner bedeutendsten Vertreter uͤber die Geltung eines im roͤmi- schen Recht nicht klar ausgesprochenen Rechtssatzes entscheide. Die Schwaͤche dieser Theorie lag, abgesehen von dem Werth der ganzen Rechtsbildung, mit welcher die bezeichnete Anschau- ungsweise unmittelbar zusammen hing, hauptsaͤchlich in der Art, wie man sie zur Anwendung brachte. Denn statt eine Zehntes Kapitel . wissenschaftliche Untersuchung uͤber jene unter den Juristen fest gewordene rechtliche Ueberzeugung anzustellen, begnuͤgte man sich meistens damit, einzelne Auctoritaͤten, unter denen Barto- lus und Baldus mehr noch als die Glossatoren hervorragten, anzufuͤhren, oder, als spaͤter eine genauere Bekanntschaft auch mit andern Practikern verbreitet ward, und auch die deutsche Jurisprudenz schon eine Literatur bekam, ohne Kritik und oft durch ein ganz oberflaͤchliches Zaͤhlen der Gewaͤhrsmaͤnner die communis opinio zu bestimmen. Dieß Verfahren, wogegen schon Zasius eiferte, kann man als die erste Periode in der Entwicklung des deutschen Juristenrechts bezeichnen. Je mehr sich aber das roͤmische Recht in der Praxis der Gerichtshoͤfe und uͤberhaupt im Rechtsleben festsetzte, desto groͤßer ward auch die Selbstaͤndigkeit der deutschen Juristen; es ward schon auf die Ansichten derer, welche es mit der unmittelbaren Anwen- dung des Rechts zu thun hatten, und namentlich auf die Rechtsspruͤche ein bedeutendes Gewicht gelegt. Am Ersten und Entschiedensten machte sich in dieser Beziehung die Auctoritaͤt des Reichskammergerichts geltend; spaͤter, als sich auch ein- zelne Landesgerichte, und unter diesen besonders die saͤchsischen, eine allgemeinere Anerkennung verschafft hatten, wurden sie gleichfalls bei der Feststellung des Juristenrechts beruͤcksichtigt. Noch entschiedener wirkten darauf aber die Juristenfacultaͤten ein, als sich aus dem jus respondendi der einzelnen Docto- ren der Gebrauch der Facultaͤtserachten und daraus wieder in allmaͤliger Entwicklung eine wahre Jurisdiction der Spruch- collegien, wenn auch in der urspruͤnglichen Form der Rathser- theilung, fuͤr das ganze Reich gebildet hatte. Denn die aca- demischen Lehrer standen doch mehr, als die Beisitzer der an- dern Gerichtshoͤfe, in einer unmittelbaren Beziehung zur juri- Methode des Juristenrechts . stischen Theorie, welche sie nun also mit der Rechtsanwendung in die naͤchste Verbindung bringen konnten. Aus diesem Al- len erklaͤrt es sich, daß nach und nach die communis DD. opinio als Grund des Juristenrechts nicht mehr ganz so wie fruͤher aufgefaßt ward, und daß man neben den Ansichten an- gesehener Schriftsteller besonders auch die in den Rechtsspruͤ- chen dargelegte Ueberzeugung beruͤcksichtigte. Das ward denn auch seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in der juristischen Terminologie bemerklich, indem man das Juristenrecht nicht mehr als communis opinio, sondern als usus fori, Gerichts- gebrauch, Praxis zu bezeichnen pflegte, und den Ausdruck „ge- meine Meinung“ hauptsaͤchlich auf den Fall beschraͤnkte, wenn es sich nicht um die Begruͤndung selbstaͤndiger Institute, son- dern um die Entscheidung anhaͤngiger Controversen handelte. Auch stellte man wohl die Theorie der Praxis ausdruͤcklich ge- genuͤber, aber bis auf die neueren Zeiten nicht, um damit ei- nen inner Gegensatz auszudruͤcken, sondern nur, um die Ver- schiedenheit der Form und des Zwecks bei der Thaͤtigkeit der Juristen anzudeuten. Denn die beruͤhmtesten Practiker Deutsch- lands galten auch fuͤr bedeutende Theoretiker, obgleich sie wohl den Anforderungen einer sogenannten eleganten Jurisprudenz nicht immer genuͤgten. Diese hat aber uͤberhaupt auf das deutsche Rechtswesen stets nur einen sehr mittelbaren und be- schraͤnkten Einfluß ausgeuͤbt. Auf die angegebene Weise nun ist es geschehen, daß in Deutschland schon seit Langem ein Juristenrecht, wenn auch nicht dem Namen, so doch der Sache nach anerkannt worden ist. Und wie haͤtte es auch anders seyn koͤnnen, da es ja außer allem Zweifel ist, daß ein großer Theil des positiven Rechts nur durch den Einfluß des Juristenstandes gebildet, Zehntes Kapitel . und daß sogar die Aufnahme des roͤmischen Rechts dadurch allein moͤglich geworden ist. Ja dieses selbst stellt sich in sei- ner allmaͤligen Umwandlung und Modernisirung fuͤr den heu- tigen Gebrauch eigentlich als ein Juristenrecht dar, wenn auch mit einem sehr bedeutenden positiven Fundamente; auf der an- dern Seite aber haben ja gleichfalls die deutschrechtlichen In- stitute derselben Quelle zum großen Theile ihre Entstehung und gemeinrechtliche Ausbildung zu verdanken! Bei diesem Stande der Sachen darf es daher billig Wunder nehmen, daß gerade in neuester Zeit dem Juristenrecht von manchen Seiten die Anerkennung versagt wird, und daß man sich noch nicht uͤber dessen Begriffsbestimmung und Methode geeinigt hat. So hat noch neulich unter Anderen Mittermaier Grundsaͤtze des deutschen Privatrechts. 6. Aufl. I. §. 34. die Existenz eines selbstaͤndigen Juristenrechts ganz geleugnet, weil es auf Willkuͤhr beruhe, und wie oben gezeigt worden, wollen Puchta und v. Savigny dasselbe nur insoweit gelten lassen, als sich wahres Volksrecht darin offenbare. Ich kann in diesen Ansichten nur eine willkuͤhrliche Beschraͤnkung des positiven Rechtsstoffs fin- den, welche von theoretischen Voraussetzungen, die mit den ge- schichtlich begruͤndeten Rechtszustaͤnden in Deutschland nicht uͤbereinstimmen, ihren Ausgang nimmt; doch kommt allerdings auch in Betracht, daß die wissenschaftliche Behandlung des Juristenrechts bis jetzt sehr mangelhaft gewesen ist, und daß namentlich die Versuche, eine bestimmte Methode fuͤr die Er- forschung desselben anzugeben, so selten gemacht sind und ei- nen so geringen Erfolg gehabt haben. In fruͤherer Zeit fuͤhlte man uͤberhaupt nicht das Beduͤrfniß, sich uͤber den Begriff des Juristenrechts und uͤber das bei seiner weiteren Entwicklung Methode des Juristenrechts . beobachtete Verfahren Rechnung abzulegen. Man nahm, nach der Art einer gewandten Routine, die Sache, wie sie sich aͤußer- lich darstellte, und begnuͤgte sich meistens damit, einen Rechts- satz mit der Allegation einzelner Auctoritaͤten zu belegen, welche dann in ihrem Ansehen nach den verschiedenen Perioden wech- selten, und oft auch fuͤr die einzelnen Theile Deutschlands ver- schieden waren. Noch gegenwaͤrtig ist fuͤr manche Juristen Gluͤck’s Commentar ein wahrer Codex des Juristenrechts, und wer auch selbstaͤndiger zu Werke geht, der kommt doch selten uͤber das Ansammeln einzelner Auctoritaͤten hinaus, ohne die ganze Masse des zur Beurtheilung vorliegenden Materials in Fluß zu bringen und geistig zu durchdringen. Selbst Mau- renbrecher S. besonders dessen Lehrbuch des deutschen Privatrechts. 2. Aufl. I. §. 28 ff. , der zuerst weitlaͤuftiger uͤber die Methode des Juristenrechts gehandelt hat, kann sich von dem Gewicht der Zahl und von der wunderlichen Ansicht, als ob es sich dabei von einem Beweisverfahren handle, nicht losmachen, so daß er von Beweis und Gegenbeweis, von Einreden des Irrthums und der Unvernuͤnftigkeit spricht, Beweismittel auffuͤhrt u. s. w. Nur in wenigen Compendien und Monographien ist ein mehr wissenschaftlicher Weg eingeschlagen worden; aber allgemeine Regeln fuͤr die Methode hat man daraus noch nicht abstra- hirt. Es wird daher vor Allem noͤthig seyn, sich zuvoͤrderst hieruͤber zu verstaͤndigen, ehe das Juristenrecht seinem Inhalte nach einer naͤheren Betrachtung unterzogen werden kann. Die eigentliche Quelle des Juristenrechts in Deutschland ist die seit der Aufnahme des roͤmischen Rechts thatsaͤchlich be- gruͤndete Macht des Juristenstandes, welcher das Recht nach Zehntes Kapitel . allen Seiten hin beherrschte, und dadurch auch den nachhal- tigsten Einfluß auf dessen Ausbildung und Feststellung er- langte. Es machte sich eine Ansicht unter den Juristen gel- tend, welche vielleicht einem bestimmten Beduͤrfnisse entsprach, vielleicht aber auch vorzugsweise in theoretischen Voraussetzun- gen oder gar Irrthuͤmern ihren Grund hatte; man begann in den Gerichten die Rechtsverhaͤltnisse darnach zu beurtheilen; auch die einzelnen Rechtsgeschaͤfte wurden darnach eingerichtet; selbst die Gesetzgebung accommodirte sich dieser Entwicklung, und ehe man es sich versah, hatte sich eine neue Rechtsregel gebildet und stand als ein Bestandtheil des gemeinen Rechts da. Wenn denn auch uͤber deren Geltung vielleicht kein Zwei- fel mehr herrschte, so suchte man doch die letzte Begruͤndung oft, nachdem jener Entwicklungsproceß bereits vollendet war, in andern Umstaͤnden als eben in der Meinung der Juristen, welche sich, uͤber ihre eigene Productionskrast scheint es ver- wundert, fuͤr ihre Schoͤpfung nach einer aͤußeren Stuͤtze um- sahen. Insofern nun durch eine solche Rechtsbildung den An- forderungen der modernen Lebensverhaͤltnisse genuͤgt wurde, und die Juristen nur als ein Organ des Volksrechts thaͤ- tig gewesen waren, kann man das so entstandene Juristen- recht fuͤglich zum Volksrecht zaͤhlen oder doch als dessen Er- satz ansehen. Allein wie der deutsche Juristenstand uͤber- haupt nicht auf der breiten Basis des Volkslebens ruhte, und in keiner unmittelbaren Beziehung zum Volksbewußtseyn stand, sondern meistens ein abgeschlossenes, gelehrtes Wesen trieb, und sein Wissen mehr aus abgestorbenen Rechtsquellen, als aus der lebendigen Fuͤlle der Thatsachen und Verhaͤltnisse schoͤpfte; so mußte es auch geschehen, daß das von ihm gebildete Recht zum großen Theil nur die Kraft einer bloß aͤußerlichen Gel- Methode des Juristenrechts . tung erhielt, und sich daher als Gewohnheitsrecht im Gegen- satz zum Volksrecht darstellte. Wenn nun aber das Juristenrecht in der Ueberzeugung des Juristenstandes begruͤndet ist, so kann die Erkenntniß des- selben nur dadurch erlangt werden, daß man es eben als in dieser Ueberzeugung existirend nachweist. Dabei ist allerdings ein doppelter Weg moͤglich, aͤhnlich wie er schon bei den Er- kenntnißquellen des Volksrechts bezeichnet worden ist. Es laͤßt sich naͤmlich denken, daß ein Jurist eine so unmittelbare An- schauung von der gemeinsamen Ueberzeugung seines Standes hat, und sich, indem er eine darauf beruhende Rechtsregel an- wendet oder ausspricht, so bestimmt als dessen Repraͤsentanten fuͤhlt, daß er ohne eine vermittelnde Operation, und also auch ohne sich einer besonderen wissenschaftlichen Methode zu bedie- nen, sicher das Rechte trifft. Eine solche unmittelbare An- schauung des Juristenrechts wird sich namentlich dann finden; wenn die Geltung der Normen, um welche es sich handelt, keinem Zweifel mehr ausgesetzt ist, und sie in gleichmaͤßiger Anwendung so schnell wiederkehren, daß durch die haͤufige Uebung auch der Einzelne mit ihrem Daseyn ganz vertraut wird, was besonders bei den Regeln des Processes der Fall ist. Allein waͤhrend diese Art der Erkenntniß bei dem Volks- recht als das Urspruͤngliche und Natuͤrliche sich darstellt, und statt dessen nur in Folge besonderer Umstaͤnde eine wissenschaft- liche Operation noͤthig wird, so verhaͤlt sich bei dem Juristen- recht die Sache gerade umgekehrt. Denn es vertraͤgt sich nicht mit der Stellung, welche die deutsche Rechtsverfassung dem Juristen angewiesen hat, daß er sich, um die Geltung eines Rechtssatzes zu motiviren, bloß auf seine unmittelbare Rechts- anschauung beruft, wenigstens nicht in solchen Faͤllen, wo diese Beseler , Volksrecht. 20 Zehntes Kapitel . eben nur auf einer juristischen Ueberzeugung beruhen soll. Es ist freilich ein ganz verkehrtes Verfahren, ohne genuͤgenden Grund eine von der Jurisprudenz einmal anerkannte Regel zu negiren, und wenn dieß vielleicht deswegen geschieht, weil die Begruͤndung derselben nicht im roͤmischen Recht oder in einer andern Quelle des geschriebenen Rechts nachgewiesen werden kann, so liegt darin ein offenbares Zeugniß von der mangel- haften Kenntniß der modernen Rechtsbildung; was sich als eine besondere Wissenschaftlichkeit geltend machen will, stellt sich am Ende nur als eine einseitige und duͤrftige Gelehrsam- keit heraus. Allein der Jurist muß dennoch im Stande seyn, auch solchen Anfechtungen, denen das fest begruͤndete Juristen- recht ausgesetzt seyn kann, wissenschaftlich zu begegnen, d. h. er muß nicht bloß die Existenz der Regel, sondern auch den Grund derselben darthun koͤnnen. Ganz unerlaͤßlich aber wird diese Aufgabe, wenn uͤber die Geltung eines Rechtssatzes oder gar eines ganzen Rechtsinstituts Zweifel bestehen, und eine genaue Erwaͤgung des Fuͤr und Wider nothwendig wird, um zu einer bestimmten Ansicht zu gelangen. Eine solche wissen- schaftliche Begruͤndung des Juristenrechts setzt aber eine sichere Methode in der Behandlung des zur Beurtheilung vorliegen- den Rechtsstoffs voraus, welche, soweit uͤberhaupt eine freie geistige Thaͤtigkeit es zulaͤßt, nach bestimmten Regeln verfaͤhrt, und dadurch zu so festen Resultaten gelangt, als die Wahr- heit auf dem Wege der Empirie und Geschichte uͤberhaupt ge- funden werden kann. Denn das ist hier vor Allem fest zu hal- ten und hervorzuheben, daß es sich bei der Methode des Ju- ristenrechts von einer wissenschaftlichen, also freien und geisti- gen Thaͤtigkeit handelt. Wer dabei mit einer bloß mechani- schen Fertigkeit glaubt auskommen zu koͤnnen, der thut uͤber- Methode des Juristenrechts . haupt besser, sich von vorn herein nach einer andern Beschaͤf- tigung umzusehen, welche dem Handwerke etwas naͤher steht, als diese. Selbst die Anwendung einer civilproceßmaͤßigen Be- weislehre auf die Feststellung des Juristenrechts ist ganz und gar zu verwerfen, mehr noch als auf die des Volksrechts. Denn hier laͤßt sich doch, insofern der Juristenstand aus dem Volks- leben ausgeschieden ist, unter Umstaͤnden die Nothwendigkeit zugeben, daß man seiner mangelhaften Kenntniß der Thatsa- chen mit einer Beweisfuͤhrung zu Huͤlfe komme; bei dem Ju- ristenrecht aber kann es nur die Sache des Juristen seyn, sich mit dem Material zu versehen, aus welchem er die Ueberzeu- gung seines Standes zu erkennen hat. Dieß gilt gleichmaͤßig, mag die Untersuchung nun ein theoretisches oder ein bestimm- tes practisches Interesse haben; selbst wenn es sich um spe- cielle Rechtsnormen handelt, muß der Jurist sich selbstaͤndig in den Besitz der Mittel setzen koͤnnen, welche etwa zur Erledi- gung seiner Zweifel und zur Begruͤndung seiner Ansicht erfor- derlich sind. Wollte er diese Aufgabe einer Partei zuweisen, so wuͤrde das nichts Anderes heißen, als daß er dieser mehr juristische Bildung, Tact und Kenntnisse zutraue, als sich sel- ber. Natuͤrlich aber muß es den Parteien gestattet seyn, Al- les, was in Beziehung auf den Rechtssatz zu ihren Gunsten spricht, dem Richter vorzutragen, und ihn uͤberhaupt bei seiner wissenschaftlichen Operation zu unterstuͤtzen. Die Methode des Juristenrechts traͤgt also den Charakter einer freien, wissenschaftlichen Untersuchung an sich; ihre naͤ- here Bestimmung aber erhaͤlt sie durch ihren Gegenstand. In- dem sie naͤmlich die Aufgabe hat, das Recht als das Ergebniß der Ueberzeugung des Juristenstandes darzustellen, muß sie al- len den Erscheinungen nachgehen, in denen diese Ueberzeugung 20* Zehntes Kapitel . sich kund gegeben, und den Juristen daher allenthalben hin folgen, wo sie eine einflußreiche Thaͤtigkeit entwickelt haben, und wo die Spuren davon erkennbar sind. In dieser Hin- sicht lassen sich drei Gebiete unterscheiden, deren Grenzen frei- lich vielfach in einander laufen, die aber doch in einer gewis- sen Absonderung neben einander bestehen koͤnnen, — ich meine das Gebiet der Theorie, der practischen Rechtsanwendung und der Gesetzgebung. 1. Die Thaͤtigkeit der Juristen zeigt sich als Lehre in Rede und Schrift, wodurch die Ansichten am Bestimmtesten und Unmittelbarsten ihre Verbreitung finden. Fuͤr die Dar- stellung des Juristenrechts ist aber dabei nicht bloß auf solche Vortraͤge Ruͤcksicht zu nehmen, welche dasselbe direct zu ihrem Gegenstande haben; sondern von der ganzen Masse des uͤber- lieferten wissenschaftlichen Apparates ist dasjenige zu benutzen, was auf irgend eine Weise zu der rechtsbildenden Kraft des Juristenstandes in einem bestimmten Verhaͤltnisse steht und von derselben Zeugniß ablegt. Man pflegt diese Seite der juristi- schen Thaͤtigkeit als die Theorie zu bezeichnen, diesen Begriff aber bald enger bald weiter zu fassen, je nachdem man nur die rein wissenschaftlichen Arbeiten, ohne eine bestimmte Bezie- hung auf die Rechtsanwendung und die Gesetzgebung, darun- ter befaßt, oder jede Darstellung dahin rechnet, welche einen allgemeineren Zweck hat, und nicht der Erledigung einer be- stimmten practischen Aufgabe ausschließlich gewidmet ist. In diesem letzteren Sinne wuͤrde also ein Buch, welches eine Reihe von Praͤjudicaten benutzte, um daraus vermittelst einer selb- staͤndigen Bearbeitung der vorgekommenen Rechtsfragen wis- senschaftliche Resultate zu ziehen (wie etwa die Abhandlungen von Heise und Cropp), zur Theorie zu rechnen seyn, waͤhrend Methode des Juristenrechts . umgekehrt das Wort in seiner engeren Bedeutung genommen fast nur fuͤr eine historische oder philosophische Behandlung des Rechts paßte. Allein jene weitere Auffassung scheint die richtigere und auch insofern angemessener zu seyn, als dadurch der Ansicht, daß die Rechtswissenschaft ein selbstaͤndiges, vom Leben unabhaͤngiges Ziel in sich trage, bestimmt entgegen ge- treten wird. Damit soll aber natuͤrlich nicht gesagt seyn, daß die historische Forschung und die Philosophie fuͤr das Juristen- recht keine Bedeutung haben; denn da es einen Theil des po- sitiven Rechts bildet, so bietet es der wissenschaftlichen Behand- lung alle Seiten dar, welche nur an diesem uͤberhaupt zu finden sind. 2. Verschieden nun von der Theorie ist diejenige Thaͤ- tigkeit der Juristen, welche in der Anwendung des Rechts auf einzelne Rechtsverhaͤltnisse und Geschaͤfte besteht, und also zu- naͤchst die Erledigung eines bestimmten practischen Falls zu ihrer Aufgabe hat. Der Umstand, daß sich auch in dieser Hinsicht der Einfluß der Juristen zu einer fast ausschließlichen Herrschaft erhoben hat, ist gerade die Veranlassung gewesen, daß sie ihre theoretischen Ueberzeugungen in das Rechtsleben einfuͤhren und zur positiven Geltung bringen konnten. Jene practische Thaͤtigkeit zeigt sich nun vor Allem als die Rechts- anwendung in den Gerichten, hauptsaͤchlich natuͤrlich in den richterlichen Urtheilen, aber auch in den Vortraͤgen der Advo- caten und in den ausgestellten Gutachten, welche, wenn sie von angesehenen Juristen ausgingen, oft von großem Einfluß auf die Rechtsbildung geworden sind. Man thut daher jeden- falls Unrecht, wenn man sich die juristische Praxis allein in der richterlichen Amtsfuͤhrung concentrirt denkt; noch groͤßer aber ist der Irrthum, wenn man annimmt, daß das Juristen- Zehntes Kapitel . recht sich bloß aus den Praͤjudicaten ableiten lasse. Diese sind fuͤr den Zweck, um den es sich hier handelt, nichts anders, als Zeugnisse von der juristischen Ueberzeugung der Majoritaͤt eines bestimmten Gerichts, und haben haͤufiger ihren Grund in der schon fruͤher ausgebildeten Theorie, als daß sie umge- kehrt diese hervorrufen, obgleich hier natuͤrlich eine lebendige Wechselwirkung zwischen der Rechtslehre und der Rechtsan- wendung besteht, welche sich gegenseitig befestigen und bestim- men. In andern Staaten, namentlich in Frankreich und Eng- land, haben allerdings die Praͤjudicate der obern Gerichtshoͤfe einen groͤßeren und mehr unmittelbaren Einfluß auf die Rechts- bildung gewonnen, als vom Standpunct des gemeinen Rechts aus fuͤr Deutschland zugegeben werden kann; selbst die Auc- toritaͤt der Reichsgerichte ist auch in dieser Hinsicht immer nur eine beschraͤnkte geblieben, obgleich die Gesetzgebung entschieden darauf hin zu wirken suchte, in ihnen einen Mittelpunct fuͤr die einheitliche Entwicklung des gemeinen Rechts zu begruͤnden. Aber die Religionsstreitigkeiten, die vielen Exemtionen, die all- maͤlige Aufloͤsung der Reichsverfassung und uͤberhaupt die thatsaͤchlich so wenig wuͤrdige und erfolgreiche Stellung na- mentlich des Reichskammergerichts, welches den Verfall des nationalen Wesens nur zu treu in sich abspiegelte, — diese Gruͤnde ließen es nicht zu einer bindenden Kraft der reichsge- richtlichen Praͤjudicate kommen, fuͤr deren regelmaͤßige Veroͤf- fentlichung auch nicht einmal gesorgt war. Ich wuͤßte in der That keine einzige Lehre zu nennen, welche dadurch ihre defi- nitive Feststellung erlangt haͤtte; nur die Reception des roͤmi- schen Rechts ist, wie fruͤher gezeigt worden, durch das Reichs- kammergericht wesentlich befoͤrdert worden, aber mehr in Folge eines allmaͤlig wirkenden Einflusses, als durch die Kraft be- Methode des Juristenrechts . stimmter, unmittelbar geltender Entscheidungen. Auch in den einzelnen deutschen Staaten ist der Grundsatz, daß die unte- ren Gerichte, unabhaͤngig von den Ansichten der hoͤheren In- stanz, frei nach ihrer Ueberzeugung zu erkennen haben, stets als die gemeinrechtliche Regel festgehalten worden, so daß eine Abweichung davon einer besonderen particularrechtlichen Be- gruͤndung bedarf. Das gilt namentlich auch von den gemei- nen Bescheiden der Obergerichte, — eine Einrichtung, deren zeitgemaͤße Fortbildung neulich in Preußen und Baiern hin- sichtlich der Plenarbeschluͤsse des obersten Gerichtshofes versucht worden ist. — Diese Freiheit der subjectiven Ueberzeugung des Richters hat sich fuͤr Deutschland auch in den einzelnen Ge- richtshoͤfen geltend gemacht, indem man bei ihnen haͤufiger, als es bei andern Voͤlkern der Fall ist, ein Abgehen von fruͤ- her ausgesprochenen Ansichten, und daher ein Schwanken und oft einen directen Widerstreit in den Praͤjudicaten findet, je nachdem sich die Ueberzeugung der Majoritaͤt aͤndert. Das erklaͤrt sich aber vorzugsweise daraus, daß bei der Beschaffen- heit unseres positiven Rechts und unserer ganzen Verfassung, welche der gelehrten Theorie einen so weiten Spielraum ge- statten und der Entwicklung des Rechts aus den Lebensver- haͤltnissen heraus so wenig guͤnstig sind, die Hauptkraft des Juristenstandes nicht in den eigentlichen Practikern concentrirt ist. Diese lassen sich vielmehr das Material, namentlich das gemeinrechtliche, welches seiner Natur nach einem gewissen Wan- del unterworfen ist, meisten Theils von den Theoretikern be- reiten und zutragen, und kommen dadurch in eine Abhaͤngig- keit, welche die freie Beherrschung des Rechtsgebiets durch ihre Praͤjudicate unmoͤglich macht, und natuͤrlich auch das feste Be- harren bei Ansichten, die sie nicht selbstaͤndig begruͤndet haben, Zehntes Kapitel . außerordentlich erschwert. — Nach dieser Darstellung ist nun im Allgemeinen zu beurtheilen, was von der verbindlichen Kraft fruͤherer Praͤjudicate fuͤr das erkennende Gericht gelehrt zu werden pflegt, indem man in dieser Beziehung von einer Observanz der Gerichtshoͤfe als einer besonderen Rechtsquelle handelt, welche denn wohl gar als die einzige, wirklich begruͤn- dete Erscheinung des Juristenrechts aufgefaßt wird. Diese letz- tere Ansicht, welche auf eine irrige Deutung einzelner Bestim- mungen des roͤmischen Rechts zuruͤckzufuͤhren ist, koͤnnen wir fuͤglich unbeachtet bei Seite lassen; was aber die sogenannte Observanz der Gerichtshoͤfe betrifft, so hat man sich darunter nichts anders zu denken, als ein Gewohnheitsrecht, welches sich in der engen Sphaͤre einzelner Collegien ausgebildet hat, und wodurch Fragen des formellen Rechts, z. B. uͤber die Dauer gewisser Fristen, ein fuͤr allemal festgestellt sind, so daß eine willkuͤhrliche Abweichung davon unzulaͤssig erscheint. Auf ge- wisse Weise laͤßt sich nun auch eine solche Observanz aller- dings als eine Art des Juristenrechts auffassen; nur ist es auch hier nicht gerade nothwendig, daß es durch Praͤjudicate festgestellt ist, und die Wirkung desselben wird in der Regel nur die eines particulaͤren oder localen Rechtes seyn, indem sie sich nicht uͤber die Competenz des betreffenden Gerichtshofes hinaus erstreckt. Die Thaͤtigkeit des Juristenstandes in der Rechtsanwen- dung wird nun gewoͤhnlich die Praxis genannt; doch bezeich- net man mit demselben Ausdruck auch das Resultat jener Thaͤ- tigkeit in Beziehung auf die Rechtsbildung, so daß er dann dasselbe bedeutet, was sonst Gerichtsgebrauch , usus fori genannt wird. Die Praxis steht also, der Strenge des Be- griffs nach, der Theorie gegenuͤber; weil aber, wie schon be- Methode des Juristenrechts . merkt worden, die Grenzen zwischen beiden in der Wirklichkeit nicht geschieden sind, so nimmt man es gewoͤhnlich auch mit dem Sprachgebrauch nicht so genau, und bedient sich des ei- nen wie des andern Ausdrucks bald im weiteren bald im en- geren Sinne, faßt auch wohl beides unter einem gemeinschaft- lichen Namen zusammen, zu welchem Zwecke z. B. Eichhorn der Terminologie des franzoͤsischen Rechts das Wort Doc- trin entlehnt hat. 3. Mit der Anfuͤhrung der Theorie und Praxis pflegt man sich nun zu begnuͤgen, wenn die verschiedenen Seiten der juristischen Thaͤtigkeit, auch mit Ruͤcksicht auf die Erkenntniß- quellen des Juristenrechts, angegeben werden. Aber es ist noch ein drittes Moment zu betrachten, welches gerade fuͤr die Entwicklung des deutschen Juristenrechts von der groͤßten Wich- tigkeit geworden, — das ist die Theilnahme der Juristen an der Gesetzgebung. Diese mußten sie naͤmlich in ihre Haͤnde bekommen, wenigstens insofern sie sich auf das eigentliche Rechtsgebiet bezog, weil sie uͤberhaupt das Recht fast aus- schließlich in der Theorie und Praxis beherrschten; und so er- klaͤrt es sich, daß seit dem Anfange des 16. Jahrhunderts kaum ein Rechtsgesetz in Deutschland erlassen worden ist, mochte es nun eine selbstaͤndige Schoͤpfung seyn oder in der Ueberarbei- tung aͤlterer Statute bestehen, dessen Abfassung nicht vorzugs- weise von Juristen besorgt worden waͤre. Dadurch kam auch die Gesetzgebung in ein bestimmtes Verhaͤltniß zur juristischen Theorie, von der sie nicht bloß einzelne Institute und Rechts- saͤtze entlehnte, sondern auch im Allgemeinen ihre Richtung und naͤhere Bestimmung erhielt. Hatten dann die Namen der Ver- fasser und die Tuͤchtigkeit ihrer Leistungen dem Gesetz einen gewissen Ruf verschafft, so wurde dasselbe nicht bloß ein Zehntes Kapitel . Muster fuͤr spaͤtere Arbeiten aͤhnlicher Art, sondern es wirkte auch wieder auf die Theorie zuruͤck und galt so gut wie eine ausgezeichnete Schrift oder ein tuͤchtiges Praͤjudicat als eine neue Auctoritaͤt. Suchten nun aber die Juristen auch ihre theoretischen Ueberzeugungen, soweit es ihnen moͤglich war, in die von ihnen bearbeiteten Gesetze zu bringen, so sahen sie sich doch oft veranlaßt, den Anforderungen der Sitte und des Le- bens nachzugeben, und solche Bestimmungen, welche sie von ihrem besonderen Standpuncte aus nie zu vertheidigen gewagt haͤtten, mit einer gesetzlichen Sanction zu bekleiden. Dadurch ward denn fuͤr das Juristenrecht selbst eine weitere Entwick- lung vorbereitet, indem man sich allmaͤlig daran gewoͤhnte, das in den Gesetzen enthaltene Material wiederum fuͤr eine freiere juristische Deduction zu benutzen, und also ein neues Element in den Kreis seiner Vorstellungen aufzunehmen. Auf diese Weise ist es geschehen, daß sich die germanistische Rich- tung in unserer Jurisprudenz an den Landrechten und Sta- tuten, welche von dem einheimischen Recht noch so Vieles be- wahrt hatten, zu einer gemeinrechtlichen Theorie entfalten konnte. Das gilt freilich zunaͤchst nur von den Particularge- setzen; fuͤr die Reichsgesetze, welche unmittelbar gemeines Recht enthielten, mußte sich die Sache anders verhalten. Indessen kommt doch auch hier zur Erwaͤgung, daß sie selten eine voll- staͤndige Legislation aufzuweisen hatten, sondern oft nur die Anfaͤnge einer neuen Rechtsbildung, welche dann von den Ju- risten weiter fortgefuͤhrt wurde; und dann, daß sie nicht im- mer sogleich zur unmittelbaren Geltung kamen, sondern erst allmaͤlig durch die Juristen dazu gelangten. In diesen beiden Beziehungen ward der Inhalt der Reichsgesetze also gewisser- maaßen zu einem Juristenrecht umgebildet, wie sich recht deut- Methode des Juristenrechts . lich ergiebt, wenn man das Verhaͤltniß, in welchem die pein- liche Halsgerichtsordnung Karl V. und der juͤngste Reichsab- schied von 1654. zum gemeinen deutschen Rechte stehen, in seiner geschichtlichen Entwicklung verfolgt. — Selbst bei den neueren Gesetzbuͤchern laͤßt sich, so weit es ihre groͤßere Selb- staͤndigkeit gestattet, eine aͤhnliche wechselseitige Beziehung zwi- schen ihnen und der gemeinrechtlichen Theorie nachweisen. Waͤhrend man z. B. im preußischen Landrecht bei manchen Lehren, auch ohne die Vorarbeiten zu kennen, gewisse unter den Juristen zur Zeit der Abfassung gerade vorherrschende An- sichten verfolgen kann, so hat es umgekehrt auch wieder auf die Gestaltung der spaͤteren Theorie wesentlich eingewirkt, und namentlich manchen Lehren des deutschen Privatrechts etwas von seiner eigenthuͤmlichen Faͤrbung mitgetheilt. Aehnlich ver- haͤlt es sich mit dem oͤsterreichischen Gesetzbuch, welches z. B. auf die gemeinrechtliche Lehre von der Collision coordinirter Rechtsquellen einen bestimmten Einfluß ausgeuͤbt hat. Wenn man nun diese verschiedenen Seiten der Wirksam- keit des Juristenstandes gehoͤrig erfaßt, und sie in ihrem innern Zusammenhange und in ihrer Beziehung zu der allgemeinen modernen Rechtsbildung in Deutschland richtig zu wuͤrdigen weiß, so wird man eben das positive Juristenrecht mit einer so großen Sicherheit und Bestimmtheit, wie sie uͤberhaupt eine wissenschaftliche Entwicklung gewaͤhren kann, darzustellen ver- moͤgen. Dabei kommt es denn freilich vor Allem darauf an, die juristische Ueberzeugung der Gegenwart zur vollkommenen Klarheit zu erheben, und die darin wurzelnden Institute und Rechtssaͤtze wissenschaftlich zu begruͤnden. Allein die allgemeine Natur des Juristenrechts bringt es schon mit sich, daß dessen tieferes Verstaͤndniß nicht aus der Betrachtung einer einzelnen Zehntes Kapitel . Periode, und wenn es auch die uns am Naͤchsten stehende waͤre, gewonnen werden kann; es muß vielmehr die Jurisprudenz in ihrer Bewegung und allmaͤligen Entwicklung aufgefaßt werden, so daß eine Untersuchung, welche das heutige Juri- stenrecht zu ihrem Gegenstande hat, die Institute in ihrer er- sten Erscheinung erfaßt, und sie dann in ihrer weiteren Umbil- dung und Veraͤnderung bis zur Gegenwart verfolgt. Daher ist hier vor Allem die historische Forschung unentbehrlich, aber leider noch eben auf dem Gebiete der Dogmengeschichte am Wenigsten angewandt. Selbst solche Juristen, denen sonst die geschichtliche Betrachtung des Rechts und die entsprechende Be- nutzung der Rechtsquellen gelaͤufig ist, geben sich oft bei der Entwicklung des Juristenrechts die aͤrgsten Bloͤßen, indem sie die Rechtslehrer aus den verschiedensten Perioden als Auctori- taͤten neben einander auffuͤhren, ohne sich uͤber deren besondere Stellung in der Wissenschaft und zu den einzelnen Instituten klar zu seyn, und ohne die verschiedenen Bildungsstufen und Uebergaͤnge in unserer Jurisprudenz gehoͤrig zu beachten. In dieser Beziehung tritt eben der Unterschied zwischen einer wah- ren historischen Forschung und Anschauung und einem bloßen Aufhaͤufen gelehrten Materials recht bestimmt hervor. — Al- lein laͤßt sich nun auch behaupten, daß die Anwendung der richtigen Methode genuͤgen wird, um ein durchaus festes und klares Juristenrecht darzustellen und zum allgemeinen Bewußt- seyn zu bringen? Ohne Zweifel ist in dieser Hinsicht noch außerordentlich viel zu leisten, und manche scheinbar unaufloͤs- liche Controverse wird sich mit Leichtigkeit entscheiden lassen, manche kaum erklaͤrliche Norm der Praxis wird ihr volles Verstaͤndniß erhalten, wenn man ihren letzten Gruͤnden sorg- faͤltig nachspuͤrt. Aber wenn dem auch also ist, so bleibt es Methode des Juristenrechts . doch außer Frage, daß in vielen Faͤllen noch Zweifel und Schwankungen bestehen werden, welche auch die groͤßte Meisterschaft der wissenschaftlichen Behandlung nicht zu be- seitigen vermag, weil sie eben ihren Grund in der Be- schaffenheit des Gegenstandes haben. Es kommt freilich hier, wie uͤberhaupt bei einer wissenschaftlichen Thaͤtigkeit, auf die Art und Weise, wie man operirt und seinen Gegenstand zu fassen weiß, unendlich viel an, und der, welcher sich einmal eines bestimmten leitenden Princips bemaͤchtigt hat, wird daran auch das Einzelne der Lehre oft mit der groͤßten Sicherheit entwickeln koͤnnen, waͤhrend ein Anderer, welcher eben nur nach dem Detail spuͤrt, auch dieses nicht zu beherrschen weiß. Al- lein unsere Jurisprudenz ist nicht von einer solchen inneren Tuͤchtigkeit, daß sie sich stets nach bestimmten Principien aus- gebildet haͤtte, und mancher Satz, der in der Praxis seine An- wendung findet, steht haltungslos als etwas Vereinzeltes da; manche Lehre ist gar nicht zu einem festen Abschluß gekom- men, sondern schwankt noch zwischen den Extremen der ver- schiedenen Meinungen hin und her. Demnach waͤre also das Juristenrecht zum Theil noch unbefestigt und zu einer sicheren Darstellung und Anwendung nicht geeignet? Wollte man die- ses annehmen, so wuͤrde man dadurch den Begriff eines posi- tiven Rechtes aufheben; und daher laͤßt sich fuͤr jene Faͤlle nur sagen: sie gehoͤren nicht zum Juristenrecht, welches sich in Beziehung auf sie noch gar nicht gebildet hat; sie sind viel- mehr zu jenen betruͤbenden Erscheinungen unseres Rechtswe- sens zu zaͤhlen, welche es recht fuͤhlbar machen, wie groß noch dessen Maͤngel sind. Das Mißliche dieser Zustaͤnde wird nie- mand lebhafter fuͤhlen, als wer es versucht hat, einem solchen verwahrlosten Institut einen positiven Inhalt zu verschaffen, Zehntes Kapitel . oder wer genoͤthigt ist, als Richter einen dahin gehoͤrenden Rechtsfall zu entscheiden. Jener hat seine Aufgabe erfuͤllt, wenn er die thatsaͤchliche Beschaffenheit der Lehre gewissenhaft darlegt; dieser muß sich mit dem uͤbrigen juristischen Ruͤstzeug so gut er kann behelfen, — also, wenn ihm keine andere Rechts- quelle zu Gebote steht, aus der Natur der Sache, der bona fides, der Analogie u. dgl. seine Entscheidung begruͤnden, und sich damit troͤsten, daß das Mangelhafte darin nicht ihm, son- dern unseren Rechtszustaͤnden zur Last faͤllt. Mit einem blo- ßen Zaͤhlen der Auctoritaͤten ist natuͤrlich nichts gewonnen; denn abgesehen davon, daß auch die reichlichst ausgestattete Bibliothek nie die Sicherheit gewaͤhrt, daß man sich im Besitze einer vollstaͤndigen Literatur befindet, so weiß jeder, der in der Dogmengeschichte nicht ganz unbewandert ist, wie geringe die Selbstaͤndigkeit der meisten juristischen Schriftsteller ist, und wie sich die innere Entwicklung des Juristenrechts an einzelne hervorragende Persoͤnlichkeiten anlehnt, welche als die Repraͤ- sentanten einer bestimmten Zeit und Richtung erscheinen, und oft die fruͤher fest begruͤndeten Lehren von Grund aus erschuͤt- tert haben. Nur so viel laͤßt sich zugeben, daß eine allgemein angenommene Ansicht nicht dadurch den Charakter einer ge- meinsamen Ueberzeugung des Juristenstandes verliert, wenn etwa auch der eine oder der Andere ohne nachhaltigen Erfolg sich dagegen aufgelehnt hat. Ich will dieß nun in Beziehung auf einzelne Rechtssaͤtze, die so in der Praxis herum schwimmen, nicht naͤher ausfuͤh- ren; aber fuͤr allgemeinere Institute, welche dem Juristenrecht ihre Normirung verdanken, wird eine genauere Eroͤrterung, die sich am Besten an bestimmte Beispiele anlehnt, nicht unange- messen seyn. Denn an diesen laͤßt sich recht anschaulich ma- Methode des Juristenrechts . chen, wie sich die Rechtsbildung in dieser Sphaͤre gestaltet, und wie sich die Institute in einer fortwaͤhrenden innern Bewe- gung befinden, indem sie bald in consequenter Entwicklung zu einer festen und vollen Ausbildung gelangen, bald aber auch wieder von der schon erreichten Sicherheit abweichen, und durch Einfluͤsse verschiedener Art bestimmt, in das Schwankende und Bestrittene zuruͤckfallen, oder gar aus dem positiven Rechte ganz verschwinden. Zu den Instituten, welche sich in allmaͤliger Entwicklung zu einer unbedingten Gemeinrechtlichkeit ausgebildet haben, ge- hoͤrt der Erbvertrag und namentlich der Erbeinsetzungsvertrag. Dieß letztere Geschaͤft war dem aͤlteren deutschen Rechte ganz fremd, indem dasselbe als Mittel, eine Zuwendung von Todes wegen zu machen, nur die Vergabung durch Constituirung eines sofort wirksamen Rechts kannte, und zwar regelmaͤßig einer Gewere an Immobilien vermoͤge der Auflassung, an welche sich spaͤter in einigen Localrechten die gerichtliche Aus- lobung beweglicher Sachen ansetzte. Indessen bildete sich noch waͤhrend der Herrschaft des deutschen Rechts die vertragsmaͤ- ßige Erbfolge unter Ehegatten aus, die auch in dieser Anwen- dung so wie uͤberhaupt da, wo es sich nicht um eine einsei- tige Freigebigkeit, sondern um die Anordnung dauernder Ver- haͤltnisse handelt, ihre angemessene Stelle findet. Seit der Auf- nahme des roͤmischen Rechts aber hielten sich die Juristen strenge an dessen Bestimmungen uͤber die Erbvertraͤge, welche darin absolut verboten sind; nur durch die Herbeiziehung un- passender Analogien suchte man einzelne Arten des Geschaͤftes aufrecht zu erhalten, denen denn spaͤter eine gemeinrechtliche Geltung vermoͤge einer allgemeinen deutschrechtlichen Gewohn- heit zugesprochen ward. Als ein allgemeines Mittel der Zu- Zehntes Kapitel . wendung von Todes wegen wurde der Erbeinsetzungsvertrag aber bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts nicht anerkannt, und es war auch gar kein Beduͤrfniß dafuͤr vorhanden, weil man sich schon fruͤh unter der Vermittlung der Geistlichkeit mit den letztwilligen Verfuͤgungen des roͤmischen Rechts ver- traut gemacht hatte, und mit richtigem Tacte diese dem un- widerruflichen Vertrage vorzog, zumal da fuͤr denselben keine bestimmte gemeinrechtliche Form gewonnen ward. Allein seit der Mitte des 17. Jahrhunderts setzte sich unter den Juristen, welche die alte Vergabung mit dem Erbeinsetzungsvertrage ver- wechselten, die Ansicht fest, das letztere Geschaͤft habe von jeher in Deutschland in einer ganz allgemeinen Anwendung gegol- ten, und muͤsse auch gegen das Verbot des roͤmischen Rechts aufrecht erhalten werden. Diese Ansicht, die bald unangefoch- ten in der Theorie da stand, erhielt noch eine besondere Stuͤtze an der Lehre von der unbedingten Klagbarkeit aller Vertraͤge, und bildete sich zu einer festen und gemeinsamen Ueberzeugung des deutschen Juristenstandes aus, welcher es auch vermochte, das Geschaͤft in eine gewisse, wenn auch nur spaͤrliche Uebung zu bringen, und in den Faͤllen, wo es zur richterlichen Ent- scheidung kam, seine Anerkennung durchzusetzen. Diesem Ent- wicklungsgange der Lehre schloß sich denn auch allmaͤlig die particulaͤre Gesetzgebung an, und recipirte das Institut in sei- ner weitesten Geltung. So hat sich der Erbeinsetzungsvertrag von geringen Anfaͤngen im Volksrechte an als ein Product der Jurisprudenz und also als ein Bestandtheil des Juristen- rechts entwickelt, dem sich, so schwer es Einem auch bei der ganz unangemessenen Stellung desselben ankommen mag, die unbedingte Gemeinrechtlichkeit nicht absprechen laͤßt, wenn man nicht uͤberhaupt das positive Recht aus Gruͤnden der Zweck- Methode des Juristenrechts . maͤßigkeit in Abrede stellen, und dadurch einen Zustand der Unsicherheit und der Willkuͤhr herbeifuͤhren will, der schlimmer ist, als die thatsaͤchlich doch nur beschraͤnkte Geltung jenes miß- lungenen Instituts. Gegen diese Darstellung, welche ich in meiner Lehre von den Erb- vertraͤgen weitlaͤuftiger begruͤndet habe, ist freilich von Albrecht (Krit. Jahrbuͤcher fuͤr deutsche Rechtswissensch. VI. 4. S. 323 ff.) ein Bedenken erhoben worden, welches aber, wie mir scheint, zum großen Theile auf einem Mißverstaͤndnisse beruht, und durch die weitere Ausfuͤhrung, welche ich in dieser Schrift uͤber die Natur des Juristenrechts gegeben habe, bereits beseitigt seyn moͤchte. Denn nicht die bloß theoretischen Ansichten der Juristen halte ich fuͤr dessen Quelle, sondern die sich auch practisch geltend machende Ueberzeugung derselben, welche aber immerhin dem wahren Be- duͤrfnisse des Volkes nicht entsprechen kann. Damit steht denn auch nicht in Widerspruch, wenn ich Hasse’s Deduction des Vermaͤchtnißvertrags ver- worfen habe; denn in diesem Falle handelte es sich, wenigstens nach mei- nem Dafuͤrhalten, nicht um ein geschichtlich ausgepraͤgtes Institut des po- sitiven Rechts, sondern um die Meinung eines einzelnen Juristen, die ich auf die verwerfliche Ansicht von der selbstaͤndigen Bedeutung der Jurispru- denz als einer gelehrten Disciplin im Gegensatz zum Rechtsleben glaubte zuruͤckfuͤhren zu koͤnnen. — Uebrigens habe ich ja nie behauptet, daß die Juristen den Erbeinsetzungsvertrag ganz ersonnen haben; durch irgend eine besondere Veranlassung wird jedes Institut des Juristenrechts hervor- gerufen seyn, wenn auch nicht immer durch ein practisches Beduͤrfniß, und wenn auch vielleicht Irrthum und Unverstand zuweilen das Meiste zur Ausbildung beitrugen. Den Erbeinsetzungsvertrag unter Ehegatten habe ich ja als ein selbstaͤndiges Product des germanischen Rechtslebens aner- kannt, und nur die unbegruͤndete Generalisirung dieses Geschaͤftes den Ju- risten zugewiesen. Wenn Albrecht darin eine organische Entwicklung nachzuweisen sucht, so ist das wohl ein vergebliches Bemuͤhen; was er aber von dem sogenannten particulaͤren Erbvertrage sagt, moͤchte doch, ab- gesehen von der Controverse uͤber dessen urspruͤngliche Bedeutung, schon deswegen nicht fuͤr zutreffend gelten koͤnnen, weil dieses Geschaͤft auf die Entwicklung der Lehre von den Erbvertraͤgen in der gemeinrechtlichen Doc- trin keinen irgendwie nachhaltigen Einfluß ausgeuͤbt hat. Einen Gegensatz zu der Entwicklungsgeschichte der Lehre von den Erbvertraͤgen liefert die von den Testamentsexecutoren, indem sich bei derselben ein merkwuͤrdiger Wechsel in der ju- Beseler , Volksrecht. 21 Zehntes Kapitel . ristischen Auffassung des Instituts darstellt, dessen sichere und angemessene Normirung der modernen Jurisprudenz noch nicht gelungen ist. Das erklaͤrt sich freilich zum Theil aus dem Umstande, daß hier eine von den Lehren vorliegt, welche man fast heimathslos nennen kann, da die Romanisten und Ger- manisten sie sich gegenseitig zuschieben; jene sehen wohl ein, daß das roͤmische Recht fuͤr die juristische Darstellung des In- stituts nicht ausreicht, und diese halten sich davon fern, weil es unmittelbar mit den letztwilligen Geschaͤften zusammen haͤngt, und daher keinen Theil des einheimischen Rechts zu bilden scheint. Aber eben darin besteht das Mangelhafte der heuti- gen Theorie, daß sie es nicht vermocht hat, die eigenthuͤmliche Bedeutung der ganzen Einrichtung, welche die aͤlteren Juristen durch roͤmische Analogien aufrecht zu erhalten suchten, gehoͤrig zu wuͤrdigen und selbstaͤndig zu begruͤnden. Es verhaͤlt sich damit naͤmlich auf folgende Weise. — Als man im Mittelalter die letztwilligen Verfuͤgungen des roͤmischen Rechts zu benutzen begann, war man weit davon entfernt, das kunstvolle Ge- baͤude der roͤmischen Testamentslehre in seinem ganzen Um- fange zu recipiren. Es ward nur darauf ein Gewicht gelegt, daß man ein Geschaͤft bekam, wodurch eben einseitig und wi- derruflich uͤber den Tod hinaus verfuͤgt werden konnte; die strenge Form der Testamente und die Nothwendigkeit einer Erbeseinsetzung ließ man dabei unberuͤcksichtigt. Dieser letztere Umstand aber machte es, daß die sogenannten deutschen Testa- mente nur ein Aggregat einzelner Vermaͤchtnisse zu seyn pfleg- ten; es fehlte daher die formelle Vertretung des Erblassers durch den Testamentserben, waͤhrend es doch aus manchen Gruͤnden bedenklich erscheinen mußte, dessen Functionen dem nach germanischer Rechtsanschauung beeintraͤchtigten gesetzlichen Methode des Juristenrechts . Erben anzuvertrauen. In dieser Verlegenheit half man sich dadurch, daß gleich bei der Errichtung des Testaments eine oder mehre Mittelspersonen ernannt wurden, denen man die Vollstreckung desselben auftrug, also namentlich die Berichti- gung der Vermaͤchtnisse, und falls es dauernde Stiftungen waren, deren Anordnung und oft auch deren Verwaltung; außerdem aber hatten diese Mittelspersonen die Regulirung des Nachlasses zu besorgen, Schulden zu berichtigen, Forderungen einzutreiben, und an einigen Orten, z. B. in Luͤbeck, wurden sie auch regelmaͤßig die Vormuͤnder der vom Testator hinter- lassenen Ehefrau und Kinder. Daß man aber auf den Ausweg verfiel, sich solcher Mit- telspersonen zu bedienen, erklaͤrt sich leicht, wenn man sieht, daß schon bei den deutschrechtlichen Vergabungen von Todes wegen Salmannen zu demselben Zwecke verwandt wurden; diese brachte man mit dem Testament in Verbindung, indem allmaͤ- lig ihre Bestellung durch die Auflassung in eine testamentari- sche Ernennung uͤberging. Außerdem aber hat, wie Pauli neulich dargethan, wahrscheinlich auch die zuweilen vorkom- mende Sitte, Vormuͤnder eines Todten zu bestellen, auf die Ausbildung des Instituts der Testamentsvollstrecker Einfluß gehabt. Diese nun, welche allenthalben, wo man die letztwil- ligen Verfuͤgungen benutzte, unter sehr verschiedenen Benennun- gen sich finden, und fast in keinem Testamente jener Zeit fehl- ten, hatten, wie schon bemerkt, im Wesentlichen die Aufgabe, den Erblasser nach seinem Tode formell zu repraͤsentiren, inso- weit es die Vollziehung des Testaments noͤthig machte oder die Sitte und der ausdruͤcklich ausgesprochene Wille des Te- stators es erheischten. Das galt als festes Recht, so lange sich die letztwilligen Verfuͤgungen als ein vereinzeltes Institut 21* Zehntes Kapitel . des fremden Rechts im germanischen Rechtsleben bewegten, und so ist es auch da, wo dem einheimischen Recht seine volle Geltung bewahrt wurde, wie in England, bis auf einige wei- tere Modificationen geblieben. Aber in Deutschland mußten die Testamentsexecutoren eine neue Probe bestehen, als das roͤmi- sche Recht in seinem ganzen Umfange recipirt ward, und man nun zur Einsicht gelangte, daß ein Testament eben einen in- stituirten Erben voraussetze, und daß mit dessen rechtlicher Stellung sich die jenen Mittelspersonen eingeraͤumte Befugniß kaum vertrage. In der That drang auch die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer Erbeseinsetzung allgemein durch, indem nur wenige Statute die aͤltere Ansicht beibehielten, waͤh- rend sich jedoch die gemeinrechtliche Praxis durch die Andeu- tungen, welche das roͤmische Recht von den codicillis ab in- testato enthaͤlt, einen ziemlich freien Spielraum zu verschaffen mußte. Wie aber kamen nun die Testamentsvollstrecker zu stehen? Hier half man sich nach Art der damaligen Juris- prudenz durch eine roͤmischrechtliche Analogie, und nahm nach dem Vorgange aͤlterer Schriftsteller, namentlich des Duranti, ein officium der Executoren an, welches dem der Tutoren verglichen und darnach entwickelt wurde. Auf diese Weise brachte man in die juristische Deduction, welche die Stellung der Executoren im Wesentlichen nach der deutschen Rechtsan- sicht aufrecht hielt, eine gewisse Haltung und Consequenz, so daß noch im 17. Jahrhunderte selbst solche Juristen, die so entschieden romanisirten, wie z. B. A. Faber, jene Auffassung des Instituts vertheidigten; auch ging dieselbe, wenn gleich unter verschiedenen Modificationen, in die gleichzeitigen Gesetz- gebungen uͤber. Allein nach und nach kam man in der ge- meinrechtlichen Theorie wieder von jenem Princip der Lehre Methode des Juristenrechts . ab, indem man das Bedenkliche, welches allerdings in der er- waͤhnten Analogie lag, hervor hob, und sich nach einer ande- ren Begruͤndung umsah. Dabei war es nun aber eben fuͤr die weitere Entwicklung des Instituts von großer Wichtigkeit, daß die Germanisten sich desselben, weil es dem roͤmischen Testa- mente anhaͤngt, nicht annahmen, und es einer mehr romanisti- schen Auffassung Preis gaben. Es setzte sich nun die schon in der fruͤheren Theorie leicht angedeutete Ansicht immer mehr fest, der Testamentsvollstrecker sey als Mandatar des Testa- tors zu behandeln und sein Verhaͤltniß darnach zu bestimmen. Diese Auffassung aber, welche auch in die neueren Gesetzbuͤ- cher uͤbergegangen ist, hat nun die Lehre in eine ganz schiefe Lage gebracht; denn wenn man auch von dem begruͤndeten Bedenken absehen will, ob sie sich mit der Natur des gemein- rechtlichen Mandats vereinigen laͤßt, so werden dadurch in der Praxis die allergroͤßten Schwierigkeiten hervorgerufen. Es fehlt nun ein selbstaͤndiges Princip der Beurtheilung uͤber die Competenz des Executors, da die im Testament gegebene Voll- macht, auch wenn sie noch so sorgfaͤltig erwogen ist (und wie oft ist sie nur ganz kurz und unbestimmt in der Form einer Ernennung gefaßt!) leicht unzureichend seyn kann, und namentlich das Verhaͤltniß zwischen dem Executor und dem Erben nach allen Seiten hin unsicher und schwankend laͤßt. Daher erklaͤrt es sich, daß, so entschieden die gemeinrechtliche Theorie jetzt auch das Mandatsverhaͤltniß fest haͤlt, in der Praxis doch die alte Ansicht von einer eigenthuͤmlichen und selbstaͤndigen Stel- lung der Testamentsexecutoren und eine Hinneigung zur Ver- gleichung mit den Vormuͤndern stets wieder auftaucht, womit denn auch in Verbindung steht, daß man eine gewisse Ein- wirkung des Gerichts und zwar des Erbschaftsgerichts, dessen Zehntes Kapitel . Geltung freilich auch angefochten wird, anzuerkennen geneigt ist. Wenn nun, wie wohl anzunehmen, die Bestellung solcher Mittelspersonen neben dem Testamentserben auch noch dem gegenwaͤrtigen Beduͤrfnisse entspricht, und nicht bloß bei der Anordnung und Leitung dauernder Stiftungen, welche ihre besondere Beruͤcksichtigung verdienen, angemessen ist: so muß der ganzen Lehre auch wieder ein mehr fruchtbares und ihrem Wesen entsprechendes Princip, als das Mandatsverhaͤltniß ge- waͤhren kann, gewonnen werden; aber dem heutigen Juristen- recht ist es mit Sicherheit nicht zu entnehmen. Waͤre jedoch kein wahres Beduͤrfniß fuͤr das Institut mehr vorhanden, so wuͤrde es gewiß eben seiner ungefuͤgigen Gestalt wegen schon aus dem Rechtsleben verschwunden seyn oder doch bald verschwin- den; denn solche Einrichtungen, mit denen sich practisch nichts Rechtes anfangen laͤßt, wird man, einer verschrobenen Theorie zu Liebe, nicht lange aufrecht erhalten koͤnnen. Ein entschiede- ner Widerspruch gegen ihre innere Begruͤndung pflegt dann auch eine baldige Umaͤnderung in der juristischen Ueberzeu- gung zur Folge zu haben. So sind die sogenannten pacta dotalia mixta oder in vim ultimac voluntatis concepta, mit denen man sich fruͤher als einem Bestandtheile des Juri- stenrechts so viel zu schaffen machte, seitdem von J. H. Boͤh- mer ihre Geltung bestritten worden, auch von der gemeinrecht- lichen Theorie so gut wie ganz aufgegeben, und vielleicht steht dem Erbvertrage in seiner Formlosigkeit und unbeschraͤnkten Geltung ein aͤhnliches Schicksal in nicht ferner Zeit bevor. Mit solchen Uebergaͤngen ist denn aber nothwendig eine Periode des Schwankens und der Controverse verbunden, wenn die Gesetzgebung nicht mit einer bestimmten Norm dazwischen tritt; denn jede Rechtsentwicklung, welche nicht unmittelbar von ihr ausgeht, hat eine gewisse Dauer noͤthig, bevor sie sich Methode des Juristenrechts . in fester Haltung zu einer wahren Ueberzeugung auspraͤgt. Ein solcher Zustand der Unsicherheit besteht gegenwaͤrtig z. B. bei der so lebhaft eroͤrterten Frage uͤber die Erbfaͤhigkeit legiti- mirter Kinder hinsichtlich der Lehenguͤter, woruͤber Dieck so be- lehrende Aufschluͤsse aus der Dogmengeschichte gegeben hat. Hier zeigt sich denn auch recht deutlich, wie das Juristenrecht mit andern positiven Rechtsquellen in Conflict gerathen kann, ohne daß sich von vorne herein sagen ließe, welchem Theile der Sieg gebuͤhrt. Denn gesetzt auch, daß die auf jene Frage bezuͤgliche Stelle des longobardischen Lehenrechts fuͤr recipirt zu achten ist, so waͤre es doch recht gut moͤglich, daß das Juristenrecht sie außer Uebung gebracht haͤtte; dann aber wuͤrde eine neue Rechtsbildung, die indessen auch in der ver- aͤnderten Ueberzeugung des Juristenstandes ihren Grund haben koͤnnte, noͤthig seyn, um die fruͤhere gesetzliche Regel wieder herzustellen. Aber auch ein unterdruͤcktes, aber wieder in das Bewußtseyn getretenes Volksrecht kann eine solche Umaͤnderung hervorbringen. Damit ist denn freilich der Fall nicht zu ver- wechseln, wenn das Volksrecht in steter Wirksamkeit geblieben, und nur von den Juristen mißverstanden und verkannt ist, so daß trotz ihrer Herrschaft uͤber das Gerichtswesen die eigen- thuͤmliche Natur der Institute sich lebendig erhalten hat, und um zu ihrer vollen Anerkennung zu gelangen nichts anders bedarf als eine Berichtigung der juristischen Theorie. In einem solchen Fall, der sich namentlich im Handelsrechte haͤufiger finden wird, kann es dann nicht leicht zweifelhaft seyn, wem der Vorzug gebuͤhrt, ob dem Volks- oder dem Juristenrecht; denn das Letztere ist ja eigentlich noch gar nicht zur positiven Gestaltung gekommen, so lange es die ihm widerstrebende Re- gel nicht vernichtet hat. Eilftes Kapitel. Das Juristenrecht nach dem Umfange seiner Geltung . Wenn wir den innern Entwicklungsproceß, welchen die deutsche Jurisprudenz seit der Reception des roͤmischen Rechts durchgemacht hat, geschichtlich verfolgen, und uns das fuͤr die Rechtsbildung durch sie gewonnene Resultat im Allgemeinen vergegenwaͤrtigen, so stellt sich so viel mit Bestimmheit her- aus, daß sie vorzugsweise auf dem Gebiete des gemeinen Rechts ihre Wirksamkeit entfaltet hat. Darauf waren einmal die Universitaͤtslehrer in ihren Vortraͤgen und Schriften vor Allen hingewiesen. Zwar blieben sie durch ihre practischen Beschaͤf- tigungen den Particularrechten nicht fremd, und namentlich pflegten sie dem Rechte des Landes, in welchem ihre Universi- taͤt sich befand, aus nahe liegenden Gruͤnden eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen, was oft mehr, als man bisher be- achtet hat, auf ihre Darstellung des gemeinen Rechts einwirkte, jedenfalls aber eine gelehrte Beschaͤftigung mit jenem hervorrief, die sich anfangs nur in Schriften, spaͤter aber auch in eigenen Vorlesungen kund gab. Allein sie wurzelten doch mit ihrer allgemeinen Rechtsanschaung und mit ihren Interessen im ge- meinen Rechte, dem sie ihre Hauptkraft zuwandten, und wel- ches sie, auch abgesehen von andern Gruͤnden, die namentlich in der luͤckenhaften Beschaffenheit der Particularrechte beruhten, schon deswegen vorzugsweise behandelten, weil sie in ihrer freien Stellung nicht bloß einem einzelnen Lande, sondern dem Umfang der Geltung des Juristenrechts . ganzen Reich und der Wissenschaft angehoͤrten. Aehnlich ver- hielt es sich mit den Mitgliedern der Reichsgerichte, welche oft durch die geringe Ruͤcksicht, die sie bei ihren Urtheilsspruͤchen auf das particulaͤre Recht nahmen, Veranlassung zu gerechten Beschwerden gaben. Dagegen befanden sich allerdings diejeni- gen Juristen in einer anderen Lage, deren Beruf in der prac- tischen Anwendung eines bestimmten Particularrechts bestand, und welche, wenn sie auch dem gemeinen Recht eine gelehrte Beschaͤftigung widmeten, doch jenes zunaͤchst ins Auge zu fassen hatten. Allein bis zu der Zeit, wo umfassende Gesetzbuͤcher in Deutschland aufkamen, stellte sich das specielle Recht ja nur als eine Modification des gemeinen dar, oft freilich in einzelnen Leh- ren mit einer gewissen Selbstaͤndigkeit und Ausfuͤhrlichkeit, aber doch nie in dem Grade, daß man der Entwicklung und Ergaͤnz- ung aus gemeinrechtlichen Principien ganz haͤtte entbehren koͤnnen. Dabei waren denn allerdings die Einwirkungen der besonderen Landes- und Localverhaͤltnisse und auch, wo diese rein hervor- treten konnte, der Stammeseigenthuͤmlichkeit nicht ausgeschlos- sen, so daß manches Particularrecht eben so gut durch seine juristische Behandlung, wie durch die Gesetzgebung eine sehr bestimmte Faͤrbung erhielt. Aber weil sich bis zur Zeit der Codificationen doch kein deutsches Land ganz von dem gemei- nen Recht in seiner subsidiaͤren Geltung abschloß, und jede Bewegung in der deutschen Jurisprudenz, welche nachhaltig auf deren Gestaltung einwirkte, auch die einzelnen Juristen fruͤ- her oder spaͤter erfaßte; so blieb doch das gemeine Recht fuͤr sie die eigentliche Basis und der Mittelpunct ihrer Bildung und Wirksamkeit. Das zeigt sich ganz deutlich, so lange noch eine einseitige romanistische Richtung in unserer Jurisprudenz vorherrschte, und mit wenigen Ausnahmen die alten Landes- Eilftes Kapitel . Provincial- und Localrechte kaum einer wissenschaftlichen Be- achtung gewuͤrdigt wurden; aber auch spaͤter, als das einhei- mische Recht zum Gegenstand eifriger Studien gemacht ward, draͤngte doch Alles wieder auf eine gemeinrechtliche Auffassung und Darstellung der Institute hin, so schwach auch die ersten Versuche, welche darauf gerichtet waren, ausfallen mochten. Aus diesem Allen erklaͤrt es sich, woher es kommt, daß ein eigentliches Juristenrecht mit einer speciellen Geltung und unabhaͤngig vom gemeinen Rechte sich immer nur in einer be- schraͤnkten Weise entwickelt hat. Die Moͤglichkeit einer solchen Rechtsbildung ist freilich durchaus nicht in Abrede zu stellen. Denn machte das deutsche Territorium einmal ein Staats- ganzes aus, welches in seiner Gesetzgebung und uͤberhaupt in seinen innern Verhaͤltnissen eine durchaus freie Bewegung hatte (die Einwirkung der Reichsgewalt wollte ja in den letz- ten Jahrhunderten nichts mehr sagen); so ist nicht einzusehen, warum nicht auch der Juristenstand eines einzelnen Landes seine rechtsbildende Kraft zu einer particulaͤren Schoͤpfung haͤtte concentriren koͤnnen. Ja man kann sagen, so gut uͤber- haupt die Gewohnheiten mit einer derogatorischen Wirkung neben dem gemeinen Recht sich geltend zu machen vermoͤgen, so gut kann es auch geschehen, wenn sie ihren Grund in der Herrschaft des Juristenstandes haben, vorausgesetzt natuͤrlich, daß diese wirklich im Stande ist, sich also zu bethaͤtigen. Auch fehlt es in der That nicht an Beispielen, daß sich ein solches particulaͤres Juristenrecht gebildet hat. Zuweilen zeigt es sich als eine eigenthuͤmliche Bearbeitung allgemein geltender Leh- ren, und hat wohl, wenn seine Vertreter eines besonderen An- sehens sich erfreuten, auf die Gestaltung der gemeinrechtlichen Theorie selber einen entschiedenen Einfluß ausgeuͤbt. Eine Umfang der Geltung des Juristenrechts . solche hervorragende Stellung hat bis zur Mitte des 17. Jahr- hunderts der saͤchsische Juristenstand in Deutschland eingenom- men, indem derselbe nicht bloß an der Entwicklung des ge- meinen Rechts den thaͤtigsten Antheil nahm, sondern in dem so- genannten jus commune saxonicum ein selbstaͤndiges Particu- larrecht ausbildete, welches zum großen Theile reines Juristen- recht war, und fuͤr die wissenschaftliche Behandlung des ge- meinen Rechts ebenso einen wichtigen Anhalt darbot, als es auf die Praxis desselben nachhaltig einwirkte. Zum particu- laͤren Juristenrecht kann man ferner den Fall rechnen, wenn ein fruͤher nicht bekanntes Institut durch den Einfluß der Ju- risten irgendwohin verpflanzt worden ist, wie es z. B. an einigen Orten mit der Einkindschaft geschehen, oder wenn da- durch eine bestehende Einrichtung auf eine eigenthuͤmliche Weise veraͤndert worden, was namentlich bei der deutschrechtlichen Auflassung, welche sich z. B. oft in eine bloße gerichtliche Confirmation der voraufgehenden Contracte umsetzen lassen mußte, bemerkt werden kann. Selbst ganz eigenthuͤmliche In- stitute und Rechtssaͤtze finden sich in dem particulaͤren Juristen- rechte; ein Beispiel davon bieten die Adjudicate des mecklen- burgischen Rechts. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bildete sich in demselben naͤmlich die Regel aus, daß ein Glaͤu- biger fuͤr den Fall, daß die Fahrniß nicht ausreiche, Execution in den Grundbesitz des Schuldners verlangen koͤnne, und zwar zunaͤchst auf dem Wege der Immission, die aber unter ge- wissen Voraussetzungen zur Adjudication fuͤhrte, indem dem Adjudicatar, ohne daß eine Subhastation vorher gegangen waͤre, das ganze Grundstuͤck oder nach dem Betrage seiner Forderung ein Theil desselben zugesprochen ward, wodurch denn alle aͤl- teren Hypotheken erloschen. Dieß merkwuͤrdige Institut, welches Eilftes Kapitel . dem mecklenburgischen Creditwesen tiefe Wunden geschlagen hat, laͤßt sich allein als ein Juristenrecht deduciren; an seiner, auch von der Gesetzgebung anerkannten Geltung ist aber nicht zu zweifeln, und es ist auch erst in neuerer Zeit durch eine aus- druͤckliche legislative Verfuͤgung aufgehoben worden. Es genuͤgt nun aber, in dem Angefuͤhrten die Moͤglich- keit und Existenz eines particulaͤren Juristenrechts dargethan zu haben; der weitern Erwaͤgung desselben in seinen einzelnen Erscheinungen koͤnnen wir uns uͤberheben, so daß die Dar- stellung sich sofort zum gemeinen Rechte wenden kann. Hier ist nun vor Allem auf die Thatsache ein besonderer Nachdruck zu legen, daß die Aufnahme des roͤmischen Rechts in Deutsch- land fast ausschließlich dem Juristenstande zuzuschreiben ist, so daß in dessen Wirksamkeit der eigentliche Grund des gan- zen Ereignisses gesucht werden muß. Die Feststellung dieser Thatsache hat aber nicht bloß einen historischen Werth, sondern ist auch von unmittelbar practischer Bedeutung, indem dadurch die Veraͤnderungen, welche das roͤmische Recht bei uns durch die Juristen erfahren hat, in ihrer positiven Geltung eben so gut, wie dieses selbst gerechtfertigt und begruͤndet erscheinen. Es kommt also nur darauf an, mit Bestimmtheit nachzuwei- sen, unter welchen Modificationen jene Reception geschehen ist, wobei aber, wie schon fruͤher gezeigt worden, das Verhaͤltniß einer voͤlligen Stabilitaͤt nicht angenommen werden darf, weil sich im Juristenstande selbst die Ansichten vielfach geaͤndert haben, und dieselbe Macht, welche die Erhebung des roͤmischen Rechts zur positiven Rechtsquelle durchzufuͤhren, und dabei sofort wesentliche Veraͤnderungen mit demselben vorzunehmen vermochte, auch im Stande war, spaͤter noch uͤber die Art und den Umfang der Geltung abweichende Grundsaͤtze festzustellen. — Umfang der Geltung des Juristenrechts . Aber nicht bloß in der vom roͤmischen Recht beherrschten Sphaͤre findet sich das Juristenrecht; auch auf anderen Fel- dern, welche fruͤh dem Einfluß der fremden Rechtsquellen ent- zogen, und bald im offenbaren Gegensatz zu denselben, bald wenigstens in einer gewissen Selbstaͤndigkeit angebaut wurden, hat es eine große Bedeutung erhalten. Ist hier nicht das Volksrecht unmittelbar von Einfluß gewesen, oder hat sich nicht irgend eine andere Macht geltend gemacht, welche der Vertre- tung durch die Juristen nicht bedurfte, oder sie doch in einem dienstbaren Verhaͤltniß erhielt, so haben sie an der Rechtsbil- dung den allerentschiedensten Antheil genommen und sie vor- zugsweise zu Stande gebracht. Daher ist selbst ein Theil der deutschrechtlichen Lehren nur als Juristenrecht ausgebildet wor- den und zu einer positiven Geltung gelangt. Indem ich mich nun anschicke, dessen Inhalt nach den einzelnen Rechtstheilen genauer anzugeben, bedarf es wohl kaum der Bemerkung, daß es dabei nicht auf die Beibringung eines vollstaͤndigen Details abgesehen seyn kann, sondern nur eine uͤbersichtliche Darstellung der wichtigsten in Betracht kommenden Momente beabsichtigt wird. 1. Das Privatrecht . In dem Personen-, Familien- und Staͤnderecht , um dieß zuerst hervorzuheben, sind freilich die Beschraͤnkungen und Abaͤnderungen, welche das roͤmische Recht erfahren hat, vorzugsweise dem Volksrechte zuzuschreiben, und die Juristen haben es nicht einmal vermocht, die dem deutschen Rechtsleben angehoͤrigen Elemente ihrem ganzen Umfange nach zum rech- ten Verstaͤndniß und zur gehoͤrigen Sicherheit der Geltung zu bringen; doch fehlt es auch auf diesem Gebiete nicht an In- Eilftes Kapitel . stituten, welche ihnen ihre Begruͤndung verdanken. Dahin kann z. B. die Einkindschaft gerechnet werden, die als ein gemeinrechtliches Geschaͤft und in der bestimmten, formel- len Ausbildung, welche sie nach und nach erlangt hat, als ein Juristenrecht sich herausstellt; desgleichen findet das Verhaͤlt- niß der unehelichen Kinder zu ihrem Vater in demselben seine gegenwaͤrtige Normirung. Denn nur dem Einfluß der Ju- risten ist es zuzuschreiben, daß der Begriff, den das roͤmische Recht mit den liberi naturales verbindet, die jetzt geltende Ausdehnung erhalten hat, wodurch namentlich die Lehre von der Legitimation neu und eigenthuͤmlich gestaltet worden ist; auch das Intestaterbrecht der unehelichen Kinder, welches Mayer in Tuͤbingen zum Gegenstande einer werthvollen dogmenge- schichtlichen Untersuchung gemacht hat, so wie die allgemeine Verbindlichkeit des Vaters zu ihrer Alimentation, woran jetzt wohl niemand mehr zweifelt, stehen damit in naher Verbin- dung. Freilich hat auf diese ganze Lehre schon das canonische Recht eingewirkt; aber es hat doch zunaͤchst nur die Veran- lassung zu ihrer heutigen Gestaltung gegeben, waͤhrend die eigentliche Begruͤndung und positive Ausbildung derselben von den Juristen ausgegangen ist. — Im Sachenrecht zeigt sich das Juristenrecht von einer geringen Bedeutung, wenn man auch solche Mißbildungen, wie die Umsetzung der Auf- lassung in die gerichtliche Confirmation, dahin rechnen muß; desto einflußreicher ist es aber im Obligationenrecht ge- worden. Schon der Umstand, daß das System der roͤmischen Poͤnalklagen bei uns nicht recipirt worden, ist von erheblicher Wichtigkeit, wenn auch manches Andere, was außer dem Be- reiche der Juristen lag, mit darauf eingewirkt hat; aber ihnen allein ist der Fundamentalsatz der heutigen Vertragslehre zu- Umfang der Geltung des Juristenrechts . zuschreiben, daß nach gemeinem Rechte jeder Vertrag, der sei- nem Inhalte nach guͤltig, auch ohne eine besondere Form der Eingehung rechtsbestaͤndig und klagbar ist, — ein Grundsatz, welcher das roͤmische Recht wesentlich modificirt hat, aber auch, was so oft nicht gehoͤrig beachtet wird, dem im deutschen Recht sehr durchgebildeten und wirksamen Formalismus der Rechts- geschaͤfte verderblich geworden ist. Weniger bedenklich erscheint die, in neuester Zeit zwar von verschiedenen Seiten, aber wie mir scheint mit schwachen Gruͤnden angefochtene Regel, daß Vertraͤge, welche zu Gunsten eines Dritten abgeschlossen sind, den Beschraͤnkungen des roͤmischen Rechts nicht unterliegen, sondern dem Dritten das Recht des Beitritts und der Klage gewaͤhren. Aber nicht bloß die allgemeinen Lehren des Obli- gationenrechts haben durch das Juristenrecht wesentliche Mo- dificationen erlitten; dasselbe ist auch bei manchen einzelnen Instituten der Fall gewesen. Ich erinnere beispielsweise nur an die weite Geltung, welche man jetzt unbedenklich den Be- stimmungen des roͤmischen Rechts uͤber die laesio enormis einraͤumt, und welche doch, da es sich hier von einem jus singulare handelt, durch die Anwendung einer analogen Aus- dehnung nicht gerechtfertigt werden kann; ferner an die Lehre von den Zinsen, welche erst seit der Mitte des 17. Jahrhun- derts in Deutschland allgemein practisch geworden, und in ihrer heutigen gemeinrechtlichen Beschaffenheit als ein freilich vom Volksrecht vielfach bestimmtes Juristenrecht anzusehen ist, da sowohl die, hier sehr verspaͤtete Reception des roͤmischen Rechts gegen die canonischen Zinsverbote an, als auch die wichtigen Modificationen desselben nur so ihre Erklaͤrung finden. — Nicht weniger bedeutend endlich, wie im Obliga- tionenrecht, stellt sich das Juristenrecht in den zum Erbrecht Eilftes Kapitel . gehoͤrenden Lehren dar. Hier finden wir das ganz moderne Institut der vertragsmaͤßigen Erbfolge; ferner das Familien- fideicommiß mit seinen besonderen Successionsordnungen, in welchem die Juristen des 17. Jahrhunderts dem niedern Adel ein Mittel bereiteten, um das Beduͤrfniß der Familie nach einem sicheren Stammgut zu befriedigen. Auch die wechsel- seitigen Testamente in ihrer heutigen Gestaltung sind ein Pro- duct der Jurisprudenz, und auf gewisse Weise lassen sich auch die Testamentsexecutoren dahin zaͤhlen, wenigstens insofern sie unter dem Einfluß der Theorie von ihrer urspruͤnglichen Grundlage und Bedeutung abgewichen sind. 2. Das Criminalrecht . In diesem Rechtstheile herrscht das Juristenrecht entschie- den vor. Will man auch darauf kein Gewicht legen, daß Carl V. peinliche Halsgerichtsordnung in manchen Stuͤcken auf der zur Zeit ihrer Abfassung herrschenden communis DD. opinio beruht, und daß sie eigentlich erst durch die spaͤteren Juristen die Auctoritaͤt eines unmittelbar geltenden Reichsge- setzes erlangt hat, so hat sie doch auch in anderen Beziehun- gen der Entwicklung eines selbstaͤndigen Juristenrechts den weitesten Spielraum gelassen. Das erklaͤrt sich theils aus ihrer geringen Vollstaͤndigkeit, theils aber aus dem Beduͤrfniß, die veralteten, der modernen Rechtsanschauung und Bildung widerstrebenden Satzungen auf eine angemessene Weise umzu- bilden und zu ergaͤnzen, — eine Aufgabe, welche bei der spaͤ- teren Unthaͤtigkeit der Reichsgesetzgebung, vorzugsweise in die Haͤnde der Juristen kam. Denn wenn man von einigen all- gemeinen Principien und von der Begriffsbestimmung einzelner Verbrechen absieht, — wie viel bleibt wohl noch von dem Umfang der Geltung des Juristenrechts . Inhalt der Carolina fuͤr das heutige gemeine Criminalrecht uͤbrig? Die Juristen haben sich dabei nun theils durch eine umfassendere Benutzung des roͤmischen Rechts geholfen, welches ihnen besonders fuͤr die Feststellung der einzelnen Verbrechen einen Anhalt gab; theils haben sie durch eine philosophische Betrachtung der menschlichen Dinge allgemeine Principien zu gewinnen gesucht, und endlich bei der Abwaͤgung der Strafen nach ihrer Beschaffenheit und ihrem Maaße die Ansichten und socialen Verhaͤltnisse des modernen Lebens zu Rathe gezogen. 3. Der Proceß . Der deutsche Civil- und Criminalproceß ist fast reines Juristenrecht; auch die einzelnen Bestimmungen der Reichs- gesetze haben demselben mehr einen Anhalt fuͤr die weitere Ent- wicklung, als einen festen legislativen Kern geboten. Man stelle einmal genau zusammen, was sie in Verbindung mit dem roͤmischen und canonischen Recht an positiven, unmittel- bar geltenden Rechtssatzungen an den heutigen Proceß abge- geben haben, und man wird sich bald uͤberzeugen, daß in diesem Material nicht einmal das Gerippe, geschweige denn der ganze Bau desselben enthalten ist. Das bezieht sich aber nicht bloß auf die ganze Anlage und Ausfuͤhrung des Werkes, sondern geht auch bei wichtigen Lehren bis in das geringste De- tail herunter; man nehme nur den Concursproceß und die Unterscheidung der General- und Specialinquisition im Crimi- nalverfahren. Daß aber diese fast absolute Geltung des Ju- ristenrechts gerade in diesem Rechtstheile so oft hat verkannt werden koͤnnen, erklaͤrt sich wohl zur Genuͤge aus dem Um- stande, daß er mehr in der stille wirkenden Kraft der Praxis, als in der leichter erkennbaren Thaͤtigkeit der Theorie seine Beseler , Volksrecht. 22 Eilftes Kapitel . Ausbildung erlangt hat, und daß die wissenschaftliche Behand- lung, welche ihm zu Theil geworden, im Ganzen eine so wenig befriedigende gewesen ist. Hat doch erst Briegleb in seinem vortrefflichen Werke uͤber den Executivproceß zeigen muͤssen, was die Dogmengeschichte auch auf diesem Gebiete zu leisten vermag. 4. Das Staatsrecht . Auch auf die Gestaltung des Staatsrechts haben die Ju- risten einmal einen großen Einfluß ausgeuͤbt, naͤmlich so lange, als sie auch auf diesem Gebiete die wichtigsten Geschaͤfte lei- teten, und also Theorie und Praxis vereinigen konnten. Das aͤnderte sich seit dem 17. Jahrhundert, als nach dem Vorgange Frankreichs auch die deutschen Hoͤfe die obere Leitung der in- nern Verwaltung immer mehr den Haͤnden des ihrem Inte- resse gewonnenen niedern Adels anvertrauten, und sich gleich- zeitig fuͤr die Besorgung der auswaͤrtigen Angelegenheiten ein eigener Stand in den Diplomaten ausbildete, was auch durch den Uebergang der Geschaͤftssprache aus dem Lateinischen in das Franzoͤsische angedeutet wurde. Nun wichen die gelehrten Kanzler den adeligen Ministern, und fuͤr die diplomatischen Verhandlungen wurden die Gesandtschaften vornehmer, zur Re- praͤsentation geeigneter Personen allgemein eingefuͤhrt. Die letztere Veraͤnderung ist freilich laͤngere Zeit von einer groͤßeren Bedeutung fuͤr die voͤlkerrechtlichen, als fuͤr die staatsrechtlichen Verhaͤltnisse Deutschlands gewesen; denn zur Zeit, als die Fremden zuerst mit in dem Rathe der Nation saßen, auf dem westphaͤlischen Friedenscongreß, war sie noch nicht durchge- fuͤhrt, und auf dem Reichstage spielten die Juristen bis kurz vor dem Ende desselben eine große Rolle, so wie auch der Umfang der Geltung des Juristenrechts . nicht bloß als Gerichtshof so einflußreiche Reichshofrath mit ihnen besetzt war. Erst in neuerer Zeit, und namentlich nach Beseitigung der Napoleonischen Gewaltherrschaft, ist in den allgemeinen deutschen Angelegenheiten statt der alten publici- stischen Deduction die Erwaͤgung nach Ruͤcksichten der hohen Politik uͤblich geworden, d. h. die diplomatische Behandlung voͤlkerrechtlicher Fragen ward auch auf die staatsrechtlichen uͤber- tragen, wodurch diesen aber der Charakter rechtlicher Sicherheit zum guten Theile entzogen werden mußte. — Erscheint es aber aus diesen Gruͤnden schon erklaͤrlich, warum fuͤr das Staatsrecht weniger, als fuͤr andere Rechtstheile von einem Juristenrecht die Rede seyn kann, so kommt noch beson- ders in Betracht, daß es sich hier um Verhaͤltnisse handelt, welche mit der allgemeinen politischen Geschichte in unmittel- barer Beruͤhrung stehen, und in sich eine Macht tragen, welche eher geeignet ist, die juristische Ueberzeugung zu bestimmen, als umgekehrt von ihr bestimmt zu werden. Wenn sich daher auch in fruͤherer Zeit einige staatsrechtliche Lehren unter dem unmittelbaren Einfluß der Juristen entwickelt haben, und etwa als ein Juristenrecht angesehen werden koͤnnen, so erkennt man doch bald, so wie man tiefer auf den Grund ihrer Entstehung eingeht, daß darin ein selbstaͤndiger Bildungsproceß und na- mentlich die Umsetzung der Territorialherrschaft in die Staats- gewalt realisirt worden ist. Dabei ist es denn allerdings nicht ohne arge Mißbildungen abgegangen, woran theils der traurige Zustand des oͤffentlichen Wesens in Deutschland uͤberhaupt, theils aber auch die geringe Befaͤhigung der Juristen fuͤr ihre Aufgabe die Schuld tragen. Zum Beweise des Gesagten hebe ich hier zwei Lehren hervor, die von den Regalien und von der Thronfolge. Die erstere ist freilich bei der verworrenen 22* Eilftes Kapitel . und unorganischen Vermischung wesentlicher Hoheitsrechte und nutzbarer Rechte der verschiedensten Art, aus welcher sie ent- standen ist, nie zu einer wissenschaftlichen Durchbildung ge- langt, und hat auch nicht den Charakter einer unbedingten Gemeinrechtlichkeit gewonnen, auf den es dabei urspruͤnglich abgesehen war; aber daß sie dennoch von großer Bedeutung fuͤr das deutsche Staatsrecht, und wenigstens in den Staaten, deren Verfassung nicht von Grund aus neu geordnet worden, noch jetzt von practischer Wichtigkeit ist, steht außer Frage. Denn die meisten Puncte, welche dabei in Betracht kommen, wurden in fruͤherer Zeit der Vereinbarung zwischen Fuͤrst und Staͤnden, und wenn eine solche nicht zu Stande kam und die Gewalt nicht den Streit entschied, der richterlichen Entscheidung uͤberlassen, wobei denn den Juristen die Gelegenheit gegeben war, ihre Theorien weiter auszuspinnen und zur Anwendung zu bringen, so daß sie allmaͤlig in das geltende Recht uͤber- gingen. — Was ferner die Lehre von der Thronfolge betrifft, so hat sie sich freilich zunaͤchst aus dem Standesrecht des ho- hen Adels entwickelt, und zwar fuͤr die souverainen Haͤuser in der Weise, daß das Princip der Erbmonarchie darin zur Ver- wirklichung gekommen. Es ist dieß aber unter der Vermittlung der von den Juristen ausgebildeten Theorie von der sogenann- ten successio ex pacto et providentia majorum geschehen, welche, obgleich sie in ihrer vollen doctrinellen Consequenz prac- tisch nicht durchgefuͤhrt werden kann, der ganzen Lehre doch eine bestimmte Richtung und eigenthuͤmliche Haltung gegeben hat. Auch ist die Frage uͤber die Feststellung der eventuellen cognatischen Erbfolge und namentlich uͤber das Verhaͤltniß zwi- schen der Erbtochter und der Regredienterbin lange Zeit haupt- saͤchlich nach den Theorien der Juristen entschieden worden. Umfang der Geltung des Juristenrechts . 5. Das Kirchenrecht . Sind die Juristen im Staatsrecht durch die Diplomaten uͤberfluͤgelt worden, so haben sie ihren Einfluß auf das Kir- chenrecht mit den Theologen theilen muͤssen. In der prote- stantischen Kirche sind sie namentlich erst dann zu einer be- deutenden Wirksamkeit gelangt, als die schoͤpferische Thaͤtigkeit der großen Reformatoren beendigt war, und es hauptsaͤchlich nur noch darauf ankam, das Werk in seinen Einzelnheiten auszufuͤhren und die rechtliche Begruͤndung dafuͤr zu liefern. Außerdem wurden sie aber auch noch von andern Einfluͤssen bestimmt, wie sie denn z. B. die oberbischoͤfliche Gewalt der protestantischen Landesherrn, welche sich unter den gegebenen Verhaͤltnissen selbstaͤndig entwickelte, nur anzuerkennen hatten, und in wechselnden Theorien eine bestimmte juristische Grund- lage dafuͤr zu gewinnen suchten. Wenn es daher auch zu keinem selbstaͤndigen Juristenrecht in den kirchenrechtlichen In- stituten kommen konnte, so ist doch von den Juristen nach verschiedenen Seiten nachhaltig auf dieselben eingewirkt wor- den, namentlich bei der Feststellung der Frage, inwieweit die Regeln des katholischen Kirchenrechts, abgesehen von dem Dogma und von dem eigentlichen Kirchenregiment, auch fuͤr die Protestanten noch eine positive Geltung haben. Daher stellt sich das Kirchenrecht der letzteren in der aͤlteren Bearbei- tung, und besonders in I. H. Boͤhmer’s beruͤhmtem Werke, als eine Art des usus modernus dar, und zwar mit einer Reichhaltigkeit des Inhalts, und vor Allem mit einer Ausbeute fuͤr die Praxis, wie sie in den neueren Lehrbuͤchern kaum wie- der zu finden ist, so sehr diese der aͤltern Literatur auch an wissenschaftlicher Haltung und gruͤndlicher Forschung uͤberlegen seyn moͤgen. Zwölftes Kapitel. Werth des Juristenrechts . Eine Untersuchung uͤber den Werth des Juristenrechts laͤßt sich in zwiefacher Weise anstellen. Man kann es einmal ganz allgemein zur Entscheidung bringen, ob und inwiefern es an- gemessen ist, daß der Juristenstand eine solche Stellung im Volke einnehme, welche ihm die Macht gewaͤhrt, seine Ueber- zeugung zu einer selbstaͤndigen Rechtsquelle zu erheben. Al- lein die Aufgabe laͤßt sich auch enger fassen, so daß mit Be- ziehung auf ein bestimmtes, positives Recht derjenige Theil des- selben, welcher sich als Juristenrecht darstellt, einer kritischen Betrachtung unterworfen wird. Wir haben es nun zunaͤchst mit dem deutschen Rechtswesen zu thun, und insofern bildet die Loͤsung der zweiten Frage vorzugsweise den Gegenstand der folgenden Eroͤrterung; aber wie uͤberhaupt in dieser Schrift nicht bloß das gegenwaͤrtig Bestehende ins Auge gefaßt, son- dern der Blick auch auf die innere Begruͤndung und weitere Fortbildung und Reform desselben gerichtet worden ist, so soll auch jetzt die Behandlung der Sache nicht durch willkuͤhrlich gezogene Grenzen eingeengt werden. Wird doch selbst eine Pruͤfung, die mehr, wie es hier geschehen, ins Einzelne ein- ginge, zu keinem sicheren Resultate fuͤhren, wenn nicht die all- gemeinen Gesichtspuncte, auf welche es bei einer solchen Un- tersuchung ankommt, vorher festgestellt worden sind. Manches ist daruͤber freilich schon in den fruͤheren Eroͤrterungen vorge- bracht worden, auf die hier im Allgemeinen Bezug zu neh- Werth des Juristenrechts . men ist; aber fuͤr Anderes findet sich jetzt erst die rechte Stelle, und nur aus der gemeinsamen Betrachtung aller Momente in ihrem innern Zusammenhange wird eine wissenschaftlich be- gruͤndete Ansicht zu gewinnen seyn. So viel ist nun einmal als ausgemacht anzunehmen, daß man sich die Stellung des Juristenstandes nicht als eine solche denken darf, welche nach allgemein guͤltigen Regeln be- stimmt, unter allen Verhaͤltnissen gleichartig sich gestalten muͤsse. Wir haben ja gesehen, wie es selbst in den Zeiten einer gestei- gerten Cultur durchaus nicht absolut nothwendig ist, daß sich die Beschaͤftigung mit dem Rechte als die besondere Aufgabe bestimmter Personen darstellt, welche durch Berufswahl und Arbeit in einer gewissen Abgeschlossenheit zusammen gehalten, eben als ein eigener Juristenstand bezeichnet zu werden pfle- gen. Ist dieß aber auch unter gewissen Voraussetzungen der gewoͤhnliche Fall, so wird doch bei der Verschiedenheit der po- litischen und socialen Zustaͤnde, unter deren Einfluß die Rechts- bildung vor sich geht, auch bei der Entwicklung des Juristen- standes keine volle Uebereinstimmung statt finden. Derselbe wird vielmehr in sehr verschiedener Weise dem Volke gegen- uͤber zu stehen kommen, und sich von diesem bald kastenartig ausscheiden, bald aber in fast unmerklichen Uebergaͤngen an die aus vielfachen Elementen bestehende Menge erfahrener Ge- schaͤftsmaͤnner sich anschließen. Wie sich das im einzelnen Fall macht, das haͤngt von der individuellen Natur des Vol- kes ab, von seiner Staatsverfassung, seinem oͤffentlichen Leben, vor Allem aber von der Beschaffenheit des Rechts selber, um dessen Kunde und Anwendung es sich handelt. Denn wenn dasselbe im Allgemeinen auf einer volksthuͤmlichen Basis ruht, und nur in seiner allmaͤligen Entwicklung ein Element in sich Zwoͤlftes Kapitel . aufgenommen hat, dessen sichere Handhabung nur den Juri- sten von Fach zuzumuthen ist; so werden diese freilich zu ei- nem nothwendigen Bestandtheil des oͤffentlichen Lebens. Aber deswegen bleibt das Recht in seinen allgemeinen Zuͤgen doch noch ein Gemeingut der Nation, und kann auch ohne ein be- sonderes Studium von den Einzelnen, wenn auch nur in ei- ner gewissen Beschraͤnkung und mit Beihuͤlfe der Juristen, erkannt und angewandt werden. Ist aber ein Volk durch die Ungunst des Geschicks oder durch eigenes Verschulden in sei- ner Rechtsbildung gehemmt worden, so daß fremde Satzungen seine Verhaͤltnisse beherrschen; oder hat es die Lebensbahn zu- ruͤckgelegt, welche allen Individualitaͤten, den Nationen wie den einzelnen Menschen, zugemessen ist, und eilt nun kraftlos und abgelebt seiner Aufloͤsung entgegen, indem es ohne selbstaͤndige Schoͤpfung und Bewegung, nur durch die Errungenschaft bes- serer Zeiten kuͤmmerlich sein Daseyn fristet: da kann es nur natuͤrlich erscheinen, daß auch das positive Recht seinem Be- wußtseyn ganz entfremdet wird, und ausschließlich in die Haͤnde derjenigen geraͤth, welche sich, mit wie geringem Erfolge auch immer, seinem Studium vorzugsweise widmen, und in der Anwendung wenigstens eine gewisse Fertigkeit und Geschicklich- keit entwickeln. Denkt man sich nun diese Gegensaͤtze in der Stellung des Juristenstandes und die Uebergaͤnge, welche dazwischen lie- gen, so bedarf die Behauptung keines besonderen Beweises mehr, daß auch das Juristenrecht seiner Natur und Beschaf- fenheit nach nothwendig ein sehr verschiedenes seyn muß. Bei einem Volke, in einer gewissen Periode, ist es vielleicht nichts Anderes, als eine Fortfuͤhrung des Volksrechts, dem etwa der Juristenstand seine feinere Ausbildung und festere Begruͤndung Werth des Juristenrechts . gegeben hat, indem der in der Nation ruhende rechtsbildende Trieb, ehe er sich noch anderweitig zum geltenden Rechte ge- staltet hat, in das Bewußtseyn der Juristen uͤbergeht, und durch deren Auctoritaͤt den Charakter einer positiven Norm erhaͤlt. Dabei kann natuͤrlich manche einzelne Mißbildung entstehen, vor der ja kein Menschenwerk sicher ist, und je mehr sich die Rechtsentwicklung vom Volke zuruͤckzieht und aus- schließlich Sache der Juristen wird, desto groͤßer ist die Ge- fahr, daß so etwas geschehe; aber an und fuͤr sich ist kein Grund vorhanden, einem solchen Juristenrechte den Werth ei- ner naturgemaͤßen Entstehung abzusprechen, so wenig wie dem Gesetzesrecht, welches ja auch nicht nothwendig seine formelle Geltung von der Gesammtheit des Volkes erhaͤlt, und moͤgli- cher Weise dessen Wuͤnschen und Beduͤrfnissen sehr wenig an- gemessen seyn kann. — Ganz anders aber stellt sich die Sache, wenn den Juristen der innere Zusammenhang mit dem Rechtsleben des Volkes, dem sie angehoͤren, abgeschnitten ist, und sie nun, zur ausschließlichen Handhabung eines unleben- digen Materials berufen, mit diesem sich in stiller Abgeschie- denheit beschaͤftigen, um damit, so gut es gehen will, das practische Beduͤrfniß zu befriedigen. Auch unter solchen Ver- haͤltnissen kann sich noch ein Juristenrecht ausbilden, was na- mentlich dann geschehen wird, wenn die Gesetzgebung eine ge- ringe Thaͤtigkeit und Energie entfaltet, und der vorhandene Rechtsstoff uͤberhaupt oder insoweit er in das Bewußtseyn des Juristenstandes uͤbergegangen ist, fuͤr die rechtliche Beurthei- lung der Verhaͤltnisse nicht ausreicht. Allein man wird sich nicht wundern, wenn ein Juristenrecht dieser Art sowohl nach seinem allgemeinen Charakter als auch in den meisten Ein- zelnheiten als ein wenig gelungenes Werk erscheint, dem man Zwoͤlftes Kapitel . die Maͤngel seiner Entstehung sofort ansieht, und welches in seiner positiven Geltung nur die Bedeutung eines Gewohn- heitsrechts fuͤr sich in Anspruch nehmen darf. Von einer Ver- tretung und Fortbildung des Volksrechts wird hier nur aus- nahmsweise die Rede seyn koͤnnen, ja es wird sich bei einer aufmerksamen Betrachtung zeigen, daß nichts einer nationalen und lebendigen Rechtsentwicklung feindlicher entgegen tritt, als ein solches Juristenrecht, dem nur die ganz aͤußerliche Normi- rung der Verhaͤltnisse durch eine oberflaͤchliche und leichtsinnige Gesetzgebung verglichen werden kann. Wo nun uͤberhaupt jede schoͤpferische Kraft im Volke abgestorben, und auch keine Hoffnung mehr vorhanden ist, auf irgend eine Weise eine Re- generation des oͤffentlichen Lebens zu beschaffen, da mag es im Allgemeinen gleichguͤltig seyn, unter welchen Formen die altersschwachen Zustaͤnde sich hinschleppen, und das duͤrftige Maaß ihrer Beurtheilung finden. Allein anders verhaͤlt es sich da, wo es nur darauf ankommt, den Krankheitsstoff, der sich uͤber einen innerlich noch kraͤftigen Volksorganismus ver- breitet hat, auszutreiben, um wieder eine dauernde Gesundheit herbeizufuͤhren; da ist die Erkenntniß des Uebels schon der erste Schritt zur Besserung, und die Bekaͤmpfung des krankhaften Zustandes, auch wenn man sich schon daran gewoͤhnt hat, ist eine Pflicht, der weder der Arzt noch der Kranke aus Scheu vor einer schmerzhaften Operation und einer bitteren Medizin sich entziehen darf. Es wird aus verschiedenen Gruͤnden angemessen seyn, das Gesagte durch eine kurze Betrachtung der roͤmischen Rechts- geschichte, insofern sie den hier behandelten Gegenstand betrifft, anschaulicher zu machen. Denn nicht bloß bietet sie im All- gemeinen ein sehr lehrreiches Beispiel von einer eigenthuͤmli- Werth des Juristenrechts . chen Rechtsentwicklung dar, sondern sie hat auch durch die noch bestehende Geltung roͤmischer Rechtsquellen und durch den Einfluß, welchen deren Studium auf die deutsche Jurisprudenz ausgeuͤbt hat, fuͤr uns das allernaͤchste Interesse. In letzterer Beziehung namentlich darf wohl mit einiger Sicherheit ange- nommen werden, daß die Ansichten uͤber die Bedeutung des Juristenrechts, welche oben im zweiten Kapitel theilweise be- kaͤmpft worden sind, hauptsaͤchlich der Abstraction von roͤmi- schen Rechtszustaͤnden ihre Entstehung zu verdanken haben. Jedenfalls wird aber eine, wenn auch nur kurze Darstellung derselben den Vortheil gewaͤhren, daß sich im Gegensatze da- von das Eigenthuͤmliche unseres deutschen Rechtswesens mit groͤßerer Bestimmtheit hervorheben laͤßt. Es hat bekanntlich lange gewaͤhrt, ehe sich in Rom ein eigener Juristenstand bildete, und einen unmittelbaren Einfluß auf die Rechtsentwicklung gewann. Erst mit dem Untergange des alten Roͤmerthums ist dieß geschehen, als die Verhaͤltnisse immer entschiedener zur Herrschaft eines Einzigen, dem sich die gesammte freie Bevoͤlkerung unterwarf, hindraͤngten, und das fruͤhere Stadtrecht zum gemeinen Reichsrecht umgestaltet wurde. Indessen entwickelte sich auch in der aͤlteren Zeit das Volks- recht in keiner so maaßlosen Freiheit, wie es lange unter den Deutschen der Fall gewesen ist. Die antike Welt, deren er- stes Beduͤrfniß und Lebensprincip die naturgemaͤße Ausbildung des Einzelnen wie des Staates war, strebte doch immer nach bestimmten Formen, in denen sie das Maaß und die Grenze der Freiheit fand. Daher erklaͤrt sich in Rom das fruͤhe und energische Eingreifen der Gesetzgebung in alle Verhaͤltnisse, welche nicht dem reinen Privatrecht angehoͤrten, und auch die- ses war durch den strengsten Formalismus gebunden. Als Zwoͤlftes Kapitel . aber in letzterer Beziehung eine freiere Bewegung des Rechts- lebens nothwendig wurde, da benutzte man die souveraine Machtvollkommenheit, welche die Magistrate innerhalb ihrer Amtssphaͤre ausuͤbten, um das gefuͤhlte Beduͤrfniß zu befriedi- gen, und gewann namentlich ein Organ fuͤr die weitere Aus- bildung des Rechts in der Praͤtur, welche weder Gesetzes- noch Volksrecht schuf, aber die den Verhaͤltnissen entsprechende Norm mit einer legalen Auctoritaͤt bekleidete. Daß dabei nicht die Willkuͤhr des einzelnen Praͤtors, wenn auch durch die Inter- cession seiner Collegen und die nach der Amtsfuͤhrung zu be- fuͤrchtende Anklage in Schranken gehalten, walten konnte, ver- steht sich von selbst; er mußte bei der Aufstellung seines Edicts das Passende treffen, wenn es auf dauernde Geltung Anspruch machen sollte, und der Rath und die Huͤlfe von rechts- und geschaͤftskundigen Maͤnnern war ihm daher unentbehrlich. Als nun mit dem Absterben des republicanischen Lebens auch die Praͤtur immermehr von ihrer fruͤheren Bedeutung verlor, und es auch zu keiner umfassenden Gesetzgebung kam, die Caͤsar unter seine reformatorischen Plaͤne mit aufgenommen hatte, so war fuͤr solche Maͤnner, welche die Beschaͤftigung mit dem Rechte zu ihrer Lebensaufgabe machten, die Gelegenheit zur großartigsten Wirksamkeit gegeben. Jetzt sind es die Juristen, welche durch griechische Bildung zur wissenschaftlichen Behand- lung ihres Gegenstandes befaͤhigt, gehoben durch die Auctori- taͤt der Caͤsaren, das Rechtswesen hauptsaͤchlich beherrschen; sie nehmen den gesammten positiven Rechtsstoff in sich auf, und reproduciren ihn in freier Beherrschung des Einzelnen als ein Ganzes, dem nicht eine bloß aͤußerliche logische Verknuͤ- pfung, sondern der darin herrschende Geist, die ratio juris den Charakter der Einheit aufdruͤckt. So gewinnen sie ei- Werth des Juristenrechts . nen festen Standpunct, der ihnen die Sicherheit giebt, auch uͤber die bloße Rechtskunde hinaus zu gehen, und in selbstaͤndi- ger Entwicklung aus der Natur der Rechtsverhaͤltnisse neue Normen, ein Juristenrecht zu schaffen. Aber es ist, als ob aus der Beschaͤftigung mit den Rechtsquellen einer besseren Zeit auch deren Geist auf die Juristen uͤbergeht; sie sind die be- waͤhrtesten Charaktere jener Periode des allgemeinen Verfalls, und mit einer Geschaͤftskunde, wie nur ihr Aufenthalt in der Hauptstadt der Welt, mitten im Verkehr des Lebens unter großartigen Verhaͤltnissen sie geben kann, verbinden sie eine Meisterschaft in der juristischen Methode, welche noch jetzt Be- wunderung erregt. So bildet sich unter ihren Haͤnden das roͤmische Privatrecht zu einer seltenen Vollendung aus; wie fruͤher der Praͤtor, und in einem noch weiteren Umfange, wie er, sind sie ein Organ des Volksrechts, so weit es unter den gegebenen Zustaͤnden uͤberhaupt noch moͤglich ist, und nicht mit den positiven Satzungen eines despotischen Regiments in Col- lision kommt. Aber bei dem allgemeinen Ruin kann sich auch der Juristenstand, dem eine breite, volksthuͤmliche Basis fehlt, auf die Dauer nicht auf seiner Hoͤhe erhalten. Die Schwur- gerichte gehen ein; die Rechtspflege kommt ausschließlich an die Beamten; kaiserliche Constitutionen werden die einzige Rechtsquelle; die juristische Kunst, selbst die Herrschaft uͤber den positiven Rechtsstoff geht verloren, und nur unter Ju- stinian gelingt es noch einmal, so weit das byzantinische We- sen es gestattet, — wenn auch nicht die Kraft der fruͤheren Jurisprudenz wieder zu erwecken, so doch formell die wichtig- sten Resultate derselben mit dem uͤbrigen positiven Rechte zu- sammen zu stellen, nach dem damaligen Beduͤrfnisse zu verar- beiten und in eine gewisse Einheit und Harmonie zu bringen. Zwoͤlftes Kapitel . Also in einer bestimmten Zeit, unter besonderen Verhaͤlt- nissen hat in Rom der Juristenstand Großes geleistet, und ist fuͤr das Privatrecht (denn nur fuͤr dieses war noch einiger- maaßen eine freie Rechtsbildung moͤglich) ein Organ des Volks- rechts geworden. Aber wie viele Umstaͤnde mußten zusammen kommen, um ein solches Resultat herbeizufuͤhren! und wie beschraͤnkt war doch auch in mancher Hinsicht diese im Allge- meinen freilich so großartige Wirksamkeit der Juristen, selbst auf dem Gebiete des Privatrechts! Haben sie es doch, um vom Einzelnen zu schweigen, nicht einmal vermocht, jenen Dualismus, der nur durch aͤußere Umstaͤnde hervorgerufen, stoͤrend durch das spaͤtere roͤmische Rechtssystem hindurch geht, ich meine die Scheidung in jus civile und honorarium, zu beseitigen, — eine Aufgabe, welche allein von der gesetzgeben- den Gewalt vollstaͤndig haͤtte geloͤst werden koͤnnen, zu der aber freilich die spaͤtere Kaiserzeit nicht mehr befaͤhigt war. — Jedenfalls aber, das muß jedem Unbefangenen einleuchten, kann jene eigenthuͤmliche Stellung der classischen roͤmischen Juristen nicht benutzt werden, um darauf eine allgemeine Ansicht von der Bedeutung des Standes fuͤr die Rechtsbildung zu begruͤn- den, und sie auch fuͤr die deutschen Verhaͤltnisse geltend zu machen. Diese wollen aus sich selbst verstanden und gewuͤr- digt werden. Lassen wir aber einmal die Gegensaͤtze der anti- ken und modernen Welt, von Rom und Deutschland bei Seite, und heben nur ein anderes Moment desto bestimmter hervor. Die roͤmischen Juristen hatten ein nationales Recht zu behandeln und auszubilden, zwar fuͤr die freie Bevoͤlkerung des ganzen Reichs, welche jeder bestimmten Volksthuͤmlichkeit entbehrte, und sich gewissermaaßen nur im jus gentium ver- treten sah; aber sie selbst hatten doch ein sicheres Bewußtseyn Werth des Juristenrechts . von dem eigentlichen Kern des alten Rechtswesens, an den sich die neueren Bildungen ansetzten, welche wiederum auf dem Boden der unmittelbar bestehenden, lebendigen Verhaͤlt- nisse erwachsen waren. Unsere deutschen Juristen dagegen sind außer Zusammenhang mit dem urspruͤnglichen deutschen Rechts- leben gekommen; sie verdanken ihre Bildung vorzugsweise ei- nem fremden Rechtsbuch, dessen Inhalt, ein Product verschie- dener Zeiten und Zustaͤnde, als positive Norm gelten soll, ob- gleich er nur in wenigen Instituten eine unmittelbare Anwen- dung auf die gegenwaͤrtigen Rechtsverhaͤltnisse gestattet. Dazu kommt die Beschaffenheit des deutschen Gerichtswesens, die freilich guten Theils auch wieder als eine Folge von der Gel- tung des fremden Rechts anzusehen ist, aber doch, wie sie ein- mal besteht, die Juristen noch mehr von der Anschauung und Durchdringung der Lebensverhaͤltnisse entfernt halten mußte. Daraus sind denn zwei Uebelstaͤnde erwachsen, welche wie eine schwere Last auf die deutsche Jurisprudenz druͤcken, und auch dem Juristenrecht seinen eigenthuͤmlichen Charakter aufgepraͤgt haben: todte Gelehrsamkeit und dem Leben entfremdete Theorie. Es koͤnnte scheinen, als ob diese Behauptung mit einer anderen in Widerspruch steht, welche fruͤher von mir aufge- stellt worden ist. Ich habe naͤmlich gesagt, daß man die Moͤg- lichkeit, das roͤmische Recht in seiner unmittelbaren Geltung auf die modernen Verhaͤltnisse anzuwenden, nur der vermit- telnden Thaͤtigkeit der Juristen zuzuschreiben hat, indem sie dasselbe unter ihren Haͤnden wesentlich modificirten, und es gewissermaaßen nur als den Kern und Mittelpunct des Juri- stenrechts bestehen ließen. Darnach scheint die Wirksamkeit des Juristenstandes, auch insofern sie eine neue Rechtsbildung hervorrief, doch gerade eine recht practische Tendenz gehabt zu Zwoͤlftes Kapitel . haben. Das ist nun auch in einem gewissen Sinne ganz richtig. Allein es erscheint doch an und fuͤr sich unnatuͤrlich und verschroben, daß das positive Recht erst einen solchen Laͤu- terungsproceß durchmachen mußte, um uͤberhaupt nur practi- cable zu werden, und die Nothwendigkeit, worin sich die Ju- risten fortwaͤhrend befanden, bei jeder wissenschaftlichen oder practischen Operation sich die Bestimmungen des roͤmischen Rechts zu vergegenwaͤrtigen und uͤber deren Anwendbarkeit oder Unanwendbarkeit sich Rechnung abzulegen, mußte ihrer Methode verderblich werden und uͤberhaupt ihrer freien Bewe- gung ein großes Hemmniß bereiten. Denn gerade diejenigen Momente, auf denen die Hauptkraft der roͤmischen und uͤber- haupt jeder tuͤchtigen Jurisprudenz beruht, hatten fuͤr die deut- sche nur eine untergeordnete und beschraͤnkte Wichtigkeit; die unbefangene Anerkennung des Volksrechts, die Entwicklung aus den im Wesen der Verhaͤltnisse ruhenden Principien, die Beruͤcksichtigung der Zweckmaͤßigkeit und Billigkeit, — dieß maͤchtige juristische Ruͤstzeug, durch dessen kunstvolle Handha- bung die starre Masse des geschriebenen Rechts erst in Fluß gebracht und die leer gebliebene Luͤcke ausgefuͤllt wird, stand den Deutschen nicht zur freien Benutzung zu Gebot, da sie, statt sich die einzelne Rechtsnorm in geistiger Freiheit zu abstrahi- ren, dieselbe aus dem Corpus Juris und seinen Commentato- ren muͤhsam herausklaubten. Daher erklaͤrt sich die gelehrte Faͤrbung, welche unsere Jurisprudenz selbst unter den Haͤnden der besseren Practiker angenommen hat; diese ganz unleben- dige und duͤrre Casuistik, welche, anstatt in das Wesen der Rechtsverhaͤltnisse und in die sie bestimmenden Momente ein- zudringen, nur bestrebt ist, fuͤr den vorliegenden Rechtsfall durch Citate und Allegationen eine aͤußerliche Normirung zu Werth des Juristenrechts . gewinnen, und die, wenn sie gruͤndlich wird, sich in der Exe- gese alter Rechtsquellen ergeht. Unter diesen Umstaͤnden muß- ten denn freilich gerade diejenigen Maͤnner den groͤßten Ein- fluß auf die deutsche Rechtsbildung erlangen, welche sich als Gelehrte von Profession mit dem Recht als einem Gegenstande besonderer Studien beschaͤftigten, und es oft als ein selbstaͤndi- ges Wesen, ohne Ruͤcksicht auf seine unmittelbare Beziehung zu den Lebensverhaͤltnissen betrachteten, als ob die Gelehrsam- keit uͤberhaupt und namentlich fuͤr eine practische Disciplin etwas Anderes als ein Mittel zum Zweck seyn koͤnnte. Ist auch bei manchen Universitaͤtslehrern, denn von diesen ist hier besonders die Rede, eine so ganz verfehlte Richtung dadurch temperirt worden, daß sie auf die eine oder die andere Weise dem Leben und seinen Ansorderungen naͤher gebracht wurden; und hat den Einen seine hoͤhere wissenschaftliche Begabung, welche jeder Einseitigkeit widerstrebt, den Andern vielleicht seine unverwuͤstliche geistige Gesundheit vor solchen Verirrungen be- wahrt, — im Allgemeinen blieb doch die Lage der Dinge, wie sie bezeichnet worden; das Uebel konnte wohl im Einzel- nen gemildert werden, aber gehoben ward es dadurch nicht. Und wenn es nur noch eine rechte volle Gelehrsamkeit gewe- sen waͤre, was aus jenen Bestrebungen hervorging! Aber wie viel ist ohne Critik den fremden, und namentlich den italieni- schen Juristen nachgeschrieben worden; wie viele ganz inhalts- lose und gleichguͤltige Untersuchungen und Controversen wur- den immer von Neuem mit pedantischer Gruͤndlichkeit erwo- gen und durcharbeitet; welch eine Menge von nichtsnutzigem Plunder, wie viele oberflaͤchliche Salbadereien, Abgeschmackt- heiten und Irrthuͤmer liegen uͤberhaupt in dem Wust der deut- schen juristischen Literatur aufgespeichert vor uns! Bei andern Beseler , Volksrecht. 23 Zwoͤlftes Kapitel . Voͤlkern wird der Verfasser eines guten Buches geehrt; in Deutschland kann es beinahe schon als ein Verdienst gelten, kein schlechtes geschrieben zu haben! Ist aber die Reception des roͤmischen Rechts von entschie- denem Einfluß auf diese Entartung unserer Jurisprudenz ge- wesen, so wuͤrde man doch zu weit gehen, wenn man sie ihr allein zuschreiben wollte. Es liegt darin, wie schon fruͤher ge- zeigt worden, nur Eins der Momente, deren Zusammenwirken den heutigen Rechtszustand in Deutschland herbeigefuͤhrt hat. Das ergiebt sich recht deutlich, wenn man die Wirksamkeit der Germanisten betrachtet, welche doch gerade einen bewußten Ge- gensatz zu den Romanisten bildeten, der sich wenigstens bei Manchen von ihnen bestimmt genug ausgesprochen hat. Auch sie haben es selten vermocht, sich von diesem gelehrten Trei- ben los zu machen, und wenn sie uͤber den Standpunct des usus modernus hinauskamen, so beschaͤftigten sie sich vor- zugsweise gern mit den Rechtsalterthuͤmern, und hingen in ihren dogmatischen Arbeiten nur zu leicht leeren Theorien nach, ohne da, wo sie ihre Kraft haͤtten suchen sollen, im Rechtsle- ben des Volkes feste Wurzel zu schlagen. Freilich gehoͤrte schon ein gewisser Muth und ein scharfes Auge dazu, um in dessen Tiefen einzudringen, denn es war ja nach allen Seiten hin verdeckt und gestoͤrt; aber daß es eben so geworden, daran haben die Juristen keinen geringen Theil verschuldet. Ist es ihnen daher auch gelungen, so viel an ihnen lag, die Herr- schaft des gemeinen Rechts und somit ein wichtiges Band der politischen Einheit Deutschlands zu begruͤnden und aufrecht zu erhalten; es in harmonischer Durchbildung zur wahren Wis- senschaftlichkeit zu erheben, und die Anforderungen der hoͤheren Praxis, die nicht bloß eine gewandte Routine ist, zu befriedigen Werth des Juristenrechts . oder gar als ein das Volksrecht vertretendes Organ sich zu bewaͤhren, — diese Aufgabe haben sie unerfuͤllt gelassen. — In dem Urtheil uͤber die Wirksamkeit der Juristen uͤberhaupt ist aber auch das uͤber das von ihnen gebildete Juristenrecht schon enthalten; denn da es das Product ihrer Thaͤtigkeit, der fest gewordene Inhalt ihrer Ueberzeugungen ist, so kann es nur von deren Beschaffenheit die Bestimmung seines Werthes bekommen. Daß dieß Verhaͤltniß aber wirklich besteht, laͤßt sich auch im Einzelnen darthun, ohne daß es dazu einer um- fassenden Kritik aller im Juristenrecht enthaltenen Institute be- duͤrfte; einige Beispiele werden schon zur Best??tigung des Gesagten ausreichen. Zuerst beziehe ich mich auf das Gerichtswesen und ins- besondere auf das gerichtliche Verfahren. Es ist bereits oben im 9. Kapitel weitlaͤuftiger gezeigt worden, daß das Princip des heimlich-schriftlichen Processes dem Geiste des deutschen Volkes und einer wuͤrdigen und energischen Handhabung der Rechtspflege auf keine Weise entspricht; aber gerade dieses Princip ist mit der ganzen Tendenz unserer Jurisprudenz auf das Engste verbunden, und von ihr auch erst recht ausgebil- det und in die Praxis eingefuͤhrt worden. Dadurch hat denn der gemeine deutsche Civilproceß seine jetzige, so wenig befrie- digende Gestalt erhalten, und auch der Criminalproceß ist im Wesentlichen dadurch bestimmt worden. Indessen besteht zwi- schen beiden Rechtstheilen doch noch ein wesentlicher Unter- schied. Denn der Erstere ist, wie mangelhaft auch sein Fun- dament seyn mag, doch mit großem Scharfsinn und innerer Consequenz ausgebaut worden; es ist ein System darin, dessen formelle Tuͤchtigkeit man anerkennen muß, und welches die ihm gestellte Aufgabe in seiner Weise erfuͤllt. Im Criminal- 23* Zwoͤlftes Kapitel . proceß dagegen mit seiner Untersuchungsmaxime, die nur zu Willkuͤhrlichkeiten fuͤhrt, fehlt seit der Abschaffung der Folter der Schlußstein des ganzen Gebaͤudes; die uͤber Alles wichtige Beweislehre ist durch und durch erschuͤttert, und in der Praxis so gut wie in der Theorie zeigt sich ein unstaͤtes Schwanken, welches die innere Haltungslosigkeit des ganzen Systems deut- lich genug bekundet, und eben ein Zeugniß davon ablegt, wie wenig es dem muͤhevollen Scharfsinn einer in sich abgeschlos- senen Schule gelingen kann, den Anforderungen des Lebens und der Freiheit Genuͤge zu leisten. — Auch das materielle Strafrecht, so tuͤchtig es auch in mancher Hinsicht durchgear- beitet worden, kann doch schon seiner gelehrten Faͤrbung wegen und bei der Unsicherheit mancher allgemeiner Regeln und na- mentlich des Strafmaaßes, keinen Anspruch darauf machen, das Beduͤrfniß des Volkes und des Staates zu befriedigen; wie viele und wichtige Momente darin aber von den Juristen schief gefaßt oder uͤbersehen worden sind, ist in neuerer Zeit, da eine mehr volksthuͤmliche Gesetzgebung in diesem Rechts- theile angestrebt wird, bestimmt genug an den Tag gekom- men. — Was ferner die Stellung des Juristenrechts im Staats- und Kirchenrechte betrifft, so verweise ich auf die im vorigen Kapitel gegebene Ausfuͤhrung, und fasse nur noch das Privatrecht naͤher ins Auge. Auch auf diesem Gebiete haben die Juristen, obgleich ihnen hier gerade die freieste Bewegung vergoͤnnt war, den ihrer Wirksamkeit uͤberhaupt anhaͤngenden Charakter nicht verleugnet. Der Kampf, den sie fuͤr das roͤ- mische Recht gegen das einheimische fuͤhrten, war ja, in vielen Beziehungen wenigstens, ein beharrlich fortgesetztes Streben, den todten Buchstaben uͤber das lebendige Wort zu setzen, und wenn auch am Ende das roͤmische Recht einer oft willkuͤhr- Werth des Juristenrechts . lichen Behandlung unterworfen ward, um nur den ihm wider- strebenden Verhaͤltnissen angepaßt zu werden, so litten doch auch diese unter der neu geformten Regel, weil sie ihnen so haͤufig von außen her zugetragen ward, und nicht in einer tieferen Begruͤndung aus ihnen selbst gezogen werden konnte. Da aber die Juristen einmal aus dem inneren Zusammenhange mit dem nationalen Rechtsleben gekommen waren, und sie diesen auch durch gelehrte germanistische Studien nicht wieder herzustellen vermochten, so geschah es, daß sie manche Lehren zur Geltung brachten, in der Meinung vielleicht, dem einhei- mischen Recht ein wichtiges Zugestaͤndniß zu machen, und da- bei gerade dessen Geist am Wenigsten erfaßten. So haben sie den reichen Formalismus, welcher das deutsche Rechtsleben beherrschte, in das Princip der Klagbarkeit aller Vertraͤge auf- gehen lassen, wodurch kein geringerer Schaden, als durch die Zerruͤttung der gerichtlichen Auflassung angerichtet worden; so haben sie ferner die Erbvertraͤge zu einem allgemein guͤltigen Institut ausgesponnen, und gerade da, wo sie am Platze ge- wesen waͤren, bei den wechselseitigen Zuwendungen der Ehe- gatten das Princip der letztwilligen Verfuͤgung im reciproken Testamente durchgefuͤhrt, obgleich dieses durchaus unfaͤhig ist, die ihm zugewiesene Aufgabe zu erfuͤllen. Ist nun nach dem Angefuͤhrten der Werth des deutschen Juristenrechts im Allgemeinen nicht hoch zu stellen, so ist da- mit doch noch nicht gesagt, daß es ohne alles Verdienst ist, und daß nicht im Einzelnen manche zweckmaͤßige, dem Be- duͤrfniß entsprechende Rechtsbildung dadurch hervorgerufen wor- den. Ich habe schon wiederholt darauf hingewiesen, daß ge- rade um die Begruͤndung und Befestigung des gemeinen Rechts im Gegensatz zu dem bloß particulaͤren die Juristen Zwoͤlftes Kapitel . sich vorzugsweise verdient gemacht haben; im Civilproceß kann noch besonders die Beibehaltung der Verhandlungsmaxime (wenn auch in dieser Beziehung eine gewisse starre Einseitig- keit nicht zu verkennen ist), ferner die bestimmte Scheidung von Einlassung und Einrede, so wie die Ausbildung des Beweis- interlocuts, im Criminalproceß wenigstens die Sorgfalt bei der Feststellung des objectiven Thatbestandes an ihnen geruͤhmt werden. Auch im Privatrecht haben sie manche Lehre zeit- gemaͤß entwickelt, z. B. die von den Zinsen, und zuweilen selbst dann ein guͤnstiges Resultat hervorgerufen, wenn ihre Ueberzeugung zunaͤchst auch auf Mißverstaͤndnissen und Irr- thuͤmern beruhte. Ein Beispiel wird dieß deutlicher machen. Mit der Aufnahme des roͤmischen Rechts kamen auch dessen Grundsaͤtze uͤber die Privilegien des Fiscus großen Theils zur practischen Geltung, — eine Thatsache, die sich nicht wegleug- nen laͤßt, obgleich die betreffenden Bestimmungen offenbar dem oͤffentlichen Recht, ja man kann fast sagen dem Staatsrecht angehoͤren, welches letztere sonst doch nicht recipirt worden ist. Die aͤltere Theorie von der absoluten Geltung des roͤmischen Rechts und spaͤter die Macht der Regierungen und die ihrem Interesse dienstbare Beflissenheit der Juristen sind wohl die Veranlassung gewesen, daß man eben bei der roͤmischen Fis- cuslehre eine Ausnahme gemacht hat, obgleich sie in ihrer ganz eigenthuͤmlichen Entwicklung der Verfassung und den Rechts- ansichten der Deutschen wenig entsprach. Daher mag es denn nun aber gekommen seyn, daß die Juristen es sich doch an- gelegen seyn ließen, jene exorbitanten Privilegien auf die eine oder die andere Art zu maͤßigen, und dazu gelangten sie auf folgende Weise. Eine Stelle des roͤmischen Rechts ( L. 10. D. de jure fisci ) lautet also: Werth des Juristenrechts . Non puto delinquere eum, qui in dubiis quaestio- nibus contra fiscum facile responderit. Die Erklaͤrung dieser Stelle macht keine Schwierigkeit, wenn man nur dem einfachen Wortsinne folgt, und zugleich die allgemeine Lage der oͤffentlichen Verhaͤltnisse zur Kaiserzeit gehoͤrig beruͤcksichtigt. Die Uebersetzung wird lauten: „Ich glaube nicht, daß derjenige ein Delict begeht, welcher in zwei- felhaften Fragen leicht gegen den Fiscus respondirt.“ Daß namentlich das Wort delinquere so, wie geschehen, uͤbersetzt werden muß, wird dadurch, daß zum respondere noch fa- cile hinzugefuͤgt worden ist, ganz unzweifelhaft. Aber wie haben unsere Juristen diese Stelle aufgefaßt? Sie uͤbersetzten delinquere mit fehlen , und indem sie das respondere auf gerichtliche Entscheidungen bezogen, bildeten sie daraus die pro- cessualische Praͤsumtion: in dubio contra fiscum! wodurch dessen Privilegien denn allerdings auf gewisse Weise ein Ge- gengewicht erhielten. Es ist nun aber noch ein Punct zu beruͤcksichtigen, wel- cher nicht ohne Einfluß auf das Urtheil seyn kann, welches uͤber den Werth des Juristenrechts abgegeben wird. Ich habe schon fruͤher bemerkt, daß die Ueberzeugung der Juristen nicht im- mer ganz stabil seyn, sondern sich in einer gewissen innern Bewegung befinden wird, welche denn leicht auch einen Wan- del im Juristenrecht hervorrufen muß. Dazu kommt, daß sich jene Ueberzeugung nicht immer zu einer solchen Gleichmaͤ- ßigkeit und Festigkeit condensirt hat, daß sie genuͤgt, um sichere positive Rechtsregeln zu begruͤnden, was denn natuͤrlich, wenn man die Normirung gewisser Verhaͤltnisse von dieser Seite her erwarten muß, einen Mangel in dem Rechtsmaterial ver- Zwoͤlftes Kapitel . anlaßt, der oft anderweitig schwer zu ersetzen ist. Auf diese Weise wird leicht eine gewisse Rechtsunsicherheit entstehen, und es fragt sich nun, ob daraus nicht uͤberhaupt ein Grund ge- gen das Juristenrecht und namentlich gegen das deutsche, wo jene Uebelstaͤnde allerdings besonders stark hervortreten, herzu- zunehmen ist? — Wird nun diese Frage ganz allgemein ge- stellt, so bezieht sie sich nicht allein auf das Juristenrecht, son- dern uͤberhaupt auf jede Rechtsbildung, welche sich, im Ge- gensatz zu dem bestimmten Gesetz, in einer gewissen Freiheit und aͤußern Ungebundenheit entfaltet, also auch auf das Volks- recht. Allein ein solcher Mangel an der aͤußern Fixirung der Rechtsregel ist an und fuͤr sich kein Uebel, indem darin zu- gleich die Moͤglichkeit ihrer groͤßeren Elasticitaͤt gegeben ist, und die rechte Methode und die Verfassung, namentlich auch der Gerichte, die Mittel gewaͤhren koͤnnen, dem scheinbar form- losen Stoff die nothwendige Norm abzugewinnen. Es war daher eine einseitige Richtung, als seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts die reformatorische Thaͤtigkeit der deutschen Ge- setzgebung, deren innere Begruͤndung im Allgemeinen nicht zu leugnen ist, vor Allem auf die Erlangung einer aͤußeren Rechts- sicherheit hinstrebte, welche man namentlich durch die Herr- schaft der Juristen gefaͤhrdet glaubte. Daher die ganz detail- lirte Ausfuͤhrung des preußischen Landrechts, und jener nicht verhehlte Zorn gegen die Rechtsbildung durch die Juristen, welche zu reinen Executivbeamten der im Gesetz vollstaͤndig ausgesprochenen Willensmeinung gemacht werden sollten. Aber wie diese Richtung dem preußischen Rechtswesen keinen Se- gen gebracht hat, so haben auch schon die folgenden Gesetzge- bungen sich damit begnuͤgt, im Allgemeinen nur die leitenden Rechtsprincipien aufzustellen, und die weitere Entwicklung des Werth des Juristenrechts . Einzelnen auf dem Wege der consequenten Deduction wieder den Juristen anvertraut. Dieß ist nun auch eine Aufgabe, die ihnen zukommt, und die ihnen um so eher uͤberlassen wer- den kann, wenn sie in den Gerichten mit Schoͤffen aus dem Volke zusammen sitzen. — Es bleibt daher nur noch zu er- waͤgen, ob die selbstaͤndige Begruͤndung von Rechtsinstituten, also nicht bloß die Entwicklung aus dem Princip, sondern auch die Aufstellung eines solchen dem Juristenstande zugewie- sen werden kann, und er also gleichsam der gesetzgebenden Ge- walt gleichzustellen ist? Eine solche Befugniß wird man ihm aber nicht wohl einraͤumen duͤrfen, wenn es sich um eine um- fassende Codification handelt; er wird sich dann innerhalb der vom Gesetz gezogenen Linien des Rechtssystems zu halten ha- ben, und auch keine Veranlassung fuͤhlen, daruͤber hinauszu- gehen, wenn sie in ihrer urspruͤnglichen Anlage und in ihrer allmaͤligen legislativen Erweiterung nur genuͤgen. Ist dieß aber nicht der Fall, zeigt sich wirklich eine Luͤcke im Gesetzbuch, welche von dem Gesetzgeber selbst nicht zeitig ausgefuͤllt wird: so wird sein Verbot auch nicht davon abhalten, anderweitig fuͤr die Verhaͤltnisse eine Normirung zu gewinnen, mag nun das Volks- oder das Juristenrecht, je nach den besonderen Umstaͤnden, dieselbe liefern. Anders aber, wie bei einer um- fassenden Codification, stellt sich die Sache gegenwaͤrtig fuͤr das Recht der meisten deutschen Staaten, welches, fuͤr seine gemeinrechtlichen Bestandtheile wenigstens, das Juristenrecht durchaus nicht entbehren kann. Ist der Vorwurf der Unsicher- heit, welcher demselben gemacht wird, auch in mancher Bezie- hung nicht unbegruͤndet, so ist das ein Mangel, der die Gel- tung des festgewordenen Rechtes doch nicht bedroht, und fuͤr das Privatrecht wenigstens von keinem solchen Belang ist, Zwoͤlftes Kapitel . um schon deswegen das Juristenrecht ganz und gar zu ver- werfen. So lange wir keine allgemeine deutsche Codification haben, liegt in dem Volks- und Juristenrecht die einzige Gewaͤhr fuͤr die einheitliche Fortbildung unseres Rechtswesens, welche durch die große Thaͤtigkeit, die jetzt in der particulaͤren Gesetzgebung herrscht, ernstlich bedroht wird. Hoffen wir denn, daß der Mangel an aͤußeren Mitteln, um dem Juristenrecht seine sichere gemeinrechtliche Haltung zu verschaffen, und namentlich an solchen Einrichtungen, wie die eines obersten deutschen Ge- richtshofes, woran das englische Rechtswesen so reich ist, — nicht zu nachtheilig einwirken, und daß sich dafuͤr in der hoͤ- heren nationalen Entwicklung des Volkes und in der edleren Wissenschaftlichkeit der Juristen vorlaͤufig wenigstens ein Ersatz finden wird. Und in der That hat es den Anschein, als ob in dieser Hinsicht das Beste zu hoffen ist. Es kann nicht verkannt werden, daß die deutsche Jurisprudenz in neuerer Zeit bedeu- tende Fortschritte gemacht hat, und daß sie, wenn sie auch nicht beliebig vom positiven Rechte abgehen darf, doch gegenwaͤrtig schon uͤber ganz andere Mittel zu gebieten hat, wie fruͤher, um segensreich auf die Rechtsbildung einwirken zu koͤnnen. Man hat angefangen, das wuͤste durch einander geworfene Material zu sichten und zu sondern; das roͤmische Recht ist in seinem eigensten Wesen ergruͤndet worden, und zugleich ist der freilich stets befolgte, aber oft verkannte Grundsatz dem wissenschaftlichen Bewußtseyn naͤher getreten, daß nicht der Buchstabe der Justinianischen Compilation, sondern der darin ausgesprochene Geist der Institute in seiner modernen Durch- bildung fuͤr recipirt zu halten ist. Auch das nationale Ele- ment unseres Rechtes hat erst spaͤt eine wuͤrdige und umfas- Werth des Juristenrechts . sende Bearbeitung gefunden, welche sich, den Spuren der Ge- schichte eifrig nachgehend, mit immer groͤßerer Energie dem gegenwaͤrtig noch im Volke lebenden Rechte zuwenden wird. So ist die Aussicht eroͤffnet, daß wir es in nicht zu ferner Zeit zu einer wahrhaften Durchdringung unseres gesammten Rechts- stoffs bringen, und diesen auch in seiner innern Einheit wis- senschaftlich erfassen werden, — eine Aufgabe, deren Loͤsung die unerlaͤßliche Bedingung jedes tuͤchtigen und umfassenden Fortbaues ist. Die historische Methode der Juristen hat in dieser Beziehung schon Großes geleistet, und macht taͤglich neue Eroberungen auf dem ihr angewiesenen Gebiete; aber auch die Rechtsphilosophie, welche von der duͤrren Abstraction des Naturrechts zur freien Betrachtung des Rechts in seiner allgemeinen Bedeutung fuͤr die Menschheit gelangt ist, und es in die unmittelbare Beziehung zur Staatslehre und Ethik ge- bracht hat, — auch sie darf ihren Antheil an der allgemeinen Foͤrderung der deutschen Jurisprudenz in Anspruch nehmen. So ist das wissenschaftliche Vermoͤgen vorhanden, welches zu großen Resultaten fuͤhren kann; es kommt nun Alles darauf an, in welches Verhaͤltniß es zum Volksleben tritt, und ob die Juristen es uͤber sich gewinnen werden, ihre isolirte Stel- lung aufzugeben, und sich wieder im offenen, ehrlichen Buͤnd- niß mit der Nation zu vereinen, damit Volksrecht und Juri- stenrecht sich ausgleiche, und die Schuld fruͤherer Zeiten in dem gemeinsamen Ziele des hoͤheren Strebens gesuͤhnt werde. Um dieß zu erreichen, genuͤgt aber nicht die Erhebung der Ju- risprudenz zur freiesten wissenschaftlichen Bewegung; auch in der Rechtsanwendung, in der Praxis des taͤglichen Lebens muß sich derselbe Sinn bewaͤhren, welcher auch jetzt noch im Volke den urspruͤnglichen Traͤger alles Rechtes nicht verkennt, und Beseler , Volksrecht. 24 Zwoͤlftes Kapitel. Werth des Juristenrechts . wie der Jurist schon in den Staͤndeversammlungen neben den anderen Geschaͤftsmaͤnnern sitzend, die Gesetze einer gemein- schaftlichen Berathung und Beschlußnahme unterzieht, so muß er auch bereit seyn, die Stimme des schlichten Rechtsgefuͤhls und der Erfahrung in den Gerichten gelten zu lassen, und nicht bloß sein angeschultes Wissen, sondern auch die in den Lebensverhaͤltnissen ruhende Norm zur Anwendung zu bringen. Freilich ist es kein geringes Verlangen, welches an einen gan- zen Stand gestellt wird, auf die ausschließliche Macht einer hergebrachten Herrschaft zu verzichten, und sich mit dem Ein- fluß zu begnuͤgen, welchen die groͤßere Kunde und Tuͤchtigkeit nach dem Maaße ihres inneren Werthes ertheilen; auch mag fuͤr engherzige und selbstsuͤchtige Seelen ein solches Opfer un- erschwinglich erscheinen. Aber die Pflicht des guten Buͤrgers, die wahre Wuͤrde der Wissenschaft und des eigenen Standes erheischen es, und wenn nicht alle Zeichen truͤgen, so gebietet es auch die Klugheit. Denn einer tiefen, nationalen Bewegung, welche auf eine mehr naturgemaͤße und volksthuͤmliche Gestal- tung unseres Rechtswesens hindraͤngt, werden sich die Vertre- ter einer dem Leben entfremdeten, wissenschaftlich uͤberwundenen Lehre ohne Aussicht auf dauernden Erfolg widersetzen. Druckfehler, um deren Verbesserung gebeten wird . S. 30. Z. 13. v. o. statt: erger lies: ergere . — 32. — 17. v. o. statt: Namen lies: Normen . — 43. — 7. v. o. statt: wesentlichen lies: einheitlichen . — 53. — 8. v. u. statt: den lies: der . — 61. — 4. v. o. statt: nur lies: nun . — 69. — 10. v. o. ist kein Absatz zu machen. — 148. — 1. v. o. statt: ließe lies: laͤßt . — 157. — 3. v. u. statt: ihn lies: ihr . — 161. — 3. v. o. statt: festzuhalten lies: festzustellen . — 187. — 6. v. u. ist nach: und kann hinzuzufuͤgen: falls sie nicht auf eine bestimmte Person ausge- stellt ist . — 192. — 7. v. o. statt: gemeinschaftliches lies: gemeinrecht- liches . — 205. — 3. v. u. statt: dasselbe lies: derselbe . — 240. — 8. v. u. zu Anfang fuͤge hinzu: 2. — 255. — 19. v. o. statt: bildet lies: blickt . Guß und Druck von Friedrich Nies in Leipzig.