Aus meinem Leben Dichtung und Wahrheit . Von Goethe . Dritter Theil . Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Tuͤbingen , in der J. G. Cottaischen Buchhandlung. 1814. Eilftes Buch . III. 1 Nachdem ich in jener Laube zu Sesen¬ heim meine Erzaͤhlung vollendet, in welcher das Gemeine mit dem Unmoͤglichen anmuthig genug wechselte, sah ich meine Hoͤrerinnen, die sich schon bisher ganz eigen theilnehmend erwiesen hatten, von meiner seltsamen Dar¬ stellung aufs aͤußerste verzaubert. Sie baten mich instaͤndig, ihnen das Maͤhrchen aufzu¬ schreiben, damit sie es oͤfters unter sich und vorlesend mit andern wiederholen koͤnnten. Ich versprach es um so lieber, als ich da¬ durch einen Vorwand zu Wiederholung des Besuchs und Gelegenheit zu naͤherer Verbin¬ dung mir zu gewinnen hoffte. Die Gesell¬ schaft trennte sich einen Augenblick und alle mochten fuͤhlen, daß, nach einem so lebhaft vollbrachten Tag, der Abend einigermaßen matt werden koͤnnte. Von dieser Sorge be¬ I * freyte mich mein Freund, der sich fuͤr uns die Erlaubniß erbat, sogleich Abschied neh¬ men zu duͤrfen, weil er, als ein fleißiger und in seinen Studien folgerechter academi¬ scher Buͤrger, diese Nacht in Drusenheim zuzubringen und morgen zeitig in Straßburg zu seyn wuͤnsche. Unser Nachtquartier erreichten wir beyde schweigend; ich, weil ich einen Widerhaken im Herzen fuͤhlte, der mich zuruͤckzog, er, weil er etwas anderes im Sinne hatte, das er mir, als wir angelangt waren, so¬ gleich mittheilte. — Es ist doch wunderlich, fing er an, daß du gerade auf dieses Maͤhr¬ chen verfallen bist. Hast du nicht bemerkt, daß, es einen ganz besondern Eindruck mach¬ te? — Freylich, versetzte ich darauf; wie haͤtte ich nicht bemerken sollen, daß die aͤltere bey einigen Stellen, mehr als billig, lachte, die juͤngere den Kopf schuͤttelte, daß ihr euch bedeutend ansaht, und daß du selbst beynah aus deiner Fassung gekommen waͤrest. Ich leugne nicht, es haͤtte mich fast irre ge¬ macht: denn es fuhr mir durch den Kopf, daß es vielleicht unschicklich sey, den guten Kindern solche Fratzen zu erzaͤhlen, die ihnen besser unbekannt blieben, und ihnen von den Maͤnnern so schlechte Begriffe zu geben, als sie von der Figur des Abenteurers sich noth¬ wendig bilden muͤssen. — Keineswegs! ver¬ setzte jener: du erraͤthst es nicht, und wie solltest du's errathen? Die guten Kinder sind mit solchen Dingen gar nicht so unbekannt als du glaubst: denn die große Gesellschaft um sie her giebt ihnen zu manchem Nachdenken An¬ laß, und so ist uͤberrhein gerade ein solches Ehepaar, nie du es, nur uͤbertrieben und maͤhrchenhaft, schilderst. Er gerade so groß, derb und plump, sie niedlich und zierlich ge¬ nug, daß er sie wohl auf der Hand tragen koͤnnte. Ihr uͤbriges Verhaͤltniß, ihre Ge¬ schichte paßt ebenfalls so genau zu deiner Er¬ zaͤhlung, daß die Maͤdchen mich ernstlich fragten, ob du die Personen kenntest und sie schalkhaft dargestellt haͤttest? Ich versi¬ cherte nein! und du wirst wohl thun, das Maͤhrchen ungeschrieben zu lassen. Durch Zoͤgern und Vorwaͤnde wollen wir schon eine Entschuldigung finden. Ich verwunderte mich sehr: denn ich hatte weder an ein dießrheinisches noch an ein uͤberrheinisches Paar gedacht, ja ich haͤtte gar nicht anzugeben gewußt, wie ich auf den Einfall gekommen. In Gedanken mochte ich mich gern mit solchen Spaͤßen, ohne weitere Beziehung, beschaͤftigen, und so, glaubte ich, sollte es auch andern seyn, wenn ich sie erzaͤhlte. Als ich in der Stadt wieder an meine Geschaͤfte kam, fuͤhlte ich die Beschwerlich¬ keit derselben mehr als sonst: denn der zur Thaͤtigkeit geborene Mensch uͤbernimmt sich in Planen und uͤberladet sich mit Arbeiten. Das gelingt denn auch ganz gut, bis irgend ein physisches oder moralisches Hinderniß da¬ zutritt, um das Unverhaͤltnißmaͤßige der Kraͤfte zu dem Unternehmen in's Klare zu bringen. Das Juristische trieb ich mit so viel Fleiß als noͤthig war, um die Promotion mit einigen Ehren zu absolviren; das Me¬ dicinische reizte mich, weil es mir die Na¬ tur nach allen Seiten wo nicht aufschloß, doch gewahr werden ließ, und ich war daran durch Umgang und Gewohnheit gebunden; der Gesellschaft mußte ich auch einige Zeit und Aufmerksamkeit widmen: denn in man¬ chen Familien war mir mehreres zu Lieb und zu Ehren geschehn. Aber alles dieß waͤre zu tragen und fortzufuͤhren gewesen, haͤtte nicht das was Herder mir auferlegt, unendlich auf mir gelastet. Er hatte den Vorhang zerrissen, der mir die Armuth der deutschen Literatur bedeckte; er hatte mir so manches Vorurtheil mit Grausamkeit zerstoͤrt; an dem vaterlaͤndi¬ schen Himmel blieben nur wenige bedeutende Sterne, indem er die uͤbrigen alle nur als vor¬ uͤberfahrende Schnuppen behandelte; ja was ich von mir selbst hoffen und waͤhnen konnte, hatte er mir dermaßen verkuͤmmert, daß ich an meinen eignen Faͤhigkeiten zu verzweifeln anfing. Zu gleicher Zeit jedoch riß er mich fort auf den herrlichen breiten Weg, den er selbst zu durchwandern geneigt war, machte mich aufmerksam auf seine Lieblingsschriftstel¬ ler, unter denen Swift und Hamann oben an standen, und schuͤttelte mich kraͤftiger auf als er mich gebeugt hatte. Zu dieser vielfa¬ chen Verwirrung nunmehr eine angehende Lei¬ denschaft, die, indem sie mich zu verschlin¬ gen drohte, zwar von jenen Zustaͤnden mich abziehn, aber wohl schwerlich daruͤber erhe¬ ben konnte. Dazu kam noch ein koͤrperliches Uebel, daß mir naͤmlich nach Tische die Kehle wie zugeschnuͤrt war; welches ich erst spaͤter sehr leicht los wurde, als ich einem rothen Wein, den wir in der Pension ge¬ woͤhnlich und sehr gern tranken, entsagte. Diese unertraͤgliche Unbequemlichkeit hatte mich auch in Sesenheim verlassen, so daß ich mich dort doppelt vergnuͤgt befand; als ich aber zu meiner staͤdtischen Diaͤt zuruͤckkehrte, stellte sie sich zu meinem großen Verdruß sogleich wieder ein. Alles dieß machte mich nachdenk¬ lich und muͤrrisch, und mein Aeußeres mochte mit dem Innern uͤbereinstimmen. Verdrießlicher als jemals, weil eben nach Tische jenes Uebel sich heftig eingefun¬ den hatte, wohnte ich dem Klinikum bey. Die große Heiterkeit und Behaglichkeit wo¬ mit der verehrte Lehrer uns von Bett zu Bett fuͤhrte, die genaue Bemerkung bedeu¬ tender Symptome, die Beurtheilung des Gangs der Krankheit uͤberhaupt, die schoͤne Hippocratische Verfahrungsart, wodurch sich, ohne Theorie, aus einer eignen Erfahrung, die Gestalten des Wissens heraufgaben, die Schlußreden mit denen er gewoͤhnlich seine Stunden zu kroͤnen pflegte, das alles zog mich zu ihm und machte mir ein fremdes Fach, in das ich nur wie durch eine Ritze hineinsah, um desto reizender und lieber. Mein Abscheu gegen die Kranken nahm im¬ mer mehr ab, jemehr ich diese Zustaͤnde in Begriffe verwandeln lernte, durch welche die Heilung, die Wiederherstellung menschlicher Gestalt und Wesens als moͤglich erschien. Er mochte mich wohl, als einen seltsamen jungen Menschen, besonders ins Auge gefaßt und mir die wunderliche Anomalie, die mich zu seinen Stunden hinfuͤhrte, verziehn ha¬ ben. Dießmal schloß er seinen Vortrag nicht, wie sonst, mit einer Lehre, die sich auf ir¬ gend eine beobachtete Krankheit bezogen haͤtte, sondern sagte mit Heiterkeit: Meine Herren! wir sehen einige Ferien vor uns. Benutzen Sie dieselben sich aufzumuntern; die Stu¬ dien wollen nicht allein ernst und fleißig, sie wollen auch heiter und mit Geistesfreyheit be¬ handelt werden. Geben Sie Ihrem Koͤrper Bewegung, durchwandern Sie zu Fuß und zu Pferde das schoͤne Land; der Einheimi¬ sche wird sich an dem Gewohnten erfreuen, und dem Fremden wird es neue Eindruͤcke geben und eine angenehme Erinnerung zuruͤck¬ lassen. Es waren unser eigentlich nur zwey, an welche diese Ermahnung gerichtet seyn konnte; moͤge dem Andern dieses Recept eben so ein¬ geleuchtet haben als mir! Ich glaubte eine Stimme vom Himmel zu hoͤren, und eilte was ich konnte, ein Pferd zu bestellen und mich sauber herauszuputzen. Ich schickte nach Weyland, er war nicht zu finden. Dieß hielt meinen Entschluß nicht auf, aber leider verzogen sich die Anstalten und ich kam nicht so fruͤh weg als ich gehofft hatte. So stark ich auch ritt, uͤberfiel mich doch die Nacht. Der Weg war nicht zu verfehlen und der Mond beleuchtete mein leidenschaftliches Un¬ ternehmen. Die Nacht war windig und schauerlich, ich sprengte zu, um nicht bis morgen fruͤh auf ihren Anblick warten zu muͤssen. Es war schon spaͤt, als ich in Sesen¬ heim mein Pferd einstellte. Der Wirth, auf meine Frage, ob wohl in der Pfarre noch Licht sey, versicherte mich, die Frauenzim¬ mer seyen eben erst nach Hause gegangen; er glaube gehoͤrt zu haben, daß sie noch ei¬ nen Fremden erwarteten. Das war mir nicht recht; denn ich haͤtte gewuͤnscht der einzige zu seyn. Ich eilte nach, um we¬ nigstens, so spaͤt noch, als der erste zu er¬ scheinen. Ich fand die beyden Schwestern vor der Thuͤre sitzend; sie schienen nicht sehr verwundert, aber ich war es, als Friedrike Olivien ins Ohr sagte, so jedoch daß ich's hoͤrte: hab' ich's nicht gesagt? da ist er! Sie fuͤhrten mich ins Zimmer und ich fand eine kleine Collation aufgestellt. Die Mutter begruͤßte mich als einen alten Bekannten; wie mich aber die aͤltere bey Licht besah, brach sie in ein lautes Gelaͤchter aus: denn sie konnte wenig an sich halten. Nach diesem ersten etwas wunderlichen Empfang ward sogleich die Unterredung frey und heiter, und was mir diesen Abend verbor¬ gen blieb, erfuhr ich den andern Morgen. Frie¬ drike hatte voraus gesagt, daß ich kommen wuͤrde; und wer fuͤhlt nicht einiges Behagen beym Eintreffen einer Ahndung, selbst einer traurigen? Alle Vorgefuͤhle, wenn sie durch das Ereigniß bestaͤtigt werden, geben dem Menschen einen hoͤheren Begriff von sich selbst, es sey nun, daß er sich so zart fuͤhlend glau¬ ben kann, um einen Bezug in der Ferne zu ta¬ sten, oder so scharfsinnig, um nothwendige aber doch ungewisse Verknuͤpfungen gewahr zu werden. — Oliviens Lachen blieb auch kein Geheimniß; sie gestand, daß es ihr sehr lustig vorgekommen, mich dießmal geputzt und wohl ausstaffirt zu sehn; Friedrike hingegen fand es vortheilhaft, eine solche Erscheinung mir nicht als Eitelkeit auszule¬ gen, vielmehr den Wunsch, ihr zu gefallen, darin zu erblicken. Fruͤh bey Zeiten rief mich Friedrike zum Spazirengehn; Mutter und Schwester waren beschaͤftigt, alles zum Empfang meh¬ rerer Gaͤste vorzubereiten. Ich genoß an der Seite des lieben Maͤdchens der herrlichen Sonntagsfruͤhe auf dem Lande, wie sie uns der unschaͤtzbare Hebel vergegenwaͤrtigt hat. Sie schilderte mir die erwartete Gesellschaft und bat mich, ihr beyzustehn, daß alle Ver¬ gnuͤgungen wo moͤglich gemeinsam und in einer gewissen Ordnung moͤchten genossen werden. Gewoͤhnlich, sagte sie, zerstreut man sich ein¬ zeln, Scherz und Spiel wird nur obenhin gekostet, so daß zuletzt fuͤr den einen Theil nichts uͤbrig bleibt, als die Karten zu er¬ greifen, und fuͤr den andern, im Tanze sich auszurasen. Wir entwarfen demnach unsern Plan, was ror und nach Tische geschehn sollte, machten einander wechselseitig mit neuen gesel¬ ligen Spielen bekannt, waren einig und ver¬ gnuͤgt, als uns die Glocke nach der Kirche rief, wo ich denn, an ihrer Seite, eine et¬ was trockene Predigt des Vaters nicht zu lang fand. Zeitverkuͤrzend ist immer die Naͤhe der Geliebten, doch verging mir diese Stunde auch unter besonderem Nachdenken. Ich wiederholte mir die Vorzuͤge, die sie so eben auf's frey¬ ste vor mir entwickelte: besonnene Heiterkeit, Naivetaͤt mit Bewußtseyn, Frohsinn mit Voraussehn; Eigenschaften, die unvertraͤglich scheinen, die sich aber bey ihr zusammenfan¬ den und ihr Aeußeres gar hold bezeichneten. Nun hatte ich aber auch ernstere Betrachtun¬ gen uͤber mich selbst anzustellen, die einer freyen Heiterkeit eher Eintrag thaten. Seitdem jenes leidenschaftliche Maͤdchen meine Lippen verwuͤnscht und geheiligt, (denn jede Weihe enthaͤlt ja beydes,) hatte ich mich, aberglaͤubisch genug, in Acht genommen, ir¬ gend ein Maͤdchen zu kuͤssen, weil ich solches auf eine unerhoͤrte geistige Weise zu beschaͤdi¬ gen fuͤrchtete. Ich uͤberwand daher jede Luͤ¬ sternheit, durch die sich der Juͤngling ge¬ drungen fuͤhlt, diese viel oder wenig sa¬ gende Gunst einem reizenden Maͤdchen ab¬ zugewinnen. Aber selbst in der sittigsten Ge¬ sellschaft erwartete mich eine laͤstige Pruͤfung. Eben jene, mehr oder minder geistreichen, sogenannten kleinen Spiele, durch welche ein munterer jugendlicher Kreis gesammelt und vereinigt wird, sind großentheils auf Pfaͤn¬ der gegruͤndet, bey deren Einforderung die Kuͤsse keinen unbedeutenden Loͤsewerth haben. Ich hatte mir nun ein fuͤr allemal vorgenom¬ men, nicht zu kuͤssen, und wie uns irgend ein Mangel oder Hinderniß zu Thaͤtigkeiten auf¬ regt, zu denen man sich sonst nicht hinge¬ neigt haͤtte, so bot ich alles auf, was an mir von Talent und Humor war, mich durch¬ zuwinden und dabey vor der Gesellschaft und fuͤr die Gesellschaft eher zu gewinnen als zu verlieren. Wenn zu Einloͤsung eines Pfandes ein Vers verlangt werden sollte, so richtete man die Forderung meist an mich. Nun war ich immer vorbereitet und wußte bey sol¬ cher Gelegenheit etwas zum Lobe der Wir¬ thinn, oder eines Frauenzimmers, die sich am artigsten gegen mich erwiesen hatte, vor¬ zubringen. Traf es sich, daß mir allenfalls ein Kuß auferlegt wurde, so suchte ich mich mit einer Wendung herauszuziehn, mit der man gleichfalls zufrieden war; und da ich Zeit gehabt hatte, vorher daruͤber nachzuden¬ ken, so fehlte es mir nicht an mannigfaltigen Zierlichkeiten; doch gelangen die aus dem Stegreife immer am besten. Als wir nach Hause kamen, schwirrten die von mehreren Seiten angekommenen Gaͤste III. 2 schon lustig durch einander, bis Friedrike sie sammelte und zu einem Spazirgang nach je¬ nem schoͤnen Platze lud und fuͤhrte. Dort fand man eine reichliche Collation und wollte mit geselligen Spielen die Stunde des Mit¬ tagessens erwarten. Hier wußte ich, in Ein¬ stimmung mit Friedriken, ob sie gleich mein Geheimniß nicht ahndete, Spiele ohne Pfaͤn¬ der und Pfaͤnderloͤsungen ohne Kuͤsse zu be¬ reiten und durchzufuͤhren. Meine Kunstfertigkeit und Gewandtheit war um so noͤthiger, als die mir sonst ganz fremde Gesellschaft geschwind ein Verhaͤltniß zwischen mir und dem lieben Maͤdchen mochte geahndet haben, und sich nun schalkhaft alle Muͤhe gab, mir dasjenige aufzudringen, was ich heimlich zu vermeiden suchte. Denn be¬ merkt man in solchen Cirkeln eine angehende Neigung junger Personen, so sucht man sie verlegen zu machen oder naͤher zusammenzubrin¬ gen, eben so wie man in der Folge, wenn sich eine Leidenschaft erklaͤrt hat, bemuͤht ist, sie wieder aus einander zu ziehen; wie es denn dem geselligen Menschen ganz gleichguͤl¬ tig ist, ob er nutzt oder schadet, wenn er nur unterhalten wird. Ich konnte mit einiger Aufmerksamkeit an diesem Morgen Friedrikens ganzes Wesen gewahr werden, dergestalt, daß sie mir fuͤr die ganze Zeit immer dieselbe blieb. Schon die freundlichen, vorzuͤglich an sie gerichteten Gruͤße der Bauern gaben zu verstehn, daß sie ihnen wohlthaͤtig sey und ihr Behagen errege. Zu Hause stand die aͤltere der Mutter bey; alles was koͤrperliche Anstrengung erforderte, ward nicht von Friedriken verlangt, man schonte sie, wie man sagte, ihrer Brust wegen. Es giebt Frauenspersonen die uns im Zimmer besonders wohl gefallen, andere die sich besser im Freyen ausnehmen; Friedrike ge¬ hoͤrte zu den letztern. Ihr Wesen, ihre Ge¬ 2 * stalt trat niemals reizender hervor, als wenn sie sich auf einem erhoͤhten Fußpfad hinbe¬ wegte; die Anmuth ihres Betragens schien mit der bebluͤmten Erde, und die unver¬ wuͤstliche Heiterkeit ihres Antlitzes mit dem blauen Himmel zu wetteifern. Diesen er¬ quicklichen Aether der sie umgab, brachte sie auch mit nach Hause und es ließ sich bald bemerken, daß sie Verwirrungen auszuglei¬ chen und die Eindruͤcke kleiner unangenehmer Zufaͤlligkeiten leicht wegzuloͤschen verstand. Die reinste Freude die man an einer ge¬ liebten Person finden kann, ist die, zu sehen, daß sie andere erfreut. Friedrikens Betra¬ gen in der Gesellschaft war allgemein wohl¬ thaͤtig. Auf Spazirgaͤngen schwebte sie, ein belebender Geist, hin und wieder und wußte die Luͤcken auszufuͤllen, welche hier und da entstehn mochten. Die Leichtigkeit ihrer Be¬ wegungen haben wir schon geruͤhmt, und am allerzierlichsten war sie, wenn sie lief. So wie das Reh seine Bestimmung ganz zu er¬ fuͤllen scheint, wenn es leicht uͤber die kei¬ menden Saaten wegfliegt, so schien auch sie ihre Art und Weise am deutlichsten auszu¬ druͤcken, wenn sie, etwas Vergessenes zu ho¬ len, etwas Verlorenes zu suchen, ein ent¬ ferntes Paar herbeyzurufen, etwas Nothwen¬ diges zu bestellen, uͤber Rain und Matten leich¬ ten Laufes hineilte. Dabey kam sie niemals au¬ ßer Athem, und blieb voͤllig im Gleichge¬ wicht; daher mußte die allzu große Sorge der Aeltern fuͤr ihre Brust manchem uͤbertrieben scheinen. Der Vater, der uns manchmal durch Wiesen und Felder begleitete, war oͤfters nicht guͤnstig gepaart. Ich gesellte mich des¬ halb zu ihm, und er verfehlte nicht, sein Lieblingsthema wieder anzustimmen und mich von dem vorgeschlagenen Bau des Pfarrhau¬ ses umstaͤndlich zu unterhalten. Er beklagte sich besonders, daß er die sorgfaͤltig gefertigten Risse nicht wieder erhalten koͤnne, um daruͤ¬ ber nachzudenken und eine und die andere Verbesserung zu uͤberlegen. Ich erwiederte darauf, es sey leicht sie zu ersetzen, und erbot mich zur Fertigung eines Grundrisses, auf welchen doch vorerst alles ankomme. Er war es wohl zufrieden, und bey der noͤthi¬ gen Ausmessung sollte der Schulmeister an Hand gehen, welchen aufzuregen er denn auch sogleich forteilte, damit ja der Fuß- und Zollstab morgen fruͤh bereit waͤre. Als er hinweggegangen war, sagte Frie¬ drike: Sie sind recht gut, die schwache Seite des lieben Vaters zu hegen und nicht, wie die andern, die dieses Gespraͤch schon uͤber¬ druͤssig sind, ihn zu meiden oder davon ab¬ zubrechen. Freylich muß ich Ihnen bekennen, daß wir uͤbrigen den Bau nicht wuͤnschen; er wuͤrde der Gemeine zu hoch zu stehn kommen und uns auch. Neues Haus, neues Hausge¬ raͤthe! Unsern Gaͤsten wuͤrde es bey uns nicht wohler seyn, sie sind nun einmal das alte Ge¬ baͤude gewohnt. Hier koͤnnen wir sie reichlich bewirthen, dort faͤnden wir uns in einem wei¬ tern Raume beengt. So steht die Sache; aber unterlassen Sie nicht, gefaͤllig zu seyn, ich danke es Ihnen von Herzen. Ein anderes Frauenzimmer, das sich zu uns gesellte, fragte nach einigen Romanen, ob Friedrike solche gelesen habe. Sie ver¬ neinte es: denn sie hatte uͤberhaupt wenig gelesen; sie war in einem heitern sittlichen Lebensgenuß aufgewachsen und dem gemaͤß ge¬ bildet. Ich hatte den Wakefield auf der Zunge, allein ich wagte nicht, ihr ihn an¬ zubieten; die Aehnlichkeit der Zustaͤnde war zu auffallend und zu bedeutend. — Ich lese sehr gern Romane, sagte sie; man findet darin so huͤbsche Leute, denen man wohl aͤhnlich sehen moͤchte. Die Ausmessung des Hauses geschah des andern Morgens. Sie ging ziemlich lang¬ sam von Statten, da ich in solchen Kuͤnsten so wenig gewandt war, als der Schulmeister. Endlich kam ein leidlicher Entwurf zu Stande. Der gute Vater sagte mir seine Absicht und war nicht unzufrieden, als ich Urlaub nahm, um den Riß in der Stadt mit mehr Be¬ quemlichkeit zu verfertigen. Friedrike entließ mich froh; sie war von meiner Neigung uͤberzeugt, wie ich von der ihrigen, und die sechs Stunden schienen keine Entfernung mehr. Es war so leicht, mit der Diligence nach Drusenheim zu fahren und sich durch dieses Fuhrwerk, so wie durch ordentliche und außer¬ ordentliche Boten, in Verbindung zu erhalten, wobey Georges den Spediteur machen sollte. In der Stadt angelangt, beschaͤftigte ich mich in den fruͤhesten Stunden — denn an langen Schlaf war nicht mehr zu denken — mit dem Risse, den ich so sauber als moͤg¬ lich zeichnete. Indessen hatte ich ihr Buͤcher geschickt und ein kurzes freundliches Wort da¬ zu geschrieben. Ich erhielt sogleich Antwort und erfreute mich ihrer leichten, huͤbschen, herzlichen Hand. Ebenso war Inhalt und Styl natuͤrlich, gut, liebevoll, von innen heraus, und so wurde der angenehme Ein¬ druck, den sie auf mich gemacht, immer erhal¬ ten und erneuert. Ich wiederholte mir die Vorzuͤge ihres holden Wesens nur gar zu gern, und naͤhrte die Hoffnung, sie bald und auf laͤngere Zeit wiederzusehn. Es bedurfte nun nicht mehr eines Zu¬ rufs von Seiten des braven Lehrers; er hatte mich durch jene Worte zur rechten Zeit so aus dem Grunde curirt, daß ich ihn und seine Kranken nicht leicht wiederzusehen Lust hatte. Der Briefwechsel mit Friedriken wurde lebhafter. Sie lud mich ein zu einem Feste, wozu auch uͤberrheinische Freunde kommen wuͤr¬ den; ich sollte mich auf laͤngere Zeit einrich¬ ten. Ich that es, indem ich einen tuͤchti¬ gen Mantelsack auf die Diligence packte, und in wenig Stunden befand ich mich in ihrer Naͤ¬ he. Ich traf eine große und lustige Gesellschaft, nahm den Vater bey Seite, uͤberreichte ihm den Riß, uͤber den er große Freude bezeigte; ich besprach mit ihm, was ich bey der Aus¬ arbeitung gedacht hatte; er war außer sich vor Vergnuͤgen, besonders lobte er die Rein¬ lichkeit der Zeichnung: die hatte ich von Ju¬ gend auf geuͤbt und mir dießmal auf dem schoͤnsten Papier noch besondere Muͤhe gege¬ ben. Allein dieses Vergnuͤgen wurde unserm guten Wirthe gar bald verkuͤmmert, da er, gegen meinen Rath, in der Freude seines Herzens, den Riß der Gesellschaft vorlegte. Weit entfernt, daran die erwuͤnschte Theil¬ nahme zu aͤußern, achteten die einen diese koͤstliche Arbeit gar nicht; andere, die etwas von der Sache zu verstehn glaubten, mach¬ ten es noch schlimmer; sie tadelten den Ent¬ wurf als nicht kunstgerecht, und als der Alte einen Augenblick nicht aufmerkte, hand¬ habten sie diese saubern Blaͤtter als Brouil¬ lons, und einer zog mit harten Bleystift¬ strichen seine Verbesserungsvorschlaͤge derge¬ stalt derb uͤber das zarte Papier, daß an Wie¬ derherstellung der ersten Reinheit nicht zu den¬ ken war. Den hoͤchst verdrießlichen Mann, dem sein Vergnuͤgen so schmaͤhlich vereitelt worden, vermochte ich kaum zu troͤsten, so sehr ich ihm auch versicherte, daß ich sie selbst nur fuͤr Entwuͤrfe gehalten, woruͤber wir spre¬ chen und neue Zeichnungen darauf bauen woll¬ ten. Er ging dem allen ungeachtet hoͤchst ver¬ drießlich weg, und Friedrike dankte mir fuͤr die Aufmerksamkeit gegen den Vater eben so sehr als fuͤr die Geduld bey der Unart der Mitgaͤste. Ich aber kannte keinen Schmerz noch Ver¬ druß in ihrer Naͤhe. Die Gesellschaft bestand aus jungen, ziemlich laͤrmenden Freunden, die ein alter Herr noch zu uͤberbieten trachtete und noch wunderlicheres Zeug angab als sie aus¬ uͤbten. Man hatte schon beym Fruͤhstuͤck den Wein nicht gespart; bey einem sehr wohl besetzten Mittagstische ließ man sich's an kei¬ nem Genuß ermangeln und allen schmeckte es, nach der angreifenden Leibesuͤbung bey ziem¬ licher Waͤrme, um so besser, und wenn der alte Amtmann des Guten ein wenig zuviel gethan hatte, so war die Jugend nicht weit hinter ihm zuruͤckgeblieben. Ich war grenzenlos gluͤcklich an Frie¬ drikens Seite; gespraͤchig, lustig, geistreich, vorlaut, und doch durch Gefuͤhl, Achtung und Anhaͤnglichkeit gemaͤßigt. Sie in glei¬ chem Falle, offen, heiter, theilnehmend und mittheilend. Wir schienen allein fuͤr die Gesell¬ schaft zu leben und lebten bloß wechselseitig fuͤr uns. Nach Tische suchte man den Schatten, gesellschaftliche Spiele wurden vorgenommen und Pfaͤnderspiele kamen an die Reihe. Bey Loͤsung der Pfaͤnder ging alles jeder Art ins Uebertriebene: Gebaͤrden die man verlangte, Handlungen die man ausuͤben, Aufgaben die man loͤsen sollte, alles zeigte von einer ver¬ wegenen Lust, die keine Grenzen kennt. Ich selbst steigerte diese wilden Scherze durch man¬ chen Schwank, Friedrike glaͤnzte durch man¬ chen neckischen Einfall; sie erschien mir lieb¬ licher als je; alle hypochondrischen aberglaͤu¬ bischen Grillen waren mir verschwunden und als sich die Gelegenheit gab, meine so zaͤrt¬ lich Geliebte recht herzlich zu kuͤssen, ver¬ saͤumte ich's nicht, und noch weniger versagte ich mir die Wiederholung dieser Freude. Die Hoffnung der Gesellschaft auf Musik wurde endlich befriedigt, sie ließ sich hoͤren und alles eilte zum Tanz. Die Allemanden, das Walzen und Drehen war Anfang, Mittel und Ende. Alle waren zu diesem Nationaltanz aufgewachsen; auch ich machte meinen gehei¬ men Lehrmeisterinnen Ehre genug, und Frie¬ drike, welche tanzte wie sie ging, sprang und lief, war sehr erfreut, an mir einen geuͤbten Partner zu finden. Wir hielten meist zusammen, mußten aber bald Schicht machen, weil man ihr von allen Seiten zuredete, nicht weiter fortzurasen. Wir entschaͤdigten uns durch einen einsamen Spazirgang Hand in Hand, und an jenem stillen Platze durch die herzlichste Umarmung und die treulichste Versicherung, daß wir uns von Grund aus liebten. Aeltere Personen die vom Spiel aufge¬ standen waren, zogen uns mit sich fort. Bey der Abend-Collation kam man eben so we¬ nig zu sich selbst; es ward bis tief in die Nacht getanzt, und an Gesundheiten so wie an andern Aufmunterungen zum Trinken fehlte es so wenig als am Mittag. Ich hatte kaum einige Stunden sehr tief geschlafen, als ein erhitztes und in Aufruhr gebrachtes Blut mich aufweckte. In solchen Stunden und Lagen ist es, wo die Sorge, die Reue den wehrlos hingestreckten Men¬ schen zu uͤberfallen pflegen. Meine Einbil¬ dungskraft stellte mir zugleich die lebhaftesten Bilder dar; ich sehe Lucinden, wie sie, nach dem heftigen Kusse, leidenschaftlich von mir zu¬ ruͤcktritt, mit gluͤhender Wange, mit funkeln¬ den Augen jene Verwuͤnschung ausspricht, wo¬ durch nur ihre Schwester bedroht werden soll, und wodurch sie unwissend fremde Schuldlose bedroht. Ich sehe Friedriken gegen ihr uͤber¬ stehn, erstarrt vor dem Anblick, bleich und die Folgen jener Verwuͤnschung fuͤhlend, von der sie nichts weiß. Ich finde mich in der Mitte, so wenig im Stande, die geistigen Wirkungen jenes Abenteuers abzulehnen als jenen Ungluͤck weissagenden Kuß zu vermeiden. Die zarte Gesundheit Friedrikens schien den gedrohten Unfall zu beschleunigen, und nun kam mir ihre Liebe zu mir recht unselig vor; ich wuͤnschte uͤber alle Berge zu seyn. Was aber noch schmerzlicheres fuͤr mich im Hintergrunde lag, will ich nicht verheh¬ len. Ein gewisser Duͤnkel unterhielt bey mir jenen Aberglauben; meine Lippen — geweiht oder verwuͤnscht — kamen mir bedeutender vor als sonst, und mit nicht geringer Selbst¬ gefaͤlligkeit war ich mir meines enthaltsamen Betragens bewußt, indem ich mir manche unschuldige Freude versagte, theils um jenen magischen Vorzug zu bewahren, theils um ein harmloses Wesen nicht zu verletzen, wenn ich ihn aufgaͤbe. Nunmehr aber war alles verloren und unwiederbringlich; ich war in einen gemeinen Zustand zuruͤckgekehrt, ich glaubte das liebste Wesen verletzt, ihr unwiederbringlich gescha¬ det zu haben; und so war jene Verwuͤn¬ schung, anstatt daß ich sie haͤtte los werden sollen, von meinen Lippen in mein eignes Herz zuruͤckgeschlagen. Das alles ras'te zusammen in meinem durch Liebe und Leidenschaft, Wein und Tanz auf¬ geregten Blute, verwirrte mein Denken, pei¬ nigte mein Gefuͤhl, so daß ich, besonders im Gegensatz mit den gestrigen behaglichen Freu¬ den, mich in einer Verzweiflung fuͤhlte, die ohne Grenzen schien. Gluͤcklicherweise blickte durch eine Spalte im Laden das Tagslicht mich an, und alle Maͤchte der Nacht uͤberwin¬ dend stellte mich die hervortretende Sonne wie¬ der auf meine Fuͤße; ich war bald im Freyen und schnell erquickt, wo nicht hergestellt. Der Aberglaube, so wie manches andre Waͤhnen, verliert sehr leicht an seiner Ge¬ walt, wenn er, statt unserer Eitelkeit zu schmeicheln, ihr in den Weg tritt, und die¬ sem zarten Wesen eine boͤse Stunde machen will; wir sehen alsdann recht gut, daß wir III. 3 ihn loswerden koͤnnen, sobald wir wollen; wir entsagen ihm um so leichter, jemehr alles was wir ihm entziehn, zu unserm Vortheil ge¬ reicht. Der Anblick Friedrikens, das Ge¬ fuͤhl ihrer Liebe, die Heiterkeit der Umge¬ bung, alles machte mir Vorwuͤrfe, daß ich in der Mitte der gluͤcklichsten Tage so trau¬ rige Nachtvoͤgel bey mir beherbergen moͤgen; ich glaubte sie auf ewig verscheucht zu haben. Des lieben Maͤdchens immer mehr annaͤhern¬ des zutrauliches Betragen machte mich durch und durch froh und ich fand mich recht gluͤck¬ lich, daß sie mir dießmal beym Abschied oͤf¬ fentlich, wie andern Freunden und Verwand¬ ten, einen Kuß gab. In der Stadt erwarteten mich gar manche Geschaͤfte und Zerstreuungen, aus denen ich mich oft, durch einen jetzt regelmaͤßig einge¬ leiteten Briefwechsel mit meiner Geliebten, zu ihr sammelte. Auch in Briefen blieb sie immer dieselbe; sie mochte etwas Neues er¬ zaͤhlen, oder auf bekannte Begebenheiten an¬ spielen, leicht schildern, voruͤbergehend reflec¬ tiren, immer war es, als wenn sie auch mit der Feder gehend, kommend, laufend, sprin¬ gend, so leicht auftraͤte als sicher. Auch ich schrieb sehr gern an sie: denn die Vergegen¬ waͤrtigung ihrer Vorzuͤge vermehrte meine Neigung auch in der Abwesenheit, so daß diese Unterhaltung einer persoͤnlichen wenig nachgab, ja in der Folge mir sogar angeneh¬ mer, theurer wurde. Denn jener Aberglaube hatte voͤllig wei¬ chen muͤssen. Er gruͤndete sich zwar auf Ein¬ druͤcke fruͤherer Jahre, allein der Geist des Tags, das Rasche der Jugend, der Um¬ gang mit kalten, verstaͤndigen Maͤnnern, al¬ les war ihm unguͤnstig, so daß sich nicht leicht Jemand in meiner ganzen Umgebung gefunden haͤtte, dem nicht ein Bekenntniß meiner Grille vollkommen laͤcherlich gewesen waͤre. Allein das Schlimmste war, daß je¬ 3 * ner Wahn, indem er floh, eine wahre Be¬ trachtung uͤber den Zustand zuruͤckließ, in welchem sich immer junge Leute befinden, de¬ ren fruͤhzeitige Neigungen sich keinen dauer¬ haften Erfolg versprechen duͤrfen. So wenig war mir geholfen, den Irrthum los zu seyn, daß Verstand und Ueberlegung mir nur noch schlimmer in diesem Falle mitspielten. Meine Leidenschaft wuchs, jemehr ich den Werth des trefflichen Maͤdchens kennen lernte, und die Zeit ruͤckte heran, da ich so viel Liebes und Gutes, vielleicht auf immer, verlieren sollte. Wir hatten eine Zeit lang zusammen still und anmuthig fortgelebt, als Freund Wey¬ land die Schalkheit beging, den Landpriester von Wakefield nach Sesenheim mitzubringen und mir ihn, da vom Vorlesen die Rede war, unvermuthet zu uͤberreichen, als haͤtte es weiter gar nichts zu sagen. Ich wußte mich zu fassen und las so heiter und freymuͤ¬ thig als ich nur konnte. Auch die Gesichter meiner Zuhoͤrer erheiterten sich sogleich, und es schien ihnen gar nicht unangenehm, aber¬ mals zu einer Vergleichung genoͤthigt zu seyn. Hatten sie zu Raymond und Melusine comi¬ sche Gegenbilder gefunden, so erblickten sie hier sich selbst in einem Spiegel, der keines¬ wegs verhaͤßlichte. Man gestand sich's nicht ausdruͤcklich, aber man verleugnete es nicht, daß man sich unter Geistes- und Gefuͤhlsver¬ wandten bewege. Alle Menschen guter Art empfinden bey zunehmender Bildung, daß sie auf der Welt eine doppelte Rolle zu spielen haben, eine wirkliche und eine ideelle, und in diesem Ge¬ fuͤhl ist der Grund alles Edlen aufzusuchen. Was uns fuͤr eine wirkliche zugetheilt sey, er¬ fahren wir nur allzu deutlich; was die zweyte betrifft, daruͤber koͤnnen wir selten in's Klare kommen. Der Mensch mag seine hoͤhere Be¬ stimmung auf Erden oder im Himmel, in der Gegenwart oder in der Zukunft suchen, so bleibt er deshalb doch innerlich einem ewi¬ gen Schwanken, von außen einer immer stoͤ¬ renden Einwirkung ausgesetzt, bis er ein fuͤr allemal den Entschluß faßt, zu erklaͤren, das Rechte sey das was ihm gemaͤß ist. Unter die laͤßlichsten Versuche, sich etwas Hoͤheres anzubilden, sich einem Hoͤheren gleich zu stellen, gehoͤrt wohl der jugendliche Trieb, sich mit Romanenfiguren zu vergleichen. Er ist hoͤchst unschuldig, und, was man auch dagegen eifern mag, hoͤchst unschaͤdlich. Er unterhaͤlt uns in Zeiten, wo wir vor Langer¬ weile umkommen oder zu leidenschaftlicher Un¬ terhaltung greifen muͤßten. Wie oft wiederholt man nicht die Litaney vom Schaden der Romane, und was ist es denn fuͤr ein Ungluͤck, wenn ein artiges Maͤdchen, ein huͤbscher junger Mann sich an die Stelle der Person setzt, der es besser und schlechter geht als ihm selbst? Ist denn das buͤrgerliche Leben so viel werth, oder verschlingen die Beduͤrfnisse des Tags den Menschen so ganz, daß er jede schoͤne For¬ derung von sich ablehnen soll? So sind als kleine Nebenzweige der roman¬ tisch-poetischen Fictionen, die historisch-poe¬ tischen Taufnamen, die sich an die Stelle der heiligen, nicht selten zum Aergerniß der taufenden Geistlichen, in die deutsche Kirche eingedrungen, ohne Zweifel anzusehn. Auch dieser Trieb, sein Kind durch einen wohl¬ klingenden Namen, wenn er auch sonst nichts weiter hinter sich haͤtte, zu adeln, ist loͤb¬ lich, und diese Verknuͤpfung einer eingebildeten Welt mit der wirklichen verbreitet sogar uͤber das ganze Leben der Person einen anmuthi¬ gen Schimmer. Ein schoͤnes Kind, welches wir mit Wohlgefallen Bertha nennen, wuͤr¬ den wir zu beleidigen glauben, wenn wir es Urselblandine nennen sollten. Gewiß, einem gebildeten Menschen, geschweige denn einem Liebhaber, wuͤrde ein solcher Name auf den Lippen stocken. Der kalt und einseitig urthei¬ lenden Welt ist nicht zu verargen, wenn sie alles was phantastisch hervortritt, fuͤr laͤcher¬ lich und verwerflich achtet; der denkende Ken¬ ner der Menschheit aber muß es nach seinem Werthe zu wuͤrdigen wissen. Fuͤr den Zustand der Liebenden an dem schoͤnen Ufer des Rheins war diese Verglei¬ chung, zu der sie ein Schalk genoͤthigt hatte, von den anmuthigsten Folgen. Man denkt nicht uͤber sich, wenn man sich im Spiegel betrachtet, aber man fuͤhlt sich und laͤßt sich gelten. So ist es auch mit jenen moralischen Nachbildern, an denen man seine Sitten und Neigungen, seine Gewohnheiten und Eigen¬ heiten, wie im Schattenriß erkennt und mit bruͤderlicher Innigkeit zu fassen und zu umar¬ men strebt. Die Gewohnheit zusammen zu seyn, be¬ festigte sich immer mehr; man wußte nicht anders als daß ich diesem Kreis angehoͤre. Man ließ es geschehn und gehn, ohne gera¬ de zu fragen, was daraus werden sollte. Und welche Aeltern finden sich nicht genoͤthigt, Toͤchter und Soͤhne in so schwebenden Zustaͤnden eine Weile hinwalten zu lassen, bis sich etwas zufaͤllig fuͤr's Leben bestaͤtigt, besser als es ein lange angelegter Plan haͤtte hervorbrin¬ gen koͤnnen. Man glaubte sowohl auf Friedrikens Ge¬ sinnungen als auch auf meine Rechtlichkeit, fuͤr die man, wegen jenes wunderlichen Ent¬ haltens selbst von unschuldigen Liebkosungen, ein guͤnstiges Vorurtheil gefaßt hatte, voͤllig vertrauen zu koͤnnen. Man ließ uns unbeob¬ achtet, wie es uͤberhaupt dort und damals Sitte war, und es hing von uns ab, in kleinerer oder groͤßerer Gesellschaft, die Ge¬ gend zu durchstreifen und die Freunde der Nachbarschaft zu besuchen. Diesseits und jen¬ seits des Rheins, in Hagenau, Fort-Louis, Philippsburg, der Ortenau, fand ich die Per¬ sonen zerstreut, die ich in Sesenheim verei¬ nigt gesehn, jeden bey sich, als freundlichen Wirth, gastfrey und sogern Kuͤche und Keller als Gaͤrten und Weinberge, ja die ganze Gegend aufschließend. Die Rheininseln waren denn auch oͤfters ein Ziel unserer Wasserfahrten. Dort brachten wir ohne Barmherzigkeit die kuͤhlen Bewohner des klaren Rheines in den Kessel, auf den Rost, in das siedende Fett, und haͤtten uns hier, in den traulichen Fischerhuͤt¬ ten, vielleicht mehr als billig angesiedelt, haͤt¬ ten uns nicht die entsetzlichen Rheinschnaken nach einigen Stunden wieder weggetrieben. Ueber diese unertraͤgliche Stoͤrung einer der schoͤnsten Lustpartieen, wo sonst alles gluͤckte, wo die Neigung der Liebenden mit dem guten Erfolge des Unternehmens nur zu wachsen schien, brach ich wirklich, als wir zu fruͤh, ungeschickt und ungelegen nach Hause kamen, in Gegenwart des guten geistlichen Vaters, in gotteslaͤsterliche Reden aus und versicherte, daß diese Schnaken allein mich von dem Ge¬ danken abbringen koͤnnten, als habe ein gu¬ ter und weiser Gott die Welt erschaffen. Der alte fromme Herr rief mich dagegen ernstlich zur Ordnung und verstaͤndigte mich, daß diese Muͤcken und anderes Ungeziefer erst nach dem Falle unserer ersten Aeltern entstan¬ den, oder wenn deren im Paradiese gewesen, daselbst nur angenehm gesummet und nicht ge¬ stochen haͤtten. Ich fuͤhlte mich zwar sogleich besaͤnftigt: denn ein Zorniger ist wohl zu be¬ guͤtigen, wenn es uns gluͤckt, ihn zum Laͤ¬ cheln zu bringen; ich versicherte jedoch, es habe des Engels mit dem flammenden Schwerd¬ te gar nicht bedurft, um das suͤndige Ehe¬ paar aus dem Garten zu treiben; er muͤsse mir vielmehr erlauben, mir vorzustellen, daß dieß durch große Schnaken des Tigris und Euphrat geschehn sey. Und so hatte ich ihn wieder zum Lachen gebracht; denn der gute Mann verstand Spaß, oder ließ ihn wenigstens vor¬ uͤbergehn. Ernsthafter jedoch und herzerhebender war der Genuß der Tags- und Jahreszeiten in diesem herrlichen Lande. Man durfte sich nur der Gegenwart hingeben, um diese Klarheit des reinen Himmels, diesen Glanz der rei¬ chen Erde, diese lauen Abende, diese war¬ men Naͤchte an der Seite der Geliebten oder in ihrer Naͤhe zu genießen. Monate lang begluͤckten uns reine aͤtherische Morgen, wo der Himmel sich in seiner ganzen Pracht wies, indem er die Erde mit uͤberfluͤssigem Thau getraͤnkt hatte; und damit dieses Schau¬ spiel nicht zu einfach werde, thuͤrmten sich oft Wolken uͤber die entfernten Berge, bald in dieser, bald in jener Gegend. Sie stan¬ den Tage, ja Wochen lang, ohne den reinen Himmel zu truͤben, und selbst die voruͤbergehenden Gewitter erquickten das Land und verherrlichten das Gruͤn, das schon wieder im Sonnenschein glaͤnzte, ehe es noch abtrocknen konnte. Der doppelte Regenbogen, zweyfarbige Saͤume eines dunkelgrauen, bey¬ nah schwarzen himmlischen Bandstreifens wa¬ ren herrlicher, farbiger, entschiedener, aber auch fluͤchtiger als ich sie irgend beobachtet. Unter diesen Umgebungen trat unversehens die Lust zu dichten, die ich lange nicht ge¬ fuͤhlt hatte, wieder hervor. Ich legte fuͤr Friedriken manche Lieder bekannten Melo¬ dieen unter. Sie haͤtten ein artiges Baͤnd¬ chen gegeben, wenige davon sind uͤbrig ge¬ blieben, man wird sie leicht aus meinen uͤbri¬ gen herausfinden. Da ich meiner wunderlichen Studien und uͤbrigen Verhaͤltnisse wegen doch oͤfters nach der Stadt, zuruͤckzukehren, genoͤthigt war, so entsprang dadurch fuͤr unsere Neigung ein neues Leben, das uns vor allem Unangeneh¬ men bewahrte, was an solche kleine Liebeshaͤn¬ del als verdrießliche Folge sich gewoͤhnlich zu schließen pflegt. Entfernt von mir arbei¬ tete sie fuͤr mich, und dachte auf irgend eine neue Unterhaltung, wenn ich zuruͤckkaͤme; entfernt von ihr beschaͤftigte ich mich fuͤr sie, um durch eine neue Gabe, einen neuen Ein¬ fall ihr wieder neu zu seyn. Gemalte Baͤn¬ der waren damals eben erst Mode geworden; ich malte ihr gleich ein paar Stuͤcke und sendete sie mit einem kleinen Gedicht voraus, da ich dießmal laͤnger als ich gedacht ausblei¬ ben mußte. Um auch die dem Vater getha¬ ne Zusage eines neuen und ausgearbeiteten Baurisses noch uͤber Versprechen zu halten, beredete ich einen jungen Bauverstaͤndigen, statt meiner zu arbeiten. Dieser hatte so viel Lust an der Aufgabe als Gefaͤlligkeit ge¬ gen mich, und ward noch mehr durch die Hoffnung eines guten Empfangs in einer so angenehmen Familie belebt. Er verfertigte Grundriß, Aufriß und Durchschnitt des Hau¬ ses; Hof und Garten war nicht vergessen; auch ein detaillirter aber sehr maͤßiger An¬ schlag war hinzugefuͤgt, um die Moͤglichkeit der Ausfuͤhrung eines weitlaͤuftigen und kost¬ spieligen Unternehmens als leicht und thulich vorzuspiegeln. Diese Zeugnisse unserer freundschaftlichen Bemuͤhungen verschafften uns den liebreichsten Empfang; und da der gute Vater sah, daß wir den besten Willen hatten, ihm zu die¬ nen, so trat er mit noch einem Wunsche hervor; es war der, seine zwar huͤbsche aber einfarbige Chaise mit Blumen und Zieraten staffirt zu sehn. Wir ließen uns bereitwillig finden. Farben, Pinsel und sonstige Be¬ duͤrfnisse wurden von den Kraͤmern und Apo¬ thekern der naͤchsten Staͤdte herbeygeholt. Da¬ mit es aber auch an einem Wakefield'schen Mislingen nicht fehlen moͤchte, so bemerkten wir nur erst, als alles auf das fleißigste und bunteste gemalt war, daß wir einen falschen Firniß genommen hatten, der nicht trocknen wollte: Sonnenschein und Zugluft, reines und feuchtes Wetter, nichts wollte fruchten. Man mußte sich indessen eines alten Rumpel¬ kastens bedienen, und es blieb uns nichts uͤbrig, als die Verzierung mit mehr Muͤhe wieder abzureiben als wir sie aufgemalt hat¬ ten. Die Unlust bey dieser Arbeit vergroͤßerte sich noch, als uns die Maͤdchen ums Him¬ melswillen baten, langsam und vorsichtig zu verfahren, um den Grund zu schonen; wel¬ cher denn doch, nach dieser Operation, zu seinem urspruͤnglichen Glanze nicht wieder zu¬ ruͤckzubringen war. Durch solche unangenehme kleine Zwischen¬ faͤlligkeiten wurden wir jedoch so wenig als Doctor Primrose und seine liebenswuͤrdige Familie in unserm heitern Leben gestoͤrt: denn es begegnete manches unerwartete Gluͤck so¬ wohl uns als auch Freunden und Nachbarn; Hochzeiten und Kindtaufen, Richtung eines Gebaͤudes, Erbschaft, Lotteriegewinn wur¬ den wechselseitig verkuͤndigt und mitgenossen. Wir trugen alle Freude, wie ein Gemeingut, zusammen und wußten sie durch Geist und Liebe zu steigern. Es war nicht das erste und letzte Mal, daß ich mich in Familien, in geselligen Kreisen befand gerade im Au¬ genblick ihrer hoͤchsten Bluͤte, und wenn ich mir schmeicheln darf, etwas zu dem Glanz solcher Epochen beygetragen zu haben, so muß ich mir dagegen vorwerfen, daß solche Zeiten uns eben deshalb schneller voruͤbergeeilt und fruͤher verschwunden. Nun sollte aber unsere Liebe noch eine sonderbare Pruͤfung ausstehn. Ich will es Pruͤfung nennen, obgleich dieß nicht das rech¬ te Wort ist. Die laͤndliche Familie, der ich befreundet war, hatte verwandte Haͤuser in der Stadt, von gutem Ansehn und Ruf und in behaglichen Vermoͤgensumstaͤnden. Die jungen Staͤdter waren oͤfters in Sesenheim. Die aͤltern Personen, Muͤtter und Tanten. III. 4 weniger beweglich, hoͤrten so mancherley von dem dortigen Leben, von der wachsenden An¬ muth der Toͤchter, selbst von meinem Einfluß, daß sie mich erst wollten kennen lernen, und nachdem ich sie oͤfters besucht und auch bey ihnen wohl empfangen war, uns auch alle einmal beysammen zu sehen verlangten, zu¬ mal als sie jenen auch eine freundliche Ge¬ genaufnahme schuldig zu seyn glaubten. Lange ward hieruͤber hin und her gehan¬ delt. Die Mutter konnte sich schwer von der Haushaltung trennen, Olivie hatte einen Ab¬ scheu vor der Stadt, in die sie nicht paßte, Friedrike keine Neigung dahin; und so ver¬ zoͤgerte sich die Sache, bis sie endlich dadurch entschieden ward, daß es mir unmoͤglich fiel, innerhalb vierzehn Tagen auf's Land zu kom¬ men, da man sich denn lieber in der Stadt und mit einigem Zwange als gar nicht sehen wollte. Und so fand ich nun meine Freun¬ dinnen, die ich nur auf laͤndlicher Scene zu sehen gewohnt war, deren Bild mir nur auf einem Hintergrunde von schwankenden Baum¬ zweigen, beweglichen Baͤchen, nickenden Blu¬ menwiesen und einem meilenweit freyen Ho¬ rizonte bisher erschien — ich sah sie nun zum ersten Mal in staͤdtischen zwar weiten Zim¬ mern, aber doch in der Enge, in Bezug auf Tapeten, Spiegel, Stand-Uhren und Por¬ cellanpuppen. Das Verhaͤltniß zu dem was man liebt, ist so entschieden, daß die Umgebung wenig sagen will; aber daß es die gehoͤrige, natuͤr¬ liche, gewohnte Umgebung sey, dieß verlangt das Gemuͤth. Bey meinem lebhaften Ge¬ fuͤhl fuͤr alles Gegenwaͤrtige konnte ich mich nicht gleich in den Widerspruch des Augen¬ blicks finden. Das anstaͤndige ruhig-edle Be¬ tragen der Mutter paßte vollkommen in die¬ sen Kreis, sie unterschied sich nicht von den uͤbrigen Frauen; Olivie dagegen bewies sich ungeduldig, wie ein Fisch auf dem Strande. 4* Wie sie mich sonst in dem Garten anrief oder auf dem Felde bey Seite winkte, wenn sie mir etwas Besonderes zu sagen hatte, so that sie auch hier, indem sie mich in eine Fenstertiefe zog; sie that es mit Verlegenheit und ungeschickt, weil sie fuͤhlte, daß es nicht paßte und es doch that. Sie hatte mir das Unwichtigste von der Welt zu sagen, nichts als was ich schon wußte: daß es ihr entsetz¬ lich weh sey, daß sie sich an den Rhein, uͤber den Rhein, ja in die Tuͤrkey wuͤnsche. Friedrike hingegen war in dieser Lage hoͤchst merkwuͤrdig. Eigentlich genommen paßte sie auch nicht hinein; aber dieß zeugte fuͤr ihren Charakter, daß sie, anstatt sich in diesen Zu¬ stand zu finden, unbewußt den Zustand nach sich modelte. Wie sie auf dem Lande mit der Gesellschaft gebarte, so that sie es auch hier. Jeden Augenblick wußte sie zu beleben. Ohne zu beunruhigen setzte sie alles in Be¬ wegung und beruhigte gerade dadurch die Ge¬ sellschaft, die eigentlich nur von der Langen¬ weile beunruhigt wird. Sie erfuͤllte damit vollkommen den Wunsch der staͤdtischen Tan¬ ten, welche ja auch einmal, von ihrem Kana¬ pee aus, Zeugen jener laͤndlichen Spiele und Unterhaltungen seyn wollten. War dieses zur Gnuͤge geschehn, so wurde die Garderobe, der Schmuck und was die staͤdtischen, franzoͤ¬ sisch gekleideten Nichten besonders auszeichne¬ te, betrachtet und ohne Neid bewundert. Auch mit mir machte Friedrike sich's leicht, indem sie mich behandelte wie immer. Sie schien mir keinen andern Vorzug zu geben, als den, daß sie ihr Begehren, ihre Wuͤn¬ sche eher an mich als an einen andern richte¬ te und mich dadurch als ihren Diener aner¬ kannte. Diese Dienerschaft nahm sie einen der fol¬ genden Tage mit Zuversicht in Anspruch, als sie mir vertraute, die Damen wuͤnschten mich lesen zu hoͤren. Die Toͤchter des Hauses hat¬ ten viel davon erzaͤhlt: denn in Sesenheim las ich was und wann man's verlangte. Ich war sogleich bereit, nur bat ich um Ruhe und Aufmerksamkeit auf mehrere Stunden. Dieß ging man ein und ich las an einem Abend den ganzen Hamlet ununterbrochen, in den Sinn des Stuͤcks eindringend wie ich es nur vermochte, mit Lebhaftigkeit und Leidenschaft mich ausdruͤckend, wie es der Jugend gegeben ist. Ich aͤrndtete großen Beyfall. Friedrike hatte von Zeit zu Zeit tief geathmet und ihre Wangen eine fliegende Noͤthe uͤberzogen. Diese beyden Symptome eines bewegten zaͤrtlichen Herzens, bey schein¬ barer Heiterkeit und Ruhe von außen, waren mir nicht unbekannt und der einzige Lohn nach dem ich strebte. Sie sammelte den Dank, daß sie mich veranlaßt hatte, mit Freuden ein und versagte sich, nach ihrer zierlichen Weise, den kleinen Stolz nicht, in mir und durch mich geglaͤnzt zu haben. Dieser Stadtbesuch sollte nicht lange dau¬ ern, aber die Abreise verzoͤgerte sich. Frie¬ drike that das Ihrige zur geselligen Unter¬ haltung, ich ließ es auch nicht fehlen; aber die reichen Huͤlfsquellen, die auf dem Lande so ergiebig sind, versiegten bald in der Stadt und der Zustand ward um so peinlicher als die Aeltere nach und nach ganz aus der Fas¬ sung kam. Die beyden Schwestern waren die einzigen in der Gesellschaft, welche sich deutsch trugen. Friedrike hatte sich niemals anders gedacht und glaubte uͤberall so recht zu seyn, sie verglich sich nicht; aber Olivien war es ganz unertraͤglich, so maͤgdehaft aus¬ gezeichnet in dieser vornehm erscheinenden Ge¬ sellschaft einherzugehn. Auf dem Lande be¬ merkte sie kaum die staͤdtische Tracht an an¬ dern, sie verlangte sie nicht; in der Stadt konnte sie die laͤndliche nicht ertragen. Dieß alles zu dem uͤbrigen Geschicke staͤdtischer Frauenzimmer, zu den hundert Kleinigkeiten einer ganz entgegengesetzten Umgebung, wuͤhl¬ te einige Tage so in dem leidenschaftlichen Busen, daß ich alle schmeichelnde Aufmerk¬ samkeit auf sie zu wenden hatte, um sie, nach dem Wunsche Friedrikens, zu beguͤtigen. Ich fuͤrchtete eine leidenschaftliche Scene. Ich sah den Augenblick, da sie sich mir zu Fuͤßen werfen und mich bey allem Heiligen beschwoͤ¬ ren werde, sie aus diesem Zustande zu retten. Sie war himmlisch gut, wenn sie sich nach ihrer Weise behaben konnte, aber ein solcher Zwang setzte sie gleich in Misbehagen und konnte sie zuletzt bis zur Verzweiflung trei¬ ben. Nun suchte ich zu beschleunigen was die Mutter mit Olivien wuͤnschte und was Friedriken nicht zuwider war. Diese im Ge¬ gensatze mit ihrer Schwester zu loben, ent¬ hielt ich mich nicht; ich sagte ihr, wie sehr ich mich freue, sie unveraͤndert und auch in diesen Umgebungen so frey wie den Vogel auf den Zweigen zu finden. Sie war artig genug zu erwiedern, daß ich ja da sey, sie wolle weder hinaus noch herein, wenn ich bey ihr waͤre. Endlich sah ich sie abfahren und es fiel mir wie ein Stein vom Herzen: denn meine Empfindung hatte den Zustand von Friedriken und Olivien getheilt; ich war zwar nicht lei¬ denschaftlich geaͤngstigt wie diese, aber ich fuͤhl¬ te mich doch keineswegs wie jene behaglich. Da ich eigentlich nach Straßburg gegan¬ gen war, um zu promoviren, so gehoͤrte es freylich unter die Unregelmaͤßigkeiten meines Lebens, daß ich ein solches Hauptgeschaͤft als eine Nebensache betrachtete. Die Sorge we¬ gen des Examens hatte ich mir auf eine sehr leichte Weise bey Seite geschafft; es war nun aber auch an die Disputation zu den¬ ken: denn von Frankfurt abreisend hatte ich meinem Vater versprochen und mir selbst fest vorgesetzt, eine solche zu schreiben. Es ist der Fehler derjenigen die manches, ja viel ver¬ moͤgen, daß sie sich alles zutrauen, und die Jugend muß sogar in diesem Falle seyn, da¬ mit nur etwas aus ihr werde. Eine Ueber¬ sicht der Rechtswissenschaft und ihres ganzen Fachwerks hatte ich mir so ziemlich verschafft, einzelne rechtliche Gegenstaͤnde interessirten mich hinlaͤnglich und ich glaubte, da ich mir den braven Leyser zum Vorbild genommen hatte, mit meinem kleinen Menschenverstand ziemlich durchzukommen. Es zeigten sich gro¬ ße Bewegungen in der Jurisprudenz; es soll¬ te mehr nach Billigkeit geurtheilt werden; alle Gewohnheitsrechte sah man taͤglich ge¬ faͤhrdet und besonders dem Criminalwesen stand eine große Veraͤnderung bevor. Was mich selbst betraf, so fuͤhlte ich wohl, daß mir zur Ausfuͤllung jener Rechts-Topik, die ich mir gemacht hatte, unendlich vieles fehle; das eigentliche Wissen ging mir ab, und kei¬ ne innere Richtung draͤngte mich zu diesen Gegenstaͤnden. Auch mangelte der Anstoß von außen, ja mich hatte eine ganz andere Fa¬ cultaͤt mit fortgerissen. Ueberhaupt, wenn ich Interesse finden sollte, so mußte ich einer Sache irgend etwas abgewinnen, ich mußte etwas an ihr gewahr werden, das mir frucht¬ bar schien und Aussichten gab. So hatte ich mir einige Materien wohl gemerkt, auch sogar darauf gesammelt, und nahm auch mei¬ ne Collectaneen vor, uͤberlegte das was ich behaupten, das Schema, wonach ich die ein¬ zelnen Elemente ordnen wollte, nochmals, und arbeitete so eine Zeit lang; allein ich war klug genug, bald zu sehen, daß ich nicht fortkommen koͤnne und daß, um eine beson¬ dere Materie abzuhandeln, auch ein besonde¬ rer und lang anhaltender Fleiß erforderlich sey, ja daß man nicht einmal ein solches Be¬ sondere mit Gluͤck vollfuͤhren werde, wenn man nicht im Ganzen wo nicht Meister, doch wenigstens Altgeselle sey. Die Freunde, denen ich meine Verlegen¬ heit mittheilte, fanden mich laͤcherlich, weil man uͤber Theses eben so gut, ja noch besser als uͤber einen Tractat disputiren koͤnne; in Straßburg sey das gar nicht ungewoͤhnlich. Ich ließ mich zu einem solchen Ausweg sehr geneigt finden, allein mein Vater, dem ich deshalb schrieb, verlangte ein ordentliches Werk, das ich, wie er meynte, sehr wohl ausfertigen koͤnnte, wenn ich nur wollte und nur die gehoͤrige, Zeit dazu naͤhme. Ich war nun genoͤthigt, mich auf irgend ein Allgemei¬ nes zu werfen, und etwas zu waͤhlen, was mir gelaͤufig waͤre. Die Kirchengeschichte war mir fast noch bekannter als die Weltge¬ schichte, und mich hatte von jeher der Con¬ flict, in welchem sich die Kirche, der oͤffent¬ lich anerkannte Gottesdienst, nach zwey Sei¬ ten hin befindet und immer befinden wird, hoͤchlich interessirt. Denn einmal liegt sie in ewigem Streit mit dem Staat, uͤber den sie sich erheben, und sodann mit den Einzelnen, die sie alle zu sich versammeln will. Der Staat von seiner Seite will ihr die Ober¬ herrschaft nicht zugestehn, und die Einzelnen widersetzen sich ihrem Zwangsrechte. Der Staat will alles zu oͤffentlichen, allgemeinen Zwecken, der Einzelne zu haͤuslichen, herzli¬ chen, gemuͤthlichen. Ich war von Kindheit auf Zeuge solcher Bewegungen gewesen, wo die Geistlichkeit es bald mit ihren Oberen, bald mit der Gemeine verdarb. Ich hatte mir daher in meinem jugendlichen Sinne fest¬ gesetzt, daß der Staat, der Gesetzgeber, das Recht habe, einen Cultus zu bestimmen, nach welchem die Geistlichkeit lehren und sich be¬ nehmen solle, die Laien hingegen sich aͤußer¬ lich und oͤffentlich genau zu richten haͤtten; uͤbrigens sollte die Frage nicht seyn, was Jeder bey sich denke, fuͤhle oder sinne. Da¬ durch glaubte ich alle Collisionen auf einmal gehoben zu haben. Ich waͤhlte deshalb zu meiner Disputation die erste Haͤlfte dieses Thema's: daß naͤmlich der Gesetzgeber nicht allein berechtigt, sondern verpflichtet sey, ei¬ nen gewissen Cultus festzusetzen, von welchem weder die Geistlichkeit noch die Laien sich los¬ sagen duͤrften. Ich fuͤhrte dieses Thema theils historisch, theils raisonirend aus, in¬ dem ich zeigte, daß alle oͤffentlichen Religio¬ nen durch Heerfuͤhrer, Koͤnige und maͤchtige Maͤnner eingefuͤhrt worden, ja daß dieses so¬ gar der Fall mit der christlichen sey. Das Beyspiel des Protestantismus lag ja ganz nahe. Ich ging bey dieser Arbeit um so kuͤhner zu Werke, als ich sie eigentlich nur meinen Vater zu befriedigen schrieb, und nichts sehnlicher wuͤnschte und hoffte, als daß sie die Censur nicht passiren moͤchte. Ich hatte noch von Behrisch her eine unuͤber¬ windliche Abneigung, etwas von mir gedruckt zu sehn, und mein Umgang mit Herdern hatte mir meine Unzulaͤnglichkeit nur allzu¬ deutlich aufgedeckt, ja ein gewisses Mißtraun gegen mich selbst war dadurch voͤllig zur Rei¬ fe gekommen. Da ich diese Arbeit fast ganz aus mir selbst schoͤpfte, und das Latein gelaͤufig sprach und schrieb, so verstoß mir die Zeit, die ich auf die Abhandlung verwendete, sehr ange¬ nehm. Die Sache hatte wenigstens einigen Grund; die Darstellung war, rednerisch ge¬ nommen, nicht uͤbel, das Ganze hatte eine ziemliche Rundung. Sobald ich damit zu Rande war, ging ich sie mit einem guten Lateiner durch, der, ob er gleich meinen Styl im Ganzen nicht verbessern konnte, doch alle auffallenden Maͤngel mit leichter Hand ver¬ tilgte, so daß etwas zu Stande kam, das sich aufzeigen ließ. Eine reinliche Abschrift wurde meinem Vater sogleich zugeschickt, wel¬ cher zwar nicht billigte, daß keiner von den fruͤher vorgenommenen Gegenstaͤnden ausge¬ fuͤhrt worden sey; jedoch mit der Kuͤhnheit des Unternehmens als ein voͤllig protestan¬ tisch Gesinnter wohl zufrieden war. Mein Seltsames wurde geduldet, meine Anstren¬ gung gelobt, und er versprach sich von der Bekanntmachung dieses Werkchens eine vorzuͤg¬ liche Wirkung. Ich uͤberreichte nun meine Hefte der Fa¬ cultaͤt, und diese betrug sich gluͤcklicher Weise so klug als artig. Der Decan, ein lebhafter gescheidter Mann, fing mit vielen Lobeser¬ hebungen meiner Arbeit an, ging dann zum Bedenklichen derselben uͤber, welches er nach und nach in ein Gefaͤhrliches zu verwandeln wußte und damit schloß, daß es nicht raͤth¬ lich seyn moͤchte, diese Arbeit als academische Dissertation bekannt zu machen. Der Aspi¬ rant habe sich der Facultaͤt als einen denken¬ den jungen Mann gezeigt, von dem sie das Beste hoffen duͤrfe; sie wolle mich gern, um die Sache nicht aufzuhalten, uͤber Theses disputiren lassen. Ich koͤnne ja in der Folge meine Abhandlung, wie sie vorliege oder wei¬ ter ausgearbeitet, lateinisch oder in einer an¬ dern Sprache herausgeben; dieß wuͤrde mir, als einem Privatmann und Protestanten, uͤberall leicht werden, und ich haͤtte mich des Beyfalls um desto reiner und allgemeiner als¬ dann zu erfreuen. Kaum verbarg ich dem guten Manne, welchen Stein mir sein Zu¬ reden vom Herzen waͤlzte; bey jedem neuen Argument das er vorbrachte, um mich durch seine Weigerung nicht zu betruͤben oder zu erzuͤrnen, ward es mir immer leichter im Ge¬ muͤth, und ihm zuletzt auch, als ich ganz un¬ erwartet seinen Gruͤnden nichts entgegensetzte, sie vielmehr hoͤchst einleuchtend fand und ver¬ sprach, mich in allem nach seinem Rath und nach seiner Anleitung zu benehmen. Ich setz¬ te mich nun wieder mit meinem Repetenten zusammen. Theses wurden ausgewaͤhlt und gedruckt, und die Disputation ging, unter Opposition meiner Tischgenossen, mit großer Lustigkeit ja Leichtfertigkeit voruͤber; da mir denn meine alte Uebung, im Corpus juris aufzuschlagen, gar sehr zu Statten kam, und ich fuͤr einen wohlunterrichteten Menschen gel¬ III. 5 ten konnte. Ein guter herkoͤmmlicher Schmaus beschloß die Feyerlichkeit. Mein Vater war indessen sehr unzufrie¬ den, daß dieses Werkchen nicht als Disputa¬ tion ordentlich gedruckt worden war, weil er gehofft hatte, ich sollte bey meinem Einzuge in Frankfurt Ehre damit einlegen. Er woll¬ te es daher besonders herausgegeben wissen; ich stellte ihm aber vor, daß die Materie, die nur skizzirt sey, kuͤnftig weiter ausgefuͤhrt werden muͤßte. Er hob zu diesem Zwecke das Manuscript sorgfaͤltig auf und ich habe es nach mehreren Jahren noch unter seinen Papieren gesehn. Meine Promotion war am 6ten August 1771 geschehn; den Tag darauf starb Schoͤpf¬ lin im fuͤnf und siebenzigsten Jahre. Auch ohne naͤhere Beruͤhrung hatte derselbe bedeu¬ tend auf mich eingewirkt: denn vorzuͤgliche mitlebende Maͤnner sind den groͤßeren Ster¬ nen zu vergleichen, nach denen, so lange sie nur uͤber dem Horizont stehen, unser Auge sich wendet, und sich gestaͤrkt und gebildet fuͤhlt, wenn es ihm vergoͤnnt ist, solche Voll¬ kommenheiten in sich aufzunehmen. Die frey¬ gebige Natur hatte Schoͤpflinen ein vortheil¬ haftes Aeußere verliehn, schlanke Gestalt, freundliche Augen, redseligen Mund, eine durchaus angenehme Gegenwart. Auch Gei¬ stesgaben ertheilte sie ihrem Liebling nicht kaͤrglich, und sein Gluͤck war, ohne daß er sich muͤhsam angestrengt haͤtte, die Folge an¬ geborner und ruhig ausgebildeter Verdienste. Er gehoͤrte zu den gluͤcklichen Menschen, wel¬ che Vergangenheit und Gegenwart zu verei¬ nigen geneigt sind, die dem Lebensinteresse das historische Wissen anzuknuͤpfen verstehn. Im Badenschen geboren, in Basel und Stra߬ burg erzogen, gehoͤrte er dem paradiesischen Rheinthal ganz eigentlich an, als einem aus¬ gebreiteten wohlgelegenen Vaterlande. Auf historische und antiquarische Gegenstaͤnde hin¬ 5 * gewiesen, ergriff er sie munter durch eine gluͤckliche Vorstellungskraft, und erhielt sie sich durch das bequemste Gedaͤchtniß. Lern- und lehrbegierig wie er war, ging er einen gleich vorschreitenden Studien- und Lebens¬ gang. Nun emergirt und eminirt er bald ohne Unterbrechung irgend einer Art; er ver¬ breitet sich mit Leichtigkeit in der literarischen und buͤrgerlichen Welt: denn historische Kennt¬ nisse reichen uͤberall hin, und Leutseligkeit schließt sich uͤberall an. Er reist durch Deutschland, Holland, Frankreich, Italien; kommt in Beruͤhrung mit allen Gelehrten seiner Zeit; er unterhaͤlt die Fuͤrsten, und nur, wenn durch seine lebhafte Redseligkeit die Stunden der Tafel, der Audienz verlaͤn¬ gert werden, ist er den Hofleuten laͤstig. Da¬ gegen erwirbt er sich das Vertrauen der Staatsmaͤnner, arbeitet fuͤr sie die gruͤndlich¬ sten Deductionen und findet so uͤberall einen Schauplatz fuͤr seine Talente. Man wuͤnscht ihn an gar manchem Orte festzuhalten; allein er beharrt bey seiner Treue fuͤr Straßburg und den franzoͤsischen Hof. Seine unverruͤck¬ te deutsche Redlichkeit wird auch dort aner¬ kannt, man schuͤtzt ihn sogar gegen den maͤch¬ tigen Praͤtor Klingling, der ihn heimlich an¬ feindet. Gesellig und gespraͤchig von Natur, verbreitet er sich wie im Wissen und Geschaͤf¬ ten, so auch im Umgange, und man begriffe kaum, wo er alle Zeit hergenommen, wuͤ߬ ten wir nicht, daß eine Abneigung gegen die Frauen ihn durch sein ganzes Leben begleitet, wodurch er so manche Tage und Stunden gewann, welche von frauenhaft Gesinnten gluͤcklich vergeudet werden. Uebrigens gehoͤrt er auch als Autor dem gemeinen Wesen und als Redner der Menge. Seine Programme, seine Reden und Anre¬ den sind dem besondern Tag, der eintreten¬ den Feyerlichkeit gewidmet, ja sein großes Werk Alsatia illustrata gehoͤrt dem Leben an, indem er die Vergangenheit wieder her¬ vorruft, verblichene Gestalten auffrischt, den behauenen, den gebildeten Stein wieder be¬ lebt, erloschene, zerstuͤckte Inschriften zum zweyten Mal vor die Augen, vor den Sinn des Lesers bringt. Auf solche Weise erfuͤllt seine Thaͤtigkeit das Elsaß und die Nachbar¬ schaft ; in Baden und der Pfalz behaͤlt er bis in's hoͤchste Alter einen ununterbrochenen Ein¬ fluß; in Mannheim stiftet er die Academie der Wissenschaften und erhaͤlt sich als Praͤsi¬ dent derselben bis an seinen Tod. Genaͤhert habe ich mich diesem vorzuͤgli¬ chen Manne niemals als in einer Nacht, da wir ihm ein Fackelstaͤndchen brachten. Den mit Linden uͤberwoͤlbten Hof des alten Stift¬ gebaͤudes erfuͤllten unsere Pechfeuer mehr mit Rauch als daß sie ihn erleuchtet haͤtten. Nach geendigtem Musikgeraͤusch kam er herab und trat unter uns; und hier war er recht an seinem Platze. Der schlank- und wohlge¬ wachsene heitere Greis stand mit leichtem freyen Wesen wuͤrdig vor uns und hielt uns werth genug eine wohlgedachte Rede, ohne Spur von Zwang und Pedantismus, vaͤter¬ lich liebevoll auszusprechen, so daß wir uns in dem Augenblick etwas duͤnkten, da er uns wie die Koͤnige und Fuͤrsten behandelte, die er oͤffentlich anzureden so oft berufen war. Wir ließen unsere Zufriedenheit uͤberlaut ver¬ nehmen, Trompeten- und Paukenschall er¬ klang wiederholt, und die allerliebste, hoff¬ nungsvolle academische Plebs verlor sich mit innigem Behagen nach Hause. Seine Schuͤler und Studienverwandten, Koch und Oberlin , fanden zu mir schon ein naͤheres Verhaͤltniß. Meine Liebhaberey zu alterthuͤmlichen Resten war leidenschaftlich. Sie ließen mich das Museum wiederholt be¬ trachten, welches die Belege zu seinem gro¬ ßen Werke uͤber Elsaß vielfach enthielt. Eben dieses Werk hatte ich erst nach jener Reise, wo ich noch Alterthuͤmer an Ort und Stelle gefunden, naͤher kennen gelernt, und nunmehr vollkommen gefoͤrdert, konnte ich mir, bey groͤ¬ ßern und kleinern Excursionen, das Rhein¬ thal als roͤmische Besitzung vergegenwaͤrtigen und gar manchen Traum der Vorzeit mir wachend ausmalen. Kaum hatte ich mir hierin einigermaßen aufgeholfen, als mich Oberlin zu den Denk¬ malen der Mittelzeit hinwies und mit den daher noch uͤbrigen Ruinen und Resten, Sie¬ geln und Documenten bekannt machte, ja eine Neigung zu den sogenannten Minnesin¬ gern und Heldendichtern einzufloͤßen suchte. Diesem wackeren Manne, so wie Herrn Koch, bin ich viel schuldig geworden, und wenn es ihrem Willen und Wunsche nach gegangen waͤ¬ re, so haͤtte ich ihnen das Gluͤck meines Le¬ bens verdanken muͤssen. Damit verhielt es sich aber folgendergestalt. Schoͤpflin, der sich in der hoͤheren Sphaͤ¬ re des Staatsrechts zeitlebens bewegt hatte und den großen Einfluß wohl kannte, welchen solche und verwandte Studien bey Hoͤfen und in Cabinetten einem faͤhigen Kopfe zu ver¬ schaffen geeignet sind, fuͤhlte eine unuͤberwind¬ liche ja ungerechte Abneigung gegen den Zu¬ stand des Civilisten, und hatte die gleiche Gesinnung den Seinigen eingefloͤßt. Obge¬ nannte beyde Maͤnner, Freunde von Salz¬ mann, hatten auf eine liebreiche Weise von mir Kenntniß genommen. Das leidenschaft¬ liche Ergreifen aͤußerer Gegenstaͤnde, die Dar¬ stellungsart, womit ich die Vorzuͤge derselben herauszuheben und ihnen ein besonderes In¬ teresse zu verleihen wußte, schaͤtzten sie hoͤher als ich selbst. Meine geringe, ich kann wohl sagen nothduͤrftige Beschaͤftigung mit dem Ci¬ vilrechte war ihnen nicht unbemerkt geblie¬ ben; sie kannten mich genug, um zu wissen, wie leicht ich bestimmbar sey; aus meiner Lust zum academischen Leben hatte ich auch kein Geheimniß gemacht, und sie dachten mich da¬ her fuͤr Geschichte, Staatsrecht, Redekunst, erst nur im Voruͤbergehn, dann aber entschie¬ dener, zu erwerben. Straßburg selbst bot Vortheile genug. Eine Aussicht auf die deut¬ sche Kanzley in Versailles, der Vorgang von Schoͤpflin, dessen Verdienst mir freylich uner¬ reichbar schien, sollte zwar nicht zur Nachah¬ mung, doch zur Nacheiferung reizen und viel¬ leicht dadurch ein aͤhnliches Talent zur Aus¬ bildung gelangen, welches sowohl dem, der sich dessen ruͤhmen duͤrfte, ersprießlich, als andern, die es fuͤr sich zu gebrauchen daͤch¬ ten, nuͤtzlich seyn koͤnnte. Diese meine Goͤn¬ ner, und Salzmann mit ihnen, legten auf mein Gedaͤchtniß und auf meine Faͤhigkeit, den Sinn der Sprachen zu fassen, einen gro¬ ßen Werth und suchten hauptsaͤchlich dadurch ihre Absichten und Vorschlaͤge zu motiviren. Wie nun aus allem diesem nichts gewor¬ den, und wie es gekommen, daß ich wieder von der franzoͤsischen Seite auf die deutsche heruͤbergetreten, gedenk' ich hier zu entwickeln. Man erlaube mir, wie bisher, zum Ueber¬ gange einige allgemeine Betrachtungen. Es sind wenig Biographieen, welche ei¬ nen reinen, ruhigen, staͤten Fortschritt des Individuums darstellen koͤnnen. Unser Leben ist, wie das Ganze in dem wir enthalten sind, auf eine unbegreifiiche Weise aus Frey¬ heit und Nothwendigkeit zusammengesetzt. Un¬ ser Wollen ist ein Vorausverkuͤnden dessen, was wir unter allen Umstaͤnden thun werden. Diese Umstaͤnde aber ergreifen uns auf ihre eigne Weise. Das Was liegt in uns, das Wie haͤngt selten von uns ab, nach dem Warum duͤrfen wir nicht fragen, und des¬ halb verweist man uns mit Recht auf's Quia . Die franzoͤsische Sprache war mir von Jugend auf lieb; ich hatte sie in einem be¬ wegteren Leben, und ein bewegteres Leben durch sie kennen gelernt. Sie war mir ohne Grammatik und Unterricht, durch Umgang und Uebung, wie eine zweyte Muttersprache zu eigen geworden. Nun wuͤnschte ich mich derselben mit groͤßerer Leichtigkeit zu bedienen, und zog deswegen Straßburg zum abermali¬ gen academischen Aufenthalt andern hohen Schulen vor; aber leider sollte ich dort ge¬ rade das Umgekehrte von meinen Hoffnungen erfahren, und von dieser Sprache, diesen Sitten eher ab- als ihnen zugewendet werden. Die Franzosen, welche sich uͤberhaupt eines guten Betragens befleißigen, sind gegen Frem¬ de die ihre Sprache zu reden anfangen, nach¬ sichtig, sie werden Niemanden uͤber irgend ei¬ nen Fehler auslachen, oder ihn deshalb ohne Umschweif tadeln. Da sie jedoch nicht wohl ertragen moͤgen, daß in ihrer Sprache gesuͤn¬ digt wird, so haben sie die Art, eben dassel¬ be was man gesagt hat, mit einer anderen Wendung zu wiederholen und gleichsam hoͤf¬ lich zu bekraͤftigen, sich dabey aber des eigent¬ lichen Ausdrucks, den man haͤtte gebrauchen sollen, zu bedienen, und auf diese Weise den Verstaͤndigen und Aufmerksamen auf das Rechte und Gehoͤrige zu fuͤhren. So sehr man nun, wenn es einem Ernst ist, wenn man Selbstverlaͤugnung genug hat, sich fuͤr einen Schuͤler zu geben, hiebey ge¬ winnt und gefoͤrdert wird, so fuͤhlt man sich doch immer einigermaßen gedemuͤthiget, und da man doch auch um der Sache willen re¬ det, oft allzu sehr unterbrochen ja abgelenkt, und man laͤßt ungeduldig das Gespraͤch fal¬ len. Dieß begegnete besonders mir vor an¬ dern, indem ich immer etwas Interessantes zu sagen glaubte, dagegen aber auch etwas Bedeutendes vernehmen, und nicht immer bloß auf den Ausdruck zuruͤckgewiesen seyn wollte; ein Fall der bey mir oͤfter eintrat, weil mein Franzoͤsisch viel buntschaͤckiger war als das irgend eines andern Fremden. Von Bedienten, Cammerdienern und Schildwachen, jungen und alten Schauspielern, theatralischen Liebhabern, Bauern und Helden hatte ich mir die Redensarten, so wie die Accentua¬ tionen gemerkt, und dieses babylonische Idiom sollte sich durch ein wunderliches Ingrediens noch mehr verwirren, indem ich den franzoͤsi¬ schen reformirten Geistlichen gern zuhoͤrte und ihre Kirchen um so lieber besuchte, als ein sonntaͤgiger Spazirgang nach Bockenheim, dadurch nicht allein erlaubt sondern geboten war. Aber auch hiermit sollte es noch nicht genug seyn: denn als ich in den Juͤnglings¬ jahren immer mehr auf die Deutschheit des sechzehnten Jahrhundert gewiesen ward, so schloß ich gar bald auch die Franzosen jener herrlichen Epoche in diese Neigung mit ein. Montaigne , Amyot , Rabelais , Ma¬ rot waren meine Freunde, und erregten in mir Antheil und Bewunderung. Alle diese verschiedenen Elemente bewegten sich nun in meiner Rede chaotisch durch einander, so daß fuͤr den Zuhoͤrer die Intention uͤber dem wunderlichen Ausdruck meist verloren ging, ja daß ein gebildeter Franzose mich nicht mehr hoͤflich zurechtweisen, sondern geradezu tadeln und schulmeistern mußte. Abermals ging es mir also hier wie vordem in Leipzig, nur daß ich mich dießmal nicht auf das Recht meiner Vatergegend, so gut als andere Pro¬ vinzen idiotisch zu sprechen, zuruͤckziehn konn¬ te, sondern hier, auf fremdem Grund und Boden, mich einmal hergebrachten Gesetzen fuͤgen sollte. Vielleicht haͤtten wir uns auch wohl hier¬ ein ergeben, wenn uns nicht ein boͤser Genius in die Ohren geraunt haͤtte, alle Bemuͤhun¬ gen eines Fremden, franzoͤsisch zu reden, wuͤr¬ den immer ohne Erfolg bleiben: denn ein ge¬ uͤbtes Ohr hoͤre den Deutschen, den Italiaͤ¬ ner, den Englaͤnder unter seiner franzoͤsischen Maske gar wohl heraus; geduldet werde man, aber keineswegs in den Schooß der ein¬ zig sprachseligen Kirche aufgenommen. Nur wenige Ausnahmen gab man zu. Man nannte uns einen Herrn von Grimm, aber selbst Schoͤpflin sollte den Gipfel nicht erreicht haben. Sie ließen gelten, daß er fruͤh die Nothwendigkeit, sich vollkommen franzoͤsisch auszudruͤcken, wohl eingesehn; sie billigten seine Neigung, sich Jederman mit¬ zutheilen, besonders aber die Großen und Vornehmen zu unterhalten; lobten sogar, daß er, auf dem Schauplatz wo er stand, die Landessprache zu der seinigen zu machen und sich moͤglichst zum franzoͤsischen Gesellschafter und Redner auszubilden gesucht. Was hilft ihm aber das Verleugnen seiner Mutterspra¬ che, das Bemuͤhen um eine fremde? Nie¬ mand kann er es recht machen. In der Ge¬ sellschaft will man ihn eitel finden: als wenn sich Jemand ohne Selbstgefuͤhl und Selbst¬ gefaͤlligkeit andern mittheilen moͤchte und koͤnn¬ te! Sodann versichern die feinen Welt- und Sprachkenner, er disserire und dialogire mehr, als daß er eigentlich conversire. Jenes ward als Erb- und Grundfehler der Deutschen, dieses als die Cardinaltugend der Franzosen allgemein anerkannt. Als oͤffentlichem Red¬ ner geht es ihm nicht besser. Laͤßt er eine wohl ausgearbeitete Rede an den Koͤnig oder die Fuͤrsten drucken, so passen die Jesuiten auf, die ihm, als einem Protestanten, gram sind, und zeigen das Unfranzoͤsische seiner Wendungen. Anstatt uns nun hieran zu troͤsten und, als gruͤnes Holz, dasjenige zu ertragen, was dem duͤrren auflag, so aͤrgerte uns dagegen diese pedantische Ungerechtigkeit; wir verzwei¬ feln und uͤberzeugen uns vielmehr an diesem auffallenden Beyspiele, daß die Bemuͤhung vergebens sey, den Franzosen durch die Sa¬ che genug zu thun, da sie an die aͤußern Be¬ dingungen, unter welchen alles erscheinen soll, allzu genau gebunden sind. Wir fassen daher den umgekehrten Entschluß, die franzoͤsische Sprache gaͤnzlich abzulehnen und uns mehr III. 6 als bisher mit Gewalt und Ernst der Mut¬ tersprache zu widmen. Auch hiezu fanden wir im Leben Gele¬ genheit und Theilnahme. Elsaß war noch nicht lange genug mit Frankreich verbunden, als daß nicht noch bey Alt und Jung eine liebevolle Anhaͤnglichkeit an alte Verfassung, Sitte, Sprache, Tracht sollte uͤbrig geblie¬ ben seyn. Wenn der Ueberwundene die Haͤlf¬ te seines Daseyns nothgedrungen verliert, so rechnet er sich's zur Schmach, die andere Haͤlfte freywillig aufzugeben. Er haͤlt daher an allem fest, was ihm die vergangene gute Zeit zuruͤckrufen und die Hoffnung der Wie¬ derkehr einer gluͤcklichen Epoche naͤhren kann. Gar manche Einwohner von Straßburg bil¬ deten zwar abgesonderte, aber doch dem Sin¬ ne nach verbundene kleine Kreise, welche durch die vielen Unterthanen deutscher Fuͤrsten, die unter franzoͤsischer Hoheit ansehnliche Stre¬ cken Landes besaßen, stets vermehrt und re¬ crutirt wurden: denn Vaͤter und Soͤhne hiel¬ ten sich Studirens- oder Geschaͤfts wegen laͤnger oder kuͤrzer in Straßburg auf. An unserm Tische ward gleichfalls nichts wie Deutsch gesprochen. Salzmann druͤckte sich im Franzoͤsischen mit vieler Leichtigkeit und Eleganz aus, war aber unstreitig dem Streben und der That nach ein vollkomme¬ ner Deutscher; Lersen haͤtte man als Muster eines deutschen Juͤnglings aufstellen koͤnnen; Meyer von Lindau schlenderte lieber auf gut deutsch, als daß er sich auf gut franzoͤsisch haͤtte zusammennehmen sollen, und wenn un¬ ter den uͤbrigen auch mancher zu gallischer Sprache und Sitte hinneigte, so ließen sie doch, so lange sie bey uns waren, den allge¬ meinen Ton auch uͤber sich schalten und walten. Von der Sprache wendeten wir uns zu den Staatsverhaͤltnissen. Zwar wußten wir von unserer Reichsverfassung nicht viel Loͤbli¬ 6 * ches zu sagen; wir gaben zu, daß sie aus lauter gesetzlichen Misbraͤuchen bestehe, erhu¬ ben uns aber um desto hoͤher uͤber die fran¬ zoͤsische gegenwaͤrtige Verfassung, die sich in lauter gesetzlosen Misbraͤuchen verwirre, de¬ ren Regierung ihre Energie nur am falschen Orte sehen lasse, und gestatten muͤsse, daß eine gaͤnzliche Veraͤnderung der Dinge schon in schwarzen Aussichten oͤffentlich prophezeit werde. Blickten wir hingegen nach Norden, so leuchtete uns von dort Friedrich, der Polar¬ stern, her, um den sich Deutschland, Europa, ja die Welt zu drehen schien. Sein Ueber¬ gewicht in allem offenbarte sich am staͤrksten, als in der franzoͤsischen Armee das preußi¬ sche Exercitium und sogar der preußische Stock eingefuͤhrt werden sollte. Wir verziehen ihm uͤbrigens seine Vorliebe fuͤr eine fremde Spra¬ che, da wir ja die Genugthuung empfanden, daß ihm seine franzoͤsischen Poeten, Philoso¬ phen und Literatoren Verdruß zu machen fort¬ fuhren und wiederholt erklaͤrten, er sey nur als Eindringling anzusehn und zu behandeln. Was uns aber von den Franzosen gewal¬ tiger als alles andere entfernte, war die wie¬ derholte unhoͤfliche Behauptung, daß es den Deutschen uͤberhaupt, so wie dem nach fran¬ zoͤsischer Cultur strebenden Koͤnige, an Ge¬ schmack fehle. Ueber diese Redensart, die, wie ein Refrain, sich an jedes Urtheil an¬ schloß, suchten wir uns durch Nichtachtung zu beruhigen, aufklaͤren daruͤber konnten wir uns aber um so weniger, als man uns ver¬ sichern wollte, schon Menage habe gesagt, die franzoͤsischen Schriftsteller besaͤßen alles, nur nicht Geschmack; so wie wir denn auch aus dem jetzt lebenden Paris zu erfahren hatten, daß die neusten Autoren saͤmmtlich des Geschmacks ermangelten, und Voltaire selbst diesem hoͤchsten Tadel nicht ganz entge¬ hen koͤnne. Schon fruͤher und wiederholt auf die Natur gewiesen, wollten wir daher nichts gelten lassen als Wahrheit und Auf¬ richtigkeit des Gefuͤhls, und den raschen der¬ ben Ausdruck desselben. Freundschaft, Liebe, Bruͤderschaft, Traͤgt die sich nicht von selber vor? war Loosung und Feldgeschrey, woran sich die Glieder unserer kleinen academischen Horde zu erkennen und zu erquicken pflegten. Diese Maxime lag zum Grunde allen unsern gesel¬ ligen Gelagen, bey welchen uns denn frey¬ lich manchen Abend Vetter Michel in seiner wohlbekannten Deutschheit zu besuchen nicht verfehlte. Will man in dem bisher Erzaͤhlten nur aͤußere zufaͤllige Anlaͤsse und persoͤnliche Ei¬ genheiten finden, so hatte die franzoͤsische Li¬ teratur an sich selbst gewisse Eigenschaften, welche den strebenden Juͤngling mehr absto¬ ßen als anziehn mußten. Sie war naͤmlich bejahrt und vornehm , und durch beydes kann die nach Lebensgenuß und Freyheit um¬ schauende Jugend nicht ergetzt werden. Seit dem sechzehnten Jahrhundert hatte man den Gang der franzoͤsischen Literatur nie¬ mals voͤllig unterbrochen gesehn, ja die in¬ nern politischen und religiosen Unruhen so¬ wohl als die aͤußeren Kriege beschleunigten ihre Fortschritte; schon vor hundert Jahren aber, so hoͤrte man allgemein behaupten, sol¬ le sie in ihrer vollen Bluͤte gestanden haben. Durch guͤnstige Umstaͤnde sey auf einmal eine reichliche Aerndte gereift und gluͤcklich einge¬ bracht worden, dergestalt, daß die groͤßten Talente des achtzehnten Jahrhunderts sich nur bescheidentlich mit einer Nachlese begnuͤ¬ gen muͤssen. Indessen war aber doch auch gar man¬ ches veraltet, das Lustspiel am ersten, wel¬ ches immer wieder aufgefrischt werden mußte, um sich, zwar minder vollkommen, aber doch mit neuem Interesse, dem Leben und den Sitten anzuschmiegen. Der Tragoͤdien wa¬ ren viele vom Theater verschwunden, und Voltaire ließ die jetzt dargebotene bedeutende Gelegenheit nicht aus den Haͤnden, Corneil¬ le's Werke herauszugeben, um zu zeigen, wie mangelhaft sein Vorgaͤnger gewesen sey, den er, der allgemeinen Stimme nach, nicht erreicht haben sollte. Und eben dieser Voltaire, das Wunder seiner Zeit, war nun selbst bejahrt wie die Literatur, die er beynah ein Jahrhundert hin¬ durch belebt und beherrscht hatte. Neben ihm existirten und vegetirten noch, in mehr oder weniger thaͤtigem und gluͤcklichem Alter, vie¬ le Literatoren, die nach und nach verschwan¬ den. Der Einfluß der Societaͤt auf die Schriftsteller nahm immer mehr uͤberhand: denn die beste Gesellschaft, bestehend aus Per¬ sonen von Geburt, Rang und Vermoͤgen, waͤhlte zu einer ihrer Hauptunterhaltungen die Literatur, und diese ward dadurch ganz gesellschaftlich und vornehm. Standesperso¬ nen und Literatoren bildeten sich wechselswei¬ se, und mußten sich wechselsweise verbilden: denn alles Vornehme ist eigentlich ablehnend, und ablehnend ward auch die franzoͤsische Cri¬ tik, verneinend, herunterziehend, misredend. Die hoͤhere Classe bediente sich solcher Urthei¬ le gegen die Schriftsteller, die Schriftsteller, mit etwas weniger Anstand, verfuhren so un¬ ter einander, ja gegen ihre Goͤnner. Konnte man dem Publicum nicht imponiren, so such¬ te man es zu uͤberraschen, oder durch De¬ muth zu gewinnen; und so entsprang, abge¬ sehn davon was Kirche und Staat im In¬ nersten bewegte, eine solche literarische Gaͤh¬ rung, daß Voltaire selbst seiner vollen Thaͤ¬ tigkeit, seines ganzen Uebergewichts bedurfte, um sich uͤber dem Strome der allgemeinen Nichtachtung empor zu halten. Schon hieß er laut ein altes eigenwilliges Kind; seine unermuͤdet fortgesetzten Bemuͤhungen betrach¬ tete man als eitles Bestreben eines abgeleb¬ ten Alters; gewisse Grundsaͤtze auf denen er seine ganze Lebenszeit bestanden, deren Aus¬ breitung er seine Tage gewidmet, wollte man nicht mehr schaͤtzen und ehren; ja seinen Gott, durch dessen Bekenntniß er sich von allem atheistischen Wesen loszusagen fortfuhr, ließ man ihm nicht mehr gelten; und so mußte er selbst, der Altvater und Patriarch, gerade wie sein juͤngster Mitbewerber, auf den Au¬ genblick merken, nach neuer Gunst haschen, seinen Freunden zu viel Gutes, seinen Fein¬ den zu viel Uebles erzeigen, und, unter dem Schein eines leidenschaftlich Wahrheitslieben¬ den Strebens, unwahr und falsch handeln. War es denn wohl der Muͤhe werth, ein so thaͤtiges großes Leben gefuͤhrt zu haben, wenn es abhaͤngiger enden sollte als es angefangen hatte? Wie unertraͤglich ein solcher Zustand sey, entging seinem hohen Geiste, seiner zar¬ ten Reizbarkeit nicht; er mochte sich manch¬ mal sprung- und stoßweise Luft, ließ seiner Laune den Zuͤgel schießen und hieb mit ein paar Fechterstreichen uͤber die Schnur, wo¬ bey sich meist Freunde und Feinde unwillig gebaͤrdeten: denn Jederman glaubte ihn zu uͤbersehn, obschon Niemand es ihm gleich thun konnte. Ein Publicum, das immer nur die Urtheile alter Maͤnner hoͤrt, wird gar zu leicht altklug, und nichts ist unzulaͤnglicher als ein reifes Urtheil, von einem unreifen Geiste aufgenommen. Uns Juͤnglingen, denen, bey einer deut¬ schen Natur und Wahrheitsliebe, als beste Fuͤhrerinn im Leben und Lernen, die Redlich¬ keit gegen uns selbst und andere immer vor Augen schwebte, ward die parteyische Unred¬ lichkeit Voltaire's und die Verbildung so vie¬ ler wuͤrdigen Gegenstaͤnde immer mehr zum Verdruß, und wir bestaͤrkten uns taͤglich in der Abneigung gegen ihn. Er hatte die Re¬ ligion und die heiligen Buͤcher worauf sie ge¬ gruͤndet ist, um den sogenannten Pfaffen zu schaden, niemals genug herabsetzen koͤnnen und mir dadurch manche unangenehme Em¬ pfindung erregt. Da ich nun aber gar ver¬ nahm, daß er, um die Ueberlieferung einer Suͤndfluth zu entkraͤften, alle versteinte Mu¬ scheln leugnete, und solche nur fuͤr Natur¬ spiele gelten ließ, so verlor er gaͤnzlich mein Vertrauen: denn der Augenschein hatte mir auf dem Baschberge deutlich genug gezeigt, daß ich mich auf altem abgetrockneten Mee¬ resgrund, unter den Exuvien seiner Urein¬ wohner befinde. Ja! diese Berge waren einst¬ mals von Wellen bedeckt; ob vor oder waͤh¬ rend der Suͤndfluth, das konnte mich nicht ruͤhren, genug, das Rheinthal war ein un¬ geheuerer See, eine unuͤbersehliche Bucht ge¬ wesen; das konnte man mir nicht ausreden. Ich gedachte vielmehr in Kenntniß der Laͤn¬ der und Gebirge vorzuschreiten, es moͤchte sich daraus ergeben was da wollte. Bejahrt also und vornehm war an sich selbst und durch Voltairen die franzoͤsische Literatur. Lasset uns diesem merkwuͤrdigen Manne noch einige Betrachtung widmen! Auf thaͤtiges und geselliges Leben, auf Politik, auf Erwerb im Großen, auf das Verhaͤltniß zu den Herren der Erde und Be¬ nutzung dieses Verhaͤltnisses, damit er selbst zu den Herren der Erde gehoͤre, dahin war von Jugend auf Voltaire's Wunsch und Be¬ muͤhung gewendet. Nicht leicht hat sich Je¬ mand so abhaͤngig gemacht, um unabhaͤngig zu seyn. Auch gelang es ihm, die Geister zu unterjochen; die Nation fiel ihm zu. Ver¬ gebens entwickelten seine Gegner maͤßige Ta¬ lente und einen ungeheueren Haß; nichts ge¬ reichte zu seinem Schaden. Den Hof zwar konnte er nie mit sich versoͤhnen, aber dafuͤr waren ihm fremde Koͤnige zinsbar. Katha¬ rina und Friedrich die Großen, Gustav von Schweden, Christian von Daͤnemark, Po¬ niatowsky von Pohlen, Heinrich von Preu¬ ßen, Carl von Braunschweig bekannten sich als seine Vasallen; sogar Paͤbste glaubten ihn durch einige Nachgiebigkeit kirren zu muͤs¬ sen. Daß Joseph der Zweyte sich von ihm abhielt, gereichte diesem Fuͤrsten nicht einmal zum Ruhme: denn es haͤtte ihm und seinen Unternehmungen nicht geschadet, wenn er, bey so schoͤnem Verstande, bey so herrlichen Ge¬ sinnungen, etwas geistreicher, ein besserer Schaͤtzer des Geistes gewesen waͤre. Das was ich hier gedraͤngt und in eini¬ gem Zusammenhange vortrage, toͤnte zu jener Zeit, als Ruf des Augenblicks, als ewig zwiespaͤltiger Misklang, unzusammenhaͤngend und unbelehrend in unseren Ohren. Immer hoͤrte man nur das Lob der Vorfahren. Man forderte etwas Gutes, Neues; aber immer das Neuste wollte man nicht. Kaum hatte auf dem laͤngst erstarrten Theater ein Pa¬ triot nationalfranzoͤsische, herzerhebende Ge¬ genstaͤnde dargestellt, kaum hatte die Belage¬ rung von Calais sich einen enthusiastischen Beyfall gewonnen, so sollte schon dieses Stuͤck, mit sammt seinen vaterlaͤndischen Gesellen, hohl und in jedem Sinne verwerflich seyn. Die Sittenschilderungen des Destouches , an denen ich mich als Knabe so oft ergetzt, hieß man schwach, der Name dieses Ehren¬ manns war verschollen, und wie viel andere Schriftsteller muͤßte ich nicht nennen, um de¬ rentwillen ich den Vorwurf, als urtheile ich wie ein Provinzler, habe erdulden muͤssen, wenn ich gegen Jemand, der mit dem neu¬ sten literarischen Strome dahinfuhr, irgend einen Antheil an solchen Maͤnnern und ihren Werken gezeigt hatte. So wurden wir andern deutschen Gesel¬ len denn immer verdrießlicher. Nach unsern Gesinnungen, nach unserer Natureigenheit liebten wir die Eindruͤcke der Gegenstaͤnde fest¬ zuhalten, sie nur langsam zu verarbeiten, und wenn es ja seyn sollte, sie so spaͤt als moͤg¬ lich fahren zu lassen. Wir waren uͤberzeugt, durch treues Aufmerken, durch fortgesetzte Be¬ schaͤftigung lasse sich allen Dingen etwas ab¬ gewinnen, und man muͤsse durch beharrlichen Eifer doch endlich auf einen Punct gelangen, wo sich mit dem Urtheil zugleich der Grund desselben aussprechen lasse. Auch verkannten wir nicht, daß die große und herrliche fran¬ zoͤsische Welt uns manchen Vortheil und Ge¬ winn darbiete: denn Rousseau hatte uns wahrhaft zugesagt. Betrachteten wir aber sein Leben und sein Schicksal, so war er doch genoͤthigt, den groͤßten Lohn fuͤr alles was er geleistet, darin zu finden, daß er uner¬ kannt und vergessen in Paris leben durfte. Wenn wir von den Encyclopaͤdisten reden hoͤrten, oder einen Band ihres ungeheuren Werks aufschlugen, so war es uns zu Muthe, als wenn man zwischen den unzaͤhligen be¬ wegten Spuhlen und Weberstuͤhlen einer gro¬ ßen Fabrik hingeht, und vor lauter Schnar¬ ren und Rasseln, vor allem Aug' und Sin¬ ne verwirrenden Mechanismus, vor lauter Unbegreiflichkeit einer auf das mannigfaltigste in einander greifenden Anstalt, in Betrach¬ tung dessen, was alles dazu gehoͤrt, um ein Stuͤck Tuch zu fertigen, sich den eignen Rock selbst verleidet fuͤhlt, den man auf dem Leibe traͤgt. Diderot war nahe genug mit uns ver¬ wandt; wie er denn in alle dem, weshalb ihn die Franzosen tadeln, ein wahrer Deut¬ scher ist. Aber auch sein Standpunct war schon zu hoch, sein Gesichtskreis zu weit, als daß wir uns haͤtten zu ihm stellen und an seine Seite setzen koͤnnen. Seine Naturkin¬ der jedoch, die er mit großer rednerischer Kunst herauszuheben und zu adeln wußte, be¬ hagten uns gar sehr, seine wackeren Wild¬ diebe und Schleichhaͤndler entzuͤckten uns, und dieses Gesindel hat in der Folge auf dem III. 7 deutschen Parnaß nur allzu sehr gewuchert. So war er es denn auch, der, wie Rousseau, von dem geselligen Leben einen Ekelbegriff verbreitete, eine stille Einleitung zu jenen un¬ geheueren Weltveraͤnderungen, in welchen al¬ les Bestehende unterzugehen schien. Uns ziemt jedoch, diese Betrachtungen noch an die Seite zu lehnen und zu bemer¬ ken, was genannte beyde Maͤnner auf Kunst gewirkt. Auch hier wiesen sie, auch von ihr draͤngten sie uns zur Natur. Die hoͤchste Aufgabe einer jeden Kunst ist, durch den Schein die Taͤuschung einer hoͤheren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben aber ist, den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche uͤbrig bleibt. Als ein ideelles Local hatte die Buͤhne, durch Anwendung der perspectivischen Gesetze auf hinter einander gestellten Coulissen, den hoͤchsten Vortheil erlangt, und nun wollte man diesen Gewinn muthwillig aufgeben, die Seiten des Theaters zuschließen und wirkliche Stubenwaͤnde formiren. Mit einem solchen Buͤhnenlocal sollte denn auch das Stuͤck selbst, die Art zu spielen der Acteurs, kurz alles zu¬ sammentreffen, und ein ganz neues Theater dadurch entspringen. Die franzoͤsischen Schauspieler hatten im Lustspiel den Gipfel des Kunstwahren erreicht. Der Aufenthalt in Paris, die Beobachtung des Aeußern der Hofleute, die Verbindung der Acteurs und Actricen durch Liebeshaͤndel mit den hoͤheren Staͤnden, alles trug dazu bey, die hoͤchste Gewandheit und Schicklich¬ keit des geselligen Lebens gleichfalls auf die Buͤhne zu verpflanzen, und hieran hatten die Naturfreunde wenig auszusetzen; doch glaub¬ ten sie einen großen Vorschritt zu thun, wenn sie ernsthafte und tragische Gegenstaͤnde, de¬ 7 * ren das buͤrgerliche Leben auch nicht erman¬ gelt, zu ihren Stuͤcken erwaͤhlten, sich der Prosa gleichfalls zu hoͤherem Ausdruck be¬ dienten, und so die unnatuͤrlichen Verse zu¬ gleich mit der unnatuͤrlichen Declamation und Gesticulation allmaͤhlig verbannten. Hoͤchst merkwuͤrdig ist es und nicht so all¬ gemein beachtet, daß zu dieser Zeit selbst der alten strengen, rhythmischen, kunstreichen Tra¬ goͤdie mit einer Revolution gedroht ward, die nur durch große Talente und die Macht des Herkommens abgelenkt werden konnte. Es stellte sich naͤmlich dem Schauspieler Le Cain , der seine Helden mit besondrem theatralischen Anstand, mit Erholung, Erhe¬ bung und Kraft spielte, und sich vom Na¬ tuͤrlichen und Gewoͤhnlichen entfernt hielt, ein Mann gegenuͤber, mit Namen Aufresne , der aller Unnatur den Krieg erklaͤrte und in seinem tragischen Spiel die hoͤchste Wahrheit auszudruͤcken suchte. Dieses Verfahren moch¬ te zu dem des uͤbrigen Pariser Theaterperso¬ nals nicht passen. Er stand allein, jene hiel¬ ten sich an einander geschlossen, und er, hart¬ naͤckig genug auf seinem Sinne bestehend, verließ lieber Paris und kam durch Stra߬ burg. Dort sahen wir ihn die Rolle des August im Cinna , des Mithridat und andere dergleichen, mit der wahrsten natuͤrlich¬ sten Wuͤrde spielen. Als ein schoͤner großer Mann trat er auf, mehr schlank als stark, nicht eigentlich von imposantem, aber von ed¬ lem gefaͤlligem Wesen. Sein Spiel war uͤberlegt und ruhig, ohne kalt zu seyn, und kraͤftig genug, wo es erfordert wurde. Er war ein sehr geuͤbter Kuͤnstler, und von den wenigen, die das Kuͤnstliche ganz in die Na¬ tur und die Natur ganz in die Kunst zu ver¬ wandeln wissen. Diese sind es eigentlich, de¬ ren misverstandene Vorzuͤge die Lehre von der falschen Natuͤrlichkeit jederzeit veranlassen. Und so will ich denn auch noch eines klei¬ nen aber merkwuͤrdig Epoche machenden Werks gedenken, es ist Rousseaus Pygmalion . Viel koͤnnte man daruͤber sagen: denn diese wunderliche Production schwankt gleichfalls zwischen Natur und Kunst, mit dem falschen Bestreben, diese in jene aufzuloͤsen. Wir se¬ hen einen Kuͤnstler, der das Vollkommenste geleistet hat, und doch nicht Befriedigung darin findet, seine Idee außer sich, kunstge¬ maͤß dargestellt und ihr ein hoͤheres Leben verliehen zu haben; nein! sie soll auch in das irdische Leben zu ihm herabgezogen wer¬ den. Er will das Hoͤchste was Geist und That hervorgebracht, durch den gemeinsten Act der Sinnlichkeit zerstoͤren. Alles dieses und manches andere, recht und thoͤrigt, wahr und halbwahr, das auf uns einwirkte, trug noch mehr bey, die Be¬ griffe zu verwirren; wir trieben uns auf man¬ cherley Abwegen und Umwegen herum, und so ward von vielen Seiten auch jene deutsche literarische Revolution vorbereitet, von der wir Zeugen waren, und wozu wir, bewußt und unbewußt, willig oder unwillig, unauf¬ haltsam mitwirkten. Auf philosophische Weise erleuchtet und ge¬ foͤrdert zu werden, hatten wir keinen Trieb noch Hang, uͤber religiose Gegenstaͤnde glaub¬ ten wir uns selbst aufgeklaͤrt zu haben, und so war der heftige Streit franzoͤsischer Phi¬ losophen mit dem Pfaffthum uns ziemlich gleichguͤltig. Verbotene, zum Feuer verdamm¬ te Buͤcher, welche damals großen Laͤrmen machten, uͤbten keine Wirkung auf uns. Ich gedenke statt aller des Systême de la Natu¬ re , das wir aus Neugier in die Hand nah¬ men. Wir begriffen nicht, wie ein solches Buch gefaͤhrlich seyn koͤnnte. Es kam uns so grau, so cimmerisch, so todtenhaft vor, daß wir Muͤhe hatten, seine Gegenwart aus¬ zuhalten, daß wir davor wie vor einem Ge¬ spenste schauderten. Der Verfasser glaubt sein Buch ganz eigens zu empfehlen, wenn er in der Vorrede versichert, daß er, als ein abge¬ lebter Greis, so eben in die Grube steigend, der Mit- und Nachwelt die Wahrheit ver¬ kuͤnden wolle. Wir lachten ihn aus: denn wir glaubten bemerkt zu haben, daß von alten Leuten ei¬ gentlich an der Welt nichts geschaͤtzt werde, was liebenswuͤrdig und gut an ihr ist. „Alte „Kirchen haben dunkle Glaͤser! — Wie Kir¬ „schen und Beeren schmecken, muß man Kin¬ „der und Sperlinge fragen!“ dieß waren unsere Lust- und Leibworte; und so schien uns jenes Buch, als die rechte Quintessenz der Greisenheit, unschmackhaft, ja abgeschmackt. Alles sollte nothwendig seyn und deswegen kein Gott. Koͤnnte es denn aber nicht auch nothwendig einen Gott geben? fragten wir. Dabey gestanden wir freylich, daß wir uns den Nothwendigkeiten der Tage und Naͤchte, der Jahreszeiten, der climatischen Einfluͤsse, der physischen und animalischen Zustaͤnde nicht wohl entziehn koͤnnten; doch fuͤhlten wir et¬ was in uns das als vollkommene Willkuͤhr erschien, und wieder etwas das sich mit die¬ ser Willkuͤhr ins Gleichgewicht zu setzen suchte. Die Hoffnung immer vernuͤnftiger zu wer¬ den, uns von den aͤußeren Dingen, ja von uns selbst immer unabhaͤngiger zu machen, konnten wir nicht aufgeben. Das Wort Frey¬ heit klingt so schoͤn, daß man es nicht ent¬ behren koͤnnte, und wenn es einen Irrthum bezeichnete. Keiner von uns hatte das Buch hinaus¬ gelesen: denn wir fanden uns in der Erwar¬ tung getaͤuscht, in der wir es aufgeschlagen hatten. System der Natur ward angekuͤn¬ digt, und wir hofften also wirklich etwas von der Natur, unserer Abgoͤttinn, zu erfah¬ ren. Physik und Chemie, Himmels- und Erdbeschreibung, Naturgeschichte und Anato¬ mie und so manches Andere hatte nun seit Jahren und bis auf den letzten Tag uns im¬ mer auf die geschmuͤckte große Welt hinge¬ wiesen, und wir haͤtten gern von Sonnen und Sternen, von Planeten und Monden, von Bergen, Thaͤlern, Fluͤssen und Meeren und von allem was darin lebt und webt, das Naͤhere so wie das Allgemeinere erfahren. Daß hierbey wohl manches vorkommen muͤ߬ te, was dem gemeinen Menschen als schaͤd¬ lich, der Geistlichkeit als gefaͤhrlich, dem Staat als unzulaͤßlich erscheinen moͤchte, dar¬ an hatten wir keinen Zweifel, und wir hoff¬ ten, dieses Buͤchlein sollte nicht unwuͤrdig die Feuerprobe bestanden haben. Allein wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheisti¬ schen Halbnacht zu Muthe, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand. Eine Materie sollte seyn von Ewigkeit, und von Ewigkeit her bewegt, und sollte nun mit die¬ ser Bewegung rechts und links und nach al¬ len Seiten, ohne weiteres, die unendlichen Phaͤnomene des Daseyns hervorbringen. Dieß alles waͤren wir sogar zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner bewegten Materie die Welt vor unsern Augen aufge¬ baut haͤtte. Aber er mochte von der Natur so wenig wissen als wir: denn indem er ei¬ nige allgemeine Begriffe hingepfahlt, verlaͤßt er sie sogleich, um dasjenige was hoͤher als die Natur, oder als hoͤhere Natur in der Natur erscheint, zur materiellen, schweren, zwar bewegten aber doch richtungs- und ge¬ staltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt dadurch recht viel gewonnen zu haben. Wenn uns jedoch dieses Buch einigen Schaden gebracht hat, so war es der, daß wir aller Philosophie, besonders aber der Metaphysik, recht herzlich gram wurden und blieben, dagegen aber aufs lebendige Wissen, Erfahren, Thun und Dichten uns nur desto lebhafter und leidenschaftlicher hinwarfen. So waren wir denn an der Grenze von Frankreich alles franzoͤsischen Wesens auf ein¬ mal bar und ledig. Ihre Lebensweise fanden wir zu bestimmt und zu vornehm, ihre Dich¬ tung kalt, ihre Critik vernichtend, ihre Phi¬ losophie abstrus und doch unzulaͤnglich, so daß wir auf dem Puncte standen, uns der rohen Natur wenigstens versuchsweise hinzu¬ geben, wenn uns nicht ein anderer Einfluß schon seit langer Zeit zu hoͤheren, freyeren und eben so wahren als dichterischen Weltan¬ sichten und Geistesgenuͤssen vorbereitet und uns erst heimlich und maͤßig, dann aber im¬ mer offenbarer und gewaltiger beherrscht haͤtte. Ich brauche kaum zu sagen, daß hier Shakspeare gemeynt sey, und nachdem ich dieses ausgesprochen, bedarf es keiner weitern Ausfuͤhrung. Shakspeare ist von den Deut¬ schen mehr als von allen anderen Nationen, ja vielleicht mehr als von seiner eignen er¬ kannt. Wir haben ihm alle Gerechtigkeit, Billigkeit und Schonung, die wir uns unter einander selbst versagen, reichlich zugewendet; vorzuͤgliche Maͤnner beschaͤftigten sich, seine Geistesgaben im guͤnstigsten Lichte zu zeigen, und ich habe jederzeit was man zu seiner Ehre, zu seinen Gunsten, ja ihn zu entschul¬ digen gesagt, gern unterschrieben. Die Ein¬ wirkung dieses außerordentlichen Geistes auf mich ist fruͤher dargestellt, und uͤber seine Arbeiten einiges versucht worden, welches Zu¬ stimmung gefunden hat; und so mag es hier an dieser allgemeinen Erklaͤrung genug seyn, bis ich eine Nachlese von Betrachtungen uͤber so große Verdienste, die ich an dieser Stelle ein¬ zuschalten in Versuchung gerieth, Freunden die mich hoͤren moͤgen, mitzutheilen im Falle bin. Gegenwaͤrtig will ich nur die Art, wie ich mit ihm bekannt geworden, naͤher anzei¬ gen. Es geschah ziemlich fruͤh, in Leipzig, durch Dodd's beauties of Shakspeare . Was man auch gegen solche Sammlungen sagen kann, welche die Autoren zerstuͤckelt mitthei¬ len, sie bringen doch manche gute Wirkung hervor. Sind wir doch nicht immer so ge¬ faßt und so geistreich, daß wir ein ganzes Werk nach seinem Werth in uns aufzuneh¬ men vermoͤchten. Streichen wir nicht in ei¬ nem Buche Stellen an, die sich unmittelbar auf uns beziehen. Junge Leute besonders, denen es an durchgreifender Bildung fehlt, werden von glaͤnzenden Stellen gar loͤblich aufgeregt, und so erinnere ich mich noch als einer der schoͤnsten Epochen meines Lebens der¬ jenigen, welche gedachtes Werk bey mir be¬ zeichnete. Jene herrlichen Eigenheiten, die großen Spruͤche, die treffenden Schilderun¬ gen, die humoristischen Zuͤge, alles traf mich einzeln und gewaltig. Nun erschien Wielands Uebersetzung. Sie ward verschlungen, Freunden und Bekannten mitgetheilt und empfohlen. Wir Deutsche hatten den Vortheil, daß mehrere bedeutende Werke fremder Nationen, auf eine leichte und heitere Weise zuerst heruͤber gebracht wurden. Shakspeare prosaisch uͤbersetzt, erst durch Wie¬ land, dann durch Eschenburg, konnte als eine allgemein verstaͤndliche und jedem Leser ge¬ maͤße Lectuͤre sich schnell verbreiten, und gro¬ ße Wirkung hervorbringen. Ich ehre den Rhythmus wie den Reim, wodurch Poesie erst zur Poesie wird, aber das eigentlich tief und gruͤndlich Wirksame, das wahrhaft Aus¬ bildende und Foͤrdernde ist dasjenige was vom Dichter uͤbrig bleibt, wenn er in Prose uͤber¬ setzt wird. Dann bleibt der reine vollkom¬ mene Gehalt, den uns ein blendendes Aeu¬ ßere oft, wenn er fehlt, vorzuspiegeln weiß, und wenn er gegenwaͤrtig ist, verdeckt. Ich halte daher, zum Anfang jugendlicher Bil¬ dung, prosaische Uebersetzungen fuͤr vortheil¬ hafter als die poetischen; denn es laͤßt sich bemerken, daß Knaben, denen ja doch alles zum Scherze dienen muß, sich am Schall der Worte, am Fall der Sylben ergetzen, und durch eine Art von parodistischem Muth¬ willen den tiefen Gehalt des edelsten Werks zerstoͤren. Deshalb gebe ich zu bedenken, ob nicht zunaͤchst eine prosaische Uebersetzung des Homer zu unternehmen waͤre; aber freylich muͤßte sie der Stufe wuͤrdig seyn, auf der sich die deutsche Literatur gegenwaͤrtig befindet. Ich uͤberlasse dieß und das Vorgesagte un¬ sern wuͤrdigen Paͤdagogen zur Betrachtung, denen ausgebreitete Erfahrung hieruͤber am besten zu Gebote steht. Nur will ich noch, zu Gunsten meines Vorschlags, an Luthers Bibeluͤbersetzung erinnern: denn daß dieser treffliche Mann ein in dem verschiedensten Stile verfaßtes Werk und dessen dichterischen, geschichtlichen, gebietenden, lehrenden Ton uns in der Muttersprache, wie aus einem Gusse uͤberlieferte, hat die Religion mehr gefoͤrdert, als wenn er die Eigenthuͤmlichkeiten des Ori¬ ginals im Einzelnen haͤtte nachbilden wollen. Vergebens hat man nachher sich mit dem Buche Hiob, den Psalmen und andern Ge¬ saͤngen bemuͤht, sie uns in ihrer poetischen Form genießbar zu machen. Fuͤr die Menge, auf die gewirkt werden soll, bleibt eine schlich¬ te Uebertragung immer die beste. Jene cri¬ tischen Uebersetzungen, die mit dem Original wetteifern, dienen eigentlich nur zur Unter¬ haltung der Gelehrten unter einander. Und so wirkte in unserer Straßburger Societaͤt Shakspeare, uͤbersetzt und im Ori¬ ginal, stuͤckweise und im Ganzen, stellen- und auszugsweise, dergestalt, daß, wie man bi¬ belfeste Maͤnner hat, wir uns nach und nach in Shakspeare befestigten, die Tugenden und Maͤngel seiner Zeit, mit denen er uns be¬ kannt macht, in unseren Gespraͤchen nachbil¬ deten, an seinen Quibbles die groͤßte Freude hatten, und durch Uebersetzung derselben, ja III. 8 durch originalen Muthwillen mit ihm wettei¬ ferten. Hiezu trug nicht wenig bey, daß ich ihn vor allen mit großem Enthusiasmus er¬ griffen hatte. Ein freudiges Bekennen, daß etwas Hoͤheres uͤber mir schwebe, war an¬ steckend fuͤr meine Freunde, die sich alle die¬ ser Sinnesart hingaben. Wir leugneten die Moͤglichkeit nicht, solche Verdienste naͤher zu erkennen, sie zu begreifen, mit Einsicht zu beurtheilen; aber dieß behielten wir uns fuͤr spaͤtere Epochen vor: gegenwaͤrtig wollten wir nur freudig theilnehmen, lebendig nachbilden, und bey so großem Genuß, an dem Manne, der ihn uns gab, nicht forschen und maͤckeln, vielmehr that es uns wohl, ihn unbedingt zu verehren. Will Jemand unmittelbar erfahren, was damals in dieser lebendigen Gesellschaft ge¬ dacht, gesprochen und verhandelt worden, der lese den Aufsatz Herders uͤber Shaks¬ peare , in dem Hefte von deutscher Art und Kunst ; ferner Lenzens Anmer ¬ kungen uͤber's Theater , denen eine Ue¬ bersetzung von Love's labours lost hinzu¬ gefuͤgt war. Herder dringt in das Tiefere von Shakspeare's Wesen und stellt es herr¬ lich dar; Lenz betraͤgt sich mehr bilderstuͤrme¬ risch gegen die Herkoͤmmlichkeit des Theaters, und will denn eben all und uͤberall nach Shaks¬ pearescher Weise gehandelt haben. Da ich die¬ sen so talentvollen als seltsamen Menschen hier zu erwaͤhnen veranlaßt werde, so ist wohl der Ort, versuchsweise einiges uͤber ihn zu sagen. Ich lernte ihn erst gegen das Ende meines Straßburger Aufenthalts kennen. Wir sahen uns selten; seine Gesellschaft war nicht die meine, aber wir suchten doch Gelegenheit uns zu treffen, und theilten uns einander gern mit, weil wir, als gleichzeitige Juͤnglinge, aͤhnliche Gesinnungen hegten. Klein, aber nett von Gestalt, ein allerliebstes Koͤpfchen, dessen zierlicher Form niedliche etwas abge¬ stumpfte Zuͤge vollkommen entsprachen; blaue 8 * Augen, blonde Haare, kurz ein Persoͤnchen, wie mir unter nordischen Juͤnglingen von Zeit zu Zeit eins begegnet ist; einen sanften, gleich¬ sam vorsichtigen Schritt, eine angenehme nicht ganz fließende Sprache, und ein Betragen, das zwischen Zuruͤckhaltung und Schuͤchtern¬ heit sich bewegend, einem jungen Manne gar wohl anstand. Kleinere Gedichte, besonders seine eignen, las er sehr gut vor, und schrieb eine fließende Hand. Fuͤr seine Sinnesart wuͤßte ich nur das englische Wort whimsical , welches, wie das Woͤrterbuch ausweist, gar manche Seltsamkeiten in einem Begriff zu¬ sammenfaßt. Niemand war vielleicht eben deswegen faͤhiger als er, die Ausschweifungen und Auswuͤchse des Shakspeareschen Genies zu empfinden und nachzubilden. Die obenge¬ dachte Uebersetzung giebt ein Zeugniß hievon. Er behandelt seinen Autor mit großer Freyheit, ist nichts weniger als knapp und treu, aber er weiß sich die Ruͤstung oder vielmehr die Pos¬ senjacke seines Vorgaͤngers so gut anzupassen, sich seinen Gebaͤrden so humoristisch gleichzu¬ stellen, daß er demjenigen, den solche Dinge anmutheten, gewiß Beyfall abgewann. Die Absurditaͤten der Clowns machten besonders unsere ganze Gluͤckseligkeit und wir priesen Lenzen, als einen beguͤnstigten Men¬ schen, da ihm jenes Epitaphium des von der Prinzessinn geschossenen Wildes folgenderma¬ ßen gelungen war: Die schoͤne Prinzessinn schoß und traf Eines jungen Hirschleins Leben; Es fiel dahin in schweren Schlaf, Und wird ein Braͤtlein geben. Der Jagdhund boll! — Ein L zu Hirsch So wird es denn ein Hirschel; Doch setzt ein roͤmisch L zu Hirsch, So macht es funfzig Hirschel. Ich mache hundert Hirsche draus, Schreib Hirschell mit zwey LL en. Die Neigung zum Absurden, die sich frey und unbewunden bey der Jugend zu Tage zeigt, nachher aber immer mehr in die Tiefe zuruͤcktritt, ohne sich deshalb gaͤnzlich zu ver¬ lieren, war bey uns in voller Bluͤte, und wir suchten auch durch Originalspaͤße unsern gro¬ ßen Meister zu feyern. Wir waren sehr glo¬ rios, wenn wir der Gesellschaft etwas der Art vorlegen konnten, welches einigermaßen gebilligt wurde, wie z. B. folgendes auf einen Rittmeister, der auf einem wilden Pferde zu Schaden gekommen war: Ein Ritter wohnt in diesem Haus, Ein Meister auch daneben; Macht man davon einen Blumenstraus, So wird's einen Rittmeister geben. Ist er nun Meister von dem Ritt, Fuͤhrt er mit Recht den Namen; Doch nimmt der Ritt den Meister mit, Weh' ihm und seinem Saamen! Ueber solche Dinge ward sehr ernsthaft ge¬ stritten, ob sie des Clown's wuͤrdig oder nicht, und ob sie aus der wahrhaften reinen Narren¬ quelle geflossen, oder ob etwa Sinn und Ver¬ stand sich auf eine ungehoͤrige und unzulaͤssige Weise mit eingemischt haͤtten. Ueberhaupt aber konnten sich diese seltsamen Gesinnungen um so heftiger verbreiten und so mehrere wa¬ ren im Falle, daran Theil zu nehmen, als Lessing, der das große Vertrauen besaß, in seiner Dramaturgie eigentlich das erste Signal dazu gegeben hatte. In so gestimmter und aufgeregter Gesell¬ schaft gelang mir manche angenehme Fahrt nach dem oberen Elsaß, woher ich aber eben deshalb keine sonderliche Belehrung zuruͤck¬ brachte. Die vielen kleinen Verse, die uns bey jeder Gelegenheit entquollen, und die wohl eine muntere Reisebeschreibung ausstatten konn¬ ten, sind verloren gegangen. In dem Kreuz¬ gange der Abtey Molsheim bewunderten wir die farbigen Scheibengemaͤlde; in der fruchtba¬ ren Gegend zwischen Colmar und Schlettstadt ertoͤnten possirliche Hymnen an Ceres, indem der Verbrauch so vieler Fruͤchte umstaͤndlich aus einander gesetzt und angepriesen, auch die wichtige Streitfrage uͤber den freyen oder be¬ schraͤnkten Handel derselben sehr lustig genom¬ men wurde. In Ensisheim sahen wir den un¬ geheuren A ë rolithen in der Kirche aufgehan¬ gen, und spotteten, der Zweifelsucht jener Zeit gemaͤß, uͤber die Leichtglaͤubigkeit der Men¬ schen, nicht vorahndend, daß dergleichen luft¬ geborene Wesen wo nicht auf unsern eignen Acker herabfallen, doch wenigstens in unsern Cabinetten sollten verwahrt werden. Einer mit hundert, ja tausend Glaͤubigen auf den Ottilienberg begangenen Wallfahrt denk' ich noch immer gern. Hier, wo das Grundgemaͤuer eines roͤmischen Castells noch uͤbrig, sollte sich in Ruinen und Steinritzen eine schoͤne Grafentochter, aus frommer Nei¬ gung aufgehalten haben. Ohnfern der Capel¬ le, wo sich die Wanderer erbauen, zeigt man ihren Brunnen und erzaͤhlt gar manches An¬ muthige. Das Bild das ich mir von ihr machte, und ihr Name, praͤgte sich tief bey mir ein. Beyde trug ich lange mit mir her¬ um, bis ich endlich eine meiner zwar spaͤtern, aber darum nicht minder geliebten Toͤchter da¬ mit ausstattete, die von frommen und rei¬ nen Herzen so guͤnstig aufgenommen wurde. Auch auf dieser Hoͤhe wiederholt sich dem Auge das herrliche Elsaß, immer dasselbe und immer neu; eben so wie man im Amphithea¬ ter, man nehme Platz wo man wolle, das ganze Volk uͤbersieht, nur seine Nachbarn am deutlichsten, so ist es auch hier mit Buͤschen, Felsen, Huͤgeln, Waͤldern, Feldern, Wiesen und Ortschaften in der Naͤhe und in der Ferne. Am Horizont wollte man uns sogar Basel zei¬ gen; daß wir es gesehen, will ich nicht be¬ schwoͤren, aber das entfernte Blau der Schweizergebirge uͤbte auch hier sein Recht uͤber uns aus, indem es uns zu sich forderte, und da wir nicht diesem Triebe folgen konnten, ein schmerzliches Gefuͤhl zuruͤckließ. Solchen Zerstreuungen und Heiterkeiten gab ich mich um so lieber und zwar bis zur Trunkenheit hin, als mich mein leidenschaft¬ liches Verhaͤlniß zu Friedriken nunmehr zu aͤngstigen anfing. Eine solche jugendliche, auf's Gerathewohl gehegte Neigung ist der naͤchtlich geworfenen Bombe zu vergleichen, die in einer sanften, glaͤnzenden Linie aufsteigt, sich unter die Sterne mischt, ja einen Augenblick unter ihnen zu verweilen scheint, alsdann aber ab¬ waͤrts, zwar wieder dieselbe Bahn, nur um¬ gekehrt, bezeichnet, und zuletzt da, wo sie ih¬ ren Lauf geendet, Verderben hinbringt. Frie¬ drike blieb sich immer gleich; sie schien nicht zu denken noch denken zu wollen, daß dieses Verhaͤltniß sich sobald endigen koͤnne. Olivie hingegen, die mich zwar auch ungern vermi߬ te, aber doch nicht so viel als jene verlor, war voraussehender oder offener. Sie sprach manchmal mit mir uͤber meinen vermuthlichen Abschied und suchte uͤber sich selbst und ihre Schwester sich zu troͤsten. Ein Maͤdchen das einem Manne entsagt, dem sie ihre Gewo¬ genheit nicht verleugnet, ist lange nicht in der peinlichen Lage, in der sich ein Juͤngling be¬ findet, der mit Erklaͤrungen eben so weit ge¬ gen ein Frauenzimmer herausgegangen ist. Er spielt immer eine leidige Figur: denn von ihm, als einem werdenden Manne, erwartet man schon eine gewisse Uebersicht seines Zu¬ standes, und ein entschiedener Leichtsinn will ihn nicht kleiden. Die Ursachen eines Maͤd¬ chens, das sich zuruͤckzieht, scheinen immer guͤltig, die des Mannes niemals. Allein wie soll eine schmeichelnde Leiden¬ schaft uns voraussehn lassen, wohin sie uns fuͤhren kann? Denn auch selbst alsdann, wenn wir schon ganz verstaͤndig auf sie Ver¬ zicht gethan, koͤnnen wir sie noch nicht loslas¬ sen; wir ergetzen uns an der lieblichen Ge¬ wohnheit, und sollte es auch auf eine veraͤn¬ derte Weise seyn. So ging es auch mir. Wenn gleich die Gegenwart Friedrikens mich aͤngstigte, so wußte ich doch nichts Angeneh¬ meres, als abwesend an sie zu denken und mich mit ihr zu unterhalten. Ich kam selt¬ ner hinaus, aber unsere Briefe wechselten de¬ sto lebhafter. Sie wußte mir ihre Zustaͤnde mit Heiterkeit, ihre Gefuͤhle mit Anmuth zu vergegenwaͤrtigen, so wie ich mir ihre Ver¬ dienste mit Gunst und Leidenschaft vor die Seele rief. Die Abwesenheit machte mich frey, und meine ganze Zuneigung bluͤhte erst recht auf durch die Unterhaltung in der Ferne. Ich konnte mich in solchen Augenblicken ganz eigentlich uͤber die Zukunft verblenden; zer¬ streut war ich genug durch das Fortrollen der Zeit und dringender Geschaͤfte. Ich hatte bisher moͤglich gemacht, das Mannigfaltigste zu leisten, durch immer lebhafte Theilnahme am Gegenwaͤrtigen und Augenblicklichen; al¬ lein gegen das Ende draͤngte sich alles gar gewaltsam uͤber einander, wie es immer zu gehn pflegt, wenn man sich von einem Or¬ te losloͤsen soll. Noch ein Zwischenereigniß nahm mir die letzten Tage weg. Ich befand mich naͤmlich in ansehnlicher Gesellschaft auf einem Land¬ hause, von wo man die Vorderseite des Muͤn¬ sters und den daruͤber emporsteigenden Thurm gar herrlich sehn konnte. Es ist Schade, sagte Jemand, daß das Ganze nicht fertig geworden und daß wir nur den einen Thurm haben. Ich versetzte dagegen: es ist mir eben so leid, diesen einen Thurm nicht ganz aus¬ gefuͤhrt zu sehn; denn die vier Schnecken setzen viel zu stumpf ab, es haͤtten darauf noch vier leichte Thurmspitzen gesollt, so wie eine hoͤhere auf die Mitte, wo das plumpe Kreuz steht. Als ich diese Behauptung mit gewoͤhnli¬ cher Lebhaftigkeit aussprach, redete mich ein kleiner muntrer Mann an und fragte: wer hat Ihnen das gesagt? — Der Thurm selbst, versetzte ich. Ich habe ihn so lange und auf¬ merksam betrachtet, und ihm so viel Neigung erwiesen, daß er sich zuletzt entschloß, mir dieses offenbare Geheimniß zu gestehn. — Er hat Sie nicht mit Unwahrheit berichtet, ver¬ setzte jener; ich kann es am besten wissen, denn ich bin der Schaffner, der uͤber die Bau¬ lichkeiten gesetzt ist. Wir haben in unserem Archiv noch die Originalrisse, welche dasselbe besagen, und die ich Ihnen zeigen kann. — Wegen meiner nahen Abreise drang ich auf Beschleunigung dieser Gefaͤlligkeit. Er ließ mich die unschaͤtzbaren Rollen sehn; ich zeich¬ nete geschwind die in der Ausfuͤhrung fehlen¬ den Spitzen durch oͤlgetraͤnktes Papier und bedauerte, nicht fruͤher von diesem Schatz unterrichtet gewesen zu seyn. Aber so sollte es mir immer ergehn, daß ich durch An¬ schaun und Betrachten der Dinge erst muͤh¬ sam zu einem Begriffe gelangen wußte, der mir vielleicht nicht so auffallend und fruchtbar gewesen waͤre, wenn man mir ihn uͤberliefert haͤtte. In solchem Drang und Verwirrung konn¬ te ich doch nicht unterlassen, Friedriken noch einmal zu sehn. Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Thraͤnen in den Augen, und mir war sehr uͤbel zu Muthe. Nun ritt ich auf dem Fußpfade gegen Drusenheim, und da uͤberfiel mich eine der sonderbarsten Ahn¬ dungen. Ich sah naͤmlich, nicht mit den Au¬ gen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem Kleide wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus die¬ sem Traum ausschuͤttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, daß ich nach acht Jahren, in dem Kleide das mir getraͤumt hatte, und das ich nicht aus Wahl sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friedriken noch einmal zu besuchen. Es mag sich uͤbrigens mit diesen Dingen wie es will verhalten, das wunderliche Trugbild gab mir in jenen Au¬ genblicken des Scheidens einige Beruhigung. Der Schmerz das herrliche Elsaß, mit allem was ich darin erworben, auf immer zu ver¬ lassen, war gemildert, und ich fand mich, dem Taumel des Lebewohls endlich entflohn, auf einer friedlichen und erheiternden Reise so ziemlich wieder. In Mannheim angelangt, eilte ich mit groͤßter Begierde, den Antikensaal zu sehn, von dem man viel Ruͤhmens machte. Schon in Leipzig, bey Gelegenheit der Winkelmann¬ schen und Lessingschen Schriften, hatte ich viel von diesen bedeutenden Kunstwerken re¬ den hoͤren, desto weniger aber gesehn: denn außer Laokoon, dem Vater, und dem Faun mit den Crotalen befanden sich keine Abguͤsse auf der Academie; und was uns Oeser bey Gelegenheit dieser Bildnisse zu sagen beliebte, war freylich raͤthselhaft genug. Wie will man aber auch Anfaͤngern von dem Ende der Kunst einen Begriff geben? Director Verschaffels Empfang war freundlich. Zu dem Saale fuͤhrte mich einer seiner Gesellen, der, nachdem er mir aufge¬ schlossen, mich meinen Neigungen und Be¬ trachtungen uͤberließ. Hier stand ich nun, den wundersamsten Eindruͤcken ausgesetzt, in einem geraͤumigen, viereckten, bey außeror¬ dentlicher Hoͤhe fast cubischen Saal, in ei¬ nem durch Fenster unter dem Gesims von oben wohl erleuchteten Raum: die herrlichsten Statuen des Alterthums nicht allein an den Waͤnden gereiht, sondern auch innerhalb der ganzen Flaͤche durch einander aufgestellt; ein III. 9 Wald von Statuen, durch den man sich durch¬ winden, eine große ideale Volksgesellschaft, zwischen der man sich durchdraͤngen mußte. Alle diese herrlichen Gebilde konnten durch Auf- und Zuziehn der Vorhaͤnge in das vor¬ theilhafteste Licht gestellt werden; uͤberdieß waren sie auf ihren Postamenten beweglich und nach Belieben zu wenden und zu drehen. Nachdem ich die erste Wirkung dieser un¬ widerstehlichen Masse eine Zeit lang geduldet hatte, wendete ich mich zu denen Gestalten, die mich am meisten anzogen, und wer kann leugnen, daß Apoll von Belvedere, durch sei¬ ne maͤßige Colossalgroͤße, den schlanken Bau, die freye Bewegung, den siegenden Blick, auch uͤber unsere Empfindung vor allen andern den Sieg davon trage? Sodann wendete ich mich zu Laokoon, den ich hier zuerst mit seinen Soͤhnen in Verbindung sah. Ich vergegen¬ waͤrtigte mir so gut als moͤglich das, was uͤber ihn verhandelt und gestritten worden war, und suchte mir einen eignen Gesichts¬ punct; allein ich ward bald da bald dorthin gezogen. Der sterbende Fechter hielt mich lange fest, besonders aber hatte ich der Grup¬ pe von Castor und Pollux, diesen kostbaren, obgleich problematischen Resten, die seligsten Augenblicke zu danken. Ich wußte noch nicht, wie unmoͤglich es sey, sich von einem genie¬ ßenden Anschaun sogleich Rechenschaft zu ge¬ ben. Ich zwang mich zu reflectiren, und so wenig es mir gelingen wollte, zu irgend ei¬ ner Art von Klarheit zu gelangen, so fuͤhlte ich doch, daß jedes Einzelne dieser großen versammelten Masse faßlich, ein jeder Gegen¬ stand natuͤrlich und in sich selbst bedeutend sey. Auf Laokoon jedoch war meine groͤßte Auf¬ merksamkeit gerichtet, und ich entschied mir die beruͤhmte Frage, warum er nicht schreye, dadurch, daß ich mir aussprach, er koͤnne nicht schreyen. Alle Handlungen und Bewe¬ gungen der drey Figuren gingen mir aus der ersten Conception der Gruppe hervor. Die ganze so gewaltsame als kunstreiche Stellung des Hauptkoͤrpers war aus zwey Anlaͤssen zu¬ sammengesetzt, aus dem Streben gegen die Schlangen, und aus dem Fliehn vor dem au¬ genblicklichen Biß. Um diesen Schmerz zu mildern, mußte der Unterleib eingezogen und das Schreyen unmoͤglich gemacht werden. So entschied ich mich auch, daß der juͤngere Sohn nicht gebissen sey, und wie ich mir sonst noch das Kunstreiche dieser Gruppe auszulegen suchte. Ich schrieb hieruͤber einen Brief an Oesern, der aber nicht sonderlich auf meine Auslegung achtete, sondern nur meinen guten Willen mit einer allgemeinen Aufmunterung erwiederte. Ich aber war gluͤcklich genug, je¬ nen Gedanken festzuhalten und bey mir meh¬ rere Jahre ruhen zu lassen, bis er sich zu¬ letzt an meine saͤmmtlichen Erfahrungen und Ueberzeugungen anschloß, in welchem Sinne ich ihn sodann bey Herausgabe der Propy¬ laͤen mittheilte. Nach eifriger Betrachtung so vieler erha¬ benen plastischen Werke, sollte es mir auch an einem Vorschmack antiker Architectur nicht fehlen. Ich fand den Abguß eines Capitaͤls der Rotonde, und ich leugne nicht, daß beym Anblick jener so ungeheuren als eleganten Acanthblaͤtter mein Glaube an die nordische Baukunst etwas zu wanken anfing. Dieses große und bey mir durchs ganze Leben wirksame fruͤhzeitige Schauen war den¬ noch fuͤr die naͤchste Zeit von geringen Fol¬ gen. Wie gern haͤtte ich mit dieser Darstel¬ lung ein Buch angefangen, anstatt daß ich's damit ende: denn kaum war die Thuͤre des herrlichen Saals hinter mir zugeschlossen, so wuͤnschte ich mich selbst wieder zu finden, ja ich suchte jene Gestalten eher, als laͤstig, aus meiner Einbildungskraft zu entfernen, und nur erst durch einen großen Umweg sollte ich in diesen Kreis zuruͤckgefuͤhrt werden. Indes¬ sen ist die stille Fruchtbarkeit solcher Eindruͤcke ganz unschaͤtzbar, die man genießend, ohne zersplitterndes Urtheil, in sich aufnimmt. Die Jugend ist dieses hoͤchsten Gluͤcks faͤhig, wenn sie nicht critisch seyn will, sondern das Vor¬ treffliche und Gute, ohne Untersuchung und Sonderung, auf sich wirken laͤßt. Zwoͤlftes Buch . Der Wanderer war nun endlich gesuͤnder und froher nach Hause gelangt als das erste Mal, aber in seinem ganzen Wesen zeigte sich doch etwas Ueberspanntes, welches nicht voͤllig auf geistige Gesundheit deutete. Gleich zu Anfang brachte ich meine Mutter in den Fall, daß sie zwischen meines Vaters rechtli¬ chem Ordnungsgeist und meiner vielfachen Ex¬ centricitaͤt die Vorfaͤlle in ein gewisses Mittel zu richten und zu schlichten beschaͤftigt seyn mußte. In Maynz hatte mir ein harfespie¬ lender Knabe so wohl gefallen, daß ich ihn, weil die Messe gerade vor der Thuͤre war, nach Frankfurt einlud, ihm Wohnung zu ge¬ ben und ihn zu befoͤrdern versprach. In die¬ sem Ereigniß trat wieder einmal diejenige Ei¬ genheit hervor, die mich in meinem Leben so viel gekostet hat, daß ich naͤmlich gern sehe, wenn juͤngere Wesen sich um mich versammeln und an mich anknuͤpfen, wodurch ich denn freylich zuletzt mit ihrem Schicksal belastet werde. Eine unangenehme Erfahrung nach der andern konnte mich von dem angebornen Trieb nicht zuruͤckbringen, der noch gegen¬ waͤrtig, bey der deutlichsten Ueberzeugung, von Zeit zu Zeit mich irre zu fuͤhren droht. Mei¬ ne Mutter, klaͤrer als ich, sah wohl voraus, wie sonderbar es meinem Vater vorkommen muͤßte, wenn ein musicalischer Meßlaͤufer, von einem so ansehnlichen Hause her, zu Gasthoͤ¬ fen und Schenken ginge, sein Brod zu ver¬ dienen; daher sorgte sie in der Nachbarschaft fuͤr Herberge und Kost desselben; ich empfahl ihn meinen Freunden, und so befand sich das Kind nicht uͤbel. Nach mehreren Jahren sah ich ihn wieder, wo er groͤßer und toͤlpischer geworden war, ohne in seiner Kunst viel zu¬ genommen zu haben. Die wackere Frau, mit dem ersten Probestuͤck des Ausgleichens und Vertuschens wohl zufrieden, dachte nicht, daß sie diese Kunst in der naͤchsten Zeit durch¬ aus noͤthig haben wuͤrde. Der Vater, in sei¬ nen verjaͤhrten Liebhabereyen und Beschaͤfti¬ gungen ein zufriedenes Leben fuͤhrend, war behaglich, wie einer, der trotz allen Hinder¬ nissen und Verspaͤtungen, seine Plane durch¬ setzt. Ich hatte nun promovirt, der erste Schritt zu dem fernern buͤrgerlichen, stufen¬ weisen Lebensgange war gethan. Meine Dis¬ putation hatte seinen Beyfall, ihn beschaͤftig¬ te die naͤhere Betrachtung derselben und man¬ che Vorbereitung zu einer kuͤnftigen Heraus¬ gabe. Waͤhrend meines Aufenthalts im El¬ saß hatte ich viel kleine Gedichte, Aufsaͤtze, Reisebemerkungen und manches fliegende Blatt geschrieben. Diese zu rubriciren, zu ordnen, die Vollendung zu verlangen unterhielt ihn, und so war er froh in der Erwartung, daß meine bisher unuͤberwundene Abneigung, et¬ was dieser Dinge gedruckt zu sehn, sich naͤch¬ stens verlieren werde. Die Schwester hatte einen Kreis von verstaͤndigen und liebenswuͤr¬ digen Frauenzimmern um sich versammelt. Ohne herrisch zu seyn, herrschte sie uͤber alle, indem ihr Verstand gar manches uͤbersehn und ihr guter Wille vieles ausgleichen konnte, sie auch uͤberdieß in dem Fall war, eher die Vertraute als die Rivalinn zu spielen. Von aͤltern Freunden und Bekannten fand ich an Horn den unveraͤnderlich treuen Freund und heiteren Gesellschafter; mit Riese ward ich auch vertraut, der meinen Scharfsinn zu uͤben und zu pruͤfen nicht verfehlte, indem er, durch anhaltenden Widerspruch, einem dogmatischen Enthusiasmus, in welchen ich nur gar zu gern verfiel, Zweifel und Verneinung entge¬ gensetzte. Andere traten nach und nach zu diesem Kreis, deren ich kuͤnftig gedenke; je¬ doch standen unter den Personen, die mir den neuen Aufenthalt in meiner Vaterstadt ange¬ nehm und fruchtbar machten, die Gebruͤder Schlosser allerdings oben an. Der aͤltere, Hieronymus , ein gruͤndlicher und elegan¬ ter Rechtsgelehrter, hatte als Sachwalter ein allgemeines Vertrauen. Unter seinen Buͤchern und Acten, in Zimmern wo die groͤßte Ord¬ nung herrschte, war sein liebster Aufenthalt; dort hab' ich ihn niemals anders als heiter und theilnehmend gefunden. Auch in groͤße¬ rer Gesellschaft erwies er sich angenehm und unterhaltend: denn sein Geist war, durch eine ausgebreitete Lectuͤre, mit allem Schoͤnen der Vorwelt geziert. Er verschmaͤhte nicht, bey Gelegenheit, durch geistreiche lateinische Ge¬ dichte die geselligen Freuden zu vermehren; wie ich denn noch verschiedene scherzhafte Di¬ stichen von ihm besitze, die er unter einige von mir gezeichnete Portraite seltsamer, all¬ gemein bekannter Frankfurter Caricaturen ge¬ schrieben hatte. Oefters berieth ich mich mit ihm uͤber meinen einzuleitenden Lebens- und Geschaͤftsgang, und haͤtten mich nicht hun¬ dertsaͤltige Neigungen, Leidenschaften und Zer¬ streuungen von diesem Wege fortgerissen, er wuͤrde mir der sicherste Fuͤhrer geworden seyn. Naͤher an Alter stand mir sein Bruder Georg, der sich von Treptow, aus den Diensten des Herzogs Eugen von Wuͤrtem¬ berg wieder zuruͤckgezogen hatte. An Welt¬ kenntniß, an practischem Geschick vorgeschrit¬ ten, war er in seiner Uebersicht der deutschen und auswaͤrtigen Literatur auch nicht zuruͤck geblieben. Er schrieb, wie vormals, gern in allen Sprachen, regte mich aber dadurch nicht weiter an, da ich mich dem Deutschen aus¬ schließlich widmend, die uͤbrigen nur in so weit cultivirte, daß ich die besten Autoren im Original einigermaßen zu lesen im Stande war. Seine Rechtschaffenheit zeigte sich im¬ mer als dieselbe, ja die Bekanntschaft mit der Welt mochte ihn veranlaßt haben, stren¬ ger, sogar starrer auf seinen wohlmeynenden Gesinnungen zu beharren. Durch diese beyden Freunde ward ich denn auch gar bald mit Merk bekannt, dem ich durch Herdern, von Straßburg aus, nicht unguͤnstig angekuͤndigt war. Dieser eigne Mann, der auf mein Leben den groͤßten Ein¬ fluß gehabt, war von Geburt ein Darm¬ staͤdter. Von seiner fruͤheren Bildung wuͤßte ich wenig zu sagen. Nach vollendeten Stu¬ dien fuͤhrte er einen Juͤngling nach der Schweiz, wo er eine Zeit lang blieb, und beweibt zu¬ ruͤckkam. Als ich ihn kennen lernte, war er Kriegszahlmeister in Darmstadt. Mit Ver¬ stand und Geist geboren, hatte er sich sehr schoͤne Kenntnisse, besonders der neueren Lite¬ raturen, erworben, und sich in der Welt- und Menschengeschichte nach allen Zeiten und Ge¬ genden umgesehn. Treffend und scharf zu ur¬ theilen war ihm gegeben. Man schaͤtzte ihn als einen wackern entschlossenen Geschaͤftsmann und fertigen Rechner. Mit Leichtigkeit trat er uͤberall ein, als ein sehr angenehmer Ge¬ sellschafter fuͤr die, denen er sich durch bei¬ ßende Zuͤge nicht furchtbar gemacht hatte. Er war lang und hager von Gestalt, eine her¬ vordringende spitze Nase zeichnete sich aus, hellblaue, vielleicht graue Augen gaben sei¬ nem Blick, der aufmerkend hin und wieder ging, etwas Tigerartiges. Lavaters Physio¬ gnomik hat uns sein Profil aufbewahrt. In seinem Character lag ein wunderbares Mi߬ verhaͤltniß: von Natur ein braver, edler, zu¬ verlaͤssiger Mann, hatte er sich gegen die Welt erbittert, und ließ diesen grillenkranken Zug dergestalt in sich walten, daß er eine un¬ uͤberwindliche Neigung fuͤhlte, vorsaͤtzlich ein Schalk, ja ein Schelm zu seyn. Verstaͤndig, ruhig, gut in einem Augenblick, konnte es ihm in dem andern einfallen, wie die Schnecke ihre Hoͤrner hervorstreckt, irgend etwas zu thun, was einen andern kraͤnkte, verletzte, ja was ihm schaͤdlich ward. Doch wie man gern mit etwas Gefaͤhrlichem umgeht, wenn man selbst davor sicher zu seyn glaubt, so hatte ich eine desto groͤßere Neigung mit ihm zu leben und seiner guten Eigenschaften zu genießen, da ein zuversichtliches Gefuͤhl mich ahnden ließ, daß er seine schlimme Seite nicht gegen mich kehren werde. Wie er sich nun, durch diesen sittlich unruhigen Geist, durch dieses Beduͤrfniß, die Menschen haͤmisch und tuͤckisch zu behandeln, von einer Seite das gesellige Leben verdarb, so widersprach eine andere Unruhe, die er auch recht sorg¬ faͤltig in sich naͤhrte, seinem innern Behagen. Er fuͤhlte naͤmlich einen gewissen dilettantischen Productionstrieb, dem er um so mehr nach¬ hing, als er sich in Prosa und Versen leicht und gluͤcklich ausdruͤckte, und unter den schoͤ¬ nen Geistern jener Zeit eine Rolle zu spielen gar wohl wagen durfte. Ich besitze selbst noch poetische Episteln von ungemeiner Kuͤhn¬ heit, Derbheit und Swistischer Galle, die sich durch originelle Ansichten der Personen und Sachen hoͤchlich auszeichnen, aber zugleich mit so verletzender Kraft geschrieben sind, daß ich sie nicht einmal gegenwaͤrtig publiciren moͤchte, sondern sie entweder vertilgen, oder als auffallende Documente des geheimen Zwie¬ spalts in unserer Literatur der Nachwelt auf¬ III. 10 bewahren muß. Daß er jedoch bey allen sei¬ nen Arbeiten verneinend und zerstoͤrend zu Werke ging, war ihm selbst unangenehm, und er sprach es oft aus, er beneide mich um mei¬ ne unschuldige Darstellungslust, welche aus der Freude an dem Vorbild und dem Nach¬ gebildeten entspringe. Uebrigens haͤtte ihm sein literarischer Di¬ lettantismus eher Nutzen als Schaden ge¬ bracht, wenn er nicht den unwiderstehlichen Trieb gefuͤhlt haͤtte, auch im technischen und mercantilischen Fach aufzutreten. Denn wenn er einmal seine Faͤhigkeiten zu verwuͤnschen an¬ fing, und außer sich war, die Anspruͤche an ein ausuͤbendes Talent nicht genialisch genug befriedigen zu koͤnnen, so ließ er bald die bil¬ dende, bald die Dichtkunst fahren und sann auf fabrikmaͤßige kaufmaͤnnische Unternehmun¬ gen, welche Geld einbringen sollten, indem sie ihm Spaß machten. In Darmstadt befand sich uͤbrigens eine Gesellschaft von sehr gebildeten Maͤnnern. Geheimerath von Heß , Minister des Land¬ grafen, Professor Petersen , Rector Wenk und andere waren die Einheimischen, zu de¬ ren Werth sich manche fremde Benachbarte und viele Durchreisende abwechselnd gesellten. Die Geheimeraͤthinn von Heß und ihre Schwester, Demoiselle Flachsland , waren Frauenzimmer von seltenen Verdiensten und Anlagen, die letztre, Herders Braut, doppelt interessant durch ihre Eigenschaften und ihre Neigung zu einem so vortrefflichen Manne. Wie sehr dieser Kreis mich belebte und foͤr¬ derte, waͤre nicht auszusprechen. Man hoͤrte gern die Vorlesung meiner gefertigten oder angefangenen Arbeiten, man munterte mich auf, wenn ich offen und umstaͤndlich erzaͤhlte, was ich eben vorhatte, und schalt mich, wenn ich bey jedem neuen Anlaß das Fruͤherbegon¬ nene zuruͤcksetzte. Faust war schon vorgeruckt, 10 * Goetz von Berlichingen baute sich nach und nach in meinem Geiste zusammen, das Studium des fuͤnfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts beschaͤftigte mich, und jenes Muͤnstergebaͤude hatte einen sehr ernsten Ein¬ druck in mir zuruͤckgelassen, der als Hinter¬ grund zu solchen Dichtungen gar wohl dastehn konnte. Was ich uͤber jene Baukunst gedacht und gewaͤhnt hatte, schrieb ich zusammen. Das Erste worauf ich drang war, daß man sie deutsch und nicht gothisch nennen, nicht fuͤr auslaͤndisch, sondern fuͤr vaterlaͤndisch hal¬ ten solle; das Zweyte, daß man sie nicht mit der Baukunst der Griechen und Roͤmer ver¬ gleichen duͤrfe, weil sie aus einem ganz ande¬ ren Princip entsprungen sey. Wenn jene, un¬ ter einem gluͤcklicheren Himmel, ihr Dach auf Saͤulen ruhen ließen, so entstand ja schon an und fuͤr sich eine durchbrochene Wand. Wir aber, die wir uns durchaus gegen die Witte¬ rung schuͤtzen, und mit Mauern uͤberall umge¬ ben muͤssen, haben den Genius zu verehren, der Mittel fand, massiven Waͤnden Mannig¬ faltigkeit zu geben, sie dem Scheine nach zu durchbrechen und das Auge wuͤrdig und erfreu¬ lich auf, der großen Flaͤche zu beschaͤftigen. Dasselbe galt von den Thuͤrmen, welche nicht, wie die Kuppeln, nach innen einen Himmel bilden, sondern außen gen Himmel streben, und das Daseyn des Heiligthums, das sich an ihre Base gelagert, weit umher den Laͤn¬ dern verkuͤnden sollten. Das Innere dieser wuͤrdigen Gebaͤude wagte ich nur durch poe¬ tisches Anschauen und durch fromme Stim¬ mung zu beruͤhren. Haͤtte ich diese Ansichten, denen ich ihren Werth nicht absprechen will, klar und deut¬ lich, in vernehmlichem Stil abzufassen be¬ liebt, so haͤtte der Druckbogen von deut¬ scher Baukunst D. M. Erwini a Stein ¬ bach schon damals als ich ihn herausgab, mehr Wirkung gethan und die vaterlaͤndischen Freunde der Kunst fruͤher aufmerksam gemacht; so aber verhuͤllte ich, durch Hamans und Her¬ ders Beyspiel verfuͤhrt, diese ganz einfachen Gedanken und Betrachtungen in eine Staub¬ wolke von seltsamen Worten und Phrasen, und verfinsterte das Licht das mir aufgegan¬ gen war, fuͤr mich und andere. Demunge¬ achtet wurden diese Blaͤtter gut aufgenom¬ men und in dem Herderschen Heft von deutscher Art und Kunst nochmals ab¬ gedruckt. Wenn ich mich nun, theils aus Neigung, theils zu dichterischen und andern Zwecken, mit vaterlaͤndischen Alterthuͤmern sehr gern beschaͤftigte und sie mir zu vergegenwaͤrtigen suchte; so ward ich durch die biblischen Stu¬ dien und durch religioͤse Anklaͤnge von Zeit zu Zeit wieder abgelenkt, da ja Luthers Leben und Thaten, die in dem sechzehnten Jahrhun¬ dert so herrlich hervorglaͤnzen, mich immer wieder zu den heiligen Schriften und zu Be¬ trachtung religioͤser Gefuͤhle und Meynungen hinleiten mußten. Die Bibel als ein zusam¬ mengetragenes, nach und nach entstandenes, zu verschiedenen Zeiten uͤberarbeitetes Werk an¬ zusehn, schmeichelte meinem kleinen Duͤnkel, indem diese Vorstellungsart noch keineswegs herrschend, viel weniger in dem Kreis aufge¬ nommen war, in welchem ich lebte. Was den Hauptsinn betraf, hielt ich mich an Lu¬ thers Ausdruck, im Einzelnen ging ich wohl zur Schmidtischen woͤrtlichen Uebersetzung, und suchte mein weniges Hebraͤisch dabey so gut als moͤglich zu benutzen. Daß in der Bi¬ bel sich Widerspruͤche finden, wird jetzt Nie¬ mand in Abrede seyn. Diese suchte man da¬ durch auszugleichen, daß man die deutlichste Stelle zum Grunde legte, und die widerspre¬ chende, weniger klare jener anzuaͤhnlichen be¬ muͤht war. Ich dagegen wollte durch Pruͤ¬ fung herausfinden, welche Stelle den Sinn der Sache am meisten ausspraͤche; an diese hielt ich mich und verwarf die anderen als un¬ tergeschoben. Denn schon damals hatte sich bey mir eine Grundmeynung festgesetzt, ohne daß ich zu sagen wuͤßte, ob sie mir eingefloͤßt, ob sie bey mir angeregt worden, oder ob sie aus eignem Nachdenken entsprungen sey. Es war naͤm¬ lich die: bey allem was uns uͤberliefert, be¬ sonders aber schriftlich uͤberliefert werde, kom¬ me es auf den Grund, auf das Innere, den Sinn, die Richtung des Werks an; hier lie¬ ge das Urspruͤngliche, Goͤttliche, Wirksame, Unantastbare, Unverwuͤstliche, und keine Zeit, keine aͤußere Einwirkung noch Bedingung koͤn¬ ne diesem innern Urwesen etwas anhaben, wenigstens nicht mehr als die Krankheit des Koͤrpers einer wohlgebildeten Seele. So sey nun Sprache Dialect, Eigenthuͤmlichkeit, Stil und zuletzt die Schrift als Koͤrper eines je¬ den geistigen Werks anzusehn; dieser, zwar nah genug mit dem Innern verwandt, sey jedoch der Verschlimmerung, dem Verderbniß ausgesetzt: wie denn uͤberhaupt keine Ueber¬ lieferung ihrer Natur nach ganz rein gegeben, und wenn sie auch rein gegeben wuͤrde, in der Folge jederzeit vollkommen verstaͤndlich seyn koͤnnte, jenes wegen Unzulaͤnglichkeit der Or¬ gane, durch welche uͤberliefert wird, dieses wegen des Unterschieds der Zeiten, der Orte, besonders aber wegen der Verschiedenheit menschlicher Faͤhigkeiten und Denkweisen; wes¬ halb denn ja auch die Ausleger sich niemals vergleichen werden. Das Innere, Eigentliche einer Schrift, die uns besonders zusagt, zu erforschen, sey daher eines Jeden Sache, und dabey vor al¬ len Dingen zu erwaͤgen, wie sie sich zu un¬ serm eignen Innern verhalte, und in wie fern durch jene Lebenskraft die unsrige erregt und befruchtet werde; alles Aeußere hingegen, was auf uns unwirksam, oder einem Zweifel un¬ terworfen sey, habe man der Critik zu uͤber¬ lassen, welche, wenn sie auch im Stande seyn sollte, das Ganze zu zerstuͤckeln und zu zer¬ splittern, dennoch niemals dahin gelangen wuͤrde, uns den eigentlichen Grund, an dem wir festhalten, zu rauben, ja uns nicht einen Augenblick an der einmal gefaßten Zuversicht irre zu machen. Diese aus Glauben und Schauen entsprun¬ gene Ueberzeugung, welche in allen Faͤllen, die wir fuͤr die wichtigsten erkennen, anwendbar und staͤrkend ist, liegt zum Grunde meinem sittlichen sowohl als literarischen Lebensbau, und ist als ein wohl angelegtes und reichlich wucherndes Capital anzusehn, ob wir gleich in einzelnen Faͤllen zu fehlerhafter Anwendung verleitet werden koͤnnen. Durch diesen Be¬ griff ward mir denn die Bibel erst recht zu¬ gaͤnglich. Ich hatte sie, wie bey dem Reli¬ gionsunterricht der Protestanten geschieht, mehr¬ mals durchlaufen, ja mich mit derselben sprung¬ weise, von vorn nach hinten und umgekehrt, bekannt gemacht. Die derbe Natuͤrlichkeit des alten Testaments und die zarte Naivetaͤt des neuen hatte mich im Einzelnen angezogen; als ein Ganzes wollte sie mir zwar niemals recht entgegentreten, aber die verschiedenen Character der verschiedenen Buͤcher machten mich nun nicht mehr irre: ich wußte mir ihre Bedeutung der Reihe nach treulich zu verge¬ genwaͤrtigen und hatte uͤberhaupt zuviel Ge¬ muͤth an dieses Buch verwandt, als daß ich es jemals wieder haͤtte entbehren sollen. Eben von dieser gemuͤthlichen Seite war ich gegen alle Spoͤttereyen geschuͤtzt, weil ich deren Un¬ redlichkeit sogleich einsah. Ich verabscheute sie nicht nur, sondern ich konnte daruͤber in Wuth gerathen, und ich erinnere mich noch genau, daß ich in kindlich fanatischem Eifer, Voltairen, wenn ich ihn haͤtte habhaft wer¬ den koͤnnen, wegen seines Sauls gar wohl erdrosselt haͤtte. Jede Art von redlicher For¬ schung dagegen sagte mir hoͤchlich zu, die Auf¬ klaͤrungen uͤber des Orients Localitaͤt und Costuͤm, welche immer mehr Licht verbreite¬ ten, nahm ich mit Freuden auf, und fuhr fort, allen meinen Scharfsinn an den so wer¬ then Ueberlieferungen zu uͤben. Man weiß, wie ich schon fruͤher mich in den Zustand der Urwelt, die uns das erste Buch Mosis schildert, einzuweihen suchte. Weil ich nun schrittweise und ordentlich zu verfahren dachte, so griff ich, nach einer lan¬ gen Unterbrechung, das zweyte Buch an. Al¬ lein welch ein Unterschied! Gerade wie die kindliche Fuͤlle aus meinem Leben verschwun¬ den war, so fand ich auch das zweyte Buch von dem ersten durch eine ungeheure Kluft getrennt. Das voͤllige Vergessen vergangener Zeit spricht sich schon aus in den wenigen be¬ deutenden Worten: „Da kam ein neuer Koͤ¬ nig auf in Aegypten, der wußte nichts von Joseph.“ Aber auch das Volk, wie die Ster¬ ne des Himmels unzaͤhlbar, hatte beynah den Ahnherrn vergessen, dem Jehovah gerade die¬ ses nunmehr erfuͤllte Versprechen unter dem Sternenhimmel gethan hatte. Ich arbeitete mich mit unsaͤglicher Muͤhe, mit unzulaͤngli¬ chen Huͤlfsmitteln und Kraͤften durch die fuͤnf Buͤcher und gerieth dabey auf die wunderlich¬ sten Einfaͤlle. Ich glaubte gefunden zu haben, daß nicht unsere Zehn-Gebote auf den Tafeln gestanden, daß die Israeliten keine vierzig Jahre, sondern nur kurze Zeit durch die Wuͤste gewandert, und eben so bildete ich mir ein, uͤber den Character Mosis ganz neue Aufschluͤs¬ se geben zu koͤnnen. Auch das neue Testament war vor meinen Untersuchungen nicht sicher; ich verschonte es nicht mit meiner Sonderungslust, aber aus Liebe und Neigung stimmte ich doch in jenes heilsame Wort mit ein: „Die Evangelisten moͤ¬ gen sich widersprechen, wenn sich nur das Evangelium nicht widerspricht.“ — Auch in dieser Region glaubte ich allerhand Entdeckun¬ gen zu machen. Jene Gabe der Sprachen, am Pfingstfeste in Glanz und Klarheit ertheilt, deutete ich mir auf eine etwas abstruse Weise, nicht geeignet sich viele Theilnehmer zu ver¬ schaffen. In eine der Hauptlehren des Lutherthums, welche die Bruͤdergemeine noch geschaͤrft hatte, das Suͤndhafte im Menschen als vorwaltend anzusehn, versuchte ich mich zu schicken, ob¬ gleich nicht mit sonderlichem Gluͤck. Doch hat¬ te ich mir die Terminologie dieser Lehre so ziemlich zu eigen gemacht, und bediente mich derselben in einem Briefe, den ich unter der Maske eines Landgeistlichen an einen neuen Amtsbruder zu erlassen beliebte. Das Haupt¬ thema desselbigen Schreibens war jedoch die Loosung der damaligen Zeit, sie hieß Tole¬ ranz , und galt unter den besseren Koͤpfen und Geistern. Solche Dinge, die nach und nach entstan¬ den, ließ ich, um mich an dem Publicum zu versuchen, im folgenden Jahre auf meine Ko¬ sten drucken, verschenkte sie, oder gab sie der Eichenbergischen Buchhandlung, um sie so gut als moͤglich zu verhoͤcken, ohne daß mir da¬ durch einiger Vortheil zugewachsen waͤre. Hier und da gedenkt eine Recension derselben, bald guͤnstig, bald unguͤnstig, doch gleich waren sie verschollen. Mein Vater bewahrte sie sorgfaͤl¬ tig in seinem Archiv, sonst wuͤrde ich kein Exemplar davon besitzen. Ich werde sie, so wie einiges Ungedruckte der Art, was ich noch vorgefunden, der neuen Ausgabe meiner Wer¬ ke hinzufuͤgen. Da ich mich nun sowohl zu dem Sibyl¬ linischen Stil solcher Blaͤtter als zu der Her¬ ausgabe derselben eigentlich durch Haman hat¬ te verleiten lassen, so scheint mir hier eine schickliche Stelle, dieses wuͤrdigen einflußrei¬ chen Mannes zu gedenken, der uns damals ein eben so großes Geheimniß war, als er es immer dem Vaterlande geblieben ist. Seine Socratischen Denkwuͤrdigkeiten er¬ regten Aufsehen, und waren solchen Personen besonders lieb, die sich mit dem blendenden Zeitgeiste nicht vertragen konnten. Man ahn¬ dete hier einen tiefdenkenden gruͤndlichen Mann, der mit der offenbaren Welt und Literatur genau bekannt, doch auch noch etwas Gehei¬ mes, Unerforschliches gelten ließ, und sich dar¬ uͤber auf eine ganz eigne Weise aussprach. Von denen die damals die Literatur des Tags beherrschten, ward er freylich fuͤr einen ab¬ strusen Schwaͤrmer gehalten, eine aufstrebende Jugend aber ließ sich wohl von ihm anziehn. Sogar die Stillen im Lande, wie sie halb im Scherz, halb im Ernst genannt wurden, jene frommen Seelen, welche, ohne sich zu irgend einer Gesellschaft zu bekennen, eine unsicht¬ bare Kirche bildeten, wendeten ihm ihre Auf¬ merksamkeit zu, und meiner Klettenberg, nicht weniger ihrem Freunde Moser, war der Ma¬ gus aus Norden eine willkommene Er¬ scheinung. Man setzte sich um so mehr mit ihm in Verhaͤltniß, als man erfahren hatte, daß er von knappen haͤuslichen Umstaͤnden ge¬ peinigt, sich dennoch diese schoͤne und hohe Sinnesweise zu erhalten verstand. Bey dem großen Einflusse des Praͤsidenten von Moser waͤre es leicht gewesen, einem so genuͤgsamen Manne ein leidliches und bequemes Daseyn zu verschaffen. Die Sache war auch einge¬ leitet, ja man hatte sich so weit schon verstaͤn¬ digt und genaͤhert, daß Haman die weite Reise von Koͤnigsberg nach Darmstadt unter¬ nahm. Als aber der Praͤsident zufaͤllig ab¬ wesend war, kehrte jener wunderliche Mann, aus welchem Anlaß weiß man nicht, sogleich wieder zuruͤck; man blieb jedoch in einem freundlichen Briefverhaͤltniß. Ich besitze noch zwey Schreiben des Koͤnigsbergers an seinen Goͤnner, die von der wundersamen Großheit und Innigkeit ihres Verfassers Zeugniß ab¬ legen. III. 11 Aber ein so gutes Verstaͤndniß sollte nicht lange dauern. Diese frommen Menschen hat¬ ten sich jenen auch nach ihrer Weise fromm gedacht, sie hatten ihn als den Magus aus Norden mit Ehrfurcht behandelt, und glaub¬ ten daß er sich auch sofort in ehrwuͤrdigem Betragen darstellen wuͤrde. Allein er hatte schon durch die Wolken , ein Nachspiel So¬ cratischer Denkwuͤrdigkeiten, einigen Anstoß gegeben, und da er nun gar die Kreuzzuͤge des Philologen herausgab, auf deren Titelblatt nicht allein das Ziegenprofil eines gehoͤrnten Pans zu sehen war, sondern auch auf einer der ersten Seiten ein großer in Holz geschnittener Hahn, tactgebend jungen Haͤhn¬ chen, die mit Noten in den Krallen vor ihm da standen, sich hoͤchst laͤcherlich zeigte, wo¬ durch gewisse Kirchenmusiken, die der Verfas¬ ser nicht billigen mochte, scherzhaft durchge¬ zogen werden sollten; so entstand unter den Wohl- und Zartgesinnten ein Misbehagen, welches man dem Verfasser merken ließ, der denn auch dadurch nicht erbaut, einer enge¬ ren Vereinigung sich entzog. Unsere Aufmerk¬ samkeit auf diesen Mann hielt jedoch Herder immer lebendig, der mit seiner Braut und uns in Correspondenz bleibend, alles was von jenem merkwuͤrdigen Geiste nur ausging, so¬ gleich mittheilte. Darunter gehoͤrten denn auch seine Recensionen und Anzeigen, einge¬ ruͤckt in die Koͤnigsberger Zeitung, die alle einen hoͤchst sonderbaren Character trugen. Ich besitze eine meist vollstaͤndige Sammlung seiner Schriften und einen sehr bedeutenden handschriftlichen Aufsatz uͤber Herders Preis¬ schrift, den Ursprung der Sprache betreffend, worin er dieses Herdersche Probestuͤck, auf die eigenste Art, mit wunderlichen Schlaglichtern beleuchtet. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, eine Herausgabe der Hamanschen Werke entweder selbst zu besorgen, oder wenigstens zu befoͤr¬ dern, und alsdann, wenn diese wichtigen Do¬ 11 * cumente wieder vor den Augen des Publicums liegen, moͤchte es Zeit seyn, uͤber den Verfas¬ ser, dessen Natur und Wesen das Naͤhere zu besprechen; inzwischen will ich doch einiges hier schon beybringen, um so mehr als noch vorzuͤgliche Maͤnner leben, die ihm auch ihre Neigung geschenkt, und deren Beystimmung oder Zurechtweisung mir sehr willkommen seyn wuͤrde. Das Princip, auf welches die saͤmmt¬ lichen Aeußerungen Hamans sich zuruͤckfuͤhren lassen, ist dieses: „Alles was der Mensch zu leisten unternimmt, es werde nun durch That oder Wort oder sonst hervorgebracht, muß aus saͤmmtlichen vereinigten Kraͤften entsprin¬ gen; alles Vereinzelte ist verwerflich." Eine herrliche Maxime! aber schwer zu befolgen. Von Leben und Kunst mag sie freylich gel¬ ten; bey jeder Ueberlieferung durch's Wort hingegen, die nicht gerade poetisch ist, findet sich eine große Schwierigkeit: denn das Wort muß sich abloͤsen, es muß sich vereinzeln, um etwas zu sagen, zu bedeuten. Der Mensch, indem er spricht, muß fuͤr den Augenblick ein¬ seitig werden; es giebt keine Mittheilung, keine Lehre, ohne Sonderung. Da nun aber Haman ein fuͤr allemal dieser Trennung wi¬ derstrebte, und wie er in einer Einheit em¬ pfand, imaginirte, dachte, so auch sprechen wollte, und das Gleiche von andern verlang¬ te; so trat er mit seinem eignen Stil und mit allem was die andern hervorbringen konn¬ ten, in Widerstreit. Um das Unmoͤgliche zu leisten, greift er daher nach allen Elementen; die tiefsten geheimsten Anschauungen, wo sich Natur und Geist im Verborgenen begegnen, erleuchtende Verstandesblitze, die aus einem solchen Zusammentreffen hervorstrahlen, bedeu¬ tende Bilder, die in diesen Regionen schwe¬ ben, andringende Spruͤche der heiligen und Profanscribenten, und was sich sonst noch humoristisch hinzufuͤgen mag, alles dieses bil¬ det die wunderbare Gesammtheit seines Stils, seiner Mittheilungen. Kann man sich nun in der Tiefe nicht zu ihm gesellen, auf den Hoͤ¬ hen nicht mit ihm wandeln, der Gestalten, die ihm vorschweben, sich nicht bemaͤchtigen, aus einer unendlich ausgebreiteten Literatur nicht gerade den Sinn einer nur angedeute¬ ten Stelle herausfinden; so wird es um uns nur truͤber und dunkler jemehr wir ihn stu¬ diren, und diese Finsterniß wird mit den Jah¬ ren immer zunehmen, weil seine Anspielungen auf bestimmte, im Leben und in der Litera¬ tur augenblicklich herrschende Eigenheiten vor¬ zuͤglich gerichtet waren. Unter meiner Samm¬ lung befinden sich einige seiner gedruckten Bo¬ gen, wo er an dem Rande eigenhaͤndig die Stellen citirt hat, auf die sich seine Andeu¬ tungen beziehn. Schlaͤgt man sie auf, so giebt es abermals ein zweydeutiges Doppel¬ licht, das uns hoͤchst angenehm erscheint, nur muß man durchaus auf das Verzicht thun, was man gewoͤhnlich verstehen nennt. Sol¬ che Blaͤtter verdienen auch deswegen Sibylli¬ nisch genannt zu werden, weil man sie nicht an und fuͤr sich betrachten kann, sondern auf Gelegenheit warten muß, wo man etwa zu ihren Orakeln seine Zuflucht naͤhme. Jedes¬ mal wenn man sie aufschlaͤgt, glaubt man et¬ was Neues zu finden, weil der einer jeden Stelle inwohnende Sinn uns auf eine viel¬ fache Weise beruͤhrt und aufregt. Persoͤnlich habe ich ihn nie gesehn, auch kein unmittelbares Verhaͤltniß zu ihm durch Briefe gehabt. Mir scheint er in Lebens- und Freundschaftsverhaͤltnissen hoͤchst klar ge¬ wesen zu seyn und die Bezuͤge der Menschen unter einander und auf ihn sehr richtig ge¬ fuͤhlt zu haben. Alle Briefe die ich von ihm sah, waren vortrefflich und viel deutlicher als seine Schriften, weil hier der Bezug auf Zeit und Umstaͤnde so wie auf persoͤnliche Ver¬ haͤltnisse klarer hervortrat. Soviel glaubte ich jedoch durchaus zu ersehn, daß er die Ue¬ berlegenheit seiner Geistesgaben aufs naivste fuͤhlend, sich jederzeit fuͤr etwas weiser und kluͤger gehalten als seine Correspondenten, de¬ nen er mehr ironisch als herzlich begegnete. Gaͤlte dieß auch nur von einzelnen Faͤllen, so war es fuͤr mich doch die Mehrzahl und Ur¬ sache, daß ich mich ihm zu naͤhern niemals Verlangen trug. Zwischen Herdern und uns waltete dage¬ gen ein gemuͤthlich literarisches Verkehr hoͤchst lebhaft fort, nur Schade, daß es sich niemals ruhig und rein erhalten konnte. Aber Her¬ der unterließ sein Necken und Schelten nicht; Merken brauchte man nicht viel zu reizen, der mich denn auch zur Ungeduld aufzuregen wu߬ te. Weil nun Herder unter allen Schrift¬ stellern und Menschen Swiften am meisten zu ehren schien, so hieß er unter uns gleich¬ falls der Dechant, und dieses gab abermals zu mancherley Irrungen und Verdrießlichkei¬ ten Anlaß. Demungeachtet freuten wir uns hoͤchlich, als wir vernahmen, daß er in Buͤckeburg sollte angestellt werden, welches ihm doppelt Ehre brachte: denn sein neuer Patron hatte den hoͤchsten Ruf als ein einsichtiger, tapferer, obwohl sonderbarer Mann gewonnen. Tho¬ mas Abt war in diesen Diensten bekannt und beruͤhmt geworden, dem Verstorbenen klagte das Vaterland nach und freute sich an dem Denkmal, das ihm sein Goͤnner gestif¬ tet. Nun sollte Herder an der Stelle des zu fruͤh Verblichenen alle diejenigen Hoffnungen erfuͤllen, welche sein Vorgaͤnger so wuͤrdig er¬ regt hatte. Die Epoche worin dieses geschah, gab ei¬ ner solchen Anstellung doppelten Glanz und Werth; denn mehrere deutsche Fuͤrsten folgten schon dem Beyspiel des Grafen von der Lippe , daß sie nicht bloß gelehrte und eigent¬ lich geschaͤftsfaͤhige, sondern auch geistreiche und vielversprechende Maͤnner in ihre Dienste aufnahmen. Es hieß: Klopstock sey von dem Markgrafen Carl von Baden berufen worden, nicht zu eigentlichem Geschaͤftsdienst, sondern um, durch seine Gegenwart, Anmuth und Nutzen der hoͤheren Gesellschaft mitzu¬ theilen. So wie nun hierdurch das Ansehn auch dieses vortrefflichen Fuͤrsten wuchs, der allem Nuͤtzlichen und Schoͤnen seine Aufmerk¬ samkeit schenkte, so mußte die Verehrung fuͤr Klopstock gleichfalls nicht wenig zunehmen. Lieb und werth war alles was von ihm aus¬ ging; sorgfaͤltig schrieben wir die Oden ab und die Elegieen, wie sie ein Jeder habhaft werden konnte. Hoͤchst vergnuͤgt waren wir daher, als die große Landgraͤfinn Caroline von Hessendarmstadt eine Sammlung derselben veranstaltete, und eins der wenigen Exemplare in unsere Haͤnde kam, das uns in Stand setzte, die eignen handschriftlichen Sammlungen zu vervollzaͤhligen. Daher sind uns jene ersten Lesarten lange Zeit die lieb¬ sten geblieben, ja wir haben uns noch oft an Gedichten, die der Verfasser nachher verwor¬ fen, erquickt und erfreut. So wahr ist, daß das aus einer schoͤnen Seele hervordringende Leben nur um desto freyer wirkt, je weniger es durch Critik in das Kunstfach heruͤberge¬ zogen erscheint. Klopstock hatte sich und andern talentvol¬ len Maͤnnern, durch seinen Character und sein Betragen, Ansehn und Wuͤrde zu verschaffen gewußt; nun sollten sie ihm aber auch wo moͤglich die Sicherung und Verbesserung ihres haͤuslichen Bestandes verdanken. Der Buch¬ handel naͤmlich bezog sich in fruͤherer Zeit mehr auf bedeutende, wissenschaftliche Facul¬ laͤtswerke, auf stehende Verlagsartikel, welche maͤßig honorirt wurden. Die Production von poetischen Schriften aber wurde als etwas Heiliges angesehn, und man hielt es beynah fuͤr Simonie, ein Honorar zu nehmen oder zu steigern. Autoren und Verleger standen in dem wunderlichsten Wechselverhaͤltniß. Bey¬ de erschienen, wie man es nehmen wollte, als Patrone und als Clienten. Jene, die neben ihrem Talent, gewoͤhnlich als hoͤchst sittliche Menschen vom Publicum betrachtet und ver¬ ehrt wurden, hatten einen geistigen Rang und fuͤhlten sich durch das Gluͤck der Arbeit be¬ lohnt; diese begnuͤgten sich gern mit der zwey¬ ten Stelle und genossen eines ansehnlichen Vortheils: nun aber setzte die Wohlhabenheit den reichen Buchhaͤndler wieder uͤber den ar¬ men Poeten, und so stand alles in dem schoͤn¬ sten Gleichgewicht. Wechselseitige Großmuth und Dankbarkeit war nicht selten: Breitkopf und Gottsched blieben lebenslang Hausgenos¬ sen; Knickerey und Niedertraͤchtigkeit, beson¬ ders der Nachdrucker, waren noch nicht im Schwange. Demungeachtet war unter den deutschen Autoren eine allgemeine Bewegung entstan¬ den. Sie verglichen ihren eignen, sehr maͤ¬ ßigen, wo nicht aͤrmlichen Zustand mit dem Reichthum der angesehenen Buchhaͤndler, sie betrachteten, wie groß der Ruhm eines Gel¬ lert, eines Rabener sey, und in welcher haͤus¬ lichen Enge ein allgemein beliebter deutscher Schriftsteller sich behelfen muͤsse, wenn er sich nicht durch sonst irgend einen Erwerb das Le¬ ben erleichterte. Auch die mittleren und ge¬ ringern Geister fuͤhlten ein lebhaftes Verlan¬ gen, ihre Lage verbessert zu sehn, sich von Verlegern unabhaͤngig zu machen. Nun trat Klopstock hervor und bot seine Gelehrtenrepublik auf Subscription an. Ob¬ gleich die spaͤtern Gesaͤnge des Messias, theils ihres Inhalts, theils der Behandlung wegen, nicht die Wirkung thun konnten wie die fruͤ¬ hern, die, selbst rein und unschuldig, in eine reine und unschuldige Zeit kamen; so blieb doch die Achtung gegen den Dichter immer gleich, der sich, durch die Herausgabe seiner Oden, die Herzen, Geister und Gemuͤther vie¬ ler Menschen zugewendet hatte. Viele wohl¬ denkende Maͤnner, darunter mehrere von gro¬ ßem Einfluß, erboten sich, Vorausbezahlung anzunehmen, die auf einen Louisd'or gesetzt war, weil es hieß, daß man nicht sowohl das Buch bezahlen, als den Verfasser, bey dieser Gelegenheit, fuͤr seine Verdienste um das Va¬ terland belohnen sollte. Hier draͤngte sich nun Jederman hinzu, selbst Juͤnglinge und Maͤd¬ chen, die nicht viel aufzuwenden hatten, er¬ oͤffneten ihre Sparbuͤchsen; Maͤnner und Frau¬ en, der obere, der mittlere Stand trugen zu dieser heiligen Spende bey, und es kamen vielleicht tausend Praͤnumeranten zusammen. Die Erwartung war aufs hoͤchste gespannt, das Zutrauen so groß als moͤglich. Hiernach mußte das Werk, bey seiner Er¬ scheinung, den seltsamsten Erfolg von der Welt haben; zwar immer von bedeutendem Werth, aber nichts weniger als allgemein ansprechend. Wie Klopstock uͤber Poesie und Literatur dach¬ te, war in Form einer alten deutschen Drui¬ denrepublik dargestellt, seine Maximen uͤber das Aechte und Falsche in laconischen Kern¬ spruͤchen angedeutet, wobey jedoch manches Lehrreiche der seltsamen Form aufgeopfert wur¬ de. Fuͤr Schriftsteller und Literatoren war und ist das Buch unschaͤtzbar, konnte aber auch nur in diesem Kreise wirksam und nuͤtz¬ lich seyn. Wer selbst gedacht hatte, folgte dem Denker, wer das Aechte zu suchen und zu schaͤtzen wußte, fand sich durch den gruͤnd¬ lichen braven Mann belehrt; aber der Lieb¬ haber, der Leser ward nicht aufgeklaͤrt, ihm blieb das Buch versiegelt, und doch hatte man es in alle Haͤnde gegeben, und indem Jederman ein vollkommen brauchbares Werk erwartete, erhielten die meisten ein solches, dem sie auch nicht den mindesten Geschmack abgewinnen konnten. Die Bestuͤrzung war allgemein, die Achtung gegen den Mann aber so groß, daß kein Murren, kaum ein leises Murmeln entstand. Die junge schoͤne Welt verschmerzte den Verlust und verschenkte nun scherzend die theuer erworbenen Exemplare. Ich erhielt selbst mehrere von guten Freun¬ dinnen, deren keines aber mir geblieben ist. Diese dem Autor gelungene, dem Publi¬ cum aber mislungene Unternehmung hatte die boͤse Folge, daß nun sobald nicht mehr an Subskription und Praͤnumeration zu denken war; doch hatte sich jener Wunsch zu allge¬ mein verbreitet, als daß der Versuch nicht haͤtte erneuert werden sollen. Dieses nun im Großen und Ganzen zu thun, erbot sich die Dessauische Verlagshandlung. Hier sollten Gelehrte und Verleger, in geschlossenem Bund, des zu hoffenden Vortheils beyde verhaͤltni߬ maͤßig genießen. Das so lange peinlich em¬ pfundene Beduͤrfniß erweckte hier abermals ein großes Zutrauen, das sich aber nicht lange erhalten konnte, und leider schieden die Theil¬ haber nach kurzen Bemuͤhungen mit wechsel¬ seitigem Schaden aus einander. Eine rasche Mittheilung war jedoch unter den Literaturfreunden schon eingeleitet; die Musenalmanache verbanden alle jungen Dich¬ ter, die Journale den Dichter mit den uͤbri¬ gen Schriftstellern. Meine Lust am Hervor¬ bringen war grenzenlos; gegen mein Hervor¬ gebrachtes verhielt ich mich gleichguͤltig; nur wenn ich es mir und andern in geselligem Kreise froh wieder vergegenwaͤrtigte, erneute sich die Neigung daran. Auch nahmen viele gern an meinen groͤßern und kleinern Arbei¬ ten Theil, weil ich einen Jeden, der sich nur einigermaßen zum Hervorbringen geneigt und geschickt fuͤhlte, etwas in seiner eignen Art unabhaͤngig zu leisten, dringend noͤthigte, und von allen gleichfalls wieder zu neuem Dichten und Schreiben aufgefordert wurde. Dieses wechselseitige, bis zur Ausschweifung gehende Hetzen und Treiben gab Jedem nach seiner Art einen froͤhlichen Einfluß, und aus diesem Quirlen und Schaffen, aus diesem Le¬ ben und Lebenlassen, aus diesem Nehmen und III. 12 Geben, welches mit freyer Brust, ohne ir¬ gend einen theoretischen Leitstern, von so viel Juͤnglingen, nach eines jeden angebornem Cha¬ racter, ohne Ruͤcksichten getrieben wurde, ent¬ sprang jene beruͤhmte, berufene und verrufene Literarepoche, in welcher eine Masse junger genialer Maͤnner, mit aller Muthigkeit und aller Anmaßung, wie sie nur einer solchen Jahreszeit eigen seyn mag, hervorbrachen, durch Anwendung ihrer Kraͤfte manche Freude, manches Gute, durch den Misbrauch dersel¬ ben manchen Verdruß und manches Uebel stif¬ teten; und gerade die aus dieser Quelle ent¬ springenden Wirkungen und Gegenwirkungen sind das Hauptthema dieses Bandes. Woran sollen aber junge Leute das hoͤchste Interesse finden, wie sollen sie unter ihres¬ gleichen Interesse erregen, wenn die Liebe sie nicht beseelt, und wenn nicht Herzensangele¬ genheiten, von welcher Art sie auch seyn moͤ¬ gen, in ihnen lebendig sind? Ich hatte im Stillen eine verlorene Liebe zu beklagen; dieß machte mich mild und nachgiebig, und der Ge¬ sellschaft angenehmer als in glaͤnzenden Zeiten, wo mich nichts an einen Mangel oder einen Fehltritt erinnerte, und ich ganz ungebunden vor mich hinstuͤrmte. Die Antwort Friedrikens auf einen schrift¬ lichen Abschied zerriß mir das Herz. Es war dieselbe Hand, derselbe Sinn, dasselbe Gefuͤhl, die sich zu mir, die sich an mir herangebildet hatten. Ich fuͤhlte nun erst den Verlust den sie erlitt, und sah keine Moͤglichkeit ihn zu ersetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir ganz gegenwaͤrtig; stets empfand ich, daß sie mir fehlte, und was das Schlimmste war, ich konnte mir mein eignes Ungluͤck nicht ver¬ zeihen. Gretchen hatte man mir genommen, Annette mich verlassen, hier war ich zum er¬ sten Mal schuldig; ich hatte das schoͤnste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche einer duͤsteren Reue, bey dem Man¬ 12 * gel einer gewohnten erquicklichen Liebe, hoͤchst peinlich, ja unertraͤglich. Aber der Mensch will leben; daher nahm ich aufrichtigen Theil an andern, ich suchte ihre Verlegenheiten zu entwirren, und was sich trennen wollte zu ver¬ binden, damit es ihnen nicht ergehen moͤchte wie mir. Man pflegte mich daher den Ver¬ trauten zu nennen, auch, wegen meines Umherschweifens in der Gegend, den Wan¬ derer . Dieser Beruhigung fuͤr mein Ge¬ muͤth, die mir nur unter freyem Himmel, in Thaͤlern, auf Hoͤhen, in Gefilden und Waͤl¬ dern zu Theil ward, kam die Lage von Frank¬ furt zu statten, das zwischen Darmstadt und Homburg mitten inne lag, zwey angenehmen Orten, die durch Verwandtschaft beyder Hoͤfe in gutem Verhaͤltniß standen. Ich gewoͤhnte mich, auf der Straße zu leben, und wie ein Bote zwischen dem Gebirg und dem flachen Lande hin und her zu wandern. Oft ging ich allein oder Gesellschaft durch meine Va¬ terstadt, als wenn sie mich nichts anginge, speiste in einem der großen Gasthoͤfe in der Fahrgasse und zog nach Tische meines Wegs weiter fort. Mehr als jemals war ich gegen offene Welt und freye Natur gerichtet. Un¬ terwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon noch eine, unter dem Titel Wanderers Sturmlied , uͤbrig ist. Ich sang diesen Halbunsinn leidenschaftlich vor mich hin, da mich ein schreckliches Wetter un¬ terweges traf, dem ich entgegen gehn mußte. Mein Herz war ungeruͤhrt und unbeschaͤf¬ tigt: ich vermied gewissenhaft alles naͤhere Ver¬ haͤltniß zu Frauenzimmern, und so blieb mir verborgen, daß mich Unaufmerksamen und Un¬ wissenden ein liebevoller Genius heimlich um¬ schwebe. Eine zarte liebenswuͤrdige Frau heg¬ te im Stillen eine Neigung zu mir, die ich nicht gewahrte, und mich eben deswegen in ihrer wohlthaͤtigen Gesellschaft desto heiterer und anmuthiger zeigte. Erst mehrere Jahre nachher, ja erst nach ihrem Tode, erfuhr ich das geheime himmlische Lieben, auf eine Wei¬ se, die mich erschuͤttern mußte; aber ich war schuldlos und konnte ein schuldloses Wesen rein und redlich betrauren, und um so schoͤ¬ ner, als die Entdeckung gerade in eine Epo¬ che fiel, wo ich, ganz ohne Leidenschaft, mir und meinen geistigen Neigungen zu leben das Gluͤck hatte. Aber zu der Zeit, als der Schmerz uͤber Friedrikens Lage mich beaͤngstigte, suchte ich, nach meiner alten Art, abermals Huͤlfe bey der Dichtkunst. Ich setzte die hergebrachte poetische Beichte wieder fort, um durch diese selbstquaͤlerische Buͤßung einer innern Absolu¬ tion wuͤrdig zu werden. Die beyden Marieen in Goetz von Berlichingen und Clavigo, und die beyden schlechten Figuren, die ihre Liebha¬ ber spielen, moͤchten wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen gewesen seyn. Wie man aber Verletzungen und Krank¬ heiten in der Jugend rasch uͤberwindet, weil ein gesundes System des organischen Lebens fuͤr ein krankes einstehen und ihm Zeit lassen kann auch wieder zu gesunden, so traten koͤr¬ perliche Uebungen gluͤcklicher Weise, bey man¬ cher guͤnstigen Gelegenheit, gar vortheilhaft hervor, und ich ward zu frischem Ermannen, zu neuen Lebensfreuden und Genuͤssen vielfaͤl¬ tig aufgeregt. Das Reiten verdraͤngte nach und nach jene schlendernden, melancholischen, beschwerlichen und doch langsamen und zweck¬ losen Fußwanderungen; man kam schneller, lustiger und bequemer zum Zweck. Die juͤn¬ gern Gesellen fuͤhrten das Fechten wieder ein; besonders aber that sich, bey eintretendem Win¬ ter, eine neue Welt vor uns auf, indem ich mich zum Schlittschuhfahren, welches ich nie versucht hatte, rasch entschloß, und es in kur¬ zer Zeit, durch Uebung, Nachdenken und Be¬ harrlichkeit, so weit brachte, als noͤthig ist, um eine frohe und belebte Eisbahn mitzuge¬ nießen, ohne sich gerade auszeichnen zu wollen. Diese neue frohe Thaͤtigkeit waren wir denn auch Klopstocken schuldig, seinem Enthu¬ siasmus fuͤr diese gluͤckliche Bewegung, den Privatnachrichten bestaͤtigten, wenn seine Oden davon ein unverwerfliches Zeugniß ablegen. Ich erinnere mich ganz genau, daß an einem heiteren Frostmorgen, ich aus dem Bette sprin¬ gend mir jene Stellen zurief: Schon von dem Gefuͤhle der Gesundheit froh, Hab' ich, weit hinab, weiß an dem Gestade gemacht Den bedeckenden Crystall. Wie erhellt des Winters werdender Tag Sanft den See? Glaͤnzenden Reif, Sternen gleich, Streute die Nacht uͤber ihn aus! Mein zaudernder und schwankender Entschluß war sogleich bestimmt, und ich flog straͤcklings dem Orte zu, wo ein so alter Anfaͤnger mit einiger Schicklichkeit seine ersten Uebungen an¬ stellen konnte. Und fuͤrwahr! diese Kraftaͤu¬ ßerung verdiente wohl von Klopstock empfoh¬ len zu werden, die uns mit der frischesten Kindheit in Beruͤhrung setzt, den Juͤngling seiner Gelenkheit ganz zu genießen aufruft, und ein stockendes Alter abzuwehren geeignet ist. Auch hingen wir dieser Lust unmaͤßig nach. Einen herrlichen Sonnentag so auf dem Eise zu verbringen, genuͤgte uns nicht; wir setzten unsere Bewegung bis spaͤt in die Nacht fort. Denn wie andere Anstrengun¬ gen den Leib ermuͤden, so verleiht ihm diese eine immer neue Schwungkraft. Der uͤber den naͤchtlichen, weiten, zu Eisfeldern uͤber¬ frorenen Wiesen aus den Wolken hervortre¬ tende Vollmond, die unserm Lauf entgegen¬ saͤuselnde Nachtluft, des bey abnehmendem Wasser sich senkenden Eises ernsthafter Don¬ ner, unserer eigenen Bewegungen sonderbarer Nachhall, vergegenwaͤrtigten uns Ossiansche Scenen ganz vollkommen. Bald dieser bald jener Freund ließ in declamatorischem Halb¬ gesange eine Klopstockische Ode ertoͤnen, und wenn wir uns im Daͤmmerlichte zusammen¬ fanden, erscholl das ungeheuchelte Lob des Stifters unserer Freuden. Und sollte der unsterblich nicht seyn, Der Gesundheit uns und Freuden erfand, Die das Roß muthig im Lauf niemals gab, Welche der Ball selber nicht hat? Solchen Dank verdient sich ein Mann, der irgend ein irdisches Thun durch geistige An¬ regung zu veredeln und wuͤrdig zu verbreiten weiß! Und so wie talentreiche Kinder, deren Gei¬ stesgaben schon fruͤh wundersam ausgebildet sind, sich, wenn sie nur duͤrfen, den einfach¬ sten Knabenspielen wieder zuwenden, verga¬ ßen wir nur allzu leicht unseren Beruf zu ern¬ steren Dingen; doch regte gerade diese oft ein¬ same Bewegung, dieses gemaͤchliche Schweben im Unbestimmten, gar manche meiner innern Beduͤrfnisse wieder auf, die eine Zeitlang ge¬ schlafen hatten, und ich bin solchen Stunden die schnellere Ausbildung aͤlterer Vorsaͤtze schul¬ dig geworden. Die dunkleren Jahrhunderte der deutschen Geschichte hatten von jeher meine Wißbegier¬ de und Einbildungskraft beschaͤftigt. Der Ge¬ danke, den Goetz von Berlichingen in seiner Zeitumgebung zu dramatisiren, war mir hoͤch¬ lich lieb und werth. Ich las die Hauptschrift¬ steller fleißig; dem Werke De Pace publica von Datt widmete ich alle Aufmerksamkeit; ich hatte es emsig durchstudirt, und mir jene seltsamen Einzelnheiten moͤglichst veranschau¬ licht. Diese zu sittlichen und poetischen Absich¬ ten hingerichteten Bemuͤhungen konnte ich auch nach einer anderen Seite brauchen, und da ich nunmehr Wetzlar besuchen sollte, war ich geschichtlich vorbereitet genug: denn das Cam¬ mergericht war doch auch in Gefolge des Land¬ friedens entstanden, und die Geschichte dessel¬ ben konnte fuͤr einen bedeutenden Leitfaden durch die verworrenen deutschen Ereignisse gel¬ ten. Giebt doch die Beschaffenheit der Ge¬ richte und der Heere die genauste Einsicht in die Beschaffenheit irgend eines Reichs. Die Finanzen selbst, deren Einfluß man fuͤr so wichtig haͤlt, kommen viel weniger in Be¬ tracht: denn wenn es dem Ganzen fehlt, so darf man dem Einzelnen nur abnehmen, was er muͤhsam, zusammengescharrt und gehalten hat, und so ist der Staat immer reich genug. Was mir in Wetzlar begegnete, ist von keiner großen Bedeutung, aber es kann ein hoͤheres Interesse einfloͤßen, wenn man eine fluͤchtige Geschichte Cammergerichts nicht verschmaͤhen will, um sich den unguͤnstigen Augenblick zu vergegenwaͤrtigen, in welchem ich daselbst anlangte. Die Herren der Erde sind es vorzuͤglich dadurch, daß sie, wie im Kriege die Tapfer¬ sten und Entschlossensten, so im Frieden die Weisesten und Gerechtesten um sich versam¬ meln koͤnnen. Auch zu dem Hofstaat eines deutschen Kaisers gehoͤrte ein solches Gericht, das ihn, bey seinen Zuͤgen durch das Reich, immer begleitete. Aber weder diese Sorgfalt noch das Schwabenrecht, welches im suͤdlichen Deutschland, das Sachsenrecht, welches im noͤrdlichen galt, weder die zu Aufrechthaltung derselben bestellten Richter, noch die Austraͤ¬ ge der Ebenbuͤrtigen, weder die Schiedsrich¬ ter, durch Vertrag anerkannt, noch guͤtliche Vergleiche, durch die Geistlichen gestiftet, nichts konnte den aufgereizten ritterlichen Fehdegeist stillen, der bey den Deutschen durch innern Zwist, durch fremde Feldzuͤge, besonders aber durch die Kreuzfahrten, ja durch Gerichtsge¬ braͤuche selbst aufgeregt, genaͤhrt und zur Sit¬ te geworden. Dem Kaiser so wie den maͤch¬ tigern Staͤnden waren die Plackereyen hoͤchst verdrießlich, wodurch die kleinen einander selbst, und wenn sie sich verbanden, auch den groͤ¬ ßern laͤstig wurden. Gelaͤhmt war alle Kraft nach außen, wie die Ordnung nach innen ge¬ stoͤrt; uͤberdieß lastete noch das Vehmgericht auf einem großen Theile des Vaterlands, von dessen Schrecknissen man sich einen Begriff machen kann, wenn man denkt, daß es in eine geheime Polizey ausartete, die sogar zu¬ letzt in die Haͤnde von Privatleuten gelangte. Diesen Unbilden einigermaßen zu steuern, ward vieles umsonst versucht, bis endlich die Staͤnde ein Gericht aus eignen Mitteln drin¬ gend in Vorschlag brachten. Dieser, so wohl gemeynt er auch seyn mochte, deutete doch immer auf Erweiterung der staͤndischen Be¬ fugnisse, auf eine Beschraͤnkung der kaiserli¬ chen Macht. Unter Friedrich dem dritten ver¬ zoͤgert sich die Sache; sein Sohn Maximi¬ lian, von außen gedraͤngt, giebt nach. Er bestellt den Oberrichter, die Staͤnde senden die Beysitzer. Es sollten ihrer vierundzwanzig seyn, anfangs begnuͤgt man sich mit zwoͤlfen. Ein allgemeiner Fehler, dessen sich die Menschen bey ihren Unternehmungen schuldig machen, war auch der erste und ewige Grund¬ mangel des Cammergerichts: zu einem großen Zwecke wurden unzulaͤngliche Mittel angewen¬ det. Die Zahl der Assessoren war zu klein; wie sollte von ihnen die schwere und weitlaͤuf¬ tige Aufgabe geloͤst werden! Allein wer sollte auf eine hinlaͤngliche Einrichtung dringen? Der Kaiser konnte eine Anstalt nicht beguͤn¬ stigen, die mehr wider als fuͤr ihn zu wir¬ ken schien; weit groͤßere Ursache hatte er sein eignes Gericht, seinen eignen Hofrath auszu¬ bilden. Betrachtet man dagegen das Interes¬ se der Staͤnde, so konnte es ihnen eigentlich nur um Stillung des Bluts zu thun seyn ob die Wunde geheilt wuͤrde, lag ihnen nicht so nah; und nun noch gar ein neuer Kosten¬ aufwand! Man mochte sich's nicht ganz deut¬ lich gemacht haben, daß durch diese Anstalt jeder Fuͤrst seine Dienerschaft vermehre, frey¬ lich zu einem entschiedenen Zwecke, aber wer giebt gern Geld fuͤr's Nothwendige? Jeder¬ man waͤre zufrieden, wenn er das Nuͤtzliche um Gotteswillen haben koͤnnte. Anfangs sollten die Beysitzer von Spor¬ teln leben, dann erfolgte eine maͤßige Bewil¬ ligung der Staͤnde; beydes war kuͤmmerlich. Aber dem großen und auffallenden Beduͤrfniß abzuhelfen, fanden sich willige, tuͤchtige, ar¬ beitsame Maͤnner, und das Gericht ward ein¬ gesetzt. Ob man einsah, daß hier nur von Linderung, nicht von Heilung des Uebels die Rede sey, oder ob man sich, wie in aͤhnli¬ chen Faͤllen, mit der Hoffnung schmeichelte, mit Wenigem Vieles zu leisten, ist nicht zu entscheiden; genug das Gericht diente mehr zum Vorwande, die Unruhstifter zu bestrafen, als daß es gruͤndlich dem Unrecht vorgebeugt haͤtte. Allein es ist kaum, beysammen, so er¬ waͤchst ihm eine Kraft aus sich selbst, es fuͤhlt die Hoͤhe auf die es gestellt ist, es erkennt seine große politische Wichtigkeit. Nun sucht es sich durch auffallende Thaͤtigkeit ein ent¬ schiedneres Ansehn zu erwerben; frisch arbei¬ ten sie weg alles was kurz abgethan werden kann und muß, was uͤber den Augenblick ent¬ scheidet, oder was sonst leicht beurtheilt wer¬ den kann, und so erscheinen sie im ganzen Reiche wirksam und wuͤrdig. Die Sachen von schwererem Gehalt hingegen, die eigentlichen Rechtshaͤndel, blieben im Ruͤckstand, und es war kein Ungluͤck. Dem Staate liegt nur daran, daß der Besitz gewiß und sicher sey; ob man mit Recht besitze, kann ihn weniger kuͤmmern. Deswegen erwuchs aus der nach und nach aufschwellenden ungeheuren Anzahl von verspaͤteten Processen dem Reiche kein Schade. Gegen Leute die Gewalt brauchten III. 13 war ja vorgesehn, und mit diesen konnte man fertig werden; die uͤbrigen, die rechtlich um den Besitz stritten, sie lebten, genossen oder darbten wie sie konnten; sie starben, verdar¬ ben, verglichen sich; das alles war aber nur Heil oder Unheil einzelner Familien, das Reich ward nach und nach beruhigt. Denn dem Cammergericht war ein gesetzliches Faustrecht gegen die Ungehorsamen in die Haͤnde gege¬ ben; haͤtte man den Bannstrahl schleudern koͤnnen, dieser waͤre wirksamer gewesen. Jetzo aber, bey der bald vermehrten, bald verminderten Anzahl der Assessoren, bey man¬ chen Unterbrechungen, bey Verlegung des Ge¬ richts von einem Ort an den andern, mußten diese Reste, diese Acten ins Unendliche an¬ wachsen. Nun fluͤchtete man in Kriegsnoth einen Theil des Archivs von Speyer nach Aschaffenburg, einen Theil nach Worms, der dritte fiel in die Haͤnde der Franzosen, welche ein Staatsarchiv erobert zu haben glaubten, und hernach geneigt gewesen waͤren, sich die¬ ses Papierwusts zu entledigen, wenn nur Je¬ mand die Fuhren haͤtte daran wenden wollen. Bey den westphaͤlischen Friedensunterhand¬ lungen sahen die versammelten tuͤchtigen Maͤn¬ ner wohl ein, was fuͤr ein Hebel erfordert werde, um jene Sisyphische Last vom Platze zu bewegen. Nun sollten funfzig Assessoren angestellt werden, diese Zahl ist aber nie er¬ reicht worden: man begnuͤgte sich abermals mit der Haͤlfte, weil der Aufwand zu groß schien; allein haͤtten die Interessenten saͤmmt¬ lich ihren Vortheil bey der Sache gesehn, so waͤre das Ganze gar wohl zu leisten gewesen. Um fuͤnfundzwanzig Beysitzer zu besolden, wa¬ ren ohngefaͤhr einhunderttausend Gulden noͤ¬ thig; wie leicht haͤtte Deutschland das Dop¬ pelte herbeygeschafft. Der Vorschlag, das Cammergericht mit eingezogenen geistlichen Guͤ¬ tern auszustatten, konnte nicht durchgehn: denn wie sollten sich beyde Religionstheile zu dieser 13 * Aufopferung verstehn? Die Catholiken wollten nicht noch mehr verlieren, und die Protestan¬ ten das Gewonnene jeder zu innern Zwecken verwenden. Die Spaltung des Reichs in zwey Religionsparteyen hatte auch hier, in mehrerem Betracht, den schlimmsten Einfluß. Nun verminderte sich der Antheil der Staͤnde an diesem ihren Gericht immer mehr: die maͤchtigern suchten sich von dem Verbande loszuloͤsen; Freybriefe, vor keinem obern Ge¬ richtshofe belangt zu werden, wurden immer lebhafter gesucht; die groͤßeren blieben mit den Zahlungen zuruͤck, und die kleineren, die sich in der Matrikel ohnehin bevortheilt glaubten, saͤumten so lange sie konnten. Wie schwer war es daher, den zahltaͤgi¬ gen Bedarf zu den Besoldungen aufzubringen. Hieraus entsprang ein neues Geschaͤft, ein neuer Zeitverlust fuͤr das Cammergericht; fruͤ¬ her hatten die jaͤhrlichen sogenannten Visita¬ tionen dafuͤr gesorgt. Fuͤrsten in Person, oder ihre Raͤthe, begaben sich nur auf Wochen oder Monate an den Ort des Gerichts, untersuch¬ ten die Cassen, erforschten die Reste und uͤber¬ nahmen das Geschaͤft, sie beyzutreiben. Zu¬ gleich, wenn etwas in dem Rechts- und Ge¬ richtsgange stocken, irgend ein Misbrauch ein¬ schleichen wollte, waren sie befugt, dem ab¬ zuhelfen. Gebrechen der Anstalt sollten sie entdecken und heben, aber persoͤnliche Verbre¬ chen der Glieder zu untersuchen und zu bestra¬ fen, ward erst spaͤter ein Theil ihrer Pflicht. Weil aber Processirende den Lebenshauch ih¬ rer Hoffnungen immer noch einen Augenblick verlaͤngern wollen, und deshalb immer hoͤhere Instanzen suchen und hervorrufen; so wurden diese Visitatoren auch ein Revisionsgericht, vor dem man erst in bestimmten, offenbaren Faͤl¬ len Wiederherstellung, zuletzt aber in allen Aufschub und Verewigung des Zwists zu fin¬ den hoffte: wozu denn auch die Berufung an den Reichstag, und das Bestreben beyder Religionsparteyen, sich einander wo nicht auf¬ zuwiegen, doch im Gleichgewicht zu erhalten, das Ihrige beytrugen. Denkt man sich aber was dieses Gericht ohne solche Hindernisse, ohne so stoͤrende und zerstoͤrende Bedingungen, haͤtte seyn koͤnnen; so kann man es sich nicht merkwuͤrdig und wichtig genug ausbilden. Waͤre es gleich an¬ fangs mit einer hinreichenden Anzahl von Maͤnnern besetzt gewesen, haͤtte man diesen einen zulaͤnglichen Unterhalt gesichert; unuͤber¬ sehbar waͤre bey der Tuͤchtigkeit deutscher Maͤnner, der ungeheure Einfluß geworden, zu dem diese Gesellschaft haͤtte gelangen koͤn¬ nen. Den Ehrentitel Amphictyonen, den man ihnen nur rednerisch zutheilte, wuͤrden sie wirk¬ lich verdient haben; ja sie konnten sich zu ei¬ ner Zwischenmacht erheben, beydes dem Ober¬ haupt und den Gliedern ehrwuͤrdig. Aber weit entfernt von so großen Wirkun¬ gen, schleppte das Gericht, außer etwa eine kurze Zeit unter Carl dem fuͤnften und vor dem dreyßigjaͤhrigen Kriege, sich nur kuͤmmer¬ lich hin. Man begreift oft nicht, wie sich nur Maͤnner finden konnten zu diesem undank¬ baren und traurigen Geschaͤft. Aber was der Mensch taͤglich treibt, laͤßt er sich, wenn er Geschick dazu hat, gefallen, sollte er auch nicht gerade sehen, daß etwas dabey heraus¬ komme. Der Deutsche besonders ist von einer solchen ausharrenden Sinnesart, und so ha¬ ben sich drey Jahrhunderte hindurch die wuͤr¬ digsten Maͤnner mit diesen Arbeiten und Ge¬ genstaͤnden beschaͤftigt. Eine characteristische Galerie solcher Bilder wuͤrde noch jetzt An¬ theil erregen und Muth einfloͤßen. Denn gerade in solchen anarchischen Zeiten tritt der tuͤchtige Mann am festesten auf, und der das Gute will, findet sich recht an seinem Platze. So stand z. B. das Directorium Fuͤrstenbergs noch immer in gesegnetem Andenken, und mit dem Tode dieses vortreff¬ lichen Manns beginnt die Epoche vieler ver¬ derblichen Misbraͤuche. Aber alle diese spaͤteren und fruͤheren Ge¬ brechen entsprangen aus der ersten, einzigen Quelle, aus der geringen Personenzahl. Ver¬ ordnet war, daß die Beysitzer in einer ent¬ schiedenen Folge und nach bestimmter Ordnung vortragen sollten. Ein Jeder konnte wissen, wann die Reihe ihn treffen werde, und wel¬ chen seiner ihm obliegenden Processe; er konn¬ te darauf hinarbeiten, er konnte sich vorberei¬ ten. Nun haͤuften sich aber die unseligen Re¬ ste; man mußte sich entschließen, wichtigere Rechtshaͤndel auszuheben und außer der Reihe vorzutragen. Die Beurtheilung der Wichtig¬ keit einer Sache vor der andern ist, bey dem Zudrang von bedeutenden Faͤllen, schwer, und die Auswahl laͤßt schon Gunst zu; aber nun trat noch ein anderer bedenklicher Fall ein. Der Referent quaͤlte sich und das Gericht mit einem schweren verwickelten Handel, und zu¬ letzt fand sich Niemand der das Urtheil ein¬ loͤsen wollte. Die Parteyen hatten sich ver¬ glichen, auseinander gesetzt, waren gestorben, hatten den Sinn geaͤndert. Daher beschloß man nur diejenigen Gegenstaͤnde vorzunehmen, welche erinnert wurden. Man wollte von der fortdauernden Beharrlichkeit der Parteyen uͤber¬ zeugt seyn, und hiedurch ward den groͤßten Gebrechen die Einleitung gegeben: denn wer seine Sache empfiehlt, muß sie doch Jemand empfehlen, und wem empfoͤhle man sie besser, als dem der sie unter Haͤnden hat. Diesen, ordnungsgemaͤß, geheim zu halten ward un¬ moͤglich: denn bey so viel mitwissenden Sub¬ alternen, wie sollte derselbe verborgen bleiben? Bittet man um Beschleunigung, so darf man ja wohl auch um Gunst bitten: denn eben daß man seine Sache betreibt, zeigt ja an, daß man sie fuͤr gerecht haͤlt. Geradezu wird man es vielleicht nicht thun, gewiß aber am ersten durch Untergeordnete; diese muͤssen ge¬ wonnen werden, und so ist die Einleitung zu allen Intriguen und Bestechungen gegeben. Kaiser Joseph, nach eignem Antriebe und in Nachahmung Friedrichs, richtete zuerst sei¬ ne Aufmerksamkeit auf die Waffen und die Justiz. Er faßte das Cammergericht ins Au¬ ge; herkoͤmmliche Ungerechtigkeiten, eingefuͤhr¬ te Misbraͤuche waren ihm nicht unbekannt ge¬ blieben. Auch hier sollte aufgeregt, geruͤttelt und gethan seyn. Ohne zu fragen, ob es sein kaiserlicher Vortheil sey, ohne die Moͤg¬ lichkeit eines gluͤcklichen Erfolgs vorauszusehn, brachte er die Visitation in Vorschlag, und uͤbereilte ihre Eroͤffnung. Seit hundert und sechs und sechzig Jahren hatte man keine or¬ dentliche Visitation zu Stande gebracht; ein ungeheurer Wust von Acten lag aufgeschwol¬ len und wuchs jaͤhrlich, da die siebzehn As¬ sessoren nicht einmal im Stande waren, das Laufende wegzuarbeiten. Zwanzigtausend Pro¬ cesse hatten sich aufgehaͤuft, jaͤhrlich konnten sechzig abgethan werden, und das Doppelte kam hinzu. Auch auf die Visitatoren wartete keine geringe Anzahl von Revisionen, man wollte ihrer funfzigtausend zaͤhlen. Ueberdieß hinderte so mancher Misbrauch den Gerichts¬ gang; als das Bedenklichste aber von allem erschienen im Hintergrunde die persoͤnlichen Verbrechen einiger Assessoren. Als ich nach Wetzlar gehn sollte, war die Visitation schon einige Jahre im Gange, die Beschuldigten suspendirt, die Untersuchung weit vorgeruͤckt; und weil nun die Kenner und Meister des deutschen Staatsrechts diese Ge¬ legenheit nicht vorbeylassen durften, ihre Ein¬ sichten zu zeigen und sie dem gemeinen Be¬ sten zu widmen, so waren mehrere gruͤndliche wohlgesinnte Schriften erschienen, aus denen sich, wer nur einige Vorkenntnisse besaß, gruͤnd¬ lich unterrichten konnte. Ging man bey die¬ ser Gelegenheit in die Reichsverfassung und die von derselben handelnden Schriften zuruͤck, so war es auffallend, wie der monstrose Zu¬ stand dieses durchaus kranken Koͤrpers, der nur durch ein Wunder am Leben erhalten ward, gerade den Gelehrten am meisten zusagte. Denn der ehrwuͤrdige deutsche Fleiß, der mehr auf Sammlung und Entwickelung von Ein¬ zelnheiten als auf Resultate losging, fand hier einen unversiegenden Anlaß zu immer neuer Beschaͤftigung, und man mochte nun das Reich dem Kaiser, die kleinern den groͤ¬ ßern Staͤnden, die Catholiken den Protestan¬ ten entgegensetzen, immer gab es, nach dem verschiedenen Interesse, nothwendig verschiede¬ ne Meynungen, und immer Gelegenheit zu neuen Kaͤmpfen und Gegenreden. Da ich mir alle diese aͤltern und neuern Zustaͤnde moͤglichst vergegenwaͤrtigt hatte, konn¬ te ich mir von meinem Wetzlarschen Aufent¬ halt unmoͤglich viel Freude versprechen. Die Aussicht war nicht reizend, in einer zwar wohl gelegenen, aber kleinen und uͤbelgebau¬ ten Stadt eine doppelte Welt zu finden: erst die einheimische alte hergebrachte, dann eine fremde neue, jene scharf zu pruͤfen beauftragt, ein richtendes und ein gerichtetes Gericht; manchen Bewohner in Furcht und Sorge, er moͤchte auch noch mit in die verhaͤngte Un¬ tersuchung gezogen werden; angesehene, so lan¬ ge fuͤr wuͤrdig geltende Personen der schaͤnd¬ lichsten Missethaten uͤberwiesen und zu schimpf¬ licher Bestrafung bezeichnet: das alles zusam¬ men machte das traurigste Bild und konnte nicht anreizen tiefer in ein Geschaͤft einzuge¬ hen, das an sich selbst verwickelt nun gar durch Unthaten so verworren erschien. Daß mir, außer dem deutschen Civil- und Staatsrechte, hier nichts Wissenschaftliches sonderlich begegnen, daß ich aller poetischen Mittheilung entbehren wuͤrde, glaubte ich vor¬ aus zu sehn, als mich, nach einigem Zoͤgern, die Lust meinen Zustand zu veraͤndern, mehr als der Trieb nach Kenntnissen, in diese Ge¬ gend hinfuͤhrte. Allein wie verwundert war ich, als mir anstatt einer sauertoͤpfischen Ge¬ sellschaft, ein drittes academisches Leben ent¬ gegensprang. An einer großen Wirthstafel traf ich beynah saͤmmtliche Gesandtschaftsun¬ tergeordnete, junge muntere Leute, beysam¬ men; sie nahmen mich freundlich auf, und es blieb mir schon den ersten Tag kein Ge¬ heimniß, daß sie ihr mittaͤgiges Beysammen¬ seyn durch eine romantische Fiction erheitert hatten. Sie stellten naͤmlich, mit Geist und Munterkeit, eine Rittertafel vor. Obenan saß der Heermeister, zur Seite desselben der Kanzler, sodann die wichtigsten Staatsbeam¬ ten; nun folgten die Ritter, nach ihrer An¬ ciennetaͤt; Fremde hingegen die zusprachen, mußten mit den untersten Plaͤtzen vorlieb neh¬ men, und fuͤr sie war das Gespraͤch meist un¬ verstaͤndlich, weil sich in der Gesellschaft die Sprache, außer den Ritterausdruͤcken, noch mit manchen Anspielungen bereichert hatte. Einem Jeden war ein Rittername zugelegt, mit einem Beyworte. Mich nannten sie Goetz von Berlichingen, den Redlichen. Jenen ver¬ diente ich mir durch meine Aufmerksamkeit fuͤr den biedern deutschen Altvater, und die¬ sen durch die aufrichtige Neigung und Erge¬ benheit gegen die vorzuͤglichen Maͤnner die ich kennen lernte. Dem Grafen von Kiel¬ mannsegg bin ich bey diesem Aufenthalt vielen Dank schuldig geworden. Er war der ernsteste von allen, hoͤchst tuͤchtig und zuver¬ laͤssig. Von Goué , ein schwer zu entziffern¬ der und zu beschreibender Mann, eine derbe, breite, hannoͤvrische Figur, still in sich gekehrt. Es fehlte ihm nicht an Talenten mancher Art. Man hegte von ihm die Vermuthung, daß er ein natuͤrlicher Sohn sey; auch liebte er ein gewisses geheimnißvolles Wesen, und ver¬ barg seine eigensten Wuͤnsche und Vorsaͤtze un¬ ter mancherley Seltsamkeiten, wie er denn die eigentliche Seele des wunderlichen Ritter¬ bundes war, ohne daß er nach der Stelle des Heermeisters gestrebt haͤtte. Vielmehr ließ er, da gerade zu der Zeit dieß Haupt der Ritter¬ schaft abging, einen andern waͤhlen und uͤbte durch diesen seinen Einfluß. So wußte er auch manche kleine Zufaͤlligkeiten dahin zu len¬ ken, daß sie bedeutend erschienen und in fa¬ belhaften Formen durchgefuͤhrt werden konn¬ ten. Bey diesem allen aber konnte man kei¬ nen ernsten Zweck bemerken; es war ihm bloß zu thun, die Langeweile, die er und seine Collegen bey dem verzoͤgerten Geschaͤft empfin¬ den mußten, zu erheitern, und den leeren Raum, waͤre es auch nur mit Spinnegewebe, auszufuͤllen. Uebrigens wurde dieses fabelhaf¬ te Fratzenspiel mit aͤußerlichem großen Ernst betrieben, ohne daß Jemand laͤcherlich finden durfte, wenn eine gewisse Muͤhle als Schloß, der Muͤller als Burgherr behandelt wurde, wenn man die vier Haimons-Kinder fuͤr ein canonisches Buch erklaͤrte und Abschnitte dar¬ aus, bey Ceremonien, mit Ehrfurcht vorlas. Der Ritterschlag selbst geschah mit hergebrach¬ ten, von mehreren Ritterorden entlehnten Symbolen. Ein Hauptanlaß zum Scherze war ferner der, daß man das Offenbare als ein Geheimniß behandelte; man trieb die Sache oͤffentlich, und es sollte nicht davon gesprochen werden. Die Liste der saͤmmtlichen Ritter ward gedruckt, mit so viel Anstand als ein Reichstagscalender; und wenn Fami¬ lien daruͤber zu spotten, und die ganze Sache fuͤr absurd und laͤcherlich zu erklaͤren wagten, so ward, zu ihrer Bestrafung, so lange in¬ triguirt, bis man einen ernsthaften Ehemann, oder nahen Verwandten, beyzutreten und den Ritterschlag anzunehmen bewogen hatte; da denn uͤber den Verdruß der Angehoͤrigen eine herrliche Schadenfreude entstand. In dieses Ritterwesen verschlang sich noch ein seltsamer Orden, welcher philosophisch und mystisch seyn sollte, und keinen eigentlichen Namen hatte. Der erste Grad hieß der Ue¬ bergang, der zweyte des Uebergangs Ueber¬ gang, der dritte des Uebergangs Uebergang III. 14 zum Uebergang, und der vierte des Ueber¬ gangs Uebergang zu des Uebergangs Ueber¬ gang. Den hohen Sinn dieser Stufenfolge auszulegen, war nun die Pflicht der Einge¬ weihten, und dieses geschah nach Maaßgabe eines gedruckten Buͤchelchens, in welchem jene seltsamen Worte auf eine noch seltsamere Wei¬ se erklaͤrt, oder vielmehr amplificirt waren. Die Beschaͤftigung mit diesen Dingen war der erwuͤnschteste Zeitverderb. Behrischens Thorheit und Lenzens Verkehrtheit schienen sich hier vereinigt zu haben; nur wiederhole ich, daß auch nicht eine Spur von Zweck hin¬ ter diesen Huͤllen zu finden war. Ob ich nun gleich zu solchen Possen sehr gern beyrieth, auch zuerst die Pericopen aus den vier Haimons-Kindern in Ordnung brach¬ te, und Vorschlaͤge that, wie sie bey Festen und Feyerlichkeiten vorgelesen werden sollten, auch selbst sie mit großer Emphase vorzutra¬ gen verstand; so hatte ich mich doch schon fruͤher an solchen Dingen muͤde getrieben, und als ich daher meine Frankfurter und Darm¬ staͤdter Umgebung vermißte, war es mir hoͤchst lieb, Gottern gefunden zu haben, der sich mit aufrichtiger Neigung an mich schloß, und dem ich ein herzliches Wohlwollen erwiederte. Sein Sinn war zart, klar und heiter, sein Talent geuͤbt und geregelt; er befleißigte sich der franzoͤsischen Eleganz und freute sich des Theils der englischen Literatur, der sich mit sittlichen und angenehmen Gegenstaͤnden be¬ schaͤftigt. Wir brachten viele vergnuͤgte Stun¬ den zusammen zu, in denen wir uns wechsel¬ seitig unsere Kenntnisse, Vorsaͤtze und Neigun¬ gen mittheilten. Er regte mich zu manchen kleinen Arbeiten an, zumal da er, mit den Goͤttingern in Verhaͤltniß stehend, fuͤr Boie's Almanach auch von meinen Gedichten etwas verlangte. Dadurch kam ich mit jenen in einige Be¬ ruͤhrung, die sich, jung und talentvoll, zu¬ 14 * sammenhielten, und nachher so viel und man¬ nigfaltig wirkten. Die beyden Grafen Stol¬ berg , Buͤrger , Voß , Hoͤlty und ande¬ re waren im Glauben und Geiste um Klop¬ stock versammelt, dessen Wirkung sich nach allen Seiten hin erstreckte. In einem solchen, sich immer mehr erweiternden deutschen Dich¬ terkreise entwickelte sich zugleich, mit so man¬ nigfaltigen poetischen Verdiensten, auch noch ein anderer Sinn, dem ich keinen ganz ei¬ gentlichen Namen zu geben wuͤßte. Man koͤnnte ihn das Beduͤrfniß der Unabhaͤngigkeit nennen, welches immer im Frieden entspringt, und gerade da, wo man eigentlich nicht ab¬ haͤngig ist. Im Kriege ertraͤgt man die rohe Gewalt so gut man kann, man fuͤhlt sich wohl physisch und oͤconomisch verletzt, aber nicht moralisch; der Zwang beschaͤmt Nieman¬ den, und es ist kein schimpflicher Dienst, der Zeit zu dienen; man gewoͤhnt sich, von Feind und Freund zu leiden, man hat Wuͤnsche und keine Gesinnungen. Im Frieden hingegen thut sich der Freyheitssinn der Menschen im¬ mer mehr hervor, und je freyer man ist, de¬ sto freyer will man seyn. Man will nichts uͤber sich dulden; wir wollen nicht beengt seyn, Niemand soll beengt seyn, und dieß zarte ja kranke Gefuͤhl erscheint in schoͤnen Seelen un¬ ter der Form der Gerechtigkeit. Dieser Geist und Sinn zeigte sich damals uͤberall, und ge¬ rade da nur wenige bedruckt waren, wollte man auch diese von zufaͤlligem Druck befreyn, und so entstand eine gewisse sittliche Befeh¬ dung, Einmischung der Einzelnen ins Regi¬ ment, die mit loͤblichen Anfaͤngen, zu unab¬ sehbar ungluͤcklichen Folgen hinfuͤhrte. Voltaire hatte durch den Schutz, den er der Familie Calas angedeihen ließ, großes Aufsehn erregt und sich ehrwuͤrdig gemacht. Fuͤr Deutschland fast noch auffallender und wichtiger war das Unternehmen Lavaters ge¬ gen den Landvogt gewesen. Der aͤsthetische Sinn, mit dem jugendlichen Muth verbun¬ den, strebte vorwaͤrts, und da man noch vor kurzem studirte, um zu Aemtern zu gelangen, so fing man nun an den Aufseher der Beam¬ ten zu machen, und die Zeit war nah, wo der Theater- und Romanendichter seine Boͤse¬ wichter am liebsten unter Ministern und Amt¬ leuten aufsuchte. Hieraus entstand eine halb eingebildete halb wirkliche Welt von Wirkung und Gegenwirkung, in der wir spaͤterhin die heftigsten Angebereyen und Verhetzungen er¬ lebt haben, welche sich die Verfasser von Zeit¬ schriften und Tagblaͤttern, mit einer Art von Wuth, unter dem Schein der Gerechtigkeit erlaubten, und um so unwiderstehlicher dabey zu Werke gingen, als sie das Publicum glau¬ ben machten, vor ihm sey der wahre Gerichts¬ hof: thoͤricht! da kein Publicum eine executi¬ ve Gewalt hat, und in dem zerstuͤckten Deutschland die oͤffentliche Meynung Nieman¬ den nutzte oder schadete. Unter uns jungen Leuten ließ sich zwar nichts von jener Art spuͤren, welche tadelns¬ werth gewesen waͤre; aber eine gewisse aͤhn¬ liche Vorstellung hatte sich unsrer bemaͤchtigt, die aus Poesie, Sittlichkeit und einem edlen Bestreben zusammengeflossen, zwar unschaͤdlich aber doch fruchtlos war. Durch die Hermanns-Schlacht und die Zueignung derselben an Joseph den Zwey¬ ten hatte Klopstock eine wunderbare Anregung gegeben. Die Deutschen, die sich vom Druck der Roͤmer befreyten, waren herrlich und maͤchtig dargestellt, und dieses Bild gar wohl geeignet, das Selbstgefuͤhl der Nation zu er¬ wecken. Weil aber im Frieden der Patrio¬ tismus eigentlich nur darin besteht, daß Jeder vor seiner Thuͤre kehre, seines Amts warte, auch seine Lection lerne, damit es wohl im Hause stehe; so fand das von Klopstock er¬ regte Vaterlandsgefuͤhl keinen Gegenstand, an dem es sich haͤtte uͤben koͤnnen. Friedrich hatte die Ehre eines Theils der Deutschen gegen eine verbundene Welt gerettet, und es war jedem Gliede der Nation erlaubt, durch Beyfall und Verehrung dieses großen Fuͤrsten, Theil an seinem Siege zu nehmen; aber wo denn nun hin mit jenem erregten kriegerischen Trotzgefuͤhl? welche Richtung sollte es neh¬ men, und welche Wirkung hervorbringen? Zuerst war es bloß poetische Form, und die nachher so oft gescholtenen, ja laͤcherlich ge¬ fundenen Bardenlieder haͤuften sich durch die¬ sen Trieb, durch diesen Anstoß. Keine aͤuße¬ ren Feinde waren zu bekaͤmpfen; nun bildete man sich Tyrannen, und dazu mußten die Fuͤrsten und ihre Diener ihre Gestalten erst im Allgemeinen, sodann nach und nach im Besondern hergeben; und hier schloß sich die Poesie an jene oben geruͤgte Einmischung in die Rechtspflege mit Heftigkeit an, und es ist merkwuͤrdig, Gedichte aus jener Zeit zu sehn, die ganz in einem Sinne geschrieben sind, wodurch alles Obere, es sey nun monarchisch oder aristocratisch, aufgehoben wird. Was mich betraf, so fuhr ich fort, die Dichtkunst zum Ausdruck meiner Gefuͤhle und Grillen zu benutzen. Kleine Gedichte, wie der Wanderer , fallen in diese Zeit; sie wurden in den Goͤttinger Musenalmanach auf¬ genommen. Was aber von jener Sucht in mich eingedrungen seyn mochte, davon strebte ich mich kurz nachher im Goetz von Ber¬ lichingen zu befreyn, indem ich schilderte, wie in wuͤsten Zeiten der wohldenkende brave Mann allenfalls an die Stelle des Gesetzes und der ausuͤbenden Gewalt zu treten sich entschließt, aber in Verzweiflung ist, wenn er dem anerkannten verehrten Oberhaupt zwey¬ deutig, ja abtruͤnnig erscheint. Durch Klopstocks Oden war denn auch in die deutsche Dichtkunst nicht sowohl die nordische Mythologie, als vielmehr die No¬ menclatur ihrer Gottheiten eingeleitet, und ob ich gleich mich sonst gern alles dessen be¬ diente, was mir gereicht ward; so konnte ich es doch nicht von mir gewinnen, mich dersel¬ ben zu bedienen, und zwar aus folgenden Ur¬ sechen. Ich hatte die Fabeln der Edda schon laͤngst aus der Vorrede zu Mallet's Daͤni¬ scher Geschichte kennen gelernt, und mich dersel¬ ben sogleich bemaͤchtigt; sie gehoͤrten unter die¬ jenigen Maͤhrchen, die ich, von einer Gesell¬ schaft aufgefordert, am liebsten erzaͤhlte. Her¬ der gab mir den Resenius in die Haͤnde, und machte mich mit den Heldensagen mehr be¬ kannt. Aber alle diese Dinge, wie werth ich sie hielt, konnte ich nicht in den Kreis mei¬ nes Dichtungsvermoͤgens aufnehmen; wie herr¬ lich sie mir auch die Einbildungskraft anreg¬ ten, entzogen sie sich doch ganz dem sinnlichen Anschaun, indessen die Mythologie der Grie¬ chen, durch die groͤßten Kuͤnstler der Welt in sichtliche leicht einzubildende Gestalten verwan¬ delt, noch vor unsern Augen in Menge da¬ stand. Goͤtter ließ ich uͤberhaupt nicht viel auftreten, weil sie mir noch außerhalb der Natur, die ich nachzubilden verstand, ihren Wohnsitz hatten. Was haͤtte mich nun gar bewegen sollen, Wodan fuͤr Jupiter , und Thor fuͤr Mars zu setzen, und statt der suͤdlichen genau umschriebenen Figuren, Nebelbilder, ja bloße Wortklaͤnge in meine Dichtungen einzufuͤhren? Von einer Seite schlossen sie sich vielmehr an die Ossianschen gleichfalls formlosen Helden, nur derber und riesenhafter an, von der andern lenkte ich sie nach dem heiteren Maͤhrchen hin: denn der humoristische Zug, der durch die ganze nor¬ dische Mythe durchgeht, war mir hoͤchst lieb und bemerkenswerth. Sie schien mir die ein¬ zige, welche durchaus mit sich selbst scherzt, einer wunderlichen Dynastie von Goͤttern aben¬ teuerliche Riesen, Zauberer und Ungeheuer entgegensetzt, die nur beschaͤftigt sind, die hoͤchsten Personen waͤhrend ihres Regiments zu irren, zum Besten zu haben, und hinter¬ drein mit einem schmaͤhlichen, unvermeidlichen Untergang zu bedrohen. Ein aͤhnliches wo nicht gleiches Interesse gewannen mir die indischen Fabeln ab, die ich aus Dappers Reisen zuerst kennen lernte, und gleichfalls mit großer Lust in meinen Maͤhrchenvorrath hineinzog. Der Altar des Ram gelang mir vorzuͤglich im Nacherzaͤhlen, und ungeachtet der großen Mannigfaltigkeit der Personen dieses Maͤhrchens, blieb doch der Affe Hannemann der Liebling meines Publicums. Aber auch diese unfoͤrmlichen und uͤberfoͤrmlichen Ungeheuer konnten mich nicht eigentlich poetisch befriedigen; sie lagen zu weit von dem Wahren ab, nach welchem mein Sinn unablaͤssig hinstrebte. Doch gegen alle diese kunstwidrigen Ge¬ spenster sollte mein Sinn fuͤr das Schoͤne durch die herrlichste Kraft geschuͤtzt werden. Gluͤcklich ist immer die Epoche einer Literatur, wenn große Werke der Vergangenheit wieder einmal aufthauen und an die Tagesordnung kommen, weil sie alsdann eine vollkommen frische Wirkung hervorbringen. Auch das Ho¬ merische Licht ging uns neu wieder auf, und zwar recht im Sinne der Zeit, die ein solches Erscheinen hoͤchst beguͤnstigte: denn das bestaͤn¬ dige Hinweisen auf Natur bewirkte zuletzt, daß man auch die Werke der Alten von die¬ ser Seite betrachten lernte. Was mehrere Reisende zu Aufklaͤrung der heiligen Schrif¬ ten gethan, leisteten andere fuͤr den Homer. Durch Guys ward man eingeleitet, Wood gab der Sache den Schwung. Eine Goͤttin¬ ger Recension des anfangs sehr seltenen Ori¬ ginals machte uns mit der Absicht bekannt, und belehrte uns, wie weit sie ausgefuͤhrt worden. Wir sahen nun nicht mehr in jenen Gedichten ein angespanntes und aufgedunsenes Heldenwesen, sondern die abgespiegelte Wahr¬ heit einer uralten Gegenwart, und suchten uns dieselbe moͤglichst heranzuziehen. Zwar wollte uns zu gleicher Zeit nicht voͤllig in den Sinn, wenn behauptet wurde, daß, um die Homerischen Naturen recht zu verstehn, man sich mit den wilden Voͤlkern und ihren Sit¬ ten bekannt machen muͤsse, wie sie uns die Reisebeschreiber der neuen Welten schildern: denn es ließ sich doch nicht leugnen, daß so¬ wohl Europaͤer als Asiaten, in den Homeri¬ schen Gedichten schon auf einem hohen Grade der Cultur dargestellt worden, vielleicht auf einem hoͤhern, als die Zeiten des Trojanischen Kriegs mochten genossen haben. Aber jene Maxime war doch mit dem herrschenden Na¬ turbekenntniß uͤbereinstimmend, und in so fern mochten wir sie gelten lassen. Bey allen diesen Beschaͤftigungen, die sich auf Menschenkunde im hoͤheren Sinne, so wie auf Dichtkunst im naͤchsten und lieblichsten be¬ zogen, mußte ich doch jeden Tag erfahren, daß ich mich in Wetzlar aufhielt. Das Ge¬ spraͤch uͤber den Zustand des Visitations-Ge¬ schaͤftes, und seiner immer wachsenden Hin¬ dernisse, die Entdeckung neuer Gebrechen klang stuͤndlich durch. Hier war nun abermals das heilige roͤmische Reich versammelt, nicht bloß zu aͤußerlichen Feyerlichkeiten, sondern zu ei¬ nem ins Allertiefste greifenden Geschaͤfte. Aber auch hier mußte mir jener halbleere Speise¬ saal am Kroͤnungstage einfallen, wo die ge¬ ladenen Gaͤste außen blieben, weil sie zu vor¬ nehm waren. Hier hatten sie sich zwar ein¬ gefunden, aber man mußte noch schlimmere Symptome gewahr werden. Der Unzusam¬ menhalt des Ganzen, das Widerspiel der Thei¬ le kamen fortwaͤhrend zum Vorschein, und es war kein Geheimniß geblieben, daß Fuͤrsten unter einander sich die Absicht vertraulich mit¬ getheilt hatten: man muͤsse sehn, ob man nicht, bey dieser Gelegenheit, dem Oberhaupt etwas abgewinnen koͤnne? Welchen uͤblen Eindruck das kleine Detail aller Anecdoten von Nachlaͤssigkeiten und Ver¬ saͤumnissen, Ungerechtigkeiten und Bestechun¬ gen, auf einen jungen Menschen machen mu߬ te, der das Gute wollte, und sein Inneres in diesem Sinne bearbeitete, wird jeder Red¬ liche mitfuͤhlen. Wo soll unter solchen Um¬ staͤnden Ehrfurcht vor dem Gesetz und dem Richter entspringen? Aber haͤtte man auch auf die Wirkungen der Visitation das groͤßte Zu¬ trauen gesetzt, haͤtte man glauben koͤnnen, daß sie voͤllig ihre hohe Bestimmung erfuͤllen werde; fuͤr einen frohen vorwaͤrts schreitenden Juͤngling war doch hier kein Heil zu finden. Die Foͤrmlichkeiten dieses Processes an sich gingen alle auf ein Verschleifen; wollte man einigermaßen wirken und etwas bedeuten, so mußte man nur immer demjenigen dienen, der Unrecht hatte, stets dem Beklagten, und in der Fechtkunst der verdrehenden und auswei¬ chenden Streiche recht gewandt seyn. Ich verlor mich daher einmal uͤber das andre, da mir, in dieser Zerstreuung, keine aͤsthetischen Arbeiten gelingen wollten, in aͤsthe¬ tische Speculationen; wie denn alles Theo¬ retisiren auf Mangel oder Stockung von Pro¬ ductionskraft hindeutet. Fruͤher mit Merken, nunmehr manchmal mit Gottern, machte ich den Versuch, Maximen auszufinden, wonach man beym Hervorbringen zu Werke gehn koͤnn¬ te. Aber weder mir noch ihnen wollte es ge¬ lingen. Merk war Zweifler und Eklektiker, Gotter hielt sich an solche Beyspiele, die ihm am meisten zusagten. Die Sulzersche Theo¬ rie war angekuͤndigt, mehr fuͤr den Liebhaber als fuͤr den Kuͤnstler. In diesem Gesichts¬ kreise werden vor allem sittliche Wirkungen gefordert, und hier entsteht sogleich ein Zwie¬ spalt zwischen der hervorbringenden und be¬ nutzenden Classe; denn ein gutes Kunstwerk kann und wird zwar moralische Folgen haben, aber moralische Zwecke vom Kuͤnstler fordern, heißt ihm sein Handwerk verderben. III. 15 Was die Alten uͤber diese wichtigen Ge¬ genstaͤnde gesagt, hatte ich seit einigen Jah¬ ren fleißig, wo nicht in einer Folge studirt, doch sprungweise gelesen. Aristoteles, Cicero, Quinctilian, Longin, keiner blieb unbeachtet, aber das half mir nichts: denn alle diese Maͤn¬ ner setzten eine Erfahrung voraus, die mir abging. Sie fuͤhrten mich in eine an Kunst¬ werken unendlich reiche Welt, sie entwickelten die Verdienste vortrefflicher Dichter und Red¬ ner, von deren meisten uns nur die Namen uͤbrig geblieben sind, und uͤberzeugten mich nur allzu lebhaft, daß erst eine große Fuͤlle von Gegenstaͤnden vor uns liegen muͤsse, ehe man daruͤber denken koͤnne, daß man erst selbst etwas leisten, ja daß man fehlen muͤsse, um seine eignen Faͤhigkeiten und die der an¬ dern kennen zu lernen. Meine Bekanntschaft mit so vielem Guten jener alten Zeiten war doch immer nur schul- und buchmaͤßig und keineswegs lebendig, da es doch, besonders bey den geruͤhmtesten Rednern, auffiel, daß sie sich durchaus im Leben gebildet hatten, und daß man von den Eigenschaften ihres Kunst¬ characters niemals sprechen konnte, ohne ih¬ ren persoͤnlichen Gemuͤthscharacter zugleich mit¬ zuerwaͤhnen. Bey Dichtern schien dieß weni¬ ger der Fall; uͤberall aber trat Natur und Kunst nur durch Leben in Beruͤhrung, und so blieb das Resultat von allem meinen Sin¬ nen und Trachten jener alte Vorsatz, die in¬ nere und aͤußere Natur zu erforschen, und in liebevoller Nachahmung sie eben selbst walten zu lassen. Zu diesen Wirkungen, welche weder Tag noch Nacht in mir ruhten, lagen zwey große, ja ungeheure Stoffe vor mir, deren Reich¬ thum ich nur einigermaßen zu schaͤtzen brauch¬ te, um etwas Bedeutendes hervorzubringen. Es war die aͤltere Epoche, in welche das Le¬ ben Goetzens von Berlichingen faͤllt, und die neuere, deren ungluͤckliche Bluͤte im Werther geschildert ist. 15* Von der historischen Vorbereitung zu der ersten Arbeit habe ich bereits gesprochen; die ethischen Anlaͤsse zu der zweyten sollen gegen¬ waͤrtig eingeleitet werden. Jener Vorsatz, meine innere Natur nach ihren Eigenheiten gewaͤhren, und die aͤußere nach ihren Eigenschaften auf mich einfließen zu lassen, trieb mich an das wunderliche Ele¬ ment, in welchem Werther ersonnen und ge¬ schrieben ist. Ich suchte mich innerlich von allem Fremden zu entbinden, das Aeußere lie¬ bevoll zu betrachten, und alle Wesen, vom menschlichen an, so tief hinab als sie nur fa߬ lich seyn moͤchten, jedes in seiner Art auf mich wirken zu lassen. Dadurch entstand eine wundersame Verwandtschaft mit den einzelnen Gegenstaͤnden der Natur, und ein inniges Anklingen, ein Mitstimmen ins Ganze, so daß ein jeder Wechsel, es sey der Ortschaften und Gegenden, oder der Tags- und Jahres¬ zeiten, oder was sonst sich ereignen konnte, mich aufs innigste beruͤhrte. Der malerische Blick gesellte sich zu dem dichterischen, die schoͤne laͤndliche, durch den freundlichen Fluß belebte Landschaft vermehrte meine Neigung zur Einsamkeit, und beguͤnstigte meine stillen nach allen Seiten hin sich ausbreitenden Be¬ trachtungen. Aber seitdem ich jenen Familienkreis zu Sesenheim und nun wieder meinen Freundes¬ zirkel zu Frankfurt und Darmstadt verlassen, war mir eine Leere im Busen geblieben, die ich auszufuͤllen nicht vermochte; ich befand mich daher in einer Lage, wo uns die Nei¬ gung, sobald sie nur einigermaßen verhuͤllt auftritt, unversehens uͤberschleichen und alle guten Vorsaͤtze vereiteln kann. Und indem nun der Verfasser zu dieser Stufe seines Unternehmens gelangt, fuͤhlt er sich zum ersten Mal bey der Arbeit leicht ums Herz: denn von nun an wird dieses Buch erst was es eigentlich seyn soll. Es hat sich nicht als selbstaͤndig angekuͤndigt; es ist viel¬ mehr bestimmt die Luͤcken eines Autorlebens auszufuͤllen, manches Bruchstuͤck zu ergaͤnzen und das Andenken verlorner und verschollener Wagnisse zu erhalten. Was aber schon ge¬ than ist, soll und kann nicht wiederholt wer¬ den; auch wuͤrde der Dichter jetzt die verduͤ¬ sterten Seelenkraͤfte vergebens aufrufen, um¬ sonst von ihnen fordern, daß sie jene liebli¬ chen Verhaͤltnisse wieder vergegenwaͤrtigen moͤchten, welche ihm den Aufenthalt im Lahn¬ thale so hoch verschoͤnten. Gluͤcklicherweise hatte der Genius schon fruͤher dafuͤr gesorgt, und ihn angetrieben, in vermoͤgender Jugend¬ zeit das naͤchst Vergangene festzuhalten, zu schildern und kuͤhn genug zur guͤnstigen Stun¬ de oͤffentlich aufzustellen. Daß hier das Buͤch¬ lein Werther gemeint sey, bedarf wohl kei¬ ner naͤhern Bezeichnung; von den darin auf¬ gefuͤhrten Personen aber, so wie von den dargestellten Gesinnungen wird nach und nach einiges zu eroͤffnen seyn. Unter den jungen Maͤnnern, welche der Gesandschaft zugegeben, sich zu ihrem kuͤnfti¬ gen Dienstlauf voruͤben sollten, fand sich einer den wir kurz und gut den Braͤutigam zu nen¬ nen pflegten. Er zeichnete sich aus durch ein ruhiges gleiches Betragen, Klarheit der An¬ sichten, Bestimmtheit im Handeln und Reden. Seine heitere Thaͤtigkeit, sein anhaltender Fleiß empfahl ihn dergestalt den Vorgesetzten, daß man ihm eine baldige Anstellung versprach. Hiedurch berechtigt, unternahm er sich mit einem Frauenzimmer zu verloben, das seiner Gemuͤthsart und seinen Wuͤnschen voͤllig zu¬ sagte. Nach dem Tode ihrer Mutter, hatte sie sich als Haupt einer zahlreichen juͤngeren Familie hoͤchst thaͤtig erwiesen und den Vater in seinem Wittwerstand allein aufrecht erhal¬ ten, so daß ein kuͤnftiger Gatte von ihr das Gleiche fuͤr sich und seine Nachkommenschaft hoffen und ein entschiedenes haͤusliches Gluͤck erwarten konnte. Ein Jeder gestand, auch ohne diese Lebenszwecke eigennuͤtzig fuͤr sich im Auge zu haben, daß sie ein wuͤnschenswer¬ thes Frauenzimmer sey. Sie gehoͤrte zu de¬ nen, die, wenn sie nicht heftige Leidenschaf¬ ten einfloͤßen, doch ein allgemeines Gefallen zu erregen geschaffen sind. Eine leicht aufge¬ baute, nett gebildete Gestalt, eine reine ge¬ sunde Natur und die daraus entspringende frohe Lebensthaͤtigkeit, eine unbefangene Be¬ handlung des taͤglich Nothwendigen, das alles war ihr zusammen gegeben. In der Betrach¬ tung solcher Eigenschaften ward auch mir im¬ mer wohl, und ich gesellte mich gern zu de¬ nen die sie besaßen; und wenn ich nicht im¬ mer Gelegenheit fand ihnen wirkliche Dienste zu leisten, so theilte ich mit ihnen lieber als mit andern den Genuß jener unschuldigen Freu¬ den, die der Jugend immer zur Hand sind und ohne große Bemuͤhung und Aufwand er¬ griffen werden. Da es nun ferner ausge¬ macht ist, daß die Frauen sich nur fuͤr einan¬ der putzen und untereinander den Putz zu stei¬ gern unermuͤdet sind; so waren mir diejenigen die liebsten, welche mit einfacher Reinlichkeit dem Freunde, dem Braͤutigam, die stille Ver¬ sicherung geben, daß es eigentlich nur fuͤr ihn geschehen, und daß ohne viel Umstaͤnde und Aufwand ein ganzes Leben so fortgefuͤhrt wer¬ den koͤnne. Solche Personen sind nicht allzu sehr mit sich selbst beschaͤftigt: sie haben Zeit die Au¬ ßenwelt zu betrachten, und Gelassenheit genug sich nach ihr zu richten, sich ihr gleich zu stel¬ len; sie werden klug und verstaͤndig ohne An¬ strengung, und beduͤrfen zu ihrer Bildung wenig Buͤcher. So war die Braut. Der Braͤutigam, bey seiner durchaus rechtlichen und zutraulichen Sinnesart, machte Jeden, den er schaͤtzte, bald mit ihr bekannt, und sah gern, weil er den groͤßten Theil des Ta¬ ges den Geschaͤften eifrig oblag, wenn seine Verlobte, nach vollbrachten haͤuslichen Bemuͤ¬ hungen, sich sonst unterhielt und sich gesellig auf Spaziergaͤngen und Landpartieen mit Freunden und Freundinnen ergetzte. Lotte — denn so wird sie denn doch wohl heißen — war anspruchslos in doppeltem Sinne: erst ihrer Natur nach, die mehr auf ein allgemei¬ nes Wohlwollen als auf besondere Neigungen gerichtet war, und dann hatte sie sich ja fuͤr einen Mann bestimmt, der, ihrer werth, sein Schicksal an das ihrige fuͤr's Leben zu knuͤpfen sich bereit erklaͤren mochte. Die heiterste Luft wehte in ihrer Umgebung. Ja, wenn es schon ein angenehmer Anblick ist, zu sehen, daß Eltern ihren Kindern eine ununterbroche¬ ne Sorgfalt widmen, so hat es noch etwas schoͤneres, wenn Geschwister Geschwistern das Gleiche leisten. Dort glauben wir mehr Na¬ turtrieb und buͤrgerliches Herkommen, hier mehr Wahl und freyes Gemuͤth zu erblicken. Der neue Ankoͤmmling, voͤllig frey von allen Banden, sorglos in der Gegenwart ei¬ nes Maͤdchens, das, schon versagt, den ge¬ faͤlligsten Dienst nicht als Bewerbung ausle¬ gen und sich desto eher daran erfreuen konnte, ließ sich ruhig gehen, war aber bald derge¬ stalt eingesponnen und gefesselt, und zugleich von dem jungen Paare so zutraulich und freundlich behandelt, daß er sich selbst nicht mehr kannte. Muͤssig und traͤumerisch, weil ihm keine Gegenwart genuͤgte, fand er das was ihm abging in einer Freundinn, die, in¬ dem sie fuͤr's ganze Jahr lebte, nur fuͤr den Augenblick zu leben schien. Sie mochte ihn gern zu ihrem Begleiter; er konnte bald ihre Naͤhe nicht missen, denn sie vermittelte ihm die Alltagswelt, und so waren sie, bey einer ausgedehnten Wirthschaft, auf dem Acker und den Wiesen, auf dem Krautland wie im Gar¬ ten, bald unzertrennliche Gefaͤhrten. Erlaub¬ ten es dem Braͤutigam seine Geschaͤfte, so war er an seinem Theil dabey; sie hatten sich alle drey an einander gewoͤhnt ohne es zu wollen, und wußten nicht, wie sie dazu ka¬ men, sich nicht entbehren zu koͤnnen. So lebten sie, den herrlichen Sommer hin, eine aͤcht deutsche Idylle, wozu das fruchtbare Land die Prosa, und eine reine Neigung die Poe¬ sie hergab. Durch reife Kornfelder wandernd erquickten sie sich am thaureichen Morgen; das Lied der Lerche, der Schlag der Wachtel waren ergetzliche Toͤne; heiße Stunden folg¬ ten, ungeheure Gewitter brachen herein, man schloß sich nur destomehr aneinander, und mancher kleine Familien-Verdruß war leicht ausgeloͤscht durch fortdauernde Liebe. Und so nahm ein gemeiner Tag den andern auf, und alle schienen Festtage zu seyn; der ganze Ca¬ lender haͤtte muͤssen roth gedruckt werden. Ver¬ stehen wird mich, wer sich erinnert, was von dem gluͤcklich-ungluͤcklichen Freunde der neuen Heloise geweissagt worden: „Und zu den Fuͤ¬ ßen seiner Geliebten sitzend, wird er Hanf brechen, und er wird wuͤnschen Hanf zu bre¬ chen, heute, morgen und uͤbermorgen, ja sein ganzes Leben.“ Nur wenig, aber gerade soviel als noͤthig seyn mag, kann ich nunmehr von einem jun¬ gen Manne sagen, dessen Name in der Fol¬ gezeit nur allzu oft genannt worden. Es war Jerusalem , der Sohn des frey und zart denkenden Gottesgelehrten. Auch er war bey einer Gesandschaft angestellt: seine Gestalt ge¬ faͤllig, mittlerer Groͤße, wohlgebaut; ein mehr rundes als laͤngliches Gesicht; weiche ruhige Zuͤge und was sonst noch einem huͤbschen blon¬ den Juͤngling zukommen mag; blaue Augen sodann, mehr anziehend als sprechend zu nen¬ nen. Seine Kleidung war die unter den Nie¬ derdeutschen, in Nachahmung der Englaͤnder, hergebrachte: blauer Frack, ledergelbe Weste und Unterkleider, und Stiefeln mit braunen Stolpen. Der Verfasser hat ihn nie besucht, auch nicht bey sich gesehen; manchmal traf er ihn bey Freunden. Die Aeußerungen des jungen Mannes waren maͤßig, aber wohlwol¬ lend. Er nahm an den verschiedensten Pro¬ ductionen Theil; besonders liebte er solche Zeichnungen und Skizzen, in welchen man einsamen Gegenden ihren stillen Character ab¬ gewonnen hatte. Er theilte bey solchen Ge¬ legenheiten Gesnersche Radirungen mit, und munterte die Liebhaber auf, darnach zu stu¬ diren. An allem jenen Ritterwesen und Mum¬ menspiel nahm er wenig oder keinen Antheil, lebte sich und seinen Gesinnungen. Man sprach von einer entschiedenen Leidenschaft zu der Gattinn eines Freundes. Oeffentlich sah man sie nie miteinander. Ueberhaupt wußte man wenig von ihm zu sagen, außer daß er sich mit der englischen Literatur beschaͤftige. Als der Sohn eines wohlhabenden Man¬ nes brauchte er sich weder aͤngstlich Geschaͤften zu widmen, noch um baldige Anstellung drin¬ gend zu bewerben. Jene Gesnerschen Radirungen vermehrten die Lust und den Antheil an laͤndlichen Ge¬ genstaͤnden, und ein kleines Gedicht, welches wir in unsern engern Kreis mit Leidenschaft aufnahmen, ließ uns von nun an nichts an¬ ders mehr beachten. Das deserted village von Goldsmith, mußte Jederman auf jener Bildungsstufe, in jenem Gesinnungskreise, hoͤch¬ lich zusagen. Nicht als lebendig oder wirk¬ sam, sondern als ein vergangenes verschwun¬ denes Daseyn, ward alles das geschildert was man so gern mit Augen sah, was man lieb¬ te, schaͤtzte, in der Gegenwart leidenschaftlich aufsuchte, um jugendlich munter Theil daran zu nehmen. Fest- und Feyertage auf dem Lan¬ de, Kirchweihen und Jahrmaͤrkte, dabey un¬ ter der Dorflinde erst die ernste Versammlung der Aeltesten, verdraͤngt von der heftigern Tanzlust der Juͤngern, und wohl gar die Theil¬ nahme gebildeter Staͤnde. Wie schicklich er¬ schienen diese Vergnuͤgungen, gemaͤßigt durch einen braven Landgeistlichen, der auch dasje¬ nige was allenfalls uͤbergriff, was zu Haͤn¬ deln und Zwist Anlaß geben konnte, gleich zu schlichten und abzuthun verstand. Auch hier fanden wir unsern ehrlichen Wakefield wie¬ der, in seinem wohlbekannten Kreise, aber nicht mehr wie er leibte und lebte, sondern als Schatten, zuruͤckgerufen durch des elegi¬ schen Dichters leise Klagetoͤne. Schon der Gedanke dieser Darstellung ist einer der gluͤck¬ lichsten, sobald einmal der Vorsatz gefaßt ist, ein unschuldiges Vergangene mit anmuthiger Trauer wieder heranzufordern. Und wie ge¬ lungen ist in jedem Sinne dem Englaͤnder dieses gemuͤthliche Vorhaben! Ich theilte den Enthusiasmus fuͤr dieses allerliebste Gedicht mit Gottern, dem die von uns beyden unter¬ nommene Uebersetzung besser als mir gegluͤckt ist: denn ich hatte allzu aͤngstlich die zarte Bedeutsamkeit des Originals in unserer Spra¬ che nachzubilden getrachtet, und war daher wohl mit einzelnen Stellen, nicht aber mit dem Ganzen uͤbereingekommen. Ruht nun, wie Man sagt, in der Sehn¬ sucht das groͤßte Gluͤck, und darf die wahre Sehnsucht nur auf ein Unerreichbares gerich¬ tet seyn; so traf wohl alles zusammen, um den Juͤngling, den wir gegenwaͤrtig auf seinen Irrgaͤngen begleiten, zum gluͤcklichsten Sterb¬ lichen zu machen. Die Neigung zu einer ver¬ sagten Braut, das Bestreben Meisterstuͤcke fremder Literatur der unsrigen zu erwerben und anzueignen, die Bemuͤhung Naturgegen¬ staͤnde nicht nur mit Worten, sondern auch mit Griffel und Pinsel, ohne eigentliche Tech¬ nik, nachzuahmen: jedes einzeln waͤre schon hinreichend gewesen, das Herz zu schwellen und die Brust zu beklemmen. Damit aber der so suͤß leidende aus diesen Zustaͤnden ge¬ rissen und ihm zu neuer Unruhe neue Ver¬ haͤltnisse bereitet wuͤrden, so ergab sich fol¬ gendes. In Gießen befand sich Hoͤpfner , Pro¬ fessor der Rechte. Er war als tuͤchtig in sei¬ III. 16 nem Fach, als denkender und wackerer Mann, von Merken und Schlossern anerkannt und hoͤchlich geehrt. Schon laͤngst hatte ich seine Bekanntschaft gewuͤnscht, und nun, als jene beyden Freunde bey ihm einen Besuch abzu¬ statten gedachten, um uͤber literarische Gegen¬ staͤnde zu unterhandeln, ward beliebt, daß ich, bey dieser Gelegenheit, mich gleichfalls nach Gießen begeben sollte. Weil wir aber, wie es in dem Uebermuth froher und friedlicher Zeiten zu geschehn pflegt, nicht leicht etwas auf geradem Wege vollbringen konnten, son¬ dern, wie wahrhafte Kinder, auch dem Noth¬ wendigen irgend einen Scherz abzugewinnen suchten; so sollte ich, als der Unbekannte, in fremder Gestalt erscheinen, und meiner Lust verkleidet aufzutreten, hier abermals Genuͤge thun. An einem heiteren Morgen, vor Son¬ nenaufgang, schritt ich daher von Wetzlar an der Lahn hin, das liebliche Thal hinauf; solche Wanderungen machten wieder mein groͤßtes Gluͤck. Ich erfand, verknuͤpfte, ar¬ beitete durch, und war in der Stille mit mir selbst heiter und froh; ich legte mir zurecht, was die ewig widersprechende Welt mir un¬ geschickt und verworren aufgedrungen hatte. Am Ziele meines Weges angelangt, suchte ich Hoͤpfners Wohnung und pochte an seine Stu¬ dirstube. Als er mir herein! gerufen hatte, trat ich bescheidentlich vor ihn, als ein Stu¬ dirender, der von Academieen sich nach Hau¬ se verfuͤgen und unterwegs die wuͤrdigsten Maͤnner wollte kennen leinen. Auf seine Fra¬ gen nach meinen naͤheren Verhaͤltnissen war ich vorbereitet; ich erzaͤhlte ein glaubliches pro¬ saisches Maͤhrchen, womit er zufrieden schien, und als ich mich hierauf fuͤr einen Juristen angab, bestand ich nicht uͤbel: denn ich kann¬ te sein Verdienst in diesem Fach und wußte, daß er sich eben mit dem Naturrecht beschaͤf¬ tigte. Doch stockte das Gespraͤch einige Mal, und es schien, als wenn er einem Stamm¬ buch oder meiner Beurlaubung entgegensaͤhe. Ich wußte jedoch immer zu zaudern, indem 16 * ich Schlossern gewiß erwartete, dessen Puͤnct¬ lichkeit mir bekannt war. Dieser kam auch wirklich, ward von seinem Freund bewillkomm¬ net, und nahm, als er mich von der Seite angesehn, wenig Notiz von mir. Hoͤpfner aber zog mich ins Gespraͤch und zeigte sich durchaus als einen humanen wohlwollenden Mann. Endlich empfahl ich mich und eilte nach dem Wirthshause, wo ich mit Merken einige fluͤchtige Worte wechselte und das Wei¬ tere verabredete. Die Freunde hatten sich vorgenommen, Hoͤpfnern zu Tische zu bitten und zugleich je¬ nen Philipp Heinrich Schmidt , der in dem deutschen Literarwesen zwar eine sehr unterge¬ ordnete, aber doch eine Rolle spielte. Auf diesen war der Handel eigentlich angelegt, und er sollte fuͤr manches was er gesuͤndigt hatte, auf eine lustige Weise bestraft werden. Als die Gaͤste sich in dem Speisesaale versammelt hatten, ließ ich durch den Kellner fragen, ob die Herren mir erlauben wollten mitzuspeisen? Schlosser, dem ein gewisser Ernst gar wohl zu Gesicht stand, widersetzte sich, weil sie ihre freundschaftliche Unterhaltung nicht durch einen Dritten wollten gestoͤrt wissen. Auf das An¬ dringen des Kellners aber und die Fuͤrsprache Hoͤpfners, der versicherte, daß ich ein leidli¬ cher Mensch sey, wurde ich eingelassen, und betrug mich zu Anfang der Tafel bescheiden und verschaͤmt. Schlosser und Merk thaten sich keinen Zwang an, und ergingen sich uͤber manches so offen, als wenn kein Fremder da¬ bey waͤre. Die wichtigsten literarischen An¬ gelegenheiten so wie die bedeutendsten Maͤn¬ ner kamen zur Sprache. Ich erwies mich nun etwas kuͤhner, und ließ mich nicht stoͤ¬ ren, wenn Schlosser mir manchmal ernstlich, Merk spoͤttisch etwas abgab; doch richtete ich auf Schmidten alle meine Pfeile, die seine mir wohlbekannten Bloͤßen scharf und sicher trafen. Ich hatte mich bey meinem Roͤßel Tisch¬ wein maͤßig verhalten; die Herren aber ließen sich besseren reichen, und ermangelten nicht, auch mir davon mitzutheilen. Nachdem viele Angelegenheiten des Tags durchgesprochen wa¬ ren, zog sich die Unterhaltung in's Allgemei¬ ne, und man behandelte die Frage, die, so lange es Schriftsteller giebt, sich immer wie¬ derholen wird, ob naͤmlich die Literatur im Auf- oder Absteigen, Vor- oder Ruͤck¬ schritt begriffen sey? Diese Frage, woruͤber sich besonders Alte und Junge, Angehende und Abtretende selten vergleichen, sprach man mit Heiterkeit durch, ohne daß man gerade die Absicht gehabt haͤtte, sich daruͤber entschie¬ den zu verstaͤndigen. Zuletzt nahm ich das Wort und sagte: „die Literaturen, scheint es mir, haben Jahrszeiten, die mit einander abwechselnd, wie in der Natur, gewisse Phaͤ¬ nomene hervorbringen, und sich der Reihe nach wiederholen. Ich glaube daher nicht, daß man irgend eine Epoche einer Literatur im Ganzen loben oder tadeln koͤnne; beson¬ ders sehe ich nicht gerne, wenn man gewisse Talente, die von der Zeit hervorgerufen wer¬ den, so hoch erhebt und ruͤhmt, andere dage¬ gen schilt und niederdruͤckt. Die Kehle der Nachtigall wird durch das Fruͤhjahr aufgeregt, zugleich aber auch die Gurgel des Guckuks. Die Schmetterlinge, die dem Auge so wohl thun, und die Muͤcken, welche dem Gefuͤhl so verdrießlich fallen, werden durch eben die Sonnenwaͤrme hervorgerufen; beherzigte man dieß, so wuͤrde man dieselbigen Klagen nicht alle zehn Jahre wieder erneuert hoͤren, und die vergebliche Muͤhe, dieses und jenes Mis¬ faͤllige auszurotten, wuͤrde nicht so oft ver¬ schwendet werden.“ Die Gesellschaft sah mich mit Verwunderung an, woher mir so viele Weisheit und so viele Toleranz kaͤme? Ich aber fuhr ganz gelassen fort, die literarischen Erscheinungen mit Naturproducten zu verglei¬ chen, und ich weiß nicht, wie ich sogar auf die Melusken kam, und allerley Wunderliches von ihnen herauszusetzen wußte. Ich sagte, es seyen dieß Geschoͤpfe, denen man zwar eine Art von Koͤrper, ja sogar eine gewisse Ge¬ stalt, nicht ableugnen koͤnne; da sie aber kei¬ ne Knochen haͤtten, so wuͤßte man doch nichts rechts mit ihnen anzufangen, und sie seyen nichts besseres als ein lebendiger Schleim; jedoch muͤsse das Meer auch solche Bewohner haben. Da ich das Gleichniß uͤber die Ge¬ buͤhr fortsetzte, um den gegenwaͤrtigen Schmidt und diese Art der characterlosen Literatoren zu bezeichnen, so ließ man mich bemerken, daß ein zu weit ausgedehntes Gleichniß zuletzt gar nichts mehr sey. — „So will ich auf die Erde zuruͤckkehren! versetzte ich, und vom Epheu sprechen. Wie jene keine Knochen, so hat dieser keinen Stamm, mag aber gern uͤberall, wo er sich anschmiegt, die Hauptrolle spielen. An alte Mauern gehoͤrt er hin, an denen ohnehin nichts mehr zu verderben ist, von neuen Gebaͤuden entfernt man ihn billig; die Baͤume saugt er aus, und am aller un¬ ertraͤglichsten ist er mir, wenn er an einem Pfahl hinaufklettert und versichert, hier sey ein lebendiger Stamm, weil er ihn umlaubt habe.“ Ungeachtet man mir abermals die Dun¬ kelheit und Unanwendbarkeit meiner Gleich¬ nisse vorwarf, ward ich immer lebhafter ge¬ gen alle parasitische Creaturen, und machte, so weit meine damaligen Naturkenntnisse reich¬ ten, meine Sachen noch ziemlich artig. Ich sang zuletzt ein Vivat allen selbstaͤndigen Maͤnnern, ein Pereat den Andringlingen, er¬ griff nach Tische Hoͤpfners Hand, schuͤttelte sie derb, erklaͤrte ihn fuͤr den bravsten Mann von der Welt, und umarmte ihn so wie die andern zuletzt recht herzlich. Der wackere neue Freund glaubte wirklich zu traͤumen, bis endlich Schlosser und Merk das Raͤthsel auf¬ loͤsten, und der entdeckte Scherz eine allge¬ meine Heiterkeit verbreitete, in welche Schmidt selbst mit einstimmte, der durch Anerkennung seiner wirklichen Verdienste, und durch unsere Theilnahme an seinen Liebhabereyen, wieder beguͤtigt wurde. Diese geistreiche Einleitung konnte nicht anders als den literarischen Congreß beleben und beguͤnstigen, auf den es eigentlich ange¬ sehn war. Merk, bald aͤsthetisch, bald lite¬ rarisch bald kaufmaͤnnisch thaͤtig, hatte den wohldenkenden, unterrichteten, in so vielen Faͤchern kenntnißreichen Schlosser angeregt, die Frankfurter gelehrten Anzeigen in diesem Jahr herauszugeben. Sie hatten sich Hoͤpfnern und andere Academiker in Gießen, in Darmstadt einen verdienten Schulmann, den Rector Wenk , und sonst manchen wacke¬ ren Mann zugesellt. Jeder hatte in seinem Fach historische und theoretische Kenntnisse ge¬ nug, und der Zeitsinn ließ diese Maͤnner nach Einem Sinne wirken. Die zwey ersten Jahr¬ gaͤnge dieser Zeitung (denn nachher kam sie in andere Haͤnde) geben ein wundersames Zeugniß, wie ausgebreitet die Einsicht, wie rein die Uebersicht, wie redlich der Wille der Mitarbeiter gewesen. Das Humane und Welt¬ buͤrgerliche wird befoͤrdert; wackere und mit Recht beruͤhmte Maͤnner werden gegen Zu¬ dringlichkeit aller Art geschuͤtzt; man nimmt sich ihrer an gegen Feinde, besonders auch ge¬ gen Schuͤler, die das Ueberlieferte nun zum Schaden ihrer Lehrer misbrauchen. Am in¬ teressantesten sind beynah die Recensionen uͤber andere Zeitschriften, die Berliner Bibliothek, den deutschen Mercur; wo man die Gewand¬ heit in so vielen Faͤchern, die Einsicht so wie die Billigkeit mit Recht bewundert. Was mich betrifft, so sahen sie wohl ein, daß mir nicht mehr als alles zum eigentlichen Recensenten fehle. Mein historisches Wissen hing nicht zusammen, die Geschichte der Welt, der Wissenschaften, der Literatur hatte mich nur epochenweis, die Gegenstaͤnde selbst aber nur theil- und massenweis angezogen. Die Moͤglichkeit, mir die Dinge auch außer ihrem Zusammenhange lebendig zu machen und zu vergegenwaͤrtigen, setzte mich in den Fall, in einem Jahrhundert, in einer Abtheilung der Wissenschaft voͤllig zu Hause zu seyn, ohne daß ich weder von dem Vorhergehenden noch von dem Nachfolgenden irgend unterrichtet gewesen waͤre. Eben so war ein gewisser theo¬ retisch-practischer Sinn in mir aufgegangen, daß ich von den Dingen, mehr wie sie seyn sollten als wie sie waren, Rechenschaft geben konnte, ohne eigentlichen philosophischen Zu¬ sammenhang, aber sprungweise treffend. Hie¬ zu kam eine sehr leichte Fassungskraft und ein freundliches Aufnehmen der Meynungen anderer, wenn sie nur nicht mit meinen Ue¬ berzeugungen in geradem Widerspruch standen. Jener literarische Verein ward uͤberdieß durch eine lebhafte Correspondenz und, bey der Naͤhe der Ortschaften, durch oͤftere per¬ soͤnliche Unterhandlungen beguͤnstigt. Wer das Buch zuerst gelesen hatte, der referirte, manch¬ mal fand sich ein Correferent; die Angelegen¬ heit ward besprochen, an verwandte ange¬ knuͤpft, und hatte sich zuletzt ein gewisses Re¬ sultat ergeben, so uͤbernahm Einer die Re¬ daction. Dadurch sind mehrere Recensionen so tuͤchtig als lebhaft, so angenehm als be¬ friedigend. Mir fiel sehr oft die Rolle des Protocollfuͤhrers zu; meine Freunde erlaubten mir auch innerhalb ihrer Arbeiten zu scherzen, und sodann bey Gegenstaͤnden, denen ich mich gewachsen fuͤhlte, die mir besonders am Her¬ zen lagen, selbstaͤndig aufzutreten. Verge¬ bens wuͤrde ich unternehmen, darstellend oder betrachtend, den eigentlichen Geist und Sinn jener Tage wieder hervorzurufen, wenn nicht die beyden Jahrgaͤnge gedachter Zeitung mir die entschiedensten Documente selbst anboͤten. Auszuͤge von Stellen, an denen ich mich wie¬ der erkenne, moͤgen mit aͤhnlichen Aufsaͤtzen kuͤnftig am schicklichen Orte erscheinen. Bey einem so lebhaften Austausch von Kenntnissen, Meynungen, Ueberzeugungen, lernte ich Hoͤpfnern sehr bald naͤher kennen und gewann ihn lieb. Sobald wir allein wa¬ ren, sprach ich mit ihm uͤber Gegenstaͤnde seines Fachs, welches ja auch mein Fach seyn sollte, und fand eine sehr natuͤrlich zusammen¬ haͤngende Aufklaͤrung und Belehrung. Ich war mir damals noch nicht deutlich bewußt, daß ich wohl aus Buͤchern und im Gespraͤch, nicht aber durch den zusammenhaͤngenden Ca¬ theder-Vortrag etwas lernen konnte. Das Buch erlaubte mir, bey einer Stelle zu ver¬ weilen, ja ruͤckwaͤrts zu sehen, welches der muͤndliche Vortrag und der Lehrer nicht ge¬ statten konnte. Manchmal ergriff mich zu Anfang der Stunde ein Gedanke dem ich nachhing, daruͤber das Folgende verlor und ganz aus dem Zusammenhang geriet. Und so war es mir auch in den juristischen Colle¬ gien ergangen, weshalb ich gar manchen An¬ laß nehmen konnte, mich mit Hoͤpfnern zu besprechen, der denn sehr gern in meine Zwei¬ fel und Bedenken einging, auch manche Luͤcken ausglich, so daß in mir der Wunsch entstand, in Gießen bey ihm zu verweilen, um mich an ihm zu unterrichten, ohne mich doch von meinen Wetzlarischen Neigungen allzu weit zu entfernen. Gegen diesen meinen Wunsch ar¬ beiteten die beyden Freunde erst unwissend, sodann wissentlich: denn beyde eilten nicht al¬ lein selbst von hier wegzukommen, sondern beyde hatten sogar ein Interesse, mich aus dieser Gegend wegzubringen. Schlosser entdeckte mir, daß er erst in ein freundschaftliches, dann in ein naͤheres Verhaͤltniß zu meiner Schwester gekommen sey, und daß er sich nach einer baldigen An¬ stellung umsehe, um sich mit ihr zu verbin¬ den. Diese Erklaͤrung machte mich einiger¬ maßen betroffen, ob ich sie gleich in meiner Schwester Briefen schon laͤngst haͤtte finden sollen; aber wir gehen leicht uͤber das hinweg. was die gute Meynung, die wir von uns selbst hegen, verletzen koͤnnte, und ich bemerk¬ te nun erst, daß ich wirklich auf meine Schwe¬ ster eifersuͤchtig sey: eine Empfindung, die ich mir um so weniger verbarg, als seit meiner Ruͤckkehr von Straßburg unser Verhaͤltniß noch viel inniger geworden war. Wie viel Zeit hatten wir nicht gebraucht, um uns wech¬ selseitig die kleinen Herzensangelegenheiten, Liebes- und andere Haͤndel mitzutheilen, die in der Zwischenzeit vorgefallen waren! und hatte sich nicht auch im Felde der Einbildungs¬ kraft vor mir eine neue Welt aufgethan, in die ich sie doch auch einfuͤhren mußte? Meine eignen kleinen Machwerke, eine weit ausge¬ breitete Weltpoesie, mußten ihr nach und nach bekannt werden. So uͤbersetzte ich ihr aus dem Stegreife solche Homerische Stellen, an denen sie zunaͤchst Antheil nehmen konnte. Die Clarkesche woͤrtliche Uebersetzung las ich deutsch, so gut es gehen wollte, herunter, mein Vortrag verwandelte sich gewoͤhnlich in metrische Wendungen und Endungen, und die Lebhaftigkeit, womit ich die Bilder gefaßt hatte, die Gewalt womit ich sie aussprach, hoben alle Hindernisse einer verschraͤnkten Wort¬ stellung; dem was ich geistreich hingab, folg¬ te sie mit dem Geiste. Manche Stunden des Tags unterhielten wir uns auf diese Weise; versammelte sich hingegen ihre Gesellschaft, so wurden der Wolf Fenris und der Affe Hanne¬ mann einstimmig hervorgerufen, und wie oft habe ich nicht die beruͤhmte Geschichte, wie Thor und seine Begleiter von den zauberischen Riesen geaͤfft werden, umstaͤndlich wiederholen muͤssen! Daher ist mir auch von allen diesen Dichtungen ein so angenehmer Eindruck ge¬ blieben, daß sie noch immer unter das Wer¬ theste gehoͤren, was meine Einbildungskraft sich hervorrufen mag. In mein Verhaͤltniß zu den Darmstaͤdtern hatte ich meine Schwe¬ ster auch hineingezogen, und sogar meine Wan¬ derungen und Entfernungen mußten unser Band fester knuͤpfen, da ich mich von allem lll. 17 was mir begegnete, brieflich mit ihr unter¬ hielt, ihr jedes kleine Gedicht, wenn es auch nur ein Ausrufungszeichen gewesen waͤre, so¬ gleich mittheilte, und ihr zunaͤchst alle Briefe die ich erhielt, und alle Antworten die ich darauf ertheilte, sehen ließ. Alle diese lebhaf¬ te Regung hatte seit meiner Abreise von Frank¬ furt gestockt, mein Aufenthalt zu Wetzlar war zu einer solchen Unterhaltung nicht ausgiebig genug, und dann mochte die Neigung zu Lot¬ ten den Aufmerksamkeiten gegen meine Schwe¬ ster Eintrag thun; genug, sie fuͤhlte sich al¬ lein, vielleicht vernachlaͤssigt, und gab um so eher den redlichen Bemuͤhungen eines Ehren¬ manns Gehoͤr, welcher ernst und verschlossen, zuverlaͤssig und schaͤtzenswerth, ihr seine Nei¬ gung, mit der er sonst sehr kargte, leiden¬ schaftlich zugewendet hatte. Ich mußte mich nun wohl darein ergeben, und meinem Freun¬ de sein Gluͤck goͤnnen, indem ich mir jedoch heimlich mit Selbstvertrauen zu sagen nicht unterließ, daß wenn der Bruder nicht abwe¬ send gewesen waͤre, es mit dem Freunde so weit nicht haͤtte gedeihen koͤnnen. Meinem Freund und vermuthlichen Schwa¬ ger war nun freylich sehr daran gelegen, daß ich nach Hause zuruͤckkehrte, weil durch meine Vermittelung ein freyerer Umgang moͤglich ward, dessen das Gefuͤhl dieses von zaͤrtlicher Neigung unvermuthet getroffenen Mannes aͤußerst zu beduͤrfen schien. Er nahm daher, als er sich bald entfernte, von mir das Ver¬ sprechen, daß ich ihm zunaͤchst folgen wollte. Von Merken, der eben freye Zeit hatte, hoffte ich nun, daß er seinen Aufenthalt in Gießen verlaͤngern wuͤrde, damit ich einige Stunden des Tags mit meinem guten Hoͤpf¬ ner zubringen koͤnnte, indessen der Freund seine Zeit an die Frankfurter gelehrten Anzei¬ gen wendete; allein er war nicht zu bewegen, und wie meinen Schwager die Liebe, so trieb diesen der Haß von der Universitaͤt hinweg. 17 * Denn wie es angeborene Antipathieen giebt, so wie gewisse Menschen die Katzen nicht lei¬ den koͤnnen, andern dieses oder jenes in der Seele zuwider ist, so war Merk ein Todfeind aller academischen Buͤrger, die nun freylich zu jener Zeit in Gießen sich in der tiefsten Rohheit gefielen. Mir waren sie ganz recht: ich haͤtte sie wohl auch als Masken in eins meiner Fastnachtsspiele brauchen koͤnnen; aber ihm verdarb ihr Anblick bey Tage, und des Nachts ihr Gebruͤll, jede Art von gutem Hu¬ mor. Er hatte die schoͤnste Zeit seiner jungen Tage in der franzoͤsischen Schweiz zugebracht und nachher den erfreulichen Umgang von Hof-, Welt- und Geschaͤftsleuten und gebilde¬ ten Literatoren genossen; mehrere Militaͤrper¬ sonen, in denen ein Streben nach Geistescul¬ tur rege geworden, suchten ihn auf, und so bewegte er sein Leben in einem sehr gebilde¬ ten Zirkel. Daß ihn daher jenes Unwesen aͤrgerte, war nicht zu verwundern; allein sei¬ ne Abneigung gegen die Studiosen war wirk¬ lich leidenschaftlicher als es einem gesetzten Mann geziemte, wiewohl er mich durch seine geistreichen Schilderungen ihres ungeheuerli¬ chen Aussehns und Betragens sehr oft zum Lachen brachte. Hoͤpfners Einladungen und mein Zureden halfen nichts, ich mußte bald moͤglichst mit ihm nach Wetzlar wandern. Kaum konnte ich erwarten, bis ich ihn bey Lotten eingefuͤhrt; allein seine Gegenwart in diesem Kreise gerieth mir nicht zum Ge¬ deihen: denn wie Mephistopheles, er mag hintreten wohin er will, wohl schwerlich Se¬ gen mitbringt; so machte er mir, durch seine Gleichguͤltigkeit gegen diese geliebte Person, wenn er mich auch nicht zum Wanken brach¬ te, doch wenigstens keine Freude. Ich konn¬ te es wohl voraussehen, wenn ich mich erin¬ nert haͤtte, daß gerade solche schlanke zierliche Personen, die eine lebendige Heiterkeit um sich her verbreiten, ohne weitere Anspruͤche zu machen, ihm nicht sonderlich gefielen. Er zog sehr schnell die Junonische Gestalt einer ihrer Freundinnen vor, und da es ihm an Zeit ge¬ brach, ein naͤheres Verhaͤltniß anzuknuͤpfen; so schalt er mich recht bitter aus, daß ich mich nicht um diese praͤchtige Gestalt bemuͤht, um so mehr, da sie frey, ohne irgend ein Verhaͤltniß sich befinde. Ich verstehe eben meinen Vortheil nicht, meynte er, und er sehe hoͤchst ungern auch hier meine besondere Lieb¬ haberey, die Zeit zu verderben. Wenn es gefaͤhrlich ist, einen Freund mit den Vorzuͤgen seiner Geliebten bekannt zu ma¬ chen, weil er sie wohl auch reizend und be¬ gehrenswuͤrdig finden moͤchte; so ist die um¬ gekehrte Gefahr nicht geringer, daß er uns durch seine Abstimmung irre machen kann. Dieses war zwar hier der Fall nicht: denn ich hatte mir das Bild ihrer Liebenswuͤrdig¬ keit tief genug eingedruckt, als daß es so leicht auszuloͤschen gewesen waͤre; aber seine Gegen¬ wart, sein Zureden beschleunigte doch den Ent¬ schluß, den Ort zu verlassen. Er stellte mir eine Rheinreise, die er eben mit Frau und Sohn zu machen im Begriff sey, so reizend vor, und erregte die Sehnsucht, diejenigen Gegenstaͤnde endlich mit Augen zu sehn, von denen ich so oft mit Neid hatte erzaͤhlen hoͤ¬ ren. Nun, als er sich entfernt hatte, trennte ich mich von Charlotten zwar mit reinerem Gewissen als von Friedriken, aber doch nicht ohne Schmerz. Auch dieses Verhaͤltniß war durch Gewohnheit und Nachsicht leidenschaft¬ licher als billig von meiner Seite geworden; sie dagegen und ihr Braͤutigam hielten sich mit Heiterkeit in einem Maaße, das nicht schoͤner und liebenswuͤrdiger seyn konnte, und die eben hieraus entspringende Sicherheit ließ mich jede Gefahr vergessen. Indessen konnte ich mir nicht verbergen, daß diesem Abenteuer sein Ende bevorstehe: denn von der zunaͤchst¬ erwarteten Befoͤrderung des jungen Mannes hing die Verbindung mit dem liebenswuͤrdi¬ gen Maͤdchen ab; und da der Mensch, wenn er einigermaßen resolut ist, auch das Noth¬ wendige selbst zu wollen uͤbernimmt, so faßte ich den Entschluß, mich freywillig zu entfer¬ nen, ehe ich durch das Unertraͤgliche vertrie¬ ben wuͤrde. Dreyzehntes Buch. Mit Merk war verabredet, daß wir uns zur schoͤnen Jahrszeit in Coblenz bey Frau von Laroche treffen wollten. Ich hatte mein Gepaͤck nach Frankfurt, und was ich unterwegs brauchen koͤnnte, durch eine Gele¬ genheit die Lahn hinunter gesendet, und wan¬ derte nun diesen schoͤnen, durch seine Kruͤm¬ mungen lieblichen, in seinen Ufern so man¬ nigfaltigen Fluß hinunter, dem Entschluß nach frey, dem Gefuͤhle nach befangen, in einem Zustande, in welchem uns die Gegenwart der stummlebendigen Natur so wohlthaͤtig ist. Mein Auge, geuͤbt die malerischen und uͤber¬ malerischen Schoͤnheiten der Landschaft zu ent¬ decken, schwelgte in Betrachtung der Naͤhen und Fernen, der bebuschten Felsen, der son¬ nigen Wipfel, der feuchten Gruͤnde, der thro¬ nenden Schloͤsser und der aus der Ferne lo¬ ckenden blauen Bergreihen. Ich wanderte auf dem rechten Ufer des Flusses, der in einiger Tiefe und Entfernung unter mir, von reichem Weidengebuͤsch zum Theil verdeckt, im Sonnenlicht hingleitete. Da stieg in mir der alte Wunsch wieder auf, solche Gegenstaͤnde wuͤrdig nachahmen zu koͤn¬ nen. Zufaͤllig hatte ich ein schoͤnes Taschen¬ messer in der linken Hand, und in dem Au¬ genblicke trat aus dem tiefen Grunde der See¬ le gleichsam befehlshaberisch hervor: ich soll¬ te dieß Messer ungesaͤumt in den Fluß schleu¬ dern. Saͤhe ich es hineinfallen, so wuͤrde mein kuͤnstlerischer Wunsch erfuͤllt werden; wuͤrde aber das Eintauchen des Messers durch die uͤberhaͤngenden Weidenbuͤsche verdeckt, so sollte ich Wunsch und Bemuͤhung fahren las¬ sen. So schnell als diese Grille in mir auf¬ stieg, war sie auch ausgefuͤhrt. Denn ohne auf die Brauchbarkeit des Messers zu sehn, das gar manche Geraͤthschaften in sich verei¬ nigte, schleuderte ich es mit der Linken, wie ich es hielt, gewaltsam nach dem Flusse hin. Aber auch hier mußte ich die truͤgliche Zwey¬ deutigkeit der Orakel, uͤber die man sich im Alterthum so bitter beklagt, erfahren. Des Messers Eintauchen in den Fluß ward mir durch die letzten Weidenzweige verborgen, aber das dem Sturz entgegenwirkende Wasser sprang wie eine starke Fontaine in die Hoͤhe, und war mir vollkommen sichtbar. Ich legte die¬ se Erscheinung nicht zu meinen Gunsten aus, und der durch sie in mir erregte Zweifel war in der Folge Schuld, daß ich diese Uebungen unterbrochner und fahrlaͤssiger anstellte, und dadurch selbst Anlaß gab, daß die Deutung des Orakels sich erfuͤllte. Wenigstens war mir fuͤr den Augenblick die Außenwelt verlei¬ det, ich ergab mich meinen Einbildungen und Empfindungen, und ließ die wohlgelegenen Schloͤsser und Ortschaften Weilburg , Lim¬ burg , Diez und Nassau nach und nach hinter mir, meistens allein, nur manchmal auf kurze Zeit mich zu einem andern gesellend. Nach einer so angenehmen Wanderung von einigen Tagen, gelangte ich nach Ems, wo ich einige Male des sanften Bades ge¬ noß, und sodann auf einem Kahne den Fluß hinabwaͤrts fuhr. Da eroͤffnete sich mir der alte Rhein, die schoͤne Lage von Oberlahn¬ stein entzuͤckte mich; uͤber alles aber herrlich und majestaͤtisch erschien das Schloß Ehren¬ breitstein , welches in seiner Kraft und Macht, vollkommen geruͤstet dastand. In hoͤchst lieblichem Contrast lag an seinem Fuß das wohlgebaute Oertchen Thal genannt, wo ich mich leicht zu der Wohnung des Ge¬ heimenraths von Laroche finden konnte. Angekuͤndigt von Merk, ward ich von dieser edlen Familie sehr freundlich empfangen, und geschwind als ein Glied derselben betrachtet. Mit der Mutter verband mich mein belle¬ tristisches und sentimentales Streben, mit dem Vater ein heiterer Weltsinn, und mit den Toͤchtern meine Jugend. Das Haus, ganz am Ende des Thals, wenig erhoͤht uͤber dem Fluß gelegen, hatte die freye Aussicht den Strom hinabwaͤrts. Die Zimmer waren hoch und geraͤumig, und die Waͤnde galerieartig mit aneinander¬ stoßenden Gemaͤlden behangen. Jedes Fen¬ ster, nach allen Seiten hin, machte den Rah¬ men zu einem natuͤrlichen Bilde, das durch den Glanz einer milden Sonne sehr lebhaft hervortrat; ich glaubte nie so heitere Mor¬ gen und so herrliche Abende gesehn zu haben. Nicht lange war ich allein der Gast im Hause. Zu dem Congreß, der hier theils im artistischen, theils im empfindsamen Sinne gehalten werden sollte, war auch Leuchsen¬ ring beschieden, der von Duͤsseldorf herauf¬ kam. Dieser Mann, von schoͤnen Kenntnis¬ sen in der neuern Literatur, hatte sich auf ver¬ schiedenen Reisen, besonders aber bey einem Aufenthalte in der Schweiz, viele Bekannt¬ schaften, und da er angenehm und einschmei¬ chelnd war, viele Gunst erworben. Er fuͤhrte mehrere Chatoullen bey sich, welche den ver¬ trauten Briefwechsel mit mehreren Freunden enthielten: denn es war uͤberhaupt eine so all¬ gemeine Offenherzigkeit unter den Menschen, daß man mit keinem Einzelnen sprechen, oder an ihn schreiben konnte, ohne es zugleich als an mehrere gerichtet zu betrachten. Man spaͤhte sein eigen Herz aus und das Herz der andern, und bey der Gleichguͤltigkeit der Regierungen gegen eine solche Mittheilung, bey der durch¬ greifenden Schnelligkeit der Taxischen Posten, der Sicherheit des Siegels, dem leidlichen Porto, griff dieser sittliche und literarische Ver¬ kehr bald weiter um sich. Solche Correspondenzen, besonders mit be¬ deutenden Personen, wurden sorgfaͤltig gesam¬ melt und alsdann, bey freundschaftlichen Zu¬ sammenkuͤnften, auszugsweise vorgelesen; und so ward man, da politische Discurse wenig Interesse hatten, mit der Breite der morali¬ schen Welt ziemlich bekannt. Leuchsenrings Chatoullen enthielten in die¬ sem Sinne manche Schaͤtze. Die Briefe einer Julie Bondeli wurden sehr hochgeach¬ tet; sie war, als Frauenzimmer von Sinn und Verdienst, und als Rousseau's Freundinn, beruͤhmt. Wer mit diesem außerordentlichen Manne nur irgend in Verhaͤltniß gestanden hatte, genoß Theil an der Glorie, die von ihm ausging, und in seinem Namen war eine stille Gemeinde weit und breit ausgesaͤet. Ich wohnte diesen Vorlesungen gerne bey, indem ich dadurch in eine unbekannte Welt versetzt wurde, und das Innere mancher kurz vergangenen Begebenheit kennen lernte. Frey¬ lich war nicht alles gehaltreich; und Herr von Laroche, ein heiterer Welt- und Geschaͤfts¬ III. 18 mann, der sich, obgleich Katholik, schon in Schriften uͤber das Moͤnch- und Pfaffthum lustig gemacht hatte, glaubte auch hier eine Verbruͤderung zu sehen, wo mancher Ein¬ zelne ohne Werth, sich durch Verbindung mit bedeutenden Menschen aufstutze, wobey am Ende wohl er, aber nicht jene gefoͤrdert wuͤrden. Meistens entzog sich dieser wackere Mann der Gesellschaft, wenn die Chatoullen eroͤffnet wurden. Hoͤrte er auch wohl einmal einige Briefe mit an, so konnte man eine schalkhafte Bemerkung erwarten. Unter an¬ dern sagte er einstens, er uͤberzeuge sich bey dieser Correspondenz noch mehr von dem was er immer geglaubt habe, daß Frauenzimmer alles Siegellack sparen koͤnnten, sie sollten nur ihre Briefe mit Stecknadeln zustecken und duͤrften versichert seyn, daß sie uneroͤffnett an Ort und Stelle kaͤmen. Auf gleiche Weise pflegte er mit allem was außer dem Lebens- und Thaͤtigkeitskreise lag, zu scherzen und folg¬ te hierin der Sinnesart seines Herrn und Meisters, des Grafen Stadion , Chur¬ maynzischen Ministers, welcher gewiß nicht geeignet war, den Welt- und Kaltsinn des Knaben durch Ehrfurcht vor irgend einem Ahndungsvollen in's Gleichgewicht zu setzen. Eine Anecdote von dem großen practischen Sinne des Grafen hingegen moͤge hier Platz finden. Als er den verwaisten Laroche lieb gewann und zu seinem Zoͤgling erkohr, for¬ derte er von dem Knaben gleich die Dienste eines Secretairs. Er gab ihm Briefe zu be¬ antworten, Depeschen auszuarbeiten, die denn auch von ihm mundirt, oͤfter schiffrirt, gesie¬ gelt und uͤberschrieben werden mußten. Die¬ ses dauerte mehrere Jahre. Als der Knabe zum Juͤngling herangereift war und dasjenige wirklich leistete, was er sich bisher nur ein¬ gebildet hatte, fuͤhrte ihn der Graf an einen großen Schreibtisch, in welchem saͤmmtliche Briefe und Paquete, unerbrochen, als Exerci¬ tien der erstern Zeit, aufbewahrt lagen. 18 * Eine andere Uebung die der Graf seinem Zoͤgling zumuthete, wird nicht so allgemeinen Beyfall finden. Laroche naͤmlich hatte sich uͤben muͤssen, die Hand seines Herrn und Meisters aufs genauste nachzuahmen, um ihn dadurch der Qual des Selbstschreibens zu uͤberheben. Allein nicht nur in Geschaͤften sollte dieses Talent genutzt werden, auch in Liebeshaͤndeln hatte der junge Mann die Stel¬ le seines Lehrers zu vertreten. Der Graf war leidenschaftlich einer hohen und geistrei¬ chen Dame verbunden. Wenn er in deren Gesellschaft bis tief in die Nacht verweilte, saß indessen sein Secretair zu Hause und schmiedete die heißesten Liebesbriefe; darunter waͤhlte der Graf und sendete noch gleich zur Nachtzeit das Blatt an seine Geliebte, wel¬ che sich denn doch wohl daran von dem un¬ verwuͤstlichen Feuer ihres leidenschaftlichen An¬ beters uͤberzeugen mußte. Dergleichen fruͤhe Erfahrungen mochten denn freylich dem Juͤng¬ ling nicht den besten Begriff von schriftlichen Liebesunterhaltungen gegeben haben. Ein unversoͤhnlicher Haß gegen das Pfaff¬ thum hatte sich bey diesem Manne, der zwey geistlichen Churfuͤrsten diente, festgesetzt, wahr¬ scheinlich entsprungen aus der Betrachtung des rohen, geschmacklosen, geistverderblichen Fra¬ tzenwesens, welches die Moͤnche in Deutsch¬ land an manchen Orten zu treiben pflegten, und dadurch eine jede Art von Bildung hin¬ derten und zerstoͤrten. Seine Briefe uͤber das Moͤnchswesen machten großes Auf¬ sehen; sie wurden von allen Protestanten und von vielen Katholiken mit großem Beyfall aufgenommen. Wenn sich aber Herr von Laroche gegen alles was man Empfindung nennen koͤnnte, auflehnte, und wenn er selbst den Schein der¬ selben entschieden von sich abhielt, so verhehl¬ te er doch nicht eine vaͤterlich zarte Neigung zu seiner aͤltesten Tochter, welche freylich nicht anders als liebenswuͤrdig war: eher klein als groß von Gestalt, niedlich gebaut; eine freye anmuthige Bildung, die schwaͤrzesten Augen und eine Gesichtsfarbe, die nicht reiner und bluͤhender gedacht werden konnte. Auch sie liebte ihren Vater und neigte sich zu seinen Gesinnungen. Ihm, als thaͤtigem Geschaͤfts¬ mann, war die meiste Zeit durch Berufsar¬ beiten weggenommen, und weil die einkehren¬ den Gaͤste eigentlich durch seine Frau und nicht durch ihn angezogen wurden, so konnte ihm die Gesellschaft wenig Freude geben. Bey Tische war er heiter, unterhaltend, und suchte wenigstens seine Tafel von der empfind¬ samen Wuͤrze frey zu halten. Wer die Gesinnungen und die Denkweise der Frau von Laroche kennt, — und sie ist durch ein langes Leben und viele Schriften einem jeden Deutschen ehrwuͤrdig bekannt ge¬ worden, — der moͤchte vielleicht vermuthen, daß hieraus ein haͤusliches Misverhaͤltniß haͤt¬ te entstehn muͤssen. Aber keineswegs! Sie war die wunderbarste Frau, und ich wuͤßte ihr keine andre zu vergleichen. Schlank und zart gebaut, eher groß als klein, hatte sie bis in ihre hoͤheren Jahre eine gewisse Eleganz der Gestalt sowohl als des Betragens zu er¬ halten gewußt, die zwischen dem Benehmen einer Edeldame und einer wuͤrdigen buͤrger¬ lichen Frau gar anmuthig schwebte. Im An¬ zuge war sie sich mehrere Jahre gleich geblie¬ ben. Ein nettes Fluͤgelhaͤubchen stand dem kleinen Kopfe und dem feinen Gesichte gar wohl, und die braune oder graue Kleidung gab ihrer Gegenwart Ruhe und Wuͤrde. Sie sprach gut, und wußte dem was sie sagte durch Empfindung immer Bedeutung zu geben. Ihr Betragen war gegen Jederman vollkommen gleich. Allein durch dieses alles ist noch nicht das Eigenste ihres Wesens ausgesprochen; es zu bezeichnen ist schwer. Sie schien an allem Theil zu nehmen, aber im Grunde wirkte nichts au sie. Sie war mild gegen alles und konnte alles dulden ohne zu leiden; den Scherz ihres Mannes, die Zaͤrtlichkeit ihrer Freunde, die Anmuth ihrer Kinder, alles erwiderte sie auf gleiche Weise, und so blieb sie immer sie selbst, ohne daß ihr in der Welt durch Gu¬ tes und Boͤses, oder in der Literatur durch Vortreffliches und Schwaches waͤre, beyzukom¬ men gewesen. Dieser Sinnesart verdankt sie ihre Selbstaͤndigkeit bis in ein hohes Alter, bey manchen traurigen, ja kuͤmmerlichen Schick¬ salen. Doch um nicht ungerecht zu seyn, muß ich erwaͤhnen, daß ihre beyden Soͤhne, da¬ mals Kinder von blendender Schoͤnheit, ihr manchmal einen Ausdruck ablockten, der sich von demjenigen unterschied, dessen sie sich zum taͤglichen Gebrauch bediente. So lebte ich in einer neuen wundersam angenehmen Umgebung eine Zeitlang fort, bis Merk mit seiner Familie herankam. Hier entstanden sogleich neue Wahlverwandtschaften: denn indem die beyden Frauen sich einander naͤherten, hatte Merk mit Herrn von Laroche als Welt- und Geschaͤftskenner, als unterrich¬ tet und gereist, naͤhere Beruͤhrung. Der Knabe gesellte sich zu den Knaben, und die Toͤchter fielen mir zu, von denen die aͤlteste mich gar bald besonders anzog. Es ist eine sehr angenehme Empfindung, wenn sich eine neue Leidenschaft in uns zu regen anfaͤngt, ehe die alte noch ganz verklungen ist. So sieht man bey untergehender Sonne gern auf der entgegengesetzten Seite den Mond aufgehn und erfreut sich an dem Doppelglanze der beyden Himmelslichter. Nun fehlte es nicht an reicher Unterhal¬ tung in und außer dem Hause. Man durch¬ strich die Gegend; Ehrenbreitstein diesseits, die Carthause jenseits wurden bestiegen. Die Stadt, die Moselbruͤcke, die Faͤhre die uns uͤber den Rhein brachte, alles gewaͤhrte das mannichfachste Vergnuͤgen. Noch nicht erbaut war das neue Schloß; man fuͤhrte uns an den Platz wo es stehn sollte, man ließ uns die vorschlaͤgigen Risse davon sehen. In diesem heitren Zustande entwickelte sich jedoch innerlich der Stoff der Unvertraͤglich¬ keit, der in gebildeten wie in ungebildeten Gesellschaften gewoͤhnlich seine unfreundlichen Wirkungen zeigt. Merk, zugleich kalt und unruhig, hatte nicht lange jene Briefwechsel mit angehoͤrt, als er uͤber die Dinge von de¬ nen die Rede war, so wie uͤber die Personen und ihre Verhaͤltnisse, gar manchen schalkhaf¬ ten Einfall laut werden ließ, mir aber im Stillen die wunderlichsten Dinge eroͤffnete, die eigentlich darunter verborgen seyn sollten. Von politischen Geheimnissen war zwar keineswegs die Rede, auch nicht von irgend etwas, das einen gewissen Zusammenhang gehabt haͤtte; er machte mich nur auf Menschen aufmerk¬ sam, die ohne sonderliche Talente, mit ei¬ nem gewissen Geschick, sich persoͤnlichen Ein¬ fluß zu verschaffen wissen, und durch die Be¬ kanntschaft mit vielen, aus sich selbst etwas zu bilden suchen; und von dieser Zeit an hat¬ te ich Gelegenheit dergleichen mehr zu bemer¬ ken. Da solche Personen gewoͤhnlich den Ort veraͤndern, und als Reisende bald hier bald da eintreffen, so kommt ihnen die Gunst der Neuheit zu Gute, die man ihnen nicht be¬ neiden noch verkuͤmmern sollte: denn es ist dieses eine herkoͤmmliche Sache, die jeder Rei¬ sende zu seinem Vortheil, jeder Bleibende zu seinem Nachtheil oͤfters erfahren hat. Dem sey nun wie ihm wolle, genug wir naͤhrten von jener Zeit an eine gewisse unru¬ hige, ja neidische Aufmerksamkeit auf derglei¬ chen Leute, die auf ihre eigne Hand hin und wieder zogen, sich in jeder Stadt vor Anker legten, und wenigstens in einigen Familien Einfluß zu gewinnen suchten. Einen zarten und weichen dieser Zunftgenossen habe ich im Pater Brey , einen andern, tuͤchtigern und derbern, in einem kuͤnftig mitzutheilenden Fast¬ nachtsspiele, das den Titel fuͤhrt: Satyros , oder der vergoͤtterte Waldteufel , wo nicht mit Billigkeit, doch wenigstens mit gu¬ tem Humor dargestellt. Indessen wirkten die wunderlichen Elemen¬ te unserer kleinen Gesellschaft noch so ganz leidlich auf einander; wir waren theils durch eigne Sitte und Lebensart gebaͤndigt, theils aber auch durch jene besondere Weise der Hausfrau gemildert, welche von dem was um sie vorging, nur leicht beruͤhrt, sich immer ge¬ wissen ideellen Vorstellungen hingab, und in¬ dem sie solche freundlich und wohlwollend zu aͤußern verstand, alles Scharfe was in der Gesellschaft hervortreten mochte, zu mildern und das Unebne auszugleichen wußte. Merk hatte noch eben zur rechten Zeit zum Aufbruch geblasen, so daß die Gesell¬ schaft in dem besten Verhaͤltniß aus einander ging. Ich fuhr mit ihm und den Seinigen auf einer nach Maynz ruͤckkehrenden Jacht den Rhein aufwaͤrts, und obschon dieses an sich sehr langsam ging, so ersuchten wir noch uͤberdieß den Schiffer, sich ja nicht zu uͤber¬ eilen. So genossen wir mit Muße der un¬ endlich mannigfaltigen Gegenstaͤnde, die bey dem herrlichsten Wetter, jede Stunde an Schoͤnheit zuzunehmen und sowohl an Groͤße als an Gefaͤlligkeit immer neu zu wechseln scheinen; und ich wuͤnsche nur, indem ich die Namen Rheinfels und St . Goar , Ba ¬ charach , Bingen , Elfeld und Bibe ¬ rich ausspreche, daß jeder meiner Leser im Stande sey, sich diese Gegenden in der Er¬ innerung hervorzurufen. Wir hatten fleißig gezeichnet, und uns wenigstens dadurch die tausendfaͤltige Abwech¬ selung jenes herrlichen Ufers fester eingedruckt; aber auch unser Verhaͤltniß verinnigte sich durch dieses laͤngere Zusammenseyn, durch die ver¬ trauliche Mittheilung uͤber so mancherley Din¬ ge, dergestalt, daß Merk einen großen Ein¬ fluß uͤber mich gewann, und ich ihm als ein guter Gesell zu einem behaglichen Daseyn un¬ entbehrlich ward. Mein durch die Natur ge¬ schaͤrfter Blick warf sich wieder auf die Kunst¬ beschauung, wozu mir die schoͤnen Frankfurter Sammlungen an Gemaͤlden und Kupferstichen die beste Gelegenheit gaben, und ich bin der Neigung der Herren Etling , Ehrenreich , besonders aber dem braven Nothnagel sehr viel schuldig geworden. Die Natur in der Kunst zu sehen, ward bey mir zu einer Lei¬ denschaft, die in ihren hoͤchsten Augenblicken andern, selbst passionirten Liebhabern fast wie Wahnsinn erscheinen mußte; und wie konnte eine solche Neigung besser gehegt werden, als durch eine fortdauernde Betrachtung der treff¬ lichen Werke der Niederlaͤnder. Damit ich mich aber auch mit diesen Dingen werkthaͤtig bekannt machen moͤchte, raͤumte mir Noth¬ nagel ein Cabinett ein, wo ich alles fand, was zur Oelmalerey noͤthig war, und ich malte einige einfache Stilleben nach dem Wirk¬ lichen, auf deren einem ein Messerstiel von Schildpat mit Silber eingelegt, meinen Mei¬ ster, der mich erst vor einer Stunde besucht hatte, dergestalt uͤberraschte, daß er behaupte¬ te, es muͤsse waͤhrend der Zeit einer von sei¬ nen untergeordneten Kuͤnstlern bey mir gewe¬ sen seyn. Haͤtte ich geduldig fortgefahren mich an solchen Gegenstaͤnden zu uͤben, ihnen Licht und Schatten und die Eigenheiten ihrer Oberflaͤche abzugewinnen, ich haͤtte mir eine gewisse Praxis bilden und zum Hoͤheren den Weg bahnen koͤnnen; so aber verfolgte mich der Fehler aller Dilettanten, mit dem Schwer¬ sten anzufangen, ja sogar das Unmoͤgliche lei¬ sten zu wollen, und ich verwickelte mich bald in groͤßere Unternehmungen, in denen ich stecken blieb, sowohl weil sie weit uͤber meine technischen Faͤhigkeiten hinauslagen, als weil ich die liebevolle Aufmerksamkeit und den ge¬ lassenen Fleiß, durch den auch schon der An¬ faͤnger etwas leistet, nicht immer rein und wirksam erhalten konnte. Auch wurde ich zu gleicher Zeit abermals in eine hoͤhere Sphaͤre gerissen, indem ich einige schoͤne Gypsabguͤsse antiker Koͤpfe an¬ zuschaffen Gelegenheit fand. Die Italiaͤner naͤmlich, welche die Messen beziehn, brachten manchmal dergleichen gute Exemplare mit, und verkauften sie auch wohl, nachdem sie eine Form daruͤber genommen. Auf diesem Wege stellte ich mir ein kleines Museum auf, in¬ dem ich die Koͤpfe des Laokoon, seiner Soͤh¬ ne, der Niobe Toͤchter allmaͤhlich zusammen¬ brachte, nicht weniger die Nachbildungen der bedeutendsten Werte des Alterthums im Klei¬ nen, aus der Verlassenschaft eines Kunstfreun¬ des ankaufte, und so mir jenen großen Ein¬ druck, den ich in Mannheim gewonnen hatte, moͤglichst wieder zu beleben suchte. Indem ich nun alles was von Talent, Liebhaberey, oder sonst irgend einer Neigung in mir leben mochte, auszubilden, zu naͤhren und zu unterhalten suchte, verwendete ich eine gute Zeit des Tages, nach dem Wunsch mei¬ nes Vaters, auf die Advocatur, zu deren Ausuͤbung ich zufaͤlliger Weise die beste Gele¬ genheit fand. Nach dem Tode des Großva¬ ters war mein Oheim Textor in den Rath gekommen, und uͤbergab mir die kleineren Sachen, denen ich gewachsen war; welches die Gebruͤder Schlosser auch thaten. Ich machte mich mit den Acten bekannt, mein Vater las sie ebenfalls mit vielem Vergnuͤgen, da er sich, durch Veranlassung des Sohns, wieder in einer Thaͤtigkeit sah, die er lange entbehrt hatte. Wir besprachen uns daruͤber, und mit großer Leichtigkeit machte ich alsdann die noͤthigen Aufsaͤtze. Wir hatten einen treff¬ lichen Copisten zur Hand, auf den man sich zugleich wegen aller Canzleyfoͤrmlichkeiten ver¬ lassen konnte; und so war mir dieses Geschaͤft III. 19 eine um so angenehmere Unterhaltung, als es mich dem Vater naͤher brachte, der mit meinem Benehmen in diesem Puncte voͤllig zufrieden, allem Uebrigen was ich trieb, ger¬ ne nachsah, in der sehnlichen Erwartung, daß ich nun bald auch schriftstellerischen Ruhm einaͤrndten wuͤrde. Weil nun in jeder Zeitepoche alles zusam¬ menhaͤngt, indem die herrschenden Meynun¬ gen und Gesinnungen sich auf die vielfachste Weise verzweigen, so befolgte man in der Rechtslehre nunmehr auch nach und nach alle diejenigen Maximen, nach welchen man Re¬ ligion und Moral behandelte. Unter den Sachwaltern als den juͤngern, sodann unter den Richtern als den aͤltern, verbreitete sich der Humanismus, und alles wetteiferte, auch in rechtlichen Verhaͤltnissen hoͤchst menschlich zu seyn. Gefaͤngnisse wurden gebessert, Ver¬ brechen entschuldigt, Strafen gelindert, die Legitimationen erleichtert, Scheidungen und Misheiraten befoͤrdert, und einer unserer vor¬ zuͤglichen Sachwalter erwarb sich den hoͤchsten Ruhm, als er einem Scharfrichtersohne den Eingang in das Collegium der Aerzte zu er¬ fechten wußte. Vergebens widersetzten sich Gilden und Koͤrperschaften; ein Damm nach dem andern ward durchbrochen. Die Duld¬ samkeit der Religionsparteyen gegen einander ward nicht bloß gelehrt, sondern ausgeuͤbt, und mit einem noch groͤßern Einflusse ward die buͤrgerliche Verfassung bedroht, als man Duld¬ samkeit gegen die Juden, mit Verstand, Scharf¬ sinn und Kraft, der gutmuͤthigen Zeit anzu¬ empfehlen bemuͤht war. Diese neuen Gegen¬ staͤnde rechtlicher Behandlung, welche außer¬ halb des Gesetzes und des Herkommens la¬ gen und nur an billige Beurtheilung, an ge¬ muͤthliche Theilnahme Anspruch machten, for¬ derten zugleich einen natuͤrlicheren und lebhaf¬ teren Stil. Hier war uns, den Juͤngsten, ein heiteres Feld eroͤffnet, in welchem wir uns mit Lust herumtummelten, und ich erin¬ 19 * nere mich noch gar wohl, daß ein Reichshof¬ rathsagent mir, in einem solchen Falle, ein sehr artiges Belobungsschreiben zusendete. Die franzoͤsischen plaidoyés dienten uns zu Mu¬ stern und zur Anregung. Und somit waren wir auf dem Wege, bes¬ sere Redner als Juristen zu werden, worauf mich der solide Georg Schlosser einstmals ta¬ delnd aufmerksam machte. Ich hatte ihm er¬ zaͤhlt, daß ich meiner Partey eine mit vieler Energie zu ihren Gunsten abgefaßte Streit¬ schrift vorgelesen, woruͤber sie mir große Zu¬ friedenheit bezeigt. Hierauf erwiederte er mir: du hast dich in diesem Fall mehr als Schrift¬ steller, denn als Advocat bewiesen. Man muß niemals fragen wie eine solche Schrift dem Clienten, sondern wie sie dem Richter gefallen koͤnne. Wie nun aber Niemand noch so ernste und dringende Geschaͤfte haben mag, denen er seinen Tag widmet, daß er nicht demun¬ geachtet Abends so viel Zeit faͤnde, das Schau¬ spiel zu besuchen; so ging es auch mir, der ich, in Ermangelung einer vorzuͤglichen Buͤh¬ ne, uͤber das deutsche Theater zu denken nicht aufhoͤrte, um zu erforschen, wie man auf demselben allenfalls thaͤtig mitwirken koͤnnte. Der Zustand desselben in der zweyten Haͤlfte des vorigen Jahrhunderts ist bekannt genug, und Jederman, der sich davon zu unterrich¬ ten verlangt, findet uͤberall bereite Huͤlfsmittel. Ich denke deswegen hier nur einige allgemei¬ ne Bemerkungen einzuschalten. Das Gluͤck der Buͤhne beruhte mehr auf der Persoͤnlichkeit der Schauspieler als auf dem Werthe der Stuͤcke. Dieß war beson¬ ders bey halb oder ganz extemporirten Stuͤcken der Fall, wo alles auf den Humor und das Talent der comischen Schauspieler ankam. Der Stoff solcher Stuͤcke muß aus dem ge¬ meinsten Leben genommen seyn, den Sitten des Volks gemaͤß, vor welchem man spielt. Aus dieser unmittelbaren Anwendbarkeit ent¬ springt der große Beyfall, dessen sie sich je¬ derzeit zu erfreuen haben. Diese waren im¬ mer im suͤdlichen Deutschland zu Hause, wo man sie bis auf den heutigen Tag beybehaͤlt, und nur von Zeit zu Zeit dem Character der possenhaften Masken einige Veraͤnderung zu geben, durch den Personenwechsel genoͤthigt ist. Doch nahm das deutsche Theater, dem ernsten Character der Nation gemaͤß, sehr bald eine Wendung nach dem Sittlichen, wel¬ che durch eine aͤußere Veranlassung noch mehr beschleunigt ward. Unter den strengen Chri¬ sten entstand naͤmlich die Frage, ob das Thea¬ ter zu den suͤndlichen und auf alle Faͤlle zu vermeidenden Dinge gehoͤre, oder zu den gleichguͤltigen, welche dem Guten gut, und nur dem Boͤsen boͤs werden koͤnnten. Stren¬ ge Eiferer verneinten das Letztere, und hiel¬ ten fest daruͤber, daß kein Geistlicher je ins Theater gehen solle. Nun konnte die Gegen¬ rede nicht mit Nachdruck gefuͤhrt werden, als wenn man das Theater nicht allein fuͤr un¬ schaͤdlich, sondern sogar fuͤr nuͤtzlich angab. Um nuͤtzlich zu seyn, mußte es sittlich seyn, und dazu bildete es sich im noͤrdlichen Deutsch¬ land um so mehr aus, als durch einen ge¬ wissen Halbgeschmack die lustige Person ver¬ trieben ward, und obgleich geistreiche Koͤpfe fuͤr sie einsprachen, dennoch weichen mußte, da sie sich bereits von der Derbheit des deut¬ schen Hanswursts gegen die Niedlichkeit und Zierlichkeit der italiaͤnischen und franzoͤ¬ sischen Harlekine gewendet hatte. Selbst Scapin und Crispin verschwanden nach und nach; den letztern habe ich zum letzten Mal von Koch , in seinem hohen Alter spie¬ len sehn. Schon die Richardsonschen Romane hatten, die buͤrgerliche Welt auf eine zartere Sittlichkeit aufmerksam gemacht. Die stren¬ gen und unausbleiblichen Folgen eines weib¬ lichen Fehltritts waren in der Clarisse auf eine grausame Weise zergliedert. Lessings Miß Sara Sampson behandelte dasselbe Thema. Nun ließ der Kaufmann von London einen verfuͤhrten Juͤngling in der schrecklichsten Lage sehen. Die franzoͤsischen Dramen hatten denselben Zweck, verfuhren aber maͤßiger und wußten durch Vermittelung am Ende zu gefallen. Diderot's Hausva¬ ter , der ehrliche Verbrecher , der Es¬ sighaͤndler , der Philosoph ohne es zu wissen , Eugenie und mehr dergleichen Werke waren dem ehrbaren Buͤrger- und Familiensinn gemaͤß, der immer mehr ebzu¬ walten anfing. Bey uns gingen der dank¬ bare Sohn , der Deserteur aus Kin¬ desliebe und ihre Sippschaft denselben Weg. Der Minister , Clementine und die uͤbrigen Gehlerischen Stuͤcke, der deut¬ sche Hausvater von Gemmingen, alle brachten den Werth des mittleren ja des un¬ teren Standes zu einer gemuͤthlichen Anschau¬ ung, und entzuͤckten das große Publicum. Eckhoff durch seine edle Persoͤnlichkeit, die dem Schauspielerstand eine gewisse Wuͤrde mittheilte, deren er bisher entbehrte, hob die ersten Figuren solcher Stuͤcke ungemein, in¬ dem der Ausdruck von Rechtlichkeit ihm, als einem rechtlichen Manne, vollkommen gelang. Indem nun das deutsche Theater sich voͤllig zur Verweichlichung hinneigte, stand Schroͤder als Schriftsteller und Schauspieler auf, und bearbeitete, durch die Verbindung Hamburgs mit England veranlaßt, englische Lustspiele. Er konnte dabey den Stoff der¬ selben nur im Allgemeinsten brauchen: denn die Originale sind meistens formlos, und wenn sie auch gut und planmaͤßig anfangen, so ver¬ lieren sie sich doch zuletzt ins Weite. Es scheint ihren Verfassern nur darum zu thun, die wunderlichsten Scenen anzubringen, und wer an ein gehaltenes Kunstwerk gewoͤhnt ist, sieht sich zuletzt ungern ins Grenzenlose ge¬ trieben. Ueberdieß geht ein wildes und un¬ sittliches, gemein-wuͤstes Wesen bis zum Un¬ ertraͤglichen so entschieden durch, daß es schwer seyn moͤchte, dem Plan und den Charactern alle ihre Unarten zu benehmen. Sie sind eine derbe und dabey gefaͤhrliche Speise, die bloß einer großen und halbverdorbenen Volks¬ masse zu einer gewissen Zeit genießbar und verdaulich gewesen seyn mag. Schroͤder hat an diesen Dingen mehr gethan als man ge¬ woͤhnlich weiß; er hat sie von Grund aus veraͤndert, dem deutschen Sinne angeaͤhnlicht, und sie moͤglichst gemildert. Es bleibt ihnen aber immer ein herber Kern, weil der Scherz gar oft auf Mishandlung von Personen be¬ ruht, sie moͤgen es verdienen oder nicht. In diesen Darstellungen, welche sich gleichfalls auf dem Theater verbreiteten, lag also ein heim¬ liches Gegengewicht jener allzu zarten Sittlich¬ keit, und die Wirkung beyder Arten gegen einander hinderte gluͤcklicher Weise die Eintoͤ¬ nigkeit, in die man sonst verfallen waͤre. Der Deutsche, gut und großmuͤthig von Natur, will Niemand gemishandelt wissen. Weil aber kein Mensch, wenn er auch noch so gut denkt, sicher ist, daß man ihm nicht etwas gegen seine Neigung unterschiebe, auch das Lustspiel uͤberhaupt immer etwas Scha¬ denfreude bey dem Zuschauer voraussetzt oder erweckt, wenn es behagen soll; so gerieth man, auf einem natuͤrlichen Wege, zu einem bisher fuͤr unnatuͤrlich gehaltenen Benehmen: dieses war, die hoͤheren Staͤnde herabzusetzen und sie mehr oder weniger anzutasten. Die pro¬ saische und poetische Satyre hatte sich bisher immer gehuͤtet, Hof und Adel zu beruͤhren. Rabener enthielt sich nach jener Seite hin alles Spottes, und blieb in einem niederen Kreise. Zachariaͤ beschaͤftigt sich viel mit Land¬ edelleuten, stellt ihre Liebhabereyen und Eigen¬ heiten comisch dar, aber ohne Misachtung. Thuͤmmels Wilhelmine , eine kleine geistreiche Composition, so angenehm als kuͤhn, erwarb sich großen Beyfall, vielleicht auch mit deswegen, weil der Verfasser, ein Edel¬ mann und Hofgenosse, die eigne Classe nicht eben schonend behandelte. Den entschiedensten Schritt jedoch that Lessing in der Emilia Galotti , wo die Leidenschaften und raͤnke¬ vollen Verhaͤltnisse der hoͤheren Regionen schnei¬ dend und bitter geschildert sind. Alle diese Dinge sagten dem aufgeregten Zeitsinne voll¬ kommen zu, und Menschen von weniger Geist und Talent glaubten das Gleiche, ja noch mehr thun zu duͤrfen; wie denn Großmann in sechs unappetitlichen Schuͤsseln alie Leckerspeisen seiner Poͤbelkuͤche dem schadenfro¬ hen Publicum auftischte. Ein redlicher Mann, Hofrath Reinhard , machte bey dieser un¬ erfreulichen Tafel den Haushofmeister, zu Trost und Erbauung saͤmmtlicher Gaͤste. Von dieser Zeit an waͤhlte man die theatralischen Boͤsewichter immer aus den hoͤheren Staͤn¬ den; doch mußte die Person Cammerjunker oder wenigstens Geheimsecretair seyn, um sich einer solchen Auszeichnung wuͤrdig zu machen. Zu den allergottlosesten Schaubildern aber er¬ kohr man die obersten Chargen und Stellen des Hof- und Civiletats im Adreßcalender, in welcher vornehmen Gesellschaft denn doch noch die Justiziarien, als Boͤsewichter der ersten Instanz, ihren Platz fanden. Doch indem ich schon fuͤrchten muß, uͤber die Zeit hinausgegriffen zu haben, von der hier die Rede seyn kann, kehre ich auf mich selbst zuruͤck, um des Dranges zu erwaͤhnen, den ich empfand, mich in freyen Stunden mit den einmal ausgesonnenen theatralischen Pla¬ nen zu beschaͤftigen. Durch die fortdauernde Theilnahme an Shakspeares Werken hatte ich mir den Geist so ausgeweitet, daß mir der enge Buͤhnen¬ raum und die kurze, einer Vorstellung zuge¬ messene Zeit keineswegs hinlaͤnglich schienen, um etwas Bedeutendes vorzutragen. Das Leben des biedern Goetz von Berlichingen, von ihm selbst geschrieben, trieb mich in die historische Behandlungsart, und meine Ein¬ bildungskraft dehnte sich dergestalt aus, daß auch meine dramatische Form alle Theater¬ grenzen uͤberschritt, und sich den lebendigen Ereignissen mehr und mehr zu naͤhern suchte. Ich hatte mich davon, so wie ich vorwaͤrts ging, mit meiner Schwester umstaͤndlich unter¬ halten, die an solchen Dingen mit Geist und Gemuͤth Theil nahm, und ich erneuerte diese Unterhaltung so oft, ohne nur irgend zum Werke zu schreiten, daß sie zuletzt ungeduldig und wohlwollend dringend bat, mich nur nicht immer mit Worten in die Luft zu ergehn, sondern endlich einmal das was mir so gegen¬ waͤrtig waͤre, auf das Papier festzubringen. Durch diesen Antrieb bestimmt, fing ich eines Morgens zu schreiben an, ohne daß ich einen Entwurf oder Plan vorher aufgesetzt haͤtte. Ich schrieb die ersten Scenen, und Abends wurden sie Cornelien vorgelesen. Sie schenk¬ te ihnen vielen Beyfall, jedoch nur bedingt, indem sie zweifelte, daß ich so fortfahren wuͤr¬ de, ja sie aͤußerte sogar einen entschiedenen Unglauben an meine Beharrlichkeit. Dieses reizte mich nur um so mehr, ich fuhr den naͤchsten Tag fort, und so den dritten; die Hoffnung wuchs bey den taͤglichen Mitthei¬ lungen, auch mir ward alles von Schritt zu Schritt lebendiger, indem mir ohnehin der Stoff durchaus eigen geworden; und so hielt ich mich ununterbrochen ans Werk, das ich geradeswegs verfolgte, ohne weder ruͤckwaͤrts, noch rechts, noch links zu sehn, und in et¬ wa sechs Wochen hatte ich das Vergnuͤgen, das Manuscript geheftet zu erblicken. Ich theilte es Merken mit, der verstaͤndig und wohlwollend daruͤber sprach; ich sendete es Herdern zu, der sich unfreundlich und hart dagegen aͤußerte, und nicht ermangelte, in ei¬ nigen gelegentlichen Schmaͤhgedichten mich des¬ halb mit spoͤttischen Namen zu bezeichnen. Ich ließ mich dadurch nicht irre machen, son¬ dern faßte meinen Gegenstand scharf ins Au¬ ge, der Wurf war einmal gethan, und es fragte sich nur, wie man die Steine im Brett vortheilhaft setzte. Ich sah wohl, daß mir auch hier Niemand rathen wuͤrde, und als ich nach einiger Zeit mein Wert wie ein frem¬ des betrachten konnte, so erkannte ich freylich daß ich, bey dem Versuch auf die Einheit der Zeit und des Orts Verzicht zu thun, auch der hoͤheren Einheit, die um desto mehr ge¬ fordert wird, Eintrag gethan hatte. Da ich mich, ohne Plan und Entwurf, bloß der Ein¬ bildungskraft und einem innern Trieb uͤber¬ ließ, so war ich von vorne herein ziemlich bey der Klinge geblieben, und die ersten Acte konnten fuͤr das was sie seyn sollten, gar fuͤglich gelten; in den folgenden aber, und besonders gegen das Ende, riß mich eine wundersame Leidenschaft unbewußt hin. Ich hatte mich, indem ich Adelheid liebenswuͤrdig zu schil¬ dern trachtete, selbst in sie verliebt, unwill¬ kuͤhrlich war meine Feder nur ihr gewidmet, das Interesse an ihrem Schicksal nahm uͤber¬ hand, und wie ohnehin gegen das Ende Goetz außer Thaͤtigkeit gesetzt ist, und dann nur zu einer ungluͤcklichen Theilnahme am Bauern¬ kriege zuruͤckkehrt, so war nichts natuͤrlicher, als daß eine reizende Frau ihn bey dem Au¬ tor ausstach, der die Kunstfesseln abschuͤttelnd, in einem neuen Felde sich zu versuchen dachte. Diesen Mangel, oder vielmehr diesen tadelhaf¬ ten Ueberfluß, erkannte ich gar bald, da die Natur meiner Poesie mich immer zur Einheit hindraͤngte. Ich hegte nun, anstatt der Le¬ bensbeschreibung Goetzens und der deutschen Alterthuͤmer, mein eignes Werk im Sinne, und suchte ihm immer mehr historischen und nationalen Gehalt zu geben, und das was daran fabelhaft oder bloß leidenschaftlich war, auszuloͤschen; wobey ich freylich manches auf¬ opferte, indem die menschliche Neigung der kuͤnstlerischen Ueberzeugung weichen mußte. So hatte ich mir z. B. etwas Rechts zu Gu¬ te gethan, indem ich in einer grauserlich naͤcht¬ lichen Zigeunerscene Adelheid auftreten und III. 20 ihre schoͤne, Gegenwart, Wunder thun ließ. Eine naͤhere Pruͤfung verbannte sie, so wie auch der im vierten und fuͤnften Acte um¬ staͤndlich ausgefuͤhrte Liebeshandel zwischen Franzen und seiner gnaͤdigen Frau sich ins Enge zog, und nur in seinen Hauptmomen¬ ten hervorleuchten durfte. Ohne also an dem ersten Manuscript ir¬ gend etwas zu veraͤndern, welches ich wirk¬ lich noch in seiner Urgestalt besitze, nahm ich mir vor, das Ganze umzuschreiben, und lei¬ stete dieß auch mit solcher Thaͤtigkeit, daß in wenigen Wochen ein ganz erneutes Stuͤck vor mir lag. Ich ging damit um so rascher zu Werke, je weniger ich die Absicht hatte, die¬ se zweyte Bearbeitung jemals drucken zu las¬ sen, sondern sie gleichfalls nur als Voruͤbung ansah, die ich kuͤnftig, bey einer mit mehre¬ rem Fleiß und Ueberlegung anzustellenden neuen Behandlung, abermals zum Grunde legen wollte. Als ich nun mancherley Vorschlaͤge, wie ich dieß anzufangen gedaͤchte, Merken vorzu¬ tragen anfing, spottete er mein und fragte, was denn das ewige Arbeiten und Umarbei¬ ten heißen solle? Die Sache werde dadurch nur anders und selten besser; man muͤsse sehn, was das Eine fuͤr Wirkung thue, und dann immer wieder was Neues unternehmen. — „Bey Zeit auf die Zaͤun’, so trocknen die Win¬ deln“! rief er spruͤchwoͤrtlich aus; das Saͤu¬ men und Zaudern mache nur unsichere Men¬ schen. Ich erwiederte ihm dagegen, daß es mir unangenehm seyn wuͤrde, eine Arbeit, an die ich so viele Neigung verwendet, einem Buchhaͤndler anzubieten, und mir vielleicht gar eine abschlaͤgliche Antwort zu holen: denn wie sollten sie einen jungen, namenlosen und noch dazu verwegenen Schriftsteller beurthei¬ len? Schon meine Mitschuldigen, auf die ich etwas hielt, haͤtte ich, als meine Scheu vor der Presse nach und nach verschwand, gern 20 * gedruckt gesehn; allein ich fand keinen geneig¬ ten Verleger. Hier ward nun meines Freundes technisch¬ mercantilische Lust auf einmal rege. Durch die Frankfurter Zeitung hatte er sich schon mit Gelehrten und Buchhaͤndlern in Verbindung gesetzt, wir sollten daher, wie er meynte, die¬ ses seltsame und gewiß auffallende Werk auf eigne Kosten herausgeben, und es werde da¬ von ein guter Vortheil zu ziehen seyn; wie er denn, mit so vielen andern, oͤfters den Buchhaͤndlern ihren Gewinn nachzurechnen pflegte, der bey manchen Werken freylich groß war, besonders wenn man außer Acht ließ, wie viel wieder an anderen Schriften und durch sonstige Handelsverhaͤltnisse verloren geht. Genug, es ward ausgemacht, daß ich das Papier anschaffen, er aber fuͤr den Druck sor¬ gen solle; und somit ging es frisch ans Werk, und mir gefiel es gar nicht uͤbel, meine wil¬ de dramatische Skizze nach und nach in sau¬ bern Aushaͤngebogen zu sehen: sie nahm sich wirklich reinlicher aus, als ich selbst gedacht. Wir vollendeten das Werk, und es ward in vielen Packeten versendet. Nun dauerte es nicht lange, so entstand uͤberall eine große Bewegung; das Aufsehn das es machte, ward allgemein. Weil wir aber, bey unsern beschraͤnkten Verhaͤltnissen, die Exemplare nicht schnell genug nach allen Orten zu vertheilen vermochten, so erschien ploͤtzlich ein Nachdruck; und da uͤberdieß gegen unsere Aussendungen freylich sobald keine Erstattung, am allerwe¬ nigsten eine baare, zuruͤckerfolgen konnte: so war ich, als Haussohn, dessen Casse nicht in reichlichen Umstaͤnden seyn konnte, zu einer Zeit, wo man mir von allen Seiten her viel Aufmerksamkeit, ja sogar vielen Beyfall er¬ wies, hoͤchst verlegen, wie ich nur das Pa¬ pier bezahlen sollte, auf welchem ich die Welt mit meinem Talent bekannt gemacht hatte. Merk, der sich schon eher zu helfen wußte, hegte dagegen die besten Hoffnungen, daß sich naͤchstens alles wieder in's Gleiche stellen wuͤrde; ich bin aber nichts davon gewahr worden. Schon bey den kleinen Flugschriften, die ich ungenannt herausgab, hatte ich das Pu¬ blicum und die Recensenten auf meine eignen Kosten kennen lernen, und ich war auf Lob und Tadel so ziemlich vorbereitet, besonders da ich seit mehreren Jahren immer nachging und beobachtete, wie man die Schriftsteller behandle, denen ich eine vorzuͤgliche Auf¬ merksamkeit gewidmet hatte. Hier konnte ich selbst in meiner Unsicher¬ heit deutlich bemerken, wie doch so vieles grundlos, einseitig und willkuͤhrlich in den Tag hinein gesagt wurde. Mir begegnete nun dasselbe, und wenn ich nicht schon eini¬ gen Grund gehabt haͤtte, wie irre haͤtten mich die Widerspruͤche gebildeter Menschen machen muͤssen! So stand z. B. im deut¬ schen Merkur eine weitlaͤuftige wohlgemeynte Recension, verfaßt von irgend einem be¬ schraͤnkten Geiste. Wo er tadelte, konnte ich nicht mit ihm einstimmen, noch weniger wenn er angab, wie die Sache haͤtte koͤnnen an¬ ders gemacht werden. Erfreulich war es mir daher, wenn ich unmittelbar hinterdrein eine heitere Erklaͤrung Wielands antraf, der im Allgemeinen dem Recensenten widersprach und sich meiner gegen ihn annahm. Indessen war doch jenes auch gedruckt, ich sah ein Bey¬ spiel von der dumpfen Sinnesart unterrichte¬ ter und gebildeter Maͤnner, wie mochte es erst im großen Publicum aussehn! Das Vergnuͤgen, mich mit Merken uͤber solche Dinge zu besprechen und aufzuklaͤren, war von kurzer Dauer: denn die einsichts¬ volle Landgraͤfinn von Hessendarmstadt nahm ihn, auf ihrer Reise nach Petersburg, in ihr Gefolge. Die ausfuͤhrlichen Briefe die er mir schrieb, gaben mir eine weitere Aus¬ sicht in die Welt, die ich mir um so mehr zu eigen machen konnte, als die Schilderun¬ gen von einer bekannten und befreundeten Hand gezeichnet waren. Allein ich blieb dem¬ ungeachtet dadurch auf laͤngere Zeit sehr ein¬ sam, und entbehrte gerade in dieser wichtigen Epoche seiner aufklaͤrenden Theilnahme, deren ich denn doch so sehr bedurfte. Denn wie man wohl den Entschluß faßt Soldat zu werden und in den Krieg zu ge¬ hen, sich auch muthig vorsetzt, Gefahr und Beschwerlichkeiten zu ertragen, so wie auch Wunden und Schmerzen ja den Tod zu er¬ dulden, aber sich dabey keineswegs die beson¬ deren Faͤlle vorstellt, unter welchen diese im Allgemeinen erwarteten Uebel uns aͤußerst un¬ angenehm uͤberraschen koͤnnen: so ergeht es einem Jeden der sich in die Welt wagt, und besonders dem Autor, und so ging es auch mir. Da der groͤßte Theil des Publicums mehr durch den Stoff als durch die Behand¬ lung angeregt wird, so war die Theilnahme junger Maͤnner an meinen Stuͤcken meistens stoffartig. Sie glaubten daran ein Panier zu sehn, unter dessen Vorschritt alles was in der Jugend Wildes und Ungeschlachtes lebt, sich wohl Raum machen duͤrfte, und gerade die besten Koͤpfe, in denen schon vorlaͤufig et¬ was aͤhnliches spukte, wurden davon hinge¬ rissen. Ich besitze noch von dem trefflichen und in manchem Betracht einzigen Buͤrger einen Brief, ich weiß nicht an wen, der als wichtiger Beleg dessen gelten kann, was jene Erscheinung damals gewirkt und aufgeregt hat. Von der Gegenseite tadelten mich ge¬ setzte Maͤnner, daß ich das Faustrecht mit zu guͤnstigen Farben geschildert habe, ja sie legten mir die Absicht unter, daß ich jene unregelmaͤßigen Zeiten wieder einzufuͤhren ge¬ daͤchte. Noch andere hielten mich fuͤr einen grundgelehrten Mann, und verlangten, ich sollte die Originalerzaͤhlung des guten Goetz neu mit Noten herausgeben; wozu ich mich keineswegs geschickt fuͤhlte, ob ich es mir gleich gefallen ließ, daß man meinen Namen auf den Titel des frischen Abdrucks zu setzen beliebte. Man hatte, weil ich die Blumen eines großen Daseyns abzupfluͤcken verstand, mich fuͤr einen sorgfaͤltigen Kunstgaͤrtner ge¬ halten. Diese meine Gelahrtheit und gruͤnd¬ liche Sachkenntniß wurde jedoch wieder von andern in Zweifel gezogen. Ein angesehener Geschaͤftsmann macht mir ganz unvermuthet die Visite. Ich sehe mich dadurch hoͤchst ge¬ ehrt, und um so mehr, als er sein Gespraͤch mit dem Lobe meines Goetz von Berlichingen und meiner guten Einsichten in die deutsche Geschichte anfaͤngt; allein ich finde mich doch betroffen als ich bemerke, er sey eigentlich nur gekommen um mich zu belehren, daß Goetz von Berlichingen kein Schwager von Franz von Sickingen gewesen sey, und daß ich also durch dieses poetische Ehebuͤndniß gar sehr gegen die Geschichte verstoßen habe. Ich suchte mich dadurch zu entschuldigen, daß Goetz ihn selber so nenne; allein mir ward erwiedert, daß dieses eine Redensart sey, wel¬ che nur ein naͤheres freundschaftliches Ver¬ haͤltniß ausdruͤcke, wie man ja in der neue¬ ren Zeit die Postillone auch Schwager nen¬ ne, ohne daß ein Familienband sie an uns knuͤpft. Ich dankte so gut ich konnte fuͤr diese Belehrung und bedauerte nur, daß dem Uebel nicht mehr abzuhelfen sey. Dieses ward von seiner Seite gleichfalls bedauert, wobey er mich freundlichst zu fernerem Stu¬ dium der deutschen Geschichte und Verfassung ermahnte, und mir dazu seine Bibliothek an¬ bot, von der ich auch in der Folge guten Ge¬ brauch machte. Das Lustigste jedoch, was mir in dieser Art begegnete, war der Besuch eines Buch¬ haͤndlers, der mit einer heiteren Freymuͤthig¬ keit, sich ein Dutzend solcher Stuͤcke ausbat, und sie gut zu honoriren versprach. Daß wir uns daruͤber sehr lustig machten, laͤßt sich denken, und doch hatte er im Grunde so un¬ recht nicht: denn ich war schon im Stillen beschaͤftigt, von diesem Wendepunct der deut¬ schen Geschichte mich vor und ruͤckwaͤrts zu bewegen und die Hauptereignisse in gleichem Sinn zu bearbeiten. Ein loͤblicher Vorsatz, der, wie so manche andere, durch die fluͤch¬ tig vorbeyrauschende Zeit vereitelt worden. Jenes Schauspiel jedoch beschaͤftigte bis¬ her den Verfasser nicht allein, sondern, waͤh¬ rend es ersonnen, geschrieben, umgeschrieben, gedruckt und verbreitet wurde, bewegten sich noch viele andere Bilder und Vorschlaͤge in seinem Geiste. Diejenigen welche dramatisch zu behandeln waren, erhielten den Vorzug am oͤftersten durchgedacht und der Vollendung angenaͤhert zu werden; allein zu gleicher Zeit entwickelte sich ein Uebergang zu einer andern Darstellungsart, welche nicht zu den drama¬ tischen gerechnet zu werden pflegt und doch mit ihnen große Verwandtschaft hat. Dieser Uebergang geschah hauptsaͤchlich durch eine Eigenheit des Verfassers, die sogar das Selbst¬ gespraͤch zum Zwiegespraͤch umbildete. Gewoͤhnt am liebsten seine Zeit in Ge¬ sellschaft zuzubringen, verwandelte er auch das einsame Denken zur geselligen Unterhaltung, und zwar auf folgende Weise. Er pflegte naͤmlich, wenn er sich allein sah, irgend eine Person seiner Bekanntschaft im Geiste zu sich zu rufen. Er bat sie, nieder zu sitzen, ging an ihr auf und ab, blieb vor ihr stehen, und verhandelte mit ihr den Gegenstand, der ihm eben im Sinne lag. Hierauf antwortete sie gelegentlich, oder gab durch die gewoͤhnliche Mimik ihr Zu- oder Abstimmen zu erkennen; wie denn jeder Mensch hierin etwas Eignes hat. Sodann fuhr der Sprechende fort, dasjenige was dem Gaste zu gefallen schien, weiter auszufuͤhren, oder was derselbe mis¬ billigte, zu bedingen, naͤher zu bestimmen, und gab auch wohl zuletzt seine These gefaͤl¬ lig auf. Das Wunderlichste war dabey, daß er niemals Personen seiner naͤheren Bekannt¬ schaft waͤhlte, sondern solche die er nur sel¬ ten sah, ja mehrere, die weit in der Welt entfernt lebten, und mit denen er nur in ei¬ nem voruͤbergehenden Verhaͤltniß gestanden; aber es waren meist Personen, die, mehr empfaͤnglicher als ausgebender Natur, mit reinem Sinne einen ruhigen Antheil an Din¬ gen zu nehmen bereit sind, die in ihrem Ge¬ sichtskreise liegen, ob er sich gleich manchmal zu diesen dialectischen Uebungen widersprechen¬ de Geister herbeyrief. Hiezu bequemten sich nun Personen beyderley Geschlechts, jedes Alters und Standes, und erwiesen sich ge¬ faͤllig und unmuthig, da man sich nur von Gegenstaͤnden unterhielt, die ihnen deutlich und lieb waren. Hoͤchst wunderbar wuͤrde es jedoch manchen vorgekommen seyn, wenn sie haͤtten erfahren koͤnnen, wie oft sie zu dieser ideellen Unterhaltung berufen wurden, da sich manche zu einer wirklichen wohl schwer¬ lich eingefunden haͤtten. Wie nahe ein solches Gespraͤch im Geiste mit dem Briefwechsel verwandt sey, ist klar genug, nur daß man hier ein hergebrachtes Vertrauen erwiedert sieht, und dort ein neues, immer wechselndes, unerwiedertes sich selbst zu schaffen weiß. Als daher jener Ueberdruß zu schildern war, mit welchem die Menschen, ohne durch Noth gedrungen zu seyn, das Le¬ ben empfinden, mußte der Verfasser sogleich darauf fallen, seine Gesinnung in Briefen darzustellen: denn jeder Unmuth ist eine Ge¬ burt, ein Zoͤgling der Einsamkeit; wer sich ihm ergiebt, flieht allen Widerspruch, und was widerspricht ihm mehr, als jede heitere Gesellschaft? Der Lebensgenuß anderer ist ihm ein peinlicher Vorwurf, und so wird er durch das was ihn aus sich selbst herauslo¬ cken sollte, in sein Innerstes zuruͤckgewiesen Mag er sich allenfalls daruͤber aͤußern, so wird es durch Briefe geschehn: denn einem schriftlichen Erguß, er sey froͤhlich oder ver¬ drießlich, setzt sich doch Niemand unmittelbar entgegen; eine mit Gegengruͤnden verfaßte Antwort aber giebt dem Einsamen Gelegen¬ heit, sich in seinen Grillen zu befestigen, ei¬ nen Anlaß, sich noch mehr zu verstocken. Jene in diesem Sinne geschriebenen Werthe¬ rischen Briefe haben nun wohl deshalb einen so mannigfaltigen Reiz, weil ihr verschiede¬ ner Inhalt erst in solchen ideellen Dialogen mit mehreren Individuen durchgesprochen wor¬ den, sie sodann aber in der Composition selbst, nur an einen Freund und Theilnehmer ge¬ richtet erscheinen. Mehr uͤber die Behand¬ lung des so viel besprochenen Werkleins zu sagen, moͤchte kaum raͤthlich seyn; uͤber den Inhalt jedoch laͤßt sich noch einiges hinzu¬ fuͤgen. Jener Ekel vor dem Leben hat seine phy¬ sischen und seine sittlichen Ursachen, jene wol¬ len wir dem Arzt, diese dem Moralisten zu erforschen uͤberlassen, und bey einer so oft durchgearbeiteten Materie, nur den Haupt¬ punct beachten, wo sich jene Erscheinung am deutlichsten ausspricht. Alles Behagen am Leben ist auf eine regelmaͤßige Wiederkehr der aͤußeren Dinge gegruͤndet. Der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Bluͤ¬ ten und Fruͤchte, und was uns sonst von Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es genießen koͤnnen und sollen, diese sind die ei¬ gentlichen Triebfedern des irdischen Lebens. Je offener wir fuͤr diese Genuͤsse sind, desto gluͤcklicher fuͤhlen wir uns; waͤlzt sich aber die Verschiedenheit dieser Erscheinungen vor uns auf und nieder, ohne daß wir daran Theil nehmen, sind wir gegen so holde An¬ erbietungen unempfaͤnglich: dann tritt das groͤßte Uebel, die schwerste Krankheit ein, man betrachtet das Leben als eine ekelhafte Last. Von einem Englaͤnder wird erzaͤhlt, er habe sich aufgehangen, um nicht mehr III. 21 taͤglich sich aus- und anzuziehn. Ich kannte einen wackeren Gaͤrtner, den Aufseher einer großen Parkanlage, der einmal mit Verdruß ausrief: soll ich denn immer diese Regenwol¬ ken von Abend gegen Morgen ziehen sehn! Man erzaͤhlt von einem unserer trefflichsten Maͤnner, er habe mit Verdruß das Fruͤhjahr wieder aufgruͤnen gesehn, und gewuͤnscht, es moͤchte zur Abwechselung einmal roth erschei¬ nen. Dieses sind eigentlich die Symptome des Lebensuͤberdrusses, der nicht selten in den Selbstmord auslaͤuft, und bey denkenden in sich gekehrten Menschen haͤufiger war als man glauben kann. Nichts aber veranlaßt mehr diesen Ueber¬ druß, als die Wiederkehr der Liebe. Die er¬ ste Liebe, sagt man mit Recht, sey die ein¬ zige: denn in der zweyten und durch die zweyte geht schon der hoͤchste Sinn der Liebe verloren. Der Begriff des Ewigen und Un¬ endlichen, der sie eigentlich hebt und traͤgt, ist zerstoͤrt, sie erscheint vergaͤnglich wie alles Wiederkehrende. Die Absonderung des Sinn¬ lichen vom Sittlichen, die in der verflochte¬ nen cultivirten Welt die liebenden und begeh¬ renden Empfindungen spaltet, bringt auch hier eine Uebertriebenheit hervor, die nichts Gu¬ tes stiften kann. Ferner wird ein junger Mann, wo nicht gerade an sich selbst, doch an andern bald ge¬ wahr, daß moralische Epochen eben so gut wie die Jahreszeiten wechseln. Die Gnade der Großen, die Gunst der Gewaltigen, die Foͤrderung der Thaͤtigen, die Neigung der Menge, die Liebe der Einzelnen, alles wan¬ delt auf und nieder, ohne daß wir es festhal¬ ten koͤnnen, so wenig als Sonne, Mond und Sterne; und doch sind diese Dinge nicht blo¬ ße Naturereignisse: sie entgehen uns durch eigne oder fremde Schuld, durch Zufall oder Geschick, aber sie wechseln, und wir sind ih¬ rer niemals sicher. 21 * Was aber den fuͤhlenden Juͤngling am meisten aͤngstigt, ist die unaufhaltsame Wie¬ derkehr unserer Fehler: denn wie spaͤt lernen wir einsehen, daß wir, indem wir unsere Tugenden ausbilden, unsere Fehler zugleich mit anbauen. Jene ruhen auf diesen wie auf ih¬ rer Wurzel, und diese verzweigen sich insge¬ heim eben so stark und so mannigfaltig als jene im offenbaren Lichte. Weil wir nun unsere Tugenden meist mit Willen und Bewußtseyn ausuͤben, von unseren Fehlern aber unbewußt uͤberrascht werden, so machen uns jene selten einige Freude, diese hingegen bestaͤndig Noth und Qual. Hier liegt der schwerste Punct der Selbsterkenntniß, der sie beynah unmoͤglich macht. Denke man sich nun hiezu ein siedend jugendliches Blut, eine durch einzelne Ge¬ genstaͤnde leicht zu paralysirende Einbildungs¬ kraft, hiezu die schwankenden Bewegungen des Tags, und man wird ein ungeduldiges Stre¬ ben, sich aus einer solchen Klemme zu befreyen, nicht unnatuͤrlich finden. Solche duͤstere Betrachtungen jedoch, wel¬ che denjenigen, der sich ihnen uͤberlaͤßt, ins Unendliche fuͤhren, haͤtten sich in den Gemuͤ¬ thern deutscher Juͤnglinge nicht so entschieden entwickeln koͤnnen, haͤtte sie nicht eine aͤußere Veranlassung zu diesem traurigen Geschaͤft an¬ geregt und gefoͤrdert. Es geschah dieses durch die englische Literatur, besonders durch die poetische, deren große Vorzuͤge ein ernster Truͤbsinn begleitet, welchen sie einem Jeden mittheilt, der sich mit ihr beschaͤftigt. Der geistreiche Britte sieht sich von Jugend auf von einer bedeutenden Welt umgeben, die alle seine Kraͤfte anregt; er wird fruͤher oder spaͤter ge¬ wahr, daß er allen seinen Verstand zusammen¬ nehmen muß, um sich mit ihr abzufinden. Wie viele ihrer Dichter haben nicht in der Jugend ein loses und rauschendes Leben ge¬ fuͤhrt, und sich fruͤh berechtigt gefunden, die irdischen Dinge der Eitelkeit anzuklagen! Wie viele derselben haben sich in den Weltgeschaͤften versucht, und im Parlament, bey Hofe, im Ministerium, auf Gesandtschaftsposten, theils die ersten:, theils untere Rollen gespielt, und sich bey inneren Unruhen, Staats- und Re¬ gierungsveraͤnderungen mitwirkend erwiesen, und wo nicht an sich selbst, doch an ihren Freun¬ den und Goͤnnern oͤfter traurige als erfreuli¬ che Erfahrungen gemacht! Wie viele sind ver¬ bannt, vertrieben, im Gefaͤngniß gehalten, an ihren Guͤtern beschaͤdigt worden! Aber auch nur Zuschauer von so großen Ereignissen zu seyn, fordert den Menschen zum Ernst auf, und wohin kann der Ernst weiter fuͤhren, als zur Betrachtung der Ver¬ gaͤnglichkeit und des Unwerths aller irdischen Dinge. Ernsthaft ist auch der Deutsche, und so war ihm die englische Poesie hoͤchst gemaͤß, und, weil sie sich aus einem hoͤheren Zustande herschrieb, imposant. Man fin¬ det in ihr durchaus einen großen, tuͤchti¬ gen, weltgeuͤbten Verstand, ein tiefes, zar¬ tes Gemuͤth, ein vortreffliches Wollen, ein leidenschaftliches Wirken: die herrlichsten Ei¬ genschaften, die man von geistreichen gebil¬ deten Menschen ruͤhmen kann; aber das alles zusammengenommen macht noch keinen Poe¬ ten. Die wahre Poesie kuͤndet sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch aͤußeres Beha¬ gen, uns von den irdischen Lasten zu befreyen weiß, die auf uns druͤcken. Wie ein Luft¬ ballon hebt sie uns mit dem Ballast der uns anhaͤngt, in hoͤhere Regionen, und laͤßt die verwirrten Irrgaͤnge der Erde in Vogelper¬ spective vor uns entwickelt daliegen. Die mun¬ tersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine gluͤckliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu maͤßigen. Man betrachte nun in diesem Sinne die Mehrzahl der englischen meist moralisch-di¬ dactischen Gedichte, und sie werden im Durch¬ schnitt nur einen duͤstern Ueberdruß des Le¬ bens zeigen. Nicht Youngs Nachtgedan¬ ken allein, wo dieses Thema vorzuͤglich durch¬ gefuͤhrt ist, sondern auch die uͤbrigen betrach¬ tenden Gedichte, schweifen, eh man sich's ver¬ sieht, in dieses traurige Gebiet, wo dem Ver¬ stande eine Aufgabe zugewiesen ist, die er zu loͤsen nicht hinreicht, da ihn ja selbst die Religion, wie er sich solche allenfalls erbauen kann, im Stiche laͤßt. Ganze Baͤnde koͤnnte man zusammendrucken, welche als ein Com¬ mentar zu jenem schrecklichen Texte gelten koͤnnen: Then old Age and Experience, hand in hand, Lead him to death, and make him understand, After a search so painfull and so long, That all his life he has been in the wrong. Was ferner die englischen Dichter noch zu Menschenhassern vollendet und das unan¬ genehme Gefuͤhl von Widerwillen gegen alles uͤber ihre Schriften verbreitet, ist, daß sie saͤmmtlich, bey den vielfachen Spaltungen ih¬ res Gemeinwesens, wo nicht ihr ganzes Le¬ ben, doch den besten Theil desselben, einer oder der andern Partey widmen muͤssen. Da nun ein solcher Schriftsteller die Seinigen denen er ergeben ist, die Sache der er an¬ haͤngt, nicht loben und herausstreichen darf, weil er sonst nur Neid und Widerwillen er¬ regen wuͤrde; so uͤbt er sein Talent, indem er von den Gegnern so uͤbel und schlecht als moͤglich spricht, und die satyrischen Waffen, so sehr er nur vermag, schaͤrft ja vergiftet. Geschieht dieses nun von beyden Theilen, so wird die dazwischen liegende Welt zerstoͤrt und rein aufgehoben, so daß man in einem großen, verstaͤndig thaͤtigen Volksverein zum allergelindesten nichts als Thorheit und Wahn¬ sinn entdecken kann. Selbst ihre zaͤrtlichen Gedichte beschaͤftigen sich mit traurigen Ge¬ genstaͤnden. Hier stirbt ein verlassenes Maͤd¬ chen, dort ertrinkt ein getreuer Liebhaber, oder wird, ehe er voreilig schwimmend seine Geliebte erreicht, von einem Hayfische gefres¬ sen; und wenn ein Dichter wie Gray sich auf einem Dorfkirchhofe lagert, und je¬ ne bekannten Melodieen wieder anstimmt, so kann er versichert seyn, eine Anzahl Freunde der Melancholie um sich zu versammeln. Mil¬ ton's Allegro muß erst in heftigen Versen den Unmuth verscheuchen, ehe er zu einer sehr maͤßigen Lust gelangen kann, und selbst der heitere Goldsmith verliert sich in elegische Empfindungen, wenn uns sein Deserted Vil¬ lage ein verlorenes Paradies, das sein Tra¬ veller auf der ganzen Erde wiedersucht, so lieblich als traurig darstellt. Ich zweifle nicht, daß man mir auch muntre Werke, heitere Gedichte werde vor¬ zeigen und entgegensetzen koͤnnen; allein die meisten und besten derselben gehoͤren gewiß in die aͤltere Epoche, und die neueren die man dahin rechnen koͤnnte, neigen sich gleichfalls gegen die Satyre, sind bitter und besonders die Frauen verachtend. Genug, jene oben im Allgemeinen erwaͤhn¬ ten, ernsten und die menschliche Natur unter¬ grabenden Gedichte waren die Lieblinge, die wir uns vor allen andern aussuchten, der ei¬ ne, nach seiner Gemuͤthsart, die leichtere ele¬ gische Trauer, der andere die schwer lastende, alles aufgebende Verzweiflung suchend. Son¬ derbar genug bestaͤrkte unser Vater und Leh¬ rer Shakspeare, der so reine Heiterkeit zu verbreiten weiß, selbst diesen Unwillen. Ham¬ let und seine Monologen blieben Gespenster, die durch alle jungen Gemuͤther ihren Spuk trieben. Die Hauptstellen wußte ein Jeder auswendig und recitirte sie gern, und Jeder¬ man glaubte, er duͤrfe eben so melancholisch seyn, als der Prinz von Daͤnemark, ob er gleich keinen Geist gesehn und keinen koͤnigli¬ chen Vater zu raͤchen hatte. Damit aber ja allem diesem Truͤbsinn nicht ein vollkommen passendes Local abgehe, so hat¬ te uns Ossian bis ans letzte Thule gelockt, wo wir denn auf grauer, unendlicher Haide, unter vorstarrenden bemoosten Grabsteinen wandelnd, das durch einen schauerlichen Wind bewegte Gras um uns, und einen schwer be¬ woͤlkten Himmel uͤber uns erblickten. Bey Mondenschein ward dann erst diese caledoni¬ sche Nacht zum Tage; untergegangene Hel¬ den, verbluͤhte Maͤdchen umschwebten uns, bis wir zuletzt den Geist von Loda wirklich in seiner furchtbaren Gestalt zu erblicken glaubten. In einem solchen Element, bey solcher Umgebung, bey Liebhabereyen und Studien dieser Art, von unbefriedigten Leidenschaften gepeinigt, von außen zu bedeutenden Hand¬ lungen keineswegs angeregt, in der einzigen Aussicht, uns in einem schleppenden, geistlo¬ sen, buͤrgerlichen Leben hinhalten zu muͤssen, befreundete man sich, in unmuthigem Ueber¬ muth, mit dem Gedanken, das Leben, wenn es einem nicht mehr anstehe, nach eignem Belieben allenfalls verlassen zu koͤnnen, und half sich damit uͤber die Unbilden und Lange¬ weile der Tage nothduͤrftig genug hin. Die¬ se Gesinnung war so allgemein, daß eben Werther deswegen die große Wirkung that, weil er uͤberall anschlug und das Innere ei¬ nes kranken jugendlichen Wahns oͤffentlich und faßlich darstellte. Wie genau die Englaͤnder mit diesem Jammer bekannt waren, beweisen die wenigen bedeutenden, vor dem Erscheinen Werthers geschriebenen Zeilen: To griefs congenial prone, More wounds than nature gave he knew, While misery's form his fancy drew In dark ideal hues and horrors not its own. Der Selbstmord ist ein Ereigniß der mensch¬ lichen Natur, welches, mag auch daruͤber schon so viel gesprochen und gehandelt seyn als da will, doch einen jeden Menschen zur Theil¬ nahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder ein¬ mal verhandelt werden muß. Montesquieu ertheilt seinen Helden und großen Maͤnnern das Recht, sich nach Befinden den Tod zu geben, indem er sagt, es muͤsse doch einem je¬ den freystehen, den fuͤnften Act seiner Tragoͤ¬ die da zu schließen, wo es ihm beliebe. Hier aber ist von solchen Personen nicht die Rede, die ein bedeutendes Leben thaͤtig gefuͤhrt, fuͤr irgend ein großes Reich oder fuͤr die Sache der Freyheit ihre Tage verwendet, und denen man wohl nicht verargen wird, wenn sie die Idee die sie beseelt, sobald dieselbe von der Erde verschwindet, auch noch jenseits zu ver¬ folgen denken. Wir haben es hier mit solchen zu thun, denen eigentlich aus Mangel von Thaten, in dem friedlichsten Zustande von der Welt, durch uͤbertriebene Forderungen an sich selbst das Leben verleidet. Da ich selbst in dem Fall war, und am besten weiß, was fuͤr Pein ich darin erlitten, was fuͤr Anstrengung es mir gekostet, ihr zu entgehn; so will ich die Betrachtungen nicht verbergen, die ich uͤber die verschiedenen Todesarten, die man waͤhlen koͤnnte, wohlbedaͤchtig angestellt. Es ist etwas so Unnatuͤrliches, daß der Mensch sich von sich selbst losreiße, sich nicht allein beschaͤdige, sondern vernichte, daß er meistentheils zu mechanischen Mitteln greift, um seinen Vorsatz ins Werk zu richten. Wenn Ajax in sein Schwerdt faͤllt, so ist es die Last seines Koͤrpers, die ihm den letzten Dienst erweiset. Wenn der Krieger seinen Schildtraͤ¬ ger verpflichtet, ihn nicht in die Haͤnde der Feinde gerathen zu lassen, so ist es auch eine aͤußere Kraft, deren er sich versichert, nur eine moralische statt einer physischen. Frau¬ en suchen im Wasser die Kuͤhlung ihres Ver¬ zweifelns, und das hoͤchst mechanische Mittel des Schießgewehrs sichert eine schnelle That mit der geringsten Anstrengung. Des Er¬ haͤngens erwaͤhnt man nicht gern, weil es ein unedler Tod ist. In England kann es am ersten begegnen, weil man dort von Ju¬ gend auf so manchen haͤngen sieht, ohne daß die Strafe gerade entehrend ist. Durch Gift, durch Oeffnung der Adern gedenkt man nur langsam vom Leben zu scheiden, und der raf¬ finirteste, schnellste, schmerzenloseste Tod durch eine Natter war einer Koͤniginn wuͤrdig, die ihr Leben in Glanz und Lust zugebracht hat¬ te. Alles dieses aber sind aͤußere Behelfe, sind Feinde, mit denen der Mensch gegen sich selbst einen Bund schließt. Wenn ich nun alle diese Mittel uͤberlegte, und mich sonst in der Geschichte weiter um¬ sah, so fand ich unter allen denen die sich selbst entleibt, keinen, der diese That mit solcher Großheit und Freyheit des Geistes verrichtet, als Kaiser Otto . Dieser, zwar als Feldherr im Nachtheil, aber doch keines¬ wegs aufs Aeußerste gebracht, entschließt sich zum Besten des Reichs, das ihm gewisser¬ maßen schon angehoͤrte, und zur Schonung so vieler Tausende, die Welt zu verlassen. Er begeht mit seinen Freunden ein heiteres Nachtmahl, und man findet am anderen Morgen, daß er sich einen scharfen Dolch mit eigner Hand in das Herz gestoßen. Diese einzige That schien mir nachahmungs¬ wuͤrdig und ich uͤberzeugte mich, daß wer nicht hierin handeln koͤnne wie Otto, sich nicht erlauben duͤrfe, freywillig aus der Welt zu gehn. Durch diese Ueberzeugung rettete ich mich nicht sowohl von dem Vorsatz als von der Grille des Selbstmords, welche sich in jenen herrlichen Friedenszeiten bey einer muͤßigen Jugend eingeschlichen hatte. Unter einer ansehnlichen Waffensammlung, besaß ich auch einen kostbaren wohlgeschliffenen Dolch. Diesen legte ich mir jederzeit neben das Bet¬ te, und ehe ich das Licht ausloͤschte, ver¬ suchte ich, ob es mir wohl gelingen moͤchte, die scharfe Spitze ein paar Zoll tief in die Brust zu senken. Da dieses aber niemals gelingen wollte, so lachte ich mich zuletzt selbst aus, warf alle hypochondrische Fratzen hin¬ weg, und beschloß zu leben. Um dieß aber mit Heiterkeit thun zu koͤnnen, mußte ich ei¬ ne dichterische Aufgabe zur Ausfuͤhrung brin¬ III. 22 gen, wo alles was ich uͤber diesen wichti¬ gen Punct empfunden, gedacht und gewaͤhnt, zur Sprache kommen sollte. Ich versammel¬ te hierzu die Elemente, die sich schon ein paar Jahre in mir herumtrieben, ich verge¬ genwaͤrtige mir die Faͤlle, die mich am mei¬ sten gedraͤngt und geaͤngstigt; aber es wollte sich nichts gestalten: es fehlte mir eine Be¬ gebenheit, eine Fabel, in welcher sie sich ver¬ koͤrpern koͤnnten. Auf einmal erfahre ich die Nachricht von Jerusalems Tode, und unmittelbar nach dem allgemeinen Geruͤchte, sogleich die genauste und umstaͤndlichste Beschreibung des Vor¬ gangs, und in diesem Augenblick war der Plan zu Werthern gefunden, das Ganze schoß von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse, wie das Wasser im Ge¬ saͤß, das eben auf dem Puncte des Gefrie¬ rens steht, durch die geringste Erschuͤtterung sogleich in ein festes Eis verwandelt wird. Diesen seltsamen Gewinn festzuhalten, ein Werk von so bedeutendem und mannigfalti¬ gem Inhalt mir zu vergegenwaͤrtigen, und in allen seinen Theilen auszufuͤhren war mir um so angelegener, als ich schon wieder in eine peinliche Lage gerathen war, die noch weniger Hoffnung ließ als die vorigen, und nichts als Unmuth, wo nicht Verdruß weis¬ sagte. Es ist immer ein Ungluͤck in neue Ver¬ haͤltnisse zu treten, in denen man nicht her¬ gekommen ist; wir werden oft wider unsern Willen zu einer falschen Theilnahme gelockt, uns peinigt die Halbheit solcher Zustaͤnde, und doch sehen wir weder ein Mittel sie zu ergaͤnzen noch ihnen zu entsagen. Frau von Laroche hatte ihre aͤlteste Toch¬ ter nach Frankfurt verheiratet, kam oft sie zu besuchen, und konnte sich nicht recht in den Zustand finden, den sie doch selbst aus¬ 22* gewaͤhlt hatte. Anstatt sich darin behaglich zu fuͤhlen, oder zu irgend einer Veraͤnderung Anlaß zu geben, erging sie sich in Klagen, so daß man wirklich denken mußte, ihre Tochter sey ungluͤcklich, ob man gleich, da ihr nichts abging, und ihr Gemahl ihr nichts verwehr¬ te, nicht wohl einsah, worin das Ungluͤck eigentlich bestuͤnde. Ich war indessen in dem Hause gut aufgenommen und kam mit dem ganzen Cirkel in Beruͤhrung, der aus Per¬ sonen bestand, die theils zur Heirat beyge¬ tragen, theils derselben einen gluͤcklichen Er¬ folg wuͤnschten. Der Dechant von St. Leon¬ hard Dumeix faßte Vertrauen ja Freund¬ schaft zu mir. Er war der erste catholische Geistliche, mit dem ich in naͤhere Beruͤhrung trat, und der, weil er ein sehr hellsehender Mann war, mir uͤber den Glauben, die Gebraͤuche, die aͤußern und innern Verhaͤlt¬ nisse der aͤltesten Kirche schoͤne und hinrei¬ chende Aufschluͤsse gab. Der Gestalt einer wohlgebildeten obgleich nicht jungen Frau, mit Namen Servières , erinnere ich mich noch genau. Ich kam mit der Alosino-Schwei¬ zerischen und andern Familien gleichfalls in Beruͤhrung, und mit den Soͤhnen in Ver¬ haͤltnisse, die sich lange freundschaftlich fort¬ setzten, und sah mich auf einmal in einem fremden Cirkel einheimisch, an dessen Be¬ schaͤftigungen, Vergnuͤgungen, selbst Religi¬ onsuͤbungen ich Antheil zu nehmen veranlaßt, ja genoͤthigt wurde. Mein fruͤheres Verhaͤlt¬ niß zur jungen Frau, eigentlich ein geschwi¬ sterliches, ward nach der Heirat fortgesetzt; meine Jahre sagten den ihrigen zu, ich war der einzige in dem ganzen Kreise, an dem sie noch einen Widerklang jener geistigen Toͤne vernahm, an die sie von Jugend auf ge¬ woͤhnt war. Wir lebten in einem kindlichen Vertrauen zusammen fort, und ob sich gleich nichts Leidenschaftliches in unsern Umgang mischte, so war er doch peinigend genug, weil sie sich auch in ihre neue Umgebung nicht zu finden wußte und, obwohl mit Gluͤcks¬ guͤtern gesegnet, aus dem heiteren Thal Eh¬ renbreitstein und einer froͤhlichen Jugend in ein duͤster gelegenes Handelshaus versetzt, sich schon als Mutter von einigen Stiefkindern benehmen sollte. In so viel neue Familien¬ verhaͤltnisse war ich ohne wirklichen Antheil, ohne Mitwirkung eingeklemmt. War man mit einander zufrieden, so schien sich das von selbst zu verstehn; aber die meisten Theilneh¬ mer wendeten sich in verdrießlichen Faͤllen an mich, die ich durch eine lebhafte Theilnahme mehr zu verschlimmern als zu verbessern pfleg¬ te. Es dauerte nicht lange, so wurde mir dieser Zustand ganz unertraͤglich, aller Lebens¬ verdruß der aus solchen Halbverhaͤltnissen her¬ vorzugehn pflegt, schien doppelt und dreyfach auf mir zu lasten, und es bedurfte eines neuen gewaltsamen Entschlusses, mich auch hiervon zu befreyen. Jerusalems Tod, der durch die ungluͤckli¬ che Neigung zu der Gattinn eines Freundes verursacht ward, schuͤttelte mich aus dem Traum, und weil ich nicht bloß mit Beschau¬ lichkeit das was ihm und mir begegnet, be¬ trachtete, sondern das Aehnliche was mir im Augenblicke selbst widerfuhr, mich in leiden¬ schaftliche Bewegung setzte; so konnte es nicht fehlen, daß ich jener Production die ich eben unternahm, alle die Gluth einhauchte, welche keine Unterscheidung zwischen dem Dich¬ terischen und dem Wirklichen zulaͤßt. Ich hatte mich aͤußerlich voͤllig isolirt, ja die Besuche meiner Freunde verbeten, und so legte ich auch innerlich alles bey Seite, was nicht unmittelbar hierher gehoͤrte. Dagegen faßte ich alles zusammen, was einigen Be¬ zug auf meinen Vorsatz hatte, und wieder¬ holte mir mein naͤchstes Leben, von dessen Inhalt ich noch keinen dichterischen Gebrauch gemacht hatte. Unter solchen Umstaͤnden, nach so langen und vielen geheimen Vorberei¬ tungen, schrieb ich den Werther in vier Wochen, ohne daß ein Schema des Ganzen, oder die Behandlung eines Theils irgend vorher waͤre zu Papier gebracht gewesen. Das nunmehr fertige Manuscript lag im Concept, mit wenigen Correcturen und Abaͤn¬ derungen, vor mir. Es ward sogleich gehef¬ tet: denn der Band dient der Schrift un¬ gefaͤhr wie der Rahmen einem Bilde: man sieht viel eher, ob sie denn auch in sich wirklich bestehe. Da ich dieses Werklein ziemlich unbewußt, einem Nachtwandler aͤhn¬ lich, geschrieben hatte, so verwunderte ich mich selbst daruͤber, als ich es nun durch¬ ging, um daran etwas zu aͤndern und zu bessern. Doch in Erwartung daß nach eini¬ ger Zeit, wenn ich es in gewisser Entfer¬ nung besaͤhe, mir manches beygehen wuͤrde, das noch zu seinem Vortheil gereichen koͤnnte, gab ich es meinen juͤngeren Freunden zu le¬ sen, auf die es eine desto groͤßere Wir¬ kung that, als ich, gegen meine Gewohn¬ heit, vorher Niemanden davon erzaͤhlt, noch meine Absicht entdeckt hatte. Freylich war es hier abermals der Stoff, der eigentlich die Wirkung hervorbrachte, und so waren sie ge¬ rade in einer der meinigen entgegengesetzten Stimmung: denn ich hatte mich durch diese Composition, mehr als durch jede andere, aus einem stuͤrmischen Elemente gerettet, auf dem ich durch eigne und fremde Schuld, durch zufaͤllige und gewaͤhlte Lebensweise, durch Vorsatz und Uebereilung, durch Hartnaͤckig¬ keit und Nachgeben, auf die gewaltsamste Art hin und wieder getrieben worden. Ich fuͤhlte mich, wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frey, und zu einem neuen Leben berechtigt. Das alte Hausmittel war mir dießmal vortrefflich zu statten gekommen. Wie ich mich nun aber dadurch erleichtert und aufgeklaͤrt fuͤhlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaub¬ ten, man muͤsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln, einen solchen Roman nachspie¬ ten und sich allenfalls selbst erschießen; und was hier im Anfang unter wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publicum, und dieses Buͤchlein, was mir so viel genuͤtzt hatte, ward als hoͤchst schaͤdlich verrufen. Allen den Uebeln jedoch und dem Ungluͤck, das es hervorgebracht haben soll, waͤre zu¬ faͤlliger Weise beynahe vorgebeugt worden, als es, bald nach seiner Entstehung, Ge¬ fahr lief vernichtet zu werden; und damit verhielt sich's also. Merk war seit kurzem von Petersburg zuruͤckgekommen. Ich hatte ihn, weil er immer beschaͤftigt war, nur wenig gesprochen, und ihm von diesem Wer¬ ther, der mir am Herzen lag, nur das All¬ gemeinste eroͤffnen koͤnnen. Einst besuchte er mich, und als er nicht sehr gespraͤchig schien, bat ich ihn, mir zuzuhoͤren. Er setzte sich auf's Canapee, und ich begann, Brief vor Brief, das Abenteuer vorzutragen. Nach¬ dem ich eine Weile so fortgefahren hatte, ohne ihm ein Beyfallszeichen abzulocken, griff ich mich noch pathetischer an, und wie ward mir zu Muthe, als er mich, da ich eine Pause machte, mit einem: Nun ja! es ist ganz huͤbsch, auf das schrecklichste niederschlug, und sich, ohne etwas weiter hinzuzufuͤgen, entfernte. Ich war ganz außer mir: denn wie ich wohl Freude an meinen Sachen, aber in der ersten Zeit kein Urtheil uͤber sie hatte, so glaubte ich ganz sicher, ich habe mich im Sujet, im Ton, im Stil, die denn freylich alle bedenklich waren, vergriffen, und etwas ganz Unzulaͤssiges verfertigt. Waͤre ein Caminfeuer zur Hand gewesen, ich haͤtte das Werk sogleich hineingeworfen; aber ich er¬ mannte mich wieder und verbrachte schmerzli¬ che Tage, bis er mir endlich vertraute, daß er in jenem Moment sich in der schrecklichsten Lage befunden, in die ein Mensch gerathen kann. Er habe deswegen nichts gesehn noch gehoͤrt, und wisse gar nicht wovon in meinem Manuscripte die Rede sey. Die Sache hatte sich indessen, in so fern sie sich herstellen ließ, wieder hergestellt, und Merk war in den Zeiten seiner Energie der Mann, sich ins Ungeheure zu schicken; sein Humor fand sich wieder ein, nur war er noch bitte¬ rer geworden als vorher. Er schalt meinen Vorsatz den Werther umzuarbeiten mit der¬ ben Ausdruͤcken, und verlangte ihn gedruckt zu sehn wie er lag. Es ward ein sauberes Manuscript davon besorgt, das nicht lange in meinen Haͤnden blieb: denn zufaͤlliger Weise an demselben Tage, an dem meine Schwester sich mit Georg Schlosser verheira¬ tete, und das Haus, von einer freudigen Festlichkeit bewegt, glaͤnzte, traf ein Brief von Weygand aus Leipzig ein, mich um ein Manuscript zu ersuchen. Ein solches Zusam¬ mentreffen hielt ich fuͤr ein guͤnstiges Omen, ich sendete den Werther ab, und war sehr zufrieden, als das Honorar das ich dafuͤr erhielt, nicht ganz durch die Schulden ver¬ schlungen wurde, die ich um des Goetz von Berlichingen willen zu machen genoͤthigt ge¬ wesen. Die Wirkung dieses Buͤchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzuͤglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf. Denn wie es nur eines geringen Zuͤndkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschlaͤudern, so war auch die Explosion welche sich hierauf im Pu¬ blicum ereignete, deshalb so maͤchtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschuͤtterung deswegen so groß, weil ein Jeder mit seinen uͤbertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam. Man kann von dem Publicum nicht verlan¬ gen, daß es ein geistiges Werk geistig auf¬ nehmen solle. Eigentlich ward nur der In¬ halt, der Stoff beachtet, wie ich schon an meinen Freunden erfahren hatte, und dane¬ ben trat das alte Vorurtheil wieder ein, ent¬ springend aus der Wuͤrde eines gedruckten Buchs, daß es naͤmlich einen didactischen Zweck haben muͤsse. Die wahre Darstellung aber hat keinen. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge und dadurch erleuchtet und belehrt sie. Von Recensionen nahm ich wenig Notiz. Die Sache war fuͤr mich voͤllig abgethan, jene guten Leute mochten nun auch sehn, wie sie damit fertig wurden. Doch verfehlten meine Freunde nicht, diese Dinge zu sammeln, und weil sie in meine Ansichten schon mehr einge¬ weiht waren, sich daruͤber lustig zu machen. Die Freuden des jungen Werther , mit welchen Nicolai sich hervorthat, gaben uns zu mancherley Scherzen Gelegenheit. Die¬ ser uͤbrigens brave, verdienst- und kennt¬ nißreiche Mann hatte schon angefangen, alles niederzuhalten und zu beseitigen, was nicht zu seiner Sinnesart paßte, die er, geistig sehr beschraͤnkt, fuͤr die aͤchte und einzige hielt. Auch gegen mich mußte er sich sogleich versuchen, und jene Broschuͤre kam uns bald in die Haͤnde. Die hoͤchst zarte Vignette von Chodowiecki machte mir viel Vergnuͤgen; wie ich denn diesen Kuͤnstler uͤber die Maßen verehrte. Das Machwerk selbst war aus der rohen Hausleinwand zugeschnitten, welche recht derb zu bereiten der Menschen¬ verstand in seinem Familienkreise sich viel zu schaffen, macht. Ohne Gefuͤhl, daß hier nichts zu vermitteln sey, daß Werthers Jugendbluͤ¬ the schon von vorn herein als vom toͤdlichen Wurm gestochen erscheine, laͤßt der Verfasser meine Behandlung bis Seite 214 gelten, und als der wuͤste Mensch sich zum toͤdlichen Schritte vorbereitet, weiß der einsichtige psy¬ chische Arzt seinem Patienten eine mit Huͤh¬ nerblut geladene Pistole unterzuschieben, wo¬ raus denn ein schmutziger Spectakel, aber gluͤcklicher Weise kein Unheil hervorgeht. Lotte wird Werthers Gattinn, und die ganze Sa¬ che endigt sich zu Jedermans Zufriedenheit. So viel wuͤßte ich mich davon zu erin¬ nern: denn es ist mir nie wieder unter die Augen gekommen. Die Vignette hatte ich ausgeschnitten und unter meine liebsten Kupfer gelegt. Dann verfaßte ich, zur stillen und unverfaͤnglichen Rache, ein kleines Spottge¬ dicht, Nicolai auf Werthers Grabe , welches sich jedoch nicht mittheilen laͤßt. Auch die Lust alles zu dramatisiren, ward bey die¬ ser Gelegenheit abermals rege. Ich schrieb einen prosaischen Dialog zwischen Lotte und Werther, der ziemlich neckisch ausfiel. Wer¬ ther beschwert sich bitterlich, daß die Erloͤsung durch Huͤhnerblut so schlecht abgelaufen. Er ist zwar am Leben geblieben, hat sich aber die Augen ausgeschossen. Nun ist er in Ver¬ zweiflung, ihr Gatte zu seyn und sie nicht sehen zu koͤnnen, da ihm der Anblick ihres Gesammtwesens fast lieber waͤre, als die fuͤ¬ ßen Einzelnheiten, deren er sich durchs Ge¬ fuͤhl versichern darf. Lotten, wie man sie kennt, ist mit einem blinden Manne auch nicht sonderlich geholfen, und so findet sich Gelegenheit, Nicolai's Beginnen hoͤchlich zu schelten, daß er sich ganz unberufen in frem¬ de Angelegenheiten mische. Das Ganze war mit gutem Humor geschrieben, und schilderte mit freyer Vorahndung jenes ungluͤckliche duͤn¬ kelhafte Bestreben Nicolai's, sich mit Dingen zu befassen, denen er nicht gewachsen war, wodurch er sich und andern in der Folge viel Verdruß machte, und daruͤber zuletzt, bey so entschiedenen Verdiensten, seine literarische Achtung voͤllig verlor. Das Originalblatt dieses Scherzes ist niemals abgeschrieben wor¬ den und seit vielen Jahren verstoben. Ich hatte fuͤr die kleine Production eine besondere Vorliebe. Die reine heiße Neigung der bey¬ den jungen Personen war durch die comisch tragische Lage, in die sie sich versetzt fanden, mehr erhoͤht als geschwaͤcht. Die groͤßte Zaͤrt¬ lichkeit waltete durchaus, und auch der Geg¬ ner war nicht bitter, nur humoristisch behan¬ delt. Nicht ganz so hoͤflich ließ ich das Buͤch¬ III. 23 lein selber sprechen, welches, einen alten Reim nachahmend, sich also ausdruͤckte: Mag jener duͤnkelhafte Mann Mich als gefaͤhrlich preisen; Der plumpe, der nicht schwimmen kann, Er will's dem Wasser verweisen! Was schiert mich der Berliner Bann, Geschmaͤcklerpfaffenwesen! Und wer mich nicht verstehen kann Der lerne besser lesen. Vorbereitet auf alles was man gegen den Werther vorbringen wuͤrde, fand ich so viele Widerreden keineswegs verdrießlich; aber dar¬ an hatte ich nicht gedacht, daß mir durch theilnehmende, wohlwollende Seelen eine un¬ leidliche Qual bereitet sey: denn anstatt daß mir jemand uͤber mein Buͤchlein wie es lag, etwas Verbindliches gesagt haͤtte, so wollten sie saͤmmtlich ein fuͤr allemal wissen, was denn eigentlich an der Sache wahr sey? wo¬ ruͤber ich denn sehr aͤrgerlich wurde, und mich meistens hoͤchst unartig dagegen aͤußerte. Denn diese Frage zu beantworten, haͤtte ich mein Werkchen, an dem ich so lange gesonnen, um so manchen Elementen eine poetische Einheit zu geben, wieder zerrupfen und die Form zer¬ stoͤren muͤssen, wodurch ja die wahrhaften Be¬ standtheile selbst wo nicht vernichtet, wenig¬ stens zerstreut und verzettelt worden waͤren. Naͤher betrachtet konnte ich jedoch dem Pu¬ blicum die Forderung nicht veruͤblen. Jeru¬ salems Schicksal hatte großes Aufsehen ge¬ macht. Ein gebildeter, liebenswerther, unbe¬ scholtener junger Mann, der Sohn eines der ersten Gottesgelahrten und Schriftstellers, ge¬ sund und wohlhabend, ging auf einmal, ohne bekannte Veranlassung, aus der Welt. Jeder¬ man fragte nun, wie das moͤglich gewesen? und als man von einer ungluͤcklichen Liebe vernahm, war die ganze Jugend, als man von kleinen Verdrießlichkeiten, die ihm in vor¬ nehmerer Gesellschaft begegnet, sprach, der 23* ganze Mittelstand aufgeregt, und Jederman wuͤnschte das Genauere zu erfahren. Nun erschien im Werther eine ausfuͤhrliche Schil¬ derung, in der man das Leben und die Sin¬ nesart des genannten Juͤnglings wieder zu finden meynte. Localitaͤt und Persoͤnlichkeit trafen zu, und bey der großen Natuͤrlichkeit der Darstellung glaubte man sich nun voll¬ kommen unterrichtet und befriedigt. Dage¬ gen aber, bey naͤherer Betrachtung, paßte wieder so vieles nicht, und es entstand fuͤr die welche das Wahre suchten, ein unertraͤg¬ liches Geschaͤft, indem eine sondernde Critik hundert Zweifel erregen muß. Auf den Grund der Sache war aber gar nicht zu kommen: denn was ich von meinem Leben und Leiden der Composition zugewendet hatte, ließ sich nicht entziffern, indem ich, als ein unbemerk¬ ter junger Mensch, mein Wesen zwar nicht heimlich, aber doch im Stillen getrieben hatte. Bey meiner Arbeit war mir nicht unbe¬ kannt, wie sehr beguͤnstigt jener Kuͤnstler ge¬ wesen, dem man Gelegenheit gab, eine Ve¬ nus aus mehreren Schoͤnheiten herauszustudi¬ ren, und so nahm ich mir auch die Erlaub¬ niß, an der Gestalt und den Eigenschaften mehrerer huͤbschen Kinder meine Lotte zu bil¬ den, obgleich die Hauptzuͤge von der geliebte¬ sten genommen waren. Das forschende Pu¬ blicum konnte daher Aehnlichkeiten von ver¬ schiedenen Frauenzimmern entdecken, und den Damen war es auch nicht ganz gleichguͤltig, fuͤr die rechte zu gelten. Diese mehreren Lot¬ ten aber brachten mir unendliche Qual, weil Jederman der mich nur ansah, entschieden zu wissen verlangte, wo denn die eigentliche wohnhaft sey? Ich suchte mir wie Nathan mit den drey Ringen durchzuhelfen, auf ei¬ nem Auswege, der freylich hoͤheren Wesen zukommen mag, wodurch sich aber weder das glaͤubige, noch das lesende Publicum will be¬ friedigen lassen. Dergleichen peinliche For¬ schungen hoffte ich in einiger Zeit loszuwer¬ den; allein sie begleiteten mich durch's ganze Leben. Ich suchte mich davor auf Reisen durch's Incognito zu retten, aber auch dieses Huͤlfsmittel wurde mir unversehens vereitelt, und so war der Verfasser jenes Werkleins, wenn er ja etwas Unrechtes und Schaͤdliches gethan, dafuͤr genugsam, ja uͤbermaͤßig durch solche unausweichliche Zudringlichkeiten bestraft. Auf diese Weise bedraͤngt, ward er nur allzu sehr gewahr, daß Autoren und Publicum durch eine ungeheuere Kluft getrennt sind, wovon sie, zu ihrem Gluͤck, beyderseits kei¬ nen Begriff haben. Wie vergeblich daher alle Vorreden seyen, hatte er schon laͤngst einge¬ sehen: denn jemehr man seine Absicht klar zu machen gedenkt, zu desto mehr Verwirrung giebt man Anlaß. Ferner mag ein Autor be¬ vorworten so viel er will, das Publicum wird immer fortfahren, die Forderungen an ihn zu machen, die er schon abzulehnen suchte. Mit einer verwandten Eigenheit der Leser, die uns besonders bey denen welche ihr Urtheil drucken lassen, ganz comisch auffaͤllt, ward ich gleich¬ falls fruͤh bekannt. Sie leben naͤmlich in dem Wahn, man werde, indem man etwas leistet, ihr Schuldner, und bleibe jederzeit noch weit zuruͤck hinter dem was sie eigentlich wollten und wuͤnschten, ob sie gleich kurz vorher, ehe sie unsere Arbeit gesehn, noch gar keinen Be¬ griff hatten, daß so etwas vorhanden oder nur moͤglich seyn koͤnnte. Alles dieses bey Seite gesetzt, so war nun das groͤßte Gluͤck oder Ungluͤck, daß Jederman von diesem selt¬ samen jungen Autor, der so unvermuthet und so kuͤhn hervorgetreten, Kenntniß gewinnen wollte. Man verlangte ihn zu sehen, zu sprechen, auch in der Ferne etwas von ihm zu vernehmen, und so hatte er einen hoͤchst bedeutenden, bald erfreulichen, bald unerquick¬ lichen, immer aber zerstreuenden Zudrang zu erfahren. Denn es lagen angefangene Arbei¬ ten genug vor ihm, ja es waͤre fuͤr einige Jahre hinreichend zu thun gewesen, wenn er mit hergebrachter Liebe sich daran haͤtte hal¬ ten koͤnnen; aber er war aus der Stille, der Daͤmmerung, der Dunkelheit, welche ganz allein die reinen Productionen beguͤnstigen kann, in den Laͤrmen des Tageslichts hervor¬ gezogen, wo man sich in anderen verliert, wo man irre gemacht wird durch Theilnahme wie durch Kaͤlte, durch Lob und durch Tadel, weil diese aͤußern Beruͤhrungen niemals mit der Epoche unserer innern Cultur zusammentreffen, und uns daher, da sie nicht foͤrdern koͤnnen, nothwendig schaden muͤssen. Doch mehr als alle Zerstreuungen des Tags, hielt den Verfasser von Bearbeitung und Vollendung groͤßerer Werke die Lust ab, die uͤber jene Gesellschaft gekommen war, al¬ les was im Leben einigermaßen bedeutendes vorging, zu dramatisiren . Was dieses Kunstwort, (denn ein solches war es, in je¬ ner productiven Gesellschaft) eigentlich bedeu¬ tete, ist hier auseinander zu setzen. Durch ein geistreiches Zusammenseyn an den heitersten Tagen aufgeregt, gewoͤhnte man sich, in au¬ genblicklichen kurzen Darstellungen alles das¬ jenige zu zersplittern, was man sonst zusam¬ mengehalten hatte, um groͤßere Compositionen daraus zu erbauen. Ein einzelner einfacher Vorfall, ein gluͤcklich naives, ja ein albernes Wort, ein Misverstand, eine Paradoxie, eine geistreiche Bemerkung, persoͤnliche Eigenheiten oder Angewohnheiten, ja eine bedeutende Miene, und was nur immer in einem bun¬ ten rauschenden Leben vorkommen mag, alles ward in Form des Dialogs, der Catechisa¬ tion, einer bewegten Handlung, eines Schau¬ spiels dargestellt, manchmal in Prosa, oͤfters in Versen. An dieser genialisch-leidenschaftlich durch¬ gesetzten Uebung bestaͤtigte sich jene eigentlich poetische Denkweise. Man ließ naͤmlich Ge¬ genstaͤnde, Begebenheiten, Personen an und fuͤr sich, so wie in allen Verhaͤltnissen beste¬ hen, man suchte sie nur deutlich zu fassen und lebhaft abzubilden. Alles Urtheil, billi¬ gend oder misbilligend, sollte sich vor den Augen des Beschauers in lebendigen Formen bewegen. Man koͤnnte diese Productionen belebte Sinngedichte nennen, die ohne Schaͤr¬ fe und Spitzen, mit treffenden und entschei¬ denden Zuͤgen reichlich ausgestattet waren. Das Jahrmarktsfest ist ein solches, oder vielmehr eine Sammlung solcher Epigramme. Unter allen dort auftretenden Masken sind wirkliche, in jener Societaͤt lebende Glieder, oder ihr wenigstens verbundene und einiger¬ maßen bekannte Personen gemeynt; aber der Sinn des Raͤthsels blieb den meisten verbor¬ gen, alle lachten, und wenige wußten, daß ihnen ihre eigensten Eigenheiten zum Scherze dienten. Der Prolog zu Barths neue¬ sten Offenbarungen gilt fuͤr einen Be¬ leg anderer Art; die kleinsten finden sich un¬ ter den gemischten Gedichten, sehr viele sind zerstoben und verloren gegangen, manche noch uͤbrige lassen sich nicht wohl mittheilen. Was hiervon im Druck erschienen, vermehrte nur die Bewegung im Publicum, und die Neu¬ gierde auf den Verfasser; was handschriftlich mitgetheilt wurde, belebte den naͤchsten Kreis, der sich immer erweiterte. Doctor Barth , damals in Gießen, besuchte mich, scheinbar hoͤflich und zutraulich; er scherzte uͤber den Prolog, und wuͤnschte ein freundliches Ver¬ haͤltniß. Wir jungen Leute aber fuhren fort kein geselliges Fest zu begehen, ohne mit stil¬ ler Schadenfreude uns der Eigenheiten zu er¬ freuen, die wir an andern bemerkt und gluͤck¬ lich dargestellt hatten. Misfiel es nun dem jungen Autor keines¬ wegs, als ein literarisches Meteor angestaunt zu werden; so suchte er mit freudiger Be¬ scheidenheit den bewaͤhrtesten Maͤnnern des Vaterlands seine Achtung zu bezeigen, unter denen vor allen andern der herrliche Justus Moͤser zu nennen ist. Dieses unvergleich¬ lichen Mannes kleine Aufsaͤtze, staatsbuͤrger¬ lichen Inhalts, waren schon seit einigen Jah¬ ren in den Osnabruͤcker Intelligenzblaͤttern ab¬ gedruckt, und mir durch Herder bekannt ge¬ worden, der nichts ablehnte was irgend wuͤr¬ dig, zu seiner Zeit, besonders aber im Druck sich hervorthat. Moͤsers Tochter, Frau von Voigt , war beschaͤftigt, diese zerstreuten Blaͤt¬ ter zu sammeln. Wir konnten die Heraus¬ gabe kaum erwarten, und ich setzte mich mit ihr in Verbindung, um mit aufrichtiger Theil¬ nahme zu versichern, daß die fuͤr einen be¬ stimmten Kreis berechneten wirksamen Auf¬ saͤtze, sowohl der Materie als der Form nach, uͤberall zum Nutzen und Frommen dienen wuͤrden. Sie und ihr Vater nahmen diese Aeußerung eines nicht ganz unbekannten Fremd¬ lings gar wohl auf, indem eine Besorgniß die sie gehegt, durch diese Erklaͤrung vorlaͤu¬ fig gehoben worden. An diesen kleinen Aufsaͤtzen, welche, saͤmmt¬ lich in Einem Sinne verfaßt, ein wahrhaft Ganzes ausmachen, ist die innigste Kenntniß des buͤrgerlichen Wesens im hoͤchsten Grade merkwuͤrdig und ruͤhmenswerth. Wir sehen eine Verfassung auf der Vergangenheit ruhn, und noch als lebendig bestehn. Von der ei¬ nen Seite haͤlt man am Herkommen fest, von der andern kann man die Bewegung und Veraͤnderung der Dinge nicht hindern. Hier fuͤrchtet man sich vor einer nuͤtzlichen Neue¬ rung, dort hat man Lust und Freude am Neuen, auch wenn es unnuͤtz ja schaͤdlich waͤ¬ re. Wie vorurtheilsfrey setzt der Verfasser die Verhaͤltnisse der Staͤnde aus einander, so wie den Bezug, in welchem die Staͤdte, Fle¬ cken und Doͤrfer wechselseitig stehn. Man erfaͤhrt ihre Gerechtsame zugleich mit den rechtlichen Gruͤnden, es wird uns bekannt, wo das Grundcapital des Staats liegt und was es fuͤr Interessen bringt. Wir sehen den Besitz und seine Vortheile, dagegen aber auch die Abgaben und Nachtheile verschiede¬ ner Art, sodann den mannigfaltigen Erwerb; hier wird gleichfalls die aͤltere und neuere Zeit einander entgegengesetzt. Osnabruͤck , als Glied der Hanse, fin¬ den wir in der aͤltern Epoche in großer Han¬ delsthaͤtigkeit. Nach jenen Zeitverhaͤltnissen hat es eine merkwuͤrdige und schoͤne Lage; es kann sich die Producte des Landes zueignen, und ist nicht allzu weit von der See entfernt, um auch dort selbst mitzuwirken. Nun aber, in der spaͤteren Zeit, liegt es schon tief in der Mitte des Landes, es wird nach und nach vom Seehandel entfernt und ausgeschlos¬ sen. Wie dieß zugegangen, wird von vielen Seiten dargestellt. Zur Sprache kommt der Conflict Englands und der Kuͤsten, der Haͤ¬ fen und des Mittellandes; hier werden die großen Vortheile derer welche der See an¬ wohnen herausgesetzt, und ernstliche Vorschlaͤ¬ ge gethan, wie die Bewohner des Mittellan¬ des sich dieselben gleichfalls zueignen koͤnnten. Sodann erfahren wir gar manches von Ge¬ werben und Handwerken, und wie solche durch Fabriken uͤberfluͤgelt, durch Kraͤmerey unter¬ graben werden; wir sehen den Verfall, als den Erfolg von mancherley Ursachen, und die¬ sen Erfolg wieder als die Ursache neuen Ver¬ falls, in einem ewigen schwer zu loͤsenden Cir¬ kel; doch zeichnet ihn der wackere Staatsbuͤr¬ ger auf eine so deutliche Weise hin, daß man noch glaubt, sich daraus retten zu koͤnnen. Durchaus laͤßt der Verfasser die gruͤndlichste Einsicht in die besondersten Umstaͤnde sehen. Seine Vorschlaͤge, sein Rath, nichts ist aus der Luft gegriffen, und doch so oft nicht aus¬ fuͤhrbar, deswegen er auch die Sammlung Patriotische Phantasieen genannt, ob¬ gleich alles sich darin an das Wirkliche und Moͤgliche haͤlt. Da nun aber alles Oeffentliche auf dem Familienwesen ruht, so wendet er auch dahin vorzuͤglich seinen Blick. Als Gegenstaͤnde sei¬ ner ernsten und scherzhaften Betrachtungen finden wir die Veraͤnderung der Sitten und Gewohnheiten, der Kleidungen, der Diaͤt, des haͤuslichen Lebens, der Erziehung. Man muͤßte eben alles was in der buͤrgerlichen und sittlichen Welt vorgeht, rubriciren, wenn man die Gegenstaͤnde erschoͤpfen wollte, die er be¬ handelt. Und diese Behandlung ist bewun¬ dernswuͤrdig. Ein vollkommener Geschaͤfts¬ mann spricht zum Volke in Wochenblaͤttern, um dasjenige, was eine einsichtige wohlwollen¬ de Regierung sich vornimmt oder ausfuͤhrt, ei¬ nem Jeden von der rechten Seite faßlich zu machen; keineswegs aber lehrhaft, sondern in den mannigfaltigsten Formen, die man poe¬ tisch nennen koͤnnte, und die gewiß in dem besten Sinn fuͤr rhetorisch gelten muͤssen. Im¬ mer ist er uͤber seinen Gegenstand erhaben, und weiß uns eine heitere Ansicht des Ern¬ stesten zu geben; bald hinter dieser bald hin¬ ter jener Maske halb versteckt, bald in eig¬ ner Person sprechend, immer vollstaͤndig und erschoͤpfend, dabey immer froh, mehr oder weniger ironisch, durchaus tuͤchtig, rechtschaf¬ fen, wohlmeinend, ja manchmal derb und heftig, und dieses alles so abgemessen, daß man zugleich den Geist, den Verstand, die Leichtigkeit. Gewandheit, den Geschmack und Character des Schriftstellers bewundern muß. In Absicht auf Wahl gemeinnuͤtziger Ge¬ genstaͤnde, auf tiefe Einsicht, freye Uebersicht, gluͤckliche Behandlung, so gruͤndlichen als fro¬ hen Humor, wuͤßte ich ihm Niemand als Franklin zu vergleichen. Ein solcher Mann imponirte uns unend¬ lich und hatte den groͤßten Einfluß auf eine Jugend, die auch etwas Tuͤchtiges wollte, und im Begriff stand, es zu erfassen. In die Formen seines Vortrags glaubten wir uns wohl auch finden zu koͤnnen; aber wer durfte hoffen, sich eines so reichen Gehalts zu be¬ III. 24 maͤchtigen, und die widerspaͤnstigsten Gegen¬ staͤnde mit so viel Freyheit zu handhaben? Doch das ist unser schoͤnster und suͤßester Wahn, den wir nicht aufgeben duͤrfen, ob er uns gleich viel Pein im Leben verursacht, daß wir das was wir schaͤtzen und verehren, uns auch wo moͤglich zueignen, ja aus uns selbst hervorbringen und darstellen moͤchten. Vierzehntes Buch. 24* Mit jener Bewegung nun, welche sich im Publicum verbreitete, ergab sich eine an¬ dere, fuͤr den Verfasser vielleicht von groͤßerer Bedeutung, indem sie sich in seiner naͤchsten Umgebung ereignete. Aeltere Freunde, wel¬ che jene Dichtungen, die nun so großes Auf¬ sehen machten, schon im Manuscript gekannt hatten, und sie deshalb zum Theil als die ihrigen ansahen, triumphirten uͤber den gu¬ ten Erfolg, den sie, kuͤhn genug, zum vor¬ aus geweissagt. Zu ihnen fanden sich neue Theilnehmer, besonders solche, welche selbst eine productive Kraft in sich spuͤrten, oder zu erregen und zu hegen wuͤnschten. Unter den erstern that sich Lenz am leb¬ haftesten und gar sonderbar hervor. Das Aeußerliche dieses merkwuͤrdigen Menschen ist schon umrissen, seines humoristischen Talents mit Liebe gedacht: nun will ich von seinem Character mehr in Resultaten als schildernd sprechen, weil es unmoͤglich waͤre, ihn durch die Umschweife seines Lebensganges zu be¬ gleiten, und seine Eigenheiten darstellend zu uͤberliefern. Man kennt jene Selbstquaͤlerey, welche, da man von außen und von andern keine Noth hatte, an der Tagesordnung war, und gerade die vorzuͤglichsten Geister beunruhigte. Was gewoͤhnliche Menschen, die sich nicht selbst beobachten, nur voruͤbergehend quaͤlt, was sie sich aus dem Sinne zu schlagen su¬ chen, das ward von den besseren scharf be¬ merkt, beachtet, in Schriften, Briefen und Tagebuͤchern aufbewahrt. Nun aber gesellten sich die strengsten sittlichen Forderungen an sich und andere zu der groͤßten Fahrlaͤssigkeit im Thun, und ein aus dieser halben Selbst¬ kenntniß entspringender Duͤnkel verfuͤhrte zu den seltsamsten Angewohnheiten und Unarten. Zu einem solchen Abarbeiten in der Selbstbe¬ obachtung berechtigte jedoch die aufwachende empirische Psychologie, die nicht gerade alles was uns innerlich beunruhigt, fuͤr boͤs und verwerflich erklaͤren wollte, aber doch auch nicht alles billigen konnte; und so war ein ewiger nie beyzulegender Streit erregt. Die¬ sen zu fuͤhren und zu unterhalten uͤbertraf nun Lenz alle uͤbrigen Un- oder Halbbeschaͤf¬ tigten, welche ihr Inneres untergruben, und so litt er im Allgemeinen von der Zeitgesin¬ nung, welche durch die Schilderung Werther's abgeschlossen seyn sollte; aber ein individueller Zuschnitt unterschied ihn von allen uͤbrigen, die man durchaus fuͤr offene redliche Seelen anerkennen mußte. Er hatte naͤmlich einen entschiedenen Hang zur Intrigue, und zwar zur Intrigue an sich, ohne daß er eigentliche Zwecke, verstaͤndige, selbstische, erreichbare Zwecke dabey gehabt haͤtte; vielmehr pflegte er sich immer etwas Fratzenhaftes vorzusetzen, und eben deswegen diente es ihm zur bestaͤn¬ digen Unterhaltung. Auf diese Weise war er Zeitlebens ein Schelm in der Einbildung, seine Liebe wie sein Haß waren imaginaͤr, mit sei¬ nen Vorstellungen und Gefuͤhlen verfuhr er willkuͤhrlich, damit er immer fort etwas zu thun haben moͤchte. Durch die verkehrtesten Mittel suchte er seinen Neigungen und Ab¬ neigungen Realitaͤt zu geben, und vernichtete sein Werk immer wieder selbst; und so hat er Niemanden den er liebte, jemals genuͤtzt, Nie¬ manden den er haßte, jemals geschadet, und im Ganzen schien er nur zu suͤndigen, um sich strafen, nur zu intriguiren, um eine neue Fabel auf eine alte pfropfen zu koͤnnen. Aus wahrhafter Tiefe, aus unerschoͤpfli¬ cher Productivitaͤt ging sein Talent hervor, in welchem Zartheit, Beweglichkeit und Spitzfin¬ digkeit mit einander wetteiferten, das aber, bey aller seiner Schoͤnheit, durchaus kraͤnkelte, und gerade diese Talente sind am schwersten zu beurtheilen. Man konnte in seinen Ar¬ beiten große Zuͤge nicht verkennen; eine lieb¬ liche Zaͤrtlichkeit schleicht sich durch zwischen den albernsten und barockesten Fratzen, die man selbst einem so gruͤndlichen und anspruch¬ losen Humor, einer wahrhaft komischen Gabe kaum verzeihen kann. Seine Tage waren aus lauter Nichts zusammengesetzt, dem er durch seine Ruͤhrigkeit eine Bedeutung zu geben wußte, und er konnte um so mehr viele Stunden verschlendern, als die Zeit die er zum Lesen anwendete, ihm, bey einem gluͤck¬ lichen Gedaͤchtniß, immer viel Frucht brachte, und seine originelle Denkweise mit mannigfal¬ tigem Stoff bereicherte. Man hatte ihn mit lieflaͤndischen Cavalie¬ ren nach Straßburg gesendet, und einen Mentor nicht leicht ungluͤcklicher waͤhlen koͤnnen. Der aͤltere Baron ging fuͤr einige Zeit ins Vaterland zuruͤck, und hinterließ eine Ge¬ liebte, an die er fest geknuͤpft war. Lenz, um den zweyten Bruder, der auch um die¬ ses Frauenzimmer warb, und andere Liebha¬ ber zuruͤckzudraͤngen, und das kostbare Herz seinem abwesenden Freunde zu erhalten, be¬ schloß nun selbst sich in die Schoͤne verliebt zu stellen, oder, wenn man will, zu verlie¬ ben. Er setzte diese seine These mit der hart¬ naͤckigsten Anhaͤnglichkeit an das Ideal, das er sich von ihr gemacht hatte, durch, ohne gewahr werden zu wollen, daß er so gut als die uͤbrigen ihr nur zum Scherz und zur Unter¬ haltung diene. Desto besser fuͤr ihn! denn bey ihm war es auch nur Spiel, welches desto laͤnger dauern konnte als sie es ihm gleichfalls spielend erwiederte, ihn bald anzog, bald abstieß, bald hervorrief, bald hintan¬ setzte. Man sey uͤberzeugt, daß wenn er zum Bewußtseyn kam, wie ihm denn das zuweilen zu geschehen pflegte, er sich zu ei¬ nem solchen Fund recht behaglich Gluͤck ge¬ wuͤnscht habe. Uebrigens lebte er, wie seine Zoͤglinge, meistens mit Officieren der Garnison, wobey ihm die wundersamen Anschauungen, die er spaͤter in dem Lustspiel die Soldaten auf¬ stellte, moͤgen geworden seyn. Indessen hatte diese fruͤhe Bekanntschaft mit dem Militair die eigene Folge fuͤr ihn, daß er sich fuͤr ei¬ nen großen Kenner des Waffenwesens hielt; auch hatte er wirklich dieses Fach nach und nach so im Detail studirt, daß er, einige Jahre spaͤter, ein großes Memoire an den franzoͤsischen Kriegsminister aufsetzte, wovon er sich den besten Erfolg versprach. Die Ge¬ brechen jenes Zustandes waren ziemlich gut gesehn, die Heilmittel dagegen laͤcherlich und unausfuͤhrbar. Er aber hielt sich uͤberzeugt, daß er dadurch bey Hofe großen Einfluß ge¬ winnen koͤnne, und wußte es den Freunden schlechten Dank, die ihn, theils durch Gruͤnde, theils durch thaͤtigen Widerstand, abhielten, dieses phantastische Werk, das schon sauber abgeschrieben, mit einem Briefe begleitet, couvertirt und foͤrmlich adressirt war, zuruͤck¬ zuhalten, und in der Folge zu verbrennen. Muͤndlich und nachher schriftlich hatte er mir die saͤmmtlichen Irrgaͤnge seiner Kreuz- und Querbewegungen, in Bezug auf jenes Frauenzimmer vertraut. Die Poesie die er in das Gemeinste zu legen wußte, setzte mich oft in Erstaunen, so daß ich ihn dringend bat, den Kern dieses weitschweifigen Aben¬ teuers geistreich zu befruchten, und einen kleinen Roman daraus zu bilden; aber es war nicht seine Sache, ihm konnte nicht wohl werden, als wenn er sich grenzenlos im Ein¬ zelnen verfloß und sich an einem unendlichen Faden ohne Absicht hinspann. Vielleicht wird es dereinst moͤglich, nach diesen Praͤmissen, seinen Lebensgang, bis zu der Zeit da er sich in Wahnsinn verlor, auf irgend eine Weise anschaulich zu machen; gegenwaͤrtig halte ich mich an das Naͤchste, was eigentlich hierher gehoͤrt. Kaum war Goetz von Berlichingen er¬ schienen, als mir Lenz einen weitlaͤuftigen Aufsatz zusendete, auf geringes Conceptpapier geschrieben, dessen er sich gewoͤhnlich bediente, ohne den mindesten Rand weder oben noch unten, noch an den Seiten zu lassen. Die¬ se Blaͤtter waren betitelt: Ueber unsere Ehe , und sie wuͤrden, waͤren sie noch vor¬ handen, uns gegenwaͤrtig mehr aufklaͤren als mich damals, da ich uͤber ihn und sein We¬ sen noch sehr im Dunkeln schwebte. Das Hauptabsehen dieser weitlaͤuftigen Schrift war, mein Talent und das seinige neben einander zu stellen; bald schien er sich mir zu subordi¬ niren, bald sich mir gleich zu setzen; das al¬ les aber geschah mit so humoristischen und zierlichen Wendungen, daß ich die Ansicht, die er mir dadurch geben wollte, um so lie¬ ber aufnahm, als ich seine Gaben wirklich sehr hoch schaͤtzte und immer nur darauf drang, daß er aus dem formlosen Schweifen sich zu¬ sammenziehen, und die Bildungsgabe, die ihm angeboren war, mit kunstgemaͤßer Fas¬ sung benutzen moͤchte. Ich erwiederte sein Vertrauen freundlichst, und weil er in seinen Blaͤttern auf die innigste Verbindung drang (wie denn auch schon der wunderliche Titel andeutete), so theilte ich ihm von nun an al¬ les mit, sowohl das schon Gearbeitete als was ich vorhatte; er sendete mir dagegen nach und nach seine Manuscripte, den Hof¬ meister , den neuen Menoza , die Sol¬ daten , Nachbildungen des Plautus , und jene Uebersetzung des englischen Stuͤcks als Zugabe zu den Anmerkungen uͤber das Theater . Bey diesen war es mir einigermaßen auf¬ fallend, daß er in einem laconischen Vorbe¬ richte sich dahin aͤußerte, als sey der Inhalt dieses Aufsatzes, der mit Heftigkeit gegen das regelmaͤßige Theater gerichtet war, schon vor einigen Jahren, als Vorlesung, einer Gesell¬ schaft von Literaturfreunden bekannt geworden, zu der Zeit also, wo Goetz noch nicht geschrie¬ ben gewesen. In Lenzens Straßburger Ver¬ haͤltnissen schien ein literarischer Cirkel den ich nicht kennen sollte, etwas problematisch; allein ich ließ es hingehen, und verschaffte ihm zu dieser wie zu seinen uͤbrigen Schriften bald Verleger, ohne auch nur im mindesten zu ahn¬ den, daß er mich zum vorzuͤglichsten Gegen¬ stande seines imaginaͤren Hasses, und zum Ziel einer abenteuerlichen und grillenhaften Ver¬ folgung ausersehn hatte. Voruͤbergehend will ich nur, der Folge wegen, noch eines guten Gesellen gedenken, der, obgleich von keinen außerordentlichen Ga¬ ben, doch auch mitzaͤhlte. Er hieß Wagner , erst ein Glied der Straßburger, dann der Frankfurter Gesellschaft; nicht ohne Geist, Ta¬ lent und Unterricht. Er zeigte sich als ein Strebender, und so war er willkommen. Auch hielt er treulich an mir, und weil ich aus al¬ lem was ich vorhatte kein Geheimniß machte, so erzaͤhlte ich ihm wie andern meine Absicht mit Faust, besonders die Catastrophe von Gret¬ chen. Er faßte das Suͤjet auf, und benutzte es fuͤr ein Trauerspiel, die Kindesmoͤrde¬ rinn . Es war das erste Mal, daß mir Je¬ mand etwas von meinen Vorsaͤtzen wegschnapp¬ te; es verdroß mich, ohne daß ich's ihm nach¬ getragen haͤtte. Ich habe dergleichen Gedan¬ kenraub und Vorwegnahmen nachher noch oft genug erlebt, und hatte mich, bey meinem Zaudern und Beschwaͤtzen so manches Vorge¬ setzten und Eingebildeten, nicht mit Recht zu beschweren. Wenn Redner und Schriftsteller, in Be¬ tracht der großen Wirkung welche dadurch her¬ vorzubringen ist, sich gern der Contraste be¬ dienen, und sollten sie auch erst aufgesucht und herbeygeholt werden; so muß es dem Verfasser um so angenehmer seyn, daß ein entschiedener Gegensatz sich ihm anbietet, in¬ dem er nach Lenzen von Klingern zu spre¬ chen hat. Beyde waren gleichzeitig, bestreb¬ ten sich in ihrer Jugend mit und neben ein¬ ander. Lenz jedoch, als ein voruͤbergehen¬ des Meteor, zog nur augenblicklich uͤber den Horizont der deutschen Literatur hin und ver¬ schwand ploͤtzlich, ohne im Leben eine Spur zu¬ ruͤckzulassen; Klinger hingegen, als einflußrei¬ cher Schriftsteller, als thaͤtiger Geschaͤftsmann, erhaͤlt sich noch bis auf diese Zeit. Von ihm werde ich nun ohne weitere Vergleichung, die sich von selbst ergiebt, sprechen, in so fern es noͤthig ist, da er nicht im Verborgenen so manches geleistet und so vieles gewirkt, son¬ dern beydes, in weiterem und naͤherem Kreise, noch in gutem Andenken und Ansehn steht. Klingers Aeußeres — denn von diesem beginne ich immer am liebsten — war sehr vortheilhaft. Die Natur hatte ihm eine große, schlanke, wohlgebaute Gestalt und eine regelmaͤßige Gesichtsbildung gegeben; er hielt auf seine Person, trug sich nett, und man III. 25 konnte ihn fuͤr das huͤbscheste Mitglied der ganzen kleinen Gesellschaft ansprechen. Sein Betragen war weder zuvorkommend noch ab¬ stoßend, und, wenn es nicht innerlich stuͤrmte, gemaͤßigt. Man liebt an dem Maͤdchen was es ist, und an dem Juͤngling was er ankuͤndigt, und so war ich Klingers Freund, sobald ich ihn kennen lernte. Er empfahl sich durch eine reine Gemuͤthlichkeit, und ein unverkennbar entschiedener Character erwarb ihm Zutrauen. Auf ein ernstes Wesen war er von Jugend auf hingewiesen; er, nebst einer eben so schoͤ¬ nen und wackern Schwester, hatte fuͤr eine Mutter zu sorgen, die, als Wittwe, sol¬ cher Kinder bedurfte, um sich aufrecht zu er¬ halten. Alles was an ihm war, hatte er sich selbst verschafft und geschaffen, so daß man ihm einen Zug von stolzer Unabhaͤngig¬ keit, der durch sein Betragen durchging, nicht verargte. Entschiedene natuͤrliche Anla¬ gen, welche allen wohlbegabten Menschen ge¬ mein sind, leichte Fassungskraft, vortreffli¬ ches Gedaͤchtniß, Sprachengabe besaß er in hohem Grade; aber alles schien er weniger zu achten als die Festigkeit und Beharrlich¬ keit, die sich ihm, gleichfalls angeboren, durch Umstaͤnde voͤllig bestaͤtigt hatten. Einem solchen Juͤngling mußten Rousseau's Werke vorzuͤglich zusagen. Emil war sein Haupt- und Grundbuch, und jene Gesin¬ nungen fruchteten um so mehr bey ihm, als sie uͤber die ganze gebildete Welt allgemeine Wirkung ausuͤbten, ja bey ihm mehr als bey andern. Denn auch er war ein Kind der Natur, auch er hatte von unten auf ange¬ fangen; das was andere wegwerfen sollten, hatte er nie besessen, Verhaͤltnisse, aus wel¬ chen sie sich retten sollten, hatten ihn nie be¬ engt; und so konnte er fuͤr einen der reinsten Juͤnger jenes Naturevangeliums angesehen werden, und in Betracht seines ernsten Be¬ 25 * strebens, seines Betragens als Mensch und Sohn recht wohl ausrufen: alles ist gut, wie es aus den Haͤnden der Natur kommt! — Aber auch den Nachsatz: alles verschlimmert sich unter den Haͤnden der Menschen! draͤngte ihm eine widerwaͤrtige Erfahrung auf. Er hatte nicht mit sich selbst, aber außer sich mit der Welt des Herkommens zu kaͤmpfen, von deren Fesseln der Buͤrger von Genf uns zu erloͤsen gedachte. Weil nun, in des Juͤng¬ lings Lage, dieser Kampf oft schwer und sau¬ er ward, so fuͤhlte er sich gewaltsamer in sich zuruͤckgetrieben, als daß er durchaus zu einer frohen und freudigen Ausbildung haͤtte gelan¬ gen koͤnnen: vielmehr mußte er sich durch¬ stuͤrmen, durchdraͤngen; daher sich ein bitte¬ rer Zug in sein Wesen schlich, den er in der Folge zum Theil gehegt und genaͤhrt, mehr aber bekaͤmpft und besiegt hat. In seinen Productionen, in so fern sie mir gegenwaͤrtig sind, zeigt sich ein strenger Verstand, ein biederer Sinn, eine rege Ein¬ bildungskraft, eine gluͤckliche Beobachtung der menschlichen Mannigfaltigkeit, und eine charac¬ teristische Nachbildung der generischen Unter¬ schiede. Seine Maͤdchen und Knaben sind frey und lieblich, seine Juͤnglinge gluͤhend, seine Maͤnner schlicht und verstaͤndig, die Fi¬ guren die er unguͤnstig darstellt, nicht zu sehr uͤbertrieben; ihm fehlt es nicht an Heiterkeit und guter Laune, Witz und gluͤcklichen Ein¬ faͤllen; Allegorieen und Symbole stehen ihm zu Gebot; er weiß uns zu unterhalten und zu vergnuͤgen, und der Genuß wuͤrde noch reiner seyn, wenn er sich und uns den heitern bedeutenden Scherz nicht durch ein bitteres Miswollen hier und da verkuͤmmerte. Doch dieß macht ihn eben zu dem was er ist, und dadurch wird ja die Gattung der Lebenden und Schreibenden so mannigfaltig, daß ein Jeder, theoretisch, zwischen Erkennen und Irren, practisch, zwischen Beleben und Ver¬ nichten hin und wieder wogt. Klinger gehoͤrt unter die, welche sich aus sich selbst, aus ihrem Gemuͤthe und Verstande heraus zur Welt gebildet hatten. Weil nun dieses mit und in einer groͤßeren Masse ge¬ schah, und sie sich unter einander einer ver¬ staͤndlichen, aus der allgemeinen Natur und aus der Volks-Eigenthuͤmlichkeit herfließenden Sprache mit Kraft und Wirkung bedienten; so waren ihnen fruͤher und spaͤter alle Schul¬ formen aͤußerst zuwider, besonders wenn sie, von ihrem lebendigen Ursprung getrennt, in Phrasen ausarteten, und so ihre erste frische Bedeutung gaͤnzlich verloren. Wie nun gegen neue Meinungen, Ansichten, Systeme, so er¬ klaͤren sich solche Maͤnner auch gegen neue Er¬ eignisse, hervortretende bedeutende Menschen, welche große Veraͤnderungen ankuͤndigen oder bewirken: ein Verfahren, das ihnen keines¬ wegs so zu verargen ist, weil sie dasjenige von Grund aus gefaͤhrdet sehen, dem sie ihr eig¬ nes Daseyn und Bildung schuldig geworden. Jenes Beharren eines tuͤchtigen Charac¬ ters aber, wird um desto wuͤrdiger, wenn es sich durch das Welt- und Geschaͤftsleben durcherhaͤlt, und wenn eine Behandlungsart des Vorkoͤmmlichen, welche manchem schroff, ja gewaltsam scheinen moͤchte, zur rechten Zeit angewandt, am sichersten zum Ziele fuͤhrt. Dieß geschah bey ihm, da er ohne Biegsam¬ keit (welches ohnedem die Tugend der gebo¬ renen Reichsbuͤrger niemals gewesen,) aber desto tuͤchtiger, fester und redlicher, sich zu bedeutenden Posten erhob, sich darauf zu erhal¬ ten wußte, und mit Beyfall und Gnade sei¬ ner hoͤchsten Goͤnner fortwirkte, dabey aber niemals weder seine alten Freunde, noch den Weg den er zuruͤckgelegt, vergaß. Ja er suchte die vollkommenste Stetigkeit des Andenkens, durch alle Grade der Abwesenheit und Tren¬ nung, hartnaͤckig zu erhalten; wie es denn gewiß angemerkt zu werden verdient, daß er, als ein anderer Willigis , in seinem durch Ordenszeichen geschmuͤckten Wappen, Merk¬ male seiner fruͤhesten Zeit zu verewigen nicht verschmaͤhte. Es dauerte nicht lange, so kam ich auch mit Lavatern in Verbindung. Der Brief des Pastors an seinen Collegen hatte ihm stellenweise sehr eingeleuchtet: denn manches traf mit seinen Gesinnungen vollkommen uͤber¬ ein. Bey seinem unablaͤssigen Treiben ward unser Briefwechsel bald sehr lebhaft. Er machte so eben ernstliche Anstalten zu seiner groͤßern Physiognomik, deren Einleitung schon fruͤher in das Publicum gelangt war. Er forderte alle Welt auf, ihm Zeichnungen, Schattenrisse, besonders aber Christusbilder zu schicken, und ob ich gleich so gut wie gar nichts leisten konnte, so wollte er doch von mir ein fuͤr allemal auch einen Heiland ge¬ zeichnet haben, wie ich mir ihn vorstellte. Dergleichen Forderungen des Unmoͤglichen ga¬ ben mir zu mancherley Scherzen Anlaß, und ich wußte mir gegen seine Eigenheiten nicht anders zu helfen, als daß ich die meinigen hervorkehrte. Die Anzahl derer, welche keinen Glau¬ ben an die Physiognomik hatten, oder doch wenigstens sie fuͤr ungewiß und truͤglich hiel¬ ten, war sehr groß, und sogar viele die es mit Lavatern gut meinten, fuͤhlten einen Ki¬ tzel, ihn zu versuchen und ihm wo moͤglich einen Streich zu spielen. Er hatte sich in Frankfurt, bey einem nicht ungeschickten Ma¬ ler, die Profile mehrerer namhaften Men¬ schen bestellt. Der Absender erlaubte sich den Scherz, Bahrdts Portrait zuerst statt des meinigen abzuschicken, wogegen eine zwar mun¬ tere aber donnernde Epistel zuruͤckkam, mit allen Truͤmpfen und Betheurungen, daß dieß mein Bild nicht sey, und was Lavater sonst alles, zu Bestaͤtigung der physiognomischen Lehre, bey dieser Gelegenheit mochte zu sagen haben. Mein wirkliches nachgesendetes ließ er eher gelten; aber auch hier schon that sich der Widerstreit hervor, in welchem er sich sowohl mit den Malern als mit den Indivi¬ duen befand. Jene konnten ihm niemals wahr und genau genug arbeiten, diese, bey allen Vorzuͤgen welche sie haben mochten, blie¬ ben doch immer zu weit hinter der Idee zu¬ ruͤck, die er von der Menschheit und den Menschen hegte, als daß er nicht durch das Besondere, wodurch der einzelne zur Person wird, einigermaßen haͤtte abgestoßen werden sollen. Der Begriff von der Menschheit, der sich in ihm und an seiner Menschheit heran¬ gebildet hatte, war so genau mit der Vor¬ stellung verwandt, die er von Christo leben¬ dig in sich trug, daß es ihm unbegreiflich schien, wie ein Mensch leben und athmen koͤnne, ohne zugleich ein Christ zu seyn. Mein Ver¬ haͤltniß zu der christlichen Religion lag bloß in Sinn und Gemuͤth, und ich hatte von je¬ ner physischen Verwandschaft, zu welcher Lavater sich hinneigte, nicht den mindesten Begriff. Aergerlich war mir daher die hef¬ tige Zudringlichkeit eines so geist- als herz¬ vollen Mannes, mit der er auf mich so wie auf Mendelssohn und andere losging, und behauptete, man muͤsse entweder mit ihm ein Christ, ein Christ nach seiner Art werden, oder man muͤsse ihn zu sich hinuͤberziehn, man muͤsse ihn gleichfalls von demjenigen uͤber¬ zeugen, worin man seine Beruhigung finde. Diese Forderung, so unmittelbar dem libera¬ len Weltsinn, zu dem ich mich nach und nach auch bekannte, entgegen stehend, that auf mich nicht die beste Wirkung. Alle Bekeh¬ rungsversuche, wenn sie nicht gelingen, ma¬ chen denjenigen, den man zum Proselyten ausersah, starr und verstockt, und dieses war um so mehr mein Fall, als Lavater zuletzt mit dem harten Dilemma hervortrat: „Entweder Christ, oder Atheist!“ Ich erklaͤrte darauf, daß wenn er mir mein Christenthum nicht lassen wollte, wie ich es bisher gehegt haͤtte, so koͤnnte ich mich auch wohl zum Atheismus entschließen, zumal da ich saͤhe, daß Niemand recht wisse, was beydes eigentlich heißen solle. Dieses Hin- und Wiederschreiben, so hef¬ tig es auch war, stoͤrte das gute Verhaͤltniß nicht. Lavater hatte eine unglaubliche Ge¬ duld, Beharrlichkeit, Ausdauer; er war sei¬ ner Lehre gewiß, und bey dem entschiedenen Vorsatz, seine Ueberzeugung in der Welt aus¬ zubreiten, ließ er sich's gefallen, was nicht durch Kraft geschehen konnte, durch Abwar¬ ten und Milde durchzufuͤhren. Ueberhaupt gehoͤrte er zu den wenigen gluͤcklichen Men¬ schen, deren aͤußerer Beruf mit dem innern vollkommen uͤbereinstimmt, und deren fruͤheste Bildung, stetig zusammenhaͤngend mit der spaͤtern, ihre Faͤhigkeiten naturgemaͤß entwi¬ ckelt. Mit den zartesten sittlichen Anlagen geboren, bestimmte er sich zum Geistlichen. Er genoß des noͤthigen Unterrichts und zeig¬ te viele Faͤhigkeiten, ohne sich jedoch zu jener Ausbildung hinzuneigen, die man eigentlich gelehrt nennt. Denn auch er, um so viel fruͤher geboren als wir, ward von dem Frey¬ heits- und Naturgeist der Zeit ergriffen, der Jedem sehr schmeichlerisch in die Ohren raun¬ te: man habe, ohne viele aͤußere Huͤlfsmittel, Stoff und Gehalt genug in sich selbst, alles komme nur darauf an, daß man ihn gehoͤrig entfalte. Die Pflicht des Geistlichen, sittlich im taͤglichen Sinne, religioͤs im hoͤheren, auf die Menschen zu wirken, traf mit seiner Denk¬ weise vollkommen uͤberein. Redliche und from¬ me Gesinnungen, wie er sie fuͤhlte, den Men¬ schen mitzutheilen, sie in ihnen zu erregen, war des Juͤnglings entschiedenster Trieb, und seine liebste Beschaͤftigung, wie auf sich selbst, so auf andere zu merken. Jenes ward ihm durch ein inneres Zartgefuͤhl, dieses durch ei¬ nen scharfen Blick auf das Aeußere erleich¬ tert, ja aufgedrungen. Zur Beschaulichkeit war er jedoch nicht geboren, zur Darstellung im eigentlichen Sinne hatte er keine Gabe: er fuͤhlte sich vielmehr mit allen seinen Kraͤf¬ ten zur Thaͤtigkeit, zur Wirksamkeit gedraͤngt, so daß ich Niemand gekannt habe, der un¬ unterbrochener handelte als er. Weil nun aber unser inneres sittliches Wesen in aͤuße¬ ren Bedingungen verkoͤrpert ist, es sey nun daß wir einer Familie, einem Stande, einer Gilde, einer Stadt, oder einem Staate an¬ gehoͤren; so mußte er zugleich, in so fern er wirken wollte, alle diese Aeußerlichkeiten be¬ ruͤhren und in Bewegung setzen, wodurch denn freylich mancher Anstoß, manche Verwickelung entsprang, besonders, da das Gemeinwesen, als dessen Glied er geboren war, in der ge¬ nausten und bestimmtesten Beschraͤnkung einer loͤblichen hergebrachten Freyheit genoß. Schon der republicanische Knabe gewoͤhnt sich, uͤber das oͤffentliche Wesen zu denken und mitzu¬ sprechen. In der ersten Bluͤte seiner Tage sieht sich der Juͤngling, als Zunftgenosse, bald in dem Fall, seine Stimme zu geben und zu versagen. Will er gerecht und selbstaͤndig urtheilen, so muß er sich von dem Werth sei¬ ner Mitbuͤrger vor allen Dingen uͤberzeugen, er muß sie kennen lernen, er muß sich nach ihren Gesinnungen, nach ihren Kraͤften um¬ thun, und so, indem er andere zu erforschen trachtet, immer in seinen eignen Busen zu¬ ruͤckkehren. In solchen Verhaͤltnissen uͤbte sich Lavater fruͤh, und eben diese Lebensthaͤtigkeit scheint ihn mehr beschaͤftigt zu haben als Sprachstu¬ dien, als jene sondernde Critik, die mit ih¬ nen verwandt, ihr Grund so wie ihr Ziel ist. In spaͤteren Jahren, da sich seine Kennt¬ nisse, seine Einsichten unendlich weit ausge¬ breitet hatten, sprach er doch im Ernst und Scherz oft genug aus, daß er nicht gelehrt sey; und gerade einem solchen Mangel von eindringendem Studium muß man zuschrei¬ ben, daß er sich an den Buchstaben der Bi¬ bel ja der Bibeluͤbersetzung hielt, und frey¬ lich fuͤr das was er suchte und beabsichtigte hier genugsame Nahrung und Huͤlfsmittel fand. Aber gar bald ward jener zunft- und gil¬ demaͤßig langsam bewegte Wirkungskreis dem lebhaften Naturell zu enge. Gerecht zu seyn wird dem Juͤngling nicht schwer, und ein reines Gemuͤth verabscheut die Ungerechtigkeit, deren es sich selbst noch nicht schuldig gemacht hat. Die Bedruͤckungen eines Landvogts la¬ gen offenbar vor den Augen der Buͤrger, schwerer waren sie vor Gericht zu bringen. Lavater gesellt sich einen Freund zu, und bey¬ de bedrohen, ohne sich zu nennen, jenen straf¬ wuͤrdigen Mann. Die Sache wird ruchbar, man sieht sich genoͤthigt, sie zu untersuchen. Der Schuldige wird bestraft, aber die Ver¬ anlasser dieser Gerechtigkeit werden getadelt, wo nicht gescholten. In einem wohleingerich¬ teten Staate soll das Rechte selbst nicht auf unrechte Weise geschehn. Auf einer Reise die Lavater durch Deutsch¬ land macht, setzt er sich mit gelehrten und wohldenkenden Maͤnnern in Beruͤhrung; al¬ lein er befestigt sich dabey nur mehr in sei¬ nen eignen Gedanken und Ueberzeugungen; nach Hause zuruͤckgekommen, wirkt er immer freyer aus sich selbst. Als ein edler guter Mensch, fuͤhlt er in sich einen herrlichen Begriff von der Menschheit, und was diesem allenfalls in der Erfahrung widerspricht, alle die un¬ leugbaren Maͤngel, die einen Jeden von der Vollkommenheit ablenken, sollen ausgeglichen werden durch den Begriff der Gottheit, die sich, in der Mitte der Zeiten, in die mensch¬ liche Natur herabgesenkt, um ihr fruͤheres Ebenbild vollkommen wiederherzustellen. Soviel vorerst von den Anfaͤngen dieses merkwuͤrdigen Mannes, und nun vor allen Dingen eine heitere Schilderung unseres per¬ soͤnlichen Zusammentreffens und Beysammen¬ seyns. Denn unser Briefwechsel hatte nicht lll. 26 lange gedauert, als er mir und andern an¬ kuͤndigte, er werde bald, auf einer vorzuneh¬ menden Rheinreise, in Frankfurt einsprechen. Sogleich entstand im Publicum die groͤßte Bewegung; alle waren neugierig, einen so merkwuͤrdigen Mann zu sehn; viele hofften fuͤr ihre sittliche und religioͤse Bildung zu ge¬ winnen; die Zweifler dachten sich mit bedeu¬ tenden Einwendungen hervorzuthun, die Ein¬ bildischen waren gewiß, ihn durch Argumente, in denen sie sich selbst bestaͤrkt hatten, zu ver¬ wirren und zu beschaͤmen, und was sonst al¬ les Williges und Unwilliges einen bemerkten Menschen erwartet, der sich mit dieser ge¬ mischten Welt abzugeben gedenkt. Unser erstes Begegnen war herzlich; wir umarmten uns aufs freundlichste, und ich fand ihn gleich wie mir ihn so manche Bilder schon uͤberliefert hatten. Ein Individuum, einzig, ausgezeichnet wie man es nicht gesehn hat und nicht wieder sehn wird, sah ich lebendig und wirksam vor mir. Er hingegen verrieth im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ausrufungen, daß er mich anders erwartet habe. Ich versicherte ihm dagegen, nach mei¬ nem angeborenen und angebildeten Realismus, daß, da es Gott und der Natur nun einmal gefallen habe, mich so zu machen, wir es auch dabey wollten bewenden lassen. Nun kamen zwar sogleich die bedeutendsten Puncte zur Sprache, uͤber die wir uns in Briefen am wenigsten vereinigen konnten; allein die¬ selben ausfuͤhrlich zu behandeln ward uns nicht Raum gelassen, und ich erfuhr was mir noch nie vorgekommen. Wir andern, wenn wir uns uͤber Ange¬ legenheiten des Geistes und Herzens unter¬ halten wollten, pflegten uns von der Menge, ja von der Gesellschaft zu entfernen, weil es, bey der vielfachen Denkweise und den ver¬ schiedenen Bildungsstufen, schon schwer faͤllt sich auch nur mit wenigen zu verstaͤndigen. 26 * Allein Lavater war ganz anders gesinnt; er liebte seine Wirkungen in's Weite und Brei¬ le auszudehnen, ihm ward nicht wohl als in der Gemeine, fuͤr deren Belehrung und Un¬ terhaltung er ein besonderes Talent besaß, wel¬ ches auf jener großen physiognomischen Gabe ruhte. Ihm war eine richtige Unterscheidung der Personen und Geister verliehen, so daß er einem Jeden geschwind ansah, wie ihm allenfalls zu Muthe seyn moͤchte. Fuͤgte sich hiezu nun ein aufrichtiges Bekenntniß, eine treuherzige Frage, so wußte er aus der gro¬ ßen Fuͤlle innerer und aͤußerer Erfahrung, zu Jedermans Befriedigung, das Gehoͤrige zu erwiedern. Die tiefe Sanftmuth seines Blicks, die bestimmte Lieblichkeit seiner Lippen, selbst der durch sein Hochdeutsch durchtoͤnende treu¬ herzige Schweizerdialect, und wie manches Andere was ihn auszeichnete, gab allen zu denen er sprach, die angenehmste Sinnesbe¬ ruhigung; ja seine, bey flacher Brust, etwas vorgebogene Koͤrperhaltung, trug nicht wenig dazu bey, die Uebergewalt seiner Gegenwart mit der uͤbrigen Gesellschaft auszugleichen. Gegen Anmaßung und Duͤnkel wußte er sich sehr ruhig und geschickt zu benehmen: denn indem er auszuweichen schien, wendete er auf einmal eine große Ansicht, auf welche der be¬ schraͤnkte Gegner niemals denken konnte, wie einen diamantnen Schild hervor, und wußte denn doch das daher entspringende Licht so angenehm zu maͤßigen, daß dergleichen Men¬ schen, wenigstens in seiner Gegenwart, sich belehrt und uͤberzeugt fuͤhlten. Vielleicht hat der Eindruck bey manchen fortgewirkt: denn selbstische Menschen sind wohl zugleich auch gut; es kommt nur darauf an, daß die har¬ te Schale, die den fruchtbaren Kern um¬ schließt, durch gelinde Einwirkung aufgeloͤst werde. Was ihm dagegen die groͤßte Pein ver¬ ursachte, war die Gegenwart solcher Perso¬ nen, deren aͤußere Haͤßlichkeit sie zu entschie¬ denen Feinden jener Lehre von der Bedeutsam¬ keit der Gestalten unwiderruflich stempeln mu߬ te. Sie wendeten gewoͤhnlich einen hinrei¬ chenden Menschenverstand, ja sonstige Gaben und Talente, leidenschaftlich miswollend und kleinlich zweifelnd an, um eine Lehre zu ent¬ kraͤften, die fuͤr ihre Persoͤnlichkeit beleidigend schien: denn es fand sich nicht leicht Jemand so großdenkend wie Socrates, der gerade sei¬ ne faunische Huͤlle zu Gunsten einer erworbe¬ nen Sittlichkeit gedeutet haͤtte. Die Haͤrte, die Verstockung solcher Gegner war ihm fuͤrch¬ terlich, sein Gegenstreben nicht ohne Leiden¬ schaft, so wie das Schmelzfeuer die wider¬ strebenden Erze als laͤstig und feindselig an¬ fauchen muß. Unter solchen Umstaͤnden war an ein ver¬ trauliches Gespraͤch, an ein solches das Be¬ zug auf uns selbst gehabt haͤtte, nicht zu den¬ ken, ob ich mich gleich durch Beobachtung der Art, wie er die Menschen behandelte, sehr belehrt, jedoch nicht gebildet fand: denn meine Lage war ganz von der seinigen ver¬ schieden. Wer sittlich wirkt, verliert keine seiner Bemuͤhungen: denn es gedeiht davon weit mehr, als das Evangelium vom Saͤ¬ manne allzu bescheiden eingesteht; wer aber kuͤnstlerisch verfaͤhrt, der hat in jedem Werke alles verloren, wenn es nicht als ein solches anerkannt wird. Nun weiß man, wie unge¬ duldig meine lieben theilnehmenden Leser mich zu machen pflegten, und aus welchen Ursachen ich hoͤchst abgeneigt war, mich mit ihnen zu verstaͤndigen. Nun fuͤhlte ich den Abstand zwischen meiner und der Lavaterschen Wirk¬ samkeit nur allzu sehr: die seine galt in der Gegenwart, die meine in der Abwesenheit; wer mit ihm in der Ferne unzufrieden war, be¬ freundete sich ihm in der Naͤhe; und wer mich nach meinen Werken fuͤr liebenswuͤrdig hielt, fand sich sehr getaͤuscht, wenn er an einen star¬ ren ablehnenden Menschen anstieß. Merk, der von Darmstadt sogleich heruͤber¬ gekommen war, spielte den Mephistopheles, spottete besonders uͤber das Zubringen der Weib¬ lein, und als einige derselben die Zimmer die man dem Propheten eingeraͤumt, und besonders auch das Schlafzimmer, mit Aufmerksamkeit untersuchten, sagte der Schalk: die frommen Seelen wollten doch sehen, wo man den Herrn hingelegt habe. — Mit alle dem mußte er sich so gut wie die andern exorcisiren lassen: denn Lips, der Lavatern begleitete, zeichnete sein Profil so ausfuͤhrlich und brav, wie die Bildnisse bedeutender und unbedeutender Men¬ schen, welche dereinst in dem großen Werke der Physiognomik angehaͤuft werden sollten. Fuͤr mich war der Umgang mit Lavatern hoͤchst wichtig und lehrreich: denn seine drin¬ genden Anregungen brachten mein ruhiges kuͤnstlerisch beschauliches Wesen in Umtrieb; freylich nicht zu meinem augenblicklichen Vor¬ theil, indem die Zerstreuung die mich schon ergriffen hatte, sich nur vermehrte; allein es war so viel unter uns zur Sprache gekom¬ men, daß in mir die groͤßte Sehnsucht ent¬ stand, diese Unterhaltung fortzusetzen. Da¬ her entschloß ich mich, ihn, wenn er nach Ems gehen wuͤrde, zu begleiten, um unter¬ wegs, im Wagen eingeschlossen und von der Welt abgesondert, diejenigen Gegenstaͤnde, die uns wechselseitig am Herzen lagen, frey abzuhandeln. Sehr merkwuͤrdig und folgereich waren mir indessen die Unterhaltungen Lavaters und der Fraͤulein von Klettenberg. Hier standen nun zwey entschiedene Christen gegen einander uͤber, und es war ganz deutlich zu sehen, wie sich eben dasselbe Bekenntniß nach den Gesinnungen verschiedener Personen umbildet. Man wiederholte so oft in jenen toleranten Zeiten, jeder Mensch habe seine eigne Reli¬ gion, seine eigne Art der Gottesverehrung. Ob ich nun gleich dieß nicht geradezu behaup¬ tete, so konnte ich doch im gegenwaͤrtigen Fall bemerken, daß Maͤnner und Frauen einen verschiedenen Heiland beduͤrfen. Fraͤulein von Klettenberg verhielt sich zu dem ihrigen wie zu einem Geliebten, dem man sich unbedingt hingiebt, alle Freude und Hoffnung auf seine Person legt, und ihm ohne Zweifel und Be¬ denken das Schicksal des Lebens anvertraut. Lavater hingegen behandelte den seinigen als einen Freund, dem man neidlos und liebe¬ voll nacheifert, seine Verdienste anerkennt, sie hochpreist, und eben deswegen ihm aͤhnlich ja gleich zu werden bemuͤht ist. Welch ein Unterschied zwischen beyderley Richtung! wo¬ durch im Allgemeinen die geistigen Beduͤrf¬ nisse der zwey Geschlechter ausgesprochen wer¬ den. Daraus mag es auch zu erklaͤren seyn, daß zaͤrtere Maͤnner sich an die Mutter Got¬ tes gewendet, ihr, als einem Ausbund weib¬ licher Schoͤnheit und Tugend, wie Sanna ¬ zar gethan, Leben und Talente gewidmet, und allenfalls nebenher mit dem goͤttlichen Knaben gespielt haben. Wie meine beyden Freunde zu einander standen, wie sie gegen einander gesinnt wa¬ ren, erfuhr ich nicht allein aus Gespraͤchen, denen ich beywohnte, sondern auch aus Er¬ oͤffnungen, welche mir beyde ingeheim thaten. Ich konnte weder dem einen nach dem andern voͤllig zustimmen: denn mein Christus hatte auch seine eigne Gestalt nach meinem Sinne angenommen. Weil sie mir aber den meini¬ gen gar nicht wollten gelten lassen, so quaͤl¬ te ich sie mit allerley Paradoxien und Extre¬ men, und wenn sie ungeduldig werden woll¬ ten, entfernte ich mich mit einem Scherze. Der Streit zwischen Wissen und Glauben war noch nicht an der Tagesordnung, allein die beyden Worte und die Begriffe die man damit verknuͤpft, kamen wohl auch gelegent¬ lich vor, und die wahren Weltveraͤchter be¬ haupteten, eins sey so unzuverlaͤssig als das andere. Daher beliebte es mir, mich zu Gunsten beyder zu erklaͤren, ohne jedoch den Beyfall meiner Freunde gewinnen zu koͤnnen. Beym Glauben, sagte ich, komme alles da¬ rauf an, daß man glaube; was man glau¬ be, sey voͤllig gleichguͤltig. Der Glaube sey ein großes Gefuͤhl von Sicherheit fuͤr die Gegenwart und Zukunft, und diese Sicher¬ heit entspringe aus dem Zutrauen auf ein uͤbergroßes, uͤbermaͤchtiges und unerforschli¬ ches Wesen. Auf die Unerschuͤtterlichkeit die¬ ses Zutrauens komme alles an; wie wir uns aber dieses Wesen denken, dieß haͤnge von unsern uͤbrigen Faͤhigkeiten, ja von den Um¬ staͤnden ab, und sey ganz gleichguͤltig. Der Glaube sey ein heiliges Gefaͤß, in welches ein Jeder sein Gefuͤhl, seinen Verstand, sei¬ ne Einbildungskraft, so gut als er vermoͤge, zu opfern bereit stehe. Mit dem Wissen sey es gerade das Gegentheil; es komme gar nicht darauf an, daß man wisse, sondern was man wisse, wie gut und wie viel man wisse. Daher koͤnne man uͤber das Wis¬ sen streiten, weil es sich berichtigen, sich er¬ weitern und verengern lasse. Das Wissen fange vom Einzelnen an, sey endlos und ge¬ staltlos, und koͤnne niemals, hoͤchstens nur traͤumerisch, zusammengefaßt werden, und bleibe also dem Glauben geradezu entgegen¬ gesetzt. Dergleichen Halbwahrheiten und die da¬ raus entspringenden Irrsale moͤgen, poetisch dargestellt, aufregend und unterhaltend seyn, im Leben aber stoͤren und verwirren sie das Gespraͤch. Ich ließ daher Lavatern gern mit allen denjenigen allein, die sich an ihm und mit ihm erbauen wollten, und fand mich fuͤr diese Entbehrung genugsam entschaͤdigt durch die Reise, die wir zusammen nach Ems an¬ traten. Ein schoͤnes Sommerwetter begleitete uns, Lavater war heiter und allerliebst. Denn bey einer religioͤsen und sittlichen, kei¬ neswegs aͤngstlichen Richtung seines Geistes, blieb er nicht unempfindlich, wenn durch Le¬ bensvorfaͤlle die Gemuͤther munter und lustig aufgeregt wurden. Er war theilnehmend, geistreich, witzig, und mochte das Gleiche gern an andern, nur daß es innerhalb der Gren¬ zen bliebe, die seine zarten Gesinnungen ihm vorschrieben. Wagte man sich allenfalls da¬ ruͤber hinaus, so pflegte er einem auf die Achsel zu klopfen, und den Verwegenen durch ein treuherziges Bisch guet ! zur Sitte auf¬ zufordern. Diese Reise gereichte mir zu man¬ cherley Belehrung und Belebung, die mir aber mehr in der Kenntniß seines Characters als in der Reglung und Bildung des meini¬ gen zu Theil ward. In Ems sah ich ihn gleich wieder von Gesellschaft aller Art um¬ ringt, und kehrte nach Frankfurt zuruͤck, weil meine kleinen Geschaͤfte gerade auf der Bahn waren, so daß ich sie kaum verlassen durfte. Aber ich sollte sobald nicht wieder zur Ruhe kommen: denn Basedow traf ein, beruͤhrte und ergriff mich von einer andern Seite. Einen entschiedneren Contrast konnte man nicht sehen als diese beyden Maͤnner. Schon der Anblick Basedow's deutete auf das Gegentheil. Wenn Lavaters Gesichtszuͤge sich dem Beschauenden frey hergaben, so waren die Basedowischen zusammengepackt und wie nach innen gezogen. Lavaters Auge klar und fromm, unter sehr breiten Augenlidern, Ba¬ sedow's aber tief im Kopfe, klein, schwarz, scharf, unter struppigen Augenbrauen, hervor¬ blinkend, dahingegen Lavaters Stirnknochen von den sanftesten braunen Haarbogen einge¬ faßt erschien. Basedow's heftige rauhe Stim¬ me, seine schnellen und scharfen Aeußerungen, ein gewisses hoͤhnisches Lachen, ein schnelles Herumwerfen des Gespraͤchs, und was ihn sonst noch bezeichnen mochte, alles war den Eigenschaften und dem Betragen entgegenge¬ setzt, durch die uns Lavater verwoͤhnt hatte. Auch Basedow ward in Frankfurt sehr ge¬ sucht, und seine großen Geistesgaben bewun¬ dert; allein er war nicht der Mann, weder die Gemuͤther zu erbauen, noch zu lenken. Ihm war einzig darum zu thun, jenes große Feld, das er sich bezeichnet hatte, besser an¬ zubauen, damit die Menschheit kuͤnftig be¬ quemer und naturgemaͤßer darin ihre Woh¬ nung nehmen sollte; und auf diesen Zweck eilte er nur allzu gerade los. Mit seinen Planen konnte ich mich nicht befreunden, ja mir nicht einmal seine Absich¬ ten deutlich machen. Daß er allen Unter¬ richt lebendig und naturgemaͤß verlangte, konn¬ te mir wohl gefallen; daß die alten Spra¬ chen an der Gegenwart geuͤbt werden sollten, schien mir lobenswuͤrdig, und gern erkannte ich an, was in seinem Vorhaben, zu Be¬ foͤrderung der Thaͤtigkeit und einer frischeren Weltanschauung lag: allein mir misfiel, daß die Zeichnungen seines Elementarwerks noch mehr als die Gegenstaͤnde selbst zerstreuten, da in der wirklichen Welt doch immer nur das Moͤgliche beysammensteht, und sie des¬ halb, ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und scheinbarer Verwirrung, immer noch in allen ihren Theilen etwas Geregeltes hat. Jenes Elementarwerk hingegen zersplittert sie ganz und gar, indem das was in der Weltan¬ schauung keineswegs zusammentrifft, um der Verwandtschaft der Begriffe willen neben ein¬ ander steht; weswegen es auch jener sinnlich¬ methodischen Vorzuͤge ermangelt, die wir aͤhn¬ lichen Arbeiten des Amos Comenius zu¬ erkennen muͤssen. Viel wunderbarer jedoch, und schwerer zu begreifen als seine Lehre, war Basedow's Betragen. Er hatte bey dieser Reise die Ab¬ sicht, das Publicum durch seine Persoͤnlich¬ keit fuͤr sein philanthropisches Unternehmen zu gewinnen, und zwar nicht etwa die Gemuͤ¬ ther, sondern geradezu die Beutel aufzuschlie¬ III. 27 ßen. Er wußte von seinem Vorhaben groß und uͤberzeugend zu sprechen, und Jederman gab ihm gern zu was er behauptete. Aber auf die unbegreiflichste Weise verletzte er die Gemuͤther der Menschen, denen er eine Bey¬ steuer abgewinnen wollte, ja er beleidigte sie ohne Noth, indem er seine Meynungen und Grillen uͤber religioͤse Gegenstaͤnde nicht zu¬ ruͤckhalten konnte. Auch hierin erschien Ba¬ sedow als das Gegenstuͤck von Lavatern. Wenn dieser die Bibel buchstaͤblich und mit ihrem ganzen Inhalte, ja Wort vor Wort, bis auf den heutigen Tag fuͤr geltend an¬ nahm und fuͤr anwendbar hielt, so fuͤhlte jener den unruhigsten Kitzel alles zu verneuen, und sowohl die Glaubenslehren als die aͤu¬ ßerlichen kirchlichen Handlungen nach eignen einmal gefaßten Grillen umzumodeln. Am unbarmherzigsten jedoch, und am unvorsich¬ tigsten verfuhr er mit denjenigen Vorstellun¬ gen, die sich nicht unmittelbar aus der Bibel, sondern von ihrer Auslegung herschreiben, mit jenen Ausdruͤcken, philosophischen Kunst¬ worten, oder sinnlichen Gleichnissen, womit die Kirchenvaͤter und Concilien sich das Un¬ aussprechliche zu verdeutlichen, oder die Ke¬ tzer zu bestreiten gesucht haben. Auf eine harte und unverantwortliche Weise erklaͤrte er sich vor Jederman als den abgesagtesten Feind der Dreyeinigkeit, und konnte gar nicht fertig werden, gegen dieß allgemein zu¬ gestandene Geheimniß zu argumentiren. Auch ich hatte im Privatgespraͤch von dieser Unter¬ haltung sehr viel zu leiden, und mußte mir die Hypostasis und Ousia, so wie das Pro¬ sopon immer wieder vorfuͤhren lassen. Da¬ gegen griff ich zu den Waffen der Paradoxie, uͤberfluͤgelte seine Meynungen und wagte, das Verwegne mit Verwegnerem zu bekaͤmpfen. Dieß gab meinem Geiste wieder neue Anre¬ gung, und weil Basedow viel belesener war, auch die Fechterstreiche des Disputirens ge¬ wandter als ich Naturalist zu fuͤhren wußte, so hatte ich mich immer mehr anzustrengen, 27 * je wichtigere Puncte unter uns abgehandelt wurden. Eine so herrliche Gelegenheit mich wo nicht aufzuklaͤren, doch gewiß zu uͤben, konn¬ te ich nicht kurz voruͤbergehen lassen. Ich vermochte Vater und Freunde, die nothwen¬ digsten Geschaͤfte zu uͤbernehmen, und fuhr nun, Basedow begleitend, abermals von Frankfurt ab. Welchen Unterschied empfand ich aber, wenn ich der Anmuth gedachte, die von Lavatern ausging! Reinlich wie er war, verschaffte er sich auch eine reinliche Umgebung. Man ward jungfraͤulich an sei¬ ner Seite, um ihn nicht mit etwas Widri¬ gem zu beruͤhren. Basedow hingegen, viel zu sehr in sich gedraͤngt, konnte nicht auf sein Aeußeres merken. Schon daß er unun¬ terbrochen schlechten Taback rauchte, fiel aͤu¬ ßerst laͤstig, um so mehr als er einen unrein¬ lich bereiteten, schnell Feuer fangenden, aber haͤßlich dunstenden Schwamm, nach ausge¬ rauchter Pfeife, sogleich wieder aufschlug, und jedesmal mit den ersten Zuͤgen die Luft un¬ ertraͤglich verpestete. Ich nannte dieses Praͤ¬ parat Basedowschen Stinkschwamm, und wollte ihn unter diesem Titel in der Natur¬ geschichte eingefuͤhrt wissen; woran er großen Spaß hatte, mir die widerliche Bereitung, recht zum Ekel, umstaͤndlich auseinandersetzte, und mit großer Schadenfreude sich an mei¬ nem Abscheu behagte. Denn dieses war eine von den tiefgewurzelten uͤblen Eigenheiten des so trefflich begabten Mannes, daß er gern zu necken und die Unbefangensten tuͤckisch an¬ zustechen beliebte. Ruhen konnte er Niemand sehn; durch grinsenden Spott mit heiserer Stimme reizte er auf, durch eine uͤberra¬ schende Frage setzte er in Verlegenheit, und lachte bitter, wenn er seinen Zweck erreicht hatte, war es aber wohl zufrieden, wenn man, schnell gefaßt, ihm etwas dagegen abgab. Um wie viel groͤßer war nun meine Sehnsucht nach Lavatern. Auch er schien sich zu freuen, als er mich wieder sah, vertrau¬ te mir manches bisher Erfahrne, besonders was sich auf den verschiedenen Character der Mitgaͤste bezog, unter denen er sich schon viele Freunde und Anhaͤnger zu verschaffen gewußt. Nun fand ich selbst manchen alten Bekannten, und an denen die ich in Jahren nicht gesehn, fing ich an die Bemerkung zu machen, die uns in der Jugend lange ver¬ borgen bleibt, daß die Maͤnner altern, und die Frauen sich veraͤndern. Die Gesellschaft nahm taͤglich zu. Es ward unmaͤßig getanzt, und weil man sich in den beyden großen Ba¬ dehaͤusern ziemlich nahe beruͤhrte, bey guter und genauer Bekanntschaft, mancherley Scherz getrieben. Einst verkleidete ich mich in einen Dorfgeistlichen, und ein namhafter Freund in dessen Gattinn; wir fielen der vornehmen Gesellschaft durch allzu große Hoͤflichkeit ziem¬ lich zur Last, wodurch denn Jederman in guten Humor versetzt wurde. An Abend- Mitternacht- und Morgenstaͤndchen fehlte es auch nicht, und wir Juͤngeren genossen des Schlafs sehr wenig. Im Gegensatze zu diesen Zerstreuungen, brachte ich immer einen Theil der Nacht mit Basedow zu. Dieser legte sich nie zu Bette, sondern dictirte unaufhoͤrlich. Manchmal warf er sich auf’s Lager und schlummerte, indessen sein Tiro, die Feder in der Hand, ganz ru¬ hig sitzen blieb, und sogleich bereit war fort¬ zuschreiben, wenn der Halberwachte seinen Gedanken wieder freyen Lauf gab. Dieß al¬ les geschah in einem dichtverschlossenen, von Tabacks- und Schwammdampf erfuͤllten Zim¬ mer. So oft ich nun einen Tanz aussetzte, sprang ich zu Basedow hinauf, der gleich uͤber jedes Problem zu sprechen und zu dis¬ putiren geneigt war, und, wenn ich nach Verlauf einiger Zeit wieder zum Tanze hin¬ eilte, noch eh ich die Thuͤre hinter mir an¬ zog, den Faden seiner Abhandlung so ruhig dictirend aufnahm, als wenn weiter nichts gewesen waͤre. Wir machten dann zusammen auch man¬ che Fahrt in die Nachbarschaft, besuchten die Schloͤsser, besonders adlicher Frauen, welche durchaus mehr als die Maͤnner geneigt wa¬ ren, etwas Geistiges und Geistliches aufzuneh¬ men. Zu Nassau, bey Frau von Stein , einer hoͤchstehrwuͤrdigen Dame, die der allge¬ meinsten Achtung genoß, fanden wir große Gesellschaft. Frau von Laroche war gleichfalls gegenwaͤrtig, an jungen Frauenzimmern und Kindern fehlte es auch nicht. Hier sollte nun Lavater in physiognomische Versuchung gefuͤhrt werden, welche meist darin bestand, daß man ihn verleiten wollte, Zufaͤlligkeiten der Bil¬ dung fuͤr Grundform zu halten; er war aber beaugt genug, um sich nicht taͤuschen zu las¬ sen. Ich sollte nach wie vor die Wahrhaf¬ tigkeit der Leiden Werthers und den Wohn¬ ort Lottens bezeugen, welchem Ansinnen ich mich nicht auf die artigste Weise entzog, da¬ gegen die Kinder um mich versammelte, um ihnen recht seltsame Maͤhrchen zu erzaͤhlen, welche aus lauter bekannten Gegenstaͤnden zu¬ sammengesonnen waren; wobey ich den gro¬ ßen Vortheil hatte, daß kein Glied meines Hoͤrkreises mich etwa zudringlich gefragt haͤt¬ te, was denn wohl daran fuͤr Wahrheit oder Dichtung zu halten seyn moͤchte. Basedow brachte das Einzige vor das Noth sey, naͤmlich eine bessere Erziehung der Jugend; weshalb er die Vornehmen und Beguͤterten zu ansehnlichen Beytraͤgen auffor¬ derte. Kaum aber hatte er, durch Gruͤnde sowohl als durch leidenschaftliche Beredsam¬ keit, die Gemuͤther wo nicht sich zugewendet, doch zum guten Willen vorbereitet, als ihn der boͤse antitrinitarische Geist ergriff, und er, ohne das mindeste Gefuͤhl wo er sich be¬ finde, in die wunderlichsten Reden ausbrach, in seinem Sinne hoͤchst religioͤs, nach Ueber¬ zeugung der Gesellschaft hoͤchst laͤsterlich. La¬ vater, durch sanften Ernst, ich, durch ablei¬ tende Scherze, die Frauen, durch zerstreuende Spazirgaͤnge, suchten Mittel gegen dieses Un¬ heil; die Verstimmung jedoch konnte nicht geheilt werden. Eine christliche Unterhaltung, die man sich von Lavaters Gegenwart ver¬ sprechen, eine paͤdagogische, wie man sie von Basedow erwartete, eine sentimentale, zu der ich mich bereit finden sollte, alles war auf einmal gestoͤrt und aufgehoben. Auf dem Heimwege machte Lavater ihm Vorwuͤrfe, ich aber bestrafte ihn auf eine lustige Weise. Es war heiße Zeit, und der Tabacksdampf moch¬ te Basedow's Gaumen noch mehr getrocknet haben; sehnlichst verlangte er nach einem Glase Bier, und als er an der Landstraße von weitem ein Wirthshaus erblickte, befahl er hoͤchst gierig dem Kutscher, dort stille zu halten. Ich aber, im Augenblicke daß der¬ selbe anfahren wollte, rufe ihm mit Gewalt gebieterisch zu, er solle weiter fahren! Base¬ dow, uͤberrascht, konnte kaum mit heiserer Stimme das Gegentheil hervorbringen. Ich trieb den Kutscher nur heftiger an, der mir gehorchte. Basedow verwuͤnschte mich, und haͤtte gern mit Faͤusten zugeschlagen; ich aber erwiederte ihm mit der groͤßten Gelassenheit: Vater, seyd ruhig! Ihr habt mir großen Dank zu sagen. Gluͤcklicher Weise saht Ihr das Bierzeichen nicht! Es ist aus zwey ver¬ schraͤnkten Triangeln zusammengesetzt. Nun werdet Ihr uͤber Einen Triangel gewoͤhnlich schon toll; waͤren Euch die beyden zu Ge¬ sicht gekommen, man haͤtte Euch muͤssen an Ketten legen. Dieser Spaß brachte ihn zu einem unmaͤßigen Gelaͤchter, zwischendurch schalt und verwuͤnschte er mich, und Lavater uͤbte seine Geduld an dem alten und jungen Thoren. Als nun in der Haͤlfte des Juli Lavater sich zur Abreise bereitete, fand Basedow seinen Vortheil, sich anzuschließen, und ich hatte mich in diese bedeutende Gesell¬ schaft schon so eingewohnt, daß ich es nicht uͤber mich gewinnen konnte, sie zu verlassen. Eine sehr angenehme, Herz und Sinn er¬ freuende Fahrt hatten wir die Lahn hinab. Beym Anblick einer merkwuͤrdigen Burgruine schrieb ich jenes Lied: „Hoch auf dem alten Thurme steht“ in Lipsens Stammbuch, und als es wohl aufgenommen wurde, um, nach meiner boͤsen Art, den Eindruck wieder zu verderben, allerley Knittelreime und Possen auf die naͤchsten Blaͤtter. Ich freute mich den herrlichen Rhein wiederzusehn, und er¬ getzte mich an der Ueberraschung derer, die dieses Schauspiel noch nicht genossen hatten. Nun landeten wir in Coblenz; wohin wir traten, war der Zudrang sehr groß, und je¬ der von uns dreyen erregte nach seiner Art Antheil und Neugierde. Basedow und ich schienen zu wetteifern, wer am unartigsten seyn koͤnnte; Lavater benahm sich vernuͤnftig und klug, nur daß er seine Herzensmeynun¬ gen nicht verbergen konnte, und dadurch, mit dem reinsten Willen, allen Menschen vom Mittelschlag hoͤchst auffallend erschien. Das Andenken an einen wunderlichen Wirthstisch in Coblenz habe ich in Knittel¬ versen aufbewahrt, die nun auch, mit ihrer Sippschaft, in meiner neuen Ausgabe stehn moͤgen. Ich saß zwischen Lavater und Base¬ dow; der erste belehrte einen Landgeistlichen uͤber die Geheimnisse der Offenbarung Johan¬ nis, und der andere bemuͤhte sich vergebens, einem hartnaͤckigen Tanzmeister zu beweisen, daß die Taufe ein veralteter und fuͤr unsere Zeiten gar nicht berechneter Gebrauch sey. Und wie wir nun fuͤrder nach Coͤlln zogen, schrieb ich in irgend ein Album: Und, wie nach Emmaus, weiter ging's Mit Sturm- und Feuerschritten: Prophete rechts, Prophete links, Das Weltkind in der Mitten. Gluͤcklicher Weise hatte dieses, Weltkind auch eine Seite die nach dem Himmlischen deutete, welche nun auf eine ganz eigne Weise beruͤhrt werden sollte. Schon in Ems hatte ich mich gefreut, als ich vernahm, daß wir in Coͤlln die Gebruͤder Jacobi treffen sollten, welche mit andern vorzuͤglichen und aufmerksa¬ men Maͤnnern sich jenen beyden merkwuͤrdigen Reisenden entgegen bewegten. Ich an meinem Theile hoffte von ihnen Vergebung wegen klei¬ ner Unarten zu erhalten, die aus unserer gro¬ ßen, durch Herders scharfen Humor veranla߬ ten Unart entsprungen waren. Jene Briefe und Gedichte, worin Gleim und Georg Jacobi sich oͤffentlich an einander erfreuten, hatten uns zu mancherley Scherzen Gelegenheit ge¬ geben, und wir bedachten nicht, daß eben so viel Selbstgefaͤlligkeit dazu gehoͤre, andern die sich behaglich fuͤhlen, wehe zu thun, als sich selbst oder seinen Freunden uͤberfluͤssiges Gute zu erzeigen. Es war dadurch eine gewisse Mishelligkeit zwischen dem Ober- und Unter¬ rhein entstanden, aber von so geringer Be¬ deutung, daß sie leicht vermittelt werden konnte, und hierzu waren die Frauen vor¬ zuͤglich geeignet. Schon Sophie Laroche gab uns den besten Begriff von diesen edlen Bruͤ¬ dern; Demoiselle Fahlmer , von Duͤssel¬ dorf nach Frankfurt gezogen, und jenem Kreise innig verwandt, gab durch die große Zart¬ heit ihres Gemuͤths, durch die ungemeine Bildung des Geistes, ein Zeugniß von dem Werth der Gesellschaft in der sie herangewach¬ sen. Sie beschaͤmte uns nach und nach durch ihre Geduld mit unserer grellen oberdeutschen Manier, sie lehrte uns Schonung, indem sie uns fuͤhlen ließ, daß wir derselben auch wohl beduͤrften. Die Treuherzigkeit der juͤngern Jacobischen Schwester, die große Heiterkeit der Gattinn von Fritz Jacobi, leiteten unsern Geist und Sinn immer mehr und mehr nach jenen Gegenden. Die letztgedachte war ge¬ eignet, mich voͤllig einzunehmen: ohne eine Spur von Sentimentalitaͤt richtig fuͤhlend sich munter ausdruͤckend, eine herrliche Nie¬ derlaͤnderinn, die, ohne Ausdruck von Sinn¬ lichkeit, durch ihr tuͤchtiges Wesen an die Rubensischen Frauen erinnerte. Genannte Damen hatten, bey laͤngerem und kuͤrzerem Aufenthalt in Frankfurt, mit meiner Schwester die engste Verbindung geknuͤpft, und das ernste, starre, gewissermaßen lieblose Wesen Corneliens aufgeschlossen und erheitert, und so war uns denn ein Duͤsseldorf, ein Pempel¬ fort, dem Geist und Herzen nach in Frank¬ furt zu Theil geworden. Unser erstes Begegnen in Coͤlln konnte daher sogleich offen und zutraulich seyn: denn jener Frauen gute Meynung von uns hatte gleichfalls nach Hause gewirkt; man behan¬ delte mich nicht, wie bisher auf der Reise, bloß als den Dunstschweif jener beyden gro¬ ßen Wandelsterne, sondern man wendete sich auch besonders an mich, um mir manches Gute zu ertheilen, und schien geneigt, auch von mir zu empfangen. Ich war meiner bis¬ herigen Thorheiten und Frechheiten muͤde, hinter denen ich doch eigentlich nur den Un¬ muth verbarg, daß fuͤr mein Herz, fuͤr mein Gemuͤth auf dieser Reise so wenig gesorgt werde; es brach daher mein Inneres mit Gewalt hervor, und dieß mag die Ursache seyn, warum ich mich der einzelnen Vor¬ gaͤnge wenig erinnere. Das was man ge¬ dacht, die Bilder die man gesehn, lassen sich in dem Verstand und in der Einbildungs¬ kraft wieder hervorrufen; aber das Herz ist nicht so gefaͤllig, es wiederholt uns nicht die schoͤnen Gefuͤhle, und am wenigsten sind wir vermoͤgend, uns enthusiastische Momente wie¬ der zu vergegenwaͤrtigen; man wird unvorbe¬ reitet davon uͤberfallen und uͤberlaͤßt sich ihnen unbewußt. Andere die uns in solchen Augen¬ blicken beobachten, haben deshalb davon eine klarere und reinere Ansicht als wir selbst. III. 28 Religioͤse Gespraͤche hatte ich bisher sachte abgelehnt, und verstaͤndige Anfragen selten mit Bescheidenheit erwiedert, weil sie mir gegen das was ich suchte, nur allzu beschraͤnkt schienen. Wenn man mir seine Gefuͤhle, seine Meynungen uͤber meine eignen Productionen aufdringen wollte, besonders aber wenn man mich mit den Forderungen des Alltagsver¬ standes peinigte und mir sehr entschieden vor¬ trug, was ich haͤtte thun und lassen sollen, dann zerriß der Geduldsfaden, und das Ge¬ spraͤch zerbrach oder zerbroͤckelte sich, so daß Niemand mit einer sonderlich guͤnstigen Mey¬ nung von mir scheiden konnte. Viel natuͤrli¬ cher waͤre mir gewesen, mich freundlich und zart zu erweisen; aber mein Gemuͤth wollte nicht geschulmeistert, sondern durch freyes Wohlwollen aufgeschlossen, und durch wahre Theilnahme zur Hingebung angeregt seyn. Ein Gefuͤhl aber, das bey mir gewaltig uͤber¬ hand nahm, und sich nicht wundersam ge¬ nug aͤußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstermaͤßiges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner groͤßern und kleinern Arbeiten ausge¬ druͤckt, und wirkt im Gedicht immer wohl¬ thaͤtig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdruͤckte, Jederman seltsam, unerklaͤrlich, vielleicht unerfreulich scheinen mußte. Coͤlln war der Ort, wo das Alterthum eine solche unzuberechnende Wirkung auf mich ausuͤben konnte. Die Ruine des Doms (denn ein nichtfertiges Werk ist einem zerstoͤrten gleich) erregte die von Straßburg her ge¬ wohnten Gefuͤhle. Kunstbetrachtungen konnte ich nicht anstellen, mir war zu viel und zu wenig gegeben, und Niemand fand sich, der mir aus dem Labyrinth des Geleisteten und Beabsichtigten, der That und des Vorsatzes, 28 * des Erbauten und Angedeuteten haͤtte heraus¬ helfen koͤnnen, wie es jetzt wohl durch unsere fleißigen beharrlichen Freunde geschieht. In Gesellschaft bewunderte ich zwar diese merk¬ wuͤrdigen Hallen und Pfeiler, aber einsam versenkte ich mich in dieses, mitten in seiner Erschaffung, fern von der Vollendung schon erstarrte Weltgebaͤude, immer mismuthig. Hier war abermals ein ungeheuerer Gedanke nicht zur Ausfuͤhrung gekommen! Scheint es doch, als waͤre die Architectur nur da, um uns zu uͤberzeugen, daß durch mehrere Men¬ schen, in einer Folge von Zeit, nichts zu lei¬ sten ist, und daß in Kuͤnsten und Thaten nur dasjenige zu Stande kommt, was, wie Minerva, erwachsen und geruͤstet aus des Erfinders Haupt hervorspringt. In diesen mehr druͤckenden als herzerhe¬ benden Augenblicken ahndete ich nicht, daß mich das zarteste und schoͤnste Gefuͤhl so ganz nah erwartete. Man fuͤhrte mich in Jap¬ pachs Wohnung, wo mir das was ich sonst nur innerlich zu bilden pflegte, wirklich und sinnlich entgegentrat. Diese Familie moch¬ te laͤngst ausgestorben seyn, aber in dem Un¬ tergeschoß, das an einen Garten stieß, fan¬ den wir nichts veraͤndert. Ein durch braun¬ rothe Ziegelrauten regelmaͤßig verziertes Estrich, hohe geschnitzte Sessel mit ausgenaͤhten Sitzen und Ruͤcken, Tischblaͤtter, kuͤnstlich eingelegt, auf schweren Fuͤßen, metallene Haͤngeleuchter, ein ungeheueres Camin und dem angemessenes Feuergeraͤthe, alles mit jenen fruͤheren Ta¬ gen uͤbereinstimmend und in dem ganzen Raume nichts neu, nichts heutig als wir sel¬ ber. Was nun aber die hiedurch wundersam aufgeregten Empfindungen uͤberschwenglich ver¬ mehrte und vollendete, war ein großes Fami¬ liengemaͤlde uͤber dem Camin. Der ehmali¬ ge reiche Inhaber dieser Wohnung saß mit seiner Frau, von Kindern umgeben, abgebil¬ det: alle gegenwaͤrtig, frisch und lebendig wie von gestern, ja von heute, und doch waren sie schon alle voruͤbergegangen. Auch diese frischen rundbaͤckigen Kinder hatten gealtert, und ohne diese kunstreiche Abbildung waͤre kein Gedaͤchtniß von ihnen uͤbrig geblieben. Wie ich, uͤberwaͤltigt von diesen Eindruͤcken, mich verhielt und benahm, wuͤßte ich nicht zu sa¬ gen. Der tiefste Grund meiner menschlichen Anlagen und dichterischen Faͤhigkeiten ward durch die unendliche Herzensbewegung aufge¬ deckt, und alles Gute und Liebevolle was in meinem Gemuͤthe lag, mochte sich aufschlie¬ ßen und hervorbrechen: denn von dem Au¬ genblick an ward ich, ohne weitere Untersu¬ chung und Verhandlung, der Neigung, des Vertrauens jener vorzuͤglichen Maͤnner fuͤr mein Leben theilhaft. In Gefolg von diesem Seelen- und Gei¬ stesverein, wo alles was in einem Jeden lebte zur Sprache kam, erbot ich mich, meine neusten und liebsten Balladen zu recitiren. Der Koͤnig von Thule, und „Es war ein Bube frech genung“ thaten gute Wirkung, und ich trug sie um so gemuͤthlicher vor, als meine Gedichte mir noch ans Herz geknuͤpft waren, und nur selten uͤber die Lippen ka¬ men. Denn mich hinderten leicht gewisse ge¬ genwaͤrtige Personen, denen mein uͤberzartes Gefuͤhl vielleicht unrecht thun mochte; ich ward manchmal mitten im Recitiren irre und konnte mich nicht wieder zurecht finden. Wie oft bin ich nicht deshalb des Eigensinns und eines wunderlichen grillenhaften Wesens ange¬ klagt worden! Ob mich nun gleich die dichterische Dar¬ stellungsweise am meisten beschaͤftigte, und meinem Naturell eigentlich zusagte, so war mir doch auch das Nachdenken uͤber Gegen¬ staͤnde aller Art nicht fremd, und Jacobi's originelle, seiner Natur gemaͤße Richtung ge¬ gen das Unerforschliche hoͤchst willkommen und gemuͤthlich. Hier that sich kein Widerstreit hervor, nicht ein christlicher wie mit Lavater, nicht ein didactischer wie mit Basedow. Die Gedanken die mir Jacobi mittheilte, entspran¬ gen unmittelbar aus seinem Gefuͤhl, und wie eigen war ich durchdrungen, als er mir, mit unbedingtem Vertrauen, die tiefsten Seelen¬ forderungen nicht verhehlte. Aus einer so wundersamen Vereinigung von Beduͤrfniß, Leidenschaft und Ideen, konnten auch fuͤr mich nur Vorahndungen entspringen dessen, was mir vielleicht kuͤnftig deutlicher werden sollte. Gluͤcklicher Weise hatte ich mich auch schon von dieser Seite wo nicht gebildet, doch bearbeitet und in mich das Daseyn und die Denkweise eines außerordentlichen Mannes auf¬ genommen, zwar nur unvollstaͤndig und wie auf den Raub, aber ich empfand davon doch schon bedeutende Wirkungen. Dieser Geist, der so entschieden auf mich wirkte, und der auf meine ganze Denkweise so großen Ein¬ fluß haben sollte, war Spinoza . Nach¬ dem ich mich naͤmlich in aller Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehn hatte, gerieth ich endlich an die Ethik dieses Mannes. Was ich mir aus dem Werke mag herausgelesen, was ich in dasselbe mag hineingelesen haben, davon wuͤßte ich keine Rechenschaft zu geben, genug ich fand hier eine Beruhigung meiner Leidenschaften, es schien sich mir eine große und freye Aussicht uͤber die sinnliche und sitt¬ liche Welt aufzuthun. Was mich aber be¬ sonders an ihn fesselte, war die grenzenlose Uneigennuͤtzigkeit, die aus jedem Satze her¬ vorleuchtete. Jenes wunderliche Wort: „Wer Gott recht liebt, muß nicht verlangen, daß Gott ihn wieder liebe“ mit allen den Vor¬ dersaͤtzen worauf es ruht, mit allen den Fol¬ gen die daraus entspringen, erfuͤllte mein ganzes Nachdenken. Uneigennuͤtzig zu seyn in allem, am uneigennuͤtzigsten in Liebe und Freundschaft, war meine hoͤchste Lust, meine Maxime, meine Ausuͤbung, so daß jenes freche spaͤtere Wort „Wenn ich dich liebe, was geht's dich an?“ mir recht aus dem Herzen gesprochen ist. Uebrigens moͤge auch hier nicht verkannt werden, daß eigentlich die innigsten Verbindungen nur aus dem Entge¬ gengesetzten folgen. Die alles ausgleichende Ruhe Spinoza's contrastirte mit meinem alles aufregenden Streben, seine mathematische Me¬ thode war das Widerspiel meiner poetischen Sinnes- und Darstellungsweise, und eben jene geregelte Behandlungsart, die man sitt¬ lichen Gegenstaͤnden nicht angemessen finden wollte, machte mich zu seinem leidenschaftli¬ chen Schuͤler, zu seinem entschiedensten Ver¬ ehrer. Geist und Herz, Verstand und Sinn suchten sich mit nothwendiger Wahlverwand¬ schaft, und durch diese kam die Vereinigung der verschiedensten Wesen zu Stande. Noch war aber alles in der ersten Wir¬ kung und Gegenwirkung, gaͤhrend und sie¬ dend. Fritz Jacobi, der erste, den ich in dieses Chaos hineinblicken ließ, er, dessen Natur gleichfalls im Tiefsten arbeitete, nahm mein Vertrauen herzlich auf, erwiederte das¬ selbe und suchte mich in seinen Sinn einzu¬ leiten. Auch er empfand ein unaussprechli¬ ches geistiges Beduͤrfniß, auch er wollte es nicht durch fremde Huͤlfe beschwichtigt, son¬ dern aus sich selbst herausgebildet und aufge¬ klaͤrt haben. Was er mir von dem Zustan¬ de seines Gemuͤthes mittheilte, konnte ich nicht fassen, um so weniger, als ich mir kei¬ nen Begriff von meinem eignen machen konn¬ te. Doch er, der in philosophischem Den¬ ken, selbst in Betrachtung des Spinoza, mir weit vorgeschritten war, suchte mein dunkles Bestreben zu leiten und aufzuklaͤren. Eine solche reine Geistesverwandschaft war mir neu, und erregte ein leidenschaftliches Verlangen fernerer Mittheilung. Nachts, als wir uns schon getrennt und in die Schlafzimmer zu¬ ruͤckgezogen hatten, suchte ich ihn nochmals auf. Der Mondschein zitterte uͤber dem brei¬ ten Rheine, und wir, am Fenster stehend, schwelgten in der Fuͤlle des Hin- und Wie¬ dergebens, das in jener herrlichen Zeit der Entfaltung so reichlich aufquillt. Doch wuͤßte ich von jenem Unaussprechli¬ chen gegenwaͤrtig keine Rechenschaft zu lie¬ fern; deutlicher ist mir eine Fahrt nach dem Jagdschlosse Bensberg , das, auf der rech¬ ten Seite des Rheins gelegen, der herrlich¬ sten Aussicht genoß. Was mich daselbst uͤber die Maßen entzuͤckte, waren die Wandverzie¬ rungen durch Weenix . Wohlgeordnet la¬ gen alle Thiere, welche die Jagd nur liefern kann, rings umher wie auf dem Sockel ei¬ ner großen Saͤulenhalle; uͤber sie hinaus sah man in eine weite Landschaft. Jene entleb¬ ten Geschoͤpfe zu beleben, hatte der außeror¬ dentliche Mann sein ganzes Talent erschoͤpft, und in Darstellung des mannigfaltigsten thie¬ rischen Ueberkleides, der Borsten, der Haare, der Federn, des Geweihes, der Klauen, sich der Natur gleichgestellt, in Absicht auf Wir¬ kung sie uͤbertroffen. Hatte man die Kunst¬ werke im Ganzen genugsam bewundert, so ward man genoͤthigt, uͤber die Handgriffe nachzudenken, wodurch solche Bilder so geist¬ reich als mechanisch hervorgebracht werden konnten. Man begriff nicht, wie sie durch Menschenhaͤnde entstanden seyen und durch was fuͤr Instrumente. Der Pinsel war nicht hinreichend; man mußte ganz eigne Vorrich¬ tungen annehmen, durch welche ein so Man¬ nigfaltiges moͤglich geworden. Man naͤherte, man entfernte sich mit gleichem Erstaunen: die Ursache war so bewundernswerth als die Wirkung. Die weitere Fahrt rheinabwaͤrts ging froh und gluͤcklich von statten. Die Ausbreitung des Flusses ladet auch das Gemuͤth ein, sich auszubreiten und nach der Ferne zu sehen. Wir gelangten nach Duͤsseldorf und von da nach Pempelfort, dem angenehmsten und hei¬ tersten Aufenthalt, wo ein geraͤumiges Wohn¬ gebaͤude an weite wohlunterhaltene Gaͤrten stoßend, einen sinnlichen und sittigen Kreis versammelte. Die Familienglieder waren zahl¬ reich und an Fremden fehlte es nie, die sich in diesen reichlichen und angenehmen Verhaͤlt¬ nissen gar wohl gefielen. In der Duͤsseldorfer Gallerie konnte mei¬ ne Vorliebe fuͤr die niederlaͤndische Schule reichliche Nahrung finden. Der tuͤchtigen, derben, von Naturfuͤlle glaͤnzenden Bilder fanden sich ganze Saͤle, und wenn auch nicht eben meine Einsicht vermehrt wurde, meine Kenntniß ward doch bereichert und meine Lieb¬ haberey bestaͤrkt. Die schoͤne Ruhe, Behaglichkeit und Be¬ harrlichkeit, welche den Hauptcharacter dieses Familienvereins bezeichneten, belebten sich gar bald vor den Augen des Gastes, indem er wohl bemerken konnte, daß ein weiter Wir¬ kungskreis von hier ausging und anderwaͤrts eingriff. Die Thaͤtigkeit und Wohlhabenheit benachbarter Staͤdte und Ortschaften trug nicht wenig bey, das Gefuͤhl einer inneren Zufrie¬ denheit zu erhoͤhen. Wir besuchten Elber¬ feld und erfreuten uns an der Ruͤhrigkeit so mancher wohlbestellten Fabriken. Hier fan¬ den wir unsern Jung, genannt Stilling, wie¬ der, der uns schon in Coblenz entgegengekom¬ men war, und der den Glauben an Gott und die Treue gegen die Menschen immer zu seinem koͤstlichen Geleit hatte. Hier sahen wir ihn in seinem Kreise und freuten uns des Zutrauens, das ihm seine Mitbuͤrger schenkten, die mit irdischem Erwerb beschaͤf¬ tigt, die himmlischen Guͤter nicht außer Acht ließen. Die betriebsame Gegend gab einen beruhigenden Anblick, weil das Nuͤtzliche hier aus Ordnung und Reinlichkeit hervortrat. Wir verlebten in diesen Betrachtungen gluͤck¬ liche Tage. Kehrte ich dann wieder zu meinem Freun¬ de Jacobi zuruͤck, so genoß ich des entzuͤcken¬ den Gefuͤhls einer Verbindung durch das in¬ nerste Gemuͤth. Wir waren beyde von der lebendigsten Hoffnung gemeinsamer Wirkung belebt, dringend forderte ich ihn auf, alles was in ihm sich rege und bewege, in irgend einer Form kraͤftig darzustellen. Es war das Mittel, wodurch ich mich aus so viel Ver¬ wirrungen herausgerissen hatte, ich hoffte, es solle auch ihm zusagen. Er saͤumte nicht, es mit Muth zu ergreifen, und wie viel Gutes, Schoͤnes, Herzerfreuendes hat er nicht ge¬ leistet! Und so schieden wir endlich in der seligen Empfindung ewiger Vereinigung, ganz ohne Vorgefuͤhl, daß unser Streben eine ent¬ gegengesetzte Richtung nehmen werde, wie es sich im Laufe des Lebens nur allzu sehr offen¬ barte. Was mir ferner auf dem Ruͤckwege rhein¬ aufwaͤrts begegnet, ist mir ganz aus der Er¬ innerung verschwunden, theils weil der zwey¬ te Anblick der Gegenstaͤnde in Gedanken mit dem ersten zu verfließen pflegt, theils auch, weil ich, in mich gekehrt, das Viele was ich erfahren hatte, zurecht zu legen, das was auf mich gewirkt, zu verarbeiten trachtete. Von einem wichtigen Resultat, das mir eine Zeit lang viel Beschaͤftigung gab, indem es mich zum Hervorbringen aufforderte, gedenke ich gegenwaͤrtig zu reden. Bey meiner uͤberfreyen Gesinnung, bey meinem voͤllig zweck- und planlosen Leben und Handeln, konnte mir nicht verborgen bleiben, III. 29 daß Lavater und Basedow geistige, ja geist¬ liche Mittel zu irdischen Zwecken gebrauchten. Mir, der ich mein Talent und meine Tage absichtslos vergeudete, mußte schnell auffallen, daß beyde Maͤnner, jeder auf seine Art, in¬ dem sie zu lehren, zu unterrichten und zu uͤberzeugen bemuͤht waren, doch auch gewisse Absichten im Hinterhalte verbargen, an deren Befoͤrderung ihnen sehr gelegen war. Lavater ging zart und klug, Basedow heftig, frevel¬ haft, sogar plump zu Werke; auch waren bey¬ de von ihren Liebhabereyen, Unternehmungen und von der Vortrefflichkeit ihres Treibens so uͤberzeugt, daß man sie fuͤr redliche Maͤnner halten, sie lieben und verehren mußte. Lava¬ tern besonders konnte man zum Ruhme nach¬ sagen, daß er wirklich hoͤhere Zwecke hatte und, wenn er weltklug handelte, wohl glau¬ ben durfte, der Zweck heilige die Mittel. Indem ich nun beyde beobachtete, ja ihnen frey heraus meine Meynung gestand, und die ihrige dagegen vernahm, so wurde der Ge¬ danke rege, daß freylich der vorzuͤgliche Mensch das Goͤttliche was in ihm ist, auch außer sich verbreiten moͤchte. Dann aber trifft er auf die rohe Welt, und um auf sie zu wir¬ ken, muß er sich ihr gleichstellen; hierdurch aber vergiebt er jenen hohen Vorzuͤgen gar sehr, und am Ende begiebt er sich ihrer gaͤnzlich. Das Himmlische, Ewige wird in den Koͤrper irdischer Absichten eingesenkt und zu vergaͤnglichen Schicksalen mit fortgerissen. Nun betrachtete ich den Lebensgang beyder Maͤnner aus diesem Gesichtspunct, und sie schienen mir eben so ehrwuͤrdig als bedauerns¬ werth: denn ich glaubte vorauszusehn, daß beyde sich genoͤthigt finden koͤnnten, das Obere dem Unteren aufzuopfern. Weil ich nun aber alle Betrachtungen dieser Art bis aufs Aeu¬ ßerste verfolgte, und uͤber meine enge Erfah¬ rung hinaus, nach aͤhnlichen Faͤllen in der Geschichte mich umsah; so entwickelte sich bey 29 * mir der Vorsatz, an dem Leben Maho¬ mets , den ich nie als einen Betruͤger hatte ansehn koͤnnen, jene von mir in der Wirklich¬ keit so lebhaft angeschauten Wege, die an¬ statt zum Heil, vielmehr zum Verderben fuͤh¬ ren, dramatisch darzustellen. Ich hatte kurz vorher das Leben des orientalischen Prophe¬ ten mit großem Interesse gelesen und studirt, und war daher, als der Gedanke mir auf¬ ging, ziemlich vorbereitet. Das Ganze naͤ¬ herte sich mehr der regelmaͤßigen Form, zu der ich mich schon wieder hinneigte, ob ich mich gleich der dem Theater einmal errunge¬ nen Freyheit, mit Zeit und Ort nach Be¬ lieben schalten zu duͤrfen, maͤßig bediente. Das Stuͤck fing mit einer Hymne an, wel¬ che Mahomet allein unter dem heiteren Nacht¬ himmel anstimmt. Erst verehrt er die un¬ endlichen Gestirne als eben so viele Goͤtter; dann steigt der freundliche Stern Gad (un¬ ser Jupiter) hervor, und nun wird diesem, als dem Koͤnig der Gestirne, ausschließliche Verehrung gewidmet. Nicht lange, so be¬ wegt sich der Mond herauf und gewinnt Aug' und Herz des Anbetenden, der sodann, durch die hervortretende Sonne herrlich erquickt und gestaͤrkt, zu neuem Preise aufgerufen wird. Aber dieser Wechsel, wie erfreulich er auch seyn mag, ist dennoch beunruhigend, das Gemuͤth empfindet, daß es sich nochmals uͤberbieten muß; es erhebt sich zu Gott, dem Einzigen, Ewigen, Unbegrenzten, dem alle diese begrenz¬ ten herrlichen Wesen ihr Daseyn zu verdanken haben. Diese Hymne hatte ich mit viel Lie¬ be gedichtet; sie ist verloren gegangen, wuͤr¬ de sich aber zum Zweck einer Cantate wohl wieder herstellen lassen, und sich dem Musi¬ ker durch die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks empfehlen. Man muͤßte sich aber, wie es auch damals schon die Absicht war, den An¬ fuͤhrer einer Carawane mit seiner Familie und dem ganzen Stamme denken, und so wuͤrde fuͤr die Abwechselung der Stimmen und die Macht der Choͤre wohl gesorgt seyn. Nachdem sich also Mahomet selbst bekehrt, theilt er diese Gefuͤhle und Gesinnungen den Seinigen mit; seine Frau und Ali fallen ihm unbedingt zu. Im zweyten Act versucht er selbst, heftiger aber Ali, diesen Glauben in dem Stamme weiter auszubreiten. Hier zeigt sich Beystimmung und Widersetzlichkeit, nach Verschiedenheit der Character. Der Zwist be¬ ginnt, der Streit wird gewaltsam, und Ma¬ homet muß entfliehn. Im dritten Act be¬ zwingt er seine Gegner, macht seine Religion zur oͤffentlichen, reinigt die Kaaba von den Goͤtzenbildern; weil aber doch nicht alles durch Kraft zu thun ist, so muß er auch zur List seine Zuflucht nehmen. Das Irdische waͤchst und breitet sich aus, das Goͤttliche tritt zu¬ ruͤck und wird getruͤbt. Im vierten Acte ver¬ folgt Mahomet seine Eroberungen, die Lehre wird mehr Vorwand als Zweck, alle denkba¬ ren Mittel muͤssen benutzt werden; es fehlt nicht an Grausamkeiten. Eine Frau, deren Mann er hat hinrichten lassen, vergiftet ihn. Im fuͤnften fuͤhlt er sich vergiftet. Seine große Fassung, die Wiederkehr zu sich selbst, zum hoͤheren Sinne, machen ihn der Be¬ wunderung wuͤrdig. Er reinigt seine Lehre, befestigt sein Reich und stirbt. So war der Entwurf einer Arbeit, die mich lange im Geist beschaͤftigte: denn ge¬ woͤhnlich mußte ich erst etwas im Sinne bey¬ sammen haben, eh ich zur Ausfuͤhrung schritt. Alles was das Genie durch Character und Geist uͤber die Menschen vermag, sollte dar¬ gestellt werden, und wie es dabey gewinnt und verliert. Mehrere einzuschaltende Ge¬ saͤnge wurden vorlaͤufig gedichtet, von denen ist allein noch uͤbrig, was uͤberschrieben Ma ¬ homets Gesang , unter meinen Gedich¬ ten steht. Im Stuͤcke sollte Ali, zu Ehren seines Meisters, auf dem hoͤchsten Puncte des Gelingens diesen Gesang vortragen, kurz vor der Umwendung, die durch das Gift geschieht. Ich erinnere mich auch noch der Intentionen einzelner Stellen, doch wuͤrde mich die Ent¬ wickelung derselben hier zu weit fuͤhren. Funfzehntes Buch. Von so vielfachen Zerstreuungen, die doch meist zu ernsten, ja religioͤsen Betrachtungen Anlaß gaben, kehrte ich immer wieder zu meiner edlen Freundinn von Klettenberg zu¬ ruͤck, deren Gegenwart meine stuͤrmischen, nach allen Seiten hinstrebenden Neigungen und Leidenschaften, wenigstens fuͤr einen Au¬ genblick beschwichtigte, und der ich von sol¬ chen Vorsaͤtzen, nach meiner Schwester, am liebsten Rechenschaft gab. Ich haͤtte wohl bemerken koͤnnen, daß von Zeit zu Zeit ihre Gesundheit abnahm, allein ich verhehlte mir's, und durfte dieß um so eher, als ihre Heiter¬ keit mit der Krankheit zunahm. Sie pflegte nett und reinlich am Fenster in ihrem Sessel zu sitzen, vernahm die Erzaͤhlungen meiner Ausfluͤge mit Wohlwollen, so wie dasjenige was ich ihr vorlas. Manchmal zeichnete ich ihr auch etwas hin, um die Gegenden leich¬ ter zu beschreiben, die ich gesehn hatte. Ei¬ nes Abends, als ich mir eben mancherley Bilder wieder hervorgerufen, kam, bey un¬ tergehender Sonne, sie und ihre Umgebung mir wie verklaͤrt vor, und ich konnte mich nicht enthalten, so gut es meine Unfaͤhigkeit zuließ, ihre Person und die Gegenstaͤnde des Zimmers in ein Bild zu bringen, das unter den Haͤnden eines kunstfertigen Malers, wie Kersting , hoͤchst anmuthig geworden waͤre. Ich sendete es an eine auswaͤrtige Freundinn und legte als Commentar und Supplement ein Lied hinzu. Sieh in diesem Zauberspiegel Einen Traum, wie lieb und gut, Unter ihres Gottes Fluͤgel, Unsre Freundinn leidend ruht. Schaue, wie sie sich hinuͤber Aus des Lebens Woge stritt; Sieh Dein Bild ihr gegenuͤber Und den Gott der fuͤr Euch litt. Fuͤhle, was ich in dem Weben Dieser Himmelslust gefuͤhlt, Als mit ungeduld'gem Streben Ich die Zeichnung hingewuͤhlt. Wenn ich mich in diesen Strophen, wie auch sonst wohl manchmal geschah, als einen Auswaͤrtigen, Fremden, sogar als einen Hei¬ den gab, war ihr dieses nicht zuwider, viel¬ mehr versicherte sie mir, daß ich ihr so lieber sey als fruͤher, da ich mich der christlichen Terminologie bedient, deren Anwendung mir nie recht habe gluͤcken wollen; ja es war schon hergebracht, wenn ich ihr Missionsbe¬ richte vorlas, welche zu hoͤren ihr immer sehr angenehm war, daß ich mich der Voͤl¬ ker gegen die Missionarien annehmen, und ihren fruͤheren Zustand dem neuern vorziehen durfte. Sie blieb immer freundlich und sanft, und schien meiner und meines Heils wegen nicht in der mindesten Sorge zu seyn. Daß ich mich aber nach und nach immer mehr von jenem Bekenntniß entfernte, kam daher, weil ich dasselbe mit allzu großem Ernst, mit leidenschaftlicher Liebe zu ergreifen gesucht hatte. Seit meiner Annaͤherung an die Bruͤ¬ dergemeine hatte meine Neigung zu dieser Ge¬ sellschaft, die sich unter der Siegesfahne Christi versammelte, immer zugenommen. Jede posi¬ tive Religion hat ihren groͤßten Reiz wenn sie im Werden begriffen ist; deswegen ist es so angenehm, sich in die Zeiten der Apostel zu denken, wo sich alles noch frisch und unmit¬ telbar geistig darstellt, und die Bruͤdergemeine hatte hierin etwas Magisches, daß sie jenen ersten Zustand fortzusetzen, ja zu verewigen schien. Sie knuͤpfte ihren Ursprung an die fruͤh¬ sten Zeiten an, sie war niemals fertig geworden, sie hatte sich nur in unbemerkten Ranken durch die rohe Welt hindurchgewunden; nun schlug ein einzelnes Auge, unter dem Schutz eines frommen vorzuͤglichen Mannes, Wurzel, um sich abermals aus unmerklichen, zufaͤllig¬ scheinenden Anfaͤngen, weit uͤber die Welt auszubreiten. Der wichtigste Punct hierbey war der, daß man die religioͤse und buͤrger¬ liche Verfassung unzertrennlich in eins zusam¬ menschlang, daß der Lehrer zugleich als Ge¬ bieter, der Vater zugleich als Richter dastand; ja, was noch mehr war, das goͤttliche Ober¬ haupt, dem man in geistlichen Dingen einen unbedingten Glauben geschenkt hatte, ward auch zu Lenkung weltlicher Angelegenheiten angerufen, und seine Antwort, sowohl was die Verwaltung im Ganzen, als auch was jeden Einzelnen bestimmen sollte, durch den Ausspruch des Looses mit Ergebenheit ver¬ nommen. Die schoͤne Ruhe, wie sie wenig¬ stens das Aeußere bezeugte, war hoͤchst ein¬ ladend, indem von der andern Seite, durch den Missions-Beruf, alle Thatkraft die in dem Menschen liegt, in Anspruch genommen wurde. Die trefflichen Maͤnner die ich auf dem Synodus zu Marienborn, wohin mich Legationsrath Moritz, Geschaͤftstraͤger der Grafen von Isenburg, mitnahm, kennen lernte, hatten meine ganze Verehrung ge¬ wonnen, und es waͤre nur auf sie angekom¬ men, mich zu dem Ihrigen zu machen. Ich beschaͤftigte mich mit ihrer Geschichte, mit ih¬ rer Lehre, der Herkunft und Ausbildung der¬ selben, und fand mich in dem Fall, davon Rechenschaft zu geben, und mich mit Theil¬ nehmenden daruͤber zu unterhalten. Ich mu߬ te jedoch bemerken, daß die Bruͤder so we¬ nig als Fraͤulein von Klettenberg, mich fuͤr einen Christen wollten gelten lassen, welches mich anfangs beunruhigte, nachher aber meine Neigung einigermaßen erkaͤltete. Lange konnte ich jedoch den eigentlichen Unterscheidungsgrund nicht auffinden, ob er gleich ziemlich am Tage lag, bis er mir mehr zufaͤllig als durch For¬ schung entgegendrang. Was mich naͤmlich von der Bruͤdergemeine so wie von andern wer¬ then Christenseelen absonderte, war dasselbige, woruͤber die Kirche schon mehr als einmal in Spaltung gerathen war. Ein Theil behaup¬ tete, daß die menschliche Natur durch den Suͤndenfall dergestalt verdorben sey, daß auch bis in ihren innersten Kern nicht das mindeste Gute an ihr zu finden, deshalb der Mensch auf seine eignen Kraͤfte durchaus Verzicht zu thun, und alles von der Gnade und ihrer Einwirkung zu erwarten habe. Der andere Theil gab zwar die erblichen Maͤngel der Menschen sehr gern zu, wollte aber der Na¬ tur inwendig noch einen gewissen Keim zuge¬ stehn, welcher, durch goͤttliche Gnade belebt, zu einem frohen Baume geistiger Gluͤckselig¬ keit emporwachsen koͤnne. Von dieser letztern Ueberzeugung war ich auf's innigste durchdrun¬ gen, ohne es selbst zu wissen, obwohl ich mich mit Mund und Feder zu dem Gegenthei¬ le bekannt hatte; aber ich daͤmmerte so hin, III. 30 das eigentliche Dilemma hatte ich mir nie ausgesprochen. Aus diesem Traume wurde ich jedoch einst ganz unvermuthet gerissen, als ich diese meine, wie mir schien, hoͤchst unschuldige Meynung, in einem geistlichen Gespraͤch ganz unbewunden eroͤffnete, und deshalb eine große Strafpredigt erdulden mu߬ te. Dieß sey eben, behauptete man mir ent¬ gegen, der wahre Pelagianismus, und gerade zum Ungluͤck der neueren Zeit, wolle diese verderbliche Lehre wieder um sich greifen. Ich war hieruͤber erstaunt, ja erschrocken. Ich ging in die Kirchengeschichte zuruͤck, be¬ trachtete die Lehre und die Schicksale des Pe¬ lagius naͤher, und sah nun deutlich, wie diese beyden unvereinbaren Meynungen durch Jahrhunderte hin und hergewogt, und von den Menschen, je nachdem sie mehr thaͤtiger oder leidender Natur gewesen, aufgenommen und bekannt worden. Mich hatte der Lauf der vergangenen Jahre unablaͤssig zu Uebung eigner Kraft auf¬ gefordert, in mir arbeitete eine rastlose Thaͤ¬ tigkeit, mit dem besten Willen, zu moralischer Ausbildung. Die Außenwelt forderte, daß diese Thaͤtigkeit geregelt und zum Nutzen anderer gebraucht werden sollte, und ich hatte diese große Forderung in mir selbst zu verar¬ beiten. Nach allen Seiten hin war ich an die Natur gewiesen, sie war mir in ihrer Herrlichkeit erschienen; ich hatte so viel wak¬ kere und brave Menschen kennen gelernt, die sich's in ihrer Pflicht, um der Pflicht willen, sauer werden ließen; ihnen, ja mir selbst zu entsagen, schien mir unmoͤglich; die Kluft die mich von jener Lehre trennte ward mir deutlich, ich mußte also auch aus dieser Ge¬ sellschaft scheiden, und da mir meine Neigung zu den heiligen Schriften so wie zu dem Stifter und den fruͤheren Bekennern nicht ge¬ raubt werden konnte, so bildete ich mir ein Christenthum zu meinem Privatgebrauch, und 30 * suchte dieses durch fleißiges Studium der Ge¬ schichte, und durch genaue Bemerkung der¬ jenigen die sich zu meinem Sinne hingeneigt hatten, zu begruͤnden und aufzubauen. Weil nun aber alles was ich mit Liebe in mich aufnahm, sich sogleich zu einer dichteri¬ schen Form anlegte, so ergriff ich den wun¬ derlichen Einfall, die Geschichte des ewi¬ gen Juden , die sich schon fruͤh durch die Volksbuͤcher bey mir eingedruͤckt hatte, episch zu behandeln, um an diesem Leitfaden die her¬ vorstehenden Puncte der Religions- und Kir¬ chengeschichte nach Befinden darzustellen. Wie ich mir aber die Fabel gebildet, und welchen Sinn ich ihr untergelegt, gedenke ich nun¬ mehr zu erzaͤhlen. In Jerusalem befand sich ein Schuster, dem die Legende den Namen Ahasverus giebt. Zu diesem hatte mir mein Dresdner Schuster die Grundzuͤge geliefert. Ich hatte ihn mit eines Handwerksgenossen, mit Hans Sachsens Geist und Humor bestens ausge¬ stattet, und ihn durch eine Neigung zu Christo veredelt. Weil er nun, bey offener Werk¬ statt, sich gern mit den Vorbeygehenden un¬ terhielt, sie neckte und, auf Socratische Weise, Jeden nach seiner Art anregte; so verweilten die Nachbarn und andre vom Volk gern bey ihm, auch Pharisaͤer und Saddu¬ zaͤer sprachen zu, und, begleitet von seinen Juͤngern, mochte der Heiland selbst wohl auch manchmal bey ihm verweilen. Der Schu¬ ster, dessen Sinn bloß auf die Welt gerichtet war, faßte doch zu unserem Herrn eine be¬ sondere Neigung, die sich hauptsaͤchlich da¬ durch aͤußerte, daß er den hohen Mann, des¬ sen Sinn er nicht faßte, zu seiner eignen Denk- und Handelsweise bekehren wollte. Er lag daher Christo sehr instaͤndig an, doch aus der Beschaulichkeit hervorzutreten, nicht mit solchen Muͤßiggaͤngern im Lande herum¬ zuziehn, nicht das Volk von der Arbeit hin¬ weg an sich in die Einoͤde zu locken: ein ver¬ sammeltes Volk sey immer ein aufgeregtes, und es werde nichts Gutes daraus entstehn. Dagegen suchte ihn der Herr von seinen hoͤheren Ansichten und Zwecken sinnbildlich zu belehren, die aber bey dem derben Manne nicht fruchten wollten. Daher, als Christus immer bedeutender, ja eine oͤffentliche Per¬ son ward, ließ sich der wohlwollende Hand¬ werker immer schaͤrfer und heftiger vernehmen, stellte vor, daß hieraus nothwendig Unruhen und Aufstaͤnde erfolgen, und Christus selbst genoͤthigt seyn wuͤrde, sich als Parteyhaupt zu erklaͤren, welches doch unmoͤglich seine Ab¬ sicht sey. Da nun der Verlauf der Sache wie wir wissen erfolgt, Christus gefangen und verurtheilt ist, so wird Ahasverus noch heftiger aufgeregt, als Judas , der schein¬ bar den Herrn verrathen, verzweifelnd in die Werkstatt tritt, und jammernd seine mis¬ lungene That erzaͤhlt. Er sey naͤmlich, so gut als die kluͤgsten der uͤbrigen Anhaͤnger, fest uͤberzeugt gewesen, daß Christus sich als Regent und Volkshaupt erklaͤren werde, und habe das bisher unuͤberwindliche Zaudern des Herrn mit Gewalt zur That noͤthigen wollen, und deswegen die Priesterschaft zu Thaͤtlich¬ keiten aufgereizt, welche auch diese bisher nicht gewagt. Von der Juͤnger Seite sey man auch nicht unbewaffnet gewesen, und wahr¬ scheinlicher Weise waͤre alles gut abgelaufen, wenn der Herr sich nicht selbst ergeben und sie in den traurigsten Zustaͤnden zuruͤckge¬ lassen haͤtte. Ahasverus, durch diese Erzaͤh¬ lung keineswegs zur Milde gestimmt, verbit¬ tert vielmehr noch den Zustand des armen Exapostels, so daß diesem nichts uͤbrig bleibt, als in der Eile sich aufzuhaͤngen. Als nun Jesus vor der Werkstatt des Schusters vorbey zum Tode gefuͤhrt wird, ereignet sich gerade dort die bekannte Scene, daß der Leidende unter der Last des Kreuzes erliegt, und Simon von Cyrene dasselbe wei¬ ter zu tragen gezwungen wird. Hier tritt Ahasverus hervor, nach hartverstaͤndiger Men¬ schen Art, die, wenn sie Jemand durch eigne Schuld ungluͤcklich sehn, kein Mitleid fuͤhlen, ja vielmehr durch unzeitige Gerechtigkeit ge¬ drungen, das Uebel durch Vorwuͤrfe vermeh¬ ren; er tritt heraus und wiederholt alle fruͤ¬ heren Warnungen, die er in heftige Beschul¬ digungen verwandelt, wozu ihn seine Nei¬ gung fuͤr den Leidenden zu berechtigen scheint. Dieser antwortet nicht, aber im Augenblicke bedeckt die liebende Veronika des Heilands Gesicht mit dem Tuche, und da sie es weg¬ nimmt, und in die Hoͤhe haͤlt, erblickt Ahas¬ verus darauf das Antlitz des Herrn, aber keineswegs des in Gegenwart leidenden, son¬ dern eines herrlich Verklaͤrten, und himmli¬ sches Leben Ausstrahlenden. Geblendet von dieser Erscheinung wendet er die Augen weg, und vernimmt die Worte: Du wandelst auf Erden, bis du mich in dieser Gestalt wieder erblickst. Der Betroffene kommt erst einige Zeit nachher zu sich selbst zuruͤck, findet, da alles sich zum Gerichtsplatz gedraͤngt hat, die Straßen Jerusalems oͤde, Unruhe und Sehn¬ sucht treiben ihn fort, und er beginnt seine Wanderung. Von dieser und von dem Ereigniß, wo¬ durch das Gedicht zwar geendigt, aber nicht abgeschlossen wird, vielleicht ein andermal. Der Anfang, zerstreute Stellen, und der Schluß waren geschrieben; aber mir fehlte die Sammlung, mir fehlte die Zeit, die noͤ¬ thigen Studien zu machen, daß ich ihm haͤt¬ te den Gehalt den ich wuͤnschte, geben koͤn¬ nen, und es blieben die wenigen Blaͤtter um desto eher liegen, als sich eine Epoche in mir entwickelte, die sich schon als ich den Wer¬ ther schrieb, und nachher dessen Wirkungen sah, nothwendig anspinnen mußte. Das gemeine Menschenschicksal, an wel¬ chem wir alle zu tragen haben, muß denje¬ nigen am schwersten aufliegen, deren Geistes¬ kraͤfte sich fruͤher und breiter entwickeln. Wir moͤgen unter dem Schutz von Aeltern und Verwandten emporkommen, wir moͤgen uns an Geschwister und Freunde anlehnen, durch Bekannte unterhalten, durch geliebte Perso¬ nen begluͤckt werden; so ist doch immer das Final, daß der Mensch auf sich zuruͤckgewiesen wird, und es scheint, es habe sogar die Gott¬ heit sich so zu dem Menschen gestellt, daß sie dessen Ehrfurcht, Zutrauen und Liebe nicht immer, wenigstens nicht grade im dringenden Augenblick, erwiedern kann. Ich hatte jung genug gar oft erfahren, daß in den huͤlfsbe¬ duͤrftigsten Momenten uns zugerufen wird: „Arzt hilf dir selber!“ und wie oft hatte ich nicht schmerzlich ausseufzen muͤssen: „ich trete die Kelter allein!“ Indem ich mich also nach Bestaͤtigung der Selbstaͤndigkeit umsah, fand ich als die sicherste Base derselben mein pro¬ ductives Talent. Es verließ mich seit eini¬ gen Jahren keinen Augenblick; was ich wa¬ chend am Tage gewahr wurde, bildete sich sogar oͤfters Nachts in regelmaͤßige Traͤume, und wie ich die Augen aufthat, erschien mir entweder ein wunderliches neues Ganze, oder der Theil eines schon Vorhandenen. Ge¬ woͤhnlich schrieb ich alles zur fruͤhsten Ta¬ geszeit; aber auch Abends, ja tief in die Nacht, wenn Wein und Geselligkeit die Le¬ bensgeister erhoͤhten, konnte man von mir fordern was man wollte; es kam nur auf eine Gelegenheit an, die einigen Character hatte, so war ich bereit und fertig. Wie ich nun uͤber diese Naturgabe nachdachte und fand, daß sie mir ganz eigen angehoͤre und durch nichts Fremdes weder beguͤnstigt noch gehindert werden koͤnne, so mochte ich gern hierauf mein ganzes Daseyn in Gedanken gruͤnden. Diese Vorstellung verwandelte sich in ein Bild, die alte mythologische Figur des Prometheus fiel mir auf, der, abgeson¬ dert von den Goͤttern, von seiner Werkstaͤtte aus eine Welt bevoͤlkerte. Ich fuͤhlte recht gut, daß sich etwas Bedeutendes nur produ¬ ciren lasse, wenn man sich isolire. Meine Sachen, die so viel Beyfall gefunden hat¬ ten, waren Kinder der Einsamkeit, und seit¬ dem ich zu der Welt in einem breitem Ver¬ haͤltniß stand, fehlte es nicht an Kraft und Lust der Erfindung, aber die Ausfuͤhrung stockte, weil ich weder in Prosa noch in Ver¬ sen eigentlich einen Stil hatte, und bey ei¬ ner jeden neuen Arbeit, je nachdem der Ge¬ genstand war, immer wieder von vorne ta¬ sten und versuchen mußte. Indem ich nun hierbey die Huͤlfe der Menschen abzulehnen ja auszuschließen hatte, so sonderte ich mich, nach Prometheischer Weise, auch von den Goͤttern ab, um so natuͤrlicher, als bey mei¬ nem Character und meiner Denkweise Eine Gesinnung jederzeit die uͤbrigen verschlang und abstieß. Die Fabel des Prometheus ward in mir lebendig. Das alte Titanengewand schnitt ich mir nach meinem Wuchse zu, und fing, ohne weiter nachgedacht zu haben, ein Stuͤck zu schreiben an, worin das Misverhaͤltniß dargestellt ist, in welches Prometheus zu dem Zeus und den neuen Goͤttern geraͤth, indem er auf eigne Hand Menschen bildet, sie durch Gunst der Minerva belebt, und eine dritte Dynastie stiftet. Und wirklich hatten die jetzt regierenden Goͤtter sich zu beschweren voͤllig Ursache, weil man sie als unrechtmaͤßig zwi¬ schen die Titanen und Menschen eingeschobene Wesen betrachten konnte. Zu dieser seltsamen Composition gehoͤrt als Monolog jenes Ge¬ dicht, das in der deutschen Literatur bedeu¬ tend geworden, weil dadurch veranlaßt, Les¬ sing uͤber wichtige Puncte des Denkens und Empfindens sich gegen Jacobi erklaͤrte. Es diente zum Zuͤndkraut einer Explosion, welche die geheimsten Verhaͤltnisse wuͤrdiger Maͤnner aufdeckte und zur Sprache brachte: Verhaͤlt¬ nisse, die ihnen selbst unbewußt, in einer sonst hoͤchst aufgeklaͤrten Gesellschaft schlum¬ merten. Der Riß war so gewaltsam, daß wir daruͤber, bey eintretenden Zufaͤlligkeiten, einen unserer wuͤrdigsten Maͤnner, Mendels¬ sohn, verloren. Ob man nun wohl, wie auch geschehn, bey diesem Gegenstande philosophische, ja re¬ ligioͤse Betrachtungen anstellen kann, so ge¬ hoͤrt er doch ganz eigentlich der Poesie. Die Titanen sind die Folie des Polytheïsmus, so wie man als Folie des Monotheïsmus den Teufel betrachten kann; doch ist dieser so wie der einzige Gott, dem er entgegensteht, keine poetische Figur. Der Satan Milton's, brav genug gezeichnet, bleibt immer in dem Nach¬ theil der Subalternitaͤt, indem er die herr¬ liche Schoͤpfung eines oberen Wesens zu zer¬ stoͤren sucht, Prometheus hingegen im Vor¬ theil, der, zum Trutz hoͤherer Wesen, zu schaffen und zu bilden vermag. Auch ist es ein schoͤner, der Poesie zusagender Gedanke, die Menschen nicht durch den obersten Welt¬ herrscher, sondern durch eine Mittelfigur her¬ vorbringen zu lassen, die aber doch, als Ab¬ koͤmmling der aͤltesten Dynastie, hierzu wuͤr¬ dig und wichtig genug ist; wie denn uͤber¬ haupt die griechische Mythologie einen uner¬ schoͤpflichen Reichthum goͤttlicher und mensch¬ licher Symbole darbietet. Der Titanisch-gigantische, himmelstuͤrmen¬ de Sinn jedoch verlieh meiner Dichtungsart keinen Stoff. Eher ziemte sich mir, darzu¬ stellen jenes friedliche, plastische, allenfalls dul¬ dende Widerstreben, das die Obergewalt an¬ erkannt, aber sich ihr gleichsetzen moͤchte. Doch auch die kuͤhneren jenes Geschlechts, Tanta¬ lus, Ixion, Sisyphus, waren meine Heili¬ gen. In die Gesellschaft der Goͤtter aufge¬ nommen, mochten sie sich nicht untergeordnet genug betragen, als uͤbermuͤthige Gaͤste ih¬ res wirthlichen Goͤnners Zorn verdient und sich eine traurige Verbannung zugezogen ha¬ ben. Ich bemitleidete sie, ihr Zustand war von den Alten schon als wahrhaft tragisch anerkannt, und wenn ich sie als Glieder ei¬ ner ungeheuren Opposition im Hintergrunde meiner Iphigenie zeigte, so bin ich ihnen wohl einen Theil der Wirkung schuldig, wel¬ che dieses Stuͤck hervorzubringen das Gluͤck hatte. Zu jener Zeit aber ging bey mir das Dich¬ ten und Bilden unaufhaltsam miteinander. Ich, zeichnete die Portraite meiner Freunde im Profil auf grau Papier mit weißer und schwarzer Kreide. Wenn ich dictirte oder mir vorlesen ließ, entwarf ich die Stellungen der Schreibenden und Lesenden, mit ihrer Um¬ gebung; die Aehnlichkeit war nicht zu verken¬ nen und die Blaͤtter wurden gut aufgenom¬ men. Diesen Vortheil haben Dilettanten im¬ mer, weil sie ihre Arbeit umsonst geben. Das Unzulaͤngliche dieses Abbildens jedoch fuͤhlend, griff ich wieder zu Sprache und Rhythmus, die mir besser zu Gebote stan¬ den. Wie munter, froh und rasch ich dabey zu Werke ging, davon zeugen manche Ge¬ dichte, welche die Kunstnatur und die Na¬ turkunst enthusiastisch verkuͤndend, im Augen¬ blicke des Entstehens sowohl mir als meinen Freunden immer neuen Muth befoͤrderten. Als ich nun einst in dieser Epoche und so beschaͤftigt, bey gesperrtem Lichte in mei¬ nem Zimmer saß, dem wenigstens der Schein einer Kuͤnstlerwerkstatt hierdurch verliehen war, uͤberdieß auch die Waͤnde mit halbfertigen Arbeiten besteckt und behangen das Vorur¬ theil einer großen Thaͤtigkeit gaben; so trat ein wohlgebildeter schlanker Mann bey mir ein, den ich zuerst in der Halbdaͤmmerung fuͤr Fritz Jacobi hielt, bald aber meinen Irrthum erkennend als einen Fremden be¬ gruͤßte. An seinem freyen anstaͤndigen Be¬ tragen war eine gewisse militairische Haltung III. 31 nicht zu verkennen. Er nannte mir seinen Namen von Knebel , und aus einer kur¬ zen Eroͤffnung vernahm ich, daß er, im preu¬ ßischen Dienste, bey einem laͤngern Aufent¬ halt in Berlin und Potzdam, mit den dorti¬ gen Literatoren und der deutschen Literatur uͤberhaupt ein gutes und thaͤtiges Verhaͤltniß angeknuͤpft habe. An Ramlern hatte er sich vorzuͤglich gehalten und dessen Art, Gedichte zu recitiren, angenommen. Auch war er ge¬ nau mit allem bekannt, was Goͤtz geschrie¬ ben, der unter den Deutschen damals noch keinen Namen hatte. Durch seine Veran¬ staltung war die Maͤdchen-Insel dieses Dich¬ ters in Potzdam abgedruckt worden und so¬ gar dem Koͤnig in die Haͤnde gekommen, welcher sich guͤnstig daruͤber geaͤußert ha¬ ben soll. Kaum hatten wir diese allgemein deutschen literarischen Gegenstaͤnde durchgesprochen, als ich zu meinem Vergnuͤgen erfuhr, daß er ge¬ genwaͤrtig in Weimar angestellt und zwar dem Prinzen Constantin zum Begleiter bestimmt sey. Von den dortigen Verhaͤltnissen hatte ich schon manches Guͤnstige vernommen: denn es kamen viele Fremde von daher zu uns, die Zeugen gewesen waren, wie die Herzoginn Amalia zu Erziehung ihrer Prinzen die vorzuͤglichsten Maͤnner berufen; wie die Aca¬ demie Jena durch ihre bedeutenden Lehrer zu diesem schoͤnen Zweck gleichfalls das Ihrige beygetragen; wie die Kuͤnste nicht nur von gedachter Fuͤrstinn geschuͤtzt, sondern selbst von ihr gruͤndlich und eifrig getrieben wuͤrden. Auch vernahm man, daß Wieland in vorzuͤg¬ licher Gunst stehe; wie denn auch der deut¬ sche Merkur, der die Arbeiten so mancher auswaͤrtigen Gelehrten versammelte, nicht we¬ nig zu dem Rufe der Stadt beytrug, wo er herausgegeben wurde. Eins der besten deut¬ schen Theater war dort eingerichtet, und be¬ ruͤhmt durch Schauspieler sowohl als Autoren, die dafuͤr arbeiteten. Diese schoͤnen Anstalten 31 * und Anlagen schienen jedoch durch den schreckli¬ chen Schloßbrand, der im May desselben Jah¬ res sich ereignet hatte, gestoͤrt und mit einer langen Stockung bedroht; allein das Zu¬ trauen auf den Erbprinzen war so groß, daß Jederman sich uͤberzeugt hielt, dieser Schade werde nicht allein bald ersetzt, sondern auch dessen ungeachtet jede andere Hoffnung reich¬ lich erfuͤllt werden. Wie ich mich nun, gleich¬ sam als ein alter Bekannter, nach diesen Perso¬ nen und Gegenstaͤnden erkundigte und den Wunsch aͤußerte, mit den dortigen Verhaͤlt¬ nissen naͤher bekannt zu seyn; so versetzte der Ankoͤmmling gar freundlich: es sey nichts leichter als dieses, denn so eben lange der Erbprinz mit seinem Herrn Bruder, dem Prinzen Constantin, in Frankfurt an, wel¬ che mich zu sprechen und zu kennen wuͤnschten. Ich zeigte sogleich die groͤßte Bereitwilligkeit ihnen aufzuwarten, und der neue Freund ver¬ setzte, daß ich damit nicht saͤumen solle, weil der Aufenthalt nicht lange dauern werde. Um mich hiezu anzuschicken, fuͤhrte ich ihn zu meinen Eltern, die uͤber seine Ankunft und Botschaft hoͤchst verwundert, mit ihm sich ganz vergnuͤglich unterhielten. Ich eilte nun¬ mehr mit demselben zu den jungen Fuͤrsten, die mich sehr frey und freundlich empfingen, so wie auch der Fuͤhrer des Erbprinzen, Graf Goͤrtz , mich nicht ungern zu sehen schien. Ob es nun gleich an literarischer Un¬ terhaltung nicht fehlte, so machte doch ein Zufall die beste Einleitung, daß sie gar bald bedeutend und fruchtbar werden konnte. Es lagen naͤmlich Moͤsers patriotische Phantasieen und zwar der erste Theil, frisch geheftet und unaufgeschnitten, auf dem Tische. Da ich sie nun sehr gut, die Gesellschaft sie aber wenig kannte, so hatte ich den Vortheil, davon eine ausfuͤhrliche Relation liefern zu koͤnnen; und hier fand sich der schicklichste Anlaß zu einem Gespraͤch mit einem jungen Fuͤrsten, der den besten Willen und den festen Vorsatz hatte, an seiner Stelle entschieden Gutes zu wirken. Moͤsers Darstellung, so dem Inhalt als dem Sinne nach, muß ei¬ nem jeden Deutschen hoͤchst interessant seyn. Wenn man sonst dem deutschen Reiche Zer¬ splitterung, Anarchie und Ohnmacht vorwarf, so erschien aus dem Moͤserischen Standpunkte gerade die Menge kleiner Staaten als hoͤchst¬ erwuͤnscht zu Ausbreitung der Kultur im Ein¬ zelnen, nach den Beduͤrfnissen welche aus der Lage und Beschaffenheit der verschiedensten Provinzen hervorgehn; und wenn Moͤser von der Stadt, vom Stift Osnabruͤck ausgehend und uͤber den westphaͤlischen Kreis sich ver¬ breitend, nunmehr dessen Verhaͤltniß zu dem ganzen Reiche zu schildern wußte, und bey Beurtheilung der Lage, das Vergangene mit dem Gegenwaͤrtigen zusammenknuͤpfend, dieses aus jenem ableitete und dadurch, ob eine Ver¬ aͤnderung lobens- oder tadelnswuͤrdig sey, gar deutlich auseinander setzte: so durfte nur jeder Staatsverweser, an seinem Ort, auf gleiche Weise verfahren, um die Verfassung seines Umkreises und deren Verknuͤpfung mit Nach¬ barn und mit dem Ganzen aufs beste kennen zu lernen, und sowohl Gegenwart als Zukunft zu beurtheilen. Bey dieser Gelegenheit kam manches auf's Tapet, was den Unterschied der Ober- und Niedersaͤchsischen Staaten betraf, und wie so¬ wohl die Naturproducte als die Sitten, Ge¬ setze und Gewohnheiten sich von den fruͤhesten Zeiten her anders gebildet und, nach der Re¬ gierungsform und der Religion, bald auf die eine bald auf die andere Weise gelenkt hat¬ ten. Man versuchte die Unterschiede von bey¬ den etwas genauer herauszusetzen, und es zeigte sich gerade daran, wie vortheilhaft es sey, ein gutes Muster vor sich zu haben, welches, wenn man nicht dessen Einzelnhei¬ ten, sondern die Methode betrachtet nach welcher es angelegt ist, auf die verschiedensten Faͤlle angewendet und eben dadurch dem Ur¬ theil hoͤchst ersprießlich werden kann. Bey Tafel wurden diese Gespraͤche fortge¬ setzt, und sie erregten fuͤr mich ein besseres Vorurtheil als ich vielleicht verdiente. Denn anstatt daß ich diejenigen Arbeiten, die ich selbst zu liefern vermochte, zum Gegenstand des Gespraͤchs gemacht, fuͤr das Schauspiel, fuͤr den Roman eine ungetheilte Aufmerksam¬ keit gefordert haͤtte; so schien ich vielmehr in Moͤsern solche Schriftsteller vorzuziehen, de¬ ren Talent aus dem thaͤtigen Leben ausging und in dasselbe unmittelbar nuͤtzlich sogleich wieder zuruͤckkehrte, waͤhrend eigentlich poeti¬ sche Arbeiten, die uͤber dem Sittlichen und Sinnlichen schweben, erst durch einen Um¬ schweif und gleichsam nur zufaͤllig nuͤtzen koͤn¬ nen. Bey diesen Gespraͤchen ging es nun wie bey den Maͤhrchen der tausend und einen Nacht: es schob sich eine bedeutende Materie in und uͤber die andere, manches Thema klang nur an, ohne daß man es haͤtte ver¬ folgen koͤnnen; und so ward, weil der Auf¬ enthalt der jungen Herrschaften in Frankfurt nur kurz seyn konnte, mir das Versprechen abgenommen, daß ich nach Maynz folgen und dort einige Tage zubringen sollte, wel¬ ches ich denn herzlich gern ablegte und mit dieser vergnuͤgten Nachricht nach Hause eilte, um solche meinen Eltern mitzutheilen. Meinem Vater wollte es jedoch keines¬ wegs gefallen: denn nach seinen reichsbuͤrger¬ lichen Gesinnungen hatte er sich jederzeit von den Großen entfernt gehalten, und ob¬ gleich mit den Geschaͤftstraͤgern der umliegen¬ den Fuͤrsten und Herren in Verbindung, stand er doch keineswegs in persoͤnlichen Ver¬ haͤltnissen zu ihnen; ja es gehoͤrten die Hoͤfe unter die Gegenstaͤnde, woruͤber er zu scher¬ zen pflegte, auch wohl gern sah, wenn man ihm etwas entgegensetzte, nur mußte man sich dabey, nach seinem Beduͤnken, geistreich und witzig verhalten. Hatten wir ihm das Procul a Jove procul a fulmine gelten lassen, doch aber bemerkt, daß beym Blitze nicht sowohl vom Woher als vom Wohin die Rede sey; so brachte er das alte Spruͤch¬ lein, mit großen Herren sey Kirschessen nicht gut, auf die Bahn. Wir erwiederten, es sey noch schlimmer, mit genaͤschigen Leuten aus Einem Korbe speisen. Das wollte er nicht leugnen, hatte aber schnell einen ande¬ ren Spruchreim zur Hand, der uns in Ver¬ legenheit setzen sollte. Denn da Spruͤchworte und Denkreime vom Volke ausgehn, welches, weil es gehorchen muß, doch wenigstens gern reden mag, die Oberen dagegen durch die That sich zu entschaͤdigen wissen; da ferner die Poesie des sechzehnten Jahrhunderts fast durchaus kraͤftig didactisch ist: so kann es in unserer Sprache an Ernst und Scherz nicht fehlen, den man von unten nach oben hin¬ auf ausgeuͤbt hat. Und so uͤbten wir Juͤnge¬ ren uns nun auch von oben herunter, indem wir uns was Großes einbildend, auch die Par¬ tey der Großen zu nehmen beliebten; von wel¬ chen Reden und Gegenreden ich einiges ein¬ schalte. A. Lang bey Hofe, lang bey Hoͤll! B. Dort waͤrmt sich mancher gute Gesell! A. So wie ich bin, bin ich mein eigen; Mir soll Niemand eine Gunst erzeigen. B. Was willst du dich der Gunst denn schaͤmen? Willst du sie geben, mußt du sie nehmen. A. Willst du die Noth des Hofes schauen: Da wo dich's juckt, darfst du nicht trauen! B. Wenn der Redner zum Volke spricht, Da wo er kraut, da juckt's ihn nicht. A. Hat einer Knechtschaft sich erkohren, Ist gleich die Haͤlfte des Lebens verloren; Ergeb' sich was da will, so denk' er Die andere Haͤlft' geht auch zum Henker. B. Wer sich in Fuͤrsten weiß zu schicken, Dem wird's heut oder morgen gluͤcken; Wer sich in den Poͤbel zu schicken sucht, Der hat sein ganzes Jahr verflucht. A. Wenn dir der Waizen bey Hofe bluͤht, So denke nur, daß nichts geschieht; Und wenn du denkst, du haͤttest 's in der Scheuer, Da oben ist es nicht geheuer. B. Und bluͤht der Waizen so reist er auch, Das ist immer so ein alter Brauch; Und schlaͤgt der Hagel die Aerndte nieder, 'S andre Jahr traͤgt der Boden wieder. A. Wer ganz will sein eigen seyn, Schließe sich in's Haͤuschen ein, Geselle sich zu Frau und Kindern, Genieße leichten Rebenmost Und uͤberdieß frugale Kost, Und nichts wird ihn am Leben hindern. B. Du willst dem Herrscher dich entziehn ? So sag', wohin willst du denn fliehn? O nimm es nur nicht so genau! Denn es beherrscht dich deine Frau, Und die beherrscht ihr dummer Bube, So bist du Knecht in deiner Stube. So eben da ich aus alten Denkblaͤttchen die vorstehenden Reime zusammensuche, fal¬ len mir mehr solche lustige Uebungen in die Haͤnde, wo wir alte deutsche Kernworte am¬ plificirt und ihnen sodann andere Spruͤchlein, welche sich in der Erfahrung eben so gut be¬ wahrheiten, entgegengesetzt hatten. Eine Aus¬ wahl derselben mag dereinst als Epilog der Puppenspiele zu einem heiteren Denken An¬ laß geben. Durch alle solche Erwiederungen ließ sich jedoch mein Vater von seinen Gesinnungen nicht abwendig machen. Er pflegte gewoͤhnlich sein staͤrkstes Argument bis zum Schlusse der Un¬ terhaltung aufzusparen, da er denn Voltaire's Abenteuer mit Friedrich dem Zweyten umstaͤnd¬ lich ausmalte: wie die uͤbergroße Gunst, die Familiaritaͤt, die wechselseitigen Verbindlich¬ keiten auf einmal aufgehoben und verschwun¬ den, und wir das Schauspiel erlebt, daß je¬ ner außerordentliche Dichter und Schriftsteller, durch Frankfurter Stadtsoldaten, auf Requi¬ sition des Residenten Freytag und nach Be¬ fehl des Burgemeisters von Fichard, arretirt und eine ziemliche Zeit im Gasthof zur Rose auf der Zeil gefaͤnglich angehalten worden. Hierauf haͤtte sich zwar manches einwenden lassen, unter andern, daß Voltaͤre selbst nicht ohne Schuld gewesen; aber wir gaben uns aus kindlicher Achtung jedesmal gefangen. Da nun auch bey dieser Gelegenheit, auf solche und aͤhnliche Dinge angespielt wurde, so wußte ich kaum, wie ich mich benehmen sollte: denn er warnte mich unbewunden und behauptete, die Einladung sey nur, um mich in eine Falle zu locken, und wegen jenes ge¬ gen den beguͤnstigten Wieland veruͤbten Muth¬ willens Rache an mir zu nehmen. Wie sehr ich nun auch vom Gegentheil uͤberzeugt war, indem ich nur allzu deutlich sah, daß eine vor¬ gefaßte Meynung durch hypochondrische Traum¬ bilder aufgeregt, den wuͤrdigen Mann beaͤng¬ stige; so wollte ich gleichwohl nicht gerade wider seine Ueberzeugung handeln, und konn¬ te doch auch keinen Vorwand finden, unter dem ich, ohne undankbar und unartig zu er¬ scheinen, mein Versprechen wieder zuruͤck¬ nehmen durfte. Leider war unsere Freundinn von Klettenberg bettlaͤgrig, auf die wir in aͤhnlichen Faͤllen uns zu berufen pflegten. An ihr und meiner Mutter hatte ich zwey vortreffliche Begleiterinnen; ich nannte sie nur immer Rath und That : denn wenn jene einen heitern ja seligen Blick uͤber die irdi¬ schen Dinge warf, so entwirrte sich vor ihr gar leicht was uns andere Erdenkinder ver¬ wirrte, und sie wußte den rechten Weg ge¬ woͤhnlich anzudeuten, eben weil sie ins Laby¬ rinth von oben herabsah und nicht selbst da¬ rin befangen war; hatte man sich aber ent¬ schieden, so konnte man sich auf die Bereit¬ willigkeit und auf die Thatkraft meiner Mut¬ ter verlassen. Wie jener das Schauen, so kam dieser der Glaube zu Huͤlfe, und weil sie in allen Faͤllen ihre Heiterkeit behielt, fehlte es ihr auch niemals an Huͤlfsmitteln, das Vorgesetzte oder Gewuͤnschte zu bewerk¬ stelligen. Gegenwaͤrtig wurde sie nun an die kranke Freundinn abgesendet, um deren Gut¬ achten einzuholen, und da dieses fuͤr meine Seite guͤnstig ausfiel, sodann ersucht, die Einwilligung des Vaters zu erlangen, der denn auch, obgleich unglaͤubig und ungern, nachgab. Ich gelangte also in sehr kalter Jahres¬ zeit zur bestimmten Stunde nach Maynz, und wurde von den jungen Herrschaften und ihren Begleitern, der Einladung gemaͤß, gar freundlich aufgenommen. Der in Frankfurt gefuͤhrten Gespraͤche erinnerte man sich, die begonnenen wurden fortgesetzt, und als von der neuesten deutschen Literatur und von ihren Kuͤhnheiten die Rede war, fuͤgte es sich ganz na¬ tuͤrlich, daß auch jenes famose Stuͤck, Goͤtter , Helden und Wieland , zur Sprache kam; III. 32 wobey ich gleich anfangs mit Vergnuͤgen be¬ merkte, daß man die Sache heiter und lustig betrachtete. Wie es aber mit dieser Posse, welche so großes Aufsehn erregt, eigentlich zugegangen, war ich zu erzaͤhlen veranlaßt, und so konnte ich nicht umhin, vor allen Dingen einzugestehn, daß wir, als wahr¬ haft oberrheinische Gesellen, sowohl der Nei¬ gung als Abneigung keine Graͤnzen kannten. Die Verehrung Shakespears ging bey uns bis zur Anbetung. Wieland hatte hingegen, bey der entschiedenen Eigenheit sich und sei¬ nen Lesern das Interesse zu verderben und den Enthusiasmus zu verkuͤmmern, in den Noten zu seiner Uebersetzung gar manches an dem großen Autor getadelt, und zwar auf eine Weise, die uns aͤußerst verdroß und in unsern Augen das Verdienst dieser Arbeit schmaͤlerte. Wir sahen Wielanden, den wir als Dichter so hoch verehrten, der uns als Uebersetzer so großen Vortheil gebracht, nun¬ mehr als Critiker, launisch, einseitig und un¬ gerecht. Hiezu kam noch, daß er sich auch gegen unsere Abgoͤtter, die Griechen, erklaͤrte und dadurch unsern boͤsen Willen gegen ihn noch schaͤrfte. Es ist genugsam bekannt, daß die griechischen Goͤtter und Helden nicht auf moralischen, sondern auf verklaͤrten physischen Eigenschaften ruhen, weshalb sie auch dem Kuͤnstler so herrliche Gestalten anbieten. Nun hatte Wieland in der Alceste Helden und Halbgoͤtter nach moderner Art gebildet; wo¬ gegen denn auch nichts waͤre zu sagen gewe¬ sen, weil ja einem Jeden freysteht, die poe¬ tischen Traditionen nach seinen Zwecken und seiner Denkweise umzuformen. Allein in den Briefen, die er uͤber gedachte Oper in den Merkur einruͤckte, schien er uns diese Be¬ handlungsart allzu parteyisch hervorzuheben und sich an den trefflichen Alten und ihrem hoͤhern Stil unverantwortlich zu versuͤndigen, indem er die derbe gesunde Natur, die jenen Productionen zum Grunde liegt, keinesweges anerkennen wollte. Diese Beschwerden hatten 32 * wir kaum in unserer kleinen Societaͤt leiden¬ schaftlich durchgesprochen, als die gewoͤhnliche Wuth alles zu dramatisiren mich eines Sonn¬ tags Nachmittags anwandelte, und ich bey einer Flasche guten Burgunders, das ganze Stuͤck wie es jetzt daliegt, in Einer Sitzung niederschrieb. Es war nicht sobald meinen gegenwaͤrtigen Mitgenossen vorgelesen und von ihnen mit großem Jubel aufgenommen wor¬ den, als ich die Handschrift an Lenz nach Straßburg schickte, welcher gleichfalls davon entzuͤckt schien und behauptete, es muͤsse auf der Stelle gedruckt werden. Nach einigem Hin- und Wiederschreiben gestand ich es zu, und er gab es in Straßburg eilig unter die Presse. Erst lange nachher erfuhr ich, daß dieses einer von Lenzens ersten Schritten ge¬ wesen, wodurch er mir zu schaden und mich beym Publikum in uͤblen Ruf zu setzen die Absicht hatte; wovon ich aber zu jener Zeit nichts spuͤrte noch ahndete. Und so hatte ich meinen neuen Goͤnnern mit aller Naivetaͤt diesen arglosen Ursprung des Stuͤcks, so gut wie ich ihn selbst wußte, vorerzaͤhlt und, um sie voͤllig zu uͤberzeugen, daß hiebey keine Persoͤnlichkeit noch eine an¬ dere Absicht obwalte, auch die lustige und verwegene Art mitgetheilt, wie wir uns unter¬ einander zu necken und zu verspotten pflegten. Hierauf sah ich die Gemuͤther voͤllig erheitert, und man bewunderte uns beynah, daß wir eine so große Furcht hatten, es moͤge irgend Jemand auf seinen Lorbeern einschlafen. Man verglich eine solche Gesellschaft jenen Flibu¬ stiers , welche sich in jedem Augenblick der Ruhe zu verweichlichen fuͤrchteten, weshalb der Anfuͤhrer, wenn es keine Feinde und nichts zu rauben gab, unter den Gelagtisch eine Pistole losschoß, damit es auch im Frie¬ den nicht an Wunden und Schmerzen fehlen moͤge. Nach manchen Hin- und Wiederreden uͤber diesen Gegenstand ward ich endlich ver¬ anlaßt, Wielanden einen freundlichen Brief zu schreiben, wozu ich die Gelegenheit sehr gern ergriff, da er sich schon im Merkur uͤber diesen Jugendstreich sehr lieberal erklaͤrt und, wie er es in literarischen Fehden meist ge¬ than, geistreich abschließend benommen hatte. Die wenigen Tage des Maynzer Aufent¬ halts verstrichen sehr angenehm: denn wenn die neuen Goͤnner durch Visiten und Gastmaͤ¬ ler außer dem Hause gehalten wurden, blieb ich bey den Ihrigen, portraitirte manchen und fuhr auch wohl Schlittschuh, wozu die eingefrornen Festungsgraben die beste Gelegen¬ heit verschafften. Voll von dem Guten was mir dort begegnet war, kehrte ich nach Hause zuruͤck und stand im Begriff beym Eintreten mir durch umstaͤndliche Erzaͤhlung das Herz zu erleichtern; aber ich sah nur verstoͤrte Gesichter und es blieb mir nicht lange verborgen, daß unsere Freundinn Klet¬ tenberg von uns geschieden sey. Ich war hieruͤber sehr betroffen, weil ich ihrer grade in meiner gegenwaͤrtigen Lage mehr als je¬ mals bedurfte. Man erzaͤhlte mir zu meiner Beruhigung, daß ein frommer Tod sich an ein seliges Leben angeschlossen und ihre glaͤu¬ bige Heiterkeit sich bis ans Ende ungetruͤbt erhalten habe. Noch ein anderes Hinderniß stellte sich einer freyen Mittheilung entgegen: mein Vater, anstatt sich uͤber den guten Aus¬ gang dieses kleinen Abenteuers zu freuen, ver¬ harrte auf seinem Sinne und behauptete, die¬ ses alles sey von jener Seite nur Verstellung, und man gedenke vielleicht in der Folge et¬ was schlimmeres gegen mich auszufuͤhren. Ich war daher mit meiner Erzaͤhlung zu den juͤngern Freunden hingedraͤngt, denen ich denn freilich die Sache nicht umstaͤndlich ge¬ nug uͤberliefern konnte. Aber auch hier ent¬ sprang aus Neigung und gutem Willen eine mir hoͤchst unangenehme Folge: denn kurz darauf erschien eine Flugschrift, Prome¬ theus und seine Recensenten , gleich¬ falls in dramatischer Form. Man hatte darin den neckischen Einfall ausgefuͤhrt, anstatt der Personen-Namen, kleine Holzschnitt-Figu¬ ren zwischen den Dialog zu setzen, und durch allerley satyrische Bilder diejenigen Critiker zu bezeichnen, die sich uͤber meine Arbeiten und was ihnen verwandt war, oͤffentlich hatten vernehmen lassen. Hier stieß der Altonaer Postreiter ohne Kopf ins Horn, hier brummte ein Baͤr, dort schnatterte eine Gans; der Merkur war auch nicht vergessen, und man¬ ches wilde und zahme Geschoͤpf suchte den Bildner in seiner Werkstatt irre zu machen, welcher aber, ohne sonderlich Notiz zu neh¬ men, seine Arbeit eifrig fortsetzte und dabey nicht verschwieg, wie er es uͤberhaupt zu hal¬ ten denke. Dieser unerwartet hervorbrechende Scherz fiel mir sehr auf, weil er dem Stil und Ton nach von Jemand aus unserer Ge¬ sellschaft seyn mußte, ja man haͤtte das Werk¬ lein fuͤr meine eigene Arbeit halten sollen. Am unangenehmsten aber war mir, daß Pro¬ metheus Einiges verlauten ließ, was sich auf den Maynzer Aufenthalt und die dortigen Aeußerungen bezog, und was eigentlich Nie¬ mand als ich wissen sollte. Mir aber bewies es, daß der Verfasser von denjenigen sey, die meinen engsten Kreis bildeten und mich jene Ereignisse und Umstaͤnde weitlaͤuftig hatten erzaͤhlen hoͤren. Wir sahen einer den andern an, und Jeder hatte die uͤbrigen im Ver¬ dacht; der unbekannte Verfasser wußte sich gut zu verstellen. Ich schalt sehr heftig auf ihn, weil es mir aͤußerst verdrießlich war, nach einer so guͤnstigen Aufnahme und so be¬ deutender Unterhaltung, nach meinem an Wie¬ land geschriebenen zutraulichen Briefe hier wieder Anlaͤsse zu neuem Mißtrauen und fri¬ sche Unannehmlichkeiten zu sehen. Die Unge¬ wißheit hieruͤber dauerte jedoch nicht lange: denn als ich in meiner Stube auf und ab¬ gehend mir das Buͤchlein laut vorlas, hoͤrte ich an den Einfaͤllen und Wendungen ganz deutlich die Stimme Wagners, und er war es auch. Wie ich naͤmlich zur Mutter hinun¬ ter sprang, ihr meine Entdeckung mitzutheilen, gestand sie mir, daß sie es schon wisse. Der Autor, beaͤngstigt uͤber den schlimmen Erfolg bey einer, wie ihm daͤuchte, so guten und loͤblichen Absicht, hatte sich ihr entdeckt und um Fuͤrsprache gebeten, damit meine aus¬ gestoßene Drohung, ich wuͤrde mit dem Ver¬ fasser, wegen misbrauchten Vertrauens, kei¬ nen Umgang mehr haben, an ihm nicht er¬ fuͤllt werden moͤchte. Hier kam ihm nun sehr zu statten, daß ich es selbst entdeckt hatte und durch das Behagen, wovon ein jedes ei¬ gene Gewahrwerden begleitet wird, zur Ver¬ soͤhnung gestimmt war. Der Fehler war ver¬ ziehen, der zu einem solchen Beweis meiner Spuͤrkraft Gelegenheit gegeben hatte. In¬ dessen war das Publikum so leicht nicht zu uͤberzeugen, daß Wagner der Verfasser sey, und daß ich keine Hand mit im Spiel ge¬ habt habe. Man traute ihm diese Vielseitig¬ keit nicht zu, weil man nicht bedachte, daß er alles was in einer geistreichen Gesellschaft seit geraumer Zeit bescherzt und verhandelt worden, aufzufassen, zu merken und in einer bekannten Manier wohl darzustellen vermochte, ohne deshalb ein ausgezeichnetes Talent zu besitzen. Und so hatte ich nicht allein meine eigenen Thorheiten, sondern auch den Leicht¬ sinn, die Uebereilung meiner Freunde dießmal und in der Folge sehr oft zu buͤßen. Erinnert durch mehrere zusammentreffende Umstaͤnde, will ich noch einiger bedeutenden Maͤnner gedenken, die zu verschiedener Zeit voruͤber reisend, theils in unserm Hause ge¬ wohnt, theils freundliche Bewirthung ange¬ nommen haben. Klopstock steht hier billig abermals oben an. Ich hatte schon mehrere Briefe mit ihm gewechselt, als er mir an¬ zeigte, daß er nach Carlsruh zu gehen und daselbst zu wohnen eingeladen sey; er werde zur bestimmten Zeit in Friedberg eintreffen, und wuͤnsche, daß ich ihn daselbst abhole. Ich verfehlte nicht, zur rechten Stunde mich einzufinden; allein er war auf seinem Wege zufaͤllig aufgehalten worden, und nachdem ich einige Tage vergebens gewartet, kehrte ich nach Hause zuruͤck, wo er denn erst nach einiger Zeit eintraf, sein Außenbleiben entschuldigte und meine Bereitwilligkeit ihm entgegen zu kommen sehr wohl aufnahm. Er war klein von Person, aber gut gebaut, sein Betragen ernst und abgemessen, ohne steif zu seyn, sei¬ ne Unterhaltung bestimmt und angenehm. Im Ganzen hatte seine Gegenwart etwas von der eines Diplomaten. Ein solcher Mann unter¬ windet sich der schweren Aufgabe, zugleich seine eigene Wuͤrde und die Wuͤrde eines Hoͤ¬ heren, dem er Rechenschaft schuldig ist, durch¬ zufuͤhren, seinen eigenen Vortheil neben dem viel wichtigern eines Fuͤrsten, ja ganzer Staa¬ ten zu befoͤrdern, und sich in dieser bedenkli¬ chen Lage vor allen Dingen den Menschen gefaͤllig zu machen. Und so schien sich auch Klopstock als Mann von Werth und als Stellvertreter hoͤherer Wesen, der Religion, der Sittlichkeit und Freyheit, zu betragen. Eine andere Eigenheit der Weltleute hatte er auch angenommen, naͤmlich nicht leicht von Gegenstaͤnden zu reden, uͤber die man gerade ein Gespraͤch erwartet und wuͤnscht. Von poetischen und literarischen Dingen hoͤrte man ihn selten sprechen. Da er aber an mir und meinen Freunden leidenschaftliche Schlittschuh¬ fahrer fand, so unterhielt er sich mit uns weitlaͤuftig uͤber diese edle Kunst, die er gruͤndlich durchgedacht und was dabey zu su¬ chen und zu meiden sey, sich wohl uͤberlegt hatte. Ehe wir jedoch seiner geneigten Be¬ lehrung theilhaft werden konnten, mußten wir uns gefallen lassen, uͤber den Ausdruck selbst, den wir verfehlten, zurecht gewiesen zu wer¬ den. Wir sprachen naͤmlich auf gut Ober¬ deutsch von Schlittschuhen, welches er durch¬ aus nicht wollte gelten lassen: denn das Wort komme keinesweges von Schlitten, als wenn man auf kleinen Kufen dahin fuͤhre, sondern von Schreiten, indem man, den Ho¬ merischen Goͤttern gleich, auf diesen gefluͤgel¬ ten Sohlen uͤber das zum Boden gewordene Meer hinschritte. Nun kam es an das Werk¬ zeug selbst; er wollte von den hohen hohlge¬ schliffenen Schrittschuhen nichts wissen, son¬ dern empfahl die niedrigen breiten flachge¬ schliffenen Frieslaͤndischen Staͤhle, als welche zum Schnelllaufen die dienlichsten seyen. Von Kunststuͤcken, die man bey dieser Uebung zu ma¬ chen pflegt, war er kein Freund. Ich schaff¬ te mir nach seinem Gebot so ein paar flache Schuhe mit langen Schnaͤbeln, und habe sol¬ che, obschon mit einiger Unbequemlichkeit, vie¬ le Jahre gefuͤhrt. Auch vom Kunst-Reiten, und sogar vom Bereiten der Pferde wußte er Rechenschaft zu geben und that es gern; und so lehnte er, wie es schien vorsaͤtzlich, das Gespraͤch uͤber sein eigen Metier gewoͤhnlich ab, um uͤber fremde Kuͤnste, die er als Lieb¬ haberey trieb, desto unbefangener zu sprechen. Von diesen und andern Eigenthuͤmlichkeiten des außerordentlichen Mannes wuͤrde ich noch manches erwaͤhnen koͤnnen, wenn nicht Per¬ sonen, die laͤnger mit ihm gelebt, uns be¬ reits genugsam hievon unterrichtet haͤtten; aber einer Betrachtung kann ich mich nicht erweh¬ ren, daß naͤmlich Menschen, denen die Na¬ tur außerordentliche Vorzuͤge gegeben, sie aber in einen engen oder wenigstens nicht verhaͤlt¬ nißmaͤßigen Wirkungskreis gesetzt, gewoͤhnlich auf Sonderbarkeiten verfallen, und weil sie von ihren Gaben keinen directen Gebrauch zu machen wissen, sie auf außerordentlichen und wunderlichen Wegen geltend zu machen versuchen. Zimmermann war gleichfalls eine Zeit lang unser Gast. Dieser, groß und stark gebaut, von Natur heftig und gerade vor sich hin, hatte doch sein Aeußeres und sein Be¬ tragen voͤllig in der Gewalt, so daß er im Umgang als ein gewandter weltmaͤnnischer Arzt erschien, und seinem innerlich ungebaͤn¬ digten Charakter nur in Schriften und im vertrautesten Umgang einen ungeregelten Lauf ließ. Seine Unterhaltung war mannichfaltig und hoͤchst unterrichtend; und konnte man ihm nachsehen, daß er sich, seine Persoͤnlich¬ keit, seine Verdienste, sehr lebhaft vorem¬ pfand, so war kein Umgang wuͤnschenswer¬ ther zu finden. Da mich nun uͤberhaupt das was man Eitelkeit nennt, niemals verletzte, und ich mir dagegen auch wieder eitel zu seyn erlaubte, das heißt, dasjenige unbedenklich hervorkehrte, was mir an mir selbst Freude machte; so kam ich mit ihm gar wohl uͤber¬ ein, wir ließen uns wechselsweise gelten und schalten, und weil er sich durchaus offen und mittheilend erwies, so lernte ich in kurzer Zeit sehr viel von ihm. Beurtheil' ich nun aber einen solchen Mann, dankbar, wohlwollend und gruͤndlich, so darf ich nicht einmal sagen, daß er eitel gewesen. Wir Deutschen mißbrauchen das Wort eitel nur allzu oft: denn eigentlich fuͤhrt es den Begriff von Leerheit mit sich, und man bezeichnet damit billiger Weise nur ei¬ nen der die Freude an seinem Nichts, die Zufriedenheit mit einer hohlen Existenz nicht verbergen kann. Bey Zimmermann war ge¬ rade das Gegentheil, er hatte große Ver¬ dienste und kein inneres Behagen; wer sich aber an seinen Naturgaben nicht im Stillen erfreuen kann, wer sich bey Ausuͤbung der¬ selben nicht selbst seinen Lohn dahin nimmt, sondern erst darauf wartet und hofft, daß Andere das Geleistete anerkennen und es ge¬ hoͤrig wuͤrdigen sollen, der findet sich in einer uͤbeln Lage; weil es nur allzu bekannt ist, daß die Menschen den Beyfall sehr spaͤrlich austheilen, daß sie das Lob verkuͤmmern, ja wenn es nur einigermaßen thunlich ist, in Tadel verwandeln. Wer ohne hierauf vorbe¬ reitet zu seyn, oͤffentlich auftritt, der kann nichts als Verdruß erwarten: denn wenn er das was von ihm ausgeht, auch nicht uͤber¬ III. 33 schaͤtzt, so schaͤtzt er es doch unbedingt, und jede Aufnahme die wir in der Welt erfahren, wird bedingt seyn; und sodann gehoͤrt ja fuͤr Lob und Beyfall auch eine Empfaͤnglichkeit, wie fuͤr jedes Vergnuͤgen. Man wende die¬ ses auf Zimmermann an, und man wird auch hier gestehen muͤssen: was einer nicht schon mitbringt, kann er nicht erhalten. Will man diese Entschuldigung nicht gel¬ ten lassen, so werden wir diesen merkwuͤrdi¬ gen Mann wegen eines andern Fehlers noch weniger rechtfertigen koͤnnen, weil das Gluͤck anderer dadurch gestoͤrt, ja vernichtet worden. Es war das Betragen gegen seine Kinder. Eine Tochter die mit ihm reiste, war, als er sich in der Nachbarschaft umsah, bey uns geblieben. Sie konnte etwa sechszehn Jahr alt seyn. Schlank und wohlgewachsen, trat sie auf ohne Zierlichkeit; ihr regelmaͤßiges Ge¬ sicht waͤre angenehm gewesen, wenn sich ein Zug von Theilnahme darin aufgethan haͤtte; aber sie sah immer so ruhig aus wie ein Bild, sie aͤußerte sich selten, in der Gegen¬ wart ihres Vaters nie. Kaum aber war sie einige Tage mit meiner Mutter allein, und hatte die heitere liebevolle Gegenwart dieser theilnehmenden Frau in sich aufgenommen, als sie sich ihr mit aufgeschlossenem Herzen zu Fuͤßen warf und unter tausend Thraͤnen bat, sie da zu behalten. Mit dem leidenschaftlich¬ sten Ausdruck erklaͤrte sie: als Magd, als Sklavin wolle sie zeitlebens im Hause blei¬ ben, nur um nicht zu ihrem Vater zuruͤck zu kehren, von dessen Haͤrte und Tyranney man sich keinen Begriff machen koͤnne. Ihr Bruder sey uͤber diese Behandlung wahnsin¬ nig geworden; sie habe es mit Noth so lan¬ ge getragen, weil sie geglaubt, es sey in je¬ der Familie nicht anders, oder nicht viel bes¬ ser; da sie aber nun eine so liebevolle, heitere, zwanglose Behandlung erfahren, so werde ihr 33 * Zustand zu einer wahren Hoͤlle. Meine Mut¬ ter war sehr bewegt, als sie mir diesen leiden¬ schaftlichen Erguß hinterbrachte, ja sie ging in ihrem Mitleiden so weit, daß sie nicht un¬ deutlich zu verstehen gab, sie wuͤrde es wohl zufrieden seyn das Kind im Hause zu behal¬ ten, wenn ich mich entschließen koͤnnte, sie zu heiraten. — Wenn es eine Waise waͤre, versetzt' ich, so ließe sich daruͤber denken und unterhandeln, aber Gott bewahre mich vor einem Schwiegervater, der ein solcher Vater ist! Meine Mutter gab sich noch viel Muͤhe mit dem guten Kinde, aber es ward dadurch nur immer ungluͤcklicher. Man fand zuletzt noch einen Ausweg, sie in eine Pension zu thun. Sie hat uͤbrigens ihr Leben nicht hoch gebracht. Dieser tadelnswuͤrdigen Eigenheit eines so verdienstvollen Mannes wuͤrde ich kaum er¬ waͤhnen, wenn dieselbe nicht schon oͤffentlich waͤre zur Sprache gekommen, und zwar als man nach seinem Tode der unseligen Hypo¬ chondrie gedachte, womit er sich und Andere in seinen letzten Stunden gequaͤlt. Denn auch jene Haͤrte gegen seine Kinder war Hy¬ pochondrie, ein partieller Wahnsinn, ein fort¬ dauerndes moralisches Morden, das er, nach¬ dem er seine Kinder aufgeopfert hatte, zuletzt gegen sich selbst kehrte. Wir wollen aber be¬ denken, daß dieser so ruͤstig scheinende Mann in seinen besten Jahren leidend war, daß ein Leibesschaden unheilbar den geschickten Arzt quaͤlte, ihn der so manchem Kranken gehol¬ fen hatte und half. Ja dieser brave Mann fuͤhrte bey aͤußerem Ansehen, Ruhm, Ehre, Rang und Vermoͤgen, das traurigste Leben, und wer sich davon, aus vorhandenen Druck¬ schriften, noch weiter unterrichten will, der wird ihn nicht verdammen, sondern be¬ dauern. Erwartet man nun aber, daß ich von der Wirkung dieses bedeutenden Mannes auf mich naͤhere Rechenschaft gebe, so muß ich im All¬ gemeinen jener Zeit abermals gedenken. Die Epoche in der wir lebten, kann man die fordernde nennen: denn man machte, an sich und Andere, Forderungen, auf das was noch kein Mensch geleistet hatte. Es war naͤmlich vorzuͤglichen, denkenden und fuͤhlen¬ den Geistern ein Licht aufgegangen, daß die unmittelbare originelle Ansicht der Natur und ein darauf gegruͤndetes Handeln das Beste sey, was der Mensch sich wuͤnschen koͤnne, und nicht einmal schwer zu erlangen. Erfah¬ rung war also abermals das allgemeine Lo¬ sungswort, und Jederman that die Augen auf so gut er konnte; eigentlich aber wa¬ ren es die Aerzte, die am meisten Ursache hatten, darauf zu dringen und Gelegenheit sich darnach umzuthun. Hier leuchtete ihnen nun aus alter Zeit ein Gestirn entgegen, wel¬ ches als Beyspiel alles Wuͤnschenswerthen gel¬ ten konnte. Die Schriften die uns unter dem Namen Hippocrates zugekommen waren, gaben das Muster, wie der Mensch die Welt anschauen und das Gesehene, ohne sich selbst hinein zu mischen, uͤberliefern sollte. Allein Niemand bedachte, daß wir nicht sehen koͤn¬ nen wie die Griechen, und daß wir niemals wie sie dichten, bilden und heilen werden. Zugegeben aber auch, daß man von ihnen lernen koͤnne, so war unterdessen unendlich viel und nicht immer so rein erfahren wor¬ den, und gar oft hatten sich die Erfahrungen nach den Meinungen gebildet. Dieses aber sollte man auch wissen, unterscheiden und sich¬ ten; abermals eine ungeheure Forderung; dann sollte man auch persoͤnlich umher bli¬ ckend und handelnd, die gesunde Natur selbst kennen lernen, eben als wenn sie zum ersten¬ mal beachtet und behandelt wuͤrde; hiebey sollte denn nur das Aechte und Rechte ge¬ schehen. Allein weil sich die Gelahrtheit uͤber¬ haupt nicht wohl ohne Polyhistorie und Pe¬ danterie, die Praxis aber wohl schwerlich oh¬ ne Empirie und Charlatanerie denken laͤßt; so entstand ein gewaltiger Conflict, indem man den Mißbrauch vom Gebrauch sondern und der Kern die Oberhand uͤber die Schale ge¬ winnen sollte. Wie man nun auch hier zur Ausuͤbung schritt, so sah man, am kuͤrzesten sey zuletzt aus der Sache zu kommen, wenn man das Genie zu Huͤlfe riefe, das durch seine magische Gabe den Streit schlichten und die Forderungen leisten wuͤrde. Der Verstand mischte sich indessen auch in die Sache, alles sollte auf klare Begriffe gebracht und in lo¬ gischer Form dargelegt werden, damit jedes Vorurtheil beseitigt und aller Aberglaube zer¬ stoͤrt werde. Weil nun wirklich einige außeror¬ dentliche Menschen, wie Boerhaave und Hal¬ ler, das Unglaubliche geleistet, so schien man sich berechtigt, von ihren Schuͤlern und Nach¬ koͤmmlingen noch mehr zu fordern. Man be¬ hauptete, die Bahn sey gebrochen, da doch in allen irdischen Dingen selten von Bahn die Rede seyn kann: denn wie das Wasser das durch ein Schiff verdraͤngt wird, gleich hin¬ ter ihm wieder zusammenstuͤrzt, so schließt sich auch der Irrthum, wenn vorzuͤgliche Gei¬ ster ihn bey Seite gedraͤngt und sich Platz ge¬ macht haben, hinter ihnen sehr geschwind wie¬ der naturgemaͤß zusammen. Aber hievon wollte sich der brave Zim¬ mermann ein fuͤr allemal keinen Begriff ma¬ chen; er wollte nicht eingestehen, daß das Absurde eigentlich die Welt erfuͤlle. Bis zur Wuth ungeduldig schlug er auf alles los, was er fuͤr unrecht erkannte und hielt. Ob er sich mit dem Krankenwaͤrter oder mit Paracelsus, mit einem Harnpropheten oder Chymisten balg¬ te, war ihm gleich; er hieb ein wie das andre Mal zu, und wenn er sich außer Athem gearbeitet hatte, war er hoͤchlich erstaunt, daß die saͤmmtlichen Koͤpfe dieser Hydra, die er mit Fuͤßen zu treten geglaubt, ihm schon wieder ganz frisch von unzaͤhligen Haͤlsen die Zaͤhne wiesen. Wer seine Schriften, besonders sein tuͤch¬ tiges Werk uͤber die Erfahrung liest, wird bestimmter einsehen, was zwischen die¬ sem trefflichen Manne und mir verhandelt worden; welches auf mich um so kraͤftiger wirken mußte, da er zwanzig Jahr aͤlter war denn ich. Als beruͤhmter Arzt war er vor¬ zuͤglich in den hoͤhern Staͤnden beschaͤftigt, und hier kam die Verderbniß der Zeit, durch Verweichlichung und Uebergenuß, jeden Augen¬ blick zur Sprache; und so draͤngten auch seine aͤrztlichen Reden, wie die der Philosophen und meiner dichterischen Freunde, mich wie¬ der auf die Natur zuruͤck. Seine leidenschaft¬ liche Verbesserungswuth konnte ich vollends nicht mit ihm theilen. Ich zog mich vielmehr, nachdem wir uns getrennt, gar bald wieder in mein eigenthuͤmliches Fach zuruͤck und such¬ te die von der Natur mir verliehenen Gaben mit maͤßiger Anstrengung anzuwenden, und in heiterem Widerstreit gegen das was ich mißbilligte, nur einigen Raum zu verschaffen, unbesorgt wie weit meine Wirkungen reichen und wohin sie mich fuͤhren koͤnnten. Von Salis , der in Marschlins die große Pensionsanstalt errichtete, ging eben¬ falls bey uns voruͤber, ein ernster verstaͤndi¬ ger Mann, der uͤber die genialischtolle Le¬ bensweise unserer kleinen Gesellschaft gar wun¬ derliche Anmerkungen im Stillen wird ge¬ macht haben. Ein Gleiches mag Sulzern , der uns auf seiner Reise nach dem suͤdlichen Frankreich beruͤhrte, begegnet seyn; wenigstens scheint eine Stelle seiner Reisebeschreibung, worin er mein gedenkt, dahin zu deuten. Diese so angenehmen als foͤrderlichen Be¬ suche waren aber auch mit solchen durchwebt, die man lieber abgelehnt haͤtte. Wahrhaft Duͤrftige und unverschaͤmte Abenteurer wende¬ ten sich an den zutraulichen Juͤngling, ihre dringenden Forderungen durch wirkliche wie durch vorgebliche Verwandtschaften oder Schick¬ sale unterstuͤtzend. Sie borgten mir Geld ab, und setzten mich in den Fall wieder borgen zu muͤssen, so daß ich mit beguͤterten und wohl¬ wollenden Freunden daruͤber in das unange¬ nehmste Verhaͤltniß gerieth. Wuͤnschte ich nun solche Zudringlinge allen Raben zur Beu¬ te, so fuͤhlte sich mein Vater gleichfalls in der Lage des Zauberlehrlings, der wohl sein Haus gerne rein gewaschen saͤhe, sich aber entsetzt, wenn die Flut uͤber Schwellen und Stufen unaufhaltsam einhergestuͤrzt kommt. Denn es ward durch das allzu viele Gute der maͤßige Lebensplan, den sich mein Vater fuͤr mich ausgedacht hatte, Schritt fuͤr Schritt ver¬ ruͤckt, verschoben und von einem Tag zum andern wider Erwarten umgestaltet. Der Aufenthalt zu Regensburg und Wien war so gut als aufgegeben, aber doch sollte auf dem Wege nach Italien eine Durchreise statt fin¬ den, damit man wenigstens eine allgemeine Uebersicht gewoͤnne. Dagegen aber waren an¬ dere Freunde, die einen so großen Umweg ins thaͤtige Leben zu gelangen, nicht billigen konnten, der Meynung, man solle den Au¬ genblick, wo so manche Gunst sich aufthat, benutzen und an eine bleibende Einrichtung in der Vaterstadt denken. Denn ob ich gleich erst durch den Großvater, sodann aber durch den Oheim, von dem Rathe ausgeschlossen war; so gab es doch noch manche buͤrgerliche Stellen, an die man Anspruch machen, sich einstweilen festsetzen und die Zukunft erwarten konnte. Manche Agentschaften gaben zu thun genug, und ehrenvoll waren die Residenten- Stellen. Ich ließ mir davon vorreden und glaubte wohl auch, daß ich mich dazu schicke, ohne mich gepruͤft zu haben, ob eine solche Lebens- und Geschaͤftsweise, welche fordert, daß man am liebsten in der Zerstreuung zweck¬ maͤßig thaͤtig sey, fuͤr mich passen moͤchte; und nun gesellte sich zu diesen Vorschlaͤgen und Vorsaͤtzen noch eine zarte Neigung, wel¬ che zu bestimmter Haͤuslichkeit aufzufordern und jenen Entschluß zu beschleunigen schien. Die fruͤher erwaͤhnte Gesellschaft naͤmlich von jungen Maͤnnern und Frauenzimmern, welche meiner Schwester wo nicht den Ur¬ sprung doch die Consistenz verdankte, war nach ihrer Verheiratung und Abreise noch im¬ mer bestanden, weil man sich einmal an ein¬ ander gewoͤhnt hatte, und einen Abend in der Woche nicht besser als in diesem freund¬ schaftlichen Cirkel zuzubringen wußte. Auch jener wunderliche Redner, den wir schon aus dem sechsten Buche kennen, war noch man¬ cherley Schicksalen gescheidter und verkehrter zu uns zuruͤckgewandert, und spielte abermals den Gesetzgeber des kleinen Staats. Er hat¬ te sich in Gefolg von jenen fruͤhern Scherzen etwas Aehnliches ausgedacht: es sollte naͤmlich alle acht Tage geloost werden, nicht um, wie vormals, liebende Paare, sondern wahrhafte Ehegatten zu bestimmen. Wie man sich ge¬ gen Geliebte betrage, das sey uns bekannt genug; aber wie sich Gatte und Gattinn in Gesellschaft zu nehmen haͤtten, das sey uns unbewußt und muͤsse nun, bey zunehmenden Jahren, vor allen Dingen gelernt werden. Er gab die Regeln an im Allgemeinen, wel¬ che bekanntlich darin bestehen, daß man thun muͤsse, als wenn man einander nicht angehoͤ¬ re; man duͤrfe nicht neben einander sitzen, nicht viel mit einander sprechen, vielweniger sich Liebkosungen erlauben: dabey aber habe man nicht allein alles zu vermeiden, was wechselseitig Verdacht und Unannehmlichkeit III. 34 erregen koͤnnte, ja man wuͤrde im Gegentheil das groͤßte Lob verdienen, wenn man seine Gattinn auf eine ungezwungene Weise zu ver¬ binden wisse. Das Loos wurde hierauf zur Entscheidung herbeygeholt, uͤber einige barocke Paarungen, die es beliebt, gelacht und gescherzt, und die allgemeine Ehestands-Komoͤdie mit gutem Hu¬ mor begonnen und jedesmal am achten Tage wiederum erneuert. Hier traf es sich nun wunderbar genug, daß mir das Loos gleich von Anfang eben dasselbe Frauenzimmer zweymal bestimmte, ein sehr gutes Wesen, gerade von der Art, die man sich als Frau gerne denken mag. Ihre Gestalt war schoͤn und regelmaͤßig, ihr Ge¬ sicht angenehm, und in ihrem Betragen wal¬ tete eine Ruhe, die von der Gesundheit ih¬ res Koͤrpers und ihres Geistes zeugte. Sie war sich zu allen Tagen und Stunden voͤllig gleich. Ihre haͤusliche Thaͤtigkeit wurde hoͤch¬ lich geruͤhmt. Ohne daß sie gespraͤchig gewe¬ sen waͤre, konnte man an ihren Aeußerungen einen geraden Verstand und eine natuͤrliche Bildung erkennen. Nun war es leicht einer solchen Person mit Freundlichkeit und Ach¬ tung zu begegnen; schon vorher war ich ge¬ wohnt es aus allgemeinem Gefuͤhl zu thun, jetzt wirkte bey mir ein herkoͤmmliches Wohl¬ wollen als gesellige Pflicht. Wie uns nun aber das Loos zum dritten Male zusammen brachte, so erklaͤrte der neckische Gesetzgeber feyerlichst: der Himmel habe gesprochen, und wir koͤnnten nunmehr nicht geschieden werden. Wir ließen es uns beyderseits gefallen, und fuͤgten uns wechselsweise so huͤbsch in die of¬ fenbaren Ehestands-Pflichten, daß wir wirk¬ lich fuͤr ein Muster gelten konnten. Da nun, nach der allgemeinen Verfassung, die saͤmmt¬ lichen fuͤr den Abend vereinten Paare sich auf 34 * die wenigen Stunden mit Du anreden mu߬ ten; so waren wir dieser traulichen Anrede durch eine Reihe von Wochen so gewohnt, daß auch in der Zwischenzeit, wenn wir uns begegneten, das Du gemuͤthlich hervorsprang. Die Gewohnheit ist aber ein wunderliches Ding: wir beyde fanden nach und nach nichts natuͤrlicher als dieses Verhaͤltniß; sie ward mir immer werther, und ihre Art mit mir zu seyn zeugte von einem schoͤnen ruhigen Vertrauen, so daß wir uns wohl gelegentlich, wenn ein Priester zugegen gewesen waͤre, oh¬ ne vieles Bedenken auf der Stelle haͤtten zu¬ sammen geben lassen. Weil nun bey jeder unserer geselligen Zu¬ sammenkuͤnfte etwas Neues vorgelesen wer¬ den mußte, so brachte ich eines Abends, als ganz frische Neuigkeit, das Memoire des Beaumarchais gegen Clavigo im Original mit. Es erwarb sich sehr vielen Beyfall; die Be¬ merkungen zu denen es auffordert, blieben nicht aus, und nachdem man viel daruͤber hin und wieder gesprochen hatte, sagte mein lieber Partner: wenn ich Deine Gebieterinn und nicht deine Frau waͤre, so wuͤrde ich Dich ersuchen, dieses Memoire in ein Schau¬ spiel zu verwandeln, es scheint mir ganz da¬ zu geeignet zu seyn. — Damit Du siehst, meine Liebe, antwortete ich, daß Gebieterinn und Frau auch in Einer Person vereinigt seyn koͤnnen; so verspreche ich, heute uͤber acht Tage den Gegenstand dieses Heftes als The¬ aterstuͤck vorzulesen, wie es jetzt mit diesen Blaͤttern geschehen. Man verwunderte sich uͤber ein so kuͤhnes Versprechen, und ich saͤum¬ te nicht es zu erfuͤllen. Denn was man in solchen Faͤllen Erfindung nennt, war bey mir augenblicklich; und gleich, als ich meine Titu¬ lar-Gattinn nach Hause fuͤhrte, war ich still; sie fragte, was mir sey. — Ich sinne, ver¬ setzte ich, schon das Stuͤck aus und bin mitten drin; ich wuͤnsche Dir zu zeigen, daß ich Dir gerne etwas zu Liebe thue. Sie druͤckte mir die Hand, und als ich sie dagegen eifrig kuͤßte, sagte sie: Du mußt nicht aus der Rolle fallen! Zaͤrtlich zu seyn, meynen die Leute, schicke sich nicht fuͤr Ehegatten. — Laß sie meynen, ver¬ setzte ich, wir wollen es auf unsere Weise halten. Ehe ich, freilich durch einen großen Um¬ weg, nach Hause kam, war das Stuͤck schon ziemlich heran gedacht; damit dieß aber nicht gar zu großsprecherisch scheine, so will ich ge¬ stehen, daß schon beym ersten und zweyten Le¬ sen, der Gegenstand mir dramatisch ja thea¬ tralisch vorgekommen, aber ohne eine solche Anregung waͤre das Stuͤck, wie so viele ande¬ re, auch bloß unter den moͤglichen Geburten geblieben. Wie ich dabey verfahren, ist be¬ kannt genug. Der Boͤsewichter muͤde, die aus Rache, Haß oder kleinlichen Absichten sich ei¬ ner edlen Natur entgegensetzen und sie zu Grunde richten, wollt' ich in Carlos den rei¬ nen Weltverstand mit wahrer Freundschaft ge¬ gen Leidenschaft, Neigung und aͤußere Be¬ draͤngniß wirken lassen, um auch einmal auf diese Weise eine Tragoͤdie zu motiviren. Be¬ rechtigt durch unsern Altvater Shakespear, nahm ich nicht einen Augenblick Anstand die Hauptscene und die eigentlich theatralische Darstellung woͤrtlich zu uͤbersetzen. Um zu¬ letzt abzuschließen, entlehnt' ich den Schluß einer englischen Ballade, und so war ich im¬ mer noch eher fertig als der Freytag heran¬ kam. Die gute Wirkung, die ich beym Vor¬ lesen erreichte, wird man mir leicht zugeste¬ hen. Meine gebietende Gattinn erfreute sich nicht wenig daran, und es war, als wenn unser Verhaͤltniß, wie durch eine geistige Nach¬ kommenschaft, durch diese Production sich en¬ ger zusammen zoͤge und befestigte. Mephistopheles Merk aber that mir zum ersten Mal hier einen großen Schaden. Denn als ich ihm das Stuͤck mittheilte, erwiederte er: solch einen Quark mußt Du mir kuͤnftig nicht mehr schreiben; das koͤnnen die Andern auch. Und doch hatt' er hierin Unrecht. Muß ja doch nicht alles uͤber alle Begriffe hinausgehen die man nun einmal gefaßt hat; es ist auch gut, wenn manches sich an den gewoͤhnlichen Sinn anschließt. Haͤtte ich da¬ mals ein Dutzend Stuͤcke der Art geschrieben, welches mir bey einiger Aufmunterung ein leichtes gewesen waͤre; so haͤtten sich vielleicht drey oder vier davon auf dem Theater erhal¬ ten. Jede Direction, die ihr Repertorium zu schaͤtzen weiß, kann sagen, was das fuͤr ein Vortheil waͤre. Durch solche und andre geistreiche Scherze ward unser wunderliches Mariage-Spiel wo nicht zum Stadt-doch zum Familien-Maͤhr¬ chen, das den Muͤttern unserer Schoͤnen gar nicht unangenehm in die Ohren klang. Auch meiner Mutter war ein solcher Zufall nicht zuwider: sie beguͤnstigte schon fruͤher das Frau¬ enzimmer, mit dem ich in ein so seltsames Verhaͤltniß gekommen war, und mochte ihr zutrauen, daß sie eine eben so gute Schwie¬ gertochter als Gattinn werden koͤnnte. Je¬ nes unbestimmte Rumoren, in welchem ich mich schon seit geraumer Zeit herumtrieb, wollte ihr nicht behagen, und wirklich hatte sie auch die groͤßte Beschwerde davon. Sie war es, welche die zustroͤmenden Gaͤste reich¬ lich bewirthen mußte, ohne sich fuͤr die lite¬ rarische Einquartirung anders als durch die Ehre, die man ihrem Sohne anthat ihn zu beschmausen, entschaͤdigt zu sehen. Ferner war es ihr klar, daß so viele junge Leute, saͤmmtlich ohne Vermoͤgen, nicht allein zum Wissen und Dichten, sondern auch zum lusti¬ gen Leben versammelt, sich unter einander und zuletzt am sichersten mir, dessen leichtsinnige Freygebigkeit und Verbuͤrgungslust sie kannte, zur Last und zum Schaden gereichen wuͤrden. Sie hielt daher die schon laͤngst bezweckte italiaͤnische Reise, die der Vater wieder in An¬ regung brachte, fuͤr das sicherste Mittel alle diese Verhaͤltnisse auf einmal durchzuschneiden. Damit aber ja nicht wieder in der weiten Welt sich neues Gefaͤhrliche anschließen moͤge, so dachte sie vorher die schon eingeleitete Verbin¬ dung zu befestigen, damit eine Ruͤckkehr ins Vaterland wuͤnschenswerther und eine endliche Bestimmung entschieden werde. Ob ich ihr diesen Plan nur unterlege, oder ob sie ihn deutlich, vielleicht mit der seligen Freundinn, entworfen, moͤchte ich nicht entscheiden: genug, ihre Handlungen schienen auf einen bedachten Vorsatz gegruͤndet. Denn ich hatte manchmal zu vernehmen, unser Familienkreis sey nach Verheiratung Corneliens doch gar zu eng; man wollte finden, daß mir eine Schwester, der Mutter eine Gehuͤlfinn, dem Vater ein Lehrling abgehe; und bey diesen Reden blieb es nicht. Es ergab sich wie von ungefaͤhr, daß meine Aeltern jenem Frauenzimmer auf einem Spazirgang begegneten, sie in den Garten ein¬ luden und sich mit ihr laͤngere Zeit unterhielten. Hieruͤber ward nun beym Abendtische gescherzt, und mit einem gewissen Behagen bemerkt, daß sie dem Vater wohlgefallen, indem sie die Haupteigenschaften, die er als ein Kenner von einem Frauenzimmer fordere, saͤmmtlich besitze. Hierauf ward im ersten Stock eins und das andere veranstaltet, eben als wenn man Gaͤste zu erwarten habe, das Leinwandgeraͤte gemustert, und auch an einigen bisher ver¬ nachlaͤssigten Hausrat gedacht. Da uͤberrasch¬ te ich nun einst meine Mutter, als sie in einer Bodenkammer die alten Wiegen betrachtete, worunter eine uͤbergroße von Nußbaum, mit Elfenbein und Ebenholz eingelegt, die mich ehmals geschwenkt hatte, besonders hervor¬ stach. Sie schien nicht ganz zufrieden, als ich ihr bemerkte, daß solche Schaukelkasten nun¬ mehr voͤllig aus der Mode seyen, und daß man die Kinder mit freyen Gliedern in einem arti¬ gen Koͤrbchen, an einem Bande uͤber die Schulter, wie andre kurze Waare, zur Schau trage. Genug, dergleichen Vorboten zuerneuernder Haͤuslichkeit zeigten sich oͤfter, und da ich mich dabey ganz leidend verhielt; so verbreitete sich, durch den Gedanken an einen Zustand der fuͤr's Leben dauern sollte, ein solcher Friede uͤber un¬ ser Haus und dessen Bewohner, dergleichen es lange nicht genossen hatte.