Sammlung einiger Abhandlungen Aus der Neuen Bibliothek der schoͤnen Wissen- schaften und der freyen Kuͤnste von Christian Garve. Leipzig , im Verlage der Dykischen Buchhandlung , 1779 . Verzeichniß der Abhandlungen. V orrede S. 3 Versuch uͤber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten 8 Aus dem achten Bande der Neuen Bibliothek der schoͤnen Wissenschaften und der freyen Kuͤnste. Betrachtung einiger Verschiedenheiten in den Werken der aͤltesten und neuern Schrift- steller, besonders der Dichter 116 Aus dem zehnten Bande der Neuen Bibliothek der schoͤnen Wissenschaften und der freyen Kuͤnste. Vermischte Anmerkungen uͤber Gellerts Mo- ral, dessen Schriften uͤberhaupt und Cha- rakter 198 Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der schoͤnen Wissenschaften und der freyen Kuͤnste. Einige Gedanken uͤber das Interessirende. Erster Theil S. 253 Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der schoͤnen Wissenschaften und der freyen Kuͤnste. Einige Gedanken uͤber das Interessirende. Zweyter Theil 313 Aus dem dreyzehnten Bande der Neuen Biblio- thek der schoͤnen Wissenschaften und der freyen Kuͤnste. Anhang zur voranstehenden Abhandlung 379 Hier zum erstenmale gedruckt. Ueber den Einfluß einiger besondern Umstaͤn- de auf die Bildung unserer Sprache und Litteratur. Eine Vorlesung 440 Aus dem vierzehnten Bande der Neuen Biblio- thek der schoͤnen Wissenschaften und der freyen Kuͤnste. Vorrede . I ch habe diese Abhandlungen zusammendrucken las- sen, weil einige meiner Freunde dieselben zu be- sitzen wuͤnschten, ohne sich das große Werk anschaffen zu duͤrfen, in welchem sie zerstreut sind. Da dieselben fuͤr eine periodische Schrift verfertiget worden, an wel- cher mehrere Theil hatten: so wird sich der Leser an das Wir nicht stoßen, mit welchem der Verfasser von sich selbst redet, und welches Schriften dieser Art eigen zu seyn pflegt. Ich habe diese Anfsaͤtze beynahe ganz unveraͤn- dert gelassen, nicht weil ich sie fuͤr vollkommen halte, sondern weil ich jezt außer Stande bin, große Ver- besserungen zu machen, und kleine fuͤr den Nutzen, den A 2 Vorrede . sie stiften, zu muͤhsam finde. Ueberdieß macht oft die Veraͤnderung, die in dem Gemuͤth oder den Um- staͤnden eines Schriftstellers vorgegangen ist, daß er Stellen seiner ehemaligen Schriften zu verbessern glaubt, wenn er sie blos seiner jetzigen Lage und Den- kungsart gemaͤßer macht. Endlich ist es entweder an sich, oder nur mir insbesondre schwer, den Faden al- ter Gedanken so vollstaͤndig wiederzufinden, daß er anders geleitet werden kann, ohne zerrissen zu werden. Ich finde es weit leichter, eine Materie von neuem durchzudenken, als einzelne Stuͤcke derselben nach einem alten Plane zu bearbeiten. Unter allen scheint mir jezt die Abhandlung vom Interessirenden am meisten einer Verbesserung zu be- duͤrfen. Sie ist zu weitschweifig, zuweilen mit einer unnuͤtzen Metaphysik uͤberladen; und oft mit Betrach- tungen ausgeziert, die nicht nothwendig zum Haupt- stoffe gehoͤren. Folgender Plan scheint mir jezt der einfachste, kuͤrzeste und richtigste zu seyn. Interesse im eigentlichen Verstande, ist die Theilnehmung an dem Gewinnste oder Verluste eines Vorrede . andern. Interesse im figuͤrlichen Verstande, ist die Theilnehmung der Seele an den Handlungen oder Eindruͤcken eines andern. So vielerley Arten der Beschaͤftigungen der Seele es giebt, wann Gegenstaͤn- de auf uns selbst wirken: eben so viele Arten der Theilnehmung oder des Interesses giebt es auch, wann diese Gegenstaͤnde auf andre wirken. So wie die Vorstellungen unsers Verstandes, unsre Gemuͤths- bewegungen und unsre Schicksale uns unmittelbar einnehmen: so koͤnnen die Gedanken, die Empfin- dungen, die Begebenheiten eines andern uns durch die Theilnehmung beschaͤftigen, das heißt, uns in- teressiren. Wir nehmen aber an den Gedanken ei- nes andern alsdann am ersten Theil, wenn sie so klar, so einleuchtend, und von so begreiflichem Nut- zen sind, es sey zum menschlichen Leben oder zur Aufloͤsung von Schwierigkeiten, daß wir sie leicht zu unsern eignen Gedanken machen koͤnnen, und Lust haben, uns darauf einzulassen. Wir nehmen an den Gemuͤthsbewegungen eines andern Theil, wenn wir die Wahrheit und die Billigkeit der- selben, in ihren Ausbruͤchen oder in ihrer Schil- A 3 Vorrede . derung erkennen. Wir nehmen an den erzaͤhlten Begebenheiten andrer Theil, wenn diese wahrschein- lich, anschauend, deutlich und erheblich sind; jenes, um uns leicht in die Stelle der handelnden Personen versetzen zu koͤnnen; dieses, um in dieser Stelle einen merklichen Einfluß der Begebenheiten auf uns gewahr zu werden. In einigen Werken des Genies sind alle diese Arten von Interesse vereiniget, als, zum Beyspiele, im Drama; fast in allen sind einige derselben ver- mischt. Ueberhaupt aber gehoͤrt zu dieser Theilneh- mung eben so wohl eine Empfaͤnglichkeit von Sei- ten des Zuhoͤrers, als ein Grad von Wirksamkeit von Seiten des Redners oder Dichters. Diejeni- gen Gegenstaͤnde interessiren allgemein, die, um an sich und nach ihrer Brauchbarkeit verstanden zu wer- den, keine andern Faͤhigkeiten und Kenntnisse erfo- dern, als die allen wohlerzogenen Menschen gemein sind. Diejenigen interessiren nur eine gewisse Klasse, die Erfahrungen oder Neigungen einer besondern Art voraussetzen. Vorrede . Man kann sagen, das Interesse der Gedan- ken oder der Empfindungen sey die Grundlage, wor- auf sich das Interesse der Begebenheiten stuͤzt, weil diese nur insofern wichtig werden, als sie die Ursa- chen von einem von beiden sind. A 4 Versuch uͤber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten . Aus dem achten Bande der Neuen Bibliothek der schoͤnen Wissenschaften und freyen Kuͤnste. W enn das Hauptwerk der Erziehung darin- nen besteht, den Faͤhigkeiten der Seele Beschaͤftigung und den Neigungen ihre gehoͤri- gen Gegenstaͤnde zu geben: so wird ihr erstes Geschaͤft seyn muͤssen, diese Faͤhigkeiten zu ken- nen. Aber wie schwer und wie mißlich ist diese Untersuchung! Wodurch will man die Faͤhigkei- ten des Geistes kennen lernen, wenn man ihn nicht handeln sieht? Und doch, was kann es in Ueber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten. diesem Alter fuͤr Verrichtungen geben, bey denen diese Faͤhigkeiten merklich wuͤrden? Es geht mit der Bildung der Geister, wie mit der Entstehung der Koͤrper. Wir werden diese leztern nicht eher gewahr, als bis sie schon eine merkliche Groͤße erreicht haben, und schon lange uͤber die Epoque hinaus sind, wo sich ihre Bestandtheile zusam- menfuͤgten, und durch ihre Lage und ihre Gestalt die Beschaffenheit und Erscheinungen des kuͤnfti- gen Dinges bestimmten. Eben so erkennen wir die Vollkommenheiten eines Geistes erst alsdann, wann sie an wichtigen Gegenstaͤnden geuͤbt wer- den; aber dann ist es gemeiniglich schon zu spaͤt, die Wahl ist geschehen, und nur der gluͤckliche oder ungluͤckliche Erfolg laͤßt uns auf die Anlage der Seele schließen, die diesen Gegenstaͤnden an- gemessen war. In der That, wie viel Kenntniß der Seele und was fuͤr eine feine Beobachtung ge- hoͤrt dazu, wenn man in kleinen Wirkungen eben die Kraft, die große hervorbringen koͤnnte, in nichtswuͤrdigen Beschaͤfftigungen das Genie, und selbst in Ausschweifungen und Fehlern die Vor- A 5 Ueber die Pruͤfung zuͤge des Geistes erkennen soll? Wenn nicht hier der Zufall oft mehr thaͤte, als die Klugheit und die Wahl, oder wenn nicht die Natur, mit vor- zuͤglichen Faͤhigkeiten fuͤr gewisse Sachen, auch eine vorzuͤgliche Neigung dazu verbunden haͤtte, so wuͤrden die meisten Talente erstickt oder schlecht angewendet werden. Also, wenn das der einzige Endzweck dieser Untersuchung waͤre, dem Menschen seine Bestim- mung und seine Geschaͤfte anzuweisen, so koͤnnte man sie getrost aufgeben. Der Richterstuhl, der uͤber die Faͤhigkeiten junger Buͤrger in einem Staate den Ausspruch thun, und jedem seine Lebensart nach diesem Ausspruche zuerkennen soll- te, ist einer von den schoͤnen Vorschlaͤgen, die zu weiter nichts dienen, als ihre Erfinder zu belu- stigen. Die Natur will nicht haben, daß sich unsre Weisheit in alle ihre Werke mischen soll; und am Ende macht sie es doch vielleicht eben so gut, als wir es mit unsrer ganzen Klugheit wuͤr- den gemacht haben. der Faͤhigkeiten. Aber um den erwachsenen Mann mit seinen eignen Kraͤften bekannt zu machen, ihm, wenn der Zufall ihn gerade an die rechte Stelle ge- stoßen hat, mehr Zufriedenheit zu geben, oder wenn er an die unrechte gekommen ist, ihm we- nigstens einen Zeitvertreib zu zeigen, der sich bes- ser fuͤr ihn schickt, als seine Geschaͤfte; endlich wenigstens von den Erscheinungen in dieser Sphaͤre Grund anzugeben, und die seltsame Ver- einigung zu erklaͤren, die man so oft in demsel- ben Menschen zwischen großem Verstande und großer Einfalt, zwischen ausnehmenden Talenten und einer ungewoͤhnlichen Unfaͤhigkeit, zwischen großen Kraͤften und einer voͤlligen Ohnmacht ge- wahr wird, dazu ist diese Untersuchung nuͤtzlich. Kann wohl die Philosophie, wenn sie nun einmal nicht zugelassen wird, die Dinge in der Welt zu bessern, etwas anders thun, als das, was geschieht, zu beschreiben? und wenn sie nicht an der Spitze des Heeres gehen kann, als Befehlshaber, um die Begebenheiten zu len- ken, so muß sie wenigstens hinter her ge- Ueber die Pruͤfung hen, als Geschichtschreiber, um sie aufzuzeich- nen. Alle Untersuchungen, die man zu dem Ende anstellen muͤßte, theilen sich in zwo Klassen. Ent- weder sammlet man die Kennzeichen, aus denen man auf gewisse Faͤhigkeiten der Seele schließen kann Dieser Theil ist lang und beruhet auf ei- ner Reihe von Beobachtungen, zu denen jeder einzelne Mensch nur einen Beytrag thun kann. Oder man bestimmt fuͤr jede Faͤhigkeit die Art von Geschaͤften, die sie am besten auszurichten im Stande ist. Dieser Theil wuͤrde leicht seyn, wenn es moͤglich waͤre, jede Art von Geschaͤften durchaus zu kennen, ohne selbst die Faͤhigkeit zu besitzen, sie auszufuͤhren. Um zu wissen, wie sich gewisse Faͤhigkeiten der Seele aͤußern, muß man diese Faͤhigkeiten erst un- terscheiden. I. Die erste Faͤhigkeit, der Grund aller uͤbrigen, und die, welche die Staͤrke und Beschaffenheit der andern bestimmt, ist das Vermoͤgen zu empfinden. — So ist der Gang der Natur: Zuerst empfaͤngt der Faͤhigkeiten. die Seele eine Menge Eindruͤcke, das Gedaͤchtniß erhaͤlt sie, die Einbildungskraft sezt sie zusam- men, der Verstand sammlet das Aehnliche in denselben, und verwandelt die Eindruͤcke in Ideen, die Vernunft endlich bringt diese Ideen in Ver- bindung und erbaut sich daraus das System ih- rer Grundsaͤtze und ihrer Regeln. Die Empfin- dungen sind also der Stoff, welchen die uͤbrigen Faͤhigkeiten bearbeiten. Ist dieser fest und dauer- haft, so ist weiter nichts als ein geschickter Kuͤnst- ler dazu noͤthig, um vortrefliche Werke daraus zu machen; ist er schwach und untauglich, so wird selbst eine Meisterhand und die weiseste An- wendung nur etwas Mittelmaͤßiges hervorbrin- gen. Von der Empfindung sollte also der Anfang dieser Untersuchung, so wie der Erziehung uͤber- haupt, gemacht werden. Sind die Eindruͤcke, die die Seele des Kindes von sich selbst und von den Sachen außer sich empfaͤngt, richtig, mit den Gegenstaͤnden uͤbereinstimmend, tief und dauerhaft; sind ihre Empfindungen wahr und Ueber die Pruͤfung stark? das ist die Frage, die man zuerst entschei- den muß. Ich setze mich in die Stelle des Va- ters und Lehrers, und folge dem Kinde in allen seinen Bewegungen. 1. Das erste, worauf ich Acht haben werde, ist, ob das Kind die Sachen, die es einmal em- pfunden hat, geschwind und leicht wieder er- kennt. Diese Beobachtung werde ich selbst zu der Zeit anstellen, wo das Kind fuͤr diese Empfin- dungen noch keine Worte hat. Der Schluß selbst ist klar. Um eine Sache wiederzuerken- nen, ist noͤthig, den alten und den gegenwaͤrti- gen Eindruck zu vergleichen. Je geschwinder diese Vergleichung geschieht, desto merklicher muͤs- sen die Spuren seyn, die die Sache in der Seele zuruͤckgelassen hat. Man sieht zugleich, warum dieses Merkmal bey Kindern richtig ist, und bey Erwachsenen truͤgt. Die Seele der ersten be- schaͤftigt sich ganz allein mit Empfindungen; ihre Aufmerksamkeit ist niemals zwischen den sinnli- chen Gegenstaͤnden und allgemeinen Ideen ge- theilt; und das Maaß der Staͤrke also, mit wel- der Faͤhigkeiten. chem sie empfindet, ist zugleich das Maaß ihrer Kraft uͤberhaupt. Bey den andern haͤngt die Leichtigkeit, die alten Gegenstaͤnde wiederzuer- kennen, nicht blos von dem Nachdrucke, mit dem man sie zuerst empfunden hat, sondern auch von dem Grade der Aufmerksamkeit ab, den man izt auf sie wendet; und fuͤr die Empfindung bleibt nur so viel von der Kraft der Seele, als zum Den- ken nicht noͤthig ist. 2. Ein ander noch allgemeineres und siche- rers Merkmal ist es, wenn das Kind eine große Aufmerksamkeit auf den jedesmaligen Gegenstand seiner Empfindung hat, und sich durch die uͤbri- gen Sachen, die itzund nicht eigentlich zu seiner Betrachtung gehoͤren, wenig oder gar nicht zer- streuen laͤßt. Jedermann wird sich erinnern, diesen Unterschied an Kindern bemerkt zu haben. Einige werden von dem Anblicke keiner einzigen Sache so stark geruͤhrt, daß sie eine Zeitlang bey derselben verweilen, sie sehen alles an, ohne ir- gend etwas zu bemerken; unter der Menge von Dingen, die um sie sind, irret der Sinn und die Ueber die Pruͤfung Seele bestaͤndig von einem Gegenstande zum an- dern, ohne bey einem einzigen stille zu stehen; oder vielmehr, sie verhalten sich gegen alle nur leidend, nehmen alle Eindruͤcke an, wie sie ihnen von ungefaͤhr in die Sinne fallen, ohne einem einzigen freywillig den Vorzug zu geben. Andre sind immer nur mit einem Gegenstan- de auf einmal beschaͤftigt. Ihre Augen oder Ohren haben immer etwas Festes und Bestimm- tes, worauf sie sich richten. Unter einem noch so großen Haufen von Sachen oder Personen un- terscheiden sie augenblicklich das Bekannte vom Fremden, gehen unachtsam bey dem einen vor- bey, und sehen dafuͤr das andre so lange starr und unverwandt an, bis sie ungefaͤhr damit eben so bekannt worden sind, wie mit den uͤbrigen. Wenn man das Uebrige gleich sezt, so kann man mit Recht vermuthen, daß die Bilder in der Seele des leztern besser und richtiger find, als in der ersten. der Faͤhigkeiten. Diese Gabe, viele Dinge nicht zu sehen und nicht zu hoͤren, um von einer recht geruͤhrt zu werden, die Aufmerksamkeit mit einem Worte, ist sowohl die Ursache als der Beweis starker Em- pfindungen. Die Ursache, weil, wo mehr Kraft angewendet wird, die Wirkung groͤßer seyn muß; der Beweis, weil die Seele von jeder Sache um so viel mehr an sich gezogen wird, je groͤßer die Thaͤtigkeit ist, in die sie die Seele sezt. Ist die Seele nur zu leichten und gleichsam nur beruͤh- renden Eindruͤcken faͤhig; so werden sie niemals uͤber die Zerstreuungen die Oberhand behalten; die Kraft der Seele wird unter alles gleich ausge- theilt, und durch diese Theilung verzehrt. Hef- tige Wirkungen hingegen werden die Aufmerksam- keit, auch ohne ihren Willen, auf die Gegenstaͤn- de festhalten, die sie erregen. 3. Ein drittes, aber mehr zweydeutiges Kennzeichen ist schon immer bey dieser Untersu- chung gebraucht worden; die Lebhaftigkeit meyne ich, und die Geschaͤftigkeit des Geistes. Die Wahrheit, die zum Grunde liegt, ist diese: Je B Ueber die Pruͤfung besser und lebhafter die Bilder sind, die die Seele durch die Empfindungen erhaͤlt, desto groͤßer ist das Vergnuͤgen uͤber dieselben, und desto groͤßer das Verlangen nach neuen. Die Begierde also, mit welcher wir gewisse Seelen immer neue und neue Gegenstaͤnde ihrer Empfindung aufsuchen sehen, und die Behendig- keit, die diese Begierde allen ihren Handlungen giebt, koͤnnte ein Beweis von der Guͤte ihrer Em- pfindungen seyn, wenn nur diese Munterkeit nicht oft einer gewissen Beharrlichkeit entgegen waͤre, welche jedem Eindrucke Zeit genug laͤßt, sich in den Seelen festzusetzen, ehe ein neuer auf ihn folgt. Ein schneller Uebergang von einer Sache zur andern zeigt freylich eine wirksame Seele, aber er loͤscht zu leicht einen Eindruck durch den andern aus, und zersioͤrt die Wirkung, indem er den Gegenstand zu oft abaͤndert. Man sieht also, wie leicht hier der Irrthum ist. Ein langsamer Fortgang von einem Gegen- stande zum andern, der bey Kindern oft fuͤr Dummheit angesehen wird, kann eben die Ursache der Faͤhigkeiten. ihres kuͤnftigen Verstandes seyn, weil er fuͤr ihn eine Reihe unterschiedner und sorgfaͤltig gezeich- neter Bilder sammlet. Und die Fluͤchtigkeit der andern, uͤber die man sich als eine unfehlbare Verkuͤndigung eines faͤhigen Geistes freuet, ver- wirrt und vermischt diese Bilder, und giebt der Reflexion, wenn sie endlich ihr Amt anfangen will, nichts als ein Chaos von halbverloͤschten und verworrnen Zuͤgen, aus denen sich nichts zusammensetzen laͤßt. Die Kunst besteht also dar- innen, zu unterscheiden, ob die Seele aus Traͤg- heit und Verdrossenheit so schwer die alten Gegen- staͤnde verlaͤßt, oder ob es aus einer gewissen Art von dunkler Betrachtung herruͤhrt, die sie daruͤber anstellt. 4. Die unmittelbarsten Wirkungen der Em- pfindungen sind die Begierden. Man kann also diese brauchen, um auf jene zuruͤckzuschließen; und da sich die Begierden eher als die Faͤhigkeiten ent- wickeln, so ist dieß auch der erste Weg der Unter- suchung, die Talente aus den Leidenschaften zu beurtheilen. B 2 Ueber die Pruͤfung Sind diese rauschend und heftig, aber vor- uͤbergehend, so sind die Eindruͤcke in der Seele schnell, aber fluͤchtig. Sind sie ruhig, aber dauerhaft, so ist die Empfindung langsam, aber tief. Ist zwischen den Begierden und ihren Ge- genstaͤnden ein gewisses Verhaͤltniß, gesezt auch, daß sie zuweilen daruͤber hinausgehen sollten, so kann man in den Begriffen Ordnung und Rich- tigkeit vermuthen. Ausschweifende oder ganz verkehrte Leidenschaften, ohne alles wenigstens scheinbare Verhaͤltniß mit dem Guten, auf wel- ches sie gerichtet sind, zeigen Zerruͤttung und Un- deutlichkeit in den Bildern an, die die Dinge von sich in der Seele abgedruͤckt hatten. Ein Mangel aller Leidenschaften ist das untruͤglichste Kennzei- chen der Dummheit. 5. Aber die genaueste und schaͤrfste Pruͤfung laͤßt sich durch die Beobachtung des Geschmacks anstellen. Fuͤr diejenige Klasse von Empfindun- gen ist das Vermoͤgen der Seele am faͤhigsten, in der sie das Schoͤne vom Haͤßlichen am leichtesten und richtigsten unterscheidet. Nach der Einrich- der Faͤhigkeiten. tung der Natur bringt, wenn die sinnlichen Werk- zeuge richtig und die Seele nicht unfaͤhig ist, das Schoͤne Vergnuͤgen und das Haͤßliche Verdruß hervor. Aber nicht bey allen Gegenstaͤnden ist diese angenehme oder unangenehme Empfindung gleich stark. Das Auge eines Malers empfindet weit mehr Verdruß uͤber eine unrichtige Gestalt, als sein Ohr uͤber eine Disharmonie; hingegen sieht der Tonkuͤnstler die abgeschmackteste Zeich- nung ohne Ekel, und geraͤth bey falschen Toͤnen oder bey verfehltem Takte außer sich. Man kann also diese Beobachtung auf zweyer- ley Art brauchen. Einmal das Empfindungsvermoͤgen uͤber- haupt zu beurtheilen. Ein Mensch, dem alles gleichguͤltig ist, der das Schlechte und Gute mit gleicher Zufriedenheit aufnimmt, und auf den Harmonie, Ordnung und Schoͤnheit keine Wir- kung thun; dessen Eindruͤcke muͤssen an und vor sich schlecht, unrichtig und schlaͤfrig seyn: denn wenn das Bild von der Sache selbst richtig gefaßt B 3 Ueber die Pruͤfung ist, so ist diese begleitende Empfindung von Lust oder Unlust unausbleiblich. Zum andern die Art von Gegenstaͤnden zu be- stimmen, zu denen jede Seele die beste Anlage hat, naͤmlich fuͤr die, wo sie am leichtesten und genauesten das Gute nicht nur vom Schlechten, sondern auch vom Mittelmaͤßigen unterscheidet, wo ihre Unterscheidungen die feinsten, und ihr Vergnuͤgen und ihre Unlust die lebhaftesten sind. Es wuͤrde diese Art von Pruͤfung weit vollkomm- ner werden, wenn es moͤglich waͤre, von jeder Art der sinnlichen Gegenstaͤnde dem Kinde die schoͤnsten und vortreflichsten vorzustellen, um an ihnen seine Empfindung zu pruͤfen. Wenigstens waͤre es doch billig, anstatt das Auge und das Ohr des Kindes von Jugend auf an Mißgestal- ten und Disharmonie zu gewoͤhnen, und es gegen den natuͤrlichen Ekel davor abzuhaͤrten, es lieber durch richtige Zeichnung und wohlklingende Toͤne schon zuvor einzunehmen, und ihm seine ersten Vergnuͤgungen zu einem Muster zu machen, nach der Faͤhigkeiten. denen es schlechtere beurtheilen und verwerfen lernte. 6. Das waͤren also solche Kennzeichen der Empfindung, die selbst Ursachen oder Wirkungen der Sache sind, die sie bezeichnen. Es giebt aber andre, die mehr Anzeichen als Merkmale sind, die ganz auf der Oberflaͤche liegen, die bey den einzelnen Menschen am leichtesten bemerkt werden, und sich doch, weil sie so mannichfaltig und so veraͤnderlich sind, am schwersten in eine allgemeine Regel verwandeln lassen. Das Wichtigste dieser aͤußern Merkmale ist der Bau der Werkzeuge. Ein lebhaftes, mun- teres und feuriges Auge ist daher immer mit Recht fuͤr das Zeichen eines faͤhigen Geistes gehalten worden, weil es die Quelle der vornehmsten und meisten Empfindungen, oder, wie Milton sagt, das große Thor der Weisheit ist. Die Munterkeit und das aͤußere Betragen, die Beweglichkeit und Thaͤtigkeit des Koͤrpers ist ein ander solches Merkmal. So wie der Schlaf die Beraubung aller Empfindung ist, so ist die B 4 Ueber die Pruͤfung Schlaͤfrigkeit die Schwaͤchung derselben. Eine Seele, die immer mit gewissen Gegenstaͤnden be- schaͤftiget ist, setzet auch ihren Koͤrper in Bewe- gung, und verhindert die Erschlaffung der Ner- ven, aus der die Traͤgheit entsteht. Wenn hin- gegen die Seele leer oder nur schlecht geruͤhrt ist, so wirkt sie in ihren Koͤrper eben so langsam und eben so schwach, als auf sie war gewirkt worden, und der Mensch versinkt in Langeweile und Muͤ- digkeit. 7. Aber ein Merkmal, welches seltner beob- achtet wird, ist die Unfaͤhigkeit eines jungen em- pfindenden Kopfs zu Erlernung abstrakter Be- griffe, oder der Woͤrter, die sie ausdruͤcken. Man hoͤrt so oft uͤber die Ungelehrigkeit von Kindern klagen, die allenthalben, nur nicht in ihren Lehr- stunden verstaͤndig scheinen. Ganz gewiß muͤssen alsdann entweder die Sachen nicht gut fuͤr sie gewaͤhlt seyn, die man sie lehrt, oder der Lehrer unterscheidet die Gabe, bloß andrer Gedanken zu behalten, nicht von der Faͤhigkeit selbst zu denken. In einem je hoͤhern Grade es die leztere besizt, der Faͤhigkeiten. desto weniger wird es von der ersten haben, be- sonders von den unfruchtbaren Gegenstaͤnden, mit denen man gemeiniglich den Unterricht an- faͤngt. Eine Seele, die mit wirklichen Bildern von Dingen erfuͤllt ist, wird sich sehr ungern von denselben zu bloßen Worten wegwenden, die es nicht versteht; und je lebhaftere Eindruͤcke es be- koͤmmt, mit desto groͤßerm Widerwillen wird es sich die Gewalt anthun, Sachen zu behalten, die ohne alle Eindruͤcke sind. Die Geschichte der Genies hat diese Anmer- kung bestaͤtigt, und oft das Urtheil ihrer ersten Schullehrer widerlegt. Nur noch zwey Worte uͤber diese ganze Ma- terie. Erstlich. Es ist nichts schwerer, als die Em- pfindungen anderer zu beurtheilen oder zu verglei- chen. Unsre Sprache druͤckt das sinnliche Bild bloß durch den Namen des Gegenstandes aus. Jeder erinnert sich also bey dem Worte an seine eigne Idee, aber keiner erfaͤhrt die Idee des an- dern. Die Mittheilung der Gedanken besteht B 5 Ueber die Pruͤfung nicht sowohl darinnen, in dem andern eben die Eindruͤcke hervorzubringen, die wir selbst haben, sondern nur die Eindruͤcke wieder zu erwecken, die durch eben die Gegenstaͤnde bey ihm hervor- gebracht werden. Unsre sinnlichen Begriffe sind lauter Verhaͤltnisse. Das Absolute in denselben koͤnnte sich voͤllig aͤndern, und alle unsre Aus- druͤcke wuͤrden noch koͤnnen dieselben bleiben, wenn nur die Aenderung durchgaͤngig und auf eine gleichfoͤrmige Art geschaͤhe. Um also zu wissen, wie empfindet ein anderer, muͤssen wir untersu- chen, was faͤngt die Seele mit ihren Empfindun- gen an? und der Gebrauch, den jemand von den Bildern macht, die in seiner Seele gesammlet sind, zeigt am ersten, wie diese Bilder beschaffen sind. Man wird dieses nirgend so gewahr, wie bey den nachahmenden Kuͤnstlern. Wuͤrde man wohl aus der besten Beschreibung eines Malers schließen, daß er was anders und besser sieht, als wie andere? Sobald er durch Worte mitthei- len soll, so schraͤnkt sich seine Empfindung bloß auf das Allgemeine ein, was allen sehenden Menschen der Faͤhigkeiten. in die Augen faͤllt, und wofuͤr die Sprache nur al- lein gemacht ist. Aber sobald er den Pinsel in die Hand nimmt, da wird man gewahr, daß sein Auge tausend Sachen bemerkt hat, die uns un- sichtbar waren, und daß in seiner Vorstellung die Natur mit allen ihren Gestalten sich auf eine ganz andre Art abmale, als in der unsrigen. Zweytens: Obgleich die Werkzeuge nicht verdorben seyn muͤssen, wenn die Empfindung gut seyn soll, so ist es doch falsch, daß sich die Staͤrke der leztern nach der Schaͤrfe der erstern richtet. Was wir ein scharfes Auge nennen, ist nur ein Auge, das entferntere oder kleinere Ge- genstaͤnde doch noch deutlich sieht. Es sieht also ohne Zweifel mehr auf einmal: aber bey einer gewissen Groͤße und Naͤhe sieht das schwaͤchere Auge eben so gut: es bedarf also mehr Zeit, sich dieselbe Anzahl von sinnlichen Begriffen zu ver- schaffen, aber es gelangt endlich doch dazu; und oft besser, weil sein Gesichtskreis immer einge- schraͤnkter und seine Aufmerksamkeit also weniger getheilt ist. Ueber die Pruͤfung Ueberdieß ist es nicht der bloße Eindruck der Sache, sondern es ist die Idee, die aus die- sem Eindrucke herausgezogen wird, die den Stoff zu den folgenden Wirkungen der Seele giebt. Also ist die Beurtheilung der Empfindungen etwas anders, als die bloße Beurtheilung des Se- hens und Hoͤrens; also kann diese Beurtheilung nicht unmittelbar durch die Beobachtung dessen, was das Kind oder der Mensch von seinen Em- pfindungen sagen kann, geschehen; also ist kein ander Mittel, zu irgend einer Kenntniß derselben zu kommen, als die Wirkungen und Folgen der Empfindungen kennen zu lernen. II. Die zweyte Handlung der Seele, die auf die Empfindungen zunaͤchst folgt, ist die Wieder- hervorbringung derselben, entweder in eben der Form und Ordnung, in der wir sie gehabt haben, das ist das Gedaͤchtniß; oder getrennt und zu- sammengesezt, die Einbildungskraft . Beides ist in gewisser Maaße eine unmittelbare Folge der der Faͤhigkeiten. Empfindung und eine nothwendige Vorbereitung zum Denken. Keine Faͤhigkeit scheint leichter zu erkennen zu seyn, als das Gedaͤchtniß, weil man glaubt nur Achtung geben zu duͤrfen, wie viel man behalten kann. Im Grunde aber ist die Unter- suchung eben so schwer, und der Irrthum haͤu- fig, weil man gemeiniglich von dem Mangel einer gewissen Gattung von Gedaͤchtnisse auf den Mangel des Gedaͤchtnisses uͤberhaupt schließt. Es giebt ein gewisses blos behaltendes, und ein andres, so zu sagen raͤsonnirendes Gedaͤcht- niß. Man koͤnnte das erste das Gedaͤchtniß im engern Verstande, und das andre die Gabe der Erinnerung nennen. Jenes ist das, wovon man am ersten urtheilt, und wovon man vielleicht nicht ohne Grund behauptet, daß es bey einem großen Verstande selten sey; es erhaͤlt die ehemaligen Eindruͤcke, und stellt sie der Seele, so oft sie will, in eben der Ordnung wieder vor, ohne daß sie dabey eine andre Bemuͤhung noͤthig haͤtte, als Ueber die Pruͤfung sich darauf zu richten. Man kann die Staͤrke dieses Gedaͤchtnisses ziemlich richtig nach demje- nigen abmessen, was ein Mensch auswendig ler- nen kann. Das andre ist ein Erinnern, welches durch Nachdenken geschieht, wenn die Seele ihre ehemali- gen Vorstellungen, sobald nur eine davon wieder lebhaft worden ist, durch ihre Verbindung und Folge aufzuwecken weis. Dieses Gedaͤchtniß sezt zwar voraus, daß die alten Ideen auf eine ge- wisse Weise verloͤscht sind, aber es ersetzt diese Schwaͤche durch eine andre Kraft der Seele, die es anzeigt, die Kraft die Verbindungen der Dinge einzusehen, und selbst verdunkelte Bilder durch ihre eigne Bemuͤhung wieder klar zu machen. Dieses Gedaͤchtniß ist ein sehr sicher Kennzeichen, oder vielmehr ein Theil des Verstandes. Man wird sehr oft Menschen sehen, die Er- zaͤhlungen und Geschichte schlecht behalten, und immer entweder Luͤcken oder Irrthuͤmer finden, so oft sie Begebenheiten wieder erzaͤhlen sollen; und die sich doch ganzer Reihen von Vernunftschluͤssen der Faͤhigkeiten. und Raisonnemens ohne Muͤhe erinnern. Diese Menschen haben gewiß die zweyte Art des Ge- daͤchtnisses, und die erste fehlt ihnen. Der Grund ist dieser: Die Verbindung zwi- schen Wahrheiten ist genauer, als die zwischen Begebenheiten; die Seele also, die ihre alten Bil- der nach und nach durch eine gewisse Art von Schluͤssen wieder erwecken muß, sieht bey den er- sten den Weg genau bezeichnet, den sie zu gehen hat, bey den leztern aber muß sie ihn auf Gera- thewohl suchen, und geht also oft fehl. Die meisten Begebenheiten werden nur durch Zeit und Ort verknuͤpft, oder diese Verbindung ist doch we- nigstens die einzige, die wir einsehen; wenn die Seele also ihre Ordnung bey der Erinnerung nicht verruͤcken soll, so muͤssen sich die Begriffe in eben der Reihe und Ordnung nach einander erhal- ten haben; weil das Nachdenken das Fehlende nicht ersetzen kann. Zweytens. Wenn man unmittelbar, so bald man nur die Gedanken auf das richtet, was man ehemals empfunden oder erlernt hat, sich Ueber die Pruͤfung die ganze Reihe der alten Ideen wieder vorstellt, so hat man die erste Art von Gedaͤchtniß. Wenn man aber bey dem ersten Blicke auf die Sache wenig oder nichts von ihr weis, nach und nach aber und stufenweise sich eines Theils nach dem andern erinnert, und den Fortgang immer gewahr wird, wie eine Idee die naͤchstliegende aufweckt; so hat man die zweyte. Man sieht also auch, warum man bey Kin- dern fast nur uͤber das erste urtheilt. Alles, wo- mit man sie beschaͤftigt, und woran man ihre Faͤ- higkeiten pruͤft, sind groͤßtentheils Sachen, die ohne innere Verbindung sind, und wo also kein ander Mittel ist, als daß man sie entweder aus- wendig wissen oder vergessen muß. Wem beide Arten von Gedaͤchtniß fehlen, der wird fuͤr sein Nachdenken nur wenig Gegenstaͤnde, und also einen kleinen und eingeschraͤnkten Ver- stand haben. III. Die Einbildungskraft nimmt aus den Em- pfindungen einzelne Theile, und macht daraus der Faͤhigkeiten. ein neues Ganze. In einem hoͤhern Grade nennt man sie die Gabe der Dichtung. Ihre Vollkommenheit beruht, wie einer jeden Zusammensetzung ihre, erstlich auf der Richtigkeit der Theile und ihrer Aehnlichkeit mit den Dingen, von denen sie genommen sind. Zweytens, auf der Regelmaͤßigkeit und Richtigkeit der Verknuͤp- fung. So erfodern die Maler bey dem, was sie Ideal nennen, die genaueste Wahrheit und die getreueste Kopie der Natur in den Theilen, und in dem Ganzen Wahl und Anordnung. Jeder Mensch baut sich zuweilen in seinen Gedanken eine kleine Welt, in der er wohnt, und in der er sich gefaͤllt. Wenn diese gut geord- net ist, und eine Reihe von Moͤglichkeiten enthaͤlt, die zusammenhaͤngen, so ist die Imagination richtig; wenn die Bilder den wirklichen Empfin- dungen an Staͤrke nahe kommen, so ist sie leb- haft; wenn sie zusammengesezt einen hoͤhern Grad von Vollkommenheit haben, als die Na- tur, aus der sie gesammlet sind, so ist sie erha- ben. Auf diese Art also koͤnnen unsre Spielwerke C Ueber die Pruͤfung uns unsre wesentlichen Vollkommenheiten auf- klaͤren. Diese Faͤhigkeit hat noch das Eigne, daß sich bey ihr vorzuͤglich die Bestimmung der Seele und die Art von Gegenstaͤnden zeiget, fuͤr die sie ge- macht ist. Die Empfindungen, die die staͤrksten waren, lassen auch die staͤrksten Eindruͤcke zuruͤck, und die Verbindungen werden also auch am leich- testen und besten. Durch diesen Weg zeigt zu- weilen die Natur von selbst die Absicht mit ihrem Geschoͤpfe. Der kuͤnftige Bildhauer macht Men- schen aus Leim, der junge Tonkuͤnstler singt rich- tigere und kuͤnstlichere Melodien. Diese Werke der jugendlichen Einbildungs- kraft sind leicht zu erkennen, wo sie wirklich koͤr- perliche Theile zu einem Ganzen verbindet. Man darf nur darauf Achtung geben, in welcher Gat- tung das Kind die groͤßte Erfindsamkeit, den rich- tigsten Geschmack und die beste Anordnung hat. Aber die Einbildungskraft, die bloße Bilder zu- sammensetzet, zeigt sich spaͤter und laͤßt sich leich- ter verkennen, und auf dieser beruht doch eigent- der Faͤhigkeiten. lich die Faͤhigkeit zum Gelehrten oder zum schoͤnen Geist. Man kennt gemeiniglich nur eine einzige Art von Einbildungskraft, die, welche sinnliche Bil- der vereinigt, um neue Bilder hervorzubringen, die aus den Theilen der Koͤrper neue Koͤrper, aus Thatsachen Thatsachen, und aus einzelnen Erschei- nungen in der Natur und beym Menschen eine aͤhn- liche Welt und aͤhnliche Menschen zusammensezt. Hier geben die Sinnen zuerst den Stoff, und ih- nen wird auch zulezt das Werk, wann es vollen- det ist, vorgestellt. Aber es giebt auch eine Ein- bildungskraft fuͤr den Philosophen, oder wenig- stens fuͤr den Erfinder der Philosophie. Um zu einer neuen Wahrheit zu kommen, wenn sie nicht eine unmittelbare Folge einer schon bekannten ist, ist es unmoͤglich, die Art von deutlich gedachten Schluͤssen zu brauchen, durch welche man diese Wahrheit, wenn sie erfunden ist, beweist. Wie will man den Weg zu einem Ziele abzeichnen, wel- ches man noch nicht kennt? Also Schluß vor Schluß von der bekannten Wahrheit zur unbe- C 2 Ueber die Pruͤfung kannten fortzugehen, und sich die ganze Reihe von Begriffen, durch welche beide zusammenhaͤn- gen, gleich mit Deutlichkeit und richtiger Unter- scheidung zu denken, das ist unmoͤglich. Hier muß der schnelle Flug des Genies erst das unbe- kannte Land ausspaͤhen, erst die fremde Gegend durchschaut haben, ehe der langsam fortschreiten- de Verstand seinen Weg antreten kann. Die Seele muß das Vermoͤgen haben, die ganze Reihe mit Einem Blick und einer Art von unmittelbarem Anschauen zu uͤbersehen. Ideen, die entwickelt eine ganze Wissenschaft ausmachen, muͤssen sich zusammendraͤngen, ein Ganzes ausmachen, und sich gleichsam in ein Bild vereinigen. So wie es eine gewisse Ahndung giebt, durch die man kuͤnftige Begebenheiten voraussieht, ohne sich alle die Ursachen erklaͤren zu koͤnnen, aus denen man sie folgert: so giebt es eine gewisse Kunst gluͤck- lich zu rathen, durch die man weit hinaus lie- gende Ideen und entfernte Folgerungen der Wahr- heiten voraussieht, ohne sich aller der Schluͤsse der Faͤhigkeiten. bewußt zu seyn, durch die man auf sie gekom- men ist. Wuͤrde wohl in einem andern Kopfe, als in Neutons seinem, der Fall eines Apsels die Idee eines neuen Weltsystems haben erregen koͤnnen? Mit welcher Geschwindigkeit des Blitzes mußte seine Seele die unendliche Reihe von Begriffen durchlaufen und erleuchten, die von der Idee der Schwere auf alle Koͤrper angewendet veranlasset wurden. Unerklaͤrlich scheint es in der That zu seyn, allgemeine Ideen, zu denen kein Bild in der Ima- gination gehoͤrt, auf gewisse Weise sinnlich klar zu denken; und doch ist diese Faͤhigkeit gewiß in der menschlichen Seele. In einem geringern Grade finden wir sie schon bey der Erlernung und Wiederholung der Wissenschaften. Man wird oft gewahr, daß, ehe man sich aller Theile eines allgemeinen Beweises, oder mit einem Worte alles dessen, was man von einer Sache weiß, einzeln erinnert, man schon zum voraus auf ge- wisse Art empfindet, wie der Gang des ganzen C 3 Ueber die Pruͤfung Nachdenkens seyn wird. Und eben diese Voraus- empfindung, wann wir sie haben, macht uns als- dann die Aufklaͤrung der einzelnen Theile leichter. Es giebt gewisse Augenblicke, wo es scheint, als wenn in einen dunkeln Theil unsrer Seele auf einmal ein Licht gebracht wuͤrde; die ganzen Ideen, die hier verborgen liegen, zeigen sich mit einem male, obgleich Zeit und Folge dazu gehoͤrt, um sie einzeln nach und nach herauszuheben, und zum Bewußtseyn zu bringen. Wo also diese schnellen ploͤzlichen Aufklaͤrungen oͤfter geschehen; wann der Geist des Schuͤlers den Beweisen seines Lehrers zuvorkoͤmmt, und das Ende der Schlußfolge schon zum voraus fuͤhlt, ehe ihn noch die Reihe der Schluͤsse dahin gefuͤhrt hat; bey wem einzelne Winke viel Gedanken ver- anlassen; wessen Verstand nicht immer durch alle Wendungen und Umschweife lauter unmittelbarer Folgerungen fortschleicht, sondern zuweilen gluͤck- liche Spruͤnge thut: bey dem hat die Natur die Anlage zu dem großen Lehrer oder dem Erfinder der Wissenschaften gemacht. der Faͤhigkeiten. Die dichterische Einbildungskraft hat Merk- male, die auch schon in einem zarten Alter statt finden. Das erste ist, wenn es wohlgemachte Erdichtungen mit Vergnuͤgen und einer Art von Theilnehmung hoͤrt; wenn es schnell ihre Anlage und ihren Entwurf faßt, und wenn es sie bald von abgeschmackten, ungeheuern oder unnatuͤr- lichen unterscheidet. Eine lebhafte Einbildungs- kraft wird leicht Bilder, die ihm von einer Mei- sterhand vorgemalt sind, nachmalen. Die Per- sonen und Begebenheiten werden anfangen ihr gegenwaͤrtig zu werden; und sie wird also alle die Wirkung thun, die die Empfindung bey dem wirklichen Daseyn der Gegenstaͤnde haben wuͤrde. Eine richtige Einbildungskraft wird die Aehn- lichkeit mit der Natur leicht gewahr werden, und wenn sie einmal den Reiz derselben empfunden hat, sie in allen denen Werken vermissen, die unge- treue oder mit Fleiß verstellte Kopien von ihr sind. Wer einmal eine richtige menschliche Bildung kennt, wird Riesen und Zwerge leicht unterschei- den. Also, wenn die Fabel oder Geschichte Mit- C 4 Ueber die Pruͤfung leiden, Liebe, Haß, Bewunderung, kurz alle Ar- ten von Leidenschaften in der Seele rege macht, so ist die Einbildungskraft gut. Die Entstehung dieser Leidenschaften haͤngt immer von einer ge- wissen idealen Gegenwart der Gegenstaͤnde ab, und diese wird von der Einbildungskraft gewirkt. Eine ruͤhrende Begebenheit also mit Kaltsinn an- hoͤren; bey der Erzaͤhlung einer vortreflichen That gleichguͤltig seyn; an dem Schicksale der Tugend- haften keinen Antheil nehmen; sich fuͤr keine Per- son oder fuͤr keine Art von menschlichen Vollkom- menheiten interessiren, zeigt nicht bloß ein unem- pfindliches Herz, sondern auch einen schwachen Kopf an. Die Seele muß ganz unfaͤhig seyn, sich diese Art von Bildern nur vorzustellen, wenn sie von ihnen gar keine Wirkung em- pfindet. Weiter! Wenn man bey gewissen Kindern zuweilen eine ploͤtzliche Freude, eine Frucht, eine Niedergeschlagenheit sieht, die sich aus ihren ge- genwaͤrtigen Empfindungen nicht erklaͤren laͤßt; so kann man daraus auf eine geheime Geschaͤftig- der Faͤhigkeiten. keit der Einbildungskraft schließen, die ihre Wir- kungen aͤußert, ohne uns die Mittel dazu zu ent- decken. Diejenigen, deren Ideen bloß von der gegenwaͤrtigen Empfindung bestimmt werden, ha- ben auch niemals andere Leidenschaften, als die aus ihrer wirklichen Verfassung und ihren Um- staͤnden entstehen. Wem aber die guͤtige Natur, außer der einen Welt, die sie seinem Sinne vor- gestellt hat, die Gabe verleiht, noch viele andere in sich selbst zu bauen, der verliert sich oft von den Dingen, die ihn umgeben, mit seinen Begierden eben so wohl als mit seinen Gedanken, und seine Vergnuͤgungen und seine Schmerzen entstehen nicht bloß aus der Lage, die er in dieser Welt hat, sondern auch aus der, welche er in der von ihm erdichteten annimmt. In einem hoͤhern Alter hat man so viele Muͤhe nicht noͤthig, diese Kraft gleichsam auf der That zu ertappen und sie bey ihrer geheimen Wirksamkeit zu uͤberraschen; man kann sie als- dann dazu auffodern, und ihr selbst die Arbeiten vorschreiben, nach denen man sie beurtheilen will. C 5 Ueber die Pruͤfung Die natuͤrlichsten Proben, die man machen kann, sind die Erzaͤhlung und die Erdichtung selbst. Es zeigt schon einen hohen Grad von Einbildungs- kraft an, wenn wir wirkliche Begebenheiten oder die Erdichtungen andrer gut beschreiben koͤnnen; einen hoͤhern, wenn wir selbst diese Begebenhei- ten erfinden. Ohne Einbildungskraft werden wir Personen, Sitten und Handlungen, wenn sie uns auch vor Augen sind, niemals in ein vollstaͤndi- ges und aͤhnliches Bild fassen, das diese Gegen- staͤnde andern wieder kenntlich machte. Aber ohne einen weit hoͤhern Grad werden wir uns nicht neue Personen und Begebenheiten zusammensetzen, die in der Zeichnung richtig und der Natur aͤhnlich, und doch ohne Original waͤren. Warum muͤssen also diejenigen Uebungen des Stils, die den faͤhi- gen Kopf am staͤrksten unterscheiden, und dem mit- telmaͤßigen die meiste Gelegenheit zum Unterrichte geben, warum muͤssen diese bey der Erziehung am wenigsten gebraucht werden? Dieß sind die Aeußerungen dieser Faͤhigkeit durch ihre Wirkungen; es giebt noch andre, die der Faͤhigkeiten. mehr mit derselben beysammen zu seyn, als von ihr unmittelbar herzuruͤhren scheinen, und die eben deswegen nur mit den ersten verbunden den Schluß zuverlaͤßig machen. Erstens: Man findet oft bey Leuten von ei- ner starken Einbildungskraft eine Art von Zer- streuung und Abwesenheit von den Gegenstaͤnden, die um sie sind. Die Einrichtung der Natur haͤlt zwischen dem dunkeln und dem hellen Theile un- srer Vorstellungen ein bestaͤndiges Gleichgewicht. Sobald die einen an Klarheit steigen, so sinken die andern in eine tiefere Finsterniß; und jede An- naͤherung der Seele auf einen Gegenstand ist zu- gleich eine Entfernung von den uͤbrigen. Die Eindruͤcke also, die die aͤußern Gegenstaͤnde durch die Sinne auf uns machen, werden in eben dem Grade schwaͤcher, in welchem andre Vorstellungen, die schon in der Seele da sind, stark sind. Auf diese Art kann die Einbildungskraft ihre Bilder zuweilen so lebhaft und so stark machen, daß die Seele auf eine Zeitlang die Empfindungen ganz Ueber die Pruͤfung vergißt, und sich dessen nicht bewußt wird, was um sie herum vorgeht. Zweytens: Die Faͤhigkeit der Seele, sich durch sich selbst zu beschaͤftigen, ist ein noch siche- rers Kennzeichen von einer starken Einbildungs- kraft oder Reflexion. Der Trieb zur Wirksamkeit ist der erste und urspruͤnglichste in der menschli- chen Seele, und vielleicht der Grund aller uͤbrigen. Wenn die Seele also in sich und in ihren eignen Bildern oder Ideen fuͤr ihre Beschaͤftigungen keine Gegenstaͤnde findet, so sucht sie darnach außer sich, und ohne einen neuen Zufluß von Empfin- dungen, geraͤth sie in den Stand der Unthaͤtigkeit, der unter dem Namen von Langeweile so bekannt und so quaͤlend ist. Wer also, sobald seine Ge- schaͤfte geendigt sind, unmittelbar nach Gesell- schaft, nach Zerstreuungen und nach Vorrath von neuen Eindruͤcken schmachtet; wer nicht mehr den- ken kann, sobald seine Augen und seine Ohren nicht angefuͤllt sind, der muß selbst wenig Ideen hervorzubringen wissen. Um deswillen liebt der Poͤbel alle Schauspiele, nicht weil sie schoͤn sind, der Faͤhigkeiten. sondern weil sie ihn beschaͤftigen; ein Seiltaͤnzer sezt auf einige Augenblicke seine schwache Seele in eine Bewegung, die er ihr selbst nicht zu geben weiß, und die ihm angenehm ist. Um so viel groͤßer das Vermoͤgen der Seele ist, sich selbst alte Bilder wieder zu erneuern, oder dieselben durch neue und noch nicht angestellte Verknuͤpfungen reizender zu machen, um so viel mehr kann sie des bestaͤndigen Anstoßes von außen entbehren. Um deswillen haben von je her die Dichter die Einsamkeit und die Einoͤde geliebt; nicht weil sie Feinde des Vergnuͤgens oder der Ge- sellschaft waren; sondern weil sie sich das Vergnuͤ- gen, das andre in der Gesellschaft suchen, und das sie ohne Huͤlfe der Sinnen nicht erhalten koͤnnen, durch ihre eigne Einbildungskraft zu verschaffen wußten Endlich eine gewisse Abneigung und Unfaͤhig- keit bey Begriffen, wo keine Bilder sind, und ein schneller Fortgang in allem, wobey es auf die rich- tige Vorstellung eines Bildes ankoͤmmt, ist das lezte aͤußere Kennzeichen. Ueber die Pruͤfung Man hat angemerkt, daß eine sehr große Richtigkeit und Correction in den Werken des ju- gendlichen Witzes gemeiniglich das Zeichen eines geringen Genies ist. Man koͤnnte eben so uͤber- haupt ein zu fruͤhzeitiges Nachdenken und abstracte Betrachtungen zu einer Zeit, wo die Seele noch mehr empfinden als denken sollte, zum Zeichen ei- ner schwaͤchern Seele annehmen. Nach der Ord- nung der Natur entwickelt sich die Einbildungs- kraft zuerst, der Verstand hernach. So wie also bey gewissen Koͤrpern, die zu schnell zur Reife kom- men, der Bau schwach und die Kraft klein ist: so sind die Seelen, die nicht mit der gehoͤrigen Lang- samkeit eine Faͤhigkeit nach der andern entwickelt und ausgebildet haben, bestaͤndig mittelmaͤßig. Ein Kind also, welches von einer schoͤnen Fabel entzuͤckt wird, und bey einem eben so schoͤnen Be- weise gaͤhnt; das voll Munterkeit und Aufmerk- samkeit ist, wann es die Geschichte auf einem gu- ten Kupferstiche oder Gemaͤlde erklaͤren hoͤrt, und verdrossen und zerstreut wird, sobald man ihm all- gemeine Wahrheiten vortraͤgt; das in seinen der Faͤhigkeiten. Spielen Erfindsamkeit, und in den Lernstunden Unfaͤhigkeit zeigt, wuͤrde mir weit mehr Hofnung machen, als ein andres, das eine ganze Moral mit der groͤßten Geduld und der scheinbarsten Auf- merksamkeit anhoͤrt, und in der Grammatik eben so gern liest, als im Robinson. IV. Aus diesen Materialien nun endlich, die die Empfindung herbeygeschafft, das Gedaͤchtniß bewahrt, die Einbildungskraft gesammlet hat, er- baut die Vernunft das System allgemeiner Be- griffe, nach denen der Mensch sich und seine Ge- schaͤfte regieret. Diese Frage ist also ohne Zweifel die wichtigste, und die erst spaͤt und fast nur vom Menschen selbst zu beantworten ist: Wie stark ist in der Seele die Faͤhigkeit nachzudenken, und durch welche Merk- male kann man sie erkennen? Zuerst also wieder: Was ist der Verstand, und wie vielfach sind seine Geschaͤfte? Die Aus- breitung der Philosophie hat diese Begriffe so be- kannt gemacht, daß man nur darauf zuruͤckzufuͤh- ren braucht, ohne sie zu erklaͤren. Ueber die Pruͤfung Jede Empfindung bezieht sich auf einen ein- zelnen Gegenstand. Wenn also die Empfindung die einzige Art von Vorstellungen ist, so muß sie entweder so weit ausgebreitet seyn, wie die Na- tur selbst; alsdann wuͤrde sie die allgemeinen Be- griffe unnoͤthig machen, aber sie ist nur eine Ei- genschaft der Gottheit; oder sie ist nur auf Einen Gegenstand eingeschraͤnkt, alsdann macht sie allen Fortgang der Erkenntniß unmoͤglich, und ist das Unterscheidende des Thiers. Um also unsrer Ein- schraͤnkung zu Huͤlfe zu kommen, mußten wir die Geschicklichkeit erhalten, die unendliche Menge von einzelnen Gegenstaͤnden, die sich uns nach und nach durch die Sinnen darstellen, unter gewisse Klassen und gleichsam in große Gruppen zu brin- gen, wir mußten ein Mittel haben, aus unsern Empfindungen, die fuͤr sich abgesonderte und im- mer neue Ganze ausmachten, einen gewissen Theil herauszuziehen, der der Seele zuruͤckbliebe, wenn die Empfindung selbst schon lange vergessen waͤre; und die unermeßliche Mannichfaltigkeit von Ei- genschaften, die mit jedem einzelnen Dinge sich der Faͤhigkeiten. der Seele zeigen, mußten sich auf eine kleine An- zahl von solchen einschraͤnken lassen, die sich oft wieder finden, und die also eine immer wieder- holte Erfahrung ersparen: dieses Mittel ist die Abstraktion. Also, mehrere Empfindungen mit einander vergleichen, das, was in ihnen aͤhnlich ist, be- merken, dieses in einen Begriff sammlen, und das Uebrige alles, was unaͤhnlich war, weglassen, das heißt Abstrahiren; und dieses mehrmals wieder- holt, heißt Nachdenken; oder weil bey uns die Sprache schon eher, diese abstrakten Begriffe mit Worten verbunden, der Seele liefert, ehe sie selbst noch zur Abstraktion faͤhig ist: so beschaͤftigt sich nunmehr die Vernunft zuerst damit, die Bedeu- tung der Worte zu bestimmen, und die wahre all- gemeine Idee aufzusuchen, von welcher das Wort ein Zeichen seyn soll. Die Erlernung der Sprache haͤngt also mit der Vernunft zusammen, als ein Mittel; und der richtige Gebrauch derselben haͤngt davon ab, als Wirkung. D Ueber die Pruͤfung Man findet indessen hier doch einen sehr merk- lichen Unterschied. Wer durch Worte denken und sich ausdruͤcken soll, muß allgemeine Begriffe haben, das ist klar; denn die Worte bezeichnen keine andre. Aber die Seele kann diese Begriffe auf eine doppelte Art haben. Entweder sucht sie nur in den einzelnen Faͤllen den Begriff auf, und begnuͤgt sich, wenn sie in jedem vorkommenden neuen Falle diese Merkmale wiedererkennen und den Begriff anwen- den kann: oder sie sammlet diese Merkmale in eins, bezeichnet jedes mit einem Worte, und be- muͤht sich, den allgemeinen Begriff abgesondert von den Faͤllen, aus denen er abgezogen ist, vor- zustellen. Der erste macht sich das Wort und die Vorstellung deutlich, indem er eine geschwinde dunkle Uebersehung der Faͤlle anstellt, in denen es gebraucht wurde; der andere, indem er eine Er- klaͤrung davon macht. Man koͤnnte jenes den praktischen, und dieses den theoretischen Verstand nennen. der Faͤhigkeiten. Der praktische Verstand haͤngt mit der Einbil- dungskraft zusammen, oder ist vielmehr nur eine besondere Anwendung derselben. Ihr Werk ist es, der Seele zugleich mit dem Worte die Faͤlle her- beyzubringen, aus deren schneller und ihr selbst unbewußter Vergleichung sie jedesmal den Begriff von neuem hervorbringt. Die Kennzeichen von beiden werden sich also einander sehr aͤhnlich seyn. Erstens: Leute von dieser Art koͤnnen sich sehr wenig uͤber Sachen erklaͤren, die sie doch recht gut verstehen, und die sie recht gluͤcklich ausfuͤh- ren, wenn sie sie unternehmen. Der Grund ist augenscheinlich. Zur Erklaͤrung gehoͤren Worte, zu diesen Merkmale, die von ihren Gegenstaͤnden abgesondert, und ohne sie gedacht und bezeichnet worden, kurz gerade das, durch dessen Mangel diese Art von Verstande sich unterscheidet. Man kann uͤberhaupt zwey Arten von Menschen in der Welt bemerken. Einige wissen vortreflich von Sachen zu sprechen, und koͤnnen ihre ganze Theo- rie mit Genauigkeit und Deutlichkeit vortragen, D 2 Ueber die Pruͤfung die ihnen doch mißlingen, sobald sie die Hand daran legen. Andere reden wenig und verwirrt, und bringen sie zu Stande. Man thut sehr unrecht, wenn man die ersten als Schwaͤtzer, und die andern als bloße Hand- werker ansieht. Die Faͤhigkeiten, die sie zu dem machen, was sie sind, sind von der Natur selbst unterschieden. Der Philosoph, der erklaͤrt, vergißt uͤber den Merkmalen, die er sammlet, die individuellen Um- staͤnde der Faͤlle, die doch in der Ausuͤbung muͤs- sen mit zu Rathe gezogen werden, und sie verun- gluͤckt ihm also. Der Kuͤnstler, welcher arbeitet, findet in dem Bilde, das ihm anstatt der Erklaͤ- rung gegenwaͤrtig ist, alle diese kleinen Umstaͤnde; aber er kann aus diesem Bilde nicht die einigen, wenigen Theile herausnehmen, die das Uebrige wuͤrden kenntlich machen: er kann also sich nicht erklaͤren, als indem er die Sache zeigt. Wenn die ersten bestaͤndig zum Erklaͤren und die andern zum Ausuͤben bestimmt wuͤrden, so wuͤrde die Welt der Faͤhigkeiten. richtige Theorien und vortrefliche Werke zugleich erhalten. Zweytens. Ein ander Zeichen eines solchen praktischen Verstandes ist die genaue Beobachtung des Schicklichen; die Uebereinstimmung in seinen Reden und Handlungen mit der Zeit, dem Orte und den Verhaͤltnissen der Personen; mit einem Worte, eine gewisse groͤßere Aufmerksamkeit auf alles, was zum menschlichen Leben gehoͤrt. Man sieht viel junge Leute, die diese Gabe vollkommen besitzen, und deren Fortgang in den Wissenschaf- ten sehr geringe ist, die deswegen von der Welt und besonders von Leuten ihres Alters hervorge- zogen und von ihren Lehrern verachtet werden. Die Ursache ist die: Zu dieser Klugheit des gesell- schaftlichen Lebens ist eine schnelle Uebersehung einer Menge von Gegenstaͤnden auf einmal, aber nicht die Ergruͤndung eines einzigen noͤthig. Die Seele muß ihre Aufmerksamkeit zwischen sehr vie- len Dingen zu theilen, oder sie muß sich vielmehr von dem Ganzen ein richtiges Bild bis auf alle Kleinigkeiten zu machen wissen: aber sie hat D 3 Ueber die Pruͤfung nicht noͤthig, diese kleinen Umstaͤnde, die sie bloß empfindet, und nach denen sie sich richtet, in Ge- danken von den uͤbrigen zu trennen und auszu- druͤcken. Und dieß ist drittens eben die Ursache, warum diese Art von Koͤpfen weit eher zur Reise zu kom- men scheint, als die andern. Ihr Verstand er- scheint zugleich mit ihrer Einbildungskraft, und diese ist eine unmittelbare Wirkung der Empfin- dungen. Ueberdieß finden sie jeden Angenblick und allenthalben Gegenstaͤnde, an denen sie ihn uͤben; die Zerstreuungen und Zeitvertreibe, die den Fortgang der uͤbrigen Faͤhigkeiten verzoͤgern, sind so viele Gelegenheiten, diese zu schaͤrfen. Man wird also weit zeitiger von dieser Art von Faͤhigkeit urtheilen koͤnnen. Ein junger Mensch, der im Umgange artig, in Gesellschaft klug und vorsichtig, in Ausrichtung kleiner Geschaͤfte ge- schickt und gluͤcklich, aber ohne sonderlichen Ge- schmack und Talente fuͤr die eigentlichen Wissen- schaften ist; ein solcher junger Mensch hat die Art von Verstand, davon wir reden. der Faͤhigkeiten. Viertens. Ein hoͤherer Grad dieses Verstan- des bringt die Gabe der Vorhersehung hervor, die wir schon oben genannt haben, und die das ei- gentliche Talent zu Geschaͤften ausmacht. Die Zukunft liegt in dem Gegenwaͤrtigen eingewickelt. Man muß dieses ganz uͤbersehen koͤnnen, um jene darinn zu finden. Wirkungen kann man nur aus ihren Ursachen kennen: aber diese sind oft in so vielen Dingen zerstreut; viele davon so klein, so unmerklich, und doch in der Zusammenkunft so erheblich, daß es unmoͤglich ist, sie zu bemerken, wenn man sie sich nicht anders als deutlich den- ken kann. Ein Kopf, der immer zergliedern und schließen muß; dessen Faͤhigkeiten nur die Dinge von derjenigen Seite fassen, von der sie sich deut- lich machen lassen; wird diese kleinen Umstaͤnde uͤbersehen, er wird sich bloß an die Hauptsachen halten, dieser ihre Kraͤfte untersuchen, und so ge- nau er immer diese kann abgemessen haben, einen falschen Erfolg herausbringen. Das ist die ei- gentliche Graͤnzscheidung zwischen Theorie und Praxis. Die erste nimmt keine andern als die D 4 Ueber die Pruͤfung groͤßten, die in die Augen fallendsten Ursachen, und diese ergruͤndet sie voͤllig; die andere nimmt alle Umstaͤnde zusammen, aber bloß in einem Bil- de. Wer also auf diese anschauende Art denken kann, wessen Seele eine Menge verwickelter Bege- benheiten zugleich zu umfassen im Stande ist, wes- sen Beobachtung so genau ist, daß er unter der Menge doch nicht die kleinsten Umstaͤnde uͤbersieht; wer endlich alle diese Beobachtungen so schnell und so fertig anwenden kann, daß er augenblick- lich aus ihnen den Erfolg zieht, ohne sich selbst seines Schlusses bewußt zu seyn: das ist der Mann, der den entscheidenden Augenblick in der Schlacht oder im Kabinet treffen wird, und des- sen Entschluͤsse zugleich schnell und sicher seyn werden. Eben daher ruͤhrt bey diesen Leuten die feste Ueberzeugung, mit der sie die Gewißheit eines Er- folgs vorhersehen, dessen Gruͤnde sie doch nicht angeben koͤnnen. Diese Gruͤnde liegen in dem Bilde, was sie haben, und dieses Bild koͤnnen sie niemand mittheilen, weil Worte nur immer ge- der Faͤhigkeiten. wisse Theile, niemals den ganzen Eindruck be- zeichnen. Plato sezt deswegen die Staatsmaͤnner und den Wahrsager in eine Klasse, und leitet bey beiden diese Gabe, das Zukuͤnftige ohne Schluͤsse zu entscheiden, (weil sich die Wirkungen der Seele dabey nicht erklaͤren lassen,) von dem Einflusse ei- ner hoͤhern Macht her; denn, sagt Sokrates, daß diese Gabe nicht unter die Wissenschaften gehoͤret, sehen wir augenscheinlich. Wem wuͤrden Perikles und Themistokles eher diese Kunst gelehrt haben, wenn sie sich lernen ließe, als ihren Soͤhnen, die doch ohne Ansehn und Einfluß in Griechenland waren? Fuͤnftens. Diese Art von Verstand macht endlich, daß der Mensch uͤber Begebenheiten, Per- sonen und Handlungen richtige Urtheile faͤllen kann, unerachtet er verlegen ist, wenn er die Ei- genschaften, die er den Dingen beylegt, erklaͤren, oder die Gruͤnde anfuͤhren soll, warum ihnen die- selbe zukommen. Er ist deswegen ein genauer Beobachter der Unschicklichkeit in dem Betragen anderer, empfindet das Laͤcherliche leicht und ge- D 5 Ueber die Pruͤfung schwind, und wird also zur Satyre oder zur Spoͤt- terey mehr als andre Koͤpfe aufgelegt seyn. Eben dieser Geist der Beobachtung, der ihn faͤhig macht, selbst alle diese kleinen Verhaͤltnisse zu wissen, um sie zu beobachten, macht ihn auch zu- gleich aufmerksam, wenn andre sie aus den Au- gen setzen. Das Laͤcherliche ist das Ungereimte in Klei- nigkeiten. Eine Seele, die nur immer auf das Große, auf gewisse Hauptbegriffe, auf ganze Summen von Merkmalen geht, uͤbersieht diese kleinen Mishelligkeiten oder vergißt sie augenblick- lich. Von dem andern, der nicht uͤber die Sa- chen gruͤbelt, sondern sie nur ansieht, werden sie gefaßt und behalten. Die Seele des ersten ist ein Maler, der die großen Zuͤge allein abson- dert, und durch sie das Bild entwirft; die Seele des andern ist ein Spiegel, der die Sache ganz, wie sie ist, mit allen ihren kleinsten Flecken dar- stellt. Die andere Gattung von Verstande, die raͤ- sonnirende, wenn ich so sagen darf, gehoͤrt ei- der Faͤhigkeiten. gen tlich fuͤr die Wissenschaften, und verdient also am meisten unsre Aufmerksamkeit. Sie ist nichts anders als ein philosophisches Genie, ein gewis- ser Trieb, der zugleich mit Faͤhigkeit verbunden ist, das Individuelle aufs Allgemeine zuruͤckzu- fuͤhren, und dieses Allgemeine zu einem abgeson- derten Gegenstande seiner Betrachtung zu ma- chen. Diese Faͤhigkeit aͤußert sich zuerst dadurch, daß die Seele, die sie besizt, indem sie durch die Sprache die Anzahl von Begriffen erhaͤlt, die un- gefaͤhr den Umfang dessen ausmachen, was man bon sens oder den Menschenverstand nennt, sich nicht dabey beruhigt, diese Begriffe bloß klar zu haben, sondern von jedem Worte Beschreibung und Erklaͤrung verlangt. Jede Seele ist bemuͤht, Gedanken in sich hervorzubringen; es ist also na- tuͤrlich, daß, wenn sie ein Zeichen von einer Sache bekoͤmmt, die sie so sehr wuͤnscht, sie diese Sache selbst sucht. Die Einbildungskraft kam den Koͤ- pfen von der ersten Art in diesem Falle zu Huͤlfe, und stellte ihnen geschwind einen einzelnen Fall, Ueber die Pruͤfung eine Begebenheit vor, wo dieses Wort hingehoͤrte, und gab ihnen also fuͤr eine Idee ein Bild. Aber bey unsrer Gattung von Koͤpfen ist die Einbil- dungskraft weder stark noch ausgebreitet, also kann die Seele sich den Begriff des Worts nicht durch die Erinnerung der Faͤlle aufklaͤren; sie wuͤnscht also die Bestimmungen, die in den Faͤllen liegen, und die eigentlich allein zu diesem Worte gehoͤren, schon abgesondert, schon aus ihrer Ver- wickelung mit dem Uebrigen herausgehoben, schon mit einander zusammengesezt. Mich deucht, ich brauche nicht erst auf eine Erfahrung zuruͤckzufuͤhren, die alle Tage gemacht werden kann. Einige Kinder fodern von jedem neuen Worte eine Erklaͤrung, und diese fuͤhret sie erst zur Aufmerksamkeit auf die Sache. Die andern beobachten ganz in der Stille, und ken- nen schon die Sache eher, zu der das Wort ge- hoͤrt, ehe man ihnen noch das Wort selbst gesagt hat. Die Folge also hieraus muß gerade die ent- gegengesezte von derjenigen seyn, die wir oben der Faͤhigkeiten. aus einem entgegenstehenden Grunde zogen. Diese Faͤhigkeit muß sich viel spaͤter entwickeln, weil zu der ersten nur Empfindung und Erinne- rung, zu dieser eine wiederholte Vergleichung und eine langsame Sammlung der Aehnlichkeiten ge- hoͤrt. Ein Kind von dieser Art kann also in den ersten Jahren sehr leicht ein Dummkopf zu seyn scheinen. Abstraktionen hat es noch nicht Zeit genug gehabt zu machen, und die Einbildungs- kraft ersetzet bey ihm diesen Mangel nicht durch die Erinnerung der Faͤlle. Um eben dieses Be- duͤrfnisses willen verlangt es Erklaͤrungen; weil es sonst bey dem Worte nichts als einen leeren Schall hoͤrt. Die Seele ist also in dieser Zeit be- staͤndig wirksam, aber ihre Arbeit ist noch unvoll- endet; und erst der Erfolg kann entscheiden, ob ihre Kraft sich nur deswegen verbarg, weil sie in- nerlich geschaͤftig war, oder weil sie durch ihre Schwaͤche eingeschraͤnkt wurde. In allen Sachen, wo es keine Abstraction durch Worte giebt, ist der Fortgang eines solchen Kopfs langsam. Alle diese Begriffe, die die Seele Ueber die Pruͤfung anders nicht als klar denken kann, die mehr ge- fuͤhlt als gesagt werden koͤnnen, kommen bey ihm spaͤt und sind selten richtig genug. Hinge- gen alles, wo sich die Merkmale von dem Dinge absondern, wo sie sich unter einen Begriff und in ein Wort fassen lassen, kurz, was sich erklaͤren und lehren laͤßt, begreift er schnell, und ist in kur- zem im Stande, es wieder mitzutheilen. Der Geschmack ist ein dunkles Gefuͤhl des Schoͤnen. Einige Theile davon lassen sich in Be- griffe aufloͤsen, und sind deswegen der Erklaͤrung und einer Theorie faͤhig; andre aber sind zu sehr im Ganzen verstreut, zu vielfach und zusammen- gesezt, als daß sie gedacht werden koͤnnten, wenn man sie nicht mehr empfindet. Die Art von Gei- stern, von der wir reden, werden also mit der er- sten Gattung von Schoͤnheiten weit leichter be- kannt werden, als mit der lezten; wo ihr Gefuͤhl durch kein Raͤsonnement geleitet oder unterstuͤtzet werden kann, wird es mangelhaft oder unsicher seyn; sie werden als Kunstrichter die Erfindung und die Anordnung eines Gedichts, die Richtig- der Faͤhigkeiten. keit der Bilder und die Genauigkeit des Ausdrucks geschwinder einsehen, als die feinen Schoͤnheiten der Harmonie, die Uebereinstimmung des Ganzen, oder den Ton, der uͤberhaupt darinne herrscht. Von einem Gemaͤlde werden sie die dichterischen Schoͤnheiten weit eher als die mechanischen fin- den; der Ausdruck der Leidenschaften wird von ih- nen besser bemerkt werden, als die Wirkungen des Lichts oder die Harmonie der Farben; und ihre Entscheidung wird oft von des Malers seiner un- terschieden seyn. Unter diese Sachen, die nicht erklaͤrt, sondern nur gefuͤhlt werden koͤnnen, wie sie seyn muͤssen, gehoͤren fast die ganzen Gesetze des Wohlstandes und der Lebensart; die Klugheit in den Geschaͤf- ten des taͤglichen Lebens; die bestaͤndige Ruͤcksicht bey allem, was man sagt oder thut, auf die Cha- raktere, die Verhaͤltnisse und die Umstaͤnde der Personen, mit denen man zu thun hat. In die- sem allem wird unser junger Philosoph von dem bloß gemeinen Verstande des andern uͤbertroffen werden. Ueber die Pruͤfung Dieses hat noch eine andre Folge. Er wird sich mit dem allgemeinen Gespraͤche in einer gros- sen Gesellschaft schlecht behelfen, und wird doch in einer Unterredung mit einer einzelnen Person, wo eine bestimmte Materie der Vorwurf ist, vor- treflich seyn koͤnnen. Bey dem ersten ist ein Ge- misch von tausend abgebrochenen und zerstuͤckten Gedanken, ein bestaͤndiger Uebergang von einem Gegenstande zum andern. Man will durchaus nichts ergruͤndet, sondern alles nur beruͤhrt ha- ben. Jede Idee, die vorgebracht wird, muß, so zu sagen, auf der Oberflaͤche des Dinges liegen, von der sie genommen ist; der Zugang zu ihr muß leicht seyn, und sie muß eben so geschwind begrif- fen als verlassen werden koͤnnen. Unser guter Philosoph wird nun hierbey nicht bloß durch die Mannichfaltigkeit der Vorwuͤrfe uͤberhaͤuft; son- dern er bleibt auch bey ihrem schnellen Fortgange zuruͤck; man laͤßt ihm nicht Zeit, seine Betrach- tungen vorzubringen, oder wenn er sie gesagt hat, so sind sie fuͤr die uͤbrigen weder einleuchtend noch treffend; sie hoͤren sie also mit Kaltsinnigkeit der Faͤhigkeiten. an, und geben ihm wenig Gelegenheit, sie zu wie- derholen. Alles dieses ist in einer geheimen Un- terredung veraͤndert; der Gegenstand ist einfa- cher, und man haͤlt laͤnger bey demselben aus; uͤberdieß hat man mehr die Absicht, zu untersu- chen. Der andre findet also nunmehr, da er sich die Zeit nimmt nachzudenken, die Betrach- tung des philosophischen Geistes richtig, aber feiner, als er sie selbst wuͤrde gemacht haben, und nun entsteht die Achtung aus eben den Ursa- chen, um deren willen er vorher vernachlaͤßiget wurde. Im Ganzen genommen aber muß die erste Art von Verstand den Menschen zur Gesellschaft geschickter machen, als die zweyte. Helvetius sagt: Die gewoͤhnlichste Materie des Gespraͤchs in der Welt ist von Personen und Begebenheiten, nicht von Sachen. Der angenehme Mensch in der Gesellschaft ist also der, der durch einen sehr ausgebreiteten Umgang viele Personen und ihre Umstaͤnde kennt, und zwar gerade die Personen, von denen der Gesellschaft daran gelegen ist, et- E Ueber die Pruͤfung was zu wissen. Wenn er seine Erzaͤhlungen mit etwas Witz vermischt, wenn er noch dabey den Leidenschaften der Anwesenden zu schmeicheln, und ihre Gesinnungen gegen die Personen, von denen er spricht, zu errathen und anzunehmen weiß, so ist er vollkommen. Und dieß ist gerade alles das, was unserm Manne fehlt. Er hat nicht den Be- merkungsgeist, um sich von so viel Kleinigkeiten, als dabey noͤthig sind, zu unterrichten; nicht das Gedaͤchtniß, sie sich einzupraͤgen; nicht die Ein- bildungskraft, um sie vorzutragen; endlich nicht die praktische Urtheilskraft, ob das, was er sagt, den Personen, die es hoͤren, angenehm oder ver- druͤßlich seyn werde. Aber eben aus diesem Geiste der Zergliede- rung folgt, daß, wenn sich dieser Kopf einmal entwickelt hat, er sich durch seine Werke weit rich- tiger abmessen laͤßt. Er wird das, was er weiß, allemal ausdruͤcken und mittheilen koͤnnen. Sei- ne Begriffe muͤssen schlechterdings entweder voͤl- lig entwickelt oder dunkel seyn. Die bloße Klar- heit des Anschauens, die die Gegenstaͤnde in der der Faͤhigkeiten. Seele erleuchtet, ohne sie aufzuloͤsen, ist fuͤr ihn nicht gemacht. Was er also nicht zu sagen weiß, davon hat er auch gewiß keine Vorstel- lung. Die reine Mathematik ist ein rechter Probier- stein fuͤr diese Koͤpfe. Da sie fast die einzige Wis- senschaft ist, wo nur eine Idee, (die Idee der Groͤße,) durchaus entwickelt wird; da in ihr nir- gends Einbildung, aber allenthalben Verstand herrscht; da hier das Nachdenken durch keine von den Schwierigkeiten aufgehalten wird, die in der Philosophie den Fortgang so langsam und oft die Schritte so unsicher machen: so muß diese Wissen- schaft dieser Art von Verstande angemessen seyn. Wer also bey ihrer Erklaͤrung die Beweise leicht einsieht, dem Lehrer in seinen Schluͤssen zuvor- koͤmmt, und zuweilen von dem Satze, der vorge- tragen wird, schon die Beweise vorhersieht, der hat diesen Verstand gewiß. Sollte dieß nicht ein Grund mehr seyn, warum die Mathematik sehr bequem waͤre, um damit den Unterricht eines kuͤnf- tigen Gelehrten anzufangen? E 2 Ueber die Pruͤfung Diese Koͤpfe unterscheiden sich gemeiniglich im Umgange noch durch ein ander Merkmal. Sie sind bestaͤndig damit beschaͤftigt, von allen Bege- benheiten die Ursachen anzugeben, dahingegen die andern sich mit der bloßen Wirklichkeit der That- sache und mit der Kenntniß der Umstaͤnde beru- higen. Die ersten haben nicht so bald einen Vor- fall aus der physischen oder sittlichen Welt ge- hoͤrt, so fangen sie schon an ihn zu erklaͤren; die andern suchen an statt der Erklaͤrung lieber meh- rere Nachrichten, oder wenn ihnen die, welche sie haben, hinreichen, so suchen sie lieber wieder eine neue Begebenheit, als die Ursache der alten auf. Die ersten wissen mit einer bloßen Thatsache nichts anzufangen, wenn sie sie nicht gleich auf ihre Moͤglichkeit zuruͤckfuͤhren, sie mit ihren Grund- saͤtzen in Verbindung bringen, und daraus entwe- der ihre alten Begriffe bestaͤtigen, oder neue abzie- hen koͤnnen. Die andern verlangen nichts als ein getreues und vollstaͤndiges Bild von der Sache; das Anschauen desselben lehret sie alsdann auf kuͤnftige Faͤlle eben das, was jenen seine Schluͤsse. der Faͤhigkeiten. Wenn die Klugheit nicht diese Neigung des Philo- sophen alles zu erklaͤren einschraͤnkt, so wird er der Gesellschaft beschwerlich und selbst in den Wis- senschaften unnuͤtz. Man kann zuweilen die Faͤhigkeiten der Seele durch ihre Fehltritte erkennen; oder vielmehr, ge- wisse Faͤhigkeiten sind einer unrechten Anwendung so sehr unterworfen, daß man bey aller Ueberzeu- gung, daß man sie besitzt, doch noch mit einer großen Behutsamkeit von der andern urtheilen muß. Z. E. weil diesen Koͤpfen der schleichende Gang von einer Erfahrung zur andern, um daraus endlich durch vielfaͤltige Beobachtungen und im- mer neue Vergleichungen die abstracten Begriffe zu sammlen, oft zu langsam ist: so ist ihre Me- thode, aus einem einzelnen Falle, oder aus weni- gen, den allgemeinen Begriff herauszuziehn, und nun ohne Anstand aus diesem Begriffe die uͤbrigen Faͤlle zu erklaͤren. Dieses ist es, was die Systemmacher hervor- gebracht hat, die aus einzelnen Beobachtungen gleich Gesetze der Natur machen, und durch eine E 3 Ueber die Pruͤfung einmal zug troffne Hypothese alle Erscheinungen der Welt erklaͤren; die eingeschraͤnkten Kunstrich- ter, die die freye Wahl des ersten Genies in eine Regel fuͤr alle kuͤnftige verwandeln, und dem Ver- gnuͤgen verbieten, aus andern Quellen zu fließen, als aus denen sie es schon gekostet haben; die ein- seitigen Moralisten, die immer die menschliche Na- tur und die ihrige vermischen, und alle Erfahrun- gen unter das Joch der Grundsaͤtze bringen, die gar nicht mit Huͤlfe dieser Erfahrungen waren ge- macht worden. Ein andrer Abweg dieser Koͤpfe ist das Sub- tilisiren. Sobald der Zergliederer Koͤrper theilen will, die entweder zu dicht sind und zu fest zusam- menhaͤngen, um sich trennen zu lassen, oder zu klein, um gefaßt zu werden; so ist seine Kunst ver- geblich. Und wenn der Philosoph Begriffe aufloͤ- sen will, die entweder zu verwickelt und zu indi- viduell sind, um einer andern Erklaͤrung als des Vorzeigens faͤhig zu seyn; oder zu einfach und schon zu weit zergliedert, um noch eine neue Auf- loͤsung zuzulassen; so ist seine Arbeit nicht bloß der Faͤhigkeiten. vergeblich, sondern auch schaͤdlich. Eine solche hat zuerst die Vernunftlehre mit Sophismen, und die ganze Philosophie mit Spitzfuͤndigkeiten ange- fuͤllt, sie hat die Erklaͤrungen eingefuͤhrt, die dunk- ler als die erklaͤrte Sache sind, und den Geist des Weisen durch Beweise geblendet, die in einer an- dern Form der bloße natuͤrliche Verstand wuͤrde fuͤr abgeschmackt erkannt haben. Aber nun noch einmal zu unserm richtig phi- losophirenden Juͤnglinge zuruͤck, der diese Abwege vermeidet. Er wird sich noch durch eine gewisse Methode in seinen Gespraͤchen unterscheiden; alle seine Gedanken werden einander untergeordnet, und die Verhaͤltnisse, in denen seine Ideen fortge- hen, werden immer genauer und wesentlicher seyn. Aber eben deswegen scheinen seine Vorstellungen oft seltsam, widersinnig, oder mit dem Gegen- stande unzusammenhaͤngend, entweder weil er sei- ne Betrachtungen zu weit hinausgefuͤhrt hat, und der Gedanke, den er vorbringt, erst durch viele Mittelglieder mit der gegenwaͤrtigen Sache oder Begebenheit zusammenhaͤngt, die er oft zu sagen E 4 Ueber die Pruͤfung vergißt, und die die andern nicht ergaͤnzen koͤnnen; oder, weil er zu weit zu den Principien zuruͤckgeht, und seine Einbildungskraft erst durch eine Menge von andern vorbereiten muß, deren Absicht man nicht errathen kann. So also zeigt sich diese Faͤhigkeit in dem Um- gange und im gesellschaftlichen Leben. Die hoͤhern Verstandskraͤfte und den Geist der Untersuchung durch die gewoͤhnlichen Aeuße- rungen im gesellschaftlichen Leben kennen zu ler- nen, ist schwer, weil er hier außer seiner ei- gentlichen Sphaͤre ist, und ihn viele Hindernisse entweder zuruͤckhalten oder unbrauchbar ma- chen; aber bey der Erlernung der Wissenschaf- ten zeigt er sich uneingeschraͤnkt und unverdun- kelt. Das erste Merkmal eines verstaͤndigen Lehr- lings ist die Faͤhigkeit und die Neigung zu eignen Betrachtungen. Die Verschiedenheit der mensch- lichen Geister bringt unausbleiblich auch in ihre aͤhnlichsten und uͤbereinstimmendsten Begriffe eine gewisse Verschiedenheit, sobald nur diese Begriffe der Faͤhigkeiten. nicht bloße Wiederholungen eines einzigen sind. Von zwey Menschen, die durchaus einerley uͤber eine gewisse Materie denken, hat gewiß nur Einer oder gar keiner gedacht; es muß ihnen ein frem- des Gepraͤge seyn aufgedruͤckt worden, ihre eigne Gestalt wuͤrde Unaͤhnlichkeiten haben. Ein jun- ger Mensch also, bey dem sich die Faͤhigkeit des Nachdenkens zuerst entwickelt, wird seines Lehrers Untersuchung mehr zur Gelegenheit als zum Mu- ster seiner eignen brauchen. Wenn er mit ihm zusammentrifft, so wird er die nunmehr erlernten Begriffe als die seinigen mit dem vollen Bewußt- seyn des Eigenthums annehmen und bewahren; wenn er von ihm abgeht, so wird er eben so dreist verwerfen, und wenn man ihn belehren will, reich an Zweifeln und Einwuͤrfen seyn. Man sieht so oft, daß gute junge Koͤpfe streitsuͤchtige Koͤpfe sind. Wenn dieser Widerspruch die Folge von wirklich angestellten Untersuchungen, und nicht die Absicht derselben ist: wenn er bloß von einer freyen und durch kein Ansehen des Lehrers einge- schraͤnkten Beurtheilung herruͤhrt, ohne zuvor E 5 Ueber die Pruͤfung schon beschlossen worden zu seyn, ehe man noch gepruͤft hatte: so ist er eine Uebung fuͤr den Schuͤ- ler und eine Probe seiner Faͤhigkeiten. In diesem Fall giebt es, wie Plato sagt, fuͤr die Irrenden keine andre Strafe, als die, belehrt zu werden. — Aber wenn sich die Eitelkeit darein mischt, und man schon immer geneigt ist, die entgegenstehen- de Meynung anzunehmen, ehe man noch die Gruͤnde dazu gefunden hat; wenn man nun schon anfaͤngt, Irrthuͤmer zu wuͤnschen, um sie aufdecken zu koͤnnen: so kann die Streitsucht den Kopf verderben, den Faͤhigkeiten eine falsche Richtung geben, und das auf Spitzfuͤndigkei- ten und Disputirkuͤnste verwenden, was die Na- tur zur Erforschung der Wahrheit bestimmt hatte. Die Erlernung der Sprachen ist gemeiniglich unser erstes Studium; also wird sie auch die erste Gelegenheit fuͤr den Lehrer seyn, die Koͤpfe seiner Schuͤler zu untersuchen. Ein Theil der Sprache ist willkuͤhrlich, und kann bloß von dem Gedaͤcht- nisse gefaßt werden; der andre ist philosophisch, der Faͤhigkeiten. und beruht auf den Verhaͤltnissen der Begriffe. Von dem bloß nachdenkenden Geiste wird der erste schwer gefaßt; er hat nichts, woran er sich hal- ten kann, und alles Vergoßne ist verloren. Aber der andre wird ihm leicht; er koͤmmt geschwind mit der Abstraction gewisser allgemeinen Regeln der Anordnung und Verbindung der Begriffe zu Stande, die er, ohne es zu wissen, bey der Er- klaͤrung der Stellen zum Grunde legt, die er nicht nach den Bedeutungen aller einzelnen Woͤrter ver- steht; ein lebhaftes Gefuͤhl vom Zusammenhange macht ihm bestaͤndig das Unrichtige oder das Mangelhafte seiner Erklaͤrungen merklich, und hilft ihm oft zum voraus schon dasjenige muth- maßen, was er durch die Auslegung finden soll. Bey einer gewissen Fertigkeit in der Sprache, bey welcher er schon Versuche im Schreiben machen kann, wird es ihm oft an Woͤrtern und Ausdruͤcken fehlen, aber er wird dem Genie der Sprache we- niger Gewalt anthun; er wird viele von solchen Sprachfehlern begehen koͤnnen, die bloß willkuͤhr- liche Regeln der besondern Grammatik uͤbertreten, Ueber die Pruͤfung aber keine solchen, die in allen Sprachen Unge- reimtheiten waͤren. So wie die Sprache, so hat jeder andre Ge- genstand des Wissens und des Thuns eine dop- pelte Seite; eine Seite fuͤr den Fleiß und das Ge- daͤchtniß, eine andre fuͤr das Nachdenken und den Verstand. Man kann nach einem langen Studio der Geschichte von ihr, außer einzelnen merkwuͤrdigen und großen Thatsachen, fast nichts als ihre Philosophie wissen; und man kann hin- gegen in der Mathematik nichts als eine Nach- richt von ihren Saͤtzen lernen. Ob man also gleich in der ersten Erziehung nicht schon der Wissenschaft einen ausschließenden Vorzug geben darf, die man nach der Wahl oder nach den Faͤ- higkeiten des Lehrlings als sein kuͤnftiges Stu- dium ansieht, theils, um nicht dadurch den Kopf zu sehr einzuschraͤnken, wenn man seinen natuͤrli- chen Hang durch eine zu fruͤhzeitige Befriedigung noch verstaͤrkte, theils weil keine Ausuͤbung einer menschlichen Faͤhigkeit ohne einen gewissen Grad von Vollkommenheit in den uͤbrigen, vortreflich der Faͤhigkeiten. oder auch nur brauchbar werden kann: so ist es doch sehr unrecht, daß, wenn man auch mit dem groͤßten Theile junger Leute einerley Wissenschaf- ten treiben darf, man von ihnen einerley fodert, und ihren Fleiß oder ihre Tuͤchtigkeit gerade nach einerley Art des Fortgangs beurtheilt. In der That wird der junge Mensch vom groͤßten Ver- stande in diesem Alter am meisten zuruͤckgesezt; weil man auf das, was er besser als andre in sei- nen Arbeiten leistet, als auf ein Nebenwerk oder etwas Ueberfluͤßiges nicht Acht hat, und hingegen die Art von Vortreflichkeit verlangt, zu der er am unfaͤhigsten ist. Thatsachen und Woͤrter, mit ei- nem Worte alles das, was man durch Sprachen und Geschichte erlernet, muͤssen freylich jedem stu- direnden Juͤnglinge gelehrt werden. Sie berei- chern den Kopf, indem sie ihm zugleich eine man- nichfaltige Art von Gegenstaͤnden darbieten, un- ter denen die Natur leichter und sichrer den rech- ten findet, fuͤr den sie den Menschen bestimmt hat. Aber man muß bey diesem Unterrichte nicht durch- gaͤngig einerley Zweck haben. Wir wollen die Ueber die Pruͤfung Geschichte zum Beyspiele nehmen. Dem einen wird es leicht, sich die ganze Folge und den Zu- sammenhang der Begebenheiten, so wie er durch fruchtbare und unfruchtbare Zeiten von Genealo- gie und Chronologie fortgefuͤhrt wird, einzupraͤ- gen; ohne daß irgend eine Begebenheit heftigen Eindruck genug gemacht haͤtte, um sich mit allen ihren kleinen Umstaͤnden, die allemal bey Bege- benheiten das Interessirende ausmachen, in seiner Einbildungskraft zu erhalten. — Dem Geschichts- lehrer, dem eigentlichen Gelehrten im engsten Verstande des Worts, ist eine solche Erlernung nothwendig. — Ein andrer findet unbeschreib- liche Muͤhe, diese Kette zusammenzusetzen; kaum denkt er sie vollstaͤndig zu haben, so sind schon wieder einige Glieder davon verloren gegangen; Namen ohne Begebenheiten, Zeitpunkte ohne Um- staͤnde, die dieselben merkwuͤrdig gemacht haben, entwischen ihm augenblicklich; und alle Muͤhe, diese Luͤcken wieder auszufuͤllen, ist verloren. Aber dafuͤr bleibt das Bild großer Maͤnner und großer Thaten mit allen seinen kleinen Zuͤgen in seiner der Faͤhigkeiten. Seele unausloͤschlich; er behaͤlt nichts, als wo- fuͤr er sich interessirt, aber dieß behaͤlt er auch ganz und so, daß er alle Augenblicke davon Ge- brauch machen kann. — Große Staatsmaͤnner und große Heerfuͤhrer haben die Geschichte nicht anders gekannt; und kaum hat der sie noͤthig an- ders zu kennen, der nur Beyspiele und Rath- schlaͤge bey ihr sucht. Ein dritter wird vielleicht, nach einem eben so langen und aͤmsigen Studio, immer noch Namen, Personen und Begebenheiten verwechseln; weder das Ganze noch die einzelnen Theile haben sich in seinem Gedaͤchtnisse erhalten, er weiß in der That von den Vorfaͤllen selbst nichts: aber deswegen hat doch diese Wissenschaft ihre Frucht fuͤr ihn gebracht; waͤhrend der Arbeit eine Menge von Uebungen, und nach derselben eine Menge von Reflexionen, Grundsaͤtzen, Er- fahrungen, die er nach und nach ohne deutliches Bewußtseyn aus den Begebenheiten herausgezo- gen hat, und die die Principien seines Denkens geblieben sind, nachdem er sich an keine einzige dieser Begebenheiten mehr erinnern konnte. Viel- Ueber die Pruͤfung leicht giebt es einen vierten, der aus der Geschich- te ungefaͤhr eben so ein wesentliches Stuͤck von ihr zuruͤckbringt, als der rechnende englische Bauer aus der Oper, der die Violinstriche zaͤhlte; und doch wuͤrde sie noch immer einen Einfluß uͤber seine Denkungsart und seinen Kopf behalten. — Dieß also ist des weisen Lehrers Arbeit und sein Verdienst, bey jeder Wissenschaft von ihrem ei- genen und unmittelbaren Endzwecke, der Erler- nung der Sachen, die sie enthaͤlt, noch den mannichfaltigen Gebrauch, der sich davon ma- chen laͤßt, zu unterscheiden, und seiner Schuͤler Faͤhigkeiten aus diesem Gebrauche zu beur- theilen. Der philosophirende Verstand, um uns nicht zu weit von ihm zu verlieren, zeigt sich am deut- lichsten durch die Begriffe, die er selbst hervor- bringt. In nichts unterscheiden sich die guten Koͤpfe von den schlechten so sehr, als in ihren Aufsaͤtzen. Bey dem bloßen Lernen kann groͤßre Aemsigkeit und vielleicht mehr Gedaͤchtniß die lez- tern weiter gebracht haben: aber der Gebrauch, der Faͤhigkeiten. den die erstern auch von ihrer geringern Kenntniß in dem machen, was sie fuͤr sich selbst denken, wird ihnen sehr bald ihren Vorzug wiedergeben. Zuerst ist immer etwas Eignes und Charakteristi- sches, wo die Kraft der Seele selbst schafft, nicht bloß empfangne Ideen zuruͤckgiebt; zweytens aͤußert sich der Geist des Nachdenkens durch eine gewisse Verfolgung einerley Idee, durch eine Aus- einanderwickelung allgemeiner Grundsaͤtze, durch die Geschicklichkeit, viele Begriffe aus einem ge- meinschaftlichen Gliede herzuleiten. Wenn auch in den einzelnen Begriffen noch Dunkelheit, in den Saͤtzen Irrthum, in ihrer Anwendung Spitz- fuͤndigkeit ist; so wird doch das Ganze zusammen- haͤngen, ein Irrthum wird wenigstens durch den andern unterstuͤtzt werden. Die Faͤhigkeit nachzudenken, mit einem Gra- de von Einbildungskraft vermischt, giebt das, was wir nach Verschiedenheit der Gegenstaͤnde Witz oder Scharfsinn nennen. Es ist bekannt, daß man zu dem Gebiete des ersten die Aehnlichkeiten, und zum Gebiete des andern die Unterschiede der F Ueber die Pruͤfung Dinge bestimmt. Aber darauf hat man nicht im- mer Acht gegeben, daß diese Verbindungen oder diese Trennungen bald durch die Einbildungskraft und bald durch den Verstand geschehen koͤnnen; daß es einen sinnlichen und einen vernuͤnftigen Witz gebe. Das, was man den Witz im engern Ver- stande nennen koͤnnte, und was in der Welt un- ter diesem Namen gemeiniglich bekannt ist, besteht in einer gewissen Erfindsamkeit, verborgne und doch einleuchtende Verbindungen unter Begriffen zu entdecken, die von einander sehr entfernt schei- nen. Man hat die Productionen desselben Ein- faͤlle genannt, um dadurch die Art von Verglei- chungen auszuschließen, die durch Untersuchung und Nachdenken gefunden werden, und den Cha- rakter der Schnelligkeit anzuzeigen, der diesen Werken des Witzes wesentlich ist, und ihr vor- nehmstes Verdienst ausmacht. Es ist begreiflich, daß diese außerordentlichen Verbindungen unter sehr fremdscheinenden Ideen schlechterdings eine gewisse Mannichfaltigkeit und einen unordentli- der Faͤhigkeiten. chen Reichthum von Objekten verlangen, unter welchen sich von Zeit zu Zeit einige zusammen fin- den muͤssen, die einer solchen Verbindung faͤhig sind. Um deswillen ist die Gesellschaft und ein vermischtes abwechselndes Gespraͤch der eigentliche Ort und die Werkstaͤtte des Witzes. Wo eine fortgehende Reihe von Begriffen die Absicht ist, da sind die Ideen alle von einerley Art, ihre Ueber- einstimmung wird schon vorhergesehen, und darf nur von dem Verstande bestimmt und abgewogen werden. Ein witziger Kopf befindet sich also oft weit besser unter einer Gesellschaft leerer Schwaͤtzer, die niemals auf einer Sache beharren, und deren durch einander gehende verworrene Begriffe desto seltsamere Verbindungen erlauben, (noch das Ver- gnuͤgen der Eitelkeit hinzugerechnet, das Leben und die einzige Seele der Gesellschaft zu seyn,) als bey einer Zusammenkunft verstaͤndiger Maͤnner, deren Gedanken gleichfoͤrmiger und regelmaͤßiger fortgehen. Man sieht leicht, daß diese Art von Witz sich mit dem, was wir den praktischen Verstand ge- F 2 Ueber die Pruͤfung nannt haben, besser als mit dem theoretischen vertraͤgt. Die Einbildungskraft muß viele Be- gebenheiten und Bilder im Vorrath haben, und sie muß durch jeden Anlaß, durch die kleinste Ver- wandtschaft der gegenwaͤrtigen Dinge an dieselbe erinnert werden, wenn die Vernunft sie eben so geschwind soll vergleichen koͤnnen. Ueberdieß lie- gen diese Aehnlichkeiten, die der Witz aufsucht, nicht in dem Wesentlichen und Innern der Sa- chen, nicht, so zu sagen, in ihrer Struktur, son- dern nur in der aͤußern Gestalt, in ihren zufaͤlli- gen und abwechselnden Merkmalen. Aber diese leztern koͤnnen, ihrer Menge und ihrer Kleinheit wegen, nicht durch deutliche Begriffe erkannt wer- den; und wer durch diese am meisten denkt, uͤber- sieht sie, oder stellt sie sich falsch vor. Endlich ist der Schein des Ohngefaͤhrs, der dem wirklich witzigen Einfalle nothwendig ist, niemals zu er- halten, wenn die Ideen zu sehr in einander ge- gruͤndet sind, und man augenscheinlich die Folge einsieht, in der man auf sie hat kommen koͤnnen. Der zu genaue und innere Zusammenhang also, der Faͤhigkeiten. der zwischen den Ideen in einem bloß philosophi- renden Kopfe seyn muß, wenn eine die andre soll erwecken koͤnnen, macht ihm leichte und zufaͤllige Verknuͤpfungen unmoͤglich; seine Einfaͤlle haben immer das Ansehen des Studirten und Ausge- dachten. In der Gesellschaft sind die Erfah- rungen leicht zu machen, die dieses bestaͤtigen. Wenn eine gewisse Materie zum Gespraͤche aufge- worfen wird, so sind gemeiniglich, (wenn uͤber- haupt die Gesellschaft nicht aus Dummkoͤpfen be- steht,) zwo Parteyen in der Art, wie sie mit dem Gegenstande umgehen. Die einen wollen die Sa- chen als eine wirkliche Materie des Gespraͤchs, die andern nur als eine Gelegenheit dazu brauchen. Jene wissen von den Dingen nichts zu sagen, als in so fern sie sie selbst untersuchen koͤnnen; diese finden an den Beziehungen derselben Stoff zum Reden genug, entweder durch die Erinnerungen, die sie in ihnen erwecken, oder durch die Anwen- dungen, die sie davon machen koͤnnen. Beson- ders ist die Gabe gut zu erzaͤhlen das Eigenthum des witzigen Kopfs. Die Theile einer Begeben- F 3 Ueber die Pruͤfung heit so zu ordnen, daß diejenigen neben einander kommen, deren Aehnlichkeit oder deren Kontrast den Eindruck machen soll; sie durch den Ausdruck in das gehoͤrige Licht zu stellen, und ihr ein laͤ- cherliches, oder wenigstens ein außerordentliches Ansehen zu geben: alles das hindert der bloße reine Verstand durch die Langsamkeit, mit der er verfaͤhrt. Zum Untersuchen sind diese Sachen zu klein und zu mannichfaltig; ein gewisses Ge- fuͤhl muß sie uns finden lehren, und dieses Ge- fuͤhl giebt der Witz. Aber eben deswegen ist es dem witzigen Kopfe so natuͤrlich, Geschichte zu er- dichten, oder die wahren zu verunstalten. Da die seltsamen Verbindungen unter Vorfaͤllen im- mer angenehmer sind, als die unter Ideen: so erzaͤhlt er noch lieber, als er Einfaͤlle sagt. Und weil nun in der wirklichen Welt, besonders in dem engen Zirkel der Erfahrungen eines einzigen Menschen, solche Verbindungen weit seltner vor- kommen, als sie der witzige Kopf braucht: so muß er oft die Armuth der Natur in diesem Stuͤcke er- setzen, oder wenigstens dem Alltaͤglichen der Bege- der Faͤhigkeiten. benheiten durch einen Zusatz von seiner eigenen Schoͤpfung aufhelfen. Auf keine Faͤhigkeit thun sich Aeltern bey ih- ren Kindern mehr zu gute, und bey keiner koͤnnen sie leichter hintergangen werden, als bey dem Witze. So wie der wirkliche Witz seinen Erfin- dungen den Schein des bloßen Zufalls und eines nicht vorhergesehenen, nicht zur Absicht gehabten Laͤcherlichen geben muß: so kann hinwiederum der Zufall in der That oft eben das hervorbrin- gen, was sonst nur das Werk des Witzes ist. In einem Kopfe, wo schon die Ideen nach gewissen Absichten und nach gewissen Regeln geordnet wer- den, ist dieses nicht moͤglich, oder wenigstens sel- ten. Aber wo noch die Seele alle Begriffe, die ihr vorkommen, ohne den geringsten Grund ihrer Aehnlichkeit oder ihrer Verbindung dabey noͤthig zu haben, zusammensezt; da muͤssen nothwendig unter der Menge ganz ungereimter und nichtsbe- deutender Verknuͤpfungen einige vorkommen, in die sich ein laͤcherlicher oder ein verstaͤndiger Sinn hineinlegen laͤßt. Ein Zweig des Witzes ist die F 4 Ueber die Pruͤfung Naivetaͤt. Sie besteht darinnen, wenn unter dem Scheine der Einfalt und der Unwissenheit eine große oder doch eine auffallende Wahrheit gesagt wird; wenn der Ausdruck ungereimt oder einfaͤl- tig, und der Sinn groß ist. Wenn man nun bey Kindern solche Ausdruͤcke noch dazu mit der ein- nehmenden Miene der Unschuld und der Freund- lichkeit vorbringen hoͤrt, so glaubt man, sie sind naiv, ob sie gleich bey ihnen oft wirklich Einfalt sind. Man bemerkt naͤmlich nicht, daß der Ge- danke, den man sonst vielleicht mit diesem oder einem aͤhnlichen Ausdrucke zu verbinden gewohnt ist, bey dem Kinde wirklich fehlt; der, den es hat- te, war vielleicht so nichtsbedeutend oder so wi- dersinnig, als der Ausdruck. Daher scheinen so oft diese artigen Einfaͤlle, die im dritten Jahre be- wundert wurden, Ungereimtheiten im achten. Das Kind sagt izt nichts schlechters, als zuvor; aber man wird nur mehr gewahr, daß der Ge- danke, den man vorausgesezt hatte, nicht vorhan- den sey; der angenommene Kontrast zwischen Be- der Faͤhigkeiten. zeichnung und Idee faͤllt weg, das Naive wird toͤlpisch. Wenn es aber auch noch leicht waͤre, den wahren Witz zu erkennen, so ist es doch gewiß schwer, die uͤbrigen Faͤhigkeiten des Kopfes nach demselben zu beurtheilen. Natuͤrlicherweise aͤus- sert sich der Witz am ersten, weil auch unter einem kleinen Vorrathe von Ideen schon genug Zusam- mensetzungen moͤglich sind, und dieß eben das Werk und das Verdienst des Witzes ist, das Ver- borgne zu finden: aber er ist deswegen nicht im- mer die Ankuͤndigung eines großen Geistes. Mit dem philosophischen Geiste vertraͤgt er sich selten; eine sehr feurige Einbildungskraft verzehrt ihn so zu sagen, und er findet nur bey einer gewissen Mit- telmaͤßigkeit dieser beiden Hauptfaͤhigkeiten statt. Alles, was er sucht, liegt nur auf der Oberflaͤche, und bedarf weder ein tiefes Nachdenken, noch eine sehr starke Empfindung. Er ist sogar, wenn er zu fruͤhzeitig ausgebil- det wird, der Uebung der andern Faͤhigkeiten schaͤdlich. Da er die Seele gewoͤhnt, immer von F 5 Ueber die Pruͤfung dem Wesentlichen der Sachen abzugehen, und auf ihre Zufaͤlligkeiten und ihre aͤußern Verhaͤltnisse zu sehen, so verhindert er die Untersuchung; und indem er die Aufmerksamkeit der Seele bey jedem Gegenstande theilt, und sie von der bloßen Be- trachtung gleich auf Anwendungen desselben ab- zieht, so laͤßt er keinen starken und bleibenden Eindruck zu. Der Witz ist der Diener und der Gehuͤlfe der Eitelkeit. So wie er das Licht ist, welches die Talente den Augen des großen Hau- fens sichtbar macht, so erhoͤhet er sie zugleich in den Augen des Menschen selbst. Die Geschicklich- keit, sich mit Vortheile zu zeigen, erweckt die Be- gierde, es oft zu thun: und so wird die Bemuͤ- hung, neue Vorzuͤge zu erwerben, durch die Be- muͤhung, seine alten sehen zu lassen, gestoͤrt. Man sollte sich aber um desto weniger um diese Faͤhigkeit Muͤhe geben, weil sie unter allen uͤbrigen die wenigste Cultur zulaͤßt oder erfodert. Sie entwickelt sich von selbst, und man kann nichts anders zu ihrer Ausbildung thun, als sie regieren und im Zaume halten. Der Witz ist vor- der Faͤhigkeiten. treflich, wenn er in eine Seele, die schon mit Ideen und Bildern angefuͤllt ist, als die lezte Verschoͤnerung hinzukoͤmmt. Der Reichthum wird alsdann zugleich zur Pracht, und die Ge- stalten, in welche die Seele ihre Begriffe kleidet, werden eben so schoͤn, als die Begriffe selbst ge- sund und vollkommen sind. Sollen aber diese Ideen und Bilder erst gesammlet werden, dann ist seine Geschaͤftigkeit schaͤdlich und hin- derlich. Aber diese ganze Gattung von Witz ist nicht die einzige. Es giebt einen andern so zu sagen reflektirenden Witz, der mit der zwoten Art von Imagination, von der wir oben geredet haben, in Verbindung steht; ein Witz, der nicht unter einzelnen Dingen, sondern unter allgemeinen Ideen, und nicht aͤußere Verhaͤltnisse, sondern in- nere Uebereinstimmungen, aber auf eine solche Art sucht, daß man die Operation des Verstandes und die Folge der Begriffe, durch welche diese Ue- bereinstimmungen sind gefunden worden, nicht ge- wahr wird. Naͤmlich ein bloß gesunder natuͤrli- Ueber die Pruͤfung cher Verstand, ohne diesen Witz, haͤlt keine an- dern Ideen gegen einander, als wo sich schon aus dem, was er von ihnen weiß, ihre Uebereinstim- mung vorhersehen laͤßt, und wo es also bloß dar- auf ankoͤmmt, dieselbe auf etwas Bestimmtes und Deutliches zu bringen. Auf diese Art verfaͤhrt die kluge Vorsichtigkeit in den gewoͤhnlichen Ge- schaͤften des gemeinen Lebens, und die bescheidene Lehrbegierde in der Erlernung der Wissenschaften. Diese Eigenschaften sichern den Menschen vor Ver- wegenheit und Irrthum; aber sie machen ihn auch zu großen Unternehmungen und zu neuen Entdeckungen untuͤchtig. Wenn aber mit dem Verstande sich der Witz vermaͤhlt, so wird der erste beherzter und unternehmender. Er bekoͤmmt einen gewissen geheimen Zug, die unaͤhnlichsten Begriffe mit einander zu vergleichen, und die entferntesten zusammenzubringen; das Feld seiner Geschaͤftigkeit wird groͤßer, die Vergleichung ge- schieht schneller; die Verbindungen, die er macht, werden mannichfaltiger und neuer. der Faͤhigkeiten. Es giebt ferner in der Philosophie, im Erklaͤ- ren und im Beweisen eben so wohl einen gewissen Geschmack, als in den Kuͤnsten und in den Wer- ken des schoͤnen Geistes; ein dunkles Gefuͤhl von der Staͤrke oder der Schwaͤche der Gruͤnde selbst, ehe man sie noch genau gepruͤft hat; ein vorlaͤu- figes Urtheil von der Wahrheit oder der Brauch- barkeit seiner Ideen vor der Untersuchung. Die- ser Geschmack nun wird von dem Witze, von dem wir reden, und den die Lateiner Sagacitaͤt nen- nen, hervorgebracht. Er weiset dem Nachdenken die Punkte an, auf die es sich zu richten hat. Bey der Erlernung der Wissenschaften bringt er eine schnelle Begreifung und eine richtige Anwen- dung der vorgetragnen Wahrheiten hervor; bey einem hoͤhern Fortgange aͤußert er sich durch eine gewisse Erfindsamkeit, die Seite des Dinges zuerst zu finden, von der sie sich am besten angreifen laͤßt, und den Begriff von ihm zu fassen, der am leichtesten und am fruchtbarsten bearbeitet werden kann. So zeigt er sich z. B. in der Mathematik durch die Wahl der Beweise, durch die Abkuͤrzung Ueber die Pruͤfung des Weges, und durch eine gewisse feinere Ver- wickelung und eine unvermuthete Aufloͤsung der Aufgaben. Mit dem Witze gehoͤrt der Scharfsinn zu ei- ner Klasse. Der Scharfsinn scheint mehr auf der Partey des philosophischen Verstandes zu seyn, so wie der Witz auf der Seite des dichterischen. Denn eben das Unterscheiden und Absondern, mit dem der Scharfsinn zu thun hat, bringt die Ab- straktion hervor, oder ist eine Folge derselben. Um deswillen ist die Subtilitaͤt, die eine Wirkung die- ser Ursache ist, so oft fuͤr die Eigenschaft der Phi- losophen angesehen worden. — In der That aber giebt es auch einen Scharfsinn, der sich mit dem Witz vermischt, und unter seinem Namen ver- birgt. Die Begriffe von Aehnlichkeit und Unter- schied sind immer gegenseitig, und wo Ueberein- stimmungen bemerkt werden, da muß man die Verschiedenheiten zugleich mit empfinden, die von jenen abstechen. Die andere Gattung von Scharfsinn aͤußert sich nur bey der Erlernung der Wissenschaften. der Faͤhigkeiten. Man hat aber nicht so wohl ihn kennen zu lernen, als die Fehler, zu denen er verleiten kann. Die falsche Anwendung von Scharfsinn ist Spitzfin- digkeit, und besteht in der Entdeckung nichtswuͤr- diger oder falscher Unterschiede. Das fruͤhzeitigste und beynahe das sicherste Zeichen des Scharfsinns ist ein richtiger Gebrauch der Sprache. Jede Sprache hat eine Menge Woͤrter und Ausdruͤcke, die im Hauptbegriffe uͤbereinkommen, aber sich doch durch so bestimmte und ausgemachte Nebenbegriffe unterscheiden, daß es wenig Faͤlle giebt, wo der Gebrauch der- selben ganz gleichguͤltig waͤre. Diesen Unterschied genau zu bemerken, und aus der Natur und der Verbindung der uͤbrigen Begriffe zu beurtheilen, welcher von diesen Unterschieden hier nothwendig oder wenigstens schicklich sey, das kann nur der Scharfsinn; und eben dieses ist es, was die Ge- nauigkeit im Ausdrucke ausmacht. Leute, die selbst den Werth jedes Worts und den Gedanken jeder Rede genau wissen, werden leicht an jungen Leuten diese Verschiedenheit bemerken. Einige sa- Ueber die Pruͤfung gen alles nur halb; sie sind zufrieden, wenn man nur ungefaͤhr gewahr wird, was sie sich denken; sie nehmen immer das gewoͤhnlichste Wort zuerst, und kennen keine andre Wahl des Ausdrucks, als die Nachahmung, weil sie keine Unterschiede ken- nen, nach denen sie ihre Wahl bestimmen sollten. Bey andern hingegen sieht man wenigstens die Bemuͤhung, fuͤr ihre jedesmaligen Ideen einen ihnen eignen Ausdruck zu finden; man bemerkt, daß sie auf den Zusammenhang des ganzen Ge- dankens Achtung gegeben, und in den Worten mehr als den ganz groben Begriff, der in allen andern Synonymen eben so gut war, gesucht ha- ben. In der That, weil diese Richtigkeit des Aus- drucks der Grund und beynahe das wesentlichste Stuͤck der Schoͤnheit des Stils ist, so sollte bey den Ausarbeitungen, die man junge Leute machen laͤßt, auf keine Eigenschaft so sehr gesehen wer- den. Ein richtiger Gebrauch der Sprache bringt in unsere Vorstellungen eine groͤßere Mannichfal- tigkeit, indem er uns unter Begriffen, die wir sonst fuͤr einen einzigen gehalten haͤtten, Unter- der Faͤhigkeiten. schiede finden laͤßt, durch die sie zu mehrern wer- den. Er macht die Entwickelung der Ideen leichter, indem er uns bey jedem Begriffe, den wir aufklaͤren wollen, die am naͤchsten damit ver- wandten zeigt, von denen der Begriff durch die Erklaͤrung abgesondert werden muß; er giebt uns endlich mehr Stoff zur Philosophie, indem er mehr Bedeutungen der Worte als so viel sinnlich klare Begriffe uns anweiset, die wir deutlich zu machen, und durch genaue Merkmale zu bestimmen haben. Jetzo sind wir im Stande, uns den Begriff von einem Genie zu machen. — Wir haben gese- hen, daß einige Faͤhigkeiten in gewisser Maaße einander entgegen stehn, und daß man sie deswe- gen ordentlicher Weise nur unter verschiedenen Menschen vertheilt findet. — Aber wenn diesel- ben in einem bestimmten Falle diesen Streit auf- heben; wenn sie in einer gewissen Seele zusam- menkommen, und sich einander das Gegengewicht halten; wenn sie sich endlich alle zusammen auf einen gewissen Gegenstand vereinigen: alsdann G Ueber die Pruͤfung bringen sie ein Genie hervor. — Ueberhaupt heißt Genie entweder alles, was in unsern Faͤhigkeiten von der Natur herruͤhrt, und wird dem Erlern- ten oder der Gelehrsamkeit entgegengesezt; oder es zeigt eine hoͤhere Klasse von Geist an, und in diesem Verstande nehmen wir es jezt. — Es giebt also so viel Genies, als es Gegenstaͤnde fuͤr besondere Faͤhigkeiten giebt. Wir wollen zum Beyspiel das dichterische Genie nehmen. Es ist klar, daß seine herrschende Eigenschaft die Ein- bildungskraft seyn muß, die von richtigen, star- ken und feinen Empfindungen geleitet, von einer einsichtvollen, aber praktischen Vernunft ausge- bildet, und durch den Witz ausgeschmuͤckt wird. Aber wenn die nachdenkende oder die philosophi- rende Vernunft dieser nicht zur Seite gienge, so wuͤrden sich diese Bilder und diese Begriffe nicht ausdruͤcken lassen; denn alle Worte sind Zeichen fuͤr abgezogne Begriffe. Diese Uebereinstimmung und Vereinigung also von Empfindungskraft und Vernunft, wovon die eine die Bilder, die nachgemacht werden sollen, vorstellt; die andre der Faͤhigkeiten. sie ordnet und die Farben herbeyschafft, mit de- nen sie entworfen werden: dieses macht das Ei- genthuͤmliche und das Seltne von diesem Genie. Faͤhigkeiten, die sich in gewissem Grade aufheben, muͤssen sich bey ihm vereinigeu; die Erinnerungs- kraft, die die Ideen durch ihre Folge und Verbin- dung aufweckt, muß mit dem Gedaͤchtnisse, das ganze Reihen von Begebenheiten wieder darstellen kann, verbunden seyn; die Empfindungen muͤs- sen so ungestoͤrt bleiben, als wenn die Seele sich bloß mit dem Gegenstande selbst beschaͤftigte, und doch muß die Seele zugleich einen gehei- men Blick auf sich selbst thun, um diese Empfin- dungen gewahr zu werden, und sie in den ge- hoͤrigen Schranken zu halten. Empfinden und Denken zugleich, das ist die große Kunst des Dich- ters. Ich will nur noch einige allgemeine Merk- male, woran sich gute Koͤpfe uͤberhaupt erkennen lassen, hinzusetzen: Erstlich. Die Eitelkeit hat bey ihnen we- niger Einfluß, und die Erwartung des Lobes ist G 2 Ueber die Pruͤfung bey ihnen ein schwacher oder uͤberfluͤßiger Bewe- gungsgrund, weil die Sache selbst schon fuͤr sich sie beschaͤftigt und einnimmt. Ein guter Schrift- steller und ein wirklicher Gelehrter wird schon durch das Vergnuͤgen, das er genießt, indem er schreibt oder lehret, hinlaͤnglich belohnt, ohne erst die Hoffnung zu Huͤlfe zu nehmen, daß es andre wissen werden. Wer also nicht mit einer gewissen Leidenschaft an seine Arbeit geht; nicht aus Vergnuͤgen uͤber seine eigne Beschaͤftigung bey derselben aushaͤlt, ohne alles Interesse des Eigennutzes oder des Ehrgeizes; wer bey seiner Wissenschaft oder bey seinem Werke einen andern Bewegungsgrund, als das Angenehme des Ge- genstandes selbst, und das Vergnuͤgen seine Kraft auszuuͤben bedarf, der ist ohne Genie. Zweytens. Gute Koͤpfe, die, wenn sie fuͤr sich ohne Aufforderung und ohne Anstrengung uͤber eine Materie denken, voller Einsichten sind, werden vielleicht an den Zeiten und Orten, wo sie sich am meisten zeigen wollen, und wo es eigent- lich darauf ankoͤmmt, eine Probe ihrer Faͤhigkeit- der Faͤhigkeiten. ten zu geben, weniger leisten als andre. Dieses ist eine nothwendige Erinnerung fuͤr Lehrer, die oft sehr unrichtig die Faͤhigkeiten ihrer Schuͤler aus den oͤffentlichen Pruͤfungen beurtheilen. — Die Ursache davon ist zum Theil physisch. Zum Denken wird eine gewisse Bewegung des Bluts und der Lebensgeister erfodert. Die, bey wel- chen sonst diese Bewegungen langsam und schlaͤf- rig sind, werden bey einer außerordentlichen Ge- legenheit, wo dieselben durch die Leidenschaft des Ehrgeizes, der Furcht, der Hoffnung beschleunigt und verstaͤrkt werden, besser und richtiger denken. Dahingegen die andern, bey welchen der gehoͤrige Grad von Bewegung ordentlicher Weise vorhan- den ist, wenn die Bewegung durch eben diese Lei- denschaft noch mehr beschleunigt wird, eben da- durch unfaͤhiger werden. — Zum Theil ist die Ursache sittlich. Jede Leidenschaft entzieht dem Gegenstande einen Theil von der Aufmerksamkeit und von der Kraft der Seele, und nimmt sie fuͤr sich weg. Je staͤrker man also die Leidenschaften erregt, um desto mehr schwaͤcht man eine jede an- G 3 Ueber die Pruͤfung dre Anwendung der Seelenkraͤfte; und zwar ge- rade da am meisten, wo diese am groͤßten, und also zugleich die Leidenschaften am staͤrksten sind: dahingegen bey andern, wo Triebfedern fehlen, wo die Wirksamkeit der Seele an und fuͤr sich klein ist, eben diese Leidenschaften nuͤtzlich seyn koͤnnen. Drittens. Gute Koͤpfe haben selten eine ge- wisse Art von so anhaltendem, und, wenn ich so sagen darf, sklavischem Fleiße. Sie unterrichten noch weit lieber sich selbst, als sie sich unterrich- ten lassen, und ihre Seele beschaͤftigt sich lieber damit, selbst Begriffe hervorzubringen, als sie bloß einzusammeln. — So richtig diese Bemer- kung ist, so wuͤrde sie verfuͤhren koͤnnen, wenn man sie nicht gehoͤrig einschraͤnkte. Zuerst also steht der Grundsatz fest: Ohne fortgesezte und vielfaͤltige Uebung, und ohne eine Erlangung von mannichfaltigen Kenntnissen, kann keine einzige Faͤhigkeit des menschlichen Geistes, und wenn sie auch von der eigentlichen Gelehrsamkeit noch so entfernt waͤre, zur Vollkommenheit gelangen. der Faͤhigkeiten. Aber diese Uebungen koͤnnen entweder von uns selbst gewaͤhlt, oder von andern vorgeschrieben seyn; diese Kenntnisse koͤnnen uns entweder von andern beygebracht, oder von uns selbst aufge- sucht werden. Mittelmaͤßige Koͤpfe haͤngen in beiden schlechterdings von ihren Lehrern ab; sie sind niemals begierig, mehr von der Sache zu wissen, als ihnen von derselben ist gesagt worden, und niemals koͤmmt ihnen die Lust zu andern Ar- beiten an, als die ihnen aufgegeben sind. Ihre ganze Bemuͤhung also besteht bloß im Fassen und im Wiederholen, und diese beschaͤftigt sie genug, um zu nichts anderm weder Zeit noch Neigung zu haben. Gute Koͤpfe hingegen finden in dem Un- terrichte ihrer Lehrer nur einen Stoff, den sie selbst erst bearbeiten, sie suchen sich die Quellen der Kenntnisse, die sie brauchen, selbst; und ob sie gleich diejenigen nicht vernachlaͤßigen, die ihnen angeboten werden, so sind sie doch nicht so aͤngst- lich begierig darnach, als die andern, die darin das einzige Mittel ihrer Aufklaͤrung finden. — Dieß ist die eine Ursache dieser Erscheinung. Die G 4 Ueber die Pruͤfung andre ist, daß mit einer groͤßern Faͤhigkeit auch nothwendig eine groͤßere Leichtigkeit im Arbeiten verbunden ist. Bey einer gleichen Anzahl von Beschaͤftigungen werden also natuͤrlicherweise die ersten doch mehr Zeit unbeschaͤftigt seyn, als die andern. — Lehrer von Einsicht werden dieses Merkmal nutzen, und den Fleiß, der eine behende und zugleich anhaltende Wirksamkeit ist, (das ei- gene Gepraͤge des Genies,) von der bloßen Ar- beitsamkeit, die in einer aͤmsigen und unermuͤde- ten Wiederholung einerley vorgeschriebner, und vielleicht immer fruchtloser, Bemuͤhungen besteht, unterscheiden. Nur Lehrer von eingeschraͤnkten Einsichten, die noch dabey Eitelkeit haben, werden die Faͤhigkeit ihrer Schuͤler nach der Zeit abmessen, die sie in ihren Hoͤrsaͤlen zugebracht haben, und den bestaͤndigen Zuhoͤrer auch fuͤr den geschickte- sten halten. Es ist also nur noch die zwote Frage uͤbrig, zu welcher Art von Geschaͤften oder Wissenschaften jede Faͤhigkeit gehoͤrt. Ueberhaupt ist schon aus der Erklaͤrung dieser Faͤhigkeiten selbst klar, daß der Faͤhigkeiten. der bloß philosophirende Verstand fuͤr die Theorie, der andre fuͤr die Ausuͤbung ist; der eine Gelehr- te, der andre Leute von Geschaͤften oder Kuͤnstler macht. Huart hat diesen Theil unsrer Materie schon sehr gut abgehandelt, und wir brauchen also nichts als einige Anmerkungen zu machen, die sich hauptsaͤchlich auf die Wissenschaften einschraͤn- ken sollen. Unter der Klasse von Menschen, die man Ge- lehrte nennt, sind einige bloß dazu bestimmt, die schon bekannten Wahrheiten fortzupflanzen, und die Wissenschaft zu lehren; andere, sie zu erwei- tern: die dritten, sie auf das menschliche Leben und den wirklichen Nutzen der Gesellschaft anzu- wenden. Man wuͤrde sehr unrecht thun, wenn man lauter Genies fuͤr die Wissenschaften foderte, da es doch eine Menge von Aemtern und Verrichtungen giebt, die einen Gelehrten fodern, und die ohne Genies besser bestellt werden. Gesunder Verstand, ( bon sens ) das heißt, eine nicht sehr tiefsinnige, aber doch richtige Vernunft, die sich an den ge- woͤhnlichen Gegenstaͤnden der menschlichen Kennt- G 5 Ueber die Pruͤfung nisse geuͤbt hat; eine Gabe, die Gedanken andrer zu fassen, und in den Sinn dessen, was man liest oder hoͤrt, einzudringen; ein Gedaͤchtniß, wel- ches, wenigstens bey einer hinlaͤnglichen Wieder- holung, die alten Gedanken erneuert, und uns in den Stand sezt, immer das wieder von neuem zu lernen, was wir von Zeit zu Zeit vergessen: das ist fuͤr diese Aemter und fuͤr die Klasse von Gelehr- ten, die sie besorgen, und also ohne Zweifel fuͤr den groͤßten Theil, hinlaͤnglich. Wenn zu diesen Faͤhigkeiten des Verstandes noch gewisse Eigen- schaften des Charakters hinzukommen; erstlich die Beharrlichkeit, welche Schwierigkeiten uͤber- windet, und auch einen langsamen Fortgang un- unterbrochen verfolgt; zweytens eine Sorgfalt, keine Begriffe eher fuͤr erlernt anzusehen, bis sie sie andern wieder beybringen koͤnnen: so koͤnnen recht gute Lehrer auf Akademien und Schulen dar- aus werden, sie koͤnnen gute Koͤpfe zubereiten, und mittelmaͤßigen ihre Bildung geben. Man wuͤrde also durch die Strenge, die alle mittel- maͤßigen Koͤpfe von der Gelehrsamkeit ausschließt, der Faͤhigkeiten. dem Staate mehr schaden als nuͤtzen. Geister von hoͤhern Gaben lassen sich entweder schwerlich zu diesen Diensten brauchen, oder verrichten sie in der That schlechter, weil sie sie unwillig oder zerstreut thun, und sie nur als Nebendinge anse- hen, von denen sie je eher je lieber wieder loszu- kommen suchen. Ein geschickter Lehrer wird ei- nen jungen Menschen, der in diese Klasse von brauchbaren Gelehrten kommen kann, bald erken- nen. Seine Gedanken werden niemals etwas Eigenes und Hervorstechendes haben, aber sie werden auch niemals abgeschmackt seyn; er wird oft andern nachahmen, aber er wird es doch auf eine schickliche Art zu thun wissen; er wird fleißig, bedachtsam und uͤberlegt seyn, und vor allen Dingen bey dem Mittelmaͤßigen, was er macht, sich einer gewissen hoͤhern Vollkommenheit bewußt seyn, die er nicht erreichen kann. In der That kann eine sehr mittelmaͤßige Arbeit, ein schlechtes Gedicht, von einem ganz guten Kopfe herruͤhren: aber wenn er es selbst fuͤr vortreflich haͤlt, wenn er den Unterschied gegen andre nicht fuͤhlt, dann Ueber die Pruͤfung ist er verloren. Ein solcher muß die Wissenschaf- ten verlassen. Die andere Klasse von Gelehrten , welche die Wissenschaften erweitern sollen, erfodert wirklich das, was man Genie nennt, das heißt, irgend eine Faͤhigkeit in einem vorzuͤglichen Grade und die uͤbrigen in einer gehoͤrigen Unterordnung, sie zu unterstuͤtzen. Wir haben hier das meiste schon gethan, da wir die Merkmale dieser Faͤhigkeiten angegeben haben. Die Wissenschaften selbst braucht man hier nicht erst auszuzeichnen; zuerst, weil solche Koͤpfe fuͤr sich selbst die Gegenstaͤnde finden, die fuͤr sie gemacht sind; zweytens, weil fast jede Wissenschaft so viel verschiedene Seiten hat, daß man eben so viel verschiedene Koͤpfe braucht, um sie anzubauen. Nur bey der Wahl der Wissenschaften ist noch dieß zu merken. Man suche den jungen Leuren einen wirklichen Begriff von denselben beyzubrin- gen, so daß sie im Ganzen, (und so weit es, ohne sie erlernt zu haben, moͤglich ist,) ungefaͤhr vor- aussehen koͤnnen, was sie darinne zu erwarten der Faͤhigkeiten. haben, und stelle mit ihnen kleine Proben uͤber die Sachen einer jeden Wissenschaft an. Man kennt aus dem Xenophon die Schule der Gerechtigkeit der Perser, in welcher der Lehrer nicht bloß die Gesetze des Rechts vortrug, sondern seine Schuͤ- ler auch nach denselben uͤber Streitigkeiten den Ausspruch thun ließ. Waͤre es nicht moͤglich, daß man auf diese Art junge Leute uͤber jede Gat- tung etwas versuchen ließe, und dann auf dieje- nige, in welcher sie das Beste lieferten, ihre Nei- gungen zu leiten suchte? Man bemuͤhe sich ferner, so viel moͤglich den Eindruck zu zerstoͤren, den auf die ersten Jahre die aͤußern Blendwerke eines je- den Standes gemacht haben, und lege dem jun- gen Menschen, wenn man kann, ein getreues Ge- maͤlde von dem menschlichen Leben und den ver- schiedenen Staͤnden desselben vor. Nichts ist hierbey so wichtig, als ihn zu uͤberzeugen, daß die Gluͤckseligkeit und das Elend beynahe allent- halben gleich, und fast nirgends von dem Stan- de, sondern durchaus von der Person abhaͤngig sey. Ueber die Pruͤfung Die Pruͤfung der Geschicklichkeiten muß we- niger durch oͤffentliche Examina und feyerliche Un- tersuchungen, als durch die bestaͤndige Aufmerk- samkeit auf die gewoͤhnlichen Arbeiten, geschehen. Ueberdieß sollten die ersten Probestuͤcke nicht sowohl ganz neue Ausarbeitungen seyn, die gemeiniglich elend und leer sind, und nur den Stolz der jun- gen Leute vermehren, und die Zeit zum Lernen neh- men, sondern freye Wiederholungen des Gelern- ten. Das erste, wodurch sich die Seele im Den- ken uͤbt, ist, die Gedanken anderer mit eignen Ausdruͤcken zu wiederholen, und einige eigne da- mit zu vermischen. Durch nichts also koͤnnte man die Geschicklichkeit besser erforschen, als wenn der Schuͤler (der waͤhrend des Unterrichts nichts oder nur so viel, als zur Erhaltung der Aufmerk- samkeit nothwendig ist, aufzeichnen muͤßte) fuͤr sich selbst alsdann eben diese Materie, als wenn er zu unterrichten haͤtte, schriftlich oder muͤndlich vortruͤge. Man wuͤrde auf diese Art sowohl die Art von Wissenschaft, als den Grad der Faͤhigkeit, der einem jeden zukaͤme, erkennen. der Faͤhigkeiten. Die dritte Klasse, welche die ausuͤbenden Ge- lehrten in sich begreift, erfodert in der That oft weit weniger Gelehrsamkeit, als Klugheit und Witz. Die Merkmale von diesen Faͤhigkeiten sind also auch die Bestimmung fuͤr die Praxis. Man wird diese Sache ziemlich richtig einsehen, wenn man sich nur an das Beyspiel der praktischen Arz- neykunst erinnert. Man weis, wie oft große Kuren von Leuten sind verrichtet worden, deren Wissenschaft sehr mittelmaͤßig war. Man kann daraus wenigstens ohne weitere Untersuchungen die Nothwendigkeit lernen, auf diese Merkmale Achtung zu geben. Es ist nichts gewoͤhnlicher, als Leute von wirklichem Verdienst verachtet zu sehen, bloß weil sie sich nicht in den Plaͤtzen befin- den, wo sie von ihren Gaben Gebrauch machen koͤnnen. Leute von großer Gelehrsamkeit, die auf einer Akademie die Stuͤtze ihrer Wissenschaft wer- den koͤnnten, leben oft ohne Nutzen und ohne Ansehen, weil sie durchaus obrigkeitliche Aemter bekleiden, oder uͤberhaupt Geschaͤften vorstehen wollen. Ueber die Pruͤfung Ich will dieses Ganze nur noch mit der Be- merkung einiger Hindernisse beschließen, die der Pruͤfung der Talente im Wege stehn. 1) Ein jeder Mensch kann groͤßtentheils von den menschlichen Faͤhigkeiten nur nach seinen eige- nen urtheilen; und je eingeschraͤnkter er selbst ist, desto weniger kann er hoͤhere Vollkommenheiten begreifen. Daher koͤmmt es, daß, da das Maaß, welches er annimmt, schon zu klein ist, die Groͤße, welche er mißt, zu groß herauskoͤmmt, und er also immer uͤber seine Faͤhigkeit ein zu guͤnstiges Urtheil spricht. Diese Bemerkung zeigt uns erstlich die Nothwendigkeit, uͤber unser Genie andre urthei- len zu lassen, die selbst Genie haben. Zweytens giebt sie uns ein Merkmal, woran wir unser eige- nes pruͤfen koͤnnen. 2) Jeder Mensch steht in gewissen Verbin- dungen, die seiner Eitelkeit entweder aufhelfen und sie unterstuͤtzen, oder in andern, die seine wirkliche Faͤhigkeit verkleinern und unterdruͤcken. Es ist nur gar zu gewiß, daß unsre eigne Ge- muͤthsart in die Beurtheilung unsrer selbst einen der Faͤhigkeiten. zu großen Einfluß hat. Und so, wie in Absicht auf die Moral, die Schwermuth oder der Leicht- sinn das Maaß unsrer Tugenden und Laster ver- faͤlscht; so werden auch oft Furchtsamkeit und Mistrauen unsre Faͤhigkeiten heruntersetzen, oder Dreistigkeit und Munterkeit sie vergroͤßern. Der Eine sucht selbst nicht so viel in seinem Verstande, als er finden wuͤrde, wenn er nur Zutrauen zu sich haͤtte, und laͤßt daher einen Theil seiner Ga- ben ungebraucht; der Andre sucht in sich so viel, und vielleicht noch etwas mehr, als er hat, und wendet also eine kleinere Kraft mit groͤßerm Nach- druck an. Um also diesem Hindernisse abzuhelfen, ist es eine Regel fuͤr den Lehrer, die Wage auf bei- den Seiten einigermaßen gleich zu machen, entwe- der, indem er dem einen etwas weniger, dem an- dern etwas mehr als Gerechtigkeit wiederfahren laͤßt, oder indem er sie in solche Umstaͤnde und Verbindungen sezt, wo diese ihre Leidenschaften ohne Einfluß sind. Vornehmlich aber muß er sich dadurch warnen lassen, seine Schuͤler nicht nach einzelnen Faͤllen, in denen sie sich entweder sehr H Ueber die Pruͤfung vortheilhaft oder nachtheilig gezeigt haben, son- dern nach dem Ganzen zu beurtheilen. 3) Dieß ist endlich noch ein großes Hinderniß bey dieser ganzen Untersuchung, daß wir eine lange Zeit, von uns selbst und andern, bloß nach der Groͤße unsers Gedaͤchtnisses beurtheilt werden. Wie viel weißt du? ist immer die erste Frage, die man an ein Kind thut. Das heißt mit andern Worten so viel, als: was hast du behalten? und gemeiniglich verlangt man alsdann die Wiederho- lung der Gedanken, die man ihm selbst vorgesagt hat, und zwar auch gerade mit den Ausdruͤcken, in denen sie uns am deutlichsten scheinen. Und doch kann das Kind, welches bey einem solchen Verhoͤr oft verstummt, und sehr fehlerhaft und zer- stuͤckt das wieder erzaͤhlt, was es gehoͤrt hatte, ein weit faͤhigerer Kopf als das andre seyn, das alles auf das genaueste hersagt. Die wahre Untersu- chung des Vermoͤgens zu denken ist, wenn man zwo Personen uͤber eine Materie, uͤber die sie gleich viel Erfahrung und Unterricht haben, ihre eignen Meynungen und Urtheile sagen oder aufschreiben der Faͤhigkeiten. laͤßt. Der gute Kopf wird hier den Mangel des- sen, was er vergessen hat, durch eigne Betrach- tungen ersetzen, der andre wird entweder bloß wiederholen, oder nichts hervorbringen. Daher wird auch in den Gedanken des einen mehr Me- thode und anscheinende Buͤndigkeit seyn, weil sie bloß entlehnt sind, in des andern seinen mehr Un- regelmaͤßiges, aber zugleich mehr Eigenthuͤmliches. Die Natur giebt auch ihren geringsten Werken ge- wisse Vorzuͤge vor den bloßen Werken des Fleißes und der Kunst, die dem Auge des Kenners nicht entgehen. H 2 Verschiedenheiten in den Werken Betrachtung einiger Verschiedenheiten in den Werken der aͤlte- sten und neuern Schriftsteller, be- sonders der Dichter. Aus dem zehnten Bande der Neuen Bibliothek der schoͤnen Wissenschaften und freyen Kuͤnste. D em Geiste der Kinder, sagt Quintilian, wird eine Menge abwechselnder Arbeiten weni- ger schwer, weil sie dieselben mit einem geringern Bewußtseyn und mit weniger freywilligen An- strengung thun; eben so wie ihr Koͤrper sich durch die Bewegung weniger ermuͤdet, weil sie eine klei- nere Last mit minderer Gewalt, und ohne sich selbst zu fuͤhlen, in Bewegung setzen. Ueberdieß, der aͤltesten und neuern Schriftsteller. sezt er hinzu, messen sie niemals in ihren Gedan- ken ab, wie viel sie schon gethan haben; da hin- gegen bey den Erwachsenen die Ermuͤdung bey- nahe oͤfter aus dem Ueberdenken und der Erinne- rung der Arbeit, als aus dem Gefuͤhle der Kraft- losigkeit entsteht. — Anmerkungen von der Art, welche dieser Schriftsteller oft macht, wenn er fuͤr sich selbst denkt, erregen den Wunsch, daß er weniger Fleiß auf die Wiederholung und Berich- tigung der Ideen seiner Vorgaͤnger gewandt haͤtte. Die Erfahrung, welche in dieser Anmerkung ausgedruͤckt ist, stimmt mit einer andern vollkom- men uͤberein, die der erwachsene Mann bey sich selbst, und eben deswegen vielleicht mit mehr Zu- verlaͤßigkeit machen kann. Welche Arbeiten des Geistes gerathen wohl in irgend einer Art besser, als diejenigen, bey welchen man sich am wenig- sten aͤngstlich bemuͤht, sie vortreflich zu machen? Welche unserer Begriffe sind wohl die reichsten, lebhaftesten, in der Entwickelung am fruchtbar- sten? Die, welche ein freywilliges Nachdenken H 3 Verschiedenheiten in den Werken uͤber den Gegenstand nach und nach aus den be- kannten Ideen hervorgearbeitet, oder die, welche ein oft bloß zufaͤlliger schneller Blick auf die Sache aus der Reihe sich selbst darbietender Vorstellun- gen aufgefaßt hat? Die Werke, die man fuͤr das Publikum schon bestimmt, indem man sie verfer- tiget, sind gemeiniglich unter dem, was man fuͤr sich selbst oder fuͤr solche Freunde macht, von de- ren Beyfall und Achtung man sich schon versichert haͤlt. Der Wunsch, etwas Gutes hervorzubrin- gen, die Begierde nach den Vortheilen, die uns unser Werk, wenn es gelingt, zuwege bringen soll, die Achtsamkeit endlich auf unser eigenes Bemuͤ- hen, es zu Stande zu bringen, alles dieß ist eine Art von Zerstreuung, durch welche diejenige Kraft, die ganz auf den Gegenstand vereinigt seyn sollte, auf sich selbst zuruͤckgekehrt, und durch Unruhe und Hoffnung verzehrt wird. Die obige Anmerkung ist aber noch einer an- dern Anwendung faͤhig, und diese ist eigentlich unser Zweck. Da das menschliche Geschlecht und der einzelne Mensch in dem stufenweisen Fortgange der aͤltesten und neuern Schriftsteller. ihrer Faͤhigkeiten einander so aͤhnlich sind, so fin- det man hier einen Grund von der nothwendigen und unausbleiblichen Verschiedenheit, die zwischen den aͤltesten und den spaͤtern Arbeiten dessel- ben seyn muß. Es giebt in beiden eine Zeit der Kindheit und des maͤnnlichen Alters. In den Werken der ersten sehen wir eine Kraft, die sich durch ihre bloße Energie und die Gegenstaͤnde ge- trieben fuͤhlt zu wirken, und deswegen in ihrer natuͤrlichen Thaͤtigkeit durch nichts gestoͤrt wird; in den Werken der andern eine Kraft, die erst durch ein besonderes Interesse gereizt werden muß, die nach Absicht und in Hofnung eines gewissen Er- solges wirkt, und die eben deswegen in ihren Aeus- serungen eingeschraͤnkt, und von ihrer natuͤrlichen Richtung abgebracht wird. In den Werken der einen Zeit werden sich die Schriftsteller ihrer Ideen nur so zu sagen entschuͤtten, die ihnen durch die Gegenstaͤnde selbst und eine ganz unwillkuͤhrliche Beobachtung derselben aufgedrungen worden; — in den Werken der andern werden sie Ideen, die sie gesucht und ausgearbeitet haben, in der Ab- H 4 Verschiedenheiten in den Werken sicht mittheilen, sich Beyfall und Ruhm zu erwer- ben. Der aͤlteste Schriftsteller ist das Kind, das den ganzen Tag ohne Absicht hin und her laͤuft, und niemals fuͤhlt, wie muͤde es ist, weil es sich bey keinem Schritte mehr an denjenigen erinnert, den es schon gethan hat, noch den voraus sieht, den es noch zu thun gedenkt. Der neuere Schrift- steller ist ein Wanderer, der immer den Ort im Gesichte hat, wo er hin will, in der Begierde an- zulangen seine Schritte zaͤhlt, und sich durch das Uebersehen des zuruͤckgelegten und des noch vor ihm liegenden Weges freywillig entkraͤftet. Dieser eine Umstand haͤngt mit vielen andern zusammen, die sich, duͤnkt uns, so am besten ent- wickeln lassen, wenn man sich zuerst alle die Ver- schiedenheiten der beiden Zeitalter vorstellt, und alsdann sieht, was fuͤr Einfluß sie auf die Werke des Geistes, und vornehmlich auf die Schriftsteller haben mußten. Die erste und groͤßte Verschiedenheit liegt in der Art und Weise, diejenigen Begriffe zu bekom- men, die der Schriftsteller mittheilen soll. Bey der aͤltesten und neuern Schriftsteller. uns ist fast das einzige Mittel das Lernen. Un- terricht und Lesen lehren uns meistentheils alles kennen, was wir wissen; und beides unterneh- men wir nicht anders, als in so fern wir es zur Ausfuͤhrung eines gewissen Plans brauchen. Bey den Alten scheint diese Erlernung weniger Stu- dium als instinktmaͤßige Beschaͤftigung gewesen zu seyn. Ihre Sinnen waren ihre Lehrer, sie sahen, sie hoͤrten, sie dachten zu Folge der Eindruͤcke, die die Natur und ihre Verhaͤltnisse mit andern Men- schen auf sie gemacht hatten. Was erstlich die sichtbare koͤrperliche Natur betrifft, so weit sie durch den Anblick erkannt wer- den kann: so kannten sie sie in der That besser, als wir, und diese Kenntniß kostete ihnen keine Arbeit. Wir werden von Kindheit an erst durch unsere Erziehung, dann durch unsere Lebensart und Geschaͤfte von dem Anblicke der Natur abge- halten; und viel also von dem, was wir durch unsere eignen Augen lernen koͤnnten, muͤssen wir erst von unsern Lehrern und aus Buͤchern erfah- ren. Die Klasse von Menschen, unter welchen es H 5 Verschiedenheiten in den Werken fast allein Schriftsteller giebt, lebt bey uns be- staͤndig in ihren Haͤusern eingeschlossen; ihre Be- schaͤftigungen und ihre Zeitvertreibe sind groͤßten- theils innerhalb der vier Waͤnde ihres Zimmers. Nur gelegentlich, nur auf Augenblicke werden un- sere Menschen in das freye Feld hinausgefuͤhrt. Und dann sind sie gemeiniglich schon ermuͤdet und zerstreut, oder ihr Kopf ist schon mit so viel klei- nem Eigennutze, mit dem Entwurfe so vieler Ver- gnuͤgungen, mit so viel selbstgemachten Ideen und Begierden angefuͤllt, die das eingeschraͤnkte buͤr- gerliche und haͤusliche Leben giebt, daß sie selten mehr lebhaft von dem geruͤhrt werden, was sie sehen und hoͤren, wofern es nicht neu und außer- ordentlich ist, und ihre Aufmerksamkeit durch ei- nen staͤrkern Reiz an sich zieht, als der bloß ein- fache Eindruck auf ihre Sinne ist. — Wir beob- achten also sehr wenig selbst. Viele Dinge ge- schehen taͤglich vor unsern Augen, oder sind nur wenig Schritte von uns, die wir doch kaum eher bemerken, als bis wir sie in Buͤchern gefunden haben. Die Dichter muͤssen uns erst sagen, was der aͤltesten und neuern Schriftsteller. eine schoͤne Gegend sey, und wie die Sonne auf und untergehe. Die Abwechselung der Jahres, und der Tageszeiten, die verschiedenen Gestalten der Natur, die sichtbaren Eigenschaften und Ver- aͤnderungen der Pflanzen und Thiere gleiten, ih- rer Gewoͤhnlichkeit und unsrer Zerstreuung wegen, nur uͤber die Oberflaͤche unserer Seele weg, und beruͤhren sie kaum, wenn wir sie nicht zuvor schon durch Beschreibungen haben kennen lernen. Erst durch die Kopien werden wir auf die Originale aufmerksam, weil wir in der Vergleichung zwischen beiden eine Beschaͤftigung finden, die mehr nach unsrer itzigen Denkungsart ist, als die freye Be- obachtung selbst. Was die Kenntniß betrifft, die der Mensch nur von Menschen und durch seine Verbindung mit ihnen bekommen kann; so scheint es zwar, daß unser itziger Zustand uns weit gesellschaftli- cher gemacht, uns in mannichfaltigere Verhaͤlt- nisse mit andern Menschen gesetzt habe, und sie uns also auch von mehrern Seiten kennen lehre. Und das ist in gewissem Verstande auch wahr. Verschiedenheiten in den Werken Auf einer andern Seite aber sind wir in der That mehr von ihnen abgesondert, als in dem fruͤhesten Zeitpunkte der Gesellschaft. Itzo kennt jeder Mensch nur einige wenige Menschen seines Stan- des, von seiner Denkungsart, von seinen Gesin- nungen. Alle uͤbrigen Klassen und Staͤnde der Menschen, sammt ihren Begriffen und ihren Em- pfindungen bleiben ihm Zeitlebens fremde, wenn er sie nicht hoͤchstens aus Buͤchern lernt. Der Um- gang mit andern Menschen ist ein Recht geworden, das uns nur gegen die zusteht, mit welchen wir gleiches Ranges sind. Wenn wir mit Hoͤhern umgehen wollen, so muͤssen wir uns dieß erst durch gewisse Vorzuͤge, die Aufsehen machen, verdient haben. Jeder entfernt sich von denen, die unter ihm sind, und zu denen, die uͤber ihm sind, darf er sich nicht nahen. Oder wenn auch zuweilen der Eigennutz der Geringern, oder die Begierde be- lustigt zu werden bey den Vornehmern, oder end- lich eine edlere, minder eingeschraͤnkte Denkungs- art auf beiden Seiten diese Graͤnzen uͤberspringt;; so bleibt doch der Umgang frostig, ohne diejenige der aͤltesten und neuern Schriftsteller. Offenherzigkeit und Vertraulichkeit, die uns allein die Kenntniß fremder Herzen gewaͤhren, und uns in dem Umgange mit ihnen eine Quelle zu Beob- achtungen eroͤffnen kann. In den alten Zeiten waren fast alle Glieder einer Stadt, einer Repu- blik einander bekannt. Die Staaten waren klei- ner. Ihre Buͤrger hatten alle ein gewisses gemein- schaftliches Interesse; Geschaͤfte, die sie oft zu- sammenbrachten; oͤffentliche Zusammenkuͤnfte, wo sie sich durchaus kennen lernten; Feyerlichkeiten, an denen sie alle Theil nahmen. Die Rechte der verschiedenen Staͤnde aͤußerten sich weniger durch eine gegenseitige Entfernung von einander in dem gesellschaftlichen Leben, als in einer Unterord- nung bey der Ausfuͤhrung offentlicher Geschaͤfte. Das Befehlen und Gehorchen war bey denen Ge- legenheiten, wo es eigentlich darauf ankam, die Pflichten seines Standes zu erfuͤllen, sehr strenge. Aber sobald diese Gelegenheiten voruͤber waren, so stellte sich eine Art von Gleichheit wieder her. Einen weit groͤßern Unterschied unter den Men- schen macht der Reichthum, als der Rang; und Verschiedenheiten in den Werken nur dadurch, daß beide gemeiniglich bey uns ver- einigt zu seyn pflegen, ist die Absonderung der Staͤnde aufs hoͤchste gestiegen. Das Verhaͤltniß, das der Befehlende gegen den Gehorchenden hat, kann er nur unter gewissen Umstaͤnden zeigen, und so lange, als die Art von Handlungen vorkoͤmmt, die er anzuordnen versteht. Hingegen der Unter- schied, den der Reichthum macht, ist bestaͤndig, und erstreckt sich auf alles. Wohnung, Haus- geraͤthe, Kleidung, Aufwand der Tafel, Kostbar- keit der Ergoͤtzungen, alles, was der Reiche hat und thut, ist anders als bey dem Armen. Der eine kann also seine Erhabenheit, und der andre seine Niedrigkeit niemals aus den Augen verlieren. — Ueberdieß bildet sich durch die lange Abson- derung auch endlich ein Unterschied in dem, was man Anstand und Sitten nennt, in der Art, sich zu betragen und auszudruͤcken. So willkuͤhrlich auch diese Begriffe bald an die eine, bald an die entgegenge ezke Art etwas zu thun und zu sagen verknuͤpft werden, so sind sie doch das erste, wor- nach wir den Vorzug und die Verdienste des Men- der aͤltesten und neuern Schriftsteller. schen messen; und dieß also sezt endlich die vor- her schwankende und oft niedergerißne Graͤnze zwischen Leuten von Stande und gemeinen Leuten fest, und hebt alle Moͤglichkeit zur Wiedervereini- gung auf. Beylaͤufig zu sagen: die Begriffe und die Gesinnungen des gemeinen Mannes sind bey weitem nicht so sehr von der feinern Welt ihren unterschieden, als die Verschiedenheit des Aus- drucks vermuthen laͤßt. Es gehoͤrt aber, auch selbst fuͤr den denkenden Mann, etwas dazu, seine eignen Vorstellungen unter einer niedrigen ihm ungewoͤhnlichen Bezeichnung wieder zu erkennen. Was gesunder Verstand, natuͤrlicher Scharfsinn, und Witz durch Erfahrung gebildet geben kann, das hat der geringere Theil des menschlichen Ge- schlechts mit dem groͤßern gemein, und oft in ei- nem hoͤhern Grade. Aber die Gewohnheit macht, daß wir dieß alles nicht mehr fuͤr das halten, was es ist, wenn es uns nicht unter der Gestalt, auf die Art gewendet, mit den Worten gesagt vor- koͤmmt, wie wir es zu denken gewohnt sind. Die Vernunft muß ein mehr didaktisches Ansehen kri e - Verschiedenheiten in den Werken gen. Manche Beobachtung, die in dem Munde eines gemeinen Tageloͤhners veraͤchtlich ist, weil sie sich nur auf etwas einzelnes und uns gering scheinendes beziehet, wuͤrde, von einem Philoso- phen gesagt, sobald er sie mit abstrakten und zu- gleich edlern Worten ausgedruͤckt, sie allgemein und vielleicht dadurch unrichtiger gemacht haͤtte, eine Entdeckung scheinen. Und doch ist der Ver- stand gerade die Kraft, deren Wirkung noch am wenigsten von dem Werkzeuge abhaͤngt, dessen sie sich bedient. Bey den Ideen der uͤbrigen Faͤhig- keiten koͤnnen wir oft kaum bis auf den Grund kommen. Wir wissen immer nicht, ist es das Wort oder die Sache, die wir jedesmal witzig und artig und groß nennen. Wenigstens sind es die Falten des Gewandes, durch die wir den Bau des Koͤrpers beurtheilen. Wenn also die Mit- theilung der Ideen das einzige Band der Gesell- schaft seyn kann, sobald der Eigennutz schweigt und die Beduͤrfnisse befriedigt sind; so giebt es kein solches mehr unter Gliedern einer Nation, die eine sich fremde Sprache reden, und von einan- der aͤltesten und neuern Schriftsteller. der weder geliebt noch hochgeschaͤtzt werden koͤn- nen. Dieß alles faͤllt in den ersten Zeiten weg. Erziehung und Sitten, und Kenntnisse und Spra- che sind noch unter die verschiedenen Staͤnde ei- nes Staats gleich ausgetheilt. Nichts ist durch Verabredung unedel und veraͤchtlich worden. Je- des Ding, jedes Wort, macht noch den Eindruck, den es vermoͤge seiner Natur oder seiner Bedeu- tung zu machen im Stande ist; nicht den, wel- chen es bloß von Gelegenheiten und Umstaͤnden erborgt. — Also liegt in der That das Gemaͤlde menschlicher Handlungen und Leidenschaften dem Beobachter mehr und in einem groͤßern Umfange vor Augen. Unsere Schauspiele, unsere Romanen, warum sind sie uns izt so reizend, oder vielmehr so noth- wendig geworden? Zum Theil deswegen, weil sie uns in die menschliche Gesellschaft wieder versetzen, von der wir gewissermaßen ausgeschlossen sind; weil sie uns Menschen von allerley Staͤnden, und in weit wichtigern Auftritten ihres Lebens han- delnd und redend zeigen, als wir selbst zu sehen J Verschiedenheiten in den Werken Gelegenheit haben; weil sie uns wieder in die Haͤuser der Großen fuͤhren, zu denen wir keinen Zutritt mehr haben, und uns mit der Vorstellung schmeicheln, daß dort diese Großen uns aͤhnlicher und weniger uͤber uns erhaben sind, als sie zu seyn scheinen, wenn wir bloß die Mauern ihrer Palaͤste ansehen; weil sie uns in den niedrigsten Klassen, zu denen wir uns aus Vorurtheil und Stolz und angewoͤhntem Ekel nicht herablassen wollen, eben die Aeußerungen der Natur zeigen, die uns bey uns selbst gefallen: mit einem Wor- te, weil sie uns das Vergnuͤgen, unter Menschen und unter Menschen aller Art zu seyn, das wir in der Wirklichkeit verloren haben, in der Erdich- tung wieder verschaffen; und weil sie daher zu- gleich den Theil unserer Kenntnisse ergaͤnzen, den wir durch Erfahrung nicht mehr einsammeln koͤnnen. Eben aus dieser groͤßern Vereinigung der Menschen folgte eine gewisse allgemeinere Be- kanntschaft mit ihren Verrichtungen, besonders zu einer Zeit, wo ein Theil der Bequemlichkeiten, der aͤltesten und neuern Schriftsteller. die durch diese Arbeiten verschafft wurden, noch ganz neu, und als ein wichtiges Geschenk fuͤr die menschliche Gesellschaft noch hochgeschaͤtzt war. — Die Kuͤnste, die Handwerke, die Geschaͤfte des Ackerbaues, die Arbeiten jedes Standes waren weniger schwer zu erlernen, wurden von dem Thei- le, der sie nicht trieb, noch nicht verachtet, und machten ein Stuͤck der allgemeinen Kenntniß aus, die sich jeder erwarb, ohne darnach gestrebt zu haben. Auf diese Art also mußte sich ihr Geist mit mannichfaltigen Begriffen anfuͤllen, die ihm in der That weit weniger Bemuͤhung, Nachdenken und Anstrengung kosteten, als uns unsere viel- leicht eingeschraͤnktern, aber mehr ergruͤndeten Kenntnisse. Das Auge und das Ohr kann in ei- ner kurzen Zeit von unendlich viel Sachen unter- richten. Nachdenken und Lesen haͤlt uns lange bey wenig Gegenstaͤnden auf. Aber freylich zei- gen uns jene auch nur die Erscheinungen, nur das, was uns zunaͤchst und der Empfindung offen liegt, nur das Resultat von dem geheimen Spiele J 2 Verschiedenheiten in den Werken der natuͤrlichen Triebfedern; dahingegen uns diese zugleich daran gewoͤhnen, den innern Bau der Dinge und die Ursachen von den Begebenheiten zu erforschen. Wir wissen izt vielleicht weniger, wie die Dinge aussehen, aber wir wissen besser, was sie sind. Dieser Unterschied nun in der Muͤhe oder Leichtigkeit, mit der wir gewisse Ideen bekommen, hat selbst auf die Gestalt dieser Ideen einen großen Einfluß. Wo eine Muͤhe uͤberwunden werden soll, da muͤssen wir eine Begierde haben, deren Befriedigung der Beschwerlichkeit der Arbeit werth ist; da muͤssen wir uns eine Absicht vorsetzen, Mittel waͤhlen; uns selbst zur Anwendung unsrer Kraft auffodern; sie, wenn sie ermuͤdet, oder sich von dem Gegenstande verliert, zuruͤckbringen und festhalten; sie in ihren Operationen nach einem Plane leiten; dem natuͤrlichen Fortgange unsrer Vorstellungen durch einen kuͤnstlichen entgegen ar- beiten. Alle Begriffe, die auf diese Art entstehen, sind mehr unser Werk, als das Werk der Dinge, die wir betrachten. Unsre Regeln, unsre vorher- der aͤltesten und neuern Schriftsteller. gesammleten Begriffe haben immer mehr oder we- niger an dem Eindrucke gekuͤnstelt, den die Sa- chen auf einen voͤllig noch uneingenommenen Geist machen wuͤrden. Selbst das, was wir fuͤr reine lautere Beobachtung halten, ist schon zum Theil aus unserm uͤbrigen Gedankensystem gefolgert. — Ueberdieß, je mehr wir uns die Hervorbringung und Zusammensetzung gewisser Gedanken Arbeit kosten lassen, desto mehr sind wir in Gefahr, die naͤchsten unmittelbarsten Verhaͤltnisse der Begriffe zu uͤbersehen, und dafuͤr entferntere und weit her- gesuchte zu waͤhlen. Die einfaͤltige, nackende, einleuchtende Wahrheit, so wie sie sich dem bloß ruhigen Zuschauer der Natur von selbst darbietet, wird von dem zu geschaͤftig suchenden Geiste uͤber- gangen, und an ihre Stelle sezt er eine Menge erkuͤnstelter halb falscher Saͤtze, denen er erst durch den Ausdruck wieder einen Schein von Wahrheit und Aehnlichkeit mit der Sache selbst geben muß. Das, was wir Anstrengung nennen, besteht nicht sowohl in einem gewissen Maaße der aufge- J 3 Verschiedenheiten in den Werken wendeten Kraft, als in der Muͤhe, dieselbe von den Gegenstaͤnden, welche nach den physischen Gesetzen am staͤrksten auf unsere Sinne oder auf unsre Einbildungskraft wirken wuͤrden, abzuzie- hen, und sie auf solche zu richten, mit denen wir nach unsrer gegenwaͤrtigen Lage gar nicht oder nur schwach beschaͤftigt seyn wuͤrden. Die Ideen koͤnnen bey einem Schauspiele eben so lebhaft seyn, als bey einer Meditation. Die Aufmerksamkeit kann bey dem erstern sogar in einem noch hoͤhern Grade angestrengt seyn. Aber in dem erstern Falle lassen wir uns nur beschaͤftigen; wir sind leidend; die Objekte bieten sich von selbst dar; der Fortgang unsrer Vorstellung ist vollkommen mit dem Fortgange der Veraͤnderungen analogisch, die um uns her vorgehen. In dem andern Falle beschaͤftigen wir uns selbst. Wir selbst muͤssen die Gegenstaͤnde in uns erst hervorbringen, oder sie unserm Verstande gegenwaͤrtig machen; den Eindruck der andern muͤssen wir dagegen schwaͤchen oder bey Seite schaffen. Dieser Streit zwischen den Gegenstaͤnden, die eben izt auf unsre der aͤltesten und neuern Schriftsteller. Sinne wirken, oder die unsre gegenwaͤrtige Ver- fassung uns ins Gemuͤthe bringt, und zwischen denen, die sich der Verstand zu betrachten vorge- sezt hat; dieser macht eben das Beschwerliche und Ermuͤdende der Arbeit aus. Der alte Dichter sah die Natur, ohne zu wis- sen, daß er diese Betrachtung als seine Bestim- mung, oder als das Mittel zu gewissen Absichten zu betrachten haͤtte. Sie malte sich also in seiner Seele ab, ohne daß er einen einzigen Pinselstrich beygetragen, oder sie in ihrer Zeichnung geleitet haͤtte. Unsere Dichter, wenn sie die Natur beob- achten, thun es schon immer in der Absicht, sie zu schildern, sie wollen sie gern schoͤn sehen, oder we- nigstens so, wie sie sich schoͤn ausdruͤcken laͤßt; und dadurch wird das Gemaͤlde ein Gemische von wahren Eindruͤcken, von bloß eingebildeten Zuͤgen ihrer Einbildungskraft, und von abstrakten Be- griffen, die sie durch Unterricht und Ueberlieferung bekommen haben. Also schon der Weg, die Sachen selbst ken- nen zu lernen, welche den Stoff der Dichter aus- J 4 Verschiedenheiten in den Werken machen, war bey den Alten und Neuen nicht der- selbe. Die Sinne unterrichten den Verstand mehr bey den ersten, und der Verstand die Sinne mehr bey den andern. — Aber um das, was jeder von Begriffen sich gesammlet hat, mitzutheilen, dazu gehoͤren auch noch Bewegungsgruͤnde, und die sind wieder bey beiden verschieden. In der Kindheit des Menschen und der menschlichen Gesellschaft kannte man die Lange- weile nicht; man fuͤhlte keine Beduͤrfnisse, sich durch seinen Witz Zeitvertreibe zu verschaffen. Bey allen den Menschen, deren Arbeit in Be- wegung besteht, ist Ruhe eine hinlaͤngliche Erho- lung. — Erst alsdann, da es Beschaͤftigungen im Kabinete gab, bey denen der Geist sich erschoͤpfte und der Koͤrper nicht ermuͤdete, brauchte man Er- holungen, die nicht in dem Aufhoͤren der Beschaͤf- tigung, sondern in ihrer Abwechselung bestunden; solche, wo nur an die Stelle von der Anwendung der einen Faͤhigkeit die Anwendung einer andern, an die Stelle von Vorstellungen des Verstandes und des Nachdenkens sinnliche und imaginative der aͤltesten und neuern Schriftsteller. Eindruͤcke gesezt wurden. Dazu waren nun an- fangs alle die Sachen gut genug, die heftig und lebhaft die Sinne ruͤhrten. Nach und nach woll- te man nicht so starke, aber mannichfaltigere, mehr abwechselnde Eindruͤcke haben, solche, bey denen sich noch uͤberdieß Ideen von Richtigkeit und Schoͤnheit antreffen ließen. Der Witz und die Einbildungskraft wurden zu den Regierern dieser Vergnuͤgungen bestimmt. Nach einer Menge von Revolutionen in den Dingen, welche die Men- schen zu ihren Ergoͤtzungen bestimmten, ist das Beduͤrfniß zu lesen an die Stelle vieler andern ge- kommen. Dieses Beduͤrfniß zu befriedigen, sezt sich der Schriftsteller, und am meisten der Dich- ter, vor. Natuͤrlicherweise muß er sich also in dem, was er unternimmt, nach der Natur des Beduͤrfnisses richten, fuͤr welches er arbeitet. In der That werden bey uns die Dichter selten an- ders als zum Vergnuͤgen gelesen, und der Dichter selbst kann sich schwerlich einen andern Endzweck vorsetzen. Ist er durch das Vergnuͤgen zugleich nuͤzlich, floͤßt er den Lesern, deren Zeit er verkuͤrzt, J 5 Verschiedenheiten in den Werken zugleich eine Anzahl nuͤzlicher Wahrheiten und tu- gendhafter Gesinnungen ein: vortreflich! wir wissen ihm dafuͤr Dank, unserer Erholung so viel Werth in unsern eignen Augen gegeben zu haben; — und im Grunde wuͤrde es ihm auch ohne ir- gend einen Einfluß des Nutzens auf unsern Geist nicht einmal gelungen seyn, den Einfluß zu erhal- ten, uns Vergnuͤgen zu machen. Aber bey dem allen wird er es doch nicht dahin bringen, daß wir uns aus der Lesung der Dichter, (wenn wir aus den Jahren der Erziehung heraus, und nicht selbst Dichter oder Kunstrichter sind) eine eigentliche Ar- beit, eine Beschaͤftigung machten. Noch eine andere große Verschiedenheit in den Werken der Schriftsteller liegt in dem Unterschiede ihrer Sprache. Oder vielmehr, wenn man bey den Werken einzelner Schriftsteller das, was ih- nen, und das, was ihrer Zeit zugehoͤrt, zu leicht vermischen kann; so kann man hingegen aus der Vergleichung der Sprachen sicherer die Verschie- denheiten lernen, durch welche die ganzen Natio- nen und die ganzen Zeitalter sich charakterisiren. der aͤltesten und neuern Schriftsteller. Die Sprachen sind fuͤr den einzelnen Menschen, der durch die Geburt in eine schon civilisirte Ge- sellschaft eintritt, eben so viel schon zubereitete Formen, nach welchen er seine Begriffe zu model- liren genoͤthigt ist, oder unter welchen sie ihm al- lein bekannt werden. Und da der Verstand die Woͤrter braucht, nicht bloß andern zu sagen, was er denkt, sondern es sich auch erst selbst deut- lich vorzustellen; da die Sprache nicht bloß das Werkzeug der Mittheilung, sondern auch der Bildung der Gedanken ist: so muß der Geist, der in den Werken jeder Nation herrscht, eben so verschieden seyn, als das Naturell ihrer Sprache. Wenn wir die aͤlteste griechische Sprache mit der unsrigen vergleichen, so finden wir, erstlich, was natuͤrlicherweise bey Menschen seyn mußte, die bestaͤndig unter dem Anblicke der Natur leb- ten, und sie also uͤberhaupt genommen besser kann- ten, als unsere immer eingeschloßne Menschen; wir finden, sage ich, die Sprache, in Absicht der natuͤrlichen Dinge und ihrer sichtbaren Veraͤnde- Verschiedenheiten in den Werken rungen, reicher als die unsrige. Sie hatte fuͤr Pflanzen, fuͤr Thiere, fuͤr die gewoͤhnlichsten Er- scheinungen und Handlungen derselben, und fuͤr die Arbeiten, die der Mensch mit ihnen vornimmt, mehr Namen der allgemeinen Sprache, die be- kannt, und an Wuͤrde und Deutlichkeit allen an- dern Woͤrtern der Sprache gleich waren. Unsere Sprache ist an solchen Woͤrtern arm. Nicht als ob die Personen, die mit jedem dieser Dinge als mit ihrem Geschaͤfte umgehen, sie nicht auch zu benennen wuͤßten. Aber diese Namen sind nur bloß den Leuten dieses Standes und dieser Be- schaͤftigung bekannt. Eben deswegen wechseln sie auch von Provinz zu Provinz, von Stadt zu Stadt ab. Was von den wenigsten gekannt wird, das wird auch keinen allgemeinen festgesez- ten Namen haben, oder dieser Name wird unter dem besondern Beynamen jedes Orts bald verlo- ren seyn. Wenn einmal die Sache aus der Zahl derjenigen weggeschafft ist, die sich alle Glieder einer Nation mitzutheilen haben, so braucht es auch kein Zeichen mehr, woran alle das Ding er- der aͤltesten und neuern Schriftsteller. kennen. — Woͤrter haben wir also wohl fuͤr alle diese Dinge, aber nur nicht bekannte, nicht edle Woͤrter. Liest man den Homer da, wo er Gegenstaͤnde fuͤrs Gesicht und besonders Bewegungen vor- schreibt, so wird man gewahr, daß er fuͤr jede kleine Abaͤnderung in der Gestalt der Sache ein besondres Wort hat, fuͤr die wir nur ein gemein- schaftliches, oder Umschreibungen haben. Er kann den Verfolg einer sinnlichen Veraͤnderung, die Abwechselung, die die Bewegung der Koͤrper in ihrem Anblicke hervorbringt, in ihrer vollstaͤn- digen Folge auf einander vorstellen. — Waͤren uns eben die Sachen zu beschreiben gegeben wor- den, so wuͤrde uns unsre itzige Denkungsart und das Naturell unsrer Sprache darauf gefuͤhrt ha- ben, nur einen einzigen Umstand, den wir fuͤr den hauptsaͤchlichsten gehalten haͤtten, herauszuheben. Wir haͤtten der Einbildungskraft unsrer Leser nur auf die Spur helfen koͤnnen. Homer zeichnet ihr die Sache vollstaͤndig vor. Verschiedenheiten in den Werken Man sehe z. B. die Beschreibung eines Sturms beym Homer Iliade IV B. v. 421. Ὡς δ᾽ ὁτ᾽ ἐν αἰγιαλῷ πολυηχέτ κῦμα ϑα- λάσσης Ὀρνυτ᾽ ἐπασσύτερον Ζεφύρου ὑποκινήσαντος Πόντῳ μὲν τὰ πρῶτα κορύσσεται αὐτὰρ ἔπειτα Χέρσῳ ῥηγνύμενον μεγάλα βρέμει, ἀμφὶ δὲ τ᾽ ἄκρας Κυρτὸν ἐὸν κορυφοῦται, ἀποπτύει δ᾽ ἁλὸς ἄχνην. Man vergleiche sie nur mit der Uebersetzung des Pope, oder mit der Beschreibung eines spaͤtern Dichters, und man wird den Vorzug der homeri- schen Sprache im Ausdrucke sichtbarer Erschei- nungen gewahr werden. Zuerst giebt er die Sache, die er malen will, nur uͤberhaupt an, κῦμα ὄρνυτ῍; aber er sezt ein Beywort hinzu, ἐπασσύτερον, das der Imagination schon ein sehr zusammengeseztes Bild giebt. Es zeigt das Draͤngen einer Welle gegen die andere an, die Schnelligkeit, mit der auf jede heranrollende und der aͤltesten und neuern Schriftsteller. sich zerschlagende Welle eine zweyte und eine dritte folgt, die das Auge beynahe mit der ersten ver- mischt. Pope druͤckt dieß einzige Wort durch zwo Zeilen aus: The billows float in order to the shore The wave behind rolls on the wave before. Das Wort ὑποκινήσαντος zeigt nicht bloß, wie das Englische the Winds move the Seas, die Bewe- gung an, sondern es bestimmt auch die Art der Bewegung; es ist ein innerer Aufruhr, der das Wasser von der Tiefe in die Hoͤhe treibt. Pope scheint dieß durch einen andern Vers ausgedruͤckt zu haben: Till with the growing storms the deeps arise. Bis so weit hat Pope den Homer zwar umschrie- ben, aber doch ausgedruͤckt; — aber wo dieser die Beschreibung der auf einander folgenden Ge- stalten des stuͤrmischen Meeres anfaͤngt, da ver- laͤßt ihn sein Uebersetzer gaͤnzlich. Eine allge- meine Redensart gilt fuͤr eine Menge bestimmter und malerischer. Erstlich wird das Meer nur noch leicht bewegt, es ruͤstet sich, κορύσσεται, noch Verschiedenheiten in den Werken ist die Bewegung mitten im Meere, die Wellen zer- schlagen sich gegen einander, keine reicht bis ans Ufer. — Aber der Sturm waͤchst, die Wellen werden groͤßer, eine treibt die andre fort, die lezte bricht sich schon mit großem Geraͤusch am Lande, Χέρσῳ ῥηγνύμενον. Der Sturm erreicht seine groͤß- te Hoͤhe, die Wellen thuͤrmen sich bey den Vorge- birgen, wo sie weniger Raum haben, sich auszu- breiten, kruͤmmen sich in ihrer groͤßten Erhebung, κυρτὸν ἐὸν κορυϕοῦται, werfen an ihrer Spitze ei- nen weißen Schaum aus, und stuͤrzen wieder zu- ruͤck. Diese auf einander folgenden Erscheinun- gen wird schwerlich irgend eine neuere Sprache mit gleicher Genauigkeit und Kuͤrze ausdruͤcken koͤnnen. So werden wir in den meisten Beschreibun- gen Homers immer den Anblick, den die Sache ge- waͤhrt, die Art und Weise, wie sie sich dem Auge darstellt, genau angegeben finden. Wenn wir bloß sagen: er hat ihn mit seinem Schwerte durch- bohrt; so sagt er: der aͤltesten und neuern Schriftsteller. ἡ δὲ διὰ πρὸ Ἀντικρὺ κατὰ κύςιν ὑπ᾽ ὀςέων ἤλυϑ᾽ ἀκωκὴ. διὰ, der Spieß gieng durch; πρὸ, er kam vorne wieder hervor; ἀντικρὺ, die Spitze war auf der entgegenstehenden Seite von der, wo er sie einge- stoßen hatte. Wenn er das Schwaͤrmen der Bienen be- schreibt, so zeigt er uns alles, was das Auge da- bey vorzuͤglich ruͤhrt: erst das unaufhoͤrliche Her- vorkommen eines Schwarms nach dem andern aus dem Stocke; dann die zusammengedraͤngten Truppe, die nur Einen Koͤrper auszumachen schei- nen; dann die Zertheilung und die mannichfalti- gen Richtungen dieser Haufen. Ἠΰτε ἔϑνεα εἶσι μελισσάων ἀδινάων Πέτρης ἐκ γλαφυρῆς ἀεὶ νέον ἐρχομενάων Βοτρυδὸν δὲ πέτονται ἐπ᾽ ἄνϑεσιν εἰαρινοῖσιν Ἁι μὲν τ᾽ ἔνϑα ἅλις πεποτήαται ἁι δέ τε ἔνϑα. Hingegen sind wir in Namen abstrakter Be- griffe und in Ausdruͤcken fuͤr die Verhaͤltnisse der- selben reicher. Wir haben erstlich weit mehr Ab- K Verschiedenheiten in den Werken strakta gemacht, mehr Kraͤfte der Dinge, mehrere ihrer gemeinschaftlichen Eigenschaften, mehrere Beziehungen derselben auf einander wahrgenom- men, und also auch benannt. Besonders haben wir in den Faͤhigkeiten und Operationen des Gei- stes eine Menge Unterschiede durch eigne Woͤrter kenntlich gemacht, die bey den Alten sich unter ei- nem gemeinschaftlichen Namen vermischten. Ue- berdieß haben wir Woͤrter, die diese abstrakten Begriffe geradezu ausdruͤcken; die den Verstand unmittelbar darauf fuͤhren, und ohne erst den Um- weg durch ein gewisses Bild zu nehmen, aus dem jeder sich den hieher gehoͤrigen Theil selbst aussu- chen muß. Es sind zwar in allen Sprachen die Woͤrter fuͤr die Dinge aus der unsichtbaren und geistigen Welt ihrem Ursprunge nach Metaphern. Aber dieser Ursprung ist bey uns vergessen, die Metapher wird nicht mehr bemerkt. Bey den Alten war eben diese Metapher das einzige Mit- tel, sich den Begriff entweder selbst zu formiren, oder ihn andern verstaͤndlich zu machen. Die Etymologie erhaͤlt bey uns noch die Denkmaͤler der aͤltesten und neuern Schriftsteller. dieses Ueberganges von den sichtbaren Gegenstaͤn- den zu den abstrakten. Aber der Sprachgebrauch laͤßt uns nicht mehr an die ersten gedenken. — Urspruͤnglich konnte man sich den Begriff eines Worts anders nicht aufklaͤren, als indem man entweder das Ding selbst, oder sonst etwas zeigte, das dem Dinge aͤhnlich war. Im leztern Falle mußten die Vergleichungsstuͤcke, die die Merkmale des Begriffs ausmachten, nothwendig nach der verschiedenen Faͤhigkeit oder Aufmerksamkeit dessen, der die Vergleichung anstellte, verschieden seyn; und der Begriff war daher schwankend, und wurde auf sehr ungleichartige Gegenstaͤnde angewandt. Izt kommen wir freylich ebenfalls zulezt zu die- sem einzigen Huͤlfsmittel; aber nur erst nach ei- nem laͤngern Umwege. Wir erhalten die Idee eines abstrakten Wortes, indem wir es in eine ganze Menge anderer verwandeln, die concreter und von den sinnlichen Begriffen so zu sagen we- niger entfernt sind. So loͤsen wir immerfort Woͤrter in Redensarten auf, bis wir endlich auf solche kommen, die nicht anders, als durch die K 2 Verschiedenheiten in den Werken Gegenwart des Objekts oder durch eine Metapher klar werden koͤnnen; diese Verwandlung heißen wir Erklaͤren. Wir werden also den Ursprung unsrer abstrakten Ideen aus den sinnlichen weni- ger gewahr, weil wir erst nach einer Succeßion von andern abstrakten Ideen darauf zuruͤckkom- men, und gemeiniglich diese Kette nicht bis so weit fortfuͤhren. In der aͤltesten Sprache war dieser Ursprung gleich unmittelbar bey jedem Worte sichtbar. Ein Bild fuͤr das Auge oder Ohr war das naͤchste Glied, an welches der allgemeine Be- griff geknuͤpft war. Drittens. Die aͤlteste Sprache ist maleri- scher, als die unsrige; malerischer in einer doppel- ten Bedeutung. Erstlich: weil sie noch weniger zusammengesezte Ideen ausdruͤckte, so hatte sie auch noch weniger abgeleitete, und mehr Stamm- woͤrter; diese Stammwoͤrter, je naͤher sie ihrem Ursprunge sind, je weniger sie noch an den ersten Toͤnen geaͤndert haben, die die Menschen bey Er- blickung eines gewissen Gegenstandes ausstießen, und die sie nachher brauchten, um ihn andern der aͤltesten und neuern Schriftsteller. wieder eingedenk zu machen, desto mehr kommen sie mit der Sache selbst im Tone oder Accent uͤber- ein. Das Malen der Gegenstaͤnde fuͤrs Ohr ist bey einer solchen Sprache weniger die Absicht des Dichters und das Werk seiner Kunst, als eine natuͤrliche Wirkung der Woͤrter und Ausdruͤcke, welche die einzigen waren, die er waͤhlen konnte. Zweytens: Jedes Wort, das den sinnlichen An- blick der Sache unmittelbar in der Einbildungs- kraft rege macht, und zu dessen Bezeichnung nur ganz allein bestimmt ist, malt die Sache, in sofern die Erweckung des Bildes in der Imagination die erste und einzige Wirkung ist, die es thut. Es giebt in jeder Sprache Woͤrter, die von einer Sache oder Handlung gerade nur den sinnlichsten Theil ausdruͤcken, und denselben so geradezu, so ohne allen Nebenbegriff vorstellen, daß man an nichts, als an diesen sinnlichen Anblick der Sache, denken kann. Andere hingegen druͤcken mehr eine innere Beschaffenheit und Einrichtung des Din- ges aus, oder stellen es zugleich mit gewissen Ne- benzuͤgen vor, die den Eindruck des bloß sinnli- K 3 Verschiedenheiten in den Werken chen Bildes schwaͤchen, und die Idee mehr intel- lectuell machen. Starr ansehen und begaffen, etwas befuͤhlen und betasten, sagt einerley; aber das erste druͤckt mehr die Handlung, und das an- dere mehr die koͤrperliche Bewegung aus, die da- bey vorgeht. Die alten Sprachen hatten einen Ueberfluß von der ersten Gattung von Woͤrtern und Redensarten. Die unsrigen haben auch noch einige; aber fast die meisten derselben sind in dem Munde des Poͤbels. Es giebt bey uns eine Menge solcher niedrig gewordner Ausdruͤcke, die kein Mann von guter Lebensart, und noch we- niger ein Schriftsteller brauchen darf, und die doch die Sache weit sinnlicher bezeichnen, sie so zu sa- gen weit mehr vor Augen stellen, als die edlern Ausdruͤcke. Von allen diesen Verschiedenheiten nun in den Sachen, welche gekannt wurden, in der Me- thode sie zu erlernen, in den Werkzeugen sie aus- zudruͤcken, was mußten davon die Folgen in Ab- sicht der Werke selbst seyn, die das Genie aus die- der aͤltesten und neuern Schriftsteller. sem Stoffe und in einer solchen Sprache hervor- brachte? Erstlich muß in den alten Schriftstellern nothwendig mehr Originelles seyn. Wir nennen original, was seine naͤchste und unmittelbare Ur- sache in dem Dinge selbst hat, an welchem es er- scheint. Diejenigen Gedanken sind original, die dem Menschen der sie hat, ganz eigen, aus der individuellen Natur seines Geistes und seiner Verfassung entsprungen sind, und die eben des- wegen von keinem andern eben so gedacht werden koͤnnen. Jeder Mensch hat seine eigenthuͤmliche Form des Geistes, so wie seine Gestalt. Er ist anders or- ganisirt, als die uͤbrigen; die Gegenstaͤnde bringen in seinen Werkzeugen durch dieselbige Einwirkung doch andere Bewegungen hervor, und malen sich in seiner Seele mit andern Schattirungen ab. Er hat eine andere Anlage seiner Faͤhigkeiten, und richtet also seine groͤßte Aufmerksamkeit auf andre Gegenstaͤnde, oder auf andere Theile derselben. Die Reihe der Dinge selbst, die er sicht, und die K 4 Verschiedenheiten in den Werken Ordnung, in welcher er sieht, ist verschieden; und seine neuen Erfahrungen finden also bey ihm eine andere Grundlage vorher eingesammleter Begriffe, als bey jedem andern. Er hat andere Veran- lassungen, sich an seine gemachten Erfahrungen zu erinnern. Also bleiben bey ihm gewisse Ideen haften, die den uͤbrigen entwischen, weil gerade nur er den Anstoß gehabt hat, sie so oft, als noͤ- thig war, zu erneuern. Dafuͤr werden andere ihm dunkel, auf die ihn seine Umstaͤnde nicht oft genug wieder zuruͤckgefuͤhrt haben. Er hat andre Neigungen, und daher auch die andre Beduͤrfniß, die Sachen kennen zu lernen. Er hat endlich an- dere Beyspiele vor sich, und hat seine einzelnen Begriffe auf eine andre Art zusammengesezt. In allen denen Ideen, die der Geist aus solchen Ope- rationen selbst hervorbringt, die er aus seinen eignen Erfahrungen, durch seine eigne Art von Ab- straktion schoͤpft, muß jeder Mensch etwas Eigen- thuͤmliches, oder mit einem andern Worte etwas Originelles haben. Wir geben aber den Gedan- ken desselben diesen Namen nur alsdann, wenn der aͤltesten und neuern Schriftsteller. die Unterschiede merklicher, und die Gedanken selbst von Wichtigkeit sind. Also nur in denjenigen Begriffen eigentlich kaun es eine vollkommene Uebereinstimmung un- ter mehrern Menschen geben, die sie sich einander schon unter einer abstrakten Form mit Woͤrtern ausgedruͤckt, uͤberliefert haben. Diese Woͤrter und Ausdruͤcke sind in unsrer itzigen Welt fuͤr die Beduͤrfnisse und die Guͤter des Geistes, das heißt fuͤr die Ideen, ungefaͤhr eben das geworden, was das Geld in Absicht der aͤußern Guͤter und Be- duͤrfnisse ist; eine Art von conventionellen Zeichen, die man im gesellschaftlichen Verkehr an die Stelle der Sache selbst sezt, giebt und empfaͤngt, nicht weil sie selbst das sind, was man begehrt oder mittheilen will, sondern weil man voraussezt, daß jeder sich bey Gelegenheit den wirklichen Werth des Dinges, den sie vorstellen, dafuͤr eintauschen koͤnne. Diese Woͤrter ruhen eben so oft unge- braucht in dem Gedaͤchtnisse des Gelehrten, als das Geld im Kasten des Reichen, und befriedigen ihre Besitzer nur mit der bloßen Moͤglichkeit, sich K 5 Verschiedenheiten in den Werken die Vorstellungen oder die Vergnuͤgungen zu ver- schaffen, deren Symbole sie sind. Mit beiden lassen wir unsere Kinder lange vor der Zeit spie- len, ehe sie begreifen koͤnnen, wozu das eine an- gewendet werden koͤnne, und was die andern be- deuten. Naͤmlich eine solche allgemeine Idee, die je- mand aus seinen eignen Beobachtungen noch nicht gefunden hat, muß, wenn sie bey ihm eine wirk- liche Idee werden soll, erst mit den Erfahrungen zusammengehalten, und aus denselben so zu sagen aufgeklaͤrt und bestaͤtigt werden. Sie ist als- dann eine Art von Wegweiserinn, die ihm bey dem vorkommenden Falle anzeigt, worauf er zu sehen habe: und wenn er nun das Ding oder die Seite desselben auffindet, von welchem andre zu- erst diesen Begriff genommen haben; wenn er un- ter den Factis, die ihm vorkommen, das Muster entdeckt, wovon die Wahrheit, die er zuvor den Worten nach gefaßt hatte, der Ausdruck seyn soll; dann ist es erst wahrhaftig sein Begriff, und sein Verstand weiß, was die Worte sagen wollen. der aͤltesten und neuern Schriftsteller. Aber die nach dieser Methode aufgeklaͤrte Vor- stellung hat weit weniger die unterscheidende Form seines Geistes, weil der Verstand dabey weniger frey zu Werke gegangen, weil die Aufmerksamkeit schon immer von der vorhergefaßten woͤrtlichen Idee geleitet worden, weil die Arbeit des Geistes mehr darauf gerichtet gewesen ist, die Dinge so anzusehen, sie sich so vorzustellen, wie es mit der Beobachtung und der Meynung der uͤbrigen uͤber- einstimmte, als die Sache in ihrem ganzen Um- fange und nach der saͤmmtlichen Summe der Ein- druͤcke, die sie auf ihn zu machen faͤhig war, ken- nen zu lernen. Nun ist klar, daß in dem aͤltesten Zustande der Ideen mehr als izt gewesen seyn muͤssen, die jeder Mensch fuͤr sich aus seinen eignen Empfin- dungen, so gut er konnte, herleitete; und daß hingegen in dem unsrigen die uͤberlieferten und mit gewissen Woͤrtern bezeichneten Ideen die Oberhand haben, solche, die nur umgetauscht, nicht von dem Geiste selbst hervorgebracht und gepraͤgt werden. In jenem erwuchs der Mensch Verschiedenheiten in den Werken ohne viel Unterricht. Aber desto mehr Gelegen- heit, Muße und Auffoderung hatte er, seine Sinne zu brauchen. Was hernach sein Verstand mit den dergestalt gesammleten Ideen anfangen sollte, das hieng noch weit weniger von der Leitung und dem Beyspiele anderer, als von dem natuͤrlichen Hange und den freywilligen Bewegungen eines jeden ab. Was jeder von der Natur oder vom Menschen kannte, das hatte er selbst an ihr gese- hen. So oft er davon redete, so stund vor sei- ner Einbildungskraft wieder die Person, der Vor- fall, die Begebenheit, an der er zuerst diese Be- schaffenheit oder dieses Verhaͤltniß wahrgenom- men hatte. Bey ihnen hatte, nach des Prota- goras System, noch jeder Mensch seine eigene Wahrheit. — Bey uns hingegen koͤmmt der Un- terricht den Sinnen lange zuvor. Wie viel Na- men sind nicht in dem Munde unsrer Kinder und Erwachsenen, ehe sie die Objekte gesehen haben, und die sie zum Theil niemals recht sehen. Wie viel Ausdruͤcke von Eigenschaften und Verhaͤlt- nissen der sichtbaren und moralischen Welt brau- der aͤltesten und neuern Schriftsteller. chen wir nicht, ehe wir jemals durch unsre eigne Umstaͤnde sind veranlaßt worden, diese Verhaͤlt- nisse kennen zu lernen, und ehe uns die Verknuͤ- pfungen der Dinge vorgekommen sind, bey wel- chen allein dieselben sich haben entdecken lassen. Wie viel allgemeine Saͤtze und Sentenzen, und Regeln und Sittenspruͤche koͤnnen wir nicht schon auswendig, ehe wir noch den kleinsten Theil der vorlaͤufigen Ideen haben, an deren Kette jene erst das lezte Glied seyn sollten. Unsere Ammen und unsere Lehrmeister bringen uns eine Menge solcher praͤsumtiver Kenntnisse durch Woͤrter und Formeln bey, von denen wir vor der Hand nur so viel wissen, daß etwas dabey gedacht werden soll, und von andern gedacht worden ist, die wir aber erst hinterdrein, und oft sehr spaͤt, mit wahren Gedanken ausfuͤllen koͤnnen. Wir hoͤren und re- den schon viel von menschlichen Handlungen und Tugenden und Fehlern, ehe wir noch einen Men- schen mit Aufmerksamkeit haben handeln gesehen. Je mehr also die natuͤrliche Ordnung unsrer Auf- klaͤrung umgekehrt wird, je mehr woͤrtliche ab- Verschiedenheiten in den Werken strakte Ideen vor den sinnlichen und Erfahrungs- ideen vorhergehen, je mehr der Beobachtungsgeist dem System nachfolgt, und dasselbe nur zu bestaͤ- tigen sucht, desto mehr Gleichheit unter den Be- griffen mehrerer, die izt bloß den gemeinschaftli- chen Theil ihrer Faͤhigkeiten und nach einerley Vorschrift geuͤbt, und den eigenthuͤmlichen ver- nachlaͤßigt haben; desto weniger Originelles also. Und so finden wirs auch in der That, wenn wir die Werke der Alten und Neuern ansehen. Muß es nicht einen etwas denkenden Menschen wundern, wenn er hoͤrt, daß alle die vornehm- sten Gattungen der Dichtkunst, die, welche noch bis auf den heutigen Tag den ganzen Umfang menschlicher Werke in dieser Art zu umfassen schei- nen, gerade zu der Zeit sind erfunden und festge- sezt worden, da man am wenigsten uͤber die Na- tur dieser Gattungen, und uͤber die Verschieden- heiten, deren dieselben faͤhig waͤren, nachdenken konnte? Ist es nicht augenscheinlich, daß diese verschiedene Dichtungsarten nur so viel verschie- der aͤltesten und neuern Schriftsteller. dene Gestalten waren, die die Begriffe in dem Kopfe der ersten Schriftsteller annahmen? Daß die Klassifikation derselben, die wir izt als noth- wendig ansehen, zum Theil von dem zufaͤlligen Umstande abhieng, daß gerade solche und solche Genies die ersten waren, die die Aufmerksamkeit der Nationen auf sich zogen? Der erste poetische Erzaͤhler alter Geschichte, und der, welcher in der Ode die Empfindungen bloß aus den Thatsachen herauszog, und diese als eine Art groͤbern Stoffs liegen ließ, und der, welcher die Begebenheiten vor den Augen seiner Zuschauer vorgehen ließ: waren das Leute, welche bemerkt hatten, wie vie- lerley Formen die Vorstellung einerley Sachen an- nehmen koͤnnte? Oder geriethen sie nicht vielmehr darauf, weil sie nach keinem Muster gebildet, sich bloß den Bewegungen ihres eignen Geistes uͤber- ließen, und also durch die groͤßre Leichtigkeit, die sie fanden, sich die Sachen auf die eine als auf die andre Art vorzustellen, getrieben wurden, diese zu waͤhlen? Sobald aber die ersten Schriftsteller einen Grad von Ansehen und Ruf erhalten hat- Verschiedenheiten in den Werken ten, so wurde nunmehr die natuͤrliche Wirksam- keit der nachfolgenden gestoͤrt. Jedermann war auf diese Werke aufmerksam, und machte sich mit denselben bekannt. Eine neue Laufbahn zur Ehre und zur Achtung war geoͤffnet. Am Ende dersel- ben sah man diese Maͤnner angelangt. Jeder- mann sezte sich also nunmehr in Bewegung; nicht mehr dahin, wohin er selbst natuͤrlicherweise ohne Wegweiser gegangen seyn wuͤrde, sondern dahin, wo er sahe, daß andre vor ihm gluͤcklich gewesen waren. Endlich kam die Philosophie, die immer Gruͤnde findet, warum das Ding, das auf die eine Art geschehen ist, nur auf diese einzige Art geschehen konnte, theilte die Dichtkunst 2 priori in so viel Klassen, als der Zufall und die Natur der ersten Dichter verschiedene Werke hervorge- bracht hatten, und schraͤnkte nun vollends die Freyheit der folgenden Schriftsteller durch den Schein von Vollstaͤndigkeit ein, den sie dieser Klas- sification gab. So haben bey allen Arten der Erfindungen die besondern Umstaͤnde, die Talente und der Ge- der aͤltesten und neuern Schriftsteller. schmack der ersten Person, die durch dieselbe be- kannt worden ist, entschieden, nach welchen Re- geln alle kuͤnftige arbeiten sollten. Die erste Ent- deckung eines neuen Werks zum Nutzen oder zur Bequemlichkeit der Gesellschaft, ist ein Werk des Zufalls, das heißt, eines Zusammenflusses von Ursachen, die wir nicht aus einander setzen koͤn- nen. Sobald der Mensch die Fruͤchte derselben genießt, so giebt ihm seine Traͤgheit so viel An- haͤnglichkeit an die Form, unter welcher er die Sache zuerst gesehen hat, daß nun gar nicht mehr davon die Rede ist, ob nicht vielleicht, wenn noch nichts erfunden waͤre, sein eigner Verstand ihn auf einem andern Wege zu demselben Ziele wuͤrde gefuͤhrt haben. Eine zweyte Erfindung kostet oft mehr als die erste, weil man, außer der Schwierigkeit der Unternehmung selbst, noch zugleich den Hang der Nachahmung uͤberwinden muß. In der That ist es wohl begreiflich, daß die Empfindungen des Menschen in Versen oder in Prose sich auf nicht mehr als vier oder fuͤnferley L Verschiedenheiten in den Werken Arten sollten mittheilen lassen; daß es entweder eine Erzaͤhlung mit Goͤtter- und Heldengeschich- ten und Wundern und Erscheinungen; oder eine dialogische Vorstellung, und zwar diese, wenn sie traurig ist, zwischen Koͤnigen und Fuͤrsten, und wenn sie lustig ist, zwischen Buͤrgern und Bedien- ten; oder daß es ein Gesang, und in diesem als- dann nur Empfindungen mit Enthusiasmus und Unordnung; oder daß es endlich eine Fabel seyn muͤsse, wenn etwas ein Gedicht seyn soll? Man stelle sich einmal vor, unser Klima waͤre zuerst bevoͤlkert, unsere Nation zuerst civilisirt, unsere Sprache zuerst ausgebildet worden; unsere Reli- gion, unsere Geschichte, unser Naturkenntnisse, unsre Regierungsformen waͤren die aͤltesten gewe- sen. Haͤtte sich wohl auch ein einziges Stuͤck der alten Dichtkunst so vorstellen lassen, wie es izt ist? Haͤtte wohl irgend ein Mensch an Epopeen und Oden und Schauspiele nach Art der Alten denken koͤnnen? Wuͤrden wir wohl, wenn wir von der ganzen Natur und dem menschlichen Ge- schlechte nichts weiter gewußt haͤtten, als was der aͤltesten und neuern Schriftsteller. wir izt wirklich vor Augen haben, alle die Ein- richtungen abgerechnet, die schon den Geist der alten Zeit in die unsrige verpflanzen; wuͤrden wir wohl auf viele von den Regeln gekommen seyn, die izt die klassischen Schriftsteller der neuern be- obachten? Man sehe nur, wie genau die ganzen For- men unserer poetischen Werke zu der Lage und Verfassung und Geschichte von Griechenland, und wie wenig sie zu der unsrigen passen! Bey jener machen sie einen Stein des ganzen Gebaͤudes aus, bey uns sind sie ein angeflickter Zierrath. Ihre Epopee enthielt ihre aͤlteste Geschichte, den Ur- sprung ihrer Staͤdte und ihrer großen Geschlech- ter. Was der Dichter dort in eine zusammen- haͤngende Erzaͤhlung brachte, das hoͤrte stuͤckweise schon das Kind an der Brust seiner Mutter, das besang der Juͤngling an den Festen der Goͤtter und Helden, davon redete der Sachwalter vor Gerichte, der Patriot im Rathe, der Herrfuͤhrer im Felde. Ihre Oden, ihre Schauspiele, der Stoff und die Form derselben, waren in die be- L 2 Verschiedenheiten in den Werken sondern Ceremonien ihres Gottesdienstes, oder in die besondern Feyerlichkeiten ihrer Zusammen- kuͤnfte, oder in die Verfassungen ihrer Regierungs- formen so eingewebt, daß sie nur unter diesen auf alle Weise ihre Veranlassung, ihre Beziehung, ihre volle Wirkung hatten. Der Glanz, den ein beruͤhmt gewordner Dich- ter oder Redner von sich wirft, blendet ohne Zweifel seine unmittelbaren Nachfolger am mei- sten, und die Nachahmungssucht ist in der That niemals ausschweifender und sklavischer, als gleich nach der Epoque der Erfinder. So war es in Griechenland, so in Rom, so in Italien zu den Zeiten Petrarchs. Die ersten Dichter wurden von den naͤchsten Jahrhunderten nicht bloß als Originale angesehen, die man aus freyer Hand nachzeichnen wollte, sondern als Modelle, in wel- che man sein Werk bis auf die kleinsten Fugen passen mußte. — Nach und nach, da die Anzahl der aufgeklaͤrten Voͤlker, unter denen es Dichter giebt, groͤßer geworden, haben sich auch die Ori- ginale vermehrt: die Verehrung hat sich getheilt, der aͤltesten und neuern Schriftsteller. die Philosophie hat uns Moͤglichkeiten gewiesen, wo wir auch noch keine Beyspiele haben, und wir, die wir izt so spaͤt kommen, haben eben dadurch, daß uns so viele Muster zum Nachahmen uͤberlie- fert worden, den Vortheil erlangt, daß es uns leichter wird, mitten unter der Nachahmung noch etwas von dem Eignen unsers Kopfes und Her- zens zu behalten. So erhaͤlt der menschliche Geist in seinem wei- testen Fortgange auf einige Art das Recht wieder, was er bey seinen fruͤhesten Versuchen gehabt hat- te. Die ersten Genies waren Originale gewisser- maßen aus Nothwendigkeit. Was haͤtten sie anders seyn sollen, da sie die ersten waren? Die nachfolgenden waren viele Jahrhunderte durch, aus Traͤgheit und aus Bewunderung, ihre Nach- ahmer. Dieser Einfluß wuͤrde vielleicht nicht so lange und so merklich fortgedauert haben, wenn nicht Zwischenzeiten von Unwissenheit und Barba- rey den menschlichen Geist auf seiner Laufbahn aufgehalten, oder ihn beynahe wieder ganz bis an die Schranken zuruͤckgebracht haͤtten. Und L 3 Verschiedenheiten in den Werken waͤre es nur noch reine einfaͤltige Unwissenheit, ein Mangel aller Kultur gewesen: so haͤtte sie we- nigstens die Freyheit des Menschen in den Opera- tionen seiner Sinne und seines Verstandes wie- der herstellen koͤnnen. Die Gesellschaft und die Wissenschaften haͤtten alsdann ihre Reise wieder von vorne angefangen, und nach einer Reise aͤhn- licher Revolutionen waͤren unsere Homere oder Solons doch auch erschienen. Aber so waren es Jahrhunderte einer verkehrten ungestalten Gelehr- samkeit. Die Anhaͤnglichkeit fuͤr das Alterthum dauerte fort, aber man kannte und verstund die- ses Alterthum nicht mehr. Als man sich nun aus dieser Dunkelheit hervorarbeitete, so hatte man die alten Muster noch immer im Gesichte. Die Erhabenheit derselben uͤber alles, was in den spaͤ- tern Jahrhunderten oder von andern Nationen war hervorgebracht worden, war augenscheinlich. Die Hochachtung fuͤr sie mußte ohne Graͤnzen seyn. Die Schwierigkeit, die es kostete, sie zu finden und zu ergaͤnzen, und die Arbeit, die man sich machte sie zu erklaͤren, waren sehr geschickt, der aͤltesten und neuern Schriftsteller. diese Hochachtung noch hoͤher zu treiben. Nach und nach ist dieses Studium durch die Menge der schon vorhandenen Huͤlfsmittel weniger schwer, und nach eben dem Maaße weniger eifrig gewor- den. Der Mann von Genie hat auch bey der Lesung der Alten doch noch einige Muße uͤbrig be- halten, an seinen eignen Ideen zu arbeiten. — Die Philosophie hat endlich ihr Licht auch an diese Gegenstaͤnde gebracht. Sie hat uns die Regeln, die ihren Grund in dem Bestaͤndigen der mensch- lichen Natur haben, von denen unterscheiden ge- lehrt, die aus dem veraͤnderlichen Zustande der- selben fließen. Alles das zusammengenommen hat zwar nicht unsrer Litteratur die Grundzuͤge nehmen koͤnnen, die von der alten griechischen und roͤmischen in ihr liegen: aber es hat doch wenigstens die Gestalten und Farben derselben geaͤndert. Eben diese Philosophie ist es, welche unsere Schriftsteller noch zu Originalen, wenigstens in einzelnen Theilen ihrer Werke, machen kann. L 4 Verschiedenheiten in den Werken Naͤmlich derjenige Theil der Dinge, der der Empfindung nicht unmittelbar offen liegt, der erst durch eine Reihe von Beobachtungen und Schluͤssen aus ihnen gefunden werden muß, wird da genauer erkannt, wo nicht jeder Mensch mit seinen Erkenntnissen immer von vorne anfangen, und alle die ersten einfachsten Erfahrungen wieder durchwandern muß, sondern wo er bey seinem Eintritte in die Gesellschaft das Resultat von den Erfahrungen seiner Vorfahren concentrirt erhaͤlt, und von diesen nunmehr ausgehen kann. Die aͤltesten Menschen sponnen sich so zu sagen den ganzen Faden ihrer Ideen selbst: sie kannten ihn deswegen genau, er war voͤllig ihre, aber weit fortgesezt war er nicht. Izt bekoͤmmt jeder Mensch durch Ueberlieferung und Unterricht schon ein ganzes Gewebe von Ideen in die Hand, das er selbst noch nicht uͤbersehen kann, das er indeß als einen unbekannten Schatz verwahret, bis er es nach und nach bey Gelegenheit aus einander wickelt. — Und alsdann erst, wenn er damit fertig ist, dasjenige, was er von fremden Gedan- der aͤltesten und neuern Schriftsteller. ken bekommen hatte, in seine eignen zu verwan- deln: alsdann erst kann er nun anfangen, um- herzugehen und sich selbst Gegenstaͤnde fuͤr seine eigne Bearbeitung aufzusuchen. Zu denjenigen Dingen, deren Kenntniß nicht bloß Empfindung, sondern auch Zergliederung des Empfundnen verlanget, gehoͤrt die Entstehung und die Abwechselung der Begierden; aber noch weit mehr die Art der Erzeugung und der Ent- wickelung der Ideen selbst, der Mechanismus, nach welchem die Seele bey ihren Operationen verfaͤhrt, die Triebwerke und die Gesetze ihrer Be- wegungen. Diese muͤssen wir also von Rechts- wegen besser kennen, als die Alten. Hingegen die Aeußerungen derfelben, die Geberdensprache, die von der Leidenschaft unwillkuͤhrlich ausgestoßnen Worte, alles, was vom innern Menschen merk- lich in den aͤußern uͤbergeht; das konnten sie so gut wissen, wie wir, denn es gehoͤren nur Augen und Aufmerksamkeit dazu; ja sie bemerkten es viel- leicht besser, eben weil sie nichts weiter zu bemer- ken hatten. Daraus entspringen zween Unter- L 5 Verschiedenheiten in den Werken schiede zwischen unsern Dichtern und den ihrigen. Erstlich: Jene zeigen uns mehr das Innere, diese mehr das Aeußere der menschlichen Handlungen. Unsere Dichter sind schon eine Art Metaphysiker, und muͤssen es fast fuͤr uns seyn. Sie zergliedern die Empfindung, die der Alte ganz einfach durch ein Wort ausgedruͤckt haͤtte, in die Summe der einzelnen Bewegungen, aus denen sie sich erklaͤren laͤßt. Sie sagen uns nicht bloß die Gedanken, die der wirklich hatte, welcher in der vorgestellten Verfassung war, sondern auch die, welche bloß dunkel in seiner Seele zum Grunde lagen, und in der Leidenschaft sich aͤußerten, ohne von dem Ver- stande bemerkt zu werden. Sie sondern in dem Gemaͤlde der menschlichen Seele die Zuͤge, die in Eins verlaufen waren, von einander ab, und lassen die geheimern kleinern Triebfedern einzeln vor unsern Augen spielen, die die Natur uns nicht anders als in ihrer vereinigten Wirkung zeiget. Der Alte hingegen nennt das Phaͤnomen so im Ganzen, wie wir es sehen, beschreibt und erklaͤrt nichts; ist genau, reich, umstaͤndlich, wenn er der aͤltesten und neuern Schriftsteller. die Wirkungen erzaͤhlt; unbestimmt, arm, kurz, wenn er ihre Ursachen angiebt. Zweytens: Wenn unsere Dichter originell seyn sollen, so koͤn- nen sie es nicht anders seyn, als durch neue Ent- deckungen in diesem Theile der Natur; der andere Theil ist erschoͤpft, oder fuͤr uns zerstreute Zu- schauer weniger sichtbar. Und so sind auch die- jenigen originell geworden, welchen wir zu un- sern Zeiten dieses Verdienst zugestanden haben. Sie haben irgend eine neue Klasse der Empfindun- gen wahrgenommen, verborgene Unterschiede und Schattirungen sonst aͤhnlicher Veraͤnderungen der Seele entdeckt, die Begriffe, die in einer zusam- mengesetzten Vorstellung oder einer Begierde ver- borgen liegen, richtiger erforscht. Die Alten konnten originell seyn, selbst in dem ganz sichtba- ren Theile der Natur. Der Vorzug, den in diesem Stuͤcke unser Jahrhundert vielleicht vor allen uͤbrigen voraus hat, ist augenscheinlich. Man muͤßte in der That seine eigene Empfindung verleugnen, wenn man sagen wollte, daß man den Menschen von seiner Verschiedenheiten in den Werken innern Seite, die Philosophie seines Herzens, in den Alten mehr oder nur eben so gut kennen lern- te, als in einigen vortreflichen Werken der Neuern. Vielleicht sind dafuͤr Handlungen und Reden bey jenen genauere Kopien der damaligen Natur, als sie es bey unsern Dichtern von der unstigen sind. Unsere Imagination bekoͤmmt dort vielleicht ge- treuere Bilder: aber unser Verstand erhaͤlt weni- ger Begriffe, oder weniger Unterschiede unter aͤhn- lichen Begriffen. Unser Herz wird vielleicht hef- tiger angegriffen; aber die Schlaͤge sind einfoͤrmi- ger, und zielen mehr darauf ab, das Ganze un- serer Empfindungen uͤberhaupt in Bewegung zu setzen, als eine jede einzelne Saite derselben beson- ders zu ruͤhren. Kein Unterschied zwischen den alten und neuen Dichtern ist sichtbarer als der, daß jene mehr Dinge wußten und schilderten, dieser ihre Kennt- nisse eingeschraͤnkter, aber tiefer sind. Es giebt izt unter dem Haufen der wißbaren Dinge einen Theil, der, so zu sagen, das gemein- schaftliche Gut aller menschlichen Geister aus- der aͤltesten und neuern Schriftsteller. macht, Gegenstaͤnde, die allen gleich wichtig, un- gefaͤhr gleich bekannt sind, und deren Erlernung die gewoͤhnliche Art der Uebung ist, die jeder sei- nem Verstande giebt. Andere hingegen sind nur das Eigenthum einer gewissen Gattung von Men- schen; die uͤbrigen kennen sie nicht: und von der Unwissenheit bis zur Verachtung ist nur noch ein Schritt: — sie nehmen auch keinen Theil daran. Ein solcher Unterschied war in der ersten Epoche weniger sichtbar. Der alte Dichter breitete sich also in der That uͤber den ganzen Umfang der Na- tur, der Kuͤnste und der Geschaͤfte des Menschen aus. Die Beschreibung eines Wagens, eines Rades, einer Handarbeit, eines Schildes, eines Gebaͤudes war fuͤr ihn beynahe gleich erheblich; alles war noch neu. Heute zu Tage ist der Dich- ter in allem, was zu den Arbeiten der niedern Klassen gehoͤrt, unwissend, und der Leser in Absicht derselben ekel. Der eine ist nicht im Stande, sie zu beschreiben, und der andere hat kein Interesse, sie kennen zu lernen. Verschiedenheiten in den Werken Von wie viel Sachen mußte Homer nicht Kenntnisse haben, von denen unsre heutigen Dich- ter nichts wissen, eben deswegen nichts wissen, weil sich izt so viel davon wissen laͤßt; aber nur durch Studium und Fleiß, da Homer, zu dessen Zeit jede Klasse der Kenntnisse noch arm war, leicht den ganzen Vorrath einsammeln konnte, ohne selbst recht zu wissen, wie er zu demselben ge- kommen war. Welcher Dichter weiß izt bey uns, wann die Plejaden auf- und untergehen? welcher Wind der angenehmste und welcher der Regen- wind sey? welche Tage zur Saat dieser oder jener Frucht taugen? Wer kennt den Bau des Pfluges, des Weberstuhls, des Schiffes, und weiß die Handgriffe, durch die sie gebraucht werden? Wem ist die Beschaffenheit und die Lage aller Staͤdte und Doͤrfer seines Vaterlands so gut be- kannt, als dem Homer die von Griechenland und Kleinasien? Wer kennt die Ruͤstung unserer Sol- daten, ihre Art zu fechten, die Anordnung eines Heeres so gut? Wer ist von den Erdarten, den besondern Produkten, dem Klima jeder Provinz der aͤltesten und neuern Schriftsteller. so gut unterrichtet, als Homer, dessen gewoͤhn- lichste Beywoͤrter davon entlehnt sind? Alles das sind Dinge, die uns entwischen, weil wir unsern starren Blick nur auf Einen oder wenige Gegen- staͤnde gerichtet haben, um diese ganz zu durch- schauen; da jene ihr freyes unangestrengtes Auge in der ganzen weiten Welt umherschweifen, und auf jedem Gegenstande ruhen ließen, der sich durch irgend eine Art von Neuheit oder Sonderbarkeit auszeichnete? Was insbesondre die Natur außerhalb dem Menschen betrifft, von wie viel Thieren oder Pflanzen koͤnnen unsere Dichter reden, ohne un- verstaͤndlich oder niedrig zu werden? Wie viele von den Erscheinungen der todten Natur sind nicht gaͤnzlich aus der Zahl nachahmbarer Objekte bey uns ausgestrichen, weil sie weder recht genau ge- kannt werden, noch edle Namen haben, noch bey dem Leser diese schon vorlaͤufige Kenntniß der Sache finden, ohne welche die beste Beschreibung fuͤr ihn bloße Woͤrter sind? Andere werden noch in unsere Nachahmungen aufgenommen, aber wir Verschiedenheiten in den Werken schildern sie nicht nach unsern eigenen Beobach- tungen, sondern nach Begriffen, die wir von an- dern und großentheils von alten Dichtern uͤber- kommen haben. Sehr wenige sehen die Natur so, wie sie innerhalb ihres eignen Gesichtskreises liegt, und wie sie deswegen von einem Bezirke zum andern abwechselt. Den Beschreibungen der Alten sieht man es an, daß sie auf der Stelle sind gemacht worden; alles schickt sich nur auf ihr Land, ihre Menschen, ihre Geschichte. Selbst jede ihrer Erdichtungen hieng auf gewisse Weise mit der Wahrheit zusammen. Unsere Erdichtun- gen gehen in die weite Welt hinaus, und sehen dem einen Lande, der einen Epoche so aͤhnlich, wie der andern. Wir richten uns bloß nach den allgemeinen Gesetzen der Natur; sie weit mehr nach den Verfassungen und Denkmaͤlern ihres Volks. Aus dem, was wir bisher gesagt haben, wird sich erklaͤren lassen, was die Simplicitaͤt heiße, die man den aͤltesten Schriftstellern als einen ih- nen eignen Charakter zuschreibt, und die, wie der aͤltesten und neuern Schriftsteller. man vorgiebt, die groͤßte Schwierigkeit fuͤr den Uebersetzer derselben in eine unsrer Sprachen aus- macht. Diese Simplicitaͤt ist nichts anders, als die zusammengefaßte unentwickelte Empfindung aller der Verschiedenheiten zwischen der Art, wie wir die Sachen sehen und ausdruͤcken, und zwi- schen der ihrigen. Ungefaͤhr folgende Stuͤcke sind einige von den Ursachen dieser Empfindung. Sie schildern alle Arten von Gegenstaͤnden, seltene und gemeine, bekannte und fremde: wir sind ge- wohnt, nur gewisse Gegenstaͤnde der Beschreibung und Betrachtung werth zu halten. Sie gehn mit ihrer ganzen Absicht niemals weiter, als uns das Bild der Sache, von der sie reden, zu uͤberliefern: wir brauchen die Begebenheiten, die wir erzaͤhlen, die Objekte, die wir schildern, gemeiniglich nur als Gelegenheiten, eine Anzahl guter Ideen, die wir in unserm Kopfe gesammelt haben, anzubrin- gen. Sie legen niemals in den Ausdruck einen groͤßern Reichthum von Gedanken, als der in dem Gegenstande selbst liegt: wir haben fast immer noch außer der Absicht, der Imagination des Le- M Verschiedenheiten in den Werken sers ein gewisses Bild vorzustellen, die zweyte, in seinem Verstande gewisse Betrachtungen zu ver- anlassen. Sie suchten geringscheinende Gegen- staͤnde, wenn sie ihnen auf ihrem Wege aufstießen, nicht durch feine Nebenzuͤge, durch veranlaßte An- wendungen derselben, durch bewirkte kleine Ver- haͤltnisse mit erheblichern, wichtig zu machen: bey uns wird der gute Schriftsteller in diesem Falle immer eine Art von Kunstgriff gebrauchen, uns noch an etwas anders denken zu lassen, als was er geradezu sagt. Sie nahmen allen ihren Stoff fast durchgaͤngig aus der Geschichte ihres Landes, und noch dazu aus einer gewissen Epoche dersel- ben; sie erfanden niemals ganz neue Subjekte, sondern setzten hoͤchstens zu den alten einige neue Umstaͤnde hinzu; alle ihre Fabeln haben auch des- wegen einen gemeinschaftlichen Charakter: wir haben in den unsrigen mehr Mannichfaltigkeit, weil sie gauz von unsrer Wahl abhaͤngen. Sie suchten in ihren Gemaͤlden nur Wahrheit, nicht Abwechselung; und wenn deswegen in dem Laufe der Begebenheit dieselbe Sache wieder vorkam, so der aͤltesten und neuern Schriftsteller. scheuten sie sich nicht, sie auf dieselbige Art zu sa- gen: wir sind mit der Richtigkeit noch nicht zu- frieden, oder wir opfern auch wohl einen Theil derselben auf, wenn nur unsre Neubegierde unter- halten wird; das immer Veraͤnderte in den Vor- stellungen ist fuͤr unsre Seelen, deren uͤbrige Trieb- federn schon zum Theil abgenutzt sind, ein noth- wendiger Reiz geworden, wenn sie uns gefallen sollen. Sie richten sich in der Umstaͤndlichkeit ih- rer Schilderungen nicht nach der Rangordnung, die unser Stolz oder auch der Mißbrauch gewisser Sachen unter den Gegenstaͤnden gemacht hat: bey uns werden nur wenige ausfuͤhrlich gezeigt, andere kommen nur beruͤhrt wieder, noch andere muͤssen wir mit einer Decke uͤberziehen, die sie ge- heimnißreicher und anziehender zugleich machen. Sie fassen in ihrem Ausdrucke alles das in Eins zusammen, was in der Empfindung der Seele nur als einfach vorkoͤmmt: wir sondern das alles von einander ab, und druͤcken es einzeln aus, was der Verstand Mannichfaltiges in dieser Em- pfindung wahrnimmt. Ihre Vorstellungen gehen M 2 Verschiedenheiten in den Werken sehr auf das Einzelne, und bestimmen jeden Theil der Sache, wenn ihr Anblick geschildert werden soll; sie halten sich bloß an das Allgemeine, und geben nur uͤberhaupt die Gattung an, wenn ihre Kraͤfte und Gesetze beruͤhrt werden: wir hingegen geben von den sichtbaren Veraͤnderungen nur un- gefaͤhre schwankende Bilder, von den geistigen ge- naue zergliederte Be griffe. Aus dem Haufen dieser Verschiedenheiten wol- len wir noch besonders zwey herausheben. Erstlich: Alle alte Gedichte der Griechen sind eine Art von Denkmaͤlern, die zwar nicht die ge- naue Wahrheit und die wirkliche Geschichte ent- halten, aber doch etwas ihr Aehnliches uͤberlie- fern. Alles, was ihre Dichter von ihren Goͤt- tern und Helden erzaͤhlen, so unwahrscheinlich es auch seyn mag, wenn es mit der Natur der Dinge und des Menschen uͤberhaupt verglichen wird, be- koͤmmt doch eine Art von Glaubwuͤrdigkeit, wenn man es mit der Natur und der besondern Ge- schichte des Landes vergleicht. Das System ih- rer politischen und gottesdienstlichen Einrichtun- der aͤltesten und neuern Schriftsteller. gen, viele unlaͤugbare Facta der folgenden Zei- ten, viele fortdauernde Spuren der aͤltesten Pe- riode haͤngen auf gewisse Weise mit den Fabeln der Dichter zusammen, und scheinen dieselben voraus- zusetzen. Zwischen der wirklichen und der mytho- logischen Geschichte war doch ein gewisses Band, das, wenn es nicht der letztern die Glaubwuͤrdig- keit erwarb, ihr wenigstens mehr Interesse gab, und sie ungefaͤhr zu eben dem machte, was un- sere Hypothesen in der Naturlehre sind, zu Vor- aussetzungen, aus denen sich Umstaͤnde und Be- gebenheiten, die wirklich erfolgt sind, erklaͤren las- sen. Die Dichtkunst scheint sich bey allen Voͤl- kern, die ihre Ausbildung nicht von andern be- kommen haben, ihre Goͤtter und Helden und die ehrwuͤrdigsten Zeiten ihres hoͤchsten Alterthums zugeeignet zu haben. Wie Homer und Sopho- kles auf den trojanischen Krieg, so koͤmmt David immer auf die Ausfuͤhrung aus Aegypten und den Untergang der Aegypter zuruͤck. Nothwendig aber mußte das, was wir zu unsern Zeiten als die Absicht der Dichtkunst anse- M 3 Verschiedenheiten in den Werken hen, durch diese eingeschraͤnkte Wahl ihrer Sub- jekte zum Theil vernichtet, zum Theil in einen bloßen Nebenzweck verwandelt werden. Die Per- sonen wurden weder gut noch boͤse von den Dich- tern gewaͤhlt; sie wurden so genommen, wie sie jedermann glaubte. Die geheimen Triebfedern der unsichtbar wirkenden Kraͤfte sprachen den Dich- ter davon frey, die Bewegungsgruͤnde und Ver- anlassungen unter den sichtbaren Kraͤften und in ihren bekannten Gesetzen aufzusuchen. Die Be- gebenheit im Ganzen ward schon als bekannt und geglaubt vorausgesetzt; es wurde also nicht mehr gefragt, ob sie habe geschehen koͤnnen: nur das, was nach dieser Voraussetzung in den einzelnen Theilen der Handlung hatte erfolgen koͤnnen oder muͤssen, nur das war dem Dichter uͤbriggelassen, nach seiner Kenntniß von Natur und Wahrschein- lichkeit zu bestimmen. Das Principium war die Ueberlieferung, aus diesem durfte nur richtig ge- folgert werden. — Die moralischen Zwecke also, Thorheiten zu verspotten, oder Tugenden zu em- pfehlen, oder Wahrheiten zu lehren, fanden bey der aͤltesten und neuern Schriftsteller. Leuten nicht statt, die nicht einen eigenen Stoff bearbeiteten, sondern einen solchen, welcher das Eigenthum der Nation geworden war. — Ihre Fabeln waren eben deswegen einfacher, nicht bloß weil sie das Einfache liebten, weil ihr Genie frucht- barer war, aus sehr wenigen Zufaͤllen eine Menge interessanter Reden und Handlungen herauszuzie- hen; sondern vornehmlich, weil ihnen diese Fa- beln so einfach waren uͤberliefert worden, weil es Fabeln waren, die man nicht zum Vergnuͤgen er- dichtet hatte, sondern die nach und nach durch un- merkliche Zusaͤtze und Abaͤnderungen aus der er- sten Tradition waren gebildet worden. — Ueber- haupt muß alles das, was von einem einzigen Kopfe in der Absicht hervorgebracht wird, zu un- terrichten oder zu ruͤhren, einen ganz andern Cha- rakter haben, als was so zu sagen das Resultat von tausend Koͤpfen, und der Zusammenfluß von Ideen und Meynungen einer noch ganz inculti- virten Nation ist. Fuͤr uns ist dieses Band, das die dichterische Welt mit der wirklichen zusammenhieng, zerrissen; M 4 Verschiedenheiten in den Werken die Erdichtungen oder selbst die Geschichten, die die Dichter bearbeiten, koͤnnen auf uns keine an- dere Beziehung haben, als die ihnen zukommen, in so fern es menschliche Begebenheiten sind; wir muͤssen also nothwendig von einer andern Seite den Eindruck verstaͤrken, der ihnen von der einen abgeht. Unser Verstand und unser Herz sind dem Vergnuͤgen verschlossen, das dem Griechen die Thaten seiner aͤltesten Helden, durch seine aͤltesten Weisen beschrieben, machen mußten; aber beide stehen immer noch dem Vergnuͤgen offen, das mannichfaltige und lebhafte Ideen oder gesell- schaftliche Neigungen in ihnen erregen. Unser Dichter muß nothwendig mehr Absichten sich vor- setzen, als sein Werk unmittelbar ankuͤndigt. Bey der Bildung unserer neuen Dichtkunst ist ein Streit von entgegenwirkenden Ursachen merk- lich. Durch die Bewunderung, die man fuͤr die Alten hatte, wurde man zu der Nachahmung der- selben gezogen, man suchte, so viel man konnte, sich in ihre Zeit und Umstaͤnde zu versetzen, ihre Denkungsart anzunehmen, und sah die Aehnlich- der aͤltesten und neuern Schriftsteller. keit mit ihnen fuͤr das hoͤchste Verdienst eines Werks an. Durch die Veraͤnderungen hingegen, welche unterdessen in Sprache und Religion und Wissenschaften und sogar Aberglauben vorgegan- gen waren, wurde diese Nachahmung zum Theil unmoͤglich. Man konnte nicht mehr voͤllig sich in den Gesichtspunkt setzen, aus dem die Alten die Dinge angesehen hatten, oder man kam immer von Zeit zu Zeit wieder zu dem seinigen zuruͤck. So vermischten sich die Farben des Antiken und des Modernen; Begriffe, die ihre Gegenstaͤnde nur in jener Zeit hatten, mit einer Ausfuͤhrung derselben, die nur auf die unsrige paßte. Und diese Nachahmung mußte nothwendig mehr auf den aͤußern Bau, auf die Wahl der Ver- zierungen, auf die Form des Werks gehen, als auf das innere Wesen desselben. Man uͤberlie- fert uns die Alten als Muster der Vortrefflichkeit, die das Zeugniß aller Jahrhunderte fuͤr sich ha- ben. Aber diese Vortrefflichkeit nehmen wir an- fangs nur auf Treu und Glauben an, und weit eher, als wir sie durch uns selbst in ihren Werken M 5 Verschiedenheiten in den Werken zu finden im Stande sind. Denn die Sprachen, in denen sie geschrieben sind, erfordern ein langes Studium; und wenige gelangen dazu, sie bis auf den Grad zu kennen, daß das Lesen des Ori- ginals auf sie denjenigen unmittelbaren Eindruck des Vergnuͤgens macht, nach welchem wir ohne weitere Regeln von dem Vorzuge eines Werks ur- theilen koͤnnen. Dasjenige, wovon dieser Ein- druck abhaͤngt, liegt in der That bey den Alten wie bey den Neuen weit weniger in dem, was sich durch allgemeine Regeln sagen, erklaͤren und fin- den laͤßt, als in der unnennbaren Richtigkeit und Malerey des Ausdrucks; in tausend Kleinigkei- ten, die so in das Innere der Sprache verwebt sind, daß nicht der Verstand, sondern nur das Gefuͤhl sie bemerken kann. Man darf sicher aus der Schwierigkeit, die es kostet, sich ein solches Gefuͤhl zu erwerben, und der Menge der Bewun- derer, die dem unerachtet die Alten haben, schlies- sen, daß der groͤßte Theil es nur aus einer falschen Scham ist; sie fuͤrchten durch einen oͤffentlichen Widerspruch gegen die allgemeine Meynung sich der aͤltesten und neuern Schriftsteller. den Verdacht eines uͤbeln Geschmacks oder eines Mangels an Kenntniß zuzuziehen. Was also von den Alten am meisten nachge- ahmt wurde, was sich bey ihnen auf etwas All- gemeines und Deutliches bringen, in Regeln ab- fassen, in ein System vereinigen ließ, das ist ihre Geschichte, ihre Maschinen, ihre Metaphern, der Gang ihrer Epopee, ihres Trauerspiels, ihrer Ode, ihre Erklaͤrungen der natuͤrlichen Phaͤnomene, ihre politischen Gesinnungen (z. B. ihre ausschließende Hochachtung fuͤr die Tapferkeit und fuͤr die Ehre eines Kriegers), ihre Anzeichen und Prophezei- hungen, u. s. w. — Im Einzelnen hingegen, in der Ausfuͤhrung behalten die Werke der Neuern, so sehr sie sich auch mit dem Geiste der Alten moͤgen genaͤhrt haben, doch immer das Gepraͤge eines Jahrhunderts, das immer weniger und weniger sinnlich wird; dessen Imagination sich immer weiter von der bloßen Zusammensetzung von Bildern entfernet, und unter der Aufsicht der Philosophie nur an der Verschoͤnerung allgemeiner Ideen arbeitet. Das Verschiedenheiten in den Werken System der Alten war rein, einfach, ganz allein durch ihre eignen Umstaͤnde bestimmt; das unsrige ist vermischt, zusammengesezt, der Abdruck zweyer verschiedenen Gestalten des menschlichen Geschlech- tes zugleich. Es ist eine bekannte Anmerkung, daß es sehr wenig schoͤn gesagte Gedanken giebt, die nicht et- was Falsches enthielten, die nicht, um schoͤn zu werden, etwas haͤtten muͤssen uͤbertrieben werden. Man muß entweder das in der vollkommensten Allgemeinheit ausdruͤcken, was nur auf einige Faͤlle paßt, oder man muß den hoͤchsten Grad nennen, wo nur ein niedrigerer vorhanden ist. Ideen, die nur einige Verschiedenheiten haben, muͤssen durch die Verbergung ihrer Aehnlichkeiten zu einem vollkommnen Kontraste erhoͤht, andere, die sich nur in einigen Merkmalen aͤhnlich sind, zur vollkommnen Uebereinstimmung gebracht wer- den. Man untersuche einmal die glaͤnzendsten Ideen aus den besten philosophischen Dichtern unsers Jahrhunderts, aus den Philosophen selbst, die aber zugleich schoͤn schreiben wollen, und frage der aͤltesten und neuern Schriftsteller. sich, ob die Sache genau immer so sey, wie sie sie vorstellen? ob es nicht oft eben so viel Ausnah- men als Faͤlle gebe, die unter die Regeln passen? ob nicht etwas von der Wahrheit habe verschwie- gen oder verfaͤlscht werden muͤssen, um die Vor- stellung stark und neu zu machen? Diese vorsetzliche Unwahrheit in den Gedan- ken, die ihren Ausdruck reizender macht, wuͤr- de ich zu einem unterscheidenden Charakter der Neuen machen, und hingegen das Matte und wie es scheint Kraftlose im Ausdrucke, mit einer genauen Wahrheit verbunden, zum Charakter der Alten. Wenn zum erstenmal ein beobachtender Geist eine Verbindung der Dinge, eine gewisse Folge von Ursachen und Wirkungen, eine Aehnlichkeit oder Verschiedenheit unter den Gegenstaͤnden, ge- wisse Regeln in den Operationen des Menschen und der Natur entdeckt hatte: so war die Neu- heit dieser Erfindung schon genug, den Ausdruck auffallend und stark zu machen. Ich begreife recht wohl, warum gemeine Gedanken, Senten- Verschiedenheiten in den Werken zen, die itzo in dem Munde unserer Kinder und unsrer Diener sind, in den ersten Zeiten einem Manne den Titel eines Weisen erwerben konnten; denn in der That solche Gedanken und Sentenzen sind alles, was uns die philosophische Geschichte von den meisten der ersten Weisen aufbehalten hat. Ein solcher Gedanke war von großem Werthe, als er das erstemal aus der Huͤlle der einzelnen Erfahrungen herausgezogen, und mit allgemei- nen Worten noch richtig und bedeutend abgebil- det wurde. Es gehoͤrte ein hoher Grad von Scharfsinn dazu, diese ersten Grundsaͤtze, auf die noch durch keine vorhergehenden allgemeinen Be- griffe die Seele gefuͤhrt wurde, der Natur selbst abzulernen. Man denke nur, wie schwer es uns itzt noch wird, itzt, da wir einen so großen Vor- rath von erklaͤrten zergliederten Ideen haben, de- ren Ausdruͤcke wir nur auf eine neue Art zusam- mensetzen duͤrfen, um das Eigenthuͤmliche unsrer eignen Ideen auszudruͤcken; wie schwer es uns dem unerachtet noch wird, ein Gefuͤhl, das wir ohne Anweisung oder Beyspiel, bloß durch die der aͤltesten und neuern Schriftsteller. Verbindungen und Umstaͤnde unsers eignen Le- bens bekommen haben, bis zu der Deutlichkeit zu erhoͤhen, daß es sich mit Worten verstaͤndlich aus- druͤcken und mittheilen laͤßt. Und man wird be- greifen, welches in der That die Groͤße eines Gei- stes seyn mußte, der, ohne diese Huͤlfsmittel, seine Sprache zum erstenmal zu dem Ausdrucke solcher ihm eignen Erfahrungen bringen, und die Form finden mußte, in welcher seine Idee kenntlich blieb. Aber mehr brauchte es auch alsdann nicht, sie vortreflich zu machen. Bey uns hingegen ist diese erste Anzahl von Ideen schon durch tausend Koͤpfe gegangen, von allen gedacht, gesagt und etwas beruͤhrt worden. Einen großen Theil davon ler- nen wir schon an der Brust unsrer Muͤtter, oder auf dem Arme unsrer Waͤrterinnen. Unser Um- gang, unsre Buͤcher, alles erfuͤllt uns mit solchen Grundsaͤtzen und Bemerkungen, und macht uns mit ihnen so bekannt, daß wir sie anfangen ge- ringe zu schaͤtzen. Ihnen also mehr Leben und Staͤrke in unsrer Seele zu geben, muͤssen sie durch den Ausdruck erhoͤht, geschaͤrft, verfeinert wer- Verschiedenheiten in den Werken den. Wenn man die Bilder und Ideen seines Kopfes fuͤr das Vergnuͤgen eines Fremden zurich- ten will, so muß man sie dem andern nicht bloß mittheilen, denn er hat die meisten derselben schon, und er wuͤrde sie also als ein Geschenk, das man ihm mit seinem Eigenthume machen wollte, ver- achten; sondern man muß ihm zugleich eine aus- gebreitetere Nutzbarkeit derselben, einen groͤßern Umfang von Faͤllen, die er darunter zusammen- fassen kann, eine groͤßere Mannichfaltigkeit von darinn verborgenen Vorstellungen zeigen, als er bisher in ihnen wahrgenommen hat. Was man feine Gedanken nennt, sind gemeiniglich solche, wo außer der ersten offenbaren und deutlich aus- gedruͤckten Verbindung der Ideen, noch eine an- dre verstecktere bloß angezeigte Verhaͤltniß dersel- ben unter sich oder mit gewissen Gegenstaͤnden ge- meynt ist. Starke Gedanken sind die, wo man- nichfaltige Wirkungen unter eine einzige Ursache, viele Faͤlle unter eine Regel, viele Ideen unter ei- nen einzigen Ausdruck gebracht werden. — der aͤltesten und neuern Schriftsteller. Wir finden einen großen Theil dieser Anmer- kungen durch eine Art von Originalen bestaͤtigt, die aus den alten Zeiten zu uns gekommen sind; ich meyne die Stuͤcke der alten hebraͤischen Poesie. Hier sehen wir eine andre Natur, andre Meynun- gen, andre Begebenheiten, eine andre Verfassung eben so ungehindert auf den Geist des Dichters wirken. In der That sind auch die Werke, die er hervorbringt, eben so originell, eben so seinem Volke und Lande angemessen, als die Werke der Griechen den ihrigen. Nur ist hier die Denkungs- art noch antiker, die Einbildungskraft noch ge- schaͤftiger, der Bilder noch mehr, der abstrakten Begriffe noch weniger, und diese noch schwanken- der; die Sprache nicht bloß allegorisch, sondern zum Theil noch hieroglyphisch; noch mehr Feuer und Enthusiasmus in der Beschreibung der sicht- baren Natur; noch weniger Kenntniß des innern Menschen, seiner Faͤhigkeiten und Neigungen; die Ideen noch alle mehr einzeln, alle gleichsam noch einfache Erschuͤtterungen der Empfindung, ohne bemerkte Verhaͤltnisse; aber alle diese Gegenstaͤnde N Verschiedenheiten in den Werken immer in Beziehung auf die Religion; der ganze Stoff der Dichtkunst durch die bestaͤndige Verbin- dung mit einer Gottheit belebt und veredelt, und zwar einer Gottheit nach dem wuͤrdigsten Begriffe, den sich je der menschliche Geist von diesem Wesen gemacht hatte. Auch diese Dichter haben wir nachzuahmen angefangen. Aber wir koͤnnen uns in der That noch weniger in ihre Zeit und in ihren Geist ver- setzen. Einmal sind der Denkmaͤler selbst zu we- nig. Nur eine lange und haͤufige Lektuͤre kann endlich aus der Menge dunkler verworrener Be- griffe, die jedes Stuͤck einzeln von dem Charakter einer solchen alten Zeit zuruͤcklaͤßt, ein klares Ganze machen. Ueberdieß wenn Sprache und Verfassung schon zu weit von uns entfernt sind, so geht der Unterschied der Denkungsarten und das Eigenthuͤmliche der Alten bis zum Unverstaͤndli- chen; wir haben nur ungefaͤhre, nur ungewisse Vorstellungen, wo wir von unsern gewoͤhnlichen zu weit abgehen sollen. der aͤltesten und neuern Schriftsteller. Alles also, was von den Alten und Neuen ist gesagt worden, giebt uns zusammengenommen folgende Charaktere von beiden: Die Alten waren Originale, weil sie nichts anders als die Natur selbst zum Muster hatten. Diese Natur war ihr Gegenstand nach allen ihren Theilen. Sie beobachteten ihre Erscheinungen in den verschiedensten Klassen; kein Theil der Dinge, keine Verrichtung des Menschen war ih- nen voͤllig fremd oder veraͤchtlich. Aber sie kann- ten auch von der Natur nichts als die Oberflaͤche, und sorgten fuͤr nichts weiter. Ihre Sprache war dazu gemacht, sinnliche Bilder auszudruͤcken, und ihr Geist hatte wenig andre. Selbst die rei- nen Ideen des Verstandes erschienen noch unter koͤrperlicher sichtbarer Gestalt. — Ihr Stoff war nicht das Werk ihres Witzes, sondern eine Folge ihres Zustandes, und also genau mit ihm uͤbereinstimmend. Das Gefallen war nicht ihre Absicht. Ihre Werke sind die Wirkungen eines sich selbst gelassenen Geistes, der in seinen Ope- rationen nur von der Natur der Dinge und sei- N 2 Verschiedenheiten in den Werken nem Instinkte geleitet, dieselben durch keine frey- willigen Entwuͤrfe und Absichten in ihrer Rich- tung veraͤndert. Die Neuen koͤnnen in den meisten Faͤllen nicht mehr Originale seyn, — nicht nur weil schon so viel vor ihnen ist gesagt, schon die ersten sicht- barsten Phaͤnomene der Natur ihnen sind wegge- nommen worden, sondern vornehmlich, weil sie sich eher mit den Beschreibungen als mit den be- schriebenen Gegenstaͤnden bekannt machen, und eher die Begriffe von den Dingen als ihre Bilder bekommen. — Die Natur hat den Augen jedes menschlichen Geistes eine eigene Struktur gegeben, damit die Natur sich anders in ihnen abbilden soll. Aber wir verschließen sie, und lassen uns dafuͤr erzaͤhlen, was andere vor uns gesehen haben. — Wo wir also noch original seyn koͤnnen, das ist in den feinern Beobachtungen innerer Eigenschaf- ten und Einrichtungen des menschlichen Geistes, der Denkungsart, der Sitten. — Die Gegen- staͤnde der Nachahmung sind weit eingeschraͤnkter. Ein Theil ist unbekannt, ein anderer veraͤchtlich der aͤltesten und neuern Schriftsteller. geworden. — Aber diese wenigen kennen wir besser, und haben sie mehr durchdrungen. Unsere Sprache ist fuͤr abstrakte Begriffe gemacht, und unser Geist hat ihrer weit mehr als Bilder. Wenn Verstandsideen durch Bilder ausgedruͤckt werden, so ist es nicht mehr Beduͤrfniß, sondern Zierrath; es ist nicht mehr die einzige, sondern eine uns fremde Art sie zu denken. — Wir waͤhlen unsern Stoff; unsre eignen Umstaͤnde koͤnnen uns nichts weiter als Bemerkungen des Einzelnen zur Aus- fuͤhrung verschaffen. — Unser Zweck ist das Ver- gnuͤgen unserer Leser und unser Ruhm. — Die Werke unsrer Zeit sind Denkmaͤler von dem, was der menschliche Geist nach Absicht, mit Bewußt- seyn und durch sich selbst hervorzubringen im Stande ist. N 3 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, Vermischte Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, dessen Schriften uͤber- haupt, und Charakter. Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der schoͤnen Wissenschaften und freyen Kuͤnste. U nsere Absicht ist, das Andenken eines vortreff- lichen Mannes und unsers Freundes zu er- neuern, indem wir zugleich von dem letzten Ge- schenke reden, das er uns und dem Publiko ge- macht hat. Wer Gellerten kannte, mußte schon voraus- sehen, was das Eigenthuͤmliche dieser Moral seyn wuͤrde. Er konnte keine tiefsinnigen Untersuchun- gen uͤber die ersten Triebsedern unsrer Natur und dessen Schriften und Charakter. die ersten Gruͤnde von Verbindlichkeit erwarten: aber er konnte wissen, daß er die Religion zum Grunde der Moral gesetzt; daß er die einzelnen Tugenden sorgfaͤltig erklaͤrt; ihre Bewegungs- gruͤnde auf die eindringendste Art eingeschaͤrft; die Mittel zu ihrer leichtern Ausuͤbung aus der Erfahrung geschoͤpft; daß er durchgaͤngig Eifer fuͤr die Religion, Zaͤrtlichkeit fuͤr die, welche er belehrte; daß er in den Begriffen Deutlichkeit ohne muͤhsame Zergliederungen, und Ordnung ohne strenge Methode; daß er im Vortrage An- muth und Beredsamkeit, den ruͤhrenden Ton vaͤ- terlicher Ermahnungen und die eindringende Stimme eines tugendhaften Freundes finden wuͤrde. Wer dieß in diesem Werke sucht, der findet es gewiß, und er wird Gellerten darinn erkennen. Wir haben schon oft, duͤnkt uns, das Urtheil gehoͤrt und gelesen: daß diese Moral kein System sey. Wir sollten denken, wenn ein System eine Reihe von Wahrheiten ist, die zusammenhaͤngen, und davon die vorhergehenden zum Verstande N 4 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, oder zum Beweise der folgenden angewandt wer- den, so ist dieß ein System. Denn die wichtig- sten Pflichten sind entweder ausdruͤcklich, oder bey Gelegenheit abgehandelt, die allgemeinen Grund- saͤtze sind vorausgeschickt, die besondern Tugen- den aus diesen Grundsaͤtzen hergeleitet. Wenn der Leser, welcher den Schriftsteller kennt, ihn selbst handeln gesehen, ihn reden ge- hoͤrt hat, wenn ein solcher Leser uͤberhaupt die Schriften des Mannes besser versteht; wenn er sich viele Stellen durch die Geberde desselben, durch seine Mienen, durch sein ganzes Betragen besser zu erklaͤren weiß, oder sie ruͤhrender und eindringender findet, so muß es bey dieser Moral vorzuͤglich statt finden. In der That sehen wir bey gewissen Stellen das Bild dieses ehrwuͤrdigen Mannes wieder vor uns; wir denken uns sein leidendes aber liebreiches Gesicht, wir hoͤren den Ton seiner Stimme, wir erklaͤren, wir verstaͤrken uns alles, was wir lesen, indem wir uns das hinzudenken, was seine Worte nicht auszudruͤcken vermochten, was aber in seiner ganzen Person, dessen Schriften und Charakter. und noch mehr in seinem Umgange und seinem Le- ben sichtbar wurde. Koͤnnten wir doch diese Empfindung unsern Lesern mittheilen! koͤnnten wir das Bild, das von ihm in unserer Einbil- dungskraft dasteht, zergliedern, ohne es zu zer- stoͤren, um auch dem Verstande unsrer Leser einige Zuͤge davon kenntlich zu machen! Aber auch das unvollkommenste Bildniß eines solchen Geistes und eines solchen Herzens muß immer noch ein einnehmendes Gemaͤlde geben, wenigstens muß es eine reizende Arbeit fuͤr den Maler seyn; und warum sollen wir nicht auch etwas auf unser ei- gnes Vergnuͤgen rechnen duͤrfen? Wenn in einem schoͤnen Koͤrper es irgend ein besonderer Zug, ein einzelner Theil ist, der ihn schoͤn macht: so ist es dem Maler leicht, zu tref- fen. Aber wenn die Schoͤnheit nicht in der aus- nehmenden Vortrefflichkeit eines Gliedes, sondern in der guten Bildung aller Theile, und in der Ue- bereinstimmung derselben liegt: dann wird es schwer, das, was man bey dem Anblicke auf ein- mal empfunden hat, durch einzelne Zuͤge nach N 5 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, und nach wieder darzustellen. Das letztere ist der Fall, wenn man den eigenthuͤmlichen Charakter des Gellertschen Geistes schildern will. Seine Talente waren gewiß groß, aber sie waren nicht groß durch den ausnehmenden Grad einer einzi- gen Faͤhigkeit, sondern durch die Vereinigung und die mittlere Proportion aller. So mußten die Talente eines Mannes seyn, dessen Schriften das Verdienst haben sollten, das Abbt den Gellert- schen zuschreibt, von seiner ganzen Nation gelesen, verstanden und geachtet zu werden; zu Aufklaͤ- rung der niedrigsten und zur Verbesserung und Ergoͤtzung der hoͤchsten Klassen beyzutragen. Nur durch diese seine Mischung der verschiedenen Er- kenntnißkraͤfte kann die Natur einen Geist hervor- bringen, dessen Werke vortrefflich seyn koͤnnen, ohne uͤber die Fassung des großen Haufens erho- ben zu seyn. Der Leser muß immer die Talente des Schrift- stellers, den er verstehen, und der ihm gefallen soll, zwar in einem niedrigern Grade, aber doch in einem gewissen Maaße haben. Diejenige Art dessen Schriften und Charakter. von Genie also, die, indem sie uͤber andere erha- ben ist, doch noch die meiste Aehnlichkeit mit ih- nen beybehaͤlt; welche die Denkungsart am we- nigsten veraͤndert: diese wird auch den meisten brauchbar und ergoͤtzend werden. Sobald in den Ideen oder im Ausdrucke eines Buches Witz, oder Scharfsinn, oder nachforschende Vernunft, ein sehr merkliches Uebergewicht uͤber die uͤbrigen Faͤhigkeiten haben, sobald wird es nur Eine Klasse von Lesern geben, die an dem Buche Geschmack findet, und die es zu brauchen weiß. Es muß ebenfalls ein in seiner Art witziger Kopf, oder ein Philosoph einer niedrigern Stufe seyn, der alles das gewahr werden soll, was der hoͤhere Witz und die tiefere Philosophie in das Werk hineingelegt hat. Wenn aber die Vernunft die Zergliederung nur so weit treibt, als noͤthig ist, die Begriffe, welche alle Menschen klar haben, vollkommen deutlich zu machen; wenn die Einbildungskraft ihre Bilder aus dem allgemeinen Vorrathe aller menschlichen Erfahrungen hernimmt, und sie nach den Regeln der natuͤrlichsten, gewoͤhnlichsten Ord- Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, nung zusammensetzt; der Witz neue, aber keine sehr versteckte Aehnlichkeit aufsucht; und wenn alle diese Faͤhigkeiten in einer Sprache sich aus- druͤcken, die rein, anstaͤndig, gewaͤhlt, und doch nicht zu ausgesucht fremd und kuͤnstlich ist: dann wird das, was durch die Vereinigung so vieler sich im Gleichgewichte haltenden Kraͤfte ist hervor- gebracht worden, auch einen sehr zusammengesetz- ten Eindruck auf die Seele der uͤbrigen machen; es wird fuͤr jede Klasse von Lesern eine Seite ha- ben, die ihrem Kopfe und ihrem Geschmacke ge- maͤß ist: und so wird es auch von allen Klassen geschaͤtzt und geliebt werden. Dieß, deucht uns, ist der Charakter der Gellertschen Schriften. Sei- ne Fabeln sind das Buch der Nation geworden; man liest sie, wo man sonst nichts liest; jeder- mann versteht sie, findet den Scherz, woran er sich vergnuͤgen, und die Wahrheit, die ihn bessern soll. Und ist nicht eben in diesen Fabeln dieses gluͤckliche Gleichgewicht aller Gaben des Geistes am meisten sichtbar? Sie enthalten viel Wahr- heit und Philosophie, sowohl Beobachtungen uͤber dessen Schriften und Charakter. die Dinge und Menschen, als Regeln, sie besser zu machen: aber es sind solche, die jeder, sobald er sie hoͤrt, als bekannt ansehen, die jeder, auch wenn er kein großer Beobachter ist, durch seine eigne Erfahrung rechtfertigen kann. Die Erzaͤh- lung ist lebhaft, voller Munterkeit und eines ein- nehmenden Scherzes: aber kein einziger witziger Einfall, den es Muͤhe kostete zu erklaͤren; keine scharssinnige Sentenz, deren verborgener Sinn erst durch einen aͤhnlichen Scharfsinn entdeckt werden muͤßte. Die Poesie des Styls ist in ih- rer Art die vollkommenste, die seyn kann; kein Zwang, nicht die geringste Abweichung von der Richtigkeit des Sinns und der Genanigkeit des Ausdrucks um des Sylbenmaaßes willen, allent- halben die eigentlichsten Woͤrter, keine neugemach- te Redensart, keine fremde Wendung, alles mit- ten aus dem gemeinsten Sprachgebrauche heraus- genommen, lauter Ausdruͤcke, die jedermann im Munde fuͤhret, und doch alle edel, ihrem Ge- genstande angemessen, und in der Verbindung neu. Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, Uns duͤnkt, wenn man das Ding, was man Geschmack nennt, irgendwo zu suchen hat, so ist es eben nicht an den aͤußersten Graͤnzen des Ge- nies, sondern in diesem Mittelpunkte, wo die ver- schiedenen Faͤhigkeiten, die in den Umkreis des menschlichen Geistes gehoͤren, gleichsam zusam- menstoßen, und sich in gleichen Proportionen vereinigen. Genie naͤmlich soll irgend eine aus- nehmende Groͤße der Geisteskraft, die in einem Werke sichtbar ist, und Geschmack die Uebereln- stimmung und Schicklichkeit aller Theile desselben anzeigen. Wenn nun jene Groͤße nicht sowohl darinn besteht, daß das ganze System aller Faͤ- higkeiten in gleichem Grade erweitert ist, als daß vielmehr nur Eine aus allen uͤbrigen abgesondert, und einzeln unter ihnen gleichsam hervorgezogen worden: so wird der Theil des Werks, der gerade durch diese Faͤhigkeit sich bearbeiten laͤßt, vor- trefflich, und vielleicht in einem hoͤhern Grade vortrefflich werden, aber alle uͤbrigen (und kein Werk von gewissem Umfange laͤßt sich in allen sei- nen Theilen nuͤr durch dieselbe Faͤhigkeit bearbei- dessen Schriften und Charakter. ten,) alle uͤbrigen werden ohne Vergleich schlech- ter seyn. Ueberdieß wird es an der Verbindung und dem gehoͤrigen Verhaͤltnisse der Theile fehlen; und eben in dieser gleichen Ausarbeitung aller Stuͤcke und in der richtigen Zusammenfuͤgung derselben liegt das Geschmackvolle. Man kann also wohl sagen, daß vielleicht kein deutscher Schriftsteller diese Eigenschaft so sehr seinen Wer- ken mitgetheilt habe, als Gellert. Wenn seine Werke nicht alle von gleicher Vortrefflichkeit sind, so ist doch das Unanstaͤndige, Unschickliche in keinem. Diesen so von Natur gleichsam gemaͤßigten Geist findet man gewiß auch in seiner Moral wie- der. Die Grundsaͤtze der Pflichten sind alle da, sind bis auf einen gewissen Grad entwickelt, aber sie sind nur so weit verfolgt, als sie ohne Muͤhe erklaͤrt und verstanden, nnd ohne Streitigkeiten festgesetzt werden koͤnnen. Allenthalben findet man in den Abhandlungen der einzelnen Pflich- ten, daß der Verfasser ein Mann ist, der die Tu- gend kennt, weil er sie ausuͤbt; daß er sich selbst Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, erforscht, an sich selbst Versuche gemacht hat, wie man gut seyn koͤnne, und seinen Lesern nicht bloß die Folge seiner Schluͤsse, sondern die Sammlung seiner Erfahrungen mittheilt. Diese Moral, sagt Gellert selbst, und seine Freunde wiederholen es, soll mehr fuͤr das Herz, als fuͤr den Verstand geschrieben seyn. Was die- ses Versprechen fuͤr einen Sinn habe, zeigt die Art selbst, auf welche er es erfuͤllt hat. Es konn- te unmoͤglich seine Meynung seyn, daß er ruͤhren wollte, ohne zu unterrichten; denn wir sehen ihn ja in der That weit laͤnger mit der Erklaͤrung, als mit der Einschaͤrfung der Pflichten beschaͤff- tigt. Er verlangt nicht die Neigungen zu bessern, ohne vorher die Meynungen und Grundsaͤtze be- richtigt zu haben; denn was ist denn der groͤßte Theil seines Buchs anders, als ein Vortrag all- gemeiner Wahrheiten? Also nur das konnte er meynen: einmal, daß das Vermoͤgen und der Eifer, die Pflichten auszuuͤben, nicht von einer philosophischen Kenntniß der Natur des Men- schen und des Ursprungs der Pflichten abhange; dessen Schriften und Charakter. zum andern, daß der Vortrag, der Styl, die Methode seines Buchs mehr auf die wirkliche Besserung, als auf den bloßen Unterricht abzielen solle. Wenn ein Werk einen großen und guten End- zweck hat, und diesen Endzweck erreicht, so ist das Werk gut. Und kann es wohl einen bessern und hoͤhern Endzweck geben, als den, die Schaͤtze der menschlichen Weisheit aus den Haͤnden der wenigen, die sie zuerst gesammlet und zum Theil bisher in verborgenen Gefaͤßen verwahrt haben, in die Haͤnde des Volks zu bringen; mit einem Worte, den großen Haufen der Nation, selbst mit Vorbeylassung der Gelehrtern und Weisern, zu erleichten und zu veredeln? Wenn also Gellerts Moral auch weiter nichts thaͤte, als daß sie die Vorschriften und Bewegungsgruͤnde der Moral, die lange bekannt, und vielleicht vollstaͤndiger und tiefsinniger abgehandelt sind, so vortruͤge, daß sie nun nicht bloß auf den kleinen Haufen schon edler Seelen wirkten, die, um uͤberzeugt zu seyn, nur Gruͤnde, und um bewegt zu werden, O Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, nur den Anblick des Guten brauchen, sondern daß sie auch den Verstand und das Herz gemeiner Menschen einnaͤhmen, die uͤberredet und in Lei- denschaft gesetzt seyn wollen, und die also bey ih- rem Lehrer Beredsamkeit fodern: waͤre Gellerts Moral nicht immer noch eines unserer brauchbar- sten Buͤcher? Und haͤtte es wohl diese Brauchbar- keit behalten, wenn die Erklaͤrungen schaͤrfer und kuͤrzer, die Beweise strenger, die Untersuchungen tiefsinniger, der Vortrag wissenschaftlicher waͤre? Jetzo mag vielleicht der Gelehrte und der Philo- soph weniger neuen Unterricht daraus schoͤpfen, vielleicht der Mann, der schon viel gedacht und gelesen hat, weniger Nahrung darinnen finden: aber die weit groͤßere Anzahl vernuͤnftiger, aber nicht gelehrter Hausvaͤter und Hausmuͤtter wird sich aus diesem Buche unterrichten und er- bauen. Unterdessen, wenn auch dieses Buch nicht ei- gentlich zur Bereicherung der Moral als Wissen- schaft, sondern zur Ausbreitung derselben als ei- nes gemeinschaftlichen Gutes der Menschheit be- dessen Schriften und Charakter. stimmt ist: so ist es doch gewiß auch fuͤr den auf- geklaͤrten Leser noch lehrreich, wofern er nur das Gemeine von dem Leichtbegreiflichen zu unter- scheiden, wofern er nur die Begriffe zu entwickeln weiß, deren Saame in den Betrachtungen des Verfassers liegt. Ein Beyspiel davon muͤssen wir nothwendig anfuͤhren. „Die Einbildungskraft, sagt Gellert, ent- „zuͤndet die Leidenschaften, indem sie uns die ge- „noßne Lust, oder den erlittnen Schmerz, entwe- „der groͤßer vorstellt, als er war, oder allein vor- „stellt, da er doch mit gegenseitigen Empfindun- „gen vermischt war.“ Diese Anmerkung scheint alt und bekannt; aber die Ausfuͤhrung derselben leitet auf Betrachtungen, die weniger bekannt, oder weniger bemerkt sind. Dieß naͤmlich ist der vollstaͤndige Sinn dieser Regel. Vor jeder Be- gierde nach einem gewissen Vortheile oder Vergnuͤ- gen geht die Vorstellung, und zwar eine bildliche Vorstellung, des vollkommnern und angenehmern Zustandes, in welchen wir uns setzen wollen, vor- her. So denkt der, welcher den Wein liebt, erst O 2 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, an das Vergnuͤgen des Trinkens, ehe er nach der Flasche greift. Waͤre nun in diesem Augenblicke das Bild von dem Uebel oder dem Schmerze, der aus der Befriedigung folgen wird, eben so leb- haft, so waͤre die Begierde uͤberwunden. Aber das Ungluͤck ist, daß dieses Bild gemeiniglich schwerer fuͤr die Einbildungskraft, und oft un- moͤglich, immer aber unbestimmt und dunkel ist. Als in unserm Falle waͤre es das Bild einer kuͤnf- tigen Krankheit, aber doch keiner gewissen, zu kei- ner gewissen Zeit; oder es waͤre das Bild eines Menschen, der verachtet wird, oder der sich Vor- wuͤrfe macht; aber wie wenig sinnlich ist nicht dieses Bild? Also ist nur dieß Mittel wider die Leidenschaft, entweder der Einbildungskraft alle Arten von sehr lebhaften und ausfuͤhrlichen Schil- derungen, angenehmer oder verdrießlicher Gegen- staͤnde, zu verwehren, und nur deutlichen Ueber- legungen Platz zu lassen; oder ihr die Fertigkeit zu erwerben, sich beide Arten von Bildern, die, welche der Leidenschaft, und die, welche der Tu- gend zu Diensten sind, gleich lebhaft vorzustellen. dessen Schriften und Charakter. Denn, sich ein Vergnuͤgen zu versagen, das man sich jetzt eben nach allen verschoͤnernden Umstaͤn- den vorstellt; oder eine Beschwerde zu uͤberneh- men, deren finsteres Gemaͤlde jetzt eben die Ein- bildungskraft einnimmt: das steht nicht in des Menschen Macht. Die Regel sagt also: Wer uͤber seine Leidenschaften herrschen will, muß erst uͤber seine Einbildungskraft Herr werden; er muß den- ken koͤnnen, was er will; muß durch den koͤnigli- chen Befehl seiner Vernunft seine Aufmerksamkeit auf diejenige Sache und auf denjenigen Theil und Umstand der Sache richten koͤnnen, der sei- ner Absicht gemaͤß ist. Das wird wieder andere Huͤlfsmittel voraussetzen, und unter diesen fallen die beiden folgenden am meisten in die Augen: 1) Man muß seinen Verstand und seine Einbil- dungskraft mit so viel wichtigen und einnehmen- den Begriffen und Bildern anzufuͤllen suchen, als man kann. Man muß denken lernen. Nur als- dann kann die Aufmerksamkeit von einem Gegen- stande abgezogen werden, wenn man einen an- dern gleich bey der Hand hat, der sie eben so stark O 3 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, beschaͤftigt. Wem bey jeder Sache eine Menge interessanter Gedanken und Bilder zu Gebote ste- hen, der wird leicht den ersten Gedanken vertrei- ben koͤnnen, dessen schaͤdliche Wirksamkeit er kennt. 2) Man muß, ohne besondere Absichten, seiner Einbildungskraft nicht gestatten, auch die sinn- lichen Objekte anders als im Großen sich vorzu- stellen. Wenn einmal die Seele den Hang hat, ihre Gemaͤlde bis auf die kleinsten Zuͤge auszufuͤh- ren, so wird ihre Begierde immer nur durch das Einzelne, nur durch Einen Gegenstand, nur durch Einen Umstand der Sache bestimmt seyn, und die Tugend geht aufs Allgemeine, umfaßt Alle Ge- genstaͤnde, zieht Alle Umstaͤnde zugleich zu Rathe. Alles, was die Leidenschaft reizt, laͤßt sich so ganz umstaͤndlich vorstellen; aber die Ideen, die zur Tugend antreiben, sind die Ideen des Vaterlan- des, der ganzen menschlichen Gesellschaft, der gan- zen Natur, der ganzen Zeit, der Zukunft, die alle, entweder nur mit dem Verstande, oder nur durch einige große und allgemeine Zuͤge der Einbildungs- kraft vorgestellt werden koͤnnen. dessen Schriften und Charakter. Wir kommen wieder auf den Mann selbst zu- ruͤck, von dessen Werke wir redeten. Wir haben keine besondere Nachrichten von seinen Lebensum- staͤnden. Wir kennen ihn nur aus seinen Schrif- ten und aus seinem Umgange. Wir werden also nur wenig erzaͤhlen koͤnnen; aber bey einem sol- chen Manne muß uns auch dieses Wenige viel zu denken geben. Nichts ist schwerer zu bestimmen, als das Ei- genthuͤmliche eines gewissen Geistes, besonders wenn dieser ein großer Geist, und noch mehr, wenn er ein Genie ist. Alle Vollkommenheiten des Geistes lassen sich auf gewisse Vollkommenhei- ten der Gedanken bringen; oder vielmehr, nur so viel Unterschiede und Vorzuͤge der Faͤhigkeiten und der Kraͤfte kennen wir, als wir Verschieden- heiten und Grade der Vortrefflichkeit in den Ideen finden. Den Charakter einer bestimmten Faͤhig- keit koͤnnen wir also fast nicht anders angeben, als indem wir den besondern Ursprung, die Ent- stehungsart der Gedanken beschreiben, die dieser Faͤhigkeit eigenthuͤmlich sind. Dieses geht nun O 4 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, alsdann an, wenn diese Gedanken Folgen ande- rer Gedanken, mit einem Worte Wirkungen der Reflexion und des Nachdenkens sind. Aber wenn sie unmittelbar aus der Kraft der Seele zu ent- stehen scheinen, wenn sich die veranlassenden hoͤ- hern oder fruͤhern Ideen nicht finden, selbst von dem Menschen, der jene hat, nicht bemerken las- sen: dann ist, so wie allenthalben, wo wir in unserer Erklaͤrung der Phaͤnomene nicht mehr Wirkungen aus Wirkungen herleiten koͤnnen, son- dern bis zur wirkenden Kraft selbst kommen, un- sere Untersuchung zu Ende. Und gerade diese letzte Art vortrefflicher Gedanken ist es, die wir dem Genie zuschreiben; gerade die Quelle solcher Ideen soll dieß Wort ausdruͤcken, die nicht durch Fleiß nach und nach ausgebildet worden, son- dern die aus dem Grunde der Seele ploͤtzlich ent- sprungen sind. Wenn wir also hier etwas erklaͤren, und da- zu Ursachen aufsuchen wollen: so duͤrfen wir uns in der Seele selbst nicht mehr darnach umsehen; sondern wir muͤssen die Umstaͤnde des Menschen dessen Schriften und Charakter. zu Rathe ziehen; die Gegenstaͤnde, von denen er seine Begriffe bekommen, die Begebenheiten, durch welche er zur Aufmerksamkeit auf gewisse Begriffe bewogen worden. Dieß ist es, was Er- ziehung heißt. Alles, was wir von der ersten Erziehung und dem fruͤhern Unterrichte Gellerts wissen, ist bloß das, was sie mit der Erziehung und dem Unter- richte jedes andern jungen Gelehrten gemein hat. In diesem Alter wird der Juͤngling, den die Na- tur zum großen Manne bestimmt hat, wenn er nicht von reichen oder vornehmen Aeltern gebo- ren ist, wenig bemerkt. Und wenn er auch be- merkt wuͤrde: wer wuͤrde der Natur in dieser ih- rer geheimen Werkstaͤtte folgen koͤnnen? wer wuͤr- de unter der Menge wirklich gemeiner Vorfaͤlle die wichtigen, welche eben so gemein scheinen, herauszufinden, und unter dem Haufen kindi- scher Uebungen, und oft verkehrter Arbeiten, die- jenigen zu unterscheiden wissen, bey welchen das Genie des kuͤnftigen Mannes sich zuerst gezeigt hat? O 5 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, Und in der That hat bey den wirklich großen Geistern diese erste Erziehung weit weniger Ein- fluß, als bey den uͤbrigen. Eben weil sie eine ei- genthuͤmliche Form haben, so haftet die fremde schlechtere nicht, die man ihnen aufdruͤcken will, oder sie wird zu einer gewissen Zeit wieder abge- worfen. Fast alle Menschen einer hoͤhern Klasse erin- nern sich eines gewissen Zeitpunkts in ihrem Leben, in welchem sich ihre Denkungsart, ihr Charakter, ihre Schreibart ausnehmend geaͤndert habe. Gellert wußte einen solchen Zeitpunkt. Vielleicht wuͤrde also zu der Absicht, die wir haben, eine vollstaͤndigere Geschichte seiner ersten Studien un- brauchbar seyn. So viel koͤnnen wir aus der Vergleichung dessen, was er geworden ist, mit den Umstaͤnden, in denen er sich zuerst befunden hat, errathen, daß die Vorsehung alles darauf angelegt habe, einen wirklich großen emporstrebenden Geist auf gewisse Weise niederzuhalten, um ihn gemeinnuͤtzi- ger zu machen. Man stelle sich einen faͤhigen dessen Schriften und Charakter. und thaͤtigen, aber doch schon ernsthaften und empfindlichen Juͤngling vor, der erst die gewoͤhn- liche Zeit in der Sklaverey unsrer Schulen seufzt; dann seine akademischen Jahre in Duͤrftigkeit und Dunkelheit, unter Beschaͤftigungen, die ihm mißfallen, oder fuͤr die er nicht gemacht ist, zu- bringt; dann von seinen Umstaͤnden hin und her getrieben, von wenigen geschaͤtzt, und noch von niemanden fuͤr das erkannt und zu dem aufge- muntert wird, wozu ihn die Natur bestimmt hat; der von dem beschwerlichen Geschaͤfte eines Pri- vatlehrers, von einem Orte, wo er zu seiner ei- genen Aufklaͤrung und Verbesserung nichts thun konnte, mit nicht guͤnstigern Aussichten wieder zu der Akademie zuruͤckkehrt, und es fuͤr eine un- erreichbare Gluͤckseligkeit haͤlt, auf dieser Akade- mie Lehrer zu werden; der, da er anfaͤngt seine Talente zu fuͤhlen, und Maͤnner zu finden, die ihm in der Ausbildung derselben beystehen koͤn- nen, durch die Duͤrftigkeit gezwungen wird, sein aufkeimendes Genie zu Arbeiten zu brauchen, durch welche es erniedrigt und in seinem Wachs- Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, thume verzoͤgert wird; bey dem sich zeitig mit die- sen niederschlagenden Umstaͤnden, eine Schwach- heit des Koͤrpers, und ein anhaltendes, wenn auch nicht heftiges, Leiden vereiniget: was kann man wohl natuͤrlicherweise von diesem Juͤnglinge erwarten? Wenn er nur einen geringen Grad von Kraft und Thaͤtigkeit unter diese Umstaͤnde gebracht hat, so wird diese wahrscheinlicherweise verloͤschen oder geschwaͤcht werden, und sich in den alltaͤglichen Beschaͤfftigungen eines Hand- werksgelehrten verzehren. Ist es aber ein Mensch von edlerer Natur, von hoͤhern Gaben, von groͤs- serm Feuer, so wird zwar der Flug des Geistes ei- nigermaßen gehemmt, seine emporstrebende Kraft ein wenig zuruͤckgehalten, vielleicht seine eigene Gluͤckseligkeit mit seinem Stolze zugleich vermin- dert werden: aber es werden auch die Fruͤchte dieses Geistes reifer und milder, seine Gaben mehr in den Schranken der Brauchbarkeit erhal- ten, sein Trieb zu Unternehmungen mehr zu einer stillen sanften Wohlthaͤtigkeit herabgestimmt wer- den. dessen Schriften und Charakter. Vielleicht war es auch fuͤr Gellerten nuͤtzlich, oder es gehoͤrte wenigstens dazu, seinem Kopfe und seinen Schriften ihren eignen Charakter zu geben, daß, wo er nicht Gottscheds Schuͤler war, er doch wenigstens die Werke und den Geschmack desselben herrschend fand, als er sich bildete. Wenn ein junger guter Kopf Schriftsteller vor sich findet, die mehr erhaben als schoͤn, mehr stark als anmuthig zu seyn suchen; wenn der Geschmack der Zeit darauf geht, das Aeußerste zu versuchen, was die Sprache vermag; so ist er sehr in Ge- fahr, aus Begierde nach noch hoͤherer Vollkom- menheit, unnatuͤrlich und schwuͤlstig zu werden; wenigstens wird schwerlich unter solchen Umstaͤn- den ein Schriftsteller seyn gebildet worden, den alle Welt gelesen und genuͤtzt haͤtte. Wenn aber das Genie Leeres auszufuͤllen, wirkliche Maͤngel zu ersetzen, das Matte und Kraftlose zu beleben findet; wenn es nicht sowohl damit zu thun hat, das Gute zu uͤbertreffen, als das Schlechte gut zu machen; wenn es seine Kraft, die sonst zu dem Erhabenen emporsteigen wuͤrde, dazu anwen- Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, den muß, sich aus dem Niedrigen und dem Ge- meinen hervorzuarbeiten: dann wird, durch diese Verbindung seiner eignen Vortrefflichkeit mit den Maͤngeln seiner Lehrer und seiner Zeit, diejenige Leichtigkeit, Verstaͤndlichkeit, Simplicitaͤt hervor- gebracht, die Gellerts Werke fast von allen nach- solgenden unterscheiden. Das einzige Huͤlfsmittel, von welchem wir deutlich sehen, daß die Vorsehung es gebraucht hat, die Anlagen, die in seinem Geiste waren, auszufuͤhren, sind die Freunde, die sie ihm in Leipzig zufuͤhrte, und mit denen er zugleich Mann und Schriftsteller wurde. Es ist merkwuͤrdig, daß fast unter allen Nationen sich die guten Koͤpfe in Einem Zeitpunkte zusammengefunden haben. Gel- lert wußte, was er diesen Freunden schuldig war. Er erinnerte sich mit Dankbarkeit und Vergnuͤgen an die Strenge, mit der er von ihnen beurtheilt worden, an die Schuͤchternheit, mit welcher er ihnen seine Sachen vorgelegt, und an den kleinen Stolz, mit welchem ihr sparsames Lob ihn erfuͤllt hatte. dessen Schriften und Charakter. Richter uͤber seine Auffuͤhrung oder seine Schriften zu haben, die man nicht so weit uͤber sich setzet, daß ihr Rath ein Befehl und ihr Tadel ein Vorwurf wuͤrde, und die man doch auch so weit hochachtet, daß man ihr Urtheil fuͤr guͤltig haͤlt, und zuweilen dem seinigen vorzieht; Freun- de von gleichem Grade des Verstandes und von gleichen Absichten, die man nicht erst in seinem maͤnnlichen Alter sich erwirbt, als wo immer die neuentstandene Vertraulichkeit Behutsamkeit und Schonung, und die Freymuͤthigkeit die Decke der Hoͤflichkeit verlangt; sondern die man aus sei- nem Juͤnglingsalter mitbringt, in welchem man dreisten Widerspruch zu hoͤren am leichtesten ge- wohnt wird: solche Richter, solche Freunde zu haben, ist zur Ausbildung und zur Besserung des Menschen gleich vortheilhaft. Die Correction, die in Gellerts Werken herrscht, hatte er gewiß diesen zu danken. So weit koͤnnen wir die Ursachen errathen, die auf die Denkungsart Gellerts einen Einfluß Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, gehabt haben. Wir wollen jetzt sehen, was sie fuͤr Wirkungen hervorbrachten. Sowohl seine natuͤrlichen Kraͤfte, als seine erworbene Einsichten, hatten den eignen Charakter der Gemeinnuͤtzigkeit. Seine Wissenschaft und sein Genie, anstatt daß sie sonst den Mann, dem sie in einem vorzuͤglichen Grade eigen werden, von den uͤbrigen gemeinern Menschen entfernen, dienten nur dazu, ihn genauer mit denselben zu vereinigen. Da sie sonst oft nichts als eine Hochachtung auflegen, die immer mit einiger Ei- fersucht, und also mit einer Art von Widerwillen verbunden ist, so sollten sie bey ihm nur seiner Tugend Zutritt verschaffen. Sie leuchteten gleich- sam vor ihm her, damit die Wirkung seines Cha- rakters und seiner Menschenliebe sich auf mehrere erstrecken koͤnnte. Zu dem Ende mußten seine Einsichten am mei- sten auf das praktische Leben gerichtet, sie muß- ten nicht sowohl Wissenschaft als Weisheit seyn; er mußte weniger erlernte, als Erfahrungsideen, mehr richtige Beurtheilungskraft in einzelnen dessen Schriften und Charakter. Faͤllen, als Tiefsinn zu allgemeinen Theorien be- sitzen; er mußte weniger Feuer in seiner Einbil- dungskraft, als Richtigkeit haben; er mußte in den Sachen mehr das Offenbare und Gemein- nuͤtzige ins Licht zu setzen, als das Versteckte und weniger Brauchbare zu finden wissen; sein Witz mußte nicht sowohl durch die Neuheit und das Außerordentliche seiner Verknuͤpfungen, als durch ihre in die Augen fallende Wahrheit gefallen. Weit mehr Stoff zu seinen Erkenntnissen hatte Gellerten die eigene Beschaͤfftigung seines Verstandes an den Dingen und Begebenheiten selbst verschafft, als das Lesen und der Unterricht; weit mehr Begriffe scheint er von der innern Em- pfindlichkeit seines Herzens, als von der Schaͤrfe seiner aͤußern Sinne bekommen zu haben. Er hatte fuͤr keine der Kuͤnste, deren Schoͤnheiten durch die letztern beurtheilt werden, einen ent- schiedenen und sichern Geschmack. Aber das mo- ralisch Gute und Boͤse in sich und in andern zu erkennen, dazu hatte er ein feines Unterscheidungs- vermoͤgen und ein sicheres Gefuͤhl. Er war ein P Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, Beobachter, nicht in der Absicht, um die mensch- liche Natur uͤberhaupt kennen zu lernen, sondern um seine eigne Besserung, auf die er weit fruͤher und weit ernstlicher als die meisten Menschen be- dacht war, durch die Kenntniß seiner Fehler zu be- foͤrdern. Diese Beobachtungen sah er nicht als Erscheinungen an, die er aus allgemeinen Gesetzen der Natur erklaͤren wollte, sondern er machte sie zu Maximen und Regeln, die er unmittelbar auf seine Person und seine Umstaͤnde anwenden muͤßte. Demunerachtet zeigen seine Werke, daß er die moralische Welt auch in einem weitern Umfange kannte. Er kannte die Empfindungen, das Be- tragen, die Sitten, die Neigungen, die Aus- druͤcke der verschiedenen Staͤnde und der verschie- denen Charaktere. Was er schildert, ist allemal kenntlich, und das innerste Gefuͤhl eines jeden Le- sers stimmt damit uͤberein. Er kannte die Lei- denschaften vielleicht nur in ihren sanftesten Aeus- serungen; aber er war auch um so viel weniger dessen Schriften und Charakter. in Gefahr, durch das Gemaͤlde derselben schaͤdlich zu werden. Seine Einbildungskraft war in der Epoche seines Lebens, wo er seine besten Werke schrieb, sehr wirksam, obgleich nicht heftig. Die Arbeit erfuͤllte und beschaͤfftigte alsdann seinen Geist voͤl- lig; er genoß das volle Gluͤck, das ein Schrift- steller genießen kann, sich unter seinen eigenen Ideen selbst zu vergessen, und die Empfindung der Unannehmlichkeiten in der wirklichen Welt, durch die Vorstellung einer erdichteten, auszuloͤ- schen. So, wie Gellert, kann kein Mann erzaͤh- len, wenn nicht die Sache, die er erzaͤhlt, vor sei- nen Augen vorgeht; wenn er nicht mitten unter den Personen ist, die er sprechen laͤßt; wenn er sich nicht die Begebenheit so als eine gegenwaͤr- tige denkt. Aber man sieht auch, und er selbst bezeugte es, daß nicht sowohl eine außerordent- liche ploͤtzliche Anstrengung seines Geistes, als eine anhaltende gleiche Wirksamkeit, seine besten Stuͤcke hervorgebracht habe. Er war immer ge- maͤßigt, ruhig; vollkommen beschaͤfftigt, aber P 2 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, nicht begeistert; er behielt also noch alle Beson- nenheit, auf den vollkommensten Ausdruck, den richtigsten Reim und die strengste Correction zu denken. Ueberdieß wurde dadurch das ganze Kolorit seiner Gemaͤlde sanfter, sein Spott un- schuldiger, die Freude gelaßner. Es blieb alles in den genauesten Schranken der Moralitaͤt und der Kritik. Dagegen ermuͤdete sein Geist nicht so- bald, er arbeitete oft an einer Fabel ununterbro- chen mehrere Tage, aͤnderte ohne ungeduldig oder unmuthsvoll zu werden, und verfolgte die Idee von Vortrefflichkeit, auch wenn es ihm zuerst fehl- schlug, mit Standhaftigkeit und Muth. Seine Imagination war, besonders in sei- nen letzten Jahren, mehr der traurigen Bilder faͤ- hig, weil selbst die traurigen Empfindungen die Oberhand hatten. Immer scheint das Wehmuͤ- thige, das Sanfte, mehr Eindruck bey ihm ge- macht zu haben, als das Froͤhliche und das Hef- tige. Er war oft und gern allein, und konnte ohne Buͤcher, ohne Umgang, und ohne mit neuen Werken umzugehen, sich lange mit seinen eignen dessen Schriften und Charakter. Gedanken vergnuͤgen; dieß kann man nur, wenn man entweder Tiefsinn oder Einbildungskraft hat. Die sanften Ruͤhrungen der Religion selbst, die er zu diesen Zeiten hatte, erfodern die Huͤlfe dieser Faͤhigkeit. Das Nachdenken uͤber Gott kann die Seele in eine starke Thaͤtigkeit setzen: aber sie wehmuͤthig machen, sie ruͤhren, Freudenthraͤ- nen hervorbringen kann es nur, wenn es mit gewissen Bildern vergesellschaftet ist. Er klagte in seinen spaͤtern Jahren oft, daß diese Ruͤhrun- gen ausblieben, daß der Anblick der Natur, und die Feyerlichkeit gottesdienstlicher Handlungen, nicht mehr dasselbe Feuer der Andacht bey ihm er- rege. Aber in der That war er zu mistrauisch gegen sich selbst, um die natuͤrlichen Ursachen, die er sich von dieser Veraͤnderung angeben konnte, zu glauben. Seine Ueberzeugung und sein Wille waren noch gleich lebhaft; aber seine Einbildungs- kraft, und die dunkeln Triebe, die damit zusam- menhaͤngen, waren geschwaͤcht. Sein Nachdenken und die Faͤhigkeiten, die den Philosophen ausmachen, waren bey ihm so, P 3 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, wie sie bey einem solchen Grade von Empfindungs- vermoͤgen und Einbildungskraft seyn koͤnnen, und so, wie sie seyn muͤssen, wenn diese Kraͤfte zum Besten des Menschen und der Welt wirken sollen. Er hatte in seinen ersten akademischen Jahren die tiefsinnige spekulative Philosophie sehr geliebt, und mit Eifer getrieben. Aber in der That war es nur der Eifer eines an sich thaͤtigen Geistes, der seinen wahren Gegenstand noch nicht gefunden hatte. Diese Philosophie hatte gewiß auf seine Schriften und seinen Charakter wenig Einfluß. Aber er machte sich selbst in der Folge eine andre; eine, die dem bloß gesunden Verstande aller Men- schen naͤher koͤmmt; die in der Gesellschaft und in der Welt besser gebraucht werden kann; und die die Cinbildungskraft nicht toͤdtet, sondern leitet. Sein Verstand war wirklich helle und durchdrin- gend; er faßte leicht; brachte seine Begriffe ge- schwind aufs Reine und Klare; gab ihnen den kuͤrzesten, gedraͤngtesten und klaͤrsten Ausdruck; urtheilte mit Bestimmung und Genauigkeit, und wußte allemal die Wahrheit, die er eingesehen dessen Schriften und Charakter. hatte, einleuchtend zu machen. Eben weil er in jeder Sache nur auf das Große und Hauptsaͤch- liche sah, und weil er seine Betrachtungen nur im Ganzen darstellte, und sie nicht bis auf zu feine Theile zergliederte; eben deswegen ist er von dem Großen, von dem Manne von Geschaͤfften, die beide nur solche Betrachtungen fassen oder brau- chen koͤnnen, eben so sehr gelesen und geachtet, als von denjenigen Philosophen, die den Werth des gesunden Verstandes noch zu schaͤtzen wis- sen. Seine Kritiken sind seinen guten Schuͤlern sehr nuͤtzlich gewesen. Er fand jede Unrichtigkeit in Gedanken und Ausdruck, sobald er sie finden wollte, und nur nicht fuͤr die Person zu guͤnstig eingenommen war. Denn Wohlwollen konnte zuweilen sein Urtheil verfuͤhren, aber niemals Haß. Seine Kenntnisse, so weit sie durch Buͤcher- lesen und Fleiß erlangt werden koͤnnen, waren nicht sehr ausgebreitet; aber sie waren in derje- nigen Klasse, welche er sich gewaͤhlt hatte, voll- P 4 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, staͤndig, und fuͤr ihn, zum besten Gebrauche sei- ner Talente, hinreichend. Er war, besonders in den letzten Jahren seines Lebens, einer strengen und anhaltenden Aufmerksamkeit nicht faͤhig. Ue- berdieß schraͤnkten sich seine Absichten immer mehr auf seine moralische Vollkommenheit ein. Selbst die Beschaffenheit seines Geistes machte, daß nur wenig Buͤcher von ihm mit großer Begierde gele- sen werden konnten. Dem Geiste, der selbst thaͤ- tig seyn kann, wird es immer schwer, sich bloß von Andern beschaͤfstigen zu lassen. Das Genie bringt lieber Ideen hervor, als daß es sich die- selben mittheilen laͤßt. Ueberdieß giebt die Leb- haftigkeit der Einbildungskraft und der Empfin- dung dem Menschen eine gewisse Unruhe, die sich mit dem stillsitzenden Fleiße des unermuͤdeten Buͤ- cherlesens wenig vertraͤgt. Wenn aber Gelehr- samkeit so viel heißt, als ein aufgeklaͤrter und be- reicherter Geist; so hatte sie Gellert in dem vor- zuͤglichsten Grade. In seinen Schriften herrschet noch außer allen diesen Faͤhigkeiten eine so einnehmende Munterkeit, dessen Schriften und Charakter. ein so lachender Scherz, eine bey aller Unschuld doch so fuͤhlbare Spoͤtterey, daß nothwendig in der urspruͤnglichen Anlage seines Geistes ein ho- her Grad von Lebhaftigkeit gewesen seyn muß, weil sie, auch nachdem sie durch das Nachdenken ge- maͤßigt und durch Krankheit geschwaͤcht worden, sich noch so merklich aͤußern konnte. Die Gabe, die dazu gehoͤrt, vortreffliche Ver- se zu machen, genau zu beschreiben, ist vielleicht mehr, als irgend ein Philosoph vermag; diese Gabe, nur den Ausdruck des Gedankens zu su- chen’, und doch zugleich den Reim und das Me- trum zu finden. Gellert besaß diese Gaben, wenn irgend einer unserer Dichter, und vielleicht hat nichts zu dem großen und allgemeinen Auf- sehen, das seine Fabeln machten, mehr beyge- tragen. Es war eine seltsame und in Deutsch- land noch unerhoͤrte Erscheinung, Verse zu lesen, wo alles so gesagt war, wie man spricht, und doch alles edel und einnehmend, und alles zugleich im Sylbenmaaße und Reime richtig. Es ist ge- wiß, daß die Poesie, wenn sie diese Vortrefflichkeit P 5 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, erreicht, einen weit groͤßern Eindruck macht, als die Prose. Sogar das Vergnuͤgen, welches der Reim macht, ist alsdann kein veraͤchtliches Ver- gnuͤgen mehr. Und wir glauben, daß, obgleich ein gewisser Zeitpunkt im menschlichen Leben und in der menschlichen Gesellschaft koͤmmt, wo man uͤberhaupt gegen Verse gleichguͤltiger wird, doch die Fabeln Gellerts zu denen wenigen gehoͤren, die zu allen Zeiten und in jedem Alter mit Vergnuͤgen werden gelesen werden. So groß aber auch Gellert als Schriftsteller und Dichter ist, so ist er gewiß nicht bloß als Schriftsteller und Dichter so sehr geschaͤtzt wor- den, als er es war. Diese ganz allgemeine Ver- ehrung, die er genoß, dieser Enthusiasmus, des- sen unsre Nation fuͤr Dichter und Schriftsteller so wenig faͤhig zu seyn scheint, und der in allen Staͤnden und an allen Orten fuͤr die Person Gel- lerts herrschte; dieser sein Ruhm, der nicht bloß im Beyfalle, sondern in Liebe bestund, ist gewiß mehr eine Wirkung seines Charakters als seiner Gaben. Fuͤr den Freund der Tugend ist dieß eine dessen Schriften und Charakter. herrliche Erscheinung. Sie zeigt, was die Tn- gend unter den Menschen vermag; sie beweist, was bey Beobachtung einzelner Personen zweifel- haft werden koͤnnte, daß die Menschen den Werth moralischer Vortrefflichkeit kennen, und, wo sie nicht durch Vorurtheile gehindert werden, die Rechtschaffenheit, mehr als irgend einen andern Vorzug, fuͤr den eigentlichen Gegenstand der Hoch- achtung halten. In der That waͤre Gellert fuͤr seine Freunde und fuͤr sein Land immer ein merkwuͤrdiger Mann, wenn er auch kein großer Schriftsteller gewesen waͤre. Derjenigen Menschen, die es zu dem Hauptgeschaͤffte des Lebens machen, gut zu seyn, und Gutes zu thun, dieser Menschen giebt es noch zu wenig, als daß wir nicht aufmerksam werden sollten, wenn wir so gluͤcklich sind, auf dem Wege unsers Lebens einen derselben anzutreffen. Die Grundfeste dieses Charakters war die Religion; und nur die Religion kann einen solchen Charak- ter hervorbringen. Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, Nur der Mann kann immer rechtschaffen han- deln, der das immer fuͤr nuͤtzlich erkennt, was recht ist. Das ist nun in vielen Faͤllen schon aus den naͤhern und sichtbaren Verbindungen, in welchen der Mensch steht, und aus den naͤchsten Folgen seiner Handlungen einleuchtend. Solche Tugenden werden also von dem Verstaͤndigen, auch ohne Religion, ausgeuͤbt werden koͤnnen. Aber in noch mehrern, und gewiß in den schwer- sten Faͤllen, erhellt die Nutzbarkeit der tugendhaf- ten Handlung erst, wenn sich der Mensch mit der ganzen Natur der Dinge, und also zugleich mit ihrem Urheber in Verbindung setzt; wenn er sich die ganze Zukunft, und also zugleich das Wesen denkt, in dessen Verstande allein diese Zukunft vor- handen ist, und durch dessen Willen sie bestimmt wird. Der menschliche Geist muß Begierden, einen Endzweck, wornach er strebt, Triebfedern haben, die ihn in Bewegung setzen. Wenn man ihm nun die kleinen eingeschraͤnkten Endzwecke des Eigen- nutzes und der Eitelkeit nehmen will, so muͤssen dessen Schriften und Charakter. andere Gegenstaͤnde, andere Absichten an deren Stelle treten; aber dieser andere Gegenstand kann nur Gott, diese andere Absicht kann nur Voll- kommenheit, das heißt Tugend, seyn. Alle Dinge koͤnnen nur diese doppelte Beziehung auf uns ha- ben: die Beziehung, nach der sie unsere aͤußern Vortheile, Bequemlichkeiten oder Ergoͤtzungen vermehren; und die Beziehung, nach der sie un- ser Wesen vollkommener machen. Zu der ersten Beziehung brauchen wir den Gedanken von Gott nicht. Die Sinne lehren uns zuerst diese Wir- kungen jedes Gegenstandes; die Vernunft sagt sie uns, nach einigen Erfahrungen, zuvor; und al- les, was wir dabey mehr oder anders thun als die Thiere, ist, daß wir diese Vortheile auf einem laͤngern Wege suchen. Die Gegenstaͤnde aber in der zweyten Beziehung anzusehen, und durch diese Beziehung bewegt zu werden, dazu gehoͤrt das lebhafte Bewußtseyn von der Gegenwart und dem Einflusse Gottes. Ohne den Begriff von Gott wissen wir nichts von einer innern Vortreflichkeit unsrer Natur, weil eben die Betrachtungen, die Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, uns lehren, was ein vollkommner Geist sey, uns darauf fuͤhren, daß es einen vollkommensten ge- ben muͤsse; und ohne die Ueberzeugung von dem Einflusse Gottes uͤber die Welt und uns, koͤnnen wir uns diese Vortreflichkeit nicht als einerley mit Gluͤckseligkeit, nicht als einen Gegenstand unsrer Begierde vorstellen. Diese Gesinnungen herrschten in Gellerts Seele; aber sie waren auf eine besondere Art be- stimmt, weil er sie ganz durch den Glauben an die Offenbarung bekommen hatte. Bloße Ver- nunftschluͤsse und Betrachtungen uͤber die Natur der Dinge wirkten bey ihm weder eine so feste Ue- zeugung, noch so tiefe Ruͤhrungen, als die Leh- ren, die er aus der heiligen Schrift schoͤpfte. Es ist gewiß, daß wir zuerst aus diesem Buche die Wahrheiten als Ueberlieferungen bekommen, die unsere Vernunft in ihrer folgenden Reife in eigne Einsichten verwandeln kann; es ist auch gewiß, daß der Eifer derjenigen, welche diese Wahrhei- ten, durch ihr ganzes Leben, aus diesem Buche schoͤpfen, gemeiniglich groͤßer und brennender ist, dessen Schriften und Charakter. als der Eifer der An de rn, die diese Einsichten brauchen wollen, ohne auf ihre Quelle zuruͤckzu- gehn; weil diese nur durch das Gewicht der Wahr- heit koͤnnen geruͤhrt werden, jene aber noch das aͤußere Ansehen einer goͤttlichen Ueberlieferung die- ser Wahrheiten hinzuthun. Gellert glaubte von ganzem Herzen alle Leh- ren unserer Religion. Diese Anhaͤnglichkeit an die Wahrheit, die bey vielen Menschen aus eben den Ursachen entsteht, aus welchen sie die Irr- thuͤmer und Vorurtheile nicht ablegen, weil sie sie sehr fruͤh bekommen und im Alter niemals daruͤber nachgedacht haben, entstund bey Geller- ten aus dem herrschenden Grundsatze der Pflicht, und dem bescheidenen Gebrauche seiner Vernunft. Der Grundsatz der Pflicht machte, daß alle Be- weise bey ihm mehr galten, wenn sie auf Fest- setzung irgend einer Verbindlichkeit abzielten; daß er schon zum voraus geneigt war, jede Wahr- scheinlichkeit anzunehmen, die Lehren der Gottse- ligkeit bestaͤtigte; und daß er selbst in den klein- sten Theilen des Gebaͤudes seiner Religion, deren Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, Hauptwerk ihm so unendlich wichtig war, keine Aenderung wollte gemacht wissen. Der beschei- dene Gebrauch seiner Vernunft machte, daß er die Nachforschungen entweder nicht dahin zu trei- ben sich erlaubte, wo die Schwierigkeiten anfan- gen; oder daß er die einmal empfundene Gewiß- heit mehr bey sich gelten ließ, als alle nachfolgen- de Zweifel. Was aber noch mehr werth ist, als der bloße Glaube an gewisse Lehren: Gellert machte aus der Religion die vornehmste Triebfeder seiner Thaͤtigkeit. Seine Betrachtungen in der Ein- samkeit, seine Gespraͤche in der Gesellschaft, sein Unterricht in seinen Lehrstunden, seine Schriften, seine Briefe, seine Arbeiten und seine Erholungen, alles war mit dem Geiste dieser Religion erfuͤllt, alles hatte die Absicht, ihre Kraft bey ihm selbst zu verstaͤrken, oder ihren Einfluß bey andern aus- zubreiten. Nur in einer nicht gemeinen Seele kann irgend ein allgemeines Principium so herr- schend werden, daß es auf alle Umstaͤnde und Zei- ten des Lebens einen Einfluß habe; und nur bey dessen Schriften und Charakter. einem vortreflichen Herzen kann dieß Principium die Religion seyn. Von Jugend auf scheinen die unangenehmen Empfindungen, nicht die, welche Zorn, sondern die, welche Traurigkeit erregen, bey Gellerten ge- herrscht zu haben. Sein koͤrperliches Leiden fieng zeitig an, und seine duͤrftigen Umstaͤnde dauerten lange. Dieser Theil des Temperaments unter- stuͤzte und bestimmte manche Tugend; und wenn er einige Maͤngel hervorbrachte, so waren es sol- che, die nur ihm den Genuß seiner Verdienste raubten, nicht solche, die die Wirksamkeit dersel- ben verhinderten. Das bestaͤndige Gefuͤhl von Schwachheit oder von Schmerz hat die natuͤrliche Wirkung, daß es den Muth schwaͤcht, das Gemuͤth mit der Idee von kuͤnftigen noch groͤßern Uebeln erfuͤllt, und dem Menschen ein Mistrauen gegen seine Kraͤfte und gegen seinen Werth beybringt. Gellert hat- te in der That eine Kraft in der Seele, die, wenn sie sich bey außerordentlichen Gelegenheiten auf eine kurze Zeit sammlete, ihn getrost und beherzt Q Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, machte. Er redete mit den Koͤnigen ohne Schuͤch- ternheit; er fuͤrchtete den Tod weit mehr in seinen leichtern Zufaͤllen, als in seiner lezten Krankheit. Aber in dem gewoͤhnlichen Laufe seines Lebens, wenn ihn nichts zu einer außerordentlichen An- strengung aufforderte, beunruhigten ihn auch kleine Uebel; und er erschrak vor Schwierigkeiten, zu deren Ueberwindung er nur Entschließung ge- braucht haͤtte. Diese Furchtsamkeit entfernte ihn, auf der einen Seite, von allen Arten weitlaͤuftiger Un- ternehmungen, toͤdtete seinen Ehrgeiz, fuͤhrte ihn mehr auf sich selbst zuruͤck, und vermehrte also seine persoͤnliche Vollkommenheit, indem sie eine Menge andrer Bestrebungen, die ihn von seiner Besserung zerstreut haben wuͤrden, verhinderte; auf der andern ließ sie ihn nicht zu dem Grade der Heiterkeit der Seele und der Froͤhlichkeit kommen, die die Belohnung der Tugend seyn soll. Die Aufmerksamkeit auf sich selbst hat, sie mag auf den Koͤrper oder auf die Seele gerichtet dessen Schriften und Charakter. seyn, bey beiden aͤhnliche Wirkungen; und ge- meiniglich sind beide Arten der Aufmerksamkeit verbunden, weil sie beide aus einer gemeinschaft- lichen Quelle entspringen. Im Koͤrper entdecken wir durch eine solche Achtsamkeit immer kleine Unordnungen, und in der Seele kleine Fehler, die wir unter den Zerstreuungen der Lustbarkeiten oder der Geschaͤfte nicht wuͤrden bemerkt haben. Man genießt alsdann weder seiner Gesundheit, noch seiner Tugend, weil man durch das, was in Unordnung ist, weit mehr beunruhigt, als durch das, was gesund und untadelhaft ist, ver- gnuͤgt wird. Gellert hatte diese doppelte Auf- merksamkeit; und er wurde auch wirklich auf diese Weise durch sie beunruhigt. Es fehlte ihm an dem Muthe, der vor einem Fehler eben so we- nig, als vor der Anlage zu einer Krankheit er- schrickt, die Besserungsmittel braucht, und den Ausgang erwartet. Wenn dieses ruhige Bestre- ben nach seiner Besserung zur gegenwaͤrtigen Gluͤckseligkeit des Menschen mehr beytraͤgt; so Q 2 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, ist vielleicht das aͤngstlichere mit einem groͤßern Eifer verbunden. Die Furchtsamkeit machte ihn zugleich sehr bescheiden. Kein Gelehrter, kein Schriftsteller ist wohl mehr geneigt gewesen, andern einen Vor- zug vor sich zuzugestehen. Er schaͤzte die Voll- kommenheiten beynahe am hoͤchsten, die er nicht besaß; er zog die Gelehrsamkeit dem Genie vor. Er war niemals ein Nebenbuhler irgend eines Menschen gewesen. Auf der Laufbahn, in der er sich befand, und in welcher ungluͤcklicher Weise Neid und Eifersucht so leicht entstehen, weil viele um einen gemeinschaftlichen Preiß streiten, haͤtte er gern jeden sich zuvorkommen gesehen; und nur durch einige Gewalt war er so weit hervorgezogen worden. Er wußte zwar, daß der Stand gegen persoͤnliche Eigenschaften in keine Betrachtung koͤmmt; und wie waͤre es moͤglich, daß ein Mann von seinem Geiste anders urtheilte? Aber demun- erachtet waren ihm diese Verhaͤltnisse in der buͤr- gerlichen Gesellschaft, als Einrichtungen der goͤtt- lichen Vorsehung, so wichtig, und er war zu- dessen Schriften und Charakter. gleich so geneigt, jeden Anspruch eines andern, jedes Vorrecht gelten zu lassen, daß er auch dem bloßen Stande eine ausnehmende Ehrerbietung und Achtung bewies. Er war uͤberhaupt weit mehr geneigt, sich allen einmal gemachten Ein- richtungen der Welt, des Staates, oder seines Standes, zu unterwerfen, und von ihnen den besten Gebrauch zu machen, als sie, wo er sie auch fuͤr fehlerhaft erkannte, zu aͤndern. Die Personen, die uͤber ihm waren, hielt er gemei- niglich auch fuͤr weiser und einsichtsvoller, als sich. Die Obrigkeit, die Gewalt uͤber ihn hatte, sah er fast immer als eine gerechte und guͤtige Obrigkeit an. Vielleicht hatte er gegen solche Verbesserungen, die ohne große Aenderungen nicht geschehen koͤnnen, allzuviel Mißtrauen, und von der Guͤte der Anordnungen, die schon vorhanden sind, einen zu vortheilhaften Begriff. Aber eben der Gehorsam gegen alles, was den Anschein von Gesetz und Pflicht hatte, eben die Unterwerfung seiner eignen Einsichten und Neigungen unter alle goͤttlichen und menschlichen Vorschriften, welche Q 3 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, auf seinen ganzen uͤbrigen Charakter so viel Ein- fluß hatte, brachte auch diese vielleicht zu weit ge- triebne Behutsamkeit hervor. Seine sinnlichen Begierden waren von Natur maͤßig. Seine Krankheit hatte ihm eine strenge Enthaltsamkeit aufgelegt; und seine Gottesfurcht machte ihn geneigt, lieber eine unnoͤthige Ver- leugnung zu uͤbernehmen, als sich der nothwen- digen zu weigern. Er foderte zu den Bequem- lichkeiten und zu den Zierrathen des Lebens nur wenig. Und in der That ist Eitelkeit gewiß die Leidenschaft, die ein großer Geist am ersten unter die Fuͤße tritt. Denn es ist unmoͤglich, daß die Seele mit etwas Großem und Gutem sich abge- ben, oder daß sie mit wichtigen Gedanken und Absichten erfuͤllt seyn kann, wenn ihr noch der Unterschied der Kleider und des Hausgeraͤthes wichtig scheint. Bey Gellerten konnte nur die Gewohnheit, nicht die sinnliche Begierde, eine Art neuer Beduͤrfnisse erzeugen. Er verlangte keine Sache praͤchtig oder sehr bequem; aber er verlangte sie so, wie er sie immer gehabt hatte. dessen Schriften und Charakter. Er veraͤnderte daher in seinen Umstaͤnden und Einrichtungen wenig. Und so wie dieß in der That das Zeichen einer ruhigen und gesunden Seele ist, so ist es doch zuweilen eine Hinderniß der Verbesserung seiner Umstaͤnde. Da er von den Vorzuͤgen oder Vergnuͤgun- gen, die man fuͤr Geld haben kann, einen so ge- ringen Theil verlangte, so bedurfte er auch keiner großen Einkuͤnfte. So maͤßig die seinigen auch bis an sein Ende waren: so hatte er doch auch diese nicht gesucht; und sie reichten nicht bloß fuͤr ihn zu, sondern seine Maͤßigkeit konnte noch ei- nen guten Theil davon zu Wohlthaten bey Seite legen. Keine kraͤftigere Stuͤtze kann die Tugend und Religion haben, als die Gleichguͤltigkeit gegen Rang und Vermoͤgen. Diese Gegenstaͤnde, wenn sie einmal in der Seele Eindruck gemacht haben, verlangen eine viel zu anhaltende Geschaͤftigkeit, bringen viel zu viel andre Leidenschaften ins Spiel, als daß der Seele Kraft und Zeit sollte uͤbrig blei- ben, fuͤr die Rechtmaͤßigkeit jeder Handlung und fuͤr ihre innere Vollkommenheit zu sorgen. Ueber- Q 4 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, dieß muͤssen wir auf dem Wege zu diesen Absichten nothwendig eine Menge Menschen finden, die sich uns widersetzen, und die wir mit Gewalt oder List bey Seite schaffen muͤssen, wenn es uns durchaus darum zu thun ist, jene Absichten zu erreichen. Denjenigen koͤnnen wir durchaus nicht lieben, der uns in der Erreichung unsrer Absichten verhindert. Haben wir nun solche Absichten, in denen wir ge- stoͤrt werden, und welche wir beynahe nur errei- chen koͤnnen, insofern wir andre darinn stoͤren: so muͤssen wir uͤber lang oder kurz hassen oder ge- haßt werden. Die ganze Welt ist ein Schauspiel dieses Krieges. Menschenliebe aber und Guͤtigkeit, die lezte Frucht der Tugend, und das Werkzeug, durch welche sie zum Besten der Welt wirksam wird, war eine der sichtbarsten Eigenschaften in Gellerts Cha- rakter. Er that von einem geringen Vermoͤgen viel Gutes: aber er leistete noch weit mehr persoͤn- liche Dienste; und persoͤnliche Dienste sind immer die bessern Wohlthaten. Er war sehr geneigt, andre fuͤr gut anzunehmen, von denen er nichts dessen Schriften und Charakter. Boͤses wußte, und leicht geneigt, in denjenigen alles fuͤr vortreflich zu halten, in welchen er ei- nige vortrefliche Eigenschaften gefunden hatte. Da er an sich die moralische Guͤte mehr als seine Gaben schaͤzte, so beurtheilte er auch andrer Werth mehr nach ihrer Tugend, als nach ihrem Verstan- de. Und freylich ist es, bey einem nicht bestaͤndi- gen Umgange, leichter, in der ersten, als in der andern Absicht hintergangen zu werden. Fuͤr seine ersten und aͤltesten Freunde hatte er wahre innere Zaͤrtlichkeit; fuͤr die uͤbrigen, die er in spaͤtern Jahren bekommen hatte, Achtung und Diensteifer. Zu seinem Umgange gehoͤrten nur wenige, und weil das Ungewohnte ihm immer einige Anstrengung kostete, nur dieselben Personen. Sein Beyspiel und sein Rath hielten eine Men- ge junger Leute, die ihm naͤher bekannt worden wa- ren, von Ausschweifungen zuruͤck, und gewoͤhnten sie zur Arbeitsamkeit und Ordnung. Seine Briefe hatten den Einfluß seiner Wohlthaͤtigkeit noch viel weiter ausgebreitet. Aus sehr entfernten Gegen- den wendete sich der Nothleidende, der Betruͤbte, Q 5 Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, der Zweifler, der Geaͤngstete, oder der Unentschloß- ne an ihn; und er that, was er vermochte, einen jeden Beystand oder Beruhigung zu verschaffen. Diese Arbeiten fuͤllten einen großen Theil seiner Zeit aus; und ob er gleich zuweilen daruͤber, als uͤber eine Beschwerlichkeit klagte, so ist es doch ge- wiß, daß diese Beschaͤftigung, die dem jetzigen Gra- de seiner Kraft gerade angemessen war, und ihm dabey die angenehme Aussicht oͤfnete, wohlgethan zu haben, einen großen Theil seiner geheimen Gluͤckseligkeit ausmachte, die jeder Mensch genießt, ohne sie selbst recht gewahr zu werden. Er haßte gewiß niemanden; er verachtete nie- manden: und wenn er in seinen lezten Jahren nicht mehr der Ergießungen einer lebhaften Zu- neigung, oder einer innigen Zaͤrtlichkeit faͤhig war: so kam dieses entweder daher, weil er von allen denen Freunden entfernt lebte, mit denen sein Herz in den Zeiten seiner vollen Empfindlich- keit sich vereinigt hatte; oder weil er uͤberhaupt in allen seinen Neigungen gemaͤßigter und dem Anscheine nach kaͤlter geworden war. dessen Schriften und Charakter. Sein Ansehen, mit der Liebe verbunden, die er einfloͤßte, hat einen gluͤcklichen Einfluß auf die Akademie gehabt, auf der er lehrte. Sein Lob und seine Freundschaft haben manchen jungen Kopf erweckt und muthig gemacht; sein Rath und seine Vorsorge das Gluͤck vieler wuͤrdigen jungen Maͤnner gegruͤndet. Seine persoͤnlichen Eigenschaften hatten ihm diejenige Art von Ansehen und Einfluß gegeben, die die schaͤzbarste Oberherrschaft unter den Mer- schen ist. Er vermochte viel, weil er sehr geliebt wurde, und nur immer das foderte, was der, von welchem er es foderte, billigen mußte. Ein Mann von solchen Gaben und von sol- chem Charakter ist immer ein Geschenk fuͤr seine Nation. Und wirklich hat die unsrige Gellerten vieles zu danken. Seine Schriften sind immer die ersten Schriften, und an vielen Orten noch die einzigen, welche gelesen werden. Seine Fabeln unterrichten unsre erste Kindheit, und ergoͤtzen und erbauen unser maͤnnliches und hohes Alter. Seine meisten Schriften ziehen den Leser durch ihre Anmerk. uͤber Gellerts Moral, ꝛc. Schoͤnheit an sich, und sie bessern ihn, indem er sich bloß zu vergnuͤgen gedenkt. Seine geistlichen Lieder sind wirklich das erste Erbauungsbuch, welches zu dem Privat- oder oͤffentlichen Gottes- dienste eines verstaͤndigen Mannes geschickt ist. Schon mancher Nothleidende hat sich mit demsel- ben getroͤstet; schon mancher Sterbende sich den Tod erleichtert. So lange die Deutschen ihre jetzige Sprache verstehen, werden sie die Gellertschen Schriften lesen; diese Epoche kann ihre Graͤnzen haben: aber den Gellertschen Charakter werden die Men- schen verehren, so lange sie die Tugend kennen; und diese Zeit ist unbegraͤnzt. Einige Gedanken uͤber das Interessirende . Erster Theil. Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der schoͤnen Wissenschaften und der freyen Kuͤnste. U nsre Aufmerksamkeit, die gewoͤhnlicherweise unter mehrere Dinge vertheilt ist, oder schnell von einem Dinge zum andern uͤbergeht, kann zuweilen auf einen einzigen, oder eine An- zahl verbundner Gegenstaͤnde so zusammengebracht werden, daß wir des uͤbrigen Theils der Dinge, die auf oder in uns wirken, vergessen; sie kann zuweilen auf diesen Gegenstaͤnden so festgehalten werden, daß wir eine betraͤchtliche Zeit lang mit keinen andern Gegenstaͤnden abwechseln. Dieses Einige Gedanken Zusammenhalten und dieses Aufhalten unsrer Aufmerksamkeit bey Einem Gegenstande erfodert allemal eine außerordentliche Kraft, die dieses be- wirke; entweder die Kraft des Menschen selbst, oder die Kraft der Dinge, von denen er geruͤhrt wird. Im ersten Falle heißt seine Aufmerksam- keit Anstrengung; die Sache, worauf sie gerich- tet ist, ein Geschaͤfte, und die Handlung Arbeit . In dem andern ist es entweder die bloße Staͤrke und Gewaltsamkeit des Eindrucks, oder es ist die bestimmte Art desselben, welche unsre Aufmerksam- keit fesselt. Jenes ist Zwang, und der Schmerz ist es nebst allem, was Schmerzen droht, der auf diese Weise die Seele wider ihren Willen auf sich aufmerksam macht. Dieses ist der sanfte Zug, mit welchem das Vergnuͤgen, oder allgemeiner, alles, was mit unserm Zustande, unsern Gedan- ken und unsern Neigungen in einem besondern Zusammenhange steht, das Auge unsers Geistes von andern Gegenstaͤnden abwendet und auf sich richtet. uͤber das Interessirende. Alle die Gegenstaͤnde, oder die Arten sie vor- zustellen, welche, ohne unsre freywillige Anstren- gung, vermoͤge des Wohlgefallens, das sie in uns erregen, sich unsrer Aufmerksamkeit bemaͤch- tigen und dieselbe staͤtig machen, diese, glauben wir, soll das Wort interessant von andern Arten der Gegenstaͤnde unterscheiden; — es soll die Dinge ausdruͤcken, welche auf eben die Weise und vermoͤge eben der Triebfedern uns nach ihren Vor- stellungen begierig machen, wie das uns aufmerk- sam macht, was zur Befriedigung unsers Eigen- nutzes etwas beytragen kann. Dieser Unterschied zwischen der Aufmerksam- keit, deren Urheber wir selbst sind, und zwischen der, die das Werk der Gegenstaͤnde ist, faͤllt bey den gemeinsten Verrichtungen des Lebens in die Augen. Gesezt, man lese ein Werk der Genea- logie oder Diplomatik. Es kann seyn, daß wir mit unsrer ganzen Aufmerksamkeit lesen: aber wir sind uns auch dabey der Muͤhe bewußt, die es uns kostet, der Zerstreuungen, die wir alle Au- genblicke abwehren, des Widerstandes, den wir Einige Gedanken andern mehr reizenden Ideen, die sich eindringen wollen, leisten muͤssen. Nicht die Sachen, die wir lesen, erhalten die Seele in ihrer Richtung auf dieselben, sondern unsre Begierde zu lernen, unsre Pflicht, oder die Absicht, wozu wir die Nach- richten brauchen; wir werden nicht angezogen, wir selbst stellen uns zu der Sache hin, und zwin- gen uns dabey zu bleiben. In diesem Falle wer- den wir nimmermehr sagen, daß das Buch in- teressant sey; wir werden nur sagen, daß wir fleißig arbeiten. Gesezt aber, ein ander Werk, das wir ebenfalls aus Pflicht oder Zwang zu lesen anfiengen, enthalte Geschichte, Schilderungen, Reden, die uns, indem wir fortfahren, unsrer ur- spruͤnglichen Absicht, warum wir lasen, nach und nach uneingedenk machen, und uns bloß mit den Sachen selbst beschaͤftigen, die wir in jedem Au- genblicke erfahren; gesezt, die Begierde, die an- fangs nur auf einen entfernten Endzweck, und auf das Lesen als auf ein Mittel gerichtet war, gehe nun auf den Inhalt des Buchs selbst, wir lesen nunmehro bloß, um zu wissen, was gesagt uͤber das Interessirende. und was folgen wird, ohne weiter an einen Ge- brauch zu denken: so werden wir alsdann zwar auch noch hoͤchst aufmerksam seyn, vielleicht auf- merksamer als zuvor, aber wir werden uns kei- ner Bemuͤhung mehr bewußt seyn, unsere Auf- merksamkeit zu erhalten; die Kraft, die der na- tuͤrlichen Beweglichkeit der Seele Einhalt thut, wird nicht mehr unser Entschluß, sondern der Ein- druck der Gegenstaͤnde seyn. Das Buch, sagen wir alsdann, faͤngt an uns zu interessiren. — Noch ein anderer Umstand unterscheidet diese bei- den Arten der Aufmerksamkeit; und gerade ist der eine Umstand das, was man sich bey dem Worte Interessiren denkt. Naͤmlich, wenn ich bloß durch meinen Vorsatz in einer bestimmten Reihe der Dinge mit meinen Gedanken bleibe: so stehe ich in jedem Augenblicke nur bey dem Gliede der Reihe still, das jezt gegenwaͤrtig ist, und bekuͤmmere mich um die kuͤnftigen nicht; ich schließe die Reihe, sobald mein Vorsatz erreicht, oder die Zeit der Ar- beit geendigt ist, ohne mich im geringsten wegen dessen, was folgen wird, zu beunruhigen. Wenn R Einige Gedanken ich hingegen, durch die anziehende Kraft der Ge- genstaͤnde selbst, diese Reihe durchlaufe: so bin ich mit meiner Aufmerksamkeit immer schon ein wenig vor der gegenwaͤrtigen Idee voraus; ich verlange nach den folgenden Gliedern, indem ich die gegenwaͤrtigen betrachte: und ehe die Reihe nicht bis ans Ende, oder bis an einen Unterbre- chungspunkt kommt, werde ich nicht ruhig auf- hoͤren koͤnnen. — Ein Schauspiel oder ein Roman interessirt mich , und, ich bin nach dem Erfolge begierig , sind gleichbedeutende Re- densarten; und es ist das sicherste Zeichen, daß ein dramatischer Dichter seinen Endzweck zu inter- essiren erreicht hat, wenn er den Zuschauer in ein Verlangen und eine unruhige Erwartung der Zu- kunft sezt. Der Grund dieser Verschiedenheit ist, duͤnkt uns, dieser. Die Begierde der Seele geht eigentlich immer auf etwas Kuͤnftiges. Geht sie nun nicht auf die Sache selbst, mit der man sich beschaͤftigt, sondern auf eine Absicht, die außer- halb derselben liegt, und bloß durch sie erreicht werden soll: so ist außer dem gegenwaͤrtigen Theile uͤber das Interessirende. der Sache nichts, als diese Absicht, uns in den Augen. — Hingegen, wo die Begierde auf die Dinge selbst geht, mit denen wir unsere Aufmerk- samkeit beschaͤftigen, da sind es eigentlich die fol- genden Theile der Dinge, auf die sie gerichtet ist, denn die gegenwaͤrtigen werden schon genossen; und eben diese Befriedigung, die das Gegenwaͤr- tige der Seele gewaͤhrt, richtet ihren Blick gegen das Zukuͤnftige, um neue Befriedigungen zu su- chen. Also alles das interessirt uns, was uns durch den Eindruck des Wohlgefallens, den es auf uns macht, ohne unsern Vorsatz aufmerksam und nach der Fortsetzung und der Folge begierig erhaͤlt. Alles Wohlgefallen entspringt entweder aus dem, was unsere Kraft zu denken beschaͤftiget, oder aus dem, was unsre Empfindungen erweckt. Alles, was mit uns auf gewisse Weise zusammen- haͤngen, und uns mit sich vereinigen soll, muß entweder Gedanken, oder es muß Neigungen er- regen, so wie sie zu unsrer Natur und zu unserm R 2 Einige Gedanken Zustande passen. Wer uns interessiren will, muß uns viel zu denken geben, oder uns in Affekt bringen. Zuerst also von dem Interesse, das die Dinge und ihre Schilderungen haben koͤnnen, insofern sie Vorstellungen erregen. Das Wohlgefallen, das wir an gewissen Ge- danken finden, beruhet auf unserer Wißbegierde, oder auf dem Triebe, unsere Kraͤfte zu aͤußern. Unserer Wißbegierde gefallen alle die Reihen von Gedanken, die entweder uͤberhaupt der Seele Wahrheit und Kenntniß, oder die ihr besonders solche Kenntnisse, solche Begriffe geben, welche eine besondere Beziehung auf ihren ehemaligen oder gegenwaͤrtigen Zustand haben; und dieser lezte Reiz ist staͤrker, und bekoͤmmt oft allein den Namen des Interessirenden. Unserm Triebe zur Geschaͤftigkeit gefallen alle die Vorstellungen, die reich und doch leicht zu fassen, neu und doch klar sind, stark und schnell und doch mit Ordnung ab- wechseln. uͤber das Interessirende. Wir wollen diese Triebfedern des Interessiren- den stuͤckweise durchgehen. Wir haben gesagt, die Wißbegierde werde durch Wahrheit und Kenntniß gereizt. — Einige dieser Wahrheiten und dieser Kenntnisse wirken vermoͤge ihrer innern Kraft, bloß als Theile von Wissenschaft, entweder der allgemeinen, wel- che alle Menschen suchen, oder der besondern, auf welche sich gewisse Menschen legen. Andere wirken vermoͤge gewisser Beziehungen, die sie auf den Menschen durch seine besondern Umstaͤnde bekommen haben. Jene wenden sich bloß an den Verstand, diese ziehen auch schon gewisse kleine Leidenschaften mit ins Spiel, die sie befriedigen, oder denen sie Nahrung verschaffen. In der Be- schreibung einer Reise, die nach dem Nordpole unternommen worden, die Gestalt der Erde zu untersuchen, wird durch die Figuren und Rech- nungen nur die Wißbegierde des Mathematikers gereizt; dieß ist das Interesse einer besondern Wissenschaft . Aber das Resultat dieser Figu- ren und Rechnungen, ob die Erde oval oder ein- R 3 Einige Gedanken gedruͤckt sey, dieß erregt die Neubegierde aller; dieß ist das Interesse der Wissenschaft uͤber- haupt . Die Schilderung der Sitten und der Le- bensart der Einwohner des Nordens, die in die- ser Reisebeschreibung vorkommen koͤnnte, wuͤrde von noch mehrern mit Theilnehmung und Begier- de gelesen werden; nicht bloß, weil sie dadurch neue Einsichten bekaͤmen, sondern noch mehr, weil sie dabey viele Vergleichungen mit ihren eigenen Umstaͤnden anstellen koͤnnten, durch die schon vorher gefaßte Begriffe und schon daseyende Nei- gungen wieder erweckt und beschaͤftigt werden wuͤrden. Dieß ist das Interesse, welches aus allgemeinen Beziehungen der Dinge auf uns entsteht . Vielleicht liest diese Reise ein Mann, der von dem Nordlichte eine Theorie gemacht und ein Buch daruͤber geschrieben hat, und dem wuͤrde nichts wichtiger seyn, als was von besondern Beobachtungen dieses Phaͤnomens, oder von neuen Erklaͤrungen desselben gesagt wuͤrde, weil dieß durch die Begierde, seine Meynung bestaͤtigt zu sehen, oder die Furcht, sich widerlegt zu finden, uͤber das Interessirende. von wichtigen Folgen fuͤr ihn waͤre. Dieß ist das Interesse, das aus besondern Beziehun- gen der Dinge entsteht . Endlich der Theil, der die Gefahren beschriebe, welche die Reisenden ausgestanden, die Muͤhseligkeiten, welche sie er- duldet haben, wuͤrde ohne Zweifel die meisten und die aufmerksamsten, begierigsten Leser finden. Dieß ist das Interesse der Empfindung . Von dem besondern Reize, den jede Wissen- schaft fuͤr den hat, der sie treibt, von dem allge- meinen Interesse, das jede wichtige und verstaͤnd- liche Wahrheit fuͤr den Menschen uͤberhaupt hat, wollen wir weiter nichts sagen. Das Erste ge- hoͤrt gar nicht zu unserer Absicht, und das Lezte ist durch sich selbst verstaͤndlich. Nur von dem Interesse wollen wir reden, das sich auf gewisse Beziehungen der Dinge, auf einen gewissen Ein- fluß ihrer Ideen auf unsern Zustand gruͤndet, und welches das eigentliche Interesse ist, das Dichter und Kuͤnstler, zu denen wir hier reden, ihren Wer- ken geben sollen. Aber eine allgemeine Anmer- kung muͤssen wir vorausschicken. — Man kann R 4 Einige Gedanken es unsern Dichtern nicht oft genug wiederholen, daß es nicht bloß durch Leidenschaften moͤglich ist zu interessiren; daß sie durch diese nur selten, und immer nur Augenblicke lang interessiren; daß es nur allein der Reichthum der Vorstellung, die Wichtigkeit und die Menge dessen, was sie uns zu denken geben, seyn kann, was uns bey einem groͤßern Werke vom Anfange bis zu Ende geschaͤf- tig, aufmerksam und befriedigt erhalte. Das ruͤhrendste Drama erregt bey dem empfindlichsten Zuschauer immer nur Blitze der Empfindung. Auf einen Augenblick, wo man getaͤuscht wird, folgt eine weit laͤngere Zeit, wo man wieder sich und die Schauspieler fuͤr das erkennt, was sie sind. Fuͤr einen Vorfall, fuͤr eine Rede, die un- mittelbar Leidenschaft erregt, giebt es hundert, die nur Vorstellungen erwecken. — Das Ver- gnuͤgen, Mitleiden und Schrecken zu empfinden, genießt man also nur in einzelnen und kurzen Stellen eines Trauerspiels. Aber das Vergnuͤ- gen, Menschen von einem unterscheidenden Cha- rakter, einem gebildeten Geiste, feinen Sitten, ei- uͤber das Interessirende. ner edlen Sprache, uͤber wichtige Vorfaͤlle des Le- bens reden zu hoͤren; das koͤnnen wir in allen Auftritten und ohne Unterbrechung genießen. Elend oder Gluͤckseligkeit sehe ich nur am Ende des Stuͤcks, aber denkende und handelnde Men- schen sehe ich durch das Ganze. Ist nun der Dich- ter um weiter nichts bekuͤmmert gewesen, als bloß diesen Fall seines Helden recht schrecklich zu ma- chen, so wird auf viele lange Weile endlich ein er- goͤtzender Augenblick folgen, der noch dazu durch den vorhergehenden Verdruß die Haͤlfte seiner Kraft schon verloren hat. Hat aber der Dichter durch das ganze Stuͤck Nahrung fuͤr meinen Geist ausgestreuet, laͤßt er seine Personen so reden, daß sie mich mannichfaltige und wichtige Sachen leh- ren, mich an vieles eriunern, viele dunkle Be- merkungen deutlich, viele Wahrheiten, die ich ab- strakt erkannte, anschauend machen: dann wird er mich bey den unerheblichen wie bey den wich- tigen Vorfaͤllen, am Anfange wie bey der Kata- strophe seines Stuͤckes, ergoͤtzen; die erwartende Begierde nach dem Zukuͤnftigen wird durch das R 5 Einige Gedanken suͤße Gefuͤhl des Gegenwaͤrtigen gemaͤßigt werden; und mein Herz wird fuͤr die leztern starken Ein- druͤcke, die er fuͤr dasselbe bestimmt, nur desto mehr geoͤfnet seyn. Wir kehren von dieser kleinen Ausschweifung wieder zuruͤck. — Wir muͤssen also erst erklaͤren, wie gewisse Ideen eine naͤhere Beziehung auf die Umstaͤnde des Menschen bekommen, und dann, auf wie vielerley Art solche Beziehungen formirt werden koͤnnen. Man erfaͤhrt dieß schon in dem Vortrage der abstrakten Wissenschaften. Wenn jemand einen Lehrer oder Schriftsteller uͤber Materien hoͤrt oder liest, uͤber welche er selbst noch niemals nachzu- denken veranlaßt worden: so muß es bloß die Deutlichkeit und Evidenz der Sachen, die ihm vorgetragen werden, und seine eigne Lust zu der Wissenschaft seyn, die ihn fuͤr das, was er hoͤrt, einnehmen, und eine gewisse Theilnehmung an de- nen Untersuchungen, welche angestellt werden, be- wirken kann. Und auch alsdann ist es doch bey- nahe gewiß, daß er vieles vorbeylassen wird, was ihm gleichguͤltig scheint, ob es gleich unmittelbar uͤber das Interessirende. zu der Absicht des Redners und Schriftstellers ge- hoͤrte; vieles als einen Gewinn auffassen wird, was ohne Bedeutung ist, und bloß zu Nebenbe- griffen oder zu Ausfuͤllungen gehoͤrt. Denselben Weg, den die Natur bey der Erfindung der Wahr- heit nimmt, den will sie auch bey der Erlernung derselben genommen wissen, wenn die Wahrheit ihren Ein druck machen soll. — So wie man nun nicht eher Erklaͤrungen der Phaͤnomenen sucht, als bis man von denselben befremdet wird, und so wie beynahe alle unsre Untersuchungen bloß zu Aufloͤsung von Schwierigkeiten angestellt werden, durch die man zuvor beunruhigt worden ist; so muß man auch, damit man an diesen Erklaͤrun- gen und Aufloͤsungen, wenn sie von andern erfun- den worden, und uns nun vorgetragen werden, ein Interesse finde, eben diese Erfahrungen wenig- stens im Vorbeygehn gemacht, eben diese Schwie- rigkeiten wenigstens dunkel wahrgenommen ha- ben. — Jeder Gedanke in den Reden und Schrif- ten anderer, dessen Wahrheit wir zwar einsehen, dessen Brauchbarkeit wir aber nicht empfinden, und dessen Abzielung wir nicht gewahr werden, Einige Gedanken ruͤhrt uns wenig. — Diese Brauchbarkeit aber, diese Abzielung kann in nichts anderm liegen, als entweder in dem Lichte und der Gewißheit, die dieser Gedanke uͤber andere schon vorher gehabte, uns wichtig scheinende Gedanken ausbreitet, in welchen wir noch Dunkelheit oder Zweifel fanden; oder in den Regeln und Huͤlfsmitteln, die uns derselbe zu solchen Verrichtungen giebt, an deren Ausfuͤhrung uns gelegen ist, und in denen wir nicht fortkommen konnten. — Diese andern Ideen muß man also nothwendig erst gehabt, und ihre Luͤcken oder ihre Undeutlichkeit empfunden ha- ben; zu diesen Verrichtungen muß man erst ver- anlaßt, und durch Mangel dieser Kenntnisse ge- hindert worden seyn, wenn man das Interesse an dem Unterrichte finden soll, das sich auf die Aufklaͤrung dieser Dunkelheiten und die Ersetzung dieses Mangels gruͤndet. Nicht das Gute, sagt Locke, erregt an und fuͤr sich Begierde, sondern nur das Gute, welches eben jezt zur Vollstaͤndigkeit unsers Zustandes fehlt, nur dasjenige, dessen Mangel in unserer uͤber das Interessirende. jetzigen Verfassung eine Luͤcke macht, uͤber die wir unruhig sind. Eben die Beziehung, die das Gute auf die Begierden hat, eben dieselbe hat das In- teressirende auf den Verstand. Nicht jede wahre große schoͤne Idee macht uns aufmerksam, son- dern nur diejenige, die in die Reihe der in uns schon vorhandenen und von uns bemerkten Ideen noch hineinfehlt, die, welche eine von uns wahrgenommene Luͤcke unserer Kenntnisse ausfuͤllt, eine gewisse Unruhe stillt, die wir uͤber unsere Unwissenheit in diesem Stuͤcke em- pfanden. Wir sehen also, wie der vorhergehende Zu- stand des Menschen, die Summe dessen, was er bisher erfahren, empfunden und gedacht hat, ei- nen Einfluß darauf haben kann, an welchen von den neuankommenden Ideen er den meisten Ge- schmack finden, welche er am geschwindesten sich zueignen, bey welchen er mit seiner Aufmerksam- keit stehen bleiben soll. Wenn die Natur zuerst das Auge und das Ohr des neugeborenen Men- schen oͤfnet: so uͤberlaͤßt sie denselben eine Zeit- Einige Gedanken lang ganz der Herrschaft aͤußerer Gegenstaͤnde: seine innere Wirksamkeit hat noch gar keine Rich- tung; alle Dinge, die sich sehen, hoͤren oder fuͤh- len lassen, befriedigen denselben auf gleiche Weise. Nur das hellere Licht, oder der staͤrkere Schall ist das einzige, was einem Dinge vor dem andern in seiner Aufmerksamkeit und in seiner Zuneigung einen Vorzug giebt. Er verlangt an keine an- dere Sache zu denken, als die sich ihm darstellt; er erwartet keine andere Vorstellung, als die er wirklich hat. Die Form jedes Gegenstandes ist der Seele gleichguͤltig, weil der Gegenstand selbst erst der Seele ihre Gestalt geben soll. — Der erste Unterschied, der sich zwischen den Dingen feststellt, ist der zwischen Lust und Schmerz; und die erste Triebfeder, die Aufmerksamkeit und Erwartung erregt, ist die Leidenschaft. Aber indem diese Begierden sich entwickeln, ihre Gegenstaͤnde oͤfter, und in neuen Verbindungen vorkommen, breiten sich die Ideen aus, und erzeugen aus sich neue; viele derselben fuͤgen sich in gewisse Reihen zusam- men, wovon jedes Glied die Voraussehung und uͤber das Interessirende. das Verlangen nach den uͤbrigen erregt; viele vereinigen sich zu gewissen Ganzen, die sich der Seele auf einmal darstellen, und in welchen sie das Mangelnde aus dem, was vorhanden ist, fuͤhlen lernt. Der indeß immer fortgehende Fluß aͤußerer und innerer Gegenstaͤnde und Vorfaͤlle fuͤhret neue Begriffe dazu, verstaͤrket oder modifi- cirt die alten; bis endlich der Koͤrper reif, die Or- ganisation voͤllig befestiget, die Ideen der meisten und wichtigsten Dinge erlangt, die vornehmsten Freuden und Schmerzen des Lebens empfunden, und der Mensch und die Dinge, die ihn umgeben, durch ihre gegenseitige Operation gegen einander gleichsam abgeformt sind. Alsdann koͤnnen die neuankommenden Gegenstaͤnde nicht mehr die Seele auf ganz neue Weisen erschuͤttern, sie muͤs- sen gewissermaßen in die Fußstapfen der alten tre- ten, wenn sie Eindruck machen sollen. Die Seele nimmt nicht mehr alles auf, was sich ihr anbie- tet; sie sucht das, was sich an die Reihen an- schließt, oder in die Ganzen hineinpaßt, die sich in ihr formirt haben, und nach welchen sie alles Einige Gedanken ordnen muß, was ihr denkbar und empfindbar seyn soll. Die Aufmerksamkeit hat schon ihre ge- wissen Objekte, und an jedem Dinge ihre gewissen Theile, nach welchen sie sich allemal mit Vorbey- gehung der uͤbrigen hinkehrt; und wer also diese Aufmerksamkeit gewinnen will, der muß der Seele gerade diese Objekte, oder diese Theile jedes Ob- jekts vorhalten. Ueberdieß legt jede Begebenheit, die dem Menschen aufstoͤßt, jeder Zustand, in den er ge- raͤth, einen gewissen Stoff in sein Gedaͤchtniß nie- der, der bearbeitet werden soll; jede Idee, die er bekoͤmmt, bereitet ihn zu einer neuen vor, oder enthaͤlt den Samen zu derselben. — Was nun also aus diesen in ihm schon vorhandenen Mate- rialien erbaut wird, was aus diesem in ihm lie- genden Samen aufschießt und reift, ist ihm weit wichtiger, gehoͤret weit mehr zu ihm, bringt seinen Kopf in weit groͤßere Thaͤtigkeit, und seine Einbil- dungskraft in weit groͤßere Waͤrme, als was aus ganz fremdem Stoffe zusammengesezt, und auf auslaͤndischem Boden gezeugt ist. uͤber das Interessirende. Es wird also leicht seyn, zu finden, auf wie vielfache Weise Ideen und Schilderungen eine ge- nauere Beziehung auf unsern Zustand bekommen. Einmal, wenn sie das, was wir schon halb wis- sen, ergaͤnzen, was wir dunkel empfunden haben, uns deutlich denken, oder was wir in abstrakten Worten erlernt haben, in einem einzelnen Falle anschauen lehren. Zweytens, wenn sie uns an irgend etwas von dem, was wir selbst mit groͤße- rer oder geringerer Ruͤhrung erfahren haben, leb- haft wieder erinnern, und uns in unser eigenes voriges Leben einen Blick thun lassen, der uns Aufschluͤsse von dem giebt, was wir damals nicht verstanden, oder uns bemerken laͤßt, was wir da- mals uͤbersahen. Drittens, wenn sie uns fuͤr gewisse Geschaͤfte, an denen uns gelegen ist, oder zu einem Betragen, nach welchem wir streben, Muster und Anweisung geben. Viertens, wenn sie uns zu irgend einer eignen Uebung unsrer den- kenden Kraft veranlassen, indem wir sie mit den uns bekannten Grundsaͤtzen zusammenhaͤngen, und durch die uns wiederfahrnen Begebenheiten erlaͤu- S Einige Gedanken tern, oder indem wir irgend eine Art von Ver- wandtschaft, es sey der Aehnlichkeit, es sey der Abhaͤngigkeit zwischen ihnen und unsern alten Er- fahrungen aufsuchen. Man wird vielleicht noch mehr Arten eines sol- chen Zusammenhangs der Vorstellungen mit uns finden, oder diese noch in mehr Unterarten zer- gliedern koͤnnen. Aber die, welche wir angefuͤhrt haben, sind hinlaͤnglich, den Begriff selbst zu er- laͤutern, und die Folgerungen verstaͤndlich zu ma- chen, die wir aus ihm in Absicht auf die Werke der Dichter ziehen wollen. Dieß naͤmlich fragt sich jezt: was fuͤr Gegen- staͤnde muß denn also der Dichter waͤhlen, wie muß er sie bearbeiten, wenn er die meisten, we- nigstens die aufgeklaͤrten, die gesitteten Menschen durch die Vorstellungen, die er in ihnen erweckt, interessiren will? Er muß, werden wir uͤberhaupt antworten, diejenigen Gegenstaͤnde waͤhlen, von welchen er erwarten kann, daß sie in aller dieser Menschen Seelen correspondirende Begriffe finden, und daß uͤber das Interessirende. sie mit den alten Empfindungen derselben zusam- menhaͤngen; er muß diese Gegenstaͤnde so bear- beiten, daß sie die Zuͤge dieser Bilder, die Spu- ren dieser Empfindungen getreu wieder darstellen, aber in denselben mehr, und dieses deutlicher oder anschauender zeigen, als die Seele selbst in ihnen entdeckte. Nach dem ersten Grundsatze also werden 1) die Dinge, welche ein wahres Interesse haben sol- len, natuͤrliche Gegenstaͤnde und deren ihre natuͤr- liche Veraͤnderungen seyn muͤssen, Dinge, deren Gattung wir durch unsere eigne Erfahrung ken- nen. Die wirkliche vor uns liegende Welt ist es, aus der alle unsre Ideen geschoͤpft, auf die alle unsre Neigungen gerichtet sind. Sie ist der In- begriff alles dessen, was uns verstaͤndlich oder wichtig oder angenehm seyn kann. Ihr Reich- thum fuͤllt den ganzen Umfang unsrer denkenden Kraft, und erschoͤpft das ganze Maaß unsrer Em- pfindsamkeit. Wer ungesehene Gestalten und un- erhoͤrte Veraͤnderungen uns vorstellt, der fuͤhrt uns in fremde Welten, wo wir andere Organen S 2 Einige Gedanken noͤthig haͤtten, um zu sehen, und ein ander Herz, um zu fuͤhlen, was uns gezeigt wird. Das Schlimmste ist, daß derjenige selbst diese Organen und dieses Herz nicht hat, der uns diese Dinge zeigen will. Diese neue Welten sind bloß aus ei- nigen Truͤmmern der gegenwaͤrtigen erbauet, die groͤßtentheils uͤbel zusammengefuͤgt, und dadurch weit unkenntlicher, weit unkraͤftiger geworden sind, als sie in ihrer alten Anordnung waren. Einige Kunstrichter, die, wie uns duͤnkt, mehr nach al- ten Mustern und alten Regeln, als nach der Na- tur und nach ihrer eigenen Empfindung philoso- phiren, haben der sogenannten Imagination in der Dichtkunst, ich meyne der Imagination, wel- che ganz neue in der Natur nicht vorhandene We- sen und Begebenheiten erfindet, einen viel zu ho- hen Rang unter den dichterischen Faͤhigkeiten, und ihren Werken einen viel zu großen Werth beyge- legt. Vom Longin oben an bis herunter zu dem Englaͤnder Dufft In seinem Versuch uͤber das Originalgenie. wollen uns diese Herren durch- uͤber das Interessirende. aus uͤberreden, daß den Homer nichts groͤßer mache, als sein Jupiter, wenn er mit seinem Haupte den Olymp erschuͤttert, und die Pferde des Mars, wenn sie mit einem Schritte so weit ausgreifen, als man von einem hohen Berge se- hen kann; daß Schakespears Genie nirgends mehr hervorleuchte, als wo er seine Hexen und Unge- heuer reden laͤßt; und daß Pope bloß ein feiner Versifikateur seyn wuͤrde, wenn er nicht zum Gluͤcke den Gabalis gelesen, und in seinen Locken- raub Sylphen und Gnomen gebracht haͤtte. Wenn diese Kunstrichter nach ihrem wirklichen Ge- fuͤhle reden, so ist es freylich ein sicherer Beweis, daß das unsrige kein allgemeines Gefuͤhl sey. Denn dieß geht ganz darauf, daß es ein groͤßer Genie erfodere, das Wirkliche und das Natuͤrliche, als das Erdichtete und das Uebernatuͤrliche zu schildern, (wir reden hier bloß von den redenden Kuͤnsten,) oder daß, wenn auch das lezte mehr Bewunderung erregen sollte, doch das erste nur interessiren koͤnne. — Die wirkliche Natur ist weit reicher in dem Stoffe, aus dem sie jedes Ding S 3 Einige Gedanken zusammengesezt, weit mannichfaltiger in den Ar- ten, durch welche sie dasselbe abgeaͤndert hat. Je- des Ding in der Natur ist ein Gewebe von unzaͤh- lichen Theilen; eine Mischung von unendlich viel Beschaffenheiten, und diese alle wieder auf alle moͤgliche Weise bestimmt: jedes Ding der bloßen Imagination hingegen ist fast immer nur eine Zusammensetzung aus zwo, drey allgemeinen Ei- genschaften, die man in einem Uebermaße nimmt, in welchem sie keine besondern Bestimmungen, kei- ne Einschraͤnkungen leiden. Alle diese Geschoͤpfe der mythologischen und Feyen-Welt sind im Grun- de wirklich nur abstrakte Begriffe. Es ist Macht, oder Groͤße, oder Geschwindigkeit, oder irgend eine andere solche Eigenschaft allein, im hoͤchsten Grade gedacht, die den Namen Jupiter oder Obe- ron bekoͤmmt. Ferner sind die Verschiedenheiten der natuͤrlichen Gegenstaͤnde in derselben Gattung unzaͤhlich. Unter der Menge von Beschaffenhei- ten, die ihre Individualitaͤt ausmachen, darf nur eine einzige abgeaͤndert werden, so stimmt sich das ganze System um, und das Gemeinschaftliche uͤber das Interessirende. der Gattung bleibt doch. Ueberdieß giebt es in dem, was seine bestimmten Graͤnzen hat, unzaͤh- liche Grade des Mehr und des Weniger. Hinge- gen eine solche fremde Gestalt, deren ganze Exi- stenz an zwey bis drey einmal ausgemachte Zuͤge gebunden ist, wuͤrde gar nicht wieder erkannt wer- den, wenn man nicht gerade eben dieselben Zuͤge vorbraͤchte: und weil man zugleich die ganze Gattung dieser Dinge selbst aus lauter Eigen- schaften im hoͤchsten Grade genommen zusammen- gesezt hat, so kann es zwischen den Individuen keine merkliche Verschiedenheit mehr geben, wenn sie noch zu der Gattung gehoͤren sollen. — Man hat es tausendmal wiederholt, daß die Natur ein- geschraͤnkt, aber das Feld der Imagination un- endlich sey. Uns duͤnkt, die imaginative Welt ist gegen die wirkliche ein enges armseliges Ge- hege, wo man immer dasselbe Wild unter neuen Namen hascht, und weil man sich lange im Kreise herumbewegt hat, glaubt, daß man sehr weit fortgekommen seyn muͤsse. Aber gesezt, wir waͤ- ren so gute Schoͤpfer, daß wir wirklich neue in- S 4 Einige Gedanken dividuelle Naturen hervorbringen, und sie hin- laͤnglich abwechseln koͤnnten: was koͤnnen uns alle diese Wesen angehen, die wir niemals um uns herum gesehen, mit denen wir niemals in ir- gend einem Verhaͤltnisse gestanden haben, und von denen wir wissen, daß wir nichts weder zu hoffen noch zu fuͤrchten haben? — Wenn uns diese Goͤtter-Zauberer-Feyen- und Ritterwelt jetzo noch gefallen soll: so muß es entweder dadurch geschehen, daß unter diesen fremden Namen wirk- liche Menschen aufgefuͤhrt werden, oder daß sie doch zuweilen wie die uns bekannten Dinge wir- ken und leiden; oder es muͤssen Anspielungen, es muß Scherz, Satyre, mit einem Worte eine Art von verborgenem Sinne seyn, der unter diesen Bildern hervorleuchtet. Diese Dinge und ihre Begebenheiten muͤssen nur als das Mittel ge- braucht werden, durch welches andere, die uns eigentlich interessiren, ins Auge fallen sollen. Aus dieser Regel folgt, 2) daß uns nichts mehr interessiren kann, als Schilderungen des Menschen, seiner Sitten und seiner Vorfaͤlle. — uͤber das Interessirende. Denn mit dem Menschen haben wir doch von dem ersten Augenblicke unsers Bewußtseyns an am meisten zu thun, mit ihm verbinden uns unsere Beduͤrfnisse am genauesten, auf ihn macht uns unsere Natur am oͤftersten aufmerksam. Geschaͤfte und Vergnuͤgungen, alles, wodurch wir Begriffe bekommen oder gewisse Neigungen annehmen, be- ziehen sich nur auf Menschen, oder werden mit ihnen gemeinschaftlich unternommen und genos- sen. Also muͤssen von keiner Sache in der Natur so viele Elemente von Ideen bey uns vorhanden, auf keine muß unsre Neugierde so sehr gerichtet seyn, zu keiner Erkenntniß muß so viel Anlage und so viel Beduͤrfniß in uns liegen, als zu der Kenntniß des Menschen. — Man weise uns den Menschen, den geringen wie den hohen, in außer- ordentlichen oder in alltaͤglichen Vorfaͤllen; aber man weise ihn uns so, wie wir ihn eigentlich ken- nen wollen, als einen denkenden, empfindenden Menschen; man finde die wahren Worte, die ihm seine Situation eingeben, die eigentlichen Hand- lungen, zu denen ihn sein Charakter treiben muß: S 5 Einige Gedanken und unsere ganze Seele wird bey dem Anblicke in eine Geschaͤftigkeit kommen, die sie an nichts wei- ter denken laͤßt; der ganze Vorrath ihrer Ideen wird sich, so zu sagen, in Bewegung setzen, und das ganze System ihrer Empfindungen wird er- schuͤttert werden. Mit dieser Saite ist unsere ganze Seele harmonisch gestimmt. Alles, was wir wissen, alles, was wir wollen, hat irgend eine augenscheinliche oder geheime Beziehung auf eine solche Schilderung. — Wenn die Erscheinung nicht so gewoͤhnlich waͤre, so wuͤrde es uns wun- derbar vorkommen muͤssen, daß der gemeinste elen- deste Kopf unter den Zuschauern einer Minna, der, wenn er einen Wirth, einen Major Tellheim, einen Wachtmeister wie Paul Werner, selbst reden lassen sollte, nicht ein Wort wuͤrde zu finden wis- sen, wodurch sich diese Staͤnde oder diese Charak- tere unterschieden, doch, wenn diese Sprache von dem Manne von Genie gefunden ist, sie sogleich fuͤr die rechte eigentliche erkennt, und ihre Rich- tigkeit gleichsam durch seine eignen Erinnerungen bestaͤtigt. — Wie ist dieß anders moͤglich, als uͤber das Interessirende. daß auch der gemeinste Mann Leute von diesen verschiedenen Staͤnden und Sitten im wirklichen Leben gesehen, daß er die Unterschiede ihrer Spra- che und ihres Betragens damals empfunden, und seit der Zeit in seinem Gedaͤchtnisse aufbehalten hat, aber so verworren unter einem Haufen staͤr- kerer Ideen, die zugleich in die Seele kamen, so verdeckt von der Reihe derer, die darauf folgten, daß seine eigne Kraft nun nicht mehr zureicht, sie wieder ans Licht zu ziehen? Aber diese Gegenstaͤn- de duͤrfen ihm nur wieder vorkommen, besonders so rein, so von heterogenen Dingen abgesondert, so zusammengedraͤngt, wie sie ihm ein guter Dich- ter zeigt: dann finden sich die Abdruͤcke, die da- von in seiner Seele vorhanden sind, augenblicklich herzu; er druͤckt, so zu sagen, den alten Stempel wieder darauf, er findet ihn genau passend, und eben diese Operation, die seinem eignen Geiste zu- gehoͤret, ist das, was ihn bey einer solchen Scene thaͤtig und aufmerksam erhaͤlt, mit einem Worte, was ihn interessirt. Einige Gedanken Unter diesen Gemaͤlden von Menschen nun wird uns 3) das Gemaͤlde solcher Menschen am staͤrksten interessiren, die am meisten unsers glei- chen sind, die eine Denkungsart, eine Sprache und Sitten wie die unsrige haben, und deren Be- gebenheiten und Handlungen denen gleichkommen, aus denen der Lauf unsers eignen Lebens besteht, mit einem Worte, das Gemaͤlde unsrer Zeit und unsrer Nation. — Jeder Mensch hat um sich herum ein kleines System. Er selbst ist der Mit- telpunkt desselben; die Glieder seiner Familie, die Einwohner seiner Stadt, die Leute, mit denen er alle Tage umgeht, ziehen die naͤchsten Kreise um diesen Mittelpunkt; Reisen, Geschaͤfte, die ver- schiedenen Veraͤnderungen seines Zustandes, er- weitern dieselbe. Innerhalb dieses Systems sieht der Mensch alles mit seinen eignen Augen, jeder Punkt der Peripherie haͤngt durch irgend einen Strahl mit dem Mittelpunkte zusammen. Ge- schichte und Reisebeschreibungen koͤnnen ihm noch tausend andre Systeme außer dem seinigen be- kannt machen; aber diese alle sieht er nur im uͤber das Interessirende. Profil, beruͤhrt sie gleichsam nur durch einige we- nige Tangenten. Und so wie auch diese weiter von seinem Standorte wegkommen, so wird ihr Anblick immer einseitiger, mangelhafter, dunkler. — In der That, wir kennen nur diejenige Le- bensart, diejenige Verfassung der Menschen recht, die auch zugleich unsere eigne ist. Alle uͤbrigen Zustaͤnde des menschlichen Geschlechts erklaͤren wir uns immer nur durch die Vergleichungen, die wir zwischen denselben und dem gegenwaͤrtigen anstellen. Wo diese Aehnlichkeiten uns verlassen oder betruͤgen, da sind unsre Vorstellungen von diesen Zustaͤnden dunkel oder falsch. Wo die menschliche Gestalt anfaͤngt sehr von der unsrigen abzugehen, da sehen wir die Menschen fuͤr eine Art von Ungeheuern an, und endlich streiten wir wohl gar daruͤber, ob es Menschen oder Affen sind. Und wo der menschliche Geist, seine Ideen, Gesinnungen, Handlungen, gar keine Gleichfoͤr- migkeit mehr mit den unsrigen haben, da verliert sich das Bewußtseyn von dem, was ein solcher Geist seyn mag, und das sympathetische Gefuͤhl Einige Gedanken von dem, was in demselben vorgeht. — Ueber- dieß, die Nachrichten, die uns alte oder entfernte Menschen bekannt machen sollen, wie weit koͤnnen diese wohl reichen? Die Griechen und Roͤmer sind gewiß die beiden Nationen, die wir aus dem Al- terthume am besten kennen. Und doch, wie weit ist der Begriff, den wir von der Verfassung und der Lebensart der Einwohner zu Rom und zu Athen haben, von einem sinnlichen Anschauen unterschieden? Wie viele Luͤcken sind nicht in den vollstaͤndigsten Nachrichten, wie viel Umstaͤnde, die kaum unsre Vernunft mit einander vereinigen kann, und aus denen noch weniger unsre Einbil- dungskraft ein Ganzes zu machen weiß? Es sind immer nur einige wenige Bestandtheile aus der unendlichen Zusammensetzung der damaligen Na- tur, nur einige zerrißne Glieder aus der Kette ih- rer Veraͤnderungen. Wir zwingen diese Theile zusammen, wir haͤngen diese Glieder, so gut wir koͤnnen, an einander; aber wir fuͤhlen doch, daß wir nicht die wahre Gestalt, nicht den ganzen Koͤrper der Natur wieder herausbringen. — Wie uͤber das Interessirende. viel unmoͤglicher also muß es nicht seyn, ein rich- tiges Gemaͤlde von dem gesammten Zustande eines Volks oder eines Zeitalters auf einzelne Stellen von Schriftstellern zu gruͤnden, die davon im Vorbeygehen geredet haben. Es sind seit einiger Zeit unter uns die Bar- den- und Skaldengesaͤnge aufgekommen. Wenn man damit nichts weiter zur Absicht hat, als was Kleist bey seinem Liede eines Lapplaͤnders, und Gray bey seiner Herabkunft des Odins zur Absicht hatte, uns auf eine lebhaftere Art, als durch die bloße Erzaͤhlung geschehen kann, das Eigenthuͤm- liche und Sonderbare der Lebensart, der Sitten und der Dichtkunst eines merkwuͤrdigen Volks zu zeigen: so ist die Wahl unsrer Bardensaͤnger die gluͤcklichste, weil uns dieses Volkes Eigenthuͤm- lichkeiten am erheblichsten vorkommen muͤssen, da wir uns fuͤr desselben Nachkommen halten koͤn- nen. Aber wollte man so weit gehen, daß man die wahre deutsche Poesie dadurch erst wieder auf- zuwecken glaubte, daß man dieß als die einzigen Originalgedichte, und alles Uebrige als franzoͤ- Einige Gedanken sische oder englische Nachahmungen ansaͤhe: so gestehen wir aufrichtig, daß es uns um unser Jahrhundert leid waͤre. So viel Muͤhe also haͤt- ten wir uns um Kultur und Sitten und Wissen- schaften gegeben, damit wir uns in denjenigen Werken, die der Nation vor allen uͤbrigen eigen seyn sollten, wieder in ein rauhes, barbarisches, unwissendes Jahrhundert zuruͤcksezten, unsere in etwas gebildete Sprache wieder regellos machten, unsere kaum gebaͤndigte Phantasie wieder ihrem wilden Laufe uͤberließen? Und wenn wir uns noch in dieses Jahrhundert zuruͤcksetzen koͤnnten; wenn uns noch der Dichter diese wilde Natur und diese rauhen Menschen so zeigen koͤnnte, wie sie wirklich gewesen sind! — Aber dazu weiß er selbst lange nicht genug von ihnen. Einige we- nige, hier und da aufgesammlete, halb wahre und halb falsche Nachrichten, groͤßtentheils aus roͤmischen Schriftstellern, und einige Fragmente aus Gedichten benachbarter barbarischer Natio- nen, sind die ganzen Quellen, woraus wir unsre Kenntniß von diesen unsern Vorfahren schoͤpfen. uͤber das Interessirende. Einige Namen ihrer Gottheiten und Geister, ei- nige Gebraͤuche ihrer Religion, einige wenige von ihren politischen und haͤuslichen Einrichtungen, ihre Tapferkeit, ihr Haß gegen die Roͤmer, machen den ganzen Stoff aus, der zu der Schilderung ihrer Sitten und ihres Zustandes verbraucht wird. Daher koͤmmt es dann auch, daß der Grund des Gemaͤldes modern oder eine bloße Phantasie ist, und daß nur hin und wieder die etlichen wenigen Farben des Alterthums reichlich aufgetragen wor- den, uns zu erinnern, was der Dichter hat vor- stellen wollen . — Durch solche Schilderungen aber, die der Dichter bloß nach seinen Einbildun- gen machen muß, koͤmmt er von seinem eigentli- chen Hauptgeschaͤfte, der Beobachtung der wirkli- chen Welt und der gegenwaͤrtigen Menschen, ab. Die Empfindungen und Leidenschaften, die solche Gedichte ausdruͤcken, sind doch niemals des Dich- ters eigne. Es ist eine Maske, die er traͤgt, bey der er in der That einiges Verdienst hat, wenn er die Rolle gut zu spielen weiß, zu der er sich durch seine Maske anheischig macht. aber es ist doch T Einige Gedanken nur eine Maske, und wer immer vermummt geht, muß wahrhaftig ein haͤßliches Gesicht haben. — Wir kennen allerdings einige sehr schaͤtzbare Stuͤcke dieser Art. Wir verlangen auch nicht dem Genie irgend eines Dichters Schranken zu setzen. Aber wir wuͤnschten doch unsre besten Genies mit dem beschaͤftigt zu sehen, was unserm Zeitalter und un- serer Nation am wichtigsten und am vortheilhaf- testen seyn muß. Aus eben demselbigen Grunde koͤnnen wir es nicht begreifen, wie es immer ein Kunstrichter dem andern hat nachsprechen koͤnnen, daß Koͤnige und Fuͤrsten zur Tragoͤdie nothwendig sind, weil nur deren ihre Schicksale uns recht stark interessiren koͤnnten. Auch Hurd, der einsichtsvolle Hurd, klagt bitterlich daruͤber In der Abhandlung von dem Gebiete der verschie- denen Gattungen des Drama. , daß die edelste Gat- tung des Drama unter den Neuern beynahe ver- loren sey, weil sie sich auch durch das Ungluͤck von Privatpersonen wollen ruͤhren lassen. Aber wenn nur seine Gruͤnde eben so stark waͤren, als seine uͤber das Interessirende. Klagen ernstlich sind! Es sind diese beide: 1) Die Schicksale der Fuͤrsten haben in der Wirklich- keit oder in unserer Einbildung einen Einfluß uͤber ganze Nationen; also muͤssen sie uns staͤrker ruͤh- ren. 2) Die Personen der Fuͤrsten haben in un- srer Idee eine groͤßere Wuͤrde; also muß uns ihr Ungluͤck mehr in Erstaunen setzen. — Wenn uns recht ist, so haben wir diese Gruͤnde schon oft ge- hoͤrt, und wohl noch staͤrkere, als diese. Aber so oft wir es versuchten, uns dadurch zu uͤberzeu- gen, so oft schien uns unsere Empfindung zu sa- gen: Es ist falsch, daß wir an das Volk denken, wenn wir einen Koͤnig auf der Buͤhne sehen. Nur selten geht die Taͤuschung so weit, daß wir wirk- lich einen Fuͤrsten zu sehen glauben, und niemals so weit, daß wir auch das Volk fuͤr wirklich hiel- ten, welches in seinem Titel steht. Es ist genug gefodert, wenn wir uͤber das Ungluͤck des Schau- spielers, der den Koͤnig macht, als uͤber ein wirk- liches geruͤhrt werden sollten: aber es ist eine Chi- maͤre, wenn man sich einbildet, daß wir auch noch mit seinen unsichtbaren Unterthanen Mitleiden ha- T 2 Einige Gedanken ben sollen, von welchen wir gar zu gewiß wissen, daß sie nirgends vorhanden sind. — Es giebt viele aͤhnliche Philosophie uͤber das Theater, und im Vorbeygehn gesagt, uͤber den Menschen uͤber- haupt, die als eine Reihe von Begriffen ganz rich- tig ist; nur daß sich die Gegenstaͤnde zu diesen Begriffen gar nicht in der Natur finden. — Ue- berdieß wie viel sind nicht im Leben der Koͤnige Privathandlungen; Begebenheiten, die in einem Buͤrgerhause wie in einem Palaste vorgehen koͤn- nen; und sind nicht die meisten Subjekte unsrer und der alten heroischen Trauerspiele von der Art? Was soll also hier der Name des Fuͤrsten thun, wenn er nur als Mensch handelt oder leidet? Aber, die groͤßre Wuͤrde der Koͤnige und ihre Hand- lungen? — In der That, bey dem aufgeklaͤrten edlern Theile der Zuschauer existirt diese Idee von Wuͤrde gar nicht; und diesen Theil wird doch wohl der Dichter am meisten interessiren wollen. — Und gesezt, wir haͤtten wirklich einen so einge- schraͤnkten Kopf, oder eine so niedrige Seele, daß uns der Name Fuͤrst, Koͤnig, auch auf der Buͤhne uͤber das Interessirende. unsrer natuͤrlichen Gleichheit vergessen ließe: wo- zu wuͤrde dieß anders dienen, als uns gegen das Schicksal dieser hoͤhern Wesen gleichguͤltiger zu machen? Ja eben dieß, daß der Dichter sich ver- bunden haͤlt, Koͤnige und Fuͤrsten die hoͤchste Sprache der Poesie reden zu lassen, eine Sprache, die sehr einfoͤrmig ist, und die meisten Verschie- denheiten der Charaktere und der Denkungsarten unter einem immer gleichen Pompe verbirgt; eben dieß, daß man den hoͤhern Stand nicht anders als durch ein gewisses Gepraͤnge kenntlich zu machen weiß, welches oft dem natuͤrlichen Ausdrucke der Leidenschaft schadet: eben dieß ist eine Ursache mehr, warum uns das heroische Trauerspiel we- niger interessant seyn muß, als das buͤrgerliche. Auch die Koͤnige muͤssen erst wieder Menschen wer- den, wie wir, wenn sie uns durch ihre Schicksale ruͤhren sollen. Weil also, wenn die Menschen, die uns vor- gestellt werden, nur kenntliche, nur in ihrer Art merkwuͤrdige Menschen sind, es nicht der Hoheit des Standes und der politischen Wichtigkeit der T 3 Einige Gedanken Begebenheiten braucht, um uns zu interessiren: so werden wir natuͤrlicher Weise darauf geleitet, daß an der Bearbeitung der Charaktere und der Vorfaͤlle am meisten gelegen ist. Diejenige Bearbeitung, haben wir gesagt, macht uns die dichterischen Vorstellungen einer Sache interessant, durch welche unsre eignen dun- keln Ideen von derselben getreu wieder erweckt, aber zugleich aufgeklaͤrt oder erweitert werden. Aufgeklaͤrt werden sie, 1) indem wir das, was wir bloß in besondern Faͤllen zu empfinden wuß- ten, allgemein denken lernen, und die Wahrheit, die in unsern Erfahrungen unter vielem nicht dazu gehoͤrigen Stoffe verborgen lag, rein und abge- sondert unserm Verstande dargestellt sehen; dieß macht das Interesse, welches Sentenzen, und was man uͤberhaupt Philosophie in einem Ge- dichte nennt, am rechten Orte und auf die rechte Weise gebraucht, wirken koͤnnen; 2) indem das, was wir bloß mit Woͤrtern und in einem abstrak- ten Satze gefaßt hatten, in einem einzelnen Falle uͤber das Interessirende. auf einmal anschauend gemacht wird; dieß ist das Interesse der poetischen Schilderung selbst. Erweitert werden unsre Begriffe, indem uns entweder von den Dingen solche Theile und Ei- genschaften gezeigt werden, die wir selbst gar nicht bemerkt hatten, die wir aber, fogleich als sie uns bekannt werden, der Sache gemaͤß und mit allen ihren uͤbrigen Theilen und Eigenschaften uͤberein- stimmend finden; oder indem uns die feinern Zuͤge, die einfachern Elemente, die innern Kraͤfte der Dinge, die in unserm eignen Begriffe zwar la- gen, aber von uns nicht unterschieden, nicht aus einander gebracht werden konnten, entdeckt und kenntlich gemacht werden. Wenn wir uns unsre Begriffe von den Dingen von der wirklichen Welt abstrahiren wollen, so muͤssen wir sehr aufmerksam seyn, um die Sache, die wir beobachten, nicht unter der Menge der andern, die mit ihr zugleich da sind, zu verlieren; um uns nicht durch den schnellen Fluß der aͤußern Veraͤnderungen und un- srer eignen Begierden von ihr eher wegtreiben zu lassen, ehe wir noch ihre Gestalt gefaßt haben. T 4 Einige Gedanken Ueberdieß sind es nur immer Stuͤcke von Begrif- fen, die wir auf diese Weise jedesmal erhalten. Die Augenblicke, wo wir aus den Gespraͤchen oder den Handlungen der Menschen, mit welchen wir umgehen, etwas Erhebliches von dem Menschen uͤberhaupt lernen koͤnnten, sind selten. Wir muͤs- sen unser Bischen Weisheit daruͤber muͤhsam zu- sammensparen, und bekommen doch oft nichts Brauchbares, nichts recht Ganzes. — Vom Dich- ter erwarten wir aber, daß er diese Beobachtun- gen besser und vollstaͤndiger zu machen Gelegenheit gehabt habe; von ihm fodern wir, daß er sie uns auf einmal und in ganzen Haufen uͤberliefern soll: nicht bloß, indem er seinen Personen die Reflexio- nen selbst in den Mund legt, die er bey dieser, bey jener Gelegenheit mag angestellt haben, und wor- aus seine Kenntniß nach und nach erwachsen ist; sondern vielmehr, indem er seine Personen so han- deln, so reden laͤßt, daß es uns leicht wird, aus ihnen selbst diese Wahrheiten zu abstrahiren. Er haͤlt uns, so wie die Natur, nur den Stoff zu un- sern Kenntnissen vor; aber die Natur einen rohen, uͤber das Interessirende. er einen zugearbeiteten Stoff; bey ihm koͤmmt das Individuelle schon dem Allgemeinen etwas naͤher; der Verstand findet nicht mehr so viel weg- zulassen, so viel zusammen zu suchen. Im Bild- nisse lassen sich die Umrisse, die die Gestalt bestim- men, leichter als in dem Gesichte der Person selbst unterscheiden. Was die Sentenzen betrift, so sind dieselben in der neuern Kritik ausnehmend verschrieen, und man hat Recht gehabt sie zu verschreyen, wenn man darunter entweder alltaͤgliche und so zu sagen schon in gewisse Formulare gebrachte Wahrheiten versteht; oder wenn uͤberhaupt da allgemeine ab- strakte Urtheile sind, wo lauter partikulaͤre Ideen, solche, die sich bloß auf die Umstaͤnde und das Ge- schaͤffte des Redenden beziehen, erfodert wurden. Aber, wie es in der Kritik und in der Moral oft gegangen ist, man hat diesen Fehler eben mit desto mehr Hitze verfolgt, je laͤnger man ihn fuͤr schoͤn gehalten hatte. Nichts ist in der That unertraͤg- licher, als wenn in einem Gedichte, besonders in einem dramatischen Gedichte, (denn aus dieser T 5 Einige Gedanken Gattung, als der interessantesten unter allen, las- sen sich die Regeln und Fehler in dieser Art am leichtesten abstrahiren) der Dichter lehret, anstatt daß die Personen sprechen sollen. Nichts stoͤret die Taͤuschung mehr, als wenn wir anstatt solcher Gedanken, die bloß aus der Situation und dem Charakter des Redenden erwachsen konnten, dieje- nigen Betrachtungen hoͤren, die einem wohlbele- senen Menschen bey Gelegenheit dieser Situation und dieses Charakters einfallen koͤnnen. — Aber nichts ist ergoͤtzender und anziehender, als einen denkenden Mann in wichtigen Umstaͤnden seines Lebens seine Begriffe sowohl als seine Empfindun- gen entwickeln zu sehen; nichts ist interessanter, als diesen Streit der Vernunft mit den Leiden- schaften zu sehen, ich meyne zu sehen, wie durch die allgemeinen Begriffe, Grundsaͤtze, Maximen, die eine Person in ihre gegenwaͤrtige Lage mit- bringt, die besondern Eindruͤcke, welche dieselbe von den Vorfaͤllen erhaͤlt, eingeschraͤnkt werden, und wie hinwiederum die neuen Erfahrungen, die sie jezt macht, auf diese alten Ideen zuruͤckwirken, uͤber das Interessirende. sie bestaͤtigen, zweiselhaft machen, oder abaͤndern; nichts ist lehrreicher, als mitten in dem Laufe der Begebenheit und der Leidenschaft, die ununterbro- chen fortgeht, doch zugleich diejenige stille unmerk- liche Arbeit des Verstandes zu sehen, durch welche jeder etwas vollkommnere Mensch auch aus den unruhigsten Scenen seines Lebens Nahrung von Wahrheit und Kenntniß herauszieht. Man sieht wohl, daß, was man eigentlich Sentenzen heißt, nur ein Theil der Sache ist, wo- von ich rede. Diese eigentliche Sentenzen muß- ten freylich zu der Zeit ein groͤßer Interesse haben, als die Zahl allgemein gedachter, allgemein aus- gedruͤckter Wahrheiten noch geringer, als die Sprache noch nicht an den Ausdruck solcher Wahr- heiten gewoͤhnt, und das Gedaͤchtniß der Men- schen weniger mit solchen Grundsaͤtzen und Maxi- men angefuͤllt war. Man weiß, daß im Anfange der Philosophie einige solche Sentenzen dem Erfin- der den Namen eines Weisen erwerben konnten. In den Trauerspielen der Griechen, besonders des Euripides, finden wir sie haͤufiger, als wir sie in Einige Gedanken unsern neuern Stuͤcken wuͤrden vertragen koͤnnen. An ihre Stelle ist eine gewisse Metaphysik, eine Zergliederung der Empfindungen und Leidenschaf- ten getreten. Unsre Dichter lassen ihre Personen uͤber ihr eigen Gefuͤhl weit mehr raͤsonniren, als die Alten gethan haben. — Unstreitig ist es fuͤr unsre Wißbegierde eines der empfindlichsten Ver- gnuͤgen, wenn man uns unsre Erfahrungen gene- ralisiren lehrt, wenn man unserm Gefuͤhle Worte verschafft, und der Idee so zu sagen aus ihrer Huͤlse heraushilft. Es wird also fast niemals fehlen, daß bey Leuten, deren Kopf nicht schon sehr bereichert und deren Geschmack nicht sehr fein ist, eine jede Sentenz, wenn sie auch noch so sehr am unrechten Orte steht, nicht eine Art von Be- wunderung erregen sollte. Ein Stuͤck, das wohl versificirt und mit solchen Sentenzen angefuͤllt ist, wird, bey aller kunstrichterlichen Einsicht des fran- zoͤsischen Parterre, doch gemeiniglich bey der ersten Auffuͤhrung von ihm beklatscht. Nur den Mann wird ein solches Stuͤck beleidigen, bey dem auf der einen Seite das Vergnuͤgen neuerworbener Kennt- uͤber das Interessirende. nisse wegfaͤllt, weil ihm die meisten solcher Wahr- heiten schon etwas Bekanntes und Gelaͤufiges sind, und der auf der andern das Mißvergnuͤgen gestoͤr- ter Empfindungen fuͤhlet, weil er die Unschicklich- keit dieser Lehrspruͤche, bey den Umstaͤnden dessen, der sie sagt, bemerkt. Wenn also der Dichter dieses Interesse mit dem wesentlichern richtig geschilderter Charaktere und Handlungen vereinigen will: so muß er sol- che Charaktere, solche Situationen suchen, deren Entwickelung es mit sich bringt, daß die Personen mehr als andre uͤber ihre Begebenheiten denken, und diese Gedanken freyer als andre ausdruͤcken. Dieß ist eben der Vortheil der wahren launichten Charaktere. Das Wort Laune soll theils diejenige Anlage des Kopfs anzeigen, durch die ein Mensch alle Sachen von einer etwas sonderbaren Seite an- sieht, von allen auf eine etwas ungewoͤhnliche Art geruͤhrt wird; theils diejenige Gemuͤthsart, in der er das, was er denkt, oder wozu er Lust was andre weder sagen noch thun wuͤr- Einige Gedanken den, weil sie sich von der Meynung der uͤbrigen oder von der Gewohnheit einschraͤnken lassen, ohne Zuruͤckhaltung sagt und thut. — Andre Charak- tere verschließen ihre Betrachtungen in sich, oder richten sie bloß nach den Absichten ein, die sie bey ihrer Rede haben, oder nach den Gesinnungen der Personen, mit denen sie reden. Der launichte Charakter oͤfnet so zu sagen die Seele; er treibt jeden Keim von Gedanken gleich so weit heraus, daß er gesagt werden muß; und laͤßt uns also mehr von der geheimen Philosophie des Menschen erfahren, als irgend ein andrer. Wenn diese Laune bey Leuten von gemeiner Seele vorkoͤmmt, die eben nichts als etwas Alltaͤgliches, Niedriges, Abgeschmacktes bey den Sachen denken, so ist sie unertraͤglich. Fuͤr solche Menschen ist die Poli- tesse und der Zwang der Gewohnheit ganz durch- aus nothwendig, wenn wir sie nicht verachten oder hassen sollen, so wie haͤßliche Koͤrper noth- wendig bekleidet seyn muͤssen. — Aber ist es ein faͤhiger Kopf und ein edles empfindendes Herz, das sich so ganz seinen eignen Eingebungen uͤber- uͤber das Interessirende. laͤßt: so ist uns in der That sein Umgang lehrrei- cher und interessanter, als wenn ein eben solcher Kopf und ein solches Herz die Maske des gemeinen Wohlstandes traͤgt, und, um andern Menschen aͤhnlicher zu scheinen, den freyen Ausbruch seiner Gedanken und Gesinnungen hindert. Von derjenigen Aufklaͤrung, welche geschieht, wenn allgemeine Begriffe anschauend gemacht wer- den, duͤrfen wir nichts mehr hinzusetzen, da dieß eigentlich das Hauptgeschaͤfte des Dichters ist. — Das Individuelle, das Besondre, ist an und fuͤr sich, wenn das Uebrige gleich ist, allemal interes- santer als das Allgemeine. Denn eben weil je- nes durch die Sinne und die Einbildungskraft, bey denen wir uns leidend verhalten, dieses durch den Verstand erkannt wird, bey welchem wir selbst thaͤtig seyn muͤssen: so ist die Aufmerksamkeit bey jenem immer weniger vorsezlich und weniger muͤh- sam als bey diesem, und dieß war eben das Kenn- zeichen des Interessirenden. Man weiß, was wohlgewaͤhlte Beyspiele auch tiefsinnigen Untersuchungen fuͤr ein Interesse ge- Einige Gedanken ben koͤnnen: weil sie so zu sagen alle die von ein- ander gerißnen Theile der Sache, die uns das Raͤsonnement einzeln und nach und nach gewiesen hatte, wieder zusammensetzen, und uns den gan- zen Koͤrper auf einmal uͤbersehen lassen. Solche Beyspiele nun, fuͤr die meisten, fuͤr die brauchbar- sten unsrer allgemeinen Begriffe, soll uns der Dich- ter durch seine Nachahmungen geben; und eben dadurch werden dieselben einer moralischen Absicht faͤhig, weil sie alle die Grundsaͤtze der Tugend und alle die Regeln der Klugheit, die in unserm Ge- daͤchtnisse todt liegen, gerade auf diejenige Art uns eingedenk machen koͤnnen, auf welche allein sie ei- nen Einfluß auf unser Verhalten haben. Eine Poesie, die diesen Endzweck nicht hat, die keiner wichtigen Lehre, keinem nuͤzlichen Begriffe Leben und anschauende Klarheit verschafft, ist nicht nur ein bloßes Spiel, und ein sehr kostbares zeitver- derbendes Spiel, sondern es ist auch groͤßtentheils ein mattes langweiliges Vergnuͤgen. Nur davon muͤssen wir noch einige Worte sa- gen, daß die Schilderungen des Dichters unsere uͤber das Interessirende. Begriffe von den Dingen auch erweitern muͤssen, wenn sie interessiren sollen. Nicht was jeder, auch bey einem fluͤchtigen zerstreuten Anschauen der Sache, an ihr findet, sondern was nur der tiefsehende Beobachter bey einer langen aufmerk- samen Betrachtung derselben entdecken konnte, das wollen wir in dem Gemaͤlde des Dichters finden. Jeder Charakter hat gewisse Zuͤge, die so auf der Oberflaͤche liegen, daß sie jedermann und beym er- sten Anblicke in die Augen fallen. Dem ersten Dichter konnten diese Zuͤge genug seyn; und er hatte immer Ruhm davon, nicht eben daß er sie entdeckte, aber daß er sie auszudruͤcken wußte. Aber nun, nachdem der Geizige, der Eifersuͤchtige, der Verliebte, von Dichtern und Rednern vielleicht einige hundertmal sind geschildert, und jene Zuͤge von den meisten mit den dazu einmal gewidmeten Ausdruͤcken wiederholt worden; nachdem fast je- dem nicht ganz unwissenden Menschen eine Menge solcher Zuͤge aus seiner Lektuͤre von Romanen und Komoͤdien in Gedanken schwebt: so kann es wohl kein großes Verdienst mehr fuͤr den Dichter, kein U Einige Gedanken großes Vergnuͤgen fuͤr den Leser seyn, wenn nur diese alten Bilder und Redensarten auf eine neue Art wieder zusammengesezt werden. Und doch ist in der That manches unsrer neuen Gedichte von dieser Art. Wir wollen freylich die Dinge, die Menschen sehen, die wir sehen koͤnnen, aber wir wollen nicht das Gemeine, das Alltaͤgliche an ih- nen sehen. Dieses Gemeine in den Charaktern und Lei- denschaften zu vermeiden, hat man zween Wege: entweder sie stark, oder sie fein zu schildern. Ent- weder den hoͤchsten Grad der Leidenschaft, die ge- waltsamsten Ausbruͤche eines Charakters, die hef- tigsten Wirkungen einer Situation zu zeigen, und zwar die bekannten gewoͤhnlichen Zuͤge der Sache, aber in einem ungewoͤhnlichen Grade vorzustellen; dieß ist am meisten das Werk des Trauerspiels, besonders des Trauerspiels in Versen bisher ge- wesen: oder die Sache durch gemaͤßigte, aber un- bemerktere geheimere Zuͤge zu schildern; die un- merklichern Spiele und Uebergaͤnge der Leiden- schaft aus dem Grunde der Seele hervorzuheben: uͤber das Interessirende. die feinern Mischungen zu zeigen, durch welche derselbe Hauptcharakter in verschiedenen Menschen mannichfaltig abwechseln kann; die Situation nach ihren kleinsten Wirkungen auf die Person, die sich darinnen befindet, vorzustellen; dieß sollte das Werk des buͤrgerlichen Trauerspiels, der ho- hen Komoͤdie und aller der dramatischen Stuͤcke seyn, wo die Prose dem Dichter mehr Freyheit und eine genauere Aehnlichkeit mit dem natuͤrlichen Ausdrucke erlaubt. — Obgleich beide Arten, die dichterische Vorstellung der Sache uͤber die gemei- nen Vorstellungen zu erheben, ihren Werth ha- ben; obgleich zu jeder vorzuͤgliche Faͤhigkeiten des Geistes noͤthig sind: so gestehen wir doch, daß wir die leztere Art fuͤr die schwerere und fuͤr die inte- ressantere halten; daß es nach unserer Meynung mehr Kunst kostet, alle Schattirungen einer ruhi- gen Zuneigung, als einige wenige starke Farben einer rasenden Liebe zu treffen; daß es mehr Ver- gnuͤgen macht, den ganzen Zustand der Seele bey einem Hausvater zu sehen, der von einer uͤber- eilten Liebe seines Sohns, der Herrschsucht seines U 2 Einige Gedanken Bruders und der Zuruͤckhaltung seiner Tochter beunruhigt wird, als die etlichen gewaltsamen Erschuͤtterungen in der Seele eines Koͤnigs, der seinen Vater ermordet und seine Mutter geheura- thet hat. Durch die bloßen Ideen, haben wir gesagt, kann uns ein Werk interessiren, entweder insofern es unsere Wißbegierde befriedigt; und zu dem Ende wird es uns begreifliche, fuͤr uns wichtige, von uns schon gewuͤnschte Kenntnisse verschaffen muͤssen; davon haben wir bisher geredet: oder insofern es unsere denkende Kraft in Thaͤtigkeit sezt; und zu dem Ende wird es eine Reihe schnell fortgehender, richtig zusammenhaͤngender, hell und kraͤftig ausgedruͤckter Ideen enthalten muͤs- sen. Auch ein Gespraͤch von ganz unerheblichem Inhalte, aber ein feuriges muntres Gespraͤch, wo das an Lebhaftigkeit ersezt wird, was am innern Werthe des Gesagten abgeht, kann doch immer noch sehr unterhaltend fuͤr die seyn, welche es fuͤh- ren, und sogar angenehm fuͤr die, welche es an- uͤber das Interessirende. hoͤren. Um deswillen macht das Streiten alle- mal das Gespraͤch interessanter; und durch Zaͤn- kereyen ist man immer sicher, die Aufmerksamkeit der Umstehenden zu erregen. Bey jedem Streite entwickeln sich, durch Huͤlfe der Leidenschaft, wel- che sich darein mischt, die Begriffe schneller, die Worte rollen leichter fort, Gedanken und Aus- druͤcke sind ungesuchter und kraͤftiger. Ueberdieß wird der Zuhoͤrer durch den schnellen und wieder- holten Uebergang von der einen Partey zur entge- gengesezten, durch den Kontrast der beiderseitigen Meynungen und Gesinnungen, durch die immer vom neuen erregte und immer befriedigte Erwar- tung der Antworten und Gegenantworten, noch mehr beschaͤftigt. Diese Gattung des Interesse ist in vielen Ar- ten der kleinern Gedichte die einzige, deren sie faͤ- hig sind, und sie ist allen Arten nothwendig. — Der Lehrdichter mag noch so große und noch so neue Wahrheiten, der dramatische Schriftsteller mag noch so ruͤhrende Situationen und noch so einnehmende Charaktere gefunden haben; wenn U 3 Einige Gedanken nicht beide das, was sie uns zu sagen haben, mit einer gewissen Geschwindigkeit und in einer unun- terbrochenen Reihe in unsre Seele bringen, wenn sie nicht Stoß auf Stoß folgen lassen, und die meisten Ideen in der kuͤrzesten Zeit erwecken koͤnnen, so werden sie uns doch nicht interessiren. Man sieht, daß es hierbey vornehmlich auf den Styl ankoͤmmt, obgleich Gedanke und Aus- druck mit einander so zusammenhaͤngen, daß es unmoͤglich ist, anders sich koͤrnicht, mit Waͤrme oder Genauigkeit auszudruͤcken, als wenn man auch eben so denkt. Aber so viel ist doch gewiß, daß diejenige Ausbildung der Ideen, durch welche sie zusammengedraͤngt, vollkommen gemacht, und zu einem geschwinden und doch immer richtigen Fortgange geschickt gemacht werden, mit der Ar- beit sie gut auszudruͤcken einerley, oder doch fuͤr uns nicht zu unterscheiden sey. Die Erfahrung lehret, wie sehr unaͤhnlich die Urtheile der Natio- nalen und der Auslaͤnder uͤber ein Werk, das jene im Original und diese in der Uebersetzung kennen, ausfallen; daß Schoͤnaich dem Englaͤnder ganz uͤber das Interessirende. ertraͤglich, und Geßner ihm stuff scheinen koͤnne. So sehr haͤngt der Eindruck der Sachen von dem Eindrucke der Schreibart ab, in der sie gesagt werden. In ihr liegen die Fehler, die uns am ersten und am meisten beleidigen, und von ihr kommen die Schoͤnheiten, die uns allenthalben durchs ganze Werk reizen. Ein vernachlaͤßigter Ausdruck zieht uͤber das beste Werk einen Flor, der die Schoͤnheiten desselben einem gemeinen Auge ganz unsichtbar, und auch einem scharfen und ge- uͤbten unkenntlich macht. Duͤrfen wir uns nun wohl noch wundern, warum der große Haufe un- srer Nation sich so wenig fuͤr unsre guten Koͤpfe und Schriften interessirt, da unter diesen guten Koͤpfen so viele sind, die ihre Gedanken nur halb auszudruͤcken wissen; da die Kunst zu schreiben, die bey den Franzosen und Englaͤndern auch man- cher mittelmaͤßiger und schlechter Schriftsteller be- sizt, bey uns nicht einmal allen unsern guten Schriftstellern eigen ist; da die meisten unsrer Leute von Genie entweder diesseits der Vollkom- menheit in Absicht der Schreibart stehen bleiben, U 4 Einige Gedanken uͤber ꝛc. oder schon uͤber dieselbe hinaus sind, entweder die in unsrer Sprache liegende Schoͤnheit und Kraft des Ausdrucks vernachlaͤßigen, oder in dieselbe fremde Schoͤnheiten und eine ihr unnatuͤrliche Staͤrke bringen wollen? So viel von dem Interesse, das aus Vorstel- lungen entspringt: in dem folgenden Theile wer- den wir von dem Interesse reden, das aus Em- pfindung und Leidenschaft entsteht. Einige Gedanken uͤber das Interessirende. Zweyter Theil. Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der schoͤnen Wissenschaften und der freyen Kuͤnste. O hnerachtet das Interesse, welches aus Lei- denschaften entsteht, (der Gegenstand un- srer noch uͤbrigen Arbeit) von dem Interesse, welches aus Vorstellungen entspringt, nicht voll- kommen getrennt werden kann, weil diese leztern nur insofern wichtig und reizend fuͤr die Aufmerk- samkeit werden, als sie etwas in sich enthalten, was die Leidenschaften aufbringt, oder ihnen schmeichelt: so scheint doch diese Abtheilung, wel- che wir zum Grunde uusers Plans gelegt haben, U 5 Einige Gedanken so richtig zu seyn, als irgend eine Theilung zwi- schen den Veraͤnderungen der menschlichen Seele seyn kann. Denn wenn es erlaubt ist, uͤberhaupt Verstand und Herz von einander zu unterscheiden, obgleich weder Vernunft noch Einbildungskraft lange geschaͤftig seyn kann, ohne das Herz daran Theil nehmen zu lassen, so ist es auch erlaubt, den Antheil, den wir an den Aeußerungen des Verstandes eines andern, von dem, den wir an den Ausbruͤchen seines Herzens nehmen, abzu- sondern; oder mit andern Worten, das Interesse, welches Raͤsonnements oder Schilderungen, und das, welches Gemuͤthsbewegungen oder Schick- sale erregen, zu unterscheiden. Vielleicht wuͤrden wir die Wahrheit, die wir bey unsrer Eintheilung im Sinne hatten, noch besser ausgedruͤckt haben, wenn wir so gesagt haͤtten: Der Zustand eines Menschen, der von etwas interessirt wird, ist ein vollkommneres Wa- chen, ein hoͤherer Grad von Leben. Er wird also darinnen bestehen, daß wir uns selbst lebhafter empfinden, daß wir mehr Begierden und Erwar- uͤber das Interessirende. tungen haben, als gewoͤhnlich. Aber was fuͤr Begierden; und wornach? Entweder nach ge- wissen Veraͤnderungen der Umstaͤnde, die uns in der Wirklichkeit oder in der Vorstellung gegen- waͤrtig sind; oder nach gewissen Veraͤnderungen unsrer Gedanken selbst. Eine Sache interessirt uns, entweder weil sie zu unsrer eignen Vollkom- menheit etwas beytraͤgt; dieß war das Interesse, welches die Deutlichkeit, die Menge der Vor- stellungen hervorbringt; oder weil sie etwas in unsern Umstaͤnden verbessert. Von dieser leztern Art des Interesse wollen wir jezt reden. Zuerst bemerken wir, daß das Interessirende in den Begebenheiten immer etwas kuͤnftiges ist: eine Gefahr, die uns nahe koͤmmt, eine Freude, die wir erwarten. Wenn der Vater, der seinen Sohn an einem fremden Orte aufzusuchen gereist war, ihn todt findet, so ist er aufs lebhafte ge- ruͤhrt; er ist insofern beschaͤftigt, aber er ist nicht interessirt. Wenn eben dieser Vater, bey der An- kunft in die fremde Stadt, von einem Juͤnglinge, der seinem Sohn aͤhnlich ist, und der eben begra- Einige Gedanken ben werden soll, reden hoͤrt: dann wird er im hoͤchsten Grade interessirt. Zweytens in dieser Zukunft muß noch einige Dunkelheit seyn. Es ist eine ungewisse Erwar- tung, mit Begierde oder Abscheu verbunden. So- bald ein guter oder schlimmer Ausgang gewiß ist, sobald ist die Beschaͤftigung der Seele, die Un- ruhe nicht mehr so groß. Man sage dem Spieler voraus, daß er gewinnen wird, so mag er sich mehr freuen, aber seine Seele wird weniger thaͤ- tig seyn. Und warum dies? Die Thaͤtigkeit der Seele besteht in der Begierde, und die Begierde hoͤrt auf, wenn die Sache erreicht ist. Er- reicht ist aber auch die Zukunft, sobald sie gewiß wird. Drittens: So viel es also in unsern Umstaͤn- den Veraͤnderungen zum Bessern oder zum Schlechtern geben kann, große oder kleine: auf so vielfache Weise koͤnnen wir interessirt werden. In dem Laufe jedes Tages kommen auch dem ein- gezogensten, ruhigsten Menschen tausend kleine angenehme Vorfaͤlle vor, deren Erwartung zu ge- uͤber das Interessirende. wissen Stunden und Augenblicken ihm mehr Leb- haftigkeit giebt. Bey jedem Menschen giebt es solche kleine Dunkelheiten der naͤchsten Zukunft, durch welche er in einige Unruhe und in eine staͤr- kere Bewegung gesezt wird. Auf diese Weise also interessirt uns nun unser eigen Leben. Aber wie kann diese Hofnung und Furcht entstehen, ohne daß in unsern Umstaͤnden sich etwas aͤndert? Uns duͤnkt, es giebt eine dreyfache Art, die Leidenschaften hervorzubringen, ohne die Umstaͤnde des Menschen zu aͤndern: die eine wuͤrde ich gern die musikalische, die andere die malerische, die dritte die dichterische Art heißen, nicht, als wenn nicht eine jede Kunst mehr als ein Mittel haͤtte zu ruͤhren, sondern weil sich bey jeder Eine Art be- sonders merklich zeigt. Entweder wird die Leidenschaft in der Seele hervorgebracht, indem der Koͤrper auf den Ton dieser Leidenschaft gestimmt wird. Das geschieht durch die Musik. Wenn man sagt, sie ahmt die Leidenschaften nach, so will man oft weiter nichts Einige Gedanken als so viel sagen: von einer gewissen Spannung der Nerven wird jede Leidenschaft begleitet; ist diese Spannung da, so entsteht diese Leidenschaft, oder die Seele braucht nur noch eine kleine Ver- anlassung dazu. Toͤne, die eigentlich nur eine Erschuͤtterung des Gehoͤrnervens wirken, haben doch einen unstreitigen Einfluß auf den ganzen Koͤrper. Die Erfahrung hat uns gelehrt, welche Toͤne die Nerven schlaff und dadurch die Seele schwermuͤthig machen, oder welche sie anspannen und dadurch die Seele erheben. Der Komponist sezt diese Toͤne zusammen, und erweckt diese Lei- denschaften. So viel ist wenigstens ausge- macht, daß die meiste Instrumentalmusik, außer dem Vergnuͤgen an Wohlklang und Rhythmus, weiter keine Wirkung auf die Seele thut, als durch die Verfassung, in die sie den Koͤrper sezt. Oder die Leidenschaft wird erregt durch das Anschauen einer Begebenheit, die einen andern in Leidenschaft sezt, und an der wir durch Sym- pathie Theil nehmen. Diese Art, Leidenschaf- uͤber das Interessirende. ten zu erwecken, hat die Malerey mit der Poe- sie gemein, aber die Malerey hat gar keine an- dere. Die Poesie hat noch eine zweyte. Naͤmlich, es entstehen Leidenschaften, wenn uns die Empfin- dungen oder die Ideen eines andern lebhafter an unsre Umstaͤnde und Empfindungen aͤhnlicher Art erinnern, und also, so zu sagen, ein vergangnes Interesse wieder aufwecken. Wir werden uns bloß auf die beiden leztern Arten, die Leidenschaften zu erregen, einschraͤnken. Fuͤr die Dichter und die Schriftsteller uͤberhaupt ist diese Untersuchung bestimmt. Gemaͤlde und Musik koͤnnen uns ergoͤtzen, koͤnnen uns ruͤhren; aber im eigentlichen Verstande interessiren koͤnnen uns nur die redenden Kuͤnste. Noch einmal also, diese Kuͤnste erwecken Lei- denschaften, 1) indem sie Begebenheiten uns dar- stellen, an denen wir Antheil nehmen, 2) indem sie Empfindungen uns vorlegen, die uns unsrer eigenen eingedenk machen. Man sieht leicht, daß das Drama, die Epopee, alle die Theile der Dicht- Einige Gedanken kunst, welche Begebenheiten erzaͤhlen oder nachah- men, Leidenschaften auf die erste Art erwecken; die Ode, die Elegie hingegen, alle die Gattungen, welche bloß den Gemuͤthszustand des Dichters schildern, auf die zweyte. Diese Materie ist von unendlichem Umfange; wir muͤssen sie in engere Graͤnzen einschließen, wenn wir ihrer maͤchtig werden wollen. An welchen Leidenschaften nehmen wir vor- nehmlich Theil? Auf welche Weise muͤssen sie ge- schildert werden, damit diese Theilnehmung be- foͤrdert werde? und welches ist die nuͤzlichste Art der Leidenschaften, die der Dichter erwecken kann? Um zu wissen, welche Leidenschaften und Em- pfindungen am meisten interessiren, haben wir zween Wege; entweder die menschliche Natur zu fragen, oder die Praxin der Dichter. Die Natur sagt uns- Wir nehmen an den Leidenschaften, von welchen wir andre bewegt se- hen, Theil, entweder wenn wir uns genau in ihre Umstaͤnde zu versetzen, und die Wirkung der- uͤber das Interessirende. selben auf die Seele uns vorzustellen wissen; oder wenn wir zwischen diesen Umstaͤnden und unsern eignen eine gewisse Verbindung fehen. Wir glauben, es giebt eine dreyfache Sym- pathie. Eine, die bloß im Koͤrper ihren Grund hat; unsre Werkzeuge gerathen bey gewaltsamen Bewegungen aͤhnlicher Werkzeuge in eine aͤhnliche Bewegung; so fuͤhlen wir das Geschrey eines Menschen, der auf der Tortur liegt. Eine zwote, die in den Vorstellungen der Seele ihren Grund hat; unsre Einbildungskraft giebt uns die Rolle der leidenden Person, und wir bilden also auch alle ihre Empfindungen nach. Eine dritte, die in den moralischen Empfindungen ih- ren Grund hat; wir erzuͤrnen uns uͤber ein au- genscheinliches Unrecht, das Jemanden geschieht, mehr, als wir mit dem ihm zugefuͤgten Uebel Mit- leiden haben wuͤrden, wenn es ein bloßer Zufall waͤre. Die erste Art der Sympathie findet nur bey dem Schmerze, nicht bey dem Vergnuͤgen statt. Denn die Erschuͤtterungen muͤssen gewaltsam seyn, X Einige Gedanken die eine harmonische Erschuͤtterung unsrer Nerven hervorbringen sollen; und die Erschuͤtterungen des Vergnuͤgens sind sanft. Um deswillen also ist koͤrperlicher Schmerz kein schicklicher Stoff fuͤr den Dichter. Um deswillen soll Medea ihre Kin- der nicht auf dem Theater umbringen, und Atreus nicht seines Bruders Kinder vor den Au- gen der Zuschauer auftragen. Die Leidenschaf- ten, die uns von andern durch unsern Koͤrper mitgetheilt werden; auch die, wo sich nur unse- re koͤrperliche Sympathie sehr mit hineinmischt, sind immer unangenehme verdruͤßliche Leiden- schaften; sie erlauben selten eine Mischung von Vergnuͤgen, und sie erregen keinen Wohlgefallen uͤber uns selbst und unsre Empfindlichkeit. Die zwote Art der Sympathie, die, welche aus der Einbildungskraft und dem Versetzen in des andern Umstaͤnde entspringt, muß ebenfalls bey dem Leiden merklicher, als bey jeder andern Art der Empfindungen seyn. Denn, warum haͤtte man fast in allen Sprachen alle an- dre Arten von Sympathie unbenannt gelassen, uͤber das Interessirende. und dem Mitleiden allein einen Namen gege- ben? Wir sehen demunerachtet augenscheinlich, daß wir an der Froͤhlichkeit eben sowohl Theil nehmen koͤnnen, als an der Betruͤbniß. Alle Leidenschaften lassen sich in solche theilen, die aus dem Widerstande gegen das Uebel und den Schmerz, und in solche, die aus der Nei- gug gegen das Gute und das Vergnuͤgen entste- hen. Jede Gattung theilt sich wieder, nach dem die Leidenschaft die Seele erhebt oder nieder- schlaͤgt. Es giebt einen Widerwillen gegen das Uebel, der zum Widerstande fuͤhrt, der mit einer Art von Aufwallung der Lebensgeister verbunden ist, der muthig und beynahe verwegen macht, das ist die zornartige Unlust . Es giebt einen andern, der zur Muthlosigkeit fuͤhrt, der mit ei- ner Unterdruͤckung der Lebensgeister verbunden ist, der schwermuͤthig und verzweifelnd macht, das ist die Betruͤbniß . Eben so giebt es eine Freude, die stolz macht, die Zuversicht und weit aussehende Entwuͤrfe einfloͤßt; und eine andre, X 2 Einige Gedanken die weichlich macht, die in dem Schatten der Ru- he und bey dem Genusse einschlaͤfert. Noch ist der Charakter der Leidenschaften an- ders, wenn bloß das Gute oder Boͤse erwartet wird, und anders wenn es nun koͤmmt . Allgemeine Regeln zu geben, welche Leiden- schaften sich am leichtesten mittheilen lassen, mag vielleicht sehr mißlich seyn; aber jeder darf seine Erfahrungen anfuͤhren, und der Leser hat immer Vortheil, wenn er sie mit seinen eignen vergleicht. Uns also scheint es 1) daß, insofern die Sympathie von den Vorstellungen der Seele her- koͤmmt, koͤrperlicher Schmerz und Lust am wenig- sten Theilnehmung veranlassen. Vorstellen koͤn- nen wir sie uns wenig, wenn nicht der Koͤrper hilft. Daher diejenigen, die von einem so festen Baue des Koͤrper und so abgehaͤrteten Fibern sind, daß von hieraus der Zugang zur Seele verschlossen ist, gesezt auch, daß sie das fuͤhlbar- ste Herz haben, doch bey den koͤrperlichen Leiden andrer, wenn nicht moralische dazu kommen, wenig empfinden. Das Ungluͤck, woran wir uͤber das Interessirende. durch die Imagination Theil nehmen sollen, muß auch von der Imagination herkommen; die Vor- stellungen, welche sich der Leidende von den Din- gen macht, nicht die Bewegungen des Koͤrpers, welche er fuͤhlt, muͤssen die Quelle seines Un- gluͤcks seyn. 2) Am Leiden koͤnnen wir uͤberhaupt mehr Theil nehmen, als am Vergnuͤgen; es sey nun, weil der Schmerz immer die heftigste Empfindung ist, und also auch mit mehr Gewalt auf den Zu- schauer wirkt, oder weil wir dem Froͤhlichen und Gluͤcklichen nichts helfen koͤnnen, da hingegen die Noth andrer unsern Beystand und also unsre Thaͤtigkeit auffordert. Daher koͤmmt es also auch, daß nur das Trauerspiel eigentliche Leidenschaft erregt, die Komoͤdie aber mehr bloß durch die Vorstellungen intereßirt. 3) An dem weichlichen Vergnuͤgen, das in dem bloßen Genusse besteht, bey dem die Kraͤfte des Geistes mehr hinsinken, als empor streben, koͤnnen wir am wenigsten Theil nehmen, wenn wir nicht selbst in einem aͤhnlichen Zustande sind, X 3 Einige Gedanken oder uns desselben erinnern. Aber davon ist jezt die Rede nicht. Diese Maler der Wollust also, auch der feinern gesitteten Wollust, errei- chen doch ihren Zweck, gesezt er waͤre auch der edelste, am wenigsten. Es ist umsonst, seine Seele in einen Zustand, der ganz leidend ist, worinn sie nichts wirkt, sondern bloß Eindruͤcke andrer Dinge empfaͤngt, freywillig zu versetzen. Nur die Freude, die geschaͤftig, behende, mit Unternehmungen schwanger, voll großer Hof- nungen ist; diese nur koͤnnen wir bey uns selbst, ohne sie zu fuͤhlen, nachmachen: denn unsre Kraͤfte zu Handlungen zu erwecken, haben wir die Gewalt; aber Eindruͤcke hervorzubringen, wenn die Gegenstaͤnde nicht da sind, haben wir keine. Was die verschiedene Arten der Unlust anbetrifft, so koͤmmt viel auf den Charakter des Zuschauers an. Ein maͤnnlicher Geist wird mehr Antheil an dem Zorne, und ein weiblicher mehr Antheil an der Betruͤbniß nehmen. Jenes scheint der Fall bey den Alten gewesen zu seyn: deswegen konnten sie auch so schreckliche Ge- uͤber das Interessirende. schichte, so graͤßliche Ausbruͤche der Wuth ver- tragen, sie sahen lieber eine Medea, die, wenn gleich durch Grausamkeiten, sich uͤber ihr Un- gluͤck erhebt, als eine Niobe, die weinend unter demselben zu Boden sinkt. Dieses scheint der Fall bey uns zu seyn; wir wollen mehr wehmuͤ- thige als starke Empfindungen sehen; ein Fei- ger, der aber sonst ein guter Mann und un- gluͤcklich ist, findet mehr Mitleiden, als ein Tapferer, der durch das Ungluͤck wild und un- baͤndig worden. Dieß koͤmmt also daher, weil der maͤnnliche Geist die muthige Widersetzung des Zornigen billiget, und die Ohnmacht des Niedergeschlagenen verachtet; der weibliche Cha- rakter hingegen den Ungestuͤm des Zorns scheuet, und hingegen das Sanfte der Betruͤbniß gut heißt. Dieß haͤngt also mit der Sympathie der moralischen Empfindungen zusammen, und da- von werden wir gleich reden. 4) An allen gluͤcklichen und ungluͤcklichen Vorfaͤllen andrer Menschen koͤnnen wir mehr An- theil nehmen, wann sie erwartet werden, als X 4 Einige Gedanken wenn sie gegenwaͤrtig sind. Um deswillen schließt sich das Trauerspiel, sobald der ungluͤckliche Streich vollbracht ist. Den Hofnungen zweyer Liebenden, die sich durch allerhand Schwierigkei- ten aufgehalten sehen, koͤnnen wir mit Vergnuͤ- gen zusehen; aber wann sie nun verlobt sind, so gehen wir davon. Die Ursache liegt in dem, was wir schon gesagt haben. Nur an der Be- gierde oder dem Abscheue nehmen wir eigentlich Theil, nicht an dem Genusse und dem Leiden; jenes sind Handlungen, dieß sind Empfindun- gen; dort wirken wir selbst, hier die Dinge. Wo sich nun bey den Personen, welche es ei- gentlich gilt, Hofnung in Lust verwandelt, da hoͤrt ihr Bestreben und also unsre Mitwirkung auf. Bey dem Schmerze ist es etwas anders; weil kein Schmerz ohne Furcht, obgleich Lust oh- ne Hofnung seyn kann. Bey dem Genusse ver- liert sich die Begierde, und also auch die Theil- nehmung. Bey dem Schmerze verliert sich nicht die Verabscheuung; die Bestrebung das Uebel wegzuschaffen bleibt, und dieses Bestreben thei- len wir mit dem Leidenden. uͤber das Interessirende. Was die moralische Sympathie betrift, so richtet sich diese nach zwo Sachen; nach dem Charakter der Person, und nach dem Charakter der Leidenschaft, an welcher wir Theil nehmen sollen. Die Person muͤssen wir lieben oder hoch- achten; die Leidenschaft muͤssen wir in gewissem Grade billigen. 1) Liebe und Hochachtung gruͤnden sich auf moralische Vollkommenheit, die wir einem Menschen zuschreiben. Aber Hoch- achtung geht auf die moralische Vollkommenheit bloß an sich betrachtet, Liebe auf dieselbe als eine Quelle des Vergnuͤgens oder des Nutzens fuͤr uns. Alle Umstaͤnde einer Person, gegen welche wir eine dieser beyden Gesinnungen ha- ben, ruͤhren uns mehr, alle ihre Empfindungen nehmen wir leichter an; einmal, weil wir diese Umstaͤnde mehr mit den unsrigen verbinden, zum andern, weil wir diese Empfindungen fuͤr etwas vollkommners und nachahmungswuͤrdigers hal- ten. 2. Besonders muͤssen wir die Leidenschaft, welche Sympathie erregen soll, fuͤr erlaubt oder X 5 Einige Gedanken fuͤr loͤblich, und den Grad derselben fuͤr billig und der Ursache gemaͤß ansehen. Die Stoiker sagten, unsre eigne Leidenschaften bekaͤmen da- durch ihre groͤßte Staͤrke, weil wir aus Irrthum es fuͤr recht hielten, sie zu haben. Wir wollen jezt nicht untersuchen, wie weit dieses wahr sey; aber so yiel ist gewiß, daß jede Leidenschaft ge- schwinder entsteht, und auf eine groͤßere Hoͤhe steigt, wenn wir durch den Gedanken von Un- rechtmaͤßigkeir oder von Thorheit nicht zuruͤck gehalten werden. Der freywillige Entschluß der Seele gesellt sich bey Leidenschaften, die wir bil- ligen, zu dem unfreywilligen Eindrucke der Ge- genstaͤnde; und diese vereinigte Kraft unsrer selbst und des Dinges macht also die Wirkung groͤßer. So wie in den Begriffen von der Moralitaͤt etwas Festes und Unwandelbares, und etwas Veraͤnderliches und Willkuͤhrliches ist; so werden auch die Leidenschaften, welche man billiget, zum Theil bey allen Menschen dieselben, zum Theil durch die Verschiedenheit der Sitten und der Ge- seze verschieden seyn. uͤber das Interessirende. Allgemein wird es seyn, daß eine Leiden- schaft, die auf Wohlwollen gegruͤndet ist, mehr Theilnehmung erregt, als eine, welche aus Haß entsteht; die Elektra floͤßt uns bey weitem nicht so sehr ihren Haß gegen ihre Mutter ein, als sie uns ihre Liebe zu ihrem Bruder einfloͤßt. Allge- mein wird es seyn, daß eine Leidenschaft, die ein Mensch bloß wegen seiner eignen gluͤcklichen oder ungluͤcklichen Veraͤnderungen empfindet, weniger Theilnehmung erregt, als die, welche er uͤber das Schicksal andrer, die unter ihm stehen, oder fuͤr welche er zu sorgen hat, empfindet. Ein Vater, der seine ungluͤcklichen Kinder, ein Buͤr- ger, der sein Land beweint, fodert mehr Mitleid, als ein Mensch, der seine eigne Armuth oder sei- ne Krankheit beklagt. Allgemein wird es seyn, daß Zorn nur bey einem durch Ungerechtigkeit erlittnen Ungluͤcke gebilliget und mit empfunden wird. Aber verschieden werden die Meynungen uͤber die Groͤße der Beleidigungen seyn, und uͤber die Haͤrte der Ahndung, die bey jeder Belei- Einige Gedanken digung erlaubt ist. Eine empfangne Ohrfeige er- regt den ganzen Tumult in dem Cid, und dieser Tumult scheint den Zuschauern nicht uͤbertrieben. Die Rache der Elektra ist grausam; aber die Er- mordung eines Vaters schien sie den Griechen zu rechtfertigen. Verschieden werden sie seyn uͤber den Werth der Tugenden, die sich in den ver- schiedenen Leidenschaften aͤußern. Jede Art der Faͤhigkeiten und Tugenden, die Tapferkeit, die Maͤßigkeit, die Menschenliebe, hat ihre Epoche in der menschlichen Gesellschaft; vielleicht hat es noch keinen Zeitpunkt gegeben, wo alle Tugenden auf gleiche Art waͤren geschaͤzt worden. Zu der einen Zeit wird man geneigt seyn, auch Hand- lungen der Ungerechtigkeit und Grausamkeit zu entschuldigen, wenn sie nur mit Entschlossenheit unternommen und mit Muth ausgefuͤhrt wor- den; zu einer andern wird man auch weibisches taͤndelndes Wesen vertragen koͤnnen, wenn es nur mit Feinheit der Sitten und Gutherzigkeit verbunden ist. So viel sagte uns die Natur des Menschen; was sagt uns nun die Praxis der Dichter? uͤber das Interessirende. Wenn man die alten und neuen Trauerspie- le in seinen Gedanken durchlaͤuft, so wird man, glauben wir, zwo Leidenschaften am oͤftersten in ihnen vorkommen sehen: Rachsucht und Liebe. Rache, oder die Ahndung einer empfangnen Be- leidigung, ist oft der Stoff des heroischen Trauer- spiels, und ist den Dichtern am meisten eigen, welche nach Erhabenheit streben; Liebe ist gemei- niglich der Stoff des wehmuͤthigen Trauer- spiels, und ist die Lieblingsmaterie der Dich- ter, welche mehr Empfindlichkeit des Herzens haben. Diese Einfoͤrmigkeit wird uns weniger be- fremden, wenn wir bedenken, daß es nur zwo Leidenschaften zu schildern geben kann, solche, die aus der Freude und dem Wohlgefallen, und sol- che, welche aus dem Mißfallen entstehen. Ruͤhrt nun diese Freude oder dieser Verdruß von den menschlichen Handlungen her, sind es die gesell- schaftlichen Verhaͤltnisse, durch welche diese Lei- denschaften erregt werden, so werden sie fast al- lemal in Liebe oder in Zorn ausschlagen. Einige Gedanken Aber warum ist unter allen Arten der Zunei- gung, die Liebe der Geschlechter vorgezogen wor- den? Deswegen, weil 1) diese Leidenschaft allge- meiner ist; sie gruͤndet sich auf einen Naturtrieb, sie erinnert an eines der staͤrksten sinnlichen Ver- gnuͤgungen; die Sympathie kann also allgemein seyn. Die vaͤterliche, die freundschaftliche, die Vaterlandsliebe hingegen, sind nur gewissen Per- sonen eigen, sie sind mehr Tugenden, als wirk- liche Leidenschaften; nur derjenige kann stark daran Theil nehmen, der selbst faͤhig ist sie zu fuͤhlen. 2) Weil diese Leidenschaft am meisten Verwickelungen und Abentheuer hervorbringt, und also der beste Stoff zu einer Fabel ist. Da sie sich mit dem Interesse der Familien durch- kreuzt, so sindet sie mehr Schwierigkeiten und Widerstand zu uͤberwinden; da sie ausschließend ist, so hat sie mit Nebenbuhlern zu kaͤmpfen; da sie, durch die Unaufloͤßlichkeit der Ehe, den le- benslangen Zustand zwoer Menschen bestimmt, so macht sie auf gewisse Weise die Entscheidung uͤber das Interessirende. ihres Schicksals aus; da sie endlich geschwinder auf ihre Befriedigung dringt als jede andre Lei- denschaft, so bringt sie in der kuͤrzesten Zeit die wichtigste Begebenheit des menschlichen Lebens zu Stande, wodurch sie einer dramatischen Be- handlung am meisten faͤhig wird. 3) Weil sie die am meisten poetische Leidenschaft ist: sie be- lebt die Einbildungskraft, weil sie zum Theil koͤr- perlich ist, und den Lauf der Saͤfte beschleunigt; sie ist in ihrer vollen Staͤrke zu der Zeit des Le- bens, wo die Seele am meisten wach, und die Nerven am gefuͤhlvollsten sind; sie vermischt sich mit vielen andern Empfindungen, weckt jede schlafende Leidenschaft auf, und faͤrbt jede Idee, jede Handlung mit ihrer eignen Farbe. Die Lie- be hat die Poesie hervorgebracht, und es ist nicht bloße Nachahmung, sondern es ist Natur, daß die Liebe und ihre Abentheuer oͤfter als jeder an- dre Umstand des menschlichen Lebens von der Dichtkunst sind besungen worden. Aber warum haben die Alten so wenig Liebe in ihren Stuͤcken? Man irret sich. Liebe ist in Einige Gedanken ihren Stuͤcken genug, aber nur nicht die Ge- schichte des Verliebens. Wenn wir die tragi- schen Begebenheiten der griechischen Buͤhne be- trachten, so finden wir, daß die Liebe viele der- selben veranlaßt und sich fast in alle gemischt hat. Was stuͤrzt den Agamemnon, was zerruͤt- tet die Haͤuser des Atreus, des Jasons, des Theseus, als die Liebe? Was ist es dann, das uns die griechischen Dichter in der Klytaͤmnestra, in der Medea, in der Phaͤdra schildern, als die Wirkungen der Liebe? Freylich der ausschwei- fenden, der ehebrecherischen, der schaͤndlichen Liebe. Aber sie haben auch in der Alcestis das Gemaͤlde ehelicher Treue aufgestellt. Die Neuern haben also nicht die Liebe zuerst aufs Theater ge- bracht; aber sie haben sie auf eine neue Weise behandelt, einen andern Zeitpunkt derselben, so zu sagen, gewaͤhlt. Die Griechen schildern mehr die eheliche Liebe, es sey in ihrer Ausschweifung und Verderbniß, oder in ihrer Vollkommenheit und Reinigkeit; die Eifersucht einer beleidigten Frau, oder die Wuth einer Ehebrecherinn ist der uͤber das Interessirende. Stoff ihres Gemaͤldes: unsre Dichter hingegen schildern mehr den Roman vor der Ehe, die Zaͤrtlichkeit des Liebhabers, oder die Eifersucht der Braut. Und so bringen es die Sitten der Griechen und die unsrigen mit sich. Bey den Griechen gab es keinen solchen Roman. Ihre Toͤchter blieben in dem innersten Theile des Hauses, den Augen aller Mannspersonen, selbst ihres Lieb- habers verborgen, bis er ihnen als Gemahl zu- gefuͤhrt wurde. Eher trat das weibliche Ge- schlecht nicht auf dem Theater der Welt auf, als bis es verheurathet war; und auch dann waren die Besten, die Tugendhaftesten, am wenigsten sichtbar. Was also in der menschlichen Natur liegt, daß die Liebe eine allgemeine und poetische Leiden- schaft ist, daß sie am Elende und Gluͤckseligkeit der Menschen und der Familien sehr vielen Theil hat: das hat Griechen und Franzosen und Deut- sche auf gleiche Weise dahin gebracht, die Liebe in ihre Stuͤcke zu bringen, es sey als eine un- Y Einige Gedanken sichtbare Triebfeder der Handlung, oder als das sichtbare Original des Gemaͤldes. Was aber bloß in den Sitten unsrer Zeit liegt, daß beyde Geschlechter auch vor der Ehe freyer mit einander umgehen koͤnnen; daß der Juͤngling und die Braut auf gleiche Weise ihre Neigung gestehen duͤrfen; daß es einen so haͤufigen Kampf der Leidenschaft der jungen Personen mit dem Interesse der Alten und ihrer Familien giebt; daß dieser Streit von beyden Seiten durch ge- genseitig gemachte Entwuͤrfe gefuͤhrt wird, wor- aus eigentlich die Intrigue entsteht: dieß hat auch unserm Theater und unsern Romanen eine besondre Art von Liebeshaͤndeln gegeben, von denen die Alten wenig wußten. Eine Leidenschaft giebt es, in welcher sich diese beiden, Liebe und Zorn, mit einander ver- einigen; keine ist auch deswegen oͤfter geschildert worden, in keiner haben die Dichter ein groͤßer Feld gefunden, ihre Einsicht in die Fuͤhrung der Leidenschaften zu zeigen. Diese Leidenschaft ist die Eifersucht. Die Medea, der Othello und uͤber das Interessirende. die Zaire, drey Hauptstuͤcke dreyer beruͤhmten Nationen, haben die Eifersucht zum Stoff. In der That wird kaum irgend eine Leiden, schaft so viel andre Leidenschaften in sich schlies- sen, kaum eine so mannichfaltige Bewegung des Gemuͤths erregen. Wer den Eifersuͤchtigen schildern will, der muß die Liebe und den Haß, die Freude und die Traurigkeit, die Hoffnung und die Furcht schildern. Ueberdieß kann man der Entstehung dieser Leidenschaft mehr als ir- gend einer andern nachspuͤren. Andre Leiden- schaften entstehen entweder zu langsam oder zu schnell, um aus ihrem Ursprunge ihre Natur kennen zu lernen. Eine einzige Beleidigung kann das Gemuͤth in Zorn bringen; die Vorstellungen folgen hier mit solcher Geschwindigkeit auf ein- ander, das Blut und die Lebensgeister brausen so schnell auf, daß es dem Menschen selbst nicht moͤglich ist, den Gang der Leidenschaften zu ent- wickeln. Die Liebe, wenn sie ganz sinnlich ist, entsteht eben so schnell und oft bey dem ersten Anblicke. Ist sie hingegen moralisch, so waͤchst Y 2 Einige Gedanken sie unmerklich; es ist unmoͤglich, den Zeitpunkt zu bestimmen, wo Gleichguͤltigkeit in Neigung, und Neigung in Zaͤrtlichkeit uͤbergiengen. Bey der Eifersucht hingegen ist der Zustand, aus wel- chem die Leidenschaft gleichsam ausgeht, schon ein an sich merklicher Zustand, dessen Abaͤnderungen sich wohl wahrnehmen lassen. Wenn ein Mensch, welcher liebt, und heftig liebt, anfangen soll zu hassen: so muß der Uebergang deutlich seyn. Die Ideen, welche seine erste Leidenschaft bestritten und besiegt haben, muͤssen oͤftere Anfaͤlle auf die- selbe gethan haben; es muß ein Kampf vorge- gangen seyn, mit einem Worte, der Mensch, der eifersuͤchtig wird, ist selbst geschaͤftig, seinen Arg- wohn zu staͤrken oder zu besiegen, er weiß also und kann angeben, was in ihm vorgeht. Und dieß bringt uns auf eine andre Bemer- kung, die man bey der Lesung der Dichter machen kann, daß nichts so sehr interessirt, als der Streit mehrerer Leidenschaften. Wir haben schon angemerkt, daß nicht sowohl die Empfindung, die leidende Veraͤnderung des uͤber das Interessirende. Geistes, die bey der Leidenschaft zum Grunde liegt, als die Thaͤtigkeit, die wirksamen Bestre- bungen der Seele, durch welche sich die Leiden- schaft aͤußert, dasjenige sey, woran wir Theil neh- men. Ist nun nur Eine unbestrittene Leidenschaft in der Seele, so kehrt sie ihre ganze Wirksamkeit nach außen, sie geht bloß mit der Unternehmung, mit der aͤußern Handlung um, die zu ihrer Be- friedigung abzielt; die innere Wirksamkeit des Gei- stes selbst, die, welche eigentlich durch die Rede geschildert werden kann, ist nur geringe. Wenn aber mehrere Begierden vorhanden sind: so arbei- tet die Seele innerlich, eine Entscheidung des Streits, oder ein Gleichgewicht zu finden; und diese Arbeit ist es, welche eigentlich Worte malen koͤnnen. Ein Mensch, der einen andern vollkommen und durchaus haßt, ist auf gewisse Weise ruhig, weil er einmal entschlossen ist, und einen einfachen Entwurf verfolgt; die Ideen, die zu jeder Leiden- schaft gehoͤren, so wie sie sich mehr festsetzen, wer- den dunkler. Wenn er aber eben die Person Y 3 Einige Gedanken liebt, uͤber deren Beleidigung er ergrimmt: dann ist das Gemuͤth im Aufruhr; die Ideen des Hasses sind neu, und also lebhaft und deutlich, die Ideen der Liebe sind im Besitze der Seele, und leisten also muthigen Widerstand, der sie hinwiederum klaͤrer und lebendiger macht. Mit einem Worte, der Widerspruch der Ideen und der Begierden, das ist der Zustand, wo der Mensch seiner selbst am besten bewußt ist, und wo er am meisten sei- ne Vorstellungen und Neigungen ausdruͤcken kann. Ueberdieß ist die Erwartung, die zum Inter- essirenden nothwendig ist, bey dem Streite zweyer Leidenschaften groͤßer als bey Einer. Was der Mensch thun wird, der bloß liebt oder bloß haßt, das ist ausgemacht; die Wahl kann nur zwischen den Arten der Befriedigung seyn, und dieß erregt die Neubegierde nicht so stark, weil es nichts ist, was die Natur des Menschen selbst so sehr an- gienge. Aber wozu sich der Sohn noch entschlies- sen wird, der seinen eignen Vater an dem Vater einer Celiebten raͤchen soll; was die muͤtterliche uͤber das Interessirende. Liebe einer heftigen und gegen ihren Gemahl wuͤ- tenden Frau thun wird; das sind wir hoͤchst be- gierig zu wissen, und sind sehr zweifelhaft, es vor- aus zu sagen. Dieser Streit der Leidenschaften ist auf mehr als eine Art moͤglich. Der erste ist zwischen einer alten eingewur- zelten Neigung, und einer neuentstehenden Leiden- schaft, durch welche sie besiegt werden soll. Dieß ist der Fall bey der Eifersucht. Diese Art des Streites ist zu einer Schilderung, zu einer Ent- wickelung der Leidenschaft am vortheilhaftesten. Die Entstehung ist es, welche uns die Natur der Leidenschaft am besten erklaͤrt. Und wo koͤnnen wir dieser Entstehung zusehen, als wo der Zeit- punkt, wo sie anfaͤngt, merklich ist; und wo kann er merklich seyn, als wo er von dem vorhergehen- den Zustande der Seele sehr absticht? Ueberdieß findet sich der Vortheil, den der Streit der Leiden- schaften dem Dichter leistet, daß er die stummen beredt macht, bey keinem Streite mehr, als wo eine einmal feste Ueberzeugung bestritten, und eine Y 4 Einige Gedanken schon zur Gewohnheit gewordene Zuneigung an- gegriffen wird. Eine andre Art des Streits, der viel Unruhe und Erwartung erregt, aber weniger den Charak- ter entwickelt, ist der, wenn eine neue und zufaͤl- lig entstandne Begierde, einer alten Leidenschaft, bey der Wiedererkennung des Gegenstandes, oder bey einer bessern Belehrung, Platz macht. Dieß ist der Fall bey der Iphigenia von Taucis und bey der Merope. Hier ist es nicht sowohl ein Streit, als eine ploͤzliche Umkehrung der Gesin- nungen. Das Interesse entspringt nicht sowohl, weil man in den Zustand der Person tief ein- dringt, und sich also dadurch die Gesinnungen sehr zu eigen machen kann; sondern weil man selbst durch den Widerspruch unruhig wird, der sich zwischen der jetzigen Bewegung der Person und ihren wirklichen Gesinnungen und Verhaͤltnissen findet. Geschieht nun die Entdeckung; so ist bey der Person selbst zwar kein eigentlicher Streit, die alte Leidenschaft nimmt ungehindert Platz: aber sie aͤußert ihre Gewalt weit staͤrker; sie ist mit ei- uͤber das Interessirende. nem Grade von Schrecken verbunden, und hat also noch eine Mischung von der Leidenschaft, aus welcher sie entstanden war. Faͤlle dieser Art wer- den auf dem Theater oͤfter als im menschlichen Leben vorkommen, denn sie fordern immer eine wunderbare Verwickelung, um dem Menschen den wahren Gegenstand seiner Liebe oder seines Hasses zu verbergen, oder um ihn auf eine Zeit- lang wider seine wirklichen Gesinnungen handeln zu lassen. Ein dritter Streit ist zwischen zwo Leiden- schaften, welche sich zwar einander nicht aufheben, welche nicht einander entgegenstehen, aber die doch entgegenstehende Maaßregeln und eine doppelte Auffuͤhrung brauchen. Wenn ein Mensch zwo Personen liebt, wel- che einander hassen; wenn er die Gunst zwoer Personen sucht, die entgegenstehende Unterneh- mungen haben, an welchen sie ihn wollen Theil nehmen lassen, wenn er in zweyfachen Verbindun- gen ist, die ihm beide theuer sind, und ihm also entgegenstehende Pflichten auflegen: dann Y 5 Einige Gedanken ist er in einer wichtigen Situation. Das ist der Fall bey Germeuil im Hausvater, so ist Neopto- lem im Philoktet, der gern den kranken Helden retten, und doch seinem gegebenen Worte treu seyn wollte. Man sieht leicht, warum man sich fuͤr einen solchen Menschen interessirt. Die Un- ruhe ist vielleicht unter allen Bewegungen der Seele diejenige, welche sich am leichtesten mit- theilt; und eine solche Lage der Umstaͤnde bringt Unruhe hervor. Ueberdieß ist man begierig, die Entscheidung zu wissen; man findet die Aufgabe verwickelt, und man wuͤnschet sie aufgeloͤst zu sehen. Eine solche Situation kann aber eben sowohl laͤcherlich als ruͤhrend werden, nach dem Charak- ter der Person, welche sich in derselben befindet. Bey einem schwachen Geiste, oder wenn die Par- teyen, unter welchen zu waͤhlen ist, nicht erheb- lich sind; so artet diese Unruhe in eine kindische Unentschlossenheit und Verlegenheit aus, die alle- mal laͤcherlich ist. Man wird sich erinnern, in sehr viel Komoͤdien solche Scenen gesehen zu ha- uͤber das Interessirende. ben, wo ein alberner Mensch durch seine Verle- genheit die Zuschauer erlustiget. Bey einem ed- len und großen Charakter hingegen, und wenn die Vorfaͤlle wichtig sind, und die Wahl einen gros- sen Ausschlag giebt: dann wird diese Unruhe ruͤh- rend. Wir koͤnnten hier den Streit zwischen Leiden- schaft und Vernunft, als eine besondre Gattung hinzufuͤgen, wenn er sich nicht auf gewisse Weise uͤber alle die vorigen Arten erstreckte. Naͤmlich, was wir eigentlich Leidenschaft nen- nen, ist eine sinnliche Begierde, die vom Koͤrper herruͤhrt, die durch den Lauf der Saͤfte und die Bewegung der Lebensgeister unterstuͤzt wird. Ver- nunft ist der Geist, insofern er aus sich selbst und abgezogen vom Koͤrper wirkt und handelt. So- bald also nur der Mensch selbst thaͤtig ist, und so weit er es ist, da und so weit wirkt seine Vernunft. Aber jeder Streit der Leidenschaften macht den Menschen selbst thaͤtig; also erweckt jeder Streit der Leidenschaft die Vernunft. Einige Gedanken Im Grunde war dieß eben der Vortheil, den wir von diesem Streite ziehen konnten. Eine einfache sinnliche Leidenschaft kann thierisch seyn, und ist es immer mehr oder weniger; eine zwie- fache entgegengesezte muß auf gewisse Weise ver- nuͤnftig werden, (oder der Mensch ist verloren,) durch die Arbeit, die die Seele selbst dabey an- wenden muß, sie aus einander oder in Vereini- gung zu bringen. In dem ersten Falle denkt der Mensch wenig. Es ist bloßes dunkles Gefuͤhl bey ihm: und wer will dieses dunkle Gefuͤhl schildern? wer will sich darein versezen? In dem andern denkt er nothwendig Etwas, seine Em- pfindungen, die bloße Eindruͤcke waren, welche auf die Seele geschahen, muͤssen nun von ihr be- arbeitet, geaͤndert, und so zu sagen in die Form gebracht werden, daß sie bey einander Platz ha- ben. Diese Ideen zu beschreiben, dazu ist die Sprache gemacht, das kann allein der Vorsatz des Dichters oder Redners seyn. Es giebt demungeachtet noch eine reinere oder hoͤhere Vernunft, als die, welche bloß aus uͤber das Interessirende. dem Zusammenstoße der Leidenschaften zum Vor- schein koͤmmt. Wir wollen sagen, es giebt auch Begierden, die ihren ersten Ursprung in dem Geiste und seinen eignen Vollkommenheiten ha- ben. Diese Begierden machen den Grund der Tugend aus. Sie sind gleichfoͤrmig und ruhig, und geben also zu keinen gewaltsamen Aeußerungen, aber wohl zu einer lebhaf- ten Thaͤtigkeit Anlaß, wenn die Seele diese ihre eigenthuͤmlichen Begriffe, diese ihr am meisten zugehoͤrenden Neigungen bey dem Sturme der koͤrperlichen Begierden und der gewaltsamen Be- wegung der Lebensgeister zu erhalten sucht. Dieß ist, glauben wir, ein aͤußerst interessanter An- blick, der vielleicht nicht so oft recht geschildert worden ist, weil nur die besten und vortreflich- sten Maͤnner in sich selbst das Original zu einer solchen Schilderung finden koͤnnen. Dieß ist der Kampf des weisen Mannes mit dem Ungluͤcke, und oft auch mit dem Gluͤcke, welchen die Goͤt- ter selbst, wie Seneka sagt, mit Vergnuͤgen an- schauen. Einige Gedanken Mit diesem Streite der Leidenschaften, von welchem bisher geredet worden ist, haben zween Faͤlle etwas aͤhnliches, die nach Theorie und Er- fahrung vorzuͤglich interessant sind. Des ersten gedenkt schon Aristoteles in seiner Rhetorik. Das Mitleiden, sagt er, wird staͤrker rege, wenn nach Vollbringung des Streichs, der das Schicksal des Helden entscheidet, nun ein Umstand sich er- eignet oder bekannt wird, der ihn wuͤrde gerettet haben, wenn er nicht schon das aͤußerste erlitten haͤtte. Was macht Clarissens Tod trauriger, als die Ankunft der Norton, die ihr die Verge- bung von ihren Eltern bringt? Was ist schreck- licher als die Situation des Romeo, der seine Geliebte wieder aufleben sieht, da er das Gift schon getrunken hat? Diese Beyspiele zeigen zu- gleich die Verschiedenheit, die hierbey noch statt findet. Ist die Person selbst, wie Romeo, noch am Leben und gegenwaͤrtig, sieht sie selbst den gluͤcklichen alles aͤndernden Vorfall, und ist doch verloren: so ist die Situation schrecklich. Ist die Person, wie Clarisse, schon todt, und ist es uͤber das Interessirende. nur der Leser, der das Ungluͤck, welches sie er- litten hat, mit dem Gluͤcke, was ihr bevorstund vergleicht: so ist die Situation wehmuͤthig. Im ersten Falle wird das Leiden des Helden selbst vergroͤßert; im zweyten wird nur die Vor- stellung dieses Leidens bey dem Zuschauer leb- hafter. Ein zweyter Fall, wo nicht ein eigentlicher Streit der Leidenschaften, aber doch ein gewisser Widerspruch in den Begebenheiten und Gemuͤths- bewegungen das Interesse vermehrt, ist der Fall des Oedips, der gerade durch die Mittel, welche er anwendet, sich zu retten, sein Ungluͤck be- schleunigt, gerade durch die Nachrichten, welche ihm einen Zuwachs von Gluͤckseligkeit verspre- chen, seines Ungluͤcks gewiß wird. Derselbe Bote, welcher ihm die Krone von Korinth an- bietet, beweist es ihm, daß er Lajus und Joka- stens Sohn sey. Aber woher entsteht hier das groͤßere Interesse? Aus der naͤmlichen Ursache, als im vorigen Falle, aus dem groͤßern Aufruhre in dem Gemuͤthe des Leidenden. Dort war es Einige Gedanken das nahe Bild der Gluͤckseligkeit, welches das Gemaͤlde des Ungluͤcks noch schwaͤrzer machte; die Begierden entbrannten zu eben der Zeit hefti- ger, da sie ihren Gegenstand unwiederbringlich verloren sahen: hier giebt die Gewalt, mit wel- cher der Mensch seinem Ungluͤck entgegengearbei- tet hat, und die gegen ihn selbst gekehrt wird, auch dem darauf folgenden Schmerz eine groͤßre Heftigkeit. Ein lange zuvorgesehenes Ungluͤck, zu dessen Abwendung man nichts gethan hat und nichts hat thun koͤnnen, kann sehr schmerz- lich seyn, aber zu gewaltsamen Entschluͤssen wird es selten bringen; das Gemuͤth bleibt in seiner Lage, obgleich diese Lage traurig ist. Aber wann der Mensch schon vorher, und mit einiger Hoff- nung, nach einem Ziele gerungen, wann er Vor- kehrungen gegen das Ungluͤck gemacht, Helfer herbeygerufen, alle seine Einsichten und seine Kraͤfte aufgeboten hat: dann ist schon ohnedieß die Seele in einer lebhaften Bewegung; und wann also mitten in diesem Sturme ein ungluͤck- licher Streich seine Bemuͤhungen vernichtet, dann uͤber das Interessirende. kehrt sich eben die Kraft der Seele, welche schon in Thaͤtigkeit war, gegen sich selbst; er wird un- willig und aufgebracht uͤber sein Schicksal. Man sieht leicht, daß auch Fabeln von die- ser Art kuͤnstlich seyn muͤssen. Und ohne das System eines blinden Schicksals, welches in der alten Tragoͤdie so sehr herrscht, wird es kaum moͤglich seyn, viele derselben zu Stande zu brin- gen. In der That mischt sich dieses Schicksal in die meisten ihrer Stuͤcke. Oedip wird durch einen Orakelspruch zum Vatermoͤrder, Phaͤdra wird von der Venus in ihren Stiefsohn verliebt gemacht, und Orest bringt seine Mutter auf den Befehl des Apollo um, der ihn doch dafuͤr durch die Furien strafen laͤßt. Dieses System ist das System der meisten noch rohen unerleuchteten Voͤlker. Und darum sind auch nur in den aͤltesten Epochen die Ge- schichten haͤufig, wo ein Mensch alles thut, ei- nem geweissagtem Schicksale zu entgehen, und gerade dadurch sich in dieses Schicksal verwickelt. Fuͤr uns, die wir diese Ideen nicht annehmen, Z Einige Gedanken koͤnnen solche Verwickelungen nicht anders als unwahrscheinlich und unnatuͤrlich scheinen; und wenn sie auch dieß nicht waͤren, so wuͤrden sie das groͤßte Interesse fuͤr einen feinern und gesit- teten Zuschauer, die Theilnehmung an der Mo- ralitaͤt der Handlungen, aufheben. Noch zu einer Erklaͤrung muͤssen wir diese Anmerkungen uͤber den Streit der Leidenschaften anwenden. Was ist wohl das, was die Kunstrichter eine Situation nennen? Es ist eine Zusammen- kunft solcher Umstaͤnde und Begebenheiten, durch welche die Empfindungen oder Leidenschaften der handelnden Person, in Wirksamkeit gesezt und genoͤthigt werden, in Entschluͤssen und Hand- lungen auszubrechen. Aber wodurch werden sie in diese Wirksamkeit gesezt? Gemeiniglich durch einen solchen Streit, als wir bisher betrachtet haben. So wie wir in der Koͤrperwelt die Kraͤfte nur nach dem Widerstande messen, den sie uͤber- winden, so messen wir in der moralischen Welt, uͤber das Interessirende. die Staͤrke der Neigungen oder Empfindungen, nur nach den gegenseitigen Eindruͤcken oder Be- gierden, uͤber welche sie die Oberhand behalten. Der Hausvater konnte seinen Sohn und seine Tochter lieben, so stark er immer wollte; daß er ihn liebte, das konnte bekannt seyn, aber wie innigst seine Zaͤrtlichkeit sey, wie weit er andre Vaͤter darinn uͤbertreffe, das konnte man erst sehen, da sein Sohn ausschweifend und seine Tochter zuruͤckhaltend wurde. Diderot redet von nichts anders, als ei- nem solchen Streite, wann er den Kontrast zwi- schen dem Charakter und den Umstaͤnden so sehr empfiehlt. Was ist denn der Charakter? Es sind diejenigen Neigungen und Abneigungen, die ebenfalls bey gewissen Vorfaͤllen und Gelegenhei- ten entstanden sind, aber die sich nun einmal festgesezt haben, die fortdauernd sind. Was sind die Umstaͤnde? Es sind die jezt vorfallenden Begebenheiten, welche Gelegenheit zu neuen Em- pfindungen und Gesinnungen geben. Was wird also der Mann seyn, dessen Charakter mit seinen Z 2 Einige Gedanken Umstaͤnden im Streite stehn? Es wird ein Mann seyn, welcher die Gewohnheit hat eine Person zu lieben, und welcher jezt eben Veranlassung bekoͤmmt sie zu hassen; es wird einer seyn, der fuͤr bestaͤndig eine Person sehr verehrt, und fuͤr jezt veranlaßt ist, sie zu beschimpfen. Also ist im Grunde dieser Streit zwischen Charakter und Umstaͤnden, immer ein Streit zwischen Neigun- gen und Neigungen; zwischen einer Leidenschaft und der andern. Nur daß die eine Neigung schon laͤngst ist erregt worden, und seit der Zeit fortgedauert hat; die andre erst jezt erregt wird und groͤstentheils voruͤbergehend ist. Wir empfinden demungeachtet noch hierbey eine Verschiedenheit. Eine Leidenschaft kann ei- ner andern auf eine doppelte Art zuwider seyn: einmal, wie sich Haß und Liebe gegen dieselbe Person zuwider ist, so ist es bey der Eifersucht; das andremal, wie der Geitz und die Liebe zu ei- nem armen Maͤdchen, so ist es beym Harpagon. Man sieht naͤmlich, im ersten Falle ist der Streit eigentlich zwischen den Begierden selbst, man uͤber das Interessirende. muß durchaus eine Wahl treffen; eine Neigung muß aufgeopfert werden. Im andern Falle koͤn- nen beide Leidenschaften bey einander bestehen, und dauern auch zugleich fort; aber der Streit ist zwischen den Grundsaͤzen, Meynungen und Arten zu handeln, zu welchen diese Leidenschaf- ten Anlaß geben. Als Geitzhals muß er eine Heirath ohne Mitgift fuͤr unvernuͤnftig halten: und als Verliebter muß er sie jezt billigen. Viel- leicht ist die Entscheidung zu gewagt: aber uns duͤnkt, daß nur der erste Streit eigentlich ruͤh- rend sey, und fuͤr die Tragoͤdie und das In- teresse durch Empfindung gehoͤre; der andre hin- gegen leichter komisch werde, und mehr bloß durch die Entwickelung des Charakters intereßire. Das erste bringt Unruhe, ploͤzliche Uebergaͤnge, gewaltsame Entschluͤsse und zulezt Reue hervor; das andre hingegen fast immer nur Verlegenheit, und gewisse Widerspruͤche im Betragen und Re- den, die laͤcherlich werden. Noch muͤssen wir einer Leidenschaft gedenken, die eine Art des Zorns zu seyn scheint, und die Z 3 Einige Gedanken von den Dichtern vorzuͤglich oft ist gebraucht worden, das Schrecken oder Mitleiden zu ver- mehren: das ist der Unwille wider sich selbst; die Reue. Warum ist es ruͤhrend, wenn Oros- mann befiehlt, daß Zaire, die er umgebracht hat, vor ihn soll gebracht werden; warum ist es so schrecklich, wenn die Moͤrderin des Koͤnigs in Makbeth, ihre blutigen Haͤnde waͤscht, und die Flecken nicht wegnehmen kann? Deswegen glau- be ich, weil sich alsdann zwo der unangenehm- sten Leidenschaften, die sonst fast immer getrennt sind, mit einander vereinigen, Traurigkeit und Zorn; weil die Reue gemeiniglich den Menschen veranlaßt, sich mitten im Elende den gluͤcklichen Zustand lebhaft vorzustellen, in welchem er ohne seine Vergehung seyn werde, und diese Vorstel- lung das Ruͤhrendste des Elends ist; weil end- lich unter allen Schmerzen dieser am meisten aus dem moralischen Theile des Menschen, aus dem Innersten seines Geistes selbst entspringt. Jeder andrer Verdruß, jede andre Betruͤbniß koͤmmt vom Koͤrper, oder von Dingen außer uns uͤber das Interessirende. her; die Reue ist der Unmuth eines Geistes uͤber sich selbst. Und so wie in der wirklichen Welt, dieser Unmuth der bitterste Schmerz, und der Stachel beynahe aller andrer Leiden ist, in welche er sich so oft mischt; so ist er auch in der poeti- schen Welt das Huͤlfsmittel, unsre Theilneh- mung an fremden Leiden staͤrker und tiefer zu machen. Was wollen wir denn nun mit allen diesem? wollen wir den Dichter einschraͤnken? wollen wir ihn noͤthigen, gerade nur diese und keine andre Begebenheiten zu bearbeiten? Nein, wir wollen ihn freyer machen; wir wollen ihm sagen, daß jede Begebenheit man- nichfaltige Eindruͤcke machen, mannichfaltige Neigungen erregen koͤnne, nach dem Charakter der Person, die er in die Begebenheit setzet; und daß es also immer in seiner Gewalt stehe, Cha- rakter und Begebenheit so gegen einander abzu- messen, daß daraus wichtige und interessante Empfindungen und Leidenschaften entspringen. Wir wollen ihn lehren, daß wir nicht an den Z 4 Einige Gedanken Vorfaͤllen und Veraͤnderungen selbst, sondern nur an den Gesinnungen oder den Begierden unsrer Nebenmenschen Theil nehmen, die durch solche Vorfaͤlle erregt oder aufgebracht werden; und daß es also mehr von seinen Personen, daß heißt im Grunde mehr von ihm selbst, von sei- ner eignen Art zu denken und zu empfinden, als von dem Stoff abhaͤnge, ob er interessant seyn soll oder nicht. Es giebt eine Verschiedenheit der Leiden- schaft, nach dem sie aus diesem oder jenem Vor- falle entspringt, und nur unter gewissen Umstaͤn- den moͤglich ist: so hat jeder Stand, jede Le- bensart, jede Verfassung des Menschen ihre eigne Leidenschaften. Es giebt eine andre Ver- schiedenheit, die bey den naͤmlichen Vorfaͤllen statt findet, nach der verschiednen Seite, von welcher dieselben betrachtet und empfunden wer- den; so kann dasjenige bey dem einen Zorn erre- gen, was den andern niederschlaͤgt. Die erste Verschiedenheit ist lange Zeit her, und zum Theil noch, fuͤr die wichtigste gehalten, wenigstens uͤber das Interessirende. sind die meisten Regeln daruͤber gegeben worden; man hat nur einem gewissen Stande, einer ge- wissen Art von Umstaͤnden und Vorfaͤllen, in Griechenland sogar nur gewissen Familien und Geschichten, erlaubet zu ruͤhren; und das ganze uͤbrige menschliche Leben ist bloß dem Laͤcher- lichen Preis gegeben worden. Diese Schranken muͤssen wir jezt niederreissen, da wir anfangen, die Menschheit selbst zu schaͤtzen, was sie werth ist. Aber die andre Verschiedenheit, die Ver- schiedenheit der Eindruͤcke, welche dieselbe Bege- benheit auf verschiedne Gemuͤther macht; und welche Eiudruͤcke es eigentlich sind, an welchen der Zuschauer Theil nimmt, und an welchen er am meisten Theil nimmt: das ist zwar von gu- ten Dichtern nicht aus der Acht gelassen, aber von den Kunstrichtern weniger bearbeitet wor- den. Und hier nun, glauben wir, koͤnnen wir, zu folge der obigen Erfahrungen und Schluͤsse, folgende Regeln festsezen. 1) Alle moralische Vergnuͤgungen und Lei- den lassen sich leichter mittheilen, und werden Z 5 Einige Gedanken staͤrker mit empfunden, als die physischen. Un- ter den physischen verstehen wir diejenigen, wel- che aus Veraͤnderungen der aͤußern Umstaͤnde der Person entstehen; die, welche sich anf die Be- gierde nach Leben, Gesundheit, Rang, Vermoͤ- gen und koͤrperlichem Vergnuͤgen gruͤnden. Mo- ralisch aber nennen wir denjenigen Theil der Gluͤckseligkeit oder des Elends, welcher aus Ver- aͤnderungen des innern Zustandes der Seele selbst entspringt; denjenigen, welcher sich auf die Liebe des Menschen zu seiner eignen Vollkom- menheit, oder auf seine Zuneigung zu andern moralischen Wesen gruͤndet. Es ist ein Gluͤck zu lieben, oder geliebt zu werden, es ist ein Elend, zu hassen oder gehaßt zu seyn; es ist ein Gluͤck bey sich selbst ruhig und mit sich zufrieden, es ist ein Ungluͤck uͤber sich mißvergnuͤgt und mit seinen Handlungen unzufrieden zu seyn. Der Mensch also, welcher einen Freund verliert; der, welchen seine Mitbuͤrger anfangen zu hassen; der das hassen muß, was er zuvor geliebt hat; der nicht mehr das hochachten kann, was er noch uͤber das Interessirende. jezt liebt; der Mensch, welcher gezwungen wird, von sich selbst ein nachtheiliges Urtheil zu faͤllen; der Beschaͤftigungen, an denen er sonst Vergnuͤ- gungen fand, weil er sie billigte, aufgeben muß, weil er sie jezt mißbilligt und verwirft: dieser Mensch ist auf eine moralische Weise ungluͤcklich. Man sieht leicht, daß hier nicht von einer beson- dern Art der Ungluͤcksfaͤlle, sondern von einer besondern Art der Eindruͤcke die Rede sey, wel- che jeder Ungluͤcksfall machen kann. Alle merk- liche Veraͤnderungen des Gluͤcks werden zugleich unsre Gesinnungen gegen gewisse Personen, oder dieser ihre gegen uns aͤndern; bey allen Vorfaͤl- len wird unser moralischer Zustand mit beruͤhrt werden. Es koͤmmt nur darauf an, daß der Dichter diesen Gesichtspunkt fasse, daß er ihn fuͤr den wichtigsten halte, daß er selbst in seiner Person mehr von Freundschaft und Ruhe des Geistes, als von Reichthum und Wohlstand ge- ruͤhrt werde. 2) Der Dichter zeige uns mehr die Theilneh- mung der andern Personen an dem Schicksale Einige Gedanken der Hauptperson, als dieser ihr Ungluͤck selbst. Mit nichts koͤnnen wir besser sympathisiren, als mit der Sympathie selbst; keine Leidenschaft pflanzt sich leichter fort, als die man selbst durch Mittheilung bekommen hatte. Einen Menschen ermordet zu sehen, ist ein mehr graͤßlicher als ruͤhrender Anblick: aber eine trostlose Wittwe uͤber die Leiche hingebuͤckt, verwaiste Kinder um dieselbe herumstehen zu sehen, das ist ruͤhrend. Einen Mann koͤnnen wir vielleicht ruhig ins Ge- faͤngniß schleppen sehen; aber wir werden be- wegt, wenn seine Familie hinter ihm her folgt, und den Kerkermeister um Mitleiden und Gelin- digkeit anfleht. So ist es in der wirklichen Welt; so finden wir es auch auf der Buͤhne. Nicht der Fall des Helden, sondern die vielfa- chen Bewegungen, die dieser Fall bey den Um- stehenden erregt, das ist es, woran wir Theil nehmen. So ruͤhrt auch der Maler oft mehr durch Affekten, die er auf den Gesichtern der Umstehenden ausdruͤckt, als durch die Haupt- handlung selbst. uͤber das Interessirende. Die Geschichte des Geschmacks bestaͤtigt diese Anmerkung. Vor rohen Zuschauern bringt man alles, was auf dem Theater ist, um; das heißt, man will, daß alle Personen durch ihr eigen Un- gluͤck, keine bloß durch ihre Theilnehmung an ei- nem fremden Ungluͤck, die Zuschauer ruͤhre. Aber was ist der Erfolg? Die Zuruͤstungen der Exeku- tion vergnuͤgen diese rohen Zuschauer mehr, als die Todesfaͤlle selbst sie ruͤhren. In einem aufge- klaͤrten und geschmackvollen Jahrhunderte laͤßt der Dichter nur Einen sterben, nur Einer wird wirklich und persoͤnlich ungluͤcklich. Aber die- ser Eine ist ein Vater, er ist ein Gemahl, ein Hausherr, ein Koͤnig, eine Stuͤtze verlassener Ar- men. Aller dieser ihre Empfindungen sind so viel reflektirte Stralen, die ein gemaͤßigteres, aber ein lieblicheres Licht geben, als die Stralen, wel- che unmittelbar von dem Gegenstande selbst aus- laufen. 3) Das Leiden des Verlustes ist ruͤhrender als das Leiden des Schmerzens. Naͤmlich daran liegt alles, daß der Zuschauer von dem Zustande, Einige Gedanken an dem er Theil nehmen soll, sich ein vollstaͤndi- ges Bild machen koͤnne; daß ihm Ideen genug gegeben werden, um seine Einbildungskraft selbst in Wirksamkeit zu setzen, sich diesen Zustand vor- zustellen. Aber von welcher Art des Leidens las- sen sich die meisten Ideen geben? oder vielmehr, auf welche Art bricht jeder Schmerz, der an und fuͤr sich ein stummes unerklaͤrliches Gefuͤhl ist, in Gedanken und Worte aus? Fast immer durch eine Vergleichung seines jetzigen Zustandes mit dem vergangnen. Der Kranke denkt an die Tage der Gesundheit, der Arme stellt sich den Wohlstand eines andern, oder seinen ehemaligen Wohlstand vor; der, welcher den Tod eines Freundes be- trauert, erinnert sich seines Umgangs. Was ruͤhrt im Kaufmann von London am meisten? daß er hingerichtet wird? Nein; daß er alle die Anstalten erfaͤhrt, die zu seiner Gluͤckseligkeit waren gemacht worden, und die nun vergeblich sind. Auch darauf, finden wir, werden die Dich- ter von selbst geleitet, sobald der Geschmack einer uͤber das Interessirende. Nation waͤchst. Was sind in Zeiten der Barba- rey die Gedichte und Erzaͤhlungen, durch welche man ruͤhren will, was sind jezt noch die Gedichte und Erzaͤhlungen, die man fuͤr den Poͤbel macht? Bloße simple Mordgeschichte. Man haͤuft Un- gluͤcksfaͤlle auf Ungluͤcksfaͤlle: und wenn man den Eindruck noch durch etwas verstaͤrken will; so ist es durch das Wunderbare der Vorfaͤlle. In un- sern besten Tragoͤdien und Romanen hingegen, wenn der Held ungluͤcklich werden soll, sehen wir doch das Gemaͤlde seiner Gluͤckseligkeit einen we- sentlichen und wichtigen Theil ausmachen. Soll eine Familie zerruͤttet werden: man fuͤhrt uns erst in dieselbe ein, da sie noch einig und gluͤcklich ist; oder man macht uns doch mit diesem Zustande be- kannt. Sollen einem Vater seine Kinder unge- horsam, soll einem Liebhaber seine Geliebte untren werden: man lehrt uns erst, was es heisse, ein Vater guter Kinder, und der Treue seiner Gelieb- ten versichert zu seyn. 4) Alle Leidenschaften, oder vielmehr dieje- nige Art jeder Leidenschaft, bey welcher eine Thaͤ- Einige Gedanken tigkeit der Seele, entweder zu Hervorbringung von Gedanken, oder zu gewissen Bestrebungen und Entwuͤrfen vorkoͤmmt, sind geschickter nach- geahmt und mitgetheilt zu werden, als die, welche der Seele alle Kraft nehmen. Was ist je in der Poesie schwerer gewesen, als bloße reine Trau- rigkeit? Man schließt deswegen so bald als moͤg- lich, wenn man sieht, daß die Personen nichts mehr uͤbrig haben, als zu klagen. Die Liebe selbst, diese so poetische Leidenschaft, hoͤrt auf es zu seyn, wenn sie am meisten bloß Liebe ist; und eine Scene, wo Liebhaber und Geliebte, ihrer ge- genseitigen Zuneigung schon gewiß, und von der Einwilligung ihrer Verwandten versichert, doch noch mit einander heftig verliebt und interessant reden sollen, ist eine erschreckliche schwere Scene. Warum das? Weil, wie wir schon gesagt haben, wir uns mehr mit den Wirkungen und Handlun- gen eines durch Leidenschaften aufgebrachten Ge- muͤths, als mit seinen Empfindungen vereinigen. Wo Eifer etwas durchzutreiben, oder Behutsam- keit etwas zu vermeiden vorkoͤmmt; wo Schwie- uͤber das Interessirende. rigkeiten zu uͤberwinden, Anstalten zu machen, Un- ternehmungen und Erwartungen sind: da wird es erst dem Dichter selbst, und dann auch dem Zuschauer leichter, an die Stelle der Person zu treten. Aber wo nun die Leidenschaft ruhig bloß ihrer selbst genießt; wo sie nichts mehr zu wuͤnschen noch zu fuͤrchten hat: da sinkt der Flug des Dich- ters; seine Begeisterung wird matt, und mit ihm erkaltet der Leser. Auf eine doppelte Art aber koͤnnen Leiden- schaften wirksam seyn, entweder indem sie zu Ge- danken Anlaß geben, oder indem sie Unterneh- mungen und neue Begierden erzeugen. Ist die Leidenschaft von der Art der stummen, so muß sie unternehmend seyn; ist sie gelassen, so muß sie beredt seyn: der Schmerz auf dem Theater ist ent- weder Wehmuth oder Verzweiflung. Aus dieser Regel haben einige neuere Kunst- richter geschlossen, daß die ganz vollkommnen Cha- raktere in der Dichtkunst nicht interessant seyn koͤn- nen, weil sie nicht thaͤtig genug sind. Aber ist diese Entscheidung wohl richtig? A a Einige Gedanken Erstlich muß man unter dem vollkommnen Manne nicht den Menschen verstehen, der alle Ge- schicklichkeiten und Wissenschaften besizt, so wie Grandison zuweilen beschrieben wird. Eine solche Schilderung kann frostig werden. Einmal, weil sie falsch und unnatuͤrlich ist: denn einen ganz tugendhasten Menschen kann es wohl geben, we- nigstens ist das Ideal der moralischen Vollkom- menheit kein Hirngespinst, es ist vielleicht die rein- ste, die unverfaͤlschteste Natur; aber einen Men- schen, der bey der groͤßten Gelehrsamkeit, dem feinsten Witze, auch der artigste Hofmann, der tapferste Soldat, ein guter Fechter, Reiter und Taͤnzer sey, den kann es nicht geben, weil diese Geschichkeiten Uebungen erfordern, wovon die eine die andre aufhebt. Zweytens, weil in ei- ner solchen Schilderung immer Kleinigkeiten zu viel Werth gegeben wird, auch wenn es der Dich- ter nicht will. Zweytens muß man unter dem vollkomme- nen Charakter nicht nothwendig einen Catonschen Charakter verstehen; wenn man den Cato so an- uͤber das Interessirende. nimmt, wie Addison und die meisten ihn schildern. Seine Tugend ist zu einseitig; Muth und Ent- schlossenheit schimmert unter den uͤbrigen zu sehr hervor; sein Wohlwollen ist zu allgemein und zu kalt: uͤberdieß thut er alles, was er thut, mit einem gewissen Prunk. Der Charakter des So- krates ist nicht weniger vollkommen: aber seine Schilderung wuͤrde weit interessanter seyn. Er war auch standhaft und beherzt, wenn es irgend einer war: aber er trozte nicht der Gefahr oder den Schwierigkeiten; er uͤberwand sie, indem er sich unter ihnen zu beugen schien. Seine Men- schenliebe ist eben so rein, und von eben so großem Umfange: aber sie kann sich bey einzelnen Perso- nen bis zur Zaͤrtlichkeit erwaͤrmen; er wird wech- selsweise der Vater, der Bruder, der Freund, der Gespiele der Alten und der Kinder, mit denen er spricht. Endlich ist er in seinem Thun und Reden einfaͤltig und gemein; in dem Innersten seines Geistes ist der große und der außerordentliche Mensch, auf der Oberflaͤche sieht man nur den ge- woͤhnlichen guten Mann. A a 2 Einige Gedanken Dieß also abgesondert: sollte wirklich der unvollkommne Mensch in seinem Bildnisse uns ge- fallen und an sich ziehen; und der vollkommenste beste Mensch sollte uns langweilig seyn? Einzelne Stralen der Tugend sollten einen Charakter er- waͤrmen, und das volle Feuer derselben sollte ihn kalt machen? Wir fuͤrchten uns vor einer Entscheidung aber wir wuͤnschten nur einige Data dazu zu sammlen, damit andre besser als wir entscheiden koͤnnten. Von der einen Seite scheint es wahr, was Diderot sagt, daß der Lorber des Apollo durch Blut befruchtet werden muͤsse; daß fast alle be- traͤchtliche Ungluͤcksfaͤlle durch Verbrechen gesche- hen; und daß in einer Welt voll tugendhafter Menschen keine tragische Begebenheiten mehr moͤg- lich waͤren. Es scheint wahr, daß das Ungluͤck nicht eher recht ruͤhrend wird, als wenn es sich ein sonst guter und von uns geliebter Mann durch irgend einen Fehler selbst zugezogen hat; es scheint endlich wahr, daß eine gewisse Ausschweifung und uͤber das Interessirende. Schwaͤrmerey jeder Leidenschaft, die ohne mora- lische Unordnung nicht moͤglich ist, der beste poe- tische Stoff sey. Und doch sehen wir auf der andern Seite, daß wir den Mann, an dessen Begebenheiten wir Theil nehmen sollen, lieben oder achten muͤssen, und daß sich diese Liebe oder Achtung auf irgend eine in seinem Charakter hervorleuchtende Tugend gruͤndet; wir sehen, daß verwickelte Ungluͤcks- faͤlle bloß dadurch interessiren, weil wir eines wei- sen Mannes Entschluͤsse dabey sehen wollen; wir sehen, daß nicht die Begebenheit interessirt, son- dern der Charakter, und zwar gewisse Vollkom- menheiten des Charakters, die durch die Begeben- heit so zu sagen aufgefodert und in volle Wirk- samkeit gesezt worden: auch bey der Bosheit ist es der Muth, bey dem Betruge die Klugheit, wel- che uns die Unterhaltung gewaͤhret. Des Dichters Geschaͤfte ist freylich, die Na- tur in aller ihrer Mannichfaltigkeit zu schildern; und wenn die Natur mehr mittelmaͤßig gute als vollkommene Menschen hervorbringt; so wuͤrde A a 3 Einige Gedanken sein Gemaͤlde nicht treu und also auch nicht lehr- reich seyn, wenn er uns sehr oft fehlerlose Men- schen vorstellen wollte. Ueberdieß wird er, wenn er vollkommne Menschen schildert, oft bloß nach seiner Einbildungskraft, und nach seiner Idee von Tugend schildern muͤssen; und diese Idee kann falsch oder mangelhaft seyn, dieser Imagi- nation kann es an Uebereinstimmung der Theile und richtiger Zusammensetzung fehlen; wenn er aber fehlerhafte Menschen schildert, so kann er nach der Natur kopiren; und diese wird ihn we- niger irre fuͤhren, oder er wird seine Irrthuͤmer leichter einsehen lernen. Eben deswegen moͤgen vielleicht vollkommne Charaktere weniger abwech- selnd seyn. Nicht, als wenn es nicht in der Voll- kommenheit eine Manunichfaltigkeit geben koͤnnte: sondern weil uns diese Mannichfaltigkeit weniger bekannt ist; da wir hingegen die Abwechselungen der Laster oder der Thorheiten vor uns sehen. Das Bild von Vollkommenheit, auch des Einzel- nen, hat immer einen Hang zu einem bloß allge- meinen generischen Begriffe; wir wissen nicht, daß uͤber das Interessirende. eder Mensch einer hoͤchsten Vollkommenheit faͤhig ist, die nur seine Vollkommenheit seyn wuͤrde; son- dern wir wissen nur von einer hoͤchsten Vollkom- menheit der ganzen Gattung. Unsre Moral selbst leidet noch von dieser Unzulaͤnglichkeit unsrer Ein- sicht, weil sie sich ebenfalls die gemeinschaftliche Natur als das Muster aller einzelnen Naturen vorstellen, und es also jedem Menschen uͤberlassen muß, die bestimmtere Art der ihm eignen Voll- kommenheit besser zu empfinden, als sie sie ihm erklaͤren kann. Es ist also allerdings wahr, daß der Dichter weniger darauf arbeiten muß, seinen Charakteren die hoͤchste moralische Groͤße, als vielmehr ihnen mo- ralische Richtigkeit und Verhaͤltniß zu geben; ist er selbst nicht ein sehr großer Mann, so wird er zu der Bildung eines solchen Charakters seinen Geist auf eine gewaltsame Weise anstrengen muͤssen, und er wird nicht einen großen Mann, sondern einen großen Riesen hervorbringen. Es ist wahr, daß der Dichter uns oͤfter das Spiel von Eitelkeit und Verstand, die Mischung von Thorheit und A a 4 Einige Gedanken Weisheit, als die einfoͤrmige ungehinderte Wirk- samkeit der Tugend wird vorstellen muͤssen; denn daran ist uns am meisten gelegen, die Geschichte der wirklichen Welt aus ihm, in ihren innern und feinern Theilen, zu lernen. Aber dann sehen wir doch auch nicht, warum es dem wahrhaftig großen Geiste, der sich selbst der Vollkommenheit naͤhert, der das Auge gehabt hat, sie bey andern stuͤckweise aufzusammeln, oder das Gluͤck, sie im Gan- zen in einem groͤßern Beyspiele vor sich zu se- hen; dem Manne, dessen Imagination weit genug ist, die Zuͤge der moralischen Bildung zu vergroͤßern, ohne sie zu verstellen, und welcher Einsicht genug hat, die allgemeine Idee von Vollkommenheit mit den Eigenthuͤmlichkeiten eines besondern Charakters zu vergesellschaften: wir sehen nicht ein, warum es ihm nicht er- laubt seyn sollte, dieses Ideal von Vollkommen- heit, fuͤr welches sein Herz am meisten erwaͤrmt ist, zu schildern; oder warum diese Schilderung uͤber das Interessirende. kalt werden sollte? Giebt es denn keine lebhafte Aeußerung des Geistes, als die Leidenschaft? Giebt es keine muthige Widersetzung, als den Zorn, keine innige Zuneigung, als eine weibi- sche Zaͤrtlichkeit? Oder muß der große Mann allemal mit Pomp und einer gewissen Zuruͤstung reden und handeln; und giebt es nicht bey dem hoͤchsten Verstande eine Leichtigkeit und Ge- meinheit des Ausdrucks, die allen verstaͤndlich ist, und bey der hoͤchsten Tugend ein einfaches und ungekuͤnsteltes Betragen, welches alle ein- nimmt? Der Dichter schoͤpfe nur die Ideen der Vollkommenheit in sich felbst, er schildere sie nur nicht nach angenommenen Begriffen oder Mustern; er suche nicht diese Hoheit in den Worten und in der Pracht der Rede; er neh- me sich nicht vor, einen Cato, einen Roͤmer, sondern einen großen Mann zu schildern; er folge nicht den Meynungen der Geschicht- schreiber und der Kunstrichter, sondern seinen A a 5 Einige Gedanken Empfindungen von Vollkommenheit: und dann wird er, wenn wirklich in seiner Imagination dieses Bild liegt, wenn er schon dem Ziele nahe genug ist, um es im Gesichte zu haben, uns ge- wiß das interessanteste Gemaͤlde geben, das aus der Feder eines Dichters fließen kann. Anhang. Geschrieben im Jahre 1779. Ohnerachtet ich im Anfange entschlossen war, diese Abhandlung ohne Zusaͤtze und ohne Verbesserungen herauszugeben, so habe ich es doch meiner Achtung fuͤr das Publikum gemaͤß gehalten, einen Versuch zu machen, in wie weit ich mich wegen des unaus- gefuͤhrten Plans der gegenwaͤrtigen Abhandlung rechtfertigen, oder denselben ergaͤnzen koͤnne. O hne Zweifel ist die Schwierigkeit, einen feh- lerhaften Plan auszufuͤhren, die Ursache gewesen, warum diese Abhandlung damals un- vollendet blieb, als ich sie zuerst schrieb. Diese Schwierigkeit ist jezt noch groͤßer geworden, da die Laͤnge der Zeit, und die Entfernung von Un- tersuchungen dieser Art, alle die Begriffe bey mir ausgeloͤscht habey, mit denen ich die noch’fehlen- den Theile auszufuͤhren gedachte. Ich hatte naͤmlich drey Punkte uͤber das Interesse, das aus Leidenschaften entsteht, auszufuͤhren uͤbernom- Einige Gedanken men: 1) Welches sind die Leidenschaften, an wel- chen wir in der poetischen Schilderung am mei- sten Theil nehmen? Diese Frage ist in dem zwey- ten Stuͤcke der alten Abhandlung beantwortet. 2) Auf welche Art muͤssen sie geschildert werden, wenn sie interessiren sollen? 3) Fuͤr welche Lei- denschaften ist es am nuͤzlichsten, die Menschen zu interessiren? Diese beiden Fragen sind noch zu beantworten uͤbrig. Aber die leztere gehoͤret zur Untersuchung der Natur des Interessirenden gar nicht, und die erste hat groͤßtentheils schon die Beantwortung erhalten, deren sie faͤhig ist. Denn, indem gesagt worden: daß die Lei- denschaften des Schmerzes mehr als die Leiden- schaften des Vergnuͤgens; die aus moralischen Ursachen entstehenden mehr als die aus koͤrperli- chen; die thaͤtigen mehr als die bloß duldenden; die durch Sympathie mehr als die durch eigene Eindruͤcke empfundnen interessiren: indem gesagt worden, daß die Unruhe der Erwartung mehr Ein- druck mache, als der Schmerz der Entscheidung; daß die Liebe gegen die Person, eine gewisse Billi- uͤber das Interessirende. gung der Leidenschaft, unsre Sympathie verstaͤrke; daß der Streit der Leidenschaften am lebhaftesten ruͤhre: sind nicht eben dadurch die Mittel ange- geben worden, wie Leidenschaften geschildert wer- den muͤssen, wenn sie den Leser oder Zuschauer zur Theilnehmung bewegen sollen? Naͤmlich jede Leidenschaft ist ein Zusammen- geseztes aus vielen; jede hat vielerley Seiten und Aussichten. Jeder Schlag, der auf die Seele geschieht, zerruͤttet nicht bloß den Ort, wo er hintrift, sondern erschuͤttert zugleich alle andre empfindliche Stellen ihres Systems. Die Lei- denschaft ist ein Feuer, dessen Glanz und Waͤrme, von hundert Seiten gebrochen und zuruͤckprallend, sich mit der Hauptflamme vereiniget. Was kann man also anders thun, um die Frage zu beant- worten: wie sind Leidenschaften zu schildern? als daß man die Zergliederung derselben anstellt; daß man die mittelbaren Wirkungen derselben auf- sucht; und daß man anzeigt, welche Elemente der Leidenschaft, welche Art ihrer Wirkungen sich in der Nachahmung durch Worte am besten aus- Einige Gedanken nehmen, am klaͤrsten dargestellt werden koͤnnen, und am kraͤftigsten wirken? So sind z. B. koͤrperliche und geistige Ver- gnuͤgen und Schmerzen mit einander vermischt. Die Aussicht auf Wohlstand und Ehre mischt sich in die Unternehmungen unsrer reinsten Menschen- liebe. Das zaͤrtlichste Bedauren geliebter Freun- de hat zugleich den Schmerz uͤber entstandene aͤußere Unbequemlichkeiten oder verlorne Vortheile zum Grunde. Aber auch keine Begierde ist so koͤr- perlich, daß nicht moralische Freuden und Schmerzen, Liebe und Haß, Reue oder Wohlge- fallen mit uns selbst, Scham oder Stolz sich dar- ein mischen. Wenn der Dichter also angewiesen wird, in jeder Leidenschaft die moralische Seite aufzusuchen; uns in den Schicksalen seiner Per- sonen vornehmlich die Wirkungen zu zeigen, die dieselben auf ihr Herz, ihre Gesinnungen, ihre Denkungsart thun: so ist die Methode der Schil- derung so weit bestimmt, als es durch Regeln ge- schehen kann. Ferner: Einerley Begebenheit kann entweder auf viele Personen durch Sympa- uͤber das Interessirende. thie Einfluß haben, oder sie kann nur eine einzi- ge Person betreffen. Dieselbe Art von Affekt kann aus verschiedenen Bewegungsgruͤnden entstehn, und bald Billigung oder Verzeihung, bald Miß- billigung oder Abscheu erhalten. Endlich, so wie wenige Leidenschaften in der Seele maͤchtig werden, ohne durch andre verstaͤrkt worden zu seyn, so werden auch wenige eine Zeit lang in der Seele fortdauern, ohne von entgegenstehen- den bestritten zu werden. Indem man also sagt: der Dichter muß die Begebenheiten so anlegen, die Charaktere der Personen so bestimmen, daß die Entstehung der Leidenschaften die er ihnen beylegt, dem Leser begreiflich sey, und eben des- wegen von ihm in gewissem Grade genehm ge- halten werde: indem man sagt, der Dichter muß in jeder Leidenschaft vornemlich den Streit schil- dern, den sie erregt: so hat man zugleich angege- ben, wie er Leidenschaften interessant machen muͤsse. Alles uͤbrige, was sich unter der Frage Wie? begreifen laͤßt, ist das Werk des Genies, Einige Gedanken nicht der Regeln. Es enthaͤlt freylich weit mehr, als daruͤber gesagt worden ist, weit mehr als daruͤber gesagt werden kann. Und eben deßwe- gen sind alle Untersuchungen dieser Art fuͤr den Dichter unnuͤtz; und nur eigentlich dem Leser derselben brauchbar, der seinen Geschmack bil- den, oder dem Moralisten, der aus dem Bilde den Menschen selbst kennen lernen will. Denn, derjenige, dessen Geisteskraͤfte zur Erfindung der besondersten Methode zureichen, die der Stoff und das Werk erfodern, welches er vorhat, der, dessen Einbildungskraft ihm die einzelnen Worte der Leidenschaft, ihren Gang, ihre Ansbruͤche, gerade in der einzigen Begebenheit weisen, die er bearbeitet: der wird auch durch eben diese Staͤrke seines Geistes die allgemeinen Regeln finden, oder sie, ohne sie zu wissen, beobachten, die der Phi- losoph ihm vorschreiben kann. Diese Betrach- tung sollte die aesthetischen Schriftsteller vor ge- wissen allzu speciellen und ins Kleine gehenden Untersuchungen bewahren, dieweil sie dem Dich- ter entbehrlich und zur Erkenntniß der Natur uͤber das Interessirende. nicht erheblich genug sind, eigentlich keiner Art von Lesern nutzen, und nur zu einem leeren Ge- praͤnge des Scharfsinns dienen. Ein Fehler, vor dem ich mich selbst vielleicht in dieser Ab- handlung nicht genugsam gehuͤtet habe. Alles was man, außer der genauern Bestim- mung der Wahl der einzelnen Theile oder der verschiedenen Ansichten und Aeußerungen der Leidenschaften, von der Art ihrer Schilderung sagen kann, laͤßt sich in die zwey Woͤrter zusam- mensassen: Wahr und natuͤrlich. Wahr be- zieht sich auf die Zuͤge des Gemaͤldes, es muß aͤhnlich seyn: Natuͤrlich bezieht sich auf die Staͤrke des Kolorits: es muß nicht uͤbertrieben seyn. Jenes ist das Werk des Genies: es muß sich zu einem so hellen Anschauen der Sache er- heben koͤnnen, daß es die wahre Gestalt dersel- ben trift; dieß ist das Werk des Geschmacks; er muß in dem Ausmalen des geistigen Bildes eine gewisse Maͤßigung beobachten. Wenn der Sprachgebrauch den Unterschied zwischen diesen beyden Woͤrtern nicht vollkom- B b Einige Gedanken men rechtfectigt: so erkennt wenigstens die ge- sunde Vernunft den Unterschied, den wir zwi- schen den beiden Begriffen gemacht haben. Es ist gewiß, dgß der Zeitpunkt, in welchem der Dichter erfindet, und seinen Gegenstand geistig anschaut, nicht derjenige ist, wo er sich hinsezt und seine Verse ausarbeitet. Es ist gewiß, daß jener Aktus in aller seiner Vollkommenheit vor- gegangen seyn, und daß dieser zweyte jene Voll- kommenheit wieder verdunkeln oder zerstoͤren kann; daß der Dichter, indem er sich zur aͤußern Darstellung seines innern Bilders wendet, wenn er die Woͤrter, den Reim, das Sylbenmaaß sucht, das Wahre entweder zu kalt oder zu kuͤhn, zu fluͤchtig oder zu umstaͤndlich sagen koͤnne. Das Wahre ist allen Epochen der Dichtkunst gemein. Zu jeder Zeit hat es große Geister ge- geben, die die Natur kennen und fuͤhlen. Das Natuͤrliche unterscheidet sie. In den aͤltesten Zeiten bleibt in der Schilderung der Leidenschaf- ten der Ausdruck etwas zuruͤck. Er ist matt, kurz, voruͤbereilend. In den Zeiten der bluͤ- uͤber das Interessirende. henden Wissenschaften und der verfeinerten Sit- ten bekoͤmmt er mehr Leben, mehr Umstaͤndlich- keit: aber er bleibt noch bescheiden, und concis; in dem dritten Zeitraum wird er kuͤhn und uͤber- trieben. Die Erscheinungen der Leidenschaft werden zu weitlaͤuftig ausgemahlt, werden mit zu hellen Farben erleuchtet. Homer, Virgil, Lukan, koͤnnen die drey Muster von diesen Zeit- altern seyn. Es ist der Erfahrung gemaͤß, daß das staͤrkste Interesse nur da statt findet, wo Wahrheit und Maͤßigung sich mit einander verei- nigen. Die dunkle Daͤmmerung des Morgens, oder eines truͤben Tages, kann die Gegenstaͤnde richtig zeigen, aber es erhellt und belebt sie nicht genug, das Gemuͤth bleibt traͤge, indem es sie ansieht, und bekoͤmmt also weder klare Vorstel- lungen, noch merkliches Vergnuͤgen. Das helle Licht des Mittags im Sommer macht die Ge- genstaͤnde glaͤnzend: aber es blendet, es ermattet; es macht, daß wir die Augen von den Dingen abkehren. Aber das sanfte Licht des Abends oder eines schoͤnen Herbsttages macht eigentlich B b 2 Einige Gedanken die Gegend interessant. Das Auge wird erquickt, gestaͤrkt, indem es zugleich auf die Gegenstaͤnde hingezogen wird; das Gemuͤth bekoͤmmt lebhafte Ideen, und bleibt doch in seiner Ruhe; wir se- hen die Natur am meisten natuͤrlich, weil we- der Theile derselben uns entwischen, noch ein fremder Schimmer sie entstellt. Dichter haben zu allen Zeiten noch besondre Methoden gewaͤhlt, die Leidenschaften ihrer Per- sonen interessanter zu machen, indem sie sie ent- weder mit einem besonders schwaͤrmerischen und fantasiereichen Charakter verbunden, oder sie zu einem so hohen Grade getrieben haben, daß sie den Gebrauch der Vernunft voͤllig aufheben. Die Heftigkeit der Leidenschaften durch Wahnwitz oder Raserey zu schildern, in welche sie bey schwachen oder bey ungestuͤmen Temperamenten ausarten, ist mit dem Ursprunge der tragischen Muse gleich alt. Die Griechen hatten ihren Ajax, ihre Hekuba, ihren Orestes; Schakespear und Garrick sind beide durch den Koͤnig Lear be- ruͤhmt worden. Die schoͤnsten Scenen im Mak- uͤber das Interessirende. beth sind die, wo Gewissensbisse und Furcht ihm und seiner am Koͤnigsmorde mitschuldigen Fran die Schreckenbilder ihrer Einbildungskraft als wirkliche Gestalten aufdringen. Die schwaͤr- mende Clementine im Grandison, die schwaͤrmen- de Julie im Romeo machen, jene den Roman, diese das Trauerspiel interessant. Diese so gluͤck- lichen Beyspiele haben viele Nachahmer gefunden. Es ist wahr, die Heftigkeit der Leidenschaf- ten faͤllt nie mehr in die Augen als wenn sie das Gemuͤth verruͤcken. Die Unordnung der Be- griffe, der schnelle Uebergang von einem Gegen- stande zum andern; die bestaͤndige Ruͤckkehr selbst von den entferntesten oder gleichguͤltigsten Din- gen auf die Ursache der Leidenschaft; die Erhoͤ- hung der Imagination, die alle Begriffe in sinn- liche Gestalten kleidet, und diese kuͤhn und mit einer gewissen reissenden Geschwindigkeit schildert; alle die Symptome, die die Leidenschaften zu ei- nem poetischen Stoffe machen, sind in dem Zu- stande des Wahnwitzes noch in einem hoͤhern Grade vorhanden. Zweytens. Dieser Zustand B b 3 Einige Gedanken ist an und fuͤr sich einer der traurigsten, die der Menschheit wiederfahren koͤnnen. Wenn er wahr ist, oder bis zu einer Art von Taͤuschung nachgeahmt werden kann: so findet er bey jedem nicht ganz rohen oder verworfnen Menschen Mit- leiden; und wenn er eine Person trift, die we- gen ihres vorzuͤglichen Verstandes schaͤzbar, und wegen ihrer anstaͤndigen Auffuͤhrung liebenswuͤr- dig war, so zerreißt er die Seele. Ferner, so wie im Weine, so auch im Wahn- witz ist oft die Wahrheit. Was der Mensch sonst verbirgt, das entdeckt er alsdann. Er handelt nicht mehr nach Absichten, sondern nach Eingebungen. Eine edle Seele zeigt sich als- dann noch gut, und erweckt noch mehr Mitlei- den. Was Plato von den Traͤumen sagt, das gilt auch von diesem ungluͤcklichen Zustande, wo der Mensch wachend traͤumt. Die Einbildun- gen des Verruͤckten richten sich nach dem Cha- rakter, den er bey gesundem Verstande gehabt hat, und schildern denselben. Unterdessen, so wie alle Kunstgriffe, die nicht in der Natur der Sache selbst liegen, nur uͤber das Interessirende. wenigemale gebraucht werden muͤssen, wenn sie nicht ihre Kraft verlieren sollen: so ist es auch mit dieser Art von poetischem Kunstgriffe beschaf- sen. Wohl gebraucht verfuͤhrt er die Seele das erstemal ganz; er entzuͤckt, er bezaubert. So ist es mir mit der Clementine, mit der Julie gegangen. Oefterer wiederholt, wird er, wenn er auch in aller Vollkommenheit angewandt wird, stumpf und unkraͤftig. Besonders aber kann nichts leichter uͤbertrieben werden, als ein solches Gemaͤlde; nichts leichter verfehlt, als die Absicht desselben. Zuerst ist es ausgemacht, daß es immer am leichtesten ist, die Extremen zu schildern. Man braucht keine Wahl mehr, wenn man alles aufs aͤußerste treiben darf. So ist es schon bey der groͤßten Hitze der Leidenschaften, auch wenn sie den Menschen noch bey dem Gebrauche seiner Vernunft laͤßt. Es gehoͤrt zu eben der Maͤßi- gung, von der ich oben geredet habe, daß die poetische Schilderung innerhalb der mittlern Grade der Leidenschaften stehen bleibe, wo die groͤßte Mannichfaltigkeit, die meisten feinen B b 4 Einige Gedanken Schattirungen, die groͤßte Vermischung mit verwandten, der meiste Streit mit entgegenste- henden Begierden statt findet. Nichts graͤnzt naͤher an Schwulst, oder kann leichter dazu ver- fuͤhren, als die Sprache der alleraͤußersten Lei- denschaft; und nichts ist kaͤlter und weniger in- teressant als Schwulst. Eben der Mangel der Urtheilskraft und des Geschmacks, der die roͤ- mischen Dichter des schlechtern Zeitalters verlei- tet hat, erhabne Gedanken durch den Ausdruck schwuͤlstig, oder feine spitzfuͤndig zu machen: eben der hat sie auch dazu gebracht, jeden Zorn in Wuth, jede Liebe in schmelzende Zaͤrtlichkeit oder tobende Begierde, den Stolz in unmenschliches Aufblaͤhen, und den Muth der Tugend in Goͤt- tergroͤße zu verwandeln. Aber noch weit weniger genaue Richtigkeit, weniger bestimmte Wahrheit ist da noͤthig, wo Personen auftreten, die ihres Verstandes beraubt sind. Der Abwege von der Vernunft sind un- zaͤhlige; der Weg der Vernunft, oder einer der Vernunft untergeordneten Leidenschaft ist jedes- uͤber das Interessirende. mal nur ein einziger. Alles was nur nicht rich- tig, nicht zusammenhaͤngend, nicht zur Sache gehoͤrig ist, ist hinlaͤnglich den Zustand des Wahnwitzes zu schildern. Aber das Gemaͤlde einer von Leidenschaften bestrittnen Vernunft er- fodert Zuͤge, die mit dem Charakter, den Faͤ- higkeiten, der Lage der Person genau uͤberein- stimmen. Es ist fuͤr den Dichter weit leichter, seine Einbildungskraft schwaͤrmen zu lassen, als sie zu gleicher Zeit zu erhoͤhen und zu fixiren. Und obgleich auch das verwirrte Gemuͤth seine Geseze hat, wornach es handelt und denkt, so sind doch diese Geseze weit weniger ausgemacht, weit weniger bekannt. Der Dichter arbeitet nach einem unbestimmtern Modell, der Zuhoͤrer urtheilt nach einer unsichern Regel. Ueberdieses kann dieser Gemuͤthszustand nur unter viel Einschraͤnkungen den Zuhoͤrer ruͤhren. 1) Soll die Abwesenheit der Vernunft nur Mit- leiden uud Jammer erwecken: so muß bey der Gegenwart derselben uns die Person Hochach- tung eingefloͤßt haben. In einem ganz neuen B b 5 Einige Gedanken Stuͤcke Die ungluͤckliche Verschwiegenheit. wird eine der Hauptpersonen gleich vom Anfange an als melankolisch, und bey heftigen Anfaͤllen als rasend vorgestellt. 2) Die Ursache muß nicht nur wichtig genug seyn, um eine solche gaͤnzliche Zerruͤttung der Werkzeuge des Gemuͤths hervorzubringen, sondern sie muß auch von der Art seyn, aus welcher, nach der Erfahrung, eine solche Veraͤnderung zu entste- hen pflegt. Es giebt sehr große Ungluͤcksfaͤlle, heftige Leidenschaften, tiefer Gemuͤthskummer, die doch niemals die Vernunft angreifen, oder die Werkzeuge derselben in Unordnung bringen. Andre Leidenschaften hingegen, dem Anscheine nach weniger stark, haben oft diese ungluͤckliche Wirkung gethan. Die Liebe steht in dieser Liste der Zerstoͤrerinnen der menschlichen Vernunft oben an. Ihre aͤußerste Heftigkeit, oder ihre fehlgeschlagnen Erwartungen, haben mehr Wahu- witzige gemacht, als alle andre Affekten zusam- mengenommen. Die Reue uͤber einen Koͤnigs- mord, und bie Furcht vor den Folgen, kann uͤber das Interessirende. machen, daß die Haͤnde dem Moͤrder blutig er- scheinen. Aber es scheint mir weniger natuͤrlich, daß ein alter Mann, ein Koͤnig, durch die Un- dankbarkeit seiner Toͤchter koͤnne rasend gemacht werden. 3) Es muß mehr Schwaͤrmerey als Wahnwitz seyn. Raserey oder Narrheit sind nach meinem Gefuͤhl immer, jene schrecklich, diese laͤcherlich, und koͤnnen niemals anders als be- leidigen oder Verachtung erregen anstatt zu ruͤh- ren. 4) Die Anfaͤlle muͤssen nur kurz und ab- wechselnd seyn. Scenen dieser Art moͤgen noch so gut gearbeitet seyn, wenn sie lange dauren, so werden sie eckelhaft. In dem vorgedachten Stuͤcke, erscheint eine Mutter gleich vom Anfan- ge an melankolisch, hat wiederholte Anfaͤlle von Raserey, und stirbt an den Folgen derselben. Die Tochter wird nach dem Tode der Mutter ebenfalls unsinnig, spielt die naͤmliche Rolle zum zweytenmale, und stirbt auf eine aͤhnliche Art. Ich habe nie ein Stuͤck gesehn, wo, bey so vielen Anlagen zur Ruͤhrung, ich so viel gelitten, ich so aͤngstlich gewuͤnscht haͤtte, von der Quaal des Einige Gedanken Zuschauens solcher Auftritte befreyt zu werden. So leicht ist es in die aͤußersten Fehler zu fallen, wenn man das Ruͤhrende durch außerwesentliche Mittel verstaͤrken will. Das wahrhaft große und maͤnnliche Genie zeigt sich am meisten, wenn es die Natur in ih- rer Reinigkeit und Gesundheit schildert. Die Leidenschaft ist in dem Gemaͤlde der Seele, was die Bewegung in der Schilderung der Koͤrper. Ohne sie koͤnnen wir nicht die Kraͤfte gewahr werden, die in beiden verborgen liegen. Aber sie werden dazu unnuͤtz, wenn sie bis zur voͤlli- gen Zerstoͤrung derjenigen Charaktere und Ge- stalten anwachsen, die wir eben durch sie genauer und lebhafter sehen wollen. Anstatt Vorschriften und Grundsaͤtze dieser Art noch mehr zu haͤufen, wollen wir einen der beruͤhmtesten leidenschaftlichen Auftritte, den Tod der Dido im vierten Buche der Aeneis, untersuchen, und diejenigen Umstaͤnde bemerken, die in dem- selben vorzuͤglich interessant scheinen. uͤber das Interessirende. Wenn Virgil, uns fuͤr die Liebe der Dido interessiren wollte, so mußte er machen, daß wir dieselbe in einem gewissen Grade billigen: wenn er wollte, daß wir an ihrem Ungluͤcke Theil naͤh- men, so mußte er machen, daß wir sie selbst hochachten. Eine so heftige Leidenschaft, so ploͤzlich ent- standen, und bis auf die Hoͤhe getrieben, wo sie zur Verzweiflung fuͤhrt, ist allemal ein Fleck in dem Charakter. Sie mußte also starke Ursachen haben. Aeneas mußte sehr liebenswuͤrdig seyn. So hat ihn auch Virgil geschildert. Sanft- muth, Froͤmmigkeit, Zaͤrtlichkeit gegen die Sei- nen, mit Muth verbunden, machen den Cha- rakter des Aeneas aus; Eigenschaften die dem weiblichen Geschlechte vorzuͤglich gefallen. Ae- neas war schoͤn. Aber Venus erhoͤhte noch, als sie ihn zur Dido einfuͤhrte, seine natuͤrliche Bil- dung, durch wunderbar uͤber seine Gestalt und sein Betragen ausgegoßne Reize. — — namque ipsa decoram I, 593. Caesariem nato genetrix, lumenque juuentae Purpureum et laetos oculis adflarat honores. Einige Gedanken Diese Eigenschaften, die im Aeneas selbst lie- gen, laͤßt der Dichter nicht allein wirken. Die Liebe der Dido ist ein unmittelbares Werk des Amors, der sich unter der Gestalt des Ascanius zu ihr einfuͤhren laͤßt. Virgil, der sonst weit moralischer ist, als seine Vorgaͤnger, bleibt doch hier dem System getreu, das in der ganzen fabelhaften Geschichte und in allem poetischen Stoffe der Alten herrscht, nach welchem Menschen von der Gottheit unwi- derstehlich zu Handlungen getrieben werden, wo- fuͤr sie doch in der Folge als fuͤr freywillige leiden muͤssen. Dieses System, das die Alten nicht be- leidigte, weil sie bloß die Macht der Gottheit verherrlichen wollten, ist unsrer Empfindung zu- wider, weil wir die Gottheit vornaͤmlich durch Gerechtigkeit erhoͤht wissen wollen. Das In- teresse ganzer Geschichte wird dadurch unstreitig fuͤr uns gestoͤrt; das Interesse einzelner Scenen, weniger. Es scheint zwar die stufenweise Ent- wickelung der Leidenschaft wegzufallen, wenn eine Gottheit sie einpflanzt: aber bey den gu- uͤber das Interessirende. ten Dichtern des Alterthums uͤberwindet die Na- tur das System. Sie nehmen an, daß die Lei- denschaft durch ein Wunder erschaffen wird, und lassen sie doch so allmaͤhlig wachsen, als wenn sie aus natuͤrlichen Ursachen entstanden waͤre. Virgil hat noch mehr fuͤr die Dido gethan, um uns durch ihre Gestalt und ihren Charakter einzunehmen, als selbst fuͤr seinen Held. Ihre Gestalt ist in den schoͤnsten Versen des ersten Buchs beschrieben. Regina ad templum, forma pulcherri- I, 500. ma Dido Incessit, magna iuuenum stipante caterua. Qualis in Eurotae ripis, aut per iuga Cynthi Exercet Diana choros; quam mille secutae Hinc atque hinc glomerantur Oreades, illa pharetram Fert humero, gradiensque deas supereminer omnes: Latonae tacitum pertentant gaudia pectus. Talis erat Dido. Oder vielmehr ihre Schoͤnheit wird nicht be- schrieben; aber wir bekommen durch diese Verse Einige Gedanken den Eindruck von einer großen hohen edeln Ge- stalt, welche Ehrfurcht erweckt. So wie Sanftmuth bey einem tapfern Man- ne, so ist Wuͤrde bey einer schoͤnen Frau, das was uns am meisten fesselt. Der Charakter ihrer Gestalt ist auch der Cha- rakter aller ihrer Reden und Handlungen. Wir finden sie zuerst beschaͤftigt mit Gruͤn- dung ihres neuen Staats, Gebaͤude aufzufuͤh- ren, Geseze zu geben, Recht zu sprechen. Ihre erste Rede an die geretteten Trojaner ist voller Wuͤrde, Sie zeigt Muth und Vorsich- tigkeit gegen die Fremden, die an ihren Ufern landen wollten, in der Absicht zu schaden. Res dura et regni nouitas me talia cogunt Moliri et late fines custode tueri. Dieß hatte die Anstalten hervorgebracht, uͤber welche die Trojaner sich beklagen. Sie zeigt Großmuth und Gastfreyheit gegen die Ungluͤck- lichen, die durch das Schicksal auf ihr Ufer aus- geworfen werden. uͤber das Interessirende. Was sie den Gefaͤhrten des Aeneas sagt, hat nur den Ausdruck von Menschenliebe, mit einer gewissen Hoheit verbunden. Soluite corde metum, Teucri, secludite curas etc. I, 562. Was sie dem Aeneas selbst sagt, hat schon mehr die Sprache des Herzens, es zeigt von Freund- schaft und Hochachtung. Quis te, nate dea, per tanta pericula casus 615. Insequitur. Sie erinnert sich ihrer alten Bekanntschaft mit den Trojanen. Atque equidem Teucrum memini Sidona ve- nire etc. 619. Sie gedenkt endlich, welches schon eine gewisse Vertraulichkeit voraussezt ihres eignen Ungluͤcks. Non ignara mali miseris succurrere disco. Der Eindruck, den Aeneas auf sie macht, findet in ihrem Herzen einen Widerstand, aus welchem natuͤrlicher Weise Streit, und aus dem C c Einige Gedanken Streit groͤßeres Interesse entstehen muß. Die- ser Widerstand liegt in der Liebe zu ihrem ver- storbnen Gemahl, gestaͤrkt durch die Gefahren, die sein Tod ihr zugezogen, durch die Unterneh- mungen zu denen er sie veranlasset hat; in dem oͤffentlich erklaͤrten Entschlusse, nie eines andern zu seyn; endlich in der Wuͤrde einer Regentinn und Gesezgeberinn selbst. Der Schatten ihres Gemahls wird durch die entstehende Neigung be- leidigt; ihr Ansehn wuͤrde durch den gebrochnen Eid leiden, wenn sie dieser Neigung nachgaͤbe. So ist das Herz beschaffen, das sie ihrer Schwester Anna, nach einer schlaflosen, in ver- liebter Unruhe und Kampf zugebrachten Nacht eroͤfnet. soror, quae me suspensam insomnia terrent! Alles was sie hier sagt, ist das erste, natuͤrlich- ste, was ein von einer entstehenden Liebe beun- ruhigtes Weib sagen kann, wenn sie eine Freun- dinn hat, vor der sie ihr ganzes Herz ausschuͤttet. uͤber das Interessireude. „Was fuͤr ein Mann ist dieser Fremdling! „Wie schoͤn, wie tapfer, wie edel! Es ist nicht „moͤglich seine hohe Abkunft zu verkennen. Und „was fuͤr Thaten er gethan, was fuͤr Gefahren „er ausgestanden hat! Ja wenn ich nach dem „Sichaͤus noch einen andern lieben koͤnnte, so „wuͤrde es dieser gewesen seyn. Aber lieber „wollte ich sterben, ehe ich die Treue gegen die- „sen Gemahl verlezte.“ Diese ganz einfaͤltigen aber wahren Gedan- ken haben im Virgil, durch die Wahl der Woͤr- ter und ihre Stellung, eine poetische Wuͤrde be- kommen, ohne etwas von ihrem Natuͤrlichen zu verlieren. Zuerst redet sie von ihrer Liebe nur noch als von einer ungewissen, einer moͤglichen Nei- gung. Huic uni forsan potui succumbere culpae. Einen Augenblick drauf, geht sie einen Schritt weiter. Sie gesteht ein, daß sie den Aeneas wirklich liebt. C c 2 Einige Gedanken Solus hic inflexit sensus, animumque labantem Impulit. Agnosco veteris vestigia flammae. Aber nichts verraͤth ihre Leidenschaft mehr, als die Heftigkeit und Staͤrke des Ausdrucks mit welcher sie schwoͤrt, derselben nicht nachzugeben. Sed mihi vel tellus, optem, prius ima dehiscat Vel pater omnipotens adigat me fulmine ad umbras, Ante, Pudor, quam te violo, aut tua iura resoluo. Anna, die Schwester der Dido, die, wenn sie auch nicht ganz ein Geschoͤpf des Dichters war, doch mehr von seiner Willkuͤhr abhieng, weil er durch keine sehr bekannte Tradition ein- geschraͤnkt wurde, konnte entweder sich dieser Leidenschaft widersetzen, oder ihr schmeicheln. Das erste, duͤnkt mich, wuͤrde im Drama ein lebhafter Interesse gegeben haben, wo die Ge- schichte der Leidenschaft selbst der Hauptgegen- stand waͤre. Der Dichter hat das zweyte beliebt. Ohne Zweifel, weil er in einer bloßen Episode seines Werks die Leidenschaft schneller ihrer Ka- uͤber das Interessirende. tastrophe zueilen lassen mußte, zu welchem Ende es noͤthig war, den innern Kampf der Dido ab- zukuͤrzen, und ihren Ehrgeitz und ihre Scham- haftigkeit geschwind zu uͤberwinden. Anna billigt also die Neigung der Dido ganz, hebt alle Bedenklichkeiten, findet in der Ankunft der Trojaner eine besondre Fuͤhrung der Goͤtter, und in der Verbindung mit dem Aeneas die Aus- sicht auf kuͤnftige Sicherheit und Groͤße ihres Staats. Diese Gruͤnde sind kurz, deutlich, gedraͤngt, und mit maͤßigem Affekt ausgefuͤhrt. Die Re- den der Anna werden nur durch diese Art der Beredsamkeit interessant. Es ist oben gesagt worden, daß unser Mit- leid mit dem Ungluͤck eines andern noch lebhaf- ter wird, wenn er durch eben den Umstand in dasselbe geraͤth, der in ihm wahrscheinliche Hof- nungen von Groͤße und Gluͤckseligkeit erweckte. Von dieser Seite betrachtet, tragen die ermun- ternden Vorstellungen der Anna etwas dazu bey, die Empfindung der folgenden traurigen Auftrit- C c 3 Einige Gedanken te zu schaͤrfen. Wenn der Leser sich an die Stelle der Dido stellt, so erhebt sich sein Herz uͤber der wahrscheinlichen und nahen Aussicht, alle ihre Wuͤnsche auf einmal erfuͤllt, ihren Staat groͤßer und ihre Leidenschaft befriedigt zu sehn. Desto staͤrker wird es durch den Kontrast des Ausgangs geruͤhrt. Dido wurde wenigstens von den Vorstellun- gen ihrer Schwester auf diese Art getaͤuscht. His dictis incensum animum inflammauit amore Spemque dedit dubiae menti, soluitque pu- dorem. Die Phaͤnomene der schon herrschenden Liebe be- ruͤhrt Virgil mit der ihm eignen Weisheit, nur kurz; mahlt sie nicht aus, sondern bezeichnet sie nur durch einige allgemeine starke Zuͤge. Das Vergnuͤgen, mit welchem sie den fol- genden Tag den Aeneas in ihrer neuen Stadt herumfuͤhrt; die Verwirrung die sie uͤberfaͤllt, so oft sie mit ihm spricht; der Eifer mit welchem sie sich die Schicksale von Troja zum zweytenmale erzaͤhlen laͤßt; die Liebkosungen gegen den Asca- uͤber das Interessirende. nius; ihre schlaflose Naͤchte; ihre ploͤzliche Gleich- guͤltigkeit gegen alle ihre liebsten Geschaͤfte, gegen ihre wichtigsten Angelegenheiten, dieß sind die Zuͤge durch welche er das verliebte Herz der Dido schildert. Juno und Venus kommen uͤberein, den Ae- neas und die Dido bey Gelegenheit einer Jagd, in eine Hoͤle zu bringen, um ihrer Flamme zu vollem Ausbruche zu verhelfen. Die Schutzgoͤttin der Dido scheint in diesem Gespraͤch das Herz des Lesers auf seiner Seite zu haben, wie Dido selbst in der ganzen Geschichte. Sie verlangt nicht mehr den Untergang ihres Feindes, sie wuͤnscht nur die Erhaltung, die Gluͤckseligkeit ihres Lieblings. Die Anstalten der Jagd, und das Gemaͤlde derselben, ist eine kurze Zerstreuung von den lei- denschaftlichen Scenen, die weder lang noch ununterbrochen seyn duͤrfen, wenn sie nicht den Dichter und den Leser erschoͤpfen sollen. Das Interesse der Erwartung ist nirgends groͤßer als in diesem Zeitpunkte. Der Leser kennt C c 4 Einige Gedanken nun die Heftigkeit der Leidenschaft der Dido. Er sieht die fuͤrchterliche Versuchung zum voraus. Er ahndet etwas schlimmes, da er auf der einen Seite die unwiderruflichen Schluͤsse des Schick- sals uͤber den kuͤnftigen Sitz des Aeneas weiß, und auf der andern Seite voraussieht, daß nur ein eheliches Band und ein bestaͤndiger Aufent- halt des Aeneas zu Carthago die Ehre der Dido retten, oder ihre Leidenschaft besaͤnftigen koͤnne. Die Scene der Hoͤle wird vom Virgil mit der feinsten Sittsamkeit beruͤhrt. Er macht sie nur fuͤrchterlich durch die Ungluͤckweissagenden Meteoren die vorhergehn; — — Fulsere ignes et conscius aether Connubiis, summoque ulularunt vertice Nymphae. und er laͤßt ihre Natur errathen, durch die Fol- gen die sie hat. Neque enim specie famaque mouetur, Nec iam furtiuum Dido meditatur amorem; Coniugium vocat: hoc praetexit nomine cul- pam. uͤber das Interessirende. Sobald Dido der Versuchung untergelegen, so- bald ist auch ihre Schamhaftigkeit uͤberwunden. Durch den Genuß wird die Liebe auch des an- dern Geschlechts dreister, besonders bey einer Person, die Macht und Ansehn besizt. Dido gesteht die ihrige oͤffentlich; und sucht durch die Hofnung und das Vorgeben der Ehe, ihre straf- bare Schwachheit vor sich und vor ihrem Volke zu beschoͤnigen. Es ist zweifelhaft, aus welcher Ursache Vir- gil hier den Jarbas anftreten laͤßt; einen ehedem von Dido verschmaͤhten Afrikanischen Fuͤrsten, der, da er jezt erfaͤhrt, daß sie sich einem Fremd- linge Preiß giebt, von Eifersucht entbrannt, den Jupiter, dessen Gottesdienst er in seinem Lande eingefuͤhrt hatte, um Rache anfleht. Geschieht es bloß, um die Haupthandlung, durch das Bild der Fama (V. 174—197) und der Eifersucht zu unterbrechen? Oder geschieht es, um dem Leser, der zu partheyisch fuͤr Dido eingenommen ist, und eben deßwegen den Held des Dichters weniger liebt, C c 5 Einige Gedanken gegenseitige Eindruͤcke beyzubringen, und ihm zu zeigen, daß Dido eben so ungerecht gehandelt habe, als ihr jetzo begegnet wird? Oder hat Virgil dadurch bloß einen kuͤrzern Weg zur Entwicklung der Geschichte finden wol- len, indem Jupiter, dieß Verlangen seines An- beters zu erhoͤren, den Merkurius zum Aeneas absendet, ihm die Abfahrt von Carthago befeh- len zu lassen? Aeneas folgt diesem Befehl ohne Wider- spruch. Ardet abire suga, dulcesque relinquere terras. Er hat nicht mit sich zu kaͤmpfen. Sein Ent- schluß ist gleich gefaßt; aber er ist doch wegen des Schicksals der Dido nicht ohne Unruhe. Quid agat, quo nunc reginam ambire furen- tem Audeat adfatu, quae prima exordia sumat. Er traͤgt es seinen Gefaͤhrten auf, fuͤr die Aus- ruͤstung der Flotte zu forgen. Er selbst nimmt es uͤber sich, diese Nachricht der Dido zu der gele- uͤber das Interessirende. gensten Zeit, und mit der groͤßten Schonung beyzubringen. Tentaturum aditus, et quae mollissima fandi Tempora, quis rebus dexter modus. Aeneas ist also nicht ganz unzaͤrtlich. Aber er ist doch fuͤr unsre Empfindung fuͤr unsre Sitten zu kalt. Ohnezweifel hat das Alterthum, das in Muth und Entschlossenheit fast alle Tugenden der Maͤnner sezte, und das die Liebe fuͤr eine schaͤndlichere Schwachheit derselben ansah als wir, anders davon geurtheilt. Davon aber bin ich noch nicht uͤberzeugt, daß Aeneas nicht fuͤr alle Zeitalter interessanter geworden waͤre, wenn bey ihm, wo nicht Liebe, doch Dankbar- keit mit der Pflicht des Gehorsams gekaͤmpft haͤtte. Dido erfaͤhrt die Anstalten zur Abreise, ehe sie noch Aeneas ihr entdeckt. quis fallere possit amantem? Die Vorwuͤrfe in die sie ausbricht, da sie ihn sieht, (V. 305 — 330) die kalte und bloß ver- Einige Gedanken nuͤnftige Antwort desselben (V. 333 — 361) und die noch heftigern Ausbruͤche des Zorns und der beleidigten Liebe bey der Dido (365 — 387) gehoͤren unter die schoͤnsten Stellen dieses Buchs. In allen Reden der Leidenschaft sind in der That diejenigen am interessantesten, die zugleich eine moralische Empfindung ausdruͤcken. Wenn Dido dem Aeneas vorwirft, was sie alles um seinetwillen aufgeopfert habe, so faͤllt mir nichts mehr auf als der Vers: — — te propter eundem Exstinctus pudor, et qua sola sidera adibam, Fama prior. Wenn Aeneas sich rechtfertigt: so macht keine seiner Vorstellungen mehr Eindruck bey mir, als die Sehnsucht nach seinem alten Troja und nach den Ueberresten der Seinigen. Da das Schicksal zu diesen zuruͤckzukehren ihm nicht er- laubt, wie viel weniger wird es ihm vergoͤnnen in Afrika zu bleiben? uͤber das Interessirende. Me, si fatis meis paterentur ducere vitam Auspiciis, et sponte mea componere curas; Vrbem Troianam primum, dulcesque meorum Reliquias colerem. Aber es ist gewiß, daß Dido, im ganzen genommen, weit interessanter spricht, weil sie mehr geruͤhrt ist. Virgil ist der Natur getreu, wenn er den Zorn und die Leidenschaft der Dido durch die kalte Vertheidigung des Aeneas noch anwachsen laͤßt. Num fletu ingemuit nostro? num lumina flexit? Num lacrimas victus dedit, aut miseratus amantem est? Vorher hatte sie nur die Rechte der Liebe fuͤr sich angefuͤhrt, jezt ruͤckt sie ihm ihre Wohltha- ten vor. Ejectum litore, egentem Excepi, et regni demens in parte locaui. Vorher hatte sie sich nur uͤber ihr Ungluͤck be- klagt, jezt will sie das seinige. Einige Gedanken Dabis improbe, poenas. Audiam, et haec manes veniet mihi fama sub imos. Erschoͤpft von Liebe und Zorn, verliert Dido das Bewußtseyn, sobald mit der Gegenwart des Aeneas, diese heftige Aufwallung aufhoͤrt. An diesem einzigen Orte scheint Aeneas er- weicht. Sie verließ ihn ploͤzlich, da er eben noch viel zu sagen wuͤnschte, und nicht Worte finden konnte: Linquens multa metu cunctantem et multa parantem Dicere. Der Poet sagt sogar ausdruͤcklich, daß er selbst die Unruhe der Liebe gefuͤhlt habe. Lenire dolentem Solando cupit, et dictis auertere curas, Multa gemens, magnoque animum labefactus amore. Aber sein Vorsatz ist deßwegen nicht erschuͤt- tert. Die Anstalten zur Abreise werden verdop- pelt. uͤber das Interessirende. Dido wendet sich an ihre Schwester. „Nie- „mand, sagt sie, kann diesen Mann besser be- „handeln als du, keines Menschen Worte ma- „chen bey ihm mehr Eindruck.“ Man wuͤnschte, daß eine Person, die beiden Verliebten so wichtig ist, haͤtte mehr auftreten, sich haͤtte thaͤtiger heweisen koͤnnen. So lange Dido den Aeneas vor sich sah: so lange hatte der Unwille uͤber die Liebe die Ober- hand. Sie wollte, daß er reisen sollte: Neque te teneo, neque dicta refello. I, sequere Italiam ventis, pete regna per undas. Jezt, nachdem sie wieder mit sich allein ist ihre Lebensgeister sich besaͤnftiget haben, be- koͤmmt die Zaͤrtlichkeit uͤber den Zorn ihr altes Uebergewicht. Sie will ihn nicht mehr weglas- sen. Sie bittet ihre Anna, den Aeneas nur da- hin zu bringen, daß er ihr eine kurze Frist ver- willige, daß er den Winter bey ihr abwarte, um sich nicht selbst in Gefahr zu setzen. Exspectet facilemque fugam, ventosque fe- rentes. Einige Gedanken Es liegt etwas ruͤhrendes in dieser Besorgniß fuͤr die Sicherheit eines Ungetreuen. Anna erfuͤllt ihren Auftrag, aber ohne Er- folg. Fata obstant, placidasque viri deus obstruit aures. Stoische Standhaftigkeit bey einem empfind- lichen Herzen wird durch folgenden Vers schoͤn gezeichnet: Mens immota manet, lacrymae voluuntur inanes. Die Unbeweglichkeit des Aeneas, schreckliche An- zeichen bey ihrem Opfer, und die Stimme ihres Gemahls, die sie aus seinem sacrario hoͤrt, bringen endlich die Dido zu dem Entschluß zu sterben. Sie zeigt nun ihrer Schwester Anna ein hei- keres Gesicht; und giebt vor, sie habe einen Weg gefunden, durch magische Kuͤnste Aeneas Liebe, oder ihre Ruhe zu bewirken. Die fuͤrchterlichen Anstalten, das Geheim- nißvolle, und das Wunderbare der Zauberey, uͤber das Interessirende. haben sie, so lange der Glaube an dieselbe noch vorhanden war, zu einem sehr poetischen Stoffe gemacht. In sehr viele alte Fabeln ist derselbe verwebt, wie in die Geschichte der Medea, in andre ist er mit Kunst hineingebracht worden. Kein Dichter ist in der Beschreibung derselben weitlaͤuftiger, als Lukan, wo er die Thessalische Hexe dem Sohne des Pompejus den Ausgang der Pharsalischen Schlacht durch einen wieder- gebrachten Todten vorhersagen laͤßt. Aber auch Virgil, der solcher Huͤlfsmittel des Schreckens am wenigsten noͤthig hatte, der im Stande war, eine Situation durch die Gesinnungen und die Gedanken der Personen selbst ruͤhrend zu machen, die sich in derselben befinden; Virgil, der seine Dido deswegen erst bey den Roͤmern entschuldigen mußte Testor, cara, deos, et te, germana, tuumque IV, 492. Dulce caput, magicas inuitam accingier artes. , die wie alle aberglaͤubische Voͤlker, die magischen Kuͤnste zugleich glaubten und verab- scheuten: Virgil hat doch ein solches magisches Opfer mit allem Pomp der Poesie beschrieben; D d Einige Gedanken und er enthaͤlt sich nicht, die ungereimten und aberglaͤubischen Mittel anzufuͤhren, durch welche man glaubte die Liebe erzwingen zu koͤnnen. Ei- nen Umstand hat Virgil dadurch erhalten, der wirklich den lezten Auftritt, den Tod der Dido, noch ruͤhrender macht. Es gehoͤrte zu den Zu- bereitungen des magischen Opfers, daß ein Schei- terhaufen errichtet, mit Cypressen umkraͤnzt, und mit den Waffen, den Geschenken des Aeneas, und mit ihrem unaͤchten hochzeitlichen Bette belegt werden mußte. Unter diesen entleibt sich Dido. Der Schauplatz ihres Todes konnte auf keine Art geschmuͤckt werden, die zur Verstaͤrkung des Ein- drucks mehr beygetragen haͤtte. Es folgt die letzte Nacht, in welcher das Ge- muͤth der Dido, von Liebe, Rache und dem Ge- danken des nahen Todes beunruhiget, in dem groͤßten Anfruhr ist. „Was soll ich thun? Soll ich die ehemals „verschmaͤhten Freyer wieder aufsuchen? — „Oder wie? wenn ich selbst mit den Trojanern „gienge? Mit den Trojanern? Vielleicht, weil uͤber das Interessirende. „ich ihnen Gutes gethan habe? — Als wenn „sie etwas von Dankbarkeit wuͤßten. — Nein, „sie werden mich nicht in ihre Schiffe aufnehmen; „oder sollten sie, so werden sie mich als ihre „Sklavinn behandeln. — Und wie sollt’ ich ge- „hen? Allein, oder mit meinem Volke? O Schwe- „ster, du bist an meinem Ungluͤcke schuld! Warum „blieb ich doch nicht meinem ersten Gemahle ge- „treu? so haͤtt’ ich nichts von diesen Qualen em- „pfunden.“ Diese Gedanken so einfaͤltig, so ohne das Feuer des Ausdrucks und der Poesie vorgetragen, zeigen doch schon ihre Wahrheit, ihre Schicklich- keit zu den Umstaͤnden. Was fuͤr Eindruck muͤs- sen sie nicht alsdann machen, wenn sie in virgi- lianische Verse eingekleidet sind? Aeneas, durch eine neue Botschaft des Mer- kurs aus dem Schlafe geweckt, segelt noch in die- ser Nacht mit der groͤßten Eile ab. Dido sieht des Morgens aus ihrer Burg die Ufer und den Hafen leer. Ihr Affekt koͤmmt aufs Aeußerste. D d 2 Einige Gedanken „Alles soll dem Fluͤchtlinge nach. — Aber „es ist zu spaͤt. — Fruͤher haͤtte ich ihn bestra- „fen sollen! — Nein, das kann der zaͤrtliche „Sohn nicht seyn, der seinen alten Vater aus „dem Feuer trug. — O wenn ich doch ihn, sein „ganzes Heer, seinen Sohn, und mich selbst mit „ihnen haͤtte in den Untergang stuͤrzen koͤnnen!“ Jener Gedanke und diese Empfindung haben et- was mehr Auffallendes, als die uͤbrigen Theile dieser Rede, weil sie eine mehr einleuchtende Wahr- heit haben. Ein empfindliches Herz, das Va- terliebe kennt, kann gegen die Liebe einer andern Art nicht ganz fuͤhllos seyn. Der Zorn, der aus Liebe entsteht, wuͤtet gegen sich selbst immer zu- gleich mit, indem er sich gegen den Beleidiger auslaͤßt. Es folgen Verwuͤnschungen gegen den Ae- neas, die zugleich Prophezeihungen von Vorfaͤllen enthalten, die diesem wirklich in Italien begegnen; und der lezte Befehl an ihr Volk, die Roͤmer ewig zu hassen. uͤber das Interessirende. Der lezte Auftritt dieses Trauerspiels ist der ausgearbeitetste unter allen, und er ist es vielleicht vorzuͤglich, der dem ganzen Buche seinen Ruhm verschafft hat. Dido, in dem Augenblicke, da sie sterben will, ist nicht mehr in Wut — dieß wuͤrde den Leser nicht geruͤhrt, sondern beleidigt haben. Sie ist bey dem Anblicke der Waffen und aller Denk- maͤler des Aeneas und ihrer Liebe, die auf dem Scheiterhaufen liegen, nur geruͤhrt, nur weh- muͤthig. Dulces exuuiae! Sie schiebt die Ursache ihres Ungluͤcks mehr auf das Schicksal, als auf ihren Geliebten: Dum fata deusque sinebant. Dann wird sie groß. Sie sieht in sich nicht mehr die schwache verliebte Dido, nicht die ver- achtete und verzweifelnde Geliebte: sondern die Koͤniginn, die Stifterinn eines neuen Staates, die gluͤckliche Raͤcherinn des Todes ihres Ge- mahls: D d 3 Einige Gedanken Et nunc magna mei sub terras ibit imago. Vrbem praeclaram statui: mea moenia vidi: Vlta virum. In allem war sie gluͤcklich und groß, bis auf den Augenblick, da die Trojaner landeten: Felix, heu nimium felix, si litora tantum Nunquam Dardaniae tetigissent nostra ca- rinae! Sie verbirgt ihr Gesicht in das Bette, den Zeu- gen ihrer Lust, und die Quelle ihres Ungluͤcks; eine neue, aber nicht so heftige Auswallung ihres Unwillens und ihres Schmerzes beschließt ihren Kampf: — „Wie? ungerochen soll ich sterben? „— Ja! auch so ist es besser zu sterben. Der „Grausame mag die Flamme meines Scheiterhau- „fens sehen, und dieses Vorbedeutungszeichen auf „seine Reise mitnehmen.“ Virgil haͤlt sich bey ihrer Entleibung nicht auf. Alles, was bloß sinnlich ist, muß in einer Scene, die das Herz ruͤhren soll, nur kurz be- ruͤhrt werden. uͤber das Interessirende. Das Geruͤcht von ihrem Tode erschallt bald durch die ganze Stadt. Anna laͤuft herzu, und findet ihre Schwester sterbend. Ich halte mich bey ihren Klagen nicht auf. Sie scheinen mir etwas kalt, wie die ganze Rolle dieser Person. Aber warum ruͤhren diese drey lezten Zeilen so sehr? Ter sese attollens, cubitoque innixa leua- vit, Ter reuoluta toro est, oculisque errantibus alto Quaesiuit coelo lucem, ingemuitque re- perta. Anna haͤngt uͤber der Dido, und will ihren lezten Hauch auffangen. Sie sucht sie in ihren Armen zu erwaͤrmen. Diese Bemuͤhung, die Liebe der Dido zu ihrer Schwester, die Begierde ihr noch etwas zu sagen, bringt die schon Sterbende wieder zu sich. Der erste Theil der obigen Stelle enthaͤlt nur das Bild einer koͤrperlichen Aktion; aber sie ist so D d 4 Einige Gedanken kurz und so gut gemalt. Das Anstrengen der lezten Kraͤfte einer Sterbenden, sich in die Hoͤhe zu richten, und das Zuruͤcksinken der Ohnmacht, wird unsrer Einbildungskraft durch die wenigen Worte auffallend deutlich. Der zweyte Theil enthaͤlt ein moralisches Ge- maͤlde von dem groͤßten Ausdrucke, und so ein- faͤltig, in anderthalb kurze Zeilen eingeschlossen. Dido koͤmmt zu einem halben Bewußtseyn, oͤfnet die Augen, hat sie starr gen Himmel gerich- tet; aber sieht kein Licht mehr. Ein dunkler Ein- druck von Aengstlichkeit uͤber die ungewohnte Fin- sterniß an dem Orte, der sonst der Sitz und die Quelle des Lichts war, macht, daß sie die Augen halb willkuͤhrlich, halb durch eine mechanische Bewegung, hin und her kehrt, um irgend einen Ausgang ins Freye zu suchen, um dem vermeyn- ten Hindernisse auszuweichen, das die gewuͤnsch- ten Stralen auffaͤngt. Jezt koͤmmt die Ster- bende zu einem vollern Bewußtseyn: ihre Augen werden von den Lichtstralen geruͤhrt, sie fuͤhlt ihr uͤber das Interessirende. Daseyn wieder; und ein tiefer Seufzer ist der ein- zige Ausdruck dieses Gefuͤhls. Was ruͤhrt an diesem Gemaͤlde? Erstlich, es scheint so wahr. Wenn dieß nicht die Empfin- dungen von Sterbenden sind: so sind es doch genau die Empfindungen, die wir Sterbenden zuschreiben. Der Dichter hat genau das Ideal getroffen, das wir von dieser interessanten Scene des menschlichen Lebens mit uns herumtragen, wenn er auch nicht den Gegenstand selbst getrof- fen haͤtte. Zweytens, ohne auf die Richtigkeit der Schil- derung zu sehen: was kann ruͤhrender seyn, als ein Mensch, der leidet, der schon anfieng in dem Schlummer des Todes das Bewußtseyn seiner selbst und mit demselben seiner Noth und seines Schmerzes zu verlieren, und der nun wieder er- wacht, sich und alles sein Elend wieder fuͤhlt, und das zuruͤckkehrende Leben beseufzt. Was ist ruͤhrender, als dieser Streit der menschlichen Natur zwischen der Furcht vor dem Tode, welche macht, daß der Sterbende das Licht D d 5 Einige Gedanken wuͤnscht und sucht, und zwischen dem Jammer des Lebens, der ihm Seufzer auspreßt, wenn er das Licht gefunden hat. Zwo allgemeine Folgerungen will ich aus die- ser vielleicht zu weitlaͤuftigen Zergliederung des virgilianischen Gemaͤldes ziehen. Erstlich: Wo viel Interesse in den Reden der Leidenschaft seyn soll, da muß Abwechselung, Streit und Verbindung mehrerer Leidenschaften seyn. Der schnelle Uebergang vom Zorne zur Zaͤrtlichkeit, von der Reue zum Stolze, macht die Reden der Dido vorzuͤglich interessant. Man lasse eine von diesen allein herrschen: und die in- teressante Sprache derselben wird viel schwerer zu finden, wird viel kuͤrzer auszuhalten seyn. Ae- neas, Anna, alle sind, mit ihr verglichen, lang- weilig. Ihre Reden sind mehr beredt als ruͤh- rend, weil ihre Gesinnungen einfach sind. Zum zweyten: Das vornehmste Interesse der Dichtkunst, besonders der epischen Dichtkunst, ist, Wahrheit und Natur in poetischem Schmucke zu sehen, natuͤrliche Gedanken in schoͤnen Versen. uͤber das Interessirende. Da dieser Schmuck so leicht der Wahrheit Ein- trag thut, so empfinden wir die uͤberwundene Schwierigkeit, wenn beide gluͤcklich vereinigt sind, und genießen das Vergnuͤgen der Kunst. Da uns oft die Wuͤrde des Ausdrucks auf gemeine Wahrheit erst aufmerksam machen muß: so wer- den wir im Bilde gewahr, was uns im Original entwischte, und genießen also das Vergnuͤgen an der Natur. Den lezten Punkt des alten Plans, welche Leidenschaften zu erwecken am nuͤzlichsten seyn, halte ich fuͤr unnoͤthig zu beruͤhren. Jede wohl- getroffene Schilderung hat den Nutzen, daß sie uns den Menschen kennen lehrt. Seine Leiden- schaften wechseln zwar in den verschiedenen Zeit- punkten vielleicht eben so ab, wie seine Krankhei- ten, und es scheint also am nuͤzlichsten zu seyn, jedesmal diejenigen zur oͤffentlichen Belehrung oder Warnung im Bilde auszustellen, zu denen die Versuchungen am groͤßten, oder deren schlim- me Folgen die ausgebreitetsten sind. Allein, nach der Wahrheit und der Erfahrung, nuͤzt die Poesie Einige Gedanken nicht sowohl unmittelbar durch den Gegenstand, den sie schildert, als mittelbar durch die Wahr- heiten, die sie beyher lehrt, oder durch die Mu- ster des Schoͤnen, die sie dem Geiste vorhaͤlt. Diesen Nutzen befoͤrdert sie, welche Art von Lei- denschaften sie auch zu schildern vornehme, wenn sie nur die wahre Natur derselben trift. Anstatt dieser besondern Untersuchung, zu der ich mich anheischig gemacht hatte, will ich noch einige allgemeine Luͤcken der obigen Abhandlung ausfuͤllen, oder einige Fehler verbessern. Nach meiner jetzigen Einsicht ist uͤberhaupt die Materie von Erweckung der Leidenschaften fuͤr den Zweck des Ganzen zu weitlaͤuftig abgehandelt worden. Interessiren und ruͤhren graͤnzt in ei- nem Punkte an einander: aber es ist nicht einer- ley. Das eine geht auf das Ganze eines Werks, das andre auf einzelne Scenen desselben: das eine ist eine Aufbietung unsers Verstandes; das andre eine Erweichung des Herzens: das eine la- det zum Lesen oder Anhoͤren einer Geschichte ein; uͤber das Interessirende. das andre giebt wirklich den Genuß, wozu wir eingeladen sind. Neugierde, Liebe und Vortheil sind die drey Triebfedern, die uns fuͤr etwas interessiren. Be- gebenheiten, Personen und Wahrheiten sind die Gegenstaͤnde, fuͤr welche wir interessirt werden koͤnnen. Neugierde interessirt uns hauptsaͤchlich fuͤr Begebenheiten, und wird erhalten durch die Verwickelung; Liebe interessirt uns fuͤr Personen und wird erweckt durch ihre Chataktere. Unser Vortheil koͤmmt bey der Poesie in keine oder nur in eine entfernte Betrachtung. Der Artikel von der Verwickelung ist oben ausgelassen worden. Ich will noch einige Worte daruͤber hinzufuͤgen: 1) Ist die Verwickelung zum Interesse einer poetischen Erzaͤhlung nothwendig? Kann insbe- sondere ein dramatisches Stuͤck ohne dieselbe sehr interessant seyn? Ich bin ehedem dieser Meynung gewesen. Ich habe geglaubt, daß die Intrigue mehr zu dem Vergnuͤgen eines rohen geschmacklosen Han- Einige Gedanken fens, als gebildeter denkender Zuhoͤrer beytrage; daß eine Gallerie von Gemaͤlden aus dem mensch- lichen Leben, wohlgetroffen und auf irgend eine Art mit einander verbunden, uns hinlaͤnglich an sich ziehen koͤnne; daß endlich die sogenannten Historys des englischen Theaters der mittlern Zeit nur besser behandelt werden duͤrften, um noch jezt interessant zu werden. Ich aͤndre jezt diese Meynung. Wenn ich auf die Denkungsart des groͤßten Theils der Menschen sehe, fuͤr welche doch die Poesie, und besonders die theatralische, bestimmt ist; wenn ich auf meine eigne in den Zeiten sehe, wo ich mich erholen will, und diese Zeiten soll das Theater eigentlich ausfuͤllen: so werde ich gewahr, daß die unterhaltene und befriedigte Neugier, das Wohlgefallen an einer wunderbaren und doch natuͤrlichen Begebenheit, die Erwartung, in die wir wegen des Erfolgs gesezt werden, die Grund- lage von dem Vergnuͤgen ausmache, das wir waͤhrend der Anhoͤrung des Stuͤcks genießen, und daß das Vergnuͤgen der Ruͤhrung und des Un- uͤber das Interessirende. terrichts nur einzelne Theile der Zeit ausfuͤlle, die wir zu dieser Erlustigung bestimmen. Wißbegierde und Neugierde ist im Grunde Eins. Jene geht aufs Allgemeine, diese aufs Besondre; jene auf Wahrheiten, diese auf Fakta. Eine kann also die andre erklaͤren. In beiden Faͤllen entsteht der Reiz aus der Schwierigkeit, die Befriedigung aus der Aufloͤsung. Was thut die populaͤre Beredsamkeit, um allgemeine Materien interessant vorzutragen? Außer der Klarheit, der Ordnung im Vortrage, von welcher im Anfange dieser Abhandlung gere- det worden, und welche macht, daß der Leser ohne Muͤhe und in der kuͤrzesten Zeit die Begriffe faßt, die der Schriftsteller gehabt hat, bleibt in der Methode nichts uͤbrig, als eine Art von Ver- wickelung und Aufloͤsung, durch die eine Unter- suchung Leben erhaͤlt. Der Schriftsteller muß zu- erst die Schwierigkeiten zeigen, sie in ihrem groͤß- ten Lichte darstellen, und dann diese heben. Der vorzuͤgliche Reiz, den die Mathematik fuͤr ihre Kenner hat, ruͤhrt vornehmlich davon Einige Gedanken her, daß in ihr mehr, als in andern spekulativen Wissenschaften, Aufgabe und Aufloͤsung, die Schwierigkeit und die Hebung derselben, sich deut- lich von einander unterscheiden. 2. Aber worinne besteht die Verwickelung? Die Ueberwindung großer Schwierigkeiten ist es allemal, was den großen oder den merkwuͤrdigen Mann zeigt. Diese muͤssen also in jeder Bege- benheit vorkommen, welche interessiren soll. Aus diesen entsteht die eigentliche Verwickelung, sobald dieselben, in einen kleinen Zeitraum zusammenge- draͤngt, sich schnell wieder aufloͤsen sollen. Da- her finden wir in der Epopee, wo die Erzaͤhlung Zeit und Raum hat, zwar allemal große Hinder- nisse, widrige Zufaͤlle, feindliche Anschlaͤge, Ge- fahren, die den Muth oder die Weisheit des Hel- den aufbieten: aber weil diese Schwierigkeiten sich nicht auf Einen Punkt vereinigen, weil sie nicht auf einmal sich verlieren: so ist Verwicke- lung, Intrigue im engern Verstande, nicht die- sem Gedicht eigen. Auf dem Theater ist die Zeit durch die Dauer der Vorstellung eingeschraͤnkt. uͤber das Interessirende. Die Zufaͤlle, deren nicht viele seyn koͤnnen, muͤs- sen sich mehr zusammendraͤngen; der Knoten muß also verwickelter werden, die Schlingen desselben durchkreuzen sich mehr. Die Vollkommenheit liegt auch hier in der Mitte. Eine Verwickelung, wo die Zufaͤlle zu sehr gehaͤuft, zu kuͤnstlich durch einander ver- schlungen werden, ist schwer zu fassen, wird un- wahrscheinlich, und verwirrt, anstatt zu interes- siren. Eine allzueinfache Handlung, wo jede Ursache ihre gewoͤhnliche vorhergesehene Wirkung thut, und durch keine entgegenwirkende in dem Laufe ihrer Erfolge aufgehalten wird, kann zwar durch das Sittliche der Charaktere und die Wahr- heit des Dialogs belebt werden, aber doch nie ein starkes Interesse, besonders in einem laͤngern Werke, hervorbringen. Die Einheit des Interesse, die alte und oft wiederholte Vorschrift der Kunstrichter, ist um zweyer Ursachen wegen nothwendig. Unsere Schwachheit ist die eine. Wir koͤnnen nicht viel Sachen auf einmal fassen, wir koͤnnen nicht an E e Einige Gedanken vieler Menschen Schicksale zu gleicher Zeit Theil nehmen. Es gehoͤrt eine gewisse Beschaͤftigung des Gemuͤths dazu, sich in eines andern Stelle zu versetzen; und diese kann man nur auf Einen Gegenstand auf einmal verwenden. Die Nothwendigkeit einer Verwickelung ist die zweyte. Wenn die Handlungen, die Bege- benheiten zwoer Personen zu gleicher Zeit neben einander fortlaufen: so wird entweder keine ver- wickelt seyn koͤnnen, und alsdann wird unsere Aufmerksamkeit von keiner gereizt; oder sie sind es beide, und alsdann wird sie ermuͤdet. Es ist seltsam, daß die Art der Imagination, die zu Erfindung wunderbarer Verwickelungen gehoͤrt, die, welche den poetischen Stoff schaft, in ver- feinerten Zeiten weniger gemein ist, als in rohen, und daß daher die Dichter des erstern Zeitraums oft genoͤthigt sind, ihren Stoff aus den Erfin- dungen des leztern zu nehmen, und sich lieber bemuͤhen, ihn von den Ungereimtheiten zu saͤu- bern, die ihm ankleben, als ihn durch ganz neue Erfindungen zu ersetzen. Die Dichter des er- uͤber das Interessirende. leuchteten Griechenlands nahmen alle ihre Sub- jekte aus der Mythologie; und noch bis auf die spaͤteste Zeit arbeitete der Witz und der Scharf- sinn ihrer besten Koͤpfe, die Geschichten zu ver- schoͤnern, die die wilde Einbildungskraft ihrer Vorfahren erfunden hatte. Die neuern Dichter haben die Romane und die Schauspiele der mitt- lern Zeiten auf gleiche Weise benutzt. Ist es, daß die Einbildungskraft ganz zuͤ- gellos, an keine Regeln gebunden seyn will, wenn sie eigentlich erfindet, und daß, um sich an Richtigkeit und Ordnung zu binden, sie schon einen Plan, wenn auch nur einen Chaotischen, vor sich haben muß? Es giebt eine Neubegierde, unbekannte selt- same Dinge zu erfahren. Es giebt eine andre, bekannte Dinge erklaͤrt, mit unbekannten oder großen in Verbindung gesezt zu sehen, oder ih- ren Ursprung zu erfahren. Dieser Art des In- teresses haben sich die alten Dichter, und vor- zuͤglich Virgil bedient, indem sie fast alle Perso- nen, die sie auffuͤhren, aus der Fabel und Tradi- E e 2 Einige Gedanken tion hernehmen und mit der bekannten Ge- schichte in Verbindung bringen, indem sie lauter solcher Begebenheiten erwaͤhnen, die auf die Er- bauung bekannter Staͤdte und den Ursprung großer historischer Erfolge eine Beziehung haben. An keinem Orte landet Aeneas, wo nicht Staͤd- te oder Gegenden, von ihm und seinen Begleitern benannt, noch zu Virgils Zeiten vorhanden wa- ren; er thut keinen Schritt, der nicht Spuren und Denkmaͤler zuruͤck laͤßt, die noch die Leser Virgils erkennen konnten. Die ganze Liebesge- schichte der Dido ist zugleich die Veranlassung des Streits zwischen Rom und Carthago. Aus eben dem Grunde ist das Interesse zu erklaͤren, das wir an Nachahmungen nehmen; ein Interesse, das von den alten Dichtern mit Vorsatz und offenbar gesucht worden, anstatt von ihnen vermieden oder versteckt zu werden. Die griechischen Dichter giengen geflissentlich auf den Fußstapfen des Homers; die Roͤmischen ge- flissentlich auf den Fußstapfen der Griechen. — Es ist allerdings ein Vergnuͤgen, eine alte Ge- uͤber das Interessirende. schichte wieder verjuͤngt zu sehen; Zuͤge aus ei- nem verehrten alten Schriftsteller in einem unge- wohnten Glanze wiederzufinden; und ihnen viel- leicht zum erstenmale aus Empfindung den Bey- fall zu schenken, den wir ihnen bisher nur des Ansehns und des Alterthums wegen vergoͤnnt hatten. So wie die alten Dichter von Seiten des Reichthums und der Mannichfaltigkeit des Stoffs, unter dem sie zu waͤhlen hatten, einge- schraͤnkter waren als die unsrigen, indem ihnen so viel Jahrhunderte von Geschichten, merkwuͤr- digen Personen und Kenntnissen fehlten: so wa- ren sie auf der andern Seite beguͤnstigt durch die allgemeinere Bekanntschaft, in welcher die gerin- gere Anzahl von Personen, Begebenheiten und Schriften stand, aus welchen sie den Stoff oder wenigstens den Schmuck ihrer Gedichte hernah- men. Ihre Schilderungen hatten nicht immer das Verdienst der Neuheit, aber sie hatten das Verdienst, geschwinder verstanden und durch- gaͤngiger gefuͤhlt zu werden. Personen, Oerter, E e 3 Einige Gedanken Fluͤsse, nichts war den Lesern ganz fremde. Selbst ihre Anspielungen giengen weniger verlo- ren. Die naͤmliche Art der Neubegierde, die das Bekannte so gerne unter fremden Gegenstaͤn- den wieder findet, macht auch in den Epischen Gedichten, die Vorhersagungen solcher Begeben- heiten, die zu oder kurz vor den Zeiten des Dich- ters und seiner Leser vorgegangen, so interessant. Alle Dichter, die nach dem Virgil gekommen sind, haben sich der fruchtbaren Materie bemaͤchtigt, die ihnen dieser, nach dem Homer, in Aeneas Hinabfahrt in den Orkus angezeigt hatte. Alle haben auf eine oder die andre Weise, mit mehr oder weniger Schicklichkeit, die Geschichte ihrer Zeit und ihrer Nation weissagen lassen. Ich beschließe diese Zusaͤtze mit der Bemer- kung eines Maasstabes, wornach der Schrift- steller zum voraus muthmaßen kann, welcher Theil seines Werks seine Leser am meisten interes- siren wird. Grade derjenige, der ihn selbst, da er schrieb, am meisten interessirt hat; bey dem er die meiste Lust, die groͤßte Leichtigkeit, und uͤber das Interessirende. das vollste Gnuͤge fand. Gedanken, die andern lebhaft werden sollen, muͤssen sich uns, zu der Zeit, da wir sie hervorbrachten, mit vorzuͤglicher Klarheit dargestellt haben. Und wenn die Hel- ligkeit der Begriffe den Leser vergnuͤgen soll, bey dem sie doch durch die Verschiedenheit seiner Denkungsart etwas verdunkelt wird, wie sollte sie den Schriftsteller gleichguͤltig gelassen haben, bey dem sie in ihrem ersten Lichte strahlt! Wenn Begebenheiten zeitvertreibend oder ruͤhrend sind fuͤr diejenigen, die sie stuͤckweise und nach und nach erfahren, wie vielmehr muͤssen sie denjeni- gen ergoͤzt oder geruͤhrt haben, der sie auf ein- mal uͤbersah, und ihre Theile selbst ausbildete! Die Aufmerksamkeit des Scribenten ist alle- mal groͤßer, als die Aufmerksamkeit auch des be- sten Lesers. Was dieser nicht entwischen und doch nicht anstrengen soll, muß also jene noch weit staͤrker und mit groͤßrer Leichtigkeit gefes- felt haben. E e 4 Ueber den Einfluß einiger Ueber den Einfluß einiger besondern Um- staͤnde auf die Bildung unserer Spra- che und Litteratur. Eine Vorlesung . Aus dem vierzehnten Bande der Neuen Bibliothek der schoͤnen Wissenschaften und der freyen Kuͤnste. Meine Herren , W ann wir die Faͤhigkeiten eines Menschen kennen, um zu wisseu, was er thun kann, und seine besondern Umstaͤnde, um zu wissen, was er zu thun Gelegenheit und Bewe- gungsgruͤnde gehabt: so koͤnnen wir ungefaͤhr voraussehen, welche Werke er unternehmen wird; wenigstens koͤnnen wir diejenigen, die er bereits geliefert hat, uns erklaͤren. Eben so, wie mit einzelnen Menschen, verhaͤlt es sich auch mit ganzen Nationen. Was man die Litteratur ei- Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. nes Volks nennt, ist der Inbegriff der Werke, die es in seiner eigenen Sprache besizt: und die Gestalt derselben haͤngt theils von dem Eigen- thuͤmlichen in dem Geiste der Nation, theils von den besondern Umstaͤnden ab, durch welche die- ser Geist seine Richtung gegen gewisse Gegenstaͤn- de, und mehr Huͤlfsmittel zu der einen als zu der andern Gattung erhalten. Das Eigen- thuͤmliche in dem Geiste der Nation selbst ist aus- nehmend verborgen; es ist schwer, das Gemein- schaftliche in der Denkungsart eines Volks aus einer so unendlichen Menge von einzelnen Ver- schiedenheiten herauszubringen: und da man nur immer eine sehr kleine Anzahl von Faͤllen vor sich hat, so kann man fast nie einen allge- meinen Schluß machen, der nicht durch gegen- seitige Beyspiele wankend wuͤrde. Die beson- dern Umstaͤnde aber, unter welchen die Aufklaͤ- rung eines Volks sich angefangen, liegen mehr vor Augen, und lassen sich mehr außer Streit setzen: oder wann auch hier eine so vielfaͤltige Verbindung mannichfach wirkender Ursachen statt E e 5 Ueber den Einfluß einiger faͤnde, daß die Geschichte sie nicht alle angeben, noch die Philosophie sie alle errathen koͤnnte; so giebt es doch darunter einige so merkliche und so maͤchtige, daß sich ihr Einfluß weder verkennen, noch auch unrecht verstehen laͤßt. Sie sehen leicht, meine Herren, daß diese Umstaͤnde von doppelter Art sind; daß sie ent- weder außer der Nation, von der die Rede ist, oder in ihrer eigenen innerlichen Verfassung lie- gen. Zu jenen gehoͤrt vornehmlich die Zeit, in der eine Nation an Wissenschaft uͤberhaupt, und besonders an ihrer eigenen Sprache, Geschmack gewinnt, und dann die Beschaffenheit der Litte- ratur bey andern Nationen, die vor ihr aufge- klaͤrt wurden, und ihr Licht ihr mittheilten. Was war es fuͤr ein Zeitpunkt, wo die Bar- barey sich zuerst in Deutschland zu zerstreuen an- fieng? Ein spaͤterer allerdings, als bey den mit- taͤglichen und westlichen Voͤlkern. Italien ist das erste und fast das einzige Land, das zu eben der Zeit, wo es die Meisterstuͤcke der alten Spra- chen mit Muͤhe wieder kennen lernte, zugleich Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. Meisterstuͤcke in seiner eigenen schuf. Das Licht, das dort aufgegangen war, kam in nicht gar langer Zeit darauf auch zu uns; aber es war ein fremdes Feuer, das uns nur erleuchtete, ohne zugleich unser eigenes anzuzuͤnden. Wir lasen und lernten, ja wir schrieben so gar lateinisch und griechisch; viele gut, einige so gar vortref- lich: aber doch konnte das noch lange keine Lit- teratur geben, keine uns eigene Litteratur, die ein treues Gemaͤlde unsers besondern Geistes, unserer unterscheidenden Denkungsart gewesen waͤre. Die Gelehrten machten in diesem Jahr- hunderte gleichsam eine eigene, unter die andern zerstreute Nation aus, die allenthalben ungefaͤhr dieselbige Denkungsart, denselbigen Ton hatte: und zwar deswegen, weil sie durchgaͤngig auf einerley Art war gebildet worden. Da sie ihre eigene, dem uͤbrigen Theil des Volks unver- staͤndliche Sprache redeten und schrieben; so hat- ten sie zwar unter sich selbst eine naͤhere, mehr unmittelbare Gemeinschaft, als die Gelehrten unsers Jahrhunderts: aber auf die Uebrigen der Ueber den Einfluß einiger Nation hatten sie wenig Einfluß; auch nahmen sie eben so wenig von der besondern Denkungs- art derselben und der eigenthuͤmlichen Wendung ihres Geistes an. Denn sie schrieben nicht al- lein, sondern sie faßten auch ihre Ideen in einer fremden Sprache. Was damals Luther fuͤr die deutsche Spra- che gethan hat, darf ich Ihnen, meine Herren, nicht sagen. Es ist wahr, seine Sorgfalt, sei- ne Richtigkeit im Ausdrucke, seine Genauigkeit in der Wortfuͤgung haben unsre Grammatik und unser Woͤrterbuch in einer groͤßern Reinigkeit er- halten, vielleicht auch vollstaͤndiger gemacht, als es ohne ihn wuͤrde geschehen seyn: aber bey alle dem haben doch seine Werke unsre Litteratur nicht angefangen; sie haben es uns nicht leichter ge- macht, Werke der Gelehrsamkeit oder Schriften zum Vergnuͤgen in unserer Sprache zu liefern. Wer diese hervorbringen wollte, hatte noch alles zu thun; er mußte noch selbst die Ausdruͤcke, die Wendungen, die Zierrathen aus dem zer- streuten Reichthume der Sprache zusammenlesen; Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. mußte noch selbst unbestimmte Woͤrter bestimmen, oder wenn er fuͤr seine Ideen gar keines hatte, bald durch Zusammensetzung und Abaͤnderung neue finden, bald sich dadurch helfen, daß er fremde entlehnte; mußte noch selbst neue Verbin- dungen, neue Wendungen wagen, wo die Spra- che zu ungelenk war: kurz, er mußte sich seinen Styl noch erschaffen. — Doch war das nach- folgende Jahrhundert in aller Absicht weit dunk- ler und barbarischer, als das, worinn Luther lebte. Man vergaß sein Bischen aͤchtes altes Latein uͤber den Zaͤnkereyen, zu welchen sich eine verderbte, mit spitzfuͤndigen Begriffen uͤberladene Latinitaͤt am besten schickte; und deutsch lernte man auch nicht. Mit einem Worte: man hatte eigentlich gar keine Sprache. In dieser Zwischenzeit, am Ende des vori- gen Jahrhunderts, machten unsre westlichen Nachbarn, die Franzosen, auf einmal ein ge- waltiges Aufsehen. Sie eroberten und schrie- ben: und wer durch die Pracht des Koͤnigs und den Muth der Truppen auf die Nation war auf- Ueber den Einfluß einiger merksam gemacht worden, der fand, wenn er naͤher mit ihr bekannt ward, Schriftsteller und Kuͤnstler, die Hochachtung und Bewunderung verdienten. Die Veraͤnderung war so ploͤzlich, so groß, daß sie nothwendig so wohl die Fran- zosen selbst, als auch ihre Nachbarn in eine Art von Betaͤubung setzen mußte, in welcher beide nicht wußten, was sie von sich und was sie von den andern zu halten haͤtten. Jene glaubten getrost, daß sie die erste Nation auf der Welt waͤren, und in der That hatten sie einigen An- spruch auf diesen Namen. Die deutsche Nation war damals noch ein so zusammengeseztes, ungleichartiges Ganze, daß das Urtheil uͤber jene sehr verschieden ausfiel. Alle, die durch ihren Rang oder ihre Theilneh- mung an den oͤffentlichen Staatsgeschaͤften den Glanz dieses erobernden und witzigen Volks mehr in die Naͤhe sahen, und ihn mit der traurigen Dunkelheit ihrer eigenen Nation verglichen, wel- che nichts als Schulgelehrte aufweisen konnte; die alle beeiferten sich, an diesem Glanze Theil Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. zu nehmen, suchten sich, so viel als moͤglich, dieser fremden Nation einzuverleiben, sich von ihrer eigenen durch Sprache und Sitten zu un- terscheiden: und so waren sie herzlich zufrieden, daß die Deutschen von den Franzosen verachtet wurden, weil sie selbst glaubten, halbe Franze- sen zu seyn. — Unsre Gelehrten hingegen, die dem Spiel sehr in der Ferne zusahn, ließen sich noch wenig durch diese Verachtung der Fremden und ihrer eigenen Landsleute ruͤhren, oder sie troͤsteten sich durch eine gegenseitige innige Ver- achtung der elenden Taͤndeleyen eines Volks, bey welchem, nach ihrer Meynung, die wahre Ge- lehrsamkeit auszusterben anfing. Von dieser Seite also war es nicht zu hoffen, daß Ehrgeiz und Eifersucht sehr rege werden und deutsche Schriftsteller mit den franzoͤsischen um den Preis kaͤmpfen sollten. Unterdessen verbreitete sich der Geschmack an dem Auslaͤndischen in Sprache, Sitten und Schriften von den Großen bis zum wohlhabenden Buͤrger, und endlich bis zu der Klasse von Leuten, die zwischen den Gelehrten Ueber den Einfluß einiger und dem Weltmanne in der Mitte stehen. Be- gierde, den Großen zu gefallen und sein Gluͤck zu machen, Theilnehmung an ihrer Arbeit in ge- lehrten Bedienungen, Ehrgeiz, ihres Umganges gewuͤrdiget zu werden, Handel mit den Franzo- sen, die die nuͤtzlichen Kuͤnste zugleich mit den an- genehmen und schoͤnen zur Vollkommenheit brach- ten: alles das trug zu der allgemeinen Ausbrei- tung dieses fremden Geschmacks bey. Nun dachten endlich auch wir Deutschen daran, daß wir eine Sprache haͤtten, die sich schreiben ließe; aber da wir hieran nicht eher dachten, als bis wir schon von den Schoͤnheiten einer fremden Sprache geruͤhrt, schon von der Politur fremder Schriftsteller eingenommen waren, so konnte es gar nicht anders seyn, wir mußten ihnen nach- ahmen, auch ohne die Absicht zu haben. Lassen Sie uns doch sehen, meine Herren, wie weit ungefaͤhr diese Nachahmung sich erstreckt hat. Man muß hier die Gestalt unsrer Wissen- schaften und den Charakter unsrer jetzigen Schriftstellersprache wohl unterscheiden. In Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. jenen steckt, wenn ich so reden darf, mehr latei- nischer Geist, in dieser hingegen mehr franzoͤsi- scher und englischer. Beide zusammen machen eine Mischung, die, wenn man sie recht aus ein- ander scheiden koͤnnte, den Zustand unsrer Koͤpfe und unsrer Schriften am besten erklaͤren wuͤrde. Wissenschaften und Philosophie fiengen nicht erst da bey uns an, wo wir anfiengen, deutsche Schriftsteller zu haben. Wir hatten schon einen großen Vorrath von Gelehrsamkeit, und zur Philosophie hatten wir viele und uns eigene An- lage. — Den Stoff dazu hatten wir, wie alle europaͤische Nationen, von den Alten, theils unmittelbar durch ihre eigene Werke, theils mit- telbar durch die unreinen Kanaͤle der neuern scholastischen Theologie und Philosophie bekom- men. Sokrates, Aristoteles und Cicero, sammt dem guten Thomas Magister, haben vielleicht auf die Art und Weise, wie wir die Wissenschaften lehren, auf die Abtheilung und Hauptoͤrter unserer Systeme, auf die Fragen, die F f Ueber den Einfluß einiger wir vorzuͤglich untersuchen, die Schwierigkeiten, die wir aufloͤsen, und die Streitigkeiten, die sich immer von neuem bey uns entspinnen, weit mehr Einfluß, als wir uns vorstellen moͤgen. Aber nun unsre eigene Sprache. Die Un- terscheidung dessen, was in ihr schoͤn, edel, an- staͤndig seyn sollte, die Beeiferung, sich uͤber al- lerhand Arten von Gegenstaͤnden in ihr auszu- druͤcken, und gut auszudruͤcken; diese hat sich erst angefangen, als sich das jetzige Jahrhundert anfing. Und woher haben wir da unsre Regeln und unsre Muster genommen? — Die alten Sprachen sind von der unsrigen zu entfernt, als daß sie viel zu ihrer Ausbildung beytragen koͤnn- ten: uͤberdieß sind die, welche deutsch schreiben, und gut zu schreiben sich Muͤhe geben, gerade nicht die groͤßten Kenner der alten Sprachen. Es war also ganz natuͤrlich, daß die schon ver- feinerte Sprache unsrer Nachbarn, die wir alle eher gelernet hatten, ehe wir in der unsrigen arbeiteten, und deren eingebildete oder wahre Vortreflichkeit uns zuerst gereizt hatte, auf eine Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. Verbesserung unserer eigenen zu denken; daß, sa- ge ich, diese unsern Ausdruck oft ohne unsern Vorsatz bildete und bestimmte. Das Franzoͤsi- sche kam zuerst; das Englische folgte. Man merkt den Uebergang von jenem zu diesem gar deutlich in unsern Schriftstellern. Unser Styl ist in der neuesten Zeit gedrungener, koͤrnichter, reicher geworden, aber auch oft gewagter und zuweilen ausschweifender. Man druͤckt seine Gedanken vielleicht freyer und eigenthuͤmlicher aus, und bey guten Koͤpfen gewinnt der Leser dabey allemal: aber man verzeiht sich auch selt- same Zusammensetzungen von Woͤrtern, unge- woͤhnliche Redensarten, und das artet dann bey schlechten Schriftstellern sehr oft ins Sinnlose und Abentheuerliche aus. Kurz, diese Art von Freyheit hat, so wie jede andere, ihren Vortheil und ihren Nachtheil. Die guten Schriftsteller werden dadurch vortreflich und die mittelmaͤßigen elend. Vielleicht, meine Herren, halten Sie es der Muͤhe werth, daß ich von dem Einflusse dieser F f 2 Ueber den Einfluß einiger fremden Litteratur auf die unsrige noch etwas genauer rede, und zwar besonders, insofern er sich auf die Sprache erstreckt hat. Eine sich bildende Sprache nimmt von einer andern entweder einzelne Woͤrter, oder Wendun- gen, oder eine gewisse allgemeine Farbe an, die sich eher empfinden, als deutlich erklaͤren laͤßt. Einzelne Woͤrter kann eine Sprache, wie die un- srige, eigentlich von keiner fremden borgen, die gar nicht mit ihr verwandt ist, die ihren Woͤr- tern ganz andre Endungen giebt, sie mit ganz andern Toͤnen ausspricht, sie nach ganz andern Gesetzen abaͤndert. Und doch hat sie dergleichen nicht wenige aus der franzoͤsischen und englischen heruͤbergenommen; oft, weil sie wirklich zu arm war, noch oͤfter aber, weil die Schriftsteller ih- ren ganzen Reichthum nicht kannten, oder aus Traͤgheit nicht erst lange durchsuchen wollten. Armuth ist es in einem doppelten Falle: einmal, wenn fuͤr die Sachen, die wir sagen wollen, ganz und gar keine Woͤrter in der Sprache vor- handen sind, entweder weil die Sache bey der Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. ersten Bildung der Sprache noch gar nicht da, oder weil sie der Nation noch nicht bekannt war; und dieser Fall koͤmmt in allen Sprachen vor, wo sich jeder, der von unbekannten Dingen zum erstenmal spricht, des Rechts bedient, ein neues auslaͤndisches Wort zu brauchen: zweytens, wenn zwar die Sprache ein Wort hat, die Sache im Ganzen auszudruͤcken, aber keins, das edel und zu dem jeztgewaͤhlten Tone der Schreibart passend waͤre, oder keins, das zugleich alle Ne- benbegriffe ausdruͤckte, die wir eben jezt zu unse- rer besondern Absicht glauben noͤthig zu haben. Dieses leztere ist es, was so viel fremde Woͤrter auch in unsre guten Schriftsteller gebracht hat. In der That muß der Fall bey einem guten Schriftsteller oͤfter vorkommen, weil bey diesem immer die Ideen genauer bestimmt sind, und er mehr auf die kleinen Schattirungen Acht hat, die ganz gleichscheinende Woͤrter noch unterschei- den. Schreibt er besonders uͤber eine Materie, worinn die Auslaͤnder viel gearbeitet und viel von ihm sind gelesen worden; so wird sich ihm F f 3 Ueber den Einfluß einiger mancher Begriff gar unter keinem andern Worte, als unter dem fremden darbieten; mancher wird ihm nicht genau und stark genug gesagt scheinen, so bald er nicht mit eben demjenigen Worte ge- sagt wird, womit er zuerst ihn bekommen hat. Oft ist es bloße Einbildung, wenn uns das nicht mehr vollguͤltig duͤnkt, was durch den lan- gen Gebrauch unscheinbar geworden, obgleich das Fremde und Neugepraͤgte in der That von keinem groͤßern innern Gehalte ist. Oft aber ist es wahre Empfindung, und dann ist dessen Ohr nicht so wohl zaͤrtlich, als verzaͤrtelt, der weni- ger ein fremdes Wort, als eine halbgesagte, uͤbel passende Idee dulden kann, weniger von der feinen Richtigkeit in den Gedanken, als von ei- ner pedantischen Reinigkeit der Sprache geruͤhrt wird. Eine Sprache, wenn sie fuͤr alle Klassen von Werken bequem seyn soll, muß einerley Sache auf mehr als einerley Art, nach den verschiednen Gattungen der Materie und den verschiedenen Absichten des Schriftstellers, ausdruͤcken koͤnnen. Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. In diesen Gattungen der Schreibart giebt es un- zaͤhlige mittlere Stufen: doch lassen sie sich uͤber- haupt auf dreye bringen. Diese sind die eigent- lich poetische und malerische, die populaͤre und dialogische, und die didaktische. Sehen wir unsere Sprache an, so finden wir sie an Woͤrtern der ersten Art reicher, als viel- leicht irgend eine andre. Namen, die die Dinge oder die Veraͤnderungen von ihrer sinnlichsten Seite vorstellen, die so zu sagen, nur die sicht- bare Erscheinung der Sache, nicht ihre innre Na- tur ausdruͤcken, solche Namen haben wir in Men- ge: und oft sind wir auch im Stande, neue zu machen, ohne daß wir der Sprache Gewalt thaͤ- ten. Diesen Reichthum unsrer Sprache hat wohl niemand besser gekannt, besser genuzt, als Klop- stock und Geßner, obgleich in zwo ganz verschie- denen Arten. Wie weit hier die franzoͤsische hin- ter der unsrigen bleibe, das zeigen ihre eigenen Originalwerke, die immer, so bald es auf Schil- derung der sichtbaren Natur ankoͤmmt, zu allge- mein sind, und der Imagination das Bild mit F f 4 Ueber den Einfluß einiger zu wenig Bestimmung, zu wenig Lebhaftigkeit vormalen; noch mehr aber zeigen es ihre Ueber- setzungen unsrer deutschen Dichter, besonders der beiden, die wir oben genannt haben. Klopstock verliert im Franzoͤsischen ganz unendlich. Tau- send im Deutschen genau bestimmte Woͤrter wer- den dort zu allgemeinen, denen die bedeutungs- volle Nuͤance fehlt; eine unzaͤhliche Menge der malerischsten, ausdruckvollsten Beiwoͤrter, die aus der schwachen dunklen Ferne dem Auge der Imagination das Bild naͤher und in die rechte Lage ruͤckten, geht zum Theil ganz verloren, zum Theil werden sie durch solche ersezt, die weit ab- strakter und eben deswegen weit leerer sind, zum Theil werden sie mit einem Schwalle von Woͤr- tern umschrieben, worunter die ganze Idee er- stickt. Oder wenn man die Uebersetzung der Mes- siade fuͤr zu unvollkommen haͤlt, um sie bey der Vergleichung zum Grunde zu legen; so vergleiche man die Uebersetzung Geßners, die von so aus- gemachter und vorzuͤglicher Guͤte ist, mit dem Originale. Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. Was Woͤrter im gesellschaftlichen Style be- trift, so wie er im Lustspiele, in der Erzaͤhlung, in andern zur Ergoͤtzung geschriebenen Werken vorkoͤmmt, so moͤchten wir sie in hinlaͤnglicher Anzahl haben; nur daß die Grenze zwischen dem Niedrigen, dem Komischen, dem Vertraulichen u. s. w. weniger genau bestimmt ist, oder oft das alte sehr ausdruͤckende Wort veraͤchtlich und poͤbelhast geworden, ohne daß ein andres an sei- ne Stelle gekommen. Bey einigen solcher Woͤr- ter ist alle Rettung verloren; besonders wenn man sich einmal bey ihnen an gewisse unanstaͤndi- ge oder ekelhafte Nebenbegriffe gewoͤhnt hat: bey andern ist die Rettung noch moͤglich, wenn sich ihrer ein Schriftsteller vom ersten Range annimmt. Ein Mann, von dem schon die ganze Nation uͤberzeugt ist, daß er mit der feinsten Auswahl und sorgfaͤltigsten Ueberlegung schreibt; wenn so ein Mann ein mit Unrecht verachtetes Wort wie- der gebraucht: so wird man vielleicht in dem er- sten Augenblicke anstoßen; aber bald wird man auf Gruͤnde zu seiner Entschuldigung denken; F f 5 Ueber den Einfluß einiger man wird das Wort an Stellen hingesezt finden, wo es so eigenthuͤmlich und passend ist, daß man es fuͤr unentbehrlich halten muß; von dem An- sehen dieses Mannes unterstuͤzt, werden es an- dre Schriftsteller ihm nachgebrauchen, und bald werden wir eben so gewohnt seyn, es zu hoͤren, als ob wir uns niemals davon entwoͤhnt haͤtten. Auf diese Art hat uns Ramler und Leßing schon manches Wort, manchen Ausdruck gerettet, und andre Schriftsteller von gleichem Ansehen, wie sie, sollten es auch thun. Die meiste Unbequemlich- keit findet man, wenn man Gespraͤche schreibt. Man moͤchte so gerne die Sprache rein erhalten, so gerne alles das deutsch sagen, was wirklich deutsch gesagt werden kann; und doch moͤchte man auch der Nachahmung das voͤllige Ansehen der Natur geben; man moͤchte gerne die Redens- arten beybehalten, wie sie im Gespraͤche wirklich gehoͤrt werden. Wie will man aber beide End- zwecke vereinigen, wann sich von den ungluͤck- lichen Zeiten her, wo man weder Franzoͤsisch noch Deutsch, sondern ein Gemengsel von beiden Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. Sprachen redete, noch eine so große Menge frem- der Woͤrter und Redensarten, besonders unter den Vornehmen, erhalten hat, wofuͤr schlechterdings kein gleichgeltender deutscher Ausdruck da ist, der gemein und gebraͤuchlich waͤre? Diese Unart hat indessen an den meisten Orten schon ziemlich nach- gelassen; man bedienet sich schon weit mehr, als vordem, der Ausdruͤcke der Muttersprache: und wo diese noch nicht gewoͤhnlich sind, da hat der Schriftsteller das Recht, sie gewoͤhnlich zu machen. Er bildet, wenn er nur sonst vortreflich ist, die Sprache des Umgangs, wie die Sprache der Buͤ- cher; und schreibt der Nation vor, wie sie reden soll, wenn er ihr nicht nachschreiben kann, wie sie wirklich redet. Wenn es den Deutschen in irgend einer Gattung der Schreibart an Woͤrtern fehlt, so fehlt es ihnen in der didaktischen Gattung. Daher koͤmmt es, daß unsre Philosophen, oder die, welche auch in Werken anderer Art gerne philosophiren, entweder immer in Metaphern schreiben, oder eine Menge fremder Woͤrter Ueber den Einfluß einiger gebrauchen. Hier nun hat die franzoͤsische und englische Sprache einen augenscheinlichen Vorzug. Da unsere Wissenschaften, wie ich bereits gesagt habe, von den Lateinern zu uns gekommen sind, oder uns durch lateinisch ge- schriebene Buͤcher sind uͤberliefert worden; so sind die meisten Woͤrter, die wir in den ab- strakten Theilen der Wissenschaften noͤthig ha- ben, lateinisch. Diese haben nun natuͤrlicher Weise in Sprachen, die von der lateinischen abstammten, leicht koͤnnen aufgenommen wer- den: und die Franzosen, die sonst fuͤr die Rei- nigkeit ihrer Sprache so sehr besorgt sind, neh- men in dieser Art alle Tage noch mehr auf. Wir, die wir eine eigne Stammsprache ha- ben, konnten diese Woͤrter durchaus nicht in deutsche verwandeln. Wir mußten also deut- sche suchen oder machen, die mit jenen einer- ley Ideen bezeichnen sollten. So haben wir uns freylich zu helfen gesucht: aber wer in dieser Gattung schreibt, und noch mehr, wer darinne uͤbersezt, der wird finden, daß fuͤr eine Menge Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. von Begriffen immer nur Ein Wort vorhanden ist, wo die philosophische Genauigkeit deren meh- rere verlangt, und unsre Nachbarn auch wirklich deren mehrere haben. Dieß, meine Herren, sey genug von den ein- zelnen Woͤrtern gesagt. Das Zweyte, was eine Sprache von der andern entlehnen kann, sind Redensarten, gewisse Verbindungen von Woͤrtern, die schon ganze vollstaͤndige Gedanken bezeichnen; gewisse eigene Wendungen und Uebergaͤnge. Und hier ist es nun, wo unsre Sprache unstreitig sehr viel von ihren Nachbarinnen angenommen hat, und auch kuͤnftig noch annehmen wird, so wie wir uns mit neuen Nationen bekannt machen, oder neue Buͤcher lesen und bewundern werden. Wie weit darinne der Gebrauch gehe, und wo der Mißbrauch anfange; das ist auch hier, wie in allen andern Dingen, unendlich schwer zu bestim- men. Zum Ungluͤcke hilft das Eifern sehr we- nig, wenn auch der Mißbrauch augenscheinlich waͤre. Die Sprachen haben ihre Revolutionen, wie die Voͤlker, die sie reden; und diese Revolu- Ueber den Einfluß einiger tionen moͤgen nun zur Verbesserung oder Ver- schlimmerung gereichen, so werden sie demjenigen allemal Verderbnisse scheinen, der an die Neue- rungen noch nicht gewoͤhnt ist. Freylich wuͤrde unsre Sprache ganz anders seyn, wenn unsre Nation, als die erste an Kultur und Kuͤnsten, alles das aus sich selbst hervorgebracht haͤtte, was ihr jezt von andern ist uͤberliefert worden anders wuͤrde sie seyn, wenn die Griechen und Roͤmer so unsre Nachbarn waͤren, wie jezt die Franzosen und Englaͤnder; anders endlich, wenn die sprachverwandten nordischen Nationen ent- weder vor uns oder mit uns zu gleicher Zeit durch ihre Schriftsteller Aufsehen gemacht haͤtten. Viel- leicht, wenn bey der Sache ja etwas zu bedauern ist, so ist es dieß, daß wir gerade am meisten mit Voͤlkern in Verbindung gestanden, deren Sprache so wenig mit der unsrigen gemein hat, und uns niemals um diejenigen bekuͤmmert haben, die un- sre eigne aͤlteste Sprache oder einen Dialekt der- selben reden. Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. Unter der Menge besonderer Anmerkungen, die ich machen koͤnnte, will ich nur eine einzige machen, die mir vorzuͤglich wichtig scheint. Die franzoͤsische Sprache gebraucht lange nicht so viel Verbindungswoͤrter, als die unsrige; sie bringt die Ideen in keinen so genauen Zusammen- hang, als die unsrige. Dadurch hat sie eine abgerissene sentenzioͤse Schreibart veranlaßt, wor- inne man Satz auf Satz einzeln hinwirft, und es dem Leser selbst uͤberlaͤßt, sich die Verbindung hinzu zu denken. Wenn der Mann, der so schreibt, in der That ein buͤndiger Kopf ist, der sich an eine strenge und genaue Ordnung seiner Gedan- ken gewoͤhnt hat, so mag fuͤr einen auch denken- den Kopf in einer solchen Schreibart viel leichte und schmeichelhafte Beschaͤftigung, und mithin viel Reizendes seyn. Aber sobald sich ihrer ein nicht so buͤndiger Schriftsteller bedient, so leitet sie ihn ohne Unterlaß von dem geraden Wege sei- ner Ideen ab; sie fuͤhrt ihn in Versuchung, Saͤtze zusammenzuhaͤufen, die keine richtige Folge ma- chen: und dann verliert sich der Schriftsteller oft Ueber den Einfluß einiger voͤllig von seinem Ziele, scheint uns die scharf- sinnigsten Sachen zu sagen, und sagt uns im Grunde so viel als nichts. Die so geschriebenen schlechten Buͤcher sollten gar nicht uͤbersezt wer- den; die so geschriebenen guten Buͤcher sollte der Uebersetzer eben dadurch am meisten verdeutschen, daß er die wirklich vorhandene Verbindung der Ideen so viel als moͤglich angaͤbe; und keiner unsrer Originalautoren sollte der Sprache Gewalt thun, um sie eben so zerrissen und unzusammen- haͤngend in ihren Gliedern zu machen, als die franzoͤsische es geworden ist. Nichts ist einem guten Werke so wesentlich, als ein richtiger Gang und eine genaue Verbindung der Gedanken; und nichts an einer Sprache so schaͤzbar, als wenn sie durch ihr Genie diesen richtigen Gang und diese genaue Verbindung beguͤnstiget. Sie sehen, meine Herren, daß meine Mate- rie kaum angefangen, und nichts weniger als er- schoͤpft ist; ich kann Ihnen daher aus den uͤbri- gen Theilen nur einige zerstreute Gedanken vorle- Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. gen, deren Ausfuͤhrung ich mir aufs Kuͤnftige vorbehalte. Die Provinz, in welcher die guten Schrift- steller zuerst zum Vorscheine gekommen sind, und der Dialekt dieser Provinz muß nothwendig mit in Betrachtung gezogen werden, wenn man wis- sen will, warum unsre Denkungsart und unsre Sprache gerade diesen und keinen andern Schwung genommen haben? Waͤre die Dicht- kunst in Schwaben, wo sie aufzubluͤhen anfieng, zur voͤlligen Reife gediehen, so wuͤrde sich unser Geschmack ganz anders gewoͤhnt haben; wir wuͤrden uns unstreitig von dem, was gut deutsch heißt, von dem, was in den Ausdruͤcken edel oder laͤcherlich seyn soll, ganz andre Begriffe ma- chen, als jezt. — Alle Sprachen, die in gros- sen Reichen gesprochen werden, muͤssen Dialekte haben; aber nicht bey allen haben diese Dialekte gleiche Wirkung. Wenn jedermann, oder wenn wenigstens der Mann von Erziehung die Haupt- dialekte seines Landes versteht, wie das in Grie- chenland war, und noch jezt in Italien ist; wenn G g Ueber den Einfluß einiger nicht jede Provinz den Dialekt der andern durch- aus und absolut laͤcherlich findet; wenn der Athe- nienser, seines feinen und verwoͤhnten Ohrs un- geachtet, doch die Delikatesse und den Wohl- klang des ionischen Herodots nicht verkennt: so kann davon die Dichtkunst und Beredsamkeit Vortheil ziehen. Uns aber, bey denen jene Be- dingungen nicht statt finden, wuͤrde ein Dich- ter, wie Homer, der die verschiedenen Dialekte unsers Landes vereinigen wollte, nicht anders als abentheuerlich und abgeschmackt scheinen. Ueber den Mangel einer allgemeinen Haupt- stadt ist schon vielfaͤltig geklagt worden. Halb ist diese Klage gerecht, und halb ist sie unge- recht. Auf die Kuͤnste hat freylich eine allge- meine Hauptstadt einen sehr großen Einfluß; denn nur durch die gegenseitige Mittheilung der Einsichten und Erfindungen, und durch den Ehrgeiz, den die Nebenbuhlschaft erregt, koͤnnen die Menschen ihre Werke zur Vollkommenheit bringen; und bey den Kuͤnsten findet diese Mit- theilung anders nicht statt, als durch die Ge- Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. genwart und den Anblick. Zur Kultur der schoͤ- nen Wissenschaften ist es in gewisser Absicht nuͤtzlich, daß die Schriftsteller beysammen woh- nen, sich ihre Gedanken und Entwuͤrfe muͤndlich mittheilen, einer des andern Rath hoͤren, einer den andern entflammen und aufmuntern; aber so nothwendig ist es bey weitem nicht, als bey den Kuͤnsten. Es giebt hier schon Wege, wo- durch sich Kenntnisse und Geschmack auch in entfernte Gegenden verbreiten koͤnnen. Ja, vielleicht besaͤßen wir einige unsrer schoͤnsten Werke nicht, die sich durch den originellen Cha- rakter der einfaͤltigsten und liebenswuͤrdigsten Natur empfehlen, wenn unsere Schriftsteller nur dem uͤppigen Publikum einer allgemeinen Haupt- stadt haͤtten gefallen wollen, und der gekuͤnstelte Ton der vornehmen Welt einmal Mode gewor- den waͤre. — Wer am meisten Recht hat, uͤber den Mangel einer Hauptstadt zu klagen, das ist der theatralische Dichter. Denn dieser vermißt damit ein gebildetes, bestimmtes, uͤberall bekann- tes Publikum, dessen Sitten er kopiren und das G g 2 Ueber den Einfluß einiger ihn hinlaͤnglich belohnen koͤnnte; er vermißt eine Buͤhne, die reich genug waͤre, alle guten Schau- spieler der Nation an sich zu ziehen, und eben da- durch vollkommen genug, ihn uͤber das Praktische seiner Kunst zu belehren, und ihm Muth zur Ue- berwindung ihrer unzaͤhligen Schwierigkeiten zu geben. Es scheint, als wenn es unsern Schrift- stellern bisher noch an der Beharrlichkeit gefehlt haͤtte, lange Zeit an einem Werke im Verbor- genen zu arbeiten, und viele Jahre lang einen weitlaͤuftigen Plan zu verfolgen, ohne die Frucht des Ruhms von der Bekanntmachung desselben zu genießen. Und doch sind die Werke der Montesquieu und der Ferguson nur auf diese Weise entstanden. Eine Hauptursache davon ist wohl die, daß bey den meisten unsrer jungen Koͤpfe der Ruf, den sie als Schriftsteller suchen, bloß das Mittel seyn soll, ihr Gluͤck zu ma- chen. Freylich koͤnnen sie alsdann nicht genug eilen, diesen Ruf zu erhalten; und es waͤre sehr Umstaͤnde auf die Bildung ꝛc. unnatuͤrlich, wenn sie nicht mit einer kleinern Vollkommenheit ihrer Werke zufrieden waͤren, wo- fern dieselben nur gut genug sind, Leute, die ihre Umstaͤnde verbessern koͤnnen, auf sie aufmerksam zu machen. Man klagt daruͤber, daß unsre Großen un- sere Buͤcher nicht lesen, und man hat Recht, daruͤber zu klagen. Aber auch dieß haͤngt so natuͤrlich mit den Umstaͤnden unserer Nation und selbst mit der Beschaffenheit unserer Lit- teratur zusammen, daß man sich wenigstens nicht wundern darf, wenn man auch klagt. Keine Werke der Philosophie erlauben mehr Er- habenheit im Ausdrucke, mit mehr Scharssinn in der Untersuchung verbunden, als die, welche von Verwaltung der Staaten handeln. Keine ziehen die Aufmerksamkeit der Staatsmaͤnner und der Großen mehr auf sich. Wir haben bis- her noch kein einziges Werk dieser Art, das wir den Schriften unsrer Nachbarn an die Seite setzen koͤnnten. — Wenn es uns gelaͤnge, unsern Fuͤr- G g 3 Ueber den Einfluß einiger ꝛc. sten einen deutschen Montesquieu in die Haͤnde zu geben, vielleicht wuͤrden sie dann auch unsre Klopstocke und Geßner und Lessinge und Mo- ses lesen. Ende. Druckfehler. S. 313. S. 8. statt zwoͤlften ist zu lesen: drey- zehnten.