Der Nachsommer. Erster Band. Der Nachsommer. Eine Erzählung von Adalbert Stifter . Erster Band. Pesth, Verlag von Gustav Heckenast. 1857. 1. Die Häuslichkeit. M ein Vater war ein Kaufmann. Er bewohnte einen Theil des ersten Stockwerkes eines mäßig großen Hauses in der Stadt, in welchem er zur Miethe war. In demselben Hause hatte er auch das Verkaufsge¬ wölbe die Schreibstube nebst den Waarenbehältern und anderen Dingen, die er zu dem Betriebe seines Geschäftes bedurfte. In dem ersten Stockwerke wohnte außer uns nur noch eine Familie, die aus zwei alten Leuten bestand, einem Manne und seiner Frau, welche alle Jahre ein oder zwei Male bei uns speisten, und zu denen wir und die zu uns kamen, wenn ein Fest oder ein Tag einfiel, an dem man sich Besuche zu machen, oder Glück zu wünschen pflegte. Mein Vater hatte zwei Kinder, mich den erstgeborenen Sohn und Stifter , Nachsommer. I . 1 eine Tochter, welche zwei Jahre jünger war als ich. Wir hatten in der Wohnung jedes ein Zimmerchen, in welchem wir uns unseren Geschäften, die uns schon in der Kindheit regelmäßig aufgelegt wurden, widmen mußten, und in welchem wir schliefen. Die Mutter sah da nach, und erlaubte uns zuweilen, daß wir in ihrem Wohnzimmer sein und uns mit Spielen er¬ gözen durften. Der Vater war die meiste Zeit in dem Verkaufs¬ gewölbe und in der Schreibstube. Um zwölf Uhr kam er herauf, und es wurde in dem Speisezimmer gespeiset. Die Diener des Vaters speisten an unserem Tische mit Vater und Mutter, die zwei Mägde und der Magazinsknecht hatten in dem Gesindezimmer einen Tisch für sich. Wir Kinder bekamen einfache Speisen, der Vater und die Mutter hatten zuweilen einen Braten und jedes Mal ein Glas guten Weines. Die Handelsdiener bekamen auch von dem Braten und ein Glas desselben Weines. Anfangs hatte der Vater nur einen Buchführer und zwei Diener, später hatte er viere. In der Wohnung war ein Zimmer, welches ziem¬ lich groß war. In demselben standen breite flache Kästen von feinem Glanze und eingelegter Arbeit. Sie hatten vorne Glastafeln, hinter den Glastafeln grünen Seidenstoff, und waren mit Büchern angefüllt. Der Vater hatte darum die grünen Seidenvorhänge, weil er es nicht leiden konnte, das, die Aufschriften der Bücher, die gewöhnlich mit goldenen Buchstaben auf dem Rücken derselben standen, hinter dem Glase von allen Leuten gelesen werden konnten, gleichsam als wolle er mit den Büchern prahlen, die er habe. Vor diesen Kästen stand er gerne und öfter, wenn er sich nach Tische oder zu einer andern Zeit einen Augen¬ blick abkargen konnte, machte die Flügel eines Kastens auf, sah die Bücher an, nahm eines oder das andere heraus, blickte hinein, und stellte es wieder an seinen Plaz. An Abenden, von denen er selten einen außer Hause zubrachte, außer wenn er in Stadtgeschäften abwesend war, oder mit der Mutter ein Schauspiel besuchte, was er zuweilen und gerne that, saß er häu¬ fig eine Stunde öfter aber auch zwei oder gar darüber an einem kunstreich geschnizten alten Tische, der im Bücherzimmer auf einem ebenfalls alterthümlichen Teppiche stand, und las. Da durfte man ihn nicht stören, und niemand durfte durch das Bücherzimmer gehen. Dann kam er heraus, und sagte, jezt könne man zum Abendessen gehen, bei dem die Handels¬ 1 * diener nicht zugegen waren, und das nur in der Mut¬ ter und in unserer Gegenwart eingenommen wurde. Bei diesem Abendessen sprach er sehr gerne zu uns Kindern, und erzählte uns allerlei Dinge, mitunter auch scherzhafte Geschichten und Märchen. Das Buch, in dem er gelesen hatte, stellte er genau immer wieder in den Schrein, aus dem er es genommen hatte, und wenn man gleich nach seinem Heraustritte in das Bücherzimmer ging, konnte man nicht im Geringsten wahrnehmen, daß eben jemand hier gewesen sei, und gelesen habe. Überhaupt durfte bei dem Vater kein Zimmer die Spuren des unmittelbaren Gebrauches zeigen, sondern mußte immer aufgeräumt sein, als wäre es ein Prunkzimmer. Es sollte dafür aber aus¬ sprechen, zu was es besonders bestimmt sei. Die ge¬ mischten Zimmer, wie er sich ausdrückte, die mehreres zugleich sein können, Schlafzimmer Spielzimmer und dergleichen, konnte er nicht leiden. Jedes Ding und jeder Mensch, pflegte er zu sagen, könne nur eines sein, dieses aber muß er ganz sein. Dieser Zug stren¬ ger Genauigkeit prägte sich uns ein, und ließ uns auf die Befehle der Eltern achten, wenn wir sie auch nicht verstanden. So zum Beispiele durften nicht einmal wir Kinder das Schlafzimmer der Eltern betreten. Eine alte Magd war mit Ordnung und Aufräumung desselben betraut. In den Zimmern hingen hie und da Bilder, und es standen in manchen Geräthe, die aus alten Zeiten stammten, und an denen wunderliche Gestalten ausge¬ schnitten waren, oder in welchen sich aus verschiedenen Hölzern eingelegte Laubwerke und Kreise und Linien befanden. Der Vater hatte auch einen Kasten, in welchem Münzen waren, von denen er uns zuweilen einige zeigte. Da befanden sich vorzüglich schöne Thaler, auf welchen geharnischte Männer standen, oder die Angesichter mit unendlich vielen Locken zeigten, dann waren einige aus sehr alten Zeiten mit wunderschönen Köpfen von Jünglingen oder Frauen, und eine mit einem Manne, der Flügel an den Füßen hatte. Er besaß auch Steine, in welche Dinge geschnitten wa¬ ren. Er hielt diese Steine sehr hoch, und sagte, sie stammen aus dem kunstgeübtesten Volke alter Zeiten, nehmlich aus dem alten Griechenlande her. Manchmal zeigte er sie Freunden, diese standen lange an dem Kästchen derselben, hielten den einen oder den andern in ihren Händen, und sprachen darüber. Zuweilen kamen Menschen zu uns, aber nicht oft. Manches Mal wurden Kinder zu uns eingeladen, mit denen wir spielen durften, und öfter gingen wir auch mit den Eltern zu Leuten, welche Kinder hatten, und uns Spiele veranstalteten. Den Unterricht erhielten wir in dem Hause von Lehrern, und dieser Unterricht und die sogenannten Arbeitsstunden, in denen von uns Kindern das verrichtet werden mußte, was uns als Geschäft aufgetragen war, bildeten den regelmäßi¬ gen Verlauf der Zeit, von welchem nicht abgewichen werden durfte. Die Mutter war eine freundliche Frau, die uns Kinder ungemein liebte, und die weit eher ein Ab¬ weichen von dem angegebenen Zeitenlaufe zu Gunsten einer Lust gestatte hätte, wenn sie nicht von der Furcht vor dem Vater davon abgehalten worden wäre. Sie ging in dem Hause emsig herum, besorgte alles, ord¬ nete alles, ließ aus der obgenannten Furcht keine Aus¬ nahme zu, und war uns ein eben so ehrwürdiges Bildniß des Guten wie der Vater, von welchem Bild¬ nisse gar nichts abgeändert werden konnte. Zu Hause hatte sie gewöhnlich sehr einfache Kleider an. Nur zu¬ weilen, wenn sie mit dem Vater irgend wohin gehen mußte, that sie ihre stattlichen seidenen Kleider an und nahm ihren Schmuck, daß wir meinten, sie sei wie eine Fee, welche in unsern Bilderbüchern abgebildet war. Dabei fiel uns auf, daß sie immer ganz ein¬ fache obwohl sehr glänzende Steine hatte, und daß ihr der Vater nie die geschnittenen umhing, von denen er doch sagte, daß sie so schöne Gestalten in sich hätten. Da wir Kinder noch sehr jung waren, brachte die Mutter den Sommer immer mit uns auf dem Lande zu. Der Vater konnte uns nicht Gesellschaft leisten, weil ihn seine Geschäfte in der Stadt festhielten; aber an jedem Sonntage und an jedem Festtage kam er, blieb den ganzen Tag bei uns, und ließ sich von uns beherbergen. Im Laufe der Woche besuchten wir ihn einmal bisweilen auch zweimal in der Stadt, in wel¬ chem Falle er uns dann bewirthete und beherbergte. Dies hörte endlich auf, anfänglich weil der Vater älter wurde, und die Mutter, die er sehr verehrte, nicht mehr leicht entbehren konnte; später aber aus dem Grunde, weil es ihm gelungen war, in der Vor¬ stadt ein Haus mit einem Garten zu erwerben, wo wir freie Luft genießen, uns bewegen, und gleichsam das ganze Jahr hindurch auf dem Lande wohnen konnten. Die Erwerbung des Vorstadthauses war eine große Freude. Es wurde nun von dem alten finstern Stadt¬ hause in das freundliche und geräumige der Vorstadt gezogen. Der Vater hatte es vorher im Allgemeinen zusammen richten lassen, und selbst, da wir schon da¬ rin wohnten, waren noch immer in verschiedenen Räu¬ men desselben Handwerksleute beschäftigt. Das Haus war nur für unsere Familie bestimmt. Es wohnten nur noch unsere Handlungsdiener in demselben, und gleichsam als Pförtner und Gärtner ein ältlicher Mann mit seiner Frau und seiner Tochter. In diesem Hause richtete sich der Vater ein viel größeres Zimmer zum Bücherzimmer ein, als er in der Stadtwohnung gehabt hatte, auch bestimmte er ein eigenes Zimmer zum Bilderzimmer; denn in der Stadt mußten die Bilder wegen Mangel an Raum in ver¬ schiedenen Zimmern zerstreut sein. Die Wände dieses neuen Bilderzimmers wurden mit dunkelrothbraunen Tapeten überzogen, von denen sich die Goldrahmen sehr schön abhoben. Der Fußboden war mit einem mattfarbigen Teppiche belegt, damit er die Farben der Bilder nicht beirre. Der Vater hatte sich eine Staffe¬ lei aus braunem Holze machen lassen, und diese stand in dem Zimmer, damit man bald das eine bald das andere Bild darauf stellen und es genau in dem rech¬ ten Lichte betrachten konnte. Für die alten geschnizten und eingelegten Geräthe wurde auch ein eigenes Zimmer hergerichtet. Der Vater hatte einmal aus dem Gebirge eine Zimmerdecke mitgebracht, welche aus Lindenholz und aus dem Holze der Zirbelkiefer geschnizt war. Diese Decke ließ er zusammen legen, und ließ sie mit einigen Zuthaten versehen, die man nicht merkte, so daß sie als Decke in dieses Zimmer paßte. Das freute uns Kinder sehr, und wir saßen nun doppelt gerne in dem alten Zim¬ mer, wenn uns an Abenden der Vater und die Mut¬ ter dahin führten, und arbeiteten dort etwas, und ließen uns von den Zeiten erzählen, in denen solche Sachen gemacht worden sind. Am Ende eines hölzernen Ganges, der in dem ersten Geschosse des Hauses gegen den Garten hinaus lief, ließ er ein gläsernes Stübchen machen, das heißt, ein Stübchen, dessen zwei Wände, die gegen den Gar¬ ten schauten, aus lauter Glastafeln bestanden; denn die Hinterwände waren Holz. In dieses Stübchen that er alte Waffen aus verschiedenen Zeiten und mit verschiedenen Gestalten. Er ließ an den Stäben, in die das Glas gefügt war, viel Epheu aus dem Gar¬ ten herauf wachsen, auch im Innern ließ er Epheu an dem Gerippe ranken, daß derselbe um die alten Waffen rauschte, wenn einzelne Glastafeln geöffnet wurden, und der Wind durch dieselben herein zog. Eine große hölzerne Keule, welche in dem Stübchen war, und welche mit gräulichen Nägeln prangte, nannte er Mor¬ genstern, was uns Kindern gar nicht einleuchten wollte, da der Morgenstern viel schöner war. Noch war ein Zimmerchen, das er mit kunstreich abgenähten rothseidenen Stoffen, die er gekauft hatte, überziehen ließ. Sonst aber wußte man noch nicht, was in das Zimmer kommen würde. In dem Garten war Zwergobst, es waren Ge¬ müse- und Blumenbeete, und an dem Ende desselben, von dem man auf die Berge sehen konnte, welche die Stadt in einer Entfernung von einer halben Meile in einem großen Bogen umgeben, befanden sich hohe Bäume und Grasplätze. Das alte Gewächshaus hatte der Vater theils ausbessern theils durch einen Zubau vergrößern lassen. Sonst hatte das Haus auch noch einen großen Hof, der gegen den Garten zu offen war, in dem wir, wenn das Gartengras naß war, spielen durften, und gegen welchen die Fenster der Küche, in der die Mut¬ ter sich viel befand, und der Vorrathskammern herab sahen. Der Vater ging täglich Morgens in die Stadt in sein Verkaufsgewölbe und in seine Schreibstube. Die Handelsdiener mußten der Ordnung halber mit ihm gehen. Um zwölf Uhr kam er zum Speisen so wie auch jene Diener, welche nicht eben die Reihe traf, während der Speisestunde in dem Verkaufsgewölbe zu wachen. Nachmittag ging er größtentheils auch wieder in die Stadt. Die Sonntage und die Festtage brachte er mit uns zu. Von der Stadt wurden nun viel öfter Leute mit ihren Kindern zu uns geladen, da wir mehr Raum hatten, und wir durften im Hofe oder in dem Garten uns ergözen. Die Lehrer kamen zu uns jezt in die Vorstadt, wie sie sonst in der Stadt zu uns gekommen waren. Der Vater, welcher durch das viele Sizen an dem Schreibtische sich eine Krankheit zuzuziehen drohte, gönnte sich nur auf das Andringen der Mutter täglich eine freie Zeit, welche er dazu verwendete, Bewegung zu machen. In dieser Zeit ging er zuweilen in eine Gemäldegallerie, oder zu einem Freunde, bei welchem er ein Bild sehen konnte, oder er ließ sich bei einem Fremden einführen, bei dem Merkwürdigkeiten zu treffen waren. An schönen Sommerfesttagen fuhren wir auch zuweilen ins Freie, und brachten den Tag in einem Dorfe oder auf einem Berge zu. Die Mutter, welche über die Erwerbung des Vor¬ stadthauses außerordentlich erfreut war, widmete sich mit gesteigerter Thätigkeit dem Hauswesen. Alle Samstage prangte das Linnen „weiß wie Kirschen¬ blüthe“ auf dem Aufhängeplaze im Garten, und Zim¬ mer für Zimmer mußte unter ihrer Aufsicht gereiniget werden, außer denen, in welchen die Kostbarkeiten des Vaters waren, deren Abstäubung und Reinigung im¬ mer unter seinen Augen vor sich gehen mußte. Das Obst die Blumen und die Gemüse des Gartens besorgte sie mit dem Vater gemeinschaftlich. Sie bekam einen Ruf in der Umgebung, daß Nachbarinnen kamen, und von ihr Dienstboten verlangten, die in unserem Hause ge¬ lernt hätten. Als wir nach und nach heran wuchsen, wurden wir immer mehr in den Umgang der Eltern gezogen, der Vater zeigte uns seine Bilder, und erklärte uns manches in denselben. Er sagte, daß er nur alte habe, die einen gewissen Werth besizen, den man immer haben könne, wenn man einmal genöthigt sein sollte, die Bilder zu verkaufen. Er zeigte uns, wenn wir spazieren gingen, die Wirkungen von Licht und Schat¬ ten, er nannte uns die Farben, welche sich an den Gegenständen befanden, und erklärte uns die Linien, welche Bewegung verursachten, in welcher Bewegung doch wieder eine Ruhe herrsche, und Ruhe in Bewe¬ gung sei die Bedingung eines jeden Kunstwerkes. Er sprach mit uns auch von seinen Büchern. Er erzählte uns, daß manche da seien, in welchen das enthalten wäre, was sich mit dem menschlichen Geschlechte seit seinem Beginne bis auf unsere Zeiten zugetragen habe, daß da die Geschichten von Männern und Frauen er¬ zählt werden, die einmal sehr berühmt gewesen seien, und vor langer Zeit, oft vor mehr als tausend Jah¬ ren, gelebt haben. Er sagte, daß in anderen das ent¬ halten sei, was die Menschen in vielen Jahren von der Welt und anderen Dingen von ihrer Einrichtung und Beschaffenheit in Erfahrung gebracht hätten. In manchen sei zwar nicht enthalten, was geschehen sei, oder wie sich Manches befinde, sondern was die Men¬ schen sich gedacht haben, was sich hätte zutragen kön¬ nen, oder was sie für Meinungen über irdische und überirdische Dinge hegen. In dieser Zeit starb ein Großoheim von der Seite der Mutter. Die Mutter erbte den Schmuck seiner vor ihm gestorbenen Frau, wir Kinder aber sein übriges Vermögen. Der Vater legte es als unser natürlicher Vormund unter mündelgemäßer Sicherheit an, und that alle Jahre die Zinsen dazu. Endlich waren wir so weit herangewachsen, daß der gewöhnliche Unterricht, den wir bisher genossen hatten, nach und nach aufhören mußte. Zuerst traten diejenigen Lehrer ab, die uns in den Anfangsgründen der Kenntnisse unterwiesen hatten, die man heut zu Tage für alle Menschen für nothwendig hält, dann verminderten sich auch die, welche uns in den Gegen¬ ständen Unterricht gegeben hatten, die man Kindern beibringen läßt, welche zu den gebildeteren oder aus¬ gezeichneteren Ständen gehören sollen. Die Schwester mußte nebst einigen Fächern, in denen sie sich noch weiter ausbilden sollte, nach und nach in die Häus¬ lichkeit eingeführt werden, und die wichtigsten Dinge derselben erlernen, daß sie einmal würdig in die Fu߬ stapfen der Mutter treten könnte. Ich trieb noch, nach¬ dem ich die Fächer erlernt hatte, die man in unseren Schulen als Vorkenntnisse und Vorbereitungen zu den sogenannten Brodkenntnissen betrachtet, einzelne Zweige fort, die schwieriger waren, und in denen eine Nach¬ hilfe nicht entbehrt werden konnte. Endlich trat in Bezug auf mich die Frage heran, was denn in der Zukunft mit mir zu geschehen habe, und da that der Vater etwas, was ihm von vielen Leuten sehr übel ge¬ nommen wurde. Er bestimmte mich nehmlich zu einem Wissenschafter im Allgemeinen. Ich hatte bisher sehr fleißig gelernt, und jeden neuen Gegenstand, der von den Lehrern vorgenommen wurde, mit großem Eifer ergriffen, so daß, wenn die Frage war, wie ich in einem Unterrichtszweige genügt habe, das Urtheil der Lehrer immer auf großes Lob lautete. Ich hatte den angedeuteten Lebensberuf von dem Vater selber ver¬ langt, und er dem Verlangten zugestimmt. Ich hatte ihn verlangt, weil mich ein gewisser Drang mei¬ nes Herzens dazu trieb. Das sah ich wohl troz mei¬ ner Jugend schon ein, daß ich nicht alle Wissenschaften würde erlernen können; aber was und wie viel ich ler¬ nen würde, das war mir eben so unbestimmt, als mein Gefühl unbestimmt war, welches mich zu diesen Din¬ gen trieb. Mir schwebte auch nicht ein besonderer Nuzen vor, den ich durch mein Bestreben erreichen wollte, sondern es war mir nur, als müßte ich so thun, als liege etwas innerlich Gültiges und Wichti¬ ges in der Zukunft. Was ich aber im Einzelnen be¬ ginnen, und an welchem Ende ich die Sache anfassen sollte, das wußte weder ich, noch wußten es die Mei¬ nigen. Ich hatte nicht die geringste Vorliebe für das eine oder das andere Fach, sondern es schienen alle anstrebenswerth‚ und ich hatte keinen Anhaltspunkt, aus dem ich hätte schließen können, daß ich zu irgend einem Gegenstande eine hervorragende Fähigkeit be¬ säße, sondern es erschienen mir alle nicht unüberwind¬ lich. Auch meine Angehörigen konnten kein Merkmal finden, aus dem sie einen ausschließlichen Beruf für eine Sache in mir hätten wahrnehmen können. Nicht die Ungeheuerlichkeit, welche in diesem Be¬ ginnen lag, war es, was die Leute meinem Vater übel nahmen, sondern sie sagten, er hätte mir einen Stand, der der bürgerlichen Gesellschaft nüzlich ist, befehlen sollen, damit ich demselben meine Zeit und mein Leben widme, und einmal mit dem Bewußtsein scheiden könne, meine Schuldigkeit gethan zu haben. Gegen diesen Einwurf sagte mein Vater, der Mensch sei nicht zuerst der menschlichen Gesellschaft wegen da sondern seiner selbst willen. Und wenn jeder seiner selbst willen auf die beste Art da sei, so sei er es auch für die menschliche Gesellschaft. Wen Gott zum besten Maler auf dieser Welt geschaffen hätte, der würde der Menschheit einen schlechten Dienst thun, wenn er etwa ein Gerichtsmann werden wollte: wenn er der größte Maler wird, so thut er auch der Welt den größten Dienst, wozu ihn Gott erschaffen hat. Dies zeige sich immer durch einen innern Drang an, der einen zu einem Dinge führt, und dem man folgen soll. Wie könnte man denn sonst auch wissen, wozu man auf der Erde bestimmt ist, ob zum Künstler zum Feldherrn zum Richter, wenn nicht ein Geist da wäre, der es sagt, und der zu den Dingen führt, in denen man sein Glück und seine Befriedigung findet. Gott lenkt es schon so, daß die Gaben gehörig vertheilt sind, so daß jede Arbeit gethan wird, die auf der Erde zu thun ist, und daß nicht eine Zeit eintritt, in der alle Menschen Baumeister sind. In diesen Gaben liegen dann auch schon die gesellschaftlichen, und bei großen Künstlern Rechtsgelehrten Staatsmännern sei auch immer die Billigkeit Milde Gerechtigkeit und Vater¬ landsliebe. Und aus solchen Männern, welche ihren innern Zug am weitesten ausgebildet, seien auch in Zeiten der Gefahr am öftesten die Helfer und Retter ihres Vaterlandes hervorgegangen. Es gibt solche, die sagen, sie seien zum Wohle der Menschheit Kaufleute Ärzte Staatsdiener gewor¬ den; aber in den meisten Fällen ist es nicht wahr. Wenn nicht der innere Beruf sie dahin gezogen hat, Stifter , Nachsommer. I . 2 so verbergen sie durch ihre Aussage nur einen schlech¬ teren Grund, nehmlich daß sie den Stand als ein Mittel betrachteten, sich Geld und Gut und Lebensunterhalt zu erwerben. Oft sind sie auch ohne weiter über eine Wahl mit sich zu Rathe zu gehen in den Stand ge¬ rathen oder durch Umstände in ihn gestoßen worden, und nehmen das Wohl der Menschheit in den Mund, das sie bezweckt hätten, um nicht ihre Schwäche zu gestehen. Dann ist noch eine eigene Gattung, welche immer von dem öffentlichen Wohle spricht. Das sind die, welche mit ihren eigenen Angelegenheiten in Un¬ ordnung sind. Sie gerathen stets in Nöthen, haben stets Ärger und Unannehmlichkeiten, und zwar aus ihrem eigenen Leichtsinne; und da liegt es ihnen als Ausweg neben der Hand, den öffentlichen Zuständen ihre Lage schuld zu geben, und zu sagen, sie wären eigentlich recht auf das Vaterland bedacht, und sie würden alles am besten in demselben einrichten. Aber wenn wirk¬ lich die Lage kömmt, daß das Vaterland sie beruft, so geht es dem Vaterlande, wie es früher ihren eige¬ nen Angelegenheiten gegangen ist. In Zeiten der Ver¬ irrung sind diese Menschen die selbstsüchtigsten und oft auch grausamsten. Es ist aber auch kein Zweifel, daß es solche gibt, denen Gott den Gesellschaftstrieb und die Gesellschaftsgaben in besonderem Maße verliehen hat. Diese widmen sich aus innerem Antriebe den Angelegenheiten der Menschen, erkennen sie auch am sichersten, finden Freude in den Anordnungen, und opfern oft ihr Leben für ihren Beruf. Aber in der Zeit, in der sie ihr Leben opfern, sei sie lange oder sei sie ein Augenblick, empfinden sie Freude, und diese kömmt, weil sie ihrem innern Andrange nachgegeben haben. Gott hat uns auch nicht bei unseren Handlungen den Nuzen als Zweck vorgezeichnet, weder den Nuzen für uns noch für andere, sondern er hat der Ausübung der Tugend einen eigenen Reiz und eine eigene Schön¬ heit gegeben, welchen Dingen die edlen Gemüther nachstreben. Wer Gutes thut, weil das Gegentheil dem menschlichen Geschlechte schädlich ist, der steht auf der Leiter der sittlichen Wesen schon ziemlich tief. Die¬ ser müßte zur Sünde greifen, sobald sie dem mensch¬ lichen Geschlechte oder ihm Nuzen bringt. Solche Menschen sind es auch, denen alle Mittel gelten, und die für das Vaterland für ihre Familie und für sich selber das Schlechte thun. Solche hat man zu Zeiten, wo sie im Großen wirkten, Staatsmänner geheißen, sie sind aber nur Afterstaatsmänner, und der augen¬ 2 * blickliche Nuzen, den sie erzielten, ist ein Afternuzen gewesen, und hat sich in den Tagen des Gerichtes als böses Verhängniß erwiesen. Daß bei dem Vater kein Eigennuz herrschte, be¬ weist der Umstand, daß er im Rathe der Stadt ein öffentliches Amt unentgeltlich verwaltete, daß er öfter die ganze Nacht in diesem Amte arbeitete, und daß er bei öffentlichen Dingen immer mit bedeutenden Summen an der Spize stand. Er sagte, man solle mich nur gehen lassen, es werde sich aus dem Unbestimmten schon entwickeln, wozu ich taugen werde, und welche Rolle ich auf der Welt ein¬ zunehmen hätte. Ich mußte meine körperlichen Übungen fortsezen. Schon als sehr kleine Kinder mußten wir so viele kör¬ perliche Bewegungen machen, als nur möglich war. Das war einer der Hauptgründe, weßhalb wir im Sommer auf dem Lande wohnten, und der Garten, welcher bei dem Vorstadthause war, war einer der Hauptbeweggründe, weßhalb der Vater das Haus kaufte. Man ließ uns als kleine Kinder gewöhnlich so viel gehen und laufen, als wir selber wollten, und machte nur ein Ende, wenn wir selber aus Müdigkeit ruhten. Es hatte in der Stadt sich eine Anstalt ent¬ wickelt, in welcher nach einer gewissen Ordnung Leibes¬ bewegungen vorgenommen werden sollten, um alle Theile des Körpers nach Bedürfniß zu üben, und ihrer naturgemäßen Entfaltung entgegen zu führen. Diese Anstalt durfte ich besuchen, nachdem der Vater den Rath erfahrener Männer eingeholt, und sich selber durch den Augenschein von den Dingen überzeugt hatte, die da vorgenommen wurden. Für Mädchen bestand damals eine solche Anstalt nicht, daher ließ der Vater für die Schwester in einem Zimmer unserer Wohnung so viele Vorrichtungen machen, als er und unser Hausarzt, der ein Begünstiger dieser Dinge war, für nothwendig erachteten, und die Schwester mußte sich den Übungen unterziehen, die durch die Vorrich¬ tungen möglich waren. Durch die Erwerbung des Vorstadthauses wurde die Sache noch mehr erleichtert. Nicht nur hatten wir mehr Raum im Innern des Hauses, um alle Vorrichtungen zu Körperübungen in besserem und ausgedehnterem Maße anlegen zu können, sondern es war auch der Hofraum und der Garten da, in denen an sich körperliche Übungen vorgenommen werden konnten, und die auch weitere Anlagen möglich machten. Daß wir diese Sachen sehr gerne thaten, begreift sich aus der Feurigkeit und Beweglichkeit der Jugend von selber. Wir hatten schon in der Kindheit schwimmen gelernt, und gingen im Sommer fast täg¬ lich, selbst da wir in der Vorstadt wohnten, von wo aus der Weg weiter war, in die Anstalt, in welcher man schwimmen konnte. Selbst für Mädchen waren damals schon eigene Schwimmanstalten errichtet. Auch außerdem machten wir gerne weite Wege, beson¬ ders im Sommer. Wenn wir im Freien außer der Stadt waren, erlaubten die Eltern, daß ich mit der Schwester einen besonderen Umgang halten durfte. Wir übten uns da im Zurücklegen bedeutender Wege oder in Besteigung eines Berges. Dann kamen wir wieder an den Ort zurück, an welchem uns die Eltern erwarteten. Anfangs ging meistens ein Diener mit uns, später aber, da wir erwachsen waren, ließ man uns allein gehen. Um besser und mit mehr Bequem¬ lichkeit für die Eltern an jede beliebige Stelle des Lan¬ des außerhalb der Stadt gelangen zu können, schaffte der Vater in der Folge zwei Pferde an, und der Knecht, der bisher Gärtner und gelegentlich unser Aufseher gewesen war, wurde jezt auch Kutscher. In einer Reit¬ schule, in welcher zu verschiedenen Zeiten Knaben und Mädchen lernen konnten, hatten wir reiten gelernt, und hatten später unsere bestimmten Wochentage, an denen wir uns zu gewissen Stunden im Reiten üben konnten. Im Garten hatte ich Gelegenheit, nach einem Ziele zu springen, auf schmalen Planken zu gehen, auf Vorrichtungen zu klettern, und mit steiner¬ nen Scheiben nach einem Ziele oder nach größtmög¬ lichster Entfernung zu werfen. Die Schwester, so sehr sie von der Umgebung als Fräulein behandelt wurde, liebte es doch sehr, bei sogenannten gröberen häuslichen Arbeiten zuzugreifen, um zu zeigen, daß sie diese Dinge nicht nur verstehe, sondern an Kraft auch die noch übertreffe, welche von Kindheit an bei diesen Arbeiten gewesen sind. Die Eltern legten ihr bei diesem Beginnen nicht nur keine Hindernisse in den Weg, sondern billigten es sogar. Außerdem trieb sie noch das Lesen ihrer Bücher, machte Musik, besonders auf dem Klaviere und auf der Harfe, zu der sie auch sang, und mahlte mit Wasserfarben. Als ich den lezten Lehrer verlor, der mich in Sprachen unterrichtet hatte, als ich in denjenigen wissenschaftlichen Zweigen, in welchen man einen längeren Unterricht für nöthig gehalten hatte, weil sie schwieriger oder wichtiger waren, solche Fortschritte gemacht hatte, daß man einen Lehrer nicht mehr für nothwendig erachtete, entstand die Frage, wie es in Bezug auf meine erwählte wissenschaftliche Laufbahn zu halten sei, ob man da einen gewissen Plan entwer¬ fen, und zu dessen Ausführung Lehrer annehmen sollte. Ich bath, man möchte mir gar keinen Lehrer mehr nehmen, ich würde die Sachen schon selber zu betreiben suchen. Der Vater ging auf meinen Wunsch ein, und ich war nun sehr freudig, keinen Lehrer mehr zu haben, und auf mich allein angewiesen zu sein. Ich fragte Männer um Rath, welche einen großen wissenschaftlichen Namen hatten, und gewöhnlich an der einen oder der andern Anstalt der Stadt beschäf¬ tigt waren. Ich näherte mich ihnen nur, wenn es ohne Verlezung der Bescheidenheit geschehen konnte. Da es meistens nur eine Anfrage war, die ich in Be¬ zug auf mein Lernen an solche Männer stellte, und da ich mich nicht in ihren Umgang drängte, so nahmen sie meine Annäherung nicht übel, und die Antwort war immer sehr freundlich und liebevoll. Auch waren unter den Männern, die gelegentlich in unser Haus kamen, manche, die in gelehrten Dingen bewandert waren. Auch an diese wandte ich mich. Meistens be¬ trafen die Anfragen Bücher, und die Folge, in welcher sie vorgenommen werden sollten. Ich trieb Anfangs jene Zweige fort, in denen ich schon Unterricht erhal¬ ten hatte, weil man sie zu jener Zeit eben als Grund¬ lage einer allgemeinen menschlichen Bildung betrach¬ tete, nur suchte ich zum Theile mehr Ordnung in die¬ selben zu bringen, als bisher befolgt worden war, zum Theile suchte ich mich auch in jenem Fache auszudehnen, das mir mehr zuzusagen begann. Auf diese Weise geschah es, daß in dem Ganzen doch noch eine ziem¬ liche Ordnung herrschte, da bei der Unbestimmtheit des ganzen Unternehmens die Gefahr sehr nahe war, in die verschiedensten Dinge zersplittert, und in die kleinsten Kleinlichkeiten verschlagen zu werden. In Bezug auf die Fächer, die ich eben angefangen hatte, besuchte ich auch Anstalten in unserer Stadt, die ihnen förderlich werden konnten: Büchersammlungen, Sammlungen von Werkzeugen und namentlich Orte, wo Versuche gemacht wurden, die ich wegen meiner Unreifheit und wegen Mangel an Gelegenheit und Werkzeugen nie hätte ausführen können. Was ich an Büchern und überhaupt an Lehrmitteln brauchte, schaffte der Vater bereitwillig an. Ich war sehr eifrig und gab mich manchem einmal ergriffenen Gegenstande mit all der entzündeten Lust hin, die der Jugend bei Lieblingsdingen eigen zu sein pflegt. Obwohl ich bei meinen Besuchen der öffent¬ lichen Anstalten zu körperlicher oder geistiger Ent¬ wickelung, ferner bei den Besuchen, welche Leute bei uns oder welche wir bei ihnen machten, sehr viele junge Leute kennen gelernt hatte, so war ich doch nie dahin gekommen, so ausschließlich auf bloße Vergnü¬ gungen und noch dazu oft unbedeutende erpicht zu sein, wie ich es bei der größten Zahl der jungen Leute ge¬ sehen hatte. Die Vergnügungen, die in unserem Hause vorkamen, wenn wir Leute zum Besuche bei uns hatten, waren auch immer ernsterer Art. Ich lernte auch viele ältere Menschen kennen; aber ich achtete damals weni¬ ger darauf, weil es bei der Jugend Sitte ist, sich mit lebhafter Betheiligung mehr an die anzuschließen, die ihnen an Jahren näher stehen, und das, was an äl¬ teren Leuten befindlich ist, zu übersehen. Als ich achtzehn Jahre alt war, gab mir der Vater einen Theil meines Eigenthumes aus der Erbschaft vom Großoheime zur Verwaltung. Ich hatte bis dahin kein Geld zu regelmäßiger Gebarung gehabt, sondern, wenn ich irgend etwas brauchte, kaufte es der Vater, und zu Dingen von minderem Belange gab mir der Vater das Geld, damit ich sie selber kaufe. Auch zu Vergnügungen bekam ich gelegentlich kleine Beträge. Von nun an aber, sagte der Vater, werde er mir am ersten Tage eines jeden Monats eine be¬ stimmte Summe auszahlen, ich solle darüber ein Buch führen, er werde diese Auszahlungen bei der Verwal¬ tung meines Gesammtvermögens, welche Verwaltung ihm noch immer zustehe, in Abrechnung bringen, und sein Buch und das meinige müßten stimmen. Er gab mir einen Zettel, auf welchem der Kreis dessen auf¬ gezeichnet war, was ich von nun an mit meinen mo¬ natlichen Einkünften zu bestreiten hätte. Er werde mir nie mehr von seinem Gelde einen Gegenstand kaufen, der in den verzeichneten Kreis gehöre. Ich müsse pünktlich verfahren und haushälterisch sein; denn er werde mir auch nie und nicht einmal unter den dringendsten Bedingungen einen Vorschuß geben. Wenn ich zu seiner Zufriedenheit eine Zeit hindurch gewirthschaftet hätte, dann werde er meinen Kreis wieder erweitern, und er werde nach billigstem Er¬ messen sehen, in welcher Zeit er mir auch vor der er¬ reichten gesezlichen Mündigkeit meine Angelegenheiten ganz in die Hände werde geben können. 2. Der Wanderer. Ich verfuhr mit der Rente, welche mir der Vater ausgesezt hatte, gut. Daher wurde nach einiger Zeit mein Kreis erweitert, wie es der Vater versprochen hatte. Ich sollte von nun an nicht blos nur einen Theil meiner Bedürfnisse von dem zugewiesenen Ein¬ kommen decken, sondern alle. Deßhalb wurde meine Rente vergrößert. Der Vater zahlte sie mir von nun an auch nicht mehr monatlich sondern vierteljährig aus, um mich an größere Zeitabschnitte zu gewöhnen. Sie mir halbjährig oder gar nach ganzen Jahren ein¬ zuhändigen wollte er nicht wagen, damit ich doch nicht etwa in Unordnungen geriethe. Er gab mir nicht die ganzen Zinsen von der Erbschaft des Gro߬ oheims sondern nur einen Theil, den andern Theil legte er zu der Hauptsumme, so daß mein Eigenthum wuchs, wenn ich auch von meiner Rente nichts er¬ übrigte. Als Beschränkung blieb die Einrichtung, daß ich in dem Hause meiner Eltern wohnen, und an ihrem Tische speisen mußte. Es ward dafür ein Preis festgesezt, den ich alle Vierteljahre zu entrichten hatte. Jedes andere Bedürfniß, Kleider Bücher Geräthe oder was es immer war, durfte ich nach meinem Er¬ messen und nach meiner Einsicht befriedigen. Die Schwester erhielt auch Befugnisse in Hinsicht ihres Theiles der Erbschaft des Großoheims, in so weit sie sich für ein Mädchen schickten. Wir waren über diese Einrichtung sehr erfreut, und beschlossen, nach dem Wunsche und dem Willen der Eltern zu verfahren, um ihnen Freude zu machen. Ich ging, nachdem ich in den verschiedenen Zwei¬ gen der Kenntnisse, die ich zulezt mit meinen Lehrern betrieben hatte, und welche als allgemein nothwendige Kenntnisse für einen gebildeten Menschen gelten, nach mehreren Richtungen gearbeitet hatte, auf die Mathe¬ matik über. Man hatte mir immer gesagt, sie sei die schwerste und herrlichste Wissenschaft, sie sei die Grund¬ lage zu allen übrigen, in ihr sei alles wahr, und was man aus ihr habe, sei ein bleibendes Besizthum für das ganze Leben. Ich kaufte mir die Bücher, die man mir rieth, um von den Vorkenntnissen, die ich bereits hatte, ausgehen, und zu dem Höheren immer weiter streben zu können. Ich kaufte mir eine sehr große Schiefertafel, um auf ihr meine Arbeiten ausführen zu können. So saß ich nun in manchen Stunden, die zum Erlernen von Kenntnissen bestimmt waren, an meinem Tische, und rechnete. Ich ging den Gängen der Männer nach, welche die Gestaltungen dieser Wissenschaft nach und nach erfunden hatten, und von diesen Gestaltungen zu immer weiteren geführt wor¬ den waren. Ich sezte mir bestimmte Zeiträume fest, in welchen ich vom Weitergehen abließ, um das bis dahin Errungene wiederholen, und meinem Gedächt¬ nisse einprägen zu können, ehe ich zu ferneren Theilen vorwärts schritt. Die Bücher, welche ich nach und nach durchnehmen wollte, hatte ich in der Ordnung auf einem Bücherbrett aufgestellt. Ich war nach einer ver¬ hältnißmäßigen Zeit in ziemlich schwierige Abtheilungen des höheren Gebiethes dieser Wissenschaft vorgerückt. Der Vater erlaubte mir endlich, zuweilen im Sommer eine Zeit hindurch entfernt von den Eltern auf irgend einem Punkte des Landes zu wohnen. Zum ersten Aufenthalte dieser Art wurde das Landhaus eines Freundes meines Vaters nicht gar ferne von der Stadt erwählt. Ich erhielt ein Zimmerchen in dem obersten Theile des Hauses, dessen Fenster auf die nahen Weinberge und zwischen ihren Senkungen durch auf die entfernten Gebirge gingen. Die Frau des Hauses gab mir in sehr kurzen Zwischenzeiten immer erneuerte schneeweiße Fenstervorhänge. Sehr oft ka¬ men die Eltern heraus, besuchten mich und brachten den Tag auf dem Lande zu. Sehr oft ging ich auch zu ihnen in die Stadt, und blieb manchmal sogar über Nacht in ihrem Hause. Der zweite Aufenthalt im nächst darauf folgenden Sommer war viel weiter von der Stadt entfernt in dem Hause eines Landmanns. Man hat häufig in den Häusern unserer Landleute, in welchen alle Wohn¬ stuben und andere Räumlichkeiten ebenerdig sind, doch noch ein Geschoß über diesen Räumlichkeiten, in welchem sich ein oder mehrere Gemächer befinden. Unter diesen Gemächern ist auch die sogenannte obere Stube. Häufig ist sie blos das einzige Ge¬ mach des ersten Geschosses. Die obere Stube ist gewissermaßen das Prunkzimmer. In ihr stehen die schöneren Betten des Hauses, gewöhnlich zwei, in ihr stehen die Schreine mit den schönen Kleidern, in ihr hängen die Scheiben- und Jagdgewehre des Mannes, wenn er dergleichen hat, so wie die Preise, die er im Schießen etwa schon gewonnen, in ihr sind die schöne¬ ren Geschirre der Frau, besonders wenn sie Krüge aus Zinn oder etwas aus Porzellan hat, und in ihr sind auch die besseren Bilder des Hauses und sonstige Zier¬ den, zum Beispiel ein schönes Jesukindlein aus Wachs, welches in weißem feinem Flaume liegt. In einer solchen oberen Stube des Hauses eines Landmanns wohnte ich. Das Haus war so weit von der Stadt entfernt, daß ich die Eltern nur ein einziges Mal mit Benuzung des Postwagens besuchen konnte, sie aber gar nie zu mir kamen. Dieser Aufenthalt brachte Veränderungen in mir hervor. Weil ich mit den Meinigen nicht zusammen kom¬ men konnte, so lebte die Sehnsucht nach Mittheilung viel stärker in mir, als wenn ich zu Hause gewesen wäre, und sie jeden Augenblick hätte befriedigen können. Ich schritt also zu ausführlichen Briefen und Berichten. Ich hatte bisher immer aus Büchern gelernt, deren ich mir bereits eine ziemliche Menge in meine Bücher¬ kästen von meinem Gelde gekauft hatte; aber ich hatte mich nie geübt, etwas selber in größerem Zusammen¬ hange zusammen zu stellen. Jezt mußte ich es thun, ich that es gerne, und freute mich, nach und nach die Gabe der Darstellung und Erzählung in mir wachsen zu fühlen. Ich schritt zu immer zusammengesezteren und geordneteren Schilderungen. Auch eine andere Veränderung trat ein. Ich war schon als Knabe ein großer Freund der Wirklichkeit der Dinge gewesen, wie sie sich so in der Schöpfung oder in dem geregelten Gange des mensch¬ lichen Lebens darstellte. Dies war oft eine große Un¬ annehmlichkeit für meine Umgebung gewesen. Ich fragte unaufhörlich um die Namen der Dinge um ihr Herkommen und ihren Gebrauch, und konnte mich nicht beruhigen, wenn die Antwort eine hinausschie¬ bende war. Auch konnte ich es nicht leiden, wenn man einen Gegenstand zu etwas Anderem machte, als er war. Besonders kränkte es mich, wenn er, wie ich meinte, durch seine Veränderung schlechter wurde. Es machte mir Kummer, als man einmal einen alten Baum des Gartens fällte, und ihn in lauter Klöze zerlegte. Die Klöze waren nun kein Baum mehr, und da sie morsch waren, konnte man keinen Schemel keinen Tisch kein Kreuz kein Pferd daraus schnizen. Als ich einmal das offene Land kennen gelernt, und Fichten und Tannen auf den Bergen stehen gesehen Stifter , Nachsommer. I . 3 hatte, thaten mir jederzeit die Bretter leid, aus denen etwas in unserem Hause verfertigt wurde, weil sie einmal solche Fichten und Tannen gewesen waren. Ich fragte den Vater, wenn wir durch die Stadt gingen, wer die große Kirche des heiligen Stephan gebaut habe, warum sie nur einen Thurm habe, warum die¬ ser so spizig sei, warum die Kirche so schwarz sei, wem dieses oder jenes Haus gehöre, warum es so groß sei, weßhalb sich an einem andern Hause immer zwei Fenster neben einander befänden, und in einem weiteren Hause zwei steinerne Männer das Sims des Hausthores tragen. Der Vater beantwortete solche Fragen je nach seinem Wissen. Bei einigen äußerte er nur Muthmaßungen, bei anderen sagte er, er wisse es nicht. Wenn wir auf das Land kamen, wollte ich alle Gewächse und Steine kennen, und fragte um die Namen der Landleute und der Hunde. Der Vater pflegte zu sagen, ich müßte einmal ein Beschreiber der Dinge werden, oder ein Künstler, welcher aus Stoffen Gegenstände fertigt, an denen er so Antheil nimmt, oder wenigstens ein Gelehrter, der die Merkmale und Beschaffenheiten der Sachen erforscht. Diese Eigenschaft nun führte mich, da ich auf dem Lande wohnte, in eine besondere Richtung. Ich legte die Mathematik weg, und widmete mich der Betrach¬ tung meiner Umgebungen. Ich fing an, bei allen Vorkommnissen des Hauses, in dem ich wohnte, zu¬ zusehen. Ich lernte nach und nach alle Werkzeuge und ihre Bestimmungen kennen. Ich ging mit den Arbeitern auf die Felder auf die Wiesen und in die Wälder, und arbeitete gelegentlich selber mit. Ich lernte in kurzer Zeit auf diese Weise die Behandlung und Gewinnung aller Bodenerzeugnisse des Land¬ striches, auf dem ich wohnte, kennen. Auch ihre erste ländliche Verarbeitung zu Kunsterzeugnissen suchte ich in Erfahrung zu bringen. Ich lernte die Bereitung des Weines aus Trauben kennen, des Garnes und der Leinwand aus Flachs des Butters und des Käses aus der Milch des Mehles und Brotes aus dem Ge¬ treide. Ich merkte mir die Namen, womit die Land¬ leute ihre Dinge benannten, und lernte bald die Merk¬ male kennen, aus denen man die Güte oder den ge¬ ringeren Werth der Bodenerzeugnisse oder ihre näch¬ sten Umwandlungen beurtheilen konnte. Selbst in Gespräche, wie man dieses oder jenes auf eine viel¬ leicht zweckmäßigere Weise hervorbringen könnte, ließ ich mich ein, fand aber da einen hartnäckigen Wider¬ stand. 3 * Als ich diese Hervorbringung der ersten Erzeug¬ nisse in jenem Striche des Landes, in welchem ich mich aufhielt, kennen gelernt hatte, ging ich zu den Gegen¬ ständen des Gewerbfleißes über. Nicht weit von mei¬ ner Wohnung war ein weites flaches Thal, das von einem Wasser durchströmt war, welches sich durch seine gleichbleibende Reichhaltigkeit und dadurch, daß es im Winter nicht leicht zufror, besonders zum Treiben von Werken eignete. In dem Thale waren daher mehrere Fabriken zerstreut. Sie gehörten meistens zu ansehnlichen Handelshäusern. Die Eigenthümer lebten in der Stadt, und besuchten zuweilen ihre Werke, die von einem Verwalter oder Geschäftsleiter versehen wurden. Ich besuchte nach und nach alle diese Fabriken, und unterrichtete mich über die Erzeug¬ nisse, welche da hervorgebracht wurden. Ich suchte den Hergang kennen zu lernen, durch welchen der Stoff in die Fabrik geliefert wurde, durch welchen er in die erste Umwandlung, von dieser in die zweite, und so durch alle Stufen geführt wurde, bis er als leztes Erzeugniß der Fabrik hervorging. Ich lernte hier die Güte der einlangenden Rohstoffe kennen, und wurde auf die Merkmale aufmerksam gemacht, aus denen auf eine vorzügliche Beschaffenheit der endlich in der Fabrik fertig gewordenen Erzeugnisse geschlossen werden konnte. Ich lernte auch die Mittel und Wege kennen, durch welche die Umwandlungen, die die Stoffe nach und nach zu erleiden hatten, bewirkt wur¬ den. Die Maschinen, welche hiezu größtentheils ver¬ wendet wurden, waren mir durch meine bereits er¬ worbenen Vorkenntnisse in ihren allgemeinen Einrich¬ tungen schon bekannt. Es war mir daher nicht schwer, ihre besonderen Wirkungen zu den einzelnen Zwecken, die hier erreicht werden sollten, einsehen zu lernen. Ich ging durch die Gefälligkeit der dabei Angestellten alle Theile durch, bis ich das Ganze so vor mir hatte, und zusammen begreifen konnte, als hätte ich es als Zeichnung auf dem Papier liegen, wie ich ja bisher alle Einrichtungen solcher Art nur aus Zeichnungen kennen zu lernen Gelegenheit hatte. In späterer Zeit begann ich, die Naturgeschichte zu betreiben. Ich fing bei der Pflanzenkunde an. Ich suchte zuerst zu ergründen, welche Pflanzen sich in der Gegend befänden, in welcher ich mich aufhielt. Zu diesem Zwecke ging ich nach allen Richtungen aus, und bestrebte mich, die Standorte und die Lebensweise der verschiedenen Gewächse kennen zu lernen, und alle Gattungen zu sammeln. Welche ich mit mir tragen konnte, und welche nur einiger Maßen aufzube¬ wahren waren, nahm ich mit in meine Wohnung. Von solchen, die ich nicht von dem Orte bringen konnte, wozu besonders die Bäume gehörten, machte ich mir Beschreibungen, welche ich zu der Sammlung einlegte. Bei diesen Beschreibungen, die ich immer nach allen sich mir darbiethenden Eigenschaften der Pflan¬ zen machte, zeigte sich mir die Erfahrung, daß nach meiner Beschreibung andere Pflanzen in eine Gruppe zusammen gehörten, als welche von den Pflanzenkun¬ digen als zusammengehörig aufgeführt wurden. Ich bemerkte, daß von den Pflanzenlehrern die Einthei¬ lungen der Pflanzen nur nach einem oder einigen Merkmalen, zum Beispiele nach den Samenblättern oder nach den Blüthentheilen gemacht wurden, und daß da Pflanzen in einer Gruppe beisammen stehen, welche in ihrer ganzen Gestalt und in ihren meisten Eigenschaften sehr verschieden sind. Ich behielt die herkömmlichen Eintheilungen bei, und hatte aber auch meine Beschreibungen daneben. In diesen Beschrei¬ bungen standen die Pflanzen nach sinnfälligen Linien, und, wenn ich mich so ausdrücken dürfte, nach ihrer Bauführung beisammen. Bei den Mineralien, welche ich mir sammelte, gerieth ich beinahe in dieselbe Lage. Ich hatte mir schon seit meiner Kinderzeit manche Stücke zu erwerben gesucht. Fast immer waren dieselben aus anderen Sammlungen gekauft oder geschenkt worden. Sie waren schon Sammlungsstücke, hatten meistens das Papierstückchen mit ihrem Namen auf sich aufgeklebt. Auch waren sie wo möglich immer im Kristallzustande. Das Sistem von Mohs hatte einmal großes Aufsehen gemacht, ich war durch meine mathematischen Arbeiten darauf geführt worden, hatte es kennen und lieben gelernt. Allein da ich jezt meine Mineralien in der Gegend meines Aufenthaltes suchte, und zusammen trug, fand ich sie weit öfter in unkristallisirtem Zu¬ stande als in kristallisirtem, und sie zeigten da allerlei Eigenschaften für die Sinne, die sie dort nicht haben. Das Kristallisiren der Stoffe, welches das Sistem von Mohs voraussetzt, kam mir wieder wie ein Blühen vor, und die Stoffe standen nach diesen Blüthen bei¬ sammen. Ich konnte nicht lassen, auch hier neben den Eintheilungen, die gebräuchlich waren, mir eben¬ falls meine Beschreibungen zu machen. Ungefähr eine Meile von unserer Stadt liegt gegen Sonnenuntergang hin eine Reihe von schönen Hügeln. Diese Hügel sezen sich in Stufenfolgen und nur hie und da von etwas größeren Ebenen unter¬ brochen immer weiter nach Sonnenuntergang fort, bis sie endlich in höher gelegenes noch hügligeres Land das sogenannte Oberland übergehen. In der Nähe der Stadt sind die Hügel mehrfach von Land¬ häusern besezt und mit Gärten und Anlagen ge¬ schmückt, in weiterer Entfernung werden sie ländlicher. Sie tragen Weinreben oder Felder auf ihren Seiten, auch Wiesen sind zu treffen, und die Gipfel oder auch manche Rückenstrecken sind mit laubigen mehr busch- als baumartigen Wäldern besezt. Die Bäche und sonstigen Gewässer sind nicht gar häufig, und oft traf ich im Sommer zwischen den Hügeln, wenn mich Durst oder Zufall hinab führte, das ausgetrocknete mit weißen Steinen gefüllte Bett eines Baches. In diesem Hügellande war mein Aufenthalt, und in dem¬ selben rückte ich immer weiter gegen Sonnenuntergang vor. Ich streifte weit und breit herum, und war oft mehrere Tage von meiner Wohnung abwesend. Ich ging die einsamen Pfade, welche zwischen den Feldern oder Weingeländen hinliefen, und sich von Dorf zu Dorf von Ort zu Ort zogen, und manche Meilen ja Tage¬ reisen in sich begriffen. Ich ging auf den abgelegenen Waldpfaden, die in Stammholz oder Gebüschen ver¬ borgen waren, und nicht selten im Laubwerk Gras oder Gestrippe spurlos endeten. Ich durchwanderte oft auch ohne Pfad Wiesen Wald und sonstige Land¬ flächen, um die Gegenstände zu finden, welche ich suchte. Daß wenige von unseren Stadtbewohnern auf solche Wege kommen, ist begreiflich, da sie nur kurze Zeit zu dem Genusse des Landlebens sich gönnen können, und in derselben auf den breiten herkömm¬ lichen Straßen des Landvergnügens bleiben, und von anderen Pfaden nichts wissen. An der Mittagseite war das ganze Hügelland viele Meilen lang von Hochgebirge gesäumt. Auf einer Stelle der Basteien unserer Stadt kann man zwischen Häusern und Bäu¬ men ein Fleckchen Blau von diesem Gebirge sehen. Ich ging oft auf jener Bastei, sah oft dieses kleine blaue Fleckchen, und dachte nichts weiter, als: das ist das Gebirge. Selbst da ich von dem Hause meines ersten Sommeraufenthaltes einen Theil des Hochge¬ birges erblickte, achtete ich nicht weiter darauf. Jezt sah ich zuweilen mit Vergnügen von einer Anhöhe oder von dem Gipfel eines Hügels ganze Strecken der blauen Kette, welche in immer undeutlicheren Gliedern ferner und ferner dahin lief. Oft, wenn ich durch wildes Gestrippe plözlich auf einen freien Abriß kam, und mir die Abendröthe entgegen schlug, weithin das Land in Duft und rothen Rauch legend, so sezte ich mich nieder, ließ das Feuerwerk vor mir verglim¬ men, und es kamen allerlei Gefühle in mein Herz. Wenn ich wieder in das Haus der Meinigen zu¬ rückkehrte, wurde ich recht freudig empfangen, und die Mutter gewöhnte sich an meine Abwesenheiten„ da ich stets gereifter von ihnen zurück kam. Sie und die Schwester halfen mir nicht selten, die Sachen, die ich mitbrachte, aus ihren Behältnissen auspacken, damit ich sie in den Räumen, die hiezu bestimmt waren, ordnen konnte. So war endlich die Zeit gekommen, in welcher es der Vater für gerathen fand, mir die ganze Rente der Erbschaft des Großoheims zu freier Verfügung zu übertragen. Er sagte, ich könne mit diesem Einkom¬ men verfahren, wie es mir beliebe, nur müßte ich da¬ mit ausreichen. Er werde mir auf keine Weise aus dem Seinigen etwas beitragen, noch mir je Vorschüsse machen, da meine Jahreseinnahme so reichlich sei, daß sie meine jezigen Bedürfnisse, selbst wenn sie noch um Vieles größer würden, nicht nur hinlänglich decke, sondern daß sie selbst auch manche Vergnügungen be¬ streiten könne, und daß doch noch etwas übrig bleiben dürfte. Es liege somit in meiner Hand, für die Zu¬ kunft, die etwa größere Ausgaben bringen könnte, mir auch eine größere Einnahme zu sichern. Meine Wohnung und meinen Tisch dürfe ich nicht mehr, wenn ich nicht wolle, in dem Hause der Eltern neh¬ men, sondern wo ich immer wollte. Das Stammver¬ mögen selber werde er an dem Orte, an welchem es sich bisher befand, liegen lassen. Er fügte bei, er werde mir dasselbe, sobald ich das vier und zwanzigste Jahr erreicht habe, einhändigen. Dann könne ich es nach meinem eigenen Ermessen verwalten. „Ich rathe dir aber,“ fuhr er fort, „dann nicht nach einer größeren Rente zu geizen, weil eine solche meistens nur mit einer größeren Unsicherheit des Stammvermögens zu erzielen ist. Sei immer deines Grundvermögens sicher, und mache die dadurch entstehende kleinere Rente durch Mäßigkeit größer. Solltest du den Rath deines Vaters einholen wollen, so wird dir derselbe nie entzogen werden. Wenn ich sterbe, oder freiwillig aus den Geschäften zurück trete, so werdet ihr beide auch noch von mir eine Vermehrung eures Eigenthums erhalten. Wie groß dieselbe sein wird, kann ich noch nicht sagen, ich bemühe mich, durch Vorsicht und durch gut gegründete Geschäftsführung sie so groß als mög¬ lich und auch so sicher als möglich zu machen; aber alle stehen wir in der Hand des Herrn, und er kann durch Ereignisse, welche kein Menschenauge vorher sehen kann, meine Vermögensumstände bedeutend ver¬ ändern. Darum sei weise, und gebahre mit dem Dei¬ nigen, wie du bisher zu meiner und zur Befriedigung deiner Mutter gethan hast.“ Ich war gerührt über die Handlungsweise meines Vaters, und dankte ihm von ganzem Herzen. Ich sagte, daß ich mich stets bestreben werde, seinem Ver¬ trauen zu entsprechen, daß ich ihn inständig um seinen Rath bitte, und daß ich in Vermögensangelegenheiten wie in anderen nie gegen ihn handeln, und daß ich auch nicht den kleinsten Schritt thun wolle, ohne nach diesem Rath zu verlangen. Eine Wohnung außer dem Hause zu beziehen, solange ich in unserer Stadt lebe, wäre mir sehr schmerzlich, und ich bitte in dem Hause meiner Eltern und an ihrem Tische bleiben zu dürfen, solange Gott nicht selber durch irgend eine Schickung eine Änderung herbei führe. Der Vater und die Mutter waren über diese Worte erfreut. Die Mutter sagte, daß sie mir zu meiner bis¬ herigen Wohnung, die mir doch als einem nunmehr selbstständigen Manne besonders bei meinen jezigen Verhältnissen zu klein werden dürfte, noch einige Räumlichkeiten zugeben wolle, ohne daß darum der Preis unverhältnißmäßig wachse. Ich war natürlicher Weise mit Allem einverstanden. Ich mußte gleich mit der Mutter gehen, und die mir zugedachte Vergröße¬ rung der Wohnung besehen. Ich dankte ihr für ihre Sorgfalt. Schon in den nächsten Tagen richtete ich mich in der neuen Wohnung ein. Den Winter benuzte ich zum Theile mit Vorbe¬ reitungen, um im nächsten Sommer wieder große Wanderungen machen zu können. Ich hatte mir vor¬ genommen, nun endlich einmal das Hochgebirge zu besuchen, und in ihm so weit herum zu gehen, als es mir zusagen würde. Als der Sommer gekommen war, fuhr ich von der Stadt auf dem kürzesten Wege in das Gebirge. Von dem Orte meiner Ankunft aus wollte ich dann in ihm längs seiner Richtung von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang zu Fuße fort wandern. Ich begab mich sofort auf meinen Weg. Ich ging den Thälern entlang, selbst wenn sie von meiner Richtung abwichen, und allerlei Windungen verfolgten. Ich suchte nach solchen Abschweifungen immer meinen Hauptweg wie¬ der zu gewinnen. Ich stieg auch auf Bergjoche, und ging auf der entgegengesezten Seite wieder in das Thal hinab. Ich erklomm manchen Gipfel, und suchte von ihm die Gegend zu sehen, und auch schon die Richtung zu erspähen, in welcher ich in nächster Zeit vordringen würde. Im Ganzen hielt ich mich stets, so¬ weit es anging, nach dem Hauptzuge des Gebirges, und wich von der Wasserscheide so wenig als möglich ab. In einem Thale an einem sehr klaren Wasser sah ich einmal einen todten Hirsch. Er war gejagt wor¬ den, eine Kugel hatte seine Seite getroffen, und er mochte das frische Wasser gesucht haben, um seinen Schmerz zu kühlen. Er war aber an dem Wasser ge¬ storben. Jezt lag er an demselben so, daß sein Haupt in den Sand gebettet war, und seine Vorderfüße in die reine Fluth ragten. Ringsum war kein leben¬ diges Wesen zu sehen. Das Thier gefiel mir so, daß ich seine Schönheit bewunderte, und mit ihm großes Mitleid empfand. Sein Auge war noch kaum ge¬ brochen, es glänzte noch in einem schmerzlichen Glanze, und dasselbe, so wie das Antliz, das mir fast spre¬ chend erschien, war gleichsam ein Vorwurf gegen seine Mörder. Ich grif den Hirsch an, er war noch nicht kalt. Als ich eine Weile bei dem todten Thiere ge¬ standen war, hörte ich Laute in den Wäldern des Gebirges, die wie Jauchzen und wie Heulen von Hunden klangen. Diese Laute kamen näher, waren deutlich zu erkennen, und bald sprang ein Paar schöner Hunde über den Bach, denen noch einige folgten. Sie näherten sich mir. Als sie aber den fremden Mann bei dem Wilde sahen, blieben einige in der Entfernung stehen, und bellten heftig gegen mich, während andere heulend weite Kreise um mich zogen, in ihnen dahin flogen, und in Eilfertigkeit sich an Steinen überschlu¬ gen, und überstürzten. Nach geraumer Zeit kamen auch Männer mit Schießgewehren. Als sich diese dem Hirsche genähert hatten, und neben mir standen, kamen auch die Hunde herzu, hatten vor mir keine Scheu mehr, beschnupperten mich, und bewegten sich, und zitterten um das Wild herum. Ich entfernte mich, nachdem die Jäger auf dem Schauplaze erschienen wa¬ ren, sehr bald von ihm. Bisher hatte ich keine Thiere zu meinen Bestre¬ bungen in der Naturgeschichte aufgesucht, obwohl ich die Beschreibungen derselben eifrig gelesen und gelernt hatte. Diese Vernachlässigung der leiblichen wirklichen Gestalt war bei mir so weit gegangen, daß ich, selbst da ich einen Theil des Sommers schon auf dem Lande zubrachte, noch immer die Merkmale von Ziegen Scha¬ fen Kühen aus meinen Abbildungen nicht nach den Gestalten suchte, die vor mir wandelten. Ich schlug jezt einen andern Weg ein. Der Hirsch, den ich gesehen hatte, schwebte mir immer vor den Augen. Er war ein edler gefallner Held, und war ein reines Wesen. Auch die Hunde seine Feinde erschie¬ nen mir berechtigt wie in ihrem Berufe. Die schlan¬ ken springenden und gleichsam geschnellten Gestalten blieben mir ebenfalls vor den Augen. Nur die Men¬ schen, welche das Thier geschossen hatten, waren mir widerwärtig, da sie daraus gleichsam ein Fest gemacht hatten. Ich fing von der Stunde an, Thiere so auf¬ zusuchen und zu betrachten, wie ich bisher Steine und Pflanzen aufgesucht und betrachtet hatte. Sowohl jezt, da ich noch in dem Gebirge war, als auch später zu Hause und bei meinen weiteren Wanderungen be¬ trachtete ich Thiere, und suchte ihre wesentlichen Merk¬ male sowohl an ihrem Leibe als auch an ihrer Lebens¬ art und Bestimmung zu ergründen. Ich schrieb das, was ich gesehen hatte, auf, und verglich es mit den Beschreibungen und Eintheilungen, die ich in meinen Büchern fand. Da geschah es wieder, das, ich mit diesen Büchern in Zwiespalt gerieth, weil es meinen Augen widerstrebte, Thiere nach Zehen oder anderen Dingen in einer Abtheilung beisammen zu sehen, die in ihrem Baue nach meiner Meinung ganz verschieden waren. Ich stellte daher nicht wissenschaftlich aber zu meinem Gebrauche eine andere Eintheilung zu¬ sammen. Einen besondern Zweck, den ich bei dem Besuche des Gebirges befolgen wollte, hatte ich dieses erste Mal nicht, außer was sich zufällig fand. Ich war nur im Allgemeinen in das Gebirge gegangen, um es zu sehen. Als daher dieser erste Drang etwas gesättigt war, begab ich mich auf dem nächsten Wege in das flache Land hinaus, und fuhr auf diesem wieder nach Hause. Allein der kommende Sommer lockte mich abermals in das Gebirge. Hatte ich das erste Mal nur im Allgemeinen geschaut, und waren die Eindrücke wir¬ kend auf mich heran gekommen, so ging ich jezt schon mehr in das Einzelne, ich war meiner schon mehr Herr, und richtete die Betrachtung auf besondere Dinge. Viele von ihnen drängten sich an meine Seele. Ich saß auf einem Steine, und sah die breiten Schatten¬ flächen und die scharfen oft gleichsam mit einem Messer in sie geschnittenen Lichter. Ich dachte nach, weßhalb die Schatten hier so blau seien und die Lichter so kräf¬ Stifter , Nachsommer. I . 4 tig und das Grün so feurig und die Wässer so blizend. Mir fielen die Bilder meines Vaters ein, auf denen Berge gemalt waren, und mir wurde es, als hätte ich sie mitnehmen sollen, um vergleichen zu können. Ich blieb in kleinen Ortschaften zuweilen länger, und be¬ trachtete die Menschen, ihr tägliches Gewerbe ihr Fühlen ihr Reden Denken und Singen. Ich lernte die Zither kennen, betrachtete sie, untersuchte sie, und hörte auf ihr spielen, und zu ihr singen. Sie erschien mir als ein Gegenstand, der nur allein in die Berge gehört, und mit den Bergen Eins ist. Die Wolken, ihre Bildung ihr Anhängen an die Bergwä n de ihr Suchen der Bergspitzen so wie die Verhältnisse des Nebels und seine Neigung zu den Bergen waren mir wunderbare Erscheinungen. Ich bestieg in diesem Sommer auch einige hohe Stellen, ich ließ mich von den Führern nicht blos auf das Eis der Gletscher geleiten, welches mich sehr an¬ regte, und zur Betrachtung aufforderte, sondern be¬ stieg auch mit ihrer Hilfe die höchsten Zinnen der Berge. Ich sah die Überreste einer alten untergegangenen Welt in den Marmoren, die in dem Gebirge vorkom¬ men, und die man in manchen Thälern zu schleifen versteht. Ich suchte besondere Arten aufzufinden, und sendete sie nach Hause. Den schönen Enzian hatte ich im früheren Sommer schon der Schwester in meinen Pflanzenbüchern gebracht, jezt brachte ich ihr auch Alpenrosen und Edelweis. Von der Zirbelkiefer und dem Knieholze nahm ich die zierlichen Früchte. So verging die Zeit, und so kam ich bereichert nach Hause. Ich ging von nun an jeden Sommer in das Ge¬ birge. Wenn ich von den Zimmern meiner Wohnung in dem Hause meiner Eltern nach einem dort verbrachten Winter gegen den Himmel blickte, und nicht mehr so oft an demselben die grauen Wolken und den Nebel sah, sondern öfter schon die blauen und heiteren Lüfte, wenn diese durch ihre Farbe schon gleichsam ihre grö¬ ßere Weichheit ankündigten, wenn auf den Mauern und Schornsteinen und Ziegeldächern, die ich nach vielen Richtungen übersehen konnte, schon immer kräftigere Tafeln von Sonnenschein lagen, kein Schnee sich mehr blicken ließ, und an den Bäumen unseres Gartens die Knospen schwollen: so mahnte es mich bereits in das Freie. Um diesem Drange nur vor¬ läufig zu genügen, ging ich gerne aus der Stadt, und erquickte mich an der offenen Weite der Wiesen der 4 * Felder der Weinberge. Wenn aber die Bäume blüh¬ ten und das erste Laub sich entwickelte, ging ich schon dem Blau der Berge zu, wenngleich ihre Wände noch von manigfaltigem Schnee erglänzten. Ich erwählte mir nach und nach verschiedene Gegenden, an denen ich mich aufhielt, um sie genau kennen zu lernen, und zu genießen. Mein Vater hatte gegen diese Reisen nichts, auch war er mit der Art, wie ich mit meinem Einkommen gebahrte, sehr zufrieden. Es blieb nehmlich in jedem Jahre ein Erkleckliches über, was zu dem Grundvermögen gethan werden konnte. Ich spürte deßohngeachtet in meiner Lebensweise keinen Abgang. Ich strebte nach Dingen, die meine Freude waren, und wenig kosteten, weit weniger als die Vergnügungen, denen meine Bekannten sich hingaben. Ich hatte in Kleidern Speise und Trank die größte Einfachheit, weil es meiner Natur so zusagte, weil wir zur Mäßig¬ keit erzogen waren, und weil diese Gegenstände, wenn ich ihnen große Aufmerksamkeit hätte schenken sollen, mich von meinen Lieblingsbestrebungen abgelenkt hät¬ ten. So ging alles gut, Vater und Mutter freuten sich über meine Ordnung, und ich freute mich über ihre Freude. Da verfiel ich eines Tages auf das Zeichnen. Ich könnte mir ja meine Naturgegenstände, dachte ich, eben so gut zeichnen als beschreiben, und die Zeichnung sei am Ende noch sogar besser als die Beschreibung. Ich erstaunte, weßhalb ich denn nicht sogleich auf den Ge¬ danken gerathen sei. Ich hatte wohl früher immer gezeichnet, aber mit mathematischen Linien, welche nach Rechnungsgesezen entstanden, Flächen und Körper in der Meßkunst darstellten, und mit Zirkel und Richt¬ scheit gemacht worden waren. Ich wußte wohl recht gut, daß man mit Linien alle möglichen Körper dar¬ stellen könne, und hatte es an den Bildern meines Vaters vollführt gesehen: aber ich hatte nicht weiter darüber gedacht, da ich in einer andern Richtung be¬ schäftigt war. Es mußte diese Vernachlässigung von einer Eigenschaft in mir herrühren, die ich in einem hohen Grade besaß, und die man mir zum Vorwurfe machte. Wenn ich nehmlich mit einem Gegenstande eifrig beschäftigt war, so vergaß ich darüber manchen andern, der vielleicht größere Bedeutung hatte. Sie sagten, das sei einseitig, ja es sei sogar Mangel an Gefühl. Ich fing mein Zeichnen mit Pflanzen an, mit Blättern mit Stielen mit Zweigen. Es war Anfangs die Ähnlichkeit nicht sehr groß, und die Vollkommen¬ heit der Zeichnung ließ viel zu wünschen übrig, wie ich später erkannte. Aber es wurde immer besser, da ich eifrig war, und vom Versuchen nicht abließ. Die früher in meine Pflanzenbücher eingelegten Pflanzen, wie sorgsam sie auch vorbereitet waren, verloren nach und nach nicht blos die Farbe sondern auch die Ge¬ stalt, und erinnerten nicht mehr entfernt an ihre ur¬ sprüngliche Beschaffenheit. Die gezeichneten Pflanzen dagegen bewahrten wenigstens die Gestalt, nicht zu gedenken, daß es Pflanzen gibt, die wegen ihrer Be¬ schaffenheit und selbst solche, die wegen ihrer Größe in ein Pflanzenbuch nicht gelegt werden können, wie zum Beispiele Pilze oder Bäume. Diese konnten in einer Zeichnung sehr wohl aufbewahrt werden. Die bloßen Zeichnungen aber genügten mir nach und nach auch nicht mehr, weil die Farbe fehlte, die bei den Pflan¬ zen besonders bei den Blüthen eine Hauptsache ist. Ich begann daher, meine Abbildungen mit Farben zu versehen, und nicht eher zu ruhen, als bis die Ähnlichkeit mit den Urbildern erschien, und immer größer zu werden versprach. Nach den Pflanzen nahm ich auch andere Gegen¬ stände vor, deren Farbe etwas Auffallendes und Fa߬ liches hatte. Ich gerieth auf die Falterne, und suchte mehrere nachzubilden. Die Farben von minder hervor¬ ragenden Gegenständen, die zwar unscheinbar aber doch bedeutsam sind, wie die der Gesteine im unkristalli¬ schen Zustande, kamen später an die Reihe, und ich lernte ihre Reize nach und nach würdigen. Da ich nun einmal zeichnete, und die Dinge de߬ halb doch viel genauer betrachte mußten, und da das Zeichnen und meine jezigen Bestrebungen mich doch nicht ganz ausfüllten, kam ich auch noch auf eine an¬ dere viel weiter gehende Richtung. Ich habe schon gesagt, daß ich gerne auf hohe Berge stieg, und von ihnen aus die Gegenden betrach¬ tete. Da stellten sich nun dem geübteren Auge die bildsamen Gestalten der Erde in viel eindringlicheren Merkmalen dar, und faßten sich übersichtlicher in großen Theilen zusammen. Da öffnete sich dem Ge¬ müthe und der Seele der Reiz des Entstehens dieser Gebilde, ihrer Falten und ihrer Erhebungen, ihres Dahinstreichens und Abweichens von einer Richtung, ihres Zusammenstrebens gegen einen Hauptpunkt und ihrer Zerstreuungen in die Fläche. Es kam ein altes Bild, das ich einmal in einem Buche gelesen und wie¬ der vergessen hatte, in meine Erinnerung. Wenn das Wasser in unendlich kleinen Tröpfchen, die kaum durch ein Vergrößerungsglas ersichtlich sind, aus dem Dunste der Luft sich auf die Tafeln unserer Fenster absezt, und die Kälte dazu kömmt, die nöthig ist, so entsteht die Decke von Fäden Sternen Wedeln Palmen und Blumen, die wir gefrorene Fenster heißen. Alle diese Dinge stellen sich zu einem Ganzen zusammen, und die Strahlen die Thäler die Rücken die Knoten des Eises sind durch ein Vergrößerungsglas angesehen bewunderungswürdig. Eben so stellt sich von sehr hohen Bergen aus gesehen die niedriger liegende Ge¬ staltung der Erde dar. Sie muß aus einem erstarren¬ den Stoffe entstanden sein, und streckt ihre Fächer und Palmen in großartigem Maßstabe aus. Der Berg sel¬ ber, auf dem ich stehe, ist der weiße helle und sehr glänzende Punkt, den wir in der Mitte der zarten Gewebe unserer gefrorenen Fenster sehen. Die Pal¬ menränder der gefrorenen Fenstertafeln werden durch Abbröklung wegen des Luftzuges oder durch Schmel¬ zung wegen der Wärme lückenhaft und unterbrochen. An den Gebirgszügen geschehen Zerstörungen durch Verwitterung in Folge des Einflusses des Wassers der Luft der Wärme und der Kälte. Nur braucht die Zer¬ störung der Eisnadeln an den Fenstern kürzere Zeit als der Nadeln der Gebirge. Die Betrachtung der unter mir liegenden Erde, der ich oft mehrere Stun¬ den widmete, erhob mein Herz zu höherer Bewegung, und es erschien mir als ein würdiges Bestreben, ja als ein Bestreben, zu dem alle meine bisherigen Bemüh¬ ungen nur Vorarbeiten gewesen waren, dem Ent¬ stehen dieser Erdoberfläche nachzuspüren, und durch Sammlung vieler kleiner Thatsachen an den verschie¬ densten Stellen sich in das große und erhabene Ganze auszubreiten, das sich unsern Blicken darstellt, wenn wir von Hochpunkt zu Hochpunkt auf unserer Erde reisen, und sie endlich alle erfüllt haben, und keine Bildung dem Auge mehr zu untersuchen bleibt als die Weite und die Wölbung des Meeres. Ich begann, durch diese Gefühle und Betrach¬ tungen angeregt, gleichsam als Schlußstein oder Zu¬ sammenfassung aller meiner bisherigen Arbeiten die Wissenschaft der Bildung der Erdoberfläche und da¬ durch vielleicht der Bildung der Erde selber zu betrei¬ ben. Nebstdem, daß ich gelegentlich von hohen Stellen aus die Gestaltung der Erdoberfläche genau zeichnete, gleichsam als wäre sie durch einen Spiegel gesehen worden, schaffte ich mir die vorzüglichsten Werke an, welche über diese Wissenschaft handeln, machte mich mit den Vorrichtungen, die man braucht, bekannt so wie mit der Art ihrer Benüzung. Ich betrieb nun diesen Gegenstand mit fortgeseztem Eifer und mit einer strengen Ordnung. Dabei lernte ich auch nach und nach den Himmel kennen, die Gestaltung seiner Erscheinungen und die Verhältnisse seines Wetters. Meine Besuche der Berge hatten nun fast aus¬ schließlich diesen Zweck zu ihrem Inhalte. 3. Die Einkehr. Eines Tages ging ich von dem Hochgebirge gegen das Hügelland hinaus. Ich wollte nehmlich von einem Gebirgszuge in einen andern übersiedeln, und meinen Weg dahin durch einen Theil des offenen Landes neh¬ men. Jedermann kennt die Vorberge, mit welchen das Hochgebirge gleichsam wie mit einem Übergange gegen das flachere Land ausläuft. Mit Laub- oder Nadelwald bedeckt ziehen sie in angenehmer Färbung dahin, lassen hie und da das blaue Haupt eines Hochberges über sich sehen, sind hie und da von einer leuchtenden Wiese unterbrochen, führen alle Wässer, die das Gebirge liefert, und die gegen das Land hinaus gehen, zwischen sich, zeigen manches Gebäude und manches Kirchlein, und strecken sich nach allen Richtungen, in denen das Gebirge sich abniedert, gegen die bebauteren und be¬ wohnteren Theile hinaus. Als ich von dem Hange dieser Berge herab ging, und eine freiere Umsicht gewann, erblickte ich gegen Untergang hin die sanften Wolken eines Gewitters, das sich sachte zu bilden begann, und den Himmel umschleierte. Ich schritt rüstig fort, und beobachtete das Zunehmen und Wachsen der Bewölkung. Als ich ziemlich weit hinaus gekommen war, und mich in einem Theile des Landes befand, wo sanfte Hügel mit mäßigen Flächen wechseln, Meierhöfe zerstreut sind, der Obstbau gleichsam in Wäldern sich durch das Land zieht, zwischen dem dunkeln Laube die Kirch¬ thürme schimmern, in den Thalfurchen die Bäche rau¬ schen, und überall wegen der größeren Weitung, die das Land gibt, das blaue gezackte Band der Hoch¬ gebirge zu erblicken ist, mußte ich auf eine Einkehr denken; denn das Dorf, in welchem ich Rast halten wollte, war kaum mehr zu erreichen. Das Gewitter war so weit gediehen, daß es in einer Stunde und bei begünstigenden Umständen wohl noch früher aus¬ brechen konnte. Vor mir hatte ich das Dorf Rohrberg, dessen Kirchthurm von der Sonne scharf beschienen über Kirschen- und Weidenbäumen hervor sah. Es lag nur ganz wenig abseits von der Straße. Näher waren zwei Meierhöfe, deren jeder in einer mäßigen Entfer¬ nung von der Straße in Wiesen und Feldern prangte. Auch war ein Haus auf einem Hügel, das weder ein Bauerhaus noch irgend ein Wirthschaftsgebäude eines Bürgers zu sein schien, sondern eher dem Landhause eines Städters glich. Ich hatte schon früher wieder¬ holt, wenn ich durch die Gegend kam, das Haus be¬ trachtet, aber ich hatte mich nie näher um dasselbe bekümmert. Jezt fiel es mir um so mehr auf, weil es der nächste Unterkunftsplaz von meinem Standorte aus war, und weil es mehr Bequemlichkeit als die Meierhöfe zu geben versprach. Dazu gesellte sich ein eigenthümlicher Reiz. Es war, da schon ein großer Theil des Landes mit Ausnahme des Rohrberger Kirchthurmes im Schatten lag, noch hell beleuchtet, und sah mit einladendem schimmerndem Weiß in das Grau und Blau der Landschaft hinaus. Ich beschloß also, in diesem Hause eine Unter¬ kunft zu suchen. Ich forschte dem zu Folge nach einem Wege, der von der Straße auf den Hügel des Hauses hinauf¬ führen sollte. Nach meiner Kenntniß des Landesge¬ brauches war es mir nicht schwer, den mit einem Zaune und mit Gebüsch besäumten Weg, der von der Landstraße ab hinauf ging, zu finden. Ich schritt auf demselben empor und kam, wie ich richtig vermuthet hatte, vor das Haus. Es war noch immer von der Sonne hell beschienen. Allein, da ich näher vor das¬ selbe trat, hatte ich einen bewunderungswürdigen An¬ blick. Das Haus war über und über mit Rosen be¬ deckt, und wie es in jenem fruchtbaren hügligen Lande ist, daß, wenn einmal etwas blüht, gleich alles mit einander blüht, so war es auch hier: die Rosen schie¬ nen sich das Wort gegeben zu haben, alle zur selben Zeit aufzubrechen, um das Haus in einen Überwurf der reizendsten Farbe und in eine Wolke der süßesten Gerüche zu hüllen. Wenn ich sage, das Haus sei über und über mit Rosen bedekt gewesen, so ist das nicht so wortgetreu zu nehmen. Das Haus hatte zwei ziemlich hohe Ge¬ schosse. Die Wand des Erdgeschosses war bis zu den Fenstern des oberen Geschosses mit den Rosen bedeckt. Der übrige Theil bis zu dem Dache war frei, und er war das leuchtende weiße Band, welches in die Land¬ schaft hinaus geschaut, und mich gewissermaßen her¬ auf gelockt hatte. Die Rosen waren an einem Gitter¬ werke, das sich vor der Wand des Hauses befand, befestigt. Sie bestanden aus lauter Bäumchen. Es waren winzige darunter, deren Blätter gleich über der Erde begannen, dann höhere, deren Stämmchen über die ersten empor ragten, und so fort, bis die lezten mit ihren Zweigen in die Fenster des oberen Geschos¬ ses hinein sahen. Die Pflanzen waren so vertheilt, und gehegt, daß nirgends eine Lücke entstand, und daß die Wand des Hauses, soweit sie reichten, vollkommen von ihnen bedeckt war. Ich hatte eine Vorrichtung dieser Art in einem so großen Maßstabe noch nie gesehen. Es waren zudem fast alle Rosengattungen da, die ich kannte, und einige, die ich noch nicht kannte. Die Farben gingen von dem reinen Weiß der weißen Rosen durch das gebliche und röthliche Weiß der Übergangsrosen in das zarte Roth und in den Pur¬ pur und in das bläuliche und schwärzliche Roth der rothen Rosen über. Die Gestalten und der Bau wechselten in eben demselben Maße. Die Pflanzen waren nicht etwa nach Farben eingetheilt, sondern die Rücksicht der Anpflanzung schien nur die zu sein, daß in der Rosenwand keine Unterbrechung statt fin¬ den möge. Die Farben blühten daher in einem Ge¬ mische durch einander. Auch das Grün der Blätter fiel mir auf. Es war sehr rein gehalten, und kein bei Rosen öfter als bei andern Pflanzen vorkommender Übelstand der grünen Blätter und keine der häufigen Krankheiten kam mir zu Gesichte. Kein verdorrtes oder durch Raupen zer¬ fressenes oder durch ihr Spinnen verkrümmtes Blatt war zu erblicken. Selbst das bei Rosen so gerne sich einnistende Ungeziefer fehlte. Ganz entwickelt und in ihren verschiedenen Abstufungen des Grüns prangend standen die Blätter hervor. Sie gaben mit den Farben der Blumen gemischt einen wunderlichen Überzug des Hauses. Die Sonne, die noch immer gleichsam ein¬ zig auf dieses Haus schien, gab den Rosen und den grünen Blättern derselben gleichsam goldene und feu¬ rige Farben. Nachdem ich eine Weile mein Vorhaben vergessend vor diesen Blumen gestanden war, ermahnte ich mich, und dachte an das Weitere. Ich sah mich nach einem Eingange des Hauses um. Allein ich erblickte keinen. Die ganze ziemlich lange Wand desselben hatte keine Thür und kein Thor. Auch durch keinen Weg war der Eingang zu dem Hause bemerkbar gemacht; denn der ganze Plaz vor demselben war ein reiner durch den Rechen wohlgeordneter Sandplaz. Derselbe schnitt sich durch ein Rasenband und eine Hecke von den an¬ grenzenden hinter meinem Rücken liegenden Feldern ab. Zu beiden Seiten des Hauses in der Richtung seiner Länge sezten sich Gärten fort, die durch ein hohes eisernes grün angestrichenes Gitter von dem Sandplaze getrennt waren. In diesen Gittern mußte also der Eingang sein. Und so war es auch. In dem Gitter, welches dem den Hügel heranfüh¬ renden Wege zunächst lag, entdeckte ich die Thür oder eigentlich zwei Flügel einer Thür, die dem Gitter so eingefügt waren, daß sie von demselben bei dem ersten Anblicke nicht unterschieden werden konnten. In den Thüren waren die zwei messingenen Schloßgriffe, und an der Seite des einen Flügels ein Glockengrif. Ich sah zuerst ein wenig durch das Gitter in den Garten. Der Sandplaz sezte sich hinter dem Gitter fort, nur war er besäumt mit blühenden Gebüschen und unterbrochen mit hohen Obstbäumen, welche Schatten gaben. In dem Schatten standen Tische und Stühle; es war aber kein Mensch bei ihnen gegen¬ wärtig. Der Garten erstreckte sich rückwärts um das Stifter , Nachsommer. I . 5 Haus herum, und schien mir bedeutend weit in die Tiefe zu gehen. Ich versuchte zuerst die Thürgriffe, aber sie öffneten nicht. Dann nahm ich meine Zuflucht zu dem Glocken¬ griffe, und läutete. Auf den Klang der Gloke kam ein Mann hinter den Gebüschen des Gartens gegen mich hervor. Als er an der innern Seite des Gitters vor mir stand, sah ich, daß es ein Mann mit schneeweißen Haaren war, die er nicht bedeckt hatte. Sonst war er unscheinbar, und hatte eine Art Hausjacke an, oder wie man das Ding nennen soll, das ihm überall enge anlag, und fast bis auf die Knie herab reichte. Er sah mich einen Augenblick an, da er zu mir herangekommen war, und sagte dann: „Was wollt ihr, lieber Herr?“ „Es ist ein Gewitter im Anzuge,“ antwortete ich, „und es wird in Kurzem über diese Gegend kommen. Ich bin ein Wandersmann, wie ihr an meinem Ränz¬ chen seht, und bitte daher, daß mir in diesem Hause so lange ein Obdach gegeben werde, bis der Regen oder wenigstens der schwerere vorüber ist.“ „Das Gewitter wird nicht zum Ausbruche kom¬ men,“ sagte der Mann. „Es wird keine Stunde dauern, daß es kommt, entgegnete ich, „ich bin mit diesen Gebirgen sehr wohl bekannt, und verstehe mich auch auf die Wolken und Gewitter derselben ein wenig.“ „Ich bin aber mit dem Plaze, auf welchem wir stehen, aller Wahrscheinlichkeit nach weit länger be¬ kannt als ihr mit dem Gebirge, da ich viel älter bin als ihr,“ antwortete er, „ich kenne auch seine Wolken und Gewitter, und weiß, daß heute auf dieses Haus diesen Garten und diese Gegend kein Regen nieder¬ fallen wird.“ „Wir wollen nicht lange darüber Meinungen hegen, ob ein Gewitter dieses Haus nezen wird oder nicht,“ sagte ich; „wenn ihr Anstand nehmet, mir dieses Gitterthor zu öffnen, so habet die Güte, und ruft den Herrn des Hauses herbei.“ „Ich bin der Herr des Hauses.“ Auf dieses Wort sah ich mir den Mann etwas näher an. Sein Angesicht zeigte zwar auch auf ein vorgerücktes Alter; aber es schien mir jünger als die Haare, und gehörte überhaupt zu jenen freundlichen wohlgefärbten nicht durch das Fett der vorgerückteren Jahre entstellten Angesichtern, von denen man nie weiß, wie alt sie sind. Hierauf sagte ich: „Nun muß ich wohl um Verzeihung bitten, daß ich so zudringlich 5 * gewesen bin, ohne Weiteres auf die Sitte des Landes zu bauen. Wenn eure Behauptung, daß kein Gewitter kommen werde, einer Ablehnung gleich sein soll, werde ich mich augenblicklich entfernen. Denkt nicht, daß ich als junger Mann den Regen so scheue; es ist mir zwar nicht so angenehm, durchnäßt zu werden, als trocken zu bleiben, es ist mir aber auch nicht so unan¬ genehm, daß ich deßhalb jemanden zur Last fallen sollte. Ich bin oft von dem Regen getroffen worden, und es liegt nichts daran, wenn ich auch heute ge¬ troffen werde.“ „Das sind eigentlich zwei Fragen,“ antwortete der Mann,“ und ich muß auf beide etwas entgegnen. Das Erste ist, daß ihr in Naturdingen eine Unrichtigkeit gesagt habt, was vielleicht daher kommt, daß ihr die Verhältnisse dieser Gegend zu wenig kennt, oder auf die Vorkommnisse der Natur nicht genug achtet. Die¬ sen Irrthum mußte ich berichtigen; denn in Sachen der Natur muß auf Wahrheit gesehen werden. Das Zweite ist, daß, wenn ihr mit oder ohne Gewitter in dieses Haus kommen wollt, und wenn ihr gesonnen seid, seine Gastfreundschaft anzunehmen, ich sehr gerne willfahren werde. Dieses Haus hat schon manchen Gast gehabt, und manchen gerne beherbergt; und wie ich an euch sehe, wird es auch euch gerne beherbergen, und so lange verpflegen, als ihr es für nöthig erach¬ ten werdet. Darum bitte ich euch, tretet ein.“ Mit diesen Worten that er einen Druck am Schlosse des Thorflügels, der Flügel öffnete sich, drehte sich mit einer Rolle auf einer halbkreisartigen Eisenschiene, und gab mir Raum zum Eintreten. Ich blieb nun einen Augenblick unentschlossen. „Wenn das Gewitter nicht kömmt,“ sagte ich, „so habe ich im Grunde keine Ursache, hier einzutreten; denn ich bin nur des anziehenden Gewitters willen von der Landstraße abgewichen, und zu diesem Hause heraufgestiegen. Aber verzeiht mir, wenn ich noch einmal die Frage anrege. Ich bin beinahe eine Art Naturforscher, und habe mich mehrere Jahre mit Na¬ turdingen mit Beobachtungen und namentlich mit die¬ sem Gebirge beschäftigt, und meine Erfahrungen sagen mir, daß heute über diese Gegend und dieses Haus ein Gewitter kommen wird.“ „Nun müßt ihr eigentlich vollends herein gehen,“ sagte er, „jezt handelt es sich darum, daß wir gemein¬ schaftlich abwarten, wer von uns beiden recht hat. Ich bin zwar kein Naturforscher, und kann von mir nicht sagen, daß ich mich mit Naturwissenschaften be¬ schäftigt habe; aber ich habe manches über diese Gegen¬ stände gelesen, habe während meines Lebens mich be¬ müht, die Dinge zu beobachten, und über das Gelesene und Gesehene nachzudenken. In Folge dieser Bestre¬ bungen habe ich heute die unzweideutigen Zeichen ge¬ sehen, daß die Wolken, welche jezt noch gegen Sonnen¬ untergang stehen, welche schon einmal gedonnert haben, und von denen ihr veranlaßt worden seid, zu mir her¬ auf zu steigen, nicht über dieses Haus und überhaupt über keine Gegend einen Regen bringen werden. Sie werden sich vielleicht, wenn die Sonne tiefer kömmt, vertheilen, und werden zerstreut am Himmel herum stehen. Abends werden wir etwa einen Wind spü¬ ren, und morgen wird gewiß wieder ein schöner Tag sein. Es könnte sich zwar ereignen, daß einige schwere Tropfen fallen, oder ein kleiner Sprühregen nieder geht; aber gewiß nicht auf diesen Hügel.“ „Da die Sache so ist,“ erwiederte ich, „trete ich gerne ein, und harre mit euch gerne der Entscheidung, auf die ich begierig bin.“ Nach diesen Worten trat ich ein, er schloß das Gitter, und sagte, er wolle mein Führer sein. Er führte mich um das Haus herum; denn in der den Rosen entgegengesezten Seite war die Thür. Er führte mich durch dieselbe ein, nachdem er sie mit einem Schlüssel geöffnet hatte. Hinter der Thür erblickte ich einen Gang, welcher mit Amonitenmarmor gepflastert war. „Dieser Eingang,“ sagte er, „ist eigentlich der Haupt¬ eingang; aber da ich mir nicht gerne das Pflaster des Ganges verderben lasse, halte ich ihn immer gesperrt, und die Leute gehen durch eine Thür in die Zimmer, welche wir finden würden, wenn wir noch einmal um die Ecke des Hauses gingen. Des Pflasters willen muß ich euch auch bitten, diese Filzschuhe anzuziehen.“ Es standen einige Paare gelblicher Filzschuhe gleich innerhalb der Thür. Niemand konnte mehr als ich von der Nothwendigkeit überzeugt sein, diesen so edlen und schönen Marmor zu schonen, der an sich so vor¬ trefflich ist, und hier ganz meisterhaft geglättet war. Ich fuhr daher mit meinen Stiefeln in ein Paar sol¬ cher Schuhe, er that desgleichen, und so gingen wir über den glatten Boden. Der Gang, welcher von oben beleuchtet war, führte zu einer braunen getäfel¬ ten Thür. Vor derselben legte er die Filzschuhe ab, verlangte von mir, daß ich dasselbe thue, und, nach¬ dem wir uns auf dem hölzernen Antritte der Thür der Filzschuhe entledigt hatten, öffnete er dieselbe, und führte mich in ein Zimmer. Dem Ansehen nach war es ein Speisezimmer; denn in der Mitte desselben stand ein Tisch, an dessen Bauart man sah, daß er vergrößert oder verkleinert werden könne, je nachdem eine größere oder kleinere Anzahl von Personen um ihn sizen sollte. Außer dem Tische befanden sich nur Stühle in dem Zimmer und ein Schrein, in welchem die Speise¬ geräthschaften enthalten sein konnten. „Legt in diesem Zimmer,“ sagte der Mann, „euern Hut euerm Stock und euer Ränzlein ab, ich werde euch dann in ein anderes Gemach führen, in welchem ihr ausruhen könnt.“ Als er dies gesagt, und ich ihm Folge geleistet hatte, trat er zu einer breiten Strohmatte und zu Fu߬ bürsten, die sich am Ausgange des Zimmers befanden, reinigte sich an beiden sehr sorgsam seine Fußbekleidung, und lud mich ein, dasselbe zu thun. Ich that es, und da ich fertig war, öffnete er die Ausgangsthür, die ebenfalls braun und getäfelt war, und führte mich durch ein Vorgemach in ein Ausruhezimmer, welches an der Seite des Vorgemaches lag. „Dieses Vorgemach,“ sagte er, „ist der eigentliche Eingang in das Speisezimmer, und man kommt von der andern Thür in dasselbe.“ Das Ausruhezimmer war ein freundliches Ge¬ mach, und schien recht eigens zum Sizen und Ruhe¬ halten bestimmt. Es befaßte nichts als lauter Tische und Size. Auf den Tischen lagen aber nicht, wie es häufig in unsern Besuchzimmern vorkömmt, Bücher oder Zeichnungen und dergleichen Dinge, sondern die Tafeln derselben waren unbedeckt, und waren ausneh¬ mend gut geglättet und gereinigt. Sie waren von dunklem Mahagoniholze, das in der Zeit noch mehr nachgedunkelt war. Ein einziges Geräthe war da, welches kein Tisch und kein Siz war, ein Gestelle mit mehreren Fächern, welches Bücher enthielt. An den Wänden hingen Kupferstiche. „Hier könnt ihr ausruhen, wenn ihr vom Gehen müde seid, oder überhaupt ruhen wollt, „sagte der „Mann, ich werde gehen, und sorgen, daß man euch etwas zu essen bereitet. Ihr müßt wohl eine Weile allein bleiben. Auf dem Gestelle liegen Bücher, wenn ihr etwa ein wenig in dieselben blicken wollet.“ Nach diesen Worten entfernte er sich. Ich war in der That müde und sezte mich nieder. Als ich saß, konnte ich den Grund einsehen, we߬ halb der Mann vor dem Eintritte in dieses Zimmer so sehr seine Fußbekleidung gereinigt, und mir den Wunsch zu gleicher Reinigung ausgedrükt hatte. Das Zimmer enthielt nehmlich einen schön getäfelten Fu߬ boden, wie ich nie einen gleichen gesehen hatte. Es war beinahe ein Teppich aus Holz. Ich konnte das Ding nicht genug bewundern. Man hatte lauter Holzgattungen in ihren natürlichen Farben zusammen¬ gesezt, und sie in ein Ganzes von Zeichnungen gebracht. Da ich von den Geräthen meines Vaters her an solche Dinge gewohnt war, und sie etwas zu beurtheilen verstand, sah ich ein, daß man alles nach einem in Farben ausgeführten Plane gemacht haben mußte, welcher Plan mir selber wie ein Meisterstück erschien. Ich dachte, da dürfe ich ja gar nicht aufstehen, und auf der Sache herum gehen, besonders wenn ich die Nägel in Anschlag brachte, mit denen meine Gebirgs¬ stiefel beschlagen waren. Auch hatte ich keine Veran¬ lassung zum Aufstehen, da mir die Ruhe nach einem ziemlich langen Gange sehr angenehm war. Da saß ich nun in dem weißen Hause, zu welchem ich hinauf gestiegen war, um in ihm das Gewitter ab¬ zuwarten. Es schien noch immer die Sonne auf das Haus, blickte durch die Fenster dieses Zimmers schief herein, und legte lichte Tafeln auf den schönen Fußboden des¬ selben. Als ich eine Weile gesessen war, bemächtigte sich meiner eine seltsame Empfindung, welche ich mir An¬ fangs nicht zu erklären vermochte. Es war mir nehm¬ lich, als size ich nicht in einem Zimmer, sondern im Freien und zwar in einem stillen Walde. Ich blickte gegen die Fenster, um mir das Ding zu erklären; aber die Fenster ertheilten die Erklärung nicht: ich sah durch sie ein Stück Himmel, theils rein theils etwas bewölkt, und unter dem Himmel sah ich ein Stück Gartengrün von emporragenden Bäumen, ein Anblick, den ich wohl schon sehr oft gehabt hatte. Ich spürte eine reine freie Luft mich umgeben. Die Ursache davon war, daß die Fenster des Zimmers in ihren oberen Theilen offen waren. Diese oberen Theile konnten nicht nach Innen geöffnet werden, wie das gewöhnlich der Fall ist, sondern waren nur zu verschieben, und zwar so, daß einmal Glas in dem Rahmen vorge¬ schoben werden konnte, ein anderes Mal ein zarter Flor von weißgrauer Seide. Da ich in dem Zimmer saß, war das Leztere der Fall. Die Luft konnte frei herein strömen, Fliegen und Staub waren aber aus¬ geschlossen. Wenn nun gleich die reine Luft eine Mahnung des Freien gab, sah ich doch hierin nicht die völlige Erklärung allein. Ich bemerkte noch etwas anderes. In dem Zimmer, in welchem ich mich befand, hörte man nicht den geringsten Laut eines bewohnten Hau¬ ses, den man doch sonst, es mag im Hause noch so ruhig sein, mehr oder weniger in Zwischenräumen vernimmt. Diese Art Abwesenheit häuslichen Ge¬ räusches verbarg allerdings die Nachbarschaft bewohn¬ ter Räume, konnte aber eben so wenig als die freie Luft die Waldempfindung geben. Endlich glaubte ich auf den Grund gekommen zu sein. Ich hörte nehmlich fast ununterbrochen bald näher bald ferner bald leiser bald lauter vermischten Vogelgesang. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf diese Wahrnehmung, und erkannte bald, daß der Gesang nicht blos von Vögeln herrühre, die in der Nähe menschlicher Wohnungen hausen, sondern auch von solchen, deren Stimme und Zwitschern mir nur aus den Wäldern und abgelegenen Bebuschungen be¬ kannt war. Dieses wenig auffallende mir aus meinem Gebirgsaufenthalte bekannte und von mir in der That nicht gleich beachtete Getön mochte wohl die Haupt¬ ursache meiner Täuschung gewesen sein, obwohl die Stille des Raumes und die reine Luft auch mitgewirkt haben konnten. Da ich nun genauer auf dieses ge¬ legentliche Vogelzwitschern achtete, fand ich wirklich, daß Töne sehr einsamer und immer in tiefen Wäldern wohnender Vögel vorkamen. Es nahm sich dies wun¬ derlich in einem bewohnten und wohleingerichteten Zimmer aus. Da ich aber nun den Grund meiner Empfindung aufgefunden hatte, oder aufgefunden zu haben glaubte, war auch ein großer Theil ihrer Dunkelheit und mit¬ hin Annehmlichkeit verschwunden. Wie ich nun so fortwährend auf den Vogelgesang merkte, fiel mir sogleich auch etwas anderes ein. Wenn ein Gewitter im Anzuge ist, und schwüle Lüfte in dem Himmelsraume stocken, schweigen gewöhnlich die Wald¬ vögel. Ich erinnerte mich, daß ich in solchen Augenbli¬ ken oft in den schönsten dichtesten entlegensten Wäldern nicht den geringsten Laut gehört habe, etwa ein ein¬ maliges oder zweimaliges Hämmern des Spechtes ausgenommen oder den kurzen Schrei jenes Geiers, den die Landleute Gießvogel nennen. Aber selbst er schweigt, wenn das Gewitter in unmittelbarer An¬ näherung ist. Nur bei den Menschen wohnende Vögel, die das Gewitter fürchten wie er, oder solche, die im weiten Freien hausen, und vielleicht dessen majestätische Annäherung bewundern, zeigen sein Bevorstehen an. So habe ich Schwalben vor den dicken Wolken eines heraufsteigenden Gewitters mit ihrem weißen Bauch¬ gefieder kreuzen gesehen, und selbst schreien gehört, und so habe ich Lerchen singend gegen die dunkeln Ge¬ witterwolken aufsteigen gesehen. Das Singen der Waldvögel erschien mir nun als ein schlimmes Zeichen für meine Voraussagung eines Gewitters. Auch fiel mir auf, daß sich noch immer keine Merkmale des Ausbruches zeigten, welchen ich nicht für so ferne ge¬ halten hatte, als ich die Landstraße verließ. Die Sonne schien noch immer auf das Haus, und ihre glänzenden Lichttafeln lagen noch immer auf dem schönen Fu߬ boden des Zimmers. Mein Beherberger schien es darauf angelegt zu haben, mich lange allein zu lassen, wahrscheinlich, um mir Raum zur Ruhe und Bequemlichkeit zu geben; denn er kam nicht so bald zurück, als ich nach seiner Äußerung erwartet hatte. Als ich eine geraume Weile gesessen war, und das Sizen anfing, mir nicht mehr jene Annehmlichkeit zu gewähren wie Anfangs, stand ich auf, und ging auf den Fußspitzen, um den Boden zu schonen, zu dem Büchergestelle, um die Bücher anzusehen. Es waren aber blos beinahe lauter Dichter. Ich fand Bände von Herder Lessing Göthe Schiller, Übersetzungen Shakspeares von Schlegel und Tieck, einen griechischen Odysseus, dann aber auch etwas aus Ritters Erd¬ beschreibung aus Johannes Müllers Geschichte der Menschheit, und aus Alexander und Wilhelm Hum¬ boldt. Ich that die Dichter bei Seite, und nahm Alexander Humboldts Reise in die Äquinoctialländer, die ich zwar schon kannte, in der ich aber immer gerne las. Ich begab mich mit meinem Buche wieder zu meinem Size zurück. Als ich nicht gar kurze Zeit gelesen hatte, trat mein Beherberger herein. Ich hatte, weil er so lange abwesend war, gedacht, er werde sich etwa auch umgekleidet haben, weil er doch nun einmal einen Gast habe, und weil sein An¬ zug so gar unbedeutend war. Aber er kam in den nehmlichen Kleidern zurük, in welchen er vor mir an dem Gitterthore gestanden war. Er entschuldigte sein Außenbleiben nicht, sondern sagte, ich möchte, wenn ich ausgeruht hätte, und es mir genehm wäre, zu speisen, ihm in das Speisezimmer folgen, es würde dort für mich aufgetragen werden. Ich sagte, ausgeruht hätte ich schon; aber ich sei nur gekommen, um um Unterstand zu bitten, nicht aber auch in anderer Weise besonders in Hinsicht von Speise und Trank lästig zu fallen. „Ihr fallt nicht lästig,“ antwortete der Mann, „ihr müßt etwas zu essen bekommen, besonders da ihr so lange da bleiben müßt, bis sich die Sache wegen des Gewitters entschieden hat. Da schon Mittag vorüber ist, wir aber genau mit der Mittagstunde des Tages zu Mittag essen, und von da bis zu dem Abendessen nichts mehr aufgetragen wird, so muß für euch, wenn ihr nicht bis Abends warten sollet, besonders aufge¬ tragen werden. Solltet ihr aber schon zu Mittag ge¬ gessen haben, und bis Abends warten wollen, so fo¬ dert es doch die Ehre des Hauses, daß euch etwas gebothen werde, ihr möget es dann annehmen oder nicht. Folgt mir daher in das Speisezimmer.“ Ich legte das Buch neben mich auf den Siz, und schickte mich an, zu gehen. Er aber nahm das Buch, und legte es auf seinen Plaz in dem Büchergestelle. „Verzeiht,“ sagte er, „es ist bei uns Sitte, daß die Bücher, die auf dem Gestelle sind, damit jemand, der in dem Zimmer wartet, oder sich sonst aufhält, bei Gelegenheit und nach Wohlgefallen etwas lesen kann, nach dem Gebrauche wieder auf das Gestelle gelegt werden, damit das Zimmer die ihm zugehörige Ge¬ stalt behalte.“ Hierauf öffnete er die Thür, und lud mich ein, in das mir bekannte Speisezimmer voraus zu gehen. Als wir in demselben angelangt waren, sah ich, daß in ausgezeichnet schönen weißen Linnen gedeckt sei, und zwar nur ein Gedecke, daß sich eingemachte Früchte Wein Wasser und Brod auf dem Tische be¬ fanden, und in einem Gefäße verkleinertes Eis war, es in den Wein zu thun. Mein Ränzlein und meinen Schwarzdornstock sah ich nicht mehr, mein Hut aber lag noch auf seinem Plaze. Mein Begleiter that aus einer der Taschen seines Kleides ein, wie ich vermuthete, silbernes Glöcklein hervor, und läutete. Sofort erschien eine Magd, und brachte ein gebratenes Huhn und schönen rothgespren¬ kelten Kopfsallat. Mein Gastherr lud mich ein, mich zu sezen, und zu essen. Da es so freundlich gebothen war, nahm ich es an. Obwohl ich wirklich schon einmal gegessen hatte, so war das vor dem Mittag gewesen, und ich war Stifter , Nachsommer. 6 durch das Wandern wieder hungrig geworden. Ich genoß daher von dem Aufgesezten. Mein Beherberger sezte sich zu mir, leistete mir Gesellschaft, aß und trank aber nichts. Da ich fertig war, und die Eßgeräthe hingelegt hatte, both er mir an, wenn ich nicht zu müde sei, mich in den Garten zu führen. Ich nahm es an. Er läutete wieder mit dem Glöcklein, um den Be¬ fehl zu geben, daß man abräume, und führte mich nun nicht durch den Gang, durch welchen wir herein gekommen waren, sondern durch einen mit gewöhn¬ lichen Steinen gepflasterten in den Garten. Er hatte jezt ein kleines Häubchen von durchbrochener Arbeit auf seinen weißen Haaren, wie man sie gerne Kindern aufsezt, um ihre Locken gleichsam wie in einem Neze einzufangen. Als wir in das Freie kamen, sah ich, daß, wäh¬ rend ich aß, die Sonne auf das Haus zu scheinen aufgehört hatte, sie war von der Gewitterwand über¬ holt worden. Auf dem Garten so wie auf der Gegend lag der warme trockene Schatten, wie er bei solchen Gelegenheiten immer erscheint. Aber die Gewitter¬ wand hatte sich während meines Aufenthaltes in dem Hause wenig verändert, und gab nicht die Aussicht auf baldigen Ausbruch des Regens. Ein Umblick überzeugte mich sogleich, daß der Garten hinter dem Hause sehr groß sei. Er war aber kein Garten, wie man sie gerne hinter und neben den Landhäusern der Städter anlegt, nehmlich, daß man unfruchtbare oder höchstens Zierfrüchte tragende Ge¬ büsche und Bäume pflegt, und zwischen ihnen Rasen und Sandwege oder einige Blumenhügel oder Blu¬ menkreise herrichtet, sondern es war ein Garten, der mich an den meiner Eltern bei dem Vorstadthause er¬ innerte. Es war da eine weitläufige Anlage von Obst¬ bäumen, die aber hinlänglich Raum ließen, daß frucht¬ bare oder auch nur zum Blühen bestimmte Gesträuche dazwischen stehen konnten, und daß Gemüse und Blu¬ men vollständig zu gedeihen vermochten. Die Blumen standen theils in eigenen Beeten, theils liefen sie als Einfriedigung hin, theils befanden sie sich auf eigenen Pläzen, wo sie sich schön darstellten. Mich empfingen von je her solche Gärten mit dem Gefühle der Häus¬ lichkeit und Nüzlichkeit, während die anderen einerseits mit keiner Frucht auf das Haus denken, und anderer¬ seits Wahrhaftig auch kein Wald sind. Was zur Ro¬ senzeit blühen konnte, blühte und duftete, und weil 6 * eben die schweren Wolken am Himmel standen, so war aller Duft viel eindringender und stärker. Dies deutete doch wieder auf ein Gewitter hin. Nahe bei dem Hause befand sich ein Gewächs¬ haus. Es zeigte uns aber gegen den Weg, auf dem wir gingen, nicht seine Länge sondern seine Breite hin. Auch diese Breite, welche theilweise Gebüsche deckten, war mit Rosen bekleidet, und sah aus wie ein Rosenhäuschen im Kleinen. Wir gingen einen geräumigen Gang, der mitten durch den Garten lief, entlang. Er war Anfangs eben, zog sich aber dann sachte aufwärts. Auch im Garten waren die Rosen beinahe herr¬ schend. Entweder stand hie und da auf einem geeigne¬ ten Plaze ein einzelnes Bäumchen, oder es waren Hecken nach gewissen Richtungen angelegt, oder es zeigten sich Abtheilungen, wo sie gute Verhältnisse zum Gedeihen fanden, und sich dem Auge angenehm darstellen konn¬ ten. Eine Gruppe von sehr dunkeln fast violetten Ro¬ sen war mit einem eigenen zierlichen Gitter umgeben, um sie auszuzeichnen, oder zu schüzen. Alle Blumen waren wie die vor dem Hause besonders rein und klar entwickelt, sogar die verblühenden erschienen in ihren Blättern noch kraftvoll und gesund. Ich machte in Hinsicht des lezten Umstandes eine Bemerkung. „Habt ihr denn nie eine jener alten Frauen ge¬ sehen,“ sagte mein Begleiter, „die in ihrer Jugend sehr schön gewesen waren, und sich lange kräftig erhalten haben. Sie gleichen diesen Rosen. Wenn sie selbst schon unzählige kleine Falten in ihrem Angesichte haben, so ist doch noch zwischen den Falten die Anmuth herr¬ schend und eine sehr schöne liebe Farbe.“ Ich antwortete, daß ich das noch nie beobachtet hätte, und wir gingen weiter. Es waren außer den Rosen noch andere Blumen im Garten. Ganze Beete von Aurikeln standen an schattigen Orten. Sie waren wohl längst verblüht, aber ihre starken grünen Blätter zeigten, daß sie in guter Pflege waren. Hie und da stand eine Lilie an einer einsamen Stelle, und wohl entwickelte Nelken prangten in Töpfen auf einem eigenen Schragen, an dem Vorrichtungen angebracht waren, die Blumen vor Sonne zu bewahren. Sie waren noch nicht auf¬ geblüht, aber die Knospen waren weit vorgerückt, und ließen treffliche Blumen ahnen. Es mochten nur die auserwählten auf dem Schragen stehen; denn ich sah die Schule dieser Pflanzen, als wir etwas weiter kamen, in langen weithingehenden Beeten angelegt. Sonst waren die gewöhnlichen Gartenblumen da, theils in Beeten theils auf kleinen abgesonderten Pläzen theils als Einfassungen. Besonders schien sich auch die Levkoje einer Vorliebe zu erfreuen, denn sie stand in großer Anzahl und Schönheit so wie in vielen Arten da. Ihr Duft ging wohlthuend durch die Lüfte. Selbst in Töpfen sah ich diese Blume gepflegt, und an zuträgliche Orte gestellt. Was an Zwiebelgewäch¬ sen Hiazinthen Tulpen und dergleichen vorhanden ge¬ wesen sein mochte, konnte ich nicht ermessen, da die Zeit dieser Blumen längst vorüber war. Auch die Zeit der Blüthengesträuche war vorüber, und sie standen nur mit ihren grünen Blättern am Wege oder an ihren Stellen. Die Gemüse nahmen die weiten und größeren Räume ein. Zwischen ihnen und an ihren Seiten liefen Anpflanzungen von Erdbeeren. Sie schienen besonders gehegt, waren häufig aufgebunden, und hatten Blech¬ täfelchen zwischen sich, auf denen die Namen standen. Die Obstbäume waren durch den ganzen Garten vertheilt, wir gingen an vielen vorüber. Auch an ihnen besonders aber an den zahlreichen Zwergbäu¬ men sah ich weiße Täfelchen mit Namen. An manchen Bäumen erblickte ich kleine Kästchen von Holz, bald an dem Stamme bald in den Zweigen. In unserem Oberlande gibt man den Staaren gerne solche Behälter, damit sie ihr Nest in dieselben bauen. Die hier befindlichen Behältnisse waren aber anderer Art. Ich wollte fragen, aber in der Folge des Ge¬ spräches vergaß ich wieder darauf. Da wir in dem Garten so fortgingen, hörte ich besonders aus seinem bebuschten Theile wieder die Vogelstimmen, die ich in dem Wartezimmer gehört hatte, nur hier deutlicher und heller. Auch ein anderer Umstand fiel mir auf, da wir schon einen großen Theil des Gartens durchwandert hatten; ich bemerkte nehmlich gar keinen Raupenfraß. Während meines Ganges durch das Land hatte ich ihn aber doch gesehen, obwohl er mir, da er nicht außerordentlich war, und keinen Obstmißwachs be¬ fürchten ließ, nicht besonders aufgefallen war. Bei der Frische der Belaubung dieses Gartens fiel er mir wieder ein. Ich sah das Laub deßhalb näher an, und glaubte zu bemerken, daß es auch vollkommener sei als anderwärts, das grüne Blatt war größer und dunkler, es war immer ganz, und die grünen Kirschen und die kleinen Äpfelchen und Birnchen sahen recht gesund daraus hervor. Ich betrachtete durch diese That¬ sache aufmerksam gemacht nun auch den Kohl genauer, der nicht weit von unserm Wege stand. An ihm zeigte keine kahle Rippe, daß die Raupe des Weißlings ge¬ nagt habe. Die Blätter waren ganz und schön. Ich nahm mir vor, diese Beobachtung gegen meinen Be¬ gleiter gelegentlich zur Sprache zu bringen. Wir waren mittlerweile bis an das Ende der Pflanzungen gelangt, und es begann Rasengrund, der steiler anstieg, Anfangs mit Bäumen besezt war, weiter oben aber kahl fortlief. Wir stiegen auf ihm empor. Da wir auf eine ziemliche Höhe gelangt waren, und Bäume die Aussicht nicht mehr hinderten, blieb ich ein wenig stehen, um den Himmel zu betrachten. Mein Begleiter hielt ebenfalls an. Das Gewitter stand nicht mehr gegen Sonnenuntergang allein, son¬ dern jezt überall. Wir hörten auch entfernten Donner, der sich öfter wiederholte. Wir hörten ihn bald gegen Sonnenuntergang, bald gegen Mittag, bald an Orten, die wir nicht angeben konnten. Mein Mann mußte seiner Sache sehr sicher sein; denn ich sah, daß in dem Garten Arbeiter sehr eifrig an den mehreren Ziehbrunnen zogen, um das Wasser in die durch den Garten laufenden Rinnen zu leiten, und aus diesen in die Wasserbehälter. Ich sah auch bereits Arbeiter gehen, ihre Gießkannen in den Wasserbehältern füllen, und ihren Inhalt auf die Pflanzenbeete ausstreuen. Ich war sehr begierig auf den Verlauf der Dinge, sagte aber gar nichts, und mein Begleiter schwieg auch. Wir gingen nach kurzem Stillstande auf dem Rasengrunde wieder weiter aufwärts, und zulezt ziemlich steil. Endlich hatten wir die höchste Stelle erreicht, und mit ihr auch das Ende des Gartens. Jenseits senkte sich der Boden wieder sanft abwärts. Auf diesem Plaze stand ein sehr großer Kirschbaum, der größte Baum des Gartens vielleicht der größte Obstbaum der Gegend. Um den Stamm des Baumes lief eine Holzbank, die vier Tischchen nach den vier Weltgegen¬ den vor sich hatte, daß man hier ausruhen, die Gegend besehen, oder lesen und schreiben konnte. Man sah an dieser Stelle fast nach allen Richtungen des Him¬ mels. Ich erinnerte mich nun ganz genau, daß ich diesen Baum wohl früher bei meinen Wanderungen von der Straße oder von anderen Stellen aus gesehen hatte. Er war wie ein dunkler ausgezeichneter Punkt erschienen, der die höchste Stelle der Gegend krönte. Man mußte an heiteren Tagen von hier aus die ganze Gebirgskette im Süden sehen, jezt aber war nichts davon zu erblicken; denn alles floß in eine einzige Gewittermasse zusammen. Gegen Mitternacht erschien ein freundlicher Höhenzug, hinter welchem nach mei¬ ner Schäzung das Städtchen Landegg liegen mußte. Wir sezten uns ein wenig auf das Bänklein. Es schien, daß man an diesem Pläzchen niemals vorüber gehen konnte, ohne sich zu sezen, und eine kleine Um¬ schau zu halten; denn das Gras war um den Baum herum abgetreten, daß der kahle Boden hervorsah, wie wenn ein Weg um den Baum ginge. Man mußte sich daher gerne an diesem Plaze versammeln. Als wir kaum ein Weilchen ausgeruht hatten, sah ich eine Gestalt aus den nicht sehr entfernten Büschen und Bäumen hervortreten, und gegen uns empor gehen. Da sie etwas näher gekommen war, erkannte ich, daß es ein Gemische von Knabe und Jüngling war. Zuweilen hätte man meinen können, der Ankommende sei ganz ein Jüngling, und zuweilen, er sei noch ganz ein Knabe. Er trug ein blau- und weißgestreiftes Leinenzeug als Bekleidung, um den Hals hatte er nichts und auf dem Haupte auch nichts als eine dichte Menge brauner Locken. Da er herzugekommen war, sagte er: „Ich sehe, daß du mit einem fremden Manne beschäftigt bist, ich werde dich also nicht stören, und wieder in den Garten hinab gehen.“ „Thue das,“ sagte mein Begleiter. Der Knabe machte eine schnelle und leichte Verbeu¬ gung gegen mich, wendete sich um, und ging in dersel¬ ben Richtung wieder zurück, in der er gekommen war. Wir blieben noch sizen. Am Himmel änderte sich indessen wenig. Dieselbe Wolkendecke stand da, und wir hörten denselben Don¬ ner. Nur da die Decke dunkler geworden zu sein schien, so wurde jezt zuweilen auch ein Bliz sichtbar. Nach einer Zeit sagte mein Begleiter: „Eure Reise hat wohl nicht einen Zweck, der durch den Aufenthalt von einigen Stunden oder von einem Tage oder von einigen Tagen gestört würde.“ „Es ist so, wie ihr gesagt habt,“ antwortete ich, „mein Zweck ist, soweit meine Kräfte reichen, wissen¬ schaftliche Bestrebungen zu verfolgen, und nebenbei, was ich auch nicht für unwichtig halte, das Leben in der freien Natur zu genießen.“ „Dieses Lezte ist in der That auch nicht unwichtig,“ versezte mein Nachbar, „und da ihr euren Reisezweck bezeichnet habt, so werdet ihr gewiß einwilligen, wenn ich euch einlade, heute nicht mehr weiter zu reisen, sondern die Nacht in meinem Hause zuzubringen. Wünschet ihr dann am morgigen Tage und an meh¬ reren darauf folgenden noch bei mir zu verweilen, so steht es nur bei euch, so zu thun.“ „Ich wollte, wenn das Gewitter auch lange ange¬ dauert hätte, doch heute noch nach Rohrberg gehen,“ sagte ich. „Da ihr aber auf eine so freundliche Weise gegen einen unbekannten Reisenden verfahrt, so sage ich gerne zu, die heutige Nacht in eurem Hause zuzu¬ bringen, und bin euch dafür dankbar. Was morgen sein wird, darüber kann ich noch nicht entscheiden, weil das Morgen noch nicht da ist.“ „So haben wir also für die kommende Nacht ab¬ geschlossen, wie ich gleich gedacht habe,“ sagte mein Begleiter, „ihr werdet wohl bemerkt haben, daß euer Ränzlein und euer Wanderstock nicht mehr in dem Speisezimmer waren, als ihr zum Essen dahin kamet.“ „Ich habe es wirklich bemerkt,“ antwortete ich. „Ich habe beides in euer Zimmer bringen lassen,“ sagte er, „weil ich schon vermuthete, daß ihr diese Nacht in unserm Hause zubringen würdet.“ 4. Die Beherbergung. Nach einer Weile sagte mein Gastfreund: „Da ihr nun meine Nachtherberge angenommen habt, so könn¬ ten wir von diesem Baume auch ein wenig in das Freie gehen, daß ihr die Gegend besser kennen lernet. Wenn das Gewitter zum Ausbruche kommen sollte, so kennen wir wohl beide die Anzeichen genug, daß wir rechtzeitig umkehren, um ungefährdet das Haus zu erreichen.“ „So kann es geschehen,“ sagte ich, und wir stan¬ den von dem Bänkchen auf. Einige Schritte hinter dem Kirschbaume war der Garten durch eine starke Planke von der Umgebung getrennt. Als wir zu dieser Planke gekommen waren, zog mein Begleiter einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete ein Pförtchen, wir traten hinaus, und er schloß hinter uns das Pförtchen wieder zu. Hinter dem Garten fingen Felder an, auf denen die verschiedensten Getreide standen. Die Getreide, welche sonst wohl bei dem geringsten Luftzuge zu wan¬ ken beginnen mochten, standen ganz stille und pfeilrecht empor, das feine Haar der Ähren, über welches un¬ sere Augen streiften, war gleichsam in einem unbe¬ weglichen goldgrünen Schimmer. Zwischen dem Getreide lief ein Fußpfad durch. Derselbe war breit und ziemlich ausgetreten. Er ging den Hügel entlang, nicht steigend und nicht sinkend, so daß er immer auf dem höchsten Theile der Anhöhe blieb. Auf diesem Pfade gingen wir dahin. Zu beiden Seiten des Weges stand glührother Mohn in dem Getreide, und auch er regte die leichten Blätter nicht. Es war überall ein Zirpen der Grillen; aber die¬ ses war gleichsam eine andere Stille, und erhöhte die Erwartung, die aller Orten war. Durch die über den ganzen Himmel liegende Wolkendecke ging zuweilen ein tiefes Donnern, und ein blasser Bliz lüftete zeit¬ weilig ihr Dunkel. Mein Begleiter ging ruhig neben mir, und strich manchmal sachte mit der Hand an den grünen Ähren des Getreides hin. Er hatte sein Nez von den weißen Haaren abgenommen, hatte es in die Tasche gesteckt, und trug sein Haupt unbedeckt in der milden Luft. Unser Weg führte uns zu einer Stelle, auf wel¬ cher kein Getreide stand. Es war ein ziemlich großer Plaz, der nur mit sehr kurzem Grase bedeckt war. Auf diesem Plaze befand sich wieder eine hölzerne Bank, und eine mittelgroße Esche. „Ich habe diesen Fleck freigelassen, wie ich ihn von meinen Vorfahren überkommen hatte,“ sagte mein Begleiter, „obwohl er, wenn man ihn urbar machte, und den Baum ausgrübe, in einer Reihe von Jahren eine nicht unbedeutende Menge von Getreide gäbe. Die Arbeiter halten hier ihre Mittagsruhe, und ver¬ zehren hier ihr Mittagsmahl, wenn es ihnen auf das Feld nachgebracht wird. Ich habe die Bank machen lassen, weil ich auch gerne da size, wäre es auch nur, um den Schnittern zuzuschauen, und die Feierlichkeit der Feldarbeiten zu betrachten. Alte Gewohnheiten haben etwas Beruhigendes, sei es auch nur das des Bestehenden und immer Gesehenen. Hier dürfte es aber mehr sein, weßhalb die Stelle unbebaut blieb, und der Baum auf derselben steht. Der Schatten dieser Esche ist wohl ein sparsamer, aber da er der einzige dieser Gegend ist, wird er gesucht, und die Leute, obwohl sie roh sind, achten gewiß auch auf die Aussicht, die man hier genießt. Sezt euch nur zu mir nieder, und betrachtet das Wenige, was uns heute der verschleierte Himmel gönnt.“ Wir sezten uns auf die Bank unter der Esche, so daß wir gegen Mittag schauten. Ich sah den Garten wie einen grünen Schooß schräg unter mir liegen. An seinem Ende sah ich die weiße mitternächtliche Mauer des Hauses, und über der weißen Mauer das freundliche rothe Dach. Von dem Gewächshause war nur das Dach und der Schornstein ersichtlich. Weiter hin gegen Mittag war das Land und das Gebirge kaum zu erkennen wegen des blauen Wolken¬ schattens und des blauen Wolkenduftes. Gegen Mor¬ gen stand der weiße Thurm von Rohrberg, und gegen Abend war Getreide an Getreide, zuerst auf unserm Hügel, dann jenseits desselben auf dem nächsten Hügel, und so fort, soweit die Hügel sichtbar waren. Dazwischen zeigten sich weiße Meierhöfe und andere einzelne Häuser oder Gruppen von Häusern. Nach der Sitte des Landes gingen Zeilen von Obstbäumen zwischen den Getreidefeldern dahin, und in der Nähe von Häusern oder Dörfern standen diese Bäume dich¬ ter, gleichsam wie in Wäldchen beisammen. Ich fragte meinen Nachbar theils nach den Häusern theils nach den Besizern der Felder. „Die Felder von dem Kirschbaume gegen Sonnen¬ untergang hin bis zu der ersten Zeile von Obstbäu¬ men sind unser,“ sagte mein Begleiter. „Die wir von dem Kirschbaum bis hieher durchwandert haben, ge¬ hören auch uns. Sie gehen noch bis zu jenen langen Gebäuden, die ihr da unten seht, welche unsere Wirth¬ schaftsgebäude sind. Gegen Mitternacht erstrecken sie sich, wenn ihr umsehen wollt, bis zu jenen Wiesen mit den Erlenbüschen. Die Wiesen gehören auch uns, und machen dort die Grenze unserer Besizungen. Im Mittag gehören die Felder uns bis zur Einfriedigung von Weißdorn, wo ihr die Straße verlassen habt. Ihr könnt also sehen, daß ein nicht ganz geringer Theil dieses Hügels von unserm Eigenthume bedeckt ist. Wir sind von diesem Eigenthume umringt, wie von einem Freunde, der nie wankt und nicht die Treue bricht.“ Mir fiel bei diesen Worten auf, daß er vom Eigen¬ thume immer die Ausdrücke uns und unser gebrauchte. Ich dachte, er werde etwa eine Gattin oder auch Kin¬ Stifter , Nachsommer. 7 der einbeziehen. Mir fiel der Knabe ein, den ich im Heraufgehen gesehen hatte, vielleicht ist dieser ein Sohn von ihm. „Der Rest des Hügels ist an drei Meierhöfe ver¬ theilt,“ schloß er seine Rede, „welche unsere nächsten Nachbarn sind. Von den Niederungen an, die um den Hügel liegen, und jenseits welcher das Land wieder aufsteigt, beginnen unsere entfernteren Nachbarn.“ „Es ist ein gesegnetes ein von Gott beglücktes Land,“ sagte ich. „Ihr habt recht gesprochen,“ erwiederte er, „Land und Halm ist eine Wohlthat Gottes. Es ist unglaublich, und der Mensch bedenkt es kaum, welch ein unerme߬ licher Werth in diesen Gräsern ist. Laßt sie einmal von unserem Erdtheile verschwinden, und wir verschmach¬ ten bei allem unserem sonstigen Reichthume vor Hun¬ ger. Wer weiß, ob die heißen Länder nicht so dünn bevölkert sind, und das Wissen und die Kunst nicht so tragen, wie die kälteren, weil sie kein Getreide haben. Wie viel selbst dieser kleine Hügel gibt, würdet ihr kaum glauben. Ich habe mir einmal die Mühe ge¬ nommen, die Fläche dieses Hügel, soweit sie Getreide¬ land ist, zu messen, um auf der Grundlage der Er¬ trägnisse unserer Felder und der Erträgnißfähigkeit der Felder der Nachbarn, die ich untersuchte, eine Wahr¬ scheinlichkeitsrechnung zu machen, welche Getreide¬ menge im Durchschnitte jedes Jahr auf diesem Hügel wächst. Ihr würdet die Zahlen nicht glauben, und auch ich habe sie mir vorher nicht so groß vorgestellt. Wenn es euch genehm ist, werde ich euch die Arbeit in unserem Hause zeigen. Ich dachte mir damals, das Getreide gehöre auch zu jenen unscheinbaren nach¬ haltigen Dingen dieses Lebens wie die Luft. Wir reden von dem Getreide und von der Luft nicht weiter, weil von beiden so viel vorhanden ist, und uns beide überall umgeben. Die ruhige Verbrauchung und Erzeugung zieht eine unermeßliche Kette durch die Menschheit in den Jahrhunderten und Jahrtausenden. Überall, wo Völker mit bestimmten geschichtlichen Zeichnungen auftreten, und vernünftige Staatseinrich¬ tungen haben, finden wir sie schon zugleich mit dem Getreide, und wo der Hirte in lockreren Gesellschafts¬ banden aber vereint mit seiner Heerde lebt, da sind es zwar nicht die Getreide, die ihn nähren, aber doch ihre geringeren Verwandten, die Gräser, die sein ebenfalls geringeres Dasein erhalten. — Aber ver¬ zeiht, daß ich da so von Gräsern und Getreiden rede, es ist natürlich, da ich da mitten unter ihnen wohne, 7 * und auf ihren Segen erst in meinem Alter mehr achten lernte.“ „Ich habe nichts zu verzeihen,“ erwiederte ich; „denn ich theile eure Ansicht über das Getreide voll¬ kommen, wenn ich auch ein Kind der großen Stadt bin. Ich habe diese Gewächse viel beachtet, habe darüber gelesen, freilich mehr von dem Standpunkte der Pflanzenkunde, und habe, seit ich einen großen Theil des Jahres in der freien Natur zubringe, ihre Wichtigkeit immer mehr und mehr einsehen gelernt.“ „Ihr würdet es erst recht,“ sagte er, „wenn ihr Besizthümer hättet, oder auf euren Besizthümern euch mit der Pflege dieser Pflanzen besonders abgäbet.“ „Meine Eltern sind in der Stadt,“ antwortete ich, „mein Vater treibt die Kaufmannschaft, und außer einem Garten besizt weder er noch ich einen liegenden Grund.“ „Das ist von großer Bedeutung,“ erwiederte er, „den Werth dieser Pflanzen kann keiner vollständig er¬ messen, als der sie pflegt.“ Wir schwiegen nun eine Weile. Ich sah an seinen Wirthschaftsgebäuden Leute be¬ schäftigt. Einige gingen an den Thoren ab und zu, in häuslichen Arbeiten begriffen, andere mähten in einer nahen Wiese Gras, und ein Theil war bedacht, das im Laufe des Tages getrocknete Heu in hochbela¬ denen Wägen durch die Thore einzuführen. Ich konnte wegen der großen Entfernung das Einzelne der Arbeiten nicht unterscheiden, so wie ich die eigentliche Bauart und die nähere Einrichtung der Gebäude nicht wahr¬ nehmen konnte. „Was ihr von den Häusern und den Besizern der Felder gesagt habt, daß ich sie euch nennen soll,“ fuhr er nach einer Weile fort, „so hat dies seine Schwierig¬ keit, besonders heute. Man kann zwar von diesem Plaze aus die größte Zahl der Nachbarn erblicken; aber heute, wo der Himmel umschleiert ist, sehen wir nicht nur das Gebirge nicht, sondern es entgeht uns auch mancher weiße Punkt des untern Landes, der Wohnungen bezeichnet, von denen ich sprechen möchte. Anderen Theils sind euch die Leute unbekannt. Ihr solltet eigentlich in der Gegend herumgewandert sein, in ihr gelebt haben, daß sie zu eurem Geiste spräche, und ihr die Bewohner verstündet. Vielleicht kommt ihr wieder, und bleibt länger bei uns, vielleicht ver¬ längert ihr euren jezigen Aufenthalt. Indessen will ich euch im Allgemeinen etwas sagen, und von Beson¬ derem hinzufügen, was euch ansprechen dürfte. Ich besuche auch meiner Nachbarn willen gerne diesen Plaz; denn außerdem daß hier auf der Höhe selbst an den schönsten Tagen immer ein kühler Luftzug geht, außerdem daß ich hier unter meinen Arbeitern bin, sehe ich von hier aus alle, die mich umgeben, es fällt mir manches von ihnen ein, und ich ermesse, wie ich ihnen nüzen kann, oder wie überhaupt das Allgemeine gefördert werden möge. Sie sind im Ganzen unge¬ bildete aber nicht ungelehrige Leute, wenn man sie nach ihrer Art nimmt, und nicht vorschnell in eine andere zwingen will. Sie sind dann meist auch gut¬ artig. Ich habe von ihnen manches für mein Inneres gewonnen, und ihnen manchen äußeren Vortheil ver¬ schafft. Sie ahmen nach, wenn sie etwas durch längere Erfahrung billigen. Man muß nur nicht ermüden. Oft haben sie mich zuerst verlacht, und endlich dann doch nachgeahmt. In Vielem verlachen sie mich noch, und ich ertrage es. Der Weg da durch meine Felder ist ein kürzerer, und da geht Mancher vorbei, wenn ich auf der Bank size, er bleibt stehen, er redet mit mir, ich ertheile ihm Rath, und ich lerne aus sei¬ nen Worten. Meine Felder sind bereits ertragfähiger gemacht worden als die ihrigen, das sehen sie, und das ist bei ihnen der haltbarste Grund zu mancher Betrachtung. Nur die Wiese, welche sich hinter un¬ serem Rücken befindet, tiefer als die Felder liegt, und von einem kleinen Bache bewässert wird, habe ich nicht so verbessern können, wie ich wollte; sie ist noch durch die Erlengesträuche und durch die Erlenstöcke verun¬ staltet, die sich am Saume des Bächleins befinden, und selbst hie und da Sumpfstellen veranlassen; aber ich kann die Sache im Wesentlichen nicht abändern, weil ich die Erlengesträuche und Erlenstöcke zu anderen Dingen nothwendig brauche.“ Um meine Frage nach dem Einzelnen seiner Nach¬ barn zu unterbrechen, die er, wie ich jezt einsah, nicht beantworten konnte, wenigstens nicht, wie sie gestellt war, fragte ich ihn, ob denn zu seinem Anwesen nicht auch Waldgrund gehöre. „Allerdings,“ antwortete er, „aber derselbe liegt nicht so nahe, als es der Bequemlichkeit wegen wün¬ schenswerth wäre; aber er liegt auch entfernt genug, daß die Schönheit und Anmuth dieses Getreidehügels nicht gestört wird. Wenn ihr auf dem Wege nach Rohrberg fortgegangen wäret, statt zu unserem Hause herauf zu steigen, so würdet ihr nach einer halben Stunde Wanderns zu eurer Rechten dicht an der Straße die Ecke eines Buchenwaldes gefunden haben, um welche die Straße herum geht. Diese Ecke erhebt sich rasch, erweitert sich nach rückwärts, wohin man von der Straße nicht sehen kann, und gehört einem Walde an, der weit in das Land hinein geht. Man kann von hier aus ein großes Stück sehen. Dort links von dem Felde, auf welchem die junge Gerste steht.“ „Ich kenne den Wald recht gut,“ sagte ich, „er schlingt sich um eine Höhe, und berührt die Straße nur mit einem Stücke; aber wenn man ihn betritt, lernt man seine Größe kennen. Es ist der Alizwald. Er hat mächtige Buchen und Ahorne, die sich unter die Tannen mischen. Die Aliz geht von ihm in die Agger. An der Aliz stehen beiderseits hohe Felsen mit seltenen Kräutern, und von ihnen geht gegen Mittag ein Streifen Landes mit den allerstärksten Buchen thalwärts.“ „Ihr kennt den Wald,“ sagte er. „Ja,“ erwiederte ich, „ich bin schon in ihm ge¬ wesen. Ich habe dort die größte Doppelbuche gezeich¬ net, die ich je gesehen, ich habe Pflanzen und Steine gesammelt, und die Felsenlagen betrachtet.“ „Jener Waldstreifen, der mit den starken Buchen bestanden ist, und noch mehreres Land jenes Waldes gehört zu diesem Anwesen,“ sagte mein Beherberger. „Es ist weiter von da gegen Mittag auch ein Bergbühel unser, auf dem stellenweise die Birke sehr verkrüppelt vorkommt, welche zum Brennen wenig taugt; aber Holz zu feinen Arbeiten gibt.“ „Ich kenne den Bühel auch,“ sagte ich, „dort geht der Granit zu Ende, aus dem der ganze mitternächt¬ liche Theil unseres Landes besteht, und es beginnt gegen Mittag zu nach und nach der Kalk, der endlich in den höchsten Gebirgen die Landesgrenze an der Mittagseite macht.“ „Ja der Bühel ist der südlichste Granitblock,“ sagte mein Begleiter, „er übersezt sogar die Wässer. Wir können hier troz des Duftes der Wolken hie und da die Grenze sehen, in der sich der Granit abschneidet.“ „Dort ist die Klamspize,“ sagte er, „die noch Gra¬ nit hat, rechts der Gaisbühl, dann die Asser, der Losen, und zulezt die Grumhaut, die noch zu sehen ist.“ Ich stimmte in Allem bei. Der Abend kam indessen immer näher und näher, und der Nachmittag war bedeutend vorgerückt. Das Gewitter an dem Himmel war mir aber endlich besonders merkwürdig geworden. Ich hatte den Ausbruch desselben, als ich den Hügel zu dem weißen Hause empor stieg, um eine Unterkunft zu suchen, in kurzer Zeit erwartet; und nun waren Stunden vergangen, und es war noch immer nicht ausgebrochen. Über den ganzen Himmel stand es unbeweglich. Die Wolkendecke war an man¬ chen Stellen fast finster geworden und Blize zuckten aus diesen Stellen bald höher bald tiefer hervor. Der Donner folgte in ruhigem schwerem Rollen auf diese Blize; aber in der Wolkendecke zeigte sich kein Zusam¬ mensammeln zu einem einzigen Gewitterballen, und es war kein Anschicken zu einem Regen. Ich sagte endlich zu meinem Nachbar, indem ich auf die Männer zeigte, welche weiter unten in der Niederung, in welcher die Wirthschaftsgebäude lagen, Gras machten: „Diese scheinen auch auf kein Gewitter und auf kein gewöhnliches Nachregnen für den morgi¬ gen Tag zu rechnen, weil sie jezt Gras mähen, das ihnen in der Nacht ein tüchtiger Regen durchnässen, oder morgen eine kräftige Sonne zu Heu trocknen kann.“ „Diese wissen gar nichts von dem Wetter,“ sagte mein Begleiter, „und sie mähen das Gras nur, weil ich es so angeordnet habe.“ Das waren die einzigen Worte, die er über das Wetter gesprochen hatte. Ich veranlaßte ihn auch nicht zu mehreren. Wir gingen von diesem Feldersize, auf dem wir nun schon eine Weile gesessen waren, nicht mehr wei¬ ter von dem Hause weg, sondern, nachdem wir uns erhoben hatten, schlug mein Begleiter wieder den Rückweg ein. Wir gingen auf demselben Wege zurück, auf dem wir gekommen waren. Die Donner erschallten nun sogar lauter, und ver¬ kündeten sich bald an dieser Stelle des Himmels bald an jener. Als wir wieder in den Garten eingetreten waren, als mein Begleiter das Pförtchen hinter sich geschlossen hatte, und als wir von dem großen Kirschbaume bereits abwärts gingen, sagte er zu mir: „Erlaubt, daß ich nach dem Knaben rufe, und ihm etwas be¬ fehle.“ Ich stimmte sogleich zu, und er rief gegen eine Stelle des Gebüsches: „Gustav!“ Der Knabe, den ich im Heraufgehen gesehen hatte, kam fast an der nehmlichen Stelle des Gartens zum Vorscheine, an welcher er früher herausgetreten war. Da er jezt länger vor uns stehen blieb, konnte ich ihn genauer betrachten. Sein Angesicht erschien mir sehr rosig und schön, und besonders einnehmend zeigten sich die großen schwarzen Augen unter den braunen Locken, die ich schon früher beobachtet hatte. „Gustav,“ sagte mein Begleiter, „wenn du noch an deinem Tische oder sonst irgendwo in dem Garten blei¬ ben willst, so erinnere dich an das, was ich dir über Gewitter gesagt habe. Da die Wolken über den gan¬ zen Himmel stehen, so weiß man nicht, wann über¬ haupt ein Bliz auf die Erde niederfährt, und an wel¬ cher Stelle er sie treffen wird. Darum verweile unter keinem höheren Baume. Sonst kannst du hier bleiben, wie du willst. Dieser Herr bleibt heute bei uns, und du wirst zur Abendspeisestunde in dem Speisezimmer eintreffen.“ „Ja,“ sagte der Knabe, verneigte sich, und ging wieder auf einem Sandwege in die Gesträuche des Gartens zurück. „Dieser Knabe ist mein Pflegesohn,“ sagte mein Begleiter, „er ist gewohnt, zu dieser Tageszeit einen Spaziergang mit mir zu machen, darum kam er da wir bei dem Kirschbaume saßen von seinem Arbeitstische, den er im Garten hat, zu uns empor, um mich zu suchen; allein da er sah, daß ein Fremder da sei, ging er wie¬ der an seine Stelle zurück.“ Mir, der ich mich an den einfachen folgerichtigen Ausdruck gewöhnt hatte, fiel es jezt abermals auf, daß mein Begleiter, der, wenn er von seinen Fel¬ dern redete, fast immer den Ausdruck unser gebraucht hatte, nun, da er von seinem Pflegesohne sprach, den Ausdruck mein wählte, da er doch, wenn er etwa seine Gattin einbezog, jezt auch das Wort unser gebrau¬ chen sollte. Als wir von dem Rasengrunde hinab gekommen waren, und den bepflanzten Garten betreten hatten, gingen wir in ihm auf einem anderen Wege zurück, als auf dem wir herauf gegangen waren. Auf diesem Wege sah ich nun, daß der Besizer des Gartens auch Weinreben in demselben zog, ob¬ wohl das Land der Pflege dieses Gewächses nicht ganz günstig ist. Es waren eigene dunkle Mauern aufge¬ führt, an denen die Reben mittelst Holzgittern empor geleitet wurden. Durch andere Mauern wurden die Winde abgehalten. Gegen Mittag allein waren die Stellen offen. So sammelte er die Hize, und gewährte Schuz. Auch Pfirsiche zog er auf dieselbe Weise, und aus den Blättern derselben schloß ich auf sehr edle Gattungen. Wir gingen hier an großen Linden vorüber, und in ihrer Nähe erblickte ich ein Bienenhaus. Von dem Gewächshause sah ich auf dem Rück¬ wege wohl die Längenseite, konnte aber nichts Näheres erkennen, weil mein Begleiter den Weg zu ihm nicht einschlug. Ich wollte ihn auch nicht eigens darum ersuchen: ich vermuthete, daß er mich zu seiner Fa¬ milie führen würde. Da wir an dem Hause angekommen waren, geleitete er mich bei dem gemeinschaftlichen Eingange desselben hinein, führte mich über eine gewöhnliche Sandstein¬ treppe in das erste Stockwerk, und ging dort mit mir einen Gang entlang, in dem viele Thüren waren. Eine derselben öffnete er mit einem Schlüssel, den er schon in seiner Tasche in Bereitschaft hatte, und sagte: „Das ist euer Zimmer, solange ihr in diesem Hause bleibt. Ihr könnt jezt in dasselbe eintreten, oder es verlassen, wie es euch gefällt. Nur müsset ihr um acht Uhr wieder da sein, zu welcher Stunde ihr zum Abendessen werdet geholt werden. Ich muß euch nun allein lassen. In dem Wartezimmer habt ihr heute in Humboldt's Reisen gelesen, ich habe das Buch in die¬ ses Zimmer legen lassen. Wünschet ihr für jezt oder für den Abend noch irgend ein Buch, so nennt es, daß ich sehe, ob es in meiner Büchersammlung enthal¬ ten ist.“ Ich lehnte das Anerbieten ab, und sagte, daß ich mit dem Vorhandenen schon zufrieden sei, und wenn ich mich außer Humboldt mit noch andern Buchstaben beschäftigen wolle, so habe ich in meinem Ränzchen schon Vorrath, um theils etwas mit Bleifeder zu schreiben, theils früher Geschriebenes durchzulesen, und zu verbessern, welche Beschäftigung ich auf meinen Wanderungen häufig Abends vornehme. Er verabschiedete sich nach diesen Worten, und ich ging zur Thür hinein. Ich übersah mit einem Blicke das Zimmer. Es war ein gewöhnliches Fremdenzimmer, wie man es in jedem größeren Hause auf dem Lande hat, wo man zuweilen in die Lage kömmt, Herberge ertheilen zu müssen. Die Geräthe waren weder neu noch nach der damals herrschenden Art gemacht, sondern aus ver¬ schiedenen Zeiten, aber nicht unangenehm ins Auge fallend. Die Überzüge der Sessel und des Ruhe¬ bettes waren gepreßtes Leder, was man damals schon selten mehr fand. Eine gesellige Zugabe, die man nicht häufig in solchen Zimmern findet, war eine alterthümliche Pendeluhr in vollem Gange. Mein Ränzlein und mein Stock lagen, wie der Mann gesagt hatte, schon in diesem Zimmer. Ich sezte mich nieder, nahm nach einer Weile mein Ränzlein, öffnete es, und blätterte in den Papieren, die ich daraus hervor genommen hatte, und schrieb gelegentlich in denselben. Da endlich die Dämmerung gekommen war, stand ich auf, ging gegen eines der beiden offenstehenden Fenster, lehnte mich hinaus, und sah herum. Es war wieder Getreide, das ich vor mir auf dem sachte hinab¬ gehenden Hügel erblickte. Am Morgen dieses Tages, da ich von meiner Nachtherberge aufgebrochen war, hatte ich auch Getreide rings um mich gesehen; aber dasselbe war in einem lustigen Wogen begriffen ge¬ wesen; während dieses reglos und unbewegt war wie ein Heer von lockeren Lanzen. Vor dem Hause war der Sandplaz, den ich bei meiner Ankunft schon gesehen und betreten hatte. Meine Fenster gingen also auf der Seite der Rosenwand heraus. Von dem Garten tönte noch schwaches Vogelgezwitscher herüber, und der Duft von den tausenden der Rosen stieg wie eine Opfergabe zu mir empor. An dem Himmel, dessen Dämmerung heute viel früher gekommen war, hatte sich eine Veränderung eingefunden. Die Wolkendecke war getheilt, die Wolken standen in einzelnen Stücken gleichsam wie Berge an dem Gewölbe herum, und einzelne reine Theile blickten zwischen ihnen heraus. Die Blize aber waren stärker und häufiger, die Donner klangen heller und kürzer. Als ich eine Weile bei dem Fenster hinaus gesehen hatte, hörte ich ein Pochen an meiner Thür, eine Magd trat herein, und meldete, daß man mich zum Abendessen erwarte. Ich legte meine Papiere auf das Tischchen, das neben meinem Bette stand, legte den Humboldt darauf, und folgte der Magd, nachdem ich die Thür hinter mir gesperrt hatte. Sie führte mich in das Speisezimmer. Bei dem Eintritte sah ich drei Personen; den alten Mann, der mit mir den Spaziergang gemacht hatte, einen andern ebenfalls ältlichen Mann, der durch nichts besonders auffiel als durch seine Kleidung, welche einen Priester verrieth, und den Pflegesohn des Haus¬ besitzers in seinem blaugestreiften Linnengewande. Der Herr des Hauses stellte mich dem Priester vor, indem er sagte: „Das ist der hochwürdige Pfarrer von Rohrberg, der ein Gewitter fürchtet, und deßhalb Stifter , Nachsommer. I . 8 diese Nacht in unserm Hause zubringen wird,“ und dann auf mich weisend fügte er bei: „das ist ein frem¬ der Reisender, der auch heute unser Dach mit uns theilen will.“ Nach diesen Worten und nach einem kurzen stum¬ men Gebethe sezten wir uns zu dem Tische an unsere an¬ gewiesenen Pläze. Das Abendessen war sehr einfach. Es bestand aus Suppe Braten und Wein, zu welchem wie zu dem an meinem Mittagsmahle verkleinertes Eis gestellt wurde. Dieselbe Magd, welche mir mein Mittagessen gebracht hatte, bediente uns. Ein männ¬ licher Diener kam nicht in das Zimmer. Der Pfarrer und mein Gastfreund sprachen öfter Dinge, die die Gegend betrafen, und ich ward gelegentlich einbezogen, wenn es sich um Allgemeineres handelte. Der Knabe sprach gar nicht. Die Dunkelheit des Abends wurde endlich so stark, daß die Kerzen, welche früher mit der Dämmerung gekämpft hatten, nun vollkommen die Herrschaft be¬ haupteten, und die schwarzen Fenster nur zeitweise durch die hereinleuchtenden Blize erhellt wurden. Da das Essen beendet war, und wir uns zur Trennung anschickten, sagte der Hauswirth, daß er den Pfarrer und mich über die nähere Treppe in unser Zimmer führen würde. Wir nahmen jeder eine Wachs¬ kerze, die uns angezündet von der Magd gereicht wurde, während dessen sich der Knabe Gustav empfahl, und durch die gewöhnliche Thür entfernte. Der Haus¬ eigenthümer führte uns bei der Thür hinaus, bei der ich zuerst herein gekommen war. Wir befanden uns draußen in dem schönen Marmorgange, von dem eine gleiche Marmortreppe emporführte. Wir durften die Filzschuhe nicht anziehen, weil jezt über den Gang und die Treppe ein Tuchstreifen lag, auf dem wir gingen. In der Mitte der Treppe, wo sie einen Ab¬ saz machte, gleichsam einen erweiterten Plaz oder eine Stiegenhalle, stand eine Gestalt aus weißem Marmor auf einem Gestelle. Durch ein paar Blize, die eben jezt fielen, und das Haupt und die Schultern der Marmorgestalt noch röther beschienen, als es unsere Kerzen konnten, ersah ich, daß der Plaz und die Treppe von oben herab durch eine Glasbedeckung ihre Beleuchtung empfangen mußten. Als wir an das Ende der Treppe gelangt waren, wendete sich der Hauswirth mit uns durch eine Thür links, und wir befanden uns in jenem Gange, in welchem mein Zimmer lag. Es war der Gang der Gastzimmer, wie ich nun zu erkennen vermeinte. 8 * Unser Gastfreund bezeichnete eines als das des Pfar¬ rers, und führte mich zu dem meinigen. Als wir in dasselbe getreten waren, fragte er mich, ob ich zu meiner Bequemlichkeit noch etwas wünsche, besonders ob mir Bücher aus seinem Bücherzimmer genehm wären. Als ich sagte, daß ich keinen Wunsch habe, und bis zum Schlafen schon Beschäftigung finden würde, antwortete er: „Ihr seid in eurem Gemache und in eurem Rechte. Schlummert denn recht wohl.“ „Ich wünsche euch auch eine gute Nacht,“ erwie¬ derte ich, „und sage euch Dank für die Mühe, die ihr heute mit mir gehabt habet.“ „Es war keine Mühe,“ antwortete er, „denn sonst hätte ich sie mir ja ersparen können, wenn ich euch gar nicht zu Nacht geladen hätte.“ „So ist es,“ antwortete ich. „Erlaubt,“ sagte er, indem er ein kleines Wachs¬ kerzchen hervorzog, und an meinem Lichte anzündete. Nachdem er dieses Geschäft vollbracht hatte, ver¬ beugte er sich, was ich erwiederte, und ging auf den Gang hinaus. Ich schloß hinter ihm die Thür, legte meinen Rock ab, und lüftete mein Halstuch, weil, obgleich es schon spät war, die ruhige Nacht noch immer eine große Hize und Schwüle in sich hegte. Ich ging einige Male in dem Zimmer hin und her, trat dann an ein Fenster, lehnte mich hinaus, und betrachtete den Himmel. So viel die Dunkelheit und die noch immer hell leuchtenden Blize erkennen ließen, war die Ge¬ stalt der Dinge dieselbe, wie sie am Abend vor dem Speisen gewesen war. Wolkentrümmer standen an dem Himmel und, wie die Sterne zeigten, waren zwischen ihnen reine Stellen. Zu Zeiten fuhr ein Bliz aus ihnen über den Getreidehügel und die Wipfel der unbewegten Bäume, und der Donner rollte ihm nach. Als ich eine Weile die freie Luft genossen hatte, schloß ich mein Fenster, schloß auch das andere, und begab mich zur Ruhe. Nachdem ich noch eine Zeit lang, wie es meine Gewohnheit war, in dem Bette gelesen, und mitunter sogar mit Bleifeder etwas in meine Schriften ge¬ schrieben hatte, löschte ich das Licht aus, und richtete mich zum Schlafen. Ehe der Schlummer völlig meine Sinne umfing, hörte ich noch wie sich draußen ein Wind erhob, und die Wipfel der Bäume zu starkem Rauschen bewegte. Ich hatte aber nicht mehr genug Kraft, mich zu er¬ mannen, sondern entschlief gleich darauf völlig. Ich schlief recht ruhig und fest. Als ich erwachte, war mein Erstes, zu sehen, ob es geregnet habe. Ich sprang aus dem Bette, und riß die Fenster auf. Die Sonne war bereits aufge¬ gangen, der ganze Himmel war heiter, kein Lüftchen rührte sich, aus dem Garten tönte das Schmettern der Vögel, die Rosen dufteten, und die Erde zu mei¬ nen Füßen war vollkommen trocken. Nur der Sand war ein wenig gegen das Grün des begrenzenden Rasens gefegt worden, und ein Mann war beschäftigt, ihn wieder zu ebnen, und in ein gehöriges Gleich¬ gewicht zu bringen. Also hatte mein Gegner Recht gehabt, und ich war begierig, zu erfahren, aus welchen Gründen er seine Gewißheit, die er so sicher gegen mich behauptet hatte, geschöpft, und wie er diese Gründe entdeckt und erforscht habe. Um das recht bald zu erfahren, und meine Abreise nicht so lange zu verzögern, beschloß ich, mich anzu¬ kleiden, und meinen Gastherrn ungesäumt aufzu¬ suchen. Als ich mit meinem Anzuge fertig war, und mich in das Speisezimmer hinab begeben hatte, fand ich dort eine Magd mit den Vorbereitungen zu dem Frühmale beschäftigt, und fragte nach dem Herrn. „Er ist in dem Garten auf der Fütterungstenne,“ sagte sie. „Und wo ist die Fütterungstenne, wie du es nennst?“ fragte ich. „Gleich hinter dem Hause und nicht weit von den Glashäusern,“ erwiederte sie. Ich ging hinaus, und schlug die Richtung gegen das Gewächshaus ein. Vor demselben fand ich meinen Gastfreund auf einem Sandplaze. Es war derselbe Plaz, von dem aus ich schon gestern das Gewächshaus mit seiner schmalen Seite und dem kleinen Schornsteine gesehen hatte. Diese Seite war mit Rosen bekleidet, daß das Haus wie ein zweites kleines Rosenhäuschen hervor sah. Mein Gastfreund war in einer seltsamen Be¬ schäftigung begriffen. Eine Unzahl Vögel befand sich vor ihm auf dem Sande. Er hatte eine Art von länglichem geflochtenem Korbdeckel in der Hand, und streuete aus demselben Futter unter die Vögel. Er schien sich daran zu ergözen, wie sie pickten, sich über¬ kletterten, überstürzten und kollerten, wie die gesättig¬ ten davon flogen, und wieder neue herbei schwirrten. Ich erkannte es nun deutlich, daß außer den gewöhn¬ lichen Gartenvögeln auch solche da waren, die mir sonst nur von tiefen und weit abgelegenen Wäldern bekannt waren. Sie erschienen gar nicht so scheu, als ich mit allem Rechte vermuthen mußte. Sie trauten ihm vollkommen. Er stand wieder barhäuptig da, so daß es mir schien, daß er diese Sitte liebe, da er auch gestern auf dem Spaziergange seine so leichte Kopfbedeckung eingesteckt hatte. Seine Gestalt war vorgebeugt, und die schlichten aber vollen weißen Haare hingen an seinen Schläfen herab. Sein An¬ zug war auch heute wieder sonderbar. Er hatte wie gestern eine Art Jacke an, die fast bis auf die Knie hinab reichte. Sie war weißlich, hatte jedoch über die Brust und den Rücken hinab einen röthlichbraunen Streifen, der fast einen halben Fuß breit war, als wäre die Jacke aus zwei Stoffen verfertigt worden, einem weißen und einem rothen. Beide Stoffe aber zeigten ein hohes Alter; denn das Weiß war gelblich braun, und das Roth zu Purpurbraun geworden. Unter der Jacke sah eine unscheinbare Fußbekleidung hervor, die mit Schnallenschuhen endete. Ich blieb hinter seinem Rücken in ziemlicher Ent¬ fernung stehen, um ihn nicht zu stören, und die Vögel nicht zu verscheuchen. Als er aber seinen Korb geleert hatte, und seine Gäste fortgeflogen waren, trat ich näher. Er hatte sich eben umgewendet, um zurückzugehen, und da er mich erblickte, sagte er: „Seid ihr schon ausgegangen? ich hoffe, daß ihr gut geschlafen habt.“ „Ja, ich habe sehr gut geschlafen,“ erwiederte ich, „ich habe noch den Wind gehört, der sich gestern Abends erhoben hat, was weiter geschehen ist, weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß heute die Erde trocken ist, und daß ihr Recht gehabt habet.“ „Ich glaube, daß nicht ein Tropfen auf diese Gegend vom Himmel gefallen ist,“ antwortete er. „Wie das Aussehen der Erde zeigt, glaube ich es auch,“ erwiederte ich; „aber nun müßt ihr mir auch wenigstens zum Theile sagen: woher ihr dies so gewiß wissen konntet, und wie ihr euch diese Kenntniß er¬ worben habt; denn das müßt ihr zugestehen, daß sehr viele Zeichen gegen euch waren.“ „Ich will euch etwas sagen,“ antwortete er, „die Darlegung der Sache, die ihr da verlangt, dürfte etwas lang werden, da ich sie euch, der sich mit Wissen¬ schaften beschäftigt, doch nicht oberflächlich geben kann; versprecht mir, den heutigen Tag und die Nacht noch bei uns zuzubringen, da kann ich euch nicht nur die¬ ses sagen, sondern noch Vieles Andere, ihr könnt Ver¬ schiedenes anschauen, und ihr könnt mir von eurer Wissenschaft erzählen.“ Dieses offen und freundlich gemachte Anerbiethen konnte ich nicht ausschlagen, auch erlaubte mir meine Zeit recht gut, nicht nur einen sondern mehrere Tage zu einer Nebenbeschäftigung zu verwenden. Ich ge¬ brauchte daher die gewöhnliche Redeweise von Nicht¬ lästigfallenwollen, und sagte unter dieser Bedin¬ gung zu. „Nun so geht mit mir zuerst zu einem Frühmale, das ich mit euch theilen will,“ sagte er, „der Herr Pfarrer von Rohrberg hat uns schon vor Tagesan¬ bruch verlassen, um zu rechter Zeit in seiner Kirche zu sein, und Gustav ist bereits zu seiner Arbeit ge¬ gangen.“ Mit diesen Worten wendeten wir uns auf den Rückweg zu dem Hause. Als wir dort angekommen waren, gab er das, was ich Anfangs für einen Korb¬ deckel gehalten hatte, was aber ein eigens geflochte¬ nes sehr flaches und längliches Fütterungskörbchen war, einer Magd, daß sie es auf seinen Plaz lege, und wir gingen in das Speisezimmer. Während des Frühmales sagte ich: „Ihr habt selbst davon gesprochen, daß ich hier Verschiedenes anschauen könne, wäre es denn zu unbescheiden, wenn ich bäte, von dem Hause und dessen Umgebung Man¬ ches näher besehen zu dürfen. Es ist eine der lieblich¬ sten Lagen, in der dieses Anwesen liegt, und ich habe bereits so Vieles davon gesehen, was meine Aufmerk¬ samkeit aufregte, daß der Wunsch natürlich ist, noch Mehreres besehen zu dürfen.“ „Wenn es euch Vergnügen macht, unser Haus und einiges Zubehör zu besehen,“ antwortete er, „so kann das gleich nach dem Frühmale geschehen, es wird nicht viele Zeit in Anspruch nehmen, da das Gebäude nicht so groß ist. Es wird sich dann auch das, was wir noch zu reden haben, natürlicher und verständlicher ergeben.“ „Ja freilich,“ sagte ich, „macht es mir Vergnü¬ gen.“ Wir schritten also nach dem Frühmale zu diesem Geschäfte. Er führte mich über die Treppe, auf welcher die weiße Marmorgestalt stand, hinauf. Heute fiel statt des rothen zerstreuten Lichtes der Kerzen und der Blize von der vergangenen Nacht das stille weiße Tageslicht auf sie herab, und machte die Schultern und das Haupt in sanftem Glanze sich erhellen. Nicht nur die Treppe war in diesem Stiegenhause von Marmor, sondern auch die Bekleidung der Seitenwände. Oben schloß gewölbtes Glas, das mit feinem Drahte überspannt war, die Räume. Als wir die Treppe erstiegen hat¬ ten, öffnete mein Gastfreund eine Thür, die der ge¬ genüber war, die zu dem Gange der Gastzimmer führte. Die Thür ging in einen großen Saal. Auf der Schwelle, an der der Tuchstreifen, welcher über die Treppe empor lag, endete, standen wieder Filz¬ schuhe. Da wir jeder ein Paar derselben angezogen hatten, gingen wir in den Saal. Er war eine Samm¬ lung von Marmor. Der Fußboden war aus dem farbigsten Marmor zusammengestellt, der in unseren Gebirgen zu finden ist. Die Tafeln griffen so inein¬ ander, daß eine Fuge kaum zu erblicken war, der Mar¬ mor war sehr fein geschliffen und geglättet, und die Farben waren so zusammengestellt, daß der Fußboden wie ein liebliches Bild zu betrachten war. Überdies glänzte und schimmerte er noch in dem Lichte, das bei den Fenstern hereinströmte. Die Seitenwände waren von einfachen sanften Farben. Ihr Sockel war matt¬ grün, die Haupttafeln hatten den lichtesten fast weißen Marmor, den unsere Gebirge liefern, die Flachsäulen waren schwach roth, und die Simse, womit die Wände an die Decke stießen, waren wieder aus schwach Grünlich und Weiß zusammengestellt, durch welche ein Gelb wie schöne Goldleisten lief. Die Decke war blaßgrau, und nicht von Marmor, nur in der Mitte derselben zeigte sich eine Zusammenstellung von rothen Amoniten, und aus derselben ging die Metallstange nieder, welche in vier Armen die vier dunkeln fast schwarzen Marmorlampen trug, die bestimmt waren, in der Nacht diesen Raum beleuchten zu können. In dem Saale war kein Bild kein Stuhl kein Geräthe, nur in den drei Wänden war jedesmal eine Thür aus schönem dunklem Holze eingelegt, und in der vierten Wand befanden sich die drei Fenster, durch welche der Saal bei Tag beleuchtet wurde. Zwei davon standen offen, und zu dem Glanze des Marmors war der Saal auch mit Rosenduft erfüllt. Ich drückte mein Wohlgefallen über die Einrich¬ tung eines solchen Zimmers aus, den alten Mann, der mich begleitete, schien dieses Vergnügen zu er¬ freuen, er sprach aber nicht weiter darüber. Aus diesem Saale führte er mich durch eine der Thüren in eine Stube, deren Fenster in den Garten gingen. „Das ist gewissermaßen mein Arbeitszimmer,“ sagte er, „es hat außer am frühen Morgen nicht viel Sonne, ist daher im Sommer angenehm, ich lese gerne hier, oder schreibe, oder beschäftige mich sonst mit Dingen, die mir Antheil einflößen.“ Ich dachte mit Lebhaftigkeit, ich könnte sagen, mit einer Art Sehnsucht auf meinen Vater, da ich diese Stube betreten hatte. In ihr war nichts mehr von Marmor, sie war wie unsere gewöhnlichen Stuben; aber sie war mit alterthümlichen Geräthen eingerich¬ tet, wie sie mein Vater hatte, und liebte. Allein die Geräthe erschienen mir so schön, daß ich glaubte, nie etwas ihnen Ähnliches gesehen zu haben. Ich unter¬ richtete meinen Gastfreund von der Eigenschaft meines Vaters, und erzählte ihm in Kurzem von den Din¬ gen, welche derselbe besaß. Auch bat ich, die Sachen näher betrachten zu dürfen, um meinem Vater nach meiner Zurückkunft von ihnen erzählen, und sie ihm wenn auch nur nothdürftig beschreiben zu können. Mein Begleiter willigte sehr gerne in mein Begehren. Es war vor allem ein Schreibschrein, welcher meine Aufmerksamkeit erregte, weil er nicht nur das größte sondern wahrscheinlich auch das schönste Stück des Zimmers war. Vier Delphine, welche sich mit dem Untertheil ihrer Häupter auf die Erde stüzten, und die Leiber in gewundener Stellung emporstreckten, trugen den Körper des Schreines auf diesen gewun¬ denen Leibern. Ich glaubte Anfangs, die Delphine seien aus Metall gearbeitet, mein Begleiter sagte mir aber, daß sie aus Lindenholz geschnitten, und nach mittelalterlicher Art zu dem gelblich grünlichen Me¬ talle hergerichtet waren, dessen Verfertigung man jezt nicht mehr zuwege bringt. Der Körper des Schreines hatte eine allseitig gerundete Arbeit mit sechs Fächern. Über ihm befand sich das Mittelstück, das in einer guten Schwingung flach zurückging, und die Klappe enthielt, die geöffnet zum Schreiben diente. Von dem Mittelstücke erhob sich der Aufsaz mit zwölf geschwun¬ genen Fächern und einer Mittelthür. An den Kanten des Aufsazes und zu beiden Seiten der Mittelthür befanden sich als Säulen vergoldete Gestalten. Die beiden größten zu den Seiten der Thür waren starke Männer, die die Hauptsimse trugen. Ein Schildchen, das sich auf ihrer Brust öffnete, legte die Schlüssel¬ öffnungen dar. Die zwei Gestalten an den vorderen Seitenkanten waren Meerfräulein, die in Überein¬ stimmung mit den Tragfischen jedes in zwei Fischen¬ den ausliefen. Die zwei lezten Gestalten an den hin¬ tern Seitenkanten waren Mädchen in faltigen Ge¬ wändern. Alle Leiber der Fische sowohl als der Säu¬ len erschienen mir sehr natürlich gemacht. Die Fächer hatten vergoldete Knöpfe, an denen sie herausgezogen werden konnten. Auf der achteckigen Fläche dieser Knöpfe waren Brustbilder geharnischter Männer oder gepuzter Frauenzimmer eingegraben. Die Holzbele¬ gung auf dem ganzen Schrein war durchaus einge¬ legte Arbeit. Ahornlaubwerk in dunkeln Nußholzfel¬ dern umgeben von geschlungenen Bändern und ge¬ flammtem Erlenholze. Die Bänder waren wie geknit¬ terte Seide, was daher kam, daß sie aus kleinem fein¬ gestreiftem vielfarbigem Rosenholze senkrecht auf die Axe eingelegt waren. Die eingelegte Arbeit befand sich nicht blos, wie es häufig bei derlei Geräthen der Fall ist, auf der sondern auch auf den Sei¬ tentheilen und den Friesen der Säulen. Mein Begleiter stand neben mir, als ich diesem Geräthe meine Aufmerksamkeit widmete, und zeigte mir Manches, und erklärte mir auf meine Bitte Dinge, die ich nicht verstand. Auch eine andere Beobachtung machte ich, da ich mich in diesem Zimmer befand, die meine Geistes¬ thätigkeit in Anspruch nahm. Es kam mir nehmlich vor, daß der Anzug meines Begleiters nicht mehr so seltsam sei, als er mir gestern und als er mir heute erschienen war, da ich ihn auf dem Fütterungsplaze gesehen hatte. Bei diesen Geräthen erschien er mir eher als zustimmend und hieher gehörig, und ich be¬ gann die Vermuthung zu hegen, daß ich vielleicht noch diesen Anzug billigen werde, und daß der alte Mann in dieser Hinsicht verständiger sein dürfte als ich. Außer dem Schreibschreine erregten noch zwei Tische meine Aufmerksamkeit, die an Größe gleich waren, und auch sonst gleiche Gestalt hatten, sich aber nur darin unterschieden, daß jeder auf seiner Platte eine andere Gestaltung trug. Sie hatten nehmlich jeder ein Schild auf der Platte, wie es Ritter und adeliche Geschlechter führten, nur waren die Schilde nicht gleich. Aber auf beiden Tischen waren sie um¬ geben und verschlungen mit Laubwerk Blumen- und Pflanzenwelt, und nie habe ich die feinen Fäden der Halme der Pflanzenbärte und der Getreideähren zar¬ ter gesehen als hier, und doch waren sie von Holz in Stifter , Nachsommer. I . 9 Holz eingelegt. Die übrige Geräthschaft waren hoch¬ lehnige Sessel mit Schnizwerk Flechtwerk und ein¬ gelegter Arbeit, zwei geschnizte Sizbänke, die man im Mittelalter Gesiedel geheißen hatte, geschnizte Fahnen mit Bildern und endlich zwei Schirme von gespann¬ tem und gepreßtem Leder, auf welchem Blumen Früchte Thiere Knaben und Engel aus gemaltem Silber angebracht waren, das wie farbiges Gold aussah. Der Fußboden des Zimmers war gleich den Geräthen aus Flächen alter eingelegter Arbeit zusam¬ mengestellt. Wir hatten wahrscheinlich wegen der Schönheit dieses Bodens bei dem Eintritte in diese Stube die Filzschuhe an unsern Füßen behalten. Obwohl der alte Mann gesagt hatte, daß dieses Zimmer sein Arbeitszimmer sei, so waren doch keine unmittelbaren Spuren von Arbeit sichtbar. Alles schien in den Laden verschlossen oder auf seinen Plaz gestellt zu sein. Auch hier war mein Begleiter, als ich meine Freude über dieses Zimmer aussprach, nicht sehr wortreich, genau so, wie in dem Marmorsaale; aber gleichwohl glaubte ich das Vergnügen ihm von sei¬ nem Angesichte herablesen zu können. Das nächste Zimmer war wieder ein alterthüm¬ liches. Es ging gleichfalls auf den Garten. Sein Fußboden war wie in dem vorigen eingelegte Arbeit, aber auf ihm standen drei Kleiderschreine und das Zimmer war ein Kleiderzimmer. Die Schreine waren groß alterthümlich eingelegt und jeder hatte zwei Flü¬ gelthüren. Sie erschienen mir zwar minder schön als das Schreibgerüste im vorigen Zimmer, aber doch auch von großer Schönheit, besonders der mittlere größte, der eine vergoldete Bekrönung trug, und auf seinen Hohlthüren ein sehr schönes Schild- Laub- und Bänderwerk zeigte. Außer den Schreinen waren nur noch Stühle da und ein Gestelle, welches dazu bestimmt schien, gelegentlich Kleider darauf zu hän¬ gen. Die inneren Seiten der Zimmerthüren waren ebenfalls zu den Geräthen stimmend, und bestanden aus Simswerk und eingelegter Arbeit. Als wir dieses Zimmer verließen, legten wir die Filzschuhe ab. Das nächste Zimmer gleichfalls auf den Garten gehend war das Schlafgemach. Es enthielt Geräthe neuer Art aber doch nicht ganz in der Gestaltung, wie ich sie in der Stadt zu sehen gewohnt war. Man schien hier vor Allem aus Zweckmäßigkeit gesehen zu haben. Das Bett stand mitten im Zimmer, und war 9 * mit dichten Vorhängen umgeben. Es war sehr nieder, und hatte mir ein Tischchen neben sich, auf dem Bücher lagen, ein Leuchter und eine Glocke standen, und sich Geräthe befanden, Licht zu machen. Sonst waren die Geräthe eines Schlafzimmers da, beson¬ ders solche, die zum Aus- und Ankleiden und zum Waschen behilflich waren. Die Innenseiten der Thü¬ ren waren hier wieder zu den Geräthen stimmend. An das Schlafgemach stieß ein Zimmer mit wis¬ senschaftlichen Vorrichtungen namentlich zu Natur¬ wissenschaften. Ich sah Werkzeuge der Naturlehre aus der neuesten Zeit, deren Verfertiger ich entweder persönlich aus der Stadt kannte, oder deren Namen, wenn die Geräthe aus andern Ländern stammten, mir dennoch bekannt waren. Es befanden sich Werkzeuge zu den vorzüglichsten Theilen der Naturlehre hier. Auch waren Sammlungen von Naturkörpern vorhan¬ den vorzüglich aus dem Mineralreiche. Zwischen den Geräthen und an den Wänden war Raum, mit den vorhandenen Vorrichtungen Versuche anstellen zu können. Das Zimmer war gleichfalls noch immer ein Gartenzimmer. Endlich gelangten wir in das Eckzimmer des Hauses, dessen Fenster theils auf den Hauptkörper des Gartens gingen theils nach Nordwesten sahen. Ich konnte aber die Bestimmung dieses Zimmers nicht errathen, so seltsam kam es mir vor. An den Wän¬ den standen Schreine aus geglättetem Eichenholze mit sehr vielen kleinen Fächern. An diesen Fächern waren Aufschriften, wie man sie in Spezereiverkaufsbuden oder Apotheken findet. Einige dieser Aufschriften ver¬ stand ich, sie waren Namen von Sämereien oder Pflanzennamen. Die meisten aber verstand ich nicht. Sonst war weder ein Stuhl noch ein anderes Ge¬ räthe in dem Zimmer. Vor den Fenstern waren wag¬ rechte Brettchen befestigt, wie man sie hat, um Blu¬ mentöpfe darauf zu stellen; aber ich sah keine Blumen¬ töpfe auf ihnen, und bei näherer Betrachtung zeigte sich auch, daß sie zu schwach seien, um Blumentöpfe tragen zu können. Auch wären gewiß solche auf ihnen gestanden, wenn sie dazu bestimmt gewesen wären, da ich in allen Zimmern mit Ausnahme des Mar¬ morsaales an jedem nur einiger Maßen geeigneten Plaze Blumen aufgestellt gesehen hatte. Ich fragte meinen Begleiter nicht um den Zweck des Zimmers, und er äußerte sich auch nicht dar¬ über. Wir gelangten nun wieder in die Gemächer, die an der Mittagseite des Hauses lagen, und über den Sandplaz auf die Felder hinaus sahen. Das erste nach dem Eckzimmer war ein Bücher¬ zimmer. Es war groß und geräumig, und stand voll von Büchern. Die Schreine derselben waren nicht so hoch, wie man sie gewöhnlich in Bücherzimmern sieht, sondern nur so, daß man noch mit Leichtigkeit um die höchsten Bücher langen konnte. Sie waren auch so flach, daß nur eine Reihe Bücher stehen konnte, keine die andere deckte, und alle vorhandenen Bücher ihre Rücken zeigten. Von Geräthen befand sich in dem Zimmer gar nichts als in der Mitte desselben ein langer Tisch, um Bücher darauf legen zu können. In seiner Lade waren die Verzeichnisse der Samm¬ lung. Wir gingen bei dieser allgemeinen Beschauung des Hauses nicht näher auf den Inhalt der vorhande¬ nen Bücher ein. Neben dem Bücherzimmer war ein Lesegemach. Es war klein und hatte nur ein Fenster, das zum Un¬ terschiede aller anderen Fenster des Hauses mit grün¬ seidenen Vorhängen versehen war, während die an¬ deren grauseidne Rollzüge besaßen. An den Wänden standen mehrere Arten von Sizen Tischen und Pul¬ ten, so daß für die größte Bequemlichkeit der Leser ge¬ sorgt war. In der Mitte stand wie im Bücherzimmer ein großer Tisch oder Schrein — denn er hatte meh¬ rere Laden — der dazu diente, daß man Tafeln Map¬ pen Landkarten und dergleichen auf ihm ausbreiten konnte. In den Laden lagen Kupferstiche. Was mir in diesem Zimmer auffiel, war, daß man nirgends Bücher oder etwas, das an den Zweck des Lesens er¬ innerte, herumliegen sah. Nach dem Lesegemache kam wieder ein größeres Zimmer, dessen Wände mit Bildern bedeckt waren. Die Bilder hatten lauter Goldrahmen, waren aus¬ schließlich Öhlgemälde, und reichten nicht höher, als daß man sie noch mit Bequemlichkeit betrachten konnte. Sonst hingen sie aber so dicht, daß man zwischen ih¬ nen kein Stückchen Wand zu erblicken vermochte. Von Geräthen waren nur mehrere Stühle und eine Staf¬ felei da, um Bilder nach Gelegenheit aufstellen, und besser betrachten zu können. Diese Einrichtung erin¬ nerte mich an das Bilderzimmer meines Vaters. Das Bilderzimmer führte durch die dritte Thür des Marmorsaales wieder in denselben zurück, und so hatten wir die Runde in diesen Gemächern voll¬ endet. „Das ist nun meine Wohnung,“ sagte mein Be¬ gleiter, „sie ist nicht groß und von außerordentlicher Bedeutung, aber sie ist sehr angenehm. In dem ande¬ ren Flügel des Hauses sind die Gastzimmer, welche beinahe alle dem gleichen, in welchem ihr heute Nacht geschlafen habt. Auch ist Gustavs Wohnung dort, die wir aber nicht besuchen können, weil wir ihn sonst in seinem Lernen stören würden. Durch den Saal und über die Treppe können wir nun wieder in das Freie gelangen.“ Als wir den Saal durchschritten hatten, als wir über die Treppe hinabgegangen, und zu dem Aus¬ gange des Hauses gekommen waren, legten wir die Filzschuhe ab, und mein Begleiter sagte: „Ihr werdet euch wundern, daß in meinem Hause Theile sind, in welchen man sich die Unbequemlichkeit auflegen muß, solche Schuhe anzuziehen; aber es kann mit Fug nicht anders sein, denn die Fußböden sind zu empfindlich, als daß man mit gewöhnlichen Schuhen auf ihnen gehen könnte, und die Abtheilungen, welche solche Fußböden haben, sind ja auch eigentlich nicht zum Bewohnen sondern nur zum Besehen bestimmt, und endlich gewinnt sogar das Besehen an Werth, wenn man es mit Beschwerlichkeiten erkaufen muß. Ich habe in diesen Zimmern gewöhnlich weiche Schuhe mit Wollsohlen an. In mein Arbeitszimmer kann ich auch ohne allen Umweg gelangen, da ich in dasselbe nicht durch den Saal gehen muß, wie wir jetzt gethan haben, sondern da von dem Erdgeschosse ein Gang in das Zimmer hinaufführt, den ihr nicht gesehen haben werdet, weil seine beiden Enden mit guten Tapetten¬ thüren geschlossen sind. Der Pfarrer von Rohrberg leidet an der Gicht, und verträgt heiße Füsse nicht, daher belege ich für ihn, wenn er anwesend ist, die Treppe oder die Zimmer mit einem Streifen von Wollstoff, wie ihr es gestern gesehen habt.“ Ich antwortete, daß die Vorrichtung sehr zweck¬ mäßig sei, und daß sie überall angewendet werden muß, wo kunstreiche oder sonst werthvolle Fußböden zu schonen sind. Da wir nun im Garten waren, sagte ich, indem ich mich umwendete, und das Haus betrachtete: „Eure Wohnung ist nicht, wie ihr sagt, von geringer Bedeutung. Sie wird, so viel ich aus der kurzen Be¬ sichtigung entnehmen konnte, wenige ihres Gleichen haben. Auch hatte ich nicht gedacht, daß das Haus, wenn ich es so von der Straße aus sah, eine so große Räumlichkeit in sich hätte.“ „So muß ich euch nun auch noch etwas anderes zeigen,“ erwiederte er, „folgt mir ein wenig durch jenes Gebüsch.“ Er ging nach diesen Worten voran, ich folgte ihm. Er schlug einen Weg gegen dichtes Gebüsch ein. Als wir dort angekommen waren, ging er auf einem schma¬ len Pfade durch dessen Verschlingung fort. Endlich kamen sogar hohe Bäume, unter denen der Weg da¬ hin lief. Nach einer Weile that sich ein anmuthiger Rasenplaz vor uns auf, der wieder ein langes aus einem Erdgeschosse bestehendes Gebäude trug. Es hatte viele Fenster, die gegen uns hersahen. Ich hatte es früher weder von der Straße aus erblickt, noch von den Stellen des Gartens, auf denen ich gewesen war. Vermuthlich waren die Bäume daran Schuld, die es umstanden. Da wir uns näherten, ging ein feiner Rauch aus seinem Schornsteine empor, obwohl, da es Sommer war, keine Einheizzeit, und da es noch so früh am Vormittage war, keine Kochzeit die Ur¬ sache davon sein konnte. Als wir näher kamen, hörte ich in dem Hause ein Schnarren und Schleifen, als ob in ihm gesägt und gehobelt würde. Da wir einge¬ treten waren, sah ich in der That eine Schreinerwerk¬ stätte vor mir, in welcher thätig gearbeitet wurde. An den Fenstern, durch welche reichliches Licht her¬ einfiel, standen die Schreinertische, und an den übri¬ gen Wänden, welche fensterlos waren, lehnten Theile der in Arbeit begriffenen Gegenstände. Hier fand ich wieder eine Ähnlichkeit mit meinem Vater. So wie er sich einen jungen Mann abgerichtet hatte, der ihm seine alterthümlichen Geräthe nach seiner Angabe wieder herstellte, so sah ich hier gleich eine ganze Werkstätte dieser Art; denn ich erkannte aus den Thei¬ len, die herumstanden, daß hier vorzüglich an der Wiederherstellung alterthümlicher Geräthschaften ge¬ arbeitet werde. Ob auch Neues in dem Hause verfer¬ tigt werde, konnte ich bei dem ersten Anblicke nicht er¬ kennen. Von den Arbeitern hatte jeder einen Raum an den Fenstern für sich, der von dem Raume seines Nachbars durch gezogene Schranken abgesondert war. Er hatte seine Geräthe und seine eben nothwendigen Arbeitsstücke in diesem Raume bei sich, das Andere, was er gerade nicht brauchte, hatte er an der Hinter¬ wand des Hauses hinter sich, so daß eine übersichtliche Ordnung und Einheit bestand. Es waren vier Arbei¬ ter. In einem großen Schreine, der einen Theil der einen Seitenwand einnahm, befanden sich vorräthige Werkzeuge, welche für den Fall dienten, daß irgend eines unversehens untauglich würde, und zu seiner Herstellung zu viele Zeit in Anspruch nähme. In ei¬ nem andern Schreine an der entgegengesezten Sei¬ tenwand waren Fläschchen und Büchschen, in denen sich die Flüssigkeiten und andere Gegenstände befan¬ den, die zur Erzeugung von Firnissen Polituren oder dazu dienten, dem Holze eine bestimmte Farbe oder das Ansehen von Alter zu geben. Abgesondert von der Werkstube war ein Herd, auf welchem das zu Schreinerarbeiten unentbehrliche Feuer brannte. Seine Stätte war feuerfest, um die Werkstube und ihren In¬ halt nicht zu gefährden. „Hier werden Dinge,“ sagte mein Begleiter, „welche lange vor uns ja oft mehrere Jahrhunderte vor unserer Zeit verfertigt worden, und in Verfall ge¬ rathen sind, wieder hergestellt, wenigstens so weit es die Zeit und die Umstände nur immer erlauben. Es wohnt in den alten Geräthen beinahe wie in den alten Bildern ein Reiz des Vergangenen und Abgeblühten, der bei dem Menschen, wenn er in die höheren Jahre kömmt, immer stärker wird. Darum sucht er das zu erhalten, was der Vergangenheit angehört, wie er ja auch eine Vergangenheit hat, die nicht mehr recht zu der frischen Gegenwart der rings um ihn Aufwach¬ senden paßt. Darum haben wir hier eine Anstalt für Geräthe des Alterthums gegründet, die wir dem Un¬ tergange entreißen zusammenstellen reinigen glätten und wieder in die Wohnlichkeit einzuführen suchen.“ Es wurde, da ich mich in dem Schreinerhause be¬ fand, eben an der Platte eines Tisches gearbeitet, die, wie mein Begleiter sagte, aus dem sechzehnten Jahr¬ hunderte stammte. Sie war in Hölzern von verschie¬ dener aber natürlicher Farbe eingelegt. Blos wo grü¬ nes Laub vorkam, war es von grüngebeiztem Holze. Von außen war eine Verbrämung von in einander ge¬ schlungenen und schneckenartig gewundenen Rollen Laubzweigen und Obst. Die innere Fläche, welche von der Verbrämung durch ein Bänderwerk von ro¬ them Rosenholze abgeschnitten war, trug auf einem Grunde von braunlich weißem Ahorne eine Samm¬ lung von Musikgeräthen. Sie waren freilich nicht in dem Verhältnisse ihrer Größen eingelegt. Die Geige war viel kleiner als die Mandoline, die Trommel und der Dudelsack waren gleich groß, und unter beiden zog sich die Flöte wie ein Weberbaum dahin. Aber im Einzelnen erschienen mir die Sachen als sehr schön, und die Mandoline war so rein und lieblich, wie ich solche Dinge nicht schöner auf den alten Gemälden meines Vaters gesehen hatte. Einer der Arbeiter schnitt Stücke aus Ahorn Bux Sandelholz Ebenholz tür¬ kisch Hasel und Rosenholz zurecht, damit sie in ihrer kleineren Gestalt gehörig austrocknen konnten. Ein anderer löste schadhafte Theile aus der Platte, und ebnete die Grundstellen, um die neuen Bestandtheile zweckmäßig einsezen zu können. Der dritte schnitt und hobelte die Füsse aus einem Ahornbalken, und der vierte war beschäftigt, nach einer in Farben ausge¬ führten Abbildung der Tischplatte, die er vor sich hatte, und aus einer Menge von Hölzern, die neben ihm lagen, diejenigen zu bestimmen, die den auf der Zeichnung befindlichen Farben am meisten entsprächen. Mein Begleiter sagte mir, daß das Gerüste und die Füsse des Tisches verloren gegangen seien, und neu gemacht werden müßten. Ich fragte, wie man das einrichte, daß das Neue zu dem Vorhandenen passe. Er antwortete: „Wir haben eine Zeichnung ge¬ macht, die ungefähr darstellte, wie die Füsse und das Gerüste ausgesehen haben mögen.“ Auf meine neue Frage, wie man denn das wissen könne, antwortete er: „Diese Dinge haben so gut wie bedeutendere Gegenstände ihre Geschichte, und aus dieser Geschichte kann man das Aussehen und den Bau derselben zusammen sezen. Im Verlaufe der Jahre haben sich die Gestaltungen der Geräthe immer neu abgelöset, und wenn man auf diese Abfolge sein Augenmerk richtet, so kann man aus einem vorhan¬ denen Ganzen auf verloren gegangene Theile schlie¬ ßen, und aus aufgefundenen Theilen auf das Ganze gelangen. Wir haben mehrere Zeichnungen entwor¬ fen, in deren jede immer die Tischplatte einbezogen war, und haben uns auf diese Weise immer mehr der muthmaßlichen Beschaffenheit der Sache genähert. Endlich sind wir bei einer Zeichnung geblieben, die uns nicht zu widersprechend schien.“ Auf meine Frage, ob er denn immer Arbeit für seine Anstalt habe, antwortete er: „Sie ist nicht gleich so entstanden, wie ihr sie hier sehet. Anfangs zeigte sich die Lust an alten und vorelterlichen Dingen, und wie die Lust wuchs, sammelten sich nach und nach schon die Gegenstände an, die ihrer Wiederherstellung entgegen sahen. Zuerst wurde die Ausbesserung bald auf diesem bald auf jenem Wege versucht, und einge¬ leitet. Viele Irrwege sind betreten worden. Indessen wuchs die Zahl der gesammelten Gegenstände immer mehr, und deutete schon auf die künftige Anstalt hin. Als man in Erfahrung brachte, daß ich alterthüm¬ liche Gegenstände kaufe, brachte man mir solche, oder zeigte mir die Orte an, wo sie zu finden wären. Auch vereinigten sich mit uns hie und da Männer, welche auf die Dinge des Alterthums ihr Augenmerk richte¬ ten, uns darüber schrieben, und wohl auch Zeichnun¬ gen einsandten. So erweiterte sich unser Kreis immer mehr. Ungehörige Ausbesserungen aus früheren Zei¬ ten gaben ebenfalls Stoff zu erneuerter Arbeit, und da wir Anfangs auch an verschiedenen Orten arbeiten ließen, und häufig genöthigt waren, die Orte zu wechseln, ehe wir uns hier niederließen, so verschleppte sich manche Zeit, und die Arbeitsgegenstände mehr¬ ten sich. Endlich geriethen wir auch auf den Gedan¬ ken, neue Gegenstände zu verfertigen. Wir geriethen auf ihn durch die alten Dinge, die wir immer in den Händen hatten. Diese neuen Gegenstände wurden aber nicht in der Gestalt gemacht, wie sie jezt ge¬ bräuchlich sind, sondern wie wir sie für schön hielten. Wir lernten an dem Alten; aber wir ahmten es nicht nach, wie es noch zuweilen in der Baukunst geschieht, in der man in einem Stile, zum Beispiele in dem sogenannten gothischen, ganze Bauwerke nachbildet. Wir suchten selbstständige Gegenstände für die jezige Zeit zu verfertigen mit Spuren des Lernens an ver¬ gangnen Zeiten. Haben ja selbst unsere Vorfahrer aus ihren Vorfahrern geschöpft, diese wieder aus den ihrigen, und so fort, bis man auf unbedeutende und kindische Anfänge stößt. Überall aber sind die eigent¬ lichen Lehrmeister die Werke der Natur gewesen. „Sind solche neugemachte Gegenstände in eurem Hause vorhanden?“ fragte ich. „Nichts von Bedeutung,“ antwortete er, „einige sind an verschiedenen Punkten der Gegend zerstreut, einige sind in einem anderen Orte als in diesem Hause gesammelt. Wenn ihr Lust zu solchen Dingen habt, oder sie in Zukunft fassen solltet, und euer Weg euch wieder einmal hieher führt, so wird es nicht schwer sein, euch an den Ort zu geleiten, wo ihr mehrere un¬ serer besten Gegenstände sehen könnt.“ „Es sind der Wege sehr verschiedene,“ erwiederte ich, „die die Menschen gehen, und wer weiß es, ob der Weg, der mich wegen eines Gewitters zu euch herauf geführt hat, nicht ein sehr guter Weg gewesen ist, und ob ich ihn nicht noch einmal gehe.“ „Ihr habt da ein sehr wahres Wort gesprochen,“ antwortete er, „die Wege der Menschen sind sehr ver¬ Stifter , Nachsommer. I . 10 schiedene. Ihr werdet dieses Wort erst recht einsehen, wenn ihr älter seid.“ „Und habt ihr dieses Haus eigens zu dem Zwecke der Schreinerei erbaut?“ fragte ich weiter. „Ja,“ antwortete er, „wir haben es eigens zu die¬ sem Zwecke erbaut. Es ist aber viel später entstanden als das Wohnhaus. Da wir einmal so weit waren, die Sachen zu Hause machen zu lassen, so war der Schritt ein ganz leichter, uns eine eigene Werkstätte hiefür einzurichten. Der Bau dieses Hauses war aber bei weitem nicht das Schwerste, viel schwerer war es die Menschen zu finden. Ich hatte mehrere Schreiner, und mußte sie entlassen. Ich lernte nach und nach sel¬ ber, und da trat mir der Starrsinn der Eigenwille und das Herkommen entgegen. Ich nahm endlich solche Leute, die nicht Schreiner waren, und sich erst hier unterrichten sollten. Aber auch diese hatten wie die Frühern eine Sünde, welche in arbeitenden Ständen und auch wohl in andern sehr häufig ist, die Sünde der Erfolggenügsamkeit oder der Fahrlässigkeit, die stets sagt: „„es ist so auch recht,““ und die jede weitere Vorsicht für unnöthig erachtet. Es ist diese Sünde in den unbedeutendsten und wichtigsten Dingen des Lebens vorhanden, und sie ist mir in meinen früheren Jahren oft vorgekommen. Ich glaube, daß sie die größten Übel gestiftet hat. Manche Leben sind durch sie verloren gegangen, sehr viele andere, wenn sie auch nicht verloren waren, sind durch sie unglücklich oder unfruchtbar geworden, Werke, die sonst entstanden wären, hat sie vereitelt, und die Kunst und was mit derselben zusammenhängt, wäre mit ihr gar nicht möglich. Nur ganz gute Menschen in einem Fache haben sie gar nicht, und aus denen werden die Künst¬ ler Dichter Gelehrten Staatsmänner und die großen Feldherren. Aber ich komme von meiner Sache ab. In unserer Schreinerei machte sie blos, daß wir zu nichts Wesentlichem gelangten. Endlich fand ich einen Mann, der nicht gleich aus der Arbeit ging, wenn ich ihn be¬ kämpfte; aber innerlich mochte er recht oft erzürnt ge¬ wesen sein, und über Eigensinn geklagt haben. Nach Bemühungen von beiden Seiten gelang es. Die Werke gewannen Einfluß, in denen das Genaue und Zweckmäßige angestrebt war, und sie wurden zur Richtschnur genommen. Die Einsicht in die Schön¬ heit der Gestalten wuchs, und das Leichte und Feine wurde dem Schweren und Groben vorgezogen. Er las Gehilfen aus, und erzog sie in seinem Sinne. Die Begabten fügten sich bald. Es wurde die Chemie 10 * und andere Naturwissenschaften hergenommen, und im Lesen schöner Bücher wurde das Innere des Gemüthes zu bilden versucht.“ Er ging nach diesen Worten gegen den Mann, der mit dem Aussuchen der Hölzer nach dem vor ihm liegenden Plane der Tischplatte beschäftigt war, und sagte: „Wollt ihr nicht die Güte haben, uns einige Zeichnungen zu zeigen, Eustach?“ Der junge Mann, an den diese Worte gerichtet waren, erhob sich von seiner Arbeit, und zeigte uns ein ruhiges gefälliges Wesen. Er legte die grüne Tuchschürze ab, welche er vorgebunden hatte, und ging aus seiner Arbeitsstelle zu uns herüber. Es be¬ fand sich neben dieser Stelle in der Wand eine Glas¬ thür, hinter welcher grüne Seide in Falten gespannt war. Diese Thür öffnete er, und führte uns in ein freundliches Zimmer. Das Zimmer hatte einen künst¬ lich eingelegten Fußboden, und enthielt mehrere breite glatte Tische. Aus der Lade eines dieser Tische nahm der Mann eine große Mappe mit Zeichnungen, öff¬ nete sie, und that sie auf der Tischplatte auseinander. Ich sah, daß diese Zeichnungen für mich zum Ansehen heraus genommen worden waren, und legte daher die Blätter langsam um. Es waren lauter Zeichnungen von Bauwerken und zwar theils im Ganzen theils von Bestandtheilen derselben. Sie waren sowohl, wie man sich ausdrückt, im Perspective ausgeführt als auch in Aufrissen in Längen- und Querschnitten. Da ich mich selber geraume Zeit mit Zeichnen beschäftiget hatte, wenn auch mit Zeichnen anderer Gegenstände, so war ich bei diesen Blättern schon mehr an meiner Stelle als bei den alten Geräthen. Ich hatte immer bei dem Zeichnen von Pflanzen und Steinen nach großer Genauigkeit gestrebt, und hatte mich bemüht, durch den Schwarzstift die Wesenheit derselben so auszudrücken, daß man sie nach Art und Gattung er¬ kennen sollte. Freilich waren die vor mir liegenden Zeichnungen die von Bauwerken. Ich hatte Bauwerke nie gezeichnet, ich hatte sie eigentlich nie recht betrach¬ tet. Aber andererseits waren die Linien, die hier vor¬ kamen, die von großen Körpern von geschichteten Stoffen und von ausgedehnten Flächen, wie sie bei mir auch an den Felsen und Bergen erschienen; oder sie waren die leichten Wendungen von Zierrathen, wie sie bei mir die Pflanzen bothen. Endlich waren ja alle Bauwerke aus Naturdingen entstanden, welche die Vorbilder gaben, etwa aus Felsenkuppen oder Felsen¬ zacken oder selbst aus Tannen Fichten oder anderen Bäumen. Ich betrachtete daher die Zeichnungen recht genau, und sah sie um ihre Treue und Sachgemä߬ heit an. Als ich sie schon alle durchgeblättert hatte, legte ich sie wieder um, und schaute noch einmal jedes einzelne Blatt an. Die Zeichnungen waren sämmtlich mit dem Schwarzstifte ausgeführt. Es war Licht und Schatten angegeben, und die Linienführung war verstärkt oder gemäßigt, um nicht blos die Körperlichkeit der Dinge sondern auch das sogenannte Luftperspective darzu¬ stellen. In einigen Blättern waren Wasserfarben an¬ gewendet, entweder, um blos einzelne Stellen zu bezeichnen, die eine besonders starke oder eigenthüm¬ liche Farbe hatten, wie etwa, wo das Grün der Pflanzen sich auffallend von dem Gemäuer, aus dem es sproßte, abhob, oder wo der Stoff durch Einfluß von Sonne oder Wasser eine ungewöhnliche Farbe erhalten hatte, wie zum Beispiele an gewissen Stei¬ nen, die durch Wasser bräunlich ja beinahe roth werden; oder es waren Farben angewendet, um dem Ganzen einen Ton der Wirklichkeit und Zusammen¬ stimmung zu geben; oder endlich es waren einzelne sehr kleine Stellen mit Farben gleichsam mit Farb¬ druckern, wie man sich ausdrückt, bezeichnet, um Flächen oder Körper oder ganze Abtheilungen im Raume zurück zu drängen. Immer aber waren die Farben so untergeordnet gehalten, daß die Zeichnun¬ gen nicht in Gemälde übergingen, sondern Zeichnun¬ gen blieben, die durch die Farbe nur noch mehr ge¬ hoben wurden. Ich kannte diese Verfahrungsweise sehr gut, und hatte sie selber oft angewendet. Was den Werth der Zeichnungen anbelangt, so erschien mir derselbe ein ziemlich bedeutender. Die Hand, von der sie verfertigt worden waren, hielt ich für eine geübte, was ich daraus schloß, daß in den vielen Zeichnungen kein Fortschritt zu bemerken war, sondern daß dieser schon in der Zeit vor den Zeich¬ nungen lag, und hier angewendet wurde. Die Linien waren rein und sicher gezogen, das sogenannte Linear¬ perspective war, so weit meine Augen urtheilen konnten, — denn eine mathematische Prüfung konnte ich nicht anlegen — richtig, der Stoff des Schwarzstiftes war gut beherrscht, und mit seinen geringen Mitteln war Haushaltung getroffen, darum standen die Körper klar da, und lösten sich von der Umgebung. Wo die Farbe eine Art Wirklichkeit angenommen hatte, war sie mit Gegenständlichkeit und Maß hingesezt, was, wie ich aus Erfahrung wußte, so schwer zu finden ist, daß die Dinge als Dinge nicht als Färbungen gel¬ ten. Dies ist besonders bei Gegenständen der Fall, die minder entschiedene Farben haben, wie Steine Gemäuer und dergleichen, während Dinge von deut¬ lichen Farben leichter zu behandeln sind, wie Blumen Schmetterlinge selbst manche Vögel. Eine besondere Thatsache aber fiel mir bei Be¬ trachtung dieser Zeichnungen auf. Bei den Bauver¬ zierungen, welche von Gegenständen der Natur ge¬ nommen waren, von Pflanzen oder selbst von Thie¬ ren, kamen bedeutende Fehler vor, ja es kamen sogar Unmöglichkeiten vor, die kaum ein Anfänger macht, sobald er nur die Pflanze gut betrachtet. Bei den ganz gleichen Verzierungen an andern Bauwerken in an¬ dern Zeichnungen waren diese Fehler nicht da, son¬ dern die Verzierungen waren in Hinsicht ihrer Urbil¬ der in der Natur mit Richtigkeit angegeben. Ich hatte, da ich einmal zeichnete, öfter die Bilder meines Va¬ ters betrachtet, und in ihnen, selbst in solchen, die er für sehr gut hielt, ähnliche Fehler gefunden. Da die Bilder meines Vaters aus alter Zeit waren, diese Zeichnungen aber auch alte Bauwerke darstellten, so schloß ich, daß sie vielleicht Abrisse von wirklichen Bauten seien, und daß die Fehler in den Zierrathen der Zeichnungen Fehler in den wirklichen Zierrathen der Bauarten seien, und daß die Zierrathen, deren Zeichnungen fehlerlos waren, auch an den Bauwer¬ ken keinen Fehler gehabt haben. Es gewannen durch diesen Umstand die Zeichnungen in meinen Augen noch mehr, da er gerade ihre große Treue bewies. Auch ein eigenthümlicher Gedanke kam mir bei der Betrachtung dieser Zeichnungen in das Haupt. Ich hatte nie so viele Zeichnungen von Bauwerken bei¬ sammen gesehen, so wie ich Bauwerke selber nicht zum Gegenstande meiner Aufmerksamkeit gemacht hatte. Da ich nun alle diese Laubwerke diese Ran¬ ken diese Zacken diese Schwingungen diese Schnecken in großer Abfolge sah, erschienen sie mir gewissermas¬ sen wie Naturdinge etwa wie eine Pflanzenwelt mit ihren zugehörigen Thieren. Ich dachte, man könnte sie eben so zu einem Gegenstande der Betrachtung und der Forschung machen wie die wirklichen Pflan¬ zen und andere Hervorbringungen der Erde, wenn sie hier auch mir eine steinerne Welt sind. Ich hatte das nie recht beachtet, wenn ich auch hin und wieder an einer Kirche oder an einem anderen Gebäude einen steinernen Stengel oder eine Rose oder eine Distelspize oder einen Säulenschaft oder die Vergitte¬ rung einer Thür ansah. Ich nahm mir vor, diese Gegenstände nun genauer zu beobachten. „Diese Zeichnungen sind lauter Abbildungen von wirklichen Bauwerken, die in unserem Lande vorhan¬ den sind,“ sagte mein Begleiter. „Wir haben sie nach und nach zusammen gebracht. Kein einziges Bauwerk unseres Landes, welches entweder im Ganzen schön ist, oder an dem Theile schön sind, fehlt. Es ist nehmlich auch hier im Lande wie überall vorgekommen, daß man zu den Theilen alter Kirchen oder anderer Werke, die nicht fertig geworden sind, neue Zubaue in ganz an¬ derer Art gemacht hat, so daß Bauwerke entstanden, die in verschiedenen Stilen ausgeführt, und theils schön und theils häßlich sind. Die Landkirchen, die aus verschiedenen Stellen in unserer Zeit entstanden sind, haben wir nicht aufgenommen.“ „Wer hat denn diese Zeichnungen verfertigt?“ fragte ich. „Der Zeichner steht vor euch,“ antwortete mein Begleiter, indem er auf den jungen Mann wies. Ich sah den Mann an, und es zeigte sich ein leich¬ tes Erröthen in seinem Angesichte. „Der Meister hat nach und nach die Theile des Landes besucht,“ fuhr mein Gastfreund fort, „und hat die Baugegenstände gezeichnet, die ihm gefielen. Diese Zeichnungen hat er in seinem Buche nach Hause ge¬ bracht, und sie dann auf einzelnen Blättern im Rei¬ nen ausgeführt. Außer den Zeichnungen von Bau¬ werken haben wir auch die von inneren Ausstattun¬ gen derselben. Seid so gefällig und zeigt auch diese Mappe, Eustach.“ Der junge Mann legte die Mappe, die wir eben betrachtet hatten, zusammen, und that sie in ihre Lade. Dann nahm er aus einer anderen Lade eine andere Mappe, und legte sie mir mit den Worten vor: „Hier sind die kirchlichen Gegenstände.“ Ich sah die Zeichnungen in der Mappe, die er mir geöffnet hatte, an, wie ich früher die der Bauwerke angesehen hatte. Es waren Zeichnungen von Altären Chorstühlen Kanzeln Sakramentshäuschen Taufstei¬ nen Chorbrüstungen Sesseln einzelnen Gestalten ge¬ malten Fenstern und anderen Gegenständen, die in Kirchen vorkommen. Sie waren wie die Zeichnungen der Baugegenstände entweder ganz in Schwarzstift ausgeführt oder theils in Schwarzstift theils in Far¬ ben. Hatte ich mich schon früher in diese Gegenstände vertieft, so geschah es jezt noch mehr. Sie waren noch mannigfaltiger, und für die Augen anlockender als die Bauwerke. Ich betrachtete jedes Blatt einzeln, und manches nahm ich noch einmal vor, nachdem ich es schon hingelegt hatte. Als ich mit dieser Mappe fertig war, legte mir der Meister eine neue vor, und sagte: „Hier sind die weltlichen Gegenstände.“ Die Mappe enthielt Zeichnungen von sehr ver¬ schiedenen Geräthen, die in Wohnungen Burgen Klöstern und dergleichen vorkommen, sie enthielt Abbildungen von Vertäflungen, von ganzen Zimmer¬ decken, Fenster- und Thüreinfassungen ja von einge¬ legten Fußböden. Bei den weltlichen Geräthen war viel mehr mit Farben gearbeitet als bei den kirchlichen und bei den Bauten; denn die Wohngeräthe haben sehr oft die Farbe als einen wesentlichen Gegenstand ihrer Erscheinung, besonders wenn sie in verschieden¬ farbigen Hölzern eingelegt sind. Ich fand in dieser Sammlung von Zeichnungen Abbildungen von Ge¬ genständen, die ich in der Wohnung meines Gast¬ freundes gesehen hatte. So war der Schreibschrein und der große Kleiderschrein vorhanden. Auch der Tisch, an dem noch in der Schreinerstube gearbeitet wurde, stand hier schon fertig vor uns auf dem Pa¬ piere. Ich bemerkte hiebei, daß nur die Platte klar und kräftig ausgeführt war, das Gerüste und die Füsse minder, gleichsam schattenhaft behandelt wurden. Ich erkannte, daß man so das Neue, was zu Geräthen hinzukommen mußte, bezeichnen wollte. Mir gefiel diese Art sehr gut. „Die Kirchengeräthe unsers Landes dürften in die¬ ser Sammlung ziemlich vollständig sein,“ sagte mein Gastfreund, „wenigstens wird nichts Wesentliches feh¬ len. Bei den weltlichen kann man das weniger sagen, da man nicht wissen kann, was noch hie und da in dem Lande zerstreut ist.“ Als ich diese Mappe auch angesehen hatte, sagte mein Begleiter: „Diese Zeichnungen sind Nachbildun¬ gen von lauter wirklichen aus älterer Zeit auf uns gekommenen Gegenständen, wir haben aber auch Zeichnungen selbstständig entworfen, die Geräthe oder andere kleinere Gegenstände darstellen. Zeigt uns auch diese, Meister.“ Der junge Mann legte die Mappe auf den Tisch. Sie war viel umfassender als jede der früheren, und enthielt nicht blos die vollständige Darstellung der ganzen Gegenstände, sondern auch ihre Quer- und Längenschnitte und ihre Grundrisse. Es waren Abbil¬ dungen von verschiedenen Geräthen dann von Ver¬ kleidungen Fußböden Zimmerdecken Nischen und end¬ lich sogar von Baugegenständen Treppenhäusern und Seitenkapellen. Man war mit großer Zweifelsucht und Gewissenhaftigkeit zu Werke gegangen; manche Zeich¬ nung war vier- ja fünfmal vorhanden, und jedes Mal verändert und verbessert. Die lezten waren stets mit Farben angegeben, und dies besonders deutlich, wenn die Gegenstände in Holz oder Marmor auszu¬ führen waren. Ich fragte, ob einige dieser Dinge aus¬ geführt worden sind. „Freilich,“ antwortete mein Begleiter, „wozu wä¬ ren denn so viele Zeichnungen angefertigt worden? Alle Gegenstände, die ihr öfter gezeichnet sahet, und deren lezte Zeichnung in Farben angegeben ist, sind in Wirklichkeit ausgearbeitet worden. Diese Zeichnun¬ gen sind die Pläne und Vorlagen zu den neuen Ge¬ räthen, auf deren Verfertigung, wie ich früher sagte, wir gerathen sind. Wenn ihr einmal in den Ort, von dem ich euch gesagt habe, daß er mehrere enthält, kommen solltet, so würdet ihr dort nicht nur viele von denen, die hier gezeichnet sind, sehen, sondern auch solche, die zusammen gehören, und ein Ganzes bil¬ den.“ „Wenn man diese Zeichnungen betrachtet,“ sagte ich, „und wenn man die anderen betrachtet, welche ich früher gesehen habe, so kömmt man auf den Gedan¬ ken, daß die Bauwerke einer Zeit und die Geräthe, welche in diesen Bauwerken sein sollten, eine Einheit bilden, die nicht zerrissen werden kann.“ „Allerdings bilden sie eine,“ erwiederte er, „die Ge¬ räthe sind ja die Verwandten der Baukunst etwa ihre Enkel oder Urenkel, und sind aus ihr hervorgegangen. Dieses ist so wahr, daß ja auch unsere heutigen Ge¬ räthe zu unserer heutigen Baukunst gehören. Unsere Zimmer sind fast wie hohle Würfel oder wie Kisten, und in solchen stehen die geradlinigen und geradflä¬ chigen Geräthe gut. Es ist daher nicht ohne Begrün¬ dung, wenn die viel schöneren alterthümlichen Ge¬ räthe in unseren Wohnungen manchen Leuten einen unheimlichen Eindruck machen, sie widersprechen der Wohnung; aber hierin haben die Leute Unrecht, wenn sie die Geräthe nicht schön finden, die Wohnung ist es, und diese sollte geändert werden. Darum stehen in Schlössern und alterthümlichen Bauten derlei Ge¬ räthe noch am schönsten, weil sie da eine ihnen ähn¬ liche Umgebung finden. Wir haben aus diesem Ver¬ hältnisse Nuzen gezogen, und aus unseren Zeichnun¬ gen der Bauwerke viel für die Zusammenstellung un¬ serer Geräthe gelernt, die wir eben nach ihnen einge¬ richtet haben.“ „Wenn man so viele dieser Dinge in so vielen Abbildungen vor sich sieht, wie wir jezt gethan haben,“ sagte ich, „so kann man nicht umhin, einen großen Eindruck zu empfinden, den sie machen.“ „Es haben sehr tiefsinnige Menschen vor uns ge¬ lebt,“ erwiederte er, „man hat es nicht immer erkannt, und fängt erst jezt an, es wieder ein wenig einzu¬ sehen. Ich weiß nicht, ob ich es Rührung oder Schwer¬ muth nennen soll, was ich empfinde, wenn ich daran denke, daß unsere Voreltern ihre größten und umfas¬ sendsten Werke nicht vollendet haben. Sie mußten auf eine solche Ewigkeit des Schönheitsgefühles gerechnet haben, daß sie überzeugt waren, die Nachwelt werde an dem weiter bauen, was sie angefangen haben. Ihre unfertigen Kirchen stehen wie Fremdlinge in un¬ serer Zeit. Wir haben sie nicht mehr empfunden, oder haben sie durch häßliche Aftergebilde verunstaltet. Ich möchte jung sein, wenn eine Zeit kömmt, in welcher in unserem Vaterlande das Gefühl für diese Anfänge so groß wird, daß es die Mittel zusammenbringt, diese Anfänge weiter zu führen. Die Mittel sind vor¬ handen, nur werden sie auf etwas anderes angewendet, so wie man diese Bauwerke nicht aus Mangel der Mittel unvollendet ließ, sondern aus anderen Grün¬ den.“ Ich sagte nach diesen Worten, daß ich in dem be¬ rührten Punkte weniger unterrichtet sei; aber in einem anderen Punkte könnte ich vielleicht etwas sagen, nehmlich in Hinsicht der Zeichnungen. „Ich habe durch längere Zeit her Pflanzen Steine Thiere und andere Dinge gezeichnet, habe mich sehr geübt, und dürfte daher etwa ein Urtheil wagen können. Diese Zeich¬ nungen erscheinen mir in Reinheit der Linien in Rich¬ tigkeit des Perspectives in kluger Hinstellung jedes Körpertheiles und in passender Anwendung der Far¬ ben als ganz vortrefflich, und ich fühle mich gedrun¬ gen, dieses zu sagen.“ Der Meister sagte zu diesem Lobe nichts, sondern er senkte den Blick zu Boden, meinen Gastfreund aber schien mein Urtheil zu freuen. Er bedeutete den Meister, die Mappe zusammen zu binden, und in die Lade zu legen, was auch ge¬ schah. Wir gingen von diesem Zimmer in die weiteren Räume des Schreinerhauses. Als wir über die Schwelle schritten, dachte ich, daß ich von alterthüm¬ Stifter , Nachsommer. I . 11 lichen Gegenständen troz der Sammlungen meines Vaters, von denen ich doch lebenslänglich umgeben gewesen war, eigentlich bisher nicht viel verstanden habe, und erst lernen müsse. Von dem Zimmer der Zeichnungen gingen wir in das Wohnzimmer des Meisters, welches neben den gewöhnlichen Geräthstücken ebenfalls Zeichnungstische und Staffeleien enthielt. Es war eben so freundlich eingerichtet wie das Zimmer der Zeichnungen. Auch die Zimmer der Gehilfen besuchten wir, und betraten dann die Nebenräume. Es waren dies Räume, die zu verschiedenen Gegenständen, die eine solche Anstalt fordert, nothwendig sind. Der vorzüg¬ lichste war das Trockenhaus, welches hinter der Schreinerei angebracht war, aus der man in die un¬ tere und obere Abtheilung desselben gelangen konnte. Es hatte den Zweck, daß in ihm alle Gattungen von Holz, die man hier verarbeitete, jenen Zustand der Trockenheit erreichen konnten, der in Geräthen noth¬ wendig ist, daß nicht später wieder Beschädigungen eintreten. In dem unteren Raume wurden die größe¬ ren Holzkörper aufbewahrt in dem oberen die kleine¬ ren und feineren. Ich konnte sehen, wie sehr es Ernst mit der Anlegung dieses Werkhauses war; denn ich fand in dem Trockenhause nicht nur einen sehr großen Vorrath von Holz sondern auch fast alle Gattungen der inländischen und ausländischen Hölzer. Ich hatte hier¬ in von der Zeit meiner naturwissenschaftlichen Bestre¬ bungen her einige Kenntniß. Außerdem war das Holz beinahe durchgängig schon in die vorläufigen Gestal¬ ten geschnitten, in die es verarbeitet werden sollte, da¬ mit es auf diese Weise zu hinreichender Beruhigung austrocknen konnte. Mein Begleiter zeigte mir die ver¬ schiedenen Behältnisse, und erklärte mir im Allgemei¬ nen ihren Inhalt. In dem unteren Raume sah ich Lärchenholz zu sehr großen seltsamen Gestalten verbunden gleichsam zu schlanken Gerüsten Rahmen und dergleichen, und fragte, da ich mir die Sache nicht erklären konnte, um ihre Bedeutung. „In unserem Lande,“ antwortete mein Begleiter, „sind mehrere geschnizte Altäre. Sie sind alle aus Lindenholz verfertigt, und einige von bedeutender Schönheit. Sie stammen aus sehr früher Zeit, etwa zwischen dem dreizehnten und fünfzehnten Jahrhun¬ derte, und sind Flügelaltäre, welche mit geöffneten Flügeln die Gestalt einer Monstranze haben. Sie sind zum Theile schon sehr beschädigt, und drohen, in kür¬ 11 * zerer oder längerer Zeit zu Grunde zu gehen. Da ha¬ ben wir nun einen auf meine Kosten wiederhergestellt, und arbeiten jezt an einem zweiten. Die Holzgerüste, um die ihr fragtet, sind Grundlagen, auf denen Ver¬ zierungen befestigt werden müssen. Die Verzierungen sind noch ziemlich erhalten, ihre Grundlagen aber sind sehr morsch geworden, weßhalb wir neue anfertigen müssen, wozu ihr hier die Entwürfe sehet.“ „Hat man euch denn erlaubt, in einer Kirche einen Altar umzugestalten?“ fragte ich. „Man hat es uns erst nach vielen Schwierigkeiten erlaubt,“ antwortete er, „wir haben aber die Schwie¬ rigkeiten besiegt. Besonders kam uns das Mißtrauen in unsere Kenntnisse und Fähigkeiten entgegen, und hierin hatte man Recht. Wohin käme man denn, wenn man an vorhandenen Werken vorschnell Verän¬ derungen anbringen ließe. Es könnten ja da Dinge von der größten Wichtigkeit verunstaltet oder zerstört werden. Wir mußten angeben, was wir verändern oder hinzufügen wollten, und wie die Sache nach der Umarbeitung aussehen würde. Erst da wir dargelegt hatten, daß wir an den bestehenden Zusammenstellun¬ gen nichts ändern würden, daß keine Verzierung an einen andern Plaz komme, daß kein Standbild an seinem Angesichte seinen Händen oder den Faltungen seines Gewandes umgestaltet werde, sondern daß wir nur das Vorhandene in seiner jezigen Gestalt erhal¬ ten wollen, damit es nicht weiter zerfallen könne, daß wir den Stoff, wo er gelitten hat, mit Stoff erfüllen wollen, damit die Ganzheit desselben vorhanden sei, daß wir an Zuthaten nur die kleinsten Dinge anbrin¬ gen würden, deren Gestalt vollkommen durch die gleichartigen Stücke bekannt wäre, und in gleichmä¬ ßiger Vollkommenheit wie die alten verfertigt werden könnte, ferner als wir eine Zeichnung in Farben an¬ gefertigt hatten, die darstellte, wie der gereinigte und wieder hergestellte Altar aussehen würde, und endlich als wir Schnizereien von geringem Umfange einzelne Standbilder und dergleichen in unserem Sinne wie¬ der hergestellt und zur Anschauung gebracht hatten: ließ man uns gewähren. Von Hindernissen, die nicht von der Obrigkeit ausgingen von Verdächtigungen und ähnlichen Vorkommnissen rede ich nicht, sie sind auch wenig zu meiner Kenntniß gekommen.“ „Da habt ihr ein langwieriges und, wie ich glaube, wichtiges Werk unternommen,“ sagte ich. „Die Arbeit hat mehrere Jahre gedauert,“ erwie¬ derte er, „und was die Wichtigkeit anbelangt, so hat sich wohl niemand mehr den Zweifeln hingegeben, ob wir die nöthige Sachkenntniß besäßen, als wir selber. Darum haben wir auch gar keine Veränderung in der Wesenheit der Sache vorgenommen. Selbst dort, wo es deutlich erwiesen war, daß Theile des Altars in der Zeit in eine andere Gruppe gestellt worden waren, als sie ursprünglich gewesen sein konnten, ließen wir das Vorgefundene bestehen. Wir befreiten nur die Gebilde von Schmuz und Übertünchung, befestigten das Zerblätterte und Lediggewordene, ergänzten das Mangelnde, wo, wie ich gesagt habe, dessen Gestalt vollkommen bekannt war, füllten alles, was durch Holzwürmer zerstört war, mit Holz aus, beugten durch ein erprobtes Mittel den künftigen Zerstörungen die¬ ser Thiere vor, und überzogen endlich den ganzen Al¬ tar, da er fertig war, mit einem sehr matten Firnisse. Es wird einmal eine Zeit kommen, in welcher vom Staate aus vollkommen sachverständige Männer in ein Amt werden vereinigt werden, das die Wiederher¬ stellung alter Kunstwerke einleiten, ihre Aufstellung in dem ursprünglichen Sinne bewirken, und ihre Ver¬ unstaltung für kommende Zeiten verhindern wird; denn so gut man uns gewähren ließ, die ja auch eine Ver¬ unstaltung hätten hervorbringen können, so gut wird man in Zukunft auch andere gewähren lassen, die minder zweifelsüchtig sind, oder im Eifer für das Schöne nach ihrer Art verfahren, und das Wesen des Überkommenen zerstören.“ „Und glaubt ihr, daß ein Gesez, welches verbie¬ thet, an dem Wesen eines vorgefundenen Kunstwerkes etwas zu ändern, dem Verfalle und der Zerstö¬ rung desselben für alle Zeiten vorbeugen würde?“ fragte ich. „Das glaube ich nicht,“ erwiederte er; „denn es können Zeiten so geringen Kunstsinnes kommen, daß sie das Gesez selber aufheben; aber auf eine längere Dauer und auf eine bessere Weise wäre doch durch ein solches Gesez gesorgt, als wenn gar keines wäre. Den besten Schuz für Kunstwerke der Vorzeit würde freilich eine fortschreitende und nicht mehr erlahmende Kunstempfindung gewähren. Aber alle Mittel auch in ihrer größten Vollkommenheit angewendet würden den endlichen Untergang eines Kunstwerkes nicht aufhalten können; dies liegt in der immerwährenden Thätigkeit und in dem Umwandlungstriebe der Menschen und in der Vergänglichkeit des Stoffes. Alles, was ist, wie groß und gut es sei, besteht eine Zeit, erfüllt einen Zweck, und geht vorüber. Und so wird auch einmal über alle Kunstwerke, die jezt noch sind, ein ewiger Schleier der Vergessenheit liegen, wie er jezt über de¬ nen liegt, die vor ihnen waren.“ „Ihr arbeitet an der Herstellung eines zweiten Altares,“ sagte ich, „da ihr einen schon vollendet habt: würdet ihr auch noch andere herstellen, da ihr sagt, daß es mehrere in dem Lande gibt?“ „Wenn ich die Mittel dazu hätte, würde ich es thun,“ erwiederte er, „ich würde sogar, wenn ich reich genug wäre, angefangene mittelalterliche Bauwerke vollenden lassen. Da steht in Grünau hart an der Grenze unseres Landes an der Stadtpfarrkirche ein Thurm, welcher der schönste unseres Landes ist, und der höchste wäre, wenn er vollendet wäre; aber er ist nur ungefähr bis zu zwei Drittheilen seiner Höhe fer¬ tig geworden. Dieser altdeutsche Thurm wäre das Erste, welches ich vollenden ließe. Wenn ihr wieder kommt, so führe ich euch in eine Kirche, in welcher auf Landeskosten ein geschnizter Flügelaltar wieder hergestellt worden ist, der zu den bedeutendsten Kunst¬ werken gehört, welche in dieser Art vorhanden sind.“ Wir traten bei diesen Worten den Rückweg aus dem Trockenhause in die Arbeitstube an. Mein Be¬ gleiter sagte auf diesem Wege: „Da Eustach jezt vor¬ zugsweise damit beschäftigt ist, die im Laufe befindli¬ chen Werke auszufertigen, so hat er seinen Bruder, der herangewachsen ist, unterrichtet, und dieser ver¬ sieht jezt hauptsächlich das Geschäft des Zeichnens. Er ist eben daran, die Verzierungen, die in unserem Lande an Bauwerken Holzarbeiten oder sonstwo vor¬ kommen, und die wir in unseren Blättern von größe¬ ren Werken noch nicht haben, zu zeichnen. Wir erwar¬ ten ihn in kurzer Zeit auf einige Tage zurück. An die¬ sen Dingen könnte auch die Gegenwart lernen, falls sie lernen will. Nicht blos aus dem Großen, wenn wir das Große betrachteten, was unsere Voreltern ge¬ macht haben, und was die kunstsinnigsten vorchristli¬ chen Völker gemacht haben, könnten wir lernen, wie¬ der in edlen Gebäuden wohnen, oder von edlen Ge¬ räthen umringt sein, wenigstens wie die Griechen in schönen Tempeln bethen; sondern wir könnten uns auch im Kleinen vervollkommnen, die Überzüge unse¬ rer Zimmer könnten schöner sein, die gewöhnlichen Geräthe Krüge Schalen Lampen Leuchter Äxte würden schöner werden, selbst die Zeichnungen auf den Stof¬ fen zu Kleidern und endlich auch der Schmuck der Frauen in schönen Steinen; er würde die leichten Bil¬ dungen der Vergangenheit annehmen, statt daß jezt oft eine Barbarei von Steinen in einer Barbarei von Gold liegt. Ihr werdet mir recht geben, wenn ihr an die vielen Zeichnungen von Kreuzen Rosen Sternen denkt, die ihr in unsern Blättern mittelalterlicher Bauwerke gesehen habt.“ Ich bewunderte den Mann, der, da er so redete, in einem sonderbaren ja abgeschmackten Kleide neben mir ging. „Wenigstens Achtung vor Leuten, die vor uns ge¬ lebt haben, könnte man aus solchen Bestrebungen lernen,“ fuhr er fort, „statt daß wir jezt gewohnt sind, immer von unseren Fortschritten gegenüber der Un¬ wissenheit unserer Voreltern reden zu hören. Das große Preisen von Dingen erinnert zu oft an Armuth von Erfahrungen.“ Wir waren bei diesen Worten wieder in die Werk¬ stube gekommen, und verabschiedeten uns von dem Meister. Ich reichte ihm die Hand, die er annahm, und schüttelte die seinige herzlich. Da wir aus dem Hause getreten waren und ich umschaute, sah ich durch das Fenster, wie er eben seine grüne Schürze herab nahm, und wieder umband. Auch hörten wir das Hobeln und Sägen wieder, das bei unserem Besuche des Werkhauses ein wenig verstummt war. Wir betraten den Gebüschpfad, und kamen wieder in die Nähe des Wohnhauses. „Ihr habt nun meine ganze Behausung gesehen,“ sagte mein Gastfreund. „Ich habe ja Küche und Keller und Gesindestuben nicht gesehen,“ erwiederte ich. „Ihr sollt sie sehen, wenn ihr wollt,“ sagte er. Ich nahm mein mehr im Scherze gesprochenes Wort nicht zurück, und wir gingen wieder in das Haus. Ich sah hier eine große gewölbte Küche eine große Speisekammer drei Stuben für Dienstleute eine für eine Art Hausaufseher dann die Waschstube den Back¬ ofen den Keller und die Obstkammer. Wie ich vermu¬ thet hatte, war dies alles reinlich und zweckmäßig ein¬ gerichtet. Ich sah Mägde beschäftigt, und wir trafen auch den Hausaufseher in seinem Tagewerke begriffen. Das flache feine Körbchen, aus welchem mein Be¬ herberger die Vögel gefüttert hatte, lehnte in einer eigenen Mauernische neben der Thür, welche sein be¬ stimmter Plaz zu sein schien. Wir gingen von diesen Räumen in das Gewächs¬ haus. Es enthielt sehr viele Pflanzen, meistens solche, welche zur Zeit gebräuchlich waren. Auf den Gestel¬ len standen Camellien mit gut gepflegten grünen Blät¬ tern, Rhododendern, darunter, wie mir die Aufschrift sagte, gelbe, die ich nie gesehen hatte, Azaleen in sehr manigfaltigen Arten, und besonders viele neuhollän¬ dische Gewächse. Von Rosen war die Theerose in hervorragender Anzahl da, und ihre Blumen blühten eben. An das Gewächshaus stieß ein kleines Glas¬ haus mit Ananas. Auf dem Sandwege vor beiden Häusern standen Citronen- und Orangenbäume in Kübeln. Der alte Gärtner hatte noch weißere Haare als sein Herr. Er war ebenfalls ungewöhnlich geklei¬ det, nur konnte ich bei ihm das Ungewöhnliche nicht finden. Das fiel mir auf, daß er viel reines Weiß an sich hatte, welches im Vereine mit seiner weißen Schürze mich eher an einen Koch als an einen Gärt¬ ner erinnerte. Daß die schmale Seite des Gewächshauses von Außen mit Rosen bekleidet sei, wie die Südseite des Wohnhauses, fiel mir wieder auf, aber es berührte mich nicht unangenehm. Die alte Gattin des Gärtners, die wir in der Wohnung desselben fanden, war eben so weißgekleidet wie ihr Mann. An die Gärtnerswohnung stießen die Kammern der Gehilfen. „Jezt habt ihr alles gesehen,“ sagte mein Gast¬ freund, da wir aus diesen Kammern traten, „außer den Gastzimmern, die ich euch zeigen werde, wenn ihr es verlangt, und der Wohnung meines Ziehsohnes, die wir aber jezt nicht betreten können, weil wir ihn in seinem Lernen stören würden.“ „Wir wollen das auf eine spätere Stunde lassen, in der ich euch daran erinnern werde,“ sagte ich, „jezt habe ich aber ein anderes Anliegen an eure Güte, das mir näher am Herzen ist.“ „Und dieses nähere Anliegen?“ fragte er. „Daß ihr mir endlich sagt,“ antwortete ich, „wie ihr zu einer so entschiedenen Gewißheit in Hinsicht des Wetters gekommen seid.“ „Der Wunsch ist ein sehr gerechter,“ entgegnete er, „und um so gerechter, als eure Meinung über das Gewitter der Grund gewesen ist, weßhalb ihr zu un¬ serem Hause herauf gegangen seid, und als unser Streit über das Gewitter der Grund gewesen ist, daß ihr länger da geblieben seid. Gehen wir aber gegen das Bienenhaus, und sezen wir uns auf eine Bank unter eine Linde. Ich werde euch aus dem Wege und auf der Bank meine Sache erzählen.“ Wir schlugen einen breiten Sandpfad ein, der Anfangs von größeren Obstbäumen und später von hohen schattenden Linden begrenzt war. Zwischen den Stämmen standen Ruhebänke, auf dem Sande liefen pickende Vögel, und in den Zweigen wurde heute wie¬ der das Singen vollbracht, welches ich gestern schon wahrgenommen hatte. „Ihr habt die Sammlung von Werkzeugen der Naturlehre in meiner Wohnung gesehen,“ fing mein Begleiter an, als wir auf dem Sandwege dahin gin¬ gen, „sie erklären schon einen Theil unserer Sache.“ „Ich habe sie gesehen,“ antwortete ich, „besonders habe ich das Barometer Thermometer so wie einen Luftblau- und Feuchtigkeitsmesser bemerkt; aber diese Dinge habe ich auch, und sie haben eher, da ich sie vor meiner Wanderung beobachtete, auf einen Nieder¬ schlag als auf sein Gegentheil gedeutet.“ „Das Barometer ist gefallen,“ erwiederte er, „und wies auf geringeren Luftdruck hin, mit welchem sehr oft der Eintritt von Regen verbunden ist.“ „Wohl,“ sagte ich. „Der Zeiger des Feuchtigkeitsmessers,“ fuhr er fort, „rückte mehr gegen den Punkt der größten Feuch¬ tigkeit.“ „Ja so ist es gewesen,“ antwortete ich. „Aber der Electricitätsmesser,“ sagte er, „verkün¬ digte wenig Luftelectricität, daß also eine Entladung derselben, womit in unseren Gegenden gerne Regen verbunden ist, nicht erwartet werden konnte.“ „Ich habe wohl auch die nehmliche Beobachtung gemacht,“ entgegnete ich, „aber die electrische Span¬ nung steht nicht so sehr im Zusammenhange mit Wet¬ terveränderungen, und ist meistens nur ihre Folge. Zudem hat sich gestern gegen Abend Electricität ge¬ nug entwickelt, und alle Anzeichen, von denen ihr re¬ det, verkündeten einen Niederschlag.“ „Ja, sie verkündeten ihn, und er ist erfolgt,“ sagte mein Begleiter; „denn es bildeten sich aus den un¬ sichtbaren Wasserdünsten sichtbare Wolken, die ja wohl sehr fein zertheiltes Wasser sind. Da ist der Nie¬ derschlag. Auf die geringe electrische Spannung legte ich kein Gewicht; ich wußte, daß wenn einmal Wol¬ ken entstünden, sich auch hinlängliche Electricität ein¬ stellen würde. Die Anzeichen, von denen wir geredet haben, beziehen sich aber nur auf den kleinen Raum, in dem man sich eben befindet, man muß auch einen weiteren betrachten, die Bläue der Luft und die Ge¬ staltung der Wolken.“ „Die Luft hatte schon gestern Vormittags die tiefe und finstere Bläue,“ erwiederte ich, „welche dem Re¬ gen vorangeht, und die Wolkenbildung begann be¬ reits am Mittage, und schritt sehr rasch vorwärts.“ „Bis hieher habt ihr Recht,“ sagte mein Beglei¬ ter, „und die Natur hat euch auch Recht gegeben, in¬ dem sie eine ungewöhnliche Menge von Wolken er¬ zeugte. Aber es gibt auch noch andere Merkmale, als die wir bisher besprochen haben, welche euch entgan¬ gen sind. Ihr werdet wissen, daß Anzeichen bestehen, welche nur einer gewissen Gegend eigen sind, und von den Eingebornen verstanden werden, denen sie von Ge¬ schlecht zu Geschlecht überliefert worden sind. Oft ver¬ mag die Wissenschaft recht wohl den Grund der lan¬ gen Erfahrung anzugeben. Ihr wißt, daß in Gegen¬ den ein kleines Wölklein an einer bestimmten Stelle des Himmels, der sonst rein ist, erscheinend und dort schweben bleibend ein sicherer Gewitteranzeiger für diese Gegend ist, daß ein trüberer Ton an einer ge¬ wissen Stelle des Himmels ein Windstoß aus einer gewissen Gegend her Vorboten eines Landregens sind, und daß der Regen immer kömmt. Solche Anzeichen hat auch diese Gegend, und es sind gestern keine ein¬ getreten, die auf Regen wiesen.“ „Merkmale, die nur dieser Gegend angehören,“ erwiederte ich, „konnte ich nicht beobachten; aber ich glaube, daß diese Merkmale allein euch doch nicht be¬ stimmen konnten, einen so entscheidenden Ausspruch zu thun, wie ihr gethan habt.“ „Sie bestimmten mich auch nicht,“ antwortete er, „ich hatte auch noch andere Gründe.“ „Nun.“ „Alle die Vorzeichen, von denen wir bisher gere¬ det haben, sind sehr grobe,“ sagte er, „und werden meistens von uns nur mittelst räumlicher Verände¬ rungen erkannt, die, wenn sie nicht eine gewisse Größe erreichen, von uns gar nicht mehr beobachtet werden können. Der Schauplaz, auf welchem sich die Witte¬ rungsverhältnisse gestalten, ist sehr groß; dort, wohin wir nicht sehen, und woher die Wirkungen auf unsere wissenschaftlichen Werkzeuge nicht reichen können, mö¬ gen vielleicht Ursachen und Gegenanzeigen sein, die, wenn sie uns bekannt wären, unsere Vorhersage in ihr Gegentheil umstimmen würden. Die Anzeichen können daher auch täuschen. Es sind aber noch viel feinere Vorrichtungen vorhanden, deren Beschaffen¬ heit uns ein Geheimniß ist, die von Ursachen, die wir sonst gar nicht mehr messen können, noch betroffen werden, und deren Wirkung eine ganz gewisse ist.“ Stifter , Nachsommer. I . 12 „Und diese Werkzeuge?“ „Sind die Nerven.“ „Also empfindet ihr durch eure Nerven, wenn Re¬ gen kommen wird?“ „Durch meine Nerven empfinde ich das nicht,“ antwortete er. „Der Mensch stört leider durch zu starke Einwirkungen, die er auf die Nerven macht, das feine Leben derselben, und sie sprechen zu ihm nicht mehr so deutlich, als sie sonst wohl könnten. Auch hat ihm die Natur etwas viel Höheres zum Ersaze gegeben, den Verstand und die Vernunft, wodurch er sich zu helfen und sich seine Stellung zu geben vermag. Ich meine die Nerven der Thiere.“ „Es wird wohl wahr sein, was ihr sagt,“ ant¬ wortete ich. „Die Thiere hängen mit der tiefer stehen¬ den Natur noch viel unmittelbarer zusammen als wir. Es wird nur darauf ankommen, daß diese Beziehun¬ gen ergründet werden, und dafür ein Ausdruck gefun¬ den wird, besonders, was das kommende Wetter be¬ trifft.“ „Ich habe diesen Zusammenhang nicht ergründet,“ entgegnete er, „noch weniger den Ausdruck dafür ge¬ funden ; beides dürfte in dieser Allgemeinheit wohl sehr schwer sein; aber ich habe zufällig einige Beob¬ achtungen gemacht, habe sie dann absichtlich wieder¬ holt, und daraus Erfahrungen gesammelt, und Er¬ gebnisse zusammen gestellt, die eine Voraussage mit fast völliger Gewißheit möglich machen. Viele Thiere sind von Regen und Sonnenschein so abhängig, ja bei einigen handelt es sich geradezu um das Leben selber, je nachdem Sonne oder Regen ist, daß ihnen Gott nothwendig hat Werkzeuge geben müssen, diese Dinge vorhinein empfinden zu können. Diese Empfin¬ dung als Empfindung kann aber der Mensch nicht er¬ kennen, er kann sie nicht betrachten, weil sie sich den Sinnen entzieht; allein die Thiere machen in Folge dieser Vorempfindung Anstalten für ihre Zukunft, und diese Anstalten kann der Mensch betrachten, und dar¬ aus Schlüsse ziehen. Es gibt einige, die ihre Nah¬ rung finden, wenn es feucht ist, andere verlieren sie in diesem Falle. Manche müssen ihren Leib vor Regen bergen, manche ihre Brut in Sicherheit bringen. Viele müssen ihre für den Augenblick aufgeschlagene Wohnung verlassen, oder eine andere Arbeit suchen. Da nun die Vorempfindung gewiß sein muß, wenn die daraus folgende Handlung zur Sicherung führen soll, da die Nerven schon berührt werden, wenn noch alle menschlichen wissenschaftlichen Werkzeuge schwei¬ 12 * gen, so kann eine Voraussage über das Wetter, die auf eine genaue Betrachtung der Handlungen der Thiere gegründet ist, mehr Anhalt gewähren, als die aus allen wissenschaftlichen Werkzeugen zusammen genommen.“ „Ihr eröffnet da eine neue Richtung.“ „Die Menschen haben darin schon vieles erfahren. Die besten Wetterkenner sind die Insekten und über¬ haupt die kleinen Thiere. Sie sind aber viel schwerer zu beobachten, da sie, wenn man dies thun will, nicht leicht zu finden sind, und da man ihre Handlungen auch nicht immer leicht versteht. Aber von kleineren Thieren hängen oft größere ab, deren Speise jene sind, und die Handlungen kleinerer Thiere haben Handlun¬ gen größerer zur Folge, welche der Mensch leichter überblickt. Freilich steht da ein Schluß in der Mitte, der die Gefahr zu irren größer macht, als sie bei der unmittelbaren Betrachtung und der gleichsam reden¬ den Thatsache ist. Warum, damit ich ein Beispiel an¬ führe, steigt der Laubfrosch tiefer, wenn Regen folgen soll, warum fliegt die Schwalbe niedriger und springt der Fisch aus dem Wasser? Die Gefahr zu irren wird wohl bei oftmaliger Wiederholung der Beobachtung und bei sorglicher Vergleichung geringer; aber das Sicherste bleiben immer die Heerden der kleinen Thiere. Das habt ihr gewiß schon gehört, daß die Spinnen Wetterverkündiger sind, und daß die Ameisen den Re¬ gen vorher sagen. Man muß das Leben dieser kleinen Dinge betrachten, ihre häuslichen Einrichtungen an¬ schauen, oft zu ihnen kommen, sehen, wie sie ihre Zeit hinbringen, erforschen, welche Grenzen ihre Gebiethe haben, welche die Bedingungen ihres Glückes sind, und wie sie denselben nachkommen. Darum wissen Jäger Holzhauer und Menschen, welche einsam sind, und zur Betrachtung dieses abgesonderten Lebens auf¬ gefordert werden, das Meiste von diesen Dingen, und wie aus dem Benehmen von Thieren das Wetter vor¬ herzusagen ist. Es gehört aber wie zu allem auch Liebe dazu.“ „Hier ist der Siz,“ unterbrach er sich, „von wel¬ chem ich früher gesprochen habe. Hier ist die schönste Linde meines Gartens, ich habe einen bessern Ruhe¬ plaz unter ihr anbringen lassen, und gehe selten vor¬ über, ohne mich eine Weile nieder zu sezen, um mich an dem Summen in ihren Ästen zu ergözen. Wollen wir uns sezen?“ Ich willigte ein, wir sezten uns, das Summen war wirklich über unsern Häuptern zu hören, und ich fragte: „Habt ihr nun diese Beobachtungen an den Thieren, wie ihr sagtet, gemacht?“ „Auf Beobachtungen bin ich eigentlich nicht aus¬ gegangen,“ antwortete er; „aber da ich lange in die¬ sem Hause und in diesem Garten gelebt habe, hat sich Manches zusammengefunden; aus dem Zusammenge¬ fundenen haben sich Schlüsse gebaut, und ich bin durch diese Schlüsse umgekehrt wieder zu Betrachtungen ver¬ anlaßt worden. Viele Menschen, welche gewohnt sind, sich und ihre Bestrebungen als den Mittelpunkt der Welt zu betrachten, halten diese Dinge für klein; aber bei Gott ist es nicht so; das ist nicht groß, an dem wir vielmal unsern Maßstab umlegen können, und das ist nicht klein, wofür wir keinen Maßstab mehr haben. Das sehen wir daraus, weil er alles mit gleicher Sorgfalt behandelt. Oft habe ich gedacht, daß die Erforschung des Menschen und seines Trei¬ bens ja sogar seiner Geschichte nur ein anderer Zweig der Naturwissenschaft sei, wenn er auch für uns Men¬ schen wichtiger ist, als er für Thiere wäre. Ich habe zu einer Zeit Gelegenheit gehabt, in diesem Zweige manches zu erfahren und mir einiges zu merken. Doch ich will zu meinem Gegenstande zurückkehren. Von dem, was die kleinen Thiere thun, wenn Regen oder Sonnenschein kommen soll, oder wie ich überhaupt aus ihren Handlungen Schlüsse ziehe, kann ich jezt nicht reden, weil es zu umständlich sein würde, ob¬ wohl es merkwürdig ist; aber das kann ich sagen, daß nach meinen bisherigen Erfahrungen gestern keines der Thierchen in meinem Garten ein Zeichen von Re¬ gen gegeben hat, wir mögen von den Bienen anfan¬ gen, welche in diesen Zweigen summen, und bis zu den Ameisen gelangen, die ihre Puppen an der Planke meines Gartens in die Sonne legen, oder zu dem Springkäfer, der sich seine Speise trocknet. Weil mich nun diese Thiere, wenn ich zu ihnen kam, nie ge¬ täuscht haben, so folgerte ich, daß die Wasserbildung, welche unsere gröberen wissenschaftlichen Werkzeuge voraussagten, nicht über die Entstehung von Wolken hinausgehen würde, da es sonst die Thiere gewußt hätten. Was aber mit den Wolken geschehen würde, erkannte ich nicht genau, ich schloß nur, daß durch die Abkühlung, die ihr Schatten erzeugen müßte, und durch die Luftströmungen, denen sie selber ihr Dasein verdankten, ein Wind entstehen könnte, der in der Nacht den Himmel wieder rein fegen würde.“ „Und so geschah es auch,“ sagte ich. „Ich konnte es um so sicherer voraussehen,“ er¬ wiederte er, „weil es an unserem Himmel und in un¬ serem Garten oft schon so gewesen ist wie gestern, und stets so geworden ist, wie heute in der Nacht.“ „Das ist ein weites Feld, von dem ihr da redet,“ sagte ich, „und da steht der menschlichen Erkenntniß ein nicht unwichtiger Gegenstand gegenüber. Er be¬ weist wieder, daß jedes Wissen Ausläufe hat, die man oft nicht ahnt, und wie man die kleinsten Dinge nicht vernachlässigen soll, wenn man auch noch nicht weiß, wie sie mit den größeren zusammenhängen. So kamen wohl auch die größten Männer zu den Werken, die wir bewundern, und so kann mit Hereinbeziehung dessen, von dem ihr redet, die Witterungskunde einer großen Erweiterung fähig sein.“ „Diesen Glauben hege ich auch,“ erwiederte er. „Euch Jüngeren wird es in den Naturwissenschaften über¬ haupt leichter, als es den Älteren geworden ist. Man schlägt jezt mehr die Wege des Beobachtens und der Versuche ein, statt daß man früher mehr den Vermu¬ thungen Lehrmeinungen ja Einbildungen hingegeben war. Diese Wege wurden lange nicht klar, obgleich sie Einzelne wohl zu allen Zeiten gegangen sind. Je mehr Boden man auf die neue Weise gewinnt, desto mehr Stoff hat man als Hilfe zu fernern Erringun¬ gen. Man wendet sich jezt auch mit Ernst der Pflege der einzelnen Zweige zu, statt wie früher immer auf das Allgemeine zu gehen; und es wird daher auch eine Zeit kommen, in der man dem Gegenstände eine Auf¬ merksamkeit schenken wird, von dem wir jezt gesprochen haben. Wenn die Fruchtbarkeit, wie sie durch Jahr¬ zehende in der Naturwissenschaft gewesen ist, durch Jahrhunderte anhält, so können wir gar nicht ahnen, wie weit es kommen wird. Nur das eine wissen wir jezt, daß das noch unbebaute Feld unendlich größer ist als das bebaute.“ „Ich habe gestern einige Arbeiter bemerkt,“ sagte ich, „welche, obwohl der Himmel voll Wolken war, doch Wasser pumpten, ihre Gießkannen füllten, und die Gewächse begossen. Haben diese vielleicht auch gewußt, daß kein Regen kommen werde, oder haben sie blos eure Befehle vollzogen, wie die Mäher, die an dem Meierhofe Gras abmähten.“ „Das Leztere ist der Fall,“ erwiederte er. „Diese Arbeiter glauben jedes Mal, daß ich mich irre, wenn der äußere Anschein gegen mich ist, wie oft sie auch durch den Erfolg belehrt worden sein mögen. Und so werden sie gewiß auch gestern geglaubt haben, daß Regen komme. Sie begossen die Gewächse, weil ich es angeordnet habe, und weil es bei uns eingeführt ist, daß der, welcher wiederholt den Anordnungen nicht nachkömmt, des Dienstes entlassen wird. Es sind aber endlich auch noch andere Dinge außer den Thie¬ ren, welche das Wetter vorhersagen, nehmlich die Pflanzen.“ „Von den Pflanzen wußte ich es schon, und zwar besser, als von den Thieren,“ erwiederte ich. „In meinem Garten und in meinem Gewächs¬ hause sind Pflanzen,“ sagte er, „welche einen auffal¬ lenden Zusammenhang mit dem Luftkreise zeigen, be¬ sonders gegen das Nahen der Sonne, wenn sie lange in Wolken gewesen war. Aus dem Geruche der Blu¬ men kann man dem kommenden Regen entgegen sehen, ja sogar aus dem Grase riecht man ihn bei¬ nahe. Mir kommen diese Dinge so zufällig in den Garten und in das Haus; ihr aber werdet sie weit besser und weit gründlicher kennen lernen, wenn ihr die Wege der neuen Wissenschaftlichkeit wandelt, und die Hilfsmittel benüzt, die es jezt gibt, besonders die Rechnung. Wenn ihr namentlich eine einzelne Rich¬ tung einschlagt, so werdet ihr in derselben ungewöhn¬ lich große Fortschritte machen.“ „Woher schließt ihr denn das?“ fragte ich. „Aus eurem Aussehen,“ erwiederte er, „und schon aus der sehr bestimmten Aussage, die ihr gestern in Hinsicht des Wetters gemacht habt.“ „Diese Aussage war aber falsch,“ antwortete ich, „und aus ihr hättet ihr gerade das Gegentheil schlie¬ ßen können.“ „Nein, das nicht,“ sagte er, „eure Äußerung zeigte, weil sie so bestimmt war, daß ihr den Gegenstand ge¬ nau beobachtet habt, und weil sie so warm war, daß ihr ihn mit Liebe und mit Eifer umfaßt; daß eure Meinung deßohngeachtet irrig war, kam nur daher, weil ihr einen Umstand, der auf sie Einfluß hatte, nicht kanntet, und ihn auch nicht leicht kennen konntet; sonst würdet ihr anders geurtheilt haben.“ „Ja ihr redet wahr, ich würde anders geurtheilt haben,“ antwortete ich, „und ich werde nicht wieder so voreilig urtheilen.“ „Ihr habt gestern gesagt, daß ihr euch mit Natur¬ dingen beschäftiget,“ fuhr er fort, „darf ich wohl fra¬ gen, ob ihr eine bestimmte Richtung gewählt habt, und welche.“ Ich war durch die Frage ein wenig in Verwirrung gebracht, und antwortete: „Ich bin doch im Grunde nur ein gewöhnlicher Fußreisender. Ich besize gerade so viel Vermögen, um unabhängig leben zu können, und gehe in der Welt herum, um sie anzusehen. Ich habe wohl vor Kurzem alle Wissenschaften angefan¬ gen; aber davon bin ich zurückgekommen, und habe mir nur hauptsächlich die einzelne Wissenschaft der Erdbildung zur Aufgabe gemacht. Um die Werke, welche ich hierin lese, zu ergänzen, suche ich auf den Reisen, die ich in verschiedene Landestheile mache, zu beobachten, schreibe meine Erfahrungen auf, und verfertige Zeichnungen. Da die Werke vor¬ züglich von Gebirgen handeln, so suche ich auch vor¬ züglich die Gebirge auf. Sie enthalten sonst auch vie¬ les, das mir lieb ist.“ „Diese Wissenschaft ist eine sehr weite,“ entgeg¬ nete mein Gastfreund, „wenn sie in der Bedeutung der Erdgeschichte genommen wird. Sie schließt manche Wissenschaften ein, und sezt manche voraus. Die Berge sind wohl jezt, wo diese Wissenschaft noch jung ist, und wo man ihre ersten und greifbarsten Züge sammelt, von der größten Bedeutung; aber es wird auch die Ebene an die Reihe kommen, und ihre ein¬ fache und schwerer zu entziffernde Frage wird gewiß nicht von geringerer Wichtigkeit sein.“ „Sie wird gewiß wichtig sein,“ antwortete ich. Ich habe die Ebene und ihre Sprache, die sie damals zu mir sprach, schon geliebt, ehe ich meine jezige Auf¬ gabe betrieb, und ehe ich die Gebirge kannte.“ „Ich glaube,“ entgegnete mein Begleiter, „daß in der gegenwärtigen Zeit der Standpunkt der Wissen¬ schaft, von welcher wir sprechen, der des Sammelns ist. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas bauen, das wir noch nicht kennen. Das Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus; das ist nicht merkwürdig; denn das Sammeln muß ja vor der Wissenschaft sein; aber das ist merkwürdig, daß der Drang des Sammelns in die Geister kömmt, wenn eine Wissenschaft erscheinen soll, wenn sie auch noch nicht wissen, was diese Wissenschaft enthalten wird. Es geht gleichsam der Reiz der Ahnung in die Her¬ zen, wozu etwas da sein könne, und wozu es Gott be¬ stellt haben möge. Aber selbst ohne diesen Reiz hat das Sammeln etwas sehr Einnehmendes. Ich habe meine Marmore alle selber in den Gebirgen gesam¬ melt, und habe ihren Bruch aus den Felsen ihr Absä¬ gen ihr Schleifen und ihre Einfügungen geleitet. Die Arbeit hat mir manche Freude gebracht, und ich glaube, daß mir nur darum diese Steine so lieb sind, weil ich sie selber gesucht habe.“ „Habt ihr alle Arten unsers Gebirges?“ fragte ich. „Ich habe nicht alle,“ antwortete er, „ich hätte sie vielleicht nach und nach erhalten können, wenn ich meine Besuche stettig hätte fortsezen können. Aber seit ich alt werde, wird es mir immer schwieriger. Wenn ich jezt zu seltnen Zeiten einmal an den Rand des Simmeises hinaufkomme, empfinde ich, daß es nicht mehr ist, wie in der Jugend, wo man keine Grenze kennt als das Ende des Tages oder die bare Unmög¬ lichkeit. Weil ich nun nicht mehr so große Strecken durchreisen kann, um etwa Marmor, der mir noch fehlt, in Blöcken aufzusuchen, so wird die Ausbeute immer geringer; sie wird auch aus dem Grunde ge¬ ringer, weil ich bereits so viel habe, und die Stellen also seltener sind, wo ich ein noch Fehlendes finde. Da ich allen Marmor selber gesammelt habe, so kann ich wohl auch kein Stück an meinem Hause anbringen, das mir von fremder Hand käme.“ „Ihr habt also wahrscheinlich das Haus selber ge¬ baut, oder es sehr umgestaltet?“ fragte ich. „Ich habe es selber gebaut,“ antwortete er. „Das Wohnhaus, welches zu den umliegenden Gründen gehört, war früher der Meierhof, an dem ihr gestern, da wir auf dem Bänkchen der Felderrast saßen, Leute Gras mähen gesehen habt. Ich habe ihn von dem früheren Besizer sammt allen Ländereien, die dazu ge¬ hören, gekauft, habe das Haus auf dem Hügel ge¬ baut, und habe den Meierhof zum Wirthschaftsge¬ bäude bestimmt.“ „Aber den Garten könnt ihr doch unmöglich neu angelegt haben?“ „Das ist eine eigene Entstehungsgeschichte,“ er¬ wiederte er. „Ich muß sagen: ich habe ihn neu ange¬ legt, und ich muß sagen: ich habe ihn nicht neu angelegt. Ich habe mir mein Wohnhaus für den Rest meiner Tage auf einen Plaz gebaut, der mir entspre¬ chend schien. Der Meierhof stand in dem Thale, wie meistens die Gebäude dieser Art, damit sie das fette Gras, das man häufig in den Wirthschaften braucht, um das Gehöfte herum haben; ich wollte aber mit meiner Wohnung auf die Anhöhe. Da sie nun fertig war, sollte der Garten, der an dem Meierhofe stand, und nur mit vereinzelten Bäumen oder mit Gruppen von ihnen zu mir langte, heraufgezogen werden. Die Linde, unter welcher wir jezt sizen, so wie ihre Kame¬ raden, die um sie herum stehen, oder einen Garten¬ weg bilden, stehen da, wo sie gestanden sind. Der große alte Kirschbaum auf der Anhöhe stand mitten im Getreide. Ich zog die Anhöhe zu meinem Garten, legte einen Weg zu dem Kirschbaume hinauf an, und baute um ihn ein Bänklein herum. Und so ging es mit vielen andern Bäumen. Manche, und darunter sehr bedeutende, daß man es nicht glauben sollte, ha¬ ben wir übersezt. Wir haben sie im Winter mit einem großen Erdballen ausgegraben, sie mit Anwendung von Seilen umgelegt, hieher geführt, und mit Hilfe von Hebeln und Balken in die vorgerichteten gut zu¬ bereiteten Gruben gesenkt. Waren die Zweige und Äste gehörig gekürzt, so schlugen sie im Frühlinge desto kräftiger an, gleichsam als wären die Bäume zu neuem Leben erwacht. Die Gesträuche und das Zwerg¬ obst ist alles neu gesezt worden. In kürzerer Zeit, als man glauben sollte, hatten wir die Freude, zu sehen, daß der Garten so zusammengewachsen erschien, als wäre er nie an einem andern Plaze gewesen. In der Nähe des Meierhofes habe ich manchen Rest von Bäumen fällen lassen, wenn er dem Getrei¬ debau hinderlich war; denn ich legte dort Felder an, wo ich die Bäume genommen hatte, um an Boden auf jener Seite zu gewinnen, was ich auf dieser durch Anlegung des Gartens verloren hatte.“ „Ihr habt da einen reizenden Siz,“ bemerkte ich. „Nicht der Siz allein, das ganze Land ist reizend, erwiederte er, „und es ist gut da wohnen, wenn man von den Menschen kömmt, wo sie ein wenig zu dicht an einander sind, und wenn man für die Kräfte sei¬ nes Wesens Thätigkeit mitbringt. Zuweilen muß man auch einen Blick in sich selbst thun. Doch soll man nicht stettig mit sich allein auch in dem schönsten Lande sein; man muß zu Zeiten wieder zu seiner Gesellschaft zurückkehren, wäre es auch nur, um sich an mancher glänzenden Menschentrümmer, die aus unsrer Jugend noch übrig ist, zu erquicken, oder an manchem festen Thurm von einem Menschen empor zu schauen, der sich gerettet hat. Nach solchen Zeiten geht das Land¬ leben wieder wie lindes Öhl in das geöffnete Ge¬ müth. Man muß aber weit von der Stadt weg und von ihr unberührt sein. In der Stadt kommen die Ver¬ änderungen, welche die Künste und die Gewerbe be¬ wirkt haben, zur Erscheinung: auf dem Lande die, welche naheliegendes Bedürfniß oder Einwirken der Naturgegenstände auf einander hervorgebracht haben. Beide vertragen sich nicht, und hat man das Erste hinter sich, so erscheint das Zweite fast wie ein Blei¬ bendes, und dann ruht vor dem Sinne ein schönes Bestehendes, und zeigt sich dem Nachdenken ein schö¬ Stifter , Nachsommer. I . 13 nes Vergangenes, das sich in menschlichen Wandlun¬ gen und in Wandlungen von Naturdingen in eine Unendlichkeit zurückzieht.“ Ich antwortete nichts auf diese Rede, und wir schwiegen eine Weile. Endlich sagte er wieder: „Ihr bleibt noch heute nachmittag und in der Nacht bei uns?“ „Nach dem, wie ich hier aufgenommen worden bin,“ antwortete ich, „ist es ein angenehmes Gefühl, noch den Tag und die Nacht hier zubringen zu dürfen.“ „So ist es gut,“ erwiederte er, „ihr müßt aber auch erlauben, daß ich euch einen Theil des Vormit¬ tags allein lasse, weil die Stunde naht, in der ich zu Gustav gehen, und ihm in seinem Lernen beistehen muß.“ „Thut euch nur keinen Zwang an,“ entgeg¬ nete ich. „So werde ich euch verlassen,“ antwortete er, „geht indessen ein wenig in dem Garten herum, oder seht das Feld an, oder besucht das Haus.“ „Ich wünsche für den Augenblick noch eine Weile unter diesem Baume sizen bleiben zu dürfen,“ erwie¬ derte ich. „Thut, wie es euch gefällt,“ antwortete er, „nur erinnert euch, daß ich gestern gesagt habe, daß in die¬ sem Hause um zwölf Uhr zu Mittag gegessen wird.“ „Ich erinnere mich,“ sagte ich, „und werde keine Unordnung machen.“ Eine kleine Weile nach diesen Worten stand er auf, strich sich mit seiner Hand die Thierchen und son¬ stigen Körperchen, die von dem Baume auf ihn her¬ abgefallen waren, aus den Haaren, empfahl sich, und ging in der Richtung gegen das Haus zu. 13 * 5. Der Abschied. Ich saß noch eine geraume Zeit unter dem Baume, und legte mir zurecht, was ich gesehen und vernom¬ men. Die Bienen summten in dem Baume, und die Vögel sangen in dem Garten. Das Haus, in wel¬ ches der alte Mann gegangen war, blickte mit einzel¬ nen Theilen, sei es von der weißen Wand, sei es von dem Ziegeldache durch das Grün der Bäume her¬ über, und zu meiner Rechten ging jenseits der Gebüsche in der Gegend, in welcher ich das Schreinerhaus vermuthete, ein dünner Rauch in die Luft empor. Das Singen der Vögel und das Summen der Bienen war mir beinahe eine Stille, da ich durch meine Gebirgswanderungen an solche andauernde Laute gewohnt war. Die Stille wurde unterbrochen durch einzelne Laute, welche von den Arbeitern im Garten herrührten, entweder daß man das Quiken einer Pumpe hörte, mit der man Wasser pumpte, und mittelst Rinnen in eine Tonne leitete, um es Abends zum Begießen zu verwenden, oder daß eine menschliche Rede ferner oder näher erscholl, die einen Befehl oder eine Auskunft enthielt. Die ver¬ schiedenen Flecke des Himmels, welche durch das Grün der Bäume hereinsahen, waren ganz blau, und zeigten, wie sehr mein Gastfreund mit seiner Voraus¬ sage des schönen Wetters Recht gehabt hatte. Ich riß mich endlich aus meinen Gedanken, und ging in dem Garten empor. Ich ging zu dem großen Kirschbaume. Ich suchte das Freie, weil ich in dem Garten wegen der be¬ schränkten Aussicht doch nicht einen genauen Überblick in Hinsicht der Witterungsverhältnisse machen konnte. Hier oben stand der Himmel als eine große ausge¬ dehnte Glocke über mir, und in der ganzen Glocke war kein einziges Wölklein. Das Hochgebirge, welches wir gestern nicht hatten sehen können, stand heute in seiner ganzen Klarheit an der Länge des südlichen Himmels dahin. Vor ihm waren die Vorlande mit manchen weißen Punkten von Kirchen und Dörfern, näher zu mir zeigte sich mancher Thurm von einer Ortschaft, die ich kannte, und unter meinen Füssen ruhte der Garten und das Haus, in welchem ich gestern so freundlich aufgenommen worden war. Die Getreide, welche nicht weit von mir hinter der Planke des Gartens standen, und die gestern ganz ruhig ge¬ wesen waren, befanden sich heute in einem zwar schwachen aber fröhlichen Wogen. Ich mußte denken, daß das Wetter nicht nur jezt so schön sei, sondern daß es noch lange so schön bleiben werde. Von dem großen Kirschbaume ging ich wieder in den Garten zurück, und betrachtete verschiedene Ge¬ genstände. Ich ging auch noch einmal in das Gewächshaus. Ich konnte nun manches genauer ansehen, als es mir früher möglich gewesen war, da ich mit meinem Be¬ gleiter das Haus gleichsam nur durchschritten hatte. Der weiße Gärtner gesellte sich zu mir, erläuterte mir manches, gab mir über verschiedenes Auskunft, und beantwortete bereitwillig alle meine Fragen, wie weit seine Kenntnisse und seine Übersicht es zuließen. Als ich das Gebäude verlassen wollte, sagte er mir, er wolle mir noch etwas zeigen, was der Herr mir zu zeigen vergessen habe. Er führte mich auf einen Plaz, der mit Sand bedeckt war, der von allen Seiten der Sonne zugänglich, und doch durch Bäume und Ge¬ büsche, die in einer gewissen Entfernung umga¬ ben, vor heftigen Winden geschüzt war. Mitten auf dem Plaze stand ein kleines gläsernes Haus, welches zum Theile in der Erde steckte. Dieser Umstand und dann der, daß es von Bäumen umringt war, mach¬ ten, daß ich es früher nicht wahrgenommen hatte. Als wir näher kamen, sah ich, daß es ganz von Glas sei, und nur so viel Gerippe habe, als sich zur Festig¬ keit der Tafeln nothwendig zeige. Es war auch mit einem starken eisernen Gitter wahrscheinlich des Ha¬ gels wegen umspannt. Als wir die einigen Stufen von der Fläche des Gartens in das Innere hinabge¬ stiegen waren, sah ich, daß sich Pflanzen in dem Hause befanden, und zwar nur eine einzige Gattung, nehmlich lauter Cactus. Mehr als hundert Arten standen in Tausenden von kleinen Töpfen da. Die niederen und runden standen frei, die langen, welche Luftwurzeln treiben, hatten Wände von Baumrinden neben sich, die mit Erde eingerieben waren, damit die Pflanzen die Luftwurzeln in sie schlagen konnten. Alle Glastafeln über unseren Häuptern waren geöffnet, daß die freie Luft den ganzen Raum durchdringen konnte, und doch die Wirkung der Sonnenstrahlen nicht beirrt war. Die Töpfe standen in Reihen auf hölzernen Gestellen, die Gestelle aber waren wieder unterbrochen, so daß man in allen Richtungen herum gehen, und alles betrachten konnte. Der Gärtner führte mich herum, und zeigte mir die Abtheilungen und Unterabtheilungen, in welchen die Gewächse beisam¬ menstanden. Ich sagte, daß ich mich freue, daß mein Gast¬ freund auf die Familie dieser Pflanzen eine solche Sorgfalt wende, da sie gewiß besonders und merk¬ würdig wären. „Wenn man sie länger betrachtet und länger mit ihnen umgeht, werden sie immer merkwürdiger,“ ant¬ wortete mein Nachbar. „Die Stellung ihrer Bildun¬ gen ist so mannigfaltig, die Stacheln können zu einer wahren Zierde und zu einer Bewaffnung dienen, und die Blüthen sind verwunderlich wie Märchen. In ei¬ nem Monate würdet ihr sehr schöne sehen, jezt sind sie noch zu wenig entwickelt.“ Ich sagte ihm, daß ich schon Blüthen gesehen habe, nicht blos solche, die, wie schön sie seien, doch überall wachsen, sondern auch andere, die selten sind, und solche, die mit der Schönheit den lieblichen Duft vereinen. Ich sagte ihm, daß ich in früheren Zeiten Pflanzenkunde getrieben habe, zwar nicht in Bezug auf Gartenpflege sondern zu meiner Belehrung und Erheiterung, und daß die Cactus nicht das Lezte ge¬ wesen wären, dem ich eine Aufmerksamkeit geschenkt habe. „Wenn der Herr alte Sachen sammelt,“ sagte er, „so wäre es wohl auch recht, wenn er dies auch mit alten Pflanzen thäte. Im Inghofe ist in dem Ge¬ wächshause ein Cereus, der stärker als ein Mannes¬ arm samt seiner Bekleidung ist. Er geht an der Wand empor, biegt sich um, und wächst an der Decke des Hauses hin, an welcher er mit Bändern befestigt ist. Der untere Theil ist schon Holz geworden, daß man Namen eingeschnitten hat. Ich glaube, es ist ein Ce¬ reus peruvianus. Sie schäzen ihn nicht so hoch, und der Herr sollte den Cereus kaufen, wenn man auch wegen seiner Länge drei Wägen aneinander binden müßte, um ihn herüber bringen zu können. Er ist ge¬ wiß schon zweihundert Jahre alt.“ Ich antwortete auf diese Rede nicht, um ihm seine Zeitrechnung in Hinsicht der Cactuspflege in Europa nicht zu stören. Ich dankte ihm, da ich endlich alles gesehen hatte, für seine Mühe, und verließ das kleine Haus. Er verabschiedete sich sehr freundlich und mit vielen Ver¬ beugungen. Ich ging nun zu dem Eingangsgitter, durch wel¬ ches mein Gastfreund mich gestern hereingelassen hatte, weil ich auch außerhalb des Gartens ein wenig her¬ umsehen wollte. Ein Arbeiter, welcher in der Nähe beschäftigt war, öffnete mir die Thür, weil ich die Einrichtung des Schlosses nicht kannte, und ich trat in das Freie. Ich ging auf der Seite des Hügels, auf welcher ich gestern heraufgekommen war, in meh¬ reren Richtungen herum. Wenn ich auch die Gegend des Landes, in der ich mich befand, im Allgemeinen sehr wohl kannte, so hatte ich mich doch nie so lange in ihr aufgehalten, um in das Einzelne eindringen zu können. Ich sah jezt, daß es ein sehr fruchtbarer schö¬ ner Theil sei, der mich aufgenommen hatte, daß sich anmuthige Stellen zwischen die Krümmungen der Hügel hineinziehen, und daß ein dichtes Bewohnt¬ sein der Gegend etwas sehr Heiteres ertheile. Der Tag wurde nach und nach immer wärmer, ohne heiß zu sein, und es war jene Stille, die zur Zeit der Ro¬ senblüthe weit mehr als zu einer anderen auf den Fel¬ dern ist. In dieser Zeit sind alle Feldgewächse grün, sie sind im Wachsen begriffen, und wenn nicht viele Wiesen in der Gegend sind, auf welchen zu jener Zeit die Heuernte vorkömmt, so haben die Leute keine Arbeit auf den Feldern, und lassen sie allein unter der befruch¬ tenden Sonne. Die Stille war wie in dem Hochge¬ birge; aber sie war nicht so einsam, weil man über¬ all von der Geselligkeit der Nährpflanzen umge¬ ben war. Der Klang einer fernen Dorfglocke und meine Uhr, die ich herauszog, erinnerte mich daran, daß es Mittag sei. Ich ging dem Hause zu, das Gitter wurde mir auf einen Zug an der Glockenstange geöffnet, und ich ging in das Speisezimmer. Dort fand ich meinen Gastfreund und Gustav, und wir sezten uns zu Tische. Wir drei waren allein bei dem Mahle. Während des Essens sagte mein Gastfreund: „Ihr werdet euch wundern, daß wir so allein unsere Speisen verzehren. Es ist in der That sehr zu bedauern, daß die alte Sitte abgekommen ist, daß der Herr des Hauses zugleich mit den Seinigen und seinem Ge¬ sinde beim Mahle sizt. Die Dienstleute gehören auf diese Weise zu der Familie, sie dienen oft lebenslang in demselben Hause, der Herr lebt mit ihnen ein an¬ genehmes gemeinschaftliches Leben, und weil alles, was im Staate und in der Menschlichkeit gut ist, von der Familie kömmt, so werden sie nicht blos gute Dienstleute, die den Dienst lieben, sondern leicht auch gute Menschen, die in einfacher Frömmigkeit an dem Hause wie an einer unverrückbaren Kirche hängen, und denen der Herr ein zuverlässiger Freund ist. Seit sie aber von ihm getrennt sind, für die Ar¬ beit bezahlt werden, und abgesondert ihre Nahrung erhalten, gehören sie nicht zu ihm nicht zu seinem Kinde, haben andere Zwecke, widerstreben ihm, ver¬ lassen ihn leicht, und fallen, da sie familienlos und ohne Bildung sind, leicht dem Laster anheim. Die Kluft zwischen den sogenannten Gebildeten und Un¬ gebildeten wird immer größer; wenn noch erst auch der Landmann seine Speisen in seinem abgesonderten Stübchen verzehrt, wird dort eine unnatürliche Unter¬ scheidung, wo eine natürliche nicht vorhanden gewe¬ sen wäre.“ „Ich habe,“ fuhr er nach einer Weile fort, „diese Sitte in unserem hiesigen Hause einführen wollen; allein die Leute waren auf eine andere Weise heran¬ gewachsen, waren in sich selber hineingewachsen, konnten sich an ein Fremdes nicht anschließen, und hätten nur die Freiheit ihres Wesens verloren. Es ist kein Zweifel, daß sie sich nach und nach in das Verhältniß würden eingelebt haben, besonders die Jüngeren, bei denen die Erziehung noch wirkt; allein ich bin so alt, daß das Unternehmen weit über den Rest meiner Jahre hinausgeht. Ich befreite daher meine Dienstleute von dem Zwange, und jüngere Nachfolger mögen den Versuch wieder erneuern, wenn sie meine Meinung theilen.“ Mir fiel bei dieser Rede mein Elternhaus ein, in welchem es wohlthuend ist, daß wenigstens die Handlungsdiener meines Vaters mit uns an dem Mittagstische essen. Die Zeit nach dem Mittagsessen ward dazu be¬ stimmt, den Meierhof zu besuchen, und Gustav durfte uns begleiten. Wir gingen nicht den Weg, der an dem großen Kirschbaume vorüber und auf der Höhe der Felder dahin führt. Dieser Weg, sagte mein Gastfreund, sei mir schon bekannt; sondern wir gingen in der Nähe der Bienenhütte durch ein Pförtchen in das Freie, und gingen auf einem Pfade über den sanf¬ ten Abhang hinab, der noch mit hohen Obstbäumen, die die besseren Arten des Landes trugen, und von dem Meierhofgarten übrig geblieben waren, bedeckt war. Die Wiesen, über die wir wandelten, waren so gut, wie ich sie selten angetroffen habe. Da wir zu dem Gebäude gekommen waren, sah ich, daß es ein weitläufiges Viereck war wie die grö¬ ßeren Landhöfe der Gegend, daß man aber hie und da daran gebessert, und daß man es durch Zubauten erweitert hatte. Der Hofraum war an den Gebäuden herum mit breiten Steinen gepflastert, der übrige Theil desselben war mit grobem Quarzsande bedeckt, der öfter umgearbeitet wurde. Die Gebäude, welche diesen Raum umgaben, enthielten die Ställe Scheunen Wagengewölbe und Wohnungen. Das Vorraths¬ haus stand weiter entfernt in dem Garten. Wir be¬ sahen die Thiere, welche eben zu Hause waren, von den Pferden und Rindern angefangen bis zu den Schweinen und dem Federvieh hinunter. Für die Rinder war hinter dem Hause ein schöner Plaz ein¬ gefangen, auf welchem sie in freie Luft gelassen wer¬ den konnten. Es strömte frisches Wasser in einer tie¬ fen Steinrinne durch den Plaz, von welchem sie trin¬ ken konnten. Ich hatte diese Einrichtung nie gesehen, und sie gefiel mir sehr. Ein ähnlicher Plaz war für das Federvieh eingefangen, und nicht weit da¬ von war ein Anger, auf welchem sich die Fülle n tummeln konnten. Wir besuchten auch die Wohnun¬ gen der Leute. Hier fielen mir die großen schönen Steinrahmen auf, die an den Fenstern gesezt wa¬ ren, auch konnte man leicht die bedeutende Vergrö¬ ßerung der Fenster sehen. In der Wagenhalle waren nicht blos die Wägen und anderen Fahrzeuge sondern auch die übrigen Landwirthschaftsgeräthe in Vorrathe vorhanden. Die Düngerstätte, welche auch hier wie in den meisten Wirthschaftshäusern unseres Landes in dem Hofe gewesen war, ist auf einen Plaz hinter dem Hause verwiesen worden, den ringsum hohe Gebüsche umfingen. „Es ist hier noch vieles im Entstehen und Wer¬ den begriffen,“ sagte mein Gastfreund, „aber es geht langsam vorwärts. Man muß die Vorurtheile der Leute schonen, die unter anderen Umgebungen heran¬ gewachsen und sie gewohnt sind, damit sie nicht durch das Neue beirrt werden, und ihre Liebe zur Arbeit verlieren. Wir müssen uns beruhigen, daß schon so vieles geschehen ist, und auf das Weitere hoffen.“ Die Leute, welche dieses Haus bewohnten, waren damit beschäftigt, das Heu, welches gestern gemäht worden war, einzubringen, oder, wo es noth that, vollkommen zu trocknen. Mein Gastfreund redete mit manchem, und fragte um Verschiedenes, das sich auf die täglichen Geschäfte bezog. Als wir von der entgegengesehen Seite des Hau¬ ses fortgingen, sahen wir auch den Garten, in wel¬ chem die Gemüse und andere Dinge für den Gebrauch des Hofes gezogen wurden. Auf dem Rückwege schlugen wir eine andere Rich¬ tung ein, als auf der wir gekommen waren. Hatten wir auf unserem Herwege den großen Kirschbaum nördlich gelassen, so ließen wir ihn jezt südlich, so daß es schien, daß wir den ganzen Garten des Hau¬ ses umgehen würden. Wir stiegen gegen jene Wiese hinan, von der mir mein Gastfreund gestern gesagt hatte, daß sie die nördliche Grenze seines Besizthums sei, und daß er sie nicht nach seinem Willen habe ver¬ bessern können. Der Weg führte sachte aufwärts, und in der Tiefe der Wiese kam uns in vielen Windungen ein Bächlein, das mit Schilf und Gestrippe eingefaßt war, entgegen. Als wir eine Strecke gegangen waren, sagte mein Begleiter: „Das ist die Wiese, die ich euch gestern von dem Hügel herab gezeigt habe, und von der ich gesagt habe, daß bis dahin unser Eigenthum gehe, und daß ich sie nicht habe einrichten können, wie ich gewollt hätte. Ihr seht, daß die Stellen an dem Bache versumpft sind, und saures Gras tragen. Dem wäre leicht abzuhelfen, und das mildeste Gras zu er¬ zielen, wenn man dem Bache einen geraden Lauf gäbe, daß er schneller abflösse, die Wände hie und da mit Steinen ausmauerte und die Niederungen mit trockener Erde anfüllte. Ich kann euch jezt den Grund zeigen, weßhalb dieses nicht geschieht. Ihr seht an beiden Seiten des Baches Erlenschößlinge wachsen. Wenn ihr näher herzutretet, so werdet ihr sehen, daß diese Schößlinge aus dicken Blöcken gleich¬ sam aus Knollen und Höckern von Holz hervorwach¬ sen, welches Holz theils über der Erde ist, theils in dem feuchten Boden derselben steckt.“ Wir waren bei diesen Worten zu dem Bache hin¬ zugegangen, und ich sah, daß es so war. „Diese ungestalteten Anhäufungen von Holz,“ fuhr er fort, „aus denen die dünnen Ruthen oder krüppelhafte Äste hervorragen, bilden sich hier in sumpfigem Boden, sie entstehen aber auch im Sande oder in Steinen, und sind ein Aftererzeugniß des sonst recht schön emporwach¬ senden Erlenbaumes. In dem vieltheiligen Streben des Holzes, eine Menge Ruthen oder zwieträchtige Äste an¬ zusezen und sich selber dabei zu vergrößern entsteht ein solches Verwinden und Drehen der Fasern und Rinden, Stifter , Nachsommer. I . 14 daß, wenn man einen solchen Block auseinandersägt, und die Sägefläche glättet, sich die schönste Gestaltung von Farbe und Zeichnung in Ringen Flammen und allerlei Schlangenzügen darstellt, so daß diese Gat¬ tung Erlenholz sehr gesucht für Schreinerarbeiten und sehr kostbar ist. Als ich das Anwesen hier ge¬ kauft, die Wiese besehen, und die Erlenblöcke entdeckt hatte, ließ ich einen ausgraben, auseinandersägen, und untersuchte ihn dann. Da fand ich, der ich da¬ mals im Erkennen des Holzes schon mehrere Übung hatte, daß diese Blöcke zu den schönsten gehören, die bestehen, und daß die feurige Farbe und der weiche seidenartige Glanz des Holzes, auf welche Dinge man besonders das Augenmerk richtet, kaum ihres Gleichen haben dürften. Ich ließ mehrere Blöcke ausgraben, und Blätter aus ihnen schneiden. Ihr werdet die Verwendung derselben in unserer Nachbarschaft sehen, wenn ihr uns wieder besuchen wollt, und uns Zeit gebt, euch dorthin zu führen, wo sie sind. Die übrigen Blöcke ließ ich in dem Boden als einen Schaz, der da bleiben, und sich vermehren sollte. Nur wenn einer derselben nicht mehr zu treiben, sondern vielmehr abzusterben beginnt, wird er herausgenom¬ men, und wird zu Blättern geschnitten, welche ich dann zu künftigen Arbeiten aufbewahre, oder ver¬ kaufe. An seiner Stelle bildet sich dann leicht ein an¬ derer. Zu dem Entschlusse, diesen Anwuchs zu pfle¬ gen, kam ich, nachdem ich einerseits vorher nach und nach die Gegend um unser Haus immer näher kennen gelernt, alle Thalmulden und Bachrinnen erforscht und nirgends auch nur annähernd so brauchbares Erlenholz gefunden hatte, und nachdem anderseits auch das, was mir aus mein Verlangen aus mehrern Orten eingesendet worden war, sich dem unseren als nicht gleichkommend gezeigt hatte. Ich ließ oberhalb des Erlenwuchses einen Wasserbau aufführen, um die Pflanzung vor Überschwemmung und Überkiesung zu sichern, und das zu sehr anschwellende Wasser in ein anderes Rinnsal zu leiten. Meine Nachbarn sahen das Zweckdienliche der Sache ein, und zwei derselben legten sogar in öden Gründen, die nicht zu entwässern waren, solche Erlenpflanzungen an. Mit welchem Er¬ folge dies geschah, läßt sich noch nicht ermitteln, da die Pflanzen noch zu jung sind.“ Wir betrachteten die Reihen dieser Gewächse, und gingen dann weiter. Wir gingen die Wiese entlang, streiften an einem Gehölze hin, überschritten den Wasserbau, von dem 14 * mein Gastfreund gesprochen hatte, und begannen nicht nur den Garten sondern den ganzen Getreidehügel, auf dem das Haus steht, zu umgehen. Da die Sonne immer wärmer wenn auch nicht gar heiß schien wunderte ich mich, daß keiner von meinen zwei Begleitern eine Bedeckung auf dem Haupte trug. Sie waren ohne einer solchen von dem Hause fortgegangen. Der alte Mann breitete dem Glanze vor Sonne die Fülle seiner weißen Haare unter, und der Zögling trug auf seinem Scheitel die dichten glänzenden braunen Locken. Ich wußte nicht, kamen mir die beiden ohne Kopfbedeckung sonderbar vor, oder ich neben ihnen mit meinem Reisehute auf dem Haupte. Der Jüngling hatte wenigstens den Vortheil, daß ihm die Sonne die Wangen noch mehr röthete, und noch schöner färbte, als sie sonst waren. Ich betrachtete ihn überhaupt gerne. Sein leichter Gang war ein heiterer Frühlingstag gegen den zwar auch noch kräftigen aber bestimmten und abgemesse¬ nen Schritt seines Begleiters, seine schlanke Gestalt war der fröhliche Anfang, die seines Erziehers das Hinneigen zum Ende. Was sein Benehmen anbe¬ langt, so war er zurückgezogen und bescheiden, und mischte sich nicht in die Gespräche, außer wenn er ge¬ fragt wurde. Ich wendete mich häufig an ihn, und fragte ihn um verschiedene Dinge, besonders um solche, die die Gegend umher betrafen, und deren Kenntniß ich bei ihm voraussezen mußte. Er antwor¬ tete sicher, und mit einer gewissen Ehrerbiethung ge¬ gen mich, obwohl ich ihm an Jahren nicht so ferne stand als sein Erzieher. Er ging meistens, auch wenn der Weg breit genug gewesen wäre, hinter uns. Als wir den Hügel vollends umgangen hatten, und an mehreren ländlichen Wohnungen vorbeigekom¬ men waren, stiegen wir auf der nehmlichen Seite und auf dem nehmlichen Wege gegen das Haus empor, auf welchem ich gestern gegen dasselbe hinangekommen war. Da wir es erreicht hatten, traten uns die Rosen entgegen, wie sie mir gestern entgegengetreten waren. Ich nahm von diesem Anblicke Gelegenheit, meinen Gastfreund der Rosen wegen zu fragen, da ich über¬ haupt gesonnen war, dieser Blumen willen einmal eine Frage zu thun. Ich bath ihn, ob wir denn zu besserer Betrachtung nicht näher auf den großen Sandplaz treten wollten. Wir thaten es, und stan¬ den vor der ganzen Wand von Blumen, die den un¬ teren Theil des weißen Hauses deckte. Ich sagte, er müsse ein besonderer Freund dieser Blumen sein, da er so viele Arten hege, und da die Pflanzen hier in einer Vollkommenheit zu sehen seien wie sonst nirgends. „Ich liebe diese Blume allerdings sehr,“ antwor¬ tete er, „halte sie auch für die schönste, und weiß wirk¬ lich nicht mehr, welche von diesen beiden Empfindun¬ gen aus der andern hervorgegangen ist.“ „Ich wäre auch geneigt,“ sagte ich, „die Rose für die schönste Blume zu halten. Die Camellia steht ihr nahe, dieselbe ist zart klar und rein, oft ist sie voll von Pracht; aber sie hat immer für uns etwas Fremdes, sie steht immer mit einem gewissen vornehmen An¬ stande da: das Weiche, ich möchte den Ausdruck ge¬ brauchen, das Süße der Rose hat sie nicht. Wir wol¬ len von dem Geruche gar nicht einmal reden; denn der gehört nicht hieher.“ „Nein,“ sagte er, „der gehört nicht hieher, wenn wir von der Schönheit sprechen; aber gehen wir über die Schönheit hinaus, und sprechen wir von dem Geruche, so dürfte keiner sein, der dem Rosengeruche an Lieblichkeit gleichkömmt.“ „Darüber könnte nach einzelner Vorliebe gestrit¬ ten werden,“ antwortete ich, „aber gewiß wird die Rose weit mehr Freunde als Gegner haben. Sie wird sowohl jezt geehrt, als sie in der Vergangenheit ge¬ ehrt wurde. Ihr Bild ist zu Vergleichen das ge¬ bräuchlichste, mit ihrer Farbe wird die Jugend und Schönheit geschmückt, man umringt Wohnungen mit ihr, ihr Geruch wird für ein Kleinod gehalten, und als etwas Köstliches versendet, und es hat Völker gegeben, die die Rosenpflege besonders schüzten, wie ja die waffenkundigen Römer sich mit Rosen kränzten. Besonders liebenswerth ist sie, wenn sie so zur An¬ schauung gebracht wird wie hier, wenn sie durch eigen¬ thümliche Mannigfaltigkeit und Zusammenstellung er¬ höht, und ihr gleichsam geschmeichelt wird. Erstens ist hier eine wahre Gewalt von Rosen, dann sind sie an der großen weißen Fläche des Hauses vertheilt, von der sie sich abheben; vor ihnen ist die weiße Fläche des Sandes, und diese wird wieder durch das grüne Rasenband und die Hecke wie durch ein grünes Samt¬ band und eine grüne Verzierung von dem Getreide¬ felde getrennt.“ „Ich habe aus diesen Umstand nicht eigens ge¬ dacht,“ sagte er, „als ich sie pflanzte, obwohl ich dar¬ auf sah, daß sie sich auch so schön als möglich dar¬ stellten.“ „Aber ich begreife nicht, wie sie hier so gut ge¬ deihen können,“ entgegnete ich. „Sie haben hier ei¬ gentlich die ungünstigsten Bedingungen. Da ist das hölzerne Gitter, an das sie mit Zwang gebunden sind, die weiße Wand, an der sich die brennenden Sonnen¬ strahlen fangen, das Überdach, welches dem Regen Thaue und dem Einwirken des Himmelsgewölbes hinderlich ist, und endlich hält das Haus ja selber den freien Luftzug ab.“ „Wir haben dieses Gedeihen nur nach und nach hervorrufen können,“ antwortete er, „und es sind viele Fehlgriffe gethan worden. Wir lernten aber, und griffen die Sache dann der Ordnung nach an. Es wurde die Erde, welche die Rosen vorzüglich lieben, theils von anderen Orten verschrieben, theils nach Angabe von Büchern, die ich hiezu anschaffte, im Garten bereitet. Ich bin wohl nicht ganz unerfahren hieher gekommen, ich hatte auch vorher schon Rosen gezogen, und habe hier meine Erfahrungen angewen¬ det. Als die Erde bereit war, wurde ein tiefer breiter Graben vor dem Hause gemacht, und mit der Erde gefüllt. Hierauf wurde das hölzerne Gitter, welches reichlich mit Öhlfarbe bestrichen war, daß es von Wasser nicht in Fäulniß gesezt werden konnte, aufge¬ richtet, und eines Frühlings wurden die Rosenpflan¬ zen, die ich entweder selbst gezogen oder von Blumen¬ züchtern eingesendet erhalten hatte, in die lockere Erde gesezt. Da sie wuchsen, wurden sie angebunden, im Laufe der Jahre versezt, verwechselt, beschnitten und dergleichen, bis sich die Wand allgemach erfüllte. In dem Garten sind die Vorrathsbeete angelegt worden, gleichsam die Schule, in welcher die gezogen werden, die einmal hieher kommen sollen. Wir haben gegen die Sonne eine Rolle Leinwand unter dem Dache an¬ bringen lassen, die durch einige leichte Züge mit Schnüren in ein Dach über die Rosen verwandelt werden kann, das nur gedämpfte Strahlen durchläßt. So werden die Pflanzen vor der zu heißen Sommer¬ sonne und die Blumen vor derjenigen Sonne ge¬ schüzt, die ihnen schaden könnte. Die heutige ist ih¬ nen nicht zu heiß, ihr seht, daß sie sie fröhlich aus¬ halten. Was ihr von Thau und Regen sagt, so steht das Gitter nicht so nahe an dem Hause, daß die Ein¬ flüsse des freien Himmels ganz abgehalten werden. Thau sammelt sich auf den Rosen und selbst Regen träufelt auf sie herunter. Damit wir aber doch nach¬ helfen, und zu jener Zeit Wasser geben können, wo es der Himmel versagt, haben wir eine hohle Walze unter der Dachrinne, die mit äußerst feinen Löchern versehen ist, und aus Tonnen, die unter dem Dache stehen, mit Wasser gefüllt werden kann. Durch einen leichten Druck werden die Löcher geöffnet, und das Wasser fällt wie Thau auf die Rosen nieder. Es ist wirklich ein angenehmer Anblick, zu sehen, wie in Zeiten hoher Noth das Wasser von Blättern und Zweigen rieselt, und dieselben sich daran erfrischen. Und damit es endlich nicht an Luft gebricht, wie ihr fürchtet, gibt es ein leichtes Mittel. Zuerst ist auf die¬ sem Hügel ein schwacher Luftzug ohnehin immer vor¬ handen, und streicht an der Wand des Hauses. Soll¬ ten aber die Blumen an ganz stillen Tagen doch einer Luft bedürfen, so werden alle Fenster des Erdgeschos¬ ses geöffnet, und zwar sowohl an dieser Wand als auch an der entgegengesezten. Da nun die entgegen¬ gesezte Seite die nördliche ist, und dort die Luft durch den Schatten abgekühlt wird, so strömt sie bei jenen Fenstern herein und bei denen der Rosen heraus. Ihr könnt da an den windstillsten Tagen ein sanftes Fä¬ cheln der Blätter sehen.“ „Das sind bedeutende Anstalten,“ erwiederte ich, „und beweisen eure Liebe zu diesen Blumen; aber aus ihnen allein erklärt sich doch noch nicht die besondere Vollkommenheit dieser Gewächse, die ich nirgends gesehen habe, so daß keine unvollkommene Blume kein dürrer Zweig kein unregelmäßiges Blatt vor¬ kömmt.“ „Zum Theile erklärt sich die Thatsache doch wohl aus diesen Anstalten,“ sagte er. „Luft Sonne und Re¬ gen sind durch die südliche Lage des Standortes und die Vorrichtungen so weit verbessert, als sie hier ver¬ bessert werden können. Noch mehr ist an der Erde ge¬ than worden. Da wir nicht wissen, welches denn der lezte Grund des Gedeihens lebendiger Wesen über¬ haupt ist, so schloß ich, daß den Rosen am meisten gut thun müsse, was von Rosen kömmt. Wir ließen daher seit jeher alle Rosenabfälle sammeln, besonders die Blätter und selbst die Zweige der wilden Rosen, welche sich in der ganzen Gegend befinden. Diese Ab¬ fälle werden zu Hügeln in einem abgelegenen Theile unseres Gartens zusammengethan, den Einflüssen von Luft und Regen ausgesezt, und so bereitet sich die Rosenerde. Wenn in einem Hügel sich keine Spur mehr von Pflanzenthum zeigt, und nichts als milde Erde vor die Augen tritt, so wird diese den Rosen ge¬ geben. Die Pflanzen, welche neu gesezt werden, er¬ halten in ihrem Graben gleich so viel Erde, daß sie auf mehrere Jahre versorgt sind. Ältere Rosen, welche von ihrem Standboden längere Zeit gezehrt haben, werden mit einer Erneuerung betheilt. Ent¬ weder wird die Erde oberhalb ihrer Wurzeln wegge¬ than, und ihnen neue gegeben, oder sie werden ganz ausgehoben, und ihr Standpunkt durchaus mit fri¬ scher Erde erfüllt. Es ist auffällig sichtbar, wie sich Blatt und Blume an dieser Gabe erfreuen. Aber troz der Erde und der Luft und der Sonne und der Feuch¬ tigkeit würdet ihr die Rosen hier nicht so schön sehen, als ihr sie seht, wenn nicht noch andre Sorgfalt an¬ gewendet würde; denn immer entstehen manche Übel aus Ursachen, die wir nicht ergründen können, oder die, wenn sie auch ergründet sind, wir nicht zu verei¬ teln vermögen. Endlich trift ja die Gewächse wie alles Lebende der natürliche Tod. Kranke Pflanzen werden nun bei uns sogleich ausgehoben, in den Garten, gleichsam in das Rosenhospital gethan, und durch andere aus der Schule ersezt. Abgestorbene Bäum¬ chen kommen hier nicht leicht vor, weil sie schon in der Zeit des Absterbens weggethan werden. Tödtet aber eine Ursache eines schnell, so wird es ohne Ver¬ zug entfernt. Eben so werden Theile, die erkranken oder zu Grunde gehen, von dem Gitter getrennt. Die beste Zeit ist der Frühling, wo die Zweige blos liegen. Da werden Winkelleitern, die uns den Zugang zu allen Theilen gestatten, angelegt, und es wird das ganze Gitter untersucht. Man reinigt die Rinde, pflegt sie, verbindet ihre Wunden, knüpft die Zweige an, und schneidet das Untaugliche weg. Aber auch im Sommer entfernen wir gleich jedes fehlerhafte Blatt und jede unvollständige Blume. Es haben nach und nach alle im Hause eine Neigung zu den Rosen bekommen, sehen gerne nach, und zeigen es sogleich an, wenn sich etwas Unrechtes bemerken läßt. Auch in der Umgegend hat man Wohlgefallen an diesen Blumen gefunden, man sezt sie in Gärten und pflegt sie, ich schenke den Leuten die Pflanzen aus meinen Vermehrungsbeeten, und unterrichte sie in der Behand¬ lung. Zwei Wegestunden von hier ist ein Bauer, der wie ich eine ganze Wand seines Hauses mit Rosen bepflanzt hat.“ „Je mehr es mir wichtig erscheint, wie ihr mit euren Rosen umgeht,“ antwortete ich, „und für je wichtiger ihr sie selbst betrachtet, desto mehr muß ich doch die Frage thun, warum ihr denn gerade vorzugs¬ weise an dieser Wand eures Hauses die Rosen zieht, wo ihr Standort doch nicht so ersprießlich ist, und wo man solche Anstalten machen muß, um ihr völli¬ ges Gedeihen zu sichern. Es ist zwar sehr schön, wie sie sich hier ausbreiten und darstellen; aber sollte man sie denn im Garten nicht auch in Stellungen und Gruppen bringen können, die eben so schön oder schö¬ ner wären als diese hier, und noch den Vortheil hät¬ ten, daß ihre Pflege viel leichter wäre.“ „Ich habe die Rosen an die Wand des Hauses gesezt,“ erwiederte er, „weil sich eine Jugenderinne¬ rung an diese Blume knüpft, und mir die Art, sie so zu ziehen, lieb macht. Ich glaube, daß mir einzig da¬ rum die Rose so schön erscheint, und daß ich darum die große Mühe für diese Art ihrer Pflege verwende.“ „Ihr habt nichts von Ungeziefer gesagt,“ entgeg¬ nete ich. „Nun weiß ich aber aus Erfahrung, daß kaum eine Pflanzengattung etwa die Pappel ausge¬ nommen so gerne von Ungeziefer heimgesucht wird als die Rose, die in verschiedenen Arten und Geschlech¬ tern von demselben bewohnt und entstellt wird. Hier sehe ich von dieser Plage gar nichts, als wäre sie nicht vorhanden, oder als würde die Rose von ihr durch irgend ein künstliches Mittel befreit. Ihr werdet doch nicht so wie jedes kranke Blatt, auch jeden Blatt¬ wickler jede Spinne jede Blattlaus abnehmen lassen? Aber dieses bringt mich sogar noch auf einen weiteren Umstand, über den ich mir eine Frage an euch zu thun vorgenommen habe, welche ich gewiß noch vor meiner Abreise bei einer schicklichen Gelegenheit gethan hätte, welche ich mir aber jezt erlaube, da ihr mit solcher Güte und Bereitwilligkeit mir die Einsicht in die Dinge dieses Landsizes gestattet habt. Bei meiner Wande¬ rung durch das flache Land hatte ich mehrfach Gele¬ genheit zu bemerken, daß Obstbäume häufig kahle Äste haben, oder daß überhaupt das Laub zerstört oder verunstaltet war, was von Raupenfraß her¬ rührte. Mir fiel die Sache nicht weiter auf, da ich sie von Jugend an zu sehen gewohnt war, und da sie sich nicht in einem ungewöhnlichen Grade zeigte; aber das fiel mir auf, daß so wie an diesen Rosen auch in eurem ganzen Garten nichts von dem Übel zu sehen ist, kein dürres Reis kein kahles Zweiglein kein Sten¬ gel eines abgefressenen Blattes ja nicht einmal ein verleztes Blatt des Kohles, dem doch sonst der Wei߬ ling so gerne Schaden thut. Im Angesichte dieses Wohlbefindens kamen mir die Zerstörungen wieder zu Sinne, die ich in dem Lande gesehen hatte, und ich beschloß, in dieser Hinsicht eine Frage an euch zu thun, ob ihr denn da eigenthümliche Vorkehrungen habt; denn das Ablesen der Raupen und Insekten hat sich ja überall als unzulänglich gezeigt.“ „Wir würden allerdings durch Ablesen des Unge¬ ziefers weder unsere Rosen noch die Bäume und Ge¬ sträuche im Garten vor Verunglimpfung frei halten können,“ antwortete er. „Wir haben nun in der That andere Einrichtungen dagegen. Ich muß euch sagen daß es mich freut, daß ihr in meinem Garten die Ab¬ wesenheit des Raupenfraßes bemerkt habt, und ich werde euch recht gerne darüber Aufklärung geben, und besonders darum, daß es sich auch ausbreiten könne. Die Beantwortung eurer Frage kann aber am besten in dem Garten geschehen, weil ich euch zur Bekräfti¬ gung gleich manche Vorrichtungen zeigen und die Be¬ weise darthun kann. Wenn es euch genehm ist, so gehen wir in den Garten, in welchem auch eine kleine Ruhe auf irgend einem Bänkchen nach dem Gange von dem Meierhofe herauf nicht unangenehm sein wird.“ „Einen Augenblick laßt mich noch diese Rosen be¬ trachten,“ sagte ich. „Thut nach eurem Gefallen,“ antwortete er. Ich trat zuerst näher an das Gitter, um Einzel¬ nes zu betrachten. Ich sah nun wirklich die reinliche Erde, in welcher die Stämmchen standen, und die nicht von einem einzigen Gräschen bewachsen war. Ich sah das gutbestrichene Holzgitter, an welchem die Bäumchen angebunden, und an welchem ihre Zweige ausgebreitet waren, daß sich keine leere Stelle an der Wand des Hauses zeigte. An jedem Stämmchen hing der Name der Blume auf Papier geschrieben und in einer gläsernen Hülse hernieder. Diese gläsernen Hül¬ sen waren gegen den Regen geschüzt, indem sie oben geschlossen, unten umgestülpt, und mit einer kleinen Abflußrinne versehen waren. Nach dieser Betrachtung in der Nähe trat ich wieder zurück, und besah noch einmal die ganze Wand der Blumen durch mehrere Augenblicke. Nachdem ich dieses gethan hatte, sagte ich, daß wir jezt in den Garten gehen könnten. Wir näherten uns dem Thorgitter, der alte Mann that einen Druck wie gestern, da er mich eingelassen hatte, das Thor öffnete sich, und wir gingen in den Garten. Dort näherten wir uns einer Bank, die in angenehmem nachmittägigem Schatten stand. Als wir uns auf ihr niedergesezt hatten, sagte mein Gast¬ freund: „Unsere Mittel, die Bäume Gesträuche und kleineren Pflanzen vor Kahlheit zu bewahren, sind so einfach, und in der Natur gegründet, daß es eine Stifter , Nachsommer. I . 15 Schande wäre sie aufzuzählen, wenn es andererseits nicht auch wahr wäre, daß sie nicht überall angewen¬ det werden, besonders das lezte. Was nun das Kahl¬ werden von Bäumen und Ästen anlangt, so entsteht es nicht immer durch Raupen, sondern oft auch auf andern Wegen nach und nach. Gegen ein endliches Sterben und also Entlaubtwerden des ganzen Bau¬ mes gibt es so wenig ein Mittel als gegen den Tod des Menschen; aber so weit darf man es bei einem Baume im Garten nicht kommen lassen, daß er todt in demselben dasteht; sondern wenn man ihm durch Zurückschneiden seiner Äste öfter Verjüngungskräfte gegeben hat, wenn aber nach und nach dieses Mittel anfängt, seine Wirkung nicht mehr zu bewähren, so thut man dem Baume und dem Garten eine Wohl¬ that, wenn man beide trennt. Ein solcher Baum steht also in einem nur einiger Maßen gut besorgten Gar¬ ten oder auf anderem Grunde gar nicht. Damit aber auch nicht Theile eines Baumes kahl dastehen, haben wir mehrere Mittel. Sie bestehen aber darin, dem Baume zu geben, was ihm noththut, und ihm zu neh¬ men, was ihm schadet. Darum gilt als Oberstes, daß man nie einen Baum an eine Stelle seze, auf der er nicht leben kann. Auf Stellen, die Bäumen über¬ haupt das Leben versagen, sezt wohl kein vernünftiger Mensch einen. Aber es gibt auch Stellen, die nur darum nicht taugen, weil sie nicht bearbeitet sind, oder weil ihnen etwas mangelt, was einem bestimmten Gewächse nothwendig ist. Um nun die Stelle gut zu bearbeiten, haben wir, ehe wir einen Baum sezten, eine so tiefe Grube gegraben, und mit gelockerter Erde gefüllt, daß der Baum bedeutend alt werden konnte, ehe er genöthigt war, seine Wurzeln in un¬ bearbeiteten Boden zu treiben. Selbst alte Stämme, die ich hier gefunden hatte, und deren Zustand mir nicht gefiel, habe ich durch Herausnehmen Lockern ihres Standortes und Wiedereinsezen zu vortreffli¬ chem Gedeihen gebracht. Aber ehe wir die Grube gegraben haben, ehe wir den Baum in dieselbe gesezt haben, haben wir auch durch Erfahrung oder Bücher herauszubringen gesucht, was ihm auch nebst der Erde noch noth thue, und welchen Plaz er haben müsse. Für welchen Baum ein geeigneter Plaz im Garten nicht ist, der soll auch im Garten gar nicht sein. Welche Bäume viele Luft brauchen, sezten wir in die Luft, die das Licht lieben, in das Licht, die den Schatten, in den Schatten. In den Schuz der größe¬ ren oder windwiderstandsfähigeren sezten wir diejeni¬ 15 * gen, welche des Schuzes bedurften. Die Frost und Reif scheuen, stehen an Wänden oder warmen Orten. Und auf diese Weise gedeihen nun alle durch ihre Le¬ benskraft und natürliche Nahrung. Im Frühlinge wird jeder Stamm und seine stärkeren Äste durch eine Bürste und gutes Seifenwasser gewaschen und gerei¬ nigt. Durch die Bürste werden die fremden Stoffe, die dem Baume schaden könnten, entfernt, und das Waschen ist ein nüzliches Bad für die Rinde, die wie die Haut der Thiere von dem höchsten Belange für das Leben ist, und endlich werden die Stämme da¬ durch auch schön. Unsere Bäume haben kein Moos, die Rinde ist klar und bei den Kirschbäumen fast so fein wie graue Seide.“ Ich hatte wohl gesehen, daß alle Bäume eine sehr gesunde Rinde haben; aber ich hatte dieses mit ihren schönen Blättern und mit ihrem guten Gedeihen über¬ haupt als eine nothwendige Folge in Zusammenhang gebracht. „Wenn nun troz aller Vorsichten doch einzelne Theile der Bäume durch Winde Kälte oder der¬ gleichen kahl werden,“ fuhr mein Gastfreund fort, „so werden dieselben bei dem Beschneiden der Bäume im Frühlinge entfernt. Der Schnitt wird mit gutem Kitte verstrichen, daß keine Nässe in das Holz drin¬ gen, und in dem noch gesunden Theile eine Krank¬ heit erzeugen kann. Und so würde in einem Garten nie eine Kahlheit zu erblicken sein, wenn nicht äußere Feinde kämen, die eine solche zu bewirken trachteten. Derlei Feinde sind Hagel Wolkenbrüche und ähnliche Naturerscheinungen, gegen die es keine Mittel gibt. Sie schaden aber auch nicht so sehr. In unseren Ge¬ genden sind sie selten, und ihre Wirkungen können auch leicht durch schnelles Beseitigen des Zerstörten durch Nachwuchs und Nachpflanzungen unbemerkbar gemacht werden. Aber gefährlichere Gegner sind die Insekten, diese können die Güte eines Gartens zerstö¬ ren, können seine Schönheit entstellen, und ihm in manchen Jahren einen wahrhaft traurigen Anblick geben. Dies ist der Umstand, von dem ich sagte, daß ich seiner zulezt Erwähnung thun werde. Ihr seht, daß unser Garten von der Insektenplage, die ihr, wie ihr sagt, auf eurer Wanderung an anderen Bäumen bemerkt habt, in diesem Jahre frei ist.“ „Ich habe Äpfelbäume an warmen und stillen Orten fast ganz entlaubt gesehen,“ antwortete ich. „Es sind mir mehrere Fälle dieser Art vorgekommen. Aber daß einzelne Äste entlaubt waren, daß das Laub von ganzen Bäumen entstellt war, habe ich oft ge¬ sehen. Allein ich habe es für kein großes Übel gehal¬ ten, und habe auf kein schlechtes Jahr geschlossen, weil ich wußte, daß diese Zerstörungen immer vorkommen, und daß ihr Schaden, wenn sie nicht im Übermaße auftreten, nicht erheblich ist. Ich betrachtete die Er¬ scheinung als ein Ding, das so sein muß.“ „Daran möchtet ihr Unrecht gethan haben,“ sagte mein Gastfreund, „einen Schaden bringt diese Erschei¬ nung immer, und wenn man ihn nach ganzen Länder¬ strichen berechnete, so könnte er ein sehr beträchtlicher sein, zu dem noch der andere kömmt, daß man den ent¬ laubten Baum anschauen muß. Auch ist das Ding keine Erscheinung, die so sein muß. Es gibt ein Mittel dagegen, und zwar ein Mittel, das außer seiner Wirksamkeit auch noch sehr schön ist, und also zum Nuzen einen Genuß beschert, durch den uns die Na¬ tur gleichsam zu seiner Anwendung leiten will. Aber dennoch, wie ich früher sagte, wird dieses Mittel unter allen am wenigsten gebraucht, ja man beei¬ fert sich sogar an vielen Orten es zu zerstören. Ihr solltet das Mittel schon wahrgenommen haben.“ Ich sah ihn fragend an. „Habt ihr nicht etwas in unserem Garten gehört, das euch besonders auffallend war?“ fragte er. „Den Vogelgesang,“ sagte ich plözlich. „Ihr habt richtig bemerkt,“ erwiederte er. „Die Vögel sind in diesem Garten unser Mittel gegen Rau¬ pen und schädliches Ungeziefer. Diese sind es, welche die Bäume Gesträuche die kleinen Pflanzen und na¬ türlich auch die Rosen weit besser reinigen, als es Menschenhände oder was immer für Mittel zu be¬ werkstelligen im Stande wären. Seit diese angeneh¬ men Arbeiter uns Hilfe leisten, hat sich in unserm Garten so wie im heurigen Jahre auch sonst nie mehr ein Raupenfraß eingefunden, der nur im Geringsten bemerkbar gewesen wäre.“ „Aber Vögel sind ja an allen Orten,“ entgegnete ich. „Sollten sie in eurem Garten mehr sein, um ihn mehr schüzen zu können?“ „Sie sind auch mehr in unserem Garten,“ erwie¬ derte er, „weit mehr als an jeder Stelle dieses Landes und vielleicht auch anderer Länder.“ „Und wie ist denn diese Mehrheit hieher gebracht worden?“ fragte ich. „Es ist so, wie ich früher von den Bäumen gesagt habe, man muß ihnen die Bedingungen ihres Ge¬ deihens geben, wenn man sie an einem Orte haben will; nur daß man die Thiere nicht erst an den Ort sezen muß wie die Bäume, sie kommen selber, beson¬ ders die Vögel, denen das Übersiedeln so leicht ist.“ „Und welche sind denn die Bedingungen ihres Gedeihens?“ fragte ich. „Hauptsächlich Schuz und Nahrung,“ erwie¬ derte er. „Wie kann man denn einen Vogel schüzen?“ fragte ich. „Ihn kann man nicht schüzen,“ sagte mein Gast¬ freund, „er schüzt sich selber; aber die Gelegenheit zum Schuze kann man ihm geben. Die Singvögel, welche sich nicht mit Waffen vertheidigen können, suchen gegen Feinde und Wetter Höhlungen in Bäu¬ men Felsen Mauern oder dergleichen auf, die so enge sind, daß ihnen ihr meistens größerer Feind in diesel¬ ben nicht folgen kann, und so tief, daß er auch nicht mit einem Schnabel oder einer Taze bis auf den Grund zu langen vermag — einige, wie die Spechte, machen sich selber die Höhlungen in die Bäume — oder sie gehen in solche Dickichte, daß Raubvögel Wiesel und ähnliche Verfolger nicht durchzudringen vermögen. Hiebei ist es ihnen noch mehr um den Schuz ihrer Jungen, die sie in solchen Orten haben, als um ihren eigenen zu thun. Erst, wenn so gesicherte Stellen nicht zu finden sind, und die Zeit drängt, be¬ gnügt sich der Singvogel zum Wohnen und Brüten mit schlechteren Pläzen. Hat eine Gegend häufige solche Zufluchtsorte, so darf man sicher schließen, daß sie auch, wenn die andern Bedingungen nicht fehlen, viele Vögel hat. Denkt nur an ein altes löcheriges Thurmdach, wie ist es von Dohlen und Mauerschwal¬ ben umschwärmt. Will man Vögel in eine Gegend ziehen, so muß man solche Zufluchtsorte schaffen, und zwar so gut als möglich. Wir können, wie ihr seht, nicht Felsen und Baumstämme aushöhlen, aber aus Holz gemachte Höhlungen können wir überall auf die Bäume aufhängen. Und dies thun wir auch. Wir machen diese Höhlungen tief genug, richten das Schlupfloch von der Wetterseite weg meistens gegen Mittag, und machen es gerade so weit, daß der Vo¬ gel, für den es bestimmt ist, ein und aus kann. Ihr müßt ja derlei in den Bäumen unseres Gartens ge¬ sehen haben?“ „Ich habe sie gesehen,“ erwiederte ich, „habe dun¬ kel vermuthet, wozu sie dienen könnten, habe aber die Vorstellung in Folge anderer Eindrücke wieder aus dem Haupte verloren.“ „Wenn wir etwa noch einmal ein wenig in dem Garten herumgehn,“ sagte mein Gastfreund, „so wer¬ den wir mehrere solche Vogelbehälter sehen. Den Heckennistern bauen wir ein so dichtes Geflechte von Dornzweigen und Dornästen in unsere Büsche, daß man meinen sollte, es könne kaum eine Hummel ein- und ausschlüpfen; aber der Vogel findet doch einen Eingang, und baut sich sein Nest. Solcher Nester könnt ihr mehrere sehen, wenn ihr wollt. Sie haben das Angenehme, daß man diese Federfamilien in ihrem Haushalte sieht, was bei den Höhlennistern nicht an¬ geht. Auf diese Weise schüzen wir die kleineren Vögel, die wir in unserem Garten brauchen. Die großen, welche sich mit Schnabel Krallen und Flügeln verthei¬ digen können, sind bei uns eher Feinde als Freunde, und werden nicht geduldet.“ „Außer dem Schuze,“ fuhr er nach einer Weile fort, „brauchen die Vögel auch Nahrung. Sie meiden die nahrungsarmen Orte, und unterscheiden sich hier¬ durch von den Menschen, welche zuweilen große Strecken weit gerade dahin wandern, wo sie ihren Unterhalt nicht finden. Die Vögel, die für unseren Garten passen, ernähren sich meistens von Gewür¬ men und Insekten; aber wenn an einem Plaze, der zum Nisten geeignet ist, die Zahl der Vögel so groß wird, daß sie ihre Nahrung nicht mehr finden, so wandert ein Theil aus, und sucht den Unterhalt des Lebens anderswo. Will man daher an einem Orte eine so große Zahl von Vögeln zurückhalten, daß man vollkommen sicher ist, daß sie auch in den ungeziefer¬ reichsten Jahren hinlänglich sind, um Schaden zu ver¬ hüthen, so muß man ihnen außer ihrer von der Natur gegebenen Nahrung auch künstliche mit den eigenen Händen spenden. Thut man das, so kann man so viele Vögel an einem Plaze erziehen, als man will. Es kömmt nur darauf an, daß man, um seinen Zweck nicht aus den Augen zu verlieren, nur so viel Almo¬ sen gibt, als nothwendig ist, einen Nahrungsman¬ gel zu verhindern. Es ist wohl in dieser Hinsicht im Allgemeinen nicht zu befürchten, daß in der künstli¬ chen Nahrung ein Uebermaß eintrete, da den Thieren ohnehin die Insekten am liebsten sind. Nur wenn diese Nahrung gar zu reizend für sie gemacht würde, könnte ein solches Uebermaß erfolgen, was leicht an der Ver¬ mehrung des Ungeziefers erkannt werden würde. Ei¬ nige Erfahrung läßt einen schon den rechten Weg ein¬ halten. Im Winter, in welchem einige Arten dablei¬ ben, und in Zeiten, wo ihre natürliche Kost ganz mangelt, muß man sie vollständig ernähren, um sie an den Plaz zu feßeln. Durch unsere Anstalten sind Vögel, die im Frühlinge nach Pläzen suchten, wo sie sich anbauen könnten, in unserem Garten geblieben, sie sind, da sie die Bequemlichkeit sahen, und Nahrung wußten, im nächsten Jahre wieder gekommen oder, wenn sie Wintervögel waren, gar nicht fortgegangen. Weil aber auch die Jungen ein Heimathsgefühl ha¬ ben, und gerne an Stellen bleiben, wo sie zuerst die Welt erblickten, so erkoren sich auch diese den Garten zu ihrem künftigen Aufenthaltsorte. Zu den vorhan¬ denen kamen von Zeit zu Zeit auch neue Einwande¬ rer, und so vermehrt sich die Zahl der Vögel in dem Garten und sogar in der nächsten Umgebung von Jahr zu Jahr. Selbst solche Vögel, die sonst nicht gewöhnlich in Gärten sind, sondern mehr in Wäldern und abgelegenen Gebüschen, sind gelegentlich gekom¬ men, und da es ihnen gefiel, da geblieben, wenn ih¬ nen auch manche Dinge, die sonst der Wald und die Einsamkeit gewährt, hier abgehen mochten. Zur Nah¬ rung rechnen wir auch Licht Luft und Wärme. Diese Dinge geben wir nach Bedarf dadurch, daß wir die Baupläze zu den Nestern an den verschiedensten Stel¬ len des Gartens anbringen, damit sich die Paare die wärmeren oder kühleren, luftigeren oder sonnigeren aussuchen können. Für welche keine taugliche Stelle möglich ist, die sind nicht hier. Es sind das nur solche Vögel, für welche die hiesigen Landstriche überhaupt nicht passen, und diese Vögel sind dann auch für un¬ sere Landstriche nicht nöthig. Zu den geeigneten Zeiten besuchen uns auch Wanderer und Durchzügler, die auf der Jahresreise begriffen sind. Sie hätten eigent¬ lich keinen Anspruch auf eine Gabe, allein da sie sich unter die Einwohner mischen, so essen sie auch an ihrer Schüssel, und gehen dann weiter.“ „Auf welche Weise gebt ihr denn den Thieren die nöthige Nahrung?“ fragte ich. „Dazu haben wir verschiedene Einrichtungen,“ sagte er. „Manche von den Vögeln haben bei ihrem Speisen festen Boden unter den Füssen, wie die Spechte, die an den Bäumen hacken, und solche, die ihre Nahrung auf der platten Erde suchen: andere be¬ sonders die Waldvögel lieben das Schwanken der Zweige, wenn sie essen, da sie ihr Mahl in eben die¬ sen Zweigen suchen. Für die ersten streut man das Futter auf was immer für Pläze, sie wissen dieselben schon zu finden. Den anderen gibt man Gitter, die an Schnüren hängen, und in denen in kleine Tröge ge¬ füllt oder auf Stifte gesteckt die Speise ist. Sie flie¬ gen herzu und wiegen sich essend in dem Gitter. Die Vögel werden auch nach und nach zutraulich, nehmen es endlich nicht mehr so genau mit dem Tische, und es tummeln sich Festfüßler und Schaukler auf der Fütterungstenne, die neben dem Gewächshause ist, wo ihr mich heute Morgens gesehen habt.“ „Ich habe das von heute Morgens mehr für zu¬ fällig als absichtlich gehalten,“ sagte ich. „Ich thue es gerne, wenn ich anwesend bin,“ er¬ wiederte er, „obwohl es auch andere thun können. Für die ganz schüchternen, wie meistens die neuen Ankömmlinge und die ganz und gar eingefleischten Waldvögel sind, haben wir abgelegene Pläze, an die wir ihnen die Nahrung thun. Für die vertraulicheren und umgänglicheren bin ich sogar auf eine sehr be¬ queme und annehmliche Verfahrungsweise gekom¬ men. Ich habe in dem Hause ein Zimmer, vor dessen Fenstern Brettchen befestigt sind, auf welche ich das Futter gebe. Die Federgäste kommen schon herzu und speisen vor meinen Augen. Ich habe dann auch das Zimmer gleich zur Speisekammer eingerichtet, und bewahre dort in Kästen, deren kleine Fächer mit Auf¬ schriften versehen sind, dasjenige Futter, das entwe¬ der in Sämereien besteht, oder dem schnellen Verder¬ ben nicht ausgesezt ist.“ „Das ist das Eckzimmer,“ sagte ich, „das ich nicht begrif, und dessen Brettchen ich für Blumenbrettchen ansah, und doch für solche nicht zweckmäßig fand.“ „Warum habt ihr denn nicht gefragt?“ erwie¬ derte er. „Ich nahm es mir vor, und habe wieder darauf vergessen,“ antwortete ich. „Da die meisten Sänger von lebendigen Thier¬ chen leben,“ sezte er seine Erzählung fort, „so ist es nicht ganz leicht, die Nahrung für alle zu bereiten. Da aber doch ein großer Theil nebst dem Ungeziefer auch Sämereien nicht verschmäht, so sind in der Spei¬ sekammer alle Sämereien, welche auf unseren Fluren und in unseren Wäldern reifen, und werden, wenn sie ausgehen oder veralten, durch frische ersezt. Für solche, welche die Körner nicht lieben, wird der Ab¬ gang durch Theile unseres Mahles zartes Fleisch Obst Eierstückchen Gemüse und dergleichen ersezt, was unter die Körner gemischt wird. Die Kohlmeise er¬ hält sehr gerne, wenn sie thätig ist, und besonders, wenn sie um ihre Jungen sich gut annimmt, ein Stück¬ chen Speck zur Belohnung, den sie außerordentlich liebt. Auch Zucker wird zuweilen gestreut. Für den Trank ist im Garten reichlich gesorgt. In jede Was¬ sertonne geht schief ein befestigter Holzsteg, an wel¬ chem sie zu dem Wasser hinabklettern können. In den Gebüschen sind Steinnäpfe, in die Wasser gegossen wird, und in dem Dickichte an der Abendseite des Gartens ist ein kleines Quellchen, das wir mit stei¬ nernen Rändern eingefaßt haben.“ „Da habt ihr ja Arbeit und Sorge in Fülle mit diesen Gartenbewohnern,“ sagte ich. „Es übt sich leicht ein,“ antwortete er, „und der Lohn dafür ist sehr groß. Es ist kaum glaublich zu welchen Erfahrungen man gelangt, wenn man durch mehrere Jahre diese gefiederten Thiere hegt, und ge¬ legentlich die Augen auf ihre Geschäftigkeit richtet. Alle Mittel, welche die Menschen ersonnen haben, um die Gewächse vor Ungeziefer zu bewahren, so trefflich sie auch sein mögen, so fleißig sie auch ange¬ wendet werden, reichen nicht aus, wie es ja in der Lage der Sache gegründet ist. Wie viele Hände von Menschen müßten thätig sein, um die unzählbaren Stellen, an denen sich Ungeziefer erzeugt, zu entdecken und die Mittel auf sie anzuwenden. Ja die ganz ge¬ reinigten Stellen geben auf die Dauer keine Sicherheit und müssen stets von neuem untersucht werden. In den verschiedensten Zeiten und unbeachtet entwickeln sich die Insekten auf Stengeln Blättern Blüthen unter der Rinde, und breiten sich unversehens und schnell aus. Wie könnte man da die Keime entdecken, und vor ih¬ rer Entwicklung vernichten? Oft sind die schädlichen Thierchen so klein, daß wir sie mit unseren Augen kaum zu entdecken vermögen, oft sind sie an Orten, die uns schwer zugänglich sind, zum Beispiele in den äußersten Spizen der feinsten Zweige der Bäume. Oft ist der Schaden in größter Schnelligkeit entstanden, wenn man auch glaubt, daß man seine Augen an allen Stellen des Gartens gehabt, daß man keine unbeachtet gelassen, und daß man seine Leute zur genauesten Un¬ tersuchung angeeifert hat. Zu dieser Arbeit ist von Gott das Vogelgeschlecht bestimmt worden und ins¬ besondere das der kleinen und singenden, und zu die¬ ser Arbeit reicht auch nur das Vogelgeschlecht voll¬ kommen aus. Alle Eigenschaften der Insekten, von denen ich gesprochen habe, ihre Menge ihre Kleinheit ihre Verborgenheit und endlich ihre schnelle und plöz¬ liche Entwicklung schüzen sie gegen die Vögel nicht. Stifter , Nachsommer. I . 16 Sprechen wir von der Menge. Alle Singvögel, wenn sie auch später Sämereien fressen, nähren doch ihre Jungen von Raupen Insekten Würmern, und da diese Jungen so schnell wachsen, und so zu sagen unauf¬ hörlich essen, so bringt ein einziges Paar in einem einzigen Tage eine erkleckliche Menge von solchen Thierchen in das Nest, was erst hundert Paare in zehn vierzehn zwanzig Tagen. So lange brauchen un¬ gefähr die Jungen zum Flüggewerden. Und alle Stel¬ len, wie zahlreich sie auch sein können, werden von den geschäftigen Eltern durchsucht. Sprechen wir von der Kleinheit der Thierchen. Sie oder ihre Lar¬ ven und Eier mögen noch so klein sein, von den scharfen spähenden Augen eines Vogels werden sie entdeckt. Ja manche Vögel, wie das Goldhähnchen der Zaunkönig, dürfen ihren Jungen nur die kleinsten Nahrungsstückchen bringen, weil dieselben, wenn sie dem Ei entschlüpft sind, selber kaum so groß wie eine Fliege oder eine kleine Spinne sind. Gehen wir end¬ lich auf die Abgelegenheit und Unerreichbarkeit der Aufenthaltsorte der Insekten über, so sind sie dadurch nicht vor dem Schnabel der Vögel geschüzt, wenn sie für ihre Jungen oder sich Nahrung brauchen. Was wäre einem Vogel leicht unzugänglich? In die höchsten Zweige schwingt er sich empor, an der Rinde hält er sich, und bohrt in sie, durch die dichtesten Hecken dringt er, auf der Erde läuft er, und selbst unter Blöcke und Steingerölle dringt er. Ja einmal sah ich einen Bunt¬ specht im Winter, da die Äste zu Stein gefroren schie¬ nen, auf einen solchen mit Gewalt loshämmern, und sich aus dessen Innern die Nahrung holen. Die Spechte zeigen auf diese Weise — ich sage es hier nebenbei — auch die Äste an, die morsch und vom Gewürme er¬ griffen sind, und daher weggeschafft werden müssen. Was zulezt den unvorhergesehenen und plözlichen Raupenfraß anlangt, den der Mensch zu spät entdeckt, so kann er sich nicht einstellen, da die Vögel überall nachsehen, und bei Zeiten abhelfen.“ „Wie sehr diese Thiere für das Ungeziefer geschaf¬ fen sind,“ sagte er nach einer Weile, „zeigt sich aus der Beobachtung, daß sie die Arbeit unter sich theilen. Die Blaumeise und die Tannenmeise entdeckt die Brut der Ringelraupe und anderer Raupengattungen an den äußersten Spizen der Zweige, wo sie unter der Rinde verborgen ist, indem sie sich an die Zweige hängend dieselben absucht, die Kohlmeise durchsucht fleißig das Innere der Baumkrone, die Spechtmeise klettert Stamm auf Stamm ab, und holt die versteckten 16 * Eier hervor, der Finke, der gerne in den Nadelbäumen nistet, weßhalb auch solche Bäume in dem Garten sind, geht gleichwohl gerne von ihnen herab, und läuft den Gängen der Käfer und dergleichen nach, und ihn unterstüzen oder übertreffen vielmehr die Am¬ merlinge die Grasmücken die Rothkehlchen, die auf der Erde unter Kohlpflanzen und in Hecken ihre Nah¬ rung suchen und finden. Sie beirren sich wechselseitig nicht, und lassen in ihrer unglaublichen Thätigkeit nicht nach, ja sie scheinen sich eher darin einander anzueifern. Ich habe nicht eigens Beobachtungen an¬ gestellt ; aber wenn man mehrere Jahre unter den Thieren lebt, so gibt sich die Betrachtung von selber.“ „Auch einen eigenthümlichen Gedanken,“ fuhr er fort, „hat das Walten dieser Thiere in mir erweckt, oder vielmehr bestärkt; denn ich hatte ihn schon längst. Allen Thatsachen, die wichtig sind, hat Gott außer unserem Bewußtsein ihres Werthes auch noch einen Reiz für uns beigesellt, der sie annehmlich in unser Wesen gehen läßt. Diesen Thierchen nun, die so nüz¬ lich sind, hat er, ich möchte sagen, die goldene Stimme mitgegeben, gegen die der verhärtetste Mensch nicht verhärtet genug ist. Ich habe in unserem Garten mehr Vergnügen gehabt als manchmal in Sälen, in denen die kunstreichste Musik aufgeführt wurde, die selten zu hören ist. Zwar singt ein Vogel in einem Käfiche auch; denn der Vogel ist leichtsinnig, er er¬ schrickt zwar heftig, er fürchtet sich; aber bald ist der Schrecken und die Furcht vergessen, er hüpft auf einen Halt für seine Füsse, und trällert dort das Lied, das er gelernt hat, und das er immer wiederholt. Wenn er jung und sogar auch alt gefangen wird, vergißt er sich und sein Leid, wird ein Hin- und Widerhüpfer in kleinem Raume, da er sonst einen großen brauchte, und singt seine Weise; aber dieser Gesang ist ein Ge¬ sang der Gewohnheit, nicht der Lust. Wir haben an unserm Garten einen ungeheueren Käfich ohne Draht Stangen und Vogelthürchen, in welchem der Vogel vor außerordentlicher Freude, der er sich so leicht hin¬ gibt, singt, in welchem wir das Zusammentönen vieler Stimmen hören können, das in einem Zimmer bei¬ sammen nur ein Geschrei wäre, und in welchem wir endlich die häusliche Wirthschaft der Vögel und ihre Geberden sehen können, die so verschieden sind und oft dem tiefsten Ernste ein Lächeln abgewinnen kön¬ nen. Man hat uns in diesem Hegen von Vögeln in einem Garten nicht nachgeahmt. Die Leute sind nicht verhärtet gegen die Schönheit des Vogels und gegen seinen Gesang, ja diese beiden Eigenschaften sind das Unglück des Vogels. Sie wollen dieselben genießen, sie wollen sie recht nahe genießen, und da sie keinen Käfich mit unsichtbaren Drähten und Stangen ma¬ chen können, wie wir, in dem sie das eigentliche We¬ sen des Vogels wahrnehmen könnten, so machen sie einen mit sichtbaren, in welchem der Vogel eingesperrt ist, und seinem zu frühen Tode entgegen singt. Sie sind auf diese Weise nicht unfühlsam für die Stimme des Vogels, aber sie sind unfühlsam für sein Leiden. Dazu kommt noch, daß es der Schwäche und Eitelkeit des Menschen besonders der Kinder angenehm ist, eines Vogels, der durch seine Schwingen und seine Schnelligkeit gleichsam aus dem Bereiche menschlicher Kraft gezogen ist, Herr zu werden und ihn durch Wiz und Geschicklichkeit in seine Gewalt zu bringen. Darum ist seit alten Zeiten der Vogelfang ein Vergnügen ge¬ wesen, besonders für junge Leute; aber wir müssen sagen, daß es ein sehr rohes Vergnügen ist, das man eigentlich verachten sollte. Freilich ist es noch schlech¬ ter, und muß ohne Weiteres verabscheut werden, wenn man Singvögel nicht des Gesanges wegen fängt, sondern sie fängt, und tödtet, um sie zu essen. Die un¬ schuldigsten und mitunter schönsten Thiere, die durch ihren einschmeichelnden Gesang und ihr liebliches Be¬ nehmen ohnehin unser Vergnügen sind, die uns nichts anders thun als lauter Wohlthaten, werden wie Ver¬ brecher verfolgt, werden meistens, wenn sie ihrem Triebe der Geselligkeit folgen, erschossen, oder, wenn sie ihren nagenden Hunger stillen wollen, erhängt. Und dies geschieht nicht, um ein unabweisliches Be¬ dürfniß zu erfüllen, sondern einer Lust und Laune willen. Es wäre unglaublich, wenn man nicht wüßte, daß es aus Mangel an Nachdenken oder aus Gewohn¬ heit so geschieht. Aber das zeigt eben, wie weit wir noch von wahrer Gesittung entfernt sind. Darum haben weise Menschen bei wilden Völkern und bei sol¬ chen, die ihre Gierde nicht zu zähmen wußten, oder einen höhern Gebrauch von ihren Kräften noch nicht machen konnten, den Aberglauben aufgeregt, um einen Vogel seiner Schönheit oder Nüzlichkeit willen zu ret¬ ten. So ist die Schwalbe ein heiliger Vogel gewor¬ den, der dem Hause Segen bringt, das er besucht, und den zu tödten Sünde ist. Und selten dürfte es ein Vogel mehr verdienen als die Schwalbe, die so wun¬ derschön ist, und so unberechenbaren Nuzen bringt. So ist der Storch unter göttlichen Schuz gestellt, und den Staaren hängen wir hölzerne Häuser in unsere Bäume. Ich hoffe, daß, wenn unseren Nachbarn die Augen über den Erfolg und den Nuzen des Hegens von Singvögeln aufgehen, sie vielleicht auch dazu schreiten werden, uns nachzuahmen; denn für Erfolg und Nuzen sind sie am empfänglichsten. Ich glaube aber auch, daß unsere Obrigkeiten das Ding nicht ge¬ ring achten sollten, daß ein strenges Gesez gegen das Fangen und Tödten der Singvögel zu geben wäre, und daß das Gesez auch mit Umsicht und Strenge aufrecht erhalten werden sollte. Dann würde dem menschlichen Geschlechte ein heiligendes Vergnügen aufbewahrt bleiben, wir würden durch die Länder wie durch schöne Gärten gehen, und die wirklichen Gär¬ ten würden erquickend da stehen, in keinem Jahre lei¬ den, und in besonders unglücklichen nicht den Anblick der gänzlichen Kahlheit und der traurigen Verödung zeigen. Wollt ihr nicht auch ein wenig unsere ge¬ fiederten Freunde ansehen?“ „Sehr gerne,“ sagte ich. Wir standen von dem Size auf, und gingen mehr in die Tiefe des Gartens zurück. Das vielstimmige Vogelgezwitscher durch den Gar¬ ten und das helle Singen in unserer Nähe, welches mir gestern nachmittag, da ich es in das Zimmer hinein gehört hatte, seltsam gewesen war, erschien mir nun sehr lieblich ja ehrwürdig, und wenn ich einen Vogel durch einen Baum huschen sah oder über einen Sandweg laufen, so erfüllte es mich mit einer Gat¬ tung Freude. Mein Begleiter führte mich zu einer Hecke, wies mit dem Finger hinein und sagte: „Seht.“ Ich antwortete, daß ich nichts sähe. „Schaut nur genauer,“ sagte er, indem er mit dem Finger neuerdings die Richtung wies. Ich sah nun unter einem äußerst dichten Dornen¬ geflechte, welches in die Hecke gemacht worden war, ein Nest. In dem Neste saß ein Rothkehlchen, we¬ nigstens dem Rücken nach zu urtheilen. Es flog nicht auf, sondern wendete nur ein wenig den Kopf gegen uns, und sah mit den schwarzen glänzenden Augen unerschrocken und vertraulich zu uns herauf. „Dieses Rothkehlchen sizt auf seinen Eiern,“ sagte mein Begleiter, „es ist eine Spätehe, wie sie öfter vorkommen. Ich besuche es schon mehrere Tage, und lege ihm die Larve des Mehlkäfers in die Nähe. Das weiß der Schelm, darum frägt er mich schon darnach, und fürchtet den Fremden nicht, der bei mir ist.“ In der That, das Thierchen blieb ruhig in seinem Neste, und ließ sich durch unser Reden und durch un¬ sere Augen nicht beirren. „Man muß eigentlich ehrlich gegen sie sein,“ sagte mein Gastfreund; „aber ich habe keine Larve in der Hand, darum bitte ich dich, Gustav, gehe in das Haus, und hole mir eine.“ Der Jüngling wendete sich schnell um, und eilte in das Haus. Indessen führte mich mein Begleiter eine Strecke vorwärts, und zeigte mir neuerdings in einer Hecke unter Dornen ein Nest, in welchem eine Ammer saß. „Diese sizt auf ihren Jungen, die noch kaum die ersten Härchen haben, und erwärmt sie,“ sagte mein Begleiter. „Sie kann nicht viel von ihnen weg, darum bringt den meisten Theil der Nahrung der Vater her¬ bei. Nach einigen Tagen aber werden sie schon so stark, daß sie der Mutter überall hervor sehen, wenn sie sich auch zeitweilig auf sie sezt.“ Auch die Ammer flog bei unserer Annäherung nicht auf, sondern sah uns ruhig an. So zeigte mir mein Begleiter noch ein paar Nester, in denen Junge waren, die, wenn sie sich al¬ lein befanden, auf das Geräusch unserer Annäherung die gelben Schnäbel aufsperrten, und Nahrung er¬ warteten. In zwei anderen waren Mütter, die bei un¬ serem Herannahen nicht aufflogen. Da wir im Vor¬ beigehen noch eins trafen, bei welchem die Eltern äzten, ließen sich diese nicht von ihrem Geschäfte abhalten, flo¬ gen herzu, und nährten in unserer Gegenwart die Kinder. „Ich habe euch jezt Nester gezeigt, die noch bevöl¬ kert sind,“ sagte mein Gastfreund, „die meisten sind schon leer, die Jugend flattert bereits in dem Garten herum, und übt sich zur Herbstreise. Die Nester sind zahlreicher, als man vermuthet, wir besuchen nur die, die uns bei der Hand sind.“ Indessen war Gustav mit der verlangten Larve gekommen, und gab sie dem alten Manne in die Hand. Dieser ging zu der Hecke, in welcher das Nest des Rothkehlchens war, und legte die Larve auf den Weg daneben. Kaum hatte er sich entfernt, und war zu uns getreten, die wir in der Nähe standen, so schlüpfte das Rothkehlchen unter den untersten Ästen der Hecke heraus, rannte zu der Larve, nahm sie, und lief wieder in die Hecke zurück. Ich weiß nicht, welche tiefe Rührung mich bei die¬ sem Vorfalle überkam. Mein Gastfreund erschien mir wie ein weiser Mann, der sich zu einem niedreren Ge¬ schöpfe herabläßt. Auch der Jüngling Gustav war sehr heiter, und zeigte Freude, wenn er in die Büsche blickte, in denen eine Wohnung war. Es war mir dies ein Beweis, daß das Zerstören der Vogelnester durch Wegnahme der Eier oder der Jungen und das Fangen der Vögel überhaupt den Kindern nicht angeboren ist, sondern, daß dieser Zerstörungstrieb, wenn er da ist, von Eltern oder Erziehern hervorgerufen und in diese Bahn ge¬ leitet wurde, und daß er durch eine bessere Erziehung sein Gegentheil wird. Wir schritten weiter. In einer kleinen Fichte, die am Rande des Gartens stand, zeigten sie mir noch eine Finkenwohnung, die an dem Stamme in das Geflechte theils hervorgewachsener theils künstlich eingefugter Äste und Zweige gebaut war. An ande¬ ren Bäumen sahen wir auch in die aufgehängten Behälter Vögel aus- und einschlüpfen. Mein Be¬ gleiter sagte, daß, wenn ich nur länger hier wäre, mir selbst die Sitten der Vögel verständlicher werden würden. Ich erwiederte, daß ich schon mehreres aus mei¬ nen Reisen im Gebirge und aus meinen früheren Be¬ schäftigungen in den Naturwissenschaften kenne. „Das ist doch immer weniger,“ sagte mein Gast¬ freund, „als was man durch das lebendige Beisam¬ menleben inne wird.“ Es wurden einige Behälter, die mit aus Ruthen geflochtenen Seilen an Bäumen befestigt waren, und von denen man wußte, daß sie nicht mehr bewohnt seien, herabgenommen, und auseinander gelegt, da¬ mit ich ihre Einrichtung sähe. Es war nur eine ein¬ fache Höhlung, die aus zwei halbhohlen Stücken be¬ stand, die man mittelst Ringen, die enger zu schrauben waren, aneinanderpressen konnte. „Kein Singvogel,“ sagte mein Begleiter, „geht in ein fertiges Nest, es mag nun dasselbe in einer frü¬ heren Zeit von ihm selber oder einem anderen Vogel gebaut worden sein, sondern er verfertigt sich sein Nest in jedem Frühlinge neu. Deßhalb haben wir die Behälter aus zwei Theilen machen lassen, daß wir sie leicht auseinander nehmen, und die veralteten Ne¬ ster heraus thun können. Auch zum Reinigen der Be¬ hälter ist diese Einrichtung sehr tauglich; denn wenn sie unbewohnt sind, nimmt allerlei Ungeziefer seine Zuflucht zu diesen Höhlungen, und der Vogel scheut Unrath und verdorbene Luft, und würde eine unreine Höhlung nicht besuchen. Im lezten Theile des Win¬ ters, wenn der Frühling schon in Aussicht steht, wer¬ den alle diese Behälter herabgenommen, auf das Sorg¬ fältigste gescheuert und in Stand gesezt. Im Winter sind sie darum auf den Bäumen, weil doch mancher Vogel, der nicht abreist, Schuz in ihnen sucht. Die alten Nester werden zerfasert und gegen den Frühling ihre Bestandtheile mit neuen vermehrt in dem Garten ausgestreut, damit die Familien Stoff für ihre Häuser finden.“ Ich sah im Vorübergehen auch die Kletterstäbchen in den Wassertonnen, und im Gebüsche fanden wir das kleine rieselnde Wässerlein. Als wir uns auf dem Rückwege zum Hause be¬ fanden, sagte mein Begleiter: „Ich habe noch eine Art Gäste, die ich füttere, nicht daß sie mir nüzen, sondern daß sie mir nicht schaden. Gleich in der ersten Zeit meines Hierseins, da ich eine sogenannte Baum¬ schule anlegte, nehmlich ein Gärtchen, in welchem die zur Veredlung tauglichen Stämmchen gezogen wur¬ den, habe ich die Bemerkung gemacht, daß mir im Winter die Rinde an Stämmchen abgefressen wurde, und gerade die beste und zarteste Rinde an den besten Stämmchen. Die Übelthäter wiesen sich theils durch ihre Spuren im Schnee, theils, weil sie auch auf fri¬ scher That ertappt wurden, als Hasen aus. Das Verjagen half nicht, weil sie wieder kamen, und doch nicht Tag und Nacht jemand in der Baumschule Wache stehen konnte. Da dachte ich: die armen Diebe fres¬ sen die Rinde nur, weil sie nichts Besseres haben, hätten sie es, so ließen sie die Rinde stehen. Ich sam¬ melte nun alle Abfälle von Kohl und ähnlichen Pflan¬ zen, die im Garten und auf den Feldern übrig blieben, bewahrte sie im Keller auf, und legte sie bei Frost und hohem Schnee theilweise auf die Felder außerhalb des Gartens. Meine Absicht wurde belohnt: die Hasen fraßen von den Dingen, und ließen unsere Baum¬ schule in Ruhe. Endlich wurde die Zahl der Gäste immer mehr, da sie die wohleingerichtete Tafel ent¬ deckten ; aber weil sie mit dem Schlechtesten selbst mit den dicken Strünken des Kohles zufrieden waren, und ich mir solche von unseren Feldern und von Nachbarn leicht erwerben konnte, so fragte ich nichts darnach, und fütterte. Ich sah ihnen oft aus dem Dachfenster mit dem Fernrohre zu. Es ist possirlich, wenn sie von der Ferne herzulaufen, dem bequem daliegenden Fraße mißtrauen, Männchen machen, hüpfen, dann aber sich doch nicht helfen können, herzustürzen, und von dem Zeuge hastig fressen, das sie im Sommer nicht an¬ schauen würden. Manche Leute legten Schlingen, da sie wußten, daß hier Hasen zusammenkamen. Aber da wir sehr sorgfältig nachspürten, und die Schlingen wegnehmen ließen, da ich auch verboth, über unsere Felder zu gehen, und die Betroffenen zur Verantwor¬ tung zog, verlor sich die Sache wieder. Auch den Vögeln legten Buben in unserer Nähe Schlingen; aber das half sehr wenig, da die Vögel in unserem Garten sehr gute Kost hatten, und nach der fremden Lockspeise nicht ausgingen. Die Beute an Vögeln war daher nie groß, und mit einiger Aufsicht und Wachsamkeit, die wir in den ersten Jahren einleiteten, geschah es, daß dieser Unfug auch bald wieder auf¬ hörte.“ Der alte Mann lud mich ein, in das Haus zu gehen, und die Fütterungskammer anzusehen. Auf dem Wege dahin sagte er: „Unter die Feinde der Sänger gehören auch die Kazen Hunde Iltisse Wie¬ sel Raubvögel. Gegen lezte schüzen die Dornen und die Nestbehälter, und Hunde und Kazen werden in un¬ serm Hause so erzogen, daß sie nicht in den Garten gehen, oder sie werden ganz von dem Hause entfernt.“ Wir waren indessen in das Haus gekommen, und gingen in das Eckzimmer, in welchem ich die vielen Fächer gesehen hatte. Mein Begleiter zeigte mir die Vorräthe, indem er die Fächer herauszog, und mir die Sämereien wies. Die Speisen, welche eben nicht in Sämereien bestehen, wie Eier Brod Speck, werden beim Bedarfe aus der Speisekammer des Hauses ge¬ nommen. „Meine Nachbaren äußerten schon,“ sagte mein Begleiter, „daß außer der Mühe, die das Erhalten der Singvögel macht, auch die Kosten zu ihrer Ernäh¬ rung in keinem Verhältnisse zu ihrem Nuzen stehen. Aber das ist unrichtig. Die Mühe ist ein Vergnügen, das wird der, welcher einmal anfängt, bald inne wer¬ den, so wie der Blumenfreund keine Mühe sondern nur Pflege kennt, welche zudem bei den Blumen viel mehr Thätigkeit in Anspruch nimmt als das Ziehen der Gesangvögel im Freien; die Kosten aber sind in der That nicht ganz unbedeutend; allein wenn ich die edlen Früchte eines einzigen Pflaumenbaumes, welchen mir die Raupen der Vögel wegen nicht abgefressen haben, verkaufe, so deckt der Kaufschilling die Nah¬ rungskosten der Sänger ganz und gar. Freilich ist der Nuzen desto größer, je edler das Obst ist, welches in dem Garten gezogen wird, und dazu, daß sie edles Obst in dieser Gegend ziehen, sind sie schwer zu be¬ wegen, weil sie meinen, es gehe nicht. Wir müssen Stifter , Nachsommer. I . 17 ihnen aber zeigen, daß es geht, indem wir ihnen die Früchte weisen und zu kosten geben, und wir müssen ihnen zeigen, daß es nüzt, indem wir ihnen Briefe unserer Handelsfreunde weisen, die uns das Obst abgekauft haben. Von den Stämmchen, die in unse¬ rer Obstschule wachsen, geben wir ihnen ab, und un¬ terrichten sie, wie und auf welchen Plaz sie gesezt wer¬ den sollen.“ „Wenn wieder einmal ein Jahr kommen sollte wie das, welches wir vor fünf Jahren hatten,“ fuhr er fort, „es war ein schlimmes Jahr, heiß mit wenig Regen und ungeheurem Raupenfraß. Die Bäume in Rohrberg in Regau in Landegg und Pludern standen wie Fegebesen in die Höhe, und die grauen Fahnen der Raupennester hingen von den entwürdigten Ästen herab. Unser Garten war unverlezt und dunkelgrün, sogar jedes Blatt hatte seine natürliche Ränderung und Ausspizung. Wenn noch einmal ein solches Jahr käme, was Gott verhüte, so würden sie wieder ein Stückchen Erfahrung machen, das sie das erste Mal nicht gemacht haben.“ Ich sah unterdessen die Sämereien und die An¬ stalten an, fragte manches, und ließ mir manches er¬ klären. Wir verließen hierauf das Zimmer, und da wir auf dem Gange waren, und gegen Gustavs Zim¬ mer gingen, sagte er: „daß auch unnüze Glieder her¬ beikommen, Müssiggänger Störefriede, das begreift sich. Ein großer Händelmacher ist der Sperling. Er geht in fremde Wohnungen, balgt sich mit Freund und Feind, ist zudringlich zu unsern Sämereien und Kir¬ schen. Wenn die Gesellschaft nicht groß ist, lasse ich sie gelten, und streue ihnen sogar Getreide. Sollten sie hier aber doch zu viel werden, so hilft die Wind¬ büchse, und sie werden in den Meierhof hinabge¬ scheucht. Als einen bösen Feind zeigte sich der Roth¬ schwanz. Er flog zu dem Bienenhause, und schnappte die Thierchen weg. Da half nichts als ihn ohne Gnade mit der Windbüchse zu tödten. Wir ließen bei¬ nahe in Ordnung Wache halten, und die Verfolgung fortsezen, bis dieses Geschlecht ausblieb. Sie waren so klug, zu wissen, wo Gefahr ist, und gingen in die Scheunen in die Holzhütte des Meierhofes und die Ziegelhütte, wo die großen Wespennester unter dem Dache sind. Wir lassen auch darum im Meierhofe und anderen entfernteren Orten die grauen Kugeln solcher Nester, die sich unter den Latten und Sparren der Dächer oder Dachvorsprünge ansiedeln, nicht zerstö¬ ren, damit sie diese Vögel hinziehen.“ 17 * Während dieses Gespräches waren wir in dem Gange der Gastzimmer zu der Thür gekommen, die in Gustavs Wohnung führte. Mein Gastfreund fragte, ob ich diese Wohnung nicht jezt besehen wollte, und wir traten ein. Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, einem Arbeitszimmer und einem Schlafzimmer. Beide wa¬ ren, wie es bei solchen Zimmern selten der Fall ist, sehr in Ordnung. Sonst war ihr Geräthe sehr ein¬ fach. Bücherkästen Schreib- und Zeichnungsgeräthe ein Tisch Schreine für die Kleider Stühle und das Bett. Der Jüngling stand fast erröthend da, da ein Fremder in seiner Wohnung war. Wir entfernten uns bald, und der Bewohner machte uns die leichte feine Verbeugung, die ich gestern schon an ihm bemerkt hatte, weil er uns nicht mehr begleiten sondern in den Zimmern zurückbleiben wollte, in welchen er noch Ar¬ beit zu verrichten hatte. „Ihr könnet nun auch die Gastzimmer besuchen,“ sagte mein Begleiter, „dann habt ihr alle Räume un¬ seres Hauses gesehen.“ Ich willigte ein. Er nahm ein kleines silbernes Glöcklein aus seiner Tasche, und läutete. Es erschien in Kurzem eine Magd, von welcher er die Schlüssel der Zimmer verlangte. Sie holte diesel¬ ben, und brachte sie an einem Ringe, von welchem einzelne los zu lösen waren. Jeder trug die Zahl sei¬ nes Zimmers auf sich eingegraben. Nachdem mein Beherberger die Magd verabschiedet hatte, schloß er mir die einzelnen Zimmer auf. Sie waren einander vollkommen gleich. Sie waren gleich groß, jedes hatte zwei Fenster, und jedes hatte ähnliche Geräthe wie das meine. „Ihr seht,“ sagte er, „daß wir in unserem Hause nicht so ungesellig sind, und bei dessen Anlegung schon auf Gäste gerechnet haben. Es können im äußersten Nothfalle noch mehr untergebracht werden, als die Zimmer anzeigen, wenn wir zwei in ein Gemach thun, und noch andere Zimmer namentlich die im Erdge¬ schosse in Anspruch nehmen. Es ist aber in der Zeit, seit welcher dieses Haus besteht, der Nothfall noch nicht eingetreten.“ Als wir an die östliche Seite des Hauses gekom¬ men waren, an die Seite, die seiner Wohnung gerade entgegensezt lag, öffnete er eine Thür, und wir traten nicht in ein Zimmer wie bisher sondern in drei, welche sehr schön eingerichtet waren, und zu lieblichem Woh¬ nen einluden. Das erste war ein Zimmer für einen Diener oder eigentlich eine Dienerin; denn es sah ganz aus wie das Zimmer, in welchem die Mädchen meiner Mutter wohnten. Es standen große Kleider¬ kästen da, mit grünem Ziz verhängte Betten, und es lagen Dinge herum, wie in dem Mädchenzimmer meiner Mutter. Die zwei anderen Gemächer zeigten zwar nicht solche Dinge, im Gegentheile sie waren in der musterhaftesten Ordnung; aber sie wiesen doch eine solche Gestalt, daß man schließen mußte, daß sie zu Wohnungen für Frauen bestimmt sind. Die Ge¬ räthe des ersten waren von Mahagoniholz die des zweiten von Cedern. Überall standen weichgepolsterte Size und schöne Tische herum. Auf dem Fußboden la¬ gen weiche Teppiche, die Pfeiler hatten hohe Spiegel, außerdem stand in jedem Zimmer noch ein beweglicher Ankleidespiegel, an den Fenstern waren Arbeitstisch¬ chen, und in der Ecke jedes Zimmers stand von wei¬ ßen Vorhängen dicht und undurchdringlich umgeben ein Bett. Jedes Gemach hatte ein Blumentischchen, und an den Wänden hingen einige Gemälde. Als ich diese Zimmer eine Weile betrachtet hatte, öffnete mein Begleiter im dritten Zimmer mittelst eines Drückers eine Tapetenthür, die sich den Blicken nicht gezeigt hatte, und führte mich noch in ein vier¬ tes kleines Zimmer mit einem einzigen Fenster. Das Zimmerchen war sehr schön. Es war ganz in sanft rosenfarbener Seide ausgeschlagen, welche Zeichnungen in derselben nur etwas dunkleren Farbe hatte. An die¬ ser schwach rosenrothen Seide lief eine Polsterbank von lichtgrauer Seide hin, die mit mattgrünen Bän¬ dern gerändert war. Sessel von gleicher Art standen herum. Die Seide grau in Grau gezeichnet hob sich licht und lieblich von dem Roth der Wände ab, es machte fast einen Eindruck, wie wenn weiße Rosen neben rothen sind. Die grünen Streifen erinnerten an das grüne Laubblatt der Rosen. In einer der hin¬ teren Ecken des Zimmers war ein Kamin von eben¬ falls grauer nur dunklerer Farbe mit grünen Streifen in den Simsen und sehr schmalen Goldleisten. Vor der Polsterbank und den Sesseln stand ein Tisch, des¬ sen Platte grauer Marmor von derselben Farbe wie der Kamin war. Die Füsse des Tisches und der Ses¬ sel so wie die Fassungen an der Polsterbank und den anderen Dingen waren von dem schönen veilchen¬ blauen Amarantholze; aber so leicht gearbeitet, daß dieses Holz nirgends herrschte. An dem mit grauen Seidenvorhängen gesäumten Fenster, welches zwischen grünen Baumwölbungen auf die Landschaft und das Gebirge hinaussah, stand ein Tischchen von demsel¬ ben Holze und ein reichgepolsterter Sessel und Schem¬ mel, wie wenn hier der Plaz für eine Frau zum Ruhen wäre. An den Wänden hingen nur vier kleine an Größe und Rahmen vollkommen gleiche Öhlgemälde. Der Fußboden war mit einem feinen grünen Teppiche überspannt, dessen einfache Farbe sich nur ein wenig von dem Grün der Bänder abhob. Es war gleichsam der Rasenteppich, über dem die Farben der Rosen schwebten. Die Schürzange und die anderen Geräthe an dem Kamine hatten vergoldete Griffe, auf dem Tische stand ein goldenes Glöcklein. Kein Merkmal in dem Gemache zeigte an, daß es bewohnt sei. Kein Geräthe war verrückt, an dem Teppiche zeigte sich keine Falte, und an den Fenster¬ vorhängen keine Verknitterung. Als ich eine Zeit diese Dinge mit Staunen be¬ trachtet hatte, öffnete mein Begleiter wieder die Tape¬ tenthür, die man auch im Innern dieses Zimmers nicht sehen konnte, und führte mich hinaus. Er hatte in dem Rosenzimmerchen nicht ein Wort gesprochen, und ich auch nicht. Als wir durch die anderen Zimmer gegangen waren, und er sie hinter uns zugeschlossen hatte, sagte er mir ebenfalls über den Zweck dieser Wohnung nichts, und ich konnte natürlich nicht darum fragen. Als wir auf den Gang hinausgekommen waren, sagte er: „Nun habt ihr mein ganzes Haus gesehen; wenn ihr wieder einmal in der Zukunft vorüberkommt, oder euch gar in der Ferne desselben erinnert, so könnt ihr euch gleich vorstellen, wie es im Inneren aus¬ sieht.“ Bei diesen Worten nestelte er den Ring mit den Schlüsseln in irgend eine Tasche seines seltsamen Obergewandes. „Es ist ein Bild,“ erwiederte ich auf seine Rede, „das sich mir tief eingeprägt hat, und das ich nicht so bald vergessen werde.“ „Ich habe mir das beinahe gedacht,“ antwor¬ tete er. Da wir in die Nähe meines Zimmers gekommen waren, verabschiedete er sich, indem er sagte, daß er nun einen großen Theil meiner Zeit in Anspruch ge¬ nommen habe, und daß er, um mich nicht noch mehr einzuengen, mir nichts weiter davon entziehen wolle. Ich dankte ihm für seine Gefälligkeit und Freund¬ lichkeit, mit welcher er mir einen Theil des Tages ge¬ widmet, und mir seine Häuslichkeit gezeigt habe, und wir trennten uns. Ich nahm den Schlüssel aus mei¬ ner Tasche und öffnete mein Zimmer, um einzutreten; ihn aber hörte ich die Treppe hinabgehen. Ich blieb nun bis gegen Abend in meinem Gast¬ gemache theils, weil ich ermüdet war, und wirklich einige Ruhe nöthig hatte, theils, weil ich meinem Gastfreunde nicht weiter lästig sein wollte. Am Abende ging ich wieder ein wenig auf die Fel¬ der außerhalb des Gartens hinaus, und kam erst zur Speisestunde zurück. Ich hatte bei dieser Gelegenheit gelernt, mir selber das Gitter zu öffnen und zu schließen. Es war kein Gast da, und beim Abendessen wie beim Mittagessen waren nur mein Gastfreund Gustav und ich. Die Gespräche waren über verschiedene gleich¬ gültige Dinge, wir trennten uns bald, ich verfügte mich auf mein Zimmer, las noch, schrieb, entkleidete mich endlich, löschte das Licht, und begab mich zur Ruhe. Der nächste Morgen war wieder herrlich und hei¬ ter. Ich öffnete die Fenster, ließ Duft und Luft her¬ einströmen, kleidete mich an, erfrischte mich mit reich¬ lichem Wasser zum Waschen, und ehe die Sonne nur einen einzigen Thautropfen hatte aufsaugen können, stand ich schon mit meinem Ränzlein auf dem Rücken und mit meinem Hute und dem Schwarzdornstocke in der Hand im Speisezimmer. Der alte Mann und Gustav warteten meiner bereits. Nachdem das Frühmahl verzehrt worden war, wobei ich troz der Forderung mein Ränzlein nicht ab¬ gelegt hatte, dankte ich noch einmal für die große Freundlichkeit und Offenheit, mit welcher ich hier auf¬ genommen worden war, verabschiedete mich, und be¬ gab mich auf meinen Weg. Der alte Mann und Gustav begleiteten mich bis zum Gitterthore des Gartens. Der Alte öffnete, um mich hinauszulassen, so wie er vorgestern geöffnet hatte, um mir den Eingang zu gestatten. Beide gin¬ gen mit mir durch das geöffnete Thor hinaus. Als wir auf dem Sandplaze vor dem Hause angeweht von dem Dufte der Rosen standen, sagte mein Beherber¬ ger: „Nun lebt wohl, und geht glücklich eures We¬ ges. Wir kehren durch unser Gitter wieder in unse¬ ren Landaufenthalt und zu unseren Beschäftigungen zurück. Wenn ihr in einer anderen Zeit wieder in die Nähe kommt, und es euch gefällt, uns zu besuchen, so werdet ihr mit Freundlichkeit aufgenommen werden. Wenn ihr aber gar, ohne daß euch euer Weg hier vor¬ überführt, freiwillig zu uns kommt, um uns zu besu¬ chen, so wird es uns besonders freuen. Es ist keine Re¬ densart, wenn ich sage, daß es uns freuen würde, ich gebrauche diese Redensarten nicht, sondern es ist wirk¬ lich so. Wenn ihr das einmal wollt, so lebt in diesem Hause, so lange es euch zusagt, und lebt so unge¬ bunden, als ihr wollt, so wie auch wir so ungebun¬ den leben werden, als wir wollen. Wenn ihr uns die Zeit vorher etwa durch einen Bothen wissen machen könntet, wäre es gut, weil wir, wenn auch nicht oft, doch manchmal abwesend sind.“ „Ich glaube, daß ihr mich freundlich aufnehmen werdet, wenn ich wieder komme,“ antwortete ich, „weil ihr es sagt, und euer Wesen mir so erscheint, daß ihr nicht eine unwahre Höflichkeit aussprechen würdet. Ich begreife zwar den Grund nicht, weßhalb ihr mich einladet, aber da ihr es thut, nehme ich es mit vieler Freude an, und sage euch, daß ich im nächsten Som¬ mer, wenn mich auch mein gewöhnlicher Weg nicht hieher führt, freiwillig in diese Gegend und in die¬ ses Haus kommen werde, um eine kleine Zeit da zu bleiben.“ „Thut es, und ihr werdet sehen, daß ihr nicht un¬ willkommen seid,“ sagte er, „wenn ihr auch die Zeit ausdehnt.“ „Ich werde vielleicht das Leztere thun,“ antwor¬ tete ich, „und so lebet wohl.“ „Lebt wohl.“ Bei diesen Worten reichte er mir die Hand, und drückte sie. Ich reichte meine Hand, da er sie losgelassen hatte, auch an den Knaben Gustav, welcher sie an¬ nahm, aber nichts sprach, sondern mich blos mit seinen Augen freundlich ansah. Hierauf schieden wir, indem sie durch das Gitter zurückgingen, ich aber den Hut auf dem Haupte den Weg hinabwandelte, den ich vor zwei Tagen herauf¬ gegangen war. Ich fragte mich nun, bei wem ich denn diesen Tag und die zwei Nächte zugebracht habe. Er hat um mei¬ nen Namen nicht gefragt, und hat mir den seinigen nicht genannt. Ich konnte mir auf meine Frage keine Antwort geben. Und so ging ich denn nun weiter. Die grünen Ähren gaben jezt in der Morgensonne feurige Strahlen, während sie bei meinem Heraufgehen im Schatten des herandrohenden Gewitters gestanden waren. Ich sah mich noch einmal um, da ich zwischen den Feldern hinabging, und sah das weiße Haus im Sonnenscheine stehen, wie ich es schon öfter hatte stehen gesehen, ich konnte noch den Rosenschimmer unterscheiden, und glaubte, noch das Singen der zahlreichen Vögel im Garten vernehmen zu können. Hierauf wendete ich mich wieder um, und ging abwärts, bis ich zu der Hecke und der Einfriedigung der Felder kam, bei der ich vorgestern von der Straße abgebogen hatte. Ich konnte mich nicht enthalten, noch einmal umzusehen. Das Haus stand jezt nur mehr weiß da, wie ich es öfter bei meinen Wanderun¬ gen gesehen hatte. Ich ging nun auf der Landstraße in meiner Rich¬ tung vorwärts. Den ersten Mann, welcher mir begegnete, fragte ich, wem das weiße Haus auf dem Hügel gehöre, und wie es hieße. „Es ist der Aspermeier, dem es gehört,“ antwortete der Mann, „ihr seid ja gestern selber in dem Asperhofe gewesen und seid mit dem Aspermeier herumgegangen.“ „Aber der Besizer jenes Hauses ist doch unmöglich ein Meier?" fragte ich; denn mir war wohlbekannt, daß man in der Gegend jeden größeren Bauern einen Meier nannte. „Er ist Anfangs nicht der Aspermeier gewesen," antwortete der Mann, „aber er hat von dem alten As¬ permeier den Asperhof gekauft, und das Haus hat er gebaut, welches in dem Garten steht, und zu dem Asperhof gehört, und jezt ist er der Aspermeier; denn der alte ist längst gestorben." „Hat er denn nicht auch einen andern Namen?" fragte ich. „Nein, wir heißen ihn den Aspermeier," antwor¬ tete er. Ich sah, daß der Mann nichts Weiteres von mei¬ nem Gastfreunde wisse, und sich nicht um denselben gekümmert habe, ich gab daher bei ihm jedes weitere Forschen auf. Es begegneten mir noch mehrere Menschen, von denen ich dieselbe Antwort erhielt. Alle kehrten das Verhältniß um, und sagten, das Haus im Garten gehöre zu dem Asperhofe. Ich beschloß daher, vor¬ läufig jedes Forschen zu unterlassen, bis ich zu einem Menschen gekommen sein würde, von dem ich berech¬ tigt war, eine bessere Auskunft zu erwarten. Da mir aber der Name Aspermeier und Asperhof nicht gefiel, nannte ich das Haus, in welchem ein sol¬ cher Rosendienst getrieben wurde, in meinem Haupte vorläufig das Rosenhaus. Es begegnete mir aber niemand, den ich noch ein¬ mal hätte fragen können. Ich ließ, da ich so meines Weges weiter wan¬ delte, die Dinge des lezten Tages in mir vorüber¬ gehen. Mich freute es, daß ich in dem Hause eine so große Reinlichkeit und Ordnung getroffen hatte, wie ich sie bisher nur in dem Hause meiner Eltern gesehen hatte. Ich wiederholte, was der alte Mann mir ge¬ zeigt, und gesagt hatte, und es fiel mir ein, wie ich mich viel besser hätte benehmen können, wie ich auf manche Reden bessere Antworten geben, und über¬ haupt viel bessere Dinge hätte sagen können. In diesen Betrachtungen wurde ich unterbrochen. Als ich ungefähr eine Stunde auf dem Wege gewan¬ dert war, kam ich an die Ecke des Buchenwaldes, von dem wir vorgestern Abends gesprochen hatten, der zu den Besizungen meines Gastfreundes gehört, und in welchem ich einmal eine Gabelbuche gezeichnet hatte. Der Weg geht an dem Walde etwas steiler hinan, und biegt um die Ecke desselben herum. Da ich bis zu der Biegung gelangt war, kam mir ein Wagen entgegen, welcher mit eingelegtem Radschuhe langsam die Straße herabfuhr. Er mochte darum langsamer als gewöhnlich fahren, weil sich diejenigen, welche in ihm saßen, Vorsicht zum Geseze gemacht haben konn¬ ten. Es saßen nehmlich in dem offenen und des schö¬ nen Wetters willen ganz zurückgelegten Wagen zwei Frauengestalten, eine ältere und eine jüngere. Beide hatten Schleier, welche von den Hüten über die Schultern niedergingen. Die ältere hatte den Schleier über das Angesicht gezogen, welches aber doch, da der Schleier weiß war, ein wenig gesehen werden konnte. Die jüngere hatte den Schleier zu beiden Seiten des Angesichts zurückgethan, und zeigte dieses Angesicht der Luft. Ich sah sie beide an, und zog endlich zu einer höflichen Begrüßung meinen Hut. Sie dankten freundlich, und der Wagen fuhr vorüber. Ich dachte mir, da der Wagen immer tiefer über den Berg hin¬ abging, ob denn nicht eigentlich das menschliche An¬ gesicht der schönste Gegenstand zum Zeichnen wäre. Ich sah dem Wagen noch nach, bis er durch die Biegung des Weges unsichtbar geworden war. Dann ging ich an dem Waldrande vorwärts und auf¬ wärts. Stifter , Nachsommer. I . 18 Nach drei Stunden kam ich auf einen Hügel, von welchem ich in die Gegend zurücksehen konnte, aus der ich gekommen war. Ich sah mit meinem Fern¬ rohre, das ich aus dem Ränzlein genommen hatte, deutlich den weißen Punkt des Hauses, in welchem ich die lezten zwei Nächte zugebracht hatte, und hinter dem Hause sah ich die duftigen Berge. Wie war nun der Punkt so klein in der großen Welt. Ich kam bald in den Ort, in welchem ich, da ich bisher nirgends angehalten hatte, mein Mittagsmahl einzunehmen gesonnen war, obwohl die Sonne bis zum Scheitel noch einen kleinen Bogen zurückzulegen hatte. Ich fragte in dem Orte wieder um den Besizer des weißen Hauses, und beschrieb dasselbe und seine Lage, so gut ich konnte. Man nannte mir einen Mann, der einmal in hohen Staatsämtern gestanden war; man nannte mir aber zwei Namen, den Freiherrn von Ri¬ sach und einen Herrn Morgan. Ich war nun wieder ungewiß wie vorher. Am andern Tage Morgens kam ich in den Ge¬ birgszug, welcher das Ziel meiner Wanderung war, und in welchen ich von dem anderen Gebirgszuge durch einen Theil des flachen Landes überzusiedeln beschlossen hatte. Am Mittage kam ich in dem Gast¬ hofe an, den ich mir zur Wohnung ausgewählt hatte. Mein Koffer war bereits da, und man sagte mir, daß man mich früher erwartet habe. Ich erzählte die Ur¬ sache meiner verspäteten Ankunft, richtete mich in dem Zimmer, das ich mir bestellt hatte, ein, und begab mich an die Geschäfte, welche in diesem Gebirgstheile zu betreiben ich mir vorgesezt hatte. 18 * 6. Der Besuch. Ich blieb ziemlich lange in meinem neuen Aufent¬ haltsorte. Es entwickelte sich aus den Arbeiten ein Weiteres und Neues, und hielt mich fest. Ich drang später noch tiefer in das Gebirgsthal ein, und begann Dinge, die ich mir für diesen Sommer gar nicht ein¬ mal vorgenommen hatte. Im späten Herbste kehrte ich zu den Meinigen zu¬ rück. Es erging mir auf dieser Reise, wie es mir auf jeder Heimreise ergangen war. Als ich das Gebirge verließ, waren die Bergahornblätter und die der Bir¬ ken und Eschen nicht nur schon längst abgefallen, son¬ dern sie hatten auch bereits ihre schöne gelbe Farbe verloren, und waren schmuzig schwarz geworden, was nicht mehr auf die Kinder der Zweige erinnerte, die sie im Sommer gewesen waren, sondern auf die be¬ fruchtende Erde, die sie im Winter für den neuen Nachwuchs werden sollten, die Bewohner der Berg¬ thäler und der Halden, die wohl gelegentlich in jeder Jahreszeit Feuer machen, unterhielten es schon den ganzen Tag in ihrem Ofen, um sich zu wärmen, und an heiteren Morgen glänzte der Reif auf den Berg¬ wiesen, und hatte bereits das Grün der Farenkräuter in ein dürres Rostbraun verwandelt: da ich aber in die Ebene gelangt war, und die Berge mir am Rande derselben nur mehr wie ein blauer Saum erschienen, und da ich endlich gar auf dem breiten Strome zu un¬ serer Hauptstadt hinabfuhr, umfächelten mich so weiche und warme Lüfte, daß ich meinte, ich hätte die Berge zu früh verlassen. Es war aber nur der Unterschied der Himmelsbeschaffenheit in dem Gebirge und in den entfernten Niederungen. Als ich das Schif verlassen hatte, und an den Thoren meiner Heimathstadt an¬ gekommen war, trugen die Akazien noch ihr Laub, warmer Sonnenschein legte sich auf die Umfassungs¬ mauern und auf die Häuser, und schöngekleidete Menschen lustwandelten in den Stunden des Nach¬ mittages. Die liebliche röthliche und dunkelblaue Farbe der Weintrauben, die man an dem Thore und auf dem Plaze innerhalb desselben feil both, brachte mir manchen freundlichen und fröhlichen Herbsttag meiner Kindheit in Erinnerung. Ich ging die gerade Gasse entlang, ich beugte in ein paar Nebenstraßen, und stand endlich vor dem wohlbekannten Vorstadthause mit dem Garten. Da ich die Treppe hinangegangen war, da ich die Mutter und die Schwester gefunden hatte, war die erste Frage nach Gesundheit und Wohlbefinden aller Angehörigen. Es war alles im besten Stande, die Mutter hatte auch meine Zimmer ordnen lassen, alles war abgestaubt, gereinigt, und an seinem Plaze, als hätte man mich gerade an diesem Tage erwartet. Nach einem kurzen Gespräche mit der Mutter und der Schwester kleidete ich mich, ohne meinen Koffer zu erwarten, von meinen zurückgelassenen Kleidern auf städtische Weise an, um in die Stadt zu gehen, und den Vater zu begrüßen, der noch auf seiner Han¬ delsstube war. Das Gewimmel der Leute in den Gassen, das Herumgehen gepuzter Menschen in den Baumgängen des grünen Plazes zwischen der Stadt und den Vorstädten, das Fahren der Wägen und ihr Rollen auf den mit Steinwürfeln gepflasterten Straßen, und endlich, als ich in die Stadt kam, die schönen Waarenauslagen und das Ansehnliche der Gebäude befremdeten und beengten mich beinahe als ein Ge¬ gensaz zu meinem Landaufenthalte; aber ich fand mich nach und nach wieder hinein, und es stellte sich als das Langgewohnte und Allbekannte wieder dar. Ich ging nicht zu meinen Freunden, an deren Wohnung ich vorüberkam, ich ging nicht in die Buchhandlung, in der ich manche Stunde des Abends zuzubringen gewohnt war, und die an meinem Wege lag, sondern ich eilte zu meinem Vater. Ich fand ihn an dem Schreibtische, und grüßte ihn ehrerbiethig, und wurde auch von ihm auf das Herzlichste empfangen. Nach kurzer Unterredung über Wohlbefinden und an¬ dere allgemeine Dinge sagte er, daß ich nach Hause gehen möchte, er habe noch Einiges zu thun, werde aber bald nachkommen, um mit der Mutter, der Schwester und mir den Abend zuzubringen. Ich ging wieder gerades Weges nach Hause. Dort machte ich einen Gang durch den Garten, sprach einige liebkosende Worte zu dem Hofhunde, der mich mit Heulen und Freudensprüngen begrüßte, und brachte dann noch eine Weile bei der Mutter und der Schwe¬ ster zu. Hierauf ging ich in alle Zimmer unserer Wohnung, besonders in die mit den alten Geräthen den Büchern und Bildern. Sie kamen mir beinahe unscheinbar vor. Nach einiger Zeit kam auch der Vater. Es war heute in dem Stübchen, in welchem die alten Waffen hingen, und um welches der Epheu rankte, zum Abendessen aufgedeckt worden. Man hatte sogar bis gegen Abend die Fenster offen lassen können. Da wäh¬ rend meines Ganges in die Stadt mein Koffer und meine Kisten von dem Schiffe gekommen waren, konnte ich die Geschenke, welche ich von der Reise mitgebracht hatte, in das Stübchen schaffen lassen: für die Mut¬ ter einige seltsame Töpfe und Geschirre, für den Va¬ ter ein Amonshorn von besonderer Größe und Schön¬ heit andere Marmorstücke und eine Uhr aus dem sie¬ benzehnten Jahrhunderte, und für die Schwester das gewöhnliche Edelweis getrockneten Enzian ein seidenes Bauertüchlein und silberne Brustkettlein, wie man sie in einigen Theilen des Gebirges trägt. Auch was man mir als Geschenke vorbereitet hatte, kam in das Stüblein: von der Mutter und Schwester verfertigte Arbeiten, darunter eine Reisetasche von besonderer Schönheit, dann sämmtliche Arten guter Bleifedern nach den Abstufungen der Härte in einem Fache ge¬ ordnet, besonders treffliche Federkiele, glattes Papier, und von dem Vater ein Gebirgsatlas, dessen ich schon einige Male Erwähnung gethan, und den er für mich gekauft hatte. Nachdem alles mit Freuden gegeben und empfangen worden war, sezte man sich zu dem Tische, an dem wir heute Abend nur allein waren, wie es nach und nach bei jeder meiner Zurückkünfte nach einer längeren Abwesenheit der Gebrauch gewor¬ den war. Es wurden die Speisen aufgetragen, von denen die Mutter vermuthete, daß sie mir die lieb¬ sten sein könnten. Die Vertraulichkeit und die Liebe ohne Falsch, wie man sie in jeder wohlgeordneten Familie findet, that mir nach der längeren Vereinsa¬ mung außerordentlich wohl. Als die ersten Besprechungen über alles, was zu¬ nächst die Angehörigen betraf, und was man in der jüngsten Zeit erlebt hatte, vorüber waren, als man mir den ganzen Gang des Hauswesens während meiner Abwesenheit auseinandergesezt hatte, mußte ich auch von meiner Reise erzählen. Ich erklärte ihren Zweck, und sagte, wo ich gewesen sei, und was ich gethan habe, ihn zu erreichen. Ich erwähnte auch des alten Mannes, und erzählte, wie ich zu ihm gekom¬ men sei, wie gut ich von ihm aufgenommen worden sei, und was ich dort gesehen habe. Ich sprach die Vermuthung aus, daß er seiner Sprache nach zu ur¬ theilen aus unserer Stadt sein könnte. Mein Vater ging seine Erinnerungen durch, konnte aber auf kei¬ nen Mann kommen, der dem von mir beschriebenen ähnlich wäre. Die Stadt ist groß, meinte er, es könn¬ ten da viele Leute gelebt haben, ohne daß er sie hätte kennen lernen können. Die Schwester meinte, vielleicht hätte ich ihn auch der Umgebung zu Folge, in welcher ich ihn gefunden habe, schon in einem anderen und besonderen Lichte gesehen, und in solchem dargestellt, woraus er schwerer zu erkennen sei. Ich entgegnete, daß ich gar nichts gesagt habe, als was ich gesehen hätte, und was so deutlich sei, daß ich es, wenn ich mit Farben besser umzugehen wüßte, sogar malen könnte. Man meinte, die Zeit werde die Sache wohl aufklären, da er mich auf einen zweiten Besuch einge¬ laden habe, und ich gewiß nicht anstehen werde, den¬ selben abzustatten. Daß ich ihn nicht geradezu um seinen Namen gefragt habe, billigten alle meine An¬ gehörigen, da er weit mehr gethan, nehmlich mich aufgenommen und beherbergt habe, ohne um meinen Namen oder um meine Herkunft zu forschen. Der Vater erkundigte sich im Laufe des Gespräches genauer nach manchen Gegenständen in dem Hause des alten Mannes, deren ich Erwähnung gethan hatte, besonders fragte er nach den Marmoren nach den alten Geräthen nach den Schnizarbeiten nach den Bildsäulen nach den Gemälden und den Büchern. Die Marmore konnte ich ihm fast ganz genau beschrei¬ ben, die alten Geräthe beinahe auch. Der Vater ge¬ rieth über die Beschreibung in Bewunderung und sagte, es würde für ihn eine große Freude sein, ein¬ mal solche Dinge mit eigenen Augen sehen zu können. Über Schnizarbeiten konnte ich schon weniger sagen, über die Bücher auch nicht viel, und das Wenigste, beinahe gar nichts, über Bildsäulen und Gemälde. Der Vater drang auch nicht darauf, und verweilte nicht lange bei diesen lezteren Gegenständen — die Mutter meinte, es wäre recht schön, wenn er sich ein¬ mal aufmachte, eine Reise in das Oberland unter¬ nähme, und die Sachen bei dem alten Manne selber ansähe. Er size jezt immer wieder zu viel in seiner Schreibstube, er gehe in lezter Zeit auch alle Nach¬ mittage dahin, und bleibe oft bis in die Nacht dort. Eine Reise würde sein Leben recht erfrischen, und der alte Mann, der den Sohn so freundlich aufgenom¬ men habe, würde ihn gewiß herzlich empfangen, und ihm als einem Kenner seine Sammlungen noch viel lieber zeigen als einem andern. Wer weiß, ob er nicht gar auf dieser Reise das eine oder andere Stück für seine Alterthumszimmer erwerben könnte. Wenn er immer warte, bis die dringendsten Geschäfte vor¬ über wären, und bis er sich mehr auf die jüngeren Leute in seiner Arbeitsstube verlassen könne, so werde er gar nie reisen; denn die Geschäfte seien immer dringend, und sein Mißtrauen in die Kräfte der jün¬ geren Leute wachse immer mehr, je älter er werde, und je mehr er selber alle Sachen allein verrichten wolle. Der Vater antwortete, er werde nicht nur schon einmal reisen, sondern sogar eines Tages sich in den Ruhestand sezen, und keine Handelsgeschäfte weiter vornehmen. Die Mutter erwiederte, daß dies sehr gut sein, und daß ihr dieser Tag wie ein zweiter Brauttag er¬ scheinen werde. Ich mußte dem Vater nun auch die einzelnen Holzgattungen angeben, aus denen die verschiedenen Geräthe in dem Rosenhause eingelegt seien, aus de¬ nen die Fußböden beständen, und endlich aus wel¬ chen geschnizt würde. Ich that es so ziemlich gut, denn ich hatte bei der Betrachtung dieser Dinge an meinen Vater gedacht, und hatte mir mehr gemerkt, als sonst der Fall gewesen sein würde. Ich mußte ihm auch beschreiben, in welcher Ordnung diese Hölzer zusammengestellt seien, welche Gestalten sie bildeten, und ob in der Zusammenstellung der Linien und Far¬ ben ein schöner Reiz liege. Ebenso mußte ich ihm auch noch mehr von den Marmorarten erzählen, die in dem Gange und in dem Saale wären, und mußte darstellen, wie sie verbunden wären, welche Gattun¬ gen an einander gränzten, und wie sie sich dadurch abhöben. Ich nahm häufig ein Stück Papier und die Bleifeder zur Hand, um zu versinnlichen, was ich ge¬ sehen hätte. Er that auch weitere Fragen, und durch ihre zweckmäßige Aufeinanderfolge konnte ich mehr beantworten, als ich mir gemerkt zu haben glaubte. Als es schon spät geworden war, mahnte die Mutter zur Ruhe, wir trennten uns von dem Waf¬ fenhäuschen, und begaben uns zu Bette. Am anderen Tage begann ich meine Wohnung für den Winter einzurichten. Ich packte nach und nach die Sachen, welche ich von meiner Reise mitgebracht hatte, aus, stellte sie nach gewohnter Art und Weise auf, und suchte sie in die vorhandenen einzureihen. Diese Beschäftigung nahm mehrere Tage in Anspruch. Am ersten Sonntage nach meiner Ankunft war ein Bewillkommungsmahl. Alle Leute von dem Handelsgeschäfte meines Vaters waren besonders eingeladen worden, und es wurden bessere Speisen und besserer Wein auf den Tisch gesezt. Auch die zwei alten Leute, die in dem dunkeln Stadthause unsere Wohnungsnachbaren gewesen waren, sind zu diesem Mahle geladen worden, weil sie mich sehr lieb hatten, und weil die Frau gesagt hatte, daß aus mir einmal große Dinge werden würden. Diese Mahle waren schon seit ein paar Jahren Sitte, und die alten Leute waren jedesmal Gäste dabei. Als ich mit dem Hauptsächlichsten in der Anord¬ nung meiner Zimmer fertig war, besuchte ich auch meine Freunde in der Stadt, und brachte wieder manche Abenddämmerung in der Buchhandlung zu, welche mir ein lieber Aufenthalt geworden war. Wenn ich durch die Gassen der Stadt ging, war es mir, als hätte ich das, was ich von dem alten Manne wußte, in einem Märchenbuche gelesen; wenn ich aber wieder nach Hause kam, und in die Zimmer mit den alterthümlichen Gegenständen und mit den Bildern ging, so war er wieder wirklich, und paßte hieher als Vergleichsgegenstand. Die Spuren, welche mit einer Ankunft nach einer längeren Reise in einer Wohnung immer unzertrenn¬ lich verbunden sind, namentlich, wenn man von die¬ ser Reise viele Gegenstände mitgebracht hat, welche geordnet werden müssen, waren endlich aus meinem Zimmer gewichen, meine Bücher standen und lagen zum Gebrauche bereit, und meine Werkzeuge und Zeichnungsgeräthschaften waren in der Ordnung, wie ich sie für den Winter bedurfte. Dieser Winter war aber auch schon ziemlich nahe. Die lezten schö¬ nen Spätherbsttage, die unserer Stadt so gerne zu Theil werden, waren vorüber, und die neblige nasse und kalte Zeit hatte sich eingestellt. In unserem Hause war während meiner Abwe¬ senheit eine Veränderung eingetreten. Meine Schwe¬ ster Klotilde, welche bisher immer ein Kind gewesen war, war in diesem Sommer plözlich ein erwachsenes Mädchen geworden. Ich selber hatte mich bei meiner Rückkehr sehr darüber verwundert, und sie kam mir beinahe ein wenig fremd vor. Diese Veränderung brachte für den kommenden Winter auch eine Veränderung in unser Haus. Unser Leben war für die Hauptstadt eines großen Reiches bisher ein sehr einfaches und beinah ländliches ge¬ wesen. Der Kreis der Familien, mit denen wir ver¬ kehrten, hatte keine große Ausdehnung gehabt, und auch da hatten sich die Zusammenkünfte mehr auf ge¬ legentliche Besuche oder auf Spiele der Kinder im Garten beschränkt. Jezt wurde es anders. Zu Klotil¬ den kamen Freundinen, mit deren Eltern wir in Ver¬ bindung gewesen waren, diese hatten wieder Ver¬ wandte und Bekannte, mit denen wir nach und nach in Beziehungen geriethen. Es kamen Leute zu uns, es wurde Musik gemacht, vorgelesen, wir kamen auch zu anderen Leuten, wo man sich ebenfalls mit Musik und ähnlichen Dingen unterhielt. Diese Verhältnisse üb¬ ten aber auf unser Haus keinen so wesentlichen Ein¬ fluß aus, daß sie dasselbe umgestaltet hätten. Ich lernte außer den Freunden, die ich schon hatte, und an deren Art und Weise ich gewöhnt war, noch neue kennen. Sie hatten meistens ganz andere Bestrebun¬ gen als ich, und schienen mir in den meisten Dingen überlegen zu sein. Sie hielten mich auch für beson¬ ders, und zwar zuerst darum, weil die Art der Er¬ ziehung in unserem Hause eine andere gewesen war als in anderen Häusern, und dann, weil ich mich mit anderen Dingen beschäftigte, als auf die sie ihre Wünsche und Begierden richteten. Ich vermuthete, daß sie mich wegen meiner Sonderlichkeit geringer achteten als sich unter einander selbst. Sie erwiesen meiner Schwester große Aufmerk¬ samkeiten, und suchten ihr zu gefallen. Die jungen Leute, welche in unser Haus kommen durften, waren nur lauter solche, deren Eltern zu uns eingeladen wa¬ ren, die wir auch besuchten, und an deren Sitten sich kein Bedenken erhob. Meine Schwester wußte nicht, daß ihr die Männer gefallen wollten, und sie achtete nicht darauf. Ich aber kam in jenen Tagen, wenn mir ein¬ fiel, daß meine Schwester einmal einen Gatten haben werde, immer auf den nehmlichen Gedanken, daß dies kein anderer Mann sein könne, als der so wäre wie der Vater. Auch mich zogen diese jungen Männer und andere, die nicht eben der Schwester willen in das Haus ka¬ men, öfter in ihre Gespräche, sie erzählten mir von ihren Ansichten Bestrebungen Unterhaltungen, und manche vertrauten mir Dinge, welche sie in ihrem ge¬ heimen Inneren dachten. So sagte mir einmal einer Namens Preborn, welcher der Sohn eines alten Mannes war, der ein hohes Amt am Hofe bekleidete, und öfter in unser Haus kam, die junge Tarona sei die größte Schönheit der Stadt, sie habe einen Stifter , Nachsommer. I . 19 Wuchs, wie ihn niemand von der halben Million der Einwohner der Stadt habe, wie ihn nie irgend je¬ mand gehabt habe, und wie ihn keine Künstler alter und neuer Zeit darstellen könnten. Augen habe sie, welche Kiesel in Wachs verwandeln und Diamanten schmelzen könnten. Er liebe sie mit solcher Heftigkeit, daß er manche Nacht ohne Schlaf auf seinem Lager liege, oder in seiner Stube herum wandle. Sie lebe nicht hier, komme aber öfter in die Stadt, er werde sie mir zeigen, und ich müsse ihm als Freund in seiner Lage beistehen. Ich dachte, daß vieles in diesen Worten nicht Ernst sein könne. Wenn er das Mädchen so sehr liebe, so hätte er es mir oder einem andern gar nicht sagen sollen, auch wenn wir Freunde gewesen wären. Freunde waren wir aber nicht, wenn man das Wort in der eigentlichen Bedeutung nimmt, wir waren es nur, wie man es in der Stadt mit einer Redeweise von Leuten nennt, die einander sehr bekannt sind, und mit einander öfter umgehen. Und endlich konnte er ja keinen Beistand von mir erwarten, der ich in der Art mit Menschen umzugehen nicht sehr bewandert war, und in dieser Hinsicht weit unter ihm selber stand. Ich besuchte zuweilen auch den einen oder den an¬ deren dieser jungen Leute außer der Zeit, in der wir in Begleitung unserer Eltern zusammenkamen, und da war ebenfalls öfter von Mädchen die Rede. Sie sagten, wie sie diese oder jene lieben, sich vergeblich nach ihr seh¬ nen, oder von ihr Zeichen der Gegenneigung erhalten hätten. Ich dachte, das sollten sie nicht sagen; und wenn sie eine muthwillige Bemerkung über die Ge¬ stalt oder das Benehmen eines Mädchens ausdrück¬ ten, so erröthete ich, und es war mir, als wäre meine Schwester beleidigt worden. Ich ging nun öfter in die Stadt, und betrach¬ tete aufmerksamer den alten Bau unseres Erzdomes. Seit ich die Zeichnungen von Bauwerken in dem Ro¬ senhause so genau und in solcher Menge angesehen hatte, waren mir die Bauwerke nicht mehr so fremd wie früher. Ich sah sie gerne an, ob sie irgend etwas Ähnliches mit den Gegenständen hätten, die ich in den Zeichnungen gesehen hatte. Auf meiner Reise von dem Rosenhause in das Gebirgsthal, in welchem ich mich später aufgehalten hatte, und von diesem Ge¬ birgsthale bis zu dem Schiffe, das mich zur Heimreise aufnehmen sollte, war mir nichts besonders Betrach¬ tenswerthes vorgekommen. Nur einige Wegsäulen sehr 19 * alter Art erinnerten an die reinen und anspruchlosen Gestalten, wie ich sie bei dem Meister auf dem reinen Papier mit reinen Linien gesehen hatte. Aber in der Nische der einen Wegsäule war statt des Standbil¬ des, das einst darinnen gewesen war, und auf wel¬ ches der Sockel noch hinwies, ein neues Gemälde mit bunten Farben gethan worden, in der anderen fehlte jede Gestalt. Auf meiner Stromesfahrt kam ich wohl an Kirchen und Burgen vorüber, die der Beachtung werth sein mochten, aber mein Zweck führte mich in dem Schiffe weiter. An dem Erzdome sah ich beinahe alle Gestalten von Verzierungen Simsen Bögen Säu¬ len und größeren Theilwerken, wie ich sie auf dem Papier im Rosenhause gesehen hatte. Es ergözte mich, in meiner Erinnerung diese Gestalten mit den gesehenen zu vergleichen, und sie gegenseitig abzu¬ schäzen. Auch in Beziehung der Edelsteine fiel mir das ein, was der alte Mann in dem Rosenhause über die Fas¬ sung derselben gesagt hatte. Es gab Gelegenheit ge¬ nug, gefaßte Edelsteine zu sehen. In unzähligen Schaufenstern der Stadt liegen Schmuckwerke zur An¬ sicht und zur Verlockung zum Kaufe aus. Ich betrach¬ tete sie überall, wo sie mir auf meinem Wege aufstie¬ ßen, und ich mußte denken, daß der alte Mann Recht habe. Wenn ich mir die Zeichnungen von Kreuzen Rosen Sternen Nischen und dergleichen Dingen an mittelalterlichen Baugegenständen, wie ich sie im Ro¬ senhause gesehen hatte, vergegenwärtigte, so waren sie viel leichter zarter, und ich möchte den Ausdruck gebrauchen, inniger als diese Sachen hier, und waren doch nur Theile von Bauwerken, während diese Schmuck sein sollten. Mir kam wirklich vor, daß sie, wie er gesagt hatte, unbeholfen in Gold und un¬ beholfen in den Edelsteinen seien. Nur bei einigen Verkaufsorten, die als die vorzüglichsten galten, fand ich eine Ausnahme. Ich sah, daß dort die Fassungen sehr einfach waren, ja daß man, wenn die Edelsteine einmal eine größere Gestalt und einen höheren Werth annahmen, schier gar keine Fassung mehr machte, sondern nur so viel von Gold oder kleinen Diaman¬ ten anwendete, als unumgänglich nöthig schien, die Dinge nehmen und an dem menschlichen Körper be¬ festigen zu können. Mir schien dieses schon besser, weil hier die Edelsteine allein den Werth und die Schönheit darstellen sollten. Ich dachte aber in mei¬ nem Herzen, daß die Edelsteine, wie schön sie auch seien, doch nur Stoffe wären, und daß es viel vor¬ züglicher sein müßte, wenn man sie, ohne daß ihre Schönheit einen Eintrag erhielte, doch auch mit einer Gestalt umgäbe, welche außer der Lieblichkeit des Stoffes auch den Geist des Menschen sehen ließe, der hier thätig war, und an dem man Freude haben könnte. Ich nahm mir vor, wenn ich wieder zu mei¬ nem alten Gastfreunde käme, mit ihm über die Sache zu reden. Ich sah, daß ich in dem Rosenhause etwas Ersprießliches gelernt hatte. Ich wurde bei jener Gelegenheit zufällig mit dem Sohne eines Schmuckhändlers bekannt, welcher als der vorzüglichste in der Stadt galt. Er zeigte mir öf¬ ter die werthvolleren Gegenstände, die sie in dem Ver¬ kaufsgewölbe hatten, die aber nie in einem Schaufen¬ ster lagen, er erklärte mir dieselben, und machte mich auf die Merkmale aufmerksam, an denen man die Schönheit der Edelsteine erkennen könne. Ich getraute mir nie, meine Ansichten über die Fassung derselben darzulegen. Er versprach mir, mich näher in die Kenntniß der Edelsteine einzuführen, und ich nahm es recht gerne an. Weil ich durch meine Gebirgswanderungen an viele Bewegung gewöhnt war, so ging ich alle Tage entweder durch Theile der Stadt herum, oder ich machte einen Weg in den Umgebungen derselben. Das Zuträgliche der starken Gebirgsluft ersezte mir hier die Herbstluft, die immer rauher wurde, und ich ging ihr sehr gerne entgegen, wenn sie mit Nebeln gefüllt oder hart von den Bergen her wehte, die ge¬ gen Westen die Umgebungen unserer Stadt säumten. Ich fing auch in jener Zeit an, das Theater zu¬ weilen zu besuchen. Der Vater hatte, so lange wir Kinder waren, nie erlaubt, daß wir ein Schauspiel zu sehen bekämen. Er sagte, es würde dadurch die Einbildungskraft der Kinder überreizt und überstürzt, sie behingen sich mit allerlei willkührlichen Gefüh¬ len, und geriethen dann in Begierden oder gar Lei¬ denschaften. Da wir mehr herangewachsen waren, was bei mir schon seit längerer Zeit bei der Schwester aber kaum seit einem Jahre der Fall war, durften wir zu seltenen Zeiten das Hoftheater besuchen. Der Va¬ ter wählte zu diesen Besuchen jene Stücke aus, von denen er glaubte, daß sie uns angemessen wären, und unser Wesen förderten. In die Oper oder gar in das Ballet durften wir nie gehen, eben so wenig durften wir ein Vorstadttheater besuchen. Wir sahen auch die Aufführung eines Schauspiels nie anders als in Ge¬ sellschaft unserer Eltern. Seit ich selbstständig gestellt war, hatte ich auch die Freiheit, nach eigener Wahl die Schauspielhäuser zu besuchen. Da ich mich aber mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigte, hatte ich nach dieser Richtung hin keinen mächtigen Zug. Aus Gewohnheit ging ich manchmal in eines von den nehmlichen Stücken, die ich schon mit den Eltern ge¬ sehen hatte. In diesem Herbste wurde es anders. Ich wählte zuweilen selber ein Stück aus, dessen Auffüh¬ rung im Hoftheater ich sehen wollte. Es lebte damals an der Hofbühne ein Künstler, von dem der Ruf sagte, daß er in der Darstellung des Königs Lear von Shakespeare das Höchste leiste, was ein Mensch in diesem Kunstzweige zu leisten im Stande sei. Die Hofbühne stand auch in dem Rufe der Musteranstalt für ganz Deutschland. Es wurde daher behauptet, daß es in deutscher Sprache auf keiner deutschen Bühne etwas gäbe, was jener Dar¬ stellung gleich käme, und ein großer Kenner von Schauspieldarstellungen sagte in seinem Buche über diese Dinge von dem Darsteller des Königs Lear auf unserer Hofbühne, daß es unmöglich wäre, daß er diese Handlung so darstellen könnte, wie er sie dar¬ stellte, wenn nicht ein Strahl jenes wunderbaren Lichtes in ihm lebte, wodurch dieses Meisterwerk er¬ schaffen, und mit unübertrefflicher Weisheit ausge¬ stattet worden ist. Ich beschloß daher, da ich diese Umstände erfah¬ ren hatte, der nächsten Vorstellung des Königs Lear auf unserer Hofbühne beizuwohnen. Eines Tages war in den Zeitungen, die täglich zu dem Frühmahle des Vaters kamen, für die Hof¬ bühne die Aufführung des König Lear angekündigt, und als Darsteller des Lear der Mann genannt, von dem ich gesprochen habe, und der jezt schon dem Grei¬ senalter entgegen geht. Die Jahreszeit war bereits in den Winter hinein vorgerückt. Ich richtete meine Ge¬ schäfte so ein, daß ich in der Abendzeit den Weg zu dem Hoftheater einschlagen konnte. Da ich gerne das Treiben der Stadt ansehen wollte, wie ich auf mei¬ nen Reisen die Dinge im Gebirge untersuchte, ging ich früher fort, um langsam den Weg zwischen der Vorstadt und der Stadt zurück zu legen. Ich hatte einen einfachen Anzug angelegt, wie ich ihn gerne auf Spaziergängen hatte, und eine Kappe genommen, die ich bei meinen Reisen trug. Es fiel ein feiner Regen nieder, obwohl es in der unteren Luft ziemlich kalt war. Der Regen war mir nicht unangenehm, sondern eher willkommen, wenn er mir auch auf meinen An¬ zug fiel, an dem nicht viel zu verderben war. Ich schritt seinem Rieseln mit Gemessenheit entgegen. Der Weg zwischen den Bäumen auf dem freien Raume vor der Stadt war durch das Eis, welches sich bildete, gleichsam mit Glas überzogen, und die Leute, welche vor und neben mir gingen, glitten häufig aus. Ich war an schwierige Wege gewöhnt, und ging auf der Mitte der Eisbahn ohne Beschwerde fort. Die Zweige der Bäume glänzten in der Nachbarschaft der brennen¬ den Laternen, sonst war es überall finstere Nacht, und der ganze Raum und die Mauern der Stadt waren in ihrer Dunkelheit verborgen. Als ich von dem Geh¬ wege in die Fahrstraße einbog, rasselten viele Wägen an mir vorüber, und die Pferde zerstampften und die Räder zerschnitten die sich bildende Eisdecke. Die mei¬ sten von ihnen, wenn auch nicht alle, fuhren in das Theater. Mir kam es beinahe sonderbar vor, daß sie und ich selber in diesem unfreundlichen Wetter einem Raume zustrebten, in welchem eine erlogene Geschichte vorgespiegelt wird. So kam ich in die erleuchtete Über¬ wölbung, in der die Wägen hielten, ich wendete mich von ihr in den Eingang, kaufte meine Karte, steckte meine Kappe in die Tasche meines Überrockes, gab diesen in das Kleiderzimmer, und trat in den hellen ebenerdigen Raum des Darstellungssaales. Ich hatte von meinem Vater die Gewohnheit an¬ genommen, nie von oben herab oder von großer Ent¬ fernung die Darstellung eines Schauspieles zu sehen, weil man die Menschen, welche die Handlung dar¬ stellen, in ihrer gewöhnlichen Stellung nicht auf die obere Fläche ihres Kopfes oder ihrer Schultern sehen soll, und weil man ihre Mienen und Geberden soll betrachten können. Ich blieb daher ungefähr am Ende des ersten Drittheiles der Länge des Raumes stehen, und wartete, bis sich der Saal füllen würde, und die Glocke zum Beginne des Stückes tönte. Sowohl die gewöhnlichen Size als auch die Lo¬ gen füllten sich sehr stark mit gepuzten Leuten, wie es Sitte war, und wahrscheinlich von dem Rufe des Stückes und des Schauspielers angezogen, strömte heute eine weit größere und gemischtere Menge, wie man bei dem ersten Blicke erkennen konnte, in diese Räume. Männer, die neben mir standen, sprachen dieses aus, und in der That war in der Versamm¬ lung manche Gestalt zu sehen, die von den entfernte¬ sten Theilen der Vorstädte gekommen sein mußte. Die meisten, da endlich gleichsam Haupt an Haupt war, blickten neugierig nach dem Vorhange der Bühne. Es war damals nicht meine Gewohnheit, und ist es jezt auch noch nicht, in überfüllten Räumen die Menge der Menschen die Kleider den Puz die Lichter die Angesichter und dergleichen zu betrachten. Ich stand also ruhig, bis die Musik begann und endete, bis sich der Vorhang hob, und das Stück den Anfang nahm. Der König trat ein, und war, wie er später von sich sagte, jeder Zoll ein König. Aber er war auch ein übereilender und bedaurungswürdiger Thor. Re¬ gan Goneril und Cordelia redeten, wie sie nach ih¬ rem Gemüthe reden mußten, auch Kent redete so, wie er nicht anders konnte. Der König empfing die Re¬ den, wie er nach seinem heftigen leichtsinnigen und doch liebenswürdigen Gemüthe ebenfalls mußte. Er verbannte die einfache Cordelia, die ihre Antwort nicht schmücken konnte, der er desto heftiger zürnte, da sie früher sein Liebling gewesen war, und gab sein Reich den beiden anderen Töchtern, Regan und Gone¬ ril, die ihm auf seine Frage, wer ihn am meisten liebe, mit übertriebenen Ausdrücken schmeichelten, und ihm dadurch, wenn er der Betrachtung fähig gewesen wäre, schon die Unächtheit ihrer Liebe darthaten, was auch die edle Cordelia mit solchem Abscheu erfüllte, daß sie auf die Frage, wie sie den Vater liebe, weni¬ ger zu antworten wußte, als sie vielleicht zu einer anderen Zeit, wo das Herz sich freiwillig öffnete, ge¬ sagt hätte. Gegen Kent, der Cordelia vertheidigen wollte, wüthete er, und verbannte ihn ebenfalls, und so sieht man bei dieser heftigen und kindischen Ge¬ müthsart des Königs üblen Dingen entgegen. Ich kannte dieses Schauspiel nicht, und war bald von dem Gange der Handlung eingenommen. Der König wohnt nun mit seinen hundert Rit¬ tern im ersten Monate bei der einen Tochter, um im zweiten dann bei der anderen zu sein, und so abwech¬ selnd fortzufahren, wie es bedungen war. Die Folgen dieser schwachen Maßregel zeigten sich auch im Lande. In dem hohen Hause Glosters empört sich ein unehe¬ licher Sohn gegen den Vater und den rechtmäßigen Bruder, und ruft unnatürliche Dinge in die Welt, da auch in des Königs Hause unnatürliche und un¬ zweckmäßige Dinge geschahen. In dem Hofhalte der Tochter und in der in diesen Hofhalt eingepflanzten zweiten Hofhaltung des Königs und seiner hundert Ritter entstehen Anstände und Widrigkeiten, und die Entgegnungen der Tochter gegen das Thun des Kö¬ nigs und seines Gefolges sind sehr begreiflich aber fast unheimlich. Beinahe herzzerreißend ist nun die treuherzige fast blöde Zuversicht des Königs, womit er die eine Tochter, die mit schnöden Worten seinen Handlungen entgegen getreten war, verläßt, um zu der anderen sanfteren zu gehen, die ihn mit noch här¬ terem Urtheile abweist. Sein Diener ist hier in den Stock geschlagen, er selber findet keine Aufnahme, weil man nicht vorbereitet ist, weil man die andere Schwester erwartet, die man aufnehmen muß, man räth dem König, zu der verlassenen Tochter zurückzu¬ kehren, und sich ihren Maßregeln zu fügen. Bei dem Könige war vorher blindes Vertrauen in die Töchter, Übereilung im Urtheile gegen Cordelia Leichtsinn in Vergebung der Würden: jezt entsteht Reue Scham Wuth und Raserei. Er will nicht zu der Tochter zu¬ rückkehren, eher geht er in den Sturm und in das Ungewitter auf die Haide hinaus, die gegen ihn wü¬ then dürfen, denen er ja nichts geschenkt hat. Er tritt in die Wüste bei Nacht Sturm und Ungewitter, der Greis gibt die weißen Haare den Winden preis, da er auf der Haide vorschreitet, von niemanden begleitet als von dem Narren, er wirft den Mantel in die Luft, und da er sich in Ausdrücken erschöpft hat, weiß er nichts mehr als die Worte: Lear! Lear! Lear! aber in diesem einzigen Worte liegt seine ganze vergangene Geschichte und liegen seine ganzen gegenwärtigen Ge¬ fühle. Er wirft sich später dem Narren an die Brust, und ruft mit Angst: Narr, Narr! ich werde rasend — ich möchte nicht rasend werden — nur nicht toll! Da er die drei lezten Worte milder sagte, gleichsam bit¬ tend, so flossen mir die Thränen über die Wangen herab, ich vergaß die Menschen herum, und glaubte die Handlung als eben geschehend. Ich stand, und sah unverwandt auf die Bühne. Der König wird nun wirklich toll, er kränzt sich in den Tagen nach jener Sturmnacht mit Blumen, schwärmt auf den Hügeln und Haiden, und hält mit Bettlern einen hohen Gerichtshof. Es ist indessen schon Botschaft an seine Tochter Cordelia gethan worden, daß Regan und Goneril den Vater schnöd behandeln. Diese war mit Heeresmacht gekommen, um ihn zu retten. Man hatte ihn auf der Haide gefunden, und er liegt nun im Zelte Cordelias, und schläft. Während der lezten Zeit ist er in sich zusammengesunken, er ist, während wir ihn so vor uns sahen, immer älter, ja gleichsam kleiner geworden. Er hatte lange geschlafen, der Arzt glaubt, daß der Zustand der Geisteszerrüttung nur in der übermannenden Heftigkeit der Gefühle gelegen war, und daß sich sein Geist durch die lange Ruhe und den erquickenden Schlaf wieder stimmen werde. Der König erwacht endlich, blickt die Frau an, hat nicht den Muth, die vor ihm stehende Cordelia als solche zu erkennen, und sagt im Mißtrauen auf seinen Geist mit Verschämtheit, er halte diese fremde Frau für sein Kind Cordelia. Da man ihn sanft von der Wahrheit seiner Vorstellung überzeugt, gleitet er ohne Worte von dem Bette herab, und bittet knieend und händefaltend sein eigenes Kind stumm um Verge¬ bung. Mein Herz war in dem Augenblicke gleichsam zermalmt, ich wußte mich vor Schmerz kaum mehr zu fassen. Das hatte ich nicht geahnt, von einem Schau¬ spiele war schon längst keine Rede mehr, das war die wirklichste Wirklichkeit vor mir. Der günstige Aus¬ gang, welchen man den Aufführungen dieses Stückes in jener Zeit gab, um die fürchterlichen Gefühle, die diese Begebenheit erregt, zu mildern, that auf mich keine Wirkung mehr, mein Herz sagte, daß das nicht möglich sei, und ich wußte beinahe nicht mehr, was vor mir und um mich vorging. Als ich mich ein we¬ nig erholt hatte, that ich fast scheu einen Blick auf meine Umgebung, gleichsam, um mich zu überzeugen, ob man mich beobachtet habe. Ich sah, daß alle An¬ gesichter auf die Bühne blickten, und daß sie in starker Erregung gleichsam auf den Schauplaz hingeheftet seien. Nur in einer ebenerdigen Loge sehr nahe bei mir saß ein Mädchen, welches nicht auf die Darstellung merkte, sie war schneebleich, und die Ihrigen waren um sie beschäftigt. Sie kam mir unbeschreiblich schön vor. Das Angesicht war von Thränen übergossen, und ich richtete meinen Blick unverwandt auf sie. Da die bei ihr Anwesenden sich um und vor sie stellten, gleichsam um sie vor der Betrachtung zu decken, empfand ich mein Unrecht, und wendete die Au¬ gen weg. Das Stück war indessen aus geworden, und um mich entstand die Unruhe, die immer mit dem Fort¬ gehen aus einem Schauspielhause verbunden ist. Ich nahm mein Taschentuch heraus, wischte mir die Stirne und die Augen ab, und richtete mich zum Fortgehen. Ich ging in das Kleiderzimmer, holte mir meinen Überrock, und zog ihn an. Als ich in den Vorsaal kam, war dort ein sehr starkes Gedränge, und da er mehrere Ausgänge hatte, wogten die Menschen viel¬ fach hin und her. Ich gab mich einem größeren Zuge hin, der langsam bei dem Hauptausgange ausmün¬ Stifter , Nachsommer. I . 20 dete. Plözlich war es mir, als ob sich meinen Blicken, die auf den Ausgang gerichtet waren, ganz nahe et¬ was zur Betrachtung aufdrängte. Ich zog sie zurück, und in der That hatte ich zwei große schöne Augen den meinigen gegenüber, und das Angesicht des Mäd¬ chens aus der ebenerdigen Loge war ganz nahe an dem meinigen. Ich blickte sie fest an, und es war mir, als ob sie mich freundlich ansähe, und mir lieblich zulächelte. Aber in dem Augenblicke war sie vorüber. Sie war mit einem Menschenstrome aus dem Logen¬ gange gekommen, dieser Strom hatte unseren Zug ge¬ kreuzt, und strebte bei einem Seitengange hinaus. Ich sah sie nur noch von rückwärts, und sah, daß sie in einen schwarzseidenen Mantel gehüllt war. Ich war endlich auch bei dem Hauptausgange hinausgekom¬ men. Dort zog ich erst meine Kappe aus der Tasche des Überrockes, sezte sie auf, und blieb noch einen Augenblick stehen, und sah den abfahrenden Wägen nach, die ihre rothen Laternenlichter in die trübe Nacht hinaustrugen. Es regnete noch viel dichter als bei meinem Hereingehen. Ich schlug den Weg nach Hause ein. Ich gelangte aus den fahrenden Wägen, ich gelangte aus dem größeren Strome der Menschen, und bog in den vereinsamteren Weg ein, der im Freien durch die Reihen der Bäume der Vorstadt zuführte. Ich schritt neben den düsteren Laternen vorbei, kam wieder in die Gassen der Vorstadt, durchging sie, und war endlich in dem Hause meiner Eltern. Es war beinahe Mitternacht geworden. Die Mutter, welche es sich bei solchen Gelegenheiten nicht nehmen läßt, besonders auf die Gesundheit der Ihri¬ gen bedacht zu sein, war noch angekleidet, und war¬ tete meiner im Speisezimmer. Die Magd, welche mir die Wohnung geöffnet hatte, sagte mir dieses, und wies mich dahin. Die Mutter hatte noch ein Abend¬ essen für mich in Bereitschaft, und wollte, daß ich es einnehme. Ich sagte ihr aber, daß ich noch zu sehr mit dem Schauspiele beschäftigt sei, und nichts essen könne. Sie wurde besorgt, und sprach von Arznei. Ich erwiederte ihr, daß ich sehr wohl sei, und daß mir gar nichts als Ruhe noth thue. „Nun, wenn dir Ruhe noth thut, so ruhe,“ sagte sie, „ich will dich nicht zwingen, ich habe es gut ge¬ meint.“ „Gut gemeint wie immer, theure Mutter,“ ant¬ wortete ich, „darum danke ich auch.“ Ich ergrif ihre Hand, und küßte sie. Wir wünsch¬ 20 * ten uns gegenseitig eine gute Nacht, nahmen Lichter, und begaben uns auf unsere Zimmer. Ich entkleidete mich, legte mich auf mein Bett, löschte die Lichter aus, und ließ mein heftiges Herz nach und nach in Ruhe kommen. Es war schon bei¬ nahe gegen Morgen, als ich einschlief. Das erste, was ich am andern Tage that, war, daß ich den Vater um die Werke Shakespeare's aus seiner Büchersammlung bath, und sie, da ich sie hatte, in meinem Zimmer zur Lesung für diesen Winter zu¬ recht legte. Ich übte mich wieder im Englischen, da¬ mit ich sie nicht in einer Übersezung lesen müsse. Als ich im vergangenen Sommer von meinem alten Gastfreunde Abschied genommen hatte, und an dem Saume seines Waldes auf der Landstraße dahin ging, waren mir zwei in einem Wagen fahrende Frauen begegnet. Damals hatte ich gedacht, daß das menschliche Angesicht der beste Gegenstand für das Zeichnen sein dürfte. Dieser Gedanke fiel mir wieder ein, und ich suchte mir Kenntnisse über das mensch¬ liche Antliz zu verschaffen. Ich ging in die kaiserliche Bildersammlung, und betrachtete dort alle schönen Mädchenköpfe, welche ich abgemalt fand. Ich ging öfter hin, und betrachtete die Köpfe. Aber auch von lebenden Mädchen, mit denen ich zusammentraf, sah ich die Angesichter an, ja ich ging an trockenen Win¬ tertagen auf öffentliche Spaziergänge, und sah die Angesichter der Mädchen an, die ich traf. Aber unter allen Köpfen sowohl den gemalten als auch den wirk¬ lichen war kein einziger, der ein Angesicht gehabt hätte, welches sich an Schönheit nur entfernt mit dem hätte vergleichen können, welches ich an dem Mäd¬ chen in der Loge gesehen hatte. Dieses Eine wußte ich, obwohl ich mir das Angesicht eigentlich gar nicht mehr vorstellen konnte, und obwohl ich es, wenn ich es wieder gesehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte es in einer Ausnahmsstellung gesehen, und im ruhi¬ gen Leben mußte es gewiß ganz anders sein. Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein le¬ sendes Kind gemalt war. Es hatte eine so ein¬ fache Miene, nichts war in derselben als die Aufmerk¬ samkeit des Lesens, man sah auch nur die eine Seite des Angesichtes, und doch war alles so hold. Ich ver¬ suchte das Angesicht zu zeichnen; allein ich vermochte durchaus nicht die einfachen Züge, von denen noch dazu das Auge nicht zu sehen war, sondern durch das Lid beschattet wurde, auch nur entfernt mit Linien wieder zu geben. Ich durfte mir das Bild herabneh¬ men, ich durfte ihm eine Stellung geben, wie ich wollte, um die Nachahmung zu versuchen; sie gelang nicht, wenn ich auch alle meine Fertigkeit, die ich im Zeichnen anderer Gegenstände bereits hatte, darauf anwendete. Der Vater sagte mir endlich, daß die Wirkung dieses Bildes vorzüglich in der Zartheit der Farbe liege, und daß es daher nicht möglich sei, die¬ selbe in schwarzen Linien nachzuahmen. Er machte mich überhaupt, da er meine Bestrebungen sah, mehr mit den Eigenschaften der Farben bekannt, und ich suchte mich auch in diesen Dingen zu unterrichten und zu üben. Sonderbar war es, daß ich nie auf den Gedanken kam, meine Schwester zu betrachten, ob ihre Züge zum Nachzeichnen geeignet wären, oder den Wunsch hegte, ihr Angesicht zu zeichnen, obgleich es in mei¬ nen Augen nach dem des Mädchens in der Loge das schönste auf der Welt war. Ich hatte nie den Muth dazu. Oft kam mir auch jezt noch der Gedanke, so schön und rein wie Klotilde könne doch nichts mehr auf der Erde sein; aber da fielen mir die Züge des weinenden Mädchens ein, das die Ihrigen zu beruhi¬ gen gestrebt hatten, und von dem ich mir einbildete, daß es mich im Vorsaale des Theaters freundlich an¬ geblickt habe, und ich mußte sie vorziehen. Ich konnte sie mir zwar nicht vorstellen; aber es schwebte mir ein unbestimmtes dunkles Bild von Schönheit vor der Seele. Die Freundinnen meiner Schwester oder an¬ dere Mädchen, mit denen ich gelegentlich zusammen kam, hatten manche liebe angenehme Eigenschaften in ihrem Angesichte, ich betrachtete sie, und dachte mir, wie dieses oder jenes zu zeichnen wäre; aber ich mochte sie ebenfalls nie ersuchen, und so kam ich nicht dazu, ein lebendes vor mir befindliches Ange¬ sicht zu zeichnen. Ich wiederholte also die Züge in der Erinnerung oder zeichnete nach Gemälden. Man machte mich endlich auch darauf aufmerksam, daß ich immer Mädchenköpfe entwerfe. Ich war beschämt, und begann später Männer Greise Frauen ja auch andere Theile des Körpers zu zeichnen, so weit ich sie in Vorlagen oder Gipsabgüssen bekommen konnte. Troz dieser Bestrebungen, welchen nach dem Grundsaze unsers Hauses kein Hinderniß in den Weg gelegt wurde, vernachläßigte ich meine Hauptbeschäf¬ tigung doch nicht. Es that mir sehr wohl, zu Hause unter meinen Sammlungen herum zu gehen, ich dachte oft an die Worte des alten Mannes in dem Rosenhause, und im Gegensaze zu den Festen, zu de¬ nen ich geladen war, oder selbst zu Spaziergängen und Geschäftsbesuchen war mir meine Wohnung wie eine holde bedeutungsvolle Einsamkeit, die mir noch lieber wurde, weil ihre Fenster auf Gärten und wenig geräuschvolle Gegenden hinausgingen. Die Heiterkeiten wurden in der Stadt immer grö¬ ßer, je näher der Winter seinem Ende zuging, und ich hatte in dieser Hinsicht und oft auch in anderer mehr Ursache und Pflicht zu dieser oder jener Familie einen Gang zu thun. Bei einer solchen Gelegenheit ereignete sich mit mir ein Vorfall, der mich nach dem Beiwohnen bei der Aufführung des Lear in jenem Winter am meisten beschäftigte. Wir waren seit Jahren mit einer Familie sehr befreundet, welche in der Hofburg wohnte. Es war die Wittwe und Tochter eines berühmten Mannes, der einmal in großem Ansehen gestanden war. Da der Vater ein bedeutendes Hofamt bekleidet hatte, wurde die Tochter nach seinem Tode auch ein Hof¬ fräulein, weßhalb sie mit der Mutter in der Burg wohnte. Von den Söhnen war einer in der Armee, der andere bei einer Gesandtschaft. Wenn das Fräu¬ lein nicht eben im Dienste war, wurde zuweilen Abends ein kleiner Kreis zur Mutter geladen, in wel¬ chem etwas vorgelesen, gesprochen, oder Musik ge¬ macht wurde. Da die Mutter etwas älter wurde, spielte man sogar zuweilen Karten. Wir waren öfter an solchen Abenden bei dieser Familie. In jenem Winter hatte ich ein Buch, welches mir von der Mutter des Hoffräuleins war geliehen worden, län¬ ger behalten, als es eigentlich die Höflichkeit erlaubte. Deßhalb ging ich eines Mittags hin, um das Buch persönlich zu überbringen, und mich zu entschuldigen. Als ich von dem äußeren Burgplaze durch das hohe Gewölbe des Gehweges in den inneren gekommen war, fuhren eben aus dem Hofe zu meiner Rechten mehrere Wägen heraus, die meinen Weg kreuzten, und mich zwangen, eine Weile stehen zu bleiben. Es standen noch mehrere Menschen neben mir, und ich fragte, was diese Wägen bedeuteten. „Es sind Glückwünsche, welche dem Kaiser nach seiner Wiedergenesung von großen Herren abgestattet worden sind, und welche er eben angenommen hatte,“ sagte ein Mann neben mir. Der lezte der Wägen war mit zwei Rappen be¬ spannt, und in ihm saß ein einzelner Mann. Er hatte den Hut neben sich liegen, und trug die weißen Haare frei in der winterlichen Luft. Der Überrock war ein wenig offen, und unter ihm waren Ordenssterne sichtbar. Als der Wagen bei mir vorüberfuhr, sah ich deutlich, daß mein alter Gastfreund, der mich in dem Rosenhause so wohlwollend aufgenommen hatte, in demselben size. Er fuhr schnell vorbei, wie es bei Wägen dieser Art Sitte ist, und schlug die Richtung nach der Stadt ein. Er fuhr bei dem Thore aus der Burg, an welchem die zwei Riesen als Simsträger angebracht sind. Ich wollte jemand von meinen Nach¬ baren fragen, wer der Mann sei; aber da von den Wägen, welche die Fußgänger aufgehalten hatten, der seinige der lezte gewesen, und der Weg sodann frei war, so waren alle Nachbaren bereits ihrer Wege ge¬ gangen, und diejenigen, welche jezt neben mir waren, hatten die Wägen nicht in der Nähe gesehen. Ich ging daher über den Hof, und stieg über die sogenannte Reichskanzleitreppe empor. Ich traf die alte Frau allein, übergab ihr das Buch, und sagte meine Entschuldigungen. Im Verlaufe des Gespräches erwähnte ich des Mannes, den ich in dem Wagen gesehen hatte, und fragte, ob sie nicht wisse, wer er sei. Sie wußte von gar nichts. „Ich habe nicht bei den Fenstern hinabgeschaut,“ sagte sie, „es geht vieles auf dem großen Hofe vor, ich achte nicht darauf. Ich habe gar nicht gewußt, daß bei dem Kaiser eine Vorfahrt gewesen ist, er war vor¬ gestern noch nicht ganz gesund. Da mein Mann noch lebte, haben wir immer die Aussicht auf den großen Plaz der Hofburg gehabt, und wie bedeutende Dinge da auch vorgehen, so wiederholen sich doch immer die nehmlichen, wenn man viele Jahre zuschaut; und endlich schaut man gar nicht mehr zu, und hat herin¬ nen ein Buch oder sein Strickzeug, wenn draußen in das Gewehr gerufen wird, oder Reiter zu hören sind, oder Wagen rollen.“ „Wer ist denn von denen, die in der Aufwartung bei dem Kaiser wegfuhren, in dem lezten Wagen ge¬ sessen, Henriette?“ fragte sie ihre eben eintretende Tochter, das Hoffräulein. „Das ist der alte Risach gewesen,“ antwortete diese, „er ist eigens hereingekommen, um sich Seiner Majestät vorzustellen, und seine Freude über dessen Wiedergenesung auszudrücken.“ Ich hatte in meiner Jugend öfter den Namen Ri¬ sach nennen gehört, allein ich hatte damals so wenig darauf geachtet, was ein Mann, dessen Namen ich hörte, thue, daß ich jezt gar nicht wußte, wer dieser Risach sei. Ich fragte daher mit jener Rücksicht, die man bei solchen Fragen immer beobachtet, und erfuhr, daß der Freiherr von Risach zwar nicht die höchsten Staatswürden bekleidet habe, daß er aber in der wich¬ tigen und schmerzlichen Zeit des nunmehr auch altern¬ den Kaisers in den belangreichsten Dingen thätig ge¬ wesen sei, daß er mit den Männern, welche die Ange¬ legenheiten Europa's leiteten, an der Schlichtung dieser Angelegenheiten gearbeitet habe, daß er von fremden Herrschern geschäzt worden sei, daß man ge¬ meint habe, er werde einmal an die Spize gelangen, daß er aber dann ausgetreten sei. Er lebe meistens auf dem Lande, komme aber öfter herein, und besuche diesen oder jenen seiner Freunde. Der Kaiser achte ihn sehr, und es dürfte noch jezt vorkommen, daß hie und da nach seinem Rathe gefragt werde. Er soll reich geheirathet, aber seine Frau wieder verloren haben. Überhaupt wisse man diese Verhältnisse nicht genau. Alles dieses hatte mir das Hoffräulein gesagt. „Siehst du, meine liebe Henriette,“ sprach die alte Frau, „wie sich die Dinge in der Welt verändern. Du weißt es noch nicht, weil du noch jung bist, und weil du nichts erfahren hast. Das Niedrige wird hoch, das Hohe wird niedrig, Eines wird so, das Andere wird anders, und ein Drittes bleibt bestehen. Dieser Risach ist sehr oft in unser Haus gekommen. Da uns der Vater noch zuweilen in dem alten Doktorwagen, den er hatte, und der dunkelgrün und schwarz angestrichen war, spazieren fahren ließ, ist er nicht einmal sondern oft auf dem Kutschbocke gesessen, oder er ist gar, wenn wir im Freien fuhren, und uns die Leute nicht sehen konnten, hinten aufgestanden wie ein Leibdiener, denn der Wagen des Vaters hat ein Dienerbret gehabt. Wir waren kaum anders als Kinder, er war ein jun¬ ger Student, der wenig Bekanntschaft hatte, dessen Herkunft man nicht wußte, und um den man auch nicht fragte. Wenn wir in dem Garten auf dem Land¬ hause waren, sprang er mit den Brüdern auf den höl¬ zernen Esel, oder sie jagten die Hunde in das Wasser, oder sezten unsere Schaukel in Bewegung. Er brachte deinen Vater zu meinen Brüdern als Kameraden in das Haus. Man wußte damals kaum, wer schöner gewesen sei, Risach oder dein Vater. Aber nach einer Zeit wurde Risach weniger gesehen, ich weiß nicht warum, es vergingen manche Jahre, und ich trat mit deinem Vater in den heiligen Stand der Ehe. Die Brüder waren als Staatsdiener zerstreut, die Eltern waren endlich todt, von Risach wurde oft gesprochen, aber wir kamen wenig zusammen. Der Vater begann seine Thätigkeit hauptsächlich erst dann, als Risach schon ausgetreten war. Da size ich jezt nun wieder, aber in einem anderen Theile der Burg, dein Vater hat die Erde verlassen müssen, du bist nicht einmal mehr ein Kind, dienst deiner hohen gütigen Herrin, und da von Risach die Rede war, meinte ich, es seien kaum einige Jahre vergangen, seit er die Schaukel in unserem Garten bewegt hat.“ Ich fragte, ob nicht Risach eine Besizung im Oberlande habe. Man sagte mir, daß er dort eine habe. Ich wollte nicht weiter fragen, um nicht die ganze Darlegung meiner Einkehr in diesem Sommer machen zu müssen. Als ich aber nach Hause gekommen war, erzählte ich die heutige Begegnung meinen Angehörigen bei dem Mittagsessen. Der Vater kannte den Freiherrn von Risach sehr gut. Er war in früherer Zeit mehrere Male mit ihm zusammengekommen, hatte ihn aber jezt schon lange nicht gesehen. Als Anhaltspunkte, daß mein Beherberger in dem Rosenhause der Freiherr von Risach gewesen sei, dienten, daß ich ihn, wenn mich nicht in der Schnelligkeit des Fahrens eine Ähnlich¬ keit getäuscht hat, selber gesehen habe, daß er im Oberlande eine Besizung hat, daß er wohlhabend sei, was mein Beherberger sein müsse, und daß er hohe Geistesgaben besize, die mein Beherberger auch zu haben scheine. Man beschloß, in dieser Sache nicht weiter zu forschen, da mein Beherberger mir seinen Namen nicht freiwillig genannt habe, und die Dinge so zu belassen, wie sie seien. Außer diesen zwei Begebenheiten, die wenigstens für mich von Bedeutung waren, ereignete sich nichts in jenem Winter, was meine Aufmerksamkeit beson¬ ders in Anspruch genommen hätte. Ich war viel be¬ schäftigt, mußte oft Stunden der Nacht zu Hilfe neh¬ men, und so ging mir der Winter weit schneller vor¬ über, als es in früheren Jahren der Fall gewesen war. Im Allgemeinen aber befriedigten mich beson¬ ders die Hilfsmittel, die eine große Stadt zur Aus¬ bildung gibt, und die man sonst nicht leicht findet. Als die Täge schon länger wurden, als die eigent¬ liche Stadtlust schon aufgehört hatte, und die stil¬ len Wochen der Fastenzeit liefen, fragte ich eines Ta¬ ges Preborn, weßhalb er mir denn die Gräfin Tarona nicht gezeigt habe, die er so liebe, die so schön sein soll, und zu deren Gewinnung er meinen Beistand angerufen habe. „Erstens ist sie keine Gräfin,“ antwortete er mir, „ich weiß nicht genau ihren Stand, ihr Vater ist todt, und sie lebt in der Gesellschaft einer reichen Mutter; aber das weiß ich, daß sie nicht von Adel ist, was mir sehr zusagt, da ich es auch nicht bin — und zwei¬ tens ist sie und ihre Mutter in diesem Winter nicht in die Stadt gekommen. Das ist die Ursache, daß ich sie dir nicht zeigen konnte, und daß du Gelegenheit fandest, einen Spott gegen mich zu richten. Du mußt sie aber vorerst sehen. Alle, denen heuer Schönheiten gesagt worden sind, alle, die man gerühmt hat, alle, die geblendet haben, sind nichts, ja sie sind noch we¬ niger als nichts gegen sie.“ Ich antwortete ihm, daß ich nicht spotten, sondern die Sache einfach habe sagen wollen. Wie sich der Frühling immer mehr näherte, rüstete ich mich zu meiner Reise. Ich wollte heuer früher reisen, weil ich mir vorgenommen hatte, ehe ich in die Berge ginge, einen Besuch in dem Rosenhause zu ma¬ chen. Mit jedem Jahre wurden meine Zurüstungen weitläufiger, weil ich in jedem Jahre mehr Erfahrun¬ gen hatte, und meine Entwürfe weiter hinaus gingen. Heuer hatte ich auch beschlossen, umfassendere Zeich¬ nungswerkzeuge und sogar Farben mitzunehmen. Wie es mit jeder Gewohnheit ist, war es auch bei mir. Wenn ich mich in jedem Herbste nach der Häuslichkeit zurück sehnte, war es mir in jedem Frühlinge wie einem Zugvogel, der in jene Gegenden zurückkehren muß, die er in dem Herbste verlassen hatte. Als sich im März in der Stadt schon recht liebliche Täge einstellten, welche die Menschen in das Freie und auf die Wälle lockten, war ich mit meinen Vor¬ bereitungen fertig, und nachdem ich von den Meini¬ gen den gewöhnlichen herzlichen Abschied genommen hatte, reisete ich eines Morgens ab. Mir war damals sowie jezt noch jedes Fortfahren von den Angehörigen in der Nacht sowie das Antre¬ ten irgend einer Reise in der Nacht sehr zuwider. Die Post ging aber damals in das Oberland erst Abends ab, darum fuhr ich lieber in einem Miethwagen. Die Landhäuser außer der Stadt, welche reichen Bewoh¬ nern derselben gehörten, waren noch im Winterschlafe. Sie waren theilweise in ihren Umhüllungen mit Stroh oder mit Brettern befangen, was einen großen Gegensaz zu dem heiteren Himmel und zu den Lerchen machte, welche schon überall sangen. Ich fuhr nur Stifter , Nachsommer, I . 21 durch die Ebene. Da ich in den Bereich der Hügel gelangte, verließ ich den Wagen, und sezte meinen Weg nach meiner gewöhnlichen Art in kurzen Fu߬ reisen fort. Ich betrachtete wieder überall die Bauwerke, wo sie mir als betrachtenswerth aufstießen. Ich habe ein¬ mal irgendwo gelesen, daß der Mensch leichter und klarer zur Kenntniß und zur Liebe der Gegenstände gelangt, wenn er Zeichnungen und Gemälde von ihnen sieht, als wenn er sie selber betrachtet, weil ihm die Beschränktheit der Zeichnung alles kleiner und vereinzelter zusammen faßt, was er in der Wirklichkeit groß und mit Genossen vereint erblickt. Bei mir schien sich dieser Ausspruch zu bestätigen. Seit ich die Bauzeichnungen in dem Rosenhause gesehen hatte, faßte ich Bauwerke leichter auf, beurtheilte sie leich¬ ter, und ich begrif nicht, warum ich früher auf sie nicht so aufmerksam gewesen war. Im Oberlande war es noch viel rauher, als ich es in der Stadt verlassen hatte. Als ich eines Mor¬ gens an der Ecke des Buchenwaldes meines Gast¬ freundes ankam, in welchem der Alizbach in die Agger fällt, war noch manches Wässerchen mit einer Eis¬ rinde bedeckt. Da ich das Rosenhaus erblickte, machte es einen ganz anderen Eindruck als damals, da ich es als weiße Stelle in dem gesättigten und dunkeln Grün der Felder und Bäume unter einem schwülen und heißen Himmel gesehen hatte. Die Felder hat¬ ten noch mit Ausnahme der grünen Streifen der Wintersaat die braunen Schollen der nackten Erde, die Bäume hatten noch kein Knöspchen, und das Weiß des Hauses sah zu mir herüber, als sähe ich es auf einem schwach veilchenblauen Grunde. Ich ging auf der Straße in der Nähe von Rohr¬ berg vorüber, und kam endlich zu der Stelle, wo der Feldweg von ihr über den Hügel zu dem Rosenhause hinaufführt. Ich ging zwischen den Zäunen und nack¬ ten Hecken dahin, ich ging auf der Höhe zwischen den Feldern, und stand dann vor dem Gitter des Hauses. Wie anders war es jezt. Die Bäume ragten mit dem schwarzen oder braunlichen Gezweige nackt in die dun¬ kelblaue Luft. Das einzige Grün waren die Garten¬ gitter. Über die Rosenbäumchen an dem Hause war eine schöngearbeitete Decke von Stroh herabgelassen. Ich zog den Glockengriff, ein Mann erschien, der mich kannte und einließ, und ich wurde zu dem Herrn ge¬ führt, der sich eben in dem Garten befand. Ich traf ihn in einer Kleidung wie im Sommer, 21 * nur daß sie von wärmerem Stoffe gemacht war. Die weißen Haare hatte er wieder wie gewöhnlich un¬ bedeckt. Er schien mir wieder so sehr ein Ganzes mit sei¬ ner Umgebung, wie er es mir im vorigen Sommer geschienen hatte. Man war damit beschäftigt, die Stämme der Obstbäume mit Wasser und Seife zu reinigen. Auch sah ich, wie hie und da Arbeiter auf Leitern neben den Bäumen waren, um die abgestorbenen und über¬ flüssigen Äste abzuschneiden. Als ich im vorigen Sommer fort gegangen war, hatte mein Gastfreund gesagt, daß ich meine Wiederkunft vorher durch eine Botschaft anzeigen möge, damit ich ihn zu Hause treffe. Er hatte aber wahrscheinlich nicht bedacht, daß dieses Schwierigkeiten habe, indem ich in der Regel selber nicht wissen kann, wie sich durch Witterungs¬ verhältnisse oder andere Umstände meine Vorhaben zu ändern gezwungen sein dürften. Ich habe ihm also eine Botschaft nicht geschickt, und ihn auf meine Gefahr hin überrascht. Er aber nahm mich so freund¬ lich auf, da er mich auf sich zuschreiten sah, wie er mich bei dem vorigjährigen Aufenthalte in seinem Hause freundlich behandelt hat. Ich sagte, er möge es sich selber zuschreiben, daß ich ihn schon so früh im Jahre in seinem Hause über¬ falle; er habe mich so wohlwollend eingeladen, und ich habe mir es nicht versagen können, hieher zu kom¬ men, ehe die Thäler und die Fußwege in dem Gebirge so frei wären, daß ich meine Beschäftigungen in ihnen anfangen könnte. „Wir haben eine ganze Reihe von Gastzimmern, wie ihr wißt,“ sagte er, „wir sehen Gäste sehr gerne, und ihr seid gewiß kein unlieber unter ihnen, wie ich euch schon im vergangenen Sommer gesagt habe.“ Er wollte mich in das Haus geleiten, ich sagte aber, daß ich heute erst drei Stunden gegangen sei, daß meine Kräfte sich noch in sehr gutem Zustande befänden, und daß er erlauben möge, daß ich hier bei ihm in dem Garten bleibe. Ich bitte ihn nur um das Einzige, daß er mein Ränzlein und meinen Stock in mein Zimmer tragen lasse. Er nahm das silberne Glöcklein, das er bei sich trug, aus der Tasche und läutete. Der Klang war selbst im Freien sehr durchdringend, und es erschien auf ihn eine Magd aus dem Hause, welcher er auf¬ trug, mein Ränzlein, das ich mittlerweile abgenom¬ men hatte, und meinen Stock, den ich ihr darreichte, in mein Zimmer zu tragen. Er gab ihr noch ferner einige Weisungen, was in dem Zimmer zu geschehen habe. Ich fragte nach Gustav, ich fragte nach dem Zeich¬ ner in dem Schreinerhause, und ich fragte sogar nach dem weißen alten Gärtner und seiner Frau. Gustav sei gesund, erhielt ich zur Antwort, er vervollkommne sich an Geist und Körper. Er sei eben in seiner Ar¬ beitsstube beschäftigt, er werde sich gewiß sehr freuen, mich zu sehen. Der Zeichner lebe fort wie früher und sei sehr eifrig, und was die Gärtnerleute anbelange, so verändern sich diese schon seit mehreren Jahren gar nicht mehr und seien heuer, wie ich sie im vorigen Sommer gesehen habe. Ich fragte endlich auch noch nach dem Gesinde den Gartenarbeitern und den Meierhofleuten. Sie seien alle ganz wohl, wurde ge¬ antwortet, es sei seit meinem vorjährigen Besuche kein Krankheitsfall vorgekommen, und es habe auch kei¬ nes der Leute eine gründliche Ursache zur Unzufrie¬ denheit gegeben. Nach mehreren gleichgültigen Gesprächen nament¬ lich über die Beschaffenheit der Wege, auf denen ich hieher gekommen war, und über das Vorrücken der Wintersaaten auf den Feldern wendete er sich wieder mehr der Arbeit, die vor ihm geschah, zu, und auch ich richtete meine Aufmerksamkeit auf dieselbe. Ich hatte mir einmal, da er mir erzählte, daß er die Baum¬ stämme waschen lasse, die Sache sehr umständlich ge¬ dacht. Ich sah aber jezt, daß sie mittelst Doppellei¬ tern und Brettern sehr einfach vor sich gehe. Mit den langstieligen Bürsten konnte man in die höchsten Zweige emporfahren, und da die Leute von der Zweck¬ mäßigkeit der Maßregel fest überzeugt waren und em¬ sig arbeiteten, so schritt das Werk mit einer von mir nicht geahnten Schnelligkeit vor. In der That, wenn man einen gewaschenen und gebürsteten Stamm an¬ sah, wie er rein und glatt in der Luft stand, während sein Nachbar noch rauh und schmuzig war, so meinte man, daß dem einen sehr wohl sein müsse, und daß der andere verdrossen aussehe. Mir fiel die stolze Äußerung ein, die mein Gastfreund im vergangenen Sommer zu mir gethan hatte, daß ich nur den Stamm jenes Kirschbaumes ansehen solle, ob seine Rinde nicht aussähe wie feine graue Seide. Sie war wirk¬ lich wie Seide, und mußte es gerade immer mehr werden, da sie in jedem Jahre aufs Neue gepflegt wurde. Als wir nach einer Weile weiter in den Garten zurückgingen, sah ich auch noch andere Arbeiten. Die Hecken wurden gebunden und geordnet, das Dornen¬ reisig zu den Nestern der Vögel unter ihnen hergerich¬ tet, die Wege von den Schäden des Winters ausge¬ bessert, unter den Zwergbäumen, die schon beschnitten waren, die Erde gelockert, und bei den schwächeren, welche Stäbe hatten, nachgesehen, ob diese festhielten und nicht etwa in der Erde abgefault wären. Es wur¬ den losgegangene Bänder wieder geknüpft, im Ge¬ müsegarten umgegraben, Fenster an Winterbeeten gelüftet oder zugedeckt, die Pumpen ausgebessert, mancher Nagel eingeschlagen, und endlich hie und da ein Behältniß für die Vögel gereinigt und befestigt. Ich verabschiedete mich von meinem Gastfreunde, da er sehr mit der Leitung der Arbeiten beschäftigt war, und ging allein in dem Garten herum, in Thei¬ len, in die ich wollte. Die Vögel waren schon zahl¬ reich da, sie schlüpften durch die laublosen Zweige der Bäume, und es begann schon hie und da ein Laut oder ein Zwitschern. Besonders lieblich und hell schallte der Gesang der aufsteigenden Lerchen von den den Garten umgebenden Feldern herein. Die Vor¬ richtungen zur Ernährung und Tränkung der Vögel waren wegen der Blattlosigkeit der Bäume und Ge¬ sträuche mehr sichtbar, auch schaute ich mehr nach ihnen aus als bei meiner ersten Ankunft, da ich jezt bereits von ihnen wußte. Ich sah mehrere zum Auf¬ stecken von Kernen dienende Gitter, von denen mir mein Gastfreund erzählt hatte. Ich betrachtete auch die Zweige. Die Knospen der Blätter und der Blüthen waren schon sehr ge¬ schwollen, und harrten der Zeit, in welcher sie auf¬ brechen würden. Ich stieg bis zu dem großen Kirschbaume empor, und sah über den Garten über das Haus und auf die Berge. Eine ganz heitere dunkelblaue Luft war über alles ausgegossen. Dieser schöne Tag, deren es in der frühen Jahreszeit noch ziemlich wenige gibt, war es auch, der meinen Gastfreund bewog, so viele Ar¬ beiten in dem Garten zu veranlassen. Unter der hei¬ teren Luft lag die Erde noch in bedeutender Öde. Ich wollte auch zu der Felderrast hinüber gehen; al¬ lein der Weg, der am Morgen gefroren gewesen sein mochte, war jezt weich und tief durchfeuchtet, daß das Gehen auf ihm sehr unangenehm und verunreinigend gewesen wäre. Ich sah die dunkeln Wintersaaten und die nackten Schollen der neben ihnen liegenden Felder eine Weile an, und ging dann wieder hinab. Ich ging zu den Gärtnerleuten. Mir kam es nicht vor, wie mein Gastfreund gesagt hatte, daß sie sich nicht verändert hätten. Der Mann schien mir noch weißer geworden zu sein. Seine Haare unterschieden sich nicht mehr von der Leinwand. Die Frau aber war unverändert. Sie mußte von einer sehr reinlich¬ keitliebenden Familie stammen, weil sie das Häuschen so nett hielt, und den alten Mann so fleckenlos und knapp heraus kleidete. Er machte mir ganz genau wieder den nehmlichen Eindruck wie im vergangenen Jahre, als ob er einer ganz anderen Beschäftigung angehörte. Da ich von dem Gewächshause gegen die Füt¬ terungstenne ging, begegnete mir Gustav. Er lief mit einem Rufe auf mich zu, und grüßte mich. Der Knabe hatte sich in kurzer Zeit sehr geändert. Er stand sehr schön neben mir da, und gegen die rauhe Art der Natur, die noch kein Laub kein Gras keinen Stengel keine Blume getrieben hatte, sondern der Jahreszeit gemäß nur die braunen Schollen die braunen Stämme und die nackten Zweige zeigte, war er noch schöner, wie ich oft beim Zeichnen bemerkt hatte, daß zum Beispiele Augen der Thiere in strup¬ pigen Köpfen noch glänzender erschienen, und daß feine Kinderangesichtchen, wenn sie von Pelzwerk um¬ geben sind, noch feiner aussehen. Ein sanftes Roth war auf seinen Wangen braune Haarfülle um die Stirne, und die großen schwarzen Augen waren wie bei einem Mädchen. Es war, obwohl er sehr heiter war, fast etwas Trauerndes in ihnen. Wir gingen dem Plaze zu, auf welchem sein Zieh¬ vater beschäftigt war. Ich erzählte ihm auf dem Wege von meinen Angehörigen; von meiner Mutter von meinem Vater und von meiner lieblichen Schwester. Auch erzählte ich ihm von der Stadt, wie man dort lebe, was sie für Vergnügungen biethe, was sie für Unannehmlichkeiten habe, und wie ich in ihr meine Zeit hinbringe. Er sagte mir, daß er jezt schon in die Naturlehre eingerückt sei, daß ihm der Vater Versuche zeige, und daß ihn die Sache sehr freue. Wir blieben eine Weile bei dem Ziehvater. Gu¬ stav zeigte mir allerlei, und machte mich bald auf diese bald auf jene Veränderung aufmerksam, welche sich seit meiner früheren Anwesenheit ergeben habe. Der Mittag vereinigte uns in dem Hause. Da ich so, da die Speisen erschienen, meinem alten Gastfreunde gegenüber saß, fiel mir plözlich auf, was der Mann für schöne Zähne habe. Sehr dicht weiß klein und mit einem feinen Schmelze über¬ zogen saßen sie in dem Munde, und kein einziger fehlte. Seine Wangen hatten durch den vielen Auf¬ enthalt in der freien Luft ein gutes und gesundes Roth, nur seine Haare schienen mir wie bei dem Gärtner noch weißer geworden zu sein. Nach dem Essen begab ich mich ein wenig in mein Zimmer. Es war sehr freundlich hergerichtet worden, und in dem Ofen brannte ein erwärmendes Feuer. Nachmittags gingen wir in das Schreinerhaus Eustach begrüßte mich aus seiner Stelle tretend sehr heiter, und ich erwiederte seinen Gruß auf das Herz¬ lichste. Auch die andern Arbeiter gaben zu erkennen, daß sie mich noch kannten. Ich besah zuerst die Dinge nur flüchtig und im Allgemeinen. Der schöne Tisch war sehr weit vorgerückt; aber er war noch lange nicht fertig. Es waren wieder ein paar neue Erwerbungen gemacht worden. Man zeigte sie mir, und machte mich darauf aufmerksam, was aus ihnen werden könne. Auch Plane zu selbstständigen Arbeiten waren wieder gemacht worden, und man legte mir in Kur¬ zem die Grundansichten auseinander. Ich bat Eustach, daß er erlaube, daß ich ihn während meiner An¬ wesenheit ein paar Male besuche. Er gestand es sehr gerne zu. Nach diesem Besuche machten wir troz der sehr schlechten Wege einen weiten Spaziergang. Da ich davon sprach, daß ich schon die Vögel in dem Garten bemerkt habe, sagte mein Gastfreund: „Wenn ihr länger bei uns wäret, so würdet ihr jezt eine ganze Lebensgeschichte dieser Thiere erfahren. Die Zurück¬ gebliebenen fangen schon an, sich zu erheitern, die fortgezogen sind, treffen bereits allmählich ein, und werden mit Geschrei empfangen. Sie drängen sich sehr an die Tafel, und sputen sich, bis die in der Fremde erfahrnen Nahrungssorgen verwunden sind; denn dort werden sie schwerlich einen Brodvater fin¬ den, der ihnen gibt. Von da an werden sie immer inniger, und singen täglich schöner. Dann wird ein Gekose in den Zweigen, und sie jagen sich. Hieran schließt sich die Häuslichkeit. Sie sorgen für die Zu¬ kunft, und schleppen sich mit närrischen Lappen zu dem Nesterbau. Ich lasse ihnen dann allerlei Fäden zupfen, sie nehmen sie aber nicht immer, sondern ich sehe manchmal einen, wie er an einem kothigen Halme zerrt. Nun kömmt die Zeit der Arbeit wie bei uns in den Männerjahren. Da werden die leichtsinnigen Vögel ernsthaft, sie sind rastlos beschäftigt, ihre Nach¬ kommen zu füttern, sie zu erziehen und zu unterrichten, daß sie zu etwas Tüchtigem tauglich werden, nament¬ lich zu der großen bevorstehenden Reise. Gegen den Herbst kömmt wieder eine freiere Zeit. Da haben sie gleichsam einen Nachsommer, und spielen eine Weile, ehe sie fort gehen.“ Als wir von dem Spaziergange zurückgekehrt wa¬ ren, und es Abend wurde, versammelten wir uns an dem Kamine des Speisezimmers, in welchem ein lustiges Feuer brannte. Auch Eustach wurde herüber geholt, und der weiße Gärtner mußte kommen und sagen, welche Fortschritte die Pflanzen in den Win¬ terbeeten und in den Gewächshäusern gemacht hat¬ ten. Die Haushälterin Katharina sezte hie und da ein warmes Getränke auf ein Tischchen. Am andern Tage Morgens ging ich zu meinem Gastfreunde in das Fütterungszimmer, um zuzusehen. Er suchte sich alle Gattungen Nahrung aus den Fä¬ chern zurecht, öffnete dann die Fenster, und that das Futter auf die Brettchen. Er blieb an dem Fenster stehen, und ich bei ihm. Trozdem kamen die Vögel in Bögen oder geraden Linien herbei geflogen. Ihn fürchteten sie nicht, weil sie ihn als den Nährvater kannten, und mich nicht, weil ich bei ihm stand. Sie drängten sich, pickten, zwitscherten, und balgten sich sogar mitunter. „Ich gebe im späteren Frühlinge und Sommer den Weibchen sehr gerne noch eine leckere Draufgabe,“ sagte er, „weil manches Mal eine bedrängte Mutter unter ihnen sein kann. Die so hastig und zugleich so erschreckt fressen, sind Fremde. Sie würden um kei¬ nen Preis zu einem Menschen herzu gehen, wenn sie nicht der bitterste Hunger nöthigte. Ich habe in har¬ ten Wintern schon die seltensten Vögel auf diesen Brettern gesehen.“ Als alles vorüber war und sich keine Gäste mehr einfanden, schloß er die Fenster. Ich stieg von da auf den Dachboden des Hauses empor, weil er gesagt hatte, daß jezt auch den Hasen außerhalb des Gartens Futter gestreut würde, und daß man sie von da sehen könnte. Sie haben noch nichts als die karge Wintersaat und Nadelreiser, we߬ halb man noch nachhelfen müsse. Da die Magd die Blätter ausgestreut und sich entfernt hatte, kamen schon Hasen herzu. Ich schraubte ein Fernrohr an einen Balken, und es war lächerlich anzusehen, worauf mich Gustav aufmerksam machte, wenn ein riesiger Hase in dem Fernrohre saß, mit schreckhaften Augen auf das verdächtige Mahl sah, und schnell die Lippen bewegte, als fräße er schon. Da ich auch dies gesehen hatte, stieg ich wieder herunter, und ging mit Gustav in das Zimmer, in welchem die Geräthe zur Naturlehre standen. Es sollte nun erst das Frühmahl eingenommen werden. Dasselbe wurde zur Winterszeit immer in dem Zimmer der naturwissenschaftlichen Geräthschaf¬ ten genommen, weil man, da man einen Theil des Vormittages in seinen Zimmern zubrachte, nicht eigens dazu in das Speisezimmer hinabsteigen wollte, und weil in derselben Zeit in den andern Wohngemächern des alten Mannes im Arbeitszimmer und Schlaf¬ zimmer eben aufgeräumt und gelüftet wurde. Mein Gastfreund erwartete mich und Gustav schon; denn er war nicht mit uns auf den Dachboden hinauf gestiegen. Das Gemach war sanft erwärmt, und in der Nähe des Ofens stand ein Tisch, der ge¬ deckt und mit allen Geräthen versehen war, ein ange¬ nehmes Frühmahl zu bereiten. Er stand auf einem freien Raume, um den herum sich die Werkzeuge der Wissenschaft befanden. Da wir nach dem Frühmahle nun so saßen, da eine anmuthige Wärme das Zimmer erfüllte, da von dem Wiederscheine der ganz schief die Fenster treffen¬ den Morgensonne das Messing das Glas und das Holz der verschiedenartigen Werkzeuge erglänzte, sagte ich zu meinem alten Gastfreunde: „Es ist seltsam, da ich von eurer Besizung in die Stadt und ihre Bestre¬ bungen kam, lag mir euer Wesen hier wie ein Mär¬ chen in der Erinnerung, und nun, da ich hier bin und das Ruhige vor mir sehe, ist mir dieses Wesen wieder wirklich und das Stadtleben ein Märchen. Großes ist mir klein, Kleines ist mir groß.“ „Es gehört wohl beides und alles zu dem Gan¬ zen, daß sich das Leben erfülle und beglücke,“ antwor¬ tete er. „Weil die Menschen nur ein Einziges wollen und preisen, weil sie, um sich zu sättigen, sich in das Einseitige stürzen, machen sie sich unglücklich. Wenn wir nur in uns selber in Ordnung wären, dann wür¬ den wir viel mehr Freude an den Dingen dieser Erde haben. Aber wenn ein Übermaß von Wünschen und Begehrungen in uns ist, so hören wir nur diese im¬ mer an, und vermögen nicht die Unschuld der Dinge außer uns zu fassen. Leider heißen wir sie wichtig, wenn sie Gegenstände unserer Leidenschaften sind, und Stifter , Nachsommer. I . 22 unwichtig, wenn sie zu diesen in keinen Beziehungen stehen, während es doch oft umgekehrt sein kann.“ Ich verstand dieses Wort damals noch nicht so ganz genau, ich war noch zu jung, und hörte selber oft nur mein eigenes Innere reden, nicht die Dinge um mich. Gegen Mittag kam derjenige meiner Koffer, den ich in das Rosenhaus bestellt hatte. Ich packte ihn aus, und zeigte Gustav, der mich besuchte, manche Bücher Zeichnungen und andere Dinge, die er ent¬ hielt, und richtete mich in meinem Zimmer häuslich ein. So gingen nun mehrere Tage dahin. In diesem Hause war jeder unabhängig, und konnte seinem Ziele zustreben. Nur durch die gemein¬ same Hausordnung war man gewissermaßen zu einem Bande verbunden. Selbst Gustav erschien völlig frei. Das Gesez, welches seine Arbeiten regelte, war nur einmal gegeben, es war sehr einfach, der Jüngling hatte es zu dem seinigen gemacht, er hatte es dazu machen müssen, weil er verständig war, und so lebte er darnach. Gustav bath mich sehr, ich möchte einmal seinem Unterrichte in der Naturlehre beiwohnen. Ich sagte es meinem Gastfreunde, und dieler hatte nichts da¬ wider. So war ich dann nicht einmal sondern meh¬ rere Male bei diesem Unterrichte zugegen. Mein alter Gastfreund saß in einem Lehnsessel und erzählte. Er beschrieb eine Erscheinung, er machte die Erscheinung recht deutlich, zeigte sie, wenn es möglich war, mit den Vorrichtungen seiner Sammlung, oder wo dies nicht möglich war, suchte er sie durch Zeichnung oder Versinnbildlichung darzustellen. Dann erzählte er, auf welchem Wege die Menschen zur Kenntniß dieser Erscheinung gekommen waren. Wenn er dieses voll¬ endet hatte, that er das Gleiche mit einer zweiten ver¬ wandten Erscheinung. Und wenn er nun einen Kreis von zusammengehörigen Erscheinungen, der ihm hin¬ länglich schien, ausgeführt hatte, dann hob er das¬ jenige, was allen Erscheinungen gleichartig ist, her¬ vor, und stellte die Grunderscheinung oder das Gesez dar. Bei diesem Unterrichte wurde nicht ein gewisses Buch zu Grunde gelegt, sondern Gustav schrieb später das, was ihm erzählt worden war, aus dem Gedächt¬ nisse auf, der alte Mann besserte es dann in seiner Gegenwart aus, und so erhielt der Knabe nicht nur ein Handbuch der Naturwissenschaft, sondern lernte den Stoff selber schon durch das Aufschreiben und Ausbes¬ 22 * sern. Was sich Gustav angeeignet hatte, wurde zu Zei¬ ten gleichsam in freundlichen Gesprächen durchgenom¬ men. Die Sprache des Unterrichtes war stets so ein¬ fach und klar, daß ich meinte, ein Kind müsse diese Dinge verstehen können. Mir fiel es jezt erst recht auf, wie ungehörig manche Lehrer in der Stadt in dieser Wissenschaft verfahren, welche sie gewisserma¬ ßen in eine wissenschaftliche Necksprache kleiden, die ein Schüler nicht versteht, und mit welcher sie die Ma¬ thematik so in Eins verflechten, daß beide beides nicht sind, und ein Ganzes auch nicht darstellen. Ich sah, daß Gustav auch die Rechnung auf die Naturlehre anwandte, aber wo er es that, erkannte ich, daß er es stets mit Sachkenntniß und Klarheit that, und daß er immer die Rechnung nicht als Hauptsache sondern hier als Dienerin der Natur betrachtete. Ich urtheilte aus meinen eigenen früheren Arbeiten, daß er auch in diesem Fache einen gründlichen Unterricht erhalten haben mußte. Ich fragte ihn einmal darnach, und erfuhr, daß auch hierin sein Ziehvater sein Lehrer ge¬ wesen sei. Ich besuchte später auch den Unterricht in der Län¬ derkunde. Hier fiel mir auf, daß gezeichnete Karten gebraucht wurden, welche alle den nehmlichen Ma߬ stab hatten, so daß Rußland in einer außerordentlich großen, die Schweiz in einer sehr kleinen Karte dar¬ gestellt war. Mir leuchtete der Zweck dieser Maßregel ein, damit nehmlich bei der lebhaften jugendlichen Einbildungskraft ein Bild der Größenverhältnisse dauernd eingeprägt werde. Ich erinnerte mich bei die¬ ser Gelegenheit einer Wette, die wir Kinder um eine Kleinigkeit über die Frage abgeschlossen hatten, ob Philadelphia nicht beinahe so südlich wie Rom liege, was die meisten mit Lachen verneinten. Eine herbei¬ gebrachte Karte zeigte, daß es südlicher als Neapel liege. Allgemein sagten damals auch die großen Leute, die zugegen waren, daß bei Kindern dieser Irrthum durch die Raumverhältnisse, in denen unsere gewöhn¬ lichen Karten gezeichnet seien, veranlaßt werden mußte. Die Karten, welche Gustav gebrauchte, wa¬ ren von dem Zeichner im Schreinerhause nach Karten unserer sogenannten Atlasse verfertiget worden. Ich fragte meinen Gastfreund, ob Gustav auch Geschichte lerne, worauf er erwiederte: „Man nimmt sehr häufig mit jungen Schülern gleich zur Erdbe¬ schreibung auch Geschichte vor; ich glaube aber, daß man hierin Unrecht thut. Wenn man in der Erdbe¬ schreibung nicht blos die geschichtliche Eintheilung der Erde und Länder vor Augen hat, was ich auch für einen Fehler halte, sondern wenn man auf die bleibenden Gestaltungen der Erde sieht, auf denen sich eben durch ihren Einfluß verschiedenartige Völker gebildet haben, so ist die Erde ein Naturgegenstand, und Erdbeschreibung zum großen Theile ein Bestand¬ theil der Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaften sind uns aber viel greifbarer als die Wissenschaften der Menschen, wenn ich ja Natur und Menschen ge¬ genüber stellen soll, weil man die Gegenstände der Natur außer sich hinstellen und betrachten kann, die Gegenstände der Menschheit aber uns durch uns sel¬ ber verhüllt sind. Man sollte meinen, daß das Ge¬ gentheil statthaben solle, daß man sich selber besser als Fremdes kennen solle, viele glauben es auch; aber es ist nicht so. Thatsachen der Menschheit ja That¬ sachen unseres eigenen Innern werden uns, wie ich schon einmal gesagt habe, durch Leidenschaft und Eigensucht verborgen gehalten oder mindestens ge¬ trübt. Glaubt nicht der größte Theil, daß der Mensch die Krone der Schöpfung, daß er besser als alles, selbst das Unerforschte sei? Und meinen die, welche aus ihrem Ich nicht heraus zu schreiten vermögen, nicht, daß das All nur der Schauplaz dieses Ichs sei, selbst die unzähligen Welten des ewigen Raumes dazu gerechnet? Und dennoch dürfte es ganz anders sein. Ich glaube daher, daß Gustav erst nach Erler¬ nung der Naturwissenschaften zu den Wissenschaften des Menschen übergehen soll, und daß er da unge¬ fähr die Reihe beobachten soll: Körperlehre Seelen¬ lehre Denklehre Sittenlehre Rechtslehre Geschichte. Hierauf mag er etwas von den Büchern der soge¬ nannten Weltweisheit lesen, dann aber muß er in das Leben selber hinaus kommen.“ Zum Unterrichte für Gustav waren gewisse Stun¬ den festgesezt, welche der alte Mann nie versäumte, andere Stunden waren für die Selbstarbeit bestimmt, welche Gustav wieder gewissenhaft hielt. Die übrige Zeit war zu freier Beschäftigung überlassen. In solchen Zeiten waren wir manches Mal in dem Lesezimmer. Mein Gastfreund kam auch öfter und gelegentlich auch Eustach oder der eine und der an¬ dere Arbeiter. Für Gustav waren nach der Wahl sei¬ nes Lehrers die Bücher, die er lesen durfte, bestimmt. Er benuzte sie fleißig, ich sah aber nie, daß er nach einem anderen langte. Eustach und die anderen Leute hatten freie Auswahl und natürlich ich auch. Da ich das erste Mal in diesem Hause war, hatte ich es ge¬ tadelt, daß das Bücherzimmer von dem Lesezimmer abgesondert sei, es erschien mir dieses als ein Umweg und eine Weitschweifigkeit. Da ich aber jezt länger bei meinem Gastfreunde war, erkannte ich meine Meinung als einen Irrthum. Dadurch, daß in dem Bücherzimmer nichts geschah, als daß dort nur die Bücher waren, wurde es gewissermaßen eingeweiht, die Bücher bekamen eine Wichtigkeit und Würde, das Zimmer ist ihr Tempel, und in einem Tempel wird nicht gearbeitet. Diese Einrichtung ist auch eine Huldigung für den Geist, der so manigfaltig in die¬ sen gedruckten und beschriebenen Papieren und Per¬ gamentblättern enthalten ist. In dem Lesezimmer aber wird dann der wirkliche und der freundliche Ge¬ brauch dieses Geistes vermittelt, und seine Erhaben¬ heit wird in unser unmittelbares und irdisches Be¬ dürfniß gezogen. Das Zimmer ist auch recht lieblich zum Lesen. Da scheint die freundliche Sonne herein, da sind die grünen Vorhänge, da sind die einladenden Size und Vorrichtungen zum Lesen und Schreiben. Selbst daß man jedes Buch nach dem zeitlichen Ge¬ brauche wieder in das Bücherzimmer an seinen Plaz tragen muß, erschien mir jezt gut; es vermittelt den Geist der Ordnung und Reinheit, und ist gerade bei Büchern wie der Körper der Wissenschaft, das System. Wenn ich mich jezt an Bücherzimmer erinnerte, die ich schon sah, in welchen Leitern Tische Sessel Bänke waren, auf denen allen etwas lag, seien es Bücher Papiere Schreibzeuge oder gar Geräthe zum Abfegen; so erschienen mir solche Büchersäle wie Kirchen, in denen man mit Trödel wirthschaftet. Ich ging auch öfter zu Eustach in das Schreiner¬ haus. An einem der ersten sehr heiteren Tage nahm ich alle Zeichnungen mit seiner Erlaubniß heraus, und sah sie noch einmal mit großer Muße und Ge¬ nauigkeit an. Ich konnte es fast kaum glauben, wie sehr mich meine Zeichnungsübungen während des vergangenen Winters gefördert hatten. Ich verstand jezt vieles, was ich da vorfand, besser als im Som¬ mer, und es gefielen mir die meisten Dinge auch mehr. Ich theilte ihm manches von meinen Zeichnun¬ gen mit, namentlich von Zeichnungen von Pflanzen, deren ich dieses Mal eine größere Anzahl in meinem Koffer mitgebracht hatte. Bei meiner ersten Anwe¬ senheit hatte ich in dem Ränzchen nur einige Schriften ein Fernrohr und andere Sachen getragen, die in ein so kleines Behältniß gehen, Zeichnungen aber nicht. Er hatte eine Freude an diesen Dingen; aber sonderbar war es anzusehen, wie er die Pflanzenzeich¬ nungen nicht als Pflanzenfreund und Kenner an¬ blickte, sondern als Baumeister, der ihre Gestalt ver¬ wenden kann. Er versuchte später selber auch Zeich¬ nungen nach lebenden Pflanzen; aber hier trat der Unterschied von einem Pflanzenfreunde noch mehr hervor: die Bilder wurden ihm allgemach durch un¬ merkliche Zusäze aus Gewächsen schöne Verzierungen. Er suchte sich auch in der Regel solche Vorbilder aus, die zu seinem Berufe in näherer Beziehung standen, oder in eine solche gebracht werden konnten. In Be¬ zug auf die anderen Dinge, die in dem Schreiner¬ hause gearbeitet wurden, zeigte er mir alles, und er¬ klärte mir manches, wenn ich nach Erklärung ver¬ langte. Auch hierin glaubte ich seit dem vorigen Sommer Fortschritte gemacht zu haben, namentlich, da ich die Gegenstände, die mein Vater besaß, wohl genau betrachtet und mir eingeprägt hatte, um ihre Bilder hieher übertragen und mit dem, was sich hier befand, vergleichen zu können. Die Gestalten gingen jezt leichter in mein Wesen ein, mir gefiel vieles mehr als im vorigen Sommer, und ich wurde auf manches aufmerksam, was ich damals nicht beachtet hatte. Wir saßen zuweilen in dem freundlichen Zimmer Gustachs, wenn die Vormittagssonne durch die ge¬ schlossenen Vorhänge sanft herein blickte, und redeten von allerlei Dingen. An Nachmittagen, besonders wenn trübes Wet¬ ter war, und die Geschäfte im Freien nicht eine große Ausdehnung hatten, versammelte man sich in dem Arbeitszimmer meines Gastfreundes. Dieses Zimmer war an Nachmittagen, wo es sehr zusammengeräumt, und wo mehr Muße war, der Vereinigungspunkt der kleinen Gesellschaft, wenn sie sich überhaupt verei¬ nigte. Mein alter Gastfreund hatte sich dieses Ge¬ mach sehr wohnlich, wenn auch für Einsamkeit geeig¬ net, herrichten lassen, wie er überhaupt, wenn er nicht eigens Menschen um sich versammelte, die Ein¬ samkeit liebte. Er hatte neben seinem Sessel einen Glockenzug, der durch den Fußboden in die Gesinde¬ zimmer hinab ging, um schnell einen Diener rufen zu können. In dem Schlafzimmer war etwas Ähnliches. Dort befanden sich außer dem gewöhnlichen Glocken¬ zuge an den Seitenbrettern des Bettes zwei Platten, die durch das leiseste Auflegen einer Hand eine laut und lange tönende Glocke in Bewegung setzten, da¬ mit man, wenn dem alten Manne etwas zustieße, schnell zu Hilfe eilen könnte. Zwei Diener hatten im¬ mer die Schlüssel zu seinen Gemächern, um auch in der Nacht von Außen aufsperren zu können. Diese Vorrichtungen waren eine Erfindung Eustachs, weil der alte Mann jede Einschränkung durch Dienerschaft ja die Nähe derselben nicht wollte, um nicht gestört zu werden. Er ließ auch nicht zu, daß Gustav in einem Zimmer neben ihm schlafe, um sich nicht an ihn zu gewöhnen, und ihn dann zu vermissen, da der Jüng¬ ling doch einmal fort müsse. Wenn man in dem Ar¬ beitszimmer meines Gastfreundes versammelt war, besprach man gewöhnlich Angelegenheiten des Besiz¬ thums, Veränderungen, die nothwendig sind, Arbei¬ ten, die man vornehmen müsse, und Gegenstände der Kunst. Hieher wurden die Pläne und Entwürfe von Dingen gebracht, die man entweder in Holz ausfüh¬ ren wollte, oder die Anlagen in dem Garten oder Umänderungen an Gebäuden betrafen. Es war gut, diese Entwürfe gerade in dieses Zimmer zu bringen, weil sie da eine sehr schöne und ausgezeichnete Um¬ gebung antrafen, und sich daher jeder Fehler und jede Unzulänglichkeit, wenn derlei in dem Entwurfe wa¬ ren, sogleich aufzeigte, und verbessert werden konnte. An dem Tage, wo mehrere Menschen in das Arbeits¬ zimmer des alten Mannes kamen, war immer ein Teppich über den auserlesenen Fußboden desselben gebreitet, damit er keine Beschädigung erleide. Wenn trockene Wege waren, gingen wir öfter in den Meierhof. Dort wurden die Arbeiten, welche der erste Frühling bringt, rüstig betrieben. Das Ganze war seit meiner vorjährigen Anwesenheit in Ordnung und Fülle sehr vorgeschritten. Man mußte bis spät in den Herbst hinein und selbst im Winter, soweit es thunlich war, fleißig gearbeitet haben. Im Innern des Hofes war nicht mehr blos die schöne Pflasterung an den Gebäuden herum und der reinliche Sand über den ganzen Hofraum, sondern es war in der Mitte desselben ein kleiner Springquell, der mit drei Strah¬ len in ein Becken fiel, und eine Blumenanlage um sich hatte. Auf das alles sahen die hellen Fenster des Hofes ringsum heraus. So sah dieser Theil des Ge¬ bäudes, obwohl zwei Seiten des Hofes Ställe und Scheunen waren, wie ein Edelsiz aus. Ich fragte meinen Gastfreund, ob er neues Mauerwerk habe aufführen lassen, da ich den Meierhof viel vollkom¬ mener sehe als im vergangenen Jahre, und da er auch schöner sei, als sie hier im Lande gebaut würden. „Ich habe keine Mauern aufführen lassen,“ ant¬ wortete er, „nur die lezten äußeren Verschönerungen habe ich angebracht, und die Fenster habe ich vergrö¬ ßert, der Grund war schon da. Die Meierhöfe und die größeren Bauerhöfe unserer Gegend sind nicht so häßlich gebaut, als ihr meint. Nur sind sie stets bis auf ein gewisses Maß fertig, weiter nicht; die lezte Vollendung gleichsam die Feile fehlt, weil sie in dem Herzen der Bewohner fehlt. Ich habe blos dieses Lezte gegeben. Wenn man mehrere Beispiele auf¬ stellte, so würden sich im Lande die Ansichten über das nothwendige Aussehen und die Wohnbarkeit der Häuser ändern. Dieses Haus soll so ein Beispiel sein.“ Die Wege um den Hof und dessen Wiesen und Felder waren auch nicht mehr so, wie sie größtentheils in dem vorigen Sommer gewesen waren. Sie waren fest, mit weißem Quarze belegt, und scharf und wohl abgegrenzt. An schönen Mittagen, die bereits auch immer wärmer wurden, saß ich gerne auf dem Bänkchen, das um den großen Kirschbaum lief, und sah auf die unbelaubten Bäume auf die frisch geegten Felder auf die grünen Tafeln der Wintersaat die schon sprossen¬ den Wiesen und durch den Duft, der in dem ersten Frühlinge gerne aus Gründen quillt, auf die Hoch¬ gebirge, die mit dem Glanze des noch in ungeheurer Menge auf ihnen liegenden Schnees spielten. Gu¬ stav schloß sich an mich viel an, wahrscheinlich weil ich unter allen Bewohnern des Hauses ihm an Alter am nächsten war. Er saß deßhalb gerne bei mir auf dem Bänkchen. Wir gingen manches Mal auf die Felderrast hinüber, und er zeigte mir einen Strauch, auf dem bald Blüthen hervor kommen würden, oder eine sonnige Stelle, auf der das erste Grün erschien, oder Steine, um die schon verfrühte Thierchen spielten. Eines Tages entdeckte ich in den Schreinen der Natursammlung eine Zusammenstellung aller inlän¬ dischen Hölzer. Sie waren in lauter Würfeln aufge¬ stellt, von denen zwei Flächen quer gegen die Fasern, die übrigen vier nach den Fasern geschnitten waren. Von diesen vier Flächen war eine rauh die zweite glatt die dritte polirt und die vierte hatte die Rinde. Im Innern der Würfel, welche hohl waren und geöffnet werden konnten, befanden sich die getrockneten Blü¬ then die Fruchttheile die Blätter und andere merk¬ würdige Zugehöre der Pflanze, zum Beispiel gar die Moose, die auf gewissen Orten gewöhnlich wachsen. Eustach sagte mir, der alte Herr — so nannten alle Bewohner des Hauses meinen Gastfreund, nur Gu¬ stav nannte ihn Ziehvater — habe diese Sammlung angelegt, und die Anordnung so ausgedacht. Sie soll nach dem Willen des alten Herrn noch einmal ge¬ macht, und der Gewerbschule zum Geschenke gegeben werden. Seine seltsame Kleidung und seine Gewohnheit immer barhäuptig zu gehen, welch beides mir An¬ fangs sehr aufgefallen war, beirrte mich endlich gar nicht mehr, ja es stimmte eigentlich zu der Umgebung sowohl seiner Zimmer als der um ihn herum woh¬ nenden Bevölkerung, von der er sich nicht als etwas Vornehmes abhob, der er vielmehr gleich war, und von der er sich doch wieder als etwas Selbstständiges unterschied. Mir fiel im Gegentheile ein, daß man¬ ches nicht geschmackvoll sei, was wir so heißen, am wenigsten der Stadtrock und der Stadthut der Männer. In die Zimmer, welche nach Frauenart eingerich¬ tet waren, wurde ich einmal auf meine Bitte geführt. Sie gefielen mir wieder sehr, besonders das lezte kleine, welchem ich jezt den Namen „die Rose“ gab. Man konnte in ihm sizen sinnen und durch das lieb¬ liche Fenster auf die Landschaft blicken. Daß ich nicht um den Gebrauch dieser Zimmer fragte, begreift sich. Ich erzählte meinem Gastfreunde oft von meinem Vater von der Mutter und von der Schwester. Ich erzählte ihm von allen unsern häuslichen Verhältnis¬ sen, und beschrieb ihm mehrfach, so genau ich es konnte, die Dinge, die mein Vater in seinen Zimmern hatte, und auf welche er einen Werth legte. Meinen Namen nannte ich hiebei nicht, und er fragte auch nicht darnach. Ebenso wußte ich, obwohl ich nun länger in sei¬ nem Hause gewesen war, noch immer seinen Namen nicht. Zufällig ist er nicht genannt worden, und da er ihn nicht selber sagte, so wollte ich aus Grundsaz niemanden darum fragen. Von Gustav oder Eustach wäre er am leichtesten zu erfahren gewesen; aber diese zwei mochte ich am wenigsten fragen, am allerwenig¬ sten Gustav, wenn er unzählige Male unbefangen den Namen Ziehvater aussprach. Der Mann war sehr gut sehr lieb und sehr freundlich gegen mich, er nannte seinen Namen nicht, ich konnte auch nicht mit Gewißheit voraussezen, daß er meine, ich kenne den¬ selben; daher beschloß ich, gar nicht, selbst nicht in der größten Entfernung von diesem Orte, um den Namen des Besizers des Rosenhauses zu fragen. Nach und nach änderte sich die Zeit immer mehr und immer gewaltiger. Die Tage waren viel länger Stifter , Nachsommer. I . 23 geworden, die Sonne schien schon sehr warm, die Fristen, in denen der Himmel sich klar und wolkenlos zeigte, wurden bereits länger als die, in denen er umwölkt oder neblich war, die Erde sproßte, die Bäume knospten, an den Rosenbäumchen vor dem Hause wurde sehr fleißig gearbeitet, alles war heiter, und der Frühling war in seiner ganzen Fülle einge¬ treten. Diese Zeit war schon lange als diejenige be¬ stimmt gewesen, in welcher ich abreisen würde. Ich sagte dieses noch einmal meinem Gastfreunde, und da ich Anstalten getroffen hatte, meinen Koffer fort zu senden, wurde der Tag der Abreise festgesezt. Wir hatten früher noch die Verabredung getrof¬ fen, daß ich meine Arbeiten so einrichten wolle, daß ich zur Zeit der Rosenblüthe wiederkommen und wie¬ der längere Zeit in dem Hause verbleiben könne. Da ich sah, daß ich gerne aufgenommen werde, und daß ich in Hinsicht der äußeren Mittel keine Last in dem Hause sei, und da mein Gemüth sich auch diesem Orte zugeneigt fühlte, so war mir diese Verabredung ganz nach meinem Sinne. Nur, meinte mein Gast¬ freund, müßte ich dann in den Gebirgsthälern schon zur Herreise aufbrechen, wenn dort kaum die Rosen völlige Knospen hätten, weil sie hier der bessern Erde und der bessern Pflege willen früher blühen als an allen Theilen des Landes. Ich sagte es zu, und so war alles in Ordnung. Am Tage vor meiner Abreise kam Eustachs Bru¬ der zurück. Er mochte zwanzig und einige Jahre alt sein, war schön gewachsen, hatte braune Wangen und dunkle Locken und ein klein wenig aufgeworfene Lip¬ pen. Mir war, als wäre ich dem Manne schon einige Male auf meinen Reisen begegnet. Er brachte in sei¬ nem Buche viele und darunter schöne Zeichnungen mit, welche mit Antheil betrachtet wurden. Sie soll¬ ten nun auf größerem Papiere und in künstlerischer Richtung ausgeführt werden. Als ich am Abende vor der Abreise noch im Meier¬ hofe gewesen war, als ich am Morgen derselben zu Eustach und den Gärtnersleuten gegangen war, als ich den Hausbewohnern Lebewohl gesagt und von meinem Gastfreunde und von Gustav vor dem Hause Abschied genommen hatte: ging ich den Hügel hinun¬ ter, und ich hörte schon von dem Garten und von den Hecken und aus den Saaten den kräftigen Frühlings¬ gesang der Vögel. 23 * 7. Die Begegnung. Auf der Reise nach dem Orte meiner Bestimmung zeichnete ich ein schönes Standbild, welches ich in der Nische einer Mauertrümmer fand. Ich hatte dazu mein Zeichnungsbuch aus dem Ränzlein genommen, in welchem ich es jezt immer trug. Dies war die ein¬ zige Unterbrechung und der einzige Aufenthalt auf dieser Reise gewesen. Als ich an meinem Bestimmungsorte angelangt war, war das erste, was ich that, daß ich meine Zeit besser zu Rathe hielt als früher. Ich mußte mir be¬ kennen, daß die Art, wie in dem Rosenhause das Ta¬ gewerk betrieben wurde, auf mich von großem Ein¬ flusse sein solle. Da dort der Werth der Zeit sehr hoch angeschlagen, und dieses Gut sehr sorgfältig ange¬ wendet wurde, so fing ich, wenn ich mir auch bisher einen großen Vorwurf nicht hatte machen können, dennoch an, mit viel mehr Ordnung als bisher nach einem einzigen Ziele während einer bestimmten Zeit hinzuarbeiten, während ich früher durch augenblick¬ liche Eindrücke bestimmt mit den Zielen öfter wech¬ selte, und, obwohl ich eifrig strebte, doch eine dem Streben entsprechende Wirkung nicht jederzeit er¬ reichte. Ich machte mir nun zur Aufgabe, eine be¬ stimmte Strecke zu durchforschen, und im Verlaufe überhaupt nichts liegen zu lassen, was von Wesen¬ heit wäre, aber auch nichts auf eine gelegenere Zu¬ kunft zu verschieben, so daß, sollte ich bis zur Rosen¬ zeit mit der vorgesezten Strecke nicht fertig werden, wenigstens der Theil, den ich vollendete, wirklich fertig wäre, und ich auf genau umschriebene Ergeb¬ nisse zu deuten im Stande wäre. Das sah ich nach dem Beginne der Arbeiten sehr bald, daß ich mir den Raum zu groß ausgesteckt hatte; aber auch das sah ich sehr bald, daß der kleinere Raum, den ich über¬ winden würde, mir mehr an Erfolg sicherte, als wenn ich wie in meiner Vergangenheit durch geraume Zeit den Blick so ziemlich auf alles gespannt hätte. Hiezu kam auch eine gewisse Zufriedenheit, die ich fühlte, wenn ich sah, daß sich Glied an Glied zu einer Ord¬ nung an einander reihte, während früher mehr ein ansprechender Stoff durcheinander lag, als daß eine aus dem Stoffe hervorgehende Gestaltung sich ent¬ wickelt hätte. Meine Kisten füllten sich, und stellten sich an ein¬ ander. Meine Führer und meine Träger gewannen auch einen Halt in der neuen Ordnung, und es wuchs ihnen ein Zutrauen zu mir. Ich bekam eine Neigung zu ihnen, die sie erwiederten, so daß sich ein fröhliches Zusammenleben immer mehr gestaltete, und die Ar¬ beit heiter und darum auch zweckmäßig wurde. Oft, wenn wir Abends in der Wirthsstube um den großen viereckigen Ahorntisch, oder da die Tage endlich hei¬ ßer wurden, statt an den todten Brettern des Tisches draußen unter den lebenden und rauschenden Ahornen saßen, um welche ein fichtener Tisch zusammen gezim¬ mert war, und auf welche das vielfenstrige Gasthaus heraus sah, rechneten sie sich vor, was heute, was seit vierzehn Tagen geschehen sei, wie viel wir, wie sie sich ausdrückten, abgethan haben, und wie viel Gebirge zusammen gestellt worden sei. Sie fingen auch bald an, die Sache nach ihrer Art zu begreifen, über Vorkommnisse in den Gebirgszügen zu reden und zu streiten und mir zuzumuthen, daß, wenn ich mir merken könnte, woher alle die gesammelten Stücke seien, und wenn ich die Höhe und die Mächtigkeit der Gebirge zu messen im Stande wäre, ich das Ge¬ birge im Kleinen auf einer Wiese oder auf einem Felde aufstellen könnte. Ich sagte ihnen, daß das ein Theil meines Zweckes sei, und wenn gleich das Ge¬ birge nicht auf einer Wiese oder auf einem Felde zu¬ sammengestellt werde, so werde es doch auf dem Pa¬ piere gezeichnet, und werde mit solchen Farben bemalt, daß jeder, der sich auf diese Dinge verstände, das Gebirge mit allem, woraus es bestehe, vor Augen habe. Deßhalb merke ich mir nicht nur, woher die Stücke seien, und unter welchen Verhältnissen sie in den Bergen bestehen, sondern schreibe es auch auf, damit es nicht vergessen werde, und beklebe auch die Stücke mit Zetteln, auf denen alles Nothwendige stehe. Diese Stücke in ihrer Ordnung aufgestellt seien dann der Beweis dessen, was auf dem Papiere oder der Karte, wie man das Ding nenne, aufgemalt sei. Sie meinten, daß dieses sehr klug gethan sei, um, wenn einer einen Stein oder sonst etwas zu einem Baue oder dergleichen bedürfe, gleich aus der Karte heraus lesen zu können, wo er zu finden sei. Ich sagte ihnen, daß ein anderer Zweck auch darin bestehe, aus dem, was man in den Gebirgen finde, schließen zu können, wie sie entstanden seien. Die Gebirge seien gar nicht entstanden, meinte einer, sondern seien seit Erschaffung der Welt schon dagewesen. „Sie wachsen auch,“ sagte ein anderer, „jeder Stein wächst, jeder Berg wächst wie die anderen Geschöpfe. Nur,“ sezte er hinzu, weil er gerne ein wenig schalkhaft war, „wachsen sie nicht so schnell wie die Schwämme.“ So stritten sie länger und öfter über diesen Ge¬ genstand, und so besprachen wir uns über unsere Ar¬ beiten. Sie lernten durch den bloßen Umgang mit den Dingen des Gebirges und durch das öftere An¬ schauen derselben nach und nach ein Weiteres und Richtigeres, und lächelten oft über eine irrige Ansicht und Meinung, die sie früher gehabt hatten. Mein Tagebuch der Aufzeichnungen zur Festhal¬ tung der Ordnung dehnte sich aus, die Blätter mehr¬ ten sich, und gaben Aussicht zu einer umfassenden und regelmäßigen Zusammenstellung des Stoffes, wenn die Wintertage oder sonst Tage der Muße gekommen sein würden. An Sonntagen oder zu anderen Zeiten, wo die Arbeit minder drängte, gab es noch Gelegenheit zu manchen angenehmen Freuden und zu stärkender Er¬ holung. Eines Tages fanden wir ein Stück Marmor, von dem ich dachte, daß ihn mein Gastfreund in seinem Rosenhause noch gar nicht habe. Er war von dem reinsten Weiß Rosenroth und Strohgelb in kleiner und lieblicher Mischung. Seine Art ist eine der selten¬ sten, und hier war sie in einem so großen Stücke vor¬ handen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ich be¬ schloß, diesen Marmor meinem Gastfreunde zum Geschenke zu machen. Ich versuchte, mir ein Eigen¬ thumsrecht darüber zu erwerben, und als mir dieses gelungen war, ging ich daran, das Stück, soweit seine Festigkeit ununterbrochen war, heraus nehmen, und in eine Gestalt schneiden zu lassen, deren es fähig war. Es zeigte sich, daß eine schöne Tischplatte aus diesem Stoffe zu verfertigen wäre. Von den losen Schuttstücken nahm ich mehrere der besseren mit, um allerlei Dinge der Erinnerung daraus machen zu lassen. Eines ließ ich zu einer Tafel schleifen und dieselbe glätten, daß mein Gastfreund die Zeichnung und die Farbe des Marmors auf das Beste sehen könne. So war eine Strecke abgethan, als in den Thä¬ lern sich die kleinen Knospen der Rosen zu zeigen an¬ fingen, und selbst an dem Hagedorn, der in Feldge¬ hegen oder an Gebirgssteinen wuchs, die Bällchen zu der schönen aber einfachen Blume sich entwickelten, die die Ahnfrau unserer Rosen ist. Ich beschloß da¬ her, meine Reise in das Rosenhaus anzutreten. Ich habe mich kaum mit größerem Vergnügen nach einem langen Sommer zur Heimreise vorbereitet, als ich mich jezt nach einer wohlgeordneten Arbeit zu dem Besuche im Rosenhause anschickte, um dort eine Weile einen angenehmen Landaufenthalt zu genießen. Eines Nachmittages stieg ich zu dem Hause em¬ por, und fand die Rosen zwar nicht blühend aber so überfüllt mit Knospen, daß in nicht mehr fernen Ta¬ gen eine reiche Blüthe zu erwarten war. „Wie hat sich alles verändert,“ sagte ich zu dem Besizer, nachdem ich ihn begrüßt hatte, „da ich im Frühlinge von hier fortging, war noch alles öde, und nun blättert blüht und duftet alles hier beinahe in solcher Fülle wie im vorigen Jahre zu der Zeit, da ich zum ersten Male in dieses Haus heraufkam.“ „Ja,“ erwiederte er, „wir sind wie der reiche Mann, der seine Schäze nicht zählen kann. Im Früh¬ linge kennt man jedes Gräschen persönlich, das sich unter den ersten aus dem Boden hervor wagt, und beachtet sorgsam sein Gedeihen, bis ihrer so viele sind, daß man nicht mehr nach ihnen sieht, daß man nicht mehr daran denkt, wie mühevoll sie hervor ge¬ kommen sind, ja daß man Heu aus ihnen macht, und gar nicht darauf achtet, daß sie in diesem Jahre erst geworden sind, sondern thut, als ständen sie von jeher auf dem Plaze.“ Man hatte mir eine eigene Wohnung machen lassen, und führte mich in dieselbe ein. Es waren zwei Zimmer am Anfange des Ganges der Gastzimmer, welche man durch eine neugebrochene Thür zu einer einzigen Wohnung gemacht hatte. Das eine war be¬ deutend groß, und hatte ursprünglich die Bestimmung gehabt, mehrere Personen zugleich zu beherbergen. Es war jezt ausgeleert, an seinen Wänden standen Tische und Gestelle herum, so wie in seiner Mitte ein langer Tisch angebracht war, damit ich meine Sa¬ chen, die ich etwa von dem Gebirge brächte, ausbrei¬ ten könnte. Das zweite Zimmer war kleiner, und war zu meinem Schlaf- und Wohngemache hergerichtet. Der alte Mann reichte mir die Schlüssel zu dieser Wohnung. Auch zeigte man mir in der leichten ge¬ mauerten Hütte, die nicht weit hinter der Schreinerei an der westlichen Grenze des Gartens lag, und in früheren Zeiten zu den Steinarbeiten benuzt worden war, einen Raum, den man ausgeleert hatte, und in welchen ich Gegenstände, die ich gesammelt hätte, bis auf weitere Verfügung niederlegen könnte. Sollte ich mehr brauchen, so könne noch mehr geräumt wer¬ den, da jezt die Arbeiten mit den Steinen fast been¬ digt seien, und selten etwas gesägt geschliffen oder geglättet werde. Ich war über diese Aufmerksamkeiten so gerührt, daß ich fast keinen Dank dafür zu sagen vermochte. Ich begrif nicht, was ich mir denn für Verdienste um den Mann oder seine Umgebung er¬ worben habe, daß man solche Anstalten mache. Das Eine gereichte zu meiner Beruhigung, daß ich aus diesen Vorrichtungen sah, daß ich in dem Hause nicht unwillkommen sei; denn sonst wäre man nicht auf den Gedanken derselben gerathen. Dieses Bewußtsein ver¬ sprach meinen Bewegungen in den hiesigen Verhält¬ nissen viel mehr Freiheit zu geben. Ich stattete endlich doch meinen Dank ab, und man nahm ihn mit Ver¬ gnügen auf. Da ich in meiner Wohnung meine Wandersachen abgelegt hatte, und die ersten allgemeinen Gespräche vorüber waren, wollte ich einen übersichtlichen Gang durch den Garten machen. Ich ging bei der Seitenthür des Hauses hinaus, und da ich auf den kleinen Raum kam, der hier eingefaßt ist, kam der große Hofhund auf mich zu, und wedelte. Als ich sah, daß der alte Hilan mich erkenne und begrüße, war ich so kindisch, mich darüber zu freuen, weil es mir war, als sei ich kein Fremder, sondern gehöre gewissermaßen zur Fa¬ milie. Am nächsten Tage nach meiner Ankunft erschien der Wagen mit meinem Gepäcke und mit der Mar¬ morplatte. Ich ließ abladen, und übergab die Platte meinem Gastfreunde mit dem Bedeuten, daß ich ihm in derselben eine Erinnerung aus dem Gebirge bringe. Zugleich händigte ich ihm das kleinere geschliffene Stück zur genaueren Einsicht in die Natur des Mar¬ mors ein. Er besah das Stück und dann auch die Platte sehr sorgfältig. Hierauf sagte er: „Dieser Marmor ist außerordentlich schön, ich habe ihn noch gar nicht in meiner Sammlung, auch scheint die Platte dicht und ohne Unterbrechung zu sein, so daß ein reiner Schlif auf ihr möglich sein wird, ich bin sehr erfreut, in dem Besize dieses Stückes zu sein, und danke euch sehr dafür. Allein in meinem Hause kann er als Bestandtheil desselben nicht verwendet werden, weil dort nur solche Stücke angebracht sind, welche ich selber gesammelt habe, und weil ich an dieser Art der Sammlung und an der Verbuchung darüber eine solche Freude habe, daß ich auch in der Zukunft nicht von diesem Grundsaze abgehe. Es wird aber ganz gewiß aus diesem Marmor etwas gemacht werden, das seiner nicht unwerth ist, ich hege die Hoffnung, daß es auch euch gefallen wird, und ich wünsche daß die Gelegenheit seiner Verwendung euch und mir zur Freude gereiche.“ Ich hatte ohnehin ungefähr so etwas erwartet, und war beruhigt. Der Marmor wurde in die Steinhütte gebracht, um dort zu liegen, bis man über ihn verfügen würde. Meine übrigen Dinge aber ließ ich in meine Woh¬ nung bringen. Ich ging im Sommer immer sehr leicht gekleidet entweder in ungebleichtem oder gestreiftem Linnen. Den Kopf bedeckte meistens ein leichter Strohhut. Um nun hier nicht aufzufallen und um weniger von der einfachen Kleidung der Hausbewohner abzustechen, nahm ich ein paar solcher Anzüge sammt einem Stroh¬ hute aus dem Koffer, kleidete mich in einen, und legte dafür meinen Reiseanzug für eine künftige Wan¬ derung zurück. Mein Gastfreund hatte auf seiner Besizung eine etwas eigenthümliche Tracht theils eingeführt, theils nahmen sie die Leute selber an. Die Dienerinnen des Hauses waren in die Landestracht gekleidet, nur dort, wo diese, wie namentlich in unserem Gebirge, unge¬ fällig war, oder in das Häßliche ging, wurde sie durch den Einfluß des Hausbesizers gemildert, und mit kleinen Zuthaten versehen, die mir schön erschie¬ nen. Diese Zuthaten fanden im Anfange Widerstand, aber da sie von dem alten Herrn geschenkt wurden, und man ihn nicht kränken wollte, wurden sie ange¬ nommen, und später von den Umwohnerinnen nicht nur beneidet sondern auch nachgeahmt. Die Männer, welche in dem Hause dienten oder in dem Meierhofe arbeiteten oder in dem Garten beschäftigt waren, tru¬ gen gefärbtes Linnen, nur war dasselbe nicht so dun¬ kel, als es bei uns im Gebirge gebräuchlich ist. Eine Jacke oder eine andere Art Überrock hatten sie im Sommer nicht, sondern sie gingen in lediglichen Hemdärmeln, und um den Hals hatten sie ein loses Tuch geschlungen. Auf den, Haupte trugen einige wie der Hausherr nichts, andere hatten den gewöhn¬ lichen Strohhut. Eustach schien in seiner Kleidung niemanden nachzuahmen, sondern sie selbst zu wählen. Er ging auch in gestreiftem Linnen, meistens rostbraun mit grau oder weiß; aber die Streifen waren fast handbreit, oder es hatte der ganze Stoff nur zwei Farben, die Hälfte des Längenblattes braun die Hälfte weiß. Oft hatte er einen Strohhut oft gar nichts auf dem Haupte. Seine Arbeiter hatten ähnliche Anzüge, auf denen selten ein Schmuzfleck zu sehen war; denn bei der Arbeit hatten sie große grüne Schürzen um. Unter allen diesen Leuten hoben sich der Gärtner und die Gärtnerin heraus, welche blos schneeweiß gingen. Ich zeigte meinem Gastfreunde und Eustach die Zeichnung, welche ich von dem Standbilde in der Mauernische gemacht hatte. Sie freuten sich, daß ich auf derlei Dinge aufmerksam sei, und sagten, daß sie dasselbe Bild auch unter ihren Zeichnungen hätten, nur daß es jezt mit mehreren anderen Blättern außer Hause sei. Ich betrachtete nun alles, was mir in dem Gar¬ ten und auf dem Felde im vorigen Jahre in derselben Jahreszeit merkwürdig gewesen war. Die Blätter der Bäume die Blätter des Kohles und die von anderen Gewächsen waren vom Raupenfraße frei, und nicht nur die im Garten, sondern auch die in der nächsten und in der in ziemliche Ferne reichenden Umgebung. Ich hatte bei meiner Herreise eigens auf diesen Um¬ stand mein Augenmerk gerichtet. Dennoch entbehrte der Garten nicht des schönen Schmuckes der Faltern; denn einerseits konnten die Vögel doch nicht alle und jede Raupen verzehren, und andererseits wehte der Wind diese schönen lebendigen Blumen in unsern Garten, oder sie kamen auf ihren Wanderungen, die sie manchmal in große Entfernungen antreten, selber hieher. Der Gesang der Vögel war mir wieder wie im vorigen Jahre eigenthümlich, und er war mir wie¬ der ganz besonders schmelzend. Dadurch, daß sie in verschiedenen Fernen sind, die Laute also mit unglei¬ cher Stärke an das Ohr schlagen, dadurch, daß sie sich gelegenheitlich unterbrechen, da sie inzwischen al¬ lerlei zu thun haben, eine Speise zu haschen, auf ein Junges zu merken, wird ein reizender Schmelz veranlaßt wie in einem Walde, während die besten Singvögel in vielen Käfichen nahe bei einander nur ein Geschrei machen, und dadurch, daß sie in dem Garten sich doch wieder näher sind als im Walde, wird der Schmelz kräftiger, während er im Walde zuweilen dünn und einsam ist. Ich sah die Nester, Stifter , Nachsommer. I . 24 besuchte sie, und lernte die Gebräuche dieser Thiere kennen. In meinen Zimmern richtete ich mich ein, ich that die Bücher und Papiere, die ich mitgebracht hatte, heraus, um zu lesen, einzuzeichnen, und zu ordnen. Ich legte auch auf den großen Tisch und auf die Ge¬ stelle an den Wänden kleinere Gegenstände, die ich mitgebracht hatte besonders Versteinerungen oder an¬ dere deutlichere Überreste, um sie zu benuzen. Gustav kam häufig zu mir herüber, er nahm Antheil an die¬ sen Dingen, ich erklärte ihm manches, und mein Gastfreund sah es nicht ungern, wenn ich mit ihm entweder ein Buch in der Hand unter den schattigen Linden des Gartens oder ohne Buch auf großen Spaziergängen — denn der alte Mann liebte die Be¬ wegung noch sehr — von meiner Wissenschaft sprach. Er erzählte mir dagegen von der seinigen, und ich hörte ihm freundlich zu, wenn er auch Dinge brachte, die mir schon besser bekannt waren. Zeiten, in denen ich ohne Beschäftigung und allein war, brachte ich auf Gängen in den Feldern, oder auf einem Besuche in dem Schreinerhause oder in dem Gewächshause oder bei den Cactus zu. Die wogenden Felder, die ich im vorigen Jahre um dieses Anwesen getroffen hatte, waren auch heuer wogende, und wurden mit jedem Tage schöner dichter und segensreicher, der Garten hüllte sich in die Menge seiner Blätter und der nach und nach schwellenden Früchte, der Gesang der Vögel wurde mir immer noch lieblicher, und schien die Zweige immer mehr zu erfüllen, die scheuen Thiere lernten mich kennen, nah¬ men von mir Futter, und fürchteten mich nicht mehr. Ich lernte nach und nach alle Dienstleute kennen und nennen, sie waren freundlich mit mir, und ich glaube, sie wurden mir gut, weil sie den Herrn mich mit Wohlwollen behandeln sahen. Die Rosen gediehen sehr, tausende harrten des Augenblicks, in dem sie aufbrechen würden. Ich half oft an den Beschäftigun¬ gen, die diesen Blumen gewidmet wurden, und war dabei, wenn die Rosenarbeiten besichtiget wurden, und ausgemittelt ward, ob alles an ihnen in gutem Stande sei. Ebenso ging ich gerne zum Besehen an¬ derer Dinge mit, wenn auf Wiesen oder im Walde gearbeitet wurde, in welch lezterem man jezt daran war, das im Winter geschlagene Holz zu verkleinern, oder zum Baue oder zu Schreinerarbeiten herzurich¬ ten. Ich trug oft meinen Strohhut, wenn der alte Mann und Gustav neben mir barhäuptig gingen, in 24 * der Hand, und ich mußte bekennen, daß die Luft viel angenehmer durch die Haare strich, als wenn sie durch einen Hut auf dem Haupte zurück gehalten wurde, und daß die Hize durch die Locken so gut wie durch einen Hut von dem bloßen Haupte abgehalten wurde. Eines Tages, da ich in meinem Zimmer saß, hörte ich einen Wagen zu dem Hause herzufahren. Ich weiß nicht, weßhalb ich hinabging, den Wagen ankommen zu sehen. Da ich an das Gitter gelangte, stand er schon außerhalb desselben. Er war von zwei braunen Pferden herbeigezogen worden, der Kutscher saß noch auf dem Bocke, und mußte eben angehalten haben. Vor der Wagenthür mit dem Rücken gegen mich gekehrt stand mein Gastfreund, neben ihm Gu¬ stav, und neben diesem Katharina und zwei Mägde. Der Wagen war noch gar nicht geöffnet, er war ein geschlossener Gläserwagen, und hatte an der innern Seite seiner Fenster grüne zugezogene Seidenvor¬ hänge. Einen Augenblick nach meiner Ankunft öffnete mein Gastfreund die Wagenthür. Er geleitete an sei¬ ner Hand eine Frauengestalt aus dem Wagen. Sie hatte einen Schleier auf dem Hute, hatte aber den Schleier zurückgeschlagen, und zeigte uns ihr Ange¬ sicht. Sie war eine alte Frau. Augenblicklich, da ich sie sah, fiel mir das Bild ein, welches mein Gast¬ freund einmal über manche alternde Frauen von ver¬ blühenden Rosen hergenommen hatte. „Sie gleichen diesen verwelkenden Rosen. Wenn sie schon Falten in ihrem Angesichte haben, so ist doch noch zwischen den Falten eine sehr schöne liebe Farbe,“ hatte er ge¬ sagt, und so war es bei dieser Frau. Über die vielen feinen Fältchen war ein so sanftes und zartes Roth, daß man sie lieben mußte, und daß sie eine Rose die¬ ses Hauses war, die im Verblühen noch schöner sind als andere Rosen in ihrer vollen Blüthe. Sie hatte unter der Stirne zwei sehr große schwarze Augen, unter dem Hute sahen zwei sehr schmale Silberstrei¬ fen des Haares hervor, und der Mund war sehr lieb und schön. Sie stieg von dem Wagentritte herab, und sagte die Worte: „Gott grüße dich, Gustav!“ Hiebei neigte sich der alte Mann gegen sie, sie neigte ihr Angesicht gegen ihn, und die beiderseitigen Lippen küßten sich zum Willkommensgruße. Nach dieser Frau kam eine zweite Frauengestalt aus dem Wagen. Sie hatte auch einen Schleier um den Hut, und hatte ihn auch zurückgeschlagen. Unter dem Hute sahen braune Locken hervor, das Antliz war glatt und fein, sie war noch ein Mädchen. Unter der Stirne waren gleichfalls große schwarze Augen, der Mund war hold und unsäglich gütig, sie schien mir unermeßlich schön. Mehr konnte ich nicht denken; denn mir fiel plözlich ein, daß es gegen die Sitte sei, daß ich hinter dem Gitter stehe, und die Aussteigen¬ den anschaue, während die, die sie empfangen, mir den Rücken zuwenden, und von meiner Anwesenheit nichts wissen. Ich ging um die Ecke des Hauses zu¬ rück, und begab mich wieder in mein Wohnzimmer. Dort hörte ich nach einiger Zeit an Tritten und Gesprächen, daß die ganze Gesellschaft an meinem Zimmer vorbei den ganzen Gang entlang wahrschein¬ lich in die schönen Gemächer an der östlichen Seite des Hauses gehe. Was weiter an dem Wagen geschehen sei, ob noch eine oder zwei Personen aus demselben gestiegen seien, konnte ich nicht wissen; denn auch nicht einmal beim Fenster wollte ich nun hinabsehen. Daß aber Gegenstände von demselben abgepackt, und in das Haus gebracht wurden, konnte ich an dem Reden und Rufen der Leute erkennen. Auch den Wagen hörte ich endlich fortfahren, wahrscheinlich wurde er in den Meierhof gebracht. Ich blieb immer in der Tiefe des Zimmers sizen. Ich ging weder zu dem Fenster, noch ging ich in den Garten, noch verließ ich überhaupt das Zimmer, ob¬ wohl eine ziemlich lange Zeit ruhig und still verfloß. Ich wollte lesen oder schreiben, und that es dann doch wieder nicht. Endlich, da vielleicht ein paar Stunden vergan¬ gen waren, kam Katharina, und sagte, der alte Herr lasse mich recht schön bitten, daß ich in das Speise¬ zimmer kommen möge, man erwarte mich dort. Ich ging hinab. Als ich eingetreten war, sah ich, daß mein Gast¬ freund in einem Lehnsessel an dem Tische saß, neben ihm saß Gustav. An der entgegengesezten Seite saß die Frau. Ihr Sessel war aber ein wenig von dem Tische abgewendet, und der Thür, durch welche ich eintrat, zugekehrt. Hinter ihr und um eine Sessel¬ hälfte seitwärts saß das Mädchen. Sie waren nun ganz anders gekleidet, als da ich sie aus dem Wagen steigen gesehen hatte. Statt des städtischen Hutes, den sie da getragen hatten, deckte jezt ein Strohhut mit nicht gar breiten Flügeln, so daß sie eben genug Schatten gaben, das Haupt, die übrigen Kleider bestanden aus einem einfachen lichten mattfärbigen Stoffe, und waren ohne alle besonderen Verzierungen verfertigt, so wie der Schnitt nichts Auffälliges hatte, weder eine zur Schau getragene Ländlichkeit noch ein zu strenge festgehaltenes städti¬ sches Wesen. Es standen mehrere Diener herum, so wie Ka¬ tharina, die mich geholt hatte, auch wieder hinter mir in das Zimmer gegangen war, und sich zu den da¬ stehenden Mägden gesellt hatte. Selbst der Gärtner Simon war zugegen. Als ich in die Nähe des Tisches gekommen war, stand mein Gastfreund auf, umging den Tisch, führte mich vor die Frau, und sagte: „Erlaube, daß ich dir den jungen Mann vorstelle, von dem ich dir erzählt habe.“ Hierauf wendete er sich gegen mich, und sagte: „Diese Frau ist Gustavs Mutter, Mathildis.“ Die Frau sagte in dem ersten Augenblicke nichts, sondern richtete ein Weilchen die dunkeln Augen auf mich. Dann wies er mit der Hand auf das Mädchen, und sagte: „Diese ist Gustavs Schwester Natalie.“ Ich wußte nicht, waren die Wangen des Mäd¬ chens überhaupt so roth, oder war es erröthet. Ich war sehr befangen, und konnte kein Wort hervor bringen. Es war mir äußerst auffallend, daß er jezt, wo er den Namen beinahe mit Nothwendigkeit brauchte, weder um den meinigen gefragt, noch den der Frauen genannt hatte. Ehe ich recht mit mir zu Rathe gehen konnte, ob zu der Verbeugung, welche ich gemacht hatte, etwas gesagt werden solle oder nicht, fuhr er in seiner Rede fort, und sagte: „Er ist ein freundlicher Hausgenosse von uns geworden, und schenkt uns einige Zeit in unserer ländlichen Einsam¬ keit. Er strebt die Berge und das Land zu erforschen, und zur Kenntniß des Bestehenden und zur Herstel¬ lung der Geschichte des Gewordenen etwas beizutra¬ gen. Wenn auch die Thaten und die Förderung der Welt mehr das Geschäft des Mannes und des Greises sind, so ziert ein ernstes Wollen auch den Jüngling, selbst wo es nicht so klar und so bestimmt ist wie hier.“ „Mein Freund hat mir von euch erzählt,“ sagte die Frau zu mir, indem sie mich wieder mit den dun¬ keln glänzenden Augen ansah, „er hat mir gesagt, daß ihr im vergangenen Jahre bei ihm waret, daß ihr ihn im Frühlinge besucht habt, und daß ihr versprochen habt, zur Zeit der Rosenblüthe wieder eine Weile in diesem Hause zuzubringen. Mein Sohn hat auch sehr oft von euch gesprochen.“ „Er scheint nicht ganz ungerne hier zu sein,“ sagte mein Gastfreund; „denn sein Angesicht wenigstens hat noch nicht bei dem früheren so wie bei dem jezigen Besuche die Heiterkeit verloren.“ Ich hatte mich während dieser Reden gesammelt, und sagte: „Wenn ich auch aus der großen Stadt komme, so bin ich doch wenig mit fremden Menschen in Verkehr getreten, und weiß daher nicht, wie mit ihnen umzugehen ist. In diesem Hause bin ich, da ich irrthümlich ein Gewitter fürchtete, und um einen Unterstand herauf ging, sehr freundlich aufgenommen worden, ich bin wohlwollend eingeladen worden wie¬ der zu kommen, und habe es gethan. Es ist mir hier in Kurzem so lieb geworden wie bei meinen theuren Eltern, bei welchen auch eine Regelmäßigkeit und Ordnung herrscht wie hier. Wenn ich nicht ungelegen bin, und die Umgebung mir nicht abgeneigt ist, so sage ich gerne, wenn ich auch nicht weiß, ob man es sagen darf, daß ich immer mit Freuden kommen werde, wenn man mich einladet.“ „Ihr seid eingeladen,“ erwiederte mein Gastfreund, „und ihr müßt aus unsern Handlungen erkennen, daß ihr uns sehr willkommen seid. Nun werden auch Gu¬ stavs Mutter und Schwester eine Weile in diesem Hause zubringen, und wir werden erwarten, wie sich unser Leben entwickeln wird. Wollt ihr euch nicht ein wenig zu mir sezen, und abwarten, bis der Willkom¬ mensgruß von allen, die da stehen, vorüber ist?“ Er ging wieder um den Tisch herum zurück, und ich folgte ihm. Gustav machte mir Plaz neben seinem Ziehvater, und sah mich mit der Freude an, welche ein Sohn empfindet, der in der Fremde den Besuch der Mutter empfängt. Natalie hatte kein Wort gesprochen. Ich konnte jezt, da ich ein wenig gegen die Frauen hin zu blicken vermochte, recht deutlich sehen, daß hier Gustavs Mutter und Schwester zugegen seien; denn beide hatten dieselben großen schwarzen Augen wie Gustav, beide dieselben Züge des Angesichtes, und Natalie hatte auch die braunen Locken Gustavs, wäh¬ rend die der Mutter die Silberfarbe des Alters tru¬ gen. Sie gingen nun recht schön geordnet in einem viel breiteren Bande an beiden Seiten der Stirne herab, als sie es unter dem Reisestrohhute gethan hatten. Vor Mathilde war, während wir unsere Size eingenommen hatten, die Haushälterin Katharina getreten. Die Frau sagte: „Sei mir vielmal gegrüßt, Ka¬ tharina, ich danke dir, du hast deinen Herrn und meinen Sohn in deiner besonderen Obhut, und übst viele Sorgfalt an ihnen aus. Ich danke dir sehr. Ich habe dir etwas gebracht, nur als eine kleine Erin¬ nerung, ich werde es dir schon geben.“ Als Katharina zurück getreten war, als sich die anderen insgesammt näherten, sich verbeugten und mehrere Mädchen der Frau die Hand küßten, sagte sie: „Seid mir alle von Herzen gegrüßt, ihr sorgt alle für den Herrn und seinen Ziehsohn. Sei gegrüßt Simon, sei gegrüßt Klara, ich danke euch allen, und habe allen etwas gebracht, damit ihr seht, daß ich kei¬ nes in meiner Zuneigung vergessen habe; denn sonst ist es freilich nur eine Kleinigkeit.“ Die Leute wiederholten ihre Verbeugung, manche auch den Handkuß, und entfernten sich. Sie hatten sich auch vor Natalie geneigt, welche den Gruß recht freundlich erwiederte. Als alle fort waren, sagte die Frau zu Gustav: „Ich habe auch dir etwas gebracht, das dir Freude machen soll, ich sage noch nicht was; allein ich habe es nur vorläufig gebracht, und wir müssen erst den Ziehvater fragen, ob du es schon ganz oder nur theil¬ weise oder noch gar nicht gebrauchen darfst.“ „Ich danke dir, Mutter,“ erwiederte der Sohn, „du bist recht gut, liebe Mutter, ich weiß jezt schon, was es ist, und wie der Ziehvater ausspricht, werde ich genau thun.“ „So wird es gut sein,“ antwortete sie. Nach dieser Rede waren alle aufgestanden. „Du bist heuer zu sehr guter Zeit gekommen, Mathilde,“ sagte mein Gastfreund, „keine einzige der Rosen ist noch aufgebrochen; aber alle sind bereit dazu.“ Wir hatten uns während dieser Rede der Thür genähert, und mein Gastfreund hatte mich gebethen, bei der Gesellschaft zu bleiben. Wir gingen bei dem grünen Gitter hinaus, und gingen auf den Sandplaz vor dem Hause. Die Leute mußten von diesem Vorgange schon unterrichtet sein; denn ihrer zwei brachten einen geräumigen Lehnsessel, und stellten ihn in einer gewissen Entfernung mit sei¬ ner Vorderseite gegen die Rosen. Die Frau sezte sich in den Sessel, legte die Hände in den Schoß, und betrachtete die Rosen. Wir standen um sie. Natalie stand zu ihrer Lin¬ ken, neben dieser Gustav, mein Gastfreund stand hinter dem Stuhle, und ich stellte mich, um nicht zu nahe an Natalie zu sein, an die rechte Seite und et¬ was weiter zurück. Nachdem die Frau eine ziemliche Zeit gesessen war, stand sie schweigend auf, und wir verließen den Plaz. Wir gingen nun in das Schreinerhaus. Eustach war nicht bei der allgemeinen Bewillkommnung im Speisezimmer gewesen. Er mußte wohl als Künstler betrachtet werden, dem man einen Besuch zudenke. Ich erkannte aus dem ganzen Benehmen, daß das Verhältniß in der That so sei, und als das richtigste empfunden werde. Eustach mußte das gewußt haben; denn er stand mit seinen Leuten ohne die grünen Schürzen vor der Thür, um die Angekommenen zu begrüßen. Die Frau dankte freundlich für den Gruß aller, redete Eustach herzlich an, fragte ihn um sein und seiner Leute Wohlbefinden, um ihre Arbeiten und Bestrebungen, und sprach von vergangenen Leistun¬ gen, was ich, da mir diese fremd waren, nicht ganz verstand. Hierauf gingen wir in die Werkstätte, wo die Frau jede der einzelnen Arbeiterstellen besah. In dem Zimmer Eustachs sprach sie die Bitte aus, daß er ihr bei ihrem längeren Aufenthalte manches Ein¬ zelne zeigen, und näher erklären möge. Von dem Schreinerhause gingen wir in die Gärt¬ nerwohnung, wo die Frau ein Weilchen mit den alten Gärtnerleuten sprach. Hierauf begaben wir uns in das Gewächshaus, zu den Ananas, zu den Cacteen und in den Garten. Die Frau schien alle Stellen genau zu kennen; sie blickte mit Neugierde auf die Pläze, auf denen sie gewisse Blumen zu finden hoffte, sie suchte bekannte Vorrichtungen auf, und blickte sogar in Büsche, in denen etwa noch das Nest eines Vogels zu erwarten war. Wo sich etwas seit früher verändert hatte, be¬ merkte sie es, und fragte um die Ursache. So waren wir durch den ganzen Garten bis zu dem großen Kirschbaume und zu der Felderrast gekommen. Dort sprach sie noch etwas mit meinem Gastfreunde über die Ernte und über die Verhältnisse der Nachbarn. Natalie sprach äußerst wenig. Als wir in das Haus zurück gekommen waren, begaben wir uns, da das Mittagsmahl nahe war, auf unsere Zimmer. Mein Gastfreund sagte mir noch vorher, ich möge mich zum Mittagessen nicht umklei¬ den; es sei dieses in seinem Hause selbst bei Besu¬ chen von Fremden nicht Sitte, und ich würde nur auffallen. Ich dankte ihm für die Erinnerung. Als ich, da die Hausglocke zwölf Uhr geschlagen hatte, in das Speisezimmer hinunter gegangen war, fand ich in der That die Gesellschaft nicht umgeklei¬ det. Mein Gastfreund war in den Kleidern, wie er sie alle Tage hatte, und die Frauen trugen die nehm¬ lichen Gewänder, in denen sie den Spaziergang ge¬ macht hatten. Gustav und ich waren wie gewöhnlich. Am oberen Ende des Tisches stand ein etwas grö¬ ßerer Stuhl, und vor ihm auf dem Tische ein Stoß von Tellern. Mein Gastfreund führte, da ein stum¬ mes Gebeth verrichtet worden war, die Frau zu die¬ sem Stuhle, den sie sofort einnahm. Links von ihr saß mein Gastfreund, rechts ich, neben meinem Gast¬ freunde Natalie, und neben ihr Gustav. Mir fiel es auf, daß er die Frau als ersten Gast zu dem Plaze mit den Tellern geführt hatte, den in meiner Eltern Hause meine Mutter einnahm, und von dem aus sie vorlegte. Es mußte aber hier so eingeführt sein; denn wirklich begann die Frau sofort die Teller der Reihe nach mit Suppe zu füllen, die ein junges Auf¬ wartemädchen an die Pläze trug. Mich erfüllte das mit großer Behaglichkeit. Es war mir, als wenn das immer bisher gefehlt hätte. Es war nun etwas wie eine Familie in dieses Haus gekommen, welcher Umstand mir die Wohnung mei¬ ner Eltern immer so lieb und angenehm gemacht hatte. Das Essen war so einfach, wie es in allen Tagen gewesen war, die ich in dem Rosenhause zugebracht hatte. Die Gespräche waren klar und ernst, und mein Gastfreund führte sie mit einer offenen Heiterkeit und Ruhe. Nach dem Essen kam ein großer Korb, welchen Arabella, das Dienstmädchen Mathildens, welches mit den Frauen gekommen war, welches ich aber nicht mehr hatte aussteigen gesehen, herein gebracht hatte. Außer dem Korbe wurde auch ein Pack in grauem Papiere und mit schönen Schnüren zugeschnürt ge¬ bracht, und auf zwei Sessel gelegt, die an der Wand standen. In dem Korbe befanden sich die Geschenke, welche Mathilde den Leuten mitgebracht hatte, und welche jezt ausgepackt waren. Ich sah, daß diese Ge¬ schenkaustheilung gebräuchlich war, und öfter vor¬ kommen mußte. Das Gesinde kam herein, und jede der Personen erhielt etwas Geeignetes, sei es ein schwarzes seidnes Tuch für ein Mädchen oder eine Schürze oder ein Stoff auf ein Kleid, oder sei es für Stifter , Nachsommer. I . 25 einen Mann eine Reihe Silberknöpfe auf eine Weste oder eine glänzende Schnalle auf das Hutband oder eine zierliche Geldtasche. Der Gärtner empfing etwas, das in sehr feine Metallblätter gewickelt war. Ich vermuthete, daß es eine besondere Art von Schnupf¬ tabak sein müsse. Als schon alles ausgetheilt war, als sich schon alle auf das Beste bedankt und aus dem Zimmer ent¬ fernt hatten, wies Mathilde auf den Pack, der noch immer auf den Sesseln lag, und sagte: „Gustav, komme her zu mir.“ Der Jüngling stand auf, und ging um den Tisch herum zu ihr. Sie nahm ihn freundlich bei der Hand, und sagte: „Was noch da liegt, gehört dir. Du hast mich schon lange darum gebethen, und ich habe es dir lange versagen müssen, weil es noch nicht für dich war. Es sind Göthes Werke. Sie sind dein Eigen¬ thum. Vieles ist für das reifere Alter, ja für das reifste. Du kannst die Wahl nicht treffen, nach wel¬ cher du diese Bücher zur Hand nehmen, oder auf spä¬ tere Tage aufsparen sollst. Dein Ziehvater wird zu den vielen Wohlthaten, die er dir erwies, auch noch die fügen, daß er für dich wählt, und du wirst ihm in diesen Dingen eben so folgen, wie du ihm bisher gefolgt hast.“ „Gewiß, liebe Mutter, werde ich es thun, gewiß,“ sagte Gustav. „Die Bücher sind nicht neue und schön eingebun¬ dene, wie du vielleicht erwartest,“ fuhr sie fort. „Es sind dieselben Bücher Göthes, in welchen ich in so mancher Nachtstunde und in so mancher Tagesstunde mit Freude und mit Schmerzen gelesen habe, und die mir oft Trost und Ruhe zuzuführen geeignet wa¬ ren. Es sind meine Bücher Göthes, die ich dir gebe. Ich dachte, sie könnten dir lieber sein, wenn du außer dem Inhalte die Hand deiner Mutter daran fändest, als etwa nur die des Buchbinders und Druckers.“ „O lieber, viel lieber, theure Mutter, sind sie mir,“ antwortete Gustav, „ich kenne ja die Bücher, die mit dem feinen braunen Leder gebunden sind, die feine Goldverzierung auf dem Rücken haben, und in der Goldverzierung die niedlichen Buchstaben tragen, die Bücher, in denen ich dich so oft habe lesen ge¬ sehen, weßhalb es auch kam, daß ich dich schon wie¬ derholt um solche Bücher gebethen habe.“ „Ich dachte es, daß sie dir lieber sind,“ sagte die Frau, „und darum habe ich sie dir gegeben. Da ich 25 * aber auch wohl noch gerne für den Überrest meines Le¬ bens ein Wort von diesem merkwürdigen Manne ver¬ nehmen möchte, werde ich mir die Bücher neu kaufen, für mich haben die neuen die Bedeutung wie die al¬ ten. Du aber nimm die deinigen in Empfang und bringe sie an den Ort, der dir dafür eingeräumt ist.“ Gustav küßte ihr die Hand, und legte seinen Arm wie in unbeholfener Zärtlichkeit auf die Schulter ihres Gewandes. Er sprach aber kein Wort, sondern ging zu den Büchern, und begann, ihre Schnur zu lösen. Als ihm dies gelungen war, als er die Bücher aus den Umschlagpapieren gelöst, und in mehreren geblättert hatte, kam er plözlich mit einem in der Hand zu uns, und sagte: „Aber siehst du Mutter, da sind manche Zeilen mit einem feinen Bleistifte unter¬ strichen, und mit demselben feingespizten Stifte sind Worte an den Rand geschrieben, die von deiner Hand sind. Diese Dinge sind dein Eigenthum, sie sind in den neugekauften Büchern nicht enthalten, und ich darf dir dein Eigenthum nicht entziehen.“ „Ich gebe es dir aber,“ antwortete sie, „ich gebe es dir am liebsten, der du jezt schon von mir entfernt bist, und in Zukunft wahrscheinlich noch viel weiter von mir entfernt leben wirst. Wenn du in den Bü¬ chern liesest, so liesest du das Herz des Dichters und das Herz deiner Mutter, welches, wenn es auch an Werthe tief unter dem des Dichters steht, für dich den unvergleichlichen Vorzug hat, daß es dein Mutterherz ist. Wenn ich an Stellen lesen werde, die ich unterstrichen habe, werde ich denken, hier erinnert er sich an seine Mutter, und wenn meine Augen über Blätter gehen werden, auf welche ich Randbemer¬ kungen niedergeschrieben habe, wird mir dein Auge vorschweben, welches hier von dem Gedruckten zu dem Geschriebenen sehen, und die Schriftzüge von Einer vor sich haben wird, die deine beste Freundin auf der Erde ist. So werden die Bücher immer ein Band zwischen uns sein, wo wir uns auch befinden. Deine Schwester Natalie ist bei mir, sie hört öfter als du meine Worte, und ich höre auch oft ihre liebe Stimme, und sehe ihr freundliches Angesicht.“ „Nein, nein Mutter,“ sagte Gustav, „ich kann die Bücher nicht nehmen, ich beraube dich und Natalie.“ „Natalie wird schon etwas anderes bekommen,“ antwortete die Mutter. „Daß du mich nicht beraubst, habe ich dir schon erklärt, und es war seit längerer Zeit mein wohldurchdachter Wille, daß ich dir diese Bücher geben werde.“ Gustav machte keine Einwendungen mehr. Er nahm ihre Rechte in seine beiden Hände, drückte sie, küßte sie, und ging dann wieder zu den Büchern. Als er alle ausgepackt hatte, holte er einen Die¬ ner, und ließ sie durch ihn in seine Wohnung tragen. Nach dem Essen war es im Plane, daß wir uns zerstreuen sollten, und jeder sich nach seinem Sinne beschäftige. Ich hatte es während des Vorganges mit den Büchern nicht vermocht, auf das Angesicht Nataliens zu schauen, was etwa in ihr vorgehen möge, und was sich in den Zügen spiegle. Ich mußte mir nur denken, sie werde von dem höchsten Beifalle über die Handlung ihrer Mutter durchdrungen sein. Als wir uns aber von dem Tische erhoben, als wir das stumme Gebeth gesprochen, und uns wechselweise verneigt hatten, wobei ich meine Augen immer nur auf meinen alten Gastfreund und auf die Frau ge¬ richtet hatte, und als wir uns jezt anschickten, das Zimmer zu verlassen, und Natalie den Arm Gustavs nahm, und beide Geschwister sich umkehrten, um der Thür zuzugehen, wagte ich es, den Blick zu dem Spiegel zu erheben, in dem ich sie sehen mußte. Ich sah aber fast nichts mehr als die vier ganz gleichen schwarzen Augen sich in dem Spiegel umwenden. Wir traten alle in das Freie. Mein Gastfreund und die Frau begaben sich in eine Wirthschaftstube. Natalie und Gustav gingen in den Garten, er zeigte ihr Verschiedenes, das ihm etwa an dem Her¬ zen lag, oder worüber er sich freute, und sie nahm gewiß den Antheil, den die Schwester an den Bestre¬ bungen des Bruders hat, den sie liebt, auch wenn sie die Bestrebungen nicht ganz verstehen sollte, und sie, wenn es auf sie allein ankäme, nicht zu den ihrigen machen würde. So thut es ja auch Klotilde mit mir in meiner Eltern Hause. Ich stand an dem Eingange des Hauses, und sah den beiden Geschwistern nach, so lange ich sie sehen konnte. Einmal erblickte ich sie, wie sie vorsichtig in ein Gebüsch schauten. Ich dachte mir, er werde ihr ein Vogelnest gezeigt haben, und sie sehe mit Theil¬ nahme auf die winzige befiederte Familie. Ein an¬ deres Mal standen sie bei Blumen, und schauten sie an. Endlich sah ich nichts mehr. Das lichte Ge¬ wand der Schwester war unter den Bäumen und Gesträuchen verschwunden, manche schimmernde Stel¬ len wurden zuweilen noch sichtbar, und dann nichts mehr. Ich ging hierauf in meine Zimmer. Mir war, als müsse ich dieses Mädchen schon irgendwo gesehen haben; aber da ich mich bisher viel mehr mit leblosen Gegenständen oder mit Pflanzen be¬ schäftigt hatte als mit Menschen, so hatte ich keine Geschicklichkeit, Menschen zu beurtheilen, ich konnte mir die Gesichtszüge derselben nicht zurecht legen, sie mir nicht einprägen, und sie nicht vergleichen; daher konnte ich auch nicht ergründen, wo ich Natalie schon einmal gesehen haben könnte. Ich blieb den ganzen Nachmittag in meiner Woh¬ nung. Als die Hize des Tages, welcher ganz heiter war, sich ein wenig gemildert hatte, wurde ich aufgefor¬ dert, einen Spaziergang mit zu machen. An demsel¬ ben nahmen mein Gastfreund Mathilde Natalie Gu¬ stav und ich Theil. Wir gingen durch eine Strecke des Gartens. Mein Gastfreund Mathilde und ich bildeten eine Gruppe, da sie mich in ihr Gespräch gezogen hatten, und wir gingen, wo es die Breite des Sandweges zuließ, nebeneinander. Die andere Gruppe bildeten Natalie und Gustav, und sie gingen eine ziemliche Anzahl Schritte vor uns. Unser Ge¬ spräch betraf den Garten und seine verschiedenen Be¬ standtheile, die sich zu einem angenehmen Aufenthalte wohlthuend ablösten, es betraf das Haus und manche Verzierungen darin, es erweiterte sich auf die Fluren, auf denen wieder der Segen stand, der den Menschen abermals um ein Jahr weiter helfen sollte, und es ging auf das Land über, auf manche gute Verhält¬ nisse desselben und auf anderes, was der Verbesserung bedürfte. Ich sah den zwei hohen Gestalten nach, die vor uns gingen. Gustav ist mir heute plözlich als völ¬ lig erwachsen erschienen. Ich sah ihn neben der Schwe¬ ster gehen, und sah, daß er größer sei als sie. Dieser Gedanke drängte sich mir mehrere Male auf. War er aber auch größer, so war ihre Gestalt feiner und ihre Haltung anmuthiger. Gustav hatte wie sein Ziehva¬ ter nichts auf dem Haupte als die Fülle seiner dichten braunen Locken, und als Natalie den sanft schattenden Strohhut, den sie wie ihre Mutter auf hatte, abge¬ nommen, und an den Arm gehängt hatte, so zeigten ihre Locken genau die Farbe wie die Gustavs, und wenn die Geschwister, die sich sehr zu lieben schienen, sehr nahe an einander gingen, so war es von ferne, als sähe man eine einzige braune glänzende Haar¬ fülle, und als theilen sich nur unten die Gestalten. Wir gingen bei der Pforte hinaus, die gegen den Meierhof führt, gingen aber nicht in den Meierhof, sondern machten einen großen Bogen durch die Fel¬ der, und kamen dann schief über den südlichen Ab¬ hang des Hügels wieder zu dem Hause hinauf. Da die Täge sehr lang waren, so leuchtete noch die Abendröthe, wenn wir von unserem Abendessen, das pünktlich immer zur gleichen Zeit sein mußte, aufstanden. Wir gingen daher heute auch noch nach dem Abendessen in den Garten. Wir gingen zu dem großen Kirschbaume empor. Dort sezten wir uns auf das Bänklein. Mein Gastfreund und Mathilde saßen in der Mitte, so daß ihre Angesichter gegen den Gar¬ ten hinab gerichtet waren. Links von meinem Gast¬ freunde saß ich, rechts von der Mutter saß Natalie und Gustav. Die Lüfte dunkelten immer mehr, ein blasser Schein war über die Wipfel des Gartens, der jezt schwieg, und über das Dach des Hauses gebrei¬ tet. Das Gespräch war heiter und ruhig, und die Kinder wendeten oft ihr Angesicht herüber, um an dem Gespräche Antheil zu nehmen, und gelegentlich selber ein Wort zu reden. Da sich der eine und der andere Stern an dem Himmel entzündete, und in den Tiefen der Garten¬ gesträuche schon die völlige Dunkelheit herrschte, gin¬ gen wir in das Haus und in unsere Zimmer. Ich war sehr traurig. Ich legte meinen Strohhut auf den Tisch, legte meinen Rock ab, und sah bei einem der offenen Fenster hinaus. Es war heute nicht wie damals, da ich zum ersten Male in diesem Hause über dem Rosengitter aus dem offenen Fenster in die Nacht hinausgeschaut hatte. Es standen nicht die Wolken am Himmel, die ihn nach Richtungen durch¬ zogen, und ihm Gestaltung gaben, sondern es brannte bereits über dem ganzen Gewölbe der einfache und ruhige Sternenhimmel. Es ging kein Duft der Rosen zu meiner Nachtherberge herauf, da sie noch in den Knospen waren, sondern es zog die einsame Luft kaum fühlbar durch die Fenster herein, ich war nicht von dem Verlangen belebt wie damals, das Wesen und die Art meines Gastfreundes zu erforschen, dies lag entweder aufgelöst vor mir, oder war nicht zu lö¬ sen. Das Einzige war, daß wieder Getreide außer¬ halb des Sandplazes vor den Rosen ruhig und unbe¬ wegt stand; aber es war eine andere Gattung, und es war nicht zu erwarten, daß es in der Nacht im Winde sich bewegen, und am Morgen, wenn ich die geklärten Augen über die Gegend wendete, vor mir wogen würde. Als die Nacht schon sehr weit vorgerückt war, ging ich von dem Fenster, und obwohl ich jeden Abend gewohnt war, ehe ich mich zur Ruhe begab, zu meinem Schöpfer zu bethen, so kniete ich doch jezt vor dem einfachen Tischlein hin, und that ein heißes inbrünstiges Gebeth zu Gott, dem ich alles und jedes besonders mein Sein und mein Schicksal und das Schicksal der Meinigen anheim stellte. Dann entkleidete ich mich, schloß die Schlösser meiner Zimmer ab, und begab mich zur Ruhe. Als ich schon zum Entschlummern war, kam mir der Gedanke, ich wolle nach Mathilden und ihren Verhältnissen eben so wenig eine Frage thun, als ich sie nach meinem Gastfreunde gethan habe. Ich erwachte sehr zeitig; aber nach der Natur je¬ ner Jahreszeit war es schon ganz licht, ein blauer wolkenloser Himmel wölbte sich über die Hügel, das Getreide unter meinen Füßen wogte wirklich nicht, sondern es stand unbewegt mit starkem Thaue wie mit feurigen Funken angethan in der aufgehenden Sonne da. Ich kleidete mich an, richtete meine Gedanken zu Gott, und sezte mich zu meiner Arbeit. Nach geraumer Zeit hörte ich durch meine Fen¬ ster, welche ich bei weiter fortschreitendem Morgen geöffnet hatte, daß auch am äußersten Ende des Hau¬ ses gegen Osten Fenster erklangen, welche geöffnet wurden. In jener Gegend wohnten die Frauen in den schönen nach weiblicher Art eingerichteten Gemächern. Ich ging zu meinem Fenster, schaute hinaus, und sah wirklich, daß alle Fensterflügel an jenem Theile des Hauses offen standen. Nach einer Zeit, da es bereits zur Stunde des Frühmales ging, hörte ich weibliche Schritte an meiner Thür vorüber der Marmortreppe zugehen, welche mit einem weichen Teppiche belegt war. Ich hatte auch, obwohl sie gedämpft war, wahrscheinlich, um mich nicht zu stören, Gustavs Stimme erkannt. Ich ging nach einer kleinen Weile auch über die Marmortreppe an dem Marmorbilde der Muse vor¬ über in das Speisezimmer hinunter. Der Tag verging ungefähr wie der vorige, und so verflossen nach und nach mehrere. Die Ordnung des Hauses war durch die Ankunft der Frauen fast gar nicht gestört worden, nur daß solche Vorrichtungen vorgenommen werden mußten, welche die Aufmerksamkeit für die Frauen verlangte. Die Unterrichts- und Lernstunden Gustavs wurden ein¬ gehalten wie früher, und ebenso ging die Beschäf¬ tigung meines Gastfreundes ihren Gang. Mathilde betheiligte sich nach Frauenart an dem Hauswesen. Sie sah auf das, was ihren Sohn betraf, und auf alles, was das häusliche Wohl des alten Mannes anging. Sie wurde gar nicht selten in der Küche ge¬ sehen, wie sie mitten unter den Mägden stand, und an den Arbeiten Theil nahm, die da vorfielen. Sie begab sich auch gerne in die Speisekammer in den Keller oder an andere Orte, die wichtig waren. Sie sorgte für die Dinge, welche den Dienstleuten gehör¬ ten, in so ferne sie sich auf ihre Nahrung bezogen oder auf ihre Wohnung oder auf ihre Kleider und Schlafstellen. Sie legte das Linnen die Kleider und anderes Eigenthum des alten Herrn und ihres Soh¬ nes zurecht, und bewirkte, daß, wo Verbesserungen nothwendig waren, dieselben eintreten könnten. Unter diesen Dingen ging sie manches Mal des Tages auf den Sandplaz vor dem Hause, und betrachtete gleich¬ sam wehmüthig die Rosen, die an der Wand des Hauses empor wuchsen. Natalie brachte viele Zeit mit Gustav zu. Die Geschwister mußten sich außerordent¬ lich lieben. Er zeigte ihr alle seine Bücher, nament¬ lich, die neu zu den alten hinzu gekommen waren, er erklärte ihr, was er jezt lerne, und suchte sie in das¬ selbe einzuweihen, wenn sie es auch schon wußte, und früher die nehmlichen Wege gegangen war. Wenn es die Umstände mit sich brachten, schweiften sie in dem Garten herum, und freuten sich all des Lebens, was in demselben war, und freuten sich des gegen¬ seitigen Lebens, das sich an einander schmiegte, und dessen sie sich kaum als eines gesonderten bewußt wur¬ den. Die Zeit, welche alle frei hatten, brachten wir häufig gemeinschaftlich mit einander zu. Wir gingen in den Garten, oder sassen unter einem schattigen Baume, oder machten einen Spaziergang, oder wa¬ ren in dem Meierhofe. Ich vermochte nicht, in die Gespräche so einzugehen, wie ich es mit meinem Gast¬ freunde allein that, und wenn auch Mathilde recht freundlich mit mir sprach, so wurde ich fast immer noch stummer. Die Rosen fingen an, sich stets mehr zu ent¬ wickeln, sehr viele waren bereits aufgeblüht und stündlich öffneten andere den sanften Kelch. Wir gin¬ gen sehr oft hinaus, und betrachteten die Zierde, und es mußte manchmal eine Leiter herbei, um irgend et¬ was Störendes oder Unvollkommenes zu entfernen. Die Mittage waren lieb und angenehm. Auch das, daß Mathilde und Natalie so fein und passend wenn auch einfach angezogen waren, wie ich es von meiner Mutter und Schwester gewohnt war, gab dem Mahle einen gewissen Glanz, den ich früher vermißt hatte. Die Vorhänge waren gegen die unmittelbare Sonne jederzeit zu, und es war eine gebrochene und sanfte Helle in dem Zimmer. Die Abende nach dem Abendessen brachten wir immer im Freien zu, da noch lauter schöne Täge ge¬ wesen waren. Meistens saßen wir bei dem großen Kirschbaume oben, welches bei weitem der schönste Plaz zu einem Abendsize war, obgleich er auch zu jeder andern Zeit, wenn die Hize nicht zu groß war, mit der größten Annehmlichkeit erfüllte. Mein Gastfreund führte die Gespräche klar und warm, und Mathilde konnte ihm entsprechend antworten. Sie wurden mit einer Milde und Einsicht geführt, daß sie immer an sich zogen, daß ich gerne meine Aufmerk¬ samkeit hin richtete, und, wenn sie auch Gewöhnliches betrafen, etwas Neues und Eindringendes zu hören glaubte. Der alte Mann führte dann die Frau im Sternenscheine oder bei dem schwachen Lichte der schmalen Mondessichel, die jezt immer deutlicher in dem Abendrothe schwamm, über den Hügel in das Haus hinab, und die schlanken Gestalten der Kinder gingen an den dunkeln Büschen dahin. Das alles war so einfach klar und natürlich, daß es mir immer war, die zwei Leute seien Eheleute und Besizer dieses Anwesens, Gustav und Natalie seien ihre Kinder, und ich sei ein Freund, der sie hier in diesem abgeschiedenen Winkel der Welt besucht habe, wo sie den stilleren Rest ihres Daseins in Unschein¬ barkeit und Ruhe hinbringen wollten. Eines Tages wurde eine feierliche Mahlzeit in dem Speisezimmer gehalten. Es war Eustach dann der Hausaufseher der alte Gärtner mit seiner Frau der Verwalter des Meierhofes und die Haushälterin Katharina geladen worden. Statt Katharinen mußte ein anderes die Herrschaft in der Küche führen. Es mußte, wie ich aus allem entnahm, jedes Mal bei der Anwesenheit Mathildens die Sitte sein, ein solches Gastmahl abzuhalten; die Leute fanden sich auf eine natürliche Art in die Sache, und die Ge¬ spräche gingen mit einer Gemäßheit vor sich, welche auf Übung deutete. Mathilde konnte sie veranlassen, Stifter , Nachsommer. I . 26 etwas zu sagen, was paßte, und was daher dem Sprechenden ein Selbstgefühl gab, das ihm den Aufenthalt in der Umgebung angenehm machte. Eu¬ stach allein erhielt die Auszeichnung, daß man das bei ihm nicht für nöthig erachtete, er sprach daher auch weniger und nur in allgemeinen Ausdrücken über allgemeine Dinge. Er empfand, daß er der höheren Gesellschaft zugezählt werde, wie ich es auch, da ich ihn näher kennen gelernt hatte, ganz natürlich fand, während die anderen nicht merkten, daß man sie em¬ por hebe. Der Gärtner und seine Frau waren in ihrem weißen reinlichen Anzuge ein sehr liebes greises Paar, welches auch die anderen mit einer gewissen Auszeichnung behandelten. An Speisen war eine et¬ was reichlichere Auswahl als gewöhnlich, die Män¬ ner bekamen einen guten Gebirgswein zum Getränke, für die Frauen wurde ein süßer neben die Backwerke gestellt. Da die Rosen immer mehr der Entfaltung entgegen gingen, wurden einmal Sessel und Stühle in einem Halbkreise auf dem Sandplaze vor dem Hause auf¬ gestellt, so daß die Öffnung des Kreises gegen das Haus sah, und ein langer Tisch wurde in die Mitte gestellt. Wir sezten uns auf die Sessel, der Gärt¬ ner Simon war gerufen worden, Eustach kam, und von den Leuten und Gartenarbeitern konnte kommen, wer da wollte. Sie machten auch Gebrauch davon. Die Rosen wurden einer sehr genauen Beurtheilung unterzogen. Man fragte sich, welche die schönsten seien, oder welche dem Einen oder dem Anderen mehr gefielen. Die Aussprüche erfolgten verschieden, und jedes suchte seine Meinung zu begründen. Es lagen Druckwerke und Abbildungen auf dem Tische, zu de¬ nen man dann seine Zuflucht nahm, ohne eben jedes Mal ihrem Ausspruche beizupflichten. Man that die Frage, ob man nicht Bäumchen versezen solle, um eine schönere Mischung der Farben zu erzielen. Der allgemeine Ausspruch ging dahin, daß man es nicht thun solle, es thäte den Bäumchen wehe, und wenn sie groß wären, könnten sie sogar eingehen; eine zu ängstliche Zusammenstellung der Farben verrathe die Absicht und störe die Wirkung; eine reizende Zufäl¬ ligkeit sei doch das Angenehmste. Es wurde also be¬ schlossen, die Bäume stehen zu lassen, wie sie standen. Man sprach sich nun über die Eigenschaften der ver¬ schiedenen Bäumchen aus, man beurtheilte ihre Treff¬ lichkeit an sich, ohne auf die Blumen Rücksicht zu nehmen, und oft wurde der Gärtner um Auskunft 26 * angerufen. Über die Gesundheit der Pflanzen und ihre Pflege konnte kein Tadel ausgesprochen werden, sie waren heuer so vortrefflich, wie sie alle Jahre vor¬ trefflich gewesen waren. Auf den Tisch wurden nun Erfrischungen gestellt, und alle jene Vorrichtungen ausgebreitet, die zu einem Vesperbrote nothwendig sind. Aus den Reden Mathildens sah ich, daß sie mit allen hier befindlichen Rosenpflanzen sehr ver¬ traut sei, und daß sie selbst kleine Veränderungen be¬ merkte, welche seit einem Jahre vorgegangen sind. Sie mußte wohl Lieblinge unter den Blumen haben, aber man erkannte, daß sie allen ihre Neigung in einem hohen Maße zugewendet habe. Ich schloß aus diesem Vorgange wieder, welche Wichtigkeit diese Blumen für dieses Haus haben. Gegen Abend desselben Tages kam ein Besuch in das Rosenhaus. Es war ein Mann, welcher in der Nähe eine bedeutende Besizung hatte, die er sel¬ ber bewirthschaftete, obwohl er sich im Winter eine geraume Zeit in der Stadt aufhielt. Er war von seiner Gattin und zwei Töchtern begleitet. Sie wa¬ ren auf der Rückfahrt von einem Besuche begriffen, den sie in einem entfernteren Theile der Gegend ge¬ macht hatten, und waren, wie sie sagten, zu dem Hause herauf gefahren, um zu sehen, ob die Rosen schon blühten, und um die gewöhnliche Pracht zu bewun¬ dern. Sie hatten im Sinne, am Abende wieder fort zu fahren, allein da die Zeit schon so weit vorgerückt war, drang mein Gastfreund in sie, die Nacht in sei¬ nem Hause zuzubringen, in welches Begehren sie auch einwilligten. Die Pferde und der Wagen wurden in den Meierhof gebracht, den Reisenden wurden Zim¬ mer angewiesen. Sie gingen aus denselben aber wieder sehr bald hervor, man begab sich auf den Sandplaz vor dem Hause, und die Rosenschau wurde aufs Neue vorge¬ nommen. Es waren zum Theile noch die Stühle vor¬ handen, die man heute herausgetragen hatte, obwohl der Tisch schon weggeräumt war. Die Mutter sezte sich auf einen derselben, und nöthigte Mathilden, ne¬ ben ihr Plaz zu nehmen. Die Mädchen gingen neben den Rosen hin, und man redete viel von den Blumen und bewunderte sie. Vor dem Abendessen wurde noch ein Gang durch den Garten und einen Theil der Felder gemacht, dann begab sich alles auf seine Zimmer. Da die Stunde zu dem Abendmahle geschlagen hatte, versammelte man sich wieder in dem Speise¬ saale. Der Fremde und seine Begleiterinnen hatten sich umgekleidet, der Mann erschien sogar im schwar¬ zen Fracke, die Frauen hatten einen Anzug, wie man ihn in der Stadt bei nicht festlichen aber freund¬ schaftlichen Besuchen hat. Wir waren in unseren ge¬ wöhnlichen Kleidern. Aber gerade durch den Anzug der Fremden, an dem sachgemäß nichts zu tadeln war, was ich recht gut beurtheilen konnte, weil ich solche Gewänder an meiner Mutter und Schwester oft sah, und auch oft Urtheile darüber hörte, wurden unsere Kleider nicht in den Schatten gestellt, sondern sie thaten eher denen der Fremden wenigstens in mei¬ nen Augen Abbruch. Der gepuzte Anzug erschien mir auffallend und unnatürlich, während der andere ein¬ fach und zweckmäßig war. Es gewann den Anschein, als ob Mathilde Natalie mein alter Gastfreund und selbst Gustav bedeutende Menschen wären, indeß jene einige aus der großen Menge darstellten, wie sie sich überall befinden. Ich betrachtete während der Zeit des Essens und nachher, da wir uns noch eine Weile in dem Speise¬ zimmer aufhielten, sogar auch die Schönheit der Mädchen. Die ältere von den beiden Töchtern der Fremden — wenigstens mir erschien sie als die ältere — hieß Julie. Sie hatte braune Haare wie Natalie. Dieselben waren reich und waren schön um die Stirne geordnet. Die Augen waren braun groß und blickten mild. Die Wangen waren fein und ebenmäßig, und der Mund war äußerst sanft und wohlwollend. Ihre Gestalt hatte sich neben den Rosen und auf dem Spa¬ ziergange als schlank und edel, und ihre Bewegungen hatten sich als natürliche und würdevolle gezeigt. Es lag ein großer hinziehender Reiz in ihrem Wesen. Die jüngere, welche Appolonia hieß, hatte gleichfalls braune aber lichtere Haare als die Schwester. Sie waren eben so reich und wo möglich noch schöner ge¬ ordnet. Die Stirne trat klar und deutlich von ihnen ab, und unter derselben blickten zwei blaue Augen nicht so groß wie die braunen der Schwester aber noch einfacher gütevoller und treuer hervor. Diese Augen schienen von dem Vater zu kommen, der sie auch blau hatte, während die der Mutter braun waren. Die Wangen und der Mund erschienen noch feiner als bei der Schwester und die Gestalt fast unmerkbar kleiner. War ihr Benehmen minder anmuthig als das der Schwester, so war es treuherziger und lieblicher. Meine Freunde in der Stadt würden gesagt haben, es seien zwei hinreißende Wesen, und sie waren es auch. Natalie — ich weiß nicht, war ihre Schönheit unendlich größer, oder war es ein anderes Wesen in ihr, welches wirkte — ich hatte aber dieses Wesen noch in einem geringen Maße zu ergründen ver¬ mocht, da sie sehr wenig zu mir gesprochen hatte, ich hatte ihren Gang und ihre Bewegungen nicht beur¬ theilen können, da ich mir nicht den Muth nahm, sie zu beobachten, wie man eine Zeichnung beobachtet — aber sie war neben diesen zwei Mädchen weit höher, wahr klar und schön, daß jeder Vergleich aufhörte. Wenn es wahr ist, daß Mädchen bezaubernd wirken können, so konnten die zwei Schwestern bezaubern; aber um Natalie war etwas wie ein tiefes Glück ver¬ breitet. Mathilde und mein Gastfreund schienen diese Fa¬ milie sehr zu lieben und zu achten, das zeigte das Be¬ nehmen gegen sie. Die Mutter der zwei Mädchen schien ungefähr vierzig Jahre alt zu sein. Sie hatte noch alle Frische und Gesundheit einer schönen Frau, deren Gestalt nur etwas zu voll war, als daß sie zu einem Gegen¬ stande der Zeichnung hätte dienen können, wie man wenigstens in Zeichnungen gerne schöne Frauen vor¬ stellt. Ihr Gespräch und ihr Benehmen zeigte, daß sie in der Welt zu dem sogenannten vorzüglicheren Umgang gehöre. Der Vater schien ein kenntnißvoller Mann zu sein, der mit dem Benehmen der feineren Stände der Stadt die Einfachheit der Erfahrung und die Güte eines Landwirthes verband, auf den die Natur einen sanften Einfluß übte. Ich hörte seiner Rede gerne zu. Mathilde erschien bedeutend älter als die Mutter der zwei Mädchen, sie schien einstens wie Natalie gewesen zu sein, war aber jezt ein Bild der Ruhe und, ich möchte sagen, der Vergebung. Ich weiß nicht, warum mir in den Tagen dieser Ausdruck schon mehrere Male einfiel. Sie sprach von den Ge¬ genständen, welche von den Besuchenden vorgebracht wurden, brachte aber nie ihre eigenen Gegenstände zum Gespräche. Sie sprach mit Einfachheit, ohne von den Gegenständen beherrscht zu werden, und ohne die Gegenstände ausschließlich beherrschen zu wollen. Mein Gastfreund ging in die Ansichten sei¬ nes Gutsnachbars ein, und redete in der ihm eigen¬ thümlichen klaren Weise, wobei er aber auch die Höf¬ lichkeit beging, den Gast die Gegenstände des Ge¬ spräches wählen zu lassen. So saßen diese zwei Abtheilungen von Menschen an demselben Tische, und bewegten sich in demselben Zimmer, wirklich zwei Abtheilungen von Menschen. Daraus, daß sie gerade zur Rosenblüthe herauf gefahren waren, erkannte ich, daß die Nachbarn mei¬ nes Gastfreundes nicht blos um seine Vorliebe für diese Blumen wußten, sondern daß sie etwa auch An¬ theil daran nahmen. Es wurde nach dem Essen nicht mehr ein Spa¬ ziergang gemacht, wie in diesen Tagen, sondern man blieb in Gesprächen bei einander, und ging später, als es sonst in diesem Hause gebräuchlich war, zur Ruhe. Am anderen Morgen wurde das Frühmahl in dem Garten eingenommen, und nachdem man sich noch eine Weile in dem Gewächshause aufgehalten hatte, fuhren die Gäste mit der wiederholt vorge¬ brachten Bitte fort, sie doch auch recht bald auf ihrem Gute zu besuchen, was zugesagt wurde. Nach dieser Unterbrechung gingen die Tage auf dem Rosenhause dahin, wie sie seit der Ankunft der Frauen dahin gegangen waren. Die Zeit, welche jedes frei hatte, brachten wir wieder öfter gemein¬ schaftlich zu. Ich wurde nicht selten in diesen Zeiten ausdrücklich zur Gesellschaft geladen. Natalie hatte auch ihre Lernstunden, welche sie gewissenhaft hielt. Gustav sagte mir, daß sie jezt Spanisch lerne, und spanische Bücher mit hieher gebracht habe. Ich hatte doch den Raum, welchen man mir in dem sogenann¬ ten Steinhause eingeräumt hatte, benüzt, und hatte mehrere meiner Gegenstände dort hingebracht. Gu¬ stav las bereits in den Büchern von Göthe. Sein Ziehvater hatte ihm Hermann und Dorothea ausge¬ wählt, und ihm gesagt, er solle das Werk so genau und sorgfältig lesen, daß er jeden Vers völlig ver¬ stehe, und wo ihm etwas dunkel sei, dort solle er fra¬ gen. Mir war es rührend, daß die Bücher alle in Gustavs Zimmer aufgestellt waren, und daß man das Zutrauen hatte, daß er kein anderes lesen werde, als welches ihm von dem Ziehvater bezeichnet worden sei. Ich kam oft zu ihm, und wenn ich nach der Kenntniß, die ich bereits von seinem Wesen gewon¬ nen hatte, nicht gewußt hätte, daß er sein Versprechen halten werde, so hätte ich mich durch meine Besuche von dieser Thatsache überzeugt. Mathilde und Na- talie standen oft dabei, wenn mein Gastfreund für seine gefiederten Gäste auf der Fütterungstenne Kör¬ ner streute, und nicht selten, wenn ich des Morgens von einem Gange durch den Garten zurückkam, sah ich, daß bei der Fütterung in dem Eckzimmer, an des¬ sen Fenstern die Fütterungsbrettchen angebracht wa¬ ren, eine schöne Hand thätig sei, die ich für Nata¬ liens erkannte. Wir besuchten manchmal die Nester, in welchen noch gebrütet wurde oder sich Junge be¬ fanden. Die meisten aber waren schon leer, und die Nachkommenschaft wohnte bereits in den Zweigen der Bäume. Oft befanden wir uns in dem Schreiner¬ hause, sprachen mit den Leuten, betrachteten die Fortschritte der Arbeit, und redeten darüber. Wir be¬ suchten sogar auch Nachbaren, und sahen uns in ihrer Wirthschaftlichkeit um. Wenn wir in dem Hause wa¬ ren, befanden wir uns in dem Arbeitszimmer mei¬ nes Gastfreundes, es wurde etwas gelesen, oder es wurde ein geistansprechender Versuch in dem Zimmer der Naturlehre gemacht, oder wir waren in dem Bil¬ derzimmer oder in dem Marmorsaale. Mein Gast¬ freund mußte oft seine Kunst ausüben, und das Wet¬ ter voraussagen. Immer, wenn er eine bestimmte Aussage machte, traf sie ein. Oft verweigerte er aber diese Aussage, weil, wie er erklärte, die Anzeigen nicht deutlich und verständlich genug für ihn seien. Zuweilen waren wir auch in den Zimmern der Frauen. Wir kamen dahin, wenn wir dazu geladen waren. Das kleine lezte Zimmerchen mit der Tapeten¬ thür gehörte insbesondere Mathilden. Ich hatte es Rosenzimmer genannt, und es wurde scherzweise der Name beibehalten. Mir war es ein anmuthiger Ein¬ druck, daß ich sah, wie liebend und wie hold dieses Zimmer für die alte Frau eingerichtet worden war. Es herrschte eine zusammenstimmende Ruhe in diesem Zimmer mit den sanften Farben blaßroth weißgrau grün mattveilchenblau und Gold. In all das sah die Landschaft mit den lieblichen Gestalten der Hochge¬ birge herein. Mathilde saß gerne auf dem eigenthüm¬ lichen Sessel am Fenster, und sah mit ihrem schönen Angesichte hinaus, dessen Art mein Gastfreund einmal mit einer welkenden Rose verglichen hatte. In den Zimmern las zuweilen Natalie etwas vor, wenn mein Gastfreund es verlangte. Sonst wurde gesprochen. Ich sah auf ihrem Tische Papiere in schö¬ ner Ordnung und neben ihnen Bücher liegen. Ich konnte es nie über mich bringen, auch nur auf die Aufschrift dieser Bücher zu sehen, viel weniger gar eines zu nehmen und hinein zu schauen. Es thaten dies auch andere nie. An dem Fenster stand ein ver¬ hüllter Rahmen, an dem sie vielleicht etwas arbeitete; aber sie zeigte nichts davon. Gustav, wahrscheinlich aus Neigung zu mir, um mich mit den schönen Din¬ gen zu erfreuen, die seine Schwester verfertigte, ging sie wiederholt darum an. Sie lehnte es aber jedes Mal auf eine einfache Art ab. Ich hatte einmal in einer Nacht, da meine Fenster offen waren, Zithertöne vernommen. Ich kannte dieses Musikgeräth des Ge¬ birges sehr gut, ich hatte es bei meinen Wanderungen sehr oft und von den verschiedensten Händen spie¬ len gehört, und hatte mein Ohr für seine Klänge und Unterschiede zu bilden gesucht. Ich ging an das Fen¬ ster und hörte zu. Es waren zwei Zithern, die im östlichen Flügel des Hauses abwechselnd gegen einan¬ der und mit einander spielten. Wer Übung im Hö¬ ren dieser Klänge hat, merkt es gleich, ob auf dersel¬ ben Zither oder auf verschiedenen und von denselben Händen oder verschiedenen gespielt wird. In den Ge¬ mächern der Frauen sah ich später die zwei Zithern liegen. Es wurde aber in unserer Gegenwart nie darauf gespielt. Mein Gastfreund verlangte es nicht, ich ohnehin nicht, und in dieser Angelegenheit beob¬ achtete auch Gustav eine feste Enthaltung. Indessen war nach und nach die Zeit herange¬ rückt, in welcher die Rosen in der allerschönsten Blüthe standen. Das Wetter war sehr günstig gewe¬ sen. Einige leichte Regen, welche mein Gastfreund vorausgesagt hatte, waren dem Gedeihen bei weitem förderlicher gewesen, als es fortdauernd schönes Wet¬ ter hätte thun können. Sie kühlten die Luft von zu großer Hize zu angenehmer Milde herab, und wu¬ schen Blatt Blume und Stengel viel reiner von dem Staube, der selbst in weit von der Straße entfernten und mitten in Feldern gelegenen Orten doch nach lange andauerndem schönem Wetter sich auf Dächern Mauern Zäunen Blättern und Halmen sammelt, als es die Sprühregen, die mein Gastfreund ein paar Male durch seine Vorrichtung unter dem Dache auf die Rosen hatte ergehen lassen, zu thun im Stande gewesen waren. Unter dem klarsten, schönsten und tiefsten Blau des Himmels standen nun eines Tages Tausende von den Blumen offen, es schien, daß keine einzige Knospe im Rückstande geblieben und nicht aufgegangen ist. In ihrer Farbe von dem reinsten Weiß in gelbliches Weiß in Gelb in blasses Roth in feuriges Rosenroth in Purpur in Veilchenroth in Schwarzroth zogen sie an der Fläche dahin, daß man bei lebendiger Anschauung versucht wurde, jenen al¬ ten Völkern Recht zu geben, die die Rosen fast gött¬ lich verehrten, und bei ihren Freuden und Festen sich mit diesen Blumen bekränzten. Man war täglich theils einzeln theils zusammen zu dem Rosengitter gekom¬ men, um die Fortschritte zu betrachten, man hatte ge¬ legentlich auch andere Rosentheile und Rosenanlagen in dem Garten besucht; allein an diesem Tage er¬ klärte man einmüthig, jezt sei die Blüthe am schön¬ sten, schöner vermöge sie nicht mehr zu werden, und von jezt an müsse sie abzunehmen beginnen. Dies hatte man zwar auch schon einige Tage früher gesagt; jezt aber glaubte man sich nicht mehr zu irren, jezt glaubte man auf dem Gipfel angelangt zu sein. So weit ich mich auf das vergangene Jahr zu erinnern vermochte, in welchem ich auch diese Blumen in ihrer Blüthe angetroffen hatte, waren sie jezt schöner als damals. Es kamen wiederholt Besuche an, die Rosen zu sehen. Die Liebe zu diesen Blumen, welche in dem Rosenhause herrschte, und die zweckmäßige Pflege, welche sie da erhielten, war in der Nachbarschaft be¬ kannt geworden, und da kamen manche, welche sich wirklich an dem ungewöhnlichen Ergebnisse dieser Zucht ergözen wollten, und andere, die dem Besizer etwas Angenehmes erzeigen wollten, und wieder an¬ dere, die nichts besseres zu thun wußten, als nachzu¬ ahmen, was ihre Umgebung that. Alle diese Arten waren nicht schwer von einander zu unterscheiden. Die Behandlung derselben war von Seite meines Gast¬ freundes so fein, daß ich es nicht von ihm vermuthet hatte, und daß ich diese Eigenschaft an ihm erst jezt, wo ich ihn unter Menschen beobachten konnte, ent¬ deckte. Auch Bauern kamen zu verschiedenen Zeiten, und bathen, daß sie die Rosen anschauen dürfen. Nicht nur die Rosen wurden ihnen gezeigt, sondern auch alles andere im Hause und Garten, was sie zu sehen wünschten, besonders aber der Meierhof, in so ferne sie ihn nicht kannten, oder ihnen die lezten Verän¬ derungen in demselben neu waren. Eines Tages kam auch der Pfarrer von Rohr¬ berg, den ich bei meinem vorjährigen Besuche in dem Rosenhause getroffen hatte. Er zeichnete sich einige Rosen in ein Buch, das er mitgebracht hatte, und wendete sogar Wasserfarben an, um die Farben der Blumen so getreu als nur immer möglich ist, nach¬ zuahmen. Die Zeichnung aber sollte keine Kunstab¬ bildung von Blumen sein, sondern er wollte sich nur solche Blumen anmerken und von ihnen den Eindruck aufbewahren, deren Art er in seinen Garten zu verpflanzen wünschte. Es bestand nehmlich schon seit Stifter , Nachsommer. I . 27 lange her zwischen meinem Gastfreunde und dem Pfarrer das Verhältniß, daß mein Gastfreund dem Pfarrer Pflanzen gab, womit dieser seinen Garten zieren wollte, den er theils neu um das Pfarrhaus angelegt, theils erweitert hatte. Unter allen aber schien Mathilde die Rosen am meisten zu lieben. Sie mußte überhaupt die Blumen sehr lieben; denn auf den Blumentischen in ihren Zimmern standen stets die schönsten und frischesten des Gartens, auch wurde gerne auf dem Tische, an wel¬ chem wir speisten, eine Gruppe von Gartentöpfen mit ihren Blumen zusammengestellt. Abgebrochen oder abgeschnitten und in Gläser mit Wasser gestellt durf¬ ten in diesem Hause keine Blumen werden, außer sie waren welk, so daß man sie entfernen mußte. Den Rosen aber wendete sie ihr meistes Augenmerk zu. Nicht nur ging sie zu denen, welche im Garten in Sträuchen Bäumchen und Gruppen standen, und be¬ kümmerte sich um ihre Hegung und Pflege, sondern sie besuchte auch ganz allein, wie ich schon früher be¬ merkt hatte, die, welche an der Wand des Hauses blühten. Oft stand sie lange davor, und betrachtete sie. Zuweilen holte sie sich einen Schemel, stieg auf ihn, und ordnete in den Zweigen. Sie nahm entwe¬ der ein welkes Laubblatt ab, das den Blicken der an¬ dern entgangen war, oder bog eine Blume heraus, die am vollkommenen Aufblühen gehindert war, oder las ein Käferchen ab, oder lüftete die Zweige, wo sie sich zu dicht und zu buschig gedrängt hatten. Zuwei¬ len blieb sie auf dem Schemel stehen, ließ die Hand sinken, und betrachtete wie im Sinnen die vor ihr ausgebreiteten Gewächse. Wirklich war der Tag, den man als den schönsten der Rosenblüthe bezeichnet hatte, auch der schönste ge¬ wesen. Von ihm an begann sie abzunehmen, und die Blumen fingen an zu welken, so daß man öfter die Leiter und die Scheere zur Hand nehmen mußte, um Verunzierungen zu beseitigen. Auch zwei fremde Reisende waren in das Rosen¬ haus gekommen, welche sich eine Nacht und einen Theil des darauf folgenden Vormittages in demselben aufgehalten hatten. Sie hatten den Garten die Fel¬ der und den Meierhof besehen. In seine Zimmer und in die Schreinerei hatte sie mein Gastfreund nicht ge¬ führt, woraus ich die mir angenehme Bemerkung zog, daß er mir bei meiner ersten Ankunft in seinem Hause eine Bevorzugung gab, die nicht jedem zu Theil wurde, 27 * daß ich also eine Art Zuneigung bei ihm gefunden haben mußte. Gegen das Ende der Rosenblüthe kam Eustachs Bruder Roland in das Haus. Da er sich mehrere Tage in demselben aufhielt, fand ich Gelegenheit, ihn genauer zu beobachten. Er hatte noch nicht die Bil¬ dung seines Bruders auch nicht dessen Biegsamkeit; aber er schien mehr Kraft zu besizen, die seinen Be¬ schäftigungen einen wirksamen Erfolg versprach. Was mir auffiel, war, daß er mehrere Male seine dunkeln Augen länger auf Natalien heftete, als mir schicklich erscheinen wollte. Er hatte eine Reihe von Zeichnun¬ gen gebracht, und wollte noch einen entfernteren Theil des Landes besuchen, ehe er wiederkehrte, um den Stoff vollkommen zu ordnen. Ehe Mathilde und Natalie das Rosenhaus ver¬ ließen, mußte noch der versprochene Besuch auf dem Gute des Nachbars, welches Ingheim hieß, und von dem Volke nicht selten der Inghof genannt wurde, gemacht werden. Es wurde hingeschickt, und ein Tag genannt, an dem man kommen wollte, welcher auch angenommen wurde. Am Morgen dieses Tages wur¬ den die braunen Pferde, mit denen Mathilde gekom¬ men war, und die sie die Zeit über in dem Meierhofe gelassen hatte, vor den Wagen gespannt, der die Frauen gebracht hatte, und Mathilde und Natalie sezten sich hinein. Mein Gastfreund Gustav und ich, der ich eigens in die Bitte des Gegenbesuchs einge¬ schlossen worden war, stiegen in einen anderen Wa¬ gen, der mit zwei sehr schönen Grauschimmeln mei¬ nes Gastfreundes bespannt war. Eine rasche Fahrt von einer Stunde brachte uns an den Ort unserer Bestimmung. Ingheim ist ein Schloß, oder eigent¬ lich sind zwei Schlösser da, welche noch von mehreren anderen Gebäuden umgeben sind. Das alte Schloß war einmal befestigt. Die grauen aus großen vier¬ eckigen Steinen erbauten runden Thürme stehen noch, ebenso die graue aus gleichen Steinen erbaute Mauer zwischen den Thürmen. Beide Theile beginnen aber oben zu verfallen. Hinter den Thürmen und Mauern steht das alte unbewohnte ebenfalls graue Haus, scheinbar unversehrt; aber von den mit Brettern ver¬ schlagenen Fenstern schaut die Unbewohntheit und Ungastlichkeit herab. Vor diesen Werken des Alter¬ thums steht das neue weiße Haus, welches mit sei¬ nen grünen Fensterläden und dem rothen Ziegeldache sehr einladend aussieht. Wenn man von der Ferne kömmt, meint man, es sei unmittelbar an das alte Schloß angebaut, welches hinter ihm emporragt. Wenn man aber in dem Hause selber ist, und hinter dasselbe geht, so sieht man, daß das alte Gemäuer noch ziemlich weit zurück ist, daß es auf einem Felsen steht, und daß es durch einen breiten mit einem Obst¬ baumwald bedeckten Graben von dem neuen Hause getrennt ist. Auch kann man in der Ferne wegen der ungewöhnlichen Größe des alten Schlosses die Ge¬ räumigkeit des neuen Hauses nicht ermessen. Sobald man sich aber in demselben befindet, so erkennt man, daß es eine bedeutende Räumlichkeit habe, und nicht bloß für das Unterkommen der Familie gesorgt ist, sondern auch eine ziemliche Zahl von Gästen noch keine Ungelegenheit bereitet. Ich hatte wohl den Na¬ men des Schlosses öfter gehört, dasselbe aber nie ge¬ sehen. Es liegt so abseits von den gewöhnlichen We¬ gen, und ist durch einen großen Hügel so gedeckt, daß es von Reisenden, welche durch diese Gegend ge¬ wöhnlich den Gebirgen zugehen, nicht gesehen wer¬ den kann. Als wir uns näherten, entwickelten sich die mehreren Bauwerke. Zuerst kamen wir zu den Wirth¬ schaftsgebäuden oder der sogenannten Meierei. Die¬ selben standen, wie es bei vielen Besizungen in un¬ serem Lande der Brauch ist, ziemlich weit entfernt von dem Wohnhause, und bildeten eine eigene Abtheilung. Von da führte der Weg durch eine Allee uralter gro¬ ßer Linden eine Strecke gegen das neue Haus. Die Allee ist ein Bruchstück von derjenigen, die einmal gegen die Zugbrücke des alten Schlosses hinauf ge¬ führt hatte; sie brach daher ab, und wir fuhren die übrige Strecke durch schönen grünen Rasen, der mit einzelnen Blumenhügeln geschmückt war, dem Hause zu. Dasselbe war von weißlich grauer Farbe, und hatte säulenartige Streifen und Friese. Alle Fen¬ ster, soweit die geöffneten Läden eine Einsicht zu¬ ließen, zeigten von Innen schwere Vorhänge. Als der Wagen der Frauen unter dem Überdache der Vor¬ fahrt hielt, stand schon der Herr von Ingheim sammt seiner Gattin und seinen Töchtern am Ende der Treppe zur Bewillkommung. Sie waren alle mit Geschmack gekleidet, so wie die Dienerschaft, die hinter ihnen stand, in Festkleidern war. Der Herr half den Frauen aus dem Wagen, und da wir mittlerweile auch aus¬ gestiegen und herzugekommen waren, wurden wir von der ganzen Familie begrüßt und die Treppe hinauf geleitet. Man führte uns in ein großes Empfang¬ zimmer, und wies uns Pläze an. Mathilde und Na¬ talie hatten zwar festlichere Kleider an, als sie im Rosenhause trugen, aber dieselben, so edel der Stoff war, zeigten doch keine übermäßige Verzierung oder gar Überladung. Mein Gastfreund Gustav und ich waren gekleidet, wie man es zu ländlichen Besuchen zu sein pflegt. So ließen wir uns in die prachtvollen Polster, die hier überall ausgelegt waren, nieder. Auf einem Tische, über den ein schöner Teppich gebreitet war, standen Erfrischungen verschiedener Art. Andere Tische, die noch in dem Zimmer standen, waren un¬ bedeckt. Die Geräthe waren von Mahagoniholz und schienen aus der ersten Werkstätte der Stadt zu stam¬ men. Eben so waren die Spiegel die Kronleuch¬ ter und andere Dinge des Zimmers. Eine Ecke an einem Fenster nahm ein sehr schönes Clavier ein. Die ersten Gespräche betrafen die gewöhnlichen Dinge über Wohlbefinden über Wetter über Gedeihen der Feld- und Gartengewächse. Die Männer nannten sich wechselweise Nachbar, die Frauen benannten sich gar nicht. Als man etwas Weniges von den dastehenden Speisen genommen hatte, erhob man sich, und wir gingen durch die Zimmer. Es war eine Reihe, deren Fenster größtentheils gegen Mittag auf die Landschaft hinaus gingen. Alle waren sehr schön nach neuer Art eingerichtet, besonders reich waren die Palisanderge¬ räthe im Empfangszimmer der Frau, in welchem so wie in dem Arbeitszimmer der Mädchen wieder Cla¬ viere standen. Der Herr des Hauses führte besonders mich in den Räumen herum, dem sie noch fremd wa¬ ren. Die übrige Gesellschaft folgte uns gelegentlich in das eine oder andere Gemach. Aus den Zimmern ging man in den Garten. Derselbe war wie viele wohlgehaltene und schöne Gärten in der Nähe der Stadt. Schöne Sandgänge, grüne ausgeschnittene Rasenpläze mit Blumenstücken, Gruppen von Zier- und Waldgebüschen, ein Ge¬ wächshaus mit Camellien Rhododendren Azaleen Eri¬ ken Calceolarien und vielen neuholländischen Pflan¬ zen, endlich Ruhebänke und Tische an geeigneten schattigen Stellen. Der Obstgarten als Nüzlichkeits¬ stück war nicht bei dem Wohnhause sondern hinter dem Meierhofe. Von dem Garten gingen wir, wie es bei länd¬ lichen Besuchen zu geschehen pflegt, in die Meierei. Wir gingen durch die Reihen der glatten Rinder, die meistens weiß, gestirnt waren, wir besahen die Schafe die Pferde das Geflügel die Milchkammer die Käsebe¬ reitung die Brauerei und ähnliche Dinge. Hinter den Scheuern trafen wir den Gemüsegarten und den sehr weitläufigen Obstgarten an. Von diesen gingen wir in die wohlbestellten Felder und in die Wiesen. Der Wald, welcher zu der Besizung gehört, wurde mir in der Ferne gezeigt. Nachdem wir unsern ziemlich bedeutenden Spa¬ ziergang beendigt hatten, wurden wir in eine eben¬ erdige große Speisehalle geführt, in welcher der Mit¬ tagtisch gedeckt war. Ein einfaches aber ausgesuchtes Mahl wurde aufgetragen, wobei die Dienerschaft hinter unseren Stühlen stehend bediente. Hatte sich die Familie Ingheim schon bei dem Besuche auf dem Rosenhause als unter die gebildeten gehörig gezeigt, so war dies bei unserem Empfange in ihrem eigenen Hause wieder der Fall. Sowohl bei Vater und Mut¬ ter als auch bei den Mädchen war Einfachheit Ruhe und Bescheidenheit. Die Gespräche bewegten sich um mehrere Gegenstände, sie rissen sich nicht einseitig nach einer gewissen Richtung hin, sondern schmiegten sich mit Maß der Gesellschaft an. Einen Theil der Zeit nach dem Mittagessen brachten wir in den Zimmern des ersten Stockwerkes zu. Es wurde Musik gemacht, und zwar Clavier und Gesang. Zuerst spielte die Mutter etwas, dann beide Mädchen allein, dann zu¬ sammen. Jedes der Mädchen sang auch ein Lied. Natalie saß in den seidenen Polstern und hörte auf¬ merksam zu. Als man sie aber aufforderte, auch zu spielen, verweigerte sie es. Gegen Abend fuhren wir wieder in das Rosen¬ haus zurück. Als Gustav aus unserem Wagen gesprungen war, als mein Gastfreund und ich denselben verlassen hat¬ ten, und ich die edle schlanke Gestalt Nataliens gegen die Marmortreppe hinzu gehen sah, blieb ich ein Weil¬ chen stehen, und begab mich dann auch in meine Zim¬ mer, wo ich bis zum Abendessen blieb. Dieses war wie gewöhnlich, man machte aber nach demselben an diesem Tage keinen Spaziergang mehr. Ich ging in mein Schlafzimmer, öffnete die Fen¬ ster, die man troz des warmen Tages, weil ich ab¬ wesend gewesen war, geschlossen gehalten hatte, und lehnte mich hinaus. Die Sterne begannen sachte zu glänzen, die Luft war mild und ruhig, und die Ro¬ sendüfte zogen zu mir herauf. Ich gerieth in tiefes Sinnen. Es war mir wie im Traume, die Stille der Nacht und die Düfte der Rosen mahnten an Ver¬ gangenes; aber es war doch heute ganz anders. Nach diesem Besuche auf dem Inghofe folgten mehrere Regentage, und als diese beendigt waren, und wieder dem Sonnenscheine Plaz machten, war auch die Zeit heran genaht, in welcher Mathilde und Natalie das Rosenhaus verlassen sollten. Es war schon mehreres gepackt worden, und darunter sah ich auch die beiden Zithern, die man in sammtene Fächer that, welche ihrerseits wieder in lederne Behältnisse gesteckt wurden. Endlich war der Tag der Abreise festgesezt worden. Am Abende vorher war schon das Hauptsäch¬ lichste, was mitgenommen werden sollte, in den Wagen geschafft, und die Frauen hatten am Nach¬ mittage an mehreren Stellen Abschied genommen: bei den Gärtnerleuten in der Schreinerei und im Meierhofe. Am andern Morgen erschienen sie bei dem Früh¬ mahle in Reisekleidern, während noch Arabella das Dienstmädchen Mathildens diejenigen Sachen, die bis zu dem lezten Augenblicke im Gebrauch gewesen waren, in den Wagen packte. Nach dem Frühmahle, als die Frauen schon die Reisehüte aufhatten, sagte Mathilde zu meinem Gast¬ freunde: „Ich danke dir, Gustav, lebe wohl, und komme bald in den Sternenhof.“ „Lebe wohl, Mathilde,“ sagte mein Gastfreund. Die zwei alten Leute küßten sich wieder auf die Lippen, wie sie es bei der Ankunft Mathildens gethan hatten. „Lebe wohl, Natalie,“ sagte er dann zu dem Mädchen. Dasselbe erwiederte nur leise die Worte: „Dank für alle Güte.“ Mathilde sagte zu dem Knaben: „Sei folgsam, und nimm dir deinen Ziehvater zum Vorbilde.“ Der Knabe küßte ihr die Hand. Dann zu mir gewendet sprach sie: „Habet Dank für die freundlichen Stunden, die ihr uns in diesem Hause gewidmet habt. Der Besizer wird euch für euren Besuch wohl schon danken. Bleibt meinem Knaben gut, wie ihr es bisher gewesen seid, und laßt euch seine Anhänglichkeit nicht leid thun. Wenn es eure schöne Wissenschaft zuläßt, so seid unter denen, die von diesem Hause aus den Sternenhof besuchen werden. Eure Ankunft wird dort sehr willkommen sein.“ „Den Dank muß wohl ich zurückgeben für alle die Güte, welche mir von euch und von dem Besizer die¬ ses Hauses zu Theil geworden ist,“ erwiederte ich. „Wenn Gustav einige Zuneigung zu mir hat, so ist wohl die Güte seines Herzens die Ursache, und wenn ihr mich von dem Sternenhofe nicht zurück wei¬ set, so werde ich gewiß unter den Besuchenden sein.“ Ich empfand, daß ich mich auch von Natalien verabschieden sollte; ich vermochte aber nicht, etwas zu sagen, und verbeugte mich nur stumm. Sie er¬ wiederte diese Verbeugung ebenfalls stumm. Hierauf verließ man das Haus, und ging auf den Sandplaz hinaus. Die braunen Pferde standen mit dem Wagen schon vor dem Gitter. Die Haus¬ dienerschaft war herbei gekommen, Eustach mit seinen Arbeitern stand da, der Gärtner mit seinen Leuten und seiner Frau und der Meier mit dem Großknechte aus dem Meierhofe waren ebenfalls gekommen. „Ich danke euch recht schön, lieben Leute,“ sagte Mathilde, „ich danke euch für eure Freundschaft und Güte, seid für euren Herrn treu und gut. Du, Ka¬ tharina, sehe auf ihn und Gustav, daß keinem ein Ungemach zustößt.“ „Ich weiß, ich weiß,“ fuhr sie fort, als sie sah, daß Katharina reden wollte, „du thust alles, was in deinen Kräften ist, und noch mehr, als in deinen Kräften ist; aber es liegt schon so in dem Menschen, daß er um Erfüllung seiner Herzenswünsche bittet, wenn er auch weiß, daß sie ohnehin erfüllt werden, ja daß sie schon erfüllt worden sind.“ „Kommt recht gut nach Hause,“ sagte Katharina, indem sie Mathilden die Hand küßte, und sich mit dem Zipfel ihrer Schürze die Augen trocknete. Alle drängten sich herzu, und nahmen Abschied. Mathilde hatte für ein jedes liebe Worte. Auch von Natalien beurlaubte man sich, die gleichfalls freund¬ lich dankte. „Eustach, vergeßt den Sternenhof nicht ganz,“ sagte Mathilde zu diesem gewendet, „besucht uns mit den anderen. Ich will nicht sagen, daß euch auch die Dinge dort nothwendig haben könnten, ihr sollt un¬ sertwegen kommen.“ „Ich werde kommen, hochverehrte Frau,“ erwie¬ derte Eustach. Nun sprach sie noch einige Worte zu dem Gärtner und seiner Frau, und zu dem Meier, worauf die Leute ein wenig zurück traten. „Sei gut, mein Kind,“ sagte sie zu Gustav, indem sie ihm ein Kreuz mit Daumen und Zeigefinger auf die Stirne machte, und ihn auf dieselbe küßte. Der Knabe hielt ihre Hand fest umschlungen, und küßte sie. Ich sah in seinen großen schwarzen Augen, die in Thränen schwammen, daß er sich gerne an ihren Hals würfe; aber die Scham, die einen Bestandtheil seines Wesens machte, mochte ihn zurück halten. „Bleibe lieb, Natalie,“ sagte mein Gastfreund. Das Mädchen hätte bald die dargereichte Hand geküßt, wenn er es zugelassen hätte. „Theurer Gustav, habe noch einmal Dank,“ sagte Mathilde zu meinem Gastfreunde. Sie hatte noch mehr sagen wollen; aber es brachen Thränen aus ihren Augen. Sie nahm ein weißes feines Tuch und drückte es fest gegen diese Augen, aus denen sie heftig weinte. Mein Gastfreund stand da, und hielt die Augen ruhig; aber es fielen Thränen aus denselben herab. „Reise recht glücklich, Mathilde,“ sagte er endlich, „und wenn bei deinem Aufenthalte bei uns etwas ge¬ fehlt hat, so rechne es nicht unserer Schuld an.“ Sie that das Tuch von den Augen, die noch fortweinten, deutete auf Gustav, und sagte: „Meine größte Schuld steht da, eine Schuld, welche ich wohl nie werde tilgen können.“ „Sie ist nicht auf Tilgung entstanden,“ erwiederte mein Gastfreund. „Rede nicht davon, Mathilde, wenn etwas Gutes geschieht, so geschieht es recht gerne.“ Sie hielten sich noch einen Augenblick bei den Händen, während ein leichtes Morgenlüftchen einige Blätter der abgeblühten Rosen zu ihren Füßen wehte. Dann führte er sie zu dem Wagen, sie stieg ein, und Natalie folgte ihr. Es war nach den mehreren Regentagen ein sehr klarer nicht zu warmer Tag gefolgt. Der Wagen war offen und zurück gelegt. Mathilde ließ den Schleier von dem nehmlichen Hute, den sie bei ihrer Herfahrt gehabt hatte, über ihr Angesicht herabfallen; Natalie aber legte den ihrigen zurück, und gab ihre Augen den Morgenlüften. Nachdem auch noch Arabella in den Wagen gestiegen war, zogen die Pferde an, die Rä¬ der furchten den Sand und der Wagen ging auf dem Wege hinab der Hauptstraße zu. Wir begaben uns wieder in das Haus zurück. Jeder ging in sein Zimmer und zu seinen Ge¬ schäften. Nachdem ich eine Weile in meiner Wohnung ge¬ wesen war, suchte ich den Garten auf. Ich ging zu mehreren Blumen, die in einer für Blumen schon Stifter , Nachsommer. I . 28 so weit vorgerückten Jahreszeit noch blühten, ich ging zu den Gemüsen zu dem Zwergobste und endlich zu dem großen Kirschbaume hinauf. Von demselben ging ich in das Gewächshaus. Ich traf dort den Gärtner, welcher an seinen Pflanzen arbeitete. Als er mich eintreten sah, kam er mir entgegen, und sagte: „Es ist gut, daß ich allein mit euch sprechen kann, habt ihr ihn gesehen?“ „Wen?“ fragte ich. „Nun ihr waret ja auf dem Inghofe,“ antwortete er, „da werdet ihr wohl den Cereus peruvianus an¬ geschaut haben.“ „Nein, den habe ich nicht angeschaut,“ erwiederte ich, indem ich mich wohl des Gespräches erinnerte, in welchem er mir erzählt hatte, daß sich eine so große Pflanze dieser Art in dem Inghofe befinde, „ich habe auf ihn vergessen.“ „Nun, wenn ihr ihn vergessen habt, so wird ihn wohl der Herr angeschaut haben,“ sagte er. „Ich glaube, daß uns niemand auf diese Pflanze aufmerksam gemacht hat, als wir in dem Gewächs¬ hause waren,“ erwiederte ich; „denn wenn jemand an¬ derer sich eigens zu dieser Pflanze gestellt hätte, so hätte ich es gewiß bemerkt, und hätte sie auch angesehen.“ „Das ist sehr sonderbar und sehr merkwürdig,“ sagte er; „nun wenn ihr vergessen habt, den Cereus peruvianus anzusehen, so müßt ihr einmal mit mir hinübergehen; wir brauchen nicht zwei Stunden, und es ist ein angenehmer Weg. So etwas seht ihr nicht leicht anders wo. Sie bringen ihn nie zur Blüthe. Wenn ich ihn hier hätte, so würde er bald so weiß wie meine Haare blühen, natürlich viel weißer. Die unseren sind noch viel zu klein zum Blühen.“ Ich sagte ihm zu, daß ich einmal mit ihm in den Inghof hinübergehen werde, ja sogar, wenn es nicht eine Unschicklichkeit sei, und nicht zu große Hinder¬ nisse im Wege stehen, daß ich auch versuchen werde, dahin zu wirken, daß diese Pflanze zu ihm herüber¬ komme. Er war sehr erfreut darüber, und sagte, die Hin¬ dernisse seien gar nicht groß, sie achten den Cereus nicht, sonst hätten sie ja die Gesellschaft zu ihm hin¬ geführt, und der Herr wolle sich vielleicht keine Ver¬ bindlichkeit gegen den Nachbar auflegen. Wenn ich aber eine Fürsprache mache, so würde der Cereus ge¬ wiß herüber kommen. Wie doch der Mensch überall seine eigenen Ange¬ legenheiten mit sich herum führt, dachte ich, und wie 28 * er sie in die ganze übrige Welt hineinträgt. Dieser Mann beschäftigt sich mit seinen Pflanzen, und meint, alle Leute müßten ihnen ihre Aufmerksamkeit schenken, während ich doch ganz andere Gedanken in dem Haupte habe, während mein Gastfreund seine eigenen Bestrebungen hat, und Gustav seiner Ausbildung ob¬ liegt. Das eine Gute hatte aber die Ansprache des Gärtners für mich, daß sie mich von meinen weh¬ müthigen und schmerzlichen Gefühlen ein wenig ab¬ zog, und mir die Überzeugung brachte, wie wenig Berechtigung sie haben, und wie wenig sie sich für das Einzige und Wichtigste in der Welt halten dürfen. Ich blieb noch länger in dem Gewächshause, und ließ mir Mehreres von dem Gärtner zeigen und er¬ klären. Dann ging ich wieder in meine Wohnung, und sezte mich zu meiner Arbeit. Wir kamen bei dem Mittagessen zusammen, wir machten am Nachmittage einen Spaziergang, und die Gespräche waren wie gewöhnlich. Die Zeit auf dem Rosenhause floß nach dem Be¬ suche der Frauen wieder so hin, wie sie vor demselben hingeflossen war. Ich hatte die Muße, welche ich mir von meinen Arbeiten im Gebirge zu einem Aufenthalte bei meinem Gastfreunde abgedungen hatte, beinahe schon er¬ schöpft. Das, was ich mir in dem Rosenhause als Ergänzungsarbeit zu thun auferlegt hatte, rückte auch seiner Vollendung entgegen. Ich ließ mir aber de߬ ohngeachtet einen Aufschub gefallen, weil man verab¬ redet hatte, einen Besuch auf dem Sternenhofe zu machen, was, wie ich einsah, Mathildens Wohnsiz war, und weil ich bei diesem Besuche zugegen sein wollte. Auch war es im Plane, daß wir eine Kirche besuchen wollten, die in dem Hochlande lag, und in welcher sich ein sehr schöner Altar aus dem Mittelal¬ ter befand. Ich nahm mir vor, das, was mir an Zeit entginge, durch ein länger in den Herbst hinein fort¬ geseztes Verweilen im Gebirge wieder einzubringen. Mein Gastfreund hatte in dem Meierhofe wieder Bauarbeiten beginnen lassen, und beschäftigte dort mehrere Leute. Er ging alle Tage hin, um bei den Arbeiten nachzusehen. Wir begleiteten ihn sehr oft. Es war eben die lezte Einfuhr des Heues aus den höheren in dem Alizwalde gelegenen Wiesen, deren Ertrag später als in der Ebene gemäht wurde, im Gange. Wir erfreuten uns an dieser duftenden wür¬ zigen Nahrung der Thiere, welche aus den Waldwie¬ sen viel besser war als aus den fetten Wiesen der Thäler; denn auf den Bergwiesen wachsen sehr man¬ nigfaltige Kräuter, die aus den sehr verschiedenarti¬ gen Gesteingrundlagen die Stoffe ihres Gedeihens ziehen, während die gleichartigere Gartenerde der tie¬ fen Gründe wenigere wenngleich wasserreichere Arten hervor bringt. Mein Gastfreund widmete diesem Zweige eine sehr große Aufmerksamkeit, weil er die erste Bedingung des Gedeihens der Hausthiere dieser geselligen Mitarbeiter der Menschen ist. Alles, was die Würze den Wohlgeruch und, wie er sich ausdrückte, die Nahrungslieblichkeit beeinträchtigen konnte, mußte strenge hintan gehalten werden, und wo durch Ver¬ sehen oder Ungunst der Zeitverhältnisse doch derglei¬ chen eintrat, mußte das minder Taugliche ganz besei¬ tigt oder zu andern Wirthschaftszwecken verwendet werden. Darum konnte man aber auch keine schöne¬ ren glatteren glänzenderen und fröhlicheren Thiere sehen als auf dem Asperhofe. Der Wirthschaftsvor¬ theil lag außerdem noch als Zugabe bei; denn da das Schlechtere gar nicht verwendet werden durfte, wurde bei der Behandlung und Einbringung die größte Sorgfalt von den Leuten beobachtet, abgesehen da¬ von, daß mein Gastfreund bei seiner Kenntniß der Witterungsverhältnisse weniger Schaden durch Regen oder dergleichen erlitt als die meisten Landwirthe, die sich um diese Kenntniß gar nicht bekümmerten. Und der Nachtheil der Nichtanwendung des Schlechteren wurde weit durch den Vortheil des besseren Gedeihens der Thiere aufgewogen. In dem Asperhofe konnte man immer mit einer geringeren Anzahl Thiere grö¬ ßere Arbeiten ausführen, als in anderen Gehöften. Hiezu kam noch eine gewisse Fröhlichkeit und Heiter¬ keit der untergeordneten Leute, die bei jeder sachgemä¬ ßen Führung eines Geschäftes, bei dem sie betheiligt sind, und bei einer wenn auch strengen doch stets freundlichen Behandlung nicht ausbleibt. Ich hörte bei meiner jezigen Anwesenheit öfter von benachbar¬ ten Leuten die Äußerung, das hätte man dem alten Asperhofe nicht angesehen, daß das noch heraus kom¬ men könnte. Es wurde, da wieder mehrere Gewitter niederge¬ gangen waren, die Luft sich gereinigt hatte, und einige schöne Tage erwartet werden konnten, die Reise zu der Kirche mit dem sehenswürdigen Altare festgesezt. Im Norden unseres herrlichen Stromes, welcher das Land in einen nördlichen und südlichen Theil theilt, erhebt sich ein Hochland, welches viele Meilen die nördlichen Ufer des Stromes begleitet. In seinem Süden ist eine acht bis zehn Meilen breite verhältni߬ mäßig ebene Gegend von großer Fruchtbarkeit, die endlich von dem Zuge der Alpen begrenzt ist. Ich war bisher nur vorzugsweise in die Alpen gegangen, die nördlichen Hochlande hatte ich blos ein einziges Mal betreten, und nur eine kleine Ecke derselben durch¬ wandert. Jezt sollte ich mit meinem Gastfreunde eine Fahrt in das Innere derselben machen; denn die Kirche, welche das Ziel unserer Reise war, steht weit näher an der nördlichen als an der südlichen Grenze des Hochlandes. Wir fuhren in der Begleitung Eu¬ stachs von dem Stromesufer die staffelartigen Erhe¬ bungen empor, und fuhren dann in dem hohen viel¬ gehügelten Lande dahin. Wir fuhren oft mit unserm Gespann langsam bis auf die höchste Spize eines Berges empor, dann auf der Höhe fort, oder wir senkten uns wieder in ein Thal, umfuhren oft in Windungen abwärts die Dachung des Berges, legten eine enge Schlucht zurück, stiegen wieder empor, ver¬ änderten recht oft unsere Richtung, und sahen die Hügel die Gehöfte und andere Bildungen von ver¬ schiedenen Seiten. Wir erblickten oft von einer Spize das ganze flache gegen Mittag gelegene Land mit sei¬ ner erhabenen Hochgebirgskette, und waren dann Wieder in einem Thalkessel, in welchem wir keine Ge¬ genstände neben unserem Wagen hatten als eine dunkle weitästige Fichte und eine Mühle. Oft, wenn wir uns einem Gegenstande gleichsam auf einer Ebene nähern zu können schienen, war plözlich eine tiefe Schlucht in die Ebene geschnitten, und wir mußten dieselbe in Schlangenwindungen umfahren. Ich hatte bei meinem ersten Besuche dieses Hoch¬ landes die Bemerkung gemacht, daß es mir da stil¬ ler und schweigsamer vorkomme, als wenn ich durch andere ebenfalls stille und schweigende Landschaften zog. Ich dachte nicht weiter darüber nach. Jezt kam mir dieselbe Empfindung wieder. In diesem Lande liegen die wenigen größeren Ortschaften sehr weit von einander entfernt, die Gehöfte der Bauern stehen ein¬ zeln auf Hügeln oder in einer tiefen Schlucht oder an einem nicht geahnten Abhange. Herum sind Wie¬ sen Felder Wäldchen und Gestein. Die Bäche gehen still in den Schluchten, und wo sie rauschen, hört man ihr Rauschen nicht, weil die Wege sehr oft auf den Höhen dahin führen. Einen großen Fluß hat das Land nicht, und wenn man die ausgedehnte süd¬ liche Ebene und das Hochgebirge sieht, so ist es nur ein sehr großer aber stiller Gesichtseindruck. In den Alpen geht der Straßenzug meistens nur in den Thal¬ rinnen an den Flüssen oder Wildbächen dahin, er kann sich wenig verzweigen, der Verkehr ist auf ihn zusammengedrängt, und es regt sich auf ihm, und es wehet und rauscht an ihm. In diesem Lande sind noch viele werthvolle Alter¬ thümer zerstreut und aufbewahrt, es haben einmal reiche Geschlechter in ihm gewohnt, und die Krieges- und Völkerstürme sind nicht durch das Land gegangen. Wir kamen in den kleinen Ort Kerberg. Er liegt in einem sehr abgeschiedenen Winkel und ist von kei¬ nerlei Bedeutung. Nicht einmal eine Straße von nur etwas lebhaftem Verkehre führt durch, sondern nur einer jener Landwege, wie sie zum Austausche der Er¬ zeugnisse der Bevölkerung dienen, und von dem guten Sand- und Steinstoffe des Landes sehr gut gebaut sind. Nur die Lage ist schön, da hier die Bildungen etwas größer sind, und mit dämmerigem Walde theil¬ weise bekleidet anmuthig zusammentreten. Und doch steht in diesem Orte die Kirche, zu welcher wir auf der Reise waren. Hinter dem Orte ungefähr nach Mitternacht liegt ein weitläufiges Schloß auf einem Berge, welches große Garten- und Waldanlagen um sich hat. Auf diesem Schlosse hat einmal ein reiches und mächtiges Geschlecht gewohnt. Einer von ihnen hatte in dem kleinen Orte die Kirche bauen und aus¬ zieren lassen. Er hat die Kirche im altdeutschen Stile gebaut, Spizbogen schließen sie, schlanke Säulen aus Stein theilen sie in drei Schiffe, und hohe Fenster mit Steinrosen in ihren Bögen und mit den kleinen vieleckigen Täfelchen geben ihr Licht. Der Hochaltar ist aus Lindenholz geschnizt, steht wie eine Monstranze auf dem Priesterplaze, und ist von fünf Fenstern umgeben. Viele Zeiten sind vorübergegan¬ gen. Der Gründer ist gestorben, man zeigt sein Bild aus rothem Marmor in Halbarbeit auf einer Platte in der Kirche. Andere Menschen sind gekommen, man machte Zuthaten in der Kirche, man bemalte und be¬ strich die steinernen Säulen und die aus gehauenen Steinen gebauten Wände, man ersezte die zwei Sei¬ tenaltäre, von deren Gestalt man jezt nichts mehr weiß, durch neue, und es geht die Sage, daß schöne Glasgemälde die Monstranze umstanden haben, daß sie fortgekommen seien, und daß gemeine viereckige Tafeln in die fünf Fenster gesezt wurden. Sie ver¬ unzieren in der That noch jezt die Kirche. Die neuen Besizer des Schlosses waren nicht mehr so reich und mächtig, andere Zeiten hatten andere Gedanken be¬ kommen, und so war der geschnizte Hochaltar von Vögeln Fliegen und Ungeziefer beschmuzt worden, die Sonne, die ungehindert durch die viereckigen Tafeln hereinschien, hatte ihn ausgedörrt, Theile fielen herab, und wurden willkührlich wieder hinauf gethan und durcheinander gestellt und in Arme Angesichter und Gewänder bohrte sich der Wurm. Darum haben die Behörden des Landes den Al¬ tar wieder hergestellt, und zu diesem gingen wir. Eustach geleitete uns in die Kirche, es war ein sonniger Vormittag, kein Mensch war zugegen, und wir traten vor das Schnizwerk. Eustach konnte vieles aus den Regeln der alten Kunst und aus der Ge¬ schichte derselben erklären. Er sprach über das Mit¬ telfeld, in welchem drei ganze überlebensgroße Ge¬ stalten auf reich verzierten Gestellen unter reichen Überdächern standen. Es waren die Gestalten des heiligen Petrus des heiligen Wolfgang — beide in Bischofsgewändern — und des heiligen Christopho¬ rus, wie er das Jesuskindlein auf der Schulter trägt, und wie dasselbe nach der Legende dem riesenhaft starken Manne schwer wie ein Weltball wird, und seine Kräfte erschöpft, welche Erschöpfung in der Gestalt ausgedrückt ist. Sehr viele kleine Gestalten waren noch nach der Sitte unserer Vorältern in dem Raume zerstreut. An dem Mittelfelde waren in gezierten Rahmen zwei Flügel, auf welchen Bilder in halberha¬ bener Arbeit sich befanden: die Verkündigung des Engels, die Geburt des Heilandes, die Opferung der drei Könige, und der Tod Marias. Oberhalb des Mittelstückes war ein Giebel mit der emporstrebenden durchbrochenen Arbeit, die man, wie Eustach meint, fälschlich die gothische nennt, da sie vielmehr mittel¬ alterlich deutsch sei. In diese durchbrochene Arbeit waren mehrere Gestalten eingestreut. Zu beiden Sei¬ ten hinter den Flügeln standen die Gestalten des hei¬ ligen Florian und des heiligen Georg in mittelalter¬ licher Ritterrüstung empor. Der heilige Florian hatte das Sinnbild des brennenden Hauses und der heilige Georg das des Drachen zu seinen Füßen. Eustach be¬ hauptete, daß sich nur aus der Ansicht eines Sinn¬ bildes die Kleinheit solcher Beigaben zu alterthümli¬ chen Gestalten erkläre, da unsere kunstsinnigen Alt¬ vordern gewiß nicht den großen Fehler der Unver¬ hältnißmäßigkeit der Körper der Gegenstände gemacht haben würden. Mein Gastfreund sagte, ohne die Meinung Eustachs verwerfen zu wollen, daß man die Sache auch etwa so auslegen könne, daß man durch die über alles Maß hinausgehende Größe der Gestalten, gegen welche ein Haus oder ein Drache klein sei, ihre Übernatürlichkeit habe ausdrücken wollen. Mein Gastfreund sagte, es müßten einmal nicht nur viel kunstsinnigere Zeiten gewesen sein als heute, sondern es müßte die Kunst auch ein allgemeineres Verständniß bis in das unterste Volk hinab gefunden haben; denn wie wären sonst Kunstwerke in so abge¬ legene Orte wie Kerberg gekommen, oder wie befän¬ den sich solche in noch kleineren Kirchen und Kapellen des Hochlandes, die oft einsam auf einem Hügel stehen, oder mit ihren Mauern aus einem Waldberge hervor ragen, oder wie wären kleine Kirchlein Feld¬ kapellen Wegsäulen Denksteine alter Zeit mit solcher Kunst gearbeitet: so wie heut zu Tage der Kunstver¬ fall bis in die höheren Stände hinauf rage, weil man nicht nur in die Kirchen Gräber und heiligen Orte abscheuliche Gestalten, die eher die Andacht zer¬ stören als befördern, von dem Volke stellen läßt, sondern auch bis zu sich hinauf in das herrschaftliche Schloß so oft die leeren und geistesarmen Arbeiten einer ohnmächtigen Zeit zieht. Meines Gastfreun¬ des und Eustachs bemächtigte sich bei diesen Be¬ trachtungen eine Traurigkeit, welche ich nicht ganz begrif. Wir betrachteten nach dem Altare auch noch die Kirche, betrachteten das Steinbild des Mannes, der sie hatte erbauen lassen, und betrachteten noch andere alte Grabdenkmale und Inschriften. Es zeigte sich hier, daß die fünf Fenster des Priesterplazes nicht wie die Fenster des Kirchenschiffes in ihren Spizbogen Stein¬ rosen hatten, was als neuer Beweis galt, daß das Glas aus diesen Fenstern einmal heraus genommen worden war, und daß man zu besserer Gewinnung der Gemälde in den Spizbogen oder gar zu bequeme¬ rer Einsezung der viereckigen Tafeln die steinernen Fassungen weggeräumt habe. Ich ging mit manchem Gedanken bereichert neben meinen zwei Begleitern aus der Kirche. Auf der Rückfahrt schlugen wir einen anderen Weg ein, damit ich auch noch andere Theile des Lan¬ des zu sehen bekäme. Wir besuchten noch ein paar Kirchen und kleinere Bauwerke, und Eustach versprach mir, daß er mir, wenn wir nach Hause gekommen wären, die Zeichnungen von den Dingen zeigen würde, welche wir gesehen hatten. Die Männer spra¬ chen auf der Rückreise auch von der muthmaßlichen Zeit, in welcher die Kirche, die das Ziel unserer Reise gewesen war, entstanden sein könnte. Sie schlossen auf diese Zeit aus der Art und Weise des Baues und aus manchen Verzierungen. Sie bedauerten nur, daß man Näheres darüber aus Urkunden nicht erfahren könne, da das Schriftgewölbe des alten Schlosses un¬ zugänglich gehalten werde. Wir fuhren am Mittage des nächsten Tages wie¬ der die staffelartigen Erhebungen hinab, und gelang¬ ten in später Nacht in das Rosenhaus. Ich mahnte in ein paar Tagen darauf den Gärt¬ ner an unsern verabredeten Gang nach Ingheim. Er freute sich über meine Achtsamkeit, wie er es nannte, und an einem freundlichen Nachmittage gingen wir in das Schloß hinüber. Wir sagten die Ursache unse¬ res Besuches, und wurden mit Zuvorkommenheit auf¬ genommen. Wir gingen sogleich in das Gewächs¬ haus, und es war in Wirklichkeit eine sehr schöne und zu ansehnlicher Größe ausgebildete Pflanze, zu der mich der Gärtner Simon geführt hatte. Ich kannte nicht genau, wie weit sich diese Pflanzen überhaupt entwickeln, und welche Größe sie zu erreichen vermö¬ gen; aber eine größere habe ich nirgends gesehen. Daß man sie in Ingheim nicht viel achte, erkannte ich ebenfalls; denn der Winkel des Gewächshauses, in welchem sie in freiem Boden stand, war der vernach¬ lässigteste, es lagen Blumenstäbe Bastbänder welke Blätter und dergleichen dort, und man hatte ihn mit Gestellen, auf welchen andere Pflanzen standen, ver¬ stellt, daß sein Anblick den Augen entzogen werde. Man konnte den grünen Arm dieser Pflanze wohl an der Decke des Hauses hingehen sehen, ich hatte aber dort hinauf bei meiner ersten Anwesenheit nicht ge¬ schaut. Mein Begleiter erkannte jezt, daß es ein Ce¬ reus peruvianus sei, und erklärte mir seine Merkmale. Sonst aber konnten wir keine Cactus in Ingheim entdecken. Nach mancher Aufmerksamkeit, die uns in dem Schlosse noch zu Theil wurde, begaben wir uns gegen Abend wieder auf den Rückweg, und ich tröstete meinen alten Begleiter mit den Worten, daß ich glaube, daß es nicht schwer sein werde, diese Pflanze in das Rosenhaus zu bringen. Dort würde sie die Sammlung ergänzen und zieren, während sie in Ing¬ heim allein ist. Auch wird man wohl einem Wunsche meines Gastfreundes willfährig sein, und ich werde die Sache schon zu fördern trachten. Nach kurzer Zeit traten wir unsern Weg zum Be¬ suche in dem Sternenhofe an. Dieses Mal fuhr außer Stifter , Nachsommer. I . 29 Eustach auch Gustav mit. Die Grauschimmel wurden vor einen größeren Wagen gespannt, als wir in den Hochlanden gehabt hatten, und wir fuhren mit ihnen über den Hügel hinab. Es war sehr früh am Mor¬ gen noch lange vor Sonnenaufgang. Wir fuhren auf der Hauptstraße gegen Rohrberg zu, und fuhren end¬ lich auf der Anhöhe an dem Alizwalde empor. Da die Pferde langsam den Weg hinan gingen, sagte mein Gastfreund: „Es ist möglich, daß ihr im vori¬ gen Jahre an dieser Stelle Mathilden und Natalien gesehen habt. Sie erzählten mir, als sie zum Besuche der Rosenblüthe zu mir kamen, und ich ihnen von euch von eurer Anwesenheit bei mir und von eurer an dem Morgen ihrer Ankunft erfolgten Abreise sagte, daß sie einem Fußreisenden auf der Alizhöhe begegnet seien, der dem ungefähr gleich gesehen habe, den ich ihnen beschrieben.“ Plözlich war es mir ganz klar, daß wirklich Ma¬ thilde und Natalie die zwei Frauen gewesen waren, welchen ich an jenem Morgen an dieser Stelle begeg¬ net bin. Mir waren jezt deutlich dieselben Reisehüte vor Augen, die sie auch dieses Mal aufgehabt hatten, ich sah die Züge Nataliens wieder, und auch der Wagen und die braunen Pferde kamen mir in die Erinnerung. Darum also war mir Natalie immer als schon einmal gesehen vorgeschwebt. Ich hatte ja so¬ gar damals gedacht, daß das menschliche Angesicht etwa der edelste Gegenstand für die Zeichnungskunst sein dürfte, und hatte sie als unbeholfner Mensch, der im Zurechtlegen aller Eindrücke geschickter ist als in dem der menschlichen, doch wieder aus meiner Vorstellungs¬ kraft verloren. Ich sagte zu meinem Gastfreunde, daß er durch seine Bemerkung meinem Gedächtnisse zu Hilfe gekommen sei, daß ich jezt alles klar wisse, und daß mir auf dieser Anhöhe Mathilde und Natalie be¬ gegnet seien, und daß ich ihnen, da der Wagen lang¬ sam den Berg hinab fuhr, nachgesehen habe. „Ich habe mir es gleich so gedacht,“ erwiederte er. Aber auch etwas anderes fiel mir ein, und machte, daß mein Angesicht erröthete. Also hatte mein Gast¬ freund von mir mit den Frauen gesprochen, und mich sogar beschrieben. Er hatte also einen Antheil an mir genommen. Das freute mich von diesem Manne sehr. Als wir auf der Höhe des Berges angekommen waren, ließ mein Gastfreund an einer Stelle, wo das Seitengebüsch des Weges eine Durchsicht erlaubte, halten, stand im Wagen auf, und bath mich, das Gleiche zu thun. Er sagte, daß man an dieser Stelle 29 * das Stück des Alizwaldes, das zu dem Asperhofe ge¬ höre, übersehen könne. Er wies mir mit dem Zeige¬ finger an den Farbunterschieden des Waldes, die durch die Mischung der Buchen und Tannen durch Licht und Schatten und durch andere Merkmale her¬ vorgebracht wurden, die Grenzen dieses Besizthumes nach. Als ich dies genugsam verstanden, und ihm auch mit dem Finger ungefähr die Stellen des Waldes ge¬ zeigt hatte, an denen ich schon gewesen war, sezten wir uns wieder nieder, und fuhren weiter. Es war bei dieser Gelegenheit das erste Mal ge¬ wesen, daß ich aus seinem Munde den Namen Asper¬ hof gehört habe, mit dem er sein Besizthum bezeich¬ nete. Nach kurzer Fahrt trennten wir uns von der nach Osten gehenden Hauptstraße, und schlugen einen ge¬ wöhnlichen Verbindungsweg nach Süden ein. Wir fuhren also dem Hochgebirge näher. Am Mittage blieben wir eine ziemlich lange Zeit zur Erquickung und zum Ausruhen der Pferde, auf deren Pflege mein Gastfreund sehr sah, in einem einzeln stehenden Gast¬ hofe, und es war schon am Abende in tiefer Däm¬ merung, als mir mein Gastfreund die Umrisse des Sternenhofes zeigte. Ich war schon zweimal in der Gegend gewesen, erinnerte mich sogar im Allgemeinen auf das Gebäude, und wußte genau, daß am Fuße des Hügels, auf welchem es stand, sehr schöne Ahorne wuchsen. Ich hatte aber nie Ursache gehabt, mich weiter um diese Gegenstände zu kümmern. Wir kamen bei Sternenscheine zu den mir bekann¬ ten Ahornen, fuhren einen Hügel empor, legten einen Thorweg zurück, und hielten in einem Hofe. In dem¬ selben standen vier große Bäume, an deren eigen¬ thümlichen gegen den dunkeln Nachthimmel gehalte¬ nen Bildungen ich erkannte, daß es Ahorne seien. In ihrer Mitte plätscherte ein Brunnen. Auf das Rollen des Wagens unter dem hallenden Thorwege kamen Diener mit Lichtern herbei, uns aus dem Wa¬ gen zu helfen. Gleich darauf erschien auch Mathilde und Natalie in dem Hofe, um uns zu begrüßen. Sie geleiteten uns die Treppe hinan in einen Vorsaal, in welchem die Begrüßungen im Allgemeinen wiederholt wurden, und von wo aus man uns unsere Zimmer anwies. Das meinige war ein großes freundliches Ge¬ mach, in welchem bereits auf dem Tische zwei Kerzen brannten. Ich legte, da der Diener die Thür hinter sich geschlossen hatte, meinen Hut auf den Tisch, und das Nächste, was ich that, war, daß ich mehrere Male schnell in dem Zimmer auf und nieder ging, um die durch das Fahren ersteiften Glieder wieder ein wenig einzurichten. Als dieses ziemlich gelungen war, trat ich an eines der offenen Fenster, um herum zu schauen. Es war aber nicht viel zu sehen. Die Nacht war schon zu weit vorgerückt, und die Lichter im Zimmer machten die Luft draußen noch finsterer. Ich sah nur so viel, daß meine Fenster ins Freie gin¬ gen. Nach und nach begränzten sich vor meinen Augen die dunkeln Gestalten der am Fuße des Hügels stehen¬ den Ahorne, dann kamen Flecken von dunkler und fahler Farbe, wahrscheinlich Abwechslung von Feld und Wald, weiter war nichts zu unterscheiden als der glänzende Himmel darüber, der von unzähligen Ster¬ nen aber nicht von dem geringsten Stückchen Mond beleuchtet war. Nach einer Zeit kam Gustav, und holte mich zu dem Abendessen ab. Er hatte eine große Freude, daß ich in dem Sternenhofe sei. Ich ordnete aus meinem Reisesacke, der heraufgeschafft worden war, ein wenig meine Kleider, und folgte dann Gustav in das Spei¬ sezimmer. Dasselbe war fast wie das in dem Rosen¬ hause. Mathilde saß wie dort in einem Ehrenstuhle oben an, ihr zur Rechten mein Gastfreund und Na¬ talie ihr zur Linken ich Eustach und Gustav. Auch hier besorgte eine Haushälterin und eine Magd den Tisch. Der Hergang bei dem Speisen war der nehm¬ liche wie an jenen Abenden bei meinem Gastfreunde, an denen wir alle beisammen gewesen waren. Um von der Reise ausruhen zu können, trennte man sich bald, und suchte seine Zimmer. Ich entschlief unter Unruhe, sank aber nach und nach in festeren Schlummer, und erwachte, da die Sonne schon aufgegangen war. Jezt war es Zeit herum zu schauen. Ich kleidete mich so schnell und so sorgfältig an, als ich konnte, ging an ein Fenster, öffnete es, und sah hinaus. Ein ganz gleicher sehr schön grüner Ra¬ sen, der durch keine Blumengebüsche oder dergleichen unterbrochen war, sondern nur den weißen Sandweg enthielt, breitete sich über die gedehnte Dachung des Hügels, auf der das Gebäude stand, hinab. Auf dem Sandwege aber gingen Natalie und Gustav herauf. Ich sah in die schönen jugendlichen Angesichter, sie aber konnten mich nicht sehen, weil sie ihre Augen nicht erhoben. Sie schienen in traulichem Gespräche begriffen zu sein, und bei ihrer Annäherung — an dem Gange an der Haltung an den großen dunklen Augen an den Zügen der Angesichter — sah ich wie¬ der recht deutlich, daß sie Geschwister seien. Ich sah auf sie, so lange ich sie erblicken konnte, bis sie end¬ lich der dunkle Thorweg aufgenommen hatte. Jezt war die Gegend sehr leer. Ich blickte kaum auf sie. Allgemach entwickelten sich aber wieder freund¬ lich Felder Wäldchen und Wiesen im Gemisch, ich erblickte Meierhöfe rings herumgestreut, hie und da erglänzte ein weißer Kirchthurm in der Ferne, und die Straße zog einen lichten Streifen durch das Grün. Den Schluß machte das Hochgebirge so klar, daß man an dem untern Theile seiner Wand die Thalwin¬ dungen an dem obern die Gestaltung der Kanten und Flächen und die Schneetafeln wahrnehmen konnte. Sehr groß und schön waren die Ahorne, die un¬ ten am Hügel standen, deßhalb mochten sie schon früher bei meinen Reisen durch diese Gegend meine Aufmerksamkeit erregt haben. Von ihnen zogen sich Erlenreihen fort, die den Lauf der Bäche anzeigten. Das Haus mußte weitläufig sein; denn die Wand, in der sich meine Fenster befanden, und die ich hin¬ ausgebeugt übersehen konnte, war sehr groß. Sie war glatt mit vorspringenden steinernen Fenstersimsen, und hatte eine grauweißliche Farbe, mit der sie offen¬ bar erst in neuerer Zeit übertüncht worden war. Hinter dem Hause mußte vielleicht ein Garten oder ein Wäldchen sein, weil ich Vogelgesang herüber hörte. Auch war es mir zuweilen, als vernähme ich das Rauschen des Hofbrunnens. Der Tag war heiter. Ich harrte nun der Dinge, die kommen sollten. Ein Diener rief mich zu dem Frühmahle. Es war zu derselben Zeit wie im Rosenhause. Als ich in das Speisezimmer getreten war, sagte mir Mathilde, daß es sehr lieb von mir sei, daß ich ihre Freunde und ihren Sohn in den Sternenhof begleitet habe, sie werde sich bemühen, daß es mir in demselben gefalle, wozu ihr ihr Freund, der mir den Asperhof anziehend mache, beistehen müsse. Ich antwortete, daß ich mich auf die Reise in den Sternenhof sehr gefreut habe, und daß ich mich freue in demselben zu sein. Von einer Bedeutung sei es nicht, daß mir eine Rücksicht zu Theil werde, ich bitte nur, daß man, wenn ich etwas fehle, es nachsehe. Nach mir trat Eustach ein. Mathilde begrüßte auch ihn noch einmal. Gustav, der schon zugegen war, gesellte sich zu mir. Die Frauen waren häuslich und schön aber min¬ der einfach als in dem Rosenhause gekleidet. Mei¬ nen Gastfreund sah ich zum ersten Male in ganz an¬ deren Kleidern als auf seiner Besizung und auf dem Besuche zu Ingheim. Er war schwarz mit einem Fracke, der einen etwas weiteren und bequemeren Schnitt hatte als gewöhnlich, und sogar einen leichten Biberhut trug er in der Hand. Nach dem Frühmahle sagte Mathilde, sie wolle mir ihre Wohnung zeigen. Die andern gingen mit. Wir traten aus dem Speisezimmer in einen Vorsaal. Am Ende desselben wurden zwei Flügelthüren aufge¬ than, und ich sah in eine Reihe von Zimmern, welche nach der ganzen Länge des Hauses hinlaufen mußte. Als wir eingetreten waren, sah ich, daß in den Zim¬ mern alles mit der größten Reinheit Schönheit und Zusammenstimmung geordnet war. Die Thüren stan¬ den offen, so daß man durch alle Zimmer sehen konnte. Die Geräthe waren passend, die Wände wa¬ ren mit zahlreichen Gemälden geziert, es standen Glaskästen mit Büchern, es waren musikalische Ge¬ räthe da, und auf Gestellen, die an den rechten Orten angebracht waren, befanden sich Blumen. Durch die Fenster sah die nähere Landschaft und die ferneren Gebirge herein. Es zeigte sich, daß diese Zimmer ein schöner Spa¬ ziergang seien, der unter dem Dache und zwischen den Wänden hinführte. Man konnte sie entlang schreiten, von angenehmen Gegenständen umgeben sein, und die Kälte oder das Ungestüm des Wetters oder Win¬ ters nicht empfinden, während man doch Feld und Wald und Berg erblickte. Selbst im Sommer konnte es Vergnügen gewähren, hier bei offenen Fenstern gleichsam halb im Freien und halb in der Kunst zu wandeln. Da ich meinen Blick mehr auf das Einzelne richtete, fielen mir die Geräthe besonders auf. Sie waren neu und nach sehr schönen Gedanken gebildet. Sie schickten sich so in ihre Pläze, daß sie gewisserma¬ ßen nicht von Außen gekommen, sondern zugleich mit diesen Räumen entstanden zu sein schienen. Es waren an ihnen sehr viele Holzarten vermischt, das erkannte ich sehr bald, es waren Holzarten, die man sonst nicht gerne zu Geräthen nimmt, aber sie schienen mir so zu stimmen, wie in der Natur die sehr ver¬ schiedenen Geschöpfe stimmen. Ich machte in dieser Hinsicht eine Bemerkung ge¬ gen meinen Gastfreund, und er antwortete: „Ihr habt einmal gefragt, ob Gegenstände, die wir in un¬ serem Schreinerhause neu gemacht haben, in meinem Hause vorhanden seien, worauf ich geantwortet habe, daß nichts von Bedeutung in demselben sei, daß sich aber einige gesammelt in einem anderen Orte befin¬ den, in den ich euch, wenn ihr Lust zu solchen Dingen hättet, geleiten würde. Diese Zimmer hier sind der andere Ort, und ihr seht die neuen Geräthe, die in unserem Schreinerhause verfertigt worden sind.“ „Es ist aber zu bewundern, wie sehr sie in ihren Abwechslungen und Gestalten hieher passen,“ sagte ich. „Als wir einmal den Plan gefaßt hatten, die Zim¬ mer Mathildens nach und nach mit neuen Geräthen zu bestellen,“ erwiederte er, „so wurde die ganze Reihe dieser Zimmer im Grund- und Aufrisse aufgenom¬ men, die Farben bestimmt, welche die Wände der ein¬ zelnen Zimmer haben sollten, und diese Farben gleich in die Zeichnungen getragen. Hierauf wurde zur Bestimmung der Größe der Gestalt und der Farbe mithin der Hölzer der einzelnen Geräthe geschritten. Die Farbezeichnungen derselben wurden verfertigt, und mit den Zeichnungen der Zimmer verglichen. Die Gestalten der Geräthe sind nach der Art entwor¬ fen worden, die wir vom Alterthume lernten, wie ich euch einmal sagte, aber so daß wir nicht das Alterthum geradezu nachahmten, sondern selbststän¬ dige Gegenstände für die jetzige Zeit verfertigten mit Spuren des Lernens an vergangenen Zeiten. Wir sind nach und nach zu dieser Ansicht gekommen, da wir sahen, daß die neuen Geräthe nicht schön sind, und daß die alten in neue Räume zu wohnlicher Zu¬ sammenstimmung nicht paßten. Wir haben uns selber gewundert, als die Sachen nach vielerlei Versuchen Zeichnungen und Entwürfen fertig waren, wie schön sie seien. In der Kunst, wenn man bei so kleinen Dingen von Kunst reden kann, ist eben so wenig ein Sprung möglich als in der Natur. Wer plözlich et¬ was so Neues erfinden wollte, daß weder den Theilen noch der Gestaltung nach ein Ähnliches da gewesen ist, der würde so thöricht sein wie der, der fordern würde, daß aus den vorhandenen Thieren und Pflan¬ zen sich plözlich neue nicht dagewesene entwickeln. Nur daß in der Schöpfung die Allmählichkeit immer rein und weise ist; in der Kunst aber, die der Freiheit des Menschen anheim gegeben ist, oft Zerrissenheit oft Stillstand oft Rückschritt erscheint. Was die Hölzer anbelangt, so sind da fast alle und die schönsten Blät¬ ter verwendet worden, die wir aus den Knollen der Erlen geschnitten haben, die in unserer Sumpfwiese gewachsen sind. Ihr könnt sie dann betrachten. Wir haben uns aber auch bemüht, Hölzer aus unserer ganzen Gegend zu sammeln, die uns schön schienen, und haben nach und nach mehr zusammengebracht, als wir anfänglich glaubten. Da ist der schneeige glatte Bergahorn der Ringelahorn die Blätter der Knollen von dunkeln Ahorn — alles aus den Aliz¬ gründen —dann die Birke von den Wänden und Klip¬ pen der Aliz der Wachholder von der dürren schiefen Haidefläche die Esche die Eberesche die Eibe die Ulme selbst Knorren von der Tanne der Haselstrauch der Kreuzdorn die Schlehe und viele andere Gesträuche, die an Festigkeit und Zartheit wetteifern, dann aus unseren Gärten der Wallnußbaum die Pflaume der Pfirsich der Birnbaum die Rose. Eustach hat die Blätter der Hölzer alle gemalt und zur Vergleichung zusammengestellt, er kann euch die Zeichnung einmal im Asperhofe zeigen, und die vielen Arten noch ange¬ ben, die ich hier nicht genannt habe. In der Holz¬ sammlung müssen sie ja auch vorhanden sein.“ Ich betrachtete die Sachen genauer. Die Erlen¬ blätter, von denen mir mein Gastfreund im vorigen Jahre gesagt hatte, daß sie an einem anderen Orte verwendet worden seien, waren in der That außeror¬ dentlich, so feurig und fast erhaben auch ungemein groß, alles andere Holz, wie zart wie schön in der Zusammenstellung, daß man gar nicht ahnen sollte, daß dies in unseren Wäldern ist. Und die Gestalten der Geräthe, wie leicht wie fein wie anschmiegend, sie waren ganz anders als die jezt verfertigt werden, und waren doch neu und für unsere Zeit passend. Ich erkannte, welch ein Werth in den Zeichnungen liege, die Eustach habe. Ich dachte an meinen Vater, der solche Dinge so liebt. Ach wenn er nur hier wäre, daß er sie sehen könnte. Mir war, als gingen mir neue Kenntnisse auf. Ich wagte einen Blick auf Na¬ talie, ich wendete ihn aber schnell wieder weg; sie stand so in Gedanken, daß ich glaube, daß sie errö¬ thete, als ich sie anblickte. Mathilde sagte zu Eustach: „Es ist im Verlaufe der Zeit, ohne daß eine absichtliche Störung vorge¬ kommen wäre, manches hier anders geworden und nicht mehr so schön als Anfangs. Wir werden es ein¬ mal, wenn ihr Zeit habt, und herüber kommen wollt, ansehen, ihr könnt die Fehler erkennen, und Mittel zur Abhilfe an die Hand geben. Wir gingen nun weiter. Durch eine geöffnete Thür gelangten wir in Zimmer, welche in einer an¬ deren Richtung des Hauses lagen. Die durchwander¬ ten hatten nach Süd gesehen, diese sahen nach West. Es war ein großer Saal und zwei Seitengemächer. Waren die früheren Zimmer lieb und wohnlich gewe¬ sen, so waren diese wahrhaft prachtvoll. Der Saal war mit Marmor gepflastert, die Zimmer hatten alter¬ thümliche Wandbekleidung alterthümliche Fenstervor¬ hänge und alterthümliche Geräthe, der Fußboden des Saales enthielt die schönsten seltensten und zahlreich¬ sten Gattungen unsers Marmors, nach einer Zeich¬ nung eingelegt, und so geglättet, daß er alle Dinge spiegelte. Es war der ernsteste und feurigste Teppich. Wir mußten hier auch Filzschuhe anlegen. Auf diesem Spiegelboden standen die schönsten und wohlerhalten¬ sten alten Schreine und andere Einrichtungsstücke. Es waren hier die größten versammelt. In den zwei anstoßenden Gemächern standen auf feurig farbigen Holzteppichen die kleineren zarteren und feineren. Waren gleich die alterthümlichen Geräthe nicht schö¬ ner als die bei meinem Gastfreunde — ich glaube, schönere wird es kaum geben — so zeigte sich hier eine Zusammenstimmung, als müßten die, welche diese Dinge ursprünglich hatten herrichten lassen, in ihren einstigen Trachten bei den Thüren hereingehen. Es ergrif einen ein Gefühl eines Bedeutungsvollen. „Die Marmore,“ sagte mein Gastfreund, „sind aller Orten erworben, geschliffen, geglättet, und nach einer alterthümlichen Zeichnung vieler Kirchenfenster eingesezt worden.“ „Aber daß ihr die Geräthe so zusammen gefunden habt, daß sie wie ein Einziges stimmen, ist zu ver¬ wundern,“ sagte ich. „Also empfindet ihr, daß sie stimmen?“ erwiederte er. „Seht, das ist mir lieb, daß ihr das sagt. Ihr seid ein Beobachter, der nicht von der Sucht nach Altem befangen ist, wie uns unsere Gegner vorwer¬ fen. Ihr empfangt also das Gefühl von den Gegen¬ ständen, und tragt es nicht in dieselben hinein, wie auch unsere Gegner von uns sagen. Die Sache aber ist nur so: als man die Nichtigkeit und Leere der lezt¬ vergangenen Zeiten erkannte, und wieder auf das Alte zurück wies, und es nicht mehr als Plunder und Trödel ansah, sondern Schönes darin suchte: da ge¬ schahen freilich thörichte Dinge. Man sammelte wie¬ Stifter , Nachsommer. I . 30 der Altes und nur Altes. Statt der neuen Mode mit neuen Gegenständen kam die neueste mit alten Ge¬ genständen. Man raffte Schreine Bethschemel Tische und dergleichen zusammen, weil sie alt waren, nicht weil sie schön waren, und stellte sie auf. Da standen nun Dinge beisammen, die in ihren Zeiten weit von einander ablagen, es konnte nicht fehlen, daß ein Wi¬ derwärtiges herauskam, und daß die Feinde des Al¬ ten, wenn sie Gefühl hatten, sich abwenden mußten. Nichts aber kann so wenig passen als alte Dinge von sehr verschiedenen Zeiten. Die Voreltern legten so sehr einen eigenthümlichen Geist in ihre Dinge — es war der Geist ihres Gemüthes und ihres allgemeinen Gefühlslebens — daß sie diesem Geiste sogar den Zweck opferten. Man bringt Linnen Kleider und der¬ gleichen in neue Geräthe zweckmäßiger unter als in alte. Man kann daher alte Geräthe von ziemlich glei¬ cher Zeit aber verschiedenem Zwecke ohne große Stö¬ rung des Geistes der Traulichkeit und Innigkeit, der in ihnen wohnt, zusammenstellen, während von un¬ seren Geräthen, die keinen Geist aber einen Zweck haben, sogleich ein Widersinniges ausgeht, wenn man Dinge verschiedenen Gebrauches in dasselbe Zimmer thut, wie etwa den Schreibtisch den Wasch¬ tisch den Bücherschrein und das Bett. Die größte Wirkung erzielt man freilich, wenn man alte Geräthe aus derselben und guten Zeit, die also denselben Geist haben, und auch Geräthe des nehmlichen Zweckes in ein Zimmer bringt. Da spricht nun in der Wirklichkeit etwas ganz anderes als bei unseren neuen Dingen.“ „Und das scheint mir hier der Fall zu sein,“ sagte ich. „Es ist nicht alles alt,“ erwiederte er. „Viele Dinge sind so unwiederbringlich verloren gegangen, daß es fast unmöglich ist, eine ganze Wohnung mit Gegenständen aus derselben Zeit einzurichten, daß kein nothwendiges Stück fehlt. Wir haben daher lie¬ ber solche Stücke im alten Sinne neu gemacht als alte Stücke von einer ganz anderen Zeit zugemischt. Damit aber niemand irre geführt werde, ist an jedem solchen altneuen Stücke ein Silberplättchen eingefügt, auf welchem die Thatsache in Buchstaben eingegra¬ ben ist.“ Er zeigte mir nun jene Gegenstände, welche in dem Schreinerhause als Ergänzung hinzugemacht worden sind. Trozdem war bei mir der Eindruck immer der¬ selbe, und ich hatte beständig und beständig den Ge¬ 30 * danken an meinen Vater in dem Haupte. Man führte mich auch zu den alten schweren mit Gold und Sil¬ ber durchwirkten Fenstervorhängen, und zeigte mir dieselben als ächt, so auch die ledernen mit Farben und Metallverzierungen versehenen Belege der Zim¬ merwände. Nur hat man da in dem Leder nachhelfen, und ihm Nahrung geben müssen. Als ich diese ernsten und feierlichen Gemächer ge¬ nugsam betrachtet hatte, öffnete Mathilde das schwere Schloß der Ausgangsthür, und wir kamen in meh¬ rere unbedeutende Räume, die nach Norden sahen, worunter auch der allgemeine Eintrittssaal und das Speisezimmer waren. Von da gelangten wir in den Flügel, dessen Fenster die Morgensonne hatten. Hier waren die Wohnzimmer Mathildens und Nataliens. Jede hatte ein größeres und ein kleineres Gemach. Sie waren einfach mit neuen Geräthen eingerichtet, und drückten durch Dinge unmittelbaren Gebrauches die Bewohntheit aus, ohne daß ich die vielen Spie¬ lereien sah, mit denen gerne zwar nicht bei meinen Eltern aber an anderen Orten unserer Stadt die Zimmer der Frauen angefüllt sind. In jeder der zwei Wohnungen sah ich eine der Zithern, die in dem Ro¬ senhause gewesen waren. Bei Natalien herrschten be¬ sonders Blumen vor. Es standen Gestelle herum, auf welche sie von dem Garten herauf gebracht wor¬ den waren, um hier zu verblühen. Auch standen grö¬ ßere Pflanzen, namentlich solche, welche schöne Blät¬ ter oder einen schönen Bau hatten, in einem Halb¬ kreise und in Gruppen auf dem Fußboden. In einem Vorsaale, der den Eintritt zu diesen Wohnungen bildete, befand sich ein Clavier. Die Zimmer im zweiten Stockwerke des Hauses waren geblieben, wie sie früher gewesen waren. Sie sahen so aus, wie sie gerne in weitläufigen alten Schlössern auszusehen pflegen. Sie waren mit Ge¬ räthen vieler Zeiten, die meistens ohne Geschmack waren, mit Spielereien vergangener Geschlechter, mit einigen Waffen, und mit Bildern namentlich Bild¬ nissen, die nach der Laune des Tages gemacht waren, angefüllt. Namentlich waren an den Wänden der Gänge Abbildungen aufgehängt von großen Fischen, die man einmal gefangen, nebst beigefügter Beschrei¬ bung, von Hirschen, die man geschossen, von Feder¬ wild von Wildschweinen und dergleichen. Auch Lieb¬ lingshunde fehlten nicht. In diesem Stockwerke waren nach Süden die Gastzimmer, und der Flügel derselben war geordnet worden. Hier befand sich auch mein Zimmer nebst dem Gustavs. Nach der Besichtigung der Zimmer gingen wir in das Freie. Die breite Haupttreppe aus rothem Mar¬ mor führte in den Hof hinab. Derselbe zeigte, wie groß das Gebäude sei. Er war von vier ganz gleichen langen Flügeln umschlossen. In seiner Mitte war ein Becken von grauem Marmor, in welches sich aus einer Verschlingung von Wassergöttinnen vier Strah¬ len ergossen. Um das Becken standen vier Ahorne, welche gewiß nicht kleiner waren als die, welche den Schloßhügel säumten. Auf dem Sandplaze unter den Ahornen waren Ruhebänke ebenfalls aus grauem Marmor. Von diesem Sandplaze liefen Sandwege wie Strahlen auseinander. Der übrige Raum war gleichförmiger Rasen, nur daß an den Mauern des Hauses eine Pflasterung von glatten Steinen herum führte. Von dem Hofe gingen wir bei dem großen Thore hinaus. Ich wendete mich, da wir draußen waren, unwillkührlich um, um das Gebäude zu betrachten. Über dem Thore war ein ziemlich umfangreiches stei¬ nernes Schild mit sieben Sternen. Sonst sah ich nichts, als was ich bei meinem Morgenausblicke aus dem Fenster schon gesehen hatte. Wir gingen auf einem Sandwege des grünen Rasens, wir umgingen das Haus, und gelangten hinter demselben in den Garten. Hier sah ich, was ich mir schon früher ge¬ dacht hatte, daß das Gebäude, welches man wohl ein Schloß nennen mußte, nur aus den vier großen Flü¬ geln bestehe, welche ein vollkommenes Viereck bilde¬ ten. Die Wirthschaftsgebäude standen ziemlich weit entfernt in dem Thale. Der Garten begann mit Blumen Obst und Ge¬ müse, zeigte aber, daß er in der Entfernung mit et¬ was endigen müsse, das wie ein Laubwald aussah. Alles war rein und schön gehalten. Der Garten war auch hier mit gefiederten Bewohnern bevölkert, und man hatte ähnliche Vorrichtungen wie im Asperhofe. Die Bäume standen daher auch vortrefflich und ge¬ sund. Rosen zeigten sich ebenfalls viele nur nicht in so besonderen Gruppirungen wie bei meinem Gast¬ freunde. Die Gewächshäuser des Gartens waren ausgedehnt und weit größer und sorgfältiger gepflegt als auf dem Asperhofe. Der Gärtner ein junger und, wie es schien, unterrichteter Mann empfing uns mit Höflichkeit und Ehrfurcht am Eingänge derselben. Er zeigte mir mit mehr Genauigkeit seine Schäze, als ich mit der Rücksicht auf meine Begleiter, denen nichts neu war, für vereinbarlich hielt. Es waren viele Pflanzen aus fremden Welttheilen da sowohl im war¬ men als im kalten Hause. Besonders erfreut war er über seine reiche Sammlung von Ananas, die einen eigenen Plaz in einem Gewächshause einnahmen. Nicht weit hinter dem Gewächshause stand eine Gruppe von Linden, welche beinahe so schön und so groß waren wie die in dem Garten des Asperhofes. Auch war der Sand unter ihrem Schattendache so rein gefegt, und um die Ähnlichkeit zu vollenden, lie¬ fen auf demselben Finken Ammern Schwarzkehlchen und andere Vögel so traulich hin wie auf dem Sande des Rosenhauses. Daß Bänke unter den Linden stan¬ den, ist natürlich. Die Linde ist der Baum der Wohn¬ lichkeit. Wo wäre eine Linde in deutschen Landen — und gewiß ist es in andern auch so — unter der nicht eine Bank stände, oder auf der nicht ein Bild hinge, oder neben welcher sich nicht eine Kapelle befände. Die Schönheit ihres Baues das Überdach ihres Schattens und das gesellige Summen des Lebens in ihren Zweigen ladet dazu ein. Wir gingen in den Schatten der Linden. „Das ist eigentlich der schönste Plaz in dem Ster¬ nenhofe,“ sagte Mathilde, „und jeder, der den Gar¬ ten besucht, muß hier ein wenig ruhen, daher sollt ihr auch so thun.“ Mit diesen Worten wies sie auf die Bänke, die fast in einem Bogen unter den Stämmen der Linden standen, und hinter denen sich eine Wand grünen Gebüsches aufbaute. Wir sezten uns nieder. Das Summen, wie es jedes Mal in diesen Bäumen ist, war gleichmäßig über unserm Haupte, das stumme Laufen der Vögel über den reinen Sand war vor un¬ sern Augen, und ihr gelegentlicher Aufflug in die Bäume tönte leicht in unsere Ohren. Nach einiger Zeit bemerkte ich, daß auch mit Un¬ terbrechungen ein leises Rauschen hörbar sei, gleich¬ sam als würde es jezt von einem leichten Lüftchen her¬ getragen, jezt nicht. Ich äußerte mich darüber. „Ihr habt recht gehört,“ sagte Mathilde, „wir wer¬ den die Sache gleich sehen.“ Wir erhoben uns, und gingen auf einem schma¬ len Sandpfade durch die Gebüsche, die sich in gerin¬ ger Entfernung hinter den Linden befanden. Als wir etwa vierzig oder fünfzig Schritte gegangen waren, öffnete sich das Dickicht, und ein freier Plaz empfing uns, der rückwärts mit dichtem Grün geschlossen war. Das Grün bestand aus Epheu, welcher eine Mauer von großen Steinen bekleidete, die an ihren beiden Enden riesenhafte Eichen hatte. In der Mitte der Mauer war eine große Öffnung, oben mit einem Bo¬ gen begrenzt, gleichsam wie eine große Nische oder wie eine Tempelwölbung. Im Innern dieser Wöl¬ bung, die gleichfalls mit Eppich überzogen war, ruhte eine Gestalt von schneeweißem Marmor — ich habe nie ein so schimmerndes und fast durchsichtiges Weiß des Marmors gesehen, das noch besonders merkwür¬ dig wurde durch das umgebende Grün. Die Gestalt war die eines Mädchens, aber weit über die gewöhn¬ liche Lebensgröße, was aber in der Epheuwand und neben den großen Eichen nicht auffiel. Sie stüzte das Haupt mit der einen Hand, den anderen Arm hatte sie um ein Gefäß geschlungen, aus welchem Wasser in ein vor ihr befindliches Becken rann. Aus dem Becken fiel das Wasser in eine in den Sand gemauerte Vertiefung, von welcher es als kleines Bächlein in das Gebüsch lief. Wir standen eine Weile, betrachteten die Gestalt, und redeten über sie. Eustach und ich kosteten auch mittelst einer alabasternen Schale, die in einer Ver¬ tiefung des Epheus stand, von dem frischen Wasser, welches sich aus dem Gefäße ergoß. Hierauf gingen wir hinter der Eppichwand über eine Steintreppe empor, und erstiegen einen kleinen Hügel, auf welchem sich wieder Size befanden, die von verschiedenen Gebüschen beschattet waren. Gegen das Haus zu aber gewährten sie die Aussicht. Wir mußten uns hier wieder ein wenig sezen. Zwischen den Eichen gleichsam wie in einem grünen knorrigen Rahmen erschien das Haus. Mit seinem hohen stei¬ len Dache von alterthümlichen Ziegeln und mit seinen breiten und hochgeführten Rauchfängen glich es einer Burg, zwar nicht einer Burg aus den Ritterzeiten, aber doch aus den Jahren, in denen man noch den Harnisch trug, aber schon die weichen Locken der Pe¬ rücke auf ihn herabfallen ließ. Die Schwere einer solchen Erscheinung sprach sich auch in dem ganzen Bauwerke aus. Zu beiden Seiten des Schlosses sah man die Landschaft und hinten das liebliche Blau der Gebirge. Die dunkeln Gestalten der Linden, unter denen wir gesessen waren, befanden sich weiter links, und störten die Aussicht nicht. „Man hat sehr mit Unrecht in neuerer Zeit die Mauern dieses Schlosses mit der weißgrauen Tünche überzogen,“ sagte mein Gastfreund, „wahrscheinlich um es freundlicher zu machen, welche Absicht man sehr gerne zu Ende des vorigen Jahrhunderts an den Tag legte. Wenn man die großen Steine, aus denen die Hauptmauern errichtet sind, nicht bestrichen hätte, so würde das natürliche Grau derselben mit dem Rost¬ braun des Daches und dem Grün der Bäume einen sehr zusammenstimmenden Eindruck gemacht haben. Jezt aber steht das Schloß da wie eine alte Frau, die weiß gekleidet ist. Ich würde den Versuch machen, wenn das Schloß mein Eigenthum wäre, ob man nicht mit Wasser und Bürsten und zulezt auf trocke¬ nem Wege mit einem feinen Meißel die Tünche besei¬ tigen könnte. Alle Jahre eine mäßige Summe darauf verwendet, würde jährlich die Aussicht, des widrigen Anblickes erledigt zu werden, angenehm vermehren.“ „Wir können ja den Versuch nahe an der Erde machen, und aus der Arbeit einen ungefähren Kosten¬ anschlag verfertigen,“ sagte Mathilde; „denn ich ge¬ stehe gerne zu, daß mich auch der Anblick dieser Farbe nicht erfreut, besonders, da die Außenseite der Mauern ganz von Steinen ist, die mit feinen Fugen an einan¬ der stoßen, und man also bei Erbauung des Hauses auf keine andere Farbe als die der Steine gerechnet hat. Jezt ist das Schloß von Innen viel natürlicher, und, wenn auch nicht an eine Kunstzeit erinnernd, doch in seiner Art zusammen stimmender als von Außen.“ „Das Grau der Mauer mit den grauen Stein¬ simsen der Fenster, die nicht ungeschickt gegliedert sind, mit der Höhe und Breite der Fenster, deren Verhält¬ niß zu den festen Zwischenräumen ein richtiges ist, würde, glaube ich, dem Hause ein schöneres Ansehen geben, als man jezt ahnt,“ sagte Eustach. Mir fielen bei dieser Äußerung die Worte ein, welche mein Gastfreund einmal zu mir gesagt hatte, daß alte Geräthe in neuen Häusern nicht gut stehen. Ich erinnerte mich, daß in dem Saale und in den alt eingerichteten Gemächern dieses Schlosses die hohen Fenster die breiten Räume zwischen ihnen und die eigenthümlich gestalteten Zimmerdecken den Geräthen sehr zum Vortheile gereichten, was in Zimmern der neuen Art gewiß nicht der Fall gewesen wäre. Als wir so sprachen, kamen Natalie und Gustav, die bei der Nymphe des Brunnens zurückgeblieben waren, die Steintreppe zu uns empor. Die Angesich¬ ter waren sanft geröthet, die dunkeln Augen blickten heiter in das Freie, und die beiden jugendlichen Ge¬ stalten stellten sich mit einer anmuthigen Bewegung hinter uns. Von diesem Hügel der Eichenaussicht gingen wir weiter in den Garten zurück, und gelangten endlich in das Gemisch von Ahornen Buchen Eichen Tannen und anderen Bäumen, welches wie ein Wäldchen den Garten schloß. Wir gingen in den Schatten ein, und die Freudenäußerungen und das Geschmetter der Vögel war kaum irgendwo größer als hier. Wir be¬ suchten Stellen, wo man der Natur nachgeholfen hatte, um diese Abtheilung noch angenehmer zu ma¬ chen, und Gustav zeigte mir Bänke Tischchen und an¬ dere Pläze, wo er mit Natalien gesessen war, wo sie gelernt wo sie als Kinder gespielt hatten. Wir gin¬ gen an den wunderbar von Licht und Schatten ge¬ sprenkelten Stämmen dahin, wir gingen über die dun¬ keln und die leuchtenden Stellen der Sandwege, wir gingen an reichen grünenden Büschen an Ruhebänken und sogar an einer Quelle vorbei, und kamen durch Wendungen, die ich nicht bemerkt hatte, an einer Stelle wieder in den freien Garten zurück, die an der entgegengesezten Seite von der lag, bei welcher wir das Wäldchen betreten hatten. Wir ließen jezt die zwei großen Eichen links, eben so die Linden, und gingen auf einem anderen Wege in das Schloß zurück. Das Mittagessen wurde an dem äußerst schö¬ nen Grün des Hügels unmittelbar vor dem Hause unter einem Dache von Linnen eingenommen. Am Nachmittage besprachen sich Mathilde und Eustach vorläufig über das, was in Hinsicht der Be¬ schädigungen geschehen könnte, welche die neuen Ge¬ räthe in den Südzimmern sowie die Fußböden und zum Theile auch die alten Geräthe in den Westzim¬ mern in der Zeit erlitten hatten. Gegen Abend wur¬ den der Meierhof und die Wirthschaftsgebäude be¬ sucht. So wie Mathilde in dem Rosenhause um den weiblichen Antheil des Hauswesens sich bekümmert, alles, was dahin einschlug, besehen, und Anleitungen zu Verbesserungen gegeben hatte: so that es mein Gastfreund in dem Sternenhofe mit allem was auf die äußere Verwaltung des Besizes Bezug hatte, wo¬ rin er mehr Erfahrung zu haben schien als Mathilde. Er ging in alle Räume, besah die Thiere und ihre Verpflegung, und besah die Anstalten zur Bewahrung oder Umgestaltung der Wirthschaftserzeugnisse. War mir dieses Verhältniß schon in dem Rosenhause er¬ sichtlich gewesen, so war es hier noch mehr der Fall. In den Handlungen meines Gastfreundes und in dem kleinen Theile, den ich von seinen Gesprächen mit Mathilde über häusliche Dinge hörte, zeigte er sich als ein Mann, der mit der Bewirthschaftung eines großen Besizes vertraut ist, und die Pflichten, die ihm in dieser Hinsicht zufallen, mit Eifer mit Umsicht und mit einem Blicke über das Ganze erfüllt, ohne eben deßhalb die Grenzen zu berühren, innerhalb wel¬ cher die Geschäfte einer Frau liegen. Das geschah so natürlich, als müßte es so sein, und als wäre es nicht anders möglich. Von dem Meierhofe gingen wir in die Wiesen und auf die Felder, welche zu der Besizung gehörten. Wir gingen endlich über die Grenzen des Besizthu¬ mes hinaus, gingen über den Boden anderer Men¬ schen, die wir zum Theile arbeitend auf den Feldern trafen, und mit denen wir redeten. Wir gelangten endlich auf eine Anhöhe, die eine große Umsicht ge¬ währte. Wir blieben hier stehen. Das erste, auf das wir blickten, war das Schloß mit seinem grünen Hü¬ gel und im Schoße seiner umgürtenden Ahorne und des begrenzenden Gartenwaldes. Dann gingen wir auf andere Punkte über. Man zeigte und nannte mir die einzelnen Häuser, die zerstreut in der Landschaft lagen, und durch die Linien von Obstbäumen, die hier überall durch das Land gingen, wie durch grüne Ketten zusammenhingen. Dann kam man auf die ent¬ fernteren Ortschaften, deren Thürme hier zu erblicken waren. In diesem Stoffe konnte ich schon mehr mit¬ reden, da mir die meisten Orte bekannt waren. Als wir aber mit unsern Augen in die Gebirge gelangten, war ich fast der Bewandertste. Ich gerieth nach und nach in das Reden, da man mich um verschiedene Punkte fragte, und sah, daß ich Antwort zu geben wußte. Ich nannte die Berge, deren Spizen erkenn¬ bar hervortraten, ich nannte auch Theile von ihnen, ich bezeichnete die Thäler, deren Windungen zu ver¬ folgen waren, zeigte die Schneefelder, bemerkte die Einsattlungen, durch welche Berge oder ganze Gebirgs¬ züge zusammenhingen oder getrennt waren, und suchte die Richtungen zu verdeutlichen, in denen bekannte Gebirgsortschaften lagen oder bekannte Menschen¬ stämme wohnten. Natalie stand neben mir, hörte sehr aufmerksam zu, und fragte sogar um Einiges. Als die Sonne untergegangen war, und die sanfte Glut von den Gipfeln der Hochgebirge sich verlor, gingen wir in das Schloß zurück. Stifter , Nachsommer. I . 31 Das Abendessen wurde in dem Speisezimmer ein¬ genommen. So brachten wir mehrere Tage in freundlichem Umgange und in heiteren mitunter belehrenden Ge¬ sprächen hin. Endlich rüsteten wir uns zur Abreise. Am frühe¬ sten Morgen war der Wagen bespannt. Mathilde und Natalie waren aufgestanden, um uns Lebewohl zu sagen. Mein Gastfreund nahm Abschied von Ma¬ thilde und Natalie, Eustach und Gustav verabschie¬ deten sich, und ich glaubte auch einige Worte des Dankes für die gütige Aufnahme an Mathilde richten zu müssen. Sie gab eine freundliche Antwort, und lud mich ein, bald wieder zu kommen. Selbst zu Na¬ talie sagte ich ein Wort des Abschiedes, das sie leise erwiederte. Wie sie so vor mir stand, begrif ich wieder, wie ich bei ihrem ersten Anblicke auf den Gedanken ge¬ kommen war, daß der Mensch doch der höchste Ge¬ genstand für die Zeichnungskunst sei, so süß gehen ihre reinen Augen und so lieb und hold gehen ihre Züge in die Seele des Betrachters. Wir stiegen in den Wagen, fuhren den grünen Rasenhügel hinab, wendeten unsern Weg gegen Norden und kamen spät in der Nacht im Rosen¬ hause an. Mein Bleiben war nun in diesem Hause nicht mehr lange; denn ich hatte keine Zeit mehr zu verlie¬ ren. Ich packte meine Sachen ein, bezeichnete die Ki¬ sten und Koffer, welchen Weg sie zu nehmen hät¬ ten, besuchte alle, von denen ich glaubte, Abschied nehmen zu müssen, dankte meinem Gastfreunde für alle Güte und Freundlichkeit, leistete das Versprechen, wieder zu kommen, und wanderte eines Tages über den Rosenhügel hinunter. Da es zu einer Zeit ge¬ schah, in welcher Gustav frei war, begleitete er und Eustach mich eine Stunde Weges. Ende des ersten Bandes. Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.