Die Horen eine Monatsschrift her ausgegeben von Schiller Dritter Band . Tuͤbingen in der J. G. Cottaischen Buchhandlung 1795 . VIII Ueber das Naive . E s giebt Augenblicke in unserm Leben, wo wir der Na- tur in Pflanzen, Mineralen, Thieren, Landschaften, so wie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unsern Sin- nen wohlthut, auch nicht weil sie unsern Verstand oder Geschmack befriedigt (von beyden kann oft das gerade Gegentheil statt finden) sondern bloß weil sie Natur ist , eine Art von Liebe und von ruͤhrender Achtung wid- men. Jeder feinere Mensch, dem es nicht ganz und gar an Empfindung fehlt, erfaͤhrt dieses, wenn er im Freyen wandelt, wenn er auf dem Lande lebt, oder sich bey den Denkmaͤlern der alten Zeiten verweilet, kurz, wenn er in kuͤnstlichen Verhaͤltnissen und Situationen mit dem An- blick der einfaͤltigen Natur uͤberrascht wird. Dieses, nicht selten zum Beduͤrfniß erhoͤhte Interesse ist es, was vielen unsrer Liebhabereyen fuͤr Blumen und Thiere, fuͤr ein- fache Gaͤrten, fuͤr Spaziergaͤnge, fuͤr das Land und seine Bewohner, fuͤr manche Produkte des fernen Alterthums, u. dgl. zum Grund liegt; vorausgesetzt, daß weder Af- fektation, noch sonst ein zufaͤlliges Interesse dabey im Spiele sey. Diese Art des Interesse an der Natur findet aber nur unter zwey Bedingungen statt. Fuͤrs erste ist es durchaus noͤthig, daß der Gegenstand, der uns dasselbe einfloͤßt, Natur sey oder doch von uns dafuͤr gehalten werde; zweytens daß er (in weitester Bedeutung des Worts) naiv sey, d. h. daß die Natur mit der Kunst im Kon- traste stehe und sie beschaͤme. Sobald das letzte zu dem ersten hinzukommt, und nicht eher, wird die Natur zum Naiven. Natur in dieser Betrachtungsart ist uns nichts an- ders, als das freiwillige Daseyn, das Bestehen der Dinge durch sich selbst, die Existenz nach eignen und unabaͤnder- lichen Gesetzen. Diese Vorstellung ist schlechterdings noͤthig, wenn wir an dergleichen Erscheinungen Interesse nehmen sol- len. Koͤnnte man einer gemachten Blume den Schein der Natur, mit der vollkommensten Taͤuschung geben, koͤnnte man die Nachahmung des Naiven in den Sitten bis zur hoͤchsten Illusion treiben, so wuͤrde die Entdeckung daß es Nachahmung sey, das Gefuͤhl, von dem die Rede ist, gaͤnzlich vernichten. Kant, meines Wissens der erste, der uͤber dieses Phaͤnomen eigends zu reflektiren angefangen, erinnert, daß wenn wir von einem Menschen den Schlag der Nachtigall bis zur hoͤch- sten Taͤuschung nachgeahmt faͤnden, und uns dem Eindruck desselben mit ganzer Ruͤhrung uͤberliessen, mit der Zerstoͤ- rung dieser Illusion alle unsere Lust verschwinden wuͤrde. Man sehe das Kapitel vom intellektuellen Inter- esse am Schoͤnen in der Critik der aͤsthetischen Urtheils- kraft. Wer den Verfasser nur als einen großen Denker bewundern gelernt hat, wird sich freuen, hier auf eine Spur seines Herzens zu treffen, und sich durch diese Ent- Daraus erhellet, daß diese Art des Wohlgefallens an der Natur kein aͤsthetisches, sondern ein moralisches ist; denn es wird durch eine Idee vermittelt, nicht unmittelbar durch Betrachtung erzeugt; auch richtet es sich ganz und gar nicht nach der Schoͤn- heit der Formen. Was haͤtte auch eine unscheinbare Blume, eine Quelle, ein bemooßter Stein, das Gezwit- scher der Voͤgel, das Summen der Bienen ꝛc. fuͤr sich selbst so gefaͤlliges fuͤr uns? Was koͤnnte ihm gar einen Anspruch auf unsere Liebe geben? Es sind nicht diese Ge- genstaͤnde, es ist eine durch sie dargestellte Idee , was wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das stille schaf- fende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Da- seyn nach eignen Gesetzen, die innere Nothwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst. Sie sind , was wir waren ; sie sind, was wir wieder werden sollen . Wir waren Natur, wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freyheit, zur Natur zuruͤckfuͤhren. Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlorenen Kindheit, die uns ewig das theuerste bleibt; daher sie uns mit ei- ner gewissen Wehmuth erfuͤllen. Zugleich sind sie Dar- stellungen unserer hoͤchsten Vollendung im Ideale, daher sie uns in eine erhabene Ruͤhrung versetzen. Aber ihre Vollkommenheit ist nicht ihr Verdienst, weil sie nicht das Werk ihrer Wahl ist. Sie gewaͤhren uns also die ganz eigene Lust, daß sie, ohne uns zu be- deckung von dem hohen philosophischen Beruf dieses Man- nes (welcher schlechterdings beyde Eigenschaften verbunden fodert) zu uͤberzeugen. schaͤmen, unsre Muster sind. Eine bestaͤndige Goͤtterer- scheinung umgeben sie uns, aber mehr erquickend als blendend. Was ihren Character ausmacht, ist gerade das, was dem unsrigen zu seiner Vollendung mangelt; was uns von ihnen unterscheidet, ist gerade das, was ihnen selbst zur Goͤttlichkeit fehlt. Wir sind frey und sie sind nothwendig; wir wechseln, sie bleiben eins. Aber nur, wenn beydes sich mit einander verbindet — wenn der Wille das Gesetz der Nothwendigkeit frey befolgt und bey allem Wechsel der Phantasie die Vernunft ihre Regel behauptet, geht das Goͤttliche oder das Ideal her- vor. Wir erblicken in ihnen also ewig das, was uns abgeht, aber wornach wir aufgefodert sind zu ringen, und dem wir uns, wenn wir es gleich niemals errei- chen, doch in einem unendlichen Fortschritte zu naͤhern hoffen duͤrfen. Wir erblicken in uns einen Vorzug, der ihnen fehlt, aber dessen sie entweder uͤberhaupt nie- mals, wie das vernunftlose, oder nicht anders als in- dem sie unsern Weg gehen, wie die Kindheit, theil- haftig werden koͤnnen. Sie verschaffen uns daher den suͤssesten Genuß unserer Menschheit als Idee, ob sie uns gleich in Ruͤcksicht auf jeden bestimmten Zustand un- serer Menschheit nothwendig demuͤthigen muͤssen. Da sich dieses Interesse fuͤr Natur auf eine Idee gruͤndet, so kann es sich nur in Gemuͤthern zeigen, welche fuͤr Ideen empfaͤnglich sind, d. h. in moralischen. Bey weitem die mehresten Menschen affektiren es bloß, und die Allgemeinheit dieses sentimentalischen Geschmacks zu unsern Zeiten, welcher sich besonders seit der Erscheinung gewisser Schriften, in empfindsamen Reisen, dergleichen Gaͤrten, Spaziergaͤngen, und andere Liebhabereyen dieser Art aͤussert, ist noch ganz und gar kein Beweis fuͤr die Allgemeinheit dieser Empfindungsweise. Doch wird die Natur auch auf den gefuͤhllosesten immer etwas von die- ser Wirkung aͤussern, weil schon die, allen Menschen ge- meine, Anlage zum Sittlichen dazu hinreichend ist, und wir alle ohne Unterschied, bey noch so großer Ent- fernung unserer Thaten von der Einfalt und Wahrheit der Natur, in der Idee dazu hingetrieben werden. Besonders stark und am allgemeinsten aͤussert sich diese Empfindsamkeit fuͤr Natur bey Veranlassung solcher Ge- genstaͤnde, welche in einer engern Verbindung mit uns stehen, und uns den Ruͤckblick auf uns selbst und die Unnatur in uns naͤher legen, wie z. B. bey Kindern. Man irrt, wenn man glaubt, daß es bloß die Vorstel- lung der Huͤlflosigkeit sey, welche macht, daß wir in ge- wissen Augenblicken mit soviel Ruͤhrung bey Kindern verweilen. Das mag bey denjenigen vielleicht der Fall seyn, welche der Schwaͤche gegenuͤber nie etwas anders als ihre eigene Ueberlegenheit zu empfinden pflegen. Aber das Gefuͤhl, von dem ich rede, (es findet nur in ganz eigenen moralischen Stimmungen statt, und ist nicht mit demjenigen zu verwechseln, welches die froͤhliche Thaͤtig- keit der Kinder in uns erreget) ist eher demuͤthigend als beguͤnstigend fuͤr die Eigenliebe; und wenn ja ein Vor- zug dabey in Betrachtung kommt, so ist dieser wenigstens nicht auf unserer Seite. Nicht weil wir von der Hoͤhe unserer Kraft und Vollkommenheit auf das Kind herab- sehen, sondern weil wir aus der Beschraͤnktheit unsers Zustands, welche von der Bestimmung , die wir ein- mal erlangt haben, unzertrennlich ist, zu der graͤnzen- losen Bestimmbarkeit in dem Kinde und zu seiner reinen Unschuld hinauf sehen , gerathen wir in Ruͤhrung, und unser Gefuͤhl in einem solchen Augenblick ist zu sichtbar mit einer gewißen Wehmuth gemischt, als daß sich diese Quelle desselben verkennen liesse. In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung , in uns ist die Erfuͤllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zuruͤckbleibt. Das Kind ist uns daher eine Vergegenwaͤrtigung des Ideals, nicht zwar des erfuͤll- ten, aber des aufgegebenen, und es ist also keinesweges die Vorstellung seiner Beduͤrftigkeit und Schranken, es ist ganz im Gegentheil die Vorstellung seiner reinen und freyen Kraft, seiner Integritaͤt, seiner Unendlichkeit, was uns ruͤhrt. Dem Menschen von Sittlichkeit und Em- pfindung wird ein Kind deswegen ein heiliger Gegen- stand seyn, ein Gegenstand nehmlich, der durch die Groͤße einer Idee jede Groͤße der Erfahrung vernichtet; und der, was er auch in der Beurtheilung des Verstandes verlieren mag; in der Beurtheilung der Vernunft wie- der in reichem Maaße gewinnt. Eben aus diesem Widerspruch zwischen dem Urtheile der Vernunft und des Verstandes geht die ganze eigene Erscheinung des gemischten Gefuͤhls hervor, welches das Naive der Denkart in uns erreget. Es verbindet die kindliche Einfalt mit der kindischen ; durch die letztere giebt es dem Verstand eine Bloͤße und bewirkt jenes Laͤcheln, wodurch wir unsre ( theoretische ) Ueberlegenheit zu erkennen geben. Sobald wir aber Ursache haben zu glauben, daß die kindische Einfalt zu- gleich eine kindliche sey, daß folglich nicht Unverstand, nicht theoretisches Unvermoͤgen, sondern eine hoͤhere praktische Staͤrke, ein Herz voll Unschuld und Wahr- heit, die Quelle davon sey, welches die Huͤlfe der Kunst aus innrer Groͤße verschmaͤhte, so ist jener Triumph des Verstandes vorbey, und der Spott uͤber die Einfaͤltigkeit geht in Bewunderung der hohen Einfachheit uͤber. Wir fuͤhlen uns genoͤthigt, den Gegenstand zu achten, uͤber den wir vorher gelaͤchelt haben, und, indem wir zugleich einen Blick in uns selbst werfen, uns zu beklagen , daß wir demselben nicht aͤhnlich sind. So entsteht die ganz eigene Erscheinung eines Gefuͤhls, in welchem froͤh- licher Spott, Ehrfurcht und Wehmuth zusammenfliessen. Kant in einer Anmerkung zu der Analytik des Erhabe- nen (Critik der aͤsthetischen Urtheilskraft. S. 225. der ersten Auflage) unterscheidet gleichfalls diese dreyerley In- gredienzien in dem Gefuͤhl des Naiven, aber er giebt davon eine andre Erklaͤrung. „Etwas aus beidem (dem animali- „schen Gefuͤhl des Vergnuͤgens und dem geistigen Gefuͤhl „der Achtung) zusammengesetztes findet sich in der Naivi- „taͤt, die der Ausbruch der der Menschheit urspruͤnglich na- „tuͤrlichen Aufrichtigkeit wider die zur andern Natur ge- „wordene Verstellungskunst ist. Man lacht uͤber die Ein- „falt, die es noch nicht versteht sich zu verstellen und er- „freut sich doch auch uͤber die Einfalt der Natur, die „jener Kunst hier einen Querstrich spielt. Man erwartete „die alltaͤgliche Sitte der gekuͤnstelten und den schoͤnen „Schein vorsichtig angelegten Aeusserung und siehe es ist „die unverdorbene schuldlose Natur, die man anzutreffen „gar nicht gewaͤrtig und der, so sie bliken ließ, zu ent- „bloͤßen auch nicht gemeynet war. Daß der schoͤne, aber „falsche Schein, der gewoͤhnlich in unserm Urtheile sehr „viel bedeutet, hier ploͤtzlich in Nichts verwandelt, daß Die Horen. 1795. 11tes St. 4 Zum Naiven wird erfodert daß die Natur uͤber die „gleichsam der Schalk in uns selbst bloß gestellt wird, „bringt die Bewegung des Gemuͤths nach zwey entgegen- „gesetzten Richtungen nach einander hervor, die zugleich „den Koͤrper heilsam schuͤttelt. Daß aber etwas, was un- „endlich besser als alle angenommene Sitte ist, die Lauter- „keit der Denkungsart, (wenigstens die Anlage dazu) doch „nicht ganz in der menschlichen Natur erloschen ist, mischt „Ernst und Hochschaͤtzung in dieses Spiel der Urtheilskraft. „Weil es aber nur eine kurze Zeit Erscheinung ist und die „Deke der Verstellungskunst bald wieder vorgezogen wird, „so mengt sich zugleich ein Bedauren darunter, welches „eine Ruͤhrung der Zaͤrtlichkeit ist, die sich als Spiel mit „einem solchen gutherzigen Lachen sehr wohl verbinden laͤßt, „und auch wirklich damit gewoͤhnlich verbindet, zugleich „auch die Verlegenheit dessen, der den Stoff dazu hergiebt, „daruͤber daß er noch nicht nach Menschenweise gewitzigt „ist, zu verguͤten pflegt. —“ Ich gestehe, daß diese Erklaͤ- rungsart mich nicht ganz befriedigt, und zwar vorzuͤglich deswegen nicht, weil sie von dem Naiven uͤberhaupt etwas behauptet, was hoͤchstens von einer Species desselben, dem Naiven der Ueberraschung, von welchem ich nachher reden werde, wahr ist. Allerdings erregt es Lachen , wenn sich jemand durch Naivheit bloß giebt, und in manchen Faͤllen mag dieses Lachen aus einer vorhergegangenen Erwartung, die in Nichts aufgeloͤßt wird, fliessen. Aber auch die Naiv- heit der edelsten Art, das Naive der Gesinnung erregt im- mer ein Laͤcheln , welches doch schwerlich eine in Nichts Kunst den Sieg davon trage Ich sollte vielleicht ganz kurz sagen: die Wahrheit uͤber die Verstellung , aber der Begriff des Naiven scheint mir noch etwas mehr einzuschließen, indem die Ein- fachheit uͤberhaupt, welche uͤber die Kuͤnsteley, und die natuͤrliche Freyheit, welche uͤber Steifheit und Zwang siegt, ein aͤhnliches Gefuͤhl in uns erregen. es geschehe dieß nun wider Wissen und Willen der Person, oder mit voͤlligem Be- wußtseyn derselben. In dem ersten Fall ist es das Naive der Ueberraschung und belustigt; in dem andern ist es das Naive der Gesinnung und ruͤhrt. Bey dem Naiven der Ueberraschung muß die Per- son moralisch faͤhig seyn, die Natur zu verlaͤugnen; bey dem Naiven der Gesinnung darf sie es nicht seyn, aufgeloͤßte Erwartung zum Grunde hat, sondern uͤberhaupt nur aus dem Kontrast eines gewißen Betragens mit den einmal angenommenen und erwarteten Formen zu erklaͤren ist. Auch zweifle ich, ob die Bedauerniß, welche sich bey dem Naiven der letztern Art in unsre Empfindung mischt, der naiven Person und nicht vielmehr uns selbst oder viel- mehr der Menschheit uͤberhaupt gilt, an deren Verfall wir bey einem solchen Anlaß erinnert werden. Es ist zu offen- bar eine moralische Trauer, die einen edlern Gegenstand haben muß, als die physischen Uebel, von denen die Auf- richtigkeit in dem gewoͤhnlichen Weltlauf bedrohet wird, und dieser Gegenstand kann nicht wohl ein anderer seyn, als der Verlust der Wahrheit und Simplicitaͤt in der Menschheit. doch duͤrfen wir sie uns nicht als physisch unfaͤhig dazu denken, wenn es als naiv auf uns wirken soll. Die Hand- lungen und Reden der Kinder geben uns daher auch nur solange den reinen Eindruk des Naiven, als wir uns ih- res Unvermoͤgens zur Kunst nicht erinnern, und uͤber- haupt nur auf den Kontrast ihrer Natuͤrlichkeit mit der Kuͤnstlichkeit in uns Ruͤksicht nehmen. Das Naive ist eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird , und kann eben deßwegen der wirklichen Kindheit in strengster Bedeutung nicht zugeschrieben werden. In beyden Faͤllen aber, beym Naiven der Ueberra- schung wie bey dem der Gesinnung muß die Natur Recht, die Kunst aber Unrecht haben. Erst durch diese letztere Bestimmung wird der Be- griff des Naiven vollendet. Der Affekt ist auch Natur und die Regel der Anstaͤndigkeit ist etwas Kuͤnstliches, dennoch ist der Sieg des Affekts uͤber die Anstaͤndigkeit nichts weniger als naiv. Siegt hingegen derselbe Affekt uͤber die Kuͤnsteley, uͤber die falsche Anstaͤndigkeit, uͤber die Verstellung, so tragen wir kein Bedenken, es naiv zu nennen. Ein Kind ist ungezogen, wenn es aus Begierde, Leichtsinn, Ungestuͤm den Vorschriften einer guten Erziehung entgegen- handelt, aber es ist naiv, wenn es sich von dem Manierier- ten einer unvernuͤnftigen Erziehung, von den steifen Stel- lungen des Tanzmeisters u. dgl. aus freyer und gesunder Natur dispensiert. Dasselbe findet auch bey dem Naiven in ganz uneigentlicher Bedeutung statt, welches durch Ue- Es wird also erfodert, daß die Natur nicht durch ihre blinde Gewalt als dynamische , fon- dern daß sie durch ihre Form als moralische Groͤße, kurz daß sie nicht als Nothdurft , sondern als innre Nothwendigkeit uͤber die Kunst triumphiere. Nicht die Unzulaͤnglichkeit sondern die Unstatthaftigkeit der letztern muß der erstern den Sieg verschaft haben; denn jene ist Mangel, und nichts, was aus Mangel ent- springt, kann Achtung erzeugen. Zwar ist es bey dem Naiven der Ueberraschung immer die Uebermacht des Af- fekts und ein Mangel an Besinnung, was die Natur bekennen macht; aber dieser Mangel und jene Ueber- macht machen das Naive noch gar nicht aus, sondern geben bloß Gelegenheit, daß die Natur ihrer mora- lischen Beschaffenheit , d. h. dem Gesetze der Uebereinstimmung ungehindert folgt . Das Naive der Ueberraschung kann nur dem Men- schen und zwar dem Menschen nur, insofern er in diesem Augenblicke nicht mehr reine und unschuldige Natur ist, zukommen. Es setzt einen Willen voraus, der mit dem was bertragung von dem Menschen auf das Vernunftlose ent- stehet. Niemand wird den Anblick naiv finden, wenn in einem Garten, der schlecht gewartet wird, das Unkraut uͤberhand nimmt, aber es hat allerdings etwas naives, wenn der freye Wuchs hervorstrebender Aeste das muͤhselige Werk der Scheere in einem franzoͤsischen Garten vernichtet. So ist es ganz und gar nicht naiv, wenn ein geschultes Pferd aus natuͤrlicher Plumpheit seine Lection schlecht macht, aber es hat etwas vom Naiven, wenn es dieselbe aus na- tuͤrlicher Freyheit vergißt. die Natur auf ihre eigene Hand thut, nicht uͤbereinstimmt. Eine solche Person wird, wenn man sie zur Besinnung bringt, uͤber sich selbst erschrecken; die naiv gesinnte hingegen wird sich uͤber die Menschen und uͤber ihr Er- staunen verwundern. Da also hier nicht der persoͤnliche und moralische Charakter, sondern bloß der, durch den Affekt freygelassene natuͤrliche Charakter die Wahrheit be- kennt, so machen wir dem Menschen aus dieser Aufrich- tigkeit kein Verdienst und unser Lachen ist verdienter Spott, der durch keine persoͤnliche Hochschaͤtzung desselben zuruͤck- gehalten wird. Weil es aber doch auch hier die Auf- richtigkeit der Natur ist, die durch den Schleier der Falsch- heit hindurch bricht, so verbindet sich eine Zufriedenheit hoͤherer Art, mit der Schadenfreude, einen Menschen er- tappt zu haben; denn die Natur im Gegensatz gegen die Kuͤnsteley und die Wahrheit im Gegensatz gegen den Be- trug muß jederzeit Achtung erregen. Wir empfinden also auch uͤber das Naive der Ueberraschung ein wirklich mo- ralisches Vergnuͤgen, obgleich nicht uͤber einen morali- schen Gegenstand. Da das Naive bloß auf der Form beruht, wie etwas ge- than oder gesagt wird, so verschwindet uns diese Eigenschaft aus den Augen, sobald die Sache selbst entweder durch ihre Ursachen oder durch ihre Folgen einen uͤberwiegenden oder gar widersprechenden Eindruck macht. Durch eine Naivheit dieser Art kann auch ein Verbrechen entdeckt werden, aber denn haben wir weder die Ruhe noch die Zeit, unsre Aufmerksamkeit auf die Form der Entdeckung zu richten, und der Abscheu uͤber den persoͤnlichen Charak- ter verschlingt das Wohlgefallen an dem natuͤrlichen. So Bey dem Naiven der Ueberraschung achten wir zwar immer die Natur , weil wir die Wahrheit achten muͤs- sen; bey dem Naiven der Gesinnung achten wir hingegen die Person , und geniessen also nicht bloß ein morali- sches Vergnuͤgen sondern auch uͤber einen moralischen Ge- genstand. In dem einen wie in dem andern Falle hat die Natur Recht , daß sie die Wahrheit sagt; aber in dem letztern Fall hat die Natur nicht bloß Recht, sondern die Person hat auch Ehre . In dem ersten Falle ge- reicht die Aufrichtigkeit der Natur der Person immer zur Schande, weil sie unfreywillig ist; in dem zweyten ge- reicht sie ihr immer zum Verdienst, gesetzt auch, daß das- jenige, was sie aussagt, ihr Schande braͤchte. Wir schreiben einem Menschen eine naive Gesinnung zu, wenn er in seinen Urtheilen von den Dingen ihre gekuͤnstelten und gesuchten Verhaͤltniße uͤbersieht und sich bloß an die einfache Natur haͤlt. Alles was innerhalb der gesunden Natur davon geurtheilt werden kann, fo- dern wir von ihm, und erlassen ihm schlechterdings nur das, was eine Entfernung von der Natur, es sey nun im Denken oder im Empfinden, wenigstens Bekanntschaft derselben voraussetzt. Wenn ein Vater seinem Kinde erzaͤhlt, daß dieser oder wie uns das empoͤrte Gefuͤhl die moralische Freude an der Aufrichtigkeit der Natur raubt, sobald wir durch eine Naivheit ein Verbrechen erfahren; eben so erstickt das erregte Mitleiden unsere Schadenfreude sobald wir jemand durch seine Naivheit in Gefahr gesetzt sehen. jener Mann fuͤr Armuth verschmachte, und das Kind hingeht, und dem armen Mann seines Vaters Geldboͤrse zutraͤgt, so ist diese Handlung naiv; denn die gesunde Natur handelte aus dem Kinde, und in einer Welt, wo die gesunde Natur herrschte, wuͤrde es vollkommen recht gehabt haben, so zu verfahren. Es sieht bloß auf das Beduͤrfniß, und auf das naͤchste Mittel es zu befriedigen; eine solche Ausdehnung des Eigenthumsrechtes, wobey ein Theil der Menschen zu Grunde gehen kann, ist in der bloßen Natur nicht gegruͤndet. Die Handlung des Kindes ist also eine Beschaͤmung der wirklichen Welt, und das gesteht auch unser Herz durch das Wohlgefallen, wel- ches es uͤber jene Handlung empfindet. Wenn ein Mensch ohne Weltkenntniß, sonst aber von gutem Verstande, einem andern, der ihn betruͤgt, sich aber geschickt zu verstellen weiß, seine Geheimnisse beich- tet, und ihm durch seine Aufrichtigkeit selbst die Mit- tel leyht ihm zu schaden, so finden wir das naiv. Wir lachen ihn aus, aber koͤnnen uns doch nicht erwehren, ihn deßwegen hochzuschaͤtzen. Denn sein Vertrauen auf den andern quillt aus der Redlichkeit seiner eigenen Gesin- nungen; wenigstens ist er nur in so fern naiv, als dieses der Fall ist. Das Naive der Denkart kann daher niemals eine Ei- genschaft verdorbener Menschen seyn, sondern nur Kin- dern und kindlich gesinnten Menschen zukommen. Diese letztern handeln und denken oft mitten unter den gekuͤn- stelten Verhaͤltnissen der großen Welt naiv; sie vergessen aus eigener schoͤner Menschlichkeit, daß sie es mit einer verderbten Welt zu thun haben, und betragen sich selbst an den Hoͤfen der Koͤnige mit einer Ingenuitaͤt und Un- schuld, wie man sie nur in einer Schaͤferwelt findet. Es ist uͤbrigens gar nicht so leicht, die kindische Un- schuld von der kindlichen immer richtig zu unterscheiden, indem es Handlungen giebt, welche auf der aͤusersten Grenze zwischen beyden schweben, und bey denen wir schlechterdings im Zweifel gelassen werden, ob wir die Ein- faͤltigkeit belachen oder die edle Einfalt hochschaͤtzen sollen. Ein sehr merkwuͤrdiges Beyspiel dieser Art findet man in der Regierungsgeschichte des Pabstes Adrian des Sechsten , die uns Herr Schroͤckh mit der ihm eigenen Gruͤndlichkeit und pragmatischen Wahrheit beschrieben hat. Dieser Pabst, ein Niederlaͤnder von Geburt, ver- waltete das Pontifikat in einem der kritischten Augenblicke fuͤr die Hierarchie, wo eine erbitterte Parthey die Bloͤßen der roͤmischen Kirche ohne alle Schonung aufdeckte, und die Gegenparthey im hoͤchsten Grad interessiert war, sie zuzudecken. Was der wahrhaft naive Charakter, wenn ja ein solcher sich auf den Stuhl des heiligen Peters ver- irrte, in diesem Falle zu thun hatte ist keine Frage; wohl aber wie weit eine solche Naivitaͤt der Gesinnung mit der Rolle eines Pabstes vertraͤglich seyn moͤchte. Dieß war es uͤbrigens, was die Vorgaͤnger und die Nachfolger Adri- ans in die geringste Verlegenheit setzte. Mit Gleichfoͤrmig- keit befolgten sie das einmal angenommene roͤmische System, uͤberall nichts einzuraͤumen. Aber Adrian hatte wirklich den geraden Charakter seiner Nation, und die Unschuld seines ehemaligen Standes. Aus der engen Sphaͤre des Gelehrten war er zu seinem erhabenen Posten emporge- stiegen, und selbst auf der Hoͤhe seiner neuen Wuͤrde je- nem einfachen Charakter nicht untreu geworden. Die Mißbraͤuche in der Kirche ruͤhrten ihn, und er war viel zu redlich, oͤffentlich zu dißimulieren, was er im stillen sich eingestand. Dieser Denkart gemaͤß ließ er sich in der In- struktion , die er seinem Legaten nach Deutschland mit- gab, zu Gestaͤndnißen verleiten, die noch bey keinem Pab- ste erhoͤrt gewesen waren, und den Grundsaͤtzen dieses Hofes schnurgerade zuwiderliefen. „Wir wissen es wohl, „hieß es unter andern, daß an diesem heiligen Stuhl „schon seit mehrern Jahren viel Abscheuliches vorgegan- „gen; kein Wunder, wenn sich der kranke Zustand von „dem Haupt auf die Glieder, von dem Pabst auf die „Praͤlaten fortgeerbt hat. Wir alle sind abgewichen, „und schon seit lange ist keiner unter uns gewesen, der et- „was Gutes gethan haͤtte auch nicht Einer.“ Wieder anderswo befiehlt er dem Legaten in Seinem Nahmen zu erklaͤren, „daß er, Adrian, wegen dessen, was vor ihm „von den Paͤbsten geschehen, nicht duͤrfe getadelt werden, „und daß dergleichen Ausschweifungen, auch da er noch „in einem geringen Stande gelebt, ihm immer mißfal- „len haͤtten u. s. f. Man kann leicht denken, wie eine solche Naivitaͤt des Pabstes von der roͤmischen Klerisey mag aufgenommen worden seyn; das wenigste, was man ihm Schuld gab war, daß er die Kirche an die Ketzer verrathen habe. Dieser hoͤchst unkluge Schritt des Pabstes wuͤrde indessen unserer ganzen Achtung und Bewunderung werth seyn, wenn wir uns nur uͤberzeugen koͤnnten, daß er wirklich naiv gewesen d. h. daß er ihm bloß durch die natuͤrliche Wahrheit seines Charakters ohne alle Ruͤck- sicht auf die moͤglichen Folgen abgenoͤthiget worden sey, und daß er ihn nicht weniger gethan haben wuͤrde, wenn er die begangene Sottise in ihrem ganzen Umfang einge- sehen haͤtte. Aber wir haben vielmehr Ursache zu glau- ben, daß er diesen Schritt fuͤr gar nicht so unpolitisch hielt, und in seiner Unschuld so weit gieng zu hoffen, durch seine Nachgiebigkeit gegen die Gegner etwas sehr wichtiges fuͤr den Vortheil seiner Kirche gewonnen zu ha- ben. Er bildete sich nicht bloß ein, diesen Schritt als redlicher Mann thun zu muͤssen, sondern ihn auch als Pabst verantworten zu koͤnnen, und indem er vergaß, daß das kuͤnstlichste aller Gebaͤude schlechterdings nur durch eine fortgesetzte Verlaͤugnung der Wahrheit erhalten wer- den koͤnnte, begieng er den unverzeyhlichen Fehler, Ver- haltungsregeln, die in natuͤrlichen Verhaͤltnissen sich be- waͤhrt haben mochten, in einer ganz entgegengesetzten La- ge zu befolgen. Dieß veraͤndert allerdings unser Urtheil sehr; und ob wir gleich der Redlichkeit des Herzens, aus dem jene Handlung floß, unsere Achtung nicht versagen koͤnnen, so wird diese letztere nicht wenig durch die Be- trachtung geschwaͤcht, daß die Natur an der Kunst und das Herz an dem Kopf einen zu schwachen Gegner gehabt habe. Naiv muß jedes wahre Genie seyn, oder es ist keines. Seine Naivheit allein macht es zum Genie, und was es im Intellektuellen und Aesthetischen ist, kann es im Moralischen nicht verlaͤugnen. Unbekannt mit den Re- geln, den Kruͤcken der Schwachheit und den Zuchtmei- stern der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem In- stinkt, seinem schuͤtzenden Engel, geleitet, geht es ruhig und sicher durch alle Schlingen des falschen Geschmackes, in welchen, wenn es nicht so klug ist, sie schon von weitem zu vermeiden, das Nichtgenie unausbleiblich verstrickt wird. Nur dem Genie ist es gegeben, ausserhalb des Be- kannten noch immer zu Hause zu seyn, und die Natur zu er- weitern , ohne uͤber sie hinauszugehen . Zwar be- gegnet letzteres zuweilen auch den groͤßten Genies, aber nur, weil auch diese ihre phantastischen Augenblicke ha- ben, wo die schuͤtzende Natur sie verlaͤßt, weil die Macht des Beyspiels sie hinreißt, oder der verderbte Geschmack ihrer Zeit sie verleitet. Die verwickeltsten Aufgaben muß das Genie mit an- spruchloser Simplicitaͤt und Leichtigkeit loͤsen; das Ey des Columbus gilt von jeder genialischen Entscheidung. Dadurch allein legitimiert es sich als Genie, daß es durch Einfalt uͤber die verwickelte Kunst triumphiert. Es ver- faͤhrt nicht nach erkannten Prinzipien sondern nach Ein- faͤllen und Gefuͤhlen; aber seine Einfaͤlle sind Eingebun- gen eines Gottes (alles was die gesunde Natur thut ist goͤttlich) seine Gefuͤhle sind Gesetze fuͤr alle Zeiten und fuͤr alle Geschlechter der Menschen. Den kindlichen Charakter, den das Genie in seinen Werken abdruͤckt, zeigt es auch in seinem Privat-Leben und in seinen Sitten. Es ist schaamhaft , weil die Natur dieses immer ist; aber es ist nicht decent , weil nur die Verderbniß decent ist. Es ist verstaͤndig , denn die Natur kann nie das Gegentheil seyn; aber es ist nicht listig , denn das kann nur die Kunst seyn. Es ist sei- nem Charakter und seinen Neigungen treu , aber nicht sowohl weil es Grundsaͤtze hat, als weil die Natur bey allem Schwanken immer wieder in die vorige Stelle ruͤckt, immer das alte Beduͤrfniß zuruͤckbringt. Es ist bescheiden , ja bloͤde, weil das Genie immer sich selbst ein Geheimniß bleibt, aber es ist nicht aͤngstlich, weil es die Gefahren des Weges nicht kennt, den es wandelt. Wir wissen wenig von dem Privatleben der groͤßten Genies, aber auch das wenige, was uns z. B. von Sophokles , von Archimed , von Hippokrates , und aus neue- ren Zeiten von Ariost, Dante und Tasso , von Ra- phael , von Albrecht, Duͤrer, Zervantes, Sha- kespear , von Fielding, Sterne u. a. aufbewahrt worden ist, bestaͤtigt diese Behauptung. Ja, was noch weit mehr Schwuͤrigkeit zu haben scheint, selbst der große Staatsmann und Feldherr, wer- den sobald sie durch ihr Genie groß sind einen naiven Cha- rakter zeigen. Ich will hier unter den Alten nur an Epa- minondas und Julius Caͤsar , unter den Neuern nur an Heinrich IV von Frankreich, Gustav Adolph von Schweden und den Czar Peter den Großen er- innern. Der Herzog von Marlborough, Tuͤren- ne, Vendome zeigen uns alle diesen Charakter. Dem andern Geschlecht hat die Natur in dem naiven Charak- ter seine hoͤchste Vollkommenheit angewiesen. Nach nichts ringt die weibliche Gefallsucht so sehr als nach dem Schein des Naiven ; Beweis genug, wenn man auch sonst keinen haͤtte, daß die groͤßte Macht des Geschlechts auf dieser Eigenschaft beruhet. Weil aber die herrschen- den Grundsaͤtze bey der weiblichen Erziehung mit diesem Charakter in ewigem Streit liegen, so ist es dem Weibe im moralischen eben so schwer als dem Mann im intellek- tuellen mit den Vortheilen der guten Erziehung jenes herr- liche Geschenk der Natur unverloren zu behalten; und die Frau , die mit einem geschickten Betragen fuͤr die große Welt diese Naivheit der Sitten verknuͤpft, ist eben so hoch- achtungswuͤrdig als der Gelehrte, der mit der ganzen Stren- ge der Schule Genialische Freyheit des Denkens verbindet. Aus der naiven Denkart fließt nothwendiger weise auch ein naiver Ausdruck sowohl in Worten als Bewe- gungen, und er ist das wichtigste Bestandstuͤck der Grazie. Mit dieser naiven Anmuth druͤckt das Genie seine erha- bensten und tiefsten Gedanken aus; es sind Goͤtterspruͤ- che aus dem Mund eines Kindes. Wenn der Schul- verstand, immer vor Irrthum bange, seine Worte wie seine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik schlaͤgt, hart und steif ist, um ja nicht unbestimmt zu seyn, viele Worte macht, um ja nicht zu viel zu sagen, und dem Gedanken, damit er ja den Unvorsichtigen nicht schneide, lieber die Kraft und die Schaͤrfe nimmt, so giebt das Genie dem seinigen mit einem einzigen gluͤcklichen Pinsel- strich einen ewig bestimmten, festen und dennoch ganz freyen Umriß. Wenn dort das Zeichen dem Bezeichne- ten ewig heterogen und fremd bleibt, so springt hier wie durch innere Nothwendigkeit die Sprache aus dem Gedan- ken hervor, und ist so sehr eins mit demselben, daß selbst unter der koͤrperlichen Huͤlle der Geist wie entbloͤßet er- scheint. Eine solche Art des Ausdrucks, wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet, und wo die Spra- che den Gedanken, den sie ausdruͤckt, noch gleichsam na- ckend laͤßt, da ihn die andre nie darstellen kann, ohne ihn zugleich zu verhuͤllen, ist es, was man in der Schreibart vorzugsweise genialisch und geistreich nennt. Frey und natuͤrlich, wie das Genie in seinen Geistes- werken, druͤckt sich die Unschuld des Herzens im lebendigen Umgang aus. Bekanntlich ist man im gesellschaftlichen Leben von der Simplicitaͤt und strengen Wahrheit des Aus- drucks in demselben Verhaͤltniß, wie von der Einfalt der Gesinnungen abgekommen, und die leicht zu verwundende Schuld so wie die leicht zu verfuͤhrende Einbildungskraft haben einen aͤngstlichen Anstand nothwendig gemacht. Oh- ne falsch zu seyn redet man oͤfters anders, als man denkt; man muß Umschweife nehmen, um Dinge zu sagen, die nur einer kranken Eigenliebe Schmerz bereiten, nur einer verderbten Phantasie Gefahr bringen koͤnnen. Eine Un- kunde dieser konventionellen Gesetze, verbunden mit natuͤr- licher Aufrichtigkeit, welche jede Kruͤmme und jeden Schein von Falschheit verachtet, (nicht Roheit, welche sich dar- uͤber, weil sie ihr laͤstig sind, hinwegsetzt) erzeugen eine Naivheit des Ausdrucks im Umgang, welche darinn be- steht, Dinge, die man entweder gar nicht oder nur kuͤnst- lich bezeichnen darf, mit ihrem rechten Nahmen und auf dem kuͤrzesten Wege zu benennen. Von der Art sind die ge- woͤhnlichen Ausdruͤcke der Kinder. Sie erregen Lachen durch ihren Kontrast mit den Sitten, doch wird man sich immer im Herzen gestehen, daß das Kind recht habe. Das Naive der Gesinnung kann zwar, eigentlich ge- nommen, auch nur dem Menschen als einem der Natur nicht schlechterdings unterworfenen Wesen beygelegt wer- den, obgleich nur insofern als wirklich noch die reine Na- tur aus ihm handelt; aber durch einen Effekt der poetisie- renden Einbildungskraft wird es oͤfters von dem Vernuͤnf- tigen auf das Vernunftlose uͤbergetragen. So legen wir oͤfters einem Thiere, einer Landschaft, einem Gebaͤude, ja der Natur uͤberhaupt, im Gegensatz gegen die Willkuͤhr und die phantastischen Begriffe des Menschen einen nai- ven Charakter bey. Dieß erfodert aber immer, daß wir dem Willenlosen in unsern Gedanken einen Willen leyhen, und auf die strenge Richtung desselben nach dem Gesetz der Nothwendigkeit merken. Die Unzufriedenheit uͤber unsere eigene schlecht gebrauchte moralische Freyheit und uͤber die in unserm Handeln vermißte sittliche Harmonie fuͤhrt leicht eine solche Stimmung herbey, in der wir das Vernunftlose wie eine Person anreden, und demsel- ben, als wenn es wirklich mit einer Versuchung zum Gegentheil zu kaͤmpfen gehabt haͤtte, se ne ewige Gleichfoͤrmigkeit zum Verdienst machen, seine ruhige Haltung beneiden. Es steht uns in einem solchen Augen- blicke wohl an, daß wir das Praͤrogativ unserer Vernunft fuͤr einen Fluch und fuͤr ein Uebel halten, und uͤber dem lebhaften Gefuͤhl der Unvollkommenheit unseres wirklichen Leistens die Gerechtigkeit gegen unsre Anlage und Be- stimmung aus den Augen setzen. Wir sehen alsdann in der unvernuͤnftigen Natur nur eine gluͤcklichere Schwester, die in dem muͤtterlichen Hause zuruͤckblieb, aus welchem wir im Uebermuth unserer Frey- heit heraus in die Fremde stuͤrmten. Mit schmerzlichem Verlangen sehnen wir uns dahin zuruͤck, sobald wir an- gefangen, die Drangsale der Kultur zu erfahren und hoͤ- ren im fernen Auslande der Kunst der Mutter ruͤhrende Stimme. Solange wir bloße Naturkinder waren, wa- ren wir gluͤcklich und vollkommen; wir sind frey gewor- den, und haben beydes verloren. Daraus entspringt eine doppelte und sehr ungleiche Sehnsucht nach der Natur; eine Sehnsucht nach ihrer Gluͤckseligkeit, eine Sehn- sucht nach ihrer Vollkommenheit. Den Verlust der ersten beklagt nur der sinnliche Mensch; um den Verlust der andern kann nur der moralische trauren. Frage dich also wohl, empfindsamer Freund der Na- tur, ob deine Traͤgheit nach ihrer Ruhe, ob deine be- leidigte Sittlichkeit nach ihrer Uebereinstimmung schmach- tet? Frage dich wohl, wenn die Kunst dich aneckelt und die Mißbraͤuche in der Gesellschaft dich zu der leblosen Natur in die Einsamkeit treiben, ob es ihre Beraubun- gen, ihre Lasten, ihre Muͤhseligkeiten, oder ob es ihre moralische Anarchie, ihre Willkuͤr, ihre Unordnungen sind, die du an ihr verabscheust? In jene muß dein Muth sich mit Freuden stuͤrzen und dein Ersatz muß die Freyheit selbst seyn, aus der sie fliessen. Wohl darfst du dir das ruhige Naturgluͤck zum Ziel in der Ferne ausstecken, aber nur jenes, welches der Preiß deiner Wuͤr- digkeit ist. Also nichts von Klagen uͤber die Erschwerung des Lebens, uͤber die Ungleichheit der Konditionen, uͤber den Druck der Verhaͤltnisse, uͤber die Unsicherheit des Besitzes, uͤber Undank, Unterdruͤckung, Verfolgung; allen Uebeln der Kultur mußt du mit freyer Resigna- tion dich unterwerfen, mußt sie als die Naturbedingun- gen des Einzig guten respektieren; nur das Boͤse dersel- ben mußt du, aber nicht bloß mit schlaffen Thraͤnen, be- klagen. Sorge vielmehr dafuͤr; daß du selbst unter jenen Befleckungen rein, unter jener Knechtschaft frey, unter jenem launischen Wechsel bestaͤndig, unter jener Anarchie gesetzmaͤßig handelst. Fuͤrchte dich nicht vor der Verwir- rung ausser dir, aber vor der Verwirrung in dir; strebe nach Einheit, aber suche sie nicht in der Einfoͤrmigkeit; strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillstand deiner Thaͤtigkeit. Jene Natur, die du dem Vernunftlosen beneidest, ist keiner Achtung, keiner Sehnsucht werth. Sie liegt hinter dir, sie muß ewig hinter dir liegen. Verlassen von der Leiter, die dich trug, bleibt dir jetzt keine andere Wahl mehr, als mit freyem Bewußtseyn und Willen das Gesetz zu ergrei- fen, oder rettungslos in eine bodenlose Tiefe zu fallen. Die Horen. 1795. 11tes St. 5 Aber wenn du uͤber das verlorene Gluͤck der Natur getroͤstet bist, so laß ihre Vollkommenheit deinem Herzen zum Muster dienen. Trittst du heraus zu ihr aus deinem kuͤnstlichen Kreis, steht sie vor dir in ihrer großen Ruhe, in ihrer naiven Schoͤnheit, in ihrer kind- lichen Unschuld und Einfalt; dann verweile bey diesem Bilde, pflege dieses Gefuͤhl, es ist deiner herrlichsten Menschheit wuͤrdig. Laß dir nicht mehr einfallen, mit ihr tauschen zu wollen, aber nimm sie in dich auf und strebe, ihren unendlichen Vorzug mit deinem eigenen unendlichen Praͤrogativ zu vermaͤhlen, und aus beydem das Goͤttliche zu erzeugen. Sie umgebe dich wie eine liebliche Idylle, in der du dich selbst immer wieder- findest, aus den Verirrungen der Kunst, bey der du Muth und neues Vertrauen sammelst zum Laufe und die Flamme des Ideals, die in den Stuͤrmen des Lebens so leicht erlischt, in deinem Herzen von neuem entzuͤndest. Wenn man sich der schoͤnen Natur erinnert, welche die alten Griechen umgab, wenn man nachdenkt, wie vertraut dieses Volk unter seinem gluͤcklichen Himmel mit der freyen Natur leben konnte, wie sehr viel naͤher seine Vorstellungsart, seine Empfindungsweise, seine Sitten der einfaͤltigen Natur lagen, und welch ein treuer Ab- druck derselben seine Dichterwerke sind, so muß die Be- merkung befremden, daß man so wenige Spuren von dem sentimentalischen Interesse, mit welchem wir Neuere an Naturscenen und an Naturcharaktere hangen koͤnnen, bey demselben antrift. Der Grieche ist zwar im hoͤchsten Grade genau, treu, umstaͤndlich in Beschreibung dersel- ben, aber doch gerade nicht mehr und mit keinem vor- zuͤglicheren Herzensantheil, als er es auch in Beschrei- bung eines Anzuges, eines Schildes, einer Ruͤstung, eines Hausgeraͤthes oder irgend eines mechanischen Pro- duktes ist. Er scheint, in seiner Liebe fuͤr das Objekt, keinen Unterschied zwischen demjenigen zu machen, was durch sich selbst und dem was durch die Kunst und durch den menschlichen Willen ist. Die Natur scheint mehr seinen Verstand und seine Wißbegierde, als sein mora- lisches Gefuͤhl zu interessieren; er haͤngt nicht mit Innig- keit, mit Empfindsamkeit, mit suͤsser Wehmuth an dersel- ben, wie wir Neuern. Ja, indem er sie in ihren ein- zelnen Erscheinungen personifiziert und vergoͤttert, und ihre Wirkungen als Handlungen freyer Wesen darstellt, hebt er die ruhige Nothwendigkeit in ihr auf, durch welche sie fuͤr uns gerade so anziehend ist. Seine ungedultige Phantasie fuͤhrt ihn uͤber sie hinweg zum Drama des menschlichen Lebens. Nur das Lebendige und Freye, nur Charaktere, Handlungen, Schicksale, und Sitten befrie- digen ihn, „und wenn wir in gewissen moralischen Stim- „mungen des Gemuͤths wuͤnschen koͤnnen, den Vorzug „unserer Willensfreyheit, der uns so vielem Streit mit „uns selbst, so vielen Unruhen und Verirrungen aussetzt, „gegen die wahllose aber ruhige Nothwendigkeit des Ver- „nunftlosen hinzugeben, so ist, gerade umgekehrt, die „Phantasie des Griechen geschaͤftig, die menschliche Natur „schon in der unbeseelten Welt anzufangen, und da, „wo eine blinde Nothwendigkeit herrscht, dem Willen „Einfluß zu geben.” Woher wohl dieser verschiedene Geist? Wie kommt es, daß wir, die in allem was Natur ist, von den Alten so unendlich weit uͤbertroffen werden, gerade hier der Natur in einem hoͤheren Grade huldigen, mit Innigkeit an ihr hangen, und selbst die leblose Welt mit der waͤrm- sten Empfindung umfassen koͤnnen? Daher kommt es, weil die Natur bey uns aus der Menschheit verschwun- den ist, und wir sie nur ausserhalb dieser, in der unbe- seelten Welt, in ihrer Wahrheit wieder antreffen. Nicht unsere groͤßere Naturmaͤßigkeit, ganz im Gegentheil die Naturwidrigkeit unsrer Verhaͤltnisse, Zustaͤnde und Sitten treibt uns an, dem erwachenden Triebe nach Wahrheit und Simplicitaͤt, der, wie die moralische An- lage, aus welcher er fliesset, unbestechlich und unaus- tilgbar in allen menschlichen Herzen liegt, in der phy- sischen Welt eine Befriedigung zu verschaffen, die in der moralischen nicht zu hoffen ist. Deßwegen ist das Gefuͤhl, womit wir an der Natur hangen, dem Gefuͤhle so nahe verwandt, womit wir das entflohene Alter der Kindheit und der kindischen Unschuld beklagen. Unsre Kindheit ist die einzige unverstuͤmmelte Natur, die wir in der kul- tivirten Menschheit noch antreffen, daher es kein Wun- der ist, wenn uns jede Fußstapfe der Natur ausser uns auf unsre Kindheit zuruͤckfuͤhrt. Sehr viel anders war es mit den alten Griechen. Aber auch nur bey den Griechen; denn es gehoͤrte gerade eine solche rege Bewegung und eine solche reiche Fuͤlle des menschlichen Lebens dazu, als den Griechen umgab, um Le- ben auch in das Leblose zu legen, und das Bild der Mensch- heit mit diesem Eifer zu verfolgen. Ossians Menschen- welt z. B. war duͤrftig und einfoͤrmig; das Leblose um ihn her hingegen war groß, kolossalisch, maͤchtig, drang sich also auf, und behauptete selbst uͤber den Menschen seine Rechte. Bey diesen artete die Kultur nicht so weit aus, daß die Natur daruͤber verlassen wurde. Der ganze Bau ihres gesellschaftlichen Lebens war auf Empfindungen, nicht auf einem Machwerk der Kunst errichtet; ihre Goͤtterlehre selbst war die Eingebung eines naiven Gefuͤhls, die Ge- burt einer froͤhlichen Einbildungskraft, nicht der gruͤbeln- den Vernunft, wie der Kirchenglaube der neuern Natio- nen; da also der Grieche die Natur in der Menschheit nicht verlohren hatte, so konnte er, ausserhalb dieser, auch nicht von ihr uͤberrascht werden, und kein so drin- gendes Beduͤrfniß nach Gegenstaͤnden haben, in denen er sie wieder fand. Einig mit sich selbst, und gluͤcklich im Gefuͤhl seiner Menschheit mußte er bey dieser als seinem Maximum stille stehen, und alles andre derselben zu naͤhern bemuͤht seyn; wenn wir, uneinig mit uns selbst, und ungluͤcklich in unsern Erfahrungen von Menschheit, kein dringenderes Interesse haben, als aus derselben heraus- zufliehen, und eine so mislungene Form aus unsern Au- gen zu ruͤcken. In den Gesaͤngen dieses Dichters tritt daher die leblose Natur (im Gegensatz gegen den Menschen) noch weit mehr, als Gegenstand der Empfindung hervor. Indessen klagt auch schon Ossian uͤber einen Verfall der Menschheit, und so klein auch bey seinem Volke der Kreis der Kultur und ihrer Verderbnisse war, so war die Erfahrung davon doch gerade lebhaft und eindringlich genug, um den gefuͤhlvollen mora- lischen Saͤnger zu dem Leblosen zuruͤckzuscheuchen, und uͤber seine Gesaͤnge jenen elegischen Ton auszugießen, der sie fuͤr uns so ruͤhrend und anziehend macht. Das Gefuͤhl, von dem hier die Rede ist, ist also nicht das, was die Alten hatten; es ist vielmehr einerley mit demjenigen, welches wir fuͤr die Alten haben. Sie empfanden natuͤrlich; wir empfinden das natuͤrliche. Es war ohne Zweifel ein ganz anderes Gefuͤhl, was Ho- mers Seele fuͤllte, als er seinen goͤttlichen Sauhirt den Ulysses bewirthen ließ, als was die Seele des jungen Werthers bewegte, da er nach einer laͤstigen Gesellschaft diesen Gesang las. Unser Gefuͤhl fuͤr Natur gleicht der Empfindung des Kranken fuͤr die Gesundheit. So wie nach und nach die Natur anfieng, aus dem menschlichen Leben als Erfahrung und als das (han- delnde und empfindende) Subjekt zu verschwinden, so sehen wir sie in der Dichterwelt als Idee und als Ge- genstand aufgehen. Diejenige Nation, welche es zu- gleich in der Unnatur und in der Reflexion daruͤber am weitesten gebracht hatte, mußte zuerst von dem Phaͤnomen des Naiven am staͤrksten geruͤhrt werden, und demsel- ben einen Nahmen geben. Diese Nation waren, so viel ich weiß die Franzosen. Aber die Empfindung des Naiven und das Interesse an demselben ist natuͤrlicher- weise viel aͤlter, und datirt sich schon von dem Anfang der moralischen und aͤsthetischen Verderbniß. Diese Ver- aͤnderung in der Empfindungsweise ist zum Beyspiel schon aͤusserst auffallend im Euripides, wenn man diesen mit seinen Vorgaͤngern besonders dem Aeschylus ver- gleicht, und doch war jener Dichter der Guͤnstling seiner Zeit. Die nehmliche Revolution laͤßt sich auch unter den alten Historikern nachweisen. Horatz, der Dich- ter eines kultivirten und verdorbenen Weltalters preißt die ruhige Gluͤckseligkeit in seinem Tibur, und ihn koͤnnte man als den wahren Stifter dieser sentimentalischen Dich- tungsart nennen, so wie er auch in derselben ein noch nicht uͤbertroffenes Muster ist. Auch im Properz, Virgil u. a. findet man Spuren dieser Empfindungs- weise, weniger beym Ovid, dem es dazu an Fuͤlle des Herzens fehlte, und der in seinem Exil zu Tomi die Gluͤck- seligkeit schmerzlich vermißt, die Horaz in seinem Tibur so gern entbehrte. Die Dichter sind uͤberall, schon ihrem Begriffe nach, die Bewahrer der Natur. Wo sie dieses nicht ganz mehr seyn koͤnnen, und schon in sich selbst den zerstoͤrenden Einfluß willkuͤrlicher und kuͤnstlicher Formen erfahren oder doch mit denselben zu kaͤmpfen gehabt haben, da werden sie als die Zeugen und als die Raͤcher der Natur auftreten. Sie werden also entweder Natur seyn, oder sie werden die verlorene suchen. Daraus entspringen zwey ganz verschiedene Dichtungsweisen, durch welche das ganze Gebiet der Poesie erschoͤpft und ausgemessen wird. Alle Dichter, die es wirklich sind, werden, je nachdem die Zeit beschaffen ist, in der sie bluͤ- hen, oder zufaͤllige Umstaͤnde auf ihre allgemeine Bildung und auf ihre voruͤbergehende Gemuͤthsstimmnng Einfluß haben, entweder zu den naiven oder zu den senti- mentalischen gehoͤren. Der Dichter einer naiven und geistreichen Jugend- welt, so wie derjenige, der in den Zeitaltern kuͤnstlicher Kultur ihm am naͤchsten kommt, ist kalt, gleichguͤltig, verschlossen, ohne alle Vertraulichkeit. Streng und sproͤde, wie die jungfraͤuliche Diana in ihren Waͤldern, ent- flieht er dem Herzen, das ihn sucht, dem Verlangen, das ihn umfassen will. Nichts erwiedert er, nichts kann ihn schmelzen, oder den strengen Guͤrtel seiner Nuͤchternheit loͤsen. Die trockene Wahrheit, womit er den Gegenstand behandelt, erscheint nicht selten als Unempfindlichkeit. Das Objekt besitzt ihn gaͤnzlich, sein Herz liegt nicht wie ein schlechtes Metall gleich unter der Oberflaͤche, son- dern will wie das Gold in der Tiefe gesucht seyn. Wie die Gottheit hinter dem Weltgebaͤude, so steht er hinter seinem Werk; Er ist das Werk und das Werk ist Er; man muß des erstern schon nicht werth oder nicht maͤchtig oder schon satt seyn, um nach Ihm nur zu fragen. So zeigt sich z. B. Homer unter den Alten und Shakespeare unter den Neuern; zwey hoͤchst ver- schiedene, durch den unermeßlichen Abstand der Zeitalter getrennte Naturen, aber gerade in diesem Charakterzuge voͤllig eins. Als ich in einem sehr fruͤhen Alter den letz- tern Dichter zuerst kennen lernte, empoͤrte mich seine Kaͤlte, seine Unempfindlichkeit, die ihm erlaubte, im hoͤch- sten Pathos zu scherzen, die Herzzerschneidenden Auftritte im Hamlet, im Koͤnig Lear, im Makbeth u. s. f. durch einen Narren zu stoͤren, die ihn bald da fest hielt, wo meine Empfindung forteilte, bald da kaltherzig fort- riß, wo das Herz so gern still gestanden waͤre. Durch die Bekanntschaft mit neuern Poeten verleitet, in dem Werke den Dichter zuerst aufzusuchen, seinem Herzen zu begegnen, mit ihm gemeinschaftlich uͤber seinen Ge- genstand zu reflektieren; kurz das Objekt in dem Subjekt anzuschauen, war es mir unertraͤglich, daß der Poet sich hier gar nirgends fassen ließ und mir nirgends Rede stehen wollte. Mehrere Jahre hatte er schon meine ganze Ver- ehrung und war mein Studium, ehe ich sein Individuum lieb gewinnen lernte. Ich war noch nicht faͤhig, die Natur aus der ersten Hand zu verstehen. Nur ihr durch den Verstand reflektiertes und durch die Regel zurecht gelegtes Bild konnte ich ertragen, und dazu waren die sentimentalischen Dichter der Franzosen und auch der Deutschen, von den Jahren 1750 bis etwa 1780, gerade die rechten Subjekte. Uebrigens schaͤme ich mich dieses Kinderurtheils nicht, da die bejahrte Kritik ein aͤhnliches faͤllte, und naiv genug war, es in die Welt hineinzuschreiben. Dasselbe ist mir auch mit dem Homer begegnet, den ich in einer noch spaͤtern Periode kennen lernte. Ich er- innere mich jetzt der merkwuͤrdigen Stelle im VI Buch der Ilias, wo Glaukus und Diomed im Gefecht auf einander stossen, und nachdem sie sich als Gastfreunde erkannt, einander Geschenke geben. Diesem ruͤhrenden Gemaͤhlde der Pietaͤt, mit der die Gesetze des Gast- rechts selbst im Kriege beobachtet wurden, kann eine Schilderung des ritterlichen Edelmuths im Ariost an die Seite gestellt werden, wo zwey Ritter und Neben- buler, Ferrau und Rinald, dieser ein Christ, jener ein Saracene, nach einem heftigen Kampf und mit Wun- den bedeckt, Friede machen, und um die fluͤchtige Ange- lika einzuhohlen, das nehmliche Pferd besteigen. Beyde Beyspiele, so verschieden sie uͤbrigens seyn moͤgen, kom- men einander in der Wirkung auf unser Herz beynahe gleich, weil beyde den schoͤnen Sieg der Sitten uͤber die Leidenschaft mahlen, und uns durch Naivheit der Gesinnungen ruͤhren. Aber wie ganz verschieden nehmen sich die Dichter bey Beschreibung dieser aͤhnlichen Hand- lung. Ariost, der Buͤrger einer spaͤteren und von der Einfalt der Sitten abgekommenen Welt kann bey der Er- zaͤhlung dieses Vorfalls, seine eigene Verwunderung, seine Ruͤhrung nicht verbergen. Das Gefuͤhl des Ab- standes jener Sitten von denjenigen, die Sein Zeitalter charakterisieren, uͤberwaͤltigt ihn. Er verlaͤßt auf einmal das Gemaͤhlde des Gegenstandes und erscheint in eigener Person: Man kennt die schoͤne Stanze und hat sie immer vorzuͤglich bewundert: O Edelmuth der alten Rittersitten! Die Nebenbuler waren, die entzweyt Im Glauben waren, bittern Schmerz noch litten Am ganzen Leib von feindlich wilden Streit, Frey von Verdacht und in Gemeinschaft ritten Sie durch des krummen Pfades Dunkelheit. Das Roß, getrieben von vier Sporen, eilte Biß wo der Weg sich in zwey Straßen theilte. Der rasende Roland. Erster Gesang. Stanze 32. Und nun der alte Homer! Kaum erfaͤhrt Diomed aus Glaukus seines Gegners Erzaͤhlung, daß dieser von Vaͤ- terzeiten her ein Gastfreund seines Geschlechts ist, so steckt er die Lanze in die Erde, redet freundlich mit ihm, und macht mit ihm aus, daß sie einander im Gefechte kuͤnftig ausweichen wollen. Doch man hoͤre den Homer selbst: „Also bin ich nunmehr dein Gastfreund mitten in Argos, Du in Lykia mir, wenn jenes Land ich besuche. Drum mit unseren Lanzen vermeiden wir uns im Ge- tuͤmmel. Viel ja sind der Troer mir selbst und der ruͤhmlichen Helfer, Daß ich toͤdte, wen Gott mir gewaͤhrt, und die Schen- kel erreichen; Viel auch dir der Achaier, daß, welchen du kannst, du erlegest. Aber die Ruͤstungen beide vertauschen wir, daß auch die andern Schaun, wie wir Gaͤste zu seyn aus Vaͤterzeiten uns ruͤhmen. Also redeten jene, herab von den Wagen sich schwingend Faßten sie beide einander die Haͤnd und gelobten sich Freundschaft.” Schwerlich duͤrfte ein moderner Dichter (wenigstens schwerlich einer, der es in der moralischen Bedeutung die- ses Worts ist) auch nur biß hieher gewartet haben um sei- ne Freude an dieser Handlung zu bezeugen. Wir wuͤrden es ihm um so leichter verzeyhen, da auch unser Herz beym Lesen einen Stillstand macht, und sich von dem Objekte gern entfernt, um in sich selbst zu schauen. Aber von al- lem diesem keine Spur im Homer; als ob er etwas all- taͤgliches berichtet haͤtte, ja als ob er selbst kein Herz in dem Busen truͤge, faͤhrt er in seiner trockenen Wahrhaf- tigkeit fort: „Doch den Glaukus erregete Zevs, daß er ohne Besin- nung Gegen den Held Diomedes die Ruͤstungen, goldne mit ehrnen Wechselte, hundert Farren werth, neun Farren die an- dern Ilias. Voßische Uebersetzung. I Band. Seite 153. Dichter von dieser naiven Gattung sind in einem kuͤnft- lichen Weltalter nicht so recht mehr an ihrer Stelle. Auch sind sie in demselben kaum mehr moͤglich, wenigstens auf keine andere Weise moͤglich als daß sie in ihrem Zeitalter wild laufen, und durch ein guͤnstiges Geschick vor dem verstuͤmmelnden Einfluß desselben geborgen werden. Aus der Societaͤt selbst koͤnnen sie nie und nimmer hervorgehen; aber ausserhalb derselben erscheinen sie noch zuweilen, doch mehr als Fremdlinge die man anstaunt, und als ungezogene Soͤhne der Natur, an denen man sich aͤrgert. So wohlthaͤtige Erscheinungen sie fuͤr den Kuͤnstler sind, der sie studiert, und fuͤr den aͤchten Kenner, der sie zu wuͤr- digen versteht, so wenig Gluͤck machen sie im Ganzen und bey ihrem Jahrhundert. Das Siegel des Herrschers ruht auf ihrer Stirne; wir hingegen wollen von den Musen gewiegt und getragen werden. Von den Kritikern, den eigentlichen Zaunhuͤtern des Geschmacks, werden sie als Grenzstoͤrer gehaßt, die man lieber unterdruͤcken moͤch- te; denn selbst Homer duͤrfte es bloß der Kraft eines mehr als tausendjaͤhrigen Zeugnisses zu verdanken haben, daß ihn diese Geschmacksrichter gelten lassen; auch wird es ihnen sauer genug, ihre Regeln gegen sein Beyspiel, und sein Ansehen gegen ihre Regeln zu behaupten. Im naͤchsten Stuͤck einige Worte uͤber die sentimen- talischen Dichter.