J. H. JUNG STILLING. Nach Danneker in Stahl gestochen v. Carl Mayer Druck v. Dammel in Stuttgt. Johann Heinrich Jung's, genannt Stilling , Doktor der Arzneikunde und der Weltweisheit, Großherzoglich-Badischer geheimer Hofrath, saͤmmtliche Schriften . Zum erstenmale vollstaͤndig gesammelt und herausgegeben von Verwandten, Freunden und Verehrern des Verewigten; und mit einer Vorrede begleitet von Dr. J. N. Grollmann. Erster Band . Enthält: Stilling's Leben . Stuttgart. Druck und Verlag von Fr. Henne . 1835 . Johann Heinrich Jung’s, genannt Stilling , Lebensgeschichte , oder dessen Jugend, Jünglingsjahre, Wanderschaft, Lehrjahre, häusliches Leben und Alter. Mit Stillings Bildniss. Stuttgart. Druck und Verlag von Fr. Henne . 1835 . Vorwort . L iegt ohne Zweifel die einzig mögliche Rechtfertigung der Veröffentlichung einer schriftstellerischen Arbeit in der Nachweisung eines wesentlichen Zeitbedürfnisses, welches durch jene befriediget wird: so hat diese neue Ausgabe der sämmtlichen Werke Stilling ’s eine solche Rechtfertigung in hohem Grade für sich. Zwei große, das ganze Leben des Menschen durch- dringende Gegensätze sind heut zu Tage hervorgetreten. Sie beziehen sich sowohl auf das Wissen als das Thun, so- wohl auf das innere Gebiet des Geistes als auf seine äußere Verwirklichung im Staatsorganismus. In beiden Sphären ist einer Seits eine rein negative, sich von den Banden göttlicher wie menschlicher, religiöser wie politi- scher Auctorität als solcher lossagende Tendenz, anderer Seits eine rein positive, in der Auctorität der christlichen Religion als auf etwas Unwandelbarem, für die Vernunft des Menschen Unzugänglichem ruhende, und in ihr zugleich die bestehenden Staatsformen als geheiligt anschauende Weltansicht zum Bewußtseyn gekommen. Durch die neuerdings erfolgte Reaction ist nun der Zeitgeist aus seinem in die Außenwelt gehenden, auf die Durchführung der Vernunft im Staate und die Voll- bringung der politischen Freiheit gerichteten Streben her- aus in seine innere Welt getrieben worden, und er scheint — wie dieß die große Zahl der neuerdings erscheinenden reli- giösen Schriften beweist — er scheint jetzt daran zu arbeiten, in seiner über dem politischen Treiben fast vergessenen innern Welt, dem Reiche Gottes, sich wieder anbauen, und die Freiheit, die er in Durchführung gewisser Staats- formen vergebens zu verwirklichen suchte, auf höhere Weise im Geiste durch die Kindschaft Gottes wieder gewinnen zu wollen. Aber derselbe Kampf entgegengesetzter Principien, welcher durch jene Reaction im Gebiete des Staates zur Ruhe gekommen ist, beginnt nur um so heftiger im innern Gebiete des Geistes. Und hier tritt als Vorkämpfer der einen, nämlich der an der göttlichen Auctorität des Christen- thums streng festhaltenden Parthei, als ein solch leitender Genius tritt noch einmal der Geist Stilling’s auf. Es ist nämlich — wenn wir zuerst auf die positive Seite der religiösen Weltansicht Stilling’s sehen — Eine große Idee, welche diesen Mann beseelte, und von welcher alle seine Schriften erfüllt sind, die nämlich: daß Gott kindlich auf ihn Vertrauenden auf eine unmittelbare und außerordentliche Weise durch eine alle menschliche Be- rechnung übertreffende und von dem gewöhnlichen gesetz- und naturgemäßen Gange der Dinge ganz abweichende Schickung aus jeder Noth des Lebens helfe. Diese Idee tritt in ihrer Eigenthümlichkeit und bestimmten Aus- prägung besonders in dem Glauben hervor, daß ein in der Noth zu Gott geschicktes Gebet nicht etwa bloß eine innere Erhörung durch höhere Stärkung des Geistes finde, sondern, wofern es mit den Rathschlüssen Gottes übereinstimmt, eine äußere göttliche Hilfeleistung durch wunderbare Errettung aus leiblicher Noth, Krankheit, Armuth ꝛc. zur Folge habe. Was aber Stilling zu dem großen Volksschriftsteller machte, der er war, was allen seinen Darstellungen Leben- digkeit und eine unwiderstehliche Kraft der Ueberzeugung verleiht, das ist die Einheit seiner ganzen Persönlichkeit mit seinem schriftstellerischen Werke. Es bewährte sich an ihm das alte Sprüchwort: Was vom Herzen kommt, das dringt zum Herzen. Stilling war im eigentlichen Sinne des Wortes eine religiöse Individualität . Die lebendige Verwirklichung jenes Grundgedankens, von wel- chem alle seine Schriften beseelt sind, ist sein eigenes Leben . Nicht nur im Allgemeinen, sondern auch in den einzelnen Scenen ist seine Autobiographie eine wahre Ver- körperung jenes religiösen Grundgedankens zu nennen, so daß man geneigt wäre, in ihr einen religiösen Roman zu erblicken, hätte nicht Stilling selbst uns hochbetheuernd versichert, daß, mit Ausnahme der Namen und einiger Verzierungen, Alles wahr sey. Sein Leben nämlich stellt, nach seinen Hauptwende- punkten betrachtet, eine Erhebung von der niedrigsten, dunkelsten Lage zur glänzendsten Stellung dar, die Stilling als Professor, Hofrath und als weltberühmter Volks- schriftsteller einnahm, und wie es also schon im Allge- meinen das Daseyn einer für ihre Verehrer gütig sorgenden Vorsehung bekundet, so ist es auch im Einzelnen voll von Spuren göttlicher Hilfe, welche, in so viele Bedrängnisse auch Stilling kam, doch nie ausblieb. Johann Heinrich Jung, genannt Stilling, wurde 1740 zu Grund im Nassau’schen geboren. Sein Vater, Schul- meister und Schneider, verlor frühe seine Frau, eines armen Pfarrers Tochter. Die religiöse Richtung dieses Mannes wurde durch diesen Verlust noch strenger und ernster. In der dürftigsten Lage, zurückgezogen von aller Welt, lebte der Vater. Beten, Lesen und Schreiben war die einzige Beschäftigung des Kindes, äußerst streng über- haupt seine Erziehung. Aber eben diese Erziehung war in mehrfacher Beziehung geeignet, Stilling zu dem großen religiösen Volksschriftsteller zu bilden, als der er später auftritt. Vor Allem fand hier sein religiös fühlender und denkender Geist noch das ungeschminkte, frische und lautere Christenthum. In einem höheren Stande geboren und in der großen Welt erzogen, wäre er vielleicht dem Geiste des religiösen Indifferentismus frühe erlegen. Nur ein auf einem so frischen und kräftigen religiösen Boden, wie der unbefangene, aber eben darum starke Glauben mancher den niederen Volksklassen angehörenden Individuen ist, nur ein also aufgewachsener Sproß konnte so, wie Stilling, sicher dem Sturme des in Unglauben versunkenen Zeit- geistes Trotz bieten. Zudem war es gerade die Abge- schlossenheit, welche zur Entwickelung des Geistes Stilling’s indirect am meisten beitrug; denn er hatte hier Gelegen- heit, sich in seiner Originalität frei und beinahe rein aus sich zu entfalten. Eine lebhafte Phantasie war ihm ange- boren, in welcher er alles von außen Gegebene schnell sich aneignete und seiner eigenthümlichen Individualität gemäß durchbildete, aber auch Alles von sich stieß, was sich nicht bezwingen lassen, was nicht in seine eigenthümliche innere Welt passen wollte. Alles dieß wieß hin auf ein ihm ur- sprünglich eingeborenes inneres Leben, auf einen eigen- thümlich gestalteten schöpferischen Geist, welcher, statt von außen bestimmt zu werden, vielmehr allem von außen Gegebenen seine eigene Form, seinen eigenen Charakter aufdrückte. Nur die wenigen mystischen, unter dem reli- giösen Theil des Volkes vielfach cursirenden Schriften eines Paracelsus und Jakob Böhme waren die wissen- schaftlichen Werke, die in Stilling’s Hände kamen. Aber er fühlte sich auch von dem tiefsinnigen Geiste des letztern tief, wie ein verwandter Geist, angesprochen. Durch die wunderbare phantastische Form, in welcher Böhme redete, und an welcher so Viele, als an der Hauptsache, hängen bleiben, drang er zum wahren und philosophischen Inhalte, dem verborgenen Kerne dieser Werke, und so schuf er sich frühe schon und beinahe selbstständig eine eigenthümliche Welt religiöser Gedanken und Gefühle, die er später bereichert und durchgebildet der Welt enthüllte. Man denke sich nun diesen Geist und die äußere Lage, in welcher er sich befand, welch ein Widerspruch des Selbst- gefühls und seines Standes! Nirgends wollte es ihm daher auch glücken: von einer Stelle begab er sich zur andern, nie in dem seinem Geiste angemessenen Elemente sich be- findend, bis er sich endlich kühn und Gott vertrauend seine Bahn brach. Er versah zuerst die Stelle eines Schulmeisters in seinem Geburtsort, und erlernte daneben das Schnei- derhandwerk bei seinem Vater. Aber letzteres Geschäft ward ihm ganz zuwider: er fühlte sich zu etwas Edlerem berufen. Daher nahm er nach einander zwei Schulmeisters- stellen an, ohngeachtet auch diese ihm nicht zusagten. Beide mußte er bald wieder verlassen. Und so ging es auch in seinen spätern Jahren. Bald wird er wieder Schneider- geselle, bald Informator. Endlich schien ihm ein Stern bei einem Kaufmann aufzugehen, der ihn als Hauslehrer zu sich berief, und bei welchem er sieben Jahre lang ver- weilte. Hier las er Milton’s verlorenes Paradies, Young’s Nachtgedanken, Klopstock’s Messiade, Wolf und Leibnitz. In beider Philosophie sah er wohl eine fortlaufende Kette von Wahrheiten, aber das Princip, von welchem diese Folgerungen ausgingen, schien ihm falsch: das wahre, glaubte er, müsse erst gefunden werden, und dann sey die wahre Philosophie gegeben. Hier indeß, als er in seinem 28sten Jahre stund, ging die große Wendung seines Lebens vor sich, durch die er aus der Dunkelheit gerissen wurde, um als einer der ersten Sterne am wissenschaftlichen Horizonte zu glänzen. Merk- würdig ist auch hier die Art und Weise dieser Wendung seines Lebens. In Reizens Historie der Wiedergeborenen las er einst zum Zeitvertreib, und als er hier das Wort Eilikrinnia fand, so stund dieses vor ihm, „als wenn es im Glanze gelegen hätte; dabei fühlte er einen unwider- stehlichen Trieb, die griechische Sprache zu lernen, und einen verborgenen starken Zug zu Etwas, das er noch gar nicht kannte, aber auch nicht zu sagen wußte, was es war. Er besann sich und dachte: Was will ich doch mit der griechischen Sprache machen? Wozu wird sie mir nützen? Allein alle Einwendungen der Vernunft waren fruchtlos, sein Trieb war so groß und die Lust so heftig, daß er nicht genug eilen konnte, um zum Anfange zu kommen.“ Wirklich erlernte er sie im 28sten Jahre seines Lebens, und zwar mit erstaunlicher Fertigkeit. Als ihm bald dar- auf sein Principal rieth, Medicin zu studiren, da rief er ganz bewegt aus: Was soll ich sagen? Ja ich fühle in meiner Seele, das ist das große Ding, das immer vor mir verborgen gewesen, das ich so lange gesucht und nicht habe finden können. Sofort ging er, nachdem er sich einige Zeit auf sein Stu- dium vorbereitet hatte, auf die Universität nach Straßburg, ohne irgend eine entfernte Aussicht, wie er dieses kostspielige Studium werde bestreiten können. Aber er vertraute seinem Gotte, wie er sagte, seinem reichen Vater im Himmel. Und wirklich, so oft er auch in dringende Geldverlegenheiten kam, jedes Mal erschien ihm in der Stunde der höchsten Noth auf sein Gebet hin eine Freunbeshand, die ihn unter- stützte. Nach Vollendung seiner Studienzeit wurde er practischer Arzt, und durch die vielen glücklichen Augen- kuren, die er machte, genügte er seinem innern Drange, zum Heile der Menschen etwas beizutragen. Sonst aber hatte er nicht viel Praxis, und er übernahm daher die Stelle eines Professors der Kameralwissenschaften zu Mar- burg. Auch hier indeß war es mehr seine schriftstellerische als seine academische Thätigkeit, welche mit ruhmvollem Erfolge verknüpft war. Der unter den dortigen Studenten herrschende Freiheitsgeist und religiöse Scepticismus war natürlich nicht die Denkweise, welche sie zu Stilling hätte hinziehen können. Er hatte oft bloß drei Zuhörer, ja er war einmal der Gegenstand roher Ausgelassenheit der Studenten. Da war Stilling im größten Zwiespalt mit sich: er sah, daß er als academischer Lehrer keinen Segen stiften könne, und doch fühlte er noch eine hohe Geistes- kraft in sich, Großes zu wirken und zu schaffen. Da endlich in seinem 63sten Jahre wurde Stilling der ihm durch die vorherrschend religiöse Richtung seiner Natur angewiesenen, von seiner Jugend an ihm immer dunkel vorschwebenden Bestimmung, im Großen für die Sache des Christenthums zu wirken, durch die Gnade des Kurfürsten von Baden geschenkt, welcher ihn zum Hofrath mit einem Gehalte von 1200 Gulden ernannte, ohne dagegen irgend eine Dienst- leistung zu verlangen, so daß Stilling sich in voller Muße seiner schriftstellerischen Thätigkeit widmen konnte. In Heidelberg lebte er bis aus Ende seines Lebens, das am 2. April 1817 erfolgte. Schwache und bedeutungslose Individuen lassen sich in Charakter und in ihrem Handeln durch die Umstände bestimmen; denn sie haben keine Persönlichkeit, welche sich in der Außenwelt verwirklichte: aber geniale und schöpferische Naturen, denen eine Rolle in der Geschichte der Menschheit bestimmt ist, haben dieses ihr zukünftiges Werk schon frühe als dunkle Ahnung in sich, und je klarer sie es in ihr Selbstbewußtseyn erheben, desto unwider- stehlicher bahnen sie sich durch alle Hindernisse, die ihnen die äußere Lage, natürliche Geburt, Vorurtheile der Menschen u. s. w. entgegensetzen, den Weg zur Voll- bringung der Aufgabe ihres Lebens; sie setzen Alles an die Erreichung dieses göttlichen Endzwecks, weil dieser selbst eins ist mit ihrer Persönlichkeit, das Verzichten also auf jene Wirksamkeit Verzichten auf ihr eigenes Ich wäre. Alles dieß finden wir auch bei Stilling. Von Natur hatte er einen Grundtrieb, dem er unbewußt folgte, die Ahnung einer universelleren Bestimmung im Reiche Gottes: diese Ahnung war auch die seiner Großeltern und Eltern, über- haupt seiner Umgebung; darum ließ man ihn auch frei gewähren, so viele Wechsel auch sein Jugendleben hatte. Dazu kam noch bei Stilling, daß vermöge seiner lebhaften Phantasie jeder Entschluß, welcher ihn auf seiner erha- benen Bahn weiter bringen sollte, sobald er aufkeimte, alsbald in aller Lebendigkeit und in der anziehendsten Form vor seiner Seele stund. Dürfen wir uns wundern, wenn ein so plötzlich und überraschend aufsteigender Gedanke eine unwiderstehliche Macht auf sein Gemüth ausübte, wenn Stilling das Gefühl von etwas Unwillkührlichem und daher Göttlichem dabei hatte, und um so unbedenklicher seine bis- herige Laufbahn verließ, um dem höheren Winke, dem übernatürlichen Zuge zu folgen? Wie dem auch sey, die eigenen Lebensschicksale, die eigenen Erfahrungen, die für ihn fest stehende Thatsache von einer unmittelbar in das Leben eingreifenden Vor- sehung, — dieß war für ihn der unwandelbare Grund, auf welchen sich sofort sein ganzer religiöser Glaube stützte. Nicht nur finden wir jene Idee beinahe auf jeder Seite seiner Schriften entwickelt: nicht nur sind nament- lich sein Christlicher Menschenfreund und seine Erzählungen voll von jener Ansicht, obgleich er hier außer der wunder- baren Lebensverkettung duldender Pilgrime die christliche Liebe auch in ihrer das gewöhnliche Leben, namentlich das einfache stille Familienleben, und seinen natürlichen Gang veredelnden und verklärenden Macht schildert: nicht nur ist also Stilling’s Geist durchdrungen von jenem Ver- trauen auf Gottes übernatürliche Vorsehung, sondern hierin fand er auch eine für ihn vollkommen hinreichende Schutzwehr gegen allen Religionszweifel, hierauf gründete er seine ganze religiöse Ueberzeugung. Derjenige, sagte er einmal zu sich, als er auf der Academie in Gefahr war, in Zweifel über die Religion zu gerathen, derjenige, der augenscheinlich das Gebet der Menschen erhört, und ihre Schicksale wunderbarer Weise und sichtbar lenkt, muß unstreitig wahrer Gott, und seine Lehre Gottes Wort seyn. Nun habe ich von jeher Jesum Christum als meinen Gott und Heiland verehrt und ihn angebetet. Er hat mich in meinen Nöthen erhört, und mir wunderbar beigestanden und geholfen: Folglich ist Jesus Christus unstreitig wahrer Gott, seine Lehre ist Gottes Wort, und seine Religion, so wie Er sie gestiftet hat, die wahre. Soviel über den Geist Stilling’s nach der positiven Seite seiner religiösen Ueberzeugung. Aber diese seine eigenthümliche Ansicht bildete er nur aus im Gegensatze gegen den Unglauben seiner Zeit. Seine Richtung ist haupt- sächlich eine polemische , und zwar vor Allem gegen die damals herrschende Philosophie Kant’s, insoweit diese Ein- fluß auf die Gestaltung des christlichen Glaubens hatte. Das Eigenthümliche dieser Polemik nun ist, daß Stilling seinen Gegner aus dessen eigenem Grundsatze zu wider- legen suchte, nach welchem unsere Begriffe bloße, uns ein- geborene Formen sind, welchen das wahre Wesen der Dinge um uns her nicht entspricht. Damit stimmt nun auch Stilling überein. Auf eine gemeinfaßlichere Weise, als Kant, sucht er jenen Satz durch folgende Schlüsse be- greiflich zu machen: Wenn unsere sinnlichen Werkzeuge anders organisirt wären, so empfänden wir die ganze sinn- liche Welt ganz anders, als wir sie jetzt empfinden. Licht, Farben, Figuren u. s. w. empfänden wir ganz anders, wäre unser Auge anders organisirt. Die Menschen empfinden nur die Oberfläche der Dinge in Raum und Zeit, d. h. in der Ausdehnung und Aufeinanderfolge — in ihr inneres Wesen dringt kein erschaffener Geist. Weil wir uns keine zwei Dinge zugleich vorstellen können, darum mußten wir so organisirt seyn, daß uns die Dinge im Raume und in der Zeit erscheinen; daher ist Raum und Zeit nur in unserer Seele: außer uns ist keines von beiden. Gemäß seiner religiösen Tendenz drückt er dieses auch so aus: Alle Vorstellungen, die sich auf Raum und Zeit beziehen, sind eingeschränkt: da nun Gott, der Ewige, Unendliche und Unbegreifliche, keine Schranken kennt, so stellt er sich die Welt auch nicht in Raum und Zeit vor; da nun seine Vorstellungen allein Wahrheit haben, so ist auch die Welt nicht in Raum und Zeit. Endlich beweist Stilling die End- lichkeit unserer Begriffe über die Welt, ihren Anfang und Umfang u. s. w. durch den bekannten Kant’schen Antinomie- Schluß, daß wir einer Seits den Raum als unendlich denken müssen, weil, wenn er eine Grenze hätte, jenseits ein leerer Raum gedacht werden müßte: anderer Seits sich auch nicht eine endliche Unendlichkeit, d. h. ein unend- licher, mit lauter endlichen Dingen angefüllter Raum denken lasse: also müsse die ganze Vorstellung des Raums überhaupt eine bloß subjective Vorstellung endlicher Menschen seyn. Diese Lehre, in welcher er mit der Philosophie Kant’s übereinstimmte, wurde, sowie die Idee einer unmittelbar wirkenden Vorsehung der aus der Erfahrung abstrahirte Fundamentalsatz seines ganzen Glaubens ward, so das wissenschaftliche Princip seiner philosophisch- religiösen Ueberzeugung, aber auf eine entgegengesetzte Weise, als dieß bei Kant der Fall war. War Stilling wohl im Grundsatze eines mit der damaligen Philo- sophie, so ging er durch die Folgerungen , welche er aus diesem Grundsatze machte, über die Philosophie hin- aus in das christliche Gebiet über: die Waffen, welche die Philosophie gegen das Christenthum führte, wandte er gegen jene zurück, und suchte sie durch ihre eigenen Vorder- sätze zu widerlegen. Daß die Begriffe von Raum und Zeit, daher auch von Bewegung u. s. w., bloß in uns, nicht aber auch in den Dingen außer uns existiren, hatte er gezeigt. Er schloß aber sofort, daß Gott uns für diese Welt diese Vorstellungen angeschaffen habe, daß wir uns in denselben nothwendig und nach Gottes Willen, so lange wir hier leben, bewegen, daß wir aber zugleich nach Gottes Rath- schluß, ohne in Widersprüche zu kommen, es nicht wagen dürfen, das wahre übersinnliche Wesen der Dinge bestimmen zu wollen. Was also bleibe anderes übrig, als daß wir durch göttliche Offenbarung über das Ewige belehrt werden, wie es denn auch in der Natur der Sache liege, daß, wenn der Mensch über das Uebersinnliche Aufschluß erhalten solle, die Grundsätze zum Denken und Schließen aus der Natur des Uebersinnlichen genommen, d. h. daß alsdann die Vernunft von Oben erleuchtet werde. Kant hätte dieß zugeben müssen, aber nur dann, wenn es bloß eine theoretische, nicht auch eine practische Ver- nunft gäbe. Allein nachdem Kant der theoretischen Ver- nunft alle Wahrheit abgesprochen, so gründete er auf die Selbstgesetzgebung der Vernunft den positiven Theil seiner Wissenschaft. Das Gute um des Guten willen zu üben, bloß zu wollen, was allgemeiner Grundsatz aller Menschen seyn könnte, es zu wollen ohne Rücksicht darauf, ob die Erfüllung unserer Pflicht uns angenehm oder unangenehm sey, ja ohne von den Triebfedern der Liebe Gottes, welche immer doch nur ein subjectives Gefühl sey, sich bestimmen zu lassen: dieß fand er als unbedingte Forderung der so- genannten practischen Vernunft. Diese Lehre setzte die unbedingte Freiheit des Menschen voraus, denn nur ein völlig freies Wesen kann jene Forderung „du sollst“ an sich selbst unbedingt stellen: von dieser Lehre schloß aber auch Kant auf das Daseyn Gottes, als des heiligen Welt- regenten, und auf die Unsterblichkeit, weil jene Forderung des Sittengesetzes nie ganz erfüllt werden könne, der Mensch also in beständigem Fortschritte begriffen seyn müsse. So gründete er also eine von der positiven Religion ganz un- abhängige Vernunftreligion, deren ganzer magerer Inhalt jene drei Begriffe: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, waren, indem bei der Voraussetzung der vollen Freiheit des menschlichen Willens die Nothwendigkeit der Erlösung hinwegfiel, und Christus zu einem bloßen Sittenlehrer wurde, der in seinem Tode ein hohes Beispiel von Auf- opferung für das Gute aufstellte. Dieß sind die Haupt- lehren, welche der Leser überall wird bekämpft sehen. Hier nur kurz die Grundzüge der Stilling’schen Polemik gegen jene Lehren. Wie — fragt er öfter — kann auf das Moral- princip die Religion gegründet werden? Ist nicht das sitt- liche Gefühl verschieden bei den verschiedenen Völkern, bei dem gebildeten Europäer und bei dem Wilden, der blutige Rache gegen seinen Feind für eine sittliche Pflicht hält? Aber — sagt man — nicht das unter den Menschen gel- tende, entstellte, sondern das reine Sittengesetz ist der Grund der Religion. Allein, erwiedert hierauf öfters Stilling, dieses reine Sittengesetz ist eine leere Formel ohne Inhalt: von allem Möglichen, Guten und Bösen, läßt sich denken, es könne allgemeiner Grundsatz aller Menschen werden; überhaupt aber der Mensch ist nicht bloß ein geistiges, er ist auch ein sinnliches Wesen. Lässest du also die künftige Belohnung oder Bestrafung nicht mehr als Triebfeder zum sittlichen Handeln gelten, wie wirst du alsdann auf die Menschen, besonders auf den Ungebildeten, veredelnd einwirken können? Wodurch aber die Kant’sche Philosophie mit dem Christenthum in den größten Widerspruch kam, das war die Lehre, daß der Mensch von Natur gut und vollkommen frei sey. Diesen Satz nun, der zur Leugnung der Nothwendigkeit der Erlösung führte, greift Stilling hauptsächlich an, indem er die Sündhaftigkeit der mensch- lichen Natur in starken Zügen darstellt, und hieraus den Schluß zieht, daß nur die Gnade Gottes die Menschheit aus ihrem Verderben erlösen konnte, daß immer noch eine Kraft von Oben nothwendig sey, wenn der Mensch gebessert und geheiligt werden solle. Nicht nur in wissenschaftlicher Form durch Schlüsse vertheidigt er diese Lehre, sondern auch dadurch, daß er die christliche Lehre von der Gnade in ihrer die Menschen beseligenden Wahrheit an einzelnen Beispielen zeigt, indem er namentlich einen neugläubigen Prediger vorführt, welcher vergebens einen im tiefen Ge- fühl seiner Verschuldung vor Gott zagenden Sterbenden d urch leere Hoffnungen, durch Vorstellungen, als wäre seine Sündhaftigkeit nicht so groß, als er meine, zu trösten sucht, während derselbe im Innersten durch einen andern Geistlichen beruhigt wird, welcher ihm einerseits die Tiefe der menschlichen Schuld, andererseits die überschwengliche Größe der göttlichen Gnade vorstellt. Doch nicht bloß die ernste Weltweisheit, sondern auch der frivole Witz eines Voltaire und seiner Geistesver- wandten bekämpfte das Christenthum, und dieser Witz hat bei einem so leichtsinnigen Volke, wie das französische ist, die Grundpfeiler des Christenthums noch tiefer erschüttert, als die Philosophie, welche sich ja herabließ, dem Christen- thum ihr Gewand zu leihen, und es in dieser modernen Form dem Volke vorzulegen. Nimmt man noch dazu den Luxus und die Sittenlosigkeit der damaligen Zeit, so be- greift man, wie einem christlich denkenden Manne bange seyn mußte um sein Zeitalter. Das Heimweh drückt schon dem Titel nach die Sehnsucht Stilling’s aus, aus dieser unchristlichen Zeit, wo er beinahe allein stund mit seinem Glauben, hinweg zu seyn. Aber diese Sehnsucht ging auch über in einen ernsten Unwillen über das Treiben seiner Zeitgenossen. Der graue Mann tritt als der letzte ernstlich warnende Gesandte Gottes an die Christenheit auf, mitten in einer dunkeln, in der Finsterniß wandelnden Menschheit, und Grauen erregend für Alle, welche dem Unglauben und Luxus sich ergeben. Ja Stilling sah in dem allgemeinen Abfall von Christo ein Zeichen der Nähe des Antichrists, und somit auch der Nähe des Herrn, um in sichtbarer Gestalt zu richten und sein Reich zu vollenden. Von diesem Gedanken ist er so erfüllt, daß er im Hinblick auf das nahe Reich Christi zur Poesie, seinem Chrysäon, sich begeistert fühlte: der Glaube daran war so stark, daß er sogar Verhaltungsregeln für die Zeit des wirklichen Einbruchs des tausendjährigen Reichs vorschreibt, die Frage näher untersucht, ob Christus sich Allen oder bloß den Wiedergeborenen zeigen werde, ebenso über Zeit und Ort der Ankunft Untersuchungen anstellt. So befremdend diese Hoffnung auch Manchem erscheinen muß, der die Sache geistiger aufzufassen gewohnt ist, so eigenthumlich ist sie doch dem Christen: in jeder Zeit einer Krisis des göttlichen Reiches, am Anfang desselben, oder bei großen Entwick- lungspunkten, z. B. zur Zeit der Reformation, war die Hoffnung auf die Wiederkunft Christi unter Vielen rege; und eine ähnliche Krisis steht — was nur Blinde leugnen können — auch jetzt demselben bevor, und gewiß hat Stil- ling die Grundidee, um deren Vollführung es sich handelt, richtig angegeben, wenn er sagt: „einst mit der Ausgießung des Geistes auf Alle werde erkannt werden, daß nun der Unterschied der verschiedenen christlichen Partheien aufhö- ren, uns sich Alles in wahrer Einigkeit des Geistes versam- meln werde;“ diese Grundidee wird wohl jeden freier Den- kenden ansprechen, sey es nun, daß er hievon nur einen gei- stigen Umschwung der Menschen, oder mehr in der Weise der Phantasie eine zugleich äußerliche übernatürliche Ver- änderung der Dinge hofft. Jedenfalls zeigt die neue Heraus- gabe der Bengel’schen Erklärung der Apokalypse, daß jene apokalyptischen Hoffnungen in einem großen Theile der Chri- stenheit wieder rege werden. An diese Schrift aber schließt sich passend als berichtigender und erläuternder Leitfaden Stil- ling’s Siegesgeschichte an, indem hier im Allgemei- nen dieselben Vorstellungen, nur nicht mit einer solchen, man möchte sagen, der Weltregierung Gottes vorgreifenden und dem Glauben an die Apokalypse mehr schädlichen als förder- lichen Bestimmtheit die Angabe der Zukunft enthält, na- mentlich aber, indem sie die complicirte, dem gemeinen Mann durchaus unverständliche Rechnung Bengels vereinfacht, ohne im Resultate von ihm wesentlich abzuweichen. Wir haben bisher den einen Gegensatz betrachtet, gegen welchen die Schriften Stilling’s gerichtet sind. Aber seine Polemik ist eine gedoppelte, und eben durch diese Doppel- seitigkeit seiner Polemik gewinnt er den wahren Stand- punkt, welcher sich in der Mitte befindet zwischen zwei Extremen, dem Unglauben und — dem Aberglauben . Wie Stilling diesen in seinem Theobald schildert, haben wir kurz zur Einleitung anzugeben. Die Darstellung des Geistes der Schwärmerei wird schon deren Widerlegung in sich schließen. Der Aberglaube und die Schwärmerei ist im Allgemeinen das Bewußtseyn über die Religion, wie es sich in der überreizten Phantasie des ungebildeten Volkes darstellt, welches religiöse Begriffe von Gott, Unsterblich- Stilling’s Schriften. I. Bd 2 keit u. s. w. nie rein und allgemein, sondern immer in einer sinnlichen Form anschauet. Zunächst sollte man zwar eine entgegengesetzte Vorstellung vom Aberglauben und von der Schwärmerei sich bilden. Die Richtung jener Frau v. Guyon, welche im Theobald auftritt, ist gerade gegen die sinnliche Seite des Menschen gekehrt. Und in der That ist es ein Zug der Schwärmerei, nicht nur die sinnlichen Triebe, sondern beinahe alles Menschliche, den freien Willen, natürliche Gefühle und das Selbstdenken ganz zu unterdrücken. Aber eben in der völligen Unterdrückung des Selbstes geht der Genuß des Ewigen auf, dessen Ge- fühlen sich der Schwärmer ganz hingibt, so daß er leicht wieder aus seiner übernatürlichen Höhe in die gemeinste Sinnlichkeit herabfällt. Andererseits bedenke man den von einem Schwärmer im Theobald behaupteten Grundsatz: „Wenn man den Willen Gottes nicht wisse, und weder Vernunft noch Offenbarung sichern Rath gäben, so solle man gar nichts thun, sondern schweigen und ruhen, bis sich der Willen Gottes von selbst entwickle.“ Ich frage: wozu führt dieser Grundsatz? Gesetzt, Vernunft und Offen- barung reichten (was indeß nie der Fall seyn kann) einmal nicht zu, über Gottes Willen uns zu belehren; muß nicht irgend ein Organ in uns seyn, wodurch sich alsdann Gott uns offenbarte? Da aber die Vernunft ausdrücklich aus- geschlossen ist, was bleibt für eine andere Quelle höherer Erkenntniß übrig, als die Phantasie oder das Gefühl? Wahrlich aber, daß diese Phantasie, daß dieses Gefühl ebenso falsch, unsittlich und höchstverkehrt, als dem Willen Gottes angemessen seyn könne, davon liefert eben die Er- zählung „Theobald“ traurige Beispiele: wenn z. B. der arme Bauernpursche Theobald und ein Fräulein Amalie die aller menschlichen Ordnung zuwiderlaufenden Einge- bungen ihrer fleischlichen Liebe für Gottes Willen halten, oder wenn in der sogenannten Berlenburger Gemeinde Abscheulichkeiten vorfallen, welche leicht an die falschen Beschuldigungen gegen die ersten Christen erinnerten, hätte nicht der Erzähler gerade das Interesse, den Pietismus in einem schöneren Lichte darzustellen; oder endlich, wenn der neunjährige Sohn jenes Theobalds, dessen Phantasie schon frühe durch mystische Schriften im höchsten Grade entzündet wurde, schon in diesem Alter Sünden der Ge- schlechtsliebe begehen und den abenteuerlichen Entschluß fassen und ausführen kann, diese sündhafte Welt zu ver- lassen und Einsiedler zu werden. Reichen Stoff und Nah- rung findet diese gesteigerte Phantasie in der Lehre vom tausendjährigen Reiche, dessen Nähe alle schwärmerischen Secten wähnen, und in dessen Ausmahlung in glänzenden sinnlichen Bildern sich stets ihre durch die Vernunft nicht geregelte Einbildungskraft ergeht, während die wahrhafte Frömmigkeit sich mit der Wirklichkeit befreundet und die verschiedenen Verhältnisse, in denen wir als Familien-, Standes- und Staatsgenossen leben, durchdringt, beseelt und verklärt. Endlich ist ein Durchweg in diesen Köpfen sprudelnde Hoffnung die Wiederbringung aller Dinge, d. h. die Lehre, daß Alles, daß namentlich sowohl böse als gute Menschen in Gott einst wieder zurückkehren werden. An sich ist es wahr, daß Gott das Alleine sey, das in allen Din- gen ist. Aber zugleich lehrt die Vernunft und das Christen- thum, daß eine ewige Verschiedenheit die Menschen, ja ein ewiger Gegensatz von Guten und Bösen Statt fin- den werde. Wir sagen, die Vernunft ist es, die dieß lehrt. Denn, weil der Mensch ein freies Wesen ist, und bei jedem ein eigenthümlicher Gebrauch dieses Willensvermögens Statt findet, so wird nie jene völlige Einheit aller in Gott zu Stande kommen. Ueber diese wirklichen Unterschiede der Menschen fliegt aber die Phantasie des Schwärmers hinweg; er versenkt sich mit seinem trüben Gefühle in jene dunkle und mystische Einheit aller Dinge, und je tiefer er sich in diesen Abgrund der endlichen vielgestalteten Welt im Geiste be- gibt, desto weniger fühlt er sich in der Gegenwart der ent- wickelten und mannigfaltigen Welt, die in Unterschiede von Charakteren, Ständen u. s. w. getheilt ist — einheimisch, und so bildet und verstärkt sich in ihm immer mehr der Wi- derwille gegen die wirkliche Ordnung der Dinge, ein Wider- wille, welcher oft in halsstarrigen Ungehorsam gegen alle geistliche und weltliche Obrigkeit überschlagen kann. Daher 2 * ist es in der That ein schöner Gang in der Geschichte Theo- balds, daß er denselben, nachdem er alle mögliche Verirrun- gen durchlaufen, seine Versöhnung im Staate finden läßt, in dem Theobald zulezt als hoher Staatsbeamter befreundet mit der wirklichen Welt und in ihr hohen Segen stiftend, auftritt. Wir haben bisher im Allgemeinen die Richtung und den Geist darzustellen gesucht, welcher in den Schriften Stillings waltet. Ich glaube, wir dürfen nun kaum mehr fragen: Ist Stillings Wiedererscheinen wesentliches Bedürfniß der Zeit? gehört er nicht mit seiner Polemik einer verschollenen Bil- dungsstufe an, hat er nicht etwa Bedeutung blos für die da- malige Zeit, die damalige Denkweise, mit deren Bekämpfung er sich immer beschäftigt? Diese Frage, sagen wir — dür- fen wir kaum mehr aufwerfen. Nicht nur bleibt der posi- tive Theil der in seinen schriftstellerischen Werken geäus- serten Weltansicht, so lange das Christenthum besteht; und diese seine Weltansicht nun — könnte sie in einer lebendi- gern, anziehendern Form dargestellt seyn, als der phantasie- volle Stilling es that? — ich sage nicht nur nach ihrer positi- ven, auch nach ihrer polemischen Seite hin wird Stil- lings Tendenz noch für unsere Zeit von Bedeutung seyn. Die- jenige Auffassung des Christenthums, welche durch die Kant’- sche Philosophie sich gestaltete, ist nicht etwa eine erst damals gewordene, sondern eine im Wesentlichen uralte, sie ist die des gewöhnlichen Menschenverstandes, welcher Gott in ein Jenseits setzt, die Menschheit ihrer Göttlichkeit entleert, also auch die Gottmenschheit Christi und die sich in uns einsen- kende Gnade leugnet, und dagegen statt der in Gott zur Fülle gelangenden Freiheit, ein Vermögen leerer Willkühr im Menschen setzt, welche nie das Gute an sich erreicht, weßwe- gen zugleich eine Unsterblichkeit angenommen werden muß, in welcher der Mensch immer dem Unendlichen sich nähern soll, ohne je mit demselben eins zu werden. Die Systeme der Arianer, Nestorianer und Socianer sind ganz verwandte Richtungen, und man kann sagen — die Glieder der höhe- ren, sogenannten aufgeklärten Stände sind beinahe durch- gängig dieser geistesarmen Weltansicht zugethan. Der Feind also, den Stilling bekämpft, ist noch nicht gestorben, er lebt immer noch. Wo nun fändest du gegen diesen Feind einen solchen Streiter des Herrn, wie dieser Stilling war? Allerdings als Philosophie , als herrschendes System ist Kant’s Theorie durch neuere Formen der Weltweisheit verdrängt werden. Aber diese selbst nun, ha- ben sie sich dem Christenthum genähert? Wenn die neueste Philosophie Gott als Geist der Welt definirt, leugnet sie da- mit nicht die Persönlichkeit Gottes, welche eine Hauptlehre der christlichen Religion ist? Zwar nähert sie sich der Reli- gion dadurch, daß sie die Lehre von der gottmenschlichen Würde Christi vertheidigt; aber ist dieß von ihr in dem ei- genthümlich christlichen Sinne gemeinet, nach welchem Chri- stus spezifisch von allen übrigen Menschen verschieden ist; wird nicht vielmehr jene Einheit mit Gott, welche sie Christo beilegt, zugleich als wesentliche Bestimmung aller Men- schen behauptet? Leuchtet hieraus schon der Widerspruch der herrschenden Philosophie mit der Religion ein, so zeigt sich diese In- haltsverschiedenheit beider noch viel mehr in der philoso- phischen Leugnung der persönlichen Unsterblichkeit, welche letztere Lehre sogar eine ebenso wichtige Stellung in der christ- lichen Weltansicht einnimmt, als der Lehre von Christi Per- son. Leugnet unser Mitalter das Jenseits, so kann es sein wahres und göttliches Wesen nur im Staate finden. Der St. Simonismus sprach in dieser Beziehung ganz den Geist der Zeit aus, und er hätte gewiß größern Anhang gefunden, würde er nicht eine dem verhaßten hierarchischen Papismus verwandte Staatsform in sein System aufgenommen haben. Aber im Lerminier tritt die neueste philosophisch-religiöse Richtung in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit bestimmt her- vor: Die Religion ist hier ganz eins mit dem Staatsleben, und zwar ist die Volkssouveränetät die angebetete Gottheit, auf deren Altar Religion, Wissenschaft, Kunst, sowie alle menschlichen Bestrebungen ihre Erstlinge als Weiheopfer niederlegen sollen. Ohne über die Wahrheit dieser Lehren etwas hier zu sa- gen, so bemerken wir nur: daß die allgemeine Leugnung des Jenseits nothwendig von der religiösen Seite eine Gegenwir- kung erwecken mußte. Es konnte nicht anders seyn: die selbst in einer anomalen Form, im Zustande geistiger und leiblicher Zerrüttung sich kundthuenden Hinweisungen auf ein Jenseits und auf das Hereinragen der Geisterwelt in das Diesseits — diese Aeußerungen von Somnambülen muß- ten überall Aufsehen, überall Theilnahme erregen. Und an diese Erscheinungen schließt sich das unserem Stilling eigenthümliche, ihm einerseits hohe Bewunderung, anderer- seits Haß und Verachtung zuziehende Werk, die Theorie der Geisterkunde . „Da die heut zu Tage herrschende Denkart, die aus der falschen Aufklärung entstanden ist, die Bibellehre von Engeln, von der Fortdauer der menschlichen Seele nicht annimmt, so frage ich jeden auf sein Gewissen, ob es nicht Pflicht sey, die Erfahrungszeugnisse verstorbener Menschen öffentlich bekannt zu machen, und dadurch die Bi- bellehre zu bewahrheiten?“ Dieß ist der von Stilling selbst angegebene Endzweck seiner Schrift. Stilling war kein aber- gläubischer Bewunderer des Somnambulismus. Er erblickt in ihm eine außerordentliche Entwicklung einzelner, dem Menschen angeborenen Kräfte, des Ahnungsvermögens und der Einbildungskraft (S. s. grauen Mann St. 29). Er war einer der Ersten , welche den Somnambulismus theo- retisch zu begründen suchten: er stellte die Principien, auf welche man noch immer zurückgeht, die Lehre vom Aether, Nervengeist, Ahnungsvermögen zuerst in wissenschaftlicher Form auf. In dieser Wissenschaftlichkeit seines Ganges liegt einerseits schon ein Bürge, daß er sich frei erhielt vom un- bedingten Glauben an die somnambulen Erscheinungen, wie an höhere Offenbarungen: andererseits hat er sich eben da- durch einen sicheren Platz im Gebiete der auf den Somnam- bulismus sich beziehenden, immer weiter schreitenden Wis- senschaft, hiemit auch in dieser Beziehung eine hohe Bedeu- tung für die von der regen Theilnahme an diesen außeror- dentlichen Erscheinungen und von der wissenschaftlichen Er- klärung derselben beinahe ganz verschlungene Gegenwart erworben. Dr. J. N. Grollmann . I. Heinrich Stilling ’s Jugend . Eine wahrhafte Geschichte . Heinrich Stillings Jugend . I n Westphalen liegt ein Kirchsprengel in einem sehr bergich- ten Landstriche, auf dessen Hoͤhen man viele kleine Grafschaf- ten und Fuͤrstenthuͤmer uͤbersehen kann. Das Kirchdorf heißt Florenburg ; die Einwohner aber haben von Alters her einen großen Eckel vor dem Namen eines Dorfs gehabt, und daher, ob sie gleich auch von Ackerbau und Viehzucht leben muͤssen, vor den Nachbarn, die bloße Bauern sind, immer einen Vorzug zu behaupten gesucht, die ihnen aber auch da- gegen nachsagten, daß sie vor und nach den Namen Floren- dorf verdraͤngt, und an dessen Statt Florenburg eingefuͤhrt haͤtten; dem sey aber wie ihm wolle, es ist wirklich ein Ma- gistrat daselbst, dessen Haupt zu meiner Zeit Johannes Henrikus Scultetus war. Ungeschlachte, unwissende Leute nannten ihn außer dem Rathhause Meister Hans , huͤbsche Buͤrger pflegten doch auch wohl Meister Schulde zu sagen. Eine Stunde von diesem Orte suͤdostwaͤrts liegt ein kleines Doͤrfchen, Tiefenbach , von seiner Lage zwischen Bergen so genannt, an deren Fuͤße die Haͤuser zu beiden Seiten des Was- sers haͤngen, das sich aus den Thaͤlern von Suͤd und Nord her just in die Enge und Tiefe zum Fluß hinsammelt. Der oͤst- liche Berg heißt der Giller , geht steil auf, und seine Flaͤche nach Westen gekehrt, ist mit Maibuchen dicht bewachsen. Von ihm ist eine Aussicht uͤber Felder und Wiesen, die auf beiden Seiten durch hohe verwandte Berge gesperrt wird. Sie sind ganz mit Buchen und Eichen bepflanzt, und man sieht keine Luͤcke, außer wo manchmal ein Knabe einen Ochsen hinauf treibt und Brennholz auf halb gebahntem Wege zusammen- schleppt. Unten am noͤrdlichen Berge, der Geisenberg genannt, der wie ein Zuckerhut gegen die Wolken steigt, und auf dessen Spitze Ruinen eines alten Schlosses liegen, steht ein Haus, worin Stillings Eltern und Voreltern gewohnt haben. Vor ungefaͤhr dreißig Jahren lebte noch darin ein ehrwuͤr- diger Greis, Eberhard Stilling , ein Bauer und Koh- lenbrenner. Er hielt sich den ganzen Sommer durch im Walde auf und brannte Kohlen; kam aber woͤchentlich einmal nach Hause, um nach seinen Leuten zu sehen, und sich wieder auf eine Woche mit Speisen zu versehen. Er kam gemeiniglich Sonnabends Abends, um den Sonntag nach Florenburg in die Kirche gehen zu koͤnnen, allwo er ein Mitglied des Kirchen- raths war. Hierin bestanden auch die mehresten Geschaͤfte seines Lebens. Sechs großgezogene Kinder hatte er, wovon die zween aͤltesten Soͤhne, die vier juͤngsten aber Toͤchter waren. Einsmals, als Eberhard den Berg herunter kam, und mit dem ruhigsten Gemuͤthe die untergehende Sonne betrach- tete, die Melodie des Liedes: Der lieben Sonnen Lauf und Pracht hat nun den Tag vollfuͤhret , auf einem Blatt pfiff, und dabei das Lied durchdachte, kam sein Nach- bar Staͤhler hinter ihm her, der ein wenig geschwinder gegangen war, und sich eben nicht viel um die untergehende Sonne bekuͤmmert haben mochte. Nachdem er eine Weile schon nahe hinter ihm gewesen, auch ein paarmal fruchtlos gehustet hatte, fing er ein Gespraͤch an, das ich hier woͤrtlich beifuͤ- gen muß. „Guten Abend, Ebert!“ Dank hab, Staͤhler! (indem er fortfuhr, auf dem Blatt zu pfeifen.) „Wenn das Wetter so bleibt, so werden wir unser Gehoͤlze bald zugerichtet haben. Ich denke, dann sind wir in drei Wochen fertig.“ Es kann seyn. (Nun pfiff er wieder fort.) „Es will so nicht recht mehr mit mir fort, Junge! Ich bin schon acht und sechzig Jahr alt, und du wirst halt sieben- zig haben.“ Das soll wohl seyn. Da geht die Sonne hinter den Berg unter, ich kann mich nicht genug erfreuen uͤber die Guͤte und Liebe Gottes. Ich war so eben in Gedanken daruͤber; es ist auch mit uns Abend, Nachbar Staͤhler ! der Schatten des Todes steigt uns taͤglich naͤher, er wird uns erwischen, ehe wir’s uns versehen. Ich muß der ewigen Guͤte danken, die mich nicht nur heute, sondern den ganzen Lebenstag durch mit vielem Beistand getragen, erhalten und versorgt hat. „Das kann wohl seyn.“ Ich erwarte auch wirklich ohne Furcht den wichtigen Augen- blick, wo ich von diesem schweren, alten und starren Leib be- freit werden soll, um mit den Seelen meiner Voreltern, und anderer heiligen Maͤnner, in einer ewigen Ruhe umgehen zu koͤnnen. Da werd’ ich finden: Doctor Luther, Calvi- nus, Oecolompadius, Bucerus , und Andere mehr, die mir unser sel. Pastor, Herr Winterberg , so oft geruͤhmt, und gesagt hatte, daß sie naͤchst den Aposteln, die froͤmmsten Maͤnner gewesen. „Das kann moͤglich seyn! Aber sag’ mir Ebert, haft du die Leute, die du da herzaͤhlst, noch gekannt?“ Wie schwatzest du? die sind uͤber zweihundert Jahr todt. „So; — das waͤre!“ Dabei sind alle meine Kinder groß, sie haben schreiben und lesen gelernt, sie koͤnnen ihr Brod verdienen, und haben mich und meine Margareth bald nicht mehr noͤthig. „Noͤthig? — hat sich wohl! — Wie leicht kann sich ein Maͤdchen oder Junge verlaufen, sich irgend mit armen Leuten abgeben, und seiner Familie einen Klatsch anhaͤngen, wenn die Eltern nicht mehr Acht geben koͤnnen!“ Vor dem allem ist mir nicht bange. Gott Lob! daß mein Achtgeben nicht noͤthig ist. Ich hab’ meinen Kindern durch meine Unterweisung und Leben einen so großen Abscheu gegen das Boͤse eingepflanzt, daß ich mich nicht mehr zu fuͤrchten brauche. Staͤhler lachte herzlich, eben wie ein Fuchs lachen wuͤrde, wenn er koͤnnte, der dem wachsamen Hahn ein Huͤhnchen ent- fuͤhrt hat, und fuhr fort: „Ebert, du hast viel Vertrauen auf deine Kinder. Ich denke aber, du wirst wohl die Pfeife in den Sack stecken, wenn ich dir alles sagen werde, was ich weiß.“ Stilling drehte sich um, stand und stuͤtzte sich auf seine Holzaxt, laͤchelte mit dem zufriedensten und zuversichtlichsten Gesichte, und sagte: Was weißest du denn, Staͤhler, das mir so weh in der Seele thun soll? „Hast du gehoͤrt, Nachbar Stilling, daß dein Wilhelm , der Schulmeister, heirathet?“ Nein, davon weiß ich noch nichts. „So will ich dir sagen, daß er des vertriebenen Predigers Moritzens Tochter zu Lichthausen haben will, und daß er sich mit ihr versprochen hat.“ Daß er sich mit ihr versprochen hat, ist nicht wahr; daß er sie aber haben will, das kann seyn. Nun gingen sie wieder. „Kann das seyn? Ebert! — Kannst du das leiden? Ein Bettelmensch, das nichts hat, kannst du das deinem Sohn geben?“ Gebettelt haben des ehrlichen Mannes Kinder nie; und wann sie’s haͤtten? — Aber welche Tochter mag es seyn? Moritz hat zwo Toͤchter. „ Dortchen .“ Mit Dortchen will ich mein Leben beschließen. Nie will ich es vergessen! Sie kam einmal zu mir auf einen Sonntag Nachmittag, gruͤßte mich und Margareth von ihrem Vater, setzte sich und schwieg. Ich sah ihr an den Augen an, daß sie was wollte, auf den Backen aber las ich, daß sie’s nicht sa- gen konnte. Ich fragte sie, braucht ihr was? Sie schwieg und seufzte. Ich ging und holte ihr vier Reichsthaler; da! sagte ich, die will ich euch leihen, bis ihr mir sie wieder ge- ben koͤnnt. „Du haͤttest sie ihr wohl schenken koͤnnen; die bekommst du dein Lebetag nicht wieder!“ Das war auch meine Meinung, daß ich ihr das Geld schenken wollte. Haͤtt’ ich es ihr aber gesagt, das Maͤdchen haͤtte sich noch mehr geschaͤmt. Ach, sagte sie, bester liebster Vater Stilling ! (das gute Kind weinte blutige Thraͤnen) wenn ich seh’, wie mein alter Papa sein trocken Brod im Mund herumschlaͤgt, und kann es nicht kauen, so blutet mir das Herz. Meine Margareth lief, holte einen großen Topf suͤße Milch, und seitdem hat sie alle Woche ein paarmal suͤße Milch da- hin geschickt. „Und du kannst leiden, daß Wilhelm das Maͤdchen nimmt?“ Wenn er’s haben will, von Herzen gern. Gesunde Leute koͤnnen was verdienen, reiche Leute koͤnnen das Ihrige verlieren. „Du hast vorhin gesagt, du wuͤßtest noch nichts davon. Du weißt doch, wie du sagst, daß er sich noch nicht mit ihr ver- sprochen hat.“ Das weiß ich! — Er fragt mich gewiß vorher. „Hoͤr’! Er dich fragen? Ja, da kannst du lange warten!“ Staͤhler ! ich kenne meinen Wilhelm. Ich hab’ meinen Kindern immer gesagt, sie koͤnnten so arm und so reich hei- rathen als sie wollten und koͤnnten, sie sollten nur auf Fleiß und Froͤmmigkeit sehen. Meine Margareth hatte nichts, und ich ein Gut mit vielen Schulden. Gott hat mich gesegnet, ich kann jedem hundert Gulden baar mitgeben. „Ich bin kein Gleichviels-Mann, wie du! Ich muß wis- sen was ich thue, und meine Kinder sollen heirathen, wie ich’s vor’s beste erkenne.“ Ein jeder macht die Schuh nach seinem Leisten, sagte Stilling . Nun war er nah vor seiner Hausthuͤr. Margareth Stilling hatte schon ihre Toͤchter zu Bette ge- hen lassen. Ein Stuͤck Pfannenkuchen stand vor ihrem Ebert auf einem irdenen Teller in der heißen Asche; sie hatte auch noch ein wenig Butter dazu gethan. Ein Kuͤmpfchen mit ge- brockter Milch stand auf der Bank, und sie begann zu sorgen, wo ihr Mann wohl so lange bleiben moͤchte. Indem rasselte die Klinge an der Thuͤre, und er trat herein. Sie nahm ihm seinen leinenen Quersack von der Schulter, deckte den Tisch und brachte ihm sein Essen. Jemini! sagte Margareth , der Wilhelm ist noch nicht hier. Es wird ihm doch nicht etwa Ungluͤck begegnet seyn. Sind auch wohl Woͤlfe hier herum? Hat sich wohl, sagte der Vater, und lachte: denn das war so seine Gewohnheit, er lachte oft stark, wenn er ganz allein war. Der Schulmeister, Wilhelm Stilling , trat hierauf in die Stube. Nachdem er seine Eltern mit einem guten Abend gegruͤßt, setzte er sich auf die Bank, legte die Hand an den Backen und war tiefsinnig. — Er sagte lange kein Wort. Der alte Stilling stocherte seine Zaͤhne mit einem Messer, denn das war so seine Gewohnheit nach Tische zu thun, wenn er auch schon kein Fleisch gegessen hatte. Endlich fing die Mut- ter an: Wilhelm , mir war als bang, dir sollte was wi- derfahren seyn, weil du so lange ausbleibst. Wilhelm ant- wortete: O, Mutter! das hat keine Noth. Mein Vater sagt ja oft, wer auf seinen Berufswegen geht, darf nichts fuͤrch- ten. Hier wurd’ er bald bleich, bald roth, endlich brach er stammelnd los, und sagte: Zu Lichthausen (so hieß der Ort, wo er Schule hielt, und dabei den Bauern ihre Kleider machte) wohnt ein armer vertriebener Prediger, ich waͤre wohl willens, seine juͤngste Tochter zu heirathen; wenn ihr beide Eltern es zufrieden seyd, so wird sich kein Hinderniß mehr finden. Wil- helm, antwortete der Vater, du bist drei und zwanzig Jahr alt; ich habe dich lehren lassen, du hast Erkenntniß genug, kannst dir aber in der Welt nicht selber helfen, denn du hast gebrechliche Fuͤße; das Maͤdchen ist arm, und zur schweren Arbeit nicht angefuͤhrt; was hast du fuͤr Gedanken, dich Ins- kuͤnftige zu ernaͤhren? Der Schulmeister antwortete: Ich will mit meiner Handthierung mich wohl durchbringen, und mich im uͤbrigen ganz an die goͤttliche Vorsorge uͤbergeben; die wird mich und meine Dorthe eben sowohl naͤhren, als alle Voͤgel des Himmels. Was sagst du, Margareth ? sprach der Alte. — Hm! was sollt ich sagen, versetzte sie: weißt du noch, was ich dir zur Antwort gab, in unsern Brautta- gen? Laß uns Wilhelmen mit seiner Frau zu uns nehmen, er kann sein Handwerk treiben. Dorthe soll mir und meinen Toͤchtern helfen, so viel sie kann. Sie lernt noch immer et- was, denn sie ist noch jung. Sie koͤnnen mit uns an den Tisch gehen; was er verdient, das gibt er uns, und wir versorgen dann Beide mit dem Noͤthigen: so gehts, mein’ ich, am besten. Wenn du meinst, erwiederte der Vater, so mag er das Maͤdchen holen. Wilhelm! Wilhelm ! denke was du thust, es ist nichts Geringes. Der Gott deiner Vaͤter segne dich mit allem, was dir und deinem Maͤdchen noͤthig ist. Wilhelmen standen die Thraͤnen in den Augen. Er schuͤttelte Vater und Mutter die Hand, versprach ihnen alle Treue, und ging zu Bette. Und nachdem der alte Stilling sein Abendlied gesungen, die Thuͤr mit dem hoͤlzernen Wirbel zugeklemmt, Margareth aber nach den Kuͤhen gesehen hatte, ob sie alle laͤgen und wiederkaͤueten, so gingen sie auch schlafen. Wilhelm kam auf seine Kammer, an welcher nur ein Laden war, der aber eben so genau nicht schloß, daß nicht so viel Tag haͤtte durchschimmern koͤnnen, um zu wissen, ob man aufstehen muͤsse. Dieses Fenster war noch offen, daher trat er an dasselbe, es sah gerade gegen den Wald hin; alles war in tiefer Stille, nur zwo Nachtigallen sangen wechsels- weise auf das allerlieblichste. Dieses war Wilhelmen oͤfters ein Wink gewesen. Er sank an der Wand nieder. „O Gott! seufzte er, dir dank ich, daß du mir solche Eltern gegeben hast! O, laß sie Freude an mir sehen! Laß mich ihnen nicht zur Last seyn! Dir dank ich, daß du mir eine tugend- hafte Frau gibst! O segne mich!“ — Thraͤnen und Empfin- dungen hemmten ihm die Sprache, und da redete sein Herz unaussprechliche Worte, welche nur die Seelen empfinden und kennen, die sich in gleicher Lage befunden haben. Nie hat Jemand sanfter geschlafen, als der Schulmeister. Sein inniges Vergnuͤgen weckte ihn des Morgens fruͤher als sonst. Er stand auf, ging heraus in den Wald und erneuerte alle seine heiligen Vorsaͤtze, die er je in seinem Leben sich vor- genommen hatte. Um sieben Uhr ging er wieder nach Haus, und aß mit seinen Eltern und Schwestern die suͤße Milchsuppe und ein Butterbrod. Nachdem sich nun der Vater zuerst, hernach auch der Sohn den Bart abgemacht, die Mutter aber mit den Toͤchtern sich berathschlaget, wer unter ihnen zu Hause bleiben, und wer in die Kirche gehen sollte, so zog man sich an. Dieses alles war in einer halben Stunde geschehen; so- dann gingen die Toͤchter vor, darnach Wilhelm, und zu hin- derst der Vater mit seinem dicken Dornenstocke. Wenn der alte Stilling mit seinen Kindern ausging, so mußten sie allemal vor ihm gehen, damit er, wie er zu sagen pflegte, den Gang und die Sitten seiner Kinder sehen, und sie zur Ehr- barkeit anfuͤhren koͤnnte. Nach der Predigt ging Wilhelm wieder nach Licht- hausen , wo er Schulmeister war, und wo auch sein aͤlte- rer verheiratheter Bruder, Johann Stilling , wohnte. In einem andern Nachbarhause hatte der alte Pastor Moritz mit seinen zwo Toͤchtern ein paar Kammern gemiethet, in welchen er sich aufhielt. Nachdem nun den Nachmittag Wil- helm seinen Bauern eine Predigt in der Kapelle vorgelesen, und mit ihnen nach altem Brauch ein Lied gesungen, so eilte er, so geschwind als es nur seine gebrechlichen Fuͤße zulassen wollten, nach Herrn Moritzen . Der alte Mann saß eben vor seinem Clavier, und spielte ein geistlich Lied. Sein Schlaf- rock war sehr reinlich und schoͤn gewaschen, nirgend sah man einen Riß, aber wohl hundert Lappen. Neben ihm auf einer Kiste saß Dorothe, ein Maͤdchen von zwei und zwanzig Jah- ren, ebenfalls sehr reinlich, aber aͤrmlich, angezogen, die gar anmuthig das Lied zu ihres Vaters Melodie sang. Sie winkte ihrem Wilhelm heiterlaͤchelnd. Er setzte sich zu ihr und sang mit aus ihrem Buch. Sobald das Lied zu Ende war, gruͤßte der Pastor Wilhelmen und sagte: Schulmeister, ich bin nie vergnuͤgter, als wenn ich spiele und singe. Wie ich noch Pre- diger war, da ließ ich manchmal lange singen, weil unter so viel vereinigten Stimmen das Herz weit uͤber alles Irdische sich wegzwingt. Doch ich muß etwas anders mit euch reden. Mein Dortchen hat mir gestern Abend herausgestammelt, daß es euch lieb habe; ich bin aber arm; was sagen eure Eltern? Sie sind mit allem herzlich wohl zufrieden, antwortete Wil- helm. Dortchen drangen Thraͤnen aus ihren hellen Augen, und der alte ehrwuͤrdige Mann stand auf, nahm seiner Toch- ter rechte Hand, gab sie Wilhelmen und sagte: Ich habe nichts in der Welt, als zwo Toͤchter; diese ist mein Aug- apfel; nimm sie, Sohn! nimm sie! — Er weinte — „der Se- gen Jehova triefe auf euch herunter, und mache euch gesegnet vor ihm und seinen Heiligen und gesegnet vor der Welt! Eure Kinder muͤssen wahre Christen werden, eure Nachkommen seyen groß! Sie muͤssen angeschrieben stehen im Buche des Lebens! Mein ganzes Leben war Gott geheiliget; unter vielen Schwach- heiten, aber ohne Anstoß hab’ ich gewandelt und alle Men- schen geliebt; dieß sey auch eure Richtschnur, so werden meine Gebeine in Frieden ruhen!“ Er wischte sich hier die Augen. Beide Verlobten kuͤßten ihm Haͤnde, Backen und Mund, und hernach auch sich selbst zum Erstenmale, und so saßen sie wie- der nieder. Der alte Herr fing hierauf an: Aber Dortchen, dein Braͤutigam hat gebrechliche Fuͤße, hast du das noch nicht gesehen? Ja, Papa, sagte sie, ich hab’s gesehen; aber er re- det immer so gut und so fromm mit mir, daß ich selten Acht auf seine Fuͤße gebe. „Gut, Dortchen, die Maͤdchen pflegen doch auch wohl auf die Leibesgestalt zu sehen.“ Ich auch, Papa, gab sie zur Antwort; aber Wilhelm gefaͤllt mir so, wie er ist; haͤtte er nun gerade Fuͤße, so waͤre er Wilhelm Stilling nicht, und wie wuͤrde ich ihn denn lieb haben koͤnnen? Der Pastor laͤchelte zufrieden und fuhr fort: Du wirst nun diesen Abend auch die Kuͤche bestellen muͤssen, denn der Braͤu- tigam muß mit dir essen. Ich hab’ nichts, sagte die unschul- dige Braut, als ein wenig Milch, Kaͤse und Brod: wer weiß aber, ob mein Wilhelm damit zufrieden ist? Ja, versetzte Wilhelm , ein Stuͤck trocken Brod mit auch zu essen, ist an- Stilling’s Schriften. I. Bd. 3 genehmer, als fette Milch mit Wetßbrod und Eierpfannen- kuchen. Herr Moritz zog indessen seinen abgetragenen brau- nen Rock mit schwarzen Knoͤpfen und Knoͤpfloͤchern an, nahm sein lakirt gewesenes Rohr, ging und sagte: Da will ich zum Amtsverwalter gehen, er wird mir seine Flinte leihen, und dann will ich sehen, ob ich etwas schießen kann. Das that er oft, denn er war in seiner Jugend ein Freund von der Jagd gewesen. Nun waren unsere Verlobten allein, und das hatten sie Beide gewuͤnscht. Wie er fort war schlugen sie die Haͤnde in ein- ander, saßen neben einander, und erzaͤhlten sich, was ein Je- des empfunden, geredet und gethan, seitdem sie sich einander gefallen hatten. Sobald sie fertig waren, fingen sie wieder von vorne an, und gaben der Geschichte vielerlei Wendungen; so war sie immer neu: fuͤr alle Menschen langweilig, nur fuͤr sie nicht. Friedrike, Moritzens andere Tochter, unterbrach dieses Vergnuͤgen. Sie stuͤrmte herein, indem sie ein altes Historien-Lied dahersang. Sie stutzte. Stoͤr’ ich euch? fragte sie. — Du stoͤrst mich nie, sagte Dortchen; denn ich gebe nie- mals Acht auf das, was du sagst oder thust. Ja, du bist fromm , versetzte jene; aber du darfst doch so nah bei dem Schulmeister sitzen? doch der ist auch fromm. — Und noch dazu dein Schwager, fiel ihr Dorthe in die Rede, heute haben wir uns versprochen. — Das gibt also eine Hochzeit fuͤr mich, sagte Friedrike , und huͤpfte wieder zur Thuͤre hinaus. Indem sie so vergnuͤgt beisammen saßen, stuͤrmte Friedrike wuͤthend wieder in die Kammer. Ach! rief sie stammelnd, da bringen sie meinen Vater blutig ins Dorf. Jost , der Jaͤger, schlaͤgt ihn noch immer, und drei von Junkers Knech- ten schleppen ihn fort. Ach! sie schlagen ihn todt! Dort- chen that einen hellen Schrei und floh zur Thuͤre hinaus. Wilhelm eilte ihr nach, aber der gute Mensch konnte nicht so geschwind fort, wie die Maͤdchen. Sein Bruder Johann wohnte nah bei Moritzen, dem rief er. Diese beide gingen dann auf den Laͤrm zu. Sie fanden Moritzen in dem Wirths- hause auf einem Stuhl sitzen; seine grauen Haare waren von Blut zusammengebacken; die Knechte und der Jaͤger standen um ihn, fluchten, spotteten, knuͤpften ihm Faͤuste vor die Nase, und eine geschossene Schnepfe lag vor Moritzen auf dem Tisch. Der unpartheiische Wirth trug ruhig Branntwein zu. Frie- drike bat flehentlich um Gnade , und Dortchen um ein wenig Branntwein, dem Vater den Kopf zu waschen: allein sie hatte kein Geld, zu bezahlen, und der Schade war auch zu groß fuͤr den Wirth, ihr ein halbes Glas zu schenken. Doch, wie die Weiber von Natur barmherzig sind, so brachte die Wirthin einen Scherben, der unter dem Zapfen des Brannt- weins gestanden, und daraus wusch Dortchen dem Vater den Kopf. Moritz hatte schon vielmal gesagt, daß ihm der Junker Erlaubniß gegeben, so viel zu schießen, als ihm be- liebte; allein der war nun jetzt zum Ungluͤcke verreiset; der Pastor schwieg dabei still und entschuldigte sich nicht mehr. So standen die Sachen, als die Gebruͤder Stilling ins Wirths- haus kamen. Die erste Rache, die sie nahmen, war an ei- nem Branntweinglase, womit der Wirth aus dem Keller kam, und es sehr behutsam trug, um nichts zu verschuͤtten; wie- wohl diese Vorsicht eben so gar noͤthig nicht war, denn das Glas war uͤber ein Viertel leer. Johann Stilling wischte dem Wirth uͤber die Hand, daß das Glas gegen die Wand fuhr und in tausend Stuͤcken sprang. Wilhelm aber war schon in der Stube, griff seinen Schwiegervater an der Hand, und fuͤhrte ihn mit solchem Ernst aus der Stube, gleich als wenn er der Junker selbst gewesen waͤre, sagte aber Niemand etwas, sondern schwieg ganz still. Der Jaͤger und die Knechte drohten, hielten bald hie, bald da; allein Wilhelm , der desto staͤrker in den Armen war, je schwaͤcher seine Fuͤße wa- ren, sah und hoͤrte nicht, schwieg immer still und arbeitete nur Moritzen los. Wo er an seinem Rock eine zugeklemmte Hand fand, die brach er auf, und so brachte er ihn vor die Thuͤr. Johann Stilling aber redete mit den Jaͤgern und den Knechten, und seine Worte waren lauter Messer fuͤr sie; denn ein Jeder wußte, wie hoch er bei dem Junker angeschrieben 3 * stand, und wie oft er mit ihm zu Abend speisen mußte. Die Sache lief am Ende dahin aus, daß der Jaͤger bei der Wie- derkunft des Junkers abgesetzt, Moritzen aber zwanzig Tha- ler fuͤr seine Schmerzen ausgezahlt wurden. Was ihnen noch schneller durchhalf, war, daß der ganze Platz vor dem Hause voller Bauern stand, welche Tabak rauchten, und sich mit dem Zusehen belustigten; und es nur darauf ankam, daß ei- ner unter ihnen die Frage aufwarf, ob nicht durch diesen Vor- fall Eingriff in ihre Freiheit geschehen sey? Ploͤtzlich wuͤrden hundert Faͤuste bereit gewesen seyn, ihre christliche Liebe ge- gen Moritzen auf den Nacken Jostens und seiner Gefaͤhrten zu beweisen. Auch war der Wirth eine feige Memme, der oft Ohrfeigen von seiner Frau verschlucken mußte; und end- lich muß ich noch hinzufuͤgen, der alte Stilling und seine Soͤhne hatten sich durch ihre ernste und abgesonderte Auffuͤh- rung eine solche Hochachtung erworben, daß fast Niemand das Herz hatte, in ihrer Gegenwart nur zu scherzen; wozu noch kommt, was ich oben schon beruͤhrt, daß Johann Stil- ling bei dem Junker in großer Gnade stand. Nun wieder zur Geschichte. Der alte Moritz wurde in wenig Tagen wieder besser, und man vergaß diese verdrießliche Sache um so eher, weil man sich mit viel vergnuͤgteren Dingen beschaͤftigte, naͤmlich mit den Zuruͤstungen zur Hochzeit, welche der alte Stilling und seine Margarethe ein fuͤr allemal in ihrem Hause haben wollten. Sie maͤsteten ein paar Huͤhner zu Suppen, und ein fettes Milchkalb wurde dazu bestimmt, auf großen irde- nen Schuͤsseln gebraten zu werden; gebackene Pflaumen die Menge, und Reis zu Breien, nebst Rosinen und Korinthen in die Huͤhnersuppen, wurden im Ueberfluß angeschafft. Der alte Stilling hat sich wohl verlauten lassen, daß ihn diese Hochzeit, nur allen an Speisen und Viktualien bei zehen Reichs- thaler gekostet habe. Dem sey aber wie ihm wolle, alles war doch aufgeraͤumt. Wilhelm hatte fuͤr die Zeit die Schule ausgesetzt; denn in solchen Zeiten ist man zu keinem Berufs- geschaͤfte aufgelegt. Auch brauchte er die Tage nothwendig, seiner Braut und Schwestern neue Kleider auf die Hochzeit zu machen, und sonst mancherlei zu handthieren. Stillings Toͤchter verlangten solche ebenfalls. Sie probirten oͤfters ihre neuen Waͤmmser und Roͤcke von feinem schwarzen Tuch; die Zeit wurd’ ihnen Jahre lang, bis sie sie einmal einen ganzen Tag anhaben konnten. Endlich brach dann der laͤngst gewuͤnschte Donnerstag an. Alles war den Morgen vor der Sonne in Stillings Hause wach; nur der Alte, der den Abend vorher spaͤt aus dem Wald gekommen war, schlief ruhig, bis es Zeit war, mit den Braut- leuten zur Kirche zu gehen. Nun ging man in geziemter Ord- nung nach Florenburg , allwo die Braut mit ihrem Gefolge schon angekommen war. Die Copulation ging ohne Wider- spruch vor sich, und alle zusammen verfuͤgten sich nun nach Tiefenbach zum Hochzeitmahle. Zwei lange Bretter wa- ren in der Stube neben einander auf hoͤlzerne Boͤcke gelegt, anstatt des Tisches; Margareth hatte ihre feinsten Tisch- tuͤcher daruͤber gespreitet, und nun wurden die Speisen aufge- tragen. Die Loͤffel waren von Ahornholz, schoͤn glatt, mit ausgestochenen Rosen, Blumen und Laubwerk gearbeitet. Die Zulegmesser hatten schoͤne gelbe hoͤlzerne Stiele; so waren auch die Teller schoͤn rund und glatt vom haͤrtesten weißen Buchen- holz gedrechselt. Das Bier schaͤumte in weißen steinernen Kruͤ- gen mit blauen Blumen. Doch stellte Margareth auch einem Jeden frei, anstatt des Biers, von ihrem angenehmen Birnmost zu trinken, wenn Jemand dazu Belieben tragen moͤchte. Nachdem alle zur Genuͤge gegessen und getrunken hatten, so wurden vernuͤnftige Gespraͤche angestellt. Wilhelm aber und seine Braut wollten lieber allein seyn und reden; sie gin- gen daher tief in den Wald hinein. Mit der Entfernung von den Menschen wuchs ihre Liebe. Ach, waͤren keine Beduͤrf- nisse des Lebens! keine Kaͤlte, Frost und Naͤsse, was wuͤrde diesem Paar an einer irdischen Seligkeit gemangelt haben? Die beiden alten Vaͤter, die sich indessen mit dem Krug Bier allein gesetzt hatten, verfielen in ein ernstes Gespraͤch. Stil- ling redete also: „Herr Mitvater, mir hat immer gedaͤucht, Ihr haͤttet bes- ser gethan, wenn Ihr Euch an das Laboriren gar nicht ge- kehrt haͤttet.“ Warum, Mitvater? „Wenn Ihr Eure Uhrmacherei bestaͤndig getrieben haͤttet, so haͤttet Ihr reichlich Euer Brod erwerben koͤnnen; nun aber hat Euch Eure Arbeit nichts geholfen, und dasjenige, was Ihr hattet, ist noch dazu darauf gegangen.“ Ihr habt Recht und auch Unrecht. Wenn ich gewußt haͤtte, daß dreißig bis vierzig Jahr hingehen wuͤrden, eh’ ich den Stein der Weisen wuͤrde gefunden haben, so haͤtte ich mich freilich bedacht, ehe ich’s angefangen haͤtte. Nun aber, da ich durch die lange Erfahrung Etwas gelernt habe, und tief in die Erkenntnisse der Natur eingedrungen bin, nun wuͤrd’ es mir leid thun, wenn ich mich umsonst sollte lange geplagt haben. „Ihr habt Euch gewiß so lange umsonst geplagt, denn Ihr habt Euch einmal bisher kuͤmmerlich beholfen. Ihr moͤgt nun so reich werden als Ihr wollt, Ihr koͤnnt doch das Elend so vieler Jahre nicht in Gluͤckseligkeit verwandeln; und zudem glaub’ ich nicht, daß Ihr ihn jemals bekommt. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, ich glaube nicht, daß es einen Stein der Weisen gibt!“ Ich kann Euch beweisen, daß es einen Stein der Weisen gibt. Ein gewisser Doktor Helvetius im Haag hat ein klein Buͤchlein geschrieben, das guͤldene Kalb genannt: darin ist es deutlich bewiesen, so daß Niemand, auch der groͤßte Unglaubige , wenn er’s lieset, nicht mehr zweifeln kann. Ob ich denselben aber bekommen werde, das ist eine andere Frage. Warum nicht eben sowohl als ein Anderer? da er ein freies Geschenk Gottes ist. „Wenn Euch Gott den Stein der Weisen schenken wollte, Ihr haͤttet ihn schon lange! Warum sollte er ihn Euch so lange vorenthalten? Zudem ist’s ja nicht noͤthig, daß Ihr ihn habt; wie viel Menschen leben ohne den Stein der Weisen!“ Das ist wahr; aber wir sollen uns so gluͤcklich machen als wir koͤnnen. „Ein dreißigjaͤhrig Elend ist gewiß kein Gluͤck; aber nehmt mir nicht uͤbel (er schuͤttelte ihm die Hand) ich habe, so lang ich lebe, keinen Mangel gehabt, bin gesund gewesen und alt worden, meine Kinder hab’ ich erzogen, lernen lassen, und or- dentlich gekleidet. Ich bin recht vergnuͤgt, und also gluͤcklich! Man konnte mir den Stein der Weisen nicht schenken.“ „Aber hoͤrt, Mitvater! Ihr singt recht gut, und schreibt schoͤn; werdet Schulmeister hier im Dorfe! Friedriken koͤnnt Ihr vermiethen. Da hab’ ich noch eine Kleiderkammer, dar- ein will ich ein Bett stellen, so koͤnnt Ihr bei mir wohnen, und also immer bei Euern Kindern seyn.“ Euer Anerbieten, Mitvater, ist sehr gut; ich werd’ es auch annehmen, wenn ich nur noch einen Versuch werde gemacht haben. „Macht keine Probe mehr, Mitvater! sie wird Euch gewiß fehlen. Aber laßt uns von etwas Anderm reden. Ich bin ein großer Liebhaber von der Sternwissenschaft; kennt Ihr auch wohl den Sirius im großen Hund?“ Ich bin eben kein Sternkundiger, doch aber kenn’ ich ihn. „Er steht gemeiniglich des Abends gegen Mittag. Er flammt so gruͤnroͤthlich. Wie weit mag er wohl von der Erde seyn? Sie sagen, er soll wohl noch viel hoͤher seyn als die Sonne.“ O! wohl tausendmal hoͤher! „Wie ist das moͤglich? Ich bin so ein Liebhaber von den Sternen. Ich mein’ immer, ich waͤr’ schon dabei, wenn ich sie besehe. Aber kennt ihr auch den Wagen und den Pflug?“ Ja, man hat sie mir wohl gewiesen. „O welch ein wunderbarer Gott!“ Margarethe Stilling hoͤrte dieses Gespraͤch; sie kam und setzte sich zu ihrem Mann. Ach Ebert! sagte sie, ich kann wohl an einer Blume sehen, daß Gott wunderbar ist. Laßt uns die begreifen lernen! Wir wohnen bei dem Gras und den Blumen; die laßt uns hier bewundern; wenn wir im Him- mel sind, dann wollen wir die Sterne betrachten! Das ist recht, sagte Moritz, es sind so viele Wunder in der Natur; wenn wir die recht betrachten, so koͤnnen wir die Weisheit Gottes wohl kennen lernen! Doch ein Jeder hat so Etwas, wozu er besonders Lust hat. So vertrieben die Hochzeitgaͤste den Tag. Wilhelm Stil- ling und seine Braut verfuͤgten sich auch nach Hause, und fin- gen ihren Ehestand an; wovon ich im folgenden Kapitel meh- reres sagen werde. Stillings Toͤchter aber saßen in der Daͤmmerung unter dem Kirschenbaum und sangen folgendes schoͤne weltliche Liedlein: Es ritt ein Reiter wohl uͤber’s Feld, Er hatte kein’n Freund, kein Gut, kein Geld. Sein Schwesterlein war huͤbsch und fein. „Ach Schwesterlein! ich sage dir Adie. Ich sehe dich ja nimmermehr. Ich reite weg, in ein fremdes Land. Reich’ du mir deine weiße Hand!“ Adie! Adie! Adie! Ich sah, mein schoͤnstes Bruͤderlein, Ein buntig, artig Voͤgelein. Es huͤpfte im Wachholderbaum. Ich warf’s mit meinem Ringelein, Es nahm ihn in sein Schnaͤbelein Und flog weg in den Walde fort. Adie! Adie! Adie! „Schließ’ du dein Schloß wohl feste zu, Halt’ dich fein still in guter Ruh. Laß Niemand in dein Kaͤmmerlein! Der Ritter mit dem schwarzen Pferd Hat dich zumalen lieb und werth. Nimm dich vor ihm gar wohl in Acht! Mannig Maͤgdlein hat er zu Fall gebracht.“ Adie! Adie! Adie! Das Maͤgdlein weinte bitterlich, Der Bruder sah noch hinter sich, Und gruͤßte sie noch einmal schoͤn. Da ging sie in ihr Kaͤmmerlein, Und konnte da nicht froͤhlich seyn. Den Ritter mit dem schwarzen Pferd Haͤtt’ sie vor allen lieb und werth. Adie! Adie! Adie! Der Ritter mit dem schwarzen Roß Haͤtt’ Guͤter und viel Reichthum groß, Er kame zum Jungfraͤulein zart. Er kame oft um Mitternacht Und ginge, wenn der Tag anbrach. Er fuͤhrt sie in sein Schloͤsselein Zum andern Jungfraͤulein fein. Adie! Adie! Adie! Sie kam dahin in schwarzer Nacht. Sie sah, daß er zu Fall gebracht Viel edele Jungfrauen zart. Sie nahm wohl einen kuͤhlen Wein Und goß ein schnoͤdes Gift hinein Und trunk’s dem schwarzen Ritter zu. Es gingen beiden die Aeugelein zu. Adie! Adie! Adie! Sie begruben den Ritter ins Schlosse fein, Das Maͤgdlein inbei ein Bruͤnnelein. Sie schlaͤft da im kuͤhlen Gras. Um Mitternacht da wandelt sie umher Am Mondschein, dann seufzte sie so sehr. Sie wandelt da im weißigem Kleid Und klagte da dem Wald ihr Leid. Adie! Adie! Adie! Der edle Bruder eilt herein Bei diesem klaren Bruͤnnelein. Und sah’ es sein Schwesterlein zart. Was machst du mein Schwesterlein allhier? Du seufzest so, was fehlt dann dir? „Ich hab den Ritter in schwarzer Nacht, Und mich mit boͤsem Gift umbracht. Adie! Adie! Adie! Wie Nebel in dem weiten Raum Flog auf das Maͤgdlein durch den Baum — Man sah’ sie wohl nimmermehr! In’s Kloster ging der Rittersmann Und fing ein frommes Leben an. Da betet er vor’s Schwesterlein Auf daß sie moͤchte selig seyn. Adie! Adie! Adie! Eberhard Stilling und Margareth seine eheliche Hausfrau, erlebten nun eine neue Periode in ihrer Haushal- tung. Da war nun ein neuer Hausvater und eine neue Haus- mutter in ihrer Familie entstanden. Die Frage war also: Wo sollen diese Beide sitzen, wenn wir speisen? — Um die Dun- kelheit im Vortrag zu vermeiden, muß ich erzaͤhlen, wie eigent- lich Vater Stilling seine Ordnung und Rang am Tische be- obachtete. Oben in der Stube war eine Bank von einem ei- chenen Brett laͤngs der Wand genagelt, die bis hinter den Ofen reichte. Vor dieser Bank, dem Ofen gegenuͤber, stand der Tisch, als Klappe an die Wand befestigt, damit man ihn an dieselbe aufschlagen konnte. Er war aus einer eichenen Diele von Vater Stilling selbsten ganz fest und treuherzig ausgearbeitet. An diesem Tisch saß Eberhard Stilling oben an der Wand, wo er durch das Brett befestigt war, und zwar vor demselben. Vielleicht hatte er sich diesen vortheil- haften Platz darum gewaͤhlt, damit er seinen linken Ellenbo- gen auf das Brett stuͤtzen, und zugleich ungehindert mit der rechten Hand essen koͤnnte. Doch davon ist keine Gewißheit, denn er hat sich nie in seinem Leben deutlich daruͤber erklaͤret. An seiner rechten Seite vor dem Tisch saßen seine vier Toͤch- ter, damit sie ungehindert ab- und zugehen koͤnnten. Zwi- schen dem Tisch und dem Ofen hatte Margareth ihren Platz; eines Theils, weil sie leicht fror, und andern Theils, damit sie fuͤglich uͤber den Tisch sehen konnte, ob etwa hier oder dort Etwas fehlte. Hinter dem Tisch hatten Johann und Wilhelm gesessen, weil aber der eine verheirathet war, und der andere Schule hielt, so waren diese Plaͤtze leer, bis jetzt, da sie dem jungen Ehepaar, nach reiflicher Ueberlegung, an- gewiesen wurden. Zuweilen kam Johann Stilling seine Eltern zu besuchen. Das ganze Haus freute sich, wenn er kam; denn er war ein besonderer Mann. Ein jeder Bauer im Dorfe hatte auch Ehrfurcht vor ihm. Schon in seiner fruͤhen Jugend hatte er einen hoͤlzernen Teller zum Astrolabium, und eine feine, schoͤne Butterdose von schoͤnem Buchenholz zum Compas umgeschaf- feu, und von einem Huͤgel geometrische Observationen ange- stellt. Denn zu der Zeit ließ der Landesfuͤrst eine Landcharte verfertigen. Johann hatte zugesehen, wann der Ingenieur operirte. Zu dieser Zeit aber war er wirklich ein geschickter Land- messer, wurde auch von Edeln und Unedeln bei Theilung der Guͤter gebraucht. Große Kuͤnstler haben gemeiniglich die Tu- gend an sich, daß ihr erfinderischer Geist immer etwas Neues sucht; daher ist ihnen dasjenige, was sie schon erfunden ha- ben, und was sie wissen, viel zu langweilig, es ferner zu ver- feinern. Johann Stilling war also arm: denn was er konnte, versaͤumte er, u m dasjenige zu wissen, was er noch nicht konnte. Seine gute einfaͤltige Frau wuͤnschte oft, daß ihr Mann seine Kuͤnsteleien auf Feld und Wiesen zu verbessern wenden moͤchte, damit sie mehr Brod haͤtten. Allein, laßt uns der guten Frau ihre Einfalt verzeihen; sie verstand es nicht besser; wenigstens Johann war klug genug hiezu. Er schwieg oder laͤchelte. Die Quadratur des Zirkels und die immerwaͤhrende Bewe- gung beschaͤftigten ihn zu diese r Zeit. War er nun in ein Geheimniß tiefer eingedrungen, so lief er geschwind nach Tie- fenbach, um seinen Eltern und Geschwistern seine Entdeckung zu erzaͤhlen. Kam er denn unten durchs Dorf herauf, und es erblickte ihn Jemand aus Stillings Hause, so lief man gleich nach Hause und rief Alle zusammen, um ihn an der Thuͤre zu empfangen. Ein Jedes arbeitete dann mit doppel- tem Fleiß, um nach dem Abendessen nichts mehr zu thun zu haben. Dann setzte man sich um den Tisch, stuͤtzte die El- lenbogen darauf, und die Haͤnde an die Backen — Aller Au- gen war auf Johanns Mund gerichtet. Alle halfen denn an der Quadratur des Zirkels erfin- den; selbst der alte Stilling verwendete vielen Fleiß auf die Sache. Ich wuͤrde dem erfinderischen, oder besser, dem gu- ten und natuͤrlichen Verstande dieses Mannes Gewalt anthun, wenn ich sagen sollte: er haͤtte nichts in dieser Sache gelei- stet. Bei seinem Kohlenbrennen beschaͤftigte er sich damit. Er zog eine Schnur um sein Birnmostfaß, schnitt sie mit seinem Brodmesser ab; saͤgte dann ein Brett genau vierkantig, und schabte es so lange, bis die Schnur just darum paßte. Nun mußte ja das viereckigte Brett genau so groß seyn, als der Zirkel des Mostfasses. Eberhard sprang auf einem Fuß her- um, verlachte die großen gelehrten Koͤpfe, daß sie aus dem einfaͤltigen Dinge so viel Werks machten, und erzaͤhlte bei naͤchster Gelegenheit seinem Johann die Erfindung. Wir wollen die Wahrheit gestehen. Vater Stilling hatte wohl nichts Hoͤhnisches in seinem Charakter: doch lief hier eine kleine Satyre mit unter; aber der Landmesser machte bald der Freude ein Ende, indem er sagte: Es ist die Frage nicht, Vater! ob ein Schreiner einen viereckigten Kasten machen koͤnne, der just so viel Haber enthalte, als eine runde cylindrische Tonne; sondern es muß ausgemacht seyn, wie sich der Diameter des Zirkels gegen seine Peripherie verhalte, und dann, wie groß eine Seite des Quadrats seyn muͤsse, wenn es so groß als der Zirkel seyn soll. Aber in beiden Faͤllen darf an einem Facit nicht der tausendste Theil eines Haars fehlen. Es muß in der Theorie durch die Algebra bewirkt werden koͤnnen, daß es wahr ist! Der alte Stilling wuͤrde sich geschaͤmt haben, wenn nicht die Gelehrsamkeit seines Sohns, und seine unmaͤßige Freude daruͤber, alles Schaͤmen bei ihm verdraͤngt haͤtte. Er sagte deßwegen nichts weiter, als: Mit Gelehrten ist nicht gut disputiren; lachte, schuͤttelte den Kopf, und fuhr fort, von ei- nem birkenen Klotz Spaͤne zu schneiden, womit man Feuer und Lichter, auch allenfalls eine Pfeife Tabak anzuͤnden konnte. Dieses war so seine Beschaͤftigung bei muͤßigen Stunden. Stillings Toͤchter waren stark und arbeitsam. Sie pfleg- ten die Erde, und sie gab ihnen reiche Nahrung im Garten und Felde. Dortchen aber hatte zarte Glieder und Haͤnde, sie wurde geschwind muͤde, und dann seufzte sie und weinte. Unbarmherzig waren nun die Maͤdchen eben nicht; aber sie konnten doch nicht begreifen, warum ein Weibsbild, das eben so groß als ihrer Eine war, nicht auch eben so gut sollte ar- beiten koͤnnen. Doch mußte ihre Schwaͤgerin oft ausruhen, auch sagten sie ihren Eltern niemals, daß sie kaum ihr Brod verdiente. Wilhelm sah es bald ein; er erhielt daher von der ganzen Familie, daß seine Frau ihm an Naͤhen und Klei- dermachen helfen sollte. Dieser Vertrag wurde geschlossen, und alle befanden sich wohl dabei. Der alte Pastor Moritz besuchte nun auch zum Erstenmal seine Tochter. Dortchen weinte vor Freuden, wie sie ihn sah, und wuͤnschte Hausmutter zu seyn, um ihm recht guͤtlich thun zu koͤnnen. Er saß den ganzen Nachmittag bei seinen Kindern, und redete mit ihnen von geistlichen Sachen. Er schien ganz veraͤndert, kleinmuͤthig und betruͤbt zu seyn. Ge- gen Abend sagte er: Kinder! fuͤhrt mich einmal auf das Gei- senberger Schloß. Wilhelm legte seinen eisernen schweren Fingerhut ab, und spukte in die Haͤnde; Dortchen aber steckte ihren Fingerhut an den kleinen Finger, und nun stiegen sie zum Wald auf. Kinder! sagte Moritz , mir ist hier so wohl unter dem Schatten der Maibuchen. Je hoͤher wir kommen, je freier werd’ ich. Es ist mir eine Zeit her gewesen, als Einem, der nicht zu Hause ist. Dieser Herbst muß wohl der letzte meines Lebens seyn. Wilhelm und Dortchen hat- ten Thraͤnen in den Augen. Oben auf dem Berge, wo sie bis an den Rhein, und die ganze Gegend uͤbersehen konnten, setzten sie sich an eine zerfallene Mauer des Schlosses. Die Sonne stand in der Ferne nicht mehr hoch uͤber dem blauen Gebirge. Moritz sah starr dorthin, und schwieg lange; auch sagten seine Begleiter nicht ein Wort. Kinder! sprach er end- lich, ich hinterlaß euch nichts, wenn ich sterbe. Ihr koͤnnt mich wohl missen. Niemand wird um mich weinen. Ich habe mein Leben muͤhsam und unnuͤtz zugebracht, und Nie- mand gluͤcklich gemacht. Mein lieber Vater! antwortete Wil- helm , Ihr habt doch mich gluͤcklich gemacht. Ich und Dort- chen werden herzlich um euch weinen. „Kinder! versetzte Moritz , unsere Neigungen fuͤhren uns leicht zum Verderben. Wie viel wuͤrde ich der Welt haben nutzen koͤnnen, wenn ich kein Alchymist geworden waͤre! Ich wuͤrde euch und mich gluͤcklich gemacht haben! (Er weinte laut.) Doch denke ich immer daran, daß ich meinen Fehler erkannt habe, und nun noch will ich mich aͤndern. Gott ist ein Vater, auch uͤber die irrenden Kinder. Nun hoͤret noch eine Ermahnung von mir, und folgt derselben: Alles was ihr thut, das uͤberlegt vorher wohl, ob es auch Andern nuͤtzlich seyn koͤnne. Findet ihr, daß es nur euch dienlich ist, so denkt: das ist ein Werk ohne Belohnung. Nur wo wir dem Naͤchsten dienen, da belohnt uns Gott! Ich habe arm und unbemerkt in der Welt dahin- gewandelt, und wann ich todt bin, dann wird man meiner bald vergessen: ich aber werde Barmherzigkeit finden vor dem Thron Christi, und selig seyn.“ — Nun gingen sie wieder nach Haus, und Moritz blieb immer traurig. Er ging um- her, troͤstete die Arme und betete mit ihnen. Auch arbeitete er und machte Uhren, womit er sein Brod erwarb, und noch Etwas uͤbrig behielt. Doch dieses waͤhrte nicht lange, denn den folgenden Winter verlor man ihn; man fand ihn nach dreien Tagen unter dem Schnee und war todt gefroren. Nach diesem traurigen Zufall entdeckte man in Stillings Hause eine wichtige Neuigkeit. Dortchen war gesegneten Leibes, und Jedermann freuete sich auf ein Kind, deren in vielen Jahren kein’s im Hause gewesen war. Mit was fuͤr Muͤhe und Fleiß man sich auf Dortchens Entbindung ge- ruͤstet, ist nicht zu sagen. Der alte Stilling selbst freute sich auf einen Enkel, und hoffte noch einmal vor seinem Ende seine alten Wiegenlieder zu singen und seine Erziehungskunst zu beweisen. Nun nahete der Tag der Niederkunft heran, und 1740 den 12ten September, Abends um 8 Uhr, wurde Heinrich Stil- ling geboren. Der Knabe war frisch, gesund und wohl, und seine Mutter wurde gleichfalls, gegen die Weissagungen der Tiefenbacher Sybillen, geschwind wieder besser. Das Kind wurde in der Florenburger Kirche getauft. Vater Stilling aber, um diesen Tag feierlicher zu machen, richtete ein Mahl an, bei welchem er den Herrn Pastor Stoll- bein zu sehen wuͤnschte. Er schickte daher seinen Sohn Jo- hann ins Pfarrhaus, und ließ den Herrn ersuchen, mit nach Tiefenbach zu gehen, um seinem Mahle beizuwohnen. Johann ging, er that schon den Hut ab, als er in den Hof kam, um nichts zu versehen; aber leider, wie oft ist alle mensch- liche Vorsicht unnuͤtz! Es sprang ein großer Hund hervor; Johann Stilling griff einen Stein, warf, und traf den Hund in eine Seite, daß er abscheulich zu heulen anfing. Der Pastor sah durchs Fenster was passirte; voll von Eifer sprang er heraus, knuͤpfte dem armen Johann eine Faust vor die Nase: Du lumpigter Flegel! krisch er, ich will dich lernen meinem Hund begegnen! Stilling antwortete: Ich wußte nicht, daß es Ew. Ehrwuͤrden Hund war. Mein Bru- der und meine Eltern lassen den Herrn Pastor ersuchen, mit nach Tiefenbach zu gehen, um der Taufmahlzeit beizuwohnen. Der Pastor ging und schwieg still. Doch murrte er aus der Hausthuͤr zuruͤck: Wartet, ich will mitgehen. Er wartete fast eine Stunde im Hof, liebkosete den Hund, und das arme Thier war auch wirklich versoͤhnlicher, als der große Gelehrte, der nun aus der Hausthuͤre herausging. Der Mann wan- delte mit Zuversicht an seinem Rohrstab. Johann trabte furchtsam hinter ihm mit dem Hut unterem Arm; den Hut aufzusetzen war eine gefaͤhrliche Sache; denn er hatte in sei- ner Jugend manche Ohrfeige von dem Pastor bekommen, wenn er ihn nicht fruͤh genug, das ist, so bald er ihn in der Ferne erblickte, abgezogen hatte. Doch aber eine ganze Stunde lang mit bloßem Haupt, im September, unter freiem Himmel zu gehen, war doch auch entsetzlich! Daher sann er auf einen Fund, wie er fuͤglich seinen Kopf bedecken moͤchte. Ploͤtzlich fiel der Herr Stollbein zur Erde, daß es platschte. Johann er- schrack. Ach! rief er, Herr Pastor, habt Ihr Euch Scha- den gethan? Was gehts euch an, Schlingel! war die helden- muͤthige Antwort dieses Mannes, indem er sich aufraffte. Nun gerieth Johanns Feuer in etwas in Flammen, daß er herausfuhr: So freue ich mich denn herzlich, daß Ihr gefallen seyd, und laͤchelte noch dazu. Was! Was! rief der Pastor. Aber Johann setzte den Hut auf, ließ den Loͤwen bruͤllen, ohne sich zu fuͤrchten, und ging. Der Pastor ging auch, und so kamen sie denn endlich nach Tiefenbach. Der alte Stilling stand vor der Thuͤre, mit bloßem Haupt; seine schoͤne grauen Haare spielten am Mond: er laͤchelte den Herrn Pastor an, und sagte, indem er ihm die Hand gab: Ich freue mich, daß ich in meinem Alter den Herrn Pastor an meinem Tisch sehen soll; aber ich wuͤrde so kuͤhn nicht gewesen seyn, wenn meine Freude uͤber einen Enkel nicht so groß waͤre. Der Pastor wuͤnschte ihm Gluͤck, doch mit angehaͤngter wohlmeinender Drohung, daß, wenn ihn nicht der Fluch des Eli treffen sollte, er mehr Fleiß auf die Erziehung seiner Kinder anwenden muͤßte. Der Alte stand da in seinem Vermoͤgen und laͤchelte, doch schwieg er stille und fuͤhrte Seine Ehrwuͤrden in die Stube. Ich will doch nicht hoffen, sagte der Herr Pastor, daß ich hier unter dem Schwarm von Bauern speisen soll. Vater Stilling antwortete: Hier speist Niemand, als ich und meine Frau und Kinder, ist Euch das ein Bauernschwarm? Ei, was anders! antwortete jener. So muß ich Euch erinnern, Herr! — versetzte Stilling , daß Ihr nichts weniger als ein Diener Christi, sondern ein Pharisaͤer seyd. Er saß bei den Zoͤllnern und Suͤndern, und aß mit ihnen. Er war uͤberall klein und niedrig und demuͤthig. Herr Pastor! … meine grauen Haare richten sich in die Hoͤhe; setzt Euch, oder geht wieder! Hier pocht Etwas, ich moͤchte mich sonst an eurem Kleide vergreifen, wofuͤr ich doch sonsten Respekt habe. Hier! Herr! hier vor meinem Hause ritt der Fuͤrst vorbei; ich stand vor meiner Thuͤre; er kannte mich. Da sagte er: Guten Morgen, Stilling ! Ich ant- wortete: Guten Morgen, Ihr Durchlaucht! Er stieg vom Pferd, er war muͤde von der Jagd. Holt mir einen Stuhl, sprach er, hier will ich ein wenig ruhen. Ich habe eine luf- tige Stube, antwortete ich, gefaͤllt es Ihro Durchlaucht in die Stube zu gehen, und da bequem zu sitzen? Ja! sagte er. Der Oberjaͤgermeister ging mit hinein. Da saß er, wo ich euch meinen besten Stuhl hineingestellt habe. Meine Marga- reth mußte ihm fette Milch einbrocken und ein Butterbrod machen. Wir beide mußten mit ihm essen, und er versicherte, daß ihm niemalen eine Mahlzeit so gut geschmeckt habe. Wo Reinlichkeit ist, da kann ein Jeder essen. Nun entschließt euch, Herr Pastor! — Wir Alle sind hungrig. Der Pastor setzte sich und schwieg still. Da rief Stilling allen seinen Kin- dern, aber Keines wollte hinein kommen, auch selbst Mar- gareth nicht. Sie fuͤllte dem Prediger ein irdenes Kuͤmpf- chen mit Huͤhnerbruͤh, gab ihm einen Teller Cappes mit ei- nem huͤbschen Stuͤck Fleisch und einen Krug Bier. Stil- ling trug es selber auf; der Pastor aß und trank geschwind, redete nichts, und ging wieder nach Florenburg. Nun setzte sich alles zu Tische. Margareth betete, und man speisete mit groͤßtem Appetit. Auch selbst die Kindbetterin saß an Margarethens Stelle mit ihrem Knaben an der Brust. Denn Margareth wollte ihren Kindern selbst dienen. Sie hatte ein sehr feines weißes Hemd, welches noch ihr Braut- hemd war, angezogen. Die Ermel davon hatte sie bis hin- ter die Ellenbogen aufgewickelt. Von feinem schwarzen Tuch hatte sie ein Leibchen und Rock, und unter der Haube stan- den graue Locken hervor, schoͤn gepudert von Ehre und Alter. Es ist wirklich unbegreiflich, daß waͤhrend der ganzen Mahlzeit nicht ein Wort vom Pastor geredet wurde; doch halte ich dafuͤr, die Ursache war, daß Vater Stilling nicht davon anfing. Indem man so da saß und mit Vergnuͤgen speiste, klopfte eine arme Frau an die Thuͤre. Sie hatte ein klein Kind auf dem Ruͤcken in einem Tuche haͤngen, und bat um ein Stuͤck- lein Brod. Mariechen war hurtig. Die Frau kam in zerlumpten, besudelten Kleidern, die aber doch die Form hat- ten, als wenn sie ehemals einem vornehmen Frauenzimmer gehoͤrt haͤtten. Vater Stilling befahl, man sollte sie an die Stubenthuͤre sitzen lassen, und ihr von allem Etwas zu essen geben. Dem Kinde kannst du etwas Reisbrei zu essen darrei- chen, Mariechen! sagte er ferner. Sie aß, und es schmeckte ihr herzlich gut. Nachdem nun sie und ihr Kind satt waren, dankte sie mit Thraͤnen und wollte gehen. Nein, sagte der alte Stilling , sitzet und erzaͤhlet uns, wo ihr her seyd, Stillings Schriften. I. Band. 4 und warum ihr so gehen muͤßt. Ich will euch auch Bier zu trinken geben. Sie setzte sich und erzaͤhlte. Ach lieber Gott! sprach sie. Leider ja! muß ich so gehen ( Stillings Mariechen hatte sich neben sie, doch etwas von ihr abgesetzt, sie horchte mit groͤßter Aufmerksamkeit, auch waren ihre Augen schon feucht), ich bin ja leider eine arme Frau. Vor zehen Jahren moͤchtet ihr Leute euch wohl eine Ehre daraus gemacht haben, wenn ich mit euch gespeist haͤtte. Wilhelm Stilling . Das waͤre! Johann Stilling . Es sey denn, daß ihr eine Stoll- beinische Natur gehabt haͤttet. Vater Stilling . Seyd still, Kinder! Lasset die Frau reden! „Mein Vater ist Pastor zu —“ Mariechen . Jemini! Euer Vater ein Pastor? sie ruͤckt naͤher. „Ach ja! Freilich ist er Pastor. Ein sehr gelehrter und reicher Mann.“ Vater Stilling . Wo ist er Pastor? „Zu Goldingen im Barchinger Land. Ja freilich! Leider ja!“ Johann Stilling . Das muß ich doch auf der Land- charte suchen. Das muß nicht weit vom Muͤhlersee seyn, oben an der Spitze, gegen Septentrio zu. „Ach, mein junger Herr! ich weiß keinen Ort nahe dabei, der Schlendrian heißt.“ Mariechen . Unser Johann sagte nicht Schlendrian. Wie sagtest du? Vater Stilling . Redet ihr fort! St! Kinder! „Nun war ich dazumal eine huͤbsche Jungfer, hatte auch schoͤne Gelegenheiten zu heirathen ( Mariechen besah sie vom Haupt bis zum Fuß), allein keiner war meinem Vater recht. Der war ihm nicht reich genug, der Andere nicht vornehm genug, der Dritte ging nicht viel in die Kirche.“ Mariechen . Sage, Johann, wie heißen die Leute, die nicht in die Kirche gehen? Johann Stilling . St! Maͤdchen! Separatisten. „Gut! was soll mir geschehen, ich sahe wohl, ich wuͤrde keinen bekommen, wann ich mir nicht selber huͤlfe. Da war ein junger Barbiergesell —“ Mariechen . Was ist das, ein Barbiergesell? Wilhelm Stilling . Schwesterchen, frag hernach um alles. — Laß jetzt nur die Frau reden. Es sind Bursche, die den Leuten den Bart abmachen. „Das bitte ich mir aus, hat sich wohl! Mein Mann konnte, trotz dem besten Doktor, kuriren. Ach ja! viel, viel Kuren that er. Kurz, ich ging mir ihm fort. Wir setzten uns zu Spelterburg. Das liegt am Spafluß.“ Johann Stilling . Ja, da liegt es. Ein paar Mei- len herauf, wo die Milder hineinfließt. „Ja, da liegt’s. Ich ungluͤckliches Weib! — Da wurde ich gewahr, daß mein Mann mit gewissen Leuten Umgang hatte.“ Mariechen . Waret ihr schon kopulirt? „Wer wollte uns kopulieren? lieber Gott! O ja nicht! — ( Mariechen ruͤckte mit ihrem Stuhl ein wenig weiter von der Frau ab.) Ich wollte es absolut nicht haben, daß mein Mann mit Spitzbuben umging; denn obgleich mein Vater nur ein Schuhflicker war —“ Die Frau packte ihr Kind auf den Nacken, und lief, was sie laufen konnte. Vater Stilling , seine Frau und Kinder, konnten nicht begreifen, warum die Frau mitten in der Erzaͤhlung abbrach und davon lief. Es gehoͤrte auch wirklich eine wahre Logik dazu, die Ursache einzusehen. Ein Jeder gab seine Stimme, doch waren alle Ursachen zweifelhaft; das vernuͤnftigste Ur- theil, und zugleich auch das wahrscheinlichste, war wohl, daß der Frau von dem vielen und ungewohnten Essen etwas uͤbel geworden, und man beruhigte sich auch dabei. Vater Stil- ling zog aber, seiner Gewohnheit nach, die Lehre aus dieser Erzaͤhlung, daß es am besten sey, seinen Kindern Religion und Liebe zur Tugend einzupraͤgen, und dann im gehoͤri- gen Alter ihnen die freie Wahl im Heirathen zu vergoͤnnen, wenn sie nur so waͤhlten, daß die Familie nicht wirklich da- durch beschimpft wuͤrde. Ermahnen, sagte er, muͤssen frei- lich die Eltern ihre Kinder; allein Zwang hilft nichts mehr, 4 * wenn der Mensch sein maͤnnliches Alter erreicht hat; er glaubt alsdann alles so gut zu verstehen als seine Eltern. Waͤhrend dieser weisen Rede, wobei alle Anwesenden hoͤchst aufmerksam waren, saß Wilhelm in tiefen Betrachtungen. Er hatte eine Hand an den Backen gelegt, und sahe starr ge- rade vor sich hin. Hum! sagte er, alles, was die Frau er- zaͤhlt hat, scheint mir verdaͤchtig. Im Anfang sagte sie, ihr Vater waͤre Pastor zu … zu … Mariechen . Zu Goldingen im Barchinger Land. Ja, da war es. Und am Ende sagte sie, ihr Vater sey ein Schuhflicker gewesen. Alle Anwesenden schlugen die Haͤnde zusammen, und entsetzten sich sehr. Nun erkannte man, wa- rum die Frau weggelaufen war; man entschloß sich also, an jeder Thuͤre und Oeffnung im Hause vorsichtige Klingen und Klammern zu machen, und das wird auch Niemand der Stil- ling’schen Familie verdenken, wer einigermaßen den Zusam- menhang der Dinge einzusehen gelernt hat. Dortchen redete die ganze Zeit durch nichts. Warum? kann ich eben nicht sagen. Sie saͤugte ihren Heinrich alle Augenblicke, denn das war nun einmal ihr Alles. Der Junge war auch huͤbsch dick und fett. Die erfahrensten Nachbarin- nen konnten schon gleich nach der Geburt in dem Gesichte des Kindes eine voͤllige Aehnlichkeit mit seinem Vater entdecken. Besonders aber wollte man auch schon auf dem linken obern Augenlied die Grundlage einer kuͤnftigen Warze spuͤren, als welche der Vater daselbst hatte. Dennoch aber mußte eine verborgene Parteilichkeit alle Nachbarinnen zu diesem falschen Zeugniß bewogen haben; denn der Knabe hatte und bekam der Mutter Gesichtszuͤge und ihr sanftes, gefuͤhliges Herz gaͤnzlich. Vor und nach verfiel Dortchen in eine sanfte Schwer- muth. Sie hatte an nichts in der Welt Vergnuͤgen mehr, aber auch an keinem Theile Verdruß. Sie genoß bestaͤndig die Wonne der Wehmuth, und ihr zartes Herz schien sich ganz in Thraͤnen zu verwandeln, in Thraͤnen ohne Harm und Kum- mer. Ging die Sonne schoͤn auf, so weinte sie, und betrach- tete sie tiefsinnig; sprach auch wohl zuweilen: Wie schoͤn muß der seyn, der sie gemacht hat! Ging sie unter, so weinte sie. Da geht der troͤstliche Freund wieder von uns, sagte sie dann oft, und sehnte sich weit weg in den Wald, zur Zeit der Daͤm- merung. Nichts aber war ihr ruͤhrender, als der Mond; sie fuͤhlte dann was Unaussprechliches, und ging ganze Abende unten an dem Geisenberg. Wilhelm begleitete sie fast im- mer und redete sehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas aͤhnliches in ihrem Charakter. Sie haͤtten die ganze Welt von Menschen missen koͤnnen, nur Eins das Andere nicht: dennoch empfanden sie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenschen. Beinahe anderthalb Jahre war Heinrich Stilling alt, als Dortchen an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann ersuchte, mit ihr nach dem Geisenberger Schlosse zu spatzieren. Noch niemalen hatte ihr Wilhelm etwas abgeschlagen. Er ging mit ihr. Sobald sie in den Wald kamen, schlungen sie sich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter dem Schatten der Baͤume und dem vielfaͤltigen Zwitschern der Voͤgel den Berg hinauf. Dortchen fing an: „Was meynst du, Wilhelm , sollte man sich wohl im Himmel kennen?“ O ja! liebes Dortchen ! Christus sagt ja von dem reichen Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abrahams gekannt habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hoͤlle; da- her glaub’ ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit kennen. „O Wilhelm ! wie sehr freue ich mich, wenn ich daran denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kum- mer, in lauter himmlischer Lust und Vergnuͤgen werden bei einander seyn! Mich duͤnkt auch immer, ich koͤnnte im Him- mel ohne dich nicht selig seyn. Ja, lieber Wilhelm ! ge- wiß! gewiß wir werden uns da kennen! Hoͤr’ einmal, ich wuͤnsche das nun so herzlich! Gott hat ja meine Seele und mein Herz gemacht, das so wuͤnschet; er wuͤrde es nicht so gemacht haben, wenn ich unrecht wuͤnschte, und wenn es nicht so waͤre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen Menschen suchen, und dann werd ich selig seyn!“ Wir wollen uns bei einander begraben lassen, so brauchen wir nicht lange zu suchen. „O moͤchten wir doch in einem Augenblick sterben. Aber wo bliebe dann mein lieber Junge?“ Der wuͤrde hier bleiben, und wohl erzogen werden, und end- lich zu uns kommen. „Ich wuͤrde aber doch viele Sorge um ihn haben, ob er auch fromm werden wuͤrde.“ Hoͤre, Dortchen ! du bist schon lange her besonders schwer- muͤthig gewesen. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, du machst mich mit dir betruͤbt. Warum bist du so gern mit mir allein! Meine Schwestern glauben, du habest sie nicht lieb. „Doch liebe ich sie recht von Herzen.“ Du weinst oft, als wenn du mißmuthig waͤrest; das thut mir dann leid. Ich werde auch traurig. Hast du Etwas auf dem Herzen, liebes Kind — das dich quaͤlt? Sag’ es mir. Ich werde dir Ruhe schaffen; es koste auch was es wolle. „O nein! ich bin nicht mißmuthig, liebes Kind! ich bin nicht unzufrieden. Ich habe dich lieb, ich habe unsere El- tern und Schwestern lieb, ja, ich habe alle Menschen lieb. Aber ich will dir sagen, wie es mir ist. Wenn ich im Fruͤh- ling sehe, wie Alles aufgeht, die Blaͤtter an den Baͤumen, die Blumen und die Kraͤuter, so ist mir, als wenn es mich gar nicht anginge; es ist mir dann, als wenn ich in einer Welt waͤre, worein ich nicht gehoͤrte. Sobald ich aber ein gelbes Blatt, eine verwelkte Blume, oder duͤrres Kraut finde, dann werden mir die Thraͤnen los, und mir wird so wohl, so wohl, daß ich es dir nicht sagen kann; und doch bin ich nie freudig dabei. Sonsten machte mich das alles betruͤbt, und ich war nie froͤhlicher, als im Fruͤhling.“ Ich kenne das nicht. So viel aber ist doch wahr, daß es mich recht empfindlich macht. Indem sie so redeten, kamen sie zu den Ruinen des Schlos- ses auf die Seite des Berges, und empfanden die kuͤhle Luft vom Rhein her, und sahen, wie sie mit den langen, duͤrren Grashalmen und Epheublaͤttern an den zerfallenen Mauren spielte und darum pfiff. Hier ist recht mein Ort, sagte Dort- chen , hier wuͤnscht’ ich zu wohnen. Erzaͤhle mir doch noch einmal die Geschichte vom Johann Huͤbner , der hier auf dem Schlosse gewohnt hat. Laß uns aber hier auf den Wall gegen die Mauern uͤber sitzen. Ich duͤrfte um die Welt nicht zwischen den Mauern seyn, wenn du das erzaͤhlest, denn ich graue immer, wenn ich’s hoͤre. Wilhelm erzaͤhlte: Auf diesem Schlosse haben vor Alters Raͤuber gewohnt, die gingen des Nachts in’s Land umher, stahlen den Leuten das Vieh und trieben es dort in den Hof; da war ein großer Stall; und hernach verkauften sie’s weit weg an fremde Leute. Der letzte Raͤuber, der hier gewohnt hat, hieß Johann Huͤbner . Er hatte eiserne Kleider an, und war staͤrker, als alle andere Bursche im ganzen Lande. Er hatte nur Ein Auge, und ei- nen großen krausen Bart und Haare. Am Tage saß er mit seinen Knechten, die alle sehr stark waren, dort an der Ecke, wo du noch das zerbrochene Fensterloch siehst; da hatten sie eine Stube, da saßen sie und soffen Bier. Johann Huͤbner sah mit dem Einen Auge sehr weit durchs ganze Land umher. Wenn er dann einen Reiter sahe, da rief er: Hehloh! — da reitet ein Reiter! ein schoͤnes Roß, Hehloh ! Und dann gaben sie Acht auf den Reiter, nahmen ihm sein Roß und schlugen ihn todt. Da war aber ein Fuͤrst von Dillen- burg, der schwarze Christian genannt, ein sehr starker Mann, der hoͤrte immer von Johann Huͤbners Raͤubereien, denn die Bauern kamen und klagten uͤber ihn. Dieser schwarze Christian hatte einen klugen Knecht, der hieß Hans Flick ; den schickte er uͤber Land, dem Johann Huͤbner aufzupas- sen. Der Fuͤrst aber lag hinten im Giller, den du da siehest, und hielt sich da mit seinen Reitern verborgen; dahin brachten ihm auch die Bauern Brod und Butter und Kaͤse. Hans Flick kannte den Johann Huͤbner nicht, er streifte im Lande herum, und forschte ihn aus. Endlich kam er an eine Schmiede, wo Pferde beschlagen wurden. Da standen viele Wagenraͤder an der Wand, die auch beschlagen werden sollten. Auf dieselbe hatte sich ein Mann mit dem Ruͤcken gelehnt, der hatte nur Ein Auge und ein eisernes Wamms an. Hans Flick ging zu ihm und sagte: Gott gruͤß dich, eiserner Wamms- Mann mit Einem Auge! heißest du nicht Johann Huͤbner von Geisenberg? Der Mann antwortete: Johann Huͤbner vom Geisenberg liegt auf dem Rad. Hans Flick verstand das Rad auf dem Gerichtsplatz, und sagte: War das kuͤrz- lich? Ja, sprach der Mann, erst heut; Hans Flick glaubte doch nicht recht, und blieb bei der Schmiede, und gab auf den Mann Acht, der auf dem Rade lag. Der Mann sagte dem Schmied ins Ohr: Er sollte ihm sein Pferd verkehrt be- schlagen, so daß das vorderste Ende des Hufeisens hinten kaͤme. Der Schmied that es, und Johann Huͤbner ritt weg. Wie er aufsaß, sagte er dem Hans Flick : Gott gruͤß dich, braver Kerl! sage deinem Herrn: Er solle mir Faͤuste schicken, aber keine Leute, die hinter den Ohren lausen. Hans Flick blieb stehen, und sah, wo er uͤber’s Feld in den Wald ritt, lief ihm nach, um zu sehen, wo er bliebe. Er wollte seiner Spur nachgehen, Johann Huͤbner aber ritt hin und her, die Kreuz und Quere, und Hans Flick wurde bald in den Fußstapfen des Pferdes irre; denn wo er hingeritten war, da gingen die Fußstapfen zuruͤck; darum verlor er ihn bald, und wußte nicht, wo er geblieben war. Endlich ertappte ihn doch Hans Flick , wie er mit seinen Knechten dort auf der Heide im Walde lag und geraubt Vieh huͤtete. Es war in der Nacht am Mondschein. Er lief und sagte es dem Fuͤrsten Christian , der ritt in der Stille mit seinen Kerlen unten durch den Wald. Sie hatten den Pferden Moos unter die Fuͤße gebunden, kamen auch nahe zu ihm, sprangen auf ihn zu, und sie kaͤmpften zusammen; Fuͤrst Christian und Johann Huͤbner hieben sich auf die eisernen Huͤte und Waͤmmser, daß es klang; endlich aber blieb Johann Huͤbner todt, und der Fuͤrst zog hier ins Schloß. Den Johann Huͤbner be- gruben sie da unten in die Ecke, und der Fuͤrst legte viel Holz um den großen Thurm, auch untergruben sie ihn. Er fiel am Abend um, wie die Tiefenbacher die Kuͤhe molken; das ganze Land zitterte umher von dem Fall. Da siehst du noch den lan- gen Steinhaufen, den Berg hinab; das ist der Thurm, wie er gefallen ist. Noch jetzt spuckt hier des Nachts zwischen eilf und zwoͤlf Uhr Johann Huͤbner mit dem einzigen Auge. Er sitzt auf einem schwarzen Pferde und reitet um den Wall herum. Der alte Neus e r , unser Nachbar, hat ihn oft ge- sehen. Dortchen zitterte, und fuhr zusammen, wenn ein Vogel aus einem Strauch in die Hoͤhe flog. Ich hoͤrte die Erzaͤhlung noch immer gern, sagte sie; wenn ich hier so sitze, und wenn ich es noch zehnmal hoͤre, so werde ich es doch nicht muͤde. Laßt uns ein wenig um den Wall spatzieren. Sie gingen zusammen um den Wall und Dortchen sang: Es leuchten drei Sterne über ein Königes Haus, Drei Jungfräulein wohnten darin:,: Ihr Vater war weit über Land hinaus Auf ein’m weißen Rösselein. Sternelein blinzet zu Leide! Siehst du das weiße Rößlein noch nicht, Ach Schwesterlein untig im Thal?:,: Ich seh es, mein’s Vaters Rösselein, licht, Er trabet da muthig im Thal. Sternelein blinzet zu Leide! Ich seh es, das Rößlein, mein Vater nicht drauf. Ach Schwesterlein! Vater ist todt!:,: Mein Herzel ist mir es betrübet. Wie ist mir der Himmel so roth! Sternelein blinzet zu Leide! Da trat ein Reiter im blutigen Rock In’s dunkle Kämmerlein klein:,: Ach, blutiger Mann, wir bitten dich hoch, Laß leben uns Jungfräuelein. Sternelein blinzet zu Leide! Ihr könnt nicht leben Jungfräulein zart; Mein Weiblein frisch und schön:,: Erstach mir eu’r Vater im Garten so hart, Ein Bächlein von Blut floß daher. Sternelein blinzet zu Leide! Ich fand ihn, den Mörder, im Walde grün, Ich nahm ihm sein Rößlein ab:,: Und stach ihm das Messer ins Herze; Er fiel drauf den Felsen herab. Sternelein blinzet zu Leide! Ach hätt’st du die liebe Mutter mein Getödtet am hohligen Weg:,: Ach, Schwesterlein lasset uns fröhlich seyn! Wir sterben ja wundergern. Sternelein blinzet zu leide ! Der Mann nahm ein Messer scharf und spitz, Und stieß es den Jungfräulein zart:,: In ihr betrübtes Herzelein. Zur Erde fielen sie hart. Sternelein blinzet zu Leide! Da fließet ein klares Bächelein hell Herunter im grünigen Thal:,: Fließ krumm herum, du Bächelein hell, Bis in die weite See! Sternelein blinzet zu Leide! Da schlafen die Jungfräulein alle drei Bis an den jüngsten Tag:,: Sie schlafen da in kühliger Erd’ Bis an den jüngsten Tag. Sternelein blinzet zu Leide? Nun begann die Sonne unterzugehen, und Dortchen mit ihrem Wilhelm hatten recht die Wonne der Wehmuth gefuͤhlt. Wie sie den Wald hinab gingen, durchdrang ein toͤdtlicher Schauer Dortchens ganzen Leib. Sie zitterte von einer kalten Empfindung, und es war ihr sauer, Stillings Haus zu erreichen. Sie verfiel in ein hitziges Fieber. Wilhelm war Tag und Nacht bei ihr. Nach vierzehn Tagen sagte sie des Nachts um zwoͤlf Uhr zu Wilhelmen : Komm, leg dich zu Bette. Er zog sich aus, und legte sich zu ihr. Sie faßte ihn in ihren rechten Arm, er lag mit seinem Kopf an ihre Brust. Auf Einmal wurde er gewahr, daß das Pochen ihres Pulses nachließ, und dann wieder ein paarmal klopfte. Er erstarrte und rief seelzagend: Mariechen! Mariechen ! Alles wurde wacker und lief herzu. Da lag Wilhelm und empfing Dort- chens letzten Athemzug in seinen Mund. Sie war nun todt!! Wilhelm war betaͤubt, und seine Seele wuͤnschte nicht wie- der zu sich selbst zu kommen; doch endlich stieg er aus dem Bette, weinte und klagte laut. Selbst Vater Stilling und seine Margarethe gingen zu ihr, und hielten ihr die Augen fest zu, und schluchzeten. Es sah betruͤbt aus, wie die bei- den alten Graukoͤpfe naß von Thraͤnen, zaͤrtlich auf den ver- bleichenden Engel blickten. Auch die Maͤdchen weinten laut, und erzaͤhlten sich untereinander alle die letzten Worte und Lieb- kosungen, die ihnen ihre selige Schwaͤgerin gesagt hatte. Wilhelm Stilling hatte mit seinem Dortchen in der stark bevoͤlkerten Landschaft allein gelebt; nun war sie todt und begraben, und er fand daher, daß er jetzt ganz allein in der Welt lebte. Eltern und Geschwister waren um ihn, ohne daß er sie bemerkte. In dem Gesichte seines verwaiseten Kin- des sahe er nur Dortchens Lineamente; und wenn er des Abends schlafen ging, so fand er sein Zimmer still und oͤde. Oft glaubte er den rauschenden Fuß Dortchens zu hoͤren, wie sie ins Bette stieg. Er fuhr dann in einander, Dort - chen zu sehen, und sah sie nicht. Er durchdachte alle Tage, die sie mit einander gelebt hatten, fand in jedem ein Paradies, und verwunderte sich, daß er nicht damalen vor lauter Wonne gejauchzet hatte. Dann nahm er seinen Heinrichen in die Arme, weinte ihn naß, druͤckte ihn an seine Brust, und schlief mit ihm. Dann traͤumte er oft, wie er mit Dortchen im Geisenberger Wald spatziere, wie er so froh sey, daß er sie wie- der habe. Im Traum fuͤrchtete er wacker zu werden, und dennoch erwachte er: seine Thraͤnen wurden dann neu und sein Zustand war trostlos. Vater Stilling sah das alles, und den- noch troͤstete er seinen Wilhelmen niemals. Margarethe und die Maͤdchen versuchten es oft, aber sie machten nur uͤbel aͤrger; denn alles beleidigte Wilhelmen , was nur dahin zielte, ihn aus seiner Trauer zu ziehen. Sie konnten aber gar nicht begreifen, wie es doch moͤglich seyn koͤnnte, daß ihr Vater gar keine Muͤhe anwendete, Wilhelmen aufzumuntern. Sie vereinigten sich daher, ihren Vater dazu zu ermahnen, so- bald Wilhelm einmal im Geisenberger Wald herumirren, und seines Dortchens Gaͤnge und Fußtritte aufsuchen und beweinen wuͤrde. Das that er oft, und daher waͤhrete es nicht lange, bis sie Gelegenheit fanden, ihr Vorhaben auszufuͤhren. Margarethe nahm es auf sich, sobald der Tisch abgetragen und Wilhelm fort war, Vater Stilling aber an seinen Zaͤh- nen stocherte, und gerade vor sich hin auf einen Fleck sah. Ebert , sagte sie, warum laͤssest du den Jungen so herumge- hen? Du nimmst dich seiner gar nicht an, redest ihm auch nicht ein wenig zu, sondern thust, als wenn er dich gar nichts anginge. Der arme Mensch sollte vor lauter Traurigkeit die Auszehrung bekommen. Margareth , antwortete der Alte laͤchelnd, was meinst du wohl, daß ich ihm sagen koͤnnte, ihn zu troͤsten? Sag’ ich ihm, er sollte sich zufrieden geben, sein Dortchen sey im Himmel, sie sey selig: so kommt das eben heraus, als wenn dir Jemand alles, was du auf der Welt am liebsten hast, abnaͤhme und ich kaͤme dann her und sagte: Gib dich zufrieden; deine Sachen sind ja wohl ver- wahrt, uͤber sechzig Jahr bekommst du sie ja wieder, es ist ein braver Mann, der sie hat u. s. w. Wuͤrdest du nicht recht boͤs auf mich werden und sagen: Wovon leb’ ich aber die sech- zig Jahre? Soll ich Dortchens Fehler alle aufzaͤhlen, und suchen, ihn zu uͤberreden, er habe nichts so gar Kostbares ver- loren; so wuͤrde ich ihre Seele beleidigen, ein Luͤgner oder Laͤsterer seyn, weiter aber nichts ausrichten, als Wilhelmen mir auf immer zum Feinde machen; er wuͤrde alle ihre Tu- genden dagegen aufzaͤhlen, und ich wuͤrde in der Rechnung zu kurz kommen. Soll ich ihm ein anderes Dortchen auf- suchen? Das muͤßte just ein Dortchen seyn, und doch wuͤrd’ es ihm vor ihr eckeln. Ach! es gibt kein Dortchen mehr! — Ihm zitterten die Lippen und seine Augen waren naß. Nun wein- ten sie wieder Alle, vornehmlich darum, weil ihr Vater weinte. Bei diesen Umstaͤnden war Wilhelm nicht im Stande, sein Kind zu versorgen, oder sonst etwas Nuͤtzliches zu ver- richten. Margarethe nahm also ihren Enkel in voͤllige Ver- pflegung, fuͤtterte und kleidete ihn auf ihre altfraͤnkische Ma- nier aufs Reinlichste. Die Maͤdchen gaͤngelten ihn, lehrten ihn beten und andaͤchtig Reimchen hersagen, und wenn Vater Stil- ling Samstag Abends aus dem Walde kam und sich bei dem Ofen gesetzt batte, so kam der Kleine gestolpert, suchte auf seine Knieen zu klettern, und nahm jauchzend das auf ihn ge- sparte Butterbrod; mauste auch wohl selbsten im Quersack, um es zu finden; es schmeckte ihm besser, als sonst der aller- beste Reisbrei Kindern zu thun pfleget, wiewohl es allezeit von der Luft hart und vertrocknet war. Dieses vertrocknete Butterbrod verzehrte Heinrich auf seines Großvaters Schooß, wobei ihm derselbe entweder das Lied: Gerberli hieß mein Huͤneli ; oder auch: Reiter zu Pferd da kommen wir her , vorsang, wobei er immer die Bewegung eines tra- benden Pferds mit dem Knie machte. Mit einem Wort: Stilling hatte den Kunstgriff in seiner Kindererziehung, er wußte alle Augenblick eine neue Belustigung fuͤr Hein- richen , die immer so beschaffen waren, daß sie seinem Alter angemessen, das ist, ihm begreiflich waren; doch so, daß im- mer dasjenige, was den Menschen ehrwuͤrdig seyn muß, nicht allein nicht verkleinert, sondern gleichsam im Vorbeigang groß und schoͤn vorgestellt wurde. Dadurch gewann der Knabe eine Liebe zu seinem Großvater, die uͤber alles ging: und da- her hatten denn die Begriffe, die er ihm beibringen wollte, Eingang bei ihm. Was ihm sein Großvater sagte, das glaubte er ohne weiteres Nachdenken. Die stille Wehmuth Wilhelms verwandelte sich nun vor und nach in eine gespraͤchige und vertrauliche Traurigkeit. Nun sprach er wieder mit seinen Leuten; ganze Tage redeten sie von Dortchen , sangen ihre Lieder, besahen ihre Kleider, und dergleichen Dinge mehr. Wilhelm fing an, ein Wonne- gefuͤhl in ihrem Andenken zu empfinden, und einen Frieden zu schmecken, der uͤber alles ging, wenn er sich vorstellte, daß uͤber kurze Jahre auch ihn der Tod wuͤrde abfordern, wo er denn, ohne einiges Ende zu befuͤrchten, ewig in Gesellschaft seines Dortchens die hoͤchste Gluͤckseligkeit, deren der Mensch nur faͤhig ist, wuͤrde zu genießen haben. Dieser große Ge- danke zog eine ganze Lebensaͤnderung nach sich, wozu folgen- der Vorfall noch ein Großes mit beitrug. Etliche Stunden von Tiefenbach ab, war ein großes adeliches Haus, welches durch eine Erbschaft an einen gewissen Grafen gefallen war. Auf diesem Schloß hatte sich eine Gesellschaft frommer Leute eingepachtet. Sie hatten eine Fabrike von halbseidenen Stoffen unter sich angelegt, wovon sie sich naͤhreten. Was nun kluge Koͤpfe waren, die die Moden und den Wohlstand in der Welt kannten, oder mit Einem Wort, wohllebende Leute, die hat- ten gar keinen Geschmack an dieser Einrichtung. Sie wußten, wie schimpflich es in der großen Welt waͤre, sich oͤffentlich zu Jesu Christo zu bekennen, oder Unterredungen zu halten, wo- rinnen man sich ermahnte, Dessen Lehre und Leben nachzufol- gen. Daher waren denn auch diese Leute in der Welt ver- achtet, und hatten keinen Werth; sogar fanden sich Menschen, die wollten gesehen haben, daß sie auf ihrem Schlosse allerhand Graͤuel veruͤbten, wodurch dann die Verachtung noch groͤßer wurde. Mehr konnte man sich aber nicht aͤrgern, als wenn man hoͤrte, daß diese Leute uͤber solche Schmach noch froh wa- ren, und sagten, daß es ihrem Meister eben so ergangen. Un- ter dieser Gesellschaft war Einer, Namens Niclas , ein Mensch von ungemeinem Genie und Naturgaben. Er hatte Theologie studirt, dabei aber die Maͤngel aller Systeme ent- deckt, auch oͤffentlich dagegen geredet und geschrieben; wes- wegen er ins Gefaͤngniß gelegt, hernach aber daraus wieder befreit worden, und mit einem gewissen Herrn lange auf Rei- sen gewesen war. Er hatte sich, um ruhig und frei zu leben, unter diese Leute begeben, und da er von ihrem Handwerk nichts verstand, so trug er ihre verfertigten Zeuge weit umher feil, oder, wie man zu sagen pflegt, er ging damit hausieren. Dieser Niclas war oft in Stillings Hause gewesen; weil er aber wußte, wie fest man daselbst an den Grundsaͤtzen der reformirten Religion und Kirche hinge, so hatte er sich nie herausgelassen; zu dieser Zeit aber, da Wilhelm Stilling anfing, aus dem schwaͤrzesten Kummer sich loszuwenden, fand er Gelegenheit, mit ihm zu reden. Dieses Gespraͤch ist wich- tig, darum will ich es hier beifuͤgen, so wie mir’s Niclas selbsten erzaͤhlt hat. Nachdem sich Niclas gesetzt, fing er an: Wie gehts Euch nun, Meister Stilling , koͤnnt Ihr Euch auch in das Ster- ben Eurer Frau schicken? „Nicht zu wohl! das Herz ist noch so wund, daß es blutet, doch fange ich an, mehreren Trost zu finden.“ So geht’s, Meister Stilling , wenn man mit seinen Be- gierden sich zu sehr an etwas Vergaͤngliches anfesselt. Und wir sind gewiß gluͤcklicher, wenn wir Weiber haben, als haͤtten wir keine , 1 Cor. 7, 29. Wir koͤnnten sie von Herzen lieben; allein wie nuͤtzlich ist es doch auch, wenn man sich uͤbet, auch diesem Vergnuͤgen abzusterben und es zu ver- laͤugnen; gewiß wird uns dann der Verlust nicht so schwer fallen. „Das laͤßt sich recht gut predigen, aber thun, thun, leisten, halten, das ist eine andere Sache!“ Niclas laͤchelte und sagte: Freilich ist es schwer, beson- ders wenn man ein solches Dortchen gehabt hat; doch aber, wenn’s nur Jemand ein Ernst ist, ja, wenn nur Jemand glaubt, daß die Lehre Jesu Christi zur hoͤchsten Gluͤckseligkeit fuͤhret, so wird’s einem Ernst. Alsdann ist es wirklich so schwer nicht, als man sich’s vorstellt. Laßt mich Euch die ganze Sache kuͤrzlich erklaͤren. Jesus Christus hat uns eine Lehre hinter- lassen, die der Natur der menschlichen Seele so angemessen ist, daß sie, wann sie nur befolgt wird, nothwendig vollkommen gluͤcklich machen muß. Wenn wir alle Lehren aller Welt- weisen durchgehen, so finden wir eine Menge Regeln, die so zusammenhangen, wie sie sich ihr Lehrgebaͤude geformt hatten. Bald hinken sie, bald laufen sie, und dann stehen sie still; nur die Lehre Christi, aus den tiefsten Geheimnissen der mensch- lichen Natur herausgezogen, fehlet nie, und beweiset dem , der es recht einsieht, vollkommen, daß ihr Verfasser den Men- schen selber muͤsse gemacht haben, indem er ihn bis auf den ersten Grundtrieb kannte. Der Mensch hat einen unendlichen Hunger nach Vergnuͤgen, — nach Vergnuͤgen, die im Stande sind, ihn zu saͤttigen, die immer was Neues ausliefern, die eine unaufhoͤrliche Quelle neuer Vergnuͤgen sind. In der gan- zen Schoͤpfung aber finden wir keine von solcher Art. So- bald wir ihrer durch den Wechsel der Dinge verlustig werden, so lassen sie eine Qual zuruͤck, wie Ihr zum Exempel bei eurem Dortchen gewahr worden. Dieser goͤttliche Gesetzgeber wußte, daß der Grund aller menschlichen Handlungen die wahre Selbstliebe sey. Weit davon entfernt, diesen Trieb, der viel Boͤses anrichten kann, zu verdraͤngen, so gibt er lau- ter Mittel an die Hand, denselben zu veredeln und zu verfei- nern. Er befiehlt, wir sollen das beweisen, was wir wuͤn- schen, daß sie uns beweisen sollen; thun wir nun das, so sind wir ihrer Liebe gewiß, sie werden uns wohl thun und viel Vergnuͤgen machen, wenn sie anders keine boͤse Menschen sind. Er befiehlt, wir sollen die Feinde lieben; sobald wir nun ei- nem Feinde Liebes und Gutes erzeigen, so wird er gewiß auf das aͤußerste gefoltert, bis er sich mit uns ausgesoͤhnt hat; wir selbsten aber genießen bei der Ausuͤbung dieser Pflichten, die uns nur im Anfang ein wenig Muͤhe kosten, einen innern Frieden, der alle sinnlichen Vergnuͤgen weit uͤbertrifft. Ueber- das ist der Stolz eigentlich die Quelle aller unserer gesellschaft- lichen Laster, alles Unfriedens, Hasses und Stoͤrens der Ruhe. Wider die Wurzel alles Uebels ist nun kein besser Mittel, als obiges Gesetz Jesu Christi. Ich mag mich fuͤr jetzt nicht wei- ter daruͤber erklaͤren; ich wollte Euch nur so viel sagen: daß es wohl der Muͤhe werth sey, Ernst anzuwenden, der Lehre Christi zu folgen, weil sie uns dauerhafte und wesentliche Vergnuͤgen verschafft, die uns im Verlust anderer die Wage halten koͤnnen. „Sagt mir doch dieses alles vor, Freund Niclas ! ich muß es aufschreiben, ich glaube, daß es wahr ist, was Ihr sagt.“ Niclas wiederholte es von Herzen, und immer mit einem Bißchen mehr oder weniger, und Wilhelm schrieb es auf, so wie er’s ihm vorsagte. „Aber, fuhr er fort, wenn wir durch die Nachfolge der Lehre Christi selig werden, wofuͤr ist dann sein Leben und Sterben? Die Prediger sagen ja, wir koͤnnten die Gebote nicht halten, sondern wir wuͤrden nur durch den Glauben an Christum und durch sein Verdienst gerecht und selig.“ Niclas laͤchelte und sagte: Davon laͤßt sich einst einmal weiter reden. Nehmt’s nur eine Weile so, daß wie Er uns durch sein heiliges, reines Leben, da er in der Gnade vor Gott und den Menschen hinwandelte, eine freie Aussicht uͤber unser Leben, uͤber die verworrenen Erdhaͤndel verschafft hat, daß wir durch Einen Blick auf Ihn muthig werden, und hof- fen der Gnade, die uͤber uns waltet, zur groͤßeren Einfalt des Herzens, mit der man uͤberall durchkommt: so hat er auch, sag’ ich, sein Kreuz hin in die Nacht des Todes geflanzt, wo die Sonne untergeht und der Mond sein Licht verliert, daß wir da hinaufblicken, und ein „Gedenke mein!“ in demuͤthi- ger Hoffnung rufen. So werden wir durch sein Verdienst selig, wenn Ihr wollt; denn er hat sich die Freiheit der Seinen vom ewigen Tod scharf und sauer genug verdient, und so werden wir durch den Glauben selig, denn der Glaube ist Seligkeit. Laßt Euch indessen das alles nicht anfechten, und seyd im Kleinen treu, sonst werdet Ihr im Großen nichts ausrichten. Ich will Euch ein paar Blaͤtter hier lassen, die aus dem franzoͤ- sischen des Erzbischofs Fenelon uͤbersetzt sind; sie handeln von der Treue in kleinen Dingen ; auch will ich Euch die Nachfolge Christi des Thomas von Kempis mit- bringen, ihr koͤnnt da weiter Nachricht bekommen. Ich kann nicht eigentlich sagen, ob Wilhelm aus wah- rer Ueberfuͤhrung diese Lehre angenommen, oder ob der Zustand seines Herzens so beschaffen gewesen, daß er ihre Schoͤnheit empfunden, ohne ihre Wahrheit zu untersuchen. Gewiß, wenn ich mit kaltem Blut den Vortrag dieses Niclasens durch- denke, so find’ ich, daß ich nicht alles reimen kann, aber im Ganzen ists doch herrlich und gut. Wilhelm kaufte von Niclasen einige Ellen Stoff, ohne sie noͤthig zu haben, und da nahm der gute Prediger sein Buͤndel auf den Nacken und ging, doch mit dem Versprechen, bald wieder zu kommen; und gewiß wird Niclas den ganzen Giller durch Gott recht herzlich fuͤr die Bekehrung Wilhelms gedankt haben. Dieser nun fand eine tiefe, unwiderstehliche Neigung in seiner Seele, die ganze Welt daran zu geben und mit seinem Kinde oben im Hause auf einer Kammer allein zu wohnen. Seine Schwester Elisabeth wurde an einen Lein- weber Simon an seine Stelle ins Haus verheirathet, er aber bezog seine Kammer, schaffte sich einige Buͤcher an, die ihm von Niclas vorgeschlagen wurden, und so verlebte er daselbst mit seinem Knaben viele Jahre. Stilling’s Schriften. I. Bd. 5 Die ganze Beschaͤftigung dieses Mannes ging waͤhrend die- ser Zeit dahin, mit seinem Schneiderhandwerke seine Beduͤrf- nisse zu erwerben (denn er gab fuͤr sich und sein Kind woͤchent- lich ein ertraͤgliches Kostgeld ab an seine Eltern) und dann alle Neigungen seines Herzens, die nicht auf die Ewigkeit ab- zielten, zu daͤmpfen: endlich aber auch seinen Sohn in eben den Grundsaͤtzen zu erziehen, die er sich als wahr und festge- gruͤndet eingebildet hatte. Des Morgens um vier Uhr stand er auf und fing an zu arbeiten: um sieben weckte er seinen Heinrichen , und beim ersten Erwachen erinnerte er ihn freundlich an die Guͤtigkeit des Herrn, der ihn die Nacht durch von seinen Engeln bewachen lassen. Danke ihm dafuͤr, mein Kind! sagte Wilhelm , indem er den Knaben ankleidete. War dieses geschehen, so mußte er sich in kaltem Wasser waschen, und dann nahm ihn Wilhelm bei sich, schloß die Kammer zu, und fiel mit ihm vor dem Bette auf die Kniee und betete mit der groͤßten Innbrunst des Geistes zu Gott, wobei ihm die Thraͤnen oft haͤufig zur Erde floßen. Dann bekam der Junge sein Fruͤhstuͤck, welches er mit einem Anstand und Ord- nung verzehren mußte, als wenn er in Gegenwart eines Prin- zen gespeiset haͤtte. Nun mußte er ein kleines Stuͤck im Ca- techismus lesen, und vor und nach auswendig lernen; auch war ihm erlaubt, alte, anmuthige und einem Kind begreifliche Geschichten, Theils geistliche, Theils weltliche, zu lesen, als da war: der Kaiser Oktavianus mit seinem Weib und Soͤhnen; die Historie von den vier Haymons-Kindern; die schoͤne Me- lusine und dergleichen. Wilhelm erlaubte niemalen dem Kna- ben mit andern Kindern zu spielen, sondern er hielt ihn so ein- gezogen, daß er im siebenten Jahre seines Alters noch keine Nachbars-Kinder, wohl aber eine ganze Reihe schoͤner Buͤcher kannte. Daher kam es denn, daß seine ganze Seele anfing, sich mit Idealen zu belustigen; seine Einbildungskraft ward erhoͤht, weil sie keine andere Gegenstaͤnde bekam, als idealische Personen und Handlungen. Die Helden alter Romanzen, de- ren Tugenden uͤbertrieben geschildert wurden, setzten sich un- vermerkt, als so viel nachahmungswuͤrdige Gegenstaͤnde, in sein Gemuͤth feste, und die Laster wurden ihm zum groͤßesten Abscheu; doch aber, weil er bestaͤndig von Gott und frommen Menschen reden hoͤrte, so wurde er unvermerkt in einen Gesichts- punkt gestellt, aus dem er Alles beobachtete. Das Erste, wornach er fragte, wenn er von Jemand etwas las oder reden hoͤrte, bezog sich auf seine Gesinnung gegen Gott und Chri- stum . Daher, als er einmal Gottfried Arnolds Leben der Altvaͤter bekam, konnte er gar nicht mehr aufhoͤren zu le- sen, und dieses Buch, nebst Reizens Historie der Wiederge- bornen, blieb sein bestes Vergnuͤgen in der Welt, bis ins zehnte Jahr seines Alters; aber alle diese Personen, deren Lebens- beschreibungen er las, blieben so fest in seiner Einbildungskraft idealisirt, daß er sie nie in seinem Leben vergessen hat. Am Nachmittag, von zwei bis drei Uhr, oder auch etwas laͤnger, ließ ihn Wilhelm in den Baumhof und Geisenber- ger Wald spatzieren; er hatte ihm daselbst einen Distrikt an- gewiesen, den er sich zu seinen Belustigungen zueignen, aber uͤber welchen er nicht weiter ohne Gesellschaft seines Vaters hinausgehen duͤrfte. Diese Gegend war nicht groͤßer, als Wil- helm aus seinem Fenster uͤbersehen konnte, damit er ihn nie aus den Augen verlieren moͤchte. War denn die gesetzte Zeit um, oder wenn sich auch ein Nachbars-Kind Heinrichen von weitem naͤherte, so pfiff Wilhelm , und auf dieses Zeichen war er den Augenblick wieder bei seinem Vater. Diese Gegend, Stillings Baumhof und ein Strich Wal- des, der an den Hof graͤnzte, wurde von unserem jungen Kna- ben also taͤglich bei gutem Wetter besucht, und zu lauter idea- lischen Landschaften gemacht. Da war eine egyptische Wuͤste, in welcher er einen Strauch zur Hoͤhle umbildete, in welche er sich verbarg und den heiligen Antonius vorstellte, betete auch wohl in diesem Enthusiasmus recht herzlich. In einer andern Gegend war der Brunu der Melusine; dort war die Tuͤrkei, wo der Sultan und seine Tochter, die schoͤne Marcebilla, wohn- ten; da war auf einem Felsen das Schloß Montalban, in welchem Reinold wohnte u. s. w. Nach diesen Oertern wall- fahrtete er taͤglich, kein Mensch kann sich die Wonne einbil- den, die der Knabe daselbst genoß; sein Geist floß uͤber, er stammelte Reimen und hatte dichterische Einfaͤlle. So war die 5 * Erziehung dieses Kindes beschaffen bis in’s zehnte Jahr. Eines gehoͤrt noch hierzu. Wilhelm war sehr scharf; die mindeste Uebertretung seiner Befehle bestrafte er aufs schaͤrfste mit der Ruthe. Daher kam zu obigen Grundlagen eine gewisse Schuͤch- ternheit in des jungen Stillings Seele, und aus Furcht vor den Zuͤchtigungen suchte er seine Fehler zu verhehlen und zu verdecken, so daß er sich nach und nach zum Luͤgen verleiten ließ; eine Neigung, die ihm zum Ueberwinden bis in sein zwanzigstes Jahr viele Muͤhe gemacht hat. Wilhelms Ab- sicht war, seinen Sohn beugsam und gehorsam zu erziehen, um ihn zu Haltung goͤttlicher und menschlicher Gesetze faͤhig zu machen: und eine gewissenhafte Strenge fuͤhre, daͤuchte ihn, den naͤchsten Weg zum Zwecke: und da konnte er gar nicht begreifen, woher es doch kaͤme, daß seine Seligkeit, die er an den schoͤnen Eigenschaften seines Jungen genoß, durch das Laster der Luͤgen, auf welchem er ihn oft ertappte, so haͤßlich versalzet wuͤrde. Er verdoppelte seine Strenge, besonders wo er eine Luͤge gewahr wurde; allein er richtete dadurch weiter nichts aus, als daß Heinrich alle erdenkliche Kunstgriffe anwendete, seine Luͤgen wahrscheinlicher zu machen; und so wurde denn doch der gute Wilhelm betrogen. Sobald merkte der Knabe nicht, daß es ihm gelungen, so freute er sich und dankte noch wohl Gott, daß er ein Mittel gefunden, einem Strafgericht zu entgehen. Doch muß ich auch dieses zu seiner Ehrenrettung sagen: er log nicht, als nur dann, wann er Schlaͤge damit abwenden konnte. Der alte Stilling sah alles dieses ganz ruhig an. Die strenge Lebensart seines Sohnes beurtheilte er nie; laͤchelte aber wohl zuweilen und schuͤttelte die grauen Locken, wenn er sah, wie Wilhelm nach der Ruthe griff, weil der Knabe Etwas gegessen oder gethan hatte, das gegen seinen Befehl war. Dann sagte er auch wohl in Abwesenheit des Kindes: Wilhelm! wer nicht will, daß seine Gebote haͤu- fig uͤbertreten werden, der muß nicht viel befeh- len. Alle Menschen lieben die Freiheit . — Ja, sagte Wilhelm dann, so wird mir aber der Junge eigenwil- lig. Verbeut du ihm , erwiederte der Alte, seine Feh- ler, wann er sie eben begehen will, und unter- richte ihn warum; hast du es aber vorhin verbo- ten, so vergißt der Knabe die vielen Gebote und Verbote, fehlt immer, du aber mußt dein Wort handhaben, und so gibts immer Schlaͤge. Wil- helm erkannte dieses, und ließ vor und nach die mehresten Regeln in Vergessenheit kommen; er regierte nun nicht mehr so sehr nach Gesetzen, sondern ganz monarchisch; er gab seinen Befehl immer, wenn’s noͤthig war, richtete ihn nach den Um- staͤnden ein, und nun wurde der Knabe nicht mehr so viel ge- zuͤchtigt, seine ganze Lebensart wurde in etwas aufgeweckter, freier und edler. Heinrich Stilling wurde also ungewoͤhnlich erzogen, ganz ohne Umgang mit andern Menschen; er wußte daher nichts von der Welt, nichts von Lastern, er kannte gar keine Falschheit und Ausgelassenheit; beten, lesen und schreiben war seine Beschaͤftigung; sein Gemuͤth war also mit wenigen Din- gen angefuͤllt: aber alles, was darin war, war so lebhaft, so deutlich, so verfeinert und veredelt, daß seine Ausdruͤcke, Reden und Handlungen sich nicht beschreiben lassen. Die ganze Familie erstaunte uͤber den Knaben, und der alte Stil- ling sagte oft: der Junge entfleugtuns, die Fe- dern wachsen ihm groͤßer, als je Einer in unserer Freundschaft gewesen; wir muͤssen beten, daß ihn Gott mit seinem guten Geist regieren wolle . Alle Nachbarn, die wohl in Stillings Hause kamen, und den Knaben sahen, verwunderten sich; denn sie verstanden nichts von allem, was er sagte, ob er gleich gut deutsch redete. Unter andern kam einmal Nachbar Staͤhler hin, weilen er von Wilhelm ein Camisol gemacht haben wollte; doch war wohl seine Hauptabsicht dabei, unter der Hand sein Marie- chen zu versorgen; denn Stilling war im Dorf angesehen, und Wilhelm war fromm und fleißig. Der junge Hein- rich mochte acht Jahr alt seyn; er saß in einem Stuhl und las in einem Buch, sah seiner Gewohnheit nach ganz ernst- haft, und ich glaube nicht, daß er zu der Zeit noch in seinem Leben stark gelacht hatte. Staͤhler sah ihn an und sagte: Heinrich , was machst du da? „Ich lese.“ Kannst du denn schon lesen? Heinrich sah ihn an, verwunderte sich und sprach: das ist ja eine dumme Frage, ich bin ja ein Mensch! — Nun las er stark, mit Leichtigkeit, gehoͤrigem Nachdruck und Unter- scheidung. Staͤhler entsetzte sich und sagte: Hol’ mich der T..! so was hab’ ich mein Lebtag nicht gesehen. Bei diesem Fluch sprang Heinrich auf, zitterte und sah schuͤchtern um sich; wie er endlich sah, daß der Teufel ausblieb, rief er: Gott, wie gnaͤdig bist du! — trat darauf vor Staͤhlern und sagte: Mann! habt ihr den Satan gesehen? Nein, ant- wortete Staͤhler . So ruft ihn nicht mehr, versetzte Hein- rich , und ging in eine andere Kammer. Das Geruͤcht von diesem Knaben erscholl weit umher; alle Menschen redeten von ihm und verwunderten sich. Selbst der Pastor Stollbein wurde neugierig, ihn zu sehen. Nun war Heinrich noch nie in der Kirche gewesen, hatte daher auch noch nie einen Mann mit einer großen, weißen Peruͤcke und feinem schwarzen Kleide gesehen. Der Pastor kam nach Tiefenbach hin, und weil er vielleicht ehe in ein anderes Haus gegangen war, so wurde seine Ankunft in Stillings Hause vorher ruchbar, wie auch, warum er gekommen war. Wil- helm unterrichtete seinen Heinrichen also, wie er sich be- tragen muͤßte, wenn der Pastor kaͤme. Er kam dann endlich, und mit ihm der alte Stilling. Heinrich stand an der Wand gerade auf, wie ein Soldat, der das Gewehr praͤsentirt; in seinen gefaltenen Haͤnden hielt er seine aus blauen und grauen tuchenen Lappen zusammengesetzte Muͤtze, und sah dem Pastor immer starr in die Augen. Nachdem sich Herr Stollbein gesetzt, und ein und ander Wort mit Wilhelmen geredet hatte, drehte er sich gegen die Wand, und sagte: Guten Mor- gen, Heinrich ! — „Man sagt guten Morgen, sobald man in die Stube kommt.“ Stollbein merkte, mit wem er’s zu thun hatte, daher drehte er sich mit seinem Stuhl neben ihn und fuhr fort: Kannst du auch den Catechismus? „Noch nicht all.“ Wie, noch nicht all? das ist ja das erste, was die Kinder lernen muͤssen. „Nein, Pastor, das ist nicht das erste; Kinder muͤssen erst beten lernen, daß ihnen Gott Verstand geben moͤge, den Ca- techismus zu begreifen.“ Herr Stollbein war schon im Ernst aͤrgerlich, und eine scharfe Strafpredigt an Wilhelmen war schon ausstudirt; doch diese Antwort machte ihn stutzig. Wie betest du denn? fragte er ferner. „Ich bete: Lieber Gott! gib mir doch Verstand, daß ich begreifen kann, was ich lese.“ Das ist recht, mein Sohn, so bete fort! „Ihr seyd nicht mein Vater.“ Ich bin dein geistlicher Vater. „Nein, Gott ist mein geistlicher Vater; ihr seyd ein Mensch, ein Mensch kann kein Geist seyn.“ Wie, hast du denn keinen Geist, keine Seele? „Ja freilich! wie koͤnnt Ihr so einfaͤltig fragen? Aber ich kenne meinen Vater.“ Kennst du denn auch Gott, deinen geistlichen Vater? Heinrich laͤchelte. „Sollte ein Mensch Gott nicht kennen?“ Du kannst ihn ja doch nicht sehen. Heinrich schwieg, und holte seine wohlgebrauchte Bibel, und wies dem Pastor den Spruch Roͤm. 1, V. 19 und 20. Nun hatte Stollbein genug. Er hieß den Knaben hinaus gehen, und sagte zu dem Vater: Euer Kind wird alle seine Voreltern uͤbertreffen; fahret fort, ihn wohl unter der Ruthe zu halten; der Junge wird ein großer Mann in der Welt. Wilhelm hatte noch immer seine Wunde uͤber Dortchens Tod; er seufzte noch bestaͤndig um sie. Nunmehr nahm er auch zuweilen seinen Knaben mit nach dem alten Schloß, zeigte ihm seiner verklaͤrten Mutter Tritte und Schritte, alles, was sie hier und da geredet und gethan hatte. Heinrich verliebte sich so in seine Mutter , daß er alles , was er von ihr hoͤrte, in sein Eigenes verwandelte, welches Wilhelmen so wohl gefiel, daß er seine Freude nicht bergen konnte. Einstmals an einem schoͤnen Herbstabend gingen unsere bei- den Liebhaber des seligen Dortchens in den Ruinen des Schlosses herum, und suchten Schneckenhaͤuschen, die daselbst sehr haͤufig waren. Dortchen hatte daran ihre groͤßte Be- lustigung gehabt. Heinrich fand neben einer Mauer unter einem Stein ein Zulegmesserchen mit gelben Buckeln und gruͤ- nen Stiel. Es war noch gar nicht rostig, theils, weil es am Trocknen lag, theils, weil es so bedeckt gelegen, daß es nicht darauf regnen konnte. Heinrich war froh uͤber diesen Fund, lief zu seinem Vater und zeigte es ihm. Wilhelm besah es, wurde blaß, fing an zu schluchzen und zu heulen. Hein- rich erschrack, ihm standen auch schon die Thraͤnen in den Augen, ohne zu wissen warum; auch durfte er nicht fragen. Er drehte das Messer herum, und sah, daß auf der Klinge mit Etzwasser geschrieben stand: Johanna Dorothea Ca- tharina Stilling . Er schrie laut, und lag da, wie ein Todter. Wilhelm hoͤrte sowohl das Lesen des Namens, als auch den lauten Schrei; er setzte sich neben den Knaben, schuͤttelte an ihm, und suchte ihn wieder zurechte zu bringen. Indem er damit beschaͤftiget war, ward ihm wohl in seiner Seele; er fand sich getroͤstet, er nahm den Knaben in seine Arme, druͤckte ihn an seine Brust, und empfand ein Vergnuͤ- gen, das uͤber Alles ging. Er nahete sich zu Gott, wie zu seinem Freund, und meinte bis in die Herrlichkeit des Him- mels aufgezogen zu seyn und Dortchen unter den Engeln zu sehen. Indeß kam Heinrich wieder zu sich, und fand sich in seines Vaters Armen. Er wußte sich nicht zu besinnen, daß ihn sein Vater jemals in den Armen gehabt. Seine ganze Seele wurde durchdrungen, Thraͤnen der staͤrksten Empfindung floßen uͤber seine schneeweißen vollen Wangen herab. Vater, habt ihr mich lieb? — fragte er. Niemals hatte Wilhelm mit seinem Kinde weder gescherzt noch getaͤndelt; daher wußte der Knabe von keinem andern Vater, als einem ernsthaften und strengen Mann, den er fuͤrchten und verehren mußte. Wilhelms Kopf sank Heinrichen auf die Brust; er sagte: Ja! und weinte laut. Heinrich war außer sich, und eben im Begriff, wieder ohnmaͤchtig zu werden; doch, der Vater stand ploͤtzlich auf und stellte ihn auf die Fuͤße. Kaum konnt’ er stehen. Komm, sagte Wilhelm , wir wollen ein wenig herumgehen. Sie suchten das Messer, konnten es aber gar nicht wieder finden; es war ganz gewiß zwischen den Steinen tief hinab gefallen. Sie suchten lange, aber sie fan- den’s nicht. Niemand war trauriger als Heinrich ; doch der Vater fuͤhrte ihn weg und redete Folgendes mit ihm: Mein Sohn! du bist nun bald neun Jahr alt. Ich hab’ dich gelehrt und unterrichtet so gut ich gekonnt habe; du hast nun bald so viel Verstand, daß ich vernuͤnftig mit dir reden kann. Du hast noch Vieles in der Welt vor dir, und ich sel- ber bin noch jung. Wir werden unser Leben auf unserer Kam- mer nicht beschließen koͤnnen; wir muͤssen wieder mit Men- schen umgehen; ich will wiederum Schule halten, und du sollst mit mir gehen und ferner lernen. Befleißige dich auf alles, wozu du Lust hast, es soll dir an Buͤchern nicht fehlen; doch aber, damit du etwas Gewisses habest, womit du dein Brod erwerben koͤnnest, so mußt du mein Handwerk lernen. Wird dich denn der liebe Gott in einen bessern Beruf setzen, so hast du Ursach, ihm zu danken; Niemand wird dich verachten, daß du mein Sohn bist, und wenn du auch ein Fuͤrst wuͤrdest. Hein- rich empfand Wonne uͤber seines Vaters Vertraulichkeit; seine Seele wurde unendlich erweitert; er fuͤhlte eine so sanfte, un- bezwingbare Freiheit, dergleichen sich nicht vorstellen laͤßt; mit Einem Wort, er empfand jetzt zum Erstenmal, daß er ein Mensch war! Er sah seinen Vater an, und sagte: Ich will alles thun, was Ihr haben wollt! Wilhelm laͤchelte ihn an, und fuhr fort: Du wirst gluͤcklich seyn; nur mußt du nie verges- sen, mit Gott vertraulich umzugehen, der wird dich alsdann in deinen Schutz nehmen und dich vor allem Boͤsen bewahren. Unter diesen Gespraͤchen kamen sie wieder nach Haus und auf ihre Kammer. Von dieser Zeit an schien Wilhelm ganz veraͤndert; sein Herz war wieder geoͤffnet worden, und seine frommen Gesinnungen hinderten ihn nicht, unter die Leute zu gehen. Alle Menschen, auch die wildesten, empfanden Ehr- furcht in seiner Gegenwart; denn sein ganzer Mensch hatte in der Einsamkeit einen unwiderstehlichen sanften Ernst an- genommen, aus dem eine reine, einfaͤltige Seele hervorblickte. Oefters nahm er auch seinen Sohn mit, zu dem er eine ganze neue, warme Liebe spuͤrte. Beim Finden des Messers war er Dortchens ganzen Charakter an dem Knaben gewahr wor- den; es war sein und Dortchens Sohn; und uͤber diesen Aufschluß stuͤrzte alle seine Neigung auf Heinrichen , und er fand Dortchen in ihm wieder. Nun fuͤhrte Wilhelm seinen Heinrichen zum Ersten- mal in die Kirche. Er erstaunte uͤber alles, was er sah; so- bald aber die Orgel anfing zu gehen, da wurde seine Empfin- dung zu maͤchtig, er bekam gelinde Zuckungen; eine jede sanfte Harmonie zerschmolz ihn, die Molltoͤne machten ihn in Thraͤ- nen fließen, und das rasche Allegro machte ihn aufspringen. Wie erbaͤrmlich auch sonst der gute Organist sein Handwerk verstand, so war es doch Wilhelmen unmoͤglich, seinen Sohn davon abzubringen, nicht nach geendigter Predigt den Orga- nisten und seine Orgel zu sehen. Er sah sie, und der Virtuose spielte ihm zu Gefallen ein Andante, welches vielleicht das erstemal in der Florenburger Kirche war, daß dieses einem Bauernjungen zu Gefallen geschah. Nun sah auch Heinrich zum Erstenmal seiner Mutter Grab. Er wuͤnschte nur, ihre noch uͤbrigen Gebeine zu sehen; da das aber nicht geschehen konnte, so setzte er sich auf den Grabeshuͤgel, pfluͤckte einige Herbstblumen und Kraͤuter auf demselben, steckte sie vor sich in seine Knopfloͤcher und ging weg. Er empfand hier nicht so viel, als bei Findung des Mes- sers: doch hatte er sich, nebst seinem Vater, die Augen roth geweint. Jener Zufall war ploͤtzlich und unerwartet, dieser aber vorbedaͤchtlich uͤberlegt; auch war die Empfindung der Kirchenmusik noch allzu stark in seinem Herzen. Der alte Stilling bemerkte nun auch die Beruhigung seines Wilhelms . Mit innigem Vergnuͤgen sahe er alle das Gute und Liebe an ihm und seinem Kinde; er wurde da- durch noch mehr aufgeheitert und fast verjuͤngt. Als er einmal im Fruͤhling auf einen Montag Morgen nach dem Walde zu seiner Handthierung ging, ersuchte er Wilhel- men , ihm seinen Enkel mitzugeben. Dieser gab es zu, und Heinrich freute sich zum hoͤchsten. Wie sie den Giller hin- auf gingen, sagte der Alte: Heinrich , erzaͤhl’ uns einmal die Historie von der schoͤnen Melusine; ich hoͤre so gern alte Historien: so wird uns die Zeit nicht lang. Heinrich er- zaͤhlte sie ganz umstaͤndlich mit der groͤßten Freude. Vater Stilling stellte sich, als wenn er uͤber die Geschichte ganz erstaunt waͤre, und als wenn er sie in allen Umstaͤnden wahr zu seyn glaubte. Dieß mußte aber auch geschehen, wenn man Heinrichen nicht aͤrgern wollte; denn er glaubte alle diese Historien so fest, als die Bibel. Der Ort, wo Stilling Kohlen brannte, war drei Stunden von Tiefenbach; man ging bestaͤndig bis dahin im Wald. Heinrich , der alles ideali- sirte, fand auf diesem ganzen Wege lauter Paradies; alles war ihm schoͤn und ohne Fehler. Eine recht duͤstere Maibuche, die er in einiger Entfernung vor sich sah, mit ihrem schoͤnen gruͤnen Licht und Schatten, machte einen Eindruck auf ihn; alsofort war die ganze Gegend ein Ideal und himmlisch schoͤn in seinen Augen. Sie gelangten dann endlich auf einen sehr hohen Berg zum Arbeitsplatz. Die mit Rasen bedeckte Koͤh- lershuͤtte fiel dem jungen Stilling sogleich in die Augen; er kroch hinein, sah das Lager von Moos und die Feuerstaͤtte zwischen zween rauhen Steinen, freute sich und jauchzte. Waͤh- rend der Zeit, daß der Großvater arbeitete, ging er im Wald herum, und betrachtete alle Schoͤnheiten der Gegend und der Natur; alles war ihm neu und unaussprechlich reizend. An einem Abend, wie sie des andern Tages wieder nach Hause wollten, saßen sie vor der Huͤtte, da eben die Sonne unterge- gangen war. Großvater! sagte Heinrich , wann ich in den Buͤchern lese, daß die Helden so weit zuruͤck haben rechnen koͤnnen, wer ihre Voreltern gewesen, so wuͤnsch’ ich, daß ich auch wuͤßte, wer meine Voreltern gewesen sind. Wer weiß, ob wir nicht auch von einem Fuͤrsten oder großen Herrn her- kommen? Meiner Mutter Vorfahren sind alle Prediger gewe- sen, aber die Eurigen weiß ich noch nicht; ich will sie mir Alle aufschreiben, wenn ihr sie mir sagt. Vater Stilling laͤchelte, und antwortete: wir kommen wohl schwerlich von ei- nem Fuͤrsten her; das ist mir aber auch ganz einerlei: du mußt das auch nicht wuͤnschen. Deine Vorfahren sind alle ehr- bare, fromme Leute gewesen; es gibt wenig Fuͤrsten, die das sagen koͤnnen. Laß’ dir das die groͤßte Ehre in der Welt seyn, daß dein Großvater, Urgroßvater und ihre Vaͤter alle Maͤnner waren, die zwar außer ihrem Hause nichts zu befehlen hatten, doch aber von allen Menschen geliebt und geehrt wurden. Kei- ner von ihnen hat sich auf unehrliche Art verheirathet, oder sich mit einer Frauensperson vergangen; keiner hat jemals be- gehrt, das nicht sein war; und Alle sind großmuͤthig gestorben in ihrem hoͤchsten Alter. Heinrich freute sich und sagte: ich werde also alle meine Voreltern im Himmel finden? Ja, erwiederte der Großvater, das wirst du; unser Geschlecht wird daselbst gruͤnen und bluͤhen. Heinrich ! erinnere dich an die- sen Abend, so lang du lebst. In jener Welt sind wir von gro- ßem Adel; verlier’ diesen Vorzug nicht! Unser Segen wird auf dir ruhen, so lange du fromm bist; wirst du gottlos wer- den und deine Eltern verachten, so werden wir dich in der Ewigkeit nicht kennen. Heinrich fing an zu weinen, und sagte: seyd dafuͤr nicht bange, Großvater! ich werde fromm und froh seyn, daß ich Stilling heiße. Erzaͤhlet mir aber was ihr von unsern Voreltern wisset. Vater Stilling er- zaͤhlte: Meines Urgroßvaters Vater hieß Ulli Stilling . Er war ohngefaͤhr Anno 1500 geboren. Ich weiß aus alten Briefen, daß er nach Tiefenbach gekommen, wo er im Jahr 1530 Hans Staͤhlers Tochter geheirathet. Er ist aus der Schweiz hergekommen, und mit Zwinglius bekannt gewesen. Er war ein sehr frommer Mann, auch so stark, daß er einsmalen fuͤnf Raͤubern seine vier Kuͤhe wieder abgenom- men, die sie ihm gestohlen hatten. Anno 1536 bekam er ei- nen Sohn, der hieß Reinhard Stilling ; dieser war mein Urgroßvater. Er war ein stiller, eingezogener Mann, der Je- dermann Gutes that; er heirathete im 50sten Jahr eine ganz junge Frau, mit der er viele Kinder hatte; in seinem 60sten Jahr gebar ihm seine Frau einen Sohn, den Heinrich Stil- ling , der mein Großvater gewesen. Er war 1596 geboren, er wurde 101 Jahr alt, daher hab’ ich ihn noch eben gekannt. Dieser Heinrich war ein sehr lebhafter Mann, kaufte sich in seiner Jugend ein Pferd, wurde ein Fuhrmann und fuhr nach Braunschweig, Brabant und Sachsen. Er war ein Schirr- meister, hatte gemeiniglich 20 bis 30 Fuhrleute bei sich. Zu der Zeit waren die Raͤubereien noch so sehr im Gange, und noch wenig Wirthshaͤuser an den Straßen, daher nahmen die Fuhrleute Proviant mit sich. Des Abends stellten sie die Kar- ren in einen Kreis herum, so daß einer an den andern stieß; die Pferde stellten sie mitten ein, und mein Großvater mit den Fuhrleuten war bei ihnen. Wann sie dann gefuͤttert hat- ten, so rief er: Zum Gebet, ihr Nachbarn! dann kamen sie alle, und Heinrich Stilling betete sehr ernstlich zu Gott. Einer von ihnen hielt die Wache, und die andern krochen un- ter ihre Karren an’s Trockne, und schliefen. Sie fuͤhrten aber immer scharf geladen Gewehr und gute Saͤbel bei sich. Nun trug es sich einmal zu, daß mein Großvater selbst die Wache hatte ; sie lagen im Hessenland auf einer Wiese, ihrer wa- ren sechs und zwanzig starke Maͤnner. Gegen eilf Uhr des Abends hoͤrte er einige Pferde auf der Wiese reiten; er weckte in der Stille alle Fuhrleute und stand hinter seinem Karren. Heinrich Stilling aber lag auf seinen Knieen, und betete bei sich selbst ernstlich, Endlich stieg er auf seinen Karren, und sah umher. Es war genug Licht, so, daß der Mond eben untergehen wollte. Da sah er ungefaͤhr zwanzig Maͤnner zu Pferd, wie sie abstiegen und leise auf die Karren losgingen. Er kroch wieder herab, ging unter den Karren, damit sie ihn nicht saͤhen, gab aber wohl Acht, was sie anfingen. Die Raͤuber gingen rund um die Wagenburg herum, und als sie keinen Eingang fanden, fingen sie an, an einem Karren zu ziehen. Stilling , sobald er das sah, rief: im Namen Gottes schießt! Ein jeder von den Fuhrleuten hatte den Hah- nen aufgezogen und schoßen unter den Karren heraus, so daß der Raͤuber sofort Sechse niedersanken; die andern Raͤuber erschracken, zogen sich ein wenig zuruͤck und redeten zusammen. Die Fuhrleute luden wieder ihre Flinten: nun sagte Stil- ling : gebt Acht, wenn sie wieder naͤher kommen, dann schießt! sie kamen aber nicht, sondern ritten fort. Die Fuhrleute spannten mit Tagesanbruch wieder an, und fuhren weiter; ein Jeder trug seine geladene Flinte und seinen Degen, denn sie waren nicht sicher. Des Vormittags sahen sie aus einem Wald einige Reiter wieder auf sie zureiten. Stilling fuhr zufoͤrderst, und die Andern alle hinter ihm her. Dann rief er: Ein Je- der hinter seinen Karren, und den Hahnen gespannt! Die Reiter hielten stille; der vornehmste unter ihnen ritt allein auf sie zu, ohne Gewehr, und rief: Schirrmeister, hervor! Mein Großvater trat hervor, die Flinte in der Hand und den De- gen unterem Arm. Wir kommen als Freunde! rief der Rei- ter. Heinrich traute nicht und stand da. Der Reiter stieg ab, bot ihm die Hand und fragte: Seyd ihr verwichene Nacht von Raͤubern angegriffen worden? Ja, antwortete mein Groß- vater, nicht weit von Hirschfeld auf einer Wiese. Recht so, antwortete der Reiter, wir haben sie verfolgt, und kamen eben bei der Wiese an, wie sie fortjagten und ihr Einigen das Licht ausgeblasen hattet; ihr seyd wackere Leute. Stilling fragte, wer er waͤre? der Reiter antwortete: Ich bin der Graf von Wittgenstein , ich will euch zehn Reiter zum Geleit mit- geben, denn ich habe noch Mannschaft genug dort hinten im Wald bei mir. Stilling nahm’s an, und accordirte mit dem Grafen, wie viel er ihm jaͤhrlich geben sollte, wenn er ihn immer durchs Hessische geleitete. Der Graf gelobt’s ihm, und die Fuhrleute fuhren nach Hause. Dieser mein Großvater hatte im zwei und zwanzigsten Jahr geheirathet, und im 24sten, nehmlich 1620, bekam er einen Sohn, Hans Stilling , dieser war mein Vater. Er lebte ruhig, wartete seines Acker- baues und diente Gott. Er hatte den ganzen dreißigjaͤhrigen Krieg erlebt, und war oͤfters in die aͤußerste Armuth gerathen. Er hat zehn Kinder erzeugt, unter welchen ich der juͤngste bin. Ich wurde 1680 geboren, eben da mein Vater 60 Jahr alt war. Ich habe, Gott sey Dank! Ruhe genossen und mein Gut wiederum von allen Schulden befreiet. Mein Vater starb 1724, im 104ten Jahr seines Alters: ich hab’ ihn wie ein Kind verpflegen muͤssen, und liegt zu Florenburg bei seinen Vor- eltern begraben. Heinrich Stilling hatte mit groͤßter Aufmerksamkeit zu- gehoͤret. Nun sprach er: Gott sey Dank, daß ich solche El- tern gehabt habe! Ich will sie Alle nett aufschreiben, damit ich’s nicht vergesse. Die Ritter nennen ihre Voreltern Ahnen, ich will sie auch meine Ahnen heißen. Der Großvater laͤchelte und schwieg. Des andern Tages gingen sie wieder nach Hause, und Hein- rich schrieb alle die Erzaͤhlungen in ein altes Schreibbuch, das er umkehrte, und die hinten weiß gebliebenen Blaͤtter mit seinen Ahnen vollpfropfte. Mir werden die Thraͤnen los, da ich dieses schreibe. Wo seyd ihr doch hingeflohen, ihr sel’ge Stunden! Warum bleibt nur euer Andenken dem Menschen uͤbrig! Welche Freude uͤber- irdischer Fuͤlle schmeckte der gefuͤhlige Geist der Jugend! Es gibt keine Niedrigkeit des Standes, wenn die Seele geadelt ist. Ihr, meine Thraͤnen, die mein durchbrechender Geist her- auspreßt, sagt’s jedem guten Herzen, sagt’s ohne Worte, was ein Mensch sey, der mit Gott seinem Vater bekannt ist, und all’ seine Gaben in ihrer Groͤße schmeckt! Heinrich Stilling war die Freude und Hoffnung sei- nes Hauses; denn ob gleich Johann Stilling einen aͤl- tern Sohn hatte, so war doch niemand auf denselben sonder- lich aufmerksam. Er kam oft, besuchte seine Großeltern, aber wie er kam, so ging er auch wieder. Eine seltsame Sache! — Eberhard Stilling war doch wahrlich nicht partheiisch. Doch was halt’ ich mich hierbei auf? Wer kann dafuͤr, wenn man einen Menschen vor dem andern mehr oder weniger lieben muß? Pastor Stollbein sah wohl, daß unser Knabe Etwas werden wuͤrde, wenn man nur was aus ihm machte, daher kam es bei einer Gelegenheit, da er in Stillings Hause war, daß er mit dem Vater und Großvater von dem Jungen redete, und ihnen vorschlug, Wilhelm sollte ihn Latein ler- nen lassen. Wir haben ja zu Florenburg einen guten lateini- schen Schulmeister; schickt ihn hin, es wird wenig kosten. Der alte Stilling saß am Tisch, kaute an einem Spaͤnchen; so pflegte er wohl zu thun, wenn er Sachen von Wichtigkeit uͤberlegte. Wilhelm legte den eisernen Fingerhut auf den Tisch, schlug die Arme vor der Brust uͤber einander und uͤber- legte auch. Margareth hatte die Haͤnde auf dem Schooß gefalten, knickelte mit den Daumen gegen einander, blinzte gegenuͤber auf die Stubenthuͤre und uͤberlegte auch. Hein- rich aber saß, mit seiner wollenen Lappmuͤtze in der Hand, auf einem kleinen Stuhl, und uͤberlegte nicht, sondern wuͤnschte nur. Stollbein saß auf seinem Lehnstuhl, eine Hand auf dem Knopf des Rohrstabes und die andere in der Seite und wartete der Sachen Ausschlag. Lange schwiegen sie, endlich sagte der Alte: Nun, Wilhelm , es ist dein Kind; was meinst du? „Vater, ich weiß nicht, woher ich die Kosten bestreiten soll.“ Ist das deine schwerste Sorge, Wilhelm ? wird dir dein lateinischer Junge auch noch Freude machen? da sorg’ nur! „Was, Freude! sagte der Pastor; mit Eurer Freude! Hier ist die Frage, ob Ihr was rechts aus dem Knaben machen wollt, oder nicht. Soll was rechts aus ihm werden, so muß er Latein lernen, wo nicht, so bleib’ er ein Luͤmmel wie —“ Wie seine Eltern, sagte der alte Stilling . „Ich glaube, Ihr wollt mich foppen, versetzte der Prediger.“ Nein, Gott bewahr’ uns! erwiederte Eberhard , nehmt mir nicht uͤbel; denn Euer Vater war ja ein Wollenweber, und konnte auch kein Latein; doch sagten die Leute, er waͤre ein braver Mann gewesen, wiewohl ich nie Tuch bei ihm ge- kauft habe. Hoͤrt, lieber Herr Pastor, ein ehrlicher Mann liebt Gott und den Naͤchsten, er thut recht und scheut Nie- mand, er ist fleißig, sorgt fuͤr sich und die Seinigen, damit sie Brod haben moͤgen. Warum thut er doch das alles? — „Ich glaube wahrhaftig, Ihr wollt mich catechisiren, Stil- ling ! Braucht Respekt und wißt, mit wem Ihr redet. Das thut er, weil es recht und billig ist, daß er’s thut!“ Zuͤrnet nicht, daß ich Euch widerspreche; er thut’s darum, damit er hier und dort Freude haben moͤge. „Ei was! damit kann er doch noch zur Hoͤlle fahren.“ Mit der Liebe Gottes und des Naͤchsten? „Ja! ja! wenn er den wahren Glauben an Christum nicht hat.“ Das versteht sich nun endlich von selber, daß man Gott und den Naͤchsten nicht lieben kann, wenn man an Gott und sein Wort nicht glaubt. Aber antworte du, Wilhelm ! Was duͤnkt dich? Mich duͤnkt, wenn ich wuͤßte, woher ich die Kosten nehmen sollte, so wuͤrde ich den Jungen wohl huͤten, daß er nicht zu lateinisch wuͤrde. Er soll immer die muͤßigen Tage Cameel- haarkuoͤpfe machen und mir naͤhen helfen, bis man sieht, was Gott aus ihm machen will. Das gefaͤllt mir nicht uͤbel, Wilhelm , sagte Vater Stil- ling ; so rath ich auch. Der Junge hat einen unerhoͤrten Kopf, Etwas zu lernen; Gott hat diesen Kopf nicht umsonst gemacht; laß ihn lernen, was er kann und was er will; gib ihm zuweilen Zeit dazu, aber nicht zu viel, sonst kommt er dir an’s Muͤßiggehen, und liest auch nicht so fleißig; wenn er aber brav auf dem Handwerk geschafft hat, und er wird auf die Buͤcher recht hungrig, dann laß ihn eine Stunde le- sen; das ist genug. Nur mach, daß er ein Handwerk recht- schaffen lernt, so hat er Brod, bis er sein Latein brauchen kann und ein Herr wird. „Hm! Hm! ein Herr wird, brummte Stollbein , er soll kein Herr werden, er soll mir ein Dorfschulmeister wer- den und dann ists gut, wenn er ein wenig Latein kann. Ihr Bauersleute meint, das ging so leicht, ein Herr zu werden. Ihr pflanzt den Kindern den Ehrgeiz ins Herz, der doch vom Vater, dem Teufel, herkommt.“ Dem alten Stilling heiterten sich seine großen hellen Au- gen auf; er stand da wie ein kleiner Riese (denn er war ein langer ansehnlicher Mann), schuͤttelte sein weißgraues Haupt, laͤchelte und sprach: Was ist Ehrgeiz? Herr Pastor! Stollbein sprang auf und rief: Schon wieder eine Frage! ich bin Euch nicht schuldig, zu antworten, sondern Ihr mir. Gebt Acht in der Predigt, da werdet Ihr hoͤren, was Ehr- geiz ist. Ich weiß nicht, Ihr werdet so stolz, Kirchenaͤltester! Ihr waret sonst ein sittsamer Mann. Stillings Schriften. I. Band. 6 Wie Ihrs aufnehmt, stolz oder nicht stolz. Ich bin ein Mann; ich hab Gott geliebt und ihm gedient, Jedermann das Seinige gegeben, meine Kinder erzogen, ich war treu; meine Suͤnden vergibt mir Gott, das weiß ich; nun bin ich alt, mein Ende ist nah; ob ich wohl recht gesund bin, so muß ich doch sterben; da freu ich mich nun darauf, wie ich bald werde von hinnen reisen. Laßt mich stolz darauf seyn, wie ein ehr- licher Mann mitten unter meinen großgezogenen frommen Kin- dern zu sterben. Wenn ichs so recht bedenk’, bin ich munte- rer, als wie ich mit Margareth Hochzeit machte. „Man geht so mit Struͤmpf und Schuh nicht in Himmel!“ sagte der Pastor. Die wird mein Großvater auch ausziehen, ehe er stirbt, sagte der kleine Heinrich . Ein Jeder lachte, selbst Stollbein mußte lachen. Margareth machte der Ueberlegung ein Ende. Sie schlug vor, sie wollte Morgens den Jungen satt fuͤttern, ihm als- dann ein Butterbrod fuͤr den Mittag in die Tasche geben, des Abends koͤnnte er sich wieder daheim satt essen; und so kann der Junge Morgens fruͤh nach Florenburg in die Schule ge- hen, sagte sie, und des Abends wieder kommen. Der Som- mer ist ja vor der Thuͤr; den Winter sieht man wie man’s macht. Nun war’s fertig. Stollbein ging nach Hause. Zu dieser Zeit ging eine große Veraͤnderung in Stillings Hause vor, die aͤltesten Toͤchter heiratheten auswaͤrts, und also machte Eberhard und seine Margareth, Wilhelm, Mariechen und Heinrich die ganze Familie aus. Eber- hard beschloß auch nunmehr, sein Kohlbrennen aufzugeben, und blos seiner Feldarbeit zu warten. Die Tiefenbacher Dorfschule wurde vacant, und ein jeder Bauer hatte Wilhelm Stilling im Auge, ihn zum Schul- meister zu waͤhlen. Man trug ihm die Stelle auf; er nahm sie ohne Widerwillen an, ob er sich gleich innerlich aͤngstigte, daß er mit solchem Leichtsinn sein einsames, heiliges Leben verlassen und sich unter die Menschen begeben wollte. Der gute Mann hatte nicht bemerkt, daß ihn nur der Schmerz uͤber Dortchens Tod , der kein ander Gefuͤhl neben sich litt, zum Einsiedler gemacht hatte, und daß er, da dieser ertraͤgli- cher wurde, wieder Menschen sehen, wieder an einem Geschaͤfte Vergnuͤgen finden konnte. Er legte sichs ganz anders aus. Er glaubte, jener heilige Trieb fange an bei ihm zu erkalten, und nahm daher mit Furcht und Zittern die Stelle an. Er bekleidete sie mit Treue und Eifer, und fing zuletzt an zu muth- maßen, daß es Gott nicht ungefaͤllig seyn koͤnnte, wenn er mit seinem Pfund wucherte, und seinem Naͤchsten zu dienen suchte. Nun fing auch unser Heinrich an, in die lateinische Schule zu gehen. Man kann sich leicht vorstellen, was er fuͤr ein Aufsehen unter den andern Schulknaben machte. Er war bloß in Stillings Haus und Hof bekannt, und war noch nie unter Menschen gekommen; seine Reden waren immer un- gewoͤhnlich, und wenig Menschen verstanden, was er wollte; keine jugendlichen Spiele, wornach die Knaben so bruͤnstig sind, ruͤhrten ihn, er ging vorbei und sah sie nicht. Der Schul- meister Weiland merkte seinen faͤhigen Kopf und großen Fleiß; daher ließ er ihn ungeplagt; und da er merkte, daß ihm das langweilige Auswendiglernen unmoͤglich war, so be- freite er ihn davon, und wirklich Heinrichs Methode, Latein zu lernen, war fuͤr ihn sehr vortheilhaft. Er nahm einen lateinischen Text vor sich, schlug die Worte im Lexicon auf, da fand er dann, was jedes fuͤr ein Theil der Rede sey; suchte ferner die Muster der Abweichungen in der Grammatik u. s. f. Durch diese Methode hatte sein Geist Nahrung in den besten lateinischen Schriftstellern, und die Sprache lernte er hinlaͤng- lich schreiben, lesen und verstehen. Was aber sein groͤßtes Vergnuͤgen ausmachte, war eine kleine Bibliothek des Schul- meisters, die er Freiheit zu gebrauchen hatte. Sie bestand aus allerhand nuͤtzlichen Coͤllnischen Schriften; vornehmlich: der Reinicke Fuchs mit vortrefflichen Holzschnitten, Kaiser Octavianus nebst seinem Weib und Soͤhnen; eine schoͤne Hi- storie von den vier Haymons-Kindern, Peter und Magelone; die schoͤne Melusine, und endlich der vortreffliche Hans Clauert. Sobald nun Nachmittags die Schule aus war, so machte er sich auf den Weg nach Tiefenbach und las eine solche Historie unter dem Gehen. Der Weg ging durch gruͤne 6 * Wiesen, Waͤlder und Gebuͤsche, Berg auf und ab, und die reine wahre Natur um ihn machte die tiefsten feierlichen Ein- druͤcke in sein offenes, freies Herz. Abends kamen dann un- sere fuͤnf lieben Leute zusammen; sie speisten, schuͤtteten eins dem andern seine Seele aus, und sonderlich erzaͤhlte Heinrich seine Historien, woran sich alle, Margareth nicht ausge- nommen, ungemein ergoͤtzten. Sogar der ernste pietistische Wilhelm hatte Freude daran, und las sie wohl selbsten Sonn- tags Nachmittags, wenn er nach dem alten Schloß wallfahrtete. Heinrich sah ihm dann immer in’s Buch, wo er las, und wenn bald eine ruͤhrende Stelle kam, so jauchzte er in sich sel- ber, und wenn er sah, daß sein Vater dabei empfand, so war seine Freude vollkommen. Indessen ging doch des jungen Stillings Lateinlernen vortrefflich von statten, wenigstens lateinische Historien zu le- sen, zu verstehen, lateinisch zu reden und zu schreiben. Ob das nun genug sey, oder ob mehr erfordert werde, weiß ich nicht, Herr Pastor Stollbein wenigstens forderte mehr. Nachdem Heinrich ohngefaͤhr ein Jahr in die lateinische Schule gegangen, so fiel es gemeldetem Herrn einmal ein, un- sern Studenten zu examiniren. Er sah ihn aus seinem Stu- benfenster vor der Schule stehen, er pfiff, und Heinrich flog zu ihm. Lernst du auch brav? „Ja, Herr Pastor.“ Wie viel Verba anomala sind? „Ich weiß es nicht.“ Wie, Flegel, du weißt’s nicht? Es moͤchte leicht, ich gaͤb dir eins auf’s Ohr. Sum, possum, nu! wie weiter? „Das hab ich nicht gelernt.“ He, Madlene ! ruf den Schulmeister. Der Schulmeister kam. Was laßt ihr den Jungen lernen? Der Schulmeister stand an der Thuͤre, den Hut unterem Arm, und sagte demuͤthig: „Latein.“ Da! ihr Nichtsnutziger, er weiß nicht einmal wie viel Verba anomala sind. „Weißt du das nicht, Heinrich ?“ Nein, sagte dieser, ich weiß es nicht. Der Schulmeister fuhr fort: Nolo und Malo was sind das fuͤr Woͤrter? „Das sind Verba anomala. “ Fero und Volo was sind das? „ Verba anomala. “ Nun, Herr Pastor, fuhr der Schulmeister fort, so kennt der Knabe alle Woͤrter. Stollbein versetzte: Er soll aber die Regeln alle auswen- dig lernen; geht nach Haus, ich wills haben! (Beide:) Ja, Herr Pastor! Von der Zeit an lernte Heinrich mit leichter Muͤhe auch alle Regeln auswendig , doch vergaß er sie bald wieder. Das schien seinem Charakter eigen werden zu wollen; was sich nicht leicht bezwingen ließ, da flog sein Genie uͤber weg. Nun genug von Stillings Lateinlernen! wir gehen weiter. Der alte Stilling fing nunmehr an, seinen Vaterernst abzulegen und gegen seine wenigen Hausgenossen zaͤrtlicher zu werden; besonders hielt er Heinrichen , der nunmehr eilf Jahr alt war, viel von der Schule zuruͤck, und nahm ihn mit sich, wo er seiner Feldarbeit nachging; redete viel mit ihm von der Rechtschaffenheit eines Menschen in der Welt, besonders von seinem Verhalten gegen Gott; empfahl ihm gute Buͤcher, sonderlich die Bibel zu lesen, hernach auch, was Doktor Lu- ther, Calvinus, Oecolampadius und Bucerus geschrieben ha- ben. Einsmalen gingen Vater Stilling, Mariechen und Heinrich des Morgens fruͤh in den Wald, um Brennholz zuzubereiten. Margareth hatte ihnen einen guten Milch- brei mit Brod und Butter in einem Korb zusammen gethan, welchen Mariechen auf dem Kopf trug, sie ging den Wald hinauf voran, Heinrich folgte und erzaͤhlte mit aller Freude die Historie von den vier Haymons-Kindern, und Vater Stil- ling schritt, auf seine Holzaxt sich stuͤtzend, seiner Gewohn- heit nach, muͤhsam hinten darein und hoͤrte fleißig zu. Sie kamen endlich zu einem weit entlegenen Ort des Waldes, wo sich eine gruͤne Ebene befand, die am einen Ende einen schoͤnen Brunnen hatte. Hier laßt uns bleiben, sagte Vater Stil- ling , und setzte sich nieder; Mariechen nahm ihren Korb ab, stellte ihn hin und setzte sich auch. Heinrich aber sah in seiner Seele wieder die egyptische Wuͤste vor sich, worin- nen er gern Antonius geworden waͤre; bald darauf sah er den Brunnen der Melusine vor sich, und wuͤnschte, daß er Ray- mund waͤre; dann vereinigten sich beide Ideen, und es wurde eine fromme romantische Empfindung daraus, die ihm alles Schoͤne und Gute dieser einsamen Gegend mit hoͤchster Wol- lust schmecken ließ. Vater Stilling stand endlich auf und sagte: Kinder bleibt ihr hier, ich will ein wenig herumgehen und abstaͤndig Holz suchen, ich will zuweilen rufen, ihr ant- wortet mir dann, damit ich euch nicht verliere. Er ging. Indessen saßen Mariechen und Heinrich beisammen und waren vertraulich. Erzaͤhle mir doch, Baase! sagte Hein- rich , die Historie von Joringel und Jorinde noch einmal. Mariechen erzaͤhlte: „Es war einmal ein altes Schloß mitten in einem großen dicken Wald, darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberinn. Am Tage machte sie sich bald zur Katze, oder zum Haasen, oder zur Nachteule; des Abends aber wurde sie ordentlich wieder wie ein Mensch gestaltet. Sie konnte das Wild und die Voͤgel herbeilocken, und dann schlach- tete sie’s, kochte und bratete es. Wenn Jemand auf hundert Schritte dem Schloß nahe kam, so mußte er stille stehen und konnte sich nicht von der Stelle bewegen, bis sie ihn los sprach: wenn aber eine reine, keusche Jungfer in den Kreis kam, so verwandelte sie dieselbe in einen Vogel und sperrte sie dann in einen Korb ein, in die Kammern des Schlosses. Sie hatte wohl siebentausend solcher Koͤrbe mit so raren Voͤgeln im Schlosse. Nun war einmal eine Jungfer, die hieß Jorinde; sie war schoͤner als alle andern Maͤdchen, die, und dann ein garschoͤner Juͤngling, Namens Joringel, hatten sich zusammen versprochen. Sie waren in den Brauttagen, und hatten ihr groͤßtes Ver- gnuͤgen eins am andern. Damit sie nun einsmalen vertraut zusammen reden koͤnnten, gingen sie in den Wald spatzieren. Huͤte dich, sagte Joringel, daß du nicht zu nah’ an das Schloß kommst! Es war ein schoͤner Abend, die Sonne schien zwischen den Staͤmmen der Baͤume hell ins dunkle Gruͤn des Waldes, und die Turteltaube sang klaͤglich auf den alten Maibuchen. Jorinde weinte zuweilen, setzte sich hin in Sonnenschein und klagte. Joringel klagte auch; sie waren so bestuͤrzt, als wenn sie haͤtten sterben sollen; sie sahen sich um, waren irre, und wußten nicht, wohin sie nach Hause gehen sollten. Noch halb stand die Sonne uͤber dem Berg und halb war sie unter. Jo- ringel sah durchs Gebuͤsch und sah die alte Mauer des Schlos- ses nah bei sich, er erschrack und wurde todtbang, Jorinde sang: Mein Voͤgelein mit dem Ringelein roth, Singt Leide Leide Leide; Es singt dem Taͤubelein seinen Tod, Singt Leide Lei — Zicküth Zicküth Zücküth. Joringel sah nach Jorinde. Jorinde war in eine Nach- tigal verwandelt, die sang Zickuͤth Zickuͤth. Eine Nachteule mit gluͤhenden Augen flog dreimal um sie herum und schrie dreimal Schu — hu — hu — hu! Joringel konnte sich nicht regen; er stand da, wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fuß regen. Nun war die Sonne un- ter; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam eine krumme Frau aus diesem Strauch hervor, gelb und ma- ger, große rothe Augen, krumme Nase, die mit der Spitze an’s Kinn reichte. Sie murmelte, fing die Nachtigal und trug sie auf der Hand fort. Joringel konnte nichts sagen, nicht von der Stelle kommen; die Nachtigal war fort; end- lich kam das Weib wieder und sagte mit dumpfer Stimme: Gruͤß dich, Zachiel! Wenn’s Moͤndel in’s Koͤrbel scheint, bind’ los, Zachiel, zu guter Stund! Da wurd Joringel los; er fiel vor dem Weib auf die Knie, und bat, sie moͤchte ihm seine Jorinde wieder geben; aber sie sagte, er sollte sie nie wieder haben und ging fort. Er rief, er weinte, er jammerte, aber alles umsonst. Nu! was soll mir geschehen? Joringel ging fort und kam endlich in ein fremdes Dorf; da huͤtet er die Schaafe lange Zeit. Oft ging er rund um das Schloß herum, aber nicht zu nahe dabei; endlich traͤumte er einmal des Nachts, er faͤnde eine bluthrothe Blume, in deren Mitte eine schoͤne große Perle war; die Blume braͤch er ab, ging damit zum Schlosse; alles, was er mit der Blume beruͤhrte, ward von der Zauberei frei; auch traͤumte er, er haͤtte seine Jorinde dadurch wieder bekommen. Des Morgens, als er erwachte, fing er an, durch Berg und Thal zu suchen, ob er eine solche Blume faͤnde; er suchte bis an den neunten Tag, da fand er die blutrothe Blume am Morgen fruͤh. In der Mitte war ein großer Thautropfe, so groß wie die schoͤnste Perle. Diese Blume trug er Tag und Nacht bis zum Schloß. Nu! es war mir gut! Wie er auf hundert Schritte nahe dem Schloß kam, da wurd’ er nicht fest, sondern ging fort bis ans Thor. Joringel freute sich hoch, beruͤhrte die Pforte mit der Blume und sie sprang auf; er ging hinein, durch den Hof, horchte, wo er die viert n Voͤgel vernaͤhm’. Endlich hoͤrt er’s; er ging und fand den Saal; darauf war die Zauberin, fuͤtterte die Voͤgel in den sieben tausend Koͤrben. Wie sie den Joringel sah, ward sie boͤs, sehr boͤs, schalt, spie Gift und Galle gegen ihn aus, aber sie konnt’ auf zwei Schritte nicht an ihn kommen. Er kehrt’ sich nicht an sie, und ging, besah die Koͤrbe mit den Voͤgeln; da waren aber viel hundert Nachtigallen; wie sollte er nun seine Jorinde wieder finden! Indem er so zusah, merkte er, daß die Alte heimlich ein Koͤrbchen mit einem Vogel nimmt und damit nach der Thuͤre geht. Flugs sprang er hinzu, be- ruͤhrte das Koͤrbchen mit der Blume, und auch das alte Weib; nun konnte sie nichts mehr zaubern; und Jorinde stand da, hatte ihn um den Hals gefaßt, so schoͤn als sie ehemals war. Da macht’ er auch all die andern Voͤgel wieder zu Jungfern, und da ging er mit seiner Jorinde nach Hause, und lebten lange vergnuͤgt zusammen.“ Heinrich saß wie versteinert, seine Augen starrten g’rad aus, und der Mund war halb offen. Baase! sagte er endlich, das koͤnnt einem des Nachts bange machen. Ja, sagte sie, ich erzaͤhl’s auch des Nachts nicht, sonst werd’ ich selber bang. Indem sie so saßen, pfiff Vater Stilling. Mariechen und Heinrich antworteten mit einem He! He! Nicht lange hernach kam er, sah munter und froͤhlich aus, als wenn er etwas gefunden haͤtte; laͤchelte wohl zuweilen, stand, schuͤttelte den Kopf, sah auf eine Stelle, faltete die Haͤnde, laͤchelte wieder. Mariechen und Heinrich sahen ihn mit Verwun- derung an; doch durften sie ihm nicht fragen; denn er thaͤt’s wohl oft so, daß er vor sich allein lachte. Doch Stillingen war das Herz zu voll; er setzte sich zu ihnen nieder und er- zaͤhlte; wie er anfing, so standen ihm die Augen voll Wasser. Mariechen und Heinrich sahen es, und schon liefen ihnen auch die Augen uͤber. Wie ich von euch in Wald hinein ging, sah ich weit von mir ein Licht, eben so, als wenn Morgens fruͤh die Sonne aufgeht. Ich verwunderte mich sehr. Ei! dachte ich, dort steht ja die Sonne am Himmel; ist das denn eine neue Sonne? Das muß ja was Wunderliches seyn, das muß ich sehen. Ich ging darauf zu; wie ich vorn hin kam, siehe, da war vor mir eine Ebne, die ich mit meinen Augen nicht uͤbersehen konnte. Ich hab’ mein Lebtag so etwas Herrliches nicht gesehen, so ein schoͤner Geruch, so eine kuͤhle Luft kam daruͤber her, ich kann’s euch nicht sagen. Es war so weiß Licht durch die ganze Gegend, der Tag mit der Sonne ist Nacht dagegen. Da stan- den viel tausend praͤchtige Schloͤsser, eins nah beim andern. Schloͤsser! — ich kann’s euch nicht beschreiben! als wenn sie von lauter Silber waͤren. Da waren Gaͤrten, Buͤsche, Baͤche. O Gott, wie schoͤn! — Nicht weit von mir stand ein großes herrliches Schloß. (Hier liefen dem guten Stilling die Thraͤ- nen haͤufig die Wangen herunter, Mariechen und Hein- richen auch.) Aus der Thuͤr dieses Schlosses kam Jemand heraus auf mich zu, wie eine Jungfrau. Ach! ein herrlicher Engel! — Wie sie nah bei mir war, ach Gott! da war es unser seliges Dortchen ! (Nun schluchzten sie alle drei, keins konnte etwas reden, nur Heinrich rief und heulte: O meine Mutter! meine liebe Mutter!) — Sie sagte gegen mich so freundlich, eben mit der Miene, die mir ehemals so oft das Herz stahl: Vater, dortist unsere ewige Wohnung, ihr kommt bald zu uns — Ich sah, und siehe alles war Wald vor mir; das herrliche Gesicht war weg. Kinder, ich sterbe bald; wie freu’ ich mich darauf! Heinrich konnte nicht aufhoͤren zu fragen, wie seine Mutter ausgesehen, was sie angehabt, und so weiter. Alle Drei verrichteten den Tag durch ihre Arbeit, und sprachen bestaͤndig von dieser Geschichte. Der alte Stilling aber war von der Zeit an, wie einer, der in der Fremde und nicht zu Hause ist. Ein altes Herkommen, dessen ich (wie vieler andern) noch nicht erwaͤhnt, war, daß Vater Stilling alle Jahr selbsten ein Stuͤck seines Hausdaches, das Stroh war, eigenhaͤndig decken mußte. Das hatte er nun schon acht und vierzig Jahr gethan, und diesen Sommer sollt es wieder geschehen. Er rich- tete es so ein, daß er alle Jahre so viel davon neu deckte, so weit das Roggenstroh reichte, das er fuͤr dieß Jahr gezogen hatte. Die Zeit des Dachdeckens fiel gegen Michaelstag, und ruͤckte nun mit Macht heran; so daß Vater Stilling anfing, da- rauf zu Werk zu legen. Heinrich war dazu bestimmt, ihm zur Hand zu langen, und also wurde die lateinische Schule auf acht Tage ausgesetzt Margarethe und Mariechen hielten taͤglich in der Ruͤche geheimen Rath uͤber die bequem- sten Mittel, wodurch er vom Dachdecken zuruͤckgehalten werden moͤchte. Sie beschloßen endlich Beide, ihm ernstliche Vorstel- lungen zu thun, und ihn vor Gefahr zu warnen; sie hatten die Zeit waͤhrend des Mittagessens dazu bestimmt. Margarethe brachte also eine Schuͤssel Mus, und auf derselben vier Stuͤcke Fleisches, die so gelegt waren, daß ein jedes just vor den zu stehen kam, fuͤr den es bestimmt war. Hinter ihr her kam Mariechen mit einem Kumpen voll ge- brockter Milch. Beide setzten ihre Schuͤsseln auf den Tisch, an welchem Vater Stilling und Heinrich schon an ihrem Ort saßen, und mit wichtiger Miene von ihrer nun morgen anzufangenden Dachdeckerei redeten. Denn im Vertrauen ge- sagt, wie sehr auch Heinrich auf Studieren, Wissenschaf- ten und Buͤcher verpicht seyn mochte, so war’s ihm doch eine weit groͤßere Freude, in Gesellschaft seines Großvaters, zu- weilen entweder im Wald, auf dem Feld oder gar auf dem Hausdach zu klettern; denn dieses war nun schon das dritte Jahr, daß er seinem Großvater als Diakonus bei dieser jaͤhr- lichen Solennitaͤt beigestanden. Es ist also leicht zu denken, daß der Junge herzlich verdruͤßlich werden mußte, als er Mar- garethens und Mariechens Absichten zu begreifen anfing. Ich weiß nicht, Ebert , sagte Margarethe , indem sie ihre linke Hand auf seine Schultern legte, du faͤngst mir so an, zu verfallen. Spuͤrst du nichts in deiner Natur. „Man wird als alle Tage aͤlter, Margarethe .“ O Herr ja! Ja freilich, alt und steif. Ja wohl, versetzte Mariechen und seufzte. Mein Großvater ist noch recht stark fuͤr sein Alter, sagte Heinrich . „Ja wohl, Junge, antwortete der Alte. Ich wollte noch wohl in die Wette mit dir die Leiter ’nauf laufen.“ Heinrich lachte laut. Margarethe sah wohl, daß sie auf dieser Seite die Vestung nicht uͤberrumpeln wuͤrde; da- her suchte sie einen andern Weg. Ach ja, sagte sie, es ist eine besondere Gnade, so gesund in seinem Alter zu seyn; du bist, glaub’ ich, nie in deinem Le- ben krank gewesen, Ebert ? „In meinem Leben nicht, ich weiß nicht, was Krankheit ist; denn an den Pocken und Roͤtheln bin ich herumgegangen.“ Ich glaub doch, Vater! versetzte Mariechen , ihr seyd wohl verschiedene Male vom Fallen krank gewesen: denn ihr habt uns wohl erzaͤhlet, daß ihr oft gefaͤhrlich gefallen seyd. „Ja, ich bin dreimal toͤdtlich gefallen.“ Und das viertemal, fuhr Margarethe fort, wirst du dich todt fallen, mir ahnt es. Du hast letzthin im Wald das Ge- sicht gesehen; und eine Nachbarin hat mich kuͤrzlich gewarnt und gebeten, dich nicht auf’s Dach zu lassen; denn sie sagte, sie haͤtte des Abends, wie sie die Kuͤh gemolken, ein Poltern und klaͤgliches Jammern neben unserem Hause im Weg ge- hoͤrt. Ich bitte dich, Ebert! thu’ mir den Gefallen, und laß Jemand anders das Haus decken, du hast’s ja nicht noͤthig. „ Margarethe ! — kann ich, oder Jemand anders denn nicht in der Straße ein ander Ungluͤck bekommen? Ich hab’ das Gesicht gesehen, ja, das ist wahr! — unsere Nachbarin kann auch diese Vorgeschichte gehoͤrt haben. Ist dieses gewiß, wird dann derjenige dem entlaufen, was Gott uͤber ihn be- schlossen hat? Hat er beschlossen, daß ich meinen Lauf hier in der Straße endigen soll, werd’ ich armer Dummkopf von Menschen! das wohl vermeiden koͤnnen? und gar wenn ich mich todtfallen soll, wie werd’ ich mich huͤten koͤnnen? Ge- setzt, ich bleib vom Dach, kann ich nicht heut oder Morgen da in der Straße einen Karren Holz losbinden wollen, drauf steigen, straucheln und den Hals abstuͤrzen? Margarethe ! laß mich in Ruh; ich werde so ganz grade fortgehen, wie ich bis dahin gegangen bin; wo mich dann mein Stuͤndchen uͤberrascht, da werd ichs willkommen heißen!“ Margarethe und Mariechen sagten noch ein und das andere, aber er achtete nicht darauf, sondern redete mit Hein- richen von allerhand, die Dachdeckerei betreffenden Sachen; daher sie sich zufrieden gaben, und sich das Ding aus dem Sinne schlugen. Des andern Morgens standen sie fruͤhe auf und der alte Stilling fing an, waͤhrend daß er ein Morgenlied sang, das alte Stroh loszubinden und abzuwerfen, womit er denn diesen Tag auch huͤbsch fertig wurde; so daß sie des folgen- den Tages schon anfingen, das Dach mit neuem Stroh zu be- legen; mit Einem Wort, das Dach ward fertig, ohne die mindeste Gefahr oder Schreck dabei gehabt zu haben; ausser daß es noch einmal bestiegen werden mußte, um starke und frische Rasen oben uͤber den First zu legen. Doch damit eilte der alte Stilling so sehr nicht; es gingen wohl noch acht Tage uͤber, eh’ es ihm einfiel, dieß letzte Stuͤck Arbeit zu verrichten. Des folgenden Mittwochs stand Eberhard ungewoͤhn- lich fruͤh auf, ging im Hause umher, von einer Kammer zur andern, als wenn er was suchte. Seine Leute verwunderten sich, fragten ihn, was er suche? Nichts, sagte er. Ich weiß nicht, ich bin so wohl, doch hab ich keine Ruhe, ich kann nirgend still seyn, als wenn Etwas in mir waͤre, das mich triebe, auch spuͤr ich so eine Bangigkeit, die ich nicht kenne. Margarethe rieth ihm, er sollte sich anziehen und mit Heinrichen nacher Lichthausen gehen, seinen Sohn Jo- hann zu besuchen. Er war damit zufrieden; doch wollte er zuerst die Rasen oben auf den Hausfirst legen, und dann des andern Tages seinen Sohn besuchen. Dieser Gedanke war seiner Frau und Tochter sehr zuwider. Des Mittags uͤber Tisch ermahnten sie ihn wieder ernstlich, vom Dach zu bleiben; selbst Heinrich bat ihn, Jemand fuͤr Lohn zu kriegen, der vollends mit der Deckerei ein Ende mache. Allein, der vortreffliche Greis laͤchelte mit einer unumschraͤnkten Gewalt um sich her; ein Laͤcheln, das so manchem Menschen das Herz geraubt und Ehrfurcht eingepraͤgt hatte! Dabei sagte er aber kein Wort. Ein Mann, der mit einem bestaͤndig guten Gewissen alt ge- worden, sich vieler guten Handlungen bewußt ist, und von Ju- gend auf sich an einen freien Umgang mit Gott und seinem Erloͤser gewoͤhnt hat, gelangt zu einer Groͤße und Freiheit, die nie der groͤßte Eroberer erreicht hat. Die ganze Antwort Stillings auf diese treugemeinten Ermahnungen der Sei- nigen bestand darin: Er wollte da auf den Kirschenbaum stei- gen, und sich noch einmal recht satt Kirschen essen. Es war naͤmlich ein Baum, der hinten im Hof stand, und sehr spaͤt, aber desto vortrefflicher Fruͤchte trug. Seine Frau und Tochter ver- wunderten sich uͤber diesen Einfall, denn er war wohl in zehn Jah- ren auf keinem Baum gewesen. Nun dann! sagte Marga- rethe , du mußt nun vor diese Zeit in die Hoͤh, es mag kosten was es wolle. Eberhard lachte und antwortete: Je hoͤher, je naͤher zum Himmel! Damit ging er zur Thuͤr hinaus, und Heinrich hinter ihm her auf den Kirschenbaum zu. Er faßte den Baum in seine Arme und die Knie, und kletterte hinauf bis oben hin, setzte sich in eine Furke des Baums, fing an, aß Kir- schen, und warf Heinrichen zuweilen ein Aestchen herab. Margarethe und Mariechen kamen ebenfalls. Halt! sagte die ehrliche Frau, heb mich ein wenig, Mariechen , daß ich nur die untersten Aeste fassen kann, ich muß da probieren, ob ich auch noch hinauf kann. Es gerieth; sie kam hinauf, Stilling sah herab und lachte herzlich, und sagte: das heißt recht verjuͤngt werden, wie die Adler. Da saßen beide ehrliche alte Graukoͤpfe in den Aesten des Kirschbaumes, und genossen noch einmal zu- sammen die suͤßen Fruͤchte ihrer Jugend; besonders war Stil- ling aufgeraͤumt. Margarethe stieg wieder herab, und ging mit Mariechen in den Garten, der eine ziemliche Strecke unterhalb dem Dorf war. Eine Stunde hernach stieg auch Eber- hard herab, ging und hatte einen Hacken, um Rasen damit ab- zuschaͤlen. Er ging des Endes oben ans Ende des Hofs an den Wald; Heinrich blieb gegen dem Hause uͤber unter dem Kir- schenbaum sitzen; endlich kam Eberhard wieder, hatte einen großen Rasen um den Kopf hangen, buͤckte sich zu Heinrichen , sah ganz ernsthaft aus und sagte: Sieh, welch eine Schlafkappe! Heinrich fuhr in einander, und ein Schauer ging ihm durch die Seele. Er hat mir hernach wohl gestanden, daß dieses einen unvergeßlichen Eindruck auf ihn gemacht habe. Indessen stieg Vater Stilling mit dem Rasen das Dach hinauf. Heinrich schnitzelte an einem Hoͤlzchen; indem er drauf sah, hoͤrte er ein Gepolter; er sah hin, vor seinen Au- gen wars schwarz, wie die Nacht — lang hingestreckt lag da der theure, liebe Mann unter der Last von Leitern, seine Haͤnde vor der Brust gefalten; die Augen starrten; die Zaͤhne klapperten und alle Glieder bebten, wie ein Mensch im star- ken Frost. Heinrich warf eiligst die Leitern von ihm, streckte die Arme aus, und lief wie ein Rasender das Dorf hinab, und erfuͤllte das ganze Thal mit Zeter und Jammer. Mar- garethe und Mariechen hoͤrten im Garten kaum halb die seelzagende kenntliche Stimme ihres geliebten Knaben; Mariechen that einen hellen Schrei, rang die Haͤnde uͤber dem Kopf und flog das Dorf hinauf. Margarethe strebte hinter ihr her, die Haͤnde vorwaͤrts ausgestreckt, die Augen starrten umher; dann und wann machte ein heiserer Schrei der beklemmenden Brust ein wenig Luft. Mariechen und Hein- rich waren zuerst bei dem lieben Manne. Er lag da lang ausgestreckt, die Augen und der Mund waren geschlossen, die Haͤnde noch vor der Brust gefalten, und sein Odem ging lang- sam und stark, wie bei einem gesunden Menschen, der ordent- lich schlaͤft; auch bemerkte man nirgend, daß er blutruͤnstig war. Mariechen weinte haͤufige Thraͤnen auf sein Angesicht und jammerte bestaͤndig: Ach! mein Vater! mein Vater! Heinrich saß zu seinen Fuͤßen im Staub, schluchzte und weinte. Indes- sen kam Margarethe auch hinzu; sie fiel neben ihm nieder auf die Knie, faßte ihren Maun um den Hals, rief ihm mit ihrer gewohnten Stimme ins Ohr, aber er gab kein Zeichen von sich. Die heldenmuͤthige Frau stand auf, faßte Muth; auch war keine Thraͤne aus ihren Augen gekommen. Einige Nachbarn waren indessen hinzugekommen; vergossen Alle Thraͤ- nen, denn er war allgemein geliebt gewesen. Margarethe machte geschwind in der Stube ein niedriges Bette zurecht; sie hatte ihre besten Betttuͤcher, die sie vor etlich und vierzig Jahren als Braut gebraucht hatte, uͤbergespreitet. Nun kam sie ganz gelassen heraus, und rief: Bringt nur meinen Eber- hard herein aufs Bett! Die Maͤnner faßten ihn an, Marie- chen trug am Kopf, und Heinrich hatte beide Fuͤße in sei- nen Armen: sie legten ihn aufs Bett, und Margarethe zog ihn aus und deckte ihn zu. Er lag da, ordentlich wie ein gesunder Mensch, der schlaͤft. Nun wurde Heinrich be- ordert, nach Florenburg zu laufen, um einen Wundarzt zu holen. Der kam auch denselben Abend, untersuchte ihn, ließ ihm zur Ader und erklaͤrte sich, daß zwar nichts zerbrochen sey, aber doch sein Tod binnen dreien Tagen gewiß seyn wuͤrde, indem sein Gehirn ganz zerruͤttet waͤre. Nun wurden Stillings Kinder alle Sechs zusammen berufen, die sich auch des andern Morgens Donnerstags zeitig einfanden. Sie setzten sich alle rings ums Bette, waren stille, klagten und weinten. Die Fenster wurden mit Tuͤchern zuge- hangen, und Margarethe wartete ganz gelassen ihrer Hausgeschaͤfte. Freitags Nachmittags fing der Kopf des Kran- ken an zu beben, die oberste Lippe erhob sich ein wenig und wurde blaͤulicht, und ein kalter Schweiß duftete uͤberall hervor. Seine Kinder ruͤckten naͤher ums Bette zusammen. Mar- garethe sah es auch: sie nahm einen Stuhl und setzte sich zuruͤck an die Wand ins Dunkele; alle sahen vor sich nieder und schwiegen. Heinrich saß zu den Fuͤßen seines Groß- vaters, sah ihn zuweilen mit nassen Augen an und war auch stille. So saßen sie Alle bis Abends neun Uhr. Da bemerkte Cathrine zuerst, daß ihres Vaters Odem still stand. Sie rief aͤngstlich: Mein Vater stirbt! — Alle fielen mit ihrem Angesicht auf das Bette, schluchzten und weinten. Heinrich stand da, ergriff seinem Großvater beide Fuͤße, und weinte bitterlich. Vater Stilling holte alle Minuten tief Odem, wie Einer, der tief seufzet, und von einem Seufzer zum an- dern war der Odem ganz still; an seinem ganzen Leibe regte und bewegte sich nichts als sein Unterkiefer, der sich bei jedem Seufzer ein wenig vorwaͤrts schob. Margarethe Stilling hatte bis dahin bei all ihrer Traurigkeit noch nicht geweint; sobald sie aber Cathrinen rufen hoͤrte, stand sie auf, ging aus Bett, und sah ihrem ster- benden Manne ins Gesicht; nun fielen einige Thraͤnen die Wan- gen herunter; sie dehnte sich aus, denn sie war vom Alter ein wenig gebuͤckt, richtete ihre Augen auf und reckte die Haͤnde gen Himmel, und betete mit dem feurigsten Herzen; sie holte jedesmal aus tiefster Brust Odem, und den verzehrte sie in einem bruͤnstigen Seufzer. Sie sprach die Worte plattdeutsch nach ihrer Gewohnheit aus, aber sie waren alle voll Geist und Leben. Der Inhalt ihrer Worte war, daß ihr Gott und Er- loͤser ihres lieben Mannes Seele gnaͤdig aufnehmen, und zu sich in die ewige Freude nehmen moͤge. Wie sie anfing zu beten, sahen alle ihre Kinder auf, erstaunten, sanken am Bett auf die Kniee und beteten in der Stille mit. Nun kam der letzte Herzensstoß; der ganze Koͤrper zog sich; er stieß einen Schrei aus; nun war er verschieden. Margarethe hoͤrte auf zu beten, faßte dem entseelten Manne seine rechte Hand an, schuͤttelte sie und sagte: „Leb wohl, Eberhard! in dem schoͤ- nen Himmel sehen wir uns bald wieder!“ So wie sie das sagte, sank sie nieder auf ihre Knie; alle ihre Kinder fielen um sie herum. Nun weinte auch Margarethe die bittersten Thraͤ- nen, und klagte sehr. Die Nachbarn kamen indessen, um den Entseelten anzuklei- den. Die Kinder standen auf, und die Mutter holte das Todtenkleid. Bis den folgenden Montag lag er auf der Bahre; da fuͤhrte man ihn nach Florenburg, um ihn zu begraben. Herr Pastor Stollbein ist aus dieser Geschichte als ein stoͤrrischer, wunderlicher Mann bekannt, allein ausser dieser Laune war er gut und weichherzig. Wie Stilling ins Grab gesenkt wurde, weinte er helle Thraͤnen; und auf der Kanzel waren unter bestaͤndigem Weinen seine Worte: „Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan! Wollte Gott, ich waͤre fuͤr dich gestorben!“ Und der Text zur Leichenrede war: „Ei du frommer und getreuer Knecht! du bist uͤber Weniges getreu gewesen, ich will dich uͤber Viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude!“ Sollte einer meiner Leser nach Florenburg kommen, gegen die Kirchthuͤr uͤber, da, wo der Kirchhof am hoͤchsten ist, da schlaͤft Vater Stilling auf dem Huͤgel. Sein Grab bedeckt kein praͤchtiger Leichstein; aber oft fliegen im Fruͤhling ein Paar Taͤubchen einsam hin, girren und liebkosen sich zwischen dem Gras und Blumen, die aus Vater Stillings Moder her- vorgruͤnen. Stillings Schriften. I. Band. 7 II. Heinrich Stilling’s Jünglingsjahre. Eine wahrhafte Geschichte . 7 * Heinrich Stillings Jünglingsjahre. V ater Stilling war zu den ruhigen Wohnungen seiner Voreltern hingegangen, und in seinem Hause ruhte alles in trauriger Todesstille. Seit mehr als hundert Jahren hatte eine jede Holzart, ein jedes Milchfaß, und jedes andere Haus- geraͤthe seinen bestimmten Ort, der vom langen Gebrauch glatt und polirt war. Ein jeder Nachbar und Freund, aus der Naͤhe und Ferne, fand immer alles in gewohnter Ordnung: und das macht vertraulich. — Man trat in die Hausthuͤr, und war daheim. — Aber nun hing alles oͤd und still; Ge- sang und Freude schwiegen, und am Tisch blieb seine Stelle leer; Niemand getraute sich, sich hinzusetzen, bis sie Hein- rich endlich einnahm, aber er fuͤllte sie nur halb aus. Margarethe trauerte indessen still und ohne Klagen; Heinrich aber redete viel mit ihr von seinem Großvater. Er dachte sich den Himmel wie eine herrliche Gegend von Waͤldern, Wiesen und Feldern, wie sie im schoͤnsten Mai gruͤnen und bluͤ- hen, wenn der Suͤdwind daruͤber her faͤchelt, und die Sonne jedem Geschoͤpfe Leben und Gedeihen einfloͤßt. Dann sah er Vater Stilling mit hellem Glanz ums Haupt einhertreten, und ein silberweiß Gewand um ihn herabfließen. Auf diese Vorstellung bezogen sich alle seine Reden. Eins- mals fragte ihn Margarethe : Was meinst du, Heinrich ! was dein Großvater jetzt machen wird? Er antwortete: er wird nach dem Orion, nach dem Sirius, dem Wagen und dem Siebengestirn reisen und alles wohl besehen, und dann wird er sich erst recht verwundern, und sagen, wie er so oft gesagt hat: O welch ein wunderbarer Gott! — Dazu hab’ ich aber keine Lust, erwiederte Margarethe ; was werd’ ich denn da ma- chen? Heinrich versetzte: so wie es Marie machte, die zu den Fuͤßen Jesus saß. Mit dergleichen Unterredungen wurde das Andenken an den seligen Mann oft ernenert. Die Haushaltung konnte auf dem Fuß, so wie sie jetzt stand, nicht lange bestehen, deßwegen forderte die alte Mut- ter ihren Eidam Simon mit seiner Frau Elisabeth wie- der nach Haus. Denn sie hatten an einem andern Ort Haus und Hof gepachtet, so lange der Vater lebte. Sie kamen mit ihren Kindern und Geraͤthe, und uͤbernahmen das vaͤterliche Erbe; alsbald wurde alles fremd, man brach eine Wand der Stube ein, und baute sie vier Schuh weiter in den Hof. Si- mon hatte nicht Raum genug; er war kein Stilling — und der eichene Tisch voll Segen und Gastfreiheit, der alte biedere Tisch wurde mit einem gelben ahornenen, voller ver- schlossener Schubladen verwechselt; er bekam seine Stelle auf dem Balken hinter dem Schornstein. — Heinrich wallfahr- tete zuweilen hin, legte sich neben ihn auf den Boden, und weinte. Simon fand ihn einmal in dieser Stellung, er fragte: Heinrich , was machst du da? Dieser antwortete: ich weine um den Tisch. Der Oheim lachte, und sagte: Du magst wohl um ein altes eichenes Brett weinen! Heinrich wurde aͤrger- lich und versetzte: dieses Gewerbe dahinten, und diesen Fuß da, und diese Ausschnitte am Gewerbe hat mein Großvater gemacht, — wer ihn lieb hat, kann das nicht zerbrechen. Simon wurde zornig und erwiederte: er war mir nicht groß genug, und wo sollt’ ich denn den meinigen lassen? Oheim! sagte Heinrich, den solltet ihr hieher gestellt haben, bis meine Großmutter todt ist, und wir andern fort sind. Indessen veraͤnderte sich alles; das sanfte Wehen des Stil- ling’schen Geistes verwandelte sich ins Gebrause einer aͤngst- lichen Begierde nach Geld und Gut. Margarethe empfand dieses, und mit ihr ihre Kinder; sie zog sich zuruͤck in einen Winkel hinter den Ofen, und da verlebte sie ihre uͤbrigen Jahre; sie wurde starrblind, doch hinderte sie dieses nicht an ihrem Flachsspinnen, womit sie ihre Zeit zubrachte. Vater Stilling ist hin, nun will ich seinem Enkel, dem jungen Heinrich , auf dem Fuß folgen, wo er hingeht, alles Andere soll mich nicht aufhalten. Johann Stilling war nun Schoͤffe und Landmesser; Wilhelm Schulmeister zu Tiefenbach; Mariechen Magd bei ihrer Schwester Elisabeth ; die andern Toͤch- ter waren aus dem Hause verbeirathet, und Heinrich ging nach Florenburg in die lateinische Schule. Wilhelm hatte eine Kammer in Stilling ’s Haus, auf derselben stand ein Bett, worin er mit seinem Sohn schlief, und am Fenster war ein Tisch mit dem Schneidergeraͤthe; denn sobald als er von der Schule kam, arbeitete er an seinem Hand- werk. Des Morgens fruͤh nahm Heinrich seinen Schulsack, worin nebst den noͤthigen Schulbuͤchern und einem Butterbrod fuͤr den Mittag, auch die Historia von den vier Haymonskin- dern oder sonst ein aͤhnliches Buch nebst einer Hirtenfloͤte sich befanden; sobald er dann gefruͤhstuͤckt hatte, machte er sich auf den Weg, und wenn er hinaus vor’s Dorf kam, so nahm er sein Buch heraus und las waͤhrend dem Gehen; oder er trillerte alte Romanzen und andere Melodien auf seiner Floͤte. Das Lateinlernen wurde ihm gar nicht schwer, und er behielt dabei Zeit genug, alte Geschichten zu lesen. Des Sommers ging er alle Abend nach Haus, des Winters aber kam er nur Samstags Abend, und ging des Montags Morgen wieder fort; dieses waͤhrte vier Jahre, doch blieb er aufs letzte des Sommers uͤber viel zu Haus und half seinem Vater am Schnei- derhandwerk oder er machte Knoͤpfe. Der Weg nach Florenburg und die Schule selber mach- ten ihm manche vergnuͤgte Stunden. Der Schulmeister war ein sanfter, vernuͤnftiger Mann und wußte zu geben und zu nehmen. Des Nachmittags nach dem Essen sammelte Stil- ling einen Haufen Kinder um sich her, ging mit ihnen hin- aus aufs Feld oder an einen Bach, und dann erzaͤhlte er ihnen allerhand schoͤne, empfindsame Historien, und wenn er sich ausgeleert hatte, so mußten Andere erzaͤhlen. Einsmals wa- ren ihrer auch Etliche zusammen auf einer Wiese, es fand sich ein Knabe herzu, dieser fing an: Hoͤrt, Kinder! ich will euch was erzaͤhlen: „Neben uns wohnt der alte Fruͤhling , ihr „wißt, wie er daher geht und so an seinem Stock zittert: er „hat keine Zaͤhne mehr, auch hoͤrt und sieht er nicht viel. Wenn „er denn so da am Tisch saß und zitterte, so verschuͤttete er „immer Vieles, auch floß ihm zuweilen Etwas wieder aus „dem Mund. Das eckelte dann seinem Sohn und seiner Schnur, „und deßwegen mußte der alte Großvater endlich hinter dem „Ofen im Eck essen; sie gaben ihm etwas in einem irdenen „Schuͤsselchen und noch dazu nicht einmal satt. Ich hab’ „ihn wohl sehen essen, er sah so betruͤbt nach dem Tisch, und „die Augen waren ihm dann naß. Nun hat er ehegestern sein „irdenes Schuͤsselchen zerbrochen. Die junge Frau keiffte sehr „mit ihm, er sagte aber nichts, sondern seufzte nur. Da kauf- „ten sie ihm ein hoͤlzernes Schuͤsselchen fuͤr ein paar Heller, „da mußte er gestern Mittag zum Erstenmal daraus essen; „wie sie so da sitzen, so schleppt der kleine Knabe von vier- „thalb Jahr auf der Erde kleine Brettchen zusammen. Der „junge Fruͤhling fragte: was machst du da, Peter? Ho ! „sagte das Kind, ich mach’ ein Troͤglein, daraus sol- „ len Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin . „Der junge Fruͤhling und seine Frau sahen sich eine Weile „an, fingen endlich an zu weinen und holten alsofort den alten „Großvater an den Tisch und ließen ihn mit essen.“ Die Kinder sprangen in die Hoͤhe, klaschten in die Haͤnde, lachten und riefen: das ist recht artig; sagte das der kleine Peter? Ja, versetzte der Knabe, ich bin dabei gestanden, wie’s geschah. Heinrich Stilling aber lachte nicht, er stand da und sah vor sich nieder; die Geschichte drang ihm durch Mark und Bein bis ins Innerste seiner Seele; end- lich fing er an: das sollte meinem Großvater widerfahren seyn! Ich glaube, er waͤre von seinem hoͤlzernen Schuͤsselchen auf- gestanden, in die Ecke der Stube gegangen und dann haͤtte er sich hingestellt und gerufen: Herr, staͤrke mich in dieser Stube, daß ich mich einst raͤche an diesen Philistern! Dann haͤtte er sich gegen den Eckpfosten gestraͤubt und das Haus eingeworfen. Sachte! sachte! Stilling ! redete ihm der groͤßten Knaben einer ein, das waͤre doch von deinem Groß- vater ein wenig zu arg gewesen. Du hast recht! sagte hein- rich ; aber denk! es ist doch recht satanisch: wie oft hat wohl der alte Fruͤhling seinen Jungen auf dem Schoos ge- habt, und ihm die besten Brocken in den Mund gesteckt? Es waͤre doch kein Wunder, wenn einmal ein feuriger Drache um Mitternacht, wenn das Viertel des Mondes eben untergegan- gen ist, sich durch den Schornstein eines solchen Hauses hin- unterschlengerte und alles Essen vergiftete. Wie er eben auf den Drachen kam, ist kein Wunder, denn er hatte selbsten vor einigen Tagen des Abends, als er nach Haus ging, einen großen durch die Luft fliegen sehen, und er glaubte bis jetzt noch fest, daß es einer von den obersten Teufeln selbst gewesen. So verfloß die Zeit unter der Hand, und es war nun bald an dem, daß er die lateinische Schule nach und nach verlas- sen und seinem Vater am Handwerk helfen mußte; doch die- ses war schweres Leiden fuͤr ihn; er lebte nur in den Buͤ- chern, und es daͤuchte ihm immer, man ließe ihm nicht Zeit genug zum Lesen; deßwegen sehnte er sich unbeschreiblich, ein- mal Schulmeister zu werden. Dieses war in seinen Augen die hoͤchste Ehrenstelle, die er jemals zu erreichen glaubte. Der Gedanke, ein Pastor zu werden, war zu weit jenseits sei- ner Sphaͤre. Wenn er sich aber zuweilen hinaufschwung, sich auf die Kanzel dachte und sich dazu vorstellte, wie selig es sey, ein ganzes Leben unter Buͤchern hinzubringen, so erweiterte sich sein Herz, er wurde von Wonne durchdrungen, und dann fiel ihm wohl zuweilen ein: Gott hat mir diesen Trieb nicht umsonst eingeschaffen, ich will ruhig seyn, Er wird mich leiten, und ich will Ihm folgen . Dieser Enthusiasmus verleitete ihn zuweilen, wenn seine Leute nicht zu Haus waren, eine lustige Comoͤdie zu spielen; er versammelte so viel Kinder um sich her, als er zusammen- treiben konnte, hing einen schwarzen Weiberschurz auf den Ruͤcken, machte sich einen Kragen von weißem Papier, trat alsdann auf einen Lehnstuhl, soͤ, daß er die Lehne vor sich hatte, und dann fing er mit einem Anstand an zu Predigen, der alle Zuhoͤrer in Erstaunen setzte. Dieses that er oft, denn es war auch sein einziges Kinderspiel, das er jemalen mag getrieben haben. Nun trug es sich einsmalen zu, als er recht heftig deklamirte, und seinen Zuhoͤrern die Hoͤlle heiß machte, daß Herr Pastor Stollbein auf einmal in die Stube trat; er laͤchelte nicht oft, doch konnte er’s jetzt nicht verbeißen; Heinrich lachte aber nicht, sondern er stand wie eine Bildsaͤule da, blaß wie die Wand, und das Weinen war ihm naͤher als das Lachen; seine Zuhoͤrer stellten sich alle an die Wand und falteten die Haͤnde. Heinrich sah den Pastor furchtsam an, ob er viel- leicht den Rohrstab aufheben moͤchte, um ihn zu schlagen; denn das war so seine Gewohnheit, wenn er die Kinder spie- len sah; doch er that’s jetzt nicht, er sagte nur: geh herunter und stell dich da hin, wirf den naͤrrischen Anzug von dir! Hein- rich gehorchte gern; Stollbein fuhr fort: „Ich glaub’ du hast wohl den Pastor im Kopf?“ Ich hab’ kein Geld zu studiren. „Du sollst nicht Pastor, sondern Schulmeister werden!“ Das will ich gern, Herr Pastor! aber wenn unser Herr Gott nun haben wollte, daß ich Pastor oder ein anderer ge- lehrter Mann werden sollte, muß ich dann sagen: Nein, lie- ber Gott! ich will Schulmeister bleiben, der Herr Pastor wills nicht haben? „Halt’s Maul, du Esel! weißt du nicht, wen du vor dir hast?“ Nun catechisirte der Pastor die Kinder alle, darin hatte er eine vortreffliche Gabe. Bei naͤchster Gelegenheit suchte Herr Stollbein den Wil- helm zu bereden, er moͤchte doch seinen Sohn studiren lassen, er versprach sogar, Vorschub zu verschaffen: allein dieser Berg war zu hoch, er ließ sich nicht ersteigen. Heinrich kaͤmpfte indessen in seinem beschwerlichen Zu- stand rechtschaffen; seine Neigung zum Schulhalten war un- aussprechlich; aber nur blos aus dem Grund, um des Hand- werks los zu werden und sich mit Buͤchern beschaͤftigen zu koͤnnen; denn er fuͤhlte selbst gar wohl, daß ihm die Unter- richtung anderer Kinder ewige Langeweile machen wuͤrde. Doch machte er sich das Leben so ertraͤglich, als es ihm moͤglich war. Die Mathematik nebst alten Historien und Ritterge- schichten war sein Fach; denn er hatte wirklich den Tobias Beutel und Bions mathematische Werkschule ziemlich im Kopf; besonders ergoͤtzte ihn die Sonnenuhrkunst uͤber die Maße. Es sah komisch a wie er sich den Winkel, in wel- chem er saß und naͤhte, so nach seiner Phantasie ausstaffirt hatte: die Fensterscheiben waren voll Sonnenuhren, inwendig vor dem Fenster stand ein viereckigter Klotz, in Gestalt eines Wuͤr- fel, mit Papier uͤberzogen und auf allen fuͤnf Seiten mit Son- nenuhren bezeichnet, deren Zeiger abgebrochene Naͤhnadeln waren: oben unter der Stubendecke war gleichfalls eine Son- nenuhr, die von einem Stuͤcklein Spiegel im Fenster erleuch- tet wurde; und ein astronomischer Ring von Fischbein hing an einem Faden vor dem Fenster; dieser mußte auch die Stelle der Taschenuhr vertreten, wenn er ausging. Alle diese Uhren waren nicht allein gruͤndlich und richtig gezeichnet, sondern er verstand auch schon dazumal die gemeine Geometrie nebst dem Rechnen und Schreiben aus dem Grund, ob er gleich nur ein Knabe von zwoͤlf Jahren und ein Lehrjunge im Schneiderhand- werk war. Der junge Stilling fing auch nunmehr an, zu Herrn Stollbein in die Catechisation zu gehen; das war ihm nun zwar eine Kleinigkeit, allein es hatte doch auch seine Beschwer- den; denn da der Pastor immer ein Aug auf ihn hatte, so ent- deckte er auch immer Etwas an ihm, das ihm nicht gefiel; zum Beispiel: wenn er in die Kirche oder in die Catechisa- tionsstube kam, so war er immer der Vorderste, und hatte also auch immer den obersten Stand; dieses konnte nun der Pa- stor gar nicht leiden, denn er liebte an andern Leuten die De- muth ungemein. Einsmals fuhr er ihn an und sagte: „Warum bist du immer der Vorderste?“ Er antwortete: wenns Lernen gilt, so bin ich nicht gern der Hinterste. „Ei, weißt du Schlingel kein Mittel zwischen Hinten und Vornen?“ Stilling haͤtte gern noch ein Woͤrtchen dazu gesetzt, al- lein er fuͤrchtete sich, den Pastor zu erzuͤrnen. Herr Stollbein spazirte die Stube ab, und indem er wieder heraufkam, sagte er laͤchelnd: „ Stilling ! was heißt das auf deutsch: medium tenuere beati ?“ Das heißt: die Seligen haben den Mittelweg gehalten; doch daͤucht mir, man koͤnnte auch sagen: plerique medium tenentes sunt damnati. (Die nehr esten Leute sind verdammt, die das Mittel gehalten haben, d. i. die weder kalt noch warm sind.) Herr Stollbein stutzte, sah ihn an und sagte: Junge! ich sage dir, du sollst das Recht haben, voran zu stehen, du hast vortrefflich geantwortet. Doch nun stand er nie wieder vornen, damit ihm die andern Kindern nicht boͤs werden moͤch- ten. Ich weiß nicht, ob es Feigherzigkeit oder ob es Demuth war. Nun fragte ihn Herr Stollbein wieder: Warum gehst du nicht an deinen Ort? Er antwortete: Wer sich selbst er- niedriget, der soll erhoͤhet werden. Schweig! erwiederte der Pastor, du bist ein vorwitziger Bursche. Dieses ging nun so seinen Gang fort bis ins Jahr 1755 auf Ostern, da Heinrich Stilling vierzehn und ein halb Jahr alt war; vierzehn Tage vor dieser Zeit ließ ihn Herr Pastor Stollbein allein vor sich kommen und sagte zu ihm: Hoͤr’, Stilling , ich wollte gern einen braven Kerl aus dir machen, du mußt aber huͤbsch fromm und mir, deinem Vor- gesetzten, gehorsam seyn; auf Ostern will ich dich mit noch andern, die aͤlter sind, als du, zum heiligen Abendmahl ein- segnen, und dann will ich sehen, ob ich dich nicht zum Schul- meister machen kann. Stilling huͤpfte das Herz vor Freu- den, er dankte dem Pastor und versprach, alles zu thun, was er haben wollte. Das gefiel dem alten Manne von Herzen, er ließ ihn im Frieden gehen, und hielt sein Wort treulich; denn auf Ostern ging er zum Nachtmahl, und alsofort wurde er zum Schulmeister nach Zellberg bestimmt, welches Amt er den ersten Mai antreten mußte. Die Zellberger ver- langten auch mit Schmerzen nach ihm; denn sein Ruf war weit und breit erschollen. Die Wonne laͤßt sich nicht ausspre- chen, welche der junge Stilling hieruͤber empfand, er konnte kaum den Tag erwarten, der zum Antritt seines Amts be- stimmt war. Zellberg liegt eben hinter der Spitze des Gillers , man geht von Tiefenbach gerade den Wald hinauf; sobald man auf die Hoͤhe kommt, hat man vor sich ein großes ebenes Feld, nahe zur rechten Seite den Wald, dessen hundertjaͤhrige Ei- chen und Maibuchen in gerader Linie gegen Osten zu, wie eine preußische Wachtparade, hingepflanzt stehen und den Himmel zu tragen scheinen; fast ostwaͤrts am Ende des Waldes erhebt sich ein buschigter Huͤgel, auf dem Hoͤchsten oder auch der Haͤngesberg genannt; dieses ist der hoͤchste Gipfel von ganz Westphalen . Von Tiefenbach bis dahin hat man drei Viertelstund bestaͤndig gerad und steil aufzusteigen. Lin- ker Hand liegt eine herrliche Flur, die sich gegen Norden in einen Huͤgel von Saatland erhebt, dieser heißt: auf der Antonius-Kirche . Vermuthlich hat in alten Zeiten eine Kapelle da gestanden, die diesem Heiligen gewidmet gewesen. Vor diesem Huͤgel, suͤdwaͤrts, liegt ein schoͤner herrschaftli- cher Meierhof, der von Paͤchtern bewohnt wird. Nordostwaͤrts senkt sich die Flaͤche in eine vortreffliche Wiese, die sich zwi- schen buschigten Huͤgeln herumdraͤngt; zwischen dieser Wiese und dem Hoͤchsten geht durchs Gebuͤsch ein gruͤner Rasen- weg vom Feld aus laͤngs die Seite des Huͤgels fort, bis er sich endlich im feierlichen Dunkel dem Auge entzieht; es ist ein bloßer Holzweg, und von der Natur und dem Zufall so entstanden. Sobald man uͤber den hoͤchsten Huͤgel hin ist, so kommt man an das Dorf Zellberg ; dieses liegt also an der Ostseite des Gillers , da, wo in einer Wiese ein Bach entspringt, der endlich zum Fluß wird und nicht weit von Cassel in die Weser faͤllt. Die Lage dieses Orts ist be- zaubernd schoͤn, besonders im spaͤtern Fruͤhling, im Sommer und im Anfange des Herbsts; der Winter aber ist daselbst fuͤrch- terlich. Das Geheul des Sturms und der Schwall von Schnee, welcher vom Wind getrieben hinstuͤrzt, verwandelt dieses Pa- radies in eine Norwegische Landschaft. Dieser Ort war also der erste, wo Heinrich Stilling die Probe seiner Faͤhig- keiten ablegen sollte. Auf den kleinen Doͤrfern in diesen Gegenden wird vom er- sten Mai bis auf Martini und also den Sommer durch woͤ- chentlich nur zwei Tage, naͤmlich Freitags und Samstags, Schul gehalten; und so war’s auch zu Zellberg. Stil- ling ging Freitags Morgens mit Sonnenaufgang hin und kam des Sonntags Abends wieder. Dieser Gang hatte fuͤr ihn etwas Unbeschreibliches; — besonders wenn er des Mor- gens vor Sonnenaufgang auf der Hoͤhe aufs Feld kam, und die Sonne dort aus der Ferne zwischen den buschigten Huͤgeln aufstieg; vor ihr her saͤuselte ein Windchen, und spielte mit seinen Locken; dann schmolz sein Herz, er weinte oft, und wuͤnschte Engel zu sehen, wie Jakob zu Mahanaim . Wenn er nun da stand und in Wonnegefuͤhl zerschmolz, so drehte er sich um und sah Tiefenbach unten im naͤchtlichen Nebel liegen. Zur Linken senkte sich ein großer Berg, der hitzige Stein genannt, vom Giller herunter, zur Rechten vorwaͤrts lagen ganz nahe die Ruinen des Geisenberger Schlosses. Da traten dann alle Scenen, die da zwischen seinem Vater und seiner seligen Mutter, zwischen seinem Vater und ihm vorgegangen waren, als so viele vom herrlichsten Licht erleuch- tete Bilder vor seine Seele; er stand da wie ein Trunkener und uͤberließ sich ganz der Empfindung. Dann schaute er in die Ferne; zwoͤlf Meilen suͤdwaͤrts lag der Taunus oder Feld- berg nahe bei Frankfurt , acht bis neun Meilen westwaͤrts lagen vor ihm die sieben Berge am Rhein , und so fort eine unzaͤhlbare Menge weniger beruͤhmter Gebirge; aber nord- westlich lag ein hoher Berg, der mit seiner Spitze dem Giller fast gleich kam; dieser verdeckte Stillingen die Aussicht uͤber die Schaubuͤhne seiner kuͤnftigen großen Schicksale. Hier war der Ort, wo Heinrich eine Stunde lang ver- weilen konnte, ohne sich selbst recht bewußt zu seyn; sein gan- zer Geist war Gebet, inniger Friede und Liebe gegen den All- maͤchtigen, der das Alles gemacht hatte. Zuweilen wuͤnschte er auch wohl ein Fuͤrst zu seyn, um eine Stadt auf dieses Gefilde bauen zu koͤnnen; alsofort stand sie schon da vor seiner Einbildung; auf der Antonius-Kirche hatte er seine Residenz, auf dem Hoͤchsten sah er das Schloß der Stadt, so wie Montalban in den Holzschnitten im Buch von der schoͤnen Melusine ; dieses Schloß sollte Hein- richsburg heißen; wegen des Namens der Stadt stand er noch immer im Zweifel, doch war ihm der Name Stillin- gen der schoͤnste. Unter diesen Vorstellungen stieg er auf vom Fuͤrsten zum Koͤnige, und wenn er aufs Hoͤchste gekommen war, so sah er Zellberg vor sich liegen, und er war nichts weiter, als zeitiger Schulmeister daselbst, und so wars ihm dann auch recht, denn er hatte Zeit zum Lesen. An diesem Ort wohnte ein Jaͤger, Namens Kruͤger , ein redlicher, braver Mann; dieser hatte zwei junge Knaben, aus denen er gern etwas rechts gemacht haͤtte. Er hatte den alten Stilling herzlich geliebt, und so liebte er auch seine Kinder. Diesem war es Seelenfreude, den jungen Stilling als Schulmeister in seinem Dorf zu sehen. Daher entschloß er sich, denselben zu sich ins Haus zu nehmen. Heinrichen war dieses eben recht, sein Vater machte alle Kleider fuͤr den Jaͤger und seine Leute, und deßwegen war er daselbst am mehresten bekannt; uͤberdem wußte er, daß Kruͤger viel rare Buͤcher hatte, die er recht zu nuͤtzen gedachte. Er quartirte sich daselbst ein; und das erste, was er vornahm, war die Untersuchung der Kruͤgerischen Bibliothek; er schlug einen alten Folianten auf, und fand eine Uebersetzung Homers in deutsche Verse; er huͤpfte vor Freuden, kuͤßte das Buch, druͤckte es an seine Brust, bat sichs aus und nahm es mit in die Schule, wo ers in der Schublade unter dem Tisch sorgfaͤltig verschloß und so oft darin las, als es ihm nur moͤglich war. Auf der lateinischen Schule hatte er den Virgilius erklaͤrt und bei der Gelegen- heit so viel vom Homer gehoͤrt, daß er vorher Schaͤtze darum gegeben haͤtte, um ihn nur einmal lesen zu koͤnnen; nun bot sich ihm hier die Gelegenheit von selbst dar, und er nutzte sie auch rechtschaffen. Schwerlich ist die Ilias seit der Zeit, daß sie in der Welt gewesen, mit mehrerem Entzuͤcken und Empfindung gelesen worden. Hector war ein Mann, Achill aber nicht, Aga- memnon noch weniger; mit einem Wort: er hielt es durch- gehends mit den Trojanern , ob er gleich den Parias mit seiner Helenen kaum des Andenkens wuͤrdigte; beson- ders, weil er immer zu Haus blieb, da er doch die Ursach des Kriegs war. Das ist doch ein unertraͤglicher, schlechter Kerl! dachte er oft bei sich selber. Niemand dauerte ihn mehr als der alte Priam . Die Bilder und Schilderungen des Homers waren so sehr nach seinem Geschmack, daß er sich nicht enthal- ten konnte, laut zu jauchzen, wenn er ein so recht lebhaftes Wort fand, das der Sache angemessen war; damals waͤr’ die rechte Zeit gewesen, den Ossian zu lesen. Diese hohe Empfindung hatte aber auch noch Nebenursachen, die ganze Gegend trug dazu bei. Man denke sich einen bis zur hoͤchsten Stufe des Enthusiasmus empfindsamen Geist, dessen Geschmack natuͤrlich und noch nach keiner Mode ge- stimmt war, sondern der nichts als wahre Natur empfunden, gesehen und studirt hatte, der ohne Sorge und Gram hoͤchst zufrieden mit seinem Zustand lebte, und allem Vergnuͤgen offen stand; ein solcher Geist liest den Homer in der schoͤnsten und natuͤrlichsten Gegend von der Welt, und zwar des Mor- gens in der Fruͤhstunde. Man stelle sich die Lage dieses Orts vor; er saß in der Schule an zwei Fenstern, die nach Osten gekehrt waren; diese Schule stand an der Mittagsseite, am Abhang des hoͤchsten Huͤgels, um dieselbe her waren alte Bir- ken mit schneeweißen Staͤmmen auf einen gruͤnen Rasen ge- pflanzt, deren dunkelgruͤne Blaͤtter bestaͤndig fort im ewigen Winde flisperten. Gegen Sonnenaufgang war ein praͤchtiges Wiesenthal, das sich an buschigte Huͤgel und Gebirge anschloß. Gegen Mittag lag, etwas niedriger, das Dorf, hinter demsel- ben eine Wiese, und dann stieg unvermerkt eine Flur von Fel- dern auf, die ein Wald begraͤnzte. Gegen Abend in der Naͤhe war der hohe Giller mit seinen tausend Eichen. Hier las Stilling den Homer im Mai und Junius, wenn ohne das die ganze halbe Welt schoͤn ist und in der Kraft ihres Erhalters jauchzt. Ueber das alles waren auch seine Bauern gute, natuͤrliche Leute, die bestaͤndig mit alten Sagen und Erzaͤhlungen schwan- ger gingen und bei jeder Gelegenheit damit herauskramten; dadurch wurde der Schulmeister vollends recht mit seinem Ele- ment genaͤhrt und zu Empfindungen aufgelegt. Er ging eins- mals hinter der Schule den hoͤchsten Huͤgel hinauf spazieren, oben auf der Spitze traf er einen alten Bauern aus seinem Dorf, der Holz sammelte; sobald dieser den Schulmeister kom- men sah, hoͤrte er auf zu arbeiten und sagte: „Es ist gut, Schulmeister, daß du kommst, ich bin doch „muͤde; nun hoͤr’, was ich dir sagen will, ich denke so eben „dran. Ich und dein Großvater haben vor dreißig Jahren „einmal hier Kohlen gebrannt, da hatten wir viel Freude! „wir kamen immer zu einander, aßen und tranken zusammen „und redeten dann immer von alten Geschichten. Du siehst „hier rund umher, so weit dein Auge reicht, keinen Berg, aber „wir besannen uns auf seinen Namen und den Ort, wo er „am naͤchsten liegt; das war uns dann nun so recht eine Lust, „wenn wir da so lagen und uns Geschichten erzaͤhlten, und „zugleich den Ort zeigen konnten, wo sie geschehen waren.“ Nun hielt der Bauer die linke Hand uͤber die Augen, und mit der rechten wies er gegen Abend und Nordwest hin und sagte: „Da, etwas niederwaͤrts, siehst du das Geisenber- „ ger Schloß, gerad hinter demselben, dort weit weg, ist ein „hoher Berg mit drei Koͤpfen, der mittelste heißt noch der „ Kindelsberg , da stand vor uralten Zeiten ein Schloß, „das auch so hieß; da wohnten Ritter drauf, die waren sehr „gottlose Leute. Da zur Rechten hatten sie, an dem Kopf, „ein sehr schoͤnes Silber-Bergwerk, wovon sie stockreich wur- „den. Nu, was geschah! Der Uebermuth ging so weit, daß „sie sich silberne Kegel machen ließen; wenn sie nun spielten, „so warfen sie nach diesen Kegeln mit silbernen Kloͤtzen; dann „backten sie große Kuchen von Semmelmehl, wie Kutschen- „raͤder, machten in der Mitte Loͤcher darein und steckten sie „an die Achsen; das war nun eine himmelschreiende Suͤnde, „denn wie viele Menschen haben kein Brod zu essen! Unser „Herr Gott ward es auch endlich muͤde; denn es kam des „Abends spaͤt ein weißes Maͤnnchen ins Schloß, das sagte „ihnen an, daß sie Alle binnen drei Tagen sterben muͤßten, „und zum Wahrzeichen gab es ihnen, daß diese Nacht eine „Kuh zwei Laͤmmer werfen wuͤrde. Das geschah auch, aber „Niemand kehrte sich dran, als der juͤngste Sohn, der Ritter „ Sigmund hieß, und eine Tochter, die eine gar schoͤne Jung- „frau war. Diese beteten Tag und Nacht. Die Andern star- Stilling’s Schriften. I. Bd. 8 „ben an der Pest und diese Beiden blieben am Leben. Nun „war aber hier auf dem Geisenberg auch ein junger kuͤh- „ner Ritter, der ritt bestaͤndig ein großes schwarzes Pferd, „deßwegen hieß man ihn auch nicht anders, als den Ritter mit „dem schwarzen Pferd. Er war ein gottloser Mensch, der „immer raubte und mordete. Dieser Ritter gewann die schoͤne „Jungfrau auf dem Kindelsberg lieb und wollte sie ab- „solut haben, aber es nahm ein schlechtes Ende. Ich kann „noch ein altes Lied von der Geschichte.“ Der Schulmeister sagte: ich bitt’ euch, Kraft (so hieß der Bauer), sagt mir doch das Lied vor! Kraft antwortete: das will ich gern thun, ich will dir’s wohl singen. Er fing an: Zu Kindelsberg, auf dem hohen Schloß, Steht eine alte Linde, :,: Von vielen Aesten kraus und groß, Sie saust am kühl’gen Winde. :,: Da steht ein Stein, ist breit, ist groß, Gar nah an dieser Linde, :,: Ist grau und roth von altem Moos, Steht fest im kühl’gen Winde. :,: Da schläft eine Jungfrau den traurigen Schlaf, Die treu war ihrem Ritter, :,: Das war von der Mark ein edler Graf, Ihr wurde das Leben bitter. :,: Er war mit dem Bruder ins weite Land Zur Ritter-Fehde gegangen, :,: Er gab der Jungfrau die eiserne Hand, Sie weinte mit Verlangen. :,: Die Zeit, die war nun lang vorbei, Der Graf kam nun nicht wieder, :,: Mit Sorg’ und Thränen mancherlei Saß sie bei der Linde nieder. :,: Da kam der junge Rittersmann Auf seinem schwarzen Pferde, :,: Der sprach die Jungfrau freundlich an, Ihr Herze er stolz begehrte. :,: Die Jungfrau sprach: du kannst mich nie Zu deinem Weiblein haben; :,: Wenns dürr ist, das grüne Lindlein hie, Dann will ich dein Herze laben. :,: Die Linde war noch jung und schlank, Der Ritter sucht’ im Lande :,: Ein’ dürre Lind’ so groß, so lang, Bis er sie endlich fande. :,: Er ging wohl in dem Mondenschein, Grub aus die grüne Linde, :,: Und setzt die dürre dahinein, Belegt’s mit Rasen geschwinde. :,: Die Jungfrau stand des Morgens auf, Am Fenster war’s so lichte, :,: Des Lindleins Schatten spielt’ nicht drauf, Schwarz ward’s ihr vor dem Gesichte. :,: Die Jungfrau lief zur Linde hin, Setzt’ sich mit Weinen nieder, :,: Der Ritter kam mit stolzem Sinn, Begehrt ihr Herze wieder. :,: Die Jungfrau sprach in großer Noth: Ich kann dich nimmer lieben! :,: Der stolze Ritter stach sie todt, Das thät den Graf betrüben. :,: Der Graf kam noch denselben Tag, Er sah mit traurigem Muthe, :,: Wie da bei dürrer Linde lag Die Jungfrau in rothem Blute. :,: Er machte da ein tiefes Grab, Der Braut zum Ruhebette, :,: Und sucht’ eine Linde Berg auf und ab, Die setzt’ er an die Stätte. :,: Und einen großen Stein dazu, Der stehet noch im Winde, :,: Da schläft die Jungfrau in guter Ruh, Im Schatten der grünen Linde. :,: 8 * Stilling lauschte still, er durfte kaum Athem holen; die schoͤne Stimme des alten Kraft , die ruͤhrende Melodie und die Geschichte selber wirkten dergestalt auf ihn, daß ihm das Herz pochte; er besuchte den alten Bauern oft, der ihm dann das Lied so oft vorsang, bis ers auswendig konnte. Nun senkte sich die Sonne hinter den fernen blauen Berg; Kraft und der Schulmeister gingen den Huͤgel herab, die braunen und scheckigten Kuͤhe grasten in der Trift, ihre heisern Schellen klangen wiederhallend hin und her. Die Knaben liefen in den Hoͤfen herum und theilten ihr Butterbrod und Kaͤse zusammen; die Hausmuͤttern machten den Stall zurecht, und die Huͤhner flatschten, eins nach dem andern, hinauf zu ihrem Loch; noch einmal drehte sich der orangegelbe und rothbraune Hahn auf seinem Pfahl vor dem Loch herum und kraͤhte seinen Nachbarn gute Nacht; durch den Wald herab sprachen die Kohlenbrenner, die Quersaͤcke auf den Nacken, und freuten sich der nahen Ruhe. Heinrichs Stilling’s Schulmethode war seltsam und so eingerichtet, daß er wenig oder nichts dabei verlor. Des Morgens, sobald die Kinder in die Schule kamen und alle bei- sammen waren, so betete er mit ihnen und catechisirte sie in den ersten Grundsaͤtzen des Christenthums nach eigenem Gut- duͤnken ohne Buch; dann ließ er einen jeden ein Stuͤck lesen; wenn das vorbei war, so ermunterte er die Kinder, den Catechis- mus zu lernen, indem er ihnen versprach, schoͤne Historien zu erzaͤhlen, wenn sie ihre Aufgabe recht gut auswendig koͤnnen wuͤrden; waͤhrend der Zeit schrieb er ihnen vor, was sie nach- schreiben sollten, ließ sie noch einmal Alle lesen und dann kam’s zum Erzaͤhlen, wobei vor und nach alles erschoͤpft wurde, was er jemals in der Bibel, im Kaiser Octavianus, der schoͤnen Magelone und andern mehr gelesen hatte; auch die Zerstoͤrung der koͤniglichen Stadt Troja wurde mit vorgenommen. So war es auf seiner Schule Sitte und Gebrauch von einem Tag zum andern. Es laͤßt sich nie aussprechen, mit welchem Eifer die Kinder lernten, um nur fruͤh ans Erzaͤhlen zu kommen; waren sie aber muthwillig und nicht fleißig gewesen, so erzaͤhlte der Schulmeister nicht, sondern las selbst. Niemand verlor bei dieser seltsamen Manier zu unterwei- sen, als die Abc-Schuͤler und die am Buchstabiren waren; die- ser Theil des Schulamts war Stilling viel zu langweilig. Des Sonntags Morgens versammelten sich die Schulkinder um ihren angenehmen Lehrer, und so wanderte er mit seinem Gefolge unter den schoͤnsten Erzaͤhlungen nach Florenburg in die Kirche, und nach der Predigt in eben der Ordnung wie- der nach Haus. Die Zellberger waren indessen mit Stilling recht gut zufrieden, sie sahen, daß ihre Kinder lernten, ohne viel ge- zuͤchtigt zu werden; verschiedene hatten sogar ihre Freude an all den schoͤnen Geschichten, welche ihnen ihre Kinder zu er- zaͤhlen wußten. Besonders liebte ihn Kruͤger außerordent- lich, denn er konnte Vieles mit ihm aus dem Paralacelsus reden (so sprach der Jaͤger das Wort Paracelsus aus); er hatte eine altdeutsche Uebersetzung seiner Schriften, und da er ein sklavischer Verehrer aller der Maͤnner war, von de- nen er glaubte, daß sie den Stein Lapis gehabt haͤtten, so waren ihm Jakob Boͤhms , Graf Bernhards und des Paracelsus Schriften große Heiligthuͤmer. Stilling selber fand Geschmack darinnen, nicht blos wegen des Steins der Weisen, sondern weil er ganz hohe und herrliche Begriffe, besonders im Boͤhm , zu finden glaubte; wenn sie das Wort: Rad der ewigen Essenzien oder auch schielen der Blitz und andre mehr aussprachen, so empfanden sie eine ganz besondere Erhebung des Gemuͤths. Ganze Stunden lang forschten sie in magischen Figuren, bis sie manchmal Anfang und Ende verloren und meinten, die vor ihnen liegenden Zau- berbilder lebten und bewegten sich; das war dann so rechte Seelenfreude, im Taumel groteske Ideen zu haben und leb- haft zu empfinden. Allein dieses paradiesische Leben war von kurzer Dauer. Herr Pastor Stollbein und Herr Foͤrster Kruͤger waren Todt- feinde. Dieses kam daher: Stollbein war ein unumschraͤnk- ter Monarsch in seinem Kirchspiel; sein geheimes Raths- Collegium, ich meine das Consistorium, bestand aus lauter Maͤnnern, die er selber angeordnet hatte und von denen er voraus wußte, daß sie einfaͤltig genug waren, immer Ja zu sagen. Vater Stilling war der Letzte gewesen, der noch vom vorigen Prediger bestellet worden; daher fand er nirgends Widerstand. Er erklaͤrte Krieg und schloß Frieden, ohne Je- mand zu Rath zu ziehen; alles fuͤrchtete ihn und zitterte in seiner Gegenwart. Doch kann ich nicht sagen, daß das gemeine Wesen unter seiner Regierung sonderlich gelitten haͤtte; er hatte bei seinen Fehlern eine Menge guter Eigenschaften. Nur Kruͤger und einige der Vornehmsten zu Florenburg haß- ten ihn so sehr, daß sie fast gar nicht in die Kirche gingen, vielweniger bei ihm communicirten. Kruͤger sagte oͤffentlich: er sey vom boͤsen Geist besessen; und daher that er immer gerade das Gegentheil von dem, was der Pastor gerne sah. Nachdem Stilling einige Wochen zu Zellberg gewe- sen war, so beschloß Herr Stollbein , seinen neuen Schul- meister daselbst einmal zu besuchen; er kam des Vormittags um neun Uhr in die Schule; zum Gluͤck war Stilling we- der am Erzaͤhlen noch Lesen. Er wußte aber schon, daß er bei Kruͤger im Hause war, daher sah er ganz muͤrrisch aus, schaute umher und fragte: Was macht ihr mit den Schiefer- steinen auf der Schule? — ( Stilling hielt des Abends eine Rechenstunde mit den Kindern.) Der Schulmeister ant- wortete: Darauf rechnen die Kinder des Abends. Der Pa- stor fuhr fort: „Das kann ich wohl denken, aber wer heißt euch das?“ Heinrich wußte nicht, was er sagen sollte, er sah dem Pastor ins Gesicht und verwunderte sich; endlich erwiederte er laͤchelnd: Der mich geheißen hat, die Kinder Lesen, Schrei- ben und den Catechismus zu lernen, der hat mich auch gehei- ßen, sie im Rechnen zu unterrichten. „Ihr .... ich haͤtte bald was gesagt! lehrt sie erst einmal das Noͤthigste, und wenn sie das koͤnnen, dann lehrt sie auch Rechnen.“ Nun fing es an, Stillingen weich ums Herz zu werden. Das ist so seiner Natur gemaͤß, anstatt daß andere Leute boͤs und launigt werden, schießen ihm die Thraͤnen in die An- gen und die Backen herunter; es gibt aber auch einen Fall, in welchem er recht zornig werden kann: wenn man ihn oder auch sonst eine ernste und empfindsame Sache satyrisch behan- delt. Gott! versetzte er, wie soll ichs doch machen? Die wol- len haben, ich soll die Kinder rechnen lehren, und der Herr Pastor wills nicht haben! Wem soll ich nun folgen? „Ich hab in Schulsachen zu befehlen, sagte Stollbein , und eure Bauern nicht!“ und damit ging er zur Thuͤre hinaus. Stilling befahl alsofort, alle Schiefersteine herabzuneh- men und auf einen Haufen hinter dem Ofen unter die Bank zu legen; das wurde befolgt, doch schrieb ein jeder seinen Na- men mit dem Griffel auf den seinigen. Nach der Schule ging er zu dem Kirchen-Aeltesten, erzaͤhlte ihm den Vorfall und fragte ihn um Rath. Der Mann laͤchelte und sagte: Der Pastor wird so seine boͤse Laune gehabt haben, legt ihr die Steine zuruͤck, daß er sie nicht sieht, wenn er wie- der kommen sollte; fahrt ihr aber fort, die Kinder muͤssen doch Rechnen lernen! Er erzaͤhlte es auch Kruͤgern ; dieser glaubte, der Teufel habe ihn besessen, und nach seiner Meinung sollten nun auch die Maͤdchen sich Schiefersteine anschaffen und das Rechnen lernen, seine Kinder wenigstens sollten es nun zuerst vornehmen. Und das geschah auch; Stilling mußte den groͤß- ten Knaben sogar in der Geometrie unterrichten. So standen die Sachen den Sommer uͤber, aber Niemand vermuthete, was den Herbst geschah. Vierzehn Tage vor Mar- tini kam der Aelteste in die Schule und kuͤndigte Stilling im Namen des Pastors an, auf Martini die Schule zu ver- lassen und zu seinem Vater zuruͤckzukehren. Dieses war dem Schulmeister und den Schuͤlern ein Donnerschlag, sie weinten allzusammen. Kruͤger und die uͤbrigen Zellberger wur- den fast rasend; sie stampften mit den Fuͤßen und schwuren: der Pastor sollte ihnen ihren Schulmeister nicht nehmen. Allein Wilhelm Stilling , wie sehr er sich auch aͤrgerte, fand doch rathsamer, seinen Sohn zu sich zu nehmen, um ihn an seinem fernern Gluͤck nicht zu hindern. Des Sonntags Nach- mittags vor Martini stopfte der gute Schulmeister sein Biß- chen Kleider und Buͤcher in einen Sack, hing ihn auf den Ruͤcken und wanderte aus Zellberg das Hoͤchste hinauf, seine Schuͤler gingen truppenweise hinten nach und weinten; er selbst vergoß tausend Thraͤnen und beweinte die suͤßen Zeiten, die er zu Zellberg zugebracht hatte. Der ganze westliche Himmel sah ihm traurig aus, die Sonne verkroch sich hinter ein schwarzes Wolkengebirge, und er wanderte im Dunkel des Waldes den Giller hinunter. Des Montags Morgens setzte ihn sein Vater wieder in seinen alten Winkel an die Naͤhnadel. Das Schneiderhandwerk war ihm nun doppelt verdrießlich, nachdem er die Suͤßigkeit des Schulhaltens geschmeckt hatte. Das einzige, was ihm noch uͤbrig blieb, war, daß er seine alten Sonnenuhren wieder in Ordnung brachte und seiner Großmutter die Herrlichkeit des Homers erzaͤhlte, die sich dann auch alles wohl gefallen ließ und wohl gar Geschmack daran hatte, nicht so sehr aus eignem Naturtrieb, sondern weil sie sich erinnerte, daß ihr seliger Eberhard ein großer Liebhaber von dergleichen Sa- chen gewesen war. Heinrich Stilling ’s Leiden stuͤrmten nun mit voller Kraft auf ihn zu, er glaubte fest, er sey nicht zum Schneiderhand- werk geboren, und er schaͤmte sich von Herzen, so dazusitzen und zu Naͤhen; wenn daher jemand Ansehnliches in die Stube kam, so wurde er roth im Gesicht. Einige Wochen hernach begegnete dem Oheim Simon , Herr Pastor Stollbein im Fuhrwerk; als er den Pastor von Ferne her reiten sah, arbeitete er sich uͤber Hals und Kopf mit dem Ochsen und seiner Karre aus dem Wege auf das Feld, stellte sich mit dem Hute in der Hand neben den Ochsen hin, bis Herr Stollbein herzukam. „Nu, was macht euers Schwagers Sohn?“ Er sitzt am Tisch und naͤht! „Das ist recht! so will ich’s haben!“ Stollbein ritt fort und Simon fuhr seiner Wege nach Haus. Alsofort erzaͤhlte er Wilhelmen , was der Pastor gesagt hatte; Heinrich hoͤrte es mit groͤßtem Herzeleid, er- munterte sich aber wieder, als er sah, wie sein Vater mit auf- gebrachtem Gemuͤth das Naͤhzeug von sich warf, aufsprang und mit Heftigkeit sagte: und ich will haben, er soll Schul haben, sobald sich Gelegenheit dazu aͤußert! Simon versetzte: ich haͤtt’ ihn zu Zellberg gelassen, der Pastor wird doch auch zu bezwingen seyn. Das haͤtte wohl geschehen koͤnnen, antwortete Wilhelm , aber man hat ihn hernach doch immer auf dem Hals und wird seines Lebens nicht froh. Leiden ist besser als Streiten. Meinetwegen, fuhr Simon fort, ich scheer mich nichts um ihn, er sollte mir nur einmal zu nahe kommen! Wilhelm schwieg und dachte: das laͤßt sich in der Stube hinterm Ofen gut sagen. Die muͤhselige Zeit des Handwerks dauerte fuͤr jetzo nicht lange; denn vierzehn Tage vor Weihnachten kam ein Brief von Dorlingen aus der Westphaͤlischen Grafschaft Mark in Stilling ’s Hause an. Es wohnte daselbst ein reicher Mann, Namens Steifmann , welcher den jungen Stilling zum Haus-Informator verlangte. Die Bedinge waren: daß Herr Steifmann vom Neujahr an bis naͤchste Ostern Unterwei- sung fuͤr seine Kinder verlangte; dafuͤr gab er Stilling Kost und Trank, Feuer und Licht; fuͤnf Reichsthaler Lohn bekam er auch, allein dafuͤr mußte er von den benachbarten Bauern so viel Kinder in die Lehre nehmen, als sie ihm schicken wuͤr- den, das Schulgeld davon zog Steifmann ein; auf diese Weise hatte er die Schule fast umsonst. Die alte Margarethe, Wilhelm, Elisabeth, Ma- riechen und Heinrich berathschlagten sich hierauf uͤber die- sen Brief. Margarethe fing nach einiger Ueberlegung an: Wilhelm , behalte den Jungen bei dir! denk einmal! ein Kind so weit in die Fremde zu schicken, ist kein Spaß, es gibt wohl hier in der Naͤhe Gelegenheit fuͤr ihn. Das ist auch wahr! sagte Mariechen , mein Bruder Johann sagt oft: daß die Bauern da herum so grobe Leute waͤren, wer weiß, was sie mit dem guten Jungen anfangen werden, be- halt’ihn hier, Wilhelm! Elisabeth gab auch ihre Stimme; sie hielt aber dafuͤr, daß es besser sey, wenn sich Heinrich etwas in der Welt versuchte; wenn sie zu befehlen haͤtte, so muͤßte er ziehen. Wilhelm schloß endlich, ohne zu sagen warum: wenn Heinrich Lust zu gehen haͤtte, so waͤr’ er es wohl zufrieden. Ja wohl bin ich’s zufrieden! fiel er ein, ich wollte, daß ich schon da waͤr’! Margarethe und Marie- chen wurden traurig und schwiegen still. Der Brief wurde also von Wilhelm beantwortet und alles eingewilligt. Dorling en lag neun ganze Stunden von Tiefenbach ab. Vielleicht war seit hundert Jahren Niemand aus der Stilling’schen Familie so weit fortgewandert und so lang ab- wesend gewesen. Einige Tage vor Heinrichs Abreise trauer- ten und weinten Alle, nur er selber war innig froh. Wilhelm verbarg seinen Kummer so viel er konnte. Margarethe und Mariechen empfanden zu sehr, daß er ein Stilling war, deßwegen weinten sie am meisten, welches in den blin- den Staar-Augen der alten Großmutter erbaͤrmlich aussah. Der letzte Morgen kam, Alle versanken in Wehmuth. Wil- helm stellte sich hart gegen ihn; allein der Abschied machte ihn nur desto weicher. Heinrich vergoß auch viele Thraͤ- nen, aber er lief und wischte sie ab. Zu Lichthausen kehrte er bei seinem Oheim, Johann Stilling , ein, der ihm viel schoͤne Lehren gab. Nun kamen die Fuhrleute, die ihn mitnehmeu sollten, und Heinrich reiste freudig mit ih- nen fort. Die Gegenden, welche er in dieser Jahreszeit durchzureisen hatte, sahen recht melancholisch aus. Sie machten Eindruͤcke auf ihn, die ihn in gewisse Niedergeschlagenheit versetzten. Wenn Dorlingen in einer solchen Gegend liegt, dachte er immer, so wird mirs doch da nicht gefallen. Die Fuhrleute, mit denen er reiste, waren von da her zu Haus; er merkte oft, wie sie zusammen hinter ihm hergingen und uͤber ihn spotte- ten; denn weil er nichts mit ihnen sprach und etwas bloͤd aussah, so hielten sie ihn fuͤr einen Schafskopf, mit dem man machen koͤnnte, was man wollte. Zuweilen zupfte ihn einer von hinten her, und wenn er sich dann umsah, so stellten sie sich, als wenn sie wichtige Sachen unter sich auszumachen haͤtten. Dergleichen Behandlungen waren nun eben faͤhig, seinen Zorn zu reizen; er litt das ein paarmal, endlich drehte er sich um, sah sie scharf an und sagte: Hoͤrt, ihr Leute, ich bin und werd’ euer Schulmeister zu Dorlingen , und wenn eure Kinder so ungezogene Bengels sind, wie ich vermuthe, so werd’ ich Mittel wissen, ihnen andere Sitten beizubringen; das koͤnnt ihr ihnen sagen, wenn ihr nach Haus kommt! Die Fuhrleute sahen sich an, und bloß um ihrer Kinder willen lie- ßen sie ihn zufrieden. Des Abends spaͤt um neun Uhr kam er zu Dorlingen an. Steifmann betrachtete ihn vom Haupt bis zu Fuß, so auch seine Frau, Kinder und Gesinde. Man gab ihm zu essen, und darauf legte er sich schlafen. Als er des Morgens fruͤh erwachte, erschrack er sehr, denn er sah die Sonne, seinem Begriff nach, in Westen aufgehen, sie ruͤckte gegen Norden in die Hoͤhe und ging des Abends in Osten unter. Das wollte ihm gar nicht in den Kopf; und doch hatte er so viel von der Astronomie und Geographie begriffen, daß er wohl wußte, die Zellberger und Tiefenbacher Sonne sey eben dieselbe, die auch zu Dorlingenl euchte. Dieser seltsame Vorfall ver- ruͤckte ihm sein Concept, und jetzt wuͤnschte er von Herzen, seines Oheims Johann Compas zu haben, um zu sehen, ob auch die Magnetnadel mit der Sonne einig sey, ihn zu betruͤgen. Er fand zwar endlich die Ursache dieser Erschei- nung; er war den vorigen Abend spaͤt angekommen und hatte die allmaͤhlige Kruͤmmung des Thals nicht bemerkt. Allein er konnte doch seine Einbildung nicht bemeistern; alle Aussich- ten in die rohen und oͤden Gegenden kamen ihm auch aus die- sem Grunde traurig und fatal vor. Steifmann war reich, er hatte viel Geld, Guͤter, Och- sen, Kuͤhe, Schafe, Ziegen und Schweine, dazu seine Stahl- fabrik, worin Waaren verfertigt wurden, mit denen er Hand- lung trieb. Er hatte jetzt nur erst die zweite Frau, hernach aber hat er die dritte oder wohl gar die vierte geheirathet; das Gluͤck war ihm so guͤnstig, daß er verschiedene Frauen nach einander nehmen konnte, wenigstens schien ihm das Ster- ben und Wiedernehmen der Weiber eine besondere Belustigung zu seyn. Die jetzige Frau war ein gutes Schaf, ihr Mann redete oft gar erbaulich mit ihr von den Tugenden seiner ersten Frau, so daß sie aus großer Empfindung des Herzens oft blutige Thraͤnen weinte. Sonst war er gar nicht zum Zorn aufgelegt; er redete nicht viel, was er aber sagte, das war von Gewicht und Nachdruck, weil es gemeiniglich Jemand, der gegenwaͤrtig war, beleidigte. Er ließ sich auch anfaͤng- lich mit seinem neuen Schulmeister in Gespraͤche ein, allein er gefiel ihm nicht. Von allem, was Stilling gewohnt war zu reden, verstand er nicht Ein Wort, eben so wenig, als Stilling begriff, wovon sein Patron redete. Daher schwiegen sie Beide, wenn sie beisammen waren. Des folgenden Montags Morgens ging die Schule an; Steifmanns drei Knaben machten den Anfang. Vor und nach fanden sich bei achtzehn große vierschroͤtige Jungens ein, die sich gegen ihren Schulmeister verhielten, wie so viel Pa- tagonier gegen Einen Franzosen. Zehn bis zwoͤlf Maͤdchen von eben dem Schrot und Korn kamen auch und setzten sich hinter den Tisch. Stilling wußte nicht recht, was er mit diesem Volk anfangen sollte. Ihm war bang vor so vielen wilden Gesichtern; doch versuchte er die gewoͤhnliche Schul- methode und ließ sie beten, singen, lesen und den Catechismus lernen. Dieses ging ungefaͤhr vierzehn Tage seinen ordentlichen Gang; allein nun war es auch geschehen, ein oder anderer Kosacken- aͤhnlicher Junge versuchte es, den Schulmeister zu necken. Stilling brauchte den Stock rechtschaffen, aber mit so wi- drigem Erfolg, daß, wenn er sich muͤde auf dem starken Buckel zerdroschen hatte, der Schuͤler aus vollem Hals lachte, der Schulmeister aber weinte. Das war dann dem Herrn Steif- mann so seine liebste Belustigung; wenn er in dem Schul- stuͤbchen Laͤrmen hoͤrte, so kam er, that die Thuͤre auf und er- goͤtzte sich von Herzen. Dieses Verfahren gab Stillingen den letzten Stoß. Seine Schule wurde zum polnischen Reichstag, wo ein Jeder that, was ihm recht daͤuchte. So wie nun der arme Schulmeister in der Schule alles gebrannte Herzeleid ausstand, so hatte er auch außer derselben keine frohe Stunde. Buͤcher fand er wenig, nur eine große Baseler Bibel, deren Holzschnitte er durch und durch wohl studirte, auch wohl darin las, wiewohl er sie oft durchgelesen hatte. Zions Lehr’ und Wunder von Doktor Mel , nebst noch einigen alten Postillen und Ge- sangbuͤchern standen auf der Kleiderkammer auf einem Brett in guter Ruhe, und waren wohl, seitdem sie Herr Steifmann geerbt hatte, wenig gebraucht worden. In dem Hause selbst war ihm Niemand hold, Alle sahen ihn fuͤr einen einfaͤltigen dummen Knaben an; denn ihre niedertraͤchtigen, ironisch-zoti- gen und zweideutigen Reden verstand er nicht, er antwortete immer gutherzig, wie ers meinte nach dem Sinn der Worte, suchte uͤberhaupt einen Jeden mit Liebe zu gewinnen, und die- ses war eben der gerade Weg, eines Jeden Schuhputzer zu werden. Doch trug sich einsmalen etwas zu, das ihn leicht das Le- ben haͤtte kosten koͤnnen, wenn ihn der guͤtige Vater der Men- schen nicht sonderlich bewahrt haͤtte. Er mußte sich des Mor- gens selbst Feuer in den Ofen machen; als er nun einmal kein Holz fand, so wollte er sich etwas holen; nun war uͤber der Kuͤche her eine Rauchkammer, wo man das Fleisch raͤu- cherte und zugleich das Holz trocknete. Die Dreschtenne stieß an die Kuͤche, und von dieser Tenne ging eine Treppe nach der Rauchkammer. Es waren just sechs Tagloͤhner beim Dreschen. Heiurich lief die Treppe hinauf, machte die Thuͤre auf, aus welcher der Rauch wie eine dicke Wolke herauszog; er ließ die Thuͤre offen, that einen Sprung nach dem Holz, ergriff etliche Stuͤcke, indessen wirbelte einer von den Dreschern auswendig die Thuͤre zu. Der arme Stilling gerieth in To- desangst, der Rauch erstickte ihn, es war stockfinster da, er wurde irre und wußte nicht mehr, wo die Thuͤre war. In diesem erschrecklichen Zustand that er einen Sprung gegen die Wand, und traf just gerade gegen die Thuͤr, dergestalt, daß der Wirbel zerbrach und die Thuͤre aufsprang. Stilling stuͤrzte die Teppe herunter bis auf die Tenne, wo er betaͤubt und sinnlos hingestreckt lag. Als er wieder zu sich selbst kam, sah er die Drescher nebst Herrn Steifmann um sich stehen und aus vollem Halse lachen. Des sollte doch der T..... nichtlachen ! sagte Steifmann . Dieses ging Stillin- gen durch die Seele. Ja ! antwortete er, der lacht wirk- lich, daß er endlich einmal seinesgleichen gefun- den hat . Das gefiel seinem Patron außerordentlich, und er pflegte wohl zu sagen: das sey das erste und auch das letzte gescheidte Wort gewesen, das er von seinem Schulmei- ster gehoͤrt habe. Das Beste indessen bei der Sache war, daß Stilling keinen Schaden genommen hatte: er uͤberließ sich gaͤnzlich der Wehmuth, weinte sich die Augen roth, und erlangte weiter nichts dadurch, als Spott. So traurig ging seine Zeit vor- uͤber, und seine Wonne am Schulhalten wurde ihm haͤßlich versalzen. Sein Vater Wilhelm Stilling war indessen zu Haus mit angenehmeren Sachen beschaͤftigt. Die Wunde uͤber Dortchens Tod war heil, er erinnerte sich allezeit mit Zaͤrt- lichkeit an sie; allein er trauerte nicht mehr, sie war nun vier- zehn Jahre todt, und seine strenge mystische Denkungsart mil- derte sich in so weit, daß er jetzt mit allen Menschen Umgang pflog, doch war alles mit freundlichem Ernst, Gottesfurcht und Rechtschaffenheit vermischt, so daß er Vater Stilling aͤhnlicher wurde, als eins seiner Kinder. Er wuͤnschte nun auch einmal Hausvater zu werden, eigenes Haus und Hof zu haben und den Ackerbau neben seinem Handwerk zu treiben; deßwegen suchte er sich jetzt eine Frau, die neben den noͤthi- gen Eigenschaften, Leibes und der Seele, auch Haus und Guͤ- ter haͤtte; er fand bald, was er suchte. Zu Leindorf , zwei Stunden von Tiefenbach westwaͤrts, war eine Wittwe von acht und zwanzig Jahren, eine ansehnliche brave Frau; sie hatte zwei Kinder aus der ersten Ehe, wovon aber eins bald nach ihrer Hochzeit starb. Diese war recht froh, als sie Wil- helm begehrte, ob er gleich gebrechliche Fuͤße hatte. Die Hei- rath wurde geschlossen, der Hochzeittag bestimmt und Hein- rich bekam einen Brief nach Dorlingen , der in den waͤrm- sten und zaͤrtlichsten Ausdruͤcken, deren sich nur ein Vater gegen seinen Sohn bedienen kann, ihm die Sache bekannt machte, und ihn auf den bestimmten Tag zur Hochzeit einlud. Hein- rich las diesen Brief, legte ihn hin, stand auf und bedachte sich, er mußte sich erst tief pruͤfen, ehe er finden konnte, ob ihm wohl oder wehe dabei ward; so ganz verschiedene Empfindun- gen stiegen in seinem Gemuͤth auf. Endlich schritt er ein Paar- mal vor sich hin und sagte zu sich selbst: Meine Mutter ist im Himmel, mag diese einstweilen in diesem Jammerthal bei mir und meinem Vater ihre Stelle vertreten. Dereinsten werde ich doch diese verlassen und jene suchen . Mein Vater thut wohl! — Ich will sie doch recht lieb haben und ihr allen Willen thun, so gut ich kann, so wird sie mich wieder lieben, und ich werde Freude haben . Nun machte er Steifmann die Sache bekannt, forderte etwas Geld und reiste nach Tiefenbach zuruͤck. Er wurde daselbst von Allen mit tausend Freuden empfangen, besonders von Wilhelm , dieser hatte ein wenig gezweifelt, ob sein Sohn auch murren wuͤrde; da er ihn aber so heiter kommen sah, floßen ihm die Thraͤnen aus den Augen, er sprang auf ihn zu und sagte: Willkommen, Heinrich ! „Willkommen, Vater! ich wuͤnsche Euch von Herzen Gluͤck zu Eurem Vorhaben, und ich freue mich sehr, daß Ihr nun in Eurem Alter Trost haben koͤnnt, wenn’s Gott gefaͤllt.“ Wilhelm sank auf einen Stuhl, hielt beide Haͤnde vor’s Gesicht und weinte. Heinrich weinte auch. Endlich fing Wilhelm an: Du weißt, ich hab’ mir in meinem Wittwer- stand fuͤnfhundert Reichsthaler erspart; ich bin nun vierzig Jahre alt, und ich haͤtte vielleicht noch Vieles ersparen koͤnnen, dieses alles entgeht dir nun; du waͤrst doch der einzige Erbe davon gewesen! „Vater, ich kann sterben, ihr koͤnnt sterben, wir Beide koͤn- nen noch lange leben, ihr koͤnnt kraͤnklich werden und mit Eu- rem Gelde nicht einmal auskommen. Aber, Vater! ist meine neue Mutter meiner seligen Mutter aͤhnlich?“ Wilhelm hielt wiederum die Haͤnde vor die Augen. Nein! sagte er, aber sie ist eine brave Frau. Auch gut, sagte Heinrich und stand an’s Fenster, um noch einmal seine alten romantischen Gegenden zu schauen. Es lag kein Schnee. Die Aussicht in den nahen Wald kam ihm so angenehm vor, ob es gleich in den letzten Tagen des Februars war, daß er beschloß, hinzuspazieren; er ging den Berg hinauf und in den Wald hinein. Nachdem er eine Weile umhergewandelt und sich ziemlich von den Haͤusern entfernt hatte, wurde es ihm so wohl in seiner Seele, er vergaß der ganzen Welt und wandelte, in Gedanken vertieft, vor sich hin; indessen kam er unvermerkt an die Westseite des Geisenber- ger Schlosses. Schon sah er zwischen den Staͤmmen der Baͤume durch auf dem Huͤgel die zerfallenen Mauern liegen. Das uͤber- raschte ihn ein wenig. Nun rauschte Etwas zur Seite im Ge- straͤuche, er schaute hin und sah ein anmuthiges Weibsbild in demselben stehen, blaß, aber zaͤrtlich im Gesicht, in Leine und Baumwolle gekleidet. Er schauderte und das Herz klopfte ihm; da es aber noch fruͤh am Tage war, so fuͤrchtete er sich nicht, sondern fragte: Wo seyd ihr her? Sie antwortete: von Tie- fenbach . Das kam ihm fremd vor, denn er kannte sie nicht. Wie heißt ihr denn? — Dortchen. Stilling that einen lauten Schrei und sank zur Erde in Ohnmacht. Das gute Maͤd- chen wußte nicht, wie ihr geschah, sie kannte den jungen Bur- schen auch nicht. Denn sie war erst als Magd aufs Neujahr nach Tiefenbach gekommeu . Sie lief zu ihm, kniete bei ihm auf die Erde und weinte. Sie verwunderte sich sehr uͤber den jungen Menschen, besonders, da er so weiche Haͤnde und ein so weißes Gesicht hatte: auch waren seine Kleider reiner und sauberer, auch wohl ein wenig besser, als die der andern Burschen. Der Fremde gefiel ihr. Indessen kam Stilling wieder zu sich selber, er sah die Weibsperson nahe bei sich, er richtete sich auf, sah sie starr an und fragte zaͤrtlich: was macht ihr hier? Sie antwortete sehr freundlich; ich will duͤr- res Holz lesen. Wo seyd ihr her? Er erwiederte: ich bin auch von Tiefenbach: Wilhelm Stilling’s Sohn. Nun hoͤrte er, daß sie seit Neujahr erst Magd daselbst war; und sie hoͤrte seine Umstaͤnde, es that Beiden leid, daß sie sich verlassen mußten. Stilling spazierte nach dem Schloß und sie las Holz. Es hat wohl zwei Jahre gedauert, eh das Bild dieses Maͤdchens in seinem Herzen verlosch, so fest hatte es sich seiner Seele eingepraͤgt. Als die Sonne sich zum Unter- gang neigte, ging er wieder nach Haus; er erzaͤhlte aber nichts von dem, was vorgefallen war, nicht so sehr aus Ver- schwiegenheit, sondern aus andern Ursachen. Des andern Tages ging er mit seinem Vater und andern Freunden nach Leindorf zur Hochzeit; seine Stiefmutter empfing ihn mit aller Zaͤrtlichkeit; er gewann sie lieb und sie liebte ihn wieder; Wilhelm freute sich dessen von Herzen. Nun erzaͤhlte er auch seinen Eltern, wie betruͤbt es ihm zu Dorlingen ging. Die Mutter rieth, er sollte zu Haus bleiben und nicht wieder hingehen; allein Wilhelm sagte: „Wir haben noch immer Wort gehalten, es darf an dir nicht fehlen; thun’s andere Leute nicht, so muͤssen sie’s verantwor- ten; du mußt aber deine Zeit aushalten.“ Dieses war Stil- lingen auch nicht sehr zuwider. Des andern Morgens reiste er wieder nach Dorlingen . Allein seine Schuͤler kamen nicht wieder; das Fruͤhjahr ruͤckte heran und ein Jeder begab sich aufs Feld. Da er nun nichts zu thun hatte, so wies man ihm veraͤchtliche Dienste an, so, daß ihm sein taͤgliches Brod recht sauer wurde. Noch vor Ostern, ehe er abreiste, hatten Steifmanns Knechte beschlossen, ihn recht trunken zu machen, um so recht ihre Freude an ihm zu haben. Als sie des Sonntags aus der Kirche kamen, sagte einer zum andern: laßt uns ein wenig waͤrmen, ehe wir uns auf den Weg begeben; denn es war kalt und sie hatten eine Stunde zu gehen. Nun war Stil- ling gewohnt, in Gesellschaft nach Haus zu gehen; er trat deßwegen mit hinein und setzte sich zu dem Ofen. Nun gings ans Branntweintrinken, der mit einem Syrup versuͤßt war; der Schulmeister mußte mittrinken; er merkte bald, wo das hinaus wollte, daher nahm er den Mund voll, spie ihn aber unvermerkt wieder aus, unter den Ofen ins Steinkohlengefaͤß. Die Knechte bekamen also zuerst einen Rausch, und nun merkten sie nicht mehr auf den Schulmeister, sondern sie be- trunken sich selbst aufs beste; unter diesen Umstaͤnden suchten sie endlich Ursache an Stilling , um ihn zu schlagen, und kaum entkam er aus ihren Haͤnden. Er bezahlte seinen An- Stillings Schriften. I. Band. 9 theil an der Zeche und ging heimlich fort. Als er nach Haus kam, erzaͤhlte er Herrn Steifmann den Vorfall; allein der lachte daruͤber. Man sah ihm an, daß er den mißlungenen Anschlag bedauerte. Die Knechte wurden nun vollends wuͤthend und suchten allerhand Gelegenheit, ihm eins zu versetzen; allein Gott bewahrte ihn. Noch zwei Tage vor seiner Abreise traf ihn ein Bauernsohn aus dem Dorf auf dem Feld, der auch bei der Branntweinszeche gewesen; dieser griff ihn am Kopf und rang mit ihm, ihn zur Erde zu werfen; es war aber zu gutem Gluͤck ein alter Greis nahe dabei im Hof, dieser kam herzu und fragte: was ihm der Schulmeister gethan habe? Der Bursche antwortete: Er hat mir nichts gethan, ich will ihm nur ein Paar um die Ohren geben. Der alte Bauer aber ergriff ihn und sagte gegen Stilling : geh’ du nach Haus! Und darauf gab er jenem einige derbe Maulschellen und versetzte: nun geh du auch nach Haus, das hab’ ich nur so fuͤr Spaß gethan. Den zweiten Ostertag nahm Stilling seinen Abschied zu Dorlingen , und des Abends kam er wieder bei seinen Eltern zu Leindorf an. Nun war er in so weit wieder in seinem Element, er mußte freilich wacker auf dem Handwerk arbeiten; allein er wußte doch nun wieder Gelegenheit, an Buͤcher zu kommen. Den ersten Sonntag ging er nach Zellberg und holte den Ho- mer , und wo er sonst etwas wußte, das nach seinem Geschmack schoͤn zu lesen war, das holte er herbei, so daß in Kurzem das Brett uͤber den Fenstern her, wo sonst allerhand Geraͤthe gestan- den hatte, ganz voll Buͤcher stand. Wilhelm war dessen so gewohnt, er sah es gern; allein der Mutter waren sie zuwei- len im Wege, so, daß sie fragte: Heinrich , was willst du mit allen den Buͤchern machen? Er las also des Sonntags und waͤhrend dem Essen; seine Mutter schuͤttelte dann oft den Kopf und sagte: das ist doch ein wunderlicher Junge; — Wil- helm laͤchelte dann so auf Stillings Weise und sagte: Gretchen , laß ihn halt machen! — Nach einigen Wochen fing nun die schwerste Feldarbeit an. Wilhelm mußte darin seinen Sohn auch brauchen, wenn er keinen Tagloͤhner an seine Stelle nehmen wollte, und damit wuͤrde die Mutter nicht zufrieden gewesen seyn, allein dieser Zeitpunkt war der Anfang von Stillings schwerem Leiden; er war zwar ordentlich groß und stark, aber von Jugend auf nicht dazu gewoͤhnt, und er hatte kein Glied an sich, das zu dergleichen Geschaͤften gemacht war. Sobald er anfing zu Hacken oder zu Maͤhen, so zogen sich alle seine Glieder an dem Werkzeug, als wenn sie haͤtten zerbrechen wollen; er meinte oft vor Muͤdigkeit und Schmerzen niederzusinken, aber da half alles nichts; Wilhelm fuͤrchtete Verdruß im Hause und seine Frau glaubte immer, Heinrich wuͤrde sich nach und nach daran gewoͤhnen. Diese Lebensart wurde ihm endlich unertraͤglich, er freute sich nunmehr, wenn er zuweilen an einem regnigten Tag am Handwerk sitzen und seine zerkuirschten Glie- der erquicken konnte; er seufzte unter diesem Joch, ging oft allein, weinte die bittersten Thraͤnen und flehte zum himmli- schen Vater um Erbarmung und um Aenderung seines Zustandes. Wilhelm litt heimlich mit ihm. Wenn er des Abends mit geschwollenen Haͤnden voller Blasen nach Haus kam, und von Muͤdigkeit zitterte, so seufzte sein Vater und Beide sehnten sich mit Schmerzen wieder nach einem Schuldienst. Dieser fand sich auch endlich nach einem sehr schweren und muͤhseligen Sommer ein. Die Leindorfer , wo Wilhelm wohnte, beriefen ihn auf Michaelis 1756 zu ihrem Schulmeister. Stilling willigte in diesen Beruf mit Freuden; er war nun gluͤckselig und trat mit seinem siebenzehnten Jahr dieses Amt wieder an. Er speiste bei seinen Bauern um die Reihe, vor und nach der Schule aber mußte er seinem Vater am Hand- werk helfen. Auf diese Weise blieb ihm keine Zeit zum Stu- diren uͤbrig, als nur, wenn er in der Schule war, und da war der Ort nicht, um selber zu lesen, sondern Andre zu unterrich- ten. Doch stahl er manche Stunde, die er auf die Mathematik und andere Kuͤnsteleien verwandte. Wilhelm merkte das, er stellte ihn daruͤber zu Rede und schaͤrfte ihm das Gewissen. Stilling antwortete mit betruͤbtem Herzen: „Vater! meine „ganze Seele ist auf die Buͤcher gerichtet, ich kann meine Nei- „gung nicht baͤndigen, gebt mir vor und nach der Schule Zeit, „so will ich kein Buch in die Schule bringen.“ Wilhelm 9 * erwiederte: das ist doch zu beklagen! alles, was du lernst, bringt dir ja in Brod und Kleider ein, und alles, was dich ernaͤhren koͤnnte, dazu bist du ungeschickt. Stilling be- trauerte selber seinen Zustand, denn das Schulhalten war ihm auch zur Last, wenn er dabei keine Zeit zum Lesen hatte; er sehnte sich deßwegen von seinem Vater ab und an einen andern Ort zu kommen. Zu Leindorf waren indessen die Leute ziemlich mit ihm zufrieden, obgleich ihre Kinder in der Zeit mehr haͤtten lernen koͤnnen: denn sein Wesen und sein Umgang mit den Kindern gefiel ihnen. Auch der Herr Pastor Dahlheim , zu dessen Kirchspiel Leindorf gehoͤrte, ein Mann, der seinem Amt Ehre machte, liebte ihn. Stilling wunderte sich uͤber die Maßen, als er das Erstemal bei diesem vortrefflichen Mann auf sein Zimmer kam; er war ein Greis von achtzig Jahren und lag just auf einem Ruhebettchen, als er zur Thuͤre herein- trat; er sprang auf, bot ihm die Hand und sagte: „Nehmt „mir nicht uͤbel, Schulmeister! daß ihr mich auf dem Bette „findet, ich bin alt und meine Kraͤfte wanken.“ Stilling wurde von Ehrfurcht durchdrungen, ihm floßen die Thraͤnen die Wangen herab. Herr Pastor! antwortete er, es freut mich recht sehr, unter ihrer Aufsicht Schule zu halten! Gott gebe Ihnen viel Freude und Segen in Ihrem Alter! „Ich danke euch, lieber Schulmeister! erwiederte der edle Alte, ich bin, Gott sey Dank! nahe an dem Ziel meiner Laufbahn, und ich freue mich recht auf meinen großen Sabbath.“ Stilling ging nach Haus und unterwegs machte er die besondere An- merkung: Herr Dahlheim muͤßte entweder ein Apostel oder Herr Stollbein ein Baalspfaffe seyn. Herr Dahlheim besuchte zuweilen die Leindorfer Schule, wenn er auch dann eben nicht alles in gehoͤriger Ordnung fand, so fuhr er nicht aus, wie Herr Stollbein , sondern er ermahnte Stillingen ganz liebreich, dieses oder jenes abzuaͤndern; und das that bei einem so empfindsamen Gemuͤth immer die beste Wirkung. Diese Behandlung des Herrn Pastors war wirklich zu bewundern, denn er war ein jaͤhzorniger, hitziger Mann, aber nur gegen die Laster, nicht gegen die Fehler; dabei war er auch gar nicht herrschsuͤchtig. Um den Charakter dieses Mannes meinen Lesern zu schildern, will ich eine Geschichte erzaͤhlen, die sich mit ihm zugetragen hat, als er noch Hofprediger bei einem Fuͤrsten zu R … gewesen war. Dieser Fuͤrst hatte eine vortreffliche Ge- mahlin und mit derselben auch verschiedene Prinzessinnen; den- noch verliebte er sich in eine Buͤrgerstochter in seiner Residenz- stadt, bei welcher er, seiner Gemahlin zum hoͤchsten Leidwesen, ganze Naͤchte zubrachte. Dahlheim konnte das ungeahndet nicht hingehen lassen; er fing auf der Kanzel an, unvermerkt dagegen zu predigen, doch fuͤhlte der Fuͤrst wohl, wohin der Hofprediger zielte, daher blieb er aus der Kirche und fuhr waͤhrend der Zeit auf sein Lustschloß in den Thiergarten. Eins- mals kam Dahlheim und wollte in die Kirche gehen zu pre- digen, er traf den Fuͤrsten just auf dem Platz, als er in die Kutsche steigen wollte; der Hofprediger trat herzu und fragte: wo gedenken Euer Durchlaucht hin? Was liegt dir, Pfaff daran? war die Antwort. Sehr viel! versetzte Dahlheim , und ging in die Kirche, allwo er mit trockenen Worten gegen die Ausschweifungen der Großen dieser Welt anging, und ein Weh uͤber das andere gegen sie ausrief. Nun war die Fuͤr- stin in der Kirche, sie ließ ihn zur Mittagstafel bitten, er kam, und sie bedauerte seine Freimuͤthigkeit und befuͤrchtete uͤble Fol- gen. Indessen kam der Fuͤrst wieder, fuhr aber auch alsofort wieder in die Stadt zu seiner Maitresse, welche zum Ungluͤck auch in der Hofkapelle gewesen war, und Herrn Dahlheim gehoͤrt hatte. Sowohl der Hofprediger, als auch die Fuͤrstin hatten sie gesehen, sie konnten leicht das Gewitter vorausse- hen, welches Herrn Dahlheim uͤber dem Haupt schwebte: dieser aber kehrte sich an nichts, sondern sagte der Fuͤrstin, daß er alsofort hingehen und dem Fuͤrsten die Wahrheit ins Gesicht sagen wollte, er ließ sich auch gar nicht warnen, sondern ging alsofort hin und gerade zum Fuͤrsten ins Zimmer. Als er hineintrat, stutzte derselbe und fragte: was habt Ihr hier zu machen? Dahlheim antwortete: „Ich bin gekommen, Ew. „Durchlaucht Segen und Fluch vorzulegen, werden Die- „selben diesem ungeziemenden Leben nicht absa- „gen, so wird der Fluch Dero hohes Haus und „ Familie treffen, und Stadt und Land werden „Fremde erben .“ Darauf ging er fort, und des folgen- den Tages wurde er abgesetzt und des Landes verwiesen. Doch hatte der Fuͤrst hiebei keine Ruhe, denn nach zwei Jahren rief er ihn mit Ehren wieder zuruͤck und gab ihm die beste Pfarre, die er in seinem Lande hatte. Dahlheims Weissa- gung wurde indessen erfuͤllt. Schon vor mehr als vierzig Jah- ren ist kein Zweig mehr von diesem fuͤrstlichen Hause uͤbrig gewesen. Doch ich kehre wieder zu meiner Geschichte. Stilling konnte mit aller seiner Gutherzigkeit doch nicht verhuͤten, daß sich nicht Leute fanden, denen er in der Schule zu viel in Buͤchern las, es gab ein Gemurmel im Dorf, und viele vermutheten, daß die Kinder versaͤumt wuͤrden. Ganz unrecht hatten die Leute wohl nicht, aber doch auch nicht ganz recht; denn er sorgte noch so ziemlich, daß auch der Zweck, warum er da war, erreicht wurde. Es kam freilich den Bauern seltsam vor, so unerhoͤrte Figuren an den Schulfenstern zu sehen, wie seine Sonnenuhren waren. Oftmalen standen zwei und mehrere auf der Straße still und sahen ihn am Fenster durch ein Glaͤschen nach der Sonne gucken; da sagte dann der Eine: der Kerl ist nicht gescheit! — der Andere vermuthete, er betrachte den Himmelslauf, und Beide irrten sehr; es wa- ren nur Stuͤcke zerbrochener Fuͤße von Branntweinglaͤsern. Diese hielt er vors Auge und betrachtete gegen die Sonne die herrlichen Farben in ihren mancherlei Gestalten, welches ihn, nicht ohne Ursache, koͤniglich ergoͤtzte. Dieses Jahr ging nun wiederum so seinen Gang fort; Hand- werksgeschaͤfte, Schulhalten und verstohlne Lesestunden hatten darinnen bestaͤndig abgewechselt, bis er, kurz vor Michaelis, da er eben sein achtzehntes Jahr angetreten hatte, einen Brief von Herrn Pastor Goldmann empfing, der ihm eine schoͤne Schule an einer Kapelle zu Preisingen antrug. Dieses Dorf liegt zwei Stunden suͤdwaͤrts von Leindorf ab, in einem herrlichen breiten Thal. Stilling wurde uͤber diesen Brief entzuͤckt, daß er sich nicht zu fassen wußte; sein Vater und seine Mutter selber freuten sich uͤber die Maßen. Stil- ling dankte Herrn Goldmann schriftlich fuͤr diese vortreff- liche Recommendation und versprach ihm Freude zu machen. Dieser Prediger war ein weitlaͤufiger Anverwandter des seligen Dortchens , mithin auch des jungen Stilling’s . Diese Ursache nebst dem allgemeinen Ruf von seinen seltenen Gaben, hatten den braven Pastor Goldmann bewogen, ihn der Preisinger Gemeinde vorzuschlagen. Er wanderte also auf Michaelis nach seiner neuen Bestimmung. So wie er auf die Hoͤhe kam, sah er das herrliche Thal vor sich mit seinen breiten und gruͤnen Wiesen, gegenuͤber ein schoͤnes, gruͤnes Gebirge von lauter Waͤldern und Feldern. Mitten in der Ebene lag das Dorf Preisingen rund und gedraͤngt zusammen, die gruͤnen Obstbaͤume und die weißen Haͤuser dazwischen machten ein anmuthiges Ansehen. Gerad in der Mitte ragte der Kapellenthurm, mit blauen Schiefersteinen bedeckt und bekleidet, uͤber alles empor, und hinter dem Dorf her schimmerte das Fluͤßchen Saal im Glanz der Sonne. So brach er in Thraͤnen aus, setzte sich eine Weile auf die Rasen nieder und ergoͤtzte sich an der herrlichen Aussicht. Hier fing er zuerst an, ein Lied zu versuchen, es gelang ihm auch so ziemlich, denn er hatte eine natuͤrliche Anlage dazu. Ich habe es unter seinen Papieren nachgesucht, aber nicht fin- den koͤnnen. Hier nahm er sich nun fest und unwiderruflich vor, Fleiß und Eifer auf die Schule zu verwenden, die uͤbrige Zeit aber in seinem mathematischen Studium fortzufahren. Als er die- sen Bund mit sich selber geschlossen hatte, so stand er auf und wanderte vollends nach Preisingen hin. Seine Wohnung wurde ihm bei einer reichen, vornehmen und dabei uͤber die Maßen dicken Wittwe angewiesen, die sich Frau Schmoll naunte und zwei schoͤne sittsame Toͤch- tern hatte, wovon die aͤlteste Maria hieß, und zwanzig Jahre alt war; die andere aber hieß Anna , und war achtzehn Jahre alt. Beide Maͤdchen waren recht gute Kinder, so wie auch ihre Mutter. Sie lebten zusammen wie Engel, in der edelsten Harmonie, und so zu sagen, in einem Ueberfluß von Freuden und Vergnuͤgen, denn es fehlte ihnen nichts, und das wußten sie auch zu nuͤtzen, daher brachten sie auch ihre Zeit nebst den Hausgeschaͤften, mit Singen und allerhand erlaubten Ergoͤtz- lichkeiten zu. Stilling liebte zwar das Vergnuͤgen, allein die Unthaͤtigkeit des menschlichen Geistes war ihm zuwider, daher konnte er nicht begreifen, daß die Leute keine Lange- weile hatten. Doch befand er sich unvergleichlich in ihrer Gesellschaft; wenn er sich zuweilen in Betrachtung und Ge- schaͤften ermuͤdet hatte, so war es eine suͤße Erholung fuͤr ihn, mit ihnen umzugehen. Stilling hatte noch an keine Frauenliebe gedacht; diese Leidenschaft und das Heirathen war in seinen Augen Eins, und Jedes ohne das andere ein Graͤuel. Da er nun gewiß wußte, daß er keine von den Jungfern Schmoll heirathen konnte, indem keine weder einen Schneider, noch einen Schul- meister nehmen durfte, so unterdruͤckte er jeden Keim der Liebe, der so oft, besonders zu Maria , in seinem Herzen aufbluͤ- hen wollte. Doch, was sage ich von Unterdruͤcken! wer ver- mag das aus eigener Kraft? Stillings Engel, der ihn lei- tete, kehrte die Pfeile von ihm ab, die auf ihn geschossen wurden. Die beiden Schwestern dachten indessen ganz anders; der Schulmeister gefiel ihnen im Herzen, er war in seiner ersten Bluͤthe, voll Feuer und Empfindung; denn ob er gleich ernst und still war, so gab es doch Augenblicke, wo sein Licht aus allen Winkeln des Herzens hervorglaͤnzte; dann breitete sich sein Geist aus, er floß uͤber von mittheilender, heiterer Freude, und dann war’s gut seyn in seiner Gegenwart. Aber es gibt der Geister wenig, die da empfinden koͤnnen; es ist so etwas Geistiges und Erhabenes, von roher laͤrmender Freude so Entferntes, daß die Wenigsten begreifen werden, was ich hier sagen will. Frau Schmoll und ihre Toͤchtern indessen fuͤhlten’s und empfanden’s in aller seiner Kraft. Andere Leute, von gemeinem Schlag, saßen dann oft und horchten; der Eine rief: Paule, du rasest ! der Andere saß und staunte, und der Dritte glaubte, er sey nicht recht gescheit. Die beiden Maͤdchen ruhten dann dort in einem dunkeln Winkel, um ihn ungestoͤrt beobachten zu koͤnnen, sie schwiegen und hefteten ihre Augen auf ihn. Stilling merkte das mit tiefem Mit- leiden; allein er war fest entschlossen, keinen Anlaß zu meh- rerem Ausbruch der Liebe zu geben. Sie waren Beide sittsam und bloͤde, und deßwegen weit davon entfernt, sich an ihn zu entdecken. Frau Schmoll saß dann, spielte mit ihrer schwarzen papiernen Schnupftabacksdose auf dem Schoos, und dachte nach, unter welche Sorte Menschen der Schulmei- ster wohl eigentlich gehoͤren moͤchte; fromm und brav war er in ihren Augen und recht gottesfuͤrchtig dazu; allein da er von allem redete, nur nicht von Sachen, womit Brod zu ver- dienen war, so sagte sie oft, wenn er zur Thuͤre hinaus ging: der arme Schelm, was will noch aus ihm werden! Das kann man nicht wissen, versetzte denn wohl Maria zuweilen, ich glaube, er wird noch ein vornehmer Mann in der Welt. Die Mutter lachte und erwiederte oft: Gott laß es ihm wohl ge- hen! er ist ein recht lieber Bursche; auf einmal wurden ihre Toͤchter lebendig. Ich darf behaupten, daß Stilling die Preisinger Schule nach Pflicht und Ordnung bediente; er suchte nun, bei reifern Jahren und Einsichten, seinen Ruhm in Unter- weisung der Jugend zu befestigen. Allein es war Schade, daß es nicht aus natuͤrlicher Neigung herfloß. Wenn er eben sowohl nur acht Stunden des Tages zum Schneiderhandwerk, als zum Schulamt haͤtte verwenden duͤrfen, so waͤre er ge- wiß noch lieber am Handwerk geblieben: denn das war fuͤr ihn ruhiger und nicht so vieler Verantwortung unterworfen. Um sich nun die Schule angenehmer zu machen, erdachte er allerhand Mittel, wie er mit leichterer Muͤhe die Schuͤler zum Lernen aufmuntern moͤchte. Er fuͤhrte eine Rangordnung ein, die sich auf die groͤßere Geschicklichkeit bezog, er fand allerhand Wettspiele im Schreiben, Lesen und Buchstabiren; und da er ein großer Liebhaber vom Singen und der Musik war, so suchte er schoͤne geistliche Lieder zusammen, lernte selber die Musiknoten mit leichter Muͤhe und fuͤhrte das vierstimmige Singen ein. Dadurch wurde nun ganz Preisingen voller Leben und Gesang. Des Abends vor dem Essen hielt er eine Rechenstunde und nach derselben eine Singstunde. Wenn dann der Mond so still und feierlich durch die Baͤume schim- merte, und die Sterne vom blauen Himmel herunter aͤugel- ten, so ging er mit seinen Saͤngern heraus an den Preisin- ger Huͤgel, da setzten sie sich ins Dunkel und sangen, daß es durch Berg und Thal erscholl; dann gingen Mann, Weib und Kinder im Dorf vor die Thuͤr, standen und horchten; sie segneten ihren Schulmeister, gingen dann hinein, gaben sich die Hand und legten sich schlafen. Oft kam er mit sei- nem Gefolge hinter Schmolls Haus in den Baumhof, und dann sangen sie sauft und still; entweder: Odusuͤße Lust ! oder: Jesus ist mein Freudenlicht ! oder: die Nacht ist vor der Thuͤr ! und was dergleichen schoͤne Lieder mehr waren: dann gingen die Maͤdchen ohne Licht oben auf ihre Kam- mer, setzten sich hin und versanken in Empfindung. Oft fand er sie noch so sitzen, wenn er nach Hause kam und schlafen gehen wollte; denn alle Kammern im Hause waren gemein- schaftlich, der Schulmeister hatte uͤberall freien Zutritt. Nie- mand war weniger sorgfaͤltiger fuͤr ihre Toͤchtern, als Frau Schmoll ; und sie war gluͤckselig, daß sie es auch nicht noͤthig hatte. Wenn er dann Maria und Anna so in einem finstern Winkel mit geschlossenen Augen fand, so gings ihm durchs Herz. Sie seufzte dann tief, druͤckte ihm die Hand und sagte: Mir ists wohl von Eurem Singen! Dann erwiederte er oft: Laßt uns fromm seyn, liebe Maͤdchen! im Himmel wollen wir erst recht singen! und dann ging er fluͤchtig fort und legte sich schlafen; er fuͤhlte wohl oft das Herz pochen, aber er hatte nicht Acht darauf. Ob die Maͤdchen mit dem Trost auf jene Welt so voͤllig zufrieden gewesen, das laͤßt sich nicht wohl ausmachen, weil sie sich nie daruͤber erklaͤrt haben. Des Morgens vor der Schule und des Mittags vor und nach derselben arbeitete er die Geographie und Wolf’s Anfangs- gruͤnde der Mathematik ganz durch; auch fand er Gelegenheit, seine Kenntnisse in der Sonnenuhrkunst noch hoͤher zu treiben, denn er hatte in der Schule, deren Fenster eins gerade gegen Mittag stand, oben unter der Decke mit schwarzer Oelfarbe eine Sonnenuhr gemalt, so groß als die Decke war, in die- selbe hatte er die zwoͤlf himmlischen Zeichen genau eingetragen und jedes in seine dreißig Grad eingetheilt; oben im Zenith der Uhr, oberhalb dem Fenster, stand mit roͤmischen, zierlich gemalten Buchstaben geschrieben: Coeli enerrant gloriam Dei. (Die Himmel erzaͤhlen die Ehre Gottes.) Vor dem Fenster war ein runder Spiegel befestigt, uͤber welchen eine Kreuzlinie mit Oelfarbe gezogen war; dieser Spiegel strahlte dann oben unter, und zeigte nicht allein die Stunden des Ta- ges, sondern auch ganz genau den Stand der Sonne in dem Thierkreis. Vielleicht steht diese Uhr noch da, und jeder Schul- meister kann sie benuͤtzen und dabei wahrnehmen, was fuͤr ei- nen Antecessor er ehemals gehabt habe. Um diese Zeit hatte er im historischen Fache noch nichts ge- lesen, als Kirchenhistorien, Martergeschichten, Lebensbeschrei- bungen frommer Menschen, deßgleichen auch alte Kriegshi- storien vom dreißigjaͤhrigen Krieg und dergleichen. Im Poeti- schen fehlte es ihm noch, da war er noch immer nicht weiter gekommen, als vom Eulenspiegel bis auf den Kaiser Octa- vianus , den Reinike Fuchs mit eingeschlossen. Alle diese vortrefflichen Werke der alten Deutschen hatte er wohl hun- dertmal gelesen und wieder Andern erzaͤhlt; er sehnte sich nun nach Neuem. Den Homer rechnete er nicht zu dieser Lectuͤre, es war ihm um vaterlaͤndische Dichter zu thun. Stilling fand, was er suchte. Herr Pastor Goldmann hatte einen Eidam, der ein Chirurgus und zugleich Apotheker war; die- ser Mann hatte einen Vorrath von schoͤnen poetischen Schrif- ten, besonders von Romanen; er lehnte sie dem Schulmeister gern, und das erste Buch, welches er mit nach Hause nahm, war die Asiatische Banise . Dieses Buch fing er an einem Sonntag Nachmittag an zu lesen. Die Schreibart war ihm neu und fremd. Er glaubte in ein fremdes Land gekommen zu seyn und eine neue Sprache zu hoͤren, aber sie entzuͤckte und ruͤhrte ihn bis auf den Grund seines Herzens; Blitz, Donner und Hagel, als die raͤchenden Werkzeuge des gerechten Himmels — war ein Ausdruck fuͤr ihn, dessen Schoͤnheit er nicht genug zu ruͤhmen wußte. Goldbedeckte Thuͤrme — welche herr- liche Kuͤrze! und so bewunderte er das ganze Buch durch, die Menge von Metaphern, in welchen der Styl des Herrn von Ziegler gleichsam schwamm. Ueber alles aber schien ihm der Plan dieses Romans ein Meisterstuͤck der Erdichtung zu seyn, und der Verfasser desselben war in seinen Augen der groͤßte Poet, den jemals Deutschland hervorgebracht hatte. Als er im Lesen dahin kam, wo Balacin seine Banise im Tempel errettet und den Chaumigrem ermordet, so uͤberlief ihn der Schauer der Empfindung dergestalt, daß er fortlief, in einen geheimen Winkel niederkniete und Gott dankte, daß er doch endlich den Gottlosen ihren Lohn auf ihr Haupt bezahlte und die Unschuld auf den Thron setzte. Er vergoß milde Thraͤnen und las mit eben der Waͤrme auch den zwei- ten Theil durch. Dieser gefiel ihm noch besser; der Plan ist verwickelter und im Ganzen mehr romantisch. Darauf las er die zwei Quartbaͤnde von der Geschichte des christlichen deut- schen Großfuͤrsten Hercules und der koͤniglich boͤhmischen Prinzessin Valiska , und dieses Buch gefiel ihm gleichfalls uͤber die Maßen; er las es im Sommer waͤhrend der Heu- erndte, als er einige Tage Ferien hatte, an einander ganz durch und vergaß die ganze Welt dabei. Was das fuͤr eine Gluͤckseligkeit sey, eine solche neue Schoͤpfung von Geschichten zu lesen, gleichsam mit anzusehen und alles mit den handeln- den Personen zu empfinden, das laͤßt sich nur deneu sagen, die ein Stillings -Herz haben. Es war einmal eine Zeit, da man sagte: der Hercules , die Banise und dergleichen, ist das groͤßte Buch, das Deutsch- land hervorgebracht hat. Es war auch einmal eine Zeit, da mußten die Huͤte der Mannspersonen dreieckigt hoch in die Luft stehen, je hoͤher, je schoͤner. Der Kopfputz der Weiber und Jungfrauen stand derweil in die Quere, je breiter, je bes- ser. Jetzt lacht man der Banise und des Hercules , eben so, wie man eines Hagestolzen lacht, der noch mit hohem Hut, steifen Rockstoͤßen und ellenlangen herabhaͤngenden Auf- schlaͤgen einhertritt. Anstatt dessen traͤgt man Huͤtchen, Roͤck- chen, Manschettchen, liest Amonrettchen und bundscheckigte Romaͤnchen, und wird unter der Hand so klein, daß man einen Mann aus dem vorigen Jahrhundert wie einen Riesen ansieht, der von Grobheit strotzt. Dank sey’s vorab Klopstock , und die Reihe herunter bis auf — daß sie dem undeutschen taͤndelnden Ton die Spitze geboten, und ihn auf die Neige gebracht haben. Es wird doch einmal eine Zeit kommen, wo man große Huͤte tragen, und also auch die Banise als eine herrliche Antiquitaͤt lesen wird. Die Wirkungen dieser Lectuͤre auf Stilling’s Geist waren wunderbar, und gewiß ungewoͤhnlich; es war Etwas in ihm, das seltene Schicksale in seinem eigenen Leben ahnete; er freute sich auf die Zukunft, faßte Zutrauen zum lieben himm- lischen Vater, und beschloß großmuͤthig: so gerade zu, blind- lings dem Faden zu folgen, wie ihn ihm die weise Vorsicht in die Hand geben wuͤrde. Deßgleichen fuͤhlte er einen himm- lischsuͤßen Trieb, in seinem Thun und Lassen recht edel zu seyn, eben so, wie die Helden in gemeldeten Buͤchern vorgestellt wer- den. Er las dann mit einem empfindsam gemachten Herzen die Bibel und geistliche Lebensgeschichten frommer Leute, als Gottfried Arnolds Leben der Altvaͤter ; seine Kir- chen- und Ketzerhistorie und andere von der Art mehr. Dadurch erhielt nun sein Geist eine hoͤchst seltsame Richtung, die sich mit nichts vergleichen und nicht beschreiben laͤßt. Al- les, was er in der Natur sah, jede Gegend idealisirte er zum Paradies, alles war ihm schoͤn und die ganze Welt beinah ein Himmel. Boͤse Menschen rechnete er mit zu den Thieren, und was sich halb gut auslegen ließ, das war nicht mehr boͤse in seinen Augen. Ein Mund, der anders sprach, als das Herz dachte, jede Ironie und jede Satyre war ihm ein Graͤuel, alle anderen Schwachheiten konnte er entschuldigen. Die Frau Schmoll lernte ihn auch immer mehr und mehr kennen, und so wuchs auch ihre Liebe zu ihm. Sie bedauerte nichts mehr, als daß er ein Schneider und Schulmeister war, beide Theile waren in ihren Augen schlechte Mittel, ans Brod zu kommen; sie hatte auf ihre Weise ganz recht; Stilling wußte das so gut wie sie; aber seine Nebengeschaͤfte gefielen ihr eben so wenig, sie sagte wohl zuweilen im Scherz: Ent- weder der Schulmeister kommt noch einst an meine Thuͤre und bettelt, oder kommt geritten und ist zum Herrn geworden, so, daß wir uns tief vor ihm buͤcken muͤssen . Dann praͤsentirte sie ihm ihre Schnupftabaksdose, klopfte ihm auf die Schulter, und sagte: Nehmt einmal ein Prischen, wir erleben noch etwas zusam- men. Stilling laͤchelte dann, nahm’s und sagte: Der Herr wird’s ersehen ! Dieses waͤhrte so fort, bis ins zweite Jahr seines Schulamts zu Preisingen . Da fingen die beiden Maͤdchen an, ihre Liebe gegen den Schulmeister mehr und mehr zu aͤußern; Maria bekam Muth, sich kla- rer zu entdecken, und die Hindernisse demselben leichter zu machen; er fuͤhlte recht innig, daß er sie lieben koͤnnte, aber ihm graute vor den Folgen; daher fuhr er fort, jedem Ge- danken an sie zu widerstehen, doch war er kmmer ins Geheim zaͤrtlich gegen sie; es war ihm unmoͤglich, sproͤde zu seyn. Anna sah das und verzweifelte; sie entdeckte sich nicht, schwieg und verbiß ihren Gram. Stilling merkte aber da- von nichts, er ahnete nicht einmal etwas Verdrießliches, sonst wuͤrde er klug genug gewesen seyn, um ihr auch zaͤrtlich zu begegnen. Sie wurde still und melancholisch; niemand wußte, was ihr fehlte. Man suchte ihr allerhand Veraͤnde- rungen zu machen, aber alles war vergebens. Endlich wuͤnschte sie, ihre Tante zu besuchen, die eine starke Stunde von Prei- singen , nahe bei der Stadt Salen , wohnte. Man er- laubte ihr dieses gern, und sie ging mit einer Magd, welche desselbigen Abends wieder kam, und versicherte, daß sie ganz munter geworden sey, als sie zu ihrer Freundin gekommen waͤre. Nach einigen Tagen fing man an, sie zu erwarten; allein sie blieb aus, und man hoͤrte und sah gar keine Nach- richt von da her. Die Frau Schmoll fing an zu sorgen, sie konnte nicht begreifen, wo das Maͤdchen bliebe; sie fuhr alle- mal zusammen, wenn des Abends die Thuͤr aufging, und fuͤrchtete eine Trauerpost zu hoͤren. Des folgenden Samstags Mittags ersuchte sie den Schulmeister, ihr Annchen wieder zu holen, er war nicht abgeneigt dazu, machte sich fertig und ging fort. Es war spaͤt im Oktober, die Sonne stand niedrig in Suͤ- den, an den Baͤumen hing noch da und dort ein gruͤnes Blatt, und ein kaͤltlicher Ostwind pfiff in den blaͤtterlosen Birken. Er mußte uͤber eine große, lange Haide gehen; hier fuͤhlte er so etwas Schauderhaftes und Melancholisches, er dachte an die Vergaͤnglichkeit aller Dinge; ihm war’s beim Abschied der schoͤnen Natur, wie beim Abschied einer lieben Freundin; allein ihn schreckte auch ein dunkles Ahnen, so, als wenn man beim Mondschein an einem beruͤchtigten einsamen Orte vorbeigeht, wo man Gespenster vermuthet. Er ging und kam bei der Tante an. So wie er zur Thuͤre hereintrat, huͤpfte ihm Anna mit fliegenden Haaren und nachlaͤßigen Kleidern entgegen, huͤpfte ein paarmal um ihn herum, und sagte: „Du bist mein lieber Knabe! du liebst mich aber nicht. „Wart’ du! sollst auch kein Blumenstraͤuschen haben! — So ein Straͤuschen — von Blumen, die an Felsen und Klippen wachsen, — so ein Feldkuͤmmelstraͤuschen, das ist fuͤr dich!“ Stilling erstarrte, er stand da und sagte kein Wort. Die Tante sah ihn an und weinte, sie aber huͤpfte und tanzte wie- der fort, und sang: Es graste ein Schaͤflein am Felsenstein, Fand keine suͤße Weide, Der Schaͤfer ging und pflegte nicht sein, Das that dem Schaͤflein so leide. Zwei Tage vorher war sie des Abends vernuͤnftig und ge- sund zu Bette gegangen, des Morgens aber war sie eben so gewesen, wie sie Stilling nun fand, Niemand konnte die Ursache errathen, woher dieses Ungluͤck seinen Ursprung ge- nommen, der Schulmeister selber wußte sie damals noch nicht, bis er sie hernach aus ihren Reden erfahren hatte. Die ehrliche Frau wollte beide heute nicht gehen lassen, sondern sie ersuchte Stillingen , die Nacht da zu bleiben, und morgen mit der armen Nichte nach Haus zu gehen; er entschloß sich willig dazu und blieb da. Des Abends, waͤhrend des Essens, saß sie ganz still am Tisch, aß aber sehr wenig. Stilling fragte sie: Sage mir, Anna , schmeckt dir das Essen nicht? Sie antwortete: Ich habe gegessen, aber es bekommt mir nicht gut, — habe Herzweh! Sie sah wild aus. Stille! fuhr der Schulmeister fort, du mußt ruhig seyn; du warst sonst ein sanftes, ruhi- ges Maͤdchen, wie ist das, daß du dich so veraͤndert hast? Du siehst, die Tante weint uͤber dich, thut dir das nicht leid? Ich selber habe uͤber dich weinen muͤssen, besinne dich doch einmal! du warst sonst nicht, wie du nun bist, ei doch, wie du sonst warst! Sie versetzte: Hoͤre! soll ich dir ein fein Stuͤckchen erzaͤhlen? „Es war einmal eine alte Frau.“ Nun stand sie auf, machte sich krumm, nahm einen Stock in die Hand, ging in der Stube herum und machte die Figur einer alten Frau ganz natuͤrlich nach. „Du hast wohl ehe eine alte Frau sehen betteln gehen. Diese „alte Frau bettelte auch, und wenn sie Etwas bekam, dann „sagte sie: Gott lohn’ euch! Nicht wahr? so sagen die Bet- „telleute, wenn man ihnen Etwas gibt? — Die Bettelfrau „kam an eine Thuͤr — an eine Thuͤr! — Da stand ein freund- „licher Schelm vom Jungen am Feuer und waͤrmte sich — „das war so ein Junge, als — Sie winkte den Schulmeister an. „Der Junge sagte freundlich zu der armen alten Frau, wie „sie so an der Thuͤre stand und zitterte: Kommt, Altmutter, „und waͤrmt euch! Sie kam herzu. Nun ging sie auch wieder ganz behend, kam und stand krumm neben Stillingen . „Sie ging aber zu nahe aus Feuer zu stehen; — ihre alten „Lumpen fingen an zu brennen, und sie wards nicht gewahr. „Der Juͤngling stand und sah das. — Er haͤtt’s doch loͤschen „sollen, nicht wahr, Schulmeister? — Er haͤtt’s loͤschen sollen? Stilling schwieg. Er wußte nicht, wie ihm war; er hatte so eine dunkle Ahnung, die ihn sehr melancholisch machte. Sie wollte aber eine Antwort haben; sie sagte: „Nicht wahr, er haͤtte loͤschen sollen? — Gebt mir eine Ant- „wort, so will ich auch sagen: Gott lohn’ euch! Ja! erwiederte er, er haͤtte loͤschen sollen. Aber wenn er nun kein Wasser hatte, nicht loͤschen konnte! — Stilling stand auf, er fand keine Ruhe mehr, doch durfte er sichs nicht merken lassen. „Ja! (fuhr Anna fort und weinte) dann haͤtte er alles „Wasser in seinem Leibe zu den Augen herausweinen sollen, „das haͤtte so zwei huͤbsche Baͤchlein gegeben, zu loͤschen.“ Sie kam wieder und sah ihm scharf ins Gesicht; die Thraͤ- nen standen ihm in den Augen. „Nun, die will ich dir doch abwischen!“ Sie nahm ihr weißes Schnupftuͤchlein, wischte sie ab und setzte sich wieder still an ihren Ort. Alle waren still und trau- rig. Drauf gingen sie zu Bett. Stillingen kam kein Schlaf in die Augen; er meinte nicht anders, als wenn ihm das Herz im Leibe vor lauter Mitleid und Erbarmen zerspringen wollte. Er besann sich, was da wohl seine Pflicht waͤre? — Sein Herz sprach fuͤr sie um Erbarmung, sein Gewissen aber forderte die strengste Zuruͤckhaltung. Er untersuchte nun, welcher Forderung er folgen muͤßte? Das Herz sagte: Du kannst sie gluͤckselig ma- chen. Das Gewissen aber: Diese Gluͤckseligkeit ist von kur- zer Dauer, und dann folgt ein unabsehlich langes Elend darauf. Das Herz meinte: Gott koͤnnte die zukuͤnftigen Schicksale wohl recht gluͤcklich ausfallen lassen; das Gewissen aber urtheilte: man muͤßte Gott nicht versuchen, und nicht von ihm erwarten, daß er um ein paar Leidenschaften zweier armer Wuͤrmer wil- len, eine ganze Verkettung vieler auf einander folgender Schick- sale, wobei so viele andere Menschen interessirt sind, zerreißen und veraͤndern solle. Das ist auch wahr! sagte Stilling, sprang aus dem Bett, wandelte auf und ab. Ich will freund- lich gegen sie seyn, aber mit Ernst und Zuruͤckhaltung. Des Sonntags Morgens begab sich der Schulmeister mit der armen Jungfer auf den Weg. Sie wollte absolut an sei- nem Arm gehen; er ließ das nicht gern zu, weil es ihm sehr uͤbel wuͤrde genommen worden seyn, wenn es ehrbare Leute gesehen haͤtten. Doch er uͤberwand dieses Vorurtheil und fuͤhrte sie am rechten Arm. Als sie auf oben gedachte Haide kamen, verließ sie ihn, spazierte umher und pfluͤckte Kraͤuter, aber keine gruͤne, sondern solche, die entweder halb oder ganz welk und duͤrre waren. Dabei sang sie folgendes Lied: Stilling’s Schriften. I. Bd 10 Es saß auf grüner Heide Ein Schäfer grau und alt, :,: Es grasten auf der Weide Die Schäflein längs den Wald. Sonne, noch einmal blicke zurücke! Der Schäfer, krumm und müde, Stieg bei der Heerde her, :,: Und wenn die Sonne glühte, Dann war sein Gang so schwer. Sonne, noch einmal blicke zurücke! Sein Mädchen, jung und schöne, Sein einzig’s Töchterlein, :,: War vieler Schäfer Söhne Ihr einz’ger Wunsch allein. Sonne, noch einmal blicke zurücke! Doch Einer unter allen, Der edle Faramund , :,: Thät ihr allein gefallen In ihres Herzens Grund. Sonne, noch einmal blicke zurücke! Es hatte ihn gebissen Ein fremder Schäferhund, :,: Sein Fleisch war ihm zerrissen, Sein Fuß war ihm verwund’t. Sonne, noch einmal blicke zurücke! Sie gingen einmal Beide Im Walde hin und her, :,: Eins an des andern Seite, Das Herz war jedem schwer, Sonne, noch einmal blicke zurücke! Sie kamen nah’ zur Heide, Allwo der Bater saß, :,: Es trau’rten an der Weide Die Schäflein in dem Gras. Sonne, noch einmal blicke zurücke! Auf einem grünen Rasen Stand Faramund starr und fest, :,: Die bangen Vögelein saßen Ganz still in threm Nest. Sonne, noch einmal blicke zurücke! Er fiel mit blanken Zähnen Sein armes Mädchen an, :,: Sie rief mit tausend Thränen Ihn um Erbarmen an. Sonne, noch einmal blicke zurücke! Das bange Seelenzagen Hört nun der Vater bald, ,:, Des Mädchen Ach und Klagen Erscholl im ganzen Wald. Sonne, noch einmal blicke zurücke! Der Vater, steif und bebend, Lief langsam stolpernd hin, :,: Er fand sie kaum mehr lebend, Ihm starrte Muth und Sinn. Sonne, noch einmal blicke zurücke! Der Jüngling kehrte wieder Von seiner Raserei, :,: Und fiele sterbend nieder, Zog Lorens Haupt herbei. Sonne, noch einmal blicke zurücke! Und unter tausend Küssen Flog hin das Seelenpaar, :,: In matten Thränengüssen Entfloh’n sie der Gefahr. Sonne, noch einmal blicke zurücke! Nun wankt in Seelenleiden Der Vater hin und her, :,: Ihn fliehen alle Freuden, Kein Sternlein glänzt ihm mehr. Sonne, noch einmal blicke zurücke! 10 * Stilling mußte sich mit Gewalt halten, daß er nicht laut weinte und heulte. Sie stand oft gegen der Sonne uͤber, sah sie zaͤrtlich an und sang dann: Sonne, noch einmal blicke zuruͤcke ! Ihr Ton war sanft, wie einer Turteltaube, wenn sie vor dem Untergang der Sonne noch einmal girrt. Ich wuͤnschte, daß meine Leser nur die sanfte harmonische Melodien dieses und anderer in dieser Geschichte vorkommenden Lieder gehoͤrt haͤtten, sie wuͤrden dieselben dop- pelt empfinden; doch werde ich sie vielleicht dereinsten auch drucken lassen. Endlich sprang sie wieder an seinen Arm und ging mit ihm fort. Du weinst, Faramund ! sagte sie, aber du beißest mich doch nicht; heiß mich Lore , ich will dich Faramund heißen, willst du? Ja! sagte Stilling mit Thraͤnen, sey du Lore , ich bin Faramund . Arme Lore , was wird die Mutter sagen? „Hab’ ihr da so ein welkes Straͤuschen gebunden, mein „ Faramund ! aber du weinst?“ Ich weine um Lore. „ Lore ist ein gutes Maͤdchen. Bist du wohl in der Hoͤlle „gewesen, Faramund ?“ Davor bewahre uns Gott. Nun griff sie seine rechte Hand, legte sie unter ihre linke Brust und sagte: Wie’s da klopft! — da ist die Hoͤlle — da gehoͤrst du hinein, Faramund ! — Sie knirschte auf den Zaͤhnen, sah wild um sich her. Ja! fuhr sie fort, du bist schon darinnen! — aber — wie ein boͤser Engel! — Hier hielt sie ein, weinte. Nein, sagte sie, so nicht, so nicht! Unter dergleichen Reden, die dem guten Stilling scharfe Messer im Herzen waren, kamen sie nach Hause. So wie sie uͤber die Schwelle traten, kam Maria aus der Kuͤche und die Mutter aus der Stubenthuͤr heraus. Anna flog der Mut- ter um den Hals, kuͤßte sie und sagte: Ach, liebe Mutter! ich bin nun so fromm geworden, so fromm, wie ein Engel, und du, Mariechen , magst sagen, was du willst (sie draͤuete ihr mit der Faust), du hast mir meinen Schaͤfer genommen, du weidest da in guter Ruh. — Aber, kannst du das Liedchen: Es graste ein Schaͤflein am Felsenstein? Sie huͤpfte in der Stube und kuͤßte alle Menschen, die sie sah. Frau Schmoll und Maria weinten laut. Ach! was muß ich erleben! sagte die gute Mutter und heulte laut. Stilling erzaͤhlte indessen alles, was er von der Tante gehoͤrt hatte und trauerte herzlich um sie. Seine Seele, die ohnehin so empfind- sam war, versank in tiefen Kummer. Denn er sah nunmehr wohl ein, woher das Ungluͤck entstanden war, und doch durfte er keinem Menschen ein Woͤrtchen davon sagen. Maria merkte es auch, sie spiegelte sich an ihrer Schwester und zog ihr Herz allmaͤhlig von Stilling ab, indem sie andern bra- ven Juͤnglingen Gehoͤr gab, die um sie warben. Indessen brachte man die arme Anna oben im Hause auf ein Zim- mer, wo man eine alte Frau zu ihr that, die auf sie Acht haben und ihrer warten mußte. Sie wurde zuweilen ganz rasend, so, daß sie alles zerriß, was sie nur zu fassen bekam; man rief alsdann den Schulmeister, weil man keine andre Manns- person, außer dem Knecht, im Hause hatte; dieser konnte sie bald zur Ruhe bringen, er hieß sie nur Lore , dann hieß sie ihn Faramund und war so zahm, wie ein Laͤmmchen. Ihr gewoͤhnlicher Zeitvertreib bestand darin, daß sie eine Schaͤferin vorstellte; und diese Idee muß blos von obigem Lied hergekommen seyn, denn sie hatte gewiß keine Schaͤfer- geschichte oder Idyllen gelesen, ausgenommen einige Lieder, welche von der Art in Schmolls Hause ging und gaͤbe waren. Wenn man zu ihr hinaufkam, so hatte sie ein weißes Hemd uͤber ihre Kleider angezogen und einen rundum abgezuͤgelten Mannshut auf dem Kopf. Um den Leib hatte sie sich mit einem gruͤnen Band geguͤrtet, dessen lang herabhaͤugendes Ende sie ihrem Schaͤferhund, den sie Philax hieß und der Niemand anders, als ihre alte Aufwaͤrterin war, um den Hals gebun- den hatte. Das gute alte Weib mußte auf Haͤnden und Fuͤ- ßen herumkriechen und so gut bellen, als sie konnte, wenn sie von ihrer Gebieterin gehetzt wurde; oͤfters wars mit dem Bellen nicht genug, sondern sie mußte sogar einen oder den andern ins Bein beißen. Zuweilen war die Frau muͤde, die Hundsrolle zu spielen, allein sie bekam alsdann derbe Schlaͤge, denn Anna hatte bestaͤndig einen langen Stab in der Hand; indessen ließ sich die gute Alte gern dazu gebrauchen, weil sie Anna damit stillen konnte und nebst gutem Essen und Trinken einen guten Lohn bekam. Dieses Elend dauerte nur einige Wochen. Anna kam wie- der zu sich selbst, sie bedauerte sehr den Zustand, worin sie ge- wesen war, wurde vorsichtiger und vernuͤnftiger als vorhin, und Stilling lebte wieder neu auf, besonders als er nun merkte, daß er zwei so gefaͤhrlichen Klippen entgangen war. Unterdessen entdeckte Niemand in der Familie jemalen, was die wahre Ursache von Annens Unfall gewesen war. Stilling besorgte seine Schule unverdrossen fort, doch ob er gleich Fleiß anwandte, seinen Schuͤlern Wissenschaften beizubringen, so fanden sich doch ziemlich viele unter seinen Bauern, die anfingen, ihm recht feind zu werden. Die Ursache davon ist nicht zu entwickeln; Stilling war einer von den Menschen, die Niemand gleichguͤltig sind, entweder man mußte ihn lieben, oder man mußte ihn hassen; die Erstern sahen auf sein gutes Herz und vergaben ihm seine Fehler gern; die An- dern betrachteten sein gutes Herz als dumme Einfalt, seine Handlungen als Fuchsschwaͤnzereien und seine Gaben als Prahl- sucht. Diese wurden ihm unversoͤhnlich feind, und je mehr er sie, seinem Charakter gemaͤß, mit Liebe zu gewinnen suchte, je boͤser sie wurden; denn sie glaubten nur, es sey blos Schmei- chelei von ihm, und wurden nur desto feindseliger gegen ihn. Endlich beging er eine Unvorsichtigkeit, die ihn vollends um die Preisinger Schule brachte, wie gut die Sache auch von seiner Seite gemeint war. Er band sich nicht gern an die alte gewoͤhnliche Schulmethode, sondern suchte allerhand Mittel hervor, um sich und seine Schuͤ- ler zu belustigen; deßwegen ersann er taͤglich etwas Neues. Sein erfinderischer Geist fand vielerlei Wege, dasjenige, was die Kinder zu lernen hatten, ihnen spielend beizubringen. Viele seiner Bauern sahen es als nuͤtzlich an, Andere betrach- teten es als Kindereien und ihn als einen Stocknarren. Be- sonders aber fing er ein Stuͤck an, das allgemeines Aufsehen machte. Er schnitt weiße Blaͤtter in der Groͤße wie Karten; diese bezeichnete er mit Nummern; die Nummern bedeuteten diejenigen Fragen des Heidelbergischen Katechismus, welche die naͤmliche Zahl hatten; diese Blaͤtter wurden von vier oder fuͤnf Kindern gemischt, so viel ihrer zusammen spielen wollten, alsdann wie Karten umgegeben und gespielt; die groͤßere Num- mer stach immer die kleinere ab; derjenige, welcher am letzten die hoͤchste Nummer hatte, brauchte nur die Frage zu lernen, die seine Nummer anwies, und wenn er sie schon vorher aus- wendig gelernt hatte, so lernte er nichts bis den andern Tag, die andern aber mußten lernen, was sie fuͤr Nummern vor sich liegen hatten, und ihr Gluͤck bestand darin, wenn sie viele der Fragen wußten, die ihnen in ihren Nummern zugefallen waren. Nun hatte Stilling zuweilen das Kartenspielen gesehen und auch sein Spiel davon abstrahirt, allein er ver- stand gar nichts davon, doch wurde es ihm so ausgelegt und die ganze Sache seinem Vetter, dem Herrn Pastor Gold- mann , von der schlimmsten Seite vorgetragen. Dieser vortreffliche Mann liebte Stilling von Herzen und seine Unvorsichtigkeit schmerzte ihn aus der Maßen; er ließ den Schulmeister zu sich kommen und stellte ihn wegen dieser Sache zu Rede. Stilling erzaͤhlte ihm alles frei- muͤthig, zeigte ihm das Spiel vor und uͤberfuͤhrte ihn von dem Nutzen, den er dabei verspuͤrt hatte. Allein Herr Gold- mann , der die Welt besser kannte, sagte ihm: „Mein lie- „ber Vetter! man darf heutiges Tags ja nicht blos auf den „Nutzen einer Sache sehen, sondern man muß auch allezeit „wohl erwaͤgen, ob die Mittel, dazu zu gelangen, den Bei- „fall der Menschen haben, sonst erntet man Stank fuͤr Dank „und Hohn fuͤr Lohn; so gehts euch jetzt, denn eure Bauern „sind so aufgebracht, daß sie euch nicht laͤnger als bis Michae- „lis behalten wollen, sie sind Willens, wenn ihr nicht gut- „willig abdankt, die ganze Sache dem Inspektor anzuzeigen, „und ihr wißt, was der fuͤr ein Mann ist. Nun waͤr’ es doch „Schade, wenn die Sache so weit getrieben wuͤrde, weil ihr „alsdann hier im Lande nie wieder Schulmeister werden koͤnn- „tet; ich rathe euch deßwegen, danket ab und sagt heute noch „eurer Gemeinde, ihr waͤret des Schulhaltens muͤde, sie moͤch- „ten sich einen andern Schulmeister waͤhlen. Ihr bleibt als- „dann in Ehren und es wird nicht lange waͤhren, so werdet „ihr eine bessere Schule bekommen, als diese, die ihr bedient „habt. Ich werde euch indessen lieb haben und sorgen, daß „ihr gluͤcklich werden moͤgt, so viel ich nur kann.“ Diese Rede drang Stilling durch Mark und Bein, er wurde blaß und die Thraͤnen standen ihm in den Augen. Er hatte sich die Sache vorgestellt, wie sie war, und nicht, wie sie ausgelegt werden koͤnnte; doch sah er ein, daß sein Vetter ganz recht hatte; er war nun abermal gewitzigt, und er nahm sich vor, in Zukunft aͤußerst behutsam zu seyn. Doch bedauerte er bei sich selber, daß seine mehrsten Amtsbruͤder mit weniger Geschicklichkeit und Fleiß, doch mehr Ruhe und Gluͤck genoͤßen, als er, und er begann einen dunkeln Blick in die Zukunft zu thun, was doch wohl der himmlische Vater noch mit ihm vor- haben moͤchte. Als er nach Haus kam, kuͤndigte er mit innig- ster Wehmuth seiner Gemeinde an, daß er abdanken wollte. Der groͤßte Theil erstaunte, der boͤseste Theil aber war froh, denn sie hatten schon Jemand im Vorschlag, der sich besser zu ihren Absichten schickte, und nun hinderte sie Niemand mehr, dieselben zu erreichen. Die Frau Schmoll und ihre Toͤchtern konnten sich am uͤbelsten darein finden, denn Erstere liebte ihn, und die beiden Letztern hatten ihre Liebe in eine herzliche Freund- schaft verwandelt, die aber doch gar leicht wieder haͤtte in erstern Brand gerathen koͤnnen, wenn er sich zaͤrtlicher gegen sie ausge- lassen, oder daß sie eine andere Moͤglichkeit, den erwuͤnschten Zweck zu erreichen, geaͤußert haͤtte. Sie weinten alle drei und fuͤrchteten den Tag des Abschiedes; doch der kam mehr als zu fruͤh. Die Maͤdchen versanken in stummen Schmerz, Frau Schmoll aber weinte; Stilling ging wie ein Trunkener; sie hielten an ihm an, sie oft zu besuchen; er versprach das und taumelte wieder mitternachtwaͤrts den Berg hinauf; auf der Hoͤhe sah er sich nochmals nach seinem lieben Preisin- gen um, setzte sich hin und weinte. Ja! dachte er, Lampe singt wohl recht: Mein Leben ist ein Pilgrimstand — Da geh’ ich schon das drittemal wieder an das Schneider- handwerk, wann mag es doch wohl endlich Gott gefallen, mich bestaͤndig gluͤcklich zu machen! Hab ich doch keine an- dere Absicht, als ein rechtschaffener Mann zu werden! Nun befahl er sich Gott und wanderte mit seinem Buͤndel auf Lein- dorf zu. Nach dem Verlauf von zwei Stunden kam er daselbst an. Wilhelm sah ihn zornig an, als er zur Thuͤr hereintrat; das ging ihm durch die Seele; seine Mutter aber sah ihn gar nicht an, er setzte sich hin und wußte nicht, wie ihm war. Endlich fing sein Vater an: „Bist du wieder da, ungerathe- „ner Junge? Ich hab’ mir eitle Freuden deinetwegen gemacht, „was helfen dich deine brodlosen Kuͤnste? — Das Handwerk „ist dir zuwider, sitzest da, seufzend und seufzend, und wenn „du Schulmeister bist, so wills nirgends fort. Zu Zellberg „warst’ ein Kind und hattest kindische Anschlaͤge, darum gab „man dir was zu; zu Dorlingen warst’ ein Schuhputzer, „sogar kein Salz und Kraft hast’ bei dir; hier zu Leindorf „aͤrgertest du die Leute mit Saͤchelchen, die weder dir noch „Andern nuͤtzten, und zu Preisingen mußt’ entfliehen, um „so eben deine Ehre zu retten! Was willst’ nun hier machen? „— Du mußt Handwerk und Feldarbeit ordentlich verrich- „ten, oder ich kann dich nicht brauchen.“ Stilling seufzte tief und antwortete: Vater! ich fuͤhl’ es in meiner Seele, daß ich unschuldig bin, ich kann mich aber nicht rechtfertigen; Gott im Himmel weiß alles! Ich muß zufrieden seyn, was er uͤber mich verhaͤngen wird. Aber: Endlich wird das frohe Jahr Der erwünschten Freiheit kommen ! Es waͤr’ doch entsetzlich, wenn mir Gott Triebe und Nei- gungen in die Seele gelegt haͤtte, und seine Vorsehung ver- weigerte mir, so lang ich lebe, die Befriedigung derselben! Wilhelm schwieg und legte ihm ein Stuͤck Arbeit vor. Er setzte sich hin und fing wieder an zu arbeiten; er hatte ein so gutes Geschicke dazu, daß sein Vater oft zu zweifeln anfing, ob er nicht gar von Gott zum Schneider bestimmt sey. Dieser Gedanke aber war Stillingen so unertraͤglich, daß sich seine ganze Seele dagegen empoͤrte; er sagte dann auch wohl zuweilen, wenn Wilhelm so etwas vermuthete: Ich glaube nicht, daß mich Gott in diesem Leben zu einer bestaͤndigen Hoͤlle verdammet habe ! Es war nunmehr Herbst und die Feldarbeit mehrentheils vorbei, daher mußte er fast immer auf dem Handwerk arbei- ten, und dieses war ihm auch lieber, seine Glieder konnten es besser aushalten. Dennoch aber fand sich seine tiefe Traurig- keit bald wieder ein, er war wie in einem fremden Lande, von allen Menschen verlassen. Dieses Leiden hatte so etwas ganz Besonderes und Unbeschreibliches; das Einzige, was ich nie habe begreifen koͤnnen, war dieses: Sobald die Sonne schien, fuͤhlte er sein Leiden doppelt; Licht und Schatten des Herbstes brachte ihm so ein unaussprechliches Gefuͤhl in seine Seele, daß er vor Wehmuth oft zu vergehen glaubte, hingegen wenn es regnigt Wetter und stuͤrmisch war, so befand er sich besser, es war ihm, als wenn er in einer dunkeln Felsenkluft saͤße, er fuͤhlte dann eine verborgene Sicherheit, wobei es ihm wohl war. Ich hab’ unter seinen alten Papieren noch einen Aufsatz gefunden, den er diesen Herbst im Oktober an einem Sonntag Nachmittag verfertigt hat; es heißt unter anderem darin: Gelb ist die Trauerfarbe Der sterbenden Natur, Gelb ist der Sonnenstrahl, Er kommt so schilf aus Süden, Und lagert sich so müde Längs Feld und Berge hin: Die kalten Schatten wachsen, Auf den erblaßten Rasen Wird’s grau von Frost und Reif; Der Ost ist scharf und herbe Er stoͤßt die falben Blaͤtter, Sie nieseln auf den Frost u. s. w. An einem andern Orte heißt es: Wenn ich des Nachts erwache So heult’s im Loch der Eulen, Die Eiche saust im Wind. Es klappern an den Wänden Die halbverfaulten Breter, Es rast der wilde Sturm. Dann ist’s mir wohl im Dunkeln, Dann fuͤhl’ ich tiefen Frieden, Dann ist’s mir traurig wohl u. s. w. Wenn sein Vater guter Laune war, so daß er sich in Etwas an ihn entdecken durfte, so klagte er ihm zuweilen sein inne- res trauriges Gefuͤhl. Wilhelm laͤchelte dann und sagte: „Das ist etwas, welches wir Stillinge nicht kennen, das „hast du von deiner Mutter geerbt. Wir sind immer gut „Freund mit der Natur, sie mag gruͤn, gelb oder weiß aus- „sehen; wir denken dann: das muß so seyn, und es gefaͤllt „uns. Aber deine selige Mutter huͤpfte und tanzte im Fruͤh- „ling, im Sommer war sie munter und geschaͤftig, im Anfange „des Herbstes fing sie an zu trauern, bis Weihnachten weinte „sie, und dann fing sie an zu hoffen und die Tage zu zaͤhlen; „im Maͤrz lebte sie schon halb wieder auf.“ Wilhelm laͤchelte, schuͤttelte den Kopf und sagte: Es sind doch besondere Dinge ! — Ach, seufzte dann Heinrich oft in seinem Her- zen, moͤchte sie noch leben, sie wuͤrde mich am besten verstehen! Zuweilen fand Stilling ein Stuͤndchen, das er zum Lesen verwenden konnte, und dann daͤuchte ihm, als wenn er noch einen fernen Nachgeschmack von den vergangenen seligen Zei- ten genoͤsse, allein es war nur ein vorbeieilender Genuß. Um ihn her wirkten eitle frostige Geister, er fuͤhlte das bestaͤndige Treiben des Geldhungers, und der frohe stille Genuß war verschwunden. — Er beweinte seine Jugend und trauerte um sie, wie ein Braͤutigam um seine erblaßte Braut. Allein das alles half nichts, klagen durfte er nicht, und sein Weinen brachte ihm nur Vorwuͤrfe. Doch hatte er einen einzigen Freund zu Leindorf , der ihn ganz verstand, und dem er alles klagen konnte. Dieser Mensch hieß Caspar und war ein Eisenschmelzer, eine edle Seele, warm fuͤr die Religion, mit einem Herzen voller Em- pfindsamkeit. Der November hatte noch schoͤne Herbsttage, deßwegen gingen Caspar und Stilling Sonntags Nach- mittags spazieren, alsdann floßen ihre Seelen in einander uͤber; besonders hatte Caspar eine feste Ueberzeugung in seinem Gemuͤth, daß sein Freund Stilling vom himmlischen Vater zu weit was anders, als zum Schulhalten und Schnei- derhandwerk bestimmt sey, er konnte das unwidersprechlich darthun, daß Stilling ruhig und großmuͤthig beschloß, alle seine Schicksale geduldig zu ertragen. Um Weihnachten blickte ihn das Gluͤck wieder freundlich an. Die Kleefelder Vor- steher kamen und beriefen ihn zu ihrem Schulmeister; dieses war nun die beste und schoͤnste Kapellenschule im ganzen Fuͤr- stenthum Salen . Er wurde wieder ganz lebendig, dankte Gott auf den Knien und zog hin. Sein Vater gab ihm beim Abschied die treusten Ermahnungen, und er selber that, so zu sagen, ein Geluͤbde, jetzt alle seine Geschicklichkeit und Wissen- schaft anzuwenden, um im Schulhalten den hoͤchsten Ruhm davon zu tragen. Die Vorsteher gingen mit ihm nach Salen , und er wurde daselbst vor dem Consistorium von dem Inspec- tor Meinhold bestaͤtiget. Mit diesem festen Entschluß trat er mit dem Anfang des 1760sten Jahrs, im zwanzigsten seines Alters, dieses Amt wieder an, und bediente dasselbe mit solchem Ernst und Eifer, daß es rund umher bekannt wurde, und alle seine Feinde und Mißgoͤnner fingen an zu schweigen, seine Freunde aber zu triumphiren; er beharrte auch in dieser Treue, so lange er da war. Demungeachtet setzte er doch seine Lectuͤre in den uͤbrigen Stunden fort. Das Clavier und die Mathematik waren sein Hauptwerk; indessen wurden doch Dichter und Romane nicht vergessen. Gegen das Fruͤhjahr wurde er mit einem Amts-Collegen bekannt, der Graser hieß und das Thal hinauf, eine starke halbe Stunde weit von Kleefeld , auf dem Dorf Kleinhoven Schule hielt. Dieser Mensch war einer von denjenigen, die immer mit vielbedeutender Miene stillschweigen und im Verborgenen handeln. Ich hab’ oft Lust gehabt, die Menschen zu classificiren, und da moͤcht’ ich die Classe, worunter Graser gehoͤrte, die launigte nennen. Die besten Menschen darin sind stille Be- obachter ohne Gefuͤhl, die mittelmaͤßigen sind Duckmaͤuser, die schlechtesten Spionen und Verraͤther. Graser war freund- lich gegen Stilling , aber nicht vertraulich. Stilling hingegen war beides, und das gefiel Jenem, er beobachtete gern Andere im Lichte, stand aber dagegen selber lieber im Dunkeln. Um nun Stilling recht zum Freund zu behal- ten, so sprach er immer von großen Geheimnissen; er verstand magische und sympathetische Kraͤfte zu regieren, und einstmals vertraute er Stillingen , unter dem Siegel der groͤßten Ver- schwiegenheit, an, daß er die erste Materie des Steins der Weisen recht wohl kenne; Graser sah dabei so geheimniß- voll aus, als wenn er wirklich das große Universal selber besessen haͤtte. Stilling vermuthete es, und Graser leug- nete es auf eine Art, die Jenen vollends uͤberzeugte, daß er gewiß den Stein der Weisen habe; dazu kam noch, daß Gra- ser immerfort sehr viel Geld hatte, weit mehr, als ihm seine Umstaͤnde einbringen konnten. Stilling war uͤberaus ver- gnuͤgt wegen dieser Bekanntschaft, ja er hoffte sogar, dereinst durch Huͤlfe seines Freundes ein Adeptus zu werden. Gra- ser lieh ihm die Schriften Basilius Valentinus . Er las sie ganz aufmerksam durch, und als er hinten an den Prozeß aus dem ungarischen Vitriol kam, da wußte er gar nicht, wie ihm ward. Er glaubte wirklich, er koͤnnte nun den Stein der Weisen selber machen. Er bedachte sich eine Weile, nun fiel ihm ein, wenn der Prozeß so ganz vollkommen richtig waͤre, so muͤßte ihn ja ein jeder Mensch machen koͤnnen, der nur das Buch haͤtte. Ich kann versichern, daß Stilling ’s Neigung zur Al- chymie niemalen den Stein der Weisen zum Zweck hatte; wenn er ihn aber gefunden haͤtte, so waͤrs ihm lieb gewesen; sondern ein Grundtrieb in seiner Seele, wovon ich bisher noch nichts gesagt habe, fing an, sich bei reifern Jahren zu entwickeln, und der war ein unersaͤttlicher Hunger nach Er- kenntniß der ersten Urkraͤfte der Natur. Damalen wußte er noch nicht, welchen Namen er dieser Wissenschaft beilegen sollte. Das Wort Philosophie schien ihm was anders zu bedeuten; dieser Wunsch ist noch nicht erfuͤllt, weder Neu- ton , noch Leibnitz , noch jeder Andere hat ihm Genuͤge thun koͤnnen; doch hat er mir gestanden, daß er jetzt auf der wahren Spur sey, und daß er zu seiner Zeit damit aus Licht treten werde. Damalen schien ihm die Alchymie der Weg dahin zu seyn, und deßwegen las er alle Schriften von der Art, die er nur auftreiben konnte. Allein es war Etwas in ihm, das immer- fort rief: Wo ist der Beweis, daß es wahr ist? — Er kannte nur drei Quellen der Wahrheit: Erfahrung, mathematische Ueberfuͤhrung und die Bibel, und alle drei Quellen wollten ihm gar keinen Aufschluß in der Alchymie geben, deßwegen ver- ließ er sie vor der Hand ganz. Einstmals besuchte er seinen Freund Graser an einem Sam- stag Nachmittag; er fand ihn allein auf der Schule sitzen, allwo er Etwas ausstach, das einem Pettschaft aͤhnlich war. Stil- ling fragte: Herr College! was machen Sie da? „Ich stech’ ein Pettschaft.“ Lassen sie mich doch sehen, das ist ja feine Arbeit! „Es gehoͤrt fuͤr den Herrn von N. Hoͤren Sie, mein Freund „ Stilling ! ich wollte Ihnen gern helfen, daß Sie ohne den „Schulstand und die Schneiderei zu Brod kommen koͤnnten. „Ich beschwoͤre Sie bei Gott, daß Sie mich nicht verrathen „wollen.“ Stilling gab ihm die Hand darauf und sagte: Ich werde Sie gewiß nicht verrathen. „Nun so hoͤren Sie! ich hab’ ein Geheimniß; ich kann Ku- „pfer in Silber verwandeln, ich will Sie in Compagnie neh- „men und Ihnen die Haͤlfte von dem Gewinn geben; indessen „sollen Sie zuweilen einige Tage heimlich verreisen, und das „Silber an gewisse Leute zu veraͤußern suchen.“ Stilling saß und dachte der Sache nach; der ganze Vor- trag gefiel ihm nicht, denn erstlich ging der Trieb nicht dahin, viel Geld zu erwerben, sondern nur Erkenntniß der Wahrheit und Wissenschaften zu erlangen, um Gott und dem Naͤchsten damit zu dienen; und fuͤrs zweite kam ihm bei seiner geringen Weltkenntniß die ganze Sache doch verdaͤchtig vor; denn je mehr er nach dem Pettschaft blickte, je mehr wurde er uͤber- zeugt, daß es ein Muͤnz-Stempel sey. Es fing ihm daher an zu grauen, und er suchte Gelegenheit, von dem Schulmeister Graser abzukommen, indem er ihm sagte, er wolle nach Haus gehen und die Sache naͤher uͤberlegen. Nach einigen Tagen entstand ein Allarm in der ganzen Ge- gend; die Haͤscher waren des Nachts zu Kleinhoven gewe- sen und hatten den Schulmeister Graser aufheben wollen, er war aber schon entwischt, er ist hernach nach Amerika gegangen, und man hat weiter nichts von ihm gehoͤrt. Seine Mitschuldigen aber wurden gefangen und nach Verdienst ge- straft. Er war eigentlich selber der rechte Kuͤnstler gewesen und waͤre gewiß mit dem Strang belohnt worden, wenn man ihn ertappt haͤtte. Stilling erstaunte uͤber die Gefahr, in welcher er ge- schwebt hatte, und dankte Gott von Herzen, daß er ihn be- wahrt hatte. So lebte er nun ganz vergnuͤgt fort und glaubte gewiß, daß die Zeit seiner Leiden zu Ende sey, in der ganzen Ge- meinde fand sich kein Mensch, der etwas Widriges von ihm gesprochen haͤtte, alles war ruhig; aber welch’ ein Sturm folgte auf diese Windstille! Er war bald drei Vierteljahr zu Kleefeld gewesen, als er eine Vorladung bekam, den kuͤnf- tigen Dienstag Morgens um neun Uhr vor dem fuͤrstlichen Consistorium zu Salen zu erscheinen. Er verwunderte sich uͤber diesen ungewoͤhnlichen Vorfall; doch fiel ihm gar nichts Widriges ein; vielleicht, dachte er, sind neue Schulordnun- gen beschlossen, die man mir und Andern vortragen will. Und so ging er ganz ruhig am bestimmten Tage nach Salen hin. Als er ins Vorzimmer der Consistorialstube trat, so fand er da zwei Maͤnner aus seiner Gemeinde stehen, von denen er nie gedacht haͤtte, daß sie ihm widerwaͤrtig waͤren. Er fragte sie, was vorginge? Sie antworteten: wir sind vorge- laden und wissen nicht, warum; indessen wurden sie alle Drei hineingefordert. Oben am Fenster stand ein Tisch; auf der einen Seite desselben saß der Praͤsident, ein großer Rechtsgelehrter; er war klein von Statur, laͤnglicht und mager von Gesicht, aber ein Mann von einem vortrefflichen Charakter, voll Feuer und Leben. Auf der andern Seite des Tisches saß der Inspektor Meinhold , ein dicker Mann mit einem vollen laͤnglichten Gesicht; das große Unterkinn ruhte sehr majestaͤtisch auf dem feinen, wohlgeglaͤtteten und gesteiften Kragen, damit er nicht so leicht wund werden moͤchte; er hatte eine vortreffliche weiße und schoͤne Peruͤcke auf dem Haupt, und ein seidener schwar- zer Mantel hing seinen Ruͤcken herunter; er hatte hohe Augen- braunen, und wenn er Jemand ansah, so zog er die untern Augenlider hoch in die Hoͤhe, so daß er bestaͤndig blinzelte. Die Absaͤtze an seinen Schuhen krachten, wenn er darauf trat, und er hatte sich angewoͤhnt, er mochte stehen oder sitzen, im- merfort wechselsweise auf die Absaͤtze zu treten und sie krachen zu lassen. So saßen die beiden Herren da, als die Partheien hereintraten. Der Sekretarius aber saß hinter einem langen Tisch und guckte uͤber einen Haufen Papier hervor. Stil- ling stellte sich unten an den Tisch, die beiden Maͤnner aber standen gegenuͤber an der Wand. Der Inspektor raͤusperte sich, drehte sich gegen die Maͤn- ner und sprach: „Ist das air Schoolmaister?“ Ja, Herr Oberhofprediger! „So! araͤcht! Ihr sayd also der Schoolmaister von „ Kleefeld ?“ Ja! sagte Stilling . „’r sayd mer ain schoͤner Kerl! waͤr’t waͤrth, daß man aich „aus dem Land paitschte!“ Sachte! sachte! redete der Praͤsident ein, audiatur et altera pars! „Herr Praͤsident! das k’hoͤrt ad forum ecclesiasticum. „Sie habaͤ da nichts z’ sagaͤ.“ Der Praͤsident ergrimmte und schwieg. Der Inspektor sah Stilling veraͤchtlich an und sagte: „Wie ’r da staͤht, der schlechte Mensch!“ Die Maͤnner lachten ihn hoͤhnisch aus. Stilling konnte das gar nicht ertragen, er hatte auf der Zunge, er wolle sagen: wie Christus vor dem Hohenpriester ! allein er nahm’s wieder zuruͤck, trat naͤher und sagte: was hab’ ich gethan? Gott ist mein Zeuge, ich bin unschuldig! Der Inspektor lachte hoͤhnisch und erwiederte: „Als wenn ’r nit wuͤtzt, was ’r selbstan begangaͤ hat! „fragt air K’wissaͤ!“ Herr Inspektor! mein Gewissen spricht mich frei und der, der da recht richtet, auch; was hier geschehen wird, weiß ich nicht. „Schwaigt, ’r Gottloser! — sagt mer, Kirchaͤaͤltester, was „ist eure Klage?“ Herr Oberhofprediger! wir habens heut vierzehn Tage pro- tocolliren lassen. „Araͤcht’s is wahr!“ Und dieses Protokoll, sagte Stilling , muß ich haben! „Was wollt’r? Nain! sollt’s nie habaͤ!“ C’est contre l’ordre du prince! versetzte der Praͤsident und ging fort. Der Inspektor diktirte nun und sagte: „Schraibt, Sekre- „taͤr! Hait erschienaͤ N. N. Kirchaͤaͤltester von Kleefeld und „ N. N. Ainwahner daselbst, cantra ihren Schoolmaister „ Stilling . Klaͤger beziehaͤ sich of variges Protocoll . Der „Schoolmaister begehrte extractum Protocolli, wir’m aber „aus giltigaͤ Ohrsachaͤ abk’schlagaͤ.“ Nun krachte der Inspektor noch ein paarmal auf den Ab- saͤtzen, stemmte die Haͤnde in die Seiten und sprach: „Koͤnnt nu nacher Haus geh!“ Sie gingen alle Drei fort. Gott weiß es, daß die Erzaͤhlung wahr und wirklich so passirt ist. Schande waͤr’s fuͤr mich, der protestantischen Kirche einen solchen Theologen anzudichten. Schande fuͤr mich, wenn Meinhold noch eine gute Seite gehabt haͤtte. — Aber! — Ein jeder junge Theologe spiegle sich doch an diesem Exempel und denke: Wer da will unter euch der Groͤßte seyn, der sey der Geringste ! Stilling war ganz betaͤubt, er begriff von allem, was er gehoͤrt hatte, nicht ein Wort. Die ganze Scene war ihm wie ein Traum, er kam nach Kleefeld , ohne zu wissen wie. Sobald er da anlangte, ging er in die Kapelle und zog die Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 11 Glocke; dieses war das Zeichen, wenn die Gemeinde in einem außerordentlichen Nothfall schleunigst zusammenberufen werden sollte. Alle Maͤnner kamen eiligst bei der Kapelle auf einem gruͤnen Platz zusammen. Nun erzaͤhlte ihnen Stilling den ganzen Vorfall umstaͤndlich. Da sah man recht, wie die verschiedenen Temperamente der Menschen bei einerlei Ursache verschieden wirken: Einige rasten, die andern waren launigt, noch Andere waren betruͤbt, und wieder Andere waren wohl bei der Sache; diese druͤckten den Hut aufs Ohr und riefen: kein T..... soll uns den Schulmeister nehmen! Unter all diesem Gewirre hatte sich ein junger Mensch, Namens Reh- kopf weggeschlichen, er setzte im Wirthshaus eine Vollmacht auf, mit diesem Papier in der Hand kam er in die Thuͤr und rief: Wer Gott und den Schulmeister liebt, der komme her und unterschreibe sich ! Da ging der ganze Trupp, etwa hundert Bauern, hinein und unterschrie- ben sich. Noch denselben Tag ging Rehkopf mit zwanzig Bauern nach Salen und zum Inspektor. Rehkopf klopfte oder schellte nicht an der Thuͤre des Pfarrhauses, sondern ging gerade hinein, die Bauern hinter ihm her; im Vorhaus begegnete ihnen der Knecht. Wohin, ihr Leute? rief er, wart! ich will euch melden! Rehkopf versetzte: geh’, fuͤlle deine Weinflasche! wir koͤnnen uns sel- ber melden; und so plotzten die zwei und vierzig Fuͤße die Treppe hinauf und gerade ins Zimmer des Inspektors. Die- ser saß da im Lehnsessel, er hatte einen damastenen Schlaf- rock an, eine baumwollene Muͤtze auf dem Kopf und eine feine Leidensche Kappe daruͤber, dabei trank er so ganz ge- nuͤglich seine Tasse Chocolade. Er erschrack, setzte seine Tasse hin und sagte: „Gott! — ihr Lait — was wallt’r?“ Rehkopf antwortete: Wir wollen hoͤren, ob unser Schul- meister ein Moͤrder, ein Ehebrecher oder ein Dieb ist? „Behuͤt Gott! wer sagt das?“ Herr! Sie sagens oder lassens, Sie behandeln ihn so! Ent- weder Sie sollen sagen und beweisen, daß er ein Missethaͤter ist, und in dem Fall wollen wir ihn selber abschaffen; oder Sie sollen uns Genugthuung fuͤr seine Schmach geben, und in diesem Fall wollen wir ihn behalten. Sehen Sie hier unsere Vollmacht. „Waist aͤmahl her!“ Der Inspektor nahm sie und faßte sie an, als wenn er sie zerreißen wollte. Rehkopf trat hinzu, nahm sie ihm aus der Hand und sprach: Herr! las- sen Sie sich das vergehen! Sie verbrennen, weiß Gott! die Finger, und ich auch! „Ihr trotzt mer in maim Haus?“ Wie Sie’s nehmen, Herr! Trotz oder nicht! Der Inspektor zog gelindere Saiten auf und sagte: „Liebaͤ „Lait! ihr wißt nit, was air Schoolmaister vor’n schlechter „Mensch is, last mich doch machaͤ!“ Eben das wollen wir wissen, ob er ein schlechter Mensch ist, versetzte Rehkopf . „Schraͤckliche Dinge! Schraͤckliche Dinge hab’ ich von „dem Kerl k’hoͤrt!“ Kann seyn! Ich hab’ auch gehoͤrt, daß der Herr Inspek- tor sternvoll besoffen gewesen, als er letzthin zu Kleefeld Kapellen-Visitation gehalten. „Was! Was! wer sagt das? wollt’r“ — Still! Still! ich hab’s gehoͤrt, der Herr Inspektor richtet nach Hoͤrensagen, so darf ich’s auch. „Wart, ich will euch laͤrnaͤ.“ Herr! Sie lernen mich nichts, und was das Vollsanfen betrifft, Herr! — ich stand dabei, wie Sie auf der andern Seite vom Pferd herunterfielen, als man Sie auf der einen hinaufgehoben hatte. Wir erklaͤren Ihnen hiemit im Namen der Kleefelder Gemeinde, daß wir uns den Schulmeister nicht nehmen lassen, bis er uͤberfuͤhrt ist, und damit Adje! Nun gingen sie zusammen nach Haus. Rehkopf ging den ganzen Abend uͤber die Straßen spazieren, hustete, raͤusperte sich, daß man’s im ganzen Dorf hoͤren konnte. Stilling sah sich also wiederum ins groͤßte Labyrinth versetzt; er fuͤhlte wohl, daß er abermal wuͤrde weichen muͤs- sen, und was alsdann auf ihn wartete. Unterdessen kam er doch hinter das ganze Geheimniß seiner Verfolgung. 11 * Der vorige Schulmeister zu Kleefeld war allgemein ge- liebt gewesen; nun hatte er sich mit einem Maͤdchen daselbst versprochen, und suchte, um sich besser naͤhren zu koͤnnen, mehr Lohn zu bekommen; deßwegen, als er einen Beruf an einen andern Ort erhielt, so stellte er der Gemeinde vor, daß er ziehen wuͤrde, wenn man ihm nicht den Lohn erhoͤhte; er glaubte aber gewiß, man wuͤrde ihn um einiges Gelds wil- len nicht weggehen lassen. Allein es schlug ihm fehl, man ließ ihm Freiheit, zu ziehen, und waͤhlte Stilling . Es ist leicht zu denken, daß die Familie des Maͤdchens nunmehr alle Kraft anwendete, um Stilling zu stuͤrzen, und dieses bewerkstelligten sie ganz geheim, indem sie den Inspek- tor mit wichtigen Geschenken das ganze Jahr durch uͤberhaͤuft hatten, so daß er ohne Urtheil und Recht beschloß, ihn weg- zujagen. Einige Tage nach diesem Vorfall ließ ihn der Praͤsident ersuchen, zu ihm zu kommen; er ging hin. Der Praͤsident ließ ihn sitzen und sagte: „Mein Freund Stilling , ich be- „daure Euch von Herzen; und ich hab’ Euch zu mir kom- „men lassen, um Euch den besten Rath zu geben, den ich „weiß. Ich habe gehoͤrt, daß eure Bauern eine Vollmacht „aufgesetzt haben, um Euch zu schuͤtzen, allein sie wird Euch „gar nichts helfen: denn die Sache muß doch im Obercon- „sistorium abgethan werden, und da sitzen lauter Freunde und „Verwandte des Herrn Inspektors. Ihr gewinnt weiter nichts, „als daß er immer bitterer gegen Euch wird und Euch euer „Vaterland zu eng macht. Wann ihr also wieder vors Con- „sistorium kommt, so fordert euern Abschied.“ Stilling dankte fuͤr diesen treuen Rath und versetzte: Aber meine Ehre leidet darunter! Der Praͤsident erwiederte: Dafuͤr laßt mich sorgen. Der Schulmeister versprach, dem Rath zu folgen und ging nach Haus; er sagte aber Niemand, was er vorhatte. Als nun wiederum Consistorium war, so wurde er mit sei- nen Gegnern vorgeladen. Rehkopf aber ging ungerufen nach Salen hin, und sogar ins Vorzimmer der Consistorial- Stube. Stilling kam und wurde zuerst vorgefordert. Der Praͤsident winkte ihm, seinen Vortrag zu thun. Hierauf fing der Schulmeister an: „Herr Inspektor! ich sehe, daß man „mir mein Amt schwer zu machen sucht, ich begehre also aus „Liebe zum Frieden meinen ehrlichen Abschied.“ Der Inspek- tor sah ihn heiterlaͤchelnd an und sagte: „Brav! Schoolmaister! den sollt’r habaͤ, und ain Attest „derzu, das unverglaichlich is.“ Nein, Herr Inspektor! kein Attest. Tief in meiner Seele ist ein Attest und Ehrenrettung geschrieben, das kein Tod und kein Feuer des juͤngsten Tags ausloͤschen wird; und das wird dereinst meinen Verfolgern ins Gesicht blitzen, daß sie erblin- den moͤchten. Dieses sagte Stilling mit gluͤhenden Wan- gen und funkelnden Augen. Der Praͤsident laͤchelte ihn an und winkte ihm mit den Augen. Der Inspektor aber that, als hoͤrte ers nicht, son- dern las eine Schrift oder Protokoll durch. Nun sagte der Praͤsident laͤchelnd zum Inspektor: Verur- theilen gehoͤrt fuͤr Sie, aber fuͤr mich die Execution. Schreibt, Sekretaͤr: „Heut erschien der Schulmeister Stilling zu Kleefeld „und begehrte aus Liebe zum Frieden seinen ehrlichen Ab- „schied, der ihm dann auch um dieser Ursache willen zuge- „standen worden, doch mit dem Beding, daß er gehalten seyn „soll, im Fall er wiederum berufen werden sollte, oder man „ihn sonsten zu Geschaͤften brauchen wollte, seine herrlichen „Talente zum Besten des Vaterlandes zu verwenden.“ Araͤcht! sagte der Inspektor: No Schoolmaister, damit ’r doch wißt, daß wer Raͤcht haͤttaͤ, aich Verweise z’ gaͤbaͤ, so sag’ ich aich: ’r habt das heiligaͤ Nachtmahl prostituirt. Wie r’ am laͤtztaͤ gegangen sayd, habt’r nach dem K’nuß hoͤhnisch k’lacht. Stilling sah ihm ins Gesicht und sagte: Ob ich gelacht habe, weiß ich nicht, das weiß ich aber wohl, daß ich nicht hoͤhnisch gelacht habe. „Man soll auch bai solch ainer heiligaͤ Handlungen nit „lachaͤ.“ Stilling antwortete: der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an. Ich kann nicht sagen, ob ich gelacht habe; ich weiß aber wohl, was profanatio sa- crorum ist, und hab’s lang gewußt. Nun befahl der Praͤsident, daß seine Gegner hereintreten sollten; sie kamen, und der Sekretaͤr mußte ihnen das eben abgefaßte Protokoll vorlesen. Sie sahen sich an und schaͤm- ten sich. Habt ihr noch was einzuwenden, fragte der Praͤsident. Sie sagten: Nein! Nun dann, fuhr der ehrliche Mann fort, so hab’ ich noch was einzuwenden: Dem Herrn Inspektor kommt’s zu, einen Schulmeister zu bestaͤtigen, wenn ihr einen erwaͤhlt habt. Meine Pflicht aber ist’s, Acht zu haben, daß Ruhe und Ordnung erhalten werde; deßwegen befehl ich euch bei hundert Gulden Strafe, den vorigen Schulmeister nicht zu waͤhlen, sondern einen ganz unparteyischen, damit die Gemeinde wieder ru- hig werde. Der Inspektor erschrack, sah den Praͤsidenten an und sagte: „Auf die Wais werden die Lait nimmer zu Ruh kommaͤ.“ Herr Inspektor! erwiederte Jener, das gehoͤrt ins forum politicum und geht Sie nichts an. Indessen ließ sich Rehkopf melden. Er wurde hereinge- lassen. Dieser begehrte das Protokoll zu sehen im Namen seiner Principalen. Der Sekretaͤr mußte ihm das heutige vorlesen. Rehkopf sah Stilling an und fragte ihn, ob das recht waͤre? Stilling antwortete: Man kann nicht immer thun, was recht ist, sondern man muß auch wohl zu- weilen die Augen zuthun und ergreifen, was man kann und nicht was man will; indessen dank’ ich Euch tausendmal, rechtschaffener Freund! Gott wird’s Euch vergelten! Rehkopf schwieg eine Weile, endlich fing er an und sagte: So protestir’ ich im Namen meiner Principalen gegen die Wahl des vorigen Schulmeisters, und begehre, daß diese Protestation zu Proto- koll getragen werde. Gut! sagte der Praͤsident, das soll ge- schehen, ich hab’ dasselbige auch schon vorhin bei hundert Gul- den Strafe verboten. Nun wurden sie alle zusammen nach Haus geschickt und die Sache geschlossen. Stilling war also wiederum in seine betruͤbten Umstaͤnde versetzt, er nahm sehr traurig Abschied von seinen lieben Klee- feldern , ging aber nicht nach Haus, sondern zum Herrn Pastor Goldmann und klagte ihm seine Umstaͤnde. Dieser bedauerte ihn von Herzen und behielt ihn uͤber Nacht bei sich. Des Abends hielten sie Rath zusammen, was Stilling nun wohl am fuͤglichsten vorzunehmen haͤtte. Herr Gold- mann erkannte sehr wohl, daß er bei seinem Vater wenig Freude haben wuͤrde, und doch wußte er ihm auch kein an- deres Mittel an die Hand zu geben; endlich fiel ihm etwas ein, das sowohl dem Pastor, als auch Stilling angenehm und vortheilhaft vorkam. Zehn Stunden von Salen liegt ein Staͤdtchen, welches Rothhagen heißt, in demselben war der junge Herr Gold- mann , ein Sohn des Predigers, Richter. Noch zwei Stun- den weiter, zu Lahnburg , war Herr Schneeberg Hofpre- diger bei zwei hohen Prinzessinnen, und dieser war ein Vet- ter des Herrn Goldmann . Nun glaubte der ehrliche Mann, wenn er Stillingen mit Empfehlungsschreiben an beide Maͤnner abschicken wuͤrde, so koͤnnte es nicht fehlen, sie wuͤr- den ihm unterhelfen. Stilling hoffte selbsten ganz gewiß, es wuͤrde alles nach Wunsch ausschlagen. Die Sache wurde also beschlossen, die Empfehlungsschreiben fertig gemacht, und Stilling reiste des andern Morgens getrost und freudig fort. Das Wetter war diesen Tag sehr rauh und kalt, dabei war es wegen der kothigen Wege sehr uͤbel zu reisen. Doch ging Stilling viel vergnuͤgter seine Straße fort, als wenn er im schoͤnsten Fruͤhlingswetter nach Leindorf zu seinem Vater haͤtte gehen sollen. Er fuͤhlte eine so tiefe Ruhe in seinem Gemuͤth und ein Wohlgefallen des Vaters der Menschen, daß er froͤhlich fortwanderte, bestaͤndig Dank und feurige Seufzer zu Gott schickte, ob er gleich bis auf die Haut vom Regen durchnaͤßt war. Schwerlich wuͤrd’s ihm so wohl gewesen seyn, wenn Meinhold Recht gehabt haͤtte. Des Abends um sieben Uhr kam er muͤd und naß zu Rothhagen an. Er fragte nach dem Haus des Herrn Rich- ters Goldmann , und dies wurde ihm gewiesen, er ging hin- ein und ließ sich melden. Der Herr Goldmann kam die Treppe herabgelaufen und rief: Ei willkommen, Vetter Stil- ling ! Willkommen in meinem Haus! Er fuͤhrte ihn die Treppe hinauf. Seine Liebste empfing ihn ebenfalls freundlich und machte Anstalten, daß er trockene Kleider an den Leib bekam, und die seinigen wiederum trocken wurden, hernach setzte man sich zu Tisch. Waͤhrend des Essens mußte Stilling seine Geschichte erzaͤhlen; als das geschehen war, sagte Herr Gold- mann : Vetter! es muß doch etwas in eurer Lebensart seyn, das den Leuten mißfaͤllt, sonst waͤr’ es unmoͤglich, so ungluͤck- lich zu seyn. Ich werde es bald bemerken, wenn Ihr einige Tage bei mir gewesen seyd, ich will’s Euch dann sagen, und Ihr muͤßt es suchen abzuaͤndern. Stilling laͤchelte und ant- wortete: Ich will mich freuen, Herr Vetter! wenn Sie mir meine Fehler sagen, aber ich weiß ganz wohl, wo der Knoten sitzt, und den will ich Ihnen aufknuͤpfen: Ich lebe nicht in dem Beruf, zu welchem ich geboren bin, ich thue alles mit Zwang, und deßwegen ist auch kein Segen dabei. Goldmann schuͤttelte den Kopf und erwiederte: Ei! Ei! wozu solltet Ihr geboren seyn? Ich glaube, Ihr habt Euch durch euer Romanlesen unmoͤgliche Dinge in den Kopf gesetzt. Die Gluͤcksfaͤlle, welche die Phantasie der Dichter ihren Hel- den andichtet, setzen sich in Kopf und Herz fest, und erwecken einen Hunger nach dergleichen wunderbaren Veraͤnderungen. Stilling schwieg eine Weile, sah vor sich nieder; endlich blickte er seinen Vetter durchdringend an und sagte mit Nach- druck: Nein! bei den Romanen fuͤhl’ ich nur, mir ists, als wenn mir alles selbst widerfuͤhre, was ich lese; aber ich habe gar keine Lust, solche Schicksale zu erleben. Es ist was an- ders, lieber Herr Vetter! ich habe Lust zu Wissenschaften, wenn ich nur einen Beruf haͤtte, in welchem ich mit Kopfarbeit mein Brod erwerben koͤnnte, so waͤre mein Wunsch erfuͤllt. Goldmann versetzte: Nun so untersucht einmal diesen Trieb unparteiisch. Ist nicht Ruhm und Ehrbegierde damit verknuͤpft? Habt Ihr nicht suͤße Vorstellungen davon, wenn Ihr in einem schoͤnen Kleid und herrschaftlichen Aufzug einher- treten koͤnntet? Wenn die Leute sich buͤcken und den Hut vor Euch abziehen muͤßten, und wenn Ihr der Stolz und das Haupt eurer Familie wuͤrdet? Ja! antwortete Stilling treuherzig, das fuͤhl ich freilich, und das macht mir manche suͤße Stunde. Recht, fuhr Goldmann fort: Aber ist es Euch auch ein wahrer Ernst, ein rechtschaffenen Mann in der Welt zu seyn, Gott und Menschen zu dienen, und also auch nach diesem Le- ben selig zu werden? Da heuchelt nun nicht, sondern seyd auf- richtig. Habt Ihr den fest entschlossenen Willen? O ja! versetzte Stilling , das ist doch wohl der rechte Polarstern, nach welchem sich endlich, nach vielem Hin- und Hervagiren, mein Geist wie eine Magnetnadel richtet. Nun, Vetter! erwiederte Goldmann : Nun will ich Euch eure Nativitaͤt stellen, und die soll zuverlaͤßig seyn. Hoͤrt mir zu! „Gott verabscheut nichts mehr, als den eiteln Stolz und die Ehrbegierde, seinen Nebenmenschen, der oft besser ist, als wir, tief unter sich zu sehen; das ist verdorbene menschliche Natur. Aber er liebt auch den Mann, der im Stillen und Verborgenen zum Wohl der Menschen arbeitet, und nicht wuͤnscht, offenbar zu seyn. Diesen zieht Er durch Seine guͤ- tige Leitung, gegen seinen Willen endlich hervor und setzt ihn hoch hinauf. Da sitzt dann der rechtschaffene Mann — ohne Gefahr, gestuͤrzt zu werden, und weil ihn die Last der Erhoͤ- hung niederdruͤckt, so betrachtet er alle Menschen neben sich so gut als sich selbst. Seht, Vetter! das ist wahre, edle, ver- besserte oder wiedergeborene Menschennatur. Nun will ich weissagen, was Euch widerfahren wird: Gott wird durch eine lange und schwere Fuͤhrung alle eure eiteln Wuͤnsche suchen abzufegen; gelingt Ihm dieses, so werdet ihr endlich nach vie- len schweren Proben ein gluͤcklicher, großer Mann und ein vortreffliches Werkzeug Gottes werden! Wenn Ihr aber nicht folgt, so werdet Ihr Euch vielleicht bald hoch schwingen, und einen entsetzlichen Fall thun, der allen Menschen, die es hoͤren werden, in die Ohren gellen wird!“ Stilling wußte nicht wie ihm ward, alle diese Worte waren, als wenn sie Goldmann in seiner Seele gelesen haͤtte. Er fuͤhlte diese Wahrheit im Grund seines Herzens und sagte mit inniger Bewegung und gefalteten Haͤnden: Gott! Herr Vetter! das ist wahr! ich fuͤhl’s, so wird’s mir gehen. Goldmann laͤchelte und schloß das Gespraͤch mit den Wor- ten: Ich beginne zu hoffen, Ihr werdet endlich gluͤcklich seyn. Des andern Morgens setzte der Richter Goldmann Stil- ling in die Schreibstube und ließ ihn copiren; da sah er nun alsofort, daß er sich vortrefflich zu so Etwas schicken wuͤrde, und wenn die Frau Richterin nicht ein wenig geizig gewesen waͤre, so haͤtte er ihn alsofort zum Schreiber angenommen. Nach einigen Tagen ging er nach Lahnburg . Der Hof- prediger war in den nahgelegenen vortrefflichen Thiergarten gegangen. Stilling ging ihm nach und suchte ihn daselbst auf. Er fand ihn in einem buschigten Gang wandeln, er ging auf ihn zu, uͤberreichte ihm den Brief und gruͤßte ihn von den Herren Goldmann Vater und Sohn. Herr Schnee- berg kannte Stillingen , sobald als er ihn sah; denn sie hatten sich einmal in Salen gesehen und gesprochen. Nach- dem Herr Schneeberg den Brief gelesen hatte, so ersuchte er Stilling , mit ihm bis an Sonnenuntergang spazieren zu gehen und ihm indessen seine ganze Geschichte zu erzaͤhlen. Er thats mit der gewoͤhnlichen Lebhaftigkeit, so daß der Hof- prediger zuweilen die Augen wischte. Des Abends nach dem Essen sagte Herr Schneeberg zu Stilling : Hoͤren Sie, mein Freund! ich weiß ein Etablis- sement fuͤr Sie, und das soll Ihnen verhoffentlich nicht fehl- schlagen. Nur Eins ist hier die Frage: Ob Sie sich getrauen, demselben mit Ehren vorzustehen? „Die Prinzessinnen haben hier in der Naͤhe ein ergiebiges „Bergwerk, nebst einer dazu gehoͤrigen Schmelzhuͤtte. Sie „muͤssen daselbst einen Mann haben, der das Berg- und Huͤt- „tenwesen versteht, dabei treu und redlich ist und uͤberall das „Interesse Ihrer Durchlauchten wohl besorgt und in Acht nimmt. „Der jetzige Verwalter zieht kuͤnftiges Fruͤhjahr weg, und „alsdann waͤr’ es Zeit, diesen vortheilhaften Dienst anzutreten; „Sie bekommen da Haus, Hof, Garten und Laͤndereien frei, „nebst dreihundert Gulden jaͤhrlichen Gehalt. Hier hab’ ich „also zwei Fragen an Sie zu thun. Verstehen Sie das Berg- „und Huͤttenwesen hinlaͤnglich, und getrauen Sie sich wohl, „einen verrechnenden Dienst zu uͤbernehmen?“ Stilling konnte seine herzliche Freude nicht bergen. Er antwortete: Was das Erste betrifft, ich bin unter Kohlbren- nern, Berg- und Huͤttenleuten erzogen, und was mir etwa noch fehlen moͤchte, das kann ich diesen folgenden Winter noch einholen. Schreiben und Rechnen, daran wird wohl kein Man- gel seyn. Das Andere: ob ich treu genug seyn werde, das ist eine Frage, wo meine ganze Seele Ja dazu sagt; ich verab- scheue jede Untreue, wie den Satan selber! Der Hofprediger erwiederte: Ja, ich glaube gern, daß es Ihnen an uͤberfluͤssiger Geschicklichkeit nicht mangeln wird, davon hab’ ich schon gehoͤrt, als ich im Salen ’schen Lande war. Allein, Sie sind so sicher in Ansehung der Treue. Die- sen Artikel kennen Sie noch nicht. Ich gebe Ihnen zu, daß Sie jede wissentliche Untreue wie den Satan hassen; allein es ist hier eine besondere Art von kluger Treue noͤthig, die koͤnnen Sie nicht kennen, weil Sie keine Erfahrung davon haben. Zum Beispiel: Sie staͤnden in einem solchen Amt, nun ging Ihnen einmal das Geld aus, Sie haͤtten etwas in der Haushaltung noͤthig, haͤtten’s aber selber nicht und wuͤßtens auch nicht zu bekommen; wuͤrden Sie da nicht an die herrschaftliche Kasse gehen und das Noͤthige herausnehmen? Ja! sagte Stilling , das wuͤrde ich kuͤhn thun, so lang ich noch Gehalt zu fordern haͤtte. Ich geb Ihnen das einstweilen zu, versetzte Herr Schnee- berg , aber diese Gelegenheit macht endlich kuͤhner, man wird dessen so gewohnt, man bleibt das erste Jahr zwanzig Gulden schuldig, das andere vierzig, das dritte achtzig, das vierte zwei- hundert und so fort, bis man entlaufen oder sich als einen Schel- men setzen lassen muß. Denken Sie nicht, das hat keine Noth! — Sie sind guͤtig von Temperament, da kommen bald vornehme und geringe Leute, die das merken. Sie werden taͤg- lich mit einer Flasche Wein nicht auskommen, und blos dieser Artikel nimmt Ihnen jaͤhrlich schon hundert Gulden weg, ohne dasjenige, was noch dazu gehoͤrt, die Kleider fuͤr Sie und die Haushaltung auch hundert; nun! — meinen Sie denn, mit den uͤbrigen hundert Gulden noch auszukommen! Stilling antwortete: Davor muß man sich huͤten. Ja! fuhr der Hofprediger fort, freilich muß man sich huͤten, aber wie wuͤrden Sie das anfangen? Stilling versetzte: Ich wuͤrde den Leuten, die mich besuch- ten, aufrichtig sagen: Herren oder Freunde! meine Umstaͤnde leiden nicht, daß ich Wein praͤsentire, womit kann ich Ihnen sonst dienen? Herr Schneeberg lachte. Ja, sagte er, das geht wohl an, allein es ist doch schwerer, als Sie denken. Hoͤren Sie! ich will Ihnen etwas sagen, das Ihnen Ihr ganzes Leben lang nuͤtzlich seyn wird, Sie moͤgen in der Welt werden, was Sie wollen: Lassen Sie Ihren aͤußern Aufzug und Betragen in Klei- dung, Essen, Trinken und Auffuͤhrung immer mittelmaͤßig buͤr- gerlich seyn, so wird Niemand mehr von Ihnen fordern, als Ihre Auffuͤhrung ausweist; komm ich in ein schoͤn meublirtes Zimmer, bei einem Mann in kostbarem Kleide, so frag’ ich nicht lange, weß Standes er sey, sondern ich erwarte eine Flasche Wein und Confect; komm ich aber in ein buͤrgerliches Zimmer bei einem Mann in buͤrgerlichem Kleide, ei so erwarte ich nichts weiter, als ein Glas Bier und eine Pfeife Tabak. Stilling erkannte die Wahrheit dieser Erfahrung, er lachte und sagte: das ist eine Lehre, die ich niemals vergessen werde. Und doch, mein lieber Frennd, fuhr der Hofprediger fort, ist sie schwerer in Ausuͤbung zu bringen, als man denkt. Der alte Adam kitzelt sich so leicht damit, wenn man ein Ehren- aͤmtchen kriegt, o wie schwer ists alsdann, noch immer der alte Stilling zu bleiben! Man heißt nun gerne Herr Stilling , moͤchte auch gerne so ein schmales Treßchen an der Weste haben, und das wachst dann nach und nach, bis man fest sitzt und sich nicht zu helfen weiß. Nun, mein Freund! Punctum. Ich will helfen, was ich kann, damit Sie Bergverwalter werden. Stilling konnte die Nacht vor Freuden nicht schlafen. Er sah sich schon in einem schoͤnen Hause wohnen, sah eine Menge schoͤner Buͤcher in einer aparten Stube stehen, verschiedene schoͤne mathematische Instrumente da haͤngen, mit Einem Wort, seine ganze Einbildung war schon mit seinem zukuͤnftigen gluͤckseligen Zustand beschaͤftiget. Des andern Tages blieb er noch zu Lahnburg . Der Hof- prediger gab sich alle Muͤhe, um gewisse Hoffnung wegen der bewußten Bedienung Stillingen mitzugeben, und es gelang ihm auch. Die ganze Sache wurde so zu sagen beschlossen, und Stilling ging, vor Freude trunken, zuruͤck nach Roth- hagen zu Vetter Goldmann . Diesem erzaͤhlte er die ganze Sache. Herr Goldmann mußte herzlich lachen, als er Stil- ling mit solchem Enthusiasmus reden hoͤrte. Als er ausge- redet hatte, fing der Richter an: O Vetter! Vetter! wo will’s doch mit Euch hinaus? — Das ist eine Stelle, die Euch Gott im Zorn gibt, wenn Ihr sie bekommt, das ist der gerade Weg zu Eurem gaͤnzlichen Verderben, und das will ich Euch bewei- sen: sobald Ihr da seyd, fangen alle Hofschranzen an, Euch zu besuchen und sich bei Euch lustig zu machen; leidet Ihr das nicht, so stuͤrzen sie Euch, sobald sie koͤnnen, und laßt Ihr ih- nen ihre Freiheit, so reicht Euer Gehalt nicht halb zu. Stilling erschrack, als er seinen Vetter so reden hoͤrte; er erzaͤhlte ihm darauf alle die guten Lehren, die ihm der Hofpre- diger gegeben hatte. Die Prediger koͤnnen das sehr selten, sagte Herr Gold- mann . Sie moralisiren gut und ein braver Prediger kann auch in seinem Cirkel gut moralisch leben, aber! aber! wir Andern koͤnnen das so nicht; man fuͤhrt die Geistlichen nicht so leicht in Versuchung, als andere Leute. Sie haben gut sagen! — Hoͤrt, Vetter! alle moralischen Predigten sind nicht einen Pfifferling werth, der Verstand bestimmt niemalen unsre Handlungen, wenn die Leidenschaften etwas stark dabei interes- sirt sind, das Herz macht allezeit ein Maͤntelchen darum und uͤberredet uns: schwarz sey weiß! — Vetter! ich sag Euch eine groͤßere Wahrheit, als Freund Schneeberg. Wer nicht dahin kommt, daß das Herz mit einer star- ken Leidenschaft Gott liebt, den hilft alles Mora- lisiren ganz und gar nichts. Die Liebe Gottes allein macht uns tuͤchtig, moralisch gut zu wer- den . Dieses sey Euch ein Notabene, Vetter Stilling ! und nun bitt’ ich Euch, gebt dem Herrn Berg-Verwalter sei- nen ehrlichen Abschied und bewillkommt die arme Naͤhnadel mit Freuden, so lang, bis Euch Gott hervorziehen wird. Ihr seyd mein lieber Vetter Stilling , und wenn Ihr auch nur ein Schneider seyd. Summa Summarum! ich will das ganze Ding ruͤckgaͤngig machen, sobald ich nach Lahnburg komme. Stilling konnte vor Empfindung des Herzens die Thraͤ- nen nicht einhalten. Es ward ihm so wohl in seiner Seele, daß er es nicht aussprechen konnte. O! sagte er, Herr Vet- ter! wahr ist das! Woher erlang’ ich aber doch Kraft, um meinem teuflischen Hochmuth zu widerstehen! — ein, zwei, drei Tage! — und dann bin ich todt. — Was hilfts mich dann, ein großer, vornehmer Mann in der Welt gewesen zu seyn? — Ja, es ist wahr! — Mein Herz ist die falscheste Kreatur auf Gottes Erdboden, immer mein’ ich, ich haͤtte die Absicht, nur mit meinen Wissenschaften Gott und dem Naͤch- sten zu dienen — und wahrlich! — es ist nicht wahr! ich will nur gern ein großer Mann werden, gern hoch klimmen, um nur auch tief fallen zu koͤnnen. O! wo krieg ich Kraft, mich selber zu uͤberwinden? Goldmann konnte sich nicht mehr enthalten. Er weinte, fiel Stillingen um den Hals und sagte: Edler! edler Vet- ter! seyd getrost; dieses treue Herz wird Gott nicht fahren lassen. Er wird euer Vater seyn. Kraft erlangt man nur durch Arbeit; der Hammerschmid kann einen Centner Eisen unter dem Hammer hin und her wenden, wie einen leichten Stab, das ist uns Beiden unmoͤglich, und so kann ein Mensch, der durch Pruͤfungen geuͤbt ist, mehr uͤberwinden, als ein Muttersoͤhnchen, das immer an der Brust saugt und nichts erfahren hat. Getrost, Vetter! freut Euch nur, wenn Truͤb- sale kommen, und glaubt alsdann, daß Ihr auf Gottes Uni- versitaͤt seyd, der etwas aus Euch machen will! — Des andern Tages reiste also Stilling getroͤstet und ge- staͤrkt wiederum nach seinem Vaterland. Der Abschied von Herrn Goldmann kostete ihn viele Thraͤnen, er glaubte, daß er der rechtschaffenste Mann sey, den er je gesehen hatte, und ich glaube jetzt auch noch, daß Stilling recht gehabt habe. So ein Mann mag wohl Goldmann heißen; wie er sprach, so handelte er auch; wenn er noch lebt und liest dieses, so wird er weinen und sein Gefuͤhl dabei wird englisch seyn. Auf der Heimreise nahm sich Stilling fest vor, ruhig am Schneiderhandwerk zu bleiben und nicht wieder so eitle Wuͤnsche zu hegen; diejenigen Stunden aber, die er frei ha- ben wuͤrde, wollte er ferner dem Studiren widmen. Doch als er nahe zu Leindorf kam, fuͤhlte er schon wieder die Melancholie anklopfen. Insonderheit fuͤrchtete er die Vorwuͤrfe seines Vaters, so daß er also sehr niedergeschlagen zur Stu- benthuͤre hereintrat. Wilhelm saß mit einem Lehrjungen am Tisch und naͤhte. Er gruͤßte seinen Vater und seine Mutter, setzte sich still hin und schwieg. Wilhelm schwieg auch eine Weile, endlich legte er seinen Fingerhut nieder, schlug die Arme uͤber einan- der und fing an: Heinrich ! ich hab’ alles gehoͤrt, was dir abermals zu Kleefeld widerfahren ist; ich will dir keine Vorwuͤrfe machen; das sehe ich aber klar ein, es ist Gottes Wille nicht, daß du ein Schulmeister werden sollst. Nun gib dich doch einmal ruhig aus Schneiderhandwerk und arbeite mit Lust. Es fin- det sich noch so manches Stuͤndchen, wo du deine Sachen fortsetzen kannst. Stilling aͤrgerte sich recht uͤber sich selber und befestigte seinen Vorsatz, den er unterwegs gefaßt hatte. Er antwortete deßwegen seinem Vater: Ja, Ihr habt ganz recht! ich will beten, daß mir unser Herr Gott die Sinnen aͤndern moͤge! Und so setzte er sich hin und fing wieder an zu Naͤhen. Die- ses geschah vierzehn Tage nach Michaelis Anno 1760, als er ins einundzwanzigste Jahr getreten war. Wenn er nun weiter nichts zu thun gehabt haͤtte, als auf dem Handwerk zu arbeiten, so wuͤrde er sich beruhigt und in die Zeit geschickt haben; allein sein Vater stellte ihn auch aus Dreschen. Er mußte den ganzen Winter durch des Morgens fruͤh um zwei Uhr aus dem Bett und auf die kalte Dresch- tenne. Der Flegel war ihm erschrecklich. Er bekam die Haͤnde voller lichter Blasen, und seine Glieder zitterten vor Schmerzen und Muͤdigkeit, allein das half alles nichts, vielleicht haͤtte sich sein Vater uͤber ihn erbarmt, allein die Mutter wollte haben, daß ein jeder im Hause Brod und Kleider verdienen sollte. Dazu kam noch ein Umstand. Stilling konnte mit dem Schullohn niemals auskommen, denn er ist in dasigen Gegenden außeror- dentlich klein; fuͤnf und zwanzig Reichsthaler des Jahrs ist das Hoͤchste, was einer bekommen kann; Speise und Trank geben einem die Bauern um die Reihe. Daher koͤnnen die Schulmeister alle ein Handwerk, welches sie in den uͤbrigen Stunden treiben, um sich desto besser durchzuhelfen. Das war aber nun Stillings Sache nicht, er wußte in der uͤbrigen Zeit weit was Angenehmeres zu verrichten; dazu kam noch, daß er zuweilen ein Buch oder sonst Etwas kaufte, das in sei- nem Kram diente, daher gerieth er in duͤrftige Umstaͤnde, seine Kleider waren schlecht und abgetragen, so daß er aussah, als einer, der gern will und kann nicht. Wilhelm war sparsam, und seine Frau in einem noch hoͤhern Grade; dazu bekam sie verschiedene Kinder nach einander, so daß der Vater Muͤhe genug hatte, sich und die Seinigen zu naͤhren. Nun glaubte er, sein Sohn waͤre groß und stark ge- nug, sich seine Nothdurft selbst zu erwerben. Als das nun so nicht recht fort wollte, wie er dachte, so wurde der gute Mann traurig und fing an zu zweifeln, ob sein Sohn auch wohl end- lich gar ein liederlicher Taugenichts werden koͤnnte. Er fing an, ihm seine Liebe zu entziehen, fuhr ihn rauh an und zwang ihn, alle Arbeit zu thun, es mochte ihm sauer werden oder nicht. Dieses war nun vollends der letzte Stoß, der Stil- lingen noch gefehlt hatte. Er sah, daß ers auf die Laͤnge nicht aushalten wuͤrde; ihm grauete vor seines Vaters Haus, deßwegen suchte er Gelegenheit, bei andern Schneidermeistern als Geselle zu arbeiten, und dieses ließ sein Vater gern geschehen. Doch kamen auch zuweilen noch freudige Blicke dazwischen. Johann Stilling wurde wegen seiner großen Geschicklich- keit in der Geometrie, Markscheidekunst und Mechanik, und wegen seiner Treue fuͤrs Vaterland, zum Commercien-Praͤsi- denten gemacht, deßwegen uͤbertrug er seinem Bruder die Land- messerei, welche Wilhelm auch aus dem Grunde verstand. Wenn er nun einige Wochen ins Maͤrkische ging, um Buͤsche, Berge und Guͤter zu messen und zu theilen, so nahm er seinen Sohn mit, und dieses war so recht nach Stillings Sinn. Er lebte dann in seinem Element, und sein Vater hatte Freude daran, daß sein Sohn bessere Einsichten davon hatte, als er selber. Dieses gab oftmalen zu allerhand Gespraͤchen und Projekten Anlaß, welche Beide in der Einoͤde zusammen wech- selten. Indessen war alles fruchtlos, und bestand in bloßen leeren Worten. Oefters beobachteten ihn Leute, die in großen Geschaͤften standen, und die wohl Jemand gebraucht haͤtten. Diese bewunderten seine Geschicklichkeit; allein sein schlechter Aufzug mißfiel einem Jeden, der ihn sah, und man urtheilte ingeheim von ihm, er muͤßte wohl ein Lump seyn. Das merkte er, und es brachte ihm unertraͤgliche Leiden. Er liebte selber ein reinliches, ehrbares Kleid uͤber die Maßen, allein sein Vater konnte ihn nicht damit versehen, und ließ ihn darben. Diese Zeiten waren kurz und voruͤbergehend; sobald er wie- der nach Haus kam, so ging das Elend wieder an. Stil- ling machte sich alsdann bald wieder zu einem fremden Mei- ster, um dem Joch zu entgehen. Doch reichte sein Verdienst lange nicht zu, um sich ordentlich zu kleiden. Einstmals kam er nach Hause. Er hatte auf einem benach- barten Dorfe gearbeitet, und wollte etwas holen; er dachte an nichts Widriges, und trat deßwegen freimuͤthig in die Stube. Sein Vater sprang auf, sobald er ihn sah, griff ihn und wollte ihn zur Erde werfen; Stilling aber ergriff seinen Vater an beiden Armen, hielt ihn so, daß er sich nicht regen konnte, und sah ihm mit einer Miene ins Gesicht, die einen Felsen haͤtte spalten koͤnnen. Und wahrlich! wenn er jemalen die Macht der Leiden in all’ ihrer Kraft auf sein Herz hat stuͤrmen sehen, so war es in diesem Zeitpunkte. Wilhelm konnte diesen Blick nicht ertragen — er suchte sich loszureißen; allein er konnte sich nicht regen; die Arme und Haͤnde seines Sohns waren fest wie Stahl, und convulsivisch geschlossen. Vater ! sprach er sanftmuͤthig und durchdringend, Vater! — Euer Blut fleußt in meinen Adern, und das Blut — das Blut Stilling’s sämmtl. Schriften. I. Band. 12 eines seligen Engels — reizt mich nicht zur Wuth! — ich verehre Euch — ich liebe Euch — aber — hier ließ er seinen Vater los, sprang gegen das Fenster und rief: „ich moͤchte schreien, daß die Erdkugel an ihrer Achse bebte und die Sterne zitterten.“ — Nun trat er seinem Vater wieder naͤher und sprach mit sanfter Stimme: „Vater, was hab’ ich gethan, was strafwuͤrdig ist?“ — Wilhelm hielt beide Haͤnde vors Gesicht, schluchzte und weinte. Stilling aber ging in einen abgelegenen Winkel des Hanses und heulte laut. Des Morgens fruͤh packte Stilling seinen Buͤndel, und sagte zu seinem Vater: Ich will außer Land auf mein Hand- werk reisen, laßt mich im Frieden ziehen; und die Thraͤnen schossen ihm wieder die Wangen herunter. Nein, sagte Wil- helm , ich laß dich jetzt nicht ziehen, und weinte auch. Stil- ling konnte das nicht ertragen, und blieb. Dieses geschah 1761 im Herbst. Kurz hernach fand sich zu Florenburg ein Schneider-Mei- ster, der Stilling auf einige Wochen in Arbeit verlangte. Er ging hin und half dem Mann Naͤhen. Des folgenden Sonn- tags ging er nach Tiefenbach , um seine Großmutter zu besu- chen. Er fand sie am gewohnten Platz hinter dem Ofen sitzen. Sie erkannte ihn bald an der Stimme, denn sie war staarblind und konnte ihn also nicht sehen. Heinrich , sagte sie, komm, setze dich hier neben mich! Stilling that das. Ich habe gehoͤrt, fuhr sie fort, daß dich dein Vater hart haͤlt, ist wohl deine Mutter schuld daran? Nein, sagte Stilling , sie ist nicht schuld daran, sondern meine betruͤbten Umstaͤnde. „Hoͤr, sagte die ehrwuͤrdige Frau, es ist dunkel um mich her, aber in meinem Herzen ist’s desto heller; ich weiß, es wird dir gehen wie einer gebaͤhrenden Frau, mit vielen Schmerzen mußt du gebaͤren, was aus dir werden soll. Dein seliger Großvater sah das alles voraus. Ich denk’ mein Lebtag daran, wir la- gen einmal des Abends auf dem Bette und konnten nicht schla- fen. Da sprachen wir dann so von unsern Kindern und auch von dir, denn du bist mein Sohn und ich habe dich erzogen. Ja, sagte er, Margrethe! wenn ich doch noch erleben moͤchte, was aus dem Jungen wird. Ich weiß nicht: Wilhelm — wird noch in die Klemme kommen, so stark als er jetzt das Chri- stenthum treibt, wird ers nicht ausfuͤhren, er wird ein frommer, ehrlicher Mann bleiben, aber er wird noch was erfahren. Denn er spart gern und hat Lust zu Geld und Gut. Er wird wie- der heirathen, und dann werden seine gebrechlichen Fuͤße dem Kopf nicht folgen koͤnnen. Aber der Junge, der liebt nicht Geld und Gut, sondern Buͤcher, und davon laͤßt sichs im Bauernstand nicht leben. Wie die beiden zusammen stallen werden, weiß ich nicht! — Aber der Junge wird doch am Ende gluͤcklich seyn, das kann nicht fehlen. Wenn ich eine Axt mache, so will ich damit hauen, und wozu unser Herr Gott einen Menschen schafft, dazu will er ihn auch brauchen!“ Stilling war’s, als wenn er im dunkeln Heiligthum geses- sen und ein Orakel gehoͤrt haͤtte, es war, als wenn er entzuͤckt waͤre und aus der dunkeln Gruft seines Großvaters die gewohnte Stimme sagen hoͤrte: „ Sey getrost, Heinrich, der Gott deiner Vaͤter wird mit dir seyn !“ Nun redete er noch ein und anderes mit seiner Großmutter. Sie ermahnte ihn, geduldig und großmuͤthig zu seyn, er ver- sprachs mit Thraͤnen und nahm Abschied von ihr. Als er vor die Thuͤr kam, uͤbersah er seine alte romantische Gegenden; die Herbstsonne schien so hell und schoͤn daruͤber hin, und da es noch fruͤh am Tage war, so beschloß er, alle diese Oerter noch ein- mal zu besuchen, und uͤber das alte Schloß nach Florenburg zuruͤckzugehen. Er ging also den Hof hinauf und in den Wald; er fand noch alle die Gegenden, wo er so viele Suͤßigkeiten ge- nossen hatte, aber der eine Strauch war verwachsen und der andere ausgerottet, das that ihm leid. Er spazierte langsam den Berg hinauf bis aufs Schloß, auch da waren viele Mauern umgefallen, die in seiner Jugend noch gestanden hatten; alles war veraͤndert; nur der Hollunderstrauch auf dem Wall west- waͤrts stand noch. Er stellte sich auf die hoͤchste Spitze zwischen die Ruinen, er konnte da uͤber alles hinwegsehen. Nun uͤberschaute er den Weg von Tiefenbach nach Zellberg . Ihm traten alle die schoͤ- nen Morgen vor seine Seele, mit ihrem herrlichen Genuß, den er die Strecke herauf empfunden hatte. Nun blickte er nord- 12 * waͤrts in die Ferne, und sah einen hohen blauen Berg; er er- kannte, daß dieser Berg nahe bei Dorlingen war; nun traten ihm alle dortigen Scenen klar vors Gemuͤth, sein Schicksal auf der Rauchkammer und alles andere, was er da gelitten hatte. Nun sah er westwaͤrts die Leindorfer Wiesen in der Ferne liegen, er fuhr zusammen und es schauderte ihm in allen Glie- dern. Suͤdwaͤrts sah er die Preisinger Berge mit der Haide, wo Anna ihr Lied sang. Suͤdwestwaͤrts fielen ihm die Klee- felder Gefilde in die Augen, und mit Einemmal uͤberdachte er sein kurzes und muͤhseliges Leben. Er sank auf die Knie, weinte laut und betete feurig zum Allmaͤchtigen um Gnade und Erbarmen. Nun stand er auf, seine Seele schwamm in Em- pfindungen und Kraft; er setzte sich neben den Hollunderstrauch, nahm seine Schreibtafel aus der Tasche und schrieb: Hört ihr lieben Vögelein, Eures Freundes stille Klagen! Hört, ihr Bäume, groß und klein, Was euch meine Seufzer sagen! Welke Blumen horchet still, Was ich jetzo singen will: Mutter-Engel! wallst du nicht Hier auf diesen Grases-Spitzen? Weilst du wohl beim Monden-Licht Glänzend an den Rasen-Sitzen, Wo dein Herz sich so ergoß, Als dein Blut noch in mich floß? Schaut wohl dein verklärtes Aug, Diese matte Sonnenstrahlen? Blickst du aus dem Lasurblau, Das so viele Stern’ bemalen, Wohl zuweilen auf mich hin, Wenn ich bang und traurig bin? Oder schwebst du um mich her, Wenn ich oft in trüben Stunden, Da mir war das Herz so schwer, Einen stillen Kuß empfunden? Trank ich dann mit Himmelslust Aus der sel’gen Mutterbrust? Auf dem sanften Mondesstrahl, Fährst du ernst und still von hinnen, Lenkst den Flug zum Sternensaal, An den hohen Himmelszinnen, Wird dein Wagen weißlichtblau Zu dem schönsten Morgenthau. Vater Stilling ’s Silberhaar Kräuselt sich im ew’gen Winde, Und sein Auge sternenklar, Sieht sein Dortchen sanft und linde, Wie ein goldnes Wölkchen ziehen Und der fernen Welt entfliehen. Hoch und stark geht er daher, Höret seine Lieblings-Leiden, Wie ihm wird das Leben schwer, Wie ihn fliehen alle Freuden. Tief sich beugend blickt er dann Dort das Priester-Schildlein an. Licht und Recht strahlt weit und breit, Vater Stilling sieht mit Wonne, Wie nach schwerer Prüfungszeit, Glänzt die unbewölkte Sonne, Die versöhnte Königin, Auf des Lieblings Scheitel hin. Vergnuͤgt stand nun Stilling auf, und steckte seine Schreib- tafel in die Tasche. Er sah, daß der Rand der Sonne auf den sieben Bergen zitterte. Es schauerte etwas um ihn her, er fuhr zusammen und eilte fort, ist auch seitdem nicht wieder dahin gekommen. Er hatte jetzt die wenigen Wochen, welche er zu Florenburg war, eine sehr sonderbare Gemuͤthsbeschaffenheit. Er war traur- rig, aber mit einer solchen Zaͤrtlichkeit vermischt, daß man wuͤn- schen sollte, auf solche Weise immer traurig zu seyn. Die Quelle von diesem seltsamen Zustand hat er nie entdecken koͤnnen. Doch glaub’ ich, die haͤuslichen Umstaͤnde seines Meisters trugen viel dazu bei; es war eine so ruhige Harmonie in diesem Hause; was Einer wollte, das wollte auch der Andere. Dazu hatte er auch eine große wohlgezogene Tochter, die man mit Recht un- ter die groͤßten Schoͤnheiten des ganzen Landes zaͤhlen mußte. Diese sang unvergleichlich und konnte einen Vorrath von vielen schoͤnen Liedern. Stilling spuͤrte, daß er mit diesem Maͤdchen sympathisirte, und sie auch mit ihm, doch ohne Neigung, sich zu heirathen. Sie konnten Stunden lang zusammensitzen und singen, oder sich etwas erzaͤhlen, ohne daß etwas Vertrauliches mit unterlief, als blos zaͤrtliche Freundschaft. Was aber endlich daraus haͤtte werden koͤnnen, wenn dieser Umgang lange gedauert haͤtte, das will ich nicht untersuchen. Indessen genoß doch Stilling die Zeit manche vergnuͤgte Stunde; und dieses Vergnuͤgen wuͤrde voll- kommner gewesen seyn, wenn er nicht noͤthig gehabt haͤtte, wie- der zuruͤck nach Leindorf zu gehen. An einem Sonntag Abend saß Stilling mit Lieschen (so hieß das Maͤdchen) am Tisch und sangen zusammen. Ob nun das Lied einigen Eindruck auf sie machte, oder ob ihr sonst etwas Trauriges einfiel, weiß ich nicht, sie fing herzlich an zu weinen. Stilling fragte sie, was ihr fehlte? Sie sagte aber nichts, sondern stand auf und ging fort, kam auch diesen Abend nicht wieder. Sie blieb von der Zeit an melancholisch, ohne daß Stilling damals gewahr wurde, warum. Diese Veraͤn- derung machte ihm Unruhe, und zu einer andern Zeit, da sie beide wiederum allein waren, setzte er so hart an sie, daß sie endlich folgender Gestalt anfing: „ Heinrich , ich kann und darf dir nicht sagen, was mir fehlt, ich will dir aber etwas erzaͤhlen: Es war einmal ein Maͤd- chen, das war gut und fromm, und hatte keine Lust zu unzuͤch- tigem Leben; aber sie hatte ein zaͤrtliches Herz, auch war sie schoͤn und tugendsam.“ „Diese ging an einem Abend auf ihrer Schlafkammer ans Fenster zu stehen, der Vollmond schien so schoͤn in den Hof, es war Sommer und alles draußen so still. Sie bekam Lust, noch ein wenig herausgehen. Sie ging still zur Hinterthuͤr hinaus in den Hof und aus dem Hof auf die Wiese, die daran stieß. Hier setzte sie sich unter eine Hecke in den Schatten und sang mit leiser Stimme: „ Weicht quaͤlende Gedanken !“ (Die- ses war eben das Lied, welches Lieschen den Sonntag Abend mit Stilling sang, als sie so außerordentlich traurig wurde.) „Nachdem sie ein paar Verse gesungen hatte, kam ein wohlbe- kannter Juͤngling zu ihr, der gruͤßte sie und fragte: Ob sie wohl ein klein wenig mit ihm die Wiesen herunter spazieren wollte? Sie thats nicht gern, doch als er sie sehr noͤthigte, so ging sie mit. Als sie nun eine Strecke zusammen gewandelt hatten, so wurde dem Maͤdchen auf einmal alles fremd. Sie befand sich in einer ganz unbekannten Gegend, der Juͤngling aber stand lang und weiß neben ihr, wie ein Todter, der auf der Bahre liegt, und sah sie erschrecklich an. Dem Maͤdchen wurde tod- bange, und sie betete recht herzlich, daß ihr doch der liebe Gott gnaͤdig seyn moͤchte. Nun drehte sich der Juͤngling auf einmal mit dem Arm herum und sprach mit holder Stimme: Da sieh, wie es dir ergehen wird ! sie sah vor sich hin eine Weibsperson stehen, welche ihr selbsten sehr aͤhnlich oder wohl gar aͤhnlich war; sie hatte alte Lumpen anstatt der Kleider um sich hangen, und ein kleines Kind auf dem Arm, welches eben so aͤrmlich aussahe. Sieh ! sagte der Geist ferner, das ist schon das dritte unehliche Kind, das du haben wirst . Das Maͤdchen erschrack und sank in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich selber kam, da lag sie in ihrem Bett und schwitzte vor Angst, sie glaubte aber, sie haͤtte getraͤumt. Siehe, Heinrich ! das liegt mir immer so im Sinn, und deßwegen bin ich traurig.“ Stilling setzte hart an sie mit Fragen, ob ihr das nicht selb- sten passirt waͤre? Allein sie laͤugnete es bestaͤndig und bezeugte, daß es eine Geschichte waͤre, die sie haͤtte erzaͤhlen hoͤren. Die traurige Lebensgeschichte dieser bedauernswuͤrdigen Person hat es endlich ausgewiesen, daß sie diese schreckliche Ahnung sel- ber muß gehabt haben; und nun laͤßt es sich leicht begreifen, warum sie damals so melancholisch geworden. Ich uͤbergehe ihre Historie aus wichtigen Gruͤnden, und sage nur so viel: Sie beging ein Jahr hernach eine kleine, ganz wohl zu entschul- digende Thorheit; diese war der erste Schritt zu ihrem Fall, und dieser die Ursache ihrer folgenden schweren und betruͤbten Schicksale. Sie war eine edle Seele, begabt mit vortrefflichen Leibes- und Geistes-Gaben; nur ein Hang zur Zaͤrtlichkeit, mit etwas Leichtsinn verbunden, war die entfernte Ursache ihres Un- gluͤcks. Aber ich glaube, Ihr Schmelzer wird sitzen, und sie wie Gold im Feuer laͤutern, und wer weiß, ob sie nicht der- maleinst heller glaͤnzen wird, als ihr Richter, die ihr das Hei- rathen verboten, und wann sie dann ein Kind von ihrem ver- lobten Braͤutigam zur Welt brachte, so mußte sie mit dem Merk- zeichen einer Erzhure am Pranger stehen. Wehe den Gesetzge- bern, welche! — doch ich muß einhalten, ich werde nichts bessern, wohl aber die Sache verschlimmern. Noch ein Weh mit einem Fluch. Weh den Juͤnglingen, welche ein armes Maͤdchen blos als ein Werkzug der Wollust anse- hen, und verflucht sey der vor Gott und Menschen, der ein gutes frommes Kind zu Fall bringt und sie hernach im Elend verderben laͤßt ! Herr Pastor Stollbein hatte indessen Stilling zu Flo- renburg entdeckt, und er ließ ihn rufen, als er die letzte Woche daselbst bei seinem Meister war. Er ging hin. Stollbein saß in einem Sessel und schrieb. Stilling stellte sich hin, mit dem Hut unter dem Arm. „Wie gehts? Stilling !“ fragte der Prediger. Mir gehts schlecht, Herr Pastor, gerad wie der Taube Noaͤ, die nicht fand, wo ihr Fuß ruhen konnte. „So geht in den Kasten!“ Ich kann die Thuͤr nicht finden. Stollbein lachte herzlich und sagte: „Das kann wohl seyn. Euer Vater und ihr nahmets mir gewiß uͤbel, als ich eurem Ohm Simon sagte: Ihr solltet Naͤhen, denn kurz darauf gin- get ihr ins Preußische und wolltet dem Pastor Stollbein zu Trotz Schulhalten. Ich habs wohl gehoͤrt, wie’s gegangen hat. Nun, da Ihr lang herumgeflattert habt und die Thuͤre nicht finden koͤnnt, so ists wieder an mir, daß ich Euch eine zeige.“ O Herr Pastor! sagte Stilling : Wenn Sie mir zur Ruhe helfen koͤnnen, so will ich Sie lieben als einen Engel, den Gott zu meiner Huͤlfe gesandt hat. „Ja, Stilling ! jetzt ist Gelegenheit vorhanden, zu welcher ich Euch von Jugend auf bestimmt hatte, warum ich darauf trieb, daß Ihr Latein lernen solltet, warum ich so gern sah, daß Ihr am Handwerk bleibet, als es zu Zellberg nicht mit Euch fort wollte. Ich haßte darum, daß Ihr bei Kruͤger wa- ret, weil Euch der gewiß vor und nach auf seine Seite und von mir ab wuͤrde gezogen haben, ich durfte aber auch nicht sagen, warum ich so mit Euch verfuhr, ich meinte es aber gut. Waͤrt Ihr am Handwerk geblieben, so haͤttet Ihr jetzt Kleider auf dem Leib und so viel Geld in der Hand, um Euch helfen zu koͤnnen. Und was haͤtte es Euch denn geschadet, es ist ja jetzt noch fruͤh genug fuͤr Euch, um gluͤcklich zu werden. Hoͤrt! die hiesige lateinische Schule ist vacant, Ihr sollt hier Rector wer- den; Ihr habt Kopf genug, dasjenige bald einzuholen, was Euch etwa noch an Wissenschaften und Sprachen fehlen koͤnnte.“ Stillings Herz erweiterte sich. Er sah sich gleichsam aus einem finstern Kerker in ein Paradies versetzt. Er konnte nicht Worte genug finden, dem Pastor zu danken; wiewohl er doch einen heimlichen Schauer fuͤhlte, wieder eine Schulbedienung anzutreten. Herr Stollbein fuhr indessen fort: „Nur Ein Knoten ist hier aufzuloͤsen. Der hiesige Magistrat muß dazu disponirt wer- den, ich habe schon in geheim gearbeitet, die Leute sondirt und sie geneigt fuͤr Euch gefunden. Allein Ihr wißt, wie’s hier ge- stellt ist, sobald ich nur anfange, etwas Nuͤtzliches durchzusetzen, so halten sie mir gerade deßwegen das Widerspiel, weil ich der Pastor bin, deßwegen muͤssen wir ein wenig simuliren und sehen, wie sich das Ding schicken wird. Bleibet Ihr nur ruhig an Eurem Handwerk, bis ich Euch sage, was Ihr thun sollt.“ Stilling war zu Allem willig und ging wieder auf seine Werkstatt. Vor Weihnachten hatte Wilhelm Stilling sehr viele Klei- der zu machen, daher nahm er seinen Sohn zu sich, damit er ihm helfen moͤchte. Kaum war er einige Tage wieder zu Lein- dorf gewesen, als ein vornehmer Florenburger, der Gerichts- schoͤffe Keilhof , zur Stubenthuͤre hereintrat. Stilling bluͤhte eine Rose im Herzen auf, ihm ahnete ein gluͤcklicher Wechsel. Keilhof war Stollbeins groͤßter Feind; nun hatte er eine heimliche Bewegung gemerkt, daß man damit umging, Stilling zum Rector zu waͤhlen, und dieses war so recht nach seinem Sinn. Da er nun gewiß glaubte, der Pastor wuͤrde ihnen mit aller Macht zuwider seyn, so hatte er schon seine Maßregeln genommen, um die Sache desto maͤchtiger durchzu- setzen. Deßwegen stellte er Wilhelm und seinem Sohn die Sache vor, und hielt darum an, daß Stilling aufs Neujahr zu ihm in sein Haus ziehen und mit seinen Kindern eine Pri- vat-Information in der lateinischen Sprache vornehmen moͤchte. Die andern Florenburger Buͤrger wuͤrden alsdann vor und nach ihre Kinder zu ihm schicken und die Sache wuͤrde sich so zusam- menketten, daß man sie auch gegen Stollbeins Willen wuͤrde durchsetzen koͤnnen. Diese Absicht war hoͤchst ungerecht, denn der Pastor hatte die Aufsicht uͤber die lateinische, wie uͤber alle andern Schulen in seinem Kirchspiel, und also auch bei jeder Wahl die erste Stimme. Stilling wußte die geheime Liegenheit der Sache. Er freute sich, daß sich alles so gut schickte. Doch durfte er die Gesinnung des Predigers nicht entdecken, damit Herr Keilhof nicht alsbald seinen Vorsatz aͤndern moͤchte. Die Sache wurde also auf diese Weise beschlossen. Wilhelm und sein Sohn glaubte nunmehr gewiß, daß das Ende aller Leiden da sey. Denn die Stelle war ansehnlich und eintraͤglich, so daß er ehrlich leben konnte, wenn er auch heira- then wuͤrde. Selbst die Stiefmutter fing an, sich zu freuen, denn sie liebte Stilling wirklich, nur daß sie nicht wußte, was sie mit ihm machen sollte; sie fuͤrchtete immer, er verdiene Kost und Trank nicht, geschweige die Kleider; doch was das letzte betrifft, so war er ihr darin noch nie beschwerlich gewesen, denn er hatte kaum die Nothdurft. Er zog also aufs Neujahr 1762 nach Florenburg bei dem Schoͤffen Keilhof ein und fing seine lateinische Information an. Als er einige Tage da gewesen war, that ihm Herr Stoll- bein ingeheim zu wissen, er moͤchte einmal zu ihm kommen, doch so, daß es Niemand gewahr wuͤrde. Dieses geschah auch an einem Abend in der Daͤmmerung. Der Pastor freute sich von Herzen, daß die Sachen eine solche Wendung nahmen. „Gebt Acht! sagte er zu Stilling , wenn sie wegen Eurer einmal eins sind und alles regulirt haben, so muͤssen sie doch zu mir kommen und meine Einwilligung holen. Weil sie nun immer gewohnt sind, dumme Streiche zu machen, so sind sie auch gewohnt, daß ich ihnen allezeit contrair bin. Wie werden sie auf spitzige Stichelreden studiren? — und wenn sie dann hoͤren werden, daß ich mit ihnen einer Meinung bin, so wird sie’s wirklich reuen, daß sie Euch gewaͤhlt haben, allein dann ists zu spaͤt. Haltet Euch ganz ruhig und seyd nur brav und fleißig, so wirds gut gehen.“ Indessen fingen die Florenburger an, des Abends nach dem Essen zum Schoͤffen Keilhof zu kommen, um sich zu berath- schlagen, wie man die Sache am besten angreifen moͤchte, um auf alle Faͤlle gegen den Pastor geruͤstet zu seyn. Stilling hoͤrte das alles, und oͤfters mußte er hinausgehen, um durch Lachen der Brust Luft zu machen. Unter denen, die zu Keilhof kamen, war ein sonderlicher Mann, ein Franzose von Geburt, der hieß Gayet . So wie nun Niemand wußte, wo er eigentlich her war, deßgleichen ob er lutherisch oder reformirt war, und warum er des Sommers ebensowohl wollene Oberstruͤmpfe mit Knoͤpfen an den Seiten trug, als des Winters; wie auch, woher er an das viele Geld kam, das er immer hatte, so wußte auch Niemand, mit wel- cher Partie ers hielt. Stilling hatte diesen wunderlichen Heiligen schon kennen gelernt, als er in die lateinische Schule ging. Gayet konnte Niemand leiden, der ein Werkeltags- Mensch war; Leute, mit denen er umgehen sollte, mußten Feuer und Trieb und Wahrheit und Erkenntniß in sich haben; wenn er so Jemand fand, dann war er offen und vertraulich. Da er nun zu Florenburg Niemand von der Art wußte, so machte er sich ein Plaisir daraus, sie Alle zusammen, den Pastor mit- gerechnet, zum Narren zu haben. Stilling aber hatte ihm von jeher gefallen, und nun, da er erwachsen und Informator bei Keilhof war, so kam er oft hin, um ihn zu besuchen. Dieser Gayet saß auch wohl des Abends da und hielte Rath mit den andern; dieses war aber nie sein Ernst, sondern nur, um seine Freude an ihnen zu haben. Einstmals, als ihrer sechs bis acht recht ernstlich an der Schulsache uͤberlegten, fing er an: „Hoͤrt, Ihr Nachbarn, ich will Euch was erzaͤhlen: Als ich noch mit dem Kasten auf dem Ruͤcken laͤngs die Thuͤren ging und Huͤte feil trug, so kam ich auch von ungefaͤhr einmal ins Koͤnigreich Siberien , und zwar in die Hauptstadt Emu- gie ; nun war der Koͤnig eben gestorben und die Reichsstaͤnde wollten einen Andern waͤhlen. Nun war aber ein Umstand da- bei, worauf Alles ankam: das Reich Kreuz-Spinn-Land graͤnzt an Siberien , und beide Staaten haben sich seit der Suͤndfluth her immer in den Haaren gelegen, blos aus der Ur- sache: Die Siberier haben lange in die Hoͤhe stehende Ohren, wie ein Esel, und die Kreuz-Spinn-Laͤnder haben Ohr- lappen, die bis auf die Schulter hangen. Nun war von jeher Streit unter beiden Voͤlkern; Jedes wollte behaupten, Adam haͤtte Ohren gehabt wie sie. Deßwegen mußte in beiden Laͤn- dern immer ein rechtglaͤubiger Koͤnig erwaͤhlt werden; das beste Zeichen davon war, wenn Jemand gegen die andere Nation ei- nen unversoͤhnlichen Haß hatte. Als ich nun da war, so hatten die Siberier einen vortrefflichen Mann im Vorschlag, den sie nicht so sehr wegen seiner Rechtglaͤubigkeit, als vielmehr wegen seinen vortrefflichen Gaben, zum Koͤnig machen wollten. Nur er hatte hoch in die Hoͤhe stehende Ohren und auch herabhan- gende Ohrlappen, er trug also in dem Fall auf beiden Schul- tern; das wollte zwar vielen nicht gefallen, doch man waͤhlte ihn. Nun beschloß der Reichsrath, daß der Koͤnig mit der wohlgeordneten hochohrigten Armee gegen den langohrigten Koͤ- nig zu Felde ziehen sollte; das geschah. Allein, was das einen Allarm gab! — Beide Koͤnige kamen ganz friedlich zusammen, gaben sich die Haͤnde und hießen sich Bruͤder. Alsofort setzte man den Koͤnig mit den Zwitterohren wieder ab und schnitt ihm die Ohren ganz weg, nun konnt’ er laufen.“ Der Buͤrgermeister Scultetus nahm seine lange Pfeife aus dem Mund und sagte: der Herr Gayet ist doch weit in der Welt umher gewesen. Ja wohl! sagte ein Anderer, aber ich glaube, er gibt uns einen Stich; er will damit sagen, wir waͤren alle zusammen Esel . Schoͤffe Keilhof aber lachte, blinkte Herrn Gayet heimlich an und sagte ihm ins Ohr: die Narren verstehen nicht, daß Sie den Pastor und sein Consisiorium damit meinen. Stilling aber, der ein guter Geographus war und uͤberhaupt die ganze Fabel wohl verstand, lachte recht herzlich und schwieg. Gayet sagte Keilhof wieder ins Ohr: Sie habens halb und halb errathen. Nachdem man nun glaubte, sich in gehoͤrige Sicherheit gesetzt zu haben, so schickte man um Fastnacht eine Deputation an den Pastor ab; Schoͤffe Keilhof ging selbst mit, denn er mußte das Wort fuͤhren. Stilling wurde Zeit und Weile lang, bis sie wieder kamen, um zu hoͤren, wie die Sache abge- laufen waͤre. Er hoͤrte es auch von Wort zu Wort. Keilhof hatte den Vortrag gethan. „Herr Pastor! wir haben uns einen lateinischen Schulmei- ster ausgesucht, wir kommen her, um es Ihnen anzukuͤndigen.“ Ihr habt mich aber nicht vorher gefragt, ob ich den auch haben will, den Ihr ausgesucht habt. „Davon ist die Frage nicht, die Kinder sind unser, die Schul ist unser und auch der Schulmeister.“ Aber welcher unter Euch versteht wohl so viel Latein, um ei- nen solchen Schulmeister zu pruͤfen, ob er auch wohl zu dem Amte nutzt? „Dazu haben wir unsere Leute.“ Der Fuͤrst aber sagte: Ich soll der Mann seyn, der den hie- sigen Rector examinirt und bestaͤtiget, versteht Ihr mich! „Deßwegen kommen wir ja auch her.“ Nun dann! ohne Weitlaͤufigkeit — ich hab auch einen aus- gesucht, der gut ist, — und das ist — der bekannte Schulmeister Stilling ! Keilhof und seine Leute sahen sich an. Stollbein aber stand und laͤchelte mit Triumph, und so schwieg man eine Weile und sagte gar nichts. Keilhof erholte sich endlich und sagte: „Nun denn, so sind wir ja Einer Meinung!“ Ja, Schoͤffe Starrkopf ! wir waͤren denn doch endlich ein- mal Einer Meinung! bringt Euern Schulmeister her, ich will ihn bestaͤtigen und einsetzen. „So weit sind wir noch nicht, Herr Pastor! wir wollen ein eigenes Schulhaus fuͤr ihn haben und die lateinische Schule von der deutschen separiren.“ (Denn beide Schulen waren vereinigt, jeder Schulmeister be- kam das halbe Gehalt, und der lateinische half dem deutschen in den uͤbrigen Stunden.) Gott verzeih mir meine Suͤnde! da saͤet doch der Teufel wie- der sein Unkraut. Wovon soll denn euer Rector leben? „Das ist wiederum unsere Sache und nicht die Ihrige.“ Hoͤrt, Schoͤffe Keilhof ! Ihr seyd ein recht dummer Kerl! ein Vieh, so groß als eins auf Gottes Erdboden geht, — scheert Euch nach Haus! „Was? Ihr — Ihr — scheltet mich?“ Geht, großer Narr! Ihr sollt nun Euern Stilling nicht haben, so wahr ich Pastor bin! und damit ging er in sein Ca- binet und schloß die Thuͤre hinter sich zu. Noch eh der Schoͤffe nach Haus kam, erhielt Stilling Ordre, nach dem Pfarrhaus zu kommen; er ging und dachte nicht an- ders, als er wuͤrde nun zum Rector eingesetzt werden. Allein wie erschrack er nicht, als ihn Stollbein folgendergestalt an- redete: „ Stilling ! Eure Sache ist nichts. Wenn ihr nicht ins groͤßte Elend, in Hunger und Kummer gerathen wollt, so me- lirt Euch nicht weiter mit den Florenburgern.“ Und hierauf erzaͤhlte ihm der Pastor alles, was vorgefallen war. Stilling nahm mit groͤßter Wehmuth Abschied von dem Pastor. Seyd zufrieden! sagte Herr Stollbein , Gott wird Euch noch segnen und gluͤcklich machen, bleibt nur an Eu- rem Handwerk, bis ich Euch sonst anstaͤndig versorgen kann. Die Florenburger wurden indessen boͤs auf Stilling , weil er, wie sie glaubten, heimlich mit dem Pastor gepfluͤgt hatte. Sie verließen ihn also auch und waͤhlten einen Andern. Herr Stollbein ließ ihnen fuͤr dießmal ihren Willen; sie machten einen neuen Rector, gaben ihm ein besonderes Haus, und da sie der alten deutschen Schule das Gehalt nicht entziehen konnten und durften, zu einem neuen aber keinen Rath wußten, so be- schloßen sie, ihm sechzig Kinder zum Lateinlernen zu verschaffen und von jedem Kind jaͤhrlich vier Reichsthaler zu bezahlen. Allein der rechtschaffene Mann hatte das erste Vierteljahr sechzig, hernach vierzig, zu Ende des Jahrs zwanzig und endlich kaum fuͤnf, so daß er, bei aller Muͤh und Arbeit, endlich im Hunger, Kummer und Elend starb und seine Frau und Kinder bettelten. Nach diesem Vorfall gab sich Herr Stollbein in Ruhe, er fing an, stille zu werden und sich um nichts mehr zu be- kuͤmmern; er versah nur blos seine Amtsgeschaͤfte, und zwar mit aller Treue. Der Hauptfehler, welcher ihn so oft zu thoͤ- richten Handlungen verleitet hatte, war ein Familienstolz. Seine Frau hatte vornehme Verwandte, und die sah er gern hoch ans Brett kommen. Auch er selber strebte gern nach Gewalt und Ehre. Dieses ausgenommen, war er ein gelehrter und sehr gutherziger Mann; ein Armer kam nie fehl bei ihm, er gab, so lange er hatte, und half dem Elenden, so viel er konnte. Nur dann war er ausgelassen und unerbittlich, wenn er sah, daß Jemand von geringem Stand Miene machte, ne- ben ihm emporzusteigen. Aus dieser Ursache war er auch Johann Stilling immer feind. Dieser war, wie oben gesagt worden, Commercien-Praͤsident des Salen ’schen Lan- des; und da Stollbein ein großer Liebhaber von Bergwerken war, so ließ er Herrn Stilling immer merken, daß er ihn gar nicht fuͤr das erkannte, was er war; und wenn Jener nicht bescheiden genug gewesen waͤre, dem alten Mann nach- zugeben, so haͤtte es oft harte Stoͤße abgesetzt. Doch zeigte Stollbeins Beispiel, daß Guͤte des Herzens und Redlichkeit niemalen ungebessert sterben lasse. Einstmalen war eine allgemeine Gewerken-Rechnung abzu- legen, so daß also die vornehmsten Commercianten des Landes bei ihrem Praͤsidenten Stilling zusammenkommen mußten. Herr Pastor Stollbein kam auch, deßgleichen Schoͤffe Keil- hof , mit noch einigen andern Florenburgern . Herr Stil- ling ging auf den Pastor zu, nahm ihn an der Hand und fuͤhrte ihn neben sich an die rechte Seite und ließ ihn da sitzen. Der Prediger war die ganze Zeit uͤber aus der Maßen freundlich. Nach dem Mittagessen fing er an: „Meine Herrn und Freunde! Ich bin alt und ich fuͤhle, daß meine Kraͤfte mit Gewalt abnehmen, es ist das letzte Mal, daß ich bei Ihnen bin, ich werde nicht wieder herkom- men. Ist nun Jemand unter Ihnen, der mir nicht vergeben hat, wo ich ihn beleidigt habe, den bitt’ ich jetzt von Herzen um Versoͤhnung.“ Alle Anwesenden sahen sich an und schwiegen. Herr Stil- ling konnte das unmoͤglich ausstehen. Herr Pastor! sagte er, das bricht mir mein Herz! — Wir sind Menschen und fehlen Alle; ich hab’ Ihnen unendlich viel zu danken, Sie haben mir die Grundwahrheiten unserer Religion beigebracht, und vielleicht hab’ ich Ihnen oft Anlaß zur Aergerniß gegeben, ich bin also der Erste, der Sie von Grund seiner Seele um Verzeihung bittet, wo er Sie beleidigt hat. Der Pastor wurde so geruͤhrt, daß ihm die Thraͤnen die Wangen herunter liefen; er stand auf, umarmte Stillingen und sagte: Ich hab’ Sie oft beleidigt. Ich bedaure es und wir sind Bruͤder. Nein, sagte Stilling , Sie sind mein Vater! geben Sie mir Ihren Segen! Stollbein hielt ihn noch fest in den Armen und sagte: Sie sind gesegnet, Sie und Ihre ganze Familie, und das um des Mannes willen, der so oft mein Stolz und meine Freude war. Dieser Auftritt war so unerwartet und so ruͤhrend, daß die mehrsten Anwesenden Thraͤnen in Menge vergoßen, Stilling und Stollbein aber am mehrsten. Nun stand der Prediger auf, ging herab zu Schoͤffe Keil- hof und den uͤbrigen Florenburgern, laͤchelte und sagte: Sollen wir denn auch an diesem Rechnungstage unsre Rechnung zu- sammen abmachen? Keilhof antwortete: Wir sind Ihnen nicht boͤse! — Ja! versetzte Herr Stollbein , davon ist hier die Rede nicht. Ich bitte Euch alle feierlich um Vergebung, wo ich Euch beleidigt habe! — Wir vergeben Ihnen gerne, erwiederte Keilhof , aber das muͤßten Sie auf der Kanzel thun. Stollbein fuͤhlte sein ganzes Feuer wieder, doch schwieg er still und setzte sich neben Stilling hin. Dieser aber wurde so voll Eifer, daß er im Gesicht gluͤhte. Herr Schoͤffe ! fing er an! Sie sind nicht werth, daß Ihnen Gott Ihre Suͤnden vergibt, so lange Sie so denken. Der Herr Pastor ist frei und hat seine volle Pflicht erfuͤllt. Christus gebeut Liebe und Versoͤhnlich- keit. Er wird Euch Euren Starrsinn auf den Kopf vergelten . Herr Stollbein schloß diese ruͤhrende Scene mit den Wor- ten: Auch das soll geschehen, ich will meine ganze Gemeinde oͤffentlich auf der Kanzel um Vergebung bitten und ihnen weis- sagen, daß einer nach mir kommen werde, der ihnen eintraͤn- ken wird, was sie an mir verschuldet haben. Beides ist auch in seiner ganzen Fuͤlle geschehen. Kurz nach diesem Vorfall starb Herr Stollbein im Frie- den und wurde zu Florenburg in der Kirche bei seiner Gat- tin begraben. In seinem Leben wurde er gehaßt und nach sei- nem Tode beweint, geehrt und geliebt. Wenigstens Hein- rich Stilling hielt ihn Lebenslang in ehrwuͤrdigem Andenken. Stilling war noch bis Ostern bei dem Schoͤffen Keil- hof , allein er merkte, daß ihn ein Jeder sauer ansah, er wurde also auch dieses Lebens muͤde. Nun uͤberlegte er einstmalen des Morgens auf dem Bett seine Umstaͤnde; zu seinem Vater zuruͤckzukehren, war ihm ein erschrecklicher Gedanke; denn die vielen Feldarbeiten haͤtten ihn auf die Laͤnge zu Boden gedruͤckt, dazu gab ihm sein Vater nur Speise und Trank; denn was er allenfalls mehr verdiente, das rechnete ihm derselbe auf den Vorschuß, den er ihm in vorigen Jahren gethan hatte, wenn er mit dem Schullohn nicht auskommen konnte; er durfte also noch nicht an Kleider den- ken, und diese waren doch binnen Jahresfrist ganz unbrauch- bar. Bei andern Meistern zu arbeiten war ihm ebenfalls schwer, und er sah, daß er sich auch damit nicht retten konnte, denn ein halber Gulden Wochenlohn trug ihm in einem gan- zen Jahr nicht so viel ein, als nur die allernothwendigsten Kleider erforderten. Er wurde halb rasend, fuhr aus dem Bett und rief: Allmaͤchtiger Gott! was soll ich denn ma- chen? — In dem Augenblick war es ihm, als wenn ihm in die Seele gesprochen wuͤrde: Geh’ aus deinem Vater- land, von deiner Freundschaft und aus deines Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 13 Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will ! Er fuͤhlte sich tief beruhigt und beschloß alsofort, in die Fremde zu gehen. Dieses geschah Dienstags vor Ostern. Denselbigen Tag besuchte ihn sein Vater. Der gute Mann hatte wiederum seines Sohnes Schicksal vernommen, und deßwegen kam er nach Florenburg . Beide setzten sich zusammen auf ein ein- sames Zimmer, und nun fing Wilhelm an: „ Heinrich ! ich komme zu dir, mit dir Rath zu pflegen; ich sehe nunmehr klar ein, daß du unschuldig gewesen bist. Gott hat dich gewiß zum Schulhalten nicht bestimmt, das Handwerk verstehst du; aber du bist in solchen Umstaͤnden, wo es dir die Nothdurft nicht verschaffen kann; und bei mir zu seyn, ist auch fuͤr dich nicht, du scheust mein Haus, und das ist auch kein Wunder; ich bin nicht im Stande, dir das Noͤ- thige zu verschaffen, wenn du nicht die Arbeit verrichten kannst, die ich zu thun habe, es wird mir selber sauer, Frau und Kin- der zu ernaͤhren. Was meinst du, hast du wohl nachgedacht, was du thun willst?“ Vater! daruͤber hab’ ich lange Jahre nachgedacht; aber erst diesen Morgen ist mir klar worden, was ich thun soll; ich muß in die Fremde ziehen und sehen, was Gott mit mir vor hat. „Wir sind also einerlei Meinung, mein Sohn! Wenn wir der Sache vernuͤnftig nachdenken, so finden wir, daß deine Fuͤhrung von Anfang dahin gezielt hat, dich aus deinem Va- terland zu treiben; und was kannst du hier erwarten? Dein Oheim hat selber Kinder, und die wird er erst suchen anzu- bringen, eh er dir hilft, indessen gehen deine Jahre um. Aber — du — wenn ich deine ersten Jahre — und die Freude bedenke, die ich an dir haben wollte — und du bist nun fort — so ists um Stillings Freude geschehen! Das Ebenbild des ehrlichen Alten.“ — Hier konnte er nicht mehr reden, er hielt beide Haͤnde vor die Augen, kruͤmmte sich in einander und weinte laut. Diese Scene war Stilling unausstehlich, er wurde ohn- maͤchtig. Als er wieder zu sich selber kam, stand sein Vater auf, druͤckte ihm die Hand und sagte: Heinrich ! nimm von Niemand Abschied, geh, wann dir der himmlische Vater winkt! Die heiligen Engel werden dich begleiten, wo du hingehst, schreib mir oft, wie es dir geht! Nun eilte er zur Thuͤre hinaus. Stilling ermannte sich, faßte Muth und empfahl sich Gott; er fuͤhlte, daß er von allen Freunden ganz los war. Nichts hing ihm weiter an, sondern er erwartete mit Verlan- gen den zweiten Ostertag, welchen er zu seiner Abreise be- stimmt hatte; er sagte Niemand in der Welt etwas von sei- nem Vorhaben, besuchte auch Niemand, sondern blieb zu Haus. Doch konnte er nicht unterlassen, noch einmal zu guter Letzt auf den Kirchhof zu gehen. Er thats nicht gern am Tage, deßwegen ging er des Abends vor Ostern beim Licht des vol- len Mondes hin und besuchte Vater Stilling ’s und Dort- chen ’s Grab, setzte sich auf jedes eine kleine Weile und weinte stille Thraͤnen. Seine Empfindungen waren unaussprechlich. Er fuͤhlte so etwas in sich und sprach: Wenn diese Beiden noch lebten, so ging es dir weit anders in der Welt. Er nahm endlich ordentlich Abschied von beiden Graͤbern und von den ehrwuͤrdigen Gebeinen, die darinnen verwesten, und ging fort. Den folgenden Ostermontag Morgen, Anno 1762, welches der zwoͤlfte April war, rechnete er mit dem Schoͤffen Keil- hof ab. Er bekam noch etwas uͤber vier Reichsthaler. Die- ses Geld nahm er zu sich, ging auf die Kammer, that seine drei zerlappten Hemde, das vierte hatte er an, ein Paar alte Struͤmpfe, eine Schlafkappe, seine Scheer und Fingerhut in einen Reisesack, zog darauf seine Kleider an, die aus ein paar mittelmaͤßig guten Schuhen, schwarzen wollenen Struͤmpfen, ledernen Hosen, schwarzen tuchenen Weste, einem ziemlich gu- ten braunen Rock von schlechtem Tuch, und einem großen Hut, nach der damaligen Mode, bestanden. Nun kruͤmmte er sein fadenrechtes braunes Haar, nahm seinen langen dornenen Stock in die Hand und wanderte auf Saalen zu, wo er sich einen Reisepaß besorgte, und zu einem Thor herausging, das gegen Nordwesten steht. Er gerieth auf eine Landstraße; ohne zu wissen, wohin sie fuͤhrte, folgte er derselben, und sie 13 * brachte ihn am Abend in einen Flecken, welcher an der Graͤnze des Salen ’schen Landes liegt. Hier kehrte er in einem Wirthshause ein und schrieb einen Brief an seinen Vater nach Leindorf , in welchem er zaͤrt- lich Abschied von ihm nahm, und ihm versprach, sobald er sich irgendwo niederlassen wuͤrde, alles umstaͤndlich zu schreiben. Unter den Buͤrgergaͤsten, welche des Abends in diesem Hause tranken, waren verschiedene Fuhrleute, eine Art Menschen, bei denen man sich am allerbesten nach den Wegen erkundi- gen kann. Stilling fragte sie, wohin diese Landstraße fuͤhre. Sie sagten: nach Schoͤnenthal . Nun hatte er in seinem Leben viel von dieser weitberuͤhmten Handelsstadt gehoͤrt; er beschloß also, dahin zu reisen, ließ sich deßwegen die Oerter an dieser Landstraße und ihre Entfernung von einander sagen, dieses alles zeichnete er in seine Schreibtafel auf und legte sich ruhig schlafen. Des andern Morgens, nachdem er Kaffee getrunken und ein Fruͤhstuͤck genommen hatte, empfahl er sich Gott und setzte seinen Stab weiter; es war aber so nebelig, daß er kaum einige Schritte vor sich hin sehen konnte; da er nun auf eine große Haide kam, wo viele Wege neben einander hergingen, so folgte er immer demjenigen, welcher ihm am gebahntesten schien. Als sich nun zwischen zehn und eilf Uhr der Nebel vertheilte und die Sonne durchbrach, so fand er, daß sein Weg gegen Morgen ging. Er erschrack herzlich, wanderte noch ein wenig fort, bis auf eine Anhoͤhe, da sah er nun den Flecken wieder nahe vor sich, in welchem er uͤber Nacht geschlafen hatte. Er kehrte wieder um, und da nun der Himmel heiter war, so fand er die große Heerstraße, die ihn binnen einer Stunde auf eine große Hoͤhe fuͤhrte. Hier setzte er sich an einen gruͤnen Rasen und schaute gegen Suͤdosten. Da sah er nun in der Ferne das alte Geisen- berger Schloß , den Giller , den hoͤchsten Huͤgel und andere gewohnte Gegenden mehr. Ein tiefer Seufzer stieg ihm in der Brust auf, Thraͤnen floßen ihm die Wangen herun- ter, er zog seine Tafel heraus und schrieb: Noch einmal blickt mein mattes Auge, Nach diesen frohen Bergen hin. O! wenn ich die Gefilde schaue, Die jene Himmels-Königin Mir oft mit kühlen Schatten malte, Und lauter Wonne um mich strahlte; So fühl ich, wie in süßen Träumen, Die reinsten Lüfte um mich weh’n, Als wenn ich unter Edens Bäumen Seh’ Vater Adam bei mir steh’n, Als wenn ich Lebenswasser tränke, Am Bach in süße Ohnmacht sänke. Dann weckt mich ein Gedanke wieder, So wie der stärkste Donnerknall Sich wälzt vom hohen Giller nieder, Und Blitze zücken überall. Die Hündin starrt und fährt zusammen, Sie blinzelt in den lichten Flammen. Dann sinkt mein Geist zur schwarzen Höhle, Schaut über sich und um sich her, Dann kommt kein Licht in meine Seele, Dann schimmert mir kein Sternlein mehr, Dann ruf ich, daß die Felsen hallen, Und tausend Echo widerschallen. Doch endlich glänzt ein schwacher Schimmer, Der Menschen-Vater winket mir, Und seh ich euch, ihr Berge, nimmer, So blüht im Segen für und für! Bis euch der letzte Blick zertrümmert Und ihr wie Gold im Ofen schimmert. Und dann will ich auf euren Höhen, Dann, wann ihr einst erneuert seyd, Umher nach Vater Stilling sehen, Mich freuen, wo sich Dortchen freut, Dann will ich dort in euren Hainen, In weißen Kleidern auch erscheinen. Wohlan! ich wende meine Blicke Nach unbekannten Bergen hin, Und schaue nicht nach euch zurücke, Bis daß ich einst vollendet bin. Erbarmer! leite mich im Segen Auf diesen unbekannten Wegen! Nun stand Stilling auf, trocknete seine Thraͤnen ab, nahm seinen Stab in die Hand, den Reisesack auf den Ruͤ- cken und wanderte uͤber die Hoͤhe ins Thal hinunter. III. Heinrich Stilling ’s Wanderschaft . Eine wahrhafte Geschichte . Heinrich Stillings Wanderschaft. S o wie Heinrich Stilling den Berg hinunter ins Thal ging und sein Vaterland aus dem Gesichte verlor, so wurde auch sein Herz leichter; er fuͤhlte nun, wie alle Verbindungen und alle Beziehungen, in welchen er bis dahin so aͤngstlich ge- seufzt hatte, aufhoͤrten, und deßwegen athmete er freie Luft und war voͤllig vergnuͤgt. Das Wetter war unvergleichlich schoͤn; des Mittags trank er in einem Wirthshaus, das einsam am Wege stand, ein Glas Bier, aß ein Butterbrod dazu und wanderte darauf wieder seine Straße, die ihn durch wuͤste und oͤde Oerter, des Abends, nach Sonnenuntergang, in ein elendes Doͤrfchen brachte, wel- ches in einer morastigen Gegend, in einem engen Thal, in den Gestraͤuchen lag; die Haͤuser waren elende Huͤtten und standen mehr in der Erde, als auf derselben. An diesem Ort war er nicht Willens gewesen, zu uͤbernachten, sondern zwei Stunden weiter; allein da er sich des Morgens fruͤh irr gegangen hatte, konnte er so weit nicht kommen. An dem ersten Hause fragte er: ob Jemand im Dorfe wohne, der Reisende beherberge? Man wies ihm ein Haus, er ging dahinein und fragte, ob er hier uͤbernachten koͤnnte? Die Frau sagte: Ja. Er ging in die Stube, setzte sich hin und legte seinen Reisesack ab. Der Hausvater kam herein, einige kleine Kinder versammelten sich bei dem Tisch und die Frau brachte ein Thranlicht, welches sie an eine haͤnfene Schnur mitten in der Stube aufhing; alles sah so aͤrmlich und, die Wahrheit zu sagen, so verdaͤchtig aus, daß Stilling angst und bang wurde und lieber im lieben Wald geschlafen haͤtte; doch das war ganz unnoͤthig, denn er besaß nichts, das stehlenswerth war. Indessen brachte man ihm ein irdenes Schuͤsselchen mit Sauer- kraut, ein Stuͤck Speck dabei und darauf ein paar gebackene Eier. Er ließ sichs gut schmecken und legte sich aufs Stroh, das man ihm in der Stube bereitet hatte. Er schlief vor Mit- ternacht, mehrentheils aus Angst, nicht viel. Der Wirth und seine Frau schliefen auch in der Stube in einem Alkoven. Ge- gen zwoͤlf Uhr hoͤrte er die Frau zum Manne sagen: Arnold , schlaͤfst du? Nein, antwortete er, ich schlafe nicht. Stilling horchte, holte aber mit Fleiß stark Odem, damit sie glauben sollten, er schliefe fest. Was mag das wohl fuͤr ein Mensch seyn? sagte die Frau. Arnold erwiederte: „Das mag Gott wissen! ich habe den ganzen Abend nachgedacht, er sprach nicht viel; sollte es auch wohl eine rechte Sache mit dem Menschen seyn?“ Denk doch nicht gleich was Arges von den Leuten! versetzte Trine , er sieht so ehrlich aus, wer weiß, was er all fuͤr Un- gluͤck schon erlebt hat! gewiß er dauert mich; sobald als er zur Thuͤr hereintrat, kam er mir so traurig vor, unser Herr Gott woll’ ihm doch als beistehn; ich kann sehen, daß er et- was auf dem Herzen hat. „Du hast recht, Trine ! antwortete Arnold , Gott verzeih mir meinen Argwohn! ich dachte just an den Schulmeister aus dem Salen’schen Land, der vor ein paar Jahren hier schlief, der war just so gekleidet, und wir hoͤrten hernach, daß er ein Geldmuͤnzer gewesen.“ Arnold ! sagte Trine , du kannst auch die Leute gar nicht aus dem Gesicht kennen; Jener sah so schwarz und so finster aus den Augen und durfte einen nicht ansehen, Dieser aber sieht so freundlich und so gut aus, er hat wahrlich ein gut Gewissen! „Ja, ja! schloß Arnold , wir wollen ihn unserem Herr Gott befehlen, der soll ihm wohl helfen, wenn er fromm ist.“ Nun schliefen die guten Leute wieder; Stilling wurde aber so vergnuͤgt auf seinem Stroh, er fuͤhlte den Stilling’- schen Geist um sich wehen und schlief so sanft bis an den Mor- gen, als wenn er in Eiderdunen gelegen haͤtte. Sobald er erwachte, war schon sein Wirth und seine Wirthin am Anklei- den; er sah sie Beide laͤchelnd an und wuͤnschte ihnen einen guten Morgen. Sie fragten ihn, wie er geschlafen haͤtte, und er antwortete: nach Mitternacht recht wohl. Ihr waret ge- stern Abend wohl recht muͤde? sagte Trine , ihr sahet so trau- rig aus. Stilling erwiederte: Lieben Freunde! ich war nicht so sehr muͤde, allein ich habe viel in meinem Leben ausgestan- den und sehe deßwegen trauriger aus, als ich bin; dazu muß ich bekennen, ich war bang, ob ich auch bei frommen Leuten waͤre. Ja, sagte Arnold , ihr seyd bei Leuten, die Gott fuͤrch- ten und gern selig werden wollen; wenn ihr große Schaͤtze bei euch haͤttet, sie waͤren bei uns verwahrt. Stilling reichte ihm seine rechte Hand und sagte mit der zaͤrtlichsten Miene: Gott segne euch! so sind wir einerlei Meinung. Trine ! fuhr Arnold fort, mach’ uns einen guten Thee, hol’ etwas vom besten Milchrahm dazu, da wollen wir Drei so zusammentrin- ken, wir moͤchten nicht wieder zusammenkommen. Die Frau war hurtig und froh, sie that gern, was der Mann sagte. Nun tranken die Drei den Thee und waren alle daheim. Stil- ling floß uͤber von Freundschaft und Empfindung, es that ihm wehe, von den Leutchen wegzugehen, die Augen gingen ih- nen Allen uͤber, als er Abschied nahm. Aufs Neue gestaͤrkt, wanderte er wieder seinen Weg fort. Nach fuͤnf Stunden, da es gerade Mittag war, kam er in einen schoͤnen Flecken, der in einer angenehmen Gegend lag; er fragte nach einem guten Wirthshause; man wies ihm eins an der Straße, er ging hinein, trat in die Stube und forderte etwas zu essen. Hier saß ein alter Mann am Ofen; der Schnitt seiner Kleidung zeigte etwas Vornehmes, die eigentliche Beschaffenheit derselben aber, daß er weit von seinem ehmali- gen Zustand herunter gekommen seyn mußte; sonst waren zwei Juͤnglinge und ein Maͤdchen daselbst, deren tiefe Trauerkleider den Verlust eines nahen Anverwandten vermuthen ließen. Das Maͤdchen besorgte die Kuͤche, sie sah modest und reinlich aus. Stilling setzte sich gegen den alten Mann uͤber; sein of- fenes Gesicht und seine Freundlichkeit erweckte den Greis, daß er sich mit ihm in ein Gespraͤch einließ. Beide wurden bald vertraulich, so daß Stilling seine ganze Geschichte erzaͤhlte. Conrad Brauer (so hieß der Alte) verwunderte sich uͤber ihn und weissagte ihm viel Gutes. Nun ruͤstete sich der ehr- liche Mann auch, um seine Schicksale zu erzaͤhlen; das that er einem Jeden, der nur Lust hatte, ihm zuzuhoͤren; dieses ge- schah vor, waͤhrend und nach dem Mittagessen. Die jungen Leute, welche seines Bruders Kinder waren, mochten das alles wohl hundertmal gehoͤrt haben; sie merkten nicht sonderlich auf, doch bekraͤftigten sie zuweilen Etwas, das unglaublich war. Stilling hoͤrte indessen fleißiger zu, denn Erzaͤhlen war doch ohnehin seine Lieblingssache. Conrad Brauer fing folgen- dermaßen an: „Ich bin der aͤlteste unter dreien Bruͤdern; der mittlere ist ein reicher Kaufmann an diesem Ort, und der juͤngste war der Vater dieser Kinder, deren Mutter vor einigen Jahren, mein Bruder aber vor wenig Wochen gestorben ist. Ich legte mich in meiner Jugend aufs Wollenweberhandwerk, und da wir von unsern Eltern nichts ererbt hatten, so fuͤhrte ich meine beiden Bruͤder mit dazu an; doch der Juͤngste that eine gute Heirath hier in dieses Haus; er verließ also das Handwerk und wurde ein Wirth. Ich und mein mittelster Bruder setzten unterdessen die Fabrik fort. Ich war gluͤcklich und kam unter Gottes Se- gen in eine gute Handlung, so, daß ich Wohlstand und Reich- thum erlangte; ich ließ es meinen mittleren Bruder reichlich genießen. Ja, Gott weiß, daß ichs gethan habe!“ „Indessen fing mein Bruder eine sonderbare Freierei an. Hier in der Naͤhe wohnte eine alte Frauensperson, die wenig- stens sechzig Jahr alt und dabei aus der maßen haͤßlich war, so, daß man sie auch wegen ihrer uͤbermaͤßigen Unreinlichkeit, so zu sagen, mit keiner Zange haͤtte aufassen sollen. Diese alte Jungfer war sehr reich, dabei aber so geizig, daß sie kaum satt Brod und Wasser genoß. Die gemeine Rede ging: daß sie ihr vieles Geld in einem Sack habe, den sie an einem ganz unbekannten Ort verborgen haͤtte. Mein Bruder ging dahin und suchte das ausgeloͤschte Feuer dieser Person wiederum an- zuzuͤnden; es gelang ihm auch nach Wunsch, sie wurde ver- liebt in ihn und er auch in sie, so daß Trauung und Hoch- zeit bald vor sich gingen. Mit der Entdeckung des Hausgoͤ- tzen wollte es aber lange nicht recht fort, doch gerieth es mei- nem braven Bruder endlich auch, er fand ihn und brachte ihn mit Freuden in Sicherheit; das kraͤnkte nun die gute Schwaͤ- gerin, daß sie die Auszehrung bekam und zu großer Freude meines Bruders starb.“ „Er hielt ehrlich die Trauerzeit aus, suchte sich aber unter der Hand eine junge, die ungefaͤhr so schwer seyn mochte, als er ganz unschuldiger Weise geworden war; diese nahm er und nun fing er an, mit seinem Geld zu wuchern, und zwar auf meine Unkosten; denn er handelte mit wollen Tuch, und so stach er mir alle meine Handlungsfreunde ab, indem er immer die Waaren wohlfeiler umschlug, als ich. Hieruͤber fing ich an, zuruͤckzugehen, und meine Sachen verschlimmerten sich von Tag zu Tag. Dieses sah er wohl, er fing an, freundlich ge- gen mich zu seyn, und versprach mir Geld vorzuschießen, so viel ich noͤthig haben wuͤrde; ich war so thoͤricht, ihm zu glan- ben; als es ihm Zeit daͤuchte, nahm er mir alles, was ich auf der Welt hatte; meine Frau kraͤnkte sich zu todt und ich lebe in Elend, Hunger und Kummer; meinen seligen Bruder hier im Haus hat er auf eben die Weise aufgefressen.“ Ja, das ist wahr! sagten die drei Kinder und weinten. Stilling hoͤrte diese Geschichte mit Entsetzen; er sagte: das ist wohl einer von den abscheulichsten Menschen unter der Sonne, dem wird’s in jener Welt sauer eingetraͤnkt werden. Ja, sagte der alte Brauer , darauf lassen’s solche Leute ankommen. Nach dem Essen ging Stilling an ein Clavier, das an der Wand stand, spielte und sang dazu: Wer nur den lie- ben Gott laͤßt walten . Der Alte faltete die Haͤnde und sang aus vollem Halse mit, so daß ihm die Thraͤnen uͤber die Wangen herab rollten, deßgleichen thaten auch die drei jungen Leute. Nun bezahlte Stilling , was er verzehrt hatte, gab einem jeden die Hand und nahm Abschied. Alle waren vertraulich mit ihm und begleiteten ihn vor die Hausthuͤre, wo sie ihm noch einmal alle Viere die Hand gaben und ihn dem Schutz Gottes empfahlen. Er wanderte also wiederum die Schoͤnenthaler Landstraße fort und freute sich von Herzen uͤber all die guten Leute, die er bis dahin angetroffen hatte. Diesen Flecken will ich Holzheim nennen, denn ich werde doch mit meiner Geschichte wieder da- hin muͤssen. Von hier bis Schoͤnenthal hatte er nur noch fuͤnf Stun- den zu reisen; da er sich aber zu Holzheim ziemlich lange auf- gehalten hatte, so konnte er des Abends nicht wohl dahin kom- men; er blieb also eine starke Stunde diesseits in dem Staͤdt- chen Rasenheim uͤber Nacht liegen. Die Leute, bei denen er herbergte, waren nicht fuͤr ihn, und deßwegen blieb er auch still und verschlossen. Des andern Morgens begab er sich auf den Weg nach Schoͤ- nenthal . Als er auf die Hoͤhe kam und die unvergleichliche Stadt mit dem paradiesischen Thal uͤberschaute, so freute er sich, setzte sich hin auf den Rasen und beschaute das alles eine Weile; hiebei stieg ihm der Wunsch so tief aus dem Innersten seiner Seele empor: Ach Gott! moͤcht ich doch da mein Leben beschließen ! Nun uͤberlegte er erst, was er wohl eigentlich beginnen wollte. Der Abscheu vor dem Schneiderhandwerk verleitete ihn, an eine Condition bei einem Kaufmann zu denken; da er nun zu Schoͤnenthal Niemand wußte, an den er sich addressiren koͤnnte, so fiel ihm ein, daß Herr Dahlheim in dem Flecken Dornfeld , der Dreiviertelstunden ostwaͤrts Schoͤnenthal das Thal hinauf liegt, Prediger sey; alsofort nahm er sich vor, dahin zu gehen und sich demselben zu entde Er stand auf, ging langsam den Berg hinunter, um alles wohl besehen zu koͤnnen, und vollends in die Stadt hinein. Hier bemerkte er alsofort, was Manufakturen und Handlung einem Ort vor Segen und Wohlstand zuwenden koͤnnen; die praͤchtigen Pallaͤste der Kaufleute, die zierlichen Haͤuser der Buͤrger und Handwerksleute, nebst der uͤberaus großen Reinlich- keit, die sich sogar in den Kleidern der Maͤgde und geringen Leute aͤußerte, entzuͤckte ihn ganz, hier gefiel es ihm uͤberaus wohl. Er ging durch die ganze Stadt und das Thal hinauf, bis nach Dornfeld . Er fand Herrn Dahlheim zu Haus, erzaͤhlte ihm auch kurz und gut seine Umstaͤnde, allein der gute Herr Pastor wußte keine Gelegenheit fuͤr ihn. Stilling war noch nicht erfahren genug, sonst haͤtte er leicht denken koͤnnen, daß man so keinen Menschen von der Straße in Handlungs- dienste aufnimmt, denn Herr Dahlheim , ob er gleich aus dem Salen’schen Lande zu Haus war, kannte doch weder Stil- ling , noch seine Familie. Er reiste also wieder zuruͤck nach Schoͤnenthal und war halb Willens, sich fuͤr einen Schneiderburschen anzugeben; doch, als er im Verbeigehen unlaͤngst eine Schneiderswerkstatt ge- wahr wurde, daß es hier Mode sey, mit uͤbereinander geschla- genen Beinen auf dem Tisch zu sitzen, so schreckte ihn dieses wieder ab, denn er hatte noch nie anders, als vor dem Tisch auf einem Stuhl gesessen. Indem er nun so fuͤrbaß in den Gassen auf und abging, sah er ein Pferd mit zwei Koͤrben auf dem Ruͤcken, und einen ziemlich wohlgekleideten Mann dabei stehen und die Koͤrbe festbinden. Da nun dieser Mann so ziemlich gut aussahe, so fragte ihn Stilling : ob er diesen Abend noch aus der Stadt ginge? Der Mann sagte: Ja! ich bin der Bote von Schauberg und gehe alsofort dahin ab. Stilling erinnerte sich, daß daselbst der junge Herr Stoll- bein , des Florenburger Predigers Sohn, Pastor sey, deßglei- chen, daß sich verschiedene Salen’sche Schneiderburschen da- selbst aufhielten; er beschloß also, mit dem Boten dahin zu gehen; dieser ließ es auch gerne geschehen, Schauberg liegt drei Stunden fuͤdwestwaͤrts von Schoͤnenthal ab. Unterwegs suchte Stilling mit dem Boten vertraulich zu werden. Wenn es nun der ehrliche Wandsbecker gewesen waͤre, so wuͤrden die Beiden einen huͤbschen Discurs gehalten haben; allein das war er nicht, obgleich der Schauberger unter Vielen einer der Rechtschaffensten seyn mochte, denn er nahm Stillings Reisesack umsonst auf dem Pferde mit, so war er doch kein empfindsamer Bote, sondern nur blos ein guter ehrlicher Mann, welches schon viel ist. Sobald als sie zu Schauberg ankamen, begab er sich zum Herrn Pastor Stoll- bein ; dieser hatte nun seinen Großvater wohl gekannt, deß- gleichen seine selige Mutter, auch kannte er seinen Vater, denn sie waren Knaben zusammen gewesen. Stollbein frcute sich herzlich uͤber diesen Landsmann; er rieth ihm alsofort, sich ans Handwerk zu begeben, damit er an Brod kommen moͤchte, indessen wollte er Fleiß anwenden, um ihm zu einer anstaͤndigen Condition zu verhelfen. Er ließ augenblicklich einen Schneiderburschen zu sich kommen, wel- chen er fragte: Ob nicht fuͤr diesen Fremden eine Gelegen- heit in der Stadt sey? O ja! antwortete jener, er kommt, als wenn er gerufen waͤre, Meister Nagel ist sehr verlegen um einen Gesellen. Stollbein schickte die Magd mit Stil- lingen hin und er wurde mit Freuden auf- und angenommen. Als er nun des Abends zu Bette ging, so uͤberdachte er seinen Wechsel und die treue Vorsorge des Vaters im Him- mel. Ohne Vorsatz wohin, war er aus seinem Vaterlande gegangen, die Vorsehung hatte ihn drei Tage guͤtig geleitet, und schon des dritten Tages am Abend war er wieder ver- sorgt. Jetzt leuchtete ihm ein, welch eine große Wahrheit es sey, was ihm sein Vater so oft gesagt hatte: Ein Hand- werk ist ein theures Geschenk Gottes und hat ei- nen goldnen Boden . Er wurde aͤrgerlich uͤber sich selbst, daß er diesem schoͤnen Beruf so feind war; er betete herzlich zu Gott, dankte ihm fuͤr seine gnaͤdige Fuͤhrung und legte sich schlafen. Des Morgens fruͤh stand er auf und setzte sich an die Werkstatt. Meister Nagel hatte keinen andern Gesellen, als ihn, aber seine Frau, seine beiden Toͤchter und zwei Knaben halfen alle Kleider machen. Stillings Behendigkeit und ungemeine Geschicklichkeit im Schneiderhandwerk gewann ihm alsofort die Gunst seines Meisters; seine freundliche Gespraͤchigkeit und Gutherzigkeit aber die Liebe und Freundschaft der Frau und der Kinder. Er war kaum drei Tage da gewesen, so war er schon zu Hause; und weil er weder Vorwuͤrfe noch Verfolgungen zu befuͤrchten hatte, so war er vor die Zeit, so zu sagen, vollkom- men vergnuͤgt. Den ersten Sonntag Nachmittag verwendete er aufs Brief- schreiben, indem er seinem Vater, seinem Oheim und sonsti- gen guten Freunden seine gegenwaͤrtigen Umstaͤnde berichtete, um seine Familie zu beruhigen; denn man kann denken, daß sie so lange um ihn sorgten, bis sie wußten, daß er am Brod war. Er erhielt auch bald freundschaftliche Antworten auf diese Briefe, worin er zur Demuth und Rechtschaffenheit ermahnt und vor aller Gefahr im Umgang mit unsichern Leuten ge- warnt wurde. Indessen wurde er bald in ganz Schauberg bekannt. Des Sonntags Vormittags, wenn er in die Kirche ging, so ging er nirgend anders, als auf die Orgel, und weil der Organist ein steinalter und ungeschickter Mann war, so getraute sich Stilling, waͤhrend dem Singen und beim Ausgang aus der Kirche besser zu spielen; denn ob er gleich das Clavierspielen nie kunstmaͤßig, sondern blos aus eigener Uebung und Nach- denken gelernt hatte, so spielte er doch den Choral ganz richtig und nach den Noten und vollkommen vierstimmig; er ersuchte deßwegen den Organisten, ihn spielen zu lassen; dieser war von Herzen froh und ließ ihn immer spielen. Weil er nun in den Vor- und Zwischenlaͤufen bestaͤndig mit Sexten und Terzen um sich warf und gern die sanftesten und ruͤhrendsten Register zog, wodurch das Ohr des gemeinen Mannes und derer, die keine Musik verstehen, am mehrsten geruͤhrt wird, und weil er beim Ausgang aus der Kirche auch immer ein harmonisches Singstuͤck, das aber allezeit entweder traurig oder zaͤrtlich war, spielte, wobei fast immer die Floͤtenregister mit dem Temulanten gebraucht wurden, so war Alles aufmerksam auf den sonderbaren Organisten; der mehrste Haufe stand vor der Kirche, bis er von der Orgel herunter und zur Kirchen- thuͤre herauskam; dann steckten die Leute die Koͤpfe zusammen und fragten sich untereinander: was das fuͤr ein Mensch seyn moͤchte? Endlich wards allgemein bekannt, es war des Schnei- der Nagels sein Geselle. Wenn Jemand zu Meister Nagel kam, besonders Leute von Condition, Kaufleute, Beamte, oder auch Gelehrte, die etwas wegen Kleidersachen zu bestellen hatten, so ließen sie sich mit Stillingen, wegen des Orgelspielens, in ein Gespraͤch ein; da brachte dann ein Wort das andere. Er mischte zu der Zeit viele lateinische Brocken mit in seine Reden, sonderlich wenn Stillings sämmtl. Schriften. I. Baud. 14 er mit Leuten umging, von denen er vermuthete, daß sie La- tein verstuͤnden; das setzte dann Alle in Erstaunen, nicht daß er eben ein Wunder von Gelehrsamkeit gewesen waͤre, sondern weil er da saß und naͤhte und doch so sprach, welches in Ei- ner Person vereinigt, besonders in Schauberg , etwas Uner- hoͤrtes war. Alle Menschen, vornehme und geringe, kamen und liebten ihn, und dieses war eigentlich Stillings Element; wo man ihn nicht kannte, war er still, und wo man ihn nicht liebte, traurig. Meister Nagel und alle seine Leute ehrten ihn dergestalt, daß er mehr Herr als Geselle im Hause war. Die vergnuͤgtesten Stunden hatten sie Alle zusammen des Sonntags Nachmittags; dann gingen sie oben ins Haus auf eine schoͤne Kammer, deren Aussicht ganz herrlich war; hier las ihnen Stilling aus einem Buche vor, das die Frau Na- gel geerbt hatte; es war ein alter Foliant mit vielen Holz- schnitten, das Titelblatt war verloren, es handelte von den niederlaͤndischen Geschichten und Kriegen, unter der Statthal- terschaft der Herzogin von Parma , des Herzogs von Alba , des großen Commeters u. s. w., nebst den wunderbaren Schick- salen des Prinzen Moritz von Nassau ; hiebei verhielt sich nun Stilling wie ein Professor, der Lehrstunden haͤlt; er erklaͤrte, er erzaͤhlte ein und anderes dazwischen, und seine Zuhoͤrer waren ganz Ohr. Erzaͤhlen ist immer seine Sache gewesen, und Uebung macht endlich den Meister. Gegen Abend ging er alsdann mit seinem Meister, oder vielmehr mit seinem Freund Nagel um die Stadt spazieren, und weil dieselbe auf einer Hoͤhe, kaum fuͤnf Stunden vom Rhein abliegt, so war dieser Spaziergang wegen der herrlichen Aussicht unvergleichlich. Westwaͤrts sah man eine große Strecke hin diesen praͤchtigen Strom im Schimmer der Abendsonne majestaͤtisch auf die Niederlande zueilen; rund umher lagen tausend buschigte Huͤgel, wo uͤberall entweder bluͤhende Bauern- hoͤfe, oder praͤchtige Kaufmannspallaͤste zwischen den gruͤnen Baͤumen hervorguckten; dann waren Nagels und Stillings Gespraͤche herzlich und vertraulich, sie ergoßen sich in einan- der, und Stilling ging eben so vergnuͤgt schlafen, als er auch ehmalen zu Zellberg gethan hatte. Herr Pastor Stollbein hatte seine herzliche Freude daran, daß sein Landsmann Stilling so allgemein beliebt war, und er machte ihm Hoffnung, daß er ihn mit der Zeit wuͤrde anstaͤndig versorgen koͤnnen. So angenehm verfloßen dreizehn Wochen, und ich kann sa- gen, daß Stilling waͤhrend der Zeit sich weder seines Hand- werks schaͤmte, noch sonsten großes Verlangen trug, davon abzukommen. Um das Ende dieser Zeit, etwa mitten im Ju- nius, ging er an einem Sonntag Nachmittag durch eine Gasse der Stadt Schauberg ; die Sonne schien angenehm und der Himmel war hier und da mit einzelnen Wolken bedeckt; er hatte weder tiefe Betrachtungen, noch sonst etwas sonderliches in den Gedanken; von ungefaͤhr blickte er in die Hoͤhe und sah eine lichte Wolke uͤber seinem Haupte hinziehen; mit die- sem Anblick durchdrang eine unbekannte Kraft seine Seele, ihm wurde so innig wohl, er zitterte am ganzen Leibe und konnte sich kaum enthalten, daß er nicht darniedersank; von dem Augen- blick an fuͤhlte er eine unuͤberwindliche Neigung, ganz fuͤr die Ehre Gottes und das Wohl seiner Mitmenschen zu leben und zu sterben; seine Liebe zum Vater der Menschen und zum goͤttlichen Erloͤser, deßgleichen zu allen Menschen, war in dem Augenblick so groß, daß er willig sein Leben aufgeopfert haͤtte, wenns noͤthig gewesen waͤre. Dabei fuͤhlte er einen unwider- stehlichen Trieb, uͤber seine Gedanken, Worte und Werke zu wachen, damit sie alle Gott geziemend, angenehm und nuͤtzlich seyn moͤchten. Auf der Stelle machte er einen festen unwi- derruflichen Bund mit Gott, sich hinfuͤhro lediglich seiner Fuͤh- rung zu uͤberlassen und keine eiteln Wuͤnsche mehr zu hegen, sondern wenn es Gott gefallen wuͤrde, daß er Lebenslang ein Handwerksmann bleiben sollte, willig und mit Freuden damit zufrieden zu seyn. Er kehrte also um und ging nach Haus und sagte Nie- mand von diesem Vorfall etwas, sondern er blieb, wie er vor- hin war, nur daß er weniger und behutsamer redete, welches ihn noch beliebter machte. Diese Geschichte ist eine gewisse Wahrheit. Ich uͤberlasse Schoͤngeistern, Philosophen und Psychologen, daraus zu machen, 14 * was ihnen beliebt; ich weiß wohl, was es ist, das den Men- schen umkehrt und so ganz veraͤndert. Diesen Sonntag, als Obiges geschah, uͤber drei Wochen ging Stilling des Nachmittags in die Kirche, nach derselben fiel ihm vor der Kirchthuͤre ein, den Stadtschulmeister einmal zu besuchen; er verwunderte sich selbst, daß er das nicht eher gethan hatte, er ging also stehenden Fußes zu ihm hin; dieser war ein ansehnlicher braver Mann; er kannte Stillingen schon und freute sich, denselben bei sich zu sehen; sie tranken Thee zusammen und rauchten eine Pfeife Tabak dazu. Endlich fing der Schulmeister an und fragte: Ob er nicht Lust haͤtte, eine schoͤne Condition anzutreten? Flugs war seine Lust dazu wieder so groß, als sie jemals gewesen. O ja! antwortete er, das wuͤnscht’ ich wohl von Herzen. Der Schulmeister fuhr fort: Sie kommen just, als wenn Sie gerufen waͤren; heut habe ich einen Brief von einem vornehmen Kaufmann erhalten, der eine halbe Stunde jenseits Holzheim wohnt; er ersucht mich in demselben, ihm einen guten Haus-Infor- mator anzuweisen; ich habe an Sie nicht gedacht, bis Sie eben herein kommen; nun faͤllt mir ein, daß Sie wohl der Mann dazu waͤren; wenn Sie nun die Stelle annehmen wol- len, so ist gar kein Zweifel mehr, daß Sie sie erhalten wer- den. Stilling jauchzte innerlich vor Freuden, und glaubte fest, jetzt sey nun einmal die Stunde seiner Erloͤsung gekommen; er sagte also: daß es von jeher sein Zweck gewesen, mit sei- nen wenigen Talenten Gott und den Naͤchsten zu dienen, und er ergreife diese Gelegenheit mit beiden Haͤnden, weil sie eine Befoͤrderung seines Gluͤcks seyn koͤnne. Daran ist wohl kein Zweifel, versetzte der Schulmeister: es kommt nur auf Ihre Auffuͤhrung an, so koͤnnen Sie mit der Zeit freilich gluͤcklich, und befoͤrdert werden; naͤchsten Posttag will ich dem Herrn Hochberg schreiben, so werden Sie bald abgeholt werden. Nach einigen Gespraͤchen ging Stilling wieder nach Haus. Er erzaͤhlte alsofort diesen Vorfall Herrn Stollbein, deßgleichen auch dem Meister Nagel und seinen Leuten. Der Herr Pastor war froh, Meister Nagel und die Seinigen aber trauer- ten, sie wendeten alle Beredtsamkeit an, um ihn bei sich zu behalten, allein das war vergebens, das Handwerk stank ihn an, Zeit und Welt ward ihm lang, bis er an seinen bestimm- ten Ort kam; doch fuͤhlte er jetzt Etwas in seinem Innern, das diesem Beruf bestaͤndig widersprach; dieß unbekannte Et- was uͤberzeugte ihn in seinem Gemuͤth, daß diese Neigung wie- derum aus dem alten verderbten Grund herruͤhre; dieses neue Gewissen, wenn ich so reden darf, war erst seit dem gemelde- ten Sonntag in ihm aufgewacht, da er eine so gewaltige Ver- aͤnderung bei sich verspuͤrt hatte. Diese Ueberzeugung kraͤnkte ihn, er fuͤhlte wohl, daß sie wahr war, allein seine Neigung war allzu stark, er konnte ihr nicht widerstehen; dazu fand sich eine Art von Schlange bei ihm ein, welche sich durch die Vernunft zu helfen suchte, indem sie ihm vorstellte: Ja, sollte Gott das wohl haben wollen, daß du da ewig an der Naͤhnadel sitzen bleiben sollst, und deine Talente vergraͤbst? Keineswegs! du mußt bei der ersten Gelegenheit damit wu- chern, laß dich das nicht weiß machen, es ist blos eine hypo- chondrische Grille; alsdann warf das Gewissen wieder ein: Wie oft hast du aber mit deinen Talenten in der Unterwei- sung der Jugend wuchern wollen, und wie ists dir dabei ge- gangen? — Die Schlange wußte dagegen einzuwenden: das seyen lauter Laͤuterungen gewesen, die ihn zu einem wichtigen Geschaͤft haͤtten tuͤchtig machen sollen. Nun glaubte Stil- ling der Schlange, und das Gewissen schwieg. Schon den folgenden Sonntag kam ein Bote von Herrn Hochberg, der Stilling abholte. Alle weinten bei seinem Abschied, er aber ging mit Freuden. Als sie nach Holzheim kamen, so gingen sie zu dem alten Brauer , der Stillin- gen bei seiner Durchreise seine Geschichte erzaͤhlt hatte; er er- zaͤhlte dem ehrlichen Alten sein neues Gluͤck, dieser freute sich, wie es schien, nicht so sonderlich daruͤber, doch sagte er: das ist schon fuͤr Sie ein huͤbscher Anfang. Stilling dachte da- bei: der Mann kann seine Ursache haben, daß er so spricht. Nun gingen sie noch eine halbe Stunde weiter, und kamen an Hochbergs Haus an. Dieses lag in einem kleinen an- genehmen Thal an einem schoͤnen Bach, nicht weit von der Landstraße, die Stilling gekommen war. Als sie ins Haus traten, so kam die Frau Hochberg aus der Stube heraus. Sie war praͤchtig gekleidet, und eine Dame von ungemeiner Schoͤnheit; sie gruͤßte Stillingen freundlich, und hieß ihn in die Stube gehen; er ging hinein, und fand ein herrlich meublirtes und schoͤn tapezirtes Zimmer; zwei wackere junge Knaben kamen herein, nebst einem artigen Maͤdchen; die Kna- ben waren in rothe scharlachene Kleider auf Husaren-Manier gekleidet, das Maͤdchen aber voͤllig im Ton einer jungen Prin- zessin. Die guten Kinder kamen, um dem neuen Lehrmeister ihre Aufwartung zu machen, sie buͤckten sich nach der Kunst, und traten herzu, um ihm die Hand zu kuͤssen. Das war Stilingen nun in seinem Leben nicht wiederfahren, er wußte sich gar nicht darein zu schicken, noch was er sagen sollte; sie ergriffen seine Hand; da er ihnen nun die hohle Hand hinhielt, so mußten sie sich plagen, dieselbe herum zu drehen, um mit dem kleinen Maͤulchen oben auf die Hand zu kom- men. Nun merkte Stilling, wie man sich bei der Gelegen- heit anstellen muͤsse. Die Kinder aber huͤpften wieder fort, und waren froh, daß sie ihre Sache vollendet hatten. Herr Hochberg und sein alter Schwiegervater waren in die Kirche gegangen. Die Frau aber war in der Kuͤche, um ein und anderes zu veranstalten, also befand sich Stilling allein in der Stube; er merkte sehr wohl, was hier zu thun war, und daß ihm zwei wesentliche Stuͤcke fehlten, um Hoch- bergs Hauslehrer zu seyn. Er verstand die Complimentir- Kunst gar nicht; ob er gleich nicht in dummer Grobheit er- zogen war, so hatte er sich doch noch in seinem Leben nicht gebuͤckt, alles war bis dahin Gruß und Haͤndedruck gewesen. Die Sprache war sein vaterlaͤndischer Dialect, worinnen er, aufs hoͤchste genommen, Jemand mit dem Woͤrtchen Sie be- ehren konnte. Und vors zweite: seine Kleider waren nicht modisch, und dazu nicht einmal gut, sondern schlecht und ab- getragen; er hatte zwar bei Meister Nagel acht Gulden ver- dient; allein, was war das in so großem Mangel? — Er hatte fuͤr zwei Gulden neue Schuh, fuͤr zwei einen Hut, fuͤr zwei ein Hemd angeschafft, und zwei Gulden hatte er also noch in der Tasche. Alle diese Anlagen aber waren noch kaum an ihm zu sehen; er fuͤhlte alsofort, daß er sich taͤglich wuͤrde schaͤmen muͤssen, doch hatte er auch durch Aufmerksamkeit taͤg- lich mehr und mehr Lebensart zu lernen und durch seinen treuen Fleiß, Geschicklichkeit und gute Auffuͤhrung seine Herrschaft zu gewinnen, so daß man ihm vor und nach aus seiner Noth helfen wuͤrde. Herr Hochberg kam nun endlich auch herein, denn es war Mittag; dieser vereinigte Alles, was nur Wuͤrde und kaufmaͤnnisches Ansehen genannt werden mag, in Einer Per- son. Er war ein ansehnlicher Mann, lang und etwas corpu- lent, er hatte ein Apfelrundes ganz brunettes Gesicht, mit großen pechschwarzen Augen, und etwas dicken Lippen, und wenn er redete, so sah man allezeit zwei Reihen Zaͤhne wie Alabaster; sein Gehen und Stehen war vollkommen spanisch, doch muß ich auch dabei gestehen, daß nichts Affectirtes dabei war, son- dern es war ihm Alles so natuͤrlich. So wie er herein trat, schaute er Stillingen eben so an, wie große Fuͤrsten gewohnt sind, Jemand anzuschauen. Stillingen drang dieser Blick durch Mark und Bein, vielleicht eben so stark, als derjenige that, den er neun Jahr hernach vor einem der groͤßten Fuͤr- sten Deutschlands empfand. Allein seine Weltkenntniß mochte sich auch wohl zu der Zeit gegen die Letztere verhalten, wie Hochberg gegen diesen vortrefflichen Fuͤrsten. Nach diesem Blick nickte Herr Hochberg Stillingen an, und sprach: Serviteur Monsieur! Stilling war kurz resolvirt, buͤckte sich so gut er konnte und sagte: „Ihr Diener, Herr Principal!“ Doch, daß ich die Wahrheit gestehe, auf dieses Compliment hatte er auch eine Stunde her studirt; da er aber nicht vor- aus wissen konnte, was Hochberg weiter sagen wuͤrde, so war es nun auch geschehen, und seine Geschicklichkeit hatte ein Ende. Ein paarmal ging Hochberg die Stube auf und ab; nun sah er wieder Stilling an, und sagte: Sind Sie resolvirt, als Praͤceptor bei mir zu serviren? „Ja.“ Verstehen Sie auch Sprachen? „Die lateinische so ziemlich.“ Bon Monsieur! Sie brauchen sie zwar noch nicht, doch ist ihre Connaissance das Wesentliche in der Orthographie. Verstehen Sie das Rechnen auch? „Ich habe mich in der Geometrie geuͤbt, und dazu wird das Rechnen erfordert, auch habe ich mich in der Sonnuhrkunst und Mathematik etwas umgesehen.“ Eh bien, das ist artig! das convenirt mir; ich gebe Ihnen nebst freiem Tisch fuͤnf und zwanzig Gulden im Jahr. Stilling ließ sich das gefallen, wiewohl es ihm etwas zu wenig daͤuchte, deßwegen sagte er: „Ich bin zufrieden mit dem, was Sie mir zulegen werden, und ich hoffe: Sie werden mir geben, was ich verdiene.“ Oui! Ihre Conduite wird determiniren, wie ich mich da zu verhalten habe. Nun ging man an die Tafel. Auch hier sah Stilling, wie viel er noch zu lernen hatte, eh er einmal Speiß und Trank nach der Mode in seinen Leib bringen konnte. Bei aller die- ser Beschwerlichkeit spuͤrte er eine heimliche Freude bei sich selbst, daß er doch nun endlich einmal aus dem Staube her- aus, und in den Zirkel vornehmer Leute kam, wornach er so lange verlangt hatte. Alles, was er sah, das zum Wohlstand und guten Sitten gehoͤrte, das beobachtete er auf’s genaueste, sogar uͤbte er sich in geschickten Verbeugungen, wenn er allein auf seiner Kammer war, und ihn Niemand sehen konnte. Er sah diese Condition als eine Schule an, worinnen er Anstand und Lebensart lernen wollte. Des andern Tages fing er mit den beiden Knaben und dem Maͤdchen die Information an; er hatte alle seine Freude an den Kindern, sie waren wohl erzogen, und besonders sehr zaͤrt- lich gegen ihren Lehrer, und dieses versuͤßte alle Muͤhe. Nach einigen Tagen zog Herr Hochberg auf die Messe. Dieser Abschied that Stilling sehr leid; denn er allein war der Mann, der mit ihm sprechen konnte; die Andern redeten im- mer von solchen Sachen, die ihm ganz gleichguͤltig waren. So verflossen einige Wochen ganz vergnuͤgt, ohne daß Stil- ling Etwas zu wuͤnschen hatte, ausser daß er doch endlich einmal bessere Kleider bekommen moͤchte. Er schrieb diese Ver- aͤnderung an seinen Vater, und erhielt froͤhliche Antwort. Herr Hochberg kam um Michaelis wieder. Stilling freute sich bei seiner Ankunft, allein diese Freude dauerte nicht lange, Alles veraͤnderte sich vor und nach in eine betruͤbte Lage fuͤr ihn. Herr und Frau Hochberg hatten geglaubt, daß ihr Informator noch Kleider zu Schauberg habe. Da sie nun endlich sahen, daß er wirklich alles mitgebracht hatte, so fin- gen sie an, schlecht von ihm zu denken, und ihm nicht zu trauen; man verschloß alles vor ihm, war zuruͤckhaltend, und oft merkte er aus ihren Reden, daß man ihn fuͤr einen Vagabun- den hielte. Nun war alles in der Welt Stillingen eher moͤglich, als Jemand nur eines Hellers werth zu entwenden, und deßwegen war ihm dieser Umstand ganz unertraͤglich. Es ist auch gar nicht zu begreifen, woher doch die guten Leute auf einen so fatalen Einfall geriethen. Es ist indessen am al- lerwahrscheinlichsten, daß Jemand unter dem Gesinde untreu war, der diesen Verdacht hinter seinem Ruͤcken auf ihn zu schieben suchte; und was noch das Schlimmste war, sie ließen ihn nichts Deutliches merken, daher man ihm auch alle Gele- genheit abgeschnitten, sich zu vertheidigen. Vor und nach machte man ihm sein Amt schwerer. So- bald er des Morgens aufstand, ging er herunter in die Stube; man trank sodann Caffee, um sieben Uhr war das geschehen, und sofort mußte er mit den Kindern in die Schule, welche aus einem Kaͤmmerchen bestand, das vier Fuß breit und zehn Fuß lang war, da kam er nun nicht heraus, bis man zwi- schen zwoͤlf und zwei Uhr zum Mittagessen rief, und alsofort nach dem Essen ging er wieder hinein bis um vier Uhr, da man Thee trank; gleich nach dem Thee hieß es wieder: Nun Kinder, in die Schule! und dann kam er vor neun Uhr nicht wieder heraus, dann speiste man zu Nacht, und ging darauf schlafen. Auf diese Weise hatte er keinen Augenblick fuͤr sich, als nur bloß den Sonntag, und diesen brachte er auch traurig zu, weil er wegen Kleidermangel nicht mehr vor die Thuͤr, geschweige zur Kirche gehen konnte. Waͤre er nun zu Schauberg ge- blieben, so wuͤrde ihn Meister Nagel vor und nach genug- sam versorgt haben, denn er hatte schon wirklich von Weitem Anstalten dazu gemacht. Nun war wirklich ein dreikoͤpfiger Hoͤllenhund auf den ar- men Stillng losgelassen. Aeusserste Bettelarmuth, eine im- merfort dauernde Einkerkerung oder Gefangenschaft, und drit- tens ein unertraͤgliches Mißtrauen, und daher entstandene aͤus- serste Verachtung seiner Person. Gegen Martini fing sein ganzes Gefuͤhl an zu erwachen, seine Augen gingen auf, und er sah die schwaͤrzeste Melancho- lie wie eine ganze Hoͤlle auf ihn anruͤcken. Er rief zu Gott, daß es von einem Pol zum andern haͤtte erschallen moͤgen, aber da war keine Empfindung noch Trost mehr, er konnte so- gar an Gott nicht einmal denken, so daß das Herz Theil da- ran hatte; und diese erschreckliche Qual hatte er nie dem Na- men nach gekannt, vielweniger jemals das mindeste davon empfunden; dazu hatte er rund um sich her keine einzige treue Seele, welcher er seinen Zustand entdecken konnte, und einen solchen Freund aufzusuchen, dazu hatte er nicht Kleider genug; sie waren zerrissen, und die Zeit mangelte ihm sogar, dieselben auszubessern. Gleich Anfangs glaubte er schon nicht, daß er’s in diesem Zustand lang aushalten wuͤrde, und doch wurde es von Tag zn Tag schlimmer; seine Herrschaft und alle andere Menschen kehrten sich gar nicht an ihn, so, als wenn er nicht in der Welt gewesen waͤre, ob sie schon mit seiner Information wohl zufrieden waren. So wie Weihnachten heranruͤckte, so nahm auch sein er- schrecklicher Zustand zu. Den ganzen Tag uͤber war er ganz starr und verschlossen, wenn er aber des Abends um zehn Uhr auf seine Schlafkammer kam, so fingen seine Thraͤnen an los zu werden; er zitterte und zagte wie ein Uebelthaͤter, der in dem Augenblicke geradbrecht werden soll, und wenn er vollends ins Bette kam, so rang er dergestalt mit seiner Hoͤl- lenqual, daß das ganze Bett, und sogar die Fensterscheiben zitterten, bis er einschlief. Es war noch ein großes Gluͤck fuͤr ihn, daß er schlafen konnte, aber wenn er des Morgens er- wacht, und die Sonne auf sein Bett schien, so erschrack er, und war wieder starr und kalt; die schoͤne Sonne kam ihm nicht anders vor, als Gottes Zornauge, das wie eine flam- mende Welt Blitz und Donner auf ihn herabzustuͤrzen drohte. Den ganzen Tag uͤber schien ihm der Himmel roth zu seyn, und er fuhr zusammen vor dem Anblick eines jeden lebendi- gen Menschen, als ob er ein Gespenst waͤre; hingegen in einer finstern Gruft zwischen Leichen und Schreckbildern zu wachen, das waͤr’ ihm eine Freude und Erquickung gewesen. Zwischen den Feiertagen fand er endlich einmal Zeit, seine Kleider durch und durch auszubessern, seinen Rock kehrte er um, und machte alles, so gut er konnte, zurecht. Die Ar- muth lehrt erfinden, er bedeckte seine Maͤngel, so daß er doch wenigstens ein paarmal, ohne sich zu schaͤmen, nach Holz- heim in die Kirche gehen durfte; er war aber so blaß und so hager geworden, daß er die Zaͤhne mit den Lippen nicht mehr bedecken konnte, seine Gesichtslineamente waren vor Gram schrecklich verzerrt, die Augenbraunen waren hoch in die Hoͤhe gestiegen, und seine Stirn voller Runzeln, die Augen lagen wild, tief und finster im Haupt, die Oberlippe hatte sich mit den Nasenfluͤgeln empor gezogen, und die Winkel des Mun- des sanken mit den haͤutigen Wangen herab; ein Jeder, der ihn sah, betrachtete ihn starr, und blickte bloͤd von ihm ab. Des Sonntags nach dem Neujahr ging er in die Kirche. Unter Allen war Keiner, der ihn ansprach, als nur allein der Herr Pastor Bruͤck ; dieser hatte ihn von der Kanzel beo- bachtet, und so wie die Kirche aus war, eilte der edle Mann heraus, suchte ihn unter den Leuten, die da vor der Thuͤre standen, auf, griff ihn am Arm und sagte: Gehen Sie mit mir, Herr Praͤceptor! Sie sollen mit mir speisen, und diesen Nachmittag bei mir bleiben. Es laͤßt sich nicht aussprechen, welche Wirkung diese leutseligen Worte auf sein Gemuͤth hat- ten, er konnte sich kaum enthalten, laut zu weinen und zu heulen; die Thraͤnen floßen ihm stromweise die Wangen herun- ter, er konnte dem Prediger nichts antworten, und dieser fragte ihn auch weiter nichts, sprach auch nichts mit ihm, sondern fuͤhrte ihn nur fort in sein Haus; die Frau Pasto- rin und die Kinder entsetzten sich vor ihm, und bedauerten ihn von Herzen. Sobald sich nun Herr Bruͤck ausgezogen hatte, setzte man sich zu Tisch. Alsofort fing der Pastor an, von seinem Zu- stand zu reden, und zwar mit solcher Kraft und Nachdruck, daß Stilling nichts that, als laut weinen, und Alle, die mit zu Tisch saßen, weinten mit. Dieser vortreffliche Mann las in seiner Seele, was ihm fehlte; er behauptete mit Nach- druck, daß alle seine Leiden, die er von jeher gehabt habe, lauter Laͤuterungsfeuer gewesen seyen, wodurch ihn die ewige Liebe von seinen Unarten fegen und ihn zu etwas Sonderba- rem geschickt machen wolle; auch gegenwaͤrtiger schwerer Zu- stand sey um dieser Ursache willen uͤber ihn gekommen, und es werde nicht lange mehr dauern, so wuͤrde ihn der Herr gnaͤdig erloͤsen; und was dergleichen Troͤstungen mehr waren, die die brennende Seele des guten Stillings wie ein kuͤh- ler Than erquickten. Allein dieser Trost war von kurzer Dauer, er mußte am Abend doch wieder in seinen Kerker, und nun war der Schmerz auf diese Erquickung wieder um so viel un- leidlicher. Diese erschrecklichen Leiden dauerten von Martini bis den 12. April 1762, und also neunzehn bis zwanzig Wochen. Dieser Tag war also der frohe Zeitpunkt seiner Erloͤsung. Des Morgens fruͤh stand er noch mit eben den schweren Lei- den auf, mit denen er sich schlafen gelegt hatte; er ging wie gewoͤhnlich herunter an den Tisch, trank Caffee, und darauf in die Schule; um neun Uhr, als er in seinem Kerker am Tisch saß, und ganz in sich selbst gekehrt das Feuer seiner Leiden aushielt, fuͤhlte er ploͤtzlich eine gaͤnzliche Veraͤnderung seines Zustandes, alle seine Schwermuth und Schmerzen wa- ren gaͤnzlich weg, er empfand eine solche Wonne und tiefen Frieden in seiner Seele, daß er vor Freude und Seligkeit nicht zu bleiben wußte. Er besann sich und wurde gewahr, daß er Willens war, wegzugehen; dazu hatte er sich entschlossen, ohne es zu wissen, so in demselbigen Augenblick stand er auf, ging hinauf auf seine Schlafkammer, und dachte nach; wie viel Thraͤnen der Freude und der Dankbarkeit daselbst geflossen sind, koͤnnen nur diejenigen begreifen, die sich mit ihm in aͤhnlichen Umstaͤnden befunden haben. Hier packte er nun seine paar Lumpen, die er noch hatte, zusammen, band seinen Hut mit hinein, den Stab aber ließ er zuruͤck. Diesen Buͤndel warf er durch ein Fenster hinter dem Hause in den Hof, ging darauf wieder herunter, und spazierte ganz gleichguͤltig zur Pforte hinaus, ging hinter das Haus, nahm den Pack, und wanderte so geschwind als er konnte, das Feld hinauf, und eine ziemliche Strecke in den Busch hinein; hier zog er seinen abgeschabten Rock an, setzte den Hut auf, that seinen alten siamoisenen Kittel, den er des Werketags getragen hatte, in den Buͤndel, schnitt einen Stecken ab, worauf er sich stuͤzte, und wanderte nordwaͤrts durch Berg und Thal fort, ohne einen Weg zu haben. Jetzt war zwar sein Gemuͤth ganz ruhig, er schmeckte die suͤße Freiheit in all ihrer Fuͤlle; allein er war doch so betaͤubt und fast sinnlos, so daß er an seinen Zustand gar nicht dachte, und keine Ueberlegung hatte. Als er eine Stunde durch wuͤste Oerter fortgewandelt war, so gerieth er auf eine Landstraße, und hier sah er ungefaͤhr eine Stunde vor sich hin auf der Hoͤhe ein Staͤdtchen liegen, wohin diese Straße fuͤhrte; er folgte derselben ohne einen Willen zu haben warum, und gegen eilf Uhr kam er vor dem Thor an. Er fragte daselbst nach dem Namen der Stadt, und er vernahm, daß es Waldstaͤtt war, wovon er zuweilen hatte reden hoͤren. Nun ging er zu einem Thor hinein, gerade durch die Stadt durch, und zum andern wieder heraus. Daselbst traf er nun zwei Straßen, welche ihm beide gleich stark gebahnt schienen, er er- waͤhlte eine von Beiden, und ging oder lief vielmehr dieselbe fort. Nach einer kleinen halben Stunde gerieth er in einen Wald, die Straße verlor sich, und nun fand er keinen Weg mehr; er sezte sich nieder, denn er hatte sich muͤde gelaufen. Jetzt kam seine voͤllige Kraft zu Denken wieder, er besann sich, und hatte keinen einzigen Heller Geld bei sich, denn er hatte noch wenig oder gar keinen Lohn von Hochberg gefordert; doch war er hungrig. Er war in einer Einoͤde, und wußte weit und breit um sich her keinen Menschen, der ihn kannte. Jetzt fing er an und sagte bei sich selber: „Nun bin ich denn doch endlich auf den hoͤchsten Gipfel der Verlassung ge- stiegen, es ist jetzt nichts mehr uͤbrig, als betteln oder sterben; — das ist der erste Mittag in meinem Leben, an welchem ich kei- nen Tisch fuͤr mich weiß! ja, die Stunde ist gekommen, da das große Wort des Erloͤsers fuͤr mich auf der hoͤchsten Probe steht: Auch ein Haar von eurem Haupt soll nicht umkom- men ! — Ist das wahr, so muß mir schleunige Huͤlfe gesche- hen, denn ich habe bis auf diesen Augenblick auf ihn getraut und seinem Worte geglaubt; — ich gehoͤre mit zu den Augen, die auf den Herrn warten, daß er ihnen zur rechten Zeit Speise gebe und sie mit Wohlgefallen saͤttige; ich bin doch so gut sein Geschoͤpf, wie jeder Vogel, der da in den Baͤumen singt, und jedesmal seine Nahrung findet, wenn’s ihm Noth thut.“ Stil- lings Herz war bei diesen Worten so beschaffen, als das Herz eines Kindes, wenn es durch strenge Zucht endlich wie Wachs zerfließt, der Vater sich wegwendet und seine Thraͤnen verbirgt. Gott! was das Augenblicke sind, wenn man sieht, wie dem Vater der Menschen seine Eingeweide brausen, und er sich vor Mitleiden nicht laͤnger halten kann! — Indem er so dachte, ward es ihm ploͤtzlich wohl im Ge- muͤthe, und es war, als wenn ihm Jemand zuspraͤche: Geh’ in die Stadt, und such’ einen Meister! Im Augenblick kehrte er um, und indem er in eine seiner Taschen fuͤhlte, so wurde er gewahr, daß er seine Scheere und Fingerhut bei sich hatte, ohne daß er’s wußte. Er kam also wieder zuruͤck und ging zum Thor hinein. Er fand einen Buͤrger vor seiner Hausthuͤr stehen, diesen gruͤßre er und fragte: wo der beste Schneider- meister in der Stadt wohne? Dieser Mann rief ein Kind, und sagte ihm: da fuͤhre diesen Menschen zu dem Meister Isaac ! Das Kind lief vor Stilling her, und fuͤhrte ihn in einen abgelegenen Winkel an ein kleines Haͤuschen, und ging darauf wieder zuruͤck; er trat hinein, und kam in die Stube. Hier stand eine blasse, magere, dabei aber artige und reinliche Frau, und deckte den Tisch, um mit ihren Kindern zu Mittag zn essen. Stilling gruͤßte sie und fragte: Ob er hier Arbeit haben koͤnnte? Die Frau sah ihn an, und be- trachtete ihn von Haupt bis zu Fuß. Ja! sagte sie sittsam und freundlich: mein Mann ist verlegen um einen Gesellen; wo seyd ihr her? Stilling antwortete: aus dem Salen- schen Lande! Die Frau heiterte sich ganz auf, und sagte: da ist mein Mann auch her, ich will ihn rufen lassen. Er war mit einem Gesellen und Lehrburschen in einem Haus in der Stadt in Arbeit; sie schickte eins von den Kindern und ließ ihn rufen. In ein paar Minuten kam Meister Isaac zur Thuͤr herein; seine Frau sagte ihm, was sie wußte, und er fragte ferner, was er gern wissen wollte; der Meister nahm ihn willig an. Nun noͤthigte ihn die Frau an den Tisch; und so war schon seine Speise bereitet gewesen, als er noch im Wald irre ging und nachdachte: Ob ihm auch Gott die- sen Mittag die noͤthige Nahrung bescheeren wuͤrde. Meister Isaac blieb da und speiste mit. Nach dem Essen nahm er ihn mit in die Arbeit, bei einen Schoͤffen, der sich Schauerhof schrieb; dieser war ein Brodbaͤcker, dabei ein hagerer langer Mann. So wie sich Meister Isaac und sein neuer Geselle gesetzt hatten, und anfingen zu arbeiten, kam auch der Schoͤffe mit seiner langen Pfeife, setzte sich zu den Schneidern, und fing mit Meister Isaac an zu reden, wo sie vermuthlich vorhin aufgehoͤrt hatten. Ja! sagte der Schoͤffe: Ich stelle mir den Geist Christi als eine allenthalben gegenwaͤrtige Kraft vor, die uͤberall in den Herzen der Menschen wirke, um eine jede Seele in seine eigene Natur zu verwandeln; je ferner nun Jemand von Gott ist, je fremder ist ihm dieser Geist. Was denkst du davon, Bru- der Isaac ? Ich stelle mir die Sache ungefaͤhr eben so vor, versetzte der Meister: es ist hauptsaͤchlich um den Willen des Menschen zu thun, der Wille macht ihn faͤhig. — Nun konnte sich Stilling nicht mehr halten; er fuͤhlte, daß er bei frommen Leuten war, er fing ganz unvermuthet hinter dem Tisch an, laut zu weinen und zu rufen: O Gott, ich bin zu Haus! ich bin zu Haus! Alle Anwesende erstarrten, und entsetzten sich; sie wußten nicht, was ihm wiederfuhr. Meister Isaac sah ihn an und fragte: Wie ist’s, Stilling ? (er hatte ihm seinen Namen gesagt) Stilling antwortete: ich hab’ lange diese Sprache nicht mehr gehoͤrt; und da ich nun sehe, daß Sie Leute sind, die Gott lieben, so weiß ich mich vor Freude nicht zu fassen. Meister Isaac fuhr fort: Seyd Ihr dann auch ein Freund vom Christenthum und von wahrer Gottseligkeit? O ja! versetzte Stilling : von Herzen! Der Schoͤffe lachte vor Freuden, und sagte: da haben wir also einen Bruder mehr. Meister Isaac und Schoͤffe Schauer- hof reichten und schuͤttelten ihm die Hand, und waren sehr froh. Des Abends nach dem Essen ging der Geselle und der Lehrjunge nach Haus, der Schoͤffe aber, Isaac und Stil- ling blieben noch lange beisammen, rauchten Tabak, tranken Bier dazu, und redeten auf eine erbauliche Weise vom Christen- thum. Heinrich Stilling lebte nun wieder vergnuͤgt zu Waldstaͤtt ; auf so viele Leiden und Gefangenschaft schmeckte nun der Friede und die Freiheit so viel suͤßer. Er hatte von all seiner Drangsal seinem Vater nicht Ein Wort geschrieben, um ihn nicht zu betruͤben; jetzt aber, da er von Hochberg ab und wieder bei dem Handwerk war, so schrieb er ihm Vieles, aber nicht alles. Die Antwort, welche er darauf erhielt, war wie- derum eine Bekraͤftigung, daß er zur Unterweisung der Jugend nicht geschaffen sey. Als Stilling nun einige Tage bei Meister Isaac gewe- sen war, so fing Letzterer einsmals uͤber der Arbeit mit ihm an, von seinen Kleidern zu sprechen; der andere Geselle und der Lehrbursche waren nicht gegenwaͤrtig; er erkundigte sich genau nach allem, was er hatte. Als Isaac das alles hoͤrte, stand er alsofort auf, und holte ihm schoͤnes violettes Tuch zum Rock, einen schoͤnen neuen Hut, schwarzes Tuch zur Weste, Zeug zum Unterwaͤmmschen und zu Hosen, ein paar gute feine Struͤmpfe, deßgleichen mußte ihm der Schuhmacher Schuhe anmessen, und seine Frau machte ihm sechs neue Hemden; alles dieses war in vierzehn Tagen fertig. Nun gab ihm sein Meister auch einen von seinen Rohrstaͤben in die Hand; und damit war Stilling schoͤner gekleidet, als er in seinem Leben gewesen war; dazu war auch alles nach der Mode, und nun durfte er sich sehen lassen. Dieses war nun der letzte Feind, der aufgehoben werden mußte. Stilling konnte seinen innigen Dank gegen Gott und seinen Wohlthaͤter nicht genug ausschuͤtten; er weinte vor Freude, und war voͤllig wohl und vergnuͤgt. Aber gesegnet sey deine Asche — du Stillings Freund ! da du liegst und ruhst! Wenn ein- mal die Stimme uͤber den ganzen flammenden Erdkreis erschal- len wird: Ich bin nackend gewesen, und ihr habt mich bekleidet ! so wirst auch du dein Haupt empor heben, und dein verklaͤrter Leib wird siebenmal heller glaͤnzen, als die Sonne am Fruͤhlingsmorgen! — Stillings Neigung, hoͤher in der Welt zu steigen, war nun fuͤr diese Zeit gleichsam aus dem Grunde und mit der Wur- zel ausgerottet; und er war fest und unwiderruflich entschlossen, ein Schneider zu bleiben, bis er gewiß uͤberzeugt seyn wuͤrde, daß es der Wille Gottes sey, etwas anders anzufangen; mit Einem Wort, er erneuerte den Bund mit Gott feierlich, den er verwichenen Sommer, den Sonntag Nachmittag, auf der Gasse zu Schauberg mit Gott geschlossen hatte. Sein Meister war auch so zufrieden mit ihm, daß er ihn nicht anders, als seinen Bruder behandelte; die Meisterin aber liebte ihn uͤber die Maßen, und so auch die Kinder, so daß er nun wieder recht in seinem Element lebte. Seine Neigung zu den Wissenschaften blieb zwar noch im- mer, was sie war, doch ruhte sie unter der Asche; sie war ihm jetzt nicht zur Leidenschaft, und er ließ sie ruhen Meister Isaac hatte eine große Bekanntschaft auf fuͤnf Stun- den umher mit frommen und erweckten Leuten. Der Sonntag war zu Besuchen bestimmt, daher ging er mit Stilling des Sonntags Morgens fruͤh nach dem Ort hin, den sie sich vorge- nommen hatten, und blieben den Tag uͤber bei den Freunden, des Abends gingen sie wieder nach Haus; oder wenn sie weit gehen wollten, so gingen sie des Sonntags Nachmittags zusam- men fort und kamen des Montags Vormittags wieder. Das war nun Stilling eine Seelenfreude, so viele rechtschaffene Menschen kennen zu lernen; besonders gefiel es ihm, daß alle diese Leute nichts Enthusiastisches hatten, sondern bloß Liebe gegen Gott und Menschen auszuuͤben, im Leben und Wandel Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 15 aber ihrem Haupte Christo nachzuahmen suchten. Dieses kam mit Stillings Religionssystem voͤllig uͤberein, und daher ver- band er sich auch mit allen diesen Leuten zur Bruͤderschaft und aufrichtigen Liebe. Und wirklich, diese Verbindung hatte eine vortreffliche Wirkung auf ihn. Isaac ermahnte ihn immerfort zum Wachen und Beten, und erinnerte ihn allezeit bruͤderlich, wo er irgendwo in Worten nicht behutsam genug war. Diese Lebensart war ihm aus der Maßen nuͤtzlich, und bereitete ihn immer mehr und mehr zu dem, was Gott aus ihm machen wollte. Mitten im Mai, ich glaube, daß es bei Pfingsten war, be- schloß Meister Isaac , im Maͤrkischen, etwa sechs Stunden von Waldstaͤtt , einige sehr fromme Freunde zu besuchen; diese wohnten in einem Staͤdtchen, das ich hier Rothenbeck heißen will. Er nahm Stillingen mit; es war das schoͤnste Wetter von der Welt, und der Weg dahin ging durch bezau- bernde Gegenden, bald quer uͤber eine Wiese, bald durch einen gruͤnen Busch voller Nachtigallen, bald ein Feld hinauf vol- ler Blumen, bald uͤber einen buschichten Huͤgel, bald auf eine Haide, wo die Aussicht paradiesisch war, dann in einen gro- ßen Wald, dann laͤngs einem plaͤtschernden kuͤhlen Bach, und immer so wechselsweise fort. Unsere beiden Pilger waren ge- sund und wohl, ohne Sorge und Bekuͤmmerniß, hatten Frie- den von innen und aussen, liebten sich wie Bruͤder, sahen und empfanden uͤberall den guten und nahen Vater aller Dinge in der Natur, und hatten eine Menge guter Freunde in der Welt, und wenig oder gar keine Feinde. Sie gingen oder lie- fen vielmehr Hand an Hand ihren Weg fort, redeten von allerhand Sachen ganz vertraulich, oder sangen eine oder an- dere erbauliche Strophe, bis daß sie gegen Abend, ohne Muͤdig- keit und Beschwerde, zu Rothenbeck ankamen. Sie kehrten bei einem sehr lieben und wohlhabenden Freunde ein, dem sie also am wenigsten beschwerlich fielen. Dieser Freund schrieb sich Gloͤckner ; er war ein kleiner Kaufmann, und handelte mit allerhand Waaren. Dieser Mann und seine Frau hatten keine Kinder. Beide empfingen die Fremden mit herzlicher Liebe; sie kannten zwar Stillingen noch nicht, doch nah- men sie ihn sehr freundlich auf, als sie Isaac versicherte, daß er mit ihnen Allen Einer Meinung und Eines Willens sey. Des Abends uͤber dem Essen erzaͤhlte Gloͤckner eine neue merkwuͤrdige Geschichte von seinem Schwager Freymuth , die sich folgendergestalt verhielt: Die Frau Freymuth war Gloͤckners Frau Schwester, und im Christenthum mit der- selben Eines Sinnes, daher kamen beide Schwestern nebst andern Freunden des Sonntags Nachmittags zusammen, sie wiederholten alsdann die Vormittags-Predigt, lasen in der Bibel, und sangen geistliche Lieder; dieses konnte nun Frey- muth ganz und gar nicht vertragen. Er war ein Erzfeind von solchen Sachen, hingegen ging er eben sowohl fleißig in die Kirche und zum Nachtmahl, aber das war auch Alles; ent- setzliches Fluchen, Saufen, Spielen, unzuͤchtige Reden und Schlaͤgereien waren seine angenehmsten Belustigungen, womit er die Zeit zubrachte, die ihm von seinen Geschaͤften uͤbrig blieb. Wenn er nun des Abends nach Haus kam, und fand seine Frau in der Bibel oder sonst einem erbaulichen Buche lesen, so fing er an abscheulich zu fluchen: Du feiner pieti- stischer T....! weißt ja wohl, daß ich das Lesen nicht ha- ben will; dann griff er sie in den Haaren, schleppte sie auf der Erde herum, und schlug sie, bis das Blut aus Mund und Nase heraussprang; sie aber sagte kein Wort, sondern, wenn er aufhoͤrte, so faßte sie ihn um die Knie, und bat ihn mit taufend Thraͤnen: er moͤchte sich doch bekehren, und sein Leben aͤndern; dann stieß er sie mit den Fuͤßen von sich und sagte: Canaille! das will ich bleiben lassen, ich will kein Kopfhaͤnger werden, wie du. Eben so behandelte er sie auch, wenn er gewahr wurde, daß sie bei andern frommen Leuten in Gesellschaft gewesen war. So hatte er’s getrieben, so lange als seine Frau anderes Sinnes gewesen war, als er. Nun aber vor kurzen Tagen hatte sich Freymuth gaͤnz- lich geaͤndert, und zwar auf folgende Weise: Freymuth reiste nach Frankfurt zur Messe. Waͤhrend dieser Zeit hatte seine Frau alle Freiheit, nach ihrem Sinn zu leben; sie ging nicht allein zu andern Freunden, sondern sie noͤthigte auch deren zuweilen eine ziemliche Anzahl in ihr Haus; dieses hatte sie auch letztverwichene Ostermesse gethan. 15 * Einsmals, als ihrer viele in Freymuths Hause an einem Sonntag Abend versammelt waren, und zusammen lasen, be- teten und sangen, so gefiel es dem Poͤbel, dieses nicht leiden zu wollen; sie kamen und schlugen erst alle Fenster ein, die sie nur erreichen konnten; und da die Hausthuͤr verschlossen war, so sprengten sie dieselbe mit einem starken Baum auf. Die Versammlung in der Stube gerieth daruͤber in Angst und Schrecken, und ein Jeder suchte sich so gut zu verbergen, als er konnte; nur allein Frau Freymuth blieb; und als sie hoͤrte, daß die Hausthuͤr aufsprang, so trat sie heraus mit dem Licht in der Hand. Verschiedene Bursche waren schon hereingedrungen, denen sie im Voraus begegnete. Sie laͤchelte die Leute an, und sagte gutherzig: Ihr Nachbarn! was wollt ihr? sofort waren sie, als wenn sie geschlagen waͤren, sie sa- hen sich an, schaͤmten sich, und gingen still wieder nach Haus. Den andern Morgen bestellte Frau Freymuth alsbald den Glaser und Schreiner, um alles wieder in gehoͤrigen Stand zu stellen; dieses geschah, und kaum war alles richtig, so kam ihr Mann von der Messe wieder. Nun bemerkte er alsofort die neuen Fenster, er fragte deß- wegen seine Frau: wie das zuginge? Sie erzaͤhlte ihm die klare Wahrheit umstaͤndlich, und verhehlte ihm nichts, seufzte aber zugleich in ihrem Gemuͤth zu Gott um Beistand, denn sie glaubte nicht anders, als sie wuͤrde erschreckliche Schlaͤge bekommen. Doch Freymuth dachte daran nicht, sondern er wurde rasend uͤber die Frevelthat des Poͤbels. Seine Meinung war, sich grausam an diesen Spitzbuben, wie er sie nannte, zu raͤchen; deßwegen befahl er seiner Frau drohend, ihm die Thaͤter zu sagen, denn sie hatte sie gesehen und gekannt. Ja, sagte sie: lieber Mann! die will ich dir sagen, aber ich weiß noch einen groͤßern Suͤnder, als die Alle zusammen; denn es war Einer, der hat mich wegen eben der Ursache ganz abscheulich geschlagen. Freymuth verstand das nicht, wie sie es meinte; er fuhr auf, schlug auf seine Brust, und bruͤllte: den soll der T .... holen, und dich dazu, wenn du mir ihn nicht augen- blicklich fagst! Ja! antwortete Frau Freymuth : den will ich dir sagen, raͤche dich an ihm so viel du willst; der Mann, der das gethan hat, bist du und also schlimmer als die Leute, die nur blos die Fenster eingeschlagen haben. Freymuth verstummte, und war wie vom Donner geruͤhrt, er schwieg eine Weile, endlich fing er an: Gott im Himmel, Du hast Recht! — Ich bin wohl ein rechter Boͤsewicht gewesen, will mich an Leuten raͤchen, die besser sind als ich. — Ja, Frau! ich bin der gottloseste Mensch auf Erden! Er sprang auf, lief die Treppen hinauf auf sein Schlafzimmer, lag da drei Tage und drei Naͤchte platt auf der Erde, aß nichts, bloß daß er sich zuweilen Etwas zu trinken geben ließ. Seine Frau leistete ihm so viel Gesellschaft als sie konnte, und half ihm beten, damit er bei Gott durch den Erloͤser Gnade erlan- gen moͤchte. Am vierten Tage des Morgens stand er auf, war vergnuͤgt, lobte Gott, und sagte: nun bin ich gewiß, daß mir meine schweren Suͤnden vergeben sind! Von dem Augenblick an war er ganz umgekehrt; so demuͤthig, als er vorhin stolz, so sanft- muͤthig, als er vorher trotzig und zornig, und so von Herzen fromm, als er vorhin gottlos gewesen war. Dieser Mann waͤre ein Gegenstand fuͤr meinen Freund La- vater . Seine Gesichtsbildung ist die roheste und wildeste von der Welt; es duͤrfte nur eine Leidenschaft, zum Beispiel der Zorn, rege werden, die Lebensgeister brauchten nur jeden Muskel des Gesichts zu spannen, so wuͤrde er rasend aussehen. Jetzt aber ist er einem Loͤwen aͤhnlich, der in ein Lamm ver- wandelt worden ist. Friede und Ruhe ist jedem Gesichtsmus- kel eingedruͤckt, und das gibt ihm ein eben so frommes Aus- sehen, als er vorhin wild war. Nach dem Essen schickte Gloͤckner seine Magd in Frey- muths Haus, und ließ da ansagen, daß Freunde bei ihm angekommen waͤren. Freymuth und seine Frau kamen als- bald, und bewillkommten Isaac und Stilling . Dieser Letztere hatte den ganzen Abend seine Betrachtungen uͤber die beiden Leute; bald mußte er des Loͤwen Sanftmuth, bald des Lammes Heldenmuth bewundern. Alle Sechs waren sehr ver- gnuͤgt zusammen, sie erbauten sich so gut sie konnten, und gingen spaͤt schlafen. Unsere beiden Freunde blieben nun noch ein paar Tage zu Rothenbeck , besuchten und wurden besucht, auch gehoͤrte der Schulmeister daselbst, der sich auch Stilling schrieb, und aus dem Salen’schen Land zu Haus war, mit unter die Ge- sellschaft der Frommen zu Rothenbeck ; diesen besuchten sie auch. Er gewann besonders Stillingen lieb, besonders da er hoͤrte, daß er auch lange Schulmeister gewesen war. Die beiden Stillinge machten einen Bund zusammen, daß einer dem andern so lange schreiben sollte, als sie lebten, um die Freundschaft zu unterhalten. Endlich reisten sie wieder von Rothenbeck nach Wald- staͤtt zuruͤck, und begaben sich an ihr Handwerk, wobei sie sich die Zeit mit allerhand angenehmen Gespraͤchen vertrieben. Es wohnte aber eine Stunde von Waldstaͤtt ein weidli- cher Kaufmann, der sich Spanier schrieb. Dieser Mann hatte sieben Kinder, wovon das aͤlteste eine Tochter von etwa sechzehn Jahren, das juͤngste aber ein Maͤdchen von einem Jahr war. Unter diesen Kindern waren drei Soͤhne und vier Toͤchter. Er hatte eine sehr starke Eisen-Fabrik, die aus sie- ben Eisenhammern bestand, wovon vier bei seinem Hause, drei aber anderthalb Stunden von seinem Hause ab, nicht weit von Herrn Hochbergs Haus lagen, wo Stilling gewesen war. Dabei besaß er ungemein viele liegende Guͤter, Haͤuser, Hoͤfe, und was dazu gehoͤrte, nebst vielem Gesinde, Knechte, Maͤgde und Fuhrknechte, denn er hatte verschiedene Pferde zu seinem eigenen Gebrauch. Wenn nun Herr Spanier verschiedene Schneiderarbeit fuͤr sich und seine Leute zusammen verspart hatte, so ließ er Mei- ster Isaac mit seinen Gesellen kommen, um einige Tage bei ihm zu Naͤhen, und fuͤr ihn und seine Leute alle Kleider wie- der in Ordnung zu bringen. Nachdem nun Stilling zwoͤlf Wochen bei Meister Isaac gewesen war, so traf es sich, daß sie auch bei Herrn Spanier arbeiten mußten. Sie gingen also des Morgens fruͤh hin. Als sie zur Stubenthuͤr hereintraten, so saß Herr Spanier allein am Tisch, und trank den Caffee aus einem kleinen Kaͤnn- chen, das fuͤr ihn allein gemacht war. Langsam drehte er sich um, sah Stillingen ins Gesicht, und sagte: „Guten Morgen, Herr Praͤceptor!“ Stilling war bluthroth, er wußte nicht, was er sagen sollte, doch erholte er sich geschwind, und sagte: Ihr Diener, Herr Spanier . Doch dieser schwieg nun wieder still, und trank seinen Caffee fort. Stilling aber begab sich auch an seine Arbeit. Nach einigen Stunden spazierte Spanier auf und ab in der Stube, und sagte kein Wort; endlich stand er vor Stil- lingen hin, sah ihm eine Weile zu, und sagte: „Das geht Euch so gut von statten, Stilling ! als wenn Ihr zum Schneider geboren waͤret, aber das seyd Ihr doch nicht?“ Wie so? fragte Stilling . „Eben darum, versetzte Spanier : weil ich Euch zum In- formator bei meinen Kindern haben will.“ Meister Isaac sah Stillingen an und laͤchelte. Nein, Herr Spanier ! erwiederte Stilling , daraus wird nichts; ich bin unwiderruflich entschlossen, nicht wieder zu in- formiren. Ich bin jetzt ruhig und wohl bei meinem Hand- werk, und davon werde ich nicht wieder abgehen. Herr Spanier schuͤttelte den Kopf, lachte, und fuhr fort: „Das will ich Euch doch wohl anders lehren, ich habe so manchen Berg in der Welt eben und gleich gemacht, und sollte Euch nicht auf andere Sinne bringen, dessen wuͤrde ich mich vor mir selber schaͤmen. Nun schwieg er den Tag davon still. Stilling aber bat seinen Meister, daß er ihn des Abends moͤchte nach Haus gehen lassen, um Herrn Spaniers Nachstellungen zu ent- gehen; allein Meister Isaac wollte das nicht geschehen lassen, deßwegen waffnete sich Stilling aufs beste, um Herrn Spa- nier mit den wichtigsten Gruͤnden widerstehen zu koͤnnen. Des andern Tages traf sichs wieder, daß Herr Spanier in der Stube auf und abging; er fing gegen Stilling an: „Hoͤrt Stilling ! wenn ich mir ein schoͤnes Kleid machen lasse, und haͤnge es dann an den Nagel, ohne es jemals anzu- ziehen, bin ich dann nicht ein Narr?“ Ja! versetzte Stilling : erstens, wenn Sie’s nothwendig haben; und zweitens, wenn’s wohl getroffen ist. Wie wenn Sie sich aber einmal ein huͤbsches Kleid machen ließen, ohne daß Sie’s nothwendig haͤtten, oder Sie zoͤgens an, und es druͤckte Sie aller Orten, was wollten Sie alsdann machen? „Das will ich Euch sagen, versetzte Spanier : so gaͤb ichs einem Andern; dem’s recht waͤre.“ Aber, erwiederte Stilling : wenn Sie’s nun Sieben hin- ter einander gegeben haͤtten, und ein Jeder gaͤb’s Ihnen wie- der, und sagte: es paßt mir nicht, was wuͤrden Sie dann anfangen? Spanier antwortete: So waͤr’ ich doch ein Narr, wenn ichs muͤßig da haͤngen und die Motten fressen ließe; hoͤr’! ich gaͤb’s dem Achten, und sagte: nun aͤndert daran bis es euch recht ist. Wenn aber nun der Achte sich vollends dazu ver- staͤnde, sich in das Kleid zu schicken, und nicht mehr von ihm zu fordern, als wozu es gemacht ist, so wuͤrde ich ja suͤndigen, wenn ichs ihm nicht gaͤbe! Da haben Sie Recht, versetzte Stilling ; allein, dem allen ungeachtet bitte ich Sie um Gottes willen, Herr Spanier ! lassen Sie mich am Handwerk! „Nein! antwortete er: das thue ich nicht, Ihr sollt und muͤßt mein Haus-Informator werden, und zwar unter folgen- den Bedingungen: Ihr koͤnnt nicht franzoͤsisch, es ist aber bei mir um vieler Ursachen willen noͤthig, daß Ihr’s versteht, dero- wegen waͤhlt Euch einen Sprachmeister, wo Ihr wollt, zieht zu ihm hin, und lernt diese Sprache, ich bezahle alles gerne, was es kosten wird; ferner geb’ ich Euch dem ungeach- tet volle Freiheit, wieder von mir zu Meister Isaac zu zie- hen, sobald es Euch bei mir leid seyn wird. Und endlich sollt Ihr alles haben an Kleidern und Zubehoͤr, was Ihr be- duͤrft, und das so lange, als Ihr bei mir seyn werdet. Nun hab’ ich aber auch Recht, dieses dagegen zu fordern: daß Ihr in keine andere Condition treten wollt, so lange ich Euch noͤthig habe, es sey denn, daß Ihr Euch auf Lebenslang ver- sorgen koͤnntet.“ Meister Isaac wurde durch diesen Vorschlag geruͤhrt. Nun! sagte er gegen Stilling : jetzt begeht Ihr eine Suͤnde, wenn Ihr nicht einwilligt. Das kommt von Gott, und alle Eure vorigen Bedingungen kamen von Euch selbst. Stilling untersuchte sich genau, er fand gar keine Leiden- schaft oder Trieb nach Ehre bei sich, sondern er fuͤhlte im Ge- gentheil einen Wink in seinem Gewissen, daß diese Condition ihm von Gott angewiesen werde. Nach einer kurzen Pause fing er an: „Ja, Herr Spanier ! noch Einmal will ichs wagen, aber ich thue es mit Furcht und Zittern.“ Spanier stand auf, gab ihm die Hand, und sagte: „Gott sey Dank! nun hab’ ich auch diesen Huͤgel wieder eben ge- macht; aber nun muͤßt Ihr auch alsofort zum Sprachmeister, lieber morgen als uͤbermorgen.“ Stillingen war dieses so ganz recht, und selbst Meister Isaac sagte: Uebermorgen ists Sonntag, und dann koͤnnt Ihr in Gottes Namen reisen. Dieses wurde also beschlossen. Ich muß gestehen: daß, da nun Stilling wieder ein an- derer Mensch war, so vergnuͤgt er sich auch eingebildet hatte zu seyn, so hatte er doch immer eine ungestimmte Saite, die er nie ohne eine Art von Mißvergnuͤgen beruͤhren durfte. So- bald ihm einfiel, was er in der Mathematik und andern Wis- senschaften gethan und gelesen hatte, so ging ihm ein Stich durchs Herz, allein er schlug sichs wieder aus dem Sinn; daher wurde ihm jetzt ganz anders, als er fuͤhlte, daß er aufs Neue recht in sein Element kommen wuͤrde. Isaac goͤnnte ihm zwar sein Gluͤck, allein es that ihm doch schmerzlich leid, daß er ihn schon missen sollte, und Stil- lingen schmerzte es in seiner Seele, daß er von dem recht- schaffensten Mann in der Welt, und seinem besten Freunde, den er je gehabt hatte, Abschied nehmen sollte, ehe er ihm seine Kleider abverdient hatte; er redete deßwegen mit Herrn Spanier in Geheim, und erzaͤhlte ihm, was Meister Isaac an ihm gethan habe. Spanier drangen die Thraͤnen in die Augen, und er sagte: Der vortreffliche Mensch! das soll er mir entgelten, nie soll er Mangel haben. Nun gab er ihm einige Lonisd’ors mit dem Bedeuten, Isaac davon zu bezah- len, und mit dem uͤbrigen hauszuhalten; wenns all waͤre, sollte er mehr haben, nur dieß er alles huͤbsch berechnete, wozu es verwendet worden. Stilling freute sich aus der Massen; so einen Mann hatte er noch nicht angetroffen. Er bezahlte also Meister Isaac mit dem Gelde, und nun gestand ihm dieser: daß er wirklich alle Kleider fuͤr ihn geborgt haͤtte. Das ging Stilling durchs Herz, er konnte sich des Weinens nicht enthalten, und dachte bei sich selbst: Wenn jemals ein Mann ein marmornes Monument verdient hat, so ists dieser; nicht daß er ganze Voͤlker gluͤcklich gemacht hat, sondern darum, daß ers wuͤrde gethan haben, wenn er gekonnt haͤtte. Nochmals! — gesegnet sey deine Asche, mein Freund! aus- erkohren unter Tausenden, — da Du liegst und schlaͤfst; diese hei- ligen Thraͤnen auf dein Grab — du wahrer Nachfolger Christi!!! Des Sonntags nahm also Stilling Abschied von seinen Freunden zu Waldstaͤtt , und reiste uͤber Rosenheim nach Schoͤnenthal , um einen guten Sprachmeister zu suchen. Als er nahe bei letzterer Stadt kam, so erinnerte er sich, daß er vor einem Jahr und etlichen Wochen diesen Weg zuerst ge- reist hatte; er uͤberdachte alle seine Schicksale in dieser kurzen Zeit, und nun wieder seinen Zustand, er fiel nieder auf seine Knie, und dankte Gott herzlich fuͤr eine strenge aber heilige und gute Fuͤhrung, bat aber zugleich, nunmehr auch seine Gnaden- sonne uͤber ihn scheinen zu lassen. Als er auf die Hoͤhe kam, wo er ganz Schoͤnenthal und das herrliche Thal hinauf uͤbersehen konnte, so wurde er begeistert, setzte sich hin unter das Gestraͤuche, zog seine Schreibtafel heraus und schrieb: Ich fühl ein sanftes Liebewallen, Es säuselt kühlend um mich her. Ich fühl des Vaters Wohlgefallen, Der reinen Wonne Wiederkehr. Die Wolken ziehen sanft herüber, Tief unten braun, licht oben drüber. Des kühlen Bachs entferntes Rauschen Schwimmt wie auf sanften Flügeln her. Und wie des Frühlings Sänger lauschen, So horcht mein Ohr; von ohngefähr Ertönt der Vögel süßes Zirbeln Und mischt sich in der Bäche Wirbeln. Jetzt heb’ ich froh die Augenlider Zu allen hohen Bergen auf, Und schlag sie wieder freudig nieder, Vollführe munter meinen Lauf. Nun kann ich mit vergnügten Blicken Den Geist der Qual zur Höllen schicken. Noch einmal schau ich kühn zurücke Ins Schattenthal der Schwermuth hin, Und sehe mit gewohntem Blicke Den Ort, wo ich gewesen bin, Ich hör’ ein wildes Chaos brausen, Und Ungluͤcks-Winde stürmend sausen. Gleichwie ein blaß Gespenste wanket, In öden Zimmern hin und her, Wie’s da im blöden Nachtschein schwanket, Streicht längs die Wand und ächzet schwer, Bemüht sich lang ein Wort zu sagen, Und Jemand seine Noth zu klagen. So wankt’ ich auch im Höllen-Schlunde, Im schwärz’sten Kummer auf und ab, Man grub mir jede Marterstunde Ein neues grausenvolles Grab. Tief unten hört ich Drachen grollen, Hoch droben schwarze Donner rollen. Ich ging und schaute hin und wieder, Fand Todes-Engel um mich gehen, Und Blitze zuckten auf mich nieder, Ich sah ein Pförtchen offen stehen, Ich eilte durch, und fand mit Freuden Das Ende meiner schweren Leiden. Ich schlüpfte hin im stillen Schatten, Es war noch dämmernd um mich her. Ich fühlte meinen Fuß ermatten, Mir wurde jeder Tritt so schwer: Schon neigt ich mich zum Staub darnieder, Und schloß die müden Augenlider. Ich sank — doch wie in Freundes Armen Ein Todtverwundter niedersinkt, Wenn ihm das Auge voll Erbarmen Des Arztes frohe Heilung winkt. Ich ward erquickt, gestärkt, geheilet, Und neue Kraft mir mitgetheilet. Freund Isaac war’s, in seiner Halle Fand ich ein lautres Paradeis; Da schmeckten mir die Freuden alle, Da stieg zum Höchsten Dank und Preis, Wir sangen ihm geweihte Lieder, Er schaute gnädig auf uns nieder. Stilling eilte nun den Berg hinunter nach Schoͤnenthal hin; er vernahm aber, daß die Sprachmeister daselbsten sich fuͤr ihn nicht schicken wuͤrden, indem sie wegen vieler Ge- schaͤfte hin und her in den Haͤusern, wenig Zeit auf ihn wuͤr- den verwenden koͤnnen. Da er nun eilig war und bald fer- tig seyn wollte, so mußte er eine Gelegenheit suchen, wo er in kurzer Zeit viel lernen konnte; endlich wurd’ er gewahr, daß sich zu Dornfeld , wo Herr Dahlheim Prediger war, ein sehr geschickter Sprachmeister aufhielte. Da nun dieser Ort nur drei viertel Stunden von Schoͤnenthal ablag, so entschloß er sich desto lieber, dahin zu gehen. Des Nachmittags um drei Uhr kam er daselbst an. Er fragte alsbald nach dem Sprachmeister, ging zu ihm, und fand einen sehr seltsamen originellen Menschen, der sich Hees- feld schrieb. Er saß da in einem dunkeln Stuͤbchen, hatte einen schmutzigen Schlafrock von schlechtem Camelot an, mit einer Binde von demselben Zeug umguͤrtet; auf dem Kopf hatte er eine latzige Muͤtze; sein Gesicht war blaß, wie eines Menschen, der schon einige Tage im Grabe gelegen, und im Verhaͤltniß gegen die Breite viel zu lang. Die Stirne war schoͤn, aber unter pechschwarzen Augbraunen lagen ein paar schwarze, schmale, kleine Augen tief im Kopf; die Nase war schmal und lang, der Mund ordentlich, aber das Kinn stand platt und scharf vorwaͤrts, das er auch immer sehr weit vor- waͤrts trug, sein rabenschwarzes Haar war rund um gekraͤu- selt; sonst war er schmal, lang und schoͤn gewachsen. Stilling erschrack einigermaßen vor diesem seltsamen Ge- sichte, ließ aber doch nichts merken, sondern gruͤßte ihn, und trug ihm sein Vorhaben vor. Herr Heesfeld nahm ihn freundlich auf, und sagte: ich werde an Ihnen thun was ich vermag. Stilling suchte sich nun ein Quartier, und fing sein Studium der franzoͤsischen Sprache an, und zwar folgenderge- stalt. Des Vormittags von acht bis eilf Uhr wohnte er der ordentlichen Schule bei, des Nachmittags von zwei bis fuͤnf auch, er saß aber mit Heesfeld an einem Tisch, sie sprachen immer, und hatten Zeitvertreib zusammen, wenn aber die Schule aus war, so gingen sie spazieren. So sonderlich als Heesfeld gebildet war, so sonderlich war er auch in seinem Leben und Wandel. Er gehoͤrte zur Classe der Launer wie ehemals Glaser auch, denn er sagte Niemand was er dachte, kein Mensch wußte wo er her war, und eben so wenig wußte Jemand, ob er arm oder reich war. Vielleicht hat er Niemand in seinem Leben zaͤrtlicher geliebt als Stillin- gen, und doch hat dieser erst nach seinem Tode inne geworden, wo er her war, und daß er ein reicher Mann gewesen. Seine sonderliche Denkungsart leuchtete auch daraus hervor, daß er immer seine Geschicklichkeit verbarg, und nur so viel davon blicken ließ, als just noͤthig war. Daß er vollkommen franzoͤsisch verstand, aͤußerte sich alle Tage, daß er aber auch ein vortrefflicher Lateiner war, das zeigte sich erst, als Stilling zu ihm kam, mit welchem er die Information auf den Fuß der lateinischen Grammatik einrichtete, und taͤglich mit ihm latei- nische Verse machte, die unvergleichlich schoͤn waren. Zeichnen, Tanzen, Physik und Chymie verstand er in einem hohem Grad; und noch zwei Tage vor Stillings Abreise traf es sich, daß letzterer in seiner Gesellschaft auf einem Clavier spielte. Hees- feld hoͤrte zu. Als Stilling aufhoͤrte, setzte er sich hin, und that anfaͤnglich, als wenn er in seinem Leben kein Clavier be- ruͤhrt haͤtte, aber in weniger als fuͤnf Minuten fing er so tref- flich melancholisch-fuͤrchterlich an zu phantasiren, daß einem die Haare zu Berge standen; allmaͤhlig schwung er sich zum me- lancholisch-zaͤrtlichen, von da ins cholerisch-feurige, darauf ins gelassene ruhige, phantasirte eine phlegmatische Murqui, darauf ein sanguinisch-zaͤrtliches Adagio, dann ein Allegro, und nun schloß er mit einer lustigen Menuette aus D dur. Stilling haͤtte zerschmelzen moͤgen uͤber seine empfindsame Art zu Spie- len, und bewunderte diesen Mann aus der Massen. Heesfeld war in seiner Jugend in Kriegsdienste gegangen; wegen seiner Geschicklichkeit wurde er von einem hohen Officier in seine eigenen Dienste genommen, der ihn in Allem hatte un- terrichten lassen, wozu er nur Lust gehabt hatte; mit diesem Herrn war er durch die Welt gereist, der nach zwanzig Jahren starb, und ihm ein schoͤnes Stuͤck Geld vermachte. Heesfeld war nun vierzig Jahre alt, reiste nach Haus, aber nicht zu sei- nen Eltern und Freunden, sondern er nahm einen fremden Ge- schlechtsnamen an, ging nach Dornfeld als franzoͤsischer Sprach- meister, und obgleich seine Eltern und zween Bruͤder nur zwei Stunden von ihm ab wohnten, so wußten sie doch gar nichts von ihm, sondern sie glaubten, er sey in der Fremde gestorben; auf seinem Todtbette aber hat er sich seinen Bruͤdern zu erken- nen gegeben, ihnen seine Umstaͤnde erzaͤhlt, und eine reichliche Erbschaft hinterlassen: und nach seinem System war es auch da noch fruͤh genug. Man nenne dieses nun Fehler oder Tugend, er hatte bei dem allem eine edle Seele; seine Menschenliebe war auf einen hohen Grad gestiegen, aber er handelte in Geheim; auch denen er Gu- tes that, die durftens nicht wissen. Nichts konnte ihn mehr er- goͤtzen, als wenn er hoͤrte, daß die Leute nicht wuͤßten, was sie aus ihm machen sollten. Wenn er mit Stilling spazieren ging, so sprachen sie von Kuͤnsten und Wissenschaften. Ihr Weg ging immer in die wil- desten Einoͤden, dann stieg Heesfeld auf einen schwankenden Baum, der sich gut biegen ließ, setzte sich oben in den Gipfel, hielt sich fest, und wiegte sich mit ihm auf die Erde, legte sich eine Weile in die Aeste und ruhete. Stilling machte ihm das dann nach, und so lagen sie und plauderten; wenn sie dessen muͤde waren, so standen sie auf und dann richteten sich die Baͤume wieder auf; das war Heesfelds Freude, dann sagte er wohl: schoͤn sind unsere Betten, wenn wir aufstehen, so fah- ren sie gen Himmel. — Zuweilen gab er auch wohl Jemand ein Raͤthsel auf, und fragte: was sind das vor Betten, die in die Luft fliegen, wenn man aufsteht? Stilling lebte aus der Maßen vergnuͤgt zu Dornfeld . Herr Spanier schickte ihm Geld genug, und er studirte recht fleißig, denn in neun Wochen war er fertig; es ist unglaublich aber doch gewiß wahr; er verstand diese Sprache nach zwei Mona- ten hinlaͤnglich, er las die franzoͤsische Zeitung teutsch weg, als wenn sie in letzterer Sprache gedruckt waͤre, auch schrieb er schon damalen einen franzoͤsischen Brief ohne Grammaticalfeh- ler, und las richtig, nur fehlte ihm noch die Uebung im Sprechen. Den ganzen Syntax hatte er zur Genuͤge inne; so daß er nun selbst getrost anfangen konnte, in dieser Sprache zu unterrichten. Stilling beschloß also, nunmehr von Herrn Heesfeld Abschied zu nehmen, und zu seinem neuen Patron zu ziehen. Beide weinten, als sie von einander gingen. Heesfeld gab ihm eine Stunde weit das Geleit. Als sie sich nun herzten und kuͤßten, schloß ihn Herr Heesfeld in die Arme, und sagte: „Mein Freund! wenn Ihnen je Etwas mangelt, so schreiben Sie mir, ich werde Ihnen thun, was ein Bruder dem andern thun soll; mein Wandel ist verborgen, aber ich wuͤnsche zu wirken, wie die Mutter Natur, man sieht ihre ersten Quellen nicht, aber man trinkt sich satt an ihren klaren Baͤchen.“ Es fiel Stilling hart, von ihm weg zu kommen; endlich rissen sie sich von einander, gingen ihres Weges, und sahen nicht wieder hinter sich. Stilling wanderte also zuruͤck zu Herrn Spanier, und kam zwei Tage vor Michaelis 1763 des Abends in Herrn Spaniers Hause an. Dieser Mann freute sich uͤber die Maßen, als er Stilling so geschwind bei sich sahe. Er behan- delte ihn alsofort als einen Freund, und Stilling fuͤhlte wohl, daß er nunmehro bei Leuten waͤre, die ihm Freude und Wonne machen wuͤrden. Des andern Tages fing er seine Information an. Die Ein- richtung derselben ward folgendergestalt von Herrn Spanier angeordnet: Die Kinder sowohl, als ihr Lehrer, waren bei ihm in seiner Stube; auf diese Weise konnte er sie selber beobach- ten und ziehen, und auch bestaͤndig mit Stilling von allerhand Sachen reden. Dabei gab Herr Spanier seinem Haus-In- formator auch Zeit genug, selber zu lesen. Die Unterweisung dauerte den ganzen Tag, aber so gemaͤchlich und unterhaltend, daß sie Niemand langweilig und beschwerlich werden konnte. Herr Spanier aber hatte Stillingen nicht bloß zum Leh- rer seiner Kinder bestimmt, sondern er hatte noch eine schoͤne Absicht mit ihm, er wollte ihn in seinen Handelsgeschaͤften brau- chen; das entdeckte er ihm aber nicht eher, als bis auf den Tag, da er ihm einen Theil seiner Fabrik zu verwalten uͤbertrug. Hier- durch glaubte er auch Stillingen Veraͤnderung zu machen, und ihn vor der Melancholie zu bewahren. Alles dieses gelang auch vollkommen. Nachdem er vierzehen Tage informirt hatte, so uͤbertrug ihm Herr Spanier seine drei Haͤmmer, und die Guͤter, welche anderthalb Stunden von sei- nem Hause, nicht weit von Hochbergs Wohnung lagen. Stilling mußte alle drei Tage dahin gehen, um die fertigen Waa- ren wegzuschaffen, und Alles zu besorgen. Auch mußte er rohe Waaren einkaufen, und des Endes drei Stunden weit woͤchentlich ein paarmal auf die Landstraße ge- hen, wo die Fuhrleute mit dem rohen Eisen herkamen, um das noͤthige von ihnen einzukaufen; wenn er dann wieder kam und recht muͤde war, so that ihm die Ruhe ein paar Tage wieder gut, er las dann selbsten und informirte dabei. Der vergnuͤgte Umgang aber, den Stilling mit Herrn Spanier hatte, war uͤber alles. Sie waren recht vertraulich zusammen, redeten von Herzen von allerhand Sachen, beson- ders war Spanier ein ausbuͤndiger geschickter Landwirth und Kaufmann, so daß Stilling oftmals zu sagen pflegte: Herrn Spaniers Haus war meine Academie, wo ich Oeconomie, Landwirthschaft und das Commerzienwesen aus dem Grund zu studieren Gelegenheit hatte. So wie ich hier Stillings Lebensart beschrieben habe, so dauerte sie, ohne eine einzige truͤbe Stunde dazwischen zu ha- ben, sieben ganze Jahre in einem fort; ich will davon nichts weiter sagen, als daß er in all dieser Zeit, in Absicht der Welt- kenntniß, Lebensart, und obigen haͤuslichen Wissenschaften ziem- lich zugenommen habe. Seine Schuͤler unterrichtete er, diese ganze Zeit uͤber, in der lateinischen und franzoͤsischen Sprache, wodurch er selber immer mehr Fertigkeit in beiden Stuͤcken erlangte, und dann in der reformirten Religion, im Lesen, Schreiben und Rechnen. Seine eigne Lectuͤre bestand anfaͤnglich in allerhand poe- tischen Schriften. Er las erstlich Miltons verlornes Pa- radies, hernach Youngs Nachtgedanken, und darauf die Messiade von Klopstock ; drei Buͤcher, die recht mit seiner Seele harmonirten; denn so wie er vorhin sanguinisch zaͤrt- lich gewesen war, so hatte er nach seiner schrecklichen Periode bei Herrn Hochberg eine sanfte, zaͤrtliche Melancholie an- genommen, die ihm auch vielleicht bis an seinen Tod anhaͤn- gen wird. In der Mathematik that er jetzt nicht viel mehr, hingegen legte er sich mit Ernst auf die Philosophie, las Wolfs teutsche Schriften ganz, desgleichen Gottscheds gesammte Philosophie, Leibnitzens Theodicee, Baumeisters kleine Logik und Metaphysik demonstrirte er ganz nach, und nichts in der Welt war ihm angenehmer als die Uebung in diesen Wissenschaften; allein er spuͤrte doch eine Leere bei sich und ein Mißtrauen gegen diese Systeme, denn sie erstick- ten wahrlich alle kindliche Empfindung des Herzens gegen Gott; sie moͤgen eine Kette von Wahrheiten seyn, aber die wahre philosophische Kette, an welche sich alles anschließt, haben wir noch nicht. Stilling glaubte diese zu finden, allein er fand sie nicht, und nun gab er sich ferner aus Su- chen, theils durch eigenes Nachdenken, theils in andern Schrif- ten, und noch bis dahin wandelt er traurig auf diesem Wege, weil er noch keine Auskunft siehet. Herr Spanier stammte auch aus dem Salen’schen Lande her; denn sein Vater war nicht weit von Kleefeld geboren, wo Stilling seine letzte Kapellenschule bedient hatte, deßwegen hatte er auch zuweilen Geschaͤfte daselbst zu verrichten, hierzu brauchte er nun Stilling auch darum am liebsten, weil er da- Stilling’s sämmtl. Schriften. I. Band. 16 selbst bekannt war. Nachdem er nun ein Jahr bei seinem Pa- tron, und also beinah dritthalb Jahr in der Fremde gewesen, so trat er seine erste Reise zu Fuß nach seinem Vaterland an. Er hatte zwoͤlf Stunden von Herrn Spanier bis zu seinem Oheim Johann Stilling , und dreizehn bis zu seinem Vater; diese Reise wollte er in einem Tage abthun. Er machte sich deß- wegen des Morgens fruͤh mit Tagesanbruch auf den Weg, und reiste vergnuͤgt fort, aber er nahm eine naͤhere Straße vor sich, als er ehemals gekommen war. Des Nachmittags um vier Uhr kam er auf einer Hoͤhe an die Graͤnze des Sa- len’schen Landes, er sah in all die bekannten Gebirge hinein, sein Herz zerschmolz, er setzte sich hin, weinte Thraͤnen der Empfindsamkeit, und dankte Gott fuͤr seine schwere aber sehr seltsame Fuͤhrung; er bedachte, wie elend und arm er aus seinem Vaterland ausgegangen, und daß er nun Ueberfluß an Geld, schoͤnen Kleidern und an aller Nothdurft habe; die- ses machte ihn so weich und so dankbar gegen Gott, daß er sich des Weinens nicht enthalten konnte. Er wanderte also weiter, und kam nach einer Stunde bei seinem Oheim zu Lichthausen an. Die Freude war nicht auszusprechen, die da entstand, als sie ihn sahen; er war nun lang und schlank ausgewachsen, hatte ein schoͤnes dunkelblaues Kleid, und seine weiße Waͤsche an, sein Haar war gepudert, und rund um aufgerollt, dabei sah er nun munter und bluͤhend aus, weil es ihm wohl ging. Sein Oheim umarmte und kuͤßte ihn, und die Thraͤnen liefen ihm die Wangen herunter, indem kam auch seine Muhme, Mariechen Stilling . Sie war seit der Zeit auch nach Lichthausen verheirathet, sie fiel ihm um den Hals, und kuͤßte ihn ohne Aufhoͤren. Diese Nacht blieb er bei seinem Oheim, des andern Mor- gens ging er nach Leindorf zu seinem Vater. Wie der recht- schaffene Mann aufsprang, als er ihn so unvermuthet kommen sah! er sank wieder zuruͤck; Stilling aber lief auf ihn zu, umarmte und kuͤßte ihn zaͤrtlich, Wilhelm hielt seine Haͤnde vor die Augen und weinte, sein Sohn vergoß ebenfalls Thraͤ- nen; indem kam auch die Mutter, sie schuͤttelte ihm die Hand, und weinte laut vor Freuden, daß sie ihn gesund wieder sahe. Nun erzaͤhlte Stilling seinen Eltern Alles, was ihm be- gegnet war und wie gut es ihm nun ginge. Indessen er- schallte das Geruͤcht von Stillings Ankunft im ganzen Dorf. Das Haus wurde voller Leute; Alte und Junge kamen, um ihren ehemaligen Schulmeister zu sehen und das ganze Dorf war voll Freude uͤber ihn. Gegen Abend ging Wilhelm mit seinem Sohne uͤber die Wiesen spazieren. Er redete viel mit ihm von seinen vergan- genen und kuͤnftigen Schicksalen, und zwar recht im Ton des alten Stillings, so daß sein Sohn von Ehrfurcht und Liebe durchdrungen war. Endlich fing Wilhelm an: Hoͤre mein Sohn, Du mußt deine Großmutter besuchen, sie liegt elend an der Gicht darnieder, und wird nicht lange mehr leben, sie redet immer von dir, und wuͤnscht noch einmal, vor ihrem Ende mit dir zu sprechen. Des andern Morgens machte sich also Stilling auf, und ging nach Tiefenbach hin. Wie ihm ward, als er das alte Schloß, den Giller , den hitzigen Stein und das Dorf selber sahe! Diese Empfindung laͤßt sich nicht aussprechen; er untersuchte sich, und fand, wenn er noch sei- nen jetzigen Zustand mit seiner Jugend vertauschen koͤnnte, er wuͤrde es gerne thun. Er langte in kurzer Zeit im Dorfe an; alles Volk lief aus, so daß er gleichsam im Gedraͤnge an das ehrwuͤrdige Haus seiner Vaͤter kam. Es schauerte ihn, wie er hineintrat, just als wenn er in einen alten Tempel ginge. Seine Muhme Elisabeth war in der Kuͤche, sie lief auf ihn zu, gab ihm die Hand, weinte, und fuͤhrte ihn in die Stube; da lag nun seine Großmutter Margarethe Stil- ling in einem saubern Bettchen an der Wand bei dem Ofen; ihre Brust war hoch in die Hoͤhe getrieben. Die Knoͤchel an ihren Haͤnden waren dick, die Finger steif, und einwaͤrts aus- gereckt. Stilling lief zu ihr, griff ihre Hand und sagte mit Thraͤnen in den Augen: wie gehts, liebe Großmutter? Es ist mir eine Seelenfreude, daß ich Euch noch einmal sehe. Sie suchte sich in die Hoͤhe zu arbeiten, fiel aber ohnmaͤchtig zu- ruͤck. Ach! rief sie: ich kann dich noch einmal vor meinem Ende hoͤren und fuͤhlen, komm doch zu mir, daß ich dich im Gesicht fuͤhlen kann! Stilling buͤckte sich zu ihr; sie fuͤhlte 16 * nach seiner Stirn, seinen Augen, Nase, Mund, Kinn und Wangen. Indessen gerieth sie auch mit den steifen Fingern in seine Haare, sie fuͤhlte den Puder: So! sagte sie; Du bist der Erste, der aus unserer Familie seine Haare pudert, sey aber nicht der Erste, der auch Gottesfurcht und Redlichkeit ver- gißt! Nun, fuhr sie fort: kann ich dich mir vorstellen, als wenn ich dich saͤhe; erzaͤhle mir nun auch, wie es dir gegan- gen hat, und wie es dir nun geht. Stilling erzaͤhlte ihr Alles kurz und buͤndig. Als er ausgeredet hatte, fing sie an: Hoͤre, Heinrich ! sey demuͤthig und fromm, so wirds Dir wohl gehen, schaͤme Dich nie Deines Herkommens und deiner armen Freunde, Du magst so groß werden in der Welt als Du willst. Wer gering ist, kann durch Demuth groß werden, und wer vornehm ist, kann durch Stolz gering werden; wenn ich nun todt bin, so ists einerlei, was ich in der Welt gewesen bin, wenn ich nur christlich gelebt habe. Stilling mußte ihr mit Hand und Mund Alles dieses angeloben. Nachdem er nun noch ein und anderes mit ihr ge- redet hatte, nahm er schnell Abschied von ihr, das Herz brach ihm, denn er wußte, daß er sie in diesem Leben nicht wieder sehen wuͤrde; sie war am Rande des Todes; allein sie griff ihm die Hand, hielt ihn fest, und sagte: Du eilst — Gott sey mit Dir, mein Kind! vor dem Thron Gottes seh ich Dich wieder! Er druͤckte ihr die Hand und weinte. Sie merkte das: Nein! fuhr sie fort, weine nicht uͤber mich! mir gehts wohl, ich empfehle Dich Gott von Herzen in seine vaͤterlichen Haͤnde, der wolle Dich segnen, und vor allem Boͤsen bewahren! Nun geh’ in Gottes Namen! Stilling riß sich los, lief aus dem Hause weg, und ist auch seitdem nicht wieder dahin gekommen. Einige Tage nachher starb Margarethe Stilling ; sie liegt zu Florenburg neben ihrem Mann begraben. Nun war’s Stilling , als wenn ihm sein Vaterland zu- wider waͤre; er machte sich fort und eilte wieder in die Fremde, kam auch bei Herrn Spanier wieder an, nachdem er fuͤnf Tage ausgeblieben war. Ich will mich mit Stillings einfoͤrmiger Lebensart und Verrichtungen, die ersten vier Jahre durch, nicht aufhalten, sondern ich gehe zu wichtigern Sachen uͤber. Er war nun schon eine geraume Zeit her mit der Information und Herrn Spaniers Geschaͤften umgegangen; er ruͤckte immer mehr und mehr in seinen Jahren fort, und es begann ihm zuweilen einzufallen: was doch wohl am Ende noch aus ihm werden wuͤrde? — Mit dem Handwerk war’s nun gar aus, er hatte es in einigen Jahren nicht mehr versucht, und die Unterwei- sung der Jugend war ihm ebenfalls verdrießlich, er war ihrer von Herzen muͤde, und er fuͤhlte, daß er nicht dazu gemacht war; denn er war geschaͤftig und wirksam. Die Kaufmann- schaft gefiel ihm auch nicht, denn er sah wohl ein, daß er sich gar nicht dazu schicken wuͤrde, bestaͤndig fort mit derglei- chen Sachen umzugehen, dieser Beruf war seinem Grundtrieb zuwider; doch wurde er weder verdrießlich noch melancholisch, sondern er erwartete, was Gott aus ihm machen wuͤrde. Einsmals an einem Fruͤhlingsmorgen, im Jahr 1768, saß er nach dem Kaffeetrinken am Tisch; die Kinder liefen noch eine Weile im Hof herum, er griff hinter sich nach einem Buch, und es fiel ihm just Reizens Historie der Wiederge- bornen in die Hand, er blaͤtterte ein wenig darinnen herum ohne Absicht und ohne Nachdenken; indem fiel ihm die Ge- schichte eines Mannes ins Gesicht, der in Griechenland gereist war, um daselbst die Ueberbleibsel der ersten christlichen Gemein- den zu untersuchen. Die Geschichte las er zum Zeitvertreib. Als er dahin kam, wo der Mann auf seinem Todtbette noch seine Lust an der griechischen Sprache bezeugte, und besonders bei dem Wort Eilikrineia so ein vortreffliches Gefuͤhl hatte, so war es Stilling , als wenn er aus einem tiefen Schlaf erwachte. Das Wort Eilikrineia stand vor ihm, als wenn es in einem Glanz gelegen haͤtte, dabei fuͤhlte er einen unwi- derstehlichen Trieb, die griechische Sprache zu lernen, und ei- nen verborgenen starken Zug zu Etwas, das er noch gar nicht kannte, auch nicht zu sagen wußte, was es war. Er besann sich, und dachte: Was will ich doch mit der griechischen Sprache machen? wozu wird sie mir nutzen? welche ungeheure Arbeit ist das fuͤr mich, in meinem 28sten Jahre noch eine so schwere Sprache zu lernen, die ich noch nicht einmal lesen kann! Allein alle Einwendungen der Vernunft waren ganz frucht- los, sein Trieb dazu war so groß, und die Lust so heftig, daß er nicht genug eilen konnte, um zum Anfang zu kommen. Er sagte dieses alles Herrn Spanier ; dieser bedachte sich ein wenig, endlich sagte er: wenn Ihr Griechisch lernen muͤßt, so lernt es! Stilling machte sich alsofort auf, und ging nach Waldstaͤtt zu einem gewissen vortrefflichen Candidaten der Gottesgelahrtheit, der sein sehr guter Freund war, diesem ent- deckte er alles . Der Candidat freute sich, munterte ihn da- zu auf, und sogar empfahl er ihm die Theologie zu studieren; allein Stilling spuͤrte keine Neigung dazu, sein Freund war auch damit zufrieden, und rieth ihm, auf den Wink Gottes genau zu merken, und demselben, sobald er ihn spuͤrte, blind- lings zu folgen. Nun schenkte er ihm die noͤthigen Buͤcher, die griechische Sprache zu lernen, und wuͤnschte ihm Gottes Segen. Von da ging er auch zu den Predigern, und ent- deckte ihnen sein Vorhaben; diese waren auch sehr wohl da- mit zufrieden, besonders Herr Seelburg versprach ihm alle Huͤlfe und noͤthigen Unterricht, denn er kam alle Woche zwei- mal in Herrn Spaniers Haus. Nun fing Stilling an Griechisch zu lernen. Er applicirte sich mit aller Kraft darauf, bekuͤmmerte sich aber wenig um die Schulmethode, sondern er suchte nur mit Verstand in den Genius der Sprache einzudringen, um das, was er las, recht zu verstehen. Kurz, in fuͤnf Wochen hatte er auch die fuͤnf er- sten Kapitel des Evangeliums Matthaͤi, ohne Fehler gemacht zu haben, ins Lateinische uͤbersetzt, und alle Woͤrter zugleich analisiret. Herr Pastor Seelburg erstaunte und wußte nicht, was er sagen sollte; dieser rechtschaffene Mann unterrichtete ihn nur in der Aussprache, und die faßte er gar bald. Bei die- ser Gelegenheit machte er sich auch ans Hebraͤische, und brachte es auch darin in Kurzem so weit, das er mit Huͤlfe eines Lexi- cons sich helfen konnte; auch hier that Herr Seelburg sein Bestes an ihm. Indessen, daß er mit erstaunlichem Fleiß und Arbeit sich mit diesen Sprachen beschaͤftigte, schwieg Herr Spanier ganz still dazu, und ließ ihn machen; kein Mensch wußte, was aus dem Dinge werden wollte, und er selber wußte es nicht; die mehresten aber glaubten von ihm, er wuͤrde ein Prediger werden. Endlich entwickelte sich die ganze Sache auf einmal. An einem Nachmittag im Junius spazierte Herr Spanier in der Stube auf und ab, wie er zu thun pflegte, wenn er eine wich- tige Sache uͤberlegte; Stilling aber arbeitete an seinen Spra- chen und an der Information. „Hoͤrt, Praͤceptor! fing end- lich Spanier an: mir faͤllt da auf Einmal ein, was Ihr thun sollt, Ihr muͤßt Medicin studiren.“ Ich kann’s nicht aussprechen, wie Stilling bei diesem Vor- schlag zu Muthe war, er konnte sich fast nicht auf den Fuͤßen halten, so daß Herr Spanier erschrack, ihn angriff und sagte: was fehlt Euch? „O Herr Spanier! was soll ich sagen, was soll ich denken? das ists, wozu ich bestimmt bin. Ja, ich fuͤhle in meiner Seele, das ist das große Ding, das immer vor mir verborgen gewesen, das ich so lange gesucht, und nicht habe finden koͤnnen! Dazu hat mich der himmlische Vater von Jugend auf durch schwere und scharfe Pruͤfungen vorbereiten wollen. Gelobet sey der barmherzige Gott, daß er mir doch endlich seinen Willen offenbaret hat, nun will ich auch ge- trost seinem Wink folgen. Hierauf lief er nach seiner Schlafkammer, fiel auf seine Knie, dankte Gott, und bat den Vater der Menschen, daß er ihn nun den naͤchsten Weg zum bestimmten Zweck fuͤhren moͤchte. Er besann sich auf seine ganze Fuͤhrung, und nun sah er klar ein, warum er eine so ausgesonderte Erziehung ge- nossen, warum er die lateinische Sprache so fruͤh habe lernen muͤssen, warum sein Trieb zur Mathematik und zur Erkennt- niß der verborgenen Kraͤfte der Natur ihm eingeschaffen wor- den, warum er durch viele Leiden beugsam und bequem gemacht worden, allen Menschen zu dienen, warum eine Zeit her seine Lust zur Philosophie so gewachsen, daß er die Logik und Meta- physik habe studieren muͤssen, und warum er endlich zur griechi- schen Sprache solche Neigung bekommen? Nun wußte er seine Bestimmung, und von der Stunde an beschloß er fuͤr sich zu studieren, und so lange Materialien zu sammeln, bis es Gott gefallen wuͤrde, ihn nach der Universitaͤt zu schicken. Herr Spanier gab ihm nun Erlaubniß, des Abends einige Stunden fuͤr sich zu nehmen, er brauchte ihn auch nicht mehr so stark in Handlungsgeschaͤften, damit er Zeit haben moͤchte, zu studieren. Stilling setzte nun mit Gewalt sein Sprach- studium fort, und fing an, sich mit der Anatomie aus Buͤ- chern bekannt zu machen. Er las Kruͤger ’s Naturlehre, und machte sich Alles, was er las, ganz zu eigen, er suchte sich auch einen Plan zu formiren, wornach er seine Studien ein- richten wolle, und dazu verhalfen ihm einige beruͤhmte Aerzte, mit denen er correspondirte. Mit Einem Wort, alle Discipli- nen der Arzneikunde ging er fuͤr sich so gruͤndlich durch, als es ihm fuͤr die Zeit moͤglich war, damit er sich doch wenigstens allgemeine Begriffe von allen Stuͤcken verschaffen moͤchte. Diese wichtige Neuigkeit schrieb er alsofort an seinen Vater und Oheim. Sein Vater antwortete ihm darauf: daß er ihn der Fuͤhrung Gottes uͤberlasse, nur koͤnne er von seiner Seite auf keine Unterstuͤtzung hoffen, er sollte nur behutsam seyn, damit er sich nicht in ein neues Labyrinth stuͤrzen moͤchte. Sein Oheim aber war ganz unwillig auf ihn, der glaubte ganz gewiß, daß es nur ein bloßer Hang zu neuen Dingen sey, der sicherlich uͤbel ausschlagen wuͤrde. Stilling ließ sich das alles gar nicht anfechten, sondern fuhr nur getrost fort zu studiren. Wo die Mittel herkommen sollten, das uͤberließ er der vaͤter- lichen Vorsehung Gottes. Im folgenden Fruͤhjahr, als er schon ein Jahr studirt hatte, mußte er wieder in Geschaͤften seines Herrn ins Salen’sche Land reisen. Dieses erfreute ihn ungemein, denn er hoffte jetzt, seine Freunde muͤndlich besser zu uͤberzeugen: daß es wirklich der Wille Gottes uͤber ihn sey, die Medicin zu studiren. Er ging also des Morgens fruͤh fort, und des Nachmittags kam er bei seinem Oheim zu Lichthausen an. Dieser ehrliche Mann fing alsofort, nach der Bewillkommung an, mit ihm zu disputiren wegen seines neuen Vorhabens. Die ganze Frage war: wo soll das viele Geld herkommen, als zu einem so weitlaͤufigen und kostbaren Studium erfordert wird? — Stil- ling beantwortete diese Frage immer mit seinem Symbolum: jehovah jireh (der Herr wird’s versehen). Des andern Morgens ging er auch zu seinem Vater; die- ser war ebenfalls sorgfaͤltig, und fuͤrchtete, er moͤchte in diesem wichtigen Vorhaben scheitern: doch disputirte er nicht mit ihm, sondern uͤberließ ihn seinem Schicksal. Nachdem er nun seine Geschaͤfte verrichtet hatte, ging er wieder zu seinem Vater, nahm Abschied von ihm, und darauf zu seinem Oheim. Dieser war aber in ein paar Tagen ganz veraͤndert. Stilling erstaunte daruͤber, noch mehr aber, als er die Ursache vernahm. „Ja, sagte Johann Stilling : Ihr muͤßt Medicin studiren, jetzt weiß ich, daß es Gottes Wille ist!“ Um diese Sache in ihrem Ursprung begreifen zu koͤnnen, muß ich eine kleine Ausschweifung machen, die Johann Stilling betrifft. Er war, noch ehe er Landmesser wurde, mit einem sonderbaren Mann, einem katholischen Pfarrer, be- kannt geworden, dieser war ein sehr geschickter Augenarzt, und weit und breit wegen seiner Kuren beruͤhmt. Nun hatte Johann Stillings Frau sehr wehe Augen, deßwegen ging ihr Mann zu Molitor hin, um Etwas fuͤr sie zu holen. Der Pfarrer merkte bald, daß Johann einen offnen Kopf hatte, und deßwegen munterte er ihn auf, sich wacker in der Geometrie zu uͤben. Molitor hatte es gut mit ihm vor, er hatte Anleitung, bei einem sehr reichen und vornehmen Freiherrn Rentmeister zu werden, und dieser Dienst gefiel ihm besser als seine Pfarre. Nun war dieser Freiherr ein großer Liebhaber von der Geometrie, und Willens, alle seine Guͤter auf Charten bringen zu lassen. Hierzu bestimmte Molitor Johann Stilling , und dieses gerieth auch vollkommen. So lange der alte Freiherr lebte, hatten Molitor, Johann Stilling und zuweilen auch Wilhelm Stilling ihr Brod von diesem Herrn; als dieser aber starb, so wurde Molitor abgedankt, und die Landmesserei hatte auch ein Ende. Nun wurde Molitor in seinem Alter Vikarius in einem Staͤdtchen, welches vier Stunden von Lichthausen nord- waͤrts liegt. Seine meiste Beschaͤftigung bestand in chymischen Arbeiten und Augenkuren, worinnen er noch immer der beruͤhm- teste Mann in der ganzen Gegend war. Just nun waͤhrend der Zeit, daß Heinrich Stilling in Geschaͤften seines Herrn im Salen’schen Lande war, schrieb der alte Herr Molitor an Johann Stilling „daß er alle seine Geheimnisse fuͤr die Augen ganz getreu und um- staͤndlich, ihren Gebrauch und Zubereitung sowohl, als auch die Erklaͤrung der vornehmsten Augenkrankheiten, nebst ihrer Heilmethode, aufgesetzt habe. Da er nun alt und nah an seinem Ende sey, so wuͤnschte er, dieses gewiß herrliche Ma- nuscript in guten Haͤnden zu sehen. In Betracht nun der festen und genauen Freundschaft, welche unter ihnen Beiden, ohngeachtet der Religionsungleichheit, ununterbrochen fortge- waͤhrt habe, wollte er ihn freundlich ersuchen, ihm zu melden: ob nicht Jemand Rechtschaffenes in seiner Familie sey, der wohl Lust haͤtte, die Arzneiwissenschaft zu studieren, den sollte er zu ihm schicken, er waͤre bereit, demselben alsofort das Manuscript nebst noch andern schoͤnen medicinischen Sachen zu uͤbergeben, und zwar ganz umsonst, doch mit dem Beding, daß er ein Handgeluͤbde thun muͤßte, jederzeit arme Nothlei- dende umsonst damit zu bedienen. Nur muͤßte es Jemand seyn, der Medicin studiren wollte, damit die Sachen nicht un- ter Pfuschers Haͤnde gerathen moͤchten.“ Dieser Brief hatte Johann Stilling in Absicht auf seinen Vetter ganz umgeschmolzen. Daß er just in diesem Zeitpunkt ankam, und daß Herr Molitor just in dieser Zeit, da sein Vetter studiren wollte, auf den Einfall kam, das schien ihm ein ganz uͤberzeugender Beweis zu seyn, daß Gott die Hand mit im Spiel habe; deßwegen sprach er auch zu Stillingen : Les’t diesen Brief, Vetter! ich habe nichts mehr gegen Euer Vorhaben einzuwenden; ich sehe, es ist Gottes Finger. Alsofort schrieb Johann Stilling einen sehr freundschaft- lichen und dankbaren Brief an Herrn Molitor , und empfahl ihm seinen Vetter auf’s Beste. Mit diesem Brief wanderte des andern Morgens Stilling nach dem Staͤdtchen hin, wo Molitor wohnte. Als er dahin kam, fragte er nach die- sem Herrn; man wies ihm ein kleines niedliches Haͤuschen. Stilling schellte, und eine betagte Frauensperson that ihm die Thuͤre auf, und fragte: Wer er waͤre? Er antwortete: ich heiße Stilling und hab’ Etwas mit dem Herrn Pastor zu sprechen. Sie ging hinauf; nun kam der alte Greis selber, bewillkommte Stilling , und fuͤhrte ihn hinauf in sein klei- nes Kabinettchen. Hier uͤberreichtr er seinen Brief. Nachdem Molitor denselben gelesen hatte, so umarmte er Stillin- gen , und erkundigte sich nach seinen Umstaͤnden und nach sei- nem Vorhaben. Er blieb diesen ganzen Tag bei ihm, besahe das niedliche Laboratorium, seine bequeme Augen-Apotheke, und seine kleine Bibliothek. Dieses alles, sagte Herr Molitor , will ich Ihnen in meinem Testament vermachen, eh ich sterbe. So verbrachten sie diesen Tag recht vergnuͤgt zusammen. Des andern Morgens fruͤh gab Molitor das Manuscript an Stillingen ab, doch mit dem Beding, daß er’s abschrei- ben, und ihm das Original wieder zustellen sollte; dagegen ge- lobte Molitor mit einem theuren Eid, daß er’s Niemand weiter geben, sondern es so verbergen wollte, daß es niemals Jemand wieder finden koͤnnte. Ueberdieß hatte der ehrliche Greis noch verschiedene Buͤcher apart gestellt, die er Stil- ling mit naͤchstem zu schicken versprach; allein dieser packte sie in seinen Reisesack, nahm sie auf seinen Buckel und trug sie fort. Molitor begleitete ihn bis vor das Thor, da sah er auf gen Himmel, faßte Stilling an der Hand, und sagte: „Der Herr! der Heilige! der Ueberallgegenwaͤrtige! bewirke Sie durch seinen heiligen Geist zum besten Menschen, zum besten Christen, und zum besten Arzt!“ Hierauf kuͤßten sie sich, und schieden von einander. Stilling vergoß Thraͤnen bei diesem Abschied, und dankte Gott fuͤr diesen vortrefflichen Freund. Er hatte zehn Stunden bis zu Herrn Spanier hin; diese machte er noch heute ab, und kam des Abends, schwer mit Buͤchern beladen, zu Hause an. Er erzaͤhlte seinem Patron den neuen Vorfall; dieser be- wunderte mit ihm die sonderbare Fuͤhrung und Leitung Gottes. Nun begab sich Stilling ans Abschreiben. In vier Wo- chen hatte er dieses, bei seinen Geschaͤften, vollendet. Er packte also ein Pfund guten Thee, ein Pfund Zucker, und sonst noch ein und anderes in den Reisesack, desgleichen auch die beiden Mannscripte, und ging an einem fruͤhen Morgen wieder fort, um seinen Freund Molitor zu besuchen, und ihm sein Manuscript wieder zu bringen. Am Nachmittag kam er vor seiner Hausthuͤr an und schellte; er wartete ein wenig, schellte wieder, aber es that ihm Niemand auf. In- dessen stand eine Frau in einem Hause gegenuͤber an der Thuͤr, die fragte: Zu wem er wollte? Stilling antwortete: Zu dem Herrn Pastor Molitor . Die Frau sagte: der ist seit acht Tagen in der Ewigkeit! — Stilling erschrack, daß er blaß wurde, er ging in ein Wirthshaus, wo er sich nach Moli- tors Todesumstaͤnden erkundigte, und wer sein Testament aus- zufuͤhren haͤtte. Hier hoͤrte er: daß er ploͤtzlich am Schlag gestorben, und kein Testament vorhanden waͤre. Stilling kehrte also mit seinem Reisesack wieder um, und ging noch vier Stunden zuruͤck, wo er in einem Staͤdtchen bei einem gu- ten Freund uͤbernachtete, so daß er fruͤhzeitig des andern Ta- ges wieder zu Haus war. Den ganzen Weg durch konnte er sich des Weinens nicht enthalten, ja er haͤtte gern auf Moli- tors Grab geweint, wenn der Zugang zu seiner Gruft nicht verschlossen gewesen waͤre. Sobald er zu Hause war, fing er an, die molitorischen Me- dicamente zu bereiten. Nun hatte Herr Spanier einen Knecht, dessen Knabe von zwoͤlf Jahren seit langer Zeit sehr wehe Augen gehabt; an diesem machte Stilling seinen er- sten Versuch, und der gerieth vortrefflich, so daß der Knabe in kurzer Zeit heil wurde; daher kam er bald in eine ordent- liche Praxis, so daß er viel zu thun hatte, und gegen den herbst schon hatte sich das Geruͤcht von seinen Kuren vier Stunden umher, bis nach Schoͤnenthal , verbreitet. Meister Isaac zu Waldstaͤtt sah seines Freundes Gang und Schicksale mit an, und freute sich von Herzen uͤber ihn, ja er schwamm in Vergnuͤgen, wenn er sich vorstellte, wie er dermaleins den Doctor Stilling besuchen, und sich mit ihm ergoͤtzen wollte. Allein Gott machte einen Strich durch diese Rechnung, denn Meister Isaac wurde krank, Stil- ling besuchte ihn fleißig, und sah mit Schmerzen seinen na- ben Tod. Den letzten Tag vor seinem Abschied saß Stil- ling am Bette seines Freundes; Isaac richtete sich auf, faßte ihn an der Hand, und sprach: Freund Stilling ! ich werde sterben, und eine Frau mit vier Kindern hinterlassen, fuͤr ihren Unterhalt sorge ich nicht, denn der Herr wird sie versorgen; aber, ob sie in des Herrn Wege wandeln werden, das weiß ich nicht, und darum trage ich Ihnen die Aufsicht uͤber sie auf, stehen Sie ihnen mit Rath und That bei, der Herr wirds Ihnen vergelten. Stilling versprach das von Herzen gerne, so lange als seine Aufsicht moͤglich seyn wuͤrde. Isaac fuhr fort: wenn Sie von Herrn Spanier wegzie- hen werden, so entlasse ich Sie Ihres Versprechens, — jetzt aber bitte ich Sie: denken Sie immer in Liebe an mich, und leben Sie so, daß wir im Himmel ewig vereint seyn koͤnnen. Stilling vergoß Thraͤnen, und sagte: Bitten Sie fuͤr mich um Gnade und Kraft! Ja! sagte Isaac : das werde ich erst thun, wenn ich werde vollendet haben, jetzt hab’ ich mit mir selber genug zu schaffen. Stilling ver- muthete sein Ende noch so gar nahe nicht, daher ging er von ihm weg, und versprach morgen wieder zu kommen; allein diese Nacht starb er. Stilling ging bei seinem Leichen-Con- duct der Vorderste, weil er keine Anverwandten hatte; er weinte uͤber seinem Grabe, und betrauerte ihn als einen Bru- der. Seine Frau starb nicht lange nach ihm, seine Kinder aber sind alle recht wohl versorgt. Nachdem nun Stilling beinahe sechs Jahre bei Herrn Spanier in Condition gewesen war, und dabei die Augen- kuren fortsetzte, so trug es sich bisweilen zu, daß sein Herr mit ihm von einem bequemen Plan redete, nach welchem er sich mit seinem Studiren zu richten haͤtte. Herr Spauier schlug ihm vor: er sollte noch einige Jahre bei ihm bleiben, und so fuͤr sich studiren, alsdann wolle er ihm ein paar hundert Reichsthaler geben, damit koͤnne er nach einer Uni- versitaͤt reisen, sich examiniren und promoviren lassen, und nach einem Vierteljahr wieder kommen, und so bei Herrn Spanier ferner wohnen bleiben. Was er dann weiter mit ihm vor hatte, ist mir nicht bekannt worden. Dieser Plan gefiel Stilling ganz, zumalen aber nicht. Sein Zweck war, die Medicin auf einer Universitaͤt aus dem Grunde zu studiren; er zweifelte auch nicht, der Gott, der ihn dazu berufen habe, der wuͤrde ihm auch Mittel und Wege an die Hand geben, daß er’s ausfuͤhren koͤnne. Hiermit war aber Spanier nicht zufrieden, und deßwegen schwiegen sie Beide endlich ganz still von der Sache. Im Herbst des Jahres 1769, als Stilling eben sein dreißigstes Jahr angetreten hatte, und sechs Jahre bei Herrn Spanier gewesen war, bekam er von einem Kaufmann zu Rasenheim , eine Stunde diesseits Schoͤnenthal , der sich Friedenberg schrieb, einen Brief, worin ihn dieser Mann ersuchte, so bald als moͤglich nach Rasenheim zu kom- men, weil einer seiner Nachbarn einen Sohn habe, der seit einigen Jahren mit boͤsen Augen behaftet gewesen, und Ge- fahr laufe, blind zu werden. Herr Spanier trieb ihn an, alsofort zu gehen. Stilling that das, und nach drei Stun- den kam er Vormittags bei Herrn Friedenberg zu Ra- senheim an. Dieser Mann bewohnte ein schoͤnes niedliches Haus, welches er vor ganz kurzer Zeit hatte bauen lassen. Die Gegend, wo er wohnte, war uͤberaus angenehm. Sobald Stilling in das Haus trat, und uͤberall Ordnung, Rein- lichkeit und Zierde ohne Pracht bemerkte, so freute er sich, und fuͤhlte, daß er da wuͤrde wohnen koͤnnen. Als er aber in die Stube trat, und Herrn Friedenberg selber nebst seiner Gattin und neun schoͤnen wohlgewachsenen Kindern so der Reihe nach sahe, wie sie Alle zusammen nett und zierlich, aber ohne Pracht gekleidet, da gingen und standen, wie alle Gesichter Wahrheit, Rechtschaffenheit und Heiterkeit um sich strahlten, so war er ganz entzuͤckt, und nun wuͤnschte er wirk- lich, ewig bei diesen Leuten zu wohnen. Da war kein Trei- ben, kein Ungestuͤmm, sondern eitel wirksame Thaͤtigkeit aus Harmonie und gutem Willen. Herr Friedenberg bot ihm freundlich die Hand, und noͤthigte ihn zum Mittagessen. Stilling nahm das Auer- bieten mit Freuden an. So wie er mit diesen Leuten redete, so entdeckte sich alsofort eine unaussprechliche Uebereinstimmung der Geister; alle liebten Stilling in dem Augenblick, und er liebte auch sie Alle uͤber die Maßen. Sein ganzes Gespraͤch mit Herrn und Frau Friedenberg war bloß vom Christen- thum und der wahren Gottseligkeit, wovon diese Leute ganz und allein Werk machten. Nach dem Essen ging Herr Friedenberg mit ihm zum Patienten, welchen er besorgte, und darauf wieder mit seinem Freund zuruͤck, um Kaffee zu trinken. Mit Einem Wort, diese drei Gemuͤther, Herr und Frau Friedenberg und Stil- ling schlossen sich fest zusammen, wurden ewige Freunde, ohne sich es sagen zu duͤrfen. Des Abends ging Letzterer wieder zu- ruͤck an seinen Ort, allein er fuͤhlte etwas Leeres nach diesem Tage, er hatte seit der Zeit seiner Jugend nie wieder eine solche Haushaltung angetroffen, er haͤtte gern naͤher bei Herrn Frie- denberg gewohnt, um mehr mit ihm und seinen Leuten um- gehen zu koͤnnen. Indessen fing der Patient zu Rasenheim an, sich zu bessern, und es fanden sich mehrere in dasigen Gegenden, sogar in Schoͤ- neuthal selbst, die seiner Huͤlfe begehrten; daher beschloß er, mit Genehmigung des Herrn Spaniers , alle vierzehn Tage des Samstags Nachmittags wegzugehen, um seine Patienten zu besuchen, und des Montags Morgens wieder zu kommen. Er richtete es deßwegen so ein, daß er des Samstags Abends bei Herrn Friedenberg ankam, des Sonntags Morgens ging er dann umher, und bis nach Schoͤnenthal , besuchte seine Kranken, und des Sonntags Abends kam er wieder nach Ra- senheim , von wo er des Montags Morgens wieder nach Hause ging. Bei diesen vielfaͤltigen Besuchen wurde seine genaue Ver- bindung mit Herrn Friedenberg und seinem Hause immer staͤrker; er erlangte auch eine schoͤne Bekanntschaft in Schoͤ- nenthal mit vielen frommen gottesfuͤrchtigen Leuten, die ihn Sonntags Mittags wechselweise zum Essen einluden, und sich mit ihm vom Christenthum und andern guten Sachen unterredeten. Dieses dauerte so fort, bis in den Februar des folgenden Jah- res 1770, als Frau Friedenberg mit einem jungen Toͤchter- lein entbunden wurde; diese frohe Neuigkeit machte Herr Frie- denberg nicht nur seinem Freunde Stilling bekannt, son- dern er ersuchte ihn sogar, des folgenden Freitags als Gevat- ter bei seinem Kinde an der Taufe zu stehen. Dieses machte Stillingen ungemeine Freude. Herr Spanier konnte in- dessen nicht begreifen, wie ein Kaufmann dazu komme, den Bedienten eines andern Kaufmanns zu Gevatter zu bitten; allein Stillingen wunderte das nicht, denn Herr Frie- denberg und er wußten von keinem Unterschied des Stan- des mehr, sie waren Bruͤder. Zur bestimmten Zeit ging also Stilling hin, um der Taufe beizuwohnen. Nun hatte aber Herr Friedenberg eine Tochter, welche die aͤlteste unter seinen Kindern, und da- mals im ein und zwanzigsten Jahr war. Dieses Maͤdchen hatte von ihrer Jugend an die Stille und Eingezogenheit ge- liebt, und deßwegen war sie bloͤde gegen alle fremde Leute, besonders wenn sie etwas vornehmer gekleidet waren, als sie gewohnt war. Ob dieser Umstand zwar in Ansehung Stil- lings nicht im Wege stand, so vermied sie ihn doch, so viel sie konnte, so daß er sie wenig zu sehen bekam. Ihre ganze Beschaͤftigung hatte von Jugend auf in anstaͤndigen Hausge- schaͤften, und dem noͤthigen Unterricht in der christlichen Re- ligion nach dem evangelisch-lutherischen Bekenntniß, nebst Schreiben und Lesen bestanden; mit Einem Worte, sie war ein niedliches, artiges, junges Maͤdchen, die eben nirgends in der Welt gewesen war, um nach der Mode leben zu koͤnnen, deren gutes Herz aber alle diese, einem rechtschaffenen Mann unbedeutende Kleinigkeiten reichlich ersetzte. Stilling hatte diese Jungfer vor den andern Kindern seines Freundes nicht vorzuͤglich bemerkt, er fand in sich kei- nen Trieb dazu, und er durfte auch an so Etwas nicht den- ken, weil er noch vorher weit aussehende Dinge aus dem Wege zu raͤumen hatte. Dieses liebenswuͤrdige Maͤdchen hieß Christine . Sie war seit einiger Zeit sehr krank gewesen, und die Aerzte zweifelten Alle an ihrem Aufkommen. Wenn nun Stilling nach Ra- senheim kam, so fragte er nach ihr, als nach der Tochter seines Freundes; da ihm aber niemand Anlaß gab, sie auf ihrem Zimmer zu besuchen, so dachte er auch nicht daran. Diesen Abend aber, nachdem die Kindtaufe geendigt war, stopfte Herr Friedenberg seine lange Pfeife, und fragte seinen neuen Gevatter: Gefaͤllt es Ihnen, einmal mit mir meine kranke Tochter zu besuchen? Mich verlangt, was Sie von ihr sagen werden, Sie haben doch schon mehr Erkennt- niß von Krankheiten, als ein Anderer. Stilling war dazu willig; sie gingen hinauf ins Zimmer der Kranken. Sie lag matt und elend im Bett, doch hatte sie noch viele Munter- keit des Geistes. Sie richtete sich auf, gab Stilling die Hand, und hieß ihn sitzen. Beide setzten sich also an’s Nachttischchen am Bett. Christine schaͤmte sich jetzt vor Stillingen nicht, sondern sie redete mit ihm von allerhand, das Christenthum betreffende Sachen. Sie wurde ganz auf- geraͤumt und vertraulich. Nun hatte sie oft bedenkliche Zufaͤlle, deßwegen mußte Jemand des Nachts bei ihr wachen; dieses geschah aber auch zum Theil deßwegen, weil sie nicht viel schlafen konnte. Als nun Beide eine Weile bei ihr gesessen hatten, und eben weggehen wollten, so ersuchte die kranke Jungfer ihren Vater: ob er wohl erlauben wollte, daß Stil- ling mit ihrem aͤltern Bruder diese Nacht bei ihr wachen moͤchte? Herr Friedenberg gab das sehr gerne zu, mit dem Beding aber, wenn es Stillingen nicht zuwider sey. Dieser leistete sowohl der Kranken, als auch den Ihrigen die- sen Freundschaftsdienst gerne. Er begab sich also, mit dem aͤltesten Sohn des Abends um neun Uhr auf ihr Zimmer; Beide setzten sich vor das Bett an’s Nachttischchen, und spra- chen mit ihr von allerhand Sachen, um sich die Zeit zu ver- treiben, zuweilen lasen sie auch Etwas dazwischen. Des Nachts um Ein Uhr sagte die Kranke zu ihren beiden Waͤchtern: sie moͤchten ein wenig still seyn, sie glaubte etwas schlafen zu koͤnnen. Dieses geschah. Der junge Herr Frie- denberg schlich indessen herab, um etwas Kaffee zu besor- gen; er blieb aber ziemlich lang aus, und Stilling begann auf seinem Stuhl zu nicken. Nach etwa einer Stunde regte sich die Kranke wieder. Stilling schob die Gardine ein wenig von einander, und fragte sie: ob sie geschlafen habe? Sie antwortete: Ich hab’ so wie im Taumel gelegen. „Hoͤ- ren Sie, Herr Stilling ! ich habe einen sehr lebhaften Ein- druck in mein Gemuͤth bekommen, von einer Sache, die ich Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 17 aber nicht sagen darf, bis zur einer andern Zeit.“ Bei diesen Worten wurde Stilling ganz starr, er fuͤhlte vom Scheitel bis unter die Fußsohle eine noch nie empfundene Erschuͤtterung, und auf einmal fuhr ihm ein Strahl durch die Seele wie ein Blitz. Es wurde ihm klar in seinem Gemuͤth, was jetzt der Wille Gottes sey, und was die Worte der kranken Jungfer be- deuteten. Mit Thraͤnen in den Augen stand er auf, buͤckte sich in’s Bett, und sagte: „Ich weiß es, liebe Jungfer, was sie fuͤr einen Eindruck bekommen hat, und was der Wille Gottes ist.“ Sie fuhr auf, reckte ihre Hand heraus, und versetzte: „Wissen Sie’s?“ — Damit schlug Stilling seine rechte Hand in die ihrige, und sprach: „Gott im Himmel segne uns! Wir sind auf ewig verbunden!“ — Sie antwortete: „Ja! wir sind’s auf ewig!“ — Alsbald kam der Bruder, und brachte den Kaffee, setzte ihn hin, und alle Drei tranken zusammen. Die Kranke war ganz ruhig wie vorher; sie war weder freudiger noch trauriger, so, als wenn nichts Sonderliches vorgefallen waͤre. Stilling aber war wie ein Trunkener, er wußte nicht, ob er gewacht oder getraͤumt hatte, er konnte sich uͤber diesen unerhoͤrten Vorfall weder besinnen noch nachdenken. Indessen fuͤhlte er doch eine unbeschreiblich zaͤrtliche Neigung in seiner Seele gegen die theure Kranke, so daß er mit Freuden sein Leben fuͤr sie wuͤrde auf- opfern koͤnnen, wenn’s noͤthig waͤre, und diese reine Flamme war so, ohne angezuͤndet zu werden, wie ein Feuer vom Him- mel auf sein Herz gefallen; denn gewiß, seine Verlobte hatte jetzt weder Reize, noch Willen zu reizen, und er war in einer solchen Lage, wo ihm vor dem Gedanken zu heirathen schauderte. Doch, wie gesagt: er war betaͤubt, und konnte uͤber seinen Zu- stand nicht eher nachdenken, bis des andern Morgens, da er wie- der zuruͤck nach Hause reiste. Er nahm vorher zaͤrtlich Ab- schied von seiner Geliebten, bei welcher Gelegenheit er seine Furcht aͤußerte; allein sie war ganz getrost bei der Sache, und ver- setzte: „Gott hat gewiß die Sache angefangen, Er wird sie auch gewiß vollenden!“ Unterwegs fing nun Stilling an, vernuͤnftig uͤber seinen Zustand nachzudenken, die ganze Sache kam ihm entsetzlich vor. Er war uͤberzeugt, daß Herr Spanier , sobald er diesen Schritt erfahren wuͤrde, alsofort seinen Beistand von ihm abziehen, und ihn abdanken wuͤrde, folglich waͤr er dann ohne Brod, und wieder in seine vorigen Umstaͤnde versetzt. Ueber das konnte er sich unmoͤglich vorstellen, daß Herr Friedenberg mit ihm zufrieden seyn wuͤrde; denn in solchen Umstaͤnden sich mit seiner Tochter zu verloben, wo er fuͤr sich selber kein Brod verdienen, geschweige Frau und Kinder ernaͤhren konnte, ja sogar ein großes Kapital noͤthig hatte, das war eigentlich ein schlechtes Freundschaftsstuͤck, es konnte vielmehr als ein er- schrecklicher Mißbrauch derselben angesehen werden. Diese Vor- stellungen machten Stillingen herzlich angst, und er fuͤrch- tete, in noch beschwerlichere Umstaͤnde zu gerathen, als er jemals erlebt hatte. Es war ihm wie einem, der auf einen hohen Felsen am Meer geklettert ist, und, ohne Gefahr zer- schmettert zu werden, nicht herab kommen kann, er wagt’s und springt ins Meer, ob er sich mit Schwimmen noch ret- ten moͤchte. Stilling wußte auch keinen andern Rath mehr; er warf sich mit seinem Maͤdchen in die Arme der vaͤterlichen Fuͤr- sorge Gottes, und nun war er ruhig; er beschloß aber den- noch, weder Herrn Spanier noch sonst Jemand in der Welt Etwas von diesem Vorfall zu sagen. Herr Friedenberg hatte Stillingen die Erlaubniß gegeben, alle Medicamente in dasigen Gegenden nun an ihn zu fernerer Besorgung zu uͤbermachen; deßwegen schickte er des folgenden Samstags, welches neun Tage nach seiner Verlo- bung war, ein Paͤckchen Medicin an ihn ab, wobei er einen Brief fuͤgte, der ganz aus seinem Herzen geflossen war, und welcher ziemlich entdeckte, was darinnen vorging; ja, was noch mehr war, er schloß sogar ein versiegeltes Schreiben an seine Verlobte darin ein, und alles dieses that er ohne Ueber- legung und Nachdenken, was fuͤr Folgen daraus entstehen koͤnnten; als aber das Paquet fort war, da uͤberdachte er erst, was daraus werden koͤnnte; ihm schlug das Herz, und er wußte sich fast nicht zu fassen. Niemals ist ein Weg fuͤr ihn saurer gewesen, als wie er 17 * acht Tage hernach des Samstags Abends seinen gewoͤhnlichen Gang nach Rasenheim ging. Je naͤher er dem Hause kam, je mehr klopfte sein Herz. Nun trat er zur Stubenthuͤr herein. Christine hatte sich in Etwas erholt; sie war da- selbst mit ihren Eltern und einigen Kindern. Er ging, wie gewoͤhnlich, mit freudigem Blick auf Friedenberg zu, gab ihm die Hand, und dieser empfing ihn mit gewoͤhnlicher Freundschaft, so auch die Frau Friedenberg , und endlich auch Christine. Stilling ging nun wieder heraus, und hinauf nach seinem Schlafzimmer, um ein und anderes, das er bei sich hatte, abzulegen. Ihm war schon ein Band vom Herzen, denn sein Freund hatte entweder nichts gemerkt, oder er war mit der ganzen Sache zufrieden. Er ging nun wieder herunter, und erwartete, was ferner vorging. Als er unten auf die Treppe kam, so winkte ihm Christine , die gegen der Wohnstube uͤber in einer Kammerthuͤr stand; sie schloß die Kammerthuͤr hinter ihm zu, und Beide setzten sich neben einander. Christine fing nun an: „Ach! welchen Schrecken hast Du mir mit Deinen Brie- fen abgejagt! meine Eltern wissen Alles. Hoͤre, ich will Dir alles sagen, wie es ergangen ist. Als die Briefe kamen, war ich in der Stube, mein Vater auch, meine Mutter aber war in der Kammer auf dem Bett. Mein Vater brach den Brief auf, er fand noch einen drinnen an mich, er reichte mir denselben mit den Worten: da ist auch ein Brief an dich. Ich wurde roth, nahm ihn an, und las ihn. Mein Vater las den seinigen auch, schuͤttelte zuweilen den Kopf, stand und bedachte sich, dann las er wieder. Endlich ging er in die Kammer zu meiner Mutter; ich konnte alles ver- stehen, was gesprochen wurde. Mein Vater las ihr den Brief vor. Als er ausgelesen hatte, so lachte meine Mutter, und sagte: Begreifst Du auch wohl, was der Brief bedeutet? er hat Absichten auf unsere Tochter. Mein Vater antwortete: Das ist nicht moͤglich, er ist ja nur eine Nacht mit meinem Sohn bei ihr gewesen, dazu ist sie krank, und doch kommt mir auch der Brief bedenklich vor. Ja, ja! sagte die Mut- ter: denke nicht anders, es ist so. Nun ging mein Vater hinaus, und sagte nichts mehr. Alsbald rief mir meine Mut- ter: Komm Christine ! lege Dich ein wenig zu mir, Du bist gewiß des Sitzens muͤde. Ich ging zu ihr, und legte mich neben sie. Hoͤr’! fing sie an: Hat Gevatter Stilling Neigung zu Dir? Ich sagte rund aus: Ja! das hat er. Sie fuhr fort: Ihr seyd doch noch nicht versprochen? Ja, Mut- ter! antwortete ich: Wir sind auch versprochen; und nun mußte ich weinen. Gott im Himmel! sagte meine Mutter: Wie ist das zugegangen? ihr seyd ja nicht zusammen gewesen! Nun erzaͤhlte ich ihr umstaͤndlich Alles, wie es ergangen ist, und sagte ihr die klare Wahrheit. Sie erstaunte daruͤber, und sagte: Du thust einen harten Angang. Stilling muß noch erst studiren, eh ihr beisammen leben koͤnnt, wie willst Du das aushalten? Du bist ohnehin schwaͤchlichen Gemuͤths und Leibes. Ich ant- wortete: ich will mich schicken, so gut ich kann! der Herr wird mir bestehen! ich muß diesen heirathen; und wenn ihr Eltern mir es verbietet, so will ich euch darin gehorchen, aber einen Andern werde ich nie nehmen. Das wird keine Noth haben, versetzte meine Mutter. Sobald nun meine Eltern wieder allein in der Kammer waren, und ich in der Stube, so erzaͤhlte sie meinem Vater Alles, eben so, wie ich’s ihr erzaͤhlt hatte. Er schwieg lange; endlich fing er an: Das ist mir eine unbeschreib- liche Sache: ich kann nichts dazu sagen. So steht die Sache noch, mein Vater hat mir kein Wort gesagt, weder Gutes noch Boͤses. Nun ist es aber unsere Pflicht, daß wir noch diesen Abend unsere Eltern fragen, und ihre voͤllige Einwilligung er- halten. So eben, wie Du die Treppe herauf gingst, sagte mein Vater zu mir: Geh mit Stilling in die andere Stube allein, du sollst wohl mit ihm zu reden haben. Stillingen huͤpfte das Herz vor Freuden. Er fuͤhlte nun gar wohl, daß seine Sachen einen erwuͤnschten Ausschlag neh- men wuͤrden. Er unterredete sich noch ein Stuͤndchen mit seiner Geliebten; sie verbanden sich noch einmal, mit ineinander ge- schlossenen Armen, zu einer ewigen Treue, und zu einem recht- schaffenen Wandel vor Gott und Menschen. Des Abends nach dem Essen, als alles im Hause schlief, saßen nur noch Herr und Frau Friedenberg nebst Chri- stinen und Stillingen in der Stube. Letzterer fing nun an, und erzaͤhlte getreu den ganzen Vorfall mit den kleinsten Um- staͤnden, und schloß mit diesen Worten : Nun frage ich Sie aufrichtig: „Ob Sie mich von Herzen gern unter die Zahl Ihrer Kinder aufnehmen wollen? ich werde alle kindliche Pflich- ten durch Gottes Gnade treulich erfuͤllen, und ich protestire feierlich gegen alle Huͤlfe und Beistand zu meinem Studiren. Ich begehre bloß Ihre Jungfer Tochter; ja, ich nehme Gott zum Zeugen, daß mir der Gedanke der fuͤrchterlichste ist, den ich haben kann, wenn ich mir vorstelle, daß Sie wohl denken koͤnnten: ich haͤtte bei dieser Verbindung eine unedle Absicht gehabt. Herr Friedenberg seufzte tief, und ein paar Thraͤnen liefen seine Wangen herunter. Ja, sagte er: Herr Gevatter! ich bin damit zufrieden, und nehme Sie willig zu meinem Sohn an; denn ich sehe, daß Gottes Finger in dieser Sache wirkt. Ich kann nichts dawider einwenden; uͤberdem kenne ich Sie, und weiß wohl, daß Sie zu ehrlich sind, um solche unchristliche Absichten zu haben; das muß ich aber noch hinzufuͤgen, daß ich auch gar nicht im Stande dazu bin, Sie studiren zu lassen. Nun wendete er sich zu Christinen , und sagte: Getraust Du dich aber auch, die lange Abwesenheit Deines Geliebten zu er- tragen? Sie antwortete: Ja, Gott wird mir Kraft dazu geben! Nun stand Herr Friedenberg auf, umarmte Stillin- gen , kuͤßte ihn und weinte an seinem Halse: nach ihm that Frau Friedenberg deßgleichen. Die Empfindung laͤßt sich nicht aussprechen, die Stilling dabei fuͤhlte: es war ihm, als wenn er in ein Paradies versetzt wuͤrde. Wo das Geld zu seinem Studiren herkommen sollte, darum bekuͤmmerte er sich gar nicht. Die Worte: der Herr wirds versehen ! waren so tief in seine Seele gegraben, daß er nicht sorgen konnte. Nun ermahnte ihn Herr Friedenberg , daß er noch die- ses Jahr bei Herrn Spanier aushalten, alsdann sich aber folgenden Herbst nach Universitaͤten begeben moͤchte. Stil- lingen war das recht nach seinem Sinn, und ohnehin sein Wille. Endlich beschlossen sie Alle zusammen, diese ganze Sache geheim zu halten, um den schiefen Urtheilen der Men- schen vorzubeugen, und dann durch eifriges Gebet von allen Seiten den Segen von Gott zu diesem wichtigen Vorhaben zu erbitten. Stilling setzte nun bei Herrn Spanier seine Bedienung noch immer fort, deßgleichen seine gewoͤhnlichen Gaͤnge nach Rasen- heim und Schoͤnenthal . Ein Vierteljahr vor Michaelis kuͤndigte er Herrn Spanier sein Vorhaben hoͤflich und freund- schaftlich an, und bat ihn, ihm doch diesen Schritt nicht zu ver- uͤbeln, indem es endlich im dreißigsten Jahr seines Alters einmal Zeit sey, fuͤr sich selber zu sorgen. Herr Spanier antwor- tete zu allem dem nicht Ein Wort, sondern schwieg ganz still; aber von dem an war sein Herz von Stilling ganz abgekehrt, so daß ihm das letzte viertel Jahr noch ziemlich sauer wurde, nicht daß ihm Jemand etwas in den Weg legte, sondern weil die Freundschaft und das Zutrauen ganz hin war. Vier Wochen vor der Frankfurter Herbstmesse nahm also Stilling von seinem bisherigen lieben Patron und dem ganzen Hause Abschied. Herr Spanier weinte blutige Thraͤnen, aber er sagte kein Wort, weder Gutes noch Boͤses. Stilling weinte auch; und so verließ er seine letzte Schule oder Infor- mations-Bedienung, und zog nach Rasenheim zu seinen Freun- den, nachdem er sieben ganze schoͤne Jahre an Einem Ort ruhig verlebt hatte. Herr Spanier hatte seine wahre Absicht mit Stilling nie entdeckt. So wie sein Plan war, nur dem Titel nach Doktor zu werden, ohne hinlaͤngliche Kenntnisse zu haben, das war Stillingen unmoͤglich einzugehen; und entdeckte Spa- nier den Rest seiner Gedanken nicht ganz , so konnte es ja Stilling auch nicht wissen, und noch vielweniger sich darauf verlassen. Ueber das alles fuͤhrte ihn die Vorsehung gleichsam mit Macht und Kraft, ohne sein Mitwirken, so daß er fol- gen mußte, wenn er auch etwas Anders fuͤr sich beschlossen gehabt haͤtte. Was aber noch das Schlimmste fuͤr Stillingen war: er hatte nie einen bestimmten Jahrlohn mit Herrn Spa- nier gemacht; dieser rechtschaffene Mann gab ihm reichlich, was er bedurfte. Nun hatte er sich aber schon Buͤcher und andere Nothwendigkeiten angeschafft, so daß er, wenn er alles rech- nete, ein Ziemliches jaͤhrlich empfangen hatte, deßwegen gab ihm nun Spanier beim Abschied nichts , so daß er ohne Geld bei Friedenberg zu Rasenheim ankam. Dieser zahlte ihm aber alsofort hundert Reichsthaler aus, um sich das Noͤthigste zu seiner Reise dafuͤr anzuschaffen, und das uͤb- rige mitzunehmen. Seine christlichen Freunde zu Schoͤnen- thal aber beschenkten ihn mit einem schoͤnen Kleid, und erbo- ten sich zu fernerm Beistand. Stilling hielt sich nun noch vier Wochen bei seiner Ver- lobten und den Ihrigen auf; waͤhrend dieser Zeit ruͤstete er sich aus, nach der hohen Schule zu ziehen. Er hatte sich noch keinen Ort erwaͤhlt, wohin, sondern er erwartete einen Wink vom himmlischen Vater; denn weil er aus purem Glauben studiren wollte, so durfte er auch in nichts seinem eigenen Willen folgen. Nach drei Wochen ging er noch einmal nach Schoͤnenthal, um seine Freunde daselbst zu besuchen. Als er daselbst an- kam, fragte ihn eine sehr theure und liebe Freundin: „Wohin er zu ziehen Willens waͤre?“ Er antwortete: „Er wuͤßte es nicht.“ „Ey! sagte sie: unser Herr Nachbar Troost reist nach Straßburg , um daselbst einen Winter zu bleiben, rei- sen Sie mit demselben!“ Dieses fiel Stilling aufs Herz; er fuͤhlte, daß dieses der Wink sey, den er erwartet hatte. Indem trat gemeldter Herr Troost in die Stube herein. Al- sofort fing die Freundin gegen ihn an, von Stillingen zu reden. Der liebe Mann freute sich von Herzen uͤber seine Gesellschaft, denn er hatte schon ein und anderes von ihm gehoͤrt. Herr Troost war zu der Zeit ein Mann von vierzig Jah- ren, und noch unverheirathet. Schon zwanzig Jahr war er mit vielem Ruhm Chirurgus in Schoͤnenthal gewesen; allein er war jetzt mit seinen Kenntnissen nicht mehr zufrie- den, sondern er wollte noch einmal zu Straßburg die Ana- tomie durchstudiren, und andere chirurgische Collega hoͤren, um mit neuer Kraft ausgeruͤsttet wieder zu kommen, und sei- nem Naͤchsten desto nuͤtzlicher dienen zu koͤnnen. In seiner Jugend hatte er schon einige Jahre auf dieser beruͤhmten hohen Schule zugebracht, und den Grund zu seiner Wissenschaft gelegt. Dieser war nun der rechte Mann fuͤr Stillingen. Er hatte das edelste und beste Herz von der Welt, das aus lau- ter Menschenliebe und Freundschaft zusammen gesetzt war; da- zu hatte er einen vortrefflichen Charakter, viel Religion und daraus fließende Tugenden. Er kannte die Welt und Straß- burg ; und gewiß, es war ein recht vaͤterlicher Zug der Vor- sehung, daß Stilling just jetzt mit ihm bekannt wurde. Er machte deßwegen alsbald Freundschaft mit Herrn Troost . Sie beschlossen, mit Meß-Kaufleuten nach Frankfurt und von da mit einer Returkutsche nach Straßburg zu fahren; sie bestimmten nun auch den Tag ihrer Abreise, der nach acht Tagen festgesetzt wurde. Stilling hatte schon vorlaͤngst seinem Vater und Oheim im Salen’schen Lande seine fernere wunderbare Fuͤhrung be- kannt gemacht; diese entsetzten sich, erstaunten, fuͤrchteten, hoff- ten und gestanden: daß sie ihn ganz an Gott uͤberlassen muͤß- ten, und daß sie bloß von ferne stehen, und seinen Flug uͤber alle Berge hin, mit Furcht und Zittern ansehen koͤnnten, in- dessen wuͤnschten sie ihm allen erdenklichen Segen. Stillings Lage war jetzt in aller Absicht erschrecklich. Ein jeder Vernuͤnftige setze sich in Gedanken einmal an seine Stelle und empfinde! — Er hatte sich mit einem zaͤrtlichen, frommen, empfindsamen, aber dabei kraͤnklichen Maͤdchen ver- lobt, die er mehr als seine eigene Seele liebte, und diese wurde von allen Aerzten verzehrend erklaͤrt, so daß er sehr fuͤrchten mußte, sie bei seinem Abschied zum letzten Mal zu sehen. Dazu fuͤhlte er alle die schweren Leiden, die ihr zaͤrtlich lieben- des Herz waͤhrend einer so langen Zeit wuͤrde ertragen muͤssen. Sein ganzes kuͤnftiges Gluͤck beruhte nun bloß darauf, ein rechtschaffener Arzt zu werden; und dazu gehoͤrten zum wenig- sten tausend Reichsthaler, wozu keine hundert fuͤr ihn in der ganzen Welt zu finden waren; folglich sah es auch in diesem Fall mißlich mit ihm aus: fehlte es ihm da, so fehlte ihm Alles. Und dennoch, ob sich Stilling gleich dieß alles sehr lebhaft vorstellte, so setzte er doch sein Vertrauen fest auf Gott, und machte diesen Schluß: „Gott faͤngt nichts an, außer er fuͤhrt es auch herrlich aus. Nun ist es aber ewig wahr, daß Er meine gegenwaͤrtige Lage ganz und allein, ohne mein Zuthun so geordnet hat. „Folglich ist es auch ewig wahr, daß er alles mit mir herrlich ausfuͤhren werde.“ Dieser Schluß machte ihn oͤfters so muthig, daß er laͤchelnd gegen seine Freunde zu Rasenheim sagte: „Mich sollte es doch verlangen, wo mein Vater im Himmel Geld fuͤr mich zusammen treiben wird!“ Indessen entdeckte er keinem einzi- gen Menschen weiter seine eigentlichen. Umstaͤnde, besonders Herrn Troost nicht, denn dieser zaͤrtliche Freund wuͤrde groß Bedenken getragen haben, ihn mitzunehmen; oder er wuͤrde wenigstens doch herzliche Sorge fuͤr ihn ausgestanden haben. Endlich ruͤckte der Tag zur Abreise heran, und Christine schwamm in Thraͤnen und wurde zuweilen ohnmaͤchtig, und das ganze Haus trauerte. Am letzten Abend saßen Herr Friedenberg und Stil- ling allein zusammen. Ersterer konnte sich des Weinens nicht enthalten; mit Thraͤnen sagte er zu Stillingen: Lieber Sohn! das Herz ist mir sehr schwer um Euch, wie gern wollte ich euch mit Geld versehen, wenn ich nur koͤnnte, ich habe meine Handlung und Fabrik mit nichts angefangen, nunmehr bin ich eben so weit, daß ich mir helfen kann; wenn ich Euch aber wollte studieren lassen, so wuͤrde ich mich ganz zuruͤck setzen. Und dazu habe ich zehen Kinder, was ich dem Ersten thue, das bin ich hernach Allen schuldig. Hoͤren Sie, Herr Schwiegervater! antwortete Stilling mit frohem Muth und froͤhlichem Gesicht: ich begehre keinen Hel- ler von Ihnen, glauben Sie nur gewiß: Derjenige, der in der Wuͤste so viel tausend Menschen mit wenig Brod saͤttigen konnte, der lebt noch, dem uͤbergebe ich mich. Er wird ge- wiß Rath schaffen. Sorgen Sie nur nicht, „der Herr wird’s versehen!“ Nun hatte er seine Buͤcher, Kleider und Geraͤthe voraus nach Frankfurt geschickt; und des andern Morgens, nach- dem er mit seinen Freunden gefruͤhstuͤckt hatte, lief er hinauf nach der Kammer seiner Christine: sie saß und weinte. Er ergriff sie in seine Arme, kuͤßte sie und sagte: „Lebe wohl, mein Engel! Der Herr staͤrke und erhalte Dich im Segen und Wohlergehen, bis wir uns wieder sehen!“ — und so lief er zur Thuͤr hinaus. Nun letzte er sich mit einem Jeden, lief fort, und weinte sich unterwegs satt. Der aͤltere Bruder sei- ner Geliebten begleitete ihn bis Schoͤnenthal . Nun kehrte auch dieser traurig um, und Stilling begab sich zu seinen Reisegefaͤhrten. Ich will mich mit der Reisegeschichte nach Frankfurt weiter nicht aufhalten. Sie kamen alle gluͤcklich daselbst an, außer daß sie in der Gegend von Ellefeld auf dem Rhein einen heftigen Schrecken ausgestanden hatten. Vierzig Reichsthaler waren Stillings ganze Habseligkeit ge- wesen, wie er von Rasenheim weggereist war. Nun muß- ten sie sich eilf Tage in Frankfurt aufhalten und auf Ge- legenheit warten, besonders auch weil Herr Troost nicht eher fortkommen konnte; daher schmolz sein Geld so zusammen, daß er zwei Tage vor seiner Abreise nach Straßburg noch einen einzelnen Reichsthaler hatte, und dieser war sein Vor- rath, den er in der Welt wußte. Er entdeckte Niemand et- was, sondern wartete auf den Wink des himmlischen Vaters. Doch fand er bei allem seinem Muth nirgends recht Ruhe, er spazierte umher, und betete innerlich zu Gott; indessen gerieth er auf den Roͤmerberg, daselbst begegnete ihm ein Schoͤnen- thaler Kaufmann, der ihn wohl kannte, und auch sein Freund war; diesen will ich Liebmann nennen. Herr Liebmann also gruͤßte ihn freundlich, und fragte, wie’s ihm ginge? Er antwortete: Recht gut! Das freut mich, versetzte Jener: Kommen Sie diesen Abend auf mein Zimmer, und speisen Sie mit mir, was ich habe! Stilling versprach das. Nun zeigte ihm Herr Liebmann , wo er logirte. Des Abends ging er an den bestimmten Ort. Nach dem Essen fing Herr Liebmann an: Sagen Sie mir doch, mein Freund! wo bekommen Sie Geld her zum Studieren? Stil- ling laͤchelte, und antwortete: „Ich habe einen reichen Va- ter im Himmel, der wird mich versorgen.“ Herr Liebmann sah ihn an, und erwiederte: Wie viel haben Sie noch? Stil- ling versetzte: „Einen Reichsthaler, — und das ist Alles!“ So! — fuhr Liebmann fort: ich bin einer von Ihres Va- ters Rentmeistern, ich werde also jetzt einmal den Beutel ziehen. Damit zaͤhlte er Stillingen drei und dreißig Reichs- thaler hin, und sagte: mehr kann ich fuͤr jetzt nicht missen. Sie werden uͤberall Huͤlfe finden. Koͤnnen sie mir das Geld einstens wieder geben, gut! wo nicht, auch gut — Stilling fuͤhlte heiße Thraͤnen in seinen Augen. Er dankte herzlich fuͤr diese Liebe, und versetzte: „Das ist reich genug, ich wuͤnsche nicht mehr zu haben.“ Diese erste Probe machte ihn so muthig, daß er gar nicht mehr zweifelte, Gott wuͤrde ihm gewiß durch Alles durchhelfen. Er erhielt auch Briefe von Rasenheim von Herrn Friedenberg und von Christinen . Diese hatte Muth gefaßt, und standhaft beschlossen, geduldig auszuharren. Friedenberg aber schrieb ihm in den aller- zaͤrtlichsten Ausdruͤcken, und empfahl ihn der vaͤterlichen Fuͤr- sorge Gottes. Er beantwortete gleichfalls beide Briefe mit al- ler moͤglichen Zaͤrtlichkeit und Liebe. Von seiner ersten Glau- bensprobe aber meldete er nichts, sondern schrieb nur, daß er Ueberfluß habe. Nach zwei Tagen fand Herr Troost eine Returkutsche nach Mannheim , welche er fuͤr sich und Stilling , nebst noch einen redlichen Kaufmann von Luzern aus der Schweiz, mie- thete. Nun nahmen sie wiederum von allen Bekannten und Freunden Abschied, setzten sich ein und reisten im Namen Gottes weiter. Um sich nun einander die Zeit zu verkuͤrzen, erzaͤhlte ein Jeder, was er wußte. Der Schweizer wurde so vertraulich, daß er unsern beiden Reisenden sein ganzes Herz entdeckte. Stilling wurde dadurch geruͤhrt, und er erzaͤhlte seine ganze Lebensgeschichte mit allen Umstaͤnden, so daß der Schweizer oft die milden Thraͤnen fallen ließ. Herr Troost selber hatte sie noch nicht gehoͤrt, er wurde auch sehr geruͤhrt, und seine Liebe zu Stillingen wurde desto groͤßer. Zu Mannheim nahmen sie wieder eine Returkutsche bis Straßburg . Als sie zwischen Speyer und Lauterburg in den großen Wald kamen, stieg Stilling aus. Er war das Fahren nicht gewohnt und konnte das Wiegen der Kutsche, besonders in Sandwegen, nicht wohl ausstehen. Der Schwei- zer stieg auch aus, Herr Troost aber blieb im Wagen. Als nun die beiden Reisegefaͤhrten so zusammen zu Fuß gingen, sprach ihn der Schweizer an: Ob er ihm nicht das Manu- script von Molitor , weil er es doppelt habe, gegen fuͤnf franzoͤsische neue Louisd’or uͤberlassen wollte? Stilling sah die- ses wiederum als einen Wink von Gott an, und daher ver- sprach ers ihm. Sie stiegen endlich wieder in die Kutsche. Unter allerhand Gespraͤchen kam Herr Troost recht zur Unzeit an gemeldetes Manuscript. Er glaubte, wenn Stilling einmal studirt haben wuͤrde, so wuͤrde er wenig mehr aus dergleichen Sachen, Ge- heimnissen und Salbereien machen, weil doch niemalen etwas Rechts daran sey. Hiemit waren nun dem Schweizer seine fuͤnf Louis wieder lieber, als das Papier. Haͤtte Herr Troost gewußt, was zwischen Beiden vorgefallen war, so wuͤrde er wohl geschwiegen haben. Indessen kamen unsere Reisende gesund und wohl zu Straß- burg an, und logirten sich bei Herrn Rathmann Blesing in der Art ein. Stilling sowohl als sein Freund schrieben nach Haus, und meldeten ihre gluͤckliche Ankunft, ein Jeder an gehoͤrigen Ort. Stilling hatte nun keine Ruhe mehr, bis er das herr- liche Muͤnster rund von innen und von aussen gesehen hatte. Er ergoͤtzte sich dergestalt, daß er oͤffentlich sagte: „Das al- lein ist der Reise werth, gut! daß es ein Deutscher gebaut hat.“ Des andern Tages ließen sie sich immatriculiren, und Herr Troost , der daselbst bekannt war, suchte ein bequemes Zimmer fuͤr sie Beide. Dieses fand er auch nach Wunsch, denn am bequemsten Ort fuͤr sie wohnte ein vornehmer rei- cher Kaufmann, Namens R …, der einen Bruder in Schoͤ- nenthal gehabt hatte, und daher Liebe fuͤr Herrn Troost und seinen Gefaͤhrten bezeigte. Dieser verpachtete ihnen ein herrli- ches tapezirtes Zimmer, unten im ersten Stock, fuͤr einen maͤßigen Preis; sie zogen daselbst ein. Nun suchte Herr Troost ein gutes Speisequartier, und dieses fand er gleichfalls ganz nahe, wo eine vortreffliche Tisch- gesellschaft war. Hier veraccordirte er sich nebst Stillingen auf den Monat. Dieser aber erkundigte sich nach den Lehrstunden, und nahm deren so viel an, als nur gehalten wurden. Die Naturlehre, die Scheidekunst und die Zergliederung waren seine Hauptstuͤcke, die er alsofort vornahm. Des andern Mittags gingen sie zum Erstenmal ins Kost- haus zu Tische. Sie waren zuerst da, man wies ihnen ihren Ort an. Es speisten ungefaͤhr zwanzig Personen an diesem Tisch, und sie sahen einen nach den Andern hereintreten. Be- sonders kam einer mit großen hellen Augen, prachtvoller Stirn und schoͤnem Wuchs, muthig ins Zimmer. Dieser zog Herrn Troosts und Stillings Augen auf sich; Ersterer sagte gegen Letztern: das muß ein vortrefflicher Mann seyn. Stil- ling bejahete das, doch glaubte er, daß sie Beide viel Ver- druß von ihm haben wuͤrden, weil er ihn fuͤr einen wilden Kameraden ansah. Dieses schloß er aus dem freien Wesen, das sich der Student herausnahm; allein Stilling irrte sehr. Sie wurde indessen gewahr, daß man diesen ausge- zeichneten Menschen „Herr Goͤthe “ nannte. Nun fanden sich noch zwei Mediziner, einer aus Wien , der andere ein Elsaͤßer. Der erstere hieß Waldberg. Er zeigte in seinem ganzen Wesen ein Genie, aber zugleich ein Herz voller Spott gegen die Religion, und voller Ausgelassenheit in seinen Sitten. Der Elsaͤßer hieß Melzer , und war ein feines Maͤnnchen, er hatte eine gute Seele, nur Schade! das er etwas reizbar und mißtrauisch war. Dieser hatte seinen Sitz neben Stilling, und war bald Herzensfreund mit ihm. Nun kam auch ein Theologe, der hieß Leose , einer von den vortrefflichen Menschen, Goͤthens Liebling, und das ver- diente er auch mit Recht, denn er war nicht nur ein edles Genie und ein guter Theologe, sondern er hatte auch die sel- tene Gabe, mit trockener Miene die treffendste Satyre in Gegenwart des Lasters hinzuwerfen. Seine Laune war uͤber- aus edel. Noch Einer fand sich ein, der sich neben Goͤthe hinsetzte, von diesem will ich nichts mehr sagen, als daß er — ein guter Rabe mit Pfauenfedern war. Noch ein vortrefflicher Straßburger saß da zu Tische. Sein Platz war der oberste, und waͤre es auch hinter der Thuͤre gewesen. Seine Bescheidenheit erlaubt nicht, ihm eine Lobrede zu halten: es war der Herr Actuarius Salzmann . Meine Leser moͤgen sich den gruͤndlichsten und empfindsamsten Philo- sophen, mit dem aͤchtesten Christenthum verpaart, denken, so denken sie sich einen Salzmann. Goͤthe und er waren Her- zensfreunde. Herr Troost sagte leise zu Stilling : Hier ists am besten, daß man vierzehn Tage schweigt. Letzterer erkannte diese Wahr- heit, sie schwiegen also, und es kehrte sich auch Niemand son- derlich an sie, außer daß Goͤthe zuweilen seine Augen heruͤber- waͤlzte; er saß gegen Stilling uͤber, und er hatte die Regie- rung am Tisch, ohne daß er sie suchte. Herr Troost war Stilling sehr nuͤtzlich, er kannte die Welt besser, und daher konnte er ihn sicher durchfuͤhren: Ohne ihn wuͤrde Stilling hundertmal angestoßen haben. So guͤtig war der himmlische Vater gegen ihn. Er versorgte ihn sogar mit einem Hofmeister, der ihm nicht allein mit Rath und That beistehen, sondern auch von dem er Anleitung und Fingerzeig in seinen Studien haben konnte. Denn gewiß, Herr Troost war ein geschickter und erfahrner Wundarzt. Nun hatte sich Stilling voͤllig eingerichtet; er lief seinen Lauf heldenmuͤthig fort; er war jetzt in seinem Element; er verschlang alles, was er hoͤrte, schrieb aber weder Collegia noch sonst Etwas ab, sondern trug Alles zusammen in allgemeine Begriffe uͤber. Selig ist der Mann, der diese Methode wohl zu uͤben weiß! aber es ist nicht einem Jeden gegeben. Seine bei- den Professoren, die beruͤhmten Herren Spielmann und Lob- stein bemerkten ihn bald, und gewannen ihn lieb, besonders auch darum, weil er sich ernst, maͤnnlich und eingezogen auffuͤhrte. Allein seine 33 Reichsthaler waren nun wieder auf einen Einzigen herunter geschmolzen, deßwegen begann er wiederum herzlich zu beten. Gott erhoͤrte ihn, und just in dieser Zeit der Noth fing Herr Troost einmal des Morgens gegen ihn an, und sagte: „Sie haben, glaub ich, kein Geld mitgebracht; ich will Ihnen sechs Carolin leihen, bis Sie Wechsel bekommen werden.“ Obgleich Stilling so wenig von Wechsel als von Geld wußte, so nahm er doch dieses freundschaftliche Erbieten an, und Herr Troost zahlte ihm sechs neue Louisd’or aus. Wer war es nun, der das Herz dieses Freundes just weckte, als es Noth war !!! Herr Troost war nett und nach der Mode gekleidet; Stil- ling auch so ziemlich. Er hatte einen schwarzbraunen Rock mit manchesternen Unterkleidern, nur war ihm noch eine runde Peruͤcke uͤbrig, die er zwischen seinen Beutel-Peruͤcken doch auch gern verbrauchen wollte. Diese hatte er einsmals aufgesetzt, und kam damit an den Tisch. Niemand stoͤrte sich daran, als nur Herr Waldberg von Wien . Dieser sah ihn an, und da er schon vernommen hatte, daß Stilling sehr fuͤr die Religion eingenommen war, so fing er an und fragte ihn: Ob wohl Adam im Paradies eine runde Peruͤcke moͤchte getragen haben? Alle lachten herzlich bis auf Salzmann, Goͤthe und Troost ; diese lachten nicht. Stilling fuhr der Zorn durch alle Glieder, und antwortete darauf: „Schaͤmen Sie sich dieses Spotts. Ein solcher alltaͤglicher Einfall ist nicht werth, daß er belacht werde! — Goͤthe aber fiel ein, und versetzte: Probiere erst einen Menschen, ob er des Spotts werth sey? Es ist teufelmaͤßig, einen rechtschaffenen Mann, der keinen be- leidigt hat, zum Besten zu haben! Von dieser Zeit an nahm sich Herr Goͤthe Stillings an, besuchte ihn, gewann ihn lieb, machte Bruͤderschaft und Freundschaft mit ihm, und be- muͤthe sich bei allen Gelegenheiten, Stillingen Liebe zu er- zeigen. Schade, daß so Wenige diesen vortrefflichen Menschen seinem Herzen nach kennen! Nach Martini wurde das Collegium der Geburtshuͤlfe ange- schlagen, und die Lernbegierigen dazu eingeladen. Stillingen war dieses ein Hauptstuͤck, deßwegen fand er sich des Montags Abends mit Andern ein, um zu unterschreiben. Er dachte nicht anders, als daß dieses Collegium, eben so wie die andern, erst nach Endigung desselben bezahlt wuͤrde; allein, wie erschrack er, als der Doctor ankuͤndigte: daß sich die Herren moͤchten gefallen lassen, kuͤnftigen Donnerstag Abend sechs neue Louisd’or fuͤrs Collegium zu bezahlen! Hier war also eine Ausnahme, und die hatte auch ihre gegruͤndete Ursachen. Wenn nun Stil- ling den Donnerstag nicht bezahlte, so wurde sein Name ausgestrichen. Dieses war schimpflich, und schwaͤchte den Kre- dit, der doch Stillingen absolut noͤthig war. Jetzt war also guter Rath theuer. Herr Troost hatte schon sechs Co- rolin vorgeschossen, und noch war kein Anschein da, sie wieder geben zu koͤnnen. Sobald als Stilling in sein Zimmer kam, und dasselbe leer fand (denn Herr Troost war in ein Collegium gegan- gen), so schloß er die Thuͤre hinter sich zu, warf sich in einen Winkel nieder, und rang recht mit Gott um Huͤlfe und Er- barmen; indessen aͤusserte sich nichts Troͤstliches fuͤr ihn, bis den Donnerstag Abend. Es war schon fuͤnf Uhr, und um sechs Uhr war die Zeit, daß er das Geld haben mußte. Stil- ling begann fast im Glauben zu wanken; der Angstschweiß brach ihm aus, und sein ganzes Angesicht war naß von Thraͤ- nen. Er fuͤhlte weder Muth noch Glauben mehr, und deß- wegen sah er von ferne in eine Zukunft, die der Hoͤlle mit allen ihren Qualen aͤhnlich war. Indem er mit solchen trau- rigen Gedanken in dem Zimmer auf- und abging, klopfte Je- mand an die Thuͤr. Er rief: herein! Es war der Patron des Hauses … der Herr R … Dieser trat ins Zimmer, und nach den gewoͤhnlichen Complimenten fing er an: ich komme, um zu sehen, wie Sie sich befinden, und ob Sie mit mei- nem Zimmer zufrieden sind. (Herr Troost war wiederum nicht da, und der wußte auch von Stillings jetzigem Kampf gar nichts.) Stilling antwortete: Es macht mir viel Ehre, daß Sie sich nach meinem Befinden zu erkundigen be- lieben. Ich bin, Gott Lob! gesund, und Dero Zimmer ist nach unserer Beider hoͤchstem Wunsch. Herr R … versetzte: das macht mir Freude, besonders da ich sehe, daß Sie so sittsame wackere Leute sind. Aber ich wollte doch vornehmlich noch Eins fragen: „Haben Sie Geld mitgebracht, oder bekommen Sie Wechsel?“ — Nun ward’s Stillingen als dem Habacuc , wie ihn der Engel des Herrn beim Schopf nahm, um ihn nach Babel zu fuͤhren. Er antwortete: Nein, ich habe kein Geld mitgebracht. Stillings sämmtl. Schriften. I. Baud. 18 Herr R … stand, sah ihn starr an, und versetzte: „Wie kommen Sie denn doch um Gottes Willen zurecht?“ Stilling antwortete: Herr Troost hat mir schon gelie- hen. „Hoͤren Sie, fuhr Herr R … fort: der hat sein Geld selber noͤthig. Ich will Ihnen Geld vorschießen, so viel Sie brauchen, wenn Sie dann Wechsel bekommen, so geben Sie mir nur selbige, auf daß Sie keine Unruhe mit dem Verkauf haben moͤgen. Brauchen Sie auch wohl jetzt etwas Geld?“ Stil- ling konnte sich kaum enthalten, daß er nicht laut rief, doch hielt er sich an, und ließ sich nichts merken. Ja! sagte er, ich habe diesen Abend sechs Louisd’or noͤthig, und ich war verlegen. Herr R … entsetzte sich, und erwiederte: „Ja, das glaub ich! Nun seh ich: Gott hat mich zu Ihrer Huͤlfe hergesandt,“ und ging zur Thuͤr hinaus. Stilling wars nun wie dem Daniel im Loͤwengraben, da ihm Habacuc die Speise brachte; er versank ganz von Empfindung, und wurde kaum gewahr, daß der Herr R … wieder hereintrat. Dieser vortreffliche Mann brachte acht Louis- d’or, zaͤhlte sie ihm dar, und sagte: „Da haben Sie noch etwas uͤbrig, und wenn das all ist, so fordern Sie mehr.“ Stilling durfte seinen herzlichen Dank nicht ganz auslas- sen, um sich nicht allzusehr bloß zu geben. Nun empfahl sich der edle Mann, und ging fort. In dem Kreis, worin sich Stilling jetzt befand, hatte er taͤglich Versuchungen genug, ein Religionszweifler zu werden. Er hoͤrte alle Tage neue Gruͤnde gegen die Bibel, gegen das Christenthum, und gegen die Grundsaͤtze der christlichen Religion. Alle seine Beweise, die er jemals gesammelt, und die ihn im- mer beruhigt hatten, waren nicht hinlaͤnglich mehr, seine strenge Vernunft zu beruhigen; bloß diese Glaubensproben , deren er in seiner Fuͤhrung schon so viel erfahren hatte, machten ihn ganz unuͤberwindlich. Er schloß also: „Derjenige, der augenscheinlich das Gebet der Menschen er- hoͤrt, und ihre Schicksale wunderbarer Weise und sichtbarlich lenkt, muß unstreitig wahrer Gott, und seine Lehre Gottes Wort seyn. „Nun hab’ ich aber von jeher Jesum Christum als mei- nen Gott und Heiland verehrt und ihn angebetet. Er hat mich in meinen Noͤthen erhoͤrt, und mir wunderbar beigestanden und geholfen: „Folglich ist Jesus Christus unstreitig wahrer Gott, seine Lehre ist Gottes Wort, und seine Religion, so wie Er sie gestiftet hat, die wahre.“ Dieser Schluß galt ihm zwar bei Andern nichts, aber fuͤr ihn selbst war er vollkommen hinreichend, ihn vor allem Zwei- fel zu schuͤtzen. Sobald Herr R … fort war, fiel Stilling zur Erde nie- der, dankte Gott mit Thraͤnen, und warf sich aufs neue in seine vaͤterlichen Arme; darauf ging er ins Collegium, und bezahlte so gut als der Reichste. Indem dieses zu Straßburg vorging, besuchte einstmals Herr Liebmann von Schoͤnenthal Herrn Friedenberg zu Raͤsenheim , denn sie waren sehr gute Freunde. Lieb- mann wußte von Stillings Verbindung mit Christinen nichts, doch wußte er wohl, daß Friedenberg sein Herzens- freund war. Als sie so zusammen saßen, so fiel auch das Gespraͤch auf ihren Freund zu Straßburg. Liebmann wußte nicht genug zu erzaͤhlen, wie Herr Troost in seinen Briefen Stillings Fleiß, Genie und guten Fortgang im Studiren ruͤhmte. Frie- denberg und seine Leute, besonders Christine , fuͤhlten Wonne dabei in ihrem Herzen. Liebmann konnte nicht be- greifen, woher er Geld bekaͤme? Friedenberg auch nicht. Ey, fuhr Liebmann fort: ich wollte, daß ein Freund mit mir anstaͤnde, wir wollten ihm einmal einen tuͤchtigen Wechsel schicken. Herr Friedenberg merkte diesen Zug der Vorsehung; er konnte sich kaum des Weinens enthalten. Christine aber lief hinauf auf ihr Zimmer, legte sich vor Gott nieder, und be- tete. Friedenberg versetzte: Ey, so will ich mit anstehen! Liebmann freute sich und sagte: „Wohlan! so zahlen Sie hundert und fuͤnfzig Reichsthaler, ich will auch so viel herbei- schaffen, und den Wechsel an ihn abschicken.“ Friedenberg that das gerne. 18 * Vierzehn Tage nach der schweren Glaubensprobe, die Stil- ling ausgestanden hatte, bekam er ganz unvermuthet einen Brief von Herrn Liebmann , nebst einem Wechsel von drei- hundert Reichsthaler. Er lachte laut, stellte sich gegen das Fenster, sah mit freudigem Blick gen Himmel, und sagte: „Das war nur Dir moͤglich, Du allmaͤchtiger Vater!“ „Mein ganzes Leben sey Gesang! Mein Wandel wandelnd Lied der Harfe!“ Nun bezahlte er Herrn Troost , Herrn R., und was er sonst schuldig war, und behielt noch genug uͤbrig, den ganzen Winter auszukommen. Seine Lebensart zu Straßburg war auffallend, so daß die ganze Universitaͤt von ihm zu sagen wußte. Die Philosophie war eigentlich von jeher diejenige Wissenschaft gewesen, wozu sein Geist die mehreste Neigung hatte. Um sich nun noch mehr darin zu uͤben, beschloß er, des Abends von fuͤnf bis sechs Uhr, welche Stunde ihm uͤbrig war, ein oͤffentliches Collegium in seinem Zimmer dar- uͤber zu lesen. Denn weil er eine gute natuͤrliche Gabe der Beredtsamkeit hatte, so entschloß er sich um desto lieber dazu, theils um die Philosophie zu wiederholen, und sich ferner darin zu uͤben, theils aber auch um eine Geschicklichkeit zu er- langen, oͤffentlich zu reden. Da er sich nun nichts dafuͤr be- zahlen ließ, und dieses Collegium als eine Repetition angese- hen wurde, so gings ihm durch, ohne daß Jemand etwas dagegen zu sagen hatte. Er bekam Zuhoͤrer die Menge, und durch Gelegenheit viele Bekannte und Freunde. Seine eigenen Collegia versaͤumte er nie. Er praͤparirte sich auf der Anatomie selbsten mit Lust und Freude, und was er praͤparirt hatte, das demonstrirte er auch oͤffentlich, so daß Professoren und Studenten sich sehr uͤber ihn verwunderten. Herr Professor Lobstein , der dieses Fach mit bekanntem groͤßten Ruhm verwaltet, gewann ihn sehr lieb, und wendete allen Fleiß an, um ihm diese Wissenschaft gruͤndlich beizu- bringen. Auch besuchte er schon diesen Winter mit Herrn Professor Ehrmann die Kranken im Hospital. Er bemerkte da die Krankheiten, und auf der Anatomie ihre Ursachen. Mit Einem Wort: er wendete in allen Disciplinen der Arznei- Wissenschaft alles Moͤgliche an, um Gruͤndlichkeit zu erlangen. Herr Goͤthe gab ihm in Ansehung der schoͤnen Wissen- schaft einen andern Schwung. Er machte ihn mit Ossian, Shakespeare, Fielding und Sterne bekannt; und so gerieth Stilling aus der Natur ohne Umwege wieder in die Natur. Es war auch eine Gesellschaft junger Leute zu Straßburg , die sich die Gesellschaft der schoͤnen Wissen- schaften nannte, dazu wurde er eingeladen, und zum Mitglied angenommen; auch hier lernte er die schoͤnsten Buͤcher, und den jetzigen Zustand der schoͤnen Literatur in der Welt kennen. Diesen Winter kam Herr Herder nach Straßburg. Stilling wurde durch Goͤthe und Troost mit ihm bekannt. Niemals hat er in seinem Leben mehr einen Menschen bewun- dert, als diesen Mann. „Herder hat nur einen Gedanken, und dieser ist eine ganze Welt!“ Dieser machte Stilling einen Umriß von Allem in Einem , ich kanns nicht anders nennen; und wenn jemals ein Geist einen Stoß bekommen hat zu einer ewigen Bewegung, so bekam ihn Stilling von Herdern , und das darum, weil er mit diesem herrlichen Genie, in Ansehung des Naturells, mehr harmonirte als mit Goͤthe . Das Fruͤhjahr ruͤckte heran, und Herr Troost ruͤstete sich wiederum zur Abreise. Stilling fuͤhlte zwar diese Trennung von einem so theuren Manne recht tief, allein er hatte doch nunmehr die schoͤnste Bekanntschaft in Straßburg , und da- zu hoffte er uͤber ein Jahr wieder bei ihm zu seyn. Er gab ihm Briefe mit; und da er ihm seine Verlobung entdeckt hatte, so empfahl er ihm, mit erster Gelegenheit nach Rasenheim zu gehen, und den Seinigen alle seine Umstaͤnde muͤndlich zu erzaͤhlen. So verreiste dieser ehrliche Mann im April wieder in die Niederlande, nachdem er noch einmal seine noͤthigsten Wissen- schaften mit groͤßtem Fleiß wiederholt hatte. Stilling aber setzte seine Studien wacker fort. Zehn Tage vor Pfingsten ging Stilling in die Comoͤdie, um ein gewisses Stuͤck zu sehen, das man ihm sehr geruͤhmt hatte. Es war Romeo und Julie , so wie es Weisse dem deutschen Theater bequem gemacht hat. Er kannte das Shakespearische Original, daher wollte er gern sehen, wie die- ses Stuͤck von der im Tragischen so beruͤhmten Madam Abt , welche die Hauptrolle spielte, ausgefuͤhrt wuͤrde. Auf dem Parterre uͤberfiel ihn ein sehr trauriges Gefuͤhl, ohne zu wissen, wo es herkam. Er hatte die schoͤnsten Briefe von den Seinigen, sowohl aus dem Salen’schen Lande, als auch von Rasenheim . Er ging nach Hause, und besann sich, wo das wohl herruͤhren moͤchte. Doch es verschwand wieder, Stilling bekuͤmmerte sich also nicht weiter darum. Des Dienstags vor Pfingsten hatte der Sohn eines Profes- sors Hochzeit, deßwegen waren keine Collegia. Stilling be- schloß also, diesen Tag in seinem Zimmer zu bleiben, und fuͤr sich zu arbeiten. Um neun Uhr uͤberfiel ihn ein ploͤtzli- cher Schrecken, das Herz klopfte wie ein Hammer, und er wußte nicht, wie ihm geschah. Er stand auf, ging im Zim- mer auf und ab, und nun fuͤhlte er einen unwiderstehlichen Trieb, nach Hause zu reisen. Er erschrack uͤber diesen Zufall, und uͤberdachte den Schaden, der ihm sowohl in Ansehung seines Geldes, als auch seines Studirens, dadurch zuwachsen koͤnnte. Er glaubte endlich, daß es eine hypochondrische Grille sey, suchte sichs deßwegen mit Gewalt aus dem Sinn zu schlagen, und setzte sich also wieder hin an seine Geschaͤfte. Allein die Unruhe ward so groß, daß er wieder aufstehen mußte. Nun wurde er recht betruͤbt; es war Etwas in ihm, das ihn mit Gewalt andrang, nach Hause zu reisen. Stilling wußte hier weder Rath noch Trost. Er stellte sich vor, was man von ihm denken koͤnnte, wenn er so auf Geradewohl fuͤnfzig Meilen weit reisen, und vielleicht zu Hause alles im besten Wohlstand antreffen wuͤrde. Da aber die Be- aͤngstigung und der Trieb gar nicht nachlassen wollte, so be- gab er sich ans Beten, und flehte zu Gott, wenn es ja sein Wille sey, daß er nach Hause reisen muͤßte, so moͤchte er ihm doch sichere Gewißheit geben: warum? Indem er so bei sich seufzte, trat der Comptoirbediente des Herrn R… herein ins Zimmer, und brachte ihm folgenden Brief: Rasenheim, den 9. Mai 1771. Herzgeliebter Schwiegersohn! „Ich zweifle nicht, Sie werden die Briefe von meiner Frau, Sohn und Herrn Troost wohl erhalten haben. Sie werden nicht erschrecken, wenn ich Ihnen melde, daß Ihre liebe Braut ziemlich krank ist. Diese Krankheit hat ihr seit zwei Tagen so heftig zugesetzt, daß sie jetzt recht — ja recht schwach ist. Mein Herz ist daruͤber so zerschmolzen, daß mir tausend Thraͤ- nen die Wangen herunter geflossen sind; doch ich mag hievon nicht viel schreiben, ich moͤchte zu viel thun, ich bete und seufze fuͤr das liebe Kind recht herzlich, und auch fuͤr uns, damit wir uns kindlich seinem heiligen Willen uͤberlassen moͤgen. O der ewige Erbarmer wolle sich unserer Aller aus Gnaden an- nehmen! So hat nun Ihre liebe Braut gerne, daß ich Ihnen dieses schreibe, denn sie ist so schwach, daß sie gar nicht viel sprechen kann — ich muß mit dem Schreiben ein wenig ein- halten, der aͤllmaͤchtige Gott wolle mir doch ins Herz legen, was ich schreiben soll! — ich fahre in Gottes Namen fort, und muß Ihnen melden, daß Ihre Braut menschlichem An- sehen nach — halten Sie sich fest, theuerster Sohn! — nicht manchen Tag mehr hier zubringen wird, so wird sie in die ewige Ruhe uͤbergehen; doch ich schreibe, wie wir Menschen es ansehen. Nun, mein allerliebster Sohn! ich meine, mein Herz zerschmoͤlze, ich kann Ihnen nicht viel mehr schreiben. Ihre Braut saͤhe Sie in dieser Welt noch Einmal gern; allein, was soll ich sagen und rathen? ich kann nicht mehr, weil mir die Thraͤnen haͤufig aufs Papier fallen. Gott! du kennest mich, daß ich gern die Reisekosten bezahlen will! aber rathen darf ich nicht, fragen Sie den rechten Rathgeber, dem ich Sie auch von Herzen empfehle. Ich, Ihre Mutter, Braut, und die Kinder gruͤßen Sie alle tausendmal, ich bin in Ewigkeit Ihr getreuer Vater Peter Friedenberg .“ Stilling stuͤrzte wie ein Rasender von einer Wand an die andere, er weinte nicht, seufzte nicht, sondern sah aus wie einer, der an seiner Seligkeit zweifelt; er besann sich endlich so viel, daß er seinen Schlafrock auswarf, seine Kleider an- zog, und mit dem Brief zu Herrn Goͤthe hintaumelte. So- bald er in sein Zimmer hinein trat, rief er mit Seelenzagen: Ich bin verloren! da lies den Brief! Goͤthe las, fuhr auf, sah ihn mit nassen Augen an, und sagte: Du ar- mer Stilling ! Nun ging er mit ihm zuruͤck nach seinem Zimmer. Es fand sich noch ein wahrer Freund, dem Stil- ling sein Ungluͤck klagte, dieser ging auch mit. Goͤthe und dieser Freund packten ihm das Noͤthige in sein Felleisen, ein Anderer suchte Gelegenheit fuͤr ihn, wodurch er wegreisen koͤnnte, und diese fand sich, denn es lag ein Schiffer auf der Preusch parat, der den Mittag nach Mainz abfuhr und Stillin- gen gern mitnahm. Dieser schrieb indessen ein paar Zeilen nach Hause und kuͤndigte seine baldige Ankunft an. Nachdem nun Goͤthe das Felleisen bereit hatte, so lief er und besorgte Proviant fuͤr seinen Freund, trug ihm den ins Schiff; Stil- ling ging reisefertig mit. Hier letzten sich Beide mit Thraͤ- nen. Nun fuhr Stilling im Namen Gottes ab, und so- bald er nur auf der Reise war, so fuͤhlte er sein Gemuͤth beruhigt, und es ahndete ihm, daß er seine Christine noch lebendig finden, und daß sie besser werden wuͤrde; doch hatte er auch verschiedene Buͤcher mitgenommen, um zu Hause sein Studiren fortsetzen zu koͤnnen. Es war vorjetzo die bequemste Zeit fuͤr ihn zu reisen; denn die mehresten Collegia hatten auf- gehoͤrt, und die wichtigsten hatten noch nicht wieder angefangen. Auf der Reise bis Mainz fiel eben nichts Merkwuͤrdiges vor. Er kam des Freitags Abends um sechs Uhr daselbst an, bezahlte seinen Schiffer, nahm sein Felleisen unter den Arm, und lief nach der Rheinbruͤcke, um Gelegenheit auf Coͤlln zu finden. Hier hoͤrte er nun, daß vor zwei Stunden ein großer bedeckter Nachen mit vier Personen abgefahren sey, der noch wohl fuͤr viere Raum habe, und daß dieser Nachen zu Bin- gen bleiben wuͤrde. Alsbald trat ein Schiffer herzu, welcher Stillingen versprach, ihn fuͤr vier Gulden in drei Stun- den dahin zu schaffen, ungeachtet es sechs Stunden von Mainz nach Bingen sind. Stilling ging diesen Accord ein. In- dem sich nun der Schiffer zur Fahrt bereitete, fand sich ein excellentes knappes Buͤrschchen mit einem kleinen Felleisen, ohngefaͤhr 15 Jahre alt, bei Stilling ein, und fragte: ob es nicht erlaubt waͤre, in seiner Gesellschaft mit nach Coͤlln zu reisen? Stilling war’s zufrieden, und da er dem Schif- fer noch zwei Gulden versprach, so war’s der auch zufrieden. Die beiden Reisenden traten also in einen kleinen dreiborti- gen Nachen. Stillingen gefiel das schon gleich Anfangs nicht, er aͤusserte seine Besorgniß, die beiden Schiffer aber lachten ihn aus. Nun fuhren sie fort. Das Wasser ging bis auf ein paar Finger breit an Bord, und wenn Stilling , der etwas lang war, nun ein wenig wankte, so glaubte er umzu- schlagen, und alsdann ging das Wasser gaͤnzlich an Bord. Dieses Fuhrwerk war ihm fuͤrchterlich, und er wuͤnschte herzlich auf dem Trockenen zu seyn, indessen ließ er sich doch, um sich die Zeit zu kuͤrzen, mit seinem kleinen Reisegefaͤhrten in ein Gespraͤch ein. Da hoͤrte er nun mit Erstaunen, daß dieser Knabe, der ein Sohn einer reichen Wittwe in H … war, so wie er da bei ihm saß, ganz allein nach dem Vor- gebirge der guten Hoffnung reisen wollte, um daselbst seinen Bruder zu besuchen. Stilling verwunderte sich aus der Massen, und fragte ihn: ob seine Frau Mutter in seine Reise eingewilliget habe? Keineswegs! antwortete der Knabe: ich bin heimlich fortgegangen, sie ließ mich in Mainz arretiren, aber ich hielt so lange an, bis sie mir erlaubte zu reisen, und mir einen Wechsel von eilf hundert Gulden schickte. Ich habe einen Oheim in Rotterdam , an den bin ich addressirt, der soll mir ferner forthelfen. Stilling beunruhigte sich nun wegen des jungen Menschen, denn er zweifelte nicht, daß die- ser Oheim geheime Ordre haben wuͤrde, ihn mit Gewalt bei sich zu halten. Waͤhrend diesen Gespraͤchen fuͤhlte Stilling Kaͤlte an sei- nen Fuͤßen; er sahe zu und fand, daß das Wasser in den Na- chen drang, und daß der Schiffer, der hinter ihm saß, wacker schoͤpfte. Nun wurde ihm aber im Ernst bang, und er be- gehrte ausdruͤcklich, man sollte ihn an der Binger Seite an’s Land setzen, er wollte gern den accordirten Lohn voͤllig geben, und bis Bingen zu Fuße gehen, allein die Schiffer wollten gar nicht, sondern ruderten nur fort. Stilling gab sich also selbst ans Schoͤpfen, und er hatte, nebst seinem Gefaͤhrten, genug zu thun, den Nachen leer zu halten. Indessen ward’s dunkel, sie naͤherten sich den Gebirgen, es erhub sich ein Wind, und es stieg ein schwarzes Gewitter auf. Der Knabe fing im Nachen an zu zagen, und Stilling gerieth in eine tiefe Schwermuth, welche noch vergroͤßert wurde, als er merkte, wie die Schiffer durch eine Zeichensprache zusammen redeten, so daß sie gewiß etwas Boͤses im Sinn hatten. Nun ward es voͤllig Nacht, das Gewitter ruͤckte heran, es stuͤrmte und blitzte, so daß der Nachen auf und abschwankte, und der Untergang alle Augenblick gewisser wurde. Stilling kehrte sich innerlich zu Gott, und bat herzlich, daß er ihn doch erhalten moͤchte, besonders wenn seine Christine noch laͤnger leben sollte, damit sie nicht durch eine Schreckens-Post von seinem ungluͤcklichen Tod ihre Seele in Kummer aushauchen moͤchte. Sollte sie aber zu ihrer Ruhe schon uͤbergegangen seyn, so gab er sich mit Freuden an Gottes Willen uͤber. In- dem er so dachte, sah er auf, und nah vor sich einen Mastbaum von einer Jagd, er rief mit starker Stimme um Huͤlfe; in dem Augenblick war ein Schiffmann mit einer Leuchte und und langen Hacken auf dem Verdeck. Seine Schiffleute ru- derten mit aller Macht abwaͤrts, allein es gelang ihnen nicht, denn weil sie nahe am Ufer hinfuhren, so trieb sie Wind und Strom auf die Jagd an, und ehe sie’s vermutheten, war der Hacken im Nachen, und der Nachen am Schiff. Stilling und sein Gefaͤhrte waren mit ihren Felleisen auf dem Verdeck, ehe sichs die Boͤsewichter von Schiffern versahen. Der Schiff- mann leuchtete hin, und fing an: Ha, ha! seyd ihr die T … Kerls, die vor einigen Wochen die zwei Reisenden da unten vertraͤnkt haben? wartet, laßt mich wieder nach Mainz kom- men! — Stilling warf ihnen ihren vollen Lohn herab ins Naͤchelchen, und ließ sie laufen. Wie froh war er aber, und wie dankte er Gott, als er dieser Gefahr entronnen war. Nun gingen sie unten in die Cajuͤte. Die Schiffer waren von Cob- lenz , und brave Leute. Sie aßen alle zusammen, und nun legten sich beide Reisende ins Gepaͤcke, das daselbst war, und schliefen ruhig, bis wieder der Tag anbrach. Nun befanden sie sich vor Bingen , sie gaben den Schiffern ein gutes Trink- geld, stiegen aus, und sahen ihren Nachen, mit dem sie nach Coͤlln fahren wollten, daselbst an einen Pfahl gebunden. Nicht weit vom Ufer war ein Wirthshaus, Stilling ging mit seinem Cameraden da hinein, und in die Stube, welche voller Stroh gespreitet war. Dort in der Ecke lag ein vortrefflicher ansehnlicher Mann. Eine Strecke von demselben ein Soldat. Wieder einen Schritt weiter ein junger Mensch, der einem versoffenen Kauz von Studenten so aͤhnlich sahe, als ein Ei dem andern. Der Erste hatte eine baumwollene Muͤtze uͤber die Ohren gezogen, und einen Mantelrock auf der Schulter hangen, sein russischer Frack war um die Fuͤße ge- wickelt. Der Andere hatte sein Schnupftuch um den Kopf gebunden, und den Soldatenrock uͤber sich her, und schnarchte. Der Dritte lag da mit bloßem Haupt im Stroh, und ein englischer Frack lag quer uͤber ihn her; er richtete sich auf, sah uͤber quer in die Welt, wie einer, der den vorigen Abend zu viel ins Branntweinglas geguckt hatte. Hinten im Eck lag Etwas, man wußte nicht, was es war, bis es sich regte, und zwischen Tuͤchern und Kissen hervorguckte: nun entdeckte Stil- ling , daß es eine Gattung von Weibs-Menschen war. Stilling betrachtete diese herrliche Gruppe eine Weile mit Freuden, endlich fing er an: „Meine Herren, ich wuͤnsche Ihnen allerseits einen gluͤckseligen Morgen und gute Reise! Alle Drei richteten sich auf, gaͤhnten und raͤusperten sich, und was dergleichen erste Morgen-Verrichtungen mehr sind; sie guckten auf, sahen da einen langen, laͤchelnden Mann mit einem muntern Knaben bei sich stehen; sie sprangen alle auf, mach- ten ein Compliment, ein Jeder auf seine Weise, und dankten freundlich. Der vornehmste Herr war ein Mensch von einer hohen und edlen Gesichtsbildung, dieser trat vor Stilling und sagte: „Wo kommen Sie so fruͤh her?“ Stilling erzaͤhlte kurz und gut, wie es ihm ergangen war. Mit einer edlen Miene fing dieser Herr an: „Sie sind doch wohl kein Kaufmann, Sie kommen mir nicht so vor!“ — Stilling verwunderte sich uͤber diese Rede, er laͤchelte und sagte: Sie muͤssen sich gut auf die Physiognomie verstehen, ich bin kein Kaufmann, ich studire Medicin! Der fremde Herr sah ihn ernst an, und ver- setzte: „Sie studiren also in der Mitte Ihres Lebens, da muͤs- sen vorher Berge zu uͤbersteigen gewesen seyn, oder Sie haben spaͤt gewaͤhlt! — Stilling erwiederte: Beides hat bei mir Platz. Ich bin ein Sohn der Vorsehung, ohne ihre sonderbare Leitung waͤr ich entweder ein Schneider oder ein Kohlenbren- ner! Stilling sagte dieses mit Nachdruck und Herzensbewe- gung, wie er immer thut, wenn er auf diese Materie kommt. Der Unbekannte fuhr fort: „Sie erzaͤhlen uns wohl unterwegs Ihre Geschichte!“ Ja, sagte Stilling , von Herzen gern! Nun klopfte ihn Jener auf die Schulter, und sagte: „Seyn Sie wer Sie wollen, Sie sind ein Mann nach meinem Herzen!“ Ihr, die ihr meinen Bruder Lavater so peitscht, woher kam’s, daß dieser vornehme Fremde Stillingen im ersten Anblick lieb gewann? und welches ist die Sprache, welches sind die Buchstaben, die er so geschickt zu lesen und zu stu- diren wußte! — Nun wurde auch der Student munter, er war auch ein wackerer Mann, er gruͤßte Stillingen , deßgleichen auch der Soldat. Stilling fragte: ob die Herren fruͤhstuͤckten? Ja, sagten Sie alle: Wir trinken Kaffee. Ich auch, setzte Stil- ling hinzu; er lief hinaus und bestellte. Als er wieder her- ein kam, fragte er: Kann ich wohl die Ehre haben, mit mei- nem Gefaͤhrten von Dero angenehmen Gesellschaft bis Coͤlln zu profitiren? Alle sagten einmuͤthig: Ja! es wuͤrde ihnen Ehre und Freude machen. Stilling buͤckte sich. Nun klei- deten sie sich Alle an, und das Frauenzimmer dahinten legte auch sehr schamhaft ein Stuͤck nach dem andern an. Sie war Haushaͤlterin bei einem geistlichen Herrn in Coͤlln , und folglich sehr behutsam in Gesellschaft fremder Mannsleute, wie- wohl sie das gar nicht noͤthig hatte, denn sie war uͤber alle Maßen haͤßlich. Der Kaffee kam, Stilling setzte sich vor den Tisch, zog den Krahnen der Kaffeekanne vor sich und fing an zu zapfen; er war aufgeraͤumt, und in seiner Seele vergnuͤgt, warum? weiß ich nicht. Der fremde Herr setzte sich neben ihn, und klopfte ihn wieder auf die Schulter, der Soldat setzte sich auf eine andere Seite und klopfte ihn da auf die Schulter, die beiden jungen Leute aber setzten sich hinter den Tisch, und das Frauenzimmer saß dahinten, und trank aus einem Kaͤnn- chen allein. Nach dem Fruͤhstuͤck setzte man sich in den Nachen, und Stilling merkte, daß Niemand den fremden Herrn kannte. Dieser drang Stilling , daß er seine Lebensgeschichte erzaͤh- len moͤchte. Sobald sie durch das Bingerloch gefahren wa- ren, fing er damit an, und erzaͤhlte alles, ohne das Mindeste zu verschweigen, sogar sein Verloͤbniß, und das Schicksal seiner jetzigen Reise sagte er aufrichtig. Der Unbekannte ließ zuweilen helle Thraͤnen fallen, der Soldat deßgleichen, und Beide wuͤnschten von Herzen zu vernehmen, ob und wie er seine Verlobte angetroffen habe. Beide waren nun vertraut mit ihm, und nun fing auch der Soldat an: „Ich bin aus dem Zweibruͤck’schen , und von geringen Eltern geboren, doch wurde ich fleißig zur Schule gehalten, um durch Wissenschaft zu ersetzen, was mir an Erbschaft man- gelte. Nachdem ich von der Schule kam, nahm mich ein ge- wisser Beamter zum Schreiben zu sich. Ich war da einige Jahre: seine Tochter ward mir geneigt, und wir wurden gute Freunde, sogar, daß wir uns fest verlobten, und uns verban- den, nie zu heirathen, wenn man uns Etwas in den Weg legen wuͤrde. Meine Herrschaft entdeckte dieses bald, und nun wurde ich fortgejagt. Doch fand ich noch ein Stuͤndchen, mit meiner Verlobten allein zu reden, bei welcher Gelegenheit wir unser Band noch fester knuͤpften. Darauf ging ich nach Hol- land und ließ mich zum Soldaten annehmen; ich schrieb sehr oft an meine Geliebte, bekam aber nie Antwort, denn man hatte alle Briefe aufgefangen. Ich wurde daruͤber so verzweifelt, daß ich oft den Tod suchte, doch hatte ich noch immer Abscheu vor dem Selbstmord. „Bald darauf wurde unser Regiment nach Amerika ab- geschickt; die Cannibalen hatten Krieg gegen die Hollaͤnder angefangen, ich mußte also mit. Wir kamen in Surinam an und meine Compagnie lag in einem sehr abgelegenen Fort. Ich war noch immer bis auf den Tod betruͤbt, und wuͤnschte nichts mehr, als daß mich doch endlich einmal eine Kugel treffen moͤchte, nur schauderte ich vor der Gefangenschaft, denn wer will wohl gerne aufgefressen werden! Ich hielt deß- wegen bestaͤndig bei unserm Commandanten an: er moͤchte mir doch einige Mannschaft mitgeben, um gegen die Canni- balen zu streifen; dieses geschah, und da wir immer gluͤcklich waren, so machte er mich zum Sergeanten.“ „Einsmals kommandirte ich fuͤnfzig Mann; wir durchstrichen einen Wald, und kamen weit von unserer Festung ab; wir hatten alle unsere Musqueten mit gespannten Hahnen unter dem Arm. Indem fiel ein Schuß auf mich; die Kugel pfiff an meinem Ohr vorbei. Nach einer kleinen Pause geschah das wieder. Ich schaute hin, und sah einen Wilden wieder laden. Ich rief ihm zu halten, und richtete das Gewehr auf ihn. Er war nah bei uns: Er stand und wir fingen ihn. Dieser Wilde verstand Hollaͤndisch. Wir zwangen ihn, daß er uns ihr Oberhaupt verrathen, und zu demselben hinfuͤhren mußte. Es war nicht weit bis dahin. Wir fanden einen Trupp Wil- den, die in guter Ruhe lagen. Ich hatte das Gluͤck, ihr Ober- haupt selber zu fangen. Wir trieben ihrer so viel vor uns her, als wir ihrer erhalten konnten, Viele aber entwischten.“ „Hierdurch hatte nun der Katzenkrieg ein Ende. Ich wurde Lieutenant zur See, und kam mit meinem Regiment wieder nach Holland . Nun reiste ich mit Urlaub nach Hause, und fand meine Braut noch so, wie ich sie verlassen hatte. Da ich nun mit Geld und Ehre versehen war, so fand ich keinen Widerstand mehr, wir wurden getraut, und nun haben wir schon fuͤnf Kinder.“ Diese Geschichte ergoͤtzte die Reisegesellschaft. Nun haͤtten sowohl der Lieutenant, als auch Stilling gern des Unbe- kannten naͤhere Umstaͤnde gewußt, allein er laͤchelte und sagte: Verschonen Sie mich damit, meine Herren! ich darf nicht. So verfloß dieser Tag unter den angenehmsten Gespraͤchen. Gegen Abend bekamen sie Sturm, und fuhren deßwegen zu Leitersdorf , unterhalb Neuwied , ans Land, wo sie uͤber Nacht blieben. Der liederliche Bursche, den sie bei sich hat- ten, war ein Strasburger, und seinen Eltern entlaufen. Die- ser machte mit dem Passagier bald Freundschaft. Stilling warnte letzten hoͤflich, besonders seinen Wechsel nicht sehen zu lassen, allein das alles half nichts. Er hoͤrte hernach, daß der Knabe um all sein Geld gekommen, und der Strasbur- ger sich aus dem Staube gemacht hatte. Des Abends, als man schlafen gehen wollte, fanden sich nur drei Betten fuͤr fuͤnf Personen. Sie losten, welche zwei und zwei beisammen schlafen sollten, und da fielen die zwei Burschen zusammen, der Lieutenant auf eins allein, und der fremde Herr mit Stilling bekamen das beste. Hier bemerkte nun Stilling die geheimen Kostbarkeiten seines Schlafgesel- len, die etwas sehr Hohes anzeigten. Er konnte diese Art zu reisen, mit einem so hohen Stand nicht zusammen reimen, er begann bald Verdacht zu schoͤpfen; doch, als er merkte, daß der Fremde vertraut mit Gott war, so schaͤmte er sich seines Verdachts und war ruhig. Sie schliefen unter aller- hand vertraulichen Gespraͤchen ein, und des andern Morgens reisten sie wieder ab, und kamen des Abends gesund und wohl zu Coͤlln an. Hier wurde der Fremde thaͤtig. Es gin- gen in aller Geheime vornehme Leute bei ihm ab und zu. Er besorgte sich ein paar Bediente, kaufte Kostbarkeiten ein, und was dergleichen Umstaͤnde mehr waren. Sie logirten Alle zusammen im Geist. Ungeachtet nun Betten genug da- selbst vorraͤthig waren, so wollte doch der Fremde wieder bei Stilling schlafen. Dieses geschah auch. Des Morgens eilte Stilling fort. Er und der Fremde umarmten und kuͤßten sich. Letzterer sagte zu ihm: „Ihre Gesellschaft, mein Herr! hat mir außerordentliches Vergnuͤgen gemacht. Fahren Sie nur fort in Ihrem Lauf, so werden Sie’s in der Welt weit bringen, ich werde Ihrer nie verges- sen.“ Stilling aͤußerte noch einmal sein Verlangen, zu wissen, mit wem er gereist habe. Der Fremde laͤchelte, und sagte: „Lesen Sie die Zeitung fleißig, wenn Sie nach Hause kommen, und wenn Sie den Namen *** finden werden, so denken Sie an mich.“ Stilling reiste nun zu Fuß fort, er hatte noch acht Stunden bis Rasenheim . Unterwegens besann er sich auf den Namen des Fremden, er war ihm bekannt, und doch wußte er nicht, wo er mit ihm hin sollte. Nach acht Tagen las er in der Lippstaͤdtischen Zeitung folgenden Artikel: Coͤlln , den 19. Mai. „Der Herr von *** Ambassadeur des **** Hofes zu **** ist in groͤßter Geheim heute hier durch nach Holland gereist, um wichtige Angelegenheiten zu besorgen.“ Des zweiten Pfingsttags also am Nachmittag kam Stil- ling zu Rasenheim an. Er wurde mit tausend Freuden- thraͤnen empfangen. Christine aber war sich ihrer selbst nicht bewußt, denn sie redete irre, daher als Stilling zu ihr kam, stieß sie ihn weg, denn sie kannte ihn nicht. Er ging ein wenig auf ein anderes Zimmer, indessen erholte sie sich, und man brachte ihr bei, daß ihr Braͤutigam angekom- men sey. Nun konnte sie sich nicht mehr halten. Man rief ihn; er kam. Hier ging nun die zaͤrtlichste Bewillkommung vor, die man sich nur denken kann, aber sie kam Christi- nen theuer zu stehen; sie gerieth in die heftigsten Convulsio- nen, so daß Stilling in aͤußerster Traurigkeit, drei Tage und drei Naͤchte, an ihrem Bette ihren letzten Stoß abwartete. Doch gegen alles Vermuthen erholte sie sich wieder, und bin- nen vierzehn Tagen war sie ziemlich besser, so daß sie zu- weilen am Tage etwas aufstand. Nun wurde diese Verloͤbniß uͤberall bekannt. Die besten Freunde riethen Friedenberg , Beide copuliren zu lassen. Dieses wurde bewilliget, und Stilling , nach vorhergegan- genen gewoͤhnlichen Formalitaͤten 1771, den 17. Junius am Bette mit seiner Christine zum Ehestande eingesegnet. In Schoͤnenthal wohnte ein vortrefflicher Arzt, ein Mann von großer Gelehrsamkeit und Wirksamkeit, noch im- mer mehr und mehr die Natur zu studiren, dabei war er ohne Neid, und hatte das beste Herz von der Welt. Dieser theure Mann hatte Stillings Geschichte zum Theil von seinem Freunde, Herrn Troost , gehoͤrt. Stilling hatte ihn auch bei dieser Gelegenheit verschiedenemal besucht, und sich seine Freundschaft und Unterricht ausgebeten. Dieser hieß Dinkler , und bediente eine weitlaͤufige Praxis. Herr Doktor Dinkler also und Herr Troost wohnten Stillings Kopulation bei: und bei dieser Gelegenheit schlu- gen sie ihm Beide vor, daß er sich in Schoͤnenthal nie- derlassen moͤchte, besonders weil eben just ein Arzt daselbst gestorben war. Stilling wartete abermal auf einen naͤhern Wink von Gott, daher sagte er: er wolle sich darauf beden- ken. Allein die beiden Freunde, Herr Doktor Dinkler und Herr Troost , gaben sich alle Muͤhe, eine Wohnung in Schoͤ- nenthal fuͤr ihn auszuspaͤhen, und diese fanden sie auch, noch ehe Stilling wieder verreiste; auch versprach der Herr Doktor, seine Christine waͤhrend seiner Abwesenheit oͤfters zu besuchen und fuͤr ihre Gesundheit zu sorgen. Herr Friedenberg fand nun auch eine Quelle, fuͤr ihn Geld zu bekommen, und nachdem nun alles angeordnet war, so ruͤstete sich Stilling wieder zur Abreise nach Straß- burg . Des Abends vor diesem traurigen Tage ging er auf die Kammer seiner Gattin. Er fand sie da mit gefalteten Haͤnden auf den Knien liegen. Er trat zu ihr, und sahe sie an: sie war aber starr, wie ein Stuͤck Holz. Er fuͤhlte an ihrem Puls, der ging ganz ordentlich. Er hob sie auf, redete ihr zu, und brachte sie endlich wieder zurechte. Die ganze Nacht verging unter bestaͤndigem Trauren und Kaͤmpfen. Des andern Morgens blieb Christine auf ihrem Ange- sicht im Bette liegen. Sie faßte ihren Mann um den Hals, weinte und schluchzte bestaͤndig. Er riß sich endlich mit Ge- walt von ihr. Seine beiden Schwaͤger begleiteten ihn bis Coͤlln . Noch des andern Tages, ehe er sich in den Postwa- gen setzte, kam ein Bote von Rasenheim , und brachte die Nachricht, daß sich Christine nun beruhigt habe. Dieses machte Stillingen Muth, er fuͤhlte nun eine große Erleichterung, und er zweifelte nicht, er wuͤrde seine getreue liebe Christine gesund wieder finden. Er empfahl sie und sich in die Vaterhaͤnde Gottes, nahm Abschied von seinen Bruͤdern, und fuhr fort. Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 19 Binnen sieben Tagen kam er, ohne Gefahr, oder sonst et- was Merkwuͤrdiges erfahren zu haben, wieder gesund und wohlbehalten in Straßburg an. Sein erster Gang war zu Goͤthe . Der Edle sprang hoch in die Hoͤhe, als er ihn sahe, fiel ihm um den Hals und kuͤßte ihn: Bist du wieder da, guter Stilling ! rief er, und was macht dein Maͤd- chen? Stilling antwortete: Sie ist mein Maͤdchen nicht mehr, sie ist nun meine Frau. „Das hast du gut gemacht,“ erwiederte Jener; „du bist ein excellenter Junge.“ Diesen hal- ben Tag verbrachten sie vollends in herzlichen Gespraͤchen und Erzaͤhlungen. Der bekannte sanfte Lenz war auch nun daselbst angekom- men. Seine artigen Schriften haben ihn beruͤhmt gemacht. Goͤthe, Lenz, Leose und Stilling machten jetzt so einen Zirkel aus, indem es Jedem wohl ward, der nur empfinden kann, was schoͤn und gut ist. Stillings Enthusiasmus fuͤr die Religion hinderte ihn nicht, auch solche Maͤnner herz- lich zu lieben, die freier dachten als er, wenn sie nur keine Spoͤtter waren. Nun setzte er seine medicinischen Studien mit allem Eifer fort, und ließ nichts aus, was nur zum Wesen dieser Wis- senschaft gehoͤrt. Den folgenden Herbst disputirte Herr Goͤthe oͤffentlich, und reiste nach Hause. Er und Stilling mach- ten einen ewigen Bund der Freundschaft zusammen. Leose reiste auch ab nach Versailles, Lenz aber blieb da. Den folgenden Winter las Stilling , mit Erlaubniß des Herrn Professors Spielmann , ein Collegium uͤber die Chemie, praͤparirte auf der Anatomie vollends durch, was ihm noch fehlte, repetirte noch ein und anders, und darauf schrieb er seine lateinische Probschrift selbsten, ohne Jemandes Beistand. Diese dedicirte er auf specielle hoͤchste Erlaubniß, Ihro Chur- fuͤrstl. Durchl, zu Pfalz , seinem gnaͤdigsten Landesfuͤrsten, ließ sich examiniren, und ruͤstete sich zur Abreise. Hier war nun abermal viel Geld noͤthig, er schrieb das nach Hause. Herr Friedenberg erschrack daruͤber. Des Mittags uͤber Tisch wollte er seine Kinder einmal probiren. Sie saßen da alle Groß und Klein. Der Vater fing an: Kinder! euer Schwager hat noch so viel Geld noͤthig, was duͤnkt euch, wolltet ihr ihm wohl das schicken, wenn ihr’s haͤttet? Sie antworteten alle einhellig: Ja! und wenn wir auch unsre Kleider ausziehen und versetzen sollten!“ Das ruͤhrte die Eltern bis zu Thraͤnen, und Stilling schwur ihnen ewige Liebe und Treue, sobald ers hoͤrte. Mit Einem Wort, es kam ein Wechsel nach Straßburg , der hinlaͤng- lich war. Nun disputirte Stilling mit Ruhm und Ehre. Herr Spielmann war Dekanus. Als ihm der nach geendigter Disputation die Licenz gab, so brach er in Lobspruͤche aus und sagte: daß er lange Niemand die Licenz freudiger gege- ben habe, als gegenwaͤrtigem Kandidaten: denn er habe mehr in so kurzer Zeit gethan, als viele Andere in fuͤnf bis sechs Jahren u. s. w. Stilling stand da auf dem Katheder; die Thraͤnen flos- sen ihm haͤufig uͤber die Wangen herunter. Nun war seine Seele lauter Dank gegen Den, der ihn aus dem Staube hervorgezogen und zu einem Beruf geholfen hatte, worin er, seinem Trieb gemaͤß, Gott zu Ehren und dem Naͤchsten zum Nutzen leben und sterben konnte. Den 24. Maͤrz 1772 nahm er von allen Freunden zu Straßburg Abschied, und reiste fort. Zu Mannheim uͤberreichte er seinem Durchlauchtigsten Chur- und Landes-Fuͤrsten seine Probschrift, deßgleichen auch allen de- nen Herren Ministern. Er wurde bei dieser Gelegenheit Correspon- dent der Churpfaͤlzischen Gesellschaft der Wissenschaften, und darauf reiste er bis nach Coͤlln , wo ihn Herr Frieden- berg mit tausend Freuden empfing; unterwegens begegneten ihm auch seine Schwaͤger zu Pferde und holten ihn ab. Den 5. April kam er, in Gesellschaft gemeldter Freunde, zu Ra- senheim an. Seine Christine war oben auf ihrem Zim- mer. Sie lag mit dem Angesicht auf dem Tisch, und weinte mit lauter Stimme. Stilling druͤckte sie an seine Brust, herzte und kuͤßte sie. Er fragte, warum sie jetzt weine? „Ach! antwortete sie: ich weine, daß ich nicht Kraft genug habe, Gott fuͤr alle seine Guͤte zu danken.“ Du hast Recht, mein Engel! versetzte Stilling : aber unser ganzes Leben in Zeit und Ewigkeit soll lauter Dank seyn. Freue dich nun, daß uns der Herr bis dahin geholfen hat! Den 1. Mai zog er mit seiner Gattin nach Schoͤnenthal in sein bestimmtes Haus, und fing seinen Beruf an. Herr Doktor Dinkler und Herr Troost sind daselbst die treuen Gefaͤhrten seines Ganges und Wandels. Bei der ersten Doktorpromotion zu Straßburg empfing er durch einen Notarium den Doktorgrad, und dieses war nun auch der Schluß seines akademischen Laufs. Seine Familie im Salen’schen Land hoͤrte das alles mit entzuͤckender Freude. Wilhelm Stilling aber schrieb im ersten Brief an ihn nach Schoͤnenthal : „ Ich hab’ genug, daß mein Sohn Joseph noch lebt, ich muß hin und ihn sehen, ehe ich sterbe !“ Dir nah ich mich — nah’ mich dem Throne; Dem Thron der hoͤchsten Majestaͤt! Und mische zu dem Jubeltone Des Seraphs, auch mein Dankgebet. Bin ich schon Staub — ja Staub der Erden, Fuͤhl’ ich gleich Suͤnd’ und Tod in mir, So soll ich doch ein Seraph werden, Mein Jesus Christus starb dafuͤr. Wort ist nicht Dank. — Nein! edle Thaten, Wie Christus mir das Beispiel gibt, Vermischt mit Kreuz, mit Thraͤnensaaten, Sind Weihrauch, den die Gottheit liebt. Dieß sey mein Dank, wozu mein Wille Sey jede Stunde Dir geweiht! Gib, daß ich diesen Wunsch erfuͤlle Bis an das Thor der Ewigkeit! — IV. Heinrich Stilling ’s häusliches Leben . Eine wahrhafte Geschichte . Stilling’s sämmtl. Schriften. I. Band. 20 Heinrich Stilling’s häusliches Leben. Den 1. Mai 1772 des Nachmittags wanderte Stilling mit seiner Christine zu Fuß nach Schoͤnenthal und Herr Friedenberg begleitete sie; die ganze Natur war still, der Himmel heiter, die Sonne schien uͤber Berg und Thal, und ihre warmen Fruͤhlingsstrahlen entfalteten Kraͤuter, Blaͤtter und Bluͤthen. Stilling freute sich seines Lebens und seiner Schicksale, und er glaubte gewiß, jetzt wuͤrde sein Wirkungs- kreis groß und weit umfassend werden. Christine hoffte das Naͤmliche und Friedenberg schritt bald vorne, bald hinten langsam fort, rauchte seine Pfeife, und wie ihm etwas Wirthschaftliches einfiel, so sagte er’s kurz und buͤndig, denn er glaubte, solche Erfahrungssaͤtze wuͤrden den neuangehenden Hausleuten nuͤtzlich seyn. Als sie nun auf die Hoͤhe kamen, von welcher sie Schoͤnenthal uͤbersehen konnten, so durch- schauerte Stillingen eine unbeschreibliche Empfindung, die er sich nicht erklaͤren konnte; es ward ihm innig wohl und weh, und er schwieg still, betete, und stieg mit seiner Begleitung hinab. Diese Stadt liegt in einem sehr anmuthigen Thal, welches von Morgen gegen Abend in gerader Linie fortlaͤuft und von einem mittelmaͤßigen Fluͤßchen, der Wupper , durchstroͤmt wird; den Sommer uͤbersieht man das ganze Thal zwei Stun- den hinauf, bis an die Maͤrkische Graͤnze mit leinen Garn, wie beschneit, und das Gewuͤhl von thaͤtigen und sich gluͤck- lich naͤhrenden Menschen ist unbeschreiblich; Alles steht voller einzelner Haͤuser, ein Garten, ein Baumhof stoͤßt an den an- dern, und ein Spaziergang durch dieses Thal hinauf ist para- diesisch. Stilling traͤumte sich eine selige Zukunft, und unter diesen Traͤumen schritt er in’s Getoͤse der Stadt hinein. 20 * Nach einigen Minuten fuͤhrte ihn sein Schwiegervater in das Haus, welches ihm Dinkler und Troost zu seiner Wohnung bestimmt und gemiethet hatten; es stand von der Hauptstraße etwas zuruͤck, nahe an der Wupper und hatte einen kleinen Garten nebst einer herrlichen Aussicht in das suͤd- liche Gebirge. Die Magd war ein paar Tage vorausgegan- gen, hatte Alles gereinigt und den kleinen Vorrath von Haus- geraͤthe in Ordnung gebracht. Als man nun Alles hinlaͤnglich besehen und beurtheilt hatte, so nahm Friedenberg mit vielen heißen Gegenswuͤnschen Abschied und wanderte wieder nach Rasenheim zuruͤck. Jetzt stand nun das junge Ehepaar da, und sah sich mit nassen Augen an — der gesammelte Hausrath war knapp zugeschnit- ten, sechs breterne Stuͤhle, Tisch und ein Bett fuͤr sie und eins fuͤr die Magd, ein paar Schuͤsseln, sechs fayancene Tel- ler, ein paar Toͤpfe zum Kochen u. s. w., und dann die hoͤchstnoͤthige Leinwand, nebst den unentbehrlichsten Kleidern war Alles, was man in dem großen Hause auftreiben konnte. Man vertheilte dieses Geraͤthe hin und her, und doch sah es uͤberall unbeschreiblich leer aus. An den dritten Stock dachte man gar nicht, der war wuͤste und blieb’s auch. Und nun die Kasse? — diese bestand in Allem aus fuͤnf Reichsthalern in baarer Muͤnze, und damit Punktum. Wahrlich! wahrlich! es gehoͤrte viel Vertrauen auf Gottes Vatersorge dazu, um die erste Nacht ruhig schlafen zu koͤnnen, und doch schlief Stilling mit seinem Weibe recht wohl; denn sie zweifelten Beide keinen Augenblick, Gott werde fuͤr sie sorgen. Indessen plagte ihn zu gewissen Zeiten seine Ver- nunft sehr, er gab ihr aber kein Gehoͤr, und glaubte nur. Des andern Tages machte er seine Visiten, Christine aber gar keine, denn ihr Zweck war, so unbekannt und verborgen zu leben, als es nur immer der Wohlstand erlauben wuͤrde. Jetzt fand nun Stilling einen großen Unterschied im Be- tragen seiner kuͤnftigen Mitbuͤrger und Nachbarn: seine pieti- stischen Freunde, die ihn ehemals als einen Engel Gottes em- pfingen, ihn mit den waͤrmsten Kuͤssen und Gegenswuͤnschen umarmten, blieben jetzt von Ferne stehen, buͤckten sich blos und waren kalt; das war aber auch kein Wunder, denn er trug nun eine Peruͤcke mit einem Haarbeutel, ehemals war sie blos rund und nur ein wenig gepudert gewesen, dazu haͤtte er auch Hand- und Halskrausen am Hemd, und war also ein vornehmer, weltfoͤrmiger Mann geworden. Hin und wieder versuchte man’s, mit ihm auf den alten Schlag von der Re- ligion zu reden, dann aber erklaͤrte er sich freundlich und ernst- lich: er habe nun lange genug von Pflichten ge- schwatzt, jetzt wolle er schweigen und sie aus- uͤben ; und da er vollends keiner ihrer Versammlungen mehr beiwohnte, so hielten sie ihn fuͤr einen Abtruͤnnigen und zogen nun bei allen Gelegenheiten in einem lieblosen und bedauern- den Ton uͤber ihn los. Wie sehr ist diese Maxime dieser sonst so guten und braven Leute zu bejammern! — ich gestehe gerne, daß die rechtschaffensten Leute und besten Christen unter ihnen sind, aber sie verderben alles Gute wieder durch ihren Hang zum Richten; wer nicht mit ihnen gerad Eines Sinnes ist, mit ihnen von Religion taͤndelt und empfindelt, der gilt nichts , und wird fuͤr unwiedergeboren gehalten; sie beden- ken nicht, daß das Maul-Christenthum gar keinen Werth hat, sondern daß man sein Licht durch gute Handlungen muͤsse leuchten lassen. Mit Einem Wort: Stilling wurde von seinen alten Freunden nicht allein ganz verlassen, sondern so- gar verlaͤumdet ; und als Arzt brauchten sie ihn fast gar nicht. Die Menge der reichen Kaufleute empfingen ihn blos hoͤflich, als einen Mann, der kein Vermoͤgen hat, und dem man gleich auf den ersten Blick den tiefen Eindruck beibrin- gen muß: „hab’ nur ja niemals das Herz, Geld, Huͤlfe und Unterstuͤtzung von mir zu begehren; ich bezahle deine Muͤhe nach Verdienst, und weiter nichts.“ Doch fand er auch viele edle Maͤnner, wahre Menschenseelen, deren Blick edle Ge- sinnungen verrieth.“ Das alles machte Stilling doch das Herz schwer: bis dahin war er entweder an einen voͤllig besorgten Tisch gegan- gen, oder er hatte bezahlen koͤnnen; die Welt um ihn her hatte wenig Bezug auf ihn gehabt, und bei allen seinen Lei- den war sein Wirkungskreis unbedeutend gewesen; aber jetzt sah er sich auf Einmal in eine große, glaͤnzende, kleinstaͤdtische, geldhungrige Kaufmannswelt versetzt, mit welcher er im ge- ringsten nicht harmonirte, wo man die Gelehrten nur nach dem Verhaͤltniß ihres Geldvorraths schaͤtzte, wo Empfindsam- keit, Lektuͤre und Gelehrsamkeit laͤcherlich war, und wo nur der Ehre genoß, der viel erwerben konnte. Er war also ein hoͤchst kleines Lichtchen, bei dem sich Niemand aufhalten, viel- weniger erwaͤrmen mochte. Stilling fing also an, Kummer zu spuͤren. Indessen vergingen zwei, es vergingen drei Tage, ehe sich Jemand fand, der seiner Huͤlfe bedurfte, und die fuͤnf Reichs- thaler schmolzen verzweifelt zusammen. Den vierten Tag des Morgens aber kam eine Frau von Dornfeld , einem Flecken, der drei Viertelstunden von Schoͤnenthal ostwaͤrts liegt; so wie sie zur Thuͤr hereintrat, fing sie mit thraͤnenden Augen an: „Ach, Herr Doktor! wir haben von Ihnen gehoͤrt, daß „Sie ein sehr geschickter Mann sind, und Etwas verstehen, „nun haben wir ein großes, großes Ungluͤck im Haus, und „da haben wir alle Doktoren fern und nah gebraucht, aber „Niemand — Keiner kann ihm helfen; nun komme ich zu „Ihnen; ach, helfen Sie doch meinem armen Kinde!“ Lieber Gott! dachte Stilling bei sich selbst, am ersten Patienten, den ich bekomme, haben sich alle erfahrne Aerzte zu Schanden kurirt, was werde ich Unerfahrner denn ausrich- ten? Er fragte indessen: Was fehlt denn eurem Kinde? Die arme Frau erzaͤhlte mit vielen Thraͤnen die Geschichte ihres Kranken, welche vornehmlich auf folgende Umstaͤnde hin- auslief: Der Knabe war eilf Jahr alt, und hatte vor etwa einem Vierteljahr die Roͤtheln gehabt; aus Unachtsamkeit seiner Waͤr- ter war er zu fruͤh in die kalte Luft gekommen, die Roͤthel- materie war zuruͤck in’s Hirn getreten, und hatte nun ganz sonderbare Wirkungen hervorgebracht: seit sechs Wochen lag der Kranke ganz ohne Empfindung und Bewußtseyn im Bett, er regte kein Glied am ganzen Leib, außer den rechten Arm, welcher Tag und Nacht unaufhoͤrlich, wie der Perpendickel einer Uhr, hin und her fuhr; durch Einfloͤßung duͤnner Bruͤhen hatte man ihm bis daher das Leben erhalten, außerdem aber durch keine Anwendung irgend einer Arznei etwas ausrichten koͤnnen. Die Frau beschloß ihre weitlaͤufige Erzaͤhlung mit dem Verdacht: Sollte das Kind auch wohl behext seyn ? Nein, antwortete Stilling , das Kind ist nicht behext, ich will kommen und es besehen. Die Frau weinte wieder und sagte: „Ach, Herr Doktor, thun Sie das doch!“ und nun ging sie fort. Doktor Stilling wanderte mit großen Schritten in sei- nem Zimmer auf und ab; lieber Gott! dachte er: wer kann da Anfang und Ende finden? — daß man alle moͤgliche Mit- tel gebraucht hat, daran ist kein Zweifel, denn die Leute wa- ren wohlhabend, was bleibt mir Anfaͤnger also uͤbrig? In diesen schwermuͤthigen Gedanken nahm er Hut und Stock und reiste nach Dornfeld . Auf dem ganzen Wege betete er zu Gott um Licht und Segen und Kraft; das Kind fand er ge- rade so, wie es seine Mutter beschrieben hatte, die Augen wa- ren geschlossen, es holte ordentlich Athem und der rechte Arm fuhr im regelmaͤßigen Takt von der Brust gegen die rechte Seite immer hin und her; er setzte sich hin, besahe und be- trachtete, und fragte Alles aus, und bei dem Weggehen beor- derte er die Frau, sie moͤchte in einer Stunde nach Schoͤ- nenthal zu ihm kommen, er wolle waͤhrend der Zeit uͤber den seltsamen Umstand nachdenken, und dann Etwas verord- nen. Auf dem Wege nach Hause dachte er hin und her, was er dem Kinde wohl Nuͤtzliches verordnen koͤnnte; endlich fiel ihm ein, daß Herr Spielmann Dippels thierisches Oel als ein Mittel gegen die Zuckungen geruͤhmt haͤtte; dieß Medikament war ihm desto lieber, denn er glaubte sicher, daß es keiner von den Aerzten bisher wuͤrde gebraucht haben, weil es außer Mode gekommen sey; er blieb also dabei, und so- bald er nach Hause kam, verschrieb er ein Saͤftchen, von wel- chem jenes Oel die Basis war; die Frau kam und holte es ab. Kaum waren zwei Stunden verflossen, so kam ein Bote, welcher Stillingen schleunig zu seinem Patienten abrief. Er lief fort; so wie er zur Thuͤr hereintrat, sah er den Knaben froh, munter und gesund im Bett sitzen; und man erzaͤhlte ihm, das Kind habe kaum ein Zuckerloͤffelchen voll von dem Saͤftchen hinuntergeschluckt, so habe es die Au- gen geoͤffnet, sey erwacht, habe Essen gefordert, und der Arm sey ruhig und gerade so geworden, wie der andere. Wie dem guten Stilling dabei zu Muthe war, das laͤßt sich nicht beschreiben; das Haus war voller Menschen, die das Wunder sehen wollten; Alle schauten ihn wie einen Engel Gottes mit Wohlgefallen an. Jeder segnete ihn, die Einen aber weinten Thraͤnen der Freude und wußten nicht, was sie dem geschick- ten Doktor thun sollten. Stilling dankte Gott innig in seiner Seele, und seine Augen waren voll Thraͤnen der Wonne; indessen schaͤmte er sich von Herzen des Lobs, das man ihm beilegte, und das er so wenig verdiente, denn die ganze Kur war weder Methode noch Ueberlegung, sondern blo- ßer Zufall, oder vielmehr goͤttliche vaͤterliche Vorsehung. Wenn er sich den ganzen Vorfall dachte, so konnte er sich kaum des lauten Lachens entwehren, daß man von seiner stu- penden Geschicklichkeit redete, und er war sich doch bewußt, wie wenig er gethan hatte, indessen hieß ihn die Klugheit schwei- gen und alles fuͤr bekannt annehmen, doch ohne sich eitle Ehre anzumaßen; er verschrieb also nun noch abfuͤhrende und staͤr- kende Mittel und heilte das Kind vollends. Ich kann hier dem Drang meines Herzens nicht wehren, jungen Aerzten eine Lehre und Warnung mitzutheilen, die aus vielen Erfahrungen abstrahirt ist, und die auch dem Pub- likum, welches sich solchen unerfahrnen Maͤnnern anvertrauen muß, nuͤtzlich seyn kann: Wenn der Juͤngling auf die Uni- versitaͤt kommt, so ist gemeiniglich sein erster Gedanke, bald fertig zu werden: denn das Studiren kostet Geld, und man will doch auch gern bald sein eigenes Brod essen; die noͤthig- sten Huͤlfswissenschaften: Kenntniß der griechischen und latei- nischen Sprache, Mathematik, Physik, Chemie und Naturge- schichte werden versaͤumt, oder wenigstens nicht gruͤndlich ge- nug studirt; im Gegentheil verschwendet man die Zeit mit sub- tilen anatomischen Gruͤbeleien, hoͤrt dann die uͤbrigen Collegien handwerksmaͤßig, und eilt nun aus Krankenbett. Hier aber findet man Alles ganz anders, man weiß wenig oder nichts von dem geheimen Gang der Natur und soll doch Alles wis- sen; der junge Arzt schaͤmt sich, seine Unkunde zu gestehen, er schwadronirt also ein Galimathias daher, wobei dem erfahr- nen Praktiker die Ohren gellen, setzt sich hin, und verschreibt etwas nach seiner Phantasie; wenn er nun noch einigermaßen Gewissen hat, so waͤhlt er Mittel, die wenigstens nicht scha- den koͤnnen; allein wie oft wird dadurch der wichtigste Zeit- punkt versaͤumt, wo man nuͤtzlich wirken koͤnnte? — und uͤber das Alles glaubt man manchmal etwas Unschaͤdliches ver- schrieben zu haben und bedenkt nicht, daß man auch dadurch noch schaden koͤnne, weil man die Krankheit nicht kennt. Durchaus sollten also die Juͤnglinge nach vollstaͤndig erlang- ten Kenntnissen der Huͤlfswissenschaften, die Wundarznei aus dem Grunde studiren, denn diese enthaͤlt die zuverlaͤßigsten Er- kenntnißgruͤnde, aus welchen man nach der Analogie auf die innern Krankheiten schließen kann; dann muͤßten sie mit dem Lehrer der praktischen Arzneikunde, der aber selbst ein sehr gu- ter Arzt seyn muß, am Krankenbett die Natur studiren, und dann endlich, aber man merke wohl! unter der Leitung eines geschickten Mannes , ihr hoͤchst wichtiges Amt an- treten! — Gott! wo fehlt es mehr, als in der Einrichtung des Medicinalwesens, und in der dazu gehoͤrigen Polizey? — Diese erste Kur machte ein großes Geraͤusch; nun kamen Blinde, Lahme, Kruͤppel und unheilbare Kranke von aller Art; allein Dippels Oel half nicht Allen, und fuͤr alle Schaͤden hatte Stilling noch kein solches Spezificum gefunden; der Zulauf ließ also wieder nach; doch kam er nun in eine ordent- liche Praris, die ihm den nothwendigsten Unterhalt verschaffte. Seine Kollegen fingen indessen an, uͤber ihn loszuziehen, denn sie hielten die Kur fuͤr eine Quacksalberei und machten das Publikum ahnden, daß er ein wahrer Charlatan sey und wer- den wuͤrde. Dieses vorlaͤufige Geruͤcht kam nun auch nach Ruͤsselstein ans Medicinalkollegium, und brachte den Raͤthen in denselben nachtheilige Ideen von ihm bei, er wurde dahin zum Examen gefordert, in welchem er ziemlich hergenommen wurde; doch bestand er trotz allen Versuchen der Schikane so, daß Niemand etwas ihm anhaben konnte; er bekam also das Patent eines privilegirten Arztes. Gleich zu Anfang dieses Sommers machte Stilling be- kannt, daß er den jungen Wundaͤrzten und Barbiergesellen ein Collegium uͤber die Pysiologie lesen wolle; dieses kam zu Stande, die Herren Dinkler und Troost besuchten diese Stunde selbst fleißig, und von der Zeit an hat er ununterbrochen Collegia gelesen; wenn er oͤffentlich redete, dann war er in seinem Element, uͤber dem Sprechen entwickelten sich seine Be- griffe so, daß er oft nicht Worte genug finden konnte, um Al- les auszudruͤcken: seine ganze Existenz heiterte sich auf und ward zu lauter Leben und Darstellung. Ich sage das nicht aus Ruhmsucht, das weiß Gott; Er hatte ihm das Talent gegeben, Stilling hatte Nichts dabei gethan, seine Freunde ahndeten oft, er wuͤrde dereinst noch oͤffentlicher Lehrer werden. Dann seufzte er bei sich selbst, und wuͤnschte, aber sahe keinen Weg vor sich, wie er diese Stufe wuͤrde ersteigen koͤnnen. Kaum hatte Stilling etliche Wochen unter solchen Ge- schaͤften zugebracht, als auf einmal die schwere Hand des All- maͤchtigen wiederum die Ruthe zuckte und schrecklich auf ihn zuschlug. Christine fing an zu trauern und krank zu wer- den, nach und nach fanden sich ihre fuͤrchterlichen Zufaͤlle in all’ ihrer Staͤrke wieder ein; sie bekam langwierige, heftige Zuckungen, die manchmal Stunden lang dauerten und den ar- men schwaͤchlichen Koͤrper dergestalt zusammenzogen, daß es erbaͤrmlich anzusehen war; oft warfen sie die Convulsionen aus dem Bett heraus, wobei sie so schrie, daß mans etliche Haͤu- ser weit in der Nachbarschaft hoͤren konnte; dieses waͤhrte et- liche Wochen fort, als ihre Umstaͤnde zusehends gefaͤhrlicher wurden. Stilling sahe sie fuͤr vollkommen hektisch an, denn sie hatte wirklich alle Symptomen der Lungensucht; jetzt fing er an zu zagen und mit Gott zu ringen, alle seine Kraͤfte erlagen, und diese neue Gattung von Kummer, ein Weib zu verlieren, das er so zaͤrtlich liebte, schnitt ihm tiefe Wunden ins Herz; dazu kamen noch taͤglich neue Nahrungssorgen: er hatte an einem solchen Handelsort keinen Kredit, zudem war Alles sehr theuer und die Lebensart kostbar; mit jedem Erwa- chen des Morgens fiel ihm die Frage wie ein Centner schwer auf’s Herz: wirst du auch diesen Tag dein Auskom- men finden ? denn der Fall war sehr selten, daß er zwei Tage Geldvorrath hatte, freilich stunden ihm seine Erfahrungen und Glaubensproben deutlich vor Augen, aber er sah denn doch taͤglich noch froͤmmere Leute, die mit dem bittersten Man- gel rangen, und kaum Brod genug hatten, den Hunger zu stil- len; was konnte ihn also anders troͤsten, als ein unbedingtes Hingeben an die Barmherzigkeit des himmlischen Vaters, der ihn nicht wuͤrde uͤber Vermoͤgen versucht werden lassen? Dazu kam noch ein Umstand: er hatte den Grundsatz, daß jeder Christ, und besonders der Arzt, ohne zu vernuͤnfteln, blos im Vertrauen auf Gott, wohlthaͤtig seyn muͤsse: dadurch beg g er nun den großen Fehler, daß er den geheimen Haus- armen oͤfters die Arzneimittel in der Apotheke auf seine Rech- nung machen ließ, und sich daher in Schulden steckte, die ihm hernach manchen Kummer machten; auch kam es ihm nicht darauf an, bei solchen Gelegenheiten das Geld, welches er ein- genommen hatte, hinzugeben. Ich kann nicht sagen, daß in solchen Faͤllen innerer Trieb zur Wohlthaͤtigkeit seine Handlun- gen leitete, nein! es war auch ein gewisser Leichtsinn und Nichtachtung des Geldes damit verbunden; welche Schwaͤche des Charakters Stilling damals noch nicht kannte, aber end- lich durch viele schwere Proben genugsam kennen lernte. Daß er aber auf diese Weise eine sehr ausgebreitete Praxis bekam, ist kein Wunder, er hatte immer uͤberfluͤssig zu thun, aber seine Muͤhe trug wenig ein. Christine haͤrmte sich auch daruͤber ab, denn sie war sehr sparsam, und er sagte ihr nichts davon, wenn er irgend Jemand etwas gab, um keine Vorwuͤrfe zu hoͤren, denn er glaubte gewiß, Gott wuͤrde ihn auf andere Weise dafuͤr segnen. Sonst waren Beide sehr maͤßig in Nah- rung und Kleidung, sie begnuͤgten sich blos mit dem, was der aͤußerste Wohlstand erforderte. Christine wurde also immer schlimmer, und Stilling glaubte nun gewiß, er wuͤrde sie verlieren muͤssen. An einem Vormittag, als er am Bette saß und ihr aufwartete, fing ihr der Odem auf Einmal an still zu stehen, sie reckte die Arme gegen ihren Mann aus, sah ihn mit durchbohrendem Blick an, und hauchte die Worte aus: Lebe wohl — Engel — Herr, erbarme dich meiner — ich sterbe ! Damit starrte sie hin, alle Zuͤge des Todes erschienen in ihrem Gesicht, der Odem stand, sie zuckte, und Stilling stand wie ein armer Suͤnder vor seinem Scharfrichter, er fiel endlich uͤber sie her, kuͤßte sie, und rief ihr Worte des Trostes ins Ohr, allein sie war ohne Bewußtseyn; in dem Augenblick, als Stilling Huͤlfe rufen wollte, kam sie wieder zu sich selbst; sie war viel besser und merklich erleichtert. Stilling hatte bei Weitem noch nicht medizinische Erfahrung genug, um alle die Rollen zu kennen, welche das schreckliche hysterische Uebel in so schwaͤchlichen und reizbaren Koͤrpern zu spielen pflegt; daher kam’s, daß er so oft in Angst und Schrecken gesetzt wurde. Christine starb also nicht, aber sie blieb noch gefaͤhrlich krank und die fuͤrchterlichen Paroxismen dauerten immer fort, sein Leben war daher eine immerwaͤhrende Folter, und jeder Tag hatte neue Martern fuͤr ihn und seine Gattin in Bereitschaft. Gerade in dieser schweren Pruͤfungszeit kam ein Bote von einem Ort, der fuͤnf Stunden von Schoͤnenthal entlegen war, um ihn zu einer reichen und vornehmen Person zu holen, welche an einer langwierigen Krankheit darnieder lag; so schwer es ihm auch ankam, seine eigene Frau in diesem truͤbseligen Zu- stand zu verlassen, so sehr fuͤhlte er doch die Pflicht seines Amts, und da die Umstaͤnde jener Patientin nicht gefaͤhrlich waren, schickte er den Boten wieder fort und versprach den andern Tag zu kommen; er richtete also seine Sachen darnach ein, um einen Tag abwesend seyn zu koͤnnen. Des Abends um sieben Uhr schickte er die Magd fort, um eine Flasche Malaga zu holen, denn mit diesem Wein konnte sich Christine er- quicken; wenn sie nur einige Tropfen nahm, so fand sie sich gestaͤrkt. Nun war aber Christinens juͤngere Schwester, ein Maͤdchen von 13 Jahren, gerade da, um die Kranke zu be- suchen, diese ging also mit der Magd fort, um den Wein zu holen. Stilling empfahl dem Maͤdchen ernstlich, bald wie- der zu kommen, weil noch Verschiedenes zu thun und auf seine morgende Reise zuzuruͤsten sey; indessen geschah es nicht: der schoͤne Sommerabend verfuͤhrte die ohnehin so leichtsinnige Magd, spazieren zu gehen, daher kamen sie erst um neun Uhr nach Hause. Stilling hatte also seiner Frau das Bett machen und allerhand Arbeiten selbst verrichten muͤssen. Beide waren daher mit Recht verdruͤßlich. So wie die Magd zur Thuͤr hineintrat, fing Stilling in einem sanften aber ernsten Ton an, ihr Ermahnungen zu geben und sie an ihre Pflich- ten zu erinnern; die Magd schwieg still und ging mit der Jungfer Friedenberg die Treppe hinab in die Kuͤche. Nach einer kleinen Weile hoͤrten sie Beide eine dumpfe, schreckliche und fuͤrchterliche Stimme, und zugleich das Huͤlferufen der Schwester. Die ohnehin schauerliche Abenddaͤmmerung und dann der schreckliche Ton machten einen solchen Eindruck, daß Stilling selbst eiskalt uͤber den ganzen Leib wurde, die Kranke aber schrie uͤberlaut fuͤr Schrecken. Stilling lief indessen die Treppe hinab, um zu sehen, was vorging. Da fand er nun die Magd mit fliegenden Haaren am Waschstein stehen und wie eine Unsinnige jenen scheußlichen Ton von sich geben, der Geifer floß ihr aus dem Mund und sie sahe aus wie eine Furie. Nun uͤberlief Stillingen der Ingrimm, er griff die Magd am Arm, drehte sie herum und sagte ihr mit Nachdruck: Gro- ßer Gott, was macht sie? — welcher Satan treibt sie, mich in meinen traurigen Umstaͤnden so zu martern — hat sie denn kein menschliches Gefuͤhl mehr? — Dieß war nun Oel ins Feuer gegossen, sie krisch konvulsivisch, riß sich los, fiel hin, und bekam die fallende Sucht auf die schrecklichste Weise; in dem naͤmlichen Augenblick hoͤrte er auch Christine die fuͤrch- terlichsten Toͤne ausstoßen, er lief also die Treppe hinauf und fand in der Daͤmmerung seine Frau in der allerschrecklichsten Lage, sie hatte alles Bettwerk herausgeworfen, und wuͤhlte krampfigt unten im Stroh, alle Besonnenheit war fort, sie knirschte, und die Kraͤmpfe zogen ihr den Kopf hinterwaͤrts bis an die Fersen. Jetzt schlugen ihm die Wellen des Jam- mers uͤber dem Kopf zusammen, er lief hinaus zu den naͤch- sten Nachbarn und alten Freunden und rief mit lautem Weh- klagen um Huͤlfe; Maͤnner und Weiber kamen und suchten beide Leidende wieder zurecht zu bringen; mit der Magd ge- lang es am ersten, sie kam wieder zu sich selbst, und wurde zu Bette gebracht, Christine aber blieb noch ein paar Stun- den in dem betruͤbten Zustande, dann wurde sie still; nun machte man ihr das Bett und legte sie hinein, sie lag wie ein Schlafender, ganz ohne Bewußtseyn und ohne sich ermun- tern zu koͤnnen; daruͤber wurde es Tag, zwei Nachbarinnen blieben nebst der Schwester bei Christinen , und Stilling ritt mit dem schwersten Herzen von der Welt zu seiner Pa- tientin. Als er des Abends wieder kam, so fand er seine Frau noch in der naͤmlichen Betaͤubung, und erst des andern Mor- gens kam sie wieder zu sich selbst. Jetzt jagte er die boshafte Magd fort und miethete eine andere. Nun verzog sich auch das Gewitter fuͤr diesmal, Christine wurde wieder gesund, und es fand sich, daß alle diese schrecklichen Zufaͤlle Folge einer anfangenden Schwanger- schaft gewesen waren. Den folgenden Herbst hatte sie wieder mit einer eiternden Brust zu thun, welche abermals viele schwere Umstaͤnde veranlaßte; außerdem war sie waͤhrend der Zeit recht gesund und munter. Stillings haͤusliches Leben hatte also in jeder Ruͤcksicht einen schweren, kummervollen Anfang genommen. In seiner ganzen Lage war gar nichts Angenehmes, als die Zaͤrtlichkeit, womit ihn Christine behandelte; Beide liebten sich von Her- zen und ihr Umgang mit einander war ein Muster fuͤr Ehe- leute. Doch machte ihm auch die uͤberschwengliche Liebe sei- ner Frau zuweilen recht bittere Stunden, denn sie artete oͤf- ters in Eifersucht aus; indessen verlor sich diese Schwachheit in den ersten paar Jahren ganz. Im Uebrigen aber war Stillings ganze Verfassung dem Zustand eines Wanderers aͤhnlich, der in der Nacht durch einen Wald voller Raͤuber und reißender Thiere reist, und sie von Zeit zu Zeit nah um sich her rauschen und bruͤllen hoͤrt. Ihn quaͤlten immerwaͤh- rende Nahrungssorgen, er hatte wenig Gluͤck in seinem Be- ruf, wenig Liebe bei dem Publikum, unter welchem er lebte, und also keinen troͤstenden Umgang. Niemand floͤßte ihm Muth ein, denn die es gekonnt haͤtten, kannten ihn und er sie nicht, und die ihn und seine Lage kannten und bemerkten, verach- teten ihn, oder er war ihnen gleichguͤltig. Kam er zuweilen nach Rasenheim , so durfte er nichts sagen, um keine Sor- gen zu erwecken, denn Herr Friedenberg war nun fuͤr das Kapital, mit welchem er studirt hatte, Buͤrge geworden; sogar seiner Christine mußte er seinen Kummer verbergen, denn ihr zaͤrtliches Gemuͤth haͤtte ihn nicht mit ihm tragen koͤnnen, er mußte ihr also noch Muth einsprechen, und ihr die beste Hoffnung machen. Mit Stillings Beruf und Krankenbedienung war es uͤber- haupt eine sonderbare Sache; so lange er unbemerkt unter den Armen und unter dem gemeinen Volk wirkte, so lange that er vortreffliche Kuren, fast Alles gelang ihm; sobald er aber einen Vornehmen, auf den viele Augen gerichtet waren, zu bedienen bekam, so wollte es auf keinerlei Weise fort, daher blieb sein Wirkungskreis immer auf Leute, die wenig bezahlen konnten, eingeschraͤnkt. Doch laͤßt sich dieser seltsam scheinende Umstand leicht begreifen: Seine ganze Seele war System, Alles sollte ihm nach Regeln gehen, daher hatte er gar keine Anlage zu der feinen und erlaubten Charlatanerie, die dem praktischen Arzt, der Etwas verdienen und vor sich bringen will , so noͤthig ist; wenn er also einen Kranken sah, so unter- suchte er seine Umstaͤnde, machte alsdann einen Plan, und ver- fuhr nach demselben. Gelang ihm sein Plan nicht, so war er aus dem Feld geschlagen; nun arbeitete er mit Verdruß und konnte sich nicht mehr helfen. Bei gemeinen und robusten Koͤr- pern, in welchen die Natur regelmaͤßiger und einfacher wirkt, gelang ihm seine Methode am leichtesten, aber da, wo Wohlle- ben, feinere Nerven, verwoͤhnte Empfindung und Einbildung mit im Spiel waren, und wo die Krankenbedienung aus hun- derterlei Arten von wichtig scheinender Geschaͤftigkeit zusammen- gesetzt seyn mußte, da war Stilling nicht zu Haus. Dieß Alles floͤßte ihm allmaͤhlig einen tiefen Widerwillen gegen die Arzneikunde ein, und bloß der Gedanke: Gott habe ihn zum Arzt bestimmt, und er werde ihn also nach und nach in seinem Berufe gluͤcklich machen, erhielt seine Seele aufrecht und in unermuͤdeter Thaͤtigkeit. Aus diesem Grunde faßte er schon im ersten Sommer den riesenmaͤßigen Entschluß, so lange zu studiren und nachzudenken, bis er’s in seinem Beruf zur mathe- matischen Gewißheit gebracht haͤtte; er kam auch bei dieser muͤhseligen Arbeit auf wichtige Spuren und er entdeckte viele neue philosophische Wahrheiten; allein je weiter er forschte, desto mehr fand er, daß er immer ungluͤcklicher werden wuͤrde, je mehr Grund und Boden er in seinem Beruf faͤnde; denn er sahe immer mehr ein, daß der Arzt sehr wenig thun, also auch wenig verdienen koͤnne; daruͤber wurde seine Hoffnung geschwaͤcht, die Zukunft vor seinen Augen dunkel, gerade wie ein Wanderer, den auf unbekannten gefaͤhrlichen Wegen ein duͤsterer Nebel uͤber- faͤllt, so daß er keine zehn Schritte vor sich weg sehen kann. Er warf sich also blindlings in die Vaterarme Gottes, hoffte, wo nichts zu hoffen war, und pilgerte seinen Weg sehr schwer- muͤthig fort. Darf ich’s sagen, Freunde! Leser! daß Stilling bei dem allem ein gluͤckseliger Mann war? — Was ist denn Men- schenbestimmung anders, als Vervollkommnung der Existenz, um Gluͤckseligkeit um sich her verbreiten zu koͤnnen? — Gott- und Christusaͤhnlichkeit ist das strahlende Ziel, das wie Mor- genglanz dem Sterblichen von Jugend auf entgegen glaͤnzt; allein wo ist der Knabe, der Juͤngling, der Mann, bei dem Religion und Vernunft so viel Uebergewicht uͤber die Sinn- lichkeit haben, daß er nicht sein Leben hindurch im Genuß vertraͤumt, und seiner Bestimmung jenes erhabenen Ziels ver- gißt? — deßwegen ist es ein unschaͤtzbares Gluͤck, wenn ein Mensch von Jugend auf zum voͤlligen Vertrauen auf Gott angewiesen und er dann auch von der Vorsehung in die Lage gesetzt wird, dieses Vertrauen uͤben zu muͤssen; dadurch wird seine Seele geschmeidig, demuͤthig, gelassen, duldend, ohne Un- terlaß wirksam; sie kaͤmpft durch Leiden und Meiden , und uͤberwindet Alles; kein Feind kann ihr wesentlich schaden, denn er streitet gegen ihn mit den Waffen der Liebe , diesen aber widersteht Niemand, ja sogar die Gottheit kann durch Liebe uͤberwunden werden! Das war Stillings Fall. Der Weise muß ihn also gluͤcklich schaͤtzen, ob sich gleich schwerlich Jemand in seine Lage wuͤnschen wird. Gegen den Herbst des 1772sten Jahres kamen die beiden vortrefflichen Bruͤder Vollkraft von Ruͤsselstein nach Schoͤnenthal ; der aͤlteste war Hofkammerrath und ein edler, rechtschaffener, vortrefflicher Mann, dieser hatte eine Kommission daselbst, welche ihn etliche Wochen aufhielt; sein Bruder, ein empfindsamer, zaͤrtlicher und bekannter Dichter, und zugleich ein Mann von der besten, edelsten und rechtschaffensten Gesin- nung, begleitete ihn, um ihm an einem Ort, wo sogar keine Seelennahrung fuͤr ihn war, Gesellschaft zu leisten. Herr Dok- tor Dinkler war mit diesen beiden edlen Maͤnnern sehr wohl bekannt; beim ersten Besuch schilderte er ihnen Stillingen so vortheilhaft, daß sie begierig wurden, ihn kennen zu lernen; Dinkler gab ihm einen Wink und er eilte, sie zu besuchen. Dieß geschah zum Erstenmal an einem Abend; der Hofkam- merrath ließ sich in ein Gespraͤch mit ihm ein, und wurde dergestalt von ihm eingenommen, daß er ihn kuͤßte und um- armte, und ihm seine ganze Liebe und Freundschaft schenkte; eben das war auch der Fall mit dem andern Bruder. Beide verstanden ihn, und er verstand sie, die Herzen floßen in ein- ander uͤber, es entstanden Seelengespraͤche, die nicht Jeder versteht. Stillings Augen waren bei dieser Gelegenheit immer vol- ler Thraͤnen, sein tiefer Kummer machte sich Luft, aber von seiner Lage entdeckte er nie Etwas, denn er wußte, wie demuͤ- thigend es sey, gegen Freunde sich huͤlfsbeduͤrftig zu erklaͤren; er trug also seine Buͤrde allein, welche aber doch dadurch sehr erleichtert wurde, daß er nun einmal Menschen fand, die ihn verstanden und sich ihm mittheilten. Dazu kam noch eins: Stilling war von geringem Herkommen, er war von Ju- gend auf gewohnt, obrigkeitliche Personen, oder auch reiche, vornehme Leute, als Wesen von einer hoͤhern Art anzusehen, daher war er immer in ihrer Gegenwart schuͤchtern und zu- ruͤckhaltend; dieß wurde ihm dann fuͤr Dummheit, Unwissen- heit und Ankleben seines niedrigen Herkommens ausgelegt; mit Einem Wort, von Leuten von gewoͤhnlicher Art, die keine feine Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 21 Empfindungsorgane hatten, wurde er verachtet: die Gebruͤder Vollkraft aber waren von einem ganz andern Schlag, sie behandelten ihn vertraulich, er thaute bei ihnen auf, und konnte sich so zeigen, wie er war. Friedrich Vollkraft (so hieß der Hofkammerrath) fragte ihn bei dem ersten Besuch, ob er nicht Etwas geschrieben habe? Stilling antwortete: Ja! denn er hatte seine Geschichte in Vorlesungen stuͤckweise an die Gesellschaft der schoͤnen Wissen- schaften in Straßburg , welche damals noch bestand, ge- sandt, und die Abschrift davon zuruͤck behalten. Die beiden Bruͤder wuͤnschten sehr, sie zu lesen; er brachte sie also bei dem naͤchsten Besuch mit, und las sie ihnen vor; sowohl der Styl als die Deklamation war ihnen so unerwartet, daß sie laut ausriefen und sagten: das ist schoͤn — unvergleichlich! — Sie ermunterten ihn also zum Schreiben und bewogen ihn, einen Aufsatz in den deutschen Merkur , der damals an- fing, zu liefern; er that das, und schrieb Ase-Neitha, eine orientalische Erzaͤhlung , sie steht im ersten Stuͤck des dritten, und im ersten Stuͤck des vierten Bandes dieser perio- dischen Schrift, und gefiel allgemein. Vollkraft wurde durch diese Bekanntschaft Stillings Stuͤtze, die ihm seinen schweren Gang sehr erleichterte, er hatte nun in Ruͤsselstein , wenn er dahin reiste, eine Herberge und einen Freund, der ihm durch seinen Briefwechsel manchen erquickenden Sonnenstrahl mittheilte. Indessen wurde er durch diese Verbindung bei seinen Mitbuͤrgern, und besonders bei den Pietisten, noch verhaßter, denn in Schoͤnenthal herrscht all- gemein ein steifes Anhangen an’s Religionssystem, und wer im Geringsten anders denkt, wie das bei den Gebruͤdern Voll- kraft der Fall war, der ist Anathema Maranatha , so- gar, wenn sich einer mit Schriftstellerei abgibt, in so fern er ein Gedicht, das nicht geistlich ist, oder einen Roman, er mag noch so moralisch seyn, schreibt, so bekommt er schon in ihren Augen den Anstrich des Freigeistes und wird verhaßt. Freilich denken nicht alle Schoͤnenthaler Einwohner so, davon wer- den im Verfolg noch Proben erscheinen; doch aber ist das die Gesinnung des großen Haufens, und er gibt doch den Ton an. In dieser Lage lebte Doktor Stilling unter mancherlei Abwechslungen fort; am Ende des 1772sten Jahres machte er seine Hausrechnung; er zog die Bilanz zwischen Einnahme und Ausgabe, oder vielmehr Einkommen und Aufwand, und fand nun zu seinem groͤßten Leidwesen, daß er uͤber zweihun- dert Thaler mehr Schulden hatte, und das ging so zu: in Schoͤnenthal herrschte der Gebrauch, daß man das, was man in der Stadt verdient, auf Rechnung schreibt; da man also kein Geld einnimmt, so kann man auch keines ausgeben; daher holt man bei den Kraͤmern seine Nothdurft, und laͤßt sie anschreiben: am Schluß des Jahres macht man seine Rechnungen und theilt sie aus, und so empfaͤngt man Rech- nungen und bezahlt sie; nun hatte Stilling zwar so viel verdient, als er verzehrt hatte, allein seine Forderungen waren in so kleinen Theilchen zerstreut, daß er sie unmoͤglich alle eintreiben konnte; er blieb also stecken: die Kraͤmer wurden nicht bezahlt, und so sank sein Kredit noch mehr; daher war sein Kummer unaussprechlich. Die taͤgliche baare Ausgabe bestritt er mit den Einnahmen von auswaͤrtigen Patienten, diese waren aber so knapp zugeschnitten, daß er blos die Nothdurft hatte, und oͤfters auf die aͤußerste Probe gesetzt wurde, wo ihn aber doch die Vorsehung nie verließ, sondern ihm, wie ehemals, sichtbar und wunderbarer Weise heraus- half; unter hundert Beispielen eins: In Schoͤnenthal werden lauter Steinkohlen in der Kuͤche und in den Stubenoͤfen gebraucht; alle diese Steinkohlen wer- den aus der benachbarten Grafschaft Mark herzugefuͤhrt; Stilling hatte also seinen Fuhrmann, der ihm von Zeit zu Zeit eine Pferdsladung brachte, welche er aber immer auf der Stelle bezahlen mußte, denn mit dem Gelde mußte der Fuhr- mann einkaufen; dieß hatte ihm auch noch nie gefehlt; denn er war immer mit dem Noͤthigen versehen gewesen; einsmals kam dieser Fuhrmann an einem Nachmittag vor die Thuͤre gefahren, die Steinkohlen waren noͤthig und der Mann konnte uͤberhaupt nicht abgewiesen werden. Nun hatte Stilling keinen halben Gulden im Hause, und er fand auch keine Frei- heit in sich, bei einem Nachbar zu lehnen. Christine weinte, 21 * und er flehte in feurigen Seufzern zu Gott; nur ein paar Conventionsthaler waren noͤthig, aber dem, der sie nicht hat, faͤllt die Zahlung so schwer, als einem, der Tausende bezahlen soll, und keine Hundert hat. Indessen lud der Fuhrmann seine Kohlen ab, und als das geschehen war, wusch er seine Haͤnde, um sein Geld zu empfangen; Stilling klopfte das Herz und seine Seele rang mit Gott. Auf Einmal trat ein Mann mit seiner Frau zur Thuͤre herein, die guten Leute waren von Dornfeld; Stilling hatte den Mann vor einigen Wochen von einer schweren Krankheit kurirt, und sein Verdienst bis folgendes Neujahr auf Rechnung geschrieben. Nach den ge- woͤhnlichen Gruͤßen fing der Mann an: „Ich hab’ das Geld empfangen und wie ich da vor der Thuͤr hergehe, so faͤllt mir ein, ich brauchte auch meine Rechnung just nicht bis Neujahr stehen zu lassen, sondern ich wolle sie als vor der Hand be- zahlen. Sie koͤnnten’s brauchen.“ — „Auch gut!“ versetzte Stilling ; er ging, holte das Buch, machte die Rechnung und empfing zehn Reichsthaler. Dieser Beispiele erfuhr Stilling sehr viele, er wurde auch dadurch im Glauben sehr gestaͤrkt und zum Ausharren er- muntert. Den 5. Januar 1773 gebar ihm Christine eine Tochter, und obgleich Alles den gewoͤhnlichen Weg der Natur ging, so gab es doch wieder sechs erschreckliche Stunden, in welchen die Furie Hysterik ihre Krallen recht gebrauchte: denn bei dem Eintritt der Milch in die Bruͤste wurde die arme Frau wie ein Wurm hin und her geschleudert; solche Zeiten waren auch immer durchdringende Laͤuterungsfeuer fuͤr Stilling . Im folgenden Fruͤhjahr, als er an einem Sonnabend auf ein benachbartes Dorf ritt, welches anderthalb Stunden von Schoͤnenthal liegt, um Kranke zu besuchen, und den gan- zen Tag Haͤuser und Huͤtten durchkrochen hatte, so kam am Abend eine arme, junge, wohlgestaltete Frau uͤber die Straße hergestiegen, die war blind, und ließ sich fuͤhren; nun hatte Stilling noch immer einen vorzuͤglichen Ruf in der Heilung der Augenkrankheit; er stand vor der Thuͤr des Wirthshauses neben seinem Pferde, und wollte eben aufsteigen. Nun fing die arme Frau an: „Wo ist der Herr Doktor?“ „Hier! was will sie, gute Frau?“ „Ach, sehen Sie mir doch einmal in die Augen, ich bin „schon etliche Jahre blind, habe zwei Kinder, die ich noch „nicht gesehen habe, mein Mann ist ein Tagloͤhner, sonst half „ich uns mit Spinnen ernaͤhren, nun kann ich das nicht mehr, „und mein Mann ist recht fleißig, aber er kann’s doch allein „nicht zwingen, und da geht’s uns sehr uͤbel; ach, sehen Sie „doch, ob Sie mir helfen koͤnnen!“ Stilling sahe ihr in die Augen und sagte: sie hat den grauen Staar, ihr koͤnnte vielleicht geholfen werden, wenn sich ein geschickter Mann faͤnde, der sie operirte. „Verstehen Sie das denn nicht? Herr Doktor! Ich verstehe das wohl, aber ich hab’s noch nie an lebendi- gen Personen probirt. „O so probiren Sie es doch an mir!“ Nein, liebe Frau, das probire ich nicht, ich bin zu furcht- sam dazu, es koͤnnte mißlingen, und dann muͤßte sie immer blind bleiben, es waͤre ihr nicht mehr zu helfen. „Wenn ich es aber nun wagen will? — Sehen Sie, ich „bin blind, und werde nicht blinder als ich bin, vielleicht segnet Sie unser Herr Gott, daß es geraͤth, operiren Sie mich!“ Bei diesen Worten uͤberlief ihn ein Schauer, Operationen waren seine Sache nicht, er schwang sich also auf’s Pferd und sagte: Großer Gott! lasse sie mich in Ruhe, ich kann — ich kann sie nicht operiren. ‚Herr Doktor! Sie muͤssen; es ist Ihre Schuldigkeit! Gott „hat Sie dazu berufen, den Armen, Nothleidenden zu helfen, „sobald Sie koͤnnen; nun koͤnnen Sie aber den Staar operi- „ren, ich will die Erste seyn, will’s wagen, und ich verklage „Sie am juͤngsten Gericht, wenn sie mir nicht helfen!“ Das waren nun Dolche in Stillings Herz, er fuͤhlte, daß die Frau Recht hatte, und doch hatte er eine unuͤberwindliche Furcht und Abneigung gegen alle Operationen am menschlichen Koͤrper, denn er war auf der einen Seite zu zaͤrtlich, zu em- pfindsam und auf der andern auch zu gewissenhaft, um das lebenslaͤngliche Gluͤck eines Menschen so auf’s Spiel zu setzen. Er antwortete also kein Wort mehr und trabte fort, unter- wegs kaͤmpfte er mit sich selbst, allein das Resultat blieb im- mer, nicht zu operiren . Indessen ließ es die arme Frau nicht dabei bewenden, sie ging zu ihrem Prediger. Warum soll ich ihn nicht nennen — den edlen Mann, den Auserwaͤhlten unter Tausenden, den seligen Theodor Muͤl- ler ? — er war der Vater, der Rathgeber aller seiner Ge- meindeglieder, der kluge, sanfte, unaussprechlich thaͤtige Knecht Gottes, ohne Pietist zu seyn; kurz, er war ein Juͤnger Je- sus im vollen Sinn des Worts. Sein Prinzipal forderte ihn fruͤh ab, gewiß, um ihn uͤber viel zu setzen. Lavater besang seinen Tod, die Armen beweinten und die Reichen be- trauerten ihn. Heilig sey mir dein Rest, du Saam- korn am Tage der Wiederbringung ! Diesem edlen Manne klagte die arme Blinde ihre Noth und sie verklagte zugleich den Doktor Stilling ; Muͤller schrieb ihm daher einen dringenden Brief, in welchem er ihm alle die gluͤcklichen Folgen vorstellte, welche diese Operation nach sich ziehen wuͤrde, im Fall sie gelaͤnge; dagegen schilderte er ihm auch die unbetraͤchtlichen Folgen, im Fall des Mißlingens. Stil- ling lief in der Noth seines Herzens zu Dinkler und Troost , Beide riethen ihm ernstlich zur Operation, und der Erste ver- sprach sogar mitzugehen und ihm beizustehen; dieß machte ihm einigen Muth, und er entschloß sich mit Zittern und Zagen dazu. Zu dem allen kam noch ein Umstand: Stilling hatte die Ausziehung des grauen Staars bei Lobstein in Straßburg vorzuͤglich gelernt, sich auch bei Boguer die Instrumente machen lassen, denn damals war er Willens, diese vortreffliche und wohlthaͤtige Heilung noch mit seinen uͤbrigen Augenkuren zu ver- binden; als er aber selbst praktischer Arzt wurde, und all’ das Elend einsehen lernte, welches auf mißlungene Krankenbedie- nung folgte, so wurde er aͤußerst zaghaft, er durfte nichts wa- gen, daher verging ihm alle Lust, den Staar zu operiren, und das alles war auch eine Hauptursache mit, warum er nicht so viel ausrichten konnte, wenigstens nicht so viel auszurichten schien, als andere seiner Collegen, die Alles unternahmen, fort- wirkten, auch manchmal erbaͤrmlich auf die Nase fielen, sich aber doch wieder aufrafften, und bei alle dem weiter kamen, wie er. Stilling schrieb also an Muͤllern , daß er den und den Tag mit Herrn Doktor Dinkler kommen wuͤrde, um die Frau zu operiren; Beide machten sich demnach des Morgens auf den Weg und wanderten nach dem Dorfe hin; Dinkler sprach Stillingen allen Muth ein, aber es half wenig. Sie ka- men endlich im Dorfe an, und gingen in Muͤllers Haus, aber dieser sprach ihm Trost zu, und nun wurde die Frau nebst dem Wundarzt geholt, der ihr den Kopf halten mußte. Als nun alles bereit war und die Frau saß, setzte sich Stilling vor ihr; mit Zittern nahm er das Staarmesser und druͤckte es am gehoͤrigen Ort ins Auge; als aber die Patientin dabei, wie na- tuͤrlich ist, etwas mit dem Odem zuckte, so zuckte Stilling auch das Messer wieder heraus, daher floß die waͤsserichte Feuch- tigkeit durch die Wunde die Wange herunter, und das vordere Auge fiel zusammen. Stilling nahm also die krumme Scheere und brachte sie mit dem einen Schenkel gluͤcklich in die Wunde und nun schnitt er ordentlich unten herum, den halben Zirkel, wie gewoͤhnlich; als er aber recht zusah, so fand er, daß er den Stern oder die Regenbogenhaut mit zerschnitten hatte; er erschrack, aber was war zu thun? — er schwieg still und seufzte. In dem Augenblick fiel die Staarlinse durch die Wunde uͤber den Backen herunter und die Frau rief in hoͤchster Ent- zuͤckung der Freude: „O Herr Doktor, ich sehe Ihr Gesicht, ich sehe Ihnen das Schwarze in den Augen.“ Alles jubelte! Stilling verband nun das Auge, und heilte sie gluͤcklich, sie sahe mit dem Auge vortrefflich; einige Wochen nachher operirte er auch das andere Auge mit der linken Hand, jetzt gings ordent- lich, denn nun hatte er mehr Muth, er heilte auch dieses, und so wurde die Frau wieder vollkommen sehend. Dieses gab nun einen Ruf, so daß mehrere Blinde kamen, die er alle der Reihe nach gluͤcklich operirte; nur selten mißlang ihm einer. Bei allem dem war das doch sonderbar! diese wichtigen Kuren tru- gen ihm selten Etwas ein, die Mehrsten waren arm, denn diese operirte er umsonst, und nur selten kam Jemand, der Et- was bezahlen konnte, seine Umstaͤnde wurden also wenig ge- bessert. Sogar nahmen Viele dadurch Anlaß, ihn mit Opera- teurs und Quacksalbern in Eine Klasse zu setzen. Gebt nur Acht ! sagten sie, bald wird er anfangen, von Stadt zu Stadt zu ziehen und einen Orden anzuhaͤngen! Im folgenden Herbst im September kam die Frau eines der vornehmsten und reichsten und zugleich sehr braven Kaufman- nes, oder vielmehr Kapitalisten in Schoͤnenthal zum ersten- mal ins Kindbett; die Geburt war sehr schwer, die arme Krei- sende hatte schon zweimal vier und zwanzig Stunden in den Wehen gelegen und sich abgearbeitet, ohne daß sich noch die geringste Hoffnung zur Entbindung zeigte. Herr Doktor Dink- ler , als Hausarzt, schlug Stillingen zur Huͤlfe vor, er wurde also auch gerufen; dieß war des Abends um 6 Uhr. Nachdem er die Sache gehoͤrig untersucht hatte, so fand er, daß das Angesicht des Kindes oberwaͤrts gerichtet, und daß der Kopf gegen den Durchmesser des Beckens so groß war, daß er sich nicht einmal die Zange anzulegen traute; er sahe also keinen andern Weg, als auf der Fontenelle den Kopf zu oͤffnen, dann ihn zusammen zu druͤcken und es so herauszu- ziehen; denn an den Kaiserschnitt war nicht zu denken, beson- ders da die gegruͤndete Vermuthung da war, das Kind sey schon todt. Um sich davon noch gewisser zu uͤberzeugen, war- tete er bis den Abend um neun Uhr, jetzt fand er den Kopf welk und zusammengefallen, er fuͤhlte auch keine Spuren des Pulses mehr auf der Fontenelle, er folgte also seinem Vor- satz, oͤffnete den Kopf, preßte ihn zusammen, und bei der er- sten Wehe wurde das Kind geboren. Alles ging hernach gut von statten, die Frau Kindbetterin wurde bald wieder voll- kommen gesund. Was dergleichen Arbeiten den empfindsamen Stilling fuͤr Herzensangst, Thraͤnen, Muͤhe und Mitleiden kosteten, das laͤßt sich nicht beschreiben, allein er fuͤhlte seine Pflicht, er mußte fort, wenn er gerufen wurde; er erschrack daher, daß ihm das Herz pochte, wenn man des Nachts an seine Thuͤr klopfte, und dieses hat sich so fest in seine Ner- ven verwebt, daß er noch auf die heutige Stunde zusammen- faͤhrt, wenn des Nachts an seine Thuͤre geklopfet wird, ob er gleich gewiß weiß, daß man ihn nicht mehr zu Kindbet- terinnen ruft. Dieser Vorfall erweckte ihm zum Erstenmal bei allen Schoͤ- nenthalern Hochachtung, jetzt sahe er freundliche Gesichter in Menge, aber es waͤhrte nicht lange, denn etwa drei Wo- chen hernach kam ein Rescript vom Medizinal-Collegium zu Ruͤsselstein , in welchem ihm befohlen wurde, sich vor der Hand aller Geburtshuͤlfe zu enthalten und sich vor dem Kolle- gium zum Examen in diesem Fach zu melden. Stilling stand wie vom Donner geruͤhrt, er begriff von dem allem kein Wort, bis er endlich erfuhr, daß Jemand seine Geburts- huͤlfe bei obiger Kindbetterin in einem sehr nachtheiligen Lichte berichtet habe. Er machte sich also auf den Weg nach Ruͤsselstein , wo er bei seinem Freund Vollkraft , seinem edlen Weibe, die Wenige ihres Gleichen hatte, und bei seinen vortrefflichen Geschwistern einkehrte; diese Erquickung war ihm bei seinen traurigen Umstaͤnden auch noͤthig. Nun verfuͤgte er sich zu einem von den Medizinalraͤthen, der ihn sehr hoͤhnisch mit den Worten empfing: Ich hoͤre, Sie stechen auch den Leuten die Augen aus? Nein, antwortete Stilling , aber ich habe verschiedene gluͤcklich am Staar operirt. Das ist nicht wahr, sagte der Rath trotzig; Sie luͤgen das! Nein, versetzte Stilling , mit Feuer und Gluth in den Augen, ich luͤge nicht, ich kann Zeugen auftreten lassen, die das unwidersprechlich beweisen; uͤberdieß kenne ich den Re- spekt, den ich Ihnen als einem meiner Vorgesetzten schuldig bin, sonst wuͤrde ich Ihnen in dem naͤmlichen Ton antwor- ten. Eine graduirte Person, die allenthalben ihre Pflicht zu erfuͤllen sucht, verdient auch von ihrer Obrigkeit Achtung. Der Medizinalrath lachte ihm unter die Augen und sagte: heißt das seine Pflichten erfuͤllen, wenn man Kinder umbringt! Jetzt ward es Stillingen dunkel vor den Augen, er wurde blaß, trat naͤher und versetzte: Herr! — sagen Sie das nicht noch einmal — damit aber fuͤhlte er seine ganze Lage und seine Abhaͤngigkeit von diesem schrecklichen Manne, er sank also zuruͤck anf einen Stuhl, und weinte wie ein Kind; dies diente nun zu weiter nichts, als daß er desto mehr ge- hoͤhnt wurde; er stand also auf und ging fort. Damit man nun im Vollkraft’schen Hause seinen Kummer nicht zu sehr merken moͤchte, so spazirte er eine Weile auf dem Wall herum, dann ging er ins Haus, und schien munterer, als er war. Die Ursache, warum er Herrn Vollkraft nicht Alles sagte und klagte, lag in seiner Natur; denn so offenherzig er in allen Gluͤcksfaͤllen war, so sehr verschwieg er Alles, was er zu leiden hatte. Der Grund dazu war ein hoher Grad von Selbstliebe und Schonung seiner Freunde. Gewissen Leu- ten aber, die von dergleichen Fuͤhrungen Erfahrung hatten, konnte er Alles sagen — Alles entdecken; diese Erscheinung aber hatte noch einen tiefern Grund, den er erst lange nach- her bemerkt hat: vernuͤnftige, scharfsichtige Leute konnten nicht so gerade Alles, wie er, fuͤr goͤttliche Fuͤhrung halten; daran zweifelte Niemand, daß ihn die Vorsehung besonders und zu großen Zwecken fuͤhre; ob aber nicht auch bei seiner Heirath, bei allerhand Schicksalen und Bestimmungen viel Menschliches mit untergelaufen sey? das war eine andere Frage, die jeder philosophische Kopf mit einem lauten Ja beantwortete; das konnte nun Stilling damals durchaus nicht ertragen, er glaubte es besser zu wissen, und eigentlich darum schwieg er. Der Verfolg dieser Geschichte wird’s zeigen, in wie fern jene Leute Recht oder Unrecht hatten. Doch ich lenke wieder ein auf meinem Wege. Das Medizinal-Kollegium setzte nun die Termine zum Exa- men in der Geburtshuͤlfe und zur Entscheidung wegen der Ent- bindung jener Schoͤnenthaler Frau an. Im Examen wur- den ihm die verfaͤnglichsten Fragen vorgelegt, er bestand aber dem allen ungeachtet wohl; nun wurde auch die Maschine mit der Puppe gebracht, diese sollte er nun herausziehen, aber sie wurde hinter der Gardine festgehalten, so, daß es unmoͤglich war, sie zu bekommen; Stilling sagte das laut, aber er wurde ausgelacht, und so bestand er nicht im Examen. Es wurde also dekredirt: er sey zwar in der Theorie ziem- lich, aber in der Praxis gar nicht bestanden, es wurde ihm also nur in den hoͤchsten Nothfaͤllen gestattet, den Gebaͤrenden Huͤlfe zu leisten . Bei allen diesen verdruͤßlichen Vorfaͤllen mußte doch Stil- ling laut lachen, als er das las, und das ganze Publikum lachte mit: man verbot einem fuͤr ungeschickt erklaͤrten Manne die Geburtshuͤlfe; nahm aber doch die allergefaͤhrlichsten Faͤlle davon aus, in diesen erlaubte man dem Ungeschickten den Beistand. In Ansehung des Entbindungsfalls aber erklaͤrte man Stillingen fuͤr den Ursacher des Todes des Kindes, doch verschonte man ihn mit der Bestrafung. Viel Gnade fuͤr den armen Doktor — ungestraft morden zu duͤrfen! Indessen kraͤnkte ihn doch dieses Dekret tief in der Seele, und er ritt also noch denselben Nachmittag fort nach Duis- burg , um den ganzen Vorfall der medizinischen Fakultaͤt, welcher damals der verehrungswuͤrdige Leidefrost als Deka- nus vorstand, vorzulegen. Hier wurde er fuͤr vollkommen un- schuldig erklaͤrt, und er erhielt ein Responsum, das seine Ehre gaͤnzlich wieder herstellte; dieses Responsum publicirte der Mann der entbundenen Frau auf dem Schoͤnenthaler Rathhause selbst. Indessen fiel doch der Werth dieser Kur durch den ganzen Hergang um Vieles, und Stillings Feinde nahmen daher Anlaß, wieder recht zu laͤstern. Stillings gluͤckliche Staarkuren hatten indessen viel Auf- sehen verursacht, und ein gewisser Freund ließ sogar in der Frank- furter Zeitung eine Nachricht davon einruͤcken. Nun war aber auf der Universitaͤt zu Marburg ein sehr rechtschaffener und geschickter Lehrer der Rechtsgelehrsamkeit, der Herr Professor Sorber , welcher schon drei Jahre am grauen Staar blind war, diesem wurde die Zeitungsnachricht vorgelesen; in dem Augenblick empfand er den Trieb bei sich, die weite Reise nach Schoͤnenthal zu machen, um sich von Stilling operiren und kuriren zu lassen. Er kam also im Jahre 1774 am Ende des Aprils mit seiner Eheliebsten und zweien Toͤchtern an, und Stilling operirte ihn im Anfang des Mais gluͤcklich; auch ging die Kur dergestalt von statten, daß der Patient sein Gesicht vollkommen wieder bekam und noch bis heute seinem Lehramt ruͤhmlich vorstehet. Waͤhrend der Zeit kam Christine zum zweitenmal ins Kindbett und sie gebar einen Sohn; außer den schrecklichen Zufaͤllen bei dem Milchfieber ging alles gluͤcklich von statten. Nun lag Stillingen noch eines am Herzen: er wuͤnschte seinen Vater nach so langer Zeit einmal wieder zu sehen; als Doktor hatte er ihn noch nicht gesprochen und seine Gattin kannte ihn noch gar nicht. Nun lud er den wuͤrdigen Mann zwar oͤfters ein, Wilhelm hatte auch oft versprochen zu kom- men, allein es verschob sich immer, und so wurde nichts daraus. Jetzt aber versuchte Stilling das Aeußerste: er schrieb naͤm- lich, daß er ihm an einem bestimmten Tage den halben Weg bis Meinerzhagen entgegen reiten und ihn dort abholen wolle. Dieß that Wirkung; Wilhelm Stilling machte sich also zu rechter Zeit auf den Weg, und so trafen sie Beide in dem bestimmten Gasthause zu Meinerzhagen an, sie wankten sich zur Umarmung entgegen, und die Gefuͤhle lassen sich nicht aussprechen, welche Beiden das Herz bestuͤrmten. Mit einzelnen Toͤnen gab Wilhelm seine Freude, daß sein und Dortchens Sohn nun das Ziel seiner Bestimmung er- reicht habe, zu erkennen; er weinte und lachte wechselsweise, und sein Sohn huͤtete sich wohl, nur das Geringste von seinen schweren Leiden, seinen zweifelhaften Gluͤcksumstaͤnden und den Schwierigkeiten in seinem Beruf zu entdecken; denn dadurch wuͤrde er seinem Vater die ganze Freude verdorben haben. In- dessen fuͤhlte er seinen Kummer um desto staͤrker, es kraͤnkte ihn, nicht so gluͤcklich zu seyn, als ihn sein Vater schaͤtzte, und er zweifelte auch, daß ers je werden wuͤrde; denn er hielt sich immer fuͤr einen Mann, der von Gott zur Arzneikunde be- stimmt sey, mithin bei diesem Beruf bleiben muͤsse, ungeach- tet er anfing, Mißvergnuͤgen daran zu haben, weil er auf einer Seite so wenig Grund und Boden in dieser Wissenschaft fand, und dann, weil sie ihn, wenn er als ein ehrlicher Mann zu Werk gehen wollte, nicht naͤhrte, geschweige das Gluͤck seiner Familie gruͤndete. Des andern Morgens setzte er seinen Vater aufs Pferd, er machte den Fußgaͤnger neben her auf dem Pfade, und so wallfahrteten sie an diesem Tage, unter den erquickendsten Gespraͤchen neun Stunden weit bis Rasenheim , wo er seinen Vater seiner Christinen gesammten Familie vor- stellte. Wilhelm wurde so empfangen, wie ers verdiente, er schuͤttelte jedem die Hand, und sein redliches, charakteristi- sches Stillingsgesicht erweckte allenthalben Ehrfurcht. Jetzt ließ der Doktor seinen Vater zu Fuß vorauswandern, einer seiner Schwaͤger begleitete ihn, er aber blieb noch ei- nige Minuten, um seinen Empfindungen im Schooß der Friedenbergischen Familie freien Lauf zu lassen, er weinte laut, lobte Got und eilte nun seinem Vater nach. Noch nie hatte er den Weg von Rasenheim nach Schoͤ- nenthal mit solcher Herzenswonne gegangen, wie jetzt, und Wilhelm war ebenfalls in seinem Gott vergnuͤgt. Beim Eintritt ins Haus flog Christine dem ehrlichen Mann die Treppe herab entgegen, und fiel ihm mit Thraͤnen um den Hals; solche Auftritte muß man sehen und die ge- hoͤrigen Empfindungs-Organe haben, um sie in aller ihrer Staͤrke fuͤhlen zu koͤnnen. Wilhelm blieb acht Tage bei seinen Kindern, und Stil- ling begleitete ihn wieder bis Meinerzhagen , von wannen dann Jeder in Frieden seinen Weg zog. Einige Wochen nachher wurde Stilling einsmals des Morgens fruͤh in einen Gasthof gerufen, man sagte ihm, es sey ein fremder Patient da, der ihn gerne sprechen moͤchte; er zog sich also an und ging hin; man fuͤhrte ihn ins Schlaf- zimmer des Fremden. Hier fand er nun den Kranken mit einem dicken Tuch um den Hals, und den Kopf in Tuͤcher verhuͤllt; der Fremde streckte die Hand aus dem Bette, und sagte mit schwacher und dumpfer Stimme: Herr Doktor! fuͤhlen Sie mir einmal den Puls, ich bin gar krank und schwach; Stilling fuͤhlte und fand den Puls sehr regelmaͤ- ßig und gesund; er erklaͤrte sich also auch so und erwiederte: ich finde gar nichts Krankes, der Puls geht ordentlich; so wie er das sagte, hing ihm Goͤthe am Hals. Stillings Freude war unbeschreiblich; er fuͤhrte ihn also in sein Haus, auch Christine war froh, diesen Freund zu sehen, und ruͤ- stete sich zum Mittags-Essen. Nun fuͤhrte er Goͤthe hin- aus auf einen Huͤgel, um ihm die schoͤne Aussicht uͤber die Stadt und das Thal hinauf zu zeigen. Gerade zu dieser Zeit waren die Gebruͤder Vollkraft wieder auf Kommission da: sie hatten einen Freund bei sich, der sich durch schoͤne Schriften sehr beruͤhmt gemacht hat, den aber Stilling wegen seiner satyrischen und juvenalischen Geißel nicht leiden mochte; er besuchte also jetzt seine Freunde wenig, denn Juvenal (so will ich den Mann einstweilen nennen) neckte ihn immer wegen seiner Anhaͤnglichkeit an die Religion. Waͤhrend der Zeit, daß Stilling mit Goͤthe spazieren ging, kam Herr Hofkammerrath Vollkraft zu Pferde an Stillings Thuͤr gesprengt, und rief der Magd zu, sie sollte ihrem Herrn sagen, er sey ploͤtzlich nach Ruͤsselstein abgereist, weil Goͤthe dort waͤre; Christine war gerade nicht bei der Hand, um ihn von der Lage der Sache zu be- nachrichtigen. Vollkraft trabte also eiligst fort. So wie Goͤthe und Stilling nach Haus kamen, und ihnen die Magd den Vorfall erzaͤhlte, so bedauerten sie Beide den Irr- thum; indessen wars nun nicht zu aͤndern. Goͤthen’s Veranlassung zu dieser Reise war eigentlich fol- gende: Lavater besuchte das Emserbad und von da machte er eine Reise nach Muͤhlheim am Rhein, um dort einen Freund zu besuchen; Goͤthe war ihm bis Ems gefolgt, und um allerhand Merkwuͤrdigkeiten und beruͤhmte Maͤnner zu se- hen, hatte er ihn bis Muͤhlheim begleitet; hier ließ nun Goͤthe Lavater zuruͤck, und machte einen Streifzug uͤber Ruͤsselstein nach Schoͤnenthal , um auch seinen alten Freund Stilling heimzusuchen; zugleich aber hatte er Lava- tern versprochen, auf eine bestimmte Zeit wieder nach Muͤhl- heim zu kommen, und mit ihm zuruͤck zu reisen. Waͤhrend Goͤthen’s Abwesenheit aber bekommt Lavater Veranlas- sung, auch nach Ruͤsselstein und von da nach Schoͤnen- thal zu gehen, von dem allen aber wußte Goͤthe kein Wort. Als er daher mit Stilling zu Mittag gegessen hatte, machte er sich mit obigem Juvenal zu Pferde wieder auf den Weg nach Ruͤsselstein , um dort Vollkraften anzutref- fen. Kaum waren Beide fort, so kam Lavater in Beglei- tung Vollkrafts , des bekannten Hasenkamp von Duis- burg , und des hoͤchst merkwuͤrdigen, frommen und gelehrten Doktors Collenbusch die Gasse hereingefahren. Dieß wurde Stilling angezeigt, er flog also den beiden Reitern nach und brachte sie wieder zuruͤck. Lavater und seine Begleiter waren mittlerweile bei einem bekannten und die Religion liebenden Kaufmann eingekehrt; Stilling, Goͤthe und Juvenal eilten also auch dahin. Niemals hat sich wohl eine seltsamer gemischte Gesellschaft bei- sammen gefunden, als jetzt um den großen ovalrunden Tisch her, der zugleich auf Schoͤnenthaler Art mit Speisen be- setzt war. Es ist der Muͤhe werth, daß ich diese Gaͤste nur aus dem Groben zeichne. Lavaters Ruf der praktischen Gottseligkeit hatte unter Andern einen alten Ter Steeglaner herbeigelockt; dieser war ein in aller Ruͤcksicht verehrungswuͤrdiger Mann, der nach den Grundsaͤtzen der reinen Mystik, unverheirathet, aͤus- serst heikel in der Wahl des Umgangs, sehr freundlich, ernst, voll sanfter Zuͤge im Gesicht, ruhig im Blick, und uͤbrigens in allen seinen Reden behutsam war; er wog alle seine Worte auf der Goldwage ab, kurz, er w ar ein herrlicher Mann, wenn ich nur das einzige Eigensinnige ausnehme, das alle dergleichen Leute so leicht annehmen, indem sie intolerant ge- gen Alle sind, die nicht so denken wie sie! Dieser ehrwuͤrdige Mann saß mit seinem runden, lebhaften Gesicht, runden Stutz- peruͤcke und schwarzen Unterkleidern oben an; mit einer Art von freundlicher Unruhe schaute er um sich, sagte auch wohl zuweilen heimliche Ermahnungsworte, denn er witterte Geister von ganz andern Gesinnungen. Neben diesem saß der Hofkammerrath Vollkraft , ein fei- ner Weltmann, wie es wenige gibt, im Reisehabit, doch nach der Mode gekleidet; sein lebhaftes Naturell spruͤhte Funken des Witzes und sein hochrectificirtes philosophisches Gefuͤhl urtheilte immer nach dem Zuͤnglein in der Wage des Wohlstandes, des Lichts und des Rechts. Auf diesen folgte sein Bruder, der Dichter: von seinem gan- zen Daseyn stroͤmte sanfte gefaͤllige Empfindung und Wohl- wollen gegen Gott und Menschen, sie mochten nun uͤbrigens denken und glauben was sie wollten, wenn sie nur gut und brav waren; sein grauer Flockenhut lag hinter ihm im Fen- ster und der Koͤrper war mit einem bunten Sommerfrack bekleidet. Dann saß der Hauswirth neben diesem; er hatte eine pech- schwarze Peruͤcke mit einem Haarbeutel auf dem Kopfe und einen braunen zizenen Schlafrock an, der mit einer gruͤnen sei- denen Schaͤrpe umguͤrtet war; seine großen, hervorragenden Au- gen starrten unter der hohen und breiten Stirne hervor, sein Kinn war spitzig, uͤberhaupt das Gesicht dreieckigt und hager, aber voller Zuͤge des Verstandes, er horchte lieber, als daß er redete, und wenn er sprach, so war Alles vorher in seiner Gehirnkammer wohl abgeschlossen und decretirt worden; sei- ner Tauben-Einfalt fehlte es an Schlangenklugheit wahrlich nicht! Jetzt kam nun die Reihe an Lavater ; sein Evangeli- sten-Johannes -Gesicht riß alle Herzen mit Gewalt zur Ehrfurcht und Liebe an sich, und sein munterer, gefaͤlliger Witz, verpaart mit einer lebhaften und unterhaltenden Laune, machte sich alle Anwesende, die sich nicht durch Witz und Laune zu versuͤndigen glaubten, ganz zu eigen. Indessen waren unter der Hand seine physiognomischen Fuͤllhoͤrner, denen es hier an Stoff nicht fehlte, immer geschaͤftig; er hatte einen geschickten Zeichenmeister bei sich, der auch seine Haͤnde nicht in den Schooß legte. Neben Lavater saß Hasenkamp , ein vierzigjaͤhriger etwas gebuͤckter, hagerer, hectischer Mann, mit einem laͤnglich- ten Gesicht, merkwuͤrdiger Physiognomie, und uͤberhaupt Ehr- furcht erweckendem Ansehen; jedes Wort war ein Nachdenken und Wohlgefallen erregendes Paradoxon, selten mit dem Sy- stem uͤbereinstimmend; sein Geist suchte allenthalben Luft und aͤngstete sich in seiner Huͤlle nach Wahrheit, bis er sie bald zersprengte und mit einem lauten Hallelujah zur Quelle des Lichts und der Wahrheit emporflog; seine einzelnen Schrif- ten machen Orthodoxe und Heterodoxe den Kopf schuͤtteln, aber man muß ihn gekannt haben; er schritt, mit dem Per- spektiv in der Hand, bestaͤndig im Lande der Schatten hin und her, und schaute hinuͤber in die Gegend der Lichtsgefilde, wenn die blendenden Strahlen ihm zuweilen das Auge truͤbten! Auf ihn folgte Collenbusch , ein theologischer Arzt oder medicinischer Gottesgelehrter; sein Angesicht war so auffallend, wie je eins seyn kann — ein Gesicht, das Lavaters gan- zes System erschuͤtterte; es enthielt nichts Widriges, nichts Boͤses, aber auch von Allem nichts, auf welches er Seelen- groͤße baute; indessen strahlte aus seinen, durch die Kinderblat- tern verstellten Zuͤgen eine geheime, stille Majestaͤt hervor, die man nur erst nach und nach im Umgang entdeckte; seine mit dem schwarzen und grauen Staar kaͤmpfenden Augen und sein immer offener, zwei Reihen schoͤner weißer Zaͤhne zeigender Mund schienen die Wahrheit, Weltraͤume weit herbeiziehen zu wollen, und seine hoͤchst gefaͤllige, einnehmende Sprache, ver- bunden mit einem hohen Grad von Artigkeit und Bescheidenheit, fesselten jedes Herz, das sich ihm naͤherte. Jetzt folgte in der Reihe mein Juvenal : man denke sich ein kleines, junges, rundkoͤpfigtes Maͤnnchen, den Kopf etwas nach einer Schulter gerichtet, mit schalkhaften hellen Augen und immer laͤchelnder Miene; er sprach nichts, sondern beob- achtete nur; seine ganze Atmosphaͤre war Kraft der Undurch- dringlichkeit, die Alles zuruͤckhielt, was sich ihm naͤhern wollte. Dann saß neben ihm ein junger edler Schoͤnenthaler Kaufmann, ein Freund von Stilling , ein Mann voller Re- ligion ohne Pietismus, gluͤhend von Wahrheitshunger, ein Mann, wie es Wenige gibt! Nun folgte Stilling , er saß da mit tiefem, geheimem Kummer auf der Stirn, den jetzt die Umstaͤnde erhellten, er sprach hin und her, und suchte Jedem sein Herz zu zeigen, wie es war. Dann schlossen noch einige unbedeutende, bloß die Luͤcke aus- fuͤllende Gesichter den Kreis. Goͤthe aber konnte nicht sitzen, er tanzte um den Tisch her, machte Gesichter und zeigte allent- halben, nach seiner Art, wie koͤniglich ihn der Zirkel von Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 22 Menschen gaudire. Die Schoͤnenthaler glaubten, Gott sey bei uns! der Mensch muͤsse nicht recht klug seyn; Stilling aber und Andere, die ihn und sein Wesen besser kannten, mein- ten oft vor Lachen zu bersten, wenn ihn einer mit starren und gleichsam bemitleidenden Augen ansah, und er dann mit gro- ßem hellem Blick ihn darnieder schoß. Diese Scene waͤhrte, ziemlich tumultuarisch, kaum eine halbe Stunde, als Lavater, Hasenkamp, Collenbusch , der junge Kaufmann und Stilling zusammen aufbrachen, und in der heitern Abendsonne das paradiesische Thal hinauf- wanderten, um den oben beruͤhrten vortrefflichen Theodor Muͤller zu besuchen. Dieser Spaziergang ist Stillingen unvergeßlich, Lavater lernte ihn und er den Lavatern kennen, sie redeten viel zusammen und gewannen sich lieb. Vor dem Dorfe, in welchem Muͤller wohnte, kehrte Stil- ling mit seinem Freunde wieder um und nach Schoͤnenthal zuruͤck; waͤhrend der Zeit waren Goͤthe und Juvenal nach Ruͤsselstein verreist, des andern Morgens kam Lavater , er besuchte Stilling , ließ ihn fuͤr seine Physiognomik zeichnen, und reiste dann wieder fort. Dieser merkwuͤrdige Zeitpunkt in Stillings Leben mußte umstaͤndlich beruͤhrt werden; er aͤnderte zwar nichts in seinen Umstaͤnden, aber er legte den Grund zu allerhand wichtigen Lenkungen seiner kuͤnftigen Schicksale. Noch Eines habe ich vergessen zu bemerken: Goͤthe nahm den Aufsatz von Stil- lings Lebensgeschichte mit, um ihn zu Hause mit Muse le- sen zu kennen: wir werden an seinem Orte finden, wie vor- trefflich dieser geringscheinende Zufall, und also Goͤthen ’s Be- such von der Vorsehung benutzt worden. Im Herbst dieses 1772sten Jahres brachte ein Kaufmann aus Schoͤnenthal einen blinden Kaufmann, Namens Bauch , von Sonnenburg aus Sachsen , aus der Frankfurter Messe mit, in der Hoffnung, Stilling wuͤrde ihn kuriren koͤnnen. Stilling besah ihn, seine Pupillen waren weit, aber doch noch etwas beweglich, der Anfang des grauen Staars war zwar da, allein der Patient war fuͤr diese geringe Ver- dunklung doch zu blind, als daß sie bloß hievon herruͤhren konnte; er sahe wohl, daß der anfangende schwarze Staar die Hauptursache des Uebels sey: das Alles sagte er auch, allein seine Freunde riethen ihm Alle, er moͤchte dessen ungeachtet die Staaroperation versuchen, besonders auch darum, weil der Patient doch unheilbar sey, und also durch die Operation nichts verloͤre, im Gegentheil sey es Pflicht, Alles zu versu- chen. Stilling ließ sich also bewegen, denn der Patient verlangte selbst nach dem Versuch, und aͤußerte sich, dieß letzte Mittel muͤsse auch noch gewagt werden; er wurde also gluͤck- lich operirt und in die Kur genommen. Dieser Schritt war sehr unuͤberlegt, und Stilling fand Gelegenheit genug, ihn zu bereuen; die Kur mißlang, die Au- gen wurden entzuͤndet, eiterten stark, das Gesicht war nicht nur unwiederbringlich verloren, sondern die Augen bekamen auch nun noch ein haͤßliches Ansehen. Stilling weinte in der Einsamkeit auf seinem Angesicht, und betete fuͤr diesen Mann um Huͤlfe zu Gott, aber er wurde nicht erhoͤrt. Dazu kamen noch andere Umstaͤnde: Bauch erfuhr, daß Stilling beduͤrf- tig war, er fing also an zu glauben, er habe ihn bloß operirt, um Geld zu verdienen, nun war zwar sein Hauswirth, der Kaufmann, der ihn mitgebracht hatte, ein edler Mann und Stillings Freund, der ihm diese Zweifel auszureden suchte, allein es besuchten Andere den Patienten, die ihm Verdacht ge- nug von Stillings Armuth, Mangel an Kenntnissen und eingeschraͤnktem Kopf in die Ohren bliesen; Bauch reiste also ungluͤcklich, voller Verdruß und Mißtrauen in Stillings Redlichkeit und Kenntnisse, nach Frankfurt zuruͤck, wo er sich noch einige Wochen aufhielt, um noch andere Versuche mit seinen Augen zu machen, und dann wieder nach Hause zu reisen. Waͤhrend der Zeit hoͤrte ein sehr edler, rechtschaffener Frank- furter Patrizier, der Herr Oberhofmeister von Leesner , wie gluͤcklich der Herr Professor Sorber zu Marburg von Stilling sey kurirt worden; nun war er selbst seit einigen Jahren staarblind, er schrieb also an Sorbern , um gehoͤrige 22 * Kundschaft einzuziehen, und er bekam die befriedigendste Antwort: der Herr von Leesner ließ also seine Augen von verschiede- nen Aerzten besehen, und als Alle darin uͤbereinstimmten, daß er einen heilbaren grauen Staar habe, so uͤbertrug er seinem Hausarzt, dem rechtschaffenen, edeldenkenden Herrn Doktor Hoff- mann , die Sache, um mit Stillingen daruͤber Briefe zu wechseln, und ihn zu bewegen, nach Frankfurt zu kommen, weil er, als ein alter, blinder und schwaͤchlicher Mann, sich nicht die weite Reise zu machen getraute. Leesner versprach Stillingen tausend Gulden zu zahlen, die Kur moͤchte ge- lingen, oder nicht; diese tausend Gulden strahlten ihm bei sei- ner kuͤmmerlichen Verfassung gewaltig in die Augen, und Chri- stine , so unertraͤglich ihr auch die Abwesenheit ihres Mannes vorkam, rieth ihm doch sehr ernstlich, diese Gruͤndung seines Gluͤcks nicht zu versaͤumen; auch die Friedenbergische Familie und alle seine Freunde riethen ihm dazu. Nur der einzige Theodor Muͤller war ganz und gar nicht damit zufrieden; er sagte: „Freund, es wird Sie reuen und die tausend Gul- den werden Ihnen theuer zu stehen kommen, ich ahnde traurige Schicksale, bleiben Sie hier, wer nicht zu Ihnen kommen will, der mag wegbleiben, Leesner hat Geld und Zeit, er wird kom- men, wenn er sieht, daß Sie die Reise nicht machen wollen.“ — Allein alle Ermahnungen halfen nicht, Stillings ehema- liger Trieb, der Vorsehung vorzulaufen, gewann auch jetzt die Ueberhand, er beschloß also, nach Frankfurt zu reisen, und sagte daher dem Herrn von Leesner zu. Jetzt traͤumte sich nun Stilling eine gluͤckliche Zukunft und das Ende seiner Leiden: mit den tausend Gulden glaubte er die dringendsten Schulden bezahlen zu koͤnnen, und dann sahe er wohl ein, daß eine gluͤckliche Kur an einem solchen Manne großes Aufsehen erregen, und ihm einen gewaltigen und eintraͤglichen Zulauf in der Naͤhe und Ferne zuwege brin- gen wuͤrde. Indessen schien Bauch , der sich noch in Frank- furt aufhielt, die ganze Sache wieder vernichten zu wollen; denn sobald er hoͤrte, daß sich Leesner Stillings Kur anvertrauen wollte, so warnte er ihn angelegentlich und setzte Stilling wegen seiner Duͤrftigkeit und geringen Kenntnisse so sehr herab, als er konnte; indessen half das alles nichts, Leesner blieb in seinem Vorsatz. Bauchs Verfahren konnte ihm im Grunde Niemand verdenken, denn er kannte Stil- lingen nicht anders, und seine Meinung, Leesnern fuͤr Ungluͤck zu warnen, war nicht unedel. Goͤthe , der sich noch immer bei seinen Eltern in Frank- furt aufhielt, freute sich innig, seinen Freund Stilling auf einige Zeit bei sich zu haben; seine Eltern boten ihm waͤh- rend seines Aufenthalts ihren Tisch an, und mietheten ihm in ihrer Nachbarschaft ein huͤbsches Zimmer; dann ließ auch Goͤthe eine Nachricht in die Zeitung ruͤcken, um damit meh- rere Nothleidende herbeizuholen. Und so wurde die ganze Sache regulirt und beschlossen. Stillings wenige Freunde freuten sich und hofften, Andere sorgten, und die mehresten wuͤnschten, daß er doch zu Schanden werden moͤchte. Im Anfang des 1775sten Jahres, in der ersten Woche des Januars, setzte sich also Stilling auf ein Lehnpferd, nahm einen Boten mit sich, und ritt an einem Nachmittag in dem schrecklichsten Regenwetter noch bis Waldstaͤtt, hier blieb er uͤber Nacht; den andern Tag schien der Himmel eine neue Suͤndfluth uͤber die Erde fuͤhren zu wollen, alle Wasser und Baͤche schwollen ungeheuer an, und Stilling gerieth mehr als Einmal in die aͤußerste Lebensgefahr, doch kam er gluͤck- lich nach Meinerzhagen , wo er uͤbernachtete; des dritten Morgens machte er sich wieder auf den Weg; der Himmel war nun ziemlich heiter, große Wolken flogen uͤber seinem Haupte hin, doch schoß die Sonne auch zuweilen aus ihrem Laufe milde Strahlen in sein Angesicht; sonst ruhte die ganze Natur, alle Waͤlder und Gebuͤsche waren entblaͤttert, eisgrau, Felder und Wiesen halb gruͤn, Baͤche rauschten, der Sturm- wind sauste aus Westen, und kein einziger Vogel belebte die Scenen. Gegen Mittag kam er an ein einziges Wirthshaus, in ei- nem schoͤnen ziemlich breiten Thale, welches im Rosenthal genannt wird; hier sahe er nun, als er die Hoͤhe herab ritt, mit Erstaunen und Schrecken, daß der starke, mit einer ge- woͤlbten Bruͤcke versehene Bach von einem Berg zum andern das ganze Thal uͤberschwemmte; er glaubte den Rheinstrom vor sich zu sehen, außer daß hie und da ein Strauch hervor- gukte. Stilling und sein Begleiter klagten sich wechselweise ihren Kummer; auch hatte er seiner Christine versprochen, von Leindorf aus, wo sein Vater wohnte, zu schreiben, denn sein Weg fuͤhrte ihn gerade durch sein Vaterland. Nun wußte er, daß Christine am bestimmten Tage Briefe erwarte, von hier aus gab’s keine Gelegenheit zu Versendung derselben, er mußte also fort, oder besorgen, daß sie aus Angst Zufaͤlle be- kommen und wieder gefaͤhrlich krank werden wuͤrde. In dieser Verlegenheit bemerkte er, daß der Plankenzaun, welcher unter der Straße her bis an die Bruͤcke ging, noch immer einen Schuh hoch uͤber das Wasser emporragte; dieß machte ihm Muth; er beschloß also, seinen Begleiter hinter sich auf’s Pferd zu nehmen und laͤngs dem Zaun auf die Bruͤcke zuzureiten. Im Wirthshause wurde Mittag gehalten; hier traf er eine Menge Fuhrleute an, welche das Fallen des Wassers erwar- teten, und ihm Alle riethen, sich nicht zu wagen: allein das half nichts; sein rastloser und immer fortstrebender Geist war nicht zum Warten gestimmt, wo das Wirken oder Ruhen blos auf ihn ankam; er nahm also den Bedienten hinter sich auf’s Pferd, setzte in die Fluthen und kaͤmpfte sich gluͤck- lich durch! Nach ein paar Stunden war Stilling auf der Hoͤhe, von welcher er die Gebirge und Fluren seines Vaterlandes vor sich sah. Dort lag der hohe Kindelsberg suͤdostwaͤrts vor ihm, ostwaͤrts, am Fuß desselben, sahe er die Lichthaͤuser Schornsteine rauchen, und er entdeckte bald unter denselben, welcher seinem Oheim Johann Stilling zugehoͤrte; ein suͤßer Schauer durchzitterte alle seine Glieder, und alle Ju- gendscenen gingen seiner Seele voruͤber; sie daͤuchten ihm gol- dene Zeiten zu seyn. Was hab’ ich denn nun errungen? dachte er bei sich selbst — nichts anders, als ein glaͤnzendes Elend! — ich bin nun freilich ein Mann geworden, der an Ehre und Ansehen alle seine Vorfahren uͤbertrifft, allein was hilft mir das Alles, es haͤngt ein spitziges Schwert an einem seidenen Faden uͤber meinem Haupte, es darf nur fallen, so verschwindet Alles wie eine Seifenblase! Meine Schulden werden immer groͤßer, und ich muß mich fuͤrchten, daß meine Kreditoren zugreifen, mir das Wenige, was ich habe, nehmen, mich dann nackend auf die Straße setzen, und dann habe ich ein zaͤrtliches Weib, die das nicht ertraͤgt, und zwei Kinder, die nach Brod lallen; Gott, der Gedanke war schrecklich! er marterte den armen Stilling Jahre lang unaufhoͤrlich, so daß er keinen frohen Augenblick haben konnte. Endlich ermannt er sich wieder, seine große Erfahrung von Gottes Vatertreue, und dann die wichtige Hoffnung seiner jetzigen Reise ermun- terten ihn wieder, so daß er froh und heiter ins Dorf Licht- hausen hineintrabte. Er ritt zuerst an das Haus des Schwiegersohns des Jo- hann Stillings , welcher ein Gasthalter war, und also Stallung hatte; hier wurde er von seiner Jugendfreundin und ihrem Manne mit lautem Jubel empfangen; dann wanderte er mit zitternder Freude und klopfendem Herzen zu seines Oheims Haus. Das Geruͤcht seiner Ankunft war schon durchs ganze Dorf erschollen, alle Fenster stacken voller Koͤpfe, und so wie er die Hausthuͤr aufmachte, schritten ihm die beiden Bruͤder Johann und Wilhelm entgegen: er umarmte Einen nach dem Andern, weinte an ihrem Halse und beide Graukoͤpfe weinten auch die hellen Thraͤnen. „Gesegnet seyn Sie mir!“ fing der wahrhafte große Mann, Johann Stil- ling , an; „gesegnet seyn Sie mir, lieber, lieber Herr Vet- ter! unsere Freude ist uͤberschwinglich groß, daß wir Sie am Ziel Ihrer Wuͤnsche sehen; mit Ruhm sind Sie hinaufgestie- gen auf die Stufe der Ehre, Sie sind uns allen entflohen! Sie sind der Stolz unsrer Familie u. s. w.“ Stilling ant- wortete weiter nichts, als: „Es ist ganz und allein Gottes Werk, Er hat’s gethan!“ Gern haͤtte er noch hinzugesetzt: „und dann bin ich nicht gluͤcklich, ich stehe am Rande des Abgrunds;“ allein er behielt seinen Kummer fuͤr sich und ging ohne weitere Umstaͤnde in die Stube. Hier fand er nun alle Baͤnke und Stuͤhle mit Nachbarn und Bauern aus dem Dorfe besetzt, und die meisten standen gedraͤngt ineinander, Alle hatten Stilling als Knabe ge- kannt; so wie er hineintrat, waren alle Kappen und Huͤte unter den Armen, und Alles war stille, und Jeder sahe ihn mit Ehrfurcht an. Stilling stand und schaute umher; mit Thraͤnen in den Augen und mit gebrochener Stimme sagte er: „Willkommen, willkommen, Ihr lieben Maͤnner und Freunde! Gott segne einen jeden unter Euch! — bedeckt Alle Eure Haͤupter, oder ich gehe auf der Stelle wieder hinaus; was ich bin, ist Gottes Werk, Ihm allein die Ehre!“ — Nun entstand ein Freudegemurmel, Alle wunderten sich und segneten ihn. Die beiden Alten und der Doktor setzten sich un- ter die guten Leute, und alle Augen waren auf sein Betra- gen, und alle Ohren auf seine Worte gerichtet. Was Vater Stillings Soͤhne jetzt empfanden, ist unaussprechlich. Wie kam’s doch, daß aus dem Doktor Stilling so viel Werks gemacht wurde, und was war die Ursache, daß man uͤber seine, in jedem Betracht noch mittelmaͤßige Erhoͤhung zum Doktor der Arzneikunde so sehr erstaunte? Es gab in seinem Vaterlande mehrere Bauernsoͤhne, die gelehrte und wuͤrdige Maͤnner geworden waren, und doch kraͤhete kein Hahn darnach? Wenn man die Sache in ihrer wahren Lage betrach- tet, so war sie ganz natuͤrlich: Stilling war noch vor neun bis zehn Jahren Schulmeister unter ihnen gewesen; man hatte ihn allgemein fuͤr einen ungluͤcklichen Menschen, und mitunter fuͤr einen hoffnungslosen armen Juͤngling angesehen; dann war er als ein armer verlassener Handwerksbursche fort- gereist, seine Schicksale in der Fremde hatte er seinem Oheim und Vater geschrieben, das Geruͤcht hatte alles Natuͤrliche bis zum Wunderbaren, und das Wunderbare bis zum Wun- derwerk erhoͤht, und daher kam’s, daß man ihn als eine Sel- teuheit zu sehen suchte. Er selbst aber demuͤthigte sich innig vor Gott, er kannte seine Lage und Umstaͤnde besser, und be- dauerte, daß man so viel aus ihm machte; indessen thats ihm doch auch wohl, daß man ihn hier nicht verkannte, wie das in Schoͤnenthal sein taͤgliches Schicksal war. Des andern Morgens machte er sich mit seinem Vater nach Leindorf auf den Weg. Johann Stilling gab seinem Bruder Wilhelm sein eigenes Reitpferd, und er ging zu Fuß neben her, er wollte es nicht anders; vor dem Dorfe erschienen schon ganze Gruppen Leindoͤrfer Juͤnglinge und Maͤn- ner, die ehemals seine Schuͤler und Freunde gewesen, und ihm eine Stunde entgegen gegangen waren; sie umgaben sein Pferd und begleiteten ihn. Zu Leindorf stand alles vor dem Dorfe, auf der Wiese am Wasser, und das Willkommrufen erscholl schon von Ferne. Stille und tief gebeugt und geruͤhrt ritt er mit seinem Vater ins Dorf hinein, Johann Stil- ling ging jetzt wieder zuruͤck; in seines Vaters Haus empfing ihn seine Mutter sehr schuͤchtern, seine Schwestern aber um- armten ihn mit vielen Thraͤnen der Freude. Hier stroͤmte nun Alles zusammen: Vater Stillings Toͤchter von Tie- fenbach kamen auch mit ihren Soͤhnen, von allen Seiten eil- ten Menschen herzu, das Haus war unten und oben voll, und den ganzen Tag und die ganze folgende Nacht war an gar keine Ruhe zu denken. Stilling ließ sich also von allen Seiten besehen, er sprach wenig, denn seine Empfindungen waren zu gewaltig, sie bestuͤrmten immer sein Herz, daher eilte er fort: des andern Morgens setzte er sich in einem ge- schlossenen Kreis von hundert Menschen zu Pferde, und ritt unter dem Getoͤne und Geschrei eines vielfaͤltigen und oft wiederholten Lebewohls! fort; kaum war er vor dem Dorfe, so sagte ihm der Bediente, daß sein Vater ihm nachlief; er kehrte also um; ich habe ja nicht Abschied genommen, lieber Sohn: sagte der Alte, dann faßte er ihm seine Linke in beide Haͤnde, weinte und stammelte: der Allmaͤchtige segne dich! Nun war Stilling wieder allein, denn sein Begleiter ging seitwaͤrts auf dem Fußpfad. Jetzt fing er laut an zu weinen, alle seine Empfindungen stroͤmten in Thraͤnen aus, und machten seinem Herzen Luft. So wohl ihm der allge- meine Beifall und die Liebe seiner Verwandten, Freunde und Landsleute that, so tief bekuͤmmerte es ihn in der Seele, daß sich all der Jubel blos auf einen falschen Schein gruͤndete. Ach, ich bin ja nicht gluͤcklich! ich bin der Mann nicht, wo- fuͤr man mich haͤlt! ich bin kein Wundermann in der Arznei- kunde! kein von Gott gemachter Arzt, denn ich kurire selten Jemand; wenn’s geraͤth, so ist es Zufall! ich bin gerade einer von den Alltaͤglichsten und Ungeschicktesten in meinem Beruf! und was ist denn auch am Ende so Großes aus mir geworden? Doktor der Arzneigelehrsamkeit bin ich, eine gra- duirte Person — gut, ich bin also ein Mann vom Mittel- stande! kein großes Licht, das Aufsehen macht, und verdiene also keinen solchen Empfang! u. s. w. Dieß waren Stil- lings laute und vollkommene wahre Gedanken, die immer wie Feuerflammen aus seiner Brust hervorloderten, bis er end- lich die Stadt Salen erblickte, und sich nun beruhigte. Stilling strebte jetzt nicht mehr nach Ehre, sein Stand war ihm vornehm genug, nur sein Mißfallen an seinem Be- ruf, sein Mangel und die Verachtung, in welcher er lebte, machten ihn ungluͤcklich. Zu Salen hielt sich Doktor Stilling verborgen, er speiste nur zu Mittag, und ritt nach Dillenburg , wo er des Abends ziemlich spaͤt ankam, und bei seinem braven rechtschaffenen Vetter, Johann Stillings zweitem Sohn, der daselbst Bergmeister war, einkehrte. Beide waren von gleichem Alter und von Jugend auf Herzensfreunde gewesen; wie er also hier empfangen wurde, das laͤßt sich leicht den- ken. Nach einem Rasttag machte er sich wieder auf den Weg- und reiste uͤber Herborn, Wetzlar, Butzbach und Fried- berg nach Frankfurt ; hier kam er des Abends an, kehrte im Goͤthe ’schen Hause ein und wurde mit der waͤrmsten Freundschaft aufgenommen. Des folgenden Morgens besuchte er den Herrn von Lees- ner , er fand an ihm einen vortrefflichen Greis, voll gefaͤl- liger Hoͤflichkeit, verbunden mit einer aufgeklaͤrten Religions- gesinnung; seine Augen waren geschickt zur Operation, so daß ihm Stilling die beste Hoffnung machen konnte; der Tag, an welchem der Staar ausgezogen werden sollte, wurde fest- gesetzt. Stilling machte noch einige wichtige Bekanntschaf- ten: er besuchte den alten beruͤhmten Doktor Burggraf , der in der ausgebreitetsten und gluͤcklichsten Praxis alt, grau und gebrechlich geworden war; als dieser vortreffliche Mann Stillingen eine Weile beobachtet hatte, so sagte er: Herr Kollege! Sie sind auf dem rechten Wege, ich hoͤrte von Ihrem Ruf hieher, und stellte mir nun einen Mann vor, der im hoͤchsten Modeputz mich besuchen, und wie gewoͤhnlich sich als Charlatan praͤsentiren wuͤrde, aber nun finde ich gerade das Gegentheil: Sie sind bescheiden, erscheinen in einem modesten Kleide, und sind also ein Mann, wie der seyn soll, der De- nen, die unter der Ruthe des Allmaͤchtigen seufzen, beistehen muß. Gott segne Sie! es freut mich, daß ich am Ende mei- ner Tage noch Maͤnner finde, die alle Hoffnung geben, das zu werden, was sie seyn sollen. Stilling seufzte und dachte: wolle Gott, ich waͤre das, wofuͤr mich der große Mann haͤlt! Dann besuchte er den Herrn Prediger Kraft : mit diesem theuren Mann stimmte seine Seele ganz uͤberein, und es entstand eine innige Freundschaft zwischen Beiden, die auch noch nach diesem Leben fortdauern wird. Indessen ruͤckte der Zeitpunkt der Operation heran. Stil- ling machte sie in der Stille, ohne Jemand, außer ein paar Aerzten und Wundaͤrzten, Etwas zu sagen. Diese waren denn auch alle gegenwaͤrtig, damit er doch sachkundige Maͤn- ner auf jeden Fall zu Zeugen haben moͤchte. Alles gelang nach Wunsch, der Patient sahe und erkannte nach der Opera- tion Jedermann: Das Geruͤcht erscholl durch die ganze Stadt, Freunde schrieben an auswaͤrtige Freunde und Stilling erhielt von Schoͤnenthal schon Gluͤckwuͤnschungsschreiben, noch ehe er Antwort auf die seinigen haben konnte. Der Fuͤrst von Loͤwenstein-Wertheim , die Herzogin von Kurland , geborne Prinzessin von Waldeck , die sich da- mals in Frankfurt aufhielt, alle adelichen Familien daselbst, und uͤberhaupt alle vornehmen Leute erkundigten sich nach dem Erfolg der Operation, und Alle ließen jeden Morgen fragen, wie sich der Patient befaͤnde. Nie war Stilling zufriedener als jetzt; er sah, wie sehr diese Kur Aufsehen machen und wie vielen Ruhm, Beifall, Ansehen und Zulauf sie ihm verschaffen wuͤrde; schon wurde davon geredet, ihm mit dem Frankfurter Buͤrgerrecht ein Praͤ- sent zu machen und ihn dadurch hinzuziehen. In dieser Hoff- nung freute sich der gute Doktor uͤber die Maßen, denn er dachte: hier ist mein Wirkungskreis groͤßer, die Gesinnung des Publikums weniger kleinstaͤdtisch, als in Schoͤnenthal , hier ist der Zulauf von Standespersonen und Fremden unun- terbrochen und groß, du kannst hier Etwas erwerben und so der Mann werden, der du von Jugend auf hast seyn wollen. Gerade zu dieser Zeit fanden sich noch etliche blinde Per- sonen ein: der Erste war der Herr Hofrath und Doktor Hut , Physikus in Wiesbaden , welcher in einer Nacht durch eine Verkaͤltung an einem Auge staarblind geworden war; er logirte bei seinem Bruder, dem Herrn Hofrath und Con- sulenten Hut , in Frankfurt; Stilling operirte und kurirte ihn gluͤcklich; dieser allgemein bekannte und sehr edle redliche Mann ward dadurch sein immerwaͤhrender Freund, besonders auch darum, weil sie einerlei Gesinnungen hatten. Der zweite war ein juͤdischer Rabbi, in der Judengasse zu Frankfurt wohnhaft; er war schon lange an beiden Augen blind und ließ Stilling ersuchen, zu ihm zu kommen: die- ser ging hin und fand einen Greis von acht und sechzig Jah- ren mit einem schneeweißen, bis auf den Guͤrtel herabhaͤngen- den Bart. So wie er hoͤrte, daß der Arzt da waͤre, stolperte er vom Stuhl auf, strebte ihm entgegen, und sagte: Herr Doktor! guke Se mer aͤmohl in die Aaga! — dann machte er ein grinzig Gesicht, und riß beide Augen sperrweit auf; mittlerweile draͤngten sich eine Menge Judengesichter von aller- hand Gattung herbei, und hier und da erscholl eine Stimme: horcht —! was wird er sagaͤ! Stilling besahe die Augen und erklaͤrte, daß er ihm naͤchst Gott wuͤrde helfen koͤnnen. Gotts Wunner (von allen Seiten) der Herr soll hundert Jahr laͤbaͤ! Nun fing der Rabbi an: Pscht — horchen Se aͤmohl, Herr Doktor! aber nur a Aag! nur ahns! — denn wenns un nicht gerieth — nur ahus. Gut, antwortete Stilling , ich komme uͤbermorgen; also nur eins. Des andern Tages operirte Stilling im Judenhospital eine arme Frau, und den folgenden Morgen den Rabbi. An diesem Tage wurde er einsmals in des Herrn von Leesners Wohnung herab an die Hausthuͤre gerufen; hier fand er einen armen Betteljuden von etwa sechzig Jahren; er war an bei- den Augen stockblind und suchte also Huͤlfe; sein Sohn, ein feiner Juͤngling von sechzehn Jahren, fuͤhrte ihn. Dieser arme Mann weinte, und sagte: Ach, lieber Herr Doktor! ich und meine Frau haben zehn lebendige Kinder, ich war ein fleißiger Mann, hab’ uͤber Land und Sand gelaufen, und sie ehrlich ernaͤhrt; aber nun lieber Gott! ich bettle und Alles bettelt, und Sie wissen wohl, wie das mit uns Juden ist. Stil- ling wurde innig geruͤhrt, mit Thraͤnen in den Augen ergriff er seine beiden Haͤnde, druͤckte sie und sagte: Mit Gott sollt ihr euer Gesicht wieder haben! der Jude und sein Sohn wein- ten laut, sie wollten auf die Knie fallen, allein Stilling litt das nicht und fuhr fort: wo wollt ihr Quartier und Aufent- halt bekommen? ich nehme nichts von euch: aber ihr muͤßt doch vierzehn Tage hier bleiben. — Ja, lieber Gott! antwor- tete er, das wird Noth haben, es wohnen so viele reiche Ju- den hier, aber sie nehmen keinen Fremden auf. Stilling versetzte: kommt morgen um neun Uhr ins Judenspital, dort will ich mit den Vorstehern sprechen. Dieß geschah: denn als Stilling dort die arme Frau verband, so kam der Blinde mit seinem Sohne heran gestie- gen, die ganze Stube war voller Juden, vornehme und ge- ringe durcheinander. Hier trug nun der arme Blinde seine Noth klaͤglich vor, allein er fand kein Gehoͤr, dieß hartherzige Volk hatte kein Gefuͤhl fuͤr das große Elend seines Bruders. Stilling schwieg so lange still, bis er merkte, daß Bitten und Flehen nicht half: jetzt aber fing er an ernsthaft zu re- den, er verwies ihnen ihre Unbarmherzigkeit derb, und bezeugte vor dem lebendigen Gott, daß er den Rabbi und die gegen- waͤrtige Patientin auf der Stelle verlassen und keine Hand mehr an sie legen wuͤrde, bis der arme Mann auf vierzehn Tage ordentlich und bequem einlogirt waͤre und den gehoͤri- gen Unterhalt haͤtte. Das wirkte; denn in weniger als zwei Stunden hatte der arme Jude in einem Wirthshause, nah’ an der Judengasse, Alles, was er brauchte. Nun besuchte ihn Stilling , der Jude war zwar vergnuͤgt, allein er bezeugte eine sehr ungewoͤhnliche Angst fuͤr die Opera- tion, so daß Stilling fuͤrchtete, sie moͤchte ungluͤckliche Fol- gen fuͤr die Kur haben; er nahm daher andre Maaßregeln und sagte: hoͤrt! ich will die Operation noch ein paar Tage aufschieben, morgen aber muß ich die Augen etwas reiben und aufklaͤren, das thut nun nicht weh, hernach wollen wir sehen, wie wir’s machen: damit war der gute Mann sehr zufrieden. Den folgenden Morgen nahm er also den Wundarzt und einige Freunde mit; der Jude war gutes Muths, setzte sich und sperrte die Augen weit auf; Stilling nahm das Mes- ser und operirte ihm Ein Auge; so wie die Staarlinse heraus war, rief der Jude: Ich glaub, der Herr hat mich keopperirt? — O Gott! ich seh, ich seh Alles! — Joel! Joel! (so hieß sein Sohn) geh kuͤß aͤm de Fuͤß — kuͤß aͤm de Fuͤß! Joel schrie laut, fiel nieder und wollte kuͤssen, allein es wurde nicht gelitten. Na! Na! fuhr der Jude fort: ich wollt, ich haͤtt Millio- nen Aaga, vor aͤ halb Koppstuͤck ließ ich mir immer ahns apperire! Kurz, der Jude wurde vollkommen sehend, und als er wegreiste, lief er mit ausgereckten Armen durch die Fahr- gasse und uͤber die Sachsenhaͤuser Bruͤcke hin, und rief unauf- hoͤrlich: „O Ihr Leut, dankt Gott fuͤr mich, ich war blind und bin sehend geworden! Gott laß den Doktor lange leben, damit er noch vielen Blinden helfen koͤnne!“ Stilling ope- rirte, außer dem Herrn von Leesner , noch sieben Personen, und Alle wurden sehend, indessen konnte ihm Keiner etwas zahlen, als der Herr Doktor Hut , der ihm seine Muͤhe reich- lich belohnte. Aber nun fing auf einmal Stillings schrecklichste Le- bensperiode an, die uͤber sieben Jahr ununterbrochen fortge- dauert hat; der Herr von Leesner wurde, aller Muͤhe un- geachtet, nicht sehend: seine Augen fingen an, sich zu entzuͤn- den und zu eitern, mehrere Aerzte unterstuͤtzten ihn, aber es half Alles nichts. Schmerzen und Furcht vor unheilbarer Blindheit schlugen alle Hoffnung darnieder. Jetzt glaubte Stilling , er muͤßte vergehen, er rang mit Gott um Huͤlfe, aber Alles vergebens, alle freundlichen Gesich- ter verschwanden, alles zog sich zuruͤck und Stilling blieb in seinem Jammer allein: Freund Goͤthe und seine Eltern suchten ihn aufzurichten; allein das half nicht, er sah nun weiter nichts als eine schreckliche Zukunft; Mitleiden seiner Freunde, das ihn nichts half, und dagegen Spott und Ver- achtung in Menge, wodurch ihm ferner alle Praxis wuͤrde erschwert werden. Jetzt fing er an zu zweifeln, daß ihn Gott zur Medizin berufen habe; er fuͤrchtete, er habe denn doch vielleicht seinem eigenen Triebe gefolgt, und werde sich nun lebenslang mit einem Beruf schleppen muͤssen, der ihm aͤußerst zuwider sey; nun trat ihm seine duͤrftige Verfassung wieder lebhaft vor die Seele; er zitterte, und blos ein geheimes Ver- trauen auf Gottes vaͤterliche Vorsorge, das er kaum selbst bemerkte, erhielt ihn, daß er nicht ganz zu Grunde ging. Als er einsmals bei dem Herrn von Leesner saß und sich mit Thraͤnen uͤber die mißlungene Kur beklagte: fing der edle Mann an: „Geben Sie sich zufrieden, lieber Doktor! es war mir gut, darum auch Gottes Wille, daß ich blind bleiben mußte, aber ich sollte die Sache unternehmen und Ihnen tausend Gul- den zahlen, damit den uͤbrigen Armen geholfen wuͤrde.“ Die tausend Gulden empfing auch Stilling richtig, er nahm sie mit Schwermuth an und reiste nach einem Aufenthalt von acht Wochen wieder nach Schoͤnenthal zuruͤck. Hier war nun Alles still, alle seine Freunde bedauerten ihn, und vermie- den sehr, von der Sache zu reden. Der liebe Theodor Muͤl- ler , der ihm so treu gerathen hatte, war zu seinem großen Kummer waͤhrend der Zeit in die Ewigkeit gegangen; der ge- meine Haufen aber, vornehmer und geringer Poͤbel, spotteten ohne Ende; das wußte ich wohl, hieß es, der Mensch hat ja nichts gelernt, und doch will er immer oben naus, es ist dem Windbeutel ganz recht, daß er so auf die Nase faͤllt, u. s. w. Wenn nun auch Stilling sich uͤber das Alles haͤtte hinaus- setzen wollen, so half es doch mitwirken, daß er nun keinen Zu- lauf mehr hatte; die Haͤuser, welche er sonst bediente, hatten waͤhrend seiner Abwesenheit andre Aerzte angenommen, und Niemand bezeugte Lust, sich wieder zu ihm zu wenden; mit einem Worte: Stillings Praxis wurde sehr klein, man fing an, ihn zu vergessen, seine Schulden wuchsen, denn die tausend Gulden reichten zu ihrer Tilgung nicht zu, folglich wurde sein Jammer unermeßlich. Er verbarg ihn zwar vor aller Welt, so viel er konnte, desto schwerer wurde er ihm aber zu tragen; so- gar die Friedenbergische Familie fing an, kalt zu werden; denn sein eigener Schwiegervater begann zu glauben, er muͤsse wohl kein guter Haushalter seyn; er mußte manche ernstliche Ermah- nung hoͤren, und oͤfters wurde ihm zu Gemuͤthe gefuͤhrt, daß das Kapital von fuͤnfzehn hundert Thalern, womit er studirt, Instrumente und die noͤthigen Buͤcher nebst dem dringendsten Hausrath angeschafft, und wofuͤr Herr Friedenberg Buͤrge geworden war, nun bald bezahlt werden muͤßte; dazu wußte aber Stilling nicht den entferntesten Weg; es kraͤnkte ihn tief in der Seele, daß der ihm sein Kind gab, als noch kein Be- ruf, vielweniger Brod da war, der mit ihm blindlings auf die Vorsehung getraut hatte, nun auch zu wanken anfing. Chri- stine empfand diese Veraͤnderung ihres Vaters hoch, und be- gann daher einen Heldenmuth zu fassen, der Alles uͤbertraf; das war aber auch noͤthig, ohne diese ungewoͤhnliche Staͤrke haͤtte sie, als ein schwaches Weib, unterliegen muͤssen. Dieser ganz verzweifelten Lage ungeachtet, fehlte es doch nie am Noͤthigen, nie hatte Stilling Vorrath, aber wenn’s da seyn mußte, so war es da; dieß staͤrkte nun ihr Beider Glau- ben, so daß sie doch das Leiden aushalten konnten. Im Fruͤhjahr 1775 gebar Christine wieder einen Sohn, der aber nach vier Wochen starb; sie litte in diesem Kindbett ausserordentlich; an einem Morgen sahe sie Stilling in ei- nem tauben Hinbruͤten da liegen, er erschrack und fragte sie, was ihre fehle? Sie antwortete, ich bin den Umstaͤnden nach gesund, aber ich habe einen erschrecklichen innern Kampf, laß mich in Ruhe, bis ich ausgekaͤmpft habe; mit der groͤßten Sorge erwartete er die Zeit der Aufklaͤrung uͤber diesen Punkt. Nach zwei traurigen Tagen rief sie ihn zu sich, sie fiel ihm um den Hals und sagte: „Lieber Mann! ich hab nun uͤber- wunden, jetzt will ich dir Alles sagen: Siehe! ich kann keine Kinder mehr gebaͤren, du als Arzt wirst es einsehen; indessen bist du ein gesunder junger Mann; ich habe also die zwei Tage mit Gott und mit mir selbst um meine Aufloͤsung ge- kaͤmpft und ihn sehnlich gebeten, Er moͤchte mich doch zu sich nehmen, damit du wieder eine Frau heirathen koͤnntest, die sich besser fuͤr dich schickt, wie ich.“ Dieser Auftritt ging ihm durch die Seele: Nein, liebes Weib! fing er an, indem er sie an sein klopfendes Herz druͤckte, daruͤber sollst du nicht kaͤmpfen, vielweniger um deinen Tod beten, lebe und sey nur ganz getrost! — von dieser Sache laͤßt sich kein Wort mehr sagen. Christine bekam von nun an keine Kinder mehr. Den folgenden Sommer erhielt Stilling einen Brief von seinem Freunde, dem Herrn Doktor Hoffmann in Frank- furt, worin ihm im Vertrauen entdeckt wurde, daß der Herr von Leesner seine unheilbare Blindheit sehr hoch empfaͤnde und uͤber seinen Augenarzt zuweilen Mißtrauen aͤußerte; da er nun so fuͤrstlich bezahlt worden, so moͤchte er seinem guten Ruf noch dadurch die Krone aufsetzen, daß er auf seine eigene Kosten den Herrn von Leesner noch einmal besuchte, um noch alles Moͤgliche zu versuchen; indessen wollte er, Hoff- mann , diese Reise abermals in die Zeitung setzen lassen, vielleicht wuͤrde ihm der Aufwand reichlich vergolten. Stil- ling fuͤhlte das Edle in diesem Plan ganz, wenn er ihn aus- fuͤhren wuͤrde, selbst Christine rieth ihm zu reisen, aber auch sonst Niemand, Jedermann war gegen dieses Unternehmen; allein jetzt folgte er blos seiner Empfindung des Rechts und der Billigkeit; er fand auch einen Freund, der ihm hundert Thaler zu der Reife vorstreckte; und so reiste er mit der Post abermal nach Frankfurt, wo er wieder bei Goͤthe einkehrte. Der Herr von Leesner wurde durch diesen unvermutheten Besuch aͤußerst geruͤhrt, und er that die erwuͤnschte Wirkung, auch fanden sich wieder verschiedene Staarpatienten ein, die Stilling Alle operirte; Einige wurden sehend, Einige nicht, Keiner aber war im Stande, ihm seine Kosten zu verguͤten, daher setzte ihn diese Reise um hundert Thaler tiefer in Schul- den; auch jetzt hielt er sich wieder acht traurige Wochen in Frankfurt auf. Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 23 Waͤhrend der Zeit beging Stilling eine Unvorsichtigkeit, die ihn oft gereuet und viel Verdruß gemacht hat; er fand naͤmlich bei einem Freunde das Leben und die Meinun- gen des Magister Sebaldus Nothankers liegen, er nahm das Buch mit, und las es durch; die bittere Satyre, das Laͤcherlichmachen der Pietisten, und sogar wahrhaft from- mer Maͤnner, ging ihm durch die Seele; ob er gleich selbst nicht mit den Pietisten zufrieden war, auch vieles von ihnen dulden mußte, konnte er doch keinen Spott uͤber sie ertragen, denn er glaubte, Fehler in der Religion muͤßten beweint, be- klagt, aber nicht laͤcherlich gemacht werden, weil dadurch die Religion selbst zum Spott wuͤrde. Dieß Urtheil war gewiß ganz richtig, allein der Schritt, den jetzt Stilling wagte, war nicht weniger uͤbereilt. Er schrieb naͤmlich in einem Feuer: die Schleuder eines Hirtenknaben gegen den hohnsprechenden Philister, den Verfasser des Sebald Nothankers , und ohne die Handschrift nur Ein- mal wieder kaltbluͤtig durchzugehen, gab er’s siedwarm in die Eichenberg’sche Buchhandlung. Sein Freund Kraft wider- rieth ihm den Druck sehr, allein es half nicht, es wurde ge- druckt. Kaum war er wieder in Schoͤnenthal , so fing ihn der Schritt an zu reuen, er uͤberlegte nun, was er gethan, und welche wichtige Feinde er sich dadurch auf den Hals gezogen haͤtte; zudem hatte er in der Schleuder seine Grundsaͤtze nicht genug entwickelt, er fuͤrchtete also, das Publikum moͤchte ihn fuͤr dummorthodox halten, er schrieb also ein Traktaͤtchen unter dem Titel: die große Panacee gegen die Krankheit des Unglaubens ; dieses wurde auch in dem naͤmlichen Ver- lag gedruckt. Waͤhrend dieser Zeit fand sich ein Vertheidiger des Sebald Nothankers ; ein gewisser niederlaͤndischer Kaufmann schrieb gegen die Schleuder; dieß veranlaßte Stil- lingen , abermal die Feder zu ergreifen und die Theorie des Hirtenknaben zur Berichtigung und Verthei- digung der Schleuder desselben herauszugeben; in die- sem Werk verfuhr er sanft, er bat den Verfasser des Noth- ankers wegen seiner Heftigkeit um Vergebung, ohne jedoch das Geringste von seinen Grundsaͤtzen zu widerrufen; dann suchte er seinem Gegner, dem niederlaͤndischen Kaufmann, rich- tige Begriffe von seiner Denkungsart beizubringen, und ver- mied dabei alle Bitterkeit, so viel als ihm moͤglich war. Aus- ser noch einigen kleinen Neckereien, die weiter keine Folgen hat- ten, ging nun die ganze Sache damit zu Ende. Um diese Zeit entstanden zu Schoͤnenthal zwei Anstalten, an welchen Stilling vielen Antheil hatte: verschiedene edle und aufgeklaͤrte Maͤnner errichteten eine geschlossene Gesellschaft, die sich Mittwochs Abends zu dem Ende versammelte, um sich durch Lesen nuͤtzlicher Schriften und Unterredung uͤber man- cherlei Materie wechselseitig zu vervollkommnen. Wer Lust und Kraft hatte, konnte auch Abhandlungen vorlesen. Vermittelst festgesetzter Beitraͤge wurde allmaͤhlich eine Bibliothek von auserlesenen Buͤchern gesammelt und die ganze Anstalt gemein- nuͤtzig gemacht; sie bluͤht und besteht noch, und ist seit der Zeit noch weit bluͤhender und zahlreicher geworden. Hier hatte nun Stilling , der, nebst seinen bestaͤndigen Freunden Troost und Dinkler , eins der ersten Mitglieder war, Gelegenheit, sein Talent zu zeigen, und sich den Auser- lesensten seiner Mitbuͤrger besser bekannt zu machen: er legte Eulers Briefe an eine deutsche Prinzessin zum Grunde, und las in der Versammlung der geschlossenen Gesellschaft ein Collegium uͤber die Physik: dadurch empfahl er sich un- gemein; alle Mitglieder gewannen ihn lieb und unterstuͤtzten ihn auf allerlei Weise; freilich wurden seine Schulden dadurch nicht vermindert, im Gegentheil: der Mangel an Praxis ver- groͤßerte sie von einem Tag zum andern, allein sie waͤren doch noch groͤßer geworden, wenn sich Stilling alles haͤtte anschaffen sollen, was ihm von diesen braven Maͤnnern ge- schenkt wurde. Die zweite Anstalt betraf einen mineralischen Brunnen, welcher in der Naͤhe von Schoͤnenthal entdeckt wurde. Dink- ler, Troost und Stilling betrieben die Sache, und Letz- terer wurde von der Obrigkeit zum Brunnenarzt verordnet, er bekam zwar keinen Gehalt, allein seine Praxis wurde doch um Etwas vermehrt, obgleich nicht in dem Maße, daß er 23 * sich ordentlich haͤtte durchbringen, geschweige Schulden bezah- len koͤnnen. Diese beiden Verbindungen brachte die Pietisten noch mehr gegen ihn auf: sie sahen, daß er sich immer mehr mit Welt- menschen einließ, und des Raͤsonnirens und Laͤsterns war da- her kein Ende. Es ist zu beklagen, daß diese sonst wahrhaft gute Menschenklasse die große Lehre Jesu , den sie doch sonst so hoch verehren: Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet , so wenig beobachten: alle ihre Vorzuͤge werden dadurch vernichtet und ihr Urtheil an jenem Tage wird, so wie das Urtheil der Pharisaͤer, sehr schwer seyn; ich nehme hier feierlich die Edlen und Rechtschaffenen, dieß Salz der Erde, unter ihnen aus, sie verdienen Ehrfurcht, Liebe und Schonung, und mein Ende sey wie ihr Ende. Im Fruͤhling des 1776sten Jahres mußte Stilling eine andere Wohnung beziehen, weil sein bisheriger Hausherr die seine selbst brauchen wollte; Herr Troost suchte ihm also eine und fand sie, sie lag am untern Ende der Stadt, am Wege nach Ruͤsselstein, an einer Menge von Gaͤrten; sie war paradiesisch schoͤn und bequem. Stilling miethete sie, und ruͤstete sich zum Aus- und Einzug. Nun stand ihm aber eine erschreckliche Probe im Wege; bisher hatte er die siebzig Reichs- thaler Hausmiethe jaͤhrlich richtig bezahlen koͤnnen, aber jetzt war kein Heller dazu vorraͤthig, und doch durfte er nach dem Gesetz nicht eher ausziehen, bis er sie richtig abgetragen hatte. Der Mangel an Kredit und Geld machte ihn auch bloͤde, seinen Hausherrn um Gedult anzusprechen, indessen war doch kein ander Mittel; beladen mit dem aͤußersten Kummer, ging er also hin: sein Hausherr war ein braver, redlicher Kauf- mann, aber strenge und genau, er sprach ihn an, ihm noch eine kleine Zeit zu borgen; der Kaufmann bedachte sich ein wenig und sagte: „Ziehen Sie in Gottes Namen, aber mit dem Beding, daß Sie in vierzehn Tagen bezahlen.“ Stil- ling versprach im festen Vertrauen auf Gott, nach Verlauf dieser Zeit Alles zu berichtigen, und zog nun in seine neue Wohnung; die Heiterkeit dieses Hauses, die Aussicht in Got- tes freie Natur, die bequeme Einrichtung, kurz, alle Umstaͤnde trugen zur Erleichterung des tiefen Kummers freilich Vieles bei; allein die Sache selbst wurde doch nicht gehoben und der nagende Wurm blieb. Das Ende der vierzehn Tage ruͤckte heran, und es zeigte sich nicht der geringste Anschein, woher die siebzig Thaler ge- nommen werden sollten. Jetzt ging dem armen Stilling wieder das Wasser an die Seele; oft lief er auf seine Schlaf- kammer, fiel auf sein Angesicht, weinte und flehte zu Gott um Huͤlfe, und wenn ihn sein Beruf fort rief, so nahm Chri- stine seine Stelle ein, sie weinte laut und betete mit einer Inbrunst des Geistes, daß es einen Stein haͤtte bewegen sol- len, allein es zeigte sich keine Spur, an so viel Geld zu kom- men. Endlich brach der furchtbare Freitag an, Beide beteten den ganzen Morgen waͤhrend ihren Geschaͤften unaufhoͤrlich, und die stechende Herzensangst trieb ohne Unterlaß feurige Seufzer empor. Um zehn Uhr trat der Brieftraͤger zur Thuͤr herein, in einer Hand hielt er das Quittungsbuͤchelchen, und in der andern einen schwer beladenen Brief. Voller Ahndung nahm ihn Stil- ling an, es war Goͤthe’s Hand und seitwaͤrts stand: be- schwert mit hundert und fuͤnfzehn Reichsthaler in Golde. Mit Erstaunen brach er den Brief auf, las — und fand, daß Freund Goͤthe , ohne sein Wissen, den Anfang seiner Ge- schichte unter dem Titel: Stillings Jugend hatte drucken lassen, und hier war das Honorar. — Geschwind quittirte Stilling den Empfang, um den Brieftraͤger nur fortzubrin- gen; jetzt fielen sich beide Eheleute um den Hals, weinten laut und lobten Gott. Goͤthe hatte, waͤhrend Stillings letzter Reise nach Frankfurt , den bekannten Ruf nach Wei- mar bekommen, und dort hatte er Stillings Geschichte zum Druck befoͤrdert. Was diese sichtbare Dazwischenkunft der hohen Vorsehung fuͤr gewaltige Wirkung auf Stilling und seiner Gattin Herzen machte, das ist nicht zu sagen; sie faßten den uner- schuͤtterlich festen Entschluß, nie mehr zu wanken und zu zwei- feln; sondern alle Leiden mit Gedult zu ertragen, auch sahen sie im Licht der Wahrheit ein, daß sie der Vater der Men- schen an der Hand leite, daß also ihr Weg und Gang vor Gott recht sey, und daß er sie zu hoͤheren Zwecken durch solche Pruͤfungen vorbereiten wolle. O wie matt und wie ekel werden einem, der so vielfaͤltige Erfahrungen von dieser Art hat, die Sophystereien der Philosophen, wenn sie sagen: Gott bekuͤmmere sich nicht um das Einzelne, sondern blos ums Ganze, er habe den Plan der Welt festgesetzt, mit Be- ten ließ sich also nichts aͤndern. — O ihr Tuͤnchner mit losem Kalk! — wie sehr schimmert der alte Greuel durch! — Je- sus Christus ist Weltregent, Stilling rief Ihn hundertmal an, und er half, — Er fuͤhrte ihn den dunkeln, gefaͤhrlichen Felsenweg hinan, und — doch ich will mir selbst vorlaufen. Was helfen da Sophisten-Spinnengewebe von logisch-richtigen Schluͤssen, wo eine Erfahrung der andern auf dem Fuß nach- folgt? Es werden im Verfolg dieser Geschichte noch treffen- dere Beweise erscheinen. Stillings Freundschaft mit Goͤthe und der Besuch dieses letztern zu Schoͤnenthal wurde von denen, die Auserwaͤhlte Gottes seyn wollen, so sehr verlaͤstert; man schauderte vor ihm als einem Freigeist, und schmaͤhte Stillingen , daß er Umgang mit ihm haͤtte, und doch war die Sache Plan und Anstalt der ewigen Liebe, um ihren Zoͤg- ling zu pruͤfen, von ihrer Treue zu uͤberzeugen, und ihn fer- ner auszubilden. Indessen war Keiner von denen, die da laͤster- ten, fuͤhlbar genug, um Stillingen nur mit einem Heller zu unterstuͤtzen; sogenannte Weltmenschen waren am oͤftersten die gesegneten Werkzeuge Gottes, wenn er Stillingen hel- fen und belehren wollte. Ich habe es hundertmal gesagt und geschrieben, und kanns nicht muͤde werden, zu wiederholen: Wer ein wahrer Knecht Gottes seyn will, der sondre sich nicht von den Menschen ab, sondern blos von der Suͤnde; er schließe sich nicht an eine be- sondere Gesellschaft an, die sichs zum Zweck gemacht hat, Gott besser zu dienen als Andere; denn in dem Bewußtseyn dieses Besserdienens wird sie allmaͤhlig stolz, bekommt einen ge- meinen Geist, der sich auszeichnet, Heuchler zu seyn scheint , und auch manchmal Heuchler, und also dem reinen und heili- gen Gott ein Greuel ist. Ich habe viele solcher Gesellschaften gekannt, und noch immer zertruͤmmerten sie mit Spott, und der Religion zur Schmach. Juͤngling! willst du den wahren Weg gehen, so zeichne dich durch nichts aus, als durch ein rei- nes Leben und edle Handlungen; bekenne Jesum Christum durch eine treue Nachfolge seiner Lehre und seines Lebens, und sprich nur von Ihm, wo es Noth thut und frommt; dann aber schaͤme dich auch seiner nicht. Traue ihm in jeder Lage deiner Schicksale, und bete zu ihm mit Zuversicht, er wird dich gewiß zum erhabnen Ziel fuͤhren! In diesen Jahren hatte ein großer, thaͤtiger und gewaltig wirkender Geist, der Herr Rath Eisenhart zu Mannheim in der uralten Stadt Rittersburg , in Austrasien , eine staatswirthschaftliche Gesellschaft errichtet; sie bestand aus verschiedenen Gelehrten und verstaͤndigen Maͤnnern, die sich zu dem Zweck vereinigten, Landwirthschaft, Fabriken und Hand- lung empor zu bringen, und dadurch das Volk, folglich auch den Regenten, zu begluͤcken. Dieß vortreffliche Institut hatte auch der Kurfuͤrst in Schutz genommen, gestiftet und mit eini- gen Revenuͤen versehen, um desto zweckmaͤßiger wirken zu koͤn- nen. Nun hatte aber diese Gesellschaft eine Siamois-Fabrike angefangen. Eisenhart kannte Stilling , denn dieser hatte ihn bei seiner Durchreise von Straßburg nach Schoͤnenthal besucht; da nun jene Fabrike an letzterem Orte in außeror- dentlichem Flor ist, so schrieb Eisenhart an ihn und er- suchte ihn, sich nach allerhand Handgriffen und Vortheilen, wodurch die Fabrike vervollkommnet werden koͤnnte, zu erkun- digen, und ihn uͤber die Sache zu belehren. So wohl auch Stillingen jenes Institut gefiel und so sehr er sich daruͤber freute, so gefaͤhrlich schien ihm doch der Auftrag, sich als Spion gebrauchen zu lassen: denn er be- fuͤrchtete mit Grund, die Schoͤnenthaler moͤchten endlich die Sache erfahren, und dann wuͤrde sein Ungluͤck vollends graͤn- zenlos werden, damit er aber doch zeige, wie sehr er der vor- trefflichen Anstalt zugethan sey, so schrieb er an den Herrn Eisenhart sehr freundschaftlich, und stellte ihm die Gefahr vor, in welche er sich durch einen solchen Schritt stuͤrzen wuͤrde, zugleich aber fragte er an, ob er nicht dem Institut durch allerhand nuͤtzliche Abhandlungen dienen koͤnnte? — denn er habe in staatswirthschaftlichen Sachen und Gewerben prak- tische Erfahrungen gesammelt. Eisenhart schrieb ihm bald wieder, und versicherte ihn, daß dergleichen Abhandlungen sehr willkommen seyn wuͤrden. Stilling gab sich also ans Werk und arbeitete eine Schrift nach der andern aus, und schickte sie dem Herrn Direktor Eisenhart zu, der sie dann in den Versammlungen zu Rittersburg vorlesen ließ. Stillings Arbeiten hatten einen ganz unerwarteten Bei- fall, und er wurde bald mit dem Patent, als auswaͤrtiges Mitglied der Churpfaͤlzischen staatswirthschaftlichen Gesellschaft, beehrt. Dieses freute ihn ungemein, denn ob ihm gleich die ganze Verbindung, sammt der Ehre, die er dadurch genoß, nichts eintrug, so empfand er doch eine wahre Freude an Be- schaͤftigungen von der Art, die ganz unmittelbar zum hoͤchsten Wohl der Menschheit abzielten. Stilling hatte von seiner gedruckten Lebensgeschichte und von seinen Abhandlungen Ehre; er fing nun an, als ein nicht so ganz unbeliebter Schriftsteller bekannt zu werden; er setzte also seine Lebensgeschichte fort, bis auf seine Niederlassung in Schoͤnenthal; dieses Schreiben trug ihm auch Etwas ein, und erleichterte also seine haͤusliche Verfassung: allein die Schul- den blieben immer, und wurden nur in geringerem Maaß vergroͤßert. Wer kann sichs aber vorstellen, daß ihm dieses Werk bei den Schoͤnenthalern den Verdacht der Freigeisterei zuzog? — es ist unbegreiflich, aber gewiß wahr; man nannte ihn einen Romanenhelden und Phantasten, und wollte Grund- saͤtze finden, die dem System der reformirten Kirche schnur- gerade widersprechen, und man erklaͤrte ihn fuͤr einen Mann, der keine Religion habe. — Diesen Verdacht auszuloͤschen, schrieb er die Geschichte des Herrn von Morgen- than , allein das half wenig oder gar nichts, er blieb ver- achtet und ein immerwaͤhrender Gegenstand der Laͤsterung, die im Herbst des 1777sten Jahres auf den hoͤchsten Gipfel der Bosheit ftieg : Stilling fing naͤmlich auf Einmal an zu bemerken, daß man ihn, wenn er uͤber die Gasse ging, mit starren Augen ansah und eine Weile beobachtete; wo er herging, da lief man an die Fenster, schaute ihn begierig an, und lispelte sich zu: Siehe, da geht er, — du großer Gott! u. s. w. — Dieß Betragen von allen Seiten war ihm unbegreiflich, und erschuͤtterte ihn durch Mark und Bein; wenn er mit Jemand sprach, so merkte er, wie ihn bald Einer mit Aufmerksamkeit betrachtete, bald ein Anderer sich mit Wehmuth wegwandte; er ging also nur selten aus, trauerte in der Stille tief, und er kam sich vor wie ein Gespenst, vor dem sich Menschen fuͤrchten und ihm ausweichen. Diese neue Art des Leidens kann sich Niemand vorstellen, sie ist zu son- derbar, aber auch so unertraͤglich, daß ganz vorzuͤgliche Kraͤfte noͤthig sind, sie zu ertragen. Nun bemerkte er auch, daß fast gar keine Patienten mehr zu ihm kamen, und daß es also schien, als wenn es nun vollends gar aus waͤre. Dieser schreckliche Zustand waͤhrte vierzehn Tage. Endlich an einem Nachmittag trat sein Hausherr zur Thuͤre herein; dieser stellte sich hin, sah den Doktor Stilling mit starren, bethraͤnten Augen an und sagte: „Herr Doktor! neh- „men Sie mir nicht uͤbel, meine Liebe zu Ihnen draͤngt mich, „Ihnen Etwas zu entdecken: denken Sie, das Geruͤcht laͤuft „in ganz Schoͤnenthal herum, Sie seyen am Sonnabend vier- „zehn Tage, des Abends auf Einmal unsinnig geworden, man „merke es Ihnen zwar nicht an, aber Sie haͤtten voͤllig den „Verstand verloren, daher hat man auch alle Patienten vor „Ihnen gewarnt. Sagen Sie mir doch einmal, wie ist Ihnen „denn? ich habe genau auf Sie Acht gegeben und habe nichts „gemerkt.“ Christine verhuͤllte ihr Angesicht in ihre Schuͤrze, heulte laut und lief fort: Stilling aber stand und staunte; Weh- muth, Aerger und unzaͤhlbare Empfindungen von aller Art stuͤrmten so gewaltsam aus dem Herzen gegen das Haupt zu, daß er wohl unsinnig haͤtte werden koͤnnen, wenn nicht die Mischung seiner Saͤfte und seine innere Organisation so aus- serordentlich regelmaͤßig gewesen waͤre. Mit einem unbeschreiblichen, aus dem hoͤchstlaͤcherlichen und hoͤchsttraurigen zusammengesetzten Affekt, schossen ihm Thraͤnen aus den Augen und Empfindungen aus der Seele, und er sagte: „Solche Bosheit hat doch wohl auch nie ein Adra- „ melech ausgesonnen — teuflisch! — satanisch-kluͤger konnte „man’s nicht anfangen, mir vollends alle Nahrung zu ent- „ziehen — aber Gott, mein Raͤcher und mein Versorger, lebt „noch, Er wird mich nicht ewig in dieser Hoͤlle schmachten „lassen — Er wird mich retten und versorgen! Wie es um „meinen Verstand aussieht, daruͤber gebe ich Niemand Rechen- „schaft, man beobachte mich und meine Handlungen, so wird „sichs zeigen. Die ganze Sache ist so außerordentlich, so un- „menschlich boshaft, daß sich nichts weiter davon sagen laͤßt.“ Nehmen Sie mirs nur nicht uͤbel, lieber Herr Doktor! fuhr sein Hausherr fort, die Liebe zu Ihnen drang mich dazu. Nein, versetzte Stilling , ich danke Ihnen dafuͤr! Nun verschwand zwar das Geruͤcht allmaͤhlig, so wie ein stinkendes Ungeheuer wegschleicht, aber der Gestank blieb zu- ruͤck, und fuͤr Stilling und seine gute Dulderin war zu Schoͤnenthal nunmehr die Luft verpestet; die Praxis nahm noch mehr ab, und mit ihr die Hoffnung, sich naͤhren zu koͤn- nen. Wo das erschreckliche Geruͤcht herkam, und wer den Basilisk, der durch Anschauen toͤdtet, ausgebruͤtet hatte, das bleibt dem großen Tage der Offenbarung vorbehalten. Stil- ling erfuhr die Quelle selbst nicht mit Gewißheit, er ahndete zwar nach Gruͤnden der hoͤchsten Wahrscheinlichkeit, aber huͤten wird er sich, das Geringste zu entdecken. Ueberhaupt wurde der ganze Vorgang nicht sehr bemerkt, er machte wenig Auf- sehen, denn dazu war Stilling nicht wichtig genug, er war ja kein Kaufmann, vielweniger reich, folglich auch aͤußerst wenig an ihm gelegen! Meine Leser werden mir erlauben, daß ich auf dieser furcht- baren Stelle ein wenig verweile, und ihnen die eigentliche Verfassung schildere, in welcher sich Stilling jetzt befand, denn es ist noͤthig, daß sie seine ganze Lage recht empfinden. Stilling und seine Gattin hatten bekanntlich nicht das geringste Vermoͤgen, folglich auch nicht den geringsten reelen Kredit. — Außer der medicinischen Praxis hatte er keinen Be- ruf, kein Mittel, Geld zu verdienen, und dazu hatte er we- der Geschicklichkeit, noch Anlage, vielweniger Lust; an Kennt- nissen fehlte es ihm nicht, aber wohl an der Kunst, sie anzu- wenden. Auf unaufhoͤrliche Vermuthungen — und wo hat der Arzt, wenn er nicht Wundarzt ist, sichere Gruͤnde? die Heilung der Krankheiten, Leben und Tod der Men- schen , man bedenke, was das sagen will! gruͤnden zu muͤs- sen, das war Stillings Sache nicht, er war also zu nichts weniger geschickt, als zum praktischen Arzt, und doch war er nichts anders, er wußte keine andere Nahrungsquelle, zugleich hatte ihn auch die Vorsehung zu diesem Beruf geleitet — welch ein Kontrast — welcher Widerspruch — welch eine Pruͤfung der Glaubens- und Vertrauens-Bestaͤndigkeit! und nun denke man sich ein Publikum dazu, unter welchem und von welchem er leben mußte, und das so gegen ihn verfuhr! Die Staarkuren dauerten zwar mit vorzuͤglichem Gluͤck fort, allein die mehresten Patienten waren arm, selten konnte ihm einer Etwas bezahlen, und wenn zuweilen ein Wohlhabender kam, so mißlang sie gewoͤhnlich. Aber war vielleicht in Stillings Lebensart und Betragen Etwas, das ihn so heruntersetzte? — oder war er wirklich kein Haushalter, oder gar ein Verschwender? — hierauf will ich unpartheiisch und nach der Wahrheit antworten: Stil- lings ganzes Leben war offen und frei, jetzt aber uͤberall mit Schwermuth vermischt, nichts war an ihm, das Jemand be- leidigen konnte, als seine Offenherzigkeit, vermoͤge er vieles aus seinem Herzen fließen ließ, das er wohl haͤtte verschweigen koͤnnen, woher er denn bei seinen Berufsverwandten und Kolle- gen als ruhmsuͤchtig, emporstrebend, und ihnen den Rang ab- laufend, angesehen wurde; im Grunde aber war dieser Zug in seiner Seele nicht. Was ihm sonst am meisten Leiden ver- ursacht hatte, war ein hoher Grad von Leichtsinn, er wog nicht immer die Folgen ab, was er sagte oder that, mit Ei- nem Wort, er hatte einen gewissen Anstrich von Etourderie oder Unbedachtsamkeit, und diese Unart war es eben, welche die vaͤterliche Vorsehung durch die langwierige Laͤuterung aus seinem Charakter wegbannen wollte. Was seine Sparsamkeit betraf, dawider konnte Niemand mit Grund Etwas einwen- den, und doch lag auch eine Ursache, warum es ihm so gar hinderlich ging, in seinem Charakter und in seiner haͤuslichen Verfassung. Nichts in der Welt war ihm druͤckender, als Jemand schuldig zu seyn, viele und druͤckende Schulden zu ha- ben. Sein Fleiß und seine Thaͤtigkeit waren unbegraͤnzt, aber er konnte nicht auf Zahlung dringen; sein Charakter zwang ihn, auch im groͤßten eigenen Mangel, dem Armen seine Schuld zu schenken, und dem Reichen, der knauserte oder uͤber seine Forderungen murrte, ein Kreuz uͤber die Rechnung — zu groß- muͤthig, um Geldes willen nur ein unangenehmes Wort zu verlieren, zu wehe. In Nahrung und Kleidung war er rein- lich, nett, aber sehr modest und einfach, auch hatte er kein Steckenpferd, das ihm Geld gekostet haͤtte, und doch gab er oft ohne weitere Ueberlegung Etwas aus, das viel besser haͤtte koͤnnen verwendet werden, mit Einem Wort: er war ein Ge- lehrter und kein Kaufmann. Christine hingegen war aͤußerst sparsam, sie legte jeden Heller ein paarmal um, ehe sie ihn ausgab, allein sie uͤbersah das Ganze der Haushaltung nicht, sie sparte nur mit dem, was ihr in die Hand kam. So viel ist wahr, Stilling haͤtte, wenn er und seine Gattin den Kaufmannsgeist besessen haͤtten, weniger Schulden gemacht, aber in ihrer Verfassung ganz ohne Schulden zu blei- ben, das war unmoͤglich. Diese Bemerkung bin ich der Wahr- heit schuldig. Wer sich eine lebhafte Vorstellung von Stillings damali- ger Gemuͤthsverfassung machen will, der stelle sich einen Wan- derer auf einem schmalen Fußsteig an einer senkrechten Felsen- wand vor, rechter Hand einer Hand breit, weiter einen Ab- grund von unsichtbarer Tiefe, links an ihn gedraͤngt, steil auf- steigend der Felsen, und drohenden lockern Steinmassen, die uͤber seinem Kopf hangen, vor sich hin keine Hoffnung zum bessern sicheren Wege, im Gegentheil wird der Pfad immer schmaͤler, und nun hoͤrt er ganz auf, allenthalben Abgrund! Stilling haͤtte nur brauchen ein Bekenner der neuen Modereligion zu seyn, so waͤre er fortgegangen und haͤtte Frau und Kinder sitzen gelassen, aber die Versuchung dazu kam ihm nicht einmal in den Sinn, er schloß sich immer fester an die Mutter Vorsehung an, er glaubte, es sey ihr ein Leichtes, da einen Ausweg zu finden, wo alle menschliche Klugheit keinen entdecken kann, und ging also, in Dunkel und Daͤmmerung, Schritt fuͤr Schritt seinen schmalen Weg fort. Im Anfang des 1778sten Jahres machte er abermal seine Rechnung, und fand zu seinem groͤßten Entsetzen, daß er das verflossene Jahr noch tiefer in Schulden gerathen war, als vorhin; zudem fingen einige seiner Kreditoren an zu drohen, und es schien nun mit ihm aus zu seyn; dazu kam noch ein Umstand: er hatte die Subscription auf die Werke der staats- wirthschaftlichen Gesellschaft uͤbernommen und Geld empfangen, er war also auch an Herrn Eisenhart acht und zwanzig Gulden schuldig geworden, die er nicht bezahlen konnte, auch da soll ich zu Schanden werden ! sagte er zu sich selbst. — In der groͤßten Angst seines Herzens lief er auf seine Kam- mer, warf sich vor Gott hin, und betete lange mit einer In- brunst ohne Gleichen, dann stand er auf, setzte sich und schrieb einen Brief an Eisenharten , worin er ihm seine ganze Lage entdeckte und ihn bat, noch eine kleine Weile Gedult mit ihm zu haben. Bald darauf erhielt er Antwort: Eisenhart schrieb ihm, er moͤchte der acht und zwanzig Gulden nur mit keinem Worte mehr gedenken, er habe geglaubt, es ging ihm wohl, und die medizinische Praxis sey seine Freude, da er aber nun das Gegentheil saͤhe, so schluͤge er ihm vor, ob er nicht Lust habe, einen Lehrstuhl der Landwirthschaft, Techno- logie, Handlung und Vieharzeneikunde auf der neu gestifteten Kameralakademie zu Rittersburg anzunehmen? Zwei Lehrer seyen schon da, der eine lehre die Huͤlfswissenschaften, Mathematik, Naturgeschichte, Physik und Chemie , und der Andere: Polizei, Finanz- und Staatswirth- schaft ; der Gehalt sey sechshundert Gulden, und die Colle- giengelder moͤchten auch leicht zwei bis drei hundert Gulden betragen; zu Rittersburg sey es wohlfeil zu leben, und er ge- traue sich, den Churfuͤrsten leicht dahin zu bewegen, daß er ihn beriefe, u. s. w. Leser, stehe still und thue einen Blick in Stillings gan- zes Wesen — nach dem Lesen dieses Briefes. — Wie wenn nun dem Wanderer, dessen schrecklichen Felsenpfad ich oben beschrieben habe, da, wo der Weg vor ihm ausgeht, links eine Thuͤre geoͤffnet wuͤrde, durch welche er einen Ausweg in bluͤ- hende Gefilde faͤnde, und in der Ferne vor sich eine glaͤnzende Wohnung — eine Heimath saͤhe, die fuͤr ihn bestimmt waͤre! — wie wuͤrde ihm seyn? — und gerade so war jetzt Stil- ling zu Muthe; er saß wie betaͤubt, Christine erschrack, schaute uͤber seine Schulter und las, sie schlug ihre Haͤnde zusammen, sank auf einen Stuhl, weinte laut und lobte Gott. Endlich ermannte er sich, der Glanz des Lichts hatte ihn geblendet, er schaute nun mit starrenden Augen durch die ge- oͤffnete Thuͤr in die glaͤnzende Zukunft, und beobachtete, sahe — und sahe seine ganze Bestimmung. Von Jugend auf waren oͤffentliche Reden, Vortrag und Deklamation seine groͤßte Freude gewesen, und immer hatte er vielen Beifall genossen; Brust und Stimme — Alles war zum oͤffentlichen Vortrag geschaf- fen. Nie hatte er sich aber die entfernteste Hoffnung machen koͤnnen, je Professor werden zu koͤnnen, ob es gleich sein hoͤch- ster Wunsch war; denn in der Arzneikunde hatte er weder Gluͤck noch Ruf, und Beides wird doch zu dem Zweck erfor- dert, und sonst ließ sich kein bekanntes Fach denken, in dem er haͤtte angestellt werden koͤnnen. Aber, was ist denn der Vorsehung unmoͤglich? — Sie schuf ihm ein neues, noch wenig bearbeitetes Feld, wo er genug zu thun fand. Er uͤberschaute seine Kenntnisse, und fand, zu seinem aͤußersten Erstaunen, daß er unbemerkt von der Wiege an zu diesem Beruf gebildet worden: unter Bauersleuten erzogen, hatte er die Landwirth- schaft gelernt, und alle Arbeiten vielfaͤltig selbst verrichtet, wer kann sie besser lehren, als ich? dachte er bei sich selbst; in den Waͤldern, unter Foͤrstern, Kohlenbrennern, Holzmachern u. dergl. hatte er lange gelebt, er kannte also das Praktische des Forstwesens ganz; von Jugend auf mit Bergleuten aller Art, mit Eisen-, Kupfer- und Silber-Schmelzern, mit Stab- und Stahl- und Osemund-Schmieden und Drahtziehern um- geben, hatte er diese wichtigen Fabriken aus dem Grund ken- nen gelernt; nach der Hand auch bei Herrn Spanier sieben Jahr lang Guͤter und Fabriken verwaltet, und dabei die Hand- lung in allen ihren Theilen gruͤndlich begriffen und alles aus- geuͤbt; und damit es ihm auch sogar an den Grund- und Huͤlfs-Wissenschaften nicht fehlen moͤchte, so hatte ihn die Vorsehung sehr weislich zum Studium der Arzneikunde gelei- tet, weil da Physik, Chemie, Naturgeschichte u. dergl. unent- behrlich sind; und wirklich hatte er auch diese Wissenschaften, und von jeher die Mathematik, mit großer Vorliebe besser durchgearbeitet, als alles Andere; sogar in Straßburg schon ein Collegium uͤber die Chemie gelesen; auch die Vieharznei- kunde war ihm, als praktischer Arzt, leicht. Endlich hatte er sich in Schoͤnenthal mit allen Arten von Fabriken be- kannt gemacht; denn es hatte von jeher ein unwiderstehlicher Trieb in ihm gewaltet, alle Gewerbe bis auf den Grund ken- nen zu lernen, ohne zu wissen, warum? Im Collegienlesen hatte er sich uͤber das alles bis daher ununterbrochen geuͤbt, und jetzt ist es Zeit, daß ich noch einer Sache gedenke, von welcher ich, ohne mich laͤcherlich zu machen, bis daher nichts sagen konnte, die aber aͤußerst wichtig ist: Stilling war von Jugend auf ein außerordentlicher Freund der Geschichte gewesen, und auch ziemlich darin bewandert, er hatte also von Regierungssachen gute Kenntnisse gesammelt. Dazu kamen noch Romane von allerlei Gattung, und vorzuͤglich politische, wodurch sich in seiner Seele ein Trieb bildete, den Niemand entdeckte, weil er sich desselben schaͤmte; Lust zu regieren, uͤber- schwenglicher Hunger, Menschen zu begluͤcken, war’s, was ihn drang; er hatte geglaubt, Letzteres als praktischer Arzt zu koͤnnen, aber nichts in diesem Fach genuͤgte ihm. Morgen- thau’s Geschichte war aus dieser Quelle geflossen. Jetzt denke man sich einen Mann, ohne Geburt, ohne Rang, ohne die mindeste Hoffnung, je Staatsaͤmter bedienen zu koͤnnen, und dann jenen leidenschaftlichen Hunger. Aber jetzt — jetzt schmolz diese Masse von Unregelmaͤßigkeit in den Strom sei- ner kuͤnftigen Bestimmung hinein: Nein! Nein! ich wollte auch ja nicht selbst Regent seyn, rief er aus, als er allein war, aber Regenten- und Fuͤrstendiener, Volksbegluͤcker bilden , das war’s und ich wußte es nicht. Wie ein Suͤnder die Ver- dammung flieht, dem nun der Richter Gnade winkt, und ihn aus dem Staub erhebt, hinsinkt und unaussprechlichen Dank stammelt, so versank Stilling vor Gott, und stammelte unaussprechliche Worte. Auch Christine war uͤberschweng- lich froh, sie sehnte sich fort aus ihrer Lage, hin in ein Land, das sie nicht kannte. Sobald sich der Tumult in seiner Seele gestillt hatte und er nun ruhig geworden war, so traten ihm alle seine Schul- den unter die Augen, kaum konnte er den Wirrwarr uͤberse- hen! Wie kommst Du aber hier weg, ohne zu bezahlen? Dieß war ein harter Knoten. Doch ermannte er sich, denn er war zu sehr von seiner Bestimmung uͤberzeugt, als daß er nur im Geringsten haͤtte zweifeln koͤnnen; er schrieb also an Ei- senhart : daß ihm der Lehrstuhl in Rittersburg sehr angenehm waͤre, und daß er sich der Stelle gewachsen fuͤhle, indessen wuͤrden ihn seine Kreditoren nicht ziehen lassen: er fragte an, ob man ihm nicht ein gewisses Kapital vorschießen koͤnnte? er wollte sein Gehalt verschreiben, und jaͤhrlich ein paar hundert Gulden nebst der Interessen darauf abtragen; dieß wurde ihm aber rundaus abgeschlagen: dagegen troͤstete ihn Eisenhart , daß sich seine Glaͤubiger wohl wuͤrden zufrieden geben, wenn sie nur einmal saͤhen, daß er Mittel haͤtte, sie mit der Zeit befriedigen zu koͤnnen. Indessen wußte das Stilling besser, sein persoͤnlicher Kredit war allzusehr geschwaͤcht, achthundert Gulden wenigstens mußten bezahlt werden, sonst ließ man ihn nicht ziehen; doch er faßte unuͤberwindlichen Muth, und hoffte, wo nichts zu hoffen war! Nun verschwieg er diesen Vorfall keineswegs, er erzaͤhlte ihn seinen Freunden, und diese erzaͤhlten ihn wieder; es gab also ein allgemeines Stadtgeschwaͤtz, der Doktor Stilling solle Professor werden: nichts war nun den Schoͤnenthalern laͤcherlicher, als das: „Stilling Professor!“ — Wie kommt der dazu? — er versteht ja nichts, das ist klare Windben- telei, er erdichtet das, blos um sich groß zu machen, u. s. w. Waͤhrend der Zeit ging aber alles seinen Gang fort: der akademische Senat in Ritterburg waͤhlte Stilling zum or- deutlichen oͤffentlichen Professor der Landwirthschaft, Technologie, Handlung und Vieharzneikunde, und schlug ihn dem Chur- fuͤrsten vor; die Bestaͤtigung erfolgte und es fehlte also nichts weiter, als die foͤrmliche Vokation. Daß sich dieß alles bis in den Sommer hinein verzog, ist natuͤrlich. Jetzt entzog er sich allmaͤhlig seinem bisherigen Beruf; aus- ser einigen wohlhabenden Stadtpatienten, die ihm das noͤthige Auskommen verschafften, that er fast nichts mehr in der Me- dizin, und er widmete sich nun ganz seiner kuͤnftigen, ihm so sehr angenehmen Bestimmung. Alle seine staatswirthschaftli- chen Kenntnisse lagen in seiner Seele wie ein verworrenes Chavs durcheinander, als kuͤnftiger Lehrer mußte er aber alles in ein System bringen, nichts war ihm leichter, als das, denn seine ganze Seele war System; das staatswirthschaftliche Lehr- gebaͤude entwickelte sich also vor seinen Augen ohne Muͤhe, und er betrachtete das herrliche Ganze mit innigstem Vergnuͤgen. Ich verweise meine Leser auf seine herausgegebenen vielfaͤltigen Schriften, um sie hier nicht mit gelehrten Abhandlungen aufzuhalten. Ueber diesen angenehmen Beschaͤftigungen vorfloß der Som- mer, der Herbst ruͤckte heran, und er erwartete von einem Tag zum andern seinen Beruf. Was geschah? — in der er- sten Septemberwoche erhielt er einen Brief von Eisenhart , der die ganze Sache wieder gaͤnzlich vernichtete! — Bei dem Zug des Churfuͤrsten nach Baiern war das Projekt entstan- den, die Kameralakademie nach Mannheim zu verlegen; hier waren nun Maͤnner von allerhand Gattung, welche Stil- lings Lehrstuhl bekleiden sollten und konnten. Eisenhart beklagte sich und ihn, allein es war nicht zu aͤndern. Jetzt war sein Zustand voͤllig unbeschreiblich: er und sein armes Weib saßen beisammen auf ihrem Kaͤmmerlein und weinten um die Wette: nun schien Alles verloren zu seyn; er konnte sich lange nicht besinnen, nicht erholen, so betaͤubt war er. Endlich warf er sich hin vor Gott, demuͤthigte sich unter seine gewaltige Hand, und uͤbergab sich, sein Weib und seine zwei Kinder an die vaͤterliche Leitung des Allguͤtigen, und beschloß nun, ohne das geringste Murren, wieder zur Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 24 praktischen Medizin uͤberzugehen, und Alles zu dulden , was die Vorsehung uͤber ihn verhaͤngen wuͤrde. Nun fing er wie- der an auszugehen, Freunde und Bekannte zu besuchen, und ihnen sein Ungluͤck zu erzaͤhlen; seine Praxis spann sich wieder an, und es hatte das Ansehen, als wenn’s ihm besser gehen sollte, wie vorher. Er ergab sich also ganz und war ruhig. Den Kennern der goͤttlichen Wege wird ohne mein Erin- nern bekannt seyn, daß dieß Alles genau Methode der Vor- sehung ist: Stilling war mit Leidenschaft und unreiner Begierde dem Ziel entgegen gelaufen, es hatte sich Stolz, Eitelkeit, und wer weiß nicht was alles, mit eingemischt, in dieser Verfassung waͤre er mit brausendem Empordrang nach Rittersburg gekommen, und gewiß nicht gluͤcklich gewesen. Es ist Maxime der ewigen Liebe, daß sie ihre Zoͤglinge ge- schmeidig und ganz in ihren Willen gelassen macht, ehe sie weiter geht. Fuͤr jetzt glaubte Stilling also fest, er solle und muͤsse Arzt bleiben, und seine Gelassenheit ging so weit, daß er die Vokation sogar nicht mehr wuͤnschte, sondern ganz gleichguͤltig war. Gerade so gings ihm auch ehemals, als ihm sein Handwerk so zuwider war; er eilte mit Ungestuͤmm von Schauberg weg und zu Herrn Hochberg ; wie er- baͤrmlich es ihm da erging, das hab ich in seiner Wander- schaft beschrieben! Nun kam er zum seligen Meister Isaak , war ruhig und wollte gern Handwerksmann bleiben, so daß ihn Herr Spanier aus seinem Stand herausnoͤthigen mußte. Die Schoͤnenthaler bliesen indessen wieder wacker Allarm, denn nun war es ausgemacht, daß die ganze Sache Stil- lings Erfindung, und blos aus Eitelkeit ersonnen gewesen war; das focht ihn aber wenig an, die Gewohnheit hatte ihn abgehaͤrtet, er sah und hoͤrte so etwas nicht mehr; tief erge- ben in Gottes Willen, lief er vom Morgen fruͤh bis des Abends spaͤt, zwischen seinen Kranken, und Christine ruͤstete sich auf den Winter, indem sie, nach ihrer Gewohnheit, aller- hand Gemuͤse einmachte, das Haus ausweißen und repariren ließ, u. s. w. Nun kam acht Tage vor Michaelis ploͤtzlich und uner- wartet seine Vokation; ruhig und ganz ohne Ungestuͤmm em- pfing er sie — doch war ihm innig wohl, er und seine Gat- tin lobten Gott, und sie fingen an sich zum Abzug und zur weitern Reise zu ruͤsten. Die Kameralakademie blieb nun zu Rittersburg, weil sich bei ihrer Versetzung zu viele Schwierig- keiten gefunden hatten. Ich habe Stillings erste Kur beschrieben; ich will auch seine letzte schildern, denn sie ist nicht weniger merkwuͤrdig. Eine gute Stunde oberhalb Schoͤnenthal wohnte ein sehr rechtschaffener, gottesfuͤrchtiger und reicher Kaufmann, Namens Kreds , seine Gattin gehoͤrte, in Ansehung ihres Kopfes und Herzens, unter die Edelsten ihres Geschlechts, und sie hatten Beide Stillingen oft gebraucht, denn sie kannten und lieb- ten ihn. Nun hatten sie einen Hauslehrer bei ihren Kindern, einen alten siebenzigjaͤhrigen Mann, der ein Sachse von Ge- burt war und Stoi hieß. Dieser Mann war einer von den sonderbarsten Menschen: lang, hager und sehr ehrwuͤrdig von Ansehen; voller Kenntnisse und mit der erhabensten Tugend ausgeruͤstet, besaß er eine aus Religionsgruͤnden entstandene Kaltbluͤtigkeit, Gelassenheit und Ergebenheit in Gottes Willen, die fast ohne Beispiel ist; alle Bewegungen und Stellungen seines Koͤrpers waren anstaͤndig, sein ganzes Daseyn natuͤr- lich feierlich, und alles, was er sprach, war abgewogen, jedes Wort war ein goldener Apfel in einer silbernen Schale; und was so sehr vorzuͤglich an diesem vortrefflichen Mann war, das war seine Bescheidenheit und Behutsamkeit im Ur- theil: er sprach nie von anderer Menschen Fehler, sondern er bedeckte sie, wo er konnte, und sah blos auf sich. Stoi war ein Muster des Menschen und des Christen. Dieser merkwuͤrdige Mann bekam das Scharlachfriesel. Der Gang der Krankheit war natuͤrlich, und wie gewoͤhnlich nicht gefaͤhrlich; endlich zog sich die ganze Materie in den rechten Arm, welcher uͤber und uͤber scharlachroth wurde, und den Patienten so brannte und juckte, daß er’s nicht laͤnger auszu- halten vermochte. Stoi hatte sich in seinem Leben um nichts weniger bekuͤmmert, als um seinen Koͤrper, er betrachtete ihn als ein gelehntes Haus, immer war er maͤßig und nie krank gewesen, folglich wußte er auch von keiner Behutsamkeit und 24 * von keiner Gefahr; er laͤßt sich also einen Eimer kalt Wasser bringen, und steckt den Arm hinein bis auf den Boden; das that ihm wohl, der Brand und das Jucken verging und mit ihm die Roͤthe und der Ausschlag, er zog also den Arm wie- der heraus und siehe, er war wie der andere. Stoi war froh, daß er sich so leicht geholfen hatte. In- dessen bemerkte er aber gar bald, daß der Arm seine Empfin- dungen verloren hatte, er kniff sich in die Haut und fuͤhlte nichts, er fuͤhlte den Puls an diesem Arm, und siehe, er stand ganz still, er fuͤhlte ihn am Hals, und er schlug regelmaͤßig; kurz, er war uͤbrigens vollkommen gesund. Wenn er seinen Arm bewegen wollte, so fand er, daß er das nicht konnte, denn er war wie todt; nun traute er doch der Sache nicht recht, daher ließ er einen benachbarten Arzt kommen; dieser erschrack, wie billig, er belegte den Arm mit Zugpflastern, hieb ihn mit Nesseln, aber alles umsonst, er blieb unempfindlich. Nach und nach fingen die Finger an zu faulen, und diese Faͤulniß schlich allmaͤhlig weiter den Arm hinan. Nun wurden Troost und Stilling gerufen, sie gingen hin und fanden den Arm bis bald an den Ellenbogen dick aufge- laufen, schwarzbraun und unertraͤglich stinkend. So wie sie zur Thuͤr hereintraten, fing Stoi an: Meine Herren! ich habe eine Unvorsichtigkeit begangen; (hier erzaͤhlte er die ganze Geschichte) thun Sie ihre Pflicht, ich bin in der Hand Gottes, ich bin siebenzig Jahr alt und wohl zufrieden mit jedem Aus- gang, den die Sache nimmt. Die beiden Aerzte berathschlagten sich; sie sahen wohl ein, daß der Arm abgenommen werden muͤßte, indessen glaubten sie doch, noch vorher ein Mittel versuchen zu muͤssen, wodurch die Operation erleichtert werden koͤnnte. Herr Troost nahm also ein Messer und zerschnitt die Gegend, wo der kalte Brand aufhoͤrte, rund herum mit vielen Schnitten; von dem allem empfand der Patient nichts, dann machten sie Aufschlaͤge von der Bruͤhe der Fieberrinde und verordneten auch, diese Bruͤhe haͤufig innerlich zu gebrauchen. Des andern Tages wurden sie wieder gerufen und ersucht, die Instrumente zum Abnehmen des Arms mitzubringen. Die- ses thaten sie und wanderten fort. Als sie hinkamen, fanden sie den Patienten mitten in der Stube auf einem Feldbett lie- gen; rundum laͤngs der Waͤnde standen allerhand junge Leute, maͤnnlichen und weiblichen Geschlechts, welche stille Thraͤnen vergoßen und beteten. Stoi aber lag ruhig da, und zeigte nicht die mindeste Furcht. Meine Herren! fing er an, ich kann den Gestank nicht ertragen, nehmen Sie mir den Arm ab, und zwar uͤber dem Ellenbogen, nahe an der Schulter, wo er gewiß noch gesund ist; ob der Stumpen hernach einen Zoll laͤnger oder kuͤrzer ist, darauf wird wohl nichts ankom- men. Stilling und Troost fanden das richtig und ver- sprachen bald fertig zu seyn. Ob nun gleich bei der furchtbaren Zuruͤstung Alle zitterten, so zitterte doch Stoi nicht, er streifte und wickelte das Hemd hinauf bis uͤber die Schulter, und zeigte den Ort, wo der Arm abgenommen werden sollte. Stilling und Troost konnten sich Beide des Laͤchelns nicht enthalten: als Letzterer die Klemm- schraube brachte, um die Pulsader zuzuschrauben, so half er sie ganz ruhig und gelassen anlegen, sogar wollte er den Arm bei dem Schnitt helfen halten; dieß verwehrte ihm aber Stil- ling , im Gegentheil buͤckte er sich auf das Angesicht des Greises, lenkte es von der Operation ab, und sprach mit ihm von andern Sachen; waͤhrend der Zeit machte Troost den Schnitt durchs Fleisch bis auf den Knochen; Stoi that nur einen Seufzer und sprach fort. Nun wurde auch der Kno- chen abgesaͤgt, und dann der Stumpe verbunden. Dieser ganze Kasus war merkwuͤrdig: Herr Troost ließ die Klemmschraube ein wenig nach, um zu sehen, ob die Puls- ader springen wuͤrde, allein sie sprang auch da nicht, als sie ganz weggenommen wurde; kurz, diese Frieselmaterie hatte sich oben am Arm in eine Geschwulst zusammengezogen, welche die Pulsader und Nerven fest zusammendruͤckte; das erfuhr man aber erst nach seinem Tode. Alles ließ sich gut an, es erfolgte eine gute Eiterung, und man glaubte der Heilung gewiß zu seyn, als Stilling abermal schleunig gerufen wurde, er lief hin und fand nun den guten Stoi roͤchelnd, sehr schwer am Odem ziehen. Ich hab’ abermal eine Thorheit begangen, stammelte ihm der Kranke entgegen, ich stand auf — ging aus Fenster — eine kalte Nordluft blies an meinen Arm — ich fing an zu frieren, die Materie ist mir auf die Brust getreten — ich sterbe — auch gut! — thun Sie noch ihre Pflicht, Herr Doktor, da- mit hernach die Welt nicht uͤber Sie laͤstern moͤge. Stil- ling machte das Verband los, und fand die Wunde voͤllig trocken, er streute spanisch Fliegenpulver uͤber sie her, und um- gab den ganzen Stumpen mit Zugpflastern; dann verordnete er auch andere dienliche Mittel, allein alles half nicht. Stoi starb ihm unter den Haͤnden. Jetzt ein großes Punktum hinter meine medizinische Pra- xis, sagte Stilling zu sich selbst; er begleitete den guten Stoi zum Grabe, und begrub ihn mit seinem bisherigen Beruf. Doch beschloß er, die Staarkuren auf immer beizube- halten, blos darum, weil er darin so gluͤcklich und die Kur selbst so wohlthaͤtig war; dann aber machte er sichs auch zum Gesetz, sich dafuͤr in Zukunft nichts mehr bezahlen zu lassen, sondern sich dadurch ein Kapital fuͤr jene Welt zu sammeln. Nun ruͤckte der Zeitpunkt heran, wo er Schoͤnenthal ver- lassen und nach Rittersburg ziehen mußte: es war schon tief im Oktober, die Tage waren also kurz, die Witterung und die Wege schlimm, und endlich war er verbunden, mit dem Anfang des Novembers seine Kollegia anzufangen, indessen war noch vorher eine steile Klippe zu uͤbersteigen; — acht- hundert Gulden mußten bezahlt seyn, eher konnte er nicht ziehen. Verschiedene Freunde riethen ihm, er sollte bonis cidiren, und seinen Kreditoren Alles hingeben. Allein das war Stillings Sache nicht. Nein! Nein! sagte er, Je- der soll bis auf den letzten Heller bezahlt werden, das ver- spreche ich im Namen Gottes, er hat mich gefuͤhrt, und wird mich gewiß nicht zu Schanden werden lassen, ich will nicht zum Schelmen werden, und ihm, meinem himmlischen Fuͤh- rer, aus der Schule laufen. Ja, alles gut! antwortete man ihm, was wollen Sie aber nun machen? — Bezahlen koͤn- nen Sie nicht, wenn man Sie nun mit Ihren Mobilien in Arrest nimmt, was fangen sie dann an? Das uͤberlasse ich alles Gott, versetzte er, und bekuͤmmere mich nicht darum, denn es ist seine Sache. Er fing also an, das, was er mitnehmen wollte, einzu- packen und nach Frankfurt zu versenden; zum Verkauf des Uebrigen setzte er einen Tag zur Auktion an. Alles ging un- gehindert von statten, und Niemand ruͤhrte sich: er sandte ab und empfing Geld, ohne daß der mindeste Einspruch ge- schahe; sogar bestellte er den Postwagen bis auf Ruͤssel- stein fuͤr sich, seine Frau und zwei Kinder, auf naͤchstfol- genden Sonntag, und also acht Tage vorher. Indessen steckte man ihm unter der Hand, daß sich ein paar Glaͤubiger ver- abredet haͤtten, ihn arretiren zu lassen: denn da das Bis- chen Hausrath, das er uͤberhaupt besaß, so viel wie nichts war, so hatten sie sich an nichts gekehret, und sie glaubten, wenn sie ihn so in seiner Laufbahn hinderten, so wuͤrden sich Leute finden, die ihn ranzionirten. Stilling zitterte inner- lich vor Angst, doch vertraute er fest auf Gott. Den folgenden Donnerstag kam sein Freund Troost mit froher laͤchelnder Miene und nassen Augen zur Thuͤr herein- getreten, er trug schwer an seiner Tasche. Freund! fing er an, es geht wieder auf Stillings Weise, und er zog einen leinenen Sack mit Laubthalern heraus und warf ihn auf den Tisch. Stilling und Christine sahen sich an, und fin- gen an zu weinen. Wie geht das zu? fragte er seinen Freund Troost . Das geht so zu, antwortete dieser: ich war bei einem gewissen Kaufmann, den er auch nannte, ich wußte, daß Sie ihm sechzig Thaler schuldig sind, ich bat ihn also, er moͤchte Ih- nen die Schuld streichen; der Kaufmann laͤchelte und sagte: das nicht nur, ich will ihm noch sechzig dazu schenken, denn ich weiß, wie sehr er in der Klemme sitzt; er zahlte mir also das Geld und da ist es; jetzt haben Sie schon beinahe den achten Theil von dem, was Sie brauchen; aber nun will ich Ihnen einen Rath geben: Morgen muͤssen Sie bei allen Bekannten Abschied nehmen, damit Sie den Samstag ruhig sind, und sich also zur Reise anschicken koͤnnen. Seyn Sie getrost und sehen Sie zu, was Gott thun wird. Stilling folgte und fing an, des Freitags Morgens Ab- schied zu nehmen; der Erste, zu welchem er ging, war ein reicher Kaufmann; so wie er zur Thuͤr hineintrat, kam ihm dieser entgegen, und sagte: Herr Doktor! ich weiß, Sie kom- men Abschied zu nehmen, ich habe Sie nie verkannt, Sie waren immer ein rechtschaffener Mann, als Arzt konnte ich Sie nicht brauchen, denn ich war mit dem meinigen zufrie- den; Gott hat mich auch aus dem Staub erhoben und zum Mann gemacht, ich erkenne, was ich ihm schuldig bin; ha- ben Sie die Guͤte, diese Erkenntlichkeit in seinem Namen an- zunehmen, beschaͤmen Sie mich nicht mit einem Abschlag, und versuͤndigen Sie sich nicht durch Stolz. Damit umarmte und kuͤßte er ihn, und steckte ihm ein Roͤllchen von zwanzig Dukaten, folglich hundert Gulden in die Hand. Stilling erstarrte, und der edle Wohlthaͤter lief fort. Erstaunen ergriff ihn bei dem Schopf, wie jener Engel den Habakuk , er wurde wie empor gehoben von hoher Freude, und ging weiter. Doch, was halte ich meine Leser auf? — mit groͤßter Schonung und Bescheidenheit wurden ihm Erkenntlichkeiten aufgedrungen; und wie er des Abends fertig war, und nach Hause kam — und nachzaͤhlte — was hatte er? — genau achthundert Gulden: — nichts mehr und nichts weniger . Solche erhabene Scenen werden durch Beschreibung und durch die glaͤnzendsten Ausdruͤcke nur geschwaͤcht — ich schweige — und bete an! Gott wird Euch finden, ihr geheimen Schoͤ- nenthaler Freunde! ich will Euch am Tage der Vergeltung hervorziehen und sagen: Siehe Herr, die warens, die mich Verlassenen erretteten, lohne ihnen nach deinen großen Ver- heißungen uͤberschwenglich; und Er wirds thun. Dir aber, auserwaͤhlter und unwandelbarer Freund Troost ! Dir sage ich nichts. — Wenn wir einmal Hand in Hand die Gefilde jener Welt durchwallen, dann laͤßt sich von der Sache reden. Ich habe bisher hin und wieder den Charakter der Schoͤ- nenthaler nicht zum besten geschildert, und es ist leicht moͤg- lich, daß viele meine Leser gegen diesen Ort uͤberhaupt einen widrigen Eindruck bekommen; ich muß selbst gestehen, daß ich mich dieses Eindrucks nicht erwehren kann, das trifft aber die wenigen Edlen nicht, die dort — selbst unter dem Rin- gen nach Reichthum seufzen, oder doch — neben ihrem Be- ruf auch die hohe Empfindung naͤhren, die wahre Gottes- und Menschenliebe immer zu unzertrennlichen Gefaͤhrten hat. Diese Schoͤnenthaler Buͤrger koͤnnen mir also nicht verargen, daß ich die Wahrheit schreibe; um ihretwillen segnet Gott diesen bluͤhenden Ort, und es gereicht ihnen zur Ehre vor Gott und Menschen, daß sie unter so vielen Versuchungen Muth und Glauben behalten, und sich nicht vom Strom hin- reißen lassen. Vorzuͤglich werden aber die dortigen Pietisten das Wehe uͤber mich ausschreien, daß ich sie so oͤffentlich darstelle, wie sie sind — auch dieß trifft nur die unter ihnen, die es verdient haben, warum haͤngen sie auch den Schild der Religion und Gottesfurcht aus, und thun dann nicht, was ihnen Religion und Gottesfurcht gebent? — In unsern Zeiten, da das Chri- stenthum von allen Seiten bekaͤmpft und der Laͤsterung aus- gesetzt ist, muß der rechtschaffene Verehrer der Religion wir- ken und schweigen , ausser wo er reden muß. Doch, was halte ich mich mit Entschuldigung auf? Der Herr wirds sehen und gerecht richten! Ich habe lange des Herrn Friedenbergs und seiner Fa- milie nicht gedacht, nicht erzaͤhlt, wie sich dieser edle Mann mit den Seinigen bei Stillings Rufe nach Rittersburg betrug. Friedenberg war Fabrikant und Kaufmann, er, seine Frau und Kinder waren aͤußerst fleißig, sparsam und thaͤtig, ihre Anhaͤnglichkeit an die Religion hatten sie vor jeder Ver- schwendung und vor allen Lustbarkeiten der großen Welt bewahrt; er hatte mit Nichts angefangen, und war doch unter dem goͤtt- lichen Segen zu einem zwar nicht reichen, aber doch wohlha- benden Mann geworden; daher hatte sich eine Gesinnung bei ihm und den Seinigen herrschend gemacht, die Stillingen nicht guͤnstig war. Sie hatten keinen Begriff von dem Charak- ter eines Gelehrten, uͤberhaupt hatte die Gelehrsamkeit keinen hohen Werth bei ihnen: was nicht das Vermoͤgen vermehrt, war ihnen sehr gleichguͤltig; als Kaufleute hatten sie ganz recht; allein sie waren auch deßwegen nicht faͤhig, Stillin- gen gehoͤrig zu beurtheilen, denn dieser rang nach Wahrheit und Kenntnissen; die unaufhoͤrliche Ueberlegung, wie jeden Augenblick Etwas zu verdienen oder zu ersparen sey, konnte unmoͤglich einen Geist erfuͤllen, dessen ganzer Wirkungskreis mit hoͤhern Dingen beschaͤftigt war, daher entstand nun eine Art von Kaͤlte, die Stillings gefuͤhlvolles Herz unsaͤglich schmerzte; er suchte seinem Schwiegervater die Sache in ihrer wahren Gestalt vorzustellen, allein es blieb dabei: ein Mann muß sich redlich naͤhren, das ist seine erste Pflicht; die zweite ist dann freilich die, auch der Welt zu nuͤtzen . Ganz recht, dachte Stilling , kein Mensch in der Welt kann’s dem edlen Manne verargen, daß er so urtheilt. Bei dem Ruf nach Rittersburg war Friedenberg nicht blos gleichguͤltig, sondern gar mißmuthig; denn da er nun einmal seinen Schwiegersohn fuͤr einen schlechten Haushalter hielt, so glaubte er, eine fixe Besoldung wuͤrde ihm eben so we- nig helfen, als sein Erwerb in Schoͤnenthal: und da er fuͤr seine Schulden Buͤrge geworden war, so befuͤrchtete er, er wuͤrde nun die ganze Buͤrde allein tragen, und vielleicht am Ende Alles bezahlen muͤssen. Stillings Herz litte bei dieser Lage entsetzlich, er konnte nichts dagegen einwenden, sondern er mußte die Hand auf den Mund legen und schweigen, aber aus seinem beklemmten Herzen stiegen unaufhoͤrlich die bruͤn- stigsten Seufzer um Huͤlfe zum Vater im Himmel empor; sein Vertrauen wankte nicht, und er glaubte gewiß, Gott werde ihn herrlich erretten und seinen Glauben kroͤnen. Indessen ver- sprach er, seinem Schwiegervater jaͤhrlich ein paar hundert Gulden abzutragen, und so immerfort die Last zu erleichtern; dabei bliebs, und Friedenberg willigte in seinen Abzug. Des Sonnabends ging nun Stilling mit seiner Chri- stine und beiden Kindern nach Rasenheim , um Abschied zu nehmen. Die Schmerzen, welche bei solchen Gelegenheiten gewoͤhnlich sind, wurden jetzt durch die Lage der Sachen sehr erleichtert. Doch fuͤrchtete Stilling , seine Gattin moͤchte den Sturm der Empfindungen nicht ertragen, allein er irrte sich; denn sie empfand noch viel tiefer, als er, wie sehr sie und ihr Mann mißkannt worden; sie war sich bewußt, daß sie nach allen ihren Kraͤften gespart hatte, daß ihr Aufzug fuͤr die Frau eines Doktors ausserordentlich maͤßig, und weit geringer sey, als der Kleidervorrath ihrer Schwestern; und endlich, daß sie weder in Essen noch Trinken, noch in Mobilien mehr gethan hatte, als sie verantworten konnte: sie war also muthig und froh, denn sie hatte ein gutes Gewissen. Als daher der Abend heranruͤckte und ihre ganze Familie im Kreis herumsaß und trauerte, so schickte sie ihre beiden Kinder, nachdem sie ihre Groß- eltern gesegnet hatten, weg, und nun trat sie in den Kreis, stand hin und sagte: „Wir reisen fort in ein fremdes Land, das wir nicht ken- „nen; wir verlassen Eltern, Geschwister und Verwandten, und „wir verlassen das Alles gerne, denn nichts ist da, das uns „den Abschied schwer macht; Kreuz und Leiden ohne Zahl „hat uns Gott zugeschickt, und Niemand hat uns geholfen, „erquickt, getroͤstet; nur Gottes Gnade hat uns durch fremde „Huͤlfe vor dem gaͤnzlichen Untergang gerettet. Ich gehe „mit Freuden. Vater, Mutter, Bruͤder, Schwestern, lebt so, „daß ich Euch Alle vor dem Throne Gottes wieder finden „moͤge!“ — Damit kuͤßte sie einen nach dem andern die Reihe herum und lief fort, ohne eine Thraͤne zu vergießen; Stilling nahm nun auch, aber mit vielen Thraͤnen Abschied, und wan- derte ihr nach. Des folgenden Morgens setzte er sich mit seinem Weib und Kindern in den Postwagen und fuhr fort. So wie sich Stillingen von dem Schauplatz seiner sechs und ein halbjaͤhrigen feurigen Pruͤfung entfernte, so erweiterte sich sein Herz, seine ganze Seele war Dank und hohes Ge- fuͤhl der Freude. Nichts bringt reineres Vergnuͤgen, als die Erfahrungen, die uns uͤberstandene Leiden gewaͤhren — gerei- nigter und immer verklaͤrter treten wir aus jedem Laͤuterungs- feuer hervor; und auch das ist einziges und unschaͤtzbares Verdienst der Religion Jesus , welches keine andere jemals gehabt hat: sie lehrt uns die Suͤnde und die Leiden kennen . Dazu kam nun noch die frohere Aussicht in die Zu- kunft, eine ganz seiner bisherigen Fuͤhrung und seinem Cha- rakter angemessene Bestimmung, ein Beruf, der ihm ein ge- wisses Stuͤck Brod verschaffte und Tilgung seiner Schulden hoffen ließ, und endlich ein Publikum, das keine Vorurtheile gegen ihn haben konnte. Das Alles goß tiefen Frieden in seine Seele. Des Mittags fand er einen Theil der Schoͤnenthaler geschlossenen Gesellschaft im Wirthshause, welche das Abschied- mahl hatten bereiten lassen; hier speiste er und letzte sich mit diesen vortrefflichen Maͤnnern, und nun reiste er auf Ruͤssel- stein zu. Zween seiner Schwaͤger begleiteten ihn auch bis hie- her, und gingen dann wieder zuruͤck. Von Ruͤsselstein nahm er einen geringen Wagen bis Koͤlln, und dort einen andern bis Frankfurt. Zu Koblenz besuchte er die beruͤhmte Frau Kanzlerin Sophia von la Roche , er war ihr durch seine Lebensgeschichte schon bekannt; dann reiste er weiter bis Frank- furt, wo er seine alten Freunde, vorzuͤglich aber den Herrn Pfarrer Kraft besuchte, der ihm ausserordentliche Liebe und Freundschaft bezeugte. Nach einem Rasttag ging er wegen des großen Gewaͤs- sers uͤber Mainz, Worms und Frankenthal nach Mannheim, wo er von Herrn Eisenhart mit offenen Armen empfan- gen wurde. Hier fand er nun, wegen seiner im Druck er- schienenen Geschichte, viel Goͤnner und Freunde. Allenthalben erwies man ihm Gnade, Freundschaft, Liebe und Zaͤrtlichkeit: wie wohl das ihm und seiner Christine nach so langer Zertretung und Verachtung that, das ist nicht zu beschrei- ben. Nun gab ihm aber auch Eisenhart verschiedene wich- tige Erinnerungen: Stillings Geschichte hatte, bei allem Beifall in dortigen Gegenden, ein Vorurtheil des Pietismus erweckt, Jeder hielt ihn fuͤr einen Mann, der denn doch immer ein feiner Schwaͤrmer sey, und vor dem man sich in dieser Ruͤck- sicht in Acht zu nehmen habe; daher wurde er gewarnt, nicht zu viel von der Religion zu reden, sondern nur durch Recht- schaffenheit und gute Handlungen sein Licht leuchten zu lassen, denn in einem Lande, wo die katholische Religion die herr- schende sey, muͤsse man sehr vorsichtig seyn. Das Alles sahe Stilling ein und versprach daher heilig, Alles sehr wohl zu beobachten; indessen mußte er herzlich lachen: denn zu Schoͤ- nenthal war er ein Freigeist, und hier nun ein Pietist — so wenig Wahrheit enthalten die Urtheile der Menschen. Nun ging die Reise in das waldigte und gebirgigte Austra- sien ; ungeachtet der rauhen Jahrszeit und der entblaͤtterten todten Natur staunte doch Stilling rechts und links die stei- len Gebirge und Felsen, die uralten Waͤlder und die allenthal- ben an den Klippen hangenden ruinirten alten Ritterwohnungen an, Alles sah ihm so vaterlaͤndisch aus; es war ihm wohl, und bald sahe er dort in der Ferne das waldumkraͤnzte Rit- tersburg mit allen seinen alten Thuͤrmen liegen; seine Brust erhob sich, und das Herz pochte staͤrker, je mehr er sich dem Schauplatz seiner kuͤnftigen Bestimmung naͤherte. Endlich fuhr er in der Abenddaͤmmerung zum Thore hinein; so wie sich seine Kutsche links herum lenkte, und durch die enge Gasse fort- fuhr, hoͤrte er eine Mannsstimme rechter Hand: Halt! rufen, der Kutscher hielt. Ist der Herr Professor Stilling in der Kutsche? Ein dop- peltes Ja! erscholl aus dem Wagen; nun so steigen Sie aus, mein auserwaͤhlter, theurer Freund und Kollege! hier sollen Sie logiren. Der sanfte, liebevolle und unerwartete Ton ruͤhrte Stil- ling und seine Gattin bis zu Thraͤnen, sie stiegen aus, und fielen dem Herrn Professor Siegfried und seiner Ehefreun- din in die Arme; bald erschien auch der andere Kollege, der Herr Professor Stillenfeld , dessen eingezogener, stiller und ruhiger Charakter Stillings Aufmerksamkeit am mehresten auf sich zog; Stillenfeld war noch unverheirathet, Sieg- fried aber hatte schon ein Kind; dieser und seine Gattin waren vortreffliche Menschen, voller Waͤrme fuͤr die Religion und alles Gute, und zugleich menschenliebend bis zur Schwaͤr- merei; dabei war Siegfried ein sehr gelehrter, tiefdenken- der philosophischer Mann, dessen Hauptneigung die Gottesge- lehrtheit war, die er auch ehemals studirt hatte; hier aber lehrte er das Natur- und Voͤlkerrecht und die Polizei-, Finanz- und Staatswirthschaft. Stillenfeld hingegen war ein sehr feiner, edler und rechtschaffener Mann, voller System, Ord- nung und mathematischer Genauigkeit; in der Mathematik, Naturlehre, Naturgeschichte und Chemie hatte er schwerlich seines Gleichen. Unserm Stilling war wohl bei diesen Maͤnnern, und sein Weib schloß sich bald an die Frau Pro- fessorin Siegfried an, welche sie nun in Allem unterrich- tete, und ihr die Haushaltung einrichten half. Freilich war der Abstand zwischen Schoͤnenthal und Rittersburg groß: alte unregelmaͤßige Haͤuser, niedrige Zimmer mit Balken in die Kreuz und Quere, kleine Fenster mit runden oder sechseckigten Scheiben, Thuͤren, die nirgends schloßen, Oefen von erschrecklicher Groͤße, auf welchen die Hochzeit zu Kana in Galilaͤa mit ihren zwoͤlf steinernen Was- serkruͤgen in halb erhabener Arbeit gar erbaulich zu sehen war, dann eine Aussicht in lauter traurige Tannenwaͤlder, nirgends ein rauschender Bach, sondern ein schlangenfoͤrmig hinkriechen- des morastiges Wasser u. s. w. Das Alles machte freilich einen sonderbaren Kontrast mit den vorhin gewohnten Gegen- staͤnden; Christine hatte auch oft Thraͤnen in den Augen, allein man wird nach und nach mit allem vertraut, und so gewoͤhnten sich Beide in ihre neue Lage, und waren von Her- zen zufrieden. Jetzt schrieb nun Stilling , sowohl nach Rasenheim an seinen Schwiegervater, als auch nach Leindorf an sei- nen Vater, und nach Lichthausen an seinen Oheim, und schilderte diesen Freunden seine ganze Lage nach der Wahr- heit; wobei er dann zugleich uͤberall die herrlichen Aussichten, die er in die Zukunft hatte, keineswegs vergaß. Johann und Wilhelm Stilling waren uͤber diesen neuen Aufschwung ihres Heinrichs voller Staunen, sie sahen sich an und sag- ten gegen einander: Was wird noch aus ihm werden? Friedenberg hingegen freute sich nicht sonderlich, statt des- sen war seine Antwort voll vaͤterlicher Ermahnungen, nur gut hauszuhalten; fuͤr die Ehre, die seinem Schwiegersohn und seiner Tochter dadurch widerfuhr, daß er nun Professor war, hatte er kein Gefuͤhl; uͤberhaupt ruͤhrte ihn Glanz und Ehre nicht. Weil ihm sein System, daß er sich von der Staatswirth- schaft gemacht hatte, sehr am Herzen lag, so wendete er den ersten Winter an, es in seinem Lehrbuch auszuarbeiten und zugleich uͤber die geschriebenen Bogen ein Kollegium zu lesen; im Fruͤhjahr wurde dieß Buch in Mannheim unter dem Titel: Versuch einer Grundlehre saͤmmtlicher Ka- meralwissenschaften gedruckt; es fand, ungeachtet sei- ner Fehler und Unvollkommenheit, vielen Beifall, und Stil- ling fing nun an, seiner Bestimmung vollkommen gewiß zu seyn, er fuͤhlte sich ganz in seinem natuͤrlichen Fache, Alles, was ihm sein Amt zur Pflicht machte, war auch zugleich seine groͤßte Freude. Man kann sich keine gluͤcklichere Lage denken, als die, in welcher er sich jetzt befand, denn auch das Publikum, in welchem er lebte, liebte, ehrte und schaͤtzte ihn und seine Christine aus der Maßen; hier hoͤrte alles Schmaͤ- hen, alles Laͤstern auf; haͤtte ihm von Schoͤnenthal aus nicht ein bestaͤndiges Ungewitter wegen seiner Schulden ge- droht, so waͤre er vollkommen gluͤcklich gewesen. Den folgenden Sommer las er nun die Forstwissenschaft, Landwirthschaft und Technologie: denn er begnuͤgte sich nicht blos mit den Wissenschaften, die ihm aufgetragen waren, son- dern er brannte vor Verlangen, sein System so weit auszu- fuͤllen, als ihm in seiner Sphaͤre moͤglich war; und da die bekannten Lehrbuͤcher nicht in seinen Plan paßten, so nahm er sich vor, uͤber alle seine Wissenschaften selbst Kompendien zu schreiben, wozu er sich also von Anfang an ruͤstete. Stilling war bisher von seinem himmlischen Schmelzer ausgegluͤht und zu einem brauchbaren Werkzeug aus dem Gro- ben gearbeitet worden: nun fehlte ihm noch die Feile und die Politur; auch diese wurde nicht vergessen: denn es bildeten sich von ferne Anlagen, die die letzte Hand an das Werk legen sollten, und die ihm endlich noch schwerer wurden, als alles, was er bisher ausgestanden hatte. Die staatswirthschaftliche Gesellschaft, wovon er nun auch ordentliches Mitglied war, wirkte mit unaussprechlichem Se- gen und Fortgang fuͤr ihr Vaterland; und die Pfalz kann ihr in Ewigkeit ihre Bemuͤhungen nicht genug verdanken; dieß ist Wahrheit und nicht Kompliment. Sie errichtete die Kameral- schule, legte eine Fabrike an, die sehr bluͤht und vielen hun- dert Menschen Brod gibt, und von diesem Allem war der Herr Rath Eisenhart das erste und letzte Triebrad, das eigentliche Gewicht an der Uhr. Dann aber hatte sie auch ein Landgut auf dem Dorfe Siegelbach , anderthalb Stun- den von Rittersburg gekauft, wo sie allerhand neue land- wirthschaftliche Versuche machen und den Bauern mit guten Beispielen vorgehen wollten; dieß Gut war bisher von Ver- waltern betrieben worden, aber Alles schlug fehl, nichts wollte gerathen, denn alle Umstaͤnde waren dem Gluͤck entgegen. Als nun Stilling nach Rittersburg kam, so wurde ihm, als Lehrer der Landwirthschaft, die Verwaltung uͤbergeben; er nahm dieses Nebenamt an, denn er glaubte, der Sache voͤllig gewachsen zu seyn. Der Verwalter wurde also abgeschafft, und Stillingen die ganze Sache uͤbertragen; dieß geschah alsofort bei dem Antritt seines Lehramts. Als er nun nach Siegelbach kam, und Alles genau untersuchte, so fand er einen großen schoͤnen, mit Quaderstei- nen gepflasterten Viehstall, ganz nach der neuen Art einge- richtet; in demselben zwanzig magere Gerippe von Schwei- zerkuͤhen, welche alle zusammen taͤglich drei Schoppen Milch gaben, das wahre Bild von Pharaons sieben mageren Kuͤhen; dann standen da zwei Arbeitspferde mit zwei Fuͤllen, und draußen, in besondern Stallungen, eine ziemliche Heerde Schweine, und ungeachtet es erst November war, so war doch schon alles Heu lang verfuͤttert, und an Stroh zum Streuen war gar nicht zu denken. Es fehlte also in der Haus- haltung an Milch und Butter, und Futter fuͤr so viele große Maͤuler, Schluͤnde und Maͤgen. Das schlug nun dem guten Professor gewaltig aufs Herz, er wandte sich geraden Weges an die Gesellschaft, hier aber fand er keine Ohren, Jeder sagte ihm: er muͤsse so gut thun, als er koͤnne, Jeder war des ewigen Zahlens muͤde. Jetzt fehlte es nun Stillingen wie- der an der noͤthigen Klugheit; er haͤtte alsofort abtreten und die Verwaltung wieder abgeben sollen, allein das that er nicht, er war gar zusehr fuͤr das ganze Institut eingenommen, und glaubte, seine Ehre sey mit der Ehre desselben aufs ge- naueste verbunden, er muͤsse es also durchsetzen, und eben dieß war sein Ungluͤck. Das erste, was er vornahm, war der Verkauf der Haͤlfte des Viehstandes, denn er hoffte, mit dem daraus geloͤsten Kapitel so viel Futter und Stroh zu kaufen, daß er die an- dere Haͤlfte fuͤglich durchbringen koͤnnte. Er veranstaltete also eine gerichtliche Auktion und erstaunte uͤber den Zulauf und uͤber die Preise, so daß er gewiß glaubte, er werde den schwe- ren Berg uͤbersteigen; allein wie erschrack er, als er erfuhr, daß die mehresten Kaͤufer Glaͤubiger waren, die an dem Gut zu fordern hatten! — Und die Andern, denen das Gut nichts zu zahlen hatte, waren arm: er bekam also wenig Geld, und wollte er sich helfen, so mußte er in den Sack greifen, und wo das nicht zureichte, Geld auf eigenen Kredit aufnehmen. Freilich hatte er die gegruͤndete Hoffnung, daß im kuͤnfti- gen Sommer die große und gesegnete Erndte alles uͤberfluͤßig ersetzen, und die großen Klee- und Futterstuͤcke seine Kasse von der Buͤrde befreien wuͤrden, und insofern waͤre er zu ent- schuldigen; indessen war es fuͤr einen Mann in seinen Um- staͤnden immer Leichtsinn, so etwas zu unternehmen, beson- ders da er die wahre Lage der Sache erfuhr. Gott! wie leicht ist es aber, nach durchkaͤmpften schweren Truͤbsalen die Plaͤtz- chen ausfindig zu machen, wo man haͤtte ausweichen koͤnnen! Er sey fuͤr seine Fuͤhrung gepriesen! Zu diesen drohenden Wolken sammelten sich noch andere: zu Rittersburg waren die regierenden Personen alle katholisch, und dieß nach dem platten Sinn des Worts; die Franziska- ner hatten die Pfarrbedienung und Seelsorge ihrer Gemeinde; diesen Geistlichen war also daran gelegen, daß Dummheit und Aberglauben immer unterhalten werden moͤchte; vorzuͤg- Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 25 lich war der Oberbeamte ihr treuer Anhaͤnger. Nun hatte sich aber die Kameralschule daselbst eingenistet, deren Lehrer alle Protestanten waren, diese uͤbten sogar noch Jurisdiction aus, das alles war ihnen daher natuͤrlicher Weise ein Dorn in den Augen. Nun befand sich allda ein gewisser Gelehrter, Namens Spaͤssel , ein sonderbarer Heiliger, so wie es we- nige gibt; sein Anzug war sehr nachlaͤßig, mitunter auch un- sauber, sein Gang und Wandel schlutterlich, alle seine Reden niedrig-komisch, so daß er in allen Gesellschaften den Hans- wurst vorstellte. In Geheim war er der Spion eines vorneh- men Geistlichen, der bei dem Churfuͤrsten viel galt, und eben so auch der Zeitungs- und Maͤhrchentraͤger des Oberbeamten; oͤffentlich war er ein spoͤttelnder Witzling uͤber gewisse Ge- braͤuche seiner eigenen Religion; der aber war ungluͤcklich, der ihm alsdann half, denn er hatte sich heimlich in die Fran- ziskanerbruͤderschaft begeben, der er treulich anhing. Schwer faͤllt es mir, diesen Mann hier oͤffentlich zur Schau zu stellen, allein er war Werkzeug in der Hand der Vorsehung, ich kann ihn nicht weglassen: lebt er noch, wird er erkannt, und ist er noch, was er war , so geschieht ihm Recht, und es ist Pflicht, jeden Rechtschaffenen vor ihm zu warnen; ist er aber todt, oder wird er nicht erkannt, so scha- det ihm meine Schilderung nicht. So lang ein Mensch in diesem Lande der Erziehung und Vervollkommnung waltet, so lang ist er der Besserung und Ruͤckkehr faͤhig; wird also Spaͤs- sel auch nach den Grundsaͤtzen seiner Kirche ein edler, recht- schaffener, wohlthaͤtiger Mann, so wird das ganze Publikum, das ihn sonst gerade so kannte, wie ich ihn hier schildere, seine Gesinnung aͤndern, ihn lieben, und es wird in Rittersburg eben sowohl, als im Himmel, mehr Freude uͤber seine Ruͤck- kehr zur Tugend seyn, als uͤber neun und neunzig edle Men- schen, die einen so schweren Kampf gegen Temperament und Charakter nicht gekaͤmpft haben, als er. Dann aber werde auch ich auftreten und vor aller Welt sagen: Komm, Bru- der! vergib, wie ich dir vergeben habe, du bist besser als ich, denn du hast mehrere Feinde uͤber- wunden! Dieser Spaͤssel hatte von jeher gesucht, in die staatswirth- schaftliche Gesellschaft aufgenommen, sogar Professor der Vieh- arzneikunde zu werden; allein man fuͤrchtete sich vor ihm, denn er war ein sehr gefaͤhrlicher Mann, der auch noch uͤber- das den Anstand nicht hatte, welcher einem Lehrer so noͤthig ist; folglich hatte man ihn mit aller Behutsamkeit entfernt ge- halten. Da nun Stilling das Fach der Vieharzneikunde zugleich mit bekam, so war er ihm im Wege. Dazu kam noch Etwas: die Gesellschaft hatte seine Buͤchersammlung, diese wurde woͤchentlich Einmal des Abends von sechs bis acht Uhr geoͤffnet; Stilling uͤbernahm diese Lesestunde frei- willig und umsonst zu halten, theils um sich Litterarkennt- niß zu erwerben, theils auch seinen Zuhoͤrern dadurch noch mehr zu nuͤtzen; dann hatte auch die Gesellschaft allen Gelehr- ten des Orts erlaubt, in diesen Lesestunden ihre Buͤcher zu benutzen. Spaͤssel bediente sich dieser Wohlthat selten, doch fing er gegen das Fruͤhjahr an, oͤfter zu kommen; nun machte aber Stillingen die Siegelbacher Gutsverwaltung eine Aenderung in der Sache, er mußte nun alle Montag dorthin reisen: und konnte also an diesem Tage wie gewoͤhnlich die Lesestunde nicht halten, daher verlegte er sie auf den Dienstag Abend. Dieß machte er allen Studirenden bekannt, und bat sie, es oͤffentlich zu sagen. Spaͤssel kam indessen drei Montage nacheinander an die verschlossene Thuͤr, den dritten setzte er sich hin, und schrieb folgendes Billet ; ich ruͤcke es gerade so ein, wie es war Spässel schrieb so nicht aus Mangel an Kenntniß, son- dern aus Originalität. : es Wird wohl darauf Angelegt seyn, das mich der herr Bro- fessor Stilling for Einen Narren Halten Will — dient aber drauf zur Nachricht, das das Spaͤssels sach nit is — !!! die geselschaft soll ire Leute auf ire Pflicht und schuldigkeit anweisen Spaͤssel Stilling schlug diesen Zettel in einen Brief an den Direk- tor, Herrn Rath Eisenhart ein, und berichtete ihm den 25 * Hergang; dieser schrieb alsofort an Herrn Spaͤssel und stellte ihm die Sache in ihrer wahren Liegenheit hoͤflich und beschei- den vor; allein das war Oel ins Feuer gegossen, denn der ehrliche Mann kam zu Stilling und bediente sich solcher haͤmischer und beleidigender Ausdruͤcke, daß dieser in die lo- dernde Flamme gerieth, und den Spaͤssel so geschwind wie moͤglich zur Thuͤr hinaus und die Treppe hinunter promovirte, und ihm dann nachrief: Kommen Sie mir ja nicht wie- der uͤber die Schwelle, bis Sie ein braver Mann geworden sind! Dabei blieb’s — daß aber Spaͤssel das Alles sehr wohl behielt, um dereinst Nutzen daraus zu ziehen, ist leicht zu denken. Um diese Zeit erschien ein abermaliges Meteor am dortigen Horizont: ein gewisser anmaßlicher Englaͤnder, Namens Tom , hatte als englischer Sprachmeister Land und Sand durchzogen, tausend Plane gemacht, Schloͤsser in die Luft gebaut, und Al- les war mißlungen. Sonst war er ein Mann von ungemei- nen Talenten, gelehrt und uͤberhaupt ein Genie im eigentli- chen Verstande. Die Triebfeder aller seiner Handlungen war ein unbaͤndiger Stolz, ohne Religion; steifer Naturalismus und blindes Schicksal schienen seine Fuͤhrer zu seyn. Die Menschenliebe, dieses schoͤne Gotteskind, war ihm unbekannt, er liebte nichts als sich selbst; der Name Sprachmeister war ihm ein Graͤuel, ob er gleich im Grunde nichts anders vor- stellte, und er fuͤhrte den Charakter als Professor der englischen Litteratur. Die Armuth war ihm eine Hoͤlle, und doch war er hoͤchst arm; denn als ehemaliger wohlhabender Kaufmann hatte er die Rolle des großen Herrn gespielt, und darauf, wie leicht zu denken, fallirt. Dieser Mann hielt sich damals in Mannheim auf, und schien ihm das Rittersburger Institut gerade ein Schauplatz zu seyn, wo er sich naͤhren und Ruhm erwerben koͤnnte. Er hielt deßwegen bei Eisenhart an, er moͤchte ihm zu einer Professorsstelle an der Ritters- burger Akademie helfen; Eisenhart , der freilich die Brauch- barkeit dieses Mannes, aber auch seinen gefaͤhrlichen Charak- ter kannte, und uͤber das alles fuͤr noͤthig hielt, mit der Gnade des Churfuͤrsten hauszuhalten, schlug ihm daher sein Gesuch immer rund ab. Endlich entschloß sich Tom , ohne Besol- dung und ohne Ruf hinzugehen, er hielt daher bloß um die Erlaubniß an, dort sich aufzuhalten und Kollegia lesen zu duͤr- fen; dieß wurde ihm gerne zugestanden. Eisenhart schrieb daher an Stilling , dem die Besorgung der Logis und der Quartiere fuͤr die Studirenden aufgetragen war, er moͤchte fuͤr Herrn Professor Tom eine Wohnung miethen; zugleich schil- derte er ihm diesen Mann, und bestimmte ihm, wie seine Woh- nung beschaffen seyn muͤßte. Stilling miethete also ein paar schoͤne Zimmer bei einem Kaufmann, und erwartete nun Toms Ankunft. Endlich an einem Nachmittag kam die Magd aus einem Wirthshause mit folgendem Zettel an Stilling: P. P. Professor Tom ist hier. Tom . Hm! dachte Stilling — eine seltsame Ankuͤndigung! Nun beobachtete er immer den Grundsatz, da, wo er sich und der guten Sache nichts vergeben konnte, den untersten Weg zu gehen. Er nahm also Hut und Stock, um nach dem Wirthshause zu gehen; jetzt in dem Augenblick wurde ihm aber von dem Kaufmann angekuͤndigt, daß er den englischen Sprach- meister nicht einziehen ließe, bis er das erste Quartal voraus- bezahlt haͤtte. Gut! sagte Stilling , und ging zum Wirths- hause; hier fand er nun einen ansehnlichen, wohlgewachsenen Mann, mit einer hohen breiten Stirn, großen starren Augen, magerem Gesicht und spitzigem Maͤulchen, aus dessen Zuͤgen Geist und Verschlagenheit allenthalben hervorblickte; neben ihm stand seine Frau im Amazonenhabit, und graͤmender Kummer nagte ihr am Herzen, man merkte das an ihrem schwimmen- den Auge und herabhangenden Winkeln des Mundes. Nach einigen gewechselten Komplimenten, wobei Tom tief und gierig die Fuͤhlhoͤrner in Stillings Seele einzubohren schien, sagte dieser: Herr Professor! ich habe gesehen, wo Sie abge- stiegen sind, kommen Sie mit mir, um nun auch zu sehen, wo ich wohne. „Gut!“ Dabei spitzte er seinen Mund und sah sehr hoͤh- nisch aus. Als nun Stilling mit auf seinem Zimmer war, sagte er weiter: Herr Professor! es freut uns, einen so wak- kern Mann hieher zu bekommen, wir wuͤnschen nun von Her- zen, daß es Ihnen hier wohl gehen moͤge. Tom wandelte unter allerhand Gesichts- und Mienenspielen hin und her, und antwortete: „Ich wills einmal versuchen.“ Eins muß ich Ihnen aber sagen, Sie werden es mir nicht uͤbel nehmen: ich habe zwei schoͤne Zimmer fuͤr 70 Gulden bei Herrn R … fuͤr sie gemiethet, der ehrliche Mann fordert aber ein Quartal der Hausmiethe voraus; da Sie uns al- len nun unbekannt sind, so ist das dem Manne nicht so sehr zu verargen. „So! — (er spazierte heftig auf und ab) nun dann gehe „ich wieder nach Mannheim — ich lasse mir hier weder „von einem Professoren, noch sonst von jemand Grobheiten „machen.“ In Gottes Namen! — wir werden Sie ruhig und zufrie- den wieder ziehen lassen. „Was? — warum hat man mich dann hieher gelockt.“ Jetzt griff ihn Stilling bei den Armen an, sah ihm hell und ernst laͤchelnd ins Gesicht, und versetzte: Herr! Sie muͤs- sen hier den stolzen Britten nicht spielen wollen, darum bekuͤm- mert sich unser Einer, und jeder redliche deutsche Mann nicht das geringste; auf Ihr Anhalten hat man Ihnen erlaubt herzukommen, und es steht platterdings in unserer Gewalt, ob wir Sie wieder zum Thor hinausweisen wollen, oder nicht; jetzt seyen Sie ruhig und beobachten Sie den Respekt, den Sie einem Manne, der Ihr Vorgesetzter ist, schuldig sind, oder ziehen Sie wieder ab, wie es Ihnen gefaͤllt. Doch rathe ich Ihnen: bleiben Sie nun hier, und beobachten Sie die Pflich- ten des rechtschaffenen Mannes, so wird sich Alles geben. Denken Sie, daß Sie hier ein wildfremder Mensch sind, den Niemand kennt, und der folglich auch nicht den geringsten Kre- dit hat: denn Ihren Namen kann so gut ein Schurke haben, als der ehrliche Mann. Jetzt wurde Stilling herausgerufen, der Kaufmann hatte die Mobilien des Herrn Toms beaugenscheinigt, und kuͤndigte nun an, daß er den Sprachmeister ohne Vorschuß aufnehmen wolle. Diese Nachricht beruhigte auch den Herrn Tom , er zog also ein. Damit ich aber mit allen kleinen Vorfaͤllen und Nuͤancen nicht Zeit und Raum verschleudern moͤge, so bemerke ich nur ins Allgemeine, daß sich Spaͤssel und Tom an einander anschlossen, und den Plan machten, Stillingen zu stuͤrzen, aus dem Sattel zu heben, und sich dann in sein Amt zu theilen. Ihre Anstalten waren aͤußerst fein, weitlaͤufig angelegt und reif- lich uͤberdacht, wie solches der Verfolg zeigen wird. Der allgemeine Wahn, Stilling habe noch einigen Hang zur Schwaͤrmerei und zum Pietismus, schien beiden Kabali- sten die schwache Seite zu seyn, wohin sie ihre Kanonen rich- ten und Sturmluͤcken schießen muͤßten. Sie gingen daher in der Abenddaͤmmerung Stunden lang vor Stillings Hause in der Gasse auf und ab, um zu spioniren; nun hatte er den Gebrauch, daß er oͤfters Abends nach Tische auf seinem Klavier Choral spielte und dazu sang, wo dann seine Christine mit einstimmte; dieß wurde ausgebreitet: es hieß, er hielte Haus- uͤbungen, Betstunden u. dgl. und so wurde das Publikum all- maͤhlig vorbereitet. Eben diese Nachrichten schrieb dann auch Spaͤssel an den Hof nach Muͤnchen, um Alles wohl zu praͤpariren. Nun kam noch ein Zufall dazu, der der Sache vollends den Ausschlag gab: Stilling hatte zu Siegelbach noch einen Vorrath von Schweizerkaͤsen gefunden, den er zu sich ins Haus nahm, um ihn zu verkaufen; dieses veranlaßte, daß verschie- dene Buͤrgersleute, Weiber und Maͤdchen haͤufig kamen, um Kaͤse zu kaufen: nun waren etliche unter denselben, welche Werk von der Religion machten, und mit der Frau Profes- sorin auch wohl davon redeten; eine unter ihnen lud sie ein- mal in ihren Garten ein, um ihr mit ihren Kindern eine Ver- aͤnderung zu machen; Christine nahm das ohne Bedenken an, und Stilling waͤhnte nichts Arges, sie ging also an dem bestimmten Tage hin, und nach der Kollegienstunde wan- derte er auch in den Garten, um seine Frau und Kinder wie- der abzuholen. Hier fand er im Gartenhaͤuschen vier bis fuͤnf Weibsleute um seine Christine sitzen, einige Erbauungsbuͤ- cher lagen zwischen Johannesbeerenkuchen und Kaffeegeschirr auf dem Tisch, und Alle waren in einem christlichen Gespraͤch begriffen. Stilling setzte sich zu ihnen und fing nun an, behutsam zu predigen: er stellte ihnen vor, wie gefaͤhrlich Zusammenkuͤnfte von der Art an einem Ort seyen, wo man ohnehin so scharf auf alle Schritte und Tritte der Protestan- ten merkte; dann bewies er ihnen gruͤndlich und deutlich, daß das Christenthum nicht in solchen Gespraͤchen, sondern in einem gottesfuͤrchtigen Leben bestaͤnde, u. s. w. Wer sollte sichs aber nun einfallen lassen, daß Spaͤssel gerade jetzt da hinter der Hecke stand, und Alles mit an- hoͤrte? — so Etwas traͤumte Stillingen nicht. Wie er- staunte er also, als er acht Tage hernach die ernsthaftesten, und ich mag wohl sagen, derbsten Vorwuͤrfe, von seinen Freun- den von Mannheim und Zweibruͤcken aus, zugeschrie- ben bekam: er wußte wahrlich nicht, wie ihm geschah — und wenn nicht von einer Winkelpredigt im Garten die Rede gewesen waͤre, so haͤtte er sichs nicht einmal traͤumen lassen, woher diese giftige Verlaͤumdung ihren Ursprung genommen habe. Er beantwortete daher obige Briefe maͤnnlich und nach der Wahrheit, seine Freunde glaubten ihm auch, allein im Ganzen blieb doch immer eine Sensation zuruͤck, die ihm, wenigstens bei den Katholischen, nachtheilig war. In Rittersburg selbst machte das Ding auch Unruhe: der Oberbeamte drohte mit Einthuͤrmen und raͤsonnirte sehr herrlich, die Protestanten aber murrten und beschwerten sich, daß man ihnen nicht einmal Hausandachten zugestehen wollte; bei diesen verlor Stilling nichts, im Gegentheil, sie schaͤtz- ten ihn desto mehr. Die beiden protestantischen Geistlichen, zwei verehrungswuͤrdige vortreffliche Maͤnner, Herr W .... und Herr S …, nahmen sich auch der Sache an, sie besuch- ten jene Weibsleute, ermahnten sie zur Vorsicht, troͤsteten sie und versprachen ihnen Schutz, denn sie wußten, daß sie gute, brave Leute waren, die keine Grundsaͤtze hegten, die der Re- ligion zuwider seyen; Herr W .... predigte sogar den folgen- den Sonntag uͤber die Vorsicht und Pflichten, in Ansehung der haͤuslichen Erbauung, wobei er sich endlich gegen Stil- ling hinkehrte und ihm oͤffentlich zuredete, indem er in fol- gende Worte ausbrach: „Du aber, leidender Wanderer zum er- habenen Ziel der Christen und des wahren Weisen! sey ge- trost, dulde und wandle vorsichtig zwischen den Fallstricken, die Dir Widerwaͤrtige legen! — Du wirst siegen und Gott wird dich mit Segen kroͤnen, Gott wird deine Feinde mit Schande begleiten, aber uͤber dir wird glaͤnzen die Krone der Ueberwindung; Hand an Hand wollen wir uns in dieser bren- nenden Sandwuͤste begleiten und Einer soll dem andern Trost zusprechen, wenn sein Herz nach Huͤlfe stoͤhnt, u. s. w.“ Die ganze Gemeinde blickte auf Stillingen hin, und segnete ihn. Durch die Bemuͤhung dieser vortrefflichen Maͤnner wurde die ganze Gemeinde still, und da auch die Sache an den Churpfaͤlzischen Kirchenrath berichtet wurde, so bekam auch der Oberbeamte die Weisung, nicht mehr von Einthuͤrmen zu reden, bis wirklich polizeiwidrige Konventikel gehalten und in der Religion Excesse begangen wuͤrden. Indessen aber machinirten Tom und Spaͤssel insgeheim am Hof zu Muͤnchen fort, und brachten es wirklich dahin, daß Stil- ling auf dem Punkt war, kassirt zu werden. Diesen gefaͤhr- lichen Sturm erfuhr er aber nicht eher, bis er gluͤcklich vor- bei war; denn auch hier war die goͤttliche Dazwischenkunft der hohen Vorsehung sichtbar: gerade in dem Augenblick, als der vornehme Geistliche ernstlich in den Churfuͤrsten drang und ihm Stilling verdaͤchtig machte, auch die Sache so gut als entschieden war, trat ein anderer, ebenfalls sehr an- sehnlicher Geistlicher, der aber ein warmer Goͤnner Stil- lings war, und die eigentliche Liegenheit der Rittersbur- ger Verfassung wußte, ins Kabinet. Dieser, da er hoͤrte, wo- von die Rede war, nahm Stillings Parthei und verthei- digte sie so treffend und uͤberzeugend, daß der Churfuͤrst auf der Stelle den ersten intoleranten Praͤlaten zur Ruhe verwies, und dem Professor nunmehro nicht seine Gnade entzog. Waͤre dieser edle Geistliche nicht von ungefaͤhr dazu gekommen, so waͤre Stillings Ungluͤck graͤnzenlos gewesen. Erst ein halb Jahr hernach erfuhr er die ganze Sache, so wie ich sie erzaͤhlt habe. Waͤhrend der Zeit lebte er ruhig fort, beobachtete seine Pflichten und betrug sich so vorsichtig, als nur immer moͤg- lich war. Spaͤssel und Tom schmiedeten indessen noch allerhand weitaussehende Plane zu einer allgemeinen gelehrten Repu- blik, zu einer typographischen Gesellschaft u. dgl. Ueber diese wichtigen Angelegenheiten wurden sie aber selbst uneinig und fingen an, sich bitter zu hassen; da nun auch Toms Glaͤu- biger in Bewegung geriethen, und Stilling zugleich Deka- nus der hohen Schule, also seine ordentliche Obrigkeit war, so kroch er zum Kreuz: er kam, weinte und bekannte Alles, was er mit Spaͤssel zu seinem Schaden gewirkt hatte, so- gar zeigte er ihm die Briefe und Berichte, welche von ihnen nach Muͤnchen abgegangen waren; er erstarrte uͤber alle die satanische Bosheit und uͤberaus listigen Kunstgriffe dieser Men- schen; doch, da nun Alles vorbei war und er auch gerade zu dieser Zeit erfuhr, wie er in Muͤnchen gerettet worden, so vergab er Spaͤsseln und Tom Alles, und da nun letzte- rer in Noth und Jammer gerieth, so troͤstete und unterstuͤtzte er ihn, so gut er konnte, ohne der Gerechtigkeit zu nahe zu treten. Und als endlich Toms Bleiben in Rittersburg nicht mehr war, und derselbe auf eine gewisse deutsche Uni- versitaͤt ziehen wollte, um dort sein Heil zu versuchen, so ver- sah ihn Stilling noch mit Reisegeld, und gab ihm seinen herzlichen Segen. Dort versuchte nun Tom alle seine Kunstgriffe noch ein- mal, um sich empor zu schwingen, aber er scheiterte. Und was that er nun — er legte seinen Stolz ab, bekehrte sich, zog ein sehr modestes Kleid an, und ward ein — Pietist — !!! Gott gebe, daß seine Bekehrung wahrhaft gegruͤndet, und nicht Larve der Bosheit und des Stolzes ist! Indessen ist der Weg von einem Extrem zum andern gar nicht weit und schwer, sondern sehr leicht und gebahnt. Gott segne ihn und gebe ihm Gelegenheit, so viel Gutes zu wirken, daß sein ehemaliges Schuldregister dadurch getilgt werden moͤge! Stillings Lehramt war indessen hoͤchst gesegnet, er lebte ganz in seinem Elemente. Mit allerhand, auch interessanten Vorfaͤllen, die aber auf seine Schicksale und Fuͤhrung keinen Bezug haben, mag ich meine Leser nicht aufhalten, ich bleibe also bloß bei dem Hauptgang der Geschichte. Mit der Siegelbacher Gutsverwaltung ging es schief, Alles schlug fehl, uͤberall war Fluch, anstatt des Segens; untreues Gesinde, diebische Nachbarn, heimliche Tuͤcke der Unterbeamten, Schulden, keine Unterstuͤtzung, das Alles stand Stillingen im Wege, so daß er endlich, wenn er nicht selbst mit zu Grunde gehen wollte, die ganze Verwaltung abgeben und seine Rechnung ablegen mußte. Dadurch wurde er nun zwar von dieser schweren Buͤrde befreiet, allein er war wieder tiefer in Schulden gerathen: denn er hatte Vie- les versucht und aufgewandt, das er theils nicht berechnen konnte, theils auch nicht wollte, um sich nicht dem Verdacht des Eigennutzes zu unterziehen. So kam er zwar noch mit Ehren, aber doch mit Schulden aus der Sache. Jetzt fing sich nun alles Ungluͤck an, uͤber sein Haupt zu- sammen zu ziehen: In Rittersburg waren wieder Schul- den entstanden; zu Schoͤnenthal waren kaum die Interes- sen, geschweige Etwas am Kapital abgetragen worden; zudem trug man sich dort mit allerhand Geruͤchten; Stilling halte Kutsche und Pferde, mache erstaunlichen Aufwand, und denke nicht an seine Schulden. Er hatte 600 Gulden fixen Gehalt, und bezog zwischen 2 — 300 Gulden Kollegien- gelder, dabei stiegen alle Preise in Rittersburg fast aufs alterum tantum, bei aller Sparsamkeit blieb kaum so viel uͤbrig, als zu Entrichtung der Zinsen noͤthig war, womit soll- ten nun Schulden bezahlt werden? — Fast jeden Posttag kamen die quaͤlendsten Briefe von seinem Schwiegervater, oder doch von einem andern Schoͤnenthaler Glaͤubiger: Herr Friedenberg selbst war in einer sehr verdrießlichen Lage, er war Buͤrge, und wurde von dem Manne, der ehemals so l iebreich Stillingen aus Gottes- und Menschenliebe un- terstuͤtzt hatte, mit gerichtlicher Einklage bedroht. Stilling mußte also alle Augenblick gegenwaͤrtig seyn, daß sein Wohl- thaͤter, sein Schwiegervater, um seinetwillen in einen Konkurs gerieth. Dieser Gedanke war Mord und Tod fuͤr ihn, und nun in allen diesen schrecklichen Umstaͤnden nicht der geringste Wink zur Huͤlfe, nicht eine Ahnung von ferne. Schrecklich! schrecklich war diese Lage, und wem konnte er sie klagen? Niemand als Gott — das that er aber auch unaufhoͤrlich; er kaͤmpfte ohne Unterlaß mit Unglauben und Mißtrauen, und warf sein Vertrauen nie weg. Alle seine Briefe an seinen Schwiegervater waren voll Uebergebung an die Vorsehung und troͤstend, allein sie hafteten und halfen nicht mehr. Herr Rath Eisenhart selbst, der Etwas von seiner Lage wußte, machte vergebliche Versuche; Stilling schrieb Romane, den Florentin von Fahlendorn und die Theodore von der Linden , und suchte mit den Ho- norarien den Strom zu daͤmmen; allein das war wie ein Tropfen im Eimer. Er schrieb an verschiedene große und beruͤhmte Freunde, und entdeckte ihnen seine Lage, allein Ei- nige konnten ihm nicht helfen, Andere faßten einen Widerwil- len gegen ihn, wieder Andere ermahnten ihn zum Ausharren, und noch ein Paar unterstuͤtzten ihn mit einem Tropfen Kuͤh- lung auf seine lechzende Zunge. Alles, alles war also vergebens, und von Schoͤnenthal herauf blitzte und donnerte es unaufhoͤrlich. Waͤhrend dieser schrecklichen Zeit ruͤstete sich der Allmaͤch- tige zum Gerichte uͤber Stilling , um endlich sein Schick- sal zu entscheiden. Den 17. August 1781, an einem sehr schwuͤlen gewitter- vollen Tage, hatte Christine der Magd einen sehr schwe- ren Korb auf den Kopf gehoben, sie fuͤhlte dabei einen Knack in der Brust, und bald darauf einen stechenden Schmerz mit Frost und Fieber. So wie Stilling aus den Kollegio kam und in ihr Zimmer trat, schritt sie ihm mit Todesblaͤsse und einer Armen-Suͤndermiene entgegen, und sagte: „Zuͤrne nicht, lieber Mann; ich habe einen Korb gehoben, und mir in der Brust weh gethan, Gott sey dir und mir gnaͤdig! — ich ahne meinen Tod.“ Da stand er betaͤubt, wie vom Schlage geruͤhrt — matt und abgehaͤrmt vom langwierigen Kummer, glaubte er den Todesstoß zu fuͤhlen; den Kopf auf die Achsel geneigt, vor- waͤrtshaͤngend, die beiden Haͤnde unter dem Bauch gehalten, starrte er, mit der Angstmiene des Weinens, aber ohne Thraͤ- nen, auf Einen Fleck, und sagte kein Wort — denn jetzt ahnete er auch Christinens Tod mit Gewißheit. Endlich ermannte er sich, troͤstete sie, und brachte sie zu Bette. Am Abend in der Daͤmmerung trat die Krankheit in aller ihrer Staͤrke ein, Christine legte sich wie ein Lamm auf die Schlachtbank und sagte: „Herr mache mit mir, was du willst, ich bin dein Kind — willst du, daß ich meine Eltern und Geschwister nicht mehr sehen soll, so befehle ich sie Alle in deine Haͤnde, leite sie nur so, daß ich sie dereinst vor deinem Thron wieder sehen moͤge.“ Christinens erste Krankheit war also jetzt ein eigentliches Brustfieber, wozu sich hysterische Paroxismen gesellten, die sich in einem wuͤthenden Husten aͤußerten; mehrere Aerzte und alle Mittel wurden gebraucht, sie zu retten; nach 14 Tagen ließ es sich auch zur Besserung an, und es schien, als wenn die Gefahr voruͤber waͤre. Stilling dichtete also Lobgesaͤnge, und schrieb die frohe Nachricht ihrer Genesung an seine Freunde; allein er betrog sich sehr, sie stand nicht einmal vom Bette auf, im Gegentheil ging ihre Krankheit zu einer foͤrmlichen Lungensucht uͤber; jetzt stieg Stillingen das Wasser an die Seele; der Gedanke war ihm unertraͤglich, dieses liebe Weib zu verlieren, denn sie war die beste Gattin von der Welt, artig, aͤußerst gefaͤllig, der Ton ihrer Rede und ihre Bescheidenheit nahm Jedermann ein, ihre Reinlichkeit war ohne Graͤnzen, rund um sie her war Jedem wohl; in ihrem sehr einfachen Anzug herrschte Zierlichkeit und Ordnung, und Alles, was sie that, geschah mit der aͤußersten Leichtigkeit und Geschwindigkeit; uͤber das alles war sie unter vertrauten Freun- den lustig, und mit vielem Anstand witzig, dabei aber von Herzen fromm und ohne Heuchelei. Die aͤußere Larve der Gottseligkeit vermied sie, denn die Erfahrung hatte sie vor dem Pietismus gewarnt. Das Alles wußte Stilling , er fuͤhlte ihren Werth tief, und konnte daher den Gedanken nicht ertragen, sie zu verlieren. Sie selbst bekam nun wieder Lust zum Leben, und troͤstete sich mit Hoffnung zur Genesung. Indessen kamen zuweilen die schrecklichen Paroxismen wieder, sie hustete mit einer solchen Gewalt, daß Stuͤckchen Lunge wie Nuͤsse die Stubenlaͤnge fortflohen; dabei litt sie dann die grausamsten Schmerzen. In aller dieser Noth murrte sie nie, ward nie ungeduldig, sondern rief nur unablaͤssig mit starker Stimme: „Herr, schone meiner nach deiner großen Barmherzigkeit!“ — Wenn dann ihr Mann und ihre Waͤr- terin fuͤr Angst, Mitleiden und Unterstuͤtzung schwitzten, so sahe sie mit einer unaussprechlich bittenden Miene Beide an, und sagte: „Mein Engel und mein Alles! Meine liebe Frau N … habt doch Geduld mit mir, und verzeiht mir die Muͤhe, die ich Euch verursache.“ Bekannte standen oft von Ferne an der Thuͤr; auch Arme, die sie erquickt hatte, denn sie war sehr wohlthaͤtig, und weinten laut. Tage und Naͤchte kaͤmpfte Stilling ; ein Eckchen in sei- ner Studirstube war glatt vom Knieen und naß von Thraͤ- nen, aber der Himmel war verschlossen, alle feurigen Seufzer prellten zuruͤck, er fuͤhlte, daß Gottes Vaterherz verschlossen war. Weil Christine das harte Treten nicht vertragen konnte, so ging er bestaͤndig auf den Struͤmpfen, er lief in der Noth seines Herzens aus einer Ecke des Zimmers in die andere, bis endlich die Sohlen durchgeschliffen waren, und er Wochen lang auf den bloßen Fuͤßen ging, ohne es einmal zu empfinden. Waͤhrend aller dieser Zeit kamen immer dro- hende, beleidigende Briefe von Schoͤnenthal an. Herrn Friedenbergs Herz war durch die Erwartung des nahen Todes seiner Tochter zerschmettert, aber doch hoͤrten seine Vor- wuͤrfe nicht auf. Er glaubte nun einmal gewiß, Stilling sey Schuld an allem Ungluͤck, und so half keine Entschuldi- gung. Die Lage, worin sich der arme empfindsame Mann jetzt befand, uͤbertrifft alle Beschreibung; je mehr ihn aber die Noth draͤngte, desto feuriger und ernstlicher klammerte er sich an die erbarmende Liebe Gottes an. Nach etlichen Wochen, im Anfang des Oktobers, stand Stilling einmal des Abends auf dem Hausgang am Fen- ster, es war schon vollkommen Nacht, und er betete nach sei- ner Gewohnheit heimlich zu Gott; auf Einmal fuͤhlte er eine tiefe Beruhigung, einen unaussprechlichen Seelenfrieden, und darauf eine tiefe Ergebung in den Willen Gottes, er fuͤhlte noch alle seine Leiden, aber auch Kraft genug, sie zu ertragen. Er ging darauf ins Krankenzimmer und nahte sich dem Bette, Christine aber winkte ihm, zuruͤck zu bleiben, und nun sahe er, daß sie ernstlich in der Stille betete, endlich rief sie ihm, winkte ihm zu sitzen und wendete sich schwer, um sich gegen ihn uͤber auf die Seite zu legen; dann sah sie ihn mit einem unaussprechlichen Blick an, und sagte: „Ich sterbe, liebster Engel, fasse dich, ich sterbe gern, unser zehnjaͤhriger Ehestand war lauter Leiden, es gefaͤllt Gott nicht, daß ich dich aus deinem Kummer erloͤst sehen soll, aber Er wird dich erretten, sey du getrost und stille, Gott wird dich nicht verlassen! — meine zwei Kinder empfehl ich dir nicht, du bist Vater, und Gott wird fuͤr sie sorgen.“ Dann machte sie noch verschie- dene Verordnungen, wendete sich wieder um, und war nun ruhig. Von nun an redete Stilling oͤfters mit ihr vom Sterben, von ihren Erwartungen nach dem Tode, und that sein Moͤglichstes, um sie zu ihrem Ende vorzubereiten. Manchmal fanden sich noch Stunden der Angst, und dann wuͤnschte sie einen sanften Tod, und zwar am Tage, denn sie scheute die Nacht. Sein Kollege Siegfried besuchte sie oft, denn seine Gattin konnte wegen Kraͤnklichkeit, Schwan- gerschaft und Mitleiden selten, und am Ende gar nicht mehr kommen, und half ihm also kaͤmpfen und troͤsten. Endlich, endlich nahte sie sich ihrer Aufloͤsung; den 17. Ok- tober, des Abends, bemerkte er die Vorboten des Todes: gegen eilf Uhr legte er sich gaͤnzlich ermattet in ein Neben- zimmer und ruhte halb schlummernd in einer Betaͤubung; um fuͤnf Uhr des Morgens stand er wieder auf und fand seine liebe Sterbende sehr ruhig und heiter. Nun habe ich uͤber- wunden! rief sie ihm entgegen; jetzt sehe ich die Freuden jener Welt lebhaft vor mir, nichts haͤngt mir mehr an — gar nichts! Dann sagte sie folgende Strophen Ich ruͤcke dieses Lied so ein, wie es im Gesangbuch stehet, und erwarte nicht, daß es vernuͤnftige Rezensenten Christi- nen el deuten werden, einen Gebrauch davon gemacht zu haben, wann es vielleicht nicht in die jetzige Lesewelt paßt; Seelen von der Art lassen sich nicht in Kritiken ein, und waͤhlen das, was sie aufweckt und erbaut. : Unter Lilien jener Freuden Sollst du weiden, Seele schwinge dich empor! Als ein Adler fleuch behende, Jesus Haͤnde Oeffnen schon das Perlenthor. Laß mich gehen, laß mich laufen Zu dem Haufen Derer, die des Lammes Thron, Nebst dem Chor der Seraphinen Schon bedienen Mit dem reinsten Jubelton. Loͤse, erstgeborner Bruder! Doch die Ruder Meines Schiffleins! laß mich ein In den sichern Friedenshafen, Zu den Schafen, Die der Angst entruͤcket seyn! Nichts soll mir am Herzen kleben, Suͤßes Leben, Was die Erde in sich haͤlt. Soll ich noch in diesen Mauern Laͤnger trauern? Nein! ich eil’ ins Himmelszelt. Herzens-Heiland, schenke Glauben Deiner Tauben! Glauben, der durch Alles dringt! Nach dir girret meine Seele In der Hoͤhle, Bis sie sich von hinnen schwingt. O wie bald kannst du es machen, Daß mit Lachen Unser Mund erfuͤllet sey! Du kannst durch die Todesthuͤren Traͤumend fuͤhren, Und machst uns auf Einmal frei. Du hast Suͤnd und Straf getragen, Furcht und Zagen Muß nun ferne von mir gehn. Tod, dein Stachel ist zerbrochen, Meine Knochen Werden froͤhlich auferstehn. Lebensfuͤrst! dich will ich loben, Hier und droben, In der reinsten Liebsbegier! Du hast dich zum ew’gen Leben Mir gegeben, Hole mich, mein Gott, zu Dir! Stillings ganze Seele zerschmolz in Thraͤnen: er setzte sich nun vor das Bett und wartete den Abschied seiner See- lenfreundin ab; oft druͤckte sie ihm noch die Hand mit dem gewoͤhnlichen Lieblingsruf: „Mein Engel und mein Alles“ — sonst sprach sie nichts mehr; ihre Kinder verlangte sie gar nicht zu sehen, sie empfahl sie nur Gott. Oft wieder- holte sie aber die Worte: „Du kannst durch die Todesthuͤ- ren traͤumend fuͤhren,“ und freute sich dann dieses Trostes. Gegen 10 Uhr sagte sie: „Lieber Mann! ich werde so schlaͤf- rig und mir ist so wohl, sollte ich etwa nicht wieder erwachen, und traͤumend hinuͤberschlummern, so lebe wohl!“ — Dann sahe sie ihn noch einmal mit ihren großen schwarzen Augen seelenvoll an, laͤchelte, druͤckte ihm die Hand und schlief ein. Nach etwa einer Stunde fing sie an zu zucken, seufzte tief und schauderte; jetzt stand der Odem still, und die Zuͤge des Todes standen alle auf ihrem Gesicht, ihr Mund verzog sich noch zum Laͤcheln — Christine war nicht mehr. Diesen Auftritt muß ein zaͤrtlicher Ehegatte erfahren, sonst kann er sich keinen Begriff davon machen. In dem Augen- Stilliugs sämmtl. Schriften. I. Band. 26 blick trat Siegfried herein, schaute hin, fiel seinem Freund um den Hals, und beide vergossen milde Thraͤnen. „Du holder Engel!“ rief Siegfried uͤber sie hin, und schluchzte — „hast du nun ausgelitten?“ — Stilling aber kuͤßte noch einmal ihre erblaßten Lippen und sagte: „Du Dulderin ohne Gleichen, Dank dir fuͤr deine treue Liebe, gehe ein zu deines Herrn Freude!“ Als Siegfried fort war, brachte man die beiden Kin- der, er fuͤhrte sie zur Leiche, sie sahen hin und schrieen laut; nun setzte er sich, nahm auf jedes Knie eins, druͤckte sie an seine Brust, und alle Drei weinten bittere Thraͤnen. Endlich ermannte er sich und machte nun die Anstalten, die die Um- staͤnde erforderten. Den 21. Oktober des Morgens in der Daͤmmerung trugen Stillings Rittersburger Freunde seine Gattin hinaus auf den Gottesacker und beerdigten sie in der Stille; diese letzte Trennung erleichterten ihm die beiden protestantischen Predi- ger, seine Freunde, welche bei ihm saßen und ihn mit troͤ- stenden Gespraͤchen unterhielten. Mit Christinens Tod endigte sich nun eine große und wichtige Periode in Stillings Geschichte, und es begann allmaͤhlig eine eben so wichtige, welche die Zwecke seiner bis- herigen schweren Fuͤhrung herrlich und ruhig enthuͤllte. Nach Christinens Tod suchte nun Stilling seine ein- same Lebensart zweckmaͤßig einzurichten; er reiste nach Zwei- bruͤcken, wo er sehr gute und treue Freunde hatte; dort uͤber- legte er mit ihnen, wo er seine Kinder am besten in eine Pension unterbringen koͤnnte, damit sie ordentlich erzogen wer- den moͤchten. Nun fand sich in Zweibruͤcken eine dem Anse- hen nach sehr gute Gelegenheit; er machte also die Sache richtig, reiste dann zuruͤck und holte sie ab. Die Tochter war jetzt im neunten, der Sohn aber sieben Jahr alt. Als er aber seine Kinder weggebracht hatte, und nun wie- der in seine einsame und oͤde Wohnung kam, so fiel alles Leiden mit unaussprechlich wehmuͤthiger Empfindung auf ihn zuruͤck, er verhuͤllte sein Angesicht, weinte und schluchzte, so daß er sich kaum troͤsten konnte. Seine Haushaltung hatte er aufgegeben, die Magd weggeschickt, und die Leute, bei denen er wohnte, brachten ihm das Essen auf sein Zimmer; er war also in der Wildfremde ganz allein. Fast reute es ihn, daß er seine Kinder und die Magd weggethan hatte, allein es war nicht anders moͤglich; seine Kinder mußten Erziehung haben, dazu aber beschaͤftigte ihn sein Beruf zu sehr, und dann durfte er auch keiner Magd seine Haushaltung anver- trauen. So wie es jetzt war, war die Einrichtung freilich am besten, aber fuͤr ihn unertraͤglich, er war gewohnt, an der Hand einer treuen Freundin zu wandeln, und die hatte er nun nicht mehr; sein Leiden war unaussprechlich; zuweilen troͤstete ihn sein Vater Wilhelm Stilling in einem Brief, und stellte ihm seine ersten Jugendjahre vor, wo er sich er- innern wuͤrde, wie lange und schwer er den Verlust seines seligen Dortchens betrauert habe, doch habe die Zeit nach und nach die Wunde geheilet; es werde ihm auch noch so gehen; allein das half wenig, Stilling war jetzt einmal im Kummer und sahe keinen Ausweg, wo er sich heraus- winden koͤnnte. Dazu kam noch die traurige spaͤte Herbstzeit, welche ohne- hin vielen Einfluß auf seine Seelenstimmung hatte; wenn er zum Fenster hinaus in die entblaͤtterte Natur blickte, so wars ihm, als wenn er ganz einsam unter Leichen wandelte, und nichts als Tod und Verwesung um sich her saͤhe, mit Einem Wort: seine Wehmuth war nicht zu beschreiben. Nach vier Wochen, mitten im November, an einem Sonn- abend Nachmittag, stieg diese wehmuͤthige Empfindung aufs Hoͤchste, er lief aus und ein und fand nirgends Ruhe; auf Einmal gerieth er ins Beten, er verschloß sich also auf sein Zimmer, und betete mit der innigsten Inbrunst und mit un- aussprechlichem Vertrauen zu seinem himmlischen Vater; er konnte nicht zum Aufhoͤren kommen. Wenn er auf dem Ka- theder war, so flehte sein Herz immer fort, und so wie er wieder in seine Schlafkammer kam, so lag er wieder da, rief und betete laut. Des Abends um sechs Uhr, als er sein letz- 26 * tes Kollegium gelesen hatte, und nun eben in seine Stube getreten war, kam die Hausmagd und sagte ihm, es sey so eben ein junger Mann da gewesen, der nach ihm gefragt habe. Gleich darauf trat dieser herein; mit einer freundlichen, einneh- menden Miene sagte er: „Herr Professor, ich bin von R… und habe die Adjunktion auf eine Kameral-Bedienung; der Churfuͤrstlichen Verordnung zufolge, muß ich also wenigstens ein halb Jahr hier studiren, so schwer mir das auch faͤllt, denn ich habe zwar keine Kinder, aber doch eine Frau, so freue ich mich doch, mit Stilling in Bekanntschaft zu kommen. Nun habe ich eine Bitte an Sie: ich habe mit Bedauern gehoͤrt, daß Ihre Frau Gemahlin gestorben ist, und daß Sie nun so ein- sam und traurig sind, wie waͤrs, wenn Sie mir und meiner Frau erlaubten, bei Ihnen zu wohnen und mit Ihnen an einen Tisch zu gehen? Wir haͤtten dann den Vortheil Ihres Umgangs, und Sie haͤtten Gesellschaft und Unterhaltung. Ich darf mir schmeicheln, daß meine Frau Ihren Beifall haben wird, denn sie ist edel und gutherzig.“ Bei diesen Worten thaute Stillings Seele auf, und es war ihm, als wenn ihm Jemand die Last seines Kummers auf Einmal von den Schultern gehoben haͤtte, er konnte kaum seine hohe Freude verbergen. Er ging also mit Herrn Kuͤhlenbach ins Wirthshans, um seiner Gattin aufzuwarten, die nun mit Freuden die willige Aufnahme erfuhr. Des andern Tages zog dieses edle brave Paar in Stillings Wohnung ein. Nun ging Alles wieder seinen ungehinderten muntern Gang fort; Stilling war zwar noch immer wehmuͤthig, allein es war Wonne-Wehmuth, in welcher er sich wohl befand. Jetzt kam er nun auch so weit, daß er im Stande war, seine Lehr- buͤcher der Reihe nach herauszugeben; die Honorarien, welche er dafuͤr empfangen hatte, machten ihm Muth zur Tilgung seiner Schulden, denn er sahe ein unabsehbares Feld vor sich, in welchem er lebenslang als Schriftsteller arbeiten, und also jaͤhrlich sein Einkommen auf wenigstens 1500 Gulden bringen konnte. Jetzt verauctionirte er auch seinen unnoͤthigen Hausrath, und behielt nichts mehr, als was er selbst noͤthig brauchte, und mit dem daraus geloͤsten Gelde bezahlte er die dringendsten Schulden. Diese ganz ertraͤgliche Lebensart dauerte so fort, bis gegen das Ende des Winters des 1782sten Jahres. Jetzt fing nun Kuͤhlenbach an, vom Wegziehen zu reden; dieß machte Stil- lingen Angst, denn er fuͤrchtete, die grausame Schwermuth moͤchte wieder eintreten: er suchte daher allerhand Plane zu entwerfen, die ihm aber alle nicht einleuchten wollten. Nun bekam er gerade zu dieser Zeit einen Brief von Herrn Eisen- hart , in welchem ihm der Vorschlag gethan wurde, wieder zu heirathen; Stilling sahe wohl ein, daß dieß das Beste fuͤr ihn seyn wuͤrde: er entschloß sich auch nach vielen Kaͤm- pfen dazu, und erwartete nun die Winke und Leitung der Vorsehung. Seine ersten Gedanken fielen auf eine vortreffliche Wittwe, welche ein Kind, etwas Vermoͤgen, den edelsten Charakter hatte, und von sehr gutem Herkommen und ansehnlicher Familie war, sie hatte schon große Proben ihrer Haͤuslichkeit abgelegt, und kannte Stillingen . Er schrieb also an sie; die brave Frau antwortete ihm, und gab solche wichtige Gruͤnde an, die sie verhinderten, je wieder zu heirathen, daß Stilling als ein rechtschaffener Mann handeln und schlechterdings abstehen mußte. Dieser mißlungene Versuch machte ihn bloͤde, und er beschloß, behutsam zu verfahren. Um diese Zeit ging eine Aufklaͤrung in seiner Seele uͤber eine Sache vor, die er bis daher nicht von Ferne geahnet hatte: denn als er einsmals allein lustwandelte und seinen zehnjaͤhri- gen schweren Ehestand uͤberdachte, so forschte er nach, woher es doch wohl gekommen seyn moͤge, daß ihn Gott so schwere Wege gefuͤhret habe, da doch seine Heirath so ganz von der Vorsehung veranstaltet worden? — „Ist aber diese Veran- staltung auch wohl wirklich wahr gewesen?“ — fragte er sich: „kann nicht menschliche Schwaͤche, kann nicht Unlauterkeit der Gesinnungen mit im Spiel gewesen seyn?“ Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: er erkannte im Licht der Wahr- heit, daß sein Schwiegervater, seine selige Christine und er selbst damals weder nach den Vorschriften der Religion, noch nach der gesunden Vernunft gehandelt haͤtten, denn es sey des Christen hoͤchste Pflicht, unter der Leitung der Vorse- hung jeden Schritt, und besonders die Wahl einer Person zur Heirath, nach den Regeln der gesunden Vernunft und der Schicklichkeit zu pruͤfen, und wenn dieß gehoͤrig geschehen sey, den Segen von Gott zu erwarten. Das war aber ehe- mals Alles vernachlaͤssigt worden: Christine war ein un- schuldiges, unerfahrenes Maͤdchen, sie liebte Stillingen ins- geheim, hing dieser Liebe nach, betete zu Gott um Erfuͤllung ihrer Wuͤnsche, und so mischte sich Religion und Liebe in ihre hysterischen Zufaͤlle. Das Alles kannten weder ihre El- tern noch Stilling , sie sahen das fuͤr goͤttliche Eingebun- gen und Wirkungen an, und folgten. Zu spaͤt zeigte sich das Unschickliche und Unvorsichtige in den betruͤbten Folgen. Chri- stine hatte kein Vermoͤgen, Stilling noch viel weniger; er mußte mit anderer Leute Geld studiren, konnte nachher nicht kaufmaͤnnisch haushalten, und also weder sich naͤhren, noch Schulden bezahlen; Christine hingegen, welche kauf- maͤnnisch erzogen war, erwartete von ihrem Mann das große Planmaͤßige der Wirthschaft, und hielt nur mit dem Haus, was sie in die Hand bekam; sie haͤtte also jeden Kaufmann gluͤcklich gemacht, aber niemals einen Gelehrten. Doch erkannte Stilling bei dem Allem sehr wohl, daß die schwere zehnjaͤhrige Fuͤhrung, so wie die Schicksale seines ganzen Lebens, seinem Charakter und seiner ganzen Existenz unaussprechlich wohlthaͤtig gewesen waren. Gott hatte seine eigene Unlauterkeit zur Seife gebraucht, um ihn mehr und mehr zu reinigen, auch seine theure verklaͤrte Christine war auf der Feuerprobe bestanden, und auf eben diesem Weg vol- lendet worden. Stilling brach also in lauten Dank aus gegen Gott, daß er Alles so wohl gemacht habe. Diese Entdeckung schrieb er nun auch an Herrn Frieden- berg , allein dieser nahm das uͤbel, er glaubte noch immer, die Sache sey von Gott gewesen, nur er sey an allem Schuld, und er muͤsse sich bessern. Leser! ich bitte instaͤndig, gegen diesen auch nunmehro verklaͤrten edlen Mann keine Bitterkeit zu fassen; er war redlich und fromm, dafuͤr wurde er von allen Menschen erkannt, geliebt und geehrt; allein wie leicht kann der Rechtschaffenste irren — und welcher Heilige im Himmel hat nicht geirrt! Das wollte ihm aber am uͤbelsten einleuchten, daß Stilling wieder zu heirathen entschlossen war. Da nun der erste Versuch, eine Gattin zu finden, mißlun- gen war, so fing Stillings Hausfreund Kuͤhlenbach an, vorzuschlagen: er wuͤßte naͤmlich in S … eine vortreffliche Jungfer, welche ein ziemliches Vermoͤgen haͤtte, und diese, hoffte er, wuͤrde fuͤr Stilling seyn. Das muß ich noch bemerken, daß jetzt Jedermann zu einer reichen Frau rieth, denn man urtheilte, dadurch wuͤrde ihm am ersten geholfen werden, und er selbst glaubte, das sey das beste Mittel, frei- lich schauderte er oft fuͤr sich und seine Kinder, wenn er an eine reiche Gattin dachte, die vielleicht weiter keine gute Ei- genschaften haͤtte; indessen verließ er sich auf Gott: Kuͤh- lenbach zog also die Ostern fort, und auf Pfingsten reiste Stilling nach S …, um den zweiten Versuch zu machen, aber auch dieser nebst dem dritten schlug fehl, denn beide Per- sonen waren versprochen. Jetzt machte Stilling ein großes Punktum hinter diese Bemuͤhungen; es war ganz und gar seine Sache nicht, Koͤrbe zu holen, er trat also mit gebeugtem Herzen vor Gott, und mit dem innigsten kindlichen Vertrauen zu seinem himmlischen Vater sagte er: „Ich uͤbergebe dir, mein Vater! mein Schick- sal ganz, ich habe nun gethan, was ich konnte, jetzt erwarte ich deinen Wink; ist es dein Wille, daß ich wieder heira- rathen soll, so fuͤhre du mir eine treue Gattin zu; soll ich aber einsam bleiben, so beruhige mein Herz!“ Zu der Zeit wohnte die vortreffliche Frau geheime Staats- raͤthin, Sophie von la Roche , mit ihrem Gemahl und noch unverheiratheten Kindern in S.... Stilling hatte sie besucht, da er aber ihre vertraute Freundschaft noch nicht ge- noß, so hatte er ihr von seinem Vorhaben nichts gesagt. Den ersten Posttag nach obigem Gebet und kindlicher Ue- berlassung an die Vorsehung, bekam er ganz unerwartet einen Brief von jener vortrefflichen Dame; er oͤffnete ihn begierig, und fand unter andern mit Erstaunen folgendes: „Ihre hiesigen Freunde sind nicht so vorsichtig gewesen, als „Sie bei mir waren, denn hier ist es eine allgemein bekannte „Sache, daß Stilling da und dort vergebliche Heirathsan- „traͤge gemacht habe. Das aͤrgert mich, und ich wollte, es „waͤre nicht geschehen.“ „Muͤssen Sie durchaus eine vermoͤgende Frau haben, oder „waͤre Ihnen eine meiner Freundinnin recht, die ich Ihnen „nach der Wahrheit schildern will? — Sie ist sehr tugend- „haft, huͤbsch und von einer edlen, alten gelehrten Familie „und vortrefflichen Eltern, der Vater ist todt, aber ihre ver- „ehrungswuͤrdige kraͤnkliche Mutter lebt noch, sie ist ungefaͤhr „23 Jahr alt, und hat viele Leiden erduldet; sie ist sehr wohl „erzogen, zu allen weiblichen Arbeiten ausnehmend geschickt, „eine sehr sparsame Haushaͤlterin, gottesfuͤrchtig und ein Engel „fuͤr Ihre beiden Kinder; sie hat nicht viel Vermoͤgen, wird „aber ordentlich ausgestattet, u. s. w. Ersetzen Ihnen alle „diese Eigenschaften, fuͤr deren Wahrheit ich stehe, etliche tau- „send Gulden, so geben Sie mir daruͤber Nachricht, ich will „sie Ihnen alsdann nennen und sagen, was Sie zu thun „haben, u. s. w.“ Wie es Stilling nach dem Lesen dieses Briefes zu Muthe war, das laͤßt sich nicht beschreiben; vor ein paar Tagen hatte er seine Heirathsangelegenheiten so feierlich an die Vor- sehung uͤbergeben, und nun zeigte sich ihm eine Person, die gerade alle Eigenschaften hatte, wie er sie wuͤnschte. Freilich fiel ihm der Gedanke ein, aber sie hat wieder kein Vermoͤgen, wird also meine Qual nicht fortdauern? — Indessen durfte er jetzt nach seinen Grundsaͤtzen nicht raͤsonniren, sie war der Gegenstand, auf welche der Finger seines Fuͤhrers hinwies; er folgte also, und zwar sehr gerne. Nun zeigte er auch Herrn Siegfried , seiner Gattin und dem lutherischen Prediger nebst seiner Ehefreundin diesen Brief, denn diese vier Perso- nen waren seine innigsten Freunde. Alle erkannten den Wink der Vorsehung sehr lebhaft, und ermahnten ihn, zu folgen. Er entschloß sich also im Namen Gottes, setzte sich hin und schrieb einen sehr verbindlichen Brief an die Frau von la Roche, in welchem er sie bat, ihn mit der theuren Person bekannt zu machen, denn er wollte dem Wink der Vorsehung und ihrem Rath gehorchen. Acht Tage darauf erhielt er Ant- wort; die vortreffliche Frau schrieb ihm: ihre Freundin heiße Selma von St. Florintin , und sey die Schwester des dasigen Rathskonsulenten dieses Namens; alles, was sie ihm von ihr geschrieben habe, sey wahr, sie habe ihr auch seinen Brief gezeigt, ihr nunmehr etwas von der Sache gesagt, und sie habe sich geaͤußert, daß es ihr nicht zuwider sey, wenn sie Stilling einmal besuchte. Die Frau von la Roche rieth ihm also, nach Reichenburg zu reisen, wo sich Selma jetzt in dem Gasthof zum Adler aufhalte, weil der Gasthal- ter dieses Hauses ihr Verwandter sey. Stilling war von jeher in allen seinen Unternehmungen rasch und feurig, flugs nahm er also Extrapost, und fuhr nach Reichenburg , wel- ches eine Tagreise von Rittersburg , und vier Stunden von S.... entlegen war. Er kam also am Abend dort an, und kehrte im gedachten Gasthof ein. Jetzt war er nun in Verlegenheit, er durfte nicht nach der Person fragen, die er suchte, und ohne dieses haͤtte seine Reise leicht vergeblich seyn koͤnnen, indessen hoffte er, sie werde wohl zum Vorschein kommen, und Gott werde seinen Gang ferner leiten. Da es nun noch fruͤh war, so ging er zu einem vertrauten Freunde; diesem entdeckte er sein Vorhaben, und obgleich dieser Freund einen andern Plan mit ihm vorhatte, so gestand er doch ein, daß Selma alles das sey, was ihm die Frau von la Roche geschrieben habe; ja sie sey eher noch mehr als weniger, bei dem Allem aber nicht reich. Stilling freute sich von Her- zen uͤber dieses Zeugniß und antwortete: wenn sie schon nicht reich ist, laßt sie nur eine gute Haushaͤlterin seyn, so wird dennoch Alles gut gehen. Er ging nun wieder in den Gasthof zuruͤck; ohngeachtet aller Aufmerksamkeit aber konnte er nicht das geringste von ihr hoͤren und sehen. Um neun Uhr ging man an die Table d’hôte, die Tischgesellschaft war angenehm und auserlesen, er saß wie im Feuer, denn auch jetzt erschien Selma nicht, ihm wurde weh, und er wußte nicht, was er beginnen sollte. Als es aber endlich zum Desert kam, fing ein ehrwuͤrdiger Greis an, der ihm zur Linken saß: „Mir ist ein artiger Spaß „passirt, ich entschloß mich heute, der Frau von la Roche in „S.... meine Aufwartung zu machen, und da nun unsere „artige Tischgesellschafterin, die Mademoiselle von St. Flo- „rintin (hier spitzte Stilling die Ohren gewaltig) hoͤrte, „daß ich diesen Abend wieder hieher zuruͤckfuͤhre, so ersuchte „sie mich, sie mitzunehmen, weil sie gerne ihren Bruder, den „Herrn Consulenten, besuchen moͤchte. Diese Gesellschaft war „mir sehr angenehm, sie fuhr also diesen Morgen mit mir „nach S...., ging dann zu ihrem Bruder, und ich zur Frau „von la Roche. Des Mittags uͤber Tisch ließ sie mir sagen, „sie ginge mit ihrem Bruder des Weges nach Reichenburg „spazieren, in einem gewissen Dorf wolle sie auf die Kutsche „warten, ich moͤchte also da anhalten, und sie wieder mitneh- „men. Ich sagte das auch dem Kutscher, der aber vergißt „es, und nimmt einen andern Weg, folglich muͤssen wir nun „jetzt ihre Gesellschaft entbehren.“ Nun wurde noch vieles zu Selma’s Ruhm gesprochen, so daß Stilling genug zu hoͤren hatte; jetzt wußte er, was er wissen mußte, sein Gegenstand war in S....; er machte sich also so geschwind als er konnte auf sein Zimmer, nicht zu schlafen, sondern um zu denken; denn er uͤberlegte nun, ob es vielleicht ein Wink der Vorsehung sey, daß er sie nicht angetroffen habe, um ihn wieder von ihr abzuziehen? Er quaͤlte sich die ganze Nacht mit diesem Gedanken, und wußte nicht, ob er geraden Weges wieder nach Hause zuruͤckkehren, oder erst nach S.... gehen sollte, um vorher mit der Frau von la Roche zu sprechen. Endlich behielt letzter Entschluß die Oberhand; er stand also des Morgens um vier Uhr auf, zahlte seine Zeche, und ging zu Fuß nach S...., wo er also den 25sten Junius 1782 des Morgens um acht Uhr ankam. So wie er zur Frau von la Roche ins Zimmer trat, schlug diese die Haͤnde zusammen, und rief ihm mit ihrer unaus- sprechlich holden Miene entgegen: Ei, Stilling ! wo kommst Du her? — Stilling versetzte: Sie haben mich nach Rei- chenburg gewiesen, da ist aber Selma nicht, sie ist hier. — „Hier ist Selma ? — wie geht das zu?“ Nun erzaͤhlte er ihr den ganzen Hergang. „ Stilling ! das ist vortrefflich — das ist ein Wink der „Vorsehung, ich hab’ daruͤber nachgedacht, im Gesthof zu Rei- „chenburg haͤtten Sie sie ja nicht einmal ansehen, geschweige „mit ihr reden duͤrfen, hier aber laͤßt sich Alles machen.“ Diese Worte heiterten ihn voͤllig auf und beruhigten sein Herz. Nun machte Sophie Anstalt zu einer Zusammenkunft: der andere Consulent, der Herr P...., ein Kollege des Herrn v. St. Florintin , nebst seiner Gattin, waren sehr gute Freunde von der Frau von la Roche und auch von Selma ; an diese schrieb sie also ein Billet, in welchem sie ihnen sagte, daß Stilling da sey und sie ersuchte, Selma nebst ihrem Bruder davon zu benachrichtigen, und sie zu bitten, gegen zehn Uhr in ihren Garten zu spazieren, er, der Herr Consu- lent P.... moͤchte dann Stillingen auch dahin abholen. Alles das geschah; die Frau Consulentin P.... holte Selma und ihren Bruder, und Herr P.... Stillingen ab. Wie ihm auf dem Wege zu Muthe war, das weiß Gott. P.... fuͤhrte ihn also zum Thore hinaus, und linker Hand an die Mauer fort, gegen Mittag, in einen sehr schoͤnen Baumgar- ten mit Nebengelaͤnder und einem schoͤnen Gartenhause. Die Sonne schien am unbewoͤlkten Himmel, und es war einer der schoͤnsten Sommertage. Bei dem Eintritt sah er dort Selma mit einem gelb- roͤthlichen seidenen Kleide und einem schwarzen Binsenhut be- kleidet, voller Unruh unter den Baͤumen wandeln, sie rang die Haͤnde mit aͤusserster Gemuͤthsbewegung; an einem an- dern Ort ging ihr Bruder mit der Frau Consulentin umher. So wie sich Stilling naͤherte und sich ihnen zeigte, stellten sich alle in Positur, ihn zu empfangen. Nachdem er rund umher ein allgemeines Kompliment gemacht hatte, trat er zu Selma’s Bruder. Dieser Herr hatte ein majestaͤtisches, sehr schoͤnes Ansehen, er gefiel ihm bei dem ersten Anblick aus der Maßen, er trat also zu ihm, und sagte: „Herr „Consulent, ich wuͤnsche Sie bald Bruder nennen zu koͤn- nen!“ — Diese Anrede, die nur Stilling thun konnte, mußte einen Mann von so feiner Erziehung und Weltkenntniß nothwen- dig frappiren; er buͤckte sich also, laͤchelte und sagte: Ihr ge- horsamer Diener, Herr Professor! das wird mir eine Ehre seyn. Nun ging P.... und seine Gattin und von Florintin schleunig fort ins Gartenhaus, und ließen Stilling und Selma allein. Jetzt trat er zu ihr, praͤsentirte ihr seinen Arm, und fuͤhrte sie langsam vorwaͤrts; eben so gerade und ohne Umschweife sagte er zu ihr: „Mademoiselle! Sie wissen, wer ich bin, „(denn sie hatte seine Geschichte gelesen) Sie wissen auch „den Zweck meiner Reise, ich habe kein Vermoͤgen, aber hin- „laͤngliches Einkommen und zwei Kinder, mein Charakter ist „so, wie ich ihn in meiner Lebensgeschichte beschrieben habe; „koͤnnen Sie sich entschließen, meine Gattin zu werden, so „halten Sie mich nicht lange auf, ich bin gewohnt, ohne „Umschweife zum Ziel zu eilen, ich glaube, Ihre Wahl wird „Sie nie gereuen, ich fuͤrchte Gott, und werde suchen, Sie „gluͤcklich zu machen.“ Selma erholte sich aus ihrer Bestuͤrzung; mit einer un- aussprechlich holden Miene schlug sie ihre geistvollen Augen empor, reckte die rechte Hand mit dem Faͤcher in die Hoͤhe, und sagte: Was die Vorsehung will — das will ich auch ! Indem kamen sie auch im Gartenhause an; hier wurde er nun besehen, ausgeforscht, gepruͤft und auf allen Seiten beleuchtet. Nur Selma schlug die Augen nieder, und sagte kein Wort. Stilling stellte sich ungeschminkt dar, wie er war, und heuchelte nicht. Jetzt wurde nun die Abrede ge- nommen, daß Selma mit ihrem Bruder, Nachmittags nach Tische, zur Frau von la Roche kommen, und daß alsdann weiter von der Sache geredet werden sollte. Damit ging Je- der wieder nach Hause. Sophie fragte gleich beim Eintritt ins Zimmer: wie hat Ihnen meine Selma gefallen? „Vortrefflich! sie ist ein Engel!“ Nicht wahr? ich hoffe, Gott wird sie Ihnen zufuͤhren. Nach Tische wurde nun Selma sehnlich erwartet, aber sie kam nicht. Sophie und Stilling geriethen in Angst, Beiden drangen die Thraͤnen in die Augen; endlich that die vortreffliche Frau einen Vorschlag: wenn allenfalls Selma nicht einwilligen wuͤrde, der ihre Engelsseele ganz zeigte, wie sie ist; allein Bescheidenheit und andere wichtigen Gruͤnde verbieten mir, ihn zu entdecken. In dem Zeitpunkt, als Stillings Angst aufs hoͤchste gestiegen war, trat Herr von St. Florintin mit seiner Schwester zur Thuͤre herein. Sophie griff den Consulenten am Arm, und fuͤhrte ihn ins Nebenzimmer, und Stilling zog Selma neben sich auf den Sopha. War das Kaltsinn, oder was wars, fing er an, daß Sie mich so aͤngstlich harren ließen? „Nicht Kaltsinn — (die Thraͤnen traten ihr in die Augen) „ich mußte in eine Visite gehen, und da wurde ich aufgehal- „ten; meine Empfindung — ist unaussprechlich.“ Sie entschließen sich also wohl, die Meinige zu werden? „Wenn meine Mutter einwilligt, so bin ich ewig die Ihrige!“ Ja, aber Ihre Frau Mutter? „Die wird nichts einwenden.“ Mit unaussprechlicher Freude umarmte und kuͤßte er sie, und indem trat Sophie mit dem Consulenten ins Zimmer. Diese standen da, schauten hin und starrten! So weit sind Sie schon? rief Sophie mit hoher Freude. Ja! — Ja! im Arm fuͤhrte er sie ihr entgegen. Nun umfaßte die erhabene Seele Beide, schaute in die Hoͤhe, und sagte mit Thraͤnen und innigster Bewegung: „Gott „segne euch, meine Kinder! mit himmlischer Wonne wird „die verklaͤrte Christine jetzt auf ihren Stilling herabse- „hen, denn sie hat dir, mein Sohn, diesen Engel zum Weibe „erbeten.“ Dieser Auftritt war Herz und Seelen erschuͤtternd; Sel- ma’s Bruder hing sich auch an diese Gruppe an, weinte, segnete, und schwur Stillingen ewige Brudertreue. Nun setzte sich Sophie , sie nahm ihre Selma auf ihren Schooß, die ihr Gesicht in Sophiens Busen verbarg, und ihn mit Thraͤnen netzte. Endlich ermannten sich Alle; Stillings Zug zu dieser vortrefflichen Seele, seiner nunmehrigen Braut, war unbe- graͤnzt, ob er gleich ihre Lebensgeschichte noch nicht wußte. Sie hingegen erklaͤrte sich, sie empfinde eine unbeschreibliche Hochachtung und Ehrfurcht gegen ihn, die sich bald in herz- liche Liebe verwandeln wuͤrde, dann trat sie hin, und sagte mit Wuͤrde: „Ich werde bei Ihren Kindern Ihre selige „ Chri- „stine so ersetzen, daß ich sie ihr an jenem Tage getrost wie- „der zufuͤhren kann. Jetzt schieden sie von einander; Selma fuhr noch diesen Abend nach Reichenburg , von da wollte sie nach Kreuz- nach zu ihrer Mutter Schwester reisen, und dort ihre Braut- tage verleben. So wie sie fort war, schrieb Stilling noch einen Brief an sie, der ihr des andern Tages nachgeschickt wurde, und nun reiste auch er froh und vergnuͤgt nach Rit- tersburg zuruͤck. Als er nun wieder allein war und den ganzen Vorfall genau uͤberlegte, so fielen ihm seine vielen Schulden zentner- schwer aufs Herz — davon er seiner Selma kein Wort entdeckt hatte; das war nun zwar sehr unrecht, ein in Wahr- heit unverzeihlicher Fehler, wenn man das einen Fehler nen- nen will, was moralisch unmoͤglich ist. Selma kannte Stil- lingen nur aus seinen Schriften und aus dem Geruͤcht, sie sah ihn an dem Tage, da sie sich mit ihm versprach, das Erstemal, hier fand das, was man zwischen jungen Leuten Liebe heißt, nicht statt, der ganze Vorgang war Entschluß, Ueberlegung, durch vernuͤnftige Vorstellung entstandenes Re- sultat; haͤtte er nun Etwas von seinen Schulden gesagt, so waͤre sie gewiß zuruͤckgeschaudert; dieß fuͤhlte Stilling ganz — aber er fuͤhlte auch, was eine Entdeckung von der Art alsdann, wenn er sie nicht wieder zuruͤckziehen konnte, fuͤr Folgen haben wuͤrde. Er war also in einem erschrecklichen Kampf mit sich selbst, fand sich aber zu schwach, die Sache zu offenbaren. Indessen erhielt er den ersten Brief von ihr; er erstaunte uͤber den Geist, der ihn ausgeboren hatte, und ahnete eine gluͤckliche Zukunft; Freiheit der Empfindung ohne Empfindelei, Richtigkeit und Ordnung im Denken, wohlgefaßte und reife Entschluͤsse herrschte in Jeder Zeile, und Jeder, dem er den Brief zu lesen anvertraute, pries ihn selig. Indessen kam die Einwilligung von der Frau Kammerdirek- torin von St. Florintin , sie wurde Stillingen bekannt gemacht, und nun war Alles richtig. Er reiste also nach Kreuznach zu seiner Braut, um einige Tage bei ihr zuzu- bringen und sich naͤher mit ihr bekannt zu machen. Jetzt lernte er sie nun recht kennen, und fand, in welchem Ueber- maße fuͤr alle seine bisherigen schweren und langwierigen Leiden er von der ewigen Vaterliebe Gottes sey belohnet worden; seine Schulden aber konnte er hier unmoͤglich entdecken, er betete also unablaͤßig zu Gott, daß er doch die Sache so wenden moͤchte, damit sie ein gutes Ende gewinnen moͤge. Die Frau Tante war auch eine sehr wuͤrdige, angenehme Frau, die ihn recht lieb gewann, und sich dieses Familienzu- wachses freute. Nahe bei dieser Tante wohnte ein Kaufmann Namens Schmerz , ein Mann von vielem Geschmack und Kenntnis- sen. Dieser hatte Stillings Geschichte gelesen, er war ihm also merkwuͤrdig; daher lud er ihn einstmals an einem Abend mit seiner Braut und der Tante in seinen schoͤnen und vie- len Kennern wohlbekannten Garten ein. Dieser liegt an der Nordwestseite der Stadt, ein Theil des alten Stadtgrabens ist dazu benutzt worden. Wenn man nordwaͤrts zum Lin- ger Thor hinausgeht, so trifft man alsofort eine Thuͤre an, so wie man hineintritt, kommt man an ein Buschwerk; lin- ker Hand hat man einen erhabenen Huͤgel, und rechts etwas tiefer einen Rasenplatz mit einer Bauernhuͤtte. Dann wan- delt man einen ebenen Fußsteig zwischen den Buͤschen allmaͤh- lig hinab ins Thal, und nun stoͤßt man auf einen Pump- brunnen, bei welchem sich ein Ruhesitz in einer Laube befin- det. Auf einer Tafel, die hier aufgehangen ist, steht folgender Reim vom seligen Herrn Superintendenten Goͤtz zu Win- terberg eingegraben: Immer rinnet diese Quelle, Niemals plaudert ihre Welle; Komm’, Wandrer, hier zu ruhn, Und lern’ an dieser Quelle Stillschweigend Gutes thun. Dann kehrt man sich nordwaͤrts quer uͤber in die Mitte des Thals, wandelt dann zwischen Blumen und Gemuͤßbeeten etwas durch dasselbe fort, und nun fuͤhrt der Weg ganz nord- waͤrts an eine steile Felsenwand, in welche eine zierliche Kam- mer eingehauen ist, und deren Waͤnde mit allerhand Gemaͤl- den uͤberzogen sind, hier steht ein Kanapee mit Stuͤhlen und einem Tisch. Wenn man aus dieser Felsenkluft wieder heraustritt, so kommt man nun in einen langen geraden Gang, der durch groͤßere Baͤume und Gestraͤuche fortfuͤhrt, sich gegen Suͤdwe- sten richtet, und oben auf einen Quergang mit Rasensitzen stoͤßt, hinter diesen Sitzen steigt ein Wald von italienischen Pappeln ungemein reizend in die Hoͤhe, der sich oben an die alte Stadtmauer und an ein Gebaͤude anschließt; unten in diesem Walde, nahe hinter der Rasenbank, guckt eine schoͤne, aus einem grauen Sandstein gehauene Urne aus dem Gebuͤsche hervor. Diese Urne sieht man, sobald man aus der Felsen- kammer herab in den großen Gang eintritt; auf dem Wege durch diesen Gang trifft man linker Hand, gegen die Huͤgel zu, ein Grabmahl mit Ruhesitzen und Inschriften an, rechter Hand aber fuͤhrt ein kleiner Fußpfad zu des Diogenes Faß, welches groß genug ist, um darinnen allerhand Betrach- tungen anzustellen; von hier fuͤhrt ein steiler Fußpfad west- waͤrts hinauf, zu einer verdorrten hohlen Eiche, in welcher ein Einsiedler in Lebensgroͤße mit einem langen Bart an einem Tischchen sitzt, und dem, der die Thuͤr oͤffnet, ein Kom- pliment macht. Dann fuͤhrt der Pfad linker Hand, oberhalb dem Pappel- wald, zwischen diesem und der Stadtmauer herum, auf dem suͤdlichen, allenthalben in seinen Abhaͤngen mit Gebuͤschen verwachsenen Huͤgel; auf demselben befinden sich nun Garten- beete, Nebengelaͤnder in dunkle gewoͤlbte Gaͤnge gebildet; eine Eremitage, eine Schaukel, Baͤnke und Stuͤhle von mancher- lei Art u. dergl. Dann stehen zwei von Erde und Rasen hoch aufgefuͤhrte Pyramiden da, deren jede oben eine Altane hat, zu welchen man auf einer Treppe hinaufsteigt: hier ist nun die Aussicht uͤber die Stadt, das Nobthal und die vorbeistroͤmende Nob uͤberirdisch; damals schritt ein schrecklich langbeinigter zahmer Storch um den Fuß dieser Pyramiden herum. In diesem reizenden Aufenthalt hatte Schmerz , wie oben gemeldet, Stilling, Selma und die Tante auf einen Abend eingeladen. Nachdem sie nun genug herumgewandelt, alles besehen hatten, und es nun ganz dunkel geworden war, so fuͤhrte man sie in die Felsenkluft, wo sie mit Erfrischungen bedient wurden, bis es voͤllig Nacht war; endlich trat Schmerz herein und sagte: Freunde! kommen Sie doch einmal in den Garten, um zu sehen, wie die Nacht alles verschoͤnert! Alle folgten ihm, Stilling ging voran, zu seiner Linken Schmerz und zur Rechten Selma , die andern folgten nach. So wie sie in den langen Gang eintraten, uͤberraschte sie ein Anblick bis zum hoͤchsten Erstaunen; die Urne, oben im Pappelwaͤld- chen, war mit vielen Laͤmpchen erleuchtet, so daß der ganze Wald wie gruͤnes Gold schimmerte. Der Schmerz hatte Stillingen seine Urne er- leuchtet, und neben ihm wandelte nun seine Sa- lome Salome heißt Friede — Friedenreich. , die Verkuͤnderin eines zukuͤnftigen ho- hen Friedens !!! Schoͤner! schoͤner, ruͤhrender Gedanke ! Als nun Alle ihre frohen Verwunderungsausrufe geendigt hat- ten, so begann hinter der Urne aus dem Dunkel des Waldes her, mit unvergleichlich reinen blasenden Instrumenten, eine ruͤhrende Musik, und zwar die vortreffliche Arie aus Zemire und Azor , welche hinter dem Spiegel gesungen wird; zu- gleich war der Himmel mit Gewitterwolken uͤberzogen, und es donnerte und blitzte dazwischen. Stilling schluchzte und weinte, die Scene war fuͤr seine Seele und fuͤr sein Herz zu gewaltig, er kuͤßte und umarmte bald Schmerzen , bald seine Selma , und floß vor Empfindung uͤber. Jetzt entdeckte er wieder etwas Neues an seiner Braut, sie fuͤhlte das Alles auch, war auch geruͤhrt; aber sie blieb ganz ruhig, ihre Empfindung war kein herabstuͤrzender Felsenstrom, sondern ein ruhig fortrieselnder Bach im Wiesenthal. Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 27 Zwei Tage vor seiner Abreise von Krenznach saß er des Morgens mit der Tante und seiner Braut im Vorhause; jetzt trat der Brieftraͤger herein, und uͤberreichte einen Brief an Selma ; sie nahm ihn an, erbrach ihn, las, und ent- faͤrbte sich; dann zog sie die Tante mit sich fort in die Stube, kam bald wieder heraus, und ging hinauf auf die Schlafkam- mer. Jetzt kam auch die Tante, setzte sich neben Stilling und entdeckte ihm, daß Selma von einem Freunde einen Brief empfangen habe, in welchem ihr bekannt gemacht wor- den, daß er in vielen Schulden stecke; dieß sey ihr aufgefal- len, er moͤchte also geschwinde zu ihr hinaufgehen und mit ihr sprechen, damit sie nicht wieder ruͤckfaͤllig wuͤrde, denn es gebe viele brave Maͤnner, die dieses Ungluͤck haͤtten, so Etwas muͤsse keine Trennung machen, u. s. w. Jetzt stieg Stilling mit einer Empfindung die Treppe hinauf, die der- jenigen voͤllig gleich ist, womit ein armer Suͤnder vor den Richter gefuͤhrt wird, um sein Urtheil zu hoͤren. Als er ins Zimmer hereintrat, so saß sie an einem Tisch- chen, und lehnte den Kopf auf ihre Hand. Verzeihen Sie, meine thenerste Selma ! fing er an, daß ich Ihnen von meinen Schulden nichts gesagt habe, es war mir unmoͤglich, ich haͤtte Sie ja dann nicht bekommen, Ihr Besitz ist mir unentbehrlich; meine Schulden sind nicht aus Pracht und Verschwendung, sondern aus aͤusserster Noth ent- standen; ich kann viel verdienen, und bin unermuͤdet im Ar- beiten, bei einer ordentlichen Haushaltung werden sie in eini- gen Jahren getilgt seyn, und sollte ich sterben, so kann ja Niemand Forderung an Sie machen — Sie muͤssen sich also die Sache so vorstellen, als wenn Sie jaͤhrlich einige hundert Gulden weniger Einnahme haͤtten, weiter verlieren Sie nichts dabei, mit tausend Gulden kommen Sie in der Haushaltung fort, und das uͤbrige verwende ich dann zu Bezahlung der Schulden. Indessen, liebe, theure Seele! ich gebe Sie in dem Augenblick frei; und wenn es mich auch mein Leben kosten sollte, so bin ich doch nicht faͤhig, Sie bei Ihrem Wort zu halten, sobald es Sie reuet. Damit schwieg er still und erwartete sein Urtheil. Mit innigster Bewegung stand sie jetzt auf, blickte ihn mit holder und durchdringender Miene an, und antwortete: „ Nein , ich verlasse Stillingen nicht — Gott hat mich „dazu bestimmt, daß ich Ihre Last mit Ihnen tragen soll — „Wohlan! — ich thue es gerne, haben Sie guten Muth, „auch das werden wir mit Gott uͤberwinden.“ Wie es jetzt Stilling war, das laͤßt sich kaum vorstellen, er weinte, fiel ihr um den Hals und rief: Engel Gottes! Nun stiegen sie Hand in Hand die Treppe herunter, die Tante freute sich innig uͤber den gluͤcklichen Ausgang dieser verdrießli- chen und gefaͤhrlichen Sache, sie troͤstete Beide suͤß und aus Erfahrung. Wie weise leitete jetzt wieder die Vorsehung Stillings Schicksal! — sage mir Einmal, daß sie nicht Gebete erhoͤrt! — eine fruͤhere Entdeckung haͤtte Alles wieder zerschlagen, und eine spaͤtere vielleicht Verdruß gemacht. Jetzt war gerade die rechte Zeit. Stilling reiste nun wieder ruhig und vergnuͤgt nach Rit- tersburg zuruͤck, und machte Anstalten zur Vollziehung sei- ner Heirath, welche bei der Tante zu Kreuznach vor sich gehen sollte. Den Raum, vom jetzigen Zeitpunkt bis dahin, will ich in- dessen mit Selma’s Lebensgeschichte ausfuͤllen. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts lebten in Frankreich zwei Bruͤder, beide von uraltem italienischen Adel, sie nannten sich Ritter von St. Florintin , genannt Tan- sor . Einer von ihnen wurde Hugenotte, und mußte deßwegen fluͤchtig werden ohne Hab und Gut; ohne Vermoͤgen nahm er seine Zuflucht ins Hessische, wo er sich zu Ziegenhain nie- derließ, eine Handlung anfing, und eine ehrbare Jungfrau buͤr- gerlichen Standes heirathete; einer seiner Soͤhne, oder gar sein einziger Sohn, studirte die Rechtsgelehrtheit, wurde ein großer thaͤtiger rechtschaffener Mann, und Syndikus in der Reichsstadt Worms ; hier uͤberfiel ihn am Ende des vorigen Jahrhunderts 27 * das große Ungluͤck, daß er bei Verheerung dieser Stadt, durch die Franzosen, seine in der Asche liegende Wohnung mit seinem Weibe und vielen Kindern mit dem Ruͤcken ansehen mußte. Er zog also nach Frankfurt am Main , wo er abermal Syn- dikus, vieler Reichsstaͤdte Rath, und ein großer ansehnlicher Mann wurde. Unter seinen vielen Soͤhnen war einer ebenfalls ein geschickter Rechtsgelehrter, welcher in Marburg eine zeit- lang eine Regierungs-Assessorstelle bekleidete, und nachher den Ruf als Kanzleidirektor zu Usingen annahm. Ein Sohn von diesem, Namens Johann Wilhelm , war der Vater unsrer Selma ; erstlich bediente er eine Kammeraths- stelle zu W...., und wurde hernach als Kammerdirektor ins Fuͤrstenthum Nothingen in Ober-Schwaben berufen. Er war ein Mann von durchdringendem Verstand, feurigen Ent- schluͤssen, rascher Ausfuͤhrung und unbestechlicher Redlichkeit, und da er bestaͤndig am Hofe lebte, so war er auch zugleich ein sehr feiner Weltmann, und sein Haus war ein Lieblings- aufenthalt der edelsten und besten Menschen. Seine Gattin war ebenfalls edel, gutherzig, und von sehr feinen Sitten. Diese Eheleute hatten fuͤnf Kinder, zwei Soͤhne und drei Toͤch- ter, welche auch noch Alle leben; alle Fuͤnfe beduͤrfen meines Lobes nicht, sie sind vortreffliche Menschen. Die aͤlteste Toch- ter hat einen Rath und Amtmann im Fuͤrstenthum U…, der aͤlteste Sohn ist Consulent in S…, der zweite Sohn Kam- merrath zu Nothingen , die zweite Tochter hat einen braven Prediger in Franken, und das juͤngste Kind ist Selma . Der Kammer-Direktor von St. Florintin hatte sein ehr- liches Auskommen, aber er war zu redlich, um Schaͤtze zu sam- meln; als er daher im Jahr 1776 ploͤtzlich starb, so fand seine Wittwe wenigen Vorrath, sie empfing zwar einen Gna- dengehalt, womit sie auskommen konnte, und alle ihre Kinder waren versorgt, nur Selma noch nicht: fuͤr diese fanden sich auch zwar allerhand Anschlaͤge, allein sie war erst im sechzehn- ten Jahre, und uͤber das gefielen ihr alle diese Versorgungsmit- tel nicht. Nun hatten sie ehemals eine sehr reiche weitlaͤufige Anver- wandtin gehabt, welche in ihrem 50sten Jahre einen jungen Cavalier von 27 Jahren geheirathet hatte; dieser wohnte jetzt in Niedersachsen auf ihren Guͤtern in einem sehr schoͤnen Schloß. Die St. Florintinische Familie wußte indessen von dieser Frau weiter nichts, als alles Gute; da nun diese Dame, welche zugleich Selma’s Pathe war, den Tod des Kammer-Direktors erfuhr, so schrieb sie im Jahr 1778 an die Wittwe, und bat sie, ihr ihre Selma zu schicken, sie wolle fuͤr sie sorgen und sie gluͤcklich machen. Die Frau von St. Florintin konnte sich fast unmoͤglich entschließen, ihre so zaͤrtlich geliebte Tochter uͤber 70 deutsche Meilen weit wegzuschicken; indessen, da ihr alle ihre Freunde und Kinder ernstlich dazu riethen, so ergab sie sich endlich. Selma kniete vor ihr hin, und die ehrwuͤrdige Frau gab ihr unter tausend Thraͤnen ihren Segen. Im Oktober des 1778. Jahres reiste sie also, unter sicherer Begleitung, nach Nieder- sachsen, und sie war gerade in Frankfurt, als Stilling mit Frau und Kindern hier durch, und von Schoͤnenthal nach Rit- tersburg zog. Nach einer langen und beschwerlichen Reise kam sie endlich auf dem Schlosse der Frau Obristin , ihrer Pathe, an; ihr Gemahl war in Amerika , und dort todt geblieben. Hier merkte sie aber bald, daß sie ihre Erwartung getaͤuscht hatte, denn sie wurde auf allerlei Weise mißhandelt. Dieß war eine hohe Schule, und eine harte Pruͤfung fuͤr das gute Maͤdchen. Sie war gut erzogen, Jedermann hatte ihr schoͤn gethan, und hier hatte Niemand Gefuͤhl fuͤr ihre Talente; zwar gabs Leute genug, die sie schaͤtzten, allein die konnten sie nur troͤsten, aber ihr nicht helfen. Dazu kam noch eine Geschichte: ein junger Cavalier machte ihr ernstliche Heiraths-Antraͤge, diese nahm sie an, die Heirath wurde zwischen beiderseitigen Familien beschlossen, und sie war wirklich seine Braut. Nun verreiste er, und auf dieser Reise trug sich etwas zu, das ihn von Selma wieder abzog; die Sache zerschlug sich. Ich verschweige die wahre Ursache dieser Untreue, der große Tag wird sie entwickeln. Nach und nach stiegen die Leiden der guten frommen Seele aufs hoͤchste, und zugleich erfuhr sie, daß ihre Pathe weit mehr Schulden als Vermoͤgen habe; jetzt hatte sie keine Ur- sache mehr zu bleiben, sie beschloß also, wieder zu ihrer Mut- ter zu ziehen. Die Bescheidenheit verbietet mir, umstaͤndlicher in der Be- schreibung ihrer Leiden und Auffuͤhrung zu seyn; duͤrfte ich es wagen, Alles zu sagen, so wuͤrden meine Leser erstaunen. Aber sie lebt, und erroͤthet schon uͤber das, was ich doch noth- wendig, als Stillings Geschichtschreiber, sagen muß. Zugleich wurde sie auch noch kraͤnklich; es schien, als wenn ihr der Kummer eine Auszehrung zuziehen wuͤrde. Doch be- gab sie sich auf die Reise, nachdem sie zwei Jahre im Ofen des Elends ausgehalten hatte. Zu Cassel aber blieb sie im Hause eines vortrefflichen frommen und rechtschaffenen Freun- des, des Herrn Regierungsraths M… liegen, drei viertel Jahr hielt sie sich daselbst auf, waͤhrend welcher Zeit sie gaͤnz- lich wieder kurirt wurde. Nun reiste sie weiter, und kam endlich zu ihrem Bruder nach S…, wo sie sich abermals eine geraume Zeit aufhielt. Hier fanden sich zwar verschiedene Gelegenheiten zur anstaͤn- digen Versorgung, aber Alle waren ihr nicht recht; denn ihre hohen Begriffe von Tugend, von ehelicher Liebe, und von Aus- breitung des Wirkungskreises, fuͤrchtete sie bei allen diesen Anschlaͤgen vereitelt zu sehen; sie wollte also lieber zu ihrer Mutter ziehen. Nun besuchte sie die Frau von la Roche oft, und sie war auch gerade zugegen, als der verehrungswuͤrdigen Dame er- zaͤhlt wurde, daß Stilling daselbst Anschlaͤge zum Heirathen gemacht haͤtte; Selma bezeigte einen Unwillen uͤber dieses Geschwaͤtz, und verwunderte sich, als sie hoͤrte, daß Stil- ling in der Naͤhe wohne. Jetzt fiel der Frau von la Roche der Gedanke ein, daß sich Selma fuͤr Stilling schicke; sie schwieg also still, und schrieb den ersten Brief an ihn, wor- auf er alsofort antwortete: als sie diese Antwort erhielt, war Selma gerade in Reichenburg. Sophie uͤbergab also Stil- lings Entschluß der Frau Consulentin P.... ihrer beidersei- tigen Freundin. Diese eilte sofort nach Reichenburg, und traf des Morgens fruͤh ihre Freundin noch im Bett an, ihre Augen waren naß von Thraͤnen, denn heute war ihr Geburts- tag, und sie hatte gebetet und Gott gedankt. Nun uͤberreichte ihr die Consulentin Stillings Brief nebst einem Schreiben von Sophien , in welchem sie ihr muͤtterlichen Rath gab. Selma schlug diese Gelegenheit nicht aus, und sie erlaubte Stillingen zu kommen. Das Uebrige wissen meine Leser. Endlich waren alle Sachen gehoͤrig berichtigt, und Stil- ling reiste den 14. August 1782 nach Kreuznach , um sich mit seiner Selma trauen zu lassen. Bei seiner Ankunft merkte er die erste Zaͤrtlichkeit an ihr; sie fing nun an, ihn nicht blos zu schaͤtzen, sondern sie liebte ihn auch wirklich. Des folgenden Tages, als den 16., geschah die Einsegnung im Hause der Tante, in Gegenwart einiger wenigen Freunde, durch den Herrn Inspektor W…, welcher ein Freund Stil- lings , und uͤbrigens ein vortrefflicher Mann war; die Rede, welche er bei dieser Gelegenheit hielt, ist in die gedruckte Samm- lung seiner Predigten mit eingeruͤckt worden; dem ungeachtet aber steht sie auch hier am rechten Orte. Sie lautet von Wort zu Wort also: „Es sind der Vergnuͤgungen viele, womit die ewige Vor- sicht den Lebensweg des Mannes bestreuet, der Sinn und Gefuͤhl fuͤr die Freuden der Tugend hat; wenn wir inzwi- schen alle diese Vergnuͤgungen gegen einander abwiegen, und Geist und Herz den Ausspruch thun lassen, welche von ihnen den Vorzug verdienen, werden sie schnell und sicher fuͤr die- jenigen entscheiden, wodurch die suͤßen und edlen Triebe der Geselligkeit befriedigt werden, welche der Schoͤpfer gegen uns verwandte Mitgeschoͤpfe, in unsere Seele gepflanzet hat. Ohne einen Freund zu haben, dem wir unser ganzes Herz oͤffnen, und in dessen Schoß wir unsere allergeyeimsten Sorgen als ein unverletzliches Heiligthum niederlegen duͤrfen, der an un- sern gluͤcklichen Begebenheiten Antheil nimmt, unsere Bekuͤm- mernisse mit uns theilet, durch sein Beispiel uns zu edlen Tugendthaten anfeuert, durch liebreiche Erinnerungen uns von Irrwegen und Fehltritten zuruͤckruft, in guten Tagen uns mit weisem Rath unterstuͤtzt, zur Leidensstunde unsere Thraͤ- nen abtrocknet, ohne einen solchen Freund zu haben, was waͤr unser Leben? Und doch muß das Vergnuͤgen der allervoll- kommensten Freundschaft demjenigen weichen, welches dem tugendhaften Manne die eheliche Verbindung mit einem tu- gendhaften Weibe gewaͤhrt. „Da ich nun heute das Gluͤck haben soll, ein so seliges Band durch das heilige Siegel der Religion zu befestigen, werden Sie, meine hochzuverehrenden Zuhoͤrer! mir erlauben, daß ich, ehe ich meine Haͤnde auf die zusammengeschlagenen Haͤnde meines verehrungswuͤrdigsten Freundes und der kuͤnf- tigen liebenswuͤrdigen Gefaͤhrtin seines Lebens lege, Sie mit einer kurzen Abschilderung von den reinen Freuden der eheli- chen sanften Freundschaft unterhalte, welche durch religioͤse Gesinnungen und edle Tugendliebe der Verbundenen gehei- ligt ist. „Herrlich und an seligen Wonnegefuͤhlen reich, ist der Bund, den der fromme und edeldenkende Juͤngling mit dem leiblichen Gefaͤhrten seiner bluͤhenden Jahre aufrichtet. Mitten unter dem Gedraͤnge einer Welt, die sich aus kindischer Eitelkeit verbindet, und aus niedrigem Eigennutz wieder trennt, ent- deckt der fuͤhlbare Juͤngling eine schoͤne Seele, die ihn durch einen unwiderstehlichen Zug einer edlen Sympathie zur innig- sten Vereinigung und suͤßesten Bruderliebe einladet. Ein gleich- gestimmtes Herz, voll unverderbter Naturempfindung, aͤhnliche Neigung fuͤr das, was schoͤn und gut, und edel und groß ist, fuͤhrte sie zusammen; sie sehen einander, und freundliches Zu- trauen schwebt auf ihrem Angesicht; sie sprechen einander und zusammenstimmen ihre Gedanken, und gegen einander oͤffnen sich ihre Herzen, und eine Seele zieht die andere an sich; schon kennen sie sich, und schwoͤren, Hand in Hand, sich ewig zu lieben: aber David und Jonathan lieben in einer Welt, worin Verhaͤltnisse, die uns heilig und ehrwuͤrdig seyn muͤssen, oft die suͤßesten Freundschaftsbuͤnde aufloͤsen, oft freudenlos, oder wohl gar zu einem Anlaß schmerzhafter Empfindungen machen. Jonathan hat ihn aufgerichtet, den Bund der heiligen Freundschaft mit dem unschuldsvollen Knaben Isai , und nun ist ihm der Juͤngling mehr als ein Bruder, denn er liebte ihn, wie die heilige Geschichte sagt, als seine eigene Seele. Gluͤcklicher Jonathan ! koͤnntest du deinem Koͤnig und Vater nur einen geringern Theil der zaͤrt- lichen Werthhaltung fuͤr den Liebling deines Herzens mitthei- len: Vergebens! der Zorn Sauls verfolgte den schuldlosen David , und das sanfte und das tugendhafte Herz des Soh- nes und Freundes bemuͤhet sich umsonst, die heiligen Pflichten der kindlichen Liebe mit den Pflichten der treuesten und zaͤrtlichen Freundschaft zu vereinigen. Wer kann die Geschichte der beiden Edlen lesen, sie bei dem Stein Asel , in jener bittern Abschiedsstunde, sich einander herzen und weinen sehen, ohne nicht Thraͤnen mit ihnen zu vergießen? Und wie oft ist dieß das Loos der erhabendsten und großmuͤthigsten Seelen! Mag ihr Freundschaftsbund sich immer auf die reinste und tugendhafteste Zueignung gruͤnden, sie koͤnnen solchen harten Zwang der Verhaͤltnisse nicht aufheben, die einer guten Men- schenseele heilig sind. Der Befehl eines Vaters, gegen einan- der streitenden Familienabsichten, je zuweilen einerlei Wuͤnsche, die, ob sie gleich von Seiten eines Jeden gerecht sind, doch nur fuͤr Einen koͤnnen erfuͤllt werden, trennen manchmal in dieser Welt der Unvollkommenheit die allerzaͤrtlichsten Freund- schaftsverbindungen, oder zerreißen das Herz, um einer be- sorglichen Trennung auszuweichen. „Nicht so mit der Freundschaft, die zwischen edlen Seelen durch das heilige und unverletzliche Band der Ehe gestiftet wird: ihre huldvollen Freuden sind dieser Erschuͤtterung nicht unterworfen. Nur der Tod kann ihn aufheben, den Bund, welchen die Flamme der zaͤrtlichsten Liebe aufgerichtet und feier- liche Geluͤbde an dem heiligen Altar der Religion versiegelt haben. Die Verhaͤltnisse und Absichten, die Wuͤnsche und Be- muͤhungen des Liebenden und der Geliebten sind eben dieselben; die Verwandtschaft des Mannes ist Verwandtschaft des Wei- bes, seine Ehre ihre Ehre, sein Vermoͤgen ihr Vermoͤgen. „Das unschuldige und mit sanften edlen Trieben erfuͤllte Herz der fromm gewaͤhlten Gattin findet in dem Manne, der Gott und die Tugend liebt, einen sichern Gefaͤhrten auf der Reise des Lebens, einen treuen Rathgeber in verlegenen Um- staͤnden, einen muthigen Beschuͤtzer in Gefahren, einen groß- muͤthigen, bis in den Tod bestaͤndigen Freund. Was er zum Besten der Welt, des Vaterlandes, seines Hauses wirkt, das hat Alles einen wohlthaͤtigen Einfluß auf das Gluͤck und die Freuden des Weibes, dem er mit seiner Hand auch sein Herz geschenkt hat. Von der Arbeit des Tages ermuͤdet, eilt er zu der suͤßen Gesellschafterin seines Lebens, theilt ihr die gesam- melten Erfahrungen und Kenntnisse mit, sucht eine jede her- vorschießende Bluͤthe ihres Geistes zu entwickeln, jedem schuͤch- ternen Wunsch ihres liebevollen Herzens zuvorzukommen, ver- gißt gern die nagenden Sorgen seines Berufs, des Undanks der Welt, und der bittern Hindernisse, die jeder Redliche auf dem Pfade unbestechlicher Rechtschaffenheit findet, um ganz ihrem Gluͤcke zu leben, sich ihr ganz zu schenken, die um sei- netwillen Vater und Mutter und Freunde und Gespielinnen verlassen, und mit allen Blumen geschmuͤckt, sich in die Arme des Einzigen geworfen hat, der ihrem Herzen Alles ist. — Wie konnte er ihr nur in Gedanken treulos werden, der Mann, der die Groͤße des Opfers fuͤhlt, das sie ihm dargebracht hat, und er weiß und glaubt, daß ein Vergelter im Himmel ist, und was fuͤr einen kostbaren Schatz hat er nicht in ihr ge- funden, der Gattin, die Gott und die Tugend liebt? Ihr sanfter, herzbezwingender Umgang versuͤßt eine jede Stunde seines Lebens; ihre zaͤrtliche Theilnehmung an seinem Schick- sal erleichtert ihm jeden Schmerz, laͤßt eine jede Freude des Lebens doppelt empfinden; ihre holden Gespraͤche versetzen ihn oft in die Wonnegefuͤhle einer bessern Welt, wenn sein durch den Augenblick des Erden-Elends getruͤbtes Auge in die Hoͤhe gerichtet zu werden am meisten bedarf. Gerne vermißt sie den truͤglichen Schimmer voruͤberrauschender Ergoͤtzlichkeiten, um sie unverbittert zu genießen, die stille haͤusliche Gluͤckselig- keit, die einzige, die es werth ist, von edlen Seelen gesucht und gefunden zu werden, und kennt seine Freuden, die er nicht mitgenießt, der Erwaͤhlte ihres Herzens. Ihm zu gefallen, die Angelegenheiten seines Hauses zu besorgen, durch gutes Beispiel und Ordnungsliebe, und Sanftmuth und Gelindigkeit, jene Herrschaft der Liebe uͤber Kinder und Hausgenossen und Gesinde zu behaupten, welche die schwerste Pflicht und der edelste Schmuck ihres Geschlechtes ist, die Erholungsstunden ihres Mannes mit Vergnuͤgen zu wuͤrzen, durch unschuldsvol- len Scherz seine Stirne aufzuheitern, wenn maͤnnlicher Ernst darauf ruht, oder durch sanften Zuspruch seine Sorgen zu mil- dern, wenn widrige Erfolge gutgemeinter Absichten ihn beruhi- gen: dieß ist die Bemuͤhung des Tages, dieß der Nachtgedanke der Gattin, die Gott und die Tugend liebt. „Eine solche Gattin ist das kostbarste Geschenk des Him- mels: ein solcher Ehegatte der beste Segen, womit die ewige Liebe ein frommes treues Herz belohnt. Segnet Er, der im Himmel wohnt, eine solche Ehe mit Nachkommenschaft, welche entzuͤckende Aussichten! welche reine Wollust, welche Selig- keit auf Erden! in gutartigen geliebten Kindern sich neu leben zu sehen, der Erde nuͤtzliche Buͤrger, dem Himmel selige Be- wohner zu erziehen, eine kraftvolle Stuͤtze unsers huͤlflosen Al- ters, einen fuͤhlbaren Trost in unsern Beschwerden heranwach- sen zu sehen! O Gott! welch ein reicher Ersatz aller Muͤhe und Arbeit und Sorgen, die wir auf Erziehung und Pflege unsers Namens und unserer Guͤter, und wenn, wie wir hof- fen duͤrfen, unsere Wuͤnsche erfuͤllt werden, auch unserer Tu- genden verwenden! Welch ein koͤstliches Loos, gewuͤrdigt wer- den, den suͤßen Namen Vater und Mutter zu tragen. „Heil Ihnen, verehrungswerther Freund! der Sie heute das Gluͤck genießen, mit einer Gattin auf ewig vereinigt zu werden! Ich kenne ihr edelmuͤthiges, allen freundschaftlichen Gefuͤhlen offenes warmes frommes Herz; ich habe nicht noͤ- thig, Ihnen die Pflichten vor Augen zu stellen, die eine solche Verbindung Ihnen auflegt; Sie haben sie ausgeuͤbt; Sie sind dadurch gluͤcklich geworden; Sie werden es wieder werden; und wenn selige Geister das Schicksal ihrer sterblichen Freunde erfahren und Antheil daran nehmen, so siehet die vollendete Heilige, die im Himmel ist, mit reiner unbeschreiblicher Freude auf die neue Verbindung herab, die Sie heute mit der Er- waͤhlten Ihres Herzens eingehen. „Heil und Segen Gottes uͤber Sie, liebenswuͤrdige Jung- fer Braut! der Freund Ihres Herzens ist der Gatte Ihrer Wahl, Ihrer ganzen Hochachtung, Ihrer zaͤrtlichsten Zunei- gung wuͤrdig; getrost duͤrfen Sie sich in seine nach Ihnen ausgestreckten Arme werfen, ohne Besorgniß von ihm erwarten, was die vollkommenste Freundschaft, eheliche Liebe und unver- bruͤchliche Treue zu geben vermag. Wer Gott fuͤrchtet, erfuͤl- let Geluͤbde und haͤlt Bund bis auf den Tod; wer durch ein- same und rauhe Wege gegangen ist, dem ist warme Herzens- freundschaft, was der Labetrunk dem Wanderer ist, der nach durchirrten duͤrren Einoͤden eine beschattete Quelle findet; mit innigstem Dankgefuͤhl naͤhert er sich der Quelle, und heilig ist ihm jeder Wassertropfen, der Erquickung in sein schmachten- des Herz gießt. „Gott, du erhoͤrest unser Gebet, und segnest sie, die deine Hand zusammengefuͤhrt hat, und segnest sie mit allen Freu- den einer reinen und dem Tod unzerstoͤrbaren Liebe! Amen!“ Darauf erfolgte nun die priesterliche Einsegnung: Stil- lings und Selma’s Herzen und Haͤnde wurden unzertrenn- lich mit einander vereinigt, und der Allmaͤchtige gab seinen gnaͤdigen Segen zu dieser Verbindung. Herr Schmerz nahm vielen Antheil an dieser freudigen Begebenheit, er veranstaltete das Hochzeitmahl und bewirthete das Brautpaar mit den Freun- den, die ihm beiwohnten, des Mittags und des Abends. Auch den andern Tag wollte Schmerz durch eine Lust- reise ins Rheingau feierlich machen: es wurden zwei Kut- schen bestellt, in der einen fuhr Madame Schmerz , die Tante und Selma , in der andern er selbst, der Herr Inspektor W.... und Stilling ; der Weg ging von Kreuznach auf Bingen , dort fuhren sie uͤber den Rhein , dann auf Gei- senheim , um den Graͤflich Osteinischen Pallast zu bese- hen, und dann gegen Bingen uͤber auf den Niederwald , welcher auch dem Herren Grafen von Ostein gehoͤrt, und auf die Art eines englischen Parks eingerichtet ist. Die ganze Reise war bezaubernd, allenthalben fanden sich Gegenstaͤnde, die dem Auge eines fuͤr Natur und Kunst fuͤhlbaren Geistes vorzuͤgliche Nahrung geben konnten; die ganze Gesellschaft war daher auch ausnehmend vergnuͤgt. Des Mittags speisten sie mitten im Niederwald in einem Jaͤgerhause, und nach Tische wurde der Nachmittag mit Spazierengehen zugebracht; die mancherlei schoͤnen Parthieen, Aussichten und Gegenstaͤnde erquickten Auge und Herz. Gegen fuͤnf Uhr wurde die Ruͤck- reise wieder angetreten, die Kutschen fuhren mit den Frauen- zimmern den Berg herab, und die Maͤnner gingen zu Fuß. Nun beschlossen diese, zu Ruͤdesheim einzutreten und noch eine Flasche von dem hier wachsenden edlen Wein auf Freund- schaft zu trinken; mittlerweile sollten sich die Damen uͤbersetzen lassen, und zu Bingen warten, bis sie auch in einem Nachen nachkommen wuͤrden. Dieß geschah; waͤhrend der Zeit aber entstand ein Sturm, die Wellen gingen hoch, und es fing schon an dunkel zu werden, besonders da sich auch der Him- mel mit schwarzen Wolken uͤberzog. Sie setzten sich dem un- geachtet nach ausgeleerter Flasche in den Nachen, und schwank- ten in lauter Todesaͤngsten auf den rauschenden Wellen, unter dem Brausen des Stuͤrmwinds, mit genauer Noth gluͤcklich hinuͤber. Da standen sie nun alle Drei zu Bingen am Ufer; um ihre Geliebten zu empfangen, diese aber hielten noch mit ih- ren Kutschen auf der andern Seite. Endlich fuhren sie auf die Noͤh — und die Noͤh stieß ab. Aber, großer Gott! wie ward ihnen, als die Noͤh nicht queer uͤber, sondern den Fluß hinab ging! — Der Strom wuͤthete, und kaum eine halbe Viertelstunde weiter hinab bruͤllte das Gewaͤsser im Bin- gerloch, wie ein entfernter Donner: auf diesen schreckhaften Ort trieb die Noͤh zu — und das Alles bei Anbruch der Nacht — Schmerz , W… und Stilling standen da, wie an Haͤnden und Fuͤßen gelaͤhmt, ihre Angesichter sahen aus, wie das Antlitz armer Suͤnder , denen man so eben das Todesurtheil vorgelesen hat; ganz Bingen lief zusammen, alles laͤrmte, und Schiffer fuhren mit einem großen Boot ab, und den Ungluͤcklichen nach. Indessen schwamm die Noͤh mit den Kutschen immer weiter hinab, das Boot fuhr nach, und endlich sah man Beide nicht mehr: uͤber das Alles wurde es immer dunkler und grauenvoller! Stilling stand da, wie vor dem Richterstuhl des Allmaͤch- tigen, beten konnte er nicht, nicht denken — seine Augen starr- ten hin, zwischen die himmelhohen Berge, gegen das Bingerloch zu — es war ihm, als staͤnde er im brennenden Sand bis an den Hals — seine Selma , dieß herrliche Geschenk Gottes, war fuͤr ihn verloren — von allen Seiten drang das schreck- liche Geschrei des Volks in seine betaͤubten Ohren: „ die ar- men Leute sind hin — Gott sey ihnen gnaͤdig !“ O Gott, welch ein Jammer! — und dieser waͤhrte zwei Stunden. Endlich draͤngte sich ein junger Mann, ein Geistlicher Na- mens Gentli , durch das Volk zu den drei Maͤnnern, er stellte sich mit einer Engelsmiene vor ihnen hin, druͤckte ihnen die Haͤnde, und sagte: Zufrieden! zufrieden! liebe Herren! sorgen Sie nicht — so leicht verungluͤckt Niemand, stoͤren Sie sich an das Gewaͤsch des Poͤbels nicht, was gilts, die Da- men sind schon jetzt heruͤber? Kommen Sie! wir wollen dies- seits am Ufer hinab gehen, kommen Sie ! ich will Ihnen den Weg zeigen! — Dieses war ein kuͤhler Thau auf die brennenden Herzen, sie folgten; er fuͤhrte sie am Arm die Wiese hinab, und alle seine Worte waren Worte des Trostes und des Friedens. Als sie nun gegen den Maͤusethurm zuwandelten und im- mer die Augen auf den Strom gerichtet hatten, so hoͤrten sie da gegenuͤber linker Hand ein Knistern und Rasseln, als wenn eine Kutsche zwischen den Hecken faͤhrt; alle Viere schauten hin, allein es war zu dunkel, um zu sehen; Stilling rief also mit lauter Stimme, und seine Selma antwortete: „ Wir sind errettet ! Klopstocks: Komm her Abbadona zu deinem Er- barmer ! — und diese Worte: Wir sind errettet! thaten ei- nerlei Wirkung; Schmerz , W.. und Stilling fielen dem guten katholischen Geistlichen um den Hals, gerade als wenn er selbst ihr Erretter gewesen waͤre, und er freute sich mit ih- nen als ein Bruder. O du Friedensbote! du aͤchter Evange- list, sey ewig gesegnet! Nun liefen alle drei auf die Kutsche zu, Stilling lief voran, und kam auf dem Wege seiner Selma entgegen, die zu Fuß vorausging. Mit Erstaunen fand er sie ganz ruhig, ganz ohne Alteration und ohne Zeichen ausgestandener Angst: dieß war ihm unbegreiflich; er fragte sie wegen dieser son- derbaren Erscheinung, und sie antwortete mit zaͤrtlich laͤcheln- der Miene: Ich dachte, Gott mache Alles wohl; waͤre es sein Wille, mich Dir wieder zu entreißen, so muͤsse er einen guten Zweck dabei haben, sein Wille geschehe also ! Nun vertheilten sie sich wieder in ihre Kutschen und fuhren ruhig und sicher in der Nacht nach Kreuznach . Die Ursache alles dieses Schreckens und Kummers war blos Trunkenheit der Faͤrcher , diese waren besoffen, so daß sie nicht allein stehen, geschweige die Noͤh regieren konnten; die Schiffer, welche mit dem Boot geschickt wurden, waren die einzige Ursache der Errettung, diese hatten die Noͤh nahe am Bingerloche getroffen, sie an ihr Boot befestigt, und nun mit entsetzlicher Muͤhe und Arbeit oberhalb den Felsen und den Maͤusethurm hinuͤber buxirt. Zur Strafe wurden die Faͤrcher kassirt, und bei Wasser und Brod in den Thurm gesteckt, wel- ches alles sie auch wohl verdient hatten. Es ist Plan der Vorsehung bei allen ihren Fuͤhrungen, wo- mit sie den, der sich von ihr fuͤhren laͤßt, zum großen glaͤn- zenden Ziel leitet, daß sie, wenn sie ihm ein großes Gluͤck schenkt, und er sich mit Leidenschaft daran haͤngt, ihm dieß Gluͤck wieder maͤchtig zu entreißen droht; blos um diese sinn- liche Anhaͤnglichkeit, die jeder sittlichen Vervollkommnung und der Wirksamkeit, zum Besten der Menschen, so aͤußerst zuwi- der ist, gaͤnzlich abzutoͤdten; es ist wahr, was die Mystiker in diesem Fall sagen: Gott will ein ungetheiltes Herz, es darf die Geschenke lieben und schaͤtzen, aber ja nicht mehr und hoͤher als den, der sie gibt. Stilling hat dieses in jedem Fall erfahren, wie das jeder aufmerksame und in den goͤttlichen Wegen erfahrene Leser leicht bemerken wird. Ein paar Tage hernach reiste Stilling mit seiner Selma , in Begleitung der Tante nach Rittersburg ; auf dem hal- ben Wege wurden sie von den dort studierenden Juͤnglingen abgeholt, welche durch Ueberreichung eines Gedichts, durch Mu- sik und Ball ihre Freude und Theilnahme bezeugten. So begann nun eine neue Periode seines haͤuslichen Lebens: Selma ließ alsofort die beiden Kinder aus Zweibruͤcken holen, und nahm sich ihrer sehr versaͤumten Erziehung mit aͤußerster Sorgfalt an. Zugleich stellte sie Stilling die Nothwendigkeit vor, daß sie die Kasse uͤbernaͤhme; denn sie sagte: lieber Mann! deine ganze Seele arbeitet in ihrem wichtigen Beruf, in ihrer hohen Bestimmung; haͤusliche An- ordnungen und haͤusliche Sorgen und Ausgaben, sie moͤgen groß oder klein seyn, sind fuͤr dich zu gering, gehe du deinen Gang ungehindert fort, warte du nur deines Berufs, und uͤber- lasse mir hernach Einnahme und Ausgabe, uͤbertrage mir Schul- den und Haushaltung, und laß mich dann sorgen, du wirst wohl dabei fahren. Stilling that das mit tausend Freu- den, und er sahe bald den gluͤckseligen Erfolg; seine Kinder, seine Mobilien, sein Tisch, Alles wurde anstaͤndig und ange- nehm eingerichtet, so daß Jeder Freude daran hatte. An sei- nem Tisch war jeder Freund willkommen, aber nie wurde traktirt, sein Haus wurde der Zufluchtsort der edelsten Juͤng linge; Mancher blieb vom Verderben bewahrt, und Mancher wurde von Abwegen zuruͤckgerufen; das Alles aber geschah mit einem solchen Anstand und Wuͤrde, daß auch die giftigste Laͤsterzunge nichts Ungeziemendes aufzubringen wagte. Bei dem Allem wurde die Kasse nie leer, immer war Vor- rath, und nach Verhaͤltniß, auch Ueberfluß da, und nun machte Selma auch einen Plan zur Schuldentilgung: die Interes- sen sollten richtig abgefuͤhrt, und dann zuerst die Ritters- burger Schulden getilgt werden. Dieß letzte geschah auch in weniger als drei Jahren, und nun wurde Geld nach Schoͤ- nenthal geschickt, dadurch wurden nun die Glaͤubiger ruhi- ger, mit einem Wort: Stillings langwierige und schwere Leiden hatten ein Ende. Und wenn zuweilen noch quaͤlende Briefe kamen, so ant- wortete Selma selbst, und das auf eine Art, die jedem nur einigermaßen vernuͤnftigen Manne Ruhe und Zufriedenheit ein- floͤßen mußte. Indessen fanden sich allmaͤhlig Umstaͤnde, die Stillings Wirkungskreis sehr einschraͤnkten: seine Thaͤtigkeit und die Menge seiner Schriften erzeugten Neid; man suchte, so viel moͤglich, Dunkelheit gegen ihn zu verbreiten, und ihn in einem schiefen Lichte zu zeigen; er that Vieles zum gemeinen Be- sten, allein man bemerkte es nicht, im Gegentheil war alles nicht recht, und wo ihm der Hof oder andere politische Koͤr- per eine Vergeltung angedeihen lassen wollten, da wurde es verhindert. Dazu kam noch eins: Stilling wuͤnschte, sein ganzes System allein ausfuͤhren und lehren zu koͤnnen, allein das war bei der jetzigen Lage unmoͤglich, denn seine Kollegen theilten das Lehrgebaͤude mit ihm. Endlich war sein Einkom- men zu klein, um fuͤr die Versorgung seiner Familie wirken zu koͤnnen: denn dieß war nun sein vornehmstes Augenmerk, da ihn seine Schulden nicht mehr druͤckten. Das Alles machte in ihm den Entschluß rege, einem vor- theilhafteren Ruf zu folgen, sobald ihm die Vorsehung einen solchen dereinst an die Hand geben wuͤrde. Indessen war er innig froh und vergnuͤgt, denn das Alles waren keine Leiden , sondern blos einschraͤnkende Verhaͤltnisse . Im Jahr 1784 beschloß endlich der Churfuͤrst, die Kame- ralschule von Rittersburg nach Heidelberg zu verle- gen, und sie dort mit der uralten Universitaͤt zu vereinigen. Stilling befand sich in sofern wohl dabei, daß sein Wir- kungskreis ausgedehnter, auch sein Einkommen wenigstens um Etwas staͤrker wurde, allein an Gruͤndung eines Familien- gluͤcks war gar nicht zu denken, und der Neid wurde nun noch staͤrker; er fand zwar auch viele wichtige Freunde daselbst, und bei dem Publiko gewann er eine allgemeine Liebe, weil er seine Staar- und Augenkuren, wie bisher, noch immer mit vie- lem Gluͤck und unentgeltlich fortsetzte. Allein er hatte doch auch manchen Kummer und manchen Verdruß hinunter zu schlucken. Was ihn am meisten troͤstete, war die allgemeine Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 28 Liebe der gesammten Universitaͤt, der ganzen Dienerschaft, aller Studirenden und der Stadt; dazu kam noch, daß auch end- lich seine Treue und sein Fleiß, aller Hindernisse ungeachtet, zu den Ohren des Churfuͤrsten drang, der ihm dann ohne sein Wissen, und ganz unentgeldlich das Churfuͤrstliche Hofraths- patent zuschickte, und ihn seiner Gnade versicherte. Um diese Zeit starb Herr Friedenberg an der Brust- wassersucht; Selma hatte ihn noch vorher durch einen sehr ruͤhrenden Brief von Stillings Redlichkeit und von der gewissen Bezahlung seiner Schulden uͤberzeugt, und so starb er ruhig und als ein Christ; denn dieß war er im ganzen Sinn des Worts: Friede sey mit seiner Asche! Stilling wurde auch zum ordentlichen Mitglied der deut- schen Gesellschaft in Mannheim aufgenommen, zu welchem Zweck er alle vierzehn Tage Sonntags, mit seinem Freunde, dem Herrn Kirchenrath Mieg , hinfuhr. Diese Reisen waren immer eine sehr angenehme Erholung, und er befand sich wohl im Zirkel so vieler verehrungswuͤrdiger Maͤnner. Auch wurde seine Bekanntschaft mit vortrefflichen Personen immer ausge- breiteter und nuͤtzlicher. Hierzu trug noch ein Umstand Vie- les bei. Im Jahr 1786 im Herbst feierte die Universitaͤt Heidel- berg ihr viertes hundertjaͤhriges Jubilaͤum mit großer Pracht, und unter dem Zulauf einer großen Menge Menschen aus der Naͤhe und aus der Ferne. Nun wurde Stillingen die feierliche Jubelrede im Namen und von Seiten der staats- wirthschaftlichen hohen Schule aufgetragen; er arbeitete sie also wohlbedaͤchtig und ruhig aus, und erfuhr eine Wirkung, die wenig Beispiele hat, wozu aber auch die Umstaͤnde nicht wenig, und vielleicht das mehrste beitrugen. Alle Reden wur- den im großen Saal der Universitaͤt, und zwar lateinisch gehalten, dazu war es grimmig kalt, und alle Zuhoͤrer wurden des ewigen Lateinredens und Promovirens muͤde. Als nun die Reihe an Stilling kam, so wurden alle Zuhoͤrer in den Saal der staatswirthschaftlichen hohen Schule gefuͤhrt, dieser war schoͤn, und weil es Abend war, illuminirt und warm. Jetzt trat er auf, und hielt eine deutsche Rede, mit der ihm gewoͤhnlichen Heiterkeit. Der Erfolg war unerwartet: Thraͤ- nen begannen zu fließen, man freute sich, man lispelte sich in die Ohren, und endlich fing man an zu klatschen und Bravo zu rufen, so daß er aufhoͤren mußte, bis das Getoͤse vorbei war. Dieß wurde zu verschiedenen Malen wiederholt, und als er endlich vom Katheder herabstieg, dankte ihm der Stell- vertreter des Churfuͤrsten, der Herr Minister von Oberndorf , sehr verbindlich, und nun fingen die Pfaͤlzer Großen in ihren Sternen und Ordensbaͤndern an, herbei zu treten, und ihn der Reihe nach zu umarmen und zu kuͤssen, welches hernach auch von den vornehmsten Deputirten der Reichsstaͤdte und Universitaͤten geschah. Wie Stillingen bei diesem Auftritte zu Muthe war, das laͤßt sich leicht errathen. Gott war mit ihm, und er vergoͤnnte ihm nun einmal einen Tropfen wohl- verdienten Ehrgenuß, der ihm so lange unbilliger Weise war vorenthalten worden. Indessen fuͤhlte er bei dem Allem wohl, wie wenig Antheil er an dem ganzen Verdienst dieser Ehre hatte. Sein Talent ist Geschenk Gottes; daß er es gehoͤrig hatte kultiviren koͤnnen, war Wirkung der goͤttlichen Vorse- hung, und daß jetzt der Effekt so erstaunlich war, dazu tha- ten auch die Umstaͤnde das meiste. Gott allein die Ehre ! Von dieser Zeit an genoß Stilling die Liebe und die Achtung aller vornehmen Pfaͤlzer in großem Maaß, und ge- rade jetzt fing auch die Vorsehung an, ihm den Standpunkt zu bereiten, zu welchem sie ihn seit vierzehn Jahren her durch viele langwierige und schwere Leiden hatte fuͤhren und bilden wollen. Der Herr Landgraf von Hessen-Cassel hatte von seinem Regierungsantritt an den wohlthaͤtigen Entschluß gefaßt, die Universitaͤt Marburg in einen bessern Stand zu setzen, und zu dem Ende die beruͤhmten Maͤnner von Selchow, Bal- dinger und andere mehr dahin verpflanzt. Nun wuͤnschte er auch das oͤkonomische Fach besetzt zu sehen; es wurden ihm zu dem Ende verschiedene Gelehrte vorgeschlagen, allein es standen Umstaͤnde im Wege, daß sie nicht kommen konnten. 28 * Endlich wurde im Herbst des 1786sten Jahres der selige Leske von Leipzig dahin berufen: er kam auch, that aber auf der Reise einen gefaͤhrlichen Fall, so daß er acht Tage nach sei- ner Ankunft in Marburg starb. Nun war wohl mehrmals von Stilling die Rede gewesen, allein es gab wichtige Maͤnner, die seinem Ruf entgegen standen, weil sie glaubten, ein Mann, der so viele Romane geschrieben haͤtte, sey einem solchen Lehrstuhl schwerlich gewachsen. Allein dem Plan der Vorsehung widersteht kein Mensch. Stilling wurde auf Veranlassung eines Rescripts dem Herrn Landgrafen, im Fe- bruar des 1787sten Jahres, von der Universitaͤt Marburg zum oͤffentlichen ordentlichen Lehrer der Oekonomie-, Finanz- und Kameral-Wissenschaften, mit einem fixen Gehalt von 1200 Thalern schwer Geld, oder 2160 Gulden Reichswaͤhrung, und einer ansehnlichen Versorgung fuͤr seine Frau, im Fall er ster- ben sollte, foͤrmlich und ordentlich berufen. Dank sey gesagt — inniger warmer Dank Wilhelm dem Neunten , dem Fuͤrsten der edlen und braven Hessen . Er erkannte Stillings redliches Herz und seinen Drang, nuͤtz- lich zu werden, und das war der Grund, warum er ihn be- rief. Dieses bezeugte er ihm nachher, als er die Gnade hatte, ihm aufzuwarten; er mußte ihm seine Geschichte erzaͤhlen, und der Herr Landgraf war geruͤhrt und vergnuͤgt. Er selbst dankte Gott, daß er ihn zum Werkzeug gebraucht habe, Stillings Gluͤck zu gruͤnden, und er versprach zugleich, ihn immerfort zu unterstuͤtzen, und Vatertreue an ihm und seiner Familie zu beweisen. Diesen Ruf nahm Stilling mit innigstem Dank gegen seinen weisen und himmlischen Fuͤhrer an, und nun sahe er alle seine Wuͤnsche erfuͤllt: denn jetzt konnte er ungehindert sein ganzes System ausarbeiten und lehren, und, bei seiner Haushaltung und Lebensart, auch zum Besten seiner Kinder Etwas vor sich bringen, folglich auch diese gluͤcklich machen. Ueberhaupt hatte er damals nur drei Kinder: die Tochter und der Sohn aus der ersten Ehe wuchsen heran; die Toch- ter ließ er auf ein Jahr zu den Verwandten ihrer seligen Mutter reisen, den Sohn aber that er in der Gegend von Heilbronn , bei einem sehr rechtschaffenen Prediger, in eine Pensions-Anstalt. Selma hatte drei Kinder gehabt: ein Soͤhnchen und eine Tochter waren aber schon in Heidel- berg gestorben, das juͤngste Kind also, ein Maͤdchen von Ei- nem Jahre, nahm er mit nach Marburg . Nach diesem Ort seiner Bestimmung reiste er auf Ostern 1787 mit Frau und Kind ab. In Frankfurt kehrte er abermals bei seinem alten und treuen Freund Kraft ein, der sich nun uͤber den herrlichen Ausgang seiner schweren Schick- sale herzlich freute, und mit ihm Gott dankte. In Marburg wurde er von allen Gliedern der Universi- taͤt recht herzlich und freundschaftlich empfangen und aufge- nommen; es war ihm, als kaͤm’ er in sein Vaterland und zu seiner Freundschaft. Selbst diejenigen, die ihm entgegen ge- wirkt hatten, wurden seine besten Freunde, sobald sie ihn kennen lernten, denn ihre Absichten waren rein und lauter gewesen. Nachdem er nun sein Lehramt mit Zuversicht und im Ver- trauen auf den goͤttlichen Beistand angetreten und sich gehoͤ- rig eingerichtet hatte, so drang ihn sein Herz, nun einmal wieder seinen alten Vater Wilhelm Stilling zu sehen; die Reise des ehrwuͤrdigen Greises war nicht groß und be- schwerlich, denn Stillings Vaterland und Geburtsort ist nur wenige Meilen von Marburg entfernt, er schrieb also an ihn, und lud ihn ein, zu ihm zu kommen, weil er selbst keine Zeit hatte, die Reise zu machen. Der liebe Alte ver- sprach das mit Freuden, und Stilling machte daher An- stalt, daß er mit einem Pferde abgeholt wurde: dieses alles besorgte der Sohn Johann Stilling , der Bergmeister zu Dillenburg . Gerne haͤtte er auch seinen Oheim, den Johann Stil- ling , gesehen. Allein diesen hatte schon ein Jahr vorher der große Hausvater aus seinem Tagewerk abgerufen, und ihn in einen weiten Wirkungskreis versetzt. In seinen letzten Jah- ren war er Ober-Bergmeister gewesen, und hatte ungemein viel zur Gluͤckseligkeit seines Vaters beigetragen; sein ganzes Leben war unaufhoͤrliche Wirksamkeit zum Besten der Men- schen, und heißes Bestreben nach Entdeckung neuer Wahrheiten; sein Einfluß auf Leben, Sitten und Betragen seiner Nach- barn war so groß und so tief eingreifend, daß seine ganze aͤußere Lebens- und Handelsweise unter alle Bauern seines Dorfes vertheilt ist, der Eine lacht wie er, der Andere hat seinen Gang angenommen, der Dritte seine Lieblingsausdruͤcke u. s. w. Sein Geist ruht zertheilt auf seinen Freunden, und macht ihn auch fuͤr diese Welt unsterblich. Aber auch sein Gedaͤchtniß als Saatsdiener bleibt im Segen; denn seine Anstalten und Verfuͤgungen werden den Armen der Nachwelt noch Brod und Erquickung schaffen, wann Johann Stil- lings Gebeine Staub sind. Ruhe sanft, wuͤrdiger Sohn Eberhard Stillings ! du hast ihm Ehre gemacht, dem frommen Patriarchen; und jetzt wird er sich in seiner Hoheit seines Sohnes freuen, ihn vor den Thron des Erloͤsers fuͤhren, und ihm an den goldenen Stufen Dank opfern. Im Sommer des Jahrs 1787, an einem schoͤnen heiteren Nachmittag, als Stilling auf dem Katheder stand und die Technologie lehrte, traten auf Einmal, mitten in der Rede, einige dort studirende Herren in seinen Hoͤrsaal hinein. Ei- ner rief uͤberlaut: Ihr Vater ist da, jetzt hoͤrt hier Alles auf! — Stilling verstummte, mancherlei Empfin- dungen bestuͤrmten sein Herz, und er wankte, vom ganzen Kollegium begleitet, die Treppe herab. Selma hatte unten an der Hausthuͤre ihren guten Schwie- gervater mit Thraͤnen bewillkommt, ihn und seinen Begleiter, den Bergmeister, in die Stube gefuͤhrt, und war nun hinge- gangen, um ihr Kind zu holen; waͤhrend der Zeit trat Stil- ling mit seiner Begleitung hinein, gerade der Thuͤre gegen- uͤber stand der Bergmeister, und seitwaͤrts linker Hand Wil- helm Stilling , er hielt seinen Hut in den Haͤnden, stand krumm gebuͤckt vor Alter, und in seinem ehrwuͤrdigen Ange- sicht hatten die Zeit und mancherlei Truͤbsale viele und tiefe Furchen gegraben. Schuͤchtern, und mit der ihm ganz eige- nen schamhaften Miene, die Niemand ungeruͤhrt laͤßt, blickte er seitwaͤrts seinem kommenden Sohn ins Angesicht. Dieser trat mit der innigsten Bewegung seines Herzens vor ihn: hin- ter ihm stand der Haufen seiner Zuhoͤrer, und Alles laͤchelte mit hoher theilnehmender Freude; erst starrten sie sich einige Augenblicke an, dann fielen sie in eine mit Weinen und Schluch- zen vermischte stille Umarmung. Nach dieser standen sie wie- der und sahen sich an. „Vater! Ihr habt seit 13 Jahren sehr gealtert!“ Das habe ich auch, mein Sohn! „Nicht — Sie — ehrwuͤrdiger Mann! sondern Du! — „ich bin Euer Sohn und stolz darauf, es zu seyn! — Euer „Gebet und Eure Erziehung hat mich zu dem Mann gemacht, „der ich nun geworden bin, ohne Euch waͤre ichs nicht.“ Nun, Nun! laß das so — Gott hats gethan! Er sey gelobt! „Mir duͤnkt, ich stuͤnde vor meinem Großvater, Ihr seyd „ihm sehr aͤhnlich geworden, theurer Vater!“ Aehnlich nach Leib und Seele — ich fuͤhle die innere Ruhe, die auch er hatte, und wie er handelte, so suchte ich auch zu handeln. „Gott, wie hart und steif sind Eure Haͤnde — wirds Euch „denn so sauer?“ Er laͤchelte, wie Vater Stilling , und sagte: ich bin ein Bauer und zur Arbeit geboren, das ist mein Beruf so, laß dich das nicht kuͤmmern, mein Sohn! — es wird mir schwer, mein Brod zu gewinnen, aber doch habe ich keinen Mangel, u. s. w. Nun bewillkommte er auch den Bergmeister herzlich, und jetzt trat Selma mit ihrem Toͤchterchen herein, dieß nahm der Alte an der Hand und sagte sehr beweglich: der All- maͤchtige segne dich, mein Kind! — Selma setzte sich hin, schaute den Greis an und vergoß milde Thraͤnen. Jetzt zerschlug sich die Versammlung, die Herren Studi- renden gingen fort, und nun fingen die Marburger Freunde an, Stillings Vater zu besuchen, ihm widerfuhr eben so viel Ehre, als wenn er ein vornehmer Mann gewesen waͤre. Gott wird ihnen diese edle Gesinnung vergelten, sie ist ihrer Herzen wuͤrdig. Einige Tage hielt sich Wilhelm bei seinem Sohn auf, und er sagte mehrmals: diese Zeit ist mir ein Vorgeschmack des Himmels; vergnuͤgt und seelenvoll reiste er dann wieder mit seinem Begleiter ab. Jetzt lebt also nun Stilling in Marburg vollkommen gluͤcklich und im Segen, seine Ehe ist eine taͤgliche Quelle des erhabendsten Vergnuͤgens, das sich auf Erden denken laͤßt, denn Selma liebt ihn von ganzer Seele, uͤber Alles in der Welt, ihr ganzes Herz wallt ihm unaufhoͤrlich entgegen, und da ihn seine vielen und langwierigen Leiden aͤngstlich gemacht haben, so, daß er immer E t as befuͤrchtet, ohne zu wissen was , so geht ihr ganzes Bestreben dahin, ihn aufzuheitern, und die Thraͤnen von seinen Augen wegzuwischen, die so leicht fließen, weil ihre Gaͤnge und Ausfluͤsse weit und gelaͤufig ge- worden sind. Sie hat das, was man guten und angenehmen Ton heißt, ohne viele Gesellschaft zu suchen und zu lieben: daher hat ihn ihr Umgang gebildet und auch fuͤr Menschen von Rang genießbar gemacht. Gegen die Kinder erster Ehe ist sie Alles, was Stilling nur wuͤnschen kann, sie ist ganz Mutter und Freundin, mehr wollte ich von dem edlen Weibe nicht sagen, sie hatte alles Vorhergehende gelesen, und mir Vorwuͤrfe gemacht, daß ich sie gelobt habe; allein ich bin ihr und meinen Lesern, Gott zum Preis, mehr schuldig; da- her habe ich naͤchst Vorhergehendes und Folgendes vor ihr verborgen, sie ist etwas kurz und gesetzt, hat ein gefaͤlliges geistvolles Ansehen, und aus ihren blauen Augen und laͤcheln- der Miene quillt jedem Edlen ein Strom von Wohlwollen und Menschenliebe entgegen. Sie hat in allen Sachen, auch in solchen, die eben nicht geradezu weiblich sind, einen ruhig forschenden Blick, und immer ein reifes, entscheidendes Ur- theil, so daß sie ihr Mann oft zu Rathe zieht, wenn sein rascher und thaͤtiger Geist partheiisch ist, er folgt ihr, und faͤhrt immer wohl. Sie denkt aufgeklaͤrt in der Religion, und ist warm in ihrer Liebe zu Gott, dem Erloͤser und dem Menschen; so sparsam sie ist, so freigebig und wohlthaͤtig wirkt sie da, wo es angewandt ist. Ihre Bescheidenheit geht uͤber alles, sie will immer abhaͤngig von ihrem Manne seyn, und ist auch dann es, wenn er ihr folgt; sie sucht nie zu glaͤnzen, und doch gefaͤllt sie, wo sie erscheint; jedem und jeder Edlen ists in ihrem Umgange wohl. Ich koͤnnte noch mehr sagen, allein ich baͤndige meine Feder. Wen Gott lieb hat, dem gebe er ein solches Weib , sagte Goͤtz von Berlichingen von seiner Maria , und Stilling sagt das naͤmliche von seiner Selma . Ueber das Alles ist sein Einkommen groß und alle Nah- rungssorgen sind gaͤnzlich verschwunden; von dem Segen in seinem Beruf laͤßt sich nichts sagen, der rechtschaffene Mann und Christ wirkt unablaͤßig, uͤberlaͤßt Gott das Gedeihen, und schweigt . Seine Staaroperationen setzt er auch in Marburg mit vielem Gluͤck und unentgeldlich fort; weit uͤber hundert Blinde, und mehrentheils arme Arbeitsleute, haben schon, unter dem Beistand Gottes, durch ihn ihr Gesicht und damit auch wie- der ihr Brod erhalten. Wie manche Wonnestunde macht ihm diese leichte und so wohlthaͤtige Huͤlfe! — wenn ihm die lange Blindgewesenen nach der Operation, oder beim Abschied, die Haͤnde druͤcken und ihm seine Zahlung in dem uͤberschweng- lich reichen Erbe der zukuͤnftigen Welt anweisen! — — Noch immer sey das Weib gesegnet, das ihn ehemals zu dieser wohlthaͤtigen Heilmethode zwang! — ohne sie waͤre er nicht ein so fruchtbares Werkzeug in der Hand des Vaters der Armen und Blinden geworden; noch immer sey das Anden- ken des ehrwuͤrdigen Mol ors gesegnet! sein Geist genieße in den Lichtgefilden des Paradieses Gottes alle uͤberschweng- liche Wollust des Menschenfreundes, daß er Stillingen zum Augenarzt bildete und die erste Meisterhand an ihn legte! — Juͤngling, der du dieses liesest, wache uͤber jeden Keim in deiner Seele, der zur Wohlthaͤtigkeit und Menschenliebe her- vorsproßt! Pflege ihn mit hoͤchster Sorgfalt und erziehe ihn zum Baume des Lebens, der zwoͤlferlei Fruͤchte traͤgt; be- stimmt dich die Vorsehung zu einem nuͤtzlichen Beruf, so folge ihm, aber wenn auch noch nebenher ein Trieb erwacht, oder wenn die Vorsehung eine Aussicht eroͤffnet, wo du, ohne deinem eigentlichen Beruf zu schaden, Saamen der Gluͤckse- ligkeit ausstreuen kannst, da versaͤume es nicht, laß es dir Muͤhe und sauren Schweiß kosten, wenns noͤthig ist; denn nichts fuͤhrt uns unmittelbarer Gott naͤher, als die Wohl- thaͤtigkeit. Aber huͤte dich auch vor der in jetzigen Zeiten so stark ein- reißenden falschen Thaͤtigkeit , die ich Taͤndelei zu nennen pflege. Der Sklave seiner Sinnlichkeit — der Wol- luͤstling, deckt seinen Unflath mit der Tuͤnche der Menschen- liebe, er will allenthalben Gutes thun und weiß nicht, was gut ist, er befoͤrdert oft den armen Taugenichts zu einem Amte, wo er uͤberschwenglich schadet, und wirkt, wo er nicht wirken soll. Eben so verfaͤhrt auch der stolze Prie- ster in seiner eigenen Vernunft, die doch in diesem Thal der Irrwische und Schatten noch gewaltig in den Kinderschuhen herumstolpert; er will Selbstherrscher in der moralischen Schoͤ- pfung seyn, legt unbehauene, oder auch verwitterte Steine im Bau an den unrechten Ort, und verkleistert Luͤcken und Loͤcher mit falschem Moͤrtel. Juͤngling ! bessere erst dein Herz, und laß deinen Ver- stand durch das himmlische Licht der Wahrheit erleuchten! Sey reines Herzens, so wirst du Gott schauen, und wenn du diese Urquelle des Lichts siehest, so wirst du auch den geraden schmalen Steg sehen, der zum Leben fuͤhrt; dann bete jeden Morgen zu Gott, daß er dir Gelegenheit zu guten Handlungen geben moͤge; stoͤßt dir dann eine solche auf, so erwisch sie bei den Haaren, wirke getrost, Gott wird dir beistehen; und wenn dir eine wuͤrdige That gelungen ist, so danke Gott innig in deinem Kaͤmmerlein und schweige !! Ehe ich schließe, muß ich noch Etwas vom Herzen waͤlzen, das mich druͤckt: die Geschichte lebender Personen ist schwer zu schreiben; der Mensch begeht Fehler, Suͤnden, Schwachhei- ten und Thorheiten, die sich dem Publikum nicht entdecken lassen, daher scheint der Held der Geschichte besser, als er ist: eben so wenig darf man auch alles Gute sagen, das er thut, damit man ihn nicht seines Gnadenlohns berauben moͤge. Doch ich schreibe ja nicht Stillings ganzes Leben und Wandel, sondern die Geschichte der Vorsehung in seiner Fuͤh- rung. Der große Richter wird dereinst seine Fehler auf die eine, und sein weniges Gute auf die andere goldne Wagschale des Heiligthums legen; was hier mangelt, o Erbarmer! das wird deine ewige Liebe ersetzen! — Stillings Lobgesung nach dem 118ten Psalm Davids. Mel . Wie lieblich winkt sie mir, die sanfte Morgenröthe! Gelobet sey der Herr! Sein Blick ist Huld und Güte, Sein Antlitz lächelt Freundlichkeit; Und seines Odems Hauch erquickt die Rosenblüthe; Er schenkt dem Geist Zufriedenheit. Du Volk des Herren! komm, und preise Seine Gnade, Die heilig ist, und ewig währt! Ihr Diener Gottes jauchzt! und wandelt auf dem Pfade, Den euch sein Wort so deutlich lehrt! Hinauf zu seinem Thron, die ihr den Herren liebet! Hinauf! und opfert Preis und Dank. Hinauf, gerechtes Volk! das wahre Tugend übet; Es töne Ihm dein Lobgesang! Mein Pfad ging felsenan, in Damm’rung und in Schatten Und Blitze zuckten über mir; In Aengsten mancher Art, die mich umgeben hatten, Drang mein Gebet, o Gott! zu Dir. Und du erhörtest mich! erhörtest, Herr, mein Flehen! Und strömtest Trost ins müde Herz! Du ließest mich den Glanz erhab’ner Hülfe sehen, Und stilltest liebreich meinen Schmerz! Jehovah ist mit mir, was kann mich weiter schrecken? Kein Mensch stoͤrt meine Ruhe mir. Und wird man neues Kreuz aus seinem Schlummer wecken, So fürcht’ ich nichts; der Herr ist hier! Der Herr ist immer da, mich stets zu unterstützen; Wie wohl ist mir in Seiner Hut; Was kann das schwache Rohr, der Menschen Trost mir nützen? Der viel verspricht und wenig thut. Der Herr ist treu und gut, Er hält, was Er versprochen, Wer auf Ihn traut, betrügt sich nicht. Wie oft wird Fürsten-Treu und Fürsten-Wort gebrochen! Der Fürsten Fürst thut, was Er spricht. Gleich einem Bienenschwarm umgaben mich die Leiden, Sie sumsten grimmig um mich her; Wie Gottes Heerschaar kämpft, so stürmten sie im Streiten Und machten mir das Siegen schwer. Wie Dornenfeuer dampft und knistert in der Flamme, Und jedes heit’re Auge trübt; Wie im Geheul der Gluth vom Gipfel bis zum Stamme, Sich lechzend der Zerstörung übt; So drang die Leidensflamm’ durch alle meine Glieder, Und leckte Spreu und Stoppeln auf. Bald sank mein mattes Aug’ bethränt zum Staube nieder, Bald schwang es sich zu Gott hinauf. Allein Jehovah’s Hauch zerstäubte diese Feinde, Er kühlte diese Flamme ab. Er zog mit starker Hand noch früher als ich meinte, Wie neuverklärt mich aus dem Grab. Der Herr ist meine Macht, mein Lied und meine Wonne! Mit Jubel tönt der Siegsgesang Aus Bauernhütten auf, aus Sphären jeder Sonne, Der Wurm, der Seraph weiht ihm Dank! Des Herren rechte Hand behält auch Recht und sieget, Jehovah’s Rechte ist erhöht! Jehovah’s Rechte sieget, und wenn sein Knecht erlieget, So singt er auch, sobald er fleht. Nein! Nein! ich sterbe nicht, ich soll des Herren Werke Verkündigen noch lange Zeit Er züchtigt mich, der Herr! doch macht mich Seine Stärke Noch lang zu Seinem Dienst bereit. Macht auf das goldne Thor des Rechts! Ich will Ihm bringen Ein warmes und zerknirschtes Herz. Am goldnen Rauch-Altar will ich mein Danklied singen. Er schuf mir Glück aus meinem Schmerz. Gelobet seyst Du, Herr! daß Du zur Demuth führest, Den Himmelsstürmer, meinen Geist! Ihn dann zerknirscht, gebeugt, mit Güte so regierest, Daß er dich nun als Diener preist. Man hielt den Mauerstein für ungeschickt zum Bauen; Hier war er morsch, dort war er hart. Der Meister hielte an mit Bilden, mit Behauen, Bis er zuletzt noch brauchbar ward. Das that der Herr! Er that’s! ein Wunder vor den Augen Des Volks, das Ihn zum Herren wählt. Dies ist der Freudentag, wo wir mit Wonne schauen, Daß Er noch unsre Haare zählt. Herr! hilf noch ferner mir! o Herr, laß wohl gelingen, Was Deine Güte an mir thut! Gepriesen sey, wer kommt, dem Herren lobzusingen, Und wer in Seinem Willen ruht! Der Herr ist unser Licht! kommt, schmückt Sein Fest mit Maien, Bis an die Hörner am Altar! Es tön’ Ihm Saitenspiel! und Alles muß sich freuen, Daß Er so treu, so gütig war. Du bist mein Gott! und ich, ich danke Deiner Güte! Die mich so wunderbar geführt, Du bist mein Gott! — und ich! des Wohlthuns nimmer müde, Bring Dir den Dank, der Dir gebührt. Hallelujah ! V. Heinrich Stilling’s Lehrjahre . Eine wahrhafte Geschichte . Heinrich Stilling’s Lehrjahre. L iebe Leser und Stillingsfreunde ! Ihr koͤnnt den Titel „ Heinrich Stillings Lehrjahre “ nehmen, wie ihr wollt. — Er war bis daher selbst Lehrer und diente von der Pique auf; er fing als Dorfschulmeister zu Zellberg an, und endigte als Professor in Marburg . Aber er war auch Schuͤler oder Lehrjunge in der Werkstaͤtte des groͤßten Meisters; ob er nun Geselle werden koͤnne, das wird sich bald zeigen — weiter wird ers wohl nicht bringen, weil wir ja alle nur einen Meister haben, und auch nur haben koͤnnen . Stilling glaubte nun ganz fest, das Lehramt der Staats- wissenschaft sey der Beruf, zu welchem er von der Wiege an vor- und zubereitet worden; und Marburg sey auch der Ort, wo er bis an sein Ende leben und wirken sollte. Diese Ueberzeugung gab ihm eine innige Beruhigung, und er be- muͤhte sich, in seinem Amt Alles zu leisten, was die Kraft eines Menschen leisten kann; er schrieb sein großes und weit- laͤuftiges Lehrbuch der Staats-Polizei , seine Finanz- wissenschaft , das Camerale practicum , die Grund- lehre der Staatswirthschaft, Heinrich Stillings haͤusliches Leben , und sonst noch viele kleine Abhandlun- gen und Flugschriften mehr; wobei dann auch die Staar- und Augen-Kuren ununterbrochen fortgesetzt wurden. Er las taͤglich vier , zuweilen auch fuͤnf Stunden Kollegien, und sein Briefwechsel wurde auch immer staͤrker, so daß er aus allen seinen Kraͤften arbeiten mußte, um seinen großen und schweren Wirkungskreis im Umschwang zu erhalten; doch wurde ihm Alles dadurch um Vieles erleichtert, daß er in Marburg lebte. Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 29 Diese alte, von jeher durch den letzten Aufenthalt, Tod und Begraͤbniß der heiligen Landgraͤfin Elisabeth von Hessen , beruͤhmte Stadt, liegt krumm, schief und bucklicht, unter einer alten Burg, den Berg hinab; ihre enge Gassen, leimerne Haͤu- ser. u. s. w. machen bei dem, der nur bloß durchreist, oder den Ort nur oberflaͤchlich kennen lernt, einen nachtheiligen, aber im Grunde ungerechten Eindruck; denn sobald man das In- nere des gesellschaftlichen Lebens — die Menschen in ihrer wahren Gestalt — dort kennen lernt, so findet man die Herz- lichkeit, eine solche werkthaͤtige Freundschaft, wie man sie schwerlich an einem andern Ort antreffen wird. Dieß ist kein leeres Kompliment, sondern ein Dankopfer und Zeugniß der Wahrheit, das ich den lieben Marburgern schuldig bin. Dann gehoͤrt auch noch das dazu, daß die Gegend um die Stadt schoͤn und sehr angenehm ist, und dann belebt auch der Lahnfluß die ganze Landschaft: denn ob er gleich auf sei- nem schwachen Ruͤcken keine Lasten traͤgt, so arbeitet er doch allenthalben fleißig im Taglohn, und greift rechts und links den Nachbarn unter die Arme. Das erste Haus, welches in Marburg Stillingen und Selma die Arme der Freundschaft oͤffnete, war das Coing’- sche: Doktor Johann Franz Coing war Professor der Theologie und ein wahrer Christ; mit beiden Eigenschaften verband er einen freundlichen, sanften, gefaͤlligen und geheim wohlthaͤtigen Charakter; seine Gattin war ebenfalls eine fromme, gottesfuͤrchtige Frau, und von dem naͤmlichen Charakter; Beide stammten von franzoͤsischen Refuͤgie’s ab, und der Geschlechts- name der Frau Professorin ist Duising . Dieses ehrwuͤrdige Ehepaar hatte vier erwachsene Kinder, drei Toͤchter, Elise, Maria und Amalia , und einen Sohn Namens Justus , der die Theologie studierte; diese vier Kinder sind alle Eben- bilder der Eltern, Muster christlicher und haͤuslicher Tugenden; die ganze Familie lebte sehr still und eingezogen. Die Ursachen, warum sich das Coing’sche Haus so warm und freundschaftlich an das Stilling ’sche anschloß, waren mannigfaltig: Eltern und Kinder hatten Stillings Lebens- geschichte gelesen; beide Maͤnner waren Landsleute; Verwand- ten von beiden Seiten hatten sich miteinander verheirathet; Pfarrer Kraft in Frankfurt, Stillings alter und be- waͤhrter Freund, war Coings Schwager, ihre beiden Gattin- nen waren leibliche Schwestern; und was noch mehr als das Alles ist, sie waren von beiden Seiten Christen — und dies knuͤpft das Band der Liebe und der Freundschaft fester als Alles; — wo der Geist des Christenthums herrscht, da vereinigt er die Herzen durch das Band der Vollkommenheit in einem so hohen Grade, daß alle uͤbrigen menschlichen Verhaͤltnisse nicht damit vergli- chen werden koͤnnen; der ist gluͤcklich, der es erfaͤhrt! Selma schloß sich vorzuͤglich an Elise Coing an, Gleich- heit des Alters, und vielleicht noch andere Ursachen, die in beider Frauenzimmer Charakter lagen, legten zu dieser naͤheren Vereinigung den Grund. Die vielen und schweren Geschaͤfte, und besonders auch ein hoͤchstbeschwerlicher Magenkrampf, der Stilling taͤglich, und besonders gegen Abend, sehr quaͤlte, wirkten den ersten Winter in Marburg heftig auf sein Gemuͤth: er verlor seine Heiterkeit, wurde schwermuͤthig und so weichherzig, daß ihm bei dem geringsten ruͤhrenden Vorfall das Weinen un- vermeidlich wurde; daher suchte ihn Selma zu einer Reise zu bereden, die er in den Osterferien zu ihren Verwandten in Franken und im Oettingischen machen sollte. Mit vie- ler Muͤhe brachte sie ihn endlich zum Entschluß, und er un- ternahm diese Reise im Fruͤhjahr 1788, ein Student von Anspach begleitete ihn bis in diese Stadt. Es ist in Stillings Charakter etwas Eigenes, daß die Landschaften einen so tiefen und wohlthaͤtigen Eindruck auf ihn machen: wenn er reiset oder auch nur spazieren geht, so ist es ihm immer wie dem Kunstliebhaber, wenn er in einer vortrefflichen Gemaͤlde-Gallerie umherwandelt — Stilling hat ein aͤsthetisches Gefuͤhl fuͤr die schoͤne Natur. Auf der Reise durch Franken quaͤlte ihn der Magenkrampf unaufhoͤrlich — er konnte keine Speisen vertragen; aber der Charakter der Ansichten in diesem Lande war staͤrkend und troͤstend fuͤr ihn — in Franken wohnt eine große Natur. In Anspach besuchte Stilling Deutschlands Oden- 29 * saͤnger Uz ; er trat mit einer gewissen Schuͤchternheit in das Zimmer dieses großen lyrischen Dichters; Uz , ein kleines, etwas corpulentes Maͤnnchen, kam ihm freundlich ernst entgegen, und erwartete mit Recht die Erklaͤrung des Fremden, wer er sey? Diese Erklaͤrung erfolgte; hierauf umarmte und kuͤßte ihn der wuͤrdige Greis, und sagte: Sie sind also Hein- rich Stilling! — es freut mich sehr, den Mann zu sehen, den die Vorsehung so merkwuͤrdig fuͤhrt und der so freimuͤthig die Religion Jesu bekennt, und muthig vertheidigt . Hierauf wurde von Dichtern und Dichtkunst gesprochen, und bei dem Abschied schloß Uz Stilling noch einmal in die Arme, und sagte: Gott segne, staͤrke und erhalte Sie! — ermuͤden Sie nie, die Sache der Religion zu vertheidigen, und unsrem Haupt und Erloͤser seine Schmach nachzutragen! — Die gegenwaͤr- tige Zeit bedarf solcher Maͤnner und die folgende wird ihrer noch mehr beduͤrfen! — dereinst im bessern Leben sehen wir uns froͤhlich wieder ! Stilling wurde tief und innig geruͤhrt und gestaͤrkt, und eilte mit nassen Augen fort. Uz, Kramer und Klopstock werden wohl die Assaphs, Hemans und Jedithums im Tempel des neuen Je- rusalems seyn . Wir werden sehen, wenn es einmal wie- der Scenen aus dem Geisterreich gibt. Des andern Morgens fuhr Stilling fuͤnf Stunden wei- ter nach Dorf Kemmathen , einem Ort nicht weit von Dinkelsbuͤhl . Dort fuhr er vor das Pfarrhaus, stieg da am Hofthor aus, und wartete, daß man ihm aufmachte; der Herr Pfarrer, ein schoͤner bruͤnetter Mann, kam aus dem Hause, machte auf und dachte an nichts weniger, als an Schwager Stillings Gegenwart, die Ueberraschung war stark. Die Frau Pfarrerin hatte indessen noͤthige Geschaͤfte, und im Grunde war es ihr nicht so ganz recht, daß sie eben jetzt durch einen Besuch darin gestoͤrt werden sollte; indessen ihr Mann fuͤhrte ihr den Besuch zu, sie empfing ihn hoͤflich, wie gewoͤhnlich; als er ihr aber einen Gruß von Schwester Selma brachte, und auch sie Schwester nannte, da sank sie ihm in die Arme. Stilling verlebte einige selige Tage bei Bruder Hoh- bach und Schwester Sophie . Die wechselseitige Bruder- und Schwesterliebe ist unwandelbar auch jenseits des Grabes! Schwester Sophie begleitete ihren Schwager nach Wal- lerstein zu ihrem Bruder; zu Oettingen fuhren sie am Kirchhof vorbei, wo Selma’s und Sophiens Vater ruht, dem jedes einige Thraͤnen weihte; dieß geschah auch zu Bal- dingen am Grabe der Mutter. Der Bruder und seine Gattin freuten sich des Besuchs. Sobald der Fuͤrst Kraft Ernst von Oettingen-Wal- lerstein Stillings Ankunft erfahren hatte, lud er ihn ein, so lange er sich dort aufhalten wuͤrde, an der fuͤrstlichen Ta- fel zu speisen; dieß Anerbieten nahm er an, aber nur Mit- tags, weil er die Abendstunden gern im Freundeskreise zubrin- gen wollte. Das Land des Fuͤrsten gehoͤrt unter die ange- nehmsten in Deutschland : denn das Rieß ist eine Ebene, die etliche Meilen im Durchschnitt hat, von der Merniz durchwaͤssert, und ringsum von hohen Gebirgen umkreist wird. Auf dem maͤßigen Huͤgel, an dessen Fuß Wallerstein liegt, uͤbersieht man den ganzen Garten Gottes; in der Naͤhe die Reichsstadt Noͤrdlingen , und eine unzaͤhlbare Menge Staͤdte und Doͤrfer. Stillings Aufenthalt allhier wurde dadurch wohlthaͤtig, daß er Augenkranken diente; er operirte den Praͤsidenten von Schade ; die Kur war gluͤcklich, der wuͤrdige Mann erhielt sein Gesicht wieder. Zu dieser Zeit saß der, durchs graue Ungeheuer , und die hyperboreischen Briefe bekannte Weckherlin auf einer Bergfeste im Fuͤrstenthum Waller- stein gefangen: er hatte den Magistrat der Reichsstadt Noͤrd- lingen auf eine muthwillige Art groͤblich beleidigt; dieser requirirte dem Fuͤrsten von Wallerstein , in dessen Gebiet sich Weckherlin aufhielt, und forderte Genugthuung; der Fuͤrst ließ ihn also beim Kopf nehmen, und auf jenes Berg- schloß bringen. Der Bruder des Fuͤrsten, Graf Franz Lud- wig , haͤtte dem Gefangenen gern seine Freiheit wieder ver- schafft, er hatte auch schon deßfalls vergebliche Versuche ge- macht; als er nun merkte, daß der Fuͤrst eine besondere Nei- gung zu Stilling aͤußerte, so lag er diesem an, er moͤchte Weckherlin losbitten, denn er habe schon lange genug fuͤr seinen Muthwillen gebuͤßt. Es gibt Faͤlle, in welchen der Christ nicht mit sich selbst aufs Reine kommen kann — dieser war von der Art: einen Mann los zu bitten, der die Freiheit zum Nachtheil seines Nebenmenschen, und besonders der Obrigkeit mißbraucht, hat seine Bedenklichkeit; und auf der andern Seite ist doch auch die Gefangenschaft, besonders fuͤr einen Mann wie Weckher- lin , ein schweres Leiden. — Der Gedanke, daß man ja allent- halben Mittel habe, einem Menschen, der seine Freiheit miß- braucht, das Handwerk zu legen, uͤberwog Stillings Be- denklichkeit; er wagte es also, waͤhrend der Tafel, den Fuͤr- sten zu bitten, Er moͤchte Weckherlin loslassen. — Der Fuͤrst laͤchelte, und versetzte: laß ich ihn los, so geht er in ein ander Land, und dann geht es uͤber mich her; uͤber das hat er ja an nichts Mangel, und er kann auf dem Schloß spazieren gehen und der freien Luft genießen, so wie er will. Nicht lange nachher erhielt denn doch der Gefangene seine Freiheit wieder. Nach einem angenehmen Aufenthalt von zehn Tagen reiste Stilling von Wallerstein wieder ab; die Verwandten begleiteten ihn bis Dinkelsbuͤhl, wohin auch Schwester So- phie kam; hier blieben sie des Nachts beisammen; des Mor- gens nahm Stilling von ihnen allen einen zaͤrtlichen Ab- schied, und setzte dann seine Reise bis Frankfurt fort. Hier traf er seine Tochter Hannchen bei Freund Kraft an; sie war eine Zeitlang bei ihren Verwandten in den Niederlanden gewesen; sie war nun erwachsen. Der Vater freute sich der Tochter, und die Tochter des Vaters. Beide fuhren nun zu- sammen nach Marburg. Selma kam ihnen, in Beglei- tung des Freundes Coing und ihrer Freundin Elise , bis Gießen entgegen, und so kamen sie denn alle zusammen froh und zufrieden in Marburg wieder an. Wer Stillings Lage jetzt leidenlos glaubt, der irrt sehr: es gibt Leiden, unter allen die schwersten, die man Niemand als nur dem Allwissenden klagen kann; weil sie durch den Gedanken, daß sie die vertrautesten Freund ahnen koͤnnten, vollends unertraͤglich wuͤrden. Ich bitte also alle meine Leser sehr ernstlich, ja nicht uͤber diese Art der Leiden nachzudenken, damit sie nicht ins Vermuthen gerathen; denn hier waͤre jede Vermuthung suͤndlich. Außerdem war Stillings Magen- krampf Leidens genug. Um diese Zeit kam eine wuͤrdige Person nach Marburg : diese war der Hofmeister zweier jungen Grafen, die dort unter seiner Aufsicht studieren sollten — er mag hier Raschmann heißen — Raschmann war Kandidat der Theologie, und besaß ganz vorzuͤgliche Talente; er hatte einen durchdringen- den Verstand, außerordentlich hellen Blick, ein sehr gebildetes aͤsthetisches Gefuͤhl, und eine Betriebsamkeit ohne Gleichen. Auf der andern Seite aber war er auch ein strenger Beur- theiler aller Menschen, die er kennen lernte; und eben dieß Kennenlernen war eines seiner liebsten und angenehmsten Geschaͤfte; uͤberall und in allen Gesellschaften beobachtete er mit seinem Adlersblick alle Menschen und Handlungen, und entschied dann uͤber ihren Charakter; freilich hatte die Uebung einen Meister aus ihm gemacht, aber seine Urtheile wurden nicht immer durch ihre christliche Liebe geleitet, und die Feh- ler nicht immer mit ihrem Mantel bedeckt; indessen, er hatte die jungen Grafen vortrefflich erzogen, und noch gehoͤren sie unter die besten Menschen, die ich kenne. Dieß machte Rasch- mann dem allem ungeachtet in den Augen aller Rechtschaf- fenen schaͤtzbar. In einer gewissen Verbindung hatte er eine große Rolle gespielt, und da auch seine Fertigkeit in der Menschenkunde bekommen. Außerdem liebte er die Pracht und einen guten Tisch; er trank die besten Weine, und seine Speisen waren ausgesucht delicat. Im Umgang war er sehr genau, und kritt- lich und jaͤhzornig, und die Bedienten wurden geplagt und mißhandelt. Dieser ausgezeichnete Mann suchte Stillings Freundschaft; er und seine Grafen hoͤrten alle seine Kollegien, und kamen woͤchentlich ein paarmal in sein Haus zum Be- such, auch Er mußte oft neben andern Professoren und Freun- den bei Ihm speisen; so viel ist gewiß, daß Stilling in Raschmanns Umgang Vergnuͤgen fand, so sehr sie auch in ihrer religioͤsen Denkungsart verschieden waren: denn Rasch- manns Kenntnisse waren sehr ausgebreitet und ausgebildet, und im Umgang mit Leuten, die nicht unter ihm standen, war er sehr angenehm und aͤußerst unterhaltend. In diesem Sommer 1788 kam auch der Kirchenrath Mieg von Heidelberg mit seiner lieben Gattin nach Marburg , um dortige Freunde und Stilling und Selma zu besu- chen. Die Redlichkeit, rastlose Thaͤtigkeit, um Gutes zu wir- ken, und die gefuͤhlvolle wohlthaͤtige Seele Miegs , hatte auf Stilling einen liebevollen Eindruck gemacht, so daß beide herzliche Freunde waren; und in eben dem Verhaͤltniß stan- den auch die beiden Frauen gegen einander. Dieser Besuch knuͤpfte das Band noch fester; aber er hatte außerdem noch eine wichtige Wirkung auf Stillings Denkungsart und philosophisches System. Stilling war durch die Leibnitz-Wolfische Philoso- phie in die schwere Gefangenschaft des Determinismus gera- then — uͤber zwanzig Jahre lang hatte er mit Gebet und Flehen gegen diesen Riesen gekaͤmpft, ohne ihn bezwingen zu koͤnnen. Er hat zwar immer die Freiheit des Willens und der menschlichen Handlungen in seinen Schriften behauptet, und gegen alle Einwuͤrfe seiner Vernunft auch geglaubt; er hatte auch immer gebetet, obgleich jener Riese ihm immer ins Ohr lispelte: dein Beten hilft nicht, denn was Gott in seinem Rathschluß beschlossen hat, das geschieht, du magst beten oder nicht. Dem allem ungeachtet glaubte und betete Stilling immer fort, aber ohne Licht und Trost, selbst seine Gebets- Erhoͤrungen troͤsteten ihn nicht: denn der Riese sagte, es sey bloßer Zufall. — Ach Gott! — diese Anfechtung war schreck- lich! Die ganze Wonne der Religion, ihre Verheißungen die- ses und des zukuͤnftigen Lebens — dieser einzige Trost im Le- ben, Leiden und Sterben, wird zum taͤuschenden Dunstbild, sobald man dem Determinismus Gehoͤr gibt. Mieg wurde von ohngefaͤhr der Retter Stillings aus dieser Gefangen- schaft: er sprach naͤmlich von einer gewissen Abhandlung uͤber die Philosophie, die ihm außerordentlich gefallen hatte; dann fuͤhrte er auch das Postulat des Kantischen Moralprinzips an, naͤmlich: Handle so, daß die Maxime deines Wol- lens jederzeit allgemeines Gesetz seyn koͤnne . Dieß erregte Stillings Aufmerksamkeit: die Neuheit dieses Sa- tzes machte tiefen Eindruck auf ihn; er beschloß, Kants Schrif- ten zu lesen, bisher war er dafuͤr zuruͤckgeschaudert, weil ihm das Studium einer neuen Philosophie — und zumal die- ser — ein unuͤbersteiglicher Berg zu seyn schien. Kants Kritik der reinen Vernunft las er natuͤrlicher Weise zuerst, er faßte ihren Sinn bald, und nun war auf Einmal sein Kampf mit dem Determinismus zu Ende: Kant be- weist da durch unwiderlegbare Gruͤnde, daß die menschliche Vernunft außer den Graͤnzen der Sinnenwelt ganz und gar nichts weiß — daß sie in uͤbersinnlichen Dingen, allemal — so oft sie aus ihren eigenen Prinzip i en urtheilt und schließt — auf Wiederspruͤche stoͤßt, das ist: sich selbst widerspricht; dieß Buch ist ein Commentar uͤber die Worte Pauli: der na- tuͤrliche Mensch vernimmt nichts von den Dingen, die des Geistes Gottes sind, sie sind ihm eine Thorheit , u. s. w. Jetzt war Stillings Seele wie emporgefluͤgelt; es war ihm bisher unertraͤglich gewesen, daß die menschliche Vernunft, dieß goͤttliche Geschenk, das uns von den Thieren unterschei- det, der Religion, die ihm uͤber alles theuer war, schnurgerade entgegen seyn sollte; aber nun fand er alles passend und Gott geziemend; er fand die Quelle uͤbersinnlicher Wahrheiten in der Offenbarung Gottes an die Menschen, in der Bibel , und die Quelle aller der Wahrheiten, die zu diesem Erdenleben ge- hoͤren, in Natur und Vernunft. Bei einer Gelegenheit, wo Stilling an Kant schrieb, aͤußerte er diesem großen Phi- losophen seine Freude und seinen Beifall. Kant antwortete, und in seinem Briefe an ihn standen die ihm ewig unvergeß- lichen Worte: „ Auch darin thun Sie wohl, daß Sie Ihre ein- zige Beruhigung im Evangelio suchen, denn es ist die unversiegbare Quelle aller Wahrheiten, die, wenn die Vernunft ihr ganzes Feld ausge- messen hat, nirgends anders zu finden sind! “ Nachher las Stilling auch Kants Kritik der prak- tischen Vernunft , und dann seine Religionen inner- halb der Graͤnzen der Vernunft . Anfaͤnglich glaubte er in beiden Wahrscheinlichkeit zu bemerken, aber bei reiferer Ueberlegung sah er ein, daß Kant die Quelle uͤbersinn- licher Wahrheiten nicht im Evangelium, sondern im Moral- prinzip suchte; wie kann aber dieses, naͤmlich das sitt- liche Gefuͤhl des Menschen, das am Mexikaner die Menschenopfer, dem Nordamerikaner das Skalpiren des Hirnschaͤdels eines unschuldigen Gefangenen, dem Otahei- taner das Stehlen und dem Hindus die Anbetung einer Kuh gebeut, Quelle uͤbersinnlicher Wahrheiten seyn? — Oder sagte man: nicht das verdorbene , sondern das reine Mo- ralprinzip , welches sein Postulat richtig ausspricht, sey diese Quelle, so antworte ich: das reine Moralprinzip ist eine bloße Form, eine leere Faͤhigkeit, das Gute und Boͤse zu er- kennen; aber nun zeige mir einmal einer irgendwo einen Men- schen im Zustand des reinen Moralprinzips! — alle werden von Jugend auf durch mancherlei Irrsale getaͤuscht, so daß sie Boͤses fuͤr gut und Gutes fuͤr boͤs halten. — Wenn das Moralprinzip zum richtigen Fuͤhrer der menschlichen Hand- lungen werden soll, so muß ihm das wahre Gute und Schoͤne aus einer reinen unfehlbaren Quelle — gegeben werden — aber nun zeige man mir eine solche reine unfehl- bare Quelle außer der Bibel! — Es ist eine ewige und gewisse Wahrheit, daß jeder Heischesatz der gan- zen Moral eine unmittelbare Offenbarung Got- tes ist — beweise mir Einer das Gegentheil — was die weisesten Heiden Schoͤnes gesagt haben, das war ihnen durch vielseitige Reflexionen aus dem Licht der Offenbarung zugeflossen. Stilling hatte indessen durch Kants Kritik der reinen Vernunft genug gewonnen, und dieß Buch ist und bleibt die einzig moͤgliche Philosophie, dieß Wort im gewoͤhnlichen Ver- stande genommen. So sehr auch Stilling nun von dieser Seite beruhigt war, so sehr drohte ihm von einer andern eine noch groͤßere Gefahr; ein weit feinerer und daher auch gefaͤhrlicherer Feind suchte ihn zu beruͤcken: sein haͤufiger Umgang mit Rasch- mann floͤßte ihm allmaͤhlich, ohne daß ers merkte, eine Menge Ideen ein, die ihm einzeln gar nicht bedenklich schienen, aber hernach im Ganzen — zusammengenommen — eine Anlage bildeten, aus der mit der Zeit nichts anders, als: erst Sozi- nianismus , dann Deismus , dann Naturalismus und endlich Atheismus und mit ihm das Widerchristen- thum entstehen kann. So weit ließ es nun zwar sein himm- lischer Fuͤhrer nicht mit ihm kommen, daß er auch nur einen Anfang zu diesem Abfall von der himmlischen Wahrheit ge- macht haͤtte, indessen war das doch schon arg genug, daß ihm der versoͤhnende Opfertod Jesu anfing, eine orientalische Aus- schmuͤckung des sittlichen Verdienstes Christi um die Mensch- heit zu seyn. Raschmann wußte dieß mit so vieler Waͤrme und Ehr- erbietung gegen den Erloͤser, und mit einer so scheinbaren Liebe gegen ihn vorzutragen, daß Stilling anfing , uͤberzeugt zu werden. Doch kam es nicht weiter mit ihm, denn seine reli- gioͤsen Begriffe und haͤufigen Erfahrungen waren gar zu tief in seinem ganzen Wesen eingewurzelt, als daß der Abfall weiter haͤtte gehen, oder auch nur beginnen koͤnnen. Dieser Zustand waͤhrte etwa ein Jahr, und eine gewisse erlauchte und begnadigte Dame wird sich noch eines Briefes von Stilling aus dieser Zeit erinnern, der ihm ihre Liebe und Achtung auf eine Zeitlang — naͤmlich so lang entzog, bis er wieder aufs Reine gekommen war. Gottlob! dahin kam er wieder, und nun bemerkte er mit Erstannen, wie sehr sich allmaͤhlig die zuͤchtigende Gnade schon von seinem Herzen entfernt hatte — von weitem zeigten sich schon laͤngst erloschene suͤndliche sinnliche Triebe in seinem Herzen, und der innere Gottesfriede war in seiner Seele zu einem fernen Schimmer geworden. Der gute Hirte holte ihn um, und leitete ihn wieder auf den rechten Weg, die Mittel dazu zeigt der Verfolg der Geschichte. Diese Abweichung hatte den Nutzen, daß Stilling die Versoͤhnungslehre noch genauer pruͤfte, und nun so fest anfaßte, daß sie ihm keine Gewalt mehr entreißen soll. Des folgenden Jahrs, im Winter 1789, schrieb die regie- rende Graͤfin von Stollberg-Wernigerode an Stil- ling , er moͤchte sie doch in den Osterferien besuchen — er antwortete, daß er um eines bloßen Besuchs willen nicht rei- sen duͤrfe; sobald aber Blinde dort waͤren, denen er dienen koͤnnte, so wolle er kommen. Dieß hatte nun die Wirkung, daß der regierende Graf in seinem Lande bekannt machen ließ, es wuͤrde ihn ein Augenarzt besuchen, wer also seiner Huͤlfe benoͤthigt waͤre, der moͤchte in der Charwoche auf das Wer- nigeroder Schloß kommen. Diese so wohlmeinende Ver- anstaltung hatte nun das drollichte Geruͤcht veranlaßt: der Graf von Wernigerode habe allen Blinden in seinem Lande bei zehn Reichsthaler Strafe befohlen, in der Charwoche auf dem Schloß zu erscheinen, um sich da operiren zu lassen. Auf die erhaltene Nachricht, daß sich Blinde einfinden wuͤr- den, trat also Stilling diese Reise den Dienstag in der Charwoche zu Pferde an; der junge Fruͤhling war in voller Thaͤtigkeit, uͤberall gruͤnten schon die Stachelbeer-Straͤucher, und die Ausgeburt der Natur erfuͤllte Alles mit Wonne. Von jeher sympathisirte Stilling mit der Natur, daher war es ihm auf dieser Reise innig wohl. Auf dem ganzen Wege war ihm nichts auffallender, als der Unterschied zwischen Oster- rode am Fuße des Harzes, und Clausthal auf der Hoͤhe desselben: dort gruͤnte der Fruͤhling, und hier, nur zwo Stun- den weiter, starrte alles von Eis, Kaͤlte und Schnee, der we- nigstens acht Schuh tief lag. Am Charfreitag Abend kam Stilling auf dem Schloß zu Wernigerode an; er wurde mit ungemeiner Huld und Liebe von der graͤflichen Familie empfangen und aufgenommen. Hier fand er eilf Staarblinde, alle im Schloß einquartirt, sie wurden aus der Kuͤche gespeist, und Stilling operirte sie am ersten Ostertag Morgen vor der Kirche, und der graͤfliche Leibchirurgus besorgte den Verband. Unter diesen Blinden war eine junge Frau von 28 Jahren, welche auf dem Heimwege von Andreasberg nach Ilsen- burg an der Seite des Brocken eingeschneit worden; der Schnee war so stark und so haͤufig gefallen, daß er ihr end- lich uͤber dem Kopf zusammen gegangen war, und sie nun nicht weiter fort konnte; sie hatte 24 Stunden in einer ruhi- gen Betaͤubung gelegen, als man sie fand. Der ganze Unfall hatte ihrer Gesundheit weiter nicht geschadet, außer daß sie vollkommen staarblind geworden war; sie wurde nun wieder sehend. Dann waren auch ein alter Mann und seine alte Schwe- ster unter diesen Blinden; Beide hatten eine lange Reihe von Jahren den grauen Staar gehabt, und sich also in zwanzig Jahren nicht gesehen. Als sie nun Beide geheilt waren, und zuerst wieder zusammen kamen, so war ihre erste Empfindung, daß sie sich Beide anstaunten und verwunderten, wie sie so alt ausschen. Die Tage, die Stilling hier im Vorhof des Himmels verlebte, sind ihm ewig unvergeßlich. Acht Tage nach Ostern reiste er wieder nach Marburg . Nach einigen Wochen kam die liebe graͤflich- Wernigero- dische Familie durch Marburg , um in die Schweiz zu reisen; Stilling und Selma wurden von ihr besucht und bei dieser Gelegenheit aͤußerte der Graf den Gedanken, daß Er mit seiner Reisegesellschaft kuͤnftigen 12. September wie- der bei ihm seyn, und dann mit ihm seinen Geburtstag feiern wollte. Der edle Mann hielt Wort; den 12. September, welcher Stillings 50ster Geburtstag war, kam die ganze Reisegesellschaft gluͤcklich, gesund und vergnuͤgt wieder in Mar- burg an. Ein guter Freund aus der Suite des Grafen hatte ein paar Tage vorher Selma einen Wink davon gegeben, sie hatte also auf den Abend ein großes Mahl veranstaltet, zu welchem auch Raschmann mit seinen Grafen, nebst noch andern lieben Marburgern eingeladen waren, daß hierbei das Coing’sche Haus nicht vergessen wurde, brauch’ ich wohl nicht zu erinnern. Noch nie war Stillings Geburtstag so hoch gefeiert worden. Erleuchtung seines Katheders, und eine Rede von Raschmann erhoͤhten diese Feier. Artig war es. indessen, daß man Stillings Lebens-Jubilaͤum so feierlich beging, ohne daß ein Mensch daran gedacht hatte, daß dieser gerade der 50ste Geburtstag sey; das Ganze machte sich so von selbst, nachher fiel es Stilling ein, und nun zeigte es sich auch, daß dieser Abend eine Einweihung zu einer neuen Lebensperiode gewesen sey. Bald nachher (im Herbst 1789) fingen die Ferien an, in welchen Stilling eine Reise ins Darmstaͤdtische und dann nach Neuwied machen mußte, um Blinden zu dienen. Raschmann , seine Grafen und Selma begleiteten ihn bis Frankfurt , er reiste dann nach Ruͤsselsheim am Main, wo er die Frau Pfarrerin Sartorius operirte, und nenn vergnuͤgte Tage bei dieser christlichen Familie verlebte; hier war der Ort, wo sich Stilling in Ansehung der Versoͤh- nungslehre zuerst auf dem fahlen Pferd erwischte: der Pfarrer Sartoͤrius war noch aus der Hallischen oder Frankens Schule, und sprach mit Stilling uͤber die Wahrheiten der Religion in diesem Styl, vorzuͤglich war von der Versoͤh- nungslehre und von der zugerechneten Gerechtigkeit die Rede. Ohne es zu wollen, kam er mit dem Pfarrer in einen Disput uͤber diese Materie, und entdeckte nun, wie weit er schon ab- gekommen war — hier begann also seine Ruͤckkehr. In Darmstadt operirte Stilling auch verschiedene Per- sonen; hier traf er einen Mann an, der noch bis dahin der einzige Staarpatient ist, der Gott zu Ehren blind bleiben wollte: denn als ihm Stillings Ankunft gemeldet, und gesagt wurde, er koͤnne nun mit der Huͤlfe Gottes wieder sehend werden, so gab er ganz gelassen zur Antwort: der Herr hat mir dieß Kreuz aufgelegt , ihm zu Ehren will ichs auch tragen!“ — welch ein Mißbegriff! — Von Darmstadt ging Stilling nach Mainz , wo sich damals der Graf Maximilian von Degenfeld aufhielt. Beide wollten mit einander nach Neuwied reisen. In Ge- sellschaft dieses edlen Mannes besuchte er den, wegen seines musikalischen Instruments beruͤhmten Herrn von Duͤnewald ; sie besahen seinen niedlichen Garten mit der Kapelle und sei- nem Grab, und dann sahen und hoͤrten sie auch das eben er- waͤhnte Instrument, auf welchem ihnen der Eigenthuͤmer eine ganze Symphonie mit allen dazu gehoͤrigen Instrumenten na- tuͤrlich und vortrefflich vorspielte. Wo dieß herrliche Stuͤck im Krieg geblieben ist, und ob es nicht auf immer verstimmt worden, das weiß ich nicht. Des andern Morgens fuhren sie in einem bedeckten Nachen den Rhein hinab. Es ging jetzt besser als im Jahr 1770, als auf der Reise nach Straßburg die Jacht umfiel, oder 1771, auf der Reise nach Haus, als Stilling auch diese Wasser- fahrt am Abend in einem dreibortigen Kaͤhnchen machte, und sich mit seinem Begleiter auf eine Jacht rettete. Es war ein praͤchtiger Herbstmorgen, und die purpurne Morgenroͤthe bließ so stark in das Segel des bedeckten Nachens, daß sie die sechs Stunden von Mainz bis Bingen in dreien machten. Diese Wasserfahrt ist wegen der romantischen Ansichten weit und breit beruͤhmt, aber Stillingen wegen oben bemerkter ge- gelittener Unfaͤlle unvergeßlich. Nachmittags um vier Uhr kamen sie in Neuwied an, wo sie auch Raschmann mit seinen Grafen und den jetzigen Vicekanzler der Universitaͤt, damals Professor Erxleben , antrafen; mit diesem Freund wurde Stilling bei dem Pastor Minz einquartirt, die uͤb- rigen logirten zum Theil im Schloß. Diese Reise Stillings nach Neuwied ist darum in sei- ner Geschichte merkwuͤrdig, weil er hier zum Erstenmal in sei- nem Leben einen Herrnhuter Gemeinort kennen lernte und einer ihrer sonntaͤglichen Gottesverehrungen beiwohnte, in wel- cher Br. Du Vernoy eine herrliche Predigt hielt. Alles zu- sammen machte tiefen Eindruck auf Stilling , und brachte ihn der Bruͤdergemeinde naͤher, wozu auch Raschmann Vie- les beitrug, welcher, ob er gleich in Ansehung seiner religioͤsen Gesinnungen himmelweit von ihr verschieden war, doch mit vieler Hochachtung und mit Enthusiasmus von ihr redete. Stilling war von jeher den Herruhutern gut gewesen, ob er gleich noch viele Vorurtheile gegen sie hatte: denn er war bisher mit lauter Erweckten umgegangen, die Vieles an der Bruͤdergemeine auszusetzen hatten, und selbst hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, sie zu pruͤfen. Bei allem dem war sie ihm wegen ihrer Missions-Anstalten sehr ehrwuͤrdig. Der damals regierende Fuͤrst Johann Friedrich Alexan- der , beruͤhmt durch seine Weisheit und Duldungs-Maximen, ein bejahrter Greis, war mit seiner Gemahlin auf seinem Lustschloß Monrepos , welches zwo Stunden von der Stadt entfernt ist, und das Thal hinauf oben am Berg liegt, von wo aus man eine unvergleichliche Aussicht hat. An einem schoͤnen Tage ließ er die beiden Marburger Professoren, Erxleben und Stilling , in seiner Equipage holen; sie speisten zu Mittag mit diesem Fuͤrstenpaar, und kehrten am Abend wieder nach Neuwied zuruͤck. Hier entstand eine vertrauliche religioͤse Bekanntschaft zwischen der alten Fuͤrstin und Stilling , die durch einen sehr fleißigen Briefwechsel bis zu ihrem Uebergang ins bessere Leben unterhalten wurde; sie war eine geborne Burggraͤfin von Kirchberg , eine sehr fromme und verstaͤndige Dame: Stilling freute sich auf ih- ren Willkomm in den seligen Gefilden des Reichs Gottes. Nachdem auch hier wieder Stilling einige Tage lang Blin- den gedient hatte, so reiste er in Begleitung seines Freundes und Kollegen Erxleben wieder nach Marburg zuruͤck. In Wetzlar glaubte Stilling ganz gewiß einen Brief von Selma zu finden, aber er fand keinen. Bei seinem Ein- tritt ins Pfarrhaus bemerkte er an Freund Machenhauer und seiner Gattin eine gewisse Verlegenheit; schnell fragte er, ob kein Brief von Selma da sey? Nein! antwortete sie, Selma ist nicht wohl, doch ist sie nicht gefaͤhrlich krank; dies sollen wir Ihnen nebst ihrem Gruß sagen. Dieß war fuͤr Stilling genug: im Augenblick nahm er Extrapost, und kam am Nachmittag in Marburg an. Ganz unerwartet begegnete ihm seine Tochter Hannchen im Vorhaus; sie war ein halb Jahr bei Selma ’s Geschwi- stern in Schwaben zu Kemmathen und Wallerstein ge- wesen. Schwester Sophie Gohbach hatte ihr viele Liebe erwiesen, aber durch eine verdrießliche Krankheit, naͤmlich die Kraͤtze, war sie in sehr traurige Umstaͤnde gerathen; sie hatte unaussprechlich gelitten, und sahe sehr uͤbel aus. Stillings Vaterherz wurde zerrissen, seine Wunden bluteten. Durch Hann- chen erfuhr er, daß die Mutter nicht gefaͤhrlich krank sey. So wie er die Treppe hinauf stieg, sah er Selma blaß und entstellt am Eck des Treppengelaͤnders stehen; mit einem zaͤrtlich-wehmuͤthigen Blick, durch Thraͤnen laͤchelnd, empfing sie ihren Mann und sagte: Lieber! sey nicht bange, es hat nichts mit mir zu sagen; er beruhigte sich und ging mit ihr ins Zimmer. Selma hatte im Fruͤhjahr ein ungluͤckliches Kindbett ge- habt, sie mußte durch den Geburtshelfer entbunden werden. Bei dieser Gelegenheit fuhr ein Schwert durch Stillings Seele, er mußte einen toͤdtlichen Schmerz durchkaͤmpfen, des- sen Ursache nur Gott bekannt ist, Selma selbst hatte sie nie erfahren. Ein bildschoͤner Knabe kam todt auf die Welt: Vielleicht hatte auch Selma bei dieser Gelegenheit gelitten, Gott weiß es! Vermuthlich war ein Fall, den sie bei einer Feuersgefahr gethan hatte, Schuld an dieser ungluͤcklichen Ent- bindung, und den spaͤtern Folgen. Jetzt war sie nun wieder in gesegneten Umstaͤnden und Stilling glaubte, daß ihre Unpaͤßlichkeit aus dieser Quelle herruͤhre; sie wurde auch wirk- lich wieder besser, aber nun folgte von ihrer Seite eine Erklaͤ- rung, die Stillings Seele, die durch so viele, langwierige und schwere Leiden ermuͤdet ist, in tiefe Schwermuth stuͤrzte. Bald nach seiner Zuruͤckkunft von Neuwied , als er mit Selma auf ihrem Sopha saß, faßte sie seine Hand, und sagte: Lieber Mann! hoͤre mich ganz ruhig an, und werde nicht traurig! ich weiß gewiß, daß ich in diesem Kindbett sterben werde — ich schicke mich auch fernerhin nicht mehr in deinen Lebensgang; wozu mich Gott dir gegeben hat, das hab ich erfuͤllt, aber in Zukunft werde ich nicht mehr in deine Lage passen. Wenn du nun willst, daß ich die noch uͤbrige Zeit Stilling’s sämmtl. Schriften. I. Band. 30 ruhig leben und dann freudig sterben soll, so mußt du mir versprechen, daß du meine Freundin Elise Coing heirathen willst, die schickt sich von nun an besser fuͤr dich als ich, und ich weiß, daß sie eine gute Mutter fuͤr meine Kinder, und eine treffliche Gattin fuͤr dich seyn wird — nun setze dich ein- mal uͤber das, was man Wohlstand heißt, hinaus, und ver- sprich mir das — Gelt, Lieber! du thust es? — der sehn- suchtsvolle Blick, der aus ihren schoͤnen blauen Augen strahlte, war unbeschreiblich. Meine Leser moͤgen selbst urtheilen, wie Stillingen in diesem Augenblick zu Muthe war — daß er ihren Wunsch — ihr zu versprechen, daß er Elise nach ihrem Tode heirathen wolle, unmoͤglich erfuͤllen konnte, laͤßt sich leicht denken — doch ermannte er sich, und antwortete: Liebes Kind! du weißt selbst, daß du in jeder Schwangerschaft deinen Tod geahnet hast, und bist gluͤcklich davon gekommen, ich hoffe, so wird es auch jetzt gehen — und dann besinne dich einmal recht, ob es moͤglich sey, dir zu versprechen, was du von mir forderst, es stoͤßt ja gegen Alles an, was nur Schicklichkeit genannt wer- den kann. Selma sah verlegen um sich her, und erwiederte: es ist doch traurig, daß du dich nicht uͤber das Alles weg- setzen kannst, um mich zu beruhigen; daß ich jetzt sterben werde, das weiß ich sicher, es ist jetzt ganz anders als sonst. Obgleich Stilling dieser Todes-Ahnung eben keinen star- ken Glauben beimaß, so wurde doch sein Gemuͤth durch seine tiefe ahnende Schwermuth gedruͤckt, und er faßte den Ent- schluß, von nun an taͤglich auf den Knien um Selma ’s Leben zu beten, den er auch treulich ausfuͤhrte. Den ganzen Winter uͤber ruͤstete sich Selma zu ihrem Tod, wie zu einer großen Reise — man kann denken, wie ihrem Mann dabei zu Muthe war — sie suchte alles in Ord- nung zu bringen, und das Alles mit Heiterkeit und Gemuͤths- ruhe. Zugleich suchte sie dann immer ihren Mann zur Hei- rath mit Elise zu bewegen, und ihm sein Versprechen abzu- locken. Hierin ging sie unglaublich weit: denn an einem Abend traf sichs, daß Stilling, Selma und Elise ganz allein an einem runden Tischchen saßen und zusammen aßen; gegen das Ende blickte Selma sehnsuchtsvoll Elise an, und sagte: Nicht wahr, liebes Lieschen , Sie heirathen meinen Mann, wenn ich todt bin? — Die Lage ist schlechterdings unbeschreiblich, in welcher sich Stilling und Elise bei die- sem Antrag befanden — Elise wurde blutroth im Gesicht, und antwortete: Sprechen Sie doch so nicht, Gott wolle uns fuͤr diesen Fall bewahren! — und Stilling gab ihr einen liebevollen Verweis uͤber ihr unschickliches Benehmen. Als sie nun in diesem Punkt mit ihrem Manne nicht fertig werden konnte, so wandte sie sich an gute Freunde, von denen sie wußte, daß sie uͤber Stilling viel vermochten, und bat sie flehentlich, sie moͤchten doch sorgen, daß nach ihrem Tode ihr Wunsch erfuͤllt wuͤrde. Im Fruͤhjahr 1790 ruͤckte nun allmaͤhlig der wichtige Zeit- punkt von Selma ’s Niederkunft heran; Stillings Gebet um ihr Leben wurde dringender, sie aber blieb immer ruhig. Den 11. Mai kam sie mit einem jungen Sohn gluͤcklich nie- der, sie befand sich wohl, und Stilling freute sich hoch und dankte Gott; dann machte er seiner lieben Kindbetterin zaͤrt- liche Vorwuͤrfe uͤber ihre Ahndung, allein sie sahe ihn bedenl- lich an, und sagte sehr nachdruͤcklich: Lieber Mann! wir sind noch nicht fertig ! Fuͤnf Tage war sie recht wohl, sie traͤnkte ihr Kind, und war heiter; aber am sechsten zeigte sich ein Friesel, sie wurde sehr krank, und nun ging Stil- ling das Wasser an die Seele. Freundin Elise kam, um ihr aufzuwarten, wobei sie dann auch Hannchen treulich unterstuͤtzte; auch Mutter Coing kam taͤglich, und loͤste zu Zeiten ihre Tochter ab. Noch immer hatte Stilling Hoffnung zu ihrer Genesung, als er aber an einem Nachmittag allein an ihrem Bette saß, so bemerkte er, daß sie unordentlich zu reden anfing, und am Betttuch zurechtlegte und pfluͤckte. Jetzt lief er unter Gottes Himmel hinaus durch das Renthofer Thor, und dann durch das Birkenwaͤldchen, um den Schloßberg herum; er rief aus seinem Innersten empor, daß es durch aller Himmel Himmel haͤtte dringen moͤgen, nicht um Selma ’s Leben, denn er ver- langte kein Wunder, sondern um Kraft fuͤr seine muͤde Seele, um diesen harten Schlag ertragen zu koͤnnen. 30 * Dies Gebet wurde erhoͤrt, er trat beruhigt in sein Haus, der Friede Gottes thronte in seiner Brust; er hatte dem Herrn dieß große Opfer gebracht, und Er hatte es gnaͤdig an- genommen. Von nun an sahe er Selma nur noch zwei- mal wenige Augenblicke: denn seine physische Natur litt zu sehr, und man fuͤrchtete, sie moͤchte es nicht aushalten, er ließ sich also rathen und hielt sich entfernt. Des folgenden Tages am Nachmittag ging er noch einmal zu ihr, sie hatte schon den Kinnbacken-Zwang; Elise saß auf dem Sopha und ruhte; jetzt erhob Selma den halber- loschenen Blick, schaute ihren Mann sehnlich an, und winkte dann auf Elise — Stilling schlug die Augen nieder und entfernte sich. Des folgenden Morgens ging er noch einmal an ihr Bett — Nein! den Anblick vergißt er nie Morgenroͤthe der Ewigkeit glaͤnzte auf ihrem Angesicht. Ist dir wohl? fragte er sie — Vernehmlich hauchte sie zwischen den zugeklemmten Zaͤhnen durch: O Ja! Stilling wankte fort, und sahe sie nicht wie- der: denn so stark auch sein Geist war, so sehr wurde doch seine physische Natur und sein Herz erschuͤttert, auch Elise konnte ihrer Freundin Sterben nicht sehen, sondern Mutter Coing druͤckte ihr die Augen zu. — Sie entschlief die fol- gende Nacht den 23. Mai, Morgens um Ein Uhr; man kam weinend an Stillings Bett, es ihm zu sagen: „Herr dein Wille geschehe!“ war seine Antwort. Selma ! — todt! — das Weib, auf welches Stilling stolz war? — todt? — das will viel sagen. Ja, in seiner Seele thronte hoher Friede, aber dennoch war sein Zustand unbeschreiblich, seine Natur entsetzlich erschuͤttert — der im- merfort quaͤlende Magenkrampf hatte ohnehin schon sein Ner- vensystem auf einen hohen Grad gespannt, und dieser Schlag haͤtte es ganz zerruͤtten koͤnnen, wenn ihn Gottes Vaterguͤte nicht unterstuͤtzt — oder in der Modesprache zu reden: wenn er nicht eine so starke Natur gehabt haͤtte. Es war nun todt und stille um ihn her — bei Christinens Abschied war er durch das langwierige Leiden so vorbereitet, daß er eine Wohl- that, eine Erleichterung fuͤr ihn war, aber jetzt war es ganz anders. Daß Selma recht hatte, als sie sagte: sie passe in seinen Lebensgang nicht mehr, das fing er zwar an deutlich einzuse- hen, und im Verfolg fand er es wahr, aber doch war ihr Heimgang herzeingreifend und schrecklich: sie war ihm sehr viel, fuͤr ihn ein großes Werkzeug in der Hand seines himmlischen Fuͤhrers gewesen, und nun war sie nicht mehr da. Stilling war, als er Selma heirathete, noch nie unter Leuten von vornehmem Stand gewesen: von seinem Herkom- men und Erziehung hing ihm noch Vieles an: in seinem gan- zen Leben und Weben, Gehen und Stehen, Essen und Trin- ken, in der Art sich zu kleiden, besonders aber im Umgang mit vornehmen Leuten, benahm er sich so, daß man im Au- genblick seinen niedern Ursprung bemerkte, immer that er der Sache entweder zu viel oder zu wenig. Dies alles polirte Selma , die ein sehr gebildetes Frauenzimmer war, rein ab. Wenigstens hat man spaͤterhin nie mehr die Bemerkung ge- macht, daß es Stilling an guter Lebensart fehle. Diese Politur war ihm aber auch noͤthig: denn nachher fand sichs, daß er bestimmt war, sehr viel mit Personen vom hoͤchsten Rang umzugehen. Vorzuͤglich war sie ihm aber in seinem Schuldenwesen ein von Gott gesandter Engel der Huͤlfe: sie war eine vortreff- liche Haushaͤlterin: mit einem sehr maͤßigen Einkommen, in Lautern und Heidelberg hatte sie doch schon uͤber zwei- tausend Gulden Schulden abgetragen, und dadurch alle Kre- ditoren so beruhigt, daß die uͤbrigen zufrieden waren und gern warteten. Die Hauptsache aber war, daß sie alsofort, sobald sie Stilling geheirathet hatte, seine durch den elenden ge- fuͤhllosen Kaufmannsgeist unbarmherziger Kreditoren gequaͤlte Seele dergestalt beruhigte, daß er nicht wußte wie ihm ge- geschah; sie setzte ihn aus einem, jeden Augenblick dem Schiff- bruch drohenden Sturm aufs Trockene. — Warte du dei- nes Berufs — sagte sie — bekuͤmmere dich um nichts, und uͤberlaß mir die Sorge — und sie hielt treulich Wort. Selma war also in ihrem neunjaͤhrigen Ehestand ein unschaͤtzbares Werkzeug der Begluͤckung fuͤr Stilling gewesen. Wenn sie sich erklaͤrte, daß sie kuͤnftig nicht mehr in Stil- lings Lebensgang passen wuͤrde, und wenn das auch ganz richtig war, so muß ich doch alle meine Leser bitten, deßwe- gen nichts Arges zu denken oder zu ahnen. Selma hatte einen ausnehmenden edlen Charakter, sie war ein herrliches Weib: aber es gibt Lagen und Verhaͤltnisse, zu welchen auch der vortrefflichste Mensch nicht paßt. Stillings Fuͤhrung war immer planmaͤßig, oder viel- mehr: der Plan, nach welchem er gefuͤhrt wurde, war immer so offenbar, daß ihn jeder Scharfsichtige bemerkte — auch Raschmann durchschaute ihn, oft staunte er Stilling an und sagte: die Vorsehung muß etwas Sonderbares mit Ihnen vorhaben; denn alle Ihre großen und kleinen Schicksale zielen auf einen großen Zweck, der noch in der dunkeln Zukunft verborgen liegt . Dieß fuͤhlte auch Stilling sehr wohl, und es beugte ihn in den Staub, aber es gab ihm auch Muth und Freudigkeit zum Fortringen auf der Kampfbahn, und wie sehr eine solche Fuͤhrung das wahre Christenthum, und den Glauben an den Weltversoͤhner befoͤrdere, das laͤßt sich leicht erachten. Selma lag da entseelt — Hannchen , ein Maͤdchen von sechzehn und einem halben Jahr, ergriff nun mit Muth und Entschlossenheit das Ruder der Haushaltung, und eine treue brave Magd, die Selma schon in Lautern zu sich genom- men, erzogen, und zu einer guten Koͤchin gebildet hatte, un- terstuͤtzte sie. Von sechs Kindern, die Selma geboren hatte, lebten noch drei: Lisette, Karoline und dann der verwaiste Saͤugling, dem sie entflohen war. Lisette war vier und ein viertel, und Karoline zwei und ein halb Jahr alt. Selma selbst hatte noch nicht volle dreißig Jahre gelebt, als sie starb, und so viel geleistet — sonderbar ists, daß sie in ihren Braut- tagen zu Stilling sagte: Sie werden mich nicht lange haben, denn ich werde nicht dreißig Jahre alt; ein merkwuͤrdiger Mann hat mir das in Oet- tingen gesagt . So treu und rechtschaffen auch Hannchen war, so war sie doch der Erziehung ihrer kleinen Geschwister damals noch nicht gewachsen; dafuͤr hatte aber die Verklaͤrte auch schon ge- sorgt, denn sie hatte verordnet, daß Lisette so lange zu ih- rer Freundin Mieg nach Heidelberg gebracht werden sollte, bis ihr Vater wieder geheirathet haͤtte, und eben so lang sollte auch Karoline bei einer andern guten Freundin, die einige Meilen weit von Marburg wohnte, verpflegt werden. Das Erste wurde einige Wochen hernach ausgefuͤhrt: Stilling schickte sie mit einer Magd nach Frankfurt ins Krafti- sche Haus, wo sie Freundin Mieg abholte; Karoline aber nahm Mutter Coing zu sich, denn sie sagte: es ist hart, dem tiefgebeugten Vater zwei Kinder auf Einmal zu entziehen und sie so weit von ihm zu entfernen. Stilling war da- mit zufrieden, denn er war uͤberzeugt, daß Selma Elisen beide Kinder uͤbertragen haͤtte, wenn es dem Wohlstand nicht zuwider gewesen waͤre; — dieser gebot nun dem Coing ’schen Hause, sich etwas zuruͤckzuziehen; statt dessen draͤngte sich ein anderes zur Huͤlfe hervor. Der jetzige geheime Rath und Regierungs-Direktor Rieß in Marburg war damals noch Regierungsrath und fuͤrstli- cher Commissarius bei der Universitaͤts-Guͤterverwaltung, bei welcher auch Stilling als Kameralist gleich von Anfang an war angestellt worden: beide Maͤnner kannten und liebten sich. Kaum war also Selma verschieden, so kam Rieß und uͤbernahm die ganze Besorgung, die die Umstaͤnde erforderten; Stilling mußte alsofort mit ihm in sein Haus gehen und da bleiben, bis alles vorbei war. Seine gute Gattin nahm zu- gleich auch den kleinen Saͤugling weg und verschaffte ihm al- sofort eine Amme, und dann sorgte auch Rieß fuͤr die Be- erdigung der Leiche, so daß sich Stilling schlechterdings um nichts zu bekuͤmmern brauchte. Das Kind wurde auch im Rieß ’schen Hause getauft und Rieß und Coing nebst Rasch- mann und den Grafen, die sich dazu erboten, waren die Ge- vattern. Dergleichen Handlungen werden dereinst hoch ange- rechnet werden; Rieß und Stilling sind Freunde auf die Ewig- keit, und dort laͤßt sich besser von der Sache sprechen, als hier. Das Erste, was nun Stilling zu seiner Erleichterung vornahm, war, daß er seinen alten Vater Wilhelm Stil- ling holen ließ; der ehrwuͤrdige, vier und siebenzigjaͤhrige, in der Schule der Leiden hochgepruͤfte Greis kam alsofort; seine Seelenruhe und Gelassenheit in allen Leiden floͤßte auch seinem Sohne, der seinem Bilde aͤhnlich ist, Trost ein. Ge- gen vierzehn Tage blieb er da; waͤhrend der Zeit erholte sich Stilling wieder, wozu dann auch Selma ’s letzter Wille Vieles beitrug. Daß er wieder heirathen mußte, verstand sich von selbst, denn er mußte Jemand haben, der seine Kin- der erzog und der Haushaltung vorstand, weil ja Hannchen , wenn sie ihr Gluͤck machen konnte, es um des Vaters Haus- haltung willen nicht verscherzen durfte. Wie wohlthaͤtig war es nun, daß die rechtmaͤßige Besitzerin seines Herzens ihre Nachfolgerin — und zwar so — bestimmte, daß Stilling selbst auch keine andere Wahl getroffen haben wuͤrde. Wer es nicht erfahren hat, der kann es nicht glauben, wie wenig beruhigend es fuͤr einen Wittwer ist, wenn er weiß, daß seine zur Ruhe gegangene Gattin seine Wahl billigt! — und hier war mehr als Billigung. Nach Ablauf der Zeit, die der Wohlstand bestimmt und die Gesetze vorschreiben, hielt Stilling um Elise an; die El- tern und sie selbst machten ihn durch ihr liebevolles Jawort wiederum gluͤcklich; Gottes gnaͤdiges Wohlgefallen an dieser Verbindung, der verewigten Selma erfuͤllter Wille und der segnende Beifall aller guten Menschen stroͤmten eine Ruhe in seine Seele, die nicht beschrieben werden kann. Von nun an nahm sich Elise Karolinens Erziehung an; auch besuchte sie Hannchen und ging ihr mit Rath an die Hand, und Stilling hatte nun auch wieder eine Freundin, mit der er von Herz zu Herzen reden konnte. Jetzt ruͤckte nun auch wieder der zwoͤlfte September heran, der im vorigen Herbst so glaͤnzend war gefeiert worden; Stil- ling hatte seitdem ein schweres Lebensjahr durchgekaͤmpft. Jetzt studirte nun der Erbprinz von Hessen in Marburg , welchem Stilling auch woͤchentlich viermal Unterricht gab; dieser ließ ihn auf seinen Geburtstag zur Mittagstafel einla- den, und Vater Coing wurde ebenfalls gebeten; am Abend wurde er in Coings Haus gefeiert. Der 19. November, der Tag der heiligen Elisabeth, war von jeher in der Duising ’schen Familie bemerkt worden, und gewoͤhnlich fuͤhrten auch die Frauenzimmer aus ihr diesen Na- men; bei Elisen war er besonders auch deßwegen merkwuͤr- dig, weil sie eigentlich dreimal Elisabeth heißt: sie wurde den 9. Mai 1756 geboren und hatte drei Taufzeugen, wie sie wohl wenige Menschen haben, naͤmlich ihre Großmutter Duising , deren ihre Mutter, Vultejus , und dann dieser Urgroßmutter, also Elisens Ur-Urgroßmutter, die Frau von Hamm ; alle drei Matronen, die Großmutter, Urgroßmutter und Ur-Urgroßmutter waren auch bei der Taufe gegenwaͤrtig, und die letztere, die Frau von Hamm , legte bei der Tauf- mahlzeit den Gaͤsten vor. Alle drei Frauen hießen auch Eli- sabeth . Dieser Elisabethen -Tag wurde zu Stillings und Elisens Kopulation bestimmt. Er las zuerst seine vier Kollegien, gab dem Prinzen seine Stunde, und dann ging er ins Coing ’sche Haus zur Kopulation. Diese Berufstreue rechnete ihm der Churfuͤrst von Hessen hoch an, ob Er ihm auch gleich daruͤber schmerzende Vorwuͤrfe machte, daß er so bald wieder geheirathet habe. Die Coing ’sche Eltern hatten verschiedene Freunde zum Hochzeits-Abendmahl eingeladen, und der reformirte Prediger Schlarbaum , dieser zuverlaͤssige, und durch viele Proben bewaͤhrte Stillings -Freund verrichtete die Trauung; er und seine Familie sind in Stillings Marburger Lebens- Geschichte sehr wohlthaͤtige Begleiter auf seinem Pfade gewesen. Zwischen der Kopulation und der Mahlzeit spielte Stil- ling folgendes Lied, welches er auf diesen Tag verfertigt hatte, auf dem Klavier, und Hannchen mit ihrer Silberkehle sang es. Die Melodie ist von Rheineck , nach dem Lied: Sieh mein Auge nach den Bergen — in Schellhorns Sammlung geistlicher Lieder. Memmingen bei Diesel 1780. Auf, zum Thron des Weltregenten, Auf, mein Geist, und nahe dich Dem, der dich mit Vaterhänden Führte sichtbarlich. Großer Vater aller Dinge, Aller Wesen, höre mich, Hör’ mein Lied, das ich dir singe! Denn es singt nur dich. Auf des Frühlings Blumenpfade, In dem Glanz des Morgenlichts, Trank ich Fülle deiner Gnade, Und es fehlte nichts. Hilfreich wallt’ an meiner Seiten Selma , dein Geschenk einher, Sie beschwor den Geist der Leiden, Und er war nicht mehr. Plötzlich hüllten Mitternächte Morgenglanz und Frühling ein, Und ein Blitz aus deiner Rechte Drang durch Mark und Bein. Selma ’s Hülle rang im Staube, Glänzend trat ihr Geist hervor, Und er sprach: Sey stark und glaube! Schwang sich dann empor. Und er lispelt’ im Verschwinden Laß Elise Selma seyn! Dann in ihr wirst du mich finden, Und dann glücklich seyn! Einsam war ich, heil’ge Stille Wehte schauernd um mich her. Gott, es war dein erster Wille! Ach, es ward mir schwer! Deine Gnade glänzte wieder, Hin auf meinen Pilgerstab. Und sie stieg vom Himmel nieder, Die mir Selma gab. Heute tritt sie mir zur Seiten, Vater laß uns glücklich seyn; Schenk’ den Becher hoher Freuden Ueberfließend ein! Laß des Wohlthuns holde Saaten, Die wir dir auf Hoffnung streu’n, Bester Vater! wohlgerathen, Und uns deiner freu’n. Laß, Elise mir zur Seiten, Deines Segens Fülle seh’n! Und mit mir am Tag der Leiden Feurig zu dir fleh’n! Dann erhörst du doch die bangen Seufzer, die ein Paar dir bringt, Das mit sehnlichem Verlangen Nach Veredlung ringt. Vater! und am Ziel der Reise, Führ’ uns Beide Hand an Hand Auf, zum höhern Wirkungskreise, Heim in’s Vaterland! Froh und heiter war dieser Abend! — und nun fing ein neuer Lebensgang an, der sich nach und nach von allen vori- gen unterschied, und Stilling seiner eigentlichen Bestim- mung naͤher brachte. Elise trat auch freudig und im Vertrauen auf Gott ihren neuen Wirkungskreis an, und sie erfuhr bald, was ihr ein Freund schon bemerklich gemacht hatte, naͤmlich: daß es nichts Leichtes sey , mit Stilling einen Weg zu gehen — Sie hat ihn bis daher treulich und fest mitgepilgert, und oft und vielfaͤltig gezeigt, daß sie versteht, Stillings Gattin zu seyn. Einige Wochen vor Stillings Hochzeit war auch endlich Raschmann mit seinen Grafen von Marburg abgezogen. Er war ein Komet, der den Planeten Stilling eine Zeit- lang auf seiner Laufbahn begleitete, und mit seinem Dunstkreis anwehte. Freilich hatte er, wie oben gemeldet, auf einer Seite nach- theilig auf Stilling gewirkt; allein das verschwand nun in dem neuen Familienkreise gar bald, und er wurde nachher, durch noch andere mitwirkende Ursachen, noch weit gegruͤnde- ter in der Versoͤhungslehre als vorher; auf der andern Seite aber gehoͤrte Raschmann auf eine merkwuͤrdige Weise unter die Werkzeuge zu Stillings Ausbildung: durch ihn erfuhr er große, geheime und wichtige Dinge — Dinge, die ins Große und Ganze gehen — Was Barruel und der Triumph der Philosophie erzaͤhlen wol- len, in der Hauptsache auch richtig erzaͤhlen; in Nebensachen aber auch irren , das wurde ihm jetzt bekannt. Man muß aber ja nicht denken, daß Raschmann Stil- ling vorsaͤtzlich in dem Allem unterrichtet habe, sondern er war sehr redselig; wenn er nun seine Freunde zu Gast hatte, so kam immer, bald hier, bald da, ein Bruchstuͤck zum Vor- schein, und da Stilling ein gutes Gedaͤchtniß hat, so behielt er Alles genau, und so erfuhr er in drei Jahren, welche Raschmann in Marburg verlebte, den ganzen Zusam- menhang dessen, was seitdem so große und furchtbare Erschei- nungen am Kirchen- und politischen Himmel hervorgebracht hat; wenn er nun das, was er selbst erfahren und gelesen hatte, mit jenen Bruchstuͤcken verband, und eines durchs an- dere berichtigte, so kam ein richtiges und wahres Ganzes heraus. Wie noͤthig und nuͤtzlich diese Kenntniß Stilling war, ist und noch seyn wird, das kann der beurtheilen, der einen hellen Blick in den Zweck seines Daseyns hat. Die ersten Wochen in Elisens Ehestand waren angenehm, ihr Weg war mit Blumen bestreut. Auch Stilling hatte außer seinem quaͤlenden Magenweh keine Leiden, aber vierzehn Tage vor Weihnachten fand sich sein bestaͤndiger Hausfreund wieder recht ernstlich ein. Hannchen hatte von Jugend auf an einer Flechte auf dem linken Backen sehr viel und oftmals schrecklich gelitten; Selma wendete alle moͤglichen Mittel an, um sie davon zu befreien, und Elise setzte die Sorge mit allem Eifer fort. Nun kam gerade zu der Zeit ein beruͤhmter Arzt nach Mar- burg , dieser wurde auch zu Rath gezogen, und er verordnete den Sublimat zum aͤußern Gebrauch; ob nun dieser, oder eine von der seligen Mutter Christine angeerbte Anlage, oder Beides zusammen, so schreckliche Folgen hervorbrachte, das steht dahin — Genug, Hannchen bekam um oben bemerkte Zeit die fuͤrchterlichsten Kraͤmpfe. Diese, fuͤr jeden Zuschauer so herzangreifenden Zufaͤlle, waren Elisen noch besonders schreckhaft — und zu dem war sie guter Hoffnung — dem ungeachtet faßte sie Heldenmuth, und wurde Hannchens ge- treue Waͤrterin. Der gute Gott aber bewahrte sie vor allen nachtheiligen Folgen. Dieß war der erste Act des Trauerspiels, nun folgte auch der zweite; dieser war eine heiße, eine Glutprobe fuͤr Stil- ling, Elise und Hannchen . Ich will sie jungen Leuten zur Warnung und Belehrung, doch so erzaͤhlen, daß eine ge- wisse, mir sehr werthe Familie damit zufrieden seyn kann. Hannchen hatte in einer honetten Gesellschaft, auf Ver- langen, auf dem Klavier gespielt und dazu gesungen — was kann unschuldiger seyn, als dieses? — und doch war es die einzige Veranlassung zu einem angstvollen und schweren halb- jaͤhrigen Leiden: ein junger Mensch, der Theologie studirte, und dem man nie den Eigenwillen gebrochen, den Hann- chen nie gesehen, von ihm nie etwas gehoͤrt hatte, befand sich in dieser Gesellschaft: durch den Gesang wird er so hingeris- sen, daß er von nun an alle, und endlich die desperatesten Mittel anwendete, um zu ihrem Besitz zu gelangen. Erst hielt er um sie an, und als man ihm antwortete, wenn er eine an- staͤndige Versorgung haͤtte, so wuͤrde man, wenn er Hann- chens Einwilligung bekommen koͤnnte, nichts dagegen haben. Dieß war ihm aber bei weitem nicht genug — er bestand darauf, daß man ihm jetzt die Heirath mit ihr versichern sollte. Hannchen erklaͤrte sich laut, daß sie ihn nie lieben, nie heirathen koͤnnte, und daß sie nie die geringste Veranlas- sung zu dieser Aufforderung gegeben habe. Allein das half alles nichts; nun wendete er sich an die Eltern und suchte ihnen zu beweisen, daß es ihre Pflicht sey, ihre Tochter zur Heirath mit ihm zu zwingen — und als man diesen Be- weis nicht guͤltig fand, so suchte er Gewalt zu brauchen; ein- mal kam er unvermuthet in Stillings Haus, als Stil- ling eben auf dem Katheder war, er stuͤrmte ins Zimmer, wo Hannchen war; zum Gluͤck hatte sie eine gute Freundin bei sich, ihr Angstgeschrei hoͤrte der Vater, er und Bruder Coing liefen herzu, und beide machten dem unsinnigen Men- schen die bittersten Vorwuͤrfe. Dann logirte er sich gegenuͤber in einen Gasthof ein, damit er jeden Augenblick das Trauerspiel wiederholen koͤnnte; allein man brachte Hannchen an einen entlegenen Ort in Sicher- heit, so daß er wieder abzog. Ein Andermal kam er unver- sehens; Hannchen war abwesend, und betrug sich so wild und unbaͤndig, daß ihn Stilling vor die Hausthuͤre promoviren mußte; nun lief er in Coings Haus, wo Mutter Coing todtkrank lag, dort warf ihn Elise , die eben da war, eben- falls mit starkem Arm vor die Hausthuͤr; nun gerieth er in Verzweiflung, man holte ihn von der Lahn zuruͤck, er warf sich vor Stilling Haus auf den Boden, und endlich wurde er mit Muͤhe wieder an seinen, einige Stunden weit entlege- nen Wohnort gebracht; hernach schwaͤrmte er auf dem Lande umher, und bestuͤrmte Stilling mit drohenden Briefen, so daß er endlich die Obrigkeit um Huͤlfe ansprechen, und sich auf diese Weise Sicherheit verschaffen mußte. Der arme bedauernswuͤrdige Mensch ging in die Fremde, wo er in der Bluͤthe seiner Jahre gestorben ist. Es wird El- tern, Juͤnglingen und Jungfrauen nicht schwer fallen, aus die- ser traurigen, und fuͤr Stilling und die Seinigen so schreck- lichen Geschichte, den gehoͤrigen Nutzen und zweckmaͤßige Be- lehrung zu ziehen. Dem guten Hannchen wurde indessen die feurige Pruͤ- fung mit Segen vergolten; fuͤnf Stunden von Marburg in dem Darmstaͤdtischen Dorf Dexbach stand ein jun- ger Prediger, Namens Schwarz , der mit Stilling in vertrautem Freundschaftsverhaͤltniß lebte; und weil er noch unverheirathet war, mit seiner vortrefflichen Mutter und lie- benswuͤrdigen Schwester haushielt; dieser rechtschaffene und christliche Mann hat sich hernach durch mehrere gute Schrif- ten, vorzuͤglich uͤber die moralischen Wissenschaften , durch den Religionslehrer, Erziehungsschriften u. s. w. beruͤhmt gemacht. Hannchen und seine Schwester Karoline liebten sich herzlich, und diese war auch die gute Freundin, die eben bei Hannchen war, als der Kandidat ins Zimmer stuͤrmte, und diese brachte sie auch nach Dexbach zu ihrem Bruder in Sicherheit. Durch Gottes weise Leitung, und auf christliche und anstaͤndige Art, entstand zwischen Schwarz und Hannchen eine Gott gefaͤllige Liebe, welche der Eltern Einwilligung und Gottes Vaterguͤte mit Gnade kroͤnte: im Fruͤhjahr 1792 wurde Schwarz mit Hannchen in Stillings Haus ehlich verbunden. Sie ist eine gute Gattin, eine gute Mutter von sechs hoffnungsvollen Kindern, eine vortreffliche Gehuͤlfin in ihres Mannes Erziehungsanstalt, und uͤberhaupt ein edles Weib, die ihrem rechtschaffenen Manne und ihren Eltern Freude macht. Der Kampf mit dem Kandidaten trug sich in der ersten Haͤlfte des 1791. Jahres zu, er wurde noch durch zween Trauerfuͤlle erschwert: im Februar starb der kleine Franz, Selma’s zuruͤckgelassener Saͤugling, an der Kopfwassersucht, und nun neigte es sich auch mit Mutter Coing zu Ende: sie war schon einige Zeit schwaͤchlich, besonders engbruͤstig ge- gewesen. Durch Werke der Liebe, die sie in Nachtwachen verrichtete, hatte sie sich vermuthlich verkaͤltet, jetzt wurde ihre Krankheit ernstlich und gefaͤhrlich. Stilling besuchte sie oft, sie war ruhig und sreudig , und ging mit einer unbeschreib- lichen Seelenruhe ihrer Aufloͤsung entgegen, und wenn sie ih- rer Kinder gedachte, so versicherte ihr Stilling , daß sie die seinigen seyen, wenn die Eltern vor ihm sterben sollten. Alle diese traurigen Vorfaͤlle wirkten auch nachtheilig auf Elisens Gesundheit, auch sie wurde krank, doch eben nicht gefaͤhrlich, indessen mußte sie denn doch das Bett huͤten, wel- ches ihr um deßwillen besonders wehe that, weil sie nun ihre gute Mutter nicht besuchen konnte. Beide Kranken, Mutter und Tochter, schickten sich taͤglich wechselseitig Boten, und Jede troͤstete die andere, daß es nicht gefaͤhrlich sey. An einem Morgen fruͤh gegen das Ende des Maͤrzes kam eine Trauerbotschaft: Mutter Coing sey im Herrn entschla- fen; Stilling mußte Elisen diese Nachricht beibringen — das war ein schweres Stuͤck Arbeit, allein er fuͤhrte es aus und lief dann ins elterliche Haus. So wie er in die Stube hinein trat, fiel ihm die Leiche ins Auge; sie lag auf einem Feldbett, der Thuͤr gegenuͤber; — sie war eine sehr schoͤne Frau gewesen und die vieljaͤhrige stille Uebung im Christen- thum hatte ihre Zuͤge ungemein veredelt; auf ihrem erblaßten Antlitz glaͤnzte — nicht Hoffnung, sondern Genuß des ewigen Lebens. Vater Coing stand vor der Leiche, er blickte Stil- ling durch Thraͤnen laͤchelnd an und sagte: Gott Lob, sie ist bei Gott ! — er trauerte, aber christlich. Es gibt keinen frohern, keinen herzerhebendern Gedanken, als seine lieben Entschlafenen selig zu wissen; — Vater Coing , der um diese Zeit seinen Geburtstag feierte, hatte sich seine liebe Gattin von Gott zum Geburtstagsgeschenk ausgebeten, aber er bekam’s nicht; Stilling hatte ein halbes Jahr um das Leben seiner Selma gefleht, aber er wurde nicht erhoͤrt. Liebe, christliche Seelen! laßt euch durch solche Beispiele ja nicht vom Beten abschrecken — der Vater will, daß wir, seine Kinder, ihn um alles bitten sollen, weil uns dieß bestaͤn- dig in der Anhaͤnglichkeit und Abhaͤngigkeit von ihm erhaͤlt; kann er uns nun das, warum wir beten, nicht gewaͤhren, so gibt Er uns etwas bessers dafuͤr. Wir koͤnnen gewiß versi- chert seyn, daß der Herr jedes glaͤubige Gebet erhoͤrt, wir er- langen immer Etwas dadurch, das wir ohne unser Gebet nicht erlangt haben wuͤrden, und zwar das , was fuͤr uns das Beste ist. Wenn der Christ so weit gekommen ist, daß er im Wandel in der Gegenwart Gottes beharren kann, und seinen eigenen Willen ganz und ohne Vorbehalt dem allein guten Willen Gottes aufgeopfert hat, so betet er im innern Grund seines Wesens unaufhoͤrlich, der Geist des Herrn vertritt ihn dann mit unaussprechlichem Seufzen, und nun betet er nie verge- bens: denn der heilige Geist weiß, was der Wille Gottes ist; wenn Er also das Herz aufregt, um Etwas zu bitten, so gibt Er auch zugleich Glauben und Zuversicht der Erhoͤrung; man betet und man wird erhoͤrt. Stilling und Elise hatten von Anfang ihrer Verbin- dung an den Schluß gefaßt, nun auch ihren Sohn Jacob aus der ersten Ehe wieder zu sich zu nehmen; er wurde nun siebzehn Jahre alt, und mußte nun also seine akademische Lauf- bahn antreten; er war bis daher bei dem wuͤrdigen und ge- lehrten Prediger Grimm zu Schluttern in der Naͤhe von Heilbronn in einer Pensionsanstalt gewesen, da erzogen, und zum Studiren vorbereitet worden; da nun Stilling nicht anders als in den Ferien reisen konnte, so wurden die naͤchsten Osterferien dazu bestimmt, und also dem Jacob geschrieben, er moͤchte sich an einem bestimmten Tag bei Freund Mieg in Heidelberg einfinden, denn seine Eltern wuͤr- den dahin kommen und ihn abholen. Zugleich beschlossen sie dann auch, Lisette wieder mit zuruͤck zu nehmen: denn Elise wollte alle die vier Kinder beisammen haben, um ihre Mutterpflichten mit aller Treue an ihnen ausuͤben zu koͤnnen; und um auch Vater Coing mit seinen Kindern in ihrer tie- fen Trauer eine Erquickung und wohlthaͤtige Zerstreuung zu verschaffen, beschlossen Beide, diese Lieben nach Frankfurt zu Freund Kraft zu bringen, um sie dann auch bei der Zu- ruͤckkunft von Heidelberg wieder mit nach Marburg zu nehmen. Dieser ganze Plan wurde genau so 1791 in den Osterferien ausgefuͤhrt. Bald nach der Ankunft in Heidelberg fand sich auch Jacob ein, er war ein guter und braver Juͤngling gewor- den, der seinen Eltern Freude machte, auch er freute sich ih- rer, und daß er auch endlich einmal wieder bei seinen Eltern leben konnte. Mit Lisetten aber gab es Schwierigkeiten: Stillings sämmtl. Schriften. I. Band 31 Freundin Mieg , die keine Kinder hatte, wuͤnschte das Maͤd- chen zu behalten, auch erklaͤrte sie, daß ihre Mutter, deren Herz an dem Kinde hinge, ihr Leben daruͤber einbuͤßen koͤnnte, wenn es ihr entzogen wuͤrde. Stillingen thats in der Seele weh, sein Toͤchterchen zuruͤck zu lassen, und Elise weinte — sie glaubte, es sey ihre eigene und keines Andern Pflicht, ihrer seligen Freundin Kinder zu erziehen, und sie wuͤrden der- einst von ihrer und keiner andern Hand gefordert werden; in- dessen beide Eltern beruhigten sich, und ließen das Maͤdchen in der Pflege ihrer Freundin Mieg . Daß es sehr wohl da aufgehoben gewesen, das wird sich im Verfolg zeigen. Dann kehrten sie mit ihrem Sohn wieder nach Frankfurt zuruͤck; Bruder Coing hatte sie auf dieser Reise in die Pfalz begleitet. Nach einem kurzen Aufenthalt in Frankfurt trat nun die ganze Gesellschaft wieder die Ruͤckreise nach Marburg an, wo also beide Professoren zu rechter Zeit anlangten, um ihren Beruf und ihre Kollegien anfangen zu koͤnnen. Im Herbst 1791 kam Elise gluͤcklich mit einer jungen Tochter nieder, welche den in der Duishing’schen Familie gewoͤhnlichen Namen Lubecka bekam. Außer dem Magen- krampf war jetzt eine kleine Leidenspause, aber sie waͤhrte nicht lange; denn Hannchen , die nun mit Schwarz versprochen war, bekam wieder die fuͤrchterlichen Kraͤmpfe, von denen sie aber in wenigen Wochen, durch den sehr geschickten Arzt, den Oberhofrath Michaelis , der auch zu Stillings intimsten Freunden gehoͤrt, gaͤnzlich befreit wurde. Auf Neujahrstag 17 9 2 wurde Stilling von der Univer- sitaͤt zum Prorector gewaͤhlt; sie hat diese Wuͤrde immer in großer Achtung erhalten, aber dagegen ist auch dieß Amt auf keiner Universitaͤt so schwer zu verwalten als auf dieser. Stil- ling trat es mit Zuversicht auf den goͤttlichen Beistand an, und wahrlich! er bedurfte ihn auch in diesem Jahre mehr als je. Als nun die Ostern, folglich Hannchens Verheirathen sich naͤherte, so besorgte Elise die Ausstattungsgeschaͤfte, und Stilling lud den Onkel Kraft mit seiner Gattin und Kin- dern, dann auch Vater Wilhelm Stilling zur Hochzeit; alle kamen auch, und Stilling rechnete diese Tage unter die vergnuͤgtesten seines ganzen Lebens, — dem Kreuztraͤger Wilhelm Stilling war diese Zeit — wie er sich ausdruͤckte — ein Vorgeschmack des Himmels. Schwarz und Hannchen wurden unter dem Segen ihrer Eltern, Großel- tern, Freunden und Verwandten in Stillings Hause mit einander verbunden; ihre Ehe ist gluͤcklich, und es geht ihnen wohl. Dann kehrten auch die lieben Besuchenden wieder in ihre Heimath zuruͤck. Seit einiger Zeit studirte ein junger Kavalier, der jetzige Koͤnigliche Preußische Landrath von Vinke zu Marburg ; er logirte in Stillings Haus und speiste auch an seinem Tisch; er gehoͤrte unter die vortrefflichsten Juͤnglinge, die je- mals in Marburg studirt haben. Jetzt schrieb nun sein Vater, der Domdechant von Vinke zu Minden , daß er diesen Sommer mit seiner Gemahlin und Kindern kommen, und Stilling und seine Elise besuchen wuͤrde. Dieß geschah denn auch, und zwar gerade damals, als die deutschen Fuͤr- sten den Zug nach Champagne machten und der Herzog von Weimar mit seinem Regiment nach Marburg kam. Mit diesem Regenten wurde jetzt Stilling auch bekannt. Der Domdechant und er brachten einen angenehmen Nachmittag mit ihm zu. Nachdem dieser liebe Besuch vorbei war, so wurde Elise wieder krank: sie war in gesegneten Umstaͤnden, welche durch diesen Zufall vernichtet wurden; indessen ging es noch gluͤcklich ab, so daß sie am neunten Tage, an wel- chem die Witterung sehr schoͤn war, wieder ausgehen konnte: man beschloß also in den Garten zu gehen; und da Schwarz und Hannchen auch da waren, um ihre Mutter zu besuchen, so kam auch Vater Coing zu dieser Gartenparthie, er war diesen Nachmittag besonders heiter und froh, und da er Abend- luft scheute, die auch Elisen noch nicht zutraͤglich war, so nahm er sie an den Arm und fuͤhrte sie nach Haus, und als er unten an der Gartenmauer vorbei ging, so bestreuten ihn die jungen Leute von oben herab mit Blumen. Des andern Morgens um 5 Uhr kam Stillings Kuͤchen- magd in sein Schlafzimmer, und ersuchte ihn herauszukom- 31 * men; er zog sich etwas an, ging heraus, und fand Schwarz und Hannchen blaß und mit niedergeschlagenen Augen ge- genuͤber im offenen Zimmer stehen: Lieber Vater! fing Schwarz an, was Sie so oft geahnt haben, ist eingetroffen; Vater Coing ist entschlafen! — Dieser Donnerschlag fuhr Stil- ling durch Mark und Bein — und nun seine, jetzt noch so schwache, Elise , die ihren Vater so zaͤrtlich liebte! — doch er faßte Muth, ging zu ihr ans Bett, und sagte: Lieschen ! wir haben einen lieben Todten! — sie antwortete: ach Gott! Hannchen ? — denn die war auch guter Hoffnung — Nein! erwiederte er: Vater Coing ist es! — Elise jammerte sehr, doch faßte sie sich christlich — indessen legte dieser Schre- cken den ersten Grund zu einem schweren Kreuz, an dem sie noch immer zu tragen hat. Nun eilte Stilling zu den lieben Geschwistern, sie standen alle Drei auf einem Kleeblatt in der Stube und weinten; Stilling umarmte und kuͤßte sie, und sagte: Sie sind nun jetzt alle drei meine Kinder, sobald als es moͤglich ist, ziehen Sie bei mir ein! — Dieß geschah denn auch, sobald die Leiche zu ihrer Ruhe gebracht war. Das Zusammenwohnen mit diesen lieben Geschwistern ist fuͤr Stilling in der Folge unbeschreiblich wohlthaͤtig und troͤstlich geworden, wie sich hernach zeigen wird. Vater Coing hatte einen Steckfluß bekommen, man hatte den Arzt gerufen, und alle moͤglichen Mittel angewendet, ihn zu retten; allein vergebens. Er bezeugte ganz ruhig, daß er zum Sterben bereit sey. Er war ein vortrefflicher Mann, und sein Segen ruht auf seinen Kindern. Hier faͤngt nun Stillings wichtigste Lebensperiode an; es gingen Veraͤnderungen in und außer ihm vor, die seinem ganzen Wesen eine sehr bedeutende Richtung gaben, und ihn zu seiner wahren Bestimmung vorbereiteten. Bald nach Vater Coings Tode kam die Zeit, in welcher der Prorector der Marburger Universitaͤt, nebst dem fuͤrstlichen Kommissarius, nach Niederhessen reisen, die dortigen Vogteien besuchen, und die Zehenten, welche der Universitaͤt gehoͤren, an den Meistbietenden versteigern muß. Die beiden Freunde Rieß und Stilling traten also diese Reise an, und letzte- rer nahm Elise mit, um ihr Aufheiterung, Erholung und Zerstreuung zu verschaffen: denn ihre Krankheit, und besonders des Vaters ploͤtzlicher Tod, hatte ihr zugesetzt. Nach verrich- teten Amtsgeschaͤften ging Stilling mit ihr uͤber Kassel wieder zuruͤck nach Marburg . In Kassel , und schon etwas fruͤher, fing Elise an, eine unangenehme Empfindung inwen- dig im Halse zu bemerken; in Kassel wurde diese Empfin- dung staͤrker, und in der rechten Seite ihres Halses entstand ein unwillkuͤhrliches und abwechselndes Zucken des Kopfs nach der rechten Seite, doch war es noch nicht merklich. Sie reis- ten nun nach Hause und warteten ihres Berufs. Jetzt nahten nun wieder die Herbstferien; der Oheim Kraft in Frankfurt schrieb, daß dort eine reiche blinde Juͤdin sey, welche wuͤnsche, von Stilling operirt zu werden, sie wolle gern die Reisekosten bezahlen, wenn er kommen und ihr helfen wolle. Stilling war dazu willig, allein er mußte sich erst zu Kassel die Erlaubniß auswirken, weil der Mar- burger Prorector keine Nacht außer der Stadt zubringen darf. Diese Erlaubniß erhielt er, folglich uͤbertrug er nun sein Amt dem Exprorector, und trat in Begleitung seiner Elise die Reise nach Frankfurt an. Als sie gegen Abend zu Vilbel , einem schoͤnen Dorfe an der Nidda , zwo Stunden von Frankfurt , ankamen, und vor einem Wirthshaus still hielten, um den Pferden Brod zu geben, so kam die Wirthin heraus an die Kutsche, und mit aͤngstlicher Miene sagte sie: Ach, wissen Sie denn auch, daß Franzosen ins Reich eingefallen sind, und schon Speyer einge- nommen haben ? — Diese Nachricht fuhr wie ein electri- scher Schlag durch Stillings ganze Existenz, indessen hoffte er noch, daß es ein leeres Geruͤchte, und nicht so arg seyn moͤchte; er setzte also mit seiner Begleitung die Reise nach Frankfurt fort, und kehrte dort bei Kraft ein; hier erfuhr er nun, daß die Nachricht leider! in ihrem ganzen Umfange wahr, und die ganze Stadt in Furcht und Unruhe sey. Es ist durchaus noͤthig, daß ich hier uͤber die sonderbaren Wirkun- gen, welche diese Nachricht in Stillings Seele hervorbrachte, einige Betrachtungen anstelle: Koͤnig Ludwig der Vierzehnte von Frankreich , nach ihm der Herzog Regent von Orleans , und endlich Lud- wig der Fuͤnfzehnte, hatten in einer Reihe von hundert Jah- ren die franzoͤsische Nation zu einem beispiellosen Luxus ver- leitet; eine Nation, die in der Wollust versunken ist, und deren Nerven durch alle Arten der Ueppigkeit geschwaͤcht sind, nimmt die witzigen Spoͤttereien eines Voltaire als Philosophie, und die sophistischen Traͤume eines Rousseau als Religion an; dadurch entsteht dann natuͤrlicher Weise ein Nationalcha- rakter, der fuͤr den sinnlichen Menschen aͤußerst hinreißend, angenehm und gefaͤllig ist; und da er zugleich das Blendende eines Systems, und eine aͤußere Politur hat, so macht er sich auch dem Denker interessant, und erwirbt sich daher den Beifall aller cultivirten Nationen. Daher kam es denn auch, daß unser deutscher hoher und niederer Adel, Frankreich fuͤr die hohe Schule der feinen Lebensart, des Wohlstandes und — der Sittlichkeit , — hielt. Man schaͤmte sich der Kraftsprache der Deutschen und sprach franzoͤsisch; man waͤhlte franzoͤsische Abentheurer, Fri- seurs, und genug, wenn er ein Franzose war, zu Erziehern kuͤnftiger Regenten, und gar oft franzoͤsische Putzmacherinnen zu Gouvernanten unserer Prinzessinnen, Comtessen und Fraͤu- leins. Der deutsche Nationalcharakter, und mit ihm die Re- ligion, geriethen ins alte Eisen und in die Rumpelkammer. Jetzt wollten nun die Gelehrten, und besonders die Theo- logen, rathen und helfen, und dazu waͤhlten sie — den Weg der Accommodation, sie wollten zwischen Christo und Be- lial Frieden stiften, jeder solle etwas nachgeben, Christus solle die Dogmen der Glaubenslehren aufheben und Belial die groben Laster verbieten, und beide sollten nun weiter nichts zum Religions-Grundgesetz anerkennen, als die Moral ; denn darin sey man sich einig, daß sie muͤsse geglaubt und gelehrt werden; was das Thun betrifft, das uͤberlaͤßt man der Frei- heit eines jeden einzelnen Menschen, die heilig gehalten und keineswegs gekraͤnkt werden darf. Dieses Christo-Belial- sche System sollte dann, par honneur de lettre, christ- liche Religionslehre heißen, um Christum und seine wah- ren Verehrer nicht gar zu sehr vor den Kopf zu stoßen. So entstand unsere heut zu Tag so hoch gepriesene Aufklaͤrung und die Neologie der christlichen Religion. Ich bitte aber recht sehr, mich nicht mißzuverstehen! — Vorsaͤtzlich wollte keiner dieser Maͤnner zwischen Christo und Belial — Frieden stiften, zumal, da man die Existenz des Letztern nicht mehr glaubte; sondern die von Jugend auf unvermerkt ins Wesen des menschlichen Denkens, Urtheilens und Schließens eingeschlichene Grundlage aller menschlichen Vorstellungen, die sich — wenn man nicht sehr wachsam ist, uns ganz unwillkuͤhrlich durch den Geist der Zeit aufdringt, alterirte das Moralprinzip und die Vernunft dergestalt, daß man nun Vieles in der Bibel aberglaͤubisch, laͤcherlich und abgeschmackt fand und sich daher uͤber alles wegsetzte, und nun mit solchen verfaͤlschten Prinzipien und alterirten Pruͤ- fungsorganen die Revision der Bibel , dieses uralten Heiligthums — das kuͤhnste Wagstuͤck unter allen — unter- nahm. So entstand nun der Beginn des großen Abfalls, den Christus und seine Apostel, und vorzuͤglich Paulus, so be- stimmt vorausgesagt und zugleich bemerkt haben, daß bald darauf der Mensch der Suͤnden, der Menschgewor- dene Satan erscheinen und durch ploͤtzliche Ankunft des Herrn in den Abgrund geschleudert werden sollte. Dieß große und bedeutende Ganze in Stillings Vor- stellungen von der gegenwaͤrtigen Lage des Christenthums und des Reichs Gottes hatte sich waͤhrend einer großen Reihe von Jahren, theils durchs Studium der Geschichte, theils durch Beobachtung der Zeichen der Zeit, theils durch fleißiges Lesen und Betrachten der biblischen Weissagungen, und theils durch Mittheilungen, im Verborgenen großer Maͤnner, nach und nach gebildet, und seine Wichtigkeit erfuͤllte seine Seele; hiezu kam nun eine andere, nicht weniger wichtige Bemerkung, die mit jenem im Einklang stand. Er hatte das Entstehen eines großen Buͤndnisses unter Men- schen von allen Staͤnden bemerkt, seinen Wachsthum und Fort- gang gesehen und seine Grundsaͤtze, die nichts Geringeres, als Verwandlung der christlichen in Naturreligion, und der monar- chischen Staatsverfassung in demokratische Republiken, oder doch wenigstens unvermerkte Leitung der Regenten, zum Zweck hatten, kennen gelernt, und durch wunderbare Leitung der Vor- sehung von Raschmann erfahren, wie weit die Sache schon gediehen sey, und dieß gerade zu der Zeit, als die franzoͤsische Revolution ausbrach. Er wußte, in wie fern die deutschen Maͤn- ner von diesem Bunde mit den franzoͤsischen Demagogen im Einverstaͤndniß standen, und war also in der gegenwaͤrtigen Zeitgeschichte, und in ihrem Verhaͤltniß zu den biblischen Weis- sagungen hinlaͤnglich orientirt. Das Resultat von allen diesen Vorstellungen in Stillings Seele war, daß Deutschland fuͤr seine Buhlereien mit Frankreich eben durch diese Macht erschrecklich wuͤrde ge- zuͤchtiget werden, er sah den großen Kampf vorher, durch den diese Zuͤchtigung ausgefuͤhrt werden sollte: denn womit man suͤndigt, damit wird man gestraft ! Und da der Abfall gleichsam mit beschleunigter Bewegung zunahm, so ahnete er auch schon von weitem die allmaͤhlige vorbereitende Gruͤndung des Reichs des Menschen der Suͤnden. Daß dieß Alles seine Richtigkeit habe, naͤmlich: daß diese Vorstellungen wirklich in Stillings Seele lebten und webten, ehe Jemand an die franzoͤsische Revolution und ihre Folgen dachte, das bezeugen gewisse Stellen in seinen Schriften, und besonders eine oͤffent- liche Rede, die er 1786 in der Kurfuͤrstlichen Deutschen Gesellschaft zu Mannheim gehalten hat, die aber aus leicht zu begreifenden Ursachen nicht gedruckt worden ist. Bei allen diesen Ueberzeugungen und Vorstellungen aber hatte er doch nicht gedacht, daß das Gewitter so schnell und so ploͤtz- lich uͤber Deutschland ausbrechen wuͤrde — das vermuthet er wohl, daß die franzoͤsische Revolution den entfernten Grund zum großen letzten Kampf zwischen Licht und Finsterniß legen wuͤrde, aber daß dieser Kampf so nahe sey, das ahnete er nicht: denn es war ihm gar nicht zweifelhaft, daß die vereinigte Macht der deutschen Fuͤrsten in Frankreich siegen wuͤrde — aber jetzt erfuhr er das ganz anders — es war ihm unbe- schreiblich zu Muthe: auf der einen Seite nunmehr solche Er- wartungen in der Naͤhe, die die hoͤchsten Wuͤnsche des Chri- sten uͤbersteigen, und auf der andern auch Erwartungen von nie erhoͤrten Truͤbsalen und Leiden, die der bevorstehende große Kampf unvermeidlich mit sich bringen wuͤrde. Ja, wahrlich! eine Gemuͤthsverfassung, deren Gewalt einen Mann, der in seinem Leben so viel gearbeitet hatte, und noch arbeitete, leicht haͤtte zu Boden druͤcken koͤnnen, wenn ihn nicht die Vorsehung zu wichtigen Zwecken haͤtte aufbewahren wollen! Man sollte denken, das sey nun schon Schmelzfeuer genug gewesen, allein gerade jetzt in dieser Angstzeit kam noch eine besondere Glut hinzu, die der große Schmelzer, aus ihm allein bekannten Ursachen, zu veranstalten noͤthig fand; ich habe oben erinnert, daß Elise durch Schrecken, in einem durch Krankheit geschwaͤchten Zustand, ein Zucken des Kopfs nach der rechten Seite bekommen habe; bis daher war dieß Uebel nicht sehr bedeutend gewesen, aber jetzt wurde es fuͤr die gute Seele und ihren Mann fuͤrchterlich und schrecklich: denn des andern Tages ihrer Anwesenheit in Frankfurt entstand ein schreckenvoller Allarm, die Franzosen seyen im Anmarsch — der Magistrat versammelte sich auf dem Roͤ- mer , Wassertonen wurden gefuͤllt, um bei dem Bombarde- ment den Brand loͤschen zu koͤnnen, u. s. w., mit Einem Wort: der allgemeine Schrecken war unbeschreiblich; fuͤr Elise kam aber nun noch ein besonderer Umstand hinzu; die Universitaͤt Marburg ist ein Hessischer Landstand, Stil- ling war ihr Prorector, und ihr Landesherr im Krieg mit Frankreich . Es war also nichts wahrscheinlicher, als daß die Franzosen bei ihrem Einfall in Frankfurt, Stilling als Geißel nach Frankreich schicken wuͤrden. Dieß war fuͤr Elise , die ihren Mann zaͤrtlich liebte, zu viel; jetzt zuckte der Kopf bestaͤndig nach der rechten Schulter, und der ganze obere Koͤrper wurde dadurch verzogen — Elise litt sehr da- bei, und Stilling glaubte in all’ dem Jammer vergehen zu muͤssen; Elise hatte einen geraden, schoͤnen Wuchs, und nun die druͤckende Leidensgestalt — es war kaum auszuhal- ten; bei allem dem war es schlechterdings unmoͤglich, aus der Stadt zu kommen, dieser und der folgende Tag mußte noch ausgehalten werden, wo sich’s dann auch zeigte, daß die Franzosen erst Mainz einzunehmen suchten; jetzt fand Stil- ling Gelegenheit zur Abreise, und da die Juͤdin unheilbar blind war, so fuhr er mit Elise wieder nach Marburg . Hier wurden nun alle moͤglichen Mittel versucht, die gute Seele von ihrem Jammer zu befreien; allein Alles ist bis dahin vergebens gewesen, sie traͤgt dieß Elend nun uͤber eilf Jahr! — es ist zwar Etwas besser als damals, indessen doch noch immer ein sehr hartes Kreuz fuͤr sie selbst und auch fuͤr ihren Mann Stilling wirkte in seinem Prorectorat und Lehramt treu- lich fort, und Elise trug ihren Jammer, wie es einer Christin gebuͤhrt; hiezu gesellte sich nun noch die Angst, von den Fran- zosen uͤberfallen zu werden; der Kurfuͤrst kam zwar Anfangs Oktobers wieder, aber seine Truppen ruͤckten wegen des schlim- men Wetters sehr langsam nach. Hessen , und mit ihm die ganze Gegend war also unbeschuͤtzt, folglich hatte der franzoͤsische General Custine freie Hand — waͤre sein Muth und sein Verstand so groß gewesen, wie sein Schnurr- und Backenbart, so haͤtte ein groͤßerer Theil von Deutschland seine politische Existenz verloren: denn die allgemeine Stimmung war damals revolutionaͤr und guͤnstig fuͤr Frankreich . Indessen wußte man damals doch nicht, was Custine vor- hatte, und man mußte Alles erwarten; seine Truppen hausten in der Wetterau umher, und man hoͤrte zu Zeiten ihren Kanonendonner; Alles ruͤstete sich zur Flucht, nur die Chefs der Kollegien durften nicht von ihren Posten gehen, folglich auch Stilling nicht, er mußte aushalten. Diese Lage druͤckte seine Seele, die ohnehin von allen Seiten geaͤngstigt war, außer- ordentlich. An einem Sonntag Morgen, gegen das Ende des Oktobers, entstand das fuͤrchterliche Geruͤcht in der Stadt, die Franzosen seyen in der Naͤhe, und kaͤmen den Lahnberg herunter — jetzt ging Stilling das Wasser an die Seele, er fiel auf seiner Studierstube auf die Knie, und flehte mit Thraͤnen zum Herrn um Trost und Staͤrke; jetzt fiel sein Blick auf ein Spruchbuͤch- lein, welches da vor ihm unter andern Buͤchern stand, er fuͤhlte eine Anregung in seinem Gemuͤthe, es aufzuschlagen, er schlug auf, und bekam den Spruch: Ich hebe meine Haͤnde auf zu den Bergen, von welchen mir Huͤlfe koͤmmt, meine Huͤlfe kommt vom Herrn , u. s. w.; noch einmal schlug er auf, und nun hieß es: Ich will eine feurige Mauer umher seyn , u. s. w.; muthig und getrost stand er auf, und von der Zeit an hatte er auch keine Angst mehr vor den Franzosen; es kamen auch wirklich keine, und bald ruͤckten die Preußen und Hessen heran, Frankfurt wurde erobert, und dann Mainz belagert. Hier muß ich zwei Anmerkungen machen, die mir keiner mei- ner Leser veruͤbeln wird. 1) Das Aufschlagen biblischer Spruͤche, um den Willen Gottes oder gar die Zukunft zu erforschen, ist durchaus Miß- brauch der heiligen Schrift, und dem Christen nicht erlaubt. Will man es thun, um aus dem goͤttlichen Wort Trost zu holen, so geschehe es mit voͤlliger Gelassenheit und Ergebung in den Willen Gottes; aber man werde auch nicht niederge- schlagen oder kleinmuͤthig, wenn man einen Spruch bekommt, der nicht troͤstlich ist — das Aufschlagen ist kein Mittel, das uns Gott zu irgend einem Zweck angewiesen hat, es ist eine Art des Looses, und dieß ist ein Heiligthum, das nicht ent- weiht werden darf. 2) Stillings außerordentliche Aengstlichkeit mag wohl hie und da die nachtheilige Idee fuͤr ihn erregen, als sey er ein Mann ohne Muth. Darauf dient zur Antwort.: Stil- ling zittert vor jeder kleinen und großen Gefahr, ehe sie zur Wirklichkeit kommt; aber wenn sie da ist, so ist er auch in der groͤßten Noth muthig und getrost. Dieß ist aber auch die natuͤrliche Folge lang erduldeter Leiden: man fuͤrchtete sie, weil man ihre Schmerzen kennt , und man traͤgt sie getrost, weil man des Tragens gewohnt ist , und ihre geseg- neten Folgen weiß. Auf die naͤchsten Osterferien wurde Stilling von der wuͤrdigen Vinkischen Familie zum Besuch nach Preu- ßisch-Minden eingeladen. Er nahm diese Einladung mit Dank an, und sein Hausfreund, der junge Vinke , und noch einige Freunde aus Kassel begleiteten ihn. Auf dieser Reise litt Stilling sehr am Magenkrampf, die Witterung war rauh, und er machte sie zu Pferde. Von Minden begleitete er auch gedachte Familie nach ihrem praͤchtigen Rittersitz Ostenwalde , vier Stunden von Osnabruͤck , dann reiste er uͤber Detmold wieder nach Haus. Auf dieser Reise lernte Stilling einige merkwuͤrdige Per- sonen kennen, mit denen er auch zum Theil in genaue freund- schaftliche Verhaͤltnisse kam, naͤmlich die nunmehr verstorbene Fuͤrstin, Juliane von Buͤckeburg, Kleucker in Osna- bruͤck — dieser hatte Stilling aber vorher schon in Mar- burg besucht — Moͤser und seine Tochter, die Frau von Voigt ; die Fuͤrstin Christine von der Lippe zu Det- mold , die drei Theologen: Ewald, Passavant von Koͤlln, und den fuͤrstl. Lippischen Leibarzt Scherf . Alle diese wuͤr- digen Personen erzeigten Stilling Ehre und Liebe. Dann lebte auch damals noch in Detmold eine sehr wuͤrdige Ma- trone, die Wittwe des sel. General-Superintendenten Stosch mit ihren Toͤchtern, deren die aͤlteste Selma’s vertraute Freundin gewesen war; Stilling besuchte sie, und wurde mit ruͤhrender Zaͤrtlichkeit empfangen; bei dem Abschied fiel ihm die ehrwuͤrdige Frau um den Hals, weinte und sagte: Wenn wir uns hier nicht wiedersehn, so beten Sie doch fuͤr mich, daß mich der Herr vollenden wolle, damit ich Sie dereinst in seinem Reich wiederum, freudiger wie jetzt, moͤge umarmen koͤnnen . Als Stilling von dieser Reise wieder nach Marburg , und vor seine Hausthuͤre kam, so trat Elise heraus, um ih- ren Mann zu empfangen; aber welch ein Anblick! — ein Schwert fuhr durch seine Seele — Elise stand da krumm und schief, ihr Halsziehen theilte sich auch dem obern Koͤrper staͤrker mit — es war schrecklich! das Herz blutete fuͤr Mit- leid und Wehmuth, aber das half nicht, es mußte ertragen werden. Indessen geschah Alles, um die gute Frau zu kuri- ren: man versuchte die wirksamsten Mittel: Vier Kegel Moca wurden auf ihren Schultern auf der bloßen Haut verbrannt: sie ertrug diese schrecklichen Schmerzen, ohne einen Laut von sich zu geben, allein es half nicht; sie brauchte Baͤder und die Spritztauche, die auch sehr heftig wirkt, allein es kam weiter nichts dabei heraus, als daß sie nun die zweite unzei- tige Niederkunft aushalten mußte, wobei sie wirklich in Le- bensgefahr gerieth, doch aber unter Gottes Beistand durch die angewandten Mittel wieder zurecht gebracht wurde. Nach und nach besserte es sich mit dem Halsziehen in so fern, daß es denn doch ertraͤglicher wurde. In diesem Fruͤhjahre 1793 trat der Kandidat Coing sein Predigtamt an, indem er bei der reformirten Gemeinde zu Gmuͤnd , einer Stadt im Oberfuͤrstenthum Hessen , fuͤnf Stunden von Marburg , angestellt wurde. Er war etwas uͤber ein halb Jahr in Stillings Haus gewesen; Coing wuͤrde auch dann sein Bruder seyn, wenn ihn kein Band der Blutsverwandtschaft an sein Herz knuͤpfte. Das Merkwuͤrdigste, was in diesem und dem folgenden Jahr in Stillings Geschichte vorkommt, ist die Heraus- gabe zweier Werke, die eigentlich die Werkzeuge der Entschei- dung seiner Bestimmung geworden sind; naͤmlich die Scenen aus dem Geisterreich , zwei Baͤnde, und dann das Heim- weh in vier Baͤnden und dem dazu gehoͤrigen Schluͤssel. Die Scenen aus dem Geisterreich thaten unerwar- tete Wirkung, sie erwarben Stilling ein großes religioͤses Publikum — ich kann ohne Prahlerei, mit Wahrheit sagen: in allen vier Welttheilen; dadurch wurden nun allenthalben die wahren Verehrer Jesu Christi aufs neue aufmerksam auf den Mann, dessen Lebensgeschichte schon Eindruck auf sie gemacht hatte. Die Scenen koͤnnte man wohl die Vor- laͤufer des Heimwehs nennen: sie machten aufmerksam auf den Verfasser; das Heimweh aber vollendete alles, es entschied ganz allein Stillings Schicksal, wie der Verfolg zeigen wird. Der Ursprung beider Buͤcher ist sehr merkwuͤrdig, denn er beweist unwiderlegbar, daß Stilling schlechterdings nichts zu seiner Bestimmung und zur Entscheidung seines Schicksals beigetragen habe; dies ist zwar in seiner ganzen Fuͤhrung der Fall, wie ich am Schluß dieses Bandes zeigen werde, aber bei diesen Buͤchern, die lediglich, besonders das Heimweh , die eigentlichen Werkzeuge seiner Bestimmung sind, kommt es darauf an, daß ich ihren Ursprung mit allen Umstaͤnden und nach der genauesten Wahrheit erzaͤhle. Die Scenen aus dem Geisterreich entstanden folgenderge- stalt: Als noch Raschmann mit seinen Grafen in Mar- burg war, so wurde einesmals des Abends in einer Gesell- schaft bei ihm von Wieland’s Uebersetzung des Lucians gesprochen; Raschmann las einige Stellen daraus vor, die aͤußerst komisch waren; die ganze Gesellschaft lachte uͤberlaut und Jeder bewunderte die Uebersetzung als ein unnachahmliches Meisterstuͤck. Bei einer gewissen Gelegenheit fiel nun Stil- ling dies Buch wieder ein; flugs, ohne sich lange zu beden- ken, verschrieb er es fuͤr sich. Einige Zeit nachher schlug ihm das Gewissen uͤber diesen uͤbereilten Schritt: Wie! — sprach diese ruͤgende Stimme in seiner Seele, du kaufst ein so theu- res Werk von sieben Baͤnden, und zu welchem Zweck? — blos um zu lachen! — und du hast noch so viele Schulden — und Frau und Kinder zu versorgen! — und wenn das Alles nicht waͤre, welche Huͤlfe haͤttest du einem Nothleiden- den dadurch verschaffen koͤnnen? — du kaufst ein Buch, das dir zu deinem ganzen Beruf nicht einmal nuͤtzlich, geschweige nothwendig ist. Da stand Stilling vor seinem Richter, wie ein armer Suͤnder, der sich auf Gnade und Ungnade ergibt. Es war ein harter Kampf, ein schweres Ringen um Gnade — endlich erhielt er sie, und nun suchte er auch von seiner Seite dies Vergehen so viel moͤglich wieder gut zu machen. Haben Lucian und Wieland — dachte er — Scenen aus dem Reich erdichteter Gottheiten geschrieben, theils um das Ungereimte der heidnischen Goͤtterlehre auf seiner laͤcher- lichen Seite zu zeigen, theils auch, um dadurch die Leser zu belustigen, so will ich nun Scenen aus dem wahren christlichen Geisterrech , zum ernstlichen Nachdenken und zur Bekehrung und Erbauung der Leser schreiben und das dafuͤr zu erhaltende Honorarium zum besten armer Blinder verwenden; diesen Gedanken fuͤhrte er aus und so entstand ein Buch, welches oben bemerkte, durchaus unerwartete Wir- kung that. Der Ursprung des Heimweh’s war eben so wenig planmaͤ- ßig: Stilling hatte durch eine besondere Veranlassung den Tristram Shandy von Lorenz Sterne aufmerksam gelesen. Bald nachher fuͤgte es sich auch, daß er die Lebenslaͤufe in aufsteigender Linie las. Beide Buͤcher sind bekannt- lich in einem sententioͤsen humoristischen Styl geschrieben. Bei dieser Lectuͤre hatte Stilling einen weit andern Zweck als den, welchen die Vorsehung dabei bezielte. Zu diesen zweien Vorbereitungen kam nun noch eine dritte: Stilling hatte seit Jahr und Tag den Gebrauch gehabt, taͤglich einen Spruch aus dem alten Testament, aus dem Hebraͤischen, und auch einen aus dem neuen Testament, aus dem Griechischen zu uͤbersetzen, und dann daraus eine kurzge- faßte und reichhaltige Sentenz zu formiren. Dieser Senten- zen hatte er in einer großen Menge vorraͤthig, und dabei keinen andern Zweck, als Bibelstudium. Wer konnte sich nun vorstellen, daß diese geringfuͤgigen und im Grunde nichts bedeutenden Sachen den wahren und eigentlichen Grund zur Entwicklung einer so merkwuͤrdigen Fuͤhrung legen sollten? — Wahrlich! Stilling ahnte so etwas nie von Ferne. Bald nach dem Lesen oben bemerkter Buͤcher, etwa gegen das Ende des Julius 179 3 , kam an einem Vormittag der Buchhaͤndler Krieger in Marburg zu Stilling und bat ihn, er moͤchte ihm doch auch einmal etwas Aesthetisches, etwa einen Roman, in Verlag geben, damit er Etwas haͤtte, das ihm Nutzen braͤchte, mit den trockenen Kompendien ging es so langsam her, u. s. w. Stilling fand in seinem Ge- muͤth Etwas, das diesen Antrag billigte; er versprach ihm also ein Werk von der Art, und daß er auf der Stelle da- mit anfangen wolle. Jetzt fiel Stilling ploͤtzlich der Gedanke ein, er habe von Jugend auf den Wunsch in seiner Seele genaͤhrt, nach Johann Bunians Beispiel, den Buß-, Bekehrungs- und Heiligungs-Weg des wahren Christen, unter dem Bilde einer Reise zu beschreiben; er beschloß also diesen Gedanken auszu- fuͤhren, und da er erst kuͤrzlich jene humoristischen Buͤcher ge- lesen, diesen Styl und diese Art des Vortrags zu waͤhlen, und dann seinen Vorrath von Sentenzen uͤberall auf eine schickliche Weise mit einzumischen. Zu dem Titel: das Heim- weh , gab ihm eine Idee Anlaß, die er kurz vorher Jemand in sein Stammbuch geschrieben hatte, naͤmlich: Selig sind, die das Heimweh haben, denn sie sollen nach Haus kommen ! — denn er urtheilte, daß sich dieser Ti- tel gut zu einem Buch schickte, das die leidensvolle Reise eines Christen nach seiner himmlischen Heimath enthalten sollte. So vorbereitet, fing nun Stilling an, das Heimweh zu schreiben. Da er aber nicht recht traute, ob es ihm auch in dieser Methode gelingen wuͤrde, so las er die ersten sechs Hefte zweien seiner Vertrauten Freunde, Michaelis und Schlar- baum , vor; diesen gefiel der Anfang ausserordentlich, und sie munterten ihn auf, so fortzufahren. Um aber doch sicher zu gehen, so waͤhlte er sieben Maͤnner aus dem Kreis seiner Freunde, die sich alle vierzehn Tage bei ihm versammelten, und denen er dann das binnen der Zeit Geschriebene vorlas, und ihr Urtheil daruͤber anhoͤrte. Der Gemuͤthszustand, in welchen Stilling waͤhrend dem Ausarbeiten dieses, vier große Octavbaͤnde starken, Buchs ver- setzt wurde, ist schlechterdings unbeschreiblich; sein Geist war wie in aͤtherische Kreise emporgehoben; ihn durchwehte ein Geist der Ruhe und des Friedens, und er genoß eine Wonne, die mit Worten nicht beschrieben werden kann. Wenn er an- fing zu arbeiten, so strahlten Ideen seiner Seele voruͤber, die ihn so belebten, daß er kaum so schnell schreiben konnte, als es der Ideengang erforderte; daher kam es auch, daß das ganze Werk eine ganz andere Gestalt, und die Dichtung eine ganz andere Tendenz bekam, als er sie sich im Anfang ge- dacht hatte. Hierzu kam nun noch eine sonderbare Erscheinung: in dem Zustande zwischen Schlafen und Wachen stellten sich seinem innern Sinn ganz uͤberirdisch schoͤne, gleichsam paradiesische Landschafts-Aussichten vor — er versuchte sie zu zeichnen, aber das war unmoͤglich. Mit dieser Vorstellung war dann allemal ein Gefuͤhl verbunden, gegen welches alle sinnlichen Vergnuͤgen fuͤr nichts zu achten sind — es war eine selige Zeit! — Dieser Zustand dauerte genau so lang, als Stilling am Heimweh schrieb, naͤmlich vom August 1793 bis in den Dezember 1794, also volle fuͤnf viertel Jahr. Hier muß ich aber den christlichen Leser ernstlich bitten, ja nicht so lieblos zu urtheilen, als ob Stilling sich dadurch etwa einer goͤttlichen Eingebung, oder nur etwas Aehnliches, anmaßen wolle. — Nein, Freunde! Stilling maßt sich uͤberhaupt gar nichts an: es war eine erhoͤhte Em- pfindung der Naͤhe des Herrn, der der Geist ist ; dieß Licht strahlte in seine Seelenkraͤfte, und erleuchtete die Imagination und die Vernunft. In diesem Licht sollte Stil- ling das Heimweh schreiben; aber deßwegen ist es doch im- mer ein gebrechliches Menschenwerk: wenn man einen Lehr- jungen, der bisher beim truͤben Oellicht armselige Sachen machte, auf einmal die Fensterladen oͤffnet, und die Sonne auf die Werkstaͤtte strahlen laͤßt, so macht er noch immer eine Lehrjungenarbeit, aber sie wird noch besser als vorher. Daher kam nun auch der beispiellose Beifall, den dieß Buch hatte: eine Menge Exemplare wanderten nach Amerika , wo es haͤufig gelesen wird. In Asien , wo es christlich gesinnte Deutsche gibt, wurde das Heimweh bekannt und gelesen. Aus Daͤnemark, Schweden und Rußland bis nach Astra- chan , bekam Stilling Zeugnisse dieses Beifalls. Aus allen Provinzen Deutschlands erhielt Stilling aus allen Staͤn- den — vom Thron bis zum Pflug eine Menge Briefe, die ihm den lautesten Beifall bezeugten; nicht wenige gelehrte Zweif- ler wurden dadurch uͤberzeugt, und fuͤr das wahre Christen- thum gewonnen; mit Einem Wort, es gibt wenig Buͤcher, die eine solche starke und weit um sich greifende Sensation gemacht haben, als Stillings Heimweh . Man sehe dieß nicht als Prahlerei an, es gehoͤrt zum Wesen dieser Geschichte. Aber auch auf Stilling selbst wirkte das Heimweh maͤch- tig und leidensvoll — die Wonne, die er waͤhrend des Schrei- bens empfunden hatte, hoͤrte nun auf; die tiefe und die in- Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 32 nere Ueberzeugung, daß auch die Staatswirthschft sein wah- rer Beruf nicht sey, brachte eben die Wirkung in seinem Ge- muͤth hervor, wie ehemals die Entdeckung in Elberfeld , die ausuͤbende Arzneikunde sey seine Bestimmung nicht, ihn druͤckte eine bis in das Innerste der Seele dringende Wehmuth, eine unaussprechliche Zerschmolzenheit des Herzens und Geisteszer- knirschung; alles Lob und aller Beifall der Fuͤrsten, der groͤßten und beruͤhmtesten Maͤnner, machte ihm zwar einen Augenblick Freude, aber dann empfand er tief, daß ihn ja das Alles nicht anginge, sondern daß alles Lob nur Dem gebuͤhre, der ihm solche Talente anvertraut habe; so ist seine Gemuͤthsstel- lung noch, und so wird sie auch bleiben. Es ist merkwuͤrdig, daß gerade in diesem Zeitpunkt drei ganz von einander unabhaͤngige Stimmen Stillings akademi- sches Lehramt nicht mehr fuͤr seinen eigentlichen Beruf erklaͤrten. Die erste war eine innere Ueberzeugung, die waͤhrend der Zeit, in welcher er am Heimweh schrieb, in ihm entstanden war, und von welcher er keinen Grund anzugeben wußte. Der Grundtrieb, den er von Kind auf so stark empfunden hatte, ein wirksames Werkzeug zum Besten der Religion in der Hand des Herrn zu werden, und der auch immer die wir- kende Ursache von seinen religioͤsen Nebenbeschaͤftungen war, stand jetzt in groͤßerer Klarheit vor seinen Augen als jemals, und erfuͤllte ihn mit Sehnsucht, von allem Irdischen losge- macht zu werden, um dem Herrn und seinem Reich ganz al- lein und aus allen Kraͤften dienen zu koͤnnen. Die zweite Stimme, die das Naͤmliche sagte, sprach aus allen Briefen, die aus den entferntesten und naͤchsten Gegen- den einliefen: die groͤßten und kleinsten Maͤnner, die Vor- nehmsten und die Geringsten forderten ihn auf, sich dem Dienst des Herrn und der Religion ausschließlich und ganz zu widmen, und daß er ja nicht aufhoͤren moͤchte, in diesem Fach zu arbeiten. Die dritte Stimme endlich war, daß um eben diese Zeit ein akademischer Orden und der Revolutionsgeist in Mar- burg unter den Studirenden herrschend waren, wodurch ihr ganzes Wesen mit solchen Grundsaͤtzen und Gesinnungen an- gefuͤllt wurde, die den Lehren, welche Stilling vortrug, schnur- gerade entgegen waren: daher nahm die Anzahl seiner Zuhoͤ- rer immer mehr und mehr ab, und der Geist der Zeit, die herrschende Denkungsart und die allgemeine Richtung der deut- schen Kameral-Politik ließen ihm keinen Schimmer von Hoff- nung uͤbrig, daß er fernerhin durch seine staatswirthschaftli- chen Grundsaͤtze Nutzen stiften wuͤrde. Jetzt bitte ich, nun einmal ruhig zu uͤberlegen, wie einem ehrlichen, gewissenhaften Mann in einer solchen Lage zu Muthe seyn muͤsse! — und ob die ganze Stellung dieses Schick- sals Stillings blindes Ohngefaͤhr und Zufall seyn koͤnnte? So hell und so klar jetzt das Alles war, so dunkel war der Weg zum Ziel: es ließ sich damals durchaus kein Aus- weg denken, um dazu zu gelangen: denn seine Familie war zahlreich; sein Sohn studirte; der Krieg und noch andere Umstaͤnde machten Alles sehr theuer; der Huͤlfsbeduͤrftigen waren viel; seine starke Besoldung reichte kaum zu; es waren noch viele Schulden zu bezahlen; zwar hatte Elise , die red- lich und treu in Ansehung der Haushaltung in Selma ’s Fußstapfen trat, aller Krankheiten, schweren Ausgaben, und Hannchens Verheirathung ungeachtet, in den wenigen Jah- ren schon einige hundert Gulden abgetragen, auch wurden die Zinsen jaͤhrlich richtig bezahlt, aber in den gegenwaͤrtigen Um- staͤnden war an eine merkliche Schuldentilgung nicht zu den- ken, folglich mußte Stilling um der Besoldung willen sein Lehramt behalten und mit aller Treue versehen. Man denke sich in seine Lage: zu dem Wirkungskreis, in welchem er mit dem groͤßten Segen und mit Freudigkeit haͤtte geschaͤftig seyn koͤnnen und zu dem er von Jugend auf eine unuͤberwindliche Neigung gehabt hatte, zu dem Beruf zu gelangen, lagen un- uͤbersteigliche Hindernisse im Weg. Hingegen der Beruf, in welchem er ohne Segen und ohne Hoffnung arbeiten mußte, war ihm durchaus unentbehrlich. Hiezu kam dann noch der traurige Gedanke: was sein Landesfuͤrst sagen wuͤrde, wenn er erfuͤhre, daß Stilling fuͤr die schwere Besoldung so we- nig leistete, oder vielmehr leisten koͤnnte ? Das Jahr 1794 streute wieder viele Dornen auf Stillings Lebensweg; denn im Februar starb Elisens aͤltestes Toͤchter- 32 * chen, Lubeka , an den Folgen der Roͤtheln, und im Verfolg kamen noch bitterere Leiden hinzu. Den folgenden Sommer im Julius schrieb ihm Lava- ter , daß er auf seiner Ruͤckreise von Kopenhagen durch Marburg kommen und ihn besuchen wuͤrde; dieß erfuͤllte ihn mit wahrer Freude: er hatte diesen Freund seines Her- zens gerade vor zwanzig Jahren in Elberfeld , und also in seinem Leben nur einmal gesehen, aber doch zu Zeiten ver- trauliche Briefe mit ihm gewechselt. Es war ihm aͤußerst wichtig, sich mit diesem merkwuͤrdigen Zeugen der Wahrheit einmal wieder muͤndlich zu unterhalten, und uͤber Vieles mit ihm auszure- den, das fuͤr Briefe zu beschwerlich und zu weitlaͤufig ist. La- vater kam mit seiner frommen, liebenswuͤrdigen Tochter, der jetzigen Frau Pfarrerin Geßner in Zuͤrich , an einem Sonn- tag Nachmittag in Marburg an. Stilling ging ihm ungefaͤhr eine Stunde weit entgegen. Lavater blieb da bis des andern Morgens fruͤh, wo er dann seine Reise fortsetzte. Man wird sich schwerlich aus der ganzen Geschichte eines Gelehrten erinnern, der so viel Aufsehen erregte, und so weniges doch erregen wollte, als Lavater : als am Abend in Stil- lings Haus gespeist wurde, so war der Platz vor dem Hause gedraͤngt voller Menschen und auswaͤrts an den Fenstern ein Kopf am andern. Er war aber auch in mancher Ruͤcksicht ein merkwuͤrdiger Mann, ein großer Zeuge der Wahrheit von Jesu Christo. Zwischen Lavater und Stilling wurde nun das Bruderband noch enger geknuͤpft; sie staͤrkten sich einer am andern, und beschloßen, sich weder durch Tod, noch durch Leben, weder durch Schmach, noch durch Schande, von dem jetzt so verachteten und gehaßten Christus abwendig machen zu lassen. Bald nachher erfolgte dann das bittere Leiden, dessen ich oben gedacht habe; es war eine heiße Pruͤfung: Stilling hatte den Gebrauch, daß er in den Pfingstferien mit seinen Zuhoͤrern nach Cassel ging, um ihnen auf Wilhelms- hoͤhe die auslaͤndischen Holzarten zu zeigen. Dieß geschah vorzuͤglich um derer willen, die die Forstwissenschaft studirten; indessen gingen auch viele Andere mit, um auch die uͤbrigen Merkwuͤrdigkeiten in Cassel zu besehen. Der Weg wurde gewoͤhnlich hin und her zu Fuß gemacht. Nun hatte Stil- ling auf dieser Reise das Vergnuͤgen, daß der Kurfuͤrst einen seiner Wuͤnsche erfuͤllte, naͤmlich eine besondere Forstschule an- zulegen. Als er nun mit seinen Begleitern nach Hause reiste, und die Studenten unter sich von dem Vergnuͤgen sprachen, das sie in Cassel genossen haͤtten, und daß Alles so wohl gelungen waͤre, so fuͤgte Stilling hinzu, und sagte: auch ich bin recht vergnuͤgt gewesen, denn ich habe auch einen Zweck erreicht, den ich zu erreichen wuͤnschte — weiter erklaͤrte er sich nicht; er hatte aber das Versprechen des Kurfuͤrsten im Auge, ein Forst-Institut anlegen zu wollen. Nun war zu der Zeit ein Privatlehrer in Marburg , ein rechtschaffener und gelehrter junger Mann, den die Studenten sehr lieb hatten; er war der Kantischen Philosophie zugethan, und diese war zu der Zeit an der Tagesordnung; da nun der Kurfuͤrst jener Philosophie nicht recht guͤnstig war, auch vielleicht sonst noch etwas Nachtheiliges von jenem Privatleh- rer gehoͤrt hatte, so schickte er ein Rescript an den jungen Mann, vermoͤge welchem er als Professor der Philosophie mit hundert Thalern Besoldung, nach Hanau versetzt werden sollte. — Dieser mußte Folge leisten, aber die Studenten wur- den wuͤthend, und ihr ganzer Verdacht fiel auf Stilling ; denn man deutete jenen Ausdruck auf der Casseler Reise da- hin, daß er unter dem Wohlgelingen seines Wunsches des Privatlehrers Wegberufung im Sinn gehabt und diese Wegbe- rufung bewirkt haͤtte. Die Gaͤhrung stieg endlich aufs Hoͤch- ste, und um zum Tumultuiren zu kommen, beschloßen sie, dem Privatlehrer, der nun auch zum Abzug bereit war, eine Musik zu bringen, bei der Gelegenheit sollte dann Stillings Haus gestuͤrmt und die Fenster eingeworfen werden. Sein guter Sohn Jakob erfuhr das Alles, er studirte die Rechts- gelahrtheit, war sehr ordentlich und fleißig und nahm an der- gleichen Unordnungen nie den geringsten Antheil. Der brave Juͤngling gerieth in die groͤßte Angst, denn seine Mutter Elise , die er herzlich liebte, war wieder guter Hoffnung, und seine Tante Amalia Coing, Elisens juͤngste Schwester, toͤdt- lich krank an der rothen Ruhr — er sahe also die Lebensge- fahr dreier Menschen vor Augen, denn der damalige Geist der Zeit, der mit dem Terrorismus in Frankreich zusam- menhing, schnaubte Mord und Tod, und die Studenten lebten im revolutionaͤren Sinn und Taumel. Jakob gab also seinen Eltern Nachricht von der Gefahr, die ihnen auf den Abend drohte, und bat, man moͤchte doch die Fenster nach der Straße und nach dem Platz hin aushe- ben und die Amalia an einen andern Ort legen, denn sie lag an den Fenstern nach der Straße hin. Die Fenster wur- den nun zwar nicht ausgehoben, aber die Kranke wurde hin- ten in einen Alkofen gebettet. Jakob aber ging bei den Studenten herum und legte sich aufs Bitten; er stellte ihnen die Gefahren vor, die aus dem Schrecken entstehen koͤnnten, allein das heißt tauben Ohren predigen; endlich, als er nicht nachlassen wollte, sagte man ihm unter dem Beding zu, wenn er auch zum Orden uͤberginge und sich aufnehmen lassen wolle. Zwei bange Stunden kaͤmpfte der gute Juͤngling in der Wahl zwischen zweien Uebeln; endlich glaubte er doch, der Eintritt in den Orden sey das Geringere; er ließ sich al- so aufnehmen, das Ungluͤck wurde abgewendet und es blieb nun dabei, daß die Studenten im Zug bei Stillings Hause blos ausspuckten — das konnten sie nun thun, dazu war Raum genug auf der Gasse. Stilling wußte kein Wort davon, daß sich sein Sohn in einen Studentenorden hatte aufnehmen lassen, er erfuhr es erst ein Jahr hernach, doch so, daß es ihm weder Schrecken noch Kummer verursachte: Jakob hielt sehr ernstlich bei seinen Eltern an, man moͤchte ihn noch ein halb Jahr nach Goͤttingen schicken. Die wahre Ursache, warum? wußte nie- mand, er schuͤtzte vor, daß es ihm sehr nuͤtzlich seyn wuͤrde, wenn er auch in Goͤttingen studirt haͤtte. Kurz, er ließ nicht nach, bis seine Eltern endlich einwilligten, und ihn ein Winterhalb-Jahr nach Goͤttingen schickten; sein geheimer Zweck aber war, dort wieder aus dem Orden zu gehen, und dieß dem dortigen Prorector anzuzeigen; in Marburg konnte er das nun nicht, wenn nicht der Laͤrm wieder von vorne ange- hen sollte. Gerade zu der Zeit wurden nun auf dem Reichs- tag zu Regensburg alle akademischen Orden verboten, und die Universitaͤten begannen die Untersuchungen; zum Gluͤck hatte nun Jakob schon vorher bei dem Prorector der Or- den abgesagt und sich daruͤber ein Zeugniß geben lassen, und so entging er der Strafe. Den folgenden Sommer, als er nun wieder zu Marburg war, begann auch dort die Un- tersuchung — mit groͤßter Verwunderung, und ganz unerwar- tet, fand man auch ihn auf der Liste. Jetzt trat er auf, und zeigte sein Zeugniß vor; die Sache wurde zur Entscheidung an den Kurfuͤrsten berichtet; Stilling schrieb Ihm die wahre Ursache, warum sein Sohn in den Orden getreten sey, der Kurfuͤrst hatte Wohlgefallen an dieser Handlung, und sprach ihn von allen Strafen und jeder Verantwortung frei. In diesem Jahre entstand auch ein neues Verhaͤltniß in Stillings Familie; Elisens beide Schwestern Maria und Amalia , zwei sehr gute und liebenswuͤrdige Seelen, waren fuͤr Stilling ein wahres Geschenk Gottes; in ih- rem Umgang war ihm, aber auch jedermann, der in diesen haͤuslichen Zirkel kam, innig wohl. Die drei Schwestern tru- gen den durch Leiden und Arbeit fast zu Boden gedruͤckten Mann auf den Haͤnden. Amalia hatte durch ihren vortrefflichen Charakter, durch ihre Schoͤnheit und Modonna-Gesicht, tiefen Eindruck auf Jakob gemacht. Der gute junge Mann stand Anfangs in den Gedanken, es sey nicht erlaubt, seiner Stiefmutter Schwe- ster zu heirathen, er kaͤmpfte also eine Zeitlang, und war im Zweifel, ob es nicht besser sey, das elterliche Haus zu verlas- sen? — Doch vertraute er sich seinem Schwager Schwarz , der ihm Muth machte, und ihm rieth, sein Verlangen den Eltern bekannt zu machen. Stilling und Elise fanden nichts dabei zu erinnern, sondern sie gaben beide ihren Segen und ihre Einwilligung zur Heirath, sobald als Jakob eine Versorgung haben wuͤrde; diese blieb aber sieben Jahre aus. Waͤhrend dieser Zeit war ihr beider Wandel wie ihr Charakter untadelhaft; doch um Laͤsterungen auszuweichen, uͤbernahm er nicht lange nachher die Fuͤhrung eines Cavaliers, der in Mar- burg die Rechte studirte, zu diesem zog er, und wohnte nicht eher wieder im elterlichen Hause, bis er Amalien heirathete. In diesem Herbst berief auch der Kurfuͤrst den jungen Coing zum Gesandtschafts-Prediger nach Regensburg , wo er ei- nige Jahre mit ausgezeichnetem Beifall dies Amt verwaltete. In dieser Verfassung geschah der Uebergang ins 1795ste Jahr; den 4ten Januar wurde Elise gluͤcklich von einem jungen Sohn entbunden, der den Namen Friedrich bekam, und noch lebt. Vierzehn Tage nachher bekam Stilling an einem Sonntag Nachmittag die traurige Nachricht, daß sein vieljaͤhriger vertrauter Freund, und nunmehriger Oheim Kraft , ploͤtzlich in die selige Ewigkeit uͤbergegangen sey. Stilling weinte uͤberlaut, es war aber auch ein Verlust, der schwer wieder ersetzt werden konnte. Die Todesart dieses vortrefflichen Mannes und beruͤhmten Predigers war auffallend schoͤn: er saß mit seiner guten Gat- tin, einer Tochter und einem oder zweien guten Freunden des Abends am Tisch, alle waren heiter und Kraft besonders munter. Seiner Gewohnheit nach betete er laut am Tisch, das geschah also auch jetzt; nach geendigter Mahlzeit stand er auf, richtete seinen Blick empor, fing an zu beten, und in dem Augenblick nahm der Herr seinen Geist auf, er sank nie- der und war auf der Stelle todt. Kraft war ein gelehrter Theologe und großer Bibelfor- scher; ohne besondere Rednergaben, ein beruͤhmter hinreißender Kanzelredner; in jeder Predigt lernte man etwas. Er spannte immer die Aufmerksamkeit, und ruͤhrte die Herzen unwidersteh- lich. Ich war einstmals in der Kirche zu Frankfurt , ein preußischer Offizier kam und setzte sich neben mich: ich sah ihm an, daß er blos da war, um doch auch einmal in die Kirche zu gehen. Der Kirchendiener kam, und legte jedem von uns ein Gesangbuch mit dem aufgeschlagenen Liede vor; mein Offizier guckte kaltbluͤtig hinein, und ließ es dann gut seyn; mich sah er gar nicht an; das stand aber auch in sei- nem freien Belieben; endlich trat Kraft auf die Kanzel — der Offizier sah hinauf, so wie man eben sieht, wenn man nicht weiß, ob man gesehen hat. Kraft betete — der Offi- zier sah ein paarmal hinauf, ließ es aber doch dabei bewen- den. Kraft predigte, aber nun wurde endlich der Kopf des Offiziers beweglich, seine Augen waren starr auf den Prediger gerichtet, und der Mund war weit offen, um Alles zu ver- schlingen, was Kraft aus dem guten Schatz seines Herzens vorbrachte; so wie er Amen sagte, wandte sich der Offizier zu mir und sagte: So habe ich in meinem Leben nicht Pre- gen hoͤren! Kraft war ein mit Weisheit begabter Mann, und in al- len seinen Handlungen konsequent — er war ein unaussprech- licher warmer Liebhaber des Erloͤsers, und auch ein eben so treuer Nachfolger desselben. Er war unbeschreiblich wohlthaͤ- tig und darin war dann auch seine fromme Gattin seine treue Gehuͤlfin; wenn es darauf ankam, und wohl angewendet war, so konnte er mit Freuden hundert Gulden hingeben, und das auf eine so angenehme Art, daß es heraus kam, als ob man ihm den groͤßten Gefallen erzeigte, wenn man’s ihm abnaͤhme. In seinen Studenten-Jahren sprach ihn ein armer Mann um ein Almosen an, er hatte kein Geld bei sich, flugs nahm er seine silberne Schnallen von den Schuhen, und gab sie dem Armen. Ohnerachtet er sehr orthodox war, so war er doch der toleranteste Mann von der Welt, hoͤflich und gastfrei im hoͤchsten Grade. In Gesellschaften war Kraft munter, angenehm, scherzhaft und witzig; als er im Jahr 1792 auf Ostern Stilling besuchte, und dieser an einem Abend eine Gesellschaft guter Freunde zum Essen gebeten hatte, so gerieth das Gespraͤch auf die Rentkammern der deutschen Fuͤrsten, und auf die verderb- lichen Grundsaͤtze, welche hin und wieder zum groͤßten Nach- theil der Regenten und ihrer Unterthanen, darin herrschend wuͤrden; endlich fing Kraft , der bisher geschwiegen hatte, mit seinem gewoͤhnlichen Pathos an, und sagte: Wenn sie auch sagen werden, Christus sey in der Kam- mer, so sollt ihr ihnen nicht glauben . Selig bist du theurer Gottesmann! die Erinnerung an Dein fruͤhes Wiedersehn im Reiche Gottes, ist deinem Freund Stilling ein Labetrank auf seinem leidensvollen Pilgerwege. Krafts Stelle wurde mit dem christlichen Prediger Pas- savant aus Detmold, Stillings vertrauten Freund, wie- der besetzt. Er hinterließ nebst seiner bis in den Staub ge- beugten Gattin, drei Toͤchter; die aͤlteste war schon einige Jahre vorher an seinen Kollegen, den rechtschaffenen Prediger Hausknecht , verheirathet worden; dieser ist ebenfalls ein aͤcht christlicher evangelisch gesinnter Mann, und Stillings vertrauter Freund, sein Haus hat ihm das Kraftische er- setzt. Die zweite Tochter heirathete einen exemplarisch from- men Prediger, Namens Eisentraͤger aus Bremen , der nach Worms berufen wurde, aber bald seinem Schwieger- vater nachfolgte; die dritte Tochter heirathete nach beider El- tern Tod einen jungen und christlichgesinnten Rechtsgelehrten, Namens Burckhardt , welcher jetzt fuͤrstlich Oranien-Nas- sauischer Regierungsrath in Dillenburg ist. Dann hatte sich auch der Mutter Coing und der Frau Pfarrerin Kraft juͤngste Schwester, die Jungfer Duising , eine Zeitlang im Kraftischen Hause aufgehalten; diese beiden Schwestern, die juͤngste Kraftische Tochter, und dann eine alte treue und fromme Hausmagd Catharina machten jetzt noch die Hausgesellschaft aus. Da aber nun die gute Wittwe in Frankfurt keine bleibende Staͤtte mehr fand und sich nach ihrer Vaterstadt Marburg und ihren Blutsverwandten sehnte, so miethete ihr Stilling eine Wohnung, die sie aber in einem Jahre wieder verließ, und mit Stilling und seiner Familie ins alte Familienhaus zog, wo sie nun in christlicher Liebe und Vertraulichkeit alle zusammen lebten. Stillings schwermuͤthige Seelenstimmung und viele fast unbezwingliche Geschaͤfte, veranlaßten ihn und seine Elise , eine laͤndliche Wohnung zu Ockershausen , einem Dorfe eine Viertelstunde von Marburg , zu miethen und da den groͤß- ten Theil des Sommers zuzubringen, um von der freien und reinen Luft in der schoͤnen Natur mehr Staͤrkung, Erholung und Aufheiterung zu erhalten; auch Elise hatte dieses alles noͤthig; denn durch ihr Halsziehen wurden auch die Brust- muskeln in ihrer freien Bewegung gehindert, dadurch bekam sie ein bald staͤrkeres, bald schwaͤcheres Druͤcken auf die Brust, welches sie noch bis auf den heutigen Tag aͤngstigt und zu Zeiten außerordentlich schwermuͤthig macht — auch ihr Weg ist recht Stillings -artig, und dieß macht ihrem, sie so zaͤrt- lich liebenden Mann oft seine Buͤrde schwerer. Von nun an wohnte Stilling mit seiner Familie vier Jahre lang einen großen Theil des Fruͤhlings, Sommers und Herbstes in Ockershausen in einem ar en Hause, an welchem ein schoͤner Obstgarten nebst einer Laube ist, und aus welchem man eine schoͤne Aussicht auf den Lahnberg hat. Seine Kollegien aber las er in der Stadt in seinem Hause. An einem Morgen im Fruͤhjahr 1796 kam ein junger schoͤ- ner Mann in einem gruͤnen seidenpluͤschenen Kleide, schoͤnen Stauchen und seidenen Regenschirm nach Ockershausen in Stillings Haus; dieser Herr machte Stillingen ein Kompliment, das eine feine und sehr vornehme Erziehung ver- rieth. Stilling erkundigte sich, wer er sey? — er erfuhr, daß es der merkwuͤrdige ..... war; Stilling wunderte sich uͤber den Besuch, und seine Verwunderung stieg durch die Er- wartung, was dieser aͤußerst raͤthselhafte Mann vorzubringen haben moͤchte. Nachdem sich Beide gesetzt hatten, fing der Fremde damit an, daß er Stillingen wegen eines Augen- kranken consulirte; indessen sein Anliegen druͤckte ihn so, daß er bald zu weinen anfing, Stillingen bald die Hand und bald den Arm kuͤßte und dann sagte: Herr Hofrath! nicht wahr, Sie haben das Heimweh geschrieben? „Ja! mein Herr ....!“ Er . So sind Sie einer meiner geheimen Obern (er kuͤßte Stilling wieder die Hand und den Arm und weinte fast laut). Still . Nein! lieber Herr ....! ich bin weder Ihr noch irgend eines Menschen geheimer Oberer — ich bin durchaus in keiner Verbindung. Der Fremde sah Stilling starr und mit inniger Bewe- gung an und erwiederte: Liebster Herr Hofrath! hoͤren Sie auf, sich zu verbergen, ich bin lang und hart genug gepruͤft worden, ich daͤchte doch, Sie kennten mich schon! Still . Liebster Herr ....! ich bezeuge Ihnen bei dem le- bendigen Gott, daß ich in keiner geheimen Verbindung stehe und wahrlich nichts von dem Allem begreife, was Sie von mir erwarten. Diese Aeußerung war zu stark und zu ernstlich, als daß sie den Fremden haͤtte in Ungewißheit lassen koͤnnen; jetzt war nun die Reihe an ihm, zu staunen und sich zu verwundern, er fuhr also fort: Aber so sagen Sie mir doch, woher wissen Sie denn etwas von der großen und ehrwuͤrdigen Verbindung im Orient, die sie im Heimweh so umstaͤndlich beschrieben, und sogar ihre Versammlungshaͤuser in Egypten , auf dem Berge Sinai , im Kloster Canobin und unter dem Tem- pel zu Jerusalem genau bestimmt haben? Still . Von dem allem weiß ich ganz und gar nichts, sondern diese Ideen und Vorstellungen kamen mir sehr lebhaft in die Imagination. Es ist also blos Fiction, pure Erdichtung. Er . Verzeihen Sie! — die Sache verhaͤlt sich in der That und Wahrheit so — es ist unbegreiflich — erstaunlich, daß sie das so getroffen haben. Nein! — das kommt nicht von ungefaͤhr! — Jetzt erzaͤhlte nun dieser Herr die wahren Umstaͤnde von der Verbindung im Orient. Stilling staunte und wun- derte sich aus der Maßen, denn er hoͤrte merkwuͤrdige und außerordentliche Dinge, die aber nicht von der Art sind, daß sie oͤffentlich bekannt gemacht werden duͤrfen; nur so viel betheure ich bei der hoͤchsten Wahrheit, daß das- jenige, was Stilling von diesem Herrn erfuhr, nicht auf die entfernteste Art Beziehung auf po- litische Verhaͤltnisse hat . Um die naͤmliche Zeit schrieb auch ein gewisser großer Fuͤrst an ihn und fragte ihn: woher er doch Etwas von der Verbindung im Orient wisse? denn die Sache ver- halte sich so, wie er sie im Heimweh beschrieben habe . Die Antwort fiel natuͤrlich schriftlich so aus, wie er sie obigem Fremden muͤndlich gegeben hatte. Stilling hat mehrere solche Erfahrungen, wo seine Ima- gination der wahren Thatsache, ohne vorher das Gegentheil davon gewußt, oder auch nur geahnt zu haben, ganz gemaͤß war; im Verfolg werden noch zwei Faͤlle von der Art vor- kommen. Wie das nun ist, und Was es ist, das weiß Gott! — Stilling macht keine Reflexionen daruͤber, son- dern er laͤßt es auf seinem Werth beruhen, und sieht es als Direktion der Vorsehung an, die ihn auf eine ausgezeichnete Art fuͤhren will. Die Eroͤffnung von dem orientalischen Geheimniß ist aber immer eine hoͤchstwichtige Sache fuͤr ihn, weil sie Bezug auf das Reich Gottes hat. Indessen ist doch auch da noch Vie- les im Dunkeln: denn Stilling erfuhr hernach von einem andern sehr wichtigen Manne auch Etwas von einer orienta- lischen Verbindung, die aber von einer ganz andern Art, und ebenfalls nicht von politischer Beziehung ist. Ob nun Beide ganz von einander verschieden sind, oder mit einander mehr oder weniger in Relation stehen, das muß sich noch ent- wickeln. Hierzu kamen noch andere außerordentliche merkwuͤrdige Entdeckungen: Stilling erhielt von den verschiedenen Orten her Nachrichten von den Erscheinungen aus dem Geisterreich; vom Wiederkommen laͤngst und vor Kurzem verstorbener Per- sonen hohen und niedern Standes; von merkwuͤrdigen Ahnun- gen, u. s. w., lauter Entdeckungen, deren Wahrheit apodictisch bewiesen ist. Schade, daß keine einzige von der Art ist, daß sie bekannt gemacht werden darf! — aber das ist bei solchen Sachen gewoͤhnlich der Fall — es heißt auch da: sie haben Mosen und die Propheten — und wir noch dazu Christum und die Apostel ; wir sind nicht auf außer- ordentliche Erkenntnißquellen angewiesen. Stillings Begriffe vom Hades , von der Geisterwelt, vom Zustand der Seele nach dem Tode, sind naͤchst denen, in der heil. Schrift zum Nachdenken hingeworfenen Winken, aus diesen Quellen ge- schoͤpft, indessen sind das keine Glaubensartikel, Jeder mag davon halten, was er will: nur daß er sie nicht verurtheile; denn dadurch wuͤrde er sich zugleich selbst verurtheilen. Das Jahr 1796 war fuͤr ganz Nieder-Deutschland ein Jahr des Schreckens und des Jammers, der Uebergang der Franzosen auf das rechte Rheinufer, ihr Zug nach Fran- ken , und dann ihr Ruͤckzug erfuͤllten die ganze Gegend mit namenlosem Elend; und da Hessen Frieden hatte, so fluͤch- tete Alles in die Marburger Gegend; als man einmal von Obrigkeits wegen die fremden Fluͤchtlinge, die sich daselbst auf- hielten, zaͤhlte, so fand man ihrer in Marburg und den umliegenden Ortschaften fuͤnf und vierzig tausend . Es war erbaͤrmlich anzusehen, wie Menschen aus allen Staͤnden in unabsehbaren Reihen, in Kutschen, auf Leiterwagen, auf Karren von Ochsen, Pferden, Kuͤhen und Eseln gezogen, mit reichem oder aͤrmlichem Gepaͤcke, zu Fuß, zu Pferd, zu Eseln, barfuß, oder beschuht, oder gestiefelt, Elend und Jammer im Gesicht, die Straßen erfuͤllten, und mit lautem Dank den Fuͤrsten segneten, der Friede gemacht hatte. Stillings Gemuͤth wurde durch dies Alles und dann noch durch den herrschenden Geist der Zeit, der Allem, was heilig ist, Hohn spricht, unbeschreiblich gedruͤckt, und seine Sehnsucht fuͤr den Herrn zu wirken vermehrt. Dies Alles hatte ihn schon im Jahr 1795 bewogen, eine Zeitschrift unter dem Namen: der graue Mann , herauszugeben, welche ganz unerwartet großen Beifall fand, deßwegen sie noch im- mer fortgesetzt wird. Man liest sie nicht nur in allen Pro- vinzen Deutschlands haͤufig, sondern so wie das Heim- weh in allen Welttheilen. Ich selbst habe Amerikanische deutsche Zeitungen gesehen, in welchem der graue Mann stuͤck- weise, unter versprochener Fortsetzung, eingeruͤckt war. Unter den vielen Fluͤchtlingen wurden Stilling und sei- ner Familie zwei sehr verehrungswuͤrdige Personen besonders wichtig: der Prinz Friedrich von Anhalt-Bernburg- Schaumburg , ein wahrer Christ im reinen Sinn des Worts, miethete sich in Marburg ein Haus; dann wohnte bei ihm seine naͤchste Blutsverwandtin, die Graͤfin Louise von Witt- genstein-Berlenburg zum Carlsberg . Beide Muͤt- ter waren leibliche Schwestern, naͤmlich Graͤfinnen Henckel von Donnersmark , und wahre Christinnen gewesen, die ihre Kinder vortrefflich und gottesfuͤrchtig erzogen hatten. Diese beiden, in jedem Betracht edle Menschen, wuͤrdigten Stil- ling und Elise ihres vertrauten Umgangs, und sie waren Beiden in ihrer Familie, die Zeit ihres fuͤnfjaͤhrigen Aufent- halts in Marburg in jeder Lage, und in jedem Betracht Engel des Trostes und der Huͤlfe. Dieser liebe Prinz und die huldvolle Graͤfin wohnten da vom Sommer 1796 bis in den Herbst 1801. Zu gleicher Zeit kam Stilling auch mit zwei abwesenden Fuͤrsten in nähere Verhaͤltnisse: der allgemein anerkannt vor- treffliche und christliche Kurfuͤrst von Baden , schrieb zu Zei- ten an ihn, und der Prinz Karl von Hessen , ein wahrer und sehr erleuchteter Christ, trat mit ihm in eine ordentliche Korrespondenz, die noch fortdauert. Nun ist es auch einmal Zeit, daß ich wieder an Vater Wilhelm Stilling gedenke und den Rest seiner Lebensge- schichte dieser mit einverleibe: seine zweite Heirath war nicht gesegnet gewesen, alles Ringens, Arbeitens und Sparens un- geachtet war er immer weiter zuruͤckgekommen und in Schul- den versunken, und seine vier Kinder zweiter Ehe, drei Toͤch- ter und ein Sohn, alle grundbrave und ehrliche Leute, wur- den alle arm und ungluͤcklich. Der alte Patriarch sahe sie alle um sich her — er sah ihren Jammer, ohne ihnen helfen zu koͤnnen. Stilling lebte indessen entfernt und wußte von dem allem wenig; daß es aber seinem Vater so gar uͤbel ginge, davon wußte er ganz und gar nichts; Wilhelm hatte auch mehr als eine gegruͤndete Ursache, seinem Sohn seine wahre Lage zu verhehlen, denn er hatte sich ehemals sehr oft gegen ihn geaͤußert: dafuͤr, daß er sich von einem Kinde unterstuͤtzen ließe, wolle er lieber trocken Brod essen ; — besonders aber mochte ihm folgender Ge- danke wohl schwer auf dem Herzen liegen: er hatte auch seinem Sohn in seinem Elend oft die bittersten Vorwuͤrfe uͤber seinen Zustand gemacht und ihm gesagt, er sey ein verlorner Mensch, er tauge zu nichts, man werde nichts als Schimpf und Schande an ihm erleben, er werde sein Brod noch betteln muͤssen , u. s. w. Von diesem Sohn sich nun noch unter- stuͤtzen zu lassen, oder ihm nach den Fingern sehen zu muͤssen, das mochte dem guten Alten bei seinem Ehrgefuͤhl wohl schwer fallen. Indessen erfuhr denn doch Stilling in Marburg nach und nach mehr von der wahren Lage seines Vaters, und ungeachtet er noch selbst eine große Schuldenlast zu tilgen hatte, so glaubte er doch, er koͤnne sich in diesem Fall wohl uͤber die bekannte Regel: so lange man Schulden habe, duͤrfe man kein Geld zu andern Zwecken verwen- den , hinaussetzen; er beschloß also, auf Ueberlegung mit Elise , woͤchentlich einen Thaler zur Unterstuͤtzung des alten Vaters beizutragen, und auch zu Zeiten so viel Kaffee und Zucker hin- zuschicken, als die beiden Alten (denn die Mutter lebte auch noch) brauchten. Elise schickte auch noch außerdem dann und wann, wie sie sichere Gelegenheit fand, eine Flasche Wein zur Staͤrkung nach Leindorf . Endlich starb denn auch Wilhelm Stillings zweite Frau ploͤtzlich an einem Steckfluß, er uͤbertrug nun seiner juͤngsten Tochter, die einen Fuhrmann geheirathet hatte, die Haushaltung, und ging dann bei ihr an den Tisch. Indessen wurde es dieser armen Frau sehr sauer; ihr Mann war im- mer mit dem Pferde auf der Straße und zu arm; u m sich fuͤr Geld Unterstuͤtzung zu verschaffen, mußte sie vom Mor- gen bis auf den spaͤten Abend im Felde und im Garten ar- beiten; folglich fehlte es dem guten Alten gaͤnzlich an der ge- hoͤrigen Pflege. Eben so wenig konnten auch die andern Kinder etwas thun, denn sie konnten sich selbst nicht retten, geschweige noch Jemand an die Hand gehen; mit Einem Wort: das Elend war groß. Wilhelm Stilling war damals in seinem achtzigsten Jahr und recht von Herzen gesund; aber seine ohnehin alten und gebrechlichen Fuͤße waren aufgebrochen und voller eitern- der und fauler Geschwuͤre, und dann fingen auch seine Seelen- kraͤfte an zu schwinden, besonders nahm sein Gedaͤchtniß außer- ordentlich ab. Endlich im August 1796 bekam Stilling einen Brief von einem Verwandten, der den frommen Alten besucht und allen seinen Jammer gesehen hatte. Dieser Brief enthielt die Schilderung des Elends und die Aufforderung an Stilling , er moͤchte seinen Vater zu sich nehmen, ehe er im Leiden ver- ginge. Das hatte Stilling nicht gewußt. — Auf der Stelle schickte er hin und ließ ihn nach Marburg fahren. Als man ihm nun zu Ockershausen ansagte, sein Vater sey in seinem Hause zu Marburg , so eilte er hin, um ihn zu be- willkommen. Aber, du großer Gott! welch ein Jammer! — so wie er ins Zimmer trat, kam ihm ein Pesthauch entgegen, wie er ihn noch nie in einem anatomischen Theater empfun- den hatte. Kaum konnte er sich ihm nahen, um ihn zu kuͤs- sen und zu umarmen — das Elend war groͤßer, als ich es beschreiben kann. Es war eine Wohlthat fuͤr den guten Va- ter, daß damals seine Verstandeskraͤfte schon so abgenommen hatten, daß er sein Elend nicht sonderlich empfand. Einige Jahre fruͤher waͤre es ihm bei seinem Ehrgefuͤhl und gewohn- ten Reinlichkeit unertraͤglich gewesen. Stillingen blutete das Herz bei seinem Anblick; aber Elise , die so oft gewuͤnscht hatte, daß ihr doch das Gluͤck werden moͤchte, ihre Eltern in ihrem Alter zu pflegen, griff das Werk mit Freuden an; man hat von jeher so viel Ruͤh- mens von den Heiligen der katholischen Kirche gemacht, und ihnen das besonders hoch angerechnet, daß sie in den Hospi- taͤlern und Lazarethen die stinkenden Geschwuͤre der armen Kranken verbunden hatten — hier geschah mehr — weit mehr — Du willst durchaus nicht, daß ich hier etwas zu deinem Ruhme sagen soll, edles gutes Weib! — nun ich schweige — aber Vater Wilhelm , der nicht mehr so viel bei Verstand war, daß er deine beispiellose Kindesliebe erken- nen und dich dafuͤr segnen konnte, wird dir dereinst in ver- Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 33 klaͤrter Gestalt entgegenkommen, du holde Kreuztraͤgerin! Stil- lings Leidens- und Lebensgefaͤhrtin! und den hier versaͤum- ten Dank in vollem Maß einbringen. An seiner Hand schwebt Dortchen einher, um ihre Tochter Elise zu bewillkommen, Vater Eberhard Stilling laͤchelte dir Frieden zu, und Selma wird auch ihre Freundin umarmen und sagen: Heil dir, daß du meinen Erwartungen so herrlich entsprochen hast! — alle diese Verklaͤrten fuͤhren dich dann vor den Thron des Allerbarmers, er neigt den Scepter aller Welten gegen deine Stirne und sagt: Was du diesem meinem Knecht ge- than hast, das hast du mir gethan; gehe hin, du Buͤrgerin des neuen Jerusalems, und genieße der Seligkeiten Fuͤlle ! Elise setzte dies schwere Liebesgeschaͤft bis in den Oktober fort, dann kam sie wieder in die Wochen mit einer Tochter, die noch lebt und Amalia heißt. Jetzt unterzog sich Ama- lia Coing , die kuͤnftige Enkelschwiegertochter Wilhelm Stillings , dieser Pflege, dafuͤr wirds ihr auch wohlgehen, ihr Leben wird groß seyn in Zeit und Ewigkeit. Das Ende dieses 1796sten Jahres war traurig: im Herbst starb ein Bruder der seligen Mutter Coing und der Tante Kraft , ledigen Standes, er war Advokat in Frankenberg und starb ploͤtzlich an einem Schlagfluß. Ein anderer eben- falls lediger Bruder, der Amts-Actuarius in Dorheim in der Wetterau war, kam nun, seines Bruders Sachen in Frankenberg in Ordnung zu bringen, und starb zehn Tage vor Weihnachten in Stillings Haus; durch alle diese Schlaͤge wurde die gute Wittwe Kraft , die auch im verflossenen Som- mer ihre Tochter Eisentraͤger als Wittwe wieder bekommen hatte, ganz zu Boden gedruͤckt, auch sie legte sich und starb am ersten Weihnachtsfeiertage sanft und selig, so wie ihre Schwester Coing . Jetzt waren nun noch die Jungfer Dui- sing , die Wittwe Eisentraͤger und die ledige Jungfer Kraft mit ihrer braven alten Katharine da; die Jungfer Kraft heirathete den folgenden Sommer den Herrn Burk- hardt in Dillenburg , die uͤbrigen drei Nachgelassenen aus dem ehrwuͤrdigen Zirkel des seligen Kraft leben nun jetzt noch im von Hamm ’schen Familienhause in Marburg, welches der Tante Duising eigenthuͤmlich zugehoͤrt. Der gute Schwarz hatte mit seinem Hannchen im 1796sten Jahr etwas Rechts zu leiden gehabt: er hatte sein einsames Dexbach verlassen und eine Pfarrstelle zu Echzell in der Wetterau angenommen, wo er nun allen Schrecken des Kriegs ausgesetzt war. Hannchen war auch mit unter den fuͤnf und vierzig tausend Fluͤchtenden, und sie hielt ihr drittes Kindbett ruhig bei ihren Eltern zu Marburg und reiste dann wieder auf ihren Posten. Das Jahr 1797 war eben nicht merkwuͤrdig in Stillings Lebensgang, Alles ruͤckte so in der gewoͤhnten Sphaͤre fort, außer daß sich Stillings innere Leiden eher vermehrten als verminderten — ihn druͤckte bestaͤndig eine innige Wehmuth, eine unbeschreibliche Freudenlosigkeit raubte ihm allen Genuß. Das Einzige, was ihn aufrecht hielt, war sein haͤuslicher Zir- kel, in welchem es Jedem wohl wurde, der sich darin befand. Elise und ihre beiden Schwestern Maria und Amalia waren die Werkzeuge, die der Herr brauchte, um seinem Kreuz- traͤger das Tragen zu erleichtern, obgleich Elise selbst unter ihrer Buͤrde beinahe erlag. Von allem dem empfand Vater Wilhelm gar nichts, er war Kind und wurde es immer mehr, und damit es ihm an keiner Aufwartung fehlen moͤchte, so ließ Stilling seiner aͤltesten Schwester Tochter Mariechen kommen, die dann ihre Pflicht am Großvater treulich so lang erfuͤllte, bis ihre Aufwartung sich nicht mehr fuͤr ein junges Maͤdchen schickte und eine alte Wittwe angenommen wurde, die Tag und Nacht seiner wartete. Mariechens Charakter entwickelte sich zu ihrem Vortheil, sie genießt die Achtung und Liebe aller guten Menschen, und sie wird von Stilling und Elise als Kind geliebt. Mit Vater Wilhelm kam es nach und nach so weit, daß er Niemand, und am Ende sogar seinen Sohn nicht mehr kannte; von seiner zweiten Heirath und Kinder wußte er fast gar nichts mehr, aber von seiner Heirath mit Dortchen und von seinen Jugendjahren sprach er zuweilen in einzelnen Ideen. Sobald man aber vom Christenthum zu reden anfing, so kam 33 * ihm sein Geist wieder, dann sprach er zusammenhaͤngend und vernuͤnftig; und als dieß auch aufhoͤrte, so hing doch seine Vorstellungskraft noch an ein paar Bibelspruͤchen von der Vergebung der Suͤnden durch das Leiden und Sterben Christi , die er unzaͤhligemal mit vielen Thraͤnen und Haͤnderingen wiederholte und sich damit in seinem Leiden troͤstete. Aus diesem Beispiel kann man lernen, wie wichtig es sey, wenn man den Kindern fruͤhzeitig das Gedaͤchtniß mit erbaulichen Spruͤchen aus der Bibel und Liederversen anfuͤllt. Die ersten Eindruͤcke im Gedaͤchhniß des Kindes sind unausloͤschbar. In der Jugend helfen ihnen solche Spruͤche und Verse wenig; aber wenn sie im hohen Alter Wilhelm Stillings Wuͤste durchpilgern muͤssen, wo sie einsam, von aller Empfindung des gesellschaftlichen Lebens und ihres eigenen Bewußtfeyns entbloͤßt, nur noch einen kleinen Schimmer der Vernunft zum Fuͤhrer haben, da wo sie ihren ganzen Lebensgang vergessen haben, da sind solche Spruͤche und Verse Himmelsbrod, das zum Uebergang uͤber den schauerlichen Strom des Todes staͤrkt. Uebrigens sind sie in Kreuz und Truͤbfal, in Noth und Tod herrliche Staͤrkungs- und Troͤstungsmittel. In den Pfingstferien dieses 1797sten Jahres erfuhren Stil- ling und Elise wieder eine merkwuͤrdige Probe der goͤttli- chen Vorsorge: er hatte allerdings einen ansehnlichen Gehalt, aber auch eben so ansehnliche und nothwendige Ausgaben, denn es war zu der Zeit in Marburg alles theuer; nun wird sich jeder Hausvater solcher Zeitpunkte erinnern, wo gerade vie- lerlei Umstaͤnde zusammentrafen, die vereinigt eine Presse von Geldnoth verursachten, aus der man sich nicht zu retten wußte und wo man auch nicht in der Lage war, Schulden machen zu koͤnnen oder zu duͤrfen. Ungefaͤhr in dieser Lage befand sich Stilling , oder vielmehr Elise , als welche in Sel- ma’s Fußstapfen getreten war und die Haushaltungssorge nebst der Verwaltung der Kasse ganz allein uͤbernommen hatte. Nun hatte aber eine sehr wuͤrdige und ansehnliche Dame in der Schweiz einige Zeit vorher an Stilling geschrieben und ihn wegen der Blindheit ihres Mannes zu Rath gezogen. Gerade jetzt in der Presse, als Stilling mit den Studen- ten in Cassel war und seine gewoͤhnliche Pfingstreise mit ih- nen machte, bekam er einen Brief von dieser Dame mit einem Wechsel von dreihundert Gulden, wobei sie schrieb: Stilling moͤchte ja nie an eine Vergeltung oder dafuͤr zu leistenden Dienst denken; sie fuͤhle sich gedrungen, diese Kleinigkeit zu schicken, und baͤte nun ferner, der Sache nicht mehr zu ge- denken. So wurde der Druck auf einmal gehoben, aber auch Elisens Glauben sehr gestaͤrkt. Zu den wichtigsten Stillings -Freunden und Freundinnen gesellt sich in diesem Jahre noch eine sehr verehrungswuͤrdige Person: die Graͤfin Christine von Waldeck , Wittwe des Grafen Josias zu Waldeck-Bergheim und geborne Graͤfin von Isenburg-Buͤdingen; diese beschloß, ihre zwei juͤngern Soͤhne nach Marburg zu schicken und sie dort studiren zu lassen. Endlich entschloß sie sich selbst, mit ihrer liebenswuͤrdigen Toch- ter, der Comtesse Karoline , so lang nach Marburg zu ziehen, als ihr Sohn dort studiren wuͤrde. Was diese christ- liche Dame Stillingen und Elisen gewesen ist, wie man- nigfaltig ihr zur Menschenliebe geschaffenes Herz auf Rath und That bedacht war, das laͤßt sich nicht beschreiben. Sie schloß sich so ganz an den Prinzen Friedrich von Anhalt und die Graͤfin Louise an; allen Dreien durften Stilling und Elise alle ihre Leiden klagen und uͤber alle ihre Anlie- gen vertraulich mit ihnen ausreden. Das Jahr 1798 ist in Stillings Geschichte deßwegen merkwuͤrdig, weil er in demselben die Siegsgeschichte der christlichen Religion in einer gemeinnuͤtzigen Er- klaͤrung der Offenbarung Johannis schrieb und dann mit seiner Elise die erste bedeutende Reise machte. Mit der Siegsgeschichte hatte es folgende Bewandtniß: die wichtigen Folgen, welche die franzoͤsische Revolution hatte, und die Ereignisse, welche hin und wieder zum Vorschein ka- men, machten allenthalben auf die wahren Verehrer des Herrn, die auf die Zeichen der Zeit merkten, einen tiefen Eindruck. Verschiedene fingen nun an, gewisse Stuͤcke aus der Offen- barung Johannis auf diese Zeiten anzuwenden, ohne auf den ganzen Zusammenhang der Weissagung, und ihren Geist in der Bibel uͤberhaupt, Ruͤcksicht zu nehmen. Sehr verstaͤn- dige Maͤnner hielten schon die franzoͤsische Kokarde fuͤr das Zeichen des Thiers, und glaubten also, das Thier aus dem Abgrund sey schon aufgestiegen und der Mensch der Suͤnden wirklich da. Diese ziemlich allgemeine Sensation unter den wahren Christen kam Stilling bedenklich vor und er war Willens, im grauen Manne davor zu warnen. Auf der andern Seite war es ihm doch auch aͤußerst wich- tig, daß der bekannte fromme und gelehrte Praͤlat Bengel schon vor fuͤnfzig Jahren in seiner Erklaͤrung der Apocalypse bestimmt vorausgesagt hatte, daß in dem letzten Jahrzehent des achtzehnten Jahrhunderts der große Kampf anfangen und der roͤmische Stuhl gestuͤrzt werden sollte. Dieses hatte nun ein Ungenannter in Karlsruhe in einer naͤhern und bestimm- ten Erlaͤuterung des Bengel ’schen apocalyptischen Rech- nungssystems noch genauer ausfindig gemacht und sogar die Jahre aus dem neunziger Jahrzehent festgesetzt, in welchen Rom gestuͤrzt werden sollte, und dieß achtzehn Jahre vorher, ehe es wirklich eintraf. Dieß Alles machte Stilling auf- merksam auf Bengels Schriften, und besonders auf das so eben beruͤhrte Buch des Karlsruher ungenannten Verfassers. Hier kamen nun noch zwei Umstaͤnde, die auf Stillings Gemuͤth wirkten, und es zu einer so wichtigen Arbeit vorbe- reiteten: Das Heimweh hatte auf verschiedene Mitglieder der Herrnhuter Bruͤdergemeine tiefen und wohlthaͤtigen Eindruck gemacht; er wurde in dieser Gemeine bekannter, man fing an, seine Lebensgeschichte allgemeiner zu lesen, und auch seine uͤbrigen Schriften, besonders der graue Mann, wurde durchgehends als erbaulich anerkannt. Er wurde von durch- reisenden Bruͤdern besucht, auch er las viele ihrer Schriften, mit einem Wort: die Bruͤdergemeine wurde ihm immer ehr- wuͤrdiger, besonders auch dadurch, daß er in ihren Schriften uͤberhaupt, und vorzuͤglich in ihren Gemein- und Missions- Nachrichten, auch Prediger-Konferenz-Protokollen, die man ihm mittheilte, einen ungemein raschen Fortschritt in der Ver- vollkommnung der Lehre und des Lebens bemerkte, und daß alle ihre Anstalten von der Vorsehung ganz ausgezeichnet ge- leitet und mit Segen begleitet wurden, und was vollends eine naͤhere Vereinigung bewirkte, das war ein Briefwechsel mit einem wuͤrdigen und lieben Prediger aus der Bruͤderge- meine, dem Bruder Erxleben , der damals in Bremen , und hernach zu Norden in Ostfriesland das Lehramt verwaltete, gegenwaͤrtig aber Ehechorhelfer in Herrnhut ist. Die Korrespondenz mit diesem lieben Mann dauert noch fort, und wird wohl nicht eher aufhoͤren, bis Einer von Beiden zur oberen Gemeine abgerufen wird. Stilling entdeckte also in dieser Gemeine eine wichtige Anstalt zur vorbereitenden Gruͤndung des Reichs Gottes; sie schien ihm ein Seminarium desselben zu seyn, und diese Idee gab ihm einen wichtigen Aufschluß uͤber eine Haupt-Hiero- glyphe der Apocalypse . Der zweite Umstand, der Stilling zu einer so wichtigen und kuͤhnen Arbeit vorbereitete, war die große und ganz un- erwartete Entdeckung in England , welche die merkwuͤrdige neue und große Missions-Anstalt zur Folge hatte. Diese Sache war so auffallend und der Zeitpunkt ihres Entstehens so merk- wuͤrdig, daß kein wahrer Christus-Verehrer gleichgiltig bleiben konnte. In Stillings Gemuͤth aber bestaͤrkt sie die Idee, daß auch diese Anstalt ein Beweis von der schleunigen Annaͤhe- rung des Reichs Gottes sey; und allenthalben blickte der wahre Christ nach dem großen goldnen Uhrzeiger an des Tem- pels Zinnen, und wer bloͤde Augen hatte, der fragte den Schaͤrfersehenden: wie viel Uhr es sey ? — Ungeachtet aber, daß dieß Alles in Stillings Seele vorging, so kam ihm doch kein Gedanke in den Sinn, sich an die heilige Hieroglyphe der Apocalypse zu wagen, sondern vielmehr im grauen Mann jeden fuͤr dieses Wagestuͤck zu warnen, weil so viele daruͤber zu Schanden geworden waren. Allein so wie das Unerwartete in Stillings Fuͤhrung al- lenthalben Thema und Maxime der Vorsehung ist, so ging es auch in diesem Fall: An einem Sonntag Morgen, im Maͤrz des 1798sten Jahrs, beschloß Stilling , nicht in die Kirche zu gehen, sondern am grauen Mann zu arbeiten, und besonders darinnen etwas Nuͤtz- liches uͤber die Offenbarung Johannis dem christli- lichen Lesen mitzutheilen; um sich nun in dieser wichtigen und schweren Materie in Etwas zu orientiren, so nahm er die vorhin bemerkte Karlsruher Erlaͤuterung zur Hand, setzte sich damit an seinen Pult, und fing an zu lesen. Ploͤtz- lich und ganz unerwartet durchdrang ihn eine sanfte und innige sehr wohlthaͤtige Ruͤhrung, die in ihm den Entschluß erzeugte, die ganze Apocalypse aus dem griechischen Grundtext zu uͤber- setzen, sie Vers fuͤr Vers zu erklaͤren, und das Bengel’sche Rechnungs-System beizubehalten, weil es bis dahin anwend- bar gewesen, und besonders in diesen Zeiten so merkwuͤrdig eingetroffen waͤre. Er begab sich also auf der Stelle an diese Arbeit und hoffte, der Geist des Herrn wuͤrde ihn bei allen dunkeln Stellen erleuchten und in alle Wahrheit fuͤhren. Stil- lings Siegsgeschichte der christlichen Religion ist also kein vorher durchdachtes ausstudirtes Werk, sondern sie wurde so stuͤckweise in den Nebenstunden unter Gebet und Flehen um Licht und Gnade niedergeschrieben und dann ohne weiters an Freund Raw nach Nuͤrnberg zur Buchdrucker- presse geschickt. Sobald Stilling nur die Zeit dazu findet, so wird er in Nachtraͤgen zur Siegsgeschichte noch Manches naͤher bestimmen, berichtigen und erlaͤutern. Wer nicht vorsaͤtzlich und boshafter Weise alles uͤbel aus- legen und zu Bolzen drehen will, sondern nur ehrlich und billig denkt, der wird Stilling nicht beschuldigen, daß er bei seinen Lesern die Idee erregen wolle, er schreibe aus goͤtt- licher Inspiration; sondern mein Zweck ist, sie zu uͤberzeugen, daß seine Schriften — sie moͤgen mehr oder weniger mangel- haft seyn — doch unter der besondern Leitung der Vorsehung stehen — dafuͤr ist ihm seine ganze Fuͤhrung, und dann auch der ungemeine, unerwartete Segen, der auf seinen Schriften ruht, Buͤrge. Dieß war auch wieder bei der Siegsgeschichte der Fall: denn kaum war ein Jahr verflossen, so wurde sie schon zum zweitenmal aufgelegt. Diesen ganzen Sommer durch war Stillings Schwer- muth auf den hoͤchsten Grad gestiegen — er dachte manch- mal uͤber diesen Zustand nach, und brauchte seine ganze medi- zinische Vernunft, um in dieser Sache auf den Grund zu kommen, aber er fand keinen. Hypochondrie war es nicht, wenigstens nicht die gewoͤhnliche, sondern es war eigentlich Freudenleerheit , auf welche auch der reinste sinnliche Ge- nuß keinen Eindruck machte; die ganze Welt wurde ihm fremd, so, als ob sie ihn nichts anginge, Alles was andern, auch guten Menschen, Vergnuͤgen machte, war ihm ganz gleichguͤl- tig — Nichts! — ganz und gar Nichts! — als sein großer Gesichtspunkt, der ihm aber Theils dunkel, Theils ganz un- erreichbar schien, fuͤllte seine ganze Seele aus, auf den starrte er hin, sonst auf Nichts. Seine ganze Seele, Herz und Ver- stand, hing mit der ganzen Fuͤlle der Liebe an Christo , aber nicht anders als mit einer wehmuͤthigen Empfindung. Das Schlimmste war, daß er diese schwere Lage Niemand klagen konnte, weil ihn Niemand verstand; — ein paarmal entdeckte er sich frommen Freunden in den Niederlanden , allein diese nahmen es ihm sogar uͤbel, daß er glaubte in einem so erhabe- nen mystischen Zustand zu stehen: denn er hatte seine Gemuͤthsver- fassung den Stand des dunkeln Glaubens genannt. O Gott, es ist schwer, den Weg des heiligen Kreuzes zu gehen! — aber hernach bringt er auch unaussprechlichen Segen. Die wahre Ursache, warum ihn sein himmlicher Fuͤhrer in diese traurige Gemuͤthsstimmung gerathen ließ, war wohl fuͤrs Erste, um ihn vor dem Stolz, und der allen Sinn fuͤr Religion und Christenthum toͤdtenden Eitelkeit zu bewahren, in welche er ohne diesen Pfahl im Fleisch gewiß gerathen waͤre, weil ihm von allen Seiten her, aus der Naͤhe und Ferne, von Hohen und Niedern, Gelehrten und Ungelehrten, außerordentlich viel Schoͤnes und Herzerhebendes zum Lob gesagt wurde; in diesem Zustand freute es ihn einen Augen- blick, so wie Einen ein warmer Sonnenstrahl an einem dun- keln Dezembertage; dann aber war es wieder wie vorher, und ihm gerade so zu Muth, als wenn es ihn gar nicht an- ginge. Fuͤrs zweite aber mochte auch wohl der himmlische Schmelzer diesen Sohn Levi noch aus andern hoͤhern Ursa- chen auf diesen Treibheerd setzen, um gewisse Grundtriebe des Verderbens radical auszubrennen. Dieser Seelenzustand dauert noch immer fort, ausser daß nun eine innige Ruhe, und ein tiefer Seelenfriede damit verbunden ist. Elise , ob sie gleich selbst sehr litt, war doch immer die einzige Seele unter allen Freunden, der er sich ganz entdecken und mittheilen konnte; sie litt dann noch mehr, ohne ihm helfen zu koͤnnen; allein ihre Theilnahme und treue Pflege waren ihm denn doch unschaͤtzbare Wohlthaten, und besonders machte ihm ihr Umgang Alles weit ertraͤglicher. Von der Zeit an schloßen sich Beide immer inniger und fester an ein- ander an, und wurden sich wechselseitig immer unentbehrlicher. Ueberhaupt war Stillings ganzer haͤuslicher Zirkel unaus- sprechlich liebevoll und wohlthaͤtig fuͤr ihn; in einer andern Lage haͤtte er es nicht ausgehalten. Es war auch sehr gut, daß sein Magenkrampf nachzulassen begann: denn mit einem so aͤußerst geschwaͤchten Koͤrper haͤtte er es nicht ertragen koͤnnen. Stillings Staaroperationen und Augenkuren waren be- sonders gesegnet, und er hatte sie von Elberfeld an bis daher ununterbrochen fortgesetzt, aber sie hatten auch eine dop- pelte Beschwerlichkeit fuͤr ihn: seine einmal angenommene Maxime, von welcher er auch nicht abgehen kann, von keiner Staar- oder andern Augenkur Etwas zu fordern, sondern Je- dermann unentgeltlich damit zu dienen, es sey denn, daß ihm Jemand von freien Stuͤcken erkenntlich ist, und ihm — aber ohne sich wehe zu thun — ein Geschenk macht, zog ihm einen erstaunlichen Zulauf von Augenkranken zu; jeden Au- genblick wurde er durch solche Leidende an seiner Arbeit unter- brochen, und seine Geduld dadurch aufs aͤußerste gepruͤft. Aber die zweite noch groͤßere Beschwerlichkeit war die, daß man ihm von allen Seiten arme Blinde mit Zeugnissen der Armuth zuschickte, ohne daß sie das noͤthige Geld zum Unter- halt waͤhrend der Kur mitbrachten — einen solchen bedauerns- wuͤrdigen Blinden ohne Huͤlfe, um einiger Gulden willen wie- der zuruͤckzuschicken, das lag in Stillings Charakter nicht. Zwar hatten die Direktoren der beiden protestantischen Wai- senhaͤuser in Marburg die Guͤte, solche arme Blinde fuͤr eine maͤßige Bezahlung waͤhrend der Kur aufzunehmen und zu verpflegen, aber fuͤr diese maͤßige Bezahlung mußte denn doch Stilling sorgen; und diese wohlthaͤtige Einrichtung hatte dann auch die beschwerliche Folge, daß Inlaͤnder und Auslaͤn- der desto kuͤhner ihre armen Blinden ohne Geld schickten, — da gabs dann manche Glaubensprobe, aber der Herr hat sie auch alle herrlich legitimirt, wie der Verfolg zeigen wird. Mitten im Sommer dieses 1798sten Jahres schrieb Dok- tor Wienholt in Bremen an Stilling , und ersuchte ihn, dorthin zu kommen, weil einige Staarblinde dort waͤren, die von ihm operirt zu werden wuͤnschten: denn das Wohl- gelingen seiner Kuren wurde weit und breit bekannt, und be- sonders von denen, die in Marburg studirten, allenthalben erzaͤhlt. Stilling antwortete, daß er in den Herbstferien kommen wolle. Dieses geschahe denn auch, und Elise be- schloß, ihn zu begleiten, ungeachtet sie nicht recht wohl war; sie hatte dazu einen doppelten Grund, sie trennte sich nicht gern lange von ihrem Mann, und er hatte auch ihre Unter- stuͤtzung und Pflege noͤthig, und dann wollte sie auch gern einmal die Stadt sehen, aus welcher ihre Vorfahren muͤtter- licher Seite herstammten: denn ihr Ahnherr war ein Brabaͤn- ter, Namens Duising , welcher unter dem Herzog Alba ausgewandert war, und sich in Bremen niedergelassen hatte; hier lebten nun noch zwei liebe und in großem Ansehen ste- hende Vettern, die Gebruͤder Meyer , beide Doktoren der Rechte, deren der Eine einer von den vier regierenden Buͤr- germeistern, und der Andere Sekretarius bei einem dortigen Kollegio war. Diese Verwandten wuͤnschten auch sehr, daß sie die Marburger Freunde einmal besuchen moͤchten. Stilling und Elise traten also Sonnabends den 22sten September 1798 die Reise nach Bremen an; das Uebel- befinden der guten Frau aber machte die Reise sehr aͤngstlich; er mußte den Postillonen ein gutes Trinkgeld geben, damit sie nur langsam fahren moͤchten, weil sie das schnelle Fahren durchaus nicht ertragen konnte. Sie machten die Reise uͤber Hannover , wo sie von Stillings vertrautem Freund, dem Hof- und Consistorial-Rath Falk , herzlich empfangen und sehr freundschaftlich behandelt wurden. Freitags den 28sten September kamen sie des Abends spaͤt, aber gluͤcklich in Bre- men an, und kehrten bei dem Sekretarius Meyer ein. Die- ser edle Mann und seine treffliche Gattin paßten so recht zum Stillings-Paar , sie wurden bald ein Herz und eine Seele, und schlossen den Bund der Bruder- und Schwester- schaft miteinander; der Buͤrgermeister an seiner Seite aber, der die personifizirte Freundschaft selbst war, that sein Bestes, um den Marburger Verwandten Freude zu machen. Er ruht nun schon in seiner Kammer, der gute edle Mann; Ge- lehrsamkeit, unbeschraͤnkte Gutmuͤthigkeit und treufleißige Staats- verwaltung waren die Grundlagen seines Charakters. Stilling machte zwei und zwanzig Staar-Operationen in Bremen , und bediente ausserdem noch Viele, die an den Augen litten. Unter jenen Staar-Patienten war einer von honnettem Buͤrgerstand, ein alter Mann, der viele Jahre blind gewesen, und daher in seinen Vermoͤgensumstaͤnden zuruͤckge- kommen war. Verschiedene Damen ersuchten Stilling , er moͤchte ihnen doch erlauben, zuzusehen, denn sie wuͤnschten Zeugen von der Freude zu seyn, die ein solcher Mann haͤtte, der so lange blind gewesen waͤre. Die Operation ging gluͤck- lich von statten, und Stilling erlaubte ihm nun, sich um- zuschen — der Patient sah sich um, schlug die Haͤnde zusam- men, und sagte: Ach, da sind Damen, und es sieht hier so unaufgeraͤumt aus ! — Die guten Frauen wuß- ten nicht, was sie sagen und denken sollten, und gingen nach einander zur Thuͤr hinaus. Stilling machte in Bremen auch wieder einige interes- sante Bekanntschaften, und erneuerte auch ein Paar alte Freund- schafts-Buͤndnisse, naͤmlich mit dem Doktor und Professor Meister , den er schon in Elberfeld kennen gelernt hatte, und mit Ewald , der nun schon Prediger da war. Der beruͤhmte Doktor Olbers wurde Stillings Freund, und bei ihm lernte er auch den großen Astronomen, den Oberamt- mann Schroͤder , kennen. Mit Wienholt schloß er auch den Bruderbund: er und seine Gattin gehoͤren in die Klasse der besten Menschen. Bremen hat sehr viele fromme und christliche Einwoh- ner, und uͤberhaupt ist der Volkscharakter feiner und gesitte- teter, als in andern großen Handelsstaͤdten. Dieß ist beson- ders den vortrefflichen Predigern zuzuschreiben, welche die Stadt von jeher hatte, und auch noch hat. Nach einem sehr vergnuͤgten Aufenthalt von drei Wochen und ein Paar Tagen reisten Stilling und Elise Sonn- tags den 21sten Oktober von Bremen wieder ab. Der Herr hat seine Hand gesegnet, und die wohlhabenden Patien- ten hatten ihn auch so reichlich beschenkt, daß nicht allein die kostbare Reise bezahlt war, sondern auch noch Etwas uͤbrig blieb, welches bei der großen und schweren Haushaltung wohl zu statten kam. Die Bremer Verwandten begleiteten ihre reisenden Freunde bis an den Asseler Damm , wo sie einen thraͤnenvollen Abschied nahmen, und dann wieder zuruͤckgingen. Der Weg bis Hoya war schrecklich, doch kamen sie gluͤcklich, aber des Abends spaͤt in gedachter Stadt an; in Hannover spra- chen sie wieder bei Freund Falk zu, der sie mit wahrer christ- licher Bruderliebe empfing, dann setzten sie ihre Reise fort, und kamen zu rechter Zeit gesund und gesegnet in Marburg an, wo sie auch die Ihrigen alle wohl und vergnuͤgt antrafen. Die Reise nach Bremen hatte Stillingen wieder mehrere Freunde und Bekanntschaft verschafft, aber auch seine Correspondenz, mithin auch seine Arbeit betraͤchtlich vermehrt. Konsultationen wegen Augenkrankheiten und Briefe religioͤsen Inhalts kamen posttaͤglich in Menge, so daß er sie mit aller Muͤhe kaum beantworten konnte; hiezu kam dann noch der taͤgliche Zulauf von Augenpatienten aller Art; so daß es fast nicht moͤglich war, Alles zu leisten, was geleistet werden mußte: doch versaͤumte Stilling in seinem Amte nichts, sondern er strengte seine aͤußersten Kraͤfte an, um allen die- sen Pflichten zu entsprechen. Unter diesen Umstaͤnden fing er das 1799ste Jahr an. Den 22sten Februar kam Elise mit ihrem juͤngsten Kind, einem Maͤdchen, gluͤcklich nieder; die Graͤfin Waldeck wuͤnschte es aus der Taufe zu heben, welches natuͤrlicher Weise mit vielem Dank angenommen wurde; von ihr hat das Toͤchter- chen den Namen Christine bekommen; es lebt noch, und macht, so wie seine aͤltern Geschwistern, den Eltern Freude. Mit Lavater war Stilling seit seinem Besuch in Marburg in ein weit naͤheres Verhaͤltniß gekommen. Beide waren aber in gewissen Punkten verschiedener Meinung; dieß veranlaßte also einen lebhaften Briefwechsel, wodurch aber die herzlichste Bruderliebe nicht getruͤbt wurde. Beide lebten und wirkten fuͤr den Herrn und sein Reich; ihr großer Zweck war auch ihr Band der Liebe. Zu dieser Zeit war nun auch der beruͤhmte Arzt, der Doktor Hotze , in Frankfurt , bei seinem vortrefflichen Schwiegersohn, dem Doktor de Neuf- ville. Stilling hatte vor einigen Jahren schon Hotze kennen gelernt und mit ihm auf ewig den Bruderbund geschlos- sen, und nun war auch Passavant in Frankfurt; Beide waren Lavaters und Stillings bruͤderliche Freunde und auch unter sich genau vereinigt. Diesen beiden Freunden, Hotze und Passavant , also schickte Lavater seine Briefe an Stilling offen, und dieser sandte dann auch seine Ant- worten unversiegelt an beide Maͤnner, wodurch eine sehr auge- nehme und lehrreiche Conversation entstand. Die Gegenstaͤnde, welche verhandelt wurden, waren die wichtigsten Glaubens- Artikel, z. B. die Versoͤhnungslehre, die Gebetserhoͤrungen, der Wunderglaube u. dgl. In diesem 1799sten Jahre hatte nun dieser Briefwechsel aufgehoͤrt, denn Lavater wurde ge- fangen genommen und nach Basel deportirt, und Hotze war auch nicht mehr in Frankfurt . Dieß Alles mache ich um eines sonderbaren Phaͤnomens willen bemerklich, wel- ches Stilling Sonnabends den 13. Julius begegnete. Vor seiner Reise nach Bremen hatte ihm ein Freund im Vertrauten entdeckt, daß ein gewisser beruͤhmter und sehr wuͤrdiger Mann in druͤckenden Mangel gerathen sey; dieß erzaͤhlte Stilling in Bremen einigen Freunden; Doktor Wienholt uͤbernahm die Sammlung und schickte ihm im Winter gegen viertehalbhundert Gulden in alten Louisd’ors; als sich nun Stilling naͤher nach der Art und Weise erkun- digte, wie man dem verehrungswuͤrdigen Manne das Geld sicher in die Haͤnde bringen koͤnnte, so erfuhr er, daß der Mangel jenes Mannes so druͤckend nicht sey und daß ihm diese Art der Huͤlfe sehr weh thun wuͤrde. Dieß bewog Stilling , das Geld zuruͤckzubehalten und in Bremen anzufragen, ob es zur englischen Mission verwendet, oder den vor Kurzem so aͤußerst ungluͤcklich gewordenen Unterwald- nern in der Schweiz zugewendet werden solle? — Dieß Letztere wurde bewilligt, und Stilling trat deßfalls mit dem beruͤhmten und christlichen frommen Antistes Heß in Zuͤrich in Correspondenz, weil sich dieser liebevolle Mann jener Ungluͤcklichen — wie so sehr viele Zuͤrcher — ernst- lich annahm. In dieser Angelegenheit schrieb nun Stilling am oben gedachten 13. Julius an Heß , wobei ihm etwas Seltsames widerfuhr: mitten im Schreiben, als er gerade des Zustan- des gedachte, indem sich jetzt die Schweiz befand, bekam er auf einmal einen tiefen Eindruck ins Gemuͤth, mit der Ueberzeugung: Lavater wuͤrde eines blutigen To- des — des Martertodes sterben . Dieß letzte Wort: Martertod , war eigentlich der Ausdruck, den er empfand — noch etwas war damit verbunden, das sich jetzt noch nicht sagen laͤßt. Daß Stilling sehr daruͤber erstaunte, ist na- tuͤrlich. Waͤhrend diesem Erstaunen wurde er nun auch uͤber- zeugt, daß er diesen Aufschluß in diesem Brief an Heß schrei- ben muͤßte, er that es also auch und bat ihn zugleich, er moͤchte dieß Lavatern bei Gelegenheit sagen. Heß ant- wortete bald, bezeugte seine Verwunderung und versprach, es Lavatern zu entdecken, er muͤßte aber dazu eine gelegene Zeit abwarten. So viel ich mich erinnere, ist es auch La- vatern wirklich gesagt worden. Mein verehrungswuͤrdiger Freund Heß wird sich dieses Alles noch sehr wohl erinnern. Diese Ahnung hatte Stil- ling am 13. Julius , und zehn Wochen und einige Tage nachher bekam Lavater den toͤdtlichen Schuß, dessen Fol- gen eine fuͤnfzehn Monat waͤhrende Marter und dann der Tod waren. Der christliche, wahrheitliebende Leser wird freundlich ersucht, dergleichen Erscheinungen und Erfahrungen nicht hoͤher zu wuͤrdigen, als sie es verdienen, und lieber gar kein Urtheil zu faͤllen. Es wird einst eine Zeit kommen, wo man sich wieder lebhaft an diese Ahnung erinnern wird . In den Herbstferien brachte Stilling seine Gattin nach dem Dorfe Muͤnster bei Buzbach in der Wetterau , wohin nun Schwarz von Echzell versetzt worden war; dann reiste Stilling nach Frankfurt und Hanau , wo wiederum Augenpatienten auf ihn warteten, Elise aber blieb zu Muͤnster . Die merkwuͤrdigen Personen, mit denen Stilling auf dieser Reise theils in naͤhere, theils in persoͤnliche Bekannt- schaft kam, waren: Der regierende Landgraf zu Homburg ; diesen wahrhaften Christus-Verehrer hatte er in Marburg bei dem Prinzen Friedrich schon kennen lernen, jetzt aber machte er ihm ein paarmal seine Aufwartung in Frank- furt : dann den regierenden Fuͤrst Wolfgang Ernst von Isenburg-Birstein , und seine vortreffliche Gemahlin, beide auch wahre Christen, und dann den regierenden Grafen von Isenburg-Buͤdingen, Ernst Casimir , seine Gemahlin, und deren Schwester, die Graͤfin Karoline von Bent- heim-Steinfurth , alle Drei aͤcht Evangelisch gesinnte, sehr werthe Personen: mit der Graͤfin Karoline stand Stilling schon vorher in einem erbaulichen Briefwechsel; ihre Schwe- ster Polyxene , eine sehr begnadigte Seele, lebte in Sie- gen , auch mit dieser stand Stilling lange in einer religioͤ- sen Korrespondenz. Diese war aber schon vor einiger Zeit zu ihrer Ruhe eingegangen. Wenn ich in dieser Geschichte oͤfters hoher Standespersonen gedenke, die Stillingen ihres Vertrauens gewuͤrdigt haben, so bitte ich, das ja nicht als Prahlerey anzusehen; ich habe dabei keinen andern Zweck, als der Welt zu zeigen, daß in den hoͤhern Staͤnden wahre Christus-Religion eben so gut ihre treuen Verehrer findet, als in den niedern — ich halte es fuͤr Pflicht, dieß recht oft und laut zu sagen: denn seit eini- gen Jahrzehenden her ist es an der Tagesordnung, den Re- gentenstand und den Adel so sehr herabzuwuͤrdigen, als nur immer moͤglich ist. Freilich ist das heut zu Tage auch eben keine sonderliche Empfehlung, wenn man Jemand fuͤr einen wahren Christen in altevangelischem Verstand erklaͤrt; aber wenn man doch auch einen Nichtchristen, oder Unchristen schil- dert, so ist das doch noch weniger empfehlend. Der Geist unserer Zeit ist sehr inconsequent. Dann fand Stilling noch drei schaͤtzbare Personen in Buͤdingen , den verdienst- vollen Inspektor Keller ; den Regierungsrath Hedebrand , und den jungen Hofprediger Meister , ein Sohn seines Freun- des in Bremen , von dem er eine meisterhafte und aͤcht christ- liche Predigt hoͤrte. Nach einem dreitaͤgigen hoͤchst vergnuͤgten Aufenthalt in Buͤdingen , reiste Stilling mit einem jungen Herrn von Graͤfenmeyer , der auf die Universitaͤt Goͤttingen zie- hen wollte, bis Buzbach . Der Weg fuͤhrte durch eine mo- rastige und wasserreiche Gegend, welche damals im Ruf der Unsicherheit war; es wurde Vieles von einem Zinngießer oder Kupferschmidt erzaͤhlt, welcher der Anfuͤhrer einer Raͤuberbande seyn sollte, und in dortiger Gegend zu Hause war. Dieß gab dann auch dem Kutscher und dem Bedienten auf dem Bock reichen Stoff zur Unterhaltung. Naͤchtliche Einbruͤche, Raub-, Mord- und Hinrichtungs-Geschichten mancher Art wur- den sehr ernsthaft und schauerlich erzaͤhlt, und dann auch wohl ein wenig mit dichterischem Feuer ausgeschmuͤckt. Dieß ging so fort, bis vor den Florstaͤdter Wald. — Auf einmal sah der Kutscher den Bedienten sehr bedeutend an, und sagte: Wahrhaftig! da ist er! — Stilling sahe zum Schlag hinaus, und sah da einen starken, großen und gesetzten Mann, in einem blauen Rock, mit messingnen Knoͤpfen und dicken Waden, den spitzigen Hut auf einem Ohr, und einen Knoten- stock in der Hand, vorwaͤrts gegen den Wald hinschreiten; der Kutscher drehte sich um, furchtsam und bedeutend lispelte er zur Kutsche hinein: Das ist er ! „Wer? Ei, der Zinngießer! „So! Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 34 Freilich war das nicht angenehm, allein Stilling ist in solchen Faͤllen nicht furchtsam. Vor dem Walde stieg er um der boͤsen Wege Willen aus, und ging voraus zu Fuß: denn diese fuͤrchtete er mehr als aller Welt Zinngießer oder Kupfer- schmiede. Der Wald war voller Holzarbeiter, kein Raͤuber ließ sich hoͤren oder sehen. In Buzbach fand Stilling bei seiner Ankunft des Abends seinen guten, treuen Schwiegersohn Schwarz ; beide blieben die Nacht bei dem Oberfoͤrster Beck , dessen Schwie- gervater Stilling des andern Morgens vom Staar befreite, dann gingen sie zusammen nach Muͤnster, wo sie die theure Elise und alle Lieben, den Umstaͤnden nach wohl antrafen. Nach einem ruhigen und erquickenden Aufenthalt von sechs Tagen, trat Stilling mit den Seinigen wieder die Heim- reise an; Schwarz begleitete sie bis Buzbach ; es war Montags den 14ten Oktober. Hier gab es einen kleinen Aufenthalt, es wurde bei dem Oberfoͤrster gefruͤhstuͤckt, und Schwarz ging, um Etwas zu besorgen; auf einmal kam er gelaufen, als Stilling eben in die Kutsche steigen wollte, und rief: Lieber Vater! Lavater ist geschossen wor- den, und schwer verwundet ! — Wie ein Blitz und Donnerschlag fuhr diese Nachricht durch Stillings ganzes Wesen, er that einen lauten Schrei, und die Thraͤnen schoßen ihm die Wangen herab. Bei allem Schmerz und Mitleid spuͤrte er doch innerlich eine tiefe Beruhigung und Ergebung in den Willen Gottes, und der merkwuͤrdige Umstand seiner eingetroffenen Ahnung gab ihm eine ungemein starke Zuversicht, daß der Herr hier heilsame Absichten bezwecke; jetzt wurde nun die Reise fortgesetzt, und sie kamen des Abends gluͤcklich nach Marburg . Das letzte Jahr des achtzehnten Jahrhunderts, 1800, waͤlzte sich in Ansehung Stillings hoch her und schwerfaͤllig in seiner Sphaͤre herum, ob ihm gleich nichts besonders Merk- wuͤrdiges in demselben begegnete. In den Osterferien mußte er wieder eine Reise nach Frankfurt, Offenbach und Hanau machen; Elise konnte ihn dießmal nicht begleiten. Stilling operirte wieder verschiedene Blinde an allen drei Orten. In Hanan hatte er seinen drei bis viertaͤgigen Auf- enthalt bei dem Regierungsrath Rieß , einem Bruder des Marburger Freundes: er und seine Gattin gehoͤren unter Stillings und Elisens vertrauteste Freunde. Eine neue Bekanntschaft, die ihn vorzuͤglich interessirte, machte er dießmal in der Frankfurter Messe mit dem be- ruͤhmten Kaufmann Wirsching aus Nuͤrnberg; dieser alte, ehrwuͤrdige Greis war jetzt noch einmal gleichsam zum Ver- gnuͤgen mit seinen Kindern zur Messe gereist, und es war ihm eine große Freude, daß er Stilling da fand, dessen Lebensgeschichte und uͤbrige Schriften er mit Beifall und Nutzen gelesen hatte. Wirsching war ein armer Waisenknabe ge- wesen, dem seine Eltern nichts hinterlassen hatten; durch Fleiß, untadelhafte Froͤmmigkeit, Vertrauen auf Gott, durch sein vor- zuͤgliches Handlungs-Genie und große Reisen hatte er sich ein großes Vermoͤgen erworben, und er zeigte mit Preis und Dank gegen seinen himmlischen Fuͤhrer, seinem Freunde Stil- ling die zwei großen Waarenlager, die nun jetzt sein Eigen- thum waren, und aus lauter sogenannten Nuͤrnberger-Waaren bestanden. Wirsching machte durch seine Demuth, Beschei- denheit und gruͤndliche Kenntniß im Christenthum tiefen Ein- druck auf Stilling , und Beide schlossen sich bruͤderlich an einander an. Nach vollendeten Geschaͤften reiste Stilling wieder nach Marburg . Lavater war durch den Schuß nicht unmittelbar toͤdtlich verwundet worden, aber doch auch so, daß die Wunde mit der Zeit toͤdtlich werden mußte. Sein Leiden setzte alle seine Freunde in innige tiefe Ruͤhrung; zaͤrtliches Mitleiden trieb sie zu gemeinschaftlichem Gebet fuͤr ihren Freund an, und brachte sie sich untereinander naͤher. Stilling correspondirte seinetwegen, und uͤber ihn, mit Passavant in Frankfurt , dem reformirten Prediger Achelis in Goͤttingen , und dann kam noch eine gewisse Julie hinzu. Dieß fromme, christliche und durch viele schwere Leiden geuͤbte Frauenzimmer war be- sonders durch Lavaters Schriften tief und innig geruͤhrt 34 * und erbaut worden. Dieß bewog sie, mit Lavatern in ei- nen Briefwechsel zu treten; da sie aber gegruͤndete Ursachen hatte, verborgen zu bleiben, so entdeckte sie sich Lavatern nie; — er correspondirte also lange mit einer gewissen Julie im noͤrdlichen Deutschland , ohne nur von Ferne zu ahnen, wer sie sey; er schickte ihr manches Erinnerungszeichen, wie das so seine Art war; dieß alles geschahe aber durch Pas- savant , der allein um ihr Geheimniß wußte und sie kannte. Jetzt in Lavaters schweren Leiden hoͤrte Stilling zuerst etwas von Julien , er schrieb also an Passavant , er moͤchte ihm doch wo moͤglich entdecken, wer die Julie sey? — Nach einiger Zeit erfolgte dann auch diese Entdeckung. Julie ist die Tochter des ehemaligen Buͤrgermeisters Eicke , eines redlichen und ehrlichen Mannes zu Hannoͤverisch- Minden ; sie war mit dem bekannten und rechtschaffenen Theologen Richerz verheirathet, welcher zuerst Universitaͤts- Prediger in Goͤttingen , und zuletzt Superintendent zu Giff- horn im Hannoͤverischen war; er ist durch mehrere gute theo- logische Schriften beruͤhmt geworden, und er starb auch als ein wahrer Christ, nach einer langwierigen Krankheit, an der Auszehrung. Julie war ebenfalls von jeher sehr schwaͤchlich und kraͤnklich; sie litt an ihrem eigenen Koͤrper außerordent- lich viel, und mußte auch noch ihren kranken Gatten pflegen; haͤtte sie ihr munterer Geist und ihr ruhiges Hingeben in den Willen Gottes, uͤberhaupt ihr christlicher Sinn nicht aufrecht erhalten, so haͤtte sie Alles, was ihr die Liebe auferlegte, nicht ertragen koͤnnen. Sie hatte nie Kinder, und lebte als Wittwe in ihrer Vaterstadt Minden ; jetzt war nun ihr Vater sehr alt und schwaͤchlich, sie hielt es daher fuͤr Pflicht, ihn zu war- ten und zu pflegen, und wohnte also auch bei ihm im Hause. Von nun an correspondirte Stilling sehr fleißig mit Julie , und die Gegenstaͤnde ihrer Briefe waren Lavaters Leiden, und dann das einzige Nothwendige, um welches es jedem Christen vorzuͤglich zu thun seyn muß. Ach, duͤrfte doch Alles gesagt werden, was der Herr an den Seinigen thut! — Ja! — auch der Unglaubige wuͤrde — erstaunen, aber doch nicht glauben. Lavater correspondirte auf seinem Krankenlager noch flei- ßig mit Stilling . Sie verhandelten nicht mehr contraver- sirend, sondern einmuͤthig bruͤderlich die wichtigsten Religions- wahrheiten. Vierzehn Tage vor seinem Tod schrieb er zum letztenmal an seinen Freund nach Marburg , und 1801 am 2. Januar, also auch am zweiten Tag des neunzehnten Jahr- hunderts, starb dieser große merkwuͤrdige Mann, er starb als ein großer Zeuge der Wahrheit von Jesu Christo . Kurz hernach verfertigte Stilling das bekannte Gedicht: Lava- ters Verklaͤrung , welches erst besonders gedruckt, dann in die dritte Auflage des ersten Bandes der Scenen aus dem Geisterreich eingeruͤckt worden ist. Einige Rezensenten wollten es nicht gelten lassen, daß Stilling Lavater einen Blut- zeugen der Wahrheit genannt hatte, und Andere behaupteten, seine Schußwunde sey nicht die Veranlassung zu seinem Tod gewesen, allein die Sache spricht von selbst. Lavaters geheiligtes Herz vergab seinem Moͤrder voll- kommen; sogar sagte er: er wolle ihn dereinst in allen Himmeln und Hoͤllen aufsuchen, und ihm fuͤr die Verwundung danken, die ihm eine so lehrreiche Schule geworden sey : und er verordnete sehr ernstlich, daß man diesem Ungluͤcklichen nicht ferner nachfragen, sondern ihn der goͤttlichen Erbarmung uͤberlassen sollte; seine Hinter- lassenen befolgten dieß auch redlich, mir aber wird zur Be- waͤhrung meiner Behauptung doch Folgendes zu sagen er- laubt seyn. Der Soldat, der Lavatern toͤdtlich verwundete, war ein Schweizer aus dem franzoͤsischen Theil des Kantons Bern (pays de Vaud ); er und noch ein Kamerad polterten an ei- nem Hause neben Lavaters Pfarrwohnung; Lavater hoͤrte, daß sie zu trinken forderten, er nahm also eine Flasche Wein und Brod, und lief hinaus, um es den beiden Soldaten zu bringen; der Grenadier, der ihn hernach schoß, war besonders freundlich gegen ihn, er dankte ihm fuͤr das Genossene, und nannte ihn Bruder-Herz ! denn er sprach nebst seiner fran- zoͤsischen Muttersprache auch Deutsch; Lavater ging nun wieder in sein Haus, der Grenadier aber sprach mit einigen Zuͤrchern , welche da in der Naͤhe standen; bald darauf kam Lavater wieder, um diesen freundlichen Soldaten um Schutz gegen einen Andern anzusprechen, und nun war dieser Mensch wuͤthend gegen ihn, und schoß ihn. Wie ist nun diese fuͤrchterliche Veraͤnderung in dem Ge- muͤth dieses ungluͤcklichen jungen Mannes anders erklaͤrbar, als folgendergestalt: er war ein gebildeter Mann, der Lava- ters Schriften kannte — denn jeder Schweizer , der nur lesen konnte, las sie — zugleich war er revolutionssuͤchtig, wie sehr viele Waadtlaͤnder , folglich nicht allein von ganz ent- gegengesetzter Denkungsart, sondern auch wegen Lavaters Energie in Beziehung auf Religion und Vaterland, wuͤthend gegen ihn aufgebracht: denn nicht gar lange vorher waren seine Briefe an den franzoͤsischen Director Reubel , und an das Directorium selbst herausgekommen, gedruckt und haͤufig gelesen worden. Als ihm nun Lavater Wein und Brod brachte, da kannte er ihn noch nicht; nach dem Hinweggehen aber sprach er mit den Umstehenden, und erfuhr nun, daß dieser so freundliche, wohlthaͤtige Mann der Pfarrer Lavater sey; jetzt gerieth er in Wuth, die noch ein kleiner Weinrausch vermehrte; gerade jetzt kam nun ungluͤcklicher Weise der gute Mann zu ihm, und wurde geschossen. So ist alles leicht zu begreifen und erklaͤrbar. In dieser Ueberzeugung behauptete ich: Lavater sey ein Blutzeuge der Wahrheit: denn er wurde wegen seiner religioͤsen und politischen Gesinnung und Zeugnisse toͤdlich verwundet. Lavaters Tod war gleichsam das Signal zur großen und herrlichen Entwicklung der Schicksale Stillings , die noch immer in ein undurchdringliches Dunkel der Zukunft verhuͤllt waren. Um die ganze Sache recht deutlich und nach der Wahr- heit ins Licht zu stellen, muß ich seine Lage ausfuͤhrlich schil- dern; der christliche Leser wird finden, daß es der Muͤhe werth ist. Stillings Hausgenossen, die er zu versorgen hatte, wa- ren folgende Personen: 1. Vater Wilhelm Stilling , der aber nun so weit ge- kommen war, daß ihm ein junges Maͤdchen, wie Mariechen , nicht mehr aufwarten konnte, sondern es wurde 2. eine alte Wittwe in Dienst genommen, die ihn pflegte, ihn und sein Bette rein hielt. Zu Zeiten kam auch wohl Stillings aͤlteste Schwester, Mariechens Mutter, eine rechtschaffene brave Frau, auf eine kurze Zeit zur Huͤlfe, al- lein sie hatte selbst eine Haushaltung, und mußte bald wieder zu ihrem Mann und Kindern. 3. Stilling selbst und 4. seine Elise . 5. Maria Coing , diese war mit ihrem Bruder, der im verwichenen Herbst Prediger zu Braach bei Rothenburg in Niederhessen geworden war, gezogen, um ihm seine Haushaltung einzurichten; da sie aber schwaͤchlich und der Landwirthschaft nicht gewohnt war, so kam sie im folgenden Herbst wieder. 6. Amalia Coing, Jakobs Verlobte, diese beiden Schwe- stern waren Elisens treue Gehuͤlfinnen in der Haushaltung. Die Coing ’schen Kinder hatten ihr Vermoͤgen ihrem Schwa- ger uͤbertragen, wofuͤr sie dann bei ihm wohnten und an sei- nen Tisch gingen. 7. Jakob selbst; dieser war dann endlich nach langem Harren Regierungs-Advokat und Prokurator in Marburg geworden; ein Beruf, der aber einem Mann von seinem Cha- racter wenig eintrug; er wohnte zwar außer des Vaters Hause, aber er ging doch an seinen Tisch. 8. Caroline , die nun auch heranwuchs, und in allem, was einem gebildeten Frauenzimmer wohl ansteht, unterrichtet werden mußte. 9. 10. und 11. die drei kleinen Kinder, Friedrich, Mal- chen und Tinchen . 12. Mariechen , welche bald als Kinderwaͤrterin, bald als Kuͤchenmagd, und bald als Hausmagd treue Dienste leistete, und unentbehrlich war. 13. Eine aͤltliche Wittwe, Boppin ; dieser war ihr Mann fruͤh gestorben, und hatte sie mit drei kleinen Knaben zuruͤck- gelassen; sie hatte sich lange mit Tagelohngehen ernaͤhrt; dann nahm sie Elise als Magd an; ihre wahre Kinder-Einfalt, unbestechliche Treue, reine Sitten und ungeheuchelte Gottes- furcht machten sie so werth, daß man sie bei allen Gelegen- heiten, wo Huͤlfe noͤthig war, holte; denn ihre drei Soͤhne hat- ten nun Handwerke gelernt, und waren in der Fremde; sie selbst aber bekam eine Stelle in dem Buͤrgerstift zu St. Ja- kob in Marburg , so daß sie also nun versorgt ist; sie war aber doch die mehreste Zeit in Stillings Hause, wo immer genug fuͤr sie zu thun war. Zur Aufwartung bei Vater Wil- helm war sie aber nicht zu gebrauchen, weil sie gegen so Etwas einen uͤbertriebenen Eckel hatte. Endlich kam dann noch 14. eine ordentliche Magd hinzu, welche in einer solchen Haushaltung natuͤrlicher Weise unentbehrlich ist. Jeder ver- nuͤnftige Leser, der die Einrichtung einer Stadthaushaltung kennt, wo Alles fuͤr baares Geld gekauft, und auch der stan- desmaͤßige Wohlstand beobachtet werden muß, und dann auch noch Stillings Verhaͤltnisse in Ansehung der armen Staar- blinden weiß, der begreift leicht, daß er in solchen theuren Zei- ten keine Schulden abtragen konnte; doch wurden die Zinsen immer richtig bezahlt, und keine neue Schulden gemacht. Bei dieser haͤuslichen Lage denke man sich nun Stillings Gedraͤnge in seinem Wirkungskreis: 1) Einen bestaͤndigen schriftlichen und persoͤnlichen Zulauf von Augenpatienten aller Art, aus der Naͤhe und Ferne, so daß dieser Beruf allein einen Mann beschaͤftigen konnte, indes- sen aber außer den Reisen, in der haͤuslichen Praxis so viel als nichts eintrug. Die Reisen aber uͤbernahm er nur, wenn er gerufen wurde, und zwar in den Ferien. 2) Eine ungemein große religioͤse Correspondenz, deren Wich- tigkeit und Nutzstiftung auf mancherlei Art nur der beurthei- len kann, der die Briefe gesehen hat, und nun die Aufforde- rung von allen Seiten, religioͤse Buͤcher zu schreiben, und allein fuͤr den Herrn und sein Reich zu wirken, wobei dann nun wiederum nicht allein Nichts heraus kam, sondern wo die Ho- norarien bei Weitem nicht zureichten, um das Postgeld zu be- zahlen — also hatte hier Stilling zwei aͤußerst wichtige, weit und breit wohlthaͤtig fruchtbare Berufsarten — zu denen, besonders zum religioͤsen Wirkungskreis, er sich nun auch gaͤnz- lich bestimmt und berufen fuͤhlte, aber nun eine so schwere und kostbare Haushaltung, und dann zwei Berufe, wo keine Besoldung zu denken und zu erwarten war! — wie ließ sich das mit einander verbinden? — Und nun uͤber das Alles noch eine Schuldenlast von sechzehn bis siebenzehnhundert Gulden — womit sollte diese Summe bezahlt werden? — Nun kam noch dazu, daß 3) Stillings Lehramt, aus oben schon einmal angefuͤhr- ten Ursachen, immer unfruchtbarer, und sein Hoͤrsaal immer leer wurde; da half weder sein bekannter lebhafter Vortrag, noch ehemals so beliebte Deutlichkeit, noch fließende Beredt- samkeit — kurz — das Kameralstudium fing in Marburg an, aus der Mode zu kommen, und dann nahm auch die Anzahl der Studirenden, aus allgemein bekannten Ursachen in allen Fakultaͤten ab, und dieser unfruchtbare, immer ruͤckwaͤrts gehende Beruf war es denn doch, fuͤr den Stilling besoldet wurde, und ohne den er schlechterdings nicht leben konnte. Zu dem Allem kam nun noch die druͤckende Forderung des Gewissens: der rechtschaffene Mann, geschweige der wahre Christ, muͤsse Amt und Besoldung in die Haͤnde seines Fuͤrsten niederlegen, sobald er es nicht mehr pflichtmaͤßig verwalten koͤnne; und wenn dieses auch seine Schuld nicht waͤre, so sey er doch dazu verbunden . Diese Forderung, die kein So- phist aus Stillings Gewissen heraus demonstriren kann, machte ihm angst und bange, und doch konnte er ihr nicht Folge leisten, er war wie an Haͤnden und Fuͤßen gebunden. Jetzt frage ich jeden vernuͤnftigen Leser: wie war da an eine wahrscheinliche Auskunft, ein Rettungsmittel zu denken? — in der gegenwaͤrtigen Verfassung seiner Haushaltung brauchte er uͤber zweitausend Gulden, ohne damit Schulden abtragen zu koͤnnen. Diese mußte ihm entweder der Kurfuͤrst von Hessen geben, und ihn zugleich von seinem Lehramt entlassen, oder Ein fremder Fuͤrst mußte Stilling mit einer Besoldung von zweitausend Gulden als Augenarzt und religioͤsen Schrift- steller berufen. Dies waren die einzigen an sich denkbaren Wege, um aus dieser Lage heraus zu kommen. Wer nur einigermaßen die kurhessische Verfassung kennt, der weiß, daß der erste Weg moralisch unmoͤglich war, dazu kam nun noch im Winter 1803 ein Vorfall, der ihn auch von Stillings Seite moralisch unmoͤglich machte, wie ich weiter unten gehoͤrigen Orts erzaͤhlen werde. Sich die Moͤglichkeit, oder wenigstens die Ausfuͤhrbarkeit des zweiten Ausweges als ein Ziel der Hoffnung ausstecken zu wollen, waͤre schwaͤrmerische Eitelkeit, und wenn dann auch dies Ziel waͤre erreicht worden, so konnte Stilling nicht von Marburg wegziehen: denn Vater Wilhelm war in solchen Umstaͤnden, daß er sich keine Stunde weit transporti- ren ließ, und ihn unter den Haͤnden fremder Leuten zuruͤckzu- lassen, das lag in Stillings und Elisens Kreis der Moͤg- lichkeit nicht. Und dann war ja auch Jakob noch nicht ver- sorgt; ihn zuruͤckzulassen und aus der Ferne zu unterstuͤtzen, und noch dazu seine Amalie mitzunehmen, und von ihm zu trennen, das war, von allen Seiten betrachtet, zu hart; mit Einem Wort, es fanden sich auch in diesem Fall unuͤbersteig- liche Schwierigkeiten. So war Stillings Lage beschaffen; die mannigfaltigen Geschaͤfte und das druͤckende Verhaͤltniß machten ihm das Le- ben schwer, und dann kam die gewoͤhnliche innerliche tiefe Schwermuth noch dazu, so daß er alle moͤgliche Leidens-Er- fahrungen, und einen bestaͤndigen Wandel in der Gegenwart Gottes, mit ununterbrochenem Wachen und Beten noͤthig hatte, um nicht unter der Buͤrde zu erliegen. In diesen Umstaͤnden war also das Reisen wohlthaͤtig fuͤr ihn, und dazu kam es nun auch wieder. Das Heimweh und die Siegsgeschichte hatten ihm eine große Anzahl Freunde und Correspondenten aus allen Staͤn- den, Gelehrte und Ungelehrte, maͤnnlichen und weiblichen Ge- schlechts aus allen Provinzen Deutschlands , besonders aber aus dem Wuͤrtembergischen , und ganz vorzuͤglich aus der Schweiz verschafft. In St. Gallen, Schaffhau- sen, Winterthur, Zuͤrich, Bern, Basel , und auch auf dem Lande hin und wieder, befanden sich viele Stillings - Freunde und Leser seiner Schriften; dann hatte auch der junge Kirchhofer , ein vortrefflicher Juͤngling, der einzige Sohn des wuͤrdigen Conrector Kirchhofers in Schaffhausen , in der Mitte der 90ger Jahre in Marburg Theologie stu- dirt, und war in Stillings Haus so wie in seinem elter- lichen behandelt worden; jetzt war er nun Prediger zu Schlatt in seinem vaterlaͤndischen Kanton; durch dieß Verhaͤltniß hatte sich ein inniges Freundschaftsband zwischen der Kirchhoferi- schen und der Stilling’schen Familie gebildet; die vier christlichgesinnten und sehr gebildeten Schwestern des jungen Kirchhofers , die eine große Bekanntschaft mit den wah- ren Verehrern und Verehrerinnen des Herrn durch die ganze Schweiz haben, und fleißig Briefe mit ihnen wechseln, tra- ten nun auch mit Stilling in Correspondenz, und verschaff- ten ihm eine noch groͤßere und sehr interessante Bekanntschaft. Dieß alles bereitete nun die Reise vor, welche in Stillings bisherigem Leben bei weitem die wichtigste und bedeutendste war. Im Maͤrz dieses 1801sten Jahres bekam er ganz unerwar- tet einen Brief von seinem Herzensfreund, dem Pfarrer Sul- zer aus Winterthur , der ein Bruders-Sohn des beruͤhmten Berliner Gelehrten dieses Namens ist; in welchem er ge- fragt wurde: ob er wohl dieses Fruͤhjahr nach Winterthur kommen, und eine sehr ehrwuͤrdige Matrone, welche staarblind sey, operiren wollte? denn sie wuͤnsche von Stilling , den sie schaͤtzte und liebte, unter Gottes Beistand das Gesicht zu erhalten; Reisekosten und Versaͤumniß sollten ihm erstattet werden. Dieß Anerbieten erfuͤllte Stillings Seele mit Freude; und die Kinder, besonders Jakob , ahnten Gluͤck von der Reise; bei allem dem glaubte doch Stilling , daß bei einer so großen und kostbaren Reise Vorsicht noͤthig sey; er schrieb also Sulzern wieder, daß er zwar gerne kommen wolle, allein Elise muͤsse ihn begleiten, und weil der Postwa- gen auch die Nacht durch ginge, so koͤnnten sie wegen Schwaͤch- lichkeit sich dieser Gelegenheit nicht bedienen, sondern sie muͤß- ten Extrapost nehmen, und dieß wuͤrde Etwas kostbar werden. Sulzer anwortete nur kurz, das Alles wuͤrde berichtiget wer- den, sie sollten nur kommen. Jetzt hielt nun Stilling bei dem Kurfuͤrsten um Urlaub an, und er und seine Elise ruͤsteten sich zu dieser aͤußerst interessanten und erwuͤnschten Reise: und um desto ruhiger seyn zu koͤnnen, wurde beschlossen, daß man Jakob , die Amalie , die Karoline und die drei Kleinen nach Braach zum Bruder Coing und der Schwester Maria bringen, ei- nige Zeit da bleiben, dann den Friedrich und die Malchen da lassen, und dann bei der Ruͤckkehr, mit Amalien, Ka- rolinen und dem zweijaͤhrigen Christinchen uͤber Berg- heim gehen, und die Graͤfin von Waldeck , die nun wieder von Marburg abgezogen war, besuchen wolle. Waͤhrend der Zeit sollte dann das gute Mariechen mit den uͤbrigen Hausgenossen den alten Großvater pflegen und die Haushal- tung besorgen. Dieser Plan wurde nun auch genau so ausgefuͤhrt. Stilling und Elise traten ihre erste Schweizer-Reise Freitags den 27. Maͤrz 1801 des Morgens um 5 Uhr an; in Buzbach fanden sie ihre Kinder und Kindes-Kinder Schwarz , die ihnen gluͤckliche Reise wuͤnschten, und am Abend wurden sie im liebevollen Hausknecht’schen Hause zu Frankfurt mit Freuden empfangen. Des folgenden Tages kauften sie allerhand Noͤthiges zur Reise, vorzuͤglich schaffte sich Stilling einen leichten Reisewagen an, der ihm auf einer solchen weiten Reise noͤthig war, und den 29. Maͤrz, am Palmsonntag, gings dann mit Extrapost auf Heidelberg zu. Ich darf nicht vergessen, zu bemerken, daß Stilling gleich am ersten Tag der Reise seinen aͤußerst quaͤlenden Ma- genkrampf in aller seiner Staͤrke wieder bekam: bisher war er seit geraumer Zeit fast ganz verschwunden gewesen. Dieß versalzte ihm nun freilich alles Vergnuͤgen, aber er fand nach- her, wie gut es war, daß ihm der Herr dieß Salz mit auf den Weg gegeben hatte; ohne dieß haͤtte er gewiß Gefahr ge- laufen, sich durch alle Lobeserhebungen und Ehrenbezeugungen zu versteigen, und einen schrecklichen Fall zu thun. Unsere Reisende freuten sich sehr auf Heidelberg , theils um ihre Freunde Miegs , dann aber auch Lisettchen zu sehen, welche nun fuͤnfzehn Jahr alt war, und die sie seit 1791, also in zehn Jahren nicht gesehen hatten. Dieß Maͤdchen hatte durch ihre ausgezeichnete und ganz besondere Liebenswuͤrdigkeit die Herzen Aller derer gewonnen, die sie kennen lernten; Jeder, der von Heidelberg kam und in Miegs Hause gewesen war, konnte Lisettchen nicht genug ruͤhmen; ihr ganzer Charakter war Religiositaͤt und ein ruhiger, stiller Frohsinn; abgeschieden von allen rauschenden Lustbarkeiten, lebte ihr gan- zes Wesen nur in der hoͤheren Sphaͤre, und ihre bedeutende Seele hing von ganzem Herzen an ihrem Erbarmer. Diese Tochter nun einmal wieder ans Herz zu druͤcken, war reine und hohe Elternfreude. Lisette hatte aber auch mit einer solchen Sehnsucht ihre Eltern erwartet, daß man sie am Abend, als Jene etwas spaͤt ankamen, mit Wein laben mußte. Um halb neun Uhr des Abends hielten sie vor Miegs Thuͤr ; der Willkomm war unbeschreiblich. Den Montag blieben sie in Heidelberg , und den Dienstag fuhren sie bis Heilbronn ; des Mitt- wochs setzten sie ihre Reise fort und kamen gegen Mittag nach Ludwigsburg ; hier trafen sie im Waisenhause Stutt- garter Freunde an, die ihnen entgegen gekommen waren: naͤmlich den Minister von Seckendorf , mit dem Stilling seit vielen Jahren in einem christlichen Freundschafts-Verhaͤlt- niß steht; den Hofmedikus Doktor Reuß , den Regierungs- oder Hofrath Walther von Gaildorf ; einen franzoͤsischen Compagnie-Chirurgus, Namens Oberlin , ein Sohn des theuern Gottesmannes Oberlin im Steinthal im Elsaß , und vielleicht noch Andere mehr, deren ich mich nicht mehr erinnere; besonders aber freute sich Stilling , auch seinen alten Freund, den Waisen-Schullehrer Israel Hartmann wieder zu se- hen, von dem Lavater sagte: wenn jetzt Christus als Mensch unter uns wandelte, so wuͤrde Er ihn zum Apostel waͤhlen. Die ganze Gesellschaft speiste zusammen im Wai- senhause, es war Jedem innig wohl: es ist etwas Großes um eine Gesellschaft lauter guter Menschen — Elise setzte sich neben den ehrwuͤrdigen Greis Hartmann , sie konnte sich nicht satt an ihm sehen und ihm nicht genug zuhoͤren, sie fand Aehnlichkeit zwischen ihm und dem seligen Vater Coing . Zwischen dem Hofmedikus Reuß , seiner Gattin, Stilling und Elisen knuͤpfte sich ein genaues Freund- schaftsband auf Zeit und Ewigkeit. Den Nachmittag fuhren sie Alle zusammen nach Stuttgart; Stilling und Elise herbergten im Seckendorfischen Hause. Stilling machte hier wieder ansehnliche und merkwuͤrdige persoͤnliche Bekanntschaften mit Wuͤrtembergischen from- men und gelehrten Maͤnnern, unter welchen sich sein Herz besonders an Storr , Hofcaplan Rieger, Moser, Dann , u. a. m. anschloß, er fand auch unvermuthet seinen Freund Matthisson hier, der sich bei seinem ehemaligen Hausfreund, dem rechtschaffenen Hofrath Hartmann , aufhielt. Des andern Tages, am gruͤnen Donnerstag Nachmittag, fuhren sie nach Tuͤbingen , am Charfreitag nach Tuttlin- gen , und den Sonntag vor Ostern nach Schaffhausen , wo sie von der Kirchhofer ’schen Familie mit lautem Jubel aufgenommen wurden. Auf dem Wege von Tuttlingen nach Schaffhausen — wenn man naͤmlich uͤber die Hoͤhe faͤhrt, gibt es einen Ort, von dem man eine Aussicht hat, die fuͤr einen Deutschen, der noch nie in der Schweiz war und Sinn fuͤr so Etwas hat, erstaunlich ist. Man fuͤhrt von Tuttlingen aus, all- maͤhlig die Hoͤhe hinan, und uͤber diese hinaus, bis vorn auf die Spitze; hier hat man nun folgenden Anblick: linkerhand gegen Suͤdosten, etwa eine Stunde weit in gerader Linie, steht der Riesenfels, mit seiner nunmehr zerstoͤrten Veste Hohent- wiel , und rechterhand gegen Suͤdwesten, ungefaͤhr in dersel- ben Entfernung, trotzt einem sein Bruder, ein eben so hoher und starker Riese, mit seiner ebenfalls zerstoͤrten Veste Ho- henstaufen — der Postillon sagte: der hohe Stoffel — entgegen. Zwischen diesen beiden Seiten-Pfosten zeigt sich nun folgende Landschaft: links, laͤngs Hohentwiel hin, etwa drei Meilen weit, glaͤnzt einem der Bodensee , weit und breit wie schmelzend Silber entgegen; an der Suͤdseite dessel- ben uͤbersieht man das paradiesische Thurgau und jenseits die Graubuͤndtner Alpen; mehr rechts den Kanton Ap- penzell mit seinen Schneebergen, den Kanton Glarus mit seinen Riesengebirgen, besonders den uͤber alle emporragenden Glaͤrnitsch , der hohe Sentis mit den sieben zackichten Kuhfirsten liegt mehr oͤstlich; so sieht man die ganze Reihe der Schneeberge bis in den Kanton Bern hinein, und man uͤberblickt einen großen Theil der Schweiz — fuͤr Stil- ling war das eine herzerhebende Augenweide. Wenn man die ganze Alpenkette laͤngs dem Horizont hinliegen sieht, so kommt sie einem wie eine große Saͤge vor, mit der man Pla- neten spalten koͤnnte. Stilling blieb bis Osterdienstag in Schaffhausen ; er machte etliche gluͤckliche Staaroperationen, unter welchen eine besonders merkwuͤrdig war: ein blindgeborner Juͤngling von 15 Jahren, ein Sohn frommer christlicher Eltern, des Professor Altorfer , wurde am Ostermontag Morgen in Gegenwart vieler Personen operirt; als ihm der erste Licht- strahl in das nunmehr vom Staar befreite rechte Auge hin- einblitzte, so fuhr er auf und rief: ich sehe die Majestaͤt Gottes ! — Dieser Ausdruck ruͤhrte alle Anwesende bis zu den Thraͤnen; dann wurde auch das andere Auge operirt; eine leichte Entzuͤndung hinderte hernach die Erlangung eines vollkommenen Gesichts; indessen er sieht doch nothduͤrftig, und Stilling hofft ihm durch eine zweite Operation zum voͤlligen Gebrauch seiner Augen zu verhelfen. Noch einen artigen Gedanken dieses guten Juͤnglings muß ich bemerken: Die Eltern hatten einen goldnen Ring verferti- gen lassen, in welchen eine schoͤne Garbe von Haaren, von einem jeden Mitglied der Familie, schwer von goldnen Fruͤch- ten eingefaßt ist; diesen Ring bekam Elise nach der Opera- tion, und der liebe Patient hatte den Einfall, daß folgende Devise darauf eingegraben werden sollte: Geschrieben im Glauben, uͤbergeben im Schauen — allein der Raum war zu klein dazu. Desselben Tages, des Nachmittags, gingen Stilling und Elise in Begleitung der Kirchhofer ’schen Familie, zu Fuß an den beruͤhmten Rheinfall ; der Magenkrampf war aber so heftig, daß er oft zuruͤckbleiben mußte, und auch von dem praͤchtigen Schauspiel der Natur nicht den erwarteten Genuß hatte. Stilling und Elise gingen auf der hoͤlzernen Altane so nahe an den Wassersturz, daß sie sich darinnen haͤtten waschen koͤnnen. Diese erhabene Naturscene ist schlechterdings unbeschreiblich, man muß sie sehen und hoͤren, um eine rich- tige Vorstellung davon zu bekommen: der immerwaͤhrende Donner, das Zittern des Bodens, auf dem man steht, und die ungeheure Wassermasse, die sich milchweiß ungefaͤhr 80 Schuh hoch mit unwiderstehlicher Gewalt den Felsen herab- waͤlzt, und bruͤllend in den weiten kochenden Kessel stuͤrzt, und das in einer Breite von ein paar hundert Schritten — das Alles zusammen gibt eine Vorstellung, in welcher der stolze Mensch zum Wuͤrmchen im Staube wird. Ueberhaupt hat das die Schweiz so an sich, daß sie der stolzen Schwe- ster Kunst ihre Obermacht zeigt, und sie unter ihre gewal- tige Hand demuͤthigt. Am folgenden Tage, naͤmlich Osterdienstag Nachmittags, fuhren unsere Reisenden nach Winterthur ; auf halbem Wege, in dem romantischen Flecken Andolfingen an der Thur , fanden sie den ehrwuͤrdigen Freund, den Pfarrer Sul- zer , nebst ein Paar aus der Familie der Matrone, die Stil- ling hatte kommen lassen; sie waren ihnen entgegen gefah- ren, und empfingen sie auf’s Zaͤrtlichste und Herzlichste; so zusammen setzten sie nun ihre Reise nach Winterthur fort, wo sie des Abends in der Daͤmmerung ankamen. Die Patientin, welche Stilling hatte kommen lassen, war die Wittwe Frey in der Harfe ; sie hat zwei Soͤhne zu sich ins Haus verheirathet, mit diesen fuͤhrt sie eine an- sehnliche Handlung. Hier wurde auch Stilling mit seiner Elise — darf ich mich so ausdruͤcken? — wie Engel Got- tes aufgenommen und behandelt. Lieben Leser! verzeiht mir hier einen gerechten Herzeus- erguß, den ich unmoͤglich zuruͤckhalten kann. Es ist mir hier nicht moͤglich, mit Worten auszudruͤcken, was Stilling und Elise im Frey ’schen Hause, in die- sem Vorhof des Himmels, genossen haben; allen inniggelieb- ten Gliedern der Frey ’schen Familie werden Beide dereinst oͤffentlich vor allen Himmelsheeren danken und laut verkuͤn- digen, was fuͤr Wohlthaten sie ihnen erzeigt haben; hier ist Zunge und Feder zu schwach dazu — und der Herr wird hier und dort ihr Vergelter seyn! Elise schloß mit den Schwiegerloͤchtern der Frau Frey ein ewiges und enges Schwesterbuͤndniß. Stilling operirte diese liebe Frau des folgenden Tages vollkommen gluͤcklich, sie bekam hernach eine Entzuͤndung an’s rechte Auge, aber mit dem linken sieht sie, Gott Lob! recht gut. Stillings Aufenthalt in Winterthur war außeror- dentlich gedraͤngt voll von Geschaͤften: taͤglich machte er meh- rere Operationen, und Hunderte von Leidenden kamen, um sich bei ihm Raths zu erholen; dazu kam nun noch sein un- endlich quaͤlender Magenkrampf, wodurch ihm jeder Genuß jeder Art auf das bitterste versalzen wurde. Indessen kam doch Frei- tags den 10. April ein Besuch, der auf eine kurze Zeit den Magenkrampf uͤberwog: Lavaters frommer Bruder, der Rathsherr Diethelm Lavater , ein sehr geschickter Arzt, dann der liebe christlichfrohe Geßner, Lavaters Schwie- gersohn, und Louise , die unermuͤdete Pflegerin und Waͤr- terin ihres verklaͤrten Vaters, und dann noch eine erhabene Kreuztraͤgerin, eine Wittwe Fueßli von Zuͤrich, die nun auch schon unter den Harfenspielern am Kristallmeer ins Halle- lujah mit einstimmt. Diese vier Lieben traten in Stil- lings Zimmer. So wird es uns dereinst seyn, wenn wir uͤberwunden haben und in den Lichtgefilden des Reichs Got- tes anlangen; die Seligen der Vorzeit, unsere lieben Voran- gegangenen, und alle die großen Heiligen, die wir hienieden so sehr wuͤnschten gekannt zu haben, werden zu unserer Um- armung herbeieilen und dann den Herrn selbst — mit seinen strahlenden Wunden zu sehen —! — die Feder entfaͤllt mir. Diese Lieben blieben uͤber Mittwoch da, und reisten dann wieder nach Zuͤrich zuruͤck. Montags, den 13. April, reiste Stilling in Sulzers , des jungen Kirchhofers von Schaffhausen , und oben- gedachter Frau Fueßli Begleitung nach Zuͤrich , um die dortigen Freunde, und dann auch einen Staarblinden zu be- sehen, der ihn erwartete; dieser war der beruͤhmte Fabrikant und Handelsmann Eßlinger , dessen fromme und wohlthaͤ- tige Gesinnung allgemein bekannt ist, und nun auch schon droben im Reich des Lichts ihre Vergeltung empfaͤngt. Eß- Stilling’s sämmtl. Schriften. I. Baud. 35 linget entschloß sich mit folgenden Worten zur Operation: Ich hatte mein Schicksal dem Herrn anheimge- stellt, und von ihm Huͤlfe erwartet, nun schickte er sie mir in’s Haus, folglich will ich sie auch mit Dank annehmen . Jetzt sahe Stilling nun auch die verehrungswuͤrdige Gat- tin seines verklaͤrten Bruderfreundes Lavaters — ein Weib, das eines solchen Mannes werth war — das Bild der erha- bendsten Christentugend — Wahrlich, Lavaters Frau und Kinder sind Menschen der ersten Klasse. Am Abend reiste Stilling in Sulzers Begleitung wieder nach Winterthur . Hier empfing Stilling ein Schreiben vom Magistrat zu Schaffhausen , in welchem er ihm sehr liebreich und verbindlich fuͤr die Wohlthaten dankte, die er einigen Ungluͤck- lichen Ihrer Stadt bewiesen hatte. Am Tag seiner Abreise nach Zuͤrich aber widerfuhr ihm noch eine besondere Ehre: des Mittags uͤber Tisch im Frey ’schen Hause, kam der Doktor Steiner , ein junger vortrefflicher Mann, der ein Mitglied des Magistrats war, und uͤberreichte Stilling mit einer ruͤhrenden Rede, die er mit Thraͤnen begleitete, im Namen der Stadt Winterthur , eine schwere, sehr schoͤne silberne Medaille in einer netten Kapsel, die ein Winterthu- rer Frauenzimmer verfertigt hatte. Auf dem Deckel dieser Kapsel stehen die Worte: Aus des finstern Auges Thraͤnenquellen Den starren Blick mit neuem Licht erhellen: Statt dunkler Nacht und ödem Grauen, Der Sonne prächtiges Licht zu schauen. Wer dich, o edler Stilling kennt, Der dankt dem Herrn für dieß, dein göttliches Talent. Auf der einen Seite der Medaille steht im Lapidarsiyl eingegraben: Dem christlichen Menschenfreund, Heinrich Stil- ling, Hofrath und Professor zu Marburg, von den Vorstehern der Gemeinde Winterthur, zu einem kleinen Denkmal seines segenreichen Auf- enthalts in dieser Stadt, im April des Jahrs 1801, und zum Zeichen der Ehrerbietung und der dankbaren Liebe ihrer Bewohner . Auf der andern Seite heißt es in eben dem Styl: Unermuͤdlich wirksam, stets zum Trost der lei- denden Menschheit, saͤet er treffliche Saat auf den großen Tag der Vergeltung . Mit welcher Ruͤhrung und tiefen Beugung vor Gott er dieses Ehrendenkmal empfing, und wie er es beantwortete, das koͤnnen meine Leser leicht denken. An diesem feierlichen Tage, Donnerstags den 16. April, reisten nun Stilling und Elise unter einem thraͤnenvollen Abschied von allen Seiten von Winterthur nach Zuͤrich ab. Hier kehrten sie bei Geßner ein, der sie nebst seinem herrlichen Weibe, Lavaters Tochter, die mit ihm in Kopen- hagen war, mit Armen der Freundschaft empfing. Die erste Arbeit, die Stilling in Zuͤrich verrichtete, war Eßlingers Operation; sie gelang sehr gut er erhielt sein Gesicht, aber es waͤhrte nicht lang, so bekam er den schwarzen Staar, und blieb nun unheilbar blind bis an seinen Tod. Auch diesem Hause kann Stilling erst in der Ewigkeit nach Wuͤrde danken, hier ist es nicht moͤglich . Hier in Zuͤrich wurde er von außen durch einen unbe- schreiblichen Zulauf von Augenkranken, und von innen durch den empfindlichsten Magenkrampf gedraͤngt und gepeinigt. Zu Zeiten riß ihm dann die Geduld aus, so daß er die Leute hart anfuhr, und sich uͤber die Menge beschwerte; dieß nah- men ihm verschiedene Zuͤrcher so uͤbel, daß er hernach rath- sam fand, dort ein oͤffentliches Schreiben circuliren zu lassen, in welchem er Alle und Jede, die er beleidigt hatte, um Ver- gebung bat. Es ist unmoͤglich, die ganze Menge merkwuͤr- diger und vortrefflicher Menschen, beiderlei Geschlechts, die Stilling in der Schweiz uͤberhaupt, und besonders in Zuͤrich persoͤnlich kennen lernte, und die ihn ihrer Freund- schaft wuͤrdigten, hier namentlich anzufuͤhren. Heß , die beiden Doktoren Hirzel Vater und Sohn, Professor Meyer , der beruͤhmte Kupferstecher und Zeichner Lips , der auch Stil- 35 * ling zeichnete und in Kupfer gestochen hat, und sonst noch einige namhafte Personen zeichneten sich, naͤchst Lavaters Familie, Verwandten und Freunden, in Freundschaftsbezeu- gungen vorzuͤglich aus. Dienstags den 21. April reiste Stilling mit seiner Elise nach einem sehr ruͤhrenden Abschied von Zuͤrich weg, der Winterthurer Doktor Steiner , der ihm die Medaille uͤberreichte, und der junge Freund Kirchhofer , Pfarrer zu Schlatt , reisten mit. Daß auch der Zuͤricher Magistrat Stillingen in einem Schreiben dankte, darf nicht vergessen werden. Die Reise ging von Zuͤrich uͤber Baden und Lenzburg nach Zofingen , im Kanton Bern , wo Stilling den Schultheiß Senn — bei dem Wort Schultheiß darf man sich keinen deutschen Dorfschultheiß denken — operiren sollte; eben deßwegen reiste der Doktor Steiner mit, denn er war ein Verwandter von Senn , und weil sich Stilling nicht aufhalten konnte, so wollte Steiner etliche Tage da bleiben und die Kur vollenden. Senn ist ein ehrwuͤrdiger Mann, und stille, bescheidene, christliche Tugend ist der Hauptzug in seinem und seiner Familie Charakter. Mittwoch Morgens, den 22. April, operirte Stilling den Schultheiß Senn und noch eine arme Magd, und reiste dann mit seiner Elise das schoͤne Thal, laͤngs der Aar uͤber Aarburg und Olten herab, und dann den Hauenstein hinan. Dieser Berg wuͤrde in Deutschland schon fuͤr einen hohen Berg gelten, hier aber kommt er nicht in Betracht. Oben auf der Hoͤhe ist der Weg durch einen Felsen gehauen, und wenn man uͤber den Gipfel weg ist, so sieht man nach Deutschland hinuͤber; in Nordwesten erscheinen zweifelhaft die Bogesischen Gebirge, und im Norden bemerkt man den obern Anfang des Schwarzwaldes; dreht man sich aber um, so erscheint die ganze Alpenkette am suͤdoͤstlichen Horizont. Nachdem sie eine Strecke diesseits herabgefahren waren, so kamen sie vor ein einsames Wirthshaus, aus welchem eine wohlgekleidete artige Frau herausgelaufen kam und sehr freund- lich fragte: ob Stilling in der Kutsche sey? Und als sie das Wort Ja! hoͤrte, so floß ihr ganzes Herz mit ihren Augen von Liebes- und Freundschafts-Ergießungen uͤber: sie brachte ein Fruͤhstuͤck heraus, ihr Mann und Kinder kamen auch herzu, und es folgte eine viertelstuͤndige sehr herzliche und christliche Unterhaltung, dann nahmen die Reisenden Abschied, und fuhren weiter das Thal hinab. Dieser Ort heißt Leu- felfingen , und der Gastwirth Fluͤhebacher . Mit der Frau Fluͤhebacherin hat Stilling seitdem einen erbau- lichen Briefwechsel gefuͤhrt. Am Abend um sechs Uhr kamen die Reisenden in Basel an, wo sie auf die freundschaftlichste Art von dem Raths- herrn und Kaufmann Daniel Schorndorf , seiner Gattin und Kindern aufgenommen wurden. In dieser lieben christ- lichgesinnten Familie verlebten sie einige selige Tage. Hier gab es auch wieder Vieles zu thun; dann machte auch Stilling wieder wichtige Bekanntschaften, besonders mit den Theologen von der deutschen Gesellschaft zur Befoͤrderung wahrer Gottseligkeit , und dann auch sonst noch mit frommen Predigern, Huber, La Roche , u. a. m. Nach einem Aufenthalt von vier Tagen nahm auch hier Stilling ruͤhrenden Abschied, und reiste mit seiner Elise Montags den 27. April Morgens fruͤh von Basel ab. Jetzt, meine lieben Leser! wer Ohren hat zu hoͤren, der hoͤre, und wer ein Herz zu empfinden hat, der empfinde! — Stilling hatte ein tausend sechs hundert und ungefaͤhr fuͤnfzig Gulden Schulden — unter den zwei und siebenzig Staarblinden, die er in der Schweiz operirte, war eine Person, die kein Wort von seinen Schulden wußte, wenigstens nicht von Ferne ahnen konnte, wie viel ihrer waͤren, nur aus innerem Antriebe, Stillingen eine be- quemere Lage zu verschaffen — ganz genau ein tausend sechs hundert und fuͤnfzig Gulden fuͤr die Staaroperation und Kur bezahlte . Als Stil- ling und Elise des Abends zusammen auf ihr Schlafzim- mer kamen, so fanden sie das Geld theils baar, theils in Wechseln auf ihrem Bette — genau die Summe ihrer Schul- den, von der das Werkzeug in der Hand Gottes kein Wort wußte. Mein Gott, wie war beiden guten Seelen zu Muth! — mit welcher Ruͤhrung ohne gleichen sanken Beide vor dem Bette auf die Knie, und brachten Dem feurigen Dank, der dieß unaussprechlich wichtige Zeugniß seiner allerspeziellesten Vorsorge und Fuͤhrung so ganz augenscheinlich abgelegt hatte. Elise sagte: das heißt wohl recht, seinen Freunden gibt Er es schlafend. — Von nun an wolle sie nie wieder miß- trauisch seyn. Noch mehr! — die gute Seele, welche ein paar Jahre vorher die dreihundert Gulden schickte, als Stilling in Kassel , und Elise in der Presse war, wurde jetzt auch besucht, um ihr den gebuͤhrenden Dank zu bezeugen; ihr Mann wurde operirt: und als Stilling gegen alle fernere Bezah- lung protestirte, so sagte der edle Mann ganz pathetisch: das ist nun meine Sache ! und schickte dann Stillingen sechshundert Gulden in sein Logis; — damit waren nun auch die Reisekosten bezahlt. Noch mehr! Stillings himmlischer Fuͤhrer wußte, daß er in wenigen Jahren noch eine huͤbsche Summe noͤthig haben wuͤrde; Stilling wußte aber davon kein Wort. Diese Summe wurde ihm von verschiedenen wohlhabenden Patien- ten mit vielem Dank ausbezahlt. Ausserdem kamen noch so viele Geschenke und Liebesandenken an Kostbarkeiten dazu, daß Stilling und Elise aus der Schweiz wie zwei Bienen von der Blumenreise zuruͤckkamen. Lieber Leser! Gott, der Allwissende, weiß, daß dieß Alles reine, und mit keinem Wort ausgeschmuͤckte Wahrheit ist. Wenn das Alles aber nun reine heilige Wahrheit ist, was folgt dann daraus? — Am Schluß dieses Buͤchleins werden wir es finden. Unsere Reisenden nahmen ihren Weg durchs Breisgau herab auf Karlsruhe ; von Basel bis an diesen Ort, oder vielmehr bis nach Rastadt , wurde Stilling von einer entsetzlichsten Angst gemartert, es war ihm, als ob er dem gewissen Tod entgegen ginge: die Veranlassung dazu war eine Warnung, die ihm insgeheim und ernstlich zu Basel gegeben wurde, ja nicht uͤber Straßburg zu reisen; aus dieser Stadt ruͤhrte auch diese Warnung her, ein Freund hatte deßfalls nach Basel geschrieben. Dazu kam noch ein Umstand: ein gewisser gefaͤhrlicher Mann drohte Stillingen in Basel ; der Grund von allem dem liegt in seinen Schriften, welche Vieles enthalten, das einem revolutionssuͤchtigen Freigeist unertraͤglich ist. Mir ist mit Gewißheit bekannt, daß es Leute gibt, die vor Zorn die Zaͤhne auf einander beißen, wenn nur Stillings Na- men genannt wird; sonderbar! Stilling beißt bei keines Menschen Namen! — Freunde! auf welcher Seite ist nun Wahrheit! — Wahrlich! — Wahrlich! nicht da, wo gebissen wird ! Bei allem dem ist es doch etwas Eigenes, das Stilling nur zu gewissen Zeiten, und manchmal bei noch geringeren Veranlassungen, eine solche unbeschreibliche Angst bekommt; bei andern, weit groͤßern Gefahren, ist er oft gar nicht furcht- sam. Ich glaube, daß es Einwirkungen eines unsichtbaren boͤsen Wesens, eines Satans-Engels sind, die Gott aus wei- sen Ursachen dann und wann zulaͤßt; eine koͤrperliche Dis- position kann Veranlassung zu einer solchen feurigen Versu- chung geben, allein das Ganze der Versuchung ist we- der im Koͤrper noch in der Seele gegruͤndet; dieß kann aber durch nichts anders, als durch eigene Erfahrung bewiesen wer- den. Daß es aber solcher Sichtungen des Satans gibt, das bezeugt die heilige Schrift. Stillings Angst war am heftigsten zu Freiburg im Breisgau , zu Offenburg und zu Appenweyer . Zu Rastadt wurde sie ertraͤglich, aber hier fing nun der Ma- genkrampf an heftig zu rasen; Mittwochs, den 29. April, fuhren sie des Morgens mit einem schlafenden Postillon und zwei muͤden Pferden nach Karlsruhe ; auf diesem Wege war jener Magenkrampf fast unertraͤglich; Stilling sehnte sich nach Ruhe; anfangs war er nicht Willens, zum Kur- fuͤrsten zu gehen, sondern sich lieber durch Ruhe zu erquicken; indessen dachte er doch auch, da dieser große, weise und fromme Fuͤrst das Heimweh mit so vielem Beifall gelesen und ihm deßfalls ein paarmal geschrieben hatte, so waͤre es doch wohl Schuldigkeit, wenigstens den Versuch zu machen, ob er zur Aufwartung angenommen wuͤrde? Er ging also ins Schloß, meldete sich, wurde augenblicklich vorgelassen, und mußte den Abend um fuͤnf Uhr auf ein Stuͤndchen wieder kommen. Ueber diesen Besuch sage ich kein Wort weiter, als daß er den entfernten Grund zur endlichen Aufloͤsung des Stillings- knoten legte, ohne daß es Stilling damals ahnete. Donnerstags den 30. April reisten Beide von Karlsruhe nach Heidelberg; Lisette hatte die ganze Zeit uͤber um eine gluͤckliche Reise fuͤr ihre Eltern gebetet. Des andern Morgens, Freitags den 1. Mai, reisten sie weiter, Mieg und Lisette begleiteten sie bis Heppenheim : hier vor der Thuͤr des Gasthauses sahen sie ihre Lisette in diesem Leben zum Letztenmal. Mieg ging mit ihr zuruͤck nach Heidelberg , und Stilling und Elise setzten ihren Weg fort nach Frankfurt , wo sie des folgenden Tages, Sonn- tags den 2. Mai gesegnet, gluͤcklich und wohlbehalten ankamen. Von Frankfurt machten sie nun noch eine Reise ins Schlangenbad, um den alten ehrwuͤrdigen Burggraf Rull- mann und noch einige Arme zu operiren. Dort in der an- genehmen Einoͤde hatten sie nun Zeit, die ganze Reise zu recapiruliren, und nachdem auch hier Alles verrichtet war, so reisten sie wieder nach Marburg , wo sie den 15. Mai ankamen, und Alles gesund und wohl antrafen. Das Erste, was nun Stilling vornahm, war die Abtra- gung seiner Schulden — das Hauptkapital, welches ihm zu Schoͤnenthal gleich nach seiner Zuruͤckkunft von Straß- burg , unter der Buͤrgschaft seines Schwiegervaters war vor- geschossen worden, das stand noch groͤßtentheils, und die Buͤrg- schaft war noch nicht aufgehoben; aber jetzt geschah es auf Einmal. Jetzt blieb er Niemand, so viel er sich erinnern konnte, einen Heller mehr schuldig. Er war ehemals deswe- gen von Heidelberg weggezogen, um vermittelst des großen Gehalts die Schulden zu tilgen — das war sein und Sel- ma ’s, aber nicht des Herrn Plan: denn der Hauptstock wurde nicht durch die Besoldung, sondern aus der Kasse der Vor- sehung bezahlt. Die Absicht des Herrn bei dem Zug nach Marburg war keine andere, als ihn vor dem Ungluͤck und den Schrecken des Kriegs zu bewahren, und in Sicherheit zu bringen, und dann seine dreißigjaͤhrige unerschuͤtterliche Stand- haftigkeit im Vertrauen auf seine Huͤlfe, auch dann, wann es am dunkelsten aussahe, und in einem Lande, welches durch den Krieg am mehresten ausgesogen war, auf eine eklatante, auf eine solche Weise zu kroͤnen, so daß Jedermann bekennen muß: Das hat der Herr gethan ! Sollte Jemand Etwas dabei zu erinnern haben, daß ich sage, es sey des Herru Plan gewesen, Stillingen vor den Schrecken des Kriegs zu bewahren, da es ja weit bessere Menschen gaͤbe, die den Krieg haͤtten aushalten muͤssen, so dient einem solchen zur dienstwilligen Antwort: daß ein guter Hirte die schwaͤchsten Schafe, die am we- nigsten aushalten koͤnnen, am ersten und sorgfaͤl- tigsten fuͤr Sturm und Ungewitter verbirgt . Wenn die Vorsehung Etwas ausfuͤhren will, so thut sie es nicht halb, sondern ganz. Stilling war in Straß- burg , als er dort studirte, einem Freund zwischen 40 bis 50 Gulden schuldig geblieben, der Freund trieb nicht auf die Bezahlung, und Stilling hatte auch mit der uͤbrigen Schul- denlast so viel zu thun, daß er froh war, wenn ihn ein Kre- ditor in Ruhe ließ. Dieß ging so fort bis zur franzoͤsischen Revolution, wo es uͤberall, auch in Straßburg , drunter und druͤber ging; nun kam auch noch der Krieg dazu, wo- durch die Communication zwischen Deutschland und Frank- reich vollends erschwert wurde; und da auch Stilling noch andere und druͤckendere Schulden hatte, so dachte er an die- sen Posten nicht mehr, aber sein himmlischer Fuͤhrer, der durchaus und vollkommen gerecht ist, dachte allerdings daran, denn alsofort, nach Stillings Reise in die Schweiz, kommt ein Freund zum Bruder des laͤngst verstorbenen Straßbur- ger Kreditors, und bezahlt nicht allein das Kapitaͤlchen, son- dern auch die Interessen von dreißig Jahren, so daß also seine Zahlung fuͤr Stilling beinahe hundert Gulden betrug. Stilling bekam also von unbekannter Hand die Quittung uͤber die Bezahlung dieses Postens, aber er hat nie den Freund erfahren, der ihm auf eine so edle Art diesen Liebesdienst er- zeigt hat. Er wird dich aber dereinst finden, edler Mann! dort, wo Alles offenbar wird, und dann erst wird er dir nach Wuͤrden danken koͤnnen . Das war eine gesegnete Schuldentilgungs-Reise! — ein wichtiger Stillingsknoten, eine Schulden- Masse von fuͤnfthalb tausend Gulden machen zu muͤssen, und sie ganz ohne Vermoͤgen, blos durch den Glauben, redlich und ehrlich, mit den Zinsen bis auf den letzten Heller zu bezahlen, war nun herrlich geloͤst. Hallelujah ! Etliche Wochen nach Stillings Zuruͤckkunft aus der Schweiz begegnete ihm etwas Merkwuͤrdiges; er saß an ei- nem Vormittag an seinem Pult, es klopfte Jemand an seine Thuͤr, auf das Wort herein ! trat ein junger Mann von 27 bis 30 Jahren ins Zimmer; er sahe unstaͤt und fluͤchtig aus, blickte schuͤchtern umher, und oft mit scheuem Blick auf La- vaters Portrait: Sie sind in Zuͤrich gewesen? fing er an, ich war auch da! — ich muß fort! — er ging unruhig um- her, schaute nach Lavaters Bild, und sagte hastig: ich kann in Deutschland nicht bleiben, es ist uͤberall unsicher fuͤr mich — man koͤnnte mich fangen — ach Herr Hofrath! ma- chen Sie, daß ich fortkomme! — Stilling gerieth in Ver- legenheit, und fragte: Sind Sie ein Schweizer? Ach ja, ant- wortete er, ich bin ein Schweizer! — aber ich habe keine Ruhe, ich will nach Amerika , machen Sie, daß ich dahin komme! u. s. w. Unter bestaͤndigem Hin- und Herlaufen, und Blik- ken nach Lavaters Bild, sprach er noch Mehreres, das bei Stilling die Vermuthung erregte, er sey Lavaters Moͤr- der. Er rieth ihm also, nach Hamburg zu gehen, wo er immer Gelegenheit faͤnde, nach Amerika zu kommen; er moͤchte aber eilen, damit er der Polizei nicht in die Haͤnde geriethe; ploͤtzlich lief der arme Mensch zur Thuͤr hinaus und fort. Nachdem nun Stilling seine so lang getragene Schulden- last ehrlich abgewaͤlzt hatte, so wurde nun eine andere Sache vorgenommen. Als Stilling und Elise aus der Schweiz zuruͤck kamen, uͤbernachteten sie in Muͤnster bei ihren Kin- dern Schwarz ; nachdem sie ihnen nun erzaͤhlt hatten, was der Herr an ihnen gethan, und wie er sie gesegnet habe, so schlugen Schwarz und Hannchen vor, ob die Eltern nun nicht des Jakobs und der Amalie sieben Jahre lang ge- pruͤfte Liebe kroͤnen, und sie trauen lassen wollten, da ja doch in der ganzen Lage dadurch eigentlich nichts geaͤndert oder er- schwert wuͤrde? — Die Eltern fanden nichts dagegen einzu- wenden, und um die beiden Verlobten zu uͤberraschen, und ihnen eine desto hoͤhere Freude zu machen, wollten sie alle Zubereitung geheim halten, dann Freund Schlarbaum mit seiner Familie zum Thee bitten, und der sollte dann auf Ein- mal vortreten und Beide kopuliren. Die Ausfuͤhrung dieses Planes gerieth aber nur zum Theil: die Sache blieb nicht ganz geheim, die Trauung geschah den 12. Julius in diesem 1801ten Jahre. Jetzt zog nun Jakob wieder zu seinen El- tern, er und seine Gattin blieben an ihrem Tisch und in dem naͤmlichen oͤkonomischen Verhaͤltniß wie bisher. Elise hatte im vorigen Sommer 1800 das Bad zu Hof- geißmar gebraucht, es war mit ihrem Hals aber eher schlim- mer als besser geworden: jetzt wollte man nun auch das Schlangenbad versuchen: sie reiste auf sechs Wochen da- hin, aber auch das half wenig. In diesem Sommer schrieb Stilling den zweiten Band der Scenen aus dem Geisterreich ; bei dieser Gelegen- heit muß ich doch etwas Artiges und Merkwuͤrdiges erzaͤhlen, jeder mag daraus machen was er will: ich habe oben gesagt, daß Stilling im verwichenen Winter, bald nach Lavaters Tod, ein Gedicht, unter dem Namen „ Lavaters Verklaͤ- rung “ herausgegeben habe; in diesem Gedicht holen die bei- den vor Lavater verstorbenen Freunde, Felix Heß und Pfenniger , in Gestalt zweier Engel den muͤden Kaͤmpfer nach seinem Tode ab und fuͤhren ihn nach Neu-Jerusalem . Jetzt, etwa ein halb Jahr nach der Herausgabe dieses Ge- dichts, kam Stillings frommer und treuer Freund, der reformirte Prediger Breidenstein in Marburg zu ihm, um ihn zu besuchen; Beide redeten uͤber allerhand Sachen, und unter andern auch uͤber jenes Gedicht; es ist artig, sagte Breidenstein , daß Sie des seligen Felix Heß Verspre- chen so schoͤn benutzt haben. Wie so? — antwortete Stil- ling , was fuͤr ein Versprechen? Breidenstein erwiederte: Lavater stand vor etlichen und zwanzig Jahren an Felix Heßens Sterbebette, weinte und sagte: nun stehst du aber nicht an meinem Bette, wenn ich sterbe! — Heß antwortete: ich werde dich dann abholen! — Stilling versetzte: Nein, wahrlich! davon habe ich nie ein Wort gehoͤrt — das ist doch sonderbar! — wo steht das? ich muß es selbst lesen! — das sollen Sie! sagte Breidenstein , das ist allerdings sonderbar! Des andern Tages schickte er Lavaters vermischte Schriften, in welchen eine kurze Lebens- beschreibung von Felix Heß befindlich ist; da steht nun dies Gespraͤch genau so, wie es Breidenstein erzaͤhlte. Daß Stilling jene Geschichte nie gehoͤrt und gesehen, wenigstens in vielen Jahren nicht daran gedacht hat, wenn er sie auch ehemals gelesen haben sollte, welches ich doch nicht glaube, das kann ich bei der hoͤchsten Wahrheit versichern. Wenn nun also diese sonderbare Sache Zufall ist, so ist er einer der seltesten, die jemals geschehen sind: denn erstlich sagt Heß vor nunmehr ungefaͤhr 30 Jahren, nahe vor seinem Tode, zu Lavater: ich werde dich abholen, wenn du stirbst ! — jetzt, so viele Jahre spaͤter, stirbt Lavater — Stilling entschließt sich, ein Gedicht auf seinen Tod zu machen — entschließt sich, die Dichtung so zu entwerfen, daß ihn zwei seiner Freunde abholen sollen, und waͤhlt nun auch den Mann dazu, der es ihm vor dreißig Jahren versprochen hatte!!! — Noch Eins: Als Stilling in Zuͤrich war, so sagte man ihm, Lava- ter habe noch einen Freund gehabt, mit dem er auf einem noch vertrautern Fuß gestanden habe, als mit Felix Heß , warum er den nicht in seinem Gedicht zu Lavaters Abho- lung gebraucht habe? Stilling fragte: wer denn dieser Freund gewesen sey? Man antwortete ihm: es sey Heinrich Heß gewesen. Dies veranlaßte nun Stilling , diesen Freund in den Scenen aus dem Geisterreich aufzufuͤhren, und zwar so: der verklaͤrte Heinrich Heß sollte Lavatern zur Mut- ter Maria abholen, weil ihn diese, als einen treuen Vereh- rer ihres Sohns, gern kennen lernen moͤchte; dann sollte sich Lavater von Maria den Charakter des Herrn in seinem irdischen Leben erzaͤhlen lassen, u. s. w. Dieß ist nun auch im zweiten Band der Scenen genau so ausgefuͤhrt worden. Lange nachher, als das Werk schon gedruckt war, las Stil- ling einmal von ungefaͤhr in Lavaters Jesus Messias das 26ste Kapitel des ersten Bandes, die stille Verborgenheit Jesus bis in sein 30stes Jahr, und fand nun hier wiederum mit Verwunderung, daß Lavater sich damit troͤstet: die Mutter Maria werde ihm dereinst in den seligen Gefilden erzaͤhlen, was ihr Sohn in seinem irdi- schen Leben fuͤr einen Charakter gehabt habe u. s. w. Daß Stilling dieß vorher nie in seinem Leben gelesen hatte, das kann man mir auf mein Wort glauben. Diesen Herbst des 1801sten Jahres kam es auch wieder zu einer Reise. An einem Ort im noͤrdlichen Deutschland befand sich eine sehr wuͤrdige, fromme Person, die den Staar hatte: sie war zu arm, um nach Marburg zu kommen, oder auch um Stilling kommen zu lassen. Dieser besprach sich mit Elise uͤber diese Sache, und sie beschlossen, weil der Herr ihre Schweizer-Reise so sehr gesegnet und ihnen so viel Gutes erzeigt haͤtte, so wollten sie aus Dankbarkeit nun auf ihre eigene Kosten zu der wuͤrdigen Patientin reisen, und ihr unter Gottes Beistand zu ihrem Gesicht verhelfen. Sie ruͤsteten sich also wieder zur Reise, und Stilling schrieb an die Person, daß er kommen wolle. Diese freute sich, wie man leicht den- ken kann, außerordentlich, und machte auch Stillings Vor- haben in dortigen Gegenden bekannt. Da nun die Reise uͤber Braunschweig ging, so wurde er freundlich eingeladen, in dem Stobwasserischen Hause zu logiren — Stobwas- ser ist ein beruͤhmter Handelsmann, er hat eine betraͤchtliche Lakierfabrik, und ist ein Mitglied der Bruͤdergemeinde. Stil- ling nahm dieß Anerbieten mit Dank an, und da nun auch ihr Weg uͤber Minden ging, so beschlossen sie, bei Julien einen Besuch abzulegen, um auch diese gute Seele persoͤnlich kennen zu lernen: diese lud sie aber freundlich ein, bei ihr zu logiren, welches dann auch mit Freuden zugesagt wurde. Stilling und Elise traten diese Reise den 18. Sep- tember an, sie nahmen Karoline bis Kassel mit, dort sollte sie bleiben, bis die Eltern wieder zuruͤckkaͤmen, denn da sie durch ihr Betragen und herzliche Liebe zu ihren Eltern, diesen Freude machte, so suchten sie ihr das auch bei Gele- genheit zu erwiedern. In Kassel logirten sie bei dem Herrn geheimen Rath von Kunckel , dessen Gattin eine nahe Bluts- verwandtin von Elise ist. Der geheime Rath von Kun- ckel aber war von jeher Stillings wahrer, bewaͤhrter und vertrauter Freund, und wird es auch wohl bleiben, so lange ihr Beider Daseyn waͤhrt. Kunckel hat von der Pike auf gedient, und ist durch seine treue Thaͤtigkeit geworden, was er ist. Des folgenden Tages am Nachmittag fuhren sie nach Min- den, dort blieben sie den Sonntag. Julie empfing sie mit der ganzen Fuͤlle der christlichen Liebe, sie und der rechtschaf- fene reformirte Prediger Klugist , nebst seiner lieben Gattin, erzeigten beiden Reisenden alle moͤgliche Freundschaft. Julie und Elise schlossen den Schwesterbund auf ewig, und ver- banden sich, den Weg fortzupilgern, den uns unser anbetungs- wuͤrdiger Erloͤser vorgezeichnet und selbst vorgegangen hat. Julie hat noch zwei vortreffliche Schwestern, die auch da wa- ren und den christlich freundschaftlichen Zirkel vermehren halfen. Zu Goͤttingen fanden sie den treuen Achelis gerade im Begriff, abzureisen; er hatte einen Beruf als Prediger in der Naͤhe von Bremen bekommen; seine Gattin war schon mit ihrer Schwester voraus nach Bovenden , wo sie ihn erwartete. Achelis begleitete nun Stilling und Elise , und von Bovenden fuhren sie zusammen bis Nordheim , wo sich dann Alle unter tausend Segenswuͤnschen trennten. Hier in Nordheim uͤberfiel Stilling eine unbeschreib- liche Angst; sie fing eben vor dem Abschied von Achelis an; ob es der gute Mann noch gemerkt hat, das weiß ich nicht. Es war eigentlich eine Angst fuͤr boͤsen Wegen, und fuͤr Umfallen der Kutsche — sie war aber so entsetzlich, daß es kaum auszuhalten war; sie waͤhrte die ganze Reise durch, und wurde bald staͤrker, bald schwaͤcher. Dienstag den 22. September des Nachmittags kamen sie gluͤcklich im Stobwasserischen Hause zu Braunschweig an; er selbst war mit seiner Gattin in Berlin , wo er auch eine ansehnliche Fabrik hat, seine Leute erzeigten aber den Reisenden alle moͤgliche Liebe und Freundschaft; es war Stilling und Elise innig wohl unter diesen guten Menschen. Von hier aus fuhr nun Stilling zu der Person, welche diese Reise veranlaßt hatte: sie wurde sehend. In Braun- schweig selbst operirte er zwoͤlf Personen, und vier Stun- den von da, zu Ampleben, einem Rittersitz des Herrn von Boͤttichers , nebst einem Pfarrdorf, eine Frau von Bode , die nebst ihrem Gattin auch zu den wahren Verehrern unsers Erloͤsers gehoͤrt. Stilling und Elise fuhren dahin, blie- ben einige Tage da, die Frau von Bode wurde auch sehend, und dann gingen sie wieder zuruͤck nach Braunschweig . Da man Elisen ernstlich gerathen hatte, wegen ihrem Halsziehen den beruͤhmten Arzt und großen Gelehrten, den Hofrath Beireiß in Helmstaͤdt , zu consuliren, so wurde die Reise auch dahin unternommen. Der große Mann gab sich alle erdenkliche Muͤhe, den Reisenden Vergnuͤgen zu machen, er schrieb auch Elisen eine Kur vor, die sie aber nicht aus- halten konnte, weil sie sie zu stark angriff. Waͤhrend des Aufenthaltes in Braunschweig machte Stilling verschiedene interessante persoͤnliche Bekanntschaf- ten mit Campe, von Zimmermann, Eschenburg, Pokels und noch Andern mehr. Der Herzog bezeigte sich außerordentlich gnaͤdig, er ließ Stilling zweimal zu sich kom- men, und unterredete sich lange mit ihm uͤber allerhand Sachen, unter Andern auch uͤber die Religion, uͤber welche er sich gruͤndlich und erbaulich aͤusserte. Dann sagte er auch zu Stilling: Alles, was Sie hier gethan haben, das sehe ich so an, als waͤr’ es Mir selbst gesche- hen — und des folgenden Tages schickte er ihm sechzig Louisd’or in sein Quartier. Damit war also nicht nur die Reise bezahlt, sondern es blieb auch noch uͤbrig. Es war also der Wille der Vorsehung, daß das Schweizergeld zu einem weit andern Zweck aufbehalten werden sollte. Waͤhrend Stillings Aufenthalt in Braunschweig , kam die Gemahlin des Erbgrafen von Stollberg-Wer- nigerode , eine geborne Prinzessin von Schoͤnberg , gluͤck- lich mit einer jungen Graͤfin ins Wochenbett; die Eltern hatten Stilling zum Taufpathen des Kindes gewaͤhlt, dieß bestaͤrkte nun den Vorsatz, den man schon in Marburg gefaßt hatte, einen kleinen Umweg uͤber Wernigerode zu machen, noch mehr. Dem zu Folge reisten sie Freitags den 9. Oktober von Braunschweig ab, und kamen des Abends an gedachten Ort, auf der hohen Burg, der von alten Zeiten her christlich gesinnten graͤflichen Familie an. Hier waren Stilling und Elise wie im Vorhof des Himmels. Er besuchte auch seine alten Freunde, Superin- tendenten Schmid , Hofrath Fritsche , Rath Benzler , Regierungsrath Blum , und den Sekretair Closse , der sein Lied im Heimweh: „ Es wankte ein Wanderer alt und muͤde “, vortrefflich in Musik gesetzt hat. Den Sonn- abend, den Sonntag und den Montag blieben sie bei der graͤflichen Familie; ein vornehmer Herr aus Sachsen , der in Geschaͤften da war, und neben Stilling an der Tafel saß, sagte mit Ruͤhrung zu ihm: Wahrlich! man sollte von Zeit zu Zeit hieher reisen, um sich einmal wieder zu erholen und zu staͤrken — und gewiß! er hatte Recht: Religion, Wohlstand, Feinheit der Sitte, Froh- sinn, Anstand und voͤllige Praͤtensionslosigkeit, bestimmen den Charakter eines jeden Mitglieds dieser edlen Familie. Bei allem dem wich hier Stillings Schwermuth nicht, sie war kaum auszuhalten. Dienstag den 13. Oktober nahmen die Reisenden von der Wernigeroder Herrschaft ruͤhrenden und dankharen Ab- schied; der Graf ließ sie durch seinen Kutscher mit zwei Pfer- den bis nach Seesen fahren, von da nahm dann Stilling Post auf Gandersheim , wo eine vieljaͤhrige Freundin von ihm, die Graͤfin Friederike von Ortenburg , Stiftsdame ist; diese hatte ihn ersucht, sie zu besuchen, weil sich dort an den Augen Leidende befaͤnden, die ihn erwarteten. Die Graͤfin Friderike freute sich sehr uͤber Stillings Besuch; uͤberhaupt erzeigte man beiden Reisenden dort viele Ehre: sie speisten des Abends bei der Prinzessin von Co- burg , welche in Abwesenheit der Fuͤrstin Aebtissin ihre Stelle vertritt. Stilling bediente hier verschiedene Patienten, und operirte eine arme alte Frau. Den Abend vor der Abreise stieg seine Schwermuth bis zur Hoͤllenangst; gegen Mitter- nacht aber wendete er sich mit großem Ernst im Gebet zu Gott, daß es durchdringen mußte, und nun schlief er ruhig bis an den Morgen, und setzte dann mit seiner Elise seine Heimreise fort; sie kamen des Abends spaͤt in Minden an, wo wiederum Julie, Klugist und seine Gattin in Freund- schaftsbezeugungen wetteiferten. Jetzt bemerkte man deutlich, daß es mit Juliens altem Vater zu Ende ging; Stilling und Elise baten sie also, sie moͤchte, wenn ihr Vater zu seiner Ruhe eingegangen waͤre, zum Besuch nach Marburg kommen, denn das wuͤrde ihr zur Erholung und Aufheiterung dienen. Julie versprach, sie wolle kommen. In Kassel bekam Stilling viel zu thun, so daß er vom Morgen bis an den Abend Recepte schreiben, und Rath ertheilen mußte, er operirte auch hier verschiedene Personen. Meine Leser werden sich erinnern, daß Bruder Coing zu Braach bei Rothenburg an der Fulda , 11 Stunden von Kassel , Prediger geworden sey, und daß Maria Coing nebst den beiden Kindern Friedrich und Malchen auch jetzt da waren. Diese beiden Kinder, auch die Schwe- ster Maria , wenn sie es wuͤnschte, dort abzuholen, dann aber auch und vorzuͤglich den guten lieben Bruder einmal zu besuchen, war Stillings und Elisens Vorhaben: da sie jetzt in der Naͤhe waren, um dieses Vorhaben auszufuͤhren, reisten sie Donnerstag den 22. Oktober von Kassel ab; bei dem Ausfahren durchs Leipziger Thor sagte er zu seiner Frau: Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 36 Ach liebes Kind! was gaͤb ich drum, wenn ich jetzt nach Marburg fahren koͤnnte! — Elise antwortete: Ey so laß uns das thun! — indessen Stilling wollte nicht, denn er dachte, wenn ihm ein Ungluͤck bevorstaͤnde, so koͤnnte ihm das allenthalben wiederfahren; sie fuhren also fort; der Bru- der kam ihnen zu Pferd entgegen, und am Abend kamen sie gluͤcklich in Braach an. Der Aufenthalt an diesem, an sich angenehmen Ort, war auf acht Tagen festgesetzt, waͤhrend der Zeit war Stilling zu Muth, wie einem armen Suͤnder, der in wenigen Tagen hingerichtet werden soll; er operirte ein Frauenzimmer in Rothenburg und bediente verschiedne Patienten. Maria , die in Braach schwaͤchlich geworden war, sollte nun nebst den beiden Kindern wieder mit nach Marburg reisen, und die Abreise wurde auf Donnerstag den 29. Oktober bestimmt. Zu diesem Ende schickte Bruder Coing nach Morschen auf die Post, und bestellte die Pferde. Mittwochs Abends, also den Tag vor der Abreise, stieg Stillings Schwermuth so hoch, daß er zu Elisen sagte: Wenn die Qual der Verdammten in der Hoͤlle auch nicht groͤßer ist, als die meinige, so ist sie groß genug ! Des folgenden Morgens kam der Postillon zu bestimmter Zeit, er hatte den Postwagen nach Rothenburg gefahren, folglich brauchte er vier Pferde, die aber gegen alle Postord- nungen sehr munter und lustig waren; er spannte ein, und fuhr ledig durch die Fulda, Stilling, Elise, Maria , die Kinder und der Bruder ließen sich einen Schußweges weiter oben in einem Nachen uͤbersetzen, mittlerweile kam der Po- stillon jenseits die Weise herauf, und hielt am gegenseitigen Ufer. Sie stiegen ein: Stilling saß hinten rechter Hand, neben ihm Elise mit dem Malchen auf dem Schooß, gegen ihr uͤber Maria , und gegen Stilling uͤber der Friedrich ; jetzt nahm Bruder Coing Abschied und ging wieder zuruͤck; ploͤtzlich klatschte der Postillon, die vier raschen Pferde gingen los in vollem Trab, der Postillon drehte kurz, die vordern Kutschenraͤder faßten die Langwied, und schleuderten die Kutsche mit einer solchen Gewalt auf den Boden, daß der Kasten rundum in der Mitte entzwei borst; da es nun eine Halb- chaise, also vorn unbedeckt ist, so flogen Elise, Maria und die beiden Kinder dort uͤber die Wiese hin, Stilling aber, der auf der Fallseite hinten im Eck saß, blieb im Wa- gen, und wurde jaͤmmerlich zugerichtet. Zum Gluͤck fuhr der Kehrnagel heraus, so daß die Kutsche nicht geschleift wurde, sie blieb also still liegen, und Stilling lag so fest einge- klemmt, daß er sich nicht regen konnte. Es ist außerordent- lich merkwuͤrdig, daß in dem Augenblick alle Schwermuth weg war; ungeachtet der heftigen Schmerzen, denn der ganze Koͤrper war wie geradbrecht, fuͤhlte er eine innere Ruhe und Heiterkeit, eine solche erhabene Freude, wie er sie noch nie empfunden hatte; und ungeachtet er noch gar nicht wußte, welches die Folgen seyn wuͤrden, so war er so innig ergeben in den goͤttlichen Willen, daß ihn auch nicht die geringste Furcht vor dem Tod anwandelte; so sehr auch der Postillon einen derben Ausputzer, und dann eine namhafte Strafe ver- dient hatte, so sagte ihm Stilling doch sehr guͤtig, und weiter nichts, als: Freund! ihr habt zu kurz gedreht. Elise, Maria und die Kinder hatten nicht das geringste gelitten — Bruder Coing kam auch wieder herzugelaufen — als sie nun den Mann, an dem ihrer aller Seele haͤngt, so blutruͤnstig und entstellt unter der Kutsche liegen sahen, so fingen sie alle jaͤmmerlich an zu lamentiren; die Kutsche wurde aufgehoben, und der verwundete gequetschte Mann hinkte an Elisens Arm wieder nach Braach zuruͤck; der Postillon schleppte die eben so verwundete und gequetschte Kutsche auch dahin, und er kam so mit genauer Noth davon, daß ihn die Braacher Bauern nicht tuͤchtig zudeckten. Diese waren aber auf andere Weise thaͤtig; der Eine warf sich auf’s Pferd, und rennte in vollem Gallopp nach Rothenburg , um Aerzte zu holen, und die andern schickten Erfrischungen, so gut sie sie hatten, und so gut sie es verstunden; alles wurde aber natuͤrlicher Weise so angenommen, als ob es das Kost- barste und Schicklichst sey. Stillings koͤrperlicher Zustand war erbaͤrmlich; die ganze 36 * rechte Brust war dick aufgeschwollen, und wenn man mit der Hand daruͤber her streicht, so rauschte es; eine Rippe war geknickt; hinten unter dem rechten Schulterblatt empfand er heftige Schmerzen; an der rechten Schlaͤfe hatte er eine Wunde, die heftig blutete, und nur einen Strohhalm breit von der Schlaf-Pulsader entfernt war, und in der rechten Leiste und Huͤfte empfand er heftige Schmerzen, so oft er den Schenkel bewegte. Kurz, jede Bewegung war schmerzhaft. Die Aerzte von Rothenburg , der Leibarzt Hofrath Meiß und der Leibchirurgus Freiß , zwei sehr geschickte Maͤnner, fanden sich bald ein, und durch ihre treue Pflege und Gottes Segen wurde Stilling in wenigen Tagen so weit wieder hergestellt, daß er nach Marburg reisen konnte. Die Kutsche aber konnten sie mit aller ihrer gelehrten Geschicklichkeit nicht kuriren, aber sie sorgten denn doch auch fuͤr ihre Heilung: diese wurde dem Hofsattler uͤbertragen, der sie so gut wieder herstellte, daß sie fester wurde als vorher. Montags den 2. November wurde die Reise wieder nach Marburg angetreten: Stilling ritt langsam, weil er in den schrecklichen Wegen dem Fahren nicht traute, es war aber auch rathsam: denn die Frauenzimmer und die Kinder wur- den noch einmal — doch ohne Schaden umgeworfen. Coing begleitete seinen Schwager zu Pferd bis Mabern , wo Ka- roline sie erwartete; des folgenden Tages fuhren sie dann Alle zusammen nach Marburg , weil von da an der Weg Chausee ist, Coing ritt aber wieder nach Braach zuruͤck. Mit den Folgen dieses Falls hatte Stilling noch eine Weile zu kaͤmpfen, besonders blieb ihm noch lange ein Schwin- del uͤbrig, der aber endlich auch ganz verschwunden ist. Stillings Zustand waͤhrend dieser Braunschweiger Reise bis daher, kann ich am besten durch ein Gleichniß be- greiflich machen: Ein einsamer Reisender zu Fuß kommt am Abend in einen Wald, durch diesen muß er noch, ehe er an die Herberge kommt. Es wird Nacht, der Mond scheint im jungen Licht, also nur daͤmmernd; jetzt gesellt sich ein sehr verdaͤchtiger, furchtbarer Mann zu ihm, dieser weicht nicht von ihm, und machte immer Miene, ihn anzufallen und zu ermor- den; endlich greift er ihn auf Einmal an, und verwundet ihn — ploͤtzlich sind einige der besten Freunde des Reisenden bei der Hand, der Feind flieht, der Verwundete erkennt seine Freunde, die ihn nun in die Herberge bringen und ihn pflegen, bis er wieder wohl ist. Liebe Leser! nehmt dieß Gleichniß wie ihr wollt, aber mißbraucht es nicht! Der Anfang des 1802. Jahrs war traurig fuͤr Stilling und Elise . Sonntags den 3. Januar bekam er einen Brief von Freund Mieg aus Heidelberg , worinnen er ihm mel- dete, Lisette sey krank, er glaube aber nicht, daß es Etwas zu bedeuten haͤtte, denn die Aerzte gaͤben noch Hoffnung. Bei dem Lesen dieses Briefes bekam Stilling einen tiefen Ein- druck ins Gemuͤth, sie sey wirklich todt. Es liegt so in seiner Seele, daß er sich allemal freut, wenn er erfaͤhrt, daß ein Kind, oder auch sonst ein frommer Mensch gestorben ist: denn er weiß alsdann wieder eine Seele in Sicherheit — dieß Ge- fuͤhl macht ihm auch den Tod der Seinigen leichter, als sonst gewoͤhnlich ist; indessen da er ein gefuͤhlvolles Herz hat, so setzt es doch in Ansehung der physischen Natur immer einen harten Kampf ab: dieß war auch jetzt der Fall, er litt einige Stunden sehr, dann opferte er sein Lisettchen dem Herrn, der es ihm gegeben hatte, wieder auf; und den 6. Januar, als er die Todesnachricht von Mieg bekam, war er stark, und konnte die sehr tief gebeugte Pflegeltern selbst, und kraͤf- tig troͤsten, aber Elise litt sehr. Die Freunde Mieg ließen Lisette sehr ehrenvoll begraben, Mieg gab ein klein Buͤchelchen heraus, das ihren Lebenslauf, Charakter, Tod und Begraͤbniß, und einige bei dieser Gelegen- heit entstandene Schriften oder Aufsaͤtze und Gedichte enthaͤlt. Man kann sich kaum die Wehmuth vorstellen, die diese Pflegeltern bei dem Heimgang dieses lieben Maͤdchens empfanden; sie hatten sie vortrefflich erzogen und gebildet, und Gott wird es ihnen vergelten, daß sie sie zur Gottesfurcht und zu einem christlichen Sinn angehalten haben. Merkwuͤrdig ist es, daß die alte Mutter Wilhelmi einige Wochen hernach ihrem Liebling folgte, so wie es ihre Tochter Mieg schon laͤngst befuͤrchtet hatte. Um diese Zeit starb auch der Buͤrgermeister Eicke zu Muͤn- den, Juliens Vater. Stilling und Elise wiederholten also ihre Einladung an Julie , zu kommen, sobald alle ihre Sachen in Ordnung seyen: sie folgte diesem Ruf, und kam mitten im Januar nach Marburg , wo es ihr in Stillings haͤuslichem Zirkel und christlichem Umgang so wohl gefiel, daß sie endlich den Wunsch aͤußerte, in dieser Familie zu le- ben. Stilling und Elise freuten sich uͤber diese Aeuße- rung, und die Sache wurde in Ordnung gebracht: Julie zahlt ein hinlaͤngliches Kostgeld, und beschaͤftigt sich dann mit der Bildung der kleinen Maͤdchen Malchen und Christin- chen ; gegen die Bezahlung des Kostgeldes protestirte nun zwar Elise ernstlich, aber Julie beharrte dabei, daß sie un- ter keiner andern Bedingung unter ihnen wohnen koͤnne; beide verschwisterte Seelen wurden also endlich einig; im Maͤrz reiste Julie nach Erfurt , um eine Freundin zu besuchen, und im folgenden August kam sie wieder. Von der Zeit an ist sie nun Stillings haͤuslichem Zirkel einverliebt, in wel- chem sie durch ihre Gottesfurcht, Heiterkeit, Leidenserfahrun- gen, und besonders durch Leitung und Bildung der Maͤdchen, ein wahrer Segen Gottes ist. In diesem Fruͤhjahr kam es auch wieder zu einer Reise: Stilling wurde nach Fulda verlangt, Elise begleitete ihn. Bei der Ruͤckreise nahmen sie den Weg uͤber Hanau und Frankfurt , und besuchten dann auch den Prinzen Frie- drich von Anhalt , und die Graͤfin Louise , die den vorigen Herbst von Marburg weg und nach Homburg vor der Hoͤhe gezogen waren. Bei dieser Gelegenheit lernten sie auch die Wittwe des Prinzen Victor von Anhalt kennen; diese ist eine wuͤrdige Schwester der Fuͤrstin Christine zur Lippe, eine wahre Christin und personisicirte Demuth. Nach einer Abwesenheit von etwa vier Wochen kamen sie wieder in Mar- burg an. Bald nachher wurde Amalie gluͤcklich von einer jungen Tochter entbunden. Jetzt nahte sich auch nun der wichtige Zeitpunkt, in wel- chem Caroline zum Abendmahl confirmirt werden sollte; sie war nun vierzehn und ein halb Jahr alt, und fuͤr ihr Al- ter groß und stark. Zwei Jahr hatte sie bei den wuͤrdigen Stillings -Freunden, den beiden reformirten Predigern Schlarbaum und Breidenstein , einen sehr guten Reli- gions-Unterricht bekommen, und der hatte auch wohlthaͤtig auf sie gewirkt: sie hat einen frommen christlichen Sinn, und es ist fuͤr den Vater eine große Freude und sehr beruhigend, daß seine drei aͤltesten Kinder auf dem Wege sind, wahre Christen zu werden. Julie schrieb aus Erfurt an Caroline , und trug der Tante Duising auf, ihr den Brief an ihrem Con- firmationstage zu uͤberreichen, es ist der Muͤhe werth, daß ich ihn hier einruͤcke: „Meine theure, ewiggeliebte Caroline ! „An dem festlichen Tage deines Lebens, wo alle deine Lie- „ben mit neuer Liebe Dich aus Herz druͤcken, da wird auch „mein Gebet sich mit dem ihrigen vereinigen; vielleicht in der- „selben Stunde, in welcher Du die feierlichen Geluͤbde ewiger „Treue und Liebe an Den ablegst, der immer unsre ganze „Seele erfuͤllen sollte, bete auch ich zu ihm fuͤr dich um „ Glauben, Treue und Liebe . „O meine liebe, beste Caroline ! ich bitte Dich flehentlich, „bedenke es doch ja recht, und halte doch ja, was du an die- „sem fuͤr Dich in Zeit und Ewigkeit so wichtigen Tage ver- „sprichst! Liebe den Herrn wie Du kein anderes liebst! — Du „kannst nichts Groͤßeres, Besseres und Wichtigeres „thun — laß dir weder durch Freuden noch durch Leiden — „nicht durch Schmeichelei noch durch Spott der Welt — „durch nichts laß dir die Krone rauben, die Dein Glaube „heut in der Hand des Herrn fuͤr dich erblickt, und bleibe „Ihm treu bis in den Tod, u. s. w.“ Die Confirmation geschah auf Pfingsten mit Gebet und vie- ler Ruͤhrung von allen Seiten. Stillings Lage wurde indessen immer druͤckender, auf einer Seite wurde sein religioͤser Wirkungskreis groͤßer, frucht- barer und bedeutender: die Direktoren der Erbauungsbuͤcher- Gesellschaft in London , welche in ein paar Jahren schon fuͤr eine Million Gulden erbauliche und nuͤtzliche Schriften unter die gemeinen Leute in England ausgetheilt hatten, schrieben ihm einen herzerhebenden Brief, und munterten ihn auf, diese Anstalt auch in Deutschland zu bewerkstelligen. Zugleich nahm auch seine religioͤse Korrespondenz, und nicht weniger die Praxis seiner Augenkuren zu; auf der andern Seite aber wurde sein eigentlicher akademischer Beruf immer unfruchtbarer: die deutsche Entschaͤdigung hatte die Provinzen, aus denen gewoͤhnlich die Universitaͤt Marburg besucht wurde, an andere Regenten gebracht, die selbst Universitaͤten haben, wohin also nun ihre jungen Leute gehen und da studiren muͤs- sen; die Zahl der Studirenden wurde also merklich kleiner, und wer noch studirte, der wendete sich zu den Brodstudien, zu welchem das Kameralfach nicht gehoͤrt; und endlich wird man auch auf allen Universitaͤten eine Abnahme des Triebs zum Studiren bemerken: die Ursache davon gehoͤrt nicht hieher. Genug, Stillings Auditorium wurde immer kleiner, so daß er oft nur zwei bis drei Zuhoͤrer hatte, dieß war ihm uner- traͤglich — eine so große Besoldung und so wenig dafuͤr thun zu koͤnnen, wollte sich mit seinem Gewissen nicht vertragen, und doch war er wie angenagelt, er konnte nicht anders, er mußte aushalten: denn ohne diese Besoldung konnte er nicht leben; bei allem dem fuͤllte nun sein großer und einziger Grundtrieb, fuͤr den Herrn und sein Reich allein zu wirken und zu leben — sein ganzes Wesen; er sahe und hoͤrte alle Tage, wie weit und breit wohlthaͤtig sein religioͤser Wirkungskreis war und den mußte er hintansetzen, um eines gar unfruchtbaren Broderwerbens willen. Endlich kam nun noch ein Hauptumstand zu dem Allen: der Kurfuͤrst von Hessen will zwar von ganzem Herzen die Religion unterstuͤtzen, aber Er hat auch einen Grundsatz, der an und fuͤr sich selbst ganz richtig ist, naͤmlich: Jeder Staatsdiener soll sich dem Fach, dem er sich ein- mal gewidmet hat, ganz widmen — Er sicht gar nicht gern, wenn Einer zu einem andern Beruf uͤbergeht : nun war aber Stilling in dem Fall, daß er gegen die beiden Theile dieses Grundsatzes handeln mußte; auch dieß machte ihm manche traurige Stunde — sein Kampf war schwer — aber gerade jetzt fing auch die Vorsehung an, von weitem Anstalten zur Ausfuͤhrung ihres Plans zu treffen; es ist der Muͤhe werth, daß ich hier alles mit der genauesten Puͤnktlichkeit erzaͤhle. Den 5. Julius dieses 1802. Jahres bekam Stilling von einem, ihm ganz unbekannten armen Handwerksmann, aus einem von Marburg sehr weit entfernten Ort, der auch kein Wort von Stillings Lage wußte und wissen konnte, indem er sie Niemand entdeckte, auch nicht konnte und durfte, einen Brief, in welchem dieser Mann ihm er- zaͤhlte, er habe einen merkwuͤrdigen Traum gehabt, in welchem er ihn auf einem großen Felde, auf welchem viele Schaͤtze auf Haͤufchen umher zerstreut gelegen haͤtten, hin und her gehend und beschaͤftigt gesehen; und er habe nun den Auftrag bekommen, ihm zu schreiben, und ihm zu sagen: er solle nun alle diese Schaͤtze beisammen auf einen Hau- fen tragen, dann sich dabei zur Ruhe setzen, und dieses einzigen Schatzes warten . Stilling hat in seinem ganzen Leben so viele Wirkun- gen des entwickelten Ahnungsvermoͤgens gesehen, gehoͤrt und empfunden, auch so viele — ohne die Theorie vom Ahnungs- vermoͤgen — unbegreifliche Wahrsagereien hysterischer und hypochondrischer Menschen erlebt, daß er wohl weiß, wohin solche Dinge gemeiniglich gehoͤren, und unter welche Rubrik sie zu bringen sind. Der Inhalt dieses Briefs aber stand so im Einklang mit dem, was in seinem Innern vorging, daß er es unmoͤglich als eine Sache von ohngefaͤhr ansehen konnte; er schrieb also dem Mann, daß er zwar wohl einsaͤhe, daß die Vereinigung des Mannigfaltigen ins Einfache gut fuͤr ihn waͤre, aber er muͤsse von seiner Professur leben, er moͤchte sich also fer- ner erklaͤren, wie er das meine? Die Antwort war: er solle das der Fuͤgung des Herrn uͤberlassen, der wuͤrde es wohl ein- zurichten wissen. Dieser Vorfall brachte in Stillings Ge- muͤth die erste Ahnung einer nahen Veraͤnderung und Entwick- lung seiner endlichen Bestimmung hervor, und gab ihm nun- mehr die gehoͤrige Richtung, und den Blick auf das fuͤr jetzt noch kaum merkbare Ziel, damit er kein Tempo versaͤumen moͤchte. Ungefaͤhr um die naͤmliche Zeit, oder noch Etwas spaͤter, bekam er auch einen Brief vom Pfarrer Koͤnig zu Burgdorf im Emmenthal im Kanton Bern , daß er kommen moͤchte, denn fuͤr die Sicherheit der Reisekosten sey gesorgt. Dieser Pfar- rer Koͤnig war staarblind, und hatte schon vorher mit Stil- ling desfalls correspondirt; dieser hatte ihm auch versprochen zu kommen, sobald er nur wisse, daß ihm die Reisekosten erstat- tet wuͤrden. Jetzt fingen also Stilling und Elise an, sich zur zweiten Schweizerreise zu ruͤsten. Waͤhrend aller dieser Vorfaͤlle nahm Vater Wilhelms Ge- sundheitszustand, der bisher so ganz fest und dauerhaft gewesen war, eine ganz andere Richtung: in Ansehung seiner Seelenkraͤfte war er nun so ganz Kind geworden, daß er gar keinen Verstand und Urtheilskraft mehr hatte; sein Koͤrper aber fing an, die zum Leben noͤthigen Verrichtungen zu vernachlaͤßigen; zudem lag er sich wund, so daß nun sein Zustand hoͤchst bedauernswuͤr- dig war, taͤglich mußte der Wundarzt mit ein paar Gehuͤlfen kommen, um ihm seinen wunden Ruͤcken und uͤbrige Theile zu verbinden, wobei der arme Mann so entsetzlich lamentirte, daß die ganze Nachbarschaft um seine Aufloͤsung betete. Stilling konnte den Jammer nicht ertragen, er ging gewoͤhn- lich fort, wenn die Verbindungszeit kam: aber auch zwischen der Zeit winselte er oͤfters erbaͤrmlich. Endlich kam dann auch der Tag seiner Erloͤsung; am sechsten September, Abends um halb zehn Uhr, ging er zu den seligen Wohnungen seiner Vorfah- ren uͤber. Stilling ließ ihn mit den Feierlichkeiten begraben, die in Marburg bei Honoratioren uͤblich sind. Wilhelm Stilling ist also nun nicht mehr hienieden; sein stiller, von den Großen dieser Erde unbemerkbarer Wandel, war denn doch Saat auf eine fruchtbare Zukunft. Nicht der ist im- mer ein großer Mann, der weit und breit beruͤhmt ist; — auch der ist nicht immer groß, der viel thut, sondern der ists im eigentlichen Sinn, der hier saͤet, und dort tausendfaͤltig erndtet. Wilhelm Stilling war ein Thraͤnensaͤer — er ging hin und weinte, und trug edlen Saamen, jetzt wird er nun auch wohl mit Freuden erndten. Seine Kinder, Heinrich und Elise , freuen sich dereinst auf sein Willkommen — sie freuen sich, daß er mit ihnen zufrieden seyn wird. Acht Tage nach Vater Wilhelm Stillings Tod traten Stilling und Elise ihre zweite Schweizerreise an: Montags, den 13. September 1802, fuhren sie von Marburg ab; in Frankfurt fand Stilling Augenpatienten, die ihn ein paar Tage aufhielten. Donnerstag den 16. kamen sie des Nach- mittags fruͤhzeitig nach Heidelberg ; der Willkommen bei Freundin Mieg war erschuͤtternd von beiden Seiten. Mieg war in Geschaͤften auf dem Lande, und kam erst gegen Abend wie- der: er hatte des Mittags in Gesellschaft eines angesehenen Man- nes gespeist, der den Gedanken geaͤußert hatte: Ein großer Herr muͤsse Stilling blos dafuͤr besolden, daß er seinen wohlthaͤtigen Beruf an Augenkranken un- gehindert ausuͤben koͤnnte . Dieß machte Stilling wieder aufmerksam auf Alles, was vorhergegangen war. Der Traum jenes Handwerksmannes, Vater Wilhelms Tod, und nun diese Aeußerung — die weiter von keiner Bedeutung schien, aber gerade jetzt Eindruck machte — und endlich wieder eine Schweizerreise — das Alles zusammen brachte eine hochahnende Stimmung in Stillings Gemuͤth hervor. Des folgenden Tages, Freitags den 17. September, setzten beide Reisende ihren Weg nach Karlsruhe fort. Hier muß ich in meiner Erzaͤhlung etwas zuruͤckgehen, um Alles unter einen gehoͤrigen Gesichtspunkt zu bringen. Jakob war — wie ich oben bemerkte — im verwichenen Fruͤhjahr Vater geworden; ungeachtet seiner Geschicklichkeit und Rechtschaffenheit, und ungeachtet aller guten Zeugnisse der Mar- burger Regierung, war doch in Kassel fuͤr ihn nicht das Ge- ringste auszurichten. Nun konnte er bei seiner Denkungsart von der Rechtspraxis unmoͤglich leben, sein Vater mußte ihn also betraͤchtlich unterstuͤtzen, und uͤber das Alles sahe er nun den An- wachs einer Familie vor sich; dieß Alles zusammen druͤckte den guten jungen Mann sehr, er hatte also dringend bei seinem Vater angehalten, er moͤchte ihn bei seiner Durchreise in Karlsruhe dem Kurfuͤrsten empfehlen; denn er sey ja urspruͤnglich ein Pfaͤl- zer, und koͤnne also auch dort Anspruch auf Versorgung machen. Es ist Stillings ganzem Charakter zuwider, einen Fuͤrsten, bei dem er in besondern Gnaden steht, um irgend Etwas von der Art zu bitten, oder Jemand zu einem Amt zu empfehlen. So dringend noͤthig nun auch seines Sohnes Versorgung war, so schwer und fast unmoͤglich daͤuchte es ihm, fuͤr ihn bei dem Kur- fuͤrsten anzuhalten. Noch muß ich erinnern, daß die Graͤfin von Waldeck , um dem Jakob bei seiner Hochzeit eine Freude zu machen, bei dem regierenden Grafen von Wernigerode angehalten hatte, Er moͤchte ihm den Justizrathstitel geben; dieß geschahe, und der Kurfuͤrst von Hessen erlaubte auch, daß er sich dieses Titels bedienen moͤchte. Jetzt wende ich mich nun wieder zur Fortse- tzung der Geschichte. Stilling und Elise kamen also Freitags, den 17. Septem- ber, des Abends in Karlsruhe an. Sonnabends Morgens, den 18., sahe Stilling in das bekannte Losungsbuͤchlein der Bruͤdergemeinde, welches auf jeden Tag im Jahr zwei Spruͤche aus der Bibel nebst zwei Liederverse enthaͤlt: der erste Spruch wird die Losung genannt, und der zweite heißt der Lehrtext. Stilling nimmt es auf allen Reisen mit, um taͤglich einen religioͤsen Gegenstand zur Beschaͤftigung fuͤr Kopf und Herz zu haben. Mit Erstaunen fand er auf den heutigen Tag die Worte: 2. Sam. 7, V. 25. Bekraͤftige nun Herr Gott das Wort in Ewigkeit, das du uͤber deinen Knecht und uͤber sein Haus geredet hast, und thue, wie du geredet hast . Der Liedervers heißt: O laßt uns seine Treue ehren, Seyd ganz zu seiner Absicht da! Er führt sie aus, Hallelujah! Nun suchte er auch den Lehrtext auf den heutigen Tag, und fand die schoͤnen Worte: Sey getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben ! — Dieser merkwuͤrdige Umstand vollendete nun die frohahnende Zuversicht, es werde heute zu einer Art von Entwicklung kom- men. Bald darauf trat ein Bedienter vom Hofe ins Zimmer, dieser brachte einen gnaͤdigen Gruß vom Kurfuͤrsten, mit dem Ersuchen, um neun Uhr zu Ihm zu kommen, und den Mittag zur Tafel zu bleiben. Diesem Befehl zufolge, und so vorbereitet, ging also Stil- ling um neun Uhr ins Schloß: er wurde augenblicklich vor- gelassen, und sehr gnaͤdig empfangen. Nach einigen Wortwechse- lungen fuͤhlte Stilling die Freimuͤthigkeit in sich, seinen Sohn zu empfehlen; er machte vorher die Vorbereitung, daß er sagte: es sey nichts schwerer fuͤr ihn, als Fuͤrsten, die Gnade fuͤr ihn haͤtten, Antraͤge von der Art zu machen, allein seine Umstaͤnde und seine Lage draͤngten ihn so, daß er jetzt einmal eine Aus- nahme von der Regel machen mußte. Hierauf schilderte er nun seinen Sohn nach der Wahrheit, und erbot sich zu den guͤltigsten schriftlichsten Beweisen, naͤmlich den Zeugnissen der Marbur- ger Regierung; endlich bat er dann, Se. Durchlaucht moͤch- ten ihn nur von der Pike auf dienen lassen, und ihn dann so befoͤrdern, wie er es verdiene: wenn er nur so viel bekaͤme, daß er bei gehoͤriger Sparsamkeit leben koͤnne, so wuͤrde er das als eine große Gnade ansehen; dann schloß er mit den Worten: Ew. Durchlaucht nehmen mir diese erste und letzte Empfehlung nicht ungnaͤdig. Der Kurfuͤrst aͤußerte sich gnaͤdig, und sagte: Er wolle bei der Organisation der Pfalz sehen, ob Er ihn un- terbringen koͤnne; reden Sie doch auch, setzte der vortreffliche Fuͤrst hinzu, mit den Ministern und geheimen Raͤthen, damit sie von der Sache wissen, wenn sie zur Sprache kommt! — Daß das Stilling versprach, und auch das Versprechen hielt, das versteht sich. Diese Vorbereitung hatte nun Veranlassung gegeben, von Stillings eigener Lage zu reden: der Kurfuͤrst floͤßte Stil- ling ein solches Zutrauen ein, daß er sich gerade aus so erklaͤrte, wie es in seinem Innern lag; hierauf sagte der große und edle Fuͤrst: „ Ich hoffe, Gott wird mir Gelegenheit ver- schaffen, Sie aus dieser druͤckenden Lage heraus- zubringen und so zu setzen, daß Sie bloß Ihrer religioͤsen Schriftstellerei und Ihrer Augenku- ren warten koͤnnen; Sie muͤssen von allen irdi- schen Geschaͤften und Verhaͤltnissen ganz frei ge- macht werden .“ Wie Stillingen in dem Augenblick — in welchem ihm die große Entwicklung seines Lebensplans so herrlich aus der Ferne entgegenstrahlte — zu Muthe war, das ist unbeschreiblich. Eilen Sie mit der Ausfuͤhrung dieser Sache? fuhr der Kurfuͤrst fort. Stilling antwortete: Nein! gnaͤdigster Herr; auch bitte ich unterthaͤnigst, ja zu warten, bis die Vorsehung irgendwo eine Thuͤr oͤffnet, damit Niemand darunter leidet, oder auf irgend eine Art zuruͤckgesetzt wird. Der Fuͤrst erwiederte: Also ein halb Jahr oder ein Jahr koͤnnten Sie noch wohl warten? Stilling antwortete: ich warte, so lang es Gott gefaͤllt, bis Ew. Durch- laucht den Weg gefunden haben, den die Vorsehung vorzeichnet. Das uͤbrige, dieses in Stillings Geschichte merkwuͤrdigen Tages, uͤbergehe ich: nur das bemerke ich noch, daß er auch der Frau Markgraͤfin aufwartete, die sich noch immer uͤber den Tod Ihres Gemahls nicht troͤsten konnte. Wer den Kurfuͤrsten von Baden kennt, der weiß, daß dieser Herr nie sein fuͤrstlich Wort wieder zuruͤcknimmt, und allemal mehr haͤlt und thut, als er versprochen hat. Jedes christliche Herz, das Gefuͤhl hat, kann Stilling nachempfinden, wie ihm jetzt zu Muthe war. Gelobt sey der Herr! seine Wege sind heilig, wohl dem, der sich Ihm ohne Vorbehalt ergibt! — Wer sich auf Ihn verlaͤßt, wird nicht zu Schanden! Sonntags Morgens operirte Stilling noch einen alten ar- men Bauersmann, den der Kurfuͤrst selbst hatte kommen lassen; dann setzte er mit seiner Elise die Reise nach der Schweiz fort. Je naͤher sie diesem ihrem Ziel kamen, desto furchtbarer wurde das Geruͤcht, daß die ganze Schweiz unter den Waffen und im Aufstand sey; angenehm war das nun freilich nicht, allein Stilling wußte, daß er in seinem wohlthaͤtigen Beruf reiste, und faßte also mit Elise ein festes Vertrauen auf die goͤttliche Bewahrung, und dieß Vertrauen war auch nicht vergeblich. In Freiburg im Breisgau erfuhren sie die harte Pruͤ- fung, welche die Stadt Zuͤrich den 13. September hatte aus- halten muͤssen, aber auch, daß sie den Schutz Gottes maͤchtig erfahren hatte. Dienstags den 21. September kamen sie des Abends zu Basel im lieben Schorndorfischen Hause gesund und gluͤcklich an; da es aber in der Gegend von Burgdorf noch immer unruhig war, so schrieb Stilling an den Pfarrer Koͤnig , er sey in Basel , und erwartete von ihm Nachricht, wann er sicher kommen koͤnne? Bis diese Nachricht kam, waren sie Beide ruhig und vergnuͤgt in Basel ; er diente einigen Augen- kranken, und operirte auch zwei Blinde. Am folgenden Tage, Mittwochs den 22. September, hatte Stilling eine große Freude: in Basel lebt ein sehr geschickter Maler, Marquard Wocher , ein Mann vom edelsten Herzen und christlichen Gesinnungen; dieser hatte Stillingen auf der ersten Schweizerreise zu einem dortigen angesehenen Mann, Herr Reber , gefuͤhrt, der eine sehr praͤchtige Gemaͤldesammlung hat: hier zog ein ecce homo Gemaͤlde Stillings ganze Aufmerk- samkeit auf sich. Bei der laͤngern Betrachtung dieses leidenden Christusbildes kamen ihm die Thraͤnen in die Augen; Wocher bemerkte dieß, und fragte: Gefaͤllt Ihnen dieß Stuͤck? — Stil- ling antwortete: Ausnehmend! Ach, wenn ich nur eine treue Kopie davon haͤtte; aber ich kann sie nicht bezahlen. — Die sollen sie haben, erwiederte Wocher , ich mache ihnen ein Praͤsent damit. Jetzt heute brachte Wocher dieß praͤchtige Stuͤck zum Will- komm, alle Kenner bewundern es. Hier ist nun auch der Ort, wo ich einer außerordentlichen Wohlthat Gottes gedenken muß — wer kann sie Alle erzaͤhlen? — aber eine und andere, die mit dieser Geschichte in Verbindung steht, kann doch nicht uͤbergangen werden. Meine Leser werden sich des Meister Isaacs zu Waldstaͤdt erinnern, wie er Stilling so liebevoll in der hoͤchsten Tiefe seines Elends aufnahm, und von Haupt bis zu Fuß kleidete; nun hatte ihm zwar Stilling , als er bei Spanier war, die baaren Auslagen wieder ersetzt, aber es druͤckte ihn doch oft, daß er der braven Familie dieses edlen Mannes jene Liebe auf keine Weise vergelten koͤnne. Jetzt kam es zu dieser Vergeltung, und zwar auf eine herrliche, Gottgeziemende Weise. Der aͤlteste Sohn des Meister Isaacs hatte auch das Schnei- derhandwerk gelernt, war dann auf seiner Wanderschaft nach Basel gekommen, hatte sich einige Jahre dort aufgehalten, und da er auch das wahre Christenthum liebt, so war er dort auch mit wahren Christusverehrern bekannt geworden, hernach hatte er sich dann in Waldstaͤtt — Rade vorm Wald , im Herzog- thum Berg — seiner Vaterstadt, als Schneidermeister nieder- gelassen, seine Geschwister zu sich genommen, und mit ihnen haus- gehalten; da er aber das Sitzen nicht vertragen konnte, so fing er eine kleine Handelschaft an: ein braver Kaufmann gab ihm Kredit, und so naͤhrte er sich und seine Geschwister ehrlich und redlich. Jetzt in diesem Sommer den 24. August kommt Feuer aus, die ganze Stadt liegt in wenigen Stunden ganz in der Asche, und den guten Kindern des frommen Isaacs war nicht allein das, was ihnen selbst zugehoͤrte, sondern auch der ganze Vorrath erborgter Waaren verbrannt. Freund Becker — so schreibt sich eigentlich die Familie — schrieb dieß Ungluͤck nicht selbst an Stil- ling , dazu denkt er zu delicat; aber ein anderer Freund schrieb ihm, und erinnerte ihn, was er dieser Familie schuldig sey — Stilling gerieth in Verlegenheit; das, was er der Familie schenken konnte, wenn er sich auch aufs staͤrkste angriff, war im- mer nur eine Kleinigkeit fuͤr sie, und doch fuͤr ihn in seiner Lage druͤckend; er schickte also Etwas, und da er gerade jetzt kurz vor der Reise das 12. Stuͤck des grauen Mannes schrieb, so fuͤgte er hinten eine Nachricht von diesem Ungluͤck an, und bat um mitleidsvolle Huͤlfe. Jetzt in Basel mußte nun Stilling auf Ersuchen der Mitglieder von der deutschen Gesellschaft, eine Erbauungsrede halten, wo etliche hundert Menschen versammelt waren; am Schluß der Rede erinnerte Stilling an ihren ehemaligen Freund, und erzaͤhlte sein Ungluͤck: dieß wirkte so viel, daß diesen Abend beinahe hundert Gulden gesammelt wurden, die man Stilling brachte. Dieß war der huͤbsche Anfang einer ansehnlichen Huͤlfe: denn die Erinnerung im 12. Stuͤck des grauen Mannes hat den Beckerischen Kindern ungefaͤhr tausend , und der Stadt Rade vorm Wald gegen fuͤnfhundert Gulden eingetragen, welches Geld alles an Stilling eingesendet wurde. Ich erzaͤhle dieses blos deßwegen, um zu beweisen, daß der Herr fuͤr diejenigen, die sich ganz und unbedingt von Ihm fuͤhren lassen, so vollkommen sorgt, daß sie durchaus alle Schulden, auch sogar die Liebeserzeigungen, wieder erstatten koͤnnen. In einigen Tagen kam dann auch die Nachricht von Burg- dorf , daß dort Alles ruhig sey, daher machten sich Stilling und Elise Mittwochs den 29. September auf den Weg: in Liestall operirte er Jemand, zu Leufelfingen speisten sie bei Freundin Fluͤhebacherin , zu Olten fanden sie Freunde und Freundinnen von Aarau , mit denen sie Thee tranken, und zu Aarburg holte sie der wuͤrdige Schultheiß Senn von Zofingen ab, bei dem sie uͤbernachten sollten. Als sie nun so in den Abendstunden das herrliche Aarthal hinauf fuhren, und die zum Untergang sich neigende Sonne die ganze Landschaft uͤberstrahlte, so sahe Stilling auf einmal im Suͤdwesten uͤber dem Horizont eine purpurfarbige Lufterschei- nung, praͤchtig anzusehen; bald entdeckte er, daß es ein Schnee- gebirge, wahrscheinlich die Jungfrau oder das Jungfer- horn war. Wer so Etwas nie gesehen hat, der kann sich auch keine Vorstellung davon machen, es ist eben, als sehe man in eine uͤberirdische Landschaft, ins Reich des Lichts, allein bei diesem Sehen bleibts auch, denn dorthin zu klettern, und da im ewigen Schnee und Eis zu hausen, das moͤchte wohl eben nicht angenehm seyn. Freund Senn , der in seinem Kabriolet voraus fuhr, drehte sich um, und sagte: welch’ eine Ma- jestaͤt Gottes — ich habe nun die Schneeberge so viel hundertmal beleuchtet gesehen, und doch ruͤhrt mich der Anblick noch immer. Nach einer sehr liebreichen Bewirthung im Sennischen Hause zu Zofingen , fuhren sie des andern Morgens nach Burgdorf , wo sie des Abends um 6 Uhr ankamen, und sich ins Pfarrhaus einlogirten. Die Stadt Burgdorf liegt auf einem Huͤgel, der einem Sattel aͤhnlich ist, auf der Spitze gegen Abend steht die Kirche mit dem Pfarrhaus, und auf der Spitze gegen Morgen liegt das Schloß, zwischen beiden Spitzen auf dem Sattel selbst befindet sich die Stadt, die dann wie eine bunte Satteldecke an beiden Seiten hinabhaͤngt; an der Nordseite rast die Emme , ein reißender Waldstrom, vorbei, von beiden Spiz- zen hat man eine vortreffliche Aussicht: gegen Nordwesten den Jura , dort das blaue Gebirge genannt, und im Suͤden erscheint dann wieder die praͤchtige Alpenreihe vom Mutterhorn und Schreckhorn an, bis weit uͤber die Jungfrau hinaus. Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 37 Hier operirte Stilling verschiedene Blinde; der wuͤrdige Pfarrer Koͤnig wurde auch mit einem Auge vollkommen sehend, außerdem aber bediente er viele Augenpatienten. Einer Opera- tion muß ich noch besonders gedenken, weil dabei Etwas vorfiel, das den Charakter der Schweizerbauern ins Licht stellte: zwei schoͤne starke Maͤnner, baͤurisch aber gut und reinlich gekleidet — Reinlichkeit ist ein Hauptcharakterzug der Schweizer — kamen mit einem alten ehrwuͤrdigen Graukopf ins Pfarrhaus, und frag- ten nach dem fremden Doktor; Stilling kam, und nun sagte der Eine: Da bringe wer unsern Vater — er ischt blend — choͤnnterm helfe? — Stilling besahe seine Augen, und antwortete: Ja, lieben Freunde! Mit Gottes Huͤlfe soll euer Vater sehend wieder nach Haus gehen. Die Maͤnner schwiegen, aber die hellen Thraͤnen perlten die Wangen herab, dem blinden Greis bebten die Lippen, und die starren Augen wurden naß. Bei der Operation stellte sich der eine Sohn auf die eine Seite des Vaters, und der Andere auf die andere Seite, in dieser Stel- lung sahen sie zu; als nun alles vorbei war, und der Vater wieder sah, so flossen wieder die Thraͤnen, aber keiner sagte ein Wort, außer daß der aͤlteste fragte: Herr Dochtor! was sind wer schuldig? — Stilling antwortete: ich bin kein Arzt fuͤr Geld, da ich aber auf der Reise bin, und viele Kosten habe, so will ich Etwas annehmen, wenn ihr mir Etwas geben koͤnnt, es darf euch aber im geringsten nicht druͤcken; — pathe- tisch erwiederte der aͤlteste Sohn: Uns druͤcht nichts, wenns unsern Vater betrifft ! — und der Juͤngere te hinzu: Unsere linke Hand nimmt nicht wieder zuruͤck, was die Rechte gegeben hat ! — Das sollte so viel heißen — das, was wir geben, das geben wir gern. Stil- ling druͤckte ihnen mit Thraͤnen die Haͤnde, und sagte: Vor- trefflich! — ihr seyd edle Maͤnner, Gott wird euch segnen! Stilling und Elise bekamen viele Freunde und Freundin- nen in Burgdorf ; man uͤberhaͤufte sie mit Wohlwollen und Liebeserzeigungen, und die vortreffliche Frau Pfarrerin Koͤnig beschaͤmte sie durch ihre uͤberfließende treu Verpflegung und Be- wirthung. Hier lernten sie nun auch den beruͤhmten Pesta- lozzi und sein Erziehungs-Institut kennen, das jetzt allenthal- ben so viel Aufsehens macht. Pestalozzis Hauptcharakterzug ist Menschen- und besonders Kinderliebe; daher hat er sich auch seit langer Zeit mit dem Erziehungsgeschaͤfte abgegeben; er ist also ein achtungswerther, edler Mann. Eigentlich ist seine Erziehungsmethode nicht der Gegenstand, der so viel Aufsehens macht, sondern die Lehrmethode, der Unterricht der Kinder — dieser ist erstaunlich, Niemand glaubt es, bis er es gesehen und gehoͤrt hat — aber eigentlich werden dadurch nur die Anschau- ungsbegriffe entwickelt, die sich auf Raum und Zeit beziehen; darin bringen es diese Zoͤglinge in kurzer Zeit zu einem hohen Grad der Vollkommenheit. Wie es aber nun mit der Entwick- lung abstrakter Begriffe, dann der sittlichen und religioͤsen Kraͤfte gehen, und was uͤberhaupt die Pestalozzische Methode fuͤr Einfluß auf das praktische Leben in die Zukunft haben wird, das muß man von der Zeit erwarten. Deßwegen sollte man behutsam seyn, und erst einmal sehen, was aus den Knaben wird, die auf diese Art gebildet worden sind. — Es ist doch wahrlich! bedenklich, in Erziehungssachen so schnell zuzufahren, ehe man des guten Erfolgs gewiß ist. Montags den 4. Oktober des Nachmittags reisten Stilling und Elise vier Stunden weiter nach Bern , wo sie bei dem Verwalter Niehans , einem frommen und treuen Freund Got- tes und der Menschen, einkehrten. Der viertaͤgige Aufenthalt in dieser ausnehmend schoͤnen Stadt war gedraͤngt voller Ge- schaͤfte: Staaroperationen, Bedienung vieler Augenkranken, Be- suche geben und annehmen, loͤsten sich immer mit großer Eile ab. Dann gewannen auch hier wieder beide Reisende einen großen Schatz von Freunden und Freundinnen, besonders kam Stilling mit den dreien gottesfuͤrchtigen Predigern Wittenbach, Muͤeß- lin und Lorsa in naͤhere Bekanntschaft. Auch die schaͤtzbaren Bruͤder Studer duͤrfen nicht vergessen werden; der eine beschenkte ihn mit einem herrlich illuminirten Kupferstich, der die Aussicht von Bern auf die Schneegebirge vorstellt und von ihm selbst verfertigt ist. Sonntags Morgens den 10. Oktober reisten Stilling und Elise wieder von Bern ab; unterwegs besahen sie zu Hindel- bank das beruͤhmte Grabmal der Frau Pfarrerin Langhaus , welches der hessische große Kuͤnstler Nahl verfertigt hat. 37 * Zu Burgdorf operirte Stilling noch einige Blinde, und dann reisten Beide wieder uͤber Zofingen nach Zuͤrich, Win- terthur und St. Gallen , wo sie bei dem frommen und gelehrten Antistes Staͤhelin logirten, und wiederum mit vie- len edlen Menschen das Band der Freundschaft knuͤpften. Hier operirte er nur Eine Person, diente aber mehreren Augenkranken. Mittwochs den 27. Oktober fuhren sie durch das paradiesische Thurgau laͤngs dem Bodensee nach Schaffhausen : unter- wegs zu Arbon wurde noch ein Mann vom Staar befreit. In Schaffhausen kehrten sie wieder im lieben Kirchhofer ’schen Hause ein. Auch hier gabs wieder viel zu thun, aber auch Ge- muͤthsunruhe und Traurigkeit, denn Sonntags den 31. Oktober, des Nachmittags ruͤckten schon die Franzosen da ein. Montags den 1. November verließen sie die liebe Schweiz , und da ein blinder Kaufmann von Ebingen einen Expressen nach Schaffhausen geschickt hatte, so mußten sie einen be- traͤchtlichen Umweg uͤber Moͤßkirch und die schwaͤbische Alp nehmen; von Ebingen wurden sie nach Balingen abgeholt, wo es auch viel zu thun gab, und von da fuhren sie dann nach Stuttgart , wo sie im Seckendorfischen Hause einen ge- segneten Aufenthalt hatten, und wo Stilling auch wieder vie- len Leidenden dienen konnte. Hier fand er zu seiner großen Freude den Herrnhuter Uni- taͤtsaͤltesten Goldmann , mit dem er in ein inniges Bruder- verhaͤltniß kam. Von Stuttgart mußten sie wieder einen großen und be- schwerlichen Umweg uͤber den Schwarzwald nach Calw nehmen, wo Stilling den frommen Pfarrer Haͤrlin von Neubulach , mit seiner lieben trefflichen Gattin und Tochter fand, die ihm alle drei schon durch Briefwechsel bekannt waren. Auch hier versammelte sich im Hause des christlichen Buchhalters Schill ein Kreis edler Menschen um die Reisenden her. Von hier fuhren sie nun Dienstags, den 9. November, nach Karlsruhe . Auf Verlangen der Frau Markgraͤfin hatte Stilling diesen Umweg wieder gemacht, weil sich dort noch Blinde fanden, die operirt werden mußten. Der Kurfuͤrst wiederholte sein Versprechen, und Freitags den 12. November traten sie ihre Nachhausereise uͤber Mannheim und Frankfurt an; hier und in Vilbel wur- den noch drei Blinde operirt, und Dienstags den 16. November kamen sie gesund und gluͤcklich wieder in Marburg an. Die erste Schweizerreise loͤste den ersten Stillingsknoten , naͤmlich die Bezahlung der Schulden , und die zweite loͤste den zweiten, naͤmlich Stillings endliche Bestimmung . Was der erhabene Weltregent anfaͤngt, das vollendet er auch im Kleinen wie im Großen, in der Bauernhuͤtte, wie am Hof. Er vergißt so wenig der Ameise, wie des groͤßten Monarchen. Ihm mißlingt nichts, und nichts bleibt Ihm stecken. Die Vor- sehung ging ihren hohen Gang fort. Bruder Coing heirathete im Fruͤhjahr 1802 ein treffliches Frauenzimmer, das seiner werth ist. Stilling, Elise , Schwe- ster Maria und Jakob reisten auf die Hochzeit, welche zu Homburg in Niederhessen, im Hause der wuͤrdigen Frau Me- tropolitanin Wiskemann , der Braut Mutter, gefeiert werden sollte. Nun lebt in Kassel ein edler, christlichgesinnter und ver- moͤgender Mann, der Rath Cnyeim , dieser war Wittwer, und seine beiden liebeswuͤrdigen Kinder verheirathet; er lebte also mit einem Bedienten und einer Koͤchin allein, und bedurfte nun wieder eine fromme und rechtschaffene Gattin, die an seiner Hand den Lebensweg mit ihm fortpilgerte. Ein Bruder dieses wuͤrdigen Mannes ist Prediger in Homburg , und ebenfalls ein sehr lieber Mann, dieser sahe und beobachtete Schwester Maria , und fand, daß sie seinen Bruder in Kassel gluͤcklich machen wuͤrde. Nach Beobachtung der gehoͤrigen Vorsichts- und Wohl- standesregeln, kam diese Verbindung zu Stande, und Maria — die edle, sanfte, gute und christliche Seele hat einen Mann bekommen, so wie er gerade fuͤr sie paßt; sie ist so gluͤcklich, wie man hienieden seyn kann. So ruht der Eltern Coing Segen auf ihren vier Kindern; sie sind alle gluͤcklich und gesegnet verheirathet: der Bruder Coing hat eine Gattin bekommen, wie sie der Herr einem Manne gibt, den Er liebt; auch Amalia lebt gluͤcklich mit Stillings rechtschaffenen Sohn; Elise geht den sauersten und schwersten Gang an Stillings Seite, allein nebst Vater Coings Se- gen, wird ihr Vater Wilhelm noch eine besondere Gnade vom Herrn erbitten. Das 1802. Jahr wurde mit einem angenehmen Besuch be- schlossen; Stillings naͤchster Blutsverwandter und vertrauter Jugendfreund von der Wiege an, der Oberbergmeister von Dil- lenburg , besuchte ihn auf einige Tage; er ist Johann Stil- lings zweiter Sohn, und ein rechtschaffener geschickter Mann, Beide erneuerten ihren Bruderbund und schieden dann wieder von einander. Im Anfange des 1803. Jahres trug sich etwas zu, das auf Stillings endliche Bestimmung einen wichtigen Einfluß hatte: es kam naͤmlich ein Rescript von Kassel an die Marbur- ger Universitaͤt, des Inhalts: Daß kein Schriftsteller in Marburg seine Geistesproducte dem Druck uͤbergeben sollte, bis sie vom Prorector und dem Decan der Facultaͤt, in deren Fach die Abhand- lung gehoͤre, gepruͤft worden sey . Diese Einschraͤnkung der Preßfreiheit, die nicht etwa das ganze Land oder alle gelehrte Schulen und Gelehrten in Hessen , son- dern blos und allein Marburg betraf, that allen dortigen Pro- fessoren, die sich im geringsten nichts Boͤses bewußt waren, un- gemein wehe: denn wie sehr dadurch ein ehrlicher Mann allen nur moͤglichen Neckereien ausgesetzt wird, wenn zwei seiner Kolle- gen das Recht haben, seine Arbeiten zu pruͤfen, das koͤnnen nur Gelehrte, eigentlich nur Professoren beurtheilen, die das ohnehin so schwere Kollegialverhaͤltniß auf Universitaͤten kennen. Stilling dachte hin und her — und das that wohl jeder Marburger Professor — was doch wohl die Veranlassung zu diesem so sehr harten Rescript gewesen seyn moͤchte? — Jetzt war, außer den gewoͤhnlichen akademischen Schriften, Pro- grammen, Dissertationen und dgl. nichts von einem Marbur- ger Verfasser herausgekommen, als der graue Mann von Stilling , und dann die theologische Annalen von Wachler ; Einer von Beiden mußte also wahrscheinlicher Weise verdaͤchtig gemacht worden seyn. Stilling durchdachte die letzten Hefte des grauen Mannes, und fand nicht das geringste Anstoͤßige; er konnte also unmoͤglich denken, daß eine so ortho- doxe Schrift, welche Religiositaͤt, die allgemeine Ruhe und Sicher- heit, und die Erhaltung des Gehorsams und der Liebe der Unter- thanen gegen ihre Regenten zum Zweck hat, Ursach zu diesem, fuͤr die Universitaͤt so traurigen Gesetz gegeben habe; um aber doch zur Gewißheit in dieser Sache zu kommen, schrieb er einen sehr hoͤflichen und herzlichen Brief an einen gewissen Herrn in Kassel , dem er in seinem Leben kein Haar gekraͤnkt hatte, und erkundigte sich mit Bescheidenheit nach der Ursache des harten Censurrescripts — allein wie erschrack er, als er in einer ziem- lich stachlichten, nicht liebevollen Antwort, die Nachricht bekam: der graue Mann habe das Censurrescript veran- laßt — nach und nach wurde dieß auch allgemein bekannt, und nun kann sich Jeder leicht vorstellen, wie Stilling zu Muthe seyn mußte, wenn er bedachte, daß er die Veranlassung zu einer, fuͤr die Universitaͤt so schweren, Buͤrde gegeben habe; jetzt war er nun auf Einmal mit Marburg und Hessen fertig; — Zeit und Weile wurden ihm zu lang, bis der Herr sein Schicksal vollends entschied. Daß der Kurfuͤrst von Hessen an diesem Rescript durchaus unschuldig war, das brauche ich wohl nicht zu erinnern. — Wie kann ein großer Herr alle Schriften lesen und pruͤfen? — diese und noch viele andere Sachen muß er sachkundigen Maͤnnern zur Entscheidung uͤberlassen. Ich berufe mich auf alle Leser des grauen Mannes, und wenn mir einer eine einzige Stelle zeigen kann, die den Reichscensurgesetzen entgegen ist, so will ich verloren haben. Haͤtte man nun nicht Stillingen einen Wink geben sol- len, er moͤchte doch den grauen Mann nicht schrei- ben ? — ihn aber der ganzen Universitaͤt, allen seinen Kolle- gen zum Stein des Anstoßes zu machen, das war sehr hart fuͤr einen Mann, der dem Fuͤrsten und dem Staat sechzehen Jahr lang mit aller Treue gedient hat. Ja, wahrlich! jetzt war in Hessen Stillings Bleibens nicht mehr, und wie gut war es, daß er nun gerade kurz vor- her in Karlsruhe eine frohe Aussicht erhalten hatte. Er erklaͤrte oͤffentlich, und auch in seinem Votum, welches auf sein Verlangen der Vorstellung der Universitaͤt an den Kurfuͤrsten beigelegt wurde, Seine Durchlaucht moͤchte doch der Universitaͤt das Censurrescript wieder abnehmen, er allein wolle sich ihm unterwerfen, allein das half nicht, es blieb bei dem einmal gegebenen Gesetz. Der Kurfuͤrst hatte uͤbrigens von jeher viele Gnade fuͤr Stil- ling , er wird Ihm noch in der Ewigkeit dafuͤr danken, und seine ehrfurchtsvolle Liebe gegen diesen in so mancher Absicht großen Fuͤrsten wird nie erloͤschen. In diesen Osterferien kam es wieder zu einer wichtigen und merkwuͤrdigen Reise: In Herrnhut in der Oberlausitz und den dortigen Gegenden waren viele Blinde und Augenkranke, die Stillings Huͤlfe verlangten, sein treuer und lieber Corre- spondent Erxleben schrieb ihm also: er moͤchte kommen, fuͤr die Erstattung der Reisekosten sey gesorgt. Stilling und Elise ruͤsteten sich also wiederum zu dieser großen Reise: denn Herrnhut ist von Marburg neun und fuͤnfzig deutsche Meilen entfernt. Freitags den 25. Maͤrz reisten sie von Marburg ab; wegen der boͤsen Wege in Thuͤringen , beschlossen sie, uͤber Eisenach zu gehen. Hier sahe Stilling seinen vieljaͤhrigen Freund, den Kammerdirektor von Goͤchhausen , zum Erstenmal, dieser edle Mann war krank, indessen es besserte sich bald wieder mit ihm. Unterwegs hielten sie sich nirgends auf: sie fuhren uͤber Gotha, Erfurt, Weimar, Naumburg, Weißenfels, Leipzig, Wurzen — wo sie mit ihrem christlichen Freund, dem Gerichtsdirector Richter , welcher nebst seiner Tochter Auguste mit Stilling in einem erbaulichen Briefwechsel steht, ein paar Stunden sehr angenehm zubrachten — und Meis- sen nach Dresden ; hier uͤbernachteten sie im goldnen Engel, und fanden auch hier ihren Freund von Cuningham kraͤnk- lich; Stilling machte noch diesen Abend einen Besuch bei dem verehrungswuͤrdigen Minister von Burgsdorf , und wurde wie ein christlicher Freund empfangen. Freitags den ersten April reisten sie nun in die Lausitz, sie kamen am Nachmittag schon zu Kleinwelke , einem schoͤnen Herrnhutergemeinort, an; sie fanden ihren Freund, den Prediger Nietschke , in tiefer Trauer, er hatte seine treffliche Gattin vierzehn Tage vorher fuͤr dieses Leben verloren. Stilling weinte mit ihm, denn das ist der beste Trost, den man einem Mann geben kann, dem so wie Nietschke , alle Trostquellen geoͤffnet sind, die Natur fordert ihr Recht, der aͤussere Mensch trauert, indem der innere Gott ergeben ist. Hier wohnten sie des Abends der Singstunde, oder dem An- fang der Feier der Charwoche bei, auch machten sie angenehme Bekanntschaften. Stilling besah auch einige Blinde, die er bei der Ruͤckreise operiren wollte. Sonnabend den 2. April fuhren sie des Morgens von Klein- welke uͤber Budissin und Loͤbau nach Herrnhut . Die- ser Ort liegt auf einer flachen Anhoͤhe zwischen zwei Huͤgeln, deren der eine noͤrdlich, der andere suͤdlich ist; jener heißt der Hutberg und dieser der Heinrichsberg , auf jedem steht ein Pavillon, von dem die Aussicht ausserordentlich schoͤn ist: gegen Osten etwa fuͤnf Stunden weit, sieht man das maje- staͤtische Schlesische Riesengebirge, und gegen Mittag nach Boͤhmen hin. Wie herzlich und liebevoll Stilling und Elise an diesem aͤusserst lieben und angenehmen Ort empfangen wurden, und was sie Gutes da genossen haben, das laͤßt sich unmoͤglich be- schreiben. Eben so wenig kann ich die Geschichte des zehntaͤgigen Aufenthalts erzaͤhlen, denn es wuͤrde dieß Buch allzusehr ver- groͤßern, und dann wurde auch Stilling von den Vorstehern ernstlich ersucht, ja nicht viel zum Lob der Bruͤder- gemeinde zu sagen und zu schreiben, denn sie gedeihten besser unter Druck, Verachtung und Vergessenheit, als wenn man sie ruͤhmt . Erxleben und Goldmann freuten sich vorzuͤglich ihrer Ankunft, der erste als Correspondent, und der zweite als per- soͤnlicher Bekannter von Stuttgart her. Daß ich uͤbrigens keines Freundes und keiner Freundin weiter hier namentlich gedenke, wird mir Niemand veruͤbeln — wie koͤnnte ich sie Alle nennen? — und geschehe das nicht, so koͤnnte es dem wehe thun, der ausgelassen wuͤrde. Wuͤrde ich auch nur die vielen Standespersonen und Adeli- chen, mit denen Stilling und Elise hier in ein bruͤderliches Verhaͤltniß kamen, bemerken wollen, so muͤßte das der Menge der vortrefflichen Seelen aus der Buͤrgerschaft wieder leid thun, und das mit Recht: denn in dem Verhaͤltniß, worinnen man in Herrnhut steht, ist man Allen im Herrn Jesu Christo verschwistert, da gilt kein Stand mehr etwas, sondern die neue Kreatur, die aus Wasser und Geist wiedergeboren ist. Wer uͤbrigens Herrnhut in seiner religioͤsen und politischen Ver- fassung gern kennen moͤchte, der lese nur Pastor Frohbergers Briefe uͤber Herrnhut , da findet er Alles genau beschrieben. Die Feier der Charwoche ist in allen Bruͤdergemeinden, vor- zuͤglich aber in Herrnhut , herzerhebend und himmlisch; Stil- ling und Elise wohnten allen Stunden, die ihr gewidmet sind, fleißig und andaͤchtig bei: auch erlaubten ihnen die ehr- wuͤrdigen Bischoͤfe und Vorsteher, am gruͤnen Donnerstag Abends mit der Gemeinde zu communiziren; diese Communion ist, was sie eigentlich seyn soll: eine feierliche Vereinigung mit dem Haupte Christo und mit allen seinen Gliedern unter allen Religions- partheien. Was ein christlichgesinntes Herz in dieser Stunde empfindet, und wie einem da zu Muth ist, das kann nicht be- schrieben, sondern es muß erfahren werden. Es war Stil- ling zu dieser Zeit zu Muth, als wenn er zu seiner neuen kuͤnf- tigen Bestimmung eingeweiht wuͤrde; und zu solch einer Ein- weihung war denn freilich kein Ort geschickter, als der, wo Je- sus Christus und seine Religion vielleicht am reinsten und lau- tersten in der ganzen Welt bekannt und gelehrt wird, als der Ort, wo nach dem Verhaͤltniß der Menschenzahl uͤberhaupt, gewiß die mehresten wahren Christen wohnen. Zweier Personen in Herrnhut muß ich doch noch beson- ders gedenken: naͤmlich der dortigen Ortsherrschaft, welche aus dem Baron von Wattewille und seiner Gemahlin, einer gebornen Graͤfin von Zinzendorf , besteht; diese wuͤrdige Dame ist ihrem seligen Vater sehr aͤhnlich, und fließt auch eben so von Gottes- und Menschenliebe uͤber; auch ihr Gemahl ist ein edler und Gottliebender Mann; Beide erzeigten Stilling und Elise viele Freundschaft. Stilling operirte in Herrnhut verschiedene Personen, und ging einigen Hunderten mit Rath und That an die Hand. Das Gedraͤnge der Huͤlfsbeduͤrftigen war ausserordentlich groß. Dienstags den 12. April, also am dritten Ostertag, reisten sie unter dem Segen vieler edler Menschen von Herrnhut nach Kleinwelke . Hier wurden noch Einige operirt, und am folgenden Tage fuhren sie nach Dresden , wo sie bis den Sonnabend blieben, und dann ihren Ruͤckweg uͤber Wald- heim, Coldiz, Grimma und Wurzen nach Leipzig nahmen. Die Ursachen dieses Umwegs waren, einige Blinden im Armenhause zu Waldheim , denen der liebevolle Vater der Armen, der Minister von Burgsdorf , gern zu ihrem Ge- sicht helfen wollte, und dann eine freundliche Einladung seiner Kinder von Hopfgarten in Coldiz ; hier operirte Stil- ling die letzten Staarblinden auf dieser Reise. Es thut mir wehe, daß ich nicht Allen den lieben vortrefflichen Menschen, die Stilling und Elise so unaussprechlich viele Liebe erzeigt, und mit denen sie sich auf Zeit und Ewigkeit vereinigt haben, hier laut und oͤffentlich danken kann und da ß ; allein Jeder sieht ein, daß das aus vielen wichtigen Gruͤnden nicht angeht. Wir wollen das auf die Ewigkeit versparen. Donnerstags den 21., Nachmittags reisten sie von Leipzig ab, und blieben uͤber Nacht in Weißenfels ; den folgenden Tag fuhren sie bis Weimar ; und da sie Bestellungen nach dem Herrnhuter Gemeinort Neudietendorf hatten, so machten sie von Erfurt aus einen kleinen Umweg dahin, blie- ben den Sonntag da, und reisten dann des Montags uͤber Gotha nach Eisenach . In Gotha wartete Stilling dem Herzog auf, mit dem er eine kurze interessante Unterredung hatte. In Eisenach fanden sie ihren lieben Freund von Goͤchhau- sen wieder besser; mit ihm, seinem Bruder und Schwester, und mit dem wuͤrdigen Doctor Muͤller brachten sie einen ver- gnuͤgten Abend zu, und fuhren dann Dienstags, den 26. April, nach Kassel . Hier ruhten sie nun aus bis Montags den 2. Mai. Bruder Coing kam mit seiner Gattin auch dahin, alle Geschwister waren diese Tage uͤber sehr vergnuͤgt zusammen. Dann reiste Bru- der Coing mit seiner Julie wieder nach Hause, und Stilling und Elise an so eben bemerktem Tage wieder nach Marburg. Es ist bekannt, daß der Landgraf von Hessen-Kassel in diesem Fruͤhjahr die Kurwuͤrde annahm, zu welchem Ende große Feierlichkeiten veranstaltet wurden. Waͤhrend dieser Zeit, Frei- tags den 20. Mai, bekam Stilling des Morgens fruͤh einen Brief durch eine Staffette von Kassel , in welchem er ersucht wurde, augenblicklich Post zu nehmen und dorthin zu kommen, denn der Prinz Karl von Hessen aus Daͤnemark sey da, er habe seinen Bruder unerwartet uͤberrascht, und wuͤnsche nun auch Stilling zu sprechen. Dieser machte sich also sogleich auf, bestellte Post, Elise ruͤstete sich auch, und um halb sechs saßen Beide schon in ihrer Kutsche; Abends um neun Uhr kamen sie bei den Geschwistern Cnyrim in Kassel an. Die beiden folgenden Tage verlebte Stilling aͤußerst vergnuͤgte Stunden mit dem Prinzen: Sachen von der aͤußersten Wichtigkeit, das Reich Gottes betreffend, wurden verhandelt. Prinz Karl ist ein wahrer Christ; er haͤngt mit dem hoͤchsten Grad der Liebe und der Verehrung am Erloͤser, er lebt und stirbt fuͤr ihn, dabei hat er seltene und außerordentliche Kenntnisse und Erfahrungen, die aber bei weitem nicht fuͤr Jedermann sind und von denen hier auf keinen Fall die Rede seyn kann. Nach einem christlichen und liebevollen Abschied von diesem großen und erleuchteten Fuͤr- sten, reisten also Stilling und Elise , Montags den 23. Mai, wieder von Kassel ab, und kamen des Abends in Marburg an. Diesen Sommer waren Stillings Kollegien sehr schlecht besetzt. Haͤtte er im vorigen Herbst nicht die neue Aussicht in Karlsruhe bekommen, so wuͤrde er sich nicht haben troͤsten koͤnnen. Jetzt nahten nun die Pfingstfeiertage heran. Stilling und Elise hatten sich schon lange vorgenommen, in diesen Ferien ihre Freunde zu Wittgenstein zu besuchen, und weil Stil- lings Geburtsdoͤrfchen nur fuͤnf Stunden von dort entfernt ist, so wollten sie zusammen nach Tiefenbach und Floren- burg wallfahrten und alle die Oerter besuchen, die Stillings Jugend- und Juͤnglingsjahre — wenigstens ihnen Bei- den — merkwuͤrdig gemacht hatte. Stilling freute sich sehr, diese Oerter, die er in sieben bis acht und dreißig Jahren nicht gesehen hatte, am Arm seiner theuren Elise einmal wieder zu besuchen. Ihn uͤberlief ein Schauer, wenn diese Vorstellungen seiner Seele voruͤbergingen. Diesen Vorsatz auszufuͤhren, reisten Beide in Begleitung ihres achtjaͤhrigen Sohns Friedrich , dem sie des Vaters Heimath zeigen wollten, den Tag vor Pfingsten, Sonnabends den 28. Mai nach Wittgenstein , welches sieben Stunden von Marburg entfernt ist. Der dortige graͤfliche Kanzleidirektor Hombergk zu Bach ist gebuͤrtig von Marburg , und nicht allein Elisens naher Blutsverwandter, sondern er und seine Gattin sind auch Stillings und Elisens vertraute Freunde und vortreffliche Menschen. Der Aufenthalt bei diesen guten Seelen war sehr wohlthaͤtig und alle dortigen Freunde thaten ihr Bestes, um beide Besuchende auf alle Weise zu erquicken und zu erfreuen. Der Dienstag nach Pfingsten war nun der Tag, an welchem die Reise nach Stillings Geburtsort vorgenommen werden sollte; Hombergk und seine Gattin wollten sie begleiten — allein Stilling wurde von einer unerklaͤrbaren Angst uͤberfal- len, die sich vermehrte, so wie sich der Tag naͤherte und die ihm die Ausfuͤhrung seines Vorhabens unmoͤglich machte; so sehr er sich vorher auf die Besuchung des Schauplatzes seiner Jugend- scenen gefreut hatte, so sehr schauderte er jetzt dafuͤr zuruͤck — es war ihm gerade so zu Muth, als ob dort große Gefahren auf ihn warteten. Gott weiß allein den Grund und die Ursache die- ser so sonderbaren Erscheinung — es war nicht eine solche Angst, wie die, welche er auf der Braunschweiger-Reise empfand, sondern es war vielleicht das Warnen seines Schutzengels, welches mit der Sehnsucht, seinen Geburtsort zu sehen, kaͤmpfte, und dieser Kampf machte Leiden. Jener war ein Hiobs- , dieser aber ein Jakobskampf . — Aus dieser Reise wurde also nichts, seine Lieben respectirten seine Angst, und gaben also nach. Zu Wittgenstein kam nun endlich der merkwuͤrdige Zeit- punkt, in welchem Stilling , im drei und sechzigsten Jahr sei- nes Alters, die Entscheidung seines Schicksals erfuhr, er bekam einen Brief von seinem Sohn aus Marburg , in welchem ihm dieser die frohe Nachricht schrieb, daß ihn der Kurfuͤrst von Ba - den als wirklichen Justizrath mit einem ordentlichen Gehalt an Geld und Naturalien nach Mannheim ans Kurfuͤrstliche Hof- gericht berufen habe — das war eine Vokation, die ihrer Bei- der Erwartung uͤbertraf — dann war auch eine besondere An- frage an Stilling beigelegt, naͤmlich: ob er wohl, vor der Hand, bis man seine Besoldung verbessern koͤnnte, fuͤr zwoͤlfhundert Gulden jaͤhrlich kom- men wollte ? Die Freude uͤber des langgepruͤften Jakobs Versorgung, und die nahe und gewisse Aussicht, aus der nunmehro unertraͤg- lich gewordenen Lage herauszukommen, erfuͤllten Stilling und Elise mit Wonne und tiefer Beruhigung, mit Thraͤnen opferten sie Gott Dank, und eilten nach Haus, weil der Jakob auch zugleich Befehl bekommen hatte, sobald als moͤglich zu kom- men, und sein Amt anzutreten. Sie fuhren also Freitags, den 3. Junius, von Wittgenstein ab, und kamen des Nachmit- tags zu Marburg an. Jetzt wurden nun alle Haͤnde in Wirksamkeit gesetzt, um Ja- kobs und Amaliens Zug nach Mannheim zu beschleuni- gen. In Stillings Seele aber entstand nun ein heftiger Kampf zwischen Vernunft und Glauben. Wenn man jetzt Stillings Lage blos nach vernuͤnftigen, oͤkonomischen Gruͤnden beurtheilt, so war es allerdings bedenk- lich, eine Stelle mit Zwoͤlfhundert Thalern im zwanzig Gul- denfuß, gegen Zwoͤlfhundert Gulden Reichscourant zu ver- wechseln, besonders da bei jener starken Besoldung nichts uͤbrig blieb — es ließen sich sogar Gruͤnde denken, die Stillingen seine Schwierigkeiten benehmen, ihn bestimmen konnten, in Mar- burg zu bleiben und seine Stelle zu behalten, denn er konnte ja ruhig so fortfahren, wie bisher — in den Ferien reisen, und zwischen denselben sein Amt treulich verwalten; kamen wenige oder gar keine Zuhoͤrer, so war das ja seine Schuld nicht — und was seinen Grundtrieb, fuͤr die Religion zu wirken, betraf, so konnte das ja nebenher, wie bisher, geschehen, und wenn er dann nicht Alles zwingen konnte, so fordert ja Gott nichts uͤber Vermoͤgen, man laͤßt den Stein liegen, den man nicht heben kann, u. s. w. Stillings Gewissen aber, das durch viele Glaubens- und Leidenserfahrungen berichtigt, und durch die langwierige vieljaͤh- rige Zucht der Gnade von allen Sophistereyen gereinigt ist, ur- theilt ganz anders; nach seiner innigsten Ueberzeugung mußte er durchaus sein Amt niederlegen, seine Besoldung in die Haͤnde seines Fuͤrsten wieder zuruͤckgeben, sobald er sie nicht mehr zur Befriedigung desselben und seines eigenen Gewissens verdie- nen konnte. — Dieser Satz leidet durchaus keine Einschraͤnkung, und wer anders denkt, der denkt unrichtig. Stilling konnte auch das getrost thun und wagen, da ihm jetzt ein Weg gezeigt wurde, auf welchem er zum Ziel gelangte, sobald er ihn einschlug; er hatte in wenigen Jahren erfahren, daß der Herr Mittel ge- nug habe, ohne die Marburger Besoldung aus der Noth zu helfen: denn nicht nur mit dieser, sondern mit Schweizergeld wurden die Schulden getilgt, mit Diesem und nicht mit Jener wird der Zug und die neue Einrichtung bestritten. Es ist fer- ner des wahren Christen unbedingte Pflicht, sobald ihm unter verschiedenen Berufsarten die Wahl gelassen wird, diejenige zu waͤhlen, die der Menschheit den mehresten Nutzen bringt, am wohlthaͤtigsten wirkt, und dabei kommt es nun gar nicht auf ein kleineres, oder uͤberhaupt auf einen Gehalt an: denn sobald man diesen Grundsatz befolgt, sobald tritt man in den unmit- telbaren Dienst des Vaters und Regenten aller Menschen, daß Der nun seine Diener besoldet, ihnen gibt, was sie beduͤrfen, das versteht sich — Stilling fand sich also hoch verpflichtet, dem Ruf zu folgen: denn daß er durch seine Augenkuren, und vorzuͤglich durch seine Schriftstellerei, unendlich mehr Nutzen stif- tet, als durch sein akademisches Lehramt, das ist gar keinem Zweifel unterworfen, und eben jene Faͤcher machten seinen gan- zen Beruf aus, wenn er die Baden ’sche Vokation annahm; es war also durchaus Pflicht, den Ruf anzunehmen, vorzuͤglich da noch mit der Zeit Besoldungsvermehrung und zwar von einem Herrn versprochen wurde, der gewiß haͤlt, was er verspricht . Zu diesem Allem kam nun noch Stillings ganze Fuͤhrung von der Wiege an; der muͤßte sehr blind seyn, der nicht einsehen koͤnnte, daß diese planmaͤßig den Weg zu der Thuͤr gezeigt hat, die der Kurfuͤrst von Baden jetzt oͤffnete. Haͤtte Stilling eine andere Gelegenheit erwarten wollen, wo ihm mehr Besol- dung zugesagt wuͤrde, so waͤre das seiner Lage, bei seinen Glan- benserfahrungen, ein hoͤchst strafbares Mißtrauen, und da die Vorsehung diesen Ruf unzweifelbar vorbereitet und zubereitet hatte, auch eine schwere Suͤnde des Ungehorsams gewesen, wenn er sie nicht angenommen haͤtte; und dann war diese Vokation so sel- ten, so einzig in ihrer Art, daß man unmoͤglich noch Einmal eine aͤhnliche erwarten konnte; und endlich sieht der Erleuchtete, der wahre Christ leicht ein, daß Stillings großer Fuͤhrer keinen andern Zweck dabei hat, als ihn und seine Elise immer- fort im Glaubensodem zu erhalten, — sie in die Lage setzen, daß sie ihm immer nach seiner milden Hand sehen, und ihre Au- gen auf ihn warten muͤssen. Diese Ueberzeugungen Alle bestimm- ten Beide, den Ruf in Gottes Namen anzunehmen; um aber doch Alles zu thun, was gethan werden konnte, um sich vor- wurfsfrei zu erhalten, schrieb Stilling an den Kurfuͤrsten von Baden , und bat wo moͤglich noch um eine Zulage an Natural- besoldung; darauf kam dann die Vokation, in welcher ihm diese Zulage zugesichert wurde, sobald irgendwo eine faͤllig werden wuͤrde. Jetzt, lieben Leser! war nun auch die große Frage uͤber Stillings eigentliche und endliche Bestimmung entschieden, und der zweite groͤßte Knoten seiner wunderbaren Fuͤhrung ge- loͤst — jetzt kann man nicht mehr sagen, sein Glaube und sein Vertrauen auf Jesum Christum und seine Weltregierung sey Schwaͤrmerei und Aberglauben; im Gegentheil, der Erloͤser hat sich selbst, und den Glauben seines Knechts herrlich und augen- scheinlich legitimirt, und zum Beweis, daß ihm Stillings Ent- schluß wohlgefaͤllig sey, gab Er ihm noch folgendes herrliche Zei- chen seines gnaͤdigen Beifalls. Mehr als 50 Meilen von Marburg entfernt lebt eine Dame, die von Stillings gegenwaͤrtiger Lage und Beduͤrfnissen nicht das Allergeringste wußte, der er aber durch seine Schriften be- kannt war; diese fuͤhlt sich in ihrem Gemuͤth angeregt, Stil- lingen 20 Louisd’or zu schicken. Sie folgte dieser Anre- gung einfaͤltig und im Glauben, packte die 20 Louisd’or ein, und schrieb dann dabei: sie habe einen Trieb in sich ge- spuͤrt, ihm das Geld zu schicken, er werde nun wohl wissen, es zu gebrauchen, und wozu es dienen solle . — Durch diese hundert und achtzig Gulden wurde nun das, was von der Schweizerreise noch uͤbrig war, vermehrt, also der Zug von Marburg und die Einrichtung einer neuen Haushaltung an einem fremden Ort dadurch erleichtert; ich ver- muthe aber, daß Stillingen noch Etwas bevorsteht, das die Ursache enthaͤlt, warum ihm dies Geld zugewendet worden ist. Guter Gott! welch eine Fuͤhrung, wenn man sie mit unge- truͤbtem Auge und unpartheiisch betrachtet! — haͤtte Einer von allen bisherigen Zuͤgen der Vorsehung gefehlt, so waͤre es nicht moͤglich gewesen, diese Vokation anzunehmen; haͤtte Stilling in der Schweiz nur sein Schuldenkapital und die Reisekosten bekommen, so waͤre das eine herrliche und sichtbare Gnade Got- tes gewesen, aber dann haͤtte er doch in Marburg bleiben muͤssen, weil es ihm an den Mitteln zum Fortziehen und zum Einrichten an einem fremden Ort gefehlt haͤtte: denn in Mar- burg behielt er von allem seinem Einkommen nichts uͤbrig. Gelobt sey der Herr! Er ist noch der alte Bibelgott — Ja! Es heißt mit Recht: Ich bin, der ich war, und seyn werde, immer der Naͤmliche. Jesus Christus ge- stern, heute, und derselbe in Ewigkeit ! Sonntag den 25. Junius zogen Jakob und Amalie unter vielen Thraͤnen aller Freunde, und unter den herzlichsten Seg- nungen der Eltern nach Mannheim ; und nun ruͤstete sich auch Stilling und Elise zu ihrem Zug nach Heidelberg , wel- chen Ort ihnen der Kurfuͤrst zum kuͤnftigen Wohnplatz ange- rathen : denn sie koͤnnen in den Baden’schen Laͤndern woh- nen wo sie wollen, weil Stilling kein Amt hat, sondern nun blos und allein dem großen Grundtrieb, der von Jugend auf in ihm zur Entwicklung gearbeitet hat, und jetzt erst reif geworden ist, naͤmlich als ein Zeuge der Wahrheit, fuͤr Jesum Chri- stum , seine Religion und sein Reich zu wirken, und dann durch seine wohlthaͤtigen Augenkuren dem leidenden Naͤchsten zu dienen, gewidmet ist; bei allem dem war es aber doch die groͤßte Schul- digkeit, den Rath des Kurfuͤrsten als einen Befehl anzusehen, welches auch darum leicht war, weil Stilling keinen beque- Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 38 mern und angenehmern Ort wußte, und weil er auch schon da bekannt war, indem er ehemals da gewohnt hatte. Bei dem Kurfuͤrsten von Hessen hielt er nun um seinen Ab- schied an, und er bekam ihn auch, und bei dem Wegziehen schrieb Stilling noch einmal an ihn, und dankte ihm fuͤr alle bisher genossene Gnade und Wohlthaten, und bat um ferneres gnaͤdi- ges Wohlwollen, welches ihm dann auch der Kurfuͤrst in einem gnaͤdigen Handschreiben zusicherte. Was fuͤr eine wehmuͤthige Empfindung Stillings Abzug in ganz Hessen , vorzuͤglich aber in Marburg verursacht habe, das laͤßt sich nicht beschreiben: die ganze Buͤrgerschaft trauerte, und bei dem Wegziehen, Sonnabends den 10. September des Morgens fruͤh, weinte die ganze Nachbarschaft — von diesen ruͤhrenden Auftritten kein Wort mehr. Stillings und Eli- sens Herzen wurden tief verwundet; besonders als sie bei dem Kirchhof vorbei fuhren, wo so viele ihrer Lieben ruhen. Daß Freundin Julie mit zog, das versteht sich. Sie fuh- ren des ersten Tages zu ihren Kindern Schwarz nach Muͤn- ster ; hier blieben sie den Sonntag und den Montag, welcher Stillings Geburtstag war, und jetzt ausnehmend herrlich gefeiert wurde: Schwarz und Julie hatten den Plan dazu entworfen, und er wurde vortrefflich ausgefuͤhrt. Die Geburts- tagsfeiern alle habe ich seit 1791 nicht mehr erzaͤhlen moͤgen, sie enthalten zu viel Schmeichelhaftes und Ruhmvolles, und dieß Alles zu beschreiben, wuͤrde ekelhaft seyn. Dienstags den 13. September nahmen sie von ihren Kindern Schwarz Abschied, und fuhren bis Frankfurt; hier blieben sie den Mittwoch und den Donnerstag; den Freitag fuhren sie bis Heppenheim und Sonnabends den 17. September Vormit- tags zogen sie in Heidelberg ein; artig war auch die heutige Losung, sie steht 2. Mos. 15, v. 17. Bringe sie hinein, und pflanze sie auf den Berg deines Erbtheils, den du, Herr, dir zur Wohnung gemacht hast, zu deinem Heiligthum, Herr! das deine Hand berei- tet hat . Daß man hier den Berg des Erbtheils Jehovah und sein Heiligthum nicht auf Heidelberg anwenden duͤrfe, brauch’ ich wohl nicht zu erinnern, sondern Stilling dachte sich unter dem Berg des Erbtheils Jehovah , seiner Wohnung und seinem Heiligthum, das geistliche Zion und den mystischen Tempel Gottes, in welchem er nun als sein Knecht angestellt werde und wirken sollte. Freund Mieg hatte fuͤr eine schoͤne Wohnung und die Freun- dinnen Mieg und Bassermann fuͤr andere Beduͤrfnisse ge- sorgt. Da wohnt nun Stilling mit seiner Elise , mit Ju- lien , mit Karoline , den dreien Kindern Friedrich, Mal- chen und Christinchen , der treuen, lieben und guten Ma- riechen und einer Magd, und harret nun ferner des Herrn und seiner gnaͤdigen Fuͤhrung. Wie sehr gern haͤtte ich gewissen lieben Familien und naͤhern innigen Herzensfreunden in Marburg hier oͤffentlich vor dem ganzen Publikum fuͤr ihre Liebe und Freundschaft gedankt — aber sagt, Ihr Lieben! wie konnte ich das, ohne hier oder da Jemand, den ich nicht nenne, oder nennen kann, zu kraͤnken? — Die ganze liebe trauliche Stadt Marburg ist meine Freundin, und ich bin ihr Freund, und in diesem Verhaͤltniß bleiben wir gegen einander bis zu unserer Verklaͤrung, und weiter hin, so lang unser Bewußtseyn waͤhret. Ihr Lieben Alle kennt uns und wir Euch. Der Herr unser Gott uns Alle. Der sey Euer großer Lohn. Amen! Rückblick auf Stillings bisherige Lebens- geschichte. Zufoͤrderst bitte ich alle meine Leser recht herzlich, diese noch uͤbrigen wenigen Blaͤtter mit ruhigem und unparteiischem Ge- muͤth zu lesen, und sorgfaͤltig zu pruͤfen: denn sie enthalten den wahren Gesichtspunkt, aus welchem Stillings ganzes Leben, alle fuͤnf Baͤnde durch, angesehen und beurtheilt werden muß. Daß ich der Hofrath Jung , der Verfasser aller fuͤnf Baͤnde, selbst Heinrich Stilling bin, daß es also meine eigene Ge- schichte ist, das weiß Jedermann, mein Incognito dient daher zu weiter nichts, ich lege es ab, und spreche nun nicht mehr in Stillings , sondern in meiner eigenen Person. 38 * Diese erste Hauptfrage: ob meine ganze Geschichte, so wie ich sie in Heinrich Stillings Jugend, Juͤnglings- jahren, Wanderschaft, haͤuslichem Leben und Lehr- jahren erzaͤhlt habe, wirklich und in der That wahr sey, kann ich mit gutem Gewissen, mit Ja beantworten: in meiner Ju- gendgeschichte sind die Personen, ihre Charaktere, und die Ge- schichte selbst nach der Wahrheit geschildert und beschrieben; aber es kommen allerlei Verzierungen darinnen vor, weil sie der da- malige Zweck noͤthig machte, diese Verzierungen nehmen aber in den folgenden Baͤnden so ab, daß in den Juͤnglingsjah- ren wenige, in der Wanderschaft noch wenigere, und im haͤuslichen Leben gar keine mehr vorkommen, nur die Per- sonen und Oerter mußten aus gewissen Ruͤcksichten, die ich nicht vermeiden konnte, unter erdichtete Namen versteckt werden; in diesem Bande aber, in Stillings Lehrjahren , kommt nicht allein keine Verzierung mehr vor, sondern ich habe auch alle Oerter und Personen, zwei, naͤmlich Raschmann und einen gewissen Kanditaten ausgenommen, mit ihren wahren Namen benannt, und zwar aus der sehr wichtigen Ursache, damit jeder- mann pruͤfen und erfahren koͤnne, ob ich die reine, unge- schminkte Wahrheit erzaͤhle ? — Und wahrlich, es ist sehr der Muͤhe werth, sich davon zu uͤberzeugen: denn wenn meine Geschichte in ihrem ganzen Umfang wahr ist, so entste- hen Resultate daraus, die sich wohl die wenigsten Leser vorstel- len, die mehresten aber nicht von Ferne ahnen koͤnnen. Es ist also eine unnachlaͤssige Pflicht fuͤr mich, diese Resultate, diese Folgerungen gewissenhaft und mit vernunftmaͤßiger logischer Rich- tigkeit zu entwickeln und darzustellen. Ich bitte also alle meine Leser instaͤndig, alles Folgende aufs genaueste und schaͤrfste zu pruͤfen. 1) Die Schicksale des Menschen von seiner Geburt an, bis an seinen Tod, entstehen entweder alle der Reihe nach, durch ein blindes Ohngefaͤhr, oder 2) Nach einem von Gott mit Weisheit entworfenen Plan, zu dessen Ausfuͤhrung die Menschen entweder als wirklich freie Wesen , oder so wie die physische Natur, maschinenmaͤßig , doch so, daß es ihnen daͤucht, sie handelten frei, mitwirken. Diese letzte fuͤrchterliche Idee: naͤmlich der Mensch schiene nur frei zu handeln, im Grund aber wirke er doch maschi- nenmaͤßig , ist das, was man Determinismus nennt. Es ist hier der Ort nicht, diesen schrecklichen Unsinn zu wider- legen, wenn es aber verlangt wird, so kann ichs, Gottlob! un- widersprechlich. Ich nehme also hier als ausgemacht an, daß Gott die Welt mit unendlicher Weisheit regiere, doch so, daß die Menschen als freie Wesen mit einwirken, und dieß um deßwillen, weil der Deter- minismus auf meinen gegenwaͤrtigen Zweck keinen Einfluß hat. Es liegt schon im Begriff des Worts: blindes Ohnge- faͤhr ! daß dieß Unding keine vorher bedachten Plane entwerfen, mit großer Weisheit die Mittel zur Ausfuͤhrung von Ferne vor- bereiten, und hernach mit Kraft ausfuͤhren koͤnne; wo man also dieß Alles, wie in meiner Lebensgeschichte, mit der hoͤchsten Evidenz wahrnimmt, da waͤre es Unsinn, an ein blindes Ohn- gefaͤhr zu denken; und da auch in den Schicksalen eines jeden Menschen, folglich auch bei mir, unzaͤhlich viele andere Men- schen mit zum Ziel wirken, so koͤnnen alle diese mitwirkende Wesen unmoͤglich unter der Leitung eines blinden Ohngefaͤhrs stehen: ich setze also den Schluß fest: daß nichts von ohn- gefaͤhr geschehe, und geschehen koͤnne . Daß der Mensch — durchgehends genommen, zum Theil Mei- ster seines Schicksals seyn koͤnne, und auch gewoͤhnlich sein Gluͤck oder Ungluͤck groͤßtentheils sich selbst zuzuschreiben habe, das wird wohl keiner meiner Leser bezweifeln, er muͤßte denn ein De- terminist seyn; mit diesem aber komme ich hier gar nicht in Collision; ob ich aber zu meiner Fuͤhrung mitge- wirkt habe, — ob ich auch nur auf die entfernteste Art, zu irgend Einem meiner entscheidenden Schicksale auch nur das Geringste planmaͤßig bei- getragen habe? das ist eine Frage, worauf hier Alles ankommt — denn, kann ich beweisen , daß das nicht der Fall ist, so entstehen Folgen daraus, die ins Große und Ganze gehen, und von der aͤußersten Wichtigkeit fuͤr un- sere Zeitgenossen sind. Es gibt Menschen, welche von Jugend auf einen gewissen Grundtrieb in sich empfinden; diesen fassen und behalten sie im Auge bis an ihren Tod; sie wenden allen ihren Verstand und alle ihre Kraͤfte an, den Zweck, wozu sie ihr Grundtrieb antreibt, zu erreichen. Z. B. der Eine hat eine unuͤberwindliche Neigung, einen Grundtrieb zu mechanischen Arbeiten; er ringt, strebt, arbeitet und erfindet so lang, bis er Kunstwerke hervorbringt, die den, der sie sieht, in Erstaunen setzen. Dieß ist nun der Fall mit allen Berufsarten, Kuͤnsten und Wissenschaften, in je- dem Fach findet man solche emporringende Menschen, man nennt sie große Maͤnner, große Geister, Genie ’s, u. s. w. Vielen gelingt aber auch, bei aller ihrer Kraft und Staͤrke des Grundtriebs, alle ihre Muͤhe und Bestreben nicht, weil es nicht in den Plan der großen Weltregierung paßt; — Vielen, auch solchen großen Geistern, die entsetzlich viel Boͤses in der Welt stiften, gelingts, und zwar darum, weil ihre Wirksamkeit mit ihren Folgen zu guten Zwecken gebraucht werden kann. Es ist also ausgemacht, und ganz gewiß, daß solche Menschen, wenig- stens groͤßtentheils, selbst ihren Lebensplan gemacht und ausge- fuͤhrt haben, und ihr Grundtrieb war ihnen natuͤrlich. Man durchdenke den Lebensgang vieler großer und beruͤhmter, guter und boͤser Maͤnner, und dann wird man an dieser meiner Be- hauptung nicht mehr zweifeln koͤnnen. Jetzt ist nun das die eigentliche große — die Hauptfrage: Bin ich ein solcher Mensch? — ge- hoͤre ich unter die eben bemerkte Klasse merkwuͤr- diger Maͤnner, die ihre Schicksale großentheils selbst bewirkt haben ? Wir wollen diese Frage auf’s strengste und unparteiisch un- tersuchen und beantworten; es kommt also erstlich darauf an, ob ich wirklich einen solchen maͤchtigen Grundtrieb hatte ? — Allerdings — Ja! ich hatte ihn, und habe ihn noch: er ist, weit ausgebreitet ins Große und Ganze gehende Wirksamkeit fuͤr Jesum Christum, seine Religion und sein Reich , — aber man muß wohl bemerken, daß dieser Trieb ganz und gar nicht in meinem na- tuͤrlichen Charakter lag — denn dieser ist vielmehr, ins Große und Ganze gehender hoͤchst leichtsinniger Genuß physischer und geistiger sinnlicher Vergnuͤ- gen ; ich bitte, diese Grundlage meines Charakters ja nicht aus der Acht zu lassen. Jener erste gute Grundtrieb wurde ganz von außen in mich gebracht, und zwar folgendergestalt: Meiner Mutter fruͤher Tod legte den Grund zu Allem, damit fing mein himmlischer Fuͤhrer im zweiten Jahre meines Alters an; waͤre sie am Leben geblieben, so war mein Vater ein Bauer, dann mußte ich fruͤh mit ins Feld, ich lernte lesen und schreiben, und das war Alles; mein Kopf und mein Herz wurden dann mit den alltaͤglichen Dingen angefuͤllt, und was aus meinem sittlichen Charakter geworden waͤre, das weiß Gott. Jetzt aber, da meine Mutter starb, wurde meines Vaters religioͤser Cha- rakter auf’s hoͤchste gespannt, und durch Umgang mit Mystikern bekam er seine Richtung; er zog sich mit mir in die Einsamkeit zuruͤck, seine Schneiderprofession paßte ganz dazu, und seinen Grundsaͤtzen gemaͤß, wurde ich ganz von der Welt abgeschieden erzogen; Kopf und Herz bekamen also keine andere Gegenstaͤnde zu hoͤren, zu sehen und zu empfinden, als religioͤse; ich mußte immer Geschichten und Lebenslaͤufe großer und im Reich Got- tes beruͤhmter, frommer und heiliger Maͤnner und Frauen lesen; dazu kam dann auch das wiederholte Lesen und Wiederlesen der heiligen Schrift; mit einem Wort, ich sahe und hoͤrte nichts als Religion und Christenthum, und Menschen, die dadurch heilig und fromm geworden waren, und fuͤr den Herrn und sein Reich gewirkt und gelebt, auch wohl Blut und Leben fuͤr ihn aufge- opfert hatten; nun ist aber bekannt, daß die ersten Eindruͤcke in eine noch ganz leere Seele, besonders wenn sie allein, stark und Jahre lang anhaltend sind, dem ganzen Wesen des Menschen gleichsam unausloͤschbar eingeaͤtzt werden, das war also auch mein Fall: jener Grundtrieb: weit ausgebreitete, ins Große und Ganze gehende Wirksamkeit, fuͤr Je- sum Christum, seine Religion und sein Reich , wurde meinem ganzen Wesen so tief eingepraͤgt, daß ihn waͤhrend so vieler Jahre kein Leiden und kein Schicksal schwaͤchen konnten, er ist im Gegentheil immer staͤrker und unuͤberwindlicher gewor- den; wurde er auch zu Zeiten durch dunkle Aussichten auf kurz oder lang dem Anschauen entruͤckt, so fiel er mir hernach doch wieder um so viel deutlicher in die Augen. Daß ich als Kind diesen Grundtrieb gesucht und gewollt haͤtte, das wird nun wohl Niemand einfallen — daß ihn mein Vater zum Zweck gehabt habe, ist laͤcherlich, der wollte erstlich einen christlichen frommen Menschen, und dann einen tuͤchtigen Schulmeister aus mir ma- chen; und da dieser Beruf in meinem Vaterlande keinen Haus- vater mit Frau und Kindern ernaͤhrt, so sollte ich sein Hand- werk dazu lernen, um dann ehrlich durch die Welt kommen zu koͤnnen. Daß er mir solche Geschichten zum lesen gab geschah deßwegen, weil doch Kinder etwas Unterhaltendes haben muͤssen, und dann sollte es mir Lust machen, ein wahrer Christ zu wer- den. Daß aber jener Grundtrieb daraus entstand, das war die Absicht nicht eines blinden Ohngefaͤhrs, nicht meines Va- ters, nicht die meinige, sondern des großen Weltregenten, der mich dereinst brauchen wollte. Ich setze also fest, daß Gott nicht durch natuͤr- liche Anlagen, sondern durch seine weise Leitung und Regierung ganz allein jenen Grundtrieb, ins Große und Ganze fuͤr Jesum Christum und sein Reich zu leben und zu wirken, meinem Wesen ein- gegeistert, und zur eigenthuͤmlichen Eigenschaft gemacht habe . Da aber nun mein natuͤrlicher Grundtrieb: ins Große und Ganze gehender hoͤchstleichtsinniger Genuß physischer und geistiger sinnlicher Vergnuͤgen , je- nem mir eingeimpften Grundtrieb schnurgerade zuwider wirkte, so fing mein himmlischer Fuͤhrer schon fruͤh an, diesen beschwer- lichen Feind zu bekaͤmpfen: das Werkzeug dazu war ebenfalls mein Vater, aber wiederum ohne es nur von Ferne zu ahnen: denn er wußte meinen natuͤrlichen Grundtrieb ganz und gar nicht, sonst haͤtte er ganz gewiß Klippen vermieden, an denen ich un- vermeidlich haͤtte scheitern muͤssen, wenn mich Gottes Vater- hand nicht leicht hinuͤber gefuͤhrt haͤtte. Von dem Allem ahnete aber mein Vater nichts — bloß aus dem mystischen Grundsatz der Abtoͤdtung des Fleisches, wurde ich fast taͤglich mit der Ruthe gehauen — Ja ich weiß ganz gewiß, daß er mich manchmal bloß deßwegen gezuͤchtiget hat, um seine Liebe zu mir zu kreu- zigen und zu verlaͤugnen. Bei jedem Andern haͤtte diese Art der Zucht entsetzlich schaͤdliche Wirkung gethan, bei mir aber — man glaube es auf mein Wort — war es eine unumgaͤnglich noͤthige Erziehungsmethode; denn meine leichtsinnige Sinnlich- keit ging in unbewachten Augenblicken unglaublich weit; Nie- mand, als Gott und ich, weiß es, welche entsetzliche Gedanken, Wuͤnsche und Begierden in meiner Seele geweckt wurden; es war, als ob eine maͤchtige feindselige Kraft unschuldige, nichts Boͤses wollende Menschen aufgereizt haͤtte, mich in die giftigen Versuchungen und Gefahren fuͤr meinen sittlichen Charakter zu stuͤrzen, allein es gelang nie; nicht mein religioͤser Grundtrieb, nicht meine Grundsaͤtze — denn wo hat ein Kind Grundsaͤtze? sondern blos meines Vaters strenge Zucht und Gottes gnaͤdige Bewahrung sind die Ursache, daß ich nicht hundert- und tau- sendmal in den Abgrund des Verderbens gestuͤrzt bin. Eben dieß in mir liegende große, meinem religioͤsen Grund- trieb ganz entgegenwirkende Verderben ist die Ursache, warum mein himmlischer Fuͤhrer mich uͤber sechzig Jahre lang in der Schule der Leiden uͤben mußte, ehe Er mich brauchen konnte; und man wird im Verfolg immer finden, daß alle Leiden da- hin abzielten, Leichtsinn und Sinnlichkeit zu toͤdten und mit der Wurzel auszurotten. Jetzt kommt es nun darauf an, zu untersuchen, ob ich denn wirklich ein großer Mann, ein großer Geist, oder ein groß Genie bin? — das ist: ob ich mich mit Macht durch eigene Kraͤfte und Anlagen dahin gebracht habe, dem von Gott mir geschenkten Grundtrieb, fuͤr Christenthum, seine Religion und sein Reich, ins Große und Ganze zu wirken, nun- mehr Folge leisten zu koͤnnen ? Was mein Vater aus mir machen wollte, war: ein guter Schulmeister und nebenher ein Schneider, und den Zweck er- reichte er auch in so fern, daß ich Schulmeister und Schneider wurde; ich aber hatte keinen hoͤhern Wunsch, als Prediger zu werden. — Diese Wirkung brachte also mein religioͤser Grund- trieb hervor — ich wollte Theologie studiren; das haͤtte mein Vater zwar auch gern gesehen, aber es war durchaus nicht moͤg- lich, sein ganzes Vermoͤgen reichte nicht hin, mich nur zwei Jahre lang auf der hohen Schule zu unterhalten. Es mußte also bei dem Schulmeister und Schneider bleiben, und mein Grundtrieb begnuͤgte sich mit unersaͤttlichem Lesen und For- schen in allen Faͤchern von Wissenschaften: denn da mein Geist nun einmal Geschmack an geistigen Vorstellungen und Wissen- schaften, oder ein aͤsthetisches Gefuͤhl bekommen hatte, so lief er nun diese Bahn unaufhaltbar fort, und suchte nur immer Gelegenheit, zu lesen und auf den Buͤchern zu bruͤten. Das, was ich also in den Faͤchern der Wissenschaften an Kenntnissen errungen habe, das koͤnnte man allenfalls meinem Fleiß und meiner Thaͤtigkeit zuschreiben; und so viel ist auch wahr, daß es der Herr nebenher zu einem Vorbereitungsmittel gebraucht habe, aber zur Entwicklung meiner wahren Bestimmung hat es gerade zu nichts geholfen. Immerfort an der Nadel zu sitzen und den Leuten Kleider zu machen, das war mir in der Seele zuwider, und die Knaben und Maͤdchen immer und ewig im A B C, im Buchstabiren, im Lesen und im Schreiben zu unterrichten, das war mir eben so langweilig; nach und nach dachte ich mir die Bestimmung, Schneider und Schulmeister zu seyn, als etwas Hoͤchsttrauriges, und damit sing auch mein inneres Leiden an: denn ich sah keine Moͤglichkeit, Prediger, oder sonst Etwas zu werden. Die strenge Zucht meines Vaters blieb immer; ich wurde frei- lich nun nicht mehr alle Tage geschlagen, aber in seiner Naͤhe war mir nie wohl. Seine unerbittliche Strenge bei jedem kleinen Fehler, weckte den unwiderstehlichen Trieb in mir, mich so oft und so lange wie moͤglich von ihm zu entfernen, und dieß auch noch um deßwillen, weil ich bei ihm von fruͤh Morgens bis in die spaͤte Nacht an der Nadel sitzen mußte, daher kams denn, daß ich jeden Ruf zu einer Schulstelle mit groͤßter Freude annahm; da ich aber nicht mit Lust, sondern bloß aus Pflicht Kinder un- terrichtete, und dann auch außer den Schulstunden auf den Buͤ- chern bruͤtete, so war ich im Grunde kein guter Schullehrer, und mit dem Schneiderhandwerk Etwas nebenher zu verdienen, daran dachte mein Herz nicht; zudem brachte mich mein gutmuͤthiger Leichtsinn um das Bischen Lohn, das ich als Schullehrer bekam, folglich mußte mich mein Vater immer neu kleiden und unter- halten; er sahe also zu seinem groͤßten Leidwesen, daß ein guter Schulmeister an mir verdorben war; dadurch wurde er also natuͤrlicher Weise noch ernsthafter und unfreundlicher gegen mich, und als er nun noch gar eine weltlich gesinnte, gefuͤhllose Frau bekommen hatte, welche forderte, daß ihr Stiefsohn mit ins Feld gehen, alle Bauernarbeit, auch die schwerste verrichten, Hacken, Maͤhen und Dreschen sollte, so stieg mein Jammer auf’s hoͤchste, dazu waren meine Glieder von Jugend auf nicht angewoͤhnt wor- den, jetzt litt ich erschrecklich. Von den rauhen Werkzeugen wur- den die Haͤnde immer voller Blasen, und die Haut blieb am Hackenstiel kleben: wenn ich die Grassense oder den Dreschflegel schwang, so krachten mir Rippen und Huͤften; Tage und Wochen schienen mir eine Ewigkeit zu seyn, und uͤber das Alles war die Zukunft finster, ich konnte mir keine Rettung aus dieser Lage denken, auch berief man mich nicht mehr zu Schulaͤmtern, es bleib mir also nichts mehr uͤbrig, als auf dem Lande umher bei Schneidermeistern als Geselle zu arbeiten, dazu fand sich dann auch Gelegenheit; aber bei dem Allem kam ich so in Kleidern und Waͤsche zuruͤck, daß ich von Jedermann als ein Taugenichts und verlorner Mensch betrachtet wurde. Mein religioͤser Grund- trieb glaͤnzte mir aus der Ferne entgegen; wenn ich mir Spe- ner, Franke und uͤberhaupt so recht fromme Prediger dachte, und mir dann vorstellte, welch eine Seligkeit es fuͤr mich seyn wuͤrde, so ein Mann zu werden, und daß es doch in meiner Lage unmoͤglich waͤre, so brach mir das Herz. Die Absichten, warum mich die Vorsehung in diese entsetzlich traurige Lage fuͤhrte, waren zweifach: erstlich, um meine uͤber alle Vorstellung gehende Sinnlichkeit und den unbaͤndigen Leicht- sinn zu bekaͤmpfen. — Diese Absicht merkte ich wohl, und dann, um mich aus meinem Vaterland zu brin- gen, weil sie in demselben ihren Plan mit mir nicht ausfuͤhren konnte ; diesen Zweck aber merkte ich ganz und gar nicht, ich war dergestalt in mein Vaterland ver- liebt, daß mich nur die aͤußerste Nothwendigkeit hinausbannen konnte, und dazu kam es dann auch; ich ging fort. Man merke hier wohl, daß dieser erste Schritt zu meiner kuͤnftigen Bestimmung schlechterdings nicht mit, sondern gegen meinen Willen geschah; ich mußte durch die Macht der Vorsehung hinaus- getrieben werden! — Es ist zu meinem Zweck Al- les daran gelegen, daß man sich bis zur hoͤchsten Evidenz uͤberzeuge: ich habe Nichts zum Plan meiner Fuͤhrung beigetragen . Mein erster Vorsatz war, nach Holland zu gehen und da bei Kaufleuten Dienste zu suchen: allein in Solingen im Her- zogthum Berg , machte man mir diesen Vorsatz leid, ich blieb da und arbeitete auf dem Handwerk. Diese Beschaͤftigung war mir nun von Herzen zuwider: denn meine Sinnlichkeit forderte immer belustigende Abwechselung; Romanen oder sonst unter- haltende Geschichten zu lesen, das war’s eigentlich, wohin meine Sinnlichkeit ihre Richtung genommen hatte; meine Imagination, meine Phantasie war immerhin mit den allerromanhaftesten Bildern in unaussprechlicher Lebhaftigkeit beschaͤftigt, und mein Leichtsinn setzte sich uͤber alle Bedenklichkeiten weg. Die ewige Liebe erbarmte sich hier zwar meiner so, daß sie mich durch einen unaussprechlich innigen, tief in mein Herz dringenden, und mein ganzes Wesen erfuͤllenden Zug zur Einkehr, und mein ganzes kuͤnftiges Leben dem Herrn zu widmen, unwiderruflich bestimmte; dieser Zug ist auch bis daher immer geblieben, und wird bleiben, bis ich vor seinem Thron stehe; aber dadurch war mein natuͤr- liches Verderben noch lange nicht ausgewurzelt, das mußte nun Jesus Christus durch seine große und herrliche Erloͤsung, durch seinen Geist, vermittelst langwieriger, schwerer und leidens- voller Pruͤfungen bekaͤmpfen und uͤberwinden; noch ist dieß große Geschaͤft nicht vollendet, und wird auch nicht vollendet werden, bis meine Seele vom Leibe der Suͤnden und des Todes befreit ist. Ungeachtet nun mein Geist seine Richtung zum großen Ziel der Menschenbestimmung genommen hatte, so gab es doch noch unendlich viele Abwege, und bald gerieth ich auf einen: meine Abneigung gegen das Schneiderhandwerk machte, daß ich sogleich zufuhr, als mir die Hauslehrerstelle bei einem Kaufmann ange- tragen wurde, und mein Leichtsinn erkundigte sich — nach nichts ! — Hier stieg mein Jammer auf die hoͤchste Stufe, solch eine Schwermuth, solch eine Hoͤllenqual, solch eine Ent- behrung alles dessen, was Menschen troͤsten kann, vermag sich Niemand vorzustellen, der so Etwas nie erfahren hat. Hier wurde Sinnlichkeit und Leichtsinn an der Wurzel angegriffen. Endlich hielt ichs nicht aus, ich lief fort, irrte in der Wildniß umher, besann mich wieder, ging zuruͤck nach Rade vorm Wald , und der selige Johann Jacob Becker (Meister Isaak ) machte das herrliche Meisterstuͤck der christlichen Men- schenliebe an mir. — Jetzt war ich aber auch so gruͤndlich von meinem Widerwillen gegen das Schneiderhandwerk kurirt, daß mich hernach Herr Spanier und der Meister Becker selbst kaum bereden konnten, bei Ersterem die Hauslehrerstelle anzu- nehmen; und ich bin sogar jetzt noch so weit von jenem Wider- willen entfernt, daß ich mich — wenn es seyn muͤßte — im Augenblick wieder auf die Werkstatt setzen koͤnnte. Waͤhrend meinem Aufenthalt bei Spanier schien sich Alles dazu anzuschicken, daß ich Kaufmann werden sollte; ich wurde taͤglich in Handelsgeschaͤften gebraucht, alles ging mir gut von statten; und ob ich gleich von Natur keine Neigung zur Hand- lung hatte, so glaubte ich doch, es sey Gottes Fuͤhrung, der ich wohl wuͤrde folgen muͤssen; besonders da mir auch heimlich ver- sichert wurde, daß eine reiche, schoͤne und rechtschaffene junge Kaufmannstochter fuͤr mich bestimmt sey, ihr Vater wolle sie mir geben und mich dann in Compagnie nehmen. Ob ich gleich an dem allen keine sonderliche Freude hatte, so glaubte ich doch, es sey Ganz der Vorsehung, dem ich folgen, und die ganze Sache als ein besonderes Gluͤck ansehen muͤßte. In dieser Vorstellung und Erwartung bekam ich, ganz gewiß ohne mein Mitwirken, den in meiner Geschichte vorkommenden besondern Eindruck, ich muͤßte Medizin studiren; gut — ich fuͤr mich hatte nichts dazu gegeben, und diejenigen, die mein Schicksal lenken wollten, auch nicht; denn sie sagten: es sey doch auffallend fuͤr eine vornehme Familie, einem Menschen, der noch vor kurzem Schneiderbursch gewesen sey, seine Tochter zu geben; haͤtte ich aber studirt und promovirt, so koͤnnte das Alles denn doch fuͤglich ausgefuͤhrt werden, ich waͤre dann Doktor und Kaufmann zugleich. Das war Plan der Menschen, und auch Plan meines himmlischen Fuͤhrers. Bald nachher widerfuhr mir die merkwuͤrdige Geschichte mit dem Pastor Molitor zu At- tendorn , der mir seine Augenarkana mittheilte, und dann sich niederlegte und starb. Daß ich in meinem Leben nicht daran ge- dacht hatte, Augenarzt zu werden, und daß auch weder ich, noch Jemand von den Meinigen, auch nur von Ferne Veranlassung zu dieser Mittheilung gegeben hatte, das weiß Gott! — und nun uͤberlege nur Jeder, der meine Geschichte gelesen hat, was mir meine Augenkuren bis daher gewesen, noch sind, und ferner seyn werden! — Wer da nicht die Alles regierende Hand einer allwissenden, allmaͤchtigen Gottheit erkennt, der hat keine Augen zum Sehen, und keine Ohren zum Hoͤren, ihm ist nicht zu helfen. Ich bediente mich der erlangten Mittel zu Augenkrankheiten, und kam dadurch in Bekanntschaft mit der wuͤrdigen Familie meines seligen Schwiegervaters, Peter Heyders , zu Rons- dorf im Herzogthum Berg , und gegen alles Erwarten, gegen alle meine Plane und Vorsaͤtze, muß ich mich da mit einer abge- zehrten, sehr schwaͤchlichen Person am Krankenbette versprechen — eine Handlung, woran wahrhaftig meine Sinnlichkeit nicht Schuld war, ich that es blos aus Gehorsam gegen Gott, weil ich glaubte, es sey nicht sein Wille, es war da von meiner Seite an nichts dergleichen zu denken. Ich versprach mich mit Chri- stine , ob ich gleich wußte, daß mich ihr Vater im geringsten nicht unterstuͤtzen konnte und daß nun die Unterstuͤtzung von der vorher zu erwartenden Seite gaͤnzlich aus war. Und nun ging ich mit einem halben Laubthaler auf die Universitaͤt nach Straß- burg ; wie wunderbar mich dort der Herr durchgefuͤhrt habe, ist aus meiner Geschichte bekannt. Jetzt frage ich abermal, war es mein Plan, mich mit Christinen zu verheirathen, und war es mein Machwerk, Medizin in Straßburg zu studiren ? Ich kam wieder, setzte mich als ausuͤbender Arzt und Augen- arzt, ganz ohne Besoldung in Elberfeld . Nun erwartete ich ausserordentliche Folgen in meiner Praxis: denn ich sahe mich als einen Mann an, den der Herr besonders zu diesem Beruf ausgeruͤstet habe — dann dachte ich mit meinem religioͤsen Grund- trieb fuͤr den Herrn und sein Reich zu wirken, in Verbindung mit diesem, und glaubte, ich wuͤrde nun am Krankenbette ein sehr wohlthaͤtiges Werkzeug in der Hand des Herrn seyn, und den Kranken nach Leib und Seel dienen koͤnnen, und dann dachte ich, ich wollte religioͤse Buͤcher schreiben, und dann meinem Grund- trieb Genuͤge leisten, aber von allen diesen Erwartungen kam ganz und gar nichts, meine Praxis war auch ganz und gar ausser- ordentlich, sondern sehr ordentlich, sehr gewoͤhnlich , ausser daß meine Augenkuren viel Aufsehen machten, besonders waren meine Staaroperationen ausnehmend gluͤcklich — aber auch diese habe ich meinem eigenen Geschicke ganz und gar nicht zu verdanken: ich lernte sie zwar in Straßburg , aber blos, weil sie zum chirurgischen Studium gehoͤren, vor der Ausuͤbung aber hatte ich einen solchen Schauder und Abscheu, daß ich noch wohl weiß, wie mir zu Muth war, als die arme Frau zu Wich- linghausen , der selige Pastor Muͤller , der Doktor Dink- ler in Elberfeld , und Freund Troost daselbst, mich gleich- sam zwangen, die Operation an der so eben gemeldeten armen Frau zu wagen; mit Zittern und Beben machte ich sie erbaͤrm- lich schlecht — und die Frau sahe vortrefflich — nun bekam ich zwar mehr Muth, und doch noch jetzt, nachdem ich uͤber fuͤnf- zehnhundert Blinde operirt habe, wandelt mich noch immer eine Angst an, wenn ich operiren soll. Ich bezeuge also wiederum bei der hoͤchsten Wahrheit, daß ich im geringsten nichts dazu bei- getragen habe, daß ich Augenarzt — und noch dazu ein so ganz ausserordentlich gesegneter Au- genarzt geworden bin. Das ist ganz allein Fuͤh- rung des Herrn . In welche tiefe Schwermuth ich nun versank, als ich vor Au- gen sahe, daß auch die Arzneikunde mein Fach nicht sey, das laͤßt sich nicht beschreiben; dazu kam nun noch die druͤckende Last meiner Schulden, die jedes Jahr betraͤchtlich wuchs, ohne daß ich es aͤndern und verhuͤten konnte — das war wahrhafte Arznei gegen Sinnlichkeit und Leichtsinn, und Beide wurden auch, Gott sey’s gedankt! ganz mit der Wurzel ausgerottet — nun sah ich ganz und gar keinen Ausweg mehr: ich hatte Frau und Kinder, immer wachsende Schulden, und immer abnehmenden Verdienst — an Gelehrsamkeit und Kenntnissen fehlte es mir nicht, ich durchkroch alle alte und neue Winkel der medizinischen Litteratur, aber ich fand in dieser schwankenden Wissenschaft lauter Unwis- senschaft, alles bloße Wahrscheinlichkeit und Vermuthung; jetzt war ich der Arzneikunde herzlich muͤde; aber womit sollte ich mich nun naͤhren, und — womit meine Schulden be- zahlen ? — da mußte ich mich der Vorsehung auf Gnade und Ungnade ergeben; und das that ich auch auf immer und ewig, und von Herzen, und diese Uebergabe ist nicht allein nicht auf- gehoben, sondern sie ist bis dahin immer staͤrker und immer un- bedingter geworden. Religioͤse Buͤcher? — Ja, die schrieb ich, aber ohne merkli- chen Erfolg: die Schleuder eines Hirtenknaben, die große Panacee, gegen die Krankheit des Reli- gionszweifels, und die Theodicee des Hirtenkna- ben , thaten wenig Wirkung, dagegen Stillings Jugend — ein Aufsatz, den ich gar nicht zum Druck, sondern blos einer Gesellschaft junger Leute zum Vorlesen geschrieben hatte und den Goͤthe ganz ohne mein Wissen und Wollen zum Druck befoͤrderte, machte unerwartete und unglaubliche Sensation; ich wurde drin- gend aufgefordert, fortzufahren, und schrieb nun in Elberfeld nacheinander Stillings Juͤnglingsjahre und Wander- schaft . Ich darf kuͤhn behaupten, daß sehr wenig Buͤcher ihren Verfassern ein so großes, edeldenkendes und wohlwollendes Publi- kum erworben haben, als eben dieses; und noch jetzt, nach acht und zwanzig Jahren, nach so vielen Veraͤnderungen, Fortschritten und Ruͤckschritten in Kultur und Litteratur, ist und bleibt Stil- ling Mode; man liest ihn noch immerfort, mit eben der Lust und mit eben der Erbauung als im Anfang; und welch einen Segen dieß Buch in Ansehung der Religion und des wahren Chri- stenthums gestiftet hat, das weiß der Allwissende und zum Theil auch ich; denn ich kann eine Menge schriftlicher Zeugnisse dieser Wahrheit aufweisen. Stillings Lebensgeschichte legte also den ersten und bedeutenden Grund zu meiner wahren Bestimmung und Befolgung meines religioͤsen Grundtriebes. Jetzt bitte ich wiederum sorgfaͤltig zu bemer- ken, daß ich zu diesem ausserordentlich wichtigen Theil meiner Geschichte, der den Grund zu mei- ner endlichen wahren Bestimmung, naͤmlich der Befolgung meines religioͤsen Grundtriebs legte, im geringsten keine Veranlassung gab, sondern daß es pur freie Verfuͤgung der Vorsehung war . Fragt man mich, warum mich mein himmlischer Fuͤhrer nicht schon damals auf meinen rechten Posten setzte? so antworte ich: damals war noch gar Vieles an mir weg zu poliren; ich war auch in meinen Grundsaͤtzen noch nicht fest genug; ich kaͤmpfte noch mit dem Determinismus , und dann war es auch noch lange nicht an dem Zeitpunkt, in welchem ich wirksam seyn sollte. Als endlich die Noth am groͤßten war, und ich weder aus noch ein wußte, so wurde ich auf eine Art gerettet, an die ich nie von Ferne gedacht hatte, und die ich mir nie haͤtte traͤumen lassen: auf Veranlassung einer Abhandlung uͤber die Forstwirth- schaftliche Benutzung der Gemeinwaldung im Fuͤrstenthum Nas- sau-Siegen , meinem Vaterland — womit ich einem gewissen Freund einen Gefallen zu erzeigen glaubte, wurde ich an die neu- errichtete Kameralschule zu Kaiserslautern in der Pfalz zum ordentlichen, oͤffentlichen Lehrer der Landwirthschaft, Tech- nologie, Handlungswissenschaft und Vieharzneikunde, mit sechs- hundert Gulden fixer Besoldung berufen, und bei meinem Abzug wurden die dringendsten Schulden, naͤmlich acht hundert Gulden, auf eine eben so unerwartete Art getilgt als in der Schweiz zuletzt vor drittehalb Jahren der Hauptstock derselben getilgt wurde. Ich zog also mit meiner Familie nach Lautern . Daß dieß abermal nicht mein angelegter Plan, nicht meine Fuͤhrung, sondern lediglich und allein Plan und Ausfuͤhrung meines himmlischen Fuͤhrers war, das muß Jedermann fuͤhlen, der nur einigermaßen des Nachdenkens faͤhig ist. Jetzt glaubte ich aber nun gewiß, daß das Studium der Staats- wirthschaft der Beruf sey, wozu mich die Vorsehung von Ju- gend auf geleitet und vorbereitet habe; denn ich hatte Gelegen- heit gehabt, alle die Faͤcher, die ich lehrte, selbst praktisch zu ler- nen, ich hatte Medizin studirt, weil mir die Huͤlfswissenschaften dazu in meinem gegenwaͤrtigen Beruf unentbehrlich waren. Durch Stillings sämmtl. Schriften. I. Band 39 diese Ansicht wurde mein religioͤser Grundtrieb nicht ausgeloͤscht, sondern ich gedachte ihn mit diesem Beruf zu verbinden; in die- ser Ueberzeugung blieb ich fuͤnf und zwanzig Jahr ganz ruhig, und arbeitete mit aller Treue in meinem Beruf; dieses bewei- sen meine eilf Lehrbuͤcher, und die große Menge von Abhandlun- gen, die ich waͤhrend dieser Zeit geschrieben habe; mein Herz dachte — besonders auch in meinem Alter, an keine Veraͤnde- rungen mehr, bis endlich das Heimweh zum maͤchtigen Mittel wurde, mich auf meinen eigentlichen Standpunkt zu stellen. Wie unabsichtlich ich das Heimweh geschrieben habe, das wissen meine Leser aus diesem letzten Bande; die Vorbereitun- gen dazu, naͤmlich das Sammeln vieler Sentenzen, das Lesen humoristischer Schriften u. dergl. waren nicht im Geringsten planmaͤßig bei mir, aber planmaͤßig bei Gott — der Entschluß, das Heimweh herauszugeben, war so wenig vorbedacht, daß ich mich erst dazu entschloß, als mich Krieger bat, ich moͤchte ihm doch etwas Aesthetisches ausarbeiten, und als ich anfing, war es noch gar nicht mein Zweck, ein Werk von einer solchen Bedeutung zu schreiben, als es mir unter den Haͤnden ward, und als es sich hernach in seiner Wirkung zeigte — dieser war und ist noch ungemein groß; es wirkt wie ein Ferment in allen vier Welttheilen — dieß kann ich beweisen — Jetzt kam von allen Seiten die Forderung an mich, mich ganz der religioͤ- sen Schrifstellerei zu widmen, ich sey von Gott dazu bestimmt, u. s. w. Der graue Mann, die Scenen aus dem Geisterreich, und die Siegsgeschichte , vermehrten und verstaͤrkten diese Aufforderung meines aus vielen tausend guten Menschen bestehenden Publikums — allein wie konnte ich diesen Stimmen Gehoͤr geben? — eine Menge haͤuslicher Hindernisse standen im Wege, — meine Schulden waren noch nicht bezahlt — und wo war der Fuͤrst, der mich zu einem solchen ganz un- gewoͤhnlichen Zweck besoldete? — Antwort: der Herr raͤnmte auf eine herrliche und goͤttliche Weise die Hindernisse aus dem Wege — auf eine herrliche und goͤttliche Weise bezahlte er meine Schulden, und das Heimweh hatte den großen, guten und from- men Kurfuͤrsten von Baden so vorbereitet, daß Er sich sogleich bei der ersten Veranlassung dazu entschloß, mich auf meinen wahren Standpunkt zu stellen. Seht meine Lieben! so unbeschreiblich weise und heilig hat mich der Herr endlich zu dem Ziel geleitet, wozu er mir schon in den ersten Kinderjahren den Grundtrieb einimpfen ließ. Meine jetzige Beschaͤftigung ist also: 1. Fortsetzung meiner Augenkuren ; denn dieser Be- ruf ist durch des Herrn Fuͤhrung legitimirt und mir angewiesen. 2. Fortsetzung meiner religioͤsen Schriftstel- lerei , so wie sie mir mein himmlischer Fuͤhrer an die Hand gibt, und 3. Die Austheilung und Ausarbeitung kleiner erbaulicher Schriften fuͤr den gemeinen Mann , wozu mir Geldbeitraͤge von guten christlich gesinnten Freunden geschickt werden, um solche Schriften umsonst unter das gemeine Volk vertheilen zu koͤnnen. Ob nun der Herr noch etwas Wei- teres mit mir vor hat, das weiß ich nicht — ich bin sein Knecht. Er brauche mich, wie es Ihm gefaͤllig ist! — aber ohne bestimmt seinen Willen zu wis- sen, thue ich auch keinen Schritt . Jetzt werden nun auch wohl alle meine Leser uͤberzeugt seyn, daß ich kein großer Mann, großer Geist, oder großes Genie bin: — denn ich habe zu meiner ganzen Fuͤhrung im geringsten nichts beigetragen; auch meine natuͤrliche Anlagen mußten durch viele Muͤhe, und auf langwierigen Leidenswegen, erst muͤhsam vor- und zubereitet werden; ich war bloß leidende Materie in der blinden Hand des Kuͤnstlers; Thon in der Hand des Toͤpfers. Wer mich also fuͤr einen Mann von großen Talenten und großen Tugenden ansieht, oder mich gar als einen großen Heiligen taxirt, der thut mir sehr unrecht: er verfaͤhrt gerade so unschicklich, als wenn einer eine alte eichene, grob und baͤurisch ausgearbeitete Kiste darum fuͤr ein großes Kunst- und Meisterstuͤck ruͤhmen und preisen wollte, weil ein großer Herr kostbare Schaͤtze zum taͤglichen Gebrauch darin aufhebt. Wer sich uͤber mich wundern und freuen will, der bewundere meine Fuͤhrung, bete den Vater der Menschen an, und danke Ihm, daß Er sich noch immer nicht unbezeugt laͤßt, und auch auf seinen heiligen Wegen Zeugen ausruͤstet, und um die eilfte Stunde noch Arbeiter in seinen Weinberg sendet. 39 * Jetzt bitte ich nun instaͤndig, Gott und der Wahrheit die Ehre zu geben, und folgende Saͤtze genau zu pruͤfen: 1. Zeigt meine ganze Lebensgeschichte nicht unwiderstehlich, daß mich nicht menschlicher Verstand und Weisheit, sondern der — der der Menschen Herz, Handlungen und Schicksale — doch ohne Zwang ihres freien Willens — zu lenken versteht, von An- fang bis zu Ende wahrhaft nach einem vorbedachten Plan ge- leitet, gebildet und erzogen habe? 2. Zeigt meine Geschichte nicht ebenfalls unwiderlegbar, daß von meiner Seite nicht das Geringste, weder zum Entwurf, noch zur Ausfuͤhrung meines Lebensplans geschehen sey? — weder Schwaͤrmerei noch Irrthuͤmer hatten an jenem Plan, an dessen Ausfuͤhrung Theil: denn wo ich schwaͤrmte oder irrte, da wurde ich immer durch die Entwicklung eines Bessern belehrt. 3. Wenn mich also nun der Allweise, Allguͤtige und Alles- vermoͤgende Weltregent selbst geleitet, vor- und zubereitet hat, ohne daß weder ich selbst, noch irgend ein Mensch, Antheil an seinem Plan hatte: kann Ihm da sein Werk mißlungen seyn ? — kann Er einen Irrgeist, einen Schwaͤrmer und Obscuranten — so — leiten und fuͤhren wie mich, um die Menschen zu taͤuschen? — Ja! zulassen kann Ers, daß sich ein Schwaͤrmer und Verfuͤhrer selbst durch Schwierigkeiten durcharbeitet und eigenmaͤchtig sich ein Publi- kum erwirbt: denn Er laͤßt freie Wesen auch frei wirken, so lange es mit seinem hohen Rath bestehen kann; aber zeige mir Einer in meinem ganzen Leben, daß ich mich irgendwo durch Schwierigkeiten von der Art durchgearbeitet, oder gesucht habe, mir ein Publikum in religioͤser Hinsicht zu erwerben. 4. Folgt also nun nicht aus dem Allem, daß mein religioͤses Lehrsystem, welches kein anderes ist, als dasjenige, welches Chri- stus und seine Apostel — und nachher alle rechtglaͤubige Kirchen- vaͤter alle Jahrhunderte durch, gelehrt haben, wahr , und aber- mals durch meine Fuͤhrung legitimirt worden sey? — ich kann Ideen, — ich kann Nebenbegriffe haben, die noch unlauter, noch nicht genug berichtiget sind, aber in der Hauptsache des Christenthums irre ich so gewiß nicht, als ich gewiß bin, daß mich Gott mein ganzes Leben durch gefuͤhrt, und selbst zum Zeu- gen der Wahrheit gebildet hat. Indessen bin ich mir vor Gott mit der vollkommensten Aufrichtigkeit bewußt, daß keine meiner religioͤsen Ideen durch muͤhsames Nachdenken entstanden, oder Resultat irgend einer Deduction der bloßen Vernunft sey, sondern Alle sind Aufschluͤsse in meinem Gemuͤthe, die mir bei dem Be- trachten schwieriger Bibelstellen von selbst gekommen sind. Die Hauptsache des Christenthums aber beruht, nach meiner Ueber- zeugung, auf folgenden Grundsaͤtzen: 1. Die heiligen Schriften, so wie wir sie gegenwaͤrtig haben, enthalten vom ersten Kapitel des ersten Buchs Mosis an, bis auf’s letzte Kapitel des Propheten Maleachi , und vom ersten Kapitel des Evangeliums Matthaͤi an, bis auf’s letzte Kapitel der Apocalypse , die Geschichte der Offenbarungen Gottes an die Menschen, und sind daher die einzige zuverlaͤßige Quelle aller derer uͤbersinnlichen Wahrheiten, die dem Menschen zu seiner Bestimmung noͤthig sind. 2. Die ersten Menschen waren von Gott vollkommen erschaf- fen worden, sie suͤndigten aber durch Ungehorsam gegen Gott, und verloren dadurch das Gleichgewicht zwischen den sinnlichen und sittlichen Grundtrieben; die sinnlichen wurden immer uͤber- wiegender, und daher wurde in ihrer ganzen Nachkommenschaft das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens boͤse von Jugend auf und immerdar. 3. Vorher war auch schon eine Klasse hoͤherer geistiger Wesen von Gott abgefallen und boͤse geworden; der Fuͤrst dieser Wesen hatte die ersten Menschen zum Abfall verleitet; diese boͤsen Gei- ster koͤnnen dann auf den geistigen Theil des Menschen wirken, wenn er ihnen Anlaß dazu gibt; es gibt aber auch gute Gei- ster, die um den Menschen her sind, und ebenfalls auf ihn wir- ken, wenn es die Umstaͤnde erfordern. Jene boͤsen Geister nebst ihrem Fuͤrsten, den Satan, seine Engel und alle boͤse Menschen, nenne ich das Reich der Finsterniß. 4. Gott hat von Ewigkeit her ein Wesen ausgeboren, das mit ihm gleicher Natur ist, und gegen Ihn in dem Verhaͤltniß steht wie ein Sohn gegen seinen Vater, daher nennet es auch die Bibel den Sohn Gottes, den Logos , das Gottwort , dieser Sohn Gottes uͤbernahm die Fuͤhrung und Erloͤsung des ge- fallenen menschlichen Geschlechts; im alten Bunde offenbarte Er sich unter dem Namen Jehovah , und im neuen Bunde als wahrer Mensch unter dem Namen Jesus Christus . Er ist Gott und Mensch in Einer Person. 5. Dieser Gottmensch Jesus Christus erloͤste die gefallene Menschheit durch seinen blutigen Opfertod, von der Suͤnde, vom Tode, und von der Strafe der Suͤnden. In diesem blutigen Opfertod liegt der Grund zur Versoͤhnung mit Gott, zur Verge- bung der Suͤnden, folglich auch der Seligkeit. Die Sittenlehre Christi , die schon in allen ihren Punkten im alten Testament enthalten, und sogar von Heiden fast vollkommen gelehrt worden ist, dient nur blos dazu, damit man pruͤfen koͤnne, ob der blutige Opfertod Christi , und in wie fern er an einem Menschen seine Wirkung gethan habe? — Sie ist natuͤrliche Folge des Erloͤsungsgeschaͤfts, aber ohne dieses eben so wenig Gottge- faͤllig auszuuͤben moͤglich, als daß ein Kranker die Geschaͤfte eines Gesunden sollte verrichten koͤnnen. 6. Jesus Christus stand von den Todten auf, und wurde dadurch auch die Grundursache der Auferstehung der Menschen, dann fuhr er gen Himmel, und uͤbernahm die Weltregierung. Er ist also jetzt der Gott, der Alles regiert, alle Schicksale der Men- schen lenkt, und im Großen wie im Kleinen, im Ganzen wie im Einzelnen, Alles zum großen Ziel der Menschenerloͤsung lei- tet, und endlich hinausfuͤhrt. Zu dem Ende steht Er mit allen seinen wahren Verehrern und treuen Dienern, nebst den heiligen Engeln, als das Reich des Lichts, dem Reich der Finsterniß gegen- uͤber; beide kaͤmpften so lange gegen einander, bis das Letzte ganz uͤberwunden, und so das Erloͤsungsgeschaͤft vollendet ist; dann uͤberantwortet der Sohn dem Vater wieder das Reich, und die- ser ist dann wieder Alles in Allem. 7. Gott will und muß in Jesu Christo , in seinem Na- men , das ist: in seiner Person angebetet werden. Gott außer Christo , ist ein methaphysisches Unding, das sich die kuͤhne Vernunft von der Idee eines hoͤchst vollkommenen Men- schen abstrahirt hat; dieses Unding, das nirgends als im Kopf der Philosophen existirt, anbeten , ist pure Abgoͤtterei. In Christo findet man nur den Vater der Menschen, nur da will und kann er angebetet werden. 8. Der heilige Geist, der Geist des Vaters und des Sohns, ist wahrhaft Ein Wesen , mit dem Vater und dem Sohn glei- cher goͤttlicher Natur. Er ist eine moralische goͤttliche Liebeskraft, die von Beiden ausgeht, so wie Licht und Waͤrme von der Sonne ausstrahlt; seit den ersten Pfingsten bis daher ist er bestaͤndig wirksam; Jeder, der von Herzen an Christum glaubt, seine Heils- lehre annimmt, sein Suͤndenelend herzlich bereut, und nun mit inniger Sehnsucht wuͤnscht, von der Suͤnde frei, und ein wahres Kind Gottes zu werden, der zieht nach dem Verhaͤltniß seines Glaubens und in dem Grad seiner Sehnsucht, den heiligen Geist an, so, daß dann seine sittlichen Kraͤfte immer mehr und mehr gestaͤrkt, und seine sinnlichen je mehr und mehr geschwaͤcht werden. Dieß ist mein bestaͤndiges wahres, durch viele Pruͤfungen, Erfahrungen und Laͤuterungen bewaͤhrtes Glaubens-, Lehr- und Lebenssystem, welches ich nicht durch Speculation, und durch Bemuͤhung des Kopfs, sondern waͤhrend meines vieljaͤhrigen Rin- gens nach Licht und Wahrheit, aus Drang und Beduͤrfniß des Herzens, einzeln, nach und nach, wie seltene Goldkoͤrner, an meinem muͤhseligen Pilgerwege aufgelesen, gesammelt, und dann in ein vernuͤnftiges Ganzes gebracht habe. Es ist das reine, durch keine Sophisterey und Modeexegese getruͤbte, Dogma der heiligen Schrift, auf dessen Gewißheit und Wahrheit ich leben und sterben will. Dieser alten christlichen Glaubens- und Heils- lehre steht nun die neue Aufklaͤrung gerade gegenuͤber; edle und Wahrheit liebende rechtschaffene Maͤnner ziehen die Letz- tere der Ersten aus dem Grunde vor, weil sie uͤberzeugt sind, daß die durch die Aufklaͤrung modifizirte Religionslehre der menschlichen Vernunft angemessener sey, als jenes altchrist- liche System; sie haben daher eine Exegese, eine Bibelerklaͤrung, erfunden, die zu ihrer Philosophie paßt; allein die guten Maͤn- ner merken , oder merken nicht , daß die Tendenz dieser neuen Aufklaͤrung auf bloße Naturreligion hinstrebt; deren Dog- men bloße Sittenlehre ist, die am Ende die Sendung Christi ganz unnoͤthig macht, und der Bibel nicht mehr bedarf. Da nun aber weder das aͤsthetische Gefuͤhl, noch die Schoͤnheit der Tugend, die durch den Fall Adams verlornen sittlichen Kraͤfte geben kann, so nimmt unter der Herrschaft der Aufklaͤrung die Sittenlosigkeit unaufhaltbar zu, das Verderben waͤchst mit be- schleunigter Bewegung, die Menschheit sinkt in die allersinnlo- seste Barbarey zuruͤck, und die goͤttlichen Gerichte uͤben strenge und gerechte Rache uͤber ein Volk aus, das alle Mittel zur sitt- lichen Besserung und Veredlung verachtet. Dagegen beweißt die Erfahrung aller Jahrhunderte an Mi- lionen einzelnen Menschen, daß die altchristliche Glau- benslehre ihre Anhaͤnger zu guten und heiligen Buͤrgern, Ehe- gatten, Freunden, Eltern und Kindern gebildet habe; die Auf- klaͤrung kann wohl hin und wieder einen honnetten Menschen, und buͤrgerliche Tugend — aber doch nur zur Noth — zu Stande bringen; ein solcher Mensch kann zu Zeiten eine glaͤnzende That ausuͤben, aber im Verborgenen, voͤllig unbekannt, aus wahrer Gottes- und Menschenliebe, auch den Feinden, mit Aufopferung, Wohlthaten erzeigen, das ist schlechterdings nur da moͤglich, wo der Geist Christi herrschend ist. Nun entsteht aber die hoͤchst wichtige Frage: woher es doch komme, daß solche edle, Wahrheitliebende Maͤn- ner bei allen diesen unzweifelbaren Erfahrungen, denn doch noch immer bei ihrem Aufklaͤrungssy- stem bleiben ? Hierauf dient zur Antwort: es gibt zwei Praͤmissen — zwei Grundlagen aller religioͤsen Demon- stration; sind diese Praͤmissen falsch, so wird auch jede mathe- matisch richtige Beweisfuͤhrung falsch und unrichtig: und das ist hier gerade der Fall. Die ganze christliche Glaubenslehre gruͤndet sich auf folgen- den Grundsatz: Gott schuf die ersten Menschen als frei wirkende Wesen, mit der Tendenz zu immer wachsender sittlicher Vollkommenheit, und da- mit in gleichem Schritt gehenden Genuß des hoͤch- sten Gutes; sie ließen sich aber durch ein unbe- kanntes boͤses Wesen verfuͤhren, daß sie ihre Ten- denz zu immer wachsender sinnlichen Vervoll- kommnung, und damit in gleichem Schritt gehen- den Genuß der irdischen Guͤter anwendeten . Die- sen Grundsatz lehrt uns die heilige Schrift; und daß er un- zweifelbar wahr sey, das lehrt uns eine beinahe sechstausendjaͤhrige Erfahrung. Hieraus folgt nun unmittelbar: Waͤre der Mensch in seinem natuͤrlichen Zustand geblie- ben, so waͤre ihm auch die Befolgung der Sittenlehre natuͤrlich gewesen, sein Kopf haͤtte sie ihm gesagt, und sein Herz haͤtte sie befolgt; dann war also die Naturreligion die einzige wahre. In dem gegenwaͤrtigen gefallenen Zustand aber, wo die Sinn- lichkeit allwaltend herrscht, und die sittlichen Kraͤfte gelaͤhmt sind, kann man von dem schwaͤchern Theil nicht fordern, daß es das Staͤrkere uͤberwinden soll, folglich ist in der Natur kein Weg zur Erloͤsung, sondern der Schoͤpfer muß wiederum ins Mittel treten, wenn die Menschheit gerettet werden soll. Wer nun auf diese Vordersaͤtze eine richtige logische Demon- stration gegruͤndet, der findet die ganze christliche Heilslehre sehr vernuͤnftig, und die heutige Aufklaͤrung sehr unvernuͤnftig. Der Grundsatz der Aufklaͤrung aber ist nun folgender: die ganze Schoͤpfung ist ein zusammenhaͤngendes Ganze, welchem der Schoͤpfer seine geistigen und physischen Kraͤfte angeschaffen, und ihnen ihre ewige und unveraͤnderliche Gesetze gegeben hat, nach welchem sie unaufhaltbar wirken; so daß also nun keine goͤttliche Einwirkung mehr noͤthig ist; folglich geht Alles in der ganzen Schoͤpfung einen unabaͤnderlichen nothwendigen Gang, der das allgemeine Beste aller Wesen zum Zweck hat. Die Menschenklasse ist ein Theil dieses Ganzen, und die ewigen Gesetze der Natur wirken so, daß der freie Wille jedes Menschen bei jeder Hand- lung so gelenkt wird, daß er das thut. Die Sit- tenlehre enthaͤlt die Gesetze, nach denen der freie Wille geleitet werden muß . Dieser Grundsatz ist der eigentliche Determinismus , und man mag sich verstecken und verwahren wie man will, bei allen, auch den gemaͤßigsten Neologen , ist er mehr oder weniger offener oder versteckter, die Grundidee von Allem. Wie mag aber wohl die Vernunft zu dieser Idee gekommen seyn? — Antw. auf einem sehr natuͤrlichen Wege; sie suchte sich von dem Daseyn eines hoͤchsten Wesens zu uͤberzeugen, und dann auch seine Natur und Eigenschaften zu ergruͤnden; und da sie in der ganzen sinnlichen Schoͤpfung kein anderes vernuͤnf- tiges Wesen kennt, als sich selbst, so abstrahirt sie alle Schran- ken von der menschlichen Seele weg, und findet alsdann eine unendliche vernuͤnftige, allmaͤchtige, allwissende, allliebende, all- gegenwaͤrtige menschliche Seele, die sie nun Gott nennt; so wie nun ein menschlicher Kuͤnstler ein Kunstwerk, z. B. eine Uhr macht, diese Uhr aber sehr unvollkommen seyn wuͤrde, wenn der Kuͤnstler immerfort bald hier bald da, ein Raͤdchen drehen, ruͤcken, oder auf irgend eine Art immer nachhelfen muͤßte, so hat der hoͤchst vollkommene Kuͤnstler auch eine Maschine gemacht, die aber, eben darum, weil der Meister hoͤchst vollkommen ist, auch hoͤchst vollkommen seyn muß, und also nirgend einer Nach- huͤlfe oder Mitwirkung des Kuͤnstlers noͤthig haben darf. Daß aber dieser schreckliche Grundsatz nicht wahr ist, das sagt uns unser eigenes Freiheitsgefuͤhl, aber auch eben die naͤm- liche Vernunft: denn wenn er wahr waͤre, so waͤre — man mag sich drehen und wenden wie man will — jede menschliche Handlung, so wie sie geschieht, vom Schoͤpfer bestimmt. Die greulichsten Thaten, die irgend nur Menschen begehen koͤnnen, und die schrecklichsten Leiden, die sich die Menschen unter ein- ander zufuͤgen, alle die Unterdruͤckungen der Wittwen und Wai- sen, alle Greuel des Kriegs, u. s. w., daß Alles hat der Gott der neuen Aufklaͤrung gewollt : denn Er hat ja die Natur so eingerichtet, daß das Alles erfolgen mußte , u. s. w. Daß jede nur einigermaßen vernuͤnftige Vernunft, vor die- sem gewiß logisch richtigen Folgesatz zuruͤckbeben muß, wird Niemand laͤugnen — folglich steht hier die Vernunft mit sich selbst im Widerspruch , und wo das der Fall ist, da hoͤrt ihr Gebiet auf, da ist ihre Grenze. Schrecklicher laͤßt sich nichts denken, als wenn man die menschliche Vernunft, besonders in unsern Zeiten, wo der unbaͤndigste Luxus und die unbaͤndigste Sittenlosigkeit mit einander wetteifern, auf solche Wege leitet — und nun das noch gar christliche Religion nennen will — o der ungeheuern Gotteslaͤsterung! Meine Lieben! seyd entweder ganz Christen nach dem wah- ren altevangelischen System, oder seyd ganz Naturalisten, so weiß man doch, wie man mit euch daran ist. Denkt an Laodicea . Der Mittelweg hier ist eine Falle, die der Satan den Menschen gestellt hat. Lieben Bruͤder! lieben Schwestern Alle! wir wollen uns an den Vater unsers Herrn Jesu Christi , an Jesum Chri- stum und seinen Geist treulich halten, die heiligen Schriften alten und neuen Testaments, so wie wir sie haben, und wie sie der gesunde Menschenverstand versteht, fuͤr unsere einzige Glaubens- und Erkenntnißquelle annehmen; Er kommt bald, und dann wird Er unsere Treue gnaͤdig ansehen. Amen! Mel . Wie groß ist des Allmächt’gen Güte. Du, der du auf dem ew’gen Throne Das Schicksal aller Wesen wägst! Auf deinem Haupt die Strahlenkrone Von Myriaden Welten trägst! Umkreist vom Heer der Seraphinen, Umglänzt mit siebenfachem Licht! Im Jubel Aller, die dir dienen, Verschmäh’ den Staub vom Staube nicht! Merkt auf, Ihr Himmel, hör’ du Erde! Des Donners Brüllen schweige still! Damit mein Lied verstanden werde, Das ich dem Herrn jetzt singen will: Ihr Sänger am crystallnen Meere, Ach leiht mir Euer Harfenspiel! Auf daß ich meinen Führer ehre, Ach, daß ihm doch mein Lied gefiel! Du unaussprechlich holde Liebe, Du meines Wesens Element: Ach sieh’ doch, wie aus reinem Triebe Mein Herz in deiner Liebe brennt! Ich war ein Nichts, ein Nichts im Staube, Und du, mein Alles! wähltest mich: Durch lange Prüfung wuchs mein Glaube, Und meine Sehnsucht fande dich. Du wählt’st zum Schauspiel deiner Führung, Zum Zeugen deiner Wahrheit mich. Nun spricht mein Herz mit tiefer Rührung: Mein Gott! ich leb’ und sterb’ für dich. Ja! ja ich will dich treu bekennen! Verleih mir Kraft und Muth dazu! Kein Schicksal soll mich von dir trennen, Wo ist ein solcher Freund wie du? Du Geber aller guten Gaben! Fandst in der niedern Hütte mich; Du fandst den armen Baurenknaben, Du sahst mich, und erbarmtest dich! Du merktest auf des Vaters Flehen, Der Mutter Seufzen hörtest du! Nun sprachst du Ja! es soll geschehen! Und wehtest Geist und Kraft mir zu. Nun wogst du auf der goldnen Wage Des Schicksals, meine Leiden ab: Bestimmtest auch die Zahl der Tage, Von meiner Wiege bis zum Grab; Entwarfst zu meinem Wirkungskreise Schon damals den erhabnen Plan, Und zeigtest zu der Pilgerreise Von weitem mir die steile Bahn, Ein Engel am Erlösers Throne, Bekam nun auch Befehl von dir; Er legte ab die Perlenkrone, Und kam in Ernst gehüllt zu mir. Er schien das Mitleid nicht zu kennen, Als wüßt’ er von Erbarmung nichts. Vielleicht wirst du ihn einst ernennen Zum Herold deines Weltgerichts, Er führte mich mit Engelstreue Durch meiner Jugend bunte Flur. Ich folgte ihm mit banger Scheue, Und sah auf seine Winke nur. Bald folgt’ ich ihm durch rauhe Lüfte, Mit wundem Fuß auf Dornen nach; Bald schleppt er mich durch Felsenklüfte. — So war mein Schicksal Tag für Tag. Oft schien ein zweifelhafter Schimmer Das Ende meines Wegs zu seyn; Ich eilte stärker, hoffte immer Mich bald des frohen Ziels zu freun; Allein auf einmal riß der strenge Begleiter mich von meiner Bahn, Und führt’ aufs Neue durchs Gedränge Den steilen Felsen mich hinan — Ich trug auf allen meinen Wegen Der Schulden Centnerschwere Last. Wie Pesthauch wehte mir entgegen Die Schwermuth — ich erstickte fast. Kein Ostwind fächelt mit dem Flügel Dem müden Pilger Kühlung zu; Ich fand auf keinem Blumenhügel Im milden Schatten sanfte Ruh. So wankt’ ich auf dem Thränenpfade, Durch manche Krümmung hin und her. Auf Einmal strahlte Huld und Gnade — Und meine Bürde war nicht mehr! Mein Führer nahm mit starken Armen Die Last von meiner Schulter ab; Mit einem Blicke voll Erbarmen Warf er sie in das Thal hinab. Ich wallte leichter, doch noch immer Beschwerlich, meinem Führer nach, Bis endlich mir ein heller Schimmer Verkündigte den nahen Tag. Er kam — Er kam! der goldne Morgen, Nun sah ich mich am frohen Ziel! Nun schwanden sie, die bangen Sorgen, — Ertönte laut mein Saitenspiel! Stimmt ein, Ihr Sänger dort am Throne, Stimmt in mein Lied im Thränenthal; Bis ich einst in der Kämpferkrone, Dort bei des Lammes Hochzeitsmahl, Im Harfenjubel hoher Feyer, Mit Euch Jehovah preisen kann; Mit Bruderhuld umfaßt mein Treuer, Mein Führer mich, und lächelt dann. Bis dahin ströme Gottes Frieden Und hohen Muth ins matte Herz Und leite meinen Gang hienieden, Und meine Richtung himmelwärts! Nun will ich goldne Körner streuen, Dann leite mich nach deinem Rath! Und laß auch endlich wohl gedeihen Des müden Pilgers Thränensaat! VI. Heinrich Stilling’s Alter, von ihm selbst beschrieben . Ein Fragment . Heinrich Stilling’s Alter , von ihm selbst beschrieben. B ald am Ziel meiner Wallfahrt, im Anfange meines sieben und siebenzigsten Lebensjahrs, nach einem Jahr durchkaͤmpf- ter koͤrperlicher Leiden, Magenkrampf und Entkraͤftungen, durch- weht mich gleichsam ein heiliger Schauer. Die große Reihe durchlebter Jahre gehet wie Schattenbilder an der Wand vor meiner Seele voruͤber, und die Gegenwart kommt mir vor, wie ein großes feierliches Bild, das aber mit einem Schleier bedeckt ist, den ich erst luͤften werde, wenn meine Huͤlle im Grabe ruht und der Auferstehung entgegen reift. Gnade und Barmherzig- keit, Seligkeit durch die Versoͤhnungsgnade meines himmlischen Fuͤhrers wird von diesem Bilde mein ganzes Wesen durchstrahlen. Hallelujah ! Es sieht doch jetzt ganz anders um mich her aus, als wie ich meine Umgebungen in Heinrich Stillings Jugend be- schrieben habe. Mein Alter und meine Jugend sind gar ver- schiedene Standpunkte; ich sitze nicht mehr im kleinen dunkeln Stuͤbchen zwischen Sonnenuhren, am eichenen Umklapptisch, und naͤhe fuͤr den Nachbar Jakob an einem Brustlatz, oder mache Knoͤpfe an den Sonntagsrock fuͤr Schuhmachers Pe- ter. Eberhard Stilling schreitet nicht mehr im leinenen Kittel kraͤftig umher, und Margareth kommt nicht mehr emsig, um hinter dem Ofen im bunten Kaͤstchen Salz in die Suppe zu holen. Nicht mehr schnurren die Raͤder meiner bluͤ- henden Muhme um die Oellampe her, und die Stimme ihres Gesanges ist laͤngst verhallt. Oheim Johann Stilling kommt nicht mehr, uns stau- nenden Zuhoͤrern von seinen neuen Entdeckungen in der Elektri- Stilling’s sämmtl. Schriften. I. Band. 40 zitaͤt, Mechanik, Optik, Mathematik und dergleichen zu erzaͤh- len. Nein! es sieht nun ganz anders um mich her aus. Da sitze ich auf dem bequemen Großvaterstuhl vor meinem viel ge- brauchten Pulte, und an den Waͤnden um mich her haͤngen Pfaͤnder zur Erinnerung an meine nahen und fernen Freunde. Meine viele Jahre lang schwer leidende und schwer gepruͤfte Elise wankt um mich her, und besorgt Gegenwart und Zukunft, und meine juͤngste Tochter Christine geht ihr an die Hand, und fuͤhrt ihre Verordnungen aus. Sie ist die einzige von mei- nen Kindern, die noch bei mir ist, und die mich oft durch ihr Klavierspielen ermuntert und erquickt. Meine Tochter Hanna lebt mit ihrem lieben Schwarz und zehn Kindern zu Heidelberg im Segen; ihre aͤlteste Toch- ter ist mit dem Professor Voͤmel in Hanau verheirathet, und hat mich mit einem Urenkel beschenkt, dessen Pathe ich bin; und der aͤlteste Sohn Wilhelm war Rektor an der Schule zu Weinheim an der Bergstraße und auch Diakonus daselbst; jetzt ist er hier Hofmeister und Erzieher des einzigen Sohnes unsers wuͤrdigen Staatsministers, des Herrn von Berkheim . Die Universitaͤt Heidelberg gab ihm das Doktordiplom der Philosophie wegen seines Fleißes, wegen seiner Kenntnisse und gesitteten Betragens; auch dieser besucht mich beinahe taͤglich. Mein Sohn in Rastadt lebt mit seiner Frau und sechs Kin- dern im Segen. Der Herr fuͤhrte ihn schwere Wege, aber er geht sie mit den Seinigen, wie es dem Christen geziemt; seine aͤlteste Tochter Auguste ist auch bei mir, um im Graimbergi- schen Institut zum ehrbaren christlichen Frauenzimmer gebildet zu werden; auch diese hilft mir meine alten truͤben Tage erheitern. Da die wuͤrdige Stifterin des eben gedachten Instituts, die Frau von Graimberg , die Erziehung der beiden großherzog- lichen Prinzessinnen uͤbernommen, und meine dritte Tochter Amalia als Gehuͤlfin ins Schloß mitgenommen hat, so hat nun meine aͤltere Tochter Karoline die Fuͤhrung des Insti- tuts als Vorsteherin angetreten; ihr schoͤner Wirkungskreis er- heitert den Abend meines Lebens, und beide Toͤchter besuchen uns beide Eltern fast taͤglich. Endlich verlebte auch mein zwei- ter Sohn Friedrich noch das letzte halbe Jahr bei uns, ehe er als Kameralist und Oekonom seine Laufbahn in Rußland antritt; seine Guitarre und sein schoͤner maͤnnlicher Gesang ver- scheuchen mir manche truͤbe Stunde. Doch mir faͤllt eben ein, daß die Großvaͤter und Großmuͤtter gar gespraͤchig werden, wenn von ihrer Familie die Rede ist; um nun nicht in diesen Fehler zu verfallen, will ich lieber einlenken, und den Faden meiner Lebensgeschichte an Stillings Lehrjahre anknuͤpfen. Bei meiner Ankunft in Heidelberg 1803 im September, er- fuhr ich, daß der Großherzog, damals noch Kurfuͤrst, in Mann- heim sey; ich fuhr also des andern Tages dahin, um Ihm persoͤnlich meine Ankunft anzuzeigen, und mich Ihm zu empfeh- len. Er empfing mich sehr gnaͤdig, und sagte: „Ich freue mich, Sie in meinem Land zu wissen; ich habe von Jugend auf den Wunsch gehabt, der Religion und dem Christenthum alle meine Kraͤfte zu widmen: allein Gott hat mir das Regentenamt an- vertraut, dem ich alle meine Kraͤfte schuldig bin; Sie sind nun der Mann, den Gott zu diesem Zweck zubereitet hat. Ich ent- binde Sie daher von allen irdischen Verbindlichkeiten, und trage Ihnen auf, durch ihren Briefwechsel und Schriftstellerei Reli- gion und praktisches Christenthum an meiner Stelle zu befoͤr- dern; dazu berufe und besolde ich Sie.“ Das war nun auch meine politische und rechtskraͤftige Vo- kation zu meinem kuͤnftigen Beruf, der nichts fehlte, als eine schriftliche Ausfertigung, die ich aber nicht fuͤr noͤthig hielt, in- dem ich wohl wußte, daß mich deßfalls Niemand in Anspruch nehmen wuͤrde. Ich kehrte also mit einer innigen Seelenruhe nach Heidelberg zuruͤck, denn nun war ja der große Grundtrieb, der von der Wiege an mein Inneres gedraͤngt hatte, befriedigt. Nur Ein Hauptpunkt stoͤrte, ungeachtet meines unerschuͤtterli- chen Vertrauens auf meinen himmlischen Fuͤhrer, meine Ruhe: ich fand Alles in Heidelberg ganz anders, als ich es vor zehn und einem halben Jahre verlassen hatte; Alles war theuer, nicht wohlfeiler, als in Marburg , Verschiedenes noch theurer; man hatte uns geschrieben, wir sollten unser Hausgeraͤthe verkaufen, denn wir koͤnnten es in Heidelberg besser wieder anschaffen, 40 * allein wir fanden es ganz anders. Unsere schoͤnen Moͤbels gin- gen in Marburg fuͤr geringe Preise fort, und wir mußten schlechtes Geraͤthe fuͤr theuere Preise dafuͤr anschaffen; kurz, der Zug von Marburg nach Heidelberg , nebst der voͤlligen Einrichtung am letztern Ort, kostete gegen tausend Gulden; ich konnte dieß noch von dem Segen, den mir meine Reisen gebracht hatten, bestreiten; aber zur Nachhuͤlfe blieb auch nichts uͤbrig. In Marburg hatte ich gegen dritthalb tausend Gulden ein- zunehmen, und sie auch bei aller Sparsamkeit gebraucht, ohne etwas uͤbrig zu behalten; Verhaͤltnisse, die ich dem Publikum nicht entdecken und nicht erklaͤren kann, vermehrten meine Aus- gaben betraͤchtlich. Diese Verhaͤltnisse waren nun beinahe noch immer die naͤmlichen, und sie zu bestreiten hatte ich kaum die Haͤlfte von meinem Marburger Einkommen einzunehmen. So wie wir Beide, ich und meine Frau, am Schlusse des Jah- res 1803, nach und nach diese Entdeckungen und Erfahrungen machten, und fanden, daß wir in Heidelberg im geringsten nicht wohlfeiler haushalten konnten, als in Marburg , so la- gerte sich schwarze Schwermuth wie ein Berg auf meine Seele; meine Vernunft sprach sehr lebhaft und laut: „Du hast nie einen Schritt gethan, dich eigenmaͤchtig aus der Lage zu setzen, in die dich die Vorsehung gefuͤhrt hatte; darum half dir dein himmlischer Fuͤhrer auch maͤchtig durch. — Ist dieß aber auch jetzt der Fall? — Hast du weder mittelbar noch unmittelbar dazu beigetragen, daß dich der Kurfuͤrst von Baden hieher beru- fen hat? — War dein Grundtrieb, fuͤr den Herrn und sein Reich zu wirken, rein? Lag nicht in der Tiefe deiner Seele auch die Eitelkeit verborgen, als ein großes Licht in der Kirche Got- tes zu glaͤnzen, und durch deine Schriften in aller Welt beruͤhmt zu werden? — Und endlich: gibt es wohl hoͤhere Pflichten, als dafuͤr zu sorgen, daß Frau und Kinder nicht in Mangel und Armuth gerathen? — Und ist es zu verantworten, wenn man die Mittel, die die Vorsehung dazu an die Hand gegeben hat, gegen eine Lage vertauscht, die doch bei allem guten Meinen und guten Willen noch im Dunkel der Zukunft verhuͤllt ist? u. s. w. Alle diese Fragen standen wie strafende Richter vor meiner Seele, und ich konnte kein Wort zu meiner Vertheidi- gung vorbringen. — Großer Gott! wie war’s mir zu Muthe! — Ich fand nun keinen andern Ausweg, als mich durch die strengste, genaueste und unpartheiische Selbstpruͤfung zu erfor- schen, wie es in Ansehung aller dieser Punkte mit mir stehe? Bei dieser Untersuchung fand ich nun, was alle Adamskin- der in solchen Faͤllen finden, daß Alles, was sie beginnen, und worin sie mitwirken, mit Suͤnden befleckt ist, aber in der Haupt- sache meiner Fuͤhrung fand ich nichts, das mir zum Vorwurf gereichen konnte, denn alle Umstaͤnde, die meinen Wirkungs- kreis, meine Verhaͤltnisse und meine Lage in Marburg bestimm- ten, gaben mir einmuͤthig den Wink, mich von diesem Stand- punkte zu entfernen; was aber nun diesem Wink vollends das Siegel eines goͤttlichen Berufs aufdruͤckte, war, daß es Einen Fuͤrsten gab, der gerade einen solchen Mann brauchte, dessen Grundtrieb, fuͤr den Herrn und sein Reich zu wirken, bei ihm herrschend war, und daß dieser Fuͤrst diesen Mann kannte und liebte; ein Fall, der wohl der Einzige in seiner Art ist. Schon im verwichenen Sommer, als mir der Kurfuͤrst schrieb, er koͤnne mir jetzt 1200 Gulden geben, ich moͤchte kommen, er wuͤrde nach und nach meine Umstaͤnde verbessern; eroͤffnete ich ihm, daß ich davon nicht leben und bestehen koͤnnte; da aber darauf kein Entschluß folgte, so uͤberlegte ich noch einmal alles genau, und fuͤhlte nun die Pflicht, dem Rufe zu folgen, denn ich war uͤberzeugt, daß er der Einzige sey, den ich in meinem ganzen Leben erwarten koͤnnte. Bei der Pruͤfung, ob mein Grundtrieb, fuͤr den Herrn zu wirken, rein sey, oder ob sich nicht auch ingeheim die Eitelkeit mit einmische, ein großer und durch meine Schriften beruͤhmter Mann zu werden? fand ich, daß alle unsere besten Werke im goͤttlichen Lichte die Probe nicht aushalten; aber ich fand auch, daß ich, wenn die Eitelket mein Grundtrieb waͤre, gewiß den Beruf nicht waͤhlen wuͤrde, der gerade der Verachtung und dem Widerspruch der großen Maͤnner dieser Zeit am meisten ausge- setzt ist. Nachdem ich dieses alles im Reinen hatte, so war nun von Versorgung meiner Familie nicht mehr die Rede; denn war ich uͤberzeugt, daß ich den Willen meines himmlischen Fuͤh- rers befolgt hatte, so kuͤmmerte mich das nicht mehr. Wie herrlich der Herr mein Vertrauen legitimirte, das wird der Verfolg dieser Geschichte zeigen. Den Schluß des 1803. Jahres brachte ich nun mit Einraͤu- mung meiner Bibliothek und mit der voͤlligen Einrichtung mei- nes Schreibepultes und meiner Studierstube zu, welche Ge- schaͤfte aber durch eine Menge Briefe und Gesuche, auch von Augenkranken, fast taͤglich unterbrochen wurde. So beschloß ich dieß fuͤr mich so merkwuͤrdige Jahr, und fing dann das 1804te mit der Fortsetzung meiner Lebensgeschichte, mit Heinrich Stil- lings Lehrjahren an. Diese Schrift, nebst der Ausarbeitung des 15. Hefts des grauen Mannes, und ein paar Erzaͤhlungen in Aschenbergs Taschenbuch beschaͤftigten mich diesen Winter, der uͤberhaupt fuͤr mich und die Meinigen sehr leidend war: denn unsere Karoline wurde gefaͤhrlich krank, und unsere juͤngste Tochter Christine bekam ein Geschwuͤr am linken Arm, das einen Knochenfraß, Laͤhmung oder gar den Tod befuͤrchten ließ; Karoline wurde endlich wieder gesund, aber Christine , damals im fuͤnften Jahr, schien nach und nach auszuzehren und unheilbar zu werden; zugleich kam es nun auch dazu, daß mein Geldvorrath auf die Neige ging, folglich wieder von hoͤherer Hand geholfen werden muß; diese Huͤlfe zoͤgerte aber auch nicht: denn gegen das Ende des Monat Maͤrz erhielt ich einen Brief aus der Oberlausitz, von einer sehr verehrungswuͤrdigen Freundin, die mich aufforderte, zu kommen, indem viele arme Blinde und an den Augen Leidende meine Gegenwart erforderten; diese Rei- sekosten wuͤrden verguͤtet werden, und ich wuͤrde schon unterwegs 200 Thaler (360 Gulden) zur Unterstuͤtzung antreffen. Wir dankten dem Herrn fuͤr seine fortdauernde gnaͤdige Fuͤh- rung, und fingen nun an, uns zu dieser weiten Reise vorzube- reiten; denn von Heidelberg bis Herrenhut , oder lieber Goͤrlitz , wohin ich auch berufen wurde, sind es 80 teutsche Meilen, oder 160 Stunden. Meine erste Schuldigkeit war nun, dem Kurfuͤrsten von die- ser Reise Nachricht zu geben, ich fuhr also nach Carlsruhe , wo ich einige vergnuͤgte Tage in seiner Gesellschaft zubrachte. Bei dieser Gelegenheit trug er mir auf, mit Gliedern der Unitaͤtsaͤltesten-Konferenz zu Bertholsdorf zu reden, denn er wuͤnsche sehr, daß im Badischen ein Bruͤdergemeindeort an- gelegt werden moͤchte. Dann nahm ich Abschied von Ihm, und kehrte wieder nach Heidelberg zuruͤck. Obgleich unsere Freundin Julie Richerz mit wahrer Mut- tertreue fuͤr unsere zwei kleinen Maͤdchen sorgte, so fiel es doch, und besonders meiner Frau schwer, die kleine elende Christine auf so viele Wochen zu verlassen; indessen, es war nicht zu aͤndern: denn ich, als ein 64 jaͤhriger Mann, konnte wegen meiner oͤftern Anfaͤlle vom Magenkrampf, nicht allein reisen. Den 3. April 1804 traten wir also unsere Reise mit unse- rem eigenen Wagen, und mit Extrapost an; das Fruͤhlingswet- ter war ungemein angenehm; zu Heidelberg und die Bergstraße hinab bluͤhten die Mandel- und Pfirsichbaͤume in voller Pracht; die ganze Natur schien uns anzulaͤcheln, und eine vergnuͤgte Reise zu verkuͤnden; allein wir taͤuschten uns, denn als ich am Nachmittage zwischen Darmstadt und Frankfurt den Feldberg in der Ferne sah, wie er noch von oben herab bis zur Haͤlfte mit Schnee bedeckt war, und daß die Wetterauerge- birge noch in dieß Winterkleid gehuͤllt waren, so fing ich an zu fuͤrchten, denn ich kannte den Weg nach Herrnhut noch von der ersten Reise her; wir kamen den Abend in Frankfurt an. Es kann den Lesern der Geschichte des Abends meines Le- bens sehr gleichguͤltig seyn, wie es uns von einem Tage zum an- dern, auf allen Poststationen ergangen ist; genug, es war eine muͤhselige Reise: Magenkraͤmpfe von innen, und bestaͤndige Gefahr von Witterung und boͤsen Wegen von außen war an der Tagesordnung; es gab aber auch mitunter Erquickungen und Fruͤhlingstage; freilich selten, aber desto angenehmer und staͤr- kender waren sie. Daß unterwegens die 200 Thaler unser warteten, das versteht sich von selbst. Wir hielten uns auf dieser Reise ein Paar Tage in Kassel , einen in Eisenach und anderthalbe in Erfurt auf. Endlich kamen wir den 19. April des Abends nach Kleinwelke , einem Bruͤdergemeindeort, nahe bei Bautzen , in der Oberlausitz . Hier fing nun schon mein Wirkungskreis an , zu dem ich durch diese Reise berufen war: Staar- und Augenpatienten aller Art kamen in Menge, und ich diente ihnen in Schwachheit, so viel und so gut ich konnte. Den 23. reisten wir von Kleinwelke nach Herrenhut , wo wir im Gemeinlogis einkehrten, und auch alsbald von ver- schiedenen lieben Freunden besucht wurden. In Herrenhut genossen wir die Fruͤchte der Bruderliebe in ihrer ganzen Fuͤlle, und der Herr gab mir auch Gelegenheit, viel zu wirken und vie- len Leidenden zu dienen. Ich trug auch der Unitaͤtsaͤltesten-Konferenz in Ber- tholsdorf den Wunsch des Kurfuͤrsten von Baden , einen Bruͤdergemeindeort in seinen Staaten zu haben, vor; allein da man eben im Begriff war, die Gemeinde Koͤnigsfeld auf dem Schwarzwalde , im Wuͤrtembergischen , nahe an der Badischen Graͤnze, zu gruͤnden, so konnte aus einem dop- pelten Grunde obiger Wunsch nicht gewaͤhrt werden; erstlich, weil die Anlage eines solchen Gemeindeorts sehr viel kostet, und zweitens, weil Koͤnigsfeld an der Badischen Graͤnze liegt, eine zweite Gemeinde in der Naͤhe also uͤberfluͤßig seyn wuͤrde. Artig ist es indessen, daß einige Jahre spaͤter, durch einen Laͤn- dertausch, Koͤnigsfeld unter Badische Hoheit kam, und also Karl Friedrichs frommer Wunsch doch noch erfuͤllt wurde. Wir blieben bis den 9. Mai zu Herrenhut , und fuhren dann um 11 Uhr fuͤnf Stunden weiter nach Goͤrlitz , wohin ich auch von Augenkranken berufen wurde. Goͤrlitz ist eine aͤußerst angenehme, sehr nahrhafte und bluͤ- hende Stadt; sie liegt auf einer schoͤnen fruchtbaren Ebene, die sich gegen Morgen durch einen felsigen Absturz an das Fluͤßchen, die Neiße , anschließt. Auf diesem Felsen steht die praͤchtige Peter-Paulskirche , die durch ihre große und wunderbare Orgel, durch ihre große Glocke und unterirdische Kirche beruͤhmt ist; der Sonnenaufgang uͤber das Riesengebirge ist in dieser Stadt ein herrlicher Anblick. Gegen Suͤdwesten in einer klei- nen Entfernung, steht der Berg, die Landeskrone, ganz einsam; hier scheint er gar nicht hoch zu seyu, und doch sieht man ihn in der ganzen Lausitz , sobald man nur ein wenig in die Hoͤhe kommt. Die Ursache ist, weil in dieser Gegend das ganze Land am hoͤchsten ist. Goͤrlitz war mir auch von einer andern Seite her merkwuͤr- dig. Der beruͤhmte Jakob Boͤhm war hier Schuhmacher- meister und Buͤrger; es war mir außerordentlich ruͤhrend, sein Andenken noch so bluͤhend und im Segen zu finden; man macht sich in Goͤrlitz eine Ehre daraus, daß Boͤhm Buͤrger daselbst war, ungeachtet er vor 200 Jahren dort lebte, und unverdien- ter Weise, besonders von der damaligen Geistlichkeit, vorzuͤglich von Pastor Primarius Gregorius Richter , schnoͤde miß- handelt wurde. Boͤhm lehrt in seinen Schriften nichts, das der Augsburgischen Confession widerspricht; er war ein fleißiger Kirchengaͤnger, und genoß das Abendmahl oft; in sei- nem Lebenswandel war er untadelhaft, ein treuer Unterthan, ein musterhafter Hausvater und Ehegatte und ein liebevoller Nach- bar; das alles weiß man in Goͤrlitz noch wohl, und dennoch behandelte ihn die stolze Priesterschaft wie einen Erzketzer. Eins- mals an einem Morgen kam Meister Boͤhm zum Herrn Pa- stor Richter , um Etwas zu besorgen; so wie er zur Thuͤre herein trat, ergriff Richter einen Pantoffel, und warf ihn dem guten Schuster an den Kopf; dieser hob ihn ganz ruhig auf, und trug ihn dem Pastor wieder vor die Fuͤße. Als Boͤhm 1624 gestorben war, so wollten ihn die Prediger nicht auf den Kirchhof begraben lassen; man berichtete den Fall an’s Ober- consistorium in Dresden . Die Leiche mußte also stehen blei- ben, bis die Resolution zuruͤck kam, welche befahl, daß man Boͤhms Leiche mit allen Ehren, wie es einem guten Christen gebuͤhre, beerdigen, und daß ihm die gesammte Geistlichkeit das Geleit geben sollte. Dieß geschah denn auch, aber nur bis un- ter das Thor, wo die gestrengen Herrn wieder umkehrten. Der Kirchhof liegt an der Nordseite der Stadt; ich ließ mir Boͤhms Grab zeigen, welches mit einem kleinen viereckigten gehauenen Stein, der Boͤhms Geburtsjahr, Namen und Sterbejahr be- zeichnet, bedeckt ist. Ein namhafter privatisirender Gelehrter in Goͤrlitz erzaͤhlte mir, daß er auf einem Spaziergange zwei Englaͤnder bei diesem Grabe gesehen, wie sie ihre Tabaksdosen ausgeleert, und mit Erde von Boͤhms Grabe angefuͤllt haͤtten; dieses habe ihn bewogen, einen neuen Stein darauf zu legen, indem der alte kaum mehr zu sehen gewesen sey. Wir genossen in dieser angenehmen Stadt viele Freundschaft, und ich hatte Gelegenheit genug, auch Leidenden zu dienen. Nach einem Aufenthalt von sechs Tagen reisten wir von Goͤr- litz nach Niesky , einem ansehnlichen Bruͤdergemeindeort, wo sich auch das Seminarium befindet, in welchem junge Leute zum Lehramt vorbereitet und gebildet werden. Hier lernte ich vortreffliche und gelehrte Maͤnner, auch sonst interessante Mit- glieder der Bruͤdergemeinde kennen, die uns auch viele Liebe und Freundschaft bewiesen. Des folgenden Tages fuhr ich einige Stunden weit auf’s Land, um einen blinden Standesherrn zu operiren; ich sah die sogenannte Schneekuppe , den hoͤchsten Gipfel des Riesenge- birges, in der Ferne vor mir; mir duͤnkt doch, daß der Blauen , am obern Ende des Schwarzwaldes , noch hoͤher, als der Brocken und die Schneekuppe sey, indessen sind diese Berge nur Huͤgel gegen die Schweizeralpen . Am Nachmittag kehrte ich wieder nach Niesky zuruͤck; wir logirten im Gasthofe der Gemeinde, wie das an allen Ge- meindeorten gewoͤhnlich ist; mit allen dem Besuchen und Besucht- werden, mit allen Operationen und Augenkuren mag ich meine Leser nicht aufhalten; das war, wie allenthalben, wo ich hin kam; nur Eine Bemerkung muß ich hier einschalten. Die Lau- sitz hat ihre ganz eigene Verfassung; sie besteht aus lauter großen adelichen Guͤtern, welche Standesherrschaften , so wie die adelichen Besitzer auch Standesherren genannt werden. Bertholsdorf ist eben eine solche Herrschaft; sie gehoͤrt aber jetzt der Bruͤdergemeinde, die ihren Standesherrn aus ihren Mitgliedern waͤhlt, deren immer mehrere von Adel sind. Dann gehoͤren auch sechs Staͤdte zur Lausitz , unter denen Bautzen und Goͤrlitz die ersten sind; auch diese sechs Staͤdte haben ihre besondern Freiheiten und Vorzuͤge. Die Unterthanen aller dieser Herrschaften sind durchgehends Wenden , naͤmlich Nachkommen der alten Vandalischen Nation, die zur Zeit der Voͤlkerwanderungen eine so große Rolle spielte. Sie bekennen sich alle zur christlichen Religion, haben aber noch immer ihre eigene Sprache, ob sie gleich fast alle teusch verstehen und sprechen; auch findet man noch Kirchen, worin Wendisch gepredigt wird. Alle sind leibeigen. Des folgenden Tages bekamen wir eine Einladung von einer benachbarten Standesherrschaft, wir sollten ein paar Tage bei ihnen zubringen, damit ich eine alte blinde Frau in ihrem eigenen Hause operiren koͤnnte; wir fuhren also des Nachmittags nach diesem pa- radiesischen Landsitz hin. Am Abend nahm mich die Edelfrau am Arm, und fuͤhrte mich durch huͤgelichte Baumgaͤrten, am Ende des Dorfs, in eine kleine, aͤrmliche, aber reinliche und wohl erhaltene Bauernhuͤtte; wir fanden im dunkeln Stuͤbchen ein altes blindes Muͤtterchen auf einem Stuhl sitzen. Guten Abend, Muͤtterchen! sagte die Graͤfin: Hier schickt dir der liebe Gott einen Freund, durch den er dir dein Gesicht wieder schenken will. Die Frau fuhr vom Stuhl auf, strebte vorwaͤrts, streckte die Haͤnde aus und stoͤhnte mit Thraͤnen: wo sind Sie, Engel Gottes? Die Graͤfin kuͤßte sie auf eine Wange, und sagte: setze dich, Muͤtterchen! hier hast du Etwas, das mußt du morgen einnehmen, und uͤbermorgen bring’ ich dir dann diesen Freund, der dir die Augen oͤffnen wird. Ich sprach auch noch einige freund- liche Trostworte mit der alten Baͤuerin, und dann gingen wir nach Hause. Am bestimmten Tage, des Morgens, ging ich mit der Graͤfin wieder dahin und operirte die Frau; dann stellte ich sie mit ihren nunmehr wieder geoͤffneten Augen vor die Graͤfin. Nein! solche Augenblicke sind schlechterdings unbeschreiblich. — Das war ein schwaches Bild von der Scene, die ich bald erleben werde, wenn ich armer Suͤnder nackt und blos vor Ihm erscheinen und Ihn dann mit geoͤffneten Augen sehen werde, wie Er ist. Mit Thraͤnen der Freude umarmte die Graͤfin das hochgluͤckliche Weib; dann gingen wir wieder nach Hause; daß die Patientin nach Wunsch verpflegt wurde, das ist leicht zu. denken. — Aber nun hatte die gute Graͤfin noch eine andere Herzensangelegenheit: es kam nun darauf an, wie sie mir auf eine zarte, gefuͤhlige Art die 200 Thaler, die sie fuͤr mich als Belo’h- nung fuͤr die Operation bestimmt hatte, in die Haͤnde bringen sollte; auch das fuͤhrte sie meisterhaft aus. Selig bist du nun, durch viele Leiden vollendete, schwer ge- pruͤfte und verklaͤrte Freundin! Ruhe sanft in den Armen deines Erloͤsers, bis wir uns wieder sehen. Es ist eine durchaus richtige Bemerkung, daß Unterthanen nie gluͤcklicher seyn koͤnnen, als wenn sie Leibeigene solcher vor- trefflichen Herrschaften sind. Wir blieben neun Tage in Niesky , und als meine Geschaͤfte geendigt waren, so reisten wir wieder zuruͤck nach Kleinwelke , wo wir den 24. Mai des Abends ankamen. Hier fand ich nun wieder viel zu thun, so daß ich bis den 29. da bleiben mußte. An diesem Tage reisten wir wieder zuruͤck nach Herrenhut , zur Predigerconferenz , zu welcher ich eingeladen worden war. Es ist der Muͤhe werth, daß ich diese merkwuͤrdige Anstalt meinen Lesern etwas naͤher entwickle. Es waren jetzt gerade 50 Jahre, als der Bischof Reichel diese Zusammenkunft veranlaßte, und jetzt lebte der ehrwuͤrdige Greis noch, so daß er also das Jubilaͤum dieser Predigerconfe- renz feiern konnte. Am 30. Mai kommen eine Menge Prediger aus beiden protestantischen Confessionen, aus allen benachbarten Provinzen, in Herrenhut zusammen; es waren ihrer jetzt ungefaͤhr 70. Kein Prediger wurde abgewiesen, und es kommt hier nicht darauf an, ob er mit der Bruͤderkirche in Verbindung steht, oder nicht. Leute aus andern Staͤnden werden ohne be- sondere Verguͤnstigung nicht zugelassen, die Standesherren aus- genommen; denn diese muͤssen doch wissen, was ihre Prediger thun und beschließen, um noͤthigenfalls die Hand bieten oder mitrathen zu koͤnnen. Einigen Kandidaten vergoͤnnt man auch den Zutritt. Man versammelt sich des Morgens um 8 Uhr, eroͤffnet die Sitzung mit Gebet und Gesang, und berathschlagt sich dann nicht so sehr uͤber wissenschaftliche Gegenstaͤnde, als vielmehr uͤber die Amtsfuͤhrung, das Leben und den Wandel der Prediger und der Gemeindeglieder, und besonders uͤber die Auf- rechthaltung der reinen Lehre des praktischen Christenthums. An diese Predigerconferenz laufen nicht allein Briefe aus allen Provinzen Europens , sondern aus allen Welttheilen ein; diese koͤnnen nun unmoͤglich alle an diesem Tage gelesen werden; mam waͤhlt also die wichtigsten heraus, liest sie vor, berathschlagt sich daruͤber, und beantwortet sie hernach. Die Verhandlungen dieses Tages werden zu Papier gebracht, und diese Protokolle theilt man dann den auswaͤrtigen Mitgliedern und Freunden der Bruͤdergemeinde mit. Das Jubilaͤum machte die gegenwaͤrtige Versammlung be- sonders merkwuͤrdig: die beiden Bischoͤffe Reichel und Riß- ler , die noch viele Jahre mit Zinzendorf gearbeitet, und Asien, Afrika und Amerika im Dienst des Herrn bereist hatten, waren gegenwaͤrtig. Der Erste, als der eigentliche Stifter der Anstalt, und der Prediger Baumeister aus Herrenhut , eroͤffneten die Sitzung mit kurzen und salbungs- vollen Reden. Solche Maͤnner muß man gehoͤrt haben, wenn man uͤber religioͤse Beredtsamkeit ein Urtheil faͤllen will. Des Mittags wird die ganze Gesellschaft im Gemeindegasthaus von der Gemeinde an s taͤndig, maͤßig, aber bis zur Saͤttigung bewirthet, und des folgenden Morgens reisen dann die Herren alle wieder ab. Dieß war nun auch unser Fall, wir reisten uͤber Kleinwelke, Ponnewitz, Koͤnigsbruͤck und Hermsdorf nach Dres- den , weil wir von gedachten Orten her von den Standesherr- schaften sehr liebevoll waren eingeladen worden. Wir blieben an jedem Ort uͤber Nacht, und kamen den vierten Juni, Vormit- tags um 9 Uhr, in Dresden an. Hier blieben wir diesen Tag, besuchten unsere Freunde, und setzten dann des folgenden Mor- gens unsern Weg fort. In Wurzen und Leipzig wurde ich durch Staar- und Augenpatienten aufgehalten; eben so auch in Erfurt und Kassel ; hier erfuhr ich nun zu meiner Verwun- derung, daß der Kurfuͤrst von Baden meinen Schwiegersohn Schwarz zum Professor der Theologie nach Heidelberg berufen, und daß er den Beruf angenommen habe. Dazu hatte ich nun nicht das Geringste beigetragen: denn ich hatte mirs zum unverbruͤchlichen Gesetz gemacht, meinen Einfluß, den ich in meinem gegenwaͤrtigen Verhaͤltniß auf den Kurfuͤrsten haben konnte, nie zu irgend einer Empfehlung, und am wenigsten meiner Kinder und Verwandten zu benutzen; indessen war es mir noch unendlich wichtig und anbetungswuͤrdig, daß die guͤtige Vorse- hung meine zwei aͤltesten verheiratheten Kinder mit ihren Familien in meine Naͤhe fuͤhrte, und so anstaͤndig versorgte. In Marburg , wo ich ebenfalls einige Tage bleiben mußte, besuchte mich Schwarz , um mir die Geschichte seiner Vocation zu erzaͤhlen, wobei wir uns dann uͤber die Wichtigkeit seiner Be- stimmung mit großem Ernst unterhielten. Von hier setzten wir nun unsere Reise ohne Aufenthalt bis Heidelberg fort, wo wir am 4. Juli des Abends gesund und nach Leib und Seele gesegnet, ankamen. Bis Weinheim waren uns unsere Mann- heimer und Heidelberger Kinder entgegen gefahren, wo wir dann auch unser Christinchen gesund und genesen antra- fen. Das Alles stimmte nun zum lebhaftesten Dank gegen unsern himmlischen Fuͤhrer. Auf dieser muͤhseligen und gefahrvollen vierteljaͤhrigen Reise hatte uns doch die Vorsehung so gnaͤdig geleitet und bewahrt, daß uns auch nicht der geringste Unfall begegnet war, und wenn ich vollends alle die Wohlthaten und Segnungen erzaͤhlen wollte, die wir genossen hatten, und die erbaulichen Unterredungen und den himmlischen Umgang mit so vielen begnadigten Kindern Got- tes aus allen Staͤnden mittheilen koͤnnte, so wuͤrde es vielen Le- sern zur Erbauung dienen, allein die Bescheidenheit auf meiner Seite, und das leidige Splitter’chen auf der andern, macht es mir zur Pflicht, davon zu schweigen, aber das kann ich versichern, daß uns beiden diese Reise zu unserer Belehrung und Heiligung ausnehmend befoͤrderlich gewesen. Unser Aufenthalt in Heidelberg waͤhrte dießmal nicht lange: der Kurfuͤrst , der noch immer in Schwetzingen war, ließ mich von Zeit zu Zeit in der Hofequipage zur Tafel holen: einst sagte er waͤhrend des Essens: „ Lieber Freund! ich gehe nun bald nach Baden, Sie muͤssen mit mir auf einige Wochen dahin gehen, denn ich habe Sie gern in der Naͤhe .“ Ich antwortete: Eure Kurfuͤrstliche Durchlaucht haben zu befehlen ; im Grund aber erschrack ich, denn woher sollte ich das Geld neh- men, mich einige Wochen in einem solchen stark besuchten Badorte aufzuhalten? Die Reise hatte mir freilich einige hundert Gulden eingetragen, die hatte ich aber noͤthig auf die Zukunft und den Winter; ploͤtzlich faßte ich mich, und mein alter Wahlspruch, der so oft mein Stecken und Stab gewesen war, — „ der Herr wirds versehen !“ — — beruhigte mich. Nach der Tafel nahm mich der Kurfuͤrst mit in sein Kabinet, und gab mir 300 Gulden mit den Worten: „ Das ist fuͤr den Aufenthalt in Baden .“ Meine Beschaͤftigung bestand in meinem starken Briefwechsel, im Schreiben des grauen Mannes und des christli- chen Menschenfreunds , dann auch in Bedienung vieler Staar- und Augenpatienten, die taͤglich kamen und Huͤlfe suchten. Der 24. Julius war nun der Zeitpunkt, an dem ich nach Baden gehen mußte, ich nahm also unsere Freundin Julie , meine Frau, die kleine Christine , und meine Nichte Marie- chen , die uns aufwarten sollte, mit; denn meiner Frau, der Julie und der geschwaͤchten Christine war das Bad sehr heilsam, wir bezogen unser Quartier im Gast- und Badhause zum Salmen , waͤhrend dem unsere Karoline mit den beiden Kleinen, dem Friedrich , der Amalie und den Maͤgden die Haushaltung in Heidelberg fortsetzten. Baden ist eine uralte, zu der Roͤmer Zeiten schon stark be- suchte Badstadt, sie liegt in einem paradiesischen Thal, und ist ein aͤusserst angenehmer Aufenthalt, sie ist sieben Stunden von Karlsruhe , und zwei von Rastadt entfernt; das Thal nimmt seine Richtung von Suͤdosten gegen Nordwesten, und wird von dem Fluͤßchen Ohß durchstroͤmt, das sich besonders durch Holzfloͤßen wichtig macht, den Horizont begraͤnzt das hohe zackichte Gebirge des Schwarzwaldes, an dessen Fuß auf beiden Seiten des Thals fruchtbare, von unten bis oben mit Aeckern, Weinbergen und Gaͤrten besaͤte Huͤgel das Auge ergoͤtzen. An einem dieser Huͤgel gegen Norden haͤngt an der Mittagsseite die Stadt herab, auf der Spitze steht das Schloß, welches vor der Erbauung Rastadts von dem Markgrafen von Baden-Ba- den bewohnt wurde. Durch die weite Oeffnung des Thals gegen Nordwesten sieht man uͤber die paradiesischen Gefilde des Großherzogthums Ba- den und des schwelgenden Elsaß hin, in blauer Ferne die romantischen vogesischen Gebirge, und der majestaͤtische Rhein durchschlaͤngelt dieses weite Thal wie ein breites Silber- band, das man uͤber ein buntes Blumenfeld hinwirft. Wenn im hohen Sommer die Sonne uͤber die Vogesen untergeht, und das Badner Thal bis ans Hochgebirge im Hintergrund beleuchtet, so ist das ein Anblick, der zu den groͤßten Naturschoͤn- heiten gehoͤrt; er muß gesehen werden, beschreiben kann man ihn nicht. Uebrigens ist die Luft hier so balsamisch und rein, daß auch Viele, blos um sie zu athmen, hieher kommen, ohne die Baͤder zu gebrauchen. Daß ich keiner von den gewoͤhnlichen Badgaͤsten war, die nur dahin kommen, um sich einmal im Jahr lustig zu machen (denn dazu hat jede Art des sinnlichen Geschmacks Gelegenheit genug), das werden mir meine Leser wohl auf mein Wort glauben. Ich beschaͤftigte mich so wie zu Haus, mit Briefschreiben, Schriftstellerarbeiten und Augenkuren, versaͤumte aber dabei nicht, taͤglich, wenn es nur die Witterung erlaubte, hinaus in den Garten Gottes zu gehen, um die wandelnde, nicht jedem merkbare Stimme der ewigen Liebe zu hoͤren. Nach und nach sammelte sich auch ein Kreis guter Menschen, in dem es uns wohl war, und die den reinen Naturgenuß mit uns theilten. Hier schrieb ich das erste Taschenbuch von 1805, welches das gaͤnzlich mißlungene Bildniß des Kurfuͤrsten enthaͤlt; dieser hielt sich mehrentheils zwei Stunden von hier, auf der Favo- rite , einem sehr niedlichen Lustschlosse auf, wo ich ihn von Zeit zu Zeit besuchte. Gegen das Ende des Monats August gab es wieder Anlaß zu einer Reise: der alte blinde Pfarrer Faber zu Gais- burg , in der Naͤhe von Stuttgart , wuͤnschte von mir ope- rirt zu werden. — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — Vater Stillings Lebensende, beschrieben von seinem Enkel Wilh. Heinrich El. Schwarz, Dr. der Philos. und jetzigem Stadtpfarrer bei der evang. protestant. Gemeinde zu Mannheim. (Zweite etwas umgeänderte Auflage 1835.) Das Leben des Großherzoglich Badischen Geheimen Hofraths Johann Heinrich Jung , genannt Stilling , Doctors der Arz- neikunde und der Weltweisheit, und mehrerer gelehrten Gesell- schaften Mitglied, so reich gesegnet an mannichfaltiger Wirksam- keit, ist durch dessen eigene Beschreibung schon lange in den Augen eines jeden Glaubigen als ein auffallendes Zeugniß der vaͤterlichen Vorsehung Gottes bekannt. In diesen Blaͤttern wollen wir nur die Hauptzuͤge von seinem am 2. April 1817 erfolgten Lebens- ende mittheilen, um der Welt ein neues Beispiel darzustellen, wie der Christ durch seinen Glauben bis zum Tode Gott verherrliche. Der ehrwuͤrdige Greis, dessen aͤltester Enkel ich mich zu seyn ruͤhme, und in dessen Naͤhe mich gluͤckliche Verhaͤltnisse seit einem Jahre vor seinem Tode fuͤhrten, begann zu Anfang des Jahres 1816 in dem 77. seines Alters, an Abnahme seiner sonst so gesunden und starken Leibeskraͤfte zu erkranken. Mit kummervoller Besorgniß bemerkten Kinder, Kindeskinder, Freunde und Verehrer die fortschreitende Entkraͤftung des gelieb- ten Vaters Stilling, und fern und nah stieg manches Gebet um laͤngere Erhaltung seines Lebens zum Himmel empor. Gott hat es nach seiner Weisheis erhoͤrt, denn der ließ ihn noch auf laͤn- gere Zeit zum Segen zuruͤck, als wir nach damaligen Umstaͤnden erwarten durften. Eine Erholungsreise zu seinen Kindern nach Heidelberg und der dortigen Gegend, und spaͤter im Sommer eine gleiche nach Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 41 Baden und zu seinen Kindern nach Rastadt , schienen seine Natur wiederum zu staͤhlen; und wirklich konnte er im Verlaufe des vorigen Sommers noch 17 Blinden das Gesicht wieder ge- ben; da er aber bei seiner Mattigkeit mit schmerzhaftem Ma- genkrampf unaufhoͤrlich belastet war und dazu an Seitenschmer- zen litt, — welche er selbst einem fruͤheren Falle aus der Kutsche, und einem dadurch entstandenen organischen Fehler zuschrieb, — mußte er seit Anfang des Winters 1816 — 1817 gaͤnzlich das Bett huͤten. Ohnerachtet der staͤrkendsten Mittel, die zu seiner Schmerzenlinderung angewendet wurden, schwanden mehr und mehr seine Kraͤfte. Von dieser Zeit an war es ihm nicht mehr moͤglich, seinen Briefwechsel fortzusetzen, nur die wichtigsten Briefe ließ er durch die Seinigen beantworten; und als ihm auch das Diktiren in seiner Kraͤnklichkeit zu schwer wurde, konnten keine Antworten mehr erfolgen. Doch war dieß nicht das Einzige, was ihn betruͤbte, wohl uͤberzeugt von der Nachsicht derer, die sich schriftlich an ihn ge- wendet hatten, sondern er mußte auch sehen, daß mit ihm zu gleicher Zeit seine schon von vielen Jahren her an Halskraͤmpfen fortwaͤhrend leidende Gattin von heftigen Brustschmerzen und Lungengeschwuͤren befallen wurde. Mit der freudigsten Ergebung in den Willen der goͤttlichen Vorsehung duldete das ehrwuͤrdige Ehepaar; und der Anblick seiner schmerzvollen Leiden war fuͤr Kinder und Freunde herzzerreißend, aber ihr Beispiel erhebend. Zuweilen schienen Vater Stillings Lebenskraͤfte sich zu erneuern, dann suchte er seine Hauptarbeiten fortzufuͤhren; je- doch unterlag seine Hand bald der Leibesschwaͤche. In diesen kraͤftigeren Stunden war es, wo er sein Alter zu schreiben anfing, und es so weit fuͤr den Druck ausfertigen konnte, als es voran stehet. Mehreres zu schreiben, ließen ihm seine Kraͤfte nicht zu, und die Fortsetzung schreiben zu lassen , untersagte er. Auch ist dasjenige, was er hier von seinem Alter erzaͤhlt, hinreichend, um seine letzte aͤußere Lage kennen zu lernen, und zugleich die Geisteskraft zu bewundern, welche stets auf dem Krankenbette seine Begleiterin blieb, und seine Seele noch in den letzten Athem- zuͤgen zum Himmel trug. Und das Wenige, was wir hier von seinem weitern Fortleben melden, soll nicht als Fortsetzung sei- ner Lebensgeschichte betrachtet seyn, sondern als ein Zeugniß fuͤr die Wahrheit des christlichen Glaubens, und dabei als Gewaͤhr- leistung der Wuͤnsche vieler Freunde, welche Kenntniß seiner letzten Stunde begehren. Mit Freude, sagte er zu Anfang des Winters, als er das letzte Heft seiner biblischen Erzaͤhlungen und sein Schatzkaͤstlein aus der Druckerey erhielt: „ Nun habe ich doch meine biblische Geschichte noch vollendet !“ Gegen Weih- nachten hin nahm die Schwaͤche des verehrten Vaters und die Krankheit seiner theuern Gattin bis zu dem Grade zu, daß wir fuͤr Beide nicht mehr lange hoffen konnten. Auch entledigten sich Beide aller irdischen Sorgen, welche sie fuͤr ihre Hinterlassene noch auf dem Herzen hatten, und waren zur Heimreise geschickt. Indessen wollte uns der Himmel ihre Gegenwart noch einige Monate goͤnnen, denn zu Anfang des neuen Jahres 1817 kamen sie wieder zu mehr Kraͤften, so daß sie zuweilen außer Bett eine Zeitlang zu bleiben vermochten. Zuvor hatte der ehrwuͤrdige Greis oft zu seiner fuͤr ihn noch auf dem Sterbebette besorgten Gattin gesagt: „ Es ist mir „einerlei, wie es kommt, fortwirken oder nicht, ich „bin auf alles gefaßt .“ Ja, diese gaͤnzliche Ergebung in den Willen seines himmlischen Vaters, zeigte er fortwaͤhrend, und rief darum auch einmal in einem durch seinen heftigen Ma- genkrampf veranlaßten Schmerz: „ Gott hat mich von Ju- „gend auf mit besonderer Vorsehung geleitet, ich „will nicht unzufrieden seyn, sondern Ihn auch „in meinem Leiden verherrlichen !“ Dabei war die Beschaͤftigung seiner Gedanken die ganze Zeit seiner Bettlaͤgerigkeit auf die Gegenstaͤnde des Reiches Gottes ge- richtet, von diesen unterhielt er sich am liebsten mit seiner Gat- tin und seinen Kindern und Freunden, und darum las er mit unbeschreiblichem Wohlgefallen die Schriften von Kanne „Le- ben und aus dem Leben erweckter Christen;“ — und von Schu- bert „Altes und Neues aus der hoͤhern Seelenkunde,“ und sagte einmal: „ Diese Maͤnner sind von der Vorse- „hung zu tuͤchtigen Werkzeugen in diesem Jahr- 41 * „hunderte auserkohren !“ Und als er Blumhards Magazin fuͤr die neueste Geschichte der protestantischen Missions- Bibel-Gesellschaften, Basel 1817, durchlesen hatte, und wir uns von dem schoͤnen Fortgang des Reichs Gottes in der neuern Zeit unterhielten, so sagte er: „ Siehe, l. S., das ist jetzt „in meinem Alter meine Freude und Erholung, „wenn ich so da liege, und hoͤre von der weitern „Ausbreitung des Christenthums .“ Mit dieser Beschaͤftigung, mit dem Lesen anderer christlicher Buͤcher, und der Erbauung aus der heiligen Schrift die immer neben ihm lag — und aus geistlichen Liedern, brachte er seine Zeit dahin, die ihm auch, wie er sagte, nie lang wurde. Nur zuweilen ließen seine Kraͤfte ihm zu, sich mit uns zu unterhalten, und kamen Freunde, die ihn sprechen wollten, zu einem solchen guͤnstigen Augenblicke, so konnte er ihrem Wunsche Gehoͤr geben. Alsdann gab er immer dieselbe muntere Unter- haltung, die ihn im gesellschaftlichen Leben jederzeit so lie- benswuͤrdig gemacht hatte. In solchen Stunden sprach er gerne von seinem Jugendleben, und erzaͤhlte einer Freundin oͤfters mit besonderer Freude von seinen Verwandten in den niederrheini- schen Gegenden. Wenn man ihm aber die Freude uͤber sein bes- seres Ergehen aͤußerte, so wollte er das nicht hoͤren; und als ihm einmal eine junge Freundin sagte, sie hoffe, daß die schoͤ- nere Fruͤhlingszeit ihm wieder neue Lebenskraͤfte zufuͤhren werde, entgegnete er: „ Ach, sagen Sie mir so Etwas nicht, „denn ich will nicht, daß sich meine Freunde taͤu- schen !“ — Und dem Arzte aͤußerte er oft, wie er sein Ende herannahen fuͤhle. Seine Aufheiterung war wie immer, Gesang und Spiel, und waͤhrend die jungen Freunde nach seinem Gefuͤhle sangen, ent- rollten ihm Wonnethraͤnen. Da er seit einigen Wochen nicht mehr in einem Zimmer mit seiner leidenden Gattin liegen konnte, weil ihre Krankheiten entgegengesetzte Temperatur erforderten, besuchte er dieselbe taͤglich eine Zeit lang, und dann wurde er an der Duldenden Bett geleitet, oder zuletzt auf einem Arm- stuhle gerollt: — und hier war es eine Freude, ihre erbaulichen Gespraͤche anzuhoͤren. Wie er von Jugend auf durch seinen Wandel und seinen zahl- reichen Schriften bei der erstaunenswerthen Belesenheit und Kenntniß, welche er in allen Faͤchern und Gegenstaͤnden mit so vieler Anstrengung sich erworben hatte, jederzeit bewiesen, was der Apostel Paulus sagt, daß naͤmlich die Erkenntniß Jesu Christi alles andere Wissen uͤbertreffe, so bestaͤtigte er dieß, als wir un- ter einander von der Wirksamkeit seiner Schriften redeten, und er uns sagte: „ Ja, alle Kenntnisse, Faͤhigkeit zum „Schreiben, Ansehen und dergleichen, hat man „blos durch Umstaͤnde nach dem Willen Gottes er- „halten, und nach ihnen wird kein Mensch gefragt „und gerichtet, wenn er vor den Thron Gottes „kommt. Aber die Anwendung und das bischen „Demuth und Glauben, was man hat, das ist es, „was einem die Gnade Gottes zum Verdienst an- „rechnen will .“ Auch aͤußerte er gelegentlich seinem juͤng- sten Sohne: Es thue ihm leid, daß er in seinem Leben nicht mehr Zeit auf Zeichnen und Handarbeiten angewendet habe. Aber auch in dergleichen Dingen besaß er besondere Geschicklichkeit. Der Aeußerungen, die seine Thaͤtigkeitsliebe und den Glau- ben an Jesum Christum bezweckten, koͤnnten wir viele anfuͤh- ren, wenn wir nicht zu weitlaͤufig wuͤrden. Auch ist es Allen bekannt, daß der ehrwuͤrdige Vater Stilling im Leben und in Schriften nur den Erloͤser prieß und verherrlichte, und als ein ausgezeichnetes Werkzeug der goͤttlichen Gnade in der Zeit der unglaͤubigen Aufklaͤrung neben manchen andern tuͤchtigen Maͤn- nern zur großen Stuͤtze der Kirche auserkohren war. Immer war seine Gesellschaft zur Aufheiterung, Belehrung und Erbau- ung, und solche blieb sie bis zu seiner Abschiedsstunde. Als indessen die Fruͤhlingszeit nahete, nahmen auch die Krank- heitsumstaͤnde des ehrwuͤrdigen Ehepaares zu. Aber beide, willig in dem Vertrauen zum Herrn, suchten mit großer Selbstverlaͤug- nung den Ihrigen ihre Leiden und Abnahme zu verbergen. Jedoch bemerkten wir die Annaͤherung der traurigen Zeit, die bald er- folgte. Nachdem seiner treuen Hausfrau Lungengeschwuͤre trotz aller angewendeten Mittel zum voͤlligen Ausbruch gekommen waren, und Beengung und Schwaͤchung zum hoͤchsten Grade zugenommen hatten, entschlief sie den 22. Maͤrz d. J. sanft und selig in dem Herrn. Zwei Tage zuvor hatte der ehrwuͤrdige Greis, als Arzt ihr nahes Ende wohl merkend, nachdem er ihr einige schoͤne Verse aus Gellerts Liedern, und aus Paul Gerhards: „Befiehl du deine Wege“ u. s. w., vorgesprochen, mit den Wor- ten von ihr Abschied genommen: — „ Der Herr segne „dich, du leidender Engel! — der Herr sey mit dir !“ Und als er ihr Absterben vernahm, faltete er in Ruhe die Haͤnde, hob seinen Blick gen Himmel, seufte und dankte: „Gottlob sie hat vollendet!“ Seitdem lebte er auch schon mehr in jener Welt, er war lieber wie vorher sich selbst uͤberlassen, wohl fuͤhlend, daß das Verscheiden seiner Gattin auch fuͤr ihn der erste Uebergangsschritt sey. Darum sagte er uns, als wir bei ihm um die Entschlafene trauerten: „ Sehet, das kann „mir nicht so leid seyn, als Euch, da ich hoffe, sie „bald wieder zu sehen !“ Und was er vor vielen Jahren den 19. Nov. 1790 in dem von ihm auf seine dritte Hochzeit gedichteten Liede gebetet, und was beide geahndet hatten, naͤm- lich jene Worte: „Vater, und am Ziel der Reise, Führ’ uns Beide Hand in Hand Auf, zum höhern Wirkungskreise, Heim ins Vaterland!“ — das wurde wahr. Seine Entkraͤftung wuchs, wenn gleich sein Geist immer leben- dig blieb wie der eines Juͤnglings, nach seiner eigenen Aussage, und wie der lebhafte Blick seines Auges, der sich bis in die letz- ten Athemzuͤge offen und heiter erhielt, bezeugte. Darum ver- mochte er einige Tage vor seinem Ende noch der edlen Tochter einer erhabenen Freundin, auf ihren Wunsch, einige Staͤrkungs- worte fuͤr deren nahe Confirmation zu geben, und mit ihrem erhabenen Sohne und edlen Schwester kurze Unterredungen zu pflegen. Auch redete er mit Bekannten uͤber dieses und jenes, und so sagte er einmal zu einem alten Freunde und zu seiner zweiten Tochter unter andern: „ Hoͤrt, ich muß Euch et- „was sehr Wichtiges sagen, was zur Seelenkunde „gehoͤrt: Naͤmlich, ich habe ganz das Gefuͤhl, als „wenn ich ein doppeltes Ich haͤtte, ein geistiges „und ein leibliches. Das geistige Ich schwebt „uͤber dem thierischen. Beide sind in dem Men- „schen im Kampfe, und nur durch Abtoͤdtung alles „sinnlichen Begehrens kann man dahin kommen, „daß es nicht mehr zusammenhaͤngt. Aber durch „eigene Kraft nicht, sondern durch Selbstverlaͤug- „nung mit dem Beistande Gottes .“ Jede andere Unterhaltung, als die von Gott und dessen Heils- anstalten, war ihm laͤstig, und deßhalb sagte er: „ Er habe „seit seinem Krankenlager noch keinen Augen- „blick lange Weile gehabt; aber seit dem Tode „seiner Frau werde ihm die Zeit lange .“ Denn die Vollendete war ihm zur unentbehrlichen Lebensgefaͤhrtin und Seelenfreundin geworden durch ihre aufopfernde Liebe und Sorgfalt fuͤr ihn, wie durch ihre Theilnahme auch an dem Ge- ringsten, was ihn betraf. Sie war voll Zaͤrtlichkeit auch gegen ihre zugebrachten Kinder, und uͤberhaupt ein Muster von Men- schenfreundlichkeit und Milde, von Selbstverlaͤugnung und Demuth und ihm deßhalb so unendlich viel werth. Darum sehnte er sich desto mehr daheim zu seyn, aller irdischen Gedanken und Sorgen enthoben. Taͤglich wuchs seine Mattigkeit, und da er seit einem halben Jahre vor jeder substantioͤsen Speise einen unuͤberwindlichen Widerwillen bekommen, den auch die geschicktesten aͤrztlichen Bemuͤhungen und alle Sorgfalt der Freunde nicht zu benehmen vermochten, und da das Wasser in der Brust anschwoll, so war es voraus zu sehen, daß der theure Mann nur noch einige Tage als lebendiges Vorbild unter uns verweilen werde. In diesen Lagen sagte er zu einer Freundin: „ Jetzt geht es bald !“ Und als sie erwiederte: „Ach! was sind Sie gluͤcklich, daß Sie dieß sagen koͤnnen,“ antwortete er ihr freundlich: „ Nun das „freut mich, daß Sie das erkennen !“ Als wir sein nahes Ende erfuhren, ermannten wir uns in dem Schmerze, und suchten noch jeden Augenblick seiner Gegen- wart zur Erbauung und Staͤrkung im Glauben zu benutzen. Denn hatte seine Umgebung je diesen segensreichen Einfluß, so war es auf dem Sterbebette, wo er mit der bewundernswerthe- sten Besonnenheit und Ruhe den Augenblick des Uebergangs er- wartete, den er vielleicht auf die Stunde voraus merkte, und wo er durch seine kindliche Hingebung in Gottes Fuͤgung mitten in dem Todeskampfe als ein rechter Glaubensheld Christum ver- herrlichte, der ihn dafuͤr staͤrkte und sodann verklaͤrte. Sein Lebensende war ein sichtbarer Beweis fuͤr die Wahrheit des christ- lichen Glaubens, denn bei der Geisteskraft und allem dem Be- wußtseyn, welches der Selige bis zum letzten Athemzuge nebst allem Gedaͤchtnisse bewahrte, und bei der Ernsthaftigkeit, mit welcher er selbst, dieser weit Gefoͤrderte, die nahe Abforderung sich darstellte, mit der Ruhe und Heiterkeit, welche darauf folgte und sein wuͤrdevolles Antlitz umleuchtete, kann kein bloßer Deist oder Rationalist, kann nur ein Christ hinscheiden. Die Ehre seines Lebens und seiner Lehren, und die Sache des Reiches Gottes fordert mich darum auf, seine letzten Tage mit den wich- tigsten Aeußerungen, welche er nach dem Zeugnisse aller Anwe- senden und des verehrten Arztes bei voͤlligem Bewußtseyn ge- than, oͤffentlich vor aller Welt auszusprechen, damit man Gott die Ehre gebe. Als er sein Absterben nicht mehr ferne sah, verlangte er alle seine Kinder zu sich, welche auch ihre Geschaͤfte so eintheilen konnten, daß ihnen diese letzte Freude vergoͤnnt war; jedoch aͤngstigte ihn der Gedanke, sie moͤchten ihr Amt um seinetwil- len vergessen, und darum sagte er ihnen, als er sie laͤnger wie gewoͤhnlich bei sich verweilen sah: „ Ja es wird Euch zu „lange; Ihr versaͤumt zuviel, geht Eurem Berufe „nach !“ Denn so gern er sie um sich hatte, konnte er nicht lei- den, wenn es schiene, man vernachlaͤßige seine Berufsgeschaͤfte; nachdem sie ihn daruͤber beruhigt hatten, ließ er zu, daß bestaͤn- dig eines von seinen Kindern bei ihm am Bette saß. Vorher naͤmlich brauchte er immer eine Schelle, um die in dem Vor- zimmer zur Bedienung aufmerkenden Seinigen zu rufen, indem er gerne allein blieb, auch sprach er mit einem Jeden von Din- gen, welche ihm um deßwillen noch an dem Herzen lagen. Daß ihm, der sich nach jener Behausung, die im Himmel ist, sehnte, die Zeit in den oͤfteren Anfaͤllen der Krankheit seit den letzten zwei Tagen lange wurde, beweist sein oͤfteres Fragen nach der Uhr. In der Nacht schon vom Palmsonntag auf den Montag sprach er seinem juͤngsten Sohne, der gerade bei ihm wachte, viel von seinem nahen Tode, das er zuvor nie gethan, und schon damals sein Ende naͤher glaubend, sagte er ihm gegen Tagesanbruch: „ Jetzt rufe deine Geschwister zusammen !“ Jedoch kam er wieder zu mehreren Kraͤften, und, was er noch den Tag vor seinem Sterben that, er ließ sich ein Pfeifchen stopfen. Es machte ihm aber das Wasser in der Brust viel zu schaffen, nachdem sich schon einige Wochen zuvor seine Seitenschmerzen des Magenkrampfes verloren hatten; darum mußte er schwer und laut athmen und stoͤhnen, und oͤfters husten, was alles an dem vorletzten Tage verging. Er sprach sehr wenig, nur ab- gebrochene Saͤtze, aber immer mit voͤlligem Bewußtseyn; auch schlief er wenig, wenn gleich er oft die Augen zuschloß, denn alsbald oͤffnete er sie, so wie sich Jemand bewegte, oder die Thuͤre ging. An diesem Tage und fruͤher, und noch am folgenden mag er sich viel mit Beweisen, Einwuͤrfen, Gegenbeweisen und Wider- legen, fuͤr die Lehre der Unsterblichkeit und des christlichen Glau- bens in Gedanken beschaͤftigt haben, das schien aus seiner Unruhe im Schlafen und Wachen, und aus den abgebrochenen Worten und Saͤtzen, welche er deßhalb aussprach, hervor zu leuchten. Denn, wie man auch vom heiligen Martinus sagt, sah er im- mer im Traume neben sich einen schwarzen Mann, der ihn quaͤlte, und der seinen regen Geist beschaͤftigte und beunruhigte, gleichsam scheinend, als wollten boͤse Geister ihn noch auf dem Sterbebette aͤngstigen oder gar von dem Glauben abwendig machen. Denn schlafend sagte er: „ Sagt mir doch, liebe Kin- „der, wer ist der schwarze Mann da, der mich im- „mer quaͤlt? Seht Ihr ihn denn nicht ?“ Einige Tage zuvor hatte er, wie er des andern Tags seinen Toͤchtern erzaͤhlte, getraͤumt: Der schwarze Mann spreche zu ihm: komme mit ! Er aber habe geantwortet: „ Nein ich will nicht, gehe weg !“ allein diese Anfechtungen waren alle am vorletz- ten Tage uͤberwunden, und seine Unruhe in große Ruhe und Feierlichkeit uͤbergegangen. Auch erklaͤrte er sich hieruͤber seiner dritten Tochter mit den Worten: „ Ich glaube, ich habe „den Todeskampf ausgekaͤmpft, denn ich fuͤhle „mich so allein, gleichwie in einer Eindde; — „und doch innerlich so wohl .“ Als sie indessen meinte, er habe nicht ferner mit dem Tode zu ringen — und sie ihn daruͤber befragte, erwiederte er: „ Nein, es ist noch man- „ches Proͤbchen zu bestehen .“ Und daß der Christ weder mit Leichtsinn, noch mit Vermessenheit dem nahen Tode ins Auge blickt, erkennt man aus seinen Aeußerungen, welche er deßhalb seiner zweiten Tochter gab, als sie an einem dieser Tage mit ihm sich vom Tode unterhielt, und er sagte: „ Es ist „eine wichtige Sache um das Sterben, und keine „Kleinigkeit .“ Und ein anderes Mal: „ Es ist eine „wunderbare Sache um die Zukunft !“ Woraus zu ersehen ist, wie auch dem Manne, der auf alle Seiten hin fuͤr die Ehre des Hoͤchsten mit allen seinen Kraͤften in der Welt ge- wirkt hatte, und dem die Zukunft mit den schoͤnsten Farben sich darstellen konnte, wie auch ihm der Uebergang in jenes Leben und die baldige Rechenschaft hoͤchst ernst und wichtig vorkam. Da er sein ganzes Leben hindurch im Schlafe laut gesprochen, war dieß auch jetzt noch der Fall, und da er einige Male da- zwischen aufwachte, fragte er seine zweite Tochter: „ Nicht „wahr, seitdem meine Frau todt ist, bin ich nicht zu Hause, ich rede ungereimte Sachen im Schlafe ?“ — Als sie ihm entgegnete: nein, im Gegentheil, was er rede sey nur erbaulich, so sagte er: „ Ja, das ist eine rechte Gnade „Gottes !“ Die Besorgniß, im schlummernden Zustande etwas Ungeziemendes zu sagen, aͤußerte er mehrmals, denn er wollte nur zur Ehre des Herrn reden und ausharren. So hoͤrte ich ihn im Schlafe nur gottesfuͤrchtige Aeußerungen thun, als: „ Gott hat mich mit unaussprechlicher Huld ge- „leitet! — Der Herr segne Sie !“ und — „ Ja, „man muß erst genau nachsehen, wie es gemeint „ist, ehe man in Irrthum uͤbergeht !“ und dergleichen. Mit zunehmender Schwaͤche ließ auch das oͤftere Sprechen im Schlafe nach, und wachend redete er weniger durch Worte als durch freundliche Blicke. Wenn er sah, wie sich Alle beeifer- ten, ihn zu bedienen, sagte er mehrmals: „ Ihr lieben En- „gel, ich mache Euch so viele Muͤhe !“ So sagte er auch: „ Ach ihr Kinder, ich bin so geruͤhrt durch „Eure beispiellose Liebe! uͤbrigens wuͤnschte ich „um Euertwillen, daß ich nicht im Paroxismus „stuͤrbe !“ — Naͤmlich oͤfters wiederholte sich ein heftiger An- fall seiner Uebelkeit, der durch das Wasser in der Brust veran- laßt wurde, weil seine Krankheit in voͤllige Brustwassersucht uͤber- gegangen war; und darum sagte er uns einige Male: „ Es „ist doch etwas Trauriges, wenn man ersticken „muß; aber es soll ja seyn !“ An seinem Bette, das in seiner Arbeitsstube stand, aus welcher so viel Segen fuͤr die Welt ausging, und welche durch erhabene Gemaͤlde, Kupferstiche und Denkmaͤler geschmuͤckt, einem Heiligthume glich, hatte er fort- waͤhrend schoͤne Blumen in Toͤpfen stehen. Auf diesen und auf dem gegen ihn an der Wand haͤngenden Kupferstiche der Madonna nach Raphael von Muͤller, weilten besonders gerne seine Blicke. So sagte er seinem juͤngsten Sohne, der ihm die Blumenstoͤcke besorgte, im Gespraͤch: „ Siehe l. S. die schoͤnen Blumen (es waren Hyacinthen, Narcissen und Veilchen), „ und darum „herum die schoͤnen Kinderkoͤpfe !“ In der Nacht vom letzten Maͤrz auf den ersten April, sprach er noch mancherlei mit mir von meinen lieben Eltern und Geschwistern in Heidel- berg, und von andern Dingen, und von meinem geistlichen Amte. Sodann begehrte er ein Glas frisches Wasser, was er mit beson- derer Lust trank, wie denn uͤberhaupt sein trockener Gaumen mehr und mehr nach labenden Getraͤnken lechzte; und diesen Trunk ruͤhmte er des andern Tages seinen beiden juͤngsten Toͤch- tern, sagend: „ Es kann sich Niemand den Wohlge- „schmack vorstellen, den ich heute Nacht hatte, „als ich ein Glas frisches Wasser trank; wenn „die Natur wieder in ihren reinen Zustand zu- „ruͤckkehrt, und Wasser und Wein genießt, so ist „das das Beste, wenn es der Krampf erlaubt .“ Und darum sagte er bald darauf: „ Die einfachsten Spei- „sen sind fuͤr den Menschen in der ersten und letz- „ten Zeit noͤthig; Wasser und Milch ist der An- „fang und das Ende .“ Gegen Tagesanbruch rief er seinem juͤngsten Sohne, er solle ihm ein Pfeifchen stopfen, was ihm behaglich schmeckte. An demselben Morgen des ersten Aprils, als seine Kinder bei ihm waren, und mit uns noch einer meiner Bruͤder, den er des Abends vorher nach dessen Ankunft um das Wohlergehen der Seinigen befragt hatte, ermahnte er uns also: „ Liebe Kin- „der, befleißigt Euch der wahren Gottesfurcht! „da meint man als, es sey gethan, wenn man nur „in die Kirche und zum heiligen Nachtmahl blos „gehe; aber die gaͤnzliche Ergebung in den Wil- „len Gottes, bestaͤndiger Umgang mit ihm, und „Gebet, das ist es !“ Als darauf seine zweite Tochter ihn bat, im Himmel mit seiner verklaͤrten Gattin Fuͤrbitte fuͤr die Seinigen einzulegen, antwortete er in seiner einfachen Art: „ Ja, da muß man „erst sehen, wie es jenseits der Gebrauch ist, dann „bitten wir fuͤr Euch !“ Darauf betete er jenen Vers aus dem Hallischen Gesang- buche, Lied 11, 22. „Ich rühme mich einzig der blutenden Wunden, „Die Jesus an Händen und Füßen empfunden. „Drein will ich mich wickeln recht christlich zu leben, „Daß einst ich Himmelan fröhlich kann streben!“ Und als er hoͤrte, daß seine dritte Tochter ihre Schwester fragte, wo diese Worte stuͤnden, gab er die neben ihm liegende Hallische Sammlung geistlicher Lieder seiner zweiten Tochter, ließ sie einige der schoͤnsten Lieder aufschlagen und zeichnen, und be- fahl an, solche ihre Kinder im Institute im Choral gut singen lernen zu lassen, und sagte: „Lernt brav Verse und Spruͤche auswendig, man kann sie brauchen!“ Zugleich empfahl er ihr, die Kirchenlieder immer nur in der aͤchten einfachen Kirchenme- lodie, ohne Kuͤnstelei, singen zu lassen. Denn er liebte auch im Kirchlichen das Einfache, Erhabene. Darauf sagte er ihr, als von gewissen Freunden die Rede war: „Schreibe den Lieben, „ich haͤtte mich viel in den letzten Tagen mit ihnen beschaͤftigt, „ich haͤtte sie lieb, und wir wuͤrden einmal Stoff genug zum „Gespraͤche finden.“ Von denselbigen sagte er auch hernach: „Sie sind vom Herrn geliebt.“ An diesem Dienstage, den ersten April, kamen viele Freunde, um ihn nochmals zu sehen, den ehrwuͤrdigen Greis, wie er da lag mit aller Glaubenskraft, und freudig und feierlich duldete. Und ein jedes Herz ward durch diesen Anblick zum Himmel er- hoben, und der Wunsch, einstmals eines gleichen Christentodes zu sterben, erzeugte manche neue edle Entschluͤsse des thaͤtigen Lebens zur Verherrlichung Gottes auf Erden. Und wenn dann Vater Stilling seine Freunde zur halboffenen Thuͤre, die seinem Auge gerade gegenuͤber stand, herein schauen oder kommen sah, bewies er ihnen seine Liebe durch freundliches Zunicken, und genoß er gerade eines kraͤftigeren Augenblickes, so sagte er diesem und jenem einige Worte. Dabei verließ ihn nie sein munterer Sinn, der alle Menschen zu ihm von jeher hingerissen hatte. Als eine Freundin durch die Thuͤre sah, und er es bemerkte, sagte er scherzhaft: „ Fr. v. R. guckt durch „das Schluͤsselloch .“ Eine andere Freundin kam gegen Mittag, und dankend fuͤr die Bekanntschaft, welche sie nebst den andern durch Gottes Gnade mit ihm gemacht habe, sprach sie von dem herrlichen reinen Gemuͤthe, das ihm der Herr gegeben habe, worauf er erwiederte: „ O, Sie muͤssen nicht loben !“ Derselben erzaͤhlte er nachher, indem er den Zeitraum seines gan- zen Lebens, der, wie er selbst sagte, lange waͤre, aber ihm wie ein Traum vorkaͤme, uͤberdachte: „Da habe ich einmal in mei- „ner Jugend eine kleine Floͤte gehabt, die fiel mir auf den Bo- „den und zerbrach, und da weinte ich zwei Tage lang; und „sie kostete nur zwoͤlf Kreuzer, aber damals war das Geld rar,“ und fuhr dann fort: „Sagt, was haben nun eigentlich die Re- „censenten gegen mich ausrichten koͤnnen? Sie haben schreiben „moͤgen, was sie wollten, so hat’s nichts geholfen!“ Um diese Zeit ließ er mich rufen und fragte: „Sage, wie wird denn das Jubilaͤum des Reformationsfestes dieses Jahr gefeiert?“ Als ich ihm in der Ueberzeugung, daß man keine Feierlichkeit zu die- sem wichtigen Feste versaͤumen, und daß es in manchen Laͤn- dern gewiß nicht in Vergessenheit gerathen werde, antwortete er: Ja, ich habe davon gehoͤrt, ja wohl; so war er in dieser An- gelegenheit beruhigt. In der Mittagszeit wollte er sich wieder mehr selbst uͤberlas- sen bleiben, und sprach wenig oder nichts, auch war seine Be- aͤngstigung schon damals voruͤber, und die heitere Ruhe glaͤnzte aus seinen großen geistvollen Augen. Die Uhren, welche neben ihm hingen, hatte er bis an diesen Tag selbst aufgezogen, auch seine Ringe in der Schublade des neben ihm stehenden Tischchens, und dergleichen Dinge, nachge- zaͤhlt, und seine Ordnungsliebe, die ihm zu seinen zahlreichen Geschaͤften stets so foͤrderlich gewesen war, verließ ihn nicht bis zu den letzten Augenblicken, wo er noch darauf bedacht war, die Getraͤnke und Arzneien, die er immer selbst begehrte, und oͤfters abschlug, wenn man sie ihm fruͤher darreichte, mit An- stand zu nehmen. Auch ließ er noch zuvor abgewelkte Blumen mit frischen vertauschen, die er alle bei Namen zu nennen wußte, und auf sein Tischchen stellen. Nachmittags begehrte er wieder ein Pfeifchen zu rauchen und war heiter und ruhig. Da ihm seine Lippen geschwollen waren, bat er sich eine glaͤserne Roͤhre zum Trinken aus, und gab an, wo wir sie, da sie zu lang war, abnehmen sollten; damit war er mit dieser Art zu Trinken sehr zufrieden, und sagte scherzhaft: „Bei der glaͤsernen Roͤhre mer- „ken auch die Douanen im Halse nichts vom Trinken.“ Gegen Abend schlummerte er wieder mehr, weßhalb auch we- niger Freunde den Wunsch, ihn, den Verehrten, nochmals zu sehen, befriedigen konnten, weil ihn das oͤftere Bewegen an der Thuͤre stoͤrte. Als er einmal erwachte, sagte er zu seinen anwesenden Toͤch- tern: „ Immer meine ich, es waͤre Morgen. Nun jenseits wird es sich wohl aufklaͤren .“ Wie seine zweite Tochter ihm einen Blumenstrauß von ihren Zoͤglingen, die er alle unaussprechlich liebte, mitbrachte mit den Worten: L. V. diese Blumen schicken Ihnen die Kinder, erwie- derte er mit seinem herzlichen Tone: „Die lieben Kinder! Sie „sind auch wie die zarten Blumen, die sich willig entfalten, „und der Sonne stille halten!“ Gegen sechs Uhr klagte er seinem freundschaftlichen Arzte von selbst alle seine Umstaͤnde, und fing noch ein Gespraͤch uͤber die Guͤte des Trinkwassers von dem Herrnbrunnen in Baden-Baden mit demselben an. Bald darauf langte, den ehrwuͤrdigen Vater nochmals zu sehen, sein aͤltester Sohn von Rastadt an, den er wegen des Paroxismus nicht gleich empfangen konnte, aber dem er nachher zurief: „ Jetzt kannst du kommen !“ Und als derselbe von der Vollendung der verklaͤrten Mutter redete, erwie- derte er: „Ja siehe, davon kann man nicht so reden; sie hat „ausgelitten; und ich muß entweder noch fortwirken oder fort- „leiden!“ Von einem Freunde, welcher Tags zuvor ihn noch sahe, redete er mit vieler Ehrfurcht und Liebe, und sagte: „Ich „habe oͤfters Gelegenheit gehabt, ihn zu sehen; da hab ich viel „von theosophischen Gegenstaͤnden, deren ganzes Reich er durch- „forscht hat, mit ihm gesprochen, und da lernte ich sein Herz kennen!“ Spaͤter sagte ich ihm, diese Maibluͤmchen (die auf seinem Tischchen standen) sind doch gar zu schoͤn; worauf er in seinem muntern Sinne erwiederte: „Mir ist nichts zu schoͤn;“ und als seine zweite Tochter darnach zu ihm sagte: Ja, L. V. Sie werden bald noch ganz andere Schoͤnheiten zu sehen kriegen! entgegnete er: „Das kann man nicht wissen, nur fuͤhlen!“ Weiterhin sprach er: „Ich habe Euch alle so lieb, und doch „wird mir die Trennung so leicht!“ Als ihm sein aͤltester Sohn erwiederte: Das macht, weil Sie den Herrn so lieb haben, antwortete er: „ Ja, das ist es !“ Zu demselben sagte er spaͤter: „In deinem Glauben bleibe, der hat mich nie irre ge- „fuͤhrt, der wird auch dich treu leiten; und da wollen wir Alle „anhalten!“ Dann sagte er: „Bleibt nur in der Liebe, Ihr „lieben Engel!“ Und als ihm seine dritte Tochter entgegnete: Sie sind unser Engel, L. V., antwortete er: „Wir wollen es „uns gegenseitig seyn!“ Waͤhrend dem nahte die Nachtzeit, und er legte sich mehrmals, um zu schlafen; — uͤberhaupt war sein ganzes Wesen ruhig. Sobald er erwachte und Veranlassung und Kraft zum Reden fand, that er es. — So sagte er ein- mal: „Wenn unser Erloͤser das nur zu trinken gehabt haͤtte, „was ich habe, dann waͤre es noch gut fuͤr ihn gewesen: aber „da haben sie ihm Essig gegeben, die Zunge herausgestreckt, ihn „verhoͤhnt, und er sprach: Vater! verzeih ihnen, sie wissen „nicht, was sie thun; das war das groͤßte Gebet, was je aus- „gesprochen worden.“ Und darauf betete er: „Vater, wenn „es dein heiliger Wille ist, daß ich noch ferner hier bleibe, so „gib mir auch Kraft, und ich will gern noch wirken und dulden!“ Nachher sagte seine dritte Tochter: Ach, was muͤssen Sie da so schlecht liegen; darauf erwiederte er: „Sag nur das doch „nicht immer; unser Herr lag noch ganz anders da!“ Spaͤ- terhin, uns Alle um sich bemerkend, unsere traurenden Blicke auf ihn geheftet, sagte er: „Wenn Ihr mit mir sprechen wollt, so thut es doch!“ Als man ihm das Nachtlicht, das er sich gewoͤhnlich um die Schlafzeit kommen ließ, brachte, sagte er: „Ich brauche es nicht, „ich reise die ganze Nacht!“ Spaͤterhin fuhr er fort: „Wenn „man zur christlichen Gemeinde gehoͤrt, so muß nicht nur Mann „und Weib, sondern auch alle Kinder in einem Punkte uͤberein- „stimmen; und das ist schrecklich schwer.“ Gegen Morgen hatte er folgenden Traum, den er nach dem Erwachen seinem aͤltesten Sohne und der dritten Tochter erzaͤhlte: „Ich habe mich mit meiner seligen Gattin im Hauswesen thaͤ- „tig gefuͤhlt; nachher ist mir der graue Mann, aber nicht der „im Heimweh, erschienen, und hat mich in Himmel gefuͤhrt, „und gesagt: Ich solle mich um meine Frau nichts bekuͤmmern, „dieser gehe es wohl; er selbst habe sie von einer Stufe der „Vollendung zur andern gefuͤhrt, aber ich muͤsse noch warten!“ Nachher erklaͤrte er: „Ach ich fuͤhle eine unbeschreibliche Seelen- „ruhe, die ihr mir bei meinem koͤrperlichen Elend nicht ansehet!“ Unterdessen stieg aber seine Schwaͤche, und es ward ihm schwer, anhaltende Worte zu reden, da schon vorher seine Stimme die Staͤrke verloren, darum that er mehr abgebrochene Aeußerungen, als: „Eine voͤllige Hingabe an den Herrn,“ u. dergl. und haͤtte oft gerne fortgefahren, wenn es die Schwaͤche zugelassen haben wuͤrde. Aber es stieg auch seine Ruhe und feierliche Stimmung zu immer hoͤherem Grade, und in seiner Gegenwart konnte man nur beten. Da war es, als er sich kraͤftig fuͤhlte, ein erhabe- nes hohepriesterliches Gebet auszusprechen, darin er zu Gott flehete: „Er moͤge seine Kinder alle in dem Glauben an Je- „sum Christum erhalten, sie als Reben am Weinstocke bewah- „ren, daß er sie noch nach Jahrtausenden gleich einem Reisbuͤnd- „lein zusammengebunden, faͤnde!“ Bald darauf an diesem Charmittwoch, den zweiten April, des Morgens gegen vier Uhr, als er fuͤhlte, daß sein Ende heran- nahe und er hingehe zum Vater; — als er sich zu einer letzten feierlichen Handlung stark genug wußte, versammelte er uns Alle um sich her, und nachdem er uns in seiner gewoͤhnlichen Guͤte gefragt, ob wir nichts gegen sein jetziges Vorhaben haͤtten, das h. Abendmahl mit uns zu halten, und nachdem ihm sein aͤltester Sohn die Bedenklichkeiten daruͤber benommen, zumal da in dieser naͤchtlichen Stunde nicht wohl der einzige Geistliche der reformirten Gemeinde zu Karlsruhe (damals war noch nirgends eine Evang. Kirchenvereinigung vollzogen), auch ein ehrwuͤrdi- ger Greis, herzu gerufen werden konnte, und als er auch unser Wohlgefallen und unsern Dank fuͤr dieß sein patriarchalisches Unternehmen erfahren hatte, ließ er uns knieen, entbloͤßte sein Haupt, faltete die Haͤnde, und mit aller Kraft des Geistes und und des Glaubens, welche sich in seiner Stimme nochmals aus- druͤckte, betete er ohngefaͤhr also: „Du, der du am Kreuze dein „Blut fuͤr uns gabst, und Tod und Hoͤlle uͤberwandest, der auch „da seinen Feinden verzieh, du goͤttlicher Versoͤhner! vergieb uns „auch jetzt, wenn wir uns unterwinden, hier Etwas vorzuneh- „men in unserer Schwachheit, was wir uns sonst nicht unter- „stehen wuͤrden!“ Alsbald nahm er den Teller, worauf er das Brod in Stuͤcken gebrochen hatte, hielt zwei und zwei Finger kreuzweise daruͤber, sprach die gewoͤhnlichen Einsetzungsworte, und fuhr fort: „Und „du, o Herr, segne auch diese Speise!“ Darauf sagte er: „Neh- „met hin, und esset, das ist sein Leib, der fuͤr unsere Suͤnden „in den Tod gegeben worden!“ Und somit nahmen wir, im Geiste ergriffen, von der hohen Wuͤrde des christlichen Greises, der noch auf dem Sterbebette mit den Seinigen den Bund der Liebe feierte, das heilige Mahl. Und nachdem er den Wunsch geaͤußert: „Wenn doch jetzt auch „unsere Heidelberger Kinder hier waͤren!“ nahm er auch seinen gewoͤhnlichen Becher als Kelch, legte ebenfalls die Haͤnde kreuz- weise daruͤber, dankete und sprach nach den Einsetzungsworten: „Trinket Alle daraus, das ist der Kelch des Neuen Testaments Stillings sämmtl. Schriften. I . Band 42 „in seinem Blute, welches fuͤr Euch und fuͤr Viele — und am „Ende fuͤr Alle vergossen worden ist zur Vergebung der Suͤn- „den!“ und als er zuletzt genommen, streckte er seine Haͤnde zum Segen aus, und rief: „Der Herr sey mit Euch!“ Und nachdem er diese feierliche, erhabene Handlung, welche er ohne Noth nicht unternommen haͤtte, weil er in Allem Ord- nung, Brauch und Sitte ehrte und befolgte, nach rein evange- lischen Grundsaͤtzen als christlicher Patriarch auf dem Sterbebette beendigt, legte er sich zum Schlummer nieder, und es zeigte sich auf seinem schon damals verklaͤrten Antlitze des Glaubens- helden erhabener Seelenfriede. Auch mochte er mit uns zwei- feln, ob er noch den Tagesanbruch dieses Charmittwochs erlebte. Von nun an stieg seine Schwaͤche mehr und mehr, und krampf- hafte Empfindungen stellten sich ein, so daß wir oͤfters den Au- genblick des Erstickens wahrzunehmen glaubten. Herzzerreißend war der Anblick des ehrwuͤrdigen Greises, wenn ihm der Athem stockte, er seine Haͤnde faltete, und seinen Blick zum Himmel hob, meinend, er werde nun der Lebensluft nie mehr genießen. Mehrmals hatten wir diesen aͤngstenden, fuͤr uns so schrecklichen Anblick des Erstickens; und wir konnten nur beten, Gott moͤge ihm den Heimgang erleichtern. Wenn sich dann der harte An- fall wiederholte, rief er aus: „Herr nimm mich auf in deine „ewige Huͤtte!“ oder einmal, da es ihm schwer ward, das Ath- men vor dem Wasser in der Brust zu erringen, breitete er die Arme nach oben, und rief: „Fort, fort!“ Unterdessen ward sein lechzender trockener Gaumen durch labende Getraͤnke fortwaͤhrend erquickt, und seine Liebe zur Reinlichkeit und Ordnung war bis ans Ende wahrzunehmen. Ein anderes Mal rief er in dem quaͤlenden Krampfe: „Du Todesuͤberwinder, Kraft!“ Alles dieß rief er aber mit schwacher jedoch bewegter Stimme; und mit seinen Blicken weilte er auf allen den Seinigen, die um sein Bett herstanden, und die sein hohes Beispiel der Geduld und des Gei- stes in diesem anhaltenden Todeskampfe nur zum Gebete an- treiben konnte. Und wo sich das Eine oder das Andere von uns durch Dienstleistungen genoͤthigt fand, wegzugehen, und be- sorgt war, dem sterbenden Vater noch jegliches erquickende und staͤrkende Mittel darzureichen, sah er ihm aͤngstlich nach, und sagte einige Male: „Es geht keines weg!“ So rang der ehr- wuͤrdige Greis mehrere Stunden um seine Vollendung, und es war, als wenn fernher Strahlen vom Reiche des Lichts sein erhabenes Antlitz umleuchteten, und ihm Kraft im Kampfe zu- fuͤhrten. Sah er uns dann trauernd um sich her stehen, und bemerkte er unser Leiden um ihn, so sagte er: „Habt Geduld!“ Spaͤter am Vormittage sah er einen befreundeten Geistlichen durch die Thuͤre blicken, den er mit einem freundlichen Blicke begruͤßte, und der an sein Bett trat, und seine Gedanken aussprach, als: „Derjenige, der dort am Kreuze litt, hilft Ihnen uͤberwinden!“ worauf er erwiederte: „Ja wohl, daran zweifle ich nicht!“ Und als jener folgende Worte ausgesprochen: „Wie wird mir dann, Erloͤser! seyn, Wenn ich mich deiner ganz zu freun, Dich dort anbeten werde.“ antwortete er mit: „Ja und Amen!“ Aber es nahete allgemach der ernste traurige Augenblick heran. Der weitgefoͤrderte Christ sollte den Kelch der Pruͤfungen gleich seinem Erloͤser, zum herrlichen Glaubenszeugnisse vor der Welt, bis auf die Hefe trinken. — Und es war die Mitte der heiligen Woche. Mit seinem Heilande ging er dem Tode und der Vollen- dung entgegen. Da, sein von Liebe und Wuͤrde strahlendes Angesicht schauend, konnte man rufen: Tod, wo ist dein Sta- chel! Hoͤlle, wo ist dein Sieg! Gott aber sey Dank, der ihm den Sieg verliehen durch seinen Herrn Jesum Christum!“ Immer suchte er uns, das Eine nach dem Andern, mit sei- nem lieblichen feierlichen Blicke, und rief einmal: „Haltet an im Gebet!“ und wir unterließen es nicht. Noch einige Male labte sich sein lechzender Gaumen durch kuͤhlendes Getraͤnke, bis er zuletzt sagte: „Laß gut seyn, es geht „nicht mehr hinunter!“ Mehrmals stammelte er in seinem krampf- haften Zustande Flehensworte zu dem Vollbringer, als: „Herr schneide den Lebensfaden ab!“ dann: „Vater, nimm meinen Geist auf!“ und jetzt glaubten wir den letzten Athemzug zu hoͤ- ren. Jedoch seine starke Natur ermannte sich noch ein wenig- er bereitete sich auf den bevorstehenden Stoß durch eine gestreckte 42 * Lage, und was er sonst fuͤr noͤthig hielt, vor, dann heftete er seinen Blick auf die gegenuͤber haͤngend Madonna, und jetzt brach sich sein Auge, und er schloß es mit aller Gewalt der leiblichen und geistigen Staͤrke. Wir aber standen athemlos und hielten an im Gebet; und der Krampf verzog schrecklich des Duldenden Zuͤge, Einmal, und zum zweiten Male schien es, als wollten boͤse Geister seine edle Miene verruͤcken; aber siehe da! es tra- ten die edlen Falten des erhabenen Antlitzes in ihre Wuͤrde und Freundlichkeit zuruͤck, die himmlische Reinheit stellte sich vollkomm- ner dar unsern starrenden Augen; und als um die Mittagszeit die Sonne am freundlichsten strahlte, stockte der Athem, und der Christ hatte uͤberwunden; der Glaube war sein Sieg. Die scheidende Seele ließ alle ihre Freundlichkeit, Reinheit und Wuͤrde der leiblichen Huͤlle zuruͤck; diese blieb wie von Himmels- strahlen verklaͤrt. Christen vom niedersten bis zum hoͤchsten welt- lichen Stande weinten Thraͤnen der tiefsten Wehmuth an dem geliebten Leichname, und baten Gott um gleiche Foͤrderung im Glauben. Auf Erden ist Trauer um den vollendeten Wohlthaͤter, Rath- geber, Freund und Vater ohne Gleichen, — Vater Stilling wird bis in die fernsten Lande hin beweint: aber im Himmel ist unter den Seligen Freude, und ewiger Lobgesang seiner Seele vor Gott. Nachwort von Jung-Stillings Schwiegersohne , dem Großherzogl. Badischen Geh. Kirchenrath und Prof. der Theologie, Dr . Schwarz zu Heidelberg; zugleich Namens der uͤbrigen Kinder des Verstorbenen. (Zweite Auflage mit einigen Umaͤnderungen. 1835.) Wir uͤbergeben Stillings letzte Arbeit, den Anfang des 6. Ban- des von seinem Leben, der leider nur zu sehr Anfang geblieben ist, dem Publikum und den Freunden ganz so, wie er ihn nieder- schrieb, in unveraͤnderter Gestalt. Wir glauben dieses sowohl dem Verfasser als seinen Lesern schuldig zu seyn, und muͤssen da- her selbst ein gewisses Gefuͤhl der Schicklichkeit verlaͤugnen, in- wiefern von uns in dem Buche gesprochen ist. Stilling muß in aller seiner Offenheit und Redlichkeit, wie er sich von Anfang ge- geben hat, bis an sein Ende dastehen. Wer moͤchte auch an sei- nem Werke Etwas aͤndern wollen? Derselbe Grund bestimmt uns, ihn in seinen letzten Tagen und Lebensstunden zu zeigen, so wie er bis zum Uebergang in seine Heimath lebte, dachte und sprach; und wir sahen es gerne, daß sein aͤltester Enkel das alles treulich auffaßte, und mit den- jenigen Empfindungen niederschrieb, die dem Enkel geziemten. Auch hier mußte das kindliche Gemuͤth alles erzaͤhlen, wie es war. So hielten wir es den Lesern und Freunden Stillings am mei- sten angenehm, und so hielten wir es auch dem Vollendeten und seiner Wirksamkeit angemessen. Er steht von seinem Lebensan- fang bis an sein Lebensende in seiner wahren Gestalt da. Seine Geschichte weiter zu schreiben, als seine eigene Erzaͤhlung reicht, hat er, mit allem Recht, untersagt; und die Sache untersagt es. Zu so Etwas darf nichts Fremdartiges hinzukommen, und Stil- ling war so sehr er selbst, daß Alles, was auch seine Vertrau- testen als Fortsetzung schreiben wuͤrden, fremdartig bleiben wuͤrde; oder wie seine Tochter Karoline sich uͤber ein solches Versuchen- wollen ausdruͤckte: „Das kann Niemand von uns Allen, nur Er konnte in dem Kinderton fortschreiben, und nur Er so mit Kinderaugen die goͤttlichen Fuͤhrungen enthuͤllen: ich wenigstens koͤnnte nichts beitragen. Die ganze Geschichte seines Alters liegt einem schoͤnen himmlischen Gemaͤlde gleich vor meinem innern Auge, aber so wie ich ihm naͤher treten will, Etwas herauszu- holen, fließt es in ein ganzes zusammen, und ich ziehe mich ehr- furchtsvoll zuruͤck.“ Indessen duͤrfen wir chronologisch die Hauptbegebenheiten an- geben von der Zeit an, wo seine Beschreibung aufhoͤrt. Der Aufenthalt unserer Eltern in Baden-Baden, womit die- ses Fragment endigt, faͤllt in den Sommer 1805. In dem Fruͤhling 1806 zogen sie von Heidelberg nach Karls- ruhe. In den folgenden Jahren befanden sie sich gewoͤhnlich waͤhrend der Sommerzeit in Baden, wo sich auch der Hof waͤh- rend der Kurzeit aufzuhalten pflegte. Auch brachten sie einige- male die Sommermonate bei Freunden zu Bar im Elsaß an den Vogesen zu, wo die milde Luft ihrer Gesundheit zusagte. In dem Jahr 1811 starb den 10. Juni der hoͤchstselige Groß- herzog, Karl Friedrich von Baden, dieser unvergeßliche Fuͤrst, als gerade unser Vater auf einer Reise abwesend war. Die ausgezeichnete Gnade des verewigten Herrn gegen seinen treuer- gebenen Verehrer und Freund erbte auf den erhabenen Thron- folger fort, und nie dachte unser Vater anders auch an diesen, als mit tiefem Dank und Segenswunsch. Mit jedem Jahre wurden die koͤrperlichen Uebel unsern Eltern mehr fuͤhlbar; indessen verließ sie nicht die hohe Christenkraft, und somit auch nicht die Heiterkeit, womit sie selbst in den oft bedenklichen Kriegslaͤuften der Zukunft getrost entgegen sahen, und wodurch ihr Kreis von Hohen und Niedern gesucht wurde. Im Fruͤhling 1813 besuchten sie ihre Kinder in Heidelberg, und gewaͤhrten diesen, so wie nicht wenigen Einwohnern dieser von ihnen so heimathlich geliebten Stadt, festliche Stunden und Tage. Diesen Besuch wiederholten sie im Fruͤhling 1816. Allein ihre damals schon voͤllig sinkende Gesundheit, wo die unguͤnstige Witterung alle Staͤrkung versagte, ließen uns keine solche Fami- lienfeier mehr hoffen. Nur wenige Stunden des Tags fand sich der ehrwuͤrdige Greis stark genug zur Unterhaltung; dann war er aber noch mit seiner herrlichen Kraft fuͤr alle Anwesende, besonders auch fuͤr die Kinder, der angenehm belehrende Gesell- schafter; man fuͤhlte sich bei ihm in ein hoͤheres Daseyn gehoben. Als sie uns verließen, die lieben, frommen Eltern, da sahen wir ihnen mit Wehmuth nach, dankten aber Gott, daß uns noch diese gesegneten Wochen vergoͤnnt gewesen. Auch erhob sich wie- der einige Hoffnung, als sie noch im Sommer ihre Kinder in Rastadt besuchen konnten, und noch einige Wochen nach Baden gingen. Indessen kamen gegen den Winter hin die Krankheits- uͤbel mit doppelter Macht wieder, so daß wir schon um Christ- tag das Hinscheiden des treuen Elternpaars befuͤrchteten Sie erholten sich nur Etwas, und nur auf kurze Zeit. Das Weitere sagt die vorstehende Beschreibung. Seine Reisen in den letzteren Jahren, die uͤbrigens hier nicht alle angegeben sind, waren immer zugleich fuͤr Augenkranke wohl- thaͤtig. Noch im letzten Sommer gelangen seiner schwachen Hand, die aber, wie immer, von seiner Glaubensstaͤrke festgehalten wurde, mehrere Staaroperationen. Seit mehreren Jahren schrieb er sie nicht mehr auf, nachdem er uͤber 2000 solcher, die gelungen waren, zaͤhlen konnte, nur Wenige waren nicht gelungen; auch ver- dankte ihm eine nicht kleine Anzahl von Blindgebornen das Gesicht. Selbst nach seinem Tode blieb noch dem Angesicht seine Wuͤrde, und nicht ohne Anmuth. Herr Schmidt der juͤngere in Karls- ruhe hat ihn so auf dem Leichenbette mit der Umgebung des haͤus- lichen Heiligthums schoͤn gezeichnet, und wir finden den seligen Vater in diesem kleinen Bilde besser getroffen, wie in irgend einem von den mehreren Kupferstichen: daher war es uns erfreulich, daß es die Verlagshandlung als Beilage fuͤr gegenwaͤrtige Schrift von einem geschaͤtzten Kuͤnstler stechen ließ. Nun sey es erlaubt, noch davon zu reden, wie mir Jung-Stil- lings religioͤser Charakter waͤhrend unserer beinahe 30jaͤhrigen Bekanntschaft erschienen. Und fast moͤchte ich das bloß in den wenigen biblischen Worten zusammenfassen: Christus hatte in ihm eine Gestalt gewonnen . Das konnte man recht eigentlich von diesem Manne sagen. Sein ganzes Leben sagt es in seinen Schriften, und mehr noch in seiner Art zu wirken und zu seyn. Das Christenthum, von seiner Kindheit auf seiner Seele sehr bestimmt und kraͤftig einge- floͤßt, war mit ihm erwachsen, in seine Thaͤtigkeit so wie in seine Denkart uͤbergegangen, und mit seinem Alter gereift. Auch war es selbst der Gegenstand seiner Wirksamkeit geworden; uͤber nichts dachte er lieber, von nichts sprach er tiefer aus dem Herzen, fuͤr nichts fuͤhlte er sich innerlich so sehr berufen, als fuͤr das Chri- stenthum. Er kannte die Goͤttlichkeit dieser Religion unmittel- bar, indem ihr Geist ihn bis in sein Innerstes durchdrungen hatte, und in jeder sonst unbedeutend scheinenden Entschließung heraus wirkte, so daß sein Gemuͤth hierdurch jene Tiefe, Fuͤlle und Kraft erhielt, die sein Leben so vielen erbaulich und bewunderns- wuͤrdig machte. Das war die Kraft, die seiner Beredsamkeit das Feuer gab, die aus seinen Augen leuchtete, uͤber sein wuͤr- devolles, maͤnnlich schoͤnes Angesicht strahlte, von seinem edlen Haupte an in allen Geberden seiner ansehnlichen Gestalt in freier Lebendigkeit, Anstand und Anmuth verbreitete, den Kreis der Hoͤrenden, ihn immer naͤher herbeiziehend, erheiterte und erhob, welche nah und fern die Herzen gewann, und Hohen wie Nie- deren einen Mann von der liebenswuͤrdigsten Gradheit, wir moͤch- ten sagen Naivetaͤt zeigte. Man sah, man hoͤrte, man las ihn und sagte sich selbst: das ist ein Christ . Er hatte eine kraͤftige Natur und eine spruͤhende Lebhaftigkeit. Das setzte ihn auch so manchen schweren Kaͤmpfen in seinem Juͤnglingsalter aus. Groß war bei ihm die Macht des welt- lichen Sinnes: viel groͤßer die Macht der Religion, und schon in seinem Knabenalter sieggewohnt. Seine Seelenreinheit blieb unbefleckt, und darum war selbst seine koͤrperliche Reinlichkeit von seinem religioͤsen Sinne gehoben; auch seine geordnete Diaͤt und Nuͤchternheit hing damit zusammen. Es lag gewissermaßeu etwas Orientalisches in seinem Wesen. Nirgends war er Schwaͤch- ling, jedes seiner Worte war Kraft, jeder seiner Gedanken ein starkes Kind seiner Seele, jedes Bild seiner lebenvollen Phan- tasie trat in scharfen Umrissen hervor und war in brennende Farben getaucht; selbst die Handzeichnungen, womit er sich manchmal in Erholungsstunden versuchte, hatten daher etwas Grelles. So nahm er auch nichts leicht. Sein Naturell neigte vielmehr sich zu einer gewissen Schwermuth hin. Daher die Feierlichkeit in seinem Wesen, und der oft fuͤr Andere etwas druͤk- kende Ernst, womit er Dinge aufnahm, uͤber die man wohl leich- ter hinsehen konnte; ihm stellte sich alles , was er vernahm, sogleich in eine Beziehung auf seine Religion. Dieser feierliche Ernst war die strengste Gewissenhaftigkeit; eine sowohl innere als aͤußere Wahrheit, wie sie uns selten genug scheint. Eben damit hing sein Humor zusammen, wie man ihn bekanntlich an gefuͤhlvollen und großen Seelen manchmal bemerkt. Steht ihnen und ihrem Kreise das Wichtige und Heilige fest, so ist bei ihrem reinen Bewußtseyn ein leichter Scherz seinem Spiel frei- gegeben, und der Geist kann sich auch bei dem kuͤhnsten Contrast auf das Herz verlassen. Dagegen nahm er alles , was die Re- ligion und Sittlichkeit, und wenn auch durch Nebendinge bedrohte, sehr ernsthaft. Er konnte weder ein unguͤnstiges Urtheil, noch einen gefaͤhrlichen Scherz uͤber jemand, der ihm von einer guten Seite bekannt war, geschweige uͤber Freunde, ohne eine zuruͤck- weisende Gegenerinnerung und, wenn er nichts dagegen ver- mochte, doch mit einem Seufzer anhoͤren. Nichts entruͤstete ihn mehr, als das Bespoͤtteln und Verhoͤhnen, selbst wenn es nicht grade das Heilige angriff: und dagegen welche Milde, womit er Beleidigungen aufnahm, selbst wenn sie in Grobheit gegen ihn ausbrachen! Dieser tiefe Ernst zeigt sich in seiner Wahrheitsliebe bei Religionszweifel von Jugend auf. Sein ganzer Geist war alsdann in Bewegung: oft kaͤmpfte er bis auf’s Blut, um sich Licht und Gewißheit zu erringen. Ja es war, als wenn ein innerer Feind ihm alles Wahre, das ihm heilig blieb, und alles Gute, worin er lebte, von dem Entstehen an streitig gemacht haͤtte, und ihm, immer neckend, anfocht, und als ob er alles Schritt vor Schritt erringen muͤsse, um hierin sein treu erkaͤmpftes Eigenthum zu besitzen. Wie sein Glaube von Anfang fest stand, davon ist sein Stillingsbuch das wahrste und lauteste Bekenntniß. So stellte ihn seine tiefe und kraͤftige Natur in einen fortsiegenden Tugendkampf, und so machte ihn die Gotteskraft des Evangeliums zu einem Glaubenshelden, der wohl zehnmal Maͤrtyrer geworden waͤre. Er lebte sich gleich- sam in die ersten Zeiten des Christenthums, wo ihn die Verkuͤn- digung des Herrn und die Schmach fuͤr den Herrn zu einem apostolischen Streiter wuͤrde gemacht haben; weßhalb er auch bei der Apokalypse, als Siegsgeschichte des Christenthums, so gerne weilte. Ueberhaupt zeigte sich in seinem gewaltigen Geistesleben, daß man die Meinung, das Christenthum sey eine Religion der Schwachen , sehr falsch versteht, wenn man nicht hinzu setzt: und darum noch mehr der Starken. Bei solchem innern Leben und unter solchen Schicksalen — beides verhaͤlt sich ja bei großen Menschen zu einander wie die innere Natur eines Planeten zu seiner Geschichte — mußte ihm auch das Christenthum hauptsaͤchlich von der Seite entgegen leuchten, wie sich dasselbe bei seinem Eintreten in die Welt offen- bart hatte, naͤmlich in seinem Kampfe. Hiernach betrachtete er bestaͤndig die Weltlage, und er aͤußerte manches wegen der Zukunft, das wie ein prophetisches Wort nach 10 oder 20 Jah- ren nur zu sehr eintraf. Am staͤrksten war aber dieses in Be- ziehung auf sein eigenes Innere. Wer die menschliche Suͤnd- haftigkeit mit christlicher Selbsterkenntniß einsieht, kann unmoͤg- lich sich selbst den Sieg zuschreiben; er weiß es gar wohl, daß die Kraft von oben kommt. So rief Stilling uͤberall den Bei- stand Gottes an, und fuͤhlte lobpreißend die Naͤhe des Herrn. Wir wuͤrden ihn mit einem Augustinus vergleichen, wenn er, wie dieser, von einer lasterhaften Verdorbenheit sich erst in spaͤ- tern Zeiten loszukaͤmpfen gehabt haͤtte; und wenn ihm nicht das tolle, lege ! durch die Froͤmmigkeit, die von seinem Kindesalter an mit ihm erwachsen war, waͤre erspart worden. Ich habe ihm manchmal meine Gedanken geaͤußert, wie jener innere Kampf, womit man in das Gottesreich eintritt, Wiederge- burt genannt, auch als stetig in der Zeit sich entwickelnd statt finden koͤnne, so daß von Kindheit auf das innere Leben durch- aus freundlich hervordraͤnge, und wie mir eben dieses das Ziel des Christenthums und der christlichen Erziehung zu seyn schiene; und ich habe mich gefreut, hierin im Allgemeinen seine Zustim- mung zu erhalten. Er war keinesweges den bekannten pietisti- schen Vorstellungen hold, ob er gleich in der Bekehrungsgeschichte einzelner Menschen solche Silberblicke der Entscheidung annahm. Doch ganz ist er nie in meine Idee eingegangen; die seinige neigte sich immer mehr einem strengen, als einem freundlichen Anfang des goͤttlichen Lebens zu. Daß er uͤbrigens ein abgesagter Feind von Pharisaͤismus, und besonders von dem Duͤnkel der From- men oder vielmehr der Froͤmmlinge war, ist schon aus seinen Schriften, und selbst aus Verfolgungen, die er deßhalb in fruͤ- heren Jahren zu erleiden hatte, bekannt. Das lag auch zu sehr in der Wahrheit seines ganzen Wesens. Niemand war mehr von jeder Art von Affection entfernt, als er. Seine Ueberzeu- gung, daß der Fromme es nur durch die richtigste Demuth sey, stand in seinem Innersten fest, und bewies sich, schon ohne sein Wissen, in allen seinen Aeußerungen. Gegen Niemand war er in seinen Forderungen so strenge, als gegen sich selbst; und machte ihm sein leises sittliches Gefuͤhl auch nur einigen Vorwurf, so konnte ihn das so beunruhigen, daß er selbst koͤrperlich dabei litt. Solche Wahrheit und Lauterkeit war sein Wesen. Sein zu- versichtliches Beten, sein unermuͤdetes Arbeiten, sein unerschoͤpf- liches Wohlthun, sein geselliges Unterhalten, sein freundliches Entgegenkommen, alles war der Erguß seines Gott geweiheten Gemuͤths. An ihm konnte man so recht sehen, wie die Religion die ganze Natur des Menschen durchdringt und alle seine Eigen- thuͤmlichkeiten aufsucht, um ihn ganz, so wie er gerade dieser Mensch ist, zu veredeln. Andere Anlagen, andere Erziehung, andere Verhaͤltnisse: und die Froͤmmigkeit wo sie wahrhaft im Herzen ist, hat eine ganz andere Gestalt, und soll sie haben, als sie bei Jung-Stilling hatte. Sie war aus seinem Innersten er- wachsen und in sein Wesen eingeflossen, er war mit ihr ganz Eins. So entquoll auch alles, was er darin sprach und schrieb, frei aus dem Herzen, und sein Geist gab allem sein eigenes Gepraͤge. Naivetaͤt, Originalitaͤt, Genialitaͤt, wie man dergleichen mit frem- den Worten zu nennen pflegt, moͤchte man hier gerne mit deut- schen Worten bezeichneu, weil es so deutsch auch in seinen reli- gioͤsen Gespraͤchen erschien. Diese Staͤrke seines reichen Geistes verlieh ihm jene ungemeine Beredtsamkeit, die schon in kleinen Un- terhaltungen seine Gesellschaft so angenehm machte, und wirklich die Herzen zu ihm hinriß. Denn Froͤmmigkeit, in Menschenliebe gebildet, zieht fast unwiderstehlich an. Es ist wohl mehr als ein- mal der Fall gewesen, daß Leute mit einem Vorurtheil gegen Jung, ja selbst mit einem zuruͤckgehaltenen Spott in seine Naͤhe kamen, und mit welchen ganz andern Gefuͤhlen verließen sie ihn! Manchem war da ein Licht aufgegangen, und mancher druͤckte ihm mit stiller Abbitte und redender Hochachtung die Hand. Hohe und Niedere, Menschen jeden Standes und jeder Stufe von Bil- dung erfreuten sich in seinem Umgang. Er war ein Kraftmann, und das Christenthum hatte in ihm gerade diejenige herrliche Ge- stalt gewonnen, wie sie diesem Manne entsprach. Auch hatte Jung eine ganz eigene persoͤnliche Zuneigung zu dem Erloͤser. Ich bin uͤberzeugt, daß in seiner Phantasie ein scharf gezeichnetes und lebendig ausgemaltes Bild von Christus stand, welches aus seinem innersten Wesen als sein hoͤchstes Ideal hervorgegangen war, in welchem er die Gottheit schaute, und an den er sich im Gebete wandte; sein himmlischer Freund, mit welchem er in taͤglichem und in dem vertrautesten Umgange stand. Wie ein Evangelist Johannes das Bild aus der hellen Wirklich- keit in sich trug, so daß er wohl wußte, was er mit den Wor- ten sagte: „Und wir sahen seine Herrlichkeit als die Herrlichkeit „des eingebornen Sohnes vom Vater,“ und wie ein Apostel Pau- lus ihn so im Geiste schauete, daß er sagen konnte: „Ich lebe, „doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir;“ so stand ein Nachbild in der Seele jenes aͤchten Christen, der seit der letz- ten Haͤlfte des 18. Jahrhunderts in frommen Betrachtungen heran- gereift war, es stand in ihm nach seiner eigenthuͤmlichen Beschaf- fenheit gestaltet. Der Gekreuzigte war es, auf den seine Seele immer hinschaute. Eben diese sehr bestimmten Vorstellungen befreundeten ihn mit der Bruͤdergemeinde noch besonders, außer dem allgemeinen Wesen einer tiefchristlichen Denkart; doch befreundete es ihn auch nur, und er war weder aͤußerlich noch innerlich dieser von ihm mit Recht hochgeachteten und geliebten Gesellschaft angehoͤ- rig. Sein Christus war der Welterloͤser, fuͤr welchen er jeden Augenblick in den Tod gegangen waͤre, wie man fuͤr Vater, Freund und Herrn in den Tod geht; aber er stand ihm so vor, wie gerade nicht diesem oder jenem andern Christusjuͤnger, und so kann man auch in dieser Hinsicht sagen, Christus hatte in ihm eine Gestalt gewonnen. War jemand geeignet, Sectenstifter zu werden, so war es Jung, und manchmal haben ihm Schwaͤrmer so was angesonnen, weil sie in seiner Geistesmacht viel fuͤr sich hofften, aber auch viel wider sich fuͤrchteten. Aber nur zum letzten hatten sie Grund, denn er wies alle ab, sobald er sie als Schwaͤrmer erkannte; auch vermochten sie etwa nur eine Zeit lang den arglosen Stil- ling zu taͤuschen. Oft entlarvte er sie, und dadurch zog er sich besonders in seinen juͤngern Jahren Feindschaft und sogar Ver- folgung zu. Eins seiner fruͤhern Buͤcher: Theobald oder die Schwaͤrmer , das fuͤr die Kirchengeschichte der zweiten Haͤlfte des achtzehnten Jahrhunderts wichtig ist, beweiset das sehr entschieden. Man muß staunen, wenn man die Kraft sieht, womit er sich auch durch jene Gefahren hindurchgekaͤmpft hat, und daß er, so wie seinem einigen Herrn und Heiland, so auch seiner vaͤterlichen Kirche treu verblieben, und das alles mit der freiesten Selbstbestimmung. Auch sein Werk: das Heimweh , legt dieses alles dar. Aber es ist recht zu bedauern, daß man gerade hierin den geistvollen Mann so groͤblich mißverstanden hat. Wollte ja sogar boͤse Leumuth noch in neuern Zeiten ihm Secti- rerei schuld geben. Davon war er unendlich entfernt. Mit gleichem Recht, oder vielmehr Unrecht, haͤtte man ihn des Indifferentismus zeihen koͤnnen. Denn jeder glaubige Christ, der auch nicht seiner reformirten Confession zugehoͤrte, war ihm ein guter Christ, und er befreundete sich mit ihm bis zur Bruͤder- lichkeit, sobald er sich nur in der Liebe zu Jesus Christus mit ihm verbunden fuͤhlte. Wie manche edle Seele von der roͤmisch- und von der griechisch-katholischen Kirchenpartei stand mit ihm im religioͤsen Herzensverein! Es gab auch Juden, die er fuͤr Gottes- fuͤrchtige und von der Seligkeit nicht ausgeschlossen hielt, und denen er es nicht einmal ansann, das Christenthum anzunehmen. Kurz in der liberalen Gesinnung gegen andere Glaubensge- nossen konnte Stilling fuͤr manche orthodoxe, und selbst fuͤr nicht wenige heterodoxe und die Toleranz im Munde fuͤhrende Theologen ein Muster seyn. Manche engsinnige Menschen und Froͤmmlinge waren deßhalb uͤbel genug auf ihn zu sprechen. Als ihm vor einigen Jahren das Ansinnen in einer Schrift gemacht wurde, katholisch zu werden, so regte das seinen ganzen Unwillen auf, den er in einer Gegenschrift aussprach. Er stand zu tief im Wesen des Christenthums, als daß er auf die aͤußere Form mehr Werth haͤtte legen sollen, als sie verdient. Ist doch die freundliche Beur- theilung anderer Religionsmeinungen gewoͤhnlich das Zeichen aͤchter Religiositaͤt. Nur gegen Meinungen, die den wesentlichen Lehren des Chri- stenthums seiner Ansicht nach droheten, war er unerbittlich strenge, wenn sie oͤffentlich auftraten. Er entwarf sich auch da manchmal ein allzugrelles Bild von einem Gegner, so daß er ungerecht wer- den konnte. Mehrmals hielt ich es daher fuͤr Pflicht, ihm dieses zu bemerken, das stimmte ihn auch wohl zu milderen Gesinnun- gen; aber ich mußte auch dann die seinige hochachten, wenn wir verschiedener Meinung blieben, denn die seinige hing mit dem heiligen Ernst zusammen, womit er fuͤr die Wahrheit stritt, wie sie einmal bei ihm feststand; und ich kannte auch seine Selbst- verlaͤugnung, womit er seine eigne Meinung aufgab, sobald er nur die Wahrheit wirklich auf der Seite des Andern sah. Ge- meiniglich wirkten erst spaͤterhin dergleichen Erinnerungen, nach- dem er alles in seinem fest zusammenhaͤngenden Systeme damit verglichen hatte. Uebrigens war er jederzeit bereit, auch dem bittersten Gegner als Mensch zu helfen, wo er nur konnte. In der persoͤnlichen Unterhaltung wurde er leicht der Freund dessen, den er aus der Ferne unguͤnstig angesehen hatte; alles dieses aus demselben Herzensgrunde. Von dem Religionslehrer verlangte er mit unerbittlicher Strenge, daß er das Evangelium verkuͤndige, und daß er selbst daran glaube; das erstere, weil er dazu beru- fen, das zweite, weil er sonst ein Heuchler sey. Jung-Stilling war keineswegs in Allem streng orthodox, auch konnte er es recht gut sehen, daß Andere in kirchlichen Lehren verschieden dachten, wenn sie nur evangelisch waren, und es mit dem Reiche Christi redlich meinten. Viele Geistliche gehoͤrten zu seinen Freunden; wie war es aber anders moͤglich, als daß nicht jeder mit ihm, der so individuelle Ansichten hatte, uͤbereinstimmte? Dennoch hielt er auch auf solche viel, und hoͤrte wohl ihre Pre- digten gerne. Mein Verhaͤltniß mit ihm war von Anfang an von dieser Art. Ich war erst 23 Jahre alt, da ich ihn kennen lernte, war noch einigermaßen in der Wolfischen, mehr noch in der Kantischen Philosophie begriffen, und gab ihm eben nicht gerne nach. Wir sprachen uns frei gegen einander aus, und gerade so schenkte er mir seine Freundschaft; damals waren die Verhaͤlt- nisse so, daß uns beiden noch kein Gedanke unserer nachmaligen Familienverbindung kommen konnte. Auch ich hatte Vorurtheile gegen ihn, und habe sie nicht so leichter Hand aufgegeben; und er wußte, daß wir in manchen Lehrmeinungen nicht uͤbereinkom- men wuͤrden; demungeachtet wuchs unsere Freundschaft sowohl von Seiten des Geistes, als des Herzens; er wollte mich keines- wegs in seine Ansichten hinuͤberziehen, nachdem er sich nur so weit uͤberzeugt hatte, daß mir das biblisch-evangelische Christen- thum am Herzen liege: und ich fand in ihm von den Jahren seiner bluͤhendsten Wirksamkeit an bis in sein hohes Alter immer mehr den hochherzigen Mann, die Geistesgroͤße und das Christen- gemuͤth, das mir eine herrliche Welt aufgeschlossen hat. Ich danke Gott fuͤr diese Lebenswohlthat. Denn was es heißt, in ein solches Gemuͤth einzuschauen, das haben viele, die in Bekannt- schaft mit ihm kamen, wohl erfahren. Was mir schon in fruͤher Jugend als das Wesen aͤchter Froͤmmigkeit in geachteten Perso- nen, in ihrem Leben selbst erschienen war, und was mir Schrif- ten und Studien ausbilden halfen, fand ich in diesem Manne so klar vor mir stehen, daß mein Ideal unendlich dadurch ge- wann, und selbst seine menschlichen Schwaͤchen mir immer augen- blicklich gegen jene wahre und hohe Kraft schwanden. Darum folgt ihm mein Dank in die Ewigkeit. Und so ist es gewiß bei nicht wenigen seiner Freunde der Fall. Wenn man den Edlen wirklich kannte, so aͤrgerte man sich daher doch nur im Anfang uͤber die beschraͤnkten und feindseligen Beurtheilungen, die in oͤffentlichen Blaͤttern uͤber ihn ergingen; bald aber aͤrgerte man sich nicht mehr, sondern bedauerte nur diese Leute, die uͤber einen Mann urtheilten, dessen Hoͤhe sie freilich nicht aus sich selbst zu wuͤrdigen vermochten. Er hatte allerdings auch seine Schwaͤchen, denn er war Mensch, und auch bei der Groͤße gibt es Schwaͤchen. Dem Sohne ziemt es nicht, den Vater zu tadeln, waͤre ich aber ein Fremder, so wuͤrde ich vielleicht das, was mir an ihm tadelnswerth erschienen, aufstellen, und ich bin uͤberzeugt, daß uͤber dieses alles hin seine Trefflichkeit nur heller h ervorglaͤnzen werde. Doch wird es mir erlaubt seyn, einiges anzufuͤhren, um zu zeigen, wie leicht sol- cher Tadel uͤbertrieben sey. Er ließ sich von den Menschen ein- nehmen, sobald sie ihm nur eine religioͤse Seite darboten. So oft er sich nun auch so an Menschen getaͤuscht sah, und dieses hoͤchst schmerzlich empfand, so wollte er doch einmal schlechter- dings nicht mißtrauisch gegen Menschen werden, und lieber haͤtte er sich, wie unser Erloͤser, einen Judaskuß gefallen lassen, als das Vertrauen nicht etwa zu einem Menschen, sondern zu dem Guten in dem Menschen aufgegeben. Nie sah ich ihn in schwe- rerem Kampfe, als wenn jemand ihn endlich selbst noͤthigte, die- ses Vertrauen ihm zu entziehen. „Huͤtet Euch vor dem Richten!“ war gewoͤhnlich das Wort, womit er Warnungen der Art seinen Freunden beantwortete. Gestehen muß ich dabei, daß er wirk- lich manchmal Recht behielt, und daß er auch mir oͤfters eine gute Seite an jemand zeigte, die ich im Unwillen uͤbersehen hatte. Der Weltmensch wird sich freilich nicht so leicht taͤuschen lassen, denn er kennt die Vielfachheit und Durchtriebenheit der Men- schen recht gut. Wer aber in edler Einfalt in den Menschen gerne Gottes Kinder sieht, muͤßte uͤber alle Eitelkeit erhaben seyn, wenn er jenen hohen Zug der Religion in ihrer hoͤchsten Vollkommen- heit besitzen wollte, die Menschen zu durchschauen, ohne den Glau- ben an ihr Besseres zu verlieren; er muͤßte dem Heiligen des Evangeliums ganz nahe stehen. Fand er endlich unwiderlegbar jemand schlechter, als er es ihm zugetraut, und konnte seine uner- muͤdete Lehrhaftigkeit nichts bei ihm bewirken, so gehoͤrte der- selbe freilich nicht mehr in den Kreis seiner Freunde, und seine Liebe trauerte um ihn mehr, als wenn er gestorben waͤre. Stillings haͤusliches Leben ist aus seinen eigenen Schilderun- gen bekannt; aber nur die Hausfreunde sahen es so, wie es ganz verdiente bekannt zu seyn. Denn auch in seinem Hause waltete der Geist dieses gottseligen, aber kaͤmpfenden Hausvaters, und nicht blos sein Arbeitszimmer war einem stillen Tempel zu vergleichen, sondern alle Personen, die zu seinem Hauswesen ge- hoͤrten, fuͤhlten sich durch eine Liebe hoͤherer Art vereinigt. Da war nichts weniger als Kopfhaͤngerei, durchaus kein froͤmmeln- des Wesen; vielmehr sah der Vater gerne alles munter um sich her, und war, trotz seiner Anwandlungen zur Schwermuth, doch leicht zum Frohsinne gestimmt, ja er wußte oft selbst zur Freude zu stimmen. So war es an seinem Tische, so war es in den haͤufigen Abendgesellschaften, die sich bei ihm einfanden, und wo unter jung und alt die schoͤnste gesellige Freude herrschte; noch in seinem hohen Alter war er so seelenvergnuͤgt, wenn er den tanzenden Reihen seiner Enkel und anderer jungen Leute zusah, wie er es war, wenn er die Seinigen musiciren hoͤrte, oder selbst am Klavier einen christlichen Choral mit ihnen anstimmte. Ein liebevoller Geist war es, der jeden in diesem Hause anwehte, wer nur eintrat, und welcher die, welche darin lebten, fesselte, welcher daher auch auf das Gesinde uͤberging. Man hoͤrte da nie ein unfreundliches Wort, und die Maͤgde dienten mit einer Liebe und Treue, als waͤren sie Toͤchter des Hauses; man sah recht, wie es nur eines christlichen Hauswesens bedarf, um den vielen Klagen uͤber das Gesinde zu begegnen, und dasselbe nicht etwa zu uͤberbilden, sondern in seinem Dienen zu veredeln. Derselbe christliche Sinn war es auch, welcher unsern Vater in der Wahl seiner Gattinnen so gluͤcklich geleitet hatte, daß er mit jeder in einer wahrhaft christlichen Ehe lebte. Seine erste Gattin, die fromme Christine, welche ein fruͤhes Opfer ihrer haͤus- lichen Thaͤtigkeit in jener bedraͤngten Lage geworden war, nannte ihn nur „ihren Engel und ihr Alles.“ Seine zweite Gattin, die geistreiche Selma, welche ihm eine neue Welt in ihrem herrlichen Gemuͤth eroͤffnete, und welche, waͤhrend sie seine oͤkonomischen Umstaͤnde verbessern konnte, seinen religioͤsen Sinn gleichsam in die Welt einfuͤhrte, und sein ganzes Leben bereicherte und ver- schoͤnerte, verehrte in ihm zugleich den Freund fuͤr den Himmel. Und endlich seine Lebens- und Sterbensgefaͤhrtin Elise setzte waͤh- Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 43 rend ihrer laͤngern Ehe Stillings haͤuslichem Leben die Krone auf. Wie viel verdankte sie ihm, die fromme Dulderin! wie viel er ihr! Beide waren ganz in ihrem Christenthume Eins ge- worden, die Seelenstaͤrke ihres Gatten war nun auch die ihrige; durch ihr unendlich liebevolles Wesen leuchtete sie als die milde Sonne in dem Hause; sie uͤbernahm den Theil der Erziehung der Kinder, wozu er sich seiner Natur und seinem Bekenntniß nach unfaͤhig fuͤhlte, und die Kinder der drei Ehen waren um die Mutter her, als waͤren sie Einer zugehoͤrig, das Wort Stief- kind hatte fuͤr keines derselben einen Sinn. Und so koͤnnten wir Kinder saͤmmtlich vieles aus uͤberfließendem Herzen sagen, das in aller Beziehung zeigen wuͤrde, was es heißt, ein christliches Ehepaar. Es ist eine tiefe Wahrheit in den Worten: der Mann wird durch das Weib, und das Weib durch den Mann geheiligt. Aber Kraft und Staͤrkung in dem Christenthume soll von dem Hausvater auf solche Art ausgehen, wie es hier der Fall war. Wir muͤssen hierbei noch eines Punktes erwaͤhnen, worin wohl manchmal unserm Vater laute und stille Vorwuͤrfe gemacht wurden, das ist sein Grundsatz, womit er seine aͤußerlichen Ver- moͤgensumstaͤnde so ganz der Vorsehung uͤberließ. Denn, sagte man, das ist Schwaͤrmerei! oder auch: das ist ein Unrecht gegen die Seinigen! Wir wuͤrden jedes Wort fuͤr verloren halten, wenn wir solchen moralisirenden Buchstaͤblern antworten wollten, die sich mit sogenannten allgemeinen Maximen abmuͤhen, weil sie nicht zu der Idee, welche in dem Lebensganzen eines Men- schen ausgesprochen ist, hinaufzusteigen im Stande sind. Nur den Freunden, welche hierin mit unserm Vater nicht ganz im Klaren sind, wollen wir es sagen, daß er sehr lebendig das Be- wußtseyn von seiner Lebensbestimmung in sich trug, damit sie auch ihm das Urtheil zukommen lassen, was uͤberall großen See- len gebuͤhrt. Denn solche haben ihren eigenen Gang, und wo ist es je auch etwa irgend einem großen Geschichtschreiber einge- fallen, solche Menschen darum Schwaͤrmer zu nennen, weil sie die geheimnißvolle Zusage der aͤußern Erfolge zu ihrem innern Berufe in tiefster Ueberzeugung in sich trugen? Laͤßt man doch selbst einem Julius Caͤsar in seinem Kahne Gerechtigkeit wieder- fahren! Der glaubige Christ Jung-Stilling wußte wohl, warum er an seine Gebetserhoͤrungen glaubte und nur er verstand sich hierin selbst, und die Bedingungen, unter welchen er daran glauben durfte. Auch laͤßt sich seine Lage mit der eines Geistli- chen vergleichen, welcher von allen Seiten zur Zeit der Noth angegangen wird, um zu helfen, und der, christlich wie er ist, lieber selbst darbt, als Herz und Hand verschließt. Geldgedanken lagen einem Stilling am entferntesten unter allen, dieses Gift des geistigen Lebens, das in die schoͤnsten Ideen zerstoͤrend einfließt. Wer das geheime Maͤrtyrerthum kennt, worin diejenigen leiden, welche des Geistes Geschaͤfte treiben, und durch Nahrungssorgen unterbrochen werden, mag es einem Stilling hoch anrechnen, daß er sich mit seiner Christenkraft uͤber das Plus und Minus und die leidigen Zahlbegriffe erhob, und ungestoͤrt in seinem groͤßeren Berufe fortwirkte. Darum verließ ihn auch die Vorsehung nicht. Sie erweckte ihm Freunde, die ebenfalls groß dachten, und sich in reicherem oder hoͤherem Stande befanden, die es ihm dann moͤglich machten, seinem wahren Berufe ganz und freudig zu leben, und der vielfache Wohlthaͤter von Vielen zu seyn. Nahm er von hundert Augenkuren nichts, so gab es unter den dankbaren Seelen, welchen er des Leibes Auge wieder gluͤcklich geoͤffnet, auch manche, die mit irdischen Guͤtern gesegnet waren, und die durch ihre freiwilligen Geschenke ihn in den Stand setzten, Andern wieder auf mehrfache Weise zu helfen. Dank Euch, Ihr Edlen, nah und fern, die Ihr ent- weder noch hienieden, oder schon droben die Fruͤchte Eurer Werke genießet! Stillings Ehegattinnen stimmten auch ganz in seine Wohl- thaͤtigkeit ein, und so war es nichts Geringes fuͤr seine letztere, daß sich bei seinen vermehrten Geschaͤften die Huͤlfsbeduͤrftigen oft an sie zunaͤchst wendeten. Ihr Herz kannte keine Graͤnzen im Wohlthun, aber strenge gebietend setzten sich dann die haͤus- lichen Umstaͤnde entgegen. Hierzu kam nun ihre natuͤrliche Sorg- lichkeit, und das machte dann ihr sowohl als ihrem Manne nicht wenig Noth, bis sie es endlich durch sein ernstes Zureden und ihre liebevolle Achtung gegen ihn, zu einer frommen Ergebung selbst so weit brachte, daß ein Blick auf ihre Christenstaͤrke auch ihn wiederum staͤrkte. So geschah es, daß sie einer Klippe ent- 43 * ging, woran sonst gerade solche Frauen von zaͤrterem Sinne leicht scheitern, indem sie in Schwersinn versinken, oder ein muͤrrisches Wesen annehmen, oder, welches oft noch schlimmer wirkt, durch stumme Klagen sich und die Ihrigen nur quaͤlen. Man bedenke, wenn ein Stilling eine solche Gattin gehabt haͤtte! Wenigstens waͤre er vor der Zeit gestorben. Aber er hatte sich auch die treue Gehuͤlfin dadurch geistig erworben, daß er nicht etwa ihre Schwaͤ- chen allzu nachgiebig ertrug, sondern bei ihrem mehr als 20jaͤh- rigen Koͤrperleiden sie mit Gruͤnden des Christenthums kraͤftigte, ihre Selbstverlaͤugnung unterstuͤtzte, und so zu veredeln wußte, daß sie als eine der edelsten Frauen anerkannt worden. Die Seelenfreundschaft dieses Ehepaars war eine Vereinigung fuͤr die Ewigkeit, und sie konnte sich fuͤr die Erde nicht schoͤner vollenden, als daß sie bei der nur anscheinenden Trennung Hand in Hand in jene Heimath hinuͤbergingen, wie er selbst 27 Jahre vorher ahn- dungsvoll als frommer Saͤnger an seinem Trauungstage gesun- gen hatte. Nie werde ich auch vergessen, wie sich beide — es war ein Vierteljahr vor ihrem Tode — uͤber diesen gemeinsamen Uebergang in die Ewigkeit unterhielten. Das war eine Heiter- keit, womit sie daruͤber sprachen, wie sie wohl sonst von einer vor- genommenen Reise redeten. Wir Kinder konnten dabei kaum traurig werden; die lieben Eltern freuten sich auf die Reise, denn sie wußten, daß der himmlische Vater sie abrufe. Bei diesem christlichen Hausstande konnte es nicht am Segen fehlen. Alles war in einem einfachen, aber wohlgeordneten Wohl- stand, und mitten unter den Lebenssorgen wußten unsere Eltern doch alles das sehr schicklich bei ihrer ausgebreiteten Bekanntschaft und Gastfreundschaft zu beobachten, was diese erforderte. Die Kinder erhielten alles, was zur guten Erziehung gehoͤrt; sie sind nun fast alle versorgt, und die Eltern sind niemanden etwas schuldig geblieben, was bezahlbar ist. Dank ihrer treuen Fuͤrsorge! Ja wir sind uͤberzeugt, daß es kein Unrecht der Eltern ist, wenn sie den Kindern kein Geld und Gut hinterlassen, sondern viel- mehr oft ein großes Unrecht, wenn sie das fuͤr sie sammeln, was den Goͤtzendienst der Welt beguͤnstigt. Moͤge der Segen dieser Eltern so auf ihren Kindern ruhen, daß keines ihrer unwuͤrdig sey! „Sind wir doch so reich,“ schreibt die zweite Tochter an die aͤlteste, „solche fromme Eltern und Vorfahren gehabt zu ha- „ben, wer moͤchte mit anderm Reichthum tauschen!“ — Und die aͤlteste schrieb dieser: „Wo sind nun, wenn ich zu Euch „komme, die Edlen, denen wir alles zu danken haben? wo der „Engelsvater, bei dessen Anblick man vor Ehrfurcht niedersinken „mochte, in dessen Naͤhe man so tief das Gluͤck fuͤhlte, sein Kind „zu seyn? Ach, und die reine, liebe Mutter mit ihrer Sorge „und Zaͤrtlichkeit! Die leidende Engelsseele! wo soll ich sie suchen? Daß in den letztern Baͤnden der Stillingsgeschichte das Per- soͤnliche, welches seine Familie betrifft, weggeblieben waͤre, moͤch- ten wir wohl wuͤnschen; auch moͤchte sonst manches auf einem fremden Standpunkte zu kleinlich erscheinen. Man bedenke aber, daß dem Verfasser nichts zu klein war, was ihm zum Bekennt- niß seines Glaubens an die allergenaueste Vorsehung diente, weil er wohl wußte, wie in ihrem Gange uͤberhaupt nichts klein sey. Und wer mag jene Kindlichkeit und Offenheit tadeln, welche nur in die spaͤtern Verhaͤltnisse nicht mehr passen wollte, aber desto mehr den klassischen Werth der ersten Theile jenes Buches erhoͤht! Es war des großen Dichters unserer Nation nicht unwerth, daß er das Werk zuerst zum Druck befoͤrdert hat. Auch wir Kinder Stillings danken Goͤthe dafuͤr, wie wir uͤberhaupt sein edles Herz in allem erkennen, was er schon als akademischer Freund unserem Vater gewesen, wofuͤr unser Dankgefuͤhl nie ersterben wird. In ihrer Richtung waren diese beiden Geister sehr ver- schieden, aber sie blieben auch im Alter, und gewissermaßen im Stillen, Freunde. Goͤthe hat sich in dem Buche, das aus sei- nem Leben erzaͤhlt, auf eine Art uͤber Jung erklaͤrt, welche die- sen ungemein gefreut hat; und geruͤhrt hat er ihn durch den Be- such, welchen er dem alten Freund noch im Jahre 1815 in Karlsruhe abstattete. Leider mußte durch eine ungluͤckliche Fuͤ- gung kleiner aͤußerer Umstaͤnde unser Vater gerade an diesem Tage wegreisen, er sprach nach der langen Reihe von Jahren den Jugendfreund kaum eine halbe Stunde. Es war dem Va- ter und den Seinigen sehr schmerzlich, daß ein laͤngeres Zusam- menseyn, das er selbst so sehr gewuͤnscht hatte, nun gaͤnzlich ver- eitelt war. Nie haben wir ihn anders, als mit geruͤhrtem Her- zen und großer Hochachtung von diesem Freunde sprechen hoͤren. Ueberhaupt verlor sein treues Gemuͤth keinen bewaͤhrten Freund auch aus der fruͤhern Zeit. Jung-Stilling hatte das Gluͤck, bei einer so ausgebreiteten Bekanntschaft, wie sie nicht leicht ein Gelehrter findet, auch viele vertraute Freunde zu besitzen, mit welchen er im muͤndlichen und schriftlichen Umgang lebte. Schon seine gelehrte Laufbahn, wo er in Zweigen der Kameralistik als Schoͤpfer von immer noch geschaͤtzten Systemen auftrat, und uͤberhaupt sein genialer Geist hatte ihm viel Ansehen, manche persoͤnliche Verbindung und eine große Korrespondenz erworben. Wie mancher ausge- zeichnete Staatsmann war sein Zuhoͤrer, und schaͤtzt immer noch diesen Lehrer? Wir koͤnnten auch der Hochachtung erwaͤhnen, welche ihm ein Kant in einem Briefe bewies, worin ihm der- selbe uͤber einige Fragen, die Anwendung seiner philosophischen Grundsaͤtze theils auf kameralistische Gegenstaͤnde, theils auf das Christenthum betreffend, ausfuͤhrlich antwortet, und es dieser große Philosoph mit voller Zustimmung billigt, daß Jung seine Beruhigung im Evangelium suche. Doch hier ist nicht der Ort zu allem diesem. Wir wollen nur hierbei denjenigen dieser Freunde, die etwa noch leben, unsern Dank laut versichern, daß sie auch in solchen Verhaͤltnissen unserm Vater Freundlichkeit bewiesen haben. Vornehmlich aber war es seine religioͤse Schriftstellerei und sein ausgezeichneter Christusglaube, was ihm viele Gemuͤths- freunde nah und fern erwarb. In fast allen europaͤischen Laͤn- dern, auf dem Lande und in den Hauptstaͤdten, in beiden In- dien, in dem Hottentottenlande, im weiten Asien und auf Ota- heiti wurde seiner mit Liebe gedacht, wurde fuͤr ihn gebetet; — o, es war etwas Großartiges, zu hoͤren, wie bei ihm oft aus den entlegensten Gegenden der Erde zugleich Nachrichten vom Reiche Gottes einliefen, wie das Christenthum eine so schoͤne Ge- meinschaft der Geister unter den verschiedensten Voͤlkern unter- hielt, wie er von seiner Seite alles dazu beizutragen suchte, und sich in diesem so seltenen und großen Wirkungskreise nur mit Demuth gluͤcklich fuͤhlte! Ich bin uͤberzeugt, daß er mit einem apostolischen Geiste aller dieser christlichen Freunde, und so be- sonders auch der christlichen Missionsgeschaͤfte in seinem taͤglichen Gebete gedacht hat. Wer ihm auch in geheimen Angelegenheiten sein Vertrauen geschenkt hat, wird es, waͤhrend Jung-Stilling lebte, nicht bereut haben. Niemand braucht auch nach dieses Freundes Tode zu besorgen, daß seine Geheimnisse unbewahrt blieben. Keins sei- ner Kinder und keiner seiner Vertrauten hat etwas von dem er- fahren, was ihm je ein Freund als ein Heiligthum in seine Seele gelegt. Auch hat er selbst alles Geheime fuͤr sich nur in Chif- fern geschrieben, die nur er verstand, und hat alle seine gehei- men Papiere dem aͤltesten Sohne, dem damaligen Hofgerichts- rath Jung in Rastadt, jetzigen Oberhofgerichtsrath zu Mannheim, uͤbergeben, dessen Treue anerkannt ist, und der alles heilig ver- wahrt, bis es etwa von denen, welchen es eignet, abgefordert wird. Wir wissen jedes Vertrauen, das unserm seligen Vater geschenkt worden, noch nach seinem Tode zu ehren. Auch manche Große der Erde gewaͤhrten ihm das Gluͤck einer naͤhern Bekanntschaft, worin er das schauen konnte, was er in jedem Menschen so gerne sah, und was er mit doppelter Freude in ihnen erblickte. Denn er ehrte in ihnen ihre goͤttliche Bestim- mung, und auch das war ihm Religion. Sie schaͤtzten seine Gradheit, Offenheit und Bescheidenheit, erfreuten sich an seinem reichen Geiste, und staͤrkten sich an seiner Gottseligkeit. Er suchte nicht die Großen, sie suchten ihn, und das machte ihnen Ehre, denn er sprach auch ihnen seine Ueberzeugung freimuͤthig aus, und erlaubte nie irgend eine Schmeichelei; nur vergaß er nie seine Ehrfurcht. Ueberhaupt hatte er in diesen Verbindungen nie- mals sich vor Augen, und machte zu keinem aͤußern Zwecke da- von Gebrauch, als etwa wo es anging, fuͤr irgend eine wichtige Wohlthat. Daß er auch den Seinigen hierdurch nicht Vortheile zu verschaffen suchte, war ganz seiner Wuͤrde und unsern Wuͤn- schen gemaͤß. Wo er einmal Gnade von einem Großen empfangen hatte, blieb es ihm stets ins Herz geschrieben. So dachte er bis an sein Ende mit Dankgefuͤhl an seinen vorigen Landesherrn, den Kurfuͤrsten Wilhelm den IX. von Hessen Koͤn. H. Er hatte auch die Huld Sr. Majestaͤt des russischen Kaisers Alexan- der I. auf eine Art erfahren, daß sein ganzes Herz diesem ho- hen Menschenfreund mit Segenswuͤnschen ergeben war. — Doch es ziemt uns nicht, die Gnadenbezeugungen aller der guͤtigen Erhabenen zu nennen, so gerne wir auch unser Dankgefuͤhl laut aussprechen moͤchten. Aber uͤbergehen duͤrfen wir nicht ein Verhaͤltniß, welches zu- naͤchst in Stillings religioͤses Leben gehoͤrt. Das war die Freund- schaft zwischen ihm und dem verewigten Großherzog von Baden, Karl Friedrich , welche schon seit langen Jahren bestand. Beide waren Freunde und Christen seltner Art; wer sie beide sah, glaubte in ihnen eine apostolische Wuͤrde zu erblicken. Jung-Stilling ist bekannt, aber auch Karl Friedrich, und wer je das Gluͤck hatte, in dieses Fuͤrsten- und Christengemuͤth zu schauen, besitzt eine bleibende Seelenfreude. Sie waren beide durch ihr innerstes We- sen zu einander hingezogen, und so war unter ihnen eine Freund- schaft der seltensten Art erwachsen. Auch blieb das Heiligthum derselben bei der großen aͤußern Verschiedenheit durch den gegen- seitigen Edelsinn rein bewahrt, und wurde nicht durch die min- deste fremdartige Einmischung entweiht. Oft dachte Jung-Stil- ling im Kreise seiner Familie an den hochgefeierten Herrn mit Thraͤnen, und heilig wuͤrde schon darum den Seinigen das An- denken dieses Fuͤrsten seyn. Auch die ausgezeichnete Gnade, welche ihm Hoͤchstdesselben erhabener Nachfolger, der Großherzog Karl erwiesen, erfuͤllte das Herz unsers Vaters mit der geruͤhrtesten Dankbarkeit bis uͤber das Grab. Und der Dank gegen dieses hohe und liebe Fuͤrst nhaus ist fuͤr Jung-Stillings Kinder und Kindeskinder ein gluͤckliches Erbtheil. Wir moͤchten allen Freunden Stillings nah und ferne sagen, daß wir sein Andenken dadurch ehren, wenn wir im Herzen behalten, was sie ihm gewesen. Wir glauben seine Stimme zu vernehmen, wie er ihnen Segen aus dem Lande der Verklaͤ- rung zuruft. Stillings Siegesfeier . Eine Scene aus der Geisterwelt. Seinen Freunden und Verehrern von .... r .. Vorerinnerung . Stillings Tod in einem Gedicht zu verherrlichen, war von dem Tage an, wo er starb, mein fester Vorsatz. Ich konnte ihn aber nicht ausfuͤhren, ehe ich die umstaͤndliche Nachricht von seinen letzten Augenblicken hatte. Daher erscheint dieß Gedicht so spaͤt, ohnehin da auch andere haͤufige Arbeiten mich an der Ausfuͤhrung hinderten. Was den Plan betrifft: so glaubte ich, Stillings Ansichten im Allgemeinen folgen zu muͤssen; denn sein Geist, durch so manche Erfahrungen gelaͤutert, mußte eben- deßwegen auch eine wahrere Ansicht von uͤberirdischen Dingen haben, und so wenig wir auch die Ewigkeit zu durchschauen vermoͤgen: so erhebend ist es doch fuͤr unser Gemuͤth, sich in die Geisterwelt gleichsam mit einem Zauberschlag zu versetzen, und die Feier der Belohnung eines Gerechten mitzubegehen. — Als einer der waͤrmsten Verehrer des Verewigten glaubte ich auf diese Art ihm noch die letzte Ehre zu erweisen, und keiner seiner wahren Freunde wird mir das verargen. Ich nahm La- vaters Verklaͤrung zum Muster, und da diese durch ihren innern Werth so vielen Beifall fand: so wird Stillings Siegesfeier wenigstens durch Stillings Namen eini- gen Werth erhalten. Daß Stilling bei seinem Eintritt ins Lichtreich vieles von seiner Idee Abweichende gefunden haben wird, daran ist kein Zweifel; wer will, wer kann es aber deßwegen wehren, Vermu- thungen aufzustellen, die auf Vernunft und Analogie, auf Glaube und Offenbarung gegruͤndet, und wenigstens zuverlaͤssig der wahren Gestalt des ewigen Lebens nicht zuwider sind: wenn nur ein Nutzen dadurch bezweckt wird, den man doch gewiß nicht laͤugnen kann. Um nun auch ein Wort von der Form zu sprechen, so weiß ich zwar recht gut, daß der Hexameter nicht der dramatischen Poesie angehoͤrt; aber durch seinen majestaͤtischen Gang, durch seine Wuͤrde und Fuͤlle scheint er mir fuͤr solche Gedichte sehr passend, auch ohne mich auf Stillings Lavater zu beru- fen. Einige Namen habe ich aus Stillings Geistersce- nen beibehalten, theils weil sie schon bekannt sind, theils weil ich eine Neuerung hier fuͤr unnoͤthig halte. Einige eigenthuͤmliche Vorstellungen und Muthmaßungen in dem Gedichte wird der Leser nicht verkennen. Erklärung der Namen . — Elgamar : — Gott hat vollendet. Ischchail : — Mann der Kraft. Israel : — Gottes Kämpfer. Betachjah : — der auf den Herrn vertraut. Ohephiah : — der Gott liebt. Anmerk . 1. Ich lasse Stilling bei seinem Erwachen vom Tod nicht erstaunend ausrufen: Wo bin ich? War ich nicht noch eben krank ? ꝛc. weil ich glaube, daß er, als ein im Geisterreich so bewanderter Mann, und auf diesen Augenblick so lange gefaßt, nicht so sehr überrascht worden sey, wenn auch die Wirklichkeit seine Erwartung weit übertraf. Anmerk . 2. Den Todesengel denke ich mir nicht als einen in Schauer gehüllten Diener Gottes , sondern in einer mehr freundlichen Gestalt; denn seine Verrichtung ist für den Menschen immer wohlthätig; den Gerechten führt er zur Vergeltung, den Gottlosen hält er von fernerer Versündigung ab. Erste Scene . Elgamar (der Engel der Vollendung) und Ischchail . (mit Elgamar auf einer Wolke schwebend; ein dünner Nebelflor umschleiert sie.) Eile, du himmlischer Bruder! O kaum, kaum kann ich’s erwarten, Bis ich den Theuren erblicke, umarmend ihn in Entzückung; Bis ich ihn wallen seh’ im Gefild’, nach dem sich sein Geist sehnt, Und einstimmen ihn höre in unsere Freudengesänge, In des Himmels Triumph! O glaube mir, selbst auch ereil’ ich Harrend den Augenblick, wenn sein Geist, von der Hülle entbunden, Freudig empor sich hebt aus irdischer Fesseln Umschlingung; Wenn er, den siegenden Blick von des Erdballs Trümmern gehoben, Durch die Räume des Aethers, vorbei den Glanz der Gestirnwelt, Aufwärts schwebt zu der Flur, wo des himmlischen Athems Gedüfte Seinen Geist umweht, wo des Heimweh’s schmerzliche Wehmuth Schwindet im Himmelslicht, und in innige Wonne sich auflöst. Welch’ ein freudiges Amt, den Erhabenen heimzuführen In die Wohnung des Vaters, wo Schmerz sich endet und Trauer! Wer war wirksam wie Er ? — Entflammt von Liebe zu Jesus Wollte er Friede bringen der Welt, sie zur Seligkeit rufend; Wollte das ganze Geschlecht der sündebelasteten Menschen Innig liebend umfah’n, und zum ewigen Licht’ hin leiten. Viele verehrten ihn auch, und benützten die warnenden Winke, Die seinem ahnenden Geist’, voll göttlicher Weihe, entquollen; Aber die Feinde des Kreuzes, von schimmerndem Truge verblendet, Achteten nicht sein Wort, und entwürdigten Gottes Geweihten. — Stilling duldete still, und trug selbst Schande und Kränkung, Denn ihn stärkte der Blick auf die allumfassende Liebe, Ihn sein Vertrauen auf Den , der für uns einst blutend erblaßte. Wer hat gekämpft wie Er mit Ungemach widriger Schickung, Schmerzen und Körperqual? Wen hat der Finger des Höchsten So in die Nacht der Leiden, ins Dunkel der Prüfung geführet? Und wer heftete fester den thränenden Blick durch das Dunkel Auf den leitenden Stern, der Licht und Hoffnung ihm strahlte? Unermüdet und treu, stets thätig mit Rathen und Helfen, Goß er des Lichtes Strahl in das Auge jammernder Blinden, Und entflammte die Herzen mit Funken göttlichen Feuers. Nie erstarb seine Liebe zum Ewigen ; fest und beharrlich War sein Sinn zu Gott . — Er wird jetzt herrlich ihm lohnen. — Nun, mein Bruder, wohlan! — Des Kämpfenden Schmerz ist am Ziele! Zweite Scene . Stillings Sterbelager . (Kinder und Enkel umher.) Sieh’, wie sein matter Blick empor sich erhebet zum Himmel, Wie sein Auge sich labt an unserer Wolke Umstralung! Gieß’ ihm Frieden ins Herz, und schwinge die Sichel der Lösung Ueber des Scheidenden Haupt! Empor aus der sinkenden Huͤlle! Werde zu Licht, du Geist! (schwebt verklärt zwischen beiden auf der Wolke zum Himmel.) (Nach einer Pause des Erstaunens:) Hallelujah! Preis dem Erlöser! Mich auch führt er zum Licht! Sagt, Himmlische! bin ich es würdig? Darf ich Ihm , dem Ewigen , nah’n, meine Rettung Ihm danken? Ja, du wirst Ihn sehen! Durch wenige Stufen nur fuͤhrt dich Deiner Vollendung Pfad hinan zu des Ewigen Throne! Doch, ihr Brüder, ich scheide! Mich ruft ein göttlicher Auftrag, Mich der Vollendung Amt. (Er entschwindet, und in der Ferne naht sich ein glänzendes Paar Verklärter.) Entdecke mir, Strahlenumglänzter! Wie man als Waller im Staub dich nannte, welches der Länder Dich auf der Erde genährt — (enthüllt sich ihm). Du nanntest mich Eberhard Stilling , Ich meinen Enkel Dich! O Herrlicher, trieb dich die Liebe, Die du mir schon auf Erden geweiht, mir entgegen zu eilen? — Nun so gönne mir auch, wenn du darfst, jetzt deine Umarmung! (glänzt majestätisch, und hält Stilling umschlungen). Theurer! schon lange erwartet’ ich dich in den Pforten von Zion. Jetzt, da du ausgeglaubt, jetzt folgt dir das selige Schauen. Ach, wie süß ist’s doch, und wie wonnig, was nimmer und niemals Einer verirdischten Seele, sich vorzustellen, vergönnt ist: Einen verklärten Geist in Geistergestalt zu um- fassen ! Welch’ ein unendliches Meer von Wonne werd’ ich genießen, Bis ich die Himmlischen alle begrüßt in Bruder-Umarmung! — Sage mir aber, wer sind jene beiden Schimmerumgoß’nen? Engel oder Verklärte? Wie nennt sie die himmlische Sprache? Israel , Lavater einst, und Eickel, jetzt Betachiah ! Bin ich, ihr Heilige ! würdig, euch stets noch Brüder zu nennen? Bruder Ohephjah ! so nennen wir dich als Jerusalems Bürger, Tausendmal willkommen in dieser ewigen Heimath, In den frohen Gefilden Aetherions! — Uns ist es Freude, Dir, der du uns’re Verklärung sangst, entgegen zu eilen. O gedenket des schwachen Gesangs nicht! Nur wie ein Schatten Ist er von diesem Gefild’; ihn umschleiert der Sterblichkeit Hülle. Nie kann ein irdischer Geist, gebeugt von des Körpers Umengung, Diese unendliche Welt voll Seligkeit gänzlich erfassen. Schwinden muß irdischer Glanz, wo des Himmels Strahlen erglühen! Bruder! Bürger des Himmels! genieße nun jenes Entzücken, Jenen himmlischen Jubel, nach dem du auf Erden dich sehntest! Blicke nicht sorgend zurück auf die theuren Kinder und Lieben, Die mit umflortem Blick nachweinend am traurigen Grabe Stehen; es ruht auf ihnen dein hinterlassener Segen, Und ihre Seligkeit ist im Rath der Liebe beschlossen. Auch der trauernden Freunde Zahl, deine warmen Verehrer, Liebend gedenken sie dein, und auf manchem, den du dort kanntest, Ruht dein Elias-Geist. Dem Herrn allein sey die Ehre ! Was ich Schwacher im Staube gewirkt, war göttliche Gnade. Hebt euch, Geliebte! empor, und schwebt auf dem Fittig des Wunsches Hin zum Sitze der Freude, wo goldener Wolken Umwallung Durch der Seligkeit Tempel weht, und die Säulen des Friedens; Wo die Verklärten thronen, und ewig danken und rühmen; Wo in balsamischen Düften ihr Dankgebet zu dem Thron wallt. Dort wirst du alle finden, Ohephjah ! die du einst liebtest, Alle, die dir voran in die Wohnung des Friedens gezogen. Dritte Scene . Die Vorigen in der Versammlung der Verklaͤrten. Ewige Liebe! gib Kraft, dieß hohe Entzücken zu fassen, Das mit Gewalt mich ergreift bei so vieler Seligen Anblick! Sagt mir, ihr Brüder! geweiht in die Kunde der Himmelsbewohner, Wer die Herrlichen waren, so lange im Körper sie wallten? Hier diese nahenden Geister, die einst auf der Erde dich kannten, Will ich dir nennen; bald wenn du des Ewigen Antlitz geschaut hast, Wird dein Blick sich erhellen, und jeglicher wird dir bekannt seyn, Sieh, wie sie freundlich dir nah’n, und nach deiner Umfassung streben: Diese umschlungenen Seelen, die Edeln aus ihrem Geschlechte, Glänzend im Strahlengewand — sie waren Gefährtinnen kurz noch Dir auf der dornigen Bahn: Christine, Elise und Selma ! Dort in verjüngter Gestalt erblickst du Dortchen und Wilhelm , Hier deine früh’ entschlummerten Kinder; dort deine Freunde, Deiner Verwandten Zahl — sie alle schimmern im Lichte, In der Verklärung Wonne — sie alle freuen sich deiner, Wehen dir Himmelsluft und balsamischen Athem entgegen. (in die Schaaren gemischt, eins nach dem andern umarmend.) Uebermaß der Wonne! Welch Meer von Seligkeit gießt sich Ueber mich her! Ein Augenblick nur dieses himmlischen Wohlseyns Wiegt unzählige Jahre des schmerzlichsten Leidens und Kampfs auf! Willkommen hier im Reich des Lichts! In diesen Jubel-Auen! Du wirst des göttlichen Angesichts Unnennbare Klarheit schauen! Du hast gekämpft für Jesu Reich, Der mit dem Vater thronet; Und was ist je dem Glücke gleich, Mit dem Er jetzt dir lohnet? Am Thron des Höchsten wirst du steh’n, Vor dem sich Welten beugen; Vor dem der Engel Heere sich In tiefer Ehrfurcht neigen. Dann glänzt sein holdes Auge dir Vom gold’nen Sitze nieder; Vom Seraphim ertönen hier Mit Harfendonner Lieder. Preis dem unendlichen Licht! dem Schaffenden, daß Er mich würdigt, Ihn zu erblicken, das Wesen der Wesen, der Schöpfungen Urquell! Als noch der Erde Fesseln mit Last und Kummer mich drückten, Weilte ich gern in einsamer Still’, und empor von der Erde Auf den Schwingen der Phantasie zum Aether gehoben, f orschte ich sinnend nach, und suchte mir Spuren des Urbilds. O welch’ süßer Genuß, wenn ein Funke nur höheren Ursprungs Mir die Seele entflammte! Wie plötzlich schwanden mir Schmerzen, Angst und Kummer dahin! Wie unaussprechlich, wie herrlich Muß das Entzücken seyn, den Herrn von Angesicht schauen! Ach! die Hoffnung schon begießt mich mit Strömen von Jubel! Wohlan! Dein Sehnen wird nun wahr! Im Schwung sapphirner Flügel Schwebt hier ein Cherubinen-Paar Herab vom Thrones-Hügel. Sie führen dich zum Urlicht hin, Zu seines Throns Umglänzung; Dort fühlt dein wonnetrunk’ner Sinn Nicht mehr der Lust Begränzung. Vierte Scene . Die Vorigen . (Ein purpurfarbiger ätherischer Wagen schwebt auf den Fittigen zweier Cherubim daher; oben sitzt Hesekiel . ) Steige herauf, Geweihter! Der wundenbestralte Erlöser, Der beim Vater die Menschheit vertritt — mich hat Er gewürdigt, — Der ich im Erdenthal schon seine Herrlichkeit schaute — Dich zum Thron zu führen, wo Freude im höchsten Genuß quillt! O so gib mir auch Kraft, den gefeierten Anblick zu tragen! (Vor dem Throne niedergeworfen.) Jesus Christus, Erbarmer! Dich schauend, bin ich nun selig ! Komm zur Freude des Herrn, du Getreuer! du Sieger im Kampfe! An die Leser . Höher emporzuschweben, versagt dem Geist’ die Ermattung. Noch zu sehr klebt irdischer Staub an den sinkenden Schwingen. Aber was ich geseh’n, ist Wahrheit. Stilling ist selig In dem Herrn entschlafen, nachdem er Tausenden segnend, Warnend und helfend erschien, Laßt uns, ihr Brüder, ihm folgen! Kurz ist der Erde Schmach, und ewig der Selig- keit Wonne ! Ende des ersten Bandes.