Die Verwaltungslehre. Von Dr. Lorenz Stein. Zweiter Theil . Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1866 . Die Lehre von der Innern Verwaltung. Einleitung. Die Lehre von Begriff, Inhalt, System und Recht der Verwaltung. Die wirkliche Innere Verwaltung und das Verwaltungsrecht. Erster Theil . Das Bevölkerungswesen und sein Verwaltungsrecht. Von Dr. Lorenz Stein. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1866 . Buchdruckerei der J. G. Cotta’schen Buchhandlung in Stuttgart. Vorwort. Ich lege hiemit den ersten Theil meiner Inneren Verwal- tungslehre der deutschen wissenschaftlichen Welt vor. So gering ich auch meine eigene Arbeitskraft und meine Kennt- nisse anschlagen mag, so hat mich dennoch dieser Theil davon über- zeugt, daß es kaum einen Menschen geben wird, der allein im Stande wäre, das ungeheure, bei jedem Schritte sich in Vergangen- heit, Gegenwart und Zukunft weiter ausdehnende Gebiet der Wissen- schaft der Verwaltung zu überwältigen. Was ich hier für einen Theil eines Theiles zu leisten versucht, wird wenigstens als Bei- spiel für das dienen, was hier zu leisten ist, soll das Werk der Aufgabe würdig sein. Wer daher je mit mir und nach mir es unternehmen wird, hier weiter zu arbeiten, der bedarf mehr als der bloßen Arbeits- kraft. Er wird einer höheren sittlichen Idee bedürfen, um Muth und Eifer da aufrecht zu halten, wo das Maß menschlicher Kraft zu gering erscheint gegenüber demjenigen, was die Wissenschaft hier noch von ihr zu fordern hat. Diese Idee ist eine große. Mich hat sie begleitet und ge- tragen. Möge sie jedem zur Seite stehen, der die Hand an dieß gewaltige Werk legt! Das Ideal der Geschichte ist der vollendete Mensch. Seine Vollendung wird er nie allein aus sich heraus gewinnen. Die Gemeinschaft der Menschen muß in allen Formen ihm helfen, ihn schützen und fördern. Die Gemeinschaft aber ist, indem sie das thut, die Dienerin eines höheren als des menschlichen Willens. Sie lebt, indem sie das thut, ihr eigenes Leben. Sie erhebt sich hoch über die Willkür, den Zufall, den Unverstand der Einzelnen. Sie folgt Gesetzen und geht Wege, die eben so unwandelbar sind, wie die, welche die natürliche Welt beherrschen. Sie erscheint mit langsam wirkender aber unwiderstehlicher Gewalt auf allen Gebieten des Lebens. Auf jedem hat sie in andern Formen dieselben Auf- gaben, aber um ihrer Formen willen hat sie auf jedem Gebiete einen andern Namen. Hier, wo wir stehen, in der Arbeit der Gemeinschaft für die Bedingungen der freien individuellen Entwick- lung heißt sie Verwaltung . Die Verwaltung ist daher mehr als eine Institution, mehr als eine Nothwendigkeit, mehr als ein Recht. Sie ist der Organismus des Lebens der Gemeinschaft in ihrem Verhältniß zum Leben und zur höchsten sittlichen Bestimmung der Einzelnen. Sie ist damit ein Theil des höheren Weltlebens. Dem aber dienen wir alle, und es lohnt uns, indem es uns sein eigenes Wesen, seine eigenen Gesetze so weit offenbart, wie unsere geistige Kraft reichen mag. Die Substanz aber, in der sich dieß Leben bewegt, ist auch hier wesentlich die Gesellschaft und ihre Ordnungen. Sie sind es, welche der abstracten Idee der Verwaltung Richtung und Form geben. Die folgende Arbeit wird darthun, was wir bisher als das allgemeine Entwicklungsgesetz des Gesammtlebens aufgestellt haben, daß nicht bloß die Verfassung, sondern daß auch die Ver- waltung und ihr Recht nur durch die Gesellschaftsordnungen verständlich werden, aus denen sie ihre Gestalt empfangen, für die sie arbeiten. Es wird keine Verfassungslehre, aber es wird auch keine Verwaltungslehre mehr ihrer Idee entsprechen, ohne die Wissenschaft der Gesellschaft. Und indem wir so mit der Grundlage der Gesellschaftsbildung die Verwaltung erfüllt, entstand uns eine weitere Anschauung. Es ist kein Zweifel, daß die bisherige Geschichte, und darum auch die bisherige Verwaltung und das Verwaltungsrecht nur noch die drei Grundformen der Geschlechter — der Ständischen — und der Staatsbürgerlichen Ordnung kennt, jede von ihnen wieder innerlich in Classen getheilt und erfüllt mit allen Gegensätzen und Bewegungen, welche die Classen und ihr Element, die Vertheilung des Besitzes, hervorrufen. Ist nun die Weltgeschichte mit diesen Ordnungen zu Ende? Sehen wir uns um. Wohin wir blicken, tritt uns Eine, alles andere überragende Thatsache entgegen. Auf allen Punkten arbeitet die Welt dahin, die niedere Classe durch ein immer steigen- des Maß von Opfern zu heben, die sie den höheren auferlegt; und wunderbar, diese Opfer, die die letztere bringt, werden in ihrer Hand zuletzt zu einem Segen und Genuß für sie selber . Am Horizont unseres menschlichen Gesammtbewußtseins steigt die, noch unklare, noch durch rohe Interessen und sinnverwirrte Auffassung verkehrte, und dennoch der Gottheit entstammende Erkenntniß her- auf, daß die erste Bedingung alles irdischen Glückes und aller menschlichen Vollendung des Einzelnen das Glück und die Voll- endung des Anderen sei. Wir wagen das nicht zu läugnen, aber wir wagen das auch noch nicht zu wissen. Und während wir, alle Einzelne, zaudernd und unsicher vor dieser Erkenntniß stehen, geht jene Wahrheit ruhig, im Kleinen und Nächsten zu- nächst arbeitend, ihren mächtigen Gang. Sie baut Schulen für die niedere Classe, sie errichtet Krankenhäuser, sie stiftet Vereine, sie fordert für sie Kredit und Hülfe, sie sorgt für ihre Gesundheit, sie lichtet ihre Häuser, sie pflanzt ihre Gärten, sie gibt Wasser, sie gibt Brod, sie ruft alle Besitzenden herbei zur Theilnahme an allem Veredelnden, Bildenden, Erhebenden, sie macht die Eine Classe verantwortlich für die ruhige aber sichere Entwicklung und Hebung der andern, und was wir als die höchste christliche Pflicht verehren, die thätige Liebe des Einen für den Andern, das erhebt sie mit oder ohne klar formulirtes Bewußtsein zunächst im Namen des Interesses zur Pflicht der gesellschaftlichen Ordnung. Und der große Organismus, durch den sie diese Pflicht erfüllt, und der unablässig thätig ist in allen seinen Organen, das ist die Ver- waltung . Wollt ihr die Erde kennen, so löst ihr den Stein und das Wasser im kleinsten Naume in ihre elementaren Bestand- standtheile auf, und schaut die gewaltigen Kräfte in den Atomen wirkend an. Wollt ihr die Verwaltung kennen, wie sie jetzt her- vorgeht aus dem höheren Leben, dem wir alle unterworfen sind, so thut für sie dasselbe; nehmt Eine Verwaltungsmaßregel, und löst sie auf in ihre Gründe, ihre Objekte und ihr letztes Ziel, und ihr werdet den unwiderstehlichen Gang der Bewegung im kleinsten Körper und seiner Geschichte verstehen. Eine Verwaltung, wie sie jetzt nun fast unter unsern Händen entsteht, war niemals da in der Weltgeschichte. Es ist kein Zweifel, daß sich eine neue, vierte Gestalt der Gesellschaftsordnung bilden will. Sie wird hundert oder zweihundert Jahre brauchen, aber kommen wird sie. Und sie wird zum Inhalt haben, dem Reichthum, der Klugheit und selbst dem Interesse zu beweisen, was die Menschenliebe und das warme Herz so gerne glauben, daß die materiellen Ordnungen des wirth- schaftlichen Lebens, wie die formellen der Staatsthätigkeit doch zuletzt einem Höheren dienen, und daß die edelsten Gefühle der Menschen, daß die höchsten Gesetze der Religion ein Recht haben, dereinst die „praktische“ Welt zu regieren, und die Grundlagen der Verwaltung zu bilden . Es ist doch vielleicht nicht ohne Werth, auch in praktischen Dingen den höchsten, abstractesten Standpunkt festzuhalten. Dem sei wie ihm wolle; das Folgende mag zunächst und vor allem seinen Werth als rein wissenschaftliche Arbeit suchen. Vielleicht daß es ihr gelingt, die Bahn für eine höhere, zugleich historische und organische Auffassung der Verwaltung zu brechen. Ihr bester Erfolg wäre der, daß Andere dann Besseres leisten. Wien , November 1865. L. Stein. Inhalt. Allgemeine Einleitung. Begriff. Inhalt, System und Recht der inneren Verwaltung . Seite Aeußere Definition der innern Verwaltung und der Verwaltungslehre 3 Erster Abschnitt. Die geschichtliche und organische Entwicklung des Begriffs und Inhalts der Verwaltung . I. Die Geschichte der Verwaltungslehre 6 1) Der Lebensproceß der Menschheit und die Stellung von Staat und Verwaltung in demselben. Die Ideen des Staats als Ge- wissen der Verwaltung. Die Geschichte des Staatsbegriffes bildet daher die Grundlage der Geschichte der Verwaltungslehre. Eine andere giebt es nicht, die ausreichend wäre 6 2) Der Wohlfahrtsstaat und das jus naturae et gentium. In ihm verschmilzt die Verwaltungslehre mit der Rechtsphilosophie; das jus naturae ist im Grunde das System der Verwaltungslehre. Christian Wolf. — Die zweite Gestalt dieses Verhältnisses erscheint darin, daß die Verwaltungslehre aus der Rechtsphilosophie heraus- tritt, und als selbständige Wissenschaft den Namen der Polizei- wissenschaft annimmt. Justi und Sonnenfels. — G. H. v. Berg. — Charakter der Polizeiwissenschaft am Ende des 18. Jahrhunderts 11 3) Der Polizeistaat. Darstellung desselben als Uebergang vom Wohl- fahrtsstaat zum Rechtsstaat 17 4) Der Rechtsstaat und sein Verhältniß zur Verwaltungslehre. Seine hohe Bedeutung für die Idee der vollziehenden Gewalt, seine geringe für die Idee der eigentlichen Verwaltung. Er entwickelt die Ideen der Verfassung und des Gesetzes, und begründet die der Selbstverwaltung und des Vereinswesens; seine Rechtsphilo- sophie hat aber keine Anknüpfung an die Idee der Verwaltung und daher kein System und keine Wissenschaft desselben 21 Seite 5) Die drei Grundformen der Auffassung des Rechtsstaats. Das Princip des Contrat social. Die ethisch-logische Auffassung der deutschen Philosophie. Die negative Idee des Staatsbürgerthums und des staatsbürgerlichen Rechts. Norddeutschland und Süd- deutschland 24 6) Das Schicksal der Verwaltungslehre in dieser Epoche bis auf die Gegenwart 30 a) Die Cameralwissenschaften und die Verwaltungslehre. — Sie sind die realistische Form der letzteren, verlassen daher das ganze Gebiet der Staatswissenschaft und werden zu bloßen Gewerbs- lehren mit nationalökonomischer und administrativer Färbung 31 b) Das Staatsrecht und die Verwaltungslehre. — Allgemeiner Charakter des Verhältnisses beider. Die drei Richtungen in demselben 33 I. Das Verwaltungsrecht der einzelnen Verwaltungsgebiete, und Uebergang zur Verwaltungslehre in diesen speziellen Behand- lungen. Begriff, Inhalt und Entstehung der rationellen Bearbeitung der einzelnen Verwaltungslehren. Werth der- selben. Doch fehlt eben die Einheit 35 II. Territoriale Gesetzsammlungen für das Verwaltungsrecht 38 III. Das Auftreten des systematischen Verwaltungsrechts neben dem Verfassungsrecht. — R. v. Mohl 38 c) Die Verwaltungslehre in der Form der Volkswirthschaftspflege. Die physiokratische Schule. — Die Schule von Adam Smith. — Die deutsche Volkswirthschaftspflege 39 II. Inhalt und Wesen der innern Verwaltung 42 1) Die Idee der Verwaltung als organischer Theil des Staatsbegriffs. Verhältniß derselben zur Verfassung 43 2) Das System der Verwaltung. Grundlage und Schema desselben 50 3) Das Princip und die Politik der Verwaltung 55 4) Der Begriff der Polizei und das Verhältniß der Polizeiwissenschaft zur Verwaltungslehre 62 a) Das Wesen der Polizei und ihr Verhalten zur Verwaltung 63 b) Die historische Grundlage des specifischen Polizeibegriffes 67 c) Der heutige Begriff und Inhalt einer „Polizeiwissenschaft“ 72 Zweiter Abschnitt. Das Verwaltungsrecht . I. Begriff und Definition des Verwaltungsrechts. Die Begriffe der Verwaltungsgesetzkunde und der Wissenschaft des Verwaltungsrechts. Der Begriff der administrativen Individualität des Staats 74 II. Die Bildung des geltenden Verwaltungsrechts 78 Seite 1) Die beiden Faktoren der Bildung dieses Rechts, die Regierung und die Volksvertretung, und ihr eigenthümlicher Charakter in Beziehung auf das Verwaltungsrecht 78 2) Die Entwicklung des rechtsbildenden Processes, den wir die consti- tutionelle Rechtsbildung des Verwaltungsrechts nennen. — Begriff und Bedeutung der sogenannten Initiative der Regierung 81 3) Die Gränze zwischen dem gesetzmäßigen und verordnungsmäßigen Verwaltungsrecht 83 4) Der Charakter der Bildung des positiven Verwaltungsrechts in England, Frankreich und Deutschland 85 III. Codification und Wissenschaft 92 Anhang. Die Idee des internationalen Verwaltungsrechts 94 Die wirkliche Innere Verwaltung und das Verwaltungsrecht. Erstes Hauptgebiet . Die Verwaltung und das persönliche Leben 101 Erster Theil . Das physische Leben und die Verwaltung 103 Die vier Gebiete derselben 103 I. Das Bevölkerungswesen und die Verwaltung 106 Bevölkerungspolitik und Bevölkerungsordnung 106 A. Die Bevölkerungspolitik 110 Einleitung. Begriff, Inhalt und gegenwärtige Bedeutung derselben 110 Die einzelnen Maßregeln und Aufgaben der Bevölkerungspolitik 122 I. Das öffentliche Eherecht. Begriff und Inhalt desselben 124 (Die beiden Gebiete desselben, das Recht der Eheconsense und das Recht der Ehebeförderung sind zu unterscheiden. — Das historische Princip der Entwicklung dieses Rechts.) 1) Wesen des öffentlichen Rechts der Eheconsense 128 (Dasselbe muß als ein, in der Gesellschaftsordnung begründetes System betrachtet werden. Daher sind vier Hauptformen zu unterscheiden.) 2) Das öffentliche Eherecht der Geschlechterordnung 129 (Das väterliche Consensrecht wird der reine Charakter desselben. — Das Hagestolzenrecht und sein Verschwinden.) II. Das öffentliche Eherecht der ständischen Ordnung 132 (Die drei Formen: das Eherecht der ständischen Unterschiede des ständischen Gesetzes, und des ständischen Berufes.) 1) Das öffentliche Eherecht zwischen Freien und Unfreien. Das rein ständische Eherecht 132 2) Das öffentliche Eherecht des Lehnwesens 135 3) Das öffentliche Eherecht des ständischen Berufes 136 (Das Cölibat und der militärisch-amtliche Eheconsens.) Seite III. Das öffentliche Eherecht der polizeilichen Epoche 140 (Wie dasselbe den Charakter der polizeilichen Epoche überhaupt trägt. Daraus Entstehung der beiden Seiten desselben, Ehebeförderungsmittel und Ehe- verbote. Eigenthümliches Verhältniß Deutschlands gegenüber England und Frankreich in dieser Beziehung.) 1) Die polizeiliche Beförderung der Ehe und die Kinderprämie 143 2) Die Ehebeschränkungen des vorigen und des jetzigen Jahrhunderts in Deutschland 146 (Die Begriffe des staatlichen Eherechts als der eigentlichen Ehepolizei, und das Eherecht der Gemeindeordnungen bis auf die Gegenwart.) a) die amtliche Ehepolizei 146 b) Das Eheconsensrecht in den Gemeindeordnungen 149 IV. Die Elemente des freien öffentlichen Eherechts der staatsbürgerlichen Gesellschaft 156 (Grundlage desselben ist der Unterschied zwischen der Freiheit der Ehe und dem öffentlichen Recht ihrer Beschränkung auch in dieser Gesellschaftsform. Die letztern entstehen gemäß den Elementen der Geschlechts-, der ständischen und der staatsbürgerlichen Ordnung.) II. Kinderpflege 162 (Verweisung der darüber geltenden Grundsätze in das Gesundheits- und Hülfswesen.) III. Einwanderung, Auswanderung und Colonisation 163 (Die Zurückführung auf die Gesellschaftsforderungen und die Elemente der gesellschaftlichen Freiheit ist die Grundlage ihres Verständnisses im All- gemeinen, und ihres öffentlichen Rechts im Besondern. Folgen, die sich daraus ergeben.) A. Einwanderung und innere Colonisation 168 (Verlassen des bisherigen Standpunktes in Betreff dieses Gebietes der Be- völkerungspolitik. Begriff der Einwanderung gegenüber dem Begriff der Fremden und der Niederlassung. Die Geschichte des Einwanderungsrechts erscheint dadurch nothwendig mit den Grundformen der Selbstverwaltung also mit denen der Gesellschaftsordnung verbunden) Begriff der Einwanderung 169 Erste Epoche. Die Einwanderung und die Geschlechtsordnung 170 Zweite Epoche. Die Einwanderungen der ständischen Ordnungen. Der Besitz, der Beruf und der Stand als Grundlage derselben. Das erste Auftreten der staatlichen Einwanderung; die erste innere Colonisation 171 Dritte Epoche. Die polizeiliche Zeit. Das populationistische Ein- wanderungswesen 174 Vierte Epoche. Das staatsbürgerliche Einwanderungswesen. Das Auftreten des Princips der Freizügigkeit und der Niederlassungs- freiheit. Das Einwanderungsrecht wird dadurch vollkommen identisch mit dem Heimathswesen, und verschwindet aus der Verwaltungslehre 176 B. Auswanderung und äußere Colonisation 182 (Nachweisung, daß jede Gesellschaftsordnung eine ihr eigenthümliche Form der Auswanderung besitzt, und daß demgemäß auch das Auswanderungsrecht ein ganz verschiedenes wird, das man nur nach den socialen Verhältnissen Seite richtig beurtheilen kann. Specielle Darstellung der äußeren Colonisation, ihrer Entstehung und ihres Verhältnisses zur Verwaltung, und endlich der Grundsätze und Bestimmungen, welche das heutige Auswanderungs- wesen bilden Standpunkt dieses Rechts in England, Frankreich und Deutschland.) I. Der Classenunterschied als Grundlage aller Auswanderung 183 (Natur und Bedeutung der Classenunterschiede in der Gesellschaftslehre. Alle Auswanderung hat zu ihrer Grundlage die Stellung und den Gegensatz der nichtbesitzenden Classe gegen die höhere herrschende und besitzende.) II. Das Auswanderungswesen der Geschlechtsordnung 186 (Die Grundlage desselben in der Vertheilung des Grundbesitzes. Die so- genannten Militär- und Handelscolonien.) III. Das Auswanderungswesen in der ständischen Gesellschaft 188 (Dasselbe muß in das berufsmäßige, vorzüglich das kirchliche und in das grundherrliche Auswanderungsrecht geschieden werden.) 1) Das berufsmäßige und kirchliche Auswanderungsrecht 188 2) Das grundherrliche Auswanderungsrecht 191 (Das grundherrliche Abzugsrecht jus oder census (gabella) emigrationis, Detractsrecht und seine Geschichte.) IV. Das Auswanderungsrecht der polizeilichen Epoche 194 (Wesen des populationistischen Auswanderungsrechts. Das Detractrecht wird zum Regal und verschwindet. Grundlage und Entstehung der Auswande- rungsverbote. Inhalt und Gestaltung derselben. Die äußere Colonisation.) V. Das Auswanderungswesen der staatsbürgerlichen Gesellschaft, oder die freie Auswanderung 201 (Begriff und gesellschaftlicher Charakter der freien Auswanderung. Was das freie Auswanderungsrecht bedeutet. Entstehung und Entwicklung der Sorge für die freie Auswanderung. Daher denn die Scheidung von 1) Aus- wanderungspolizei. 2) Auswanderungspolitik.) B. Die Bevölkerungsordnung und die Verwaltung 209 (Was man unter der Gestalt und der Ordnung der Bevölkerung zu verstehen hat. Beide erscheinen als Gegenstände der Verwaltung und enthalten die vier folgenden Theile der Bevölkerungsverwaltung.) I. Das Zählungswesen 213 1) Begriff und Bedeutung des Zählungswesens im Allgemeinen 213 2) Begriff des Rechts der Zählungen. Aufstellung des allgemeinen Princips für dieses Recht 215 3) Grundlage der Geschichte des Zählungswesens 216 4) Die Schätzungen der Volkszahl 217 (Wahrer Begriff der Schätzungen. Sie bilden die Vorläufer der Zählungen, Süßmilchs hohe Verdienste um die ganze Bevölkerungslehre.) 5) Die Geschichte der eigentlichen Volkszählung. Justi als der erste Theoretiker der Volkszählung 220 6) Das Zählungswesen in den einzelnen Staaten 222 a) Der allgemeine Gang der Entwicklung des Zählungswesens seit dem Beginn dieses Jahrhunderts 222 b) Die deutschen Volkszählungen und ihr Charakter. Engels 224 c) Das Zählungswesen in Oesterreich. Das Volkszählungsgesetz von 1856 225 Seite d) Das Zählungswesen in England. Enger Zusammenhang mit dem Standesregister 226 e) Das Zählungswesen in Frankreich. Die enge Verbindung desselben mit der innern Verwaltung 227 II. Die Standesregister. (Die Verwaltung und die Bewegung der Bevölkerung) 229 (Die Standesregister sind ihrem Wesen nach die öffentliche rechtliche Consta- tirung der Thatsachen von Geburt, Ehe und Tod, und ihre Geschichte so- wie ihr gegenwärtiges Recht enthalten die Verwirklichung dieses Gedankens.) 1) Wesen und administrative Bedeutung der Standesregister 229 2) Ordnung der Standesregister 231 (Die Begriffe des Inhalts, der Führung und des Rechts der Standesregister als Grundlagen und Aufgaben dieser öffentlichen Ordnung.) 3) Geschichte und Entwicklung der Standesregister 233 (Die Grundlagen dieser Geschichten werden am besten ausgedrückt in den Be- zeichnungen der Kirchenbücher, der Geburts- und Todtenregister (oder Kirchenregister) und der eigentlichen Standesregister. Wie sich diese drei Grundformen unterscheiden.) 4) Zur Geschichte der Standesregister in den einzelnen Staaten. Cha- rakter derselben 237 Oesterreich. Patent vom 20. Februar 1784 238 Preußen. Doppeltes Recht 238 Frankreich. Gesetz von 1792 und 1807 240 England. Gesetzgebung von 1836 242 III. Paß- und Fremdenwesen. (Die Verwaltung und der Wechsel der Bevölkerung) 245 Vorbemerkung über den Charakter desselben. I. Das allgemeine Rechtsprincip und System des Paß- und Fremden- rechts 247 (Begriff des öffentlichen Reiserechts. Doppelter Inhalt. Es enthält zuerst das Recht auf eventuelles Verbot der örtlichen Bewegung, zweitens die Herstellung der öffentlich rechtlichen Bedingungen der Constatirung der Staatsangehörigkeit und Individualität. Die Mittel für diese Verwaltungs- aufgabe.) II. Die historische Entwicklung des öffentlichen Rechts des persönlichen Verkehrs 253 (Die ursprünglichen Geleitsbriefe. Das rein polizeiliche Paßwesen. Die all- mählige Scheidung in Princip und Praxis für die Pässe der Reisen von und nach dem Auslande und für das innere Fremdenrecht.) III. Das Paßwesen 259 (Formeller und rechtlicher Inhalt des Passes. Die drei Grundformen des Paß- wesens in Europa, das freie Paßwesen Englands, das polizeiliche Frank- reichs, und die Verbindung beider in Deutschland durch das Paßkarten- system.) IV. Das Fremdenwesen im Allgemeinen 264 (Definition des „Fremden.“ Zurückführung des gesammten Fremdenwesens auf die zwei Grundprincipien des Meldungssystems und des Legitimations- systems. Daß nur das letztere das richtige sein kann.) Seite V. Die einzelnen Maßregeln des Fremdenwesens nach dem Meldungs- und Legitimationssystem 268 (Die Aufenthaltskarte. — Die Legitimationskarte. — Die Fremdenbücher. — Die Gesindemeldung. — Die Wanderbücher. — Die Gewerbs- und Hausirpässe. IV. Die administrative Ordnung der Bevölkerung 272 (Die Begriffe und das Recht von Competenz, Zuständigkeit, Gemeindebürger- recht und Heimathswesen.) Vorbemerkung 272 Der Begriff und das Recht der administrativen Ordnung der Be- völkerung im allgemeinen 273 Das System des Rechts der administrativen Bevölkerungsordnung 274 (Begründung und Entwicklung der Begriffe von Competenz und Zuständigkeit, von Gemeindebürgerrecht und Heimathsrecht. Die Begriffe und das Recht des Staatsbürgerthums und des Indigenats und ihr Zusammenhang mit dem Obigen. — Schema. Das Princip für die historische Entwicklung des Rechts der admi- nistrativen Bevölkerungsordnung und ihrer Grundverhältnisse 282 (Die Erwerbung des Gemeindebürgerrechts muß von der Zustimmung der Gemeinde, das Heimathsrecht von der Organisationsgewalt abhängig sein. Daher bildet sich das geltende Recht wesentlich erst als System mit dem Auftreten der allgemeinen staatlichen Verwaltung.) England. Schottland und Irland 287 (Die Selbstverwaltungskörper als Grundlage der administrativen Ordnung der Bevölkerung. Die Stellung der Gerichte und ihre Aufgabe. Begriff und Inhalt des Verwaltungsbürgerthums. Die Verschiedenheit des Heimaths- rechts in England, Schottland und Irland.) Frankreich 299 (Das allgemeine Staatsbürger- und Wahlrecht nimmt das Verwaltungs- und Gemeindebürgerrecht in sich auf, die amtliche Competenz und Zu- ständigkeit das Heimathsrecht, so daß mit unbedeutenden Ausnahmen die ganze Angehörigkeit an die Selbstverwaltung im Wahlrecht und Domicile untergeht.) Deutschland 306 (Allgemeiner Charakter. Bei strenger Durchführung der Systeme von amt- licher Competenz und Zuständigkeit fast gänzlicher Mangel an Verwaltungs- gemeinden; daher Aufgehen des Heimathsrechts in die Angehörigkeit an die Ortsgemeinde) Die geschichtlichen Grundformen der Verwaltungsordnung der Bevöl- kerung im Allgemeinen, besonders in Beziehung auf Gemeinde und Heimath 309 1) Die Elemente der Bevölkerungsordnung in der Geschlechterordnung. Reste derselben in unserer Zeit 309 2) Die Ordnung der Bevölkerung in der ständischen Epoche 314 (Begriff und Inhalt der Standesangehörigkeit. Die feudalen Angehörigkeiten. Die städtische Angehörigkeit. Bürgerthum und Bürgerrecht, Schutzbürger- thum, Hörigkeit.) 3) Die Entstehung der eigentlichen Verwaltungsordnung der Bevölke- rung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert 321 Seite (Die Bedeutung des Rechts des gerichtlichen Forums. Die Entstehung der Oberaufsicht als amtliche Competenz. Das Heimathswesen als noch unbe- stimmte Grundlage der Armenverwaltung.) 4) Das neunzehnte Jahrhundert und die Verwaltungsordnung der Bevölkerung in Deutschland, namentlich das Gemeindebürgerrecht und das Heimathsrecht 327 Allgemeiner Charakter 327 Die Gemeindeangehörigkeits- und Heimathsfrage in Deutschland 328 (Die historische ständische Ortsgemeinde wird die Grundlage des ganzen Ge- meindewesens und damit der gesammten Selbstverwaltung in Deutschland. Folgen dieser Thatsache für die Verfassung und Verwaltung der letztern im Allgemeinen und für das Heimathswesen im Besondern.) Literatur und Gesetzgebung 340 Oesterreich 341 Preußen 342 Bayern 345 Württemberg 347 Sachsen 349 Hannover 352 Die Innere Verwaltung. Einleitung. Die Geschichte des Begriffes der Verwaltung. Die Idee der Verwaltung, das Verwaltungsrecht, sein Begriff, seine Bildung und sein Verhältniß zur Wissenschaft. Stein , die Verwaltungslehre. II. 1 Begriff, Inhalt, System und Recht der Innern Verwaltung. Aeußere Definition der Innern Verwaltung und der Verwaltungslehre. Es mag wohl verstattet sein, beim Beginne dieses zweiten Haupt- theiles unseres Werkes einen Blick auf dasjenige zurückzuwerfen, was wir im ersten Theil, der Lehre von der vollziehenden Gewalt, darge- legt haben. Es bleibt unsere Ueberzeugung, daß gerade in diesen Ge- bieten die Bestimmtheit und Schärfe der Definitionen die erste Bedin- gung für ein wirkliches Fortschreiten in der Wissenschaft ist. Diese aber werden stets nur dadurch gewonnen werden, daß wir den Theil in seinem organischen Verhältniß zum Ganzen auffassen. Wir haben im organischen Staatsbegriff die Verwaltung im weite- sten Sinn als die That des Staats, der Gesetzgebung als seinem Willen gegenübergestellt. Die Entwicklung des Begriffes der That gab uns den Inhalt der Verwaltung. Während sie beim Individuum in ihren Momenten äußerlich ununterscheidbar als ein Ganzes zusammenfällt, erscheinen diese Momente in der höheren Persönlichkeit des Staats nicht bloß als innerlich selbständige, sondern auch als äußerlich geschiedene, mit eignen Organen und eignen Rechten begabte Functionen. Wir haben in diesem Sinne zuerst die Vollziehung von der Verwaltung ge- trennt aufgefaßt. Sie ist die That des Staats noch ohne Objekt, das Thun an sich, das im einzelnen Menschen nur als schwer unterscheid- bares psychologisches Moment existirt, im Staate dagegen nicht bloß selbständig dasteht, sondern sogar wieder in drei Momente zerfällt. Die Verordnungsgewalt, deren Objekt das Wollen der Ausführung für sich betrachtet, die Organisationsgewalt, deren Objekt das Organ der Aus- führung, und die Zwangsgewalt, deren Objekt die materielle Thätigkeit ist. Jede dieser großen Functionen ist nicht bloß abstrakt selbständig, sondern ist es auch in der Wirklichkeit; und diese Selbständigkeit erscheint als das Recht der vollziehenden Gewalt, ein Recht, welches wir die verfassungsmäßige Verwaltung im weitesten Begriff, oder speciell die verfassungsmäßige Vollziehung in dem Sinne nannten, daß ein be- ständiger, in Verantwortlichkeit, Klage und Beschwerde bestehender Pro- ceß im Staatsleben rechtlich anerkannt ist, durch welchen die Harmonie zwischen Verwaltung und Gesetzgebung stets wieder hergestellt wird, wo sie im Einzelnen als gefährdet oder gebrochen erscheint. Dann haben wir diese vollziehende Gewalt als solche in ihrem selbständigen Organismus dargelegt, und zwar als die Vollziehung durch das Staats- oberhaupt, die rein staatliche, der individuellen Persönlichkeit des Staats angehörige Vollziehung im Staat mit seinem Ministerial- und Be- hördensystem, die vollziehende Gewalt der Selbstverwaltung, und end- lich den ganz freien Organismus derselben im Vereinswesen. Und so hat sich das gebildet, was wir die Lehre von der vollziehenden Gewalt und ihrem Rechte genannt haben. Diese Vollziehung — das reine Thun des Staats — ward nun zur Verwaltung, insofern wir sie in Beziehung auf das wirk- liche Leben der menschlichen Gemeinschaft dachten. Der Begriff der Verwaltung enthält daher die Vollziehung als wirkliche That, die Gesammtheit aller wirklichen Akte der Vollziehung. Und hier haben wir wieder mit einem bekannten und vielgebrauchten Ausdruck einen bestimmten Sinn zu verbinden gehabt. Wir bezeichneten nämlich diese Verwaltung als eine solche, die in der unendlichen Vielheit ihrer Thätigkeiten dennoch eine bestimmte Ein- heit und Harmonie des Wollens und Thuns, der Verordnungen also, der Organisationen und der materiellen Ausführung haben muß und hat. Und insofern wir die Verwaltung daher als eine solche, auf bestimmten Principien beruhende innerlich einheitliche und harmonische aufstellten, nannten wir sie die Regierung . Regierung und Verwal- tung sind daher äußerlich ununterschieden dasselbe; sie sind überhaupt nicht zu scheiden, so wenig als Seele und Körper; es kann gar keine Verwaltung geben, die nicht Regierung wäre, noch umgekehrt; aber eins und dasselbe sind sie gerade so wenig oder so viel als eben Seele und Körper es sind. Dabei ist es genügend, wenn man diese Unterscheidung nur im Allgemeinen festhält; denn es kommt im Grunde nur darauf an, die Ausdrücke Regierung und Verwaltung, Regierungsgewalt und Verwaltungsgewalt mit ihrer eigentlichen Bedeutung wissenschaftlich gegenwärtig zu haben, um durch die ununterschiedene Benutzung der- selben im gewöhnlichen Leben die Sache selbst nicht verwirren zu lassen. Aber trotz dieser Einheit von Regierung und Verwaltung giebt es den- noch einen, und zwar eben so wohl bekannten als leicht verständlichen Fall, wo sich beide trennen. Es ist der, wo ein Ministerium abtritt. Das Ministerium bezeichnet eben in diesem Fall den Träger des Prin- cips der Verwaltung. Diese bleibt, aber die Regierung ändert sich. Und es wird daher auch leicht verständlich sein, wenn wir sagen, daß man eine Regierung angreifen kann, ohne die Verwaltung anzugreifen, und umgekehrt, und daß sich bei gleicher Regierung die Verwaltung ändern kann, und bei gleicher Verwaltung die Regierung. Der Unter- schied zwischen beiden ist daher ein praktischer; nur kann er natürlich nicht in den einzelnen Thätigkeiten zur Erscheinung kommen. Und da wir im Folgenden mit den einzelnen Thätigkeiten zu thun haben, so ist damit das ganze Gebiet dieser Frage als ein für uns hier erledigtes anzusehen. Nachdem wir auf diese Weise die Vollziehung von der Verwaltung unterschieden, haben wir diese eigentliche Verwaltung nun systematisiren müssen. Wir haben dabei den Satz zum Grunde gelegt, daß der Be- griff der Verwaltung, für sich betrachtet, weder ein System hat noch haben kann, sondern daß sein System ihm durch seinen Inhalt gegeben wird. Dieser Inhalt ist das Leben des Staats; die großen Elemente des Staatslebens bilden daher auch die großen Gebiete, und mit ihnen das System der Verwaltung. Diese Lebensgebiete — oder diese Ob- jekte der Verwaltung waren nun folgenden : zuerst das Güterleben des Staats, welches die Staatswirthschaft als das erste Gebiet der Verwaltung ergänzt; dann die rechtliche Selbständigkeit der Einzelnen einander gegenüber, welche als Gegenstand der Verwaltung zur Rechts- pflege wird; und endlich die individuelle Entwicklung der einzelnen Staatsangehörigen, welche als Aufgabe des Staats den dritten Theil der Verwaltung oder die innere Verwaltung bildet. Die innere Verwaltung des Staats umfaßt daher die Gesammt- heit aller derjenigen wirklichen Thätigkeiten des Staats, deren Aufgabe und letztes Ziel sich als die individuelle Entwicklung aller dem Staate angehörenden einzelnen Per- sönlichkeiten — und zwar im weitesten Sinne des Wortes — darstellt. Die innere Verwaltungslehre ihrerseits enthält die Gesammtheit der Grundsätze im Staate, durch welche sich diese Thätigkeit der innern Verwaltung im Ganzen wie im Einzelnen bestimmen soll. — Das ist nun dasjenige, was wir als die äußerliche Definition der Verwaltung und Verwaltungslehre zu betrachten haben. Wenn wir nun von der Ueberzeugung ausgehen, daß diese innere Verwaltung das höchste Gebiet des Staatslebens und die innerlich und äußerlich reichste Aufgabe desselben enthält, so müssen wir diese Auf- fassung allerdings näher begründen. Erster Abschnitt. Die geschichtliche und organische Entwicklung des Begriffs und Inhalts der Verwaltung. I. Die Geschichte der Verwaltungslehre. 1) Der Lebensproceß der Menschheit und die Stellung von Staat und Verwaltung in demselben . Die Gesammtanschauung des organischen Staatslebens, wie wir sie so eben wieder kurz bezeichnet und in der Lehre von der vollziehen- den Gewalt ausführlicher dargelegt, zeigt nun zwar im Allgemeinen, daß die innere Verwaltung es mit den Elementen des Staatslebens in ihrem weitesten Umfang zu thun hat. Es ist nun aber das weder neu, noch ist es von großem Werth, es zu sagen, so lange man es in dieser Allgemeinheit auffaßt. So wie man aber sich auf einen etwas höheren Standpunkt stellt, gewinnt der Gegenstand eine ganz andere, viel höhere und faßbarere Bedeutung. Die höhere Idee der Persönlichkeit zeigt uns, daß alles das, was auf diese Weise in die Sphäre des Einzellebens hinein oder aus ihr heraustritt, zu einem Elemente der persönlichen Entwicklung aller An- dern wird. Es ist allerdings unmöglich, diesen Proceß, der sich aus dem unendlichen Wechsel des gegenseitigen Bestimmens, des Förderns und Hemmens aller Menschen durch einander ergiebt, in seinen einzelnen Momenten genau zu verfolgen. Wohl ist die Natur reich an Erschei- nungen und an unerschöpflichem Wechsel von Verhältnissen und That- sachen; es wäre thöricht, zu glauben, daß ein menschliches Auge die äußern Bewegungen, eine menschliche Berechnung die scheinbaren Zu- fälligkeiten in den sich drängenden innern und äußeren Einflüssen der Dinge auf einander verfolgen und messen könnte. Und dennoch ist es kein Zweifel, daß diese unberechenbare Mannichfaltigkeit der Beziehungen der Dinge unter einander noch als arm erscheint gegenüber dem unerschöpf- lichen Reichthum der menschlichen Berührungen und Bestimmungen. Und alle diese menschlichen gegenseitigen Einwirkungen, wie sie wechseln und sich ändern durch den Einfluß der Natur und der individuellen Charaktere, durch die Hoffnungen und Interessen der Menschen, durch die guten und schlechten Eigenschaften derselben, sind, und das ist der allgemeinste Ausgangspunkt des Folgenden, Bedingungen und Elemente des Lebens und des Fortschrittes, des Glückes und des Unglückes, ja des Bestehens und des Unterganges zunächst des Einzelnen, durch ihn aber des Ganzen . Wie der Stein, der ins Wasser fällt, seine Kreise in unendlich weiten Wellenbewegungen zieht, und mit tausend andern gleichen und verschiedenen Bewegungen sich kreuzt, ohne daß ein menschliches Auge die Gränze zu verfolgen vermag, so trifft auch jede Handlung eines Menschen die menschliche Gemeinschaft, und erzeugt Folgen, die für den nächst Stehenden oft gewaltig und entscheidend, aber die niemals ganz ohne Einfluß auf die entferntesten Lebensver- hältnisse der Menschheit bleiben. Und das ist der tiefste Unterschied zwischen der menschlichen That und dem natürlichen Ereignisse, daß das letztere, seinem Wesen nach äußerlich bedingt, auch in seinem Inhalt und seinen Folgen vorübergehend ist; die menschliche That aber ist unsterblich wie der Mensch selbst, der sie gethan ; und das, worin sie fortlebt, die ihr angehörende Ewigkeit, ist das Gesammtleben der Menschheit, das Heil oder Unheil derselben, der Fortschritt oder Rückschritt, die Gesammtentwicklung des Menschengeschlechts. Und die Gesammtheit dieser menschlichen Thaten ist es nun, welche zum Substrat, zum Objekte der Thätigkeit des Staats in seiner in- nern Verwaltung werden soll. Ist das nun schon der Fall für das Enge und Geringe, was der Einzelne in Wille und That vermag, so ist es klar, daß es in tausendfach vergrößertem Maßstabe für das gilt, worin der Staat auf das Leben des Einzelnen einwirkt, und das wir, äußerlich zusammen- gefaßt, die Thätigkeit seiner innern Verwaltung nennen. Denn in Wahrheit, ob diese innere Verwaltung es weiß oder nicht weiß, ob sie es berechnet oder nicht berechnet, immer ist es das ganze menschliche Geschlecht, in dessen Leben ihre Action ihre Spuren zurückläßt, auch da, wo sie scheinbar nur mit dem Einzelnen zu thun hat. Ob sie Einem oder Vielen oder Allen befiehlt und sie bestimmt, immer steht sie mitten in der ganzen lebendigen Welt der Menschen, immer ist es die Ge- sammtheit, in die sie hineingreift. Und so viel größer und mächtiger als der Einzelne dieß wunderbare, sein eignes und so schwer verständliches Leben lebendes Wesen ist, das wir den Staat nennen, um so viel weiter und gewaltiger ziehen sich jene Kreise seiner Willensbe- stimmungen und Handlungen in die Gegenwart und Zukunft der mensch- lichen Geschlechter hinein. Ist das, was der Einzelne will und thut, seinem innern Wesen nach unsterblich, so ist das, was durch den Staat geschieht, auch äußerlich unvergänglich. Die folgende Zeit bedarf nicht erst einer höhern Weltanschauung, um die Dauer dieser staatlichen That abstract anzuerkennen; sie kann sie fassen und ergreifen; sie kann sie sehen und messen; sie kann das Gute und das Ueble, das daraus folgt, wieder als selbständige Thatsache feststellen; sie glaubt nicht bloß an die Ewigkeit dieser That des Staats, sie weiß und kennt sie. Dieß Kennen, dieß Wissen aber ist die Geschichte. Und die Geschichte der Staaten ist die Unsterblichkeit der Handlungen des Staats im Allge- meinen, und besonders in der Verwaltung. Wir haben nicht angestanden, diese Anschauungen hier an die Spitze einer höchst concreten, ja fast materiellen und in tiefe Einzel- heiten gehenden Arbeit zu stellen. Denn sie sind es, welche uns allein die wahre Höhe des Standpunktes geben, dessen wir bedürfen. Ist dem nämlich so, so ist es zwar möglich, wie es ja auch Jahr- tausende hindurch wirklich der Fall gewesen ist, daß der Staat handle und arbeite, ohne sich von dem Wesen und der Tragweite seiner That Rechenschaft abzulegen. Allein wenn er anfängt zu erkennen, was er ist, und damit die Bedeutung seiner eignen Wirksamkeit zu ahnen und zu verstehen, so ist es klar, daß er dieselbe vor allen Dingen als eine hochwichtige und mit seinem innersten Wesen in engster Verbindung stehende zu begreifen beginnen muß. Wo immer der Staat über das nachdenkt, was er will und thut, mag es sein, daß die Philosophie oder die praktische Theorie, oder das tüchtige Amt, oder die Volksvertretung, oder auch das Staatsoberhaupt diese Function übernimmt, stets wird er zunächst durch das Gefühl jener gewaltigen Ausdehnung seiner Ein- wirkung auf die Gesammtheit von dem zweiten Gefühl einer hohen sittlichen Verantwortlichkeit erfaßt werden. Die unmeßbaren Folgen, die der Wille oder die Handlungen der Staatsgewalt haben, wenn sie das Leben bestimmen oder hemmen, werden dieselbe nothwendig mit tiefem Ernst erfüllen, indem sie die öffentlichen Rechte und Zustände bestimmt; und der Einzelne, der dabei den Staat zu vertreten hat, wird, ist er anders der Aufgabe würdig, die ihm sein Schicksal zuge- wiesen, bei seinem eignen Meinen und Denken, bei seiner eignen Er- fahrung und selbst bei seinem wahrhaftigen Wollen sich ernstlich fragen, ob dasselbe nicht individuell, zufällig, oder unberechtigt erscheine neben der gewaltigen Aufgabe, die er auf der Höhe seiner Stellung überblickt; er wird nach einem Halte suchen, nach einem festen Leitfaden in der wirren Bewegung aller einzelnen Lebensverhältnisse, in die er hinein- greifen soll; er wird von sich selbst fordern, daß er in sich an die Stelle seiner subjektiven Ansichten, an die Stelle der individuellen Bil- dung und des momentanen Eindrucks ein festes Princip setze, das ihn selbst gleichsam zu vertreten hat, wo er unsicher wird; er wird, für den Staat wollend und handelnd, auch im Einzelnen sich gleichsam an diesen Staat selbst wenden, ihn um seine Natur, um seinen Zweck, um seine Mittel, Kräfte und Aufgaben fragen, um nicht bloß als Vertreter seiner selbst vor sich selber zu erscheinen, sondern als Organ und Zeuge dieses Staats, der sich ganz oder zum Theil in ihm ver- körpert hat. Er wird das Wesen des Staats suchen, um durch dieß Wesen des Staats das zu finden, was er für, was er in, was er durch den Staat zu thun hat. Ein Bewußtsein über das was Auf- gabe und Ziel der Verwaltung ist, ist ihm daher ohne Bewußtsein über das Wesen des Staats gar nicht möglich; aber das Letztere, in dieser oder jener Weise für den Einzelnen gefunden, giebt ihm dafür auch jene Festigkeit und Klarheit im Einzelnen, deren er bedarf, um nicht durch die Furcht vor dem Irrthum über das Wahre und Rechte im Einzelnen die feste Haltung in seiner Pflichterfüllung, das Ver- trauen zu dem eignen Urtheil und den freien Blick auf das Ganze zu verlieren. Das ist das natürliche, wahrhafte Verhältniß des Einzelnen, der an der Verwaltung Theil nimmt; das ist die Sittlichkeit der Idee der Verwaltung. Und das ist es nun auch, was es uns allein möglich macht, bei dem ungeheuren Umfang dieser innern Verwaltung und trotz der geringen Kenntniß, die wir noch immer von demjenigen be- sitzen, was wirklich als Verwaltung geschehen ist und geschieht, den Entwicklungsgang dieses so wichtigen und doch so wenig bekannten Theiles des menschlichen Lebens in seinen großen Grundzügen zu ver- stehen. In der That nämlich ergiebt sich aus dem Obigen, daß es viel- leicht möglich ist, über einzelne Theile und Aufgaben der innern Ver- waltung als abgeschlossene, für sich bestehende Fragen nachzudenken, daß es aber unmöglich bleibt, das Ganze der Verwaltung — ob man sie nun „Polizei“ oder anders nennt, gleichviel — aufzufassen, ohne eine Gesammtanschauung des Staats zum Grunde zu legen, oder viel- mehr unwiderstehlich auf sie zurückgeworfen zu werden. Denn diese Ge- sammtanschauung, dieser Begriff, diese Idee des Staats sind hier wahrlich kein bloß theoretisches, oder gar nur systematisches Element für das eigene Nachdenken, dessen man wissenschaftlich oder praktisch bedürfte, um sich in der Fülle und dem Drängen der unendlichen Einzel- heiten zurecht zu finden. Sie ist nicht eine formelle Begründung des Einzelnen, was man will oder verbietet. Die Idee des Staats ist vielmehr das Gewissen der Verwaltung . Sie ist der einzige Rechtstitel, der den Staat ermächtigt, in die freie Sphäre des indivi- duellen Daseins hineinzugreifen; sie ist dasjenige, was die Verantwort- lichkeit übernimmt, die dem Individuum unendlich viel zu groß ist; sie ist das versöhnende Element, wo die That der Verwaltung hart gefühlt wird und die Leidenden das als nothwendig Erkannte mit Klagen und Vorwürfen bekämpfen; sie ist der freie Blick in die Zukunft, wo die Verwirrung der Gegenwart uns über die Wahrheit und den Werth des für den Augenblick Zweifelhaften unsicher macht; niemand kann ihrer entbehren, denn immer und zu aller Zeit hat der Gang und das leitende Princip der Staatsverwaltung auf demjenigen beruht, was sich die leitenden Geister in dem Begriffe des Staats gedacht haben. Und in diesem Sinne nun sagen wir, daß wenn man von innerer Verwaltung und Verwaltungslehre als einem Ganzen redet, die eigentliche Grundlage der Gestalt derselben, sowie ihrer Geschichte doch zuletzt nur in der Gestalt und der Geschichte der Staatsidee gegeben ist. Denn die ganze Verwaltungslehre, oder wie man sie bisher ge- nannt, Polizeiwissenschaft, erscheint in der That nur als Anwendung jener Idee des Staats auf die einzelnen Gebiete der innern Verwal- tung. Für den Gang der letzteren im Großen und Ganzen hat die Behandlung der einzelnen Theile um so weniger Bedeutung, als die- selbe zuletzt doch immer fast unwillkürlich auf die Idee des Staats zurückkommt. Und wenn es daher gelingt, die große Entwicklung des letzteren auf ihre einfachen Elemente und Grundformen zurückzuführen, so ist damit die wahre und einzige Grundlage der Geschichte der Ver- waltungslehre oder Polizeiwissenschaft gefunden. Wir müssen das nachdrücklich hervorheben, denn in neuerer Zeit hat sich mehrfach, wie bei Mohl und zuletzt wieder bei Funk (Auffassung des Begriffes der Polizei im vorigen Jahrhundert, Zeitschrift für die Staatswissenschaft, Bd. XIX. ) der Gedanke geltend gemacht, als könne man eine Geschichte der „Polizei“ für sich aufstellen, und höchstens daneben die Geschichte des Staatsbegriffes als etwas, das auf jene „Einfluß“ hat, hinstellen. Das ist falsch. Das was wir früher Polizei genannt und jetzt Verwaltungslehre nennen, hat gar keine Entwicklung, keine Geschichte für sich. Es ist nichts als der Reflex, die systematisirte An- wendung und Ausarbeitung des Staatsbegriffes für das Gebiet der Verwaltungsaufgaben desselben. Der „innige Zusammenhang“ ist viel- mehr ein Verhalten des Ergänzt- und Beherrschtwerdens der letzteren durch die erstere. Es ist das Medium, in welchem sie leben, an dessen Brust sie sich nähren, und darum haben sie in der That nur in dem Grade wahre Bedeutung, in welchem sie jene Idee in den einzelnen Verhältnissen des praktischen Staatslebens zur Geltung bringen. Das gilt für die Staatswirthschaft als ersten Theil der Verwaltung; es gilt für die Rechtspflege als zweiten; es gilt aber vor allen Dingen für das Innere als dritten und umfangreichsten Theil der gesammten Staats- thätigkeit, mit dem wir zu thun haben. Das nun halten wir fest. Und das ist es auch, was uns abge- halten hat, dem Folgenden eine specielle Geschichte der Polizeiwissen- schaft oder Verwaltungslehre voraufzusenden. Denn jedes Werk über „Polizei“ oder Verwaltung wird bei einer, auf historischem Boden stehenden Verwaltungslehre mit seinen einzelnen Sätzen in den ein- zelnen Abtheilungen und Gebieten der Verwaltung ohnehin seine Stel- lung empfangen. Der Geist aber, der dasselbe als Ganzes durchdringt, ist nur an seinem Verhältniß zur Idee des Staats zu bestimmen und nur so weit gehört eine solche Arbeit eben dem Leben des Ganzen an. Es wird daher hier genügen, eben diesen Gang der Entwicklung im Ganzen darzulegen; nichts wird das Besondere unserer Arbeit klarer erscheinen lassen, als eben die große Verschiedenheit des Standpunktes, die dann in den kleinen Fragen sich von selbst erklärt. 2) Der Wohlfahrtsstaat und das jus naturae et gentium. (Christian Wolf. Justi. Sonnenfels. G. H. v. Berg.) Indem wir nun hier von der philosophischen Entwicklung und Begründung des Staats ganz absehen, werden wir den Begriff dessel- ben nur so weit darlegen, als er mit jener Idee der Verwaltung in Verbindung steht und die wirkliche Verwaltung wie die Verwaltungs- lehre beherrscht und durchdringt. Wir unterscheiden in dieser Beziehung zwei große Grundformen und damit zwei Epochen, die zugleich den Staatsbegriff und die Ver- waltungslehre gestalten. Die erste dieser Epochen bezeichnen wir mit dem bekannten Namen des eudämonistischen Staats oder Wohlfahrtsstaats , die zweite mit dem des Rechtsstaats . Jede von ihnen hat ihren Begriff des Staats, und die ihm entsprechende Gestalt der Verwaltungslehre. Beide geben damit zugleich die natürliche Grundlage für die Geschichte der Literatur ab. Sie sind der einzig wahre Hintergrund, auf dem sich die bedeutenden Arbeiten abzeichnen, welche die Literaturgeschichte der Verwaltungslehre bilden. Sie sind ferner das Band, durch welches dieß bisher so wenig bekannte Gebiet mit den übrigen Staatswissen- schaften in innere Verbindung gebracht wird. Denn es ist keineswegs zufällig, daß wir bisher einer Geschichte der Verwaltungslehre fast ganz entbehren. Kein Ding hat eine Geschichte, dessen innerer Zusammenhang mit dem Ganzen nicht klar ist, denn dieser Zusammenhang ist in Wahr- heit das Leben des einzelnen Dinges. Dieß Leben aber hat der histori- schen Auffassung der Verwaltung gefehlt. Es kommt darauf an, ihr dasselbe wiederzugeben. Der Weg dazu liegt offen. Eine andere Bele- bung der Verwaltungslehre als die durch den organischen und ethischen Zusammenhang mit der Staatsidee giebt es nicht . Keine Biblio- graphie, keine Summe von einzelnen Bemerkungen, vermag dieß ent- scheidende Element zu ersetzen. Wenn es uns gelänge, dieß auch nur im Großen und Ganzen klar zu machen und festzustellen, so würden wir glauben, etwas gewonnen zu haben. Es wird nun dieß erleichtert durch die große Einfachheit jener bei- den Grundformen und durch die Klarheit, mit der sich die Richtung der Verwaltungslehre im Großen und Ganzen an dieselben anschließt. Der Wohlfahrtsstaat , oder die eudämonistische Staats- idee ist trotz der vielfachen Trivialitäten, die ihn einst der öffentlichen Bildung so leicht verständlich und dann, als dieselbe sich gehoben hatte, fast lächerlich machten, eine der merkwürdigsten, und, wir sprechen es unbedenklich aus, eine der hochachtbarsten Erscheinungen in der Ge- schichte des geistigen und concreten Staatslebens. Die streng dialek- tische Philosophie der folgenden Zeit hat es sich zwar zur Regel ge- macht, mit einem gewissen Hochmuth auf sie herabzusehen, ja ihr die Berechtigung, eine philosophische Lehre zu sein, zum Theil geradezu ab- zusprechen. Es ist Zeit, daß wir diesen ebenso einseitigen und eingebil- deten, als verkehrten Standpunkt aufgeben. Am ersten sollten die Deutschen bereit sein, das zu thun. Denn jene eudämonistische Staats- idee ist eine specifisch deutsche Auffassung des Staats , und wir stehen keinen Augenblick an, zu behaupten, daß dieselbe unter allem dem was Deutschland geleistet hat, dem deutschen Geiste mit am meisten zur Ehre gereicht. Freilich ist es vor allem die Beziehung der- selben zur Verwaltung, welche ihr ihre wahre Bedeutung gegeben hat. Und der Mangel an einer Geschichte der letzteren mag zur Ursache des Mangels des Verständnisses der ersteren geworden sein. Der Grundgedanke der eudämonistischen Staatsidee ist einfach. Der Staat ist dazu da, um durch die in ihm vereinigte Macht in geistiger wie in materieller Beziehung die Wohlfahrt aller Staats- angehörigen zu fördern . Vergleicht man diesen Gedanken mit der platonischen Republik und ihrer starren, das Individium dem harmonischen Ganzen, die freie That dem abstrakten Begriffe opfernden Ordnung oder mit der in dieser Beziehung so eng beschränkten, gleichsam an jeder tieferen Auffassung verzweifelnden Aristotelischen Begriffs- bestimmung, welche den Staat als die einfache Thatsache der Ver- einigung der „Dörfer zur Stadt“ bestimmt, so ist der gewaltige, wenn auch nicht logische so doch ethische Fortschritt ein unläugbarer. In jener eudämonistischen Idee ist der Staat als selbständige Gewalt formell neben den Einzelnen gestellt, und hat eine selbständige Aufgabe, die den Einzelnen weder absorbirt, wie bei Plato, noch ihn gleichgültig seinen Weg gehen läßt wie bei Aristoteles. Seinem Inhalt und Zweck nach erscheint der Staat hier vielmehr als der Vater seiner Unterthanen, als eine Anstalt, deren Wesen und Werth in dem Guten besteht, das sie hervorruft , als ein Organismus, dessen Bestimmung und sittliche Pflicht es ist, das Heil des Ganzen zu verstehen und das Glück desselben zu verwirklichen. Kann man sich im Grunde eine freundlichere, edlere, den höchsten humanistischen Anschauungen mehr entsprechende Idee des Staats denken? Ist es nicht wahrhaft wohlthuend aus der Zeit des wildesten Faustrechts und mitten in der Epoche des unfreiesten Stände- thums von der Wissenschaft einen Gedanken vertreten zu finden, der bei aller Steifheit in der Form des Ausdrucks dennoch das Beste und Edelste was den Menschen bewegt, zu einem allgemein gültigen Princip des Wissens und des Thuns erhebt? Und dazu kommt, daß diese Staatsidee bei allen durch sie möglichen Irrthümern am Ende die erste ist, welche eben durch die in ihr zur Erkenntniß gelangende Scheidung von Staat und Einzelnen die Grundlage der Freiheit in der harmonischen Entwicklung des Ganzen geworden ist. Die Geschichtschreibung, die das nicht anerkennt, muß wahrlich als eine todte Theorie oder als Vorurtheil gerade in den Augen unserer Gegenwart erscheinen! Wir nehmen nun als bekannt an, daß der erste, der dem Staat von jenem Standpunkt auf- faßt, oder wenigstens diese Auffassung zuerst formulirt, Hugo Grotius ist. Pufendorf drückt ihn dann als Pflicht, officium, wir würden sagen, als ethisches Wesen des Staats aus, bis Wolf ihn in seinem jus naturae et gentium zu einem vollkommen ausgearbeiteten System des Staatslebens macht. Diese Grundanschauung des Staats gilt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Es ist auf den ersten Blick klar, daß der wahre Schlußpunkt dieser Auffassung kein anderer als eine möglichst vollständige Verwaltungslehre sein konnte. In der That war die Lehre vom Staat darnach die Lehre von der Ge- sammtheit der Mittel und Thätigkeiten, durch welche der Staat diese seine große Aufgabe, die Verwirklichung der Wohlfahrt aller Staats- angehörigen zu erfüllen habe. Und dieß ist somit auch der eigentliche Charakter alles dessen, was wissenschaftlich in diesem ersten Jahrhundert der entstehenden Verwaltungslehre geschehen ist. Man kann nun den Gang dieser Entwicklung in zwei große Theile scheiden, und jeden derselben an die dieselben vertretenden großen Namen knüpfen. Der erste Theil reicht fast bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Das Charakteristische desselben ist die Verschmelzung der Verwal- tungslehre mit der Rechtsphilosophie . Es ist das für die Sache ein großer Vortheil, aber freilich für das bisherige theoretische Verständniß derselben ein großer Nachtheil geworden. In der Sache selbst ist diese Aufnahme der gesammten Verwaltungslehre in die philo- sophische Staatslehre ein Sporn zur tieferen Auffassung des ganzen Staatslebens und der sittliche Halt für alle Kämpfe gewesen, die namentlich im vorigen Jahrhundert die Regierungen mit den alten, jeder inneren Entwicklung sich starr entgegen stellenden Vorrechten der Stände auszutragen hatten. Die Härte, mit der die letztern vertheidigt wurden, machte es unmöglich, die Bedingungen der freieren Entwicklung ohne Gewalt von Seiten des Königthums durchzusetzen; allein es war eben jene Philosophie, welche dieser Gewalt ihren ethischen Inhalt gab. Sie war es, welche die Regierungen im Ganzen und das Amt im Ein- zelnen für größere Ideen begeisterte und den „Staat“ mit seiner sitt- lichen Macht über das Gewöhnliche und Tägliche erhob; sie war es, welche im reinen Rechtsstudium und damit auch für die Schüler desselben, welche am Ende im wirklichen Leben verwirklichen sollten, was sie an der Universität gelernt, den Blick über die Definitionen und die Casuistik des herrschenden Römischen Rechts erhob; sie war es, welche in das „Regiment“ jener Zeit das Bewußtsein der Verantwortlichkeit dafür hineinlegte, daß die innere Entwicklung der Staaten, die allerdings in seine Hand gegeben war, nunmehr auch wirklich vorwärts gehe. Und es war wohl als ein Segen zu betrachten, daß die Verwaltungslehre auf diese Weise mit der Rechtsphilosophie untrennbar verschmolzen er- schien, ja daß im Grunde die Rechtsphilosophie fast nichts als rationelle Verwaltungslehre war . Denn eben nur dadurch ward dem Juristen eine Vorstellung von dieser Verwaltungslehre bei- gebracht und die Bahn für dieselbe und ihre selbständige Entwicklung geebnet. Der Hauptvertreter dieser Richtung war Christian Wolf . Nur die Unbekanntschaft mit Wesen und Inhalt der Verwaltungslehre macht es erklärlich, daß man diesen so hochbedeutenden und verdienten Mann so wenig beachtet und verstanden hat, während sein Einfluß so groß war, daß man wenige finden dürfte, die ihn übertroffen. Er war eben kein dialektischer Philosoph; aber er war im vollen Sinn des Wortes der Mann des rationellen Fortschrittes, und für diesen hat er sehr viel geleistet. Man kann unbedenklich sagen, daß seine Gedanken die ganze Staatswissenschaft des vorigen Jahrhunderts bis auf Kant be- herrscht haben. Und den Beweis dafür liefert eben die zweite Hälfte desselben. Das Charakteristische dieser zweiten Hälfte ist es nämlich, daß sich in ihr die Verwaltungslehre aus ihrer Verbindung mit der Rechts- philosophie herauslöst , und zu einer sebständigen Wissenschaft wird. Man nannte aus einer Reihe von historischen Gründen diese neue Wissenschaft die „ Polizeiwissenschaft .“ In der That war sie aber nichts als die, aus dem alten Jus naturae herausgenommene Verwal- tungslehre. Die Hauptträger dieser neuen Bewegung waren Justi und Sonnenfels , zwei Männer, deren Namen die Nachwelt stets mit hoher Achtung nennen wird. Beide, und mit ihnen die Schaar der Kleineren, stehen unverhohlen und mit vollem Bewußtsein auf dem eudämonistischen Standpunkt. Der Unterschied von der alten admini- strativen Rechtsphilosophie liegt dabei wesentlich in dem Weglassen der abstrakten ethischen Begründung der Staatsidee. Die neue „Polizei- wissenschaft“ nimmt den eudämonistischen Standpunkt als ausgemacht an, und geht sofort auf die einzelnen Gebiete der Verwaltung ein. Die Behandlung ist eine einfache, klare und objektive, aber dafür auch zum Theil sehr kalte, oft langweilige und im Kleinen pedantische. Die eigen- thümliche Wärme, die gehobene Stimmung des Ganzen, welche sich durch das Bewußtsein einer großen Weltanschauung auch dem Einzelnen mittheilt, fehlt; die trefflichste Absicht vermag das nicht zu ersetzen; es ist bei aller Tüchtigkeit stets das Gefühl da, als ob die geistige Initiative dem Ganzen mangle und als ob dasselbe zwar breiter, aber nicht tiefer werde; es ist eben kein Gegner mehr vorhanden, mit dem das Ganze zu kämpfen hat, und man sieht es der geistigen Physiogno- mie dieser Werke an, daß sie die leichtere Mühe haben, ein für sie ent- schiedenes Princip anzuwenden, als es aufzufinden. Dabei ist es kein Zweifel, daß Sonnenfels höher steht als Justi. Bei Justis Arbeiten sieht man auf jeder Seite mehr den Professor als den Staatsmann; es ist schon etwas darin, das an das Paragraphenthum der damaligen und gegenwärtigen Kathederliteratur erinnert; er schreibt mehr für den Zuhörer als für den Leser. Sonnenfels dagegen ist in seiner Be- handlung viel freier, in seiner Diktion leichter. Man sieht daß er aus dem Leben und für das Leben schreibt. Er hat viel weniger Sorge für das Einzelne, und ist viel mehr erfüllt von der Wahrheit und dem Werthe des Ganzen, als Justi. Es liegt nahe, den Grund dieses Unter- schiedes mehr in der Stellung dieser beiden Männer, als in ihrer Persönlichkeit zu suchen; aber es ist jedenfalls nicht richtig, wenn Mohl und Funk jenen bezeichnenden Unterschied ganz zu übergehen. Während nun diese beiden Männer die Mitte des vorigen Jahrhunderts beherrschen, tritt am Ende desselben eine dritte bedeutende wissenschaftliche Erschei- nung auf, die den Uebergang zu der folgenden Epoche des Rechtsstaats bildet und die erste abschließt. Das ist Günther Heinrich von Berg , ein Mann, ohne dessen Werk eine Geschichte der Polizei und der Polizeiwissenschaft nicht denkbar ist, und der nach Gelehrsamkeit und Geist als würdiger Nebenbuhler neben den Moser und Möser dieser Epoche steht. Berg ist der erste, und er ist bis jetzt darin nirgends übertroffen, der das positive Verwaltungsrecht vom allgemeinen Stand- punkt der eudämonistischen Weltanschauung zu verarbeiten unternahm, während er zugleich schon die große Frage der folgenden Epoche, wie weit denn das Recht der „Polizei“ gehe, mit in seine Arbeit aufzuneh- men verstand. Er ist der Mann, der ernstlich die Untersuchung über das was „Polizei“ ist, wissenschaftlich behandelt, und der daneben zuerst die Idee verfolgte, das gesammte geltende Verwaltungs- oder Polizeirecht Deutschlands als ein Ganzes darzustellen. Und das war denn zugleich der Grund, weßhalb seine Arbeit, obwohl in der Form eine freie und zum Theil mit der Beredsamkeit des Herzens geschriebene, und im Inhalt reicher, gelehrter und zuverlässiger als irgend eine andere, dennoch die Fähigkeit nicht besaß, die Grundlage einer neuen festen Ge- stalt der Verwaltungslehre zu werden. Denn Berg hatte keinen Be- griff vom Staat , sondern nur eine Uebersicht über die administrativen Aufgaben desselben. Er hält zwar das eudämonistische Princip fest, aber er hat, am Ende des vorigen Jahrhunderts schreibend, doch schon die Ueberzeugung gewonnen, daß es nicht ausreicht. Er weiß, daß der Staat sehr viel für das Wohl thun kann und soll; allein er beginnt auch schon zu erkennen, daß es vom Uebel ist, wenn er zu viel thut. Er hat daher keinen festen Leitfaden in der gewaltigen Masse des Stoffes, die ihm in allen möglichen Reichstagsabschieden, Gesetzen, Ver- ordnungen, Erlassen, entgegen kommt. Er fühlt, daß er das Princip der bisherigen bevormundenden Verwaltung erschüttert, aber er hat doch kein rechtes neues an seine Stelle zu setzen. Die eudämonistische Systematik ist durch die größeren Ideen der Kantschen Philosophie ab- geblaßt und zweifelhaft geworden, allein die letztere hatte dabei nicht die Fähigkeit ein neues System zu geben. Das eudämonistische Princip der Wohlfahrt des Staats war zu positiv; das neue des Rechtsstaats war für einen Mann der Verwaltung zu negativ. Jenes gab dem Staat zu viel Aufgaben, dieses gab ihm zu wenig. Er fürchtete das erstere im Namen der individuellen Freiheit, die er kennt und vertritt, aber das letztere genügt ihm nicht für den Stoff, für die mächtige nach Ordnung und höherer Einheit drängende Masse von Thatsachen der innern Verwaltung, die er darstellen soll. Man sieht, wie er in diesem Gegen- satz den einzigen Ausweg ergreift, der ihm bleibt. Er läßt das Princip, das System, die reine Theorie liegen, und faßt die „Polizeiwissenschaft“ wie auch er die Verwaltungslehre nennt, als eine Masse einzelner Fragen auf, die jede für sich ihre Aufgabe und ihr Princip habe, und daher in lauter einzelnen zusammenhangslosen Abschnitten behan- delt werden sollen. Das ist nicht eigentlich ein Fehler; es ist vielmehr der Ausdruck der ganzen damaligen Zeit, und von ihm aus entsteht daher jene Vereinzelung aller, auf die Verwaltung bezüglichen Arbeiten, die noch unsere Gegenwart charakterisirt und die jene Verschmel- zung der alten Polizeiwissenschaft mit den „Cameralwissenschaften“ mög- lich machte, die sich dann in Schmalz und im großen Maßstabe im Baumstark Geltung verschafft, eine Verschmelzung, bei der man zuletzt zu der Ansicht kommt, welche auch jetzt noch viele haben, daß es sich bei allem was Polizei oder Verwaltung heißt, nicht um Wissenschaft sondern um Kenntnisse handelt. Es ist von größtem Interesse, dieß weiter zu verfolgen; aber freilich muß als Grundlage die Charakteri- sirung des Wesens der zweiten großen Gestalt dieser Entwicklung, der Idee des Rechtsstaats und ihres Einflusses speziell auf die Verwal- tungslehre dargelegt werden. Um diese Bedeutung des Rechtsstaats , der wie der Wohl- fahrtsstaat der eudämonistischen Epoche eine der großen Thatsachen des geistigen Lebens überhaupt ist, und der namentlich für die Polizei- wissenschaft von entscheidender Bedeutung ward, richtig zu beurtheilen, muß man allerdings das Verhältniß des Wohlfahrtsstaats zu dem alten Recht und der ständischen Ordnung der Gesellschaft einerseits und dem neuen Recht der staatsbürgerlichen Ordnung anderseits sich vergegenwär- tigen. Den Ausdruck dieses Verhaltens aber bildet eine Gestaltung des Staatswesens, welche wir als Uebergang von der ersten Staatsidee zur zweiten den Polizeistaat nennen kann. Wir wollen versuchen, seine historische Stellung hier zu charakterisiren. 3) Der Polizeistaat . Das Recht der ständischen Epoche bestand trotz der Obrigkeits- und Wohlfahrtstheorie noch ungeschmälert am Ende des vorigen Jahrhun- derts fort. Allerdings begriff die Verwaltung vollkommen, daß alle ihre Thätigkeit einem solchen Rechtssystem gegenüber nicht zu einem entscheidenden Einfluß gelangen würde; auf allen Punkten, wo die Stein , die Verwaltungslehre. II. 2 Organe derselben für das wahre, und zum Theil von ihnen recht gut verstandene Wohl des Volkes einschreiten wollten, traten ihnen die rechtlichen Hemmnisse entgegen, die auf dem Rechtstitel der Privilegien und ständischen Unterschiede beruhten. In der That erschien dadurch alles, was jene eudämonistische Theorie lehrte, im Grunde als ein leeres Wort; sie hätte gerne das Beste gewollt, aber sie besaß nirgends die Kraft es wirklich durchzuführen. Das wirkliche Leben, allenthalben von dem ständischen Recht gebrochen, beschränkt, unfrei gemacht und daher in einer unserer Zeit fast unverständlich geworden Auflösung begriffen, sprach den schönen Lehren Hohn, die von der Schule gepredigt wurden, und während der Jurist in den Vorlesungen über Rechtsphilosophie und Polizeiwissenschaften hörte, was er zu thun habe, um das Volk glücklich zu machen, lernte er in den juristischen Büchern und Collegien die Grundsätze der Anerkennung der bestehenden Rechte, der Heiligkeit derselben, der Unverantwortlichkeit der Unterschiede und der Privilegien, die es ihm principiell unmöglich machten, jene schönen Lehren in der Wirklichkeit zur Geltung zu bringen. Das war ein tiefer Widerspruch, und dieser Widerspruch ward um so lebendiger gefühlt, je näher die neue Zeit rückte. Aber seine Lösung lag nicht in der Philosophie des Wohlfahrtsstaats mit seinem breiten, zum Theil pedantischen Wohl- wollen. Das wessen die Zeit bedurfte, war vor allem Klarheit über das Verhältniß des Staats zum Recht , die Beantwortung der Frage nach der rechtbildenden, rechtschaffenden Kraft im Staate. Es kam nicht darauf an zu wissen, welche Maßregeln gut seien, sondern vielmehr darauf zu wissen, mit welchem Recht man sie gegenüber dem bestehen- den Rechte durchführen könne. Und schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts war es klar geworden, daß diese Frage, um welche sich nunmehr alle andern drehten, nicht mehr in dem Gebiete der Verwal- tung, sondern vielmehr in einem ganz andern Gebiete zur Beantwor- tung gelangen mußte. Dieß andere Gebiet aber war die Lehre von der Verfassung . Und so geschah es naturgemäß, daß die ganze Rechtsphilosophie eine ganz neue Richtung bekam und für diese neue Richtung eine ganz neue Grundlage forderte. Hatte die Hobbes’sche Theorie gefragt, was der Staat sei und ob er überhaupt sein solle, hatte die Wohlfahrtstheorie gefragt, was er zu thun habe, so fragte die neue Theorie vielmehr, wie in ihm die Rechtsbildung, die Bildung sei- nes Willens, die Gesetzgebung , geordnet werden müsse. Die ganze alte bisherige Arbeit der Rechtsphilosophie erschien neben dieser Frage als werthlos; man bedurfte eines neuen Princips, einer neuen Idee des Staats; und diese Idee war die der Freiheit auf Grundlage der Ver- fassung . So wendete sich der Gang der Dinge von dieser Seite von der bisherigen Anschauung der Verwaltung des Staats, von dem gutmüthigen aber beschränkt gebliebenen Wollen und Wünschen ab, und begann eine neue Richtung, die gegen das Alte nicht bloß gleichgültig, ja negativ war, sondern es auch sein mußte. Und mit ganz gleichem Resultat tritt eine zweite, wenn auch fast diametral verschiedene Erscheinung im geisti- gen Leben des Volkes neben jener ersten auf. Jene Idee der staatsbürgerlichen Freiheit, jene Bewegung nach Selbständigkeit und Selbstbestimmung war eigentlich in jener Zeit kei- neswegs etwas Neues. Sie hat vielmehr von jeher die Grundlage des ganzen germanischen Lebens gebildet; sie begleitet die ganze Ge- schichte desselben; ihre Heimath war im Grunde keineswegs bloß, wie man zu lehren gewöhnt ist, die Stadt, sondern auch der Herr auf dem Lande zeigt uns in seinem stolzen Unabhängigkeitssinn den Grundcharak- ter eines Volksstammes, der es schwer erträgt, beherrscht zu werden, und der auch das Gute von sich stößt, wenn es ihm von fremder Gewalt befohlen wird. Nun aber lag es im Wesen gerade jener Wohlfahrts- theorie, im Bewußtsein daß sie das Gute und Heilsame wolle, dasselbe ohne Rücksicht auf die freie Wahl und Selbstbestimmung der Staats- angehörigen auch durchzusetzen. Sie drängte sich daher dem Volksleben auf; sie verlor das Verständniß seiner Eigenthümlichkeiten, seiner Beson- derheiten, seiner Interessen; sie hatte nie und nirgends die Fähigkeit, den Mangel an Bildung, die einseitige Richtung, den traditionellen Werth, der die letztern begleitet, in Anschlag zu bringen; sie verstand endlich nicht, die örtlichen Verhältnisse und ihre Anforderungen, ob sie nun äußerlich rein local auftraten, oder ob sie sich durch Jahrhunderte lange Einwirkung zu formellen Rechtssätzen krystallisirt hatten, gelten zu lassen. Sie wollte immer dasselbe , weil das Gute und Nützliche in der sich selbst gleichen Theorie immer dasselbe ist, und sie war ja die Dienerin des an sich Guten und Nützlichen. Sie wollte es unbedingt und unabhängig von der freien Zustimmung des Volkes, denn das Gute kann und soll nie von der Willkür derjenigen abhängig sein, für die es zu gelten hat. Sie stellte sich daher dem Volksleben äußerlich, als eine ihm fremde, von ihm gar nicht verstandene Gewalt gegenüber; ja sie ging in ihrer Consequenz so weit, gegen dieses Verständniß geradezu gleichgültig zu sein. Sie wollte für das Wohl des Volkes sorgen, aber nicht wie die Natur es thut, welche dem Wohlsein die Bedingungen bietet und dann es dem Menschen überläßt, sie zu benützen, sondern wie der Vater, der seinen Kindern befiehlt, dasjenige zu thun, was nach seiner Ueberzeugung ihnen heilsam ist. Sie wollte die Völker im Ganzen wie im Einzelnen zwingen , glücklich zu werden. Und das war es nun, was durch seine Ausführung im Einzelnen zuletzt den Charakter jener eudämonistischen Verwaltungslehre im Ganzen umge- staltete. Die theoretischen Grundsätze der ersteren, die noch unter Pufen- dorf und Wolf als Philosophie erschienen, werden namentlich im ersten Jahrhundert zu sehr positiven Vorschriften und Maßregeln. Der Wohl- fahrtsstaat wird eine Zwangsanstalt für das Glück der Völker , negativ, indem es die letztern vor allem schützt, was die Eudämonie für gefährlich hält, positiv, indem es ihnen gebietet, was als nützlich erkannt wird. Und in dieser von den Lehrkanzeln herabsteigenden, in allem Kleinen groß, gegenüber allem Schwachen stark, immer aber unbe- rufen und ohne Dank das „Gute“ und das „Wohl“ durch seine Zwangs- organe vollziehenden Gestalt wurde aus dem theoretischen Wohlfahrts- staat der praktische Polizeistaat . Das ist der Sinn und der innere, organische Begriff des vielbe- sprochenen Polizeistaates, der dem Rechtsstaat voraufgeht. Nie hat eine Staatsidee Besseres gewollt, nie hat ihr Wollen und Thun so viel Wider- stand gefunden und nichts ist leichter begreiflich, als dieser Widerspruch des Polizeistaats. Diesen Widerspruch aber ertrugen die Germanen nicht. Und doch hätten sie ihn vielleicht lange ertragen, wenn jener Staat als Wohlfahrtsanstalt seine mächtige Hand noch an die großen und entscheidenden Bedingungen des Fortschrittes, die Gleichheit des Rechts und die Aufhebung der Privilegien gelegt hätte. Allein diese waren für ihn unantastbar, und die Völker sahen daher jenen Wohlfahrtsstaat nur da thätig, wo er im Namen des Volkswohls unbequem ward, ohne das Ganze zu fördern, im Einzelnen und Kleinen, im täglichen Leben, in den Sitten und Gewohnheiten, oft den harmlosen, fast immer den unbedeutenden Dingen, während in den großen Fragen diese Theorie in den Hintergrund trat und dem positiven, historischen Rechte seinen Lauf ließ. Das mußte ihr den Boden unter den wankenden Füßen nehmen. Zu dem Bewußtsein von der Unfähigkeit derselben, auf den für die Entwicklung entscheidend gewordenen Punkten auszureichen, trat allmählig der Widerwille, einer Gewalt im Kleinen unterworfen zu sein, die im Großen nicht helfen wollte oder konnte. Der ganze Standpunkt war unhaltbar geworden. Die Zeit war vorbei. Eine neue geistige Welt begann sich zu regen. Und es wird jetzt klar sein, weßhalb die- selbe, indem sie sich positiv der Verfassungsfrage in die Arme warf, negativ die ganze alte Verwaltungslehre als „Polizeiwissenschaft“ von sich wies. In der jetzt folgenden Epoche kehrte sich daher das alte Verhältniß geradezu um. Statt daß bisher der Schwerpunkt der Staats- wissenschaft in der Verwaltung gelegen und die Verfassung von der- selben geradezu ausgeschlossen war, ward jetzt in der neuen Zeit die Verfassung als eigentliche Staatswissenschaft betrachtet, und die ganze Verwaltungslehre fast ganz ausgeschlossen . 4) Der Rechtsstaat und sein Verhältniß zur Verwaltungslehre . Das nun ist Wesen und Richtung des Uebergangs in die Staats- wissenschaft zu der Epoche, die wir als die des Rechtsstaates bezeichnen. Auch dieser Begriff des Rechtsstaates ist ein ursprünglich deutscher, und kann nur aus den historischen Elementen der obigen Entwicklung ganz verstanden werden. Der Grundgedanke desselben ist der, daß die geltende Ordnung des staatlichen Lebens, und also auch die der Verwaltung, nur nach dem Rechte , das durch den organisirten Staatswillen gesetzt ist, bestimmt werden kann. Die Voraussetzungen desselben aber sind bei näherer Betrachtung doppelt, und daher die doppelte Bedeutung, welche jenes Wort hat. Zuerst soll als Staatswille nur derjenige betrachtet werden, der durch das gesetzlich anerkannte Organ desselben bestimmt ist. Die Lehre von den Grundsätzen aber, nach denen eben dieses Organ sich in freier Weise bildet, ist die Verfassungslehre. Es ist hier nicht der Ort, die Entwicklung der Ideen zu verfolgen, welche an Wort und Umfang der „Verfassung“ mitgearbeitet haben. Wir setzen sie und ihre Geschichte als bekannt voraus. Zweitens aber erzeugte eben jenes be- ständige Eingreifen der bisherigen obrigkeitlichen Gewalt den Grundsatz, daß zwischen dem freien Individuum und dem Staate eine feste, auch von der Staatsgewalt unantastbare Grenze bestehe, deren Unverletz- lichkeit eine der großen Voraussetzungen aller bürgerlichen Freiheit sei, und daß der Staat als Träger und Pfleger der Rechtsidee eben vor allem diese Grenze zu wahren habe. In der Heilighaltung dieser Grenze, dieser Unverletzlichkeit des „freien“ Individuums liege das eigentliche Wesen des „Rechtsstaats.“ Es ist klar, daß dieser Gedanke die natür- liche, negative Consequenz des bisherigen Verhaltens der „Obrigkeiten“ und namentlich der aus der alten Rechtsphilosophie hervorgegangenen Willkür derselben gegenüber dem Einzelnen war. Es war das Ganze kein neues Princip; allein es war der juristische Ausdruck einer in neuer und frischer Kraft auftretenden Idee, der Idee des selbständigen Staats- bürgerthums. Es enthält an sich zwar gar kein Element für die Auf- gaben der innern Verwaltung als solche, wohl aber lag in ihm ein mächtiger Keim für die Organisirung ihrer praktischen Thätigkeit; und dieser war es, der ihm zunächst die Anerkennung in den neuen Bewegungen sicherte. Es ist aber nothwendig, sich diese Verhältnisse als Ganzes zu denken. Die vollkommenste Ausbildung jener Idee der individuellen Selb- ständigkeit nämlich konnte die Nothwendigkeit nicht aufheben, vermöge der Staatsgewalt in die Rechtssphäre des Einzelnen einzugreifen; das Wesen des individuellen Rechts kann das Wesen des Staats nicht auf- heben. Auch war das im Grunde für die Idee des Rechtsstaats nie die Frage. Es kam daher jetzt auf etwas anderes an. Es kam darauf an, das Princip für das Verhältniß zwischen Verwaltung und Verfassung und dem Rechte des Einzelnen in der staatsbürgerlichen Selbständigkeit zu finden. Und es ist von entscheidender Bedeutung, dieses festzustellen. Dasselbe aber war ziemlich einfach. Die Grenze für das Eingreifen der Verwaltung in die Lebenssphäre des Einzelnen soll künftig nicht in Willkür und Wohlmeinen, sondern in dem ver- fassungsmäßigen Gesetze liegen . Das war der erste, gleich an- fangs ziemlich klare Gedanke des Rechtsstaates. Der zweite aber, seiner- seits hervorgegangen aus dem Elemente der Selbständigkeit jenes Ein- zelnen war der, daß dieß Eingreifen der Verwaltung in das Leben der letz- tern so weit als möglich durch freie, geordnete Thätigkeit der Einzelnen selbst , und nicht mehr durch die als äußerlich, ja als feindlich dastehend gedachte Gewalt des Amtes vollzogen werden solle. Diese geordnete Thätigkeit der Einzelnen aber für die Verwaltung nennen wir eben die Selbstverwaltung und das Vereinswesen . Und so erzeugte die Idee des Rechtsstaats naturgemäß, wenn auch langsam und unsicher, als ihre positive Consequenzen das, womit der Wohlfahrtsstaat sich nie beschäftigt hatte und womit der Polizeistaat sich nicht beschäftigen konnte, die großen Principien der Selbstverwaltung und des Vereins- wesens. Das ist der Inhalt des Rechtsstaats in seiner Beziehung zur Verwaltungslehre. Es wird jetzt, denken wir, klar sein, wenn wir das Bisherige zu- sammenfassend sagen; daß der Wohlfahrtsstaat den Inhalt der Ver- waltung oder die eigentliche Verwaltungslehre (des Innern), der Rechtsstaat dagegen die Lehre von der vollziehenden Gewalt begründet hat. Wenn man nun auf Grundlage der bisherigen Darstellung die Lage überblickt, in welche die alte Verwaltungslehre als Polizeiwissen- schaft mit dem Beginn unsers Jahrhunderts gekommen, so ist dieselbe allerdings leicht zu bezeichnen. Einerseits nämlich, schließt das einseitig aufgefaßte Wesen des Rechtsstaates — und einseitig ist jede neuentstehende Bewegung, ge- wöhnlich in dem Grade mehr, je nothwendiger sie ist — eigentlich jedes System, ja beinahe jedes Verständniß der Verwaltungslehre geradezu aus. Der Rechtsstaat macht das Wesen des Rechts zum Wesen des Staats, das Recht aber ist die Gränze der Selbständigkeit des Indivi- duums gegenüber dem Andern, sei es der Staat, sei es der Einzelne. Andererseits ist die Verwaltung dagegen geradezu undenkbar, wenn eine solche Gränze unbedingt aufrecht erhalten werden soll. Sie kann ohne ein beständiges Opfer eines Theiles dieser Selbständigkeit für das Leben der Gemeinschaft gar nicht gedacht werden. Sie kann es nicht in Staatswirthschaft und Rechtspflege; sie kann es am wenigsten in der innern Verwaltung. Aus dem Begriffe, dem Wesen, den Forderungen des Rechts kann daher niemals ein Verständ- niß oder gar eine Lehre der Verwaltung entstehen ; der Begriff des Rechtsstaats ist geradezu unfähig, die Verwaltung in sich aufzunehmen oder sie zu verarbeiten. Wir müssen nun das nachdrücklich betonen, weil ohne diesen Satz der gegenwärtige Zustand nicht verstanden werden kann. Doch kam zu demselben ein zweites hinzu, und das lag in der bisherigen Geschichte des Ganzen. Das war die Abneigung, ja der Haß gegen die Polizei- verwaltung und Polizeiwissenschaft der vergangenen Epoche. Gerade diese „Polizei“ war Grund und Form für jenes Eingreifen in das individuelle Leben, das als der verletzendste, wenn auch nicht als der tiefste Widerspruch mit der neuen Rechtsidee des Staats, der Selbstän- digkeit des Staatsbürgerthums, erschienen war. Die neue Staatsidee, selbst aber — der Rechtsstaat — war ihrem innersten Wesen nach der Polizei fremd, ja feindlich, und wies dieselbe und ihre Lehre in der neuen Ordnung der Dinge praktisch von sich. So geschah das, was in dieser Beziehung die Staatswissenschaft unter der Herrschaft des Rechtsstaats charakterisirt. Die ganze Polizeiwissenschaft oder Verwaltungslehre verschwand mit dem Anfang dieses Jahrhunderts aus der Staatswissen- schaft , und die Lehre vom öffentlichen Recht im Allgemeinen, speciell aber die Lehre vom Verfassungsrecht , trat an ihre Stelle. Diese hochwichtige Thatsache, die eben so tief in die Theorie wie in die Praxis eingriff, bedarf nun wohl einer etwas eingehenderen Er- klärung; und obwohl es außerhalb unsrer Gränze liegt, die staatlichen Rechtsbegriffe zu untersuchen, so müssen wir doch darlegen, wie es mög- lich war, daß eine Staatsidee sich eine zeitlang selbst zu genügen ver- mochte, in welcher für die ganze Verwaltung und damit für das ganze praktische Staatsleben weder ein systematischer Platz, noch ein wissenschaftliches Verständniß vorhanden war. In der That nämlich hat unsre Zeit, wie sie den Wohlfahrtsstaat kaum noch kennt, auch schon das Bewußtsein von dem eigentlichen leben- digen Inhalt des Rechtsstaats fast verloren. Die neueste Zeit namentlich hat sich unter dem sog. „Rechtsstaat“ vorzugsweise das gedacht, was man einen juristischen Begriff des Rechts- staats nennen möchte, einen Zustand nämlich, der nichts enthält, als einen fertigen Staat als selbständige juristische Persönlichkeit auf der einen, und den freien Staatsbürger auf der andern Seite, so daß der Rechtsstaat im Wesentlichen nur noch die juristische Ordnung des Ver- hältnisses beider zu einander, die Gesammtheit der Grundsätze über die Unverletzlichkeit des Einen durch den Anderen feststellen solle. Diese ärmliche Auffassung des Staats gehört indeß nur der neuesten Zeit an, und ihr Vertreter ist bekanntlich Robert Mohl. Allein in Wahrheit ist das Verhältniß ein wesentlich andres. Die wahre Idee des Rechtsstaats ist vielmehr eine höchst großartige und selbst erhabene, und nur durch das Verständniß dieser Idee wird es begreiflich, wie es für so viele hochbedeutende, gelehrte und praktische Männer möglich war, der Ver- waltung, des zweiten großen Theiles aller Staatswissenschaft, während fünfzig Jahren hindurch in einer Literatur zu vergessen, die doch auch ihrerseits eine eben so reiche als mächtige gewesen. 5) Die drei Grundformen der Auffassung des Rechtsstaats . Die große Frage über den Staat und seinen organischen Inhalt war bekanntlich in der germanischen Welt aus der Frage entstanden, woher der Staat als persönliche Gemeinschaft des Einzelnen die sittliche Berechtigung nehme, den an sich freien Einzelnen zu bestimmen und ihn sich zu unterwerfen. Die Theorie des Hobbes hatte diese Berechti- gung durch die Noth erklärt, welche aus dem Kriege Aller gegen Alle entstand. Der Wohlfahrtsstaat gab dem Staat dieselbe im Namen des allgemeinen Fortschrittes. Mit der staatsbürgerlichen Gesellschaft tritt aber der Gedanke auf, daß das Wesen des Einzelnen die freie Selbst- bestimmung, also das grade Gegentheil der über den Einzelnen herrschenden Staatsgewalt sei. Diese freie Selbstbestimmung der ein- zelnen Persönlichkeit konnte die neue Zeit unter keiner Bedingung auf- geben. Eben so unmöglich war es, den Staat mit seinem Recht auf Herrschaft zu beseitigen. Es galt daher jetzt, beide großen Elemente zu vereinigen. Und jetzt tritt eine Arbeit ein, die in drei großen Formen sich bewegt, und die damit die drei Grundgedanken des sog. Rechts- staats abgiebt. Die erste Form ist die, daß der Staat dieß Recht der Herrschaft über den selbständigen Einzelnen dadurch gewinnt, daß der Wille des Staats selbst eben nichts anderes ist, als der gemeinsame Wille aller Einzelnen. Diese Gemeinsamkeit des Willens ist es, welche den Wider- spruch zwischen Staatsherrschaft und bürgerlicher Freiheit läßt. Der erste Vertreter dieser Idee ist bekanntlich Rousseau; nur daß sein allge- meiner Wille den Charakter und das Recht eines Vertrages behält, der Contrat social, und daher beständig gelöst werden kann. Daß daher im Grunde nicht bloß die Ordnung der Verfassung so gut wie jeder Vertrag, sondern eigentlich auch der Staat selbst in jedem Augenblick durch die Contrahenten, die Gesammtheit der Staatsbürger, aufgelöst werden kann. Die Freiheit in der Rousseau’schen Staatsidee bestand daher wesentlich in dieser Berechtigung der Staatsbürger, durch ihren individuellen Willen über die Existenz des Staats selbst zu verfügen. Von einer selbständigen Verwaltung war in derselben natürlich keine Rede; allein aus ihr folgte das große, der ganzen französischen Revolu- tion zum Grunde liegende Rechtsprincip, daß diese volonté générale ohne alle Rücksicht auf bestehende Rechte souverän sei. Das war es, dessen man bedurfte; der Uebergang von diesem Rechtsprincip der Ver- waltung zum Inhalt derselben fehlt gänzlich; allein das zweite Princip der „Egalité“ wird dann maßgebend für alles, was die souveräne „Liberté“ in der Verwaltung zu thun hat. Die Verfassung dagegen, die Constitution, ist dann die Ordnung, in welcher unter Zuziehung Aller jener Vertrag geschlossen und dieß Recht der Maßregeln des Staats für sein neues Leben festgestellt wird; der Staat ist hier in die Ein- zelnen aufgelöst, die Freiheit verwirklicht sich wie in den alten Repu- bliken, in der Unterwerfung des Staats unter seine Bürger, die zur rein numerischen Herrschaft der Kopfzahl führt. Das ist das Recht des Vertragsstaats. Den deutschen Denkern war der Widerspruch, der in dieser Auf- fassung der Freiheit lag, doch zu groß und zu greifbar. Bei ihnen beginnt daher eine anders geartete Arbeit, um jene Frage zu lösen. Die Deutschen haben es nie begriffen, wie man den Staat auf den guten Willen der Staatsbürger zurückführen und damit ὑστεϱον πϱο- τεϱον aufstellen könne. Sie suchten daher, und suchen noch jetzt jene Berechtigung des Staats gegenüber der Freiheit des Einzelnen, statt in dem Vertrage des letzteren mit einem Etwas, das zuletzt doch erst durch eben diesen Vertrag ins Leben gerufen werden soll, vielmehr im sitt- lichen Wesen des Staats selber. Der Staat ist ihnen eben so wenig ein Resultat des Willens seiner Angehörigen, als der Einzelne ein Resultat seines eignen Körpers. Er ist durch sich selber da. Um ihn zu begreifen, muß man das Wesen des gesammten geistigen Da- seins erkennen. Es ist ihnen daher, mögen sie nun die Sache aus- drücken wie sie wollen, eine organische, daher von keinem Einzelnen abhängige, durch irgend eine mehr oder weniger großartige Weltan- schauung gegebene, also an und für sich daseiende, in sich selbst ruhende sittliche Existenz. Die Freiheit der deutschen Anschauung besteht daher nicht darin, daß der Staat erst durch den Staatsbürger geschaffen wird, sondern daß in dem sittlichen Wesen des Staats die Gränze der Gewalt desselben über dem Einzelnen oder sein Recht liege. Das Staatsrecht ist der deutschen Staatsphilosophie daher ein sitt- liches Recht, erkannt durch die Philosophie vom Wesen des Staats. Und jetzt beginnt daher eine neue Epoche, deren Inhalt nicht mehr wie beim Wohlfahrtsstaat die praktische Verwaltungsaufgabe des Staats, sondern vielmehr der abstrakte Begriff von Staat und Recht und seine dialektische Deduktion ist. Diese Entwicklung beginnt bei Kant , bei dem der Staat eine Kategorie ist; bei Fichte erscheint jene Richtung in der logischen Unmöglichkeit, den Staat dialektisch durch einen Ver- trag von Persönlichkeiten zu begründen, deren Wesen und Freiheit darin besteht, an die Haltung ihres Vertrages nicht durch sich selbst gebunden zu sein; bei Hegel ist der Staat ein immanentes, gegebenes Moment des sich entwickelnden Geistes, dessen Dasein so wenig wie das irgend eines anderen Begriffes eines Vertrages bedarf; bei Herbart ist er eine Thatsache, also kein Produkt; bei Kraus ist er eine geistige Er- scheinung; bei Haller ist er eine göttliche Institution; bei Stahl ist er ein aus der christlichen Weltanschauung fließendes sittliches Dasein; kurz man mag sehen wohin man will, die deutsche Philosophie hat den Begriff des Vertragsstaats gar nie in sich aufgenommen . Aber um ihn dennoch in seiner Oberherrlichkeit über den Einzelnen zu be- gründen, mußte jetzt die Begriffsbestimmung und damit das Recht des Staats aus den höchsten Begriffen der Weltanschauung überhaupt ent- wickelt werden. Jene deutsche Idee des Staats mußte ihre Berechti- gung daraus schöpfen, daß sie sich als organisches Moment einer ganzen ethischen und philosophisch entwickelten Weltanschauung darstellte. Und daraus folgte nun das, was die Staats- und Rechtsphilosophie Deutsch- lands seit dem Beginn dieses Jahrhunderts charakterisirt. Die Staats- und Rechtsphilosophie wird — wir sagen geradezu unwillkürlich — aus einer Lehre vom Inhalt des Staats zu einer philosophischen Deduktion des Staatsbegriffs , deren Grundlage bei den meisten wieder der den Staat wie das ganze übrige Leben umfassende Begriff des Rechts ist. Dieser rechtliche Staatsbegriff ist eben daher, den An- forderungen seiner Zeit fast unwillkürlich entsprechend, durchdrungen von dem Gefühl, daß die Berechtigung des Staats, die Freiheit des Einzel- nen zu beschränken, auf der philosophisch-dialektischen Rich- tigkeit des Rechts- und Staatsbegriffes beruhe . So er- scheint der Rechtsstaat als abstrakte Staatstheorie, und der charakteri- stische Unterschied dieser Zeit und der vorhergehenden zeigt sich am besten in Wesen und Inhalt der Rechtsphilosophie. Während dieselbe natur- gemäß in der vorhergehenden Epoche im Grunde kaum etwas anderes war als eine rationelle Verwaltungslehre, ist sie jetzt in das Gegentheil umgeschlagen. Sie ist zu einem ganz abstrakten philosophischen System geworden, das sich als letztes und höchstes Ziel die Aufgabe stellt, den reinen Begriff von Staat und Recht zu entwickeln. Dieser Idee erscheinen alle andern Punkte als untergeordnet; aber indem sie sich mit dem nicht mehr beschäftigt, was die Rechtspflege oder die innere Verwaltung von ihr fordert, wird sie dadurch im gewöhnlichen Sinne des Wortes „unpraktisch.“ Sie hat eine große, gewaltige Bedeutung; aber ihre Bedeutung ist eine begränzte. Ihr Auftreten in dem Gange der Entwicklung, den wir gezeigt, ist zwar ein ganz natürliches, aber ihre Herrschaft kann keine bleibende sein. Sie hat tiefe Spuren im deutschen Geiste hinterlassen; aber erfüllen konnte sie ihn auf die Dauer nicht. Denn wenn die Idee des Rechtsstaats durch sie für diejenigen wohl begründet ward, die über denselben philosophirten, so löste sie keineswegs alle Fragen und Widersprüche in diesem Rechtsstaat für die, welche in ihm leben sollten. Hier entstand daher eine neue Bewegung und eine dritte Gestalt der letzteren. Gerade dadurch nämlich, daß die höhere Wissenschaft jetzt bei den abstrakten Fragen stehen blieb, ward sie denen theils entfremdet, theils überflüssig, die nun im wirklichen Leben mit dem Staate zu thun, sich ihm zu unterwerfen, ihre Freiheit von ihm beschränken zu lassen hatten. Denen half der „Begriff“ sehr wenig. Der wirkliche Staat und seine Vertreter acceptirten zwar das „Recht“ als Grundlage ihrer Berechti- gung; aber das Recht war eben unbestimmt, unfertig, bestritten. Die neue Staatsgewalt, bis dahin nur in einem sehr kleinen Theile Deutsch- lands von einer Volsvertretung umgeben, zögerte daher keinen Augen- blick, mit ihren Verordnungen und Verfügungen in das Gesammtleben einzugreifen, und auf diese Weise einseitig und im Einzelnen ein posi- tives öffentliches Recht zu bilden, das in Inhalt und Richtung gar wenig Beziehungen zum „Begriff des Staats“ hatte, und dessen Grund- lage, wie es in dieser Epoche der Staatenbildung sehr natürlich war, die zum Theil ganz rücksichtslose Unterwerfung des Einzelnen unter den Staatswillen zur Folge hatte. Der alte Polizeistaat ging daher trotz der neuen Rechtsphilosophie keinesweges unter; er lebte in viel größeren, ernstern Verhältnissen auf, und läßt jetzt die Unb e quemlichkeiten, die er für den Einzelnen mit sich bringt, in dem Gefühle der Gefährdung viel höherer und mächtigerer Interessen zurücktreten. Der Unterschied dieser Epoche von der des vorigen Jahrhunderts lag wesentlich nur darin, daß die Staatsgewalt sich nicht mehr so sehr in die kleinen, rein individuellen Angelegenheiten des täglichen Lebens mischte; die großen Fragen des Staatslebens unterwarf sie dagegen ziemlich rücksichtslos ihrer eignen und einseitigen Entscheidung, namentlich in Deutschland. Gegen diese Bewegung nun, welche die individuelle Selbständigkeit und die bürger- liche Freiheit ernstlich zu bedrohen schien, suchte die Wissenschaft sowohl als die Praxis einen Halt; und diesen Halt fanden beide in derjenigen Auffassung des Staats, welche denselben als selbständiges und damit berechtigtes Individuum dem Einzelnen als einem nicht weniger selbständigen und berechtigten Wesen gegenüberstellt. So entsteht der, dem deutschen Staatsleben gleichfalls eigenthümliche, in keiner andern Sprache genau wiederzugebende Begriff des „Staatsbürgers“ und des „staatsbürgerlichen Rechts.“ Von ihm aus wird die Staatswissenschaft vor allen Dingen zu einer Wissenschaft des Rechts der öffentlichen Gewalten, zu einer Feststellung der Gränze zwischen dem Staat und dem Staatsbürger, und zu derjenigen Auffassung der staatsbürgerlichen Freiheit, welche die letztere in der rechtlichen Begränzung der Staatsgewalt gegenüber dem einzelnen Staatsbürger er- kennt. Auch diese Auffassung des Staats enthält denselben als einen „Rechtsstaat;“ aber das Recht dieser Staatsidee liegt nicht in dem Rousseau’schen Recht auf Theilnahme am Staatswillen oder dem ver- fassungsmäßigen Rechtsstaat; es besteht auch nicht in der philosophischen Idee der sittlichen Berechtigung des Staatsbegriffes, sondern vielmehr in dem Rechtsprincip, daß die Staatsgewalt gegenüber den Einzelnen nur zu demjenigen berechtigt sei, was die geltenden Bestimmungen wirklich zulassen . Es ist daher die Idee des positiven Rechts- staats, die wir hier als dritte Gestalt desselben bestimmen, und die bürgerliche Freiheit in demselben ist weder eine verfassungsmäßige noch eine ideale, sondern eine bürgerlich rechtliche , und damit vorwie- gend negative Freiheit. Das sind die beiden großen Grundformen der deutschen Staatsidee. Die deutsche Wissenschaft vom Staate, welche den Begriff der Verwal- tung bisher nicht gekannt hat, hat daher auch den Zusammenhang beider nicht erkennen können. Sie hat sich hier wie fast in allen ihren Arbeiten, welche verschiedene Gestaltungen des geistigen oder des materiellen Lebens umfassen, in der beschränkten Vorstellung bewegt, daß es genüge, das Verschiedene neben einander zu stellen, und diese Zusammenstellung für Vergleichung, das Nacheinander für eine Geschichte zu halten. Das Verständniß der Verwaltungslehre wird sie zwingen, diesen Standpunkt gegen einen höheren zu vertauschen. Wir können unsrerseits den Inhalt der Idee des Rechtsstaats nicht weiter verfolgen. Allein es wird uns eine Bemerkung gestattet sein, deren Begründung schon an sich von Wichtigkeit werden dürfte. Die logisch-ethische Idee des Rechtsstaats nämlich entsteht und wirkt namentlich in denjenigen Ländern, die bei großer Volksbildung wenig verfassungsmäßige Freiheit haben. Der Be- griff des Staatsbürgerthums und seines Rechts dagegen hat seine Hei- math da, wo zwar die Verfassung besteht, aber noch nicht zur wahren Harmonie der Staatsgewalten ausgebildet, nur noch die rechtliche Form des Kampfes zwischen Regierung und Volk abgibt. Daher ist die Hei- math der ersteren Gestalt der Staatsidee der Norden Deutschlands, namentlich Preußen, die Heimath der zweiten Gestalt der Süden, na- mentlich Württemberg, und der eigentliche Träger und zum Theil Schöpfer dieser negativen Rechtsstaatsidee ist Robert von Mohl , wäh- rend die Formulirung der, wir können nicht anders sagen als „abstrakten“ Verfassungsfrage wesentlich durch Rotteck gegeben, und durch Aretin zu einer förmlichen Staatswissenschaft ausgebildet ward. Doch gehört die weitere Darstellung dieser Punkte einer andern Arbeit. Wenden wir uns jetzt aber der Idee der Verwaltung wieder zu, so wird, glauben wir, die Beantwortung der Frage leicht, welche Stel- lung in dieser Epoche die innere Verwaltungslehre finden müßte. In der That nämlich war in jener Auffassung für die letztere gar kein Raum. Wir haben gesagt, daß jede Verwaltungslehre nur als Consequenz und Ausdruck einer Gesammtauffassung des Staats erschei- nen kann. Der Rechtsstaat aber in allen seinen drei Formen enthält gar keine Anknüpfung für das Wesen und den Inhalt der innern Verwaltung. Er will das Recht . Das ist die Gränze zwischen den selbständigen Persönlichkeiten; die Verwaltung dagegen geht im Namen der Gesammt- entwicklung eben über diese Gränze hinaus. Die Abneigung gegen die polizeiliche Gewalt fand daher in diesem Begriff einen treuen Verbün- deten, und so wird es erklärlich, daß mit dem Anfang dieses Jahrhun- derts die eigentliche Verwaltungslehre aus der gesammten Staatswissenschaft sowohl in der Literatur als auf den Universitäten geradezu verschwindet und alle Theorie und alles Nachdenken über dieselbe von Philosophie, constitutionellen Fragen und juristischen Kämpfen gegen das Verwaltungsrecht absorbirt wird. Natürlich nun konnte man trotzdem des Inhaltes der Verwal- tungslehre, oder wie man sie unglücklicher Weise noch immer nannte, der „Polizeiwissenschaft“ doch nicht ganz entbehren. Man mußte sie in irgend einer Form aufnehmen. Und jetzt sehen wir daher eine Reihe von Erscheinungen auftreten, welche, äußerlich in keiner Beziehung zum Begriffe des „Rechtsstaats,“ dennoch die Stellung enthalten, in welche eben durch jene Idee die Verwaltungslehre gedrängt wird. Von dem leitenden und herrschenden, ihre Einheit setzenden Begriff verlassen, tritt ein Zustand der inneren und äußeren Auflösung der Verwal- tungslehre in lauter einzelne Theile und Richtungen ein, denen der Mangel eines Begriffes der Verwaltung überhaupt und eben so sehr der Mangel eines für das ganze Gebiet gültigen Princips ent- spricht, in welchem sogar das Bewußtsein von dem Mangel der wissen- schaftlichen Auffassung der Verwaltung verschwindet, und nur sehr unvollkommen ersetzt wird durch das Streben jeder Richtung, für sich das ihrige thun zu wollen. Es wird wohl unabweisbar sein, diese Epoche, in der wir uns noch befinden, in ihren einzelnen Haupterscheinungen zu charakterisiren, und dann die verschiedenen Richtungen der Theorie zu bezeichnen, in die sich die Verwaltung, der ihr Haupt, die Staats- idee, fehlt, aufgelöst hat. Erst damit glauben wir, wird der Versuch, Staat und Verwaltung wieder in ihren ethischen und logischen Zusam- menhang als Grundlage der ganzen Verwaltungslehre zu bringen, als ein berechtigter, ja als ein nothwendiger erscheinen. 6) Das Schicksal der Verwaltungslehre in dieser Epoche bis auf die Gegenwart . Wir haben mit dem Folgenden den nicht leichten Versuch zu machen, gegenwärtige Dinge historisch, das ist als der Vergangenheit angehörig, darzustellen. So viel sich auch dagegen sagen läßt, so können wir es dennoch nicht vermeiden. Wir sind der innigsten Ueberzeugung, daß in der innern Verwaltungslehre der Schwerpunkt aller Staatswissenschaft liegt; bei dem gegenwärtigen Zustand derselben ist kaum eine Kenntniß, geschweige denn ein Verständniß möglich; wir müssen deshalb, wollend oder nicht, ihn als einen bereits überwundenen behandeln. — Und am Ende wird ja doch auch der Werth, den jene Bestrebungen haben, nicht dadurch aufgehoben, daß er nicht immer derselbe bleibt. Auch unsrer Auffassung wird die Zeit kommen, in der sie von größeren Gedanken und Thatsachen weit überragt werden wird. Und so stehen wir nicht an, unser Urtheil über ganze Gebiete der gegenwärtigen staatswissen- schaftlichen Literatur bestimmt zu formuliren. Wir haben den Charakter der Gegenwart, wie sich derselbe durch den Sieg und die Herrschaft der Idee des Rechtsstaats in Beziehung auf die Verwaltungslehre herausgestellt hat, als die Auflösung der Wissenschaft der Verwaltung bezeichnet. Wir wollen jetzt ver- suchen die Richtungen zu bestimmen, in welchen diese Auflösung statt findet. Sie sind mit kurzen Worten die rein kameralistische Form, die juristische , und die volkswirthschaftliche . Alle drei laufen neben einander, aber eine ist der andern fremd. Das Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit ist verloren, mit diesem Bewußtsein auch das Streben, wenigstens in jedem dieser Theile des großen Gebietes der Ver- waltungslehre ein eigenes Princip, ein eigenes geistiges Leben zu er- zeugen. Die Verwaltungslehre, die einst den ganzen Begriff des Staats beherrschte und durchdrang, ist in ihnen herabgesunken zu einem Mittel für andere Aufgaben, zu einem bloßen erfüllenden Moment von ganz andern Wissenschaften, und selbst da wo sie in ihrer vollen Größe sich noch erhebt, in den einzelnen Theilen der Lehre, ist sie ohne eine klare, zuletzt doch das rechte Maß findenden Verbindung mit dem Gan- zen. Das ist der gemeinsame Charakter des Folgenden. Und wir können daher schon hier sagen, daß alle jene Richtungen zwar nichts Verkehr- tes und Werthloses bringen, daß ihnen aber der höchste Werth durch die Verbindung mit dem höchsten, einheitlichen Gedanken mangelt. Die Aufgabe kann daher nicht die sein, sie zu beseitigen , sondern viel- mehr nur die, sie zu vereinigen . a ) Die Cameralwissenschaft und die Verwaltungslehre . Wir glauben mit dieser ersten Gruppe von Erscheinungen sehr kurz sein zu können, da wir im Wesentlichen kaum einen Widerspruch zu erwarten haben. Die Cameralia entstanden bekanntlich als Lehre für diejenigen volkswirthschaftlichen Bildungszweige, welche die Domänen- verwaltung für die Anstellung in den verschiedenen Domänen des Staats brauchte. Sie hatten daher ihrer ursprünglichen Idee nach mit der Ver- waltung, oder gar mit dem Begriffe des Staats, gar nichts zu thun . Sie bildeten daher auch in keiner Weise ein System, kümmerten sich wenig um die Funktionen, und standen gleich anfangs da als eine ganz praktische Lehre von allerlei wirthschaftlichen Dingen. Als nun aber der Begriff der Verwaltung im Rechtsstaat verschwand, die Auf- gaben derselben aber, namentlich die volkswirthschaftlichen blieben, war es natürlich, daß man sich für die letztere zunächst eben an jene Wissen- schaften wendete, welche die Beschäftigungen mit den praktischen Fragen der Wirthschaft lehrten, und so entstand die natürliche Tendenz sie zu einer Art praktischer Nationalökonomie zu machen. Es lag nahe, diesem Stück der Theorie die Beantwortung der Frage aufzutragen, was der Staat jetzt nicht bloß für seine eigenen wirthschaftlichen Domanial- interessen, sondern was er für die Volkswirthschaft als solche zu thun habe, denn in den Domänen des Staats war der Staat selbst Wirthschafter; er mußte wissen, was den Unternehmungen frommte, und wußte und verwendete er das für sich, so konnte er es auch für das Ganze verwenden. So ergab sich leicht die Vorstellung, daß in diesen Cameralwissenschaften ein höchst werthvolles Stück der prak- tischen Verwaltungsaufgabe liege. Und so entstand die Richtung, in welcher die Frage nach Inhalt und Aufgabe der Verwaltung des Innern, die Frage nach demjenigen was der Staat für das Wohl der Staatsbürger zu thun habe, in ihrer positiven, mate- riellen Seite zum Theile eine Frage der Cameralwissenschaft ward. Die „Cameralia“ wurden das zwar systemlose, ungeordnete, aber keines- wegs einflußlose Gebiet, in das die letzten Reste der Verwaltung des Innern fortlebten. Es ist von diesem, aber fast auch nur von diesem Gesichtspunkt von Interesse, die historische Entwicklung der Cameral- wissenschaften als den kindlichen, ungebildeten Träger der Theorie der innern Verwaltung zu verfolgen. Allerdings nun würde zur gründlichen und umfassenden Darstellung dieses Theiles des wissenschaftlichen Lebens ein viel größerer Raum ge- hören, als wir daran zu wenden haben. Auch wird die Arbeit selbst erst dann rechten Werth gewinnen, wenn Begriff und Inhalt der Verwal- tung in der gesammten Staatsauffassung recht feststehen, und wir dürfen daher dieß ganze Gebiet berufenen Händen überlassen. Wir begnügen uns daher, Wesen und Werth dieser Richtung, und den Grund ihres Vorschreitens anzugeben. Aus der reinen, materiellen Praxis entstanden, hatte diese ganze Richtung kaum die geringste Kenntniß einer höhern philosophischen Auf- fassung. Der Werth dessen was sie leistete, bestand ihr von vornherein in dem Preise, für den sie das Geleistete verkaufen konnte. Sie begrün- det nichts durch den Staatsbegriff, sie übernimmt keine wie immer ge- artete Verantwortlichkeit für eine Staatsidee, sie führt keinen ihrer Sätze auf das Wesen des Staats zurück. Es fehlt ihr namentlich jener Schwung, jene Wärme der wahren Wissenschaft, die selbst die trockene Wohlfahrts- idee sich bewahrt hatte. Sie ist daher genau im Einzelnen, aber gleich- gültig für das Ganze. Sie hat nicht nur kein System, sie hat auch kein Bedürfniß nach demselben; ja es ist ihr ein solches unbequem, da sie es nicht zu verwenden wüßte, während sie doch bis zu einem ge- wissen Grade von ihm beherrscht und bestimmt wäre. Sie ist deßhalb zum Theil geradezu negativ gegen dasselbe, und in ihren spätern, theils auch gegenwärtigen Formationen wird sie sogar negativ gegen jede, auf das höhere Leben und Wesen des Staats gerichtete Anschauung, die sich in der Verwaltung Bahn brechen will. Sie ist die rein mate- rielle, die eigentlich realistische Methode der Staatsverwaltung. Nun hat zwar jedes an irgend einem Orte seinen Platz und Werth; aber ohne einen Staatsbegriff kann auch im Gebiete dieser Lehre denn doch auf die Dauer dem wirklichen Staate so wenig als der Wissenschaft genügt werden. Es war daher ganz natürlich, daß diese realistische Methode zuletzt den Staat selbst verließ, und langsam, aber unaus- bleiblich aus einem Theil der Staatswissenschaften zu einer ganz prak- tischen Lehre, zu einer Encyclopädie der Gewerbslehre ward. Wir heben hier nur den letzten, in seinem Gebiet hoch bedeutenden Vertreter hervor, dessen Werk dieselbe mit ihrer bedeutendsten That abschließt. Das ist Baumstark in seiner „Encyclopädie der Came- ralwissenschaften.“ Baumstark wollte auf dem Gebiete der letztern leisten, was Berg auf dem Gebiete der frühern Polizeiwissenschaft, Fischer auf dem der Cameralpolizei leistete; und so weit eines einzelnen Menschen Umsicht und Gelehrsamkeit gehen, ist ihm das gelungen. Es ist ein im Ganzen unmögliches, im Einzelnen vortreffliches Buch. Es ist ein Ver- such die Gewerbslehre von dem Standpunkte aus zusammen zu fassen und in allen Theilen einzeln gründlich zu behandeln, von dem sie eben gar nicht behandelt werden kann, vom Standpunkt des Staatsbegriffes. Es wird ein solches Buch nicht mehr geschrieben werden; aber es be- hält seine Stellung in der Geschichte der Wissenschaft. Ein schwacher Reflex derselben Richtung, und den Uebergang zur Volkswirthschafts- pflege bezeichnend ist F. G. Schulze’s „Nationalökonomie oder Volks- wirthschaftslehre“ (war diese Uebersetzung so nothwendig?) „vornehm- lich für Land-, Forst- und Staatswirthe 1856,“ die weder an Gründ- lichkeit noch an, wir möchten sagen wissenschaftlichem Bewußtsein mit Baumstark auch nur entfernt zu vergleichen ist. — Die ganze Richtung ist wohl definitiv in die Gewerbslehre aufgelöst. b) Das Staatsrecht und die Verwaltungslehre . Eine wesentlich verschiedene Erscheinung zeigt uns nun die zweite große Richtung, in welche die Verwaltungslehre verläuft. Es ist die, in mannigfacher Form und in sehr verschiedenen Graden auftretende Verschmelzung der Verwaltung mit dem öffentlichen Recht überhaupt, oder wie es namentlich seit Gönners deutschem Staatsrecht heißt, dem Staatsrecht. So wie nämlich aus dem zerfallenden deutschen Reiche sich die einzelnen Staaten bilden, erscheint natürlich dem Juristen und selbst dem Volke jeder Staat als ein Ganzes, das also auch das ganze Ge- biet der Verwaltung enthalten muß. Da nun aber der Begriff und das System der letztern als selbständige Theorie fehlte, so war es natürlich, daß man diesen Theil des Staatsinhalts zunächst da suchte, wo er wenigstens formell vorhanden war. Und das war eben in dem Gebiete desjenigen öffentlichen Rechts, das man theils die Polizei, theils die Regalien nannte. Unrecht hatte man darin nicht; denn wie wir Stein , die Verwaltungslehre. II. 3 sehen werden, ist wirklich das Verwaltung srecht die gültige und äußer- liche Formulirung der Verwaltung selbst. Nur war die Idee der Ge- meinschaft des innern Lebens für die deutschen Staaten verschwunden; hätte man sie erhalten können, so wäre vielleicht aus diesem Verwal- tungsrecht eine Verwaltungslehre auch im Ganzen entstanden, wie sie für gewisse einzelne Gebiete wirklich entstand. Aber das war eben nicht der Fall. Die Behandlung der Verwaltungsgegenstände mußte sich daher hier auf eine rein juristische Basis zurückziehen. Der Standpunkt liegt nicht mehr, wie noch bei Berg, in der Untersuchung dessen, was für die einzelnen Verwaltungsaufgaben an sich richtig, sondern viel mehr in dem, was positiv für die Thätigkeit der Verwaltung ge- setzlich ist. Die Verwaltung erscheint hier daher nicht als ein orga- nischer Begriff des Staats, oder in ethischer oder logischer Verbindung mit demselben, sondern vielmehr als eine ganz natürliche Abthei- lung innerhalb des öffentlichen oder Staatsrechts . Das System dieser Arbeiten wird dem entsprechend nicht philosophisch entwickelt, sondern es entsteht gleichsam von selbst aus dem Stoffe, mit dem er sich beschäftigt. Die Aufgabe dieser Darstellungen besteht deßhalb auch nicht darin, das ganze Gebiet der Verwaltung systematisch zu erschöpfen, sondern nur alles dasjenige aus der Verwaltung zu behandeln, wofür in der positiven Gesetzgebung geltende Bestimmungen vorhanden sind. Es war daher natürlich, daß diese Richtung, die in Frankreich das selb- ständige Gebiet des droit administratif erzeugte, in England aus guten Gründen ganz fehlte, und durch die Lehre vom Volksreichthum zum Theil ersetzt ward, in Deutschland mit unserm Jahrhundert definitiv den Bo- den des „Reiches“ verließ, dem noch Berg angehört, und sich den ein- zelnen deutschen Territorien zuwendete. Der erste und bedeutendste Ver- treter dieser rein positiven Richtung, bei dem jedoch das „Reich“ noch nicht untergegangen ist, sondern über die ganze Arbeit eine gewisse eigen- thümliche Stimmung verbreitet, die an die Bearbeitung des deutschen Reichsrechtes mahnt, ist F. C. J. Fischer, Lehrbegriff sämmt- licher Cameral- und Polizeirechte . Sowohl von Teutschland überhaupt, als insbesondere von den preußischen Staaten. 1785. 5. B. Fischer gehört noch zu den alten deutschen Gelehrten. Er hat für jede Abtheilung, für jeden Paragraphen in jeder Abtheilung noch mög- lichst vollständiges Material, über dessen positiven Inhalt er durch keine Reflexion hinausgeht; sein Werk wird für die Geschichte aller einzelnen Theile der innern Verwaltung geradezu unschätzbar, da er noch viel specieller ist als Berg. Aber er ist zugleich der erste, der sich keinen Augenblick mehr um Begriff und Idee des Staats, um Ethik und Logik kümmert, sondern unmittelbar auf die Substanz des positiven öffent- lichen Rechts aller, auch der detaillirtesten Verwaltungszweige eingeht. In dieser Beziehung ist er kaum erreicht, geschweige denn übertroffen; sein Werk ist ein Monument deutschen Fleißes und deutscher gelehrter Zuverlässigkeit, aber jeder höheren Anknüpfung baar. Doch wird die künftige Geschichte der Verwaltung den Mann als den Vitriarius der Verwaltungsrechtskunde dereinst zu würdigen wissen. Hinter ihm ent- steht eine große Lücke, die nur die Sammlung von Bergius einiger- maßen ausfüllt. „Teutschland überhaupt“ war nicht mehr da. Die einzelnen „Staaten“ Deutschlands constituiren und ordnen sich. Jeder von ihnen hat nun, wenn auch keine Verfassung, so doch eine Verwal- tung. Die Kenntniß dieser Verwaltung ist für die Aemter nach wie vor nothwendig. Der Gedanke eines Verwaltungsrechtes ist dabei zwar nothwendig und natürlich, aber er ist neu. Man braucht daher Zeit, bevor man ihn verarbeitet; unterdessen aber wird der concrete Inhalt desselben mit dem öffentlichen oder Staatsrecht überhaupt verschmolzen und so demselben das erste Element seiner neuen Gestalt gegeben. Allein mitten in dieser Verschmelzung erhält sich die Erkenntniß, daß die Ver- waltung denn doch ein besonderes Gebiet sei, und daß es schwierig scheinen müsse, gewisse Dinge, wie z. B. Zählungen, oder Maß- und Gewichtsordnungen u. dergl. als „Staatsrecht“ zu bezeichnen. Auch war denn doch die Idee der alten eudämonistischen Staatsphilosophen nicht so ganz verschwunden, daß nicht der Gedanke einer innern, mit dem Staatswohl als letzten Aufgabe gegebenen Einheit jener Verwal- tungsgesetze und Verordnungen übrig geblieben wäre. Daran endlich schloß sich das rein praktische Bedürfniß der amtlichen Verwaltung, über die Masse dieser Gesetze eine Uebersicht zu haben. Alle diese Momente zusammengenommen erzeugten nun jene mehr oder weniger systematische Sammlungen, welche die Verwaltungsgesetzgebung für sich in ein Ganzes, als zunächst äußerlich, dann auch innerlich von dem übrigen Staatsrecht geschieden, umfassen. Man kann in dieser rein juristischen Gestal- tung der Wissenschaft der Verwaltung, die wir mit dem Ausdruck der „ Verwaltungsgesetzkunde “ am kürzesten bezeichnen, in drei Formen verfolgen. In ihnen nämlich entstand die Gesammtheit jener Behandlungen der Verwaltung und des Verwaltungsrechts, die wir als die Verbindung der Verwaltungslehre mit dem Staatsrecht oder die öffentlich recht- liche Behandlung der Verwaltung nennen, bei der wir aber freilich je nach dem Vorwiegen des einen oder des andern der obigen Momente die folgenden drei übrigens leicht verständlichen und unsern Lesern gewiß meist bekannten Grundformen unterscheiden: I. Die erste und natürlichste, wenn auch unvollständigste ist die, in welcher wir die geltenden Gesetze für die einzelnen speziellen Gebiete der Verwaltung zusammenstellen oder auch behandeln, wie Postwesen, Schulwesen, Presse u. s. w. Diese einzelnen Arbeiten gehen natürlich seit dem Beginne der Staatswissenschaft ihren regelmäßigen Gang fort und haben unendlich viel genützt. Im Allgemeinen aber haben diesel- ben ihren Charakter geändert, und diese Aenderung hängt innig mit dem ganzen Gange der juristischen Studien zusammen. Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts behandeln alle diese Abhandlungen, wie sie namentlich von Fischer, Berg, Bergius u. a. citirt und benützt werden, ihre in die Verwaltung schlagenden Gebiete wesentlich juristisch und selbst casuistisch. Sie wollen alle nicht so sehr das Wesen und Auf- gabe des einzelnen Verwaltungszweiges, als die Berechtigung der ein- zelnen öffentlichen Körper, Umfang und Inhalt ihrer Competenz dar- legen, da gerade das Letztere bei dem frühern Zustande Deutschlands zwischen all den kleinen und großen Souveränetäten und Körperschaften beständig streitig war. Die Verwaltung war ihnen, da sie sich ohnehin nur im engen Kreise spezieller Fragen bewegen und daher den höheren Grund einer ethischen Aufgabe des Staats nicht gebrauchen können, keine ideale Pflicht, sondern ein positives Recht. Sie sind eben deßhalb gezwungen, sehr oft auf alte historische Verhältnisse, zwar nicht vom Standpunkt der Rechtsgeschichte, sondern von dem des Rechtsstreites und Beweises zurückzugehen; allein das nimmt ihnen nicht ihren historischen Werth. Es wird die Zeit kommen, wo man sie wieder eifrig suchen und benützen wird. Einen Versuch dieser Benützung im kleinen Maß- stabe bietet unsere Arbeit. — Mit unserm Jahrhundert verschwindet nun das historische Element aus diesen Arbeiten, weil es seine praktische An- wendbarkeit für den Beweis der geltenden Rechte verloren hat, und da- mit nehmen alle Arbeiten über die einzelnen Gebiete der Verwaltung einen wesentlich andern Inhalt und einen auch äußerlich ganz verschie- denen Gang ihrer Darstellungen an. Es beginnt die gegenwärtige, für die ganze Verwaltungslehre so hochwichtige Epoche, die wir die ratio- nelle Bearbeitung der Verwaltungsfragen nennen können. Auch das nun ist nicht mit einemmale entstanden. Da nämlich in dieser Zeit zu- nächst die neuentstehende, meist ganz positive Verwaltungsgesetzgebung die einzelnen Fragen rechtlich entscheidet, so kommt es den Special- arbeiten und Sammlungen vor allen Dingen darauf an, eben dieß geltende Recht zusammenzustellen. Sie werden daher zuerst mehr oder weniger Sammlungen zum Amtsgebrauch , und sind als solche höchst wichtig, da oft sie allein uns das Material zugänglich machen. Mit dem Auftreten der Theilnahme der Volksvertretung an den Gesetzgebungen tritt dann aber wieder ein neues Element ein. Die Volksvertretung will statt der Thatsache des Bestehenden in den meisten Fällen Gründe für das Neue, das sie herzustellen wünscht. Die Specialarbeiten aus dem Rechte der Verwaltung fangen daher jetzt an, jeden ihnen eignenden Gegenstand theils rationell mit allen möglichen sachlichen Erwägungen, theils auch historisch zu behandeln, theils endlich sogar die Vergleichung fremder Verwaltungsbestimmungen hinzuzufügen. Dadurch wird viel gewonnen. Aus rein objektiven, gegen administrativen Werth und Un- werth des einmal geltenden Stoffes ganz gleichgültigen Sammlungen entstehen jetzt förmliche Untersuchungen , Abhandlungen, eingehende und zum Theil höchst ausgezeichnete Werke, die für ihre Gebiete von unendlichem Nutzen sind. Es ist ganz natürlich, daß dabei sehr viel Gerede und sehr viel Parteilichkeit und Einseitigkeit unterläuft; allein mehr und mehr wird es der Literatur klar, daß man das Wesen des Gegenstandes, seine concrete Natur und sein Leben durchdringen und erfassen müsse, um aus demselben das richtige Ver- waltungsrecht bilden zu können . Man kann diese Bewegung der rationellen Behandlung der Verwaltungsfragen, die namentlich seit etwa dreißig Jahren sich Bahn gebrochen, nicht hoch genug anschlagen. Sie ist es, welche die Verwaltung aus ihrer abstrakten, gegen die großen Gesetze und Thatsachen der wirklichen Welt gleichgültigen Stel- lung herausgerissen, und sie gezwungen hat, die Dinge zu kennen, ehe sie sie verwalten will. Sie hat die Wissenschaften, die früher ganz außerhalb der Verwaltung lagen, Chemie, Physik, Naturlehre u. a. in ihren Bereich gezogen, und sie der Verwaltung zum Grunde gelegt. Sie hat dadurch bewirkt, was bis zu einem gewissen Grade als höchst natürlich und wohlthätig angesehen werden kann, daß sich die Verwal- tung in ihren concreten Aufgaben den Grundsätzen und Lehren der übrigen Wissenschaften unterordnet , so daß das geltende Verwaltungs- recht selbst nur noch als ein Moment an der Darstellung des Verwal- tungszweiges erschien, und in dieser seine beständige und lebhafte Kritik findet. Das ist ohne Zweifel vortrefflich, und Niemand wird ohne die größte Achtung die Literatur über das Bildungswesen, über die Presse, über Eisenbahnen, Münze, Maß und Gewicht, Bankwesen, Landwirth- schaft, Forstwirthschaft, Bergbau, Gewerbe, anderes, nennen. Es ist keine Frage, daß diese ganze Behandlungsweise, wie sie sich aus der ursprünglich rein casuistischen Specialliteratur des vorigen Jahrhunderts herausgebildet hat, einen unendlichen Fortschritt bildet und dem weiteren Fortschritte überdieß zum Grunde liegt, sei es, daß wir dabei großen Werken wie Franke’s Medicinalpolizei, Hübners Bankwesen, Hundes- hagens Forstpolizei, Hingenaus Bergrecht, Knies’ Telegraphenwesen, Kries’ Armenwesen, Bitzers Heimathswesen, Rönne’s landwirthschaftliche Polizei, Kochs Agrarwesen und hundert andern, oder den gleichfalls nach Hunderten zählenden Aufsätzen in den Zeitschriften, oder ganzen Encyclopädien begegnen. Nur das Eine darf man dabei nicht ver- gessen, daß wir mit ihnen alles bis auf die Einheit der Verwaltungslehre besitzen. Die Verwaltungslehre wird nie ohne sie den Namen einer Wissenschaft verdienen, aber mit ihnen allein haben wir noch keine Wissenschaft der Verwaltung . — Die folgende Arbeit soll es versuchen, für dieß specifische Element der Einheit die Grundlagen auf- zustellen. So hat diese erste Richtung ihre hochbedeutende Entwicklung. Während diese aber allmälig die juristische Basis verläßt, hält die zweite ihrer Natur nach daran fest und entwickelt sich mehr ihrem Umfang als ihrem Inhalt nach. II. Diese zweite Richtung können wir wohl kurz und erschöpfend als die der territorialen Verwaltungsgesetzsammlungen be- zeichnen, wie sie in möglichst vollständiger Weise früher Kopetz und jetzt Stubenrauch für Oesterreich, Funke für Sachsen gegeben haben. Wir haben über dieselben nichts hinzuzufügen, als daß sie, wesentlich praktischer Natur, auch nur an das praktische Bedürfniß der Kenntniß der bestehenden Gesetze denken, dabei aber jedes Systems baar sind, und deßhalb der Uebersichtlichkeit und der festen Gränzen ermangeln, so daß man, hätten sie nicht ausführliche Wortregister, ihnen das System der französischen administrativen Dictionnaires vorziehen würde, das bekanntlich durch Block seinen besten Ausdruck gefunden. Das wird erst dann besser werden, wenn man sich erst in der Verwaltung über ein System einigen wird. Wird das in der deutschen Wissenschaft je möglich werden? III. Die dritte Richtung ist nun in ihrer Weise eine sehr bedeu- tende, und sie zeigt, indem sie die Verbindung des Staatsrechts mit der Verwaltungslehre zu ihrem wahren Ausdruck bringt, den Weg, den wir in dieser Beziehung für die Zukunft einzuschlagen haben. Es ist die Aufstellung des Verwaltungsrechts als eines zweiten organischen Theiles des Staatsrechts neben dem Verfassungsrecht. Diese Richtung ist bekanntlich von R. v. Mohl in seinem Staatsrecht des Königreichs Württemberg zuerst ins Leben gerufen und von den bedeutendsten Män- nern des öffentlichen Rechts, wie Pözl für Bayern und Rönne für Preußen, angenommen. Es ist gar kein Zweifel, daß sie nicht bloß dauernd bleiben, sondern als die einzig rationelle Grundlage der Ord- nung des öffentlichen Rechts kräftig durchgreifen wird. Gibt es über- haupt eine selbständige Verwaltungslehre, so wird es auch ein selbstän- diges Verwaltung srecht der Staaten geben müssen. Nur wird man natürlich in diesem Verwaltung srecht keine Verwaltung slehre suchen und finden. Es handelt sich für dasselbe nicht um die rationelle Ver- waltung, sondern darum, das in dem betreffenden Staate geltende Recht der Verwaltung eben als ein selbständiges, geordnetes Ganze, und zwar in jener organischen Verbindung mit dem Begriff und dem gesammten Recht des Staats darzustellen, deren Mangel der eigentliche Charakter der oben erwähnten Sammlungen als der Verwaltungsgesetz- kunde ist. Während die letztern der amtlichen Function einen wichtigen Dienst erweisen, haben diese „Verwaltungsrechte“ eine andere Aufgabe; sie erfüllen den Begriff des Staats und den abstracten Organismus der Verfassung mit ihrem concreten Inhalt; sie sind die Träger der Idee, daß der Staat erst dann vollständig erkannt ist, wenn man ihn als thätigen, als wirkenden, als in der Mitte seiner positiven Auf- gaben stehenden Organismus erkennt. Diese organische Auffas- sung des Verwaltungsrechts ist wieder eine specifisch deutsche , und hier haben die übrigen Völker Europa’s unbedingt von uns zu lernen. Daß aber die Aufgabe der Verwaltung slehre nicht in ihnen gelöst ist, noch gelöst werden soll, ist wohl klar. Und in Ermanglung der- selben müssen wir uns nun zu einer dritten Erscheinung wenden, von der es höchst zweifelhaft ist, ob sie mehr Nutzen als Schaden stiftet. c) Die Verwaltungslehre in der Form der Volkswirthschaftspflege . Das ist nun diejenige Richtung, welche, den Boden der deutschen Klar- heit und des strengen Bedürfnisses nach wissenschaftlicher Unterscheidung verlassend, nach französischen und englischen Vorbildern die ganze Ver- waltungslehre mit der Volkswirthschaftslehre zu einem ununterscheidbaren Ganzen zusammenschmilzt. Grund und Er- scheinungen dieser Richtung werden, glauben wir, leicht verständlich sein. Als in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Noth Frankreich nachdenken lehrte über das, was der Staat zu sein und zu thun habe, sehen wir zwei Bewegungen fast gleichzeitig auftreten. Die eine ergreift die Frage nach der Verfassung; die zweite aber, ohne der Sache ihren Namen zu geben, wendet sich der innern Verwaltung zu. Der Vertreter und der erste systematische Ausdruck der letzteren Bewegung ist die physio- kratische Schule . Die Summe von Gedanken, welche wir mit diesem Worte bezeichnen, wird gewöhnlich als ein eigentlich nationalökono- misches System aufgeführt, und schwerlich dürfte eine Arbeit nachge- wiesen werden können, weder in Frankreich noch in Deutschland, welche derselben einen andern Platz angewiesen hätte. Das aber ist nicht richtig. Die physiokratische Schule ist ebenso sehr das erste, wenn auch vage System der Verwaltungslehre als der Nationalökonomie. Es ist Quesnay nicht eingefallen, seine Theorie um der Volkswirthschaft willen aufzustellen. Er wollte vielmehr nur die Gesetze der Volkswirth- schaft als die einzige und wahre Grundlage für die Auf- gabe der Verwaltung darlegen. Der Reichthum und die Macht von König und Staat war der Zweck seiner Arbeiten, das Princip seiner Lehre, und nur dadurch wird sie eigentlich verständlich. Es ist nicht unsere Sache, dieß genauer aufzuführen. Wohl aber liegt der tiefe Unterschied der damals noch herrschenden eudämonistischen Staats- idee und seiner Schule klar genug vor. Diese sucht die Wohlfahrt in einer abstracten Idee der sittlichen Vollendung des Menschen; die Physio- kraten sind die ersten, welche die Begründung derselben durch die Gesetze der Volkswirthschaft systematisch entwickelten. Mag man sonst über ihre Meinungen und Lehren denken, wie man will, auf diesem Punkte haben sie gewaltige Bahn gebrochen. Durch sie ist die Verschmelzung der systematischen Volkswirthschaftslehre zu einer hundert Jahre hindurch in Europa herrschenden Thatsache geworden. Wenn Europa auch nicht ihre Theorie annahm, das Ziel derselben ward allenthalben angenommen. Und diese Richtung kam nun zum ent- scheidenden Siege, als Adam Smith von seinem ursprünglich rein philo- sophischen, abstracten Standpunkt aus, den Bucle in seiner History of the Civilisation of England so wahr als den des schottischen Geistes bezeichnet, sein Werk über den Reichthum schrieb. Wie es Quesnay nicht eingefallen war, eine Nationalökonomie zu lehren, so fiel es Smith nicht ein, eine Verwaltungslehre zu schreiben. Und dennoch hat Quesnay einen entscheidenden Einfluß auf die Volkswirthschaft gehabt, und Adam Smith ist es, der der Verwaltung und der Verwaltungslehre zum Theil eine neue Gestalt gegeben hat. Sein ganzes Werk beginnt auf jedem Punkt mit den Principien der Volkswirthschaft, und endet mit den leitenden Grundsätzen für die Verwaltung . Selbst sein größter Gedanke, der des Freihandels, wird eine administrative Forderung. Es ist unmöglich, dieß Werk zu lesen, ohne das auf jeder Seite, in jedem seiner reichen Citate zu verkennen, wenn man weiß, was Verwaltung ist. Hat man aber den Begriff derselben nicht , oder fragt man nicht darnach, so ist es freilich auch klar, daß die Verwaltung, die sich so unbedingt der Nationalökonomie hingibt, dabei selbst nichts anderes werden kann als eben ein natürlicher Theil der Nationalökonomie. Und jenen Begriff hatte man eben nicht , als jene französisch-englische Be- wegung nach Deutschland kam. Es war im Anfang unseres Jahrhun- derts. Der Wohlfahrtsstaat war zu Grunde gegangen, der Rechtsstaat begann sich mit seiner vollen Gleichgültigkeit gegen die Verwaltung zu entwickeln; das Verwaltungsrecht, welches allein die Idee der letztern noch vertrat, hatte auch seinerseits keine Idee des Staats; die großen Wahrheiten, welche innerhalb der einzelnen Zweige der Verwaltung selbständige Arbeiten erzeugten, entbehrten der organischen Verbindung in einem gemeinsamen Begriffe; das was von der alten Polizeiwissen- schaft übrig war, wie die Bücher von Jacobs u. a., war zu unbedeu- tend, um irgend einen Einfluß auszuüben; und so geschah es in ein- facher Weise, daß sich die größeren Ideen der Verwaltung, die Gesammt- auffassung derselben auch in Deutschland in das Gebiet flüchteten, wo sie in Frankreich und England blühten, in das lebendige und mächtige Gebiet der Volkswirthschaftslehre. Zwar hatte fast gleichzeitig mit Quesnay der deutsche Geist in Sonnenfels mit der für seine Zeit groß- artigen Trilogie: Polizei, Handel und Finanz den Versuch gemacht, die Verwaltungslehre selbständig zu erhalten und neben ihr die Finanz- wissenschaft zu begründen, aber er war zu wenig bekannt, und der Rechtsstaat absorbirte alle bedeutenden Geister. Es war daher natür- lich, daß die deutsche Volkswirthschaftslehre nach fremdem Muster die Verwaltung mit verarbeitete, und selbst Rau konnte sich nicht davon losmachen, seine Volkswirthschaftspflege einfach als einen zweiten Theil der Nationalökonomie aufzustellen. In späterer Zeit hat die letztere diesen Weg nicht nur nicht verlassen, sondern ihn sogar sehr bequem gefunden. In Wirth, Roscher, selbst in Kamtz und so vielen andern ist sogar die Rau’sche Unterscheidung von Volkswirthschaft und Volks- wirthschaftspflege wieder verwischt, und ein unbestimmtes Etwas unter dem Namen „Nationalökonomik“ entstanden, in dem sich nur noch schwach das Gefühl erhielt, daß es denn doch etwas wesentlich anderes ist, die Gesetze, nach denen die Güter entstehen und verbraucht werden, und das Verhältniß des Staats zu diesen an sich selbständigen, vom Staate ewig unabhängigen Gesetzen, darzustellen! Freilich ward die Sache dadurch leichter; denn zuerst bedurfte man damit keines Be- griffes vom Staat, man bedurfte keiner Idee der Verwaltung oder orga- nischen Einheit, man bedurfte keiner Kritik der sog. Polizeiwissenschaft, keiner schwerfälligen Bewältigung des massenhaften, unbeabreiteten Stoffes des positiven Verwaltungsrechts, ja nicht einmal eines wissen- schaftlichen Systems, sondern nur einer mehr oder weniger zweckmäßigen Anordnung, und konnte gelegentlich mit Reflexionen über die Verwal- tung den Mangel der Reflexion über das Wesen der Güter ersetzen und ausfüllen. Doch es ist hier nicht der Platz, eine Kritik dieser Ab- hängigkeit von England, in dem die Verwaltung zu wenig, und von Frankreich, in dem sie zu viel zu thun hat, zu geben. Gewiß ist nur das Eine, daß diese Verschmelzung von Nationalökonomie und Ver- waltung die wichtige Folge hatte, die Vorstellung von der Aufgabe der Verwaltung fast ganz auf die Volkswirthschaftspflege zu be- schränken , und sie dadurch in hohem Grade einseitig zu machen. Wenn es kein Zweifel ist, daß wir in der Volkswirthschaftspflege einen der Haupttheile der Verwaltungslehre besitzen, so ist es eben so wenig zweifelhaft, daß sie keineswegs die ganze Verwaltungslehre enthält, und daß wir, indem wir neben der Volkswirthschaftspflege alle andern Gebiete zur Seite liegen lassen, zuletzt den Staat selbst nur noch als eine Gemeinschaft für wirthschaftliche Production und Consumtion, als eine vollständig materielle Gestaltung in der Menschheit ansehen werden. Doch unter allen Gesichtspunkten steht der Eine fest, daß wir in dieser Verschmelzung zwar einen Theil, aber nicht den ganzen , großartigen Bau der Verwaltung, zwar hochwichtige, aber nicht der ganzen , in sich einheitlichen und organischen Verwaltung genügende Principien des Staatslebens gewinnen können. Und zwar am letzten Orte aus dem für alle Wissenschaft der Verwaltung entscheidenden Grunde nicht, weil auch hier den die Verwaltung berührenden Punkten keine einheitliche, organische Idee des Staats und seines Lebens zum Grunde liegt. Der Versuch, in dieser Volkswirthschaftspflege, sei es nun, daß sie selbst- ständig oder mit der Nationalökonomie in inniger Verbindung steht, die hohe Idee des Staats und seiner organischen Aufgabe durch das greif- bare Princip der materiellen Production zu ersetzen , ist nicht ge- lungen. Sie wußte die materiellen Elemente der Verwaltung zu be- arbeiten; die Verwaltung selbst begriff sie nicht. Faßt man nun die Ergebnisse dieser allgemeinen Charakterisirung der Entwicklung der Verwaltung und ihrer Auffassung zusammen, so ergibt sich, daß das eigentlich Mangelnde zugleich der lebendige wissen- schaftliche Kern des Ganzen ist, der organische ethische Begriff der Ver- waltung als Theil des Staatsbegriffes. Und wir wollen versuchen, denselben hier als Grundlage für die positive Wissenschaft der Verwal- tung und ihre Geschichte dem Folgenden voranzustellen, in der Hoffnung, der kommenden höhern Gestaltung der Staatswissenschaften damit einen Dienst zu erweisen, indem wir vor allen Dingen einmal auf unserm Gebiete Klarheit und Einheit schaffen. II. Inhalt und Wesen der innern Verwaltung. Geht man mit uns auch nur einen Schritt über die äußere Defini- tion der innern Verwaltung hinaus, so entfaltet sich sofort ein weites und reiches Gebiet von Fragen, die wir beantworten müssen, um der Verwaltungslehre die ihrer würdige Stellung zu verschaffen. Hat sie einmal die letztere gewonnen, so wird man wahrscheinlich der folgenden Untersuchungen nicht mehr bedürfen. Es wird nämlich darauf ankommen, zunächst das Wesen der Verwaltung in sein organisches Verhältniß zum Staat überhaupt und zur Verfassung insbesondere zu stellen; dann muß das Princip der Verwaltung als der für alle einzelnen Thätigkeiten derselben geltende leitende Grundgedanke hingestellt werden; dann müssen wir das System der Verwaltung in seinen Umrissen geben, an das sich der Begriff und die Bedeutung der wirklichen Verwaltung und damit der Verwal- tungspolitik anschließt; und endlich wird es nothwendig, den wahren Inhalt der Polizei zum Schlusse darzulegen. Es wird die Zeit kommen, wo wir über alle diese Dinge sehr kurz sein können, weil sie abgemacht sein werden. Vor der Hand sind sie es nicht. Möge es uns gelingen, zu ihrer endgültigen Erledigung beizu- tragen. 1) Die Idee der Verwaltung als organischer Theil des Staatsbegriffs . Verhältniß derselben zur Verfassung. Wir glauben nicht, daß es nothwendig oder nützlich sein wird, den organischen Begriff des Staats als der zur Persönlichkeit erhobenen Gemeinschaft mit Ich, Wille und That noch einmal zu wiederholen, nachdem wir ihn und in ihm die formale organische Stellung und Aufgabe der innern Verwaltung bereits hinlänglich bestimmt haben. Wir glauben vielmehr, daß die gegebenen formalen Definitionen jede für sich und in ihrem Zusammenhange wohl für ihren nächsten Zweck genügen werden. Wohl aber dürfen wir, indem wir die innere Verwaltungslehre als einen Theil der höchsten Staatswissenschaft überhaupt betrachten, auf eine gewisse Theilnahme rechnen, wenn wir dasjenige darlegen, was wir die Idee derselben nennen. In der That erscheint auch der Staat nur als Glied in einem viel größeren geistigen und materiellen Leben. Er ist wie der Einzelne, zwar persönlich an und für sich da, aber er ist dennoch nur ein Mo- ment des Weltlebens, und das, wodurch er wie jeder Einzelne über sich selbst hinausgeht, muß daher für ihn, und mit ihm für die innere Verwaltung wohl tiefer begründet werden. Diese Erkenntniß nun vom Staate so wie von der innern Ver- waltung beginnt bei dem Widerspruche, der im Menschen liegt, und in dessen Lösung selbst der Staat als höchste Form der Persönlichkeit nur ein Faktor, wenn auch ein wichtiger ist. Die zur unendlichen Entwicklung bestimmte Persönlichkeit ist zugleich unfähig, sich nur durch sich selbst zur Verwirklichung ihrer eigenen Idee hinaufzuarbeiten. Sie ist an sich, in ihrem innersten Wesen ungemessen und unendlich. Das einfache Verständniß dieser gewaltigen Thatsache drückt dieß in der Ahnung der individuellen Unsterblichkeit aus. Die Wissenschaft formulirt es als die „reine Selbstbestimmung.“ Allein die Persönlichkeit ist zugleich in ihrer Wirklichkeit fast unendlich begränzt und unmächtig; die Wissenschaft sagt, sie sei auf allen Punkten „mit dem Maße umgeben.“ In tausend verschiedenen Gestalten erscheint im Einzel- wie im Gesammtleben das Gefühl dieses Widerspruches. Seine Lösung ist die Lehre von der Ethik; der Kampf, in dem sie gefunden wird, ist das sittliche Pathos; sein Verständniß aber ist die Grundlage des organischen Verständnisses jedes Theiles und jeder Funktion im persönlichen Leben. Die Logik dieses Verständnisses, so weit sie hierher gehört, ist folgende. Jedes Streben nach Lösung jenes Widerspruches in der Erfüllung der persönlichen Bestimmung muß, wegen der gegebenen Begränzung unserer Kräfte, zu seiner ersten und unabweisbaren Bedingung, im Gebiete dieser persönlichen Kräfte die Unendlichkeit wieder herstellen, welche dem Einzelnen fehlt. Das nun geschieht formell durch die unendliche Vielheit der menschlichen Persönlichkeiten. Allein diese reicht an sich durch ihr bloßes Dasein nicht aus. Es muß vielmehr für den Einzelnen diese Vielheit wirklich zu jener Erfüllung seiner eigenen Kraft werden, die ihm fehlt; das nun hat wiederum zur Voraussetzung, daß die Vielheit durch das Auftreten dieser für jedes Glied derselben gel- tende Aufgabe zuerst eine Einheit werde. Wir nennen alle Gestalten dieser Einheit der Vielheit, insofern sie eben durch jenes Wesen der Persönlichkeit gesetzt ist, eine Gemeinschaft . Der lebendige Inhalt der Gemeinschaft, oder das Leben derselben, erscheint daher an und für sich als eine unbedingte, das ist durch das absolute Wesen der Persön- lichkeit selbst gesetzte Bedingung für das Leben der letzteren. Ohne den Begriff und das Dasein der Gemeinschaft ist der Einzelne ein absoluter, unlösbarer Widerspruch. Ist nun diese Gemeinschaft ihrem organischen Begriffe nach eine absolute Bedingung für das Leben der Persönlichkeit, so ist sie eben dadurch selbst etwas Selbstbedingtes. Das aber heißt, Persönlichkeit sein. Die Gemeinschaft als Einheit der Persönlichkeiten wird daher zur persönlichen Einheit. Sie wird selbst Persönlichkeit. Und diese Gemeinschaft der Menschen als Persönlichkeit ist eben der Staat. Ist das nun der Fall, so muß nicht bloß der formale Inhalt des Staatsbegriffes, wie wir ihn bereits dargelegt haben, sondern auch sein ethischer Inhalt in obigem Sinne des Wortes durch das höhere, ihm wie dem Einzelnen gemeinsame Wesen des Persönlichen und seines Lebens gegeben seyn. Und jede Funktion des Staates, mithin natürlich auch die wichtigste von allen, die der innern Verwaltung, muß auf diesem ethischen Grunde der Staatsidee und des persönlichen Lebens beruhen. Die Auffassung der Funktion der Innern Verwaltung aber von diesem Standpunkt nennen wir die Idee der Verwaltung . Die Grundlage dieser Idee aber ist folgende. Soll die Gemeinschaft und in ihrer höchsten persönlichen Form der Staat, ihrer sittlichen Idee genügen und durch Dasein und Thätigkeit jenen Widerspruch im Wesen der Persönlichkeit lösen, so muß sie einen Inhalt an Willen und an Mitteln haben. Da sie selbst aber nur die Einheit der Einzelnen ist, so kann sie diesen Inhalt auch nur dadurch bekommen, daß der Einzelne einen Theil seines eigenen persön- lichen Lebens hingibt, der dann der Gemeinschaft, das ist jetzt dem Staate gehört. Der Widerspruch, der darin liegt, daß der Einzelne seine eigene Selbständigkeit opfert, um die eines andern persönlichen Wesens zu ergänzen und zu fördern, erscheint zwar als ein großer. Allein er löst sich dadurch, daß dieß Hingeben eben selbst die unab- weisbare Bedingung der eigenen Entwicklung wird. In der That gibt der Einzelne sich selbst das, was er gibt; er gibt es sich selbst durch die organische Vermittlung des persönlichen Staats, der es von ihm empfängt. So löst sich für das concrete Leben der wirklichen Gemeinschaft jenes scheinbare Geheimniß, das in dem tiefen, für den Einzelnen oft so schwer zu bewältigenden Gegensatz zwischen sittlicher Hingebung und freier Selbständigkeit liegt. Die höchste Wahrheit der sittlichen Idee, so weit das geistige Auge des Menschen ihre Strahlen im Unendlichen zu verfolgen vermag, ist eben in Gewißheit der Hingabe des Eigensten an sich selbst durch die freie Hingabe an den Andern. Und es gibt keinen Widerspruch auf Erden, mit Ausnahme des einzigen zwischen gut und böse, der nicht darin am letzten Orte seine Lösung fände. Wenn nun dem so ist, so ruht jeder Proceß des Gesammtlebens und jede Funktion des Staates zuletzt auf diesem ethischen Grunde, und für jede derselben ist er die Bedingung des letzten und höchsten Verständnisses. So für alles andere, so auch für die, das ganze concrete Leben des Einzelnen umfassende innere Verwaltung . Auch die innere Verwaltung ist am letzten Orte nichts als der große Proceß der freien Hingabe von dem Einzelnen an den Staat, und ein Wiedergeben an den Einzelnen durch den Staat. Das aber, was hier das Wesen der Verwaltung bildet, ist das Hinzutreten zweier mit dem Wesen der Einzelpersönlichkeit gegebenen Begriffe, dem des Maßes und dem der Ordnung. Es ist offenbar hier nicht der Ort, beide Begriffe genauer zu ent- wickeln. Sie werden schon an sich selbstverständlich sein. Es ist kein Zweifel, daß jenes Hingeben von Seiten des Einzelnen, die Aufnahme von Seiten der Gemeinschaft, und das Wiedergeben, dieser Proceß des sittlichen Lebens auf jedem einzelnen Punkte schon vermöge der Besonderheit der Entwicklung der Ordnung, und vermöge der Stufen derselben des Maßes bedarf. Ordnung und Maß, an sich eben so nothwendig für die individuelle Entwicklung wie für die Gemeinschaft, müssen indeß durch Einen Willen bestimmt und durch Eine That voll- zogen werden. Sie fordern daher schon an und für sich eine Persön- lichkeit, welche sie setzt. Soll diese aber Ordnung und Maß in Har- monie mit dem Wesen des persönlichen Lebens setzen, so müssen Ordnung und Maß, oder Grund und Zweck zugleich das Wesen dieser Persön- lichkeit selbst bilden; oder es muß die Entwicklung des Einzelnen, welche durch Ordnung und Maß in dem gegenseitigen Leben von Gemeinschaft und Einzelnen durch jene Persönlichkeit hergestellt wird, zugleich die Entwicklung dieser Persönlichkeit selbst sein. Soll aber das der Fall sein, so kann die letztere von der Gemeinschaft und von dem Einzelnen nicht verschieden sein; sie muß vielmehr als die zur Persönlichkeit erhobene Gemeinschaft selbst dastehen. Diese Persönlichkeit ist der Staat, und wenn die organische Gleichheit des Wesens des Einzelnen und des Staats noch eines Beweises bedürfte, so wäre er hier gegeben. Während daher das allgemeine, im Einzelnen wie im Staate ge- legene Wesen der Persönlichkeit das Aufgeben eines Theiles der einzelnen Selbständigkeit unbedingt fordert, damit die Gemeinschaft der Menschen die Bedingungen für die Entwicklung des Einzelnen wiedergeben könne, ist es das Wesen des Staates, die Summe der auf diese Weise ent- stehenden Leistungen und Aufgaben in Ordnung und Maß zu bestimmen und ihrem Zwecke zuzuführen. Und die Gesammtheit der Thätigkeiten des Staats, durch welche er dieß thut, ist die innere Ver- waltung . Die allgemeinste sittliche Bedeutung der innern Verwaltung, oder des Verwaltens, erscheint daher schon hier als wesentlich verschieden von den bisher dargelegten Vorstellungen von Polizei und Recht der Verwaltung. Bei allen Begriffsbestimmungen der Polizei liegt immer der Gedanke zum Grunde, als stände der Staat als eine selbständig gebende, rein aus sich heraus thätige Persönlichkeit der Gemeinschaft und dem Einzelnen gegenüber , und als sei es Aufgabe der Polizei, diesen Gegensatz durch die Begriffe von Sicherheit und Wohlfahrt aus- zusöhnen. Diese Vorstellungen sind historische. Für den Begriff der Verwaltung gibt es diesen Gegensatz überhaupt nicht. Es gibt keine Substanz der Verwaltung, keine Materie derselben, welche der Staat persönlich besäße und sie den Verwalteten geben könnte. Die Verwal- tung ist vielmehr nur die staatliche Ordnung und Bestimmung dessen, was die eigene Natur als Antheil der Gemeinschaft von dem Einzelnen ohnehin fordert. Der Staat hat es daher auch in seiner Verwaltung überhaupt gar nicht mit etwas zu thun, das sein eigen wäre, sondern mit dem, was der Gemeinschaft vermöge des Einzelnen und umgekehrt, angehört. Seine Verwaltung ist daher in der That als die in persönliche Form gebrachte, der persönlichen Selbstbe- stimmung unterworfene Gegenseitigkeit aller unterein- ander, die persönliche Gestalt der Harmonie der Entwick- lung der Menschheit, welche zunächst auf den untergeordneten Gebieten als Staatswirthschaft und Rechtspflege erscheint, in der ersten mit dem materiellen Substrat der Güter, in der zweiten mit dem negativen Elemente der äußerlichen Unverletzlichkeit beschäftigt, und erst in der Verwaltung sich zum positiven Leben der harmonischen Entwicklung des Einzelnen durch das Ganze erhebend. Das nun ist, von allem Einzelnen abgesehen, dasjenige was wir die sittliche Idee der Verwaltung nennen, und wodurch sie den höchsten Anschauungen angehört, die das Leben der Menschheit erkennen lehren. Erfaßt man nun die Verwaltung von diesem Standpunkt, das gesammte menschliche Leben, die gesammte Staatsthätigkeit in der Be- wegung der Gemeinschaft, die ganze gewaltige Arbeit enthaltend, con- centrirend und ordnend, durch welche die Menschheit ihrem Ziele ent- gegenstrebt, so gewinnt sie einen Inhalt wie kein anderer Theil der Staatswissenschaft. In der That muß man sagen, daß ihr gegenüber alles andere nur Mittel zum Zwecke wird, und daß der Werth alles dessen, was der Staat enthält, will und thut, zuletzt sich an demjenigen zeigen und messen muß, was er in der Verwaltung und für dieselbe leistet. Die letzten Ziele des gemeinschaftlichen Lebens der Menschheit liegen in ihrem Gebiete; die größten und entscheidenden Bedingungen für die Verwirklichung derselben werden von ihr geboten. Sie ist es daher, welche man vom höhern Standpunkt aus als den Ausdruck der wahren Bildung und Gesittung des Gesammtlebens anerkennen muß; was sie nicht mehr zu leisten vermag, das vermag für das wirkliche Leben überhaupt keine menschliche Gewalt zu leisten. Sie ist es daher, welche ihrem Wesen nach den Einzelnen beständig umgibt, beständig für ihn sorgt, beständig ihn schützt; sie ist es aber auch, welche gerade dadurch den Einzelnen nach allen Seiten hemmen und unterdrücken kann, wenn sie falsch verstanden oder falsch ausgeführt wird. Ihre Gefahr entsteht dann, wenn in ihr der Staat sich von den Interessen und Lebensauf- gaben des Einzelnen trennt, und sie, statt sie als Ziel zu setzen, als Mittel benützt. Sie fordert die tiefste Kenntniß aller menschlichen Zu- stände, die freieste und praktischste Anschauung des wirklichen Lebens. Und daher bestimmt sich in ihr auch das Wesen des so viel bestrittenen Gedankens des besten und des freiesten Staats, ohne den man kaum die Idee der Verwaltung auszudenken im Stande ist. Dieser Gedanke aber wird seinerseits nicht erschöpft werden, ohne die Verfassung und ihr Wesen ins Auge zu fassen. Wir haben in der Geschichte der socialen Bewegung versucht, den Beweis zu liefern, daß die Verfassungen weder willkürlich noch zufällig entstehen, sondern in Zeit und Inhalt ganz bestimmten, schwer zu verkennenden Gesetzen unterworfen sind. Diese Gesetze der Verfas- sungsbildung haben uns gezeigt, daß es nichtig ist zu glauben, man könne überhaupt eine Verfassung machen , und als sei die Verfassung bloß vermöge ihrer Begründung durch das abstrakte Wesen der Persön- lichkeit gut oder schlecht und als gäbe es eine beste Verfassung, oder einen besten und freiesten Staat bloß durch die Verfassung. Das ist falsch, und ist ein fast jetzt schon überwundener, nur historisch berech- tigter Standpunkt. Wir haben gezeigt und erfahren, daß eine Ver- fassung in der That nichts ist, als der Ausdruck der bestehenden Ge- sellschaftsordnung in der Selbstbestimmung des Staats und den Formen, in denen dieselbe vor sich geht. Mit dem Inhalte dieser Selbstbe- stimmung hat die Verfassung an und für sich nichts zu thun. Eine Verfassung ist daher weder gut noch schlecht an sich, sondern sie wird es nur dadurch, daß sie mit den Forderungen der Gesellschaftsordnung harmonirt oder nicht, und eine Revolution thut vor der Hand nichts, als daß sie gewaltsam jene Harmonie herstellt. Ob aber das Wohlsein des Staats erreicht wird, das hängt eben von dem Inhalt jener Selbstbestimmung ab; und dieser Inhalt ist die Verwaltung. Das was wir die freieste Verfassung zu nennen pflegen, kann daher die unfreieste, unweiseste Verwaltung geben, und damit der Grund zu der vollstän- digsten Vernichtung des Staats werden. Kein größeres Beispiel hat die Welt dafür, als die sogenannten Freistaaten der Griechen und Römer. Und umgekehrt kann das, was als die völligste Abwesenheit der Verfassung erscheint, die beste Zeit des Staatslebens werden, wie es die Regierungen Maria Theresias und Friedrichs des Großen be- zeugen. Und wenn man daher einmal von „Freiheit“ als den Ausdruck der Vollendung der innern Zustände redet, so soll man nie ver- gessen, daß die Freiheit in der Verwaltung nicht nur einen andern Sinn, sondern auch einen andern Werth hat als den in der Verfassung. Der Freiheit in der Verwaltung ist die Unterwerfung jedes Sonderinteresses unter das Gesammtinteresse , und die Er- kenntniß, daß die wahre Entwicklung jedes Einzelnen erst durch das Ganze möglich ist, und daß die Entwicklung des Ganzen wieder ihre wahre Grundlage erst im Einzelnen hat. Jede freie Verfassung, die nicht in unserm Sinne zur freien Verwaltung führt , ist schon an und für sich keine gesunde Verfassung mehr. Jede Ver- fassung, welche diese freie Verwaltung vorbereitet oder verwirklicht, ist die beste. Der Werth aller Verfassungen beruht daher in ihrem Verhältniß zur Verwaltung . Und die Staatswissen- schaften werden erst dann ihre wahre Aufgabe vollziehen, wenn sie dieß erkennen. Denn durch das gewaltige, gesellschaftbildende Element, das wieder seinerseits eben in der guten Verwaltung liegt, wird die Ver- waltung von selbst die beste Verfassung erzeugen . Das sind und bleiben die Ausgangspunkte der Staatswissenschaft unserer Zeit und unserer Zukunft. Hat nun die Verwaltung überhaupt, vor allem aber die Verwal- tung des Innern, eine so hohe Bedeutung, so ist damit natürlich nicht bloß die rein historische Auffassung von Polizei oder ähnlicher Be- griffe als Uebergangsstadium zu betrachten. Wir müssen vielmehr jene Gesammtheit von Thätigkeiten und Aufgaben, welche wir als Verwaltung bezeichnet haben, als ein großes und lebendiges Ganze erkennen. Wir müssen nicht bloß die Verwaltung von der Vollziehung scheiden, welche wir als die Selbstbestimmung der Verwaltung zwischen Verfassung und Verwaltung selbständig hingestellt haben. Wir müssen sie als ein eigenthümliches Ganze betrachten, das seinen Inhalt eben durch die selbständige Aufgabe des Gesammtinteresses und der indivi- duellen Entwicklung bekommt, zweier stets thätiger und stets mächtiger Faktoren, die ihr Wirken nicht etwa von dem guten Willen und dem Verstande einzelner Organe abhängig machen. Wir müssen uns daher nicht die Sache so vorstellen, als ob Verfassung und Vollziehung erst diese Objekte freiwillig und nach Gutdünken erfaßten, und nach ihrem gleichsam subjektiven Ermessen regelten. Im Gegentheil ist die Sache in Wahrheit umgekehrt. Jene Potenzen, die hohe ethische Forderung der Gesammtentwicklung und der Forderung der Einzelnen greifen selb- ständig und mächtig in Verfassung und Vollziehung hinein, und machen sie zum Mittel für sich . Sie krystallisiren gleichsam die Verfassungs- und Vollziehungsgewalt um sich herum und in sich, und erscheinen Stein , die Verwaltungslehre. II. 4 dadurch als eine Welt für sich, welche Verfassung und Vollziehung zur Voraussetzung haben, und ihnen durch ihre eigene inwohnende Kraft ein eigenes Leben geben. Und in dieser Kraft, in diesem eigenen Leben gilt es nun, sie zu erfassen und ihren organischen Inhalt darzulegen. Das, was wir die Verwaltung nennen, löst sich dadurch in seinen eigenthümlichen Inhalt auf; jedes Stück desselben wird für sich betrachtet leicht verständlich; die wahre geistige Arbeit besteht dann nur in dem, wir sagen unbedenklich künstlerischen Elemente der Wissenschaft, jene Theile in Einem geistigen Leben zusammenzufassen und zu verstehen. Und wir wollen versuchen, an dieser Aufgabe mitzuarbeiten. Denn es ist unmöglich, sich in dem Gefühle und der wissenschaftlich auf der Ge- sellschaftslehre ruhenden Ueberzeugung zu täuschen, daß die Zukunft aller menschlichen Dinge, und speciell diejenige der europäischen Staaten nicht mehr in der Bildung der Verfassungen, sondern in der Verwaltung des innern Lebens des Volkes beruhen wird . — In diesem Sinne können wir nun Wesen und Bedeutung der innern Verwaltung und der Verwaltungslehre als organischen Theil der Staatswissenschaft bestimmt charakterisiren. Die Verfassung enthält den Staat als organische Persönlichkeit in seiner freien Selbstbestimmung, die Verwaltung im allgemeinsten Sinn enthält ihn in seiner Thätigkeit. Die Vollziehung zeigt ihn in seiner selbständigen organischen Kraft, welche die Selbstbestimmung verwirk- lichen soll; die Verwaltung im eigentlichen Sinne enthält ihn in seiner concreten Thätigkeit. In der Staatswirthschaft ist er die Persönlichkeit des allgemeinen Güterlebens; in der Rechtspflege ist er das Recht als Inhalt seiner persönlichen That; in der innern Verwaltung wird er zur persönlichen Form der allgemeinen Bedingungen der individuellen Entwicklung . Hier ist er der Träger der praktischen sittlichen Idee der Gemeinschaft; in ihr erscheint das Ethos des Staats- lebens in der Gesammtheit der wirklichen Handlungen des Staats; und darum ist erst die innere Verwaltung die Vollendung der Idee des Staats. Und von diesem Standpunkte aus ordnen sich die Aufgaben des allgemeinen Theiles der innern Verwaltungslehre zu einem har- monischen Ganzen, das wir das System derselben nennen. 2) Das System der Verwaltung und die Verwaltungslehre . 1) Soll die Verwaltungslehre den ihr gebührenden Platz und ihre volle Bedeutung in der Staatswissenschaft gewinnen, so ist es unab- weisbar, daß man sich nicht bloß über den allgemeinen Begriff und das ethische Wesen derselben, sondern auch über ihr System einig werde. Denn es kann sich auf die Dauer bei einer so hoch stehenden Wissen- schaft nicht um die subjektive Anschauung des Einzelnen handeln. Ist es wahr, daß die Verwaltung das Gesammtleben der Einzelpersönlichkeit und ihre Entwicklung umfaßt, so kann sie selbst sich nicht willkürlich in diese oder jene Gebiete theilen. Ist sie äußerlich ein selbständiges Ganze, so muß sie auch innerlich dasselbe sein. Daß dieses Ganze mit den Bestandtheilen und Abtheilungen, welche es bilden, sich voll- ständig erfülle, und daß der Beschauende zur Ueberzeugung gelange, wie jede einzelne Thatsache und jede Frage aus dem weiten Felde der Verwaltung sich gleichsam von selbst an den ihr gebührenden Platz finde. Es ist gewiß eine an sich einfache Sache, zu behaupten, daß eine Wissenschaft von gegebenen Verhältnissen eben so wenig zwei Sy- steme haben, wie das Objekt selbst zwei oder mehrere Naturen besitzen kann. Die Verschiedenheit in der Behandlung und Darstellung ist aller- dings nothwendig frei; aber die Sache selbst kann doch nur Eine sein, und daher ist jede Verschiedenheit nicht im Objekt, sondern nur in der subjektiven Betrachtung des Subjekts gelegen. Aber so lange wir uns nicht einig werden, welchen natürlichen Organismus die Sache an sich hat, so lange werden wir keine wahre Wissenschaft besitzen. Wir müssen es daher unternehmen, das System der Verwaltungslehre nicht als eine Propädeutik, sondern als einen immanenten Theil derselben hier auf- zustellen; denn in der That ist es hier, was es immer sein soll, nicht eine Ordnung des Stoffes, sondern die Grundlage und der allgemeinste Inhalt der Verwaltungslehre selbst . Macht es nun diese Anforderung, so muß es auch mehr sein als eine äußere Ordnung. Es muß vielmehr selbst als die nothwendige Consequenz seines eignen Wesens erscheinen, und sein Werth darf nicht auf der Zweckmäßigkeit, sondern auf der Harmonie mit jenem Wesen selbst beruhen. Und das darzulegen ist die Aufgabe des Folgenden. Wir unsererseits müssen aber deßhalb mit so viel Nachdruck auf diesem Punkte bestehen, weil nicht nur keine Verwaltungslehre ohne ein festes und selbständiges System möglich ist, sondern weil in der bisher vorhandenen Theorie die Verwirrung und Unklarheit der Grenzen und der Gebiete eben so vollständig zu sein scheint, als die der Namen und Begriffe. Erst wenn sich der feste Kern hier herausgeschält hat, kann man in dieser Wissenschaft weiter gelangen. 2) Das System selbst aber, oder vielmehr das in seine organischen Gebiete aufgelöste Wesen der Verwaltung ist sehr einfach. Da die innere Verwaltung die Verhältnisse des individuellen Lebens in ihrem Bedingtsein durch die Gemeinschaft darzulegen hat, so kann sie gar kein, im Begriffe der Verwaltung liegendes, eigenes System haben. Oder, es gibt gar keinen systematischen Inhalt, kein System der Verwaltung an sich, sondern es kann nur ein System dersel- ben durch das Objekt der Verwaltung geben. Dieß Objekt aber ist das persönliche Leben. Es ergibt sich daraus, daß das System der Verwaltungslehre, oder der Bethätigung der Verwaltung in dem wirklichen Dasein, kein anderes sein kann, als der organische In- halt des persönlichen Lebens selbst . Ein anderes ist wissen- schaftlich nicht füglich denkbar. Und die Frage über die Richtigkeit eines solchen Systems der Verwaltung ist daher nicht die, ob es an sich richtig sei, sondern die, ob der organische Inhalt des persönlichen Lebens darin wirklich vertreten ist. Das Leben umfassend, wie es Gegenstand der Staatsthätigkeit wird, muß es das Leben enthalten. Und in der That wird es erst dadurch auch für die lebendige Anschauung des Einzelnen wie des Ganzen seinen Werth bekommen. 3) Dieß Leben der Persönlichkeit theilt sich ein fast von selbst in drei große Grundverhältnisse. Die Persönlichkeit ist zuerst Person , ein körperliches und geistiges Leben, für sich daseiend, und noch ohne Beziehung zur Güterwelt und zur gesellschaftlichen Ordnung; dann ist sie das, was wir die wirthschaftliche Persönlichkeit nennen, die persönliche Gestalt des Güterlebens; und endlich ist sie ein Glied der großen gesellschaftlichen Ordnung. Ihr Dasein, ihre Entwicklung, ihr äußeres Heil und ihre äußerlicher Untergang liegen in diesen drei Gebieten. Es ist ein viertes gar nicht vorstellbar. In jedem dieser Gebiete ist sie ein Theil der Gemeinschaft; in jedem ist sie durch alle andern, durch die Geschichte, durch die Natur, kurz durch alle Elemente, welche das Gesammtleben bilden, bedingt und bestimmt. In jedem derselben tritt daher auch die persönliche Form der Gemeinschaft, der Staat auf, und sucht die Bedingungen der individuellen Entwicklung zu finden und zu ordnen. In jedem derselben aber muß dieser Staat seine Thätigkeit nach der Natur des Inhalts dieser Gemeinschaft bestim- men; sie ist sein Substrat, an das er gebunden ist. Er erhält damit, ganz ohne sein Zuthun, drei Gebiete seiner Thätigkeit für das Indi- viduum; das ist, er hat drei naturgemäße Gebiete seiner Verwaltung. Das erste ist die Verwaltung der rein persönlichen Welt; das zweite ist die Verwaltung der wirthschaftlichen Welt; das dritte ist die Ver- waltung der gesellschaftlichen Welt. Das sind die Grundlagen des Systems der Verwaltung. Jeder dieser Theile bildet nun wieder ein innerlich sehr reiches Ganze. Indem wir nun allerdings jedes genauere Eingehen auf die Ausführung des Systems selbst verweisen, glauben wir doch, daß wenigstens die elementaren Gebiete innerhalb dieser Theile schon hier ihren Platz finden dürfen, da sie in der That die organischen Grundlagen nicht bloß der Verwaltung, sondern des menschlichen Lebens selbst sind. Das Bild aber, das sich daraus ergibt, ist das folgende: a ) Die persönliche Welt hat an sich, und damit auch als Gegen- stand und Inhalt der Verwaltung zwei Hauptgebiete, das physische und das geistige Dasein des Menschen. Diese Unterscheidung wird in zwar einfacher, aber dennoch systematischer Weise zur Grundlage dieses ersten Theiles des Systems der Verwaltung. Das erste Element alles menschlichen Lebens ist die Person als solche. Sie entsteht, sie vergeht; sie empfängt Namen und Geschlecht; sie lebt in ihrer Heimath, sie vertheilt sich nach den Verhältnissen der- selben, sie bewegt sich von einem Ort zum andern. Sie leidet an Krankheiten, sie sieht die Elemente der Krankheiten sich erzeugen; sie sucht sie zu bekämpfen; sie umgibt sich mit dem gesammten Resultat aller menschlichen Naturwissenschaften und Erfahrungen zum Zwecke dieser Bekämpfung der Krankheiten. Endlich ist sie oft in der Lage, einer Vertretung durch Andere zu bedürfen, wo der Grund der Unfähig- keit, sich zu vertreten, nicht in bestimmten Handlungen, sondern in der Person selber und ihrer theils physischen, theils geistigen Entwicklung liegt. So hat die Person als solche eine Reihe von ihr eigenthüm- lichen Lebensverhältnissen, und diese nun treten mit denen anderer Per- sonen in beständige Berührung, und werden zu Elementen und Bedin- gungen der Lebensverhältnisse Anderer. Sie fallen dadurch unter das Gesammtinteresse, und werden damit Gegenstände der Verwaltung, in- soweit der Einzelne sich nicht allein in diesen Beziehungen zu helfen vermag. Das erste Hauptgebiet aller Verwaltung ist daher das phy- sische Leben der Einzelnen, und dieß zerfällt wieder in drei, in diesem persönlichen Leben selbst gegebene große Abtheilungen, die in der Verwaltung als das Bevölkerungswesen mit der Sicherheits- polizei , das Gesundheitswesen und das Pflegschaftswesen selbständig erscheinen. Das zweite Element des menschlichen Lebens ist der menschliche Geist mit seiner selbständigen Bewegung. Der Geist als das höchste Dasein der Persönlichkeit, kann daher nur da ein Gegenstand der Ge- sammtthätigkeit werden, wo der Einzelne entweder der Uebrigen bedarf, oder wo die geistige Entwicklung der Uebrigen durch den Einzelnen ge- fährdet wird. So entstehen die naturgemäßen Gebiete der Verwaltung des geistigen Lebens, als: das Unterrichtswesen , in welchem der Einzelne die unentbehrlichen Voraussetzungen geistiger Entwicklung durch die Organisation der Gesammtthätigkeit erhält, das Bildungswesen , welches die Bedingungen der höheren Entwicklung darbietet, und die Culturpolizei , welche den Gesammtzustand der geistigen Entwicklung gegen die unsittliche oder unwahre Thätigkeit des Einzelnen schützt. b ) Die wirthschaftliche Welt , als zweites selbständiges Ele- ment des menschlichen Lebens, beruht auf dem wirthschaftlichen Gut . Zwar ist das Gut nicht bloß zugleich Eigenthum, sondern muß auch durch den Einzelnen erworben werden, um für den Einzelnen seinen rechten Werth zu haben. Allein eben dieser Erwerb durch und für den Einzelnen hat eine Reihe von beständig sich erweiternden Be- dingungen, ohne deren Erfüllung der Einzelne niemals zur völligen Entwicklung seines wirthschaftlichen Lebens gelangen kann. Diese Bedin- gungen muß ihm der Staat geben, weil die Hebung des wirthschaft- lichen Lebens, die dadurch erzielt wird, dem Staate wieder zu gute kommt. So ist der dritte Theil der Verwaltung naturgemäß das wirth- schaftliche Leben geworden, und die Verwaltung desselben hat schon lange den Namen und Inhalt der Volkswirthschaftspflege erhalten. In dieser nun scheiden sich auf den ersten Blick zwei große Gruppen in Beziehung auf die Aufgaben der Verwaltung. Es gibt eine Reihe von Anstalten und Gesetzen, welche nicht mehr für sich bestehen und einen besonderen wirthschaftlichen Zweck erfüllen, sondern vielmehr zu den Bedingungen für die Entwicklung jeder Art und Richtung des Erwerbs gehören. Die dafür bestimmte Verwaltungsthätigkeit kann man als den allgemeinen Theil der Volkswirthschaftspflege bezeichnen. Wo dagegen eine bestimmte einzelne Richtung des Erwerbes bestimmter ein- zelner Anstalten oder Gesetze bedarf, da entsteht der besondere Theil der Volkswirthschaftspflege. Es ist nicht nöthig, hier weiter zu erörtern, daß jeder Abschnitt in diesen Theilen wieder für sich ein selbständiges Ganze bildet und einen großen Reichthum an allgemeinen Gesichts- punkten und einzelnen Thatsachen enthält, wie es die einzelnen Kate- gorien des folgenden Systems zeigen. c ) Die gesellschaftliche Welt endlich, das dritte Element des menschlichen Lebens, enthält die gesellschaftliche Ordnung , wie sie aus der Vertheilung der Güter und der Berufe entsteht, und als eine allgemeine Thatsache jeden Einzelnen umgibt, in seinem individuellen Streben bestimmt, in seiner Entwicklung beherrscht, und zuletzt gar zur entscheidenden Grundlage für die Verfassung und das gesammte öffent- liche Recht der Staaten wird. Der gemeinsame Kern aller dieser gesell- schaftlichen Ordnungen ist die Familie und ihre innere Ordnung; die Vertheilung des Besitzes kann von der Verwaltung jedoch nur bei dem Grundbesitz erreicht werden; die höchsten Formen endlich gehören der Ver- waltung nur in den materiellen Grundlagen und formellen Aeußerungen der gesellschaftlichen Unterschiede an; und so entstehen die natur- gemäßen Unterschiede der gesellschaftlichen Verwaltung — die Ordnung des Familienwesens — die Sorge und Ordnung des Classenwesens theils in dem gesammten Hülfswesen , in welchem die Entwicklung des individuellen Vermögens als Grundlage für die Erhebung aus der niederen Classe in die höhere die Aufgabe der Verwaltung ist; theils in der Agrarverfassung , welche den Schutz der bäuerlichen Mittel- classe enthält; und endlich als dritter Theil das Ständewesen mit dem Rechte des Adels, der ständischen Besitzrechte und der Orden. Dieß sind die allgemeinsten Grundlagen des Systems der innern Verwaltung, so weit es hier thunlich war, sie ohne tiefer eingehende Begründung kurz darzulegen. Es möge uns nun gestattet sein, da es zur Orientirung wesentlich dient, diese ganze Auffassung auch schematisch darzustellen (s. folgende Seite). Denn am Ende macht sie den Anspruch darauf, die Grundzüge der festen Anatomie des persönlichen Lebens überhaupt, speciell aber des Systems der Verwaltungslehre zu sein, in die jede einzelne Bewegung der Verwaltung und jede einzelne Untersuchung über dieselbe sich ohne Mühe systematisch und organisch hineinfindet. 3) Das Princip der Verwaltung und die Verwaltungs- politik . Während sich nun auf diese Weise die Verwaltung durch das System mit dem wirklichen Leben der persönlichen Welt erfüllt, enthält die letztere ein Moment, welches nicht in jenes System aufgeht und dennoch in demselben lebendig und mächtig ist. An diesem Moment entsteht ein neuer und nicht weniger bedeutsamer Begriff der allgemeinen Verwaltungslehre. In jedem individuellen Dasein lebt nämlich als höchster, wenn auch inhaltslosester und abstraktester Inhalt das, was eigentlich erst die Persönlichkeit bildet, das sich selbst bestimmende, freie Wesen des Menschen, für das wir keinen andern wissenschaftlichen Ausdruck haben, als den des Ich. Das höchste Wesen der Persönlichkeit, die wahre Grundlage seiner Entwicklung besteht vermöge der absoluten Natur des Ich darin, daß nur dasjenige wahrhafte Entwicklung und Erhebung des Menschen ist, was er sich durch sich selber gewonnen hat. Alles was ihm somit ohne seine eigene That wird und kommt, bleibt ihm äußerlich und zufällig; was er nicht durch sich selbst hat und ist, ist im Grunde niemals er selber; das höchste Gesetz des Lebens, das Ge- setz der innern und äußern Arbeit, ist seinerseits nur der Ausdruck jenes tiefsten Wesens der Persönlichkeit, der reinsten Natur derselben, nach welcher sie nur dann sich genügt, wenn sie selbst der Grund dessen ist, was sie ist und besitzt. Und dieses Gesetz erscheint darin, daß das, was dem Einzelnen wird ohne ihn selbst und seine eigenste innerste Arbeit, ihn am Ende nicht nur nicht fördert, sondern vielmehr ihm immer Gefahr bringt und ihn nur zu oft vernichtet. Der höchsten Pflicht, sich durch sich selber zu demjenigen zu machen, was er ist, darf und kann sich niemand entziehen. Und wie sie als tiefste Grundlage des eigenen Strebens die Signatur jedes bedeutenden Menschen ist, so wird sie zugleich zu einer unabweisbaren Pflicht für jeden Andern, der dem Einzelnen auf seinem Lebenswege zur Seite tritt. Nicht das ist die wahre Hülfe und die verständige Liebe, dem Andern zu geben was er braucht, sondern sie beginnt da, wo ich dem Andern die Möglichkeit biete, sich selbst zu erwerben, was ihm fehlt. Nicht darin ist das Heil, daß wir uns opfern, um dem Andern das Leben reicher zu machen, sondern darin daß wir ihm helfen, den geistigen wie den materiellen Reichthum durch sich selbst zu gewinnen. Eine Welt voll Wohlthaten ist keine Wohlthat, sondern der Beginn einer arbeitslosen, und damit unfreien Welt. Nur der ist hart, der nicht gibt, was der Andere durch sich selbst nicht mehr erwerben kann, und nur der ist unverständig, der durch das Geben die Arbeit nicht zu erzwingen weiß, wo sie noch mög- lich ist. Der bessere Mensch fühlt dieß, und selbst dem schlechteren ist es gewiß. Als Wächter für die eigene Kraft und Arbeit hat Gott den Edleren den Stolz gegeben, der sich der Gabe schämt; als Strafe des unverständigen Gebens hat er den Undank geschaffen, der dem Mißver- ständniß der Gutmüthigkeit folgt, und der zuletzt, wie der Gedanke die Unabhängigkeit des Geistes ist, seinerseits den unwiderstehlichen Drang nach der Unabhängigkeit des Herzens zum Ausdruck bringt. Denn in allen irdischen Dingen wird ewig das Böse mit dem Guten innig ver- mischt erscheinen. Aber was so dem Wesen der Persönlichkeit selber gilt, das muß nun auch, wenn auch in andern Formen, doch seinem Wesen nach in allen Formen derselben gelten. Daher auch dem Staate in seiner Verwaltung im allgemeinen, und in jedem einzelnen Gebiete derselben insbesondere. Und dieß ist der Punkt, wo sich dasjenige ergibt, was wir das Princip der Verwaltung nennen. Der Staat nämlich, als persönliche Gemeinschaft der Menschen, ist so mächtig und reich gegenüber dem Einzelnen, daß es ihm ein Leichtes erscheint, durch seine Thätigkeit in der Verwaltung alle Auf- gaben des Einzellebens selbst zu erfüllen, und damit die Entwicklung des Einzelnen, die ja das Ziel der Verwaltung ist, in eben so rascher als gewaltiger Weise zu fördern. Daß er das thue, dazu drängt ihn nicht bloß die edlere Natur der Persönlichkeit, sondern es liegt auch seinem Interesse nahe genug. Denn er ist doch der Stärkere und für alle allgemeine Fragen und Aufgaben auch der Weisere, da er die gei- stigen Kräfte Aller in sich faßt. Das Individuum aber, das er durch seine Macht fördert und hebt, ist nicht bloß für ihn überhaupt eine Persönlichkeit, die nach den sittlichen Gesetzen seine Hülfe zu fordern hat, sondern es ist sein eigen; es ist ja ein Theil seiner selbst. Denn er selbst ist ja die Einheit eben dieser Einzelnen, für die er sorgt. In- dem er daher seine Hand öffnet und seine Kräfte für den Einzelnen anstrengt, um demselben zu geben, was er nicht hat, gibt er im Grunde sich selber. Was der Einzelne gewinnt, gewinnt der Staat; es ist ein Kreislauf, in welchem alles, was der Staat thut, zum Staate zurück- kehrt. Warum soll er Bedenken tragen, den Einzelnen reich und glück- lich zu machen theils durch das, was er ihm gibt, theils durch das, wozu er ihn zwingt? Und wenn er dieß Bedenken nicht hegt, wo ist die Gränze für die Aufgabe und Macht dieser Thätigkeit des Staats, oder seiner Verwaltung? Offenbar nun liegt diese Gränze weder in der Macht noch in dem äußerlichen Interesse des Staats. Sie liegt vielmehr im Wesen der Persönlichkeit, mit welchem die Verwaltung desselben zu thun hat, und zwar in demjenigen Wesen derselben, welches wir eben dargelegt. Wenn das bloße Geben an den Andern, wenn das bloße Wollen für den Andern die Selbständigkeit und damit das eigentlich persönliche Wesen des Einzelnen untergräbt und vernichtet und in Arbeitslosigkeit auflöst, so greift der Staat mit einer solchen Thätigkeit die Grundlagen des eigenen Daseins an; denn er ist ja die Gesammtheit eben dieser Ein- zelnen, die einzeln nur das sind, was sie sich erarbeitet und durch eigene That ihr Eigen nennen. Jenes Hingeben des Staats muß daher da seine Gränze finden, wo er jene Selbständigkeit der freien Persönlichkeit gefährdet. Denn anderseits kann der Einzelne sich nicht durch sich selbst helfen. Die Verwaltung entsteht ja eben dadurch, daß der Mangel der Einzelpersönlichkeit durch die Gemeinschaft aufgehoben wird. Wer und was soll nun entscheiden, wo der Staat, indem er dem Einzelnen seine starke Hand reicht, nicht thut, was ihn seines innersten persönlichen Wesens berauben würde? Und offenbar kann es wenig nützen, hier von einzelnen Fällen zu reden, sondern es muß die Gesammtheit aller Fragen, die hier entstehen, von Einem Gesichtspunkt aus sich entschei- den. Es muß ein Princip für die Gränze der Verwaltungsthätig- keit geben. Ein solches Princip hat nun ihrerseits die Staatswirthschaft, und ein solches hat auch die Rechtspflege. In beiden Gebieten ist die Sache sehr einfach. Aber anders ist es in der innern Verwaltung. Denn hier handelt es sich eben um eine positiv fördernde Thätigkeit, welche die Entwicklung des Einzelnen durch die des Staats erzeugt, oder um eine direkte Beschränkung der persönlichen Freiheit, welche die freie Thätigkeit des Einzelnen beschränkt. Und dieß Princip liegt eben nur im Wesen der persönlichen Entwicklung selbst. Wenn es nämlich gewiß ist, daß der Einzelne der Andern bedarf und zugleich selbstthätig sein soll, um ihrer nicht zu bedürfen, so ist es klar, daß er der Andern eben nur so weit bedürfen soll, als er mit seiner Selbstthätigkeit sich selbst nicht mehr helfen kann . An dieser Gränze beginnt daher die Aufgabe der Gemeinschaft für den Einzelnen. Da aber erst die Selbstthätigkeit des Einzelnen den Werth desselben bildet, so muß diese Aufgabe der Gemeinschaft diese Selbst- thätigkeit nicht ersetzen, oder überflüssig, sondern sie muß sie eben nur möglich machen. Möglich machen aber heißt, ihr diejenigen Bedin- gungen geben, welche sie sich nicht selbst schaffen kann. Diese Bedin- gungen bilden dann noch keinen Inhalt der Persönlichkeit, sondern stehen selbständig außer ihr, liegen vor ihr; sie kann sie benützen, sie kann sie nicht benützen; sie kann und soll aber, wenn sie sie benützt, sich durch sich selbst Maß und Art dieser Benützung bestimmen; sie muß selbst dasjenige, was sie aus diesen Bedingungen für sich will, mit sich und ihren Bedürfnissen in Harmonie bringen, Maß und Ziel derselben sich selber setzen. Sie muß ihre eigene Entwicklung noch immer sich selbst erarbeiten; sie empfängt nicht Wohlsein und Freiheit, sondern sie muß sie sich selbst erwerben , damit beide ihr wahrhaft gehören. Das ist der natürliche und einfache Punkt, auf welchem die Lösung der obigen Fragen liegt. Und damit ist auch das einfache Princip der Verwaltung gegeben. Der Staat soll durch seine Verwal- tung niemals und unter keinen Umständen etwas anderes leisten, als die Herstellung der Bedingungen der persönlichen, wirth- schaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, welche der Einzelne sich nicht selber zu schaffen vermag , und es dann dem Einzelnen und seiner freien selbständigen That überlassen, aus der Benützung dieser Bedingung sich sein eigenes Leben zu bilden und zu entwickeln . Dieß Princip nun durchzieht natürlich die ganze Verwaltung; es ist sogar fast immer der eigentliche Maßstab ihres rechten Werthes, und, wohl verstanden, gibt es uns seinerseits das Mittel, den Staat selbst und die allgemeine Richtung seiner Regierung zu beurtheilen. Denn so einfach es scheint, so hat es dennoch große und tiefgehende Voraussetzungen in seiner Anwendung. Es fordert namentlich zwei Dinge. Zuerst fordert es von Seiten der Verwaltung ein kräftiges und stets lebendiges Gefühl derselben für das eigentliche Wesen der Persönlichkeit, die freie selbstthätige Arbeit, die Selbständigkeit, die sich dadurch ergibt, daß der Einzelne sich auf sich selber zu stellen und durch sich selber zu seinem Ziele zu gelangen weiß. Dieß Gefühl ist in der Wirklichkeit des Staatslebens keineswegs so leicht zu gewinnen und zu erhalten, als es scheint. Denn der Staat ist so mächtig, daß er, zu- letzt im eigenen Interesse, leicht mehr thut, als nothwendig ist, und noch leichter eben jene geistige Selbständigkeit für überflüssig, ja ge- radezu für ein ihm feindliches Element erachtet, und daher stets geneigt ist, es zu bekämpfen, am meisten da, wo er doch als der Gebende er- scheint. Dazu kommt, daß er nur zu oft mit der Unbildung, ja mit dem baaren Unverstand seiner Angehörigen zu thun hat, und in seinem Unmuthe Gefahr läuft, um des Guten willen das Beste, die Selb- ständigkeit der Staatsbürger, zu vernichten. Es gehört daher schon eine hohe Bildung von Seiten der Staatsgewalt dazu, um sich dieß Gefühl lebendig zu erhalten. Und hier ist es, wo die Selbstverwaltung ihren wichtigsten ethischen Einfluß auf den Staat hat, denn sie ist es, welche eben dieß Gefühl sowohl im amtlichen Organismus als im Staatswege selbst erzeugt und kräftigt; ohne Selbstverwaltung wird dasselbe stets entweder bloß eine sittliche Forderung, oder ein inhalts- loses Wort bleiben. Die Ausbildung und richtige Würdigung der Selbstverwaltung wird daher stets nicht bloß für die wirkliche Verwal- tung, sondern eben so wesentlich sein für den Geist derselben, und durch ihre Rechte einerseits, wie durch ihre Persönlichkeit anderseits der amt- lichen Verwaltung die Gränze ihres Princips wiedergeben, die sonst nur zu oft gefährdet ist. Zweitens aber fordert die Verwirklichung jenes Princips eine ge- naue Kenntniß der wirklichen Lebensverhältnisse , um in ihnen zu erkennen, wo die Hülfe der Verwaltung noch mit den Bedingungen der persönlichen Thätigkeit zu thun hat, oder sie direkt ersetzen würde. Hier kann wiederum die reine Theorie nicht viel nützen, und die Ein- flüsse gegebener Zustände sind so groß, daß jene Gränze für dieselbe Aufgabe der Verwaltung an verschiedenen Zeiten und Orten natur- gemäß eine sehr verschiedene ist. Das was hier vollkommen richtig und nothwendig erscheint, wird durch concrete Zustände an einem andern Platze zu viel, an einem dritten zu wenig. Nichts ist deßhalb ver- kehrter, als den Werth der Verwaltung rein nur an dem thatsächlichen Inhalte ihrer Maßregeln bestimmen zu wollen, und das was man die Vergleichung nennt, auf ein bloßes Messen und Rechnen zurück- zuführen. Wenn der Staat seinem Begriffe nach eine Persönlichkeit ist, so ist er in seiner Wirklichkeit ein Individuum, und am ersten und meisten gerade für die innere Verwaltung. Die abstrakte Gränze für die Thätigkeit der letztern liegt daher allerdings in der Persönlichkeit, die concrete Gränze dagegen liegt in den gegebenen Zuständen und Bildungsstufen des Volkes. Es ist vollkommen unverständig, ohne wei- teres etwas darum für allgemein richtig oder falsch zu erklären, weil es zu einer gewissen Zeit in einem gewissen Volke richtig oder falsch war. So wenig die Völker und Zeiten sich gleich sind, so wenig soll und kann ihre Verwaltung eine gleiche sein, und in ihrer Beziehung zum Volke gleich weit gehen. Die Ungleichheit der gegebenen Zustände setzt voraus, daß gerade die Gleichheit der Verwaltungsmaßregeln ihre Ungleichheit enthält. Und man darf sich daher auch nicht täuschen über den Werth der äußerlichen Vergleichung der Verwaltung und ihres Rechts bei den verschiedenen Völkern. Hier gibt es nichts absolut Gutes, und jene Vergleichung soll deßhalb auch nicht dahin führen, das Fremde bloß darum als Muster aufzustellen, weil es den Fremden heilsam ge- wesen ist. Die wahre Vergleichung hat die viel schwerere Aufgabe, das Verschiedene erst auf die Gleichartigkeit der Zustände zu reduciren, und erst nachdem dieß geschehen, an seine Benützung zu denken. Das ist deßhalb die schwierigste aller Aufgaben, und fordert eben so viel Erfahrung als wissenschaftliche Bildung; und auch um ihretwillen nennen wir die Verwaltungslehre den höchsten Theil der Staats- wissenschaft. Faßt man nun diese Punkte zusammen, so ergibt sich das Wesen desjenigen, was wir die Politik der Verwaltung oder die prak- tische Staatskunst nennen. Dieselbe besteht darin, aus dem Wesen der selbstthätigen Persönlichkeit und aus dem Verständniß der gegebenen Zustände das richtige Maß und die zweckmäßige Form für die wirkliche Thätigkeit der Verwaltung eines gegebenen Volkes zu bestimmen. Und daher dürfen wir gleich hier hinzufügen, daß nicht bloß die Verwaltung im Ganzen und Großen, sondern daß auch jedes Gebiet der Verwal- tung seine Politik hat. Wie es eine Politik der Staatswirthschaft gibt und eine Politik der Rechtspflege, so gibt es eine innere Verwaltungs- politik; aber innerhalb der innern Verwaltungspolitik hat wieder jeder Theil derselben seine Politik, die dann allerdings durch die persönlichen wirthschaftlichen und socialen Zustände bedingt wird. Darin liegt die Unerschöpflichkeit der innern Verwaltungslehre; sie ist nicht bloß im Ganzen, sondern auch in jedem Theile das ewig junge Gebiet der lebendigen Wissenschaft vom Staate. 4) Der Begriff der Polizei und das Verhältniß der Polizei- wissenschaft zur Verwaltungslehre . Wir würden jetzt glauben, den Begriff und die systematische Dar- stellung der innern Verwaltung hinreichend festgestellt und vor jeder Verwechslung bewahrt zu haben, wenn nicht durch den eigenthümlichen Entwicklungsgang einerseits des wirklichen Lebens und andererseits der Theorie eine so große Verwirrung der Begriffe und, wie es immer da- bei geschieht, eine so große Unbestimmtheit und Willkür in die Bezeich- nungen der Verhältnisse und die Wahl der Ausdrücke hineingekommen wäre, daß wir, wollen wir endlich ein definitives Resultat gewinnen und damit erst eine selbständige Wissenschaft der Verwaltung möglich machen, eben diese bisherigen Vorstellungen, Bezeichnungen und Worte noch einmal ins Auge fassen und auf ihre eigentliche Bedeutung zurück- führen müssen. Der Ausdruck, der hier die eigentliche Schwierigkeit bildet, und der jede wahre Wissenschaft der Verwaltung so lange unmöglich macht, als man sich über seinen festen Sinn nicht geeinigt hat, ist der der Polizei und sein Correlat die Polizeiwissenschaft . Wenn ein solches Wort seit Jahrhunderten gebraucht worden ist, wenn seit Jahrhunderten über seine wahre Bedeutung hin und her ge- stritten ist bis zur Erschöpfung aller Betrachtungen und selbst des Inter- esses an denselben, wenn es ohne einen gemeinsam anerkannten, be- stimmten Sinn von jedem in seiner Weise gebraucht worden ist, und wenn es nun gar endlich, wie wir sehen werden, mit dem, was es wirklich bedeutet, ein immanentes, die ganze Verwaltung durchdringen- des Moment bezeichnet, so wird es wohl leicht begreiflich seyn, daß wir es nicht mit ein paar Sätzen ganz erklären und auf sein richtiges Maß zurückführen können. Es ist, wie die Sachen liegen, ganz unmöglich, an die Stelle der bisherigen Verwirrung Klarheit zu bringen, wenn es uns nicht gestattet ist, etwas tiefer auf die Sache einzugehen. Allein jeder, der mit der Verwaltung und ihrer Wissenschaft jemals zu thun gehabt, wird uns zugestehen, daß ohne eine durchgreifende Bestimmung der wahren Definition und des Wesens der Polizei und damit ihres organischen Verhältnisses zur Verwaltung eine Verwaltungslehre gar nicht möglich ist. Gewiß nun wird das Eingehen auf die richtige Auffassung viel leichter sein, wenn wir das Resultat dieses Theiles unserer Untersuchung gleich an die Spitze stellen. Die Thatsache, von der wir ausgehen, ist die völlige Verschmelzung des Begriffes von Polizei und Verwaltung bei einigen, das Gefühl, daß dieselbe nicht richtig ist, bei andern, und dadurch die Unklatheit über das Wesen beider und die Verwirrung der Begriffe und Ausdrücke bei allen. Die Untersuchung des Begriffes und Wesens beider ergibt nun, daß allerdings die Polizei ein der ganzen Verwaltung immanentes Element bildet, daß sie dagegen keineswegs die ganze Verwaltung ent- hält oder erschöpft; daß sie aber aus geschichtlichen Gründen diese ganze Verwaltung Jahrhunderte hindurch bedeutet hat, und daß sich erst lang- sam und unsicher der Begriff der Verwaltung aus dem der Polizei her- ausgearbeitet, unter den verschiedensten Namen jener gegenüber Selb- ständigkeit gewonnen, aber sich doch noch nicht zu einem organischen Ganzen erhoben hat, bis wir in unserer Zeit gezwungen sind, die Verwaltung als das organische Ganze anzuerkennen, in welchem wir der Polizei mit ihrem specifischen Wesen und ihrer eigenthümlichen Function ihre Stelle anweisen. Dieß in Kürze auszuführen, ist die Aufgabe des Folgenden. Und darum wünschen wir uns auf keinem Punkte mehr die Gabe der Ueberzeugung, als hier. Denn es ist bei dem bisherigen Zustande keine Verwaltungswissenschaft möglich, und dennoch ist sie das höchste Gebiet der Staatswissenschaft. Wenn wir nun in der Geschichte der Idee der Verwaltung den Entwicklungsgang des positiven, ethischen Inhalts derselben und ihr lebendiges Verhältniß zur Idee des Staates angedeutet, so kommt es hier vielmehr darauf an, die Geschichte der Namen, der Ausdrücke, der Formen zu geben, in denen sich jene geäußert und durch die sie sich verwirrt hat. Wir können dabei ohne eine gewisse Wiederholung nicht auskommen. Aber unser Trost mag sein, daß wenigstens diese Aufgabe nicht zweimal gelöst zu werden braucht. a ) Das Wesen der Polizei und ihr Verhältniß zur Verwaltung . Wir glauben, daß wenn man den von uns oben dargelegten Be- griff der innern Verwaltung einen Augenblick festhalten will, Begriff und Wesen der Polizei und ihr organisches Verhalten zur Verwaltung leicht verständlich sein wird. Die innere Verwaltung soll die Bedingungen der selbstthätigen Entwicklung des Einzelnen durch die Macht des Staats in so weit her- stellen, als der Einzelne sich dieselben als solcher nicht zu bereiten vermag. Diese Bedingungen bestehen nun in gewissen Zuständen und Ver- hältnissen des äußern Lebens der Persönlichkeit. Diese Zustände und Verhältnisse aber sind theils wirkliche Thatsachen, theils aber sind sie Kräfte , welche erst Thatsachen zu erzeugen streben, die wir dann die Wirkung der Kraft als Ursache der Thatsache nennen. Es ist nun natürlich, daß die Aufgabe und Thätigkeit der Ver- waltung eine andere ist, je nachdem sie es mit wirklichen Thatsachen oder mit den Kräften zu thun hat. Dabei ist es kein Zweifel, daß sie, will sie anders ihren Zweck erreichen, bei ihrer Thätigkeit sich nach der Natur ihres Objekts zu richten hat. Daher wird es das Wesen der Kraft sein, welches die Aufgabe der Verwaltung bestimmt, wo sie mit solchen Kräften zu thun hat. Jede Kraft nun, sie mag eine natürliche oder persönliche sein, ist ihrer Natur nach ohne Gränze. Es gibt überhaupt gar keinen andern Begriff der Kraft, als den des an sich seinem Wesen nach unbegränz- ten Daseins. Jede Kraft empfängt daher ihre Gränze erst von der andern Kraft. Das ist der wahre Ausgangspunkt der Wissenschaft der Thatsachen. Eine solche begränzte Kraft in ihrer äußern Erscheinung nennen wir, als ein Einheitliches gedacht, eine Thatsache, als eine Vielheit von Momenten in dieser Einheit, einen Zustand. Jeder Zu- stand, der persönliche wie der natürliche, ist daher von den Kräften, welche in allen andern ihn umgebenden Zuständen ihrerseits lebendig sind, beständig bedroht, weil die jedem Zustande zu Grunde liegende Kraft ihre Natur, das Streben nach unbegränzter Geltung, sich erhält. In jedem Zustande lebt daher eine Gefahr für alle andern Zustände. Jeder Zustand erhält sich somit nur dadurch, daß er seine Kraft gegen- über der der andern Zustände geltend macht. Verliert er das Maß der Kraft, welches ihn dazu befähigt, so geht er zu Grunde. Das ist das Gesetz für die Gegensätze unter den Dingen in der Natur. Es ist ferner das Gesetz des Gegensatzes zwischen der Natur und der Menschheit. Es ist aber endlich nicht minder das Gesetz für den Gegensatz des Einzelnen gegen den Einzelnen; denn auch der Einzelne ist, als seinem Wesen nach unendliche und an sich freie Selbstbestimmung, negativ gegen jeden andern Einzelnen, weil derselbe die äußere Gränze seines Lebens und Thuns enthält, und damit eine Gefahr für alle andern. Die freie und selbstthätige Entwicklung der Einzelnen, dieses höchste Ziel des Staats in seiner innern Verwaltung, hat daher zu einer ihrer wesentlichsten Bedingungen die, daß die sie umgebenden natürlichen und persönlichen Kräfte diese freie Entwicklung nicht vernichten. Die Erfül- lung dieser Bedingung liegt darin, daß jede dieser Kräfte auf das Maß zurückgeführt wird, innerhalb dessen die freie Selbstbestimmung des Ein- zelnen noch möglich ist. Das nun vermag der Einzelne darum nicht, weil theils seine physischen Kräfte und Mittel, theils sein Verständniß und seine Kenntniß der Zustände nicht ausreichen. Hier ist demnach der Punkt, wo die Aufgabe der Verwaltung wieder eintritt. Sie muß auch in Beziehung auf den Schutz und die Bändigung der die persön- liche Entwicklung bedrohenden Gefahren leisten, was der Einzelne nicht leisten kann und was demnach für den Einzelnen eine wesentliche Vor- aussetzung seiner Entwicklung ist. Und die Gesammtheit aller derjeni- gen Thätigkeiten der innern Verwaltung nun, welche somit den Einzel- nen vor den Gefahren schützt, die in den ihn umgebenden Kräften liegen, indem sie diese Kräfte auf ihr Maß zurückführt , nennen wir die Polizei . Es ist daher wohl klar, daß die Polizei ihrem Wesen nach in der That nicht etwa ein besonderes Gebiet oder ein eigener Theil der Ver- waltung ist, wie etwa Unterrichts- oder Gewerbewesen, und daß die Verschmelzung und Verwechslung von Polizei und Verwaltung daher auch nicht die Verwechslung eines Theiles mit dem Ganzen enthält. Im Gegentheil ist die Polizei innerhalb der ganzen innern Verwal- tung beständig vorhanden und thätig, wie ihr Objekt, die Gefahren, die aus feindlichen Kräften entstehen, das ganze Leben des Menschen umgeben. Sie ist der gesammten Verwaltung immanent ; sie ist in jedem Theile derselben vorhanden, denn sie ist eben die negative Seite dieser Verwaltungsthätigkeit. Sie vermag daher nicht bloß den Umfang der Verwaltung anzunehmen, sondern sie entwickelt auch ver- möge ihrer specifischen Natur ein ihr eigenthümliches System von Maß- regeln und Thätigkeiten, durch welches sie die Fähigkeit empfängt, als ein zugleich äußerliches und innerlich selbständiges Ganze aufzutreten; und dieses Ganze erzeugt endlich ein ihr specifisch angehöriges Recht , das wiederum auch äußerlich sich von dem übrigen Verwaltungsrecht abscheidet, und oft sogar als selbständiges, systematisches Gesetz auftritt. Es muß das alles wohl in Anschlag gebracht werden, um die Ver- wechslung von Polizei und Verwaltung zunächst theoretisch zu würdigen, und zu erkennen, daß es so gar einfach nicht ist, diese Verschmelzung aufzulösen. Und darum werden wir dieß hier zunächst bestimmter be- zeichnen. Das, was wir das System der polizeilichen Thätigkeit nennen, beruht auf dem Wesen des Objekts der Polizei, der Natur und der Verschiedenheit der Kräfte, gegen welche sie schützen soll. Der Inhalt dieser Thätigkeit ist nämlich ein wesentlich verschiedener, je nachdem die Kräfte natürliche oder persönliche sind. Bei den Kräften der Natur muß der Schutz, den die Polizei verleiht, darin bestehen, daß sie den natürlichen Bewegungen thatsächlich eine Einrichtung entgegenstellt, die stark genug ist, jene zu hemmen, wie bei Wasser und Feuer; und hier besteht daher die Polizei in allen, die Naturkräfte bekämpfenden Stein , die Verwaltungslehre. II. 5 Anstalten und Anordnungen, welche den Schutz des persönlichen Lebens bezwecken. Bei den menschlichen Kräften dagegen kann der Schutz der Polizei nur darin bestehen, daß sie dem Willen der Menschen den Willen der Verwaltung als Verbot der gefährdenden Handlung, der wirklichen gefährlichen That aber als unmittelbare, die Gränze wieder herstellende Zwangsgewalt entgegentritt. Dieser Zwang kann als Androhung von Strafe sich auf den Willen (die eigentliche Kraft, welche Gefahr droht) oder als materielle Gewalt auftreten. In beiden letztern Fällen erscheint diese, gegen den Willen und die Thätigkeit der Persönlichkeit gerichtete Polizei als ein Eingriff in die freie Selbstbestim- mung des Individuums, und muß daher zu diesem Ende als eine be- stimmte Vorschrift des öffentlichen Rechts , als ein Gesetz oder eine Verordnung und Verfügung der Polizei auftreten. So entsteht das Polizeirecht , das nun wiederum in selbständiger Codification oder in einzelnen Vorschriften erscheinen kann, und das daher als ein Theil des Rechts der vollziehenden Gewalt für die gegen den Einzelnen ge- richtete Vollziehung der Polizeivorschriften auftritt (Vollziehende Gewalt 198 ff.). — Dabei ist nun freilich wesentlich festzuhalten, daß diese Polizei es ihrem Begriffe nach niemals mit einer bereits geschehenen That zu thun hat, sondern nur mit der Kraft , welche die That thut, oder wie man sagt, mit der Gefahr einer That. So wie die That ge- schehen ist, tritt vielmehr derjenige Theil der Verwaltung ein, den wir die Rechtspflege nennen. Selbst da, wo die That als Uebertretung der Polizeivorschrift erscheint und die Vollziehung der in der Vorschrift angedrohten Strafe zur Folge hat, ist die Vollziehung dieser Polizei- strafe kein Akt der Polizei , sondern ein Akt der Rechtspflege, na- türlich auch da, wo das vollziehende Organ der Polizei über diese Polizeiübertretung zu urtheilen und ihr Urtheil zu vollziehen hat, wie es aus naheliegenden Gründen der Zweckmäßigkeit oft geschieht. Die Natur der polizeilichen Thätigkeit wird dieses judicielle Verfahren des Polizeiorganes nicht ändern, sondern nur die administrative Function mit der judiciellen verbinden . Der Fehler, den man dabei ge- wöhnlich begeht, besteht dann darin, daß man den in Urtheil und Voll- ziehung liegenden gerichtlichen Akt des Polizeiorganes als im Wesen der Polizei statt in den praktischen Bedürfnissen der Verwaltung liegend auffaßt und dadurch den klaren Begriff der Polizei verwirrt. Es ergibt sich daraus, daß es gar keine sogen. Präventiv-Justiz gibt, noch geben kann. Alles, was man damit bezeichnet, ist theils Polizei-, theils Rechtspflege, nur meistens von demselben Organe vollzogen, niemals aber Ein Begriff oder Eine Function, die zwei wesentlich verschiedene Dinge zugleich wären. Dieß nun soll genauer dargestellt werden bei der Sicherheitspolizei. Das Folgende wird aber schon ausreichen, den obigen Begriff im Allgemeinen festzustellen. Jedenfalls aber ergibt sich, sei es nun, daß die Polizei allein oder in Verbindung mit der Justiz functionire, daß diese polizeiliche Thätig- keit in der ganzen Verwaltung erscheint, und daß kein Theil als Ge- biet der Verwaltung ohne dieselbe sein kann und soll, ein Verhältniß, das auch durch das Aufstellen eines eigenen Polizeigesetzbuches keines- wegs aufgehoben wird. Denn in jedem Theile des Gesammtlebens, also auch in jedem Gebiete der Verwaltung sind theils natürliche, theils persönliche Kräfte lebendig; in jeder Kraft lebt die Möglichkeit, ja das Streben, über ihr Maß hinauszugehen; jede Kraft enthält da- her auf jedem Punkte eine Gefahr für die freie Entwicklung; auf jedem Punkte ist daher die Aufgabe der Verwaltung vorhanden, ver- möge der polizeilichen Function den Schutz gegen das Uebergreifen der Kräfte herzustellen. Ist dem nun aber so, so wird es auch leicht klar, daß man die gesammte Verwaltung auch vom Standpunkte der eigentlichen Polizei betrachten und behandeln kann. Wenn man den Ausgangspunkt für die Auffassung der Verwaltung in demjenigen nimmt, was dieselbe zu verhindern hat, so wird man die gesammte Verwaltungslehre an diesen polizeilichen Standpunkt fast ohne Schwierigkeit anknüpfen, ja die ganze Verwaltungslehre wesentlich als Polizeilehre ansehen und be- trachten können. Und nun denke man sich nur hinzu, daß das, was die Verwaltung positiv anordnet und befiehlt, durch die in dem oben bezeichneten Systeme der polizeilichen Thätigkeit liegenden Mittel, also namentlich durch polizeiliche Strafandrohung, eventuell durch polizeiliche Zwangsgewalt zur Ausführung gebracht wird, so wird es in hohem Grade als naheliegend erscheinen, die ganze Auffassung der eigentlichen Verwaltung in die der Polizei aufgehen zu lassen, und somit die ganze Wissenschaft der Verwaltung als Polizeiwissenschaft hinzustellen. In der That ist dieß der Gang der Dinge und die Form gewesen, in der die Verwaltungslehre den Namen und den Charakter einer „Polizeiwissenschaft“ empfangen und bis auf den heutigen Tag be- halten hat. b ) Die historische Grundlage des specifischen Polizeibegriffes . Als nämlich mit dem Auftreten der neuen Staatsgewalt seit dem Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts der Staat sich der ständischen Grundherrlichkeit als selbständige Macht entgegenstellt und alles öffentliche Recht und Leben um sich zu concentriren beginnt, tritt für ihn mit der höheren Berechtigung auch eine höhere Forderung auf. Er muß etwas Bestimmtes thun . Er muß mit seiner Thätigkeit das Gesammtinteresse gegen die Sonderinteressen und Rechte der ständischen Bildungen vertreten. Er muß allenthalben den Widerstand der letztern brechen. Er muß jene Gesammtinteressen erstlich verstehen und sie dann mit seiner Gewalt durchführen. Er muß, wie jene Gesammtinteressen, allenthalben gegen- wärtig und thätig sein; er muß den Rechtstitel dieses Eingreifens in die bestehende ständische Macht in einer höheren, abstrakten Idee suchen; er muß endlich diese seine Thätigkeit mit einem großen, ebenfalls all- gegenwärtigen Organ versehen; er muß verlangen, daß dieser Organis- mus die Gesammtinteressen erkennen und daß er fähig sei, jenen höhern Rechtstitel in sich aufzunehmen und auf allen Punkten zu vertreten. Alles das sind die Bedingungen des wirklichen und nachhaltigen Sieges des Königthums über die alte Ordnung der Dinge. Durch alles dieß zusammen genommen empfängt nun der Staat zuerst seinen organischen Inhalt überhaupt. Die Idee des Staats bleibt dadurch nicht bloß eine wissenschaftliche Theorie; sie ist auch kein bloß materielles Eingreifen in die bestehenden Ordnungen; sie ist eben so wenig bloß ein Wunsch und Streben der Herrscher. Sie ist eben alles zugleich, wie jede wahre historische Thatsache. Die Könige dieser Epoche wissen gleichsam unmittelbar, was sie sind und sein sollen. Das Wort „von Gottes Gnaden“ bezeichnet uns jene Anschauung, welche der Staat über alle Interessen und Gewalten der Einzelnen stellt. Der große Organismus, der im Namen des neuen Königthums wirkt, ist die Obrigkeit. Das große geistige Element, das beide umgibt und be- gleitet, ist die junge Staatswissenschaft. Sie selbst hat zwei große Ge- biete, die fast unwiderstehlich ineinander greifen. Königthum und Obrig- keit bedurften für ihre schwere Aufgabe zweier Dinge. Erstlich bedurften sie eines Rechtsbewußtseins, und eines diesem Rechtsbewußtsein ent- sprechenden, geltenden, fertigen, mit voller Autorität auftretenden Rechtsbuches . Für das letztere können die Rechtsbücher der stän- dischen Epoche nicht dienen. Sie sind alle zusammen theils örtlicher Natur, theils haben sie zu ihrer Voraussetzung die ständische Gesell- schaftsordnung mit ihren Rechtsunterschieden und ihrer örtlichen Gel- tung, welche eben die Anwendung allgemeiner und gleichartiger Grund- sätze rechtlich ausschließt. Die neue Staatsidee muß daher ihren eigenen Rechtscodex haben und zur Geltung bringen; und dieses Rechtsbuch ist das Corpus Juris, das eben darum zur allgemeinen Grundlage des Studiums der „Obrigkeit,“ aller Beamteten des Königthums wird, wäh- rend man daneben consequent das alte ständische Recht vollkommen vernachlässigt. Allein zweitens bedarf der junge Staat neben dieser juri- stischen Begründung für seine Thätigkeit einer theoretisch begründeten und wissenschaftlich systemisirten, kurz einer ethischen Grundlage seiner praktischen Aufgabe. Und während nun das römische Reich ihm sein Recht im Corpus Juris gab, trat die griechische Welt ihm in diesem Bedürfniß zur Seite, und gab ihm die griechischen Werke über die Staatskunst, die πολιτεια. Es handelte sich bei dieser πολιτεια na- türlich nicht darum, gerade das auszuführen, was Plato und Aristoteles gesagt hatten, so wenig wie es jemand einfiel, gerade das ganze römische Recht zur Anwendung zu bringen. Es handelte sich vielmehr nur dar- um, der Thätigkeit des Staates und seiner Obrigkeiten eine hohe ethische Autorität zum Grunde zu legen. Diese aber gaben ihm die Werke über die Politeia. So griffen dieselben sofort und auf das mächtigste ein. Die Staatskunst erschien als eine Wissenschaft neben dem Recht; es war natürlich, daß man dieser Staatskunst den angestammten Namen gab; und so entstanden die Politik oder die Polizei , ursprünglich aus derselben Quelle, eins und dasselbe bedeutend. Damit war dem ersten Bedürfniß Genüge geleistet. Die Politik umfaßt das ganze Staatsleben in der ethischen Begründung des neuen Staatsrechts. Bald aber entwickelt sich daraus ein neuer Proceß. Während jenes nämlich geschieht, concentriren sich die Staaten; sie gewinnen feste Formen und Gränzen; sie berühren sich; es entstehen die speciellen Interessen derselben in dem sich entwickelnden Gesammt- leben Europa’s; es entsteht das, was wir das Staatensystem nennen. In diesem Staatensystem hat nun jeder Staat wieder seine Aufgabe gegenüber den andern; und alle diese Aufgaben erscheinen zusammen- gefaßt in demjenigen Momente, welches seinerseits die Bedingung aller ist, der Machtbildung. Diese Machtbildung ist aber eine Kunst für sich; sie erscheint vor der Hand ganz gleichgültig gegen die innern Zu- stände; sie will für sich verstanden und gelehrt werden; und so trennt sich in der ursprünglich einfachen Staatskunst das Gebiet der Staats- kunst der äußern Machtbildung, die Staatskunst des Verkehrs der Staaten untereinander von der innern Staatskunst. Mit dieser that- sächlichen Scheidung tritt die des Namens ein. Das Wort πολιτεια spaltet sich in zwei Theile. Die Staatskunst des äußern Staaten- verkehrs und der Machtbildung wird die Politik ; die Staatskunst des innern Staatslebens wird die Polizei . Jene hat ihren Organismus in der sich allmählig selbständig entwickelnden Diplomatie, diese dagegen ist das wahre Gebiet der eigentlichen Obrigkeit. Und so hat jetzt der Begriff der „Polizei“ seine eigene, leicht verständliche Bedeu- tung. Sie ist durch den Gang der Dinge zur Gesammtheit aller Thätigkeiten der Obrigkeit für das innere Staatsleben geworden. Auf diese Weise empfängt die „Polizei“ ihren ersten concreten In- halt. Und nun war es ganz natürlich, daß dieser Inhalt, oder das, was die Polizei getrennt von der Politik lehren mußte, identisch mit dem war, was die „Obrigkeit“ zu thun hatte. Das letztere aber lag eben in den Zuständen der Zeit, in denen der junge persönliche Staat entsteht. Das Leben jener Epoche ist erst so eben aus der Periode des Faust- rechts und Fehderechts, der Berechtigung zur Anwendung der persönlichen Gewalt hinausgetreten. Ihr erstes Bedürfniß, die erste Bedingung alles staatsbürgerlichen Fortschrittes, ist die rechtliche Sicherheit des Einzelnen. Allerdings gab es dafür Gerichte, und wohl auch waren diese Gerichte thätig. Allein ein Gericht hat als Grundlage seiner Thätigkeit stets ein Gesetz. Allerdings nun gab es Gesetze. Allein diese Gesetze hatten entweder nur, wie das sogenannte deutsche Privatrecht in Deutschland oder das droit coutumier in Frankreich, die ständischen Rechte und Verhält- nisse zum Inhalt, oder, wie das römische Recht, die staatsbürgerliche Rechtsordnung. Eine Verwaltungsgesetzgebung gab es nicht . Sie mußte daher erst geschaffen und neben ihr als Complement die Straf- gesetzgebung hingestellt werden. So entstand eine ganz neue Richtung der Gesetzgebung über das innere Staatsleben, der Anfang der Ver- waltungsgesetzgebung und des eigentlichen Verwaltungsrechts, die Polizeigesetzgebung . Diese Polizeigesetzgebung hatte nun nicht zur Grundlage ein ausgebildetes theoretisches System der Verwaltung, son- dern sie schloß sich vielmehr einfach an das praktische, wirkliche Leben an, indem sie sich zuerst und vor allen Dingen an dasjenige hielt, was das nächste praktische Bedürfniß fordert. Das aber ist die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Die Zeit des Faustrechts muß aufhören, die Zeit, in welcher der Einzelne den Nachbarn so weit unterdrückt oder so weit seiner Willkür Spielraum läßt, als seine Macht geht. Diese erste Aufgabe ist eine allgemeine, alles überragende; das junge Leben der staatsbürgerlichen Gesellschaft, das Gesammtinteresse fordert vor allen Dingen Schutz und Ruhe: es ist sich bewußt, daß es schon selbst weiter kommen wird, wenn es nur zu gesicherten öffentlichen Zuständen gelangt; die einzelnen Aufgaben der eigentlichen Verwaltung liegen noch ferner; die neuere Staatskunst ist zuerst und vor allen Dingen diejenige obrigkeitliche Thätigkeit, welche Sicherheit schafft. Und so entsteht der Begriff, daß die eigentliche und wahre „Polizei“ vor allem die Sicherheitspolizei sein müsse. Dieß rein negative Element der innern Verwaltung ist das ursprünglichste und wichtigste; es ist ganz natürlich, daß sich die Vorstellung feststellt, daß der Inhalt der Verwaltung wesentlich in der Sicherheitspolizei gegeben sei. Damit nun beginnt die Verwaltung, und bekanntlich heißen dem- gemäß auch die ersten großen Verwaltungsgesetzgebungen „Polizei-Ord- nungen.“ Allerdings nun entsteht, wie wir früher dargelegt, im 17. Jahr- hundert mit dem Wohlfahrtsstaate die Idee, daß der Staat vermöge seiner Thätigkeit für das Wohl der Staatsangehörigen zu sorgen habe. Allein dieser Gedanke erscheint systematisch nicht etwa in der Polizeilehre, sondern er bleibt ein ganzes Jahrhundert lang in der Rechtsphilosophie, dem Jus naturae et gentium; und als er sich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts mit der traditionellen Vorstellung von der Polizeiverwal- tung verschmilzt, und die erste selbständige Verwaltungslehre unter Justi und Sonnenfels entstehen will, wendet sich das Princip des Rechtsstaats von der ganzen Verwaltung ab, und hinterläßt die „Poli- zeiwissenschaft“ als die formale Lehre von den Verpflichtungen des Staats und seinen theils juristischen, theils obrigkeitlichen Berechtigungen gegenüber den verwirrten Zuständen der damaligen Zeit. So geschieht es, daß die Lehre vom Staat ohne den positiven Inhalt der wirklichen Verwaltung, die Lehre von der „Polizei,“ die noch allein das formale Gebiet der Verwaltung enthält, ohne den organischen Inhalt der Staatsidee dasteht. Die Ahnung davon, daß diese Polizei im Grunde nur ein Theil der Verwaltung sey, tritt allerdings auf in der Unter- scheidung von Wohlfahrts- und Sicherheitspolizei. Allein das was hier Wohlfahrtspolizei heißt, ist von der alten Vorstellung von der Polizei so durchdrungen, daß es im Grunde doch keine positive Verwaltungs- lehre bildet. Denn bei dieser Wohlfahrtspolizei denkt man sich doch noch immer nur das, wozu der Staat den Einzelnen vermöge seiner Verordnungsgewalt um seiner eigenen Wohlfahrt willen zwingen kann, und zuletzt auch soll. Die höhere Idee des Rechtsstaats und der ihr zum Grunde liegende Begriff der selbstbestimmten freien Persönlichkeit will vor allen Dingen den Zwang nicht, selbst wo er zum Wohlseyn führt. Die Polizeiwissenschaft erscheint daher als die Lehre von der, durch den staatlichen Zwang hergestellten Wohlfahrt aller; sie ist die Verwal- tung als eine zwingende Gewalt; indem sie dadurch ihren Charakter der ethischen Aufgabe verliert, nimmt sie den Charakter des Unfreien in sich auf, und jetzt ist es natürlich, daß sich die Verwaltungslehre in dieser Gestalt der Polizeiwissenschaft die Gunst der Zeit vollständig ent- fremdet. Der Inhalt der eigentlichen Verwaltung verläßt die alte Polizeiwissenschaft, und bricht sich Bahn in andern Richtungen. Wir haben sie schon früher bezeichnet. Die Verwirrung ist der Form nach eine große, ja fast unübersehbare. Der Sache nach ist sie jedoch keines- wegs eine tiefgreifende. Das Ergebniß ist im Allgemeinen, daß die Auffassung der Verwaltung als „Polizei“ verschwindet, und der ethischen und organischen Auffassung der „Verwaltung“ und der „Verwaltungs- lehre“ Platz macht. Das ist ganz ohne Zweifel unser heutiger Zustand. An diesen Zustand knüpft sich nun die Frage, ob es denn noch und in welchem Sinne, in der heutigen Verwaltungslehre eine „Polizei- wissenschaft“ mit einem besonderen Inhalt geben könne? c) Der heutige Begriff und Inhalt einer Polizeiwissenschaft . Wir glauben die Antwort auf die obige Frage, und die Bestim- mung dessen, was wir künftig noch als Polizeiwissenschaft anerkennen, leicht geben zu können. Die Polizei als die negative, schützende Thätigkeit der Verwaltung ist und bleibt ein immanenter Theil der ganzen Verwaltung, und ist daher nicht bloß principiell, sondern auch thatsächlich in jedem Gebiete der letzteren enthalten. Die Form nun, in der sie zur Erscheinung kommt, oder ihre Vollziehung gegenüber dem Einzelnen, ist kein Theil der innern Verwaltungslehre, sondern ein Theil der vollziehenden Gewalt. Die Darstellung derselben gehört daher der Lehre von der vollziehenden Gewalt, und hat in der letzteren bereits ihren Platz ge- funden. Es kann sich daher nur fragen, ob der Inhalt der polizei- lichen Aufgabe es möglich macht, von einer eigenen Polizeiwissenschaft ferner zu reden. Nun ist es klar, daß man, wenn man das will, die schützende Thätigkeit der Verwaltung von der fördernden scheiden müßte. Es ist ein absoluter Widerspruch mit dem oben dargelegten innern Wesen der Polizei oder der auf die Begränzung der Kräfte gerichteten Thätig- keit des Staats, die ganze Verwaltung eine Polizei zu nennen. Es könnte sich also nur darum handeln, jene negative Seite der Ver- waltung, von der positiven geschieden, als ein innerlich und äußerlich selbständiges Gebiet aufzustellen, und die alte Unterscheidung zwischen Sicherheits- und Wohlfahrtspolizei damit wieder ins Leben zu rufen. Offenbar nun ist das für das ganze Gebiet der Verwaltung nicht thunlich. Denn in vielen Theilen der letzteren ist die negative Seite von der positiven gar nicht zu scheiden, wie z. B. bei dem Fremden- wesen, beim Eherecht, bei dem Sanitätswesen, bei der Vormundschaft, bei hundert andern Dingen. Hier ist die Ordnung, welche durch das Verwaltungsrecht gilt, zugleich der Schutz gegen die üblen Folgen der Unordnung. Es ist in allen diesen Fällen geradezu unmöglich zu sagen, was dem Gedanken einer Sicherheits- und dem einer Wohlfahrtspolizei entspräche. Es ist daher auch unmöglich, eine die ganze Verwaltung unfassende Wissenschaft auf Grundlage der Polizei aufzustellen. Es ist nicht möglich, bei der Polizeiwissenschaft als Form der Verwal- tung stehen zu bleiben . Dagegen gibt es eine Reihe von Gebieten des Lebens, in denen die Verwaltung eben gar nichts anderes zu thun hat, als einen Schutz herzustellen, und in denen sich auch äußerlich diese Aufgabe von der fördernden und positiven Verwaltung sehr wohl scheiden läßt. In allen diesen Gebieten und Fällen nun tritt eine selbständige polizeiliche Thätigkeit auf, und damit wird denn eine selbständige Darstel- lung ihrer Aufgabe und ihres Verfahrens möglich . So z. B. bei der Sicherheitspolizei, bei der Gesundheitspolizei, bei der Ge- werbepolizei, bei der Feuer- und Wasserpolizei u. s. w. Allenthalben wo dieß der Fall ist, wird nicht bloß eine selbständige Behandlung dieser polizeilichen Thätigkeit thunlich und nützlich, sondern sogar die Bezeichnung als „Polizei,“ das ist also als die Gesammtheit der zum Schutze der allgemeinen Interessen zu ergreifenden Maßregeln der Verwaltung , eine eben so richtige als zweckmäßige sein. Man kann das, wenn man durchaus will, auch „Polizeiwissen- schaft“ nennen. Nur wird es dabei klar sein, daß es keine durchgrei- fende, einheitliche Darstellung der Verwaltungslehre als „Polizeiwissen- schaft“ mehr geben kann, sondern daß das, was wir Polizeilehre oder Wissenschaft zu nennen haben, künftig nur in den selbständigen ein- zelnen Polizeigebieten und der wissenschaftlichen Darstellung der Auf- gabe und des Verfahrens für den Schutz der Gemeinschaft innerhalb dieser speciellen Polizeigebiete bestehen wird. Die Polizei ist daher weder als Thätigkeit der Verwaltung noch als Gegenstand der Wissen- schaft ausgeschlossen. Nur ist sie künftig eben, was sie sein soll, ein immanenter, und von den großen Principien der Verwaltung und des Verwaltungsrechts beherrschter, sich dem Ganzen der Verwaltungslehre nach ihrer besondern Aufgabe und Stellung einreihender Theil der- selben. Vielleicht daß uns damit gelungen ist, die Grundlagen des richtigen Verhältnisses der Polizei zur Verwaltung festzustellen. Es ist das aber um so wichtiger, als wir dieser Voraussetzung für das folgende Gebiet, das Verwaltungsrecht, wesentlich bedürfen. Zweiter Abschnitt. Das Verwaltungsrecht . Nachdem wir nun den Inhalt der Verwaltung aus der organischen Idee derselben entwickelt haben, wird es nicht schwer sein, sich gleichfalls definitiv über das zu einigen, was wir das Verwaltungsrecht und die Lehre von demselben nennen. Wir müssen zu dem Ende den Begriff des Verwaltungsrechts, dann die Bildung desselben und endlich seinen Charakter in den drei großen Kulturstaaten mit specieller Beziehung eben auf die Bildung desselben darlegen. I. Begriff und Definition des Verwaltungsrechts. Die Begriffe der Verwaltungsgesetzkunde und der Wissen- schaft des Verwaltungsrechts. Der Begriff der administra- tiven Individualität des Staats . Wenn wir in der Darlegung des Begriffes des Verwaltungsrechts es nur mit diesem zu thun hätten, so würden wir bald den Gegenstand erschöpft haben. Allein die große Bedeutung der Sache zwingt uns allerdings einige Schritte weiter zu gehen. Der Begriff des Verwaltungsrechts entsteht nämlich da, wo die durch das Wesen und die organische Funktion der Verwaltung gegebene Aufgabe und Thätigkeit derselben gleichsam aus dem abstrakten Begriffe des Staats heraustritt, und zum Inhalte des Staatswillens selbst wird. Die Anerkennung einer im Wesen der Verwaltung liegen- den Aufgabe durch den Staat als seine eigene macht die Erfüllung derselben zum Verwaltungsrecht , und zwar indem jede mit dieser Erfüllung gegebene einzelne Thätigkeit als mit jener allgemeinen Anerkennung zugleich gesetzt erscheint. Während daher die Verwaltungs- lehre zeigt, was der Staat in der innern Verwaltung vermöge seines Wesens zu thun hat, zeigt das Verwaltungs recht , was seine Organe vermöge des Staatswillens zu thun verpflichtet sind. Es hat daher einen ganz guten Sinn, wenn man sagt, daß die Verwaltung erst als Verwaltungsrecht dem Staate wie seinen eigenen Organen und An- gehörigen objektiv wird, und daß, während die Verwaltung an sich im Begriffe und der sittlichen Idee des Staats liegt, die wirkliche Verwaltung erst im Verwaltungsrecht enthalten ist. Das Verhältniß der Verwaltungslehre zum Verwaltungsrecht ist daher wohl an sich sehr einfach. Die erstere zeigt, was im Gebiete der innern Verwaltung sein soll, die zweite, was ist. Allein damit ist dasjenige Moment gegeben, was uns auch hier zwingt, auf das Wesen der Sache näher einzugehen; dieß ist die das ganze menschliche Dasein durchziehende Differenz zwischen dem was sein soll und was ist, die Verschiedenheit des Geforderten von dem Geltenden, und damit endlich auch die tiefe Verschiedenheit der Aufgabe zwischen der Darstellung des reinen, positiven Verwaltungsrechts oder der Verwaltungsge- setzkunde , und der Verbindung der Verwaltungslehre mit der Auf- fassung und den Thatsachen des geltenden Rechts oder der Wissenschaft des Verwaltungsrechts . Während nämlich die Verwaltungsgesetzkunde oder das rein positive Verwaltungsrecht sich seiner Aufgabe nach um die Verwaltung an sich, und mithin um die Differenz zwischen ihr und der wirklichen Verwaltung nicht zu kümmern hat, muß die Verwaltungslehre, indem sie das posi- tive, wirkliche Verwaltungsrecht in sich aufnimmt, die Gründe , die innern und äußern Kräfte zum Verständniß bringen, welche dem posi- tiven Verwaltungsrecht seine concrete Gestalt gegeben und damit eben jene Differenz zwischen ihm und den Forderungen der Verwaltunglehre erzeugt haben. Die Verwaltungsgesetzkunde, gleichviel ob sie in bloßer Sammlungsform auftritt wie bei Kopetz, Fischer, Bergius, Stubenrauch, Funke u. a. oder ob sie sich zu einem systematischen Ganzen unter dem Namen des im Gegensatz zum Verfassungsrecht stehenden Verwaltungs- recht erhebt wie bei Mohl, Pötzl, Rönne, kann daher ohne die Ver- waltungslehre bestehen und hat für das praktische Leben ihren hohen Werth. Umgekehrt fällt dagegen die reine Verwaltungslehre ohne Be- ziehung auf das positive Recht stets in die mehr oder weniger subjektive Anschauung hinein, und wird ein bloßes Wohlmeinen wie bei Jacobi und Mohl. Eine reine Verwaltungslehre, welche nicht die Kraft hat, das positive, geltende Recht in sich organisch aufzunehmen und zu ver- arbeiten, hat nur einen zweifelhaften Werth. Erst dadurch, daß sie dieß vermag, gehört sie dem wirklichen Leben. Und erst dann nennen wir sie mit Recht die Wissenschaft der Verwaltung . Ist dem nun so, so ist die erste Aufgabe der letzteren gegenüber dem positiven Verwaltungsrecht die, die elementaren Kräfte und Bewegungen sich zu vergegenwärtigen, durch deren Wesen die ab- strakten und allgemeinen Begriffe und Forderungen der Verwaltungslehre eben jene positive rechtliche und besondere Gestalt empfangen, und diese Kräfte und Bewegungen dann bei jedem Theile der Verwaltung in ihren Erfolgen, dem wirklich geltenden Verwaltungsrecht, wieder darzulegen. Das erstere müssen wir hier thun. Das zweite ist dann die Auf- gabe der einzelnen Theile der Verwaltungslehre. Wir glauben aber auch mit dem ersten kurz sein zu können. Zwei große, für das menschliche Leben elementare Potenzen gibt es, welche dem an sich in der Persönlichkeit liegenden Wesen der- selben seine concrete Gestalt geben. Sie sind auch hier das natürliche und das persönliche Element. Wir nennen diese beiden Elemente im Staat am kürzesten und besten das Land und das Volk . Das Land mit all seinen Elementen, mit seiner Lage, seiner Beschaffenheit, seinem Klima, seinen Produkten, seinen Ebenen und Bergen, seinen Flüssen und Seen, liegt da, still, aber unwiderstehlich auf das Volksleben ein- wirkend; das Volk selbst mit seiner physischen und geistigen Indivi- dualität, mit seiner volkswirthschaftlichen Entwicklung, mit seiner gesell- schaftlichen Ordnung, ihren Gegensätzen und Forderungen bewegt sich auf diesem Boden, der ihm gehört, tausendfach ihn bestimmend, tausend- fach von ihm bestimmt. Beide zusammen, untrennbar, erzeugen den festen materiellen Inhalt des Staats. An ihn muß er sich halten. Was er ist, ist er durch und in diesem seinem selbstgearteten Körper; was er will, kann er nicht für einen abstrakten Begriff, sondern muß es für diesen gegebenen Staat wollen. Sein Wille, erzeugt an ihm, verschmilzt mit ihm. Die Bedingungen, unter denen dieser Wille ent- stand, liegen in diesem concreten Leben; sie bestimmen es, wie es von ihm bestimmt wird; die Voraussetzungen seiner Verwirklichung wie das Ziel, welches er erreichen will, sind hier vorhanden, concret und faßbar; er ist mit seinem Willen und seinem concreten Dasein ein untrennbares Ganze. Und wie das nun im Allgemeinen richtig ist, so hat es natürlich in demjenigen Gebiete seine greifbarste Gültigkeit, wo der Staat eben vermöge seiner Thätigkeit mit dem wirklichen Leben am meisten zu thun hat, im Gebiete der Verwaltung. Während in der Staatswirthschaft das Bedürfniß des Staats, in der Rechtspflege die persönliche Unver- letzlichkeit das Objekt der Staatsthätigkeit ist, ist es in der Verwal- tung Land und Volk in ihrer Wirklichkeit, welche das Substrat der wirklichen Verwaltung und damit den concreten Inhalt des Verwal- tungsrechts bilden. Und damit ergibt sich der Satz, daß aus der ab- strakten Verwaltungslehre und dem positiven Verwaltungsrecht sich die Wissenschaft der Verwaltung bildet, indem die Besonderheit der letzteren aus den Verhältnissen und dem historischen Zusammenwirken von Land und Volk in territorialer, national-ökonomischer und socia- ler Beziehung entwickelt wird. Indem dieß nun aber geschieht, entsteht ein zweiter nicht minder wichtiger Begriff. Land und Volk mit allen ihren Beziehungen einerseits, und der an sich schon einheitliche Staat andererseits sind auch in der Wirklichkeit was sie ihrem Wesen nach sind, eine Einheit. Alle ihre Besonderheiten erscheinen dem unmittelbaren Gefühle wie der Wissenschaft zuletzt als ein Ganzes. Und wie sie in sich ein Ganzes sind, müssen sie zuletzt auch vom Staate und seinem Willen als ein Ganzes betrachtet werden. Nicht die Theile dieses Ganzen, sondern eben dieß Ganze erfaßt daher der Staat in seiner innern Verwaltung. Er muß, indem er selbst das Ganze enthält, auf allen Punkten desselben thätig sein; er muß es als eine Einheit, dessen Theile und Gebiete sich gegenseitig auf jedem Punkte bedingen, mit seinem Willen umfassen; er muß den Erfolg in der harmonischen Auffassung des wirklichen, gegebenen Lebens mit der idealen Anschauung desselben erkennen — kurz er muß sich in seiner Verwaltung als eine concrete Individualität erkennen und darstellen. Das positive Verwaltungsrecht daher, seinem Wesen nach die wirkliche Gestalt des einzelnen Staats, ausgedrückt in der positiven Auffassung seiner Lebensverhältnisse, die sich in seinem geltenden Rechte formuliren, ist für jeden Staat ein besonderes wie es die Gestalt seiner Elemente ist; und in diesem Sinne sagen wir, daß auch das Verwaltungsrecht der Staaten eine staatliche Individualität habe. Es gibt gar kein positives Verwaltungsrecht an sich; es gibt nur ein positives Ver- waltungsrecht des einzelnen Staats, entsprungen aus eben dieser Indi- vidualität, geltend für dieselbe, und nur verständlich durch sie. Sie ist die höchste Erfüllung der Staatskunde, und wenn sie selbst in der soge- nannten Geographie und Statistik sich langsam aber sicher in neuester Zeit geltend zu machen weiß, so ist es Zeit, daß auch die Wissenschaft der Verwaltung ihren Platz und ihre Anerkennung finde. Und die Lehre vom positiven Verwaltungsrecht oder der Verwaltungsgesetzkunde schließt daher mit dem Satze, daß die letztere innerhalb ihrer Aufgabe sich nur dadurch zur Wissenschaft erheben kann, daß sie Wesen und Wirkung der staatlichen Individualität als Grund und höchstes Ziel ihrer Darstellungen in sich aufnehme und verarbeite. II. Die Bildung des geltenden Verwaltungsrechts. 1) Die beiden Faktoren der Bildung dieses Rechts, die Regierung und die Volksvertretung, und ihr eigenthüm- licher Charakter in Beziehung auf das Verwaltungsrecht . Bei der durchgreifenden Unklarheit über Begriff und Wesen des Verwaltungsrechts darf es allerdings nicht wundern, daß der eigenthüm- liche und wichtige Proceß, aus dem im Leben des Staats das geltende Recht der Verwaltung hervorgeht, nicht Gegenstand besonderer Beach- tung geworden ist. Dennoch verdient er es wie wenig andere, und wir stehen keinen Augenblick an, ihn für einen der bedeutsamsten Theile des innern Rechtslebens aller Staaten zu erklären. Es wird uns deßhalb wohl gestattet sein, ihn näher zu beleuchten. Wir dürfen uns dabei auf die, in der vollziehenden Gewalt be- reits festgestellten Grundbegriffe beziehen. Wir haben dort als die beiden Grundformen alles Verwaltungs- rechts das gesetzmäßige und das verordnungsmäßige Verwal- tungsrecht bestimmt. Jenes ist das Recht, welches unter Zusammen- wirken von Volksvertretung und Regierung, dieses dasjenige, welches bloß von der Regierung als geltend gesetzt, und direkt oder indirekt vom Staatsoberhaupt sanctionirt wird. Beide großen Formen stehen zunächst neben einander. Jede derselben hat ihre eigenthümliche Func- tion. Es ist nachgewiesen, daß das Staatsleben beider nicht entbehren kann. Sie sind daher allerdings selbständig. Allein sie müssen dennoch harmonisch in einander greifen und sich gegenseitig ersetzen, wenn sie der Idee des Staats entsprechen sollen. Das ist eine der großen, un- abweisbaren Bedingungen der freien und tüchtigen Entwicklung des ganzen innern Staatslebens. Da dieß der Fall ist, so ist dafür ge- sorgt, daß zunächst und formell diese Harmonie hergestellt werde. Wir haben nachgewiesen, daß dieß durch die drei Elemente der Verant- wortlichkeit, des Klage- und des Beschwerderechts geschieht. Die Har- monie zwischen Gesetz und Verordnungsrecht, welche auf diese Weise entsteht, nannten wir das verfassungsmäßige Verwaltungsrecht . Alle diese Begriffe und Verhältnisse sind, glauben wir, genau und einigermaaßen erschöpfend in der Lehre von der vollziehenden Gewalt dargelegt. Jetzt aber haben wir ein zweites Gebiet zu betreten. Das verfassungsmäßige Verwaltungsrecht nämlich hat zur Auf- nahme den Gegensatz zwischen dem formellen Recht der Gesetze und der Verordnungen zu beseitigen. Allein es gibt in ihnen einen zweiten, viel tiefern Gegensatz. Und diesem seine Folgen und seine Lösung hier zu geben, ist die Aufgabe des zunächst Folgenden. Es ist nämlich der Natur gemäß, daß alles Recht, namentlich aber das Verwaltungsrecht, das so tief in die Interessen und das Leben der Einzelnen wie des Ganzen hineingreift, den Charakter der Faktoren annehme, welche es zur Geltung bringen. Diese aber sind bei dem verordnungsmäßigen Verwaltungsrecht die Staatsgewalt, bei dem ge- setzmäßigen die Volksvertretung. Und hier nun begegnen wir einer Reihe der wichtigsten Erscheinungen, ohne welche die Geschichte und Individualität des Verwaltungsrechts nur schwer verstanden wer- den kann. Offenbar nämlich ist der persönliche Staat, als solcher thätig in seiner Regierung, der Träger und Vertreter alles dessen, was man das einheitliche Leben, die einheitlichen Interessen der Gemeinschaft nennt. Es ist das sein Wesen; er kann es nie verläugnen; es beherrscht ihn und seine Organe oft mit klarem Bewußtsein und ethischer Erhebung, oft in seiner Unklarheit zur Willkür und Pedanterie herabsinkend, aber es beherrscht ihn immer . Es erscheint aber nirgends mehr als in dem Gebiete, von dem wir reden, dem Gebiete des Verwaltungsrechts; und es ist eben so naturgemäß als unvermeidlich, daß es diesen seinen Cha- rakter den Vorschriften, die es über die Verwaltung gibt, aufprägt. Anderseits ist die Volksvertretung zwar ihrer Idee nach die Vertreterin des ganzen Staats; in der Wirklichkeit aber kommen durch sie nicht nur ganz subjektive, sondern auch ganz lokale und oft ganz unberech- tigte Interessen und Anschauungen zur Geltung. Die Volksvertretung wird daher ihrerseits stets geneigt sein, jener nivellirenden Gewalt des Staats einen Damm entgegen zu stellen, und den Besonderheiten, wie sie eben geworden und wirksam sind, ihre natürliche Geltung zu ver- schaffen. Das geschieht, wie es sich von selbst erklärt, gerade am mei- sten und greifbarsten in den Verhältnissen, für welche das öffentliche Recht durch die Verwaltung gegeben wird. Sagt man nun, daß das Verwaltungsrecht der Staatsgewalt das verordnungsmäßige, das der Volksvertretung das gesetzmäßige ist, so ist es klar, daß sich in Ten- denz, Auffassung und wirklicher Durchführung, kurz in der ganzen Gestalt das Verwaltungsrecht Natur und Charakter jener beiden Fak- toren zunächst in dem Unterschiede jener beiden Formen wiederspiegeln wird. Und das ist in der That der Fall. Im Allgemeinen nämlich lehrt die einfachste Beobachtung, daß das unmittelbar von der Regierung ausgehende, oder das verordnungs- mäßige Verwaltungsrecht, stets wesentlich die Auffassung der großen Verwaltungsaufgaben von Seiten der, dem Volksleben selbständig gegen- über stehenden Staatsgewalt , das Verwaltungsrecht, insofern es Inhalt von Gesetzen ist, dagegen zugleich die Auffassung des Volkes von seinem eigenen innern Leben und seinen Bedürfnissen ausdrückt. Der Unterschied von Gesetz und Verordnung, äußerlich nur ein formeller, wird dadurch zu einem tief greifenden Unterschied des materiellen In- halts. Das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht wird stets das reine Gesammtinteresse zum Inhalt haben, oder es doch zum Inhalte zu haben glauben. Es wird stets geneigt sein, die gegebenen Besonder- heiten des Lebens, die Sonderinteressen, die Gewährungen und Vorur- theile der Einzelnen und ganzer Staatstheile gering zu achten, und sich wenig um den wirklich vorhandenen Bildungsgrad des Volkes kümmern, leicht vergessend, daß in diesem die erste Bedingung der größten Erfolge jeder Maßregel des Staats liegt. Es wird dafür der Regel nach immer bestrebt sein, das an sich Wichtige und Zweckmäßige rücksichtslos zur Geltung zu bringen. Es wird sich auf die bessere Natur der Sache und auf die lebhafte Unterstützung der Gebildeten verlassen, aber nicht immer die Billigung und stille, oder doch so starke Unterstützung von Seiten des Volkslebens finden. Es wird daher zwar wahr, aber oft unzeitgemäß und unzweckmäßig, und fast immer hart erscheinen, und noch härter in der Hand seiner ausführenden Organe werden. Es hat vermöge der Einheit seiner Organe, des Amtswesens, große Neigung zur systematischen Einheit der Anordnungen, aber in dieser Einheit läuft es leicht Gefahr, unausführbar in wichtigen einzelnen Fällen zu werden. Es trägt aus allen diesen Gründen den Charakter einer herrschenden, oft geradezu äußerlichen Gewalt; es erscheint als ein Rechtssystem, dem man gehorcht, weil man gehorchen muß. Es kann daher seinem In- halte nach frei sein; seiner Form nach wird es stets als ein unfreies erscheinen. — Das gesetzmäßige Verwaltungsrecht dagegen wird an sich niemals leicht aus einem Princip, sondern fast immer nur aus einem wirklichen Bedürfniß hervorgehen. Es wird sich deßhalb stets mehr an das wirkliche Leben anschließen; es wird nicht darnach trachten, ein System zu werden, sondern nur den praktischen Lebensverhältnissen zu entsprechen. Es wird durch die Theilnahme des Volkes an seiner Bil- dung, wie es aus demselben hervorgeht, auch in demselben von dem Einzelnen anerkannt und zwangslos gehalten werden. Es steht nicht da als rein objektiv geltende Macht, sondern als ein Theil des Volks- lebens, und ist, allen verständlich, auch allen, die es sich je selber gesetzt haben, lieb und recht. Dagegen aber läuft es Gefahr, nicht bloß einer beschränkten Auffassung im Ganzen zu unterliegen, und weil es sich nur an bereits lebhaft und zugleich allgemein gefühlte Bedürfnisse anschließt, niemals ein vollständiges, geschweige denn ein einheitliches Ganze zu werden, sondern vor allem erscheint es, gegeben durch die Volksvertretung, auch den in derselben herrschenden Classen und Stimmungen unterworfen. Denn erst in der Verwaltung wird die Idee der Herrschaft einer Classe über die andere zu einem positiven Inhalt, und unwiderstehlich durch die Gewalt des Staats und das Wesen des Gesetzes. Es ist daher stets seiner Form nach frei, aber oft seinem Inhalt nach unfrei; niemals öfter als da, wo es am freiesten sein sollte, in den Epochen tiefgehender und lebendig gefühlter gesellschaft- licher Gegensätze. 2) Die Entwicklung des rechtsbildenden Processes, den wir die constitutionelle Rechtsbildung des Verwaltungs- rechts nennen. — Begriff und Bedeutung der sogenannten Initiative der Regierung . So sind beide Grundformen des Verwaltungsrechts, das verord- nungsmäßige und das gesetzmäßige, bei aller Gleichheit ihrer Objekte und bei aller Gleichheit ihrer äußern Gültigkeit wesentlich verschieden. Trotz dem ist nun diese Verschiedenheit nicht der Art, daß die eine Form die andere an sich ausschlösse, oder eine als die vorzugsweise richtige erscheinen ließe. Sondern es ist kein Zweifel, daß sie sich gegen- seitig zu erfüllen und zu ersetzen haben. Jede dieser Formen leistet etwas, was die andere nicht leistet; jede ist bis zu einem gewissen Grade das, was die andere nicht sein kann. Es ist daher schon hier klar, daß es weder richtig ist, die Bildung des Verwaltungsrechts aus- schließlich auf die Verordnung, noch auch dieselbe ausschließlich auf das Gesetz zu basiren. Sondern wir müssen vielmehr sagen, daß die wahre Bildung des Verwaltungsrechts im harmonischen Zusammenwirken beider Bildungsformen vor sich gehen soll. In der That nun sind auch zu keiner Zeit und an keinem Orte beide Grundformen dauernd ganz beseitigt worden. Sie haben im Gegentheil stets neben und mit einander bestanden. Man kann im Allgemeinen sagen, daß in der ständischen Epoche das gesetzmäßige Ver- waltungsrecht das verordnungsmäßige fast ganz beseitigt, während umgekehrt in der darauf folgenden Zeit des absoluten Königthums das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht das gesetzmäßige fast gänzlich ver- nichtet. Die folgende Darstellung wird diesen, ohnehin bekannten Satz im Einzelnen genauer nachweisen. Erst in der staatsbürgerlichen Ge- sellschaftsordnung erzeugt sich die Harmonie zwischen dem persönlichen Staate und dem freien Staatsbürgerthum, in andern Gebieten und so Stein , die Verwaltungslehre. II. 6 auch hier. Wenn wir mit Recht sagen, daß der ganze staatliche Cha- rakter unsers Jahrhunderts durch die Herrschaft der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung bestimmt ist, so können wir in spezieller Beziehung zum Verwaltungsrecht und seiner Bildung sagen, daß hier die staats- bürgerliche Gesellschaftsordnung jene Harmonie zwischen Gesetz und Ver- ordnung als Grundlage der Bildung des Verwaltungsrechts gefordert und erzeugt hat . Diese Grundlage der Bildung desjenigen Verwaltungsrechts, das wir in diesem Sinne das constitutionelle nennen möchten, beruht einfach auf den zwei allgemeinen Principien, daß man einerseits nie der verordnenden Gewalt als Correlat des Gesetzes entbehren kann, und daß anderseits das Gesetz die höchste und vollkommenste Form des Staatswillens ist. Aus diesen zwei Elementen und ihrer natürlichen Wechselwirkung erzeugt sich dann derjenige Proceß, den wir den Proceß der Bildung des constitutionellen Verwaltungsrechts nennen. Derselbe besteht in dem Hervorgehen des gesetzmäßigen Verwaltungs- rechts aus dem verordnungsmäßigen . Der formale Gang aber, den dieser Proceß einhält, ist der, daß das bestehende, oder auch das beabsichtigte Verordnungsrecht durch die Regierung der Volksver- tretung zur Beschlußfassung vorgelegt und durch die letztere zum Gesetz erhoben werde. Das Mittel endlich, wodurch die verwaltende Gewalt dieß hervorbringt, hat gleichfalls seinen constitutionellen Namen in der Initiative der Regierung . Diese Initiative ist hier kein Vor- recht der Regierung, denn jeder Abgeordnete hat gleichfalls das Recht, Gesetzesvorschläge einzubringen; sie erscheint auch nicht als Regel, denn sie ist mehr als eine beständig sich wiederholende Thatsache; sie ist viel- mehr das naturgemäße Verhältniß der Regierung zur Gesetzgebung überhaupt und zur Bildung des gesetzmäßigen Verwaltungsrechts ins- besondere. Denn die Initiative ist in der That nichts anderes, als das Aufstellen des Inhalts einer Verordnung, welche Gesetz werden soll. Es ist dabei für den Begriff der Initiative gleichgültig, ob die Vorlage die bereits bestehenden Verordnungen zusammenfaßt, oder alte Gesetze umbildet, oder einen ganz neuen Gedanken durchführt. Die Initiative ist daher ein, der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung und ihrer Gesetzgebung specifisch angehöriger Begriff. In der ständischen Verfassung gibt es eine Initiative nicht, weil theils jeder Landstand selbständige Vorschläge nach Maßgabe des Landesrechts macht, theils die Regierung noch nicht verantwortlich ist. In der absoluten Monarchie gibt es keine, weil Gesetz und Verordnung identisch sind. Erst in der staatsbürgerlichen Gesellschaft tritt sie auf, und hier bedeutet sie die, durch das Wesen des persönlichen Staats gegebene einheitliche Auffassung des Verwaltungsrechts und seiner Bedürfnisse als Grundlage der Bil- dung des gesetzmäßigen Verwaltungsrechts. In diesem Sinn wird man nun sagen, daß unsere Zeit in dem constitutionellen Verwaltungsrechte ihren specifischen Charakter der Bil- dung des Verwaltungsrechts habe. Dennoch müssen wir noch eine Frage ins Auge fassen, die auch mit dem Obigen nicht erledigt, und keines- wegs unwichtig ist. 3) Die Gränze zwischen dem gesetzmäßigen und verordnungs- mäßigen Verwaltungsrecht . Allerdings nämlich geht in dem oben bezeichneten Processe das Verordnungsrecht in das Gesetz über, und dieser Uebergang stellt die Harmonie zwischen den beiden Faktoren, Staat und Gesellschaft oder Regierung und Volksvertretung, wieder her. Allein eben so gewiß ist anderseits, daß dieser Uebergang nicht für alle Bestimmungen des Verwaltungsrechts möglich, ja nicht einmal wünschenswerth ist. Beide Formen werden sich stets neben einander erzeugen, stets neben einander erhalten. Und es entsteht daher die Frage, ob es überhaupt eine Gränze zwischen dem Gebiet des verordnungsmäßigen und des gesetzmäßigen Verwaltungsrechts gibt, und wie sie zu bestimmen ist. Die Frage ist aber darum eine ernste, weil, wenn man einen Schritt weiter geht, die Volksvertretung, welche das gesetzmäßige Verwaltungs- recht bildet, ihrer ganzen Natur zwar einerseits die Trägerin der staats- bürgerlichen Freiheit, anderseits aber auch der gesellschaftlichen Gegensätze im Volksleben ist. Wo es daher gelingt, das Verord- nungsrecht dem Gesetzesrecht ganz zu unterwerfen und die Regierung damit zu einer bloß ausführenden Gewalt zu machen, da entsteht die Gefahr, daß das Verwaltungsrecht zu einem furchtbaren, gewaltigen Mittel in der Hand des herrschenden Theiles des Volkes werde, das alsdann in keinem Regierungsrecht ein heilsames Gegengewicht hat. Das war der, von den Historikern so wenig beachtete und doch so ent- scheidende Charakter der Verwaltung und des Verwaltungsrechts in den Republiken des Alterthums; es ist dasselbe überhaupt das Princip des republikanischen Verwaltungsrechts. Das republikanische Verwal- tungsrecht hat die Form der höchsten Freiheit; aber sein Inhalt ist von dieser Form unabhängig. Denn indem die Mehrheit der Staats- bürger formell das Gesetz beschließt, wird naturgemäß materiell , das ist in ihrer Beziehung zum praktischen Leben, die Gesetzgebung überhaupt und mithin wesentlich die des innern Verwaltungsrechts dabei stets nach den herrschenden Interessen der Mehrheit bestimmt werden. Die aber sind in der herrschenden Classe der Gesellschaftsordnung ge- geben. Und so ist es unvermeidlich, daß, wo immer ein Gegensatz der Classen sich in der Republik ausgebildet hat, alles republikanische Ver- waltungsrecht ein Recht der herrschenden Classe über die beherrschte enthalte, oder wenigstens daß dieß der letztern so erscheine. Daraus ergibt sich, daß nur zu oft der Erfolg solcher Gesetzgebung durch Vor- urtheil und Haß, welche sie begleiten, gerade in das Gegentheil dessen ausschlagen, was sie sein soll, selbst dann, wenn das Gesetz an sich ein ganz verständiges ist. Ist es aber ein unverständiges, so bewirkt jenes Verhältniß zur Gesellschaft, daß der kleine Fehler Ursache eines großen Unglücks werden kann, denn die niedere Classe wird stets für jeden Fehlgriff nicht die menschliche Schwäche, sondern das Sonder- interesse verantwortlich machen. Aus diesen Gründen ist das gänzliche Aufgehen des verordnungsmäßigen Verwaltungsrechts in das gesetz- mäßige, oder die rein republikanische Bildung des Verwaltungsrechts nicht bloß an sich ein verkehrtes, sondern auch praktisch ein gefährliches Princip. Eben so gefahrvoll, wenn auch in anderer Weise, ist das Ver- nichten des gesetzmäßigen Verwaltungsrechts durch das verordnungs- mäßige. Denn abgesehen von dem Widerspruche mit der staatsbürger- lichen Freiheit wird die rein staatliche Gewalt niemals die Besonderheit der wirklichen Lebensverhältnisse ihres Volkes ganz zu würdigen wissen, da sie ihrer Natur nach nur fähig und bestimmt ist, das Allgemeine und Gleichartige in denselben zu verstehen und die Eigenthümlichkeiten der concreten und örtlichen Zustände denselben unterzuordnen. Diese aber fordern ihr Recht, und durch sie kann das, was im Allgemeinen sehr wahr und praktisch erscheint, in der wirklichen Anwendung sehr ungeeignet werden. Nicht allein nun, daß dieß der Aufgabe des Ver- waltungsrechts an sich widerspricht, sondern es liegt in der Natur der Sache, daß das Volk in diesem Falle die Regierung nicht bloß für dasjenige verantwortlich macht, was sie wirklich versehen hat, sondern auch für den zufälligen Mißerfolg an sich richtiger Maßregeln. Und diese Anklage wird in solchem Falle selten bloß die machthabenden Per- sönlichkeiten, sondern regelmäßig den Staat als solchen treffen, und ihn zuerst in seiner geistigen und ethischen Beziehung, dann oft in seiner ganzen äußern Stellung erschüttern. Es ist daher keine geringere Ge- fahr in diesem Bildungsproceß des Verwaltungsrechts, als in dem, den wir den republikanischen genannt haben. Wenn dem nun so ist, so entsteht allerdings die Frage, ob es nicht außerhalb des Kampfes der gesellschaftlichen Kämpfe und Mächte unter einander und mit dem Staate ein festes Princip gebe, welches jene Gränze zu finden und festzustellen im Stande und berufen ist? Wir halten daran fest, daß es ein solches gibt. Nur wird es selbst erst dann in Wirksamkeit treten, wo einerseits die ganze innere Staatsordnung als eine feste besteht, und wo anderseits der Wissen- schaft ihre wahre Berechtigung eingeräumt wird. Da nämlich nach dem Wesen des Verordnungsrechts überhaupt dasselbe sich den gegebenen und damit wechselnden Verhältnissen des wirklichen Lebens anpassen soll, während das Gesetzesrecht den über dieselben erhabenen objektiven Willen des Staats enthält, so folgt wohl leicht, daß, so lange die Verhältnisse des Lebens, auf welche das Ver- waltungsrecht sich bezieht, sich noch nicht consolidirt haben, die Ver- ordnung mit ihrer Thätigkeit zur Rechtsbildung berufen ist, während da, wo bereits feststehende Verhältnisse vorhanden sind oder als vor- handen angenommen werden, die Gesetzgebung eintritt. Allein die Frage bleibt, welches das Criterium für diese objektive Festigkeit ist. Und hier glauben wir, daß es nur Einen Weg gibt, im Allgemeinen zu einem Abschlusse zu gelangen. Jenes Criterium liegt nämlich nie in äußern Merkmalen. Es liegt darin, daß ein Lebensverhältniß erst dann als ein festes, ein Bedürfniß als Objekt der Verwaltungsthätig- keit erst dann als ein bestimmt gegebenes anerkannt werden muß, wenn dasselbe wissenschaftlich in einen bestimmten Begriff gebracht werden kann, und wenn dieser Begriff für das ganze Volk ein gemeinver- ständlicher ist; so zwar, daß mit dem Worte, der ihn bezeichnet, eine für alle ziemlich gleichmäßig klare Vorstellung von demjenigen ver- bindet, was dasselbe bedeutet; wie z. B. Schulwesen, Bankwesen, Grundbuchswesen, Vormundschaftswesen u. a. m. So wie dieß der Fall ist, sind die darauf bezüglichen Verhältnisse ein äußeres und zu- gleich ein inneres Ganzes , und dann tritt der Zeitpunkt ein, wo die Rechtbildung für dasselbe durch die bloße Verordnung nicht mehr aus- reicht, sondern ein fester Halt an einem Gesetze gesucht wird und gegeben werden muß. Weiter läßt sich schwerlich im Allgemeinen kommen. Es ist aber Sache der Initiative , zu finden, ob dieß der Fall ist oder nicht; und je nachdem das Verständniß der Regierung hier richtig und zeitgemäß ist oder nicht, wird auch diese Initiative zum Ziele führen. 4) Der Charakter der Bildung des positiven Verwaltungs- rechts in England, Frankreich und Deutschland . Auf dieser Grundlage nun möge es uns verstattet sein, einige Be- merkungen über die Besonderheit der Bildung des positiven Verwaltungs- rechts in den drei großen Culturvölkern Europa’s hier hinzuzufügen, Bemerkungen, deren Voraussetzungen allerdings, wie man sogleich erkennen wird, theils in unserer Gesellschaftslehre, theils aber auch, und vielleicht näher, in unserer Darstellung der vollziehenden Gewalt in diesen drei Ländern liegen. Wir dürfen nämlich dabei von dem wohl unbezweifelten Satze aus- gehen, daß es nicht zufällig ist , ob die persönliche Staatsgewalt eine große oder kleine Gewalt hat, und es ist daher auch nicht zufäl- lig, ob dem entsprechend die gesetzmäßige oder die verordnungsmäßige Bildung des Verwaltungsrechts vorherrscht. Sondern die höhere Natur des organischen Lebensprocesses der Staatsbildung bringt es unbedingt mit sich, daß sich die persönliche Gewalt des Staats stets in dem Grade mehr entwickelt, in welchem die gesellschaftlichen Gegensätze sich gegen- seitig bedrohen oder gar offen bekämpfen. Da, wo dieser Kampf zum Bürgerkriege wird, sehen wir deßhalb diesem Gesetze gemäß stets die Dictatur auftreten; sie ist ewig das naturgemäße Ende des gesellschaft- lichen Krieges zu allen Zeiten und bei allen Völkern, und wird es auch bleiben. Wo dagegen das Königthum sich im Bürgerkriege erhält, da wird es zwar während desselben nur wenige Gewalt haben, aber nach demselben stets doppelt mächtig sein. Dictatur und herrschendes König- thum erscheinen nun in der Verwaltung als verordnungsmäßiges Ver- waltungsrecht; die Herrschaft der gesellschaftlichen Classen dagegen als gesetzmäßiges Verwaltungsrecht. Und umgekehrt wird das Vorwiegen des Einen oder des Andern zugleich einen Maßstab und einen Inhalt der innern Lebensgeschichte der Staaten bilden. Die Besonderheit, welche in dem Charakter des Verwaltungsrechts der europäischen Staaten obwaltet, hat demgemäß ihren tiefern Grund in jener Geschichte derselben, und muß von ihr aus erklärt werden. In England hat der Gegensatz der Grundformen und Classen der Gesellschaft keine dauernde Gestalt angenommen, denn es hat eigentlich nie eine unfreie Classe gegeben. Der gesellschaftliche Kampf, wie er namentlich im 17. Jahrhundert zur Erscheinung kommt, ist nur der Kampf zwischen der ständischen und der staatsbürgerlichen Gesellschaft, der, da er nicht wie in Frankreich auf allen Punkten mit unfreien Elemen- ten leibeigener Hörigen durchsetzt ist, und die staatsbürgerliche Gesell- schaft in den Städten nicht ihre Freiheit, sondern nur ihre Geltung zu erringen hat, auch nach errungener Geltung die ständischen Elemente fortbestehen läßt. Die Verschmelzung beider Gesellschaftsformen zu einem großen und gemeinschaftlichen Leben und Wirken, wie es überhaupt den Charakter des englischen Volkes bildet und seine wahre Kraft ausmacht, hat nun auch Gestalt und Charakter des Verwaltungsrechts bestimmt. Das Königthum hat vermöge jener Verbindung zu keiner absoluten Herr- schaft gelangen können. Daher ist das Verwaltungsrecht in England fast ausschließlich ein gesetzmäßiges. Die verordnende Gewalt hat grund- sätzlich nur die reine Ausführung der Gesetze zum Inhalt. Die ganze Gestalt des englischen Verwaltungsrechts beruht darauf, daß durch die Verwaltung gar kein öffentliches Recht überhaupt geschaffen werden kann und soll, selbst nicht das öffentliche Recht einer einzelnen Persönlichkeit oder einer einzelnen Unternehmung. So wie es sich in irgend einer Weise um dauernde Rechte handelt, muß die gesetzgebende Gewalt ein- treten und die Verordnung in der Gestalt der Gesetze erlas- sen . Nur die ganz untergeordneten, dem täglichen und rein örtlichen Wechsel angehörigen Verhältnisse bilden noch das Gebiet der Verord- nung, und auch zu diesen haben die Organe der vollziehenden Gewalt nur dann ein Recht, wenn es ihnen ausdrücklich zugestanden ist. Dieser Charakter des englischen Verwaltungsrechts zeigt sich hauptsächlich in drei Punkten. Erstlich darin, daß alles dasjenige, was wir unter dem weiten Begriff der administrativen Genehmigung als Bewilligung, Concessionen an Einzelne und Gesellschaften u. s. w. zusammenfassen, in England Gegenstand der parlamentarischen Gesetzgebung ist. Alle diese Entscheidungen, welche sonst in der Natur der Verwaltung liegen, werden durch das Parlament in der vollen Form der Gesetze erlassen, und bilden den zweiten, auch officiell geschiedenen Theil der jährlichen Gesetzgebung als „Private Bills.“ Die Form dieser Gesetzgebung ist zwar im Einzelnen verschieden von der eigentlichen Gesetzgebung, im Wesentlichen jedoch dieselbe. Für jeden solchen Antrag wird nämlich ein eigenes Comit é aufgestellt, welches die Information der Sache hat, seinerseits Sachverständige abhört, die Akten sammelt, die Ver- handlungen leitet und den Schlußantrag beim Parlamente stellt, der dann fast unbedingt von demselben angenommen wird. Das scheint die freieste Form des Verordnungsrechts, ist aber in der That fast in jeder Beziehung theurer und schlechter als die amtliche Verhandlung und Entscheidung im Verordnungswege. — Zweitens ist es dem obigen Charakter nach unmöglich, daß je in einem Gesetze die aus Frankreich stammende Vollzugsclausel „Unser Minister ist mit der Ausführung dieses Gesetzes beauftragt“ — hinzugefügt werden könne. Denn, wie wir bereits in der Darstellung der vollziehenden Gewalt gesehen, die Vollziehung in England beruht auf dem System der öffentlichen Klage, und auch bei dem Beamteten die Vollziehung des Gesetzes kann nur der Richter mit seinem Urtheilsspruch die letztere hervorbringen. — Drittens endlich hat die in Form der Gesetze erscheinende Verordnung eben deßhalb auch ganz andere Gränzen als die continentale. So wie ein Recht einer Selbstverwaltung oder eines Privattitels ihr gegenüber steht, wird die englische Verordnung stets den Charakter des facultativen, statt den des befehlenden Rechts annehmen, und es den Selbstverwal- tungskörpern, bez. den Einzelnen überlassen, sich des aus der Gesetz- gebung folgenden Rechts zu bedienen oder nicht , je nachdem seine Interessen es fordern, ohne die Ausführung unbedingt zu befehlen. So ist es z. B. im Gemeindewesen und Grundbuchswesen, und die folgende Verwaltungslehre wird dafür mehrere Beispiele bringen. Allein dieser Standpunkt ist selbst für die englische gesetzmäßige Verordnung nicht durchzuführen. Es gibt Fälle genug, in denen das öffentliche Interesse den Vollzug der gesetzlichen Vorschrift unbedingt fordert. Hier tritt da- her die Gesetzgebung unbedingt auf und schreibt darüber Zwangsmaß- regeln vor, gerade wie die continentale Verordnung, wie z. B. bei der Schifffahrtspolizei, beim Impfungswesen u. a. m. Wo dagegen nicht dringende und unmittelbare Gefahr für das Publikum obwaltet, da greift diese Gesetzgebung zu dem alten germanischen System der Buße und läßt den Einzelnen, der ihr nicht gehorcht, durch den Richter zu einer Geldstrafe verurtheilen. Es gibt daher keine Gesetzgebung der Welt, in welcher so viele Geldstrafen vorkommen, als in England. Durch alles dieß zusammen genommen bietet das Verwaltungsrecht Englands ein ganz anderes Bild, als das des Continents. Es gibt hier kein für den ganzen Staat geltendes verordnungsmäßiges Verwaltungsrecht , sondern dasselbe besteht nur in den Gesetzen. Alle Verordnungen sind durchaus localer Natur. Eine Thätigkeit der Regierung in der Bildung dieses Verwaltungsrechts ist eben deßhalb auch in der Weise gar nicht vorhanden wie auf dem Continent, da das ganze Gebiet der Concessionen und Genehmigungen ihr entgegen ist; sie hat nicht einmal ein Urtheil darüber, ob z. B. ein Verein oder eine Gesellschaft, um die Rechte der juristischen Persönlichkeit zu gewin- nen, die erforderlichen Bedingungen erfüllt hat oder nicht, sondern das Gesetz schreibt sie vor und der Richter entscheidet. Durch diesen gänz- lichen Mangel an jeder Trennung der beiden Grundformen des Ver- waltungsrechts gibt es daher auch in England überhaupt keinen rechten selbständigen Begriff der Verwaltung, und vor allen Dingen gibt es in England keine Theorie des Verwaltungsrechts . England hat das ganze Verwaltungsrecht vielmehr auf das Engste einerseits mit seiner allgemeinen bürgerlichen Rechtswissenschaft in Beziehung auf das gel- tende Recht, und anderseits mit seiner Political Economy in Beziehung auf die Grundsätze verschmolzen. Es gibt keine Literatur des Verwal- tungsrechts wie auf dem Continent, noch weniger eigene Lehranstalten für dasselbe, sondern dem praktischen Bedürfniß der Kenntniß des be- stehenden Rechts wird vielmehr in zweifacher Weise, die von der conti- nentalen zum Theil wesentlich abweicht, genügt. Zuerst werden bei allen großen administrativen Gesetzgebungen die Akten nebst Vor- lagen und Enqu ê ten gedruckt in den sog. blue books, und damit dem Publikum das Material zu eigenen Studien gegeben. Dann werden die auf bestimmte Gebiete der Verwaltung bezüglichen einzelnen Parla- mentsakte besonders herausgegeben, theils officiell, theils durch Privat- unternehmungen. Dadurch ist nun freilich das Material einerseits ein so gewaltiges, und anderseits der Unterschied der Form wie der Auf- fassungsweise von dem Continent ein so durchgreifender, daß es sehr schwer ist, sich in dem Ganzen zurecht zu finden. Die französische prak- tische Durchsichtigkeit fehlt ganz, und eben so die systematische Ordnung des deutschen Rechts, und jeder, der sich daher mit dem englischen Ver- waltungsrecht beschäftigt, darf von vornherein vielfacher Irrthümer und Auslassungen gewiß sein, denen selbst der Engländer nicht entgeht. Wir unsererseits dürfen deßhalb der Nachsicht unserer Leser gewiß sein, indem wir zum erstenmal den Versuch wagen, in dieß Verwaltungsrecht eine gewisse Ordnung zu bringen. In Frankreich hat der Entwicklungsgang der Staatsbildung diese Verhältnisse wesentlich anders gestaltet. Wir dürfen über das Verord- nungsrecht Frankreichs wohl auf den ersten Band verweisen. Die Grund- lage der Bildung des Verwaltungsrechts wechselt allerdings seit der Revolution je nach dem Siege der centralen Gewalt über die Volks- vertretung. Allein der Sieg der staatsbürgerlichen Gesellschaft hat den- noch den Grundsatz selbst unter Napoleon erhalten, daß das für den ganzen Staat gültige Recht nur auf dem Wege der Gesetzgebung ge- bildet werden dürfe. Dagegen hat der innere Kampf der socialen Ele- mente, in welchem sich in zwei Jahren die unfreie Classe zur freien gemacht, die Nothwendigkeit und Kraft der centralen Staatsgewalt als eine Lebensbedingung Frankreichs erscheinen lassen. Das Verwaltungs- recht gibt uns demgemäß in seinen Grundformen beide großen, selb- ständigen Elemente deutlich genug wieder. Dasselbe beruht auf Ge- setzen , der Lois, und Verordnungen in allen Formen, Ordon- nances, décrets, arrêts, circulaires u. s. w. Aber diese beiden For- men sind eben so streng im Verwaltungsrecht geschieden, wie im wirk- lichen Staatsleben Regierung und Volksvertretung. Beide Faktoren der letztern, das Königthum und die Gesellschaft, haben hier die im Wesen der Sache liegende Form gefunden und die Gränze derselben festgestellt. Die Volksvertretung gibt das Gesetz, die Regierung führt es aus; das Verhältniß beider Elemente zu einander ist in der in Frankreich ent- standenen oben erwähnten Formel gesetzt: „Der Minister wird mit der Ausführung des Gesetzes beauftragt.“ Dieß nun ist in der Form so klar, daß es von allen constitutionellen Staaten Europas angenommen worden ist. Allein gerade durch diese Scheidung mußte auch in Frank- reich zuerst die Frage entstehen, was denn seiner Natur nach dem ge- setzmäßigen, was dem verordnungsmäßigen Rechte angehöre. Das po- sitive Recht hat darauf so wenig als die Theorie eine Antwort zu geben versucht; die Lösung der Frage wird hier zuerst darin gefunden, daß die Verordnungsgewalt so weit naturgemäß sei, als sie nicht mit bereits bestehenden Gesetzen collidire . Damit war das natürliche Princip für die verordnungsmäßige Bildung des Ver- waltungsrechts gefunden, und das letztere vermöge jenes Grundsatzes dem gesetzmäßigen mit vollkommen gleichem Recht nebengeordnet. Gesetz und Verordnung bilden daher hier ein Ganzes, und dieses Ganze findet seine praktische Anwendung auf dem Gebiete des amtlichen Verwaltungs- organismus, der, wie wir in der vollziehenden Gewalt gezeigt, auf Grundlage der Geschichte ein ganz selbständiges Leben in Frankreich führt. Das Rechtsgebiet dieses Organismus scheidet sich daher selb- ständig von dem übrigen Recht, ohne Rücksicht darauf, ob es aus Ge- setz oder Verordnung besteht; es hat seinen eigenen entscheidenden Be- hördenorganismus, seine eigene Jurisprudenz, seine eigene Theorie; es ist ein Ganzes für sich, und so entsteht zuerst der selbständige Begriff des „droit administratif,“ das Recht der gesammten Thätigkeiten der Verwaltungsbehörden, zusammengestellt aus Gesetzen, Verordnungen, Entscheidungen des Conseil d’État und der Verwaltungspraxis, ein Rechts- körper, den in dieser Weise nur Frankreich besitzt, und der deßhalb nicht ohne weiteres auf das Rechtsleben anderer Länder übertragen werden kann. England hat gar nichts Analoges; das Entsprechende in Deutsch- land ist dagegen die Verwaltungsgesetzkunde, deren Natur und Stellung wir sogleich betrachten werden. Jene Selbständigkeit des droit admi- stratif mußte nun in Frankreich auch bald ein selbständiges wissenschaft- liches Gebiet des Verwaltungsrechts erzeugen, das sich nun, berechnet auf die rein rechtlichen Befugnisse des großen Verwaltungsorganismus, um die leitenden staatlichen, gesellschaftlichen und volkswirthschaftlichen Principien nicht kümmerte, sondern nur das Geltende für die Beamteten zusammenstellte. Es geschah daher nicht wie in Deutschland, daß das droit administratif ein staatswissenschaftliches System ward, es hat vielmehr das Entstehen der selbständigen Volkswirthschaftspflege in Frank- reich verhindert, und der Franzose begreift auch jetzt nicht, was eine „Polizeiwissenschaft“ sagen will. Aber er hat dafür den Begriff eines selbständigen Rechts der Verwaltung erzeugt, und damit einen wesent- lichen Fortschritt gegenüber England gethan, den dann Deutschland aufgenommen hat. Was nun endlich Deutschland betrifft, so bietet dasselbe in seinem geltenden Verwaltungsrecht ein nicht unwesentlich verschiedenes Bild von Frankreich dar. Deutschland hat durch keine gewaltsame ge- sellschaftliche Revolution mit der Vergangenheit seiner Staatsbildung gebrochen. Es hat daher das öffentliche Recht der Zeit, in welcher Gesetz und Verordnung noch identisch waren, nicht vernichtet. Es hat dann die Gesetzgebung auf Grundlage der Volksvertretung eingeführt, und von dieser Zeit an das durchsichtige französische System nicht gesetz- lich und auch nicht einmal theoretisch, sondern einfach durch Gewohnheit acceptirt, daß die Verordnung zwar an sich nur die Vollziehung zum Inhalt habe, dagegen aber auch die Stelle des fehlenden Gesetzes er- setzen müsse. Das deutsche Verwaltungsrecht besteht daher aus zwei großen Gruppen. Die erste ist durch das vorconstitutionelle, die zweite durch das verfassungsmäßige Verwaltungsrecht gebildet, welches letztere wieder theils aus Gesetzen, theils aus Verordnungen besteht. Dem Be- griffe nach sind diese Unterschiede daher sehr klar. Allein die große Verschiedenheit in der deutschen Staatenbildung, sowie das Princip der Souveränetät der Staaten haben dafür entscheidend gewirkt, und wir glauben den Zustand in dieser Beziehung sehr einfach bezeichnen zu kön- nen. Das gesammte Verwaltungsrecht jedes einzelnen Staates ist ent- halten in dem, was wir die „Verwaltungsgesetzkunde“ nennen können, ein Begriff, der dem französischen droit administratif wesentlich ent- spricht, nur mit dem Unterschied, daß vielfach auch die verordnenden Gesetze des vorigen Jahrhunderts darin aufgenommen sind. Nur be- sitzen wir diese Verwaltungsgesetzkunde nur von sehr we- nigen Staaten , und wir müssen es daher fast für unmöglich halten, hier etwas Vollständiges zu liefern, bis weitere Vorarbeiten in dieser Richtung vorliegen und die geltenden Verwaltungsrechte der einzelnen Staaten gehörig durcharbeitet sind. Zu dieser Unfertigkeit des Materials kommt aber die Unklarheit über Begriff und Umfang des Verwaltungs- rechts und die durchgreifende, bis jetzt jede einheitliche Darstellung unmög- lich machende Verschiedenheit in der Bildung des positiven Verwaltungs- rechts hinzu. Der Charakter dieser Bildung in den einzelnen Staaten war nun außerdem bis 1848 so verschieden und so sehr in der Entwick- lung begriffen, daß sich um so weniger etwas allgemeines sagen läßt, als nur in wenigen Staaten überhaupt der Begriff des Gesetzes gegen- über dem der Verordnung klar war, wie wir früher gezeigt haben. Die amtliche Verwaltung strebte daher in dieser Epoche beständig durch Verordnungen Recht zu bilden und die Gesetzgebungen zu beseitigen. Erst nach 1848 tritt dafür mit einer wenigstens in den Hauptstaaten durchgreifenden Gleichmäßigkeit die Funktion der Gesetzgebung ein, und das französische System der Unterscheidung von Gesetz und Verordnung wird ein allgemeines, ohne jedoch schon ganz zur formellen Geltung zu gelangen. So leidet Deutschland auch für sein Verwaltungsrecht an dem ihm eigenen Widerspruch. Seine gesellschaftlichen und volkswirth- schaftlichen Zustände bilden eine mehr und mehr gleichartige Einheit; seine Staaten aber haben gesonderte und selbständige Verwaltungsrechte. Dieser tiefe Widerspruch hat nun eine neue und eigenthümliche Erschei- nung hervorgerufen, welche mehr und mehr von Bedeutung wird. Das ist der Anfang der Bildung eines gemeinsamen deutschen Ver- waltungsrechts , dem sich die einzelnen Staaten unterordnen. Die Formen desselben sind bisher dreifach. Zuerst entsteht ein Verwaltungs- recht durch den Bund, ein Bundesverwaltungsrecht , durch Bundes- beschlüsse, welche Verwaltungsangelegenheiten betreffen (wie z. B. Preß- polizei, Markenrecht), anderseits entsteht dasselbe durch internationale Verträge (des Zollvereins, Paß- und Legitimationskarten, Post, Telegraphen) und endlich durch das deutsche Vereinswesen (wie Eisenbahnrecht). Daß die deutsche Staatsrechts- und Bundesrechtslehre sich dieser Thatsache gegenüber nicht zu helfen weiß, beruht darauf, daß sie keinen Begriff der Verwaltung hat. Die Verwaltungslehre aber, die gerade hier berufen wäre, die Einheit der Idee und endlich auch die Praxis zu vertreten, ist selbst, wie wir früher dargelegt, in ihre großen Theile einheitslos zersplittert. Um so größer ist ihr Beruf und ihre Aufgabe. Nirgends hat sie eine großartigere Bestimmung als in Deutschland. Und darum möge es uns verstattet sein, den letzten Punkt dieser Einleitung, das Verhältniß der Wissenschaft oder der Verwal- tungslehre zum geltenden Verwaltungsrecht zu berühren. III. Codification und Wissenschaft. Es scheint uns ganz überflüssig, hier im Allgemeinen von der Stellung und dem Werthe der Wissenschaft zu reden. Wohl aber dür- fen wir zum Schluß die Stellung der Verwaltungslehre als reiner Doctrin gegenüber dem Verwaltungsrecht als eines positiven und mäch- tigen Rechtskörpers hervorheben. Wenn nämlich das Verwaltungsrecht einerseits in seinem Verhält- niß zum praktischen Leben und anderseits in dem Processe seiner Bil- dung eine so große Bedeutung hat, so entsteht die Frage, ob es nicht von hohem Werthe sei, dieß Verwaltungsrecht wie das Finanzrecht und namentlich das bürgerliche Recht zu einem Gesammtgesetze zu erhe- ben, und demselben auf diese Weise eine Codification zum Grunde zu legen, die berufen wäre, der Bildung des Verwaltungsrechts wenig- stens einen formalen Abschluß zu geben? Offenbar nun ist dieß nicht bloß wünschenswerth, sondern es ist sogar nothwendig für jedes einzelne Gebiet der Verwaltung. Man kann sagen, daß die Bildung des Verwaltungsrechts daher erst dann als eine feste und fertige betrachtet werden kann, wenn die einzelnen Gesetze und Verordnungen, die sich auf ein solches Gebiet beziehen, in ein für dasselbe im Ganzen geltendes Grundgesetz zusammengefaßt worden sind; denn erst durch ein solches Gesetz wird das erreicht, was das Wesen des Abschlusses auch hier bildet, die Feststellung des Ver- haltens aller einzelnen Theile des geltenden Rechts zu dem dasselbe eigentlich erzeugenden Grundgedanken. Und daher zeigt sich denn auch historisch, daß formell die Rechtsbildung des Verwaltungsrechts aller Theile der Verwaltung bei der Aufstellung einer solchen Codification für die einzelnen Verwaltungsgebiete anlangt. Wir werden das im Folgenden auf jedem Punkte zu bestätigen haben; und man kann gewiß mit Recht die wichtige Anwendung dieses Grundsatzes auf das wirkliche Leben hier als leitenden Gedanken aufstellen, daß umge- kehrt, so lange eine solche Codification nicht erfolgt ist , auch die Lebensverhältnisse, auf welche das Verwaltungsrecht sich be- zieht, sich weder innerlich noch äußerlich zur Einheit gestaltet haben, während die thatsächliche Einheit der Verhältnisse wieder ihrer- seits die Codification erzeugt . Allein neben diesem Satz steht ein zweiter. Während jeder Theil der Verwaltung zu einem in sich geschlossenen Verwaltungsrecht sich ausbildet, ist es unmöglich, die gesammte Verwaltung rechtlich und gesetzlich in Ein Gesetz zusammenzufassen. Eine Codification des gan- zen Verwaltungsrechts gibt es nicht und wird es nie geben. Es scheint unnöthig, die einzelnen Gründe dafür speciell aufzuführen. Dennoch ist die Verwaltung innerlich und äußerlich ein organisches Ganze. Und es hat einen nicht geringen Werth, zu wissen und zu erkennen, daß dem so ist. Dieser Werth liegt so nahe, daß es ganz überflüssig wird, ihn besonders hervorzuheben. Wer soll nun diese Ein- heit vertreten? Wer ist der natürliche Träger und Vertreter eben dieses Werthes derselben? Wer soll die Codification ersetzen, deren das staat- liche wie das Volksbewußtsein bedarf, um die ganze hohe Bedeutung der Verwaltung anzuerkennen? Es ist kein Zweifel — hier liegt die letzte und höchste Aufgabe der Wissenschaft. Sie ist es, welche uns den innern Zusammenhang der Theile des ungeheuern Gebiets der Verwaltung zu zeigen, sie ist es, welche das lebendige Wirken großer staatlicher, socialer und volks- wirthschaflicher Kräfte in dem Leben der Verwaltung nachzuweisen, sie ist es, welche die Macht und die Aufgabe und damit die Geschichte der großen elementaren Faktoren des menschlichen Daseins auch hier zu verfolgen und die unendliche Vielfältigkeit und den nie ruhenden Wechsel der Gestaltungen, des Rechts und der Rechtsbildung als ein Ganzes zusammenzufassen hat. So lange es keine solche, organisch das Ver- waltungsleben als Theil des Staatslebens begreifende, wir möchten sagen ihrer selbst gewisse Verwaltungslehre gibt, so lange kennen wir das innerste Dasein des Staates nicht . Seit Jahrtausenden ist der Staat Gegenstand unendlich mannichfacher, tiefer und umfas- sender Beobachtungen und Gedanken; seit Jahrtausenden arbeitet die Menschheit an dem Verständniß und an der Bildung der großartigsten Gestaltung des persönlichen Lebens, die wir den Staat nennen; alle Gebiete desselben sind durchforscht; alle sind als selbständige Einheit be- griffen und verstanden; nur die Verwaltung nicht. Wir haben die Gründe dargelegt, weßhalb das bisher nicht geschah. Es wird uns jetzt verstattet sein, die Aufgabe zu bestimmen, die vor uns liegt. Unser Jahrhundert wird das Jahrhundert der Verwaltungslehre in der Staats- wissenschaft werden; es wird das Alte, Gewesene und Ueberwundene in seinem Verhältniß zur Gegenwart zu erkennen und zu würdigen suchen; es wird das Gegenwärtige in seiner organischen Einheit ent- wickeln, und es wird damit die Thore der Zukunft öffnen, die in einer noch unbekannten Ferne vor uns liegt, noch auf keinem Punkte eine feste Gestalt hat, und dennoch schon als gewaltige Thatsache in unsere Zeit hineingreift, die Zukunft der socialen Verwaltung , der Ver- waltung der socialen Gesellschaftsordnung, welche der gegenwärtigen staatsbürgerlichen zu folgen bestimmt ist. Die Verwaltungslehre wird daher nicht bloß die Codification des Verwaltungsrechts ersetzen, und nicht bloß mit der Wahrheit und Berechtigung desselben auch seine Einheit geben. Sie ist bestimmt, der noch fast unbekannten, wenigstens noch fast ganz unverarbeiteten Wissenschaft der Zukunft, der Gesellschaftswissenschaft, dasjenige zu verleihen, was ihr in unserm Jahrhundert nicht fehlen darf, um ihre Geltung zu sichern, ihre praktische Anwendung und Bedeu- tung für das wirkliche Leben, sein Recht und seine positive Entwicklung. — Und in diesem Sinne haben wir die folgende schwere Arbeit übernommen. Anhang. Die Idee des internationalen Verwaltungsrechts . Bei der bisherigen Darstellung sind wir auf allen Punkten davon ausgegangen, daß der Staat als einzelne selbständige Persönlichkeit sein Leben für sich hat. Allein der wirkliche Staat ist in der That nur die Erscheinung der Idee des Staats, wie der Einzelne die des Begriffes der Persönlichkeit. Die Vielheit der wirklichen Staaten ist daher kein geschiedenes Nebeneinander derselben. Auch sie bilden ein Gesammt- leben. Dieß Gesammtleben, ursprünglich ein roher Gegensatz der Ein- zelnen gegen einander, wird zur Gemeinschaft des Lebens. Der Inhalt dieser Gemeinschaft ist aber keine Abstraktion, sondern das concrete Leben der Menschen, welche ihr angehören. Damit erscheint das gesammte Gebiet der Aufgaben der Verwaltung, und speziell das Gebiet des Innern in der Bewegung des Lebens dieser Gemeinschaft; die Interessen werden gleichartig; jeder Einzelne findet nicht mehr bloß innerhalb seines eignen Staates die Bedingungen seines Lebens, sondern dieselben sind allmählig mehr und mehr in der Gesammtheit der Berührungen der Völker unter- einander gegeben, und aus dem Staatsleben entsteht ein Völkerleben. Das Völkerleben ist so alt wie die Weltgeschichte. Es hat, wie die Gemeinschaft aller Persönlichkeiten, ein Völkerrecht erzeugt. Allein dieß Völkerrecht ist Jahrtausende hindurch ein negatives geblieben, und hat sich im Recht des Krieges und Friedens cumulirt. Erst in unserm Zeitalter hat sich der positive Inhalt des Völkerlebens Bahn gebrochen, und das gegenseitige Bedingtsein der Völker und Staaten durch einander hat jenes Leben eben so gut als das Leben der Einzelnen zu einem Gegenstande der Verwaltung gemacht. Damit beginnt nun ein ganz neues Gebiet der letzteren, und gleichfalls ein neues Gebiet des Verwaltungsrechts. Der einzelne Staat kann die Gesammtheit der Bedingungen für die Entwicklung seiner An- gehörigen, so weit sie im Völkerleben liegen, nicht gleichgültig betrachten. Er muß versuchen, auch sie zum Inhalt seines Willens zu machen. Allein das vermag er natürlich nicht durch einfache Gesetzgebung und Verordnung. Er bedarf dazu der Zustimmung des andern, gleichfalls selbstherrlichen Staates. Somit steht ein neues, auf dem selbständigen und einheitlichen Willen der einzelnen Staaten beruhendes Recht, das in seiner Form ein Vertragsrecht, in seinem Inhalt ein Verwaltungs- recht ist. Und dieß Recht nennen wir das internationale Ver- waltungsrecht . Dieß internationale Verwaltungsrecht enthält nun alle Momente der Lehre von der Verwaltung. Es hat zunächst seine Vollziehung und seine eigentliche Verwaltung, wie bei jedem einzelnen Staate. Seine Vollziehung hat wieder ihren Organismus und ihr Zwangsrecht. Der Organismus der internationalen Verwaltung ist ein selbständiger neben dem Organismus des Gesammtlebens der Staaten für sich, welcher eben nur die Gemeinschaft noch ohne bestimmten Inhalt ausdrückt. Diese letztere ist nämlich vertreten durch das System der Gesandtschaften; die Lebensgemeinschaft der Verwaltungszwecke dagegen ist ausgedrückt und hat ihren Organismus in dem Consulatwesen . Das Zwangs- recht der Staatengemeinschaft aber ist gleichfalls kein einfaches. Es enthält erstlich das System der Repressalien , zweitens den Krieg . Seit der Entstehung der internationalen Verwaltung gibt es, wir möchten sagen positive Kriege, deren Inhalt nicht mehr das rohe, quantitative Machtverhältniß ist, wie früher, sondern vielmehr die Voll- ziehung der Bedürfnisse und Forderungen des internationalen Verwal- tungsrechts. Es ist eine neue Zeit auch in dieser Welt der Staaten durch das Wesen der Verwaltung eingetreten. Denn auch der Begriff und Inhalt des Friedens ist ein anderer wie früher. Es ist nicht mehr ein rein negativer Zustand des Aufhörens der Feindseligkeiten, sondern ein positives Zusammenwirken für gewisse Zwecke. Und einen solchen Frieden kennt Europa erst seit unserm Jahrhundert. Mit ihm beginnt eine neue Aera des Weltlebens, die bestimmt ist, noch ungeahnte Wunder für die Menschheit zu wecken. Wohl denen, die diese kommende Epoche sehen und genießen werden! Das Objekt dieser Verwaltung ist nun das einer jeden Verwaltung. Es gibt eine internationale Verwaltung der Staatswirthschaft , eine internationale Verwaltung der Rechtspflege , und eine inter- nationale Verwaltung des Innern . Es liegt in der Natur der Sache, daß die beiden ersten Gebiete fast nur negativ sind, und das Recht der gegenseitigen Berührungen der Staaten vermöge ihrer einzelnen Ange- hörigen enthalten, wie Zollcartelle, Auslieferungsverträge u. s. w. Erst in der innern Verwaltung empfängt das Völkerleben einen posi- tiven Inhalt, und zwar zunächst durch die Erzielung der Gleichartigkeit der Maßregeln, welche die Gesammtinteressen ihrer Angehörigen betreffen, und welche für dieselben einen hohen Werth hat. Erst allmählig und bis jetzt nur in sehr einzelnen Punkten sieht man eine Gemeinsamkeit dieser Maßregeln entstehen. Die Geschichte hat einen weiten Weg durchzumachen, bis sie diese Gemeinsamkeit zur positiven und allgemeinen Basis des Völkerrechts erhebt; aber die Zeit wird kommen, in welcher dieß geschieht, und wenn die Menschheit glücklich sein kann, so wird sie dann beginnen es zu werden. — Dieß internationale Gesammtleben hat nun zwei Grundformen, an welche sich schon jetzt die dritte Grundform, wenn auch nur noch gleichsam leise und vorsichtig, kaum in ihren ersten Umrissen erscheinend, anschließt. Die erste Grundform ist der Vertrag mit seiner Basis der Selbständigkeit der einzelnen Contrahenten, seiner beschränkten und scharf bestimmten Auslegung in Beziehung auf seine Objekte, und endlich seiner zeitlichen Begränzung. Der Vertrag ist die noch rohe, ein- fache, unorganische Form des internationalen Gesammtlebens, die, stets zufällig und wechselnd, auch nur zufällig und wechselnd, oft sogar geradezu zerbrochen, die Gesammtentwicklung nur durch die Furcht des Einen vor dem Andern schützt. Die zweite Grundform dagegen ist der Staatenbund . Der Staatenbund ist, um uns so auszudrücken, schon mehrfach von der Geschichte versucht worden. Schon Griechenland war ein Staatenbund; das Karolingische Reich, die Idee des germanisch- römischen Kaiserthums, ist im Grunde auch nichts anderes. In neuerer Zeit sehen wir ihn wieder entstehen in Deutschland, in der Schweiz, in Nordamerika; die großartigste, wenn auch in der äußeren Form wesentlich abweichende Erscheinung desselben ist das britische Weltreich, das seine sogenannten Colonien im Grunde wie selbständige Staaten behandelt. Die Theorie hat das Wesen und die höhere sittliche Idee des Staatenbundes wenig verstanden, und sich daher auch nicht über eine formale Auffassung und Definition desselben einigen können. Sie hat, wie es in der Natur der Geschichte liegt, in dem Staatenbund einen staatsrechtlichen Körper , und in dem Bundesrecht nur die Aufgabe gesehen, die Gränze der Selbständigkeit der einzelnen Staaten gegenüber der Einheit derselben, also das Macht- und Rechtverhältniß der Bundesglieder zu einander zu bestimmen. Das muß ewig unfrucht- bar bleiben, so wie es sich nicht mehr um die juristische Interpretation der Verträge handelt, welche den Staatenbund constituiren, sondern um das höhere Wesen der Sache. In der That nämlich ist dieß positive Recht der Bundesverträge ja doch nur ein rechtlicher Ausdruck einer tiefer gehenden Gewalt, und gestaltet sich und wechselt mit der Macht, welche diese Einheit selber erzeugt hat. Das Verständniß des Bundes- rechts aller Zeiten ist daher das Verständniß des Inhalts, und nicht der Form des Bundes. Der Inhalt des Bundes aber ist der einer jeden Gemeinschaft, die Förderung des Gesammtrechts durch die Einheit der selbständigen Persönlichkeiten. Diese aber wird, so wie wir nicht mehr abstrakte Formeln, sondern concrete Verstellungen haben und wollen, zu nichts anderem, als zur innern Verwaltung. Und so ergibt sich, daß das wahre Wesen eines jeden Staatenbundes oder Bundes- staates eben nichts ist, als die zur Selbständigkeit erhobene, und durch sich selbst und nicht mehr bloß durch vertragsmäßig gesetzte Rechte wirkende Organisation der Einheit für die internationale Verwaltung. Ein Staatenbund ist daher von dem Bundesstaat niemals durch formale Bestimmungen zu unterscheiden, sondern nur durch den Zweck . Ein Staatenbund ist eine Einheit, welche zu ihrem Zwecke hat, die staatliche Selbständigkeit jedes Gliedes durch die Kraft der Gemeinschaft Stein , die Verwaltungslehre. II. 7 zu schützen ; ein Bundesstaat will und muß durch sein Organ die gemeinschaftlichen Angelegenheiten verwalten . Ein Staatenbund ist ein Rechtskörper, ein Bundesstaat ist ein Verwaltungskörper . Das Staatenbundsrecht ist daher wesentlich nur militärische Organisation und die Ordnung des vertragsmäßigen Maßes der Leistungen der Ein- zelnen für die Einheit der Kraft; das Bundesstaatsrecht dagegen, indem es dieß Staatenbundsrecht allerdings als ein Moment in sich enthält, erhebt sich zu einem objektiv gültigen gemeinsamen Verwaltungs- recht . Sein Inhalt ist Verwaltung, und sein Fortschritt und seine Zukunft besteht darin, daß diese internationale Form der Verwaltung sich immer weiter und höher ausbilde. Wenn dereinst unsere Lehre vom Völkerrecht sich dahin ausbilden wird, nicht bloß die rechtlichen Zustände der Staaten untereinander, in dem harten Gegensatze ihrer Selbständigkeit zu begreifen und darzulegen, sondern in den juristischen Formen des Gesammtlebens das Werden der Einheit zu erkennen und zu fühlen, wenn sie namentlich die Geschichte des internationalen Verwaltungsrechts und seiner organischen, zur Ein- heit des Menschengeschlechts drängenden Gewalt in den Handelsverträgen suchen und finden wird, wird sie das werden, was sie zu werden be- stimmt ist, das höchste Gebiet der Staatswissenschaft . An dieß staatliche Leben schließt sich nun in ganz unbestimmten, aber viel versprechenden Anfängen ein, sich über die Völker ausbreiten- des Vereinsleben . Wir verstehen es noch nicht ganz. Es will eigends studirt sein, wie es sich theils an die Wissenschaft anschließt, theils an praktische Aufgaben. Es ist noch ganz in dem Stadium, nur noch gemeinsame Interessen zu erzeugen. Die Zeit wird kommen, wo es sich zu einem selbständigen einheitlichen Faktor ausbildet, der in gewaltiger Weise einzugreifen bestimmt ist. — Unsere Nachkommen haben noch viel zu lernen und zu arbeiten, um den Forderungen der höchsten wissenschaftlichen Erkenntniß zu genügen. Die wirkliche Innere Verwaltung und das Verwaltungsrecht. Erstes Hauptgebiet . Die Verwaltung und das persönliche Leben. Erster Theil . Die Verwaltung und das Bevölkerungswesen. Die wirkliche Verwaltung. Erstes Hauptgebiet . Die Verwaltung und das persönliche Leben. Das erste Element alles Lebens der menschlichen Gemeinschaft ist ohne Zweifel die Person , diese Wirklichkeit des Begriffs der Persön- lichkeit. Sie ist ein kleiner Organismus, eine kleine Welt für sich. Sie ist einerseits ein physisches, andererseits ein geistiges Dasein. Sie ist zwar die innigste Verschmelzung beider; aber beide sind in ihr dennoch nicht dasselbe. Der Körper und der Geist leben in ihr nach eigenen Gesetzen, entwickeln und bilden sich, und beherrschen sich gegenseitig. Es gibt keine äußerliche Gränze zwischen beiden, aber es ist fast noch weniger möglich, sie zu verwechseln oder ganz zu verschmelzen. So wie man die Menschen genauer betrachtet, scheiden sie sich als die beiden selbständigen Seiten oder Faktoren seines Daseins, von denen jeder sein eigenes Leben hat. Daher hat auch jeder derselben seine eigene Wissenschaft, sofern man sie eben für sich betrachtet. Die Wissenschaft vom menschlichen und körperlichen Dasein nennen wir die Physiologie, die von dem geistigen Dasein die Psychologie. Es ist daher kein Zweifel, daß auch das Verhalten beider Elemente ein verschiedenes ist in Bezug auf die menschliche Gemeinschaft und die Berührung mit derselben. Allerdings kann jeder Einzelne sich durch eigene Kraft aus dieser Gemeinschaft die Elemente seiner eigenen Ent- wicklung theils bilden, theils finden und gewinnen. Allein die Ge- meinschaft ist in vielen und wichtigen Beziehungen mächtiger als er selber. Außer ihm stehend, beherrscht sie ihn. Wenn sie sich nicht selbst in denjenigen Punkten, wo sie zur Bedingung des individuellen Fortschrittes wird, so gestaltet, daß der Einzelne ihr und ihrem Einfluß unterliegt — er seinerseits kann sich allein nicht helfen, und zwar weder im physischen noch im psychischen Leben. Er wird körperlich wie geistig fortgerissen, gleichsam überdeckt von der quantitativen Macht der Gesammtheit; seine Einzelkraft wird verschwindend klein, wenn sie der letzteren gegenüber steht, und alles, was eben durch die Gemeinschaft ihn physisch oder geistig fördern könnte, verkehrt sich in sein Gegentheil und wirkt vernichtend. Soll daher die allererste Gestalt des persönlichen Lebens das phy- sische und das psychische Dasein des Menschen, das seinerseits ohne diese Gemeinschaft gar nicht gedacht werden kann, innerhalb derselben zur selbständigen individuellen Entwicklung gelangen, so muß die Gemein- schaft als solche in ihrem Verhältniß zum Individuum und seinem Leben eine Ordnung empfangen, welche die Bedingungen der indivi- duellen Entwicklung durch diese Berührung mit dem Individuum in so weit enthält, als die individuelle Kraft sich diese Bedingungen nicht verschaffen kann durch eigene Thätigkeit. Der Organismus, welcher diese Ordnungen erzeugt, ist der Staat. Die Thätigkeit, durch welche er sie erzeugt, ist die Verwaltung. Und die Gesammtheit der verwal- tenden Thätigkeiten des Staates daher, welche diejenigen Ordnungen des physischen und psychischen Lebens der menschlichen Gemeinschaft her- stellt, die als Bedingungen der individuellen Entwicklung erscheinen und durch eigene Kraft des Individuums nicht erreicht werden können, bilden die Verwaltung des persönlichen Lebens . Es ist ganz naturgemäß, daß dieser Begriff zunächst ein sehr unbe- stimmter ist, und daß er an sich nur als eine Forderung erscheint. Denn theils ist im Individuum selbst, theils im Leben der Gemeinschaft die Bewegung und Entwicklung eine große; theils wechseln auch die Auffassungen über das Nothwendige und Nützliche. Das was wir die Verwaltung des persönlichen Lebens nennen, ist daher zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern selbst sehr verschieden. Allein, in dem selbstbedingten Wesen der Persönlichkeit gegründet, behält es den- noch stets seine organischen Grundlagen, die sich gleich bleiben, und die Entwicklung jener Verwaltung beruht daher nicht darauf, daß sie zu verschiedenen Zeiten absolut verschieden sei, sondern darauf, daß ihre absoluten Momente zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Form und in verschiedenem Maße ihrer Ausbildung vorhanden sind. Form und Maß aber sind wieder nicht zufällig verschieden, sondern sind der Aus- druck zweier anderen Faktoren, welche schon hier die Gestaltung der verwaltenden Thätigkeit beherrschen. Die Form und der Inhalt der letzteren wird vorwiegend von der gesellschaftlichen Ordnung , das Maß von der Dichtigkeit der Bevölkerung abhangen. Bei ver- schiedener gesellschaftlicher Ordnung und bei verschiedener Dichtigkeit der Bevölkerung ist schon in diesem großen Gebiete der Verwaltung eine gleiche Verwaltung bei voller Gleichartigkeit derselben undenkbar. Und dieß wird das Einzelne später zeigen. Das Zusammenfassen der Verwaltung des physischen und geistigen Lebens in ein Ganzes findet, wenn es ein rein organisches und kein praktisches ist, auch nur in der Wissenschaft seine Stelle. Aber die Wissenschaft, die sich Jahr- hunderte lang nicht einmal darüber einig war, ob und wie viel sie von beiden Gebieten überhaupt aufnehmen wollte, hat jene systematische Einheit natürlich nicht aufgestellt. Nur läßt es sich allerdings nicht verkennen, daß namentlich seit Mohl ein ziemlich deutliches Bewußtsein des Zusammengehörens beider Theile vorhanden ist, das freilich nur als eine äußerliche Nebenordnung erscheint. ( Mohl , Polizeiwesen. Buch I. und Buch II. ) Wir werden die Anerkennung des organischen Verständnisses überhaupt erst dann gewinnen, wenn wir eine Wissenschaft der Verwaltung haben werden. Erster Theil . Das physische Leben und die Verwaltung. Die vier Gebiete derselben. Der Mensch als physische Person lebt und stirbt; er wechselt seinen Aufenthalt; er ist thätig in hundert Richtungen; er ist krank und ge- sund; er ist geistig unfähig; er ist abwesend; er ist jung oder alt, verehelicht oder nicht — das sind lauter Lebensverhältnisse, welche in dem Wesen der Person liegen. Jedes dieser Verhältnisse hat seine eigene wissenschaftliche Betrachtung, seine eigenen Gesetze, nach denen diese Zustände entstehen und vergehen; wie immer sie sein mögen, sie sind kein Gegenstand der Verwaltung . Allein jeder Mensch steht gerade vermöge dieser Verhältnisse und in ihnen in irgend einer Verbindung mit andern. Jedes derselben, indem es für das Individuum von irgend einem Einfluß ist, ist es daher auch für die mit ihm in Verbindung stehenden anderen, und damit für die Gemeinschaft selbst. Dieser sogenannte Einfluß zeigt sich bei näherer Betrachtung als eine irgendwie geartete Bedingung für die Thätigkeit, den Besitz, die Stellung der andern. Es ist nicht gleichgültig für alle, ob der Einzelne lebt oder nicht, ob und wann er geboren, wo er geboren, was er thut, ob er krank oder gesund, geistig selbständig ist oder nicht. Oft hängt das ganze Dasein und Glück, immer irgend eine Sache für dritte davon ab. Und dennoch können diese andern weder als Einzelne darauf Einfluß nehmen, noch auch nur immer wissen, wie jene Zustände des Individuums in seinem per- sönlichen Leben sich verhalten. Steht nun das fest, so ist es klar, daß hier das erste Gebiet der Thätigkeit des Staats, das erste Gebiet der Verwaltung beginnt. Sie hat nicht in das freie persönliche Leben des Einzelnen in physischer Be- ziehung einzugreifen; wohl aber muß sie eine Ordnung der Dinge her- stellen, vermöge deren dasjenige in jenem physischen Leben der Individuen, was als Bedingung der materiellen Lebensverhältnisse und ihrer Entwicklung für andere und damit für die ganze Ge- meinschaft erscheint, nicht mehr von der individuellen Willkür des Einzelnen oder von dem Zufalle abhängig ist, sondern durch die Ver- waltung in der Weise geordnet wird, daß das Einzelleben auch hier die ihm individuell unerreichbaren Voraussetzungen seiner Entwicklung findet. Und die Gesammtheit dieser Thätigkeiten bildet die Verwaltung der persönlichen , oder genauer des physischen Lebens . Es ist nun zwar natürlich, daß diese Verwaltung sich nach den Grundformen des persönlichen Daseins richtet, und aus ihnen sein System erhält. Allein nicht das ganze Leben ist Gegenstand der Ver- waltung. Die letztere tritt immer nur da auf, wo jene Lebensverhält- nisse als Bedingungen der Entwicklung der übrigen erscheinen. Und wir heben dieß hier besonders hervor, damit wir es nicht später bei jedem Punkte zu wiederholen brauchen. Das System oder die Ordnung der Verwaltungsaufgaben ist niemals das Einzelleben für sich, sondern vielmehr die organische Eintheilung derjenigen physischen Be- ziehungen , in welche der Einzelne zur Gemeinschaft und ihren Lebens- bedingungen steht. Betrachtet man nun das Einzelleben von diesem Standpunkt, so hat es in seiner rein persönlichen Form vier Gebiete, welche als die Gebiete dieses Theiles der Verwaltung erscheinen. Diese vier Gebiete sind so alt wie die Verwaltung selbst. Sie haben daher bekannte und hergebrachte Namen, und es wird, glauben wir, nicht die geringste Schwierigkeit haben, sich über das System selbst zu ver- ständigen, ehe wir zum Einzelnen übergehen. Das erste Gebiet ist die physische Person in ihren leiblichen, natürlichen und allen Individuen gemeinschaftlichen und gleichartigen Beziehungen zu andern, deren Verwaltung wir das Bevölkerungs- wesen nennen. Das zweite Gebiet sind die Zustände dieser Personen, insofern dieselben die rechtliche Selbständigkeit und persönliche Unverletzlichkeit der übrigen mit Gefahren bedrohen, und die als Gegenstand der Verwaltung die Sicherheitspolizei erzeugt. Das dritte Gebiet ist die Gesundheit des Einzelnen, und zwar theils als Moment des Gesammtlebens, theils als Gegenstand der Hülfe von andern oder der Heilung. Aus ihr geht die Verwaltung des Ge- sundheitswesens hervor. Das vierte Gebiet endlich ist der Mangel des geistigen Elements in der Persönlichkeit, welche Vertretung und Hülfe von Seiten der Verwaltung fordert, und damit das Pflegschaftswesen erzeugt. Damit ist das große Gebiet der Verwaltung des persönlichen Lebens erschöpft. Es ist jetzt die Aufgabe, die organische Gestalt jedes einzelnen Theiles zu untersuchen. Dem früher aufgestellten Begriffe des Verwaltungsrechts gemäß sagen wir nun, daß die Gesammtheit der durch den Staatswillen ge- setzten Vorschriften für alle diese Gebiete das Verwaltungsrecht des persönlichen Lebens bildet. Das geltende Verwaltungsrecht erscheint bei so äußerst verschiedenen Verhältnissen schon hier einer gemeinsamen Codifikation, und eben so sehr einer inneren und äußerlichen Gleichheit unfähig. Dennoch ist die Bildung und Entwicklung auch dieses Gebietes des Verwaltungsrechts von einem gemeinsamen Elemente zu allen Zeiten beherrscht, eben so wohl wie das der geistigen Welt. Da nämlich die persönlichen Berührungen unter den Menschen naturgemäß mit der Zahl derselben steigen, so wird das Verhalten jeder Person den übrigen in dem Grade wichtiger, je mehr diese Zahl zunimmt. Es ergibt sich daher der allgemeine Grundsatz, daß die Ausbildung des Verwaltungs- rechts des persönlichen Lebens von der Dichtigkeit der Bevölkerung abhängt , indem dieselbe mit ihr zunimmt und abnimmt. In stark bevölkerten Staaten ist eine genaue Ausbildung jenes Rechts ein unab- weisbares Bedürfniß; in schwach bevölkerten Staaten dagegen wird man es stets wenig entwickelt finden. Demgemäß erklärt sich auch eine zweite bekannte Erscheinung. Wie nämlich die Dichtigkeit der Bevölke- rung in einem Lande selbst verschieden vertheilt ist, so ist auch die Ausbildung jenes Rechts verschieden vertheilt. Es ist dasselbe, und mit ihr die wirkliche Verwaltung, auch örtlich , und zwar je nach der Dichtigkeit der Bevölkerung mehr oder weniger entwickelt. Und da nun die beiden Grundformen dieser Dichtigkeit durch Stadt und Land ge- geben sind, so gilt auch als Regel, daß die Gesammtheit aller Bestim- mungen dieses persönliche Verwaltungsrecht stets viel stärker und schärfer in den Städten als auf dem Lande ausgebildet ist. Daran schließt sich weiter die Folge, daß die amtliche Verwaltung zwar allge- mein gilt, daß aber in den Städten stets vorzugsweise die Selbstver- waltung jener Aufgaben ausgebildet ist, so daß gewisse Theile fast nur den Städten angehören (Meldungswesen u. a.), während andere allgemein bleiben (Zählungen ꝛc.). Das positive Bild der Vertheilung dieser Verwaltungsthätigkeit ist daher in dieser innigen, bedingten Ver- bindung mit dem wirklichen Leben vom höchsten Interesse, und muß als eine hochwichtige Aufgabe der höheren Statistik anerkannt werden. Was nun die einzelnen Theile dieses Verwaltungsrechts betrifft, so beruht ihre spezielle Entwicklung wieder oft auf äußeren Anlässen, oft hängen sie innig mit andern Gebieten der Verwaltung zusammen, und jeder derselben hat daher nicht bloß seine Gestalt, sondern auch seine Geschichte. Das Folgende wird versuchen, einen Abriß derselben zu geben. Wir dürfen auch hier wieder die Bemerkung wiederholen, daß die oben aufgeführten vier Gebiete an sich schon seit dem Entstehen der alten Polizeiwissenschaft als Theile derselben vorhanden und anerkannt sind, wie das Folgende es zeigen wird, wenn auch namentlich das Pflegschaftswesen seit Fischer (Band I. ) von der Polizeilehre ausge- schlossen wird. Das was fehlt, ist hier zunächst die Auffassung der- selben als einer organischen Einheit, und diese hoffen wir festgestellt zu haben. I. Das Bevölkerungswesen und die Verwaltung. Bevölkerungspolitik und Bevölkerungsordnung . Die Bevölkerung eines Staates erscheint stets als eine der wich- tigsten, ja als die wichtigste Thatsache für das innere Leben des Staats. Sie ist der Ausdruck seiner Macht, die sich in der Zahl seiner Ange- hörigen vertreten findet. Sie ist die Grundlage seiner Wirthschaft. Sie ist endlich das Ergebniß aller derjenigen Faktoren, welche auf das Wohl- sein und die Kraft der Einzelnen Einfluß haben. Sie ist daher schon als rein quantitatives Element die Grundlage dessen, was der Staat thun kann, und durch ihre Größe selbst das Zeichen von dem, was er gethan hat. So wie man das erkennt, so sind Wunsch und Streben sehr natür- lich, vermöge der großen dem Staate zu Gebote stehenden Mittel nun auch für dieses wichtigste Element des Staatslebens wirklich etwas zu thun, und so weit möglich mit Gesetzen und Maßregeln dieser Bevöl- kerung diejenige Gestalt und Bewegung zu geben, welche ihrerseits als Grundbedingung für die Entwicklung des Einzelnen und damit des Ganzen anerkannt wird. Eine solche Thätigkeit ist Verwaltung; und so entsteht das, was wir die Verwaltung der Bevölkerung , und in Beziehung auf die Geltung der staatlichen Bestimmungen das Ver- waltungsrecht der Bevölkerung nennen. Offenbar nun entstehen an den beiden Hauptelementen des Bevöl- kerungswesens sofort zwei Hauptaufgaben dieser Verwaltung und damit zwei Hauptgebiete ihres Rechts. Die erste Aufgabe hat die Bevölkerung als Substrat der Staatsmacht, also in ihrem quantitativen Verhältniß, zum Gegenstand, und enthält die Frage, ob und wie die Verwaltung auf die Vermehrung und Verminderung der Bevölkerung einwirken könne und solle. Den Inbegriff der hierauf bezüglichen Grundsätze bildet die Bevölkerungspolitik , und die öffentlichen Bestimmungen, die sich daran schließen, das Recht der Bevölkerungspolitik. — Die zweite Aufgabe hat statt der Kräfte, welche die Vermehrung und Verminderung der Bevölkerung erzeugen, vielmehr die vorhandene Bevölkerung als solche, und damit die gegebenen gegenseitigen Beziehungen der Einzelnen zur Gemeinschaft zum Objekt, und für sie entsteht daher die Aufgabe, dieser Bevölkerung ihre Ordnung zu geben, und für diese Ordnung ein System von Rechtsbestimmungen aufzustellen. Das sind die beiden, aller Verwaltung der Bevölkerung zum Grunde liegenden Hauptgebiete. Auch hier nun macht schon die tiefe Verschiedenheit des Princips eine gemeinsame Codification für beide Theile fast schon äußerlich un- möglich. Außerdem sind die Ansichten über die Lösung jener Aufgaben zu verschiedenen Zeiten höchst verschieden, und eben so die äußern Ele- mente, welche auf jeden Theil der auf sie bezüglichen rechtlichen Bestim- mungen einwirken. Das bestehende Recht bietet uns daher ein höchst buntes, sehr ungleichmäßig entwickeltes Bild dar, und die Theorie hat es ihrerseits nicht verstanden, Einheit und Uebersicht hinein zu bringen. Man muß daher schon hier mit dem Satze beginnen, den wir fast auf jedem Punkte der ganzen Lehre zu wiederholen in der Lage sein werden, daß alle Theile vorhanden sind, während das Ganze fehlt . Aber es fehlt noch ein zweites, das nicht minder wichtig ist. Das ist die Geschichte, und mit der Geschichte das historische Bewußtsein des Ganzen wie des Einzelnen. Es ist die Aufgabe des Folgenden, der künftigen Wissenschaft in beiden Beziehungen vorzuarbeiten. Es möge uns hier verstattet sein, einige Bemerkungen über die Stellung und Behandlung, welche das Bevölkerungswesen in der Staatswissenschaft ein- nimmt, anzufügen. Dieselben sind für den Gang der letztern und namentlich für den Mangel eines klaren Verständnisses der Verwaltung und ihrer Auf- gabe zu bezeichnend, als daß wir beide nicht mit wenig Worten hier charakteri- siren sollten. Vom größten Interesse ist es dabei, zugleich das Verhältniß zu verfolgen, in welchem die beiden Seiten der Bevölkerungslehre, die Politik und die Ordnung der Bevölkerung, zu einander stehen. Das Bewußtsein, daß die Zahl der Bevölkerung für den Staat hochwichtig, und daß die Ordnung derselben für ihn absolut nothwendig sei, ist so alt wie die Verwaltung selbst. So wie daher die Staatswissenschaft zur selbstän- digen Wissenschaft ward, mußte sie die Bevölkerungslehre allerdings aufnehmen. Allein die Art und Weise, wie sie es thut, ist höchst charakteristisch. Die Staatswissenschaft des vorigen Jahrhunderts trägt den Charakter des gesammten Staatslebens an sich; sie ist die Lehre von den Bedingungen der Staats macht . Die Staatswissenschaft unseres Jahrhunderts, dem Charakter unserer Gegenwart folgend, wird zur Lehre von der Staat sfreiheit in der Verfassung . Das nun hat neben dem gesammten Gange der Staatslehre auch die des Bevölkerungswesens bedingt. In beiden Epochen nämlich finden wir, daß die Politik und die Ordnung der Bevölkerung als gar nicht zusam- mengehörig, als gegen einander gleichgültig betrachtet werden, und daß aus demselben Grunde die Staatslehre ursprünglich nur die Bevölkerungspolitik als ihr angehörig aufnimmt, während sie das Recht der Ordnung der Bevölkerung theils ganz wegläßt, theils als einen untergeordneten Theil der „Polizei“ be- handelt. Wir werden die historische Entwicklung jedes dieser beiden Gebiete unten bezeichnen. Im Allgemeinen aber muß man wohl Montesquieu als denjenigen betrachten, der das Bevölkerungswesen zuerst als einen integriren- den Theil der Staatswissenschaften festgestellt hat ( L. XXIII. ), obwohl bei ihm nur von der Politik der Bevölkerung die Rede ist. Während die franzö- sische Wissenschaft durch ihn der Sache selbst ihr Recht gab, hat die deutsche Wissenschaft ihr zuerst ihre systematische Stellung gegeben. Schon Justi hat ein, wenn auch mehr gefühltes als entwickeltes System. In seiner „Grundveste der Macht und Glückseligkeit der Staaten“ spricht er in Bd. I. im Buch I. von der „Cultur und Oberfläche eines Landes“ (natürliches Element), im Buch II. folgt dann die „Vermehrung der Einwohner.“ Unklarer ist Sonnenfels , der die Bevölkerungslehre zur „Einleitung“ in die Polizei macht. Dennoch wäre damit derselben ihre Stellung dauernd gesichert, und wohl auch die organische Verbindung des Ordnungsrechts der Bevölkerung mit der Bevölkerungspolitik fest begründet gewesen, wenn nicht zwei gewaltige wissenschaftliche Erscheinungen das ganze Gebiet aus der naturgemäßen Entwicklungsbahn hinausgeworfen hätten; denn noch J. Fischer in seinem „Lehrbegriff sämmtlicher Cameral- und Polizeirechte“ (1785) stellt in dem Buch II. („Persönliches Polizeirecht“) im Grunde das, was wir als die Ordnung der Bevölkerung bezeichnen, an die Spitze — eine sehr beachtenswerthe Erscheinung, da diese Arbeit der erste Ver- such eines systematischen Rechts der Gesellschaftsordnung ist, deren Be- deutung man nicht verstanden hat — während die Bevölkerungspolitik bei ihm nur einen gar kleinen Raum einnimmt ( V. Hauptst. V. Abschn.). Jene beiden Erscheinungen aber waren die Werke von Süßmilch und Malthus (s. unten). Durch sie trat die Frage nach den Gesetzen, die für die Bevölkerungspolitik gelten, so machtvoll in den Vordergrund, daß sich die ganze Theorie nach dieser Seite hin wandte, und jenes „Persönliche Polizeirecht“ darüber vergaß. Es schien für die Staatswissenschaft nur noch nothwendig, sich über die Principien klar zu sein, die für das Verhältniß der Verwaltung zur Zu- und Abnahme der Bevölkerung gelten, und da man bald erkannte, daß hier wenig durch den Staat geschehen könne, so blieb nichts anderes übrig, als einfach an die Stelle der Lehre vom ganzen Bevölkerungswesen die Theorie über das Wachsthum der Bevölkerung zu setzen. Selbst schon der sonst so geistvolle Berg erwehrt sich dessen kaum mehr, und die ganze Verwaltung der Bevölkerung erscheint bei ihm in den oben angedeuteten zwei Gruppen; die Bevölkerungspolitik und ihr Recht — was sich daraus retten ließ — in Thl. II. 3. Bd. 2. Hauptst.: und die Ordnung der Bevölkerung unter der Sicherheitspolizei. Von da an herrscht dieser Standpunkt, aber die Theorie ist sich ihrer Sache doch nicht recht sicher. Die Bevölkerungspolizei, für die man den großen Standpunkt Justi ’s verloren hat als Aufstellung eines selbständigen Gebietes, muß jetzt einem andern Theile einverleibt werden, wie die Bevölkerungsordnung der Sicherheitspolizei. Dieser Theil ist nun schon in der ganzen Auffassung der Bevölkerungspolitik indicirt. Die Zu- und Abnahme der Bevölkerung verliert allerdings in etwas ihren Cha- rakter einer bloßen Machtfrage, wird aber dafür eine der volkswirthschaft- lichen Bedingungen der „Wohlfahrt;“ und so fällt sie jetzt mit der ganzen Theorie der Populationistik in die Nationalökonomie. Zuerst spricht dieß theo- retisch Soden aus, der überhaupt „die Staatspolizei nach den Grundsätzen der Nationalökonomie“ ausschließend behandelt (Nat.-Oek. Bd. 7), und hier die „Bevölkerungspolizei“ im 21. Buch, §. 96 ff. aufführt, nur von Bevölkerungs- politik redend. Von da an wird es Gewohnheit, namentlich unter dem Ein- druck Say ’s, der die Bevölkerungslehre geradezu als Theil der Économie politique hinstellt (Cours d’Econ. Pol. Pars VII.), die Theorien über Bevöl- kerung als integrirende Bestandtheile der Nationalökonomie zu behandeln, um so mehr, da die Deutschen den Franzosen und Engländern folgten, die nicht im Stande waren, die von Justi und Sonnenfels gewonnene Scheidung von Volkswirthschafts-, Finanz- und Verwaltungslehre festzuhalten. Daß daneben die Bevölkerungslehre ihren eigenen Weg ging, versteht sich von selbst. Doch bleibt die Vorstellung, daß das Bevölkerungswesen selbständig sein müsse; auch Pölitz hat sie noch, wenn auch als Politik, selbständig als Theil der Polizei- wissenschaft aufgestellt (Bd. II. Polizei-Wissenschaft Nr. 33). Bedeutsamer war es, daß Rau sie dann in die „Volkswirthschaftspflege“ hinübernahm (Bd. I. ), was aber freilich nicht durchgriff, da er nach Smiths Vorgange in der Bevöl- kerung nur die „Zahl der Arbeiter“ sah. Warum hat Max Wirth in seinem 2. Bande der National-Oekonomie die Sache mit so einfacher Beschränkung auf die Smithsche Regel abgethan, ohne über Rau hinaus zu gehen? (2. Buch I. ) Mit dem Auftreten der Mohl ’schen Richtung schien nun die bessere Zeit kom- men zu müssen. Jacobs faßt noch in seinen „Grundsätzen der Polizeigesetz- gebung“ (1809) die ganze Bevölkerungspolitik rein als vorzugsweise in den Händen der Regierung liegende Angelegenheit derselben auf (§. 72); Mohl da- gegen hat das unbestreitbare Verdienst, die wissenschaftlich gefundenen Gesetze der Bewegung der Bevölkerung auch als Grundlage der polizeilichen Thätigkeit hinzustellen. Allein da er sich selbst über das Verhältniß von Polizei und Ver- waltung durchaus unklar blieb, so geschah es ihm, daß er die Bevölkerungs- polizei in die Polizeiwissenschaft (1. Buch, 1. Cap.) nach Justi’s Vorgange allerdings aufnahm, die Ordnung der Bevölkerung dagegen theils in die Sicher- heitspolizei (Paßwesen ꝛc.), theils in die Verwaltung (Heimathsrecht) verwies, wodurch dann der alte Standpunkt nicht gebessert ward. Doch kann man so ziemlich als anerkannt die Scheidung der Bevölkerungslehre von der National- ökonomie ansehen; selbst Roscher, der wieder alles confundirt, greift gegenüber dieser Thatsache zu dem verzweifelten Zeugniß seines Mangels an organischer Auffassung, indem er die Bevölkerungslehre als „Anhang“ seines ersten Theiles behandelt. Mein Versuch, die Populationistik in das System der Staats- wissenschaft aufzunehmen, ist noch ohne Erfolg geblieben. Durch diesen Gang der theoretischen Entwicklung hat sich nun das, für das gesammte Gebiet des Bevölkerungswesens maßgebende Resultat ergeben, daß die Theorie nicht bloß die eigentliche Bevölkerungspolitik, sondern auch das Recht der Bevölkerungs- ordnung entweder ganz vergessen hat, wie Gerstner , der gradezu das Be- völkerungswesen in der Verwaltung als „Bevölkerungslehre“ aufführt, oder wie Rau und Mohl es nur halb oder an verkehrten Stellen beachtet, oder ganz ad libitum damit verfährt, wie Roscher . Dieß Recht der Ordnung der Be- völkerung, das auch mir damals nicht klar war, ist dadurch fast ganz in die Darstellungen der Verwaltungsgesetzkunde gefallen. Das ist gegenwärtig der Zustand, und wohl auch die Charakteristik des folgenden Versuches in Bezug auf seine Gesammtauffassung. Daß wir sehr viel vom Bevölkerungswesen wissen, aber sehr wenig Bevölkerungswissenschaft haben, scheint jedenfalls klar. A. Die Bevölkerungspolitik. Einleitung. Begriff, Inhalt und gegenwärtige Bedeutung derselben . Unter der Bevölkerungspolitik verstehen wir demnach die Verwal- tung, insofern sie ihre Thätigkeit auf die Bevölkerung als Ganzes und auf diejenigen Gesetze und Verhältnisse richtet, welche auf die Zu- nahme und Abnahme der Bevölkerung als solcher einen unmittelbaren Einfluß haben. Das Princip der Bevölkerungspolitik ist nun zwar ein scheinbar sehr einfaches. Dennoch entwickelt es sich an den gegebenen Verhält- nissen nicht bloß zu einem eigenen Systeme, sondern diese Entwicklung hat auch ihre eigene Geschichte, und es ist nothwendig, die Grundlage dieser Geschichte vor Augen zu haben, um den Gang und Charakter der einzelnen Maßregeln der Bevölkerungspolitik, sowie das, was ihren gegenwärtigen Inhalt bildet, richtig zu beurtheilen. Daß die Bevölkerung zunächst rein durch ihre Quantität, durch die Größe oder Zahl, die Grundlage aller Macht und Entwicklung des Staates bildet, und daß dieß an sich leicht verständlich ist, bedarf keiner weitern Begründung. Allein insofern wir von dem Staate und seiner Verwaltung reden, erscheint dieser Satz in einem etwas andern Licht. Der Staat als Persönlichkeit kommt zu diesem Satze immer erst unter zwei Voraussetzungen. Erstlich muß es einen selbständigen, von der Verschmelzung mit der Gesellschaftsordnung gelösten Staat und mit ihm eine selbständige Verwaltung geben, und zweitens muß diese Ver- waltung durch den Mangel der Bevölkerung den Werth der Quantität derselben fühlen. Die Bevölkerungspolitik unterscheidet sich daher we- sentlich von den übrigen Gebieten der Verwaltung. Sie existirt weder ursprünglich, noch ist sie immer vorhanden. Sie beruht nicht auf dem Wesen und Belegniß der Persönlichkeit, sondern hat ihre eigene Geschichte. Es ergibt sich nämlich zuerst, daß es in denjenigen Staatsformen, welche noch unter der Herrschaft der Geschlechterordnung und der stän- dischen Ordnung stehen, gar keine Bevölkerungspolitik gibt und geben kann — was natürlich die Bevölkerungslehre so wenig ausschließt, als die Entwicklung eines vollständigen Rechtssystems für die Bewegung der Bevölkerung im Einzelnen, noch auch die theoretische Beschäftigung der Staatskunst mit der Bevölkerungsfrage. Die Bevölkerungspolitik hat die selbständig gewordene Staatsidee zur Voraussetzung; und da diese Selbständigkeit erst im Königthum verwirklicht wird, so ergibt sich, daß die eigentliche Bevölkerungspolitik erst unter dem Königthum mög- lich ist . Zweitens aber folgt aus dem Wesen derselben, daß sie auch unter dem Königthum nicht sofort mit der selbständigen Gewalt desselben ent- steht, sondern erst dann, wenn die Zahl der Bevölkerung als Bedingung für die Zwecke des Königthums erscheint. Der nächste Zweck, in welchem das Königthum das Vorhandensein der Zahl als Bedingung für seine Macht erkennt, ist ohne Zweifel die militärische Macht; an sie schließt sich die Steuerkraft, um jene zu erhalten. Die Bevölkerungs- politik entsteht daher auch unter dem selbständigen Königthum erst da, wo es in dem Mangel an Bevölkerung den Grund des Mangels mili- tärischer Kraft und an Einnahmen für dieselbe erkennt. Und aus dem- selben Grunde ist naturgemäß der Inhalt aller Bevölkerungspolitik im Anfange derselben stets das Streben nach Vermehrung der Bevöl- kerung durch die Maßregeln der Verwaltung . Aus dieser natürlichen Gestalt der ersten Bevölkerungspolitik ergibt sich auch der Inhalt derselben. Die Verwaltung arbeitet in dem Be- wußtseyn, es nur mit dem Ganzen zu thun zu haben. Sie überläßt den Einzelnen sich selber. Sie versucht daher ihren Zweck, die Ver- mehrung der Bevölkerung, durch Mittel zu verwirklichen, welche sich eben nur auf die Zahl derselben beziehen. Diese sind nun: Beförde- rung der Kindererzeugung , der Ehen , der Einwanderung und Verhinderung der Auswanderung . Die Gesammtheit der für die Vermehrung der Bevölkerung in diesen vier Punkten gesetzten Maßregeln bilden das erste System der Bevölkerungspolitik der Staatsverwaltung. Man kann im Allgemeinen sagen, daß dieß System in der Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts aus- schließlich herrscht, und von da an sich noch in einzelnen bedeutenden Maßregeln erhielt. Mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts tritt diesem Streben nun die Industrie mit der Thatsache der örtlichen Uebervölkerung durch An- häufung von Arbeitern auf einzelnen Punkten entgegen, und theils diese Thatsache, theils auch das Entstehen der Versicherungsgesellschaften, welche das Leben der Bevölkerung als Ganzes betrachten und zu be- trachten gezwungen sind, erzeugte diejenige Wissenschaft, welche wir die Bevölkerungslehre nennen. Sie ist bei allen Mängeln, die sie hatte und hat, dennoch von entscheidendem Einflusse auf die Bevöl- kerungspolitik Europas im Ganzen, und der einzelnen Staaten im Be- sondern gewesen, wesentlich deßhalb, weil ihre Resultate sich in höchst einfachen, gemeinverständlichen Sätzen zusammenfassen ließen und daher ein großes und gemeinsames, für die Bevölkerungspolitik im Ganzen entscheidendes Resultat hervorriefen. Man beurtheilt diesen Einfluß am besten, indem man jene Sätze an die Namen ihrer Hauptvertreter knüpft. Während Montesquieu die Zunahme der Bevölkerung von dem Zustande der Verfassung und Verwaltung abhängig macht, und Süßmilch bei aller Energie, mit der er die Vermehrung der Bevölkerung für eine Hauptaufgabe des Staats erklärt, doch zuerst die objektiv gültigen Ge- setze der Bewegung der Bevölkerung auf bestimmte Zahlen und Ta- bellen reducirt, stellt Adam Smith den Grundsatz auf, daß nur da, wo ein Lohn ist, der Arbeiter geboren werde, um den Lohn zu verdienen, und auch Malthus endlich wird, ganz abgesehen von seiner Theorie selbst, dennoch das Princip anerkennen, daß jene Gesetze der Bewegung der Zu- und Abnahme der Bevölkerung nicht bloß durch die Aufstellung der mehr oder weniger durchgreifenden Maßregeln der Verwaltung be- herrscht werden können, sondern als absolute Gesetze in dem Wesen des persönlichen und natürlichen Lebens und ihrem Gegensatze selbst liegen. Zwar nimmt Justi gleichzeitig die ganze Bevölkerungslehre systematisch in die Staatswissenschaft auf und gibt ihr in der Polizeiwissenschaft ihre Stelle. Allein das Auftreten der selbständigen Bevölkerungslehre, verbunden mit der Thatsache, daß die wirklichen Maßregeln der Ver- waltung doch zuletzt ziemlich ohne allen allgemeinen Einfluß seyen, er- zeugte doch zuletzt die Grundansicht, daß jede Verwaltung unfähig sey, einen unmittelbaren Einfluß auf die Bevölkerung zu nehmen, sondern daß jede Sorge für die Bevölkerung in ihrer quantitativen Bewegung nur in der Sorge für die geistigen, volkswirthschaftlichen und staatlichen Bedingungen liege, unter denen sich die Bevölkerung vermehre oder vermindere. Das Bestreben, Vermehrung und Verminderung der Be- völkerung durch die Verwaltung erzielen zu wollen, verschwindet daher mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts. Aber nachdem nach Justi’s Vorgange das Bevölkerungswesen einmal in die Polizeiwissenschaften aufgenommen ist, erhält es sich auch darin, und um einen Inhalt zu haben, erfüllt es sich statt mit der alten Theorie der Volksvermehrung, die verschwunden ist, jetzt mit den Grundsätzen der Bevölkerungslehre selbst, in ähnlicher Weise, wie man bei den sog. Cameralwissenschaf- ten die Nationalökonomie in die Verwaltungslehre aufnahm. So sehen wir mit dem Anfang dieses Jahrhunderts in der Polizeiwissenschaft statt einer Lehre von der Verwaltung der Bevölkerung vielmehr die Bevöl- kerungslehre selbst erscheinen, ein systematischer Widerspruch, der zur Folge hatte, daß sie von andern auch in die Nationalökonomie aufge- nommen, von noch andern ganz weggelassen ward, während sie selbst, unbekümmert um ihre systematische Stellung, daneben ihren eigenen Weg ging, und sich zum Theil auch wieder — zum drittenmale — in der Statistik Raum schaffte. Das wunderliche Verhältniß, das sich daraus ergab, und das noch gegenwärtig dauert, nach welchem nämlich vermöge der Bevölkerungslehre nachgewiesen wird, daß die Verwaltung für Vermehrung und Verminderung der Bevölkerung eben nichts un- mittelbar leisten könne , während unmittelbar darauf gesagt wird, was sie alles trotzdem leisten solle , besteht zum Theil noch fort. Der größte Uebelstand dabei aber war, daß man vermöge jenes Verhältnisses über- sah, wie die oben erwähnten Theile der positiven Bevölkerungspolitik, Kindererzeugung, Ehen, Einwanderung und Auswanderung, durch das richtige Verständniß der Bevölkerungslehre in der Praxis ihren Charakter änderten. Sie blieben nach wie vor Gegenstände der Verwaltung der Bevölkerung und werden es beständig bleiben. Allein man faßte sie in der wirklichen Verwaltung nicht mehr auf als Mittel zur Vermehrung oder Verminderung der Bevölkerung, sondern die Verwaltung suchte jetzt ihnen eine Ordnung zu geben, in welcher die Einzelinteressen mit den Gesammtinteressen in Harmonie gebracht werden können, oder, um unsere Auffassung beizubehalten, man machte aus ihnen statt einer Be- völkerungspolitik ein Bevölkerungsrecht . Das ist das gegenwärtige praktische Verhältniß. Und die folgende kurze Darstellung wird zeigen, daß dies rechtliche Moment jetzt das entscheidende ist. Fassen wir nun dies zusammen, so müssen wir sagen, daß es in unserer Zeit in dem alten und eigentlichen Sinne, nach welchem Ver- mehrung und Verminderung der Bevölkerung Aufgabe der Verwaltung Stein , die Verwaltungslehre. II. 8 ist, gar keine Bevölkerungspolitik mehr gibt , und daß an ihre Stelle die Bevölkerungslehre getreten ist, welche die Bevölkerung als die allgemeinste persönliche Thatsache des Staatslebens in ihrer Bedeutung und ihren Gesetzen für sich zu behandeln hat. An die Stelle der alten Bevölkerungspolitik ist der Grundsatz getreten, daß der Einfluß des Staats auf Abnahme und Zunahme der Bevölkerung künftig nur in dem Einfluß auf die Bedingungen dieser Ab- und Zunahme, der Gesammtheit aller Lebensverhältnisse, liege, und daß die Zahl wie die Dichtigkeit der Bevölkerung sich von selbst nach eben diesen Be- dingungen ordne. Alle unmittelbare Thätigkeit der Verwaltung gegen- über der Bevölkerung erscheint daher jetzt nur noch als Bevölkerungs- recht ; und wenn wir daher noch eine Scheidung zwischen den Maß- regeln der Bevölkerungspolitik und des eigentlichen Bevölkerungsrechts aufrecht halten, so geschieht es in dem Sinne, daß die vier Objecte der Bevölkerungspolitik durch ihre eigene Natur mit der Vermehrung und Verminderung der Bevölkerung in Verbindung stehen, während die übrigen Gegenstände des Bevölkerungsrechts mit dieser Bewegung nichts zu thun haben. Außerdem aber gehören gerade jene Gebiete der Be- völkerungspolitik zu den Theilen des Verwaltungsrechts, die an sich, durch ihre Geschichte und ihre gegenwärtige Stellung, ein nicht geringes eigenes Interesse darbieten. Für die Beurtheilung der Literatur und Gesetzgebung der Gegenwart ist es vom größten Werthe, die Masse dessen, was in Beziehung auf die Bevöl- kerungspolitik gearbeitet wird, auf möglichst klare Kategorien zurückzuführen, welche das ganze Gebiet umfassen, und auf welche man alle Arbeiten zurück- führen muß. Diese Kategorien sind: die ziffermäßige Statistik der Bevöl- kerung für sich, dann die Gesetze der Bewegung der Bevölkerung oder des Wechsels ihrer Zahl, und endlich die Frage nach der Aufgabe der Verwaltung gegenüber diesen Thatsachen. Denn es leuchtet wohl ein, daß mit diesen Punkten so ziemlich alle Seiten der Frage wirklich erschöpft sind. Man kann nun, wie wir glauben, die ganze Auffassung des Bevölkerungs- wesens in drei große Grundformen scheiden, die natürlich im engsten Zusammen- hange mit einander stehen, aber dennoch ihre wesentlich verschiedenen Standpunkte klar genug zeigen. Die erste ist die rein volkswirthschaftliche der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die namentlich von den Engländern vertreten ist. Die zweite ist die sociale , die mit Montesquieu beginnt, aber schon durch Süßmilch in die politische Arithmetik hinüber geführt wird. Die dritte ist die eigentlich po- pulationistische , welcher das Verständniß dessen zum Grunde liegt, was wir am besten mit einem Worte die Physiologie der Bevölkerung nennen. Die erste Epoche oder Gestalt ist von den Engländern vertreten, deren Arbeiten von hoher Bedeutung sind. Sie beruhen auf der Ueberzeugung, daß die Zahl der Bevölkerung die Grundlage der Produktivität eines Volkes sei und daß man daher mit Berechnung der Bevölkerung zugleich die Basis des Volks- reichthums habe. Aus dieser Auffassung gingen die Arbeiten von Petty, Graunt , seinem großen Nachfolger King , den man als den Vater der politischen Arithmetik bezeichnen kann, und seinen Interpretator Davenant hervor, dessen Werk: An essay upon the probable methods of making a people gainers in the bargains of trade Lond. 1699 alle bisherigen Berech- nungen zusammenfaßte, und schon damals zu dem Schluß kam: „das Volk oder die Unterthanen eines Landes sind die erste Materie der Macht und auch des Reichthums desselben“ — die erste Bedingung zur Erreichung einer großen Bevölkerung aber seine „liberty and property.“ Süßmilch hat ihn sehr stark benützt, und gewiß hat auch Montesquien unter seinem mächtigen Einfluß ge- standen. (Süßmilch I. §. 277. II. 552—560.) Wir müssen der Ueberzeugung sein, daß die Darstellung dieser ersten populationistischen Frage eine reiche Quelle auch für die Geschichte der Statistik bieten würde, um so mehr, als ihr Einfluß bis auf Malthus ein vorherrschender gewesen ist, wenn auch Montesquieu und die Deutschen einen andern Gesichtspunkt herbeibringen. Mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts beginnt nämlich allerdings eine neue Richtung. Man muß Montesquieu ohne allen Zweifel als denjenigen betrachten, der das Bevölkerungswesen zuerst vom höheren staatswissenschaftlichen Standpunkt aufgefaßt hat; und auch jetzt noch wird niemand seine Arbeit ohne Nutzen lesen. Er widmet ihm das XXIII. Buch. Es ist bemerkenswerth, daß nicht bloß das vorige, sondern auch das gegenwärtige Jahrhundert auf ihn so wenig Rücksicht genommen hat. Vielleicht daß die Einseitigkeit der Nachfolger das am besten erklärt. Montesquieu braucht nämlich noch nicht den Ausdruck Population, sondern faßt das Bevölkerungswesen sogleich von dem letzten der obenerwähnten drei Gesichtspunkte, dem rein administrativen, auf. (Des lois dans le rapport qu’elles ont avec le nombre des habitants.) Es ist die erste administrative Bevölkerungspolitik, die wir besitzen, und die sich namentlich auf die alte Ehegesetzgebung bezieht (vorzugsweise Ch. 21, römische Ehegesetz- gebung). Sein Ergebniß ist principiell, daß „die Bevölkerung von dem Zustand der Gesetzgebung abhängt“ — wobei er aber in der That doch nur an diejenige Gesetzgebung denkt, welche sich auf die Vertheilung des Grundbesitzes bezieht. (Ch. XV. Lorsqu’il y a une loi agraire, et que les terres sont également partagées, le pays peut être tres peuplé quoiqu’il y ait peu d’arts.) Er erkennt mit seinem Jahrhundert, dessen Charakter er allerdings in der Depopu- lation sucht, die Größe der Bevölkerung als einen hochwichtigen Faktor des Wohlseins an, und gelangt Ch. 28 zu dem Satz: die Regierungen mußten, um die Bevölkerungen zu heben, „distribuer les terres à toutes ces familles qui n’ont rien leur procurer les moyens de les défricher et de les cultiver.“ Das war in der That ein bedeutsames Urtheil nicht so sehr über die Gesetz- gebung an sich, als vielmehr über das Verhältniß der ständischen Gesellschafts- ordnung und namentlich der Patrimonialherrschaft zur Bevölkerung; ohne es zu wissen, begründete Montesquieu hier den wichtigen Satz, daß die Unbeweg- lichkeit der Vertheilung des Grundbesitzes die Unbeweglichkeit der Bevölkerung erzeugt , und daß daher die Entwicklung der Bevölke- rung wesentlich von der gesellschaftlichen Ordnung abhängt — nicht durch ihr sociales Princip an sich, sondern durch die aus demselben folgende Verthei- lung des Besitzes. Es ist höchst bezeichnend für die folgende Literatur und für die unseres Jahrhunderts, daß nicht einmal Roscher und selbst nicht Mohl in seiner Geschichte und Literatur der Staatswissenschaft (Bd. III. XVI: Geschichte und Literatur der Bevölkerungslehre) auf diesen so bedeutsamen Standpunkt Montesquieu’s irgend welche Rücksicht nehmen; ja sie führen ihn gar nicht ein- mal an. Dennoch hat er im vorigen Jahrhundert wesentlich auf die Auffas- sungen eingewirkt. Freilich hat er keine Ziffern angegeben, und ist daher direkt mit seinen Nachfolgern nicht zu vergleichen. Denn mit Süßmilch in seiner „Göttlichen Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts“ (erste Ausgabe 1761) beginnt eine wesentlich neue Richtung, obgleich er Montesquieu noch vollständig zu würdigen weiß. Süßmilch ist nämlich der erste, der auf Grundlage ziffermäßiger Angaben dasjenige aufzustellen sucht, was wir die natürlichen Gesetze der Bewegung der Bevölkerung nennen. Er begründet da- mit die statistische Richtung der Bevölkerungslehre, die alsbald zu einer gewaltigen, selbst die Malthus’sche Bewegung überdauernden Geltung und Aus- dehnung gelangt. Seine Bedeutung in dieser Beziehung ist weder von Mohl noch von andern gehörig gewürdigt, und es ist ein ächt deutsches Schicksal, daß Malthus, ohne den alle Deutschen vom Bevölkerungswesen gar nicht reden zu können glauben, seinerseits fast keine Seite schreibt, ohne auf Süßmilch zu- rückzugreifen. Süßmilch hat mit seinen Gedanken die ganze Hälfte des vorigen Jahrhunderts beherrscht, und Mohl hat das in seiner Geschichte der Literatur wieder ganz übersehen, denn erst in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts beginnt die neue, rein statistische Richtung der Bevölkerungslehre, welche, mit Bikes, Caspar, Bernoulli und Moser sich auf die rein mathematische Berechnung des Durchschnitts beschränkt, und jeden weitern Gesichts- kreis, den nationalökonomischen und am meisten den administrativen, zur Seite schieben. Durch sie ist die Bevölkerungslehre großentheils in die Mathematik gefallen, nicht durchaus zu ihrem Vortheil, und umsonst hat Quetelet , der- jenige unter den Statistikern, der den höhern Auffassungen ihr Recht fast allein zukommen läßt, an einem weiteren Gesichtskreis festgehalten, indem er den Men- schen nicht als eine ziffermäßige, sondern als eine lebendige Thatsache erfaßte und maß. Es war ein Uebelstand, daß er sein „Système social“ (1857) schrieb, ohne sich über das, was er als „social“ bezeichnet, recht klar zu sein. Jedenfalls ist die statistische Bewegung mit ihrem streng ziffermäßigen, auf Ta- bellen sich reducirenden, großen aber einseitigen Werth durch Süßmilch be- gründet; aber sie ist nicht von ihm in dieser Beschränkung aufgefaßt. Er begriff das Bevölkerungswesen noch zugleich als einen Gegenstand der Verwaltung , und während er in Cap. X. „Von der Bevölkerung eines Staats als nothwen- diger Pflicht eines Regenten“ spricht, indem „jeder Unterthan einen gewissen Werth hat, und der Staat durch ihn gewinnt oder verliert“ (§. 209), geht er so weit, in §. 215 „Vier Hauptregeln“ anzunehmen, durch welche die Verwal- tung die Bevölkerung befördern kann: 1) Beförderung der Ehen; 2) der ehelichen Fruchtbarkeit; 3) der Erhaltung der Menschen; 4) Herstellung einer klugen Regierungsform . Im zweiten Theil Cap. XV. nimmt er dann den Ge- danken Montesquieu’s auf, daß die Bevölkerung mit der gesellschaftlichen Ver- theilung des Besitzes innig zusammenhänge. (Von den Ackergesetzen der alten Römer und der klugen Vertheilung des Landes , als dem Grunde ihrer Macht und ihres Ansehens.) In Cap. XVI. („Vortheile der Fabriken in Ansehung der Bevölkerung“) entwickelt er dagegen mit vollkommen richtigem Verständniß den Satz, der durch Adam Smith in die europäische Literatur überging, und dessen erste Begründung durch einen Deutschen wieder die Deutschen vergessen haben, daß nämlich die Zunahme der Bevölkerung auf dem Arbeitslohne beruhe. Das nun, was hier in einzelnen, wenig zusammenhängenden Capiteln dargestellt wird, wird fast gleichzeitig von einem nicht minder bedeutenden deut- schen Manne, J. H. G. Justi (1. Aufl. 1760) systematisch verarbeitet. Man muß Justi unbedingt als den ersten Theoretiker über die Verwaltung der Be- völkerung anerkennen. Während Montesquieu die Bewegung derselben auf die Verfassung zurückführt, stellt Justi dagegen das erste und gut überlegte System der administrativen Thätigkeit für die Bevölkerung auf ( I. Band, 2. Buch); nach ihm besteht die Grundlage dieser Thätigkeit theils in einer guten Regierung („Grundreguln der Bevölkerung“), theils in der Beförderung des Ehestandes; theils beruht sie auf polizeilichen Gesetzen (namentlich wieder Ehestandsgesetzen), theils auf Veranlassung zur Einwanderung. Er weiß dabei sehr wohl, was für die Zählung nothwendig ist (s. unten), und es läßt sich kaum leugnen, daß er im Allgemeinen nicht unter der heutigen Behandlung der Frage steht. So war mit diesen drei Männern die Grundlage der Bevölkerungslehre gelegt, und namentlich die Verbindung derselben auch mit der Nationalökonomie gesichert. Das Gesammtresultat dieser Auffassungen ist der Satz, daß „ein Staat nie zu viel Einwohner haben könne“ (Justi) und daß „die Glückseligkeit der Menge des Volks proportionirt sei“ (Süßmilch). Diesen Satz, den wir (s. oben) schon vor Montesquieu von den Engländern vom rein volkswirthschaftlichen Stand- punkt so energisch ausgesprochen finden, hat man nun (nach Mohl 1. 1. 470) rein als einen populationistischen, ja als einen für die Wissenschaft „demüthi- genden“ erklärt. Es gibt keine einseitigere Auffassung. Jene Ueberzeugung ging den Deutschen vielmehr aus der klaren Erkenntniß hervor, die schon Mon- tesquieu ausspricht, daß die strenge ständische Ordnung theils durch die große Ungleichheit der Vertheilung des Grundbesitzes, theils durch die, mit der Grund- herrlichkeit verbundene schlechte „Regierung“ die Bevölkerung zurückhalte; daß der Mangel an Bevölkerung ein socialer Zustand sei, daß die Vermehrung der Bevölkerung nur als Vermehrung des Bürgerthums gedacht werden könne, und daß daher diese Vermehrung ein Segen für die Staaten sei. Daher vor allen Dingen jenes Drängen nach Bevölkerung, als der Ausdruck des Wunsches nach der materiellen Basis der neuen socialen und freien Ordnung, die man mit richtigem Verständniß in der Zahl der Menschen fand; und darum konnte die Annahme jener Grundsätze keinem Zweifel unterliegen. In diese Bewegung tritt nun der Anfang der dritten großen Epoche, eine zweite Auf- fassung hinein, die wir die populationistische nennen, obwohl sie in ihrem tiefern Wesen wieder eine sociale ist. Das war der Gedanke Malthus , das erste, und gleich in seiner ersten Form in großartiger Entwicklung erscheinende Auftreten der Uebervölkerung . Die Theorie Malthus ist zu bekannt, als daß wir sie hier zu wiederholen brauchten. Malthus steht allerdings keines- wegs allein da. Schon vor ihm war die Besorgniß vor der Uebervölkerung in England vorhanden: Roscher , Geschichte der englischen Volkswirthschaftslehre, St. 24 und öfter, und auch Quesnay , Max. gen. 26, hält bereits den Werth einer geringern, aber wohlhabenden Bevölkerung höher, als den einer Vermehrung derselben. Allein das ihm wahrhaft Eigenthümliche und im Grunde Furchtbare hat man wenig hervorgehoben. Es war der Satz, daß nicht etwa, wie man gewöhnlich etwas oberflächlich sagt, die Menschheit im Ganzen, son- dern daß innerhalb der Menschheit die nichtbesitzende Classe zur Ver- nichtung durch Hunger von den ewigen und unwandelbaren Gesetzen der Bevölkerungsproduktion verurtheilt sei. Es war das in der That die Form, in der die Gegensätze zwischen den Classen und der neuen staatsbürgerlichen Gesellschaft in der Bevölkerungslehre zur Erscheinung, und mit der letzteren auch plötzlich zur Geltung gelangten. Und nur aus der tiefen, innern Ueber- zeugung von der Wahrheit dieser Herrschaft des socialen Gesetzes über die Be- völkerung und ihre Zunahme und Abnahme ergibt sich denn auch die Stellung, welche Malthus zu der alten Bevölkerungspolitik einnimmt. Er verneint sie geradezu ; „das Beste ist, uns gar nicht damit zu mühen , dem Men- schen in dieser Beziehung eine Richtung geben zu wollen, sondern den Menschen frei nach eigener Wahl handeln zu lassen. Indem wir ihn selbst dafür verantwortlich machen vor Gott, thun wir alles, was ich fordern kann.“ ( Essay on popul. VI. chap. 5.) Das war die an sich vollkommen consequente Antwort der freien Populationistik auf die Forderung nach Freiheit und Gleich- heit, auf die Forderung nach Anerkennung der Industrie und der Entfaltung der gewerblichen Produktion; es war das mathematisch nachgewiesene Ende der Bewegung, die in der freien Selbstbestimmung die Zukunft der Menschheit fand. Allerdings sagte Malthus nicht, daß der Hungertod der nichtbesitzenden Classe die Folge sei , und allerdings wiederholten seine Anhänger, daß er im Gegentheil nachgewiesen habe, daß trotz seines Gesetzes jenes mathematisch nothwendige Sterben des Ueberschusses ja noch gar nicht eingetreten sei. Allein mit Recht antwortete man ihm, daß nach Malthus eigener Ansicht die Ur- sache, weßhalb sich das alles nicht verwirkliche, nicht etwa in seinem Bevölke- rungsgesetz, sondern in seinen „Hindernissen“ liege, die eben so schlimm seien als der Hungertod, dessen Nothwendigkeit er bewiesen habe. Und so steht die Theorie von Malthus an der Schwelle der Epoche, welche wir die der staats- bürgerlichen Gesellschaft nennen, als Vertreter der populationistischen Consequenzen der staatsbürgerlichen Gleichheit und Freiheit , und des zweiten , für die eigentliche Verwaltung dieses Gebietes geltenden Grund- satzes, daß der Staat sich in diese Bewegung so wenig als möglich mischen solle . In diesen beiden Punkten liegt die wahre Bedeutung dieser Theorie, und der ungemeine Einfluß, den sie auf den Gang der Ideen dieses ganzen, der staatsbürgerlichen Gesellschaft angehörigen Jahrhunderts gehabt hat. Und darin, und nicht in den einzelnen Sätzen dieses Theorems, liegt auch die Po- tenz, welche die wissenschaftlichen und literarischen Erfolge desselben entschied. Zuerst war es natürlich, daß es in dem Maße mehr Aufsehen und Bedenken erregen mußte, als die staatsbürgerliche Gesellschaft selbst mit ihren Classen- gegensätzen in dem Unterschied von Besitz und Nichtbesitz mehr ausgebildet war; und daher ist England die Heimath des eigentlichen Kampfes für und gegen diese Theorie, während sie in Deutschland und Frankreich zunächst nur literarische Bedeutung gewann, da hier Industrie und Arbeit noch weit davon entfernt waren, solche Gefahren zu zeigen. Dennoch mußte sie zweitens, da sie denn doch immer der populationistische Ausdruck der industriellen Bewegung der Be- völkerung war und blieb, fast sofort die ganze alte, oben dargestellte, auf den ständisch-populationistischen Verhältnissen beruhende und der Polizeigewalt unter- worfene Auffassung des Bevölkerungswesens vernichten. Denn während man in den mathematischen Formeln Süßmilchs, wie den abstrakten Regeln Justi’s, es eigentlich nur mit den mathematischen und administrativen Formen des Be- völkerungswesens zu thun hatte, tritt uns in Malthus die ganze Gewalt des herrschenden Elements der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung, der Besitz, und der ganze Ernst ihres tiefern Inhalts, der Gegensatz der besitzenden und nichtbesitzenden Classe, in der vollen, mathematisch und statistisch unabweisbaren Härte eines Gesetzes der Bevölkerung entgegen. Hier sind es nicht mehr Con- sequenzen, sondern es ist die lebendige Ordnung selbst, um die es sich handelt, und umsonst war es daher, einfach fortzureden von einer „Glückseligkeit“, die so ernste Folgen nach sich ziehen konnte. Und man konnte das um so weniger, als Malthus nicht, wie Süßmilch und Justi, bei allgemeinen Sätzen stehen blieb, sondern mit einer für die damalige Zeit außerordentlichen Kenntniß das Bevölkerungswesen nach den einzelnen Staaten individualisirte . Auch das ist von den Darstellern der Malthus’schen Lehre immer übersehen; und dennoch war es gerade das, was diese Lehre, wir möchten sagen in den einzelnen Staaten heimisch machte und ihr den theoretisirenden Charakter wieder nahm, den die andern Arbeiten ihr gegeben. Natürlich konnten einer solchen, für jedes einzelne Land durchgeführten und doch auf dem Lebensprincip der für alle Län- der geltenden Gesellschaftsordnung beruhenden Bevölkerungstheorie die alten formal gewordenen Kathederregeln nicht Stand halten. Und jetzt tritt der Zu- stand ein, den wir im Text bezeichnet haben. Man vermochte die alten Sätze Justi’s nicht wegzuwerfen, und vermochte sich der neuen von Malthus nicht zu erwehren. Den wahren Kern der Sache, die Erscheinung socialer Gesetze in den ziffermäßigen „Gesetzen“ oder Durchschnitten der Bevölkerungsbewegung erkannte man aber nicht. Die Folge war, daß, nachdem das Element der Bevölkerung jetzt definitiv in die Vertheilung der wirthschaftlichen Güter gelegt schien, die Nationalökonomie künftig die Bevölkerungslehre einseitig in sich auf- nahm, und dazu that denn Say in seinem Handbuch den ersten Schritt. Die Franzosen sind seit Say in dieser Bahn geblieben, und ihnen sind die von der französisch-englischen Schule abhängigen Deutschen, namentlich Rau und Roscher, gefolgt. Freilich hatten sie so wenig wie Mohl das Verständniß der gesellschaft- lichen Grundlage der Sache. Allein dennoch war seit Justi die Verwaltung ein selbständiger Theil der Staatswissenschaft geblieben, und es kam nur darauf an, welche Stellung die ganze Lehre in dieser „Polizeiwissenschaft“ finden werde. Die ältern, wie Sonnenfels, Fischer, Berg , halten sich noch strenge auf dem vormalthusischen Standpunkt, und behandeln daher vorzugsweise die ein- zelnen administrativen Maßregeln für die Vermehrung der Bevölkerung. Son- nenfels bleibt auch in den spätern Auflagen ( I. §. 27 ff.) bei dem einfachen Satze, „daß die Regierung die Bevölkerung auf das Höchste zu treiben bemüht sein soll,“ was den Verhältnissen Oesterreichs vollkommen entsprach, geht aber auf keine einzelnen Maßregeln ein, mit Ausnahme der Zählungen. Fischer kommt in seiner Cameralwissenschaft (Bd. I. ) gar nicht zur Bevölkerungspolitik, und beschränkt sich strenge auf das Ordnungsrecht der Bevölkerung. Berg , Handbuch II. Theil, „Recht der Bevölkerungspolizei,“ sieht zwar sehr wohl, daß „ein wohlbevölkerter Staat nicht immer vor andern reich, glücklich und mächtig ist,“ denn „die Volksmenge thut’s freilich nicht;“ aber „die Bemühungen der Bevölkerungspolizei können doch dem Staate nie schädlich werden“ und „Uebervölkerung wird nie zu befürchten sein;“ denn „ist die Bevölkerung nur nützlich beschäftigt, so kann man nie sagen, daß der Staat zu viel bevölkert sei.“ Man sieht hier deutlich den, durch die Polizeiherrschaft vermittelten Ueber- gang von der ständischen zur staatsbürgerlichen Gesellschaft. Berg namentlich ist der Ausdruck der Ansichten, die sich damals bei Betrachtung der dünnen Bevölkerung des flachen Landes in Folge der Grundherrlichkeitsverhältnisse und der darauf beruhenden Vernachlässigung des Ackerbaues ziemlich festgestellt hatten. Diese Ansichten hatte schon Hohenthal ( de Politia §. 19) ausgesprochen, und namentlich Arthur Young in seiner „Politischen Arithmetik“ S. 74 mit spe- cieller Beziehung auf den Landbau in Frankreich nachgewiesen. Berg bleibt aber bei diesen allgemeinen Sätzen stehen und geht dann gleich zum Begriff der Bevölkerungspolitik (bei ihm wie noch jetzt Bevölkerungspolizei) über, deren Aufgabe er jedoch schon nicht mehr in der eigentlichen Beförderung der Zahl der Bevölkerung, sondern vielmehr nur in der „Hinwegräumung der Hindernisse der Vermehrung und der Ursachen, welche die Verminderung der Volksmenge bewirken,“ erkennt (1799, S. 19. 20). Er kennt den Malthus noch nicht. Es ist nun ganz erklärlich, daß der letztere nach der zum Theil furchtbaren Ent- völkerung, die durch die Napoleonischen Kriege erzeugt ward, in Deutschland anfangs so gut als gar keine Beachtung fand. Soden ist in seiner „Bevölke- rungspolizei“ (Nationalökonomie VII. §. 26) vollständig unbedeutend; Jacobs , dessen Bücher alle gedruckte Collegienhefte sind, hat gleichfalls in seiner „ Poli- zeigesetzgebung “ (1809) von dem Bevölkerungswesen nur das Zählungs- wesen aufgenommen und die Bevölkerungspolitik lieber ganz weggelassen. Pölitz dagegen (Staatswissenschaft, 1827, Bd. II. Volkswirthschaftslehre §. 29) erkennt schon die Möglichkeit, daß „der verarmte Theil der Bevölkerung eine Last der Gesellschaft wird,“ er will alle „ künstlichen Mittel zur Vermehrung der Bevölkerung“ beseitigen, fürchtet aber „ keine Uebervölkerung;“ er betrachtet dann in der „Staatswirthschaftslehre“ §. 7 ff. die einzelnen Maßregeln der Re- gierung, und wiederholt das Ganze in der „Polizeiwissenschaft“ §. 33. Man sieht, daß er die weitere Bedeutung der Frage noch nicht geahnt hat. In der That tritt, trotz der einseitigen und zum Theil unanständigen Vorschläge Wein- holds (Von der Uebervölkerung in Mitteleuropa und deren Folgen, 1827. Mohl , 1. 1. 490), die eigentliche Frage der Malthus’schen Theorie erst mit der Julirevolution und dem in ihr gegebenen Siege der industriellen Capitalien über die alten grundherrlichen Ideen in den Vordergrund, und hier muß man einen Fehler gut machen, den Mohl begangen hat. Die systematische Aufnahme des Malthus’schen Princips in die neue Staatswissenschaft geht von Rau aus ( Volkswirthschaftslehre §. 111 ff.); obwohl er sich strenge an die französisch- englische Bearbeitung hält, und vor allem die Freiheit von polizeilicher Bevor- mundung urgirt. Er traf mit dem letzten Satze die Tendenzen seiner Zeit; aber die Ansichten Malthus’ vermochte er nicht zu widerlegen, und ist, indem er sie systematisch in die Nationalökonomie einführt, zugleich der erste, der sie und ihre mathematische Härte umgeht , eine Richtung, in der ihm Roscher (a. a. O.) folgt. Rau faßt dann in der Volkswirthschaftslehre die Bevölkerung wieder nur als „Zahl der Arbeiter“ auf. (§. 11 ff.) Das sociale Element ent- geht ihm ganz. Mohl endlich in seiner „Polizeiwissenschaft“ (Bd. I. ) berufen die Sache gründlich zu erforschen, stellt allerdings das erste System der Ver- waltung auf, indem er das „Zählungswesen“ als vorbereitende Maßregel von den Maßregeln zur Vermehrung der Bevölkerung und den Maßregeln gegen Uebervölkerung scheidet. Die sociale Bedeutung der Sache geht ihm jedoch in der kritischen Beleuchtung der einzelnen Regierungsmaßregeln unter, und die „Massenarmuth“ ist ihm nur ein Theil des Armenwesens. Zu einem Abschluß ist diese Theorie nicht gediehen. Daß Mohl in seiner Geschichte auf das von mir aufgestellte Gesetz der Bewegung der Bevölkerung (System der Staats- wissenschaft I. S. 112 ff., dem allerdings noch die gesellschaftliche Seite mangelt und das daher eine sehr formale Gestalt hat), wornach die Gefahr der Uebervölkerung dadurch organisch beseitigt wird, daß die Zunahme der Bevölkerung durch die arbeitslose Einnahme aufhört, und nicht durch die Arbeit an sich, sondern durch die Wechselwirkung von gesunder und ausreichender Arbeit geregelt wird, so daß sich die drei mathematischen Grundverhältnisse der Bewegung aller Bevölkerung, Zunahme, Abnahme und Stillstand, im Allgemeinen und selbst örtlich durch die Faktoren: Gesundheit und Quantität der Arbeit und Gesund- heit des Klimas bestimmen — keine Rücksicht genommen hat, obwohl es allein die Bewegung beherrscht und erklärt, versteht sich. Dauernd aber ist aus dieser ganzen, von Malthus hervorgerufenen Bewegung im Gebiete der Ver- waltung der Bevölkerung eigentlich nur Ein Satz geblieben, den man gegenüber der Härte der ziffermäßigen Tabellendurchschnitte und anderseits in Harmonie mit der ganzen, von den Eingriffen der „Polizei“ sich mehr und mehr befreien- den Richtung der staatsbürgerlichen Gesellschaft gerne und allgemein annahm: daß der Staat am besten thue, wenn er sich gar nicht um die Bevölkerung kümmere. Malthus hatte diese Beseitigung der Verwaltung noch auf das Ge- wissen der Einzelnen zurückgeführt; die Neuern dagegen begründen sie einfach auf die Gesetze der Bewegung der Bevölkerung, und haben sich damit, aufrichtig gestanden, die Sache bequem gemacht. Denn diese Gesetze der Bewegung sind eben keine Gesetze , sondern Durchschnitte aus statistischen Beobachtungen, und mithin nur Wirkungen der Ursachen, aus denen jene statistischen Thatsachen entstehen ; und die Frage bleibt , ob dann der Staat als Verwaltung mit diesen Ursachen nichts zu thun haben solle. So weit nun diese Frage auf- tritt, so weit wird sie im Allgemeinen nur dahin beantwortet, wie es die frühere Zeit gethan (s. oben); die Verwaltung soll nicht unmittelbar eingreifen. Allein in der Ungewißheit, ob man dann die Verwaltung ganz ausschließen solle, bleibt man nach Mohls Vorgange dabei, die einzelnen der Bevölkerungspolitik angehörigen Maßregeln zu untersuchen, und mit Recht; nur schiebt man den Schwerpunkt der Sache mehr und mehr aus der Nationalökonomie und der socialen und administrativen Frage hinaus in die Statistik . Die Ergebnisse der letztern sind es, welche für den Kern der Sache seit 20 Jahren als wesent- lich maßgebend erschienen. Die geschmackvollste Arbeit, welche diesen, alle Standpunkte in sich aufnehmenden und jeden einzelnen scharf beleuchtenden, aber zu keinem einheitlichen und organischen Princip für die Verwaltung gelan- genden Standpunkt unserer Zeit wohl am besten und mit großer Umsicht dar- legt, ist ohne Zweifel J. Gerstner , die Bevölkerungslehre (Grundlehre der Staatsverwaltung II. Bd. 1. Abth. 1864). Das Resultat ist, daß die Ver- waltung im Ganzen den Gang der Dinge nicht ändern könne, und ebenso es auch mit Maßregeln für das Ganze nicht versuchen solle; daß dagegen ein- zelne Maßregeln ihren besondern Werth behalten. Wir stimmen dem natürlich bei. Aber der weitere Gesichtspunkt, daß die Bewegung der Bevölkerung von den gesellschaftlichen Ordnungen abhängt, daß die Bevölkerung der Ge- schlechtsordnung stabil ist, daß die ständische Ordnung in dem Grade mehr die Verminderung der Bevölkerung erzeugt, in welchem sie sich strengere Unter- schiede bildet, und daß die staatsbürgerliche Ordnung die Vermehrung der niedern Classe und die Verminderung der höhern bedingt — alles auf die obigen Faktoren von Arbeit in Maß und Art zurückgeführt — wird erst künftig die Bevölkerungslehre zu einer organischen Wissenschaft machen, und sie von der Dienstbarkeit befreien, in der sie jetzt zur ziffermäßigen Statistik steht. Quetelet hat das in seinem Système social geahnt; möge es uns verstattet sein, diese Anschauung hier zu bestimmter wissenschaftlicher Formel zu gestalten. Die einzelnen Maßregeln und Aufgaben der Bevölkerungspolitik . Es wird sich aus der obigen Darstellung ergeben haben, daß der Standpunkt, den die gegenwärtige Verwaltung in Beziehung auf die Bevölkerungspolitik einnimmt, ein wesentlich anderer als der des vori- gen Jahrhunderts ist. Die Verwaltung will keine unmittelbare Einwirkung auf die Bewegung der Bevölkerung; sie soll nur noch die allgemeinen persönlichen und volkswirthschaftlichen Bedingungen, unter denen sich das richtige Maß der Bevölkerung von selbst herstellt, sichern. Die Frage nach der Ueber- und Untervölkerung (wie sie neulich Gerstner genannt hat) ist keine Frage für die Verwaltung, sondern eine statistisch- theoretische Voraussetzung ihrer Thätigkeit, und diese Thätigkeit selbst scheint nun in Folge des obigen Standpunktes zu verschwinden. Es muß daher jetzt die Frage entstehen, ob denn die Verwaltung über- haupt noch bestimmte administrative Aufgaben der Bevöl- kerungspolitik haben kann ? Diese — bisher eigentlich nicht gestellte — Frage muß nun in folgender Weise beantwortet werden. Es ist zuerst richtig , daß sich das wahre Maß und die wahre Vertheilung der Bevölkerung durch die großen organischen Gesetze der Bewegung der Bevölkerung von selbst regelt, und daß es vergeblich und falsch ist, auf den Gang dieser Gesetze einwirken zu wollen. Die Aufgabe der Verwaltung beginnt dagegen erst bei den For- men , in denen sich diese Bewegung äußert . Diese Formen sind: die Ehen, die Kindererzeugung, die Einwanderung und die Auswanderung. Die Verwaltung vermag es nun nicht , diese Erscheinungen in der Weise zu beherrschen, daß durch sie die Bewegung der Bevölkerung bestimmt und beherrscht werde. Allein sie vermag es, diese Erscheinun- gen so zu ordnen, daß in ihnen das Einzelinteresse mit dem Gesammt- interesse in Harmonie steht. Die Verwaltung, indem sie sich darauf beschränkt, muß im Uebrigen von dem Princip ausgehen, daß die Zu- nahme und richtige Vertheilung der Bevölkerung keine auf dieselbe spe- ziell berechneten Maßregeln zulasse, sondern einzig und allein durch das Vorhandenseyn der allgemeinen Bedingungen der volkswirthschaft- lichen Entwicklung erzeugt werde. Es gibt keine andere allgemeine Bevölkerungspolitik, als die, welche in der rationellen Verwal- tung überhaupt gegeben ist . Dagegen fordert jede jener einzelnen Erscheinungen ihr eigenes Recht, wie sie ihre eigene Geschichte hat. Es kann daher auch keine einheitliche Gesetzgebung über die Bevölkerungspolitik geben, und selbst die Wissenschaft derselben, sofern sie nicht wieder Bevölkerungs- lehre ist, hat nur die allen einzelnen Maßregeln gemeinschaftliche Auf- lösung derselben in jenes obige allgemeine Princip zum Inhalt. Der geschichtliche Entwicklungsgang der administrativen Auffassung der Bevölkerungspolitik als Ganzes beruht nun ohne Zweifel auf dem allgemein durchgreifenden Satz, daß die Zahl der Bevölkerung erst dann Gegenstand der öffentlichen Thätigkeit wird, wenn die Staatsgewalt sich des Interesses bewußt wird, das sie an diesem Zahlenverhältniß hat. Das aber tritt nur in zwei Fällen ein. Erstlich da, wo es sich um die militärische Macht des Staats handelt, zweitens da, wo die Bevölkerung als Basis der volkswirthschaftlichen Kraft des Staats angesehen wird. Das erste fordert wieder eine militärische Organisation, welche einen regelmäßigen Bedarf von Mannschaft für das Heer setzt. Das zweite will dagegen, daß die Steuereinnahme eine regelmäßige werde. Im ersten Fall fordert man die Vermehrung wegen der Macht, im zweiten wegen des Reichthums. Man muß nun sagen, daß die Bevölkerungspolitik, die wir unter den römischen Kaisern entstehen und seit dem 17. Jahrhundert mit Ludwig XIV wieder auftreten sehen, eine militärische ist; daß sie aber mit der Mitte des 18. Jahr- hunderts eine volkswirthschaftliche wird. Bis zum 19. Jahrhundert aber bleibt in allen einzelnen Maßregeln noch immer der Gedanke maß- gebend, daß die Verwaltung denn doch durch ihre Maßregeln wirklich auf die Bewegung der Bevölkerung einen wesentlichen Einfluß nehmen könne und solle. Erst mit dem 19. Jahrhundert verschwindet diese Hoff- nung. Es ergibt sich daraus, daß, wie es die Natur der Sache for- dert, die Bevölkerungspolitik stets dieselben Gebiete beibehält (Ehen, Kinder, Einwanderung, Auswanderung), daß sie aber ihre Maßregeln in Princip und Form in Beziehung auf dieselben wesentlich ändert . Bis zum 19. Jahrhundert will man jene Erscheinungen direkt erzeugen oder hindern; mit dem 19. Jahrhundert will man sie nur noch ordnen . Es hat daher die Bevölkerungspolitik in beiden Hauptstadien ihrer Entwicklung denselben formalen Inhalt, aber einen wesentlich andern Geist. Und eine richtige Darstellung derselben muß daher die- sen Unterschied unbedingt festhalten und klar machen. Das ist es eigent- lich, was wir für unsere Aufgabe halten. Der große Fehler, den Mohl begeht und dem Gerstner sich gleichfalls nicht entzogen hat, besteht darin, diesen Unterschied nicht erkannt und festgehalten zu haben. Dadurch ist ihre Darstellung bei aller Richtigkeit der einzelnen Angaben das, was man unpraktisch nennt; denn nur die Geschichte ist wahrhaft praktisch. Namentlich Gerstner verwechselt die obigen Formen der Bewegung und die volkswirthschaftlichen Gesetze derselben nur zu oft mit dem, was die Verwaltung ihrerseits in Beziehung auf jene Er- scheinungen thut oder zu thun hat, und daher ist auch bei ihm die Darstellung des öffentlichen Rechts keine vollständige. Wir werden im Einzelnen darauf zurückkommen. I. Das öffentliche Eherecht. Begriff und Inhalt desselben . (Die beiden Gebiete desselben, das Recht der Eheconsense und das Recht der Ehebeförderung . — Das historische Princip der Entwicklung dieses Rechts.) Die Ehe ist die natürliche Quelle aller Bevölkerung. Alle Wünsche und Maßregeln, welche die Zu- und Abnahme der Bevölkerung betreffen, müssen sich daher vor allen Dingen auf die Ehe beziehen. Sie muß zunächst und vor allem als das eigentliche Gebiet der Bevölkerungs- politik und alle andern als ihr untergeordnet angesehen werden. Das nun ist in der historischen Entwicklung der letztern auch wirklich der Fall. Nur ist dieß Verhältniß vermöge des allgemeinern Wesens der Ehe nicht so einfach; dieselbe enthält vielmehr eine Reihe von andern Beziehungen zugleich, und alle diese Beziehungen haben allerdings einen gewissen, mehr oder weniger direkten Einfluß auf die populationistische Bedeutung der Ehe. Es hat daher für die Theorie von jeher große Schwierigkeit gehabt, die Ehe und das Eherecht einmal aus dem reinen Standpunkt der Bevölkerungspolitik zu betrachten, obwohl die Gesetz- gebung dieß recht wohl verstanden hat. Wir finden vielmehr in der Theorie eine fast durchgreifende Vermengung der verschiedensten Dinge, selbst wo es sich um die specielle Beziehung der Ehe zur Bevölkerung handelt, und daher auch keine klare Uebersicht über das, was wir das System des öffentlichen Eherechts nennen. Trotz der Abneigung unserer Zeit, bei entschiedener Forderung nach definitiven Resultaten in allen andern Wissenschaften feste Begriffsbestimmungen gerade in der Staats- lehre annehmen zu wollen, müssen wir dennoch darauf bestehen, daß man auch hier dieselben anerkenne. Denn ohne sie gibt es nun einmal keine Wissenschaft. Die Ehe ist zuerst ein physiologisches, dann ein ethisches und end- lich ein privatrechtliches Verhältniß. Das erste enthält die organische Einheit der Einzelnen durch das natürliche Element des Geschlechts, das zweite dieselbe durch das geistige Element des psychischen Lebens, das dritte diese Einheit durch die Gemeinschaft des rechtlichen Willens beider, als Persönlichkeit selbständiger Ehegatten. Derjenige Theil dieser Gemeinschaft, der das wirthschaftliche Leben umfaßt, bildet den volks- wirthschaftlichen Begriff der Hauswirthschaft. Alle diese Verhältnisse, dem Begriffe der Ehe inwohnend, sind allerdings von höchster und un- bezweifelter Wichtigkeit, aber sie gehören der Bevölkerungslehre nicht an; viel weniger der Bevölkerungs politik . Es hat das sehr bestimmte Gebiet der letztern in hohem Grade verwirrt, daß die Theorie sich ver- pflichtet geglaubt hat, jedesmal über jene großen Fragen zu reden, so- wie es sich um die Ehe als Theil der Bevölkerungslehre gehandelt hat. Man muß, will man mit der letztern zu einem faßbaren Resultat ge- langen, sich darüber einig werden, daß man innerhalb der Bevölkerungs- politik die Ehe eben nur von dem Standpunkte aus behandeln soll, von dem sie der Frage nach den Maßregeln angehört , welche die Verwaltung vermöge ihrer Bestimmungen über die Ehe für die Zunahme oder Abnahme der Bevölkerung ergreift. Die Ehe als Gegenstand der Bevölkerungspolitik gehört nur mit diesen Be- stimmungen der letztern an; und die Gesammtheit der hierauf bezüglichen Bestimmungen nennen wir das öffentliche Eherecht . Steht diese Beschränkung fest, so ergeben sich zunächst zwei we- sentlich verschiedene Gebiete dieses öffentlichen Eherechts (oder des gel- tenden Eherechts im Verhältniß zur Bevölkerungspolitik) und nicht eines, wie man bisher angenommen hat. Es frägt sich nämlich offenbar zu- erst , ob die in der Ehe enthaltene Gründung einer Familie als Grund- lage aller Bewegung der Bevölkerung der ganz freien Selbstbestimmung der Gatten überlassen oder einer Zustimmung der Gemeinschaft unter- worfen werden soll; — es frägt sich aber zweitens , ob die Gemein- schaft direkte Maßregeln zur Beförderung der Ehen ergreifen soll, um durch die Ehen die Bevölkerung zu vermehren. Es ist durch- aus falsch, nur das letztere als Gegenstand dieses Theiles der Be- völkerungspolitik aufzustellen. Im Gegentheil ist der erste Theil nicht bloß derjenige, der am ersten entsteht und seiner Natur nach ewig dauern wird, sondern derselbe ist auch praktisch unendlich viel wich- tiger als der zweite. Das wirklich geltende öffentliche Eherecht enthält daher auch zu allen Zeiten die Gesammtheit von Bestimmungen, welche in einem gegebenen Zeitpunkte für beide Gebiete des öffent- lichen Eherechts gelten. Diese beiden Gebiete nennen wir nun das öffentliche Recht der Eheconsense und das öffentliche Recht der Ehebeförderung . Und beide müssen daher als ein Ganzes betrachtet werden. Ohne Zweifel ist nun dieß Ganze zugleich ein inneres, das heißt, es ist seinem Wesen nach ein System. Es ist daher das dieses System in den verschiedenen Zeiten beherrschende Princip festzustellen, da sowohl das Verständniß des letztern als des erstern bisher mangelt. Die öffentlich rechtlichen Bestimmungen über beide Gebiete des öffent- lichen Eherechts nämlich gehen naturgemäß von der Gemeinschaft selbst aus. Sie werden daher auch natürlich von der Gestalt, der Ordnung, dem Lebensprincip eben dieser Gemeinschaft bestimmt und beherrscht sein. Sie werden daher einen immanenten Theil des Rechts derselben bilden. Dieß Recht der Gemeinschaft aber ist seinerseits wieder nothwendig der Aus- druck der Gesellschaftsordnung , welche sich ihre Gemeinschaft oder ihren Staat bildet. Und wie wir daher im Allgemeinen sagen, daß jede Gesellschaftsordnung eine nur durch ihr eigenes Wesen verständliche Verwaltung sich erzeugt, so hat auch jede Gesellschaftsordnung das ihr eignende, auf ihr beruhende Eherecht überhaupt und speciell das ihr entsprechende öffentliche Eherecht gebildet. Jedes positive öffent- liche Eherecht, oder speciell jedes Eheconsens- und jedes Ehebeförderungs- und Verbotsrecht muß daher auf die gesellschaftliche Grundlage zurück- geführt und durch sie erklärt werden; denn der Staat ist wesentlich der persönliche Vertreter der gesellschaftlichen Organisation. Man wird bei genauerer Betrachtung sogar finden, daß jede Gesellschaftsordnung nicht bloß ihre eigenthümliche rechtliche, sondern auch ihre eigen- thümlich ethische Auffassung der Ehe hat, die, durch das Unwandel- bare im Wesen der Persönlichkeit an sich unwandelbar gegeben, den- noch stets den Ausdruck des Geistes der Gesellschaftsordnung in einem hochwichtigen Punkte bildet. Und somit wird es denn auch wohl nicht bezweifelt werden, daß endlich auch die Geschichte des Eherechts im Allgemeinen und die Geschichte des öffentlichen Eherechts im Be- sondern nur auf der historischen Entwicklung der Gesellschaftsordnung beruhen kann. Dies nun ist unser Standpunkt. Wir müssen die bisherige Be- handlung des Gegenstandes deßhalb für eine einseitige halten. Das Folgende soll den Versuch machen, die organische Auffassung an die Stelle der kritisch-administrativen zu setzen, wie sie gegenwärtig noch vorliegt. Wir haben den obigen Standpunkt hervorgehoben, weil für die bisherige Behandlung des öffentlichen Eherechts zwei Dinge charakteristisch sind; zuerst der Mangel einer historischen Auffassung, und dann die höchst einseitige Behand- lung des Rechts der Eheconsense. Das was die historische Behandlung vertritt, besteht in dem einfachen Anführen historischer Beispiele, namentlich aus dem römischen Recht, mit dem Montesquieu voranging, das aber schon bei Süß- milch wieder in den Hintergrund tritt, bei Justi ganz verschwunden ist. Die spätere, gegenwärtig namentlich bei Roscher vorhandene Form bloßer Samm- lungsnotizen hat natürlich wenig wissenschaftlichen Werth. — Den Grund daher, daß man das ganze so wichtige Gebiet der Eheconsense, das ja doch unzweifel- haft hieher und weder in das Privatrecht noch in die Polizei gehört, so einseitig behandelt hat, weiß ich nur darin zu suchen, daß man überhaupt unter Be- völkerungspolitik vermöge des ganzen Ganges ihrer theoretischen Entwicklung eben nur die polizeilichen Maßregeln zur Vermehrung der Bevölkerung gesehen, und daß die auf den Durchschnittsrechnungen beruhende neuere Bevölkerungslehre überhaupt keinen Anlaß gefunden hat, sich mit dieser, dem positiven Recht an- gehörigen Seite der Frage zu beschäftigen. Man kann daher sagen, daß schon seit Justi die ganze Lehre von den Eheconsensen nur als Darstellung der Hei- rathsverbote auftritt, und daher mit den letztern verschwinden würde, ob- wohl das Recht der Eheconsense bestehen bleibt. Es kommt mithin darauf an, dem letztern seine dauernde Stellung zu sichern. Dieß kann aber nur auf Grundlage historischer Auffassung geschehen. Wesen des öffentlichen Rechts der Eheconsense . (Dasselbe muß als ein, in der Gesellschaftsordnung begründetes System betrachtet werden. Daher sind die vier Hauptformen desselben zu unterscheiden: das öffentliche Recht der Geschlechtsordnung, der ständischen Ordnung, der polizeilichen Epoche, und der staatsbürgerlichen Gesellschaft.) Scheidet man nun die Eheconsense von den populationistischen Be- förderungsmitteln der Ehe, so beruhen die ersteren darauf, daß das Eingehen der Ehe ihrem Inhalte und ihren Folgen nach an sich ein öffentlicher Akt ist. Sie ist es theils durch das Austreten aus der Familie und das Gründen einer neuen; sie bildet neue, über die Ehe- gatten hinausgehende Rechtsverhältnisse; sie erzeugt Verpflichtungen der Gemeinschaft, und mit diesen das natürliche Recht der letzteren, einen Einfluß auf das Eingehen der Ehe zu üben, und wird damit selbst ein Theil des öffentlichen Rechts. Dieß Recht aber ist innig mit den Ele- menten der öffentlichen Ordnung selbst verschmolzen, die wir in Familie, Beruf, Besitz und persönlicher Freiheit finden. Jede Berechtigung der Gemeinschaft, die Eingehung der Ehe bestimmen zu wollen, muß den Rechtstitel für diese Beschränkung der persönlichen Freiheit in dem Wesen der Gemeinschaft selbst finden. Mit diesem ändert sich daher sowohl dieser Rechtstitel als der Inhalt jener Bestimmungen, und so entsteht das System der öffentlich-rechtlichen Eheconsense , das wir kurz charakterisiren werden. Dieß nun hat zunächst drei große Grundformen. Es gibt ein Recht der Eheconsense der Geschlechterordnung, der ständischen Ordnung und der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung. Allein es ist auch hier festzustellen, daß diese drei Formen dieses Rechts so wenig scharf von einander geschieden sind, wie die socialen Grundformen, auf denen sie ruhen. Es ist auch hier vielmehr der Satz durchgreifend, daß, wie erst alle drei Grundformen zugleich den vollen Organismus der Gesellschaft bilden, so auch das Recht der Eheconsense jeder folgenden Form das der vorhergehenden so weit in sich aufnimmt , als es nicht mit ihrem Princip in Widerspruch steht. Das gegenwärtig geltende System ist daher kein einfaches, sondern besteht aus der Verschmelzung der früheren Rechte zu einem, durch das Princip der staatsbürgerlichen Freiheit modificirten Ganzen, und der Gang der Geschichte dieses Rechts ist daher eben diese organische Verschmelzung aller drei Grundformen durch die Macht der Principien, welche die Gegenwart beherrschen. Wir werden daher jeden Theil für sich bis zu derjenigen Gestalt bezeichnen, welche er durch seine Aufnahme in unsere Gesellschaftsordnung empfan- gen hat. 1) Das öffentliche Eherecht der Geschlechterordnung . (Das väterliche Consensrecht und der neue Charakter desselben. — Das Hagestolzenrecht.) Das öffentliche Eherecht der Geschlechterordnung beruht darauf, daß nicht der Einzelne, sondern die Familie als öffentlich rechtliche Persönlichkeit gilt. Das erzeugt zwei Folgen, welche zum Theil in der Sitte, zum Theil aber auch in förmlichen Gesetzen zur Erscheinung kommen. Die erste ist die, daß die Bewilligung des Familienhauptes die unbedingte Voraussetzung der Eingehung der Ehe ist. Eine Ehe ohne dieselbe ist vollkommen unmöglich. Die zweite Folge aber ist die, daß der Einzelne, so wie er selbständig ist, die Pflicht hat, eine Ehe einzugehen. Der juristische Ausdruck der individuellen Selbständig- keit ist darnach das sui juris esse; der sociale Ausdruck dagegen ist, daß jeder homo sui juris als pater familias betrachtet wird. Die Ehelosigkeit ist daher nicht im Widerspruch mit dem Wunsche, die Be- völkerung wachsen zu sehen, sondern vielmehr im Widerspruch mit dem innersten Princip der Geschlechterordnung, die eben eine einzeln stehende Persönlichkeit überhaupt nicht anerkannte, sondern nur die Familie. Aus der Geschlechterordnung geht daher jenes eigenthümliche Rechtsver- hältniß hervor, das wir das „Hagestolzenrecht“ nennen. Dasselbe hängt nicht mit der Bevölkerungsfrage, sondern mit dem Principe der Ge- schlechterordnung zusammen; das Kinderrecht (siehe unten) tritt erst später aus ihm eignenden Gründen hinzu. Die Nichtverheirathung des Mannbaren ist ein Bruch der gesammten gesellschaftlichen Ordnung, und der Staat hält sich daher für vollkommen berechtigt, die Verehe- lichung gesetzlich zu erzwingen, oder doch dieselbe mit großen Nachtheilen zu belegen. So war es schon in Sparta und Athen, und denselben Standpunkt finden wir bei den Römern durchgeführt, die freilich ihrer- seits das ganze Ehewesen wie alles andere wesentlich vom juristischen Gesichtspunkt aus in der Theorie behandeln. Die germanische Welt, die die Geschlechterordnung nie ganz bei sich aufgegeben, aber auch seit der Völkerwanderung nie ganz hat festhalten können, hat nun die obi- gen Grundsätze allmählig umgestaltet. Das Recht zum Eheconsens von Seiten des Familienhauptes ist allerdings grundsätzlich beibehalten, allein durch die Lehren der Kirche modificirt; es kann eine Ehe geben ohne Consens, und der Consens hört auf, mit der Mündigkeit Bedin- gung der Ehe zu sein. Das Rechtsverhältniß der Hagestolzen lebt im Ver- ständniß der Germanen fort, allein durch seinen Widerspruch mit dem Princip der freien Persönlichkeit geht es, wenn auch nur allmählig, unter, um so mehr, als die administrative Ehebewilligung (siehe unten) Stein , die Verwaltungslehre. II. 9 mit dem Auftreten der polizeilichen Verwaltung sich mehr und mehr Raum verschafft. Die Rechtsbestimmungen über den Eheconsens der Familie haben daher ihren socialen Charakter verloren, und sind ganz in das Privatrecht übergegangen. Aber auch hier hat der Gedanke der freien Selbständigkeit durchgegriffen, und der elterliche Eheconsens ist nicht mehr die rechtlich-absolute Bedingung, sondern hat vielmehr den Charakter eines vormundschaftlichen Aktes , weßhalb denn auch zum großen Theil die Vorschriften der vormundschaftlichen Verwaltung auf dieselbe angewendet werden. Von dem ganzen öffentlichen Eherecht der Geschlechterordnung ist daher in der staatsbürgerlichen Gesellschaft eigentlich nur der Satz übrig geblieben, daß der Vater in Bezie- hung auf den Eheconsens der natürliche Vormund seines Kindes ist . Und das ist wohl der erste Grund, weßhalb die Lehre vom Eheconsens ganz aus den Staatswissenschaften überhaupt, und speziell aus der Bevölkerungslehre verschwunden ist, obwohl sie ihre Stelle mit Recht darin fordern darf. — Die Grundsätze, welche in Sparta galten, beruhen auf dem von Plutarch ( Lykurg 25) so gut ausge- sprochenen Satze: „τους πολίτας μη βουλεσϑαι, μηϑ̕ ἐπιστασϑαι κατ̕ ἰδιαν ζην.“ (S. Herrmann , Griechisches Alterthum, I. 27 und Montesquieu , V. 2.) Das atheniensische Eherecht bei Herr- mann ib. §. 119. Die ασχισιεία ist der griechische gesellschaft- liche Begriff der Familie (s. namentlich Note 12.) — Aristoteles hat in seiner Weise die ganze Frage vom rein politischen Standpunkt, speziell in ihrer Beziehung zur Verfassung aufgefaßt, und vielleicht ist der bezeichnete Abschnitt ( Pol. II. Capitel 6) der bedeutendste seines ganzen Werkes. Wie viel Jahrhunderte haben wir gebraucht, um auch nur so viel von der Bedeutung des Erbrechts und der Vertheilung des Besitzes , namentlich in den Händen der Frauen, zu erkennen, als dieser Mann schon damals zu sagen verstand! Und wie tief muß die Umgestaltung unserer Staatswissenschaft noch gehen, ehe wir ihn nur erst wieder vollständig erreichen! Noch immer sind wir in unserer Wissenschaft nicht viel weiter, als bis zu der schon von Montesquieu ausgesprochenen, von der deutschen Wissenschaft im vorigen Jahrhundert aufgenommenen Erkenntniß, daß das Uebermaß des Grundbesitzes in Einer Hand auch für die Bevölkerung schädlich sei, was schon Moser (Landeshoheit in Polizeisachen, S. 30 und 31) so kräftig ausspricht, und was dann von andern wie Winkler (Verkleinerung der Bauerngüter Seite 56), Berg (Staatswissenschaftliche Versuche, II. 22, und dessen Polizeirecht, Buch III. 2. 2) wiederholt wird, ohne zu einem systema- tischen Verständniß zu kommen. Hat doch auch das, was in meiner Geschichte der socialen Bewegung (Bd. I. Einleitung) über die organische Bedeutung des Besitzes gesagt und nachgewiesen wird, für die Staatswissenschaft bisher keine weiteren Forschungen hervorgerufen! Das Geschlechterrecht der germanischen Eheconsense unterscheidet sich indeß wesentlich von der alten Welt dadurch, daß der Sohn freier ist, während die Tochter völlig in der patria potestas steht, und „wegge- geben“ wird. Eine juristische Formulirung empfängt dagegen das ger- manische Recht erst mit dem Lehnsrechte, und dem Kampfe, den das spätere öffentliche Eherecht gegen dasselbe erhebt, und der dem letzteren seine so merkwürdige Doppelgestalt gegeben hat. Nur im Hagestolzen- recht erhält sich noch das alte Geschlechterrecht. Der Grundgedanke der letzteren, daß nicht der Einzelne, sondern erst die Familie die staatliche Persönlichkeit ist, erscheint in vielen aber dennoch vereinzelten Erschei- nungen, wie in dem Princip vieler Stadtrechte, daß die Verheirathung zu den öffentlichen Aemtern, zum Meisterrechte und andern Ehrenstellen Bedingung sein solle. Freilich verlor sich dadurch das Bewußtsein, daß es sich hier um eine sociale Frage handle, und diese wie so manche andere Sache sind vollständig in die eigentliche Jurisprudenz, wo sie durch Wernher ( Dissert. de jure Hagestolziatus, 1724) und besonders durch Ludewig zu einem eigenen juristischen Gebiet wird ( De Hage- stolziatu, 1727), später Freytag ( Hagestolziatus ex antiquitate illustratus, 1786), während sie fast gleichzeitig in dem Rechtssysteme ihren Platz findet. ( Selchow , Elem. pr. Germ., S. 290; Runde , deutsches Privatrecht, 559.) Das Hagestolzen recht verschwindet mit dem Anfange des vorigen Jahrhunderts, theils durch ausdrückliche Gesetze wie in Brandenburg 1731, Braunschweig-Wolfenbüttel 1727, aufge- hoben ( Berg , Polizeirecht, Bd. III. 2. 2, S. 25), theils ist es „heutzutage größtentheils abgekommen und wird meist noch unter den Bauern (den Resten der Geschlechterordnung!) und Leibeignen (über- gegangen auf die Grundherrschaft) in einigen Orten angetroffen.“ ( Fischer , Cameral- und Polizeirecht, I. §. 569.) Doch will Süßmilch noch die Hagestolzen nicht dulden (Cap. II. §. 233), und noch Luden in seinem Handbuch der Staatsweisheit oder Politik ( I. 404) sie be- strafen. Gerstner (S. 214) hält es noch für gut, diese Vorstellungen zu bekämpfen. — Hugo Grotius trägt dann die Frage nach dem Recht des väterlichen Consenses ins Naturrecht hinüber, und seine Ansicht darf als diejenige angesehen werden, durch welche sich das neue staatsbürgerliche Princip des vormundschaftlichen Consensrechts des Vaters von dem alten strengen des Geschlechterrechts scheidet. „Quod autem a Romanis aliisque constitutum est, ut quaedam nuptiae quia consensus patris defuit, irritae sint, non ex natura est , sed ex juris conditorum voluntate,“ (de Jure Belli et Pacis, II. V. 10). Dann: conjugia contrahere cum populo negari non potest, nisi delictum praecesserit (II. ii . 21). Dabei erkennt er das kirchliche Eherecht voll- kommen an. Von da an verschwindet der alte Standpunkt, ohne daß man ihn eigentlich recht verstanden hätte. Die Frage dagegen nach der Ehe zwischen Freien und Unfreien bleibt; sie gehört aber eigentlich nicht ins Geschlechterrecht, sondern in das ständische Eherecht, bei welchem wir darauf zurückkommen. II. Das öffentliche Eherecht der ständischen Ordnung. (Die drei Formen und Stadien derselben bis zur neueren Zeit: das Ehe- recht der ständischen Unterschiede, des ständischen Besitzes (Lehnrecht), und des ständischen Berufes.) Das öffentliche Eherecht der ständischen Ordnung ist nicht wie das der Geschlechterordnung ein an sich einfaches. Es erscheint vielmehr als ein zum Theil sehr ausgebildetes System von Rechtssätzen, und dieß System beruht auf den drei Elementen, welche den Inhalt der ständi- schen bestimmen, dem Elemente der Freiheit , dem Elemente des ständischen Besitzes , und dem des eigentlichen Berufes . Jedes dieser Elemente hat sein Eherecht erzeugt, und hat daher auch seine eigene Geschichte; von dieser Geschichte aber ist nur ein dem Umfange nach sehr geringer Theil in die staatsbürgerliche Ordnung übergegangen. 1) Das öffentliche Eherecht zwischen Freien und Unfreien. Das reine ständische Eherecht . Die Frage nach dem Rechte der Ehe zwischen Freien und Unfreien gehört erst dem germanischen Recht. Der römische Begriff der Sklaverei schloß natürlich die Ehe zwischen dem Ingenuus und servus aus, und sowohl die Pandekten als Constantin ( l. 3. 7. Cod. de incest. et inut. nuptiis 5. 5) und ihnen gemäß selbst Justinian ( l. 28. Cod. de nupt. 5. 4) sagen einfach „cum ancillis non potest esse nuptium.“ Allein das germanische Recht kennt zwar Unfreie, aber keine Sklaven, und die Ehe ist gleich anfangs eine christliche Institution. Damit entstand die Frage, ob hier eine Ehe stattfinden könne. Obgleich nun die alten strengen Geschlechter lange aufgelöst waren, blieb der Geschlechterstolz lebendig. „Claritas generis,“ sagt die Lex Wisig. V. 7. 17, bei der generosa nobilitas „sordescit commixtione abjectae conditionis,“ darum sollen solche Heirathen „verboten“ sein; man sieht deutlich den Einfluß der römischen Bestimmungen des Cod. Theod . („clara nobilitas indigni consortii foeditate inlescit“ T. p. m. 596. ed. Lugd. 1593). Dieß Verbot läßt aber im Grunde das Verhältniß nach einer solchen Ehe unentschieden. Daher treten andere Gesetze viel bestimmter auf. Der Zorn der Geschlechter fordert bei den Longobarden den Tod bei der Frau ( L. Longobard. II. 9. 2. et illam, quae servo fuerit consor- tiens, habeant parentes potestatem occidendi — und thun sie es nicht, so soll der Gastaldus Regis sie zu den ancillis geben). Die Ripuarier lassen die Ehe bestehen, aber der Mann wird leibeigen mit seinem Weibe ( L. IX. T. 58). Die Lex Salica XXVII. 6. ist mit einer Buße von 111 solidis gegen den Herrn der ancilla zufrieden. Die Sachsen, bei denen das Geschlechterprincip sich am durchgeführtesten ausgeprägt zeigt, sagen: Nobilis nobilem ducat uxorum, liber liberam, libertus conjugator libertae, servus ancillae — wer aber ein Weib aus der höheren Ordnung nimmt, „cum vitae suae damno com- ponat.“ Das war der Standpunkt, den noch Meginhardt ( de mir. S. Alex. CI. op. Langebeck Script. R. Dan. II. 39, vergl. dazu Adam. Bremensis Hist. Eccl., Cap. V. p. 7. 8.) als geltendes Recht jener Zeit des 12. und 13. Jahrhunderts im Norden Deutschlands aufführt, während im Süden schon mildere Ansicht waltet. Schon die Capitu- larien sprechen die Gültigkeit des Satzes aus: „Quod Deus junxit homo non separet“ gegenüber den Scheidungen, welche die Herren über die Ehe ihrer servi vornahmen, und erkannten die Gültigkeit der Ehe ( etiamsi diversos dominos habeant, Cap. add. III. Bal. p. 806). Vergl. Laboulaye , Condition des femmes, p. 327—330 und unten. Diese letztere zeigt sich nun vorzüglich in den standesmäßigen Ehen in ihrem Recht, die sich eben nur auf die ständischen Unterschiede der Freiheit der Persönlichkeit beziehen; Grundsatz ist hier bekanntlich, daß die Kinder der „ärgeren Hand“ folgen und zwar hat das den doppelten Sinn eines socialen Rechts für den persönlichen Stand und eines wirthschaftlichen für das Erbrecht. Die Kinder können nicht das väterliche Erbe erwerben, namentlich da nicht, wo die Mutter unehelicher Geburt war ( Vitriar. Illustr. L. III. T. XX. §. 74). Alle diese Vorstel- lungen treten nun alsbald in schroffen Gegensatz zu dem Princip des Sacraments der Ehe einerseits, der Freiheit der Ehe andererseits (Hugo Grotius, s. oben). Beide forderten mit gleichem Nachdruck die Auf- hebung der Rechtsungültigkeit der Ehe zwischen verschiedenen Standes- gliedern. Der Streit über diese Frage ist ein sehr lebhafter und wird mit allen Waffen der Gelehrsamkeit geführt, bis sich der Begriff der „Mißheirathen“ feststellt und von dem der „verbotenen Heirathen“ scheidet. Pfeffinger hat ziemlich die ganze Literatur über diese Frage bis zum 18. Jahrhundert aufgeführt. ( Vitr. Illustr. III. T. XX. §. 74) Mit diesem Unterschiede tritt dann der Rechtssatz ein, daß durch den Standesunterschied keine Heirath überhaupt ungültig, sondern nur das Erbrecht der Kinder beschränkt werde, was dann gleichfalls allmählig von dem Vermögen überhaupt nur noch auf das Lehngut übergeht, und dadurch die Mißheirath zu einem Begriffe des lehnrecht- lichen Eherechts macht. Wie hartnäckig aber sich die strenge deutsche Geschlechterauffassung gegen diesen Satz, der in der That das Connu- bium für die ständischen Unterschiede herstellt, gesträubt hat, sieht man nirgends deutlicher als aus Vitriarius und seinem Illustrator, dem gewaltigen Gelehrten Pfeffinger . Der letztere, nachdem er alle Citate für und gegen die Freiheit der Ehe aufgeführt, und in der andern Stelle eine förmliche Politik des ständischen Eherechts gegeben, kommt zu dem Schlusse: „Nobilis cum Ignobili legitimum esse matrimonium arbitror (doch nur arbitror! 1731) natusque inde liberos iisdem gaudere praerogativis quibus alias libri ex aequali thoro“ wohlverstanden, wenn nicht bestimmte Gesetze ( consuetudo, vel lex provincialis ) entgegen stehen. Es dauerte also lange , ehe die heutige Idee der Gleichheit dem Princip der Freiheit in der Ehe folgte, bis endlich die erstere mit der staatsbürgerlichen Gesellschaft, vorzüglich aber mit dem Unterschiede des Lehnsbesitzes vom bürgerlichen Besitz verschwand und die rechtlichen Folgen der Ungleichheit bei völliger Freiheit in der Ehe nur noch in den fürstlichen Häusern (morganatische Ehe, Recht der Zustimmung des regierenden Hauptes) sich erhalten, und zu einem Theile des Staatsrechts werden. Wie sehr bedauern wir, daß Labou- laye in seiner gekrönten Preisschrift ( Rech. sur la Condition civile et politique des femmes 1842) nicht auch das ständische Connubium und dessen Geschichte in das Frauenrecht einbezogen und sich einfach an die Folgen der ungleichen Ehe für die Erbtheilung gehalten hat. Er hätte mit seinem großen Blick gewiß Bedeutendes geleistet. Wie richtig beur- theilt er den Geist des deutschen Volkes und Rechts in dem vorigen Jahrhundert: „En Allemagne la fusion des différentes classes de la nation ne s’est jamais complètement faite; la feodalité, affaiblie par le droit romain, s’est conservée neanmoins dans les privilèges et les coutumes de la noblesse; la bourgeoisie s’est cantonnée dans une législation speciale, en partie de droit romain et de droit con- tumier; les paysans ont conservé des coutumes qui ne sont celles ni des nobles ni des bourgeois“ und erst Napoleon hat diesen Zustand gebrochen (S. 308. 309). Nur daß es in Frankreich bis zum 19. Jahrhundert genau eben so aussah, trotz seiner Bemerkung S. 309. — Jedenfalls werden die obigen Andeutungen genügen, um darzuthun, daß die sociale Geschichte des Connubiums im germanischen Europa noch zu schreiben ist. Auch das Folgende hat nur den Werth auf die hervorragenden Punkte hinzuweisen. Aus der innern Behandlung ist mit der staatsbürgerlichen Periode die ganze Frage und leider mit ihr das historische Bewußtsein ziemlich gründlich verschwunden. Wir be- gegnen ihr nur noch im reinen bürgerlichen Rechte. 2) Das öffentliche Eherecht des Lehnwesens . Es versteht sich von selbst, daß dieser Theil des öffentlichen Ehe- rechts nicht anders von den beiden folgenden geschieden werden kann, als indem man ihn zurückführt auf das dem Lehnswesen zum Grunde liegende eigenthümliche Moment; und das ist eben der Besitz des Lehnsgutes . Ein Eheconsens des Lehnswesens als solcher ist daher nur insofern denkbar, als der Besitz des Vasallen die Eingehung einer Ehe von seiner Seite von dem Willen des Lehnsherrn dadurch abhängig macht, daß die Ehe selbst als Bedingung der Erfüllung derjenigen Ver- pflichtungen erscheint, die der Vasall mit dem Gute selbst übernommen hat. Und hier muß man in dem allgemeinen Ausdruck Lehnsherr zwei wesentlich verschiedene Verhältnisse unterscheiden. Das erste ist das des Lehnsherrr zum eigentlichen Vasallen, der selbst ein freier Mann ist. Ueber die Ehe dieses freien Mannes hat der Lehnsherr nichts zu entscheiden; wenn aber dieselbe keine standes- gemäße war, so war die Verleihung des Lehns an die Kinder damit ursprünglich nicht thunlich; erst die spätere Zeit machte die Erhaltung des Lehns möglich. Eine direkte Bewilligung der Ehe von Seiten des Lehnsherrn fand nicht statt. Wenn aber das Lehn auf die Tochter fällt, so hat der Lehnsherr das Recht des väterlichen Vormundes, die Tochter nach seinem Willen zur Ehe zu zwingen, wenn sie nicht ihr Lehn verlieren will. Die Härte dieses namentlich in England scharf ausgeprägten Grundsatzes verliert sich erst in der spätern Zeit, in Eng- land durch das berühmte Gesetz ( Stat. 24, C. II. 12), das von Macaulay ( History of England, C. II. ) so gut charakterisirt wird. Dahin gehört auch die Frage bei Vitriarius : Si primogenitus sit natus ex Ple- beja, Secundogenitus ex Illustri, quis Appanagiatus fieri debeat? Non conveniunt. III. XX. 74. — Das zweite Verhältniß ist das des Unfreien, der auf unfreiem Boden sitzt. Grundsatz war hier, wie der Grand Coustumier (Paris 1539) sagt (fol. 75): „telles personnes serves ne se peuvent marier avec une personne d’autre condition et en autre justice (d. h. deren Besitz einer andern Grundherrlichkeit angehört) sans le congé de leur seigneur.“ Der Grund dieser Be- stimmung war hier nicht die Unfreiheit, sondern eben das Recht auf den Besitz der „serfs“, das durch die Eingehung der Ehe beeinflußt werde; sie erscheint daher als eine ganz consequente. Offenbar sind die Bestimmungen der alten deutschen Rechte, nach denen die Fürsten und Könige sich anmaßten, die Töchter ihrer Bürger willkürlich zu verhei- rathen (als Lehnsherren), nur Consequenzen des Rechts der Herren über die Frauen. Die jungen Städte schützten sich oft dagegen durch eigene Privilegien, wie das Privilegium von Wetzlar von Kaiser Richard: „quo inter alia pollicetur, se civium de Wetzlaria filias, neptes aut consanguineas aliis in uxores tradendas sine libera eorum voluntate non adacturum“ ( Guden Syllog. I. 473). Ueber die spätere Form dieses Rechts vergl. Moser Landeshoheit und Classe der Unterthanen, S. 119. Jenes Eheconsensrecht hieß in Frankreich „formariage“ . Vergl. über dasselbe Laboulaye , Condition des femmes, p. 325 sq. — Wir glauben jedoch auf dieß ganze Verhältniß hier nicht weiter ein- gehen zu sollen, da dieser Theil des Rechts der Eheconsense vollstän- dig mit der Grundherrlichkeit verschwunden ist und nur noch der Ge- schichte angehört. Um so wichtiger ist der folgende, der bis in unsere Zeit allerdings auf das Tiefste hineingreift. 3) Das öffentliche Eherecht des ständischen Berufes . Das germanische Leben hat den Beruf nicht bloß ethisch, sondern auch praktisch am tiefsten von allen Völkern aufgefaßt. Während die Idee und das Recht desselben im Orient zur völligen Unfreiheit der Kaste erstarrt, und die alte Welt, auch hier im Gegensatze zu derselben, zu gar keiner Anerkennung desselben gelangt, hat die Geschichte des Be- rufs in der germanischen Welt im Allgemeinen die Aufgabe unternom- men und zum größten Theil gelöst, den Beruf einerseits zu einer ge- sellschaftlichen, mit eigenem Willen und eigenem Recht versehenen Orga- nisation zu erheben, und anderseits der individuellen Selbstbestimmung in demselben ihre möglichste Freiheit zu erhalten. Von jeher ist nun, wie es in der Natur der Sache liegt, die erste Bedingung dieser Frei- heit die freie Ehe gewesen. So wie sich daher der Beruf in der ger- manischen Welt zu organisiren begann, trat die Frage nach dem Ver- hältniß des Eherechts zu demselben naturgemäß in den Vordergrund und hat hier zwei Grundformen erzeugt, die, während der ständischen Zeit begründet, bis auf unsere Gegenwart dauern, jedoch in der Weise, daß die erste Form als das rein ständische Eherecht des Berufes an- gesehen werden muß, während die zweite den Uebergang zur staats- bürgerlichen Gesellschaft bildet und daher im Grunde das Eherecht des Berufes in der letztern bildet. Wir meinen das Cölibat und den militärischen und amtlichen Eheconsens. 1) Was zuerst das Cölibat betrifft, so muß man bei demselben festhalten, daß es der Ausfluß einer ganz bestimmten Auffassung des Berufes der Geistlichkeit ist, welche zum Wesen der katholischen Kirche, wie sie sich historisch gestaltet hat, gehört. So wenig das Cölibat ein- geführt ist, um die Zunahme der Bevölkerung zu hindern, so wenig wird dasselbe darum aufgehoben werden, weil seine Aufhebung diese Zunahme befördern würde. Hier ist das populationistische Element allerdings vorhanden, aber es bleibt ein ganz untergeordnetes; ganz andere, viel tiefere Motive greifen hier ein, und Montesquieu hat die Sache in L. XXIV und XXV auf ein ganz anderes Feld hinübergeführt. Die populationistische Seite des Cölibats ward jedoch im vorigen Jahrhun- dert vielfach speciell hervorgehoben, wie bei Justi II. 7. §. 246, der das Cölibat bekämpft, weil „die Regierung, um den Ehestand zu befördern — keine Grundsätze, Meinungen und Neigungen im Staate Wurzel schlagen lassen darf, welche den Ehestand in Verachtung bringen.“ Der Satz desselben, den er daran anschließt: „Jetzt, da derselbe ein Religionspunkt geworden ist, so ist es unmöglich, daß ein katholischer Regent denselben ohne Religions- änderung ausrotten kann,“ hat nun sofort die ganze Frage eigentlich aus der Bevölkerungslehre hinausgeschoben; so sehr, daß weder Süß- milch noch Malthus vom Cölibat reden, und die Folgenden es ganz bei Seite liegen lassen. Das Streben, wenigstens die möglichste Vermin- derung dieser berufsmäßigen Ehelosigkeit zu erzwingen, bleibt allerdings und wiederholt sich seit Justi bis auf die Gegenwart; mit Recht haben Rau (Polit. Oekonomie II. Abth. I. ) und Mohl (Polizeiwissenschaft I. S. 108 u. a. a. O.) und zuletzt Gerstner (Bevölkerungslehre S. 186) die Frage selbst für die katholischen Länder mit der Vertheilung der Seelsorge in Verbindung gebracht. Daß bei dem Cölibat die Grund- lage der Auffassung je nach der Confession eine wesentlich verschiedene ist und daher auch eine wesentlich verschiedene Behandlung erzeugt, ist natürlich. Die Arbeiten, die über diese Frage veröffentlicht sind, wie namentlich Theiner (Die Einführung der erzwungenen Ehelosigkeit bei den christlichen Geistlichen und ihre Folgen 2 Bde. 1828) und Carov é (Ueber Cölibatgesetze, 2 Bde. 1835) zeichnen sich durch eine große Gelehr- samkeit aus; namentlich hat Carov é das Verdienst, im zweiten Bande eine „vollständige Sammlung der Cölibatgesetze für die katholischen Welt- geistlichen“ und die neuern Gesetzgebungen und Bewegungen auf diesem Ge- biete mit aufgeführt zu haben (Bd. II. S. 611—736). Trotz alledem bleibt der Kern der Sache weder in der bloßen Sittlichkeitsfrage noch in der populationistischen Seite der Sache, sondern liegt offenbar in den Gesichtspunkten, welche der Cardinal-Staatssecretär Pallavicini dem Papst Pius VI. in den über die Aufhebung des Cölibats in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts gehaltenen Cardinalcongregationen vor- legte ( Theiner , Einführung ꝛc. II. Abth. 2. S. 1030—31). Wir be- merken hier nur, daß die Bedenken gegen die Ehe der Geistlichkeit sich immer auf zwei Hauptpunkte bezogen haben. Zuerst hat man das Cö- libat als eine Gefährdung der Sitte angegriffen, wobei nicht zu über- sehen ist, daß dieß auch geändert werden kann, und zwar theils durch die allgemeine Veredlung der Sitten, theils durch die Gesetzgebung. Ueber den letztern Punkt hat eigentlich Montesquieu in seiner schla- genden Weise das Beste gesagt, was sich hier sagen läßt. „Le célibat,“ sagt er ( L. XXIV. c. 7.), „fut un conseil du christianisme; lors- qu’on en fit une loi pour un certain ordre de gens, il en fallut cha- que jour renouveller — le legislateur se fatigua, et il fatigua la société.“ (Vergl. dazu M. Dupin , Bibliothèque des auteurs eccle- siastiques du sixième siècle. ) Die Beurtheilungen des Cölibats in seinen Folgen, wie namentlich die von Theiner, leiden in diesem Punkte wesentlich daran, daß sie als etwas exceptionelles und vorzugsweise der Geistlichkeit zur Last fallendes hinstellen, was doch in der Barbarei der ganzen Zeit lag, so viel Wahres und Ernstes auch in einem Gebrechen liegen mag, das sich selbst in diesem Stande Jahrhunderte erhielt. — Zweitens aber hat man, namentlich in neuerer Zeit (Carov é I. Seite 115 ff.), das Cölibat als ein Institut angegriffen, welches das stärkste Hinderniß zur Einigkeit zwischen Katholiken und Prote- stanten bildet ; und daran ist, so lange ein Cölibat besteht, nichts zu ändern . — Uebrigens liegt uns die Frage von dieser Seite zu fern, um weiter auf sie einzugehen. 2) Ein ganz anderes Gebiet betreten wir nun in dem militäri- schen und amtlichen Eherecht . Das Princip dieses Eherechts hat zu seiner allgemeinen Basis allerdings auch den Beruf, allein bei ihm wird die Ehe nicht wie bei der katholischen Geistlichkeit als im Wider- spruch mit dem Berufe, sondern an sich als in voller Zulässigkeit unter demselben angenommen. Allein der Waffen- und der amtliche Beruf fordern wie jeder dauernde Lebensberuf im eigentlichen Sinne eine Ein- nahme, und diese Einnahme wird daher zur Bedingung der Berufs- erfüllung. Hier ist es nun, wo die Frage entsteht, ob die Ehe, welche vermöge der aus ihr hervorgehenden Familie eine nicht mehr bloß dem Einzelnen, sondern der ganzen Familie entsprechende Einnahme fordert, bei diesem Berufe noch zulässig ist; und hier hat sich daher der Satz gebildet, daß die an sich freie Ehe nur dann innerhalb des Berufes zulässig erscheint, wenn die berufsmäßige Einnahme für die Familie ausreicht. Dieser Satz hat seine Anwendung gefunden auf den Wehr- stand , indem bei den Berufskriegern, das ist bei dem ganzen Körper der leitenden Personen im Heere vom Unterofficier an die Zulassung zur Ehe nur bei einer gewissen Höhe des Soldes stattfindet, und sonst nicht gestattet wird, wenn der Betreffende kein eigenes, vom Berufe unabhängiges Einkommen hat. Die Wissenschaft hat sich mit dieser Frage bisher wenig beschäftigt; doch bemerkt Justi a. a. O. II. Bd. 7. Hauptst. 1. Abschn.: „Die Meinung, daß man die Soldaten von der Heirath abzuhalten suchet, ist einer weisen Regierung keineswegs anständig“ — er will sogar einen Reichsthaler Prämie für den ver- heiratheten Soldaten! Natürlich ist mit der allgemeinen Wehrpflicht für die Gemeinen hier ein ganz anderer Gesichtspunkt maßgebend. Je- doch bleibt uns nichts übrig, als jeden unserer Leser zu bitten, die dar- auf bezüglichen Vorschriften seines eigenen Staates zu sammeln, da uns keine Quellen zu Gebote stehen. Es wäre immerhin von Wichtigkeit, dieß Eherecht zu constatiren, weil es dasjenige ist, das mit dem fol- genden allein aus der ständischen Epoche in die jetzige übergegangen ist. Die bisher für Oesterreich geltenden Grundsätze sind vollständig bei Stubenrauch (Verwaltungsgesetzkunde II. §. 341). Sie beruhen auf dem Heirathsnormale vom 10. Juni 1812 , das den Mittel- weg einschlägt, nur einen Theil (den sechsten beim Officiercorps) des Heeres zur Verheirathung unter schriftlicher Genehmigung der obern Stellen zuzulassen. — Das frühere Recht ist gut zusammengestellt bei Kopetz , österreich. Polizei-Gesetzkunde I. §. 120. Das neueste Heeres-Ergänzungsgesetz vom 29. September 1858 hat die Ehebewilligungen für das Militärwesen genau regulirt (§. 8.), und die Bedingungen der ausnahmsweisen Gestattung der Ehe aufgestellt. Bis 1860 hatten die Landesstellen das Recht, auf Grundlage des obigen Paragraphen ausnahmsweise die Ehebewilligungen zu ertheilen; dasselbe ist durch Verordnung vom 2. October 1860 den Kreisbehörden, Comi- taten und Delegationen übertragen. Was nun zweitens die Anwendung auf den Beamtenstand be- trifft, so sind die Grundlagen des für ihn geltenden öffentlichen, aus der ständischen Epoche in die gegenwärtige hinübergenommenen öffent- lichen Eherechts folgende. Das ganze amtliche Eherecht ist in Eng- land und Frankreich aufgehoben und besteht nur noch in den deut- schen Staaten. Hier ist es in der That als ein Einfluß der höhern Auffassung des Beamtenthums als eines sittlichen Lebensberufes anzu- sehen, die wir in der vollziehenden Gewalt (S. 342) als eine specifisch deutsche charakterisirt haben. Demgemäß fordern, wie wir glauben, die meisten, wenn nicht alle deutschen Staaten den Ehecon- sens der obern Behörde , um die Gewißheit eines den Beruf nicht störenden Auskommens zu haben, wenigstens für die niedern Amts- classen. — Das Recht Oesterreichs hat sich namentlich seit 1815 con- solidirt und steht noch auf dem damaligen Standpunkt. Nach der aller- höchsten Entschließung vom 12. Januar 1815 ist nämlich die Ehe der Beamten frei ; jedoch ist der frühere Grundsatz von 1802 für Finanzbeamte festgehalten, daß sie die Verehelichung melden ; für Militärbeamte (Verordnung vom 25. Nov. 1826), daß sie die Ein- willigung erhalten müssen, während nach Verordnung vom 31. Mai 1858 Unterlehrer an Volksschulen die Genehmigung der Schulbehör- den haben oder abgehen müssen (Stubenrauch §. 340). — In Preußen gilt ursprünglich der Grundsatz, daß umgekehrt jede Ehe der Beamteten genehmigt werden müsse (Anhang zum allgem. Landrecht II. 1. §. 70), was erst die k. Verordnung vom 9. Juli 1839 dahin begränzte, daß die Genehmigung nur bei solchen Beamten gefordert wird, die bei der Wittwenkasse receptionsfähig sind (Rönne II. §. 295). In Bayern müssen noch immer alle im unmittelbaren Staatsdienst Angestellten nach der Verordnung vom 2. Februar 1845 eine dienstliche Ehebewil- ligung erhalten ( Pözl , Verfassungsrecht §. 29). In Württemberg fordert die Dienstpragmatik §. 9 die Anzeige der Verehelichung, gibt aber auch der obern Behörde das Recht, die letztere zu verbieten, wenn „die Ehre des Staatsdienstes oder die ökonomische Lage des Dieners die Ehe unzulässig erscheinen ließe ( Mohl , württemb. Verwaltungsrecht §. 162). Von den übrigen Staaten fehlen die Quellen. Selbst Funke hat in seinen weitläuftigen Polizeigesetzen des König- reichs Sachsen (5 Bde. 1846) nichts darüber. — Das freieste Recht ist darnach das von Oesterreich; in allen andern Staaten ist der Beamte sehr abhängig von seinen Vorgesetzten. Warum nicht einfach die Alter- native aufstellen: entweder ist der Gehalt für eine Familie zu gering, und dann ist er selbst falsch, da das Amt kein Cölibat sein soll und kann — oder er ist es nicht , wozu dann noch Ehebewilligung? Und wenn es richtig ist, daß die Wittwe des Beamten standesmäßig leben muß, warum an die Stelle der an sich verkehrten Ehebewilligung nicht einfach die Verpflichtung zum Eintritt in eine Wittwenpensionskasse setzen? Hier ist offenbar in den meisten deutschen Staaten die ständische Epoche nicht überwunden, obgleich anderseits der Grundsatz, aus dem die berufsmäßige Ehebewilligung hervorgegangen ist, als ein an sich edler und berechtigter angesehen werden muß. III. Das öffentliche Eherecht der polizeilichen Epoche und seine gegen- wärtige Gestalt. Wenn das öffentliche Eherecht der polizeilichen Epoche in Deutsch- land, eben so wie es in England und Frankreich der Fall ist, mit dem Auftreten der verfassungsmäßigen Verwaltung und der staatsbürgerlichen Gesellschaft verschwunden, und das freie Eherecht an seine Stelle getre- ten wäre, so würden wir hier sehr kurz sein können. Allein das ist nicht der Fall. Vielleicht gibt es gar kein Theil des öffentlichen Rechts, das speciell in Deutschland durch die Vereinigung von Freiheit und Un- freiheit ein so eigenthümliches Bild darbietet, und dessen positives Recht mit seinem neuen Wesen in so tiefem Widerspruche steht, als eben das deutsche öffentliche Eherecht. Dazu kommt, daß dieß positive Recht gleich- sam hoffnungslos von der Theorie seit fünfzig Jahren verlassen ist und daß bei großartiger sittlicher und philosophischer Auffassung die alte Unfreiheit des deutschen Eherechts sich zuletzt so zu sagen aus dem öffent- lichen Leben in das Geheimniß des örtlichen Gemeinderechts geflüchtet und sich hier hinter das ziemlich gemeine Interesse der Furcht vor der Armenunterstützung so fest verschanzt hat, daß, während England und Frankreich nicht mehr daran denken, eine Ehepolizei auszuüben, Deutschland trotz seiner immerhin bedeutenden verfassungsmäßigen Ent- wicklung namentlich die Mitglieder seiner niedern Classe einem Eherecht unterworfen hat, das fast allein noch die Begriffe und Zustände des vorigen Jahrhunderts in unserer Zeit, wahrlich nicht zum Frommen des gesammten gesellschaftlichen Zustandes, aufrecht erhält. Selbst die Wissenschaft, die überhaupt in ihrer Bekanntschaft mit den örtlichen deutschen Zuständen sehr schwach ist, scheint zu schweigen. Um so noth- wendiger ist es, dieser Frage alle Aufmerksamkeit zuzuwenden. Wir müssen auch hier historisch vorgehen. Um den Zustand des gegenwärtigen Eherechts in Deutschland recht zu verstehen, muß man zunächst die große Thatsache festhalten, daß die staatsbürgerliche Gesellschaft Deutschlands mit dem 16. Jahrhundert in ihren beiden Erscheinungen fast gleichzeitig und fast mit gleicher Kraft auftritt. Die erste dieser Erscheinungen ist die städtische Gemeinde, das Stadtbürgerthum, das sich zum Staatsbürgerthum entwickeln soll; die zweite ist die amtliche Verwaltung, welche von dem belebenden und er- hebenden Elemente der jungen Staatswissenschaft durchdrungen ist. Beide greifen auf allen Punkten in die Bildung des öffentlichen Rechts ein; namentlich auch im öffentlichen Eherecht . Scheinbar nun sollten beide, wenn auch auf verschiedenen Wegen, das Gleiche, dieselben Principien dieses Rechts vertreten und erzeugen. Dennoch ist das nicht der Fall. Im Gegentheil sehen wir zwar einerseits die amtliche Ver- waltung das Ihrige thun, und nach langem Kampfe der Ehe ihre na- türliche Freiheit gestatten; dagegen aber hält das Stadtbürgerthum an einer höchst beschränkten Auffassung fest, deren Grundlage wir darlegen werden, und so entstehen zwei Grundformen des öffentlichen Eherechts, die sich bis in unsere Gegenwart in Deutschland erhalten haben. Wir wollen versuchen, ehe wir auf das positive Recht eingehen, den Charakter derselben zu bezeichnen. Was zunächst das amtliche oder lieber staatliche Eherecht betrifft, so sehen wir in ihm den ganzen Geist der Verwaltung im Kleinen ab- gespiegelt. Das Amt will die Wohlfahrt des Ganzen wie des Einzel- nen. Die Ehe ist eine der großen Bedingungen derselben. Die Ver- waltung steht daher keinen Augenblick an, in das Recht der Ehe einzu- greifen, nicht aber ohne sich von ihrem Princip und von ihrer Aufgabe in ihrer Weise Rechenschaft abzulegen. Der ganze Charakter dieser Epoche begründet nämlich zuerst die allgemeine Forderung der Verwaltung, daß das Recht auf die Ehe von den Folgen derselben für die Volkswohlfahrt bedingt sein müsse . Sie erkennt, daß die Ehe für die letztere ein höchst mächtiger Faktor ist, und beginnt daher über jene Folgen nachzudenken. Mit diesem Nachdenken entsteht dann das, was wir als theoretische Bevöl- kerungslehre oben bezeichnet haben; die Anwendung derselben aber auf das Eherecht ergibt sofort einen naheliegenden Gegensatz, der sich als- bald in einer eigenthümlichen, nur durch jenen historischen Gang der Dinge erklärbaren Doppelrichtung des Verwaltungsrechts ausdrückt. Einerseits nämlich ist die Ehe die Grundlage der Bevölkerung, und diese die Grundlage der Macht; und es folgt daher, daß die Ehe durch die Verwaltung so viel als möglich befördert werden muß. Ander- seits ist die Ehe zugleich der Quell unendlich vielen Unheils, namentlich aber der Verarmung, ja auch der Ungesundheit, und muß daher unter Umständen verhindert werden. Wie die Ehe daher selbst zwei Arten von Folgen für das gemeine Wohl hat, so fordert sie auch zwei Classen von Maßregeln; sie fordert eine Beförderung der Ehe zum Zwecke der Beförderung der Bevölkerung, und eine Verhinderung derselben zum Zwecke des Schutzes der öffentlichen Wohlfahrt. Anstatt nun hier die höhere Natur der Sache durch sich selbst wirken zu lassen, glaubt die Verwaltung, daß es ihre Aufgabe sei, zu entscheiden, ob eine Ehe in die erste oder die zweite Classe gehöre; und um diese Aufgabe zu lösen, erzeugt sie sich ein förmliches System von Grundsätzen und Vorschriften über das Einschreiten der Verwaltung im Ehewesen, und dieses System ist es, das wir das öffentliche Eherecht der polizeilichen Epoche nennen. Dasselbe hat daher, dem obigen gemäß, zwei Theile. Der erste enthält die administrativen Beförderungen der Ehen, der zweite die administrativen Eheverbote . So wunderlich die Bestimmungen, die aus diesen Standpunkten hervorgehen, auch im Einzelnen erscheinen mögen, so natürlich erklären sie sich dennoch aus dem obigen Princip. Und am Ende ist das Schicksal dieser amtlichen Auffassung auch ein leicht verständliches. Während im vorigen Jahrhundert jene beiden Auf- gaben für die Verwaltung noch als ganz natürliche feststehen, verschwin- den sie mit dem gegenwärtigen. Die großen Entwicklungen der Wis- senschaft, namentlich der Bevölkerungslehre, zeigen mehr und mehr, daß ein Eingreifen von Seiten des Staats hier nicht zum gedeihlichen Er- folge führt. Die amtliche Verwaltung als solche beginnt daher, wenn auch nur langsam, ihr früheres Auftreten erst zu mildern, dann ganz aufzugeben. In England und Frankreich verschwindet das polizeiliche öffentliche Eherecht vollständig, und nur die elementaren Verhältnisse desselben, wie wir sie unten darlegen werden, erhalten sich. Aber in Deutschland ist das anders, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sich hier das alte Stadtbürgerthum mit seiner örtlich beschränkten Auf- fassung und seinen Sonderinteressen erhält. Hier gibt es daher — ein- zig in der Welt! — noch ein öffentliches Eherecht der Gemeinde . Und dieß nun bildet die zweite der oben erwähnten Formen des öffent- lichen Eherechts. In höchst merkwürdiger Weise hat diese zweite Form selbst auf die Theorie eingewirkt. Sie läßt das Eherecht in der reinen Staatswissenschaft fallen, und hält es dagegen im positiven Recht fest, ohne ihm doch seine angemessene Stellung zu geben. Der tiefe Wider- spruch, der in diesen Zuständen liegt, wird meistens mit Stillschweigen übergangen; nur in einzelnen Fällen bricht sich die freiere Auffassung Bahn; aber der der deutschen Rechtsbildung überhaupt eigenthümliche Particularismus hält in Verbindung mit sehr greifbaren Ortsinteressen noch immer an dem alten Recht fest, und so entsteht der Zustand, den wir unten näher bezeichnen werden. Wir werden nun das öffentliche Eherecht dieser Epoche in seiner Entwicklung bis zur Gegenwart in das Recht der Beförderung der Ehe, und das Recht der Verhinderung derselben theilen. 1) Die polizeiliche Beförderung der Ehe und die Kinderprämie. Wir haben schon im Eingange hervorgehoben, daß die Zeit, welche eine unmittelbare Beförderung der Ehen ihrer Natur nach am meisten hervorruft, stets eine solche ist, in der es sich um die militärische Macht des Staats handelt; aus naheliegenden Gründen. Es ist dabei ziemlich gleichgültig, ob es sich dabei um Despotie, Republiken oder königliche Staaten handelt; aber eben deßhalb ist es auch nicht so sehr die Ehe selbst, um derentwillen man jene Maßregeln ergreift, sondern es ist vielmehr die Erzeugung von Kindern , im Stande, die Waffen künftig zu tragen, die man durch die Ehe fördern will. Daher stehen Beförderung der Kindererzeugung und die der Ehe selbst stets mit einander auf gleicher Linie und es ist historisch und systematisch falsch, sie zu scheiden. Andererseits ist es aber auch klar, daß, so wie der Gedanke einer Uebervölkerung am Horizonte der Staatswissenschaft erscheint, alle diese Beförderungsmittel gleichsam von selbst verschwinden und nur noch, wie es gegenwärtig der Fall ist, ein Scheinleben in der Theorie fort- setzen. Auf diesen Grundlagen beruht der Gang der polizeilichen Ehe- beförderung, und das Ganze, von dem wir hier reden, ist daher nur noch als eine historische Erscheinung, ohne andere Bedeutung für die Gegenwart, zu betrachten. Durch die Kenntniß des römischen Rechts und der Classiker hatte sich die Erinnerung an die römische Gesetzgebung zur Beförderung der Ehen, die Juliae regationes, wie Plautus sie nennt, lebhaft erhalten. Mit der Entstehung der großen Militärstaaten war es daher natürlich, daß dieselben daran dachten, einen gleichen Zweck mit gleichen Mitteln zu verfolgen. Hier wie auf allen andern entsprechenden Gebieten machte Frankreich unter Ludwig XIV. den Anfang, und Colbert ver- anlaßte das seiner Zeit so berühmte Edict sur les mariages von 1666, worin zwar die Ehen nicht wie bei der Lex Julia et Papia Poppaea geradezu befohlen wurden — ein Befehl, der zu seiner Grundlage doch immer nur dasselbe alte Princip der Geschlechterordnung haben konnte, aus dem die Bestrafung der Hagestolzen hervorging (s. oben) — sondern das vielmehr die Ehe wesentlich als Kinderzeugungsanstalten betrachtete, indem es theils für die frühe Ehe Steuerfreiheit, theils für die Zahl von Kindern Pensionen aussetzte. Schon Montesquieu ( L. XXIII. 27) hatte nicht viel Vertrauen zu diesem Gesetz, indem er in seiner geistreichen Weise fragt: was ein Gesetz helfen solle, das auf die Er- wirkung von „prodiges“ berechnet sei? obwohl Voltaire ( Siècle de Louis XIV. Ch. 29) sich von der Aufrechthaltung des Gesetzes viel versprochen hatte. (Vergl. Roscher I. §. 225.) Wir haben bereits früher bemerkt, daß schon Montesquieu die Entvölkerung mehr durch vernünftige Vertheilung des Besitzes und gute Gesetze als durch specielle Maßregeln bekämpfen wollte ( L. XXII. Ch. 28. 30). Die Idee und die Bedürfnisse der Zeit Ludwigs XIV. gingen indeß damals auf das übrige Europa über und in einem großen Theile desselben ent- standen Versuche, die Vermehrung der Ehen direkt und indirekt zu befördern, und selbst Kinderprämien aufzustellen. Besonders bezeichnend ist der Gang, den diese Bestrebungen in Oesterreich seit Maria Theresia nahmen. Die Gesetzgebung dieser Zeit suchte namentlich die Ehe von den Einflüssen der Grundherren frei zu machen, und sie dadurch zu fördern. Die wichtigste Verordnung, mit der diese Bewegung beginnt, ist die vom 13. Februar 1753. — „Die Obrigkeiten sollen ihren Unterthanen die Erlaubniß zur Verehelichung willig ertheilen — viel- mehr den Ehen alle Beförderung zuwenden;“ es wird ihnen ausdrücklich vorgeschrieben, „die zum Unterhalt der Verehelichten bestimmten und von ihnen gekauften Grundstücke nicht an sich zu ziehen.“ In demselben Sinne werden die Heirathsabgaben an die Obrigkeiten (Grundherren) herabgesetzt, und der Aufwand bei Heirathen verboten (Verordnung vom 16. Januar 1756 u. a.), sowie vorgeschrieben, daß auch die verhei- ratheten Gesellen zur „vollen Arbeit“ angenommen werden sollen (Ver- ordnung vom 1. September 1770). In Brandenburg (vergl. C. C. March, V. 3) wird Beschränkung des Trauerjahres unter Friedrich II. ver- ordnet ( Preuß , Geschichte Friedrichs II. S. 337), wie Roscher a. a. O. referirt. Zugleich aber nahm die neu entstehende Bevölkerungslehre die Sache in die Hand, und zwar anfangs unbedingt für das direkte Eingreifen der Verwaltung, wie Süßmilch (Capitel X. §. 215), der das hier aufgestellte System in den folgenden Capiteln des Weiteren ausführt, und in Capitel XI. und XII. namentlich auch die allgemeinen Gesichtspunkte, gute Sitten, Verhinderung des Luxus, Herstellung von Hebammenschulen u. s. w. als Beförderungsmittel der „allgemeinen Fruchtbarkeit“ aufführt, ohne jedoch von direkter Unterstützung zu reden. Justi , der auf gleichem Standpunkte steht, hat doch schon ernstliche Bedenken bei jener allgemeinen Fruchtbarkeit; er hat gesunden Sinn genug, zu begreifen, daß schon „sechs bis sieben lebendige Kinder lästig genug sind für den Vater, und daß die Fälle gar nicht so häufig sind, wo sich der Staat dadurch unerträgliche Lasten aufbürdet“ ( II. Buch, 7. Hauptstück, 2. Abschnitt, §. 252). Dagegen räth er sehr zur Her- stellung von Brautkassen , denen er ein weitläuftiges Capitel widmet ( ib. Abschnitt 3). Berg (Polizeirecht, Bd. III. 2. 2. S. 32) sagt schon von den letzteren, daß die meisten auf eine für die Theilhaber höchst traurige und nachtheilige Weise wieder eingegangen sind. Statt derselben hatte schon Hohenthal ( de Politia, p. 23) Wittwen- und Waisenversorgungen angerathen, dem Berg ( ib. p. 34) zustimmt. Im Uebrigen ist er selbst schon sehr unsicher über den Werth und Erfolg direkter Beförderungsmittel der Ehe, und will höchstens durch Sorge für Schwangere die Kindererzeugung schützen ( ib. p. 24 sq. ). Kopetz hat die österreichischen Versuche für Brautkassen aufgezeichnet ( I. §. 119 ff.). Bei Jacob und den Folgenden verschwindet das ganze Capitel, nachdem namentlich durch Malthus die ganze Bevölkerungstheorie auf die an sich wirksamen Gesetze der Bevölkerung zurückgeführt war. Man muß sich daher fast wundern, daß Mohl die Frage in seiner Polizei- Stein , die Verwaltungslehre. II. 10 wissenschaft ( I. Seite 112) wieder aufnimmt, dem selbst Gerstner folgt (Bevölkerungslehre, S. 180). Wir müssen das Ganze als einen über- wundenen Standpunkt ansehen. — Anders ist es mit dem Folgenden. 2) Die Ehebeschränkungen des vorigen und des gegen- wärtigen Jahrhunderts in Deutschland . Gleichzeitig mit dem Verwaltungssystem der Ehebeförderung entsteht nun, und zwar so weit wir sehen namentlich in Deutschland, ein System der Ehebeschränkungen , das in hohem Grade, wie schon oben angedeutet, für die ganze öffentliche Entwicklung bezeichnend ist. Das, was Geschichte und Wissenschaft hier zu erklären haben, liegt in der Frage, wie das an sich Freie, die Ehe, von der öffentlichen Gewalt auch ohne Rücksicht auf die Geschlechterordnung und die stän- dischen Ordnungen und Verhältnisse, rein aus dem Gesichtspunkte der staatsbürgerlichen Verwaltung, einer Reihe von Beschränkungen hat unterworfen werden können, die zum großen Theil in Deutschland noch gegenwärtig fortbestehen. Um diese Frage nicht bloß materiell, sondern ihrem innern Entwicklungsgange nach beantworten zu können, muß man allerdings festhalten, daß die Consequenzen der Ehe nicht bloß die Eheleute, sondern bis zu einem gewissen Grade die Gesammtheit betreffen. Diese Gesammtheit aber ist einerseits der ganze Staat , und andererseits ist sie die einzelne Gemeinde , der die Eheleute und mit ihr die Kinder angehören. Es ist daher natürlich, daß sich daraus ein doppeltes Recht jener Ehebeschränkung gebildet hat; die eine Seite desselben ist das administrative Ehebeschränkungsrecht im Sinne der staatlichen Verwaltung, die zweite Seite ist dagegen das Ehebeschränkungsrecht der Selbstverwaltung, oder das Eherecht der Gemeindeordnungen . Beide sind sehr verschieden, und haben auch ein sehr verschiedenes Schicksal gehabt. a) Die amtliche Ehepolizei . Die amtliche Verwaltung, auf ihrem höheren, eben bezeichneten Standpunkt stehend, nach welchem sie das Recht der Ehe zunächst und vor allem von den Folgen derselben für die Volkswohlfahrt abhängig machte, konnte für ihr Eingreifen in die Schließung der Ehe nur zwei Gründe annehmen, der eine war der wirthschaftliche , der zweite war der sanitäre . Die Ueberzeugung, daß die Ehe an und für sich zugleich ein für das Individuum entscheidendes wirthschaftliches Ver- hältniß begründet, und nur zu oft die wahre Ursache der Verarmung bildet, ließ den Gedanken entstehen, so weit thunlich diejenigen Verehe- lichungen zu hindern , bei denen die Verarmung als fast unbedingte Folge erscheinen müßte. Manche Staaten stellten sich daher die Auf- gabe, dergleichen Ehen amtlich zu verhindern; wie z. B. Württemberg schon im 17. Jahrhundert (1663) die niederen Klassen durch seine Be- amteten von „unzeitigen Heirathen“ abmahnen läßt (Roscher I. 402). In Oesterreich wurden die Ehen unter ganz armen Leuten direkt ver- boten. (Verordnung vom 3. März 1766.) Allein diese ganze Seite des amtlichen Eingreifens kam einfach deßhalb nicht zur rechten Entwicklung, weil, wie wir gleich sehen werden, die Gemeinden ohnehin schon, namentlich in den Städten, die Ehe aus naheliegenden Gründen bereits nur zu viel erschwerten. Der richtige Takt, der, wie man gestehen muß, die amtliche innere Verwaltung in Deutschland von jeher ausge- zeichnet hat, ließ dieselbe bald erkennen, daß es unter solchen Verhält- nissen nicht so sehr darauf ankomme, die Ehen zu beschränken, als vielmehr darauf, diese Beschränkungen, die sich durch die engherzigen Interessen der Gemeinden fast von selbst ergaben, nicht zu weit greifen, und aus einem Schutze der Volkswohlfahrt zu einem Hinderniß derselben werden zu lassen. Anstatt daher die rein administrativen Ehehindernisse weiter zu treiben, hat sich aus dem Zusammenwirken dieses Gesichts- punktes mit dem Folgenden vielmehr der Grundsatz, der noch gegen- wärtig gilt , ergeben, daß die amtliche Verwaltung sich die oberste Entscheidung über die Ehebewilligung und Verweigerung der Ge- meinden im Beschwerdewege vorbehielt; und so wiederholt sich auch hier die alte Erscheinung, daß diese amtliche Verwaltung gerade durch die Unterordnung der Selbstverwaltung die freiere Entwicklung vielmehr gefördert, als gehemmt hat. Dieß nun wird sogleich näher begründet werden. Etwas anders gestaltet sich dagegen die zweite Seite des amtlichen Verhältnisses zur Ehe, die vom Sanitätsstandpunkte ausgeht. Die amtliche Ehepolizei, wie man sie wohl nennen kann, hat hier zwei Ge- sichtspunkte ins Auge gefaßt, das Alter und die Gesundheit . Was zunächst das Alter betrifft, so hat die Verwaltung durch die Gesetzgebung sich zum Organ des natürlichen Verhältnisses gemacht, indem sie die Altersgränze der Ehe in allen Staaten feststellte, wobei die wirthschaftlichen Gesichtspunkte eben so wohl als die sanitären ein- greifen und mit der Mündigkeit zusammenhangen. Dieß nun fällt wesentlich ins bürgerliche Recht. Der specifische Gedanke der Bevölke- rungspolitik hat sich dagegen schon seit dem vorigen Jahrhundert der Frage zugewendet, ob die Ehe zwischen kranken Personen nicht ver- boten werden solle, und zwar damit die „Erbkrankheiten“ nicht auf die Kinder übertragen werden. Es ist der Beachtung werth, daß hier die Theorie an dem Wahne eines polizeilichen Verbotsystems festgehalten hat, während die Gesetzgebung gesunde Einsicht genug hatte, um das an sich Verkehrte und praktisch Nutzlose solcher Verbote zu erkennen und sie daher nicht einführte. Schon Jacob (Grundsätze der Polizeigesetz- gebung 1809) erklärt, „es scheint ein solches Verbot theils der Gerech- tigkeit zuwider, theils in der Ausführung so schwer zu sein, daß es lieber nicht gegeben werden müßte.“ (§. 110.) Berg hat den richtigen Takt, gar nicht davon zu reden. Die Gesetze unseres Jahrhunderts schweigen. Wenn die Schriftsteller über die Medicinalpolizei wie Frank u. a. dergleichen Verbote anrathen, so hätten sich Männer wie Mohl (Polizeiwissenschaft, §. 24) und selbst Gerstner (S. 188) nicht ver- leiten lassen sollen, weiter davon zu reden. Abgesehen von der prakti- schen Unausführbarkeit der Sache ist es ein so tiefer sittlicher Widerspruch, dem der durch Krankheit unglücklich genug ist, die Milderung seines Leidens durch die Ehe zu verbieten, und der Gattin es polizeilich un- möglich zu machen, den höchsten Beweis der persönlichen Aufopferung und Liebe zu geben, daß wir uns billig wundern, dieses Gebiet über- haupt noch nicht etwa in der Bevölkerungslehre — wohin es mit Recht gehört — wohl aber in der Verwaltungslehre erhalten zu sehen. — In diesen Sätzen nun sind die letzten der polizeilichen Epoche ange- hörigen Reste des älteren Eherechts enthalten. Der Geist derselben in neuerer Zeit ist ein wesentlich anderer, und es wird jetzt möglich sein, das System des öffentlichen Eherechts der neuen Gesellschaftsordnung zu bestimmen. Dagegen läßt sich ein anderes nicht läugnen. Jene Idee der medicinal-polizeilichen Verbote der Ehe war doch im Grunde nur ein, wenn auch schiefer Ausdruck der entstehenden Gesundheitsverwaltung. Sie erzeugte daher neben jenen unmöglichen Ansichten zugleich höchst positive und werthvolle Resultate, die sich namentlich in der Sorge einerseits für Schwangere und zweitens für ein gutes Hebammen- wesen zeigten. Diese Richtung in der Medicinalpolizei, die wir unten wieder aufzunehmen haben, hat sich vorzugsweise durch die Anerkennung Bahn gebrochen, die sie bei der Bevölkerungspolitik dieser Epoche fand. Alle Bevölkerungslehrer, von Justi und Süßmilch an bis auf Mohl herab — Gerstner hat sich ausgeschlossen — nehmen die Anstalten für Schwangere und Hebammenanstalten als einen integrirenden Theil der „Maßregeln für die Bevölkerung“ auf, und haben damit auf diesem Gebiet dauernde Resultate erzielt, um derentwillen man ihnen wahrlich leicht jene polizeiliche Ueberschwänglichkeit, die ohnehin kein praktisches Resultat hatte, verzeihen wird! Dieß nun ist das Verhältniß, in welchem die eigentlich amtliche Verwaltung als Ehepolizei sich zur Ehe gestellt, und ein polizeiliches Eherecht im vorigen Jahrhundert geschaffen hat, das mit unserem Jahr- hundert der besseren Einsicht gewichen ist. Man kann daher unbedenk- lich sagen, daß seit dem Beginne unseres Jahrhunderts das ganze Gebiet der amtlichen Ehepolizei verschwunden ist. Die Ehe ist dem Amte gegenüber frei , wenn sie auch der Familie und dem Berufe gegenüber noch den in der Natur beider liegenden Beschränkun- gen unterworfen bleibt. Und wenn es daher noch ein Recht der Ehe- beschränkung gibt, so ist dasselbe wie gesagt nur aus der engherzigen Auffassung der Gemeinde entstanden, die wir nunmehr leicht erklären können. b) Das Eheconsensrecht in den Gemeindeordnungen . Allerdings sind die Städte in Deutschland wie in der übrigen Welt die großen Träger der persönlichen Freiheit, der staatsbürgerlichen Gesellschaft. Allein für die Gestalt, welche die Selbstverwaltung im Allgemeinen in ihnen annahm und die speciell für das Eherecht entschei- dend war, wurden zwei Verhältnisse maßgebend, die wir hier schon hervorheben, weil sie auch für andere Gebiete der Verwaltung entschei- dend geworden sind. Zuerst werden sie durch den Kampf mit den andern Ständen selbst zu einem Stande, und die städtische ihrem Wesen nach freie Arbeit wird dadurch selbst zu einer unfreien, ständisch be- schränkten Berechtigung. Nicht der Mensch, sondern nur der „Bürger“ hat das Recht zum gewerblichen Verdienst. Zweitens aber sind diese Städte selbständige Verwaltungskörper, welche alle Aufgaben der Ver- waltung, also auch die Verwaltung des Armenwesens für ihre Gemeinde- mitglieder besorgen, und die mithin eben vermöge ihrer Selbständigkeit auf die eigenen Mittel angewiesen waren. Es folgte daraus, daß die Angehörigkeit an die Stadt als solche dem Einzelnen sehr wesentliche Rechte gab, und der Stadt sehr wesentliche Verbindlichkeiten auferlegte. Damit erschien es denn freilich ganz natürlich, daß die Stadt auf den Akt, der diese Rechte und Verbindlichkeiten erzeugte, einen Einfluß haben mußte. Unter den Akten aber, durch welche dieß geschah, stand nun das Eingehen der Ehe offenbar in erster Reihe. Und wie es daher ganz natürlich erschien, daß die Stadt sich über die direkte Aufnahme von einem Angehörigen das Zustimmungsrecht vorbehielt, so schien es nicht weniger natürlich, daß die Stadtgemeinde das Recht in Anspruch nahm, auf die Eingehung der Ehe ihrer Angehörigen einen Einfluß zu nehmen. Das lag so sehr in der Natur der Sache, daß, als dieß städtische Ehebewilligungsrecht , wie wir es nennen wollen im Gegensatze zur amtlichen Ehepolizei, entstand, von gar keiner Seite, weder von den Organen der Verwaltung, noch von der Theorie aus, dagegen ein Einspruch erhoben wurde. Dieß städtische Eherecht ist deßhalb fast so alt, wie die Rechtsbildung der Städte, und es ist ein großer Mangel, daß die Wissenschaft ihm und seiner Geschichte so wenig Aufmerksamkeit zugewendet hat. Um nicht hier zu weit zu gehen, wollen wir uns darauf beschränken, die drei großen Grundformen dieses Eherechts, die zugleich die drei großen Epochen in der öffentlichen recht- lichen Stellung der Städte überhaupt bedeuten, hier anzudeuten. Die erste Form und Epoche dieses städtischen Eherechts beruhte auf dem Streben der Städte, an Volkszahl und damit an Kraft zuzu- nehmen. Die Folge war der ernstlichst vertheidigte Grundsatz, daß die städtische Angehörigkeit durch die Ehe mit einem Bürger gewonnen, und damit die Lösung von der grundherrlichen Abhängigkeit erzielt werde. In dieser Zeit wird die Stadt die Heimath der freien Ehe, wie sie die Trägerin der ursprünglichen Freizügigkeit geworden ist. Warum hat Mascher (Das deutsche Gewerbewesen von der frühesten Zeit bis auf die Gegenwart 1866) diese Verhältnisse nicht ernstlicher und auf die Quellen selbst zurückgehend an dem Punkte untersucht, wo er auf diese Frage zu sprechen kommt? Er hätte hier vielleicht nicht bloß einen Gedanken, sondern auch eine Thatsache zu den vielen hinzugefügt, die er in seinem sonst fleißigen Werke gesammelt hat? (Abschnitt III. Cap. 1 und 2.) — Natürlich aber kommt in dieser Epoche das eigentliche Eherecht nicht zu eigener Form; das beginnt erst in der folgenden Epoche. Diese zweite Epoche macht die Arbeit zünftig, und stellt unter den Bedingungen des selbständigen Betriebes das Angehören an die Stadt in die erste Reihe. Die Entscheidung über das letztere wird daher indirekt zu einer Entscheidung über die Theilnahme an dem zünftigen Gewerbebetrieb. Die Ausartung des Zunftrechts zu einem ausschließ- lichen Privilegium erzeugte daher die damals natürliche Folgerung, daß die Ehe, die jene Angehörigkeit erzeugte, nicht ohne Zustimmung der berechtigten Gewerbsmeister geschlossen werden dürfe. Anfangs mag dabei ein kräftiges ethisches Element zum Grunde gelegen haben; bald aber ward dasselbe vom kläglichsten Sonderinteresse des Zunftprivilegiums ausgebeutet. Der Sieg der Zünfte über die Geschlechter, der die ersteren zu Herren der Stadtverwaltung machte, gab ihnen das Mittel in die Hand, die darauf bezüglichen Rechtssätze in das geltende Verwaltungs- recht der Städte hineinzubringen, wo sie zwar nicht immer eine be- stimmte Formulirung fanden, aber doch in unbestrittener Geltung bestanden. Wir besitzen leider keine specielle Nachweisung über die Entwicklung dieser Seite des öffentlichen Gewerberechts, und wenn die gelehrten Franzosen wie Guizot, dessen Histoire de la Civilisation sich in die Geschichte der Commune de Beauvais verläuft wie der Rhein in den Sand Hollands — oder wie Amedee Thierry, dessen Geschicht- schreibung zur Hälfte Poesie ist, das nicht gethan, so dürfen wir Deutschen nicht viel schelten, da auch unsere Autoren, wie Raumer und in neuester Zeit wieder Mascher , von der inneren eigentlichen Ver- waltung der Städte in Finanz- und inneren Fragen gar wenig zu sagen wissen. Es muß uns an diesem Orte genügen, zu bemerken, daß sich mit dem 18. Jahrhundert die Kleinbürgerei und die Herrschaft der Sonderinteressen auch im Gebiete des Eherechts in einer Weise aus- bildeten, die uns das freiere Auftreten der amtlichen Verwaltung oder der „Polizei“ als einen frischen Luftzug gesunderer Entwicklung be- grüßen läßt; gegen Ende des vorigen Jahrhunderts sehen wir dann auch die Wissenschaft gegen jene kläglichen Beschränkungen zu Felde ziehen, und wie der Zustand, dem wir dort begegnen, ein elender ist, so rückt der Zeitpunkt immer näher heran, in dem er sich auflöst. In der That galt der, auf dem ganzen Gewerbe schwer lastende Grund- satz in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ganz allgemein, daß „unan- gesessene ledige Mannspersonen zur „bürgerlichen Nahrung“ nicht zuge- lassen werden. (S. auch Fischer , Polizeirecht, Band I. §. 1051.) Um nun dieselben ferner abzuhalten, stellten die Zünfte und die von ihnen beherrschten Magistrate unter andern eine Reihe widerrechtlicher Ein- schränkungen in Ansehung des Heirathens neben übermäßigen Geld- erfordernissen auf, und machten dadurch mit der Ehe zugleich das Ein- treten in die Zunft unmöglich. Ein klägliches Beispiel aus der Tischlergilde von Bremen erzählt Berg (Polizeirecht, Band III. 2. Auflage, S. 29). Allerdings wird diese Richtung des in sich zusam- menfallenden Zunftwesens energisch von der amtlichen Verwaltung be- kämpft, und das ist einer von den Punkten, wo die neue Wissenschaft die Polizei im Namen der edleren Menschenrechte auf das Lebhafteste unterstützt, und in seiner klaren und trefflichen Weise drückt Berg das aus: „Zwar muß die Polizei allerdings die rechtmäßigen Privilegien und die gültigen und vernünftigen Gewohnheiten der Handwerksinnungen ungekränkt lassen; aber daraus folgt nicht, daß sie in Ansehung unver- nünftiger und gemeinschädlicher Ansprüche und Gebräuche schlechterdings gebundene Hände hat, und alles beim Alten zu lassen verpflichtet ist“ — ein Satz, den schon Moser a. a. O. S. 30 gleichfalls anerkennt. Allein freilich konnte da in einzelnen Punkten keine Abhülfe gefunden werden. Es mußte eine ganz neue Gestalt der Dinge kommen. Diese nun kam; aber während sie mit der Revolution in Frankreich das ganze Zunftwesen beseitigte, ließ sie es in Deutschland bestehen, und mit ihm den Grundsatz, daß die Ehe auch jetzt noch keine freie sein könne. Nur gewinnt dieser Grundsatz jetzt eine neue, seine dritte Gestalt, und diese besteht in ihren Grundzügen noch gegenwärtig fort. Mit dem Auftreten der verfassungsmäßigen Epoche erscheint näm- lich, wie wir in der vollziehenden Gewalt dargelegt, der Grundsatz, daß die Gemeinde frei, daß sie aber auch das verpflichtete Organ für alle örtlichen Verwaltungsaufgaben sein müsse. Eine dieser Aufgaben ist die Armenunterstützung. Die Verpflichtung zur Armenunterstützung em- pfängt daher jetzt einen neuen Namen; sie heißt das Heimathsrecht . Jede Ortsgemeinde wird in dieser Gestalt des öffentlichen Rechts daher ein Verwaltungskörper für das Hülfswesen seiner Angehörigen. Hatte nun schon früher der Erwerb des Rechts auf Gewerbebetrieb durch die Ehe der Zustimmung der Gemeinden unterstanden, so schien es jetzt, wo die Armenunterstützung zur gesetzlichen Pflicht der Ortsgemeinde ward, nur natürlich und consequent, daß vermöge derselben auch bei der Ehe, durch welche das Recht auf die letztere erst gewonnen ward, der Ortsgemeinde eine Zustimmung gewahrt werde. Zwar wagte man nicht recht mehr, wie im vorigen Jahrhundert, diese Zustimmung auf die Zunftprivilegien und das Interesse des ausschließlichen Gewerbe- betriebes zurückzuführen, wohl aber ward dieß Sonderinteresse ein treuer Bundesgenosse des allgemeinen Gemeindeinteresses, sich so wenig als möglich Unterstützungspflichten durch Zulassung der Ehen Unbemittelter aufzubürden. Und als es daher jetzt galt, neue Gemeindeordnungen zu machen, reichten sich beide Faktoren die Hand, und sie zusammen haben das gegenwärtige öffentliche Eherecht Deutschlands, das wir, einzig in seiner Art, das Gemeindebewilligungsrecht der Ehe nennen müssen. Es ist uns nun zwar nicht möglich gewesen, alle Bestimmungen, die dahin gehören, und alle Quellen dafür aufzufinden. Allein das Wesentliche glauben wir dennoch beibringen und den Beweis liefern zu können, wie weit wir noch hinter den andern Nationen in dieser zwar speciellen, aber doch so wichtigen Frage zurückstehen. Im Allgemeinen beruht nämlich das deutsche Gemeinderecht der Ehebewilligung auf dem oft mit großer Naivetät ausgesprochenen Ge- danken, durch das Recht der Bewilligung der Ehe der Unbe- mittelten sich die Last der Unterstützung der Kinder dersel- ben fern zu halten . Es hat ein halbes Jahrhundert dazu gehört, um zu der Einsicht zu kommen, daß die Gemeinden, vorausgesetzt daß der Zweck richtig wäre, diesen Zweck eben durch die Mittel nicht erreichen , da die unehelichen Kinder genau dieselben Ansprüche haben wie die ehelichen. Und in der That hätte auch jener Standpunkt nicht durchgegriffen, wenn nicht die Exclusivität der bis in die neueste Zeit bestandenen Zünfte und Innungen fast mehr noch die Niederlassung zum Gewerbebetrieb, als die Verehelichung an sich zu verhindern getrachtet hätte. Eben deßhalb behaupten wir, daß dieser Rest des mittelalter- lichen Rechts erst dann ganz verschwinden wird, wenn das Gewerbe ganz frei sein wird. Vor der Hand besteht dasselbe jedoch, und die Hauptformen desselben sind, so viel wir sehen, folgende. Was zuerst Oesterreich betrifft, so war die Ehe mit dem ge- sammten Stande der Bauern bis 1848 unfrei ; jetzt dagegen ist sie frei , und Oesterreich steht daher jetzt auf demselben Standpunkte wie Preußen , wo die Eheverweigerung wegen mangelnden Auskommens den Eltern und Vormündern zugewiesen ist. Dabei hatten die Städte neben den Landgemeinden meistens ihr besonderes Recht; doch behielten sich stets die Beamten das Recht vor, eine endgültige Entscheidung dar- über auszusprechen, die meist im Sinne der freieren Bewegung ausfiel. Im Großen und Ganzen war nach Herzog (Systematische Gesetze über den politischen Eheconsens 1829) und Stubenrauch (Verwaltungs- gesetzkunde §. 339) der Gang der Gesetze folgender. Bis 1848 hatten die Inhaber der Patrimonialgerichte als Gemeindepolizeibehörden das Recht der Eheverbote, bis dieses Recht durch die Aufhebung der Unter- thänigkeitsverhältnisse (Patent vom 7. Sept. 1848) aufgehoben ward. Für diejenigen Reichstheile dagegen, welche in keinem solchen Abhängig- keitsverhältnisse standen (Städte ꝛc.), bestanden früher oft besondere Rechte der städtischen Obrigkeiten, bis dieselben durch Verordnung vom 12. Januar 1815 zunächst für Wien geregelt und dann allgemein ausgedehnt wurden. Darnach sind die Classen genau bezeichnet, welche keines Eheconsenses von Seiten der Behörden bedürfen; die übrigen müssen einen zur Ernährung der Familie ausreichenden Unterhalt nach- weisen. Die Gültigkeit dieser Grundsätze ist durch Erlaß vom 21. Juni erhalten worden. Specielle Vorschriften über die Verheirathung von Gesellen schon seit dem 22. December 1796. Ebenso sollen Vaga- bunden und Bettler vom Heirathen abgehalten werden. ( Kopetz , österreich. polit. Gesetzkunde 1807. I. §. 124.) Doch wird ein Recurs an die höhern politischen Behörden zugelassen. — Hier ist, wie man sieht, noch der ehepolizeiliche Standpunkt speciell für Erwerblose fest- gehalten, und zwar neben dem Standpunkt der Gemeindebewilligung. Ein ganz ähnliches Verhältniß findet statt im Königreich Sachsen . Hier sind alle Ehen vor dem 21. Jahre durch Mandat vom 20. Sept. 1826 verboten; ebenso Taubstummen, wenn sie nicht schreiben können (Mandat von 1820); doch kann von beiden dispensirt werden ( Funke , II. 991. 992). Nach dem Mandat vom 10. October 1826 sollen ferner Handwerksgesellen zur Ehe nur dann zugelassen werden, wenn sie von der Obrigkeit ein „ Zeugniß “ haben, daß sie dem „gemeinen Wesen nicht zur Last fallen werden,“ widrigenfalls man sie „ausdrücklich da- von abmahnen,“ eventuell „vom Orte (!) ganz wegweisen soll.“ Diese noch gegenwärtig geltenden Bestimmungen scheinen genügt zu haben, da das spätere Heimathsgesetz vom 26. November 1834 und die Armen- ordnung vom 22. October 1840 nichts weiter sagen; doch ist ganz ratio- nell die Verehelichung der Almosenpercipienten im §. 70 von der Bewil- ligung abhängig gemacht ( Funke , II. 552—555). — Für Württem - berg hat Hartmann die alten Gesetze über das Eherecht gesammelt (Ehegesetze des Herzogthums Württemberg), nach welchen die Ehen mit besonderer Rücksicht auf die Verarmung und damit dem gemeinen Wesen keine zu große Last auferlegt werde, nur auf Ermächtigung der Regie- rung und des Ehegerichts geschlossen werden konnten. Zwar ward nun diese Beschränkung durch Gemeindeverordnung vom 1. October 1807 auf- gehoben und im Entwurf des Bürgerrechtsgesetzes von 1828 nicht wieder eingeführt; allein die Localinteressen bekämpften diesen freien und vernünftigen Standpunkt schon in den Verhandlungen von 1828 (siehe Bitzer , Freizügigkeit S. 236) und brachten es dahin, daß die Regie- rung 1833 ein Ehebeschränkungsgesetz als Entwurf in die Kammer ein- brachte, und daß wirklich im revidirten Bürgerrechtsgesetze vom 4. Dec. 1833 bestimmt ward (Art. 42. 43), daß jeder „Bürger“ (!) sich vor seiner Verehelichung über einen genügenden Nahrungsstand auszuweisen habe. Dieser beschränkte Standpunkt hat sich unglaublicher Weise in Württemberg bis auf unsere Gegenwart erhalten ; das neue Eherechts- gesetz vom 5. Mai 1852 hat die Bewilligung der Ehe im Princip bei- behalten , auf Grundlage eines genügenden Nahrungsstandes! So ist über diesen constitutionellen freisinnigen Staat die ganze Entwicklung unseres Jahrhunderts spurlos hinweggegangen! Doch vernehmen wir, daß endlich die württembergischen Handelskammern um Aufhebung dieses mittelalterlichen Rechts eingeschritten sind ( Jahresbericht der württembergischen Handelskammern von 1864. Siehe auch Austria Nr. 36). Mohl schweigt; mit Absicht? — Bayern hatte die „Er- laubniß“ zur Ehe festgehalten aus dem vorigen Jahrhundert; das Ge- setz vom 12. Juni 1808, „die Beförderung der Heirathen auf dem Lande betreffend,“ gab das Recht der Bewilligung ganz in die Hände der „Obrigkeiten“ — wunderlicher Widerspruch! — ein Grundsatz, der dann in das Gesetz vom 17. November 1816 über das Armenwesen überging. Die gegenwärtige Gestalt dieses Rechts hat die Verehelichung rein vom Standpunkte des Heimathsrechts (s. unten) aufgefaßt, und sie daher als identisch mit der Ansäßigmachung betrachtet. Das geltende Recht in dieser Beziehung ist sehr engherzig (Gesetz über Ansäßig- machung und Verehelichung vom 11. September 1825, revidirt durch das Gesetz vom 1. Juli 1834). Kein Religionsdiener soll eine Trauung vornehmen, es sei ihm denn die obrigkeitliche Heirathsbewil- ligung vorgelegt, unter dem Rechtsnachtheile der Haftung für Schaden und Kosten , welche aus der Trauung für die Gemeinde erwachsen! Das Unausführbare dieses Gesetzes leuchtet auf den ersten Blick eben so sehr ein, als das Irrationelle desselben ( Pözl , Verfas- sungsrecht §. 29). Doch ist das Ganze nicht besser, als in dem viel „freisinnigeren“ Baden , wo gleichfalls die Aufnahme und Ansäßigkeit vom Gemeinderath und Bürgerausschuß versagt werden kann (§. 10), und die Verehelichung vom 25. Lebensjahre, einem Nahrungszweige und gar daneben einem Besitz von 100 bis 200 fl. abhängig gemacht ist (§. 1)! Das ist das Gesetz vom 15. Februar 1851. (S. Fröh- lich , die badischen Gemeindegesetze 1861.) Ganz ähnlich ist das Ehe- bewilligungsrecht im Großherzogthum Hessen (Gemeindeordnung vom 30. Juni 1821, Art. 42) bestimmt und durch das neueste Gesetz vom 19. Mai 1852, die Niederlassung betreffend, nicht geändert. Interes- sant ist der Gang, den dieß Recht in Hannover gemacht hat. Ein Rescript vom 27. Juli 1827 ( Eckhardt , Gesetze, Verordnungen und Ausschreibungen für das Königreich Hannover, 1840) besagt nur, daß keine Trauung vorgenommen werden darf, bis die kopulirenden Per- sonen die Erklärung der Commune, in der sie sich niederlassen wollen, mitbringen, daß dieselbe sie aufnehmen wolle ! Das wird durch Ausschreiben vom 21. September 1835 eingeschärft; das Ausschreiben vom 5. October 1840 hat dann die näheren Bedingungen festgestellt, unter denen jene Erlaubniß von den Obrigkeiten ertheilt werden darf — darunter die, daß die Betreffenden bisher eine „sparsame Lebens- weise“ geführt und daß sie — eine Wohnung gefunden haben! ( Bitzer , Freizügigkeit, S. 223—225.) — Wir müssen, wie gesagt, uns auf diese Beispiele beschränken. Aber sie genügen, um zu zeigen, daß das deutsche öffentliche Eherecht noch großentheils auf dem Standpunkte des vorigen Jahrhunderts steht, weit hinter dem Frankreichs und Englands, und daß wir erst dann die völlige Freiheit der Ehe, wie sie unsere Gegen- wart verlangt, haben werden, wenn wir einmal allgemeine und volle Gewerbefreiheit wie in Oesterreich und die neue Organisirung des Hei- mathswesens auf Grundlage der großen Armengemeinden, die noch allenthalben fehlt, besitzen werden. Es ist deßhalb nicht überflüssig, jetzt die elementaren Grundrechte der Ehe dieser historischen Entwicklung anzuschließen. IV. Die Elemente des freien öffentlichen Eherechts der staatsbürgerlichen Gesellschaft. (Grundlage desselben ist der Unterschied der Freiheit und der Beschrän- kungen der Ehe auch in dieser Gesellschaftsform. Die letzteren entstehen aus den Elementen der Geschlechter, der ständischen und der staatsbürgerlichen Ordnung.) Die gewöhnliche Annahme ist nun, nachdem die bisherigen Stand- punkte des öffentlichen Eherechts überwunden sind, daß die Ehe der staatsbürgerlichen Gesellschaft im Gegensatz zur frühern Zeit eine freie geworden sei. Es kommt darauf an, das richtig zu verstehen. Die völlige Freiheit der Ehe würde dieselbe, indem sie sie ganz der subjektiven Selbstbestimmung des Einzelnen überließe, überhaupt des öffentlichen Rechts entkleiden. Offenbar ist das weder der Fall, noch kann es das jemals sein. Die Ehe wird und muß stets das Moment des öffentlichen Rechts behalten. Und wenn man daher von der Freiheit der Ehe redet, so muß man sich den Inhalt dieser Freiheit nicht als einen völligen Mangel an Bestimmungen des öffentlichen Rechts, son- dern als System des Eherechts denken, das zu seinem rechtsbildenden Princip nur noch das Wesen der Ehe selbst hat. Die Freiheit der staatsbürgerlichen Gesellschaft besteht auch hier nicht in der Willkür, sondern in der Befreiung des Rechtsinstituts von Momenten, die außerhalb desselben liegen. Neben und in dieser Freiheit besteht das öffentliche Eherecht fort; und es wird darauf ankommen, in der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung die Freiheit der Ehe als die Be- freiung derselben von Rechtsbestimmungen, die außer derselben liegen, das öffentliche Eherecht dagegen als das System des durch das Wesen der Ehe selbst gesetzten öffentlichen Rechts hinzustellen. Und erst in diesem Sinne sprechen wir vom neuen Systeme des öffentlichen Ehe- rechts unserer Zeit. Die Grundlage dieses bisher zwar praktisch gültigen, aber nicht wissenschaftlich zusammengefaßten Systems des gegenwärtigen Eherechts ist nun folgende. Die Ehe ist ihrem Wesen nach einerseits ein Gut der höchsten, freien und sittlichen Selbstbestimmung des Einzelnen. Insofern sie als solche erscheint, muß sie dieser Selbstbestimmung überlassen, das ist eben frei sein. Sie ist aber andererseits ein Verhältniß, welches theils durch sich selbst, theils durch die aus ihr entstehende Familie für die Gemeinschaft in ihren verschiedenen Formen positive, und zwar wirthschaftliche Verpflichtungen erzeugt. Insofern sie dieß thut, wird sie von der Gemeinschaft und ihrem Willen nothwendig abhängig . Und das System des öffentlichen Eherechts ist daher die Bestimmung der rechtlichen Gränze, innerhalb deren diese Abhängigkeit der Ehe von der Gemeinschaft vermöge ihrer Verpflichtungen zur Geltung gelangt. 1) Die Freiheit der Ehe . Die Freiheit der Ehe in der staatsbürgerlichen Gesellschaft enthält den ersten Grundsatz, daß es in derselben keine Verpflichtung zur Eingehung mehr gibt; und zwar hat weder die Familie noch das Geschlecht das Recht, die Eingehung der Ehe von ihren Mitgliedern zu fordern . Die natürliche Consequenz ist, daß die Ehelosigkeit eben so frei ist. Die Rechtsordnung der Geschlechtsordnung ist auf diesen Punk- ten durch die staatsbürgerliche Gesellschaft aufgehoben. Der zweite Grundsatz ist der, daß die Ehe weder durch den Stand , noch durch den Besitz bedingt erscheint, sondern als höchste Einheit des individuellen Lebens durch den freien Willen der Gatten ein gemeinsames und für beide gleiches gesellschaftliches Verhältniß be- gründet. Die Idee der Freiheit hat sogar das confessionelle Recht über- wunden und die Ehe zwischen Mitgliedern verschiedener Religionsbekennt- nisse wenigstens in einem großen Theile Europas freigegeben. Das große Mittel zur Erreichung dieses Zweckes ist die bürgerliche Ehe , die zwar keine kirchliche, wohl aber eine rechtliche und sittliche Ehe gründet. Doch ist bekannt, daß dieser Theil der Freiheit der Ehe noch keineswegs entschieden ist, obwohl an dem Siege derselben nicht gezweifelt werden kann. Auf diesen Punkten ist die ständische Rechtsordnung durch die staatsbürgerliche Ehe überwunden. Der dritte Grundsatz ist, daß die Ehe kein Mittel für die Zwecke der Verwaltung, sondern ein rein persönliches Verhältniß sein soll. Das Eherecht hat daher, um es mit Einem Worte zu sagen, seinen populationistischen Inhalt verloren. Es gibt keine Ehe- und Kinderprämien mehr für die Ehe als solche; es gibt auch keine gesund- heitspolizeilichen Verbote mehr. Die Epoche des polizeilichen Eherechts ist nach diesen Seiten hin durch die neue Gesellschaft beendigt. Das sind die Grundsätze, welche die Freiheit der Ehe bilden. Sie sind insgesammt nichts als die Anerkennung der freien Selbst- bestimmung als Grundlage der Ehe. Neben ihnen stehen dagegen die folgenden Grundsätze. 2) Die Principien des öffentlichen Rechts der Ehe . Das öffentliche Eherecht der staatsbürgerlichen Gesellschaft enthält die Gesammtheit derjenigen Grundsätze, welche die Eingehung der Ehe trotz der principiellen Freiheit derselben beschränken . Es kann daher nie einen Zwang zur Ehe, wohl aber die Verhinderung derselben ent- halten. Und da nun die Ehe selbst nach allen Seiten hin in das Leben der Gemeinschaft eingreift, so ist auch dieß Eherecht kein einfaches, son- dern schließt sich naturgemäß an die Grundformen dieser Gemeinschaft, die Gesellschaftsordnungen, an. Und hier ist nun zugleich der erste Punkt, auf welchem wir den großen Grundsatz der Bildung der Gesellschaftsordnungen praktisch und rechtlich zur Erscheinung gelangen sehen, daß nämlich keine Gesellschafts- ordnung für sich besteht, sondern daß jede folgende die Elemente der vorhergehenden in sich aufnimmt, sie verarbeitet und sie so weit bestehen läßt, als sie durch das Wesen der Persönlichkeit gefordert werden, während sie von ihr nur diejenigen Ordnungen und Bestimmungen be- seitigt , die innerhalb der vorhergehenden Gesellschaftsordnung durch das Sonderinteresse erzeugt sind . Wir gelangen daher auch hier zu dem entscheidenden Princip der Gesellschaftslehre, daß die höchste Gestalt der Gesellschaft nicht etwa in der einen oder andern Ordnung für sich, und nicht etwa in dem Vorhandensein der einen oder andern Classe, sondern vielmehr in dem organischen Zusammenbestehen aller Ordnungen und Classen zugleich gegeben ist. Diese theoretische Wahrheit bestätigt das praktische Leben auf jedem Punkte; im praktischen Leben aber ist gerade die Rechtsbildung der immer aufs neue entschei- dende Beweis dafür. So im Allgemeinen und so natürlich auch speciell im Eherecht. Wir aber haben hier diesen Grundsatz besonders hervorgehoben, weil wir seiner in unsern folgenden Darstellungen beständig bedürfen, und uns auf ihn berufen werden. Das öffentliche Eherecht der staatsbürgerlichen Gesellschaft besteht daher und wird ewig bestehen aus den Beschränkungen der Ehe, welche das ewige Wesen der Geschlechterordnung, der ständischen Ordnung und der gesellschaftlichen Ordnung der freien Persönlichkeiten oder der staats- bürgerlichen Ordnung mit sich bringen. Die Grundsätze, welche das öffentliche Eherecht daher als dauernde aus den einzelnen Gesellschafts- ordnungen beibehält, und welche demgemäß den Inhalt des gegenwärtigen freien öffentlichen Eherechts bilden und bilden werden, sind folgende: a) Aus dem reinen Wesen der Geschlechterordnung und ihrer Grund- lage, der Familie, entsteht das Princip der Zustimmung der Eltern zur ehelichen Verbindung , und die Bedingung der Mündigkeit . Die Bestimmungen, welche die staatsbürgerliche Gesellschaft dafür for- dert, bilden einen Theil des bürgerlichen Rechts und gehören der Dar- stellung desselben an. b) Der Stand der staatsbürgerlichen Gesellschaft ist der Beruf, insofern er von der Gemeinschaft seine wirthschaftliche Existenz em- pfängt. Die beiden dauernd gültigen Formen desselben sind der Wehr- stand und der Stand der Staatsdiener. Das Verhältniß des öffent- lichen Eherechts zu beiden ist äußerlich verschieden; innerlich aber dasselbe . Unter dem Wehrstand in der staatsbürgerlichen Gesellschaft kann nämlich nicht die Gesammtheit der wehrhaften und damit wehr- pflichtigen Staatsbürger, sondern nur die Gesammtheit derer verstan- den werden, welche die Waffen zu ihrem Lebensberuf gemacht haben; unter dem Stande der Staatsdiener gleichfalls nicht jeder, der das Amt verwaltet, sondern nur die berufsmäßig gebildeten Staatsdiener. Für beide muß nun die Ehe nicht bloß frei , sondern sie muß auch wirth- schaftlich möglich sein. Allein da sie selbst der höchste Ausdruck der wirthschaftlichen Selbständigkeit ist, so kann sie auch nicht unbedingt für jeden Theilnehmer an diesem Berufe gestattet werden; es muß viel- mehr erst eine bestimmte Stufe des Berufes die wirthschaftlichen Be- dingungen der Ehe darbieten, oder es tritt das Recht zur Verehelichung erst bei dieser Stufe der militärischen und amtlichen Laufbahn ein. Daran schließen sich zwei Formen. Erstlich , daß die Eingehung der Ehe unterhalb dieser Stufe zwar frei ist, daß sie aber den Austritt aus der standesmäßigen Laufbahn zur Folge hat; zweitens , daß wenn der Betreffende die wirthschaftlichen Bedingungen der Ehe und Familie außerhalb seines standesmäßigen Einkommens hat, die Ehe auf jeder Stufe frei sein muß. Der Begriff und die Form einer eigentlichen „Bewilligung“ der Ehe widerstreitet dem Wesen derselben. Die Dar- stellung dieses standesmäßigen Eherechts gehört dem Militär- und Staats- dienerrecht an; die Gültigkeit desselben wird stets von der berufsmäßigen Auffassung des Standes bedingt sein. Daher ist in England gar kein Staatsdiener-Eherecht vorhanden, während das Militär-Eherecht bei den untern Graden durch den Mangel der allgemeinen Wehrpflicht viel strenger ist als auf dem Continent. Leider mangeln uns die Quellen, um diese Verhältnisse genauer zu verfolgen. Wir können nur das Be- dauern aussprechen, daß die noch immer auf Grundlage des bürgerlichen Rechts einseitig aufgefaßte Behandlung des Eherechts von Seiten der Jurisprudenz auch diesen Theil des bürgerlichen Verwaltungsrechts nicht in seinem Stoffe aufgenommen hat. Im Allgemeinen kann dasjenige als im Wesentlichen auch jetzt gültig angesehen werden, was wir oben unter der polizeilichen Epoche angeführt haben. c) Für die staatsbürgerliche Gesellschaft muß man nun zwei Ge- sichtspunkte wohl unterscheiden, den der Bedingungen der Ehe, und den der Ehebeschränkung . Was zuerst die Bedingungen der Ehe betrifft, so beruhen die- selben darauf, daß die Ehe als ein öffentlicher Akt betrachtet wird, und daß daher die öffentliche Mittheilung derselben als eine vom Gesammtinteresse geforderte Bedingung der Ehe erscheint, die für so nothwendig erachtet wird, daß in England und Frankreich die Ein- gehung, ja das Recht der kirchlich geschlossenen Ehe von der Vornahme derjenigen Akte abhängig gemacht wird, welche diese öffentliche Mitthei- lung nach dem Gesetze enthalten sollen. (S. unter Standesregister Frankreich und England.) Was dagegen die Ehebeschränkungen, soweit sie nicht auf Familien und Beruf beruhen, anbelangt, so kann die staatsbürgerliche Gesellschaft als solche nur Eine Ehebeschränkung enthalten und durch ihr Princip rechtfertigen. Es ist die, welche aus der Verpflichtung folgt, daß die Gemeinde die Familie erhalten muß, wenn das Familienhaupt es nicht vermag. Es ist nun klar, daß es äußerlich nur Ein entschei- dendes Merkmal gibt, um dieß Unvermögen der Ehegatten zu consta- tiren. Das ist die Thatsache der wirklichen Armenunterstützung . Es läßt sich daher nicht läugnen, daß die Verweigerung drr Ehe da berechtigt ist, wo die Ehegatten wirkliche Unterstützung empfangen; und dieß Recht dürfte auch wohl ein allgemein anerkanntes sein, obwohl es, soweit wir sehen, nur selten ausdrücklich festgestellt ist. Wo dagegen eine solche Armenunterstützung nicht vorhanden ist, da kann auch die Ehe nicht wegen der bloßen Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit der Verarmung nicht untersagt werden. Und hier ist der Punkt, wo die polizeiliche Epoche von der staatsbürgerlichen wenigstens in Mitteleuropa nicht ganz bewältigt erscheint; denn mit der staatsbürgerlichen Gesell- schaft ist zugleich das Bewußtsein des Classengegensatzes wach ge- worden, und hat die Furcht vor der Uebervölkerung erzeugt. Diese aber ist nichts als die Vorstellung von der unorganischen Zunahme der nichtbesitzenden Classe gegenüber der besitzenden ; und die Verwaltung der staatsbürgerlichen Gesellschaft glaubte sich verpflichtet, dieser, ihrer Gesellschaftsordnung eigenthümlichen Gefahr durch Verwal- tungsmaßregeln zu begegnen. Auf diese Weise ward es, allerdings unter unverkennbarer Mitwirkung großer gewerblicher Sonderinteressen, möglich, eine Reihe von rein wirthschaftlichen Eheverboten gegen Gesellen ꝛc. aufrecht zu halten (s. oben), deren Nutzlosigkeit in Beziehung auf die Erzeugung von unversorgten Kindern die Statistik genugsam nachgewiesen hat, während die Vorstellungen der früheren Epoche in manchen Staaten die bestehenden Vorschriften der früheren Epoche noch aufrecht halten. Es ist mit Bestimmtheit anzunehmen, daß diese Reste der früheren Zeit bald verschwinden werden. Das Mittel dafür ist offenbar die Einführung der bürgerlichen Ehe, die dazu bestimmt ist, nicht bloß die confessionellen, sondern auch die wirthschaftlichen Ehever- bote der früheren Epoche zu beseitigen. Wir erkennen dabei vollständig die edle Absicht an, wenn Männer wie Knies auch jetzt noch allerlei Vorschläge aufstellen, welche das Eingehen leichtsinniger Ehen, die zur Verarmung führen, von Guthaben in der Sparcasse, Betheiligung an Unterstützungsvereinen u. dergl. abhängig machen wollen. ( Knies , über Armenpflege und Heimathsrecht, Zeitschrift für Staatswissenschaft, 1853, Seite 323.) Allein wie man sich über die Erfolglosigkeit dieser Dinge täuschen, oder auch nur wie Bitzer , doch noch ein wenig zweifelhaft bleiben kann (Freizügigkeit, Seite 85—88), das verstehen wir in der That nicht, schon dem ganz unwiderleglichen Argumente der wilden Ehe und dem der unehelichen Kinder gegenüber, die kaum eine weitere Discussion zulassen. Eine andere Frage freilich ist die, ob die Er- leichterung der Ehescheidung nicht das einzig wahre und natürliche Mittel ist, der Ehe ihre wahre Freiheit — die Freiheit der Selbstbe- stimmung — zurückzugeben. Wir halten fest an der Ueberzeugung, daß die Zukunft des Eherechts nicht in den Bedingungen der Eingehung, sondern in denen der Auflösung der Ehe liegt. Dieß ist das, was wir als das System der Freiheit und der Ord- nung des öffentlichen Eherechts der staatsbürgerlichen Gesellschaft zu bezeichnen haben. Wir dürfen wiederholen, daß dasselbe in seiner Be- deutung und seinem Werth nur in seinem historischen Verhältniß richtig verstanden werden kann. Man kann wohl sagen, daß das öffentliche Eherecht unserer Zeit in dem obigen Sinne noch gar keine Literatur hat. Das was Mohl und Gerstner sagen, enthält ein principienloses Wohlmeinen, in dem beide Epochen vermischt sind. Die Verwaltungsgesetzkunden sind gezwungen, von früher her das formell Bestehende anzuführen, und die Frage unerörtert zu lassen, wie viel davon noch gegenwärtig beachtet wird. Man sieht aber schon aus dem Obigen, wie sehr es zu schiefen Vorstellungen Anlaß gibt, wenn z. B. Roscher sagt, daß man in Preußen, Frankreich und England auf jede obrigkeitliche Erschwerung der Ehe verzichtet hat (§. 258). Es ist klar, daß er dabei nur an den Bürgerstand im Besondern und nicht an die Bevölkerung als Ganzes gedacht hat. Die eng- lische Gesetzgebung hat sogar ganz ausdrücklich „jede Ehe für nichtig und un- gültig erklärt,“ welche ohne einen „ Erlaubnißschein “ des Registrars geschlossen wird (6. 7. Will. IV. 85. s. unten). Eben so ist sein Urtheil über die standes- mäßigen Ehebeschränkungen ( ib. N. 6) einseitig. Uebrigens hat die Theorie gerade auf diesem Gebiete viel gewirkt, und es ist wesentlich, den Gang dersel- ben vor Augen zu haben. Bekanntlich nämlich trat dem populationistischen Wunsche der polizeilichen Epoche nach möglichster Vermehrung der Ehe, den am meisten Süßmilch zum Ausdruck brachte, zuerst der Instinkt der Verwaltungen Stein , die Verwaltungslehre. II. 11 gegen leichtsinnige Ehen, und dann das von Malthus zur mathematischen Formel erhobene Gefühl der Gefährdung der Gesellschaft durch die Kinder des Proletariats entgegen, und es war, als sich zuerst lokale Uebervölkerungen zeigten, Gefahr vorhanden, daß die Regierungen aus socialen Gründen das System der Eheverbote auch in der staatsbürgerlichen Epoche nicht bloß beibe- halten, sondern auch noch strenger ausbilden würden. In der That wurden theils in den zwanziger und dreißiger Jahren die gesetzlichen Vorschriften wieder- holt und verstärkt, welche einen gewissen Vermögensnachweis als Voraussetzung forderten, wie in Württemberg (1833), Bayern (1828 und 1834), Kurhessen (1834), theils empfingen oder behielten die Gemeinden die Befugniß, die Ehen zu verbieten, wobei das Recht, sie wegen „Bescholtenheit“ zu untersagen, nur als eine Form erschien. Die Freiheit der Ehe war daher von dieser Seite ernstlich bedroht, und hier war es, wo die Wissenschaft sie zum Theil erhalten, zum Theil wieder erobert hat. Sie bewies nämlich, daß die Gefahr des indu- striellen Proletariats nicht in der Ehe, sondern in den Kindern liege, und daß das Verbot der Ehe gegen die Zunahme der unehelichen Geburten nicht nur nicht schütze, sondern sie vielmehr fördere. Schon Malthus wollte sogar die Ehe der Armen frei geben, nur sollte ihnen dann die Unterstützung entzogen werden. ( Princ. of Pop. IV. 8. V. 2.) Als ob das letztere möglich wäre! Die Weinhold’ schen Ideen haben nur noch den Werth der Curiosität. Da- gegen trat die Statistik mit dem entscheidenden Beweise auf, daß im Grunde die Zahl der Kinder von dem Recht auf Eingehung der Ehe unabhängig ist, so daß man für die Beschränkung der freien Ehe auch nicht einmal diesen Ersatz habe. Bei allem Streit hin und wider stellte sich denn doch zuletzt die entscheidende Wahrheit in den Vordergrund, daß sich das Maß der Bevölkerung am besten von selbst regle, und daß jedes Eingreifen von Seite der Verwal- tung diese naturgemäße Regelung nur stören könne. Sehr verständig ist das, was Rau II. 15, und nach ihm Roscher I. §. 258 darüber sagen. Von der Malthusischen Formel ist als allgemein anerkannt nur der Satz übrig geblieben, daß es die Dichtigkeit der Bevölkerung selbst ist, welche ihre Zunahme hindert. Und mit dieser Ueberzeugung wird dann auch das letzte Motiv eines polizeilichen Eheverbots, die Furcht vor der Uebervölkerung, definitiv aus der Verwaltungslehre verschwinden. II. Kinderpflege. Das was wir als Kinderpflege bezeichnen, ist die Sorge der Ver- waltung für das Leben der geborenen Kinder. Diese Aufgabe tritt erst mit der polizeilichen Epoche ein. Das Kind gehört der Familie, auch in der ständischen Ordnung. Erst als das Interesse an der Zahl der Bevölkerung zum Staatsinteresse wird, erzeugt es die öffentlichen Vor- schriften, welche die Erhaltung der Kinder bezwecken. Diese Vorschriften erscheinen daher mit dem vorigen Jahrhundert als integrirender Theil der Populationistik, und begleiten fast allenthalben die Theorien über das öffentliche Recht der Ehe. Allein schon damals zeigt es sich, daß sie, wenn sie auch mit ihrem letzten Zweck der Populationistik zufallen, doch mit ihrem ganzen Inhalt zwei andern Gebieten angehören; einer- seits dem Gesundheitswesen : dahin gehören die Vorschriften für Schwangere, für die Ernährung der Kinder, für Hebammenwesen u. a. — und dem Hülfswesen , dem namentlich das Waisen- und Findel- wesen angehört. Die Bestimmungen, welche die Bevölkerungspolitik in diese Gebiete gebracht hat, sind ohne Zweifel den übrigen untergeordnet; und wir werden sie deßhalb an ihrer Stelle behandeln, an der sich die populationistischen Tendenzen den höheren Gesichtspunkten der Verwal- tung von selbst einfügen. Schon Mohl hat die Kinderpflege mit richtigem Takt aus dem Bevölke- rungswesen weggelassen. Warum hat Gerstner sie wieder hineingebracht, zu wenig um sie zu erschöpfen, zu viel um durch sie nicht zu stören? — Es genügt, daß man des Zusammenhangs dieser Vorschriften mit der Bevölkerungspolitik sich bewußt sei. III. Einwanderung, Auswanderung und Colonisation. (Die Zurückführung derselben auf die Gesellschaftsformen und die Elemente der gesellschaftlichen Freiheit ist die Grundlage ihres Verständnisses im Allge- meinen, und ihres öffentlichen Rechts im Besondern. Folgerungen, die sich daraus ergeben.) Seit es eine Populationistik gibt, bilden Einwanderung und Aus- wanderung einen Haupttheil derselben. Wenn irgendwo, so scheint hier das Gebiet, in welchem die Verwaltung unmittelbar eingreifen, und durch ihre Maßregeln entweder die Bevölkerung vermehren oder ver- mindern kann. Und während daher einerseits die Theorie reichhaltig an Ansichten ist, ist die Gesetzgebung nicht minder reich an Vorschriften und Maßregeln, welche sich auf jene Verhältnisse beziehen. Zugleich aber scheint gar kein Theil der Verwaltung leichter zu verstehen als dieser, denn einfache Gebote und Verbote scheinen hier zu genügen, und der Erfolg scheint so bedeutend, daß es sich der Mühe lohnt, diese Verwaltung genauer zu studiren. Betrachtet man jedoch die Sache etwas näher, so sieht man bald, daß sie in einem andern Lichte erscheint. Wie Einwanderung und Auswanderung für sich, so haben auch Bestimmungen des öffentlichen Rechts von jeher über dieselben bestanden; aber sie haben in hohem Grade gewechselt . Und andererseits sind jene Bestimmungen aller- dings sehr zahlreich, aber dennoch ist es nicht zu verkennen, daß sie für jede Epoche eine gewisse Einheit bilden, auf einem gewissen einheitlichen Princip beruhen, das die ganze Verwaltung dieses Gebietes beherrscht. Das nun gilt auch für unsere Gegenwart, obwohl sie in Beziehung auf jenes Recht so wesentlich verschieden von der Vergangenheit dasteht. Und indem wir daher von der wissenschaftlichen Behandlung dieses Ge- bietes reden, müssen wir allerdings streben, jenen gemeinsam geltenden festen Boden für das Ganze zu gewinnen. Möge man es daher ver- zeihen, wenn wir auch hier versuchen, nach festen Kategorien der Wissen- schaft zu streben, um den dauernden Boden zu gewinnen, von dem aus die weiteren Forschungen gehen können. Es läßt sich schwer verkennen, daß die gegenwärtige Theorie über die obigen Fragen eine ziemlich haltlose, ja unbehülfliche ist. Während im vorigen Jahrhundert die Lehren der Wissenschaft ziemlich einig waren, und der Sache einen nicht geringen Nachdruck gaben, wissen die gegen- wärtigen nicht recht, ob die Frage nach Einwanderung und Auswan- derung noch Gegenstand der eigentlichen Verwaltungslehre sein, oder mehr im historischen, oder publicistischen Sinne behandelt werden soll, während die Gesetzgebung hier wie fast immer ihren ruhigen Weg fort- geht, durch jene Macht getragen, die wir sogleich näher bezeichnen werden. Es kann daher allerdings, wenn man die Bevölkerungslehre unserer Gegenwart ansieht, fast zweifelhaft erscheinen, ob denn dieser ganze Theil künftig noch der Bevölkerungspolitik substantiell angehören, und welche Stellung er in ihr annehmen soll. Und dennoch ist man sich einig, daß Einwanderung und Auswanderung zu den mächtigsten Faktoren des Weltlebens schon jetzt gehören, und vielleicht künftig noch mehr gehören werden, ohne doch zu einem Resultate darüber zu ge- langen, in welches Verhältniß dann die Verwaltung ihnen gegenüber zu treten habe. Dieß nun zu bestimmen , die Einwanderung, Aus- wanderung und Colonisation als ein bestimmtes, eigen geartetes, auf eigenen Grundlagen beruhendes Gebiet der Verwaltung hinzustellen , ist die eigentliche Aufgabe des Folgenden. Und hier werden wir aufs Neue gezwungen werden, unsern oft bezeichneten Standpunkt zu vertreten. Allerdings nämlich erscheinen sowohl Auswanderung als Einwan- derung zunächst als Akte der vollkommenen freien Selbstbestimmung, und die Gründe derselben scheinen wesentlich im rein individuellen Leben zu liegen. Allein jede Ein- und Auswanderung bricht zugleich fast alle persönlichen Beziehungen des Betreffenden mit seinem früheren Vater- lande ab, und knüpft neue für ihn an; sie ist in der That ein ganz neues Leben für ihn; sie hat eine Reihe ernster Voraussetzungen und ernster Folgen für ihn selbst und das was ihm am liebsten auf der Welt ist. Es wird daher keine Auswanderung stattfinden, wenn nicht in der Gesammtheit des Lebens, dem der Auswandernde angehört, eine tiefe und allgemeine Gewalt liegt, welche ihn zwingt, für das Gewisse, was er hat, nach einem Ungewissen zu streben. Und es ist klar, daß, je allgemeiner das Auswandern und Einwandern ist, um so allgemeiner auch die Wirkung jener Gründe und Zustände sein muß. Andererseits ist das Einwandern ein Akt, der ein ganz fremdes Element in die bis- herige Gemeinschaft aufnimmt, Verpflichtungen aller Art für die letztere erzeugt, und selbst Gefahren mit sich bringt. Die Aufnahme selbst hat daher eben so wohl in der bestehenden Ordnung der Gemeinschaft, in die der Einwanderer eintritt, ihre allgemeinen Voraussetzungen, als in derjenigen, die er als Auswanderer verläßt. Und es bedarf kaum eines Nachweises, daß die Verwaltung ihrerseits diese allgemeinen Voraus- setzungen der Auswanderungen und Einwanderungen nicht nur nicht ändern kann, sondern daß sie sich vielmehr ihnen anschließen muß. Es folgt daraus, daß das öffentliche Recht für Einwanderung und Aus- wanderung stets in seinen allgemeinen Grundsätzen wie in seinen ein- zelnen Bestimmungen den Ausdruck eben jener allgemeinen Zustände, eine specielle Manifestation des allgemeinen Charakters einer bestimmten Zeit bilden wird, der Auswanderung und Ein- wanderung erzeugt. Und dieß ist die erste allgemeine Grundlage für ein wissenschaftliches Verständniß des öffentlichen Rechts, das für beide correspondirenden Erscheinungen gilt. Die zweite Grundlage desselben ist nun der Satz, daß jene allge- meinen Zustände in der That nichts anderes sind und sein können, als die gesellschaftlichen Zustände , deren Bestand und Forde- rungen durch die Verwaltung zum öffentlich rechtlichen Ausdruck gebracht werden. Es ist daher kein Zweifel, daß jede der drei socialen Grund- formen, die Geschlechter-, die ständische und die staatsbürgerliche Gesell- schaftsordnung, nicht allein ihre eigene Einwanderung und Auswanderung, sondern auch ihr eigenes Ein- und Auswanderung srecht haben, und daß die Gesammtheit der in jeder Zeit geltenden Bestimmungen als ein Aus- druck der in ihr herrschenden Gesellschaftsordnung angesehen werden muß. In der That ist es nur so möglich, zu einer wirklichen Geschichte des Ein- und Auswanderungswesens und speciell der Colonisation zu gelangen, und den gewaltigen Proceß, den diese Bewegungen enthalten, als ein auf seine tieferen Grundlagen zurückgeführtes Stück Weltleben zu erkennen. Auch hier — wir müssen es wiederholen, obwohl wir recht gut wissen, daß wir noch mindestens zwei Generationen gebrauchen werden, um die Sache recht zu verstehen — wird erst das Verständniß der Gesellschaft uns die Ein- und Auswanderung verstehen lehren. Und dieß Verständniß wird sich für jeden einzelnen Ein- und Auswande- rungsproceß wieder auf den, mit dem obigen im engsten Zusammenhange stehenden, folgenden Satz begründen. Eine Bewegung der Ein- und Auswanderung kann nämlich immer nur zwischen solchen Ländern stattfinden, in denen die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst, sei es aus geistigen, sei es aus wirthschaftlichen Gründen, wesentlich verschieden sind . Denn es wird niemand die Heimath verlassen, der nicht hofft, anderswo etwas besseres wieder- zufinden. Wo daher nicht die rein physische Gewalt wirkt, wird die Auswanderung stets von der niedern Classe der bestehenden Gesellschaftsordnung oder von den in ihrer gesellschaftlichen Stellung Gefährdeten ausgehen, und die Einwanderung wird sich stets dahin richten, wo diese niederen oder gefährdeten Elemente der Gesellschaft auf eine höhere Stellung in der Gesellschafts- ordnung rechnen zu dürfen glauben. Während daher der Ur- sprung aller zur Ein- und Auswanderung gehörigen Bewegung stets in dem bestehenden und mächtig gewordenen Gegensatze in der Gesell- schaft zu suchen ist, wird die Richtung , welche diese Bewegung nimmt, stets von dem obigen Gesetze beherrscht sein. Und so erscheint dann jener so unendlich wichtige Proceß im Weltleben, den wir als Einwan- derung und Auswanderung bezeichnen, in der That nicht mehr als eine rein individueller und durch Ursache und Erfolg bloß abstrakt wich- tiger und interessanter, sondern er ist eine mächtige Erscheinung der ge- sellschaftlichen Welt, und einer der größten Beweise für das Wesen und die weltbeherrschende Kraft der Elemente, welche wir als Inhalt der Wissenschaft der Gesellschaft bezeichnen. Es wird nun schon hieraus klar sein, daß das, was in Ein- und Auswanderung der Verwaltungslehre und in derselben wieder der Be- völkerungspolitik gehört, im Grunde nur ein einzelnes, wenn auch nicht unwichtiges Moment an einem sich durch eigene Kraft vollziehenden Processe ist, und daß sich daher die Unbehülflichkeit einer Theorie, welche die Action der Staatsgewalt dabei in den Vordergrund stellt, fast von selbst erklärt. Wir müssen hier im Gegentheil noch einen wesentlichen Schritt weiter gehen, obwohl das Folgende nur einen Theil dieses Ge- bietes annähernd bestimmen und erfüllen kann. Wir müssen setzen, daß die Betrachtung und Darstellung des öffentlichen Rechts dieser Er- scheinungen, wenn sie ihren Zweck erfüllen und das letztere wirklich zum Verständniß bringen sollen, nur von dem folgenden Gesichtspunkt direkt oder indirekt ausgehen kann. Wenn nämlich jener innige, organische Zusammenhang zwischen dem Proceß der Ein- und Auswanderung und den drei Gesellschafts- ordnungen feststeht, so folgt, daß es gar kein allgemein gültiges Recht und kein allgemein gültiges Verwaltungsprincip für Ein- und Aus- wanderung geben kann und wird, sondern daß dieß geltende Recht und Princip in jedem Lande stets nur ein Ausdruck und organischer Theil des in in ihm geltenden gesellschaftlichen Rechts sein kann. Es hat daher, wie wir das sogleich näher andeuten werden, nicht bloß jede Gesellschaftsordnung den ihr eigenthümlichen Proceß der Ein- und Auswanderung, sondern auch ihr eigenthümliches Rechtssystem derselben; der Unterschied des Rechts, den wir historisch vorfinden, ist nur als ein Unterschied der gesellschaftlichen Zustände zu begreifen; und dieß wird vielleicht schon hier einleuchtend, indem wir sagen, daß das öffentliche Recht der Ein- und Auswanderung unserer Gegenwart im Gegensatze zu dem der Vergangenheit als ein Rechtssystem der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung erkannt werden muß. An diesen Satz schließt sich nun ein letzter, der in seiner Einfach- heit vieles erklärt, das heißt, als einen organischen Proceß erscheinen läßt, was uns zunächst nur als bloße Thatsache entgegentritt. Wir stellen diesen Satz einfach hin und hoffen, daß unsere Leser ihn selbst tiefer begründen werden. Es folgt nämlich aus dem früheren, daß die gesellschaftliche Ordnung und das ihr entsprechende gesellschaftliche Recht in dem Lande, von welchem die Auswanderung ausgeht, stets un- freier sein wird , als in dem Lande, wohin sich dieselbe als Ein- wanderung wendet . Und dieser Satz ist so gewiß, daß die Ge- schichte uns fast auf jedem Schritte sein Correlat thatsächlich beweist, ein Correlat, welches wiederum die organische Basis der eigentlichen Ver- waltungsthätigkeit sein muß. Der Grund der Auswanderung und die Richtung der Einwanderung werden niemals vorwiegend von wirth- schaftlichen Interessen, sondern stets von dem Zustande socialer Ele- mente und Auffassungen bedingt; so sehr, daß die glänzendsten wirth- schaftlichen Aussichten niemals eine Auswanderung hindern oder eine Einwanderung erzeugen, wenn nicht die gesellschaftliche Ordnung mit ihrer größern socialen Freiheit das eine oder das andere zu be- wirken vermag. Jede größere Bewegung der Völker enthält den schla- gendsten Beweis für diesen Satz, und in ihm liegt daher auch der wahre Kern dessen, was wir als die Bevölkerungspolitik zu bezeichnen haben, und was schon der richtige Instinkt die Populationisten des vorigen Jahrhunderts lehrte, indem sie „eine gute Regierung“ als Haupt- motiv für die Einwanderung aufstellen. Kein Staat kann eine fremde Bevölkerung herbeiziehen durch bloßes Anbieten von wirthschaftlichen Vortheilen für Einwanderer, oder die Auswanderung vernichten durch Drohung von Nachtheilen. Es gibt nur Einen Weg, für beides zu sorgen. Das ist die Entwicklung der gesellschaftlichen Freiheit im wei- testen Sinne des Wortes, und eines auf dieselbe gebauten Systems des öffentlichen Rechts. Und wir dürfen glauben, daß unsere Zeit diese große Wahrheit richtig erkannt hat! Dieß nun sind die allgemeinen Grundsätze über Wesen und Ge- schichte der Ein- und Auswanderung. Und indem wir jetzt zum gelten- den Recht beider übergehen, müssen wir allerdings beide trennen und jedes derselben für sich behandeln, indem wir sie auf die obigen Grund- sätze zurückführen. Unter den Schriftstellern, welche Ein- und Auswanderung von einem höhern Standpunkt behandelt haben, kann man wohl nur Montesquieu und Roscher nennen. Der erstere hat in seiner geistreichen Weise zuerst angedeutet, daß beide durch höhere Motive bewirkt werden und Bedeutenderes hervorbringen, als bloße Vermehrung und Verminderung der Bevölkerung, ohne jedoch tiefer auf die Sache einzugehen ( L. XVIII. Ch. 3). Roschers Arbeit, „Colonien, Colonialpolitik und Auswanderung,“ 2. Aufl. 1856, ist eins der bedeutendsten Werke dieses Verfassers, im höchsten Grade lehrreich, und wenn wir auch einen wesentlich andern Standpunkt im Ganzen einnehmen, so werden wir stets die Ersten sein, die staatsmännische Tiefe der einzelnen Beobachtungen und die große Gründlichkeit der Behandlung anzuerkennen. Bei dem Reichthum an Ge- danken und Stoff fehlt nur die organische Auffassung, um die Schrift zu einem Meisterwerk zu machen. A. Einwanderung und innere Colonisation . (Verlassen des bisherigen Standpunkts in Betreff dieses Gebietes der Be- völkerungspolitik. Begriff der Einwanderung gegenüber dem Begriff der Frem- den und dem der Niederlassung . Die Geschichte des Einwanderungsrechts erscheint dadurch nothwendig mit den Grundformen der Selbstverwaltung, also mit denen der Gesellschaft verbunden. Darstellung des Einwanderungsrechts der Geschlechterordnung, der ständischen Ordnung, der polizeilichen Epoche, und des freien Einwanderungsrechts der staatsbürgerlichen Gesellschaft.) Indem wir uns nunmehr den einzelnen Theilen dieses Gebietes zuwenden, müssen wir zu unserm Bedauern mit der Behauptung be- ginnen, daß die ganze Auffassung und Stellung, welche das Einwan- derungswesen in der Staatswissenschaft unserer Zeit, namentlich bei Mohl und neuerlich bei Gerstner und Roscher als ein Mittel der Bevölkerungspolitik gefunden hat, eine durchaus falsche ist . Wir müssen vielmehr entschieden behaupten, daß es in unserer Zeit gar kein Einwanderungswesen als Gegenstand der Staatsverwaltung und gar keine allgemeinen Regeln derselben mehr gibt, und daß die Behandlung dieser Frage in der sogen. Polizeiwissenschaft nicht bloß an sich verkehrt ist, sondern auch zu ganz falschen Vorstellungen Anlaß gibt. Es ist nicht schwer, dieß nachzuweisen, wenn man sich nur von den Traditio- nen des vorigen Jahrhunderts losmachen kann. Um aber den Stand- punkt und das Recht unserer Zeit ganz klar zu machen, müssen wir zuerst den Begriff der „Einwanderung“ feststellen und ihn zu dem Ende von dem der „ Fremden “ und dem der „Niederlassung“ tren- nen; und dann müssen wir ihn auf seine wahrhaft historische Basis und die Elemente seiner organischen Entwicklung zurückführen. Es ist nicht wohl möglich, sich über das wahre Wesen der Einwanderung un- klar zu bleiben, wenn man das thut. Begriff der Einwanderung . Es ist kein Zweifel, daß wir unter Einwanderung weder bloß einen zeitlichen Aufenthalt einer an einem Orte fremden Person, noch auch den bloßen Wechsel des Aufenthalts, der juristisch als Domicil erscheint, verstehen können. Die Einwanderung hat vielmehr zu ihrer ersten Vor- aussetzung, der persönlichen, daß sie von einem Fremden geschehe. Ein Fremder aber ist im weitesten Sinne des Wortes ein solcher, der dem örtlichen Recht nicht unterworfen ist. Sie hat zu ihrer zweiten Voraussetzung, daß der Aufenthalt durch den Lebenszweck des An- kommenden bedingt werde; das ist ihre wirthschaftliche Seite. Sie macht aber, wo sie vollzogen ist, den letztern zu einem Gliede der Gesammt- heit, in welche er einwandert, das ist zu einem Angehörigen des Staats und zu einem Mitgliede seiner gesellschaftlichen Ordnung . Wäh- rend daher der Fremde nur örtlich und zeitlich in den Verband von Staat und Gesellschaft tritt, der sich Niederlassende nur wirthschaft- lich ein Theil derselben wird, wird es der Einwandernde mit seinem ganzen staatlichen und socialen Leben. Darin besteht das Wesen der Einwanderung. Und eben dadurch ist es klar, daß dieselbe nicht ein- seitig von ihm abhängig sein kann, sondern naturgemäß von Staat und Gesellschaft abhängig ist. Wir reden daher von Fremden und Fremdenrecht , von Niederlassungen und Niederlassungs- recht , und von Einwanderung und Einwanderungsrecht , und es ist wohl einleuchtend, daß nicht bloß diese Rechte an sich sehr ver- schieden sind, sondern auch in der Verwaltung eine wesentlich verschie- dene Stellung einnehmen. Da nun die Einwanderung, wie gesagt, wesentlich von dem neuen Staat und seiner Gesellschaft abhängt, so ist es wohl klar, daß es zunächst ganz falsch ist, von der Einwanderung nur einseitig in Beziehung auf die Thätigkeit und die Absichten der amtlichen Verwaltung zu reden. Sie wird vielmehr und mit ihr das Fremden- und Niederlassungswesen von der Stellung abhängen, welche die Selbstverwaltungskörper gegen- über dem Staate einnehmen. Die Geschichte ihres Rechts ist ein inte- grirender Theil der innern, organischen Entwicklung des Staats, und das gegenwärtige Recht kann selbst nur als ein Moment und Theil dieser Geschichte erkannt werden. Wir wollen daher versuchen, auf diesem historischen Boden das Einwanderungswesen bis zur heutigen Zeit zu begleiten, und darnach die wahre Natur desselben zu bestimmen. Erste Epoche . Die Einwanderung und die Geschlechterordnung. In der Geschlechterordnung besteht der Staat aus der Einheit der Familien und Geschlechter; diese sind die staatsbürgerlichen Persönlich- keiten; außerhalb derselben hat der Staat noch gar keine Gewalt, kein Recht, keine Funktion; es kann daher auch keine Einwanderung in den Staat geben, sondern dieselbe kann nur erscheinen als die Aufnahme des Fremden in eines der Geschlechter des Landes. Mit dieser Aufnahme ist die Einwanderung vollzogen. Jeder, der nicht einem Ge- schlechte angehört, ist und bleibt fremd ; er hat nicht nur kein Recht, sondern er kann auch kein Gut erwerben . Es gibt daher auch keine Niederlassung in der Geschlechterordnung, die von der Einwanderung getrennt wäre und ihr selbständig voraufginge. Es ist dabei gleichgül- tig, ob ein ganzes Geschlecht in die Reihe der alten aufgenommen wird, oder ob ein ganzer aus Geschlechtern bestehender Stamm den alten Ge- schlechtern hinzugefügt wird, wie bei den alten Tities und Luceres in Rom, oder ob freie Familien bei der Einwanderung in die alten Ge- schlechter als gleichberechtigt mit den alten Familien aufgenommen wer- den, wie es in Dithmarschen und wie es auch gewiß in Rom bei den patricischen Familien der Nachbarstädte geschah, oder ob Halbfreie sich den Geschlechtern als Clientel einfügen, wie in Rom die clientes oder gentes zum Theil entstanden, und wie es in manchen alten Städten Deutschlands der Fall gewesen sein mag. Gewiß ist nur, daß die älte- sten Einwanderungen stets und bei allen Völkern Geschlechtereinwande- rungen sind, bei denen die Niederlassung und die Aufnahme in den Staatsverband durch die Aufnahme in das Geschlecht stattfand. Es ist nicht ohne Interesse, auch das Fremdenrecht dieser Epoche auf den- selben Gesichtspunkt zurückzuführen; denn das älteste Fremdenrecht ist ein Gastrecht nicht des Staats oder der Gemeinde, sondern der Ge- schlechter: erst in der folgenden Epoche entsteht ein in der Form des Ge- meindegastrechts erscheinendes staatliches Fremdenrecht. Die Niederlassungen, die durch Eroberung geschehen, wird niemand zur Lehre von den Einwanderungen rechnen. Und zwar ein- fach darum nicht, weil sie keine Aufnahme in einen bestehenden Staats- verband enthalten, sondern selbst erst staatsbildend wirken. Sie gehören einer ganz andern Reihe von Erscheinungen an. Heeren hat das in seiner Eintheilung der Colonien in Ackerbau-, Pflanzungs-, Bergbau- und Handelscolonien (Geschichte des europäischen Staatensystems I. Art. 2) sehr richtig erkannt. Warum hat denn Roscher in seinen Co- lonien, indem er Heerens Eintheilung billigt, und Robertsons Ein- theilung in Auswanderungs- und Militärcolonien verwirft ( History of America II. 364), doch wieder die „Eroberungscolonien“ im Wider- spruch mit seiner eigenen Auffassung aufgenommen? Alles, was er darüber sagt ( pag. 4 sq. ) ist sehr wahr und werthvoll; nur ist das, wovon er redet, keine Colonie mehr. — Daß bei den Eroberungen von einem Einwanderung srecht nicht die Rede sein kann, versteht sich von selbst. Zweite Epoche . Die Einwanderungsformen der ständischen Ordnung. Der Besitz, der Beruf und der Stand als Grundlage. Das erste Auftreten der staatlichen Einwanderung. Die ersten inneren Colonien. Wesentlich anders gestaltet sich die Einwanderung und ihr Recht in der ständischen Gesellschaft. Schon hier wird das Leben viel reicher. In der That gibt es in dieser Gesellschaftsordnung kein einfaches Einwanderungsrecht mehr, sondern man muß sagen, daß jedes Element derselben sein Einwanderungsrecht hat. Man wird die beste Uebersicht gewinnen, indem man das Einwanderungsrecht auf die drei Grund- formen der körperschaftlichen Bildung dieser Gesellschaftsordnung reducirt. Darnach ergibt sich in seinen Grundzügen das folgende System des Einwanderungsrechts dieser Epoche. a ) Die Ritterschaft , als die Gemeinschaft der Grundherren, bei denen das staatliche Recht mit dem Grundbesitz verbunden war, kann demgemäß eine Einwanderung nur vermöge des Erwerbes eines land- täflichen , das ist in den Selbstverwaltungskörper der Grundherren gehörigen Grundbesitzes anerkennen; fast immer aber fordern sie neben dem Erwerb einer Grundherrlichkeit auch noch die specielle Auf- nahme oder „Reception“ der neuen Familie in den ritterschaftlichen Körper, Landtag, Landtafel, was dann wieder als Rest des Einwan- derungsrechts der Geschlechterordnung betrachtet werden muß, die ja be- kanntlich in allen Beziehungen mit der Grundherrlichkeit verschmilzt. b ) Die Geistlichkeit , als Vertreterin des an sich freien geistigen Elements der ständischen Ordnung des Berufes , ist principiell gleich- gültig gegen den Besitz des Einzelnen. Bei ihr fällt zuerst die Hei- math mit der örtlichen Ausübung des Berufes zusammen , und mit diesem Satze hat sie dem heutigen freien Heimathswesen vor- gearbeitet. Sie kennt daher als solche den örtlichen Begriff der Hei- math nicht, und an die Stelle der Niederlassung des Einzelnen tritt die Pflicht, seinen Beruf auszuüben, wohin er gesendet wird. Er ist überhaupt als Einzelner rechtlich nur Mitglied der geistlichen Körper- schaft, und bei dieser kann man weder von Niederlassung noch von Ein- wanderung reden, sondern die Körperschaft selbst, die Kirche, das Klo- ster, wird errichtet und bildet damit einen Körper für sich, der nach eigenen Gesetzen lebt. Hätte Roscher seinen Begriff der Colonie nicht nach der traditionellen Auffassung zu sehr beschränkt, so würde er ge- sehen haben, daß nicht eben bloß die Eroberungscolonien, sondern viel- mehr die Berufscolonien „die bürgerliche Gesellschaft in Kasten zu zersplittern pflegen“ (Seite 7. 8). Andererseits ist die wirthschaftliche Geschichte dieser geistlichen Berufscolonie, namentlich der Klöster, noch zu schreiben. Denn es ist kein Zweifel, daß gerade die Klöster in den meisten Fällen die Mittelpunkte und Lehrschulen der geordneten Land- wirthschaft gewesen sind, und daß sie für die Entwicklung der letztern namentlich an den Gränzen Deutschlands dasselbe geleistet haben, was die römischen Militärcolonien für die römische Waffenherrschaft, einseitig wie diese, aber auch mächtig und vielfach höchst förderlich wirkend. — In jedem Falle ist es jene Stellung der Geistlichkeit, welche dann auch auf die Universitäten und die berufsmäßige Einwanderung zuerst der Gelehrten und dann der berufsmäßigen Stände, Advokaten und Aerzte überging, und diesen die freie Bewegung möglich gemacht haben. Klar ist es aber, daß auf diese Weise die Einwanderung und ihr Recht für den Beruf der ständischen Epoche als ein selbständiges Ganze erscheint, dessen Princip es war und noch gegenwärtig gilt (Niederlassung fremder Aerzte, Nostrification von Doctoren), daß die rechtliche Be- dingung der Einwanderung und Niederlassung weder Geschlecht noch Besitz, sondern die Anerkennung der berufsmäßigen Bil- dung (wesentlich durch eine Niederlassungsprüfung) geworden ist. c ) Wieder anders ist das Einwanderungsrecht in dem dritten Stande. Die Natur der Städte bringt es mit sich, daß hier die Ein- wanderung nur von Einzelnen möglich ist, und daß sie andererseits durch die Theilnahme an der ständischen Funktion der Städte, dem Gewerbe geschehen kann. Der Charakter des Einwanderungsrechts der Städte besteht daher in der Abhängigkeit derselben von der stän- dischen Ordnung der Gewerbe oder dem Zunftwesen; Niederlassung wird identisch mit Aufnahme in die Zunft . Daneben aber behält das Princip der Grundherrlichkeit seinen Platz, und die zweite Grundform der Niederlassung ist der Erwerb eines städtischen Grund- stückes . Durch diese Momente zusammengenommen verliert sich die Unterscheidung zwischen Niederlassung und Einwanderung; jede Nieder- lassung muß sofort, wenn sie gestattet ist, eine Einwanderung werden, und das Einwanderungsrecht des städtischen Standes nimmt ganz den Charakter und selbst den Namen des Heimathsrechts an. Das ist der Grund, weßhalb das erstere auch theoretisch zu keiner besondern Anerkennung gelangt und weßhalb auch später die Lehre vom Heimaths- wesen niemals ihre rechte Stellung zur Bevölkerungspolitik hat gewin- nen können. Das sind nun die Grundformen des Einwanderungsrechts in der ständischen Epoche. Allein schon damals tritt eine vierte hinzu, die von hoher Bedeutung ist. Das ist der Beginn der staatlichen Ein- wanderung. d) Allerdings nämlich ist der im Königthum vertretene Staat noch sehr unorganisch und unmächtig. Allein dennoch fühlt er schon damals, daß seine Zukunft im Staatsbürgerthum und dieß wieder in dem gewerb- lichen Besitz liege. Daher entstehen schon in dieser Epoche die ersten unmittelbar staatlichen Maßregeln für die Einwanderung, die wir kurz die innere Colonisation nennen. Das Königthum versucht, theils ganze Städte, theils innerhalb und neben den Städten gewerb- liche Körperschaften durch Herbeiziehung von Familien zu bilden. Die Principien des ständischen öffentlichen Rechts geben diesen Versuchen ihre erste, von der folgenden Epoche wesentlich verschiedene Gestalt. Das Königthum kann die städtischen und zünftigen Körperschaften nicht zwingen, die Einwanderung in sich aufzunehmen und mit sich ihr in Eins zu verschmelzen. Will es daher eine solche Einwanderung haben, so muß es sie den ständischen Principien analog bilden. Es muß sie selbst zu einem rechtlich anerkannten städtischen, beziehungsweise gewerblichen Selbstverwaltungskörper machen, der neben den ständischen Körpern auf königlichem Recht steht. Das Mittel dafür ist das Pri- vilegium . So entstehen die auf dem Privilegium beruhenden Ein- wanderungen, die sich seit dem 13. Jahrhundert vorzugsweise, wie es die Entwicklung der Staatenbildung mit sich brachte, an den Gränzen der Civilisation bildeten, und denen die Könige oft neben dem Privilegium auch noch aus ihren Domänen Grundbesitz anwiesen. Diese erste Form der staatlichen Einwanderung schließt natürlich die Einzeleinwan- derung aus; sie geschieht stets in ganzen Körperschaften, und es bedarf keiner Erklärung, weßhalb dieselben auch nach der Einwanderung noch örtliche Einheiten bilden. Dadurch wird der altrömische Begriff der „Colonia“ auf sie anwendbar; und so entsteht das, was wir als die erste Form der „innern Colonisation“ bezeichnen. Der Begriff der in- nern Colonisation ist daher im weitern Sinne die Niederlassung von Einwanderern als selbständiger Selbstverwaltungskörper , und zwar theils als Corporationen , wie bei der Privilegirung fremder Handelsniederlassungen, theils als wirklicher Gemeinden . Die Grund- gedanken dieser Epoche übertragen sich nun auf die folgende und wirken wesentlich mit in der Bildung des neuen Einwanderungsrechts. Die Elemente desselben sind folgende. Dritte Epoche . Die polizeiliche Zeit. Das populationistische Einwanderungswesen. Dasjenige, was wir als das polizeiliche Einwanderungswesen be- zeichnen, ist die erste und natürlichste Consequenz der populationistischen Auffassung des gesammten Bevölkerungswesens, die bekanntlich mit der Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt und im 18. ihren Höhepunkt erreicht. Der Wunsch, durch die Zahl der Einwohner die praktische militärische Macht und die theoretische „Glückseligkeit“ der Staaten zu vermehren, mußte sofort zu dem Streben führen, die Einwanderung zu befördern, und dieß Streben zeigt sich nun in der That in den meisten Staaten Europas. Allein dieß Streben trifft zunächst auf das bestehende Recht und die feste Ordnung theils der Städte, theils der Grundherren, deren Interesse die Festhaltung des alten Heimathswesens fordert; und zugleich erscheint gleichzeitig mit ihm, und aus derselben Quelle entspringend, die immer entschiedenere Tendenz, die Heimath- losigkeit, die Erwerblosigkeit und die in ihr liegenden Gefahren zu ver- hindern. Es ist in hohem Grade belehrend, zu sehen, wie diese ver- schiedenen und zum Theil ja entgegengesetzten Faktoren nun auf die Stellung und Thätigkeit wirken, welche die Verwaltungen gegenüber dem Einwanderungswesen einnehmen. Wie jene Faktoren selbst einan- der entgegenstehen, so erscheinen auch in Gesetzgebung und Verwaltung zwei entgegengesetzte Systeme; das eine , welches die Einwanderung in jeder möglichen Weise befördern will, das zweite , welches die örtliche Bewegung der Bevölkerung überhaupt, und also auch die Einwanderung, auf die strengste Beschränkung durch polizeiliche Ueberwachung zurückzuführen trachtet. Die innere Gränze zwischen bei- den Principien und ihren entsprechenden Rechtssystemen war offenbar die Fähigkeit zum eigenen Erwerb; jeder Erwerbsfähige sollte einwandern; jeder Erwerbslose sollte von der Einwanderung abgehalten werden. Diese Gränze bedurfte aber eines äußeren Kriteriums, und dieß Krite- rium fand man namentlich in Deutschland darin, ob der Einwandernde ein Ausländer oder ein Inländer war. Im Allgemeinen hat die Verwaltung der großen deutschen Staaten den Grundsatz zur Durch- führung gebracht, daß die Einwanderung von Ausländern mit allen Mitteln zu befördern sei, während sie der innern Bewegung der Einwanderung, der Wanderung von Provinz zu Provinz und von Stadt zu Stadt, die größten Hemmnisse entgegensetzte. Dieser Wider- spruch hatte seinen guten historischen Grund. Bei der Strenge des meistens auf Zunftinteressen oder auf der Gutshörigkeit beruhenden Heimathsrechts war es von vornherein wahrscheinlich, daß ein wandern- der Inländer besitz- und erwerblos sein werde, während namentlich die religiösen Verfolgungen in Frankreich und später die Entwicklung der Technik es als fast gewiß erscheinen ließen, daß der einwandernde Aus- länder entweder ein ehrenhaster Mann oder ein tüchtiger und werth- voller Arbeiter sei. So entstanden mit diesen beiden Ansichten auch zwei gesetzliche Verwaltungssysteme. Das erste , negative, schrieb sich noch zum Theil aus dem Heimathswesen der ständischen Epoche her (siehe unten) und erzeugte einerseits eine strenge und systematische Ver- folgung der heimathlosen Herumzieher, auf dem richtigen Instinkt be- ruhend, daß man auch keine Einwanderung ohne die Wahrscheinlichkeit der Niederlassung zulassen wolle. Das zweite dagegen theilt sich in zwei große, jedoch auf derselben Grundlage beruhende Zweige. Das erste , was die Regierungen versuchten, war die Hervorrufung von eigenen Ansiedlungen oder die regelmäßige Herstellung der oben bezeichneten innern Colonisation, namentlich auf den wenig bevölkerten Staats- domänen als „ Colonistendörfer .“ Das zweite dagegen enthielt eine ganze Reihe von Vorschriften über die indirekte Unterstützung der ein- wandernden Fremden, Vorschriften, durch welche sich namentlich Preußen und Oesterreich auszeichneten. Es ist nicht zu verkennen, daß die Be- völkerungstheorie mit ihrem Anpreisen der Zunahme der Bevölkerung einen nicht geringen Antheil an diesen Bestrebungen hatte. — Der Satz Süßmilch ’s namentlich, den wir bereits citirt, daß jeder Arbeiter einen Werth habe, erzeugte als Consequenz den Versuch der Verwaltung, die Ansiedlungen auch von Einzelnen mit direkten Capitals- anlagen zu unterstützen, wobei jedoch stets festgehalten werden muß, daß diese Sorge für die Einwanderung eben so sehr eine Förderung der gewerblichen Entwicklung als der Zunahme der Bevölkerung sein sollte. Die Theorie war sich über den Unterschied nicht recht klar und hoffte überhaupt noch viel zu viel von der Polizei, die sie zugleich für viel zu viel verantwortlich machte. Dabei muß man, um die Lage der Dinge im Ganzen zu beurtheilen, nicht vergessen, daß England und Frankreich überhaupt nur die Auswanderung und die äußere Colonisation im Auge hatten, und sich um die Einwanderung entweder gar nicht küm- merten, wie England, oder sie durch polizeiliche Maßregeln sehr er- schwerten, wie Frankreich, während fast nur Preußen und Oesterreich es zu einem System von Bestimmungen über Einwanderungen brachten, und Dänemark und Rußland nur einzelne Akte der innern Colonisation vornahmen. Princip und Recht der Einwanderung waren daher in der polizeilichen Epoche wieder in jedem Staate verschieden , und man muß sich wohl hüten, das als für Europa geltend anzunehmen, was man aus der Theorie jener Zeit entwickelt. Von einem europäischen Standpunkt kann erst in der folgenden Epoche die Rede sein. Vierte Epoche . Die Einwanderung der staatsbürgerlichen Gesellschaft. Das Auftreten der Principien der freien Niederlassung und der Freizügigkeit. Das Einwanderungs- recht identisch mit dem Heimathswesen. Aus der großen Verwirrung, welche durch die gleichzeitige Geltung so verschiedener Gesichtspunkte und Gesetze, Ansichten und Maßregeln in Beziehung auf die Einwanderung erzeugt wird, geht nun mit unserm Jahrhundert ein an sich sehr einfaches System hervor, das nur in sei- nen speciellen Anwendungen allerdings ein vielgestaltiges wird, aber dennoch in seiner Wesenheit als ein für ganz Europa gültiges betrachtet werden darf. Es ist kein Zweifel, daß die gewaltige Ausgleichung der Verschiedenheiten der Staatenbildung und die Vernichtung der früheren Schranken des internationalen Verkehrs durch die napoleonischen Kriege mächtig dazu beigetragen haben; andererseits hat das große Princip der staatsbürgerlichen Gesellschaft, die Selbständigkeit des Einzelnen, nicht wenig dazu mitgewirkt, alles Künstliche der früheren Epoche zu beseiti- gen; und wir glauben jetzt das Einwanderungsrecht der Gegenwart auf seine einfachsten Grundzüge zurückführen zu können. Das aber sind offenbar folgende: 1) Zuerst steht es fest, daß die Einwanderung an sich weder gut noch schlecht ist, sondern daß sie das Eine oder Andere nur wird, je nachdem der Einwanderer die Bedingungen seiner wirthschaft- lichen Existenz besitzt. Die staatsbürgerliche Gesellschaft hat daher alle Beschränkungen der Einwanderung aus dem ständischen Gesichts- punkte beseitigt, und erkennt selbst in Nostrificationen ꝛc. nur die An- erkennung der theoretischen Fähigkeit, durch seinen Beruf seine Existenz zu gründen. 2) Es folgt daraus, daß die Einwanderung nur dann noch als ein Vortheil anzuerkennen ist, wenn der Einwandernde diese Bedingungen bei der Einwanderung selbst mitbringt . Mit dieser Erkenntniß ist dann die Gesammtheit aller derjenigen politischen Maßregeln weggefal- len , welche die Einwanderung entweder indirekt durch allerlei mate- rielle Unterstützungen und Verleihung von Rechten, oder direkt durch Hingabe eines Anlage- und Betriebscapitals zur Gründung eines Unter- nehmens befördern wollen. Erfahrung und Theorie haben gemeinschaft- lich bewirkt, daß die Verwaltungen sich die Enthaltung jeder Unter- stützung der Einwanderung zum Grundsatz machen. Nur ganz einzelne Fälle können in ganz besondern Verhältnissen davon eine Ausnahme begründen, und haben es gethan, wie in Oesterreich und zum Theil in Rußland. 3) In Beziehung auf die unter dieser Voraussetzung entscheidende Frage, ob der Fremde, der durch die Niederlassung zum Einwanderer wird, nun auch wirklich jene Bedingungen der wirthschaft- lichen Selbständigkeit mitbringt oder nicht , steht das innere öffentliche Recht auf folgendem Standpunkt, den wir als den Stand- punkt des freien Einwanderungswesens bezeichnen können. a ) Die (amtliche) Staatsgewalt kümmert sich um die wirthschaft- liche Existenz des Einzelnen nicht , sondern läßt es seine eigene Sache sein, sich dieselbe innerhalb ihrer Gränzen zu gewinnen. Sie gibt ihm keine Mittel zur Verwerthung seiner Erwerbsfähigkeit; wohl aber gibt sie ihm die allgemeinen Bedingungen , diese Verwerthung selbst zu suchen. Diese Bedingungen sind erstlich das freie Erwerbsrecht in der Gewerbefreiheit, zweitens das freie Verkehrsrecht in der Paßfreiheit. Beide zusammen bilden dasjenige, was wir kurz das freie Nieder- lassungsrecht oder das Recht der Freizügigkeit nennen (s. unten). b ) Auf Grundlage dieses Rechts ist zwar die Niederlassung unter gewissen Bedingungen frei, allein diese Niederlassung ist noch keine Einwanderung , und dieser Unterschied muß gerade in dieser Epoche als ein wesentlicher hervorgehoben werden; denn hier ist es, wo das eigentliche Wesen der Einwanderung wieder hervortritt. Aus jener freien, nur von dem Einzelnen abhängigen Niederlassung wird erst die Einwanderung durch den Eintritt in den Selbstverwaltungs- körper der Gemeinde , dessen Inhalt und Bedingungen im Hei- mathswesen gegeben sind. Man muß daher festhalten, daß jede Stein , die Verwaltungslehre. II 12 Einwanderung erst durch den Erwerb des Heimathsrechts in einer Gemeinde vollendet ist. Dieser Erwerb aber enthält eben die Entscheidung der Gemeinde darüber, ob der Niedergelassene die Be- dingungen der volkswirthschaftlichen Existenz wirklich besitzt , und diese erst macht aus der Niederlassung das Heimathsrecht. Und auf diese Weise erscheint in unserer Epoche das Recht der Einwanderung als identisch mit dem Erwerbe des Heimathsrechts in der Gemeinde . Der populationistische Charakter der früheren Zeit ist da- mit gänzlich verschwunden; es gibt überhaupt kein besonderes Einwan- derungswesen mehr; die Einwanderung bildet nicht mehr Gegenstand der Verwaltung; die Lehre von der Einwanderung führt in der Theorie der Verwaltung nur noch ein Scheinleben fort, da die Einwanderung keine Aufgabe der Verwaltung für den ganzen Staat mehr bildet; nur die Selbstverwaltung der Gemeinde hat über jeden einzelnen Fall zu entscheiden, und eben darum gibt es auch keine allgemeine Regel mehr, ob sie gut oder schlecht ist. Die Grundsätze aber, nach welchen diese Gemeindeangehörigkeit erworben wird, werden wir in all ihrer gegenwärtigen Verwirrung in Deutschland unten darlegen. Das nun ist das Resultat, bei welchem die Verwaltungslehre in Bezug auf die Einwanderung anlangt. Es liegt dasselbe offenbar im natürlichen Gange der Dinge und ist im Grunde doch nichts anderes, als das self supporting-principle Wakefield’s (siehe unten) in seiner Anwendung auch auf den Begriff und das Recht der Niederlassung des Einzelnen, an die Wakefield selbst nicht dachte, und die auch Roscher vollkommen übersehen hat. Faßt man dieß zusammen, so wird man nunmehr auch die schon früher gerügte Unbehülflichkeit der Theorie sich leicht erklären, die noch immer von der Einwanderung als einer Ver- waltungsmaßregel reden und sie beurtheilen will, obgleich es in unserer Zeit weder eine solche gibt noch geben kann. Im Gegentheil sind alle Fragen nach dem Recht und den volkswirthschaftlichen Bedingungen und Folgen der Einwanderungen damit definitiv ins Heimathswesen gewiesen, auf das wir unten zurückkommen. Die Literatur hat gerade für die Einwanderung und ihr Recht viel weniger Inhalt und Bedeutung, als man glauben sollte, und eben so ist mit der neuen Ordnung der Dinge auch die Gesetzgebung als eine selbständige nicht vorhanden. Der Grund davon besteht wesentlich darin, daß man die Einwanderung nament- lich in neuerer Zeit von der Auswanderung nicht klar genug scheidet, und noch weniger — was in der That zu verwundern ist — dieselbe in ihr gehöriges Verhältniß zu dem Recht der Freizügigkeit und dem Heimathswesen zu bringen verstanden hat. Statt dessen hat sich die Publicistik wesentlich um den Begriff und die Bedeutung der Colonien gedreht, ohne jedoch die innere Colonisation von der äußern zu scheiden, woher es denn wieder kommt, daß während einige wie Roscher und ihm folgend — wenn auch nur mit einigen kurzen Bemer- kungen — Gerstner ( l. l. p. 195. 196) die Colonialfrage in die Bevölkerungs- lehre aufnahmen, andere wie Rau und Mohl sie wieder ganz weglassen. Die Nationalökonomie sowohl der Engländer als der Franzosen ist bei der allge- meinen Bevölkerungslehre stehen geblieben, eben so die der Deutschen, und so reducirt sich die Geschichte der Ansichten und selbst die der Gesetze auf einige allgemeine Punkte. Schon die Gründer der theoretischen Bevölkerungspolitik in Deutschland, Justi und Süßmilch , kommen nicht über allgemeine Sätze hinaus, die jedoch alle darauf hinaus laufen, die Einwanderung für höchst wünschens- werth zu halten. Justi widmet ihr ein ganzes Hauptstück, II. Buch, VIII. Haupt- stück, „Von Vergrößerung der Bevölkerung durch die Fremden.“ Man soll ihnen namentlich Gewissensfreiheit geben (§. 281) und vor allem „Handwerker und Landleuthe“ durch „Freiheiten,“ „Baustellen, Aeckern, ja mit Bauhülfsgeldern“ unterstützen. Süßmilch Cap. XIV. bleibt in sehr allgemeinen Phrasen. In- dessen war bei den Verwaltungen die Ueberzeugung von dem Werthe der Ein- wanderungen zum Durchbruche gelangt. In Oesterreich wie in Preußen suchte man sie auf doppelte Weise zu befördern, und zwar theils durch allge- meine Vorschriften, welche dieselbe erleichtern sollten, theils durch eine eigene innere Colonisation. Schon Maria Theresia erleichterte die Einwanderung dadurch, daß sie den Einwandernden die Wiederauswanderung ohne Abfahrtsgeld gestattete (Patent von 1753 und 1785), namentlich aber guten ausländischen Künstlern und Professionisten zu ihrem Unterkommen zu verhelfen, und ihnen die zur Erlangung des Meisterrechts nöthige Dispensation ohne Taxen zu er- theilen, verschrieb (Patent vom 13. December 1760; erneuert 15. Februar 1784). Von allgemeiner Wichtigkeit war allerdings das berühmte Toleranzpatent vom 13. October 1781, welches speciell den Einwanderern, die nicht katholisch waren, das Recht zum Häuser- und Güterkaufe, zum Bürger- und Meisterrecht, ja zu akademischen Würden und Civilbedienstungen einräumte. ( Kopetz , Oester- reichische politische Gesetzkunde I. §. 108.) Zugleich wurden direkte Geldunter- stützungen für Einwanderer bewilligt, jedoch mit der weisen Vorschrift, daß dieselben nicht den Ansiedlern in die Hände gegeben, sondern statt dessen ihnen Wohnungen gebaut und Unterhalt verabreicht werden solle (Patent vom 9. Dec. 1782). Die Obrigkeiten sollten zugleich „aufmerksam sein, ob die Ansiedler arbeitsam und im Stande wären, sich durch ihre Profession zu ernähren , ehe noch die ganze Aushülfe gegeben war“ (Patent vom 12. Juni 1782 und Patent vom 14. October 1784 und 9. Januar 1786). Leopold II. dagegen kommt von dieser Auffassung schon zurück. Er hob die Geldunterstützungen auf (Patent vom 11. Januar 1787), schreibt jedoch jede sonstige Hülfe „so weit damit keine Geldauslagen von Seiten des Staats verbunden sind“ vor, was auch später in Kraft bleibt (Cabinetsschreiben vom 24. Januar 1800 und 30. Dec. 1806). Die besondern Rechtsverhältnisse der Kronländer erzeugten dann eigene Bestimmungen über die örtliche Einwanderung in dieselben (bei Kopetz §. 109 bis 113). — Neben diesen allgemeinen Verwaltungsmaßregeln ging nun eine eigene innere Colonisation her, die sich wesentlich auf Ungarn bezog, und deren Be- strebungen bis zum heutigen Tage reichen. Wir verdanken die beste Darstellung alles dessen, was dort seit dem vorigen Jahrhundert geschehen ist, dem vortreff- lichen Werke von Czörnig , Ethnographie der österreichischen Monarchie. Wien 1855. 3 Bde. 4°., wo in Bd. II. (Historische Skizze der Völkerstämme und Co- lonien in Ungarn und dessen ehemaligen Nebenländern) alle einzelnen Colonien, ihre Anlage, ihr Bestand und ihre Entwicklung auf amtlichen Quellen zusam- mengestellt ist. Der neueste Versuch, die innere Colonisation Ungarns zu er- zielen, ist unausgeführt geblieben. (Gesetz von 1857.) Vergl. über die Verhältnisse der dortigen Colonisation namentlich G. Höfken , Die Colonisation Ungarns, 1858. Im Allgemeinen haben diese Colonien um so mehr geleistet, je weniger sie dem Staate gekostet haben, und umgekehrt. Einen ähnlichen, nur noch mehr detaillirten Gang der Dinge finden wir in Preußen . Von der preußischen Gesetzgebung sagt Berg, T. Polizeirecht , II. Bd. S. 38, indem er der Be- förderung der Einwanderung das Wort redet: „In den preußischen Staaten wird ohne Zweifel das vollständigste und zusammenhängendste System zur Be- förderung und Erleichterung nützlicher Einwanderung befolgt“ Das ist nicht bloß im Allgemeinen wahr, sondern hier erscheint im vorigen Jahrhundert ein förmliches System von Gesetzgebungen über Einwanderung. Man muß hier für das vorige Jahrhundert scheiden zwischen dem eigentlichen Colonierecht für förmliche örtliche Colonisation, und dem allgemeinen Einwanderungs- recht . Das eigentliche Colonierecht ist auf die Colonisation in Gemeindeform basirt. Es beginnt mit der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685. Schon 21 Tage nach dieser Aufhebung, am 29. October 1685, lud der Kurfürst Fried- rich Wilhelm durch ein öffentliches Patent die Reformirten, die von Frankreich vertrieben worden, in seine Staaten, und gab ihnen, ungefähr 14000 an der Zahl, an verschiedenen Orten eine besondere Gemeindeverfassung; ebenso gab er den pfälzischen Auswanderern 1688 besondere Privilegien; in den Jahren 1721, 1726 und zuletzt wieder 1736 wurden ähnliche Rechte den religiösen Auswan- derern aus Salzburg und Böhmen gegeben. Die allgemeine Grundlage dieser speciellen Privilegien ist stets neben freier Religionsübung und direkter Unter- stützung das Zugeständniß, als Selbstverwaltungskörper sich in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nach eigenem Recht zu richten (Patent vom 29. Februar 1720, betreffend „die bereits etablirten und noch ankommenden Refugiés und andre die mit ihnen ein Corps zu formiren verlangen . C. C. March. VI. Abth. 2, S. 225), wie denn den Franzosen bewilligt ward, nach ihrer Proceß- ordnung zu verfahren, so wie nach ihren discipline des Églises de France (Rescript vom 14. April 1699 und vom 29. Februar 1720). Fischer hat das frühere „Preußische Colonierecht“ als eigenen Abschnitt ausführlich behandelt Bd. I. §. 527—547. — Neben diesem eigentlichen Colonierecht bestand nun das Einwanderungsrecht für Einzelne, das auch in Preußen sehr freisinnig war. Fischer hat in seinem Cameral- und Polizeirecht (§. 571) alle einzelnen darauf bezüglichen gesetzlichen Anordnungen, die wirklich von großer Fürsorge zeugen, zusammengestellt. Diese Anordnungen beginnen mit dem Edikt vom 27. Juli 1740 und ziehen sich durch die ganze Regierungszeit Friedrichs II. hindurch. Sie enthalten wesentlich Befreiung von gewissen örtlichen Lasten, theils auch Freijahre für Neubauten (§. 577. 583), theils enthalten sie Ver- gütung der Transportkosten (§. 576), nach dem Rescript vom 26. October 1770 sogar bei Anbau wüster Plätze ein Geschenk von 150 Thlr. nebst 23 Proc. Ver- gütung der Baukosten und zehnjährige bis fünfzehnjährige Freiheit (§. 580). In einigen Provinzen sind noch besondere Vorrechte verliehen (§. 583). Aehn- liche Vergünstigungen wie in Preußen fanden in Braunschweig statt nach Pa- tent vom 12. Juli 1718; beachtenswerth ist hier die Bestimmung, daß „alle, welche über 2000 Rthlr. ins Land bringen und keine bürgerliche Nahrung treiben, nicht schuldig sind die Bürgerschaft zu gewinnen, unter keiner Stadtobrigkeit stehen.“ Berg , T. Polizeirecht a. a. O. S. 39. 41. Wir würden wohl ähnliche Bestimmungen aus andern Ländern haben, wenn uns die Quellen zu Gebote stünden. Allein bereits damals war ein gewisser Zweifel an dem praktischen Werthe dieser Maßregeln lebendig. Selbst Süßmilch sagt schon ganz offen a. a. O. §. 275: „Ein eingeborner Unterthan ist in den meisten Fällen besser als zwei Colonisten“ (S. 553). Eben so erklärt sich Berg a. a. O. zweifelhaft; und mit unserm Jahrhundert geht die Frage in ein anderes Gebiet hinüber. Während Möser in seinen Patriotischen Phantasien Bd. 2 sich direkt gegen die Einwanderung von seinem oft localen patriotischen Standpunkt ausspricht, erkennt Jacobs, Polizeigesetzgebung §. 100 ff. (1809), anstatt einer direkten Unterstützung die Aufgabe der Regierung in der „ Freiheit der Einwanderung“ (S. 168), ohne zu sagen, was er darunter versteht, während er in den Colonien wesentlich „Ausnahmsfälle“ und „Muster der vollkommenen Gewerbe “ sieht, die man übrigens nach ihm schon von Inländern anlegen lassen soll (S. 112). Das populationistische Element verschwindet hier, während bei Soden , dem denkendsten Nationalökonomen jener Zeit (1807), schon das allgemeine Princip der Heeren ’schen Ideen, die ethische Entwicklung, die Gesittung und ihre Förderung zum Ziel der Einwanderung wird. Er will sie, „damit die Racen der Menschen bisweilen gekreuzt, neues Blut, neuer Lebens- stoff, neue Ansichten, neue Sitten und Meinungen verpflanzt, dadurch die Ein- seitigkeit des Nationalegoismus vernichtet, und allgemeine Humanität und Weltbürgersinn verbreitet werde.“ Diese Auffassung drängte die Frage aus der strengen Polizeiwissenschaft, während zugleich von anderer Seite die Furcht vor Uebervölkerung Zweifel an dem Werthe der Volksvermehrung überhaupt, und natürlich speciell der Einwanderung erregte, und endlich die, mit den neuen Gemeindeordnungen entstehende Gesetzgebung über das Heimathsrecht das prak- tische Ende der Einwanderung, die Aufnahme in die Gemeinde, der Staats- verwaltung entzog und den Selbstverwaltungskörpern übergab. Die Einwande- rung und innere Colonisation verschwindet damit, und erscheint von da an nur noch in der Frage nach dem Indigenat und seinem Rechte (s. unten). An ihre Stelle tritt, wenn auch oft unter dem an sich ganz falschen Namen einer „ Freiheit der Einwanderung“ in den neuen Gemeinderechten die „Freiheit der Niederlassung ,“ und diese wurde durch die Bundesgesetzgebung (Bundes- akte Art. 18) als allgemeines deutsches Rechtsprincip der Freizügigkeit an- erkannt, wobei es freilich den einzelnen Staaten überlassen blieb, den Inhalt und die Gränze dieses Rechts näher zu bestimmen. Es war aber sofort klar, daß einmal auf diesem Boden angelangt, das Einwanderungsrecht jetzt nur noch in den Bestimmungen über den Erwerb des Heimathrechts seinen prakti- schen Inhalt finden werde. Die Theorie jedoch behielt die Frage bei, wenn auch nur, um die alten Sätze mehr oder weniger modificirt zu wiederholen ( Rau , Bd. II. I. Mohl I. S. 113 f., und so auch Gerstner a. a. O. 196). Roschers schönes Werk über Colonien hat leider die Einwanderung nicht von der Auswanderung geschieden, und ist offenbar nur auf Auswanderung und äußere Colonisation berechnet, so daß er für unsere Frage um so weniger zu benützen ist, als auch er den Zusammenhang der Einwanderungsfrage mit dem Heimaths cht gar nicht gesehen hat. Döhl (Armenpflege des preußischen Staats, 1860) hat einige Beziehungen der Einwanderung zur Armenpflege angedeutet, obwohl seine Einleitung sehr unbedeutend ist (S. 24). — Bitzer , Freizügigkeit. (Siehe unten Admin. Ordnung der Bevölkerung.) B. Die Auswanderung und die äußere Colonisation . (Nachweisung, daß jede Gesellschaftsordnung eine ihr eigenthümliche Form der Auswanderung besitzt, und daß demgemäß auch das Auswanderungsrecht ein ganz verschiedenes wird, das man nur nach den socialen Verhältnissen richtig beurtheilen kann. Specielle Darstellung der äußeren Colonisation, ihrer Ent- stehung und ihres Verhältnisses zur Verwaltung, und endlich der Grundsätze und Bestimmungen, welche das heutige Auswanderungswesen bilden. Stand- punkt dieses Rechts in England, Frankreich und Deutschland.) Während nun aus den von uns dargelegten Gründen das Ein- wanderungsrecht unserer Zeit sich ganz in das Indigenats- und Hei- mathswesen aufgelöst hat und damit aus der Verwaltungslehre ver- schwunden ist, ist mit dem Auswanderungswesen gerade das Gegentheil der Fall. Und wieder sind wir in der Lage, die Theorie über das Auswanderungswesen als eine weder den bei ihm in Frage kommenden Principien, noch auch nur dem geltenden Recht entsprechende anzuer- kennen. Die Staatswissenschaft des vorigen Jahrhunderts hatte denn doch bei all ihrer Einseitigkeit einen Standpunkt; die der gegenwärtigen Zeit ist hier fast ganz werthlos. Dennoch ist die Auswanderung, und nicht etwa bloß jetzt, einer der wichtigsten Lebensprocesse der Weltgeschichte und eine der wichtigsten Erscheinungen im Leben der einzelnen Staaten. Es ist weder wahr- scheinlich, daß sie nur zufällig entstanden sei, noch auch möglich, daß sich das für sie geltende Recht, so tief verschieden in den verschiedenen Zeiten, etwa bloß nach dem Ermessen einzelner Gewalthaber gerichtet habe. Man muß im Gegentheil dieselbe selbst und ihr Recht von einem höheren Standpunkte betrachten. Es ist kein Zweifel, daß das Verlassen der Heimath für den Ein- zelnen stets eine sehr ernste Sache ist. Die Folgen, die dasselbe für ihn nach sich zieht, sind so groß und greifen so tief in das ganze Leben hinein, daß jedenfalls die Ursachen, welche solche Wirkungen hervorrufen, die tiefsten Grundlagen des ganzen Lebens mit umfassen müssen. Es ist daher wohl die erste Voraussetzung alles richtigen Verständnisses der Auswanderung, in der Auswanderung auch der Einzelnen stets die Erscheinung einer allgemein wirkenden Kraft zu sehen. Und erst indem man das thut, ist es auch möglich, den richtigen Standpunkt für das- jenige zu finden, was die Verwaltung einerseits in den verschiedenen Zeiten gethan hat, andererseits was ihr zu thun obliegt. Auch hier daher kommen wir zu dem allgemeinen Satze, daß alle Auswanderung aller Zeiten allerdings etwas gemeinsam hat, daß aber dennoch jede gesellschaftliche Ordnung ihr eigentliches Auswanderungswesen besitzt, und daher auch ihren eigenthümlichen Standpunkt für die Verwaltung und das öffentliche Recht der Auswanderung erzeugt hat. Das muß auch hier der Grund unserer Darstellung bleiben. Wir werden daher zuerst dasjenige bezeichnen, was aller Aus- wanderung gemein ist. Und zu diesem Ende muß es uns verstattet sein, denjenigen Theil der Gesellschaftslehre hier hervorzuheben, den wir in unserem System der Staatswissenschaft als ersten Theil der Gesell- schaftslehre genauer behandelt haben. Wir dürfen sagen, daß die deutsche Theorie die Resultate dieser Untersuchung allseitig angenommen, die Untersuchung selbst aber hat auf sich beruhen lassen. Freilich ist das eine ernste und schwere Sache. Jedenfalls aber stehen wir hier vor dem ersten Gebiete der Verwaltungslehre, in welchem wir jene Ergebnisse nicht mehr entbehren können, sondern sie der positiven Rechts- bildung zum Grunde legen müssen. Wir brauchen aber dieselben in allen folgenden Theilen der Verwaltungslehre an zu vielen Punkten, als daß wir uns nicht erlauben sollten, den Kern des Inhalts jenes ersten Bandes der Gesellschaftslehre hier darzulegen. I. Der Classenunterschied als Grundlage der Auswanderung. (Natur und Bedeutung der Classenunterschiede in der Gesellschaftslehre. Alle Auswanderung hat zu ihrer letzten Grundlage die Stellung und den Gegensatz der nichtbesitzenden Classe gegen die höhere herrschende und besitzende.) Die allgemeinste Bedingung der individuellen persönlichen Entwick- lung ist nämlich ohne Zweifel der Besitz , und zwar allerdings zuerst nach seiner Art, je nachdem er Grundbesitz, gewerblicher Besitz u. s. w. ist, wesentlich aber und durchgreifend nach seinem Maße . Bei gleich- gearteten Menschen wird der Regel nach der mehr Besitzende in allem, wodurch das Individuum für das Ganze Werth, Einfluß und Macht hat, höher stehen, als der weniger Besitzende. Das ist kein Zweifel. Es ist ferner kein Zweifel, daß diese Größe des Besitzes nicht etwa eine bloße Thatsache ist, sondern daß sie auch zu einem höchst mächtig wir- kenden Faktor für das Leben der Menschen wird. Dieselben Menschen werden, je nachdem sie viel oder wenig besitzen, anderes thun, anderes lernen, anderes erstreben, anderes lieben und hassen. Auch das leidet keinen Zweifel. Und da es nun im Wesen der Menschen liegt, daß die Gleichartigkeit der Interessen die Gemeinschaft des Wollens und Strebens erzeugt, erst die innere und dann auch die äußere, so entstehen auf Grundlage der verschiedenen Vertheilung des Besitzes unter den Menschen Gruppen des Gesammtlebens, welche wir mit dem Ausdruck der gesellschaftlichen Classen bezeichnen. Wir erkennen nun nach den Kategorien der Größe des Besitzes drei solcher Classen, die höhere , die mittlere und die niedere Classe. Wie gesagt aber, sind diese Classen nicht etwa bloß Thatsachen und Zustände, sondern eine jede hat ihr eigenthümliches inneres Leben, dessen Elemente und Bewegungen wir eben an dem bezeichneten Orte auseinandergesetzt haben. Wir haben die Wirkung dieser Classenunterschiede für die Verfassung und die sich daran anschließenden Kämpfe eben dort organisch entwickelt; wir stehen jetzt vor der Aufgabe, den Einfluß derselben auf die Verwaltung des Staats nachzuweisen, die ohne sie gar nicht zu begreifen ist. Das wird sich im Folgenden fast in jedem Theile der Verwaltungslehre zeigen; hier zunächst erscheint dieser gesellschaftliche Grundsatz des Classenunter- schiedes nur erst in der Auswanderungslehre. Um nun aber die rechte Bedeutung desselben zu würdigen, muß man hier zuerst die Verbindung des Classenunterschiedes mit den Ordnungen der Gesellschaft wieder hervorheben. Wir haben die Geschlechterordnung, die ständische und die staats- bürgerliche Ordnung als die drei Grundformen der Gesellschaftsord- nungen stets unterschieden. Offenbar aber ist allen diesen drei Ord- nungen bei aller tiefer geistigen Verschiedenheit das Element des Besitzes gemein . Mithin erscheint in jeder Ordnung mit dem Besitze auch die Verschiedenheit desselben; und diese wird natürlich innerhalb jeder Ord- nung ihrer Natur nach stets gleichartig wirken. Das heißt, es werden sich nothwendig in jeder Gesellschaftsordnung die drei Classen- unterschiede wieder erzeugen . Die Geschlechterordnung sowohl als die ständische, und ebenso die staatsbürgerliche werden eine höhere , eine mittlere und eine niedere Classe haben. Und da nun, wie gesagt, diese Classenunterschiede ihr eigenes Leben und ihre Gegensätze entwickeln, so ist es ganz natürlich und ja doch auch historisch unbe- zweifelt, daß in jeder Gesellschaftsordnung der Kampf der Niederen mit den Höheren zur Erscheinung gelangt. Ja, das ist nicht bloß so im Allgemeinen wahr, sondern der wahre Inhalt der innern Geschichte aller Zeiten und Völker besteht immer seiner einen Seite nach in dem wun- derbar großen und reichen Bilde, das sich uns entfaltet, wenn wir den doppelten Kampf, einerseits den Kampf der einen Gesellschaftsordnung mit der andern, der Geschlechterwelt mit der ständischen, der ständischen mit der staatsbürgerlichen, und der letzteren wieder mit den ersteren betrachten, andererseits aber den Kampf der drei Classen innerhalb jeder dieser Ordnungen unter einander und mit den Classen der andern Ordnung. Das ist es, was dem Menschenleben seinen unerschöpflichen Reichthum gibt, neben dem der Reichthum der Natur fast als Armuth erscheint, namentlich wenn man sich nun noch die Individualität des Einzelnen und die mächtige Erscheinung der werdenden Staatspersön- lichkeit hinzudenkt, die ihrerseits wieder wirkend eingreifen. Und immer und immer kommen wir darauf zurück, daß das Menschenleben und die Geschichte nur auf diesem Wege verstanden werden kann. Unendlich ist die Mannigfaltigkeit der Beziehungen, die sich daraus ergeben, und das menschliche Auge vermag sie weder je zu erschöpfen, noch auch nur zu verfolgen; aber die Aufgabe unseres Erkennens liegt hier, und nirgends anders. Und wenn wir an der Stelle ernster organischer Forschungen in dieser Richtung ein mehr oder weniger geistreiches Auffassen subjek- tiver Eindrücke, ein sich Genügen in der Theorie, die sich auf eigner Faust die Welt zurecht macht, sehen, so läugnen wir ja nicht die Be- haglichkeit, die daraus für die Schreibenden und Lesenden entsteht; aber wir läugnen die Wissenschaft . Wie — in der ganzen Welt so weit das menschliche Auge reicht, herrscht die feste Ordnung gegebener, unwandelbarer Kategorien, und im Leben der Menschheit sollte sie nicht herrschen? — Daher ist nutzlos, darüber im Allgemeinen zu reden. Vielleicht daß die ganz praktische, concrete Anwendung dieser elementaren Grund- begriffe uns weiter bringt, als die tiefste Philosophie. Kehren wir unmittelbar zum Auswanderungswesen zurück. Da nämlich jede Gesellschaftsordnung ihre Auswanderung hat, so wird das Auswandern als solches ja wohl auf demjenigen Verhältniß beruhen, das allen Gesellschaftsordnungen gemeinsam ist. Und das ist der Besitz mit seinem Classenunterschied. Und in der That kann es auch historisch gar kein Zweifel sein, daß im Allgemeinen alle Aus- wanderungen von der, von der höheren Classe bedrängten niedern nichtbesitzenden Classe ausgehen und sich eben deßhalb stets dahin wenden, wo die sociale Stellung der Auswandernden eine bessere ist als in ihrer Heimath . Das ist das allgemeinste Gesetz aller Auswanderung, das uns nur nicht bloß die Natur derselben, sondern auch Gestalt und Ziel der Auswanderung in den verschiedenen gesellschaftlichen Epochen erklären, und das Recht des Auswanderungs- wesens von Seiten der Verwaltung begründen muß. II. Das Auswanderungswesen der Geschlechterordnung. (Die Grundlage desselben in der Vertheilung des Grundbesitzes. Die sogenannten Militär- und Handelscolonien.) Es muß uns fern bleiben, die Geschichte des Auswanderungswesens im Einzelnen zu verfolgen. Aber es ist von Wichtigkeit, die leitenden Gesichtspunkte festzustellen, da namentlich in neuester Zeit wieder alles Besondere durch einander geworfen ist, und dennoch die Gegenwart nur auf Grundlage ihres eigenthümlichen Unterschiedes von der früheren Zeit recht verstanden wird. In der Geschlechterordnung verstehen wir unter Auswanderung nicht etwa die Wanderung der Völker, in der ein ganzer Stamm sich eine neue Heimath sucht, gewöhnlich aus einem uns unbekannten Grunde. Die Auswanderung muß vielmehr auch hier als das ange- nommen werden, was sie ist, als das Verlassen der Heimath von einem Theile der Bevölkerung. Es würde nun vom höchsten Interesse für die Geschichte der ursprünglichen Völkerbewegungen sein, zu untersuchen, in wie weit die beiden folgenden Sätze den historischen Grund desselben abgeben. Die Geschlechterordnung hat nämlich zwei Hauptstadien ihrer inneren Entwicklung. Die erste beruht noch auf der Gemeinschaft der Grundbesitzungen , die zweite aber schon auf dem Privat- eigenthum und mithin der verschiedenen Vertheilung drrselben. In der ersten Epoche kann eine eigentliche Auswanderung im obigen Sinne nicht stattfinden, weil die Gemeinschaft das Entstehen des Unter- schiedes der nichtbesitzenden und doch freien Classe ausschließt. Die Bewegung nach Außen, welche auch hier aus einer Reihe von nahe- liegenden Gründen stattfindet, erscheint daher stets als eine individuelle und gewinnt nur bei kriegerischen Völkern, wie bei den Germanen, eine feste Ordnung und Gestalt in dem Gefolgswesen , das so alt ist wie die Geschichte, und dessen Grundlage zuletzt doch immer der jüngere Sohn der herrschenden Familie und die schwer erträgliche Unter- ordnung unter den älteren ist. In der zweiten Epoche dagegen hat sich die Gemeinschaft der Gemeindemarkung schon aufgelöst. Die freie Fa- milie sitzt auf eigener Hufe. Die Folge ist, daß der jüngere Sohn zwar an Abstammung und Recht dem älteren gleich, an Besitz und Einfluß aber ihm untergeordnet ist, denn die Hufe geht unter allen Geschlechterordnungen ungetheilt auf den älteren Sohn über. Jetzt tritt daher die Zeit ein, wo der Unterschied der besitzenden und nicht be- sitzenden Classe auch in dieser Gesellschaftsordnung sich zur Geltung bringt. Die jüngeren nichtbesitzenden Söhne suchen einen neuen Besitz; und so entsteht die erste eigentliche Auswanderung. Sie zeigt in ihrer Form ihren Ursprung. Die Auswandernden nehmen zuerst die Idee der Geschlechterordnung und daher auch des Zusammenhangs mit der früheren Heimath mit sich. Sie bilden in der Fremde wieder Ge- schlechterordnungen; und diese Niederlassungen sind die ersten Colonien . Die Bedeutung der „Colonie“ ist eine ganz specifische; unter ihr ver- stehen wir immer eine Auswanderung, welche innerhalb der aufrecht erhaltenen Verbindung mit dem Mutterlande die gesellschaftliche und staatliche Ordnung desselben reproducirt; aber stets in freierer Form . Diese Bedeutung der Colonie hat sich bis auf unsere Zeit erhalten, und mit Recht fühlt daher auch Roscher in seinem oben angeführten Werke, daß man zwischen der Auswanderung und Colonisation einen wesentlichen Unter- schied machen müsse, ohne zu erkennen, worauf derselbe eigentlich beruht. Die Colonien der alten Welt nun theilen sich gleich anfangs in zwei Grund- formen, welche in der griechischen und römischen Welt zur Erscheinung ge- langen. Die erste Grundform ist die Handelscolonie , die zur Zeit der Phönizier, Karthager, Athenienser, wie in der unmittelbaren Gegen- wart von Hamburg und Bremen aus stets von den jüngeren Söhnen namentlich der Mittelclasse bevölkert werden, denen in der Heimath der Raum zu eng ist. Die zweite Grundform ist die der Militärcolo- nien , welche den ihnen in der Heimath fehlenden Besitz nicht durch Handel und Gewerbe, sondern durch Eroberung von Grund und Boden gewinnen wollen. Auch bei den Mititärcolonien ist der Grund der Auswanderung stets der Mangel an Besitz der mittleren und niederen Classe, und nur das Mißverständniß, das die Dinge nach der Form und nicht nach dem Inhalt behandelt, hat den innern Zusammenhang übersehen, und in Militär- oder Eroberungscolonien und Handelscolo- nien etwas wesentlich Verschiedenes sehen, überhaupt die Colonie nach ihrer äußeren Form und nicht nach ihrem Grunde eintheilen wollen ( Roscher , Colonien, S. 1 ff.). Das Wesen und die Bedeutung der römischen Colonien und ihren agrarischen Zusammenhang mit den socialen Zuständen und den organischen Gesetzen hat am besten Napo- leon III. in seinem Leben Cäsars dargestellt. Roschers Ansicht („um mehr Kriegsmannschaft heranwachsen zu lassen,“ S. 11) ist für jedes höhere Verständniß fast unbegreiflich. Diese Form der Colonien für die Auswanderung der Geschlechterordnung hat nun da, wo be- reits der Gegensatz der Geschlechterordnung zu einem bestimmt aus- gesprochenen, und in äußeren Verfassungskämpfen erscheinenden geworden ist, auch eine förmliche Thätigkeit der Gesetzgebung und Verwaltung zur Voraussetzung, oder die Colonisation wird hier zur Verwaltungs- maßregel , und bildet einen wichtigen Theil der socialen Geschichte der inneren Verwaltung. Das ist naturgemäß da der Fall, wo die Grundform des Besitzes der beschränkte Grundbesitz ist, wie in Rom; und daher die Bedeutung und die wohl überlegte Organisation der römischen Colonisation. Wo dagegen dieß nicht der Fall ist, wie in den alten skandinavischen Ländern, da erscheint die Auswanderung nur als Einzeleroberung. Die Ausgewanderten bilden kein Ganzes, sondern zerstreuen sich, und während die Geschlechtercolonien, sei es, daß sie griechische Handels- oder römische Militärcolonien sind, das Gesammt- schicksal des Stammreiches theilen, haben die Eroberungsniederlassungen, wir möchten sagen, ein individuelles Schicksal. Es wäre wohl nicht schwer, das weiter zu verfolgen. Allein es muß uns genügen, den Charakter dieser Epoche der Auswanderung hier bezeichnet zu haben, da dann doch manche Ausdrücke und selbst Grundsätze von ihr in die fol- genden übergehen. III. Das Auswanderungswesen in der ständischen Gesellschaft. (Dasselbe muß in die berufsmäßige und vorzüglich in die kirchliche und in die grundherrliche Auswanderung geschieden werden.) Einen ganz andern Charakter hat die Auswanderung mit dem Auftreten der ständischen Epoche. Wir wollen hier, um jede Weit- läufigkeit zu vermeiden, das Auswanderungswesen sogleich auf die beiden großen Faktoren der ständischen Epoche, das geistige Element des Berufes , und das materielle des Besitzes zurückführen, indem wir die erste das berufsmäßige , die zweite das grundherrliche Auswanderungsrecht nennen. Beide Rechtsordnungen sind tief verschie- den, wie ihre Ursachen, und doch bilden sie erst beide zusammen das Auswanderungsrecht dieser Epoche. 1) Die berufsmäßige und kirchliche Auswanderung . Es ist wohl ziemlich leicht zu erklären, weßhalb diese Art der Aus- wanderung keine selbständige Behandlung erfahren hat. Daß sie jedoch historisch wichtig genug ist, werden wenige bezweifeln. Nur hat man sie eben um ihres ethischen Elementes willen selten vom populationistischen Standpunkt betrachtet. Dennoch hat der letztere seine große Bedeutung. Wir müssen indeß zum Verständniß desselben eine, der Gesell- schaftslehre angehörige Bemerkung voraufsenden. In keiner Gesellschafts- ordnung hat nämlich der Classenunterschied als Unterschied der Besitzenden und Nichtbesitzenden überhaupt so wenig Gewalt als in der berufs- mäßigen Ordnung der Gesellschaft. Und zwar darum nicht, weil hier das geistige Element des Berufes das Ordnende und die Herrschaft Vertheilende ist, und dieß das wirthschaftliche Element des Besitzes theils geradezu unterdrückt, indem es den Besitz und das Einkommen durch die berufsmäßige Thätigkeit regelt, andererseits weil das Bewußtsein der Erfüllung seines Berufes den Menschen fast allein unter allen irdischen Dingen über das Gefühl der Unterordnung, das im Mangel an Besitz und Einkommen liegt, erhebt. Darin liegt der große Segen desjenigen, was wir als das ständische Element im edleren Sinne des Wortes anerkennen, und wir möchten gleich hier hinzufügen, daß der wahre und durchgreifende Unterschied zwischen dem europäischen und amerikanischen Leben darin im Wesentlichen zu bestehen scheint, daß die europäische Welt noch die geistige Fähigkeit sich erhalten hat, in der Erfüllung des Berufes die Erfüllung der Bestimmung der Persönlichkeit zu suchen, die in der nordamerikanischen ohne Erwerb und Besitz gar nicht gewonnen werden kann. Und dieß bessere ständische Element hat sich in Europa bis auf unsere Zeit erhalten, und Gott gebe, daß es sich ewig erhalten möge, um jener kläglichen Reducirung des mensch- lichen Werthes auf Capital und Zinsen entgegen zu treten, die die Signatur der gesellschaftlichen Zustände Amerikas bildet! — Jedenfalls erklärt uns diese große organische Thatsache, weßhalb wir in der stän- dischen Gesellschaft einer ganz andern Gestalt der Auswanderung be- gegnen, als in der Geschlechterordnung. Auch hier sehen wir die beiden Grundformen derselben, die Einzelauswanderung und die Massenaus- wanderung, die selbst zur Colonisation wird. Allein beide haben einen andern Charakter. Die Einzelauswanderung geschieht hier meistens auf Grundlage des Lebensberufes, und ist ein Versuch, in einem andern Lande vermöge des Berufes sich eine Stellung zu gewinnen. Sie hängt daher gar nicht mehr mit Uebervölkerung und Nichtbesitz ganzer Classen zusammen, und sucht daher auch nicht gerade Länder mit dünner, sondern oft geradezu mit dichter Bevölkerung; denn es ist der Werth, den die Ausübung des Berufes hat, der hier entscheidet. So sehen wir Geistliche, Krieger, Aerzte, Gelehrte auswandern, um durch ihren Beruf sich eine neue Heimath zu gründen; und so tritt auch hier zum erstenmale die Erscheinung auf, die wir die Berufung nennen — die Aufforderung zur Auswanderung von Seiten fremder Staaten, die noch gegenwärtig bekanntlich existirt. Andererseits hat diese Auswanderung einen großen Einfluß auf das Einwanderungsrecht; denn es gibt gar keinen Bevölkerungszustand, in dem nicht jeder Staat gerne berufstüchtige Leute zu sich heran zöge; den berufsmäßigen Aus- wanderern haben daher alle Staaten fast ausnahmslos gerne die Gränzen geöffnet, und die in der Darstellung des Einwanderungsrechts bezeichneten Unterstützungen der Einwanderer beziehen sich eben auf diese Form der Auswanderung. — Die Massenauswanderungen da- gegen entstehen in dieser Epoche stets wesentlich aus geistigen, meist religiösen Gründen. Sie sind ursprünglich, in ihrer großartigsten Form, Versuche, Eroberungen für die Religion zu machen, wie die Kreuzzüge, die Züge der Araber, der Türken, und andere. Dahin ge- hören im Grunde auch die Massenauswanderungen der Spanier und Portugiesen nach Amerika, während die der Holländer dem Colonial- wesen und die der Engländer dem folgenden gehören. Dann aber erscheinen sie als letzter, verzweiflungsvoller Schritt, sich der religiösen Unfreiheit zu entziehen: die kirchlichen Auswanderungen. Das Cha- rakteristische dieser Auswanderungen ist es stets, daß sie mit dem Classen- und Besitzunterschied gar nichts gemein haben, sondern vielmehr mit dem Aufgeben des eignen Besitzes in der Heimath verbunden sind. Solche Auswanderungen verbreiten sich, je nachdem die unter- drückte Confession in einem ganzen Lande verbreitet ist, über das ganze Land, wie im 17. Jahrhundert über England, deren Geschichte uns die Historiker der Union so trefflich schildern, oder sie finden nur aus be- gränzten Gebieten statt, wie die der Salzburger Protestanten. Sie wirken stets in großartiger Weise; denn sie bringen den tiefen sittlichen Ernst, der sie veranlaßte, lieber ihr Vermögen als ihren Glauben zu verlassen, mit in ihre neue Heimath, und befruchten dieselbe stets geistig und wirthschaftlich in hohem Grade. Aber das Verhältniß derselben zur Verwaltung ist ein eigenthümliches. Es zeigt dasselbe stets zwei sehr verschiedene und doch ziemlich leicht verständliche Seiten. Da näm- lich solche Auswanderer ihr Vermögen meistens zurücklassen und die Concurrenz erleichtern, so werden sie von den Körpern der Selbstver- waltung stets gerne und anstandslos entlassen . Erst da, wo die Staatsgewalt zur Erkenntniß gelangt, daß der Staat als Ganzes viel mehr durch sie verliert, als die in den einzelnen Gemeinden Zurück- bleibenden durch sie gewinnen, pflegt das Auswanderungsverbot, diese erste populationistische Maßregel, auf sie Anwendung zu finden, und das kirchliche Auswanderungsrecht verschmilzt mit dem polizeilichen, zu dem wir sofort übergehen. Anders gestaltet sich die zweite Seite des Auswanderungswesens der ständischen Epoche. 2) Das grundherrliche Auswanderungsrecht . (Das grundherrliche Nachschoßrecht, jus oder census (gabella) emigra- tionis, oder Detractrecht und seine Geschichte.) Während Ordnung und Recht der auf geistigen Faktoren beruhen- den Auswanderung wenig oder gar nicht mit dem eigentlichen Staats- recht in Verbindung steht und seiner Natur nach als ein freies Recht erkannt wird, erscheint eine ganz andere Gestalt des Auswanderungsrechts da, wo es sich rein um den mit der Auswanderung verbundenen Besitz handelt. Und hier treten wir zuerst in dasjenige Gebiet der Rechts- geschichte, das mit unserer Gegenwart zusammenhängt. Das große Princip des Lehnswesens, nach welchem der Besitz sich mit dem staatlichen Hoheitsrecht identificirt, hat, wie alle andern Ge- biete, so auch das des Auswanderungsrechts in einer Weise bestimmt, die jedem Juristen bekannt ist, und bei der uns nur Eins darzulegen übrig bleibt, die Verschmelzung dieses eigentlich grundherrlichen Rechtes mit dem späteren, dem polizeilichen Auswanderungsrecht. Freilich dürfte unsere Auffassung auch des ersteren nicht die gewöhnliche sein. Der uralte Grundsatz der Geschlechterordnung, daß der Grundbesitz der Ge- meinde (des Dorfes) eine an sich rechtlich untrennbare Einheit sei, geht mit der Eroberung durch die Völkerwanderung auf die neuen Staatenbildungen über, und erscheint hier zuerst in dem Grundsatz, daß der Lehnsherr das Obereigenthum über die Besitzungen seiner Va- sallen habe. Die natürliche erste Folge dieses Princips war, daß der Vasall nicht über seine Hinterlassenschaft testiren könne. Die zweite Folge war, daß das erblose Gut dem Grundherrn zufiel. Die dritte war, daß das Vermögen der Familien dem Herrn des Grundes und Bo- dens zufiel, auf dem sie lebten, eine Consequenz, die Kaiser Friedrich II. umsonst aufhob ( Authent . ad l. IV. C. Comm. de Succ. ) und von dem noch Fischer in seinem Polizeirecht (§. 610) sagt: „Dieses Gesetz ist theils bloß der in Italien studirenden Jugend gegeben (Frie- drich II. spricht allerdings nur von „ Hospitibus“ ), theils niemals voll- kommen beobachtet worden.“ Diese verschiedenen Consequenzen nennen wir das Heimfallsrecht . Von den Grundherren aus ward dieß Recht dann auch auf die städtischen Gemeinden übertragen, und bil- dete so ein allgemeines germanisches Rechtsprincip. Die freiere Bewegung unter den Völkern milderte dann diesen Grundsatz theils auch unter dem Einfluß des römischen Rechts dahin, daß zwar das Recht des Fremden an der Erbschaft zugestanden, daß aber die Ausfolgung der Erbschaft nur gegen eine Entschädigung an den Gutsherrn, beziehungsweise die Gemeinde gestattet ward; diese Entschädigung war das jus detractionis, gabella detractionis, gabella traditoria, Abzug, Abschoß, Erbsteuer, Weddeschatz, die von der Reichsproceßordnung 1594, §. 82 zuerst als ein gemeingültiges deutsches Recht auch formell anerkannt wurden. — An die obigen Consequenzen schloß sich nun eine letzte. Derselbe Grund- satz, der für das Gut des Todten galt, mußte natürlich auch für das des Lebenden gelten. Zwar durfte der Unfreie natürlich überhaupt nicht auswandern, da er ja an die Scholle gebunden war, und der Lehnsherr (in dessen aveu er stand) das Recht auch auf seine Person hatte. Allein der Freie durfte wandern. Nach der Geschlechterordnung war er durch nichts darin gehindert; nur war es bei der Gemeinschaft des Rechts der Bauern an der Gemarkung selbstverständlich, daß er sein „Gut“ zurückließ. Dieser vollständige Verlust des Gutes trat nun in der späteren Lehensepoche in entschiedenen Widerspruch mit dem Bedürfniß nach freierem Verkehr, und es lag daher nahe, auf den Auswandernden und sein Gut denselben Grundsatz anzuwenden, wie auf den fremden Erbberechtigten; denn in der That ward ja der Aus- wanderer jetzt ein Fremder. Man gestattete daher auch die Auswan- derung gegen eine Entschädigung an den Grundherrn oder die Ge- meinde, und so entstand die zweite Form des detractus oder gabella: der census oder die gabella emigrationis, die Nachsteuer , der Nachschoß . Man faßte nun die Abzüge wegen Erbschaft und die wegen Auswanderung vielfach als ein und dasselbe Recht, als jus detractus oder Detractrecht zusammen, wobei nur die Abzugs- quote verschieden war, und bei der durchgreifenden Gemeinsamkeit der Grundlage war das im Grunde ganz richtig, weßhalb auch die viel- fachen juristischen Abhandlungen — die, so viel wir sehen, mit Affel- manns Dissertation de jure seu gabella detractionis, Rost. 1622 beginnen — sie stets gemeinsam behandeln. Wenn Fischer es Selchow so gar sehr zum Vorwurf macht, daß auch er sie in seinem Element. Juris German. §. 223 zusammenfaßt, so beruht das darauf, daß die Auffassung des Detractrechts zur Zeit des Ersteren schon eine ganz andere war, wie wir gleich zeigen werden. Dieß Detractsrecht nun, ursprüng- lich aus der Idee der Gemeinschaft des Gemeindebesitzes entstanden, erschien mit dem 14. Jahrhundert schon als ein integrirendes Element der Grundherrlichkeit, und hier wie auf fast allen Punkten ward es daher mit dem Recht auf die Gerichtsbarkeit verschmolzen und mit ihr als gegeben und identisch angenommen. Daher sagt Fischer mit gutem Grunde, „daß jedem Gutsherrn, er mochte landsässig sein oder nicht, der die Erbgerichtsbarkeit besaß; und jeder Stadt mit Ober- und Untergericht das Abzugsrecht zukam“ (§. 622). Ueber das vorgebliche Erforderniß der Landsässigkeit siehe besonders Riccius vom landsäßigen Adel Cap. 19. §. 48 und Mevius Comment. ad Jus Lubecence II. T. 1. §. 5). Selbst die Universitäten als selbständige Körperschaften hatten das jus detractus. Die Sache war dadurch für alle Gutsherren von großer privatrechtlicher Wichtigkeit, da in Deutsch- land wie in Fankreich das ganze Land in lauter Grundherrlichkeiten aufgelöst war. Man wird daher leicht begreifen, daß sie zu einer außerordentlichen Entwicklung der juristischen Literatur Grund gab, die eben weil sie nur vom bestehenden Privatrecht handelte, sich um jeden allgemeinern Gesichtspunkt gar nicht kümmerte, und rein als juristische Literatur erscheint. Diese streng juristische Behandlung der Sache hat sich in der deutschen Rechtsgeschichte erhalten, selbst Eichhorn hat sie nur juristisch aufgefaßt (§. 373), und trotz der Bemühungen Fischers und Bergs , die die administrative Bedeutung der Sache recht gut verstanden, hat die neuere Wissenschaft, wie bei Mitter- maier, Gerber u. a., nichts als ein interessantes Rechtsinstitut darin zu erkennen vermocht. Jedenfalls aber kann es nunmehr wohl nicht zweifelhaft sein, daß dieß Abzugsrecht dem Auswanderungsrecht der ständischen Epoche angehört; und um uns den Inhalt der folgenden Epoche klar zu machen, können wir dasselbe nunmehr in seinen zwei Punkten zusammenfassen. Das grundherrliche Auswanderungsrecht war ein doppeltes; ein persönliches und ein wirthschaftliches . Das persönliche Aus- wanderungsrecht bestand in dem Verbote der Auswanderung für den Hörigen und Leibeigenen; die Auswanderung des glebae adscriptus war ein Vergehen gegen das Recht des Herrn und konnte von ihm bestraft werden. Nur der Freie konnte persönlich auswandern, und diese persönliche Auswanderung war eine unbeschränkte. Dagegen bestand das wirthschaftliche Auswanderungsrecht ursprünglich in dem vollen Heimfallsrecht des Vermögens an die Gemeinde oder den Grundherrn, bis an die Stelle desselben das Abzugsrecht als ein Privatrecht der Grundherrlichkeit tritt und als solches von der gesammten Gesetzgebung und Jurisprudenz anerkannt wird. An dieser ganzen Rechtsbildung hat nun die Verwaltung des Staats noch gar keinen Antheil. Sie hat auch noch kein Princip über die Auswanderung. Erst mit diesem entsteht das Streben, an die Stelle dieses grundherrlichen Auswanderungsrechts ein staatliches, im engeren Sinne des Wortes administratives zu setzen; und das nun geschieht in der jetzt folgenden Epoche, deren Inhalt und Entwicklung wir nunmehr angeben wollen. Stein , die Verwaltungslehre. II. 13 IV. Das Auswanderungswesen der polizeilichen Epoche. (Wesen des populationistischen Auswanderungsrechts. Das Detractsrecht wird zum Regal und verschwindet. Grundlage und Entstehung der Auswanderungs- verbote . Inhalt und Gestaltung derselben. Die äußere Colonisation.) Das Auswanderungswesen der polizeilichen Epoche hat eben so wenig wie das Einwanderungswesen einen äußerlich bestimmten Anfang; wohl aber hat es ein innerlich bestimmtes Princip; und dieß ergibt sich aus den früheren Darstellungen fast von selbst und erzeugt bei der Aus- wanderung wie bei der Einwanderung ein doppeltes, scheinbar sich wider- sprechendes System, das der Verhinderung und das der Förderung der Auswanderung. So wie nämlich mit dem Anfange des vorigen Jahrhunderts die Regierungen zu der Vorstellung gelangen, die durch die Theorie der jungen Staatswissenschaft und durch die Thatsache der stehenden Heere auf das Lebhafteste unterstützt wird, daß die Glückseligkeit und Macht der Staaten in geradem Verhältniß zu der Dichtigkeit der Bevölkerung stehe, so tritt der Wunsch auf, die Auswanderung zu verhindern . Diese Verhinderung der Auswanderung schlägt nur da in ihr Gegentheil um, wo man eine Machtvermehrung durch Anlage von überseeischen Colonien hofft; und hier erscheint daher die Beförderung der Aus- wanderung in dem Versuche, äußere Colonien anzulegen. Beide Bestre- bungen haben daher eine gemeinsame Tendenz; wir bezeichnen die aus der letztern hervorgehenden Bestimmungen am besten als das popula- tionistische Auswanderungsrecht . Dasselbe hat seine eigene historische Entwicklung. 1) Die populationistischen Auswanderungsverbote beginnen bereits mit der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts; aber sie scheiden sich in zwei auch der Zeit nach verschiedene Gruppen. „Es war,“ sagt Berg (Polizeirecht III. Bd. S. 56), „nach dem siebenjährigen Kriege, als die Begierde, nach Preußen, Polen, Ruß- land, Ungarn und Amerika auszuwandern, einen großen Theil der teutschen Einwohner gleich einer Seuche ergriff, Wohlhabende und Arme mit gleicher Gewalt fortriß und die Bemühungen zahlreicher Emissarien mit dem glücklichsten Erfolge lohnte. Unter diesen Umständen forderte der Kaiser die Reichsstände durch ein allgemeines Edikt auf, Niemanden außer Reiches Gränzen die Auswanderung zu verstatten — die Emis- sarien auszukundschaften, anzuhalten und mit schwerer Strafe zu bele- gen.“ Das scheint der Anfang der förmlichen gesetzlichen Auswanderungs- verbote; genauer hat Moser (Reichsstaatshandbuch II. S. 121 und Kreisverfassung S. 758) diese Entwicklung angegeben. Der allgemeine Gang aber dürfte im Wesentlichen der folgende gewesen sein. Als zuerst der Wunsch entsteht, die Auswanderung zu hindern, muß sich die noch junge Verwaltung der Staaten damit begnügen, ihre Maßregeln einfach an das Auswanderungsrecht der ständischen Epoche anzuschließen . Und hier entsteht einer von jenen Uebergängen, welche die gesammte Bewegung im öffentlichen Recht des vorigen Jahr- hunderts und die Umgestaltung seiner Grundlagen mehr wie vieles andere kennzeichnen. Es ist die Umwandlung des Rechtstitels des bestehenden Rechts, der wir auch im Auswanderungsrecht begegnen. Die Regierungen ließen die Abzugs- und Nachschoßsteuer bestehen, aber sie erklärten sie für ein Recht des Staatsoberhaupts , indem sie zum Theil aus dem Corpus Juris (l. un Cod. non licere habit., l. fin. Cod. d. Ed. Div. Hadr., l. 21 Dig. de probat.) zum Theil aus den germanischen Begriffen des jus eminens folgerten, daß eigentlich nur der König berechtigt sei, die gabella zu erheben; man sagte geradezu, das Recht auf die gabella sei ein Regal . Daher entsteht jetzt die Frage, ob die Abzugsrechte durch Gesetze der Landesherren eingeführt werden können, worüber Heineccius ( Repertor. Jur. Germ. Priv. p. 16 Gr. §. 7); Menke ( Systema Jur. Civ. I. T. 1. §. 11. 12); Cramer (Wetzlarer Nebenstunden VI. S. 1 ff.) viel gestritten und zum Theil, wie Heineccius, die Anwendung der römischen Bestimmungen, nicht zu Gunsten der freien Entwicklung, heftig bekämpft haben. Das Ende war die Anerkennung der Regalität , und zwar theils theoretisch, wie von Joh. Gottfr. Faust („Beweis, daß das Recht der Nachsteuer ein Regal sei, 1756); Fischer (Polizeirecht §. 625: „Heut zu Tage ist der landesherrliche Detract aus dem Staatsobereigenthum abgeleitet und ist ganz unstreitig ein Regal“) — theils praktisch, indem einerseits die Landstände es selbst als solches anerkannten, und sich dasselbe daher oft ausdrücklich bestätigen ließen ( Lüneburger Stat. p. IX. t. 10; Hohenzollern ’sche Landesordnung Titel XXIV.; Zell , Stat. Tit. 17; Anhaltische Landesordnung Tit. XIV.; der in Preußen von Seiten der Regierung „sowohl dem Adel als den Städten nachgelassene Besitz und Ausübung des Abzugsrechts und der Nachsteuer gegen die übrigen königlichen Unterthanen“ speciell aufgeführt bei Fischer , Polizeirecht §. 624); anderseits der Satz Raum gewann, daß wo eine Grundherr- lichkeit das Recht auf den Detract behauptet, sie dasselbe auch beweisen müsse ( Ertel , De jurisd. inferiora et bassa P. 1. c. 19. obs. 1; Pesler , de bon. Nobil. J. Detractus non obnoxiis. §. 5). Man ging weiter, und das neue Recht der jungen administrativen Gewalt fand seine tiefere Begründung bereits in dem Satz, daß der Staat, in dessen Schutz das Vermögen erworben und erhalten worden sei, auch durch Entziehung desselben nicht geschwächt und daher ein Theil zur Bestreitung des Staatsaufwandes zurückbehalten werden dürfe, wie schon Mevius in seinen Decisiones. (II. dec. 163. VII. dec. 18) und Ludolf in seinen Observations (II. obs. 189) bei der Untersuchung des Detractsrechts es aussprechen, während Heumann später in seinem „Geist der Gesetze der Teutschen“ ( C. II. 8 und C. 25. 11) es publi- cistisch beweist. Die preußische Verwaltung, unter allen deutschen stets diejenige, welche dem Einfluß geistiger Bewegung am meisten zugänglich war, stand daher keinen Augenblick an, das ganze Detractsrecht polizeilich zu organisiren (Preußische Instruction vom 30. Juli 1774 und Rescript vom 4. December 1767) und der Grundsatz ward ohne weiteres angenommen, daß erstlich das Heimfallsrecht nur noch retor- sionsweise ausgeübt werden solle, und daß zweitens dem Erblasser vergönnt ist, bei Lebzeiten über sein ganzes Vermögen zu disponiren ( Rescript vom 29. August 1739 und 16. März 1743), was mit der freisinnigen Auffassung des Einwanderungsrechts eng zusammenhängt ( Fischer , §. 611. 612). Daraus ergab sich die Folgerung, daß über Detractsfälle „nur die Landesregierungen unter Einberichtung an das auswärtige Departement erkennen durften“ ( Fischer , §. 627). Dieß Princip war nun zwar sehr einfach; allein es entstanden nun eine Masse von Rechtsfragen; zunächst die über das Detractsrecht bei dem freien Adel, dann die Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Landestheilen, und diese zwangen allerdings wieder, auf die rein juristische Seite der Sache zurückzugehen, und damit die staatswissenschaftliche fallen zu las- sen. Zur Zeit des allgemeinen Landrechts war das Heimfallsrecht, als die ursprüngliche und strenge Form, vollkommen verschwunden. Das Abzugs- oder Detractsrecht wird dagegen vom allgemeinen Landrecht ( II. 17. Abschn. 2) als ein Ausfluß der Gerichtsbarkeit und „niederes Regal“ anerkannt (Abschoßgeld, gabella hereditaria, §. 161—173; Ab- fahrtsgeld, gabella emigrationis, §. 141—160; die Verleihung dieser Rechte an Privatpersonen, §. 174—183). Das inländische Abfahrts- oder Abzugsrecht ward in Folge der freiern Auffassung durch Verord- nung vom 27. November 1777 aufgehoben, aber durch Edikt vom 15. Nov. 1787 wieder eingeführt; die definitive Aufhebung geschieht erst durch Gesetz vom 21. Juni 1816. ( Rönne , preußisches Staatsrecht, §. 91). Ueber die Auffassung, welche den Bestimmungen des allgemei- nen Landrechts zum Grunde liegt, Simon , preußisches Staatsrecht II. 573 und Rönne a. a. O. Note 4. — In Württemberg ist das Abzugs- recht vollständig durch das Gesetz vom 19. November 1833 aufgehoben. ( Mohl , württemberg. Verfassungsrecht, §. 75). Den Abschluß dieser damit durchaus ins Casuistische fallenden Streitigkeiten brachte dann bekanntlich erst spät die deutsche Bundesakte (Art. 18), deren „Frei- zügigkeit“ im Grunde die bundesgesetzliche Aufhebung des Detractrechts bedeutet. Doch hatten schon im vorigen Jahrhundert viele deutschen Staaten sich durch Gegenseitigkeitsverträge ein freies Abzugsrecht geschaf- fen, und hielten an demselben, wie wir gleich zeigen werden, nur noch als Retorsionen fest. Daraus ergab sich dann, daß die allmählig all- gemein anerkannte Nothwendigkeit der Aufhebung des Abzugsrechts durch eine Reihe von Verträgen zwischen den einzelnen Staaten als inter- nationales Recht aufgestellt ward, und zwar natürlich so, daß jeder Staat mit jedem einzelnen Staat einen darauf bezüglichen Vertrag zu schließen hat. Die deutsche Bundesakte (Art. 18) stellt die Aufhebung des Abzugs nur für die Auswanderungen unter den Bundesstaaten fest; die letzteren haben dann mit den übrigen europäischen Staaten einzelne Abzugsverträge geschlossen. Die württembergischen sind bei Mohl (§. 75) aufgeführt. In Oesterreich speciell kam das Detractsrecht in seiner Regalität überhaupt nicht zur Ausbildung, weil es durch die polizeilichen Auswanderungsverbote überflügelt ward. Aehnlich in vielen andern deutschen Staaten. Ueberdieß trat auch die Erbschaftssteuer mit gleichem finanziellem Effekt an ihre Stelle, und so wird es nicht wundern, daß die ganze Abzugsfrage mit dem Ende dieser Epoche zu verschwinden beginnt. Populationisten, und selbst Berg , sprechen gar nicht mehr von ihr, trotz ihrer Wichtigkeit. An ihre Stelle tritt viel- mehr mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts das eigentliche Aus- wanderungsverbot als rein polizeiliche, populationistische Maßregel. 2) Während sich nämlich das Detractrecht an die wirthschaftliche Seite des alten ständischen Auswanderungsrechts anschließt, schließt sich das Auswanderung sverbot vielmehr an die persönliche an. Mit dem Wunsche nach Vermehrung der Bevölkerung tritt die einfache Consequenz ein, den Einwohnern der Staaten die Auswanderung geradezu zu verbieten , als Folge der Verpflichtung des Staates, für die Glückseligkeit seiner Einwohner zu sorgen. Diese direkten Verbote sind wahrscheinlich von Frankreich nach Deutschland gelangt. Und so sehen wir nun zwischen Praxis und Theorie einerseits und innerhalb der Theorie selbst anderseits jenen tiefen Gegensatz entstehen, der zur folgenden Epoche der freien Auswanderung hinüberführt. Von Oesterreich sagt Kopetz (Polizei-Gesetzkunde I. §. 87) daß bereits in früheren Zeiten sowohl allgemeine als besondere Aus- wanderungsverbote erlassen worden seien. Letztere beziehen sich speciell auf die Arbeiter in bestimmten Industrien, namentlich auf die böhmischen „Glasmacher“ (seit 1752), Sensenschmiede (Verordnung vom 8. Februar 1781); das erste allgemeine Auswanderungspatent vom 10. August 1784 schrieb überhaupt vor, daß die Obrigkeit „geschickten Künstlern und Handwerkern, welche bei den Provinzialfabriken besonders nothwendig sind,“ nicht leicht Pässe ins Ausland geben solle. Joseph II. faßte dann alle besondern Vorschriften in das citirte Auswanderungs- patent vom 10. August 1784 zusammen, welches zugleich die Gesetz- gebung über „fremde Werbungen, Entführungen und gewaltsame Weg- nehmungen der Unterthanen“ enthält. Hier werden die Begriffe der wirklichen und beabsichtigten Auswanderung förmlich codificirt und das Princip ganz allgemein aufgestellt, daß die Auswanderung nur auf Bewil- ligung geschehen darf, wobei aber den Behörden noch ausdrücklich aufgetragen wird, auch den „Vorwand und die Gelegenheit“ zur Aus- wanderung abzuschneiden, weßhalb gegen diejenigen, die den Argwohn der Auswanderung erwecken, eigene Maßregeln vorgeschrieben werden. Die unbewilligte Auswanderung aber wird jetzt ein Verbrechen , das mit Confiscation des erreichbaren Vermögens, eventuell mit drei Jahren öffentlicher Arbeit zu bestrafen ist; selbst die Mitschuldigen werden hart bestraft. Listige Entführungen sind Verleitungen von Hand- werkern ꝛc, „um sich in fremden Staaten anzusetzen“, wobei die Anzeige mit 100 und die Einbringung solcher „Verführer“ mit 200 fl. belohnt wird; die Verleitung selbst wird mit 1—6 Monaten Arrest bestraft. Obwohl nun ähnliche Grundsätze auch anderswo gegolten haben, wie in Dänemark ( Justi , §. 304); Rußland ( Justi und Roscher ); Kur- braunschweig 1784 ( Berg , Polizeirecht Bd. III. 2. Abschn. Hauptst. 2); Pfalz 1785; Hessen-Darmstadt 1787 ( Berg a. a. O. S. 52); namentlich das unbedingte Auswanderungsverbot von Bayern (Patent vom 28. Februar 1784; Pötzl , bayerisches Verfassungsrecht §. 31); Königreich Sachsen (Mandat vom 21. August 1764 und folgende; Funke , Polizeigesetze Abschn. VIII. Cap. 4), ist doch wohl kein Verbot so systematisch entwickelt als dieses, und hat dasselbe vielleicht eben deß- halb seinen Einfluß bis auf unsere Zeit erstreckt. Das neue Auswan- derungspatent vom 24. März 1832 für Oesterreich steht übrigens, ob- gleich es in vielen einzelnen Beziehungen freier ist, doch noch auf dem- selben Standpunkt; die „unbefugte Abwesenheit“ ohne Paß wird noch immer mit Strafen (5—50 fl.) belegt, und die Behörde hat das Recht, „Einberufungsedikte“ ergehen zu lassen, die dreimal zu veröffentlichen sind, und bei welchen die Staatsbürgerschaft verloren geht, wenn der Betreffende nicht zurückkehrt. Es ist kein Zweifel, daß diese Bestim- mungen gerade wie das damalige Recht der Volkszählung noch ganz auf dem Standpunkt der Sicherung der Militärpflicht stehen. Eben so strenge war in Preußen die Auswanderung im Anfange dieses Jahr- hunderts verboten ( Roscher , Nationalökonomie a. a. O.), und dieser allgemeine Grundsatz wird noch von Fischer (Polizeirecht I. §. 587) als geltend erkannt (1785). Erst das allgemeine Landrecht Th. II. 17. 127—141 hat den Grundsatz der Freiheit der Auswanderung auf- gestellt; und obgleich dieß Princip durch Edikt vom 2. Juli 1812 auf- gehoben wurde, ist es durch Gesetz vom 15. September 1818 in seinem vollen Umfang wieder eingeführt. Die Quellen für die Gesetzgebung der übrigen deutschen Staaten im 18. Jahrhundert gehen uns ab; gewiß werden manche unserer Leser hier interessante Beiträge nachtragen können. Mit diesen Gesetzen nun trat, namentlich gegen das Ende des Jahr- hunderts, die Theorie in lebhaften Gegensatz, und sie hat nicht wenig dazu beigetragen, die Freiheit auch auf diesem Gebiete vorzubereiten. Der erste , der eine vollständige Theorie der Auswanderung auf- stellt, ist Justi ( II. Bd. IX. Hauptst. 2. Abschn.) „Von denen Maßregeln wider die Auswanderung und Ausführung der Unterthanen.“ Trotz seiner Ansicht, daß jeder Staat die Auswanderung verhindern solle, steht dieser bedeutende Mann doch auf einem viel freieren Standpunkt als die Gesetzgebung seiner Zeit. Er erkennt drei Ursachen der Aus- wanderung: üble Beschaffenheit der Regierung, Mangel an Gewissens- freiheit, und erst in dritter Reihe Mangel an Nahrung im Lande. Nun kann man „dem Staate nicht gänzlich das Recht absprechen, die Auswanderung zu verbieten“ — aber es ist „nicht rathsam, sich dieses Mittels zu bedienen.“ „So lange ein Staat,“ sagt er (§. 309), „die Ursache von der Auswanderung seiner Unterthanen nicht hebet, so wird er sich vergeblich bemühen, sie davon abzuhalten.“ In gleicher Weise spricht er sich über das Abzugsgeld aus: „Eben so wenig ist es rath- sam, die Unterthanen durch ein hohes Abzugsgeld von der Auswan- derung abzuhalten“ (§. 305). In ähnlicher freier Weise faßt auch Süßmilch die Frage auf, wenn auch unbestimmter (1. Bd. Cap. 14), wie denn Süßmilch überhaupt bei viel größern Kenntnissen viel weniger Charakter als Justi besitzt (Verfass. §. 276). Auf einen viel höheren Standpunkt steht der treffliche Berg , ein Mann, dessen Leistungen so wenig wie seine Gesinnungen gehörig gewürdigt sind. Allerdings meint er, daß „kein Staat schuldig sei, Personen, welche die Einwohner zum Auswandern verleiten, zu dulden,“ allein „durch Strafverbote und andere Zwangsmittel dürfe das Auswandern nicht verhindert werden.“ Er stellt vielmehr ausdrücklich den Grundsatz auf: „der freie deutsche Unterthan ist nicht an die Erde gebunden, die er bewohnt, und keine Polizeigewalt ist berechtigt, ihn wider seinen Willen zurückzuhalten “ (S. 51). Wir führen diesen Ausspruch mit Stolz an, denn er beweist uns, daß die deutsche Wissenschaft auch in dieser Beziehung schon damals mindestens eben so hoch stand als die französische Auffassung, die sich namentlich bei der Berathung über das Emigrantengesetz zwar in ihrer Energie, aber auch in ihrer Einseitigkeit zeigte ( Thiers , Histoire de le Révolution I. p. 186 sq. ). Die deutsche Rechtswissenschaft übrigens hatte diesem Satze bereits vorgearbeitet; Berg sagt: „Dieß Recht ist durch das allgemeine deutsche Herkommen anerkannt und durch reichsgerichtliche Erkenntniß außer Zweifel gesetzt.“ Nach Faber (Staatskanzlei Thl. 49, S. 463) erklärte der deutsche Reichshofrath, „es laufe wider die teutsche Freiheit, den Unterthanen das jus emigrandi zu entziehen;“ die früheren Ansichten, die gegenüber den damaligen polizeilichen Verboten dieß Recht vom juristischen Stand- punkt vertraten, hat Wiesand ( de limitibus, quibus facultas domi- cilii circumscribitur 1791) gesammelt. (Vgl. Berg a. a. O. S. 52.) In Württemberg bestand das im Tübinger Vertrag festgesetzte Recht der freien Auswanderung bis zur Regierung König Friedrichs, wo es erst durch die Verordnung vom 21. Juni 1811 aufgehoben wurde ( Mohl , württemb. Verfassungsrecht S. 388). Es ist daher gewiß und darf nicht vergessen werden, daß Deutschlands Wissenschaft damals in der freien Auffassung des Auswanderungsrechts viel höher stand, als England , wo nach Roscher noch im im Jahre 1744 J. Tucker in seinen Four tracts (p. 226) das gesetzliche Verbot der Auswanderung von Arbeitern billigte. Im Gegentheil leidet es keinen Zweifel, daß es die deutsche Rechts- und Staatswissenschaft ist, welche die populationistischen Auswanderungsverbote gebrochen und das Princip der freien Aus- wanderung zum Siege geführt hat, das die Grundlage des heutigen Auswanderungsrechts bildet, und zu dem wir jetzt übergehen können. Was nun, um auch diese Seite nicht zu übergehen, die äußere Colonisation als Anlegung von überseeischen Colonien unter Mitwirkung der Regierung betrifft, so glauben wir an diesem Orte dieselbe mit Einer Bemerkung erledigen zu können. Obwohl sie natürlich theils in der Form der Auswanderung, theils in der der Einwanderung (Herbei- ziehen fremder Colonisten) geschieht, so hat sie von Anfang an mit dem Bevölkerungswesen gar nichts zu thun, sondern ist lediglich aufgefaßt als eine Maßregel zur Förderung der Volkswirthschaft, speciell des aus- wärtigen Handels und der Schiffahrt, wenn auch Rau diese Seite gänzlich übersieht, und Roscher sie nicht genügend hervorhebt. Sie bildet in diesem Sinne ein eigenes Gebiet, das auf eigenthümlichen Gründen beruht, und daher auch mit Recht den eignen Namen der Colonialpolitik führt. Die verschiedene Gestalt, die bewegenden Gründe und die Geschichte derselben hat Roscher in seinem Werke ziemlich genau dargestellt. Wir werden nur auf Einem Punkte auf dieselbe zurückkommen. V. Das Auswanderungswesen der staatsbürgerlichen Gesellschaft, oder die freie Auswanderung. (Begriff und gesellschaftlicher Charakter der freien Auswanderung. Was das freie Auswanderungsrecht bedeutet. Entstehung und Entwicklung der Sorge für die Auswanderung.) Mit der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung siegt nun auf allen Punkten das Princip der freien Selbstbestimmung des Einzelnen über die Schranken, welche die gesellschaftliche Ordnung derselben gesetzt hat. Wie der Beruf, die Religion, das Gewerbe, so wird jetzt auch das Angehören an den eignen Staatsverband grundsätzlich frei. Der Staat ist jetzt nicht mehr der Herr und Vormund seiner Angehörigen, sondern er ist ihre Einheit ; das Verlassen der Einheit wird damit Sache des Einzelnen; und dieser Grundsatz ist der des freien Auswanderungs- rechts . Allein diese Freiheit ist als bloße Aufhebung der bisherigen recht- lichen Beschränkungen nur ein negativer Begriff. Die wirkliche Aus- wanderung hat jetzt wie immer ihre positiven Grundlagen, und diese liegen hier wie immer in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie be- rührt aber außerdem als ein völliges Aufheben der Gesammtbeziehungen des persönlichen und wirthschaftlichen Lebens die Gemeinschaft, die der Auswanderer verläßt, und wird dadurch zu einem öffentlichen Akte. Der Staat kann und soll sie daher nicht hindern; aber er muß auch bei der vollen Freiheit der Auswanderung die rechtlichen Bedingungen festsetzen, durch welche sie in der Weise geordnet wird, daß sie nicht zu einer Verletzung der öffentlichen Interessen wird. Und so entsteht das, was wir das Auswanderungsrecht nennen. Endlich aber greift sie selbst so tief in diese Gesammtinteressen hinein, daß sie als solche ein Gegenstand der Verwaltung wird; und damit entwickelt sich aus der rein negativen Freiheit der Auswanderung ein eigenthümliches System der Sorge für dieselbe, das sich zu einer großen und wichtigen Gesetz- gebung entfaltet hat. Man kann daher gewiß mit Recht sagen, daß die staatsbürgerliche Gesellschaftsordnung schon jetzt ihr eignes und eigenthümliches System des Auswanderungswesens erzeugt hat, das wir jetzt kurz darzustellen haben. Nur ist dasselbe eben so wenig wie die früheren Systeme plötzlich entstanden, noch auch ist es als ein vollständig abgeschlossenes zu betrach- ten. Es hat im Gegentheil keinen unwesentlichen Werth, den Gang der Theorie wie den der Gesetzgebung in dieser Beziehung genauer zu beobachten. Es ist wohl kein Zweifel, daß die theoretische Auffassung des Aus- wanderungswesens zwei Stadien durchgemacht hat und daher auch zwei ganz verschiedene Gesichtspunkte darbietet. I. Der erste Standpunkt der Theorie ist der, den wir bereits in der vorigen Epoche siegreich gegen das polizeiliche Recht zum Durchbruche gelangen sehen. Es ist die Vertretung der, allerdings nur negativen, rechtlichen Freiheit der Auswanderung. Die Grundsätze, welche schon Berg und andere aufstellen, gelangen zur vollen Anerkennung; die Theorie ist sich einig, daß gesetzliche Verbote unzulässig seien. Was Bentham , Des récompenses et des peines bei Roscher (§. 256) sagt, hat, wie wir gesehen, ein Menschenalter zuvor schon Justi viel besser ausgesprochen, selbst Jacobs (Polizeigesetzgebung, §. 96) spricht sich genau in derselben Weise aus; und Hallers Zugeständniß für die Auswanderungsfreiheit (Restauration der Staatswissenschaft I. 429 und 508) ist ein Beweis, daß die freiere Anschauung unwiderstehlich ge- worden ist. Dagegen verliert die neue Staatswissenschaft den recht- lichen Gesichtspunkt ganz aus den Augen und spricht nur vom popu- lationistischen. Berg ist wieder der letzte, der denselben festzuhalten versteht, und darin ist er im Grunde der Ausdruck des Geistes, der sich in den neuern Gesetzen Bahn bricht. „Es ist billig, daß keinem Unter- thanen verstattet werde, ohne Vorwissen des Staats auszuwandern — doch darf ihnen ohne rechtliche Ursachen die Entlassung nicht versagt werden,“ was namentlich Seidensticker aus den bestehenden Rechten als gemeingültigen Grundsatz bewies ( De jure emigrandi ex moribus Germanorum jure communi et legibus imperii constituto, 1788). Es kam demnach nur noch darauf an, die Vorschriften des öffentlichen Rechts zu bezeichnen, welche dieß Verhältniß juristisch ordnen sollten. Und hier läßt uns plötzlich die Theorie im Stich und übergibt diese Frage gänzlich der Gesetzgebung, während sie sich in ziemlich allge- meinen Bemerkungen der populationistischen Seite der Frage zuwendet. Diese Richtung ward ihr wiederum namentlich durch Malthus und durch das Gefühl der neuen Gestalt der gesellschaftlichen Gegensätze gegeben, wie sie sich in unserm Jahrhundert entwickeln. Wir haben sie bereits bezeichnet. Die staatsbürgerliche Gesellschaft erzeugt die Ordnung, welche die Vertheilung des Besitzes gibt. Sie hat daher keine andere Ordnung, als die der drei Classen, und das ist äußerlich ihr wesentlicher Unterschied von den früheren Gesellschaftsordnungen. Andererseits beruht sie auf dem, für alle Classen gleich gültigen Grund- satz, daß das Staatsbürgerthum für alle ein gleiches Recht auf gleiche Stellung in der gesellschaftlichen Ordnung enthalte. Der Gegensatz, der in diesen Elementen liegt, erscheint nun äußerlich als die Gefahr der Uebervölkerung , und wir haben deßhalb schon oben gesagt, daß es gar keine Uebervölkerung der mittleren und höheren Classe, sondern nur eine solche der niederen gibt. Die neue Polizeiwissenschaft sah daher in der Auswanderung nicht mehr ein rechtliches Verhältniß, und selbst die populationistische Frage nach der Verhinderung der Auswanderung war ihr mit der rechtlichen verschwunden. Sie behandelt, ohne sich ihrer Einseitigkeit bewußt zu sein, das Auswanderungswesen nur noch als ein Mittel gegen die Uebervölkerung , also als einen Theil der gesellschaftlichen Verwaltung; und zwar natürlich auch nur in so weit, als diese Auswanderung von der Verwaltung selbst hervorgerufen wird. Da das natürlich nur ganz ausnahmsweise der Fall sein kann und die Erörterung über die volkswirthschaftlichen Gründe und Folgen der freien Auswanderungen in die Volkswirthschaft gehört, so läßt es sich leicht erklären, weßhalb das, was z. B. Rau (Volkswirthschaftspflege, §. 17) Mohl (Polizeiwissenschaft, §. 21) und selbst Gerstner , der übrigens den großen Vorzug vor seinen Vorgängern hat, zwischen der Einzel- und Massenauswanderung zu unterscheiden (S. 217 ff.), ganz unbedeutend ist und uns durchaus kein Bild des Auswanderungswesens gibt, da jede Beziehung zum Auswanderungsrecht fehlt. Und doch be- steht ein solches, und ist von großer Wichtigkeit, und die Verwaltungs- lehre wird sich künftig dieses Gebietes nicht entschlagen dürfen. Selbst Roscher kommt nicht weiter als bis zu der Phrase: „daß man der Auswanderung keine Vogelfreiheit lasse, verbietet schon die einfachste Menschenliebe“ ( Colonien , Seite 362). Die wahre Frage aber ist in gesellschaftlicher Beziehung die, welche socialen Gründe die heutige Auswanderung aus Europa bewirken und welche socialen Folgen sie hat — und während das Erste auf der flachen Hand liegt, ist das Letzte wohl wesentlich damit erschöpft, daß die Auswanderung der Land- wirthe die Bildung großer Grundbesitze fördert , während die der Arbeiter das gesellschaftliche Bewußtsein der zurückbleibenden hebt . Die gegenwärtigen Kämpfe um Lohnerhöhung, deren Charakterisirung wir in der Austria , Jahrg. 1865, versucht haben, waren ohne Auswande- rung gar nicht denkbar , und werden wesentlich durch die Entwicklung derselben unterstützt. Man soll das nicht übersehen! — Nachdem aber nun dieß Princip der Freiheit der Auswanderungen einmal festgestellt war, mußte jetzt die Gesetzgebung das öffentliche Recht derselben inner- halb dieser Freiheit bestimmen; und hier griff nun der oben bereits angeführte Grundsatz durch, daß zwar die Auswanderung an sich frei sei, daß sie aber unter Vorwissen des Staats geschehen müsse, und die Wehrpflicht fügte den Satz hinzu, daß sie erst nach Erfüllung dieser Pflicht gestattet sein könne. Dieses Princip der rechtlichen Frei- heit der Auswanderung bewirkte nun, daß die Bestimmungen über das Auswanderungsrecht mit den Bestimmungen über den Erwerb und Verlust der Staatsbürgerschaft zusammengefaßt, und ein Theil dieses öffentlichen Rechts wurden, was die Ausschließung des Aus- wanderungsrechts aus der Verwaltungs- (oder Polizei-) Wissenschaft und selbst der Verwaltungsgesetzkunde definitiv entschied. Dennoch ist dasselbe nicht unwichtig. In Preußen hatte das allgemeine Landrecht (§. 130 a. a. O.) bereits erklärt, daß es zur Auswanderung keiner Erlaubniß, sondern nur eines Vorwissens des Staats bedürfe, was nach kurzer Unterbrechung seit 1812 mit dem Gesetz vom 15. Sep- tember 1818 wieder allgemein gültig ward. Allein dabei blieb zuerst das Abzugsrecht noch bis zur Verordnung vom 21. Juni 1816 auch für inländische Heimathsänderung bestehen, während die Bundesakte (Art. 18) es bereits zwischen allen deutschen Bundesstaaten aufgehoben hatte, und erst die königliche Ordonnanz vom 11. April 1822 hat dieß Recht mit ausländischen Staaten auf das Princip des Retorsions- rechts zurückgeführt, indem mit den meisten Staaten die Aufhebung des Abzugsrechts vertragsmäßig vereinbart ist. — Zweitens aber hält man entschieden daran fest, daß zwar die Behörden kein Recht haben, die Entlassung aus dem Staatsverbande zu verweigern, daß aber die Auswanderung ohne eine solche Entlassung strafbar sei; und dieser Grundsatz fand seine gesetzliche Formulirung im Gesetze vom 31. December 1842. Es war klar, daß man hier noch immer zwischen Freiheit und Polizei schwankte; namentlich wurde die Entlassung ausdrücklich wegen nicht erfüllter Wehrpflicht verweigert (§. 17—19; der auswandernde Wehrpflichtige soll als Deserteur sein ganzes Vermögen verlieren!) Erst die Verordnung vom 4. Januar 1849 minderte die Strafe auf 50 bis 1000 Thaler, was dann neben der von der Verfassungsurkunde von 1850 (Art. 11) aufgestellten vollen Freiheit der Auswanderung noch nach dem Gesetze vom 11. März 1850 als geltendes Recht bestehen geblieben ist. ( Rönne Staatsrecht, §. 91.) In Oesterreich folgte dem Auswanderungspatente von Joseph II. das neue noch gegenwärtig geltende vom 24. März 1832, welches im Wesentlichen die damals auch in Preußen geltenden Normen enthält, die „befugte“ von der „unbe- fugten“ Auswanderung scheidet, die Gewährung der Auswanderung als Regel feststellt, wenn der Betreffende der Militärpflicht genügt hat und daß „keine Standes- und Amtsverpflichtungen entgegenstehen.“ Die unbefugte Auswanderung wird mit Sequestration des Vermögens — nicht mit Confiscation wie in Preußen — bis zum Tode des Ausge- wanderten bestraft, dann aber mit der rechtlichen Unfähigkeit Eigen- thum zu erwerben. Das Verfahren bei der Einberufung ist genau vorgeschrieben. ( Fr. Swieceny , das Heimathsrecht in den k. k. öster- reichischen Kronländern, 2. Aufl. 1861, wo zugleich die Novellen zum Auswanderungspatent, Seite 79 ff., so wie die Verträge zwischen Oesterreich und den Nachbarstaaten genau mitgetheilt sind, Seite 186 ff.) — Auf demselben Standpunkt steht Bayern , dessen Bestimmungen auch in Bezug auf die Sequestration des unbefugten Auswandernden genau mit denen des österreichischen Patents übereinstimmen; höchst zweckmäßig ist die Bestimmung, daß die Polizeibehörde eine öffentliche Ausschreibung der Auswanderung am Wohnorte des Auswandernden erlassen soll (Ministerial-Erlaß vom 13. August 1846); es wäre zu wünschen, daß dieß ein ganz allgemeines Princip würde. Auch die Gabella ist gerade wie in Preußen und Oesterreich auf die Retorsion beschränkt. ( Pötzl , Verfassungsrecht, §. 31.) — In Sachsen ist die Auswanderung allerdings schon durch die Verfassung von 1831 frei; jedoch auch mit Beschränkung auf die Wehrpflicht; das Mandat vom 6. Februar 1830 enthält genauere Darstellung der Auswanderungspässe; doch sind Auswanderungsconsense nicht erforderlich. ( Funke , Sächsische Polizeigesetze, Abschnitt VIII. Cap. IV. ) Eine Strafandrohung finde ich bei unbefugter Auswanderung nicht. — Auch Württemberg hat das freie Auswanderungsrecht, das 1811 aufgehoben war, schon durch den Verfassungsentwurf von 1817 und dann durch das ausführliche Gesetz vom 15. August 1817 zurückgegeben; das Gesetz vom 19. No- vember 1833 beschränkte dasselbe auch hier speciell nur in Beziehung auf die Militärpflicht; doch ist zu bemerken, was wir sonst nicht finden, daß Schuldner während des Gantverfahrens nur mit Zustimmung der Gläubiger (aller?) auswandern dürfen; ebenso nur derjenige, der keine Verpflichtung übernommen hat, die nur durch persönliche Anwesen- heit erfüllt werden kann. ( Mohl , Verfassungsrecht, §. 75.) Faßt man die obige, wenn auch unvollständige Darstellung des Auswanderungsrechts zusammen, so ergibt sich als allgemeines Resultat, daß die deutschen Gesetze ziemlich gleichartig die Auswanderung principiell frei lassen, und nur die Verpflichtung zur Anzeige aufstellen, wesentlich damit der Wehrpflicht genügt werde; das letztere wird außerdem durch die Cartell-Convention der deutschen Bundesstaaten wegen wechselseitiger Auslieferung der Deserteure vom 12. Mai 1851 vervollständigt; der Grundsatz, den z. B. Bayern in der Convention mit Oesterreich (Swieceny a. a. O., Seite 187) und Sachsen für alle deutschen Bundesstaaten ( Funke a. a. O.) aufgestellt haben, daß die Aufnahme in den andern Staatsverband nachgewiesen sein muß, ehe die Entlassung erfolgt, ist eigentlich ein Widerspruch. Das, was Deutschland fehlt, ist die Erweite- rung des Art. 18 der Bundesakte zu einem gemeinsamen und auf der Höhe unserer Zeit stehenden Bundesrecht der Auswanderung . Auf diese Weise hat sich nun das gebildet, was wir den ersten Theil des freien Auswanderungsrechts nennen möchten, die öffentlichen Verpflichtungen des Auswandernden gegen die frühere Heimath , und die Grundsätze, nach denen die Verwaltung für die Erfüllung der- selben zu sorgen hat. An diesen schließt sich ein zweiter Theil an. II. Wir können in diesem zweiten Theile den Stoff desselben in die Auswanderungspolizei und die Auswanderungspolitik scheiden. a ) Die Auswanderungspolizei umfaßt die Maßregeln der Organe der vollziehenden Gewalt, Amt, Gemeinden und Vereine, zum Schutz und zur Sorge für die Person und das Vermögen des Aus- wandernden. Das Entstehen und der Inhalt derselben hängt aufs Engste mit dem gesammten theils socialen, theils wirthschaftlichen Ent- wicklungsgange der europäischen Staaten zusammen, und ist in seiner Besonderheit wieder nicht ohne eigenthümliches Interesse. Je fester sich nämlich die Ordnung der staatsbürgerlichen Gesellschaft in Europa hinstellt, um so regelmäßiger wird auch die, auf dem Classen- gegensatz derselben beruhende Auswanderung, um so allgemeiner die Verbindung zwischen der alten und neuen Welt, und dadurch ist es möglich geworden, die Bewegung der Auswanderung zum Gegenstand eigner Transportunternehmungen zu machen. Daß das Wohl und Wehe vieler Tausenden von diesen Unternehmungen abhängt, ist klar. In England, dessen Auswanderer zum großen Theil wieder Ein- wanderer in seine eignen Colonien sind, entstand daher zuerst der Ge- danke, den Auswanderertransport als solchen zum Gegenstand eigner Verwaltungsgesetze zu machen. Diese Gesetze waren ursprünglich nur Schifffahrtsgesetze, und betrafen nichts als die Einrichtung der Passa- gierschiffe. Hier ist es Nordamerika, welches schon im Jahre 1819 den Anfang mit Passagiervorschriften macht. Die europäische Gesetzgebung beginnt mit der Passengers Act 9 G. IV. Cap. 21, 1825, die Vorschriften für die Auswandererschiffe enthaltend, und sind gut dar- gestellt bei Mac Culloch , Dictionary (v. Passenger, Colonisation); — Roscher hat den Inhalt der Passenger Act angegeben, der von späteren bills erweitert und verbessert ist. Im Jahre 1843 folgte Belgien mit einer ähnlichen Gesetzgebung; von den deutschen Staaten hat sich Bre- men schon seit 1832 mit Verordnungen über die Auswanderung be- schäftigt, und namentlich in dem neuesten Gesetz vom 14. Juli 1854 sehr verständige Vorschriften erlassen, deren Befolgung von einer eignen Behörde überwacht wird. Hamburg hat dann folgen müssen; die neueste revidirte Verordnung ist vom 20. Februar 1855. Es ist wahr, daß diese Gesetzgebungen wesentlich durch das Interesse der localen Schifffahrt bedingt waren; aber das ist nicht Schuld dieser beiden Städte, sondern es wäre auch hier Pflicht des deutschen Bundes gewesen, das was England, Frankreich, Belgien, Nordamerika gethan, für ganz Deutschland zu thun! Bei der Unthätigkeit des Bundestages blieb nichts übrig, als daß die einzelnen Staaten durch strenge Aufsicht auf die Auswanderungsagenten die Ausbeutung ihrer Angehörigen zu hindern suchten. Es ist dabei nicht zu übersehen, daß Bremen und Hamburg zwar sehr gut für die Auswanderungsschiffe sorgen, aber das ganze Agenturwesen durchaus unbeachtet lassen, wie es die Natur ihrer Aufgabe und die pecuniären Interessen ihrer Transportunter- nehmer mit sich bringen. Indem wir das gerne anerkennen, liefert eben dieß Vernachlässigen des Agenturwesens durch diese Exportplätze einen neuen Beweis, daß hier nur durch eine deutsche Gesetzgebung geholfen werden kann. Frankreich hat endlich durch das Dekret vom 15. Januar 1855 sich auch der Unternehmung für Auswanderung be- mächtigt. Dieß Dekret zeichnet sich dadurch aus, daß nicht bloß die Ordnung der Auswandererschiffe, die Bedingung der Concession für Auswanderertransporte u. s. w. in ähnlicher Weise wie in England und den Hansestädten geordnet ist, sondern daß auch Nachweisungs- bureaus für das Auswanderungs-, Verschiffungs- und Passagier- recht der Auswanderer allenthalben organisirt sind. Eigenthümlich ist die Bestimmung, daß auch fremde Auswanderer, die über französische Häfen gehen, entweder einen Verschiffungsvertrag, oder eine gewisse Summe Geldes nachweisen müssen. — Das Beste, was wir über die ganze Frage gelesen haben, ist ohne Zweifel ein sehr eingehender, theils das Auswanderungs-Agenturwesen, theils die Auswanderungs-Trans- portsunternehmungen betreffender Aufsatz von Geßler in der Zeitschrift für Staatswissenschaft (Band 18, Seite 375), der uns die legislative und administrative Frage ziemlich zu erschöpfen scheint. Leider hat er auf die bereits bestehenden positiven Gesetze und Verordnungen viel zu wenig Rücksicht genommen; es ist eine Arbeit de lege ferenda; als solche aber sehr werthvoll. b ) Dasjenige endlich, was wir die Auswanderungspolitik nennen, geht davon aus, daß die Auswanderung für die Bewohner der früheren Heimath, des Vaterlandes der Auswanderer, theils in volkswirthschaftlicher, theils in gesellschaftlicher Beziehung eine hochwich- tige Thatsache ist; und damit entsteht die Frage, wie sich die Verwal- tungen zu der Auswanderung verhalten, ob sie dieselben vom Gesichts- punkt der einheimischen Interessen fördern, verhindern oder ordnen sollen. Die dafür geltenden Grundsätze bilden das, was wir die Aus- wanderungspolitik nennen müssen. Diese Politik der Auswanderung wird nun natürlich zunächst davon bestimmt, ob der Mutterstaat überseeische Colonien hat oder nicht. Es ist klar, daß im ersten Falle die Auswanderungspolitik im Grunde die Colonialpolitik ist, während sie im zweiten Falle als ein Stück der reinen socialen Verwaltung erscheint. Für die deutsche Wissenschaft ist die erste Frage noch immer Gegenstand eines zwar humanitären, aber keines praktischen Verwaltungsinteresses, und wir können daher sehr kurz darüber hinweg gehen. Wir bemerken bloß, daß auch hier England und Frankreich wieder sehr verschieden sind. England hat für seine Colonialpolitik, wie es am Ende leicht begreiflich ist, eine eigene selbständige und tief einschneidende Literatur erzeugt. Die große innere Bewegung in den englischen Colonien hat sich nach langer Unklarheit zusammengefaßt in dem Gegensatz zwischen dem Princip der Staats- unterstützung von Seiten des Mutterlandes, um durch dieselbe in den neuen Colonien neue Handelsgebiete und neue Consumenten zu gewin- nen, und dem Princip der Selbstentwicklung der Colonien , das zuerst von Wakefield seit 1829 als das selfsupporting principle theoretisch ausgearbeitet und zu einem eigenen System erhoben ward. Der Kern dieses Systems liegt in dem Gedanken, daß jede Colonie ohne Staatsunterstützung die Hauptbedingungen der Colonisirung, namentlich die Herstellung und Erhaltung der öffentlichen Verwaltungs- organe, der öffentlichen Anstalten, der Communicationsmittel selbst übernehme, da die erstere denn doch zuerst und vor allem in ihrem eigenen Interesse liege. Die beiden Mittel dafür findet Wakefield in der unentgeltlichen Ueberlassung von Grund und Boden an Einwan- derer, und eventuell in der Selbstbesteuerung der alten Colonisten. Roscher hat dieß System, das natürlich nur für England Interesse hat, sehr gut dargestellt. Frankreich dagegen hat die innere Verwal- tung seiner Colonien von Paris aus mit möglichster Genauigkeit auch in neuester Zeit geregelt, indem es durch Dekret vom 13. Febr. und 27. März 1852 den Grundsatz durchführt, daß jeder angehende Colonist, der sich nicht selbst einen Grund erwerben kann, einen Arbeitsver- trag mit einem Grundbesitzer in der Colonie aufweisen muß, dessen Minimalsätze gesetzlich vorgeschrieben sind. Es ist ein altes Uebel der französischen Verwaltung, den Schutz auch der Auswanderer jenseits des Meeres von gesetzlichen Vorschriften, statt vom wohlverstandenen Interesse der Einwohner zu erwarten. — In Deutschland endlich hat die ganze Frage praktisch — neben vielen Theorien über das, was uns eigentlich nichts angeht, die englische und französische Politik — nur Eine, freilich eben so unbestimmte als wichtige Gestalt gewonnen. Nachdem der alte polizeiliche Standpunkt überwunden, handelte es sich darum, ob die Auswanderung als Mittel gegen die Armuth , also als ein Theil der Armenpflege zweckmäßig sei, woran sich allerdings dann die weiteren Fragen nach demjenigen knüpfen, was denn das Mutterland für die auf diese Weise weggeschafften Armen in ihrer neuen Heimath thun könne; etwa Versorgung derselben mit Lehrern, Geist- lichen u. s. w. Namentlich Mohl ist darin sehr weit gegangen (Zeit- schrift für die gesammte Staatswissenschaft, 1847, S. 320 ff.). Es kann der deutschen Wissenschaft nur zur Ehre gereichen, für die deutsche Aus- wanderung mit so viel Umsicht und Theilnahme das Wort ergriffen zu haben, und wir sehen darin eine Reihe von schätzenswerthen Vorar- beiten für die Zeit, wo diese Dinge praktisch werden können. Wir können dabei nicht umhin, namentlich die Arbeiten Andrees als höchst verdienstvoll hervorzuheben. Die Vorschläge von Vogt (Armenwesen I. Thl. 2. S. 233 f.) sind unverkennbar von einem eben so menschen- freundlichen als wohlwollenden Geiste eingegeben. Sehr gut sind die verschiedenen Fragen behandelt und resumirt von Brater in dem Ar- tikel Auswanderung (Deutsches Staats-Wörterbuch). Allein wir können nicht umhin, zwei leitende Gedanken für dieses ganze Gebiet der Aus- wanderungspolitik festzuhalten. Die administrativ angeordnete oder auch nur veranlaßte Auswanderung der Armen ist ein höchst bedenk- liches, und immer höchst kostspieliges Mittel, und kann unter allen Umständen niemals anders als örtlich richtig beurtheilt und angewendet werden; eine Staatsauswanderung der Armen ist geradezu unthunlich, und es ist umsonst, sich eine solche als praktisch ausführbar denken zu wollen; die Idee, dieselbe durch „Abzugsgelder“ von den Bemittelten subventioniren zu wollen, ist ein Widerspruch mit der freien persönlichen Bewegung, und würde selbst, wenn man sie durchführte, nur ein Mi- nimum der Kosten ergeben. Die allgemeine Auswanderungspolitik aber für Deutschland, mag sie sonst Namen, Gestalt und Aufgabe haben, welche sie wolle, kann und wird erst eine praktische Frage sein, wenn einmal eine deutsche Verwaltung sich an eine deutsche Verfassung an- schließen wird. B. Die Bevölkerungsordnung und die Verwaltung. (Was man unter der Gestalt und der Ordnung der Bevölkerung zu verstehen hat. Beide erscheinen als Gegenstände der Verwaltung und enthalten die vier folgenden Theile der Bevölkerungsverwaltung.) Während es die Aufgabe der Bevölkerungspolitik war, das Ver- hältniß der Verwaltung zu den Kräften und Erscheinungen zu entwickeln, durch welche die Bevölkerungen zunehmen und abnehmen, begegnen wir Stein , die Verwaltungslehre. II. 14 in dem zweiten Theile der Verwaltung der Bevölkerung einem ganz andern Verhältniß. In der Bevölkerungspolitik erscheint die Bevölkerung noch als eine, bloß in ihren quantitativen Verhältnissen wechselnde Masse. Sie ist offenbar mehr. Es leben in ihr große, diese ganze Masse durchdrin- gende Verschiedenheiten. Diese Verschiedenheiten sind theils persönlicher, theils wirthschaftlicher, theils gesellschaftlicher Natur. Die Gesammtheit der Wirkungen, welche diese Unterschiede im Ganzen wie für den Ein- zelnen hervorbringen, nennen wir das Leben der Bevölkerung. In- sofern wir sie aber in einem bestimmten einzelnen Augenblicke auffassen, und die Bevölkerung mit all ihren Unterschieden für einen Moment als ein gegebenes, stillstehendes Ganze betrachten, können wir von der Gestalt der Bevölkerung reden, da der Ausdruck „Zustand“ nicht ganz eine solche Vorstellung wiedergibt. Indem wir nun erkennen, daß diese Gestalt der Bevölkerung nicht etwa eine zufällige ist, sondern auf be- stimmten, festen Grundlagen ruht, reden wir von einer Ordnung der Bevölkerung. Das Verhältniß der Verwaltung zu dieser Gestalt und Ordnung der Bevölkerung muß nun als ein doppeltes aufgefaßt werden. Zuerst ist ohne Zweifel diese Ordnung der Bevölkerung in der That die Ordnung des persönlichen Staatskörpers selbst. Der Staat, um seine eigenen Lebensverhältnisse mit seinem eigenen Willen und seiner eigenen That, seinen Gesetzen und seiner Verwaltung, beherrschen zu können, muß jene Ordnung kennen . Diese Kenntniß ist kein Akt der Verwaltung, sondern eine Bedingung derselben. Und wir haben schon im Eingange diejenige Thätigkeit des Staats bezeichnet, welche der Verwaltung diese Bedingung schafft. Das ist die Statistik , die wir als die Anwendung der Wissenschaft der Thatsachen auf das Staats- leben bestimmt haben. Allein zweitens ist diese Ordnung der Bevölkerung, indem sie Grundlage aller großen Thätigkeiten der Verwaltung ist, zugleich von nicht geringerer Wichtigkeit für das Leben des Individuums. Das Individuum bildet nicht bloß den Grundstoff der Gemeinschaft; es ist vielmehr auf allen Punkten von derselben beherrscht und bestimmt; und es ist klar, daß dieß auch in Beziehung auf jene Ordnung der Bevölkerung der Fall ist. Denn die Stellung, welche das Individuum in der Welt einnimmt, ist eben eine Stellung innerhalb jener Ordnung; der Wechsel, die Bewegung, der Platz, den andere in derselben ein- nehmen, wird zu einer der Voraussetzungen seines persönlichen Lebens. Jene Ordnung wird dadurch aus einer bloß statistischen Thatsache zu einem Faktor der persönlichen Entwicklung, und es ist daher natürlich, daß das Verhältniß, das der Einzelne eben zu und in dieser Ordnung einnimmt, als ein durch die Verwaltung anerkanntes und be- stimmtes gelte. Diejenigen Bestimmungen der Verwaltung nun, welche die persönlichen Lebensverhältnisse in einer für alle gültigen Weise in so weit feststellen, als diese Feststellung als eine der äußeren Bedingungen des Gesammtlebens erscheint, bilden somit das öffentliche Recht der (äußeren und formellen) Ordnung der Bevölkerung. Ein solches öffentliches Recht der Bevölkerungsordnung kann daher nur für diejenigen Lebensverhältnisse eintreten, welche, obwohl sie zu- nächst den Einzelnen angehen, dennoch als eine Bedingung für die Ordnung des Verkehrs der Einzelnen unter einander feststehen müssen. Faßt man nun diese Gesichtspunkte unter der Verwaltung und ihrer Aufgabe zusammen, so erscheint die letztere in vier selbständigen Theilen. Das erste ist die Darstellung des Gesammtbildes der Gestalt der Bevölkerung, welches alle Elemente des Volkslebens in Quantität, Qualität und Vertheilung darlegt, und dessen Erzielung ewig die erste und auch die letzte Aufgabe der Statistik sein wird. Den Akt, durch welchen sich die Verwaltung zunächst für sich, in zweiter Reihe aber auch für die Lebensauffassung und Bestimmung jedes Einzelnen ein solches Bild gewinnt, nennen wir die Volkszählung . Die Volks- zählung bildet den Uebergang zur eigentlichen Verwaltung der Bevöl- kerungsordnung; wir nehmen sie mit auf, um das Bild dieser Ver- waltung vollständig zu machen, obwohl sie streng genommen der Statistik gehört. Das zweite Verhältniß ist die Bewegung der Bevölkerung, in- sofern sie nicht mehr als Gesammtziffer erscheint, sondern das indi- viduelle Leben betrifft. Dieß nun geschieht in den drei Formen, der Ehe , der Geburt und des Todes der Einzelnen. Die Aufgabe der Verwaltung ist hier, diese einzelnen Thatsachen zu constatiren, da sie als einzelne vielfache und wichtige Rechte und Verpflichtungen der Einzelnen unter einander bedingen. Die daraus entspringende Verwal- tungsmaßregel, welche diese Aufgabe zu erfüllen bestimmt ist, nennen wir mit einem Worte die Standesregister . Sie bilden mit ihrer Einrichtung und ihrem Recht einen sehr wichtigen und mannichfachem Wechsel unterworfenen Theil der Verwaltung der Bevölkerung. Das dritte Verhältniß ist der Proceß, den wir als die örtliche Bewegung, oder wie die Bevölkerungslehre zu sagen pflegt, als den Wechsel der Bevölkerung bezeichnen. Diese örtliche Bewegung der Be- völkerung als Ganzes betrachtet bildet einen hochwichtigen Theil der Statistik, denn das Maß und die Ordnung dieser großen Thatsache wird zur Grundlage der Erkenntniß der großen Faktoren, welche jene örtliche Bewegung, den Wechsel des Aufenthalts oder die Reisen, her- vorbringen. Allein auch die örtliche Bewegung des Individuums inner- halb dieser Gesammtbewegung berührt fast immer mehr oder weniger neue an sich unbestimmbare Interessen und Rechte, und die Constatirung dieser individuellen Bewegung wird dadurch zu einer weitern Aufgabe der Verwaltung, deren Erfüllung wir in den Formen des Paßwesens und des Meldungswesens als dritten Theil des öffentlichen Rechts der Bevölkerungsordnung aufzustellen haben. Das vierte Verhältniß ist endlich das Angehören an einen Selbst- verwaltungskörper, mit allen Voraussetzungen und Folgen, die derselbe hat, oder das Heimathswesen . Die Aufgabe des öffentlichen Rechts der Verwaltung ist es hier, das Verhalten der individuellen örtlichen Bewegung, der Reise, des Aufenthalts u. s. w. zu dem Erwerbe und Verluste dieser Angehörigkeit zu bestimmen; das Heimathswesen, indem es formell dem Gemeindewesen angehört, enthält demnach denjenigen Theil des Verwaltungsrechts im Gemeinderecht, den wir als das Be- völkerungsrecht des Gemeindewesens bezeichnen können. Es ist auf den ersten Blick klar, daß in diesen vier Grundformen der Verwaltung der Bevölkerung eine Steigerung der Function der Verwaltung enthalten ist. Die Zählung hat noch immer zu ihrem Ergebniß zunächst ein geistiges Bild , eine bloße Anschauung, in der sich die Masse der Bevölkerung zu einer festen, aber freilich an Be- ziehungen unendlich reichen Gestalt entfaltet. Die Standesregister , indem sie einerseits der Zählung dienen, haben schon das physische Leben des Individuums in seinen Grundverhältnissen zu seiner nächsten Umgebung als rechtliche Thatsache zu constatiren. Das Paß- und Meldungswesen dagegen geht noch weiter, indem es die Fähigkeit besitzt und auch zum Theil ausübt, die Vorschriften über die Constati- rung des zeitlichen Aufenthalts zu einem administrativen Mittel in der örtlichen Bewegung der Bevölkerung zu machen. Das Heimaths- wesen endlich bildet an und für sich aus der Thatsache des Aufent- halts ein öffentliches, für jedes Individuum und damit für das Ganze hochwichtiges Recht des Individuums, und damit ein dauerndes orga- nisches Verhältniß für das Gesammtleben. Es ist daher kein Zweifel, daß man die Gesammtheit dieser Bestimmungen als einen natürlichen, immanenten Theil des Bevölkerungswesens betrachten muß; es ist gewiß, daß dieselben wenigstens zum Theil sogar älter und weit umfassender sind, als die einzelnen Zweige der Bevölkerungspolitik. Und wir müssen sie daher als organischen Theil der Bevölkerungsverwaltung an die letztere anschließen. Der erste Blick auf die bisherige Staats- und Polizeiwissenschaft zeigt, daß es ganz unmöglich ist zu sagen, wie dieselbe bisher dieß weite Gebiet aufgefaßt hat, da sie es als Ganzes eben gar nicht kennt. Der Gedanke, daß die Ord- nung der Bevölkerung als solche Gegenstand der Verwaltung sei, liegt allen fern. Dennoch ist das vorige Jahrhundert darin weiter als das gegenwärtige, indem die Alten, wie Justi, Süßmilch u. a., mit richtigem Verständniß wenig- stens Zählung, Standesregister und Paßwesen in das Bevölkerungswesen auf- genommen haben, während die Neueren, und selbst die Lehrer der sogenannten Polizeiwissenschaft, über der Bevölkerungspolitik es durchaus vergessen, daß die Verwaltung in Beziehung auf die Bevölkerung auch noch andere sehr wichtige Functionen habe. Es bleibt uns daher nichts übrig für die Geschichte des Sy- stems, als die Stellung anzugeben, welche die einzelnen Theile bei den Haupt- vertretern der Staatswissenschaft gefunden haben. I. Das Zählungswesen. 1) Begriff und Bedeutung des Zählungswesens im Allgemeinen . Die Verwaltungslehre hat von der Bevölkerungslehre die entschei- dende Wichtigkeit der Zahl der Bevölkerung, die theils das Ergebniß der Gesammtentwicklung, theils die quantitative Kraft des Gesammt- lebens bedeutet, und die Gesetze, nach welchen sie sich bewegt, als anerkannte Wahrheit anzunehmen. Sie hat zwar in der Bevölkerungs- politik den Standpunkt verlassen, als könne der Staat mit seiner Ver- waltung auf diese Zahl einen unmittelbaren Einfluß gewinnen. Allein diese Zahl als Thatsache ist von hoher Bedeutung für die gesammte Thätigkeit der Verwaltung. Daß und in welchen Hauptbeziehungen dieß der Fall ist, wird vom Verwaltungsrecht der Bevölkerung gleich- falls als anerkannt vorausgesetzt. Die Verwaltung hat daher, diesem ihrem eigentlichen Objekt gegenüber, nur eine, aber eine nothwendige Aufgabe. Sie muß die quantitativen Verhältnisse des ersten und letzten Substrats all ihrer Wirksamkeit, der Bevölkerung, kennen . Diese Kenntniß gewinnt sie durch ihre darauf gerichtete Thätigkeit; und diese Thätigkeit ist die Zählung . Diese Zählung der Bevölkerung ist dem- nach die Feststellung nicht bloß der Zahl, sondern aller quantitativen Verhältnisse der Bevölkerung durch die Organe der vollziehenden Gewalt und nach den dafür von der letzteren bestimmten Vorschriften. Und die Gesammtheit dieser Vorschriften nennen wir das Zählungs- wesen . Das Zählungswesen erscheint daher in einem zweifachen Verhält- niß, das man wohl scheiden muß, um die Stellung desselben in der Staatswissenschaft richtig zu würdigen. Es ist zuerst ein rein wissen- schaftliches Bedürfniß und erscheint daher auch geschichtlich als ein rein wissenschaftlicher Akt, der die große Thatsache, welche wir die Be- völkerung nennen, feststellen und in ihren inneren Beziehungen und Ordnungen messen soll, um das Leben der Menschheit kennen zu lernen. Es ist aber zweitens ein Bedürfniß für die Verwaltung ; es wird daher aus den Händen der Wissenschaft von der Verwaltung übernom- men, durch die Organe der Verwaltung oder doch unter Mitwirkung derselben vollzogen, und erscheint in diesem Sinne als der erste Theil der Verwaltung der Bevölkerungsordnung. Es wird wohl unmöglich bleiben, das Verhältniß der Volkszählung zur Verwaltung jemals besser zu bezeichnen, als es Justi gethan, der überhaupt das erste organische Verständniß des Zählungswesens an den Tag legt. „Die Selbst- erkenntniß ,“ sagt er, „ist die erste Pflicht eines verständigen Wesens überhaupt. Noch mehr aber soll eine weise Regierung diejenigen kennen, welche von ihr regiert werden sollen. Jemanden regieren zu wollen, ohne ihn genugsam zu kennen, das ist eines von den allerwidersinnig- sten und ungereimtesten Verfahren. Man sieht demnach leicht, daß die Berechnung des Volkes im Lande eine nothwendige und unentbehrliche Anstalt ist, und diejenigen Regierungen, so solches unterlassen, geben dadurch von ihrer schlechten Beschaffenheit ein unläugbares Zeugniß.“ (Buch II. Hptst. VI. §. 216.) Die Erkenntniß dieser Wahrheit ist in der That allgemein worden; allein die Ausführung derselben hat wieder ihre Geschichte, und ihr liegen die beiden Arten von Fragen zum Grunde, welche die Volkszählung zu beantworten hat. Einerseits enthalten sie die Feststellung aller derjenigen Thatsachen, welche für die Wissenschaft des menschlichen Lebens überhaupt durch den Akt der Zählung festge- stellt werden können — Thatsachen, für die es im Grunde gar keine Gränze gibt; anderseits haben sie sich auf dasjenige Gebiet der persön- lichen Lebensverhältnisse zu beschränken, deren Kenntniß die Voraus- setzung einer tüchtigen Verwaltungsthätigkeit sind. Einrichtung, Umfang und Verfahren bei der Zählung wird daher nicht unwesentlich verschieden sein, je nachdem der erste oder der zweite Gesichtspunkt vorherrscht. Und in diesem Sinne kann man wohl von einem Unterschiede zwischen der wissenschaftlichen Zählung, die wir die populationistische nennen möchten, und der administrativen Volkszählung unterscheiden. Erst auf Grundlage dieser Unterscheidung wird die Darstellung des Zählungswesens eine feste Gestalt gewinnen, indem wir den Begriff des Rechts der Zählung der Geschichte derselben zum Grunde legen. 2) Begriff des Rechts der Zählungen. Aufstellung des allgemeinen Princips für dieses Recht . Der Begriff des Rechts des Volkszählungswesens als eines Theiles des Verwaltungsrechts entsteht auch hier durch den Gegensatz der indi- viduellen Selbständigkeit zur Thätigkeit der Verwaltung. Der Akt der Volkszählung greift nämlich stets in die Sphäre des Einzellebens und damit in die Sphäre der freien Individualität hinein, und jede von der Verwaltung ausgehende Volkszählung enthält die öffentliche Pflicht des Einzelnen, über die von der Verwaltung ihm über seine Privat- verhältnisse gestellten Fragen gewissenhafte Auskunft zu geben. Für die wissenschaftliche Zählung kann es solcher Auskünfte nie zu viel, ja nie genug geben; allein das Bedürfniß der Wissenschaft kann kein öffentliches Recht der staatlichen Nachfrage erzwingen. Die Gränze zwischen der popu- lationistischen und administrativen Zählung bezeichnet daher auch die Gränze der Verpflichtung der Verwaltung, Lebensverhältnisse in den Akt der öffentlichen Volkszählung aufzunehmen, und der Pflicht des Einzelnen, die darüber gestellten Fragen zu beantworten; oder, kurz gesagt, das öffentliche Recht der Volkszählung. Der historische Gang der letztern hat es mit sich gebracht, daß man diesen Begriff fast ganz vernachlässigt hat. Es ist daher nicht unwichtig, das leitende Rechtsprincip für die Volkszählung hier festzustellen. Dasselbe aber ist nichts anderes, als eine einfache Anwendung des Princips der Verwal- tung überhaupt auf die Volkszählung. Der Staat hat nur das Recht, über diejenigen Lebensverhältnisse des Einzelnen Angaben zu fordern, deren allgemeine Kenntniß als eine Bedingung für die Ent- wicklung des Gesammtlebens angesehen werden müssen. Und um zu constatiren, ob dieß für die einzelnen Fragen, welche in der Volks- zählung aufgestellt werden, wirklich der Fall ist, müßte grundsätzlich die Aufstellung jeder einzelnen Frage durch eine bestimmte Beziehung auf eine bestimmte administrative Aufgabe motivirt werden, welche jene Kenntniß im Gesammtinteresse voraussetzt . Nur bei solchen Fragen läßt sich das Recht des Staats und die Pflicht des Einzelnen auf Frage und Antwort begründen. Damit würde die Aufnahme der rein wissen- schaftlichen Gesichtspunkte nicht ausgeschlossen; nur ist es consequent, daß es bei diesem im freien Ermessen des Einzelnen liegen muß, ob und wie weit er sie beantworten will. Wir gestehen, daß diese Unter- scheidung bisher wenig praktisch gewesen ist, da die Aufgaben der Wissenschaft und der Verwaltung noch ziemlich identisch gewesen sind; allein mit der Entwicklung der letztern wird die Unterscheidung eintreten, und schon hat Mohl in seiner reichen Geschichte und Literatur der Bevölkerungslehre (Literatur der Staatswissenschaft III. S. 428. 429) bei Gelegenheit der sächsischen Volkszählungsvorschriften mit großem Nach- druck auf das Uebergreifen der amtlichen Fragstellung „über die Grän- zen der erlaubten Erkundigung“ aufmerksam gemacht und die praktischen Bedenken eines solchen Verfahrens hervorgehoben. Indem wir dem- jenigen, was Mohl an dieser Stelle sagt, vollkommen beistimmen, glauben wir in den obigen Sätzen in dem Rechtsprincip der Volks- zählung die grundsätzliche Gränzbestimmung aufgestellt zu haben. Wir bemerken nur, daß, so viel wir sehen, Mohl der Einzige ist, der bis- her auf diesen nicht so gar unwichtigen Punkt hingewiesen hat. 3) Grundlage der Geschichte des Zählungswesens . Erst diese Scheidung des öffentlichen Rechts der Zählungen von ihrem weitergehenden Zwecke ergibt nun die Idee der Geschichte der letzteren. Das Wesen dieser Geschichte, der Kern des Wechsels in den betreffenden Vorschriften, besteht nämlich in dem Einfluß, den der Ent- wicklungsgang der Bevölkerung slehre auf den Entwicklungsgang der administrativen Zählung gehabt hat. Es ist kein Zweifel, daß die letztere von der erstern vollständig beherrscht ist, und daß anderseits dieß nur als eine höchst fördernde Thatsache für beide anerkannt werden muß. Nur hat diese Thatsache wieder bewirkt, daß wir eigentlich noch keine Geschichte der Zählungen haben, sondern daß dieselbe nur noch als ein untergeordnetes Moment in der Geschichte der Theorie der Be- völkerungslehre erscheint. Es ist daher charakteristisch, daß die National- ökonomie sich zwar der Bevölkerungslehre bemächtigt hat, aber die Zählungslehre ganz beiseite liegen läßt, wobei ihr die allgemeinen Systeme der Staatswissenschaft vielfach mit gleicher Vernachlässigung vorauf- gehen. In denselben Widerspruch fällt Rau mit seiner Volkswirth- schaftspflege, während es Mohls Verdienst ist, der Zählung in der sogenannten Polizeiwissenschaft die Stelle wiedergegeben zu haben, die ihr siebenzig Jahre früher Justi in so klarer und trefflicher Weise an- wies. Mohls Geschichte der Bevölkerungslehre ist noch immer das beste, was wir darüber haben, und diese schöne Arbeit macht es uns zum Theil möglich, uns hier auf die allgemeinen Gesichtspunkte zu beschränken, deren Verfolgung uns dereinst neben der Geschichte der Bevölkerungslehre auch die specielle Geschichte der Zählungen geben wird. Jedenfalls werden sie ausreichen, um den gegenwärtigen Stand- punkt des öffentlichen Rechts der Zählungen als Verwaltungsmaßregel zu charakterisiren. Zu dem Ende muß man wieder eine wesentliche Unterscheidung machen und festhalten. Die Geschichte des Volkszählungswesens soll nicht eine Geschichte der Ergebnisse desselben oder der Volkszählung sein, sondern eine Geschichte der Auffassung und der Durchführung der Volks- zählungen, insofern sie von den Bedürfnissen und von der Erkenntniß der Verwaltungen ausgegangen und öffentlich rechtlich bestimmt worden ist. Dieß nun ergibt sich wesentlich in Beziehung auf zwei Punkte; zuerst in Beziehung auf das, was in die Volkszählung auf- genommen wird, oder der Momente (Rubriken) der Zählung, und zweitens auf das Verfahren bei derselben. Das erste zeigt uns näm- lich, was die Verwaltung in den gegebenen Zeiten als wesentlichen Inhalt des Lebens zu beachten verstand, das zweite, wie weit die Ver- waltung dieß durch ihre Maßregeln zu gewinnen trachtete. Und hier müssen wir gestehen, daß uns leider für die ältern Zeiten die Quellen ganz, für die neuern zum Theil mangeln. Wir wollen jedoch versuchen, so weit thunlich, ein Gesammtbild dieser administrativen Thätigkeit aufzustellen. 4) Die Schätzungen der Volkszahl . (Wahrer Begriff der Schätzungen. Sie bilden die Vorläufer der Zählungen. Süßmilchs hohe Bedeutung für die ganze Bevölkerungslehre.) Daß schon die alte Welt Volkszählungen kannte, ist bekannt. Ganz unbekannt aber ist das Verfahren dabei, namentlich die administrativen Controlseinrichtungen. Objekt der Zählung scheint nichts als die gegebene Zahl der Personen gewesen zu sein. Das Ganze hat trotz Huschke’s Forschung wenig Werth. Eben so wenig wissen wir von den Zählungen des 17. Jahrhunderts. Es wird schon damals bei Betrachtung dieser Versuche klar, daß in der That die Voraussetzung jeder werthvollen Zählung nur in dem Zusammenwirken der wissenschaftlichen Bevöl- kerungslehre und einer centralen Verwaltung liegen kann. Und beide, und mit ihnen die wahre Geschichte der Zählungen, beginnen erst mit dem achtzehnten Jahrhundert; denn wenn Bodinus , De re- publica VI. 1. und Vauban , Disme royale p. 215 sq. (Edit. des Éc.) die Wichtigkeit und Nothwendigkeit der Zählungen aussprechen, so ist das denn doch noch kein Anfang wirklicher Zählungen. Die geschicht- liche Entwicklung der letztern muß vielmehr in zwei große Perioden und Grundformen eingetheilt werden, die schon Justi in so klarer Weise bezeichnet hat, daß wir kaum etwas hinzufügen können, nämlich die Schätzungen und die Zählungen ( Justi , Buch II. Hauptst. VI. §. 216. 217). Der Unterschied und die historische Stellung beider For- men ist auch Mohl nicht entgangen, obwohl er namentlich die Geschichte der Schätzungen und das reiche Material derselben, das doch Süß- milch bietet, nicht kennt. Wir müssen uns hier mit kurzer Charakteristik begnügen, indem wir die Periode der Schätzungen der Volkszahl und die Periode der eigentlichen Zählungen unterscheiden. Wir können als die wissenschaftlichen Schätzungen, die allein Werth haben, nicht die vagen Ansichten Montesquieus ( L. XXIII. ), Cumberlands oder Wallaces ( Mohl , S. 423 ff.) anerkennen; selbst der Versuch Humes ( Mohl ib. ) ist noch keine eigentliche Schätzung. Wir können unter Schätzung nur diejenige Zahlenbestim- mung verstehen, die auf Grundlage einer theilweise festgestellten nume- rischen Volkszahl die Gesammtbevölkerung ohne eigentliche Zählung zu bestimmen sucht. Diese Schätzungen mußten sich daher an die zwei ein- zigen Formen anschließen, in denen sich im vorigen Jahrhundert ziffer- mäßig constatirte Zahlenangaben vorfanden. Das waren die Tabellen der Versicherungsgeschäfte , und die Standesregister für Gebur- ten und Sterbfälle . Der Weg, auf dem man von diesen Grund- lagen zur eigentlichen Schätzung der Bevölkerung gelangte, lag nahe. Man fand durch jene Daten zuerst den Satz, daß man die Zahl der Lebenden für ein ganzes Land finden könne, wenn man die Zahl der durch die Standesregister festgestellten Geburten mit der Zahl der auf eine Geburt entfallenden lebenden Personen multiplicire. Das, worauf es dabei ankam, war ein doppeltes. Erstlich mußte man für gewisse Orte neben den Standesregistern auch die Zahl der Lebenden haben , und zweitens mußte man im Stande sein, dieselben Verhältnisse von dem einzelnen Ort aus, für den sie gefunden waren, auf ein ganzes Reich anzuwenden. In der That ist dieß auch wirklich der Gang der historischen Entwicklung gewesen, und man muß sagen, daß die Fest- stellung des Verhältnisses der Gebornen, Getrauten und Gestor- benen, und die Formulirung dieses Verhältnisses zu allgemein gül- tigen Verhältnißzahlen der Anfang aller wissenschaft- lichen Bevölkerungslehre und speciell aller Zählungen geworden ist. Und hier müssen wir einen deutschen Mann an die ihm gebüh- rende Stelle setzen. Der Erste, der dieß ernstlich und wissenschaftlich versucht und in großem Maßstabe durchgeführt hat, ist Süßmilch , und in diesem Sinne nennen wir Süßmilch den wahren Begründer der Bevölkerungswissenschaft. Neben ihm erscheinen die Halley ’schen und Kerseboom ’schen Versuche, die sich zum Theil auf Tontine stützen, so wie die von Short (Observations on city, towns and country bills of mortality), Corbin Morris (Observations on London), Eutro- pius Philadelphus (Balance von Dänemark), und unter den Deut- schen Hanow (Seltenheiten der Natur und Oekonomie), Kundmann ( Museum rariorum naturae et artis ) nur als Vorläufer, deren Mit- theilungen er selber trefflich zu benützen verstanden. Auf Grundlage solcher einzelnen tabellarischen Standesregister wagt nun Süßmilch zuerst , eine wissenschaftliche Schätzung der Be- völkerung für die ganze Welt, speciell für die einzelnen Länder von Europa vorzuschlagen (Göttliche Ordnung Cap. XX ), und es darf uns billig wundern, daß selbst Mohl die große Leistung des Deutschen neben der fremden, aber denn doch nicht größern von Malthus so selten gehörig erkannt hat. Wir wenigstens kennen gar kein europäisches Werk, das sich in dieser Beziehung Süßmilch an die Seite stellen könnte, und Malthus wenigstens scheint ihn höher zu achten, als seine eigenen Lands- leute. Doch müssen wir hier bei Gerstner eine rühmliche Ausnahme machen. Wie Gerstner überhaupt wohl die geschmackvollste und beste Darstellung der Bevölkerungsphysiologie gegeben und sie mit richtigem Takte von der Bevölkerungsverwaltung getrennt hat, so ist er auch eigentlich der erste, der die Tiefe der Süßmilch’schen Auffassung, von dem die meisten nur die Tabellen kennen, wieder zur Würdigung gebracht hat. Nur hat er das Verhältniß Süßmilchs zur Zählungsfrage über- sehen. Denn freilich konnte man zu einer Zählung oder auch nur zu einer Sicherheit der Annahmen auch auf dem Wege Süßmilchs nicht gelangen; obwohl die Verwaltungen mit jedem Jahre mehr erkannten, von welcher Wichtigkeit die Feststellung der Volkszahl sein müsse. Be- zeichnend ist in dieser Hinsicht, was Necker über die sog. Volkszählung vom Jahre 1784 in Frankreich sagt (Administr. des Finances I. 202): „Es war nicht leicht, in einem so großen Lande allgemeine Zählungen zu veranstalten. Nachdem man an mehreren Orten partielle Zäh- lungen angeordnet hatte (wie und nach welchen Rubriken sagt er nicht — wahrscheinlich einfache Kopfzählungen), hat man diese Ergeb- nisse mit der Anzahl von Geburten, Todesfällen und Heirathen ver- glichen (man sieht den Einfluß, den die Methode Süßmilchs, des Quetelets des vorigen Jahrhunderts, auch in Frankreich hatte) und unter Zuratheziehung der in andern Ländern gemachten Erfahrungen einen Maßstab ermittelt, auf den man sich verlassen kann.“ (Man multi- plicirte die Zahl der aus den Standesregistern entnommenen Geburten mit 25,75. Soetbeer Anhang zur Uebersetzung von Mill , Politische Oekonomie II. S. 530.) Warum Mohl weder die oben citirten englischen und französischen noch die deutschen Arbeiten in seinen sehr kurzen Mit- theilungen über die Schätzungen berücksichtigt, und namentlich die syste- matische Schätzung von Süßmilch, von allen die bedeutendste, weg- gelassen hat, ist nicht zu erklären. Aber jedenfalls stimmen wir mit ihm überein, daß alle diese Versuche keinen entsprechenden Werth haben konnten. Es war, möchten wir sagen, der Beweis geliefert, daß die gründlichste Wissenschaft nicht ausreiche, die Function der administrativen Volkszählung zu ersetzen. Die Schätzungen hören daher mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts auf; die Wissenschaft, an dem Werthe der- selben verzweifelnd, wirft sich mit aller Macht auf die Fragen der Bevölkerungspolitik, und es ist entschieden, daß die Volkszählungen nur noch, wenn auch unter Mitwirkung der Wissenschaft, durch die Verwal- tung als administrative gemacht werden können. 5) Die Geschichte der eigentlichen Volkszählungen. Justi als der erste Theoretiker der Volkszählung . So entsteht die zweite Epoche, die Epoche der eigentlichen Volks- zählungen, deren genauere Geschichte noch zu schreiben ist. Unsere Auf- gabe geht nicht weiter als bis zur Bezeichnung des allgemeinen Ganges, den diese Zeit bis zur Gegenwart zeigt, und zwar zunächst in den drei großen Culturvölkern. Der theoretische Gedanke einer eigentlichen Volkszählung durch die Verwaltung ist weder im Princip noch in der Form neu. Im Gegen- theil dürfen wir auch hier wieder auf einen Deutschen hinweisen, der unseres Wissens das erste System der eigentlichen Volkszählung auf- gestellt hat, und dessen man in seiner damaligen Isolirung ganz ver- gessen hat. Das ist Justi , der bedeutendste Verwaltungslehrer des vorigen Jahrhunderts. Justi weiß schon recht gut, daß die Schätzungen nicht genügen (§. 235. 237). Er will statt derselben eine förmliche administrative Volkszählung; er steht sogar schon damals fast ganz auf dem gegenwärtigen Standpunkte. Nach ihm soll „die Regierung alle drei Jahre wenigstens (!) eine gemeinsame Zählung des gesammten Volkes im Lande veranstalten“ — sie „muß öfters wissen, wie viel von diesem oder jenem Stande, Lebensart und Handthierung im Lande befindlich sind, wenn sie anders in ihren Entschließungen und Maßregeln gründlich und weislich verfahren will“; die Zäh- lung selbst „geschieht am besten in Städten durch die Polizeibedienten und auf dem Lande durch Unterobrigkeiten“; denn „wenn die Regierung einmal die Zählung des Volkes unternehmen läßt, so muß sie die Sache so einrichten, daß sie alle Kenntniß daraus erlangen kann, die sie zu den verschiedenen Maßregeln und Anstalten zur Wohlfahrt des Staats nöthig hat. Unseres Wissens ist seit 1761 etwas Besseres über die Zählung der Regierung nicht gesagt; es ist der einfachste und klarste Ausdruck des wicktigen Princips der administrativen Zählung, den man finden kann. Demgemäß fügt Justi zugleich vier ausführliche Tabellen- entwürfe bei, und es ist der Mühe werth, dieselben mit den gegen- wärtig geltenden zu vergleichen. Die vierte Tabelle namentlich ist nicht ohne Interesse. Sie enthält die vier Kategorien: Alter, Geschlecht, Verheirathung, Handthierung — (die „Gelehrten“ werden unter die „unetablirten Hausväter“ gerechnet!) er will zugleich, um „den Zustand, den Wachsthum oder Verfall der Manufakturen und Fabriken zu erfor- schen,“ daß die „Commissarien in ihrer Liste noch verschiedene Rubriken haben, die sich darauf beziehen“ ( II. Buch, 1. Hauptst. 2. Abschn. „Von der wirklichen Zählung des Volkes im Lande“). Es ist wohl unbegreif- lich, daß selbst Mohl in seiner Literaturgeschichte diese bedeutendste Erscheinung des ganzen vorigen Jahrhunderts auf diesem Gebiete nicht erkannt hat, wenn man hinzufügt, daß diese Gedanken Justis nament- lich in Oesterreich schon im vorigen Jahrhundert durch die Patente und Instructionen für die Volksbeschreibung vom Jahre 1777 praktisch ausgeführt und in dem neuesten Conscriptions- und Rekru- tirungssystem vom 25. October 1804 noch weiter entwickelt wurden. Kopetz (Oesterreich. politische Gesetzkunde) hat diese Vorschriften genau angegeben und die Formularien der Volkszählungstabellen , zu denen eine ausführliche Familientabelle hinzugefügt ist, und die im Grunde nicht so gar viel zu wünschen übrig lassen, mitgetheilt (Bd. I. §. 39—73, vergl. S. 37 mit den Tabellen, die uns zeigen, daß man, wenn auch in der Ausführung, so doch nicht im Princip so weit hinter der Gegenwart zurück war. Und zugleich müssen wir ein anderes bemerken. Neben dieser rein wissenschaftlichen Theorie bestanden schon damals viele örtliche Zählungen, die oft mit großer Genauigkeit geführt und zuweilen ganz regelmäßig publicirt wurden. Die Tabellen Süß- milchs im Anhang zu Bd. I., nicht weniger als 36, beweisen das; Süß- milch selbst sagt z. B. von Wien (S. 27): „Da die in Wien jährlich im Druck erscheinenden Listen mit vieler Accuratesse gemacht wer- den ꝛc.“ Vergl. dazu die interessanten Angaben Justis über Wien (§. 223), wo man die Bevölkerung Wiens auf 165,000, 300,000 und 700,000 geschätzt findet mit 40,000 Dienstmägden aus Bayern! Wir wundern uns billig, daß auf diese bedeutenden Vorgänge die Popula- tionistik und selbst die Statistik unseres Jahrhunderts gar keine Rück- sicht nimmt. Jedenfalls zeigen sie, daß, als das 19. Jahrhundert kam, es weder an Grundsätzen, noch an Vorschlägen, noch an großartigen Versuchen fehlte. Und es bleibt uns nur übrig, den Grund anzuführen. Offenbar nämlich fehlten damals bei der großen Selbständigkeit der Gutsherren einerseits und der städtischen Gemeinden anderseits den Regierungen noch die Organe, um eine allgemeine Zählung anzuordnen; die „Commissarien,“ von denen Justi redet, sind eben nicht vorhanden. Dagegen haben schon damals die Städte zum Theil sehr genaue Standes- register und zum Theil Zählungen durchgeführt, wie wir namentlich aus Süßmilch ersehen. Hier brauchten daher die Regierungen nur an- zuschließen; und das geschah auch. Allein dazu gehörte jene tiefe Um- gestaltung des öffentlichen Lebens und Rechts, welche die alte örtliche Verwaltung vernichtete, und dieselbe nicht bloß principiell, sondern auch durch ihre eigenen Beamteten selbst übernahm. Die Zeit, in der das geschieht, ist unser Jahrhundert; und erst mit unserm Jahrhundert kann daher von einer rechten Geschichte des Zählungswesens die Rede sein. Wir dürfen nochmals bemerken, daß wir diese Geschichte einer ein- gehenden Arbeit überlassen müssen, da die Einzelheiten zu groß sind, um sie hier ganz durchzuführen. Allein wir glauben dennoch, daß die Darstellung des allgemeinen Ganges derselben und der individuellen Gestalt, welche sie in den einzelnen Staaten angenommen, nicht ohne Werth sein wird, da hier noch so ziemlich alles zu thun ist. 6) Das Zählungswesen in einzelnen Staaten . a ) Der allgemeine Gang der Entwicklung des Zählungswesens seit dem Beginn dieses Jahrhunderts. Die amtlichen Zählungen in Deutschland scheinen in den ersten Jahrzehnten wohl sehr unvollkommen gewesen zu sein; den Anfang der- selben machte die Zählung, auf welcher die Bundesmatrikel beruhte. Ich finde nirgends das Verfahren bei dieser Zählung angegeben; eben so wenig vermag ich über die preußischen Zählungen dieser Zeit etwas zu finden. Erst mit den dreißiger Jahren beginnt eine ganz neue Gestalt des Zählungswesens. Zwei Dinge haben dieselbe hervorgerufen, welche von der künftigen Geschichtschreibung ihre genauere Würdigung erwarten dürfen. Das erste war die Entstehung des Zollvereins . Die nächste Aufgabe der Zählungen des Zollvereins war allerdings die einfache Constatirung der Kopfzahl, um sie der Vertheilung der Zollerträgnisse zum Grunde zu legen, und aus der der eigentliche Begriff der „Zoll- abrechnungsbevölkerung“ hervorging. Allein die Souveränetät der ein- zelnen Bundesstaaten schloß die einheitliche Vornahme von Zählungen, so wie die einheitliche Gesetzgebung über dieselben aus; jeder Staat verfuhr dabei auf seine Weise, und so entstand mit bloßer Ausnahme der Feststellung der Kopfzahl, die ziemlich gleichmäßig gewonnen ward (freilich auch diese nicht ganz, da man über die Begriffe der „Gäste,“ „Reisenden“, „ortsanwesenden“ und „ortsangehörigen“ Bevölkerung weder ganz einig war, noch auch es bis jetzt geworden ist ( Nachtrag zur Zu- sammenstellung der in Bezug auf die Volkszählungen der verschie- denen deutschen Staaten getroffenen Anordnungen. Großherzogl. hessische Landesstatistik 1865, Seite 1 — 3) — ein ziemlich buntes Bild der Zählungen. Der praktische Werth, den die Gleichartigkeit des Zählungs- wesens für alle deutschen Staaten haben mußte, rief daher das Bestreben hervor, dieselbe zu erzwingen; und hier war es wieder, wo sich die Verwaltung an die Wissenschaft wenden mußte, um jenen Zweck zu erlangen. Die letztere nun hatte gerade in dieser Zeit mächtige Fort- schritte gemacht. Die ganze Bevölkerungslehre, die von der populatio- nistischen Theorie des vorigen Jahrhunderts in die antipopulationistische der Malthus’schen Gesichtspunkte gefallen war, empfing durch die geniale Auffassung Quetelets einen ganz neuen Geist. Während Süßmilch der Gründer der Physiologie der Bevölkerungsbewegung war, ward Quetelet der Gründer der gesammten Bevölkerungsphysiologie, die auf die physiologische Statistik des Einzellebens basirt ist. Die That- sachen, die er fand, und der Geist, in dem er sie darstellte, wurden namentlich durch Bernoulli popularisirt, der Quetelet gegenüber die- selbe Funktion übernahm, die Say für Adam Smith geleistet. Ber- noulli’s Populationistik (1842) bezeichnet den Eintritt des Gedankens, die Zählungen der Verwaltung, die sich nun einmal an die Theorie gewendet hatten, dieser Theorie und ihren Forderungen nunmehr auch gänzlich zu unterwerfen und aus den administrativen volksphysio- logische Zählungen zu machen. Dieser Gedanke ward hauptsächlich durch drei Männer vertreten, deren historische Bedeutung im Zählungs- wesen dadurch um so größer ist, daß sie eben im Geiste jener Richtung das frühere Verhältniß so weit thunlich umkehrten, und statt daß die administrativen Aufgaben bis dahin die Hauptsache gewesen, jetzt die physiologischen an die Spitze stellten, und die ersteren gleichsam bei Gelegenheit die letzteren erfüllen ließen. Diese Männer sind Czörnig in Oesterreich, Legoyt in Frankreich, Engels in Dresden und Berlin. Sie waren die ersten Vertreter der Idee eines internationalen Congresses und dürfen als die Begründer des neuen Zählungswesens in Europa angesehen werden. Es liegt außerhalb unserer Aufgabe, Geschichte und Bedeutung dieser Congresse hier darzulegen; allein ihr Einfluß auf die Volkszählungen ist von höchster Bedeutung geworden. Jeder von den drei Männern hat eine ihm eigene Zählungsgesetzgebung erzeugt, die uns ein organisches, wohl überlegtes Bild der Zählungen geben, wie sie eben aus jener Verbindung von Theorie und Verwaltung hervor- gegangen sind. Als Vorgänger dieser Richtung darf man wohl die Vor- schriften in Württemberg , gesammelt von Rominger (Systematische Zusammenstellung sämmtlicher Vorschriften über die verschiedenen Bevöl- kerungsaufnahmen in Württemberg, 1842), namentlich aber die speciell unter Quetelet selbst vorgenommenen belgischen Zählungen ( Récension générale de la population im Bulletin de la Comm. générale de la stat. Bruxelles. 1847, Mohl Seite 427) und die Instruction rel. au recensement von Bern 1850 ansehen. Gehen wir nun zu der Gestalt des Zählungswesens in den ein- zelnen Staaten über, so dürften die folgenden leitenden Gesichtspunkte den gegenwärtigen, keineswegs abgeschlossenen Zustand am besten bezeichnen. b ) Die deutschen Volkszählungen und ihr Charakter. Engels . Die deutschen Volkszählungen zeigen uns auf dem Gebiete des Zählungswesens auch nach 1830 noch denselben Charakter, den das ganze deutsche öffentliche Recht hat — innere Gleichartigkeit des Strebens im Ganzen, neben formeller und oft sehr hartnäckiger Verschiedenheit innerhalb der einzelnen Souveränetäten, und mächtiger, aber etwas theoretischer Arbeit der deutschen Wissenschaft, die Einheit durch die Gewalt des Geistes wieder herzustellen, die durch die äußern Verhält- nisse verloren gegangen ist. Selbst abgesehen nämlich von der Wissenschaft, mußte sich sogar die Praxis gestehen, daß die deutschen Volkszählungen, der Einheit in der Form ermangelnd, natürlich auch der Einheit in ihren Resul- taten ermangeln mußten. Die statistischen Congresse, die mit ihren ein- heitlichen Resultaten aus den übrigen Theilen der Welt den deutschen Repräsentanten entgegentraten, mußten das Gefühl dieser innern Un- gleichartigkeit der Zählungen auf das Lebhafteste erneuern, und in neuester Zeit haben deßhalb verschiedene Versuche stattgefunden, um sie zu besei- tigen (Zusammenstellung der in Bezug auf die Volkszählungen in ver- schiedenen deutschen Staaten getroffenen Anordnungen vom 8. Juli 1864). Indeß muß die großherzogl. hessische Centralstelle in ihrem Nachtrag vom Ende März vorigen Jahres sagen, daß zwar die Beschlüsse der internationalen statistischen Congresse erfreuliche Fortschritte hervorgerufen haben, daß aber „dennoch zwischen den Zählungsvorschriften der einzel- nen deutschen Staaten noch immer so erhebliche Verschiedenheiten bestehen, daß hierdurch die Vergleichbarkeit der Zählungsresultate wesentlich beein- trächtigt wird,“ was der Bericht denn — freilich hauptsächlich in Be- ziehung auf die persönlichen Elemente der Zählung und auf die For- mulirung der Vorschriften — im Einzelnen nachweist. Bei aller Hoch- achtung vor der Wissenschaft kann jedoch nicht verhehlt werden, daß die theoretisch individuellen Anschauungen von der Bevölkerungslehre hier vielfach auf die Differenz in dem Zählungswesen eingewirkt haben. Am weitesten und vom pupulationistischen Standpunkt am gründlichsten ward unter Engels Leitung die Zählung in Sachsen entwickelt. Engels hat seinen Standpunkt genauer in dem Artikel: „Ueber die Bedeutung der Bevölkerungsstatistik“ ( Zeitschrift des statistischen Bureaus für das Königreich Sachsen, 1855. Nr. 9.) dargelegt; das von ihm wesentlich begründete Zählungswesen (1855) hat eben deßhalb dem Vorwurf einer gewissen Einseitigkeit nicht entgehen können (vergl. Mohl , S. 429). Es darf dabei allerdings nicht vergessen werden, daß sich die deutsche Staatswissenschaft auch jetzt noch nicht einig ist, ob oder in welchem Umfang sie das Zählungswesen behandeln soll. Mohl hat es im württembergischen Verwaltungsrecht ganz weggelassen, dagegen in seiner Polizeiwissenschaft sehr oberflächlich aufgenommen, und dann in der Literatur der Staatswissenschaften behandelt, während es in der Encyklopädie wieder weggelassen ist. Rönne spricht gar nicht davon, Pötzl und Funke gleichfalls nicht; Stubenrauch dagegen hat es aufgenommen, und eben so Gerstner . Und doch ist die Theorie hier von der höchsten Wichtigkeit. Diesen Zuständen Deutschlands gegenüber erscheinen nun Oester- reich, England und Frankreich in einem ganz andern Lichte. c ) Das Zählungswesen in Oesterreich . Das Volkszählungsgesetz von 1856. Die Zählungen in Oesterreich schlossen sich schon im vorigen Jahrhundert an das Heerwesen, und erscheinen anfangs nur als Con- scriptionszählungen, die dann natürlich nach Werbebezirken aufgenommen und nur auf die Constatirung der wehrpflichtigen Mannschaft beschränkt waren. Diesen Charakter behielt das österreichische Zählungswesen bis in die neueste Zeit. Den Beginn desselben bildet das Hofdekret vom 19. Januar und 16. Februar 1754; erst das Patent vom 18. Sep- tember 1777 und die ihm beigefügte Instruktion stellen bestimmtere Vor- schriften auf, bei denen gewiß die Ideen Justis von großem Einfluß gewesen sind; der Gedanke war eine vollständige amtliche Zählung („Seelenbeschreibung“) nach den Justi’schen Kategorien. Offenbar reichte aber der amtliche Mechanismus dazu nicht aus, und man mußte sich auf die militärische Zählung beschränken, die durch das Conscrip- tions- und Werbebezirks-System v. 27. April 1781 mit besonderer Rücksicht auf die Rekrutirungsverhältnisse geordnet wurden und daher kaum zu den eigentlichen Volkszählungsgesetzen gerechnet werden dürfen, zumal da die Rekrutirungsverpflichtung in den verschiedenen Kronländern ver- schieden war, und daher der Unterschied zwischen den sogen. altcon- scribirten und den übrigen Provinzen auf diese Zählung wesentlich Einfluß übte (Dekret vom 7. Mai 1787; Patent vom 25. October 1804; Dekret vom 31. Mai 1818). Gesammelt sind alle darauf bezüglichen Vor- schriften von Schopf (Sammlung aller in Conscriptions-, Rekrutirungs- Stein , die Verwaltungslehre. II. 15 und Militärentlassungs-Angelegenheiten erlassenen Vorschriften, 1833; Fortsetzung 1836; das Wesentliche bei Kopetz I. §. 39 ff.; Stubenrauch , Verwaltungs-Gesetzkunde I. §. 163) — ein wichtiges Material für eine künftige Geschichte der Zählungen im obigen Sinne. Entscheidend und den Forderungen der Wissenschaft entsprechend ist dagegen das vorzugsweise unter Czörnigs Mitwirkung entstandene österreichische Volkszählungsgesetz vom 23. März 1856, von dem Stubenrauch (§. 164—167) eine sehr gute Uebersicht gegeben hat. Die Grundlage dieser Zählung ist die Summe und Numerirung der Wohngebäude; die Organe sind die Behörden; das Verfahren wird durch eine eigene, den Bewohnern zugestellte Belehrung eingeleitet; die Momente der Zählung enthalten die Grundverhältnisse des persönlichen, religiösen, nationalen, wirthschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens; auf die Ortsangehörigkeit ist die gebührende Rücksicht genommen; speciell hinzugefügt ist die Gemeinde-Viehstandstabelle. Aus den Ortsübersichten werden dann die Gemeindeübersichten, aus diesen die Bezirksübersichten, aus diesen die Kreisübersichten, aus diesen die Hauptübersicht gemacht. Die Volkszählungen auf dieser Grundlage bieten gewiß alles, was wir als Inhalt des Rechts der Volkszählung oben bezeich- net haben. d ) Das Zählungswesen in England . Enger Zusammenhang mit dem Standesregister. Das englische Zählungswesen unterscheidet sich von dem continentalen, wie es uns scheint, wesentlich auf Einem Punkte, auf den auch Mohl nur wenig Rücksicht genommen hat. Dieser besteht darin, daß die Zäh- lung durch die engste Verbindung mit der Führung der Standesregister eine fortlaufende und stets von demselben Organe ausgeführte ist. Da wir auf diese Weise das Zählungswesen von den Standes- registern in England nicht füglich trennen können, so verweisen wir speciell auf die Darstellung des letztern. Die regelmäßigen Publikationen des streng centralisirten Standesregisterwesens machten es möglich, daß die Angaben für England, so weit sie eben bestehen, die genauesten und regelmäßigsten sind, die wir kennen, da hier der große Orga- nismus der statistischen Stellen auf der Grundlage der drei Instanzen Registrar, Superintendent Registrar und Registrar General beständig und nach gleichartig geltenden Regeln wirkt, die als Basis noch immer die Gesetze über die Führung der Standesregister haben ( Regulations for Registrars and deputy Registrars und Regulations for the duties of Superintendent Registrars. Januar 1838, siehe unten). Die Dar- stellungen in den Reports geben dann die Ergebnisse der Zählungen in gewissen Hauptkategorien; das Verfahren dabei in Report über die Population tables von 1851. I. II. Dagegen hält sich die englische Gesetzgebung auch wieder strenger an die persönlichen Elemente der Zählung als der Continent. Man kann daher im Allgemeinen wohl mit Recht sagen, daß sich das englische Volkszählungswesen aus den Standesregistern entwickelt und daher seinen Charakter empfangen hat; wir haben deßhalb unten darauf zurückzukommen. e ) Das Zählungswesen in Frankreich . Die enge Verbindung desselben mit der innern Verwaltung. Die Geschichte des Zählungswesens in Frankreich hat einen ganz andern Charakter als in Deutschland oder England. In Frankreich nämlich ward die Zahl der Bevölkerung seit der Revolution einer der Faktoren der inneren Verwaltung, und daher hat hier die Zählung gleich anfangs statt aller theoretischen Richtung eine vorzugsweise praktische Bedeutung. Allerdings hatte nämlich das Gesetz vom 22. Juli 1791 schon eine Zählung nach Köpfen, Alter, Geschlecht und professions (Justi’s Handthierung) vorgeschrieben; aber Legoyt hat gewiß Recht, wenn er behauptet, dieß Gesetz sei nie zur Ausführung gelangt. Die frühern Zählungen, die seit 1784 stattgefunden haben, sind von Juglar De la population en France dep. 1772 à nos jours J. d. Écon. XXX. XXXI und XXXII und von Fayet De l’accroissement de la population en Fr. 1845. J. d. Écon. XII. dar- gestellt. Der Werth dieser Zählungen ist bis zu unserm Jahrhundert gewiß nach dem oben angeführten Geständniß Neckers sehr zweifelhaft, und das Verfahren war für das Reich nur eine Schätzung. Dagegen sehen wir die eigentliche Zählung in Frankreich durch ihre enge Ver- bindung als eine örtliche entstehen, und wie in England aus den Standesregistern, so hat sich in Frankreich aus den Gemeindezählungen die allgemeine Volkszählung entwickelt. Durch das Gesetz vom 19. vend. IV. ward nämlich zuerst die Aufstellung eigener Polizeibeamteter von der Zahl der Einwohner einer Gemeinde abhängig gemacht; damit ward der Frankreich eigenthümliche Grundsatz eingeführt und allmählig in allen Zweigen der örtlichen Verwaltung zur Geltung gebracht, daß die Theilnahme an den Lasten der Verwaltung durch die Zahl der Ein- wohner bestimmt werden solle. Das Arr. vom 17. Germ. an XI. bestimmte nämlich im Allgemeinen, daß die Verwaltungskosten der Ge- meinden nach der Ziffer der Bevölkerung geregelt werden sollen, nach- dem schon vorher die circonscriptions judiciaires (die Competenzgebiete der Friedensrichter) durch die loi 8. pluv. an IX und die religieuses (Kirchensprengel der Evangelischen, nach Ordonnanz vom 25. Oct. 1844 auch die der Israeliten), durch die loi 18. Germin. an X, endlich die Cautionssumme öffentlicher Beamteten durch loi 18. vent. an X. nach Maßgabe der Bevölkerung bestimmt war. Diesen Standpunkt hat die spätere Gesetzgebung festgehalten, und namentlich seit 1830 für die Be- stimmung des Steuerfußes bei der Thür- und Fenstersteuer und der contribution mobilière (21. Avr. 1832) , dann der Gewerbesteuer (contr. de patentes 1844), endlich der Verzehrungssteuer (1830) zur Geltung gebracht; das Gesetz vom 5. Mai 1855 hat die Bevölkerung endlich der Zahl, der Bestallung und zum Theil der Besoldung der Gemeindebeamteten zum Grunde gelegt. Damit ward die Zählung zu einer der großen Bedingungen der innern Verwaltung überhaupt, und es ist daher und bei dem vorwiegend polizeilichen Sinn der Franzosen, der zugleich dem mathematischen Element so große Rechnung trägt, leicht erklärlich, daß die Zählungen hier rasch und früh gemacht worden. Nach Legoyt war die erste Zählung, die regelmäßig durchgeführt war, vom Jahre 1800 (divisé per sexe et per état civil). Von dieser Zeit heißt diese eigentliche Zählung das dénombrement; neben ihm entsteht dann die Zählung durch die Standesregister (état civil) , die letz- teren sind natürlich viel ausführlicher (siehe unten). Was nun die Geschichte der eigentlichen Zählungen betrifft, so bemerkt darüber Legoyt , daß erst im Jahre 1841 der Unterschied der beweglichen Bevölkerung von der ortsangehörigen in die Zählungen aufgenommen ward, da die Gemeinden sich gegen die Einrechnung der ersten in die zweite oppo- nirten, indem, wie oben bemerkt, der Steuerfuß nach der Einwohner- zahl bestimmt ward. Der Avis du Conseil d’État vom 23. Nov. 1841 entschied die künftige Weglassung der mitgezählten nicht ortsangehörigen Bevölkerung. Dem Einfluß der Wissenschaft endlich, deren Hauptvertreter hier Legoyt war und ist, verdankt das Zählungswesen, „das bis 1851 sich auf die Angabe der Geschlechter und der Verehelichung beschränkt zu haben scheint,“ Legoyt (in Block Dict. de l’Admin. v. Popu- lation — wußte Legoyt das nicht genau?) den Fortschritt zur Aufnahme der bevölkerungsphysiologischen Kategorien, die Legoyt zuerst zur Geltung gebracht, und in denen man die mächtige Hand Quetelets sogleich wieder erkennt, zuerst des Alters und der Nationalität , des Cultus und der profession — die also seit 1791 eine leere For- derung geblieben; dann fordert sie jetzt sogar die Zahl der Wahnsinnigen, Blinden, Taubstummen und mit äußern Gebrechen behafteten. So ist man hier in der Form und den einfachsten materiellen Elementen der Zählung viel früher fertig als in Deutschland, dem Inhalte nach aber ist man bei aller formalen Einheit im Grunde nicht weiter. Wir wiederholen nun, daß die genaue Darlegung dieser so wich- tigen Geschichte einer eignen Arbeit bedarf, für die wir hier nur einige leitende Gesichtspunkte aufstellen konnten; wir schließen aber mit dem Satze, daß die Zukunft des Zählungswesens auf der Annahme und rationellen Durchführung des Satzes beruht, dessen Beispiel uns Frank- reich gegeben, daß die Zählungen der örtlichen Bevölkerung die Grundlage für die Berechnung der Leistungen derselben in der örtlichen amtlichen wie der Selbstverwaltung sein müssen. Hat man einmal diesen Grundsatz angenommen, so wird die admini- strative Zählung vermöge des Interesses der Selstverwal- tung von selbst zu einer physiologischen Volkszählung werden ! II. Die Standesregister. (Die Verwaltung und die Bewegung der Bevölkerung.) (Die Standesregister sind ihrem Wesen nach die öffentlich rechtliche Con- statirung der Thatsache von Geburt, Ehe und Tod, und ihre Geschichte sowie ihr gegenwärtig geltendes Recht enthalten die Verwirklichung dieses Gedankens.) 1) Wesen und administrative Bedeutung der Standes- register . Das was die Bevölkerungslehre die Bewegung der Bevölkerung nennt, die Zu- und Abnahme derselben, beruht vor allem auf den drei Thatsachen der Geburt, der Ehe und des Todes der Einzelnen. Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß diese Thatsachen mehr sind als einfache Facta. Sie erscheinen bei tieferer Betrachtung des menschlichen Lebens einerseits als Ergebnisse wirkender Kräfte, die theils im Gebiete des persönlichen, theils des wirthschaftlichen, theils des gesellschaftlichen Lebens liegen, andererseits erzeugen sie eine Reihe der wichtigsten Folgen für dasselbe. Man kann sie daher aus dem Gesichtspunkte aller der- jenigen Fragen behandeln, mit denen sie so innig zusammenhangen. Die Betrachtungen, die sich daraus ergeben, die wichtigen Thatsachen, die sich dafür feststellen lassen und die man, wenn auch nicht mit Recht, als Gesetze bezeichnet hat, bilden einen der bedeutendsten Theile der- jenigen Wissenschaft, welche wir als die Lebenslehre oder Physiologie der Bevölkerung bezeichnet haben. Allein so wichtig auch diese Thatsachen und Gesetze sind, so muß doch die Verwaltungslehre festhalten, daß sie dieselben zwar kennen und gebrauchen, daß sie aber sich selbst mit ihnen nicht beschäftigen soll. Auf Geburt und Tod hat die Verwaltung keinen Einfluß, auf die Ehe soll sie keinen haben. Jene drei Faktoren der inneren Bewegung der Bevölkerung stehen daher an sich außerhalb der Verwaltungslehre. Sie gehören dem Gebiete des freien nach eignen Gesetzen sich bewegen- den individuellen Lebens. Wenn daher Geburt, Ehe und Tod als reine Thatsachen mit der Verwaltung in Beziehung treten sollen, so muß dieß auf denjenigen Momenten beruhen, durch welche sie eben in Beziehung zu der übrigen Bevölkerung treten; und die Thätigkeit der Verwaltung kann sich deß- halb auch eben nur auf diese Momente derselben erstrecken. Diese aber liegen nahe. Geburt, Ehe und Tod, indem sie das Einzelleben begründen, ändern oder enden, begründen, ändern und enden damit auch die ganze Summe von rechtlichen Verhältnissen, welche das rechtliche Leben der Persönlichkeit bilden. Diese an sich rein physiologischen Thatsachen werden damit, da sie für jeden Einzelnen eintreten, zu juristischen Thatsachen , auf deren juristischer Feststellung die Geltendmachung aller derjenigen Rechte beruht, die durch sie modificirt werden. Diese Feststellung wird dadurch zu einer wesentlichen Bedingung für Ordnung und Sicherung des Verkehrslebens, und zwar zu einer solchen, die nicht bloß für jeden Einzelnen von hohem Werthe wird, sondern die auch der Einzelne durch eigne Kraft oft gar nicht, nie aber ohne unverhältniß- mäßige Anstrengung und Kosten feststellen kann. Diese Kenntniß und die gemeingültige Feststellung derselben wird dadurch zu einer Aufgabe der Verwaltung; und die Vorschriften und Anstalten derselben, deren Zweck eine solche gemeingültige Feststellung dieser Thatsachen ist, fassen wir zusammen als die Ordnung der Standesregister (der Civil- standsregister oder des Matrikenwesens ). Die Standesregister oder Matriken erscheinen daher als diejenige Einrichtung der Verwaltung, vermöge deren die letztere die That- sachen der Geburt, der Ehe und des Todes der Einzelnen durch ihre Organe feststellt , um vermöge dieser Feststellung die Grundlage für die aus derselben folgenden Rechtsbeziehungen aller übrigen Einzelnen zu gewinnen. Die Bestimmung dieser Definition ist nun darum von Wichtig- keit, weil sie es ist, aus welcher die Grundsätze für die Ordnung dieser Standesregister und endlich auch die Elemente ihrer Geschichte folgen. 2) Ordnung der Standesregister . (Die Begriffe des Inhalts , der Führung und des Rechts der Standes- register als Grundlage und Aufgabe dieser öffentlichen Ordnung.) Die Grundsätze nämlich, welche für diese Ordnung der Standes- register zu gelten haben, erscheinen in der That als die natürlichen Bedingungen dafür, daß die Standesregister die oben bezeichnete Funk- tion im öffentlichen Leben zu erfüllen vermögen. Und diese Grundsätze müssen daher als maßgebend für das geltende Recht und für die Beur- theilung der Gestalt desselben bei den verschiedenen Völkern angesehen werden. Sie sind an sich einfach, und bilden das System des Standes- registerwesens. a ) Zuerst ergibt sich, daß der Inhalt der Standesregister, um jener Aufgabe derselben zu entsprechen, die Bedingungen der juristi- schen Gewißheit der betreffenden Thatsache enthalten muß. Jedes gute Standesregister muß daher so viel enthalten, daß damit die Ele- mente des juristischen Beweises gegeben sind. Diese nun sind erstens die Constatirung der Identität der betreffenden Persönlichkeit durch Angabe seiner persönlichen Verhältnisse (Eltern, Ort, Zeit, resp. Ge- burt und Ehe); zweitens die Aufführung von Zeugen , die aller- dings nach der Natur der einzelnen Thatsache verschiedene Namen und verschiedenen Charakter haben (Hebammen, Ehezeugen u. s. w.); aber doch im Grunde eben nur als juristische Beweismittel aufzufassen sind. Alles, was über dieß juristische Element hinausgeht, gehört nicht mehr dem Standesregisterwesen, sondern fällt schon in die Statistik, und damit unter dasjenige Princip des Rechts der Volkszählung, welches wir oben bereits aufgestellt haben. b ) Es folgt zweitens , daß die Führung dieser Standesregister als eine Verwaltungsaufgabe zu betrachten ist, indem sie für alle geschieht und für alle ein Recht bildet. Daraus wieder folgen die drei leitenden Grundsätze für diese Führung der Standesregister. Dieselben müssen nämlich erstlich allgemein, und für alle gleichartig sein, so daß der in ihnen enthaltene Beweis der drei Thatsachen für jedes Individuum in allen Theilen eines Staates auch wirklich gegeben ist. Zweitens müssen die Standesregister von einem eigens dazu be- stimmten, also competenten Organe geführt werden, das die amtliche Pflicht unter persönlicher Verantwortlichkeit hat, in den Standesregistern die als Inhalt derselben geforderten Momente auch wirklich einzutragen. Drittens folgt aus demselben Grunde, daß diese Führung einer, im Interesse des Gesammtlebens liegenden beständigen und regelmäßigen Controle unterworfen sein muß. Um diesen Anforderungen nun ge- nügen zu können, war es bald nothwendig, für die Führung der Register selbst, theils um ihre Gleichartigkeit zu erzielen, theils um die Controle möglich zu machen, gesetzliche Formularien vorzuschreiben; und man kann sagen, daß erst mit diesen Formularien das öffentliche Recht der Standesregister seinen äußern Abschluß erhält. c ) Es folgt endlich drittens , daß diese, mit diesem Inhalt und in dieser Form geführten Standesregister nun auch vermöge derselben das Recht haben müssen, als juristischer Beweis für jene drei Thatsachen zu gelten , ein Satz, der wieder eine genaue Erwägung über die beiden juristischen Fragen enthält, erstlich unter welchen Be- dingungen ein solches Standesregister angefochten werden kann, zweitens in welchen Formen dasselbe in seiner Beweiskraft da, wo es mangelhaft ist, ersetzt werden kann; denn es ist natürlich selbstver- ständlich, daß es, wenn es auch in der Form richtig ist, dennoch einen Gegenbeweis zulassen muß. Diesem Recht der Standesregister entsprechen natürlich zwei Pflichten. Die erste Pflicht ist die der Organe der Führung der Register selbst, welche theils in der genauen Eintragung der betreffenden Thatsachen und zwar jetzt wohl allenthalben nach bestimmten gesetzlich vorgeschrie- benen Formeln besteht, theils in der Verpflichtung, den Einzelnen beweisgültige Abschriften aus den Registern zu geben. Die zweite Pflicht ist die der Einzelnen, jene Thatsachen der betreffenden Organe auch wirklich anzugeben, und zwar namentlich alle diejenigen Momente derselben, welche das Register constatiren muß. Die Erfüllung dieser Pflicht wird zum Theil mit eignen Strafen gegen die Unterlassung, zum Theil mit Rechtsungültigkeit des betreffenden Aktes bei der Ehe erreicht; hier sind jedoch die Gesetze verschieden. Aus allen diesen Punkten hat sich nun dasjenige allmählig heraus- gebildet, was wir das System der Standesregister nennen. Die Natur jener drei Thatsachen bringt es nun zwar mit sich, daß der Inhalt und die Form derselben für Geburt, Tod und Ehe verschieden sein müssen; allein die obigen Principien erscheinen dennoch als die allgemein gültigen, und bilden das geltende öffentliche Recht der Stan- desregister. Man erkennt dabei leicht, daß dasselbe keinesweges ein einfaches ist. Es darf uns daher nicht wundern, wenn wir auch bei den Standesregistern von einer Geschichte derselben zu reden haben, die wiederum als Grundlage eines vergleichenden Rechts derselben angesehen werden muß. Beides ist bei der praktischen Wichtigkeit der Sache und bei der noch immer vorhandenen großen Verschiedenheit und zum Theil Unklarheit über die Sache nicht ohne Interesse. Die Stellung, welche die Standesregister in der Theorie einnehmen, ist für die ganze Auffassung derselben höchst bezeichnend. Gesetzlich und thatsächlich existirten sie schon Jahrhunderte lang, ehe die Theorie auf sie Rücksicht nahm. Dieß geschah erst mit dem Auftreten der populationistischen Richtung des vorigen Jahrhunderts, und sie wurden daher auch nur als Momente für diese popu- lationistische Verwaltung der Bevölkerung betrachtet. Man kann unbedenklich behaupten, daß dieß noch gegenwärtig der Fall ist, und daß statt der Wissen- schaft nur die positive Gesetzgebung sie in ihrer wahren Bedeutung, als admini- strative Einrichtung verstanden hat. Auch die neueste Bevölkerungslehre hat ihren hohen juristischen und administrativen Werth im obigen Sinne nicht er- kannt. Süßmilch zunächst nimmt die Standesregister ganz einfach als Grund- lage der Berechnung und Schätzung der Bevölkerung, die damals noch die eigentliche Zählung ersetzen mußte (s. oben); eben so Justi („Von den Todten- registern und ihrem Nutzen in Polizeianstalten,“ II. Bd. 6. Hptst. Abschn. I. ), obwohl er sie schon in Beziehung auf Polizeianstalten bringt; so meint er, „es ist gewiß allemal ein untrügliches Merkzeichen von der Unwissenheit und Unge- schicklichkeit der Hebammen , wenn viele Kinder todt zur Welt kommen oder bald nach der Geburt sterben“ (§. 231) — ein gewiß richtiger Gesichtspunkt, der mit Unrecht für die Verwerthung der Listen der Todtgebornen wieder verloren gegangen ist. Die späteren Polizeirechtslehrer, Berg, Fischer, Jacobs u. s. w. sprechen gar nicht davon; eben so wenig natürlich die Nationalökonomen; die Malthusische Richtung war viel zu sehr mit dem abstrakten Princip beschäftigt, um die praktische Wirklichkeit zu sehen. Statt dessen ist die Gesetzgebung sehr reichhaltig. An sie schließt sich namentlich in Frankreich eine ganze Literatur, und selbst in Deutschland erscheinen einige Arbeiten darüber ( Rohr , Anleitung, wie Kirchenbücher und Listen zu politischen Berechnungen besser einzurichten sind, 1789. Neue Beiträge zur Verbesserung der Kirchenbücher, 1794); aber alles Theoretische bleibt in Deutschland nur auf dem Volkszählungsstandpunkt. Was Mohl (Polizeiwissenschaft I. §. 16) und Gerstner (Bevölkerungslehre S. 73) sagen, ist ohne alle Bedeutung. Daß Standesregister einen Werth auch außer- halb der Statistik haben, oder gar daß ihr eigentlich administrativer Werth eben nur da liegt, ist beiden nicht eingefallen. Die wahre Geschichte der Standes- register ist wirklich nur aus der Verwaltung und nicht aus der Verwaltungslehre hervorgegangen. 3) Geschichte und bestehende Ordnungen der Standes- register . (Die Grundlagen dieser Geschichte werden am besten ausgedrückt in den Bezeichnungen der Kirchenbücher , der Geburts - und Todesregister (oder Kirchenregister) und der eigentlichen Standesregister . Wie sich diese drei Grundformen unterscheiden.) Obwohl wir damit beginnen müssen, daß wir bei dem Mangel an Quellen und Vorarbeiten nicht im Stande sind, eine eigentliche Geschichte der Standesregister zu geben, so dürfte doch die Grundlage ihrer allmähligen Ausbildung bis zu ihrem gegenwärtigen Standpunkte weder unklar noch auch ohne Interesse sein. Man muß als diese Grundlage drei Momente betrachten, die noch gegenwärtig gültig sind, aber die durch ihre verschiedene Bedeutung in den verschiedenen Zeiten gewissermaßen drei große Epochen hervorgerufen haben. Diese drei Momente sind das rein kirchliche, das administrative und das statistische Element, denen die Epoche der rein kirchlichen, der administrativen und der statistischen Standesregister entsprechen. Die Formen , welche diese Momente einerseits und die Epochen der Ent- wicklung andererseits erzeugt haben, bezeichnen wir wohl am besten als die der Kirchenbücher , welche die erste Epoche bilden, die Geburts- und Todtenregister , welche der zweiten gehören, und der eigentlichen Standesregister , welche mit der dritten entstehen. Diese Unter- scheidungen gehören allerdings mehr dem Wesen als der äußern Form an, sind aber dennoch, wie wir glauben, leicht verständlich, und wohl auch leicht nachzuweisen. 1) Wir glauben nicht zu irren, wenn wir die Einführung der ersten Form der Standesregister als der Kirchenbücher auf das Be- dürfniß zurückführen, durch den Beweis der Vornahme des kirchlichen Aktes der Taufe und der Trauung den Beweis der Angehörigkeit der Einzelnen an eine bestimmte Confession hinzustellen, und daß daher diese Kirchenbücher sich als allgemeines Institut an die Entstehung der Spaltungen in der katholischen Kirche anschließen. Ob und in wie weit jedoch nicht schon früher Gemeindekirchenbücher , namentlich von Stadtpfarrern, geführt worden sind, läßt sich bis jetzt noch schwer sagen. Gewiß ist nur, daß wir bereits im Beginn des 16. Jahrhun- derts den ersten, zum Theil großartig angelegten Versuchen in England und Frankreich begegnen, das Kirchenbücherwesen auf einer gemeinsamen Grundlage zu ordnen, bis das Tridentiner Concil endlich die Führung der Kirchenbücher zu einer allgemeinen Pflicht aller Geistlichen machte. Das Concil. Trident . sess. XXIV, c. 1. de reformat. matrimonii sagt: „Habeat parochus librum, in quo conjugum et testium nomina et locum contracti matrimonii describat, quem diligenter apud se custodiat.“ Dann heißt es sess. XXIV. c. 2. de reformat. matr. „Parochus, antequam ad baptismum conferendum accedat, diligenter ab iis, ad quos spectabit, sciscitetur, quem vel quos elegerint, ut baptizatum de sacro fonte suscipiant et eum vel eos tantum ad illum suscipiendum admittat et in libro eorum nomina describat.“ Damit war nun zwar ein großer Schritt geschehen; allein es war doch nur ein Anfang. Das Kirchenbuch ist anfangs gleichsam nur eine Thatsache, ein Memorial des Geistlichen. Zwar erzeugt die Natur der Dinge die rechtliche Beweiskraft der Angaben der Kirchenbücher, aber über die Ordnung und den Inhalt derselben gibt es noch keine Vor- schriften, namentlich nicht über die Controle derselben. Dieß alles tritt erst da ein, wo die Verwaltung sich der Sache bemächtigt und aus dem rein kirchlichen Akt einen administrativen macht. 2) Man kann gewiß behaupten, daß dieß in durchgreifender Weise zuerst in den Städten geschehen ist, wo einerseits das Angehören an die Gemeinde, und andererseits das Erbrecht bei dem beweglichen Capital den Beweis von Geburt, Ehe und Tod nothwendig machten. Wir sehen daher in den städtischen Kirchenbüchern den Anfang der Ge- burts- und Todtenregister. Allein eben so gewiß scheint zu sein, daß trotzdem keine Vorschriften über Inhalt und Ordnung dieser Kirchen- bücher vorhanden waren. Sie sind daher auch jetzt noch ganz localer Natur, und zwar beschränken sie sich sogar noch auf die großen staatlich anerkannten christlichen Confessionen. Alle Nichtchristen haben keine Kirche, und darum keine Kirchenbücher. Es ist mir nicht klar, wie sich zu diesem Princip die aus dem 17. und 18. Jahrhundert stam- menden Geburts- und Todtenregister verhalten; allein mit Recht wird man auch jetzt noch von keinem Standesregister reden. Die eigentlichen Geburts- und Todtenregister treten daher erst da ein, wo die populationistische Anschauung der Bevölkerung und des entscheidenden Werthes der Zahl derselben durchgreift. Das geschieht mit dem Beginne des 18. Jahrhunderts. Es scheint, daß namentlich die oben charakterisirten Schätzungen der Bevölkerung den Anstoß ge- geben haben, dem Institute der alten Kirchenbücher seine neue Gestalt zu geben. Die Bevölkerungslehre zeigte nämlich, daß bei dem Mangel an eigentlichen Zählungen die Grundlage der Schätzungen in den Kirchenbüchern liege; und daneben steigerte sich bei wachsender Beweg- lichkeit der Bevölkerung auch der Werth genauer Nachweise über das Individuum. Von nicht geringem Einfluß ist dabei ohne Zweifel das Armenwesen und das Schulwesen geworden, welche beide natürlich immer am letzten Orte auf Geburt und Ehe, also auf die Kirchenbücher und Tauf- und Trauscheine zurückkommen mußten. Die Verwaltungen begannen daher jetzt die Nothwendigkeit eines solchen Instituts in allge- meiner und gleichartiger Form zu erkennen, und so beginnen mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts die eigentlichen Gesetzgebungen über die Standesregister. Sie bilden das, was wir die administra- tive Epoche der letzteren genannt haben. Ihr charakteristisches Element ist nunmehr leicht zu bezeichnen. Zuerst besteht dasselbe in der Ver- pflichtung zur Führung von solchen Registern für alle Confessionen; aber dabei schließen sie sich noch an die Kirche an, und halten daher den Grundsatz fest, daß diese Register von den Geistlichen geführt werden. Allein das administrative Moment erscheint dann in zwei Punkten als durchgreifend. Erstlich wird von der weltlichen Gesetz- gebung genau der Inhalt der Register vorgeschrieben, und zweitens wird die Führung selbst unter die Oberaufsicht der Verwaltungs- beamteten gestellt. So ist schon jetzt die Grundlage der Standesregister gegeben und das ist eben die Form, die wir als die (polizeilich vorge- schriebenen) Geburts- und Todtenregister bezeichnet haben. Allein sie bilden noch einen Uebergang; denn in ihnen sind eigentlich die Kirchen- bücher und Standesregister vermischt; jene Register sind beides zu- gleich , und zwar darum, weil die Grundlage der Führung dieser Register noch immer der kirchliche Akt der Taufe und Trauung ist. Bereits aber paßt der Name „Kirchenbücher“ nicht recht mehr; denn diese Register werden ja auch von Religionskörpern geführt, die nicht als „Kirche“ gelten, wie von Juden u. s. w. Man nimmt daher schon andere Namen an, wie „Matriken“ (Oesterreich), Todten- und Geburts- listen oder -Register u. s. w., bis endlich die Scheidung zwischen den alten Kirchenbüchern und den neuen Registern sich wesentlich in unserm Jahrhundert vollzieht, und zwar zunächst in England und in Frank- reich, und damit die administrative Epoche erfüllt. Diese Scheidung nun beruht darauf, daß die Führung der Re- gister zu einer amtlichen Aufgabe gemacht, den Geistlichen entzogen und als ein rein administrativer Akt hingestellt wird. Das hing in England mit dem Armenwesen zusammen, in Frankreich mit dem neuen Eherecht, das sich von der Confession ganz frei macht, das kirchliche Element dem subjektiven Ermessen überläßt, und die Ehe als bürger- lichen Vertrag auffaßt. Dabei wird die Registrirung zu einem rein amtlichen Akt, und das Register zu einer öffentlichen Urkunde , welche vollkommen Glaubwürdigkeit besitzt und Beweis liefert, daher auch vor Zeugen aufgenommen wird und den kirchlichen Charakter ganz ver- liert. Jene drei Thatsachen erscheinen daher jetzt auch nur als bür- gerliche , sie haben nur Bezug auf bürgerliches Recht, und heißen daher jetzt in dieser Scheidung Civilstands- oder Standesregister. Daneben können die eigentlichen Kirchenbücher fortbestehen, und be- stehen fort, wie in England; in andern Ländern bleiben die Kirchen- bücher als ausschließliche Form der Standesregister, wie in Oesterreich; allein allenthalben gilt der administrative Charakter, wenn er auch, wie in mehreren kleinen deutschen Staaten, nur noch wenig ausgebildet ist. — Damit ist Inhalt und Princip der zweiten Epoche, die in der Scheidung von Kirchenbüchern und Standesregistern culminiren, gegeben. 3) Das dritte große Element, das populationistische, unterscheidet sich nun von den beiden andern dadurch, daß während das kirchliche Ge- burt, Ehe und Tod als confessionelle Thatsachen, das admini- strative dieselben als juristische auffassen und demgemäß ordnen, das populationistische in ihnen vorwiegend statistische Thatsachen sucht. Diese Auffassung, indem sie das Recht der Civilstandsregister ganz un- berührt läßt, strebt in Inhalt und Führung derselben wesentlich zwei Punkte zur Geltung zu bringen. Der erste ist die Aufnahme von denjenigen Angaben in die Register, welche sich auf die Bewegung der Bevölkerung beziehen, namentlich die streng durchgeführte Angabe der Todtgebornen, und die Angabe der Todesursache. Der zweite dagegen, die Führung der Register betreffend, organisirt aus ihnen die Zählung der Bewegung (Zu- und Abnahme) der Bevölkerung, indem sie neben die eigentliche Zählung eine regelmäßige Aufstellung der Geburten, Ehen und Todesfälle anordnet, die natürlich, da es sich nicht um die Indi- viduen handelt, nur die ziffermäßige Bewegung der Bevölkerung ent- halten und verfolgen. Es versteht sich von selbst, daß sich dabei ein eben so weites Gebiet eröffnet, wie bei den populationistischen Zäh- lungen, und daß das Rechtsprincip der Zählung auch hier gelten muß. Es ist keine Frage, daß in diesen Registern eine reiche Quelle für die höhere Statistik des Völkerlebens liegt; allein dem strengen Gebiete der Verwaltung und ihres Rechts können auch hier nur diejenigen Punkte angehören, deren Aufnahme in die Civilstandsregister durch ein von der Gesetzgebung anerkanntes Interesse motivirt erscheint. Dieß nun sind die allgemeinen Elemente der Geschichte der Standes- register. Dieselbe aber hat in jedem Lande wieder ihren eigenen Ver- lauf und ihre eigenthümliche Gestalt; und es ist von Werth und von Interesse, dieselben, wenn auch nur kurz, zu charakterisiren. 4) Zur Geschichte der Standesregister in den einzelnen Staaten . Charakter derselben. Vergleicht man nun auf dieser allgemeinen Grundlage das geltende Recht und die Ordnung der Standesregister in den einzelnen Staaten, so dürfte sich im Wesentlichen folgendes Resultat ergeben. Die erste , vollständige und sehr gute Einrichtung derselben ist im vorigen Jahrhundert von Oesterreich ausgegangen, dessen damalige Gesetzgebung aber, weil sie eine treffliche war, noch im Wesentlichen gegenwärtig gilt; allein dafür stehen diese Register noch auf dem Stand- punkt der Geburts-, Todes- und Eheregister, freilich von den Standes- registern fast nur dadurch unterschieden, daß sie von den Geistlichen und nicht von weltlichen Organen geführt werden. Preußen hat auf diesem Punkte, wie in so vielen Gebieten des öffentlichen Rechts, zwei Systeme; das eine ist das Oesterreichs und der meisten deutschen Staaten, wor- nach diese Register Kirchenregister sind, das zweite ist das förmliche Standesregister. Jenes gilt im Osten, dieses aus nahe liegenden Grün- den am Rhein. Frankreich hat mit seiner revolutionären Gesetzgebung den Sprung aus dem alten Kirchenbüchersystem unvermittelt in die reinen Standesregister gemacht, und England endlich ist ihm, freilich nach manchen unklaren Versuchen, darin gefolgt. Für die positiven Gesetze der übrigen Staaten fehlen mir noch die Quellen. Auch hier wird es die Aufgabe der Zukunft sein, ein Bild Europa’s statt eines Theiles desselben zu geben. Oesterreich . Die ersten Versuche, die Kirchenregister über Geburt, Ehe und Tod zu organisiren, rühren von Maria Theresia her (Dekret vom 10. Mai 1774); allein das eigentliche organische Gesetz für diesel- ben, das noch gegenwärtig gilt, ist das Patent vom 20. Februar 1784 von Joseph II. Die Grundgedanken dieses Gesetzes sind sehr klar. Die Register (die hier amtlich Matriken heißen) sollen von den Geist- lichen geführt werden, und zwar sowohl bei den Katholiken als bei den Akatholiken. Für diese Register sind gesetzliche Rubriken vorge- schrieben, und die Art und Weise der Eintragung genau bestimmt. Die Führung der Register steht aber, obwohl sie den Geistlichen obliegt, unter doppelter Oberaufsicht; einerseits unter der der geistlichen Behörden, andrerseits sollen auch die weltlichen Behörden sich von Zeit zu Zeit von der richtigen Führung überzeugen. Namentlich haben die Bezirks- behörden den Geistlichen aller Confessionen die (foliirten und besiegelten) vorschriftsmäßig rubricirten Kirchenbücher einzuhändigen; die Eintragung dagegen ist Sache der Geistlichen. Geburt, Tod und Ehe haben ihre besondern Rubriken. Die Aufstellung von Copien ist speciell durch Dekret vom 27. Juni 1835 angeordnet. Die Matrikenführer müssen jährlich eine Jahrestabelle zusammenstellen, für welche 1828 eigene Formularien vorgeschrieben worden, die mit einem Berichte be- gleitet sein sollen; auf Grundlage dieser Einsendungen werden dann jährliche Summarien verfaßt. (Das Gesetz selbst bei Kropatschek , Gesetzsammlung VI. 358. Der Inhalt desselben nebst den dazu ge- hörigen spätern Verordnungen bei Kopetz , Polizeigesetze von Oesterreich, Hauptst. II. §. 74—86. Ausführlicher und besser bei Stubenrauch , Verwaltungs-Gesetzkunde §. 167—176, nebst allen neueren Verordnun- gen und der darauf bezüglichen Literatur.) Preußen . Das System des preußischen Rechts in Beziehung auf die Standesregister besitzt keineswegs jene Einfachheit und Klarheit, wie das österreichische. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß Preußen in dieser Beziehung in das Gebiet des deutschen (Osten) und französischen Rechts (Westen) geschieden werden muß. Aber auch im deutschen Rechtsgebiete ist die Sache nicht einfach. Der Grundzug des preußischen Rechts besteht hier darin, daß die Führung der Register allerdings wie in Oesterreich den Geistlichen überwiesen ist (Formularien für die Gleichmäßigkeit sind mir aus dem vorigen Jahrhundert trotz des Vorganges von Kaiser Joseph II. nicht bekannt) und diesen Grund- satz hat das Allgemeine Landrecht II. S. 11. §. 27 indirekt sanctionirt. Allein die Religions- und Gewissensfreiheit ward doch nur so verstanden, daß das Recht öffentlicher Documente nur für die Geistlichen der- jenigen Confessionen gelten solle, welche vom Staate anerkannt sind (Religions-Edikt vom 9. Juli 1788 und Allgemeines Landrecht II. S. 11, wornach der Staat sich die „Prüfung und Verwerfung solcher Grund- sätze vorbehält,“ §. 15). Es trat nun, da die Register denn doch von höchster bürgerlicher Wichtigkeit sind, die Frage ein, unter welchen Be- dingungen die Angaben der Kirchenbücher solcher nichtanerkannter Religionsgesellschaften die juristische Gültigkeit der anerkannten Kirchen- bücher haben konnten. Natürlich entschieden jetzt darüber die Gerichte , wie über jede andere im Proceß behauptete Thatsache; und damit war dann für diese Gesellschaften der eigentliche Nutzen der Kirchenbücher verloren. Um diesem Uebelstande abzuhelfen, hätte man einfach ein allgemein gültiges Gesetz über Standesregister wie in Oesterreich oder wie in Frankreich erlassen sollen. Das wäre der rationelle Weg gewesen. Allein dem trat das Streben entgegen, die französische Civil- ehe zu verhindern, die man sich in enger Verbindung mit dem franzö- sischen Rechte dachte ( Rönne , preußisches Staatsrecht §. 97). Man gelangte daher zu der freien Auffassung nicht, sondern schlug den gegen- wärtig noch bestehenden Mittelweg ein, indem das Patent vom 30. März 1847 bestimmte, daß die Kirchenbücher der nicht anerkannten Religionsgesellschaften das Recht der öffentlichen Glaubwürdigkeit über Ehe, Geburt und Tod dadurch empfangen sollten, daß sie vom Ge- richte bestätigt werden. Natürlich hat diese halbe Maßregel die Frage namentlich nach der Anerkennung der Ehe nur noch verwickelter gemacht, da es im Grunde ein unlösbarer Widerspruch ist, die Ehe innerhalb einer Religionsgesellschaft anzuerkennen, die Religionsgesellschaft selber aber nicht. Aus derselben Unfertigkeit der Auffassung geht die Vor- schrift hervor, daß die Register der Juden an sich keine öffentliche Glaubwürdigkeit haben, sondern daß für dieselben wieder die Gerichte eigene Register führen sollen ( Verordnung vom 23. Juli 1847). Rönne hat nicht wohl gethan, die Verhältnisse der Civilstandsregister nicht selbständig zu behandeln (vergl. Staatsrecht I. §. 97. II. 318). Aus dieser Unentschiedenheit wird ohne Zweifel der Sieg des Systems der französischen Civilstandsregister hervorgehen, das am Rhein bereits gilt, auf dem rheinischen Civilgesetzbuche §. 34—101 beruht, und durch die Gemeindeordnung für die Rheinprovinz vom 23. Juli 1845, und die Städteordnung für die Rheinprovinz vom 15. Mai 1856 bestätigt ist. Es ist in allem Wesentlichen bekannt- lich das Recht Frankreichs, dessen Hauptpunkte im Folgenden ent- halten sind. Frankreich . Es ist bekannt, daß Frankreich die eigentliche Hei- math der Standesregister, des sogen. État civil ist. Es darf hier aber wohl nochmals darauf hingewiesen werden, worin eigentlich das Wesen der Standesregister namentlich gegenüber den kirchlichen Registern be- steht, da in der Form und dem Zwecke so sehr viel Aehnliches obwaltet. Die Standesregister nämlich erscheinen nicht mehr als ein kirchliches oder rein juristisches, sondern als ein staatliches Institut ; und zu dem Zwecke werden sie nicht bloß von staatlichen Behörden geführt, sondern es ist die öffentliche Pflicht des Einzelnen, die genauen Ein- tragungen in dieselben zu veranlassen, weßhalb auch erst bei den Standesregistern eine Strafe für die Unterlassung der Eintragung aufgestellt wird. Daß die Erklärung der Ehe vor dem Führer des Standesregisters dieselbe gültig macht und die Civilehe erzeugt, liegt nicht in der Natur der Standesregister, und macht daher auch keines- wegs ihr Wesen aus, wie manche meinen, sondern ist nur die Anwen- dung des Princips der Standesregister als öffentlicher Documente auf das Princip der französischen Ehe, nach welchen dieselbe eben nur ein Vertrag, wie der Societätsvertrag ist. Eben deßhalb aber läßt dieß Princip der Standesregister auch die Führung der (confessionsmäßigen) Kirchenbücher vollkommen frei neben sich zu; nur haben die letztern dann keine Fides publica für bürgerliche Rechtsverhältnisse, wohl aber für kirchliche . Auf diesen Grundlagen beruht das System des État civil, und wie es in England durchgegriffen, wird es auch in den übrigen Staaten durchgreifen. Uebrigens ist dasselbe nicht so sehr durch legislative Reflexion, als vielmehr durch den natürlichen Gang der Dinge entstanden und hat erst später seine feste Form erhalten. Frank- reich hatte, wie das ganze übrige Europa, bereits seit Jahrhunderten seine Kirchenbücher, deren erste Ordnung bereits durch die Ordonnances von 1539 ( Villers Coterets ) und später mehrfach versucht ward. Als aber mit der Revolution die ganze kirchliche Ordnung zusammenbrach, war an eine kirchliche Führung jener Register nicht zu denken, und man war gezwungen, diese Führung den Gemeindevorständen , en maires, zu übergeben. Das geschah bereits durch Gesetz vom 20. Sept. 1791, und dieß Gesetz ward dann durch das zweite vom 28 pluviose an. VIII erneuert und erweitert, welches Gesetz als die Grundlage für die eigentlichen Standesregister angesehen werden muß, und dessen Prin- cipien noch heute gelten. Das ganze Standesregisterwesen ist daher in Beziehung auf die Führung der Register, speziell in Beziehung auf die Function des Maire zu einem Theil der Organisation Communale und mit derselben zu einem Stück rein amtlicher Verwaltung geworden. Diese Auffassung ist nun bekanntlich vollständig in den Code Civil übergegangen, in welchem die Standesregister und ihre Führung durch die mit derselben verbundenen privatrechtlichen Folgen ein organischer Theil des bürgerlichen Rechts geworden sind. Der Maire ist als Be- amteter des Staats der officier de l’État civil ( Vollziehende Ge- walt S. 486) und der Code Civil enthält bekanntlich in L. I. P. II. (Des actes de l’État civil) alle dahin gehörigen Vorschriften. Aber eben dadurch ist auch das Recht dieser Führung in seinem Principe geändert. Die Eintragung in die Standesregister ist nämlich nicht mehr bloß ein Akt der fides publica, sondern wird bei Ehe, Adoption und den Verhältnissen der unehelichen Geburten zu einem Akte der civilrecht- lichen Entscheidung (z. B. bei Adoption, Code Civil a. 353—357). Daher kann bei Geburten die Eintragung nach drei Tagen nur auf Grund- lage eines gerichtlichen Urtheils erfolgen. Die Erklärung der Geburt muß innerhalb des gesetzlichen Termins bei Strafe von 6 Tagen bis 6 Monaten oder 16 bis 300 Fr. Buße erfolgen ( Code Pén. 346). Das Kind soll sogar bei der Registrirung gezeigt werden — eine ge- wiß überflüssige Formalität. Alle diese verschiedenen Vorschriften hat nun bekanntlich der Code Civil a. 42 ff. zusammen gefaßt und zu einem Theil des bürgerlichen Rechts gemacht, und im Art. 45 ausdrück- lich bestimmt, daß jeder das Recht habe, sich Auszüge aus dem Register geben zu lassen, die dann fides publica haben. Das Verhältniß dieser Register zur Statistik ist hauptsächlich — allerdings wieder auf Grund- lage des Gesetzes vom 20. Sept. 1792 — durch das Decret vom 20. Juli 1807 geordnet. Jährlich werden die Tabellen, gerade wie in Oesterreich seit 1784, zusammen gestellt und daraus zehnjährige Ta- bellen (die tables decénnales ) gemacht und in drei Exemplaren ge- schrieben. Das Verfahren bei der Abfassung der Jahrestabellen ist durch mehrere Verordnungen, zuletzt durch die vom 24. Sept. 1833 und vom 18. Oct. 1855 geordnet ( Legoyt in Block , Dict. v. Po- pulation ). Für den Fall des Verlustes und der Wiederherstellung der Register bestimmt die Verordnung vom 9. Januar 1815 das nähere Stein , die Verwaltungslehre. II. 16 Verfahren. An diese Bestimmungen hat sich eine ziemlich reichhaltige Literatur angeschlossen, die aber freilich sich um die populationistischen und statistischen Interessen nicht kümmert, sondern vorzugsweise in An- leitungen für die Gemeindebeamteten für die so wichtige, und wie sich aus dem Obigen ergibt, keineswegs einfache Führung der Standes- register besteht ( Legoyt bei Block , v. État civil ). Man sieht es selbst dieser Literatur an, daß der État civil in Frankreich nichts anderes mehr ist, als eine reine Verwaltungsmaßregel , und sein Recht ein un- zweifelhaftes bürgerliches Verwaltungsrecht . — Zum Schluß mag bemerkt werden, daß neuerdings das ganze französische System der Standesregister auch in Italien eingeführt ist durch Gesetz vom 20. März 1865. Der Sindaco vertritt hier die Stelle des Maire, die Formen sind gleich, und es ist diese Einführung als ein bedeutender Schritt für das italienische Eherecht anzusehen. (Vergl. Austria für 1865, Nr. 34.) England . Während in England das Princip der Standesregister nach manchen Kämpfen und Versuchen zum Durchbruche gelangt ist, ist dennoch sowohl der historische Gang der Entwicklung, als auch die äußere Ordnung derselben von Frankreich wieder sehr verschieden. Man kann beide wohl ziemlich einfach charakterisiren. Das Bedürfniß hat in England sehr bald die Nothwendigkeit öffentlicher Constatirung von Geburt, Ehe und Tod gezeigt, und daher auch bald Vorschriften dar- über hervorgerufen. Allein da die kirchliche Freiheit keinen Eingriff in die kirchliche Selbstverwaltung, und die communale Freiheit keinen Ein- griff in die örtliche Selbstverwaltung duldete, so blieb der Regierung, wenn sie solche Register haben wollte, nichts anders übrig, als einen eigenen amtlichen Organismus zum Zwecke der Führung dieser Register aufzustellen, und das ist denn, freilich spät und unter großen Kosten, aber allerdings übrigens in trefflicher Weise geschehen. Bei dem Mangel aller fachmännischen rechtshistorischen Bildung in England würden wir über die frühern Zustände wahrscheinlich gar nichts wissen, wenn nicht in Veranlassung der Untersuchungen, die dem Gesetz von 1836 vorausgingen, das Committee uns einige Aussagen aufbewahrt hätte, deren historischen Werth wir auf sich beruhen lassen müssen. ( Report from the select Comm. on Parochian registration, with the minuts of evidences and appendix. Ordered by the House of Commons to be printed 15 Aug. 1833; und Hansard , Vol. XVI. ) Dann hat uns Daniels die Civilstandsgesetzgebung für Eng- land und Wales, 1851 in einem kurzen und guten Auszug gegeben. Seine Einleitung (S. 1—22) macht es uns kaum möglich, auf unserm engen Raum mehr zu thun, als ihm einfach zu folgen, so weit er reicht. In England reichen die reinen Kirchenbücher in dem oben aufgestellten Sinn wohl bis zum Jahr 1812; doch beginnen die öffent- lichen Vorschriften über dieselben schon seit 1538, bei denen bereits Strafvorschriften erscheinen. Die Verordnung des Erzbischofs von Can- terbury 1597 (39 Elisab. ) zeigt uns, daß die Kirche trotz mehrfacher Bemühungen der Regierung sich eifersüchtig gegen jedes Eingreifen der letztern sträubte, und lieber selbst die Verbesserungen befahl und durch- führte. Das Gesetz von 1653, welches bereits die Herstellung förmlicher Standesregister ohne Rücksicht auf die Confession und Führung derselben durch die Justices of peace enthielt, fiel mit der Restauration. Unter Wilhelm III. begann man die Kirchenbücher als Mittel zur Besteurung zu benützen, was ihren Werth gerade nicht erhöhte; die englischen Kir- chenbücher blieben daher ziemlich ohne alle Organisation, bis das Gesetz 52 Georg III. c. 146 von 1812, das oben erwähnte Sir Moses Sta- tute, den großen Versuch machte, das für England zu thun, was Joseph II. 1784 für Oesterreich geleistet, nämlich eine durchgreifende gesetzliche, allgemein gültige Regelung der Führung der Kirchen- bücher . Allein die Selbständigkeit einerseits der Gemeinden, andrer- seits der kirchlichen Körperschaften machte nicht bloß die Durchführung dieser Vorschriften unmöglich, sondern, was nach den gegenwärtigen Verhältnissen beinahe unglaublich scheint, die Regierung wußte bis zum Jahr 1833 nicht einmal, wie die Kirchenbücher geführt würden , und die Gerichtshöfe nahmen auch nur die Angaben über die Taufen , nicht aber die über Geburten aus denselben als gültig an. Es war der ächt englische Standpunkt hier zur Geltung gelangt, daß das, was das Interesse des Einzelnen betrifft, auch rein Sache des Einzelnen sei, und jeder Einzelne daher Geburt, Ehe und Tod selbst beweisen möge, wenn es ihm darauf ankäme. „Die Gesammtheit der Ermittlungen des Parlamentsausschusses,“ sagt Daniels mit Recht, „insbesondere das Urtheil der zu Rathe gezogenen Sachwalter, stellt den Zustand der Beurkundung der Personenstandsereignisse als höchst ungenügend dar, selbst für die der bischöflichen Kirche angehörigen Glau- bensgenossen“ (1833!). Der Ausschuß stellte daher den Antrag: „daß eine Nationalanstalt zur Beurkundung der Geburten, Heirathen und Sterbfälle unabhängig von kirchlichen Einrichtungen und der Verschiedenheit der Glaubensbekenntnisse zu gründen, und daß die neue Einrichtung einer besondern , in der Hauptstadt einzusetzenden Be- hörde unterzuordnen sei.“ Dieß Princip ward angenommen, und muß als die Basis des Standesregisterwesens in England angesehen werden. Es unterscheidet sich wesentlich von dem deutschen in der Trennung von den Kirchenbüchern, die neben jenen Standesregistern je nach den Bestimmungen der einzelnen Körperschaften auch jetzt noch fortgeführt werden. Es unterscheidet sich wesentlich von dem fran- zösischen in der Aufstellung eines eigenen Organes für die Standes- register, und in der vollständigen Ausschließung jeder administrativen Jurisdiction der Maires . Und jetzt kam es nur noch darauf an, eben jenes Organ zu finden. Das nun bot sich in dem neuen Statut über Armenpflege (4. 5. Will . IV. 76. 1834) dar. Die Eintheilung Eng- lands nämlich in die Unions, welche dieß Statut möglich macht, und für welches dann der board of guardians eingesetzt wird, gab den Anlaß, entweder dem Schriftführer ( clerc ) dieses board oder einer andern geeigneten Person von dem board die Führung der neuen Standesregister zu übertragen. Diese Führer sind die Registrars, welche wieder unter einem Superintendent Registrar stehen, und deren Mittelpunkt der Registrar General in London ist. Die Führung der Standesregister ist dabei genau vorgeschrieben. Zunächst dachte man dabei allerdings nur an Geburts- und Todesregister. Das Eherecht Englands stand noch neben denselben, und Pitts Vorschlag, die bürgerliche Ehe als Auskunftsmittel für die Ehe zwischen verschiedenen Confessionen einzu- führen, blieb ohne Erfolg; die Nothwendigkeit aber, über die Ehen und ihre Gültigkeit eben so wohl als über Geburt und Tod öffentliche Documente zu besitzen, zwang daher die Regierung dazu, neben den Geburts- und Todesregistern eigene Heirathsregister anzulegen, und die Führung dieser Heirathsregister gleichfalls dem Registrar zu über- geben. Die Stellung des Registrars nun in Beziehung auf die Hei- rathen läßt sich im Wesentlichen in einem Satze ausdrücken. Jede Confession schließt ihre Ehe wie sie will; aber jede Ehe muß (vom 1. März 1837 an) dem Registrar gemeldet und von diesem ein Meldeschein ausgewirkt werden, bevor die Ehe rechtsgültig ist. Dieser „Erlaubnißschein“ ist ein ganz formeller Eheconsens (s. oben unter Ehe) — „so bewillige Ich hiedurch Ihnen, auf Grund der nach dem Statut mir zustehenden Befugniß , die Ermächtigung, die Vollziehung dieser Heirath vorzunehmen “ ꝛc. (Formular C. zu 6. 7. Will. IV. c. 85) — ein Recht des Beamteten, das dadurch geschützt ist, daß jede Ehe, die ohne Meldung, ohne Schein und ohne Erlaubniß des Regierungsbeamten vorgenommen wird, „nichtig und wirkungslos sein soll“ (6. 7. Will. IV. c. 85. a. 42). Eine solche polizeiliche Bevor- mundung des Volkes durch die Beamten ist nur dadurch erklärlich, daß der Beamtete wieder dem bürgerlichen Klagerecht verfällt, wenn er gegen das Recht die Erlaubniß verweigert (Lehre von der vollziehen- den Gewalt , Verordnungsrecht in England S. 129 ff.). Diese Be- stimmungen nun wurden in 6. 7. Will . IV. c. 86 über Geburts- und Todtenregister ( Act for registring births and deaths in England ) und 6. 7. Will . IV. c. 85 (Act for registring mariages) über Heiraths- register und Erlaubnisse genauer ausgeführt (beide vom 17. August 1836 sanctionirt). Warum scheidet Mohl (Literatur der Staatswissenschaft III. S. 428) diese Gesetze nicht? Durch 1. Vict. 22 (sanctionirt den 30. Januar 1837) mit genaueren organisatorischen Anordnungen und 1838 mit Instructionen für die Führer und ihre Stellvertreter, den Registrar (clerc der union) und deputy Registrar (den an seiner Stelle eventuell ernannten Führer, s. oben), so wie für die Superintendent Registrars (etwa Kreisbuchführer) versehen, und bilden auf diese Weise die Grundlage der englischen Gesetzgebung über Standesregister in Eng- land. Die Statute selbst sind übersetzt bei Daniels . Die neueste Bestimmung ist 27. 28. Vict. 97, die als Ergänzung des bisherigen Rechts anzusehen ist. Darnach sollen alle Begräbnisse registrirt wer- den, bei 5 L. Strafe, und diese aufgenommenen Begräbnißregister sollen vollständige Beweiskraft ( evidence ) haben. Ursprünglich nun gelten dieselben bloß für England und Wales, und sind ganz correct auch von Daniels nur dafür aufgeführt. Erst in neuester Zeit ist das ganze System dieser Civilstandsbücher auch für Schottland und Irland zur Geltung gebracht, und somit diese Gesetzgebung wohl als eine ab- geschlossene anzusehen. Das Gesetz, welches diese Bestimmungen auf Schottland ausdehnt, ist von 1854 ( Act for provinding a better re- gistration of births, deaths and mariages in Scotland ). III. Paß- und Fremdenwesen. Die Verwaltung und der Wechsel der Bevölkerung. (Allgemeiner Charakter desselben.) Indem wir dem Paß- und Fremdenwesen hier seine Stelle in dem Bevölkerungswesen anweisen, sind wir gezwungen, den Grund dafür in einer allgemeinen Auffassung zu suchen, und diese hier zu charak- terisiren. In der That kann es fraglich sein, nicht allein ob diese Dinge nicht vielmehr bloß in die Sicherheitspolizei gehören, sondern ob sie überhaupt als dauernde, organische Theile und Aufgaben der Ver- waltung anzusehen sind, und ob es demnach mit der künftigen Entwicklung nicht eine Zeit geben werde, wo beide, als den untergeordneten Stadien gehörig, gänzlich aus der Verwaltungslehre zu verschwinden haben. Diese Frage ist nicht bloß für die Theorie, sondern auch für die Praxis von Wichtigkeit. Denn gehen Paß- und Fremdenwesen nicht aus der höheren und dauernden Natur der Verwaltung hervor, so muß die Wissenschaft darnach streben, sie auf alle Weise zu bekämpfen. Sind sie aber in irgend einer Form durch diese Natur der Verwaltung be- gründet, so kann es uns wiederum nicht genügen, bloß das bestehende Recht anzugeben, sondern wir müssen alsdann nach den Elementen suchen, welche durch die Verbindung der individuellen Freiheit mit der Vertretung des Gesammtinteresses diesem Theile der Verwaltung seine definitive organische Gestalt zu geben bestimmt sind. Die außerordentliche Verschiedenheit — denn es gibt vielleicht keinen Theil der ganzen Verwaltung, in welchem principiell und formell ein so großer Unterschied zwischen den Staaten Europas bestände, als im Paß- und Fremdenwesen — die hier herrscht, zeigt, daß weder Theorie noch Praxis über jene Fragen zu einem Abschluß gelangt sind. Und doch ist bekanntlich der Gegenstand selbst keinesweges ohne Wichtig- keit. Sein Einfluß ist groß, nicht bloß auf gewisse materielle Interessen, sondern eben so sehr auf die physischen Faktoren des Staatslebens, auf die Vorstellungen, welche sich im Volke von den Ansichten der Regie- rungen selbst über das Maß der individuellen Freiheit bilden. Und wie wir sehen werden, mit Recht. Denn Paß- und Fremdenwesen sind wirklich nicht unbedeutsame Maßstäbe für den allgemeinen Standpunkt der Regierungen in dieser Beziehung, und daher wohl einer Beachtung werth, die sie aus einer Reihe von Gründen bisher nicht gefunden haben. Wir wollen daher den Versuch machen, das organische Verhältniß derselben darzulegen, ehe wir zum positiven Recht übergehen. Bei dem Paß- und Fremdenwesen begegnen wir dem, in der Verwaltungs- lehre nicht ganz seltenen Verhältniß in hohem Grade, daß bei einer sehr reich- haltigen Gesetzgebung so gut als gar keine Literatur und wissenschaftliche Be- handlung existirt. Der allgemeine Grund dieser Erscheinung liegt wohl darin, daß man in den gesetzlichen Bestimmungen nur Vorschriften der vollziehenden Sicherheitspolizei sah, für die sich eben kein wissenschaftliches System aufstellen lasse, während man anderseits die Frage überhaupt nicht stellte, ob Paß- und Fremdenwesen an sich überhaupt einer wissenschaftlichen Behandlung fähig seien. Daraus erklärt es sich wohl zunächst, daß die Werke über Polizeiwissenschaft des vorigen Jahrhunderts, wie Justi und Sonnenfels, und eben so wenig die spä- tern, wie Jacobs, von demselben überhaupt nicht reden. Aber selbst die Dar- stellungen des positiven Polizeirechts sind sich, wie es scheint, nicht einig, ob sie es aufnehmen sollen; während Berg es behandelt, hat Fischer es wieder trotz seiner sonst minutiösen Vollständigkeit weggelassen. Auch die neuere Zeit ist nicht besser daran. Als die alte Polizeiwissenschaft namentlich durch Adam Smith in die Nationalökonomie hineingezogen ward, fiel es derselben gar nicht ein, mit der Bevölkerungslehre das Paßwesen zu verbinden; selbst Rau läßt es ganz bei Seite liegen. Aber auch die Populationistik und Statistik nahmen es nicht auf, obwohl sie den Wechsel der Bevölkerung als wichtige statistische That- sachen anerkannten, und sich mit Geburts- und Sterbelisten eifrig beschäftigten. Vielleicht wäre es ganz aus der Wissenschaft verschwunden, wenn es nicht auf Grundlage von territorialen und zum Theil bundesrechtlichen Vorschriften noch eine Heimath im Staatsrecht gefunden hätte, wie bei Klüber und Zachariä , während die theoretische Staatsrechtslehre, wie bei Pölitz, Aretin, Rotteck , sich bis zu diesen rein „polizeilichen“ Maßregeln nicht herabließen, und andere wie Zöpfl es, wie es scheint, einfach vergessen haben. Auch im territorialen Staatsrecht ist die größte Verschiedenheit. In den größeren Staaten, wie Oesterreich und Preußen, haben die Lehrer des positiven Rechts es allerdings behandelt, wie Kopetz, Stubenrauch, Rönne ; in andern wieder nicht, wie Milhauser, Weiß ; dagegen sind Pötzl für Bayern, Mohl für Württemberg, Funke für Sachsen wieder sehr ausführlich; die meisten Staaten haben gar keine Darstellung gefunden. Daran schließen sich rein praktische Darstellungen für die ausübende Paßpolizei, wie in Oesterreich von Mayerhofer , in Preußen die neueste Darstellung von Rauer , citirt bei Rönne, in Sachsen Richters systematische Darstellung von 1843; Arbeiten, die natürlich nur einen unmittel- baren praktischen Werth haben. Früher gab es auch ganz allgemeine Samm- lungen der Paßgesetze ( Kamptz , Literatur des Völkerrechts, und dessen Samm- lung der Paßgesetze der europäischen Staaten, 1817). Der Einzige, der das Paßwesen in neuerer Zeit behandelt hat, ist Mohl in seiner Präventivjustiz (§. 11). Mohl hat dabei nach dem Vorgange der ganzen bisherigen Literatur im Paßwesen nichts als ein rein sicherheitspolizeiliches Institut gesehen, und seine Darstellung ist daher nichts als eine theoretische Paßpolizei; doch hat er die Fremdenbücher wenigstens mit aufgenommen. Gerstner ist in seiner Be- völkerungslehre über die Bevölkerungspolitik auch hier nicht hinausgekommen. I. Das allgemeine Rechtsprincip und System des Paß- und Fremdenwesens. (Begriff des öffentlichen Reiserechts. Doppelter Inhalt. Es enthält zuerst das Recht auf eventuelles Verbot der örtlichen Bewegung, zweitens die Her- stellung der öffentlich rechtlichen Bedingungen der Constatirung von Staats- angehörigkeit und Individualität. — Das System der Mittel für diese Verwaltungsaufgabe.) Offenbar ist der Wechsel des Aufenthalts zunächst ein Akt der freien individuellen Selbstbestimmung, und betrifft nur das Interesse des Einzelnen. Es ist daher zunächst nicht bloß an sich frei, sondern steht auch in so weit in keiner Beziehung zur Thätigkeit der Ver- waltung. Allein dieser Wechsel enthält zugleich andere Beziehungen. Er ist zunächst das Verlassen der örtlichen Beziehungen des Individuums, die sich mit vielfachen Interessen verknüpfen: er macht vor allem den Zweifel an der Identität seiner Persönlichkeit möglich; für dritte aber ist die Kenntniß des Aufenthalts an sich in vielen Fällen die erste Bedingung für die Geltendmachung vielfacher Rechte, für die Sorge der wichtigsten Interessen. Andererseits enthält jener Wechsel die durch den Einzelnen vermittelte Berührung des Lebens verschiedener Orte, Länder, Reiche, geistig sowohl als wirthschaftlich. In dieser Berührung entsteht nun ein doppeltes Verhältniß. Einerseits bleibt der Einheimische mit seinem ganzen Leben und Recht auch in der Fremde ein Theil und Glied seines eignen Staates, und hat daher nicht bloß das Recht zu fordern, daß sein Staat ihn schütze und vertrete, sondern der eigne Staat muß das seinem Wesen nach thun; denn auch in der Fremde ist die Wohlfahrt des einzelnen Staatsangehörigen ein Theil und eine Bedingung der Wohlfahrt des Ganzen. Andererseits behält wieder der Auswärtige, der mit dem eigenen Lande und seinen Angehörigen in Berührung tritt, in und für diese Berührungen wenigstens zum Theil das Recht seiner Heimath; er bildet nicht bloß mit seiner physischen Person, sondern auch mit seiner ganzen Rechtssphäre ein, dem eignen Lande nicht angehöriges, also dem eignen Rechtsleben nicht ganz unter- worfenes Dasein: er ist ein fremdes Element. Es ist möglich, daß er indifferent, es ist möglich, daß er nützlich und fördernd, es ist aber auch möglich, daß er gefährlich ist, ja daß Verbrechen an ihm haften. Die Gefahren, die er bringt, können wiederum den Einzelnen bedrohen, sie können aber auch das Ganze treffen. Der Fremde kann der mate- riellen Existenz des Staates, er kann auch dem geistigen Leben desselben unmittelbar feindlich sein. Der Auswärtige, in so fern er in dieser Weise seinem eignen Staate auch in dem andern noch angehört, heißt nun der „ Fremde .“ Die ganze örtliche Bewegung erscheint daher stets in drei Grundformen: sie ist entweder die Reise des Fremden im Inlande, oder die Reise des Inländers nach dem Auslande, oder die Reise des Inländers im Inlande. Alle diese Formen haben nun die obigen Beziehungen im Wesentlichen gemeinsam; und es ergibt sich daher zunächst und im Allgemeinen, daß der örtliche Wechsel des Auf- enthalts überhaupt der Verwaltung nicht gleichgültig sein kann. Sie hat nach der Natur der obigen Verhältnisse nicht erst zu warten, bis eine bestimmte That des Einzelnen sie in irgend einer Weise zum Ein- schreiten durch Polizei oder Gericht veranlaßt; es ist vielmehr klar, daß es die Thatsache des Aufenthaltes des Einzelnen an einem fremden Ort an sich ist, welche von der Verwaltung fordert, daß sie sich in irgend ein Verhältniß zu derselben setze. Und die Frage ist daher im Grunde gar nicht mehr die, ob die Verwaltung für den Wechsel der Bevölkerung eine gewisse Thätigkeit entwickeln solle; dieß muß als entschieden angesehen werden, und ist auch niemals in der Geschichte anders gewesen. Die Frage ist vielmehr die, was der Inhalt dieser Thätigkeit für den Wechsel der Bevölkerung zu bilden habe. Für die richtige Beantwortung dieser, keineswegs bloß formellen oder unwichtigen Frage ist es nun die erste Voraussetzung, daß man für diese Thätigkeit das Recht derselben wohl unterscheide von den Mitteln , durch welche die Verwaltung jenes Recht zur Ausführung bringt. Der Mangel dieser Unterscheidung dürfte der Hauptgrund für die Unsicherheit der bisherigen wissenschaftlichen Behandlung dieses Gegenstandes geworden sein. Jedenfalls ist sie die erste Bedingung für die richtige Anwendung der betreffenden Mittel. Der Begriff dieses Rechts nämlich, das wir am besten kurz das Reiserecht nennen können, entsteht nämlich dadurch, daß jede Thätigkeit der Verwaltung in irgend einer Art die vollkommen freie Bewegung des Einzelnen theils direct hemmt, theils doch bestimmt. Es enthält daher seiner Definition nach die Gesammtheit von Vorschriften und Anstalten der Verwaltung, welche bei der an sich vollkommen freien Bewegung des Einzelnen das Gesammtinteresse zu vertreten haben. Aus diesem Begriffe entwickelt sich nun das System dieses Rechts wieder durch die Verschiedenheit der Verhältnisse, auf welche es ange- wendet wird. Das leitende Princip dieses Rechtssystems ist allerdings einfach. Die örtliche Bewegung ist an sich frei . Allein sie kann erstlich unter gewissen Verhältnissen als eine Gefährdung der Gesammtheit erscheinen, und sie erzeugt zweitens Verhältnisse, in denen der Einzelne nur durch eine Hülfe von Seiten der Verwaltung seine eignen Interessen gehörig vertreten kann. Auf dieser Unterscheidung beruht das System dieses Rechts. Zuerst nämlich hat ohne Zweifel die Gemeinschaft da, wo die Reise oder örtliche Bewegung unmittelbare Gefahren für sie selber bringt, das Recht, einerseits die Reise und örtliche Bewegung direct zu verbieten , andererseits diejenigen Bedingungen vorzuschreiben, unter denen sie dieselbe gestattet. Dieß nun findet wieder eine zweifache Anwendung. Die erste Anwendung betrifft den Auswärtigen . Es ist kein Zweifel, daß der einzelne Staat dem Angehörigen des andern den Eintritt verbieten kann, und unter Umständen verbieten soll. Eben so wenig ist es zweifelhaft, daß er das Recht hat, demselben die bei dem Eintritt zu beachtenden Formen vorzuschreiben. Wir können die Ge- sammtheit der hieraus folgenden Vorschriften am kürzesten das rein persönliche oder eigentliche internationale Fremdenrecht nennen; daß beiläufig bemerkt das Paßrecht nur eine bestimmte Form dieses Rechts ist, liegt wohl auf der Hand. Welche nationalen, historischen und andern Verhältnisse dieß eigentliche Fremdenrecht aus einer ursprüng- lich sehr strengen Form zu einer freieren Gestaltung gebracht, gehört der Geschichte. Durch die Entwicklung der Gemeinschaft der Gesittung und des Lebens unter den Völkern wird für unsere Zeit bekanntlich allmählig der Grundsatz zur Geltung gebracht, daß das Reisen des Fremden ins eigene Land keiner andern Beschränkung unter- worfen sein solle, als die des Inländers in seinem eignen Lande. Allerdings ist dieß natürliche Ziel noch nicht ganz erreicht; niemals aber wird das obige Princip das Recht des Staates auf gänzliche Aus- schließung der Fremden unter gewissen Zuständen (Krieg u. s. w.) auf- heben. Die Grundsätze für dieß eigentliche Fremdenrecht, und zum Theil auch die historische Entwicklung, durch welche es ausgeübt wird (s. unten), fallen daher mehr und mehr mit dem Folgenden zusammen. Die zweite Anwendung betrifft nun den Inländer im eignen Lande, und gilt eben deßhalb auch gleichmäßig für den Fremden. Das an sich freie Reiserecht kann für den Einzelnen da beschränkt werden, wo mit der Reise eine öffentliche Gefahr verknüpft ist; und zwar kann diese Beschränkung entweder in directem Verbote, oder in der Vorschrift gewisser Bedingungen, der Erlaubniß zur Reise u. a. bestehen. Zu solchen Maßregeln kann aber die Verwaltung nur da berechtigt sein, wo erstens die Gefahr nicht bloß in der Meinung von der Gefähr- lichkeit besteht, sondern auf wirklichen Thatsachen beruht; zweitens muß die Gefahr nicht bloß die einzelne Person des Reisenden, sondern eine an sich unbestimmbare Zahl von Personen treffen; denn die indi- viduelle Gefahr ist Sache des Einzelnen und geht die Verwaltung nichts an. Die beiden Gebiete, in denen solche Gefahren liegen, sind offenbar die der Gesundheit und der Sicherheit . Die Gefahren der Ge- sundheit (ausgebrochene Seuche u. s. w.) werden dabei stets als ört- liche Beschränkungen der Reisefreiheit erscheinen; die Gefahren der Sicherheit (Abhaltung von Vagabunden, Reiseverweigerung für Ver- dächtige u. s. w.) werden stets als persönliche auftreten; doch können auch örtliche Fälle eintreten (öffentliche Unruhen u. s. w.) Es ist kein Zweifel, daß es das Recht der vollziehenden Gewalt ist, durch Verord- nungen solche Beschränkungen eintreten zu lassen. Ein Gesetz erscheint hier nur dann nothwendig, wenn die Beschränkung eine dauernde und für alle Staatsbürger geltende ist, weil erst hier das Princip der freien individuellen Bewegung vom Willen des Staats aufge- hoben wird. Diese Grundsätze sind wohl kaum jemals ernstlich bezweifelt. Allein es ist klar, daß hier zugleich das erste Element der Geschichte der be- treffenden Maßregeln gegeben ist, auf das wir sogleich zurückkommen. Es beruht dasselbe offenbar in den, zu verschiedenen Zeiten so höchst verschiedenen Vorstellungen von dem, was man unter öffentlicher Sicherheit verstanden hat. Wir werden ihm beim Paßwesen sogleich wieder begegnen. Der zweite Theil dieses Rechtssystems für die örtliche Bewegung beruht nun darauf, daß bei vollster Freiheit derselben zwei Thatsachen für alle Einzelnen immer und vorzüglich auf der Reise von höchster Wichtigkeit sind. Die erste ist die Constatirung der Individualität und der Staatsangehörigkeit, welche als Bedingung des Schutzes des Staats- angehörigen im fremden Staate angesehen werden muß. Die zweite ist die Constatirung des jeweiligen Aufenthalts, die für den Einzelnen eben sowohl als für die Rechtsordnung des Ganzen von anerkannter Wichtigkeit werden kann. Allerdings nun ist es zunächst Sache des Einzelnen, sich die Mittel für die Constatirung dieser Verhältnisse selbst zu verschaffen, da sie eben zunächst nur für ihn Wichtigkeit haben. Allein diese allgemeine Wichtigkeit, verbunden mit der großen Schwierigkeit für den Einzelnen, machen es zu einer Aufgabe des Staats, ihm die Bedingungen einer solchen Constatirung durch die Verwaltung darzubieten. Und das kann er nur durch Herstellung eigner dafür bestimmter Anstalten erreichen. Diese Anstalten sind, wie wir schon hier bemerken dürfen, die Paßanstalt, die Legitimationen, die Meldungseinrichtungen. So wie diese entstehen, entsteht nun zugleich die Frage, welche über das Recht derselben entscheidet. Soll nämlich der Einzelne im allgemeinen Interesse die Pflicht , oder soll er bloß im Einzelinteresse das Recht haben, sie zu benutzen? Dem Wesen der Sache nach kann es kein Zweifel sein, daß es eine Pflicht zur Benutzung dieser Anstalten nicht geben kann. Die Aufstellung einer solchen Pflicht beruht daher, obwohl sie Jahrhunderte hindurch bestanden, nur auf der Vorstellung von den Pflichten der Verwaltung für die öffentliche Sicherheit; und daraus ist dieser Theil der Rechtsgeschichte entstanden. Dieß nun sind die Punkte, welche das System des öffentlichen Reiserechts bilden. Sehen wir zunächst von dem positiven öffentlichen Rechte ab, so liegt das, was über die Ordnung der Mittel für diese Aufgabe zu be- stimmen ist, in der naturgemäßen Aufgabe derselben. Die Definirung derselben aber ist darum von Wichtigkeit, weil der vorschriftsmäßige Inhalt dieser Dinge durch den eigentlichen Zweck derselben bedingt wird. Es ist wichtig, dieß festzuhalten, da erstlich principiell die Ver- waltung kein Recht hat, mehr von dem Einzelnen zu fordern, als durch jenen naturgemäßen administrativen Zweck nothwendig erscheint; zwei- tens aber praktisch die noch immer bestehenden Formen, aus einer früheren Zeit mit anderen Vorstellungen herstammend, den Zwecken dieser Vergangenheit angepaßt sind, und gewiß zum Theil einer gründ- lichen Umgestaltung entgegen gehen. Die Aufgabe des Passes ist nicht die Reiseerlaubniß, sondern die Constatirung der Staatsangehörigkeit , und der Inhalt des Passes müßte sich daher eben nur auf diese Constatirung beziehen. Es möge uns daher schon hier gestattet sein, die allgemeine Natur der Formen, in welchen die Verwaltung jene Aufgaben erfüllt, kurz zu bezeichnen, indem wir die folgende Darstellung durch diese feste Grundlage klarer zu machen glauben. Die Formen sind die Pässe , die Legitimationsurkunden , die Fremdenbücher , die Wanderbücher und Gewerbspässe , und die Meldungen . Die Aufgabe der Legitimationsurkunde ist die Constatirung der Individualität, und sollte daher wo möglich wesentlich die Elemente des Beweises dieser Individualität (Unter- schrift, etwa Siegel) enthalten, da sie sonst gar wenig nützt. Die Aufgabe des Fremdenbuches ist die Constatirung des Reise- aufenthalts. Die Fremdenbücher können kaum besser eingerichtet sein als in den meisten deutschen Staaten. Die Wanderbücher und Gewerbspässe sind die Constatirung des gewerblichen Reiseaufenthalts, und zugleich wie die Meldungen des Heimathsrechts, und als solche vollkommen zweckmäßig. Die Meldungen sind die Constatirung einerseits des Heimaths- rechts, andrerseits des gewerblichen Aufenthalts. Der Werth derselben ist den allergrößten Zweifeln unterworfen. Es ist nun klar, daß jedes dieser Institute sein eigenes Recht, und meistens auch seine eigene Geschichte hat. Dieses Recht und diese Ge- schichte sind, wenn sie auch nur einen kleinen Theil der öffentlichen Rechtsgeschichte bilden, nicht ganz ohne Interesse. Wir wollen es jedoch versuchen, dies ganze Gebiet des öffentlichen Rechts in seiner historischen Entwicklung bis zum gegenwärtigen Standpunkt kurz zu charakterisiren. Es möge hier nur eine Bemerkung stattfinden über das Verhältniß dieser Gegenstände zum Völkerrecht. Das Völkerrecht hat erst in unserem Jahrhundert den entscheidenden Schritt zur Aufstellung des sogen. internationalen Privatrechts — eigentlich Verkehrsrecht — gethan, ein Gebiet, welches mehr und mehr zur Theorie und Praxis der internationalen Volkswirthschaftspflege zu werden bestimmt ist, und dem die Zukunft des Völkerrechts angehört. Aller- dings stehen die neuesten Werke, wie Pütter und selbst Vesque von Puttlingen, aus guten Gründen noch auf dem Boden des reinen bürgerlichen Rechts; aber das wird namentlich durch die neuen Anschanungen über das Consularwesen und seine Funktion, diesen großen Organismus der internationalen Verwaltung, bald anders werden. Das Paßwesen aber ist dabei, wir möchten fast sagen wunderlicher Weise, ganz ausgefallen, da man es vom völkerrechtlichen Stand- punkt als eine reine Verwaltungsmaßregel ansah, deren internationales Recht auf dem einfachen Princip beruhe, daß jeder Staat das Recht habe, den Ein- zelnen, der ihm nicht angehört, auszuschließen, ein Satz, der kaum all der Autoritäten bedurft hätte, die ihn ausdrücklich anerkannt haben, wie Vattel ( II. 7. 94), Martens (S. 155), Klüber ( I. 215), Heffter (S. 111), Pütter (Fremdenrecht S. 26), Mohl (Präventivjustiz S. 106). Merkwürdig schon, daß das Völkerrecht dabei die Form und die Folgen dieses Satzes nicht weiter untersucht; weit merkwürdiger, und nur durch die deutschen Zustände erklärlich ist es dagegen, daß das Paßwesen für die deutschen Bundes staaten wieder als ein Bundesrecht aufgefaßt wird, obgleich es doch ein rein inter- nationales Recht und als solches durch eigene Verträge geordnet ist. Vielleicht daß die, durch die territorialen Staatsrechte bereits anerkannte Stellung dieses Gebiets als Theil des innern Verwaltungsrechts diese Unbestimmtheit zur end- gültigen Entscheidung bringt! II. Die historische Entwicklung des öffentlichen Rechts des persönlichen Verkehrs. (Die ursprünglichen Geleitsbriefe. — Das rein polizeiliche Paßwesen. Die allmählige Scheidung in Princip und Praxis für die Pässe der Reisen nach und von dem Auslande, und für das innere Fremdenrecht .) Das Paßwesen, so weit bei unsern jetzt noch sehr beschränkten Quellen die Entwicklung desselben zu übersehen ist, zeigt auf dem Continent fast allgemein die Erscheinung, daß das wirkliche Leben eine weitläufige Gesetzgebung fast unwiderstehlich bei Seite geschoben hat, die in Princip und Einzelheiten aus dem vorigen Jahrhundert stammt, und erst in allerneuester Zeit durch die überwältigende Macht der Volksbewegung fast gewaltsam erst auf ihren rechten und dauernden Boden zurückge- drängt wurde. Um dieß darzulegen, bedarf es eines umfassenden Ma- terials; aber es kann beim Ueberblick über dasselbe gar keinem Zweifel unterliegen, daß das Princip der bestehenden Gesetzgebung sich überlebt hat. Wir glauben die Sache am besten zu bezeichnen, indem wir das ursprüngliche System das der Geleitsbriefe ( litera commeatus ), das gegenwärtig geltende das polizeiliche , das künftige und naturgemäße das freie persönliche Verkehrsrecht nennen. Formell gilt noch das erste; materiell ist das zweite bereits in Wirksamkeit, und es kann nicht lange dauern, bis es auch zur formellen Entwicklung gelangt. Das öffentliche Recht der Reise oder des persönlichen Verkehrs beginnt mit den Geleitsbriefen . Die Geleitsbriefe sind dem Inhalte nach allerdings unsre gegenwärtigen Pässe; aber der Form und dem Recht nach sind sie wesentlich von ihnen verschieden. Sie sind nämlich sowohl für die Regierungen als für die Einzelnen ganz facultativ . Niemand hat die Pflicht sie zu nehmen, und selbst ihre Beachtung ist zuletzt nur eine internationale Courtoisie; sie sind kein Institut , son- dern Vorsichtsmaßregeln von Seiten der Einzelnen, und Gefälligkeiten von Seiten der Regierungen. Der historische Anfang ihrer Einführung in Deutschland beruht darauf, daß nach altem Reichsrecht unzweifelhaft „ein jeder Reichsstand des andern Unterthanen, geistlich und weltlich, durch sein Fürstenthum, Landschaften, Grafschaften, Herrschaften, Obrigkeit und Geleit frey, sicher und ungehindert wandern, ziehen und werben lassen soll“ ( Land- frieden von 1548 §. 1). Allein zugleich behielt sich jeder Reichsstand das Recht vor, „dem fremden Unterthanen den Eintritt in sein Land und die Durchreise nach Umständen zu verwehren“ — ein Recht, das eins von den vielen Auswüchsen der örtlichen Souveränetät war, an denen Deutschland zu Grunde ging. ( Moser , Nachbarliches Staats- recht S. 676). Das Rechts- oder vielmehr das Gerichtsverhältniß der Fremden während ihres Aufenthalts bezeichnete bekanntlich die Aus- drücke „ Gastr echt“ und „Gastgerichte.“ Grimm hat sie in seinen Rechtsalterthümern kurz und scharf charakterisirt (S. 396—402) Osen- brüggen mit seiner Gründlichkeit und seinem umfassenden Blick („die Gastgerichte der Deutschen im Mittelalter“) genauer untersucht. Doch war das alles noch wesentlich örtliches Recht. Der Hauptgrund, diesen Keim zu einem allgemeinen Reichsrecht auszubilden, lag dann in den Religionskriegen und den dadurch hervorgebrachten Auswanderungen. Wenn der Auswanderer Vermögen zurückgelassen, oder in mehreren Staaten Vermögen besaß, so war er von der Willkür der Territorialherrschaft in dieser Beziehung abhängig. Dem beugten nun wohl schon damals die einzelnen Staaten durch Geleitsbriefe ( litera commeatus ) vor; aber erst der Westphälische Frieden erhob den Grundsatz zum Reichs- recht, daß das Princip des Landfriedens von 1538 im Allgemeinen — „ut omnibus et singulis — eundi, negotiandi, redeundique potestas data sit“ (a. IX. §. 2) — und speziell in Beziehung auf die der Reli- gion halber zur Auswanderung Genöthigte — gelten solle: „ad res suas inspiciendas — libere et sine literis commeatus cedire“ (a. V. §. 36). Allein diese Grundsätze kamen doch nur praktisch so weit zur Geltung, als die einzelnen Staaten es für gut hielten; der geringe Verkehr machte die Sache selbst wenig praktisch ( Berg Handbuch des Polizeirechts IV. 13 u. IV. 31). Jedenfalls bestand weder eine Pflicht einen Geleitsbrief zu nehmen, noch eine Pflicht ihn gelten zu lassen. Von dem Paßwesen der folgenden Zeit ist daher jetzt noch keine Rede. Dieses eigentliche Paßwesen, das polizeiliche , entsteht nur mit dem Grundsatz, daß jeder , der seinen regelmäßigen Aufenthaltsort verläßt, mit einem solchen obrigkeitlichen Geleitsbriefe versehen sein, und daß daher auch jede Obrigkeit verpflichtet sein muß ihn auszustellen. Um seinen Zweck zu erfüllen, muß ein solcher Paß daher zwei Dinge ent- halten. Er muß erstlich die Identität der Person durch ein Signale- ment constatiren, und zweitens die Reiseroute angeben. Sowie dies feststeht, folgt von selbst, daß das Nichtbesitzen eines Passes an und für sich verdächtig wird, und daß mit diesem neuen Paßwesen das Mittel einer strengen und scheinbar höchst zuverlässigen Aufsicht auf die Bewegung der Personen gegeben ist. Jedoch entsteht dies Paßsystem erst langsam. Erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts scheint sich dasselbe entwickelt zu haben, und zwar einerseits auf Grund des Aus- wanderungsrechts , andrerseits als eine immer nothwendiger werdende Sicherheitsmaßregel . Die Gesetzgebungen über Auswanderungen (s. oben) zwangen nämlich jeden Reisenden auch im Inlande sich durch eine obrigkeitliche Erklärung über seine Reise auszuweisen, wenn er sich vor den Unbequemlichkeiten einer Untersuchung wegen unbefugter Aus- wanderung schützen wollte. Diesen innigen Zusammenhang mit dem Auswanderungsrecht zeigt namentlich die österreichische Gesetzgebung des vorigen Jahrhunderts. Jede Reise erscheint nämlich zuerst als Mög- lichkeit sich der Militärpflicht zu entziehen, und ebenso wird hier schon im Werbebezirkssysteme von 1781 §. 4 als Grundsatz ausge- sprochen, daß jede Reise in die sogenannten unconscribirten Länder „vom Kreisamt einverständlich mit dem Werbbezirk“ erlaubt werden muß. Derselbe Grundsatz wird im Auswanderungspatent von 1784 dahin erweitert, daß, mit Ausnahme des Adels und der Handelsleute , jeder zur Reise von einem Bezirk zum andern die Erlaubniß nöthig hat. ib. §. 8—10 (S. Kopetz Oester. poliz. Gesetze I. §. 91. 93.) Es mangeln mir die Quellen, um zu sagen, wie dieß in andern Ländern war. Gewiß ist nur, daß der zweite Grund der Entstehung des Paßwesens, die Vagabundenpolizei, wahrscheinlich viel allgemeiner im übrigen Deutschland gewirkt hat. An diese erst hat sich das eigentliche Paßwesen angeschlossen. Die Polizei der kleinen Staaten fand nämlich kein anderes Mittel, dem Eintritt fremder Vaga- bunden entgegenzutreten, als die Verpflichtung eines jeden Reisenden, einen Paß zu führen. Wie bedeutsam das Vagabundenwesen schon im Anfange des vorigen Jahrhunderts war, selbst in den bestverwalteten Staaten, beweist unter anderm das Chur-Trier ’sche Plakat wegen Verfolgung von Räuberbanden vom 3. September 1736 ( Berg , Deutsche Polizeigesetze I. S. 20). Eine ganze Reihe von Verordnungen daselbst zeigt uns das Verfahren dabei; es läuft stets darauf hinaus, den im Verdacht des Vagabundirens stehenden zu einem Nachweis seiner Heimath zu zwingen, um ihn dahin zurückzuschicken. Daraus scheint schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts der allgemeine Satz her- vorgegangen zu sein, daß jede Obrigkeit das Recht habe, Bettler und Arme mit „obrigkeitlichen Pässen“ oder „Attestaten“ auszurüsten, die dann die Inhaber wenigstens zum Theil vor dem Verfahren gegen Vaga- bunden schützte, namentlich als sich das Institut der Gendarmerie unter verschiedenen Namen in Deutschland ausbildete (Institut der badenschen Hatschiere von 1768 — Polizeidragoner in Olden- burg 1791; Berg , Deutsche Polizeigesetzgeb. I. 2. Hauptst.). Eine auch literargeschichtliche nicht uninteressante Anspielung auf „Karl Moor“ nebst Daten über das Räuberwesen bei Berg (Handb. IV. S. 610 f.). Als nun mit Ende des Jahrhunderts durch die Bewegungen, welche die französischen Kriege hervorbrachten, das Herumziehen allgemein und die Kraft der localen Herrschaften zu gering ward, versuchte man zuerst, für das Paßwesen als Legitimationsform für jeden Reisenden gemein- schaftliche und gleichartige Vorschriften zu geben und allgemein gültige Formeln festzusetzen, wie in dem Schwäbischen Kreisschluß gegen herrenloses Gesindel vom 18. Januar 1802, das ein neues Formular der Pässe im schwäbischen Kreise aufstellte. Berg , Deutsches Polizei- gesetz S. 32 ff., ähnlich in andern Gebieten. Vergl. namentlich was Häberlin in seinem Staatsarchiv Heft 21 S. 39 f. über den im Jahr 1801 zu Wetzlar versammelten Polizei-Convent mittheilt — „auf kurze Zeit half dies vielleicht, dauernde Wirkungen hat man davon größtentheils vergebens erwartet“ ( Berg , Handbuch Theil IV. S. 614). So bildete sich die noch gegenwärtig geltende Form und das noch gegenwärtig geltende Recht der Pässe im Anfang unsres Jahrhunderts ziemlich vollständig aus; das Formular für den Schwäbischen Kreis von 1802 ( Berg , S. 37) ist fast wörtlich das heutige, selbst die „Unter- schrift des Reisenden“ ist dabei, und der §. 9 spricht hier den Grundsatz aus, der auch jetzt noch formell gilt: „Alle Passanten sollen bei den Hauptorten ihrer Route ihren Paß vorlegen, und ihre wirkliche Passage auf demselben vormerken lassen; diejenigen, welchen diese Erfordernisse mangeln und sich außerdem nicht gehörig zu legitimiren vermögen, sind anzuhalten, genau zu examiniren und nach Befund der Umstände als Vaganten zu behandeln.“ ( Berg , a. a. O. S. 37.) Natürlich war damit der Anlaß gegeben durch die Ertheilung der Pässe wie durch die Vidirung derselben einerseits den Ortsobrigkeiten eine große Gewalt und zum Theil auch eine recht angenehme Einnahme zu verschaffen, andererseits scheinbar eine genaue Controle für die, damals nur zu oft vor- kommenden politischen Zwecke der Reise zu gewinnen, eventuell durch Verweigerung der Pässe auch die unliebsamen Berührungen der Völker- schaften zu vermeiden. Aus einem Mittel der niederen Sicherheits- polizei gegen Vagabunden wurden daher, und wohl schon mit dem An- fang dieses Jahrhunderts, die Pässe zu einem Mittel der höheren, politischen Polizei, ein Charakter, den dieselben nur zu lange behalten haben. Hier ist der Zeitpunkt, wo sich das eigentliche Paßwesen von demjenigen scheidet, was wir als Fremdenwesen bezeichnen. Aus einer Legitimationsurkunde überhaupt wird der Paß auf dieser Grundlage eine Erlaubniß für den Auswärtigen , das Staatsgebiet des andern Staates zu betreten, oder das eigene zum Zweck einer Reise ins Ausland zu verlassen. Namentlich war es das Reisen „in fremde Länder“ — d. h. in Länder, wo andere Verfassungen bestanden, das man durch das Paß- wesen hindern zu können glaubte. Dasselbe ward daher jetzt allmählig mit großer Strenge auch für die höheren Classen eingeführt. Schon Berg sagt 1799 (Handbuch Th. II. S. 59): „Eine gewisse Aufmerk- samkeit auf das Reisen in fremde Länder ist nun zwar in sehr vielen Hinsichten nützlich und zweckmäßig, allein willkührliche Einschränkungen desselben, Versagen der nachgesuchten Erlaubniß ohne hinreichende Gründe oder lästige Bedingungen kann mit Recht als Eingriff in die bürgerliche Freiheit angesehen werden.“ Eben so kämpft gleichzeitig Niemann in seinen Blättern für Polizei und Cultur (1801, VII. 56.) gegen die neuer- dings eingerissene furchtsame Verschließung der Länder und die rücksichtslose Strenge wegen der Pässe. „Sonst“ sagt er (wann?) „konnte der Fremdling in die meisten Länder mit einem bloßen Gesundheitsschein sich den freien Zutritt eröffnen. Aber das Mercantilsystem mit seinen Contre- band- und Mauthgesetzen, seinen Hausir- und Höckerordnungen belästigte bald den Reisenden mit unzähligen Plackereien. Unfreundlicher noch als von diesem Krämergeiste ward neuerlich in manchen Staaten Verkehr und freie Reise durch das Nachforschen nach dem Unerforsch- lichen , nach Glauben und Meinung, gestört. Der Paß ist die Urkunde, wodurch jeder Fremde gleich an der Grenze seine Verdachtlosigkeit, und im Innern aller Orten seinen gesetzmäßigen Eingang bescheinigen soll. — Das alles ist in der Ordnung — was darüber ist, dürfte leicht von üblen Folgen sein — die bürgerliche Ordnung gewinnt in keinem Fall; aber Freiheit, Dienstpflicht und Gesetzmäßigkeit verlieren in beiden.“ In gleichem Sinne spricht sich dann wieder Berg aus. (Handbuch IV. Stein , die Verwaltungslehre. II. 17 XXXI. §. 26 ff.) Besseres hat man wohl nie über das Paßwesen und Unwesen gesagt, und man muß gestehen, daß die Neuern, namentlich Mohl , weder an Verständniß noch an Kraft der Meinung diesem Schrift- steller gleichkommen. Jedenfalls sieht man deutlich, wie sich das eigent- liche Paßwesen hier von dem Fremdenwesen in seinem Princip ablöst, und wie man gegen die unfreien Tendenzen, die sich in dem ersteren ausbilden, ankämpft. Aber die Unruhe der Zeiten ließ eine freiere Ge- staltung um so weniger zu, als auch in Frankreich das Paßwesen als theils politische, theils militärpolizeiliche Maßregel sich zu einer Schärfe entwickelte, die selbst damals nicht von den deutschen Staaten überboten ward, und gegenwärtig geradezu beispiellos ist. Deutschland blieb deß- halb auch nach den Napoleonischen Kriegen auf seinem strengpolizeilichen Standpunkte, und das ganze Paßwesen nimmt umsomehr den Charakter eines großen politischen Instituts an, das zur eigentlichen Aufgabe hat, die Reisen wegen ihrer politischen Bedeutung so streng als mög- lich zu controlliren, neben welchen dann das Fremdenwesen als innere, der niedern Sicherheitspolizei angehörige Institution seinen eigenen, freilich auch durch und durch polizeilichen Inhalt in einer großen Menge von Gesetzen entwickelt (s. unten). Der deutsche Bund kam auch in dieser Beziehung nicht weiter, als der Landfriede von 1548; seine „Freizügigkeit“ war etwas so unbestimmtes, daß keine Maßregel eines einzelnen Staates dadurch beeinträchtigt ward (Art. 18). Das Paß- wesen ward daher von den einzelnen Staaten regulirt; und der Bundesbeschluß vom 5. Juli 1832 hat vielleicht am deutlichsten den allgemeinen Standpunkt des damaligen Paßwesens ausgesprochen. „Bei Fremden , welche sich wegen politischer Vergehen oder Ver- brechen in einen deutschen Bundesstaat begeben haben, sodann bei Einheimischen und Fremden, die aus Orten oder Gegenden kommen, wo sich Verbindungen zum Umsturz des Bundes oder der deutschen Regie- rungen gebildet haben — sind überall in den Bundeslanden die be- stehenden Paßvorschriften auf das Genaueste zu beobachten und nöthigen- falls zu schärfen .“ In der That gestaltete sich das Paßwesen jetzt bei dieser Grundlage zunächst zu einem höchst lästigen Systeme ( Zachariä , Deutsches Staats- und Bundesrecht II. §. 164), in welchem die großen Staaten mit großen und die kleinen mit kleinen Maßregeln — die zu- gleich für die örtlichen Behörden sehr einträglich waren — die freie Bewegung der Bevölkerung hemmten. Aber dennoch ließ es sich nicht verkennen, daß zum Theil gerade dadurch seit dem dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts das Fremdenwesen und Recht sich einfacher und freier gestaltete. Der innere Fortschritt der Communicationsanstalten machte es allmählig unmöglich, die Reisen im Inlande nach dem bisherigen Princip zu behandeln, nach welchem auch diese Reisen der obrigkeitlichen Erlaubniß bedurft hatten; hier mußte man langsam dem Bedürfniß der Zeit nachgeben und das Paßwesen beseitigen, während man gegen „Aus- länder“ die ganze Strenge desselben aufrecht hielt. Dennoch wollte und konnte man den Reisenden im Inlande nicht ohne „Aufsicht“ lassen. Das Fremdenwesen ward daher nach und nach zu einem eigenen Sy- stem ausgebildet, das als „Aufsicht über Fremde“ sowohl den Ausländer als Inländer umfaßte, und zum zweiten ergänzenden Theil des Paß- wesens wurde. So entstand das System des Reiserechts, dessen gegen- wärtige Gültigkeit wir schon angegeben haben. Es hat in allen deutschen Staaten zwei Theile. Der erste Theil ist das Paßwesen , das sich auf die Reise außerhalb Landes bezieht, der zweite Theil das Frem- denwesen , das die Reisen im Inlande betrifft. Die Scheidung dieser beiden Institutionen bildet den formellen Charakter des Reiserechts unserer Zeit, und es wird jetzt leicht sein, die Scheidung und besondere Behandlung beider richtig zu verstehen. Es darf dabei nur nicht über- sehen werden, daß diese Scheidung sich mehr an den Inhalt der Gesetze als an die systematische Theorie angeschlossen hat, wie wir das bei Mohl (Württemb. Staatsrecht), Pözl, Rönne u. A. sehen, weßhalb die letztere, die sich überhaupt mit der historischen Geschichte dieses Insti- tuts viel zu wenig beschäftigt hat, auch nicht recht zum Verständniß des eigentlichen organischen Verhältnisses beider gelangt ist, sondern das Fremdenwesen einerseits nur als „Ergänzung des Paßwesens“ andererseits nur einseitig in Beziehung auf die Fremden aufgefaßt hat, womit dann die klare Uebersicht verloren geht. ( Mohl , Präven- tivjustiz, S. 116 ff.) Wir wollen nun versuchen, jeden dieser Theile mit seinem eigenthümlichen Princip und seinen geltenden Bestimmungen darzulegen; das Paßwesen als Maßregel für die, welche die Gränze überschreiten , und das Fremdenwesen als Maßregel für die Gesammtheit der Fremden innerhalb der Landesgränzen. III. Das Paßwesen. (Formeller und rechtlicher Charakter und Inhalt des Passes. Die drei Grundformen des Paßwesens in Europa: das freie Paßwesen Englands, das streng polizeiliche Frankreichs, und die Verbindung beider in Deutschland durch das Paßkartensystem.) Auf Grundlage der bisherigen Darstellung können wir nun das, mit unserem Jahrhundert im Reiserecht sich vom Meldungs- und Legiti- mationswesen abscheidende, selbständige Paßwesen bestimmt bezeichnen. Es ist die Gesammtheit von Vorschriften für die Reiseurkunden, welche ein Staat bei der Ueberschreitung seiner Gränze für Aus- länder und Inländer fordert . Der Inhalt dieser Reiseurkunde soll demnach erstlich die Iden- tität der Person, zweitens die Richtung der Reise bestimmen. Für die Form folgt daraus, daß diese Urkunde amtlich ausgefertigt, von dem Inhaber unterschrieben , und an den Hauptorten der Reise vidirt sein muß. Diese erste Form stammt wie gesagt aus dem Anfange dieses Jahrhunderts. Das Recht des Passes beruht zunächst jetzt wie früher darauf, daß nicht einmal die deutschen Staaten untereinander ( Zachariä , Deutsches Staats- und Bundesrecht I. §. 86; Mohl , Württembergisches Staatsrecht II. 279; Rönne Preußisches Staatsrecht II. §. 333) ge- schweige denn die übrigen continentalen Staaten die Verpflichtung haben, jeden Fremden bei sich aufzunehmen. Der Paß ist daher zunächst und vor allen Dingen rechtlich die Reiseerlaubniß des fremden Staates durch das Vidi seiner internationalen Organe. Aber selbst da, wo eine solche „Erlaubniß“ nicht erforderlich ist, behält der Paß vermöge des Visums der betreffenden Gesandtschaft den Charakter einer offiziellen Legitimationsurkunde , die als Beweis für die Identität der Person bis zum gelieferten Gegenbeweis gelten muß. Leider haben die Völkerrechtslehrer überhaupt, und die Fremdenrechtslehrer insbesondere diese internationale Rechtsfrage bisher nicht untersucht, obwohl sie eine dauernde ist. Dennoch dürften die obigen Grundsätze keinen Zweifel bieten. Ist durch das Visum die Erlaubniß ertheilt, so hat die Regie- rung nicht mehr das Recht, den Eintritt als solchen zu verweigern. Es folgt, daß der Eintritt ohne Paß für den Ausländer keine weitere Folge hat, als die Fortschaffung auf seine Kosten, während der Aus- tritt ohne Paß von jedem Staate mit Strafe belegt werden kann — aber nicht belegt werden sollte . (S. oben Auswanderung.) Dasselbe gilt für die Ueberschreitung der im Paß angegebenen Dauer , und der Richtung der Reise. Die Wirkung des Passes geht nicht über den Eintritt in das Land hinaus bei dem Ausländer, nach geschehenem Eintritt unterliegt jeder Ausländer den polizeilichen Vorschriften für die Fremden, oder für das Fremdenwesen (s. unten); bei den Reise- pässen dagegen für Inländer ins Ausland gibt der Paß das Recht auf Schutz durch die internationalen Organe der Heimath im fremden Lande. Dies sind die Grundsätze des Paßwesens, welche wir als die allge- mein gültigen bezeichnen können. Es versteht sich nun von selbst, daß auf Grundlage dieser Princi- pien jeder Staat sein Paßwesen im Speziellen ordnen kann und geordnet hat, wie es ihm angemessen erscheint. Namentlich die großen Staaten haben daher eigene Gesetzgebungen über das Paßwesen. Und hier kann man drei Gruppen unterscheiden. Die erste Gruppe ist die des freien Paßwesens. Dahin gehören namentlich England und die Schweiz. Hier hat der Paß vollkommen seinen Charakter als „Erlaubniß“ zum Eintritt und Austritt aus dem Staate verloren. Es existirt daher gar keine rechtliche Nothwendigkeit, einen Paß zu besitzen; wohl aber kann der Paß von großem Nutzen für den Reisenden als persönliche Legitimationsurkunde sein. Der Paß hat daher hier seinen wahren, der heutigen Gesittung entsprechenden Charakter gefunden, und es ist mit Bestimmtheit vorherzusagen, daß mit der Zeit das ganze Paßwesen der Welt diesen Charakter annehmen wird. Daher kommt es denn auch, daß diese Staaten gar keine Ge- setzgebung über das Paßwesen haben; denn der Paß fällt hier ein- fach unter das — bisher noch theoretisch keineswegs gehörig behandelte — internationale Urkundenrecht , und wenn daher auch mit diesen Staaten keine Paßverträge abgeschlossen werden können, so sollten dennoch die Pässe künftig in die internationalen Proceßverträge for- mell aufgenommen werden. Die zweite Form des Paßwesens besteht in Frankreich . Das Paßwesen Frankreichs hält das alte polizeiliche Princip auch noch für die Reisen im Inlande aufrecht, und ist daher die einzige jetzt noch be- stehende Verschmelzung von Paß- und Fremdenwesen , die sich aus dem vorigen Jahrhundert erhalten hat. Nur muß man sich die Ent- stehung des gegenwärtigen, so beispiellos strengen französischen Paßwesens nicht wie in Deutschland als Maßregel der niedern Polizei denken; es ist vielmehr als Theil der höheren, ja der revolutionären Sicherheits- polizei zu betrachten, was mit der ohnehin bekannten neueren Ge- schichte der französischen Revolution zusammenhängt. Die Verpflichtung zur Führung von Pässen wurde als temporäre Maßregel nach der Flucht Ludwigs XVI. eingeführt, obgleich, wenigstens nach Laferri è re, die ganze Institution bis 1807 einen provisorischen Charakter behielt. Das Gesetz vom 14. September 1791 hob das ganze Paßwesen auf; das Emigrationswesen zwang die Constituante, es durch Dekret vom 28. März 1792 für den inneren Verkehr herzustellen; und die Decrete vom 6. Februar 1793 und 10. vend. an IV bildeten es nach kurzer Unter- brechung (vom 9. September 1792) weiter aus. Das letzte Decret ist noch immer die Grundlage des gegenwärtigen Paßwesens. Das Gesetz vom 17. November 1797 bestimmte dann weiter speziell den Inhalt des Passes, namentlich auch die Fälle, in denen die Mairie den Paß verweigern darf. Das Decret vom 18. September 1807 gab dem ganzen Institut seine noch gegenwärtige definitive Stellung in der Verwaltung und setzte die Vorschriften über die Visa derselben im In- lande fest, deren Gültigkeit das Decret vom 11. Juli 1810 auf ein Jahr beschränkte. Dem Fremden kann auch nach seinem Eintritt mit ordnungsmäßigem Paß der Aufenthalt verweigert werden. Gesetz vom 19. October 1797. Der Cod. Pen. Art. 155 nahm endlich die Bestim- mung auf, daß jeder Beamtete, der einen Paß ausstellt, bei strenger Strafe die Identität der Person durch zwei Zeugen constatiren lassen muß, wenn ihm die Person nicht selbst bekannt ist. Das Wichtigste aber ist, daß niemand seinen Canton verlassen darf ohne einen Paß , bei kleinen Orten vom Maire, bei Orten über 40,000 Einwohner vom Präfect (Gesetz vom 10. vend. an IV, Art. 1. 2. und wiederholt Gesetz vom 5. Mai 1855!) wovon nur die diplômes des membres des sociétés de secours mutuels approuvés eine Ausnahme bilden ( Decret vom 26. März 1852). So ist Frankreich die eigentliche Heimath des polizeilichen Paß- und Fremdenwesens in seinem ganzen Umfange! Doch scheint in neuester Zeit die Praxis sich vor der Unmöglichkeit zu beugen, diese Grundsätze in ihrer vollen Ausführung zu erhalten, obgleich Laferri è re ( Droit adm. I. S. 1. Cap. 2) das Paßwesen auch gegenwärtig in Frank- reich noch als eine ganz natürliche Maßregel der police de sûreté, und rein als „restriction“ auffaßt und motivirt. Die deutschen Staaten endlich sind offenbar in einem durch- greifenden Uebergang begriffen, dessen rasche Beendigung wir nur wün- schen können. Während nämlich einige Staaten gar kein obligates Paßwesen, sondern nur das freie Paßwesen Englands haben (Hamburg, Lübeck, Bremen) und uns von den meisten gar nichts bekannt ist, haben die größern Staaten eine eigene Entwicklung durchgemacht. Ohne Zweifel ist hier Preußen vorangegangen mit seinem Paß-Edict vom 22. Juni 1817. Dieß Paß-Edict war zunächst eine Milderung der früheren Vor- schriften des Paß-Reglements vom 20. März 1813, indem wie es im Eingange des erstern heißt „die veränderten Verhältnisse es ge- statten, die in der Paßpolizei nothwendig gewordene Strenge der Auf- sicht auf die Reisenden zu mildern.“ Das Paß-Reglement von 1813 hatte jedoch den Vorzug, das erste allgemeine Paßrecht für Preußen zu bilden; bis dahin bestanden meist lokale, aus den frühern Jahr- hunderten stammende, oder (am Rhein) französische Vorschriften. ( Rönne und Simon , Polizeiwesen der preußischen Monarchie. I. 291 ff.) Das neue Paß-Edict von 1817 dagegen ist mit allem Guten und Schlimmen für den größten Theil von Deutschland maßgebend geworden. Die Grundlage desselben ist nämlich die hier zuerst aufgestellte und streng durchgeführte Scheidung des Paßwesens und des Frem- denwesens . Das Paßwesen bezieht sich nemlich ganz bestimmt nur auf den Austritt und Eintritt über die Gränze des Reiches , wäh- rend für alle, welche innerhalb der Gränzen leben, die völlige Frei- heit der örtlichen Bewegung , jedoch unter einer gewissen polizeilichen Aufsicht, festgestellt wird. Dieß Princip des neuen Paß-Edicts hat Merker (die Nothwendigkeit des Paßwesens zur Erhaltung der öffent- lichen Sicherheit, Erlangen 1818), dann sofort theoretisch zu Buch gebracht, ohne von dem Unterschied des Paß- und Fremdenwesens eine Ahnung zu haben (s. unten). Das Princip für die Eingangspässe ist, daß niemand ohne einen ordnungsmäßigen Paß in den Staat eingelassen werden soll; für die Ausgangspässe gleichfalls, daß der Ausgang selbst für Fremde ohne solchen Paß nicht gestattet ist. Doch soll bei gehöriger Legitimation der letztere nicht verweigert werden. Die General- Paßinstruktion vom 12. Juli hat die Visirung der Pässe genauer geordnet. Es ist kein Zweifel, daß dieses Paßrecht eben so gut wie das von 1813 sich bereits überlebt hat, und daß bei den gegenwärtigen Verkehrsverhältnissen faktisch schon das freie Paßrecht in Preußen gilt. Ueber die neuesten Versuche seit 1862 eine freiere Gesetzgebung einzu- führen, sowie über die einzelnen Vorschriften siehe Rönne am oben a. O. und preußisches Staatsrecht II. 333. — Ein ganz analoges Paß- wesen hat in Bayern die Verordnung das Paßwesen betreffend vom 17. Januar 1837 und die Instruktion vom 20. Januar eod. eingeführt; gleichfalls unter ausdrücklicher Anerkennnng des freien Ver- kehrs im Inlande. Darstellung bei Pözl , Bayerisches Verwaltungs- recht, § 80. 81. Ebenso in Württemberg , General-Verordnung vom 11. September 1807. Mohl , Württembergisches Verwaltungsrecht §. 185. Dasselbe System, dem preußischen wie es scheint streng nachgebildet, gilt in Sachsen. Regulativ über die Verwaltung der Paßpolizei im Königreich Sachsen vom 27. Januar 1818; Inländer „werden oft in den Fall kommen“ einen Paß im Inlande zu brauchen, doch „be- dürfen“ sie dessen nicht (?). Erste Vereinbarung mit den Nachbarstaaten vom 20. November 1841. Funke , Polizeigesetze des Königreichs Sachsen. II. Bd. Abschnitt III. S. 66 ff. Oesterreich endlich ordnete sein Verkehrsrecht erst durch die neue Verordnung vom 9. Februar 1857; die Verordnung enthält die definitive (schon lange praktisch nicht mehr übliche) Abschaffung der Pässe für das Inland, und die Forderung eines ordnungsmäßigen Passes für die Ueberschreitung der Gränze. Die früheren sogenannten „Urlaubs- bewilligungen“ sind schon seit 1857 außer Kraft. Stubenrauch , Ver- waltungsgesetz I. 177. Die volle Freiheit des Paßwesens und Aufhebung der Vidirung durch Verordnung vom 9. November 1865. Von diesen Zuständen nun hat das Paßkarten-System wieder einen wesentlichen Fortschritt gemacht. Bekanntlich ist das Paßkarten- system aus früheren Vereinbarungen über Vereinfachung des Paßwesens hervorgegangen, die namentlich von Preußen ausgingen, das durch seine territorialen Gränzen im Interesse seines Länderverkehrs dazu gezwungen ward. Ein allgemeiner Vertrag ward dann 1850 in Dresden geschlossen (21. October), nebst Protokoll, dem sich seitdem alle deutschen Staaten bis 1859 angeschlossen haben. Nachträge zu dem Protokoll von 1850 sind durch das Protokoll von Eisenach, 7. Juli 1853, vereinbart. Frühere Vereinbarungen speziell für Oesterreich, Bayern und Sachsen seit 1850 bei Stubenrauch , Oesterreichische Verwaltungsgesetze. I. §. 177. Es ist, wie die alte Paßordnung des Schwäbischen Kreises, ein internationaler Paßvertrag zwischen den deutschen Bundesstaaten, dessen eigentliche Aufgabe im Grunde nur die Beseitigung des Visums ist. Die Aufnahme des Grundsatzes, daß die Versagung der Paß- karte noch möglich bleibt, selbst bei „ politischer Unzuverlässigkeit“ ( Rönne , Staatsrecht §. 333. 3), dürfte kaum zu den Grundsätzen gehören, die auf die Dauer sich als richtig oder auch nur als aus- führbar erweisen. Die neueste Paßconvention zwischen den meisten deutschen Staaten vom 7. Februar 1865 beruht auf der auch von Oesterreich jetzt angenommenen Freiheit der Bewegung; die verschiedenen Einführungsverordnungen aus dem Jahre 1865 in der Austria, Jahrg. 1866, Nr. 2 ff. — Der polizeiliche Standpunkt ist hier ganz überwunden. IV. Das Fremdenwesen im Allgemeinen. (Definition des „Fremden.“ — Zurückführung des gesammten Fremden- wesens auf die zwei Grundprincipien des Meldungswesens und des Legi- timationswesens . Daß nur das letztere das richtige sein kann.) Man wird sich über das hierher gehörige, mit seinen einzelnen Bestimmungen keineswegs unwichtige Gebiet wohl nur dann gut ver- ständigen, wenn man den Begriff des „ Fremden “ gemeingültig aner- kennt. Wir werden am besten unter dem „Fremden“ jede Person ver- stehen, die an einem Orte befindlich ist, an welchem sie kein Hei- mathsrecht besitzt oder erwirbt . Jede andere Definition wird nicht ausreichen, und die einzige Verwaltungslehre, die sich eingehend mit der Sache beschäftigt hat, hat diese Definition auch anerkannt. Pözl, Verfassungsrecht von Bayern, S. 41, und Verwaltungs- recht §. 80. Die völkerrechtliche Verwechslung von Fremden und Aus- wärtigen wie bei Pütter, Wächter u. A., selbst bei Mohl , führt nur zur Verwirrung. Setzt man nun diesen Begriff des Fremden, so enthält das Frem- denwesen die Gesammtheit der Vorschriften und Maßregeln, durch welche die Verwaltung sich in den Stand setzt, im Gesammtinteresse die Identität der Person und des Aufenthalts aller Frem- den zu constatiren , und das daraus sich ergebende Recht bildet das Fremdenrecht im Sinne der innern Verwaltung. Es ist nun schon oben gezeigt, wie dieß Fremdenrecht im vorigen Jahrhundert in unklarer Weise mit der ganzen Thätigkeit der Sicher- heitspolizei zusammenfiel und deßhalb als wesentlich negatives Element der Verwaltungsaufgaben auftritt. Der „Fremde“ ist damals schon an und für sich ein gleichsam unorganisches Element. Er fordert die „Aufsicht“ der einheimischen Interessen zunächst der örtlichen als Concurrent, dann der polizeilichen als Heimathloser, zuletzt gar der politischen als Träger fremder Ideen heraus. Diese Grundvorstellung ist zum großen Theil in der formellen Verwaltung geblieben . Der Fremde ist für die meisten Gesetzgebungen ein spezieller Gegenstand der „Aufsicht“ und zwar zunächst ohne Rücksicht, ob er ein Auswärtiger oder ein Einheimischer ist. Es ist natürlich, daß die Darstellungen des positiven Verwaltungsrechts ebenso nur von der „Aufsicht“ oder der „Controle“ der Fremden reden; selbst Mohl (Präventivjustiz S. 116) kommt über diesen Standpunkt nicht hinaus. Wir können dieß den polizeilichen Standpunkt des Fremdenwesens nennen. Er ist es, der die Verschiebung des letzteren eben so wie die des Paßwesens aus der Verwaltung der Bevölkerung in die der Sicherheitspolizei erzeugt hat. Allein obwohl historisch ganz gut motivirt, ist er dennoch nach dem höhern Wesen der Verwaltung falsch. Allerdings wird in vielen einzelnen Fällen der Fremde Gegenstand der Sicherheitspolizei sein. Aber es ist nur historisch erklärlich, daß der Fremde an und für sich als eine gefährliche oder doch bedenkliche Persönlichkeit angesehen werde. Es gibt vielmehr gar keinen Grund, den Fremden einer andern Aufsicht zu unterwerfen, als den Einheimischen . Anlaß und Form der besonderen Aufsicht müssen bei beiden gleich sein . Dagegen liegt es aber allerdings im Gesammtinteresse, Persönlichkeit und Hei- math des Fremden constatiren zu können. Hier kann daher nur unter besondern Verhältnissen eine Pflicht des Fremden bestehen, während unter allen Verhältnissen die Verwaltung es ihm möglich machen muß, dieß in leichter Weise zu können. Und das, was wir demgemäß das freie Fremdenrecht nennen, soll daher nur die Anstalten enthalten, die dieß bezwecken. Auf diese Weise liegen dem Fremdenwesen zwei wesentlich verschiedene Standpunkte zum Grunde, der polizeiliche der „Fremdenaufsicht,“ und der freie der öffentlichen Legitimation. Aus diesen zwei Stand- punkten gehen daher auch zwei wesentlich verschiedene Systeme hervor, die durch ihr Princip sehr einfach sind, wenn sie auch im Detail der wirklichen Polizeiverwaltung große Verschiedenheiten enthalten. Wir nennen sie am besten das Meldungswesen und das Legitimations- wesen . Es ist wohl von großem Interesse, beide Systeme als Ganzes zu betrachten. Faßt man sie richtig auf, so dürfte es wenig Theile der Verwaltung geben, in denen sich in kleinen Räumen so klar die beiden großen Principien der polizeilichen und der staatsbürgerlichen Verwal- tungsepoche darstellen. Beide Systeme haben nämlich mit einander gemein, daß sie die Constatirung von Identität und Aufenthalt durch die Organe der Ver- waltung wollen. Beide Systeme haben daher auch fast dieselben Formen. Allein sie unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkte. Im Systeme des Meldungswesens geht die Verwaltung davon aus, daß es ihre Pflicht sei, jene Constatirung vorzunehmen, und daß sie daher alles auf Identität und Aufenthalt Bezügliche selbst wissen müsse . Im Sinne dieses Princips fordert sie daher die betreffenden Angaben und Mittheilungen von den Einzelnen, und zwingt die letzteren durch Strafen, diese Mittheilungen ihr auch wirklich zu geben. Beim Meldungswesen stellt sie sich daher die ungeheure Aufgabe, jeden Einzelnen auf jedem Punkte im ganzen Reiche, wo immer er sich be- finden mag, gleichsam zu verfolgen; es scheint ihr, daß wenn sie nicht mehr weiß, wohin der Einzelne gehört, was er thut und treibt, wo er ist, die Gesammtheit sofort Gefahr läuft. Es schließt sich daran die natürliche Vorstellung, als habe sie auch das Recht, einen Aufenthalt zu verweigern. Sie ist der Vormund des ganzen Reisewesens inner- halb eines Landes. Im Systeme des Legitimationswesens dagegen steht die Ver- waltung auf einem ganz andern Standpunkt. Hier geht sie davon aus, daß Reise und Aufenthalt des Einzelnen sie an sich gar nichts an- gehe . Die Identität der Persönlichkeit ist eine Sache, welche zunächst nur im Interesse dieser Persönlichkeit selbst liege; daher habe auch das Individuum selbst dafür zu sorgen, daß es sich die Mittel verschaffe, um die Individualität vorkommenden Falles constatiren zu können. Dasselbe gelte vom Aufenthalt. Jeder verständige Mann thue das ohnehin; die Sache sei für jeden so wichtig, und die Wichtigkeit so allgemein verständlich, daß eine administrative Constatirung durch eine eigends darauf gerichtete Thätigkeit der Polizei nicht nur eine ungemein umständliche und kostspielige Funktion sei, sondern dem Einzelnen höchst lästig falle, und außerdem eine ganz unmotivirte, ja in den meisten Fällen ganz nutzlose Bevormundung der persönlichen freien Bewegung enthalte. Außerdem sei bei dem Meldungsprincip für all die Belästigungen und Kosten, mit denen es verbunden ist, nicht einmal irgend ein wirklich gültiger Beweis für die Individualität und den Aufenthalt gegeben, ja bei der besten Einrichtung der Meldungen gar nicht denkbar. Wolle man, was denn doch zuletzt nothwendig sei, juristische Gewißheit, so müsse doch ein förmliches Beweisverfahren eintreten, für welche die Meldungen keinen Werth haben können, selbst wenn sie richtig sind . Suche man aber in der Meldung ein polizeiliches Schutz- mittel, so sei es denn doch seit Jahrhunderten bekannt genug, daß ge- rade die, die man vermöge der Meldung beobachten will, falsche Mel- dungen machen, während man zuletzt bloß auf Grundlage einer noch so richtigen Meldung nicht den ehrlichsten Armen in seine Heimath ab- schieben könne, wenn er nicht sein Heimathrecht anderweitig ausweist. Sei aber selbst in diesem Falle ein solcher Ausweis anerkanntermaßen nothwendig, wozu denn die lästige und kostspielige Meldung, die nicht einmal dieß Verfahren ersetze? Und sage man, daß die Meldung wenigstens den Nutzen habe, den Einzelnen zu zwingen, daß er eine Legitimations- form besitze, so sei das geradezu unrichtig, denn es gebe gar kein Mittel, die Berechtigung zur Legitimation bei der Meldung erst zu untersuchen; sie werde daher praktisch gerade umgekehrt zu einem Deckmantel für falsche Angaben, während die Erkenntniß von den unbequemen Folgen, die der Mangel einer Legitimation für jeden Einzelnen habe, an sich ausreiche, denselben zur Herbeischaffung der ersteren zu bestimmen. Das Meldungswesen müsse daher als ein in jeder Beziehung falsches, nur aus dem historischen Entwicklungsgang der Dinge erklärliches System angesehen, und auch gesetzlich an seine Stelle das Legitimationswesen gesetzt werden. Das Legitimationswesen nämlich, indem es die Legitimation selbst dem Einzelnen überläßt, will nur demselben durch die Verwaltung die Mittel darbieten, durch welche er die Legitimation erzielen kann, und hält daran fest, daß die Unbequemlichkeiten der fehlenden Legiti- mation es sind, welche den Einzelnen schon von selbst veranlassen wer- den, sich jener Mittel der Verwaltung von freien Stücken zu bedienen, gerade wie beim freien Paßwesen. Meldungswesen und Legitimations- wesen haben daher dieselben Mittel für denselben Zweck , aber ein geradezu entgegengesetztes Recht. Beim Meldungswesen hat der Einzelne die öffentliche durch Strafen geschützte Pflicht , sich jener Mittel zu bedienen, beim Legitimationswesen dagegen nur das Recht dazu. Und es kann wohl kaum ein Zweifel sein, daß die Epoche des Meldungswesens für das Fremdenwesen vorüber ist, und das freie Legitimationswesen an ihre Stelle treten wird. Freilich hat dasselbe Uebelstände, aber diese sind mehr scheinbar als wirklich. Wirklich da- gegen sind die großen Erleichterungen des Verkehrs und der indirekte Werth, den es hat, daß jeder veranlaßt werde, sich auch hier auf sich selber zu verlassen; nicht unwesentlich ist daneben die Beseitigung eines großen, meist ganz nutzlosen Geldaufwandes. Und wir sind daher der Ueberzeugung, daß mit dem freien Paßwesen auch das freie Legiti- mationssystem als Grundlage des Fremdenwesens zur baldigen und allgemeinen Geltung kommen würde. Dabei nun bleiben, wie gesagt, die Mittel und Formen des Legi- timationssystems des Fremden dieselben , wie beim Meldungswesen, und wir dürfen sie daher jetzt einzeln vom beiderseitigen Standpunkt betrachten. Es muß als ein großer Uebelstand angesehen werden, daß in den Gesetz- gebungen, wie in Preußen und Bayern, die Paßgesetzgebung auch das Fremden- wesen mit enthält, was den freien Blick über das letztere offenbar stört. In Oesterreich ist das zwar nicht der Fall, allein hier hat das Meldungswesen gar kein allgemeines Gesetz, sondern einen fast durchgreifend lokalen Charakter. ( Stubenrauch §. 176.) Es wäre aus einer Reihe von Gründen zu wünschen, daß die Theorie sich der Sache eingehender und allgemeiner annähme, als dieß z. B. bei Mohl geschehen ist. V. Die einzelnen Maßregeln des Fremdenwesens nach dem Meldungs- und Legitimationssystem. Die einzelnen Maßregeln des Fremdenwesens zum Zwecke der Con- statirung der Individualität und des Aufenthalts, lassen sich in folgende Punkte zusammenfassen; 1) Die Aufenthaltskarte . Die Aufenthaltskarte ist das Sur- rogat des Passes , der in dem polizeilichen Paßwesen dem Ausländer an der Gränze abgenommen und wofür ihm diese Karte gegeben wird. Grund: damit er, nachdem er mit Erlaubniß ins Land gekommen, dasselbe nicht ohne Erlaubniß wieder verlasse. Das ganze System hat gar keinen Sinn. Bleibt der Ausländer länger als sein Paß lautet, so wird er ohnehin nach dem polizeilichen Paßsystem abgeschoben, mag nun die Dauer des Aufenthalts auf dem Paß oder auf der Aufenthaltskarte verzeichnet sein; abgesehen davon, daß die „Bewilligung“ des Aufenthalts für einige Zeit eben so irrationell ist als das Princip der Erlaubniß überhaupt. Das Legitimationssystem fordert einfach, daß der Ausländer im eigenen Interesse seinen Paß zur Verfügung habe, wenn er einen hat, oder eine sonstige Legitimation, um sich vorkommenden Falls Unbequemlichkeiten zu entziehen. In Preußen besteht noch ganz das veraltete polizeiliche Princip ( Rönne , II. §. 334), ebenso in Bayern ( Pözl , Verwaltungsrecht §. 82). Sachsen hat nur Vidirung der Pässe binnen 24 Stunden ( Regulativ vom 27. Januar 1818; Funke , Polizeigesetze des Königreichs Sachsen II. S. 74. 75). In Oesterreich hat man es rationeller Weise aufgehoben ( Stubenrauch , §. 177). Das Paßkartensystem hat die Aufenthaltskarte für deutsche Staats- angehörige ohnehin beseitigt. 2) Die Legitimationskarten . Die Legitimationskarte trat zu- erst in Preußen an die Stelle des Paßrechts für die Reisen im In- lande, allerdings nur für Einheimische, während Auswärtige die Auf- enthaltskarte lösen mußten. Preußisches Edikt von 1817); Rönne , II. 133). Sie ist formell nothwendig und gilt nur auf zwei Jahre. Freier ist Bayern , wo der im Inland reisende Inländer nur zur Lösung einer Legitimationskarte berechtigt ist ( Verordnung von 1837, Art. 1—4). Oesterreich hat sie wieder vorgeschrieben ( Verordnung von 1857 , §. 1), was im Widerspruch mit der Beseitigung der Aufent- haltskarten ist. Das ganze Institut kann nur durch den Zwang unzweckmäßig werden; an sich ist es der reinste Ausdruck des freien Legitimationssystems. 3) Fremdenbücher in Gasthäusern. Das Meldungssystem fordert das Unausführbare in der Verpflichtung zur Ausfüllung der, den Aufenthalt und die Reise enthaltenden Rubriken, und das Nutzlose in der polizeilichen Meldung uncontrollirbarer Angaben. Es ist nach allen Seiten falsch, das Meldungsprincip hier aufrecht zu halten. Dagegen ist es vollkommen richtig , den Wirth zur Haltung von Fremdenbüchern zu verpflichten, damit der Reisende, wenn er es in seinem Interesse findet, seinen Aufenthalt constatiren kann. Preußische Paßordnung von 1817, §. 17; s. schon Allgemeines Landesrecht II. 7. 61. 65. Bayern , Instruktion von 1808 §. 23—27. Pözl , §. 82. Spezielle Instruktion für Wien von 1850 §. 10 ff. Ueber die übrigen Vorschriften siehe Stubenrauch II. §. 177. Ueber Sachsen finde ich nichts, nicht einmal in Funke . 4) Gesindemeldungen . Der Grund der Meldungen des Ge- sindes ist zunächst wohl das Streben, die Heimath derselben zu con- statiren um darnach im vorkommenden Falle verfahren zu können. Daran schloß sich der Wunsch, die Dienstlosigkeit zu eruiren, um dienstlose Leute zu beseitigen. Beide Zwecke sind vollkommen motivirt; nur werden sie nicht durch das erreicht, wodurch man sie erreichen will, durch die poli- zeiliche Meldung bei dem Eintritt und Austritt des Gesindes. Hat die Polizeiverwaltung nicht die Mittel, die dienenden Personen erstlich bei dem Eintritt in die Gemeinde , und zweitens während der Dienstlosigkeit zu überwachen und ihre Heimathsberechtigung zu constatiren, so nützt die Meldung beim Diens tantritt nichts, da dann die Heimath- frage ohnehin unpraktisch ist, und beim Dienstaustritt nicht, weil der Betreffende ja doch nicht gleich ausgewiesen werden kann. Das wahre System ist daher hier auch nicht die Meldung, sondern die Veranlassung zur eigenen Legitimation, die durch regelmäßige Ausweisung unlegiti- mirter Dienstboten von selbst entsteht. Die Gesindebücher gehören dagegen als eine Form der Zeugnisse in das Gebiet der Arbeitsbücher und damit in die Gesellschaftslehre. Es ist ohne allen Zweifel gut, sie einzuführen und zu erhalten; allein das rechte Mittel dazu ist wieder nicht der polizeiliche Zwang, sondern die Verbindung des Rechts auf den Aufenthalt mit dem Besitze dieser Bücher, das sie allein ein- führen wird, so weit sie überhaupt eingeführt werden können. Die Gesetze darüber sind in den verschiedenen Staaten sehr verschieden und bilden einen Theil der Gesindeordnung, welche später zu behandeln sind. S. Rönne II. 349. Pözl , Verwaltungsrecht §. 113. Stuben- rauch II. §. 443. Funke (Königreich Sachsen) II. S. 179 — Mel- dung bei Strafe trotz der jährlichen polizeilichen Gesinderevision (Gesinde- ordnung vom 10. Januar 1835 §. 78). 5) Wanderbücher . Die Wanderbücher sind im Grunde nichts als eine besondere Form des polizeilichen Paßwesens. Sie beruhen darauf, daß das gewerbliche Leben zum Theil die Wande rpflicht für die Gesellen aussprach, während im Princip des polizeilichen Paßwesens das Recht der Erlaubniß zur Reise als Grundsatz galt. Andererseits forderte der Kampf gegen das Vagabundenthum die Möglichkeit, den Gesellen, der zum Zweck seiner gewerblichen Ausbildung reist, von dem zu unterscheiden, der bloß heimathslos sich umhertreibt. Das Wander- buch ist daher ein Paß für die Reise im Inlande, verbunden mit einem Arbeitsbuch und Zeugniß über die Zwecke seiner Reise, ohne daß der Geselle dabei wie beim Paß ein Ziel anzugeben habe. Das Wanderbuch ist daher eine Legitimation für den gewerblichen Zweck der Reise, und daher auch allenthalben von dem Passe sowie von den Legitimations- urkunden gesetzlich unterschieden. In Preußen hat schon das Paß- edikt von 1817 §. 2 das ordnungsmäßige Wanderbuch dem Paß gleich- gestellt; in Bayern ist das Arbeitsbuch und Wanderbuch ver- schmolzen ( Pözl §. 156); eben so in Oesterreich ( Stubenrauch , §. 447). Für Königreich Sachsen bestehen Wanderbücher und Wander- pässe ( Funke , Polizeigesetze Bd. IV. I. C. 1. 2). Für Württem- berg gilt die Verordnung vom 4. Juli 1809 speziell für die Wander- bücher ( Mohl , Württembergisches Verwaltungsrecht §. 185). Die Vorschriften des Deutschen Bundes über das Wandern der Handwerks- gesellen (Bundesbeschluß v. 13. Jan. 1835) haben ihrer Zeit einige Mo- dificationen in das Recht der Wanderbücher gebracht, doch sind dieselben seit 1848 wieder verschwunden. (Vergl. Zöpfl , Staatsrecht II. §. 463, und Rönne , Preußisches Staatsrecht §. 333.) Die Wanderbücher sind an sich zweckmäßig, indem sie die Legitimation für das gewerbliche Wandern sind, und damit vor den polizeilichen Maßregeln gegen Vaga- bunden schützen, wobei nur die Frage bleibt, wo die objektive Gränze zwischen dem gewerblichen und ungewerblichen Wandern zu setzen ist. (S. später.) Es ist auch hier kein Grund eines direkten Befehles zur Führung von Wanderbüchern, wenn nur die Behandlung als Vaga- bund ohne Wanderbuch feststeht. Das Kriterium des reinen Legiti- mationssystems bestände hier darin, daß ein Wanderbuch für rechtlich überflüssig gehalten wird, wo sonstige Legitimation vorhanden ist, wäh- rend die Führung der erstern wegen der Unbequemlichkeiten der letztern anzurathen wäre. Freilich wird bei den Meisten dieses Standes ein solcher Rath meistens die Wirkung und fast immer die Form eines Befehles haben müssen, um seinen Zweck zu erreichen. Die Arbeits- bücher als solche gehören dagegen der socialen Richtung des Gewerbe- wesens an, und werden bei diesem wieder erscheinen. 6) Gewerbs- und Hausirpässe . Beide sind ihrem Wesen nach Legitimationen für Gewerbe die im Herumziehen ausgeübt werden. Ob sie dem Meldungs- oder Legitimationssystem angehören, hängt hier nicht von dem Wesen der letzteren, sondern vielmehr von der Anerkennung oder dem Mangel der Gewerbefreiheit, beziehungweise der Ordnung der letzteren ab. Wo keine Gewerbefreiheit existirt, haben diese Pässe einen doppelten Charakter. Sie sind erstlich gewerbliche Concessionen, und zweitens Erlaubnißscheine zur Reise; der Mangel der Gewerbefreiheit macht sie daher ohne weiteres zu Theilen des Meldungswesens. Bei der Gewerbe- freiheit dagegen sind sie Legitimationen für das Vorhandensein des be- stimmten Gewerbebetriebes, und der Zweck ihrer Verleihung ist nicht die Erlaubniß zum Gewerbe und zum Herumziehen, sondern die Legiti- mation des gewerblichen Wanderns, welche die Betreffenden von dem Vagabunden scheidet. Grundsätzlich sollte man es diesen Leuten über- lassen, ob sie auf die Gefahr der polizeilichen Abführung hin es unter- lassen wollen, einen solchen Paß zu nehmen; praktischer ist es wohl, die Lösung einer solchen Legitimation direkt zu befehlen. Die meisten Staaten haben das Verhältniß durch specielle Vorschriften geordnet. Oesterreich: Hausirpatent vom 4. Sept. 1852 ( Stubenrauch , II. §. 511). Preußen : (Regul. vom 28. April 1824 und 4. Jul. 1836 Rönne , II. §. 336). Bayern: Pözl §. 181. — Wir kommen natür- lich beim Gewerbswesen genauer auf dieß Verhältniß zurück. IV. Die administrative Ordnung der Bevölkerung. (Die Begriffe und das Recht von Competenz, Zuständigkeit, Gemeinde- bürgerrecht und Heimathswesen.) Vorbemerkung . Indem wir nunmehr den Begriff der administrativen Ord- nung der Bevölkerung , und die Bestimmungen, welche sie regeln, so wie die Rechte, die sich aus ihr ergeben, darstellen, betreten wir ein Gebiet, welches wie wenig andere wenigstens in der Theorie, zum großen Theile aber auch in der Gesetzgebung, im höchsten Grade einer- seits unfertig, andererseits unklar ist. Die hierher gehörigen gesetzlichen Vorschriften, Ansichten und Defi- nitionen sind nicht etwa bloß höchst verschieden, sondern sie liegen zu gleicher Zeit in so verschiedenen Gebieten des geltenden Rechts und der Rechts- und Staatswissenschaft zerstreut, daß es vollständig unmöglich ist, sich hier an eine gegebene Grundlage anzuschließen. Niemand, der mit dem Gange bekannt ist, den der Einfluß der Wissenschaft auf das wirkliche praktische Leben nimmt, wird gern daran denken, neue Kategorien und neue Normen aufzustellen, und jede der- selben mit neuen ihnen eigenen Definitionen auszustatten. Nur die vollständige Unmöglichkeit, auf Grundlage des Bisherigen ein wissen- schaftliches Ganze herzustellen, kann dazu zwingen und berechtigen. Das Folgende wird zeigen, daß jede eingehende Behandlung unseres Gegen- standes unbedingt genöthigt ist, der Staatswissenschaft die Zumuthung zu stellen, sich hier an eine neue Auffassung zu gewöhnen. In der That nämlich dürfen wir gerade hier darauf aufmerksam machen, daß es sich nicht etwa bloß darum handelt, die deutsche Theorie zu ordnen. Die Verwaltungslehre im höheren Sinne des Wortes hat vielmehr die Aufgabe, solche Kategorien der Wissenschaft aufzustellen, welche die grundverschiedenen Gestaltungen der gleichen Rechtsverhältnisse und Begriffe in allen Staaten und zu allen Zeiten in sich aufzu- nehmen, und zum organischen Verständniß zu führen fähig sind. Jeder Versuch, der nicht diesem Ziel entgegenstrebt, hat nur örtlichen Werth. Soll das aber der Fall sein, so muß die Wissenschaft auf Grundlagen zurückgehen, die unter allen Verhältnissen dauernd sind, und daher auch aus dem, unter allen Verhältnissen Geltenden, der ewigen Natur der Ordnung der menschlichen Gemeinschaft, hervorgehen, und durch sie erst das Besondere und Einzelne erklären. Und das ist hier unsere Aufgabe, und nirgends mehr ist sie nothwendig. Wir sind daher gezwungen, zuerst jene Fundamentalbegriffe fest- zustellen, daran das geltende Recht, das wir kennen, anzuschließen, und damit erst die vergleichende Verarbeitung dessen, was wir noch nicht kennen, möglich zu machen. Hier haben wir keine Vorarbeit. Der Begriff und das Recht der administrativen Ordnung der Bevölkerung. Begriff und Recht der administrativen Ordnung der Bevölkerung sind nur dann zu erklären, wenn man einen andern Begriff voraus- setzt. Das ist der Begriff und der Inhalt der administrativen Organisation des Staats . Die administrative Organisation des Staats faßt zunächst die vollziehende Gewalt als selbständigen, von den einzelnen Staatsange- hörigen unabhängigen Körper auf. Sie steht damit der räumlichen Ausdehnung des Landes und der unendlichen Verschiedenheit und Ver- theilung seiner Verhältnisse gegenüber. Die Vollziehung muß daher sich zu einem, für alle diese Besonderheiten bestimmten, jeder derselben an- gemessenen Organismus gestalten, in welchem jedes einzelne Organ seine ihm eigene Stelle, seine Aufgabe, seine Gränze der Thätigkeit hat; es ist Sache der vollziehenden Gewalt, diese Aufgaben und Gränzen zu bestimmen, und diese Funktion derselben haben wir als die Organi- sationsgewalt bezeichnet. Diese Organisationsgewalt setzt daher jenen Organismus des Staats voraus der deßhalb in Beziehung auf die concrete Thätigkeit dieser Organe der Verwaltungsorganismus des Staats heißt. Dieser Organismus ist in Beziehung auf das Land die (politische) Eintheilung des Staatsgebietes, in Beziehung auf die Organe des Staats selbst aber die administrative Organisation der voll- ziehenden Gewalt . Es ist nun klar, daß diese administrative Organisation des Staats eine organische, also absolute Bedingung jeder wirklichen inneren Thätig- keit des Staats ist. Gesetze kann er ohne sie geben; vollziehen aber kann er ohne sie nicht. Sie ist daher die erste Bedingung aller Verwaltung. Dieser ersten Thatsache für das Leben der Verwaltung steht nun die zweite gegenüber, die bereits im Fremdenwesen berührt worden ist. Das ist das Element der freien persönlichen Bewegung der Einzelnen. Diese freie persönliche, örtliche Bewegung ist ihrerseits nicht bloß in der Natur der Persönlichkeit gesetzt, sondern selbst wieder Be- dingung der Einzel- und der Gesammtentwicklung. Nun aber sind eben die Verhältnisse des individuellen Lebens der Gegenstand der Verwaltung. Mit der örtlichen Bewegung wechselt daher beständig das Objekt der letzteren. Sie selbst ist eine festdauernde; die Individuen aber, auf welche sie sich bezieht, werden andere. Und Stein , die Verwaltungslehre. II. 18 es entsteht daher die Frage, nach welchen Regeln sich dasjenige Ver- hältniß bestimmt, vermöge dessen der Einzelne mit seinen einzelnen Lebensverhältnissen der vollziehenden, verwaltenden Thätigkeit eines bestimmten Organs des Staats unterworfen sein soll. Dieß Unter- worfensein nennen wir im Allgemeinen die Angehörigkeit. Es fragt sich also, nach welchen Grundsätzen und Regeln bei der freien örtlichen Be- wegung des individuellen Lebens die Angehörigkeit des Einzel- nen an das einzelne Verwaltungsorgan sich regelt. Und die dafür bestehenden Bestimmungen bilden die administrative Ord- nung der Bevölkerung . Es scheint nun wohl überflüssig, diese administrative Ordnung der Bevölkerung von den übrigen Formen der Bevölkerungsordnung weiter zu unterscheiden. Es gibt neben ihr noch eine populationistische, eine geographische, eine nationale, eine wirthschaftliche, eine sociale, und andere. Die administrative Ordnung ist diesen gegenüber diejenige, die zum Zwecke der Verwaltung eingerichtet ist, und die daher auch durch die Verwaltung selbst festgestellt wird. Sie muß daher auf jedem Punkte auf den Staat und seine administrative Thätigkeit zurückgeführt werden, da sie von ihr ausgeht, und für sie hingestellt ist. Daraus ferner ergibt sich der Begriff und Inhalt des öffentlichen Rechts dieser administrativen Ordnung der Bevölkerung. Da sie, und mit ihr das individuelle Angehören des Einzelnen an die einzelne Thätig- keit der Staatsorgane als Bedingung für diese Thätigkeit erscheint, so folgt, daß sie nicht auf Willkür und Zufall beruhen kann. Es müssen vielmehr die Grundsätze, welche sie regeln, objektiv feststehen; sie müssen sowohl für die Organe der vollziehenden Gewalt, als für die Einzelnen ein geltendes Recht bilden. Und in diesem Sinne sagen wir, daß die Gesammtheit der Bestimmungen, welche jene administrative Ordnung des Staats in Beziehung auf die örtliche Bewegung der Bevölkerung bilden, das Recht der administrativen Ordnung der letzteren enthalten. So steht nun dieser Begriff fest; und jetzt wird es wohl nicht schwer sein, das System dieser Ordnung und die Grundbegriffe, welche seinen Inhalt bilden, gleichfalls festzustellen. Das System des Rechts der administrativen Bevölkerung. (Begründung und Entwicklung der Begriffe von Competenz und Zu- ständigkeit , von Gemeindebürgerrecht und Heimathsrecht . — Die Begriffe und das Recht des Staatsbürgerthums und des Indigenats , und ihr Zusammenhang mit dem Obigen. Schema.) Indem nämlich nach dem oben aufgestellten Begriffe der Angehö- rigkeit dieselbe in diesem weiten, noch sehr unbestimmten Sinne die Beziehung aller Lebensverhältnisse der Einzelnen zu der gesammten Organisation der vollziehenden Gewalt umfaßt, so ist es wohl einleuch- tend, daß das System dieses Rechts der administrativen, eben für die Function der Vollziehung selbst erst hingestellten Ordnung auf dem Or- ganismus dieser vollziehenden Gewalt beruhen muß. Und in der That ist dem so, und die betreffenden Begriffe erscheinen erst in dieser Be- ziehung leicht und klar verständlich. Die vollziehende Gewalt theilt sich nämlich, wie bekannt, unter allen Verhältnissen ihrem Wesen nach in drei Organismen: den amt- lichen oder rein staatlichen, den Organismus der Selbstverwaltung und den des Vereinswesens. Das Angehören an den Verein nennen wir die Mitgliedschaft. Sie ist ihrer Natur nach frei, und dem subjektiven Willen unterworfen; daher gibt es für sie im obigen Sinne kein objek- tives Recht der Organisation. Dasselbe erscheint vielmehr in zwei großen Theilen, deren allgemeinsten Inhalt wie deren Definition und rechtliches Grundprincip wir als organische , das ist dauernde und stets vor- handene, wenn auch oft durch die verschiedensten Verhältnisse und Formen verdeckte hinstellen müssen. Der erste Theil dieses Rechts entsteht, indem wir den Einzelnen mit seinen örtlich wechselnden Lebensverhältnissen gegenüber der Gesammt- heit aller Organe der amtlichen Verwaltung denken. Es ergeben sich daraus zwei Grundverhältnisse und zwei Rechtsbegriffe. 1) Die Competenz . Das erste Verhältniß ist die Bestimmung des Maßes und der Gränze für die vollziehende Gewalt, welche den einzelnen amtlichen Organen übertragen ist, und zwar theils in Be- ziehung auf die örtliche, theils in Beziehung auf die sachliche, theils endlich in Beziehung auf die persönliche Begränzung derselben. Diese Bestimmung und die aus ihr hervorgehende Gränze bilden die Com- petenz des Organes, und in ihrer objektiven, von der Organisations- gewalt bald als Gesetz, bald als Verordnung festgestellten Gültigkeit das Competenzrecht desselben. Der gesammte Organismus eines jeden Staates in seiner vollziehenden Gewalt erscheint daher, wie das schon im ersten Bande ausgeführt ist, als ein, das ganze Gebiet des staatlichen Organismus umfassendes System von Competenzen , welche das Recht der Vollziehung für jedes einzelne Organ feststellen. 2) Die Zuständigkeit . Das zweite Verhältniß entsteht dadurch, daß der Einzelne in Lebensverhältnissen und Aufenthalt, und daher auch in Beziehung auf die Competenzen wechselt . Durch diesen Wechsel entsteht daher für den Einzelnen in Beziehung theils auf die Verwal- tungsfunction, theils auf die Berechtigungen aus dem Einzelverkehr die Frage, welcher Competenz der Einzelne in jedem einzelnen Falle angehöre; und diese Angehörigkeit des Einzelnen ist das, was wir die Zuständigkeit nennen. Das Verhältniß zwischen Competenz und Zuständigkeit ist daher einfach. Sie sind unbedingt verbunden und entsprechen einander, so weit es sich um Persönlichkeiten handelt, ähnlich wie Subjekt und Objekt. Dagegen ist die Competenz weiter als die Zuständigkeit, weil sie auch rein sachliche Aufgaben (z. B. Wege, Flüsse, Anstalten ꝛc.) umfaßt, während die Zuständigkeit nur das Angehören des Individuums an die Competenz bedeutet. Die Competenz ist somit die Ordnung für das Organ, die Zuständigkeit dieselbe Ordnung in ihrer Beziehung auf den Einzelnen; die Zuständigkeit ist die Erfüllung der Competenz durch die Einzelnen und ihre Lebensverhältnisse. Die Zuständigkeit macht dafür das Organ competent. Sie ist die individuelle Seite der Competenz. Die Unterscheidung ist so alt wie die Selbständigkeit der Verwaltung, wenn auch nicht theoretisch festgestellt. Sie ist ausgedrückt in den Worten competentia und domicilium, competence und domi- cile . Sie ist keineswegs unwichtig für die Anwendung des öffentlichen Rechts der amtlichen Organisation auf die einzelnen Fälle, wie wir unten sehen werden. Diesem ersten Theile gegenüber steht der zweite Theil dieser ganzen Ordnung, den wir zuerst formell bezeichnen wollen, um dann auf den Unterschied im Wesen dieses Rechts überzugehen, das wieder der historischen Entwicklung zum Grunde liegt. Dieser zweite Theil entsteht, indem wir den Einzelnen gegenüber dem Organismus der Selbstverwaltung denken, und auf diesen Organismus die beiden Begriffe der Competenz und der Zuständigkeit anwenden. Das Angehören an jeden Organismus der Selbstverwaltung ent- hält nämlich zwei Momente für den Organismus selbst und für den Einzelnen. 1) Gemeindebürgerrecht. Zuerst nämlich erzeugt das Ange- hören des letzteren an den erstern eine Theilnahme desselben an der organisch geordneten Selbstbestimmung des betreffenden Selbstver- waltungskörpers, und damit ein bestimmtes, durch die Organisations- gewalt in Gesetz oder Verordnung geregeltes Recht auf Theilnahme an dieser Selbstbestimmung, und den Rechten und Verpflichtungen, welche ein solches Recht enthält. Da nun die Selbstverwaltungskörper als Landschaften, Gemeinden und Körperschaften auftreten, so gibt es auch dem Begriff nach für jede dieser drei Formen ein ihr entsprechendes Recht dieser Angehörig- keit. Wir finden die Form dieser Angehörigkeit für die Landschaft bekanntlich im alten, jetzt verschwundenen Begriff und Recht des Land- sassiatus plenus und minus plenus . Die historische Entwicklung, welche der Schwerpunkt der Selbstverwaltung jedoch allmählig und in bei weitem überwiegendem Maße in die Gemeinde gelegt hat, hat auch jenes Recht fast ausschließlich, wenn auch nicht ganz, auf diejenige Form reducirt, in der es in der Gemeinde vorhanden ist. Und hier nennen wir dasselbe das Gemeindebürgerrecht . Das Gemeinde- bürgerrecht enthält daher die öffentlich rechtlichen Bestimmungen, nach welchen der Einzelne der Gemeinde als ein, in der Selbstverwaltung den Willen derselben mitbestimmendes und an der Selbstvoll- ziehung in Gemeindeämtern u. s. w. theilnehmendes Glied angehört. 2) Das Heimathswesen . Das zweite Moment ist nun das- jenige, nach welchem die Angehörigkeit an den Selbstverwaltungskörper den Einzelnen zu einem Gegenstand der verwaltenden Thätigkeit derselben macht. Die Thätigkeit der Selbstverwaltungskörper erstreckt sich nämlich in einer Reihe der wichtigsten Beziehungen über jeden , der innerhalb ihrer örtlichen Gränze sich aufhält. So weit dieß der Fall, und die administrative Thätigkeit der Selbstverwaltungskörper bloß durch die einfache Thatsache des Aufenthalts bestimmt ist, hat das Recht der Selbstverwaltungskörper ganz den amtlichen Charakter der Competenz und Zuständigkeit. So wie aber diese Angehörigkeit nicht mehr auf dem bloßen zufälligen Aufenthalt, sondern auf der Angehörig- keit des ganzen persönlichen Lebens beruht, tritt ein anderer Begriff ein, und das ist der der Heimath . Der Begriff der Heimath umfaßt daher das Angehören an den Selbstverwaltungskörper vermöge der ganzen Geschichte des individuellen Lebens. Und auch hier haben histo- rische Gründe es hervorgerufen, daß rechtlich dieser Begriff wieder nur bei der Gemeinde Platz greift. Wir sprechen daher administrativ nur von der Gemeindeheimath und der Heimathsgemeinde. Das Recht dieser Heimath ist nun im Allgemeinen zunächst das Recht, die Gesammtheit und Einheit der persönlichen Lebensbeziehungen als Theil der Verwal- tung einer Gemeinde anerkannt zu sehen. Allein diesem Rechte des Einzelnen entspricht die Pflicht der Gemeinde, also der Heimath, in ihrer Verwaltung den ihr Angehörigen auch als integrirenden Theil ihrer selbst zu betrachten und zu behandeln. Diese Pflicht, als speci- fische Pflicht der einzelnen Gemeinde gegenüber dem Einzelnen als ihrem Angehörigen und nicht als Staatsbürger , ist nun durch den histo- rischen Entwicklungsgang darauf reducirt worden, daß die Angehörigkeit in Bezug auf die Verwaltung nichts mehr enthält, als die Verpflich- tung der Gemeinde zur Armenunterstützung . Das Heimathswesen, ursprünglich das ganze Rechtsleben der Gemeindeangehörigen umfassend, und sie der gesammten Verwaltung derselben unterwerfend, besteht daher jetzt nur noch in der Gesammtheit der Bestimmungen, welche ver- möge der Angehörigkeit dem Einzelnen das Recht auf die Armenunterstützung der Heimathsgemeinde geben . Um nun den Begriff und Inhalt der Angehörigkeit im weitesten Sinne zu einem vollständigen, das ganze Gebiet derselben erschöpfenden Bilde zu machen, wird es wohl hier gestattet sein, noch zwei Verhältnisse und Rechtsbegriffe aufzustellen und zu definiren, ohne welche das Ganze vielen unvollständig erscheinen wird, und die auch historisch und selbst gesetzlich vielfach mit dem Obigen in Berührung stehen, jedenfalls sie aber in den wichtigsten Beziehungen erklären. Das sind die beiden Be- griffe von Staatsbürgerthum und Indigenat , namentlich mit der Beziehung des letzteren zum Gemeindebürgerrecht und Heimathswesen. 1) Staatsbürgerthum . Das Staatsbürgerthum ist nämlich das Angehören einer Persönlichkeit an den Staat, insofern dieß An- gehören der letztern in irgend einer gesetzlich oder historisch feststehenden Form das Recht gibt, an der Bildung des Staatswillens als Ange- höriger des Staats (also nicht vermöge amtlicher Stellung u. s. w.) Theil zu nehmen. Der Begriff des Staatsbürgerthums ist daher nur dann recht klar, wenn eine Verfassung in gesetzlicher Form dieß Recht des Einzelnen juristisch formulirt hat, und dasselbe daher als ein indi- viduelles Rechtsverhältniß des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft und Einheit aller Andern auftritt. Es ist daher jetzt wohl leicht er- klärlich, weßhalb das Wort und der Begriff des Staatsbürgerthums so neu ist, und erst in diesem Jahrhundert entsteht, während die Sache so alt ist, wie die Thatsache der Verfassung. Da dieß Ganze eine Frage der Verfassungslehre ist, so können wir hier nicht darauf ein- gehen. Nur die Bemerkung fügen wir hinzu, daß wo die Angehörigkeit als solche schon ein Recht zur Theilnahme an der Verfassung gibt, wie in Athen, Rom, der ersten französischen Republik, auch kein Unter- schied zwischen Staatsbürgerthum und Staatsangehörigkeit denkbar ist, so weit es sich eben um mündige Männer handelt, während da wo zwischen den letztern der Unterschied von stimm- und wahlberechtigten existirt, auch das Staatsbürgerthum sich streng von der Staatsange- hörigkeit oder Staatsunterthanschaft scheidet, wie in den deutschen Verfassungen. Hält man diese so äußerst einfachen Begriffe fest, so verschwinden damit eine Menge von Unklarheiten im Gebrauch der Worte und dem Sinn, den man mit ihnen zu verbinden pflegt. 2) Das Indigenat . Während demnach die beiden Begriffe von (Staats-) Unterthanschaft und Staatsbürgerthum das Verhältniß des In- dividuums zum Staat swillen und seiner Bildung ausdrücken, und die Rechtspunkte bestimmen, welche darüber entscheiden, steht daneben das zweite Grundverhältniß, nämlich das des Einzelnen zur vollziehenden Gewalt und der concreten Form derselben, der Verwaltung. Insofern nämlich der Einzelne als dieser Vollziehung und Verwaltung angehörig betrachtet wird, besitzt er das Indigenat . Das Indigenat enthält daher von Seiten der Einzelnen das Recht, zu fordern, daß die Voll- ziehung und Verwaltung des eigenen Staats ihm alle diejenigen Lei- stungen wirklich prästire, welche durch das Angehören an den Staat bedingt sind; und anderseits das Recht der Organe der Vollziehung, von dem Einzelnen wieder zu fordern, daß er den Vorschriften der voll- ziehenden Gewalt den staatsbürgerlichen Gehorsam leiste. Es ist dabei ganz gleichgültig, worauf das Indigenat beruht, auf Grundbesitz, Anstellung oder Geburt; es hat, weil es ein ganz bestimmter und con- creter Begriff ist, immer denselben Inhalt. Und hier daher ist auch der Ort, eine wir möchten sagen wunderliche Unklarheit zu beseitigen, die auf diesem Punkte vielfach vorkommt. Diese besteht nämlich in dem Verhältniß des Indigenats zur Gemeindeangehörigkeit. Wenn nämlich das Indigenat das Angehören an die vollziehende Gewalt im Allgemeinen bedeutet, diese vollziehende Gewalt aber, wie wir gezeigt, sich als amtliche und als Selbstverwaltung zeigt, so ist es ganz selbstverständlich, daß der concrete Inhalt des Indigenats, der in der Anwendung des Indigenatsrechts auf die wirklichen Lebensver- hältnisse des Einzelnen sich zeigt, einerseits in dem Vorhandensein der jedesmal erforderlichen Competenz und Zuständigkeit, anderseits in dem des Gemeindebürger- und Heimathsrechts erscheinen muß . Denn Amt und Selbstverwaltung sind ja nicht etwas außerhalb der Vollziehung Stehendes, sondern sie sind ja eben der concrete Inhalt und Organis- mus dieser vollziehenden Gewalt selbst. Es folgt daraus also in ein- fachster Weise, daß da wo dieß auch gesetzlich der Fall ist, das Indigenat unbedingt die in ihm liegende Angehörigkeit an die Staatsverwaltung einerseits als die Zuständigkeit, anderseits wenigstens als das Heimaths- recht des Indigenen in irgend einer Gemeinde enthalten muß. Dieß ist nun für die Zuständigkeit ganz unbezweifelt, da ihre Basis die all- gemeine Staatsangehörigkeit ist. Für das Heimathsrecht dagegen kann die Sache sehr bezweifelt werden, da es allerdings im Wesen des Staats liegt, Gemeinden zu haben, aber nicht, ganz in seinen Gemeinden ent- halten zu sein. Es ist daher sehr wohl möglich, daß man sich ein In- digenat ohne Heimathsrecht, natürlich noch viel eher ohne Gemeinde- bürgerrecht denke. Das letzte wird sogar namentlich bei Beamteten sehr oft der Fall sein, wenn ihnen das Gesetz nicht ein Gemeindebürgerrecht ausdrücklich mit der Anstellung verleiht. Wo nun solche Beamte durch Geburt Staatsangehörige sind, da haben sie natürlich stets vermöge dieser Geburt ihre natürliche Heimath (s. unten). Allein sehr oft ist das nicht der Fall, und alsdann tritt das Verhältniß ein, nach wel- chem das Indigenat ohne Heimathsrecht dasteht, während es seine volle Zuständigkeit besitzt. Weiter aber kann dieß auch nur dann von praktischer Bedeutung werden, wo die Unterstützung auf die Heimathsgemeinde fällt. Hat entweder der Staat die Armenunter- stützung überhaupt, oder hat er den Beamten einen Ruhegehalt aus- gesetzt, so ist allerdings ein Indigenat ohne Heimathsrecht vorhanden, aber der Mangel des letzteren ist durchaus unpraktisch. Hier ist daher gar kein Grund, den Betreffenden die Verpflichtung zur Angehörigkeit an eine Gemeinde als Heimathsgemeinde vorzuschreiben; und eben deß- halb mangelt eine solche Bestimmung auch fast in allen Staaten. Hat aber der Staat für die berufenen Beamten keine Pension, oder ruht die Armenunterstützung auf der Gemeinde, so ist es allerdings vollkom- men motivirt, vorzuschreiben, daß jeder Staatsangehörige „auch einer Gemeinde angehören solle,“ um vermöge des Heimathsrechts der even- tuellen Armenunterstützung sicher zu sein. Nur muß alsdann der Staat auch genau vorschreiben, wie das Heimathsrecht in solchem Falle erworben wird, weil sonst eine gänzliche Lücke im bestehenden Gesetze eintritt, da hier wirklich ein Indigenat ohne Heimathsrecht eine recht- lich vollkommen hülflose Persönlichkeit herstellen würde, sowohl wenn der Staat einen Beamteten beruft, als wenn er das Indigenat sonst ertheilt, ohne eine Heimath anzuweisen. — Wir haben dieß hier ange- führt, um auf die völlige Unklarheit in den Verfassungen aufmerksam zu machen, die den doctrinären Satz: „Jeder Staatsbürger muß einer Gemeinde angehören,“ aufgenommen haben, ohne über das Indigenat etwas zu bestimmen, wie Braunschweig (Landesordnung 1832, §. 4), Hannover (Gesetz vom 3. Sept. 1848, §. 12. Sachsen-Coburg . Verfassungsurkunde 1852, §. 60). Praktisch ist es dagegen, wenn Würt- temberg (Verfassungsurkunde 1819, §. 19) die Zusicherung einer Auf- nahme in die Gemeinde für die Ertheilung des Indigenats voraussetzt ; dann kann es mit Recht in §. 62 den obigen Satz acceptiren. Altenburg nimmt gleich die Staatsbeamten aus (Verfassungsurkunde 1831, §. 100); wie es mit dem Indigenat steht, bleibt unerörtert. Warum hat Zöpfl den nicht mehr entsprechenden Ausdruck „Landes-Indigenat“ beibehalten? ( II. §. 298.) — Wir glauben, daß das Obige, das eigentlich wie gesagt der Verfassungslehre angehört, hier genügen wird, einerseits um auf die gerügten Mängel aufmerksam zu machen, anderseits aber, um nun- mehr das Bild der Angehörigkeit zu vervollständigen. Und jetzt wird es, wie es scheint, nicht unzweckmäßig sein, nachdem Begriff, Recht und System wohl ziemlich feststehen, den Inhalt des letztern in dem ihm eigenthümlichen Schema darzustellen, da gerade ein solches mit dazu beiträgt, die Verwirrung in einfache Grundformen aufzulösen. Das Schema der Begriffe der Angehörigkeit im Allgemeinen wird sich demnach in folgender Weise an das Schema des persönlichen Staats- begriffes anschließen, indem wir Staat und Individuum einander gegen- überstellen. Das ist nun die Grundlage, an welche wir die folgende historische Entwicklung des Rechts der administrativen Ordnung der Bevölkerung anschließen, indem wir uns auf die Verwaltung beschränken, und die drei Begriffe des Staatsbürgerrechts, der Unterthanschaft und des Indigenats der Verfassungslehre überweisen. Da der Begriff der Verwaltung der deutschen Staatswissenschaft fehlte, so darf es uns wohl nicht wundern, daß auch der Begriff der administrativen Ordnung der Bevölkerung und sein eben so reicher als wichtiger Inhalt nicht zur klaren Vorstellung gediehen ist. Mit richtigem Takt hat allerdings die Theorie das Recht des Staatsbürgerthums und des Indigenats in das sogen. Staatsrecht (sollte heißen Verfassungslehre) aufgenommen, ohne sich dabei über die spezifische Bedeutung des „Unterthans“ recht klar zu werden. Allein mit dem Begriffe der Competenz und der Zuständigkeit wußte man zunächst gar nichts anzufangen. Man ließ sie deßhalb einfach da, wo sie historisch sich gebildet hatten und ihre greifbarste Anwendung und Ausbildung fanden, im Gebiet des Processes , und gelangte höchstens zu der Frage nach dem Competenz streit und -Conflikt , die doch schon auf den allgemeineren Inhalt der Competenz, weit über die Gränzen des gerichtlichen Verfahrens hinaus, hätten hinweisen müssen. Daß nicht bloß eine Competenz für Gerichte, sondern eben so sehr eine solche für Finanzbeamtete und für Verwaltungsorgane bestehe , wußte man recht wohl; allein man wußte nicht sie unterzubringen, da man einerseits keine Vorstellung vom Organismus der vollziehenden Gewalt hatte, und ander- seits nicht sah, daß das, was das bürgerliche Recht das Domicil nannte, sein Analogon in der „Zuständigkeit“ in Finanz- und Verwaltungssachen habe, und nichts sei als die allgemeine Zuständigkeit in ihrer speziellen Anwendung auf die Rechtsverwaltung. So mangelte von dieser Seite die erste Bedingung der organischen Auffassung. Nicht weniger, nur in anderer Form, war das der Fall mit der Angehörigkeit an die Selbstverwaltung. Die historische Entwick- lung des öffentlichen Rechts, welche den Schwerpunkt in die Entwicklung der Gemeind efreiheit legte, sah in dem Gemeindebürgerthum nur ein Stück Ver- fassung, und behandelte es daher auch nur bei der Gemeindeordnung je nach dem Standpunkt, den jeder dabei einnahm. Eben deßwegen aber wußte man mit dem Heimathswesen gar nichts aufzustellen. Es vermochte nicht einmal eine feste Kategorie in der Theorie überhaupt zu werden, sondern die darauf bezüglichen Bestimmungen wurden von Einigen überhaupt nicht in die Dar- stellung des Gemeindewesens aufgenommen, von andern nur beiläufig erwähnt, während sich neben der systematischen Staatslehre ausgezeichnete Werke speziell über das Heimathswesen herausbildeten, wie die von Kries und Bitzer . Das Folgende hat zur Aufgabe, hier nun so weit möglich einen definitiven Boden zu gewinnen. Das Princip für die historische Entwicklung des Rechts der administrativen Bevölkerungsordnung und ihrer Grundverhältnisse. (Die Erwerbung des Gemeindebürgerrechts muß von der Zustimmung der Gemeinde, das Heimathsrecht von der Organisationsgewalt abhängig sein. Da- her bildet sich das geltende Recht wesentlich erst als System mit dem Auftreten der allgemein staatlichen Verwaltung.) So einfach sich nun auch im System Begriff und Inhalt der administrativen Bevölkerungsordnung und der in ihr enthaltenen ein- zelnen Rechtsverhältnisse hinstellen, so ist es doch wahr, daß es keines- wegs leicht ist, sich darüber im Einzelnen ein klares Bild zu verschaffen. In der That hat die Geschichte selbst Jahrhunderte gebraucht, ehe sie zu einer festen und durchsichtigen Ordnung in allen diesen Punkten ge- langt ist; und als sie ihre große Aufgabe auch hier vollendet, zeigte es sich, daß die Gestalt jener Ordnung hier wie immer bei den verschie- denen Völkern eine wesentlich verschiedene war, namentlich im Gebiete der Ordnung der Selbstverwaltung. Was für die deutsche Bildung gilt, gilt wieder nicht für Frankreich, und die französische wieder nicht für England, von andern Ländern zu schweigen. So erklärt sich schon daraus, wie unsicher die Wissenschaft gegenüber dem selbst noch so un- sichern Proceß der positiven Rechtsbildung geblieben ist Und dennoch ist es keine Frage, daß diese ganze so verschieden- artige Bewegung von einem und demselben Princip beherrscht wird, dessen Verständniß, an sich sehr einfach, zuletzt allein das einfache Ver- ständniß des geltenden Rechts in seiner Besonderheit gibt. Möge es uns verstattet sein, dieß Princip darzulegen, und es aus der Natur der Elemente, welche die administrative Bevölkerungsordnung selbst bil- den, zu entwickeln. Es ist nämlich zuerst keine Frage, daß die Verwaltung eine feste Ordnung der amtlichen Angehörigkeit in Competenz und Zuständigkeit unbedingt nothwendig macht. Die Herstellung dieser Ordnung ist daher Aufgabe der vollziehenden Gewalt, und diese erzeugt dieselbe durch ihre Organisationsgewalt, welche Competenz und Zuständigkeit, wo kein Gesetz vorhanden ist, durch Verordnungen bestimmt. Die auf diese Weise erzeugte amtliche Ordnung der Bevölkerung würde ebenso, wenn sie allein bestände, einfach auf den Inhalt der geltenden Rechts- bestimmungen zurückzuführen sein, und das für die wirkliche Verwaltung durch die einzelnen Organe allein geltende Princip wäre die durch die Vollziehung der letzteren unbedingt vorgeschriebene Pflicht , die einmal anerkannte Gränze der Competenz und Zuständigkeit auch in Beziehung auf jedes einzelne Individuum und seine Lebensverhältnisse inne zu halten. Allein ein ganz anderes Princip macht sich für die Selbstverwal- tungskörper geltend. Diese haben, da die Angehörigkeit an sie sie zu- gleich zu Leistungen gegen den Einzelnen verpflichtet, den Grundsatz festgehalten, daß sie als Bedingung für die Aufnahme und mithin für die Angehörigkeit ihre eigene verfassungsmäßige Zustimmung fordern, während bei der amtlichen Angehörigkeit darum von Seiten des Amts keine Rede sein kann. Das Recht der Angehörigkeit und mit ihm die ganze administrative Ordnung erscheint somit in zwei wesentlich verschiedenen Grundformen. Es sind gleichsam zwei Systeme dieser Ordnung, die sich über die Be- völkerung ausbreiten, und bei denen ein Widerspruch und ein Kampf auf den ersten Blick unvermeidlich ist. In der That nämlich ist bei aller Verschiedenheit in Form und Recht der Angehörigkeit an Amt und Gemeinde doch der letzte Zweck beider derselbe . Beide bestimmen zwar die formelle Bedingung für die Vollziehung der Verwaltungsaufgaben in Beziehung auf ein Indi- viduum; diese Verwaltungsaufgaben selbst aber sind für alle gleich . Das höhere Wesen des Staats verlangt mithin, daß sie irgendwie unter allen Umständen wirklich vollzogen werden. Wenn daher die Selbst- verwaltungskörper — sagen wir lieber gleich zu unserer Klarheit die Gemeinden , vermöge ihres Rechts den Eintritt des Individuums in die Gemeinde, also das Entstehen der Angehörigkeit verweigern, so ist es klar, daß damit diejenigen Verwaltungsaufgaben, welche eben durch die Gemeinden in Beziehung auf den Einzelnen vollzogen werden sollen, die Möglichkeit eben dieser Vollziehung selbst verlieren . Das aber heißt, daß vermöge jenes Rechts der Gemeinde eine im Wesen des Staats liegende Aufgabe überhaupt nicht mehr vollzogen wird. Das nun kann der Staat, als ihm widersprechend, nicht dulden. Er muß dafür sorgen, daß die Verwaltungsaufgaben unter allen Um- ständen vollzogen werden. Es bleiben ihm daher gegenüber jenem Recht der Gemeinde nur zwei Wege. Entweder er muß eine solche Aufgabe überhaupt zur Aufgabe der Staatsverwaltung machen, und sie mithin der Selbstverwaltung entziehen, womit die Gemeindeangehörig- keit als Bedingung zur Aufgabe überhaupt wegfällt, oder er muß die Gemeinde in Beziehung auf diese Aufgabe vermöge seiner Organisations- gewalt verpflichten , die Angehörigkeit unter gewissen Bedingungen anzuerkennen, und damit die Erhaltung jener fraglich gewordenen Auf- gabe zu übernehmen. In diesem Falle wird der Selbstverwaltungs- körper selbst ein Organ des amtlichen Organismus, und functionirt nur statt des Amtes. In beiden Fällen hat die Gemeindeangehörig- keit ihren wahren Charakter verloren. Sie ist zur Gemeinde zuständig- keit geworden. Das scheint klar. Unter diesen Umständen muß es sich nun allerdings fragen, ob damit überhaupt noch eine Gemeindeangehörigkeit fortbestehen kann, da ja am Ende alle Aufgaben der Gemeinde localisirte Staatsaufgaben, und ihre Vollziehung daher überhaupt nicht mehr von der Zustimmung der Gemeinde abhangen kann. Und in der That ist es eigentlich die Ant- wort auf diese Frage, welche das Rechtsprincip der administrativen Be- völkerungsordnung zur Entscheidung bringt, indem sie die Gränze zwischen der amtlichen Verwaltung und der Selbstverwaltung in Be- ziehung auf die Angehörigkeit des Einzelnen bestimmt und damit die Grundlage für die letztere gibt. Ob nämlich eine Gemeinde die in ihren Kreis fallenden Aufgaben vollziehen will, oder nicht, ist überhaupt nicht fraglich . Die Selbstverwaltung besteht ja nicht darin, daß der Selbstverwaltungskörper entscheidet, ob er das Gesetz oder die Verwal- tung vollziehen will. Sondern das Wesen derselben erscheint vielmehr in dem Recht, die Organe sich selbst zu wählen , welche die örtliche Vollziehung haben; diese haben dann als vollziehendes Organ der Staatsv erwaltung zu funktioniren. Das ist wohl klar. Aber eben aus diesem Satze folgt dann nun auch das Princip für das Recht der Gemeinden, über die Angehörigkeit durch die Zustimmung zur Aufnahme zu entscheiden. Insofern nämlich die Angehörigkeit das Recht des Einzelnen enthält, an der Vollziehung der Verwaltung als Gemeinde- glied Theil zu nehmen , also für die Gemeindeverwaltung wählbar und wahlfähig zu sein u. s. w., insofern muß diese Angehörigkeit auf dem freien Beschluß der Gemeinde beruhen. Insofern es sich dagegen darum handelt, die Angehörigkeit als persönliche Bedingung für die wirkliche Vollziehung der Verwaltungsaufgaben an dem Einzelnen an- zuerkennen, ist der Selbstverwaltungskörper ein Organ der vollziehenden Gewalt, und kann grundsätzlich die Angehörigkeit eben so wenig von seiner Zustimmung abhängig machen, als jedes andere Amt . Wenden wir nun diese an sich sehr einfachen Sätze auf den obigen Inhalt des allgemeinen Begriffs der Gemeindeangehörigkeit, das Ge- meindebürgerthum und das Heimathsrecht an, so ergibt sich der folgende Satz aus der Natur der Sache. Nach dem Wesen der Selbstverwaltung muß die Erwerbung des Gemeindebürgerrechts von der Zu- stimmung der Gemeinde , die Erwerbung des Heimathrechts dagegen nicht von dieser Zustimmung, sondern von den allgemeinen Vorschriften der Organisationsgewalt abhängig sein; und zwar darum, weil der Inhalt des Heimathsrechts das Recht auf Un- terstützung durch den Staat vermöge des Organs der Gemeinde ist. Daraus nun folgt nicht , daß diese Organisationsgewalt die Pflicht zur Unterstützung unbedingt mit der Gemeindeheimath verbinde. Sie hat es z. B. in Frankreich bekanntlich nicht gethan. Aber es folgt, daß sie es thun kann , in der Art wie in Deutschland, oder in der Art wie in England; und daß nur die Zustimmung der Gemeinde dazu nicht nothwendig ist, wie wir das unten im Einzelnen zeigen werden. Dieser principielle, organische Satz ist nun auch wirklich die Grundlage der Geschichte des Rechts der Gemeindeangehörigkeit ge- worden; nur muß ein zweiter, nicht minder wichtiger Satz voraufgehen. Ist dem nämlich so wie wir gesagt, so folgt, daß das Einschreiten der staatlichen Organisationsgewalt an der Stelle der Zustimmung der Gemeinde für die Bestimmung der Angehörigkeit wieder davon abhängt, daß die Staatsverwaltung die bestimmte Frage und das bestimmte Recht, um welches es sich handelt, auch als eine Aufgabe der Staats- verwaltung anerkenne . Denn diese Anerkennung ist ja eben die or- ganische Bedingung für ihr Einschreiten. Diese Anerkennung selbst aber bildet ihrerseits einen Theil des selbstbewußten Auftretens der staatlichen Verwaltung überhaupt , die Erscheinung jenes großen Processes, welcher einen so wichtigen Theil des Lebens von Europa bildet, und vermöge dessen das persönliche, höhere Staatsleben sich in Königthum und Amt als ein selbständiges persönliches Dasein, als einen selbstthätigen Organismus aus der Gesellschaftsordnung heraus ent- wickelt. Diese Erhebung des Staats, diese Scheidung und Klärung der staatlichen Verwaltung von der örtlichen, diese Organisirung ihrer Herr- schaft über die letztere ist die allgemeine Bewegung, in welcher das allmählige, aber sichere Herausbilden der Gültigkeit des obigen organi- schen Satzes über amtliche und Gemeindeangehörigkeit eine keineswegs unwichtige Stelle einnimmt. In der That gibt es demnach keine Ge- schichte der Gemeindeangehörigkeit für sich. Sie ist ein Theil des Ganzen, und kann nur an der Seite der Entwicklung des Amtsrechts dargestellt werden, und die Unsicherheit in der bisherigen theoretischen Auffassung desselben beruht namentlich darauf, daß man sie von der letzteren ge- trennt gedacht hat. Hält man sie aber in ihrem natürlichen Zusammen- hange fest, so ergibt sich folgender Satz als das allgemeine Princip der historischen Entwicklung des Angehörigkeitsrechts innerhalb der Ver- waltung überhaupt: „Die für Competenz und Zuständigkeit geltenden Rechtsbestimmungen entwickeln sich mit der bestimmteren Gestaltung des eigentlichen Amtswesens, die für Gemeindeangehörigkeit und Hei- mathswesen geltenden dagegen mit der Idee der Verwaltung und ihrer Aufgaben.“ Und von diesem Standpunkt aus glauben wir das heutige Recht und sein Verständniß nunmehr leicht klar machen zu können. Nur müssen wir hier wieder den Standpunkt der vergleichenden Rechtswissenschaft festhalten. Wenn es einerseits wahr ist, daß die Angehörigkeit der Selbst- verwaltung gar nicht recht verständlich werden kann, ohne auf die amt- liche Angehörigkeit beständig zurückzugreifen, so ist es andererseits eben so gewiß, daß vermöge des eben aufgestellten allgemeinen Princips die Geschichte und Gestalt der Angehörigkeit überhaupt, oder der admini- strativen Ordnung der Bevölkerung und ihres Rechts wieder in jedem Lande verschieden ist. Denn der Charakter der inneren Entwick- lung der Hauptländer Europas ist ja eben die individuelle Gestalt des Verhältnisses zwischen der staatlichen und der Selbstverwaltung, auf die wir in all diesen Fragen stets zurückgeworfen werden. Es scheint daher, nachdem der allgemeine Standpunkt feststeht, vor allem wichtig, sofort eben auf diese concrete Gestalt zurückzugehen, und nach unserem Plane die Ordnung der Angehörigkeit in den drei großen Culturvölkern zu charakterisiren. Eine Reihe von naheliegenden Gründen wird uns dabei allerdings für das deutsche Recht etwas weitläuftiger hier lassen, und in England und Frankreich wird vieles unaufgelöst bleiben. Aber wir trösten uns damit, daß wohl nur wenig erste Versuche in der Welt ihr Ziel gleich genügend erreicht haben. Indem wir uns die Charakterisirung der speziell auf das deutsche Recht bezüglichen Literatur vorbehalten, können wir doch nicht umhin, hier eine Be- merkung voraufzusenden. Wir glauben dem Obigen gemäß schon hier sagen zu können, daß in der Beachtung und dem Verständniß des Heimathswesens Kriterium und Maßstab für das Verständniß des Rechts der ganzen administrativen Ordnung der Bevölkerung gegeben ist; denn erst im Heimathsrecht treten amtliche und Selbstverwaltung einander bestimmt gegenüber. Während man nun aber das Indigenat unter dem Staatsrecht, die Competenz unter der Ge- richtsordnung, das Gemeindebürgerrecht unter der Gemeindeordnung behandelt, gibt es für das Heimathswesen gar keine systematische Stelle, wenn man nicht den Begriff der administrativen Bevölkerungsordnung aufnimmt. Eben darum dürfen wir keine regelrechte Behandlung desselben in der deutschen Lite- ratur erwarten; in der That schweigen einige, wie Zachariä, Klüber, Gönner u. s. w. ganz davon, andere wie Zöpfl nehmen es als Moment am Indigenat auf, andere wie Mohl (Präventivjustiz S. 194) sehen nichts als eine Polizeianstalt darin. Es lag nun in dem Wesen des Heimathsrechts, daß es, so wie eine ernsthafte Publicistik des Armenwesens und zwar mit Verglei- chung von England und Frankreich entstand, nicht länger bei Seite geschoben werden konnte. In der That hat das Studium des Armenwesens daher auch die eingehende Betrachtung des Heimathswesens hervorgerufen, und hier können wir nicht umhin, zwei Männer in erster Reihe zu stellen, denen wir eine ent- schiedene Erweiterung unserer Kenntnisse und unseres Gesichtskreises verdanken. Das sind Kries (Die englische Armenpflege, 1863) und Bitzer (Das Recht auf Armenunterstützung und die Freizügigkeit, ein Beitrag zu der Frage des allgemeinen deutschen Heimathsrechts, 1863). Beide haben das letztere gründ- lich untersucht, die historischen Thatsachen mit aufgenommen, und zugleich für die vergleichende Verwaltungslehre die Bahn gebrochen. Wir werden in Be- ziehung auf das Armenwesen sie als Hauptquellen festzuhalten haben. Allein im Heimathsrecht sind beide nicht zum Abschluß gelangt, weil sie eben nur in seiner Beziehung zum Armenwesen untersucht haben, und nicht in seiner allge- meineren Bedeutung als organischen Theil der administrativen Bevölkerungsord- nung. Das Correlat des Heimathswesens, das Gemeindebürgerrecht, verschwindet ihnen daher, wie den gewöhnlichen staatsrechtlichen Gebieten im Gemeindebürger- recht das correspondirende Heimathsrecht verschwindet, wie Mohl in seinen Darstellungen des Gemeindewesens (Literatur der Staatswissenschaft II. und III. ). Indem wir daher diese unsere höchst achtungswerthen Vorgänger beständig be- nutzen, müssen wir doch einen andern Standpunkt einnehmen. Wir müssen fest- halten, daß das Heimathsrecht jedes einzelnen Staats in der That einen Theil der Gesammtbildung des öffentlichen Rechts der Bevölke- rungsordnung ausmacht , und daher auch nur im historischen Zusammen- hange mit der letzteren richtig dargestellt werden kann. Wir wollen dieß versuchen. England, Schottland und Irland . (Die Selbstverwaltungskörper als Grundlage der administrativen Ordnung der Bevölkerung. Die Stellung der Gerichte und ihre Aufgabe. Begriff und Inhalt des Verwaltungsbürgerrechts . Die Verschiedenheit des Heimaths- rechts in England, Schottland und Irland .) Vielleicht in keinem Lande der Welt sind die Grundsätze, welche die administrative Ordnung der Bevölkerung bestimmen, so früh und so klar, namentlich in Beziehung auf das Heimathswesen entwickelt, als in Großbritannien. Aber freilich muß man hier einen andern Maß- stab anlegen als auf dem Continent. Man kann jedoch sagen, daß wenn die Principien der administrativen Bevölkerungsordnung in ihren beiden großen Anordnungen, der amtlichen und der Selbstverwaltung klar sind, damit auch das ganze englische Staatswesen gegeben ist. Zugleich aber muß man hinzufügen, daß die Individualität der drei großbritannischen Königreiche trotz der Gemeinschaft des Staatslebens sich auch hier zeigt, und der Punkt, wo sie auftritt, ist das Hei- mathwesen. Wir müssen, um das klar zu machen, uns wenigstens zum Theil an dasjenige anschließen, was wir in der Lehre von der vollziehenden Gewalt über England gesagt haben. Das Princip und Recht der freien Persönlichkeit, das sich die angelsächsische Race mitten unter allen Stürmen erhalten hat, hält zu- gleich den Grundsatz fest, daß dasjenige, was wir die Aufgabe der Verwaltung nennen, nicht wie auf dem Continent, Sache der amtlichen „Obrigkeit,“ sondern Sache der Genossenschaften der freien Männer sei. Der Amtsorganismus ist in England niemals die verwaltende Gewalt geworden. Die Stellung des Staats zum Volke und namentlich zur Verwaltung in demselben ist daher eine specifisch andere; auf ihr beruht auch die ganze administrative Ordnung der Bevölkerung, und hat sich von ihr aus zu einem so einfachen System entwickelt, wie es vielleicht gar kein anderes in Europa gibt. Die einzige Schwierigkeit seines Verständnisses beruht nur in der tiefen Verschiedenheit von denen des Continents. In Großbritannien hat nämlich mit wenigen Ausnahmen der amt- liche Staat mit der Finanzverwaltung und der Verwaltung des Innern nichts zu thun, sondern er gibt nur die Gesetze , und es ist dann Sache der Selbstverwaltungskörper, diese Gesetze durch ihren eigenen Organismus zu vollziehen. Die Vollziehung der Gesetze durch denselben wird endlich nicht gesichert durch eine Oberaufsicht, wie wir das Wesen derselben in der vollziehenden Gewalt bestimmt haben, sondern durch das Recht jedes Einzelnen, die Selbstverwaltungskörper vor dem Ge- richte zu verklagen. Die Harmonie zwischen Gesetzgebung und Ver- waltung wird daher, ohne Beschwerderecht, nur durch das Klagrecht, und somit durch die Function des Gerichts hergestellt. Daraus nun ergibt sich die Grundlage der Ordnung der Be- völkerung. Großbritannien hat nämlich demgemäß, im Gegensatze zum Con- tinent, mit Ausnahme weniger und meist ganz spezieller Fällen keine amtliche Competenz und Zuständigkeit in Finanz- und In- nerer Verwaltung . Seine Competenz und Zuständigkeit beschränkt sich auf die gerichtliche . Diese aber ist wieder von der continentalen dadurch verschieden, daß sie sich nicht etwa bloß auf die Rechtsverhält- nisse bezieht, welche zwischen den Einzelnen vorkommen, sondern sie umfaßt eben so sehr die Selbstverwaltungskörper in Beziehung auf ihre Verwaltungsthätigkeit. Das Recht des auf diese Weise die Voll- ziehung des Staatswillens ordnenden Organismus der Gerichte beruht mithin darauf, daß der letztere nur das Gesetz zur Ausführung bringt, wie das bürgerliche und Strafgericht auf dem Continent. Eine Competenz und Zuständigkeit der Staatsdiener für Verordnungen im Sinne des Continents gibt es nicht; nur der Richter darf im Namen des Gesetzes Gehorsam fordern. Die administrative Ordnung der Bevölkerung ist daher in Beziehung auf die amtliche Verwaltung mit wenigen Ausnahmen eine rein gerichtliche . Dem nun entspricht der zweite Grundsatz, daß, da die amtliche Verwaltung die Verwaltungsaufgaben nicht vollzieht, sondern die Selbst- verwaltungskörper dieselbe unter gerichtlicher Haftung zu vollziehen haben, die Ordnung der Bevölkerung in Beziehung auf die innere Verwaltung in der Ordnung der Selbstverwaltungskörper gegeben ist . Auf dem Continent ist nun die Grundform der letzteren, wie wir früher gezeigt haben, die Ortsgemeinde. Es ist daher leicht erklärlich, daß man sich die englische Selbstverwaltung als ein System von Orts- gemeinden gedacht hat, und daher geneigt ist, auf die englische Selbst- verwaltung den Begriff der Gemeindeangehörigkeit und des Gemeinde- bürgerrechts des Continents anzuwenden. Und darin liegt der Grund fast aller Unklarheit über die Verhältnisse der englischen Selbstverwaltung. In der That muß man sich daran gewöhnen, den Begriff, das Recht und die Bedeutung der Ortsgemeinde in England als ganz untergeordnet zu betrachten, und sich daher vor der Anwendung des Begriffs der continentalen Gemeindeangehörigkeit auf englische Verhält- nisse zu hüten. Wir haben schon im ersten Band gezeigt, daß man an die Stelle des ersteren in England Begriff, Recht und Gestalt der Verwaltungsgemeinde zu setzen hat. Das Wesen der Orts- gemeinde , auf dem ganzen Continent, historisch begründet, besteht nämlich darin, daß sie die Gesammtheit aller Aufgaben der Ver- waltung innerhalb ihrer örtlichen Gränzen zu verwalten hat. Die englische Verwaltungsgemeinde ist dagegen die, für einen bestimmten Verwaltungszweck vereinigte, und innerhalb ihrer örtlichen Gränzen für die Erfüllung dieser gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben haftende Genossenschaft. Das Wesen der englischen Verwaltungsgemeinde Stein , die Verwaltungslehre. II. 19 besteht dann darin, daß, während die continentale Verwaltungsgemeinde diese Haftung durch ihre Stellung unter der Oberaufsicht der amtlichen Verwaltung erfüllt, bei der englischen dieselbe als eine bürgerlich recht- liche, durch das Gericht zu erzwingende anerkannt wird. Das was wir als Gemeindeangehörigkeit auf dem Continent setzen, ist daher in England die Verpflichtung des Einzelnen, an der Erfüllung jenes Verwaltungszweckes Theil zu nehmen und mit für diese Erfüllung zu haften, während dem continentalen Heimathswesen das eventuell durch bürgerliche Klage geltend zu machende Recht des Einzelnen ent- spricht, daß die Vollziehung jener Verwaltungsaufgaben auch auf ihn Anwendung finde. Daraus folgt, daß das, dem continentalen Gemeinde bürgerrecht Entsprechende in England nicht bloß in der Gemeindeangehörigkeit ge- geben sein kann, da die Verwaltungsgemeinde als Verwaltungsorgan mit ihren eigenen Mitteln die Aufgaben der Verwaltung zu erfüllen hat. Sondern die Theilnahme an der vollziehenden Verwaltung durch Wahl und Wahlfähigkeit ist von selbst durch die Theilnahme an den Leistungen gegeben, durch welche die Verwaltungsgemeinde die ihr obliegenden Aufgaben der Verwaltung ins Leben ruft. Diese Theil- nahme sind eben die Steuern. Die Selbstverwaltung der englischen Verwaltungsgemeinde ist daher ohne die Selbstbesteuerung gar nicht zu denken, wie wir das schon früher gezeigt haben. Die individuelle Theil- nahme an dieser Selbstverwaltung aber hat damit auch ihre durchaus einfache Bedingung erhalten. Mit dem Aufenthalt in der Verwaltungs- gemeinde tritt die Verpflichtung zur Theilnahme an der Steuer ein. Sowie diese Steuer wirklich bezahlt wird, ist auch die Theilnahme an der Verwaltung Selbstfolge. Und so ergibt sich das, dem continentalen Gemeindebürgerrecht Entsprechende für England. Mit der Steuer für eine bestimmte Verwaltungsaufgabe an die bestimmte Verwaltungs- gemeinde wird der Einzelne ohne Weiteres Bürger dieser Verwal- tungsgemeinde . Wir glauben, daß wir dies Verhältniß, dem Ge- meindebürgerrecht entsprechend, am besten das Verwaltungsbürger- recht nennen ( paying scot and bearing lot ). Da nun auf diese Weise die ganze innere Verwaltung in den Händen dieser Verwaltungsgemeinden ist, so hat der Satz, daß jeder Engländer einer Gemeinde angehören solle, eigentlich gar keinen Sinn. Denn das werde so viel heißen, als die nutzlose Tautologie, daß die innere Verwaltung vollzogen werden muß — deren Voraus- setzung ja eben das Angehören an die betreffenden Verwaltungs- gemeinden ist. Es kann daher der englischen Gesetzgebung auch nie einfallen, einen solchen Satz erst gesetzlich auszusprechen. — Und da ferner die verschiedenen Aufgaben durch die Selbstbesteurung vollzogen werden müssen, so hat auch der Angehörige gar kein Recht darauf, etwa nicht Bürger seiner Verwaltungsgemeinde werden zu wollen. So wie er sich in derselben aufhält und zahlen kann , so muß er zahlen, wie gegenüber dem Staat. Er wird daher in die Verwaltungsgemeinde nicht etwa aufgenommen, wie auf dem Continent, sondern er wird einbezogen . Es ist dann seine Sache, seine Wahlrechte auszuüben oder nicht. — Endlich ist es selbstverständlich, daß jeder nicht etwa bloß nur Bürger Einer Gemeinde sein, und nur in Einer seine Stimme abgeben kann, sondern er ist ohne weiteres Verwaltungsbürger in allen Körpern, in denen er die Lasten derselben mitträgt. Alle diese Sätze, welche das Gebiet der Angehörigkeit in England bestimmen, er- geben sich, denken wir, einfach aus dem Unterschiede zwischen Orts- und Verwaltungsgemeinde. — Dies nun sind die Grundlagen, von denen aus sich auch der Be- griff und die Gestalt der englischen Armenheimath , wie wir glauben, leicht erklärt. Es mag uns zu dem Ende erlaubt sein, hier noch einen Blick auf den allgemeinen Bildungsproceß der englischen Verwaltungs- gemeinden zu werfen. Das System und die Vertheilung jener Verwaltungsgemeinden kann sich nämlich offenbar auf zwei Wegen bilden, die freilich mit ein- ander beständig auf das Engste in Berührung treten. Es kann nämlich eine beliebige Genossenschaft sich selbst einen speciellen Verwaltungszweck innerhalb ihrer örtlichen Gränzen setzen — die örtliche Begränzung ist es, welche sie vom Verein unterscheidet — oder es kann das Gesetz die Gesammtheit der Bewohner innerhalb örtlicher Gränzen zur Voll- ziehung einer solchen Aufgabe verpflichten . Die Natur der Sache bringt es dabei mit sich, daß da, wo für Einen Zweck bereits eine Gemeinschaft oder eine Verwaltungsgemeinde besteht, das Gesetz sich für andere Verwaltungszwecke wohl auch der Regel nach an diese schon bestehende Gemeinschaft anschließen wird. Und eben so natürlich ist es, daß auch die für den ersten Zweck, aus dem sich die Gemeinschaft ge- bildet hat, auferlegten und vertheilten Steuern gleichfalls für die Selbst- besteurung der folgenden Zwecke zum Grunde gelegt werden. So wird es sich allerdings von selbst machen, daß die erste Verwaltungsgemeinde den Körper und die Gränzen für die folgenden abgeben wird, so daß auf diese Weise ein Verhältniß entsteht, in welchem eine und dieselbe Verwaltungsgemeinde eine ganze Reihe von Verwaltungs- zwecken zu erfüllen hat, und sich damit der continentalen Orts- gemeinde nähert . Das ist nun in der That in England der Fall gewesen. Die ursprüngliche Verwaltungsgemeinde war das Parish, das Kirchspiel. Allmählig übernahm dieselbe die übrigen localen Verwal- tungsaufgaben, und ward somit allerdings die Grundform der Selbst- verwaltung. Allein die Selbständigkeit der Verwaltungsaufgaben, und damit die ursprüngliche Idee der Verwaltungsgemeinde erhält sich bis zum gegenwärtigen Augenblicke in den Formen der Steuern , die nicht wie auf dem Continent als Besteurung der Gemeinde als solcher, sondern als eben so viel selbständige Steuerarten auftreten, als die Gemeinde Zwecke hat. Daß sich die meisten in Steuerobject, Steuer- einheit und Steuerfuß nach der Hauptsteuer conformiren, ist zwar natürlich und daher auch ganz von selbst entstanden, aber weder noth- wendig noch allgemein. Das ist nun die allgemeine Grundlage für die Bildung des gelten- den Heimathsrechts in England geworden. Zu den großen Zwecken nämlich, welche im Wesen des Staats liegen, und daher nach englischem Princip von diesen Verwaltungsgemein- den in irgendeiner Weise erfüllt werden mußten, gehört nun unzweifelhaft die Armenunterstützung . Sie unterscheidet sich von allen anderen Leistungen der Verwaltung dadurch, daß sie stets ein einzelnes Indi- viduum zum Object hat, und daher auch in diesem einzelnen Individuum ganz bestimmte rechtliche Voraussetzungen fordert. Das Armenwesen nun, dessen Princip und Darstellung der Verwaltung der Gesellschaft angehört, hat in der ganzen christlich germanischen Welt sich ursprüng- lich an die Kirche angeschlossen. Der Einfluß der Kirche auf seine Ver- waltung bestand zunächst und vor allem darin, das Princip einer sittlichen Pflicht eines kirchlichen Körpers zur gemeinschaftlichen Unterstützung der diesem Körper angehörigen Armen festzustellen. Jener Körper war in England das Kirchspiel , das parish — also gleich anfangs nicht die Ortsgemeinde des Continents, sondern die kirch- liche Verwaltungsgemeinde , ein Unterschied, der für das ganze Armenwesen natürlich von höchster Bedeutung werden mußte. Ehe sich daher noch der Staat in irgend einer Weise mit der socialen Verwal- tung des Armenwesens abgab, war dasselbe schon eine Aufgabe der Selbstverwaltung für das Kirchspiel geworden, ohne daß dies ausdrück- lich ausgesprochen, oder von irgend jemand bezweifelt worden wäre. Nur waren das Maß und die Ordnung in dieser Unterstützung, oder die wirkliche Verwaltung der Armenpflege, natürlich in dieser Epoche noch ganz den Kirchenvorständen und der Versammlung der Kirchen- bürger (der vestry ) überlassen. Da trat nun, in Schottland im 16., in England im 17., in Ir- land allerdings erst im 19. Jahrhundert der Grundsatz gesetzlich ins Leben, daß die Verwaltung der Armenpflege eine staatliche Pflicht für das Kirchspiel sei. Das Kirchspiel ward damit zu einer gesetzlich geordneten Verwaltungsgemeinde speciell für das Armen- wesen . Es hatte die Pflicht, die Aufgaben der staatlichen Verwaltung als Selbstverwaltungskörper zu übernehmen. Die Art wie dies geschah, die Folgen die es für das Armenwesen hatte, gehören der Armenver- waltung an. Allein mit der Aufstellung dieser ersten , in der Geschichte vorkommenden reinen Verwaltungsgemeinde mit Verwaltungsbürger- recht und gesetzlicher Selbstbesteurung, als welche wir das Armenkirch- spiel der Armenakte von 1601 (39 Elis. ) bezeichnen müssen, trat nun natürlich auch die zweite Frage auf, gegen welche Individuen diese Verwaltungsgemeinden nun zur Armenpflege verpflichtet sein solle. Und hier zeigte es sich nun bald, daß diese Verpflichtung einen anderen Charakter habe, als die freie Uebernahme von Staatsauf- gaben. Indem der Staat die Armenhülfe als staatliche Aufgabe erklärt, nimmt dasjenige Organ, welches diese Aufgabe vollzieht , den Charakter eines amtlichen Organs an. Es kann als solches nicht mehr frei beschließen , ob und gegen wen es seine Funk- tionen erfüllen will. Es wird ihm, wie es das organische Wesen des Amts fordert, seine Competenz als Pflicht , vermöge der Organisa- tionsgewalt, vorgeschrieben , und der Einzelne hat ein Recht darauf, daß dies Organ, obgleich es ein Selbstverwaltungskörper ist, gleich wie ein Amt jene Pflicht ihm gegenüber erfülle. Oder, es entsteht der Be- griff und das Recht der Zuständigkeit für die gesetzlich vorgeschriebene Pflicht der Armenunterstützung. Ist das nun aber der Fall, so muß natürlich auch das Gesetz die Bedingungen und Gränzen dieser Zustän- digkeit regeln , das ist, dem Einzelnen ein persönliches Recht auf die Armenunterstützung einer bestimmten Armenverwaltungsgemeinde (oder eines bestimmten Kirchspiels) geben. Und dies Recht nennen wir das Heimathsrecht . Auf diese Weise nun hat sich der unbestimmte und allgemeine Begriff der Angehörigkeit zuerst in England durch die Armengesetzgebung in seine beiden großen Bestandtheile oder Elemente aufgelöst, obgleich wir hier keiner Orts-, sondern nur einer Verwaltungsgemeinde begegnen. Der erste ist der des Verwaltungs-(Gemeinde) bürgerthums , als Recht und Pflicht zur Theilnahme an der Selbstverwaltung und Steuern, der zweite ist der des Heimathswesens , als Pflicht der Verwaltungs- gemeinde und Recht des Einzelnen auf individuelle Vollziehung der staatlichen Armenverwaltung. Natürlich war diese Unterscheidung, und die Nothwendigkeit, für dies Heimathswesen ein eigenes Rechtssystem aufzustellen, nicht gleich anfangs klar. Man mußte erst erfahren, daß das „Angehören“ eine sehr große Menge von Zuständen umfaßt, von der bloßen Durch- reise bis zum erblichen Besitz eines Grundbesitzes innerhalb der Ver- waltungsgemeinde. Jeder dieser Zustände begründete irgend ein Ver- hältniß zur Verwaltungsthätigkeit; selbst der augenblickliche und rein zufällige Aufenthalt erzeugte ja das Recht auf sicherheitspolizeilichen Schutz, die Zuständigkeit vor Gericht bei geschlossenem Vertrage, und anderes. Die Frage war daher bald die, welche persönlichen Verhältnisse den Einzelnen die Zuständigkeit für die örtliche Armenverwaltung, oder das Heimathsrecht geben sollten. Diese Frage mußte die Organisationsge- walt entscheiden, und daraus entstand nun neben der Armenverwal- tungsgesetzgebung Englands die erste Armenzuständigkeitsgesetzgebung, oder die erste Gestalt des gesetzlichen Heimathsrechts . Dieses Heimathsrecht hat nun seine Geschichte, und der Charakter dieser Geschichte des englischen Heimathsrechts, wesentlich von dem des Continents unterschieden, besteht darin, daß er sich eben naturgemäß an die Geschichte der Armenverwaltungsgemeinde anschließt, während das Heimathsrecht Frankreichs von der Geschichte der amt- lichen Competenz und Organisation, das Heimathsrecht Deutschlands von der Geschichte der Ortsgemeinde abhängt. Es ist von entschei- dender Wichtigkeit dies festzuhalten. Das einzige, was uns in der sonst musterhaften Darstellung von Kries mangelt, ist eben dieses richtige Verständniß des Heimathsrechts in England, das ihm ganz deutlich vorschwebt, ohne daß er zur definitiven Formulirung gelangte (S. 97). Bitzer hat es bei weitem nicht so gut verstanden. Sechzig Jahre nach der Akte von Elisabeth erkannte man nämlich, daß man, um die entscheidenden technischen Ausdrücke jetzt zu gebrauchen, der Armenverwaltungsgemeinde die Bestimmung ihrer, sie zur Unter- stützung verpflichtenden Competenz zwar nicht selbst überlassen, aber auch die Armenzuständigkeit nicht bloß mit der einfachen Thatsache des Aufenthalts verbinden könne. Das Parlament gab daher ein (orga- nisatorisches) Gesetz, das, obgleich die Elemente desselben so naturgemäß sind, daß sie sich in der ganzen Welt wiederfinden und daher auch vor diesem Gesetz anerkannt sind, doch durch die Klarheit seiner Bestimmungen, namentlich aber durch seine Verbindung mit der Anerkennung der staat- lichen Armenverwaltung als Aufgabe der Selbstverwaltung, als das Grundgesetz alles Heimathsrechts angesehen werden muß. Das war die Akte 14. Charl. II. C. 12 oder die sogen. Law of Settle- ment, oder Settlement-Act. Dies Gesetz hatte mit der Armen- verwaltung gar nichts zu thun, sondern nur mit der administrativen Bevölkerungsordnung in specieller Beziehung auf die Armenverwaltung. Darnach war die Zuständigkeit für die Armenpflege in einem Kirchspiel erworben 1) durch Geburt, 2) durch Grundbesitz, 3) durch Aufenthalt, Dienst- oder Lehrlingsverhältniß in 40 Tagen. Da aber dieser Erwerb für den Einzelnen die Verpflichtung für das Ganze enthielt, ihm für das ganze Leben die Armenunterstützung zu geben, so war es gerecht, die Belastung mit dieser Verpflichtung nicht durch die bloße willkür- liche und zufällige Thatsache des Aufenthalts, also durch die Willkür des Einzelnen, erzeugen zu lassen. Daraus entstand der Satz, der für Europa maßgebend ward, daß die Bedingung für den Erwerb dieser Zuständigkeit in dem Vorhandensein der Erwerbsfähigkeit , also in diejenige Bedingung gesetzt werden solle, welche eben den Erwerb des Heimathsrechts als solchen werthlos für den Erwerber machte . Die Settlement-Act bestimmte demgemäß, daß auf Antrag der Kirchspielsbeamten zwei Friedensrichter ermächtigt sein sollten, jede Person, die dem Kirchspiel zur Last zu fallen drohte , binnen jener 40 Tage in ihre bisherige gesetzliche Heimath zurückzuschicken ( to remove, woher die Settlement-Act auch wohl Removal-Act heißt). Um endlich den freien Verkehr nicht zu stören, sollte die Erhaltung des bisherigen Heimathsrechts durch einen Heimathschein , den der Ar- beiter mit sich führte, auch über vierzig Tage hinaus gültig sein. Wir haben diesen ganzen Gang der Entwicklung nicht bloß darum weitläuftiger gegeben, weil er sonst gewöhnlich nicht klar aufgefaßt worden ist, sondern auch wesentlich darum, weil er den Grundzug für die Armenzuständigkeit jeder gezwungenen Armenpflege in Europa ge- bildet hat, und ewig bilden wird. Man kann sehr verschiedener Ansicht darüber sein, ob es richtig oder falsch ist, staatliche Armenunterstützung einzuführen. Allein wenn man sie will, gleichviel in welcher Form, so wird das Princip des Heimathsrechts unbedingt im Wesentlichen das der Settlement-Act sein müssen. Und dies Princip besteht darin, die Zuständigkeit des Besitzlosen in Beziehung auf das Armenwesen so viel als möglich auf die natürliche Heimath , das ist die durch Geburt erworbene, zurückzuwerfen , und den wirthschaftlichen Aufent- halt zwar in allen übrigen Functionen der Verwaltung, aber so wenig als möglich im Gebiete der Armenverwaltung zur Zuständig- keit werden zu lassen. Die Willkür oder das Interesse des Be- sitzlosen soll vermöge der einfachen Thatsache des Aufenthalts keine Armenzuständigkeit, das ist kein Heimathsrecht geben . Um dieß zu gewinnen, wird vielmehr gefordert, daß der Ankömmling entweder seine wirthschaftliche Selbständigkeit durch Erwerb eines Grund- besitzes selbst bestätige, oder daß die Gemeinde — gleichviel ob Orts- oder Verwaltungsgemeinde — das Vorhandensein derselben freiwillig anerkenne . Diese Principien können nur da beseitigt werden, wo entweder gar keine Armenpflicht vorhanden ist, oder der Staat als Ganzes sie übernimmt. Und denselben Sätzen und Gesetzen werden wir in Deutschland wieder begegnen. Das ist das erste Ergebniß dieses Processes. An dasselbe aber schließt sich sofort ein zweites. Jene Beschränkung der Zuständigkeit erscheint nämlich alsbald als eine Beschränkung der persönlichen Freiheit in der örtlichen Bewegung. Im Anfange nun wird diese letztere wenig em- pfunden, denn die Arbeiter reisen mit Heimathschein, und den Besitzen- den nimmt jede Verwaltung gern auf. Allein das Hemmniß, das in der Erreichung der erstern liegt, wird in dem Grade für die richtige Vertheilung der Arbeitskräfte drückender, als die letztere ungleicher wird. So entstand, nach mehrern scharfen Heimathbestimmungen, der wichtige Versuch, die Anwendung der Heimathscheine zu erweitern (8. 9. Will. III. c. 30. Kries §. 25), der aber nur unbefriedigende Erfolge zeigte, die namentlich von Coode ( Report to the Poor Law Board on the Law of Settlement and Removal of the Poor 1831 S. 56 und 66) stark hervorgehoben werden. Man ging daher 1795 einen Schritt weiter, und bestimmte, daß die Ausweisung der nicht heimathberechtigten Ar- beiter nicht auf die bloße Besorgniß , sondern erst bei wirklichem Eintreten der Hülfsbedürftigkeit berechtigt sein solle ( Knies S. 607) wobei man den Widerspruch beging zu setzen, daß ein Nichtbesitzender sich zwar allenthalben aufhalten dürfe so lange er wolle, aber durch den bloßen Aufenthalt überhaupt kein Heimathsrecht gewinne (35 G. III. c. 101); die Acte (4. 5. Will. IV. 76) von 1834 fügte dann hinzu, daß die einjährige auch vertragsmäßige Dienstzeit kein Heimathsrecht geben solle ( Kries S. 105). Alle diese Gesetze hatten nun gemeinschaftlich den Erfolg den Kries (S. 109) ganz richtig bezeichnet, daß der Nichtbesitzende in die Unmöglichkeit kam, sich überhaupt eine andere Heimath zu erwerben, als diejenige, „die er sich durch Geburt oder Lehrzeit einmal erworben,“ also die natürliche Heimath. So erfüllte sich hier das Gesetz, von dem wir eben gesprochen. Die Arbeit war als Grundlage des Volksreichthums von Wissenschaft und Praxis anerkannt, und doch gesetzlich von dem Erwerbe der Heimath ausgeschlossen. Dieser Zustand, obwohl die strenge Consequenz der Grundlagen, die wir bezeichnet haben, diese grundsätzliche wirthschaftliche Hei- mathslosigkeit der Nichtbesitzenden und die ausschließliche Geltung der natürlichen Heimath für sie, war denn doch ein zu tiefer Wider- spruch, als daß er lange hätte ertragen werden können. Um nun das gegenwärtige Heimathsrecht, das sich daraus bildete, richtig zu beurtheilen, muß man hier einen zweiten Proceß ins Auge fassen, der sich allerdings zunächst auf die Armenverwaltung bezog, aber zugleich für die Armenzuständigkeit entscheidend ward. Das war die Umgestaltung der alten Armenverwaltungsgemeinde der Parish, in die neue , die Union, die zum Zweck der Herstellung der Arbeitshäuser vor sich ging. Allerdings gehört die Frage nach den Workhouses nicht hierher; allein ihr indirekter Einfluß auf das Heimathswesen be- stand darin, daß die neue Verwaltungsgemeinde mit ihren größeren Mitteln und ihren weiteren Gränzen an Kraft gewann, die Armenlasten zu übernehmen, und daher den Erwerb der Heimath auch ohne Besitz leichter zulassen konnte. Während bis dahin England dem Continent vorausgegangen, konnte es jetzt im Heimathsrecht demselben folgen. Zuerst brachte Robert Peel das Gesetz durch, daß „Arbeiter, die fünf Jahre ununterbrochen an Einem Orte ohne Armenhülfe sich auf- gehalten, zwar nicht das Heimathsrecht gewinnen (nicht settled ), wohl aber nicht ausweisbar sind.“ Diese Akte (9. 10. Vict. c. 66. 1846) diese sogen. Irremoveable Paupers-Act war eine halbe Maßregel, denn verließ der Arbeiter diesen Aufenthalt, so war seine Nichtaus- weisbarkeit gebrochen, und seine Lage ganz die frühere. Daher nahm das Parlament schon im folgenden Jahre die sogen. Bodkins-Act (10. 11. Vict. c. 110) an, nach welcher die nicht ausweisbaren, aber doch auch nicht heimathberechtigten Armen nicht mehr von der Parish, in der sie sich aufhalten, sondern von der Union, der dieß Kirchspiel angehört, im Falle der Armuth unterstützt werden sollten. ( Kries §. 26). Auch das ist offenbar nur eine unfertige Maßregel, und der Kampf über das Heimathsrecht wird so lange in England fortbestehen, bis das ganze Heimathsrecht auf die Union als wahre Armenverwaltungs- gemeinde zurückgeführt sein wird. Kries hat die verschiedenen Be- strebungen und Gründe trefflich dargestellt. Es scheint kein Zweifel, worin der Charakter der Bewegung dieser Rechtsbildung in England liegt, und das scheint Bitzer gefühlt zu haben. Wir wollen die Sache hervorheben, obgleich sie eigentlich erst zur Armenverwaltung gehört. Die staatliche Verpflichtung zur Armenunterstützung einmal angenom- men , müssen natürlich Competenz und Zuständigkeit sich gegenseitig decken und erfüllen; und das ist es, was in England fehlt. Competent oder gesetzlich verpflichtet, sind hier zwei Gemeinden, der Parish und die Union; zuständig ist dagegen der Arme im Grunde nur noch bei der Parish, obgleich die Union 1834 hergestellt wurde, weil eben die gesetzliche Competenz der Parish eine zu schwere Last aufbürdete. Hier liegt der formale Fehler im Heimathswesen Englands, und leicht ver- ständlich scheint er wohl zu sein. Einen andern Standpunkt nimmt Schottland ein. Wir dürfen auch in Beziehung auf Schottland auf die Darstellung von Kries hinweisen, der den Ruhm hat, zuerst den wesentlichen Unterschied zwischen Schottland und England erkannt und hervorgehoben zu haben, der auch dem sonst umsichtigen Bitzer gänzlich entgangen ist. Während in England die Armenunterstützung unbedingte Staats- pflicht ist, ist das Verhältniß in Schottland dadurch anders, daß — was merkwürdigerweise Kries nicht gesehen hat, der Begriff der Ar- muth ein anderer ist als in England , und dadurch sich das Heimathwesen anders gestaltet. In England ist arm gleich nothleidend sein, in Schottland ist arm gleich erwerbsunfähig sein. Schottland hat daher zwei Kategorien der Armuth, eigentliche Armuth und bloße Erwerbslosigkeit. Und nur für die eigentliche Armuth, die auf Er- werbs unfähigkeit beruht, übernimmt die Verwaltung die Pflicht, eine Unterstützung zu geben. Daher denn ist von jeher auch das Princip für den Erwerb des Heimathsrechts ein ganz anderes als in England. Da nämlich der Erwerbsfähige keinen gesetzlichen Anspruch auf Armen- unterstützung hatte, so ward der Erwerb der Heimath hier viel leichter, und schon die Armenakte von Jakob II. 1576 bestimmt, daß neben der Geburt ein siebenjähriger Aufenthalt das Heimathsrecht geben solle. Die Entscheidung aber darüber, ob eine Person wirklich erwerbs- unfähig sei oder nicht, ward auch hier Sache der Gerichte , bis sich der Grundsatz Geltung verschaffte, daß jede Person bis zum 14. und nach dem 70. Jahre als erwerbsunfähig und daher als unterstützungs- berechtigt anzusehen sei. Keine arbeitsfähige Person hat einen gesetz- lichen Anspruch auf Unterstützung, und also keine Armenheimath , und noch jetzt unterscheidet das höchste Gericht in Edinburgh, die Court of session, ob eine Person arbeitsfähig sei oder nicht. Alle übrigen Punkte gehören der Armenverwaltung, und nicht dem Heimathsrecht. Die neueste Gesetzgebung vom 4. August 1845, 8. 9. Vict. 83. hat in dieser Beziehung nichts geändert. — Man sieht hier den tiefen Unter- schied von England sogleich in dem Erwerb des Heimathsrechts durch Aufenthalt, oder in der Anerkennung der wirthschaftlichen Heimath neben der natürlichen, als natürliche Consequenz der Aufstellung des Unterschiedes zwischen arm und nothleidend. Es ist nicht richtig, wenn Kries meint, daß die Armenpflege keine staatliche Pflicht, ausgeübt durch die Armengemeinde oder das Kirchspiel, sei. Für den Erwerbsunfähigen ist sie es eben so gut als in England, und sie wird hier wie dort durch gerichtlichen Spruch dazu angehalten. Nur die Armenunterstützung der noch Erwerbsfähigen ist es nicht, und darauf beruht der Charakter des schottischen Armenwesens, den wir zum Theil in Deutschland wieder finden. ( Kries , §. 35—40.) Was endlich Irland betrifft, so beruht die neue Armenordnung einfach auf dem Heimathsrecht zur Union statt zum Kirchspiel, was nicht bloß durch die Verhältnisse Irlands an und für sich motivirt war, sondern sich auch als praktisch richtig erwiesen hat. ( Kries , §. 55 ff.) Faßt man nun diese Sätze zusammen, so ergibt sich für die ad- ministrative Ordnung der Bevölkerung in Großbritannien folgendes Resultat. Die Competenzen und Zuständigkeiten beruhen für die Aufgaben der Verwaltung der Finanzen und des Innern wesentlich auf der Ver- waltungsgemeinde, für die Gerichte und ihre juristische sowie ihre ver- fassungsmäßige Funktion auf den Grundsätzen der gerichtlichen Com- petenz. Das Gemeindebürgerrecht ist bedingt durch Theilnahme an den Verwaltungssteuern und erscheint als Verwaltungsbürgerrecht, das durch die bloße Theilnahme an den Steuern gegeben ist. Das Heimathsrecht dagegen ist wie gezeigt ein anderes in England, in Schottland, und in Irland. Frankreich . (Das allgemeine Staatsbürger- und Wahlrecht nimmt das Verwaltungs- und Gemeindebürgerrecht, die amtliche Competenz und Zuständigkeit das Heimathsrecht in sich auf, so daß mit sehr unbedeutenden Ausnahmen die ganze Angehörigkeit an die Selbstverwaltung im Wahlrecht und Domicile untergeht. Wir glauben für unsern Gegenstand das frühere Recht der fran- zösischen administrativen Bevölkerungsordnung um so mehr weglassen zu können, als gerade auf diesem Punkt der Bruch, den die Revolution hervorgerufen hat, am durchgreifendsten gewesen ist. Während auf den meisten andern Gebieten das ancien régime denn doch vieles erklärt und vieles aus ihm sich erhalten hat, wird in dem Bevölkerungsrecht geradezu alles durch das staatsrechtliche Princip der neuen Staatsord- nung bedingt, und indem wir für die früheren Zustände daher auf den Charakter des deutschen Bevölkerungsrechts zurückweisen, wollen wir versuchen, die neue, seit der Revolution in Frankreich geltende Ord- nung in ihren Grundzügen darzulegen. Auch hier müssen wir, wie bei England, das Wesen in dem In- halt der amtlichen und Selbstverwaltung, wie es sich in Frankreich organisirt hat, aus unserer Lehre von der vollziehenden Gewalt hin- übernehmen, denn nur durch diese sind die französischen Zustände klar zu machen, während andererseits die Anwendung der Begriffe von Zu- ständigkeit, Gemeindebürgerrecht und Heimathswesen wieder viel dazu beitragen, uns über das organische Wesen der französischen Begriffe aufzuklären. Wir haben gezeigt, wie das große Princip der staatsbürgerlichen Gesellschaft, die völlige rechtliche Gleichheit aller Persönlichkeit, praktisch sich als die durchgreifend gleichartige Thätigkeit der Gesetzgebungs- und der Vollziehungsorgane auf jedem Punkte des französischen Lebens zeigte, und wie dieß die Centralisation der Verwaltung, und ihr entsprechend die Vernichtung der Selbstthätigkeit der Selbstverwaltung zur Folge hatte. Wir haben das in dem Satz zusammengefaßt, daß Frankreich im strengen Sinne des Wortes gar keinen eigentlichen Selbst- verwaltungskörper , sondern nur noch an deren Stelle Vertre- tungskörper hat, welche sich in zwei große Classen scheiden. Wir möchten diese beiden Classen hier die der Staatsverwaltungs- und der Selbstverwaltungsconseils nennen. Die ersteren sind Vertretungen in der Form der Räthe oder Conseils bei den einzelnen administrativen Instituten und Aufgaben, und daher in an sich unbe- stimmter Zahl vorhanden. Die andern sind Vertretungen bei den ört- lichen Verwaltungsorganen, und nehmen die Stelle unsrer eigentlichen Selbstverwaltungskörper, der Landschaften und Gemeinden, als Conseils départementaux (généraux etc.) und municipaux ein. Die Grundlage des administrativen Bevölkerungsrechts in Frankreich ist daher der Satz, daß es hier gar keinen, dem englischen Verwaltungs- oder dem deutschen Gemeindebürgerthum entsprechenden Be- griff gibt , sondern daß jene ganze Ordnung vielmehr auf nur zwei Grundbegriffen beruht, dem Staasbürgerrecht , welches bei dem Mangel der eigentlichen Selbstverwaltungskörper zugleich die Ordnung für die Theilnahme an den Selbstverwaltungsconseils bildet, und dem amtlichen Competenzrecht , welches, da auch das Haupt der Gemeinde, der Maire, ein amtliches Organ ist, zugleich die ganze Gemeindeange- hörigkeit mit umfaßt. In der That ist auf diese Weise der ganze Be- griff der Angehörigkeit in wesentlich anderer Gestalt geordnet als in England und Deutschland, und läßt sich nunmehr wohl am besten er- klären, indem wir dafür die drei Kategorien des Wahlrechts , der Competenz und Zuständigkeit , und des Armenunterstützungs- rechts aufstellen und durchführen. Selbstverständlich bezeichnet das „Indigenat“ in Frankreich wie allenthalben als Angehörigkeit an die vollziehende Gewalt die Gesammtheit der Competenz- und Armenunter- stützungsordnung. Bei dieser Darstellung ist nun stets festzuhalten, daß von vorn hinein das Gemeindebürgerrecht gar nicht als ein selbständiges Rechts- verhältniß erscheint, sondern daß es nur ein Glied in dem ganzen in sich gleichartigen Systeme des Staatsbürger- und Competenzrechts ist, weßhalb man denn auch gerade in Frankreich gezwungen wird, das ganze System des Wahlrechts zu skizziren, um in dem Staatsbürgerrecht gleichsam das Stück zu suchen, das dem Verwaltungs- und Gemeindebürgerrecht entspricht . 1) Das Wahlrecht . Droit d’Élection. Das Wahlrecht enthält denjenigen Theil des Staatsbürgerrechts, welcher die Bedingungen und Formen der Theilnahme des Einzelnen an der Wahl der Vertre- tungskörper bestimmt. Das Wahlrecht Frankreichs ist seinem neuesten Princip nach verschieden vom Wahlrecht Englands und Deutschlands, indem es die Wahlen zur Volksvertretung und zur Selbstverwaltung gleichmäßig bloß auf die Staatsbürgerschaft zurückführt, also nicht wie in Deutschland die Selbstverwaltungswahlen von der Aufnahme in die Gemeinde abhängig macht, und sie nicht wie in England beim Ver- waltungsbürgerthum auf eine bestimmte administrative Aufgabe be- schränkt, und daher nicht die zwei Systeme von Wahlen kennt, welche durch das Wesen der Selbstverwaltung bei den germanischen Nationen geltend geworden sind, das eine auf die Volksvertretung, das andere auf die Gemeindekörper bezüglich. Das Wahlsystem Frank- reichs ist ein einheitliches , doch enthält es das Element der Ge- meindeselbständigkeit als eine Modification des Wahlrechts, und diese Modification bildet das Analogon des Gemeindebürgerthums in Frankreich. Das System der Wahlen entspricht daher dem System der Vertretungen . Es gibt ein Wahlsystem für die Volksvertretung, ein Wahlsystem für die Landschaftsvertretung, und ein Wahlsystem für die Gemeindevertretung (Gemeindebürgerthum). Dieses ganze System ist, da hier keine selbstbestimmte Aufnahme in eine Gemeinde und keine Beschränkung auf einzelne Aufgaben vorkommt, von einer Durchsichtig- keit, die wir eine mechanische nennen dürfen Es beruht auf den beiden Begriffen des Wahlrechts und der Wahlordnung. Das Wahlrecht bestimmt die persönlichen Bedingungen, die Wahlordnung die örtliche Ordnung für die wirkliche Wahl. Der ganze Entwicklungs- gang des innern französischen Verfassungsrechts ist in der That kaum etwas anderes, als der Kampf um diese Bestimmungen. Da es aber Sache der Verfassungslehre ist, diesen Kampf darzustellen, so be- schränken wir uns darauf, das neueste napoleonische Recht kurz zu charakterisiren. Das Wahlrecht enthält hier wie immer das Wählerrecht (Recht zur Wahl) und die Wählbarkeit . Jeder 21jährige Franzose, der nicht sein Wählerrecht verloren hat, ist Wähler für alle Vertretun- gen , also auch für das, was der Gemeindewahl entspricht. Die Wähl- barkeit ist für die Conseils municipaux gleichfalls ganz allgemein, und nur an das 25. Jahr gebunden; doch sind gewisse Personen, namentlich die Beamteten, ausgeschlossen. — Die Wählbarkeit für die Conseils généraux und d’arrondissement wird dagegen bedingt durch die Zahlung von direkten Steuern. Die Wählbarkeit für die Volks- vertretung ( Corps législatif ) ist dagegen wieder allgemein. — Denselben Charakter der Gleichartigkeit hat die Wahlordnung; doch ist hier der Punkt, wo sich der letzte Rest des Gemeindebürgerthums erhalten hat. Die Wählbarkeit für die Volksvertretung und für die Gemeinde- vertretung sind nämlich an keine Angehörigkeit gebunden; nament- lich hat das Arrêt de Conseil vom 21. Juli 1853 bestimmt, daß die Wählbarkeit in den Conseil municipal weder den Aufenthalt in der Commune, noch selbst die Eintragung in die Wahlliste zur Bedingung haben soll. Nur für die Conseils généraux und d’arrondissement hat die Wählbarkeit entweder das „Domicil“ oder doch die örtliche Pflicht zur direkten Steuerzahlung zur Voraussetzung. Die Ausübung des Wählerrechts dagegen hat zur Voraussetzung, daß der Wähler einen sechsmonatlichen Aufenthalt in der Commune nachweisen kann, in der er seine Wahl vollzieht, oder doch daß sein bisheriger Aufenthalt bis zum Schluß der Wahllisten sechs Monate ausmacht. ( Decr. Org. vom 2. Februar 1852. Art. 13.) Da nun alle Wahlen nach den Gemeindelisten vorgenommen werden, so erscheint das Angehören an eine bestimmte Gemeinde allerdings als eine entfernte Art von Gemeindebürgerthum, und man kann daher sagen, daß das französische Recht zwar nicht den Satz kennt: jeder Staatsbürger muß einer Ge- meinde angehören; macht aber den Satz: jeder Wähler muß in einer Gemeinde ein Wahldomicil haben , um sein Wählerrecht aus- üben zu können. Das Staats- und Verwaltungsbürgerrecht hat daher nur zwei Momente der örtlichen Angehörigkeit: die Gemeindeangehörigkeit für das allgemeine Wahldomicil , und die Departementsangehörigkeit für die departementale Wählbarkeit . Eine andere Form der Ange- hörigkeit gibt es nicht . Ein Gemeindebürgerthum existirt daher nicht . Es gibt nur ein Wahl- und Wählbarkeitsdomicil , und dieses Domicilrecht und die dasselbe ordnenden Bestimmungen bildet mithin daher das, was wir die verfassungsmäßige Ordnung der Be- völkerung in Frankreich nennen. Die französische Theorie faßt alle diese Punkte als das Domicil politique zusammen. „Le domicile po- litique est le rapport qui existe entre un citoyen français et le lieu ou il exerce ses droits politiques.“ Porlier bei Block v. Do- micile. Daß die vorrevolutionäre Rechtswissenschaft gerade wie die deutsche den Begriff des Domicils nur auf die gerichtliche Zuständigkeit be- zog, liegt nahe. Guyot , Repert. de Jurispr. 1784. v. Domicil. 2) Competenz und Zuständigkeit . Indem nun auf diese Weise die selbständige Verwaltungsthätigkeit der Selbstverwaltungs- körper in Frankreich wegfällt und sich bloß auf die berathende Funktion reducirt, gibt es auch nur Einen die Gesammtheit aller Verhältnisse umfassenden und ordnenden Begriff für die Competenz. Frankreich kennt keine Competenz der Gemeinden, sondern nur eine amtliche , die das gesammte Staatsleben durchdringt. Jede Berechtigung irgend eines Organes der Vollziehungsgewalt fällt daher hier unter den Begriff der Competenz, und daher ist es auch Frankreich, dessen Theorie zuerst erkannt hat, daß es so viel Arten der Competenz gibt, als Verwal- tungsfunctionen vorhanden sind. Das französische Recht unterscheidet daher die compétence civile, criminelle, commercielle, admini- strative u. s. w. Allein der Begriff der Compétence administrative hat dennoch auch hier seinen juristischen Charakter beibehalten. Man versteht nämlich darunter nicht speziell den amtlichen Wir- kungskreis in Verwaltungsangelegenheiten, sondern die Competenz in den Verwaltungsprocessen der voie contentieuse und gracieuse (s. vollziehende Gewalt S. 121 ff.). Der Begriff der Zu- ständigkeit erscheint daher bei den Franzosen auch in der Verwaltung wesentlich als ein Domicil, ohne daß sie es jedoch von dem domicile politique zu unterscheiden vermöchten. Die Gemeindec ompetenz existirt daher weder in dem Sinne Englands für die Verwaltungsgemeinde, noch im Sinne Deutschlands für die Ortsgemeinde; an ihre Stelle tritt in allen Beziehungen die Competenz des Maire als örtlichen Voll- ziehungsbeamteten. Alle örtlichen Aufgaben der Verwaltung gehören dem Maire und damit dem Amte, und das System der amtlichen Or- ganisation ist daher hier identisch mit dem Systeme der admini- strativen Bevölkerungsordnung . Nur auf Einem Punkte entsteht auch hier eine Abweichung, und das ist das Armenunterstützungsrecht oder die Armenheimath. 3) Die Armenheimath Frankreichs . Die eigenthümliche Ge- stalt, welche das Heimathsrecht in Frankreich angenommen, beruht ihrer- seits auf der gleichfalls Frankreich eigenthümlichen Ordnung der Armen- pflege, und es ist unthunlich, das erste als Schlußpunkt der admini- strativen Ordnung der Bevölkerung zu bestimmen, wenn man nicht diese, von England sowohl als von Deutschland sich wesentlich unterscheidende Armenpflege kurz charakterisirt. Wir müssen uns hier, um nicht der Darstellung des Armenwesens vorzugreifen, auf diejenige Ordnung beschränken, welche seit der Revo- lution hergestellt ist und ihren Grundzügen nach gegenwärtig gilt. Die Armenpflege vor der Revolution beruhte in Frankreich, im Gegensatze zu England und Deutschland, auf zwei Elementen. Einer- seits war sie die Aufgabe selbständiger Armencorporationen mit eigenem Besitz oder selbstverwalteten Armenstiftungen, andererseits er- schien sie als eine rein christliche und freie Pflicht des Einzelnen, die durch freie Beiträge erfüllt ward. Dieser Unterschied war es, der der Armenpflege ihre noch bis jetzt gültige Gestalt gegeben hat. Jene Armenstiftungen waren nämlich fast ausnahmslos nicht für Erwerbslose oder für die wirthschaftliche Armuth, sondern für Erwerbs unfähige , oder für die persönliche Armuth, also für Kranke und Gebrechliche be- stimmt, und zwar wie alle rein kirchlichen Armenanstalten, ohne Rücksicht auf die Angehörigkeit an eine bestimmte Gemeinde. Sie hatte daher vermöge dieser ihrer kirchlichen Natur den rein staatlichen, allge- meinen Charakter. Der bloß Erwerbslose hatte somit zwar kein Recht auf eine Armenunterstützung vermöge eines Gesetzes wie England, und das Heimathsrecht für ihn besaß daher keinen Werth, allein der Kranke wurde vermöge jener Natur der Armenstiftungen aufgenommen, ohne daß er dagegen die Verpflichtung gehabt hätte, für die Hülfe in jenen Stiftungen, namentlich in den Krankenhäusern, eine Gemeindeange- hörigkeit oder ein Heimathsrecht nachzuweisen. So viel man nun auch von der tiefen Umgestaltung des Armenwesens durch die franzö- sische Revolution geredet hat (neulich noch Bitzer , der in ihr eine „ent- schieden andere Richtung“ findet, S. 32), so ist doch das Armenrecht der letzteren nur eine systematischere Durchführung der obigen Verhält- nisse. Allerdings zog die Revolution die Güter dieser Stiftungen theils ein, theils stellte sie dieselben unter die Aufsicht der Ortsbehörden, und erklärte deßhalb die Unterhaltung der Armen für eine „Nationalschuld,“ allein in der That war das doch nur ein anderer Ausdruck für das obige Verhältniß. Das Gesetz vom 24. vend. an II. führte ein allge- meines Heimathsrecht ein, indem jeder Arme, also nicht bloß die Kranken und Gebrechlichen (persönlich Armen), durch einjährigen Wohnsitz das Recht auf Unterstützung gewinnen sollte. Indeß beruhte dieß Gesetz trotz aller schönen Reden der Convention am Ende auf der Confiscation der Güter der Hôpitaux und Hospices. Das Gesetz vom 16. vend. an V. (September 1796) gab den Armenstiftungen ihr Vermögen zurück, hob die Pflicht der Heimathsgemeinde zur Unterstützung der wirthschaft- lichen Armen dagegen auf, und indem es diese Unterstützung wieder zu einer freien Pflicht machte, die auf rein sittlichen Momenten und nicht auf einer administrativen Verpflichtung beruhte, machte es das im Jahre 1793 aufgestellte allgemeine Heimath srecht ganz inhaltslos. Es stellte vielmehr die gesammte Armenunterstützung wesentlich auf den Standpunkt, den sie vor der Revolution inne hatte , und dieses Princip ist bis jetzt in Frankreich das alleingültige geblieben. Das neueste Gesetz vom 6. August 1851, hat im Grunde nur die ganze bisherige Entwicklung organisch zusammengefaßt. Wir führen es hier in so weit auf, als es eben für die administrative Ordnung der Be- völkerung im Armenwesen maßgebend ist. Darnach gibt es in Frankreich kein eigentliches Heimaths- recht , so wenig als eine Gemeindeangehörigkeit. Das System der Armenunterstützung hat vielmehr die alten zwei Haupttheile, die Armen- anstalten , die Hospitäler, Irrenanstalten ꝛc. für Kranke, und die Hospices (Armenpfleghäuser) für Gebrechliche, neben der freien Armen- pflege in den häuslichen Unterstützungen ( secours à domicile ). Aller- dings aber haben diese beiden Formen ihre Angehörigkeit, die wir nunmehr leicht bezeichnen können. a ) In die Hospitäler wird jeder zeitlich Kranke gebracht, gleich- viel ob er in der Gemeinde wohnhaft ist oder nicht — „man soll nicht sagen können, daß man auf dem Boden Frankreichs bei dem Eintritt in ein Hospital nicht nach den Wunden und Schmerzen eines Leidenden, sondern nach seinem Passe frage“ — was sehr schön gesagt, aber weder neu noch etwas besonderes für Frankreich ist, da es schon vor der Re- volution bestand und bekanntlich in Deutschland allgemein ist. Nur der Grundsatz, daß das Hospital für die Verpflegung an keine Heimath des Verpflegten einen Anspruch habe, ist zum Theil eigenthümlich, jeden- falls von zweifelhafter Richtigkeit. b ) In die Armenpflegehäuser , Hospices, werden die persön- lich Armen nach denjenigen Regeln aufgenommen, welche von der Pfleghausverwaltung festgestellt werden. Nach Porlier bei Block v. domicile gilt hier noch das Heimathsrecht eines einj ährigen Auf- enthalts nach dem Gesetz vom 25. vend. an II. Bitzer sagt nichts davon (S. 34, 35). Jedenfalls hat jede Gemeinde nach dem Gesetz von 1851 das Recht, ihre persönlich Armen in einem solchen Hospice unterzubringen gegen ein von ihr zu zahlendes Pflegegeld. Diesen Armen- pfleghäusern lag die Pflicht zur Unterbringung der Heimathberechtigten ob, in so weit sie alt oder gebrechlich sind (nicht in so weit sie bloß [wirthschaftlich] arm sind); sie sind daher die Institute, bei denen allein der Rest des Heimathsrechts und Heimathswesens in Frankreich vor- kommt; nach allem Vorliegenden aber ist dies Heimathsrecht ein sehr unbestimmtes, von den Verwaltungen der Hospices abhängiges, und praktisch wie es scheint nicht sehr wichtiges. c ) Dagegen existirt keine direkte Armensteuer, mithin keine gesetzliche Verpflichtung, die bloß Erwerblosen durch die Gemeinde zu ernähren, und mithin kein allgemeines Heimathsrecht, sondern die wirthschaftlich Stein , die Verwaltungslehre. II. 20 Armen sind auf die christliche Armenliebe — das Wort charité ist nicht anders zu übersetzen — angewiesen. Die Organisation dieser an sich freien Bethätigung der Charit é ist zunächst dadurch eine amtliche ge- worden, daß das Armenwesen gewisse indirekte Einkommensquellen hat (Betheiligung an dem Ertrage von Schauspielen, Licitationen ꝛc.). Dieselbe besteht in den bureaux de bienfaisance, ihre Unterstützungen heißen in neuerer Zeit secours à domicile (wohl nach Muster des englischen outdoor-reliefs ) und diese sind an gar keine Gemeindeange- hörigkeit gebunden. Fassen wir nun dieß administrative Ordnungsrecht der Bevölkerung in Frankreich kurz zusammen, so werden wir mit Beziehung auf die früher aufgestellten Begriffe sagen können, daß mit einer einzigen nach- weisbaren oder unsicheren Ausnahme bei den Hospices die ganze Ord- nung in die der Elections und der Compétence nebst dem Domicile aufgegangen, oder daß das Gemeindebürgerrecht zu einem untergeordneten Theil des öffentlichen Wahlrechts (wieder mit einer Ausnahme bei den Departementalräthen) die Gemeindeangehörigkeit und das Heimathsrecht aber zu einem Theil der amtlichen Zuständigkeit für alle administrativen Funktionen geworden ist. Wie ganz anders ist dagegen das Bild, das uns Deutschland dar- bietet! — Deutschland . (Allgemeiner Charakter. Bei strenger Durchführung der Systeme von amtlicher Competenz und Zuständigkeit fast gänzlicher Mangel an Verwaltungs- gemeinden; Aufgehen des Heimathsrechts in die Angehörigkeit an die Orts- gemeinde.) Hält man nun auf Grundlage der oben aufgestellten Begriffe einer- seits die Gesetzgebung und anderseits die Literatur der deutschen Staaten mit dem zusammen, was in dieser Beziehung von England und Frank- reich gilt und geleistet ist, so müssen zwei Dinge auffallen. Zuerst ein viel größerer Reichthum an Gesetzen, theoretischen Arbeiten, und namentlich auch an Ausdrücken, die theils gar nicht, theils sehr schwer in fremde Sprachen übersetzbar sind. Dahin gehören Gemeinderecht, Freizügigkeit, Niederlassung, Einbürgerung, Einwohner, Wohnsitz, Aufent- halt, Heimath. Zweitens eine große Unklarheit nicht bloß über das, was die Gesetzgebungen wollen, sondern auch über das, was die Theorie unter ihren verschiedenen Ausdrücken versteht, indem man sich bestrebt, mit jedem jener Worte ein besonderes Recht zu verbinden und mithin so viele Rechtsverhältnisse in das administrative Bevölkerungsrecht hin- einzubringen, als es Ausdrücke gibt, ohne jedoch, was die Hauptsache wäre, sich vorerst Mühe zu geben, sich über den Sinn der Worte einig zu werden. Gegenüber dem an sich so einfachen und klaren System Englands und Frankreichs macht diese Verwirrung des geltenden Rechts wie der Begriffe keineswegs einen wohlthuenden Eindruck. Und das um so weniger, als diese Unklarheiten von einem beständigen Bestreben, von einer immer wiederholten Forderung nach Gleichmäßigkeit und Ein- heit der Gesetzgebung begleitet sind, ohne daß doch die Fordernden bisher im Stande gewesen wären, ihre eigene Forderung selbst endgültig zu formuliren. Die schwierige Aufgabe, mit diesem weiten und verwickelten Ge- biete ins Reine zu kommen, wird nun wohl zunächst Eine, nicht bloß hier für die deutsche Staatswissenschaft gültige Voraussetzung haben. Es ist kein Zweifel, daß alle Verschiedenheiten auch hier zuletzt auf einer gemeinsamen Grundlage beruhen. Bei der großen Weitläuftigkeit des uns vorliegenden Materials und dem in den meisten Fällen nur örtlich praktischen Werth der einzelnen Sätze und Bestimmungen wird unsere Aufgabe sich wohl darauf beschränken müssen, eben die so ge- meinsame Grundlage, von der aus sich am Ende allein die künftige Entwicklung gewinnen läßt, zu bestimmen. Die entscheidende Bedin- gung für den wirklichen Fortschritt wird auch hier darin bestehen, daß man sich endlich über gewisse einfache Thatsachen, Begriffe und Worte einige . Vielleicht wäre es aber dennoch möglich, durch Reducirung der verschiedenen Vorstellungen und Worte auf einige sehr einfache Sätze eine solche Einigkeit zu erzielen. Wir haben die administrative oder Verwaltungsordnung der Bevölkerung als diejenige Eintheilung der letzteren bezeichnet, vermöge deren jeder Einzelne einem bestimmten Organ der vollziehenden Gewalt für seine besondere Aufgabe zugewiesen wird. Der Begriff und das Wesen dieser Organe, Amt und Selbstverwaltung, stehen wohl an sich fest. Eben so wenig dürften die entsprechenden Begriffe von Competenz und Zuständigkeit, Gemeindebürgerthum und Heimathsrecht, an sich noch unklar sein. Wenn daher trotz dem nicht bloß eine große und tiefgehende Ver- schiedenheit zwischen den einzelnen Ländern und zwischen den einzelnen Epochen stattfindet, so wird dieß nie an jenem Begriffe selbst, sondern vielmehr daran liegen, daß in der Bildung und dem Recht der Or- gane , auf welche man sie anwendet, eine Verschiedenheit obwaltet. Und deßhalb sagen wir, daß die Eigenthümlichkeit der Verwaltungs- ordnung der Bevölkerung jedes Landes eben in dem, ihm eigenthüm- lichen Verhältniß seiner Organe, also in dem ihm eigenthümlichen Verhältniß zwischen Amt und Selbstverwaltung, oder namentlich der Gemeinde, gesucht werden muß. In der That werden wir für Deutschland nie zu einem richtigen und einfachen Verständniß der Verwaltungsordnung der Bevölkerung, und namentlich des Gemeindebürgerthums und des Heimathsrechts im Besondern gelangen, wenn wir nicht den so tiefgehenden Unterschied der deutschen Gemeinde von der französischen und englischen, und das sich daraus ergebende Verhältniß zum Amt, mit dem Amt aber zu Com- petenz und Zuständigkeit feststellen. Während nämlich die englische Gemeinde eine Verwaltungsgemeinde, die französische ein Amtsbezirk ist, ist die deutsche Gemeinde eine Orts- gemeinde , das ist eine örtliche Selbstverwaltung aller innern Ver- waltungsaufgaben. Es ist daher die deutsche Ortsgemeinde ein örtliches Ganze, welches wenigstens seinem Wesen nach alle im Wesen des Amts liegenden Auf- gaben durch die Gemeinde vollzieht. Und es ergibt sich daraus, daß in Deutschland wenigstens principiell die Gemeindeangehörigkeit eine viel umfassendere Bedeutung hat, als dieß in England und Frank- reich der Fall ist und sein kann. Denn die deutsche Gemeindeange- hörigkeit ist in diesem Sinne nicht bloß ein Gemeindebürgerrecht und ein Heimathsrecht, sondern sie enthält daneben zugleich die Competenz der Gemeinde und die Zuständigkeit der Angehörigkeiten für alle amt- lichen Aufgaben , welche durch die Gemeinde vollzogen werden. Es ist wohl selbstverständlich, daß sich daraus zunächst zwei Con- sequenzen ergeben haben. Zuerst mußte jene viel größere Bedeutung der deutschen Gemeinde- angehörigkeit eine viel tiefer eingehende und weitläuftige Publicistik, eine viel speziellere juristische Literatur erzeugen, als dieß in England und Frankreich der Fall sein konnte. Und dieß ist bekanntlich auch nach allen Seiten hin eingetreten. Dann aber mußte sich aus jener amtlichen Stellung der deutschen Gemeinde, welche zugleich Obrigkeit und Selbstverwaltung, und in vielen Fällen ja sogar ein kleiner Souverän war, ein beständiger Kampf mit der sich entwickelnden amtlichen Organisation und Ver- waltung hinaus bilden. In diesem Kampfe nahm dann natürlich die Gemeindeangehörigkeit einen ganz andern Charakter an, als in England und Frankreich. Indem sich nämlich die amtliche Thätigkeit nicht wie in England zuletzt bloß auf die richterliche Function zurückzog, und auch nicht umgekehrt wie in Frankreich die Selbstthätigkeit der Ge- meinde vernichtete und in sich aufnahm, ward die Bestimmung über die Gemeindeangehörigkeit überhaupt die Gränzbestimmung für das öffentliche Recht der Gemeinden gegenüber dem Amt . Und das erklärt wieder den Eifer, mit dem man dieselbe untersuchte, und anderseits den eigenthümlichen Charakter, den die betreffenden Unter- suchungen in den verschiedenen Epochen zeigen. In der That nämlich wird dadurch die Gemeindeangehörigkeit im weitern Sinne des Wortes etwas anderes, als was wir jetzt darunter verstehen. Sie wird aus einer bloßen Verwaltungsordnung der Bevöl- kerung zu einem wesentlichen Theil und Elemente der ganzen Organi- sation der Verwaltung überhaupt. Sie erscheint in jedem Gebiete der letzteren, der Staatswirthschaft und speziell der Finanzen, der Rechtspflege und dem Inneren. Ja sie ist sogar ursprünglich die ein- zige Heimath der Verwaltung überhaupt ; denn der Staat hat nur noch das Heerwesen und die Vertretung nach Außen. Erst all- mählig entwickelt sich die staatliche Verwaltung selbständig; das Gebiet dessen, was der Gemeinde angehört, scheidet sich von dem, was das Amt zu leisten hat, und die Geschichte der Gemeindeangehörigkeit wird zur Geschichte des innern Staatslebens selbst. In dieser Entwicklung bildet nun das gegenwärtige Recht nur ein bestimmtes Stadium; und in diesem Sinne müssen wir den historischen Zusammenhang des heu- tigen Rechts auffassen. Die geschichtlichen Grundformen der Verwaltungsordnung der Bevölkerung in Deutschland im Allgemeinen, besonders in Beziehung auf Gemeinde und Heimath. 1) Die Elemente der Bevölkerungsordnung in der Geschlechts- ordnung. Reste derselben in unserer Zeit . Es ist wohl klar, daß wenn wir in der Verwaltungsordnung der Bevölkerung überhaupt den formellen Ausdruck und Abschluß der ganzen inneren Gestaltung des Staates finden, dieselbe stets auf das diese Ge- staltung in erster Reihe bedingende, die gesellschaftlichen Ordnungen und ihre Uebergänge zurückgeführt werden muß. Und in der That wird auch, indem man diese Grundlagen setzt, das Bild im Ganzen ein sehr klares, und das Einzelne findet fast von selbst seine Stätte. Endlich wird das Recht unserer Zeit und sein Unterschied von dem englischen und französischen Recht am letztern Orte nur durch eine solche Auffas- sung erklärlich. Wir dürfen dabei ausdrücklich bemerken, daß wir diese Zurückfüh- rung auf die Gesellschaftsordnungen nicht darum auf Deutschlands Recht hier begränzt haben, weil sie nur hier gilt, sondern theils um nicht zu weitläuftig zu werden, theils aber auch, weil bei allem Fortschritte der neuesten Zeit es dennoch gerade Deutschland ist, das sich von dem Rechtsprincip der ständischen Epoche bei weitem am wenigsten hat frei machen können. Wir sind aus einer Reihe von Gründen hier weit hinter England und Frankreich zurück , und müssen, um das zu bessern, damit beginnen, dieß anzuerkennen. Die ganze Summe von Unklar- heiten, an der die Theorie ihrerseits krankt, zeigt sich aber als eine ganz natürliche Folge des an sich widersprechenden Versuchs, Rechts- anschauungen verschiedener Perioden auf einfache Begriffe und Termi- nologien zurückzuführen. Das nun wird eben dadurch am deutlichsten, wenn man nicht mehr wie bisher das Recht der Competenzen, das Ge- meindebürgerrecht und das Heimathsrecht, als ganz selbständige und für sich zu betrachtende Rechtsgebiete hinstellt, sondern sie in ihrem organischen Zusammenhange mit dem Staatsbegriff und der Gesell- schaftsordnung hinstellt. Und das ist es, was wir hier im kürzesten Bilde versuchen wollen. In der Geschlechterordnung zuerst ist der Staat nur noch in seiner abstrakten Form, als das Königthum und seine Würde, vorhanden. Er hat noch als solcher nichts zu thun ; nur zwei Dinge leistet er, das ist die Vertheidigung nach Außen, und die Rechtspflege. Alles was sonst Verwaltung heißt, wird innerhalb des Geschlechts und durch das Geschlecht vollzogen; ja ursprünglich sind diese Geschlechter auch die Grundlagen für die Leistungen in Heer und Gericht. Es gibt keine Verwaltungsordnung der Bevölkerung, keine Competenz und kein Ge- meindebürgerrecht. Alles das wird ersetzt durch die Stammes- und Geschlechtsangehörigkeit , welche allein die Bevölkerung ordnen. Sie sind die Bedingungen für die Theilnahme an Verfassung und Ver- waltung; sie enthalten das Staatsbürgerrecht und das Indigenat, und zwar so, daß die Stammesangehörigkeit das erste, die Geschlechtsangehörigkeit das zweite gibt. Der rechtliche Inhalt des, dem Indigenat Entsprechenden ist aber das Recht, nach dem Rechte des Stammes gerichtet zu werden. Dieser einfache Satz wird der Ausgangspunkt der folgenden Ordnung. Als die Völkerwanderung die Einheit der Stämme und Geschlechter zerbricht, entsteht die Frage, wie sich außerhalb der Gränzen Deutsch- lands nunmehr jene Angehörigkeit noch äußern solle, und wie man nach Zerstörung der örtlichen Gemeinschaft der Geschlechter und Stämme in den neu errichteten Staaten eine Verwaltungsordnung der neuen Be- völkerung sich zu denken habe. Denn natürlich war das unmittelbare Gefühl der Völker sich darüber auch ohne alle Theorie vollkommen klar, daß mitten in dem ungeheuren Durcheinander von Menschen und Ver- hältnissen dennoch die Aufstellung fester Grundsätze für die Verwaltung der Bevölkerungen unbedingt nothwendig sei. Der Proceß, der nun nach der Völkerwanderung die administrative Ordnung der Bevölkerung an der Stelle der alten strengen Geschlechter- ordnung bildet, — ein Proceß, dessen Roms Geschlechterordnung nicht bedurfte, weil sie eben auch örtlich ein geschlossenes Ganze blieb — lag nun selbst eben in der Natur dessen, was man damals allein von der Verwaltung forderte. Ihre Aufgabe war einzig und allein die Rechts- pflege ; das altgermanische Gericht ersetzte den Polizeidienst, wie zum Theil noch jetzt in England. Früher nun hatte das Volksgericht, aus dem örtlichen Zusammenleben des Volkes hervorgegangen, das Recht gekannt, welches es zur Vollziehung bringen sollte. Jetzt waren neue Verhältnisse hinzugekommen und alte zerstört. Es mußten daher die Stämme ihr Recht objektiv in Gesetzen zusammenfassen, und man wird uns verstehen, wenn wir in diesem Sinne sagen, daß somit die alten Leges Barbarorum die eigentliche und einzige Verwaltungsgesetz- gebung der Völkerwanderung geworden seien. In der That haben sie das mit den neuesten Codificationen gemein, daß sie zugleich das gesammte bürgerliche Verwaltungsrecht und Polizeirecht enthielten. So wie sie entstanden waren, schloß sich an sie der Begriff der Zu- ständigkeit. Diese Zuständigkeit, jenseits des Rheins nicht mehr wie diesseits desselben örtlich nachweisbar, mußte jetzt auf der Abstam- mung beruhen. Die Abstammung war es somit, welche das Recht, dem eigenen Volksrecht und Volksgericht zuständig zu sein, begründete. Sie ward die Grundlage der administrativen Ordnung der Bevölkerung in einer Zeit, in der die Verwaltung nur in dem Recht- sprechen nach dem Volksrechte beruhte. Die Zuständigkeit des Einzelnen empfängt jetzt schon einen specifischen Namen; sie heißt; „lege sua vi- vere; vivere lege Saxonum, Francorum, etc.“ Der Einzelne nahm diese seine persönliche Zuständigkeit mit sich: sie gilt noch ganz für seinen Besitz zugleich . Sie erschöpft daher alles, was damals von der Verwaltung gefordert wurde. Sie hat zwar, da die Einzelnen nach allen Richtungen sich zerstreuen, die Competenzen faktisch unendlich durch- einander geworfen, aber das Princip derselben ist noch immer klar und einfach. Wer einem Stamme angehört, muß dem gesetzlichen Recht desselben folgen; nur das Stammesgericht ist competent, nur dem Stammesgericht ist er zuständig. Eine örtliche Competenz, im Gemeindebürgerrecht, ein Heimathsrecht gibt es noch nicht , so wenig als in der ältesten Ge- schlechterordnung. Sie sind erst durch spätere Momente entstanden, welche wir gleich andeuten werden. Wohl aber tritt neben dies noch immer einfache Princip bereits ein zweites auf. Das entsteht durch die gar keinem Geschlecht Ange- hörigen, die unterworfenen und nicht, wie bei den Burgundern und Westgothen, wenigstens zum Theil in die germanischen Geschlechter auf- genommenen Römer, Bürger und Sklaven. Diese haben natürlich kein Volksrecht, kein Volksgericht, also keine Angehörigkeit im germanischen Sinne. Demnach gibt es gar keinen öffentlichen Zustand ohne die letztere; also auch diese müssen eine solche finden. Hier nun entsteht das, was den Uebergang von der Geschlechterordnung zur ständischen bildet, und bereits den Keim der ersten amtlichen Ordnung enthält. Da jene keinem Geschlecht angehören, nicht einmal wie die gentiles Roms, so müssen sie ihrem Herrn angehören, und zwar theils durch ihre Person, theils durch ihren Grundbesitz. So bildet sich das große Princip für die Unfreien mit ihrer Angehörigkeit , das Princip der örtlichen Angehörigkeit, das Princip der Competenz und Zuständigkeit auf Grund- lage der Herrschaft . Und da dieser Herr für diese ihm in Person und Besitz Angehörigen kein Volksrecht — also kein geltendes Verwaltungs- recht — hat, so ist sein Wille das Recht für sie. Sein Besitz ist jetzt der Competenzbezirk; seine Hörigen sind ihm zuständig. Es ist die zweite Gestalt der Angehörigkeit, und diese Epoche die unfreie . An diese Ordnung der Bevölkerung schließt sich nun diejenige in den Theilen des germanischen Europas an, in denen, wie namentlich im Norden Deutschlands, sich die alte Geschlechterordnung noch erhalten oder doch schon örtlich festgesetzt hat. Wir haben diese Gestalt das alte Dorf , die Gemeinschaft der freien Bauern die alte Dorfschaft ge- nannt. Hier ist noch keine Zerstörung des Verbandes eingetreten, da- her ist noch kein Gesetz nothwendig; das Recht, das bürgerliche, das peinliche, das polizeiliche, das administrative, lebt noch im Bewußtsein der Gemeinschaft; noch Jahrhunderte hindurch wird kein geschriebenes Weißthum nöthig; die Abstammung gibt zwar die Zuständigkeit , aber doch ist die Competenz des Dorf- und Gaugerichts schon durch die Gemeindemarkung beschränkt. Was innerhalb derselben liegt, fällt unbedingt unter die Competenz des Tithings, Loddings, Godings, oder wie die freien Gerichts- und Verwaltungsorgane der Dorfschaften sonst hießen, und wie sie sonst im Einzelnen organisirt sein mögen. Allein jenseits dieser Gemarkung hört die Competenz auf, die Ange- hörigkeit verschmilzt daher hier zuerst mit dem Grundbesitz , und so entsteht der noch heutigen Tages geltende Grundsatz, daß, wer einmal innerhalb der Gemarkung einen Grundbesitz, der ja principiell einen Theil des ursprünglichen Geschlechtseigenthums bildet, erwirbt, eben dadurch auch der Dorfschaft angehörig ist. Zugleich erscheint hier zuerst die freie, noch bloß im unmittelbaren Bewußtsein liegende Linie zwischen Gemeindebürgerthum und Heimathswesen. Der Grund- besitzer hat das Gemeindebürgerthum ; wer keinen Grundbesitz hat und nur durch Abstammung der Dorfschaft angehört, hat in derselben nur seine Heimath . Diese Heimath begründet zwar noch gar kein Recht, aber sie wird als selbstverständliche Thatsache des Angehörens angenommen. Der Heimathsangehörige hat noch nichts von der Dorf- schaft zu fordern , aber sie kann ihn eben so wenig als ein anderes Mitglied der Familie verstoßen. So wird, wie der Grundbesitz die Basis der ersten Gestalt des Gemeindebürgerrechts ist, die Geburt die erste Grundlage des Heimathsrechts . Und beide Grundsätze, in natürlichster Weise aus der Geschlechterordnung hervorgehend, und zuerst in der Dorfschaft zur natürlichen Geltung kommend, erhalten sich mit ihr und gehen mit ihr auf die folgende Zeit über, bis die Gegenwart sie in reinster Form wieder aufnimmt. Derselbe Grund aber, der zwar die Zuständigkeit des Einzelnen auch jenseits der Gemeindemarkung erhält, aber die Competenz der Gemeinde selbst auf diese örtliche Grenze beschränkte, rief bald eine vierte Erscheinung hervor. Das waren die Gilden , Brüderschaften, Genossenschaften, deren Aufgabe es war, den der Gemeinde Zuständigen auch außerhalb der Grenzen derselben in seinem bürgerlichen und öffentlichen Recht zu schützen. Sie sind bekanntlich die erste Form der Vereine ; allein sie gehören hierher nur, um das Bild der Verwaltungs- ordnung der Bevölkerung dieser Zeit zu vervollständigen, denn ihre Competenz und die ihnen entsprechende Zuständigkeit war keine aner- kannte und dem Organismus des Ganzen als fester Theil gehörende. Sie wurden willkürlich gebildet; ihre Basis war der Einzelwille; ihre Kraft bestand nicht in ihrem Recht, sondern in ihrer Gewalt. Sie sind eben deßhalb nicht allgemein, sondern kommen nur stellenweise vor, wo Bedürfniß und individuelle Kraft sie hervorrufen. Um aus ihnen ein organisches Bild der Ordnung zu machen, bedurfte es einer festen wirth- schaftlichen Basis. Diese finden sie erst bei den Städten und Gewerben. Sie werden dadurch zu einer der großen Grundlagen der Zünfte und Innungen, und geben diesen ihren Charakter. Wir werden ihnen in dieser Gestalt wieder begegnen. Fassen wir nun diese Grundformen in der Geschlechterordnung, unter Weglassung der Gilde, zusammen, so ergibt sich folgendes Bild, das dann der ständischen Gesellschaftsordnung zum Grunde liegt: Die Competenz und Zuständigkeit für die erobernden, großen Theils örtlich zerstreuten und unter die unfreien Einwohner vertheilten Stammesmitglieder liegt in den L. L. Barbarorum. Die Competenz und Zuständigkeit der Unfreien beruht auf dem Besitz und der persön- lichen Einigkeit. Beide Erscheinungen bilden die Grundform der Ver- waltungsordnung der Bevölkerung in Frankreich, Italien, Spanien. Die Competenz und Zuständigkeit der ansäßig gewordenen Ge- schlechter in den Dorfschaften beruht auf dem Besitz eines Grundstücks und auf der Geburt; an beiden zeigt sich der erste Unterschied vom Gemeindebürgerrecht und Heimathsrecht. Inhalt der Competenz und Zuständigkeit ist die Rechtspflege . Eine finanzielle und administrative Competenz gibt es noch so wenig, als eine amtliche. Daher gibt es auch noch kein Heimathswesen. Das ist im Allgemeinen die Ordnung der ersten fünf Jahrhunderte nach der Völkerwanderung. 2) Die Ordnung der Bevölkerung in der ständischen Epoche . (Begriff und Inhalt der Standesangehörigkeit. Die feudale Angehörigkeit. Die städtische Angehörigkeit. Bürgerthum und Bürgerrecht. Schutzbürgerthum. Hörigkeit.) Das Wesen der ständischen Gesellschaftsordnung besteht darin, daß dieselbe jede große Lebensstellung, und zwar die unfreie so gut als die freie in allen ihren Formen, geistig begreift, und die Thatsache der gegebenen individuellen Bestimmung als einen sittlichen Beruf auffaßt. Dieser abstrakte Begriff des Berufes durchdringt nun die ganze mensch- liche Gemeinschaft, und gibt ihr eine neue Gestalt. Indem sie dem geistigen Element des Berufes seinen Körper verleiht, entsteht die Cor- poration als das specifische Element der Ordnung in der ständischen Gesellschaft. Alle Grundformen des Lebens beginnen, sich als Corpora- tionen zu constituiren; das Angehören an eine solche wird eine Ehre; es enthält eine Pflicht; mit der Pflicht das Recht der Organe dieser Körperschaft, über die Erfüllung jener Pflicht zu wachen; das abstrakte Angehören an Beruf und Körperschaft bildet sich damit zu einer Ver- waltung des Berufes aus, und die Thatsache jener berufsmäßigen An- gehörigkeit wird dadurch zu einer selbständigen Ordnung der Bevölkerung, die wir nunmehr als die berufsmäßige Bevölkerungsordnung bezeichnen können. Diese, aus dem ständischen Gesellschaftsprincip hervorgehende berufs- mäßige Bevölkerungsordnung zerstört nun nicht die Geschlechterordnung, sondern sie läßt sie vielmehr bestehen, und breitet sich in ihr aus, indem sie, wo sie es vermag, ihr ihren Charakter verleiht. Die letztere wird dadurch allerdings wesentlich anders; und indem sich beide verschmelzen, entsteht das, was wir die ständische Gesellschaftsordnung und für unsre Aufgabe die ständische Verwaltungsordnung der Bevölkerung nennen. Sie erstreckt sich über ganz Europa, und zeigt sich seit dem 12. Jahrhundert allenthalben mit ziemlich gleichem Charakter. Es ist durchaus nothwendig, sie in ihren Grundzügen darzustellen; und zwar deßhalb, weil sie eben so sehr wie die Geschlechtsordnung dem heutigen Gemeinde- und Heimathsrecht Deutschlands zum Grunde liegt, und es gerade diese innige Verbindung mit derselben ist, welche das letztere von Englands und Frankreichs Rechtszuständen in Auffassung und den einzelnen geltenden Bestimmungen unterscheidet. Wir werden zu dem Ende die ständische Verwaltungsordnung zu- nächst in ihre zwei großen Gebiete scheiden, die corporative , und die feudale . Die corporative Verwaltungsordnung ist diejenige, welche die gesammten Angehörigkeitsverhältnisse nach dem Berufe in den Be- rufskörperschaften bestimmt. Die feudale ist dagegen diejenige, welche der Angehörigkeit einerseits die Abstammung, andrerseits den Besitz zum Grunde legt. An diese schließt sich die dritte Gestalt, welche die Ele- mente der noch unklaren, theils von corporativen, theils von feudalen Grundsätzen durchdrungenen und beherrschten staatsbürgerlichen Gesell- schaft enthält, die städtische Ordnung mit ihrer Angehörigkeit und ihrem öffentlichen Recht. Jede dieser Ordnungen bildet nun ein großes, in Princip und Recht, also auch in der Angehörigkeit wesentlich selbstän- diges System, das sich von jedem der beiden andern möglichst unab- hängig zu stellen trachtet. Ein solches System, mit Princip, Recht, Besitz, wirthschaftlichem und geistigem Leben und mithin auch mit eignem Systeme der Angehörigkeit versehen, nennen wir einen Stand . Die ständische Epoche hat daher die bekannten drei Stände, die Geistlichkeit, die Ritterschaft, die Städte, oder den Stand des geistigen Berufs, der Waffen und der Arbeit. Jeder Stand hat sein System der An- gehörigkeit . Diese Systeme greifen vielfach in einander; theils nehmen Waffen und Arbeit Charakter und Form des Berufes an, theils ge- winnt der geistliche Stand mit dem Grundbesitz auch Antheil an der Organisation der übrigen Stände. Es entsteht daher ein äußerlich sehr verwirrtes Bild, dessen oft ganz unauflösbaren Verhältnisse es allmählig nothwendig machen, für die gesammte Verwaltung eine ganz neue, gegen das Bisherige grundsätzlich gleichgültige Ordnung der Bevölkerung aufzustellen, die wir als die amtliche bezeichnen werden. Allein da diese zwar in Frankreich, nicht aber in Deutschland die stän- dische Bevölkerungsordnung vernichtet, so müssen wir die letztere hier darstellen, wie sie in der folgenden Epoche, ja auch in der Gegenwart wieder erscheint. Dieß ist nun im Allgemeinen nicht schwer, da bei aller äußern Verwirrung die Principien, auf denen diese Systeme be- ruhen, ziemlich einfach sind. Das erste Princip ist, daß in der ständischen Epoche jeder ständische Körper eine möglichst große administrative Selbständigkeit zu ge- winnen und zu erhalten trachtet und daher dem andern unbedingt entgegen tritt. Die praktische, hochwichtige Consequenz dieses ersten Princips, das für alle drei Stände in ihren Körperschaften gilt und noch jetzt im deutschen Gemeindebürgerrecht — nicht im englischen und französischen — sich erhalten hat, ist der Grundsatz, daß die volle Angehörigkeit an einen solchen Körper sich von der unvollständigen , äußerlichen scheidet . Die volle Angehörigkeit kann nur geschehen durch förmliche Aufnahme (Reception) in die Körperschaft und gibt daher auch das Recht des Miteigenthums am Vermögen. Die unvoll- ständige dagegen tritt oft durch den bloßen Aufenthalt , oft erst durch die Niederlassung , oft erst durch längere Dauer desselben ein. Und so entstehen hier die Grade, Stufen, oder Classen der Angehörig- keit, denen wir sogleich wieder begegnen werden. Das zweite Princip ist, daß auch jetzt noch bei dem Mangel der eigentlichen Verwaltung die Angehörigkeit anfänglich nur als gerichtliche Competenz und Zu- ständigkeit erscheint, während jedes jener Systeme eine andere Gestalt der innern Organisation hat. Die Anerkennung eines solchen stän- dischen Körpers geschieht daher durch Zusprechung der Jurisdiction, welche aber in der That nur die Anerkennung der Selbstverwaltung ist, für welche die Jurisdiction nur die Form abgibt. Der Streit zwischen den verschiedenen Körpern tritt aus demselben Grunde stets als Streit in der Gerichtsbarkeit auf, und der Begriff Juris- diction und Gerichtsbarkeit bedeutet daher in dieser Zeit eben jene Selbständigkeit der Verwaltung. Daraus folgt dann weiter, daß in dieser Epoche die Organisation der Gerichtsverfassung die eigent- lich administrative Organisation ist, und daß die Gerichte zu ver- walten haben. Und da nun endlich diese gerichtliche Competenz und Zuständigkeit als forum und domicilium in der römischen Jurisprudenz zur rein bürgerlich rechtlichen Theorie ward, so ging auch theoretisch die ganze Lehre von Competenz, Zuständigkeit, Bürgerrecht und Hei- mathswesen in den processualen Begriffen von forum und domicilium unter, so daß namentlich die deutsche Wissenschaft während dieser ganzen Epoche zu keinem Begriff von Bürgerrecht und Heimathsrecht gelangte. Das hatte zur Folge, daß man seit jener Zeit das wissenschaftliche Be- wußtsein des organischen Zusammenhangs von Competenz und Gemeindeangehörigkeit verlor, das man auch in neuester Zeit noch nicht wieder gefunden hat, indem man das Heimathsrecht als etwas ganz Geschiedenes behandelt. — Von dieser Grundlage aus müssen nun die drei Systeme der ständischen Angehörigkeit betrachtet werden. Das System der Angehörigkeit an den eigentlichen und reinen Berufsstand, die Kirche , wird von ihr selbst geordnet. Ihr zum Grunde liegt der Begriff des Clericus; die Zuständigkeit des Clericus ist eine ausschließlich kirchliche, während die Competenz der kirchlichen Gerichte auch auf den Laicus in vielen Punkten übergreift. Es ist Sache der Geschichte des Kirchenrechts diesen Organismus von Competenzen und Zuständigkeiten darzustellen. Das System der feudalen Angehörigkeit dagegen beruht auf dem Unterschiede der Freien und Unfreien, und auf dem Unterschied des Besitzes und seiner Angehörigkeit. Ohne hier auf die unendliche Viel- gestaltigkeit dieser Angehörigkeiten einzugehen, die übrigens in ihrem Princip eben so gleichartig als in ihren Bezeichnungen und Nüancen verschieden sind, möge es hier genügen, die drei Grundformen aufzu- stellen. Das sind die Pairsgerichte , die Vasallen- oder Lehens- gerichte , und die Herrschafts- oder Patrimonialgerichte . Das Pairsgericht tritt ein, wo Besitzer und Grundbesitz zugleich frei sind. Das Lehnsgericht tritt ein, wo der Besitzer frei, der Besitz abhängig (Lehn) ist; das Patrimonialgericht dagegen da, wo Besitzer und Besitz unfrei sind ( vilain, hörig). Das System der gerichtlichen Competenzen, das für diese drei Grundformen des Gerichts gilt, ist das System der feudalen Angehörigkeit selbst in allen seinen einzelnen Beziehungen. Da es noch keine Verwaltung außer der Rechtspflege gibt, so gibt es natürlich auch neben jenen Gerichten keine amtliche Competenz; eben so wenig gibt es noch ein Heimathsrecht, oder gar ein Gemeindebürger- thum; denn der Begriff der Landgemeinde ist noch aus dem der Herrschaft nicht entstanden. Nur wo sich, wie in einzelnen Theilen von Mittel- und Norddeutschland, noch die alte Dorfschaft erhalten, kann man von den beiden letzteren reden. Das sind die Ordnungen der feudalen Verwaltung. Das System der städtischen Angehörigkeit ist endlich als Vorläufer des folgenden ein weit mehr zusammengesetztes. Es enthält nämlich in eigenthümlicher Weise beide obigen Systeme, die Angehörigkeit, die auf dem feudalen Besitze , und die, welche auf dem (gewerblichen) Berufe beruht. Das erste erzeugt die eigentliche Gemeinde ange- hörigkeit, das zweite das Zunft- und Innungsrecht oder die gewerb- liche Angehörigkeit. Die erste schließt allerdings die zweite in sich, aber sie erzeugt sie bekanntlich ursprünglich nicht . Jede hat ihre Grund- sätze und ihre Gränzen. Indem nun auf diese Weise in der Gemeinde sich örtlich und sach- lich verschiedene Systeme der Angehörigkeit berühren, und dadurch eine Reihe von sehr praktischen Fragen erzeugen, entsteht hier zuerst eine förmliche Theorie der Angehörigkeit. Allerdings bezieht sich dieselbe auch hier noch zunächst auf die gerichtliche Competenz des Forums, aber sie erscheint dennoch schon als Vorbereitung der folgenden Epoche. Es ist daher nothwendig, sie auch im Einzelnen ins Auge zu fassen. Die Gemeinde angehörigkeit als unterschieden von der Gewerbs- angehörigkeit enthält zwei Classen. Die erste ist das eigentliche Gemeinde- bürgerthum , welche das Recht auf thätigen Antheil an der Selbst- verwaltung enthält. Das zweite ist dagegen die bloße Gemeinde zustän- digkeit , welche als die Angehörigkeit an das Gemeinde gericht erscheint, und das Recht der Angehörigen auf dem durch die Rechtspflege ver- wirklichten Schutz durch die Gemeinde bedeutet. Diejenige Classe der Gemeindeangehörigen, welche auf diese Weise bloß der Gemeinde zu- ständig sind, heißen die Schutzbürger (die Beiwohner, Pfahlbürger, Beisaßen), ein Begriff, den die feudale Landgemeinde natürlich nicht kennen kann. Dieß Schutzbürgerthum, dessen Wesen und Recht bereits Eichhorn, Zöpfl, Zachariä, Gaupp u. a. dargestellt haben, entsteht da- durch, daß die Angehörigen der feudalen Landgemeinde sich dieser An- gehörigkeit entziehen und sich innerhalb der örtlichen Competenz der Stadtgemeinde, des Weichbildes, niederlassen. Das Recht, welches da- durch der Schutzbürger erwirbt, ist aber noch keineswegs ein Hei- mathsrecht , sondern nur das Recht der Zuständigkeit zum städtischen Gericht; von einer Verpflichtung zur Unterstützung, welche die Voraus- setzung und der Inhalt des Heimathswesens ist, ist noch keine Rede. Dagegen entsteht jetzt eben durch den Unterschied der Vollbürger und Pfahl- oder Schutzbürger die Frage, unter welchen Bedingungen erstlich das Schutzbürgerthum, zweitens vom Schutzbürgerthum aus das Vollbürgerthum erworben ward. Die erste Frage bezog sich wesentlich auf das Verhältniß des Gemeindekörpers zu dem feudalen Körper. Das Schutzbürgerthum war für die unfreien Angehörigen der Landgemeinde in ihrem Patrimonialgerichte ein sicheres Mittel, persönliche Freiheit und daneben ein selbständiges Vermögen zu gewinnen; für die Stadt- gemeinde der sicherste Weg, sich billige und willige Arbeitskräfte für die entstehende Industrie zu finden. Die Gemeindeangehörigkeit des Schutzbürgerthums war daher im beständigen Kampfe mit der der Patrimonialgerichte. Oft nun war die Grenze zwischen beiden durch Privilegien festgestellt; oft wurden sie mit den Waffen in der Hand bestimmt; oft aber auch entstand ein förmlicher Rechtsstreit, und dieser führte zu jener Theorie der Gemeindeangehörigkeit, auf die wir oben hindeuteten. Durch diese Theorie entwickelten sich nun die ersten juristischen Grundlagen des Rechts für Erwerb und Verlust der Gemeinde- angehörigkeit , die wir um so mehr aufnehmen müssen, als sie in der That noch die gegenwärtige Angehörigkeit auch für das Heimaths- recht bestimmen und enthalten. Die Städte legten dafür zuerst die beiden Grundsätze der freien Geschlechterdorfschaft zu Grunde, die wir in der früheren Epoche dargestellt haben, und zwar meist in folgender Form: Grundbesitz gibt Vollbürgerrecht , Arbeit gibt Angehörig- keit . Für jenes zweite Verhältniß aber, das weder auf Arbeit, noch auf Grundbesitz beruhte, nämlich den gewerblichen Wohnsitz , stellten sich alsbald folgende Grundsätze fest: der gewerbliche Wohnsitz gibt zwar das Schutzbürgerthum, aber erst die formelle Aufnahme in die Gemeinde gibt das Vollbürgerthum. Mit dem Wechsel des gewerb- lichen Wohnsitzes wechselt daher auch die Angehörigkeit, während das Gemeindebürgerthum bleibt; oder sie kann durch denselben Akt, der sie erworben hat, auch wieder verloren werden . Dieser Akt hieß die Niederlassung , das ist, das Aufschlagen des Wohnsitzes zum Erwerbe des dauernden Unterhalts. Da aber auf diese Weise diese Niederlassung die in der Angehörigkeit liegende Zuständigkeit zum städtischen Gericht begründet, und daher wenigstens die gerichtliche, und in derselben die polizeiliche Schutzpflicht für die Stadtgemeinde erzeugt , und da zweitens jener Begriff der Dauer ein an sich unbestimmter ist, so entstanden jetzt zwei neue Fragen. Die erste Frage war die, ob diese Niederlassung jedem Fremden frei stehe, die zweite war die, wie lange sie gedauert haben müsse, um die Angehörigkeit des Schutz- bürgerthums zu erzeugen? Die natürlichste mit den Interessen und der Selbständigkeit der Gemeinde von selbst gegebene Antwort mußte offen- bar die seyn, daß zwar jedem Ankömmling die Niederlassung an sich frei stehe, daß aber zugleich die städtische Gemeinde das Recht der Ausweisung habe, so gut als sie das Recht der freien Aufnahme in das Vollbürgerthum unbestritten besaß; und daß ferner jede einzelne Stadt die für den Erwerb und den Verlust der Schutzbürgerschaft bei ihr erforderliche Zeitdauer selbst zu bestimmen habe. Eben so einfach war es, daß sich allmählig gewisse Bedingungen durch (administra- tives) Gewohnheitsrecht hinausbildeten, welche als Voraussetzungen einerseits die Aufnahme in das Vollbürgerthum, andrerseits die Be- lassung als Schutzbürger galten. Aber zu gesetzlichen Normen werden diese Bedingungen noch nicht , und konnten es nicht werden, da die Städte ja noch selbständige Verwaltungskörper waren. Jede Stadt hatte daher ihr eigenes Vollbürgerrecht, ihre eigene Tra- dition in Beziehung auf die Zulassung der Schutzbürger durch die Nieder- lassung, sowie auf die Ausweisung derselben. Ein Heimathsrecht ent- steht daraus noch nicht . Es ist ganz wesentlich festzuhalten, daß dies letztere erst mit der folgenden Epoche entsteht. So bildet sich für die Stadt ihr zuerst dem feudalen Princip entnommenes System der Angehörigkeit. Ein zweites fast wichtigeres Rechtsverhältniß ergab sich aber daraus, daß die Gewerbe , das gei- stige Element des Berufes in sich aufnehmend, und zugleich sich einen Gesammtbesitz erwerbend, innerhalb der Städte sich selbst als Zunft und Innung zu verwalten und eigene Körperschaften zu bilden be- ginnen. Die Angehörigkeit an eine gewerbliche Zunft wird dadurch zur Bedingung für den Betrieb eines Gewerbes. Und jetzt entsteht inner- halb des Rechts der städtischen Angehörigkeit die weitere Frage, ob das Schutz- oder Vollbürgerthum das Recht auf den städtischen Ge- werbebetrieb enthalte ? Die erste und natürlichste Antwort darauf war eine verneinende. Damit entstand dann neben dem Schutz- und Vollbürgerrecht endlich auch noch das Gewerbebürgerrecht , den alten ein neues Element der administrativen Bevölkerungsordnung hinzu- zufügen. In diese schon an sich hinreichend verwickelte Ordnung der Bevölkerung in Stadt und Land trat nun endlich ein letztes Verhält- niß hinzu, das es allerdings auf die Dauer unmöglich machte, bei der- selben stehen zu bleiben. Das war die Ansäßigkeit von Adlichen oder Geistlichen innerhalb der Competenz-Gränzen eines dritten Verwaltungs- körpers, namentlich einer Stadt. Da nämlich die Zuständigkeit des Einzelnen als Ausfluß der gesammten socialen Ordnung erschien, so konnte sie durch den örtlichen Aufenthalt nicht aufgehoben, also die Com- petenz von dem örtlichen Gerichte durch den Aufenthalt nicht eigentlich gewonnen werden. Der Standesgenosse war auch innerhalb der Be- sitzer des andern Standes nur seinem Gerichte, seinem Verwaltungs- organe, zuständig; er behält sein persönliches Forum . Das war einfach. Wie nun aber, wenn derselbe dort einen Grundbesitz gewonnen? Offenbar lag es nahe, den Grundbesitz als der Ortsgemeinde, die Be- sitzer dagegen persönlich als ihrem Stande zuständig zu erkennen. Allein das stimmte nicht immer mit den Interessen der letztern. Sie begannen daher, vertragsmäßig oder durch Privilegien die eigenen Grund- besitzungen auch innerhalb der Städte von der städtischen Zuständig- keit zu befreien; und so entstanden die ständischen Zuständigkeiten , welche wir als die sog. privilegirten Gerichtsstände kennen. Damit war der Grundsatz aufgestellt, daß es neben dem Voll-, Schutz-, und Gewerbebürger noch eine vierte Classe von Einwohnern einer Stadt- gemeinde geben könne, welche keiner von jenen angehören, und doch in gewisser Weise Mitglieder der Gemeinde sind. Dahin gehörten zu- nächst die Adlichen mit ihren Häusern in den Städten, die ja wie in Italien oft förmliche Burgen waren, die Geistlichen mit ihren Kirchen und Klöstern, dann bald auch das ganze Gebiet der Stiftungen , wie Hospitäler, Universitäten, Schulen. Sie sind nicht allenthalben vorhanden, und ihre Zuständigkeit ist weder allgemein privilegirt, noch allgemein dieselbe. Aber sie bilden ein wichtiges Element, und von ihnen aus ist der auch jetzt noch vielfach in Deutschland — wieder nicht in England noch auch in Frankreich — gültige Grundsatz ent- standen, daß die Berufsgenossen und namentlich die Beamteten keine Gemeindebürger sind. Nur das stehende Heer hat unbedingt keine Gemeindezuständigkeit in irgend einem Lande der Welt. Faßt man nun alle diese Verhältnisse, Grundsätze, Rechte und Zustände zusammen, so gibt es bei aller Einfachheit des Princips ein höchst buntes und verwirrtes Bild. Es gibt kein anderes Mittel, das- selbe in feste Gestalt zu bringen, als daß man es lokalisirt . Denn in jedem Land, in jeder Herrschaft, in jeder Stadt ist es etwas anders, hat andre Namen, andre Modalitäten, andre Uebung, andre Vertheilung. Daher haben die örtlichen Rechtsgeschichten dieser Zeit einen so hohen Werth, und bilden gerade für diese Epoche die wahre Erhaltung der inneren Geschichte. Für die Lehre der administrativen Ordnung der Be- völkerung muß man, um hier zur Klarheit zu kommen, an drei großen leitenden Grundsätzen festhalten: erstlich gibt es noch keine amtliche Competenz und Zuständigkeit, sondern nur die Angehörigkeit an irgend einen Selbstverwaltungskörper; — zweitens ist die Gerichtsbarkeit die Form, in der diese Angehörigkeit Ausdruck und die rechtliche Grenze als Competenz und Zuständigkeit findet; — und drittens existirt noch weder Begriff, Recht noch Inhalt des Heimathswesens. Wie sich das nun zum heutigen Zustande entwickelt hat, wird die folgende Epoche zeigen. 3) Die Entstehung der eigentlichen Verwaltungsordnung der Bevölkerung vom sechzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert . (Die Bedeutung des Rechts des gerichtlichen Forums. Die Entstehung der Oberaufsicht als amtliche Competenz. Das Heimathswesen als noch unbe- stimmte Grundlage der Armenverwaltung.) Es ist wohl einleuchtend, daß wir die bisherigen Systeme der An- gehörigkeit nur im weiteren Sinne des Wortes als Verwaltungsordnung der Bevölkerung bezeichnen können. Denn bis jetzt besteht eben noch gar keine staatliche Verwaltung, noch ist die Selbstverwaltung die beinahe ausschließliche Form der Verwaltung überhaupt. Von einer admini- strativen Ordnung der Bevölkerung im engeren Sinne kann erst mit der Entstehung der letzteren die Rede sein. Dieselbe entwickelt sich aber nicht etwa organisch aus den bisher gegebenen Zuständen, sondern sie Stein , die Verwaltungslehre. II. 21 tritt ihnen, auf einer wesentlich anderen Grundlage beruhend, vielmehr fast direkt entgegen. Es ist der organische und einheitliche Staat , der Träger des Gesammtinteresses, der sich über die in den ständischen Ver- waltungskörpern vertretenen Standes- und Ortsinteressen erhebt, und der, eine von den letztern unabhängige, ja ihnen theilweise direkt ent- gegengesetzte Aufgabe verfolgend, auch ein ihm eigenthümliches, jenem Angehörigkeitsrecht sich ziemlich rücksichtslos unterordnendes System der Angehörigkeit erschafft, dessen Kern und Macht die Begriffe der amt- lichen Competenz und Zuständigkeit sind. Nur ist das Schicksal dieses Kampfes allerdings ein sehr verschiedenes in den verschiedenen Ländern Europas, und hier ist es, wo sich der Charakter der deutschen Verwaltungsordnung der Bevölkerung klar heraus bildet. In England wird die Verwaltungsgemeinde zum Amt, und das staatliche Amt be- schränkt sich fast auf den Friedensrichter. In Frankreich vernichtet das Amt die Gemeinde und die Selbstverwaltung erhält sich nur noch in dem System des Conseils. In Deutschland dagegen ist die Bewegung bis zum heutigen Tage nicht abgeschlossen, der Gegensatz zwischen amtlicher und Selbstverwaltung dauert noch fort ; es ist verkehrt und darum ver- geblich, die dahin gehörigen Zustände als fertige in fertigen Terminologien und Rechtsformen hinstellen zu wollen, und der eigentliche Grund aller Unklarheit darüber besteht eben darin, daß man das dennoch theoretisch will, was nach geltendem Recht nicht zulässig ist. Denn es kann nicht zweifelhaft sein, daß auch jetzt noch das richtige Verhältniß zwischen amtlicher und Selbstverwaltung in Deutschland nicht gefunden, und daß daher auch die Gestalt der Verwaltungsordnung der Bevölkerung nicht eine definitive ist. Der Grund davon liegt darin, daß die deutsche Ge- meinde noch viel zu sehr ihre rein historische Gestalt als Orts- gemeinde behalten hat . Die Entwicklung der Verwaltung hat diesen Standpunkt in Finanzverwaltung und Rechtspflege schon zum großen Theil überwunden, in dem Innern hat er sich dagegen noch vielfach erhalten. Der Kampf gegen denselben geht seinen Gang fort. Ein wesentliches Kriterium desselben ist aber eben die auf ihm beruhende administrative Ordnung der Bevölkerung. Fassen wir nun die Zeit vom 16. Jahrhundert bis zum 19. als ein Ganzes zusammen, so sind es hauptsächlich drei Punkte, in denen sich die selbständige Entwicklung der amtlichen Verwaltungsordnung gegenüber der ständischen zeigt, ohne doch die letztere darum aufzuheben. Das ist die Entwicklung der gerichtlichen Competenz, diejenige der po- lizeilichen Competenz, und endlich die des gesetzlichen Heimathwesens. Offenbar mußte der Zustand, wie wir ihn im Vorhergehenden be- schrieben haben, bei dem sich freier bewegenden Verkehre ein unerträglicher werden, da der Verkehr vor allem der möglichsten Klarheit und Ein- fachheit des Rechts der Angehörigkeit bedarf, um mit ihr die Rechts- sicherheit für seine einzelnen Akte zu gewinnen. Selbst da, wo sich die ständischen Rechte nicht sogleich beseitigen ließen, forderte daher das junge volkswirthschaftliche Leben die Anerkennung zweier großen Prin- cipien, die Rechtsgleichheit aller Stände für die bindende Kraft der Verträge und zur Verwirklichung derselben allgemein gültige Grund- sätze für die gerichtliche Competenz. Und während es die eigentlich große historische That des römischen Rechts ist, jenes Princip der Rechtsgleichheit für das Vertragsrecht durchgeführt zu haben, hat die Lehre vom Civilproceß und die sich an dieselbe anschließende Reichs- und Territorialgesetzgebung das nicht minder große Verdienst, Competenz- principien, die von den ständischen Unterschieden unabhängig waren, zuerst mit langem und hartnäckigem Kampfe zur Geltung gebracht zu haben. Das geschah durch die Lehre vom Forum . Die juristische Theorie vom Systeme des Forums hat eine weit über den Proceß hinausgehende Bedeutung. Sie ist die erste , auf dem Princip der bürgerlichen Gleich- heit beruhende Ordnung der Bevölkerung zunächst für die Rechtspflege; sie ist das juristische System für die Competenz des amt- lichen Gerichts im Gegensatz zum ständischen. Man kann das wohl kaum für Sachkundige klarer und besser bezeichnen, als indem man sagt, daß während die auf den Ungleichheiten der Personen und des Besitzes beruhenden ständischen Gerichtscompetenzen mit ihren hundert- fachen Unterschieden bisher die Regel waren, die Bildung des deutschen Gemeinen Civilprocesses sie als Ausnahmen , als „privilegirte“ Ge- richtsstände hinstellte. Der Fortschritt, der in dieser Bezeichnung liegt, ist ein sehr großer; der Kampf, der mit ihr gegen diese Privilegien er- öffnet wird, ein vernichtender. Wenn die Staatswissenschaft einmal allgemein den Satz anerkannt haben wird, daß der ganze bürgerliche und Strafproceß nichts ist als eine große Verwaltungsmaßregel für die Rechtsverwaltung, werden wir auch eine, mit der Entwicklung der Gesellschaftsordnung in organischer Verbindung stehende Geschichte des Processes im Allgemeinen, des Beweisverfahrens und der Beweismittel im Besonderen, und endlich der Lehre vom Forum haben. Denn diese Lehre ist es, bei welcher die Zuständigkeit des Einzelnen zuerst auf die im Wesen des persönlichen Lebens, und nicht auf die ständischen Unterschiede zurückgeführt ist. Wir müssen das andern Arbeitern über- lassen; doch ist es verstattet, hier auf den ersten Versuch einer solchen historischen Geschichte des Processes in meiner französischen Rechtsgeschichte (Warnkönig und Stein, Bd. 3) hinzuweisen. Ohne allen Zweifel aber wird dieß historisch die Grundlage für die ganze Systematik des amtlichen Competenzwesens. Es bedurfte nur noch der bestimmten amtlichen Aufgabe , um sofort den strengen Begriff der amtlichen Competenz daran zu schließen. Und diese Aufgaben entwickeln sich alsbald in den beiden Gebieten der Staatswirthschaft und des Innern. In jenem er- scheinen sie als Verwaltung der Regalien , in diesem als Verwaltung der Polizei . Die beiden Elemente aber, aus welchen die admini- strative Ordnung der Bevölkerung gerade innerhalb der letzteren vor sich geht, sind diejenigen, mit denen sie sich der alten Gemeinde zuwendet, die Oberaufsicht und die persönliche Sicherheitspolizei . Daß die „Polizei“ der Namen für die entstehende amtliche Ver- waltung des Innern ist, ist bereits oben dargelegt. Diese Polizei trifft nun auf die alten Gemeinden, in Stadt, Herrschaft und freien Bauern- dorf. Diese Selbstverwaltungskörper besitzen noch allein das Recht der vollziehenden Gewalt innerhalb ihrer örtlichen Competenz. Man kann sie ihnen nicht nehmen. Es bleibt daher, indem die staatliche Gewalt beginnt Verwaltungsgesetze zu geben, nichts übrig, als ihre Ausführung zwar diesen Körpern anzuvertrauen, dafür aber Organe einzusetzen, welche die Uebereinstimmung dieser Ausführung mit den Absichten der Verwaltung sicherten. Der Name für dieß Verhältniß war Oberauf- sicht, der Rechtstitel war der der oberaufsehenden Gewalt , die nur auf diese Weise, in strenger Begrenzung auf die vollziehende Thätig- keit der Selbstverwaltungskörper und des Vereinswesens, ihre richtige Bedeutung gewinnt. Die Organe dieser Funktion waren die eigentlichen „Amtmänner“; wenn man einen Unterschied zwischen Obrigkeit und Amt aufstellen will, so ist derselbe eben darin enthalten, daß das Amt stets über den Selbstverwaltungskörpern steht und ein Organ der Ober- aufsicht ist. Die örtliche Competenz des Amtmannes heißt dann das „Amt,“ der „Kreis,“ der „Bezirk;“ daher auch die Namen: „Haupt- leute,“ „Kreishauptmänner,“ „Bezirksvorstände“ und andere. Jedes Amt, jeder Kreis oder Bezirk ist daher eine Einheit von Gemeinden; an diese Einheiten beginnt sich die sogen. politische Eintheilung, und mit ihr die politische Geographie anzuschließen. Dieß ist die erste Form der administrativ-amtlichen Ordnung der Bevölkerung. Sie umfaßt nun zwar das ganze Land, aber ihr Verhältniß zu der Selbständigkeit der Gemeinde ist weder an sich klar, noch bei der großen Verschiedenheit der letzteren gleichartig, und die nivellirende Tendenz des „Amtes“ ist keineswegs stark genug, jene Verschiedenheit aufzuheben. Nur wird sie in den meisten Ländern nicht auf rein historischer Basis, sondern aus dem Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit für die Verwaltung eingeführt. Sie umfaßt, indem sie die Gemeinden umfaßt, die ansässigen Personen; sie ist die amtliche Verwaltungsordnung der ansässigen Bevölkerung . Neben ihr entsteht schon im 16. Jahrhundert die Polizei der herum- wandernden, der nicht ansässigen Personen, die Polizei der Bettler und und Vagabunden. Wir werden später die historische Entwicklung des Begriffs der Vagabunden bezeichnen. Hier muß die bekannte Thatsache genügen, daß die uralte Idee der Friedlosigkeit des Heimathlosen sich auf diese Zeit vererbt, und der Vagabund und Bettler als ein Friede- brecher hart, ja mit dem Tode bestraft wird. Die Gefahr, welche die- selben bringen, kann nun zwar die einzelne Gemeinde dadurch be- kämpfen, daß sie die Herumstreicher ausweist ; allein jede Ausweisung wirft sie am Ende doch nur von einer Gemeinde zur andern. Man muß daher, namentlich seit dem dreißigjährigen Kriege, das Vagabunden- thum durch ein eigenes Organ bekämpfen. So entsteht das Institut der Landreiter, Landdragoner, Hatschiere, Gendarmen; mit ihnen der Gedanke, die Sicherheitspolizei überhaupt zu einer selbständigen Funktion zu erheben; mit diesem Gedanken die Nothwendigkeit, eine eigene Ein- theilung des Landes, die Herstellung von Polizeidistrikten für sie einzu- führen. Natürlich haben dieselben ihre eigene Competenz, und diese Competenz als Theil der amtlichen Organisation, würde hier kaum eine besondere Stelle finden, wenn sie nicht auf einen andern Punkt hinüber geführt hätte. Dieser Punkt war das Heimathwesen und seine gesetzliche Feststellung. Offenbar nämlich konnte jenes bloße polizeiliche Ergreifen und Be- strafen der Herumstreicher und Bettler nicht genügen. Man mußte ihnen einen dauernden Aufenthalt anweisen, und endlich mußten sie an diesem Aufenthalt auch verpflegt werden. So schloß sich an die Entstehung und Ordnung der Sicherheits- und speciell der Bettelpolizei die Frage, aus welcher in Deutschland wie in der ganzen Welt das Heimaths- wesen entstanden ist, die Frage nach den Grundsätzen für die Ver- pflichtung zur Armenunterstützung. Auch in Deutschland wie in der übrigen Welt war die Armen- unterstützung so alt wie die gesellschaftliche Ordnung überhaupt. Sie hatte sogar ihre eigenen Institute, zum Theil ihre eigenen Organe. Es gab Krankenhäuser, Hospitäler, Almosen und anderes lange ehe man an das Heimathswesen dachte. Allein diese Armenunterstützung war anfangs eine sittliche, nur von der Kirche, und keine staatliche, von der Verwaltung vertretene Pflicht. Als nun aber der Staat als Sicherheitspolizei das erwerblose Herumwandern verbietet, kann er die Aufnahme des Angehörigen in seine Gemeinde nicht mehr von dem guten Willen derselben abhängig machen, und zweitens muß er die Gemeinde verpflichten, den Aufgenommenen auch nothdürftig zu unter- halten. Er muß daher eine Angehörigkeit setzen, die von ihm ausgeht, und eine Unterstützungspflicht, die er bestimmt. Und die Gesammtheit der Grundsätze, nach denen dieß geordnet wird, bildet nunmehr, als supplementarer Theil der Gemeindeangehörigkeit, das Heimathswesen. Das Heimathswesen erscheint daher als derjenige Theil der administrativen Bevölkerungsordnung, welche die Zustän- digkeit des Armen zu einem Unterstützungskörper, oder die Armenzuständigkeit bestimmt . Und die Grundsätze, nach denen dieß geschah, lagen bereits gegeben vor. Da nämlich noch immer die Gemeinde in ihren verschiedenen For- men die örtlich vollziehende Gewalt der Verwaltung, und als solche in ihrer Selbständigkeit anerkannt war, so war es natürlich, daß diese Armenzuständigkeit nicht wie in England auf eine Verwaltungsgemeinde, und nicht wie in Frankreich auf den — in Deutschland im Grunde bloß oberaufsehenden — Staat, sondern direkt auf die Gemeinde zurück- geführt ward. Die Gemeinde ward der Unterstützungskörper für alle ihre Angehörigen . War sie das, so konnte die Ange- hörigkeit an die Gemeinde zum Zwecke eben dieser Unterstützung auch nur als eine vom Staate bestimmte, also auf einem von der Gemeinde und ihrem Willen unabhängigen Grunde beruhende angesehen wer- den. Ein solcher Grund aber war zuerst und unbedingt die Geburt , in zweiter Reihe ein dauernder Aufenthalt . Die Aufstellung der Armenunterstützungspflicht für die Gemeinde erzeugte daher, neben dem selbstverständlichen Satz, daß das Gemeindebürgerthum das Recht auf Unterstützung mit sich bringe, die zwei Principien für die Armen- zuständigkeit, die im Wesentlichen noch heute gelten, erstlich daß die Geburt, und zweitens daß ein längerer Aufenthalt diese Zuständigkeit verleiht, ohne alle Rücksicht auf eine Aufnahme von Seiten der Ge- meinde. An diese, schon im vorigen Jahrhundert vielfach ausgesprochenen Sätze schließen sich die Bestimmungen des heutigen meist in sehr ein- facher Weise an, und bilden so als das entstehende Heimathswesen diesen Theil des Rechts der Zuständigkeit. So war nun die erste Gestalt der Verwaltungsordnung der Be- völkerung in Deutschland entstanden. Sie war für sich betrachtet, aller- dings sehr klar. Allein sie behielt die ganze, im vorigen Abschnitt dar- gestellte ständische Verwaltungsordnung bei , und zwar mit allen ihren Principien und Rechten. Sie nimmt die letztere nicht in sich auf und verarbeitet sie nicht, sondern sie legt sich gleichsam über dieselbe hin, und läßt sie auch da, wo sie mit ihr in Gegensatz tritt, als ein erworbenes Recht auf eine Ausnahmsstellung unverletzt be- stehen, und zwar nicht bloß für die Gerichtsbarkeit, sondern auch für die übrigen amtlichen Competenzen in Finanzfragen wie Zoll, Mauth Steuer, und in den innern Fragen wie Wegewesen, Schulwesen, Be- sitzvertheilung, Grundbuchswesen und anderes. Dazu kommt, daß jeder kleine deutsche Staat wieder seine eigene administrative Bevölkerungs- ordnung hat, oft sogar eine verschiedene in den verschiedenen Theilen. Es ist daher weder möglich noch auch von dauerndem historischem Werthe, ein vollständiges Bild dieser Zustände in Competenz, Angehörigkeiten an Korporationen und Gemeinden, Polizei und Heimathswesen festzu- stellen. Den besten Versuch, dieß Bild wenigstens für einen Staat so vollständig als möglich auszumalen, hat für Oesterreich Kopetz in seiner Politischen Gesetzkunde, für Preußen Fischer in seinem Polizei- recht gemacht. Es sind dieß unschätzbare Quellen für die specielle Ge- schichte des innern Lebens Deutschlands, welche die deutsche Geschicht- schreibung nur noch wenig benutzt hat. Es ist kein so ganz leichter Vorwurf für sie, daß nur Freitag , offenbar von Macaulay’s Be- handlung angeregt, in seinen „Neuen Bildern“ uns dieselben halb in novellistischer Form verarbeitet vorführt. Ohne das Studium von Männern wie Berg, Fischer, Kopetz, Justi, Sonnenfels, sollte es keine Geschichtschreibung des vorigen Jahrhunderts geben. 4) Das neunzehnte Jahrhundert und die Verwaltungs- ordnung der Bevölkerung in Deutschland, namentlich das Gemeindebürgerrecht und das Heimathsrecht . Allgemeiner Charakter. Will man nun auf Grundlage der bisherigen Darstellung sich über den gegenwärtigen Zustand jener Rechtsverhältnisse in Deutschland klar werden, so muß man gewisse Gesichtspunkte unbedingt festhalten. Zuerst hat die Bundesakte jeden Staat souverän gemacht, ohne Rücksicht darauf, ob seine Größe ihn fähig macht, die großen organischen Kategorien des Staatslebens bei sich zu entwickeln. Es gibt daher rechtlich so viele Bevölkerungsordnungen, als es Staaten gibt, und das was man Vergleichung nennt, ist zum Theil noch geradezu un- möglich. Zweitens ist in der Bildung der Bevölkerungsordnung noch kein allgemein gültiges und anerkanntes Princip zum Durchbruch gekom- men, sondern auch jetzt noch die Grundlage des vorigen Jahrhunderts gültig. Noch immer erhalten sich die Grundzüge der ständischen Ord- nung, zum Theil sogar gegenüber den rein amtlichen Competenzen, fast allenthalben aber im Gebiete der Angehörigkeiten an die Selbstverwal- tungskörper aller Art, und mit ihnen auch die aus der früheren Ent- wicklung stammenden großen Verschiedenheiten derselben. Namentlich gilt dieß da, wo man es bei dem vielfachen wortreichen Reden und Drängen nach „bürgerlicher Freiheit“ und „deutscher Einheit“ am wenigsten erwarten sollte, beim Gemeindebürgerrecht. Hätte man daher auch die Quellen aller bestehenden Territorialgesetzgebungen — und der Verfasser kennt niemanden , der sie je alle gesehen hätte — so würde man doch nicht zu einem einheitlichen Bilde gelangen. Es bleibt daher, um der Darstellung des deutschen Lebens auf diesem Gebiete dieselbe Klarheit zu geben, die wir in England und Frankreich finden, nichts übrig, als jene Verschiedenheit so viel als möglich auf die Grundbegriffe und Elemente zurückzuführen, die sie ge- mein haben, und zu zeigen, wo eigentlich der Mangel in den gesetzlichen Anordnungen, der Grund der zum Theil unglaublichen Engherzigkeit im Gemeindebürgerrecht, und mithin das Ziel liegt, dem die unläugbar vorhandene Bewegung entgegenstrebt. Es ist ganz und gar unmöglich, hier bei einer rein objectiven Darstellung stehen zu bleiben, was am besten wohl Bitzers Arbeit gezeigt hat, der namentlich über Gemeindeangehörig- keit und Heimathwesen Deutschlands das reichhaltigste Material gesammelt hat, das wir bisher besitzen, ohne doch zum Abschluß zu gelangen. Dabei nun ist es keine Frage, daß der Schwerpunkt der ganzen Auffassung im Begriffe und der Stellung der Gemeinde gegenüber der amtlichen Organisation liegt. Die letztere ist ziemlich klar und gleichartig, und die amtliche Bevölkerungsordnung mit den Competenzen und Zuständigkeiten der finanziellen, richterlichen und administrativen Behörden dürfen wir im Wesentlichen als bekannt setzen. Das, warum es sich handelt, ist die in Gemeindeangehörigkeit und Heimathwesen gegebene äußere Gestalt und Ordnung der Selbstverwaltungskörper , über die man sich gesetzlich eben so wenig einig geworden, als man es bisher über den Begriff der Selbstverwaltung selbst war. Das Folgende muß daher dasjenige erfüllen, was wir in der Lehre von der vollziehenden Gewalt über die deutsche Gestalt der Selbstver- waltung gesagt haben. Die Gemeindeangehörigkeits- und Heimathsfrage in Deutschland. ( Die historische ständische Ortsgemeinde wird die Grundlage des ganzen Gemeindewesens und damit der gesammten Selbst- verwaltung in Deutschland. Folgen dieser Thatsache für die Verfassung und Verwaltung der letzteren im Allgemeinen, und für das Heimathswesen im Besondern .) Allerdings hatte sich, wie oben erwähnt, die ganze ständische Ge- stalt der Bevölkerungsordnung in Deutschland nicht bloß im vorigen Jahrhundert, sondern auch noch nach den französischen Kriegen erhalten. Es gab und gibt keine volle staatsbürgerliche Gleichheit und Ein- heit der Verwaltung wie in England und Frankreich. Allein der amt- liche Organismus hatte die eigentliche Thätigkeit der ständischen Selbst- verwaltungskörper theils neutralisirt, theils sich gänzlich dienstbar gemacht. Ohne geradezu das Recht desselben zu vernichten, hatte er ihnen doch die Ausübung genommen, und seine Organe an allen Punkten an die Stelle der früheren gesetzt, so daß diesen nur noch der Name, und zum Theil auch dieser nicht geblieben war. Dafür aber hatte er, nicht weniger allmächtig und strenge als in Frankreich, doch den naheliegen- den Ersatz im Staatsbürgerthum durch Verleihung einer Verfassung nicht geboten. Das Gefühl der bürgerlichen Unfreiheit war daher so stark, daß es selbst mächtiger war als das der gesellschaftlichen Un- gleichheit. Und das war es, was den folgenden Dingen ihren Cha- rakter gab. Der Kampf nämlich, der sich schon seit 1813, in neuer Gestalt aber seit 1830 gegen diese ausschließliche Herrschaft des amtlichen Or- ganismus erhob, erscheint eben deßhalb zunächst wesentlich als ein negativer. Es handelt sich in diesen 30 Jahren nicht so sehr um das, was eigentlich durch die Verwaltung geschehen soll, als um das, durch wen es geschehen soll. Man will nicht so sehr gute Gesetze und Ad- ministration, als das Recht, beide unter Mitwirkung der Vertretungen zu bestimmen. Daher gehen alle Bestrebungen dieser Zeit nicht so sehr dahin zu fragen, was die eigentlichen Aufgaben der Staatsgewalt, als dahin, welches die richtigen Formen der Theilnahme des Volkes an der Erfüllung dieser Aufgaben seien. Und wie die Grundgesetz- gebung der Staaten daher in organischen Verfassungen culminiren, so gipfelt die Staatswissenschaft statt in der Verwaltungslehre vielmehr in der Verfassungstheorie. Das war allerdings der natürliche Gang der Dinge. In dieser Bewegung nun, bei ziemlich völliger Unklarheit über Wesen und Aufgabe der Verwaltung und den Voraussetzungen ihrer Lösung, namentlich in Bezug auf die dazu erforderliche Verwaltungs- ordnung der Bevölkerung, lag es nahe, sich an die gegebenen Ge- staltungen der letzteren anzuschließen, und dieselben ohne eingehende Beurtheilung ihres Verhältnisses zur Verwaltung, nur erst und vor allen Dingen zu Trägern des Princips der Verfassung zu machen. Natürlich griff man dabei zuerst auf die Gemeinde zurück. Das Ge- meindeleben war das, was man eigentlich noch recht übersehen konnte. In der Gemeinde ließ sich die Idee des Staatsbürgerthums, die Theil- nahme des Einzelnen am öffentlichen Willen am leichtesten verwirklichen. Sie erschien nach aristotelischer Auffassung als der Grund des Staats. Eine freie Gemeindeverfassung war und blieb das nächste Ziel der frei- heitlichen Bestrebungen. Dazu kam, daß die Neugestaltung des deutschen Reiches eine Unzahl von früher selbständigen Gemeinden in die neuen Staaten eingereiht hatte, die deßhalb einer neuen Ordnung bedurften. Die große Verfassungsbewegung begann daher mit den neuen Gemeinde- verfassungen; bei einigen Staaten, namentlich den Elbstaaten, kam es auch dazu nicht, bei andern wie in Preußen, blieb man dabei stehen, aber bei einigen, wie namentlich im Süden, wurden diese Gemeinde- verfassungen integrirende Theile der Staatsverfassung. Aber seit 1808, wo die erste verfassungsmäßige Gemeindeordnung in Preußen erschien, glaubte man mit der Frage nach dem Gemeinderecht die wesentlichste Seite der Verfassung erfüllt oder doch vorbereitet zu haben. Das war nun recht gut. Allein indem man das forderte, übersah man gänzlich, daß man eigentlich gar keinen Begriff von der Gemeinde habe , und daher auch unfähig war, selbst bei voll- kommenster Freiheit der Gesetzgebung, sich eine wirklich eigenthümliche und genügende Verfassung der Gemeinden zu schaffen. Wir haben in der vollziehenden Gewalt dargelegt, daß dieser Begriff, der nicht so gar einfach und nicht mit dem vieldeutigen und unklaren Wort „Ge- meinde“ schon gegeben ist, auch jetzt noch nicht existirt. Anstatt nun zu fragen, was denn eigentlich eine Gemeinde als Selbstverwaltungs- körper sei oder sein solle, ergriff man den nächstliegenden Weg, und nahm die deutsche historische Ortsgemeinde für die wahre Gemeinde , indem man alle im Wesen der Gemeinde liegenden organischen Begriffe und Rechte ohne weiteres auf diese thatsächliche, historisch gewordene Ortsgemeinde übertrug . Man kann nicht nachdrücklich genug diese große historische Thatsache hervorheben, denn sie ist es, welche dem deutschen Gemeindewesen und allem was sich an sie schließt, namentlich auch der Verwaltungsordnung der Bevölkerung, ihre ganze gegenwärtige Gestalt, all ihre Einseitigkeiten und Verschieden- heiten, all ihr nur zu oft fühlbares Ungenügen gegeben hat. Denn vermöge dieser Uebertragung des Begriffs der Gemeinde und der freien örtlichen Selbstverwaltung auf die historische Ortsgemeinde wollte man das gesammte Gemeindewesen der Staaten auf die gleichen Kategorien der Verfassung und Verwaltung reduciren, obwohl man zugleich die Ortsgemeinde als historisch berechtigten, mit seinen Gränzen gegebenen Körper annahm. Dieß war ein unlösbarer Widerspruch, und dieser Widerspruch zeigte bald seine Folgen; Folgen, die zu übersehen die ganze Einseitigkeit der deutschen Publicistik nicht immer ausreichte. Um nämlich die örtliche freie Selbstverwaltung als Gemeinde her- zustellen, bedarf es zweier unbedingter Voraussetzungen. Zuerst muß der Grundsatz der Gleichheit für das Gemeindebürgerthum durchführ- bar sein; zweitens muß die Gemeinde selbst groß genug sein , um die ihr überwiesenen Verwaltungsaufgaben zu erfüllen. Um beides zu haben, muß man aber entweder die staatsbürgerliche Gleichheit schon besitzen, und die Gemeindekörper nach ihrer Aufgabe, statt die Auf- gaben nach den Gemeindekörpern einrichten, wie beides in England der Fall war, oder man muß jene Gleichheit durch eine Revolution her- stellen, und die Gemeinden ganz nach dem Schema der amtlichen Or- ganisation vertheilen, wie in Frankreich. Keines von diesen Dingen war in Deutschland der Fall. Indem man statt dessen einfach die historisch gebildete Ortsgemeinde den allgemeinen Gemeindeverfassungen zum Grunde legte, ohne weder die staatsbürgerliche Gleichheit herzu- stellen, noch auch die Gemeinden anders zu vertheilen, entstand jenes unklare und unfertige Gemeindewesen Deutschlands, in dem wir uns noch befinden, und das offenbar nur als Uebergang zu einer höheren Ordnung der Dinge anerkannt werden kann. Wir wollen versuchen, die Elemente desselben hier kurz zu charakterisiren. Die Idee einer freien Verfassung der Gemeinden, wie sie die verschiedenen Gemeindeordnungen enthalten, konnte sehr leicht ihr Schema in Wahl und Wählbarkeit, Gemeindevertretung und Gemeinde- haupt finden, ohne viel Werth auf verschiedenen Census und verschiedene Namen zu legen. Allein anders war es mit dem Gemeind ebürger- recht . Das Gemeindebürgerrecht ist ohne gesellschaftliche Gleichstellung undenkbar. Indem man nun die alte Ortsgemeinde annahm mit ihrer ganzen historischen Gestalt, zeigte es sich zunächst, daß nur die Stadtgemeinden und mit ihnen einzelne Landgemeinden überhaupt den Begriff des Bürgerrechts zuließen . Denn historisch bestand neben Stadt und Dorf noch die Herrschaft mit ihrer Gutsgerichtsbarkeit, auf dem ständischen Besitzrecht begründet. Die Einführung des Ge- meindebürgerrechts in den Herrschaften mit Patrimonialgerichtsbarkeit war natürlich ein Unding. Es hätte den Herrn zu seinem eigenen Unterthan gemacht. Hier war daher eine reine Gemeindeverfassung so lange absolut unmöglich, als die Patrimonialgerichtsbarkeit bestand, und die erste Folge war, daß es eben gar keine, wie in Preußen, oder keine allgemein gültige Landgemeindeordnung wie in Bayern und Württem- berg, oder eine von der Stadtgemeindeordnung wesentlich verschiedene wie in Sachsen gab. — Aber auch nach Aufhebung der Patrimonial- gerichtsbarkeit, wie in Oesterreich, zeigte sich auf dem Lande ein zweites Verhältniß. Der Besitz der früheren Herren war zum Theil so groß, daß sich in ihm allein die alte Ortsgemeinde fortsetzte. Es war denn doch ein Unding, eine Ortsgemeinde mit einem Dutzend Gemeindebürgern unter gleichem Stimmrecht, aber unter absolut ungleicher Belastung an- zuerkennen. So lange man bei der Ortsgemeinde stehen blieb, war hier nicht zu helfen. Der wahre Ausweg, die Bildung der Verwal- tungsgemeinden aber, wird nur noch als Amtsbezirk gedacht (s. unten). Man half sich daher, indem man entweder besondere Gemeinde- ordnungen erließ, oder die allgemeinen eben gar nicht, oder nur nominell zur Ausführung brachte. Schon dadurch ward die Zurückführung des Princips der Bevölkerungsordnung auf die Selbstverwaltung unthun- lich, und es ist der durchgehende Charakter des deutschen Gemeinderechts, daß es eigentlich nur für die Städte gilt , wie es historisch im Wesen der ständischen Ortsgemeinde begründet war. Die Landgemeinde- ordnungen sowohl wie ihr Mangel sind dabei von der Lehre des öffent- lichen Rechts unverarbeitet geblieben. Haben doch die Sammlungen wie die von Weiske und Zachariä sie ganz bei Seite liegen lassen, und das zwar zur selben Zeit, wo Grimm durch seine Weißthümer und Bauernsprachen die alte Landgemeindeordnung neben die Stadt- rechte gestellt, und die französische Rechtsgeschichte die Coutumes, die ja zum großen Theil Landgemeinderecht enthielten, verarbeitet hat! — Aber auch die ständische Gemeindeverfassung, auf Grundlage der historischen Ortsgemeinde, kam nicht zum rechten Gemeindebürgerthum. Das Gemeindebürgerrecht unseres Jahrhunderts ist in der That nicht viel mehr und besser als eine einfache Reduction des geltenden Rechts der ständischen Ordnung. Wir haben gesehen, wie die ständische Stadtgemeinde sich stets als selbständigen Verwaltungskörper ansah, und deßhalb zuerst dem Ein- zelnen nur gegen ausdrückliche Aufnahme das Bürgerrecht verlieh; dennoch aber eine Menge von Personen enthielt, die obwohl unzweifel- haft ansässig, doch an dem Bürgerrecht nicht Theil nahmen — zwei Grundsätze, welche sowohl in England als in Frankreich unmöglich sind. Die Aufstellung der Ortsgemeinde als Grundlage der Gemeinde überhaupt ließ nun in Deutschland jene beiden Principien bestehen, und sanctionirte sie formell in den neuen Gemeindeordnungen, ohne sich über die wahre Bedeutung der Sache Rechenschaft abzulegen. Da- durch sind nun die geradezu wunderlichsten Bestimmungen in die neuesten deutschen Gemeindeordnungen hinein gekommen, für die es weder eine rationelle Begründung noch einen juristischen Inhalt gibt, und die einzig und allein sich in obiger Weise historisch erklären. Diese Bestimmungen sind wesentlich folgende: Erstlich haben die Gemeinden das Recht, die Aufnahmen zu ver- sagen, wenn der Betreffende, der Bürger werden will, „keinen guten Leumund besitzt,“ was um so mehr ein Unding ist, als im ganzen übrigen Rechtsleben sogar mit der abgebüßten Strafe die Folgen des Verbrechens verschwinden. Und wer wird die Gränze des „Leumundes“ bestimmen, wenn nicht das Interesse? Zweitens haben sie das Recht, ein Eintrittsgeld und meistens ein Vermögen als Bedingung der Aufnahme zu fordern, eventuell die Ehe zu bewilligen (s. oben), wobei es schwer zu sagen ist, welches von beiden Rechten in größerem Widerspruch mit den Principien des freien Staatsbürgerthums steht. Drittens aber sollen sie die Aufnahme in das Gemeindebürger- thum nicht verweigern dürfen, wenn die gesetzlichen Bedingungen vorhanden sind. Welchen Sinn hat eine „Aufnahme,“ die ich vornehmen muß ? Und ist es nothwendig , daß sich der Ansässige aufnehmen lasse, wozu die Möglichkeit lassen, daß er nicht darum bittet? Enthält sie neue Verpflichtungen, so wird er sie ohnehin unterlassen. Hat er aber die Verpflichtungen des Gemeindebürgers in Stimme und Lasten ohnehin, warum von einer sogenannten „Aufnahme“ erst das Recht , das natürlich aus der Theilnahme an den Lasten folgt, abhängig machen? Das alles ist, wie gesagt, nur historisch begreiflich. Endlich haben einige Länder den Grundsatz gesetzlich ausgesprochen, daß jeder Staatsbürger Mitglied irgend einer Gemeinde sein muß , was sich von selbst versteht, wenn sich einer darunter eine entweder natürliche (Geburt) oder gewerbliche (Aufenthalt) Heimath denkt, was aber gar keinen Sinn hat, wenn man daneben das Princip der Aufnahme in das Bürgerrecht setzt, da diese ja eben von der Gemeinde abhängt. — Dagegen bricht sich dann der ständische Grundsatz in der Frage Bahn, ob Geistliche, Staatsdiener und zum Theil sogar Grund- herren Stadtgemeindebürger sein können, was einige verneinen, andere bejahen. Man sieht auf den ersten Blick, daß hier durch das Festhalten der alten Ortsgemeinde innerhalb der unklaren Vorstellung vom „freien“ Gemeindebürgerthum eine unendliche Verwirrung entsteht. Sie wird nicht geringer, wenn man die Gemeindeverwaltung betrachtet. Auch hier sind die sachlichen und formalen Verhältnisse sehr leicht formulirt; Gemeindelasten, Gemeinderechnungen, Gemeindediener u. s. w. — alle diese Dinge gehen fast von selbst aus dem reinen Begriff der örtlichen Selbstverwaltung hervor. Allein ganz anders gestaltet sich das, sowie der Begriff der historischen Ortsgemeinde den Satz zur Gel- tung bringt, daß jede Ortsgemeinde alle Staatsaufgaben örtlich zu vollziehen habe. In der That nemlich ist ohne diesen Satz die Orts- gemeinde nur ein, und noch dazu in den bei weitem meisten Fällen sehr untergeordneter Körper der Selbstverwaltung. Mit demselben aber tritt sofort der Widerspruch auf, daß die meisten Ortsgemeinden gar nicht dazu im Stande sind. Jene Beschränkung des Gemeinde- begriffes und der Gemeindeordnungen auf die historische Ortsgemeinde zeigt daher auch auf diesem Punkte die Unfertigkeit des ganzen deutschen Gemeindewesens. Die erste Folge derselben war nämlich die Beibehaltung der histo- rischen Begriffe und Rechte von Schutzbürgern, Beisassen u. s. w. im neuen Gemeinderecht. Daß dieselben einen sehr guten Sinn hatten, als die Landgemeinde als Herrschaft unfrei, die Stadtgemeinde frei war, ist wohl klar. Sehr schwer dagegen ist zu sagen, was es in heutiger Zeit bedeuten soll, wenn einige Gemeindeordnungen das Schutzbürgerthum auf das Recht, von der Gemeinde Schutz zu verlangen, oder den Satz, daß der Beisasse unter dem „Schutz der Gemeinde“ stehe, be- ziehen. Denn der Schutz und das Gericht, welche derselbe von der Gemeinde zu verlangen hat, beruhen eben gar nicht auf seinem Schutz-, sondern auf seinem Staatsbürgerthum . Er hat nicht mehr und nicht weniger Schutz, als jeder Reisende und Fremde in der Ge- meinde. Die ganze Vorstellung vom sogenannten Schutzbürgerthum bedeutet jetzt vielmehr etwas anderes. Es soll das Rechtsverhältniß des Ankömmlings von dem Augenblick seiner ersten Niederlassung bis zur „Aufnahme“ in das Gemeindebürgerthum, oder das Rechtsverhältniß des Erwerbens des letzteren bezeichnen. Das hat nur dann einen Sinn, so lange es erstens noch eine solche Aufnahme gibt, und zweitens in so fern eine gewisse Dauer des Aufenthalts nothwendig ist, um das Heimathsrecht zu gewinnen. Ein „Schutzbürger“ ist daher ein Ein- wohner, der noch kein Heimathsrecht an dem Orte seiner Niederlassung gewonnen hat. In jeder andern Beziehung ist er dem Heimath- berechtigten gleich . In diesem Sinne aber gehört wieder das sogenannte Schutzbürgerthum daher überhaupt nicht in das Gemeinderecht, sondern in das Heimathsrecht . Denkt man sich aber unter dem Schutz- bürgerthum die Gemeindeangehörigkeit ohne Theilnahme an Wähler- recht und Wahlfähigkeit, so ist jeder Angehörige ein Schutzbürger, auch der Heimathberechtigte seit Generationen, ja der reiche Unmündige, und selbst der oberste Beamte eines Kreises, unter dem die Verwaltung der Gemeinde steht, ist Schutzbürger dieser von ihm verwalteten Gemeinde. Man sieht, daß nur die, sogleich zu erwähnende Verschmelzung von Gemeindeangehörigkeit und Heimathsrecht diesem sonst nur historisch er- klärbaren Wort einen Sinn gibt. Es ist kein Zweifel, daß das ganze Verhältniß verschwinden wird, sowie sich eine wahre Gemeindeverfassung aus den gegenwärtigen Zuständen entwickelt. Die zweite Folge war die Frage, ob mit der Gemeindeangehörig- keit auch das Recht auf den Gewerbebetrieb , das Gewerbebürger- thum, gewonnen sein sollte. Nur die Uebertragung der alten ständischen Unfreiheit auf die neuen Gewerbeordnungen konnte dieß Recht überhaupt in Frage stellen, und hier traten mitten in aller scheinbaren Verfassungs- freiheit die schreiendsten Beschränkungen der staatsbürgerlichen Freiheit durch das Ortsgemeinderecht hervor. Die Staaten, welche die Zünfte aufgehoben, wie Preußen, das es zum Theil, und Oesterreich, das es ganz gethan, machten allerdings den Gewerbebetrieb vom Gemeinderecht un- abhängig; andere Staaten dagegen wie Bayern, Württemberg, Baden, setzten den Erwerb des Bürgerrechts als Bedingung des Gewerbe- betriebsrechts. Hier gewann freilich der Akt der „Aufnahme“ einen praktischen Sinn für das engherzige Interesse der Zunftgenossen! Und so ist auch diese tiefe Anomalie mit dem Princip des freien Staats- bürgerthums nur historisch erklärbar. Das waren die beiden Folgen, die sich innerhalb der Gemeinde zeigten. Eine dritte, viel wichtigere Folge dieser Beschränkung der neuen Idee der Gemeinde auf die alte Ortsgemeinde entstand nun dadurch, daß dadurch die Aufgaben principiell für alle Gemeinden gleich wer- den, während thatsächlich die Mittel der einzelnen Gemeinden ihre örtliche Vollziehung geradezu oft unmöglich machten. Das mußte aber mit jedem Jahre fühlbarer werden, da mit jedem Jahre diese Aufgaben wuchsen, und mit jedem Jahre mehr Mittel forderten. Die Consequenz davon zeigte sich nun nach zwei Seiten. Da nämlich die großen Verwaltungsaufgaben nicht ungelöst bleiben konnten, so ergab es sich gleichsam von selbst, daß die amtliche Ver- waltung solche Aufgaben übernahm, und die kleinen Gemeinden damit ihre eigentliche Selbstverwaltung wieder an den größeren, dem Umfange der Verwaltungsaufgabe entsprechenden Amtsbezirk theils direkt, theils indirekt verloren . Das ist der einfache und natürliche Grund, weßhalb die Selbstverwaltung nur in den größern Städten festen Fuß gefaßt hat, während unter den Landgemeinden die Theilnahme der An- gehörigen eine höchst beschränkte und örtliche ist. Wer nur einigermaßen die wirklichen Verhältnisse des Lebens kennt, der wird unbedingt zu- gestehen, daß hier die Selbstverwaltung, und fast immer aus dem obigen Grunde, ein ziemlich leeres Wort ist. Während aber die amtliche Verwaltung fast auf allen andern Punkten sich an der Stelle der Selbstverwaltung erhielt, wies sie auf Einem Gebiete alle positive Verpflichtung von sich und der Ortsgemeinde zu, das war die Armenunterstützung . Schon das vorige Jahr- hundert hatte den alten ethischen Satz, daß jede Gemeinde ihre Armen zu ernähren habe, zu einer staatlichen Vorschrift gemacht. Die unbe- dingte Gültigkeit dieses Grundsatzes hatte daher zur natürlichen Folge, daß man für diese Armenangehörigkeit Grundsätze aufstellte, welche sie von dem Willen der Gemeinde, also auch von der Gemeinde- angehörigkeit unabhängig machte. Dadurch ward eine Zuständig- keitsordnung nothwendig, welche neben derjenigen, auf welcher die Gemeindeangehörigkeit beruhte, auftrat, und so entstand durch das Zu- sammenwirken dieser Momente das deutsche Heimathsrecht und sein charakteristischer Unterschied von dem englischen und französischen . Wir glauben, daß dasselbe nunmehr in seinen allgemein gültigen Grundzügen leicht zu bezeichnen sein wird. Der erste Grundsatz desselben ist, daß die Armenerhaltung nicht als Sache des Staats, sondern der Ortsgemeinde anerkannt ist, während Frankreich die letztere wenigstens für persönlich Arme als Staatsangelegenheit betrachtet, und die wirthschaftlich Armen vorzugs- weise der Privatwohlthätigkeit zuweist, England dagegen diese als Staats- last anerkannte Verpflichtung durch die Verwaltungsgemeinde des Kirch- spiels und der union vollziehen läßt. So lange nun die Armuth noch den Charakter eines nur den Einzelnen treffenden Unglücks hat, ist diese Pflicht der Ortsgemeinde, sei es Stadt oder Herrschaft, eine unbedeutende. So wie aber mit der Entwicklung der Industrie die wirthschaftliche Armuth des Erwerb- losen ein allgemeiner Zustand wird, beginnt hier der Widerspruch sich zu entwickeln, auf dem eben die Eigenthümlichkeit und Unfertigkeit des deutschen Heimathsrechts beruht. Die Ortsgemeinde des täglichen Er- werbes wird eine andere , als die Ortsgemeinde der Heimath; die Gemeinde, welche den Arbeiter während seiner Arbeitsfähigkeit be- nützt, kann nicht wünschen, ihn bei seiner Arbeitsunfähigkeit unter- stützen zu müssen, während die Gemeinde, der er angehört, in der er aber nicht gelebt hat, eben so wenig diese Unterstützung als eine für sie natürliche Last ansieht. Daher entsteht denn das unter diesen Umständen ganz natürliche Streben jeder Gemeinde, den Erwerb der Armenange- hörigkeit so schwierig als möglich zu machen. Indem nun aber die örtliche Pflicht der Armenunterstützung trotz- dem bestehen bleibt neben der immer größern Bewegung der Arbeiter, entsteht ein streng ausgebildetes System des Rechts dieser Armenange- hörigkeit oder des Heimathsrechts, und der Punkt, auf welchem sich der Streit bewegt, ist nunmehr leicht zu bezeichnen. Zuerst ist es in keinem Recht bezweifelt, daß das Gemeinde- bürgerrecht das Heimathsrecht enthält, und es mithin erzeugt. Wir nennen dasselbe daher das bürgerliche Heimathsrecht . Ein solches gibt es, wie schon oben erwähnt, weder in England, noch in Frankreich. Zweitens muß jeder eine Heimath haben, weil jeder bei abso- luter persönlicher Armuth unterstützt werden muß . Diese Angehörig- keit muß demnach mit der Person selbst unmittelbar, also mit ihrer Geburt und Familie gegeben sein. Wir nennen sie daher das na- türliche Heimathsrecht . Es gilt sowohl in England als in Frankreich. Drittens aber, und hier entsteht die eigentliche Frage, muß der dauernde Aufenthalt, das Domicile der Einzelnen, das ja die Ge- meindeangehörigkeit für alle einzelnen Lebensverhältnisse ergibt, zuletzt auch die volle Angehörigkeit an die Gemeinde als Armenangehörig- keit oder Heimathsrecht erzeugen . Ueber dies Princip als solches sind alle deutschen Gesetze klar. Wir nennen dieses Heimathsrecht als das durch das gewerbliche Leben erworbene das gewerbliche Heimaths- recht . Ein solches kennt Frankreich nicht, wohl aber England. Und in Deutschland, wie in England spitzt sich daher die ganze Frage nach dem Heimathsrecht in der Frage zu, unter welchen Umständen und binnen welcher Zeit das gewerbliche Heimathsrecht in einer Ortsgemeinde erworben , und in einer andern verloren wird. Nun versteht es sich von selbst, daß die erste Bedingung jedes Erwerbes der einer gewerblichen Heimath die Niederlassung, erst die zweite jene Dauer des Aufenthalts ist. Der Wunsch der Ortsgemeinden als Heimathsgemeinden, sich der Armenpflicht so viel als möglich zu entziehen, mußte daher zuerst den Wunsch hervorrufen, die Nieder- lassung überhaupt von ihrer Zustimmung abhängig zu machen, und zwar so, daß nicht bloß das Gemeindebürgerrecht im eigentlichen Sinn, sondern auch die Gemeindeangehörigkeit erst durch eine solche formelle Aufnahme in die Gemeinde erworben würde. Die Bedeutung einer solchen Aufnahme ward dann nicht die, daß der Aufgenommene das eigentliche Bürgerrecht, sondern nur das Recht gewann, nicht aus- gewiesen werden zu können. Es blieb ihm dann überlassen, zu bleiben, oder vor dem Erwerb des Heimathsrechts fortzuziehen. Um aber nicht die wandernde Arbeit dadurch von dem hiemit direkt aner- kannten Recht der Ausweisung abhängig zu machen, ließ man das alte System der Heimathsscheine , gerade wie in England, bestehen; dieselben hatten jetzt nicht mehr, wie im vorigen Jahrhundert, einen vor- zugsweise polizeilichen, sondern einen administrativen Charakter. Als natürliche Folge davon ergab sich aber, daß nunmehr die Ortsgemeinde die Bedingungen der Aufnahme in die Angehörigkeit eben so vor- schrieb, wie die der Aufnahme in das Bürgerrecht , was theils zur Forderung eines Vermögensnachweises, theils zum Recht der gemeindlichen Stein , die Verwaltungslehre. II. 22 Eheconsense führte. So entstand innerhalb des Gemeindeange- hörigkeitsrechts das Recht der Niederlassung , oder die Formen und Bedingungen, unter denen die Niederlassung als Gemeindeange- hörigkeit noch ohne Heimathsrechtsrecht oder ohne Armenzuständig- keit erworben wurde; ein Verhältniß, das wiederum weder England noch Frankreich kennen. — Diesem Niederlassungsrecht, der negativen Seite der Gemeindeangehörigkeit tritt nun natürlich das Princip der freien Bewegung entschieden entgegen und fand seinen Ausdruck in der Forderung, daß jeder an jedem Orte sich niederlassen dürfe, oder in dem Rechte der Freizügigkeit . Beide standen in scharfem Wider- spruch, und stehen noch darin. Das negative Niederlassungsrecht beruht auf dem Gemeinderecht, das positive Freizügigkeitsrecht auf dem Staats- bürgerrecht. Jenes hat seinen Grund im historischen Element der alten Ortsgemeinde und im administrativen der Identität von Orts- und Armengemeinde; dieses im Wesen des staatsbürgerlichen freien Gewerbes und in dem Princip des freien Hilfswesens. Beide Rechte können nun diese oder jene Form haben, aber es ist keinen Augenblick zweifelhaft, daß sie sich principiell unter allen Formen gegenseitig aufheben . Es ist absolut unthunlich, ein Freizügigkeitsrecht mit irgend einem Niederlassungsrecht zu verbinden . Hier gibt es daher gar kein Auskunftsmittel, sondern nur ein neues Princip; und es ist schon hier klar, daß, wenn die Freizügigkeit als nothwendig anerkannt wird, dies als unbedingte Consequenz die Modifikation der Verpflichtung der Orts- gemeinde für die Versorgung der heimathberechtigten Armen erzeugen muß. Die zweite Frage nach dem Erwerb der gewerblichen Heimath war dann die Dauer des Aufenthalts, welche dem Erwerbe vorausgehen muß. Im Grunde kommt es dabei nicht viel darauf an, wie lang man diese Dauer setzt, sondern nur darauf, daß sie für alle Gemeinden gleich lang sey, da sonst der sich Niederlassende leicht ohne alle gewerbliche Heimath sein kann, und auf die rein zufällige natürliche Heimath zurückgeworfen wird. Um diese Dauer gleichmäßig herzustellen, muß sie natürlich nicht mehr der Selbstbestimmung der Gemeinden, sondern der Gesetzgebung überlassen werden. Das wird in denjenigen Staaten nothwendig , wo auch die wirthschaftliche Armuth als Ver- waltungsaufgabe des Staats und nicht als Sache der Privatwohl- thätigkeit erkannt wird. Daher haben England und die deutschen Staaten solche Gesetzgebungen, Frankreich aber nicht. In Folge aller dieser Punkte tritt das Heimathswesen in Deutsch- land in ein doppeltes wunderlich verwirrtes Verhältniß. Es ist zugleich ein Theil der Gemeindezuständigkeit, und zugleich auch nicht. Es gehört demselben, indem die Ortsgemeinde die Verwaltungs- gemeinde für das Armenwesen geworden und geblieben ist , und eben aus diesem selbigen Grunde hat die Ortsgemeinde im Gegen- satz zu dem Bedürfniß der freien Bewegung sich auf das Entschiedenste dagegen gesträubt, den Erwerb des Heimathsrechts durch gewerblichen Aufenthalt zuzulassen, während sie den Erwerb durch Geburt eben so unbestritten zuläßt. Dazu kommt, daß die Bedingungen jener Zu- lassung örtlich und zeitlich verschieden sind, und daß diejenigen Staaten, welche annähernd die Größe einer bedeutenden Ortsgemeinde haben, dies Gemeindebürgerthum, die Gemeindeangehörigkeit und das Heimathswesen noch außerdem mit dem Indigenat identificiren müssen . Es ward dadurch eine unsäglich mühevolle Arbeit, die im Grunde doch vielfach nur einen örtlichen , und stets nur einen vor- übergehenden Werth hat, das in den deutschen Bundesstaaten wirklich geltende Heimathsrecht aufzufinden. Selbst Bitzer hat in seiner eigens dafür bestimmten Schrift das nicht zu leisten vermocht. Es wäre dies sehr übel, wenn es nicht zugleich klar wäre, daß wir in dieser Be- ziehung einer principiellen Umgestaltung zu einer orga ischen Gestalt eines Heimathsrechts, das vom Gemeinderecht unabhängig ist, entgegen gehen. Die Elemente desselben aber sind ohne Zweifel folgende: 1) Die Armenunterstützung muß Aufgabe einer eigenen , für sie bestimmten, und eine Mehrheit von Ortsgemeinden umfassenden Armen- gemeinde , als Verwaltungsg emeinde, mit eigener Armenverfassung und Armenverwaltung werden. 2) Jede Beschränkung der Niederlassung und der Ehe muß auf- gehoben werden. 3) Die Dauer des Aufenthalts, welche die Armenzuständigkeit er- wirbt, muß gleichmäßig sein. 4) Der Erwerb dieser Zuständigkeit wird nur durch die nicht per- sönliche, sondern wirthschaftliche Armuth und die daraus folgende wirk- liche Unterstützung unterbrochen. 5) Jede Armengemeinde hat die Pflicht, diese Unterstützung eine gewisse Zeit hindurch fortzusetzen, aber nach Ablauf dieser Zeit die Ueberweisung an die natürliche Heimath und die daraus folgende natürliche Zuständigkeit durch Geburt und Ehe eintreten zu lassen. Es ist, wie wir glauben, hieraus vor allen Dingen Eins klar. Es ist unmöglich, das Heimathswesen oder die Armenzuständigkeit als letzten Theil der administrativen Ordnung der Bevölkerung auf Grundlage der Gemeindeangehörigkeit zu ordnen. Der Grund alles Streits sowie aller Unklarheit in der Theorie und der Verschiedenheit der Gesetzgebungen und ihrer Widersprüche liegt eben in nichts anderem, als daß der wesent- liche organische Unterschied zwischen Ortsangehörigkeit und Armenzuständigkeit , Gemeindewesen und Heimathswesen, noch nicht erkannt ist. Im Gegentheil gehört die ganze Lehre von dem erstern der Lehre von der vollziehenden Gewalt, speziell der Lehre von der Selbstverwaltung, die Lehre von dem letztern der Lehre von der innern Verwaltung, speciell vom Hülfswesen. Es ist nicht möglich, sich über das Heimathswesen klar und einig zu werden, ehe man sich über das Armenwesen klar und einig ist . Erst aus dem Princip für die Armenverwaltung wird das Princip, die Klarheit und Gleichartigkeit für das Heimathwesen auch in Deutschland hervorgehen . Wir dürfen uns daher hier begnügen, nur die Quellen des geltenden Rechts für den gegenwärtigen, aus den obigen Gründen unmeßbar verwirrten Zustand des Heimathswesens in Deutschland anzuführen, da wir ihn in jeder Beziehung nur als einen Uebergangszustand aner- kennen können. Literatur und Gesetzgebung für das deutsche Heimathsrecht. Im Allgemeinen muß man bei jeder Beurtheilung von Literatur und Gesetzgebung namentlich über Gemeindeangehörigkeit und Heimaths- wesen festhalten, daß die beständige Verschmelzung beider Begriffe und der mehr oder weniger klar ausgesprochene Grundgedanke, daß das Heimathsrecht nur ein Theil der Gemeindeangehörigkeit sei und sein, und also auch als solches verstanden und organisirt werden solle, eine eingehende Kritik von unserm Standpunkte gar nicht als thunlich erscheinen läßt. Es ist eben auf diesem Wege zu keinem Re- sultat zu kommen; nicht einmal darüber wird man einig, ob nicht auch das ganze Indigenationsrecht mit in das Heimathsrecht hinein gehöre. So hat Weiske in seiner sonst trefflichen Einleitung zu seiner „ Samm- lung neuer deutscher Gemeindegesetze“ 1848 das Heimathswesen gar nicht berührt. Döhl in seiner „Armenpflege des preußischen Staats“ 1860 läßt dafür wieder das Gemeinderecht weg; Bitzers oben ange- führtes Werk wirft Buntes durcheinander; die höchst geschmackvoll ge- arbeitete und in ihrem Gebiete wohldurchdachte kleine Schrift von Varnbühler : „Ueber die Frage eines deutschen Heimathsrechts“ 1864 hat sich leider wesentlich auf jenes wunderliche Gebiet beschränkt, welches wir das internationale Heimathsrecht unter den einzelnen deutschen Staaten nennen müssen, ohne auf das innere Heimathsrecht der ein- zelnen Staaten einzugehen; Schäffle , Deutsche Vierteljahrs-Schrift 1853 bleibt sehr unklar; Swieceny (s. u.) verschmilzt es vielfach mit dem Staatsbürgerthum; Stubenrauch läßt wieder das Gemeinde- wesen bei der Armenpflege weg; Rönne gelangt sogar dazu, folgenden Satz auszusprechen: „Die Staatsgenossenschaft, also das Staatsbürger- recht im weitesten Sinn, oder das Indigenat (Staatsangehörigkeit, Heimathsrecht , Inkolat) bildet die Bedingung der Rechte einer Person als Glied der Staatsverbindung.“ I. §. 86. Es wäre leicht, mehr Beispiele anzuführen. Doch muß ehrend hervorgehoben werden, daß Kries in seinem oben citirten Werk Gemeinderecht und Heimaths- wesen schon richtig scheidet, und daß Pözl mit seiner gewöhnlichen Klarheit, und Bluntschli Staats-Wörterbuch Art. „ Staatsbürger- recht “ eine vortreffliche Uebersicht über die geltenden Rechte für den Erwerb des Indigenats aufgestellt hat. Die Verwirrung der Be- griffe ist vollständig. Von einer Auffassung der administrativen Ord- nung der Bevölkerung als eines selbständigen Gebietes der Verwaltung, von Verbindung der Competenz und Zuständigkeit damit ist keine Spur vorhanden. Speziell die Gemeindeangehörigkeit und das Heimathwesen sind unverstanden. Das wird erst mit der neuen positiven Armen- ordnung besser werden. — Unsere nächste Aufgabe wird es sein, nur erst einmal das bestehende Recht, namentlich der Heimath, zu charakterisiren. Oesterreich . Unzweifelhaft das Beste über das österreichische Heimathswesen enthält die Arbeit von Fr. Swieceny : Das Heimath- recht in den kais. königl. österreichischen Kronländern mit constituirten Ortsgemeinden. Die Erwerbung und der Verlust der österr. Staats- bürgerschaft. Zweite Auflage. 1861. Swieceny hat die historische Entwicklung nur bis zu Anfang dieses Jahrhunderts zurückgeführt. Das frühere Recht der Angehörigkeit, das bereits unter Maria Theresia feste Gestalt gewinnt und den zehnjährigen Aufenthalt als Grundlage des Erwerbs der Armenzuständigkeit, nicht des Gemeindebürgerrechts, feststellt, ist ausführlich bei Kopetz in seiner Politischen Gesetzeskunde, B. I. , zusammengestellt. Vielfache Bestrebungen, ein vom Gemeinde- recht verschiedenes, selbständiges Heimathsrecht aufzustellen, haben wesent- lich darum zu nichts führen können, weil glücklicher Weise die Armen- pflicht noch keine staatsbürgerliche geworden ist. In Oesterreich gelten für die Armenunterstützung wesentlich dieselben Principien wie in Frank- reich. Festzuhalten ist nur, daß das alte Gemeinderecht wie das Heimathswesen bis 1848 in jedem Kronland, und oft in jedem Ort, anders war. Das Dekret vom 30. August 1820 mit seinen Erläu- terungen ( Swieceny S. 17 — 19) bestimmte die natürliche Heimath. Der Erwerb der gewerblichen Heimath durch zehnjährigen (ununter- brochenen) Aufenthalt ist seit der Resolution vom 16. Mai 1754 an- erkannt auch für alle, „welche als unbehauste Inwohner ihr Gewerbe und Profession getrieben, und sogestaltig bis zur erfolgten Mühseligkeit die gemeine Last mitzutragen geholfen haben .“ Kopetz und Swieceny S. 9 — 12. Die Uebersiedelungen wurden geregelt durch Dekret vom 7. December 1821 und namentlich wegen der Conscription an die behördliche Bewilligung gebunden. Später sind die betreffenden Verordnungen meist für die einzelnen Kronländer erlassen. Vergl. namentlich die Verordnung vom 15. December 1837 für Oesterreich unter der Ens und andere. ( Swieceny S. 25 ff.) Die erste einheit- liche Gesetzgebung war durch das Gemeindegesetz vom 17. Mai 1849 eingeführt. Das Wesentliche war dabei der Erwerb der Gemeinde- angehörigkeit, die als „Gemeindeverband“ bezeichnet wird (klar ist man nicht über das Heimathswesen) durch vier Jahre statt der früheren zehn; doch hebt der Heimathsschein den Erwerb auf. Die Bestim- mung, daß der Niedergelassene ein Recht zur Aufnahme wieder durch zehnjährigen Aufenthalt, den „unbescholtenen Ruf“ und sogar den Vermögensnachweis erwirbt, bezieht sich nicht auf die Heimath oder die Armenzuständigkeit, sondern auf das Gemeind ebürgerrecht ; es hat das Gesetz beide Verhältnisse nicht klar unterschieden; auch gilt dies Recht nur bezüglich einiger Gemeinden ( Swieceny §. 24). Auch das neue Gemeindegesetz vom 24. April 1859 (Manz’sche Gesetzes- sammlung Heft IX. ) bleibt in derselben Unbestimmtheit, ohne Unter- scheidung zwischen Gemeindebürgerrecht und Heimath, indem es den Be- griff der „ Zuständigkeit zu einer Ortsgemeinde “ festhält und für den Erwerb derselben (§. 39) die alten vier Jahre, den guten Leumund und den Vermögensnachweis voraussetzt. Verweigert die Gemeinde die Ausnahme — (doch wohl in das Bürgerrecht, denn die Armen- zuständigkeit gewinnt der Einzelne wohl ohne sein Ansuchen, da nichts darüber bestimmt ist) so entscheidet die politische Behörde. — Das neueste Gesetz vom 3. December 1863 ordnet diese Grundsätze für das ganze Reich. Bitzer hat, wie es freilich bei den deutschen Gelehrten Regel ist, von österreichischen Gesetzen und Literatur gar nichts gewußt. Preußen und seine Armenpflege . Preußens Recht der Armenpflege ist ohne Zweifel das interessanteste und reichste von allen. Denn der wesentliche Unterschied zwischen Preußen und den übrigen deutschen Staaten besteht darin, daß Preußen zuerst die Verpflichtung der Ortsgemeinde zur Armenunterstützung definitiv ausge- sprochen , und dadurch das hervorgerufen hat, was dem richtigen Ver- ständniß der Sache am meisten entgegensteht, namentlich die bis auf den heutigen Tag dauernde Verwechslung oder Verschmelzung von Orts- gemeinde und Armengemeinde . Die Folge dieses entscheidenden Fehlers war die, für die Arme nzuständigkeit an die Orts- gemeinden eine eigene Gesetzgebung machen zu müssen, ohne doch eine eigene Verwaltung des Armenwesens herzustellen. Preußen hat dadurch dem durchgreifenden Charakter der deutschen Armenverwaltung in jenem nicht glücklichen Sinne entschieden, und es wird lange Zeit brauchen, ehe wir darüber hinauskommen. Sein Recht ist es, welches eben den charakteristischen Unterschied zwischen der englischen, französischen und deutschen Armenpflege constituirt, und bei welchem alle deutschen Staaten dann bis auf die allerneueste Zeit stehen geblieben sind. Aller- dings gehört die genauere Darstellung dieses Rechts der Lehre vom Armenwesen; allein das Princip desselben ist zugleich constitutiv für diesen ganzen Theil der administrativen Bevölkerung, und wir müssen es um so mehr hervorheben, als weder Döhl , noch selbst Rönne und Bitzer es erkannt haben. Der leitende Grundsatz der Armenverwaltung Preußens ist nämlich der, daß die Aufgabe der Verwaltung überhaupt in Be- ziehung auf das Armenwesen nicht weiter gehe, als bis zur ad- ministrativen Ueberweisung der Armen an die zur Unter- haltung derselben verpflichtete Ortsgemeinde . Wie sich die Ortsgemeinde dieser Pflicht entledigt, ist dann lediglich ihre eigene Sache. Die Staatsverwaltung kümmert sich darum nicht. Die Armengesetz- gebung hat es nach diesem preußischen Princip daher auch nur mit der Aufstellung derjenigen Grundsätze zu thun, vermöge deren die Armenzuständigkeit für die Ortsgemeinden geregelt werden soll. An der örtlichen Gränze der Gemeinde hört die Thätigkeit der Armen- verwaltung auf. Es ist keine Spur einer höheren socialen Auffassung, kein ethischer Anklang in diesen Gesetzen. Sie sind das erste System der Manipulation mit der Armenzuständigkeit, dem ganzen inneren Organismus des preußischen Staats entsprechend. Daher verstehen auch die preußischen Staatsrechtslehrer, wie Rönne und Döhl unter dem Armenwesen im Grunde nichts, als die Ordnung der Armenzustän- digkeit, und da ihnen gar nicht die Frage kommt, ob denn nicht Ver- waltung der Ortsgemeinde und der Armengemeinde möglicher Weise etwas Verschiedenes sein könnte, so sprechen sie gar nicht vom Armen- wesen , sondern nur von der Arme npflege , während sie andrerseits die Armenzuständigkeit an die Ortsgemeinde wieder ganz von der Gemeindeangehörigkeit und dem Gemeindewesen sondern. Preußens Armenpflegerecht ist ein Schematismus der zur Armenpflege Berechtigten und Verpflichteten, und es wird lange dauern, bis diese Auffassung selbst, und mit ihr die Organisation eine höhere und edlere werden wird. Diesen Charakter hat Preußens Heimaths- und Armenrecht schon von Anfang an. Das Edikt von 1696, die Armen- und Bettlerord- nung von 1701, die neue von 1708 enthalten die gesetzliche Verpflichtung zur Verpflegung der Armen (ohne Unterschied) für die Ortsgemeinde. Das Edikt vom 10. December 1720 führt die Geburtsheimath ein. „Diese Armen- und Bettlerordnungen“ sagt Bitzer S. 184 „hatten überwiegend den Zweck, die Armen, namentlich die herumziehenden Bettler, den bürgerlich kirchlichen Armenverbänden nach Grundsätzen der ausgleichenden Gerechtigkeit zuzuweisen.“ Und so ist es geblieben. Daß dabei eine große formale Klarheit gewonnen ward, ist allerdings anzuerkennen; namentlich daß man sich bald darüber einig ward, daß auch die „Gutsherrschaften“ nichts anderes seien, als eine bestimmte Form der Gemeinden und daher mit ihnen gleiche Verpflich- tungen haben. Die nächste gleichfalls formale Folge war dann die, daß die Gemeindeordnungen sich mit dem Armenwesen und speziell mit dem Heimathsrecht gar nicht beschäftigen, sondern bei dem all- gemeinen Begriff der „Mitglieder der Gemeinde“ stehen blieben, wobei dann die verschiedenen Systeme der Gemeindeordnungen verschiedene Rechte haben. (Siehe Vollziehende Gewalt, Selbstverwaltungskörper S. 431 ff., Rönne II. S. 428.) Bei einigen wird es jedoch ausdrück- lich ausgesprochen, daß „in wiefern die Gemeinden einer anziehenden Person die Niederlassung zu gestatten haben, nach den hierüber be- stehenden besondern Vorschriften zu beurtheilen“ sei. Westphälische Land-Gemeinde-Ordnung §. 10. Weiske S. 14. Daraus entstand dann das auch für die sonst so klare Gesetzgebung Preußens so uner- quickliche Verhältniß, daß das Gemeindebürgerrecht und das Armen- zuständigkeitsrecht zwar klar, das Recht der Niederlassung zum Zweck der Erwerbung der gewerblichen Heimath dagegen im Grunde trotz des Gesetzes von 1842 eben so unsicher ist, als im ganzen übrigen Deutschland (Rönne I. §. 90). — Die natürliche Folge der gänzlichen Abwesenheit eines Princips für die Armenverwal- tung und für das damit unabänderlich verbundene Verhältniß von Ortsgemeinde und Armengemeinde. Das schematische System der pfleg- pflichtigen Ortsgemeinden, die also noch immer die Armenheimath sind, hat sich dabei ziemlich festgestellt, namentlich nachdem die durch das Landarmen-Reglement von 1797 begründeten und durch das Armen- pflege-Gesetz vom 31. December 1842 dann genauer ausgeführten Landarmenverbände die Lücke in dem System der Armengemeinden zwischen Dorf und Herrschaft formell ausgefüllt hatten. Was es darnach mit dem abstrakt anerkannten, aber praktisch wieder in jedem einzelnen Fall theils beschränkten, theils aufgehobenen Princip der Freizügig- keit auf sich hat, läßt sich leicht ermessen. Wir sind vollkommen außer Stande, die Freizügigkeit mit der durch das Gesetz von 1842 erlassenen Bestimmung zu vereinigen, daß diejenigen, welche nicht hinreichende Kräfte besitzen, sich ihren und der Angehörigen nothdürftigen Lebens- unterhalt zu verschaffen“ der Aufenthalt verweigert werden darf (§. 4); auch das Gesetz vom 21. Mai 1855 hat dies nicht wesentlich geändert, da dasselbe den Erwerb eines Wohnsitzes zur Voraussetzung hat, und ein „Wohnsitz“ keine volkswirthschaftliche Definition zuläßt. Uebri- gens ist das Gesammtresultat für Erwerb und Verlust der Armenzu- ständigkeit nach diesen Gesetzen das, daß dieselbe bei einem erworbenen Wohnsitz nach Einem , ohne solchen nach Drei Jahren gewonnen wird, wenn nicht die Verweigerung des Aufenthalts eintritt, worüber die amtliche Behörde entscheidet. Bitzer S. 182—192. Döhl S. 39 — 124. Die speziell preußische Literatur bei Rönne II. §. 339. Warum Bitzer alles das nicht benützt hat, was Rönne hier angibt, ist nicht recht ersichtlich. Oder ward ihm auch durch die ganze Armenrechts- literatur Preußens die eigentliche Frage nicht klarer? Es scheint fast so, denn sein neuestes Werk über die Armenarbeitshäuser zeigt, daß er mit richtigem Takt den alten Weg verlassen hat. Bayern . Das bayerische System der Angehörigkeit ver- dient wieder eine besondere Aufmerksamkeit, da es sowohl von dem österreichischen als dem preußischen in Princip und Form sehr verschieden ist, und als dasjenige angesehen werden muß, welches die Deutschland eigenthümliche Vermischung der ständischen und der polizeilichen Ange- hörigkeit in einem leider noch sehr unvollständigen, und daher einheitlich schwer oder gar nicht darstellbaren Bilde enthält. Die allgemeine Grundlage ist auch hier die Gemeindeordnung , das Edict vom 17. Mai 1818, das als ein Theil der Verfassung an- gesehen werden kann, und das in der „Revidirten Verordnung, die Verfassung und Verwaltung der Gemeinden im Reiche betreffend“ von 1834 (bei Weiske S. 70 ff.) in allen wesentlichen Punkten zum Grunde liegt. Pözl (Bayerisches Verfassungsrecht §. 93) zeigt uns das Ge- meindeangehörigkeitswesen in seiner eignen theoretischen Uebergangs- gestaltung, wie es durch den Einfluß der reinen Ideen auf die alten Zustände hervorgerufen ward, eine Gestaltung, die eben wenig oder gar keine Vergleichung mit England und Frankreich zuläßt, und selbst von der neuen freieren Gestaltung in Oesterreich und Preußen wesentlich abweicht. Nach diesem noch jetzt bestehenden Recht scheiden sich die Ge- meindeangehörigen in wirkliche Gemeindeglieder oder Gemeinde- bürger (mit ständigem Wohnsitz, Grundbesitz oder besteuertem Gewerbe) in Schutzverwandte , die bloß ansässig sind, und in eine dritte Classe, welche bloß Heimathsrecht oder einen dauernden Aufenthalt oder Mieth - und Inleute haben. Es ist auf den ersten Blick klar, wie diese Unterscheidung nur der Reflex der früheren Gemeindeordnung ist, und gar keine feste juristische Substanz darbietet, so weit es sich nicht um Vertheilung der Gemeindegründe, die aber ja vorübergehend ist, um das Gemeindebürgerrecht, das aber nur den Antheil an der Verfassung der Gemeinde bildet, und das Heimathswesen handelt. Auch hier herrschte daher das einfache deutsche Princip, die Ortsgemeinde oder Armenverwaltungs- gemeinde zu erhalten, und daher mit der Ansässigmachung den Erwerb des Heimathsrechts, also die Armenzuständigkeit zu verbinden. Nun hatte die Verordnung vom 17. November 1816 das Armenwesen ge- ordnet, und die Unterstützung unbedingt der Ortsgemeinde überwiesen, während die Aufnahme in die letztere ihr selbst zwar für das Bürger- recht, nicht aber für das Schutzrecht , also nicht für das Hei- mathsrecht, belassen war. Die Folge war, daß die Gemeinden jetzt, um durch das Schutzbürgerthum, dessen Erwerb von ihnen nicht ab- hängig war, sich nicht eine unbestimmte Masse von Verpflichtungen auf- zuladen, anfingen gegen die freie Niederlassung als solche zu kämpfen und daß dadurch zugleich das Heimathsrecht in Frage kam. Die Re- gierung ward dadurch gezwungen, neben der Gemeindeordnung und dem Armenpflegerecht noch ein Gesetz über das Heimathsrecht (vom 11. September 1825) zu erlassen, dessen Grundgedanke es war, die Armenzuständigkeit mit der Angehörigkeit an die Gemeinde allerdings zu identificiren. Das war an sich recht gut, allein das Heimathsgesetz bestimmte, daß das Heimathsrecht und also die mit ihm jetzt identische Armenzuständigkeit durch die erlangte Ansässigkeit erworben werde, und jetzt concentrirte sich daher die Frage darin, wann eben diese An- sässigkeit erworben sein solle . Diese Frage, immer die Kern- frage im ganzen Heimathrecht, erzeugte demnach ein neues Gesetz über die Ansässigmachung und Verehelichung , das mit der General- ordnung von 1834 zugleich revidirt ward, und bei Weiske der letztern hinzugefügt ist. Nach diesem letzteren Gesetz erscheint nun das eigen- thümliche Verhältniß, daß die Ansässigmachung in Bayern nicht bloß dieselben, sondern noch größere Schwierigkeiten hat als der Er- werb des Gemeindebürgerrechts, indem dieselbe von den „Vorbedingun- gen“ des „guten Leumunds“ und sogar der Vollendung des „vorschrift- mäßigen Schulbesuchs“ abhängen soll! (§. 1.) Man sieht ganz deutlich die Kleinlichkeit und Hartnäckigkeit des Kampfes der Gemeinden gegen die Uebernahme der Armenzuständigkeit vermöge der Niederlassung, deren Folge dann wieder im Aufhören der freien Bewegung der Bevölkerung mit all ihnen nicht günstigen Consequenzen ist. Und doch beruht dieß ganze System auf dem Grundsatz, daß die Ortsgemeinde zugleich die Verwaltungsgemeinde des Armenwesens (Armengemeinde) sein soll, was weder dem großen Unterschiede in der Größe und dem Besitz der Ortsgemeinde bei der Gleichartigkeit der Armenpflege, noch den immer größeren Ansprüchen entspricht, welche das Armenwesen machen muß. Daher denn auch die Unmöglichkeit, eine einheitliche Darstellung zu geben, wie es Pözl, Verfassungsrecht §. 29 und 101, Verwal- tungsrecht §. 87 und 92, und die noch resultatlosere Auffassung Bitzers S. 192 zeigen. Es ist wohl überhaupt das der Uebelstand bei den Bearbeitungen des positiven Verwaltungsrechts, daß sie ge- wissermaßen das Recht verlieren, das was sie vorfinden, als Ueber- gangsstadium darzustellen, und somit die einzige Bedingung der Klarheit, die für solche Zustände gilt, die historische Kritik nicht für sich ver- wenden dürfen. Württemberg . Allerdings ist es nicht zu verkennen, daß der Grundgedanke für Gemeindeangehörigkeit und Heimathswesen in Württem- berg freier ist als in Bayern, und es ist von großem Interesse, diese Erscheinung in Uebereinstimmung mit unserer Ansicht wesentlich auf die, schon ursprünglich in Württemberg zu Tage tretende Tendenz basirt zu sehen, jene verderbliche Identificirung von Ortsgemeinde und Armen- gemeinde nicht in ihrem vollen Umfange zuzulassen. Dennoch hat auch Württemberg sich derselben nicht erwehren können. Der Ausdruck jener freieren Idee des Heimathwesens bildet hier der Gedanke, der mit dem englischen verwandt ist, die Armenpflicht mit dem Kirchspiel statt mit der Ortsgemeinde zu verbinden. Die Sicherheitspolizei indeß, welche das Vagabundiren beschränken wollte, und keine durchgeführte Gestal- tung größerer Armengemeinden vorfand, sah sich mit Anfang unseres Jahrhunderts gezwungen, die Unterstützung der Armen doch der Orts- gemeinde zuzuweisen (Verordnung vom 11. September 1807), was dann in das Gemeindeedict von 1818, und speziell in das Bürgerrechtsgesetz vom 15. April 1828 überging. Damit war auch in Württemberg für die ächt deutsche Frage nach dem Unterschied zwischen Bürger und An- gehörigen, die hier „Gemeindebeisitzer“ heißen, eröffnet. Die Verfassung von 1819 bestimmt §. 61, 63, daß „jeder Staatsbürger einer Gemeinde als Bürger oder Beisitzer angehören müsse.“ Die Aufnahme in das Staatsbürgerrecht wird dann in der allgemeinen deutschen, halb feudalen, halb freien Auffassung durch Besitz, Gewerbe, formelle Auf- nahme und ein Eintrittsgeld normirt; die zweite wichtige Frage blieb nach dem Erwerb der Armenzuständigkeit, die auch in Württemberg den eigentlichen Inhalt des Beisitzerrechts bildet. Bitzer (S. 226—241) hat die Berathungen und Gesetze, die daraus entstanden, sehr gut dar- gestellt — merkwürdiger Weise ohne Mohl zu benützen, wie er freilich bei Bayern auch Pözl nicht anführt, und bei Sachsen Funke nicht zu kennen scheint. Offenbar nun stehen das Verwaltungsedict vom 1. März 1822 und das Gesetz über das Gemeindebürger- und Beisitz- recht vom 4. December 1833 (bei Weiske S. 129—177) im Wesent- lichen auf dem alten Standpunkt — möglichste Abhängigkeit des Er- werbes des Beisitzrechts von der Zustimmung der Gemeinde zur Nieder- lassung, damit sie nicht die Armenpflicht zu übernehmen nöthig habe — ein Grundsatz, dessen Widerspruch mit der natürlichen Ordnung und mit den §. 62. 63 der Verfassung dann wieder ausgeglichen wird, indem die Behörde diejenigen, welche sich ein solches Besitzrecht nicht haben er- werben können, der Geburtsgemeinde als natürliche Heimath einfach zutheilt . Unbegreiflich, wie man nicht sah, daß dabei im Grunde niemand gewann, denn der durch Geburt zur Heimath Berechtigte ward ja jeder Gemeinde eine zuletzt doch unvermeidliche Last gerade durch den Grundsatz, vermöge dessen dieselbe Gemeinde den Erwerb der Ansässigkeit erschwerte! War es dann nicht klar, daß, wenn man bei sich den Erwerb der Armenzuständigkeit erleichterte, man in demselben Grade die Wahrscheinlichkeit gewann, daß der Geburtsberechtigte sein Anrecht auf Armenunterstützung durch Erwerb der Ansässigkeit bei einer andern Gemeinde verlieren werde? Alle diese Dinge lassen sich wie gesagt nur historisch erklären. Allein daneben zeichnet sich Württemberg vortheilhaft dadurch wie wir glauben vor allen andern Staaten Deutsch- lands aus, daß es allein die Idee der Armengemeinde als Verwal- tungsgemeinde für das Armenwesen festgehalten und in neuester Zeit noch weiter entwickelt hat. Schon die alten „Kastenordnungen“ erkennen, wie Mohl (Verwaltungsrecht §. 204 ff.) es richtig auffaßt, eine gewisse Connexität der Gemeindekassen zur Armenunterstützung an. Das was das Gesetz vom 17. September 1853 ( Bitzer S. 230) darüber bestimmt, ist im Grunde nur die Wiederholung und genauere Formu- lirung des älteren Rechts. Darnach soll es für die Armenunterstützung „zusammengesetzte Gemeinden“ geben; das Verhältniß derselben zu den einzelnen Ortsgemeinden, aus denen sie gebildet sind, beruht bei der Armenunterstützung jedoch nur auf einer subsidiären Hülfsverpflich- tung des Ganzen für den Theil, da zunächst noch jede Ortsgemeinde Armengemeinde ist. Das ist so offenbar eine halbe Maßregel, daß es überflüssig scheint, speziell darauf aufmerksam zu machen. Ohne uns auf die Kritik im Einzelnen einzulassen, muß hier die Bemerkung genügen, daß eben vermöge dieser Unentschiedenheit in der Hauptsache die ganze Ordnung der Armenzuständigkeit und des Heimathswesens dieselbe geblieben ist , mit all ihren verkehrten Rechtsfolgen und Streitigkeiten. Und wenn irgendwo, so wird hier der Satz klar, daß jede wie immer geartete Armenverwaltung erst dann als eine fertige und genügende anerkannt werden kann, wenn sie, indem sie das Gemeindebürgerrecht unberührt läßt, das der vollziehenden Gewalt gehört, das Heimathswesen dagegen oder die administrative Armen- zuständigkeit auf Grundlage der neuen Armenverwaltungs- gemeinden ordnet . Sachsen . Es dürfte im Grunde kein Zweifel sein, daß unter allen deutschen Staaten das Königreich Sachsen derjenige ist, der sich durch die umfassende Grundlage seiner Gesetzgebung über Armenwesen und durch richtiges Verständniß der Heimathsfrage am meisten aus- zeichnet. Sein Gemeindebürgerrecht hat im Grunde keine besondere Eigenthümlichkeiten gegenüber den übrigen deutschen, nur daß die Ge- meindegesetzgebung hier den Ortsgemeinden große Freiheit in der Bildung der Localstatute einräumt. Von Bedeutung dagegen ist die Landgemeindeordnung vom 7. November 1838 ( Weiske S. 105 ff.) In ihr sehen wir den Gedanken ausgesprochen, auf dem wohl überhaupt die Zukunft des Gemeindewesens in Deutschland beruht, und den wir eben so in Württemberg antreffen — §. 17. Auch können mehrere be- nachbarte Orte, deren jeder bisher eine Gemeinde gebildet hat, zu einer Gesammtgemeinde vereinigt werden, worüber nach §. 28 wieder die in diesen Dingen in Sachsen überhaupt sehr mächtige Regierung zuletzt entscheidet. Diese Gesammtgemeinden sind die natürlichen Grund- lagen der Verwaltungsgemeinden, und der Gedanke, der hier in der Gemeindeordnung zur Geltung kommt, hat denn auch fast von jeher schon das Heimaths- und Armenwesen durchdrungen. Nach Bitzer S. 200 ist allerdings schon seit dem 16. Jahrhundert der Satz fest- gestellt, daß die Stadt als Ortsgemeinde zugleich Armengemeinde sein solle; doch wird auf dem Lande statt der Ortsgemeinde vielmehr das Kirchspiel aufgestellt. ( Schauberg , Entwurf einer Ortsarmen- ordnung. 1861. Ausschreiben vom 1. October 1855). Die bestimmte Ordnung empfängt jedoch das Armenwesen wohl zuerst durch das Mandat vom 3. April 1729, welches das Betteln verbietet, und den Behörden den Befehl gibt, die Armen an ihrem Heimathsort zur Versorgung zu bringen, wobei als Heimath der Geburtsort, oder der Ort des mit Steuerzahlung verbundenen längeren Aufent- halts angesehen wird. Es ist dabei charakteristisch, daß die Entscheidung im streitigen Falle den Obrigkeiten zugewiesen wird, die freilich noch nach der Landgemeindeordnung Gerichte sind. Dieser Gedanke ist in Sachsen geblieben; denn noch nach der Landgemeindeordnung §. 20, Weiske S. 109 sind „Gesuche um Aufnahme in eine Landg emeinde bei der Obrigkeit anzubringen,“ welche entscheidet. Man sieht ganz deutlich hier den Charakter der Verwaltungsgemeinde den der Orts- gemeinde überragen. Dieselbe Idee greift dann für Heimaths- und Armenwesen durch. Das Mandat vom 11. April 1772 ( Bitzer S. 202) erneuert die Vorschriften von 1729, fordert aber zur Ansässig- keit schon einen Aufenthalt von „drei letzten Jahren .“ Doch wird, wir glauben hier zuerst in Deutschland das Zugeständniß gemacht, daß die auf diese Weise gebildeten Armenverwaltungsgemeinden das Recht haben sollen, „durch ihre Ortsobrigkeiten besondere bloß auf ihre Stadt oder Gericht abzielende Armenordnungen zu errichten und der Landesregierung zur Bestätigung vorzulegen.“ ( Cod. August . I. Fort- setzung, 1. Abth. S. 545. §. XIV. ) Dazu dürfen schon seit 1772 ge- meinschaftliche Armenkassen errichtet werden, indem „entweder jeder Ort für sich oder sämmtliche zu einem Gerichte gehörige Orte zu- sammen die einheimischen Armen versorgen“ ( Bitzer S. 203.) Aller- dings behielt dabei die Obrigkeit nach dem Geiste der damaligen Zeit immer die ausschließlich entscheidende Stimme, doch scheint die Verwal- tung selbst eine sehr milde und verständige gewesen zu sein. Auf dieser Basis bildet sich nun das gegenwärtige Recht nach zwei Richtungen, in denen sich Sachsens Verwaltung vor allen andern deutschen auszeichnet. Zuerst zeigt sich nämlich die in den obigen Grundsätzen bereits fest- gestellte Scheidung der Armengemeinde von der Ortsgemeinde , welche Sachsen charakterisirt, in einer Auffassung des Heimathwesens , welche schon im Anfange dieses Jahrhunderts viel freisinniger und dem wirthschaftlichen Bedürfnisse entsprechender ist, als in irgend einem deutschen Staate. Schon die Entscheidungen auf die Vorstellungen des Landtages von 1811 stellen den Grundsatz auf, daß „jedem die freie Wahl zu lassen sei, an welchem Orte im Lande er sich nähren oder niederlassen wolle.“ Dieser Gedanke wird dann in dem gegenwärtig geltenden Heimathsgesetz vom 26. November 1834 weiter aus- geführt und hier zum erstenmale statt der „Gemeindeangehörigkeit“ die „Heimathsangehörigkeit“ jedem Staatsangehörigen zur Pflicht, was eben so rationell als das erstere irrationell erscheinen muß. Zwar ward dann die Ortsgemeinde „in der Regel“ als Heimaths- oder Armen- gemeinde anerkannt, jedoch mit dem Rechte, sich für die Armenversorgung einer andern anzuschließen (§. 3). So ist hier die Verwaltungsgemeinde für das Armenwesen formell in die Gesetzgebung eingeführt, und das Heimathsrecht eben einfach auf die Armenunterstützung zurückgeführt. Der Erwerb dieses Heimathsrechts ( oder der Armenzuständigkeit) ist gleichfalls in Sachsen eigenthümlich. Es wird erworben als natür- liche Heimath durch Geburt, oder als gewerbliche Heimath durch Wohnsitz und Bürgerrecht, oder durch obrigkeitliche Ertheilung als administrative Heimath. Es scheint uns nach dem Ganzen, daß die größere Freiheit der Bewegung eben wesentlich durch dieß alte obrigkeitliche Recht bedingt worden ist, das unseres Wissens in keinem andern Staate existirt. Jedenfalls ist im neuen Gesetz festgehalten, daß diese Ertheilung des Erwerbs des Heimathsrechts von Seiten der Obrigkeit nur unter Zustimmung der Organe der Heimathsgemeinde geschehen darf (§. 8). Der §. 9 und folgende bestimmten die Gesichtspunkte, welche für den Zweifel über das Eintreten der natürlichen Heimath (Ge- burt, Ehe u. s. w.) entscheiden müssen. Diese Bestimmungen sind aller- dings sehr genau ausgeführt, und ist namentlich die Sammlung der betreffenden Entscheidungen bei Funke (Bd. II. S. 284 ff.) ein Be- weis, daß die Beamteten das ihnen zustehende Recht mit großer Ge- wissenhaftigkeit anwenden. Unbedingt wird das Heimathsrecht durch fünfjährige Ansässigkeit (§. 8) erworben. Damit war für Sachsen jene Angst der Ortsgemeinde, als Armengemeinde die Unterstützungs- pflicht übernehmen zu müssen, gebrochen, und so wird es erklärlich, daß Sachsen neben der größten Freiheit in der örtlichen Bewegung zugleich die beste Armenverwaltung haben konnte, die wir in Deutschland kennen. Dieselbe gewann ihre definitive Gestalt durch das Gesetz vom 22. October 1840. Es ist nicht unsere Sache, hier auf dieselbe ein- zugehen. Allein gerade durch diese Armenordnung ward es klar, daß eine tüchtige Armenverwaltung ohne das Aufstellen von Armengemeinden nicht zu erreichen ist, während die letztern, wie Sachsen zeigt, allein im Stande sind, die große Unterscheidung zwischen der persönlichen und wirthschaftlichen Armuth, der Armuth erwerbsunfähiger und er- werbsfähiger Personen , auch in der Verwaltung durchzuführen, ein Grundsatz, auf dem unserer innigsten Ueberzeugung nach allein ein zugleich rationelles und ausreichendes System der Armenpflege er- richtet werden wird. Hätte Bitzer seiner schweren Arbeit über Bezirks- armenhäuser und Zwangsarmenhäuser diese Unterscheidung zum Grunde gelegt, so würde er wohl noch Bedeutenderes geleistet haben. Was nun endlich das Recht der Niederlassung in dieser so gebildeten Armen- gemeinde betrifft, so hat das Heimathsgesetz dieselben in §. 17 im Geiste des früheren Rechts dahin bestimmt, daß „Niemandem die Niederlassung in irgend einem Heimathsbezirk (Armenverwaltungsgemeinde) versagt werden darf, der einen Heimathschein und einen Verhaltschein (daß innerhalb eines Jahres keine Ausweisung gegen ihn stattgefunden) be- sitzt, wobei jedoch die polizeiliche Ausweisung wegen bloßer Dienst- losigkeit keinen Grund abgeben soll, die Niederlassung zu verweigern. Vortrefflich sind dabei die Vorschriften über das Verhalten der Hospi- täler, Arbeitshäuser u. s. w. in der Armenordnung §. 59. Es muß der Darstellung des Armenwesens überlassen bleiben, hier genauer einzugehen. — Warum Weiske nicht das Heimathsgesetz und die Armenordnung in seiner ohnehin nicht umsichtig angelegten Sammlung aufgenommen, ist nicht abzusehen. Hannover . Während in Sachsen die freie örtliche Bewegung der Bevölkerung durch die Erhebung der Armengemeinde über die Orts- gemeinde ermöglicht worden ist, zeigt Hannover in einem höchst lehr- reichen Beispiel, wie die besten Intentionen der Regierung zu keinem rechten Resultat führen, so lange beide noch identisch sind. Es ist kein Zweifel, daß die Idee des Wohnorts oder Aufenthaltsgesetzes vom 6. Juli 1827 wie das Ausschreiben der Landdrostei Lüneburg vom 6. October 1840 ausdrücklich sagt, „auf Beförderung der Frei- zügigkeit“ gerichtet war. Allein da die enge Ortsgemeinde zugleich Armengemeinde blieb, so entstanden beständige Streitigkeiten theils unter den Gemeinden, theils zwischen Einzelnen und Gemeinden, für welche dann der Grundsatz angenommen ward, daß das Recht des Auf- enthalts nicht von der Gemeinde, sondern von der polizeilichen Er- laubniß abhänge; die Armenzuständigkeit wird dann erst (wie in Sachsen) mit fünf Jahren erworben. Hat die Gemeinde Bedenken, so muß und kann sie dafür sorgen, daß der Betreffende vor Ablauf dieser Frist ausgewiesen werde, ein Verhältniß, in welchem die Elemente der Freiheit der Bewegung bei der Obrigkeit, die der Beschränkung bei den Gemeinden liegen. Uebrigens ist das Verhältniß in den verschiedenen Theilen des Königreichs hier wie an andern Punkten wieder sehr ver- schieden, was nicht bloß die Uebersicht für die Theorie, sondern auch die gute Verwaltung in der Praxis wesentlich erschwert. Weiske hat wunderlicher Weise als Quelle nichts anzuführen gewußt, als das Landesverfassungsgesetz vom 6. August 1840. Doch existirt eine ziemlich reiche Sammlung von Ekhardt , Gesetze, Verordnungen und Aus- schreiben für das Königreich Hannover, 1840, in 7 Bänden. Bitzers Darstellung (S. 216—226) übersieht die noch geltenden Verschiedenheiten. Das Ganze ist ein neuer Beweis von der bedeutsamen Thatsache, wie wenig die deutsche Staatswissenschaft von Deutschland weiß! Wir würden jetzt gerne diese Aufzählung weiter auf die einzelnen Staaten ausdehnen. Allein theils scheinen uns die wichtigsten und herrschenden Modalitäten in dem Obigen erschöpft, theils stehen uns auch keine ausreichenden Quellen zu Gebote, da bekanntlich das innere Verwaltungsrecht der kleinen deutschen Bundesstaaten selten oder gar nicht bearbeitet ist. Nach dem was uns vorliegt, dürften die Grund- formen sowohl der Gemeindeangehörigkeit als der Armenangehörigkeit in dem eben Enthaltenen gegeben sein. Es bleiben uns daher nur zwei Wünsche übrig. Der erste wäre der, daß wenn für die ausreichende Kunde des geltenden Rechts wissenschaftliche Sammlungen angelegt werden, wie sie von Weiske und zum Theil von Zachariä versucht worden sind, man dabei die Gemeindeangehörigkeit mit dem Gemeindebürgerthum für sich , und die Gesammtheit aller das Heimathsrecht betreffenden Be- stimmungen gleichfalls für sich ins Auge fasse. Nur dadurch, daß man in der Wissenschaft beide Gesichtspunkte trennt, wird man die Aufgabe der Gesetzgebung richtig beurtheilen. Der zweite und wichtigere wäre der, sich darüber zu einigen , daß alle Bestrebungen, welche man in dem Rechte der freien Nieder- lassung, der Freizügigkeit, des gleichmäßig geordneten Heimathsrechts oder anders zusammenfaßt, als für sich bestehende zu keinem Re- sultate führen können und ziemlich leere Redensarten bleiben müssen. Das Heimathsrecht ist und bleibt eine Angehörigkeit oder Zuständigkeit an eine administrative Aufgabe , die Aufgabe der Armenpflege. Es ist daher grundsätzlich falsch, diese administrative Aufgabe nach einem gegebenen örtlichen Ganzen ohne Rücksicht auf seine Gränzen und Kräfte, also nach der Ortsgemeinde einzurichten, statt für diese Verwaltungsaufgabe einen ihr entsprechenden Verwaltungs körper , die Armengemeinde zu schaffen. Will man aber das, so muß man allerdings sich erst über die Aufgabe — die Armenverwaltung und ihre Bestimmung — einig sein, ehe man zur Bildung von Armen- gemeinden und zur Feststellung ihrer Verfassung fortschreitet. Bisher hat das deutsche Armenwesen den umgekehrten Weg eingeschlagen, und statt die Gemeinden nach dem Hülfswesen, das Hülfswesen nach den (Orts)-Gemeinden eingerichtet. Die Grundlage eines einheitlichen und guten Heimathsrechts in allen deutschen Staaten kann künftig nur ein gutes System der Armenverwaltung sein. Dieß aber wird wieder nur dann seinem Zweck entsprechen, wenn ihm die durch- greifende Unterscheidung der persönlich und wirthschaftlich Ar- men , der Erwerbsunfähigen und Fähigen, zum Grund gelegt, und somit die wissenschaftliche Unterscheidung zwischen Armenwesen und Hülfswesen zur Basis der Verwaltung überhaupt, speziell zur Basis der Leistungen der Gemeinden, und damit der Angehörigkeit gemacht, und den Ortsgemeinden die Erwerbsunfähigen , den Armen- gemeinden die Erwerbsfähigen , und den Stiftungen die Kranken überwiesen werden. Stein , die Verwaltungslehre. II. 23