Problematische Naturen. Problematische Naturen. Roman von F. Spielhagen . Vierter Band. Berlin. Verlag von Otto Janke. 1861. Erstes Kapitel. Baron Felix war angekommen — mitten in der Nacht. Er war bei guter Zeit von dem Fährdorfe in seinem eignen Wagen aufgebrochen, als es dem Kammerdiener schwer aufs Herz fiel, der Toilette¬ kasten seines Herrn möchte sich nicht bei dem übrigen Gepäck befinden, da er denselben unter die Bank des Bootes zwischen seine Füße gestellt, und wahrschein¬ lich stehen gelassen hatte. Schüchterne Hindeutung Jean's auf die Möglichkeit dieses Falls — großer Zorn von Seiten des Baron Felix und Androhung von Ohrfeigen, Stockprügeln und Entlassung — auf offener Heerstraße angestellte Nachforschung — schlie߬ lich, da sich das corpus delicti wirklich nicht fand, Umkehr. Leider war unterdessen das Fährboot mit dem hochwichtigen Kasten unter der Bank bereits ab¬ gesegelt. Bis es wieder an der Landungsbrücke an¬ legte, vergingen mehre Stunden, denn es war unter¬ F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 1 dessen eine gänzliche Windstille eingetreten und die Leute hatten sich mit den schweren Rudern — zur Verzweiflung des Baron Felix, der sie vom Strande aus durch ein Taschenteleskop beobachtete — Zoll um Zoll hinüber arbeiten müssen. So war der Abend bereits tief hereingesunken, als der Baron zum zweiten Male — diesmal mit dem Kasten — von dem Fährdorfe aufbrach. Er war in einer fürchter¬ lichen Laune. Er hatte versprochen, heute noch auf Grenwitz einzutreffen, da er „den Augenblick, seine schöne Cousine zu sehen, nicht erwarten könne.“ Eine Verzögerung seiner Ankunft konnte ihm leicht übel ausgelegt werden. Besser also, in tiefer Nacht, als gar nicht kommen. Auf der andern Seite aber war eine nächtliche Fahrt durch Wald und feuchtes Moor — noch dazu in einem offnen Wagen — keineswegs nach dem Geschmacke des jungen Ex-Lieutenants, der — jedenfalls in Folge der ungeheuren Strapazen auf dem Exercierplatze und bei den Paraden — sehr an Rheumatismus litt und eine Erkältung wie die Pest fürchtete. Er wählte also von den zwei Uebeln, sich dem Verdacht der Gleichgültigkeit, oder der Gefahr einer Erkältung auszusetzen, das kleinere und drohte nur seinem Jean, daß er (Baron Felix) von der Größe seines Schnupfens morgen früh die Größe der Strafe für seine (Jean's) Nachlässigkeit werde ab¬ hängen lassen. Es war deshalb eine nicht unbedeutende Beruhi¬ gung für Jean, als sein Herr am nächsten Morgen (man hatte die nächtliche Ruhe des Schlosses so wenig wie möglich gestört und sich von einem der heraus¬ gepochten Bedienten die schon längst bereit stehenden Zimmer anweisen lassen) mit sehr guter Laune er¬ wachte, seinen Cacao wie gewöhnlich im Bett zu trinken begehrte und nachdem er sich halb hatte an¬ kleiden lassen — die zweite, wichtigere Hälfte besorgte er eigenhändig — ihn fortschickte, um Herrn Timm, dessen Anwesenheit auf dem Schlosse er erfahren hatte, bitten zu lassen, ihn auf ein paar Minuten auf seinem Zimmer zu besuchen. „Ah voilà , lieber Timm, wie geht es Ihnen?“ sagte Baron Felix, das letzte Wort auffallend marki¬ rend, als der Angeredete bald darauf eintrat. „Sie entschuldigen, daß ich Ihnen so früh lästig falle: aber ich — zum Teufel, nun hat der Esel von Jean wie¬ der heißes statt warmes Wasser gebracht — entschul¬ digen Sie! — Jean, warmes Wasser, Nilpferd! — nun sagen Sie, wie geht es Ihnen, lieber Timm? freue mich, Sie hier so zufällig zu treffen. Wie geht es Ihnen?“ und der Baron streckte dem Angeredeten 1* einen der Finger seiner linken Hand, die er eben ab¬ getrocknet hatte, entgegen. „Danke, Baron, passabel!“ sagte Albert, den dar¬ gebotenen Finger sehr flüchtig, — denn sich durch vor¬ nehme Grobheit imponiren zu lassen, gehörte nicht zu Alberts Schwächen, — mit etwa zwei Fingern seiner Hand berührend; „ich glaubte schon, Sie (mit Beto¬ nung) würden mich bis auf den Namen vergessen haben.“ „Bewahre,“ sagte Felix, „fiel mir heute Morgen sogleich auf, als Jean mir die Gesellschaft hier her¬ zählte. — Aber wie gottvoll Sie sich in Civil aus¬ nehmen! hahaha! wenn Sie so die Kameraden sähen! wirklich gottvoll, auf Ehre!“ und Felix blieb, eine Bürste in der einen und einen kleinen Toilettenspiegel in der andern Hand, vor Albert stehen, sich ihn von Kopf bis zu den Füßen wie ein fremdes merkwürdi¬ ges Thier ansehend. „Meinen Sie?“ sagte Albert trocken; „freut mich! kann Ihnen leider das Compliment nicht zurückgeben, da ich erst die folgenden Stadien Ihrer Toilette ab¬ warten muß. Aber das Eine kann ich Ihnen sagen — jünger sind Sie unterdessen nicht geworden. Haben Sie nicht noch eine Cigarre? oder ist die Havana, die Sie rauchen, die letzte Ihres Geschlechts?“ „Dort auf dem Tisch!“ sagte Felix; „in dem Ebenholzkästchen — Sie müssen die Feder nach unten drücken — nicht jünger geworden? aber hoffentlich doch auch nicht älter, ich meine auffallend — zum wenigsten erfreue ich mich, wie Sie sehen noch meiner sämmtlichen Zähne und zum mindesten fünf Sechstel meiner Haare“ — und Felix bürstete mit unendlichem Wohlgefallen die allerliebsten natürlichen kurzen brau¬ nen Locken, die wirklich noch ziemlich üppig seinen wohlgeformten Kopf bedeckten. „Nun, mit den Haaren mag's noch gehen,“ sagte der unbarmherzige Albert, der jetzt auf einem Sopha Platz genommen hatte und dem vor dem Spiegel eifrig beschäftigten Felix mit heimlicher Schadenfreude musterte; „aber wo haben Sie nur alle die Falten in ihrem Gesicht her bekommen? die scharfe Morgen¬ beleuchtung ist wirklich nichts mehr für Sie. Ich machte Ihnen früher das Compliment, Sie hätten eine frappante Aehnlichkeit mit Byron; aber jetzt sehen Sie wenigstens wie Byron's Vater aus. Und dann — Sie waren niemals durch Fülle ausgezeichnet, jetzt sind Sie wirklich auf ein Minimum reducirt.“ „Je schlanker, desto eleganter,“ meinte Felix; „und übrigens kommt das wieder; ich wurde in der letzten Zeit von meinem Doctor etwas knapp gehalten.“ „Das alte Leiden?“ „Nun wenigstens eine neue Auflage.“ „Vermehrt und verbessert?“ „Es ging noch; aber damit ist es jetzt vorbei. Wir sind solid geworden; wir werden uns zur Ruhe setzen — wie finden Sie diese Beinkleider? ist es nicht eine geistreiche Combination des militairischen und des Civilschnitts? ganz meine Erfindung! — wir werden heirathen —“ „Das sollten Sie bleiben lassen, Baron!“ „Weshalb?“ „Wenigstens sollten Sie eine ältere, verständige Dame heirathen.“ „Weshalb?“ „Weil Sie, fürchte ich, über kurz oder lang doch einer mütterlichen Freundin bedürftiger sein werden, als einer anspruchsvollen jungen Gemahlin.“ „Pah, mon cher , ich habe die Ehre, aus einer Familie zu stammen, in der man ungestraft liederlich sein darf. Ein bischen Rheumatismus — das ist das Aeußerste. Was sagen Sie zu diesem Rock?“ „Gar nichts; Sie wissen, ich war nie ein Kenner in diesen Dingen.“ „Freilich, Sie waren stets das unsaubere Gefäß, in welches sich die Schale des Zorns unseres guten Obristen leerte. Wissen Sie, daß sich der arme Teufel erschossen hat?“ „Nein, weshalb?“ „Die Einen sagen, Schulden halber; die Andern, weil er die Schande nicht hat überleben wollen, daß bei der letzten großen Parade eine ganze Compagnie von seinem Regiment mit Tuchhosen statt mit weißen Hosen angerückt kam, und er deshalb vom Comman¬ direnden über diese „Schweinerei“ zur Rede gestellt wurde.“ „Gott hab ihn selig!“ „Amen. Apropos! wie lange sind Sie denn schon hier auf Grenwitz? ich höre, schon seit Wochen; da müssen Sie die Gesellschaft ja aus- und inwendig kennen. Ja, was ich eigentlich wissen wollte: Wie befindet sich denn mein würdiger Onkel und meine vortreffliche Frau Tante? und wie sieht denn meine Cousine — haben Sie schon eine solche Uhr gesehen? doppelter Secundenzeiger — der Zeiger oben zeigt Monat und Datum — direct aus London — ich glaube, es ist die erste, die auf dem Continent ge¬ tragen wird. Apropos! wer kann denn heute Nacht das hübsche, schwarzäugige, kleine Ding gewesen sein, das wir auch aufgestört hatten und das im allerlieb¬ sten Nachtcostüm über den Flur huschte — es schien eine Art Wirthschafterin oder dergleichen. Ihr habt doch keinen Besuch weiter auf dem Schlosse?“ „Nein —“ „Also ganz en famille ? Wollen Sie gefälligst die Klingel über Ihrem Kopfe ziehen? Ich dächte, ich sähe heute ganz ausnehmend wohl aus — Jean! hab ich Dir nicht gesagt, Kameel, daß Du diesen Rock hier nicht tragen sollst — gleich zieh' den neuen an! und dann geh' und frage bei der gnädigen Herrschaft an, ob ich jetzt meine Aufwartung machen dürfe.“ „Der Herr Baron haben schon zweimal nach dem Herrn Baron gefragt.“ „Nun, dann sag', ich würde gleich kommen. — Au revoir , lieber Timm. Ich hoffe. Sie an der Mittagstafel zu sehen —“ und Felix warf noch einen letzten Blick in den Spiegel, goß etwas Eau de Co¬ logne auf sein feines weißes Taschentuch und schritt durch die Thür, welche ihm Jean pflichtschuldigst öff¬ nete, davon, ohne sich weiter nach Albert, der ihm auf dem Fuße folgte, umzusehen. Dieser schaute dem Enteilenden mit einem höhni¬ schen Lächeln auf den schmalen feinen Lippen nach: „lieber Timm,“ murmelte er; „ich will Dir den lieben Timm und das Sie anstreichen, Du Affe!“ . . . Es war am Abend desselben Tages. Man hatte so eben die Mahlzeit, die bei gutem Wetter jetzt stets auf der Terrasse eingenommen wurde, beendet und bereitete sich zu einem gemeinschaftlichen Spaziergange vor, den man, auf den Vorschlag der Baronin, durch den Buchwald nach dem Strande machen wollte. Os¬ wald hätte sich ausschließen mögen, da ihm in seiner augenblicklichen Stimmung die Gesellschaft wirklich peinlich war, aber Felix, der ein großes Gefallen an dem schweigsamen, ernsten Mann zu finden schien, hatte ihn so lange gebeten, kein Störenfried und Spiel¬ verderber zu sein, daß er sich endlich, zu Bruno's großer Freude, zum Mitgehen entschloß. So brach man denn auf und gelangte bald in den schönen Wald, wo in den grünen Zweigen noch die rothen Abend¬ lichter spielten und die Vögel sangen. Felix hatte der Baronin den Arm gegeben; Fräulein Helene ging an ihres Vaters Seite; Oswald, Albert und die Kna¬ ben und Mademoiselle Marguerite gingen voran oder folgten, bald einzeln, bald paarweise, wie der schmale Waldweg es eben erlaubte. Felix, den sein Arzt be¬ sonders vor Erkältung gewarnt hatte, fand es im Wald doch kühler und feuchter, als er vermuthet, und er wünschte im Stillen sehnlichst, daß die Partie sich nicht zu sehr in die Länge ziehen möchte. Indessen hielt er es natürlich für gerathener, diesen seinen ge¬ heimen Wünschen keine Worte zu leihen, sondern dem reizenden Einfall „dieses romantischen Spaziergangs“ ein Compliment zu machen. „Es freut mich, wenn ich damit Ihrem Geschmack entsprochen habe, lieber Felix,“ sagte Anna-Maria; „ich gestehe, ich hätte Ihnen so viel Sinn für die ein¬ fachen Freuden des Landlebens nicht zugetraut. Wie gut trifft es sich, daß auch Helene diesen Geschmack theilt. Ihr werdet einmal ein recht verständiges, solides Leben führen, wie es sich für eure Verhält¬ nisse schickt.“ „Nun, meine Verhältnisse, liebe Tante —“ „Werden sich bessern, ich bin davon überzeugt; aber Sie werden viel zu thun haben, lieber Felix, bis Sie ganz frei aufathmen können. Wie lange hat es gedauert, bis selbst wir nur die allergrößten Hinder¬ nisse aus dem Wege geräumt hatten! und von einer wirklichen Beherrschung der Situation können wir erst in ein paar Jahren sprechen, wenn Stantow und Bärwalde uns hoffentlich nicht länger vorenthalten werden können und die übrigen Güter in neue und, ich denke, bessere Pacht kommen. Sie sollten Ihre Güter auch neu vermessen lassen, lieber Felix. Sie finden in Timm einen fleißigen und geschickten Arbeiter. Ich bin ganz überrascht, daß Sie den jungen Mann schon von früher her kennen; von der Cadettenschule, nicht wahr?“ „Ja, liebe Tante; er war ein großer —“ „Liebling — ich glaube es gern; ist er es doch auch hier bei uns Allen.“ „Das wollte ich nun eigentlich nicht sagen“ ver¬ setzte Felix lachend; „indessen man hatte ihn allerdings im Allgemeinen sehr gern. Er war der unermüd¬ lichste Spaßmacher; und wenn es sich um einen Genie¬ streich handelte, so stand er sicher an der Spitze. Indessen, man thut gut, ihm den Daumen etwas auf's Auge zu halten; er gehört zu den Leuten, die, wenn man ihnen den kleinen Finger giebt, die ganze Hand nehmen.“ „In der That!“ sagte Anna-Maria, die Augen¬ brauen in die Höhe ziehend; „ich habe den jungen Menschen bis jetzt stets für die Bescheidenheit selbst gehalten; für viel bescheidener, als z. B. unsern Herrn Stein.“ „Wirklich?“ meinte Felix; „ich hätte nun gerade gedacht, daß Herr Stein sich seiner Stellung voll¬ kommen bewußt ist.“ „Nun, Sie werden ihn noch näher kennen lernen. Er ist einer der arrogantesten Menschen seines Stan¬ des, die mir je vorgekommen sind.“ „Wir wollen ihm das austreiben,“ sagte Felix, seinen äußerst winzigen Schnurrbart drehend; „mit solchen Leuten muß man kurzen Prozeß machen. Ich kenne das. Diese Bürgerlichen sind sich Alle gleich. Sobald sie merken, daß wir sein wollen, was wir von Rechtswegen sind — die Herren im Staat und im Haus — kriechen Sie zu Kreuz. Sie werden nur übermüthig durch unsere Schuld. Man muß sie fortwährend in dem Bewußtsein ihrer Stellung halten. Sie sind zu gut gegen den Menschen gewesen: das ist Alles. Ich wunderte mich, offen gestanden, schon heute Mittag, mit welcher Nachsicht sich Fräulein Helene seine Zurechtweisung — ich weiß nicht mehr, um was es sich handelte — gefallen ließ.“ „Nun Helene ist sonst nicht gerade seine Freundin; wie sie denn überhaupt eine wahrhaft aristokratische Antipathie gegen alles Plebejische hat. Nähren Sie diese Grundsätze ja! ich glaube, Sie werden so den nächsten Weg zu ihrem Herzen finden.“ „Nun, ich denke, dieser Weg wird ja wol nicht so übermäßig schwer zu entdecken sein;“ sagte Felix mit selbstgefälligem Lächeln: ich habe einige Erfahrung in diesem Capitel, ma chère tante !“ „Die Sie in diesem Falle brauchen werden; lieber Felix. Helene ist ein sehr eigenthümlicher, schwer zu berechnender Charakter. Ich gestehe, daß ich noch nicht gewagt habe, ihr unser Project offen darzulegen. Ich wollte erst die Wirkung abwarten, die Sie ohne Zweifel auf ihr Herz hervorbringen werden. Sie haben hier die beste Gelegenheit, sich ihr in dem liebenswürdigsten Lichte zu zeigen; ja nicht einmal einen Nebenbuhler haben Sie zu fürchten. Wir leben sehr zurückgezogen, und ich werde mit Eifersucht dar¬ über wachen, daß diese Zurückgezogenheit auch wäh¬ rend Ihres Aufenthalts so wenig wie möglich gestört wird.“ „Verzeihen Sie, liebe Tante, wenn ich in diesem Punkte anderer Meinung bin,“ sagte Felix; „ich müßte mir wahrlich mein theures Lehrgeld wiedergeben lassen, wenn ich den Vergleich mit den jungen Standesge¬ nossen hier auf dem Lande scheuen zu müssen glaubte. Im Gegentheil; ich bin äußerst begierig, mit diesen Gelbschnäbeln in die Schranken zu treten! Jeder, den ich aus dem Sattel hebe, ist ein Schritt näher zu meinem Ziele, wenn es denn wirklich so sehr weit gesteckt sein sollte. Nein! bitten Sie so viel Gesell¬ schaft wie möglich. Machen Sie meine und Helene's Anwesenheit zu einer Veranlassung, kleine Diners, Soupers, Thees u. dgl. zu geben; und hernach fassen wir Alles in einem großen Balle zusammen, auf wel¬ chem dann unsere Verlobung der ganzen Gesellschaft mitgetheilt wird, die dann natürlich über ein Ereig¬ niß, das sie seit Wochen erwartet hat, in ein obligates Staunen geräth.“ „Sie sind kühn, lieber Felix,“ sagte die Baronin, der diese Methode, auch besonders der Kostspieligkeit wegen, nur halb gefiel. „Wozu hätte ich denn sonst des Königs Rock so lange Jahre getragen?“ erwiederte Felix, seiner Tante galant die Hand küssend. Während dessen von der Baronin und Felix so ruhig über Helene's Schicksal debattirt wurde, hatte zwischen dieser und ihrem Vater ein Gespräch statt¬ gefunden, das die feingesponnenen Pläne der Baronin und den vermeintlich raschen Siegeslauf des jungen Ex-Lieutenants auf eine gar eigenthümlich naive Weise durchkreuzte. Der alte Baron liebte seine schöne Tochter mit aller Liebe, deren sein braves Herz fähig war, liebte sie um so mehr, als er über die Gerechtigkeit der Bestimmungen, welche das junge Mädchen von dem Majoratsvermögen ausschlossen, von jeher nicht geringe Zweifel gehabt hatte. Dazu kam, daß er die Zurück¬ setzung, welche die Tochter von Seiten der Mutter bis dahin erfahren hatte, sehr wol empfand, wenn er auch zu schwach gewesen war, Maßregeln dagegen zu ergreifen, und vor allem der Hamburger Verban¬ nung ein Ende zu machen. Auch dem Heirathsproject hatte er seine Zustimmung nur gegeben, weil ihm Anna-Maria eingeredet hatte, so könne die Ungleich¬ mäßigkeit in dem Schicksal der beiden Kinder am besten ausgeglichen werden, da Helene, als die Gattin Felix', nach Malte's etwaigem Tode, dann doch ge¬ wissermaßen zur Erbschaft gelangte, wenigstens in den vollen Genuß des Vermögens käme. Aber auch hier hatte er Helene's vollkommen freie Zustimmung als unumgängliche Bedingung stipulirt, wogegen er sich wieder verpflichtet hatte, die Leitung der Angelegen¬ heit den geschickten Händen seiner Gemahlin zu über¬ lassen und vor allem sich vor einer vorzeitigen Ent¬ hüllung des Planes in Acht zu nehmen. Nun aber hatten die Eindrücke der letzten Zeit an diesen Vorsätzen und Entschlüssen arg gerüttelt. Zuerst war ihm in Hamburg, als ihn ein plötzlicher Fieber¬ anfall auf das Krankenlager warf, der Gedanke ge¬ kommen, er könnte in nächster Zeit sterben und He¬ lene dann ganz verlassen dastehen, ohne seinen Rath, ohne sein Veto, das er im äußersten Falle der Ausfüh¬ rung der Pläne Anna-Maria's entgegenzusetzen fest entschlossen war. Er hatte seine Tochter immer ge¬ liebt, aber jetzt betete er sie an. Sie war so schön, so stolz, und gegen ihn, den alten Vater, so freund¬ lich bescheiden, daß sein Herz, wenn er dachte, er könnte aus dem Leben gehen, ohne das Schicksal dieses seines Lieblings sicher gestellt zu haben, Angst und Trauer zugleich empfand. Wäre nun Felix der Mann gewesen, wie er sich den Gemal seiner Tochter wünschte, so hätte noch Alles gehen mögen. Aber das war Felix keineswegs. Der alte Baron war seiner Zeit auch ein junger Baron und war, wie Felix, Offizier gewesen. Er wußte sehr wohl, welchen Versuchungen ein junger und reicher Edelmann in dieser Lage ausgesetzt ist; er selbst war diesen Ver¬ suchungen nicht immer entgangen und hatte in seinem reiferen Alter, als sein von jeher ernst gestimmter Geist seine naturgemäße Richtung erlangt hatte, mit bitterer Reue die Sünden seiner heißblütigen Jugend beklagt. Er hatte an seinem Vetter Harald das le¬ bendige Beispiel gehabt, wohin die ungezügelten Lei¬ denschaften zuletzt führen, und sein durch die Liebe zu seiner Tochter und durch die Erfahrung in diesem einen Falle doppelt scharfes Auge erkannte sofort, daß sein Neffe Felix in einem hohen Grade der Sclave dieser Leidenschaften gewesen sein mußte, vielleicht noch war. Er hatte den jungen Mann vor ein paar Jahren gesehen, als dieser eben die Cadettenschule verließ. Damals hatte er eine angenehme Erinnerung an den schlanken, kräftig gebauten Jüngling mit dem frischen hübschen Gesicht und den lebhaften hellen Augen davongetragen; jetzt sah er von dieser aller¬ liebsten Erscheinung nur noch einen traurigen Schat¬ ten. Eine gespenstige Magerkeit, tiefe Furchen in dem jugendlich-alten Gesicht, die großen blauen Augen gläsern oder von einem fieberhaften Glanze leuchtend und stets mit dem starren, frechen Blick, der deut¬ licher spricht, als eine lange Lebensbeschreibung — die Bewegungen hastig und fahrig, offenbar in der Absicht, die innere Mattigkeit und Schlaffheit zu ver¬ decken — die Rede vorlaut und über Alles mit der¬ selben souveränen Oberflächlichkeit weghuschend — das ganze Wesen von einer krankhaften Eitelkeit wie zerfressen — so oder ungefähr so erschien Felix dem besorgten Vater, trotzdem dessen Menschenfreundlichkeit hier wie überall die schlimmsten Flecken des Bildes gutmüthig vertuschte. Es that ihm leid, daß er sich von seiner Gemalin das Versprechen hatte abnehmen lassen, in dieser An¬ gelegenheit nicht selbstständig handelnd aufzutreten. Es F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 2 kam ihm vor, als ob er sich mit diesem Versprechen doch übereilt habe, und auf jeden Fall hielt er dafür, daß eine geschickte Sondirung, wie denn Helene selbst in diesem Punkte denke, kein Bruch des Versprechens sei. So sagte er denn, nachdem sie eine Weile schwei¬ gend nebeneinander hergegangen waren, ihren Arm in den seinen legend: „Wie befindest Du Dich, meine Tochter?“ „Ich danke, Vater, gut; weshalb?“ erwiederte Fräulein Helene, etwas überrascht über diese plötz¬ liche Frage. „Ich dächte, Du sähest etwas blaß aus.“ „Das kommt wohl nur von der ungünstigen Be¬ leuchtung hier unter den grünen Bäumen,“ antwor¬ tete das junge Mädchen heiter; „ich befinde mich aber wirklich ganz wohl.“ „Ich fürchtete immer, der plötzliche Wechsel der Luft, der Lebensweise, des Umgangs würde Dir schädlich sein. Du bist zu lange vom Hause fortge¬ wesen.“ „Das ist nicht meine Schuld, lieber Vater.“ „Ich weiß es wol, ich weiß es wol; aber meine Schuld ist es auch nicht; ich habe stets der Abkürzung der Pensionszeit das Wort geredet, aber — „Nun, ich bin ja endlich hier und wir wollen das Versäumte möglichst nachholen. Wir wollen recht viel zusammen spazieren gehen; ich will Dir aus Deinen Lieblingsbüchern vorlesen; es soll ein reizendes still¬ vergnügtes Leben werden,“ und das junge Mädchen nahm die Hand ihres Vaters und führte sie an ihre Lippen. „Du bist ein liebes gutes Kind,“ sagte der Baron und seine Stimme zitterte etwas: „gebe Gott, daß ich mich Deiner noch recht lange zu erfreuen habe.“ „Aber, bester Vater, schon wieder solche hypochon¬ drische Gedanken! Du bist ja jetzt, Gott sei Dank, wieder so rüstig, wie immer. Weshalb sollten wir nicht noch lange glücklich zusammen leben!“ „Aber wenn Du uns verließest.“ „Ich sterbe fürs erste noch nicht, deshalb sei nur ganz unbesorgt;“ sagte Fräulein Helene lachend. „Das wolle auch Gott verhüten! aber die Kinder werden ja nicht blos durch den Tod von den Eltern getrennt. Wenn Du nun heirathest, so müssen wir uns doch darauf gefaßt machen, Dich abermals zu verlieren, nachdem wir Dich kaum wieder gewonnen haben.“ „Aber, Papa, Du sprichst ja gerade, als ob ich wo möglich morgen schon heiraten soll! Ich denke ja gar nicht daran. Auch die Mutter fing gestern 2* von diesem Capitel an. Wollt Ihr mich denn wirk¬ lich so gerne wieder los sein?“ „So, so, also Deine Mutter hat schon mit Dir gesprochen, hm, hm!“ sagte der Baron, der natürlich nicht anders dachte, als daß die Baronin, mit dem längst besprochenen und vorbereiteten Plan endlich hervorgetreten sei, und der die Zeit, den Tag vor Felix' Ankunft, auch ganz passend gewählt fand; „so, so! hm, hm! Nun, und wie gefällt Dir denn Dein Cousin?“ „Wer? Felix?“ fragte Helene, die für den Augen¬ blick in ihrer Unbefangenheit den Zusammenhang dieser Frage mit dem Vorhergehenden nicht einmal ahnte. „Ja.“ „Er kommt mir vor, wie der Champagner, den wir heute Mittag tranken. Die ersten Tropfen schmeckten recht gut, als ich das Glas eine Weile hatte stehen lassen, fand ich den Wein sehr fade und abgeschmackt. — Aber Ihr habt mich doch nicht etwa für Cousin Felix bestimmt?“ fragte Fräulein Helene, der dieser Gedanke jetzt erst durch den Kopf schoß, mit großer Lebhaftigkeit. „Bewahre, das heißt: ganz, wie Du willst; ich will sagen: es wird Deinem Willen in dieser Hinsicht nie ein Zwang auferlegt werden,“ erwiederte der alte Baron, der weder die Wahrheit sagen durfte, noch lügen wollte, mit ziemlicher Verwirrung. Helene antwortete nicht; aber der angeregte Ge¬ danke arbeitete in ihrem lebhaften Geiste weiter. Sie verglich das gestrige Gespräch, das sie auf ihrem Zimmer mit ihrer Mutter gehabt hatte, mit dem so¬ eben geführten . . . es bedurfte nicht einmal eines so scharfsinnigen Kopfes, als der ihre war, um den Zu¬ sammenhang zwischen diesen beiden Unterredungen und den Sinn der hingeworfenen Andeutungen zu entdecken. Ihr stolzes Gemüth empörte sich, wenn sie dachte, daß man, ohne sie zu fragen, ohne ihre Meinung ein¬ zuholen, im Voraus über ihr Schicksal entschieden und ihre Hand versprochen habe; daß dieser Felix, vor dem ihr reines keusches Herz sie instinctiv warnte, vielleicht schon in diesem Augenblick sie als die seine betrachtete! Diese Gedanken nahmen sie so ganz in Anspruch, daß sie nicht einmal in das bewundernde: Ah, wie schön! wie herrlich! einzustimmen vermochte, in das die übrige Gesellschaft ausbrach, als man einige Minuten später aus dem Walde auf den Rand des hohen Ufers hinaustrat. In der That war das Schauspiel das sich den Blicken darbot, wol der Bewunderung werth. Die Sonne war soeben in das Meer gesunken und schien die in allen Schattirungen von Roth und Gold pran¬ genden Wolken wie in einem Strudel hinter sich her¬ zuziehen. Von dem Punkte, wo sie untergegangen war, schossen lichte Streifen durch die Wolken nach allen Seiten bis hoch hinauf in den durchsichtig blauen Himmel. Die See war nach dem Horinzonte hin ein Feuermeer, und auf einzelnen höheren Wellen zitterten die goldenen Funken bis zum Strand herüber. Das hohe vielfach zerklüftete Kreideufer und der Buchwald, der es krönte, waren von dem rothen Abendschein, wie von einer bengalischen Flamme angestrahlt. Rings umher tiefe feierliche Stille, nur unterbrochen von dem dumpfen Rauschen der Wogen unten auf den Kieseln des Strandes, und dann und wann von dem grellen Schrei einer Möve, die über den erregten Wassern flatterte. Die Gesellschaft stand, in Betrachtung des herrlichen Schauspiels, das mit jedem Augenblicke wechselte, verloren, gruppenweis da. Oswald, dem die ewigen Ach's und Oh's, an denen sich besonders die Baronin und Felix überboten, nachgerade langweilig wurden, hatte sich etwas von den Uebrigen entfernt und sich auf die bloß liegende Wurzel einer mächtigen Buche gesetzt. „Haben Sie noch einen Platz für mich?“ fragte Helene, die ihm gefolgt war. „Ich räume Ihnen gern den meinigen ein,“ sagte Oswald aufstehend. „Nur für ein paar Augenblicke; ich weiß nicht, der Spaziergang hat mich außergewöhnlich müde ge¬ macht.“ „Sie sind heute Morgen vielleicht zu lange im Garten gewesen.“ „Nein, aber Apropos, wie kommt es, daß ich Sie heute und auch schon gestern nicht gesehen habe?“ „Bloßer Zufall.“ „Das freut mich.“ „Weshalb?“ „Ich fürchtete, aufrichtig gestanden, ich hätte Sie aus dem Garten vertrieben; ich dachte, dies ewige Sichbegegnen mit derselben bewußten Person wäre Ihnen unleidlich geworden.“ „Sie denken in der That äußerst bescheiden von der bewußten Person.“ „Nein, spotten Sie nicht; ich dachte es im Ernst — ja und noch mehr! Sie sind seit vorgestern Abend sehr still und, wie mir vorkam, besonders kurz gegen mich. Sie haben mir auch gestern meine Literatur¬ stunde, auf die ich mich so freute, nicht gegeben. Bin ich vielleicht unwissentlich die Veranlassung —“ „Wie meinen Sie?“ „Nun, ich rede manchmal, was vielleicht hart oder anmaßend klingt; wenigstens ist mir dieser Vorwurf oft gemacht worden; aber ich meine es wirklich nicht so —“ „Und Helene blickte mit ihren großen dunkeln Augen freundlich zu Oswald empor, der in Bewun¬ derung ihrer Schönheit und in Erstaunen über diese plötzliche und unerklärliche Milde und Theilnahme ver¬ loren, vor ihr stand. „Was sehen Sie mich so verwundert an?“ „Daß sich so viel Güte hinter so viel Stolz ver¬ stecken kann!“ „Ist es denn die Welt werth, daß wir ihr unser Herz zeigen?“ „Eine sonderbare Frage in dem Munde eines so jungen Mädchens.“ „Freilich, wir dürfen ja über nichts nachdenken. Wir sind, wenn's hoch kommt, hübsche Puppen, mit denen man spielt und die man an den ersten Besten verschenkt, der merken läßt, daß er uns gern haben möchte.“ „Cousine,“ rief Felix, „wir wollen zum Strande hinabgehen; wollen Sie mit?“ „Nein!“ sagte Helene, ohne sich nach dem Sprechen¬ den umzuwenden. „Es ist eine reizende Partie;“ rief Felix. „Möglich;“ erwiederte das junge Mädchen kurz, ohne ihre Stellung zu verändern. Aber Felix war nicht der Mann, sich so leicht ab¬ weisen zu lassen. Er kam zu dem Platze, auf dem sich Oswald und Helene befanden, herüber und sagte: „Aber Helene, Sie werden doch diese erste Bitte, die ich an Sie richte, nicht abschlagen?“ „Weshalb nicht?“ erwiederte diese und der Ton ihrer Stimme klang eigenthümlich scharf und bitter: „ich kann das Bitten und die Bittenden nicht leiden, das können Sie nicht früh genug lernen.“ „Haben Sie sich den Fuß vertreten, theuerste Cou¬ sine?“ fragte Felix. „Weshalb?“ „Weil Sie so unbeweglich sitzen und in so schau¬ derhafter Laune sind;“ erwiederte Felix lachend und ging ohne ein Zeichen, daß ihn das Benehmen He¬ lene's irgend verletzt habe, zu den Uebrigen. „Wollen Sie sich nicht der Gesellschaft anschließen, Herr Doctor?“ fragte Helene, auf deren Wangen noch die Erregung der letzten kleinen Scene brannte, als jetzt die Andern den ziemlich steilen Weg, der zum Strand führte, hinabzusteigen begannen. „Sie wünschen allein zu sein?“ „Nicht doch; im Gegentheil, ich freue mich, wenn Sie hier bleiben wollen. Nach der geistreichen Un¬ terhaltung von heute Mittag und heute Abend fühlt man das Bedürfniß, endlich einmal ein verständiges Wort zu sprechen. Sie haben mir noch immer nicht gesagt, ob ich Ihnen, ohne es zu wissen und zu wollen, durch irgend eine unvorsichtige Bemerkung vielleicht, weh gethan habe?“ „Nein, durchaus nicht. Ich habe vorgestern Abend eine Nachricht erhalten, die mich sehr betrübt . . . Er¬ innern Sie sich des Professor Berger von ihrer Bade¬ reise nach Ostende vor drei Jahren?“ „Ei gewiß! wie könnte man den vergessen! Mir ist, als ob ich ihn gestern gesehen hätte, so deutlich steht er vor mir mit seinen hellen Augen unter den buschigen Brauen und stets mit einem Bonmot auf den Lippen. Was ist mit ihm? er ist doch nicht gar todt?“ „Nein, schlimmer als das — er ist wahnsinnig geworden.“ „Um Gotteswillen! der Professor Berger — dieses Bild der Klarheit und Geisteshoheit! Wie ist das möglich? Wissen es die Eltern schon?“ „Nein, und bitte, sagen Sie auch nichts; ich könnte es jetzt nicht ertragen, daß darüber gesprochen würde.“ „Sie hatten den Professor wol recht lieb?“ „Er war mein bester, vielleicht mein einziger Freund.“ „Wie beklage ich Sie,“ sagte Helene, und auf ihrem schönen Antlitz war die Theilnahme, die sie empfand, deutlich zu lesen; „ein solcher Verlust muß fürchterlich sein. Und Sie stehen hier ganz allein mit ihrem Kummer, und Keiner nimmt Theil an Ihrem Schmerz.“ „Ich bin das von jeher gewöhnt gewesen.“ „Haben Sie denn keine Eltern, keine Geschwister, Verwandte?“ „Meine Mutter starb, als ich noch ein Kind war; mein Vater vor mehren Jahren; Geschwister habe ich nie gehabt; Verwandte, wenn ich welche habe, nie gekannt.“ Helene schwieg und zeichnete mit der Spitze ihres Sonnenschirms Linien in den Sand. Plötzlich hob sie den Kopf und sagte in einem Ton, der halb wie eine Klage und halb wie eine Herausforderung klang: „Wissen Sie, daß man Eltern und Geschwister — ja! und selbst Verwandte, haben und doch recht allein sein und sich recht einsam fühlen kann? Und Sie haben es noch immer gut; Sie sind ein Mann; Sie können für sich selbst handeln, während —“ Das junge Mädchen brach ab, als fürchtete sie, sich von ihren Empfindungen zu weit hinreißen zu lassen. Sie stand auf und trat einige Schritte von Oswald weg dicht an den Rand des steilen Ufers. — Es war ein wundersam schönes Bild, diese stolze, schlanke Gestalt auf dem lichten Hintergrunde des goldenen Abendhimmels, der ihr herrliches Haupt, mit dessen dunklen Locken der Seewind spielte, wie mit einem Glorienschein umgab. Und wie ein Engel des Himmels erschien sie Oswald, in dessen krankes Herz ihre guten mitleidigen Worte wie milder Regen auf eine welke Blume gefallen waren. Und nun zum ersten Male erinnerte er sich wieder des Gespräches, das er am Tage seiner Zurückkunft von Sassitz mit dem Doctor gehabt hatte. Also wirklich! dies holde, herrliche Geschöpf sollte auch verkauft werden, wie Melitta verkauft worden war! Sie sagte es selbst! aus ihrem eigenen Munde hatte er es nur eben ge¬ hört: sie hatte keinen Freund! sie stand allein da in der Welt! sie konnte nicht für sich selbst handeln! Und sie hatte noch Mitleid und Trost für ihn, sie, die selbst des Mitleids und des Trostes — nein, thä¬ tiger Hülfe — so sehr bedurfte! Die Schwachen, die Hülflosen zu schützen ist das Recht und die Pflicht des Mannes — es hätte wol wenig kühne Abenteuer gegeben, in welche sich Oswald in diesem Augenblicke nicht ohne Zögern für die schöne Verfolgte gestürzt hätte. Er dachte nicht daran, daß des Ritters erste Pflicht die Treue gegen die Dame seines Herzens ist, und daß für eine Andere eine Lanze brechen, während er in Gefahr schwebt, jene zu verlieren, weder von Weisheit noch von Edelmuth zeugt. Da gellte von dem Strande, auf dem die Uebrigen jetzt angekommen waren, ein Schrei empor — und wie Helene, die sich von Schwindel ganz frei wußte, noch einen Schritt näher an den Rand trat und sich über den Abhang beugte, ein zweiter, noch geller, noch schriller, noch angstvoller. „Um Himmelswillen,“ rief Helene; „was kann denn da geschehen sein? Mir däucht, es war Bruno's Stimme. Lassen Sie uns so schnell wie möglich hin¬ abeilen!“ Der Weg zum Strande, der sich im Zickzack an dem Kreidefelsen hinwand, war trotz seiner Steilheit im Nu von den jungen Leuten zurückgelegt. Als sie athemlos unten ankamen, sahen sie Bruno ohnmäch¬ tig, von Albert gehalten, während die Anderen rath¬ los umherstanden. „Holen Sie Wasser, schnell!“ sagte Oswald, Al¬ bert den Knaben abnehmend und diesem das Hals¬ tuch abknüpfend und die Kleider öffnend, woran noch Niemand gedacht hatte. „Wie ist denn dies gekommen?“ fragte Helene, die kalten Hände Bruno's in ihre Hände nehmend und angstvoll in sein schönes blasses Gesicht starrend. „Es weiß Niemand von uns,“ sagte die Baronin. „Es wird ein Anfall von Schwindel sein,“ meinte Felix. Unterdessen hatte Oswald von dem Wasser, welches Albert — in Bruno's Hut — gebracht hatte, des Knaben Stirn und Schläfen und Brust reichlich be¬ netzt. Helene erinnerte sich, daß sie ein Fläschchen Eau de Cologne bei sich führe, und half Oswald in seinen Bemühungen. Es gelang ihnen in Kurzem, den Ohnmächtigen wieder zu sich zu bringen. Er schlug langsam die großen Augen auf, sein erster Blick fiel auf Helene, die sich über ihn beugte. „Bist Du todt, ganz todt?“ murmelte er, die Augen wieder schließend. Man glaubte, er habe den Verstand verloren. „Komm zu Dir, Bruno!“ sagte Helene, dem Kna¬ ben mit leiser Hand über Stirn und Augen streichelnd. Bruno ergriff diese Hand und drückte sie fest auf seine Augen, durch deren geschlossene Wimpern sich zwei große Thränen drängten. Dann richtete er sich mit Oswald's Hülfe vollends auf. „Mir ist wieder ganz wohl!“ sagte er; „ich bin wol gar ohnmächtig gewesen? Wie lange habe ich so gelegen?“ „Nur ganz kurze Zeit,“ sagte Oswald, Bruno's Gesicht mit seinem Taschentuche abtrocknend und den Anzug wieder in Ordnung bringend. „Du hast uns einen rechten Schrecken verursacht; was hattest Du denn nur?“ fragte die Baronin. „Ich weiß es nicht,“ antwortete der Knabe, dessen blasse Wangen plötzlich hohe Purpurgluth bedeckte; „es kam ganz plötzlich. Danke, danke, ich glaube, ich kann jetzt mit Herrn Stein's Hülfe ganz gut weiter kommen.“ „Wir wollen wieder umkehren,“ sagte die Baronin. „Daß einem doch jedes, auch das bescheidenste Ver¬ gnügen durch irgend einen Unfall verleidet wird!“ Man stieg langsam das Ufer wieder hinauf und trat, ziemlich einsilbig und verstimmt, den Rückweg durch den Wald an. Felix, der sich zu erkälten fürch¬ tete, ermahnte zu größerer Eile; Oswald bemerkte trocken, er wolle die übrige Gesellschaft nicht aufhalten, man möge ihm indessen erlauben, mit Bruno langsam zu folgen. Helene erklärte, daß sie bei Bruno bleiben würde; der alte Baron, der bei dem ganzen Vorfall eine große, wenn auch thatlose Theilnahme an den Tag gelegt hatte, schlug vor, die Gesellschaft solle sich in einen Vortrab und einen Nachtrab theilen, er selbst wolle den letzteren führen. „Du wirst Dir den Schnupfen holen, lieber Gren¬ witz,“ sagte die Baronin; „ich dächte, Du kämest mit uns.“ „Nein,“ ich werde bei den Anderen bleiben,“ sagte der alte Baron mit einer Bestimmtheit, die Alle, viel¬ leicht ihn selbst, überraschte. Er gab seiner Tochter den Arm, blieb aber in der Nähe Oswald's und Bruno's, eine harmlose Unterhaltung, wie er sie liebte, mit ihnen führend und sich von Zeit zu Zeit nach des Patienten Be¬ finden erkundigend. „Ich befinde mich wohl, ganz wohl,“ versicherte dieser ein Mal über das andere; doch fühlte Oswald, daß er sich fest auf seinen Arm stützte und daß seine Hände kalt waren. Sie kamen, lange nach den Anderen, auf dem Schlosse an. Der alte Baron wünschte gute Besse¬ rung, als Oswald sich sofort mit Bruno auf dessen Zimmer begab, wo er den Knaben sich sogleich zu Bett legen ließ. „Du bist kränker, Bruno, als Du zugeben willst,“ sagte er, sich zu ihm auf's Bett setzend, „nicht wahr, Du hast Deine alten Schmerzen?“ „Ja,“ sagte Bruno, dessen Zähne zusammenschlu¬ gen und auf dessen Stirn der kalte Schweiß stand. Oswald beeilte sich, die alten Hausmittel, wie jenes erste Mal, herbeizuschaffen; und es gelang seinen Bemühungen auch jetzt, das Uebel zu heben, wenig¬ stens die Schmerzen in kurzer Zeit zu lindern. „Wirst Du auch mir nicht sagen, Bruno, was Dich so bewegt hat?“ fragte Oswald da. „Doch!“ sagte der Knabe, „ich wollte es nur nicht in der Anderen Gegenwart, weil ich ihr albernes Ge¬ lächter schon im voraus hörte. — Ich war etwas hinter den Anderen zurückgeblieben und durch einen Vorsprung des Ufers von ihnen getrennt. Ich dachte immer, ihr würdet nachkommen und deshalb ging ich so langsam und blickte oft nach oben. Da sah ich plötzlich Helene ganz nahe an den Rand des Ufers treten, das an dieser Stelle wol hundert Fuß und darüber lothrecht hinabfällt. Ich schrie laut auf in F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 3 entsetzlicher Angst, da trat sie noch näher — bog sich sogar herüber — und da wurde mir es schwarz vor den Augen — nun und das Uebrige weißt Du ja. Aber ich höre Malte kommen. Gute Nacht, Oswald.“ „Gute Nacht, Du Wilder!“ Oswald küßte seinen Liebling auf die Stirn und ging nachdenklich auf sein Zimmer. Er lehnte sich in das offene Fenster und schaute lange, in Sinnen und Brüten verloren, in den Garten hinab. Die Nacht war finster; nur hier und da schimmerte ein Stern auf Augenblicke durch den Wolkendunst. Manch¬ mal rauschten die Bäume lauter auf, als sprächen sie ängstlich in einem wirren, unruhigen Schlaf; der Brun¬ nen der Najade plätscherte dazwischen, leise und ab¬ gebrochen, als erzähle er eine alte unheimliche Ge¬ schichte. „Dein Leben gleicht dieser Nacht,“ sprach Oswald bei sich: „hier und da ein Stern, der so bald wieder verschwunden ist, und sonst Alles chaotisches Dunkel. Du hast recht, guter Berger: unser Leben ist ein hohles Nichts, und wer nur überhaupt einen Ver¬ stand zu verlieren hat, muß ihn darüber verlieren. Wolltest Du bewirken, daß Dir Dein Schüler sobald als möglich nachfolgen könnte, als Du mich hierher schicktest? Da bist Du nun an demselben Orte, wo Melitta ist und auch Oldenburg. Vielleicht siehst Du sie, wenn sie Arm in Arm an Deiner Zelle vorüber¬ gehen; vielleicht kommt Dir bei der Gelegenheit der Verstand wieder, den andere Leute bei dem Anblick verlieren würden. Ich könnte ja auch eine kleine Reise nach N. machen, meine guten Freunde zu besuchen; wer weiß? vielleicht gefällt mir der Ort so sehr, daß ich gleich da bleibe.“ „Wie geht es Bruno?“ tönte eine Stimme aus dem Garten herauf. Es war Helene's Stimme. Os¬ wald sah ihr helles Gewand durch das Dunkel her¬ aufschimmern. „Ich danke, gut!“ antwortete er hinab. „Schlafen Sie wohl!“ Und das helle Gewand verschwand in den Büschen. „Nein, das Leben ist mehr wie ein hohles Nichts,“ murmelte Oswald, indem er das Fenster schloß; „hätte Berger dieses Mädchen gesehen, er hätte wieder an das Leben geglaubt. Und doch! er hat sie ja gesehen, gesehen und bewundert und besungen, und ist doch wahnsinnig geworden . . . o, es ist ein schauerliches Ding, dieses Leben — öde und dunkel und gespenstisch und das einzige Reelle eine holde, freundliche Stimme, die uns schlafen gehen heißt.“ 3* Zweites Kapitel. Es kommen im Familienleben, genau wie im Leben der Völker, gewisse Zeiten, wo Alle mehr oder weniger deutlich fühlen, daß sich etwas Großes, Außerordent¬ liches vorbereite; wo die dunkle Zukunft ihren drohen¬ den Schatten weit hineinwirft in die Gegenwart, die Gemüther der Einen verdüstert, die der Andern mit vagen Hoffnungen erfüllt, überall aber eine wühlende Unruhe in den Geistern erzeugt, die dann ihrerseits wiederum dazu beiträgt, das Hereinbrechen dessen, was diese fürchten und Jene herbeiwünschen, zu be¬ schleunigen. Eine solche Zeit fieberhafter Spannung war denn jetzt auch für die vor Kurzem noch so stille Gesell¬ schaft auf Schloß Grenwitz hereingebrochen. Bruno's plötzlicher Unfall, von dem er sich übrigens schon am nächsten Tage erholte, hätte für die Scharfsichtigeren ein Symptom von dem sein können, was da Alles unter der glatten Hülle geselliger Höflichkeit und pein¬ lich genau beobachteter Formen in der Tiefe gährte und kochte: geheime Liebe und tief versteckter Haß! Feindschaften unter der Maske trefflichsten Einver¬ nehmens und guter Kameradschaft! herzliche Sym¬ pathien, die sich unter dem Anschein von Gleichgültig¬ keit, ja Abneigung verbargen! Selbst die Physiogno¬ mie des äußeren Lebens war verändert. Die tiefe, fast beängstigende Stille, die sonst in dem weiten Raume, welchen der Schloßwall einschloß, herrschte, wurde jetzt gar vielfach gestört. Baron Felix, der zum Anachoreten sehr wenig Talent besaß, mochte es sich nicht versagen, wenigstens einer oder der andern seiner gewohnten Beschäftigungen in der Einsamkeit von Schloß Grenwitz nachzuhängen. Am Tage nach seiner Ankunft waren seine beiden schönen Reitpferde glücklich angelangt, und so konnten bei den weiteren Ausflügen der Gesellschaft, die zu Wagen unternommen wurden, wenigstens zwei der Herren beritten gemacht werden. In einem entlegeneren Theile des Gartens war unter seiner Leitung ein kleiner Schießstand hergerichtet wor¬ den, und in den späteren Nachmittagsstunden ertönte jetzt sehr oft (zu der Baronin geheimem Entsetzen) der kurze, scharfe Knall gezogener Pistolen bis in die ge¬ heiligte Stille der nach dem Garten gelegenen Wohn¬ gemächer. Da Reiten, Schießen und Jagen Vergnü¬ gungen sind, die durch Gemeinsamkeit wesentlich erhöht werden, so waren Oswald, Albert und selbst Bruno in keinem Augenblick vor Felix sicher, der fortwährend auf der Jagd nach einem Gefährten zu dieser oder jener Unternehmung war, und stets so lange bat und quälte, bis man sich wol oder übel seinen Wünschen accommodirte. Felix gehörte zu den Menschen, die niemals müßig sind, ohne doch eigentlich jemals wirk¬ lich beschäftigt zu sein, mochte er nun stundenlang bei seiner Toilette zubringen und zwischendurch die Chan¬ sons von B é ranger, oder ein paar Capitel aus den liaisons dangéreuses (seinen Lieblingsbüchern) lesen; mochte er sich mit der zweckmäßigsten Construction einer Angelruthe die Zeit vertreiben oder die mangel¬ hafte Dressur seines Hühnerhundes vervollständigen, oder von ein paar Musikstücken die ersten Takte spie¬ len, um mit keinem zu Ende zu kommen — er war stets und zu jeder Zeit der geschäftige Müßiggänger, der die vortrefflichsten Naturanlagen in der Verfol¬ gung von lauter frivolen und oberflächlichen Zwecken vergeudete. Denn Felix war eine sehr begabte Natur, deren nachhaltige Kraft selbst ein überaus wüstes und leichtsinniges Leben nicht gänzlich hatte vernichten kön¬ nen. Ein Streben nach dem Höheren, die Ahnung des Ideals war in der fieberhaften Rastlosigkeit, mit der er sich auf alles Neue warf, in dem Ehrgeiz, welcher ihn trieb, überall der Erste zu sein, oder wenigstens als solcher zu erscheinen, ja selbst in seiner maßlosen Eitelkeit und in der unglaublichen Sorgfalt, die er auf seine äußere Erscheinung verwandte, unver¬ kennbar. Hätte er jemals den Ernst des Lebens ken¬ nen gelernt, hätte er nur einmal sein Brod mit Thrä¬ neu essen müssen, er wäre vielleicht zu retten gewesen. So ließ er sich, ohne jemals über seine Lage nach¬ denken zu wollen oder zu können, von dem Strudel seiner Leidenschaften näher und immer näher an den Punkt treiben, wo er, wenn nicht ein Wunder da¬ zwischen trat, unfehlbar versinken mußte. Ob es ihm mit der Aenderung seines Lebens, über die er mit der Baronin so viel correspondirt hatte, Ernst war? wol schwerlich. Das Garnisonslebeu war ihm langweilig geworden; die Schaar der Gläu¬ biger immer dringender und seine Situation der Art, daß, als er betreffenden Orts um längeren Urlaub einkam, man ihm zu verstehen gab, er thäte, wenn seine Gesundheit wirklich so angegriffen sei, vielleicht besser, sogleich seinen Abschied zu nehmen. Gerade in dieser kritischen Zeit machte ihm die Baronin Gren¬ witz ihre Anerbietungen betreff Helene's. Felix, der hier einen Ausweg fand, an den er noch gar nicht gedacht hatte — denn Anna-Maria's Gemüthlosigkeit in Geldangelegenheiten war ihm aus Erfahrung be¬ kannt — griff mit beiden Händen zu, obgleich eine Heirat nicht eben nach seinem Geschmack war. In¬ dessen war er bereit, sich auf jeden Fall auch in diese Bedingung zu fügen. Wie angenehm war er deshalb überrascht, als ihm in seiner Cousine, die er bis da¬ hin nicht gekannt hatte, ein Wesen entgegentrat, schö¬ ner, anmuthiger, als irgend eine der Damen, die er bisher mit seiner Neigung beehrt hatte — ein Wesen, das die Seine zu nennen, den Stolzesten der Stolzen entzückt haben würde. So waren denn nicht zwei Tage vergangen, als Felix für seine schöne Cousine in seinem Herzen eine Leidenschaft fühlte, die freilich, genau betrachtet, bloße Eitelkeit war, ihm selbst aber wie ein ganzes Wunder vorkam. Selbstische Menschen sind auf Alles eitel, selbst auf die natürlichsten Ge¬ fühle, und so konnte denn Felix nicht müde werden, die Baronin von seiner Liebe, wie von einem achten Wunder der Welt, zu unterhalten und sich auch gegen die Uebrigen, besonders Oswald, über die Herr¬ lichkeit eines auf das Höchste gerichteten Strebens auszulassen. Ob seine Leidenschaft erwiedert wurde? Felix zweifelte nicht einen Augenblick daran. Hatte er nicht bis jetzt noch überall reüssirt? war sein Glück bei den Frauen nicht sprichwörtlich selbst unter den Kameraden, von denen sich doch so ziemlich jeder Einzelne für einen Paris hielt? und hatte er nicht schon so oft erfahren, daß sich die Liebe hinter dem Anschein der Gleichgültigkeit, ja der Abneigung ver¬ birgt? Freilich trieb seine schöne Cousine die Komödie ziemlich weit; freilich behandelte sie ihn mit einer Kälte, einer Geringschätzung, die manchmal gradezu beleidigend war — aber er ließ sich dadurch in dem felsenfesten Glauben an seine unwiderstehliche Liebens¬ würdigkeit nicht beirren und verspottete die Baronin, wenn diese ihn wieder und immer wieder zur Vor¬ sicht ermahnte. Denn Anna Maria sah, da keine per¬ sönliche Eitelkeit die Klarheit ihres Blickes trübte, in dieser Angelegenheit viel schärfer als Felix. Sie, die an sich selbst die Energie des Charakters so hoch schätzte, mußte im Stillen die consequente Gleich¬ mäßigkeit in Helene's Betragen, die bescheidene Festig¬ keit, mit der sie ihre Ansichten aussprach und be¬ hauptete. bewundern. Es war ein Etwas in der stolzen Schönheit ihrer Tochter, wovor sie sich unwill¬ kürlich beugte - ein Lichtglanz aus einer höheren Welt, als die Welt durchaus egoistischer Interessen, in welcher sie selbst sich bewegte. — Helene selbst war nach jenem Abend am Strande wo möglich noch stiller und zurückhaltender geworden. Sie flüchtete, wenn sie irgend konnte, in die Einsamkeit ihres Zim¬ mers. Wenn sie in der Gesellschaft war, schloß sie sich am liebsten an ihren Vater an, oder suchte es auf den Spaziergängen so einzurichten, daß Bruno ihr Begleiter war. Sie hatte stets einen kleinen Dienst für ihn; bald mußte er ihr den Hut, bald die Man¬ tille tragen, bald hatte er ihr eine Blume zu pflücken, die auf der andern Seite des Grabens wuchs, bald ihr an einer steileren Stelle des Ufers die Hand zu reichen. Bruno unterzog sich diesem Dienste mit einem milden Ernst, der freilich den Spott des Baron Felix zuweilen herausforderte, für Jeden aber, der sich für den Knaben interessirte, und die wilde Un¬ bändigkeit seiner Natur kannte, etwas unendlich Rüh¬ rendes hatte. Sein Wesen schien, sobald Helene's Blick auf ihn ruhte, wie umgewandelt. Er war dann sanft und freundlich, dienstfertig und zuvorkommend; ein Wort von ihr, nur ein Wink ihrer langen, dunkeln Wimpern genügte, ihn, wenn er sich ja einmal von seiner alten Heftigkeit hinreißen ließ, sofort zu be¬ sänftigen. Diese Heftigkeit machte sich vor allem gegen Felix Luft, gegen den er einen Haß und eine Ver¬ achtung, die er sich kaum zu verbergen bemühte, empfand. Stets hatte er ein höhnisches, bitteres Wort für ihn in Bereitschaft; die mancherlei kleinen Blößen, die jener sich in seiner maßlosen Eitelkeit der Gesellschaft gegenüber gab, fanden in Bruno einen unerbittlichen, grausamen Verfolger, der um so lästiger war, als seine Jugend ihn nicht als ebenbürtigen Gegner erscheinen ließ, gegen den man mit anderen Waffen kämpfen konnte, als höchstens mit einem von oben herab geführten Hiebe, der meistens ganz vor¬ trefflich parirt wurde. Felix selbst empfand dies einigermaßen, und wenn ihm der Knabe auch nicht gefährlich schien, so war er ihm doch im hohen Grade unbequem. Wo Helene war, da war auch Bruno, und traf es sich ja einmal auf den Spaziergängen, daß sie allein zurückgeblieben war, und war Felix eben im besten Zuge, von der Liebe im Allgemeinen — denn weiter war er noch nicht gekommen — zu sprechen, so gesellte sich wie auf Verabredung Bruno zu ihnen, und Felix, der von Botanik und Minera¬ logie nicht das Mindeste verstand, blieb nichts übrig, als die Beiden ihren naturwissenschaftlichen Bestre¬ bungen zu überlassen. Wie würde er sich gewundert haben, wenn er gehört hätte, daß diese Verhandlun¬ gen abgebrochen wurden, sobald er aus dem Gehör¬ kreise war, daß Bruno, die Blume, über die sie so eben gesprochen hatten, zerraufend, durch die Zähne sagte: „Sieh, Helene, so zerreißest Du mein Herz, wenn Du schwach genug bist, diesen Felix zu lieben!“ — „Das alte Lied, Bruno?“ — „Ja, das alte Lied; und ich will Dir es singen, so lange ich noch, Athem in der Brust habe! Meinst Du, ich weiß nicht, was es bedeutet, wenn Tante und Felix die Köpfe zusammen stecken und von Zeit zu Zeit verstohlen auf Dich blicken? O! mein Auge ist scharf, und mein Ohr ist es nicht minder. Gestern, als ich an ihnen vorüber¬ strich, meinte der saubere Herr: sie wird schon zur Vernunft kommen! sie — das bist Du: und zur Ver¬ nunft kommen, heißt: sie wird allen Stolz so weit vergessen, und einen solchen jämmerlich eitlen Pfauen, wie ich einer bin, heiraten.“ — „Aber, wie kommst Du nur auf diese Gedanken, Bruno?“ — „Nun, ich dächte, sie lägen nahe genug; und Dir gehen sie auch durch den Kopf, oder weshalb blicktest Du oft so in Dich versunken vor Dich hin und dann plötz¬ lich zu Felix oder zu Oswald hinüber, als ob Du sie mit einander verglichest. Ja, vergleiche sie nur immer! Du wirst dann den Unterschied entdecken zwischen einem Manne und — einem Affen.“ „Du hast wol Herrn Stein sehr lieb, Bruno? Ist er denn immer so still und traurig, wie jetzt?“ „Bewahre er kann so ausgelassen sein, wie ein Füllen, ich weiß nicht, was ihm fehlt, oder ich weiß es wol, aber“ — „Aber?“ „Aber ich darf es nicht sagen; oder ja, Dir darf ich es sagen, denn Du bist nicht wie die anderen Menschen. Mir ist immer, als müßtest Du mir ins Herz sehen dürfen, wie sie sagen, daß uns Gott ins Herz schaut; als dürfe man vor Dir, wie vor Gott keine Geheimnisse haben.“ „Aber ich will nicht, daß Du ein Geheimniß verräthst.“ „Ich ver¬ rathe nichts, denn Oswald hat mir nie ein Wort ge¬ sagt. Ich weiß nur, daß er so still und traurig ist, seitdem Tante Berkow fort ist. Es wurde doch heute Mittag darüber gesprochen, wie lange sie wol noch fortbleiben, ob sie wol nach Herrn von Berkow's Tode wieder heiraten würde, und da sah ich, wie Oswald sich entfärbte und während des ganzen Ge¬ spräches die Augen nicht von seinem Teller hob. Und dann, als Felix meinte: daß Baron Oldenburg, der ja auch, wie er ganz zufällig durch einen Freund erfahren, nach N. gereist sei, vielleicht darüber nähere Auskunft geben könnte, hob er schnell, mit einem zor¬ nigen Blick zu Felix hinüber, den Kopf und öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte; aber er sagte nichts und biß sich in die Lippen; und heute Abend ist er noch ganz besonders verstimmt.“ „Und das Alles heißt?“ „Das Alles heißt, daß Oswald Tante Berkow sehr lieb hat und daß er nicht mag, wenn über sie gesprochen wird; eben so wenig wie ich es mag, wenn Tante und Felix über Dich sprechen.“ „Ach, Du weißt ja nicht, was Du redest.“ „Natür¬ lich, das ist immer das Ende vom Liede; ich weiß nichts; ich bin ein dummer Junge; heisa, heisa, hopsasa! ich habe keine Ohren, zu hören, keine Augen, zu sehen? warum? weil ich erst sechszehn Jahre alt bin und mein Bart noch einiges zu wünschen übrig läßt.“ Wie Helene diese Mittheilung aufnahm? ob sie im Stillen nicht doch eine Art von Enttäuschung em¬ pfand? ob sie die Melancholie in Oswald's großen blauen Augen nicht doch anders erklärt hatte? viel¬ leicht hätte sie selbst sich darüber keine Rechenschaft zu geben vermocht; auf jeden Fall aber wurde das Interesse, welches sie seit dem Abend am Strande für Oswald zu empfinden begonnen hatte, noch be¬ deutend erhöht. Sie fing an, ihn noch genauer als vorher zu beobachten; sie war aufmerksam auf jedes seiner Worte; sie sang und spielte vorzugsweise gern die Lieder und Musikstücke, die seinen Beifall hatten; sie freute sich, als er wieder, wie früher, des Mor¬ gens in den Garten kam, und empfand es mit einiger Genugthuung, daß der jetzt so schweigsame bei diesen Gelegenheiten stets gute freundliche Worte für sie hatte und auf jedes von ihr angegebene Thema, bald ernst, bald launig, immer aber mit dem herzlichen Ton eines älteren Bruders, der einer lieben Schwester gern von seinem reicheren Wissen mittheilt, einging. Uebte der Zauber von Oswald's Persönlichkeit seinen Einfluß auf das stolze, aber für alles Schöne und Edle tief empfängliche Herz des jungen Mädchens? war es Eifersucht? war es nur eine Art von Oppo¬ sition gegen die ihr immer deutlicher werdenden Pläne ihrer Mutter, die sie gerade jetzt an einem Mann, über welchen ihr aristokratisches Auge sonst wol weg¬ geblickt hätte, ein solches Interesse nehmen ließ? . . . Die verschiedenartigsten Empfindungen bekämpften sich in ihrem Herzen, wie oft an einem tiefblauen Som¬ merhimmel leichte, graue Wolken durcheinander trei¬ ben und fließen bis der Sturm in seiner Vollgewalt hereinbricht. Drittes Kapitel. Die Baronin hatte dem von Felix geäußerten Rath, an dem geselligen Leben des Adels der Umge¬ gend in seinem Interesse einen lebhafteren Antheil zu nehmen, nach reiflicher Ueberlegung folgen zu müssen geglaubt, und es dauerte nicht lange, als fast kein Tag verging, an welchem nicht die Familie entweder in die Nachbarschaft gebeten war, oder, was noch häufiger geschah, selbst Besuch zu empfangen hatte. Man schien entzückt, daß Schloß Grenwitz, früher we¬ gen seiner Gastlichkeit mit Recht weit und breit be¬ rühmt, wieder, wie sonst, der Vereinigungspunkt der geschäftigen Müßiggänger werden sollte; man billigte höchlichst Anna-Maria's Entschluß, das klösterlich stille Leben, das sie bis dahin geführt, mit einem neuen glänzenderen und einer so alten ruhmreichen Familie würdigeren zu vertauschen; man sagte ihr so viele Schmeicheleien über ihre Unterhaltungsgabe, über ihr Talent, große Gesellschaften zu arrangiren, daß sie die Kosten, welche diese ihr ganz ungewohnte Gastfreundschaft veranlaßte, vor ihrem eigenen, in Geldangelegenheiten äußerst strengen und zarten Ge¬ wissen durch die unumgängliche Nothwendigkeit der Maßregel, so gut es gehen wollte, zu entschuldigen suchte. Oswald hatte auf diese Weise schon mehre der ihm vom Balle in Barnewitz her bekannten Gesichter wieder gesehen; aber noch keines von denen, die ihm ein vorzüglicheres Interesse abgewonnen hatten. Es war ein eigenthümlicher Zufall, daß an einem Nach¬ mittage, theils gebeten, theils ungebeten, sich beinahe Alle zusammenfanden, die damals für ihn mehr oder weniger merkwürdig geworden waren, bis andere Er¬ eignisse und andere Personen in den Vordergrund traten und jene verdrängten. Mit sehr verschiedenen Empfindungen sah er nach und nach von Barnewitz mit seiner Gemalin Hortense, Herrn von Cloten, den Grafen Grieben und Andere eintreten und sein In¬ teresse wurde geradezu ein peinliches, als zuletzt, ganz unerwartet noch ein Wagen vorfuhr, aus welchem Adolf und Emilie von Breesen und die Tante Breesen, deren zahnlosen Mund und spitze Zunge Oswald noch sehr wohl in Andenkeu hatte, stiegen. F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 4 „Hierher, mein feiner, junger Herr!“ rief die alte Dame, als sie nach den ersten Begrüßungen ihn er¬ blickte; „warum sind Sie nicht uns zu besuchen ge¬ kommen, wie Sie versprochen hatten? habe ich Sie deshalb meinem ungerathenen Neffen als das Muster eines wohlerzogenen jungen Mannes, der da weiß, was er alten Damen schuldig ist, vorgestellt? habe ich deshalb Ihre Aussprache des Französischen mei¬ ner naseweisen Nichte als mustergültig gerühmt? Schämen Sie sich! ich beehre Sie mit meiner Un¬ gnade!“ „Ich verdiene diese durchaus nicht, gnädige Frau!“ sagte Oswald. „Ich konnte nicht kommen, wie ich wollte, und gesetzt, ich hätte wirklich eine Unterlassungs¬ sünde begangen, so bin ich doch wahrlich, auch ohne Ihre Ungnade, schwer genug bestraft.“ „Ja, ja — schöne Redensarten, daran fehlt es Ihnen nicht. Sind Sie auch nicht weniger unartig, wie die andern jungen Leute, so sind Sie doch ein wenig weniger plump, und schon deshalb muß ich Ihnen verzeihen. Hier haben Sie meine Hand, und nun sehen Sie zu, wie Sie mit meiner Nichte fertig werden, ohne daß sie Ihnen die hübschen Augen auskratzt.“ Damit wandte die alte lebhafte Dame Oswald den Rücken, und ließ ihn in einem von seiner Seite sehr wenig erwünschten tête à tête mit der hübschen Emilie, die, ohne die Augen von dem Boden zu erheben, mit leicht gerötheten Wangen und unruhig wogendem Busen vor ihm stand. Oswald war fest entschlossen, das kindische und doch gefährliche Spiel mit dem leidenschaftlichen Mäd¬ chen nicht wieder zu beginnen. Er wünschte und hoffte, daß sie selbst zur Besinnung gekommen sein möge. Er sah es deshalb nicht ungern, als Fräulein Emilie einige gleichgültige Worte, die er an sie rich¬ tete, scheinbar unbefangen beantwortete und sich sodann zu einer Gruppe junger Mädchen gesellte, die sich um Helene geschaart hatte, um den modischen Schnitt eines weißen Kleides, das sie heute zum ersten Male trug, zu bewundern. Auch seine Begegnung mit Herrn von Cloten war weniger unerquicklich, als er nach ihrem letzten un¬ verhofften Zusammentreffen auf Oldenburg's Solitüde erwarten konnte. Der junge Edelmann that sehr er¬ freut, ihn nach so langer Zeit wieder zu sehen; er¬ kundigte sich angelegentlich nach Oldenburg, erinnerte an das Pistolenschießen in Barnewitz und fragte, ob Oswald ihm heute Revanche geben wollte. Oswald war einigermaßen gespannt, zu sehen, wie 4 * sich Cloten und Barnewitz gegen einander benehmen würden. Zu seiner nicht geringen Verwunderung schien zwischen diesen beiden Herrn das vollständigste Einvernehmen zu herrschen. Oldenburg hatte sich in dieser Angelegenheit als ein ausgezeichneter Diplomat gezeigt. Er hatte Jedem der Beiden weiß gemacht, daß der Andere nach seinem Blute lechze, und so die beiden Männer, die, nicht ohne alle Ursache, das Le¬ ben, das sie führten, viel zu behaglich fanden, um ohne gewichtige Veranlassung daraus zu scheiden, für seine Vermittlungsvorschläge geneigt gemacht. Herrn von Barnewitz hatte er Cloten's Liebeshandel mit Hortense als eine ganz unschuldige Tändelei dargestellt, und ge¬ schworen, wie er überzeugt sei, daß dieser junge Mann mit jener Dame zu keiner Zeit in einem intimeren Verhältniß gestanden habe, als viele andere Bekannte, zum Beispiel er selbst — eine arge Zweideutigkeit, die indessen von dem nicht sehr scharfsinnigen Ehemanne als ein Argument für die Unschuld seiner Frau an¬ gesehen wurde. Dem jungen ländlichen Don Juan dagegen hatte er den Rath gegeben, in Barnewitz' Gegenwart ein paar Mal ungezogen und grob gegen Hortense zu sein, und vor allem sich irgend eine der Damen ihres Cirkels auszuwählen, um ihr möglichst auffallend den Hof zu machen. Cloten äußerst froh, sich so leichten Kaufs aus dem fatalen Handel zu zie¬ hen, hatte Oldenburg's Rath pünktlich befolgt und von Stund an begonnen, Fräulein von Breesen zum Gegenstand seiner Huldigungen zu machen. Er war indessen bisher in seinen Bemühungen sehr wenig glücklich gewesen. Im Gegentheil. Er hatte viel Spott und Hohn aus dem Munde des übermüthigen Mädchens über sich ergehen lassen müssen; seine Lie¬ besversicherungen wurden mit ironischen Bemerkungen zurückgewiesen und seine Ritterdienste mit einer Gleich¬ gültigkeit entgegen genommen, die ihn, wenn es ihm wirklich Ernst gewesen wäre, zur Verzweiflung ge¬ bracht haben würden. Und es war ihm, wie es in solchen Dingen zu gehen pflegt, nach und nach wirk¬ lich Ernst mit der anfänglich so leichtsinnigen Tän¬ delei geworden. Fräulein Emilie gehörte nicht zu den Damen, mit welchen man ungestraft spielen und tän¬ deln kann. Sie war so reizend selbst in ihrem Ueber¬ muth, so liebenswürdig selbst in ihrer Ungezogenheit, daß der unglückliche Vogelsteller sich von Tag zu Tag tiefer in die Netze, die er selbst gelegt hatte, ver¬ strickte, und jetzt Alles darum gegeben haben würde, ein freundliches Wort aus dem angebeteten Munde zu erhalten. Wie überrascht war er deshalb, wie außer sich vor Entzücken, als ihm Fräulein Emilie, die er kaum noch anzureden wagte, heute mit der größten Freundlichkeit entgegenkam, ihn auf dem Spa¬ ziergang, den man durch den Garten machte, zum Be¬ gleiter erwählte, ihren Sonnenschirm von ihm tra¬ gen, sich Blumen von ihm pflücken, ein im Saale vergessenes Taschentuch von ihm holen ließ, mit einem Worte, scheinbar Alles that, die ihm in den letzten Wochen zugefügten Beleidigungen in einer Stunde wieder gut zu machen. Cloten schwamm in einem Meere von Seligkeit; seine wasserblauen Augen strahlten; er drehte ohne Aufhören seinen kleinen blonden Schnurrbart und lächelte dumm vergnügt, so oft ihm eine Aeußerung, wie: nun, Cloten, kann man gratuliren? oder: recht so, Cloten nur nicht ängstlich! und ähnliche in's Ohr getuschelt wurden. Oswald wußte nicht, was er von dieser Komödie denken sollte. Im Anfang glaubte er, Emilie wolle ihm nur zeigen: sieh! es fehlt mir nicht an Bewun¬ derern! Er konnte nicht annehmen, daß ein so geist¬ volles und — mochten ihre Fehler sein, welche sie wollten — immerhin liebenswürdiges, und jedenfalls sehr hübsches Mädchen sich ernstlich für einen so faden Menschen, wie Cloten, interessiren könnte. Als der Abend aber hereinbrach, die Gesellschaft sich aus dem Garten allmälig in die nach dem Rasenplatz führenden Zimmer zurückzog, und zuletzt nur noch Emilie mit Herrn von Cloten unermüdlich draußen promenirten, mußte er sich wohl der Meinung der Gesellschaft, daß die Verlobung zwischen Cloten und Fräulein von Breesen nicht mehr lange auf sich warten lassen werde, anschließen. Es that ihm leid um das Mädchen, das sich so wegwerfen konnte; dann aber dachte er wieder: Du brauchtest Dir wahrlich wegen eines so leichtsinnigen Geschöpfes keine so großen Ge¬ wissensbisse zu machen. Sie sind im Grunde Eines des Andern vollkommen würdig. Ob sich dieser Cloten nicht schämt, vor den Augen der Frau, die er liebte, ein solches Schauspiel aufzuführen? Er wandte sich zu Hortense von Barnewitz, die in einer Fensternische des Saales ganz allein stand. Die hübsche Blondine schien, sehr gegen ihre Gewohnheit — denn sie war eine der gefeiertsten und verwöhn¬ testen Damen — diese Vernachlässigung von Seiten der Herren heute gern zu sehen. „Werden Sie heute nicht tanzen, gnädige Frau?“ fragte Oswald. „Soll denn getanzt werden?“ antwortete Hortense, wie aus einem Traum erwachend. „Gewiß. Die Baronin läßt soeben das Klavier in den Saal schaffen. Herr Timm hat sich erboten, zu spielen; ich wollte mir erlauben, die gnädige Frau um den ersten Tanz zu bitten, im Fall Sie sich noch nicht versagt haben.“ „Ich mich versagt? Bewahre! die Zeiten sind vor¬ über, wo ich auf Wochen voraus zu jedem Tanz en¬ gagirt war. Ich überlasse das jetzt den Jüngeren.“ „Sie belieben zu scherzen.“ „Keineswegs. Sie sind der Erste und weil ich fürchte, daß Sie auch der Letzte sein werden, will ich lieber gar nicht anfangen, sondern Sie bitten, sich ein wenig zu mir zu setzen, und die Zeit, die Sie mit mir vertanzen wollten, in aller Ruhe zu verplaudern. Ist es Ihnen recht?“ „Die Frage beantwortet sich selbst,“ sagte Os¬ wald, Hortense einen Stuhl herbeiziehend. „Setzen Sie sich auch!“ sagte diese. „Ich höre, Herr Doctor; Sie haben ein großes Talent zur Sa¬ tire; lassen Sie mich eine Probe dieses Talentes hören; an Stoff kann's Ihnen ja nicht fehlen, wenn Sie von unserem Standpunkt aus einen Blick auf die Ge¬ sellschaft hier im Saale werfen. Welche von den Damen halten Sie für die hübscheste?“ „Sie meinen die am wenigsten häßliche?“ „Sie Spötter! Freilich, außer einigen erträglichen Toiletten ist nicht viel Hübsches wahrzunehmen. Wie finden Sie Helene Grenwitz?“ „Ich finde sie gar nicht, trotzdem ich sie überall mit den Blicken suche.“ „Dort, rechts von der Thür. Sie spricht mit ihrem Cousin Felix. Wie steht denn die Angelegen¬ heit? hat Felix sich noch immer nicht erklärt?“ „Jedenfalls noch nicht gegen mich.“ „Das glaube ich gern. Aber glauben Sie, daß er sich, erklären wird?“ „Nein.“ „Weshalb?“ „Weil ich die ganze Sache für unerklärlich halte.“ „Schwärmen Sie etwa für Fräulein Helene?“ „Ganz unendlich.“ „Sie interessiren sich überhaupt wohl besonders für junge Mädchen, die eben aus der Pension kommen?“ „Nur, wenn sie wirklich interessant sind.“ „Nicht immer; oder Sie wollen doch nicht be¬ haupten, daß Emilie Breesen dies Beiwort verdient?“ „Ich habe auch nie für Fräulein von Breesen ge¬ schwärmt.“ „Desto mehr die Kleine für Sie. Lisbeth von Meyen ist die Vertraute von Emilien's Liebeskummer geworden und Lisbeth hat natürlich die ganze Sache ausgeplaudert.“ „Aber das ist ja unmöglich!“ „Beruhigen Sie sich nur! Sie sehen ja, das gute Kind hat sich schnell genug wieder getröstet. Heute schwärmt sie für Cloten; ein ander Mal wird sie für einen Andern schwärmen. Die Kleine hat Talent, sie kann es noch einmal weit bringen. Mich dauert nur der arme Cloten.“ „Aber weshalb begiebt er sich in die Gefahr?“ „Freilich, und noch dazu ohne seinen Mentor.“ „Wer ist das?“ „Baron Oldenburg. Er wird den Rath seines edlen Freundes mißverstanden haben und die kleine Emilie aus purem Mißverständniß heirathen.“ „Sie belieben in für mich unergründlichen Räth¬ seln zu sprechen, gnädige Frau.“ „Ich bitte um Verzeihung . . . Sagen Sie, sind Sie wirklich, wie die Fama sagt, in der kurzen Zeit der Busenfreund des Barons geworden?“ „Die Fama hat in diesem Falle wie stets aus der Mücke einen Elephanten gemacht.“ „Glauben Sie, daß ich es gut mit Ihnen meine?“ sagte Hortense und sie blickte Oswald voll in die Augen. „Ich habe keinen Grund, das Gegentheil anzu¬ nehmen;“ antwortete dieser, den das Gespräch, wel¬ ches er ganz absichtslos angeknüpft hatte, auf eigen¬ thümliche Weise zu interessiren begann. „So folgen Sie meinem Rath: hüten Sie sich vor dem Baron, wie vor ihrem schlimmsten Feind!“ „Weshalb?“ „Weil er falsch ist bis ins innerste Herz hinein.“ „Sie kennen den Baron genau?“ „Ganz genau.“ „Und — verzeihen Sie mir, wenn ich eine so schwere Beschuldigung eines Mannes, den ich — ich ich gestehe es — bis jetzt hoch geachtet habe, nicht sofort zu glauben vermag — haben Sie Beweise von des Barons Falschheit?“ „Tausend für einen.“ „Geben Sie nur einen!“ „Es bleibt unter uns, was ich Ihnen erzählen werde?“ „Das verspreche ich.“ „So hören Sie. Sie kennen meine Cousine Me¬ litta. Nun, sie hat ihre Schwächen wie wir Alle, aber sie ist doch im Grunde eine charmante Frau, die ich sehr lieb habe, und um die es mir leid thun sollte, wenn sie sich, wie es den Anschein hat, wieder in dieselben schlechten Hände giebt, aus denen ich sie mit so viel Mühe glücklich erlöst zu haben glaubte. Wenn Melitta nicht so gut ist, wie sie sein könnte — Ol¬ denburg allein hat es auf dem Gewissen. Er hat ihr, als sie noch ein junges Mädchen war, mit seinen tollen Ideen den Kopf verdreht, daß sie zuletzt nicht mehr Recht von Unrecht unterscheiden konnte. Er hat, als sie endlich die ausgezeichnete Partie mit Herrn von Berkow gemacht hatte, das ganze, im An¬ fang so schöne Verhältniß zerstört; und wenn Berkow zuletzt vor Eifersucht toll geworden ist, es kann Nie¬ manden verwundern, der es, wie ich, mit angesehen hat, wie es die Beiden trieben. Endlich gelang es mir, bei Melitta auszuwirken, daß sie Oldenburg auf einige Zeit wenigstens fortschickte. Er ging; aber, als wir vor ein paar Jahren Italien bereisten, stellte sich Oldenburg wieder ein — ob zufällig, ob von Melitta herbeigerufen — ich lasse es unentschieden. Nach ihrem Benehmen sollte ich freilich das Letztere ver¬ muthen. Das alte Lied begann von Neuem. Ein¬ same Promenaden, Austausch von Liebesschwüren, wo¬ bei sie sich selbst durch die Anwesenheit dritter Per¬ sonen nicht geniren ließen — mit einem Worte: es war für Jemand, die, wie ich, etwas streng in solchen Sachen denkt und die, wie ich, Melitta noch dazu so aufrichtig liebte, ein recht häßliches Schauspiel. Ver¬ gebens bat und beschwor ich Melitta, an ihren kranken Gemal, an ihr Kind zu denken. Ich predigte tauben Ohren. Da entschloß ich mich zu einem verzweifelten Mittel. Um ihr Oldenburgs Treulosigkeit — von der mir von anderen Seiten die fabelhaftesten Dinge erzählt waren — zu beweisen, ließ ich mich herbei, ihn glauben zu machen, ich selbst liebte ihn. Es ge¬ hörte dazu nicht viel, denn der Baron ist eben so eitel, wie er verrätherisch und zügellos in seinen Lei¬ denschaften ist. Bald verfolgte er jetzt mich mit seinen Huldigungen — natürlich, ohne sich Melitta gegen¬ über zu verrathen. Dabei sprach er so lieblos, so schlecht von meiner armen Cousine, daß ich kaum im Stande war, die Maske, die ich vorgenommen hatte, festzuhalten. Und doch mußte ich es, bis Oldenburg, von seiner Leidenschaft hingerissen, blind in das Netz rannte, das ich ihm stellte. Ich wußte es so einzu¬ richten, daß er — es war im Garten der Villa Serra di Falco bei Palermo — mir eine feurige Liebeser¬ klärung machte, während Melitta sechs Schritte davon hinter einem Myrthengebüsche stand. Die Arme! es war eine schmerzliche Operation, aber ich konnte ihr nicht anders helfen. Oldenburg war natürlich am nächsten Morgen verschwunden. Ich suchte Melitta zu zerstreuen, so gut es ging, und ich muß gestehen, sie zeigte sich gefaßter, als ich nach einer so schmerz¬ lichen Enttäuschung, einer so tiefen Demüthigung für möglich gehalten hätte. Ich hoffte, daß die grausame Lehre, die sie empfangen, ihr ein für alle Mal über Oldenburg die Augen geöffnet hätte; hoffte es um so mehr, als der Baron ihr durch mehrjährige Abwesen¬ heit Zeit genug zur Besinnung ließ. Da plötzlich taucht er vor einigen Wochen ganz unerwartet wieder auf. Mir ahnte sofort nichts Gutes — denn das Erscheinen dieses Mannes ist immer von etwas Außer¬ gewöhnlichem begleitet. Wie er es angefangen hat, sich wieder Melitta's Gunst zu erwerben, wie es möglich ist, daß Melitta schwach genug sein konnte, ihm wieder ihre Gunst zu gewähren — ich weiß es nicht — denn Beide haben in einem hohen Grade das Talent, ihre Handlungen den Blicken der Men¬ schen zu entziehen. So viel steht fest: eine Aussöh¬ nung — von der wir bei einem so erfahrenen Paare annehmen müssen, daß sie eine vollständige war — kam zu Stande, und damit die Feier dieser Aussöh¬ nung möglichst geheim bleibe, machen sie eine gemein¬ schaftliche Badereise; und wohin? nach N., dem Orte, wo der Gemal Melitta's seit sieben Jahren krank liegt! Wahrlich, ich bedaure Melitta. Wenn sie dar¬ auf ausging, ihren Ruf zu ruiniren, sie hätte es hier bequemer haben können. Denn gesetzt auch, Berkows tödtliche Krankheit ist nicht fingirt, was hat denn Ol¬ denburg, der diese Krankheit jedenfalls mit veranlaßt hat, dabei zu thun? und glaubt denn Melitta, daß der Baron sie nach dem Tode Berkows heirathen wird? Du lieber Himmel! wenn Oldenburg alle Frauen heirathen sollte, denen er in seinem Leben Liebe geschworen, er müßte sich ein Serail anlegen, in welchem alle Stände von der Herzogin bis zur Kammerjungfer, alle Nationen und ich glaube auch alle Racen vertreten wären. Aber, mein Gott, was ist Ihnen? Sie sehen ja wie eine Leiche aus! Sind Sie nicht wohl?“ „Es ist nur die übergroße Hitze,“ sagte Oswald, sich erhebend; „ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie so plötzlich verlasse. Ich will versuchen, ob die frische Abendluft mich wieder herstellt. “ Er machte Hortense eine sehr förmliche Verbeugung und entfernte sich, ohne ihre Antwort abzuwarten. „Nun, was bedeutet denn das?“ fragte diese, in¬ dem sie dem Forteilenden verwundert nachsah. „Hat meine vortreffliche Cousine auch hier eine Eroberung gemacht? und habe ich, ohne es zu wissen und zu wollen, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen? Eigentlich wollte ich blos Oldenburg einen Freund rauben, wenn ich Melitta bei der Gelegenheit auch um einen Bewunderer ärmer gemacht habe — desto besser. Ich glaube, aus dem jungen Menschen wäre etwas zu machen. Freilich — ich muß jetzt etwas vorsichtig sein, denn Barnewitz ist nach der letzten Affaire mit Cloten ein wahrer Othello — da kommt er ja . . . nun, lieber Barnewitz, siehst Du Dich auch einmal nach Deiner verlassenen kleinen Frau um? ich sitze hier nun schon den ganzen Abend und schmachte nach Dir.“ „Warum tanzt Du denn nicht?“ „Meinst Du, daß es mir Vergnügen macht, wenn Du nicht dabei bist?“ „Ich habe mit dem jungen Grieben und Anderen ein kleines Jeu arrangirt; aber ich kann schon einmal mit Dir herumspringen. Komm! sie fangen eben einen Walzer an. Das ist so meine Force!“ Und das glückliche Paar trat in die Reihe der Tanzenden. Unterdessen irrte Oswald in dem Garten umher, ruhelos, wie ein von furchtbaren Schmerzen Gepei¬ nigter. Aus den offenen Fenstern und Thüren der Zimmer strahlten die Lichter; um den Rasenplatz herum hatte Anna-Maria Laternen von buntem Papier auf¬ stellen lassen, die der helle Mondschein allerdings ziem¬ lich überflüssig machte. Von Zeit zu Zeit traten ein¬ zelne Paare auf den Platz hinaus und promenirten in der balsamischen Nachtluft. Es war eine festliche, heiter schöne Scene, die Oswald's verdüstertes Ge¬ müth beleidigte, wie wenn ein Freund zu unseren Qualen lächelt. Er erstieg den Wall, setzte sich auf eine Bank und starrte, den Kopf in die Hand ge¬ drückt, in das Wasser des Grabens, auf dem die Mondesstrahlen unheimlich glitzerten. „Wäre es nicht besser, Du machtest Deinem elen¬ den Dasein ein schnelles Ende,“ murmelte er, „als daß Du Dir zur Qual und Keinem zur Freude die Bürde des Lebens weiter schleppst? Willst Du denn fortvegetiren, bis Dir jede Illusion zerstört ist, bis Du Alles und Jedes, was Du werth und heilig hieltst, über Bord geworfen hast, über Bord hast werfen müssen? willst Du denn warten, bis Dir die Geduld vollends ausgeht, wie dem edlen, großherzigen Berger? So also sieht das Bild der Frau aus, vor der Du wie vor einer Heiligen gekniet hast? das ist der Mann, dessen Hand in der Deinen zu halten, Dir eine Ehre schien? Du warst ihr nichts als ein Spielball ihrer hochadligen Laune, und er hat seinen allerliebsten F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 5 freiherrlichen Scherz mit Dir getrieben? Aber das ist ja nicht möglich! nicht möglich? warum denn nicht? ist die Welt, in der sich diese Menschen bewegen, nicht durch und durch verfault und verrottet? ist ihr ganzes Leben nicht eine gemeine Intrigue? betrügt hier nicht die Gattin den Gatten? und dieser jene? verkauft nicht der Vater seine Tochter? verkuppelt nicht die Mutter ihr eigen Fleisch und Blut? verräth nicht der Freund den Freund? plaudert eine Kokette nicht die Geheimnisse der andern aus? weshalb wähnst Du denn, sie würden mit Dir, dem Plebejer, dem Arbeiter für Lohn und Brot, besser verfahren? Und doch, und doch! es ist entsetzlich! Das Weib, das Du angebetet, wie eine Gottheit, die Maitresse eines Anderen, ihn betrügend, Dich betrügend, um von ihm wieder betrogen zu werden! Und Du, gutmüthiger Narr, kämpfst wie ein Wahnsinniger mit Deiner Lei¬ denschaft für das holde, herrliche Geschöpf, die einzig Reine in diesem Hexensabbath! denn sie ist rein und gut, oder es giebt nichts Reines auf dieser Welt. Nein, nein! und wenn Alles um Dich her Lug und Trug ist, und schwarzer, tückischer Verrath — auf diesen einen hohen Stern willst Du Dein Auge hef¬ ten — es ist Dein Stern! denn nur das unerreichbar Hohe ist Deiner Liebe werth! um die Irrlichter, die auf dem Sumpfe tanzen, mögen sich die Molche mit den Kröten zanken.“ Ein leichtes Geräusch an seiner Seite machte ihn aus seiner gebückten Stellung auffahren. Eine schlanke Frauengestalt in einem weißen Gewande stand vor ihm. Durch eine Lücke in dem Laubdache oben fiel ein Mondenstrahl auf die schlanke, weiße Gestalt. Es war Emilie von Breesen. „Still!“ sagte sie, als Oswald sich mit einem leisen Ruf der Verwunderung erhob; „bleiben Sie sitzen! Ich sah Sie aus dem Saale gehen; ich bin Ihnen gefolgt, weil ich Sie sprechen will, sprechen muß. Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Es be¬ darf nur eines Wortes... eines einzigen Wortes, das über mein Leben entscheiden soll. Liebst Du mich? ja? oder nein?“ Das junge Mädchen hatte Oswald's Hand er¬ griffen, die sie mit krampfhafter Heftigkeit preßte. „Ja? oder nein?“ wiederholte sie in einem Tone, der die Leidenschaft, die in ihr wühlte, deutlich genug verrieth. Aber Oswald's Ohr war taub gegen diesen Ton; sein Herz verschlossen, wie das Haus eines Mannes, den die Diebe in der Nacht zuvor bestohlen haben. „Sie irren sich ohne Zweifel in der Person,“ 5* sagte er mit schneidendem Hohne. „Ich heiße Os¬ wald Stein; Herr von Cloten ist, so viel ich weiß, drinnen im Saale;“ und er suchte seine Hand aus der des Mädchens loszumachen. „Habe ich das verdient? sagte diese mit von Thrä¬ nen fast erstickter Stimme, und sie ließ die Arme wie in Verzweiflung sinken. „Die Nacht ist kühl,“ sagte Oswald, der sich er¬ hoben hatte; „der Thau beginnt zu fallen; Sie werden sich in dem leichten Anzug erkälten. Darf ich die Ehre haben. Sie in den Saal zurückzubegleiten?“ „O mein Gott, mein Gott!“ murmelte Emilie, „das ertrage ich nicht! Oswald, stoße mich nicht so von Dir! wie hab' ich mich nach diesem Augenblicke gesehnt! wie habe ich mir tausend- und tausendmal wiederholt, was ich Dir Alles sagen wollte! wie habe ich gehofft, daß Du mich wieder in die Arme nehmen würdest, — o, mein Himmel, was rede ich? Oswald, habe Mitleid mit mir! Du kannst meinen Uebermuth von heute Abend nicht so grausam strafen wollen. Ich wollte Dich ein wenig necken; ich dachte jeden Augenblick, Du würdest zu mir treten, und dann wollte ich Dir Alles sagen. Aber Du kamst und kamst nicht; und ich mußte die Komödie weiter spielen, so schwer es mir wurde.“ „Sind Sie sicher, mein Fräulein, daß Sie nicht selbst noch in diesem Augenblick Komödie spielen?“ Emilie antwortete nicht. Sie sank mit einem leisen Stöhnen auf die Bank, preßte ihr Gesicht in die Hände und schluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte. Oswald gehörte nicht zu den Männern, die un¬ gerührt ein Weib können weinen sehen. Er trat dicht vor die Unglückliche und sagte in viel milderem Ton: „Wollen Sie mir ein paar Augenblicke ruhig zu¬ hören?“ Emilien's einzige Antwort war ein krampfhaftes Schluchzen. „Glauben Sie mir,“ fuhr Oswald fort; „ich be¬ daure von ganzem Herzen, daß eine solche Scene wie diese möglich wurde, und ich fühle, daß ich einzig und allein die Schuld davon trage. Hätte ich Ihnen an jenem Abend gesagt, was ich Ihnen heute sagen muß, Ihr Stolz würde Alles längst entschieden haben. — Ich kann Sie nicht lieben; das klingt sehr wunderlich gegenüber einem so holden, liebenswürdigen Geschöpf, aber es ist dennoch wahr. Warum wollen Sie nun Ihre Liebe an Jemand verschwenden, der sich des kostbaren Geschenkes so ganz unwürdig zeigt? warum nicht Jemand damit beglücken, der mehr Talent zum Glücklichsein und Beglücktwerden hat, als ich? — Ich bin gerade jetzt in einer sehr gedrückten Stimmung, die mich wol noch mehr wie gewöhnlich unfähig macht, die Dinge und die Menschen in dem rechten Lichte zu sehen. Verzeihen Sie mir daher, wenn ich Sie vorhin durch bittere, unüberlegte Worte gekränkt habe, zu denen ich kein Recht hatte und die ich nicht hätte brauchen dürfen, selbst wenn ich im Recht gewesen wäre. Ich bitte, ich beschwöre Sie: vergessen Sie, was zwischen uns vorgefallen ist! und lassen Sie sich vor Allem durch diese Kränkung nicht zu Entschlüssen verleiten, die Sie später und zu spät bereuen würden. Sie haben gesehen, was es heißt, seine Liebe einem Unwürdigen schenken. Sollte Ihnen diese Erfahrung künftig in der Wahl, die Sie über kurz oder lang treffen werden, zu Statten kommen, so will ich gern für den Augenblick von Ihnen verkannt sein, gern Ihren Haß, selbst Ihre Verachtung auf mich geladen haben.“ Emilie hatte, während Oswald sprach, allmählig zu weinen aufgehört. Jetzt stand sie auf und sagte in beinahe ruhigem Ton: „Es ist genug! Ich danke Ihnen, Sie haben mir die Augen geöffnet. Sie sollen nie wieder von mir belästigt werden. Sagen Sie mir nur noch dies Eine: werde ich einer Anderen geopfert? lieben Sie eine Andere?“ „Ja,“ sagte Oswald nach kurzem Bedenken. „Es ist gut! Und nun hören Sie dies! Wie ich Sie geliebt habe, mit aller Gluth meines Herzens, so hasse ich Sie jetzt; und wie ich noch vor wenigen Minuten mein Leben freudig für Sie dahingegeben haben würde, so heiß wünsche ich jetzt, mich für diese Schmach an Ihnen zu rächen. Und ich werde mich rächen; ich werde —“ Wiederum brach sie in leidenschaftliches Weinen aus; aber sie bezwang sich sogleich wieder. „Sie sind es nicht werth, daß ich so viel Thränen um Sie weine. Nun setzen Sie Ihrem Benehmen die Krone auf und folgen Sie mir auf dem Fuße in den Saal, damit doch ja die Welt erfahre, welche Närrin ich gewesen bin!“ Und sie eilte von Oswald fort, den Wall hinab, an dem Rasenplatze vorüber nach dem Saal, wo noch immer eifrigst getanzt wurde. Von Cloten, der sie überall in den Zimmern vergeblich gesucht hatte und jetzt melancholisch an einen Thürpfosten gelehnt stand, erblickte sie sofort und kam eiligst auf sie zu. „Mein gnädiges Fräulein! haben mich in wahre Todesangst versetzt! war bei Gott au désespoir ! glaubte wahrhaftig, der Himmlischen Einer habe Sie mir entführt.“ „Ich habe in aller Stille über das, was Sie mir vorhin sagten, nachgedacht, Herr von Cloten,“ ant¬ wortete Emilie. „Wahrhaftig! Sie sind ein Engel! und ich darf hoffen!“ fragte von Cloten, der die gerötheten Augen¬ lieder und das aufgeregte Wesen des jungen Mädchens natürlich zu seinen Gunsten auslegte. „Gehen Sie zu meiner Tante!“ „Wirklich? wahrhaftig? ich kann es nicht glauben!“ rief der junge Mann, und sein freudiger Schrecken war keineswegs gemacht. „So gehen Sie nicht hin!“ antwortete Fräulein Emilie in einem Ton, der jeden Unbefangenen um die Festigkeit des Bundes, der hier geschlossen werden sollte, bange gemacht hätte. „Mein Gott, Emilie, Engel, zürnen Sie nicht! ich eile, ich fliege —“ Und Herr von Cloten entfernte sich in augen¬ scheinlichster Verwirrung, um Emiliens Tante aufzu¬ suchen. Emilie blieb auf demselben Platze stehen, bleich, die Arme verschränkt, die großen Augen starr auf die Gruppen der Tanzenden geheftet, ohne mehr zu sehen, als wenn sie die Blicke in's Leere gerichtet hätte. „Sie sind klüger, wie wir Andern!“ sagte eine Stimme dicht neben ihr. Es war Felix von Grenwitz; er hatte sich auf einen Stuhl geworfen und trocknete sich mit einem Battisttaschentuche die nasse Stirn. „Lächerlich, bei der Hitze herumzuspringen; ich dächte wir hörten endlich einmal auf. Und nun hat noch gar Helene Herrn Timm am Klavier abgelöst; das Mädchen hat doch wahrlich wunderliche Einfälle. Meinen Sie nicht auch, Fräulein Emilie?“ „Vielleicht fehlt es ihr an einem Tänzer.“ „Unmöglich.“ „Nun, vielleicht an dem rechten Tänzer.“ „ C'est à dire ?“ „An dem, mit welchem sie gern tanzt.“ „Ich bin stets hier gewesen.“ „Sie bilden sich doch nicht etwa ein, daß Sie der Glückliche sind?“ „Wer denn sonst?“ „Wissen Sie nicht, wo Herr Stein geblieben ist?“ „Nein, weshalb?“ „Ich frage nur Fräulein Helenen's halber. Be¬ merken Sie nicht, wie sie die großen, stolzen Augen fortwährend ruhig, aber unaufhörlich durch den Saal schweifen läßt?“ „Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein?“ „Weshalb denn nicht? Ist Herr Stein nicht eine sehr hübscher Mann? und hat nicht Helene, wie Sie selbst sagen, wunderliche Einfälle?“ „Mein Fräulein,“ sagte Felix ernst; „wollen Sie mir die Gnade erweisen, mir zu sagen, ob Sie be¬ sondere Gründe zu dieser eigenthümlichen Vermuthung haben?“ „Natürlich habe ich besondere Gründe.“ „Und wollen Sie die Güte haben, mir diese Gründe zu nennen?“ „Das kann ich nicht.“ In diesem Augenblick kam Herr von Cloten mit vor Freude strahlendem Gesicht. „Mein gnädiges Fräulein,“ sagte er; „Ihre Frau Tante wünscht Sie zu sprechen. Darf ich die Ehre haben, Sie zu ihr zu begleiten?“ „Sogleich!“ sagte Emilie, und dann zu Felix: „Verlassen Sie sich auf das, was ich Ihnen sagte; ich habe scharfe Augen und Ohren.“ Sie nahm Cloten's Arm. „Der Sache muß ich auf den Grund kommen,“ sagte Felix bei sich, als die Beiden sich entfernt hatten. „Helenen's Benehmen in den letzten Tageu ist wirklich auffallend.“ Er trat an das Klavier: „Soll ich Ihnen die Blätter umschlagen, Helene?“ „Danke!“ antwortete Helene trocken; „ich spiele aus dem Kopf.“ Nach einer kleinen Pause: „Bitte, Cousin, gehen Sie fort; es ängstigt mich, wenn Jemand so dicht hinter mir steht.“ „Ich dächte, Doctor Stein hätte gestern eine halbe Stunde lang hinter Ihnen gestanden, ohne daß Sie irgend welche Angst verrathen hätten.“ „So werde ich aufstehen;“ sagte Helene, griff ein paar schnelle Schlußaccorde und ging, ohne das Ah! der mitten im besten Tanze Gestörten zu beachten, von dem Klavier fort. „Das ist doch stark;“ sagte Felix bei sich. „Weshalb hörte denn Helene so plötzlich auf zu spielen?“ fragte die Baronin, welche die Scene aus der Entfernung beobachtet hatte, herantretend. „Ich weiß es nicht; sie wird mir wohl etwas übel genommen haben. Sie ist doch eigensinniger und launischer, als ich dachte. Meinen Sie nicht auch, Tante, daß der Mensch, der Stein, mit seinen cor¬ rupten Ansichten doch einen schädlichen Einfluß nicht bloß auf Bruno, sondern auch auf Helene ausübt?“ „Ich habe Ihnen ja immer gesagt, daß ich dem Menschen nicht im mindesten traue.“ „So jagen Sie ihn doch fort.“ „Ohne alle Veranlassung?“ „Pah, die findet sich. Wollen Sie mir die Er¬ laubniß geben, eine zu suchen?“ „Aber ohne, daß ein Scandal daraus wird.“ „Lassen Sie mich nur machen.“ „Es muß so eingerichtet werden, daß er selbst um seine Entlassung bittet.“ „Weshalb?“ „Ich habe meine Gründe — und Felix, sagen Sie Grenwitz nichts davon. Er ist in der letzten Zeit so rechthaberisch und eigensinnig geworden! Ich fürchte sogar, er sinnt darauf, unser Project mit Helene zu stören. Ich bitte Sie, Felix, seien Sie vorsichtig! Ich wäre außer mir, wenn die Sache sich zerschlüge, nachdem ich sie schon unter der Hand nach allen Seiten als ein fait accompli dargestellt habe.“ „Pah! Tante, schon wieder ängstlich? Vertrauen Sie mir: ich pflege zu Ende zu bringen, was ich anfing.“ Viertes Kapitel. Als Oswald, nach der peinlichen Scene mit Emilie von Breesen auf sein Zimmer kam — denn zur Gesellschaft zurückzukehren, war ihm unmöglich — sah er auf seinem Tische ein Packet liegen, das wäh¬ rend seiner Abwesenheit dort hingelegt sein mußte. Schon der Zusatz zur Adresse: „Hierbei die bewußten Bücher mit vielem Danke zurück. Ihr getreuer B.“ sagte ihm: von wem dieses Packet gebracht war, und was es enthielt. Und seltsam! er zögerte, das Band, welches es umschloß, zu lösen. Es war ihm, als ob er kein Recht mehr zu Melitta's Briefen habe, seit¬ dem sein Herz ihr nicht mehr ganz gehörte, als ob vor allem sie, deren Herz er nie vollständig besessen, nie das Recht gehabt, ihm diese Zeichen der Liebe zu geben. Endlich, fast mechanisch, öffnete er das Packet. Es waren drei Bücher darin. Aus dem mittleren fielen zwei Briefe — der eine von Melitta, der andere von Bemperlein. Melitta's Brief enthielt nur wenige herzliche Worte, die „über die lange Trennung, in welcher sich mit dem weiten Raum auch noch so vieles Andere zwischen die Herzen, die einst voller Seligkeit aneinander geschlagen, drängen könnte, klagten; und schließlich die Hoffnung eines recht baldigen Wieder¬ sehens ausdrückten. Der Brief trug keine Unterschrift. „Er könnte ja in fremde Hände fallen;“ sagte Os¬ wald bitter. „Ich will noch großmüthiger sein, ich will diesen Zeugen eines Verhältnisses, dessen sie sich zu schämen beginnt, vernichten;“ und verbrannte das Papier an der Flamme des Lichtes. Der Brief von Bemperlein war ausführlicher, aber er handelte fast nur von Professor Berger. Bemperlein war während seines kurzen Aufenthalts in Grünwald sehr viel in der Gesellschaft des Professors, an welchen ihn Os¬ wald so warm empfohlen hatte, gewesen, und hatte sich die Gunst des wunderlichen Mannes im hohen Grade erworben, ebenso wie er sich seinerseits für den genialen Gelehrten begeisterte. Man kann sich daher sein Entsetzen vorstellen, als Dr . Birkenhain ihm eines Tages mittheilte, so eben sei der Professor Berger in das Krankenhaus abgeliefert worden. Bemperlein schrieb Oswald, daß er sogleich um die Erlaubniß gebeten habe, Berger besuchen zu dürfen; daß ihm diese Erlaubniß gegeben sei, und daß er seitdem jeden Tag viele Stunden bei dem Kranken zugebracht habe, der seine Gesellschaft jeder andern vorziehe. Berger spreche größtentheils vollkommen vernünftig, nur komme er bei der geringsten Veranlassung auf seine fixe Idee des Nichts zurück. Er finde es ganz in der Ord¬ nung, daß man ihn in eine Irrenanstalt gebracht habe, denn sage er, „der Unterschied zwischen den Leuten draußen und denen drinnen bestehe nur darin, daß jene das werden könnten und respective werden würden und eigentlich werden müßten, was diese schon seien. Wenn z. B. Dr. Birkenhain nur gefälligst einmal seinen Kopf auseinander nehmen wollte, so würde er die absolute Hohlheit desselben mit eigenen Augen wahrnehmen und sich in seinem Hause ein behagliches, sonniges Zimmer anweisen lassen, um in aller Stille über das große Ur-Nichts nachzudenken.“ Bemperlein schrieb, daß Dr. Birkenhain Berger's Wahnsinn nur für temporär halte und die bestimmte Hoffnung habe, den ausgezeichneten Mann in kurzer Zeit seinen Freun¬ den und Schülern geheilt zurückzusenden. „Was uns selbst angeht,“ schloß Bemperlein, „so wird Ihnen die gnädige Frau ja wol Alles der Ord¬ nung gemäß berichtet haben. Ich füge nur noch hinzu, daß unsers Verbleibens hier, Gott sei Dank, nun wol nicht mehr lange sein wird. Herr von Berkow wird täglich schwächer; die Schwindsucht macht reißende Fortschritte. Birkenhain giebt ihm nur wenige Tage. Wir bleiben auf jeden Fall, bis Alles entschieden ist. Ich sehe diesem Augenblick mit einer Ungeduld ent¬ gegen, die ganz rein von Selbstsucht ist. Aus dem Tode dieses Unglücklichen, der nun schon seit Jahren kaum noch zu den Lebenden gehört, wird für zwei Menschen ein neues Leben erblühen — zwei Menschen, die mir unendlich werth und theuer sind. „Wirklich?“ sagte Oswald, den Brief auf den Schooß sinkend lassend. Bist Du dessen so gewiß, guter Bemperlein? Freilich, was ahnt Dein reines Herz von adligem Verrath und freiherrlicher Tücke? — Uud doch! weshalb erwähnt auch er Oldenburg's Anwesenheit nicht? was hat er davon, ein Factum zu verschweigen, von dem er wissen mußte, daß es mich interessiren würde? So ist auch er in dem Com¬ plott? Wohl; so willst du fortan dich auf Niemand verlassen, als auf dich selbst! Unter den Wölfen muß man heulen, und der ist ein Narr, der unter Betrü¬ gern und Lügnern den ehrlichen Mann spielen will. Heuchelt Ihr — ich kann es auch; spielt Ihr Komö¬ die — ich will nicht im Parterre sitzen; lacht Ihr Euch ins Fäustchen — ich werde nicht weinen, und wer zuletzt lacht, lacht am besten. Ha, ha, ha! „Ich freue mich, Sie in so ausgezeichneter Laune zu treffen;“ sagte eine Stimme hinter ihm. Oswald fuhr von seinem Stuhle empor und starrte die lange Gestalt, die plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, vor ihm stand, erschrocken an. Es was Baron Oldenburg. „Ich bitte um Entschuldigung,“ sagte er, Oswald die Hand, welche dieser zögend ergriff, entgegenstreckend „daß ich so unangemeldet und wie Nikodemus in der Nacht bei Ihnen erscheine. Aber ich komme diesen Augenblick erst von meiner Reise zurück und hörte von einem Bedienten, der mit einem Präsentirbrett voll Gläser und Tassen an mir vorbeirannte, Sie seien auf Ihr Zimmer gegangen. Der Mann hatte eben nur noch Zeit, mir den Weg zu beschreiben, und klapperte mit seinen Gläsern weiter. Und da bin ich denn nun, und, wie gesagt, freue mich, Sie in guter Stimmung zu finden, denn sonst hätte ich kaum den Muth, Ihnen zu sagen, weshalb ich da bin. Wissen Sie, wo wir heute Nacht vor einem Monat waren? Es ist die Nacht, welche uns die braune Gräfin zum Rendezvous bestimmte. Nehmen Sie noch so viel Interesse an mir und unserer kleinen Pflege¬ F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 6 befohlenen, um mich zu dem bewußten Platze zu be¬ gleiten?“ „Ich stehe in einigen Minuten zu Ihrer Verfü¬ gung,“ sagte Oswald; „erlauben Sie nur, daß ich mich ein wenig zu unserer Fahrt zurecht mache.“ Er nahm eins der beiden Lichter, die auf dem Tische brannten und ging in die Nebenstube. „Ziehen Sie sich ja warm an;“ rief ihm Olden¬ burg nach; „es ist jetzt sehr kühl gegen Morgen, noch dazu im Walde.“ „Hm!" murmelte er, als Oswald verschwunden war; „er sieht bleich und angegriffen aus, und war weniger freundlich, als seine Gewohnheit ist. Er wird doch nichts von meinem Aufenthalte in N., den ich ihm so sorgfältig verheimlichte, erfahren haben? Ich muß ihn ein wenig aushorchen. Es wäre fatal, denn ich spreche mit Niemanden gern über mein Ver¬ hältniß zu Melitta, mit ihm am wenigsten.“ Unterdessen sagte Oswald, während er sich um¬ zog, vor sich hin: „Jetzt gilt es klug sein, wie die Schlange. Spielt Ihr mit mir, so will ich mit Euch spielen.“ Er trat wieder ins Zimmer. „Ich bin bereit.“ „So wollen wir aufbrechen. — Mein Wagen hält vor dem Thor;“ sagte der Baron, während sie die Treppe, die nach dem Garten führte, hinunterstiegen; „die Czika sitzt, in meinem Mantel gehüllt, darin. Meinen Sie nicht auch, daß es gerathen ist, das Kind zu der Zusammenkunft mitzunehmen? Wenn die Zigeunerin wirklich des Kindes Mutter ist, so sind wir ihr wol diese Aufmerksamkeit schuldig. In jedem Fall kann sie sich überzeugen, daß das Kind lebt und gesund ist und sich in seinen neuen Verhältnissen wohl befindet. — Aber was bedeutet denn dies rege Leben im Schloß? Anna-Maria ist doch sonst keine Freun¬ din von Festgelagen. Ist Malte vielleicht fortgelaufen gewesen und wieder zurückgekehrt und wird dem Kalbe jetzt ein Kalb geschlachtet?“ „Es handelt sich nicht um einen verlornen Sohn, sondern um eine wiedergefundene Tochter,“ sagte Os¬ wald, sich zu einem scherzhaften Tone zwingend; „Fräulein Helene ist aus der Pension zurück. Seit¬ dem reiht sich Fest an Fest.“ „ Tempora mutantur ;“ lachte Oldenburg; „das muß ja eine Circe von Mädchen sein, die solche Metamorphosen zu Wege bringen kann. Ist sie schön?“ „Mir erscheint sie so.“ „Lassen Sie uns einmal an die Fenster treten,“ 6* sagte Oldenburg, als sie jetzt quer über den Rasenplatz schritten; „ich bin unendlich neugierig, dies Wunder zu sehen. Es wird uns ja Niemand bemerken.“ Er schritt nach der Treppe, die auf den Perron hinaufführte. Oswald folgte. Die Thüren waren jetzt, wo es draußen kühler wurde, geschlossen, auch die Fenster; aber die Vorhänge waren nicht herunterge¬ lassen; man konnte von diesem Standpunkte aus Alles beobachten, was in den blendend hell erleuchteten Zim¬ mern vorging. Als sie an das Fenster traten, saß ihnen gerade gegenüber Helene am Clavier, Felix stand hinter ihrem Stuhl. Er beugte sich über sie und schien eifrig mit ihr zu sprechen. Oldenburg's falkenscharfes Auge hatte sogleich die Gruppe erfaßt: „Wer ist der junge Mann?“ fragte er. Als Oswald nicht antwortete, warf der Baron den Blick auf ihn und sah, daß er die Unterlippe zwischen die Zähne gepreßt hatte und die starren Au¬ gen nicht von den Beiden am Clavier wegwandte. Felix beugte sich noch tiefer; Oswald preßte die Lippe, daß das Blut durch die Haut sprang. Da stand He¬ lene plötzlich auf, und schritt durch die Gruppen der Tänzer, die durch das Aufhören der Musik wie am Boden gefesselt waren, oder lachend weiter zu tanzen versuchten, hindurch, gerade auf das Fenster zu, vor welchem Oldenburg und Oswald standen, die ein paar Schritte zurück in den Schatten traten. Sie blieb, in der Fensternische angelangt, stehen, die Arme über dem Busen verschränkt, die großen strahlenden Augen auf den Mond gerichtet, dessen goldene Scheibe draußen an dem tiefblauen nächtlichen Himmel schwamm. Es war unmöglich, etwas Schöneres zu sehen, als ihr von der Aufregung der eben mit Felix gehabten Scene noch leidenschaftlich erregtes, in dem Strahl des Mondes geisterhaft bleiches, von dem herrlichen blau¬ schwarzen Haare eingerahmtes Gesicht. Es war ein Antlitz von hinreißender Gewalt des Ausdrucks, grauen¬ haft lieblich und tödlich schön. — Ein Herr — es war Adolf von Breesen — trat an sie heran, und sprach zu ihr. Sie antwortete ihm kurz, ohne die Stellung zu verändern, ohne kaum die Lippen zu regen. Er verbeugte sich und trat zurück. — Dann, als ob sie sich eines Andern besonnen hätte, wandte sie sich und schritt wieder zum Clavier zurück, setzte sich und be¬ gann von Neuem zu spielen. Wie von einem Zau¬ berstabe berührt, kamen die Paare der Tanzenden wieder in Bewegung — und das bunte Bild, das Oldenburg und Oswald zuerst erblickt hatten, war wieder hergestellt. „Wer war der Fant, welcher dies Intermezzo ver¬ anlaßte?“ fragte Oldenburg, als sie wieder in den Garten hinabgingen. „Felix von Grenwitz, ihr Cousin.“ „Ein allerliebstes Püppchen; und die junge Schön¬ heit soll die Puppe zum Gemahl haben; nicht?“ „Ich glaube.“ „Und wie erscheint Ihnen das?“ „Wie die Welt dem Hamlet: ekel, schal und flach und unersprießlich.“ „Meine böse Ahnung geht in Erfüllung;“ mur¬ melte Oldenburg durch die Zähne. „Sie sagten?“ „Ich dachte eben daran, ob Karl wohl den Wa¬ gen in die Höhe geschlagen hat, damit meine kleine Czika nicht ganz unter freiem Himmel sitzt. Freilich, ihr wäre es am liebsten, wenn sie nie eine andere Decke über sich hätte. Auf unsrer Reise jubelte sie jedesmal, so oft wir in die Nacht hineinfuhren, und sie die vielgeliebten Sterne über sich leuchten sah.“ „Und — darf man fragen, was Sie so plötzlich aus unserer Nähe riß?“ fragte Oswald, und seine Stimme bebte. „Eine Angelegenheit, die eigentlich nur indirect für mich von Bedeutung ist. Die Krankheit eines Mannes, dessen Tod auf das Geschick einiger Per¬ sonen, die mir werth sind, von großem Einfluß sein kann.“ Der Baron wartete, ob Oswald etwas erwiedern würde. „Ich war eitel genug, zu glauben, daß meine Ab¬ reise einige Sensation in der Gesellschaft hier erregen würde,“ fügte er hinzu, als Oswald schwieg, „dies scheint indessen nicht der Fall gewesen zu sein.“ „Man ist seit so langen Jahren gewohnt, Sie un¬ vorbereitet kommen und gehen zu sehen, daß man sich nachgerade daran gewöhnt hat,“ sagte Oswald, „doch da hält Ihr Wagen glaube ich.“ „Wo ist Czika, Karl?“ fragte der Baron? „Sie liegt im Wagen, fest eingeschlafen,“ ant¬ wortete der Kutscher, der vom Bocke gestiegen war, den Tritt herabzulassen, „ich habe sie sorgfältig zu¬ gedeckt.“ „Wir wollen sie zwischen uns nehmen, wie da¬ mals, als wir, von Barnewitz kommend, sie auf der Landstraße fanden.“ Der Baron war schon im Wagen. „Bist Du es, Herr?“ fragte das Kind, aus dem Schlaf erwachend. „Ja, mein Herz.“ „Wer ist der Mann bei Dir?“ „Dein Freund, der Mann mit den blauen Augen.“ „Er soll bei uns bleiben,“ murmelte Czika schlaf¬ trunken, sich an Oswald, der nun auch eingestiegen war, schmiegend. „Czika ist müde; Czika will in Dei¬ nen Armen schlafen.“ „Ich glaube,“ sagte der Baron, als sich der Wagen in Bewegung setzte, „Sie haben einen unauslöschlich tiefen Eindruck auf Czika gemacht. Sie spricht sehr oft von Ihnen und fragt, warum der Mann mit den blauen Augen — so bezeichnet sie Sie stets — nicht wieder kommt? Es ist doch ein wunderliches Ding, das Menschenherz; ein unergründliches Räthsel, zu dem der Weiseste der Weisen keinen Schlüssel hat. Wer erklärt uns das Wunder der Sympathien und Antipathien? Welche Mühe habe ich mir gegeben, das Herz dieses Kindes mir zueigen zu machen! Ich möchte so gern etwas auf der Welt mein eigen nennen! Und ist es mir gelungen? Ich weiß es kaum. Sie folgt mir, aber nur wie ein Kind, dem die Mutter gesagt hat: geh mit dem Herrn und sei hübsch artig! Ich bin ihr heute noch, was ich ihr am ersten Tage war. Ich habe sie mit der zärtlichsten Sorge umgeben. Sie nimmt Alles hin, wie eine Gabe, die man nicht aus¬ schlägt, um den Geber nicht zu beleidigen.“ „Aber machen es nicht alle Kinder mehr oder weniger so?“ erwiederte Oswald; „ist es nicht ihr gutes Recht, sich lieben zu lassen, ohne weiter dankbar dafür zu sein? Und dann: was ist am Ende eine Liebe, die auf Dank rechnet? Heißt es nicht auch hier: wer Lohn begehrt, der hat seinen Lohn dahin?“ „Mögen Sie das nie an sich selbst erfahren!“ sagte der Baron mit bewegter Stimme, „und mögen es Andere nie durch Sie erfahren! Wüßten Sie, was hoffnungslose Liebe ist, wüßten Sie auf der anderen Seite, was es heißt: das Gefühl mit sich herum¬ tragen, Liebe, warme aufrichtige Liebe mit Kälte, mit Gleichgültigkeit erwiedert zu haben — Sie würden so nicht sprechen. Nein, nein! Ein Herz, das uns liebt, ist ein Schatz, den wir nicht verachten dürfen, und flögen uns Aller Herzen zu. Ein Herz, das uns liebt, gekränkt zu haben, ist eine Erinnerung, die auf unserem Gewissen brennt und die keine neue Liebe, und wäre sie wirklich edler und reiner, als die, welche wir damals fühlten, wieder auslöscht.“ „Und haben Sie diese Erfahrung an sich selbst gemacht?“ „Leider, ja! Ich habe in meinem Leben viele Ver¬ hältnisse angeknüpft und wieder gelöst, ohne daß ich darüber Gewissensbisse empfunden hätte. Wußte ich doch nur zu wohl, daß die guten Herzen nicht brechen würden! Es waren Conta meta Geschäfte, bei denen Jeder seine Rechnung gefunden hatte, oder die, schlimmsten Falls, den einen oder den andern und meistens beide Partner so bettelarm ließen, wie sie vorher gewesen waren. Nur einmal — ich war da¬ mals noch ziemlich jung und das gereicht mir einiger¬ maßen zur Entschuldigung — nur einmal habe ich mich des Frevels schuldig gemacht, ein Wesen, von dem ich überzeugt sein konnte, daß es mich treu und aufrichtig liebte, mit schnödem Undank zu belohnen. Die Geschichte würde mir unvergeßlich sein, auch wenn sie nicht durch die Begegnung mit der braunen Gräfin auf eine wunderliche Weise mir wieder in die Erinnerung gerufen wäre. Habe ich Ihnen nicht er¬ zählt, wie ich einst vor vielen Jahren im fernen Un¬ garlande, als ich mich auf dem Gute eines Bekannten, den ich unterwegs aufgefischt hatte, zum Besuch auf¬ hielt, ganz zufällig ein Zigeunermädchen fand —“ „Ja;“ sagte Oswald; „ich erinnere mich Ihrer Er¬ zählung, die durch das Hereintreten Herrn von Cloten's unterbrochen wurde, sehr wohl. Ich vergaß hernach, Sie um die Fortsetzung zu bitten. War es nicht so? Sie hatten das Mädchen, als Sie einst, fern von der Wohnung, durch den Wald schweiften, in einem Zi¬ geunerlager, das für den Augenblick von der übrigen Bande verlassen war, gefunden. Sie erblicken und sie lieben, war eins. Sie verlebten mit ihr in der romantischen Einsamkeit mehre glückliche Tage. Die Geschichte schloß mit folgendem Tableau: Ein Zi¬ geunerlager im Walde — Sonnenuntergang — unter dem überhangenden Dache einer breitastigen Buche ein liebendes Paar auf schwellendem Moos¬ teppich — “ „Ihr Gedächtniß ist gut,“ sagte der Baron, „auch haben Sie die Stimmung, welcher ich damals dem Bilde gab, getreu reproducirt. Ich werde nachträglich noch einige Schlagschatten hineinzeichnen müssen. — Ich saß also mit der Zingarella — Xenobi war ihr süßer Name — in der von Ihnen angedeuteten Situation. Ich sang das alte Finklerlied von der Liebe, die nimmer enden würde, und das holde Vögelchen traute der alten falschen Weise und schmiegte sich innig und immer inniger an mein Herz. Da plötzlich ertönte Hufschlag durch den stillen Wald und das Lachen nnd Schwatzen einer fröhlichen Kavalkade. Ich hatte kaum noch Zeit, die Kleine unsanft von meinem Schooß zu stoßen und mich zu erheben, als die Schaar schon unter den hohen Bäumen hervor auf den Platz gesprengt kam. Es waren meine Wirthe: der junge Graf Cryvani mit seinen Schwestern und mehre Herren und Da¬ men aus der Nachbarschaft. Sie können sich die nun folgende Scene denken. Ich wurde sofort umringt und mit Fragen überschüttet: Wo ich gewesen wäre? wie ich hierher gekommen wäre? — Ich dachte, die Wölfe hätten Sie zerrissen! rief der Eine: oder Sie hätten sich aus unglücklicher Liebe erschossen, ein Anderer. — Ich habe des Räthsels Lösung! schrie ein Dritter: Liebe freilich ist im Spiel, aber bei Leibe keine unglückliche. Sehen Sie dort! und er deutete mit dem Stiel seiner Reitpeitsche auf meine arme Xenobi, die sich bei der Annäherung der Kaval¬ kade scheu hinter dem dicken Stamm der Buche ver¬ steckt hatte. — Ein allgemeines Gelächter belohnte den Witzbold. Nur ein Gesicht blickte finster drein. Es war die jüngste und hübscheste der Schwestern, der ich noch zuguterletzt den Hof gemacht hatte und die, glaube ich, in ihrer Weise — was freilich nicht viel sagen will — mich mit ihrer Neigung beehrte, mir wenigstens schon einige nicht mißzuverstehende Zeichen ihrer Gunst gegeben hatte. Ich schämte mich plötzlich meiner armen Xenobi ganz entsetzlich und hatte nur den einen Wunsch, mich aus der Affaire zu ziehen, ohne die stolze Georgina zu beleidigen. Ich spielte den Entrüsteten, ich behauptete tagelang im Wald umhergeirrt, und nur eben erst auf das Zigeu¬ nerlager gestoßen zu sein. „Woher hat denn das Mäd¬ chen die goldene Kette um den Hals, die wir kürzlich noch an Ihnen bewunderten?“ fragte Georgina. — Sie hat sie mir gestohlen, während ich, von meiner Wanderung ermüdet, schlief; rief ich. — So nehmen sie ihr die Kette wieder ab. — Ich hätte Georgina ermorden können, aber ich hatte mich zu fest in meine freche Lüge verstrickt; Widerruf schien unmöglich. Xenobi kam mir zuvor. — Hier, Herr! sagte sie, nimm, was ich Dir gestohlen habe; und sie reichte mir das Geschmeide. Ich werde die zitternde Hand, das von Schmerz und Zorn entstellte Gesicht des armen Geschöpfes nie vergessen. — — — Machen wir, daß wir nach Hause kommen! rief Herr von Cry¬ vani; es zieht ein Wetter herauf. — Ich bestieg das Pferd eines der Bedienten, und fort ging es durch den dämmrigen Wald. Ich wagte nicht, mich nach Xenobi umzublicken. Georgina, an deren Seite ich ritt, würde mir es nie vergeben haben. Ich hatte mir die Gunst der Dame vollständig wieder erobert, aber um welchen Preis! Als ich am Abend des fol¬ genden Tages — früher konnte ich mich nicht von der Gesellschaft losmachen — in den Wald gerannt war, mein Unrecht wieder gut zu machen, fand ich wol nach vielem Suchen den Platz, aber nicht mehr Xenobi. Die Bande hatte, als sie ihren Schlupf¬ winkel verrathen sah, ihre Zelte abgebrochen und war wer weiß wohin gezogen. Von Xenobi habe ich nie wieder eine Spur entdecken können.“ Der Baron schwieg und blies den Rauch seiner Cigarre in mächtigen Wolken in die Luft. „Sehen Sie,“ hub er nach einer langen Pause wieder an, „ich bin fromm genug, oder abergläubisch genug, wenn Sie wollen, um anzunehmen, daß ich durch diese That schnöden Verrathes einen Fluch auf mich geladen habe, den keine Reue wieder sühnt; einen Fluch, dessen Erfüllung mein ganzes so verfehltes Leben ist. Von da ab ist es mein Schicksal gewesen, Liebe zu säen und Gleichgültigkeit zu ernten, bis ich zuletzt aus Verzweiflung in den stinkenden Pfuhl der Blasirtheit gesprungen bin, um mich vor mir selbst zu retten. Und nun werden Sie auch begreifen, was mir Czika ist — ein Engel im eigentlichsten Sinne des Wortes, ein holder Bote des Himmels, der mir Friede! Friede! in das kranke Herz singt. Hat mir das Bild des Kindes doch schon seit Jahren vor der Seele geschwebt, glaubte ich doch die Erfüllung meiner Träume schon zweimal leibhaftig vor mir zu sehen. Hier ist die rothe Rose Xenobi noch einmal, aber in dem Morgenthau süßester Unschuld. Die rothe Rose hat nun der Sturm des Lebens wol schon lange ge¬ knickt, und hätte ich sie auch damals treuer bewahrt — was würde die Welt, die kalte, freche, lästernde Welt aus der romantischen Liebe eines Barons und einer Zingarella zuletzt gemacht haben! Damals war ich zu jung und hätte die Geliebte vor dieser schnöden Welt nicht vertheidigen können; jetzt bin ich ein Mann geworden und habe blos ein Kind, einen Findling, zu schirmen und zu schützen. So sind jetzt die Chancen alle für mich. Ich werde der Zigeunerin geben, was sie verlangt, und wärmsten, aufrichtigsten Dank in den Kauf. Ich hoffe, sie hat die Verabredung nicht vergessen. Halt, Karl! — Wir müssen hier aussteigen, um durch den Wald zu gehen. Ich kenne den Pfad von früher her noch ziemlich gut. Es ist die Stunde, welche uns die braune Gräfin bestimmte. Wir kom¬ men gerade zur rechten Zeit.“ „Wollen wir nicht doch die Kleine lieber hier lassen?“ sagte Oswald. „Weshalb?“ fragte der Baron, der schon aus dem Wagen gestiegen war. „Das Kind hängt sehr an der Frau, die ja am Ende doch seine Mutter ist. Vielleicht wird es bei ihrem Anblick von der alten Liebe zum Waldesleben erfaßt, und es giebt zum mindesten eine peinliche Scene.“ Oswald sprach die Worte leise, denn Czika regte sich in seinen Armen. „Czika will mit,“ sagte das Kind plötzlich; „Czika will in den Wald und den Mond und die Sterne durch die Zweige tanzen sehen. Czika kennt jeden Baum und jeden Busch.“ Sie stand auf dem feuchten Waldboden und klatschte vor Vergnügen in die Hände und tanzte und lachte und rief: „Kommt, kommt! Du, Herr, und Du, Mann mit den blauen Augen! Czika will Euch einen schönen Platz zeigen, Czika kennt jeden Baum und jeden Busch im weiten Wald.“ Sie huschte anf einem schmalen Pfad, der sich von dem Wege, auf dem der Wagen hielt, seitwärts in den dichtesten Forst schlug, vorauf, wie eine wilde Katze durch die Büsche schlüpfend, deren dünne Zweige wieder hinter ihr zusammenschlugen. Nur mit großer Mühe folgten die beiden Männer. Czika war nicht zu bewegen, ihren Lauf zu hemmen. Ihre einzige Antwort auf das: nicht so schnell, Czika! nimm uns mit, Czika! war der helle, lustige Schrei des jungen Falken, den sie wieder und wieder, lauter und schriller, wie Antwort heischend, erschallen ließ. Plötzlich er¬ tönte die Antwort durch den stillen Wald, derselbe stolze Schrei, dessen sich Oldenburg und Oswald noch so deutlich von jenem Morgen erinnerten, als die Zigeunerin aus der Ferne den Ruf der Kleinen be¬ antwortete. Da leuchtete ein rother Schein durch die hohen Stämme der Bäume, der mit jedem Augenblick heller und heller wurde. „Wir sind gleich am Ziele,“ sagte der Baron, welcher voranging. Wirklich traten sie nach wenigen Minuten auf die Lichtung heraus, die Oswald von dem Nachmittage, als er sich auf dem Wege zu Melitta im Walde ver¬ irrt hatte, so unvergeßlich war. Auf derselben Stelle, nicht weit vom Rande des Sumpfes, wo damals die Zigeuner ihre Mahlzeit kochten, brannte jetzt wieder ein Feuer, aber groß und mächtig, wie um die Scene in das hellste Licht zu setzen. Die Kronen der mäch¬ tigen Bäume glühten purpurroth oder tauchten in schweren Schatten, je nachdem die Flamme des Holz¬ stoßes emporloderte oder zusammensank; von dem dun¬ klen Wasserspiegel des Sumpfes erglänzte der Wieder¬ schein — und, umflossen von dieser magischen Be¬ leuchtung, erblickten die Männer, als sie athemlos den F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 7 Saum der Lichtung erreichten, die braune Gräfin auf den Knien vor Czika, die sie mit Küssen und Lieb¬ kosungen überhäufte, während das Kind sich vergeblich bemühte, sie vom Boden empor zu ziehen und sich endlich zu ihr auf die Knie warf, ihr Haupt an dem Busen des Weibes verbergend. Schweigend und regungslos standen die beiden Männer, tief ergriffen von dem Schauspiel einer so leidenschaftlichen Zärtlichkeit. Da erhob sich die Zigeunerin und das Kind an die Hand nehmend, trat sie auf die Beiden zu und sagte zu Oldenburg, der sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte: „Kennst Du mich, Herr?“ In diesem Augenblick leuchtete die Flamme hell auf und jeder Zug in dem edelstolzen Gesicht des egyptischen Weibes und jede Linie ihres schlanken, hohen Leibes war wie vom Tageslicht erhellt. „Xenobi!“ schrie der Baron, seine Arme ausbrei¬ tend, „Xenobi!“ Das braune Weib stürzte sich mit einem Schrei wahnsinnigen Entzückens an seine Brust und klammerte sich an ihn, als ob sie sich nie wieder von dem ge¬ liebten Manne trennen wolle. Aber im nächsten Mo¬ ment schon riß sie sich los, trat ein paar Schritte zurück und stand da, unbeweglich, die Hände über dem vollen Busen faltend. Czika stand zwischen ihr und dem Baron, die großen dunklen Augen voller Ver¬ wunderung von diesem zu jener, von jener zu diesem wendend. Der Baron nahm sie bei der Hand und sagte, näher an die Zigeunerin tretend, in einem Tone, der, so sehr er sich auch zu beherrschen suchte, deutlich die ungeheure Erregung, die in ihm wühlte, verrieth: „Xenobi, ist dieses Kind —“ Er vermochte nicht weiter zu sprechen; er rang mühsam nach Worten. Endlich stammelte er: „Dein und mein Kind?“ „Ja, Herr!“ sagte die Zigeunerin, ohne sich zu regen; die dunkeln glänzenden Augen fest auf das Antlitz des Barons heftend. Oldenburg hob das Kind in seinen Armen empor und drückte es fest an seine Brust. Oswald fühlte, daß er die Drei allein lassen müsse und zog sich bis an den Rand des Waldes zurück. Dort setzte er sich. Es war dieselbe Stelle, auf der er an jenem Nach¬ mittage gelegen hatte, als er den köstlichen Traum von Melitta träumte, und von wo aus er hernach Czika auf dem Cymbal hatte spielen hören, während die braune Gräfin am Feuer schaffte und mit ihrer 7* tiefen weichen Stimme die ungarische Volksweise sang. Wie vieles hatte sich nicht seit jenem Tage geändert! was hatte er nicht Alles gewonnen und wieder ver¬ loren ! Damals hatte sein Herz der schönen Frau so sehnsuchtsvoll entgegengeschlagen; heute erfüllte die Erinnerung an sie seine Seele mit Trauer und Schmerz. Warum hatte sie ihn so unendlich glücklich gemacht, wenn ihre Liebe doch nur die souveräne Laune eines Augenblicks war, nur ein hübsches Spiel, der Stunden Einerlei auszufüllen, über den momentanen Bruch ihres Verhältnisses zu Oldenburg besser hinwegzukom¬ men? Hatte er das Gefühl, daß sie, die hochgeborne Dame, die stolze Aristokratin, ihn über kurz oder lang doch verleugnen werde, werde verleugnen müssen, nicht immer mit sich herumgetragen? hatte sich dieser Ge¬ danke nicht selbst in den sonnigsten Augenblicken der Liebe wie ein düsterer Schatten zwischen ihn und die reizende Frau gestohlen? Hatte er nicht, als der Name Oldenburg's zum ersten Mal sein Ohr berührte, in diesem Manne, wie von einem Dämon getrieben, seinen Nebenbuhler erkannt? Und mußte er sich nicht eingestehen, daß dieser Mann Alles besitze, in dem Herzen einer stolzen Frau eine heroische Leidenschaft zu entflammen? Rang und Reichthum, eminente Ga¬ ben, den Muth des Ritters ohne Furcht und Tadel, und gerade genug vom Libertin, um ein Weib, welches nicht ganz reines Herzens ist, zu bestricken? Und wie gut stand ihm sein Weltschmerz und die Duldermiene? Sollte man, wenn man ihn hörte, nicht glauben, er werde nächstens in die Wüste gehen und sich von Heuschrecken nähren? Jetzt wird er die Zigeunerin mit sich auf seine Solitüde nehmen, damit die Einsamkeit bis zu Melitta's Rückkehr etwas we¬ niger einsam sei. . . . So wühlte sich Oswald geflissentlich tief und tiefer in die bittersten Empfindungen hinein. Die neue Leidenschaft, die in seinem Herzen zehrte, machte ihn taub und blind gegen die Stimme seines Gewissens, gegen die augenscheinlichsten Beweise von der Falsch¬ heit seiner gehässigen Vermuthungen. Er hatte ein dumpfes Gefühl davon, wie krank er war, wie ab¬ gehetzt und müde, wie unfähig, über sich selbst zur Klarheit zu kommen. Er wäre am liebsten gestorben, um all dem Wirrsal zu entfliehen, wie ein Schwim¬ mer, wenn er fühlt, daß ihn die Kräfte verlassen, und weiß, daß keine Rettung mehr für ihn ist, sich in den Abgrund sinken läßt. Er drückte das Gesicht in seine Hände, um nichts mehr zu sehen und zu hören. . . Eine Hand, die sich auf seine Schulter legte, riß ihn aus seinem wirren Traum. Es war Oldenburg. Der Baron war allein. Das Feuer des Holzstoßes flammte nur noch auf Augenblicke empor und drohte zu verlöschen. Der Mond, über den graue Wolken¬ schleier zogen, flimmerte geisterhaft in dem dunklen Wasser des Sumpfes. Unheimlich zischelte und flüsterte der Wind in den langen Binsen des Ufers. „Wo ist Czika?“ fragte Oswald. „Fort,“ erwiederte der Baron; „lassen Sie uns aufbrechen. Es ist spät.“ „Wird sie nicht wiederkommen?“ „Ich weiß es nicht.“ „Und Sie haben zugegeben, daß dies Kind, Ihr Kind, der Zigeunerin folgt in die weite Welt!“ „Was sollte ich thun? Ist es nicht ihr Kind tausendmal mehr als meines? hat sie es nicht mit Schmerzen geboren, es genährt und gepflegt und be¬ schirmt viele, viele Jahre, durch Regen und Sonnen¬ schein, in Noth und Armuth, im wilden Wald, auf der offenen Landstraße? Hat sie nicht für dies Kind gebettelt und gestohlen und vielleicht gethan, was noch schlimmer ist? Was habe ich für mein Kind gethan? nichts — nichts, als seine Mutter vor den Augen eines vornehmen Pöbels zur Diebin gemacht, sie wie einen verlaufenen Hund von mir verjagt, einer elenden Kokette zu Liebe? Nein, nein! ich habe kein Anrecht an diesem Kinde!“ Während der Baron so sprach, stieß er mit dem Fuße die halb verkohlten Feuerbrände aus dem Holz¬ stoß in den Sumpf, daß sie zischend verlöschten. „Weshalb hat denn die braune Gräfin Sie auf¬ gesucht? weshalb Ihnen das Kind in die Hände ge¬ spielt? weshalb dieses Rendezvous selbst herbeigeführt?“ „Sie wollte den Geliebten ihrer Jugend, den ein¬ zigen Mann, den sie vielleicht je geliebt hat, noch einmal sehen; sie wollte ihm das Kind, sein Kind, in die Hände legen und zurücktauchen in ihre Waldes¬ nacht. Aber sie kann ohne das Kind nicht leben und das Kind nicht ohne sie. So mußte ich denn Beide ziehen lassen.“ „Aber weshalb nicht Beide mit nach Cona neh¬ men?“ „Soll ich den Falken an die Kette legen? Der Falk fühlt sich nur wohl in dem unermeßlichen Aether¬ meer; er stirbt in der dumpfen Stubenluft. Kommen Sie! es ist für uns civilisirte Menschen die höchste Zeit, daß wir in's warme Bett kommen.“ Der Baron stieß den letzten Brand hinunter in's Wasser; die Männer wandten sich, zu gehen. Zwischen den hastig treibenden Wolken hervor blickte der Mond trübäugig in das schwarze Wasser des Sumpfes, und die langen Binsen, die am Rande wuchsen, flüsterten: hier ist kühle Ruh' für alles Er¬ denleid. Fünftes Kapitel. „So! aus der Verlegenheit wären wir glücklich!“ sagte Albert, ein Packet Werthpapiere in eine volumi¬ nöse, abgetragene Brieftasche stopfend, die unter andern auch verschiedene Schreiben in kaufmännischer Hand enthielt, welche, obgleich die meisten darunter von nicht ganz neuem Datum, noch immer nicht beant¬ wortet waren. „Es ist doch Alles in Allem ein gutes kleines Frauenzimmer; nicht übermäßig gescheidt — aber das ist in diesem Falle nur eine Tugend mehr. Ich glaube wirklich, ich könnte meine Natur so weit verleugnen, die kleine Samariterin zu heiraten. Viel¬ leicht führe ich gar nicht so schlecht dabei. Wer weiß? am Ende steckt noch irgendwo in einem verborgenen Winkel meines Innern der Keim zu einem soliden Spießbürger, der nur der Wärme des häuslichen Heerdes bedarf, um sich glorreich zu entwickeln. Die Sache ist freilich, wie ich mich kenne, äußerst proble¬ matisch, aber so ganz und gar unmöglich ist sie denn doch nicht. Ich sehe mich schon im Geist an der Seite der kleinen Frau des Sonntag Nachmittags ehrsam durch die Felder wandern, das Lied der Spatzen und die Philippiken der theuren Ehehälfte gegen die steigende Unverschämtheit der Bäcker und Fleischer mit langen Ohren einsaugend, während vor uns her zwei junge Weltbürger wandeln, die eine flüchtige Aehn¬ lichkeit mit einer mir sehr werthen Person haben, und hinter uns aus einem, von einem Mädchen für Alles gezogenen Wägelchen ein feines Stimmchen erschallt, welches den beredtesten Commentar zu den staatsöko¬ nomischen Abhandlungen der kleinen Frau liefert! Oh! . . . Albert stöhnte laut auf, als ob er sich auf dieser imaginären Promenade den Fuß an einem sehr reellen Stein gestoßen hätte. Er sprang von dem Sopha auf und ging mit den Armen auf dem Rücken nach¬ denklich im Zimmer auf und ab. „Die Karten sind fertig,“ sagte er, vor seinem Zeichentische stehen blei¬ bend; „Anna-Maria hat mich abgelohnt; ich habe eigentlich hier nichts mehr zu thun, und die Frage der gnädigen Frau, wann ich abzureisen gedächte, war auch ziemlich deutlich. Wie ich diese stolze, nichts¬ nutzige Brut hasse — Alle, keinen und keine aus¬ genommen, nicht einmal die schöne hochnasige Helene, die mich immer mit so kühler Verachtung aus ihren großen Augen ansieht; und am wenigsten meinen edlen Freund Felix, der, glaube ich, nicht übel Lust hätte, mir Hörner aufzusetzen, ehe ich noch zu diesem Schmuck ein legitimes Recht habe. Könnte ich doch euch Allen, wie Ihr da seid, einen recht gründlichen Schabernack spielen, daß ihr euer Leben lang an mich denken solltet! auch zum Beispiel den Erben von Stantow und Bärwalde in der Person — ja, in welcher Person? hic haeret aqua . Aus den Briefen, die ich habe, ist wol etwas aber nicht viel zu machen. Ich kann noch nicht ein¬ mal die vortreffliche Anna-Maria damit ins Bocks¬ horn jagen. Fände ich nur Gelegenheit, den Koffer der alten Mutter Clausen durchzustöbern! Es ist bei mir zur fixen Idee geworden, daß da etwas zu finden sein muß. Aber vergebens, daß ich die Gelegenheit gründlich studirt habe, daß ich Tag und Nacht ums Haus geschlichen bin, einen Moment abzuwarten, wo die Alte sich einmal daraus entfernt; sie sitzt darin fest, wie eine Kröte unter dem Stein. — Ad vocem dieses liebenswürdigen Jünglings! Ich habe schon daran gedacht, ob man ihn nicht nolens volens zum Prätendenten machen könnte; denn die ganze Farce als einen lustigen und nebenbei lucrativen Masken¬ scherz anzusehen, wird ihm wol seine dumme Ehrlich¬ keit nicht erlauben. Es ist merkwürdig, wie ehrlich die Leute sind, denen es an nichts fehlt! Die beste Methode, alle Spitzbuben loszuwerden, bestände offen¬ bar darin, Jedem von ihnen eine anständige Pension zu geben. Und dieser Stein ist gar nicht einmal so glücklich situirt. Er hat kein Vermögen — warum sollte er sich sonst mit anderer Leute Kindern plagen? Er wäre gerade der Mann, ein anständiges Vermögen anständig durchzubringen. Und es paßt so weit Alles. Er hat genau das erforderliche Alter; er hat, wie er mir gesagt hat, seine Mutter kaum und andere Ver¬ wandte, excepto patre , nie gekannt. Und überdies hat er eine zufällige, aber frappante Aehnlichkeit mit der älteren Grenwitzer Linie. Ich wollte, ich wäre er, daß heißt mit meinem Hirn dazu. In welcher fragwürdigen Gestalt wollte ich bald vor euch hin¬ treten . . . Ein schüchternes Klopfen an der Thür unterbrach Albert's Meditationen. Da auf sein Herein! Nie¬ mand eintrat, ging er selbst und öffnete. Ein kleiner blondköpfiger barfüßiger Bauerknabe stand da, und schaute mit nicht allzu klugen Augen fragend zu ihm auf. „Zu wem willst Du, Kleiner?“ „Sind Sie der Candidat auf dem Schlosse?“ „Ja wohl!“ sagte der alle Zeit zu Scherz und Kurzweil aufgelegte Albert. „Mutter Clausen hat mich herschickt —“ „Wer?“ „Mutter Clausen hat mich herschickt —“ „Komm herein, Kleiner;“ sagte Albert, den Knaben bei der Hand in das Zimmer führend, und die Thür hinter ihm schließend; „Was will denn Mutter Clausen von mir?“ „Mutter Clausen liegt auf den Tod, und hat mich herschickt zu dem Herrn Candidaten, er soll doch noch einmal zu ihr kommen.“ Der Knabe athmete tief auf, als er die Berges¬ last seiner Commission vom Herzen hatte. Albert griff nach seiner Mütze. „Ich komme gleich mit Dir, oder lauf nur voran, und sag': ich käme gleich. Und höre! wenn dich Jemand im Schlosse fragt, woher du kommst, sag' nur: Du hättest Deine Bestellung schon ausgerichtet. Hier hast Du einen Silbergroschen und nun mache, daß Du fortkommst!“ Der Knabe entfernte sich, über Albert's großmüthi¬ ges Geschenk Albert's wohlüberlegten Befehl, sich mög¬ lichst schnell davon zu machen, vergessend. Er setzte sich, unten auf dem Schloßhofe angekommen, auf den Rand des Brunnens der Najade, und überlegte, den Groschen in der Hand herumdrehend, ob er sich jetzt gleich die ganze Welt, oder vorläufig nur einen Stieg¬ litz kaufen sollte, den ihm ein anderer Bauerknabe heute Morgen zum Verkauf angeboten hatte? Er mochte wol eine Viertelstunde da gesessen haben, bis er zuletzt, vom vielen Umherlaufen ermüdet, ein¬ nickte. So fand ihn Oswald, der von einem ein¬ samen Spaziergange zurückkehrte. Da das Bild des auf dem Rande des Brunnens schlafenden zerlumpten Knaben ihn interessirte, trat er näher. Der Knabe fuhr in die Höhe und rieb sich verwundert die Augen. „Wie kommst Du hierher, Kleiner?“ fragte Oswald. „Mutter Clausen hat mich herschickt!“ sagte jener, der in diesem Augenblick nicht wußte, ob er seine Be¬ stellung schon ausgerichtet hatte, oder nicht. „Was ist mit Mutter Clausen?“ fragte Oswald, der sofort ahnte, es müßte seiner alten Freundin etwas zugestoßen sein. „Mutter Clauseu hat mich herschickt,“ wiederholte der Knabe; „sie liegt auf den Tod, und läßt dem Herrn Candidaten sagen, er möchte —“ Mehr hörte Oswald nicht. — Die gute, alte Frau, an der er im Anfang so lebhaftes Interesse nahm und die er doch in der letzten Zeit so ganz vergessen hatte, im Sterben, vielleicht allem, ohne Hülfe, ohne daß ihr eine freundliche Hand das Kissen glättete — er eilte, was er konnte, durch das kleinere Thor auf dem Wege hin, der zu den Häuslerwohnungen führte, denselben Weg, welchen Albert eine Viertelstunde zu¬ vor, in nicht geringerer Eile zurückgelegt hatte . . . Albert war, als der Knabe sich entfernt hatte, durch den Garten nach dem kleinen Thor geschlichen. Niemand hatte ihn fortgehen sehen. Die Familie war ausgefahren; Oswald glaubte er auf seinem Zimmer. „Fortes fortuna juvat;“ dachte er, während er unter den Weidenbäumen, mit denen der Weg besetzt war, hinlief. „Es ist jetzt noch Alles auf dem Felde. Die Alte hätte sich keine passendere Stunde zum Ster¬ ben aussuchen können. Ich will nur hoffen, daß sie schon todt ist, wenn ich komme, und ich so aller un¬ nöthigen Auseinandersetzungen überhoben bin.“ In wenigen Minuten hatte er das Dorf erreicht; aber er vermied die Hauptstraße, sondern lief an den Gärtchen, die hinter den Hütten lagen, entlang, bis er zu der Wohnung Mutter Clausen’s kam. Hier sprang er über den niedrigen Zaun und trat durch die offene Hinterthür auf den kleinen Flur. Er horchte, ob sich etwas im Hause rege. Er hörte nichts, als das Ticken der großen Schwarzwälder-Uhr aus der Stube Jochen's, und von der Dorfstraße her das Lachen von ein paar Kindern — Mutter Clausen's kleinen Pflegekindern — die sich in der Abendsonne im Sande balgten. „Jetzt nur um Himmelswillen keine mitleidige Seele bei der Kranken in der Stube,“ murmelte Albert, leise die Thür, die zu dem Stübchen der Alten führte, aufdrückend. Er trat auf den Fußspitzen ein. Es dunkelte schon in dem niedrigen engen Raum. Albert's erster Blick fiel auf die große Lade, die noch wie damals in der Ecke stand; sein zweiter auf die Gestalt der Alten. Sie saß auf dem großen Lehnstuhle, „in welchem Baron Oscar gestorben war.“ Sie hatte ihren Sonn¬ tagsstaat angelegt; ihr Eichenstock lehnte neben ihr — man hätte glauben sollen, sie habe sich bereit ge¬ macht, nach Faschwitz in die Kirche zu gehen und sei nur eben noch ein wenig eingenickt, sich auf den lan¬ gen, langen Weg vorzubereiten. „Bist Du es, Junker!“ sagte sie mit zitternder Stimme, und sie hob das Haupt mit dem schnee¬ weißen Haar empor und blickte nach der Thür. „Tritt näher — ganz nahe, daß ich Dich mit der Hand be¬ rühren kann. Wo bist Du? Es ist dunkel um mich her, ich sehe Dich nicht. Scheint nicht der Mond durch die Bäume? hörst Du, wie die Nachtigall singt? horch! wie süß, wie schön! . . . Oscar, Du darfst die Liese nicht verlassen; sie weint sich sonst die alten Augen aus. Und dem Harald mußt Du sagen: daß er die arme Marie nicht so quält. Sonst muß sie hinaus in die wilde Nacht. Leb' wohl, liebes Kind! Ja, ja, ich will Alles verbrennen; es liegt sicher in der Lade. Mutter Clausen kann nicht lesen; es kommt der Rechte schon zur rechten Zeit.“ Der Kopf der Sterbenden sank herab auf die Brust. Albert glaubte sie todt. Er trat an die Lade, hob den schweren Deckel und durchwühlte hastig und doch methodisch genau den Inhalt. Es lagen Frauenkleider darin, die nicht der Mutter Clausen gehört haben konnten, städtische Kleider, wie sie junge Mädchen vor fünfundzwanzig Jahren trugen; verwelkte Blumen¬ sträuße, verblichene Bänder, ein paar einfache Schmuck¬ sachen: ein Band von rothen Korallen, ein kleines goldenes Kreuz an einem schwarzen Sammetbande. Das Alles mochte für einen Andern von hohem Interesse sein, aber für Albert hatte es nicht den mindesten. Er wurde ungeduldig, als er, ein Stück nach dem andern herausnehmend, nichts von dem F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 8 fand, was er suchte. Endlich — da! auf dem Boden des Koffers, in der Ecke, unter einer schwarzseidenen Robe versteckt — ein ziemlich bedeutendes Packet — Briefe, Papiere — das war's! — Er ließ es in die Tasche seines Rockes gleiten; er nahm mit beiden Armen, was er aus dem Koffer genommen hatte, stopfte es hinein, so gut es gehen wollte, drückte den Deckel wieder zu — und, wie er sich jetzt von den Knien aufrichtete, waren das nicht Schritte, die eilig näher kamen? Im Nu war er an dem Fensterchen, das von der Stube aus in das Gärtchen hinter dem Hause führte. Er riß es auf, er zwängte sich mit einer Schnelligkeit hindurch, die dem gewandtesten Gauner zu hoher Ehre gereicht haben würde; kroch auf allen Vieren durch die Johannisbeerbüsche, sprang über den niedrigen Zaun und war im nächsten Augen¬ blick in den goldnen Wogen eines Roggenfeldes ver¬ schwunden. Als Albert seinen Rückzug durch das Fenster eben bewerkstelligt hatte, trat Oswald, athemlos von seinem raschen Lauf, in das Zimmer. Er glaubte schon zu spät zu kommen, er kniete neben der Alten nieder und nahm ihre welken, erkaltenden Hände in die seinen. Und diese Berührung schien die Sterbende noch einmal zum Leben zu erwecken. Sie richtete sich gerade auf und sagte, dem vor ihr Knieenden die Hände aufs Haupt legend, mit einer Stimme, die schon von jenseits des Grabes herüberzutönen schien: „Der Herr segne und behüte Dich! der Herr gebe Dir Frieden!“ „Amen!“ murmelte Oswald. Die Hände der Alten glitten sanft auf ihren Schooß. Oswald blickte empor. Der Schein der untergehenden Sonne fiel durch das niedrige Fenster; das Antlitz der Alten war wie verklärt in dem rosigen Licht. Aber das rosige Licht verschwand; und der graue Abend schaute herein auf das bleiche Antlitz einer Todten. Oswald drückte ihr die Augen zu. — Von drüben her schallte durch die offene Thür das monotone Tik-tak der Wanduhr; von der Straße tönte das Lachen und Jauchzen der spielenden Kinder . . . . Was weiß das Leben vom Tode? was der Tod vom Leben? was die Ewigkeit von Beiden? 8 * Sechstes Kapitel. Am nächsten Morgen noch vor dem Frühstücke war Herr Timm abgereist. Er hatte den Baron ge¬ beten, ihn bis nach B., dem nächsten Städtchen, fahren zu lassen, von dort wolle er Extrapost nehmen. Der gastfreundliche Baron fragte: ob es denn so große Eile habe? ob er sich nicht ein paar Tage von seiner angestrengten Arbeit ausruhen wolle? Da Al¬ bert indessen gestern Abend einen bedeutenden Auftrag erhalten zu haben vorgab (der Postbote hatte ihm in der That einen Brief gebracht), so ließ sich dagegen allerdings nichts einwenden, und der Baron befahl dem schweigsamen Kutscher, die schwerfälligen Braunen anzuspannen. Herr Timm sagte Allen flüchtig Lebe¬ wohl und fuhr von dannen. Es vermißte ihn Nie¬ mand — Niemand, mit Ausnahme der kleinen Genferin. Aber sie vergoß ihre heißen Thränen in der Stille ihres Stübchens und die Gesellschaft sah von ihrem Kummer nichts, als die rothgeweinten Augen, die sie durch heftigen Kopfschmerz erklären zu können hoffte, wenn sie Jemand darnach fragte. Es fragte sie aber Keiner. Hatten doch Alle genug mit sich selbst zu thun! war doch Jeder vollauf mit dem, was ihm zunächst am Herzen lag, beschäftigt! Der Tod der alten Frau war für Oswald ein neuer Schlag. Wieder war ihm eines der wenigen Wesen, an denen er einen innigeren Antheil nahm, ganz plötzlich geraubt. Es war, als ob sein verdü¬ stertes Gemüth nicht zur Ruhe kommen, als ob an seinem Himmel der letzte helle Streifen verschwinden, und gänzliche Nacht ihn umgeben sollte! Er hatte Mutter Clausen nur selten gesehen, aber es war jedes Mal unter so eigenthümlichen Verhältnissen gewesen; er hatte jedes Mal einen so tiefen, ja erschütternden Eindruck von diesen Begegnungen davongetragen, daß ihm jetzt war, als hätte er eine Ahne verloren, deren zärtliche Liebe er mit Gleichgültigkeit und Undank ver¬ golten hatte. Wie bestimmt hatte er sich vorgenommen, als er das letzte Mal mit Albert in ihrer Hütte ge¬ wesen war, die alte Frau nicht wieder aus den Augen zu verlieren; nachzufragen, ob er ihr in irgend einer Weise dienen, irgendwie ihr einsames Alter erfreuen könne? Sie hatte seiner in ihrer letzten Stunde ge¬ dacht; er hatte in all diesen Tagen keine Minute Zeit gehabt, an sie zu denken. Sie hatte nicht sterben mögen, ohne ihm ihren Segen zu geben; was hatte er ihr im Leben Gutes gethan, diesen Segen zu ver¬ dienen? — Was half es nun der Todten, daß er für ihr Begräbniß Sorge trug? daß er mit Bruno hinter dem Leiterwagen herging, auf dem man ihren schmuck¬ losen Sarg über die Haide nach Faschwitz fuhr, ihn auf dem dortigen Friedhofe in die Gruft zu senken? daß er nach Grünwald schrieb und eine kleine Mar¬ mortafel bestellte, auf daß ihr Grab nicht wie einer Geächteten Grab sei? Wie hätte ihm die Lebende für den geringsten Theil all der Mühe, die er sich jetzt um die Todte gab, so herzlich gedankt! Und war es, weil er ihn so wenig verdient hatte, daß der Segen der Sterbenden nicht in Erfüllung ging? Der Frieden, den sie auf ihn herabflehte mit dem letzten Hauch ihres Mundes, wollte nicht einziehen in sein Herz. Wie ein Verzweifelter kämpfte er mit der rasenden Leidenschaft, die sich wie ein wilder Or¬ kan über ihn gestürzt hatte, aber jeder neue Tag mußte ihn nur immer mehr von seiner Ohnmacht überzeugen. Brachte ihn doch jeder neue Tag oft auf lange Stun¬ den in die Gesellschaft des schönen Mädchens; trat sie ihm doch mit einem freundlichen Lächeln auf den stolzen Lippen entgegen, sobald der leuchtende Som¬ mermorgen die kurze und doch für ihn so lange Nacht verdrängt hatte; saß er ihr doch bei Tische gegenüber; brachten die Unterrichtsstunden, gemeinsame Spazier¬ gänge, hundert andere Gelegenheiten, die in einem so kleinen Cirkel auf dem Lande beinahe unvermeidlich sind, ihn wieder und immer wieder mit der Herrlichen in Berührung! Er selbst nannte seine Leidenschaft nicht Liebe, sondern nur lebhafte Theilnahme, Freund¬ schaft — er suchte sich einzureden, daß er diese Theil¬ nahme, diese Freundschaft ganz ebenso empfunden haben würde, wenn sein Verhältniß zu Melitta das¬ selbe geblieben wäre, ihm der Zufall nicht Melitta's Bild in einem so ganz anderen Lichte gezeigt hätte. Daß es weder von Klugheit, noch von Loyalität zeuge, dem trügerischen Zufall zum Herrn zu machen über das Wohl und Wehe eines noch vor kurzem so heiß geliebten Weibes; daß seine prahlenden Vernunft¬ gründe nur schlaue Sophismen einer wilden Leiden¬ schaft seien — Oswald wäre der Erste gewesen, dies in dem Falle eines Anderen zu entdecken und zu rügen, aber die Klugheit, die Loyalität, die wir in der Be¬ urtheilung fremder Angelegenheiten stets bereit haben, fehlen uns nur zu oft in unseren eigenen; und weise denken und sprechen und thöricht handeln sind be¬ kanntlich sehr heterogene Dinge, die ganz vortrefflich Hand in Hand gehen können. Freilich mochte es einem leidenschaftlichen Herzen schwer fallen, von so viel Schönheit, Anmuth und Geist nicht gerührt zu werden. Empfanden doch Alle, die mit Helene in Berührung kamen, den wunderbaren Zauber ihrer Persönlichkeit; schien es doch fast un¬ möglich, nicht mit Heftigkeit für oder gegen sie Partei zu nehmen; gab es doch selbst in der Gesindestube unter den Leuten lebhafte Scenen, da der schweigsame Kutscher, auf die junge Baronesse anspielend, brummte: es sei nicht Alles Gold, was glänze, worauf die alte brave Köchin erwiederte: zu schlechten und misgün¬ stigen Menschen kämen die lieben Engel allerdings nicht, was denn eine unerquickliche Debatte über schlechte Menschen im Allgemeinen und Besondern herbeiführte, bei der es von beiden Seiten ziemlich scharf herging und, wie es bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt, verschiedene helle Streiflichter auf die Familienangelegenheiten der gnädigen Herrschaft geworfen wurden. Denn selbst in diesen Regionen war man so ziemlich darüber einig, daß Baron Felix sich nicht bloß zum Vergnügen so lange auf Schloß Grenwitz aufhielt; ja Felix' Kammerdiener behauptete: es gäbe gewisse Leute, die über gewisse Dinge eine ziemlich gewisse Auskunft geben könnten, daß aber Verschwiegenheit die erste Pflicht eines guten Bedien¬ ten sei. Er wolle nur so viel sagen, daß sein Herr eine Sache, die er angefangen habe, auch zu Ende bringe, und daß er (der Kammerdiener) der unma߬ geblichen Meinung sei, es gebe kein Mädchen auf Erden, das seinem Herrn auf die Dauer widerstehen könne — eine Behauptung, die von dem weiblichen Theil der Gesellschaft mit großer Entrüstung zurückgewiesen wurde. Was den Blicken dieser Leute nicht entging, konnte Oswald's durch die Liebe hundertfach geschärftem Auge nicht verborgen bleiben. Mußte er doch täglich wahr¬ nehmen, wie Baron Felix Alles aufbot, sich die Gunst seiner schönen Cousine zu erwerben: Alle Gewandt¬ heit, die er sich in tausend Intriguen auf den glatten Parquets großstädtischer Salons angeeignet, allen Witz, mit dem ihm die Natur keineswegs kärglich ver¬ sehen hatte; alle Vortheile, die ihm sein Verhältniß als naher Verwandter gestattete. Mußte er doch sehen, mit welcher Umsicht die Baronin diese Bemühungen auf alle Weise unterstützte, und Felix in jeder Hinsicht ebenso unermüdlich wie geschickt secundirte. Zwar sagte er nein! oder schwieg, wenn Bruno nach Tische, nach einem Spaziergang mit zornigem Antlitz diese oder jene neue Frechheit von „dem Affen, dem Felix“ erzählte; aber er wußte recht gut, daß der Knabe nicht falsch gesehen oder gehört hatte, und sein einziger Trost war, daß Helenen's Stolz in die Verbindung mit einem ihrer so ganz und gar unwürdigen Mann nun und nimmermehr willigen werde. Was Fräulein Helene selbst betraf, so ging sie ihren stillen Weg, ohne scheinbar weder nach rechts noch links zu blicken, nur daß in der letzten Zeit ihr Betragen noch zurückhaltender, ihre Miene noch vor¬ nehmer, ihr Lächeln noch seltener geworden war. Sie fühlte sehr wol, daß sie in dem Kampfe, der ihr drohte, allein stehen, daß sie. vergeblich an das Herz der kalten, egoistischen Mutter, vergeblich an die Ein¬ sicht des alten, schwachen Vaters, vergeblich an die Ritterlichkeit des frivolen, zügellosen Felix appelliren würde, und daß sie sich auf Niemand verlassen könne, als auf sich selbst. Aber dieses Bewußtsein, das andere Mädchen in dem Alter Helenen's zu Boden gedrückt haben würde, diente nur dazu, den Muth dieses hochherzigen Geschöpfes, in welchem die ganze Kraft ihrer Familie, nur in edlerer, geläuterter Form wieder geboren zu sein schien, anzuschüren und zu entflammen. Die Annäherung, die zwischen ihr und der Mutter stattgefunden hatte, war nur eine schein¬ bare gewesen. Nie stehen sich zwei Wesen schroffer gegenüber, als wenn sie, mit der gleichen Energie, mit derselben Kraft des Willens und Vollbringens ausgestattet, nach verschiedenen Zielen streben. Zwi¬ schen der Baronin, die nur weltliche Zwecke kannte und verfolgte, und ihrer Tochter, die einem vielleicht übertriebenen, immer aber hochsinnigen Idealismus huldigte, war auf die Dauer keine Vereinigung möglich. Das sprach auch Helene wiederholt in den Briefen aus, welche sie jetzt häufig an ihre liebste Freundin und einzige Vertraute, Miß Mary Burton, nach Ham¬ burg schrieb. „Dearest Mary,“ hieß es in einem derselben, „wie oft hast Du Dich über das grausame Geschick beklagt, welches Dich mit Reichthum über¬ schüttete, um Dir alle Verwandte zu rauben, Eltern, Geschwister, Cousins und Cousinen — alle jene Freunde und Freundinnen, die uns die Natur selbst mit auf den Lebensweg giebt. Aber, glaube mir, liebes Mäd¬ chen, es giebt noch ein schlimmeres Loos, als das Deine. Die Wehmuth, die Dich bei dem Gedanken erfaßt, allein dazustehen in der Welt, ist nicht ohne eine gewisse Süßigkeit. Wie oft sprachst Du mit Entzücken von Deinem Bruder Harry, der Dir in der Blüthe seiner Jahre geraubt wurde, von Deiner Schwester Kitty, der holden Blume, die so früh ver¬ welkte — Du sagtest, sie seien Dir nicht gestorben, könnten Dir nicht sterben, denn sie lebten schöner und herrlicher in Deiner Erinnerung fort. Die Schatten der lieben Todten umschwebten Dich überall, sie seien Dir eine liebe Gesellschaft, in der Du Dich unendlich wohler fühltest, als oft, sehr oft in der kalten, egoistischen, die Dich umgiebt. O gewiß: das Leben ist der Güter höchstes nicht; aber die Liebe ist es. Das Leben ohne Liebe ist ganz werthlos, Liebe ohne Leben kann noch immer köstlich sein. Deine Verwandten sind gestorben, aber sie leben Dir; meine Verwandten leben, aber für mich find sie todt. — Es ist ein grauses Wort, theuerste Mary, aber ich streiche es dennoch nicht wieder aus, denn es ist wahr, und wir haben ja geschworen, uns nie die Wahrheit zu verhehlen, koste uns ihr Bekenntniß noch so viel. Ja, sie sind todt für mich, meine Verwand¬ ten, und ob ich gleich die Hälfte meines Lebens hin¬ geben möchte, sie ins Leben zu rufen — mit frommen Wünschen ist hier nichts gethan. Wer lebt denn für uns? Doch nur die, in deren Herzen wir allezeit eine sichere Zufluchtsstätte finden vor allem Leid, das uns bedrängt, vor allen Zweifeln, die uns ängstigen; die nichts wollen, als unser Glück, und unser Glück nicht in der Erfüllung ihrer eigenen Wünsche, in der Be¬ friedigung ihrer eigenen Selbstsucht erblicken. Und ist dies nicht der Fall bei den Meinigen? kann ich ihnen mein Herz erschließen? muß ich nicht stets fürchten, bei ihnen anzustoßen, wenn ich spreche, wie ich denke? fragen sie nach meinen Neigungen? ängstigen Sie mich nicht vielmehr mit Zumuthungen, mit Andeutun¬ gen, die mir das Blut erstarren machen? Freilich mein guter alter Vater — er würde, wenn es zum Aeußersten käme, mich nicht verlassen; aber, großer Gott, ist denn die Furcht, es könne bis dahin kommen, nicht schon schlimm genug? und ist denn der Beistand, den man sich ertrotzen muß, etwas, worauf wir mit vollem Vertrauen, mit gläubiger Zuversicht blicken können? Ach, Mary, ich kann Dir nicht sagen, wie fremd, wie unheimlich mir der Geist ist, der in meinem elterlichen Hause waltet, wie sehr ich mich zurücksehne nach unserem stillen Pensionsleben, wo wir, wenn uns auch die Welt draußen verschlossen war, in unseren Träumen und ach! vor allem in unserer herzlichen Freundschaft eine schönere und reichere Welt fanden. Hier hab' ich Niemand, dem ich einen Blick in diese Welt verstatten möchte. Niemand, als einen Knaben, bei dem ich auf Verständniß nicht rechnen kann, und einen Mann, den ich lieben könnte, wenn er mein Bruder wäre, und von dem mich jetzt eine unüber¬ steigliche Kluft trennt. Du weißt, von wem ich spreche. Ich will Dir nicht verschweigen, daß ich in letzterer Zeit an diesem Manne ein Interesse gewonnen habe, das ich nie für möglich gehalten hätte — ein Be¬ kenntniß, welches Deinen Spott herausfordern wird und das ich Dir dennoch, kraft der Heiligkeit unseres Covenants, schuldig bin. Vielleicht fühle ich mich nur deshalb zu ihm hingezogen, weil er unglücklich ist. Er steht, wie Du, allein, ganz allein da in der Welt; seine Mutter hat er kaum gekannt, seinen Vater schon vor Jahren verloren, Brüder und Schwestern nie gehabt. Er ist noch jung, aber reiche Herzen erleben viel in kurzer Zeit; und er muß viel erlebt und viel gelitten haben. Es liegt eine Schwermuth auf seiner hohen Stirn, in seinen tiefblauen großen Augen, die für mich etwas unendlich Rührendes hat; manchmal zuckt es so schmerzlich um seinen Mund, daß ich viel, sehr viel darum geben könnte, dürfte ich zu ihm treten und sprechen: sage mir, was Dich quält; vielleicht kann ich Dir helfen, und vermag ich auch das nicht, kann ich doch mit Dir fühlen. Du weißt, theure Mary, daß ich durch und durch Aristokratin bin, daß ich einen angebornen Widerwillen vor allem Gemeinen und Plebejischen habe. Wir Beide sind in der Ueberzeugung aufgewachsen, daß die unteren Stände mit dem Adel der Geburt auch des Adels der Gesinnung entbehren, daß wir bei ihnen auf ein Verständniß dessen, was uns hoch und theuer ist, in keinem Falle rechnen können. Ich gestehe, daß ich seit meiner Ankunft in Grenwitz von diesem Vorurtheil — denn so muß ich es jetzt bezeichnen — in manchen Punkten zurückgekommen bin, daß ich wenigstens jetzt eingesehen habe, wie zu der Regel sich doch auch Aus¬ nahmen finden. Stein ist eine solche Ausnahme. Ich habe noch kein Wort aus seinem Munde gehört, das den Plebejer verrathen hätte, dagegen viele, sehr viele, die mir wie aus der Seele gesprochen waren, die ein lautes Echo in meinem Herzen fanden. Er spricht mit einer Anmuth, wie ich es noch von keinem Men¬ schen gehört habe, mit einer reichen Modulation der Stimme, die wie Musik in meinem Ohre klingt, so daß ich oft noch stundenlang nachher versuche, die Art und Weise, den Tonfall, mit dem er dies oder jenes sprach, in meiner Erinnerung zurückzurufen. Es liegt für mich ein unendlicher Zauber in einer schönen klangreichen Stimme; es ist mir immer, als sprächen die Menschen mit dem Herzen; als könnte ich, oft schon nach wenigen Worten, sagen: dies ist ein guter, dies ist kein guter Mensch. Und bei Stein wenigstens trifft es zu. Ich habe schon manche Pro¬ ben von seiner Herzensgüte gesehen. So starb vor ein paar Tagen in unserem Dorfe eine steinalte Frau, die früher Wirthschafterin auf dem Schlosse gewesen war und von dem Vater eine kleine Pension hatte. Niemand kümmerte sich um sie, nur Stein, der auch nach ihrem Tode für ihr Begräbniß Sorge trug, ja sie zu ihrer letzten Ruhestätte, mit Bruno, den weiten Weg bis zum Friedhofe begleitet hat. Das ist ihm im Schlosse sehr übel ausgelegt worden und ich mußte sehr lieblose Bemerkungen darüber mit anhören; be¬ sonders von einer gewissen Person, die Gott danken sollte, wenn er sie nur einmal auf den Gedanken einer so guten That kommen, geschweige denn eine solche wirklich ausführen ließe. Aber ich will dieser Person nicht die Ehre anthun, noch mehr Worte über sie zu verlieren. Ich habe beschlossen, daß sie in Wirklich¬ keit für mich nicht existiren soll, und so soll sie es auch nicht in Worten . . . . . . . . . . . . . Dieser Brief, in welchem sich Fräulein Helene so unumwunden über die Personen ihrer Umgebung aus¬ sprach, wurde nie beantwortet, denn er gelangte nie an seine Adresse. Siebentes Kapitel . Es war in der Nachmittagsstunde. Der alte Baron schlief in dem Wohnzimmer. Er saß in dem großen Schaukelstuhl; die Zeitung, in welcher er ge¬ lesen hatte, war ihm aus der welken herabhängenden Hand geglitten. Er sah recht verfallen aus in diesem Augenblicke; recht wie ein alter Mann, der nicht mehr viele Jahre zu leben hat und dessen Leben die leich¬ teste Krankheit ein rasches Ende machen kann. — So mochte Anna-Maria denken, die ihm gegenüber auf ihrem gewöhnlichen Platze gesessen und ihn eine geraume Zeit, in tiefes Nachdenken verloren, aufmerk¬ sam betrachtet hatte. Jetzt stand sie auf, und deckte leise ein dünnes Taschentuch über das Gesicht des Schlafenden. Dann sah sie auf die Pendeluhr über dem Kamin. Es war bald vier, die Stunde, in welcher nach der unwandelbaren Ordnung des Hau¬ ses der Kaffee getrunken werden mußte — im Gar¬ F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 9 ten, wie stets, wenn das Wetter es erlaubte. Die Baronin stand im Begriff ihren Gemahl zu wecken, sie besann sich indessen eines anderen, schritt durch die offene Thür in den Garten hinab, und fragte den Be¬ dienten, welcher das Kaffeeservice in die Laube trug, ob Baron Felix schon gerufen sei? — Noch nicht, gnädige Frau! — So gehen Sie hinauf; ich ließe ihn bitten, doch, wo möglich, sogleich zu kommen, und hören Sie! sagen Sie Mademoiselle, ich wolle heute selbst den Kaffee serviren, sie möge nur in der Wäsch¬ kammer bleiben. — Zu Befehl, gnädige Frau. — Und, was ich sagen wollte, Sie brauchen die An¬ deren noch nicht zu rufen. — Zu Befehl, gnädige Frau. Der Mann ging seine Aufträge auszurichten. Anna- Maria schritt an der Laube vorüber in einen langen, ganz überwölbten Buchengang, der von dem großen Rasenplatze aus mehre hundert Schritte bis in ein Gehölz führte, wo eine kleine verfallene Kapelle stand. Sie schien ganz vergessen zu haben, daß sie Felix in die Laube beschieden hatte, denn sie ging immer weiter, die Augen auf den Boden geheftet, bis sie das Ende des Ganges und die Kapelle erreicht hatte. Es war eine liebliche, süß melancholische Stelle. Uralte Riesenbäume überwölbten den Platz mit ihren breiten Laubkronen, daß kaum ein Sonnenstrahl sich hineinstehlen konnte. Der Boden war mit dichtem Moos bedeckt: langes Gras wuchs zwischen den um¬ hergestreuten Steinfliesen; die weitklaffenden Spalten des alten Gemäuers waren von dunkelgrünem Epheu übersponnen; hier und da ragte ein hoher blühender Busch aus den Ruinen. Auf dem morschen Kreuz in einer der leeren Fensternischen saß ein Vögelchen und sang. Das war der einzige Laut, den man vernahm. Er schien die Stille rings umher nur noch stiller zu machen. Einen Liebhaber der Einsamkeit würde der Platz entzückt haben. Aber die Baronin erhob kaum ein¬ mal die Augen vom Boden, sich flüchtig umzusehen, Sie hatte überhaupt sehr wenig Sinn für Sonnen¬ strahlen, die durch ein dichtes Laubgitter zittern, für blaue Schatten und andere Requisiten landschaftlicher Schönheit, und heute vorzüglich war ihr Geist von ganz anderen Dingen in Anspruch genommen. Sie setzte sich auf eine Steinbank unmittelbar unter der leeren Fensternische, in welcher das Vögelchen sang, nahm aus der Tasche ihres Kleides einen Brief und begann denselben noch einmal zu lesen. Es war der Brief, den Helene heute Morgen in dem guten Glauben, daß das Wort der Mutter, sie 9* werde sich nie um ihre Correspondenz kümmern, eine Wahrheit sei, geschrieben, und in dem vollen Ver¬ trauen auf die Heiligkeit des Briefgeheimnisses ihrem Kammermädchen übergeben hatte mit dem Auftrage, ihn in die Küche zu tragen, wo der Postbote sich an einer Tasse Kaffe erquickte. Das Mädchen war der Baronin auf dem Flur begegnet, und von dieser ge¬ fragt worden, von wem der Brief sei? Auf die Ant¬ wort: von dem gnädigen Fräulein; hatte die Baronin sich den Brief geben lassen, mit der Weisung, den Postboten hernach zu ihr auf's Zimmer zu senden, da sie selbst noch mehre Aufträge für ihn habe. So war Helenen's Brief in die Hände der Mut¬ ter gekommen. Es war ein Zufall, einer jener Zufälle, den böse Dämonen eigens in der Absicht herbeizu¬ führen scheinen, ein so schon den Mächten der Fin¬ sterniß mehr als denen des Lichts zugethanes Gemüth gänzlich verwirren und vom rechten Pfade wegzulocken. Ohne diesen Zufall wäre die Baronin vielleicht nie auf den Gedanken gekommen, sich auf diesem krum¬ men Wege in das Herz ihrer Tochter zu stehlen. Aber das Projekt der Heirath Helenen's mit Felix war bei ihr, wie es bei selbstischen und eigenwilligen Naturen zu geschehen pflegt, zur fixen Idee geworden. Der Gesundheitszustand ihres Gemals erschien ihr — gleichviel ob mit Recht oder Unrecht — äußerst be¬ denklich; für Malte, der in der That ein sehr schwäch¬ liches Kind gewesen und, zum Theil durch die Schuld der überzärtlichen Eltern, aus einer Krankheit in die andere gefallen war, hatte sie stets gefürchtet; es war in ihren Augen mehr wie wahrscheinlich, daß Felix über kurz oder lang der Herr sein würde und sie hielt es daher für eine gute Politik, ihn auf jede Weise an sich zu fesseln. Sie hatte dabei im Anfang auch Helenen's Vortheil, wie sie ihn nun verstand, im Auge gehabt. Sie wollte mit ihrer eigenen Zu¬ kunft auch die Zukunft der Tochter sicher stellen, und fand es bequem, daß dies mit einem Schlage ge¬ schehen konnte. Felix schien zum Schwiegersohn einer herrschsüchtigen Schwiegermutter wie geschaffen. Er war leichtsinnig, fügsam, ein Feind von Geschäften, und durchaus geneigt, so lange es ihm nicht an Geld oder Credit gebrach, die Sachen gehen zu lassen, wie sie wollten und konnten. Die Baronin bedachte nicht, daß solche Menschen gerade am schwersten zu behan¬ deln sind, daß grenzenloser Leichtsinn und ein frecher, grausamer Egoismus, der, was sich seiner Befriedi¬ gung entgegenstellt, schonungslos opfert, ganz vor¬ trefflich Hand in Hand gehen. Sie glaubte von Felix nichts zu befürchten zu haben. Felix hatte mit seinem höfischen, geschmeidigen Wesen, seinem: wie Sie wollen, liebe Tante; — richten Sie das ganz nach Ihrem Gutdünken ein, liebe Tante — ihr ganzes Herz gewonnen, so weit sie überhaupt ein Herz hatte. Desto größere Sorge machte ihr Helene. Sie konnte es sich nicht verhehlen, daß die von beiden Seiten versuchte Annäherung doch zu keinem, oder streng genommen, dem entgegengesetzten Resultat ge¬ führt hatte. Daß sie dabei alle Schuld auf die „un¬ kindliche Gesinnung“, auf die „überspannten Ideen“ Helenen's schob, war natürlich, änderte aber an der Sache selbst nichts. Und nun mußte sie noch dazu bemerken, daß Helene offenbar ihrem Vater ein größe¬ res Vertrauen schenkte, als ihr; daß sie sich zu Bruno viel mehr hingezogen zu fühlen schien, als zu ihrem Bruder Malte; daß sie gegen Oswald, selbst gegen Albert artiger und zuvorkommender war, als gegen ihren Cousin. Felix hatte gelacht, als ihm die Ba¬ ronin diese Bemerkung mittheilte; er hatte dies für ein gutes Zeichen erklärt. Je ungezogener, je besser! hatte der Ex-Lieutenant gemeint; und dabei einen Vergleich zwischen Pferden und Mädchen, der etwas stark nach der Wachtstube schmeckte, gezogen. Indessen die Baronin pflegte ihren eigenen Augen zu trauen, und ihre Augen bestätigten sie täglich mehr in der Richtigkeit ihrer Beobachtung. Nun hatte auch Felix zuletzt angefangen, etwas weniger sicher zu sein. Emilie von Breesen's Wort an jenem Abend war wie ein scharf gefiderter Pfeil durch seine Selbstgefälligkeit, in die er sich wie in einen Harnisch hüllte, gedrungen. Die Eifersucht sieht falkenscharf. Emilie fühlte, daß nur die Liebe zu einer Andern diese Veränderung in Oswald bewirkt haben konnte, und mit jener wunder¬ baren Divinationsgabe, die bei den Frauen die schwer¬ fällige Logik des Mannes mehr wie ersetzt, hatte sie im Nu herausgefunden, daß ihre Nebenbuhlerin Nie¬ mand anders sein könne, als die schöne Helene. Felix hatte in seiner raschen Weise den in ihm angeregten Gedanken, um ihn los zu werden, der Baronin mit¬ getheilt, die Baronin in ihrer bedächtigen Weise dar¬ über gebrütet, bis das im Anfang ganz Unglaubliche ihr wahrscheinlicher und immer wahrscheinlicher er¬ schien, und sie zuletzt beschloß, es koste was es wolle, der Sache auf den Grund zu kommen. Da spielt ihr der Zufall den Brief Helenen's in die Hände. Dieser Brief, an die vertrauteste Freun¬ din ihrer Tochter, mußte ihren Verdacht bestätigen oder zerstreuen, ihr den Schlüssel zu dem Herzen ihrer Tochter liefern. Daß dieser Schlüssel in ihrer Hand zu einem Diebeswerkzeug wurde — was galt es ihr! Sie wollte Gewißheit um jeden Preis! Und hat nicht eine Mutter ein Anrecht auf die Geheim¬ nisse ihrer Tochter? und wenn diese Tochter sich, wie nur zu sehr zu befürchten stand, auf Abwege verirrte, ist es nicht heilige Pflicht der Mutter, sie davon zurückzubringen, selbst durch ein gewaltsames Mittel? So suchte die Baronin sich das Gehässige ihres Schrittes wegzuraisonniren. Den Menschen fehlt es nie an Beschönigungsgründen für eine Handlung, die sie auf jeden Fall auszuführen entschlossen sind. Und da saß sie nun auf der steinernen Bank ne¬ ben dem alten Gemäuer unter der Fensternische, in welcher das Vögelchen so lustig zwitscherte und stu¬ dirte den Brief, den unseligen Brief, den sie nun schon beinahe auswendig wußte. Die Frucht von dem Baume der Erkenntniß, die sie so freventlich gestohlen, war bitter, sehr bitter. Sie hatte ihre Tochter nie geliebt; jetzt aber haßte sie ihre Tochter . . . Also wirklich! ihr schlimmster Verdacht bestätigt! für alle ihre Güte mit schwarzem Undank belohnt! des Egois¬ mus von ihrem eigenen Kinde angeklagt! in allen ihren Plänen von diesem Starrkopf durchkreuzt! He¬ lene im besten Einverständniß mit den beiden Verha߬ ten! Fräulein von Grenwitz in Liebe zu einem Mieth¬ ling, einem gemeinen Menschen, der bei ihren Eltern in Lohn und Brod stand! Denn was bedeuteten zu¬ letzt all die schönen Phrasen von Oswald's Liebens¬ würdigkeit, Oswald's Herzensgüte, von dem Antheil, den sie an seinem geheimen Kummer nahm? Die Baronin verstand sich freilich schlecht auf die Sprache der Liebe; so viel aber wußte sie: die Gleichgültigkeit spricht so nicht. Dahin also war es gekommen! He¬ lene wollte Krieg! gut — sie sollte ihn haben. Es sollte sich zeigen, wer die Stärkere war: die Mutter oder die Tochter. Jetzt zurückweichen? zugeben, daß dieses ungerathene Kind ihren Willen durchsetzt? den jahrelang erwogenen Vorsatz einer thörichten Mädchen¬ laune opfern? Nimmermehr! Aber was jetzt thun? noch einmal es mit schein¬ barer Güte versuchen? oder die Maske fallen lassen und befehlen, wo mit Bitten nichts auszurichten war? Und vor allem: wie weit Felix in das Geheimniß einweihen? würde sich nicht sein Stolz regen, wenn er erführe, wie tief er in den Augen Helenen's stand, wie sehr sie ihn verachtete? Konnte er nicht zurück¬ treten? und setzte dann Helene nicht doch ihren Willen durch? triumphirte die Tochter dann nicht doch über die Mutter? . . . Ehe die Baronin über diesen Punkt mit sich ins Klare kommen konnte, vernahm sie Schritte ganz in ihrer Nähe. Sie faltete eiligst den Brief zusammen und verbarg ihn hastig in der Tasche ihres Kleides. Es war Felix. Er hatte Niemand in der Laube gefunden, und zufällig einen Blick in den Buchengang werfend, die Baronin in der Tiefe desselben zu er¬ blicken geglaubt. „Also doch,“ sagte er, als sich die Baronin bei sei¬ ner Annäherung erhob, „ich wußte wahrlich nicht, ob Sie es waren. Der Kaffee steht in der Laube; aber wie König Philipp auf dem Thron, einsam und allein. Es scheint sich alle Welt, wie ich, verschlafen zu haben.“ „Setzen Sie sich hierher zu mir, lieber Felix,“ sagte die Baronin; „es hat mit dem Kaffee keine so große Eile. Wir können hier ungestörter sprechen als dort.“ „Ein allerliebst verschwiegenes Plätzchen zu einem ehrbaren Rendevous,“ erwiederte Felix lachend, neben der Baronin auf dem Bänkchen Platz nehmend. In diesem Augenblick verstummte das Vögelchen, das oben in der Fensternische gesessen hatte und flog in einen der Bäume. Das bleiche, von dunkeln Locken eingerahmte Gesicht eines Knaben erschien in der Höhlung und schaute herunter, um sofort, nachdem es die Beiden erblickt hatte, wieder zu ver¬ schwinden. „Daß Sie doch noch immer zum Scherz aufgelegt sind, lieber Felix!“ sagte die Baronin. „Noch immer?“ erwiederte Felix, „was ist denn geschehen, weshalb ich weinen sollte? Sie können wol nicht vergessen, was ich Ihnen neulich Abends sagte? Pah! ich habe mich lange von dem Schreck erholt; es war ein blinder Schuß, glauben Sie mir!“ „Ich wollte, ich könnte ihre Zuversicht theilen, lieber Felix; aber ich habe meine guten Gründe an¬ derer Meinung zu sein. Ich habe Helene seitdem ge¬ nauer beobachtet; ich kann mich von dem Gedanken nicht losmachen, daß doch etwas an der Sache ist.“ „Aber, verzeihen Sie mir, Tante; Sie haben ein bewunderungswürdiges Talent, Alles schwarz zu sehen. Es war ein kindischer Einfall von der kleinen Bree¬ sen; sie wollte mich ärgern — voilà tout ! Ich kann Helenen nicht zutrauen, daß sie mir einen Schul¬ meister vorzieht. Es wäre ja lächerlich, horriblement lächerlich,“ sagte der Ex-Lieutenant und betrachtete wohlgefällig seine lackirten Stiefel. „Und gesetzt auch, Helene könnte sich nicht so weit vergessen — daß es nur die thörichte Laune eines Augenblicks wäre, versteht sich ohnehin von selbst — sind Sie denn mit ihrem Betragen, Ihnen gegen¬ über, zufrieden?“ „Sie wird ihr Betragen ändern, sobald sie sieht, daß wir Ernst machen.“ „Und wenn sie es nicht ändert?“ „Nun, so sind wir Gott sei Dank noch nicht ver¬ heiratet;“ sagte Felix in der Bewunderung seiner Stiefel verloren, wahrscheinlich nicht genau wissend, was er sagte. „Dann können wir ja auch unser Gespräch ab¬ brechen,“ sagte die Baronin sich erhebend; „wenn Sie mit einer solchen Gleichgültigkeit von dem Schei¬ tern eines Planes sprechen können, an dessen Aus¬ führung, sollte ich denken, uns Beiden beinahe gleichviel gelegen sein muß, so verlohnt es sich auch nicht der Mühe, weiter darüber zu sprechen.“ „Aber, theuerste Tante,“ sagte Felix aufspringend und der Baronin die Hand küssend; „Sie sind auch wahrlich heute in einer schauerlichen Laune. Wie können Sie ein Wort, bei dem ich mir, auf Ehre, nicht das Mindeste gedacht habe, so übel nehmen? Es fuhr mir so heraus. Sie wissen ja, daß meine Zunge Vieles spricht, was ich bei Leibe nicht ver¬ antworten möchte. Setzen Sie sich wieder, ich bitte Sie . . . Sie sagten, wenn Helene ihr Betragen nicht ändert? meine ernste Antwort ist: so heirathe ich sie doch. So etwas findet sich, wenn man nur erst im Wagen sitzt; auf der ersten Station wird ge¬ weint; auf der zweiten geschmollt; auf der dritten fängt man an zu lächeln; auf der vierten —“ „Genug!“ sagte die Baronin, „Sie sind ein un¬ verbesserlicher Leichtfuß, der —“ „Ueberall da hingelangt, wo er hingelangen will. Und deshalb lassen Sie Ihre Bedenken fahren und uns zum Kaffee gehen, der sonst wahrlich kalt wird.“ „Nicht so schnell!“ sagte die Baronin; „wozu rathen Sie denn nun?“ „Wozu ich immer gerathen habe. Sagen Sie He¬ lene'n — da ich ja doch einmal auf keinen Fall mich direct in die Sache mischen soll — Du heirathest Deinen Vetter, Baron Felix von Grenwitz, und zwar binnen hier und irgend einer beliebigen Zeit. Ab¬ gemacht, Sela.“ „Ist das Ihr Ernst?“ „Mein wohlerwogener Ernst. Wann wollen Sie den großen Ball geben?“ „Uebermorgen.“ „Gut. Das ist eine vortreffliche Gelegenheit, der Gesellschaft unsere Verlobung anzukündigen. Sagen Sie Helene nur: wenn Du am Donnerstag Abend nicht Felix' Verlobte bist, gehst Du am Freitag früh in die Pension zurück. Sie sollen sehen: Das hilft.“ „Ich fürchte, die Drohung dürfte den entgegen¬ gesetzten Erfolg haben. Man hat Helene in Hamburg viel zu sehr verwöhnt. Ich glaube, sie ginge heute lieber zurück, als morgen.“ „ Eh bien! so schicken Sie die kleine Widerspen¬ stige nach Grünwald in die Musterpension von Fräu¬ lein Bär. Es ist das freilich, wie mir die kleine Breesen, die dort erzogen ist, neulich mittheilte, eher eine Strafanstalt als eine Pension; aber je schlimmer, desto wirksamer — ich meine, die Drohung; denn daß es ma chère cousine nicht zum Aeußersten kom¬ men lassen, sondern sich, genau zur rechten Zeit, be¬ sinnen wird, darauf hin will ich mich hängen lassen. Verzeihen Sie, Tante; ich weiß, Sie lieben die star¬ ken Ausdrücke nicht.“ „Es ist wirklich eine recht üble Angewohnheit von Ihnen,“ sagte die Baronin, sich erhebend, während Felix ihrem Beispiele folgte. „Die ich Ihnen zu Gefallen ablegen werde,“ er¬ wiederte er, der Baronin den Arm bietend. „Noch eins,“ sagte diese, stehen bleibend; „glauben Sie, daß Grenwitz darein willigen wird?“ „Ob ich das glaube?“ rief Felix mit einem für den alten, guten Baron wenig schmeichelhaften Lachen; „ob ich das glaube? Ma foi, chère tante, da müßte mein sehr würdiger Onkel doch nicht beinahe zwanzig Jahre unter Ihrem Commando gestanden haben. Wie lange habe ich denn die Ehre, unter Ihnen zu dienen? ein paar Wochen, und ich dächte, ich hätte schon ganz gut gehorchen gelernt.“ „Sie sind ein Schmeichler,“ sagte die Baronin gütig, „aber man kann Ihnen nicht bös sein.“ Und das würdige Paar entfernte sich, Arm in Arm. Als ihre Stimmen nicht mehr zu vernehmen waren, schaute das Knabengesicht wieder vorsichtig zu der Fensternische heraus. Es war noch bleicher, als vor¬ hin. Der Knabe streckte nach den davon Gehenden drohend den Arm aus, und seine Lippen murmelten einen grimmigen Fluch. Dann, als die Beiden nicht mehr zu sehen waren, ließ er sich aus der Fenster¬ nische herab auf die Bank, wo sie gesessen hatten. Neben der Bank, in dem dicken Moose, lag ein schlecht zusammengefalteter Brief, den die Baronin aus der Tasche verloren hatte. Der Knabe hob ihn auf und als er sah, daß er von Helene's Hand war, drückte er ihn mit stürmischer Zärtlichkeit an seine Lippen. Dann verbarg er ihn sorgsam in seiner Brusttasche, blickte sich noch einmal vorsichtig um, und war im näch¬ sten Augenblick in dem dichten Gebüsch verschwunden. Achtes Kapitel. Die Behauptung von Felix' vielgewandtem Kam¬ merdiener betreffs der Unwiderstehlichkeit seines Herrn in Liebesaffairen war zwar als eine Beleidigung des schönen Geschlechts im Allgemeinen und des in der Küche versammelten, weiblichen Dienstpersonals im Besonderen von diesem letzteren auf's heftigste be¬ stritten worden, der Vielgewandte indessen hatte dazu nur geheimnißvoll gelächelt, sich, nach der Weise seines Herrn, in den Stuhl zurückgelehnt, die Beine von sich gestreckt und mit einem vielsagenden Zwinkern seines rechten Auges auf die geblickt, welche in dem unerquicklichen Dispüt die höchste moralische Entrü¬ stung und die größte Zungenfertigkeit zeigte — die hübsche Luise nämlich, Helene's Kammerzofe. Die hübsche Luise war auf diesen Blick hin sehr roth ge¬ worden und so plötzlich verstummt, daß es selbst die Aufmerksamkeit des schweigsamen Kutschers erregte und F. Spielhagen, Problematische Naturen IV . 10 ihn zu der Wiederholung seiner früheren Bemerkung veranlaßte: es sei nicht Alles Gold, was glänze. Dar¬ auf hatte die hübsche Luise an zu weinen gefangen, die alte, brave Köchin sich ihrer aber angenommen und gemeint: Der Herr Kammerdiener solle sich schä¬ men, durch gehässige „Insinuationen“ und „böse Blicke“ ein armes Mädchen in schlechten Ruf zu bringen; der Vielgewandte, welcher merkte, daß er zu weit gegangen sei, sich sodann zu der Erwiederung genöthigt gesehen: wie es ihm nicht eingefallen sei, auf irgend eine der anwesenden Damen direct anzuspielen, und daß er mit seinem Zwinkern schlechterdings gar nichts habe sagen wollen. Diese so äußerst loyale parlamentari¬ sche Erklärung hatte denn schließlich den so freventlich gestörten Frieden der um den Küchenheerd versammel¬ ten Gesellschaft wiederhergestellt. Indessen verhielt sich leider die Sache genau so, wie der Vielgewandte — freilich mit grober Verletzuug der seinem Herrn schuldigen Treue und der Verschwie¬ genheit, auf die er sich so viel zu gut that — an¬ gedeutet hatte. Baron Felix hatte die für Andere — besonders seinen Kammerdiener und oft auch für ihn selbst — sehr unbequeme Gewohnheit, sich in jedes hübsche Mädchen, das ihm auf seinem Lebenswege begegnete, und wär's auch nur auf ein paar Tage, Stunden, Minuten, gleichviel — zu verlieben, und jede nur einigermaßen passende Gelegenheit zur An¬ knüpfung einer Intrigue zu benutzen. So war er denn noch nicht vierundzwanzig Stunden auf dem Schlosse gewesen, als er schon Mademoiselle Mar¬ guerite und die hübsche Luise als diejenigen Personen herausgefunden hatte, welche besonders dazu geeignet sein dürften, ihm die Langeweile des Landlebens und die Unbequemlichkeit einer Brautwerbung tragen zu helfen. Er hatte Albert, den buon camerado so vieler ähnlicher Heldenthaten in der Cadettenzeit, über Mademoiselle auszuholen versucht und seinem Jean den Auftrag ertheilt, die Moralität der hübschen Luise gelegentlich auf die Probe zu stellen. Albert war einen Augenblick in Zweifel gewesen, ob er Felix' saubern Plan nicht wenigstens so weit begünstigen sollte, um einen Grund zu haben, auf den er sich stützen könnte, wenn es ihm später vielleicht einmal darauf ankäme, mit Marguerite zu brechen. Dann aber hatten die Eifersucht und der Haß, welchen er gegen seinen frü¬ heren Kameraden, „den Glückspilz“, empfand, doch den Sieg davon getragen. Er hatte Felix erzählt, wie er ganz bestimmt — von Mademoiselle selbst — wisse, daß sie — „mit einem Candidaten der Theolo¬ gie, der Himmel weiß wo? ich glaube in Grünwald“ — 10 * verlobt sei, daß er selbst versucht habe, sich die Gunst der schwarzäugigen Genferin zu erwerben, und also von der gänzlichen Hoffnungslosigkeit „nach dieser Seite hin etwas auszurichten“ vollkommen überzeugt sei. Felix, obgleich er sonst nicht der Mann war, sich durch dergleichen Mittheilungen einschüchtern zu lassen, tröstete sich um so leichter über das Fehlschlagen dieses seines Planes, als ihm der Vielgewandte mitgetheilt hatte, daß eine sofort angestellte, forcirte Recognos¬ cirung nach der andern Seite durchaus von dem gün¬ stigsten Erfolg gekrönt worden sei, und daß er seinem Herrn schon im voraus zu dieser Acquisition gratu¬ liren zu können glaube. Don Juan Felix hatte dar¬ auf unter Beistand des Vielgewandten nach allen Re¬ geln vielgeübter Kunst das Vögelchen in das Garn zu locken versucht, und sich denn auch nicht weiter ge¬ wundert, als es schon nach wenigen Tagen in die kunstgerecht aufgestellten Netze flatterte. Die Einrichtung des Schlosses mit seinen labyrin¬ thischen Corridoren, seinen vielen großen und kleinen Treppen, auf denen man unversehens in Etagen ge¬ langte, in die man gar nicht wollte, mit seinen un¬ zähligen Thüren, von denen die eine aussah, wie die andere, machte für Jemand, der die Localität nicht ganz genau kannte, die Durchführung eines galanten Abenteuers zu einer äußerst schwierigen und bedenk¬ lichen Sache. Das hatte auch Felix erfahren, indem er sich einige Mal auf seinen nächtlichen Wanderungen gründlich verirrte und nur mit der äußersten Mühe und nach stundenlangem vorsichtigen Umhertappen sein Zimmer wieder gewann. Er zog es deshalb vor, in dem Garten, der sich mit seinen schattigen Gängen und still verschwiegenen Lauben auch ganz vortrefflich dazu eignete, und in den man sowol aus der Leute¬ wohnung, wie aus dem Herrenhause ohne große Mühe gelangen konnte, den angesponnenen Roman weiter zu führen. So hatte er sich denn auch in dieser Nacht aus dem Schlosse gestohlen, und harrte, in den dichten Boskets, von denen aus man die Front des alten Schlosses und die Leutewohnung, die in einer Linie daran gebaut war, beobachten konnte, seines armen Opfers. Die Schloßuhr schlug zwölf — die Stunde, welche er zum Rendezvous bestimmt hatte. Der Mond schien hell, die Thautropfen auf den Blumen und Blättern glitzerten in seinen Strahlen; Felix konnte auf seiner Uhr sehen, daß die Schloßglocke eine Vier¬ telstunde zu spät geschlagen hatte. Die Lichter im Schloß waren erloschen; nur in zwei der Fenster des hohen Parterres schimmerte durch die rothen Vor¬ hänge der Schein einer Lampe. Es war Helenen's Zimmer. Felix sah in regelmäßigen Zwischenräumen die undeutlichen Umrisse ihrer Gestalt hinter dem Vor¬ hang — offenbar schritt sie im Zimmer auf und ab. Dann mußte sie sich wieder an das Clavier gesetzt haben, denn einzelne Töne, den Lauten des Vogels gleich, der im hellen Mondschein träumend sein Lied zu singen versucht, irrten durch den stillen Garten; die Töne flossen zusammen zu Accorden und endlich strömte in vollen rauschenden Wogen Beethoven's herrliche Sonate pathétique , wie der Gesang eines Engels, der um Mitternacht mit ausgebreiteten Flü¬ geln über die Erde schwebt, und alles Erdenleid und alle Erdenqual in seinem göttlichen Herzen sammelt und es ausströmt in ein feierliches Lied voll unend¬ licher Schwermuth und himmlischer Süßigkeit . . . Ob Felix in diesem Augenblick, wo er, den Arm auf eine Urnensäule gelehnt, lauschend dastand, nicht doch eine Art von Gewissensbiß empfand darüber, daß er, der Wüstling, der Unreine die Hand auszustrecken, die Augen zu erheben wagte zu ihr, der Keuschen, Reinen? . . . Felix war nicht ohne alles Gefühl; er konnte sich selbst für das Schöne und Große begei¬ stern, wenn diese Begeisterung auch nur immer sehr kurze Zeit anhielt, und vor dem ersten Anhauch irgend eines frivolen Gedankens, wie eine schöne bunte Sei¬ fenblase, die eine ganze Welt auf ihrer schillernden Oberfläche spiegelt, zerflatterte. Vielleicht nahm er sich in diesem Augenblick vor, ein anderes Leben zu beginnen, die Thorheiten abzustreifen, und er, der eine so unendlich hohe Meinung von seinen Vorzügen hatte, mochte alles Ernstes glauben, daß er nur zu wollen brauche, um zu können. Er hörte mit einer gewissen Andacht der Musik zu. Er war Kenner ge¬ nug, um zu fühlen, daß die Sonate nicht schöner, nicht seelenvoller gespielt werden konnte; er sagte bei einzelnen Passagen leise bravo! bravo! als ob er sich in einem Concertsaale befände. Aber Helene und Beethoven, Tugend und Musik und was noch sonst Alles in diesen Minuten durch sein Hirn gezogen sein mochte — Alles war im Nu versunken, wie eine Fata Morgana, als sein Ohr jetzt den leisen Schritt eines Menschen vernahm. Der Schritt kam von einer an¬ dern Seite, als Felix erwartete. Indessen die hübsche Luise mochte ja einen Umweg gemacht haben, um die breiteren, von dem Mondschein allzu hell beschienenen Gänge in der unmittelbaren Nähe des Schlosses zu vermeiden. Der Schritt kam näher und näher, und Felix, der auf den geistreichen Einfall gerieth, sich ein wenig suchen zu lassen, drückte sich dicht in die Ge¬ büsche. Wie groß war aber sein Erstaunen, als er statt der hübschen Luise, Bruno an sich vorüberschleichen sah. Im ersten Augenblick mußte Felix über diese Enttäuschung lachen; im nächsten aber schon fiel ihm ein, daß durch diese Dazwischenkunft sein Rendezvous mehr wie bedenklich werde, und daß es unter diesen Umständen wol das Gerathenste sein möchte, sich in das Schloß zurückzustehlen. „Wer weiß, wie lange sich der Junge hier herumtreiben wird; am Ende ist er gar verliebt, oder er ist verrückt, oder beides, denn er sieht nach beidem aus; oder er ist mondsüchtig und geht so ein paar Stunden hier spazieren. Der ver¬ dammte Bengel! überall steht er mir im Wege; ich hätte große Lust, ihm nächstens einige fühlbare Be¬ weise meiner freundschaftlichen Gesinnung zu geben. Auf jeden Fall will ich ihm das Feld räumen. Jetzt kann man noch als verspäteter Liebhaber eines Mond¬ scheinabends auftreten; später geht das nicht mehr gut. Aber der Tante wollen wir doch von diesen nächtlichen Excursionen der Zöglinge des Herrn Stein erzählen.“ Felix hatte den Weg nach dem Schlosse fast zu¬ rückgelegt, ohne Bruno zu sehen, und schon hoffte er, daß der Knabe sich aus dem Garten entfernt habe und sein Rendezvous doch noch zu Stande kommen könne, als er über einen kleinen offenen Platz schrei¬ tend, der halb vom Mondschein erhellt und halb im Schatten lag, Bruno auf einer Bank sitzen sah, die Augen nach Helenen's Fenster gerichtet, aus denen noch immer die Tonwellen rauschten. Der Knabe schien so in andächtiges Hören verloren, daß er Felix erst bemerkte, als dieser schon ganz nahe war. Weshalb treibst Du Dich denn hier noch so spät umher,“ sagte Felix, dessen Aerger sich mindestens in einigen unfreundlichen Worten Luft machen mußte; „ich werde es der Tante sagen.“ „Bekümmere Dich um Deine eigenen Angelegen¬ heiten,“ sagte Bruno, der in der ersten Ueberraschung aufgesprungen war und ein paar Schritte auf den Platz gethan hatte, trotzig stehen bleibend, als er in dem Herkommenden den verhaßten Felix erkannte. „Du bist ein naseweiser Bursche,“ sagte Felix. „Und Du ein gemeiner Schurke,“ erwiederte Bruno. „Der Dich für Deine Unverschämtheit züchtigen wird,“ sagte Felix, dem mit untereinandergeschlagenen Armen vor ihm stehenden Knaben einen Backenstreich versetzend. Bruno taumelte ein paar Schritte zurück; Felix sah, nicht ohne einen leichten Schauder zu empfinden, wie die Augen des Knaben buchstäblich glühten; dann brach ein Schrei aus seiner Kehle, dumpf und rö¬ chelnd — ein mächtiger Sprung, wie eines Leoparden, der sich auf seine Beute stürzt — und im nächsten Moment lag Felix am Boden und die starken Hände Bruno's schlossen sich wie eiserne Klammern um seine Kehle. Felix rang wie ein Verzweifelter, den Knaben von sich abzuschütteln und wieder in die Höhe zu kommen, aber vergebens. So oft er sich auch mit dem Körper emporbäumte, so oft er Bruno mit den Armen von sich fortzudrücken versuchte, jedes Mal fühlte er seine Anstrengungen von einer unwidersteh¬ lichen Kraft paralysirt, und fester und fester schlossen sich die schlanken Finger um seinen Hals. „Laß mich los, Bruno,“ stöhnte er. „Befiehl Deine Seele Gott, denn Du mußt ster¬ ben,“ knirschte Bruno. Felix fühlte, wie seine Kräfte ihn verließen, wäh¬ rend die seines Gegners mit jedem Augenblick zu wachsen schienen. Todesangst ergriff ihn. Er wollte um Hülfe rufen, aber kein Laut entrang sich seinen bebenden Lippen; er fühlte ein dumpfes Sausen in seinen Ohren, das immer lauter und lauter wurde; vor seinen Augen wurde es Nacht, durch die Millionen kleine Sterne schossen — wüste Gedanken jagten wie vor dem Sturmwind treibende Wolken durch sein Ge¬ hirn — plötzlich, als ihm der letzte Schimmer von Bewußtsein zu schwinden drohte, fühlte er, wie die entsetzliche Last von seiner Brust verschwand — und als er endlich die Kraft fand, sich vom Boden zu er¬ heben und um sich zu blicken, war er allein. Der Mond schien hell vom tiefblauen Himmel; das Licht in Helene's Zimmer war erloschen; die Musik war verstummt — Felix hätte glauben können, den Kampf mit Bruno geträumt zu haben, wenn nicht die heftigen Schmerzen, die er an mehr als einer Stelle seines Körpers fühlte, seine über und über mit Sand be¬ deckten Kleider und der rings umher aufgewühlte Bo¬ den ihm zur Genüge bewiesen hätten, daß dies Alles nur zu wirklich gewesen war. Mit einem von Scham und Wuth erfüllten Herzen ging er in das Schloß, wie ein Wolf, der die Hürde beschleichen wollte und von einer edlen Dogge zer¬ zaust und zerbissen in den Wald zurückgeschickt wird. Neuntes Kapitel. Die Baronin hatte noch an demselben Abend den Brief Helenen's vermißt. Diese Entdeckung erfüllte sie mit nicht geringer Unruhe. Wie leicht konnte der Brief in fremde, das heißt in Hände fallen, die ihn Helenen wieder auslieferten, und wie viel hatte sie sich dann dem stolzen, unbeugsamen Mädchen gegen¬ über vergeben! Aller Vortheil, den sie durch die ge¬ naue Kenntniß von dem Gemüthszustand ihrer Tochter, über diese errungen, und den sie durch Anspielungen, Drohungen so geschickt auszubeuten gedacht hatte, war unwiederbringlich verloren. Es war fatal, äußerst fatal! Die Baronin erinnerte sich ganz genau, den Brief in die Tasche ihres Kleides gesteckt zu haben, als Felix den Gang herauf kam. Wahrscheinlicherweise hatte sie ihn also an der Kapelle verloren. Sie er¬ innerte sich, daß sie während der Unterredung mit ihrem Neffen einmal das Taschentuch gezogen hatte, um die Beleidigte mit noch größerer Würde zu spielen. Indessen war es heute Abend zu spät, noch Nachfor¬ schungen anzustellen; sie mußte es sich gefallen lassen, eine beinahe schlaflose Nacht zuzubringen und am nächsten Morgen mit einem heftigen Kopfweh aufzu¬ wachen. Sie ging alsbald in den Garten nach der Kapelle. Der Brief war nicht da; auch nicht in dem Buchengange, oder in der Laube. Im höchsten Maße verdrießlich über diesen bösen Zufall ging die Baronin in's Schloß zurück. Dort erwarteten sie andere Unannehmlichkeiten. Oswald schickte herunter, um zu melden, daß Bruno sich nach einer schlaflosen Nacht sehr unwohl fühle, und daß er (Oswald) bitte, man möge einen reiten¬ den Boten zu Dr. Braun senden. Auch ließ er bitten, Malte für heute unten zu behalten, da er, bis der Doctor käme, Bruno nicht gern allein lassen möchte. Die Baronin ließ zurücksagen: sie hoffe, daß es mit Bruno's Unwohlsein nicht viel auf sich haben und daß die in dem Unterricht eintretende Pause nicht zu lange dauern werde. Uebrigens würde heute im Laufe des Vormittags noch so wie so in die Stadt geschickt. Ein paar Stunden später ließ Felix sich entschul¬ digen, wenn er heute nicht zum Frühstück komme; er fühle sich nicht ganz wohl; gedenke indessen, an der Mittagstafel zu erscheinen. Felix verspürte in der That noch einige unange¬ nehme Folgen seines Kampfes mit Bruno. Zuerst und vor allem die brennende Scham, einem Knaben unterlegen zu sein, vielleicht nur einem Zufall, einer plötzlichen Anwandlung von Großmuth sein Leben zu verdanken zu haben. Sein ganzer Leichtsinn gehörte dazu, ihm über diesen unangenehmen Gedanken weg¬ zuhelfen. Er suchte sich einzureden — und nach und nach gelang es ihm auch — die Sache sei so ernst¬ haft nicht gewesen, und wenn er nicht, als Bruno sich so unerwartet über ihn stürzte, ausgeglitten wäre, und wenn dann sein „verdammter Rheumatismus“ ihm nicht die Arme gelähmt hätte, würde er ja „den Jungen abgeschüttelt haben, wie eine Fliege, ihm eine tüchtige Tracht Schläge obendrein gegeben haben.“ Daß vorläufig er die Schläge bekommen und daß die Fliege fest zuzupacken verstand, das bewiesen die blauen Flecken, die Felix, besonders auf der Brust und am Halse, aus dem Kampfe als sichere Zeichen der Nie¬ derlage davon getragen hatte. Der Vielgewandte ge¬ rieth in einiges Staunen, als er seinen Herrn in einem Zustande sah, der nur zu sehr an die selige Cadettenzeit erinnerte, wo Franzbranntwein und aqua Goulardi zu den nothwendigsten Toiletterequisiten ge¬ hörten. Der Vielgewandte bewies, daß er die Kunst, Beulen und blaue Flecke zu behandeln, ebenso wenig verlernt habe, als sein Herr das Talent, sich solche zu holen, und schon gegen Mittag sah sich Felix in einem salonfähigen Zustande. Dennoch zweifelte er, ob er bei der Tafel erscheinen solle, oder nicht. Der Gedanke Bruno gegenüberzutreten, des Knaben dunkle Augen voll Hohn und Schadenfreunde auf sich ruhen zu sehen, vielleicht gar in Oswald's Blicken wahrzu¬ nehmen, daß er von den Ereignissen der verwichenen Nacht vollkommen unterrichtet sei, war ihm äußerst peinlich. Es fiel ihm ordentlich eine Last vom Her¬ zen, als Jean berichtete, die Tafel werde heute sehr klein sein, denn Junker Bruno und Herr Stein wür¬ den nicht erscheinen. So warf er denn noch einen Blick in den Spiegel, goß sich drei Tropfen Eßbou¬ quet mehr wie gewöhnlich auf sein feines Battist¬ taschentuch und schritt durch die Thür, die ihm der Vielgewandte pflichtschuldigst öffnete, obgleich mit der Erinnerung an die Niederlage gestern Abend be¬ lastet, leicht und frei und vor allem unwiderstehlich wie immer. Auch die Baronin fühlte sich nicht wenig erleich¬ tert, als sie im Laufe des Morgens keine Verände¬ rung in Helenen's Betragen oder auf ihrem Gesicht, in ihren großen Augen zu erblicken vermochte. Die Baronin war heute Morgen ganz besonders zuvor¬ kommend gegen Helene. Indessen war das Mittagsmahl nichts weniger wie belebt; obgleich Felix sein ganzes Unterhaltungs- Talent aufbot. Der alte Baron hatte sich persönlich nach Bruno's Befinden erkundigt und war ärgerlich, daß noch immer nicht nach dem Doctor geschickt war, „wenn auch heute Nachmittag ein Wagen in die Stadt führe, verschiedenes zu der großen Gesellschaft morgen benöthigtes zu holen, so sei das kein Grund, weshalb nicht einer von den Leuten heute Morgen hätte hinreiten können.“ Die Baronin war verstimmt über diesen ihr in Gegenwart der Anderen ausgesproche¬ nen Tadel, und meinte; sie habe freilich nicht bedacht, daß es sich um Bruno handle, der allerdings größere Ansprüche machen dürfe, wie zum Beispiel sie selbst, die an einem sehr heftigen Kopfweh leide, oder Felix, der ebenfalls die ganze Nacht und den Vormittag unwohl ge¬ wesen sei. Helene hob die Augen kaum von ihrem Teller und öffnete kaum einmal den Mund; und die Augen der kleinen Marguerite waren heute noch verweinter, als in den vorhergehenden Tagen. Felix und Malte sprachen sich nach und nach auch aus, und zuletzt war es so stumm um den Tisch her, wie bei einem egyptischen Todtenmahl. Die Baronin und Felix blieben nach Tische allein, da der Baron sich ausnahmsweise auf sein Zimmer zurückgezogen hatte. Felix hatte während der Mahl¬ zeit überlegt, ob er nicht doch besser thäte, das Er¬ eigniß von gestern Abend — natürlich nach seiner Auffassung — zu erzählen, bevor Bruno Gelegenheit habe, sich gegen irgend Jemand, Oswald ausgenom¬ men, darüber zu äußern. So benutzte er denn das tête-à-tête mit der Baronin, ihr mitzutheilen — versteht sich, lachend und mit der Bitte, die curiose Geschichte nicht weiter gelangen zu lassen — wie er gestern Abend durch den hellen Mondschein verlockt worden sei, noch etwas im Garten zu promeniren, wie er Bruno in einer höchst eigenthümlichen Weise um die Fenster Helenen's habe schleichen sehen, wie er den Jungen zu Bett geschickt habe, darüber mit ihm in Streit gerathen, mit dem Fuße ausgeglitten, hingefallen und für einen Augenblick der Besiegte ge¬ wesen sei. Natürlich nur für einen Augenblick, dann habe Bruno die verdienten Schläge erhalten, und die würden auch wol der Grund seiner heutigen Krank¬ heit sein. Die Baronin fühlte sich durch diese humoristische F. Spielhagen, Problematische Naturen IV . 11 Schilderung einer sehr ernsten Begegnung auf das unangenehmste berührt. Ihre Befürchtungen betreff des Briefes regten sich wieder . . . Bruno zur Nacht¬ zeit unter Helenen's Fenster? was hatte er da zu thun? Der Umstand sah sehr verdächtig aus. Wenn Bruno den Brief gefunden hätte! wenn er gestern Abend die Absicht gehabt hätte, ihn Helenen wieder zuzustellen . . . Die Baronin stöhnte bei diesem ent¬ setzlichen Gedanken. „Was haben Sie, liebe Tante?“ „O nichts. Ich seufze nur über das Unglück, welches uns dieser Stein ins Haus brachte. Wenn ich etwas in meinem Leben bedauere, so ist es, den Menschen nicht am ersten Abend wieder fortgeschickt zu haben, wie ich wirklich große Lust hatte. Es hat nicht leicht Jemand einen so unangenehmen Eindruck auf mich gemacht, als dieser junge Mann.“ „Aber Tante, so holen sie doch nach, was Sie an jenem ersten Abende leider versäumten: jagen Sie ihn doch fort. Ich begreife wahrhaftig nicht, weshalb Sie so viel Umstände mit ihm machen.“ Die Baronin wollte nicht sagen, daß sie die tau¬ send Thaler nicht verschmerzen würde, welche Oswald contractlich zu fordern hatte, wenn ihm im ersten Jahre seines Engagements gekündigt würde. Ehe sie indeß eine Antwort bereit hatte, ertönte auf dem Flure die quäkeude Stimme des Pastor Jäger, der sich nach „der gnädigen Herrschaft“ erkundigte. Einen Augenblick später trat Seine Hochehrwürden an der Seite seiner Gemalin ins Zimmer. Es bedurfte keines besonders scharfsinnigen Auges, um sofort zu sehen, daß etwas ganz Außerordentliches dem würdigen Paare begegnet sein mußte. Der Pastor trug den ganz neuen schwarzen Frack, den er nur bei den feierlichsten Gelegenheiten anzuziehen pflegte und Primula hatte eine äußerst malerische Verzierung von Kornähren an ihrem gelben Strohhute, so daß sie heute noch eine Schattirung gelber aussah, wie ge¬ wöhnlich. Der Blick des Pastors suchte vergeblich die gewohnte Demuth zu heucheln; die runden Brillen¬ gläser selbst glitzerten triumphirend; und was Pri¬ mula betrifft, so hatte sich ihr poetisches Gemüth jetzt von allem Erdenrest befreit; sie durfte scheinen, was sie war. „Ich komme, gnädige Baronin,“ sagte der Pastor, Anna-Maria galant die Hand küssend, „einmal mich nach Ihrem und der lieben Ihrigen werthen Befinden pflichtschuldigst zu erkundigen, sodann Ihnen die Mittheilung eines Ereignisses zu machen, das wir — ich darf ja wol sagen wir, meine edle Gönnerin? — 11 * schon lange freilich erwarteten, erhofften, will ich lieber sagen, dessen endliches Eintreffen uns indeß doch wol Alle überrascht. Ich bin als Professor nach Grünwald berufen worden.“ „Vorläufig extraordinarius ,“ sagte Primula, aber der ordinarius wird wol nicht lange auf sich warten lassen.“ „Auch ist mir die Stelle eines Nachmittag-Predi¬ gers an der Universitätskirche so gut wie gewiß.“ „Warum nicht: gewiß? Jäger;“ sagte Primula; „ich dächte, das Schreiben des Professors Dunkelmann ließe nur eine Auslegung zu.“ „Ei, das sind ja herrliche Nachrichten, meine lieben Freunde;“ sagte die Baronin; „erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Neffen, Baron Felix, vorstelle — Herr und Frau Pastor, wollte sagen: Professor Jäger, lieber Felix — das sind ja herrliche Nachrichten. Also doch endlich! Nun, ich habe es ja immer gesagt; über kurz oder lang mußte es doch kommen; freilich wir verlieren viel; aber das Glück der Freunde muß uns theurer sein, als der eigne Vortheil. Nehmen Sie meinen herzlichsten Glückwunsch entgegen.“ „Auch den meinigen;“ sagte Felix. „Danke, meine gnädige Frau, danke, Herr Baron, danke, danke!“ sagte der Pastor, sich vergnügt die Hände reibend; „ja, ja! unverhofft kommt oft, und gehofft kommt auch wol einmal. Als meine letzte größere Schrift, in welcher ich den eigentlichen Wort¬ laut des Titels eines verloren gegangenen Werkes des Kirchenvaters Philochrysos bis zur Evidenz nachwies, in allen kritischen Journalen eine so — ich darf wol sagen — außerordentliche Anerkennung fand, konnte ich den Erfolg mit ziemlicher Gewißheit zum voraus angeben.“ „Wann werden Sie uns denn nun verlassen?“ „Nun zu Michaelis spätestens; wahrscheinlich aber noch früher; ich werde für das Wintersemester drei private Vorlesungen, eine publice und gratis , und endlich eine über die verloren gegangenen Schriften des Philochryses, privatissime und gratis ankün¬ digen.“ „Du nimmst Dir zu viel vor, Jäger, zu viel!“ hauchte Primula in zärtlichen Tönen: „o, diese Männer, diese Männer! jeder Einzelne ist ein Prometheus, der den Himmel stürmen möchte.“ „Wer hat mich denn zu meinem kühnen Streben begeistert, wenn nicht Du?“ sagte der Pastor, Pri¬ mula dankbar die Hand drückend. „Schießen Sie mit der Pistole?“ fragte Felix, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. „Nun, ein wenig; ich will sagen so viel wie gar nicht. Ich war früher wol auf der Hasen- und Hühnerjagd nicht ganz unglücklich — omen in nomine , ha, ha, ha! — aber seitdem das Consistorium sich sehr energisch gegen diese lärmenden Vergnügungen ausgesprochen hat, liegt „das Eisen müßig in der Halle;“ um mit dem Dichter zu sprechen. „Du kannst jetzt, in Deiner Eigenschaft als Pro¬ fessor, der edlen Waidmannskunst wol wieder obliegen, Jäger;“ sagte Primula. „Ha, ich denke es mir herr¬ lich, so mit vorgestreckter Pistole einem Wildschweine gegenüberzutreten . . .“ „Ich würde indessen Ihrem Herrn Gemal rathen, sich zu dieser Jagd mit einer Büchsflinte, und wo möglich auch einem Hirschfänger zu versehen,“ sagte Felix lachend; „aber im Ernst, Herr Professor, wollen Sie ein wenig mit mir nach der Scheibe schießen.“ „Gewiß, gewiß!“ rief der Pastor aufspringend; „ich stehe zu Ihren Diensten, zu Ihren Diensten.“ Der Pastor war etwas blaß geworden; aus seiner Aufregung zu schließen, hätte man glauben sollen, es handle sich um ein Duell auf Leben und Tod. „Willst Du nicht doch lieber bleiben?“ sagte Pri¬ mula, welcher plötzlich die Sache in einem sehr be¬ denklichen Lichte erschien. „Du bist heute nicht so ruhig wie sonst; wenn Dir ein Unglück passirte, gerade jetzt, wo Du dem Ziel Deiner Wünsche so nahe bist; Jäger, ich ertrüge es nicht;“ und die Dichterin brach in Thränen aus und klammerte sich an ihren Gemal an, dessen Anstrengungen, sich von der süßen Last zu befreien, keineswegs sehr energisch waren. „Gustava“, murmelte er; „liebes Gustchen, es ist weniger gefährlich, wie Du denkst. Sind Ihre Pistolen mit einem Stecher versehen, Herr Baron?“ „Allerdings;“ sagte Felix, den diese Scene nicht wenig amüsirte. „Wenn sie gestochen sind, dürfen Sie nicht niesen, oder ich stehe für nichts.“ „Bleibe, bleib', mein Jäger;“ flehte Primula. „Es wird nicht so gefährlich sein,“ sagte der Pastor mit bleichen Lippen. „Das meinte neulich auch Kamerad von Schna¬ belsdorf,“ sagte Felix; „Nehmen Sie sich in Acht, Schnabelsdorf, sagte ich. — Dummes Zeug, sagte Schnabelsdorf, und faßt die Pistole an der Mündung. Im nächsten Augenblick war er um einen Finger ärmer.“ „Dies entscheidet;“ sagte Primula, sich emporrich¬ tend; „Jäger, Du bleibst, ich befehle es Dir. Befasse Dich nicht mit Dingen, die Du nicht verstehst. Pistolen¬ schießen ist kein Kinderspiel.“ So triftigen Gründen wußte selbst ein so geist¬ reicher Kopf, wie der des Pastors, nichts entgegen¬ zusetzen. Er ließ sich wieder in seinen Stuhl sinken und sagte, sich den Schweiß mit dem Taschentuch von der Stirn wischend: „Sie sehen, Herr Baron: Ehestand ist Wehestand. Wenn Sie einmal erst verheiratet sind, wird der glän¬ zende Cavalier auch vor dem umsichtigen Hausvater zurücktreten müssen. Aber, wie ist mir denn: man darf ja wol gratuliren?“ Und der Pastor ließ den Kopf erst auf die rechte Schulter sinken, um die Baronin anzulächeln; sodann auf die linke, um Felix dieselbe Gunst zu erweisen. „Fragen Sie in ein paar Tagen wieder nach;“ erwiederte die Baronin ausweichend. „Was ich sagen wollte: so ist ja jetzt durch Ihre Ernennung der Ver¬ lust, welchen die Universität durch Berger erlitten hat, mehr wie ausgeglichen. Ihre Vocation steht doch mit jenem Ereigniß in keinem Zusammenhang?“ „In keinem directen wenigstens,“ sagte der Pastor, obgleich ich nicht in Abrede stellen will, daß Berger seinen Einfluß nicht zu meinen Gunsten angewendet haben würde, und somit immerhin seine Erkrankung für mich ein nicht ungünstiges Zusammentreffen der Umstände genannt zu werden verdient.“ „Hat man denn gar keine Vermuthung, wie dies so plötzlich gekommen ist?“ fragte die Baronin. „Nun, meine Gnädigste, plötzlich können wir nun wol so eigentlich nicht sagen;“ erwiederte der Pastor, sein Gesicht in die ernstesten Falten legend und seine Mundwinkel herabziehend; „ich gestehe, daß mich dies Ende in keiner Weise überrascht hat und daß ich den Professor im Grunde stets für mindestens halb wahn¬ sinnig gehalten habe. Wer mit Berger behauptet, daß alle sogenannten Beweise von dem Dasein Gottes, des allmächtigen Schöpfers Himmels und der Erden, auf einen Trugschluß, eine petitio principii hinaus¬ liefen, der ist schon wahnsinnig, auch wenn er noch scheinbar wie ein Vernünftiger spricht. Wer über die geheiligten Institutionen des Königthums von Gottes Gnaden und des Erbadels freventlich spotten, sie Ueberreste einer barbarischen Zeit, die hinter uns liegt, nennen kann, der ist schon toll, obgleich er Pro¬ fessor ist und Collegien vor einem überfüllten Audi¬ torium liest. Ich weiß es wol, daß geschrieben steht: richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet; aber ich kann mich dennoch, diesen Fall erwägend, nicht entbrechen zu sagen: Dies ist der Finger des Herrn.“ „Wie wär's mit einer Partie Kegel, Herr Pastor?“ sagte Felix, der in der offenen Thür gestanden und nicht zugehört hatte. „Mit Vergnügen,“ rief der Pastor, „auf diese Kugeln verstehe ich mich. Ich war meiner Zeit in Grünwald ein famoser Kegelschütze.“ „Nach dem Kaffee, lieber Felix,“ sagte die Baro¬ nin; „ich habe noch mit dem Pastor über einige ernste Dinge zu sprechen. — Ist es nicht entsetzlich, lieber Pastor Jäger, daß wir den Zögling eines so abscheu¬ lichen Menschen in unserem stillen Hause haben? daß ich die unschuldige Seele meines Kindes solchen Hän¬ den anvertrauen soll? Um Himmelswillen rathen Sie mir, wie werde ich den Menschen auf eine passende Weise wieder los?“ „Sie können ihn nicht ohne Weiteres fortschicken?“ „Wir haben uns gegenseitig auf vier Jahre ver¬ bindlich gemacht, und wenn wir nun also —“ „Ich versteh', ich verstehe,“ sagte der Pastor, der Anna-Maria's Geiz sehr wol kannte; „hm, hm! wir müßten einen Grund haben, hm, hm! Ja, ja, das kann uns helfen: es ist jetzt eine Verordnung vorbe¬ reitet, nach welcher die Hauslehrer ein Zeugniß des Pfarrers ihres betreffenden Kirchspiels über ihre Reli¬ giosität und Moralität beizubringen haben. Wir wollen es Herrn Dr. Stein schwer machen, ein solches beizubringen;“ und der Pastor lächelte schlau. „Wissen Sie schon das Neueste, meine Herrschaf¬ ten,“ rief Felix, ein Billet, das ihm so eben von dem Bedienten, welcher das Kaffeeservice in die Laube trug, übergeben war, in der Hand haltend; „Cloten hat sich mit der kleinen Breesen verlobt; hier schickt er mir, als seinem besten Freunde, die erste Karte; die Anderen kriegen erst morgen welche.“ „Ich kann Ihnen ein Paroli biegen,“ sagte der Pastor. „Wer denken Sie, gnädige Frau, daß seit gestern Abend wieder hier ist?“ „Nun?“ „Frau von Berkow.“ „Nicht möglich!“ „Ich weiß es ganz genau. Sie hat, einem in dem Testament geäußerten Wunsch ihres Gemals zu¬ folge die Leiche desselben von N. hierher schaffen lassen. Der Sarg kommt noch in dieser Nacht, um morgen von mir auf dem Faschwitzer Kirchhof eingesegnet zu werden.“ „Dann können wir die schöne Frau wol nicht zu unserem Ball morgen einladen?“ meinte Felix. „Aber Felix!“ sagte die Baronin mit einem vor¬ wurfsvollen Blick. „Der Kaffee steht in der Laube,“ meldete der Be¬ diente. „So kommen Sie, meine Herrschaften!“ sagte die Baronin. Zehntes Kapitel. Unterdessen hatte Oswald an Bruno's Bett böse, angstvolle Stunden verlebt. Bruno's aufgeregtes Wesen in der letzten Zeit hatte ihn schon mehr wie einmal ernstlich besorgt gemacht. Die Ausbrüche lei¬ denschaftlicher Heftigkeit, wie Oswald sie an Bruno von den ersten Wochen ihres Zusammenlebens kannte und die dann eine Zeit lang fast gänzlich aufgehört hatten, waren jetzt häufiger und gewaltiger wie je. Ein Widerspruch, das Mißlingen eines Unternehmens, einer Arbeit, eine verletzende Aeußerung über Tisch aus dem Munde der Baronin — waren hinreichend, die Dämonen in ihm zu entfesseln. Vergebens, daß Oswald ihn bat und beschwor, diese Heftigkeit abzu¬ legen, durch die er sich seinen Feinden gegenüber so viel vergebe, die es seinen Freunden oft unmöglich mache, für ihn Partei zu ergreifen — „ich kann nicht anders, war seine stete Antwort; es kommt über mich mit einer Gewalt, der ich nicht zu widerstehen ver¬ mag. Es kocht in mir auf, es nagt an meinem Herzen, es hämmert in meinen Schläfen und dann weiß ich nicht mehr, was ich spreche oder thue.“ — Wenn dann Oswald sagte; er könne, wenn er nur wolle, so antwortete Bruno trotzig: schilt mich nur auch, wie die Andern; mache nur gemeinschaftliche Sache mit den Andern. Ich will keine halben Freunde; wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. — Dann, wenn er sah, wie er Oswald durch diese und ähnliche Reden gekränkt hatte, warf er sich stürmisch in seine Arme und bat ihn unter heißen Thränen um Verzei¬ hung. — Habe Mitleid mit mir, rief er. Du weißt nicht, wie grenzenlos unglücklich ich bin. — Vergebens, daß Oswald in ihn drang, zu sagen, ob er irgend etwas Besonderes auf dem Herzen habe? ob die wilde Sehnsucht in die Ferne, von der er früher so gefoltert wurde, jetzt wieder in ihm übermächtig sei? — Ich weiß es selbst nicht, sagte Bruno; ja ich möchte fort, weit, weit von hier, um nimmer wieder zu kehren; und dann möchte ich doch auch wieder nicht fort, nein nicht fort, nicht um Alles auf der Welt; ich weiß es nicht: ich glaube, ich möchte am liebsten sterben. Oswald rieth hin und her, was denn nur die Ur¬ sache dieses sonderbaren Zustandes sein möchte; aber wie nahe er auch manchmal der Wahrheit kam, den eigentlichen Kern des Geheimnisses, das der Knabe in der tiefsten Tiefe seines Herzens vor Jedem, vielleicht vor sich selbst, scheu verbarg, entdeckte er doch nicht. Es ist eine bekannte Erfahrung, daß selbst kluge Men¬ schen in der Beurtheilung derer, welchen ihnen ge¬ rade am nächsten stehen, oft die wunderlichsten Fehl¬ schlüsse machen, und gegen Vieles, was dem unbe¬ fangenen, vielleicht lange nicht so scharfsichtigen Auge des Dritten nicht entgeht, vollkommen blind sind. Das ist nicht möglich! ruft ein Vater, wenn man ihm er¬ zählt, daß sein Sohn einen schlechten Streich begangen hat; das ist nicht möglich! ruft ein Bruder, wenn man ihm mittheilt, daß seine Schwester sich mit sei¬ nem besten Freunde verlobt hat. Bald macht uns in diesen Verhältnissen die Liebe, bald die Abneigung blind; hier die Gleichgültigkeit gegen ein Wunder, welches unter unsern Augen vor sich geht, dort eine edle Scham, welche uns den Blick niederschlagen macht, eine Wange nicht zu sehen, die ihr Erröthen sonst nicht vor uns verbergen könnte. Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, und in den aller¬ meisten Fällen ist das Herz des Bruders dem Bruder ein Buch mit sieben Siegeln. So war es auch in diesem Fall. Oswald tröstete sich mit dem Gedanken, daß ja die Zeit des Ueber¬ gangs aus dem Knaben- in das Jünglingsalter für Alle eine Periode innerer und äußerer Stürme zu sein pflegt, und daß bei so mächtigen Naturen, wie Bruno, die Revolution verhältnißmäßig gewaltiger sein müsse. Er hatte oft mit Bruno über Verhältnisse gesprochen, die dem erschlossenen Auge nicht länger verborgen bleiben können, denn er hielt es für die heilige Pflicht eines Erziehers, gerade in diesem Punkte der wühlenden Neugier, dem grübelnden Scharfsinn des Neophyten entgegenzukommen, und ihm die Thür zum Heiligthum der Natur lieber zu erschließen, als zuzugeben, daß der Jünger durch die Schuld zur Wahrheit gelangt. Er wußte, daß Bruno's Sinn edel und sein Herz rein war „wie das Herz der Wasser“. Er war nach dieser Seite hin vollkommen ruhig; er ahnte nicht, daß Bruno, edel und rein wie er war, mit allen Kräften seiner starken Seele, mit der ganzen Gluth der eben erst erwachten Sinnlichkeit, mit der namenlosen Seligkeit einer ersten Neigung, mit der stummen Verzweiflung einer Leidenschaft, die keine Er¬ wiederung findet und finden kann, seine schöne Cousine liebte. Er hatte Helenen nie vorher gesehen. Als er vor drei Jahren etwa in das Haus seiner Verwandten kam, war das junge Mädchen schon in der Pension. Es wurde selten in der Familie von ihr gesprochen, und vielleicht erregte gerade dies und noch mehr der Umstand, daß, wenn man von ihr sprach, es meistens in sehr kühlen Ausdrücken geschah, Bruno's Aufmerk¬ samkeit. Mit jenem sympathetischen Gefühl, welches der Arme für den Armen, der Verlassene für den Verlassenen, der Verstoßene für den Verstoßenen hat, ahnte er in ihr eine Leidensgefährtin. Nach und nach gestaltete sich für ihn das sehr undeutliche Bild der Entfernten zu einer Art von Ideal, einem Inbegriff von allem Schönen und Herrlichen, das seine reiche Phantasie erträumte. Der Name Helene, in dessen weichem Klang er sich berauschen konnte, wie in dem Duft der Hyacinthe, trug nicht wenig dazu bei, ihm diese Gestalt seiner Einbildungskraft lieb und theuer zu machen. Dann waren auch Zeiten gekommen, wo er dem Cultus der schönen Unbekannten untreu ge¬ worden war, wo er in Tante Berkow den höchsten, vollendetsten Ausdruck des „ewig Weiblichen“, das ihn, wie alle wahrhaft männlichen Naturen unwiderstehlich anzog, zu erkennen glaubte, wo er sich durch ein freundlich Wort Melitta's, für ein: Du lieber Junge! für ein Streicheln seiner Haare von ihrer lieben weißen Hand unbedenklich in jede Todesgefahr gestürzt F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 12 haben würde. Grade in der ersten Zeit von Oswalds Anwesenheit in Grenwitz hatte seine Liebe zu Tante Berkow in der Blüthe gestanden. Melitta's um ein paar Jahre jüngeren Knaben hatte er ebenso wie einen jüngeren Bruder behandelt, wie ihm die jugendlich schöne Mutter oft nur wie eine ältere Schwester er¬ schienen war. Da Melitta grade in jener Zeit häufig nach Grenwitz herüberkam, und Bemperlein, um seinem Julius Gesellschaft zu verschaffen, den Umgang der Knaben aufs eifrigste protegirte, so fehlte es Bruno nicht an Gelegenheit, Tante Berkow zu sehen, ihr hundert kleine Pagendienste zu leisten, ihr in den Sattel zu helfen, Bella oder Brownlock eine halbe Stunde umherzuführen, mit der Reitpeitsche, dem Fe¬ derhut und den Handschuhen hinter ihr zu stehen, wenn sie darnach fragte. „Tante Berkow“ war in dieser Zeit sein drittes Wort, und Oswald hatte es sich gern gefallen lassen, wenn ihm Bruno lange Ge¬ schichten erzählte, in denen Tante Berkow immer die erste Rolle spielte. Melitta hatte vielleicht nicht wenig dazu beigetragen, daß Bruno in Monaten ein Stadium der Entwickelung zurücklegte, zu welchem weniger feurige Naturen fast eben so viele Jahre brauchen. Es ist ein weit ver¬ breiteter Irrthum unter den Frauen, zu glauben, daß sie Knaben, die schon beinahe Jünglinge sind, noch als Kinder behandeln dürfen, daß sie sich mit ihnen kleine Freiheiten erlauben können, die schon in ganz kurzer Zeit sehr große Freiheiten sein würden. Sie bedenken nicht, daß die Sinnlichkeit in dieser Zeit ein Schlaf in der Morgendämmerung ist, den die leiseste Störung verscheuchen kann; daß die Begierde in dieser Periode wie ein Feuer ist, das in grünem Holze lang¬ sam fortglüht und bei dem geringsten Windstoß in heller Lohe emporflammt. Sie würden außer sich sein, wenn man ihnen sagte, daß sie in aller Unschuld eine Unschuld für immer zerstört haben; und doch ist es nur zu oft der Fall. Melitta selbst sah zuletzt ein, daß sie Bruno nicht länger, wie sie es bisher gethan, mit Julius oder auch nur mit Malte auf eine Stufe stellen dürfe; und wenn sie jetzt „von den Knaben“ sprach, so meinte sie damit vorzüglich die beiden letzteren. Sie hatte angefangen, Bruno wie einen Freund, wie einen jun¬ gen Bruder zu behandeln, wie einen Pagen, den man noch halbe Frauendienste thun läßt, von dem man aber weiß, daß man sich im Fall der Noth auf sein muthiges Herz und seinen starken Arm verlassen könnte. Und in der That, ein Kenner würde in einem Ring¬ kampf, in irgend einer athletischen Uebung unbedingt 12* auf Bruno gegen viel ältere und scheinbar gefährli¬ chere Gegner gewettet haben. Die klassische Statue eines Merkur, oder eines Bacchos oder jugendlichen Faun konnte nicht zarter gegliedert, nicht ebenmäßiger geformt sein, als Bruno's schlanker und bei aller Schlankheit starker Körper. Für Jemand, der ein Auge hat für die Schönheit, die sich in der Bewegung entwickelt, war es schon eine Lust, den Knaben nur gehen zu sehen. Oswald, dem die Natur ein solches Auge verliehen hatte, war entzückt, wenn er Bruno bei dem Baden am Strande des Meeres beobachten durfte, wie der Knabe von einem Felsblock zum an¬ dern sprang, mit einer Sicherheit, die das Gefühl der Furcht gar nicht aufkommen ließ, bis er den am weitesten hinausliegenden erreichte, von dem er sich kopfüber in die Wellen stürzte. Dabei war für Bruno eine Gefahr nicht vorhanden, oder vielmehr: er wollte nicht, daß dergleichen für ihn existire. Wenn es irgend etwas auszuführen gab, das Andere auszuführen An¬ stand nahmen: ein durchgehendes Pferd aufzuhalten, eine Kirsche von dem obersten Gipfel eines hohen Baumes zu holen, über einen Graben zu springen, der ohne Brücke nicht zu passiren schien — Bruno mußte das Wagstück unternehmen; er zitterte vor Ver¬ langen, seine Wange glühte; er warf einen bittenden Blick auf die, welche er lieb hatte, und man mußte ihn gewähren lassen und ließ ihn gewähren, weil man sich sagte: er kann mehr als die Uebrigen. So war Bruno: ein Jüngling mehr, wie ein Knabe, mit einem Herzen, an dessen Feuer sich eine todte Welt hätte beleben können. So sah er Helenen. Und alle Melodien, die in ihm geschlummert hatten, erklangen, und Alles, was er bisher Schönstes und Lieblichstes geträumt hatte, stand wahr und wirklich, verkörpert vor ihm. Der Knabe traute seinen Augen kaum; er war wie geblendet, wie trunken; er war wie Jemand, der aus einem schönen Traum zur schöneren Wirklichkeit erwacht und nicht zu sprechen, ja kaum zu athmen wagt, um das, was er noch immer halb und halb für eine Sinnentäuschung hält, nicht zu ver¬ scheuchen. So ging er in den ersten Tagen nach der Rückkehr der Familie wie im Traum umher, gegen die Gewohnheit mild und freundlich gegen Alle. Dann aber schwand die Traumesseligkeit, und das Entzücken über die köstliche Wirklichkeit wurde zum Schmerz. Ruhe hatte er nie gehabt, und leicht war sein Herz nie gewesen; aber jetzt folterte ihn eine Unrast, die ihm Schlaf und Hunger und Durst verscheuchte, die wie ein wildes Fieber in ihm brannte, und sein armes Herz war wie ein Mann, der, was er Liebstes und Theuerstes hat, auf seinen Schultern vor dem ver¬ folgenden Feinde davonträgt und schaudernd dem Augen¬ blick entgegensieht, wo er unter der Last zusammen¬ brechen wird. Er wagte Helene's Namen nicht mehr auszusprechen, aus Furcht sein Geheimniß zu ver¬ rathen; er wagte nicht mehr, die Augen zu ihr auf¬ zuschlagen. Und dennoch sah er Alles, was um ihn her vorging, und der Plan der Baronin blieb für ihn nicht lange ein Geheimniß. Sein Haß gegen Felix kannte keine Grenzen, und er gab sich sehr wenig Mühe, diesen Haß zu verbergen. Er forderte den Rou é bei jeder Gelegenheit durch höhnische und satyrische Be¬ merkungen heraus, immer in der Hoffnung, Felix werde doch endlich einmal den hingeworfenen Handschuh auf¬ heben; aber dieser ließ sich wie Alle, welche im Grunde sich und die ganze Welt verachten, sehr viel gefallen und erwiederte des Knaben grausame Sarkasmen mit mehr oder weniger guten Witzen, so daß er die Lacher stets auf seiner Seite behielt. Und dann hatte er auf der andern Seite doch auch wieder eine viel zu gute Meinung von sich, um sich mit einem Gegner, den er so tief unter sich glaubte, in einen ernstlichen Streit einzulassen. Wäre er gestern Nacht auf Bruno, der ihm sein Rendezvous gestört hatte, nicht so ärgerlich gewesen und hätte Bruno sich nur ein wenig glimpf¬ licher ausgedrückt, es wäre auch selbst jetzt noch nicht zum Aeußersten gekommen. Und Felix konnte von Glück sagen, daß der Kampf keinen schlimmeren Ausgang für ihn genommen hatte. Er war dem Tode näher gewesen, als er wol selber glaubte. Bruno's Haß war durch die Vorgänge des Tages zur Raserei geworden, und Felix' brutale thät¬ liche Beleidigung machte das Gefäß des Zornes und Hasses überlaufen. Und nun, nachdem der Lavastrom den Krater durchbrochen — was konnte ihn in seinem vernichtenden Laufe aufhalten? Daß Felix von seiner Hand sterben müsse, daß ihn Gott in seine Hände geliefert habe, damit er, koste es, was es wolle, das Weib, das er anbetete, von dem Scheusal, das er so glühend haßte, befreie, — das war in den kurzen und doch so langen Minuten, wo er mit Felix rang und auf Felix' Brust kniete, der einzige blutigrothe Licht¬ schein in der Nacht seiner Seele. Wenige Minuten, vielleicht Secunden — und Felix stand nicht wieder von dem Platze auf. Da war Bruno durch einen Schrei dicht neben ihm von seiner fürchterlichen Arbeit aufgeschreckt wor¬ den. Emporblickend, hatte er flüchtig eine weibliche Gestalt gesehen, die er im ersten Augenblick für Helene hielt. Er hatte sein Opfer losgelassen und war auf¬ gesprungen. Die Gestalt hatte sich eilig entfernt, er war ihr ein paar Schritte gefolgt, bis jene in der Richtung nach dem Leutehause hin verschwunden war und er seinen Irrthum eingesehen hatte. Sich wieder über seine Beute zu stürzen, nachdem er einmal weg¬ gescheucht war, war ihm unmöglich; er sah, wie Felix sich nach einigen vergeblichen Versuchen in die Höhe richtete. Das war ihm genug gewesen; er konnte sich in seine Kammer und in sein Bett stehlen, ohne einen Mord auf dem Gewissen zu haben. Und doch war er kaum weniger erregt. Sein Herz hämmerte, seine Pulse flogen; glühende Hitze und Fieberfrost wechselten mit einander ab. Das verwor¬ ren klare Bild der Kampfesscene drängte sich immer wieder in den Vordergrund; der Triumph, seinen Todfeind so gänzlich besiegt zu haben, wurde durch den Gedanken verbittert, daß Helene trotzdem noch immer nicht frei sei. Das quälte ihn fast noch mehr als die heftigen Schmerzen, die er, sobald er nur einigermaßen zur Ruhe gekommen war, in der Seite empfand, und die gar nicht nachlassen wollten, ja, wie es schien, nur immer heftiger wurden und sich von einem anfänglich kleinen Punkte aus, immer weiter verbreiteten. Es war eine lange, bange Nacht für den unglück¬ lichen Knaben, diese kurze Sommernacht. Gegen Mor¬ gen ließ ihn die Müdigkeit in einen Zustand verfallen, der sich vom Wachen nur dadurch unterschied, daß noch fürchterlichere Bilder durch das Gehirn jagten. Er fuhr, vom Schmerz geweckt wieder auf; er ver¬ suchte sich zu erheben, um Oswald zu wecken, der in dem Zimmer nebenan schlief (Malte schlief schon seit Wochen unten), aber er vermochte es nicht. Endlich — es dauerte lange, bis sein Stolz sich dazu ent¬ schließen konnte — rief er Oswald's Namen. Ein paar Augenblicke später war Oswald an seinem Bette. Er erschrak, als er den Knaben erblickte, in dessen Gesicht diese eine Nacht furchtbare Verwüstungen an¬ gerichtet hatte. Das schwarze Haar hing in verwor¬ renen Locken über das bleiche Gesicht, die dunklen Augen waren tief in den Kopf gesunken und glühten im Fieber. „Gieb mir Wasser!“ rief Bruno, sobald Oswald in seine Kammer trat. „Um Gotteswillen, was ist dies, Bruno?“ sagte Oswald, während der Knabe gierig von dem Wasser, das er ihm reichte, trank. „Warum hast Du mich nicht früher gerufen; so schlimm ist der Anfall ja noch nie gewesen.“ „Es ist nicht der alte Schmerz,“ sagte Bruno; „aber es wird wieder vorübergehen; es ist jetzt schon bedeutend besser. Aengstige Dich nicht, Oswald; sieh, wenn ich so liege, fühle ich es viel weniger, fast gar nicht; es war nur in der Nacht so bös; jetzt, da Du hier bist und die Sonne scheint, wird es gleich besser.“ „Es soll sofort Jemand zu Doctor Braun reiten!“ sagte Oswald aufspringend. „Nein, nein!“ bat Bruno; „thue es nicht; Du weißt, wie fatal mir das immer ist. Jetzt ist über¬ dies noch Niemand im Hause auf; Du würdest Dich vergeblich bemühen. Und dann — ich wollte Dich um etwas bitten. Komm! setze Dich wieder zu mir auf's Bett; ich fühle, daß ich nicht aufstehen kann und es ist die höchste Zeit, daß der Brief in Helenen's Hände kommt.“ Oswald glaubte, Bruno delirire; er faßte unwill¬ kürlich nach des Knaben Puls. Bruno lächelte. Es war ein schwermüthiges Lächeln. „Nein, nein!“ sagte er, „fürchte nichts, ich bin noch vollkommen bei Sinnen. Höre selbst, ob Alles, was ich Dir sagen werde, nicht ausgezeichnet zusam¬ men paßt.“ Bruno erinnerte nun Oswald, wie er vom Anfang an behauptet habe, Felix sei gekommen, sich mit He¬ lene zu verloben. Bis gestern habe er allerdings keinen unumstößlichen Beweis dafür gehabt; seit gestern aber sei auch dafür gesorgt. Er erzählte nun weiter, wie er am Nachmittage (es war ein Mittwoch) die alte Kapelle im Garten, seinen Lieblingsplatz, wo er am ungestörtesten seinen Grillen nachhängen konnte, aufgesucht habe, und durch Stimmen in seiner Nähe aus dem Schlaf, in welchen ihn der schwüle Tag ver¬ setzt, aufgeweckt worden sei; wie er nothgedrungen das Gespräch zwischen der Tante und Felix habe be¬ lauschen müssen, wie er, als sie fortgegangen, an der Stelle, wo die Baronin gesessen, den Brief Helenen's gefunden habe. Wie es ihm gestern nicht möglich ge¬ wesen, Helenen den Brief zuzustellen, wie er den Plan gehabt, ihr denselben in der Nacht, wenn sie wie gewöhnlich bei offenem Fenster spiele, mit ein paar Zeilen, worin er ihr sagte, wo und wann er den Brief gefunden, in ihr Zimmer zu werfen. Wie er sie nicht habe erschrecken wollen und gewartet habe, bis sie an's Fenster treten würde, es zu schließen, um ihr mit ein paar Worten zu sagen, um was es sich handle; wie er von Felix überrascht sei und wie es ihm leid thue, daß er den Elenden nicht vollends erwürgt habe, wie er es verdiene. Man kann sich den Eindruck vorstellen, den die leidenschaftlichen und doch so klaren, so überzeugenden Worte Bruno's auf Oswald machten. Morgen schon sollte das Entsetzliche geschehen; allem Anschein nach ahnte sie nichts davon. Man wollte sie durch Ueber¬ raschung zwingen; ihr ein Wort abnöthigen, daß sie hernach zurückzunehmen zu stolz sein würde. Und welche Bewandtniß hatte es mit diesem Brief, von dem Bruno und Oswald nur die Aufschrift kannten, der mit Helenen's Petschaft zugesiegelt gewesen war und den die Baronin doch offenbar verloren hatte. Daß hier Verrath im Spiele sei, daß dieser Brief den Zwecken der Baronin hatte dienen müssen, daß es nothwendig sei, diesen Brief wieder in Helenen's Hände gelangen zu lassen, damit sie erfuhr, welcher Waffen man sich gegen sie bediene, und sie diese Waffen in dem nöthigen Augenblick, der morgen schon eintreten mußte, gegen ihre Gegner richten könne — das Alles war natürlich auch Oswald sofort klar, und nur über den einzuschlagenden Weg konnten sie sich anfänglich nicht einigen. Bruno wollte, daß Os¬ wald Helenen nicht nur den Brief gebe, sondern ihr auch den Inhalt des Gesprächs zwischen der Baronin und Felix mittheile. Oswald erklärte, daß das Letztere schlechterdings unmöglich sei; Bruno, in seiner Eigen¬ schaft als Verwandter und als erklärter Günstling Helenen's, dürfe sich schon eher eine solche Indiscre¬ tion erlauben, ihm, dem Fremden verbiete die Schick¬ lichkeit jede Anspielung auf so delicate Verhältnisse. „Aber,“ rief Bruno; „ich denke, Du bist ihr Freund; ich denke, Du hast sie lieb! Wie kannst Du Dich denn durch solche Bedenken, ob dies oder das auch nach den Regeln des Complimentirbuches erlaubt sei oder nicht, abhalten lassen, wenn es sich um das Wohl oder Wehe ihres ganzen Lebens handelt. Denke, wenn man ihr durch Ueberraschung das Ja abpreßt; ich würde verrückt, ich ertrüge es nicht —“ „Und dennoch, Bruno, ich muß über diesen Punkt schweigen; ich kann darüber nicht reden — ich nicht.“ „Weshalb Du nicht?“ „Weil — ich sagte Dir ja schon, weil ich ein Fremder bin; weil sie mir sagen könnte, sagen würde: mein Herr, was geht dies Alles Sie an? Den Brief will ich ihr geben; es ist ihr Eigenthum; sie kann verlangen, daß der Finder es ihr sobald wie möglich wieder zustellt — und bedenke doch, Bruno, dies ein¬ zige Factum spricht ja ganze Bände. Sie wird dann wissen, wessen sie sich von jener Seite zu versehen hat, und der Angriff trifft sie auf ihrer Hut.“ „So willst Du ihr den Brief geben?“ „Das will ich und zwar sofort. Ich denke, Helene wird heute wie gewöhnlich ihre Morgenpromenade machen. Aber wie steht es mit Dir?“ „Besser, viel besser;“ sagte Bruno, der von den heftigsten Schmerzen gefoltert wurde, aber fürchtete, daß Oswald in der Sorge um ihn die einzige Ge¬ legenheit, Helenen zu sehen und zu sprechen, versäu¬ men könnte; „viel besser! wenn ich die Hand so in die Seite drücke, fühle ich beinahe gar nichts. Mache nur, daß Du in den Garten kommst, und höre! grüß sie von mir und sage ihr nicht, daß ich krank bin, nur ein wenig unwohl — ich bin ja auch eigentlich nicht krank —“ Der Knabe sank auf sein Lager zurück und gab sich Mühe, Oswald freundlich anzulächeln. Aber es war ein schmerzliches Lächeln trotz alledem und als die Thür sich hinter Oswald geschlossen hatte, verbarg Bruno sein Gesicht in den Kissen, um das dumpfe Stöhnen zu ersticken, das ihm die Qualen seiner Seele ebenso auspreßten, als die Schmerzen seines Körpers. Elftes Kapitel. Oswald hatte vergeblich über die Stunde hinaus, in welcher Helene in dem Garten zu erscheinen pflegte, gewartet. Gerade heute kam sie nicht. Er ging mehrmals an ihrem Fenster vorüber, ohne sie zu sehen. Er kehrte endlich, da es im Hause lebhafter zu werden begann, zu Bruno zurück, der ihn mit der größten Ungeduld erwartete. Bruno war außer sich, daß dieser Versuch mislungen war; Oswald suchte ihn zu beruhigen, indem er hervorhob, wie aller Wahrscheinlichkeit nach die Baronin und Felix die Durchführung ihres Planes bis auf den letzten Au¬ genblick verschieben würden, es also auch morgen früh noch immer Zeit sein würde, den Brief in Helenen's Hände gelangen zu lassen. „Und jetzt,“ sagte Oswald, „muß ich Anstalten treffen, daß nach dem Doctor geschickt wird, denn diese Ungewißheit über Deinen Zustand ist unerträglich.“ Leider sollten Oswald's Bemühungen ohne Erfolg bleiben. Der Bediente, welcher ihm die Antwort der Baronin, „es werde im Laufe des Vormittags so wie so ein Wagen in die Stadt fahren,“ überbringen sollte, hatte nicht gewagt ihm diese Bestellung zu machen, sondern gesagt: es solle sogleich ein Bote hingeschickt werden. So vertröstete er sich bis gegen Mittag. Da kam der alte Baron, sich persönlich nach Bruno's Zustand zu erkundigen. Er sagte: so viel er wisse, sei noch gar nicht in die Stadt geschickt; er wolle indessen sogleich dafür sorgen. Der alte Herr war ordentlich böse geworden über diese „unverzeihliche Saumseligkeit;“ Oswald glaubte jetzt bestimmt, daß man sich beeilen werde, das Versäumte nachzuholen. Indessen verging Stunde auf Stunde, der Abend brach herein, und noch immer wollte sich kein Dr. Braun blicken lassen. Er ging selbst hinunter, sich zu erkundigen, was denn nun geschehen sei? Der Wa¬ gen, der gegen Mittag in die Stadt gefahren war, war eben zurückgekommen; auch hatte der mit der Bestellung Beauftragte dieselbe ausgerichtet, „aber der Herr Doctor sind auf vierundzwanzig Stunden ver¬ reist, und das Mädchen sagte: sie solle alle, die kä¬ men, an Dr. Balthasar (den Collegen Braun's) wei¬ sen. Nun wußte ich aber nicht, ob ich dahin gehen sollte.“ Oswald gerieth in Zorn über diese aberma¬ lige Verzögerung. Er begab sich sofort zum Baron, den er bei der übrigen Gesellschaft im Garten fand; sagte ihm, was vorgefallen sei und bat um die Er¬ laubniß, selbst in die Stadt reiten zu dürfen, damit endlich einmal etwas in dieser Sache geschehe. „Ich verlasse Bruno ungern,“ sagte er, „aber ich sehe kein anderes Mittel.“ „Die Krankheit wird ja so gefährlich nicht sein,“ sagte Anna-Maria. „Das zu beurtheilen vermag ich so wenig, wie Sie;“ erwiederte Oswald scharf; „mir erscheint Bru¬ no's Zustand bedenklich und ich halte es für meine Pflicht, diese meine Ansicht zur Geltung zu bringen, bis ich von Jemand, der ein Urtheil darüber hat, eines Andern belehrt werde.“ „Kommen Sie!“ sagte der alte Baron; „wir wollen den Jochen fortschicken. Sie brauchen nicht von Bruno zu gehen. Jochen ist ein verständiger Mensch; man kann sich auf ihn verlassen.“ Oswald machte der Gesellschaft eine sehr förmliche Verbeugung und entfernte sich mit dem Baron. „Es ist hübsch, wenn ein junger Mann ein so siche¬ res, festes Auftreten hat,“ sagte Pastor Jäger ironisch. F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 13 „Der Apoll von Belvedere!“ sagte Primula, man wußte nicht recht, ob ebenfalls ironisch oder in einem Anfall poetischer Extase. „Ich denke, Seine Hoheit wird nächstens von dem Piedestal herabsteigen,“ sagte Felix. „Die gestrengen Herren regieren bekanntlich nicht lange,“ sagte die Baronin mit einem bedeutungsvollen Blick nach dem Pastor, welchen dieser mit einem schlauen Zwickern seines rechten Auges über das runde Brillenglas sofort beantwortete. „Bruno fehlt auch alle Tage etwas Anderes,“ sagte Malte, sich Zucker über seine Erdbeeren streuend. Helene sagte nichts. Sie saß da, den Blick fest auf die Erde geheftet. Jetzt stand sie auf und ging, ohne ein Wort zu sagen aus der Laube, dem Schlosse zu. „Du kommst doch wieder, Helene?“ rief ihr die Mutter nach. „Ich glaube kaum,“ antwortete Helene sich um¬ wendend; „es wird mir etwas zu kühl hier draußen.“ Sie setzte ihren Weg fort. Die Baronin und Felix warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Der in die Stadt geschickte Jochen war in der gehörigen Zeit zurück, um zu melden, daß er Dr. Bal¬ thasar nicht getroffen habe. Derselbe sei auf ein ent¬ ferntes Gut gefahren, wo sich ein Mann den Arm gebrochen. Man wolle ihm indessen, sobald er zurück komme, was wohl vor Einbruch der Nacht nicht ge¬ schehen werde, die Bestellung ausrichten, und zweifle nicht, daß er derselben Folge leisten werde, wenn er selbst nicht zu angegriffen sei. Dabei mußte sich denn also Oswald beruhigen, so gut er es vermochte. Bruno's Zustand war so ziem¬ lich derselbe geblieben. Die Schmerzen hatten viel¬ leicht etwas nachgelassen, aber sich über eine größere Fläche verbreitet. Er gab sich die größte Mühe, Oswald, dessen Angst mit jeder Stunde wuchs, je später es wurde, ohne daß ärztliche Hülfe erschien, seine Befürchtungen auszureden. „Es ist nichts; es wird morgen schon wieder besser sein; daß der Brief noch immer in unseren Händen ist, macht mir viel größere Sorge, als meine Krankheit. Könntest Du nicht einen Versuch machen, Oswald, ihn, wie ich es gestern wollte, durchs Fenster in ihr Zimmer zu wer¬ fen? Wenn Dir Felix begegnet, sag' ihm nur: er solle an gestern Nacht denken, dann wird er sich schon aus dem Staube machen; oder besser, sage nichts, und thu', was ich leider nicht gethan habe, erwürge ihn auf der Stelle.“ 13* Endlich, als Oswald die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hatte, kam Dr. Balthasar. Es war ein alter Mann, den die vielen Geschäfte des Tages ver¬ drießlich gemacht hatten und der etwas von „Lappa¬ lien, derentwegen man die Leute um ihre Ruhe bringe,“ durch die Zähne murmelte. Er untersuchte Burno kaum, sagte: es würde sich schon von selbst geben, übrigens wolle er morgen wieder kommen und eine Einreibung mitbringen. „Nun sind wir auch noch so klug, wie vorher,“ sagte Oswald, als der Doctor wieder fort war. „Ich sagte Dir ja gleich, es hat nichts zu bedeu¬ ten. Leg' Dich schlafen, Oswald! Du brauchst es eben so nöthig, wie ich.“ Indessen, die Beiden fanden nicht viel Ruhe in dieser Nacht. Oswald hatte sein Sopha neben Bruno's Bett stellen lassen, und blieb angekleidet, um jeden Augenblick bereit zu sein. Bruno's Zustand blieb der¬ selbe, nur daß seine Unruhe immer größer wurde, und er in immer kürzeren Zwischenräumen zu trinken ver¬ langte. Gegen Morgen war Oswald eingeschlafen; Bruno weckte ihn, als die Sonne eine Stunde über dem Horizont war. „Oswald, ich kann Dich nicht länger schlafen lassen, so leid es mir thut. Du mußt in den Garten, es ist die höchste Zeit. Wenn Du Helene auch heute nicht triffst, so stehe ich auf und gehe zu ihr, und wenn ich darüber sterben sollte.“ „Wie geht es Dir?“ „Besser.“ „Das sagst Du stets.“ „Mache nur, daß Du fort kommst.“ Oswald ging in den Garten und suchte die Wall¬ promenade auf, wo er nun schon so manchen Morgen mit nicht leichtem Herzen dem schönen Mädchen be¬ gegnet war. Aber so schwer wie heute war ihm das Herz nie gewesen. Bruno's Krankheit, die jetzt herein drohende Katastrophe in dem Familiendrama, dessen Entwicklung er mit so schmerzlichem Interesse verfolgt hatte, und in welchem er jetzt die zweideutige Rolle eines Zwischenträgers zu spielen verdammt war — das Alles lastete auf seiner Seele und machte, daß er von dem wonnigen Morgen nichts empfand, nichts bei dem warmen Sonnenschein und den bläulichen Morgen¬ schatten, nichts bei dem Duft der unzähligen Blumen, nichts bei dem Schwirren und Tanzen der Myriaden von Insecten, nichts bei dem Jubiliren der Vögel in den Bäumen. Konnten ihm die Blumen seinen Liebling wieder gesund machen? konnten ihm die Vö¬ gel Helenen herbeisingen? Doch da! da schimmerte ihr Kleid zwischen den Bäumen des Walles herüber. Das mußte sie sein. Sie schritt rascher vorwärts, sobald sie ihn bemerkt hatte — es schien ihr selbst daran gelegen, ihn zu sprechen. „Gott sei Dank, daß Sie kommen,“ rief sie ihm schon von weitem entgegen; „ich habe fast die ganze Nacht vor Sorge und Angst nicht geschlafen. Es geht gut — nicht wahr? Sie würden ihn ja auch sonst nicht verlassen haben?“ „Es geht besser, wenigstens sagt Bruno so; aber ich fürchte, nichts weniger als gut. Sie wissen, er ist ein Held, auch im Ertragen von Schmerzen.“ „Ja, das ist er!“ sagte Helene; „ich liebe ihn wie meinen Bruder; nein! viel, viel mehr, wie meinen Bruder. Der Gedanke, ihn zu verlieren, ist für mich entsetzlich. Sie glauben nicht, wie ich mich seinet¬ halben quäle.“ „Gewiß nicht mehr, als er sich Ihrethalben;“ sagte Oswald. „Wie das?“ fragte Helene, ihre großen Augen forschend auf Oswald's Gesicht heftend. „Ich will nicht durch eine lange Einleitung die kostbaren Augenblicke, in denen ich ungestört mit Ihnen sprechen kann, verlieren;“ sagte Oswald. Diesen Brief hier, dessen Aufschrift von Ihrer Hand ist, der Ihnen also ohne Zweifel gehört, hat Bruno vorgestern Abend gefunden, an der Kapelle, unmittelbar nach einer Un¬ terredung, welche die Baronin mit Baron Felix über Familienangelegenheiten auf derselben Stelle gehabt hatte, und die Bruno, der sich zufällig in der Kapelle befand, mit anzuhören nicht umhin konnte. Er hat mich gebeten, Ihnen Ihr Eigenthum wieder zuzustellen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß es von dem Augenblick an, wo es in Bruno's Hände gelangte, heilig gehalten worden ist.“ Helenen's Verwirrung war mit jedem Worte, das Oswald sprach, größer geworden. Purpurgluth wechselte auf ihrem schönen Angesicht mit einer geisterhaften Blässe. Ihr Busen wogte; ihre Hand zitterte, als sie den Brief, den ihr der junge Mann überreichte, und auf den sie nur einen Blick zu werfen brauchte, um ihn als denselben zu erkennen, den sie gestern Morgen an Mary Burton geschrieben hatte, entgegen¬ nahm. Entsetzen über den schwarzen Verrath, den man an ihr geübt; jungfräuliche Scham, ihre inner¬ sten geheimsten Gedanken schonungslos profanirt zu sehen; der Unwille, daß Jemand, er sei wer er sei, erfahren habe, wie sie von den Ihrigen, von ihrer eigenen Mutter schmachvoll behandelt worden sei — Alles stürmte auf sie ein, wie ein Orkan, der selbst ihre Kraft zu überwältigen drohte. Und dies letzte Gefühl des beleidigten Stolzes fand zuerst einen Ausdruck. „Ich danke Ihnen;“ sagte sie, sich zu ihrer gan¬ zen stattlichen Höhe emporrichtend, „für Ihren Eifer, mir zu dienen. Indessen, Sie und Bruno haben der Sache, wie es scheint, ein viel größeres Gewicht bei¬ gelegt, als sie in der That verdient. Ich habe diesen Brief, weil Einiges darin stand, was ich nach reiflicher Ueberlegung nicht gutheißen konnte, geflissentlich nicht abgehen lassen; ich werde ihn aus der Tasche verloren haben. Ich erinnere mich, daß ich gestern Abend in der Nähe der Kapelle war; ich —“ Weiter konnte sie nicht sprechen; die Thränen, die sie so lange zurückgehalten, brachen gewaltsam hervor, und rollten über ihre Wangen. Sie wandte sich ab, als sie fühlte, daß sie sich nicht beherrschen konnte, und winkte Oswald mit der Hand, sie allein zu lassen. Oswald war vielleicht nicht weniger außer sich, als Helene. All seine Liebe zu dem schönen, stolzen Mädchen, für das er so freudig sein Leben hingegeben hätte und von dem er jetzt so verkannt zu werden fürchten mußte, wogte wie ein siedend heißer Quell in ihm empor, und erfüllte seine Brust bis zum Zer¬ springen. Er hätte ihr zu Füßen stürzen, ihr Alles, Alles, was er so lange vor ihr verborgen, gestehen mögen; aber er bezwang sich mit einer übernatür¬ lichen Anstrengung und sagte so ruhig als er ver¬ mochte: „Ich versichere Sie, mein Fräulein, daß diese Scene Ihnen kaum peinlicher sein kann, wie mir selbst, und daß ich dieselbe um keinen Preis herbei¬ geführt haben würde, wenn mir Bruno's fieberhafte Ungeduld, die ich durch eine Weigerung zu steigern fürchten mußte, eine Wahl gelassen hätte. Es ist mir schmerzlich, sehr schmerzlich, von Ihnen verkannt zu werden; ich ahnte es gleich, daß es Ihnen unmöglich sein würde, den Boten von seiner Botschaft zu trennen.“ Er verbeugte sich vor dem noch immer weinenden Mädchen, und wandte sich, zu gehen. „Nein, nein!“ rief sie, wie, um ihn zurückzuhalten, die Hand nach ihm ausstreckend; „Sie dürfen so nicht gehen. Mögen es Die verantworten, die mich zum Aeußersten getrieben haben, wenn ich die Ehre meiner Familie, die Ehre der Meinigen preisgeben muß. Ja, Sie haben mir einen Dienst geleistet, einen großen Dienst. Dieser Brief ist nur durch Verrath in die Hände Derer gekommen, die ihren Raub so schlecht zu bewahren verstanden. Dieser Brief trennt mich auf immer von den Meinigen; er soll mich nicht auch von Bruno trennen, den ich so herzlich liebe, von Ihnen, der Sie stets so gut und freundlich zu mir gewesen sind. Ich habe Sie immer für meinen Freund gehalten, Sie immer hoch geschätzt und geehrt — wie hoch, das möge Ihnen dieser Brief selbst be¬ weisen. Lesen Sie ihn! Wenn alle Welt weiß, wie ich über Sie denke, so dürfen Sie es am Ende ja auch wol wissen.“ Und das junge Mädchen reichte Oswald den Brief hin. Ihr Antlitz glühte, aber nicht mehr vor Zorn oder Scham. Ihre dunkeln Augen leuchteten, aber wie einer Heldin, die sich für eine heilige Sache zu opfern im Begriff steht. „Lesen Sie nur! sagte sie mit einem eigenthüm¬ lichen Lächeln, als Oswald sie ungläubig anstarrte; „fürchten Sie nicht, daß es mich hinterher reuen wird. Ich weiß, daß Ihr Herz einer Andern gehört, die seit gestern wieder in unserer Nähe ist. Bruno, der Alles weiß, hat es mir verrathen. Ich will von Ihnen nichts, als was ich schon habe — Ihre Freund¬ schaft. Lesen Sie den Brief, und wenn Sie ihn ge¬ lesen haben, verbrennen Sie ihn in Gottes Namen.“ Ehe Oswald sich von seinem grenzenlosen Erstau¬ nen über diese wunderbare Rede nur so weit erholen konnte, ein einziges Wort über die Lippen zu bringen, war das junge Mädchen schon die Treppe, die von dieser Stelle in den Garten führte, hinab und eilte durch die blumenreichen Beete dem Schlosse zu. „Was ist das?“ sagte Oswald bebend; „narrt mich denn ein Traum? Melitta zurück? und jetzt zurück — gerade jetzt? ha, ha, ha!“ Es war ein schauerliches Lachen. Oswald sah sich erschrocken um, ob ein Andrer gelacht habe, ein schadenfroher Dämon, der sich an seiner Qual weidete. Er hielt den Brief noch immer in seiner Hand. Es war ihm, als ob er erst, wenn er diesen Brief lese, Melitta ganz verlieren, erst jetzt das letzte Band, das ihn an Melitta fesselte, zerreißen würde. Für einen Augenblick erschien ihm Helene wie eine schöne Teufelin, die an ihn herangetreten sei, ihn zu ver¬ suchen . . . Wenn er diesen Brief ungelesen ver¬ brannte? konnte dann nicht Alles gut werden? Konnte ihm Melitta nicht doch erhalten bleiben? . . . Und indem er so dachte, hatte er den Brief ent¬ faltet und ihn zu lesen begonnen . . . Er war mit der Lectüre zu Ende . . . er saß, den Kopf in die Hand gestützt in der Ecke der Bank, auf die er sich, ohne zu wissen, was er that, gesetzt hatte . . . Vor ihm auf dem Erdboden spielten die Lichter mit den Schatten; in den dichten Laubkronen über ihm flüsterte der Morgenwind und sangen die Vögel — in dem Garten unten wiegten sich bunte Schmetterlinge über den Blumenwäldern der Beete . . . er sah das Alles, er hörte das Alles, aber er empfand nichts dabei, nichts als das Eine, daß, wenn es ein Paradies auf Erden für ihn gegeben hatte, er jetzt auf immerdar daraus vertrieben sei. Zwölftes Kapitel. Es war einige Stunden später. Die Baronin saß in ihrem Zimmer auf ihrem gewöhnlichen Platze in der Nähe der geöffneten Fensterthür. Sie hatte eine Stickerei auf dem Schooße; aber ihre Hände waren müßig; nur, wenn sich Schritte der Thür, die nach dem Flure führten, näherten, nahm sie schnell die Arbeit auf, und nähte ein paar Stiche, um sie, sobald der Schritt vorüber war, wieder in den Schooß sinken zu lassen. Das wiederholte sich mehrmals, denn es war heute ein sehr lebhaftes Treiben im Schlosse. Die Vorrichtungen zu dem Ball heute Abend, hielt Alles in Athem, und machte es der wirthschaftlichen Baronin sehr schwer, hier so müßig zu sitzen, während ihre Gegenwart in Küche und Spei¬ sekammer so nöthig war. Aber sie hatte Fräulein Helene bitten lassen, wenn sie mit ihrem Klavierspiel fertig sei, zu ihr zu kommen, und Helene sollte sie ruhig, gelassen, zu einem freundschaftlich ernsten Ge¬ spräch aufgelegt finden. Aeußerlich wenigstens. In ihrem Herzen freilich sah es anders aus. Zwar die Sorge um den Brief schien sich als unnöthig erwiesen zu haben. Offenbar war er noch nicht wieder in Helenen's Hände gelangt und das war für den Augenblick die Hauptsache. So konnte man doch alle Pfeile, die man aus der Lec¬ türe gesammelt hatte, abschnellen, ohne fürchten zu müssen, daß sie auf den Schützen zurücksprängen. Nichtsdestoweniger hatte die kluge und muthige Frau nie einer Unterredung mit irgend Jemand — und sie hatte doch, da die ganze Last der Verwaltung des großen Vermögens fast ganz allein auf ihren Schul¬ tern lag, manche wichtige Verhandlung zu führen ge¬ habt — so voller Unruhe entgegen gesehen. Sie dachte im Allgemeinen nicht sehr hoch von den Men¬ schen und berechnete den Werth der Einzelnen nach der Höhe des Preises, für welchen sie ihre sogenannten Ueberzeugungen aufzugeben bereit waren. Denn daß sich Jeder kaufen lasse, wenn er nur den rechten Käufer finde, war bei der Baronin, wie bei Vielen, bei Allen, die dem Gott Mammon von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe dienen, ein Grundsatz, der nicht weiter bewiesen zu werden brauchte. Sie hätte ihre Tochter so gern unter die allge¬ meine Regel gebracht, von der sie selbst eine Aus¬ nahme zu machen keineswegs beanspruchte, aber es war unmöglich. Eine geheime Stimme, die sie nicht zum Schweigen bringen konnte, sagte ihr: Helenen ist ihre Seele nicht um dreißig Silberlinge feil, nicht um eben so viele Millionen, um keinen Preis der Welt. Eine andere Mutter würde dieser Gedanke mit Entzücken erfüllt, sie würde in ihrer Tochter ihr besseres Selbst verehrt, ihr Ideal angebetet und hei¬ lig gehalten haben. Die Baronin wußte nichts von einer solchen Schwärmerei. Der Genius, der auf der stolzen Stirn ihrer Tochter thronte, der aus ihren dunkeln Augen so groß, so edel hervorschaute — er war ihr fremd, unheimlich, feindlich — sie hatte nichts mit ihm zu schaffen. Helene war das Kind ihres Geistes, aber nicht ihres Herzens. Helene hatte das weiche Gemüth, den braven, rechtlichen Sinn des Va¬ ters geerbt, — dieselben Eigenschaften, welche die Baronin im Grunde an ihrem Gemahl fortwährend bekämpfte. — Daß sie nun außerdem noch den scharfen Verstand der Mutter hatte, daß sie die Heiligthümer ihres Herzens mit der blanken Waffe des Geistes schirmen, daß sie die blanke Geisteswaffe niemals in einer unedlen Sache entweihen konnte, — gerade das mußte ihr Wesen für ein edles Gemüth so hinreißend, mußte es einem unedlen so verhaßt machen. Aber die Baronin gab sich, wie gesagt, in diesem Augenblicke alle Mühe in einer versöhnlichen, fried¬ lichen, freundschaftlichen Stimmung zu sein. Sie ge¬ rieth bei diesem Versuch sogar in eine Art von lar¬ moyanter Stimmung. Vielleicht hoffte sie, daß Thrä¬ nen, Alles in Allem, doch das beste Mittel seien, das edele Herz der Tochter zu rühren und sie für die selbstischen Zwecke der Mutter zu gewinnen. Da klopfte es an die Thür. Die Baronin griff schnell nach ihrer Arbeit. Auf ihr herein! trat Helene in das Zimmer. Die etwas kurzsichtige Baronin be¬ merkte nicht gleich, daß das edelstolze Antlitz des jun¬ gen Mädchens sehr bleich war, aber nicht von jener krankhaften Farbe, wie sie die Feigheit auf die Wan¬ gen malt, sondern von jener Marmorblässe, die sich sehr wohl mit Augen verträgt, aus denen eine he¬ roische Seele leuchtet. „Es thut mir leid, liebe Tochter,“ sagte die Ba¬ ronin, „daß ich Dich heute in Deinem Morgenfleiße stören muß. Ich habe Dich rufen lassen, um über eine Sache von der äußersten Wichtigkeit recht ruhig, recht freundschaftlich mit Dir zu sprechen. Aber setze Dich doch! dort, mir gegenüber auf den Stuhl, in welchem Dein Vater zu sitzen pflegt.“ „Ich danke,“ sagte Helene stehen bleibend. Der abgemessene, fast kurze Ton in welchem das junge Mädchen diese beiden Worte aussprach, machte die Baronin von ihrer Arbeit in die Höhe blicken. Sie bemerkte jetzt zum ersten Male die blassen Wangen ihrer Tochter, und ihre eigenen Wangen ent¬ färbten sich. „Du fühlst Dich doch nicht unwohl?“ sagte sie, und ihre Stimme war weniger fest, wie sonst. „In diesem Falle wollen wir unsere Unterredung auf eine gelegenere Zeit verschieben. Du wirst so schon für heute Abend Deine Kräfte nöthig haben.“ „Ich fühle mich vollkommen wohl,“ erwiederte das junge Mädchen; „ich stand sogar eben selbst in Begriff, Dich um eine Unterredung bitten zu lassen, da auch ich Dir Einiges von Wichtigkeit mitzuthei¬ len habe.“ „Du mir?“ sagte die Baronin, ihre großen, tief liegenden Augen spührend auf das bleiche Antlitz ihrer Tochter heftend. „Du mir? was kann das sein? laß doch hören?“ F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 14 „Es ist dies!“ sagte Helene. „Ich fand vorgestern Abend in der Nähe der Kapelle einen Brief —“ Die Baronin hob ihr Haupt, und warf Helenen einen Blick zu, in welchem Bestürzung, Zorn, Furcht und Trotz auf eine seltsame Weise gemischt war. „Einen Brief,“ fuhr Helene fort, „den ich vor¬ gestern Morgen geschrieben und Luisen zur Besorgung übergeben hatte. Der Brief war natürlich, als ich ihn Luisen gab, versiegelt, als ich ihn wiederfand, war er erbrochen. Ich kann nicht glauben, daß Luise, die mir überdies zugethan scheint, ein solches Interesse an meiner Correspondenz nimmt, um sich auf die Gefahr hin, ihren Dienst zu verlieren, eines solchen Verge¬ hens schuldig zu machen, muß also annehmen, daß irgend Jemand sonst im Schloß es der Mühe werth hält, meinen Geheimnissen nachzuspüren. Nun war es meine Absicht, zu fragen, was Du mir in dieser Sache zu thun räthst.“ Die Baronin hatte, während Helene sprach, sehr eifrig genäht. Jetzt blickte sie wieder auf und sagte: „An wen war der Brief!“ „An Mary Burton.“ „Hast Du Dich in dem Briefe frei geäußert?“ „Wie man an eine Freundin eben schreibt.“ „Standen Sachen darin, von denen Du nicht gerne möchtest, daß sie Anderen zu Gesicht kämen?“ „Allerdings.“ „Auch nicht Deinen Eltern?“ Helene schwieg. „Auch nicht Deinen Eltern?“ „Ja.“ „Zum Beispiel, daß Deine Eltern für Dich todt sind, ebenso wie Deine übrigen Verwandten?“ „Du hast den Brief gelesen?“ „Wie Du siehst.“ „So habe ich nichts weiter zu sagen und zu fragen.“ Helene verbeugte sich und wandte sich, zu gehen. „Bleib,“ sagte die Baronin; „wenn Du nichts weiter zu sagen hast, so habe ich noch mehre Fragen an Dich zu richten, die Du mir gütigst beantworten wirst. Was den Brief betrifft, so beruhige Dich. Wenn Eltern ihren Kindern die Erlaubniß geben, frei zu correspondiren, thun sie's in der Erwartung, daß die Kinder dieser Erlaubniß würdig sind. Sehen sie sich in dieser Erwartung betrogen, nehmen sie ihre Erlaubniß zurück. Darin liegt nichts Außerordentli¬ liches. Das aber ist außerordentlich, wenn ein Kind, das von seinen Eltern nur Liebe erfahren hat, sich 14* von diesen seinen Eltern lossagt; das ist außerordent¬ lich, wenn ein Kind die Stirn hat, dies zu denken, eine Hand, es niederzuschreiben, den Muth, dieses schriftliche Bekenntniß ihrer Armuth Andern unter die Augen zu bringen. Was hast Du darauf zu erwie¬ dern?“ „Nichts.“ „Und wenn nun dieses Kind die Gefühle der Liebe, die sie ihren Eltern, der Zuneigung, die sie ihren übrigen Verwandten zum mindesten schuldet, nur ver¬ leugnet, um Fremde damit zu beglücken, eine soge¬ nannte Freundin zum Beispiel, die weiter kein Ver¬ dienst hat, als mit ihr in einer Pension gewesen zu sein; einen Knaben, der aus Gnade und Barmherzig¬ keit in dem Hause ihrer Eltern aufgenommen wurde; einen bezahlten Diener ihrer Eltern — ja wol, mein Fräulein! einen bezahlten Diener, mit dem die Eltern nebenbei im höchsten Grade unzufrieden sind — was hast Du darauf zu erwiedern?“ „Nichts.“ „Und wenn nun Deine Eltern Dir doch verzeihen; wenn Deine Verwandten, obgleich Du es nicht ver¬ dienst, Dir ihre Liebe dennoch nicht entziehen wollen; wenn Du siehst, daß Eltern and Verwandte sich die Hand reichen, mit vereinten Kräften Dich, die schon mehr als halb verloren ist, zu retten; wenn Deine Eltern Dir in der Person eines Gemals einen Freund und Beschützer geben wollen, der Dich in Zukunft vor solchen Thorheiten — ich will einmal einen mil¬ den Ausdruck wählen — vor solchen Thorheiten, wie Du sie an Mary Burton geschrieben hast, bewahren wird; und wenn einer Deiner liebenswürdigsten Ver¬ wandten die Güte haben will, dieses schwierige Amt eines Gatten, Freundes und Lehrers bei Dir zu über¬ nehmen, wirst Du darauf wieder nichts zu erwiedern haben?“ „Doch!“ sagte Helene, die ohne eine Miene zu verändern, bleich und still dagestanden hatte, die gro¬ ßen dunkeln Augen mit dem Ausdruck unerschütterli¬ chen Muthes auf ihre Mutter richtend, welche bei den letzten Worten aufgestanden war und ihr jetzt gegen¬ über stand, „doch! ich habe darauf zu erwiedern, daß ich tausendmal lieber sterben, als Felix' Gattin wer¬ den will.“ Sie sagte das ruhig, langsam, gleichsam jede Sylbe wägend. „Und wenn Deine Eltern es befehlen?“ „So kann ich nicht und so werde ich nicht gehorchen.“ „Und wenn sie heute Abend der versammelten Ge¬ sellschaft Deine Verlobung mit Felix ankündigen?“ „So werde ich der versammelten Gesellschaft sa¬ gen, was ich Dir soeben gesagt habe.“ „Ist das Dein wohlerwogener Entschluß?“ „So wahr mir Gott helfe: ja!“ „Nun denn! so sage ich mich von Dir los, wie Du Dich von mir losgesagt hast! so gehe denn hin und wirf Dich dem Bettler in die Arme! Aber nein! noch giebt es Mittel, diese Schande wenigstens vor der Welt zu verbergen. Morgen packst Du Deine Sachen; übermorgen gehst Du in die Pension zurück.“ Ein Strahl wie von Freude brach aus Helenen's dunkeln Augen und ein zartes Roth flog über ihre bleichen Wangen. „Ich gehe gern,“ sagte sie. „Aber nicht nach Hamburg,“ sagte die Baronin, und es lag eine grausame Ironie in Ton und Wort; „ich habe genug von Mary Burton. Du gehst nach Grünwald. Ich habe schon an Fräulein Bär geschrie¬ ben. Sie ist nicht ganz so nachsichtig wie Madame Bernhard, aber mit der Zeit der Güte und Nachsicht ist es jetzt auch vorbei. Begieb Dich auf Dein Zim¬ mer. Um sechs Uhr wünsche ich Dich zum Ball an¬ gezogen zu sehen. Ueberlege Dir noch einmal, was Du thun willst. Ich gebe Dir bis dahin Bedenkzeit. Du kannst gehen.“ Helene ging, ohne ein Wort zu erwiedern, nach der Thür. Als sie dieselbe fast erreicht hatte, trat der alte Baron herein. „Wo willst Du hin, mein Mädchen?“ sagte er, die Hand freundlich nach ihr ausstreckend. Helene ergriff die Hand; drückte sie an ihre Lip¬ pen und sagte: „Verurtheile mich nicht, Vater, ohne mich gehört zu haben.“ Dann eilte sie aus dem Zimmer. „Was hat das Mädchen?“ sagte der alte Herr; ihr voller Erstaunen nachsehend. „Komm, Grenwitz,“ sagte die Baronin, „ich habe über eine Sache von Wichtigkeit mit Dir zu sprechen.“ Dreizehntes Kapitel. Die Unterredung zwischen der Baronin und ihrem Gemal dauerte eine geraume Zeit, aber Anna-Maria war heute nicht glücklich in ihren diplomatischen Be¬ mühungen. Eben so wenig wie sie im Stande gewe¬ sen war, den Stolz ihrer Tochter zu beugen, ver¬ mochte sie den sonst so fügsamen Gatten diesmal zu ihren Ansichten zu bekehren. Es ist, eine bekannte Erfahrung, daß sehr nachgiebige und lenkbare Naturen in manchen Punkten sehr starr und eigensinnig sein können. Es ist, als ob sich der überall geschlagene, überlistete, überrumpelte Wille auf diese Punkte, wie in uneinnehmbare Festungen geworfen habe, um sich dort bis aufs Aeußerste zu vertheidigen. Die Baro¬ nin hatte das in den langen Jahren ihrer Herrschaft schon mehr wie einmal erfahren. Hin und wieder hatte sich in dem Gatten, der ihrer höheren Einsicht sonst so blindlings vertraute, der mit einer Art von abgöttischer Verehrung an ihr hing, ein Geist des Widerspruchs geregt, oft, wo sie es am allerwenigsten erwartete. Sie hatte durch kluge, rechtzeitige Nach¬ giebigkeit dann jedes Mal dergleichen Meinungsver¬ schiedenheiten zu beseitigen gewußt, was ihr um so leichter geworden war, als es sich meistens um höchst gleichgültige Dinge handelte. Wenn sie die Fälle, wo diese „Rechthaberei“ ihres Gemals hervorgetreten war, mit einander verglichen hätte, würde sie bemerkt ha¬ ben, daß es stets der gerade Sinn, die unverwüstliche Gutmüthigkeit des Barons gewesen waren, die sich gegen eine egoistische Maßregel der Baronin in aller Bescheidenheit, aber großer Bestimmtheit aufgelehnt hatten. Wie sehr auch der alte Herr seinen Verstand gefangen gegeben hatte, es lebte in ihm ein Etwas, das mächtiger war, als alle Sophismen, mit denen ihn seine Gattin umgarnte; ein göttlicher Funke, der gelegentlich noch immer zur Flamme werden konnte. Dieses Etwas, dieser göttliche Funke war die Liebe, war die Fähigkeit, sich selbst über dem Andern zu vergessen, sein Glück in dem Glück Anderer zu finden. Wo diese Fähigkeit noch besteht, da ist, und wäre das Individuum noch so tief gesunken, noch Alles zu ret¬ ten; wo sie verloren, ist Alles verloren. Denn ein wahreres Wort ist nie gesprochen, als jenes Wort, welches die Liebe über alles Wissen und jede höchste Kraft des Menschen setzt, und sie die größte nennt unter allen Tugenden. Wie Alle, welche die Liebe im besten Falle für einen sehr überflüssigen Luxus halten, und an sich selbst zu wenig Gelegenheit haben, diese wunderbare Kraft in ihren Wirkungen zu studiren, beging die Baronin den Fehler, bei ihren Projecten diese Eigen¬ thümlichkeit ihres Gemals entweder gar nicht in Rech¬ nung zu bringen, oder doch viel zu gering anzu¬ schlagen. So war es auch in diesem Falle gewesen. Sie hatte nicht bedacht, daß der Baron ja am Ende doch sein Kind lieben und dann natürlich ihr Glück, ihre Ruhe höher anschlagen könnte, als alle weltlichen Vortheile. Und nun geschah wirklich das Unglaub¬ liche. Der alte Herr erklärte mit großer Entschieden¬ heit, daß er die Vortheile, welche allen Betheiligten aus einer Verbindung zwischen Felix und Helene er¬ wachsen könnten, durchaus zu würdigen wisse; daß er sich sehr gefreut haben würde, wäre diese Verbindung zu Stande gekommen, daß es aber schließlich doch die Ruhe und das Glück Helenen's sei, um die es sich handle, und daß, wenn Helene erkläre, Felix nicht lieben zu können, die Sache damit ein für alle Mal abgemacht sei. Dabei blieb er, mochte Anna-Maria sagen, was sie wollte. Und Anna-Maria ließ es an Worten, ja selbst an Thränen nicht fehlen. Vergebens, daß sie Helenen's Trotz, Helenen's unkindliches Be¬ nehmen in der eben stattgehabten Unterredung mit den schwärzesten Farben schilderte, vergebens daß sie dem alten Mann mit dem Aeußersten drohte, ihm drohte, daß er nur zu wählen habe zwischen seiner treuen Gattin und seiner ungehorsamen Tochter, daß sie in ihrem eigenen Hause nicht die Schmach erleben wolle, ihr eigen Kind über sich triumphiren zu sehen — der alte Herr behauptete die einmal eingenommene Position mit einer zähen Hartnäckigkeit: Helene sei nicht schlecht, sie habe sich in ihrer Heftigkeit vergessen können, aber sie sei nicht schlecht; sie werde die Mutter um Verzeihung bitten, wenn sie dieselbe beleidigt habe; aber gesetzt, sie sei nicht so gut, wie er glaube, ge¬ setzt, sie habe sich gegen ihre Mutter vergangen, so sei das doch immer kein Grund, sie in eine ihr ver¬ haßte Ehe zu zwingen. — Alles, was die Baronin erlangen konnte, war, daß, wenn Helene sich nicht nachgiebig zeigen sollte, sie das elterliche Haus auf einige Zeit verlassen müsse. Der Baron willigte dar¬ ein, weil er diese Trennung für das beste Mittel hielt, Mutter und Tochter wieder zusammen zu brin¬ gen, wenn sich die Leidenscheft nur erst auf beiden Seiten ein wenig gelegt haben würde; und er hatte nichts dagegen, daß man Helene nach Grünwald an¬ statt nach Hamburg schicke, da er so viel öfter Gele¬ genheit hatte, seine Tochter zu sehen, und er über¬ haupt in der Stille die ganze Maßregel für ein Pro¬ visorium hielt, dessen vermuthlich sehr kurze Dauer die lange Reise nach Hamburg gar nicht verlohne. — Anna-Maria ihrerseits mußte sich nothgedrungen mit diesem Resultate zufrieden geben, um so mehr, als sie fürchten mußte, daß Helene, wenn man sie zum Aeußersten treibe, die fatale Angelegenheit mit dem Briefe zur Sprache bringen werde. Dieser Gedanke hatte sie überhaupt in der ganzen Unterredung weniger energisch erscheinen lassen, als wol sonst ihre Gewohn¬ heit war. Das böse Gewissen hatte sie feig gemacht und diese Feigheit dem Baron seinen Sieg wesentlich erleichtert. Er küßte seine Gemahlin auf die Stirn, wie er es nach einer Scene größerer oder kleinerer Uneinigkeit stets zu thun pflegte, dankte ihr für ihre Bereitwilligkeit, sich seinen Ansichten und Wünschen zu accommodiren, und sprach die Hoffnung aus, daß in kurzer Zeit der gestörte Familienfrieden vollkommen wieder hergestellt sein werde. „Es drückt mir das Herz ab, wenn ich sehe, daß die, welche ich am meisten liebe auf Erden, unter sich uneins sind;“ sagte der gute alte Mann und die Thränen standen ihm in den Augen. „Ich habe Gott alle diese Tage gebeten, er möge mich erleuchten, daß ich in dieser Sache das Rechte thue, wie ich es denn gern in allen Dingen thäte. Es thut mir weh, wenn ich Dich gekränkt haben sollte, liebe Anna-Maria, denn ich weiß, zu welcher Dankbarkeit ich Dir ver¬ pflichtet bin; aber ich habe auch Pflichten gegen meine Tochter und darf nicht zugeben, daß Du sie mit dem besten Willen von der Welt unglücklich machst. Gott weiß, daß ich nur euer Aller Bestes will; und nun, liebe Anna-Maria, laß uns zu Tisch gehen, denn, wenn ich nicht irre, hat Johann schon zweimal gerufen.“ Die Baronin sollte heute nicht zur Ruhe kommen. Das melancholische Mittagsmahl, an welchem weder Oswald, der Bruno nicht verlassen wollte, noch Helene, die sich mit Kopfschmerzen entschuldigen ließ, Theil genommen hatten, war vorüber und der Baron eben fortgegangen, um sich mit Helenen auszusprechen und sich nach Bruno's Befinden zu erkundigen. Die Baronin war mit Felix allein geblieben und jetzt in der äußerst peinlichen Lage, ihm sagen zu müssen, daß ihr gemeinsames Project an dem hartnäckigen Wider¬ stand Helenen's und der Unbeugsamkeit des Barons gescheitert sei. Und das sollte sie eingestehen, sie, die sich so viel auf die unbeschränkte Herrschaft, welche sie über ihren Gemahl, über alle ihr Näherstehenden ausübte, zu gute that; sie, die diese ganze Unterhand¬ lung nicht nur geleitet, sondern auch den ersten Im¬ puls dazu gegeben, Felix zuerst den Vorschlag gemacht, Felix die Bedingungen gestellt hatte — Bedingungen, denen jener zum Theil schon nachgekommen war! . . . Es war eine schwere Aufgabe für die selbstische, herrschsüchtige Frau! Wie bereute sie es jetzt, den Brief unterschlagen zu haben! Sie hatte nicht viel mehr daraus gelernt, als was sie nicht so schon wußte, und wie viel hatte sie sich vergeben! Sie durfte jetzt nicht mit voller Strenge gegen Helenen auftreten; durfte ihre „unkind¬ liche Gesinnung“, ihre „lächerliche Bevorzugung — um die Sache nicht schlimmer zu bezeichnen — dieses Stein“ dem Baron gegenüber nicht zu sehr hervor¬ heben. Sie wußte, daß er — besonders in seiner jetzigen Stimmung — einen solchen Vertrauensbruch niemals sanctioniren würde. Ja selbst gegen Felix, ihren Vertrauten, durfte sie nicht ganz offen sein. Sie mußte ihm sagen, daß sie die Schlacht verloren habe, und hatte nicht einmal den Trost, ihm beweisen zu können, daß es nur durch einen unglücklichen Zu¬ fall geschehen sei. So mußte also der bittre Kelch geleert werden. Felix traute seinen Ohren kaum. Er, Felix von Gren¬ witz, ausgeschlagen, zurückgewiesen, mit Verachtung behandelt in dem einen Fall, wo er wirklich ernste Absichten gehabt hatte? von einem Mädchen, das eben aus der Pension kam? und möglicherweise wem ge¬ opfert? einem obscuren Menschen, dessen ganzes Ver¬ dienst darin bestand, beinahe wie ein Gentleman aus¬ zusehen? Felix that, als ob der Untergang der Welt durch diese Zeichen verkündet sei. Und Helenen zu verlieren — darüber würde sich Felix noch zur Noth getröstet haben; aber auch die Aussichten auf Bezah¬ lung seiner Schulden, oder genauer auf eine so we¬ sentliche Erhöhung seines Credits — das war das Schlimmste, das, worüber ein Mann wie Felix nicht so leicht hinwegkam. Helenen's Aussteuer, die Summe, welche ihm sein Onkel vorschießen wollte, den zu Grunde gewirthschafteten Gütern wieder aufzuhelfen, — nein! so konnte man nicht mit ihm spielen wollen. Er hatte Alles gethan, was in seinen Kräften stand, er hatte seinen Abschied genommen (nehmen müssen, wäre richtiger gewesen); er war von der Baronin autorisirt worden, vor der Gesellschaft seine Bewer¬ bung um Helene nicht zu verschweigen — jetzt war Dienst, Braut, Ehre — Alles verloren. „Ich werde mir eine Kugel durch den Kopf jagen!“ rief Felix pathetisch. Die Baronin suchte den Aufgeregten zu beruhigen und es gelang ihr, nachdem sie ihm die feierliche Ver¬ sicherung gegeben, daß trotz der Erfolglosigkeit seiner Bewerbung die übrigen Verabredungen nicht rückgängig gemacht werden sollten. Nachdem sie sich über diesen äußerst wichtigen Punkt geeinigt, konnten sie mit größerer Ruhe über einige andre sprechen, vor allem über den eigentlichen Grund von Helenen's Weigerung. Zu Felix' nicht geringem Erstaunen behauptete die Baronin heute ge¬ radezu, daß ein geheimes Liebesverhältniß zwischen Oswald und Helene bestehe. Sie wollte nicht sagen, was sie veranlaßte, eine frühere Vermuthung jetzt für Gewißheit auszugeben; aber sie blieb bei ihrer Be¬ hauptung, bis Felix zugab, daß „die Sache freilich lächerlich, aber doch nicht geradezu unmöglich sei.“ Der Mensch ist ein schlauer Intriguant, sagte er. Timm hat mich gleich im Anfang vor ihm gewarnt; ich habe nicht viel darauf gegeben, weil die Beiden auf einem sehr guten Fuß zu stehen scheinen. Indessen, ich sehe doch ein, Timm hat in diesem Falle Recht gehabt. In diesem Augenblick wurde der Baronin ein er¬ presser Brief aus Grünwald eingehändigt. „Von Herrn Timm,“ sagte sie erstaunt, den Brief erbrechend; „ich bin doch neugierig, was mir der zu schreiben hat. Er hat doch sein Geld richtig erhalten. Entschuldigen Sie, lieber Felix.“ Das Erstaunen, die Bestürzung, der Schrecken, welche sich, während die Baronin las, auf ihrem Ge¬ sicht malten, waren so ausgeprägt, daß Felix nicht umhin konnte, zu sagen: „Aber Tante, was haben Sie? Sie sind ja wie die Wand so weiß geworden?“ „Oh, es ist schändlich!“ sagte die Baronin: „es ist schändlich! diese Buben! es ist eine abgekartete Sache! ein gemeines Complot! diese Buben!“ „Aber, um Himmelswillen, was giebt es denn?“ rief Felix. „Hier, lesen Sie!“ sagte die Baronin, ihm mit zitternder Hand den Brief hinhaltend. „Wie finden Sie das? Lesen Sie laut! Das Ding ist so amüsant, daß man es wol zweimal hören kann.“ Felix nahm den Brief und las: „Gnädige Frau! Es ist nicht meine Schuld, wenn Ihnen der Inhalt dieses Schreibens mißfallen sollte. Sie wissen, mit wie großer Verehrung ich an Ihnen und Ihrer ganzen Familie hänge, mit welchem Eifer ich Ihnen stets meine geringen Dienste gewidmet habe, F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 15 wie dankbar ich für die liebenswürdige Gastfreund¬ schaft, die Sie mir stets und besonders in den letzten, so glücklich verlebten Tagen bewiesen haben, gewesen bin. Wenn ich daher etwas sage oder thue, was mit diesen Gefühlen im Widerspruch zu stehen scheint, so können Sie mit Bestimmtheit annehmen, daß dieser Widerspruch eben nur scheinbar ist, und daß mich ein höheres Princip als persönliche Freundschaft und individuelle Hochachtung zum Handeln zwingt: nämlich die Achtung vor der Gerechtigkeit, die wir Allen schuldig sind. Dieses mir inwohnende Rechtlichkeitsgefühl aber (ein Erbstück ohne Zweifel meines seligen Vaters) will, daß ich Ihnen eine höchst eigenthümliche Ent¬ deckung, die ich in diesen Tagen gemacht habe, und die für Sie von einer gewissen Bedeutung sein dürfte, nicht einen Augenblick länger vorenthalte. Sie wissen, daß mein verstorbener Vater die Stellung eines Advocaten in Grünwald bekleidete, daß seine Praxis eben so groß war, wie der Ruf seiner Rechtlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Klugheit, und daß die angesehensten Familien des Landes zu seiner Clientel gehörten. Unter andern stand er auch mit dem verstorbenen Herrn Baron Harald von Gren¬ witz in steter Geschäftsverbindung, aus der sich, wie mir mein seliger Vater oft erzählt hat, wenn er auf vergangene Zeiten zu sprechen kam, eine Art von Freundschaft entwickelte. Wenigstens behauptete mein Vater, daß der verstorbene Baron ihn selbst in den delicatesten Familienangelegenheiten wiederholt con¬ sultirt habe. Die Wahrheit dieser Behauptung wird bestätigt durch die Entdeckung, von der ich eben spreche. — Sie besteht in der ganz zufälligen Auffindung meh¬ rer Bündel Briefe und Papiere, die sämmtlich dem Herrn Baron Harald gehörten und die dieser meinem Vater zu einem Zwecke, der nicht angegeben (denn es befindet sich dabei keine Erläuterung weder von der Hand meines Vaters, noch der des Barons) über¬ macht hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach sollten sie meinem Vater dienen, ihm die Auffindung jenes Kin¬ des, welchem der Herr Baron in dem Codicill seines Testaments das bewußte Legat aussetzte, zu erleichtern oder überhaupt möglich zu machen. So viel wenig¬ stens steht fest, daß eine solche Recherche nur mit Hülfe dieser Briefe und Papiere angestellt werden und zu einem glücklichen Resultat gebracht werden kann. Auch bin ich überzeugt, daß nur sein plötzlicher Tod meinen Vater verhindert hat, dieses Resultat herbeizuführen, und daß ein geschickter Jurist noch zu 15 * jeder Zeit die Fäden, welche der Hand meines Vaters entfielen, wieder aufnehmen könnte. Die Schriftstücke sind a . ein Bündel Briefe einer gewissen Mademoiselle Marie Montbert an Baron Harald von Grenwitz; b . ein dito des Herrn Barons an Mademoiselle Montbert; c . mehre Briefe eines gewissen Monsieur d'Estein an Mademoiselle Montbert; d . verschiedene Familienpapiere der Mademoiselle Mont¬ bert; e . eine vollständige Abschrift des von dem Herrn Baron Harald hinterlassenen Testaments, nebst dem Codicill, in welchem, wie Ihnen bekannt ist, nicht nur die Bedingungen angegeben sind, welche der Herr Erblasser an die Auslieferung des Legats geknüpft hat, sondern auch die Mittel und Wege, welche am wahrscheinlichsten zu einer Entdeckung des zu jener Zeit noch ungeborenen Kindes resp. dessen Mutter führen könnten. Sie wissen, daß in diesem Erläute¬ rungsbericht die Namen der Mademoiselle Montbert und des Monsieur d'Estein vorkommen und es ver¬ steht sich von selbst, daß die genannten Personen mit denen, welche jene Briefe schrieben, identisch sind. Bis hierher hat Alles, was ich Ihnen berichtete, für den Unbefangenen und Unbeteiligten wenigstens, nichts besonders Ueberraschendes. Was ich Ihnen aber jetzt zu sagen habe, ist so außerordentlich, daß ich um die Erlaubniß bitten muß, Ihnen darüber mündlichen Bericht erstatten zu dürfen. Ich will nur so viel andeuten, daß in den Briefen des Mr. d'Estein der Name vorkommt, welchen dieser Herr, nachdem er die Flucht der Mademoiselle Montbert von Gren¬ witz bewerkstelligt haben würde, für die Zukunft an¬ nehmen zu wollen erklärt, und daß dieser Name (Sie brauchen nur das d' und das E. wegzulassen) mit dem Namen eines Herrn, welcher seit einiger Zeit in Ihrer Familie lebt, übereinstimmt. Ich füge hinzu, wie ich für mein Theil von der Identität dieser Per¬ son mit dem noch immer unbekannten Erben von Stantow und Bärwalde (besonders auch in Folge von Mittheilungen, welche mir die bewußte Person über ihre Familienverhältnisse und frühesten Erinne¬ rungen machte) durchaus überzeugt bin. Doch ist diese meine individuelle Ueberzeugung natürlich noch immer nicht beweisend, und ich nehme daher Anstand, sie, wie ich wol müßte, der bewußten Person mitzutheilen, um nicht Hoffnungen in ihr zu erregen, die ja doch möglicherweise nicht realisirt wer¬ den könnten. Ich breche hier ab, um meinem mündlichen Referat (kommen Sie vielleicht in nächster Zeit nach Grünwald? oder befehlen Sie, daß ich Sie in Grenwitz besuche?) nicht zuviel vorweg zu nehmen und dem Papiere nicht unnöthigerweise noch mehr anzuvertrauen. Genehmigen Sie, gnädige Frau, den Ausdruck u. s. w. „Hier ist noch ein Verte ! sagte Felix, das Blatt umwendend: P. S. Ich habe die Absicht, sämmtliche Papiere, da sie mir in meiner Wohnung nicht sicher genug ver¬ wahrt scheinen, einem Advocaten zu übergeben, im Falle Sie nicht (was aber schleunigst geschehen müßte) anders darüber verfügen sollten . „Ha, ha, ha!“ lachte Felix, „da schaut der Fuchs zum Loch heraus! Im Falle Sie nicht anders dar¬ über verfügen sollten, unterstrichen; d. h. haben Sie die Güte, mir die Summe zu nennen, welche Sie für diese Papiere zahlen zu können glauben, und die Sache bleibt unter uns. — Ha, ha, ha! ja, ja! der Timm ist ein geriebener Bursche, das habe ich schon vor heute gewußt!“ „Also glauben Sie, daß er wirklich diese Papiere gefunden hat?“ fragte die Baronin erstaunt. „Warum nicht?“ sagte Felix; „ich finde das Ding äußerst wahrscheinlich, und rathe Ihnen, sich die Papiere in aller Eile zu kaufen, ehe sie im Preise steigen.“ „Und glauben Sie auch, daß dieser — daß dieser Mensch — ich kann es kaum über die Lippen bringen, daß dieser Stein wirklich Harald's Sohn ist?“ „Möglich ist es immer;“ sagte Felix. „Nein, es ist nicht möglich,“ rief die Baronin mit großer Heftigkeit; „es ist Alles ein höllischer Lug und Trug, ein abgekartetes Spiel zwischen den beiden Gaunern. Die Briefe sind gefälscht, sind von Beiden, während sie hier die Köpfe zusammensteckten, geschmie¬ det und geschrieben worden. Es ist eine pure Erfin¬ dung, uns einen Schrecken einzujagen und Geld ab¬ zuschwindeln — oder gar! ha! jetzt hab ich's! Sehen Sie denn nicht, Felix, wo das Alles hinaus will? auf Helene haben sie es abgesehen! dem Einen Geld, dem Andern das Mädchen! ha, ha, ha! trefflich, trefflich! schade, daß Helene nicht auch darüber an Mary Burton geschrieben hat, denn ich wette: sie ist mit im Complott! Aber nichts sollen sie haben! nichts, nichts! nicht einen Thaler — keinen Groschen!“ „Nehmen Sie die Sache nicht zu leicht, Tante!“ sagte Felix. Timm ist ein sehr gewitzter Bursche, und wenn die Briefe wirklich gefälscht sind, so können Sie sich darauf verlassen, daß es keine Stümperarbeit ist, und uns sehr viel zu schaffen machen kann. Wollen Sie meinen Rath hören?“ „Nun?“ „Lassen Sie mich morgen, oder wann es ist, nach Grünwald gehen und mit Timm sprechen. Ich habe in früheren Zeiten schon manche absonderliche Unter¬ handlungen mit ihm geführt; er weiß, daß er mir kein X für ein U machen kann. Ohne Geld kommen wir freilich nicht los; aber ich kriege die Papiere billiger, als Sie, oder ein Anderer.“ „Und was soll mit Herrn Stein geschehen?“ „Den jagen wir mit Schimpf und Schande fort. Wollen Sie mir auch dies Geschäft überlassen?“ „Ja; thun Sie, was Sie wollen, aber befreien Sie mich von diesem Menschen!“ „Ich will es schon machen. Es findet sich heute Abend schon eine Gelegenheit. Mit mehr Eclat es geschieht, desto besser. Es soll ihm schon die Lust vergehen, mit uns noch einmal anzubinden. Sie wer¬ den doch dem Onkel nichts von alle dem sagen.“ „Um Himmelswillen nicht!“ rief die Baronin. „Er wäre im Stande, heute noch Herrn Stein als unsern lieben Verwandten der Gesellschaft vorzustellen. Er ist ja schon beinahe kindisch; ich kann mich von heute an in nichts mehr auf ihn verlassen.“ „Nun denn!“ sagte Felix, seiner Tante die Hand küssend; „so verlassen Sie sich auf mich. Wir wollen die Sache schon glücklich zu Ende bringen. — Aber ich glaube, liebe Tante, es ist die höchste Zeit, daß wir Toilette machen. Um Himmelswillen! fünf Uhr schon, und um sechs fängt die Gesellschaft an — wie soll ich in einer Stunde fertig werden!“ Vierzehntes Kapitel. Wagen auf Wagen rollten durch das große Thor auf den Schloßplatz, und hielten vor dem Portale still. Geputzte Damen und Herren stiegen aus und wurden von den Dienern vorläufig in die Garderobe¬ zimmer gewiesen, um einige Minuten später in der weitgeöffneten Flügelthür, die in die Gesellschafts¬ räume im Erdgeschoß führte, von dem alten Baron und Felix empfangen zu werden. Nach und nach versammelte sich so ziemlich der gesammte Adel der Umgegend. Schon die glänzen¬ den Equipagen, in welchen man heute gekommen war — die meisten waren mit vier, einige sogar mit sechs herrlichen Pferden bespannt, Vorreiter in allen mög¬ lichen bunten Livreen nicht zu vergessen — noch mehr aber der gewählte Anzug der Herren, die glänzende Toilette der Damen bewiesen, daß man sich auf ein Fest im größesten Styl vorbereitet hatte. Man glaubte auch mit ziemlicher Gewißheit angeben zu können, um was es sich heute eigentlich handelte; hatten doch die Baronin und Felix es an Hindeutungen auf ein Er¬ eigniß, das möglicherweise in nicht allzu langer Zeit eintreten könnte, keineswegs fehlen lassen! Die Baro¬ nin und Felix hatten sich durch diese voreiligen An¬ spielungen, wie es schien, einen schlimmen Tag be¬ reitet, und sollten jetzt die Erfahrung machen, daß es viel leichter ist, den Mund der Fama zum Reden als zum Schweigen zu bringen. Sie hatten alle Mühe, die bedeutungsvollen Mienen der Bescheidneren, die zarten Andeutungen der Neugierigen, die directen Fragen der Zudringlichen zu übersehen, zu überhören, ausweichend zu beantworten, und bei diesem Fegefeuer doch noch die offizielle gesellschaftliche Freundlichkeit und Höflichkeit zu bewahren. Die Gesellschaft schien im allgemeinen entschlossen, an dem Glauben einer Ver¬ lobung zwischen Felix und Helene festhalten zu wollen, und vertröstete sich auf die Abendtafel, wo man ja doch endlich mit der Wahrheit hervortreten werde. Nur einige wenige Scharfsinnigere wollten aus ge¬ wissen Anzeichen schließen, daß die Aussicht auf das bewußte Ende doch wohl nicht ganz so ungetrübt sei, wie die Meisten anzunehmen schienen. Sie machten da¬ rauf aufmerksam, daß das Benehmen der Baronin heute um vieles förmlicher sei, wie gewöhnlich, ja in manchen Augenblicken gradezu verlegen; daß der alte Baron außerordentlich zerstreut sei, und keineswegs den Eindruck eines glücklichen Familienvaters mache und was das Brautpaar selbst betreffe, so sei es doch zum mindesten auffallend, daß Baron Felix sich un¬ ausgesetzt in großer Entfernung von seiner Cousine halte, und Fräulein Helene, obgleich sie sich nie durch große Lebhaftigkeit auszeichne, heute doch offenbar mehr wie eine schöne, kalte Marmorstatue, als ein junges Mädchen an ihrem Verlobungstage aus¬ sehe. Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft wurde für einige Zeit von diesem geheimnißvollen Brautpaare abgelenkt, als jetzt, nachdem die ganze Gesellschaft fast versammelt war, ein wirkliches Brautpaar erschien, dessen Verlobung in den letzten Tagen eine so unge¬ meine Sensation erregt hatte: Fräulein Emilie von Breesen an dem Arme Arthur's von Cloten. Das junge Paar hatte zwar schon die üblichen Visiten ge¬ macht; aber die Nachbarschaft war groß. Zu Einigen hatte man beim besten Willen noch nicht kommen können, Andere hatte man zu seinem größten Be¬ dauern nicht zu Hause getroffen — es gab noch eine Menge Gratulationen in Empfang zu nehmen und zu erwiedern. Fräulein von Breesen, Herr von Cloten bildeten bald den Gegenstand und Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit hier im Kreise der Damen, dort im Kreise der Herren. Herr von Cloten schien überglücklich; er lachte und schwatzte unaufhör¬ lich, und es schien ein halbes Wunder, daß von sei¬ nem kleinen blonden Schnurrbart auch nur ein ein¬ ziges Härchen übrig geblieben war — so unausgesetzt wirbelte und drehte er denselben durch die Finger. Fräulein Emilie schien ihr Glück mit größerer Ge¬ lassenheit zu tragen; ja jene Minorität der Scharf¬ sichtigen wollte eine trübe Wolke auf ihrer Stirn be¬ merken, so viel Mühe sich auch ihr reizender Mund gab, freundlich zu lächeln, und behauptete, daß ihr Auge oft ruhelos über die Gesellschaft schweife, ohne auf ihrem glücklichen Bräutigam auch nur einen Mo¬ ment zu verweilen. Es gab heute überreichen Stoff zu pikanten Klat¬ schereien. Das Verhältniß von Cloten's zu der ebenso lie¬ benswürdigen, wie gefährlichen Hortense von Barne¬ witz war in dieser Gesellschaft, in welcher es von Ge¬ schichtenträgern und Geberdespähern wimmelte, durch¬ aus kein Geheimniß geblieben, und die letzte große Gesellschaft in Barnewitz, auf welcher es zwischen Cloten und dem Gemahl Hortense's zu einer so un¬ erquicklichen Scene kam und diese letztere die Unvor¬ sichtigkeit beging, gerade in diesem Augenblick in Ohn¬ macht zu fallen, hatte den letzten dünnen Schleier von diesem Verhältniß fortgezogen. Nun war man äu¬ ßerst neugierig, zu beobachten, wie sich Hortense in ihren Verlust schicken werde, und vor allem, ausfin¬ dig zu machen, wen die blonde Menschenfischerin zum glücklichen Nachfolger ihres treulosen Galan erkoren habe. Die Einen riethen auf den jungen Grafen Grieben, die Andern auf Adolf von Breesen. Beide bewarben sich eifrig um die gefährliche Gunst der Circe. Für Jenen sprach der Umstand, daß er ein verschmähter Bewerber der koketten Emilie war, und als solcher ganz besonders zum Nachfolger Cloten's sich zu qualificiren schien; für diesen, daß er bei wei¬ tem der Hübscheste, Gewandteste und Kühnste der ganzen Schaar war — lauter Eigenschaften, welche die kluge Hortense sehr wohl zu schätzen wußte. „Ich parire auf Grieben,“ sagte der junge Sy¬ low; „zwölf Flaschen Champagner! wer hält?“ „Ich!“ rief von Nadelitz; „pah! da müßte ich Breesen nicht kennen.“ „Sechs Flaschen Reugeld bis zum Cotillon heute Abend?“ „Ha, ha! hört Ihr's? Er verliert die Courage schon; aber angenommen; angenommen!“ „Wirklich ein famoses Weib, die Barnewitz!“ sagte Hans von Plüggen; „ich wollte, ich stände auch auf der Candidatenliste.“ „Nun zu der Ehre ist leicht zu gelangen;“ meinte ein Andrer. „Ich weiß nicht, was Ihr an der Barnewitz fin¬ det;“ sagte von Sylow. „Da ist doch die Berkow eine ganz andre Erscheinung. Ich wollte die Berkow wäre hier.“ „Das wollten wohl noch Mehre!“ lachte Einer; „aber Ihr wißt doch, daß Berkow todt und Melitta seit vorgestern zurück ist?“ „Eine alte Neuigkeit.“ „Auch daß sie sich in Kurzem mit Oldenburg ver¬ loben wird.“ „Unsinn!“ „Ihr könnt Euch d'rauf verlassen; ich habe es von der Barnewitz. Die wird es doch wohl wissen.“ „Kommt denn Oldenburg heute nicht?“ „Ich hörte von Felix, daß er zugesagt habe; aber Oldenburg hat ja seine besondern Gewohn¬ heiten.“ Melitta's Rückkehr und der Tod Herrn von Berkow's wurde nichts blos im Kreise der Jüngeren lebhaft debattirt. Melitta war eine der gefeiertsten Damen der Gesellschaft und hatte trotzdem merk¬ würdigerweise wenig Neider und Feinde. Hin und wieder zwar wurde ihr ein etwas excentrisches Wesen, eine Neigung zum Besondern, Ungewöhnlichen zum Vorwurf gemacht; dieser meinte, sie sei ihm zu ge¬ bildet; jener, sie kokettire mit dem Liberalismus — aber im Allgemeinen wurde ihre Liebenswürdigkeit, ihre Gutmüthigkeit und Anspruchslosigkeit doch willig anerkannt; abgesehen davon, daß der Zauber ihrer Erscheinung über allen Widerspruch erhaben war. Man freute sich, daß sie endlich von dem Alp, der so lange auf ihrem Herzen gelastet, erlöst sei und war äußerst begierig zu wissen, wen sie demnächst mit ih¬ rer Hand beglücken werde. Denn daß eine so junge, lebenslustige Frau jetzt, da sie sich wieder frei fühlen konnte, nicht lange unvermählt bleiben könne, schien unzweifelhaft. In der allerletzten Zeit war, man wußte nicht recht durch wen? das Gerücht verbreitet worden, Baron Oldenburg habe bei weitem die mei¬ sten Aussichten; ja, ganz unter der Hand, und als ein bloßes on dit , das man mittheilte, ohne sich für die Wahrheit desselben verbürgen zu wollen, ja, ohne nur selbst daran zu glauben, erzählte man sich, eine Intimität zwischen dem Baron und Melitta habe von jeher bestanden, und Herr von Berkow habe zu sehr gelegener Zeit den Verstand verloren. Man trug sich sogar mit gewissen Details aus der Geschichte dieses geheimnißvollen Verhältnisses, die, wenn sie begründet waren, den Ruf Melitta's einigermaßen compromit¬ tiren mußten. Man wußte nicht, von wem diese Ge¬ rüchte ausgegangen waren. Die scharfsichtige Mino¬ rität meinte: von Hortense Barnewitz, und das Ganze sei eine Rache an Oldenburg für einen gewissen guten Rath, den er seinem Freunde Cloten vor einiger Zeit gegeben, und Cloten so blindlings befolgt habe, daß er sich, als er die Augen aufthat, zu den Füßen Emi¬ liens von Breesen wieder fand. Unterdessen war die achte Stunde, in welcher der Ball beginnen sollte, herbeigekommen. Die Baronin eröffnete denselben an der Hand des Grafen Grieben. Graf Grieben hatte trotz des schmetternden Kreischens seiner Stimme alle Mühe die Musik zu überschreien, die auf seinen speciellen Wunsch voraufging, da er auf den geistreichen Einfall gekommen war, die lange Reihe der tanzenden Paare nicht nur durch die Säle des Schlosses, sondern auch um den großen Rasen¬ platz und weiter in die dichtesten Theile des Gartens hinein und aus demselben wieder zurück in den Ball¬ F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 16 saal zu führen, wo er die Polonaise mit einem feier¬ lich langsamen Walzer schloß. „Das ist so gute alte Sitte, gnä'ge Frau!“ kreischte er vergnügt der Baronin ins Ohr; „mein Vater selig hielt's so und mein Großvater selig. Die Alten kannten den Rummel. Jugend hat keine Tugend. Meinen's nicht auch, gnä'ge Frau?“ „Ja wohl, ja wohl!“ sagte die Baronin. Tanz reihte sich an Tanz. Die Geigen quinqui¬ lirten, der Baß brummte dazwischen. Die Gesichter der Tänzer fingen an sich zu erhitzen; die Damen begannen ihre Fächer häufiger zu benutzen; die Die¬ ner, welche in den Pausen mit Erfrischungen umher¬ gingen, sahen die Präsentirbretter immer schneller geleert — aber die rechte Lust wollte sich doch nicht entzünden; es war, als ob ein Schleier über der Ge¬ sellschaft hing. „Weiß der Teufel, was das heute ist,“ sagte der junge Grieben, sich die Stirn wischend, in einer der Pausen an eine Gruppe von Tänzern, die mitten im Saal stand, herantretend; „man tanzt sich fast die Beine ab, aber es geht nicht; man kommt nicht in Zug.“ „Nun, Sie können lange tanzen, bis Sie Ihre langen Beine abgetanzt haben,“ sagte von Sylow, „aber Sie haben Recht; ich habe schon ein paar Flaschen getrunken, aber je mehr ich trinke, je melan¬ cholischer werde ich.“ „Mir geht es ebenso;“ sagte ein Dritter; „ich weiß nicht, woran es liegt; der Ball in Barnewitz neulich war viel vergnügter.“ „Woran es liegt?“ sagte von Breesen. „Nun, ich dächte, das wäre klar genug. Der alte Baron sieht aus wie ein Hahn, wenn's regnet; die Baronin, wie eine entthronte Hekuba — heißt ja wohl Hekuba? — Felix fängt mit Jedem Händel an, der in seine Nähe kommt und Fräulein Helene hat, glaube ich, den ganzen Abend noch nicht drei Worte gesprochen. Und dabei soll ein Mensch vergnügt sein? Mir ist, als ob eine Leiche im Haus wäre.“ „Nun, einen Kranken zum wenigsten giebt's;“ sagte von Plüggen. „Der alte Baron erzählte mir's eben: Bruno liegt schon seit gestern zu Bett.“ „Deshalb ist auch wohl der Doctor Stein nicht unten;“ sagte Graf Grieben; „ich glaubte, er habe noch ein Exercitium zu corrigiren und werde später erscheinen, ha, ha, ha!“ „Sein Sie still, Grieben;“ meinte Hans von Plüggen; „Sie haben neulich ganz anders über den Doctor gesprochen.“ 16 * „Ich habe gesagt, daß er ein verdammter Geck sei, dem ich bei nächster Gelegenheit seinen Stand¬ punkt klar machen würde, und das sage ich noch.“ „Das ist wörtlich, was auch Felix vorhin sagte — der Doctor scheint ja im Allgemeinen recht hübsch bei den Herren angeschrieben zu sein.“ „In desto höherer Gunst steht er bei den Damen,“ bemerkte von Nadelitz ironisch. „Ja wohl;“ sagte von Breesen; „er soll neulich auf dem Balle drei Schwestern auf einmal unglücklich gemacht haben.“ „Wenigstens haben sie sich nicht die Augen aus¬ geweint, wie man sich von Fräulein von Breesen erzählt;“ erwiederte Nadelitz, welchen die Anspielung Breesen's auf seine drei Schwestern ärgerte, ziemlich gereizt. „Ich verbitte mir dergleichen!“ sagte von Breesen auffahrend. „Was Einem recht ist, ist dem Andern billig.“ „Ich habe keine Namen genannt.“ „Weil ohnehin Jeder mußte, wen Sie meinten.“ „Aber, Ihr Herren, tant de bruit pour une omelette !“ sagte Plüggen; „ich glaube, Ihr werdet Euch noch dieses Menschen wegen in die Haare fahren, damit die, welche behaupten, daß er Fortune bei un¬ seren Damen mache, doch ja Recht behalten.“ „Wißt Ihr schon das Allerneueste,“ sagte von Cloten, plötzlich seinen blonden Schnurrbart in die Gruppe steckend. „Nun?“ „Denkt Euch dieser Stein — doch st! da kommt Grenwitz — kein Wort, wenn ich bitten darf.“ „Nun, meine Herren;“ sagte Felix; „wollen Sie nicht die Güte haben, zum Contretanz anzutreten; ich habe schon zweimal das Zeichen geben lassen.“ Felix sagte das in einem beinahe gereizten Tone. Sein sonst nicht gerade blühendes Gesicht war stark geröthet. Augenscheinlich hatte er die Flasche schon mehr als räthlich zugesprochen. Als der Tanz zu Ende war, fanden sich die Herren, welche vorhin durch Felix' Dazwischenkunft in ihrer Unterhaltung gestört waren, wie auf Verab¬ redung wieder zusammen. „Nun, wo ist Cloten mit dem Allerneuesten?“ sagte von Sylow. „Hier!“ sagte Cloten herantretend. „Denkt Euch, dieser Stein — wir sind doch ganz entre nous ?“ „Ja, ja, nur weiter!“ „Hat die Frechheit, — nun rathet einmal mit wem? ein Verhältniß anzuknüpfen — “ „Aber, Cloten, Sie sind unerträglich! werden Sie endlich einmal mit Ihrer Neuigkeit zu Platz kommen?“ „Mit Helene Grenwitz;“ sagte von Cloten in ei¬ nem hohlen Geisterton. „Nun, das wäre nicht übel;“ sagte von Sylow. „Das sieht dem Burschen ähnlich;“ meinte von Grieben. „Hinc illae lacrimae!“ lachte Breesen, bei dem noch einige lateintische Brocken von der Schulzeit her haften geblieben waren. „Und was das Schönste ist,“ fuhr Cloten fort; „Fräulein Helene hat gar nichts dagegen; au con¬ traire , ist bis über die Ohren in ihn verschossen. Ist das nicht allerliebst?“ „Von wem hast Du denn diese Mordgeschichte, Cloten?“ fragte Adolf von Breesen. „Aus sehr guter Quelle;“ erwiederte Cloten mit einem bedeutungsvollen Zwinkern nach der Gegend des Saales, wo eben Emilie von Breesen, mit Helene sprechend, stand. „Hm, hm!“ sagte Breesen. „Die Geschichte ist nicht unwahrscheinlich,“ meinte von Sylow. „Nun erklärt sich die Leichenbittermiene, die Grenwitzens heut ohne Ausnahme machen.“ „Ich sagte ja gleich, daß hier irgend etwas los sei;“ meinte von Breesen. „Es ist mir übrigens sehr lieb, daß ich mich mit dem Burschen nicht tiefer ein¬ gelassen habe, wozu ich anfänglich — ich gestehe es offen, wirklich einige Lust hatte. Der Mensch hat wirklich etwas ungemein Bestechendes.“ „Er schießt famos;“ sagte Sylow nachdenklich. „Famos oder nicht;“ sagte Cloten; „ich glaube gar, Ihr Herren, wir lassen uns so viel von dem Menschen gefallen, weil er nicht schlecht schießt. Nein, Ihr Herren, das geht nicht, geht wahrhaftig nicht! Ich schlage vor, wir suchen unsern Fehler wieder gut zu machen und behandeln den Menschen, wenn er sich wieder unter uns blicken läßt, mit der insignesten Ge¬ ringschätzung — wahrhaftig!“ „Auf Ehre!“ sagte von Grieben, „Cloten hat Recht. Ich werde den Burschen das nächste Mal mit der Reitpeitsche tractiren.“ „Schade, daß er nicht hier ist, damit Sie Ihre Drohung gleich in Ausführung bringen können;“ sagte von Breesen ironisch. „ Quand on parle du loup “ — sagte von Sy¬ low; „da kommt er ja! Und sein Pylades Oldenburg natürlich bei ihm!“ Wirklich zeigten sich in diesem Augenblick durch die weitgeöffnete Flügelthür Oswald und Oldenburg in dem Nebenzimmer. Sie sprachen einige Minuten mit einander; dann trat Oldenburg in den Saal, während Oswald von dem alten Baron draußen fest¬ gehalten wurde. Fünfzehntes Kapitel. Oswald hatte während des ganzen Tages Bruno's Bett nur auf Augenblicke verlassen, nachdem er von jener denkwürdigen Unterredung mit Helene zurückgekommen war. Er hatte in der Pflege des lieben Kranken sich selbst zu vergessen gesucht. Bruno selbst vergaß seine Schmerzen, als ihm Oswald erzählte, er habe Helene gesprochen und den Brief in ihre Hände gelegt; ja er bemerkte nicht ein¬ mal Oswald's bleiches Gesicht und verstörtes Wesen. „Nun ist Alles gut,“ rief er, „jetzt weiß sie, woran sie ist. Jetzt können sie ihr nichts mehr anhaben; jetzt ist sie auf ihrer Hut. O, der eine Gedanke schon hat mich gesund gemacht.“ Leider war das aber nicht der Fall. Die Schmer¬ zen in der Seite stellten sich schon nach wenigen Mo¬ menten mit desto größerer Heftigkeit wieder ein. Os¬ wald hoffte mit Bestimmtheit, daß Doctor Balthasar sein Versprechen halten und im Laufe des Vormittags kommen werde. Aber der Vormittag verging und kein Doctor ließ sich sehen. Bruno's Zustand wurde nicht schlimmer, aber auch nicht besser, und Oswald war zu sehr Laie, um sich zu sagen, daß ein Zustand, der nicht besser wird, sich eben verschlimmert. Indessen ließ es ihm doch keine Ruhe, bis gegen Mittag, wo der Arzt noch immer nicht gekommen war, ein reitender Bote in die Stadt geschickt wurde. Der Bote brachte freilich die von Dr. Balthasar verordnete Einreibung aus der Apotheke mit, meldete aber, daß der Doctor selbst nicht in der Stadt gewesen sei, und Dr. Braun erst heute Abend zurückkommen würde. Er sei selbst in der Wohnung des Letzteren gewesen und habe dem Mädchen gesagt, daß der Herr Doctor, wenn irgend möglich, doch ja noch kommen möchte. Oswald war dem verständigen Menschen, der selbst an Bruno's Krankheit den lebhaftesten Antheil nahm, sehr dankbar für diese Umsicht. Er athmete ordentlich auf, als er hörte, daß Braun, zu dem er ein felsenfestes Ver¬ trauen hatte, nicht mehr fern sei. Unterdessen vergaß er nicht, das von dem Collegen desselben verschriebene Mittel anzuwenden, welches indessen sich ohne allen Erfolg zeigte, so daß Bruno endlich bat, von dieser nutzlosen Cur abzustehen. So vergingen, eine nach der andern, die langen, langen Stunden, die nur der Kranke kennt, der sich ruhelos auf seinem Lager wälzt, und der, welcher, die Seele voll unaussprechlicher und ach! so hülfloser Angst, an diesem Lager sitzt und auf den Arzt harrt, der nicht kommen, und auf das kleinste Symptom der Besserung, das sich nicht zeigen will. Der alte Baron schickte einige Mal herauf und ließ sich nach Bruno's Befinden erkundigen; kam auch am Nachmittage einmal selbst; dankte Oswald mit großer Herzlichkeit für seine treue Sorge, klopfte Bruno auf die heißen Wangen und sagte: wenn er recht bald gesund würde, sollte er auch das Reitpferd haben, das er sich schon so lange gewünscht hätte. „Es thut mir sehr leid,“ sagte er zu Oswald, als dieser ihn zur Thür hinaus begleitet hatte, „daß ge¬ rade heute die Gesellschaft sein muß. Es wäre mir schrecklich, denken zu müssen, daß hier im Schlosse ein Fest gegeben wird, während Einer der Meinigen ge¬ fährlich krank liegt.“ Oswald suchte, so gut er es vermochte, den guten alten Herrn zu beruhigen, obgleich sein eigenes Herz voll schwerer Sorge war. Auch wagte er nicht, dem Baron gerade jetzt einen Entschluß mitzutheilen, der in diesen letzten Stunden bei ihm zur Reife gekommen war. Es stand jetzt für ihn fest: daß seines Bleibens in diesem Hause nicht länger sein dürfe. Wie er fürder ohne Bruno würde leben können; wie er sich von der Seligkeit, Helene'n täglich zu sehen, würde lossagen können — er wußte es nicht. Er wußte nur dies Eine: Du mußt fort. Das wiederholte er sich immer, während er Bruno's Kissen glättete, Bruno's heiße Hände in die seinen nahm, ihm das üppige Haar aus der Stirn strich, seine glühenden Lippen netzte. Es war eine frauen¬ hafte Zartheit in diesen Liebesdiensten. „Wenn meine Mutter lebte, sie könnte mich nicht besser pflegen,“ sagte Bruno, ihm dankbar die Hand drückend. „Du hast Deine Mutter nie gekannt, Bruno.“ „Kaum, ich war erst drei Jahre, als sie starb. Aber von meinem Vater weiß ich noch.“ Und nun fing der Knabe mit fieberhafter Lebendigkeit an von seinem Vater zu erzählen: wie schön und groß und stark er gewesen sei, „nicht so schlank wie Du, aber noch breiter in den Schultern, und mit langen dun¬ keln Locken, die ihm bis auf die Schultern wallten, wie der König Harfagar.“ Und von dem kleinen Gute, hoch oben in Dalekarlien, das der Vater mit noch zwei Knechten ganz allein bewirthschaftet habe. Und wie geschickt der Vater in Allem gewesen sei, und wie er die Axt zu führen verstanden habe, trotzdem er in seiner Jugend Page an dem Hofe der Königin ge¬ wesen war und ihr die lange seidene Schleppe ge¬ tragen hatte bei den prunkenden Festen. Und von Thor, dem schnellen Traber, den der Vater vor den Schlitten spannte, und von den nordischen Winter¬ nächten, wenn die Sterne aus dem schwarzen Himmel funkelten wie lauter Diamanten, Rubinen und Sma¬ ragden, so hell, daß der Schnee in ihrem Scheine glitzerte. Und von dem Nordlicht, wie es plötzlich am Horizont aufflammt und seine Feuerarme bis zum Zenith hinaufstreckt. „Wir müssen zusammen einmal nach Schweden reisen,“ sagte er; „der Winter hier ist nur Kinder¬ spiel; da sollst Du einmal Schnee und Eis zu sehen bekommen! Hier ist es heiß, unerträglich heiß — ich wollte, ich läge in Eis und Schnee.“ Und der Knabe warf sein Haupt ruhelos auf dem Kissen umher und verlangte zu trinken. Da tönte Musik herauf aus dem Garten. „Was ist das?“ sagte Bruno, in die Höhe fahrend. Oswald trat ans Fenster. „Es ist die ganze Gesellschaft,“ sagte er, „sie kom¬ men eben zwischen den Bäumen heraus. Graf Grie¬ ben und Deine Tante eröffnen den Zug. Sie wollten hier an unserem Fenster vorüber, aber der Baron, der mit der Gräfin Grieben folgt, bedeutet ihnen den an¬ deren Weg einzuschlagen. Die ersten Paare verschwin¬ den schon wieder; aber immer neue Paare tauchen auf.“ „Ist Helene schon vorüber? fragte Bruno, sich in die Höhe stemmend. „Nein, noch nicht.“ „O, daß ich nicht aus dem Bette kann!“ rief Bruno, von der Anstrengung und dem heftiger ge¬ wordenen Schmerz ermattet zurücksinkend. „Da ist sie!“ „Doch nicht mit Felix?“ „Nein, mit einem jungen Mann, den ich noch gar nicht gesehen habe.“ „Gleichviel,“ sagte Bruno; „mit Allen, nur nicht mit Felix.“ „Jetzt sind die Letzten vorüber;“ sagte Oswald, sich wieder zu Bruno ans Bett setzend. Bruno's Unruhe schien durch diese directe Erwäh¬ nung Helenens, die Beide, wie auf Verabredung, seit dem Morgen vermieden hatten, erhöht. Er fing wie¬ der an von Helene zu sprechen. Oswald sollte ihm erzählen, was sie angehabt, ob sie schön, sehr schön ausgesehen habe, viel schöner als alle übrigen Damen? ob sie gelächelt habe, ob sie einen Blick nach dem Fen¬ ster emporgeworfen? „O, könnte ich doch nur aufstehen! könnte ich sie doch nur noch einmal sehen!“ „Du wirst sie ja bald wieder sehen, Bruno.“ „Ich weiß es nicht; gerade heute möchte ich sie nur einmal, nur auf einen Augenblick sehen. Es ist mir, als ob ich ihr etwas zu sagen hätte, was mir das Herz abdrückt. Und dann, wenn sie den Felix fortschickt, und sie wird es thun — so soll sie ja wie¬ der in die Pension zurück, und da kann es lange dauern, bis ich sie wieder sehe. Aber ich bleibe auch nicht hier, wenn sie fort ist. Komm mit, Oswald; wir wollen nach Hamburg. Du bist ja so klug und geschickt, Du wirst schon irgend eine Beschäftigung finden und ich auch — irgend eine, gleichviel welche, wenn ich nur in ihrer Nähe sein, sie nur von Zeit zu Zeit sehen darf.“ Er verfiel in eine Art von Halbschlaf, aus dem er Plötzlich wieder emporfuhr. „Warum ist Helene fortgegangen?“ „Du träumst, Bruno; sie ist nicht hier gewesen.“ „Auch Tante Berkow nicht?“ „Nein, Bruno.“ „Wie deutlich ich Beide gesehen! Sie kamen Hand in Hand durch die Thür herein; Helene in weiß, mit einem Kranz von dunkelrothen Rosen im Haar; Tante Berkow in schwarz, das Haar, wie sie es immer trägt. Tante Berkow führte Dir Helene zu, und ihr sankt euch in die Arme und weintet und küßtet euch; und dann trat Tante Berkow an mein Bett und sagte: so Bruno, nun kannst Du schlafen gehen. Da fielen mir die Augen zu; es wurde Nacht um mich her; ich sank mit dem Bett tiefer und tiefer und schneller und immer schneller — darüber bin ich vor Schreck auf¬ gewacht.“ „Fühlst Du Dich kränker, Bruno?“ fragte Os¬ wald, den diese Phantasieen besorgt machten. „Im Gegentheil,“ erwiederte Bruno; „der Schlaf hat mir sehr wohl gethan. Meine Schmerzen sind bedeutend geringer; aber ich fühle mich sehr matt. Ich glaube, ich könnte schlafen.“ Er legte sein Haupt auf die Seite; aber schon nach wenigen Augenblicken fuhr er wieder auf: „Oswald, willst Du mir einen recht, recht großen Gefallen thun?“ „Gewiß! was soll ich!“ „Bitte, zieh Dich an und geh hinunter in die Ge¬ sellschaft.“ „Um alles in der Welt nicht!“ „Bitte, bitte, thu's! thu's mir zu Liebe. Sieh! ich fühle mich ja jetzt viel besser und möchte gern schlafen und werde auch schlafen. Da kannst Du mir ja doch nicht helfen.“ „Aber was soll ich unten?“ „Sieh, Oswald,“ sagte Bruno; „ich möchte doch Helene so unbeschreiblich gern sehen. Und ich kann nicht auf; ich fühle gar keine Kraft in meinen Glie¬ dern. Wenn nun Du sie siehst, so ist mir, als hätte ich sie auch gesehen. Bitte, bitte! geh hinunter! Du brauchst ja mit Niemand zu sprechen; nur, wenn es möglich ist, sage Helenen, ich ließe viel tausendmal grüßen — und wenn Du das gesagt hast und sie hat vielleicht geantwortet: und grüßen Sie Bruno auch von mir! — dann komme schnell, recht schnell wieder, daß Du den Ton, in dem sie es gesagt hat, nicht ver¬ gißt. Und höre, Oswald, da ich gerade daran denke: es könnte ja doch sein, daß ich einmal plötzlich sterbe, nein, — lache nicht! ich rede im Ernst — dann gieb nicht zu, daß man mich umkleidet; ich will so, wie ich gestorben bin, in den Sarg gelegt werden. Sieh! — Du weißt, daß ich stets ein Medaillon auf dem Her¬ zen trage; es ist von meiner Mutter, aber nicht des¬ halb allein halte ich es so heilig! Es ist eine Locke von Helenens Haar darin, die ich ihr gleich in der F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 17 ersten Zeit einmal im Scherz abgeschnitten habe. Wenn mir das Medaillon genommen würde — ich glaube, ich hätte keine Ruhe im Grabe. Und nun, bitte, geh! es wird sonst so spät!“ Oswald wußte nicht, was er thun sollte. Gab er dem Verlangen des Knaben nicht nach, so mußte er fürchten, dessen fieberhafte Unruhe, die sich jetzt fast gänzlich gelegt zu haben schien, wieder hervorzurufen. Auf der anderen Seite war ihm der Gedanke, ihn, wenn auch nur auf kurze Zeit, zu verlassen, sehr pein¬ lich. Und doch hätte er auch Helenen so gern gesehen — nur für einen Augenblick — mußte sich doch in diesen Stunden Alles entschieden haben. Bruno machte seinen Zweifeln ein Ende. „Du hast es mir versprochen!“ sagte er traurig, „und nun willst Du nicht, Du hast mich nicht lieb!“ Was ließ sich dagegen thun? Oswald ging in das Nebenzimmer, sein Schlafgemach, und kleidete sich um. Er hatte sich wohl noch nie in einer solchen Stimmung zu einer Gesellschaft angekleidet. Das Ganze erschien ihm eine schauerliche Ironie. Er erschrack, als er sein bleiches verwüstetes Gesicht im Spiegel betrachtete. In diesen letzten Stunden schien er um eben so viele Jahre gealtert zu sein. Er trat wieder an Bruno's Bett. „Laß Dich doch einmal betrachten,“ sagte der Knabe, sich halb aufrichtend. „Wie stattlich Du aus¬ siehst! wie schön! — küsse mich, Oswald!“ Oswald nahm den Knaben in seine Arme und küßte ihn auf die schönen, stolzen — jetzt ach, so bleichen Lippen. Dann ließ er ihn sanft auf das Kissen gleiten. „Ich fühle mich sehr, sehr wohl;“ sagte Bruno; „beeile Dich nicht, ich werde, bis Du zurückkommst, köstlich schlafen.“ 17* Sechszehntes Kapitel. Auf dem Vorsaal unten begegnete Oswald dem Baron Oldenburg. „Ich hätte große Lust wieder umzukehren,“ sagte Oldenburg nach der ersten, von beiden Seiten ziem¬ lich förmlichen Begrüßung; „ich glaubte nicht, daß die Gesellschaft so groß sei, bin zu Pferde gekommen und, wie Sie sehen, nicht ganz etiquettemäßig ange¬ putzt. Wer ist denn Alles da?“ „Ich komme selbst erst in diesem Augenblick von oben?“ erwiederte Oswald; „Bruno ist seit vorgestern unwohl; jetzt hat er mich fortgeschickt, weil er schlafen will.“ „O, das thut mir ja leid,“ sagte Oldenburg; „der Junge wird hoffentlich nicht ernstlich krank werden. Sagten Sie mir nicht, daß er ein großer Liebling von Ihnen sei?“ „Ja. Haben Sie keine Nachricht von —“ „Von meiner Czika? nein.“ Oldenburg's Gesicht verdüsterte sich. „Wollen wir eintreten?“ sagte er. In einem der Nebenzimmer zum Ballsaale begeg¬ neten sie dem alten Baron. Oldenburg ging nach einer kurzen Begrüßung in den Saal, Oswald mußte dem alten Herrn einen ausführlichen Bericht über Bruno's Befinden während der letzten Stunden machen. „Nun, das ist ja schön, recht schön,“ sagte er, „daß wir noch so mit einem blauen Auge davonkom¬ men; ich fürchtete schon, es würde ein Nervenfieber werden. Gehen Sie doch auch zu meiner Tochter und sagen sie ihr: daß es mit Bruno besser geht; sie hat sich schon ein paar Mal nach ihm erkundigt.“ Oswald trat in den Saal. Man fing eben wieder einen Tanz an, den letzten vor der großen Pause, in welcher in den Sälen oben gespeist werden sollte. Er blieb in der Nähe der Thür auf dem Tritt des nie¬ drigen Divans, der sich um den ganzen Saal herum¬ zog, stehen. Die Paare der Tanzenden wechselten; bald kamen diese bald jene in seine Nähe. Einmal stand Emilie von Breesen, die mit ihrem Bräutigam tanzte, dicht vor ihm. Sie that, als ob sie ihn nicht bemerkte; sie lachte und scherzte, vielleicht etwas zu laut — aber es ist schwer, wenn man eine Rolle spielt, zu welcher man sich zwingen muß, die Grenzen nicht zu überschreiten; von Cloten dagegen machte von dem Vorrecht der Leute in seiner Situation, die gleich¬ gültigsten Dinge im Flüsterton mit obligatem bedeu¬ tungsvollen Lächeln in die Ohren zu raunen, den aus¬ gedehntesten Gebrauch. Oswald hatte von der plötzlichen Verlobung dieser Beiden gehört; er wußte wol am besten, wie dieselbe zu Stande gekommen war. Er erinnerte sich, wie wegwerfend Emilie an dem Abend in Barnewitz sich über Cloten geäußert hatte. Jetzt war sie seine Braut. — Es wird eine glückliche Ehe werden; dachte Oswald, und er mußte sich sagen, daß er nicht den kleinsten Theil der Schuld an diesem Un¬ glück trage. Ein paar Augenblicke später kam Helene in seine Nähe. Sie tanzte mit von Sylow. Oswald hatte sie schon längere Zeit beobachtet, und bemerkt, daß sie schweigend und kalt, wie eine Marmorstatue neben ihrem Tänzer stand, der die Hoffnungslosigkeit seiner Bemühungen, eine Conversation zu Stande zu brin¬ gen, eingesehen zu haben und den Kronleuchtern eine specielle Aufmerksamkeit zu widmen schien. Sobald sie Oswald erblickte, flog ein Strahl des Lebens über die schönen ernsten Züge. Sie winkte ihm mit den Augen zu sich heran. „Wie geht es Bruno?“ „Danke! besser; er wollte schlafen.“ „Bleiben Sie hier?“ „Nein; ich werde bald wieder hinaufgehen.“ „Grüßen Sie Bruno — und hier! nehmen Sie ihm diese Rosenknospe mit.“ Helene nahm eine Rosenknospe aus dem Bouquet, welches sie in der Hand trug, und gab sie Oswald, der sie mit einer Verbeugung entgegennahm. Er be¬ merkte, daß von Sylow's Aufmerksamkeit sich plötz¬ lich von den Kronenleuchtern abgewandt hatte, und daß die Augen des jungen Edelmannes mit einem Ausdruck, der ihm durchaus nicht gefiel, auf ihm hafteten. Im nächsten Moment stand ein anderes Paar auf der Stelle. „Hast Du Deinen alten Anbeter nicht gesehen, Emilie?“ sagte Cloten. „Wen?“ „Dort drüben, den Doctor Stein. Er stand vorhin dicht hinter uns.“ „Ach da! — meinen alten Anbeter? Du bist wol toll, Arthur!“ „Nun, nun! sei nur nicht bös! ich glaube ja kein Wort von der ganzen Geschichte. Aber um Himmelswillen, sieh doch nur! Er spricht jetzt mit Helene Grenwitz; sie giebt ihm eine Rose. Nein, da hört doch aber Alles auf! wahrhaftig, Alles!“ „Ich sagte Dir ja, daß die Beiden vollkommen einig seien. Er sticht Euch Alle aus.“ „Wahrhaftig — es ist stark! aber ich habe dafür gesorgt, daß die Geschichte unter die Leute kommt.“ „Was hast Du gethan?“ „Nun, ich habe weiter erzählt, was Du mir vor¬ hin unter dem Siegel der Verschwiegenheit mittheiltest. Der ganze Saal weiß es schon, ha, ha, ha!“ „Aber das hatte ich Dir nicht erlaubt.“ „Ich glaubte in Deinem Sinne zu handeln. Herr Stein wird es bereuen, wenn er sich nicht schleunigst mit seiner Rosenknospe entfernt.“ „Was hast Du vor?“ „Ich nicht allein; wir wollen dem Burschen sei¬ nen Standpunkt klar machen. Es wird eine jottvolle Geschichte, wahrhaftig! Ich erzähle sie Dir nachher. Ha, ha, ha!“ Der glückliche Bräutigam führte seine Braut, da der Tanz zu Ende war, nach ihrem Platz zurück und wandte sich zu von Sylow, der auf ihn zukam. „Hast Du gesehen, Cloten?“ „Na ob!“ „Es ist ein wahrer Scandal.“ „Ich bedaure nur den armen Felix.“ „Das müssen wir ihm doch erzählen. Weißt Du nicht, wo er ist?“ „Er sagte vorhin, das Tanzen langweile ihn; er wollte zu den Spielern gehen. Barnewitz hat, glaube ich, eine Bank aufgelegt. Wir können auch hin; es wird nicht mehr getanzt vor Tische. Es ist gerade noch Zeit, ein paar Louis zu gewinnen. Kommst Du mit?“ „Natürlich.“ Emilie von Breesen hatte die Unterredung der Beiden aus der Ferne beobachtet. Sie sah, wie sie lachend, Arm in Arm, den Saal verließen. Auch Oswald sah sie nicht mehr. Eine entsetzliche Angst ergriff sie. Sie hatte in ihrer eifersüchtigen Wuth zuerst Oswald's Namen mit dem Helenen's in Ver¬ bindung gebracht; sie hatte, sich an Oswald zu rächen, schon vor einigen Tagen Felix die Entdeckung, die sie gemacht zu haben glaubte, mitgetheilt. Sie hatte heute Abend wieder davon angefangen, um den geistlosen Neckereien Cloten's ein Ende zu machen. Jetzt erst merkte sie, daß sie zu weit ge¬ gangen sei und daß sie vielleicht Oswald, den sie trotz alledem doch noch mit der ganzen Kraft ihres leidenschaftlichen Herzens liebte, einer großen Ge¬ fahr ausgesetzt habe. Sie hätte ihn vielleicht in der Raserei ihrer Eifersucht mit ihren eigenen Händen morden können — aber ihn den brutalen Mißhand¬ lungen Cloten's und der Anderen aussetzen — der Gedanke war ihr fürchterlich. Sie blickte wie hülfe¬ suchend im Saal umher. Ihr Bruder kam in ihre Nähe. Sie rief ihn. „Was willst Du, Kleine?“ „Hast Du Doctor Stein schon gesehen?“ „Ja, weshalb?“ „Du wolltest ihn ja während der Jagdzeit auf ein paar Tage zu uns einladen. Es wäre doch unartig, wenn wir uns jetzt gar nicht um ihn küm¬ merten.“ Emilie war sehr roth geworden, als sie das sagte; ihre ganze Geistesgegenwart schien sie verlassen zu haben. „Ihn zu uns einladen?“ rief Adolf von Breesen, „nun das fehlte wahrhaftig noch! damit die albernen Klatschereien, die Lisbeth über Dich und ihn aufge¬ bracht hat, doch ja unsterblich werden — ihn zu uns einladen? lieber wollte ich —“ „Ich bitte Dich, Adolf! sei still, der halbe Saal kann ja hören, was Du sagst.“ „Höre, Kleine!“ sagte der junge Mann in leisem, aber sehr bestimmtem Ton. „Das gefällt mir nicht. Du weißt, ich habe Dich lieb, wie ein Bruder nur seine Schwester lieb haben kann; aber gerade deshalb muß ich dafür sorgen, daß Du Dich in keine solche Thorheiten tiefer einläßt. Und ich werde dafür sorgen, verlaß Dich d'rauf!“ Damit wandte er ihr den Rücken und ging den Anderen nach zum Saal hinaus. Emilie hatte Mühe, ihre Thränen zurückzuhalten. Ihre Angst wuchs mit jeder Secunde. Es mußte Rath geschafft werden — so oder so. Das entschlossene Mädchen griff zu einem verzweifelten Mittel. Sie ging auf Helene zu, die nicht weit von ihr mit andern Damen auf dem Divan saß und sagte: „Auf ein Wort, Helene!“ „Was ist's?“ sagte Helene, aufstehend. „Komm ein wenig weiter hierher. — Helene, Du hast den Doctor Stein lieb, nicht wahr?“ „Wie kommst Du darauf?“ erwiederte Helene und die Gluth schoß ihr in die bleichen Wagen. „Gleichviel, ich habe ihn auch lieb; ich habe ihn sehr lieb, wenn Du willst — und deshalb bitte ich Dich, sage ihm — Du kannst es, ich kann es nicht, sonst würde ich es selber thun — er sollte sich aus der Gesellschaft entfernen. Cloten und mein Bruder und die Andern sind sehr aufgebracht über ihn. Ich fürchte, sie führen etwas gegen ihn im Schilde. Bitte, bitte, Helene, sage ihm: er solle fortgehen — gleich — ich wäre außer mir, wenn ihm auch nur die ge¬ ringste Beleidignng von meinem Bruder oder von Cloten zugefügt würde.“ „Aber wo ist er?“ sagte Helene, welche die von Emilie ausgesprochenen Befürchtungen, freilich nicht ganz aus denselben Gründen, nur zu wahrscheinlich fand. „Ich glaube, er ist schon wieder nach oben gegangen.“ „Wenn Du es nicht gewiß weißt, verlasse Dich nicht darauf. Frage doch den Bedienten da?“ „Haben Sie Herrn Doctor Stein nicht gesehen?“ fragte Helene. „Er ist drüben, gnädiges Fräulein, in den Spiel¬ zimmern.“ „O, mein Gott, was sollen wir thun?“ sagte Emilie. „Baron Oldenburg!“ rief Helene; „wollen Sie die Güte haben, einen Augenblick hierher zu kommen?“ „Mit Vergnügen, mein Fräulein,“ sagte der Ba¬ ron, der, die Hände auf dem Rücken, ein Gemälde an der Wand betrachtete. „Was hast Du vor, Helene?“ „Laß mich nur! Wollen Sie mir einen Gefallen thun, Herr Baron.“ „Mais, sans doute!“ „Suchen Sie den Doctor Stein auf; er ist drü¬ ben in den Spielzimmern, und sagen Sie ihm: ich ließe ihn bitten, sogleich zu Bruno zurückzukehren. Hören Sie? sogleich!“ „Es bedurfte nicht Oldenburg's Scharfblicks, um zu sehen, daß dieser Auftrag, den ein Diener eben so gut hätte ausführen können, eine tiefere Bedeutung hatte. Helene hatte die größte Mühe gehabt, die Worte in einem einigermaßen unbefangenen Tone her¬ vorzubringen, und Emilien's mit dem Ausdruck der gespanntesten Erwartung auf ihn gerichtetes, von der innern Erregung blasses Gesicht, war ein sehr deut¬ licher Commentar zu Helenen's Worten. „Ist das Alles, mein Fräulein?“ „Ja.“ „Ich gehe, Ihren Auftrag sofort und pünktlich aus¬ zurichten!“ sagte der Baron, sich verbeugend und mit, selbst für ihn ungewöhnlich langen Schritten den Saal verlassend. Unterdessen hatte Oswald, nachdem Helene mit ihm gesprochen, sich zwecklos in den Zimmern herum¬ getrieben. Es war seine Absicht gewesen, sogleich hin¬ auf zu gehen; aber der Gedanke, Bruno, wenn er wirklich, wie er hoffte, eingeschlafen sein sollte, nur zu stören; vielleicht der unbestimmte Wunsch, Helenen noch einmal zu sehen, und jene dunkle dämonische Macht, die den Menschen, unbekümmert um sein Wohl oder Wehe, seinem Schicksal entgegentreibt, ließen ihn nicht dazu kommen. Ohne kaum zu wissen, wie er dorthin gerathen war, fand er sich plötzlich in einem Zim¬ mer auf der andern Seite des Flurs, wo sich eine Menge Herren um einen großen Tisch drängten. Einige saßen, die Meisten standen. Herr von Bar¬ newitz saß in der Mitte, und hielt Bank. Er mußte viel Glück gehabt haben. Große Haufen von Gold- und Silberstücken und Kassenscheinen lagen vor ihm und vermehrten sich mit jedem Augenblick. Felix saß in seiner Nähe. Er pointirte sehr eifrig, aber, wie es schien, nicht besonders glücklich. Sein Gesicht war stark geröthet, seine Augen mit Blut unterlaufen, die Adern auf seiner Stirn geschwollen. Er hörte wenig auf die Herren, die hinter ihm standen und von denen einige ihn noch aufzumuntern, andere zurückhalten zu wollen schienen. Oswald kam ihm zufällig gerade gegenüber zu stehen; Felix bemerkte ihn erst nach eini¬ ger Zeit; man hätte sehen können, daß von dem Augenblick an seine Unruhe noch größer wurde; er trank ein Glas auf das andere aus der neben ihm stehenden Weinflasche, und verdoppelte und verdrei¬ fachte seine Einsätze, ohne einen andern Erfolg, als daß er doppelt und dreifach so viel und so schnell verlor, als vorher. Eben war wieder eine Rolle Goldstücke zu den übrigen, die vor Barnewitz aufgehäuft waren, gewan¬ dert; Felix griff in die Brieftasche, die vor ihm lag, und holte eine Kassenanweisung heraus. „Sie werden doch nicht das Ganze auf einmal setzen wollen, Grenwitz?“ sagte von Grieben, seine Giraffengestalt zu ihm niederbeugend. „Sie sind wol toll, Grenwitz?“ sagte Cloten, der mit Sylow soeben hereintrat. „Ach was!“ sagte Felix, „das Andere hält nur auf.“ „Faites votre jeu, Messieurs!“ rief Barnewitz, ein neues Spiel Karten zur Hand nehmend. „Haben Sie gesetzt, Grenwitz?“ „Ja wol!“ „Coeurdame für mich. Damen immer für mich. Danke, Grenwitz, kommen Sie bald wieder so.“ Felix schien für den Augenblick diesem freundlichen Wunsche nicht entsprechen zu können. Sein wirrer Blick irrte über den Kreis derer, die den Tisch um¬ standen und blieb auf Oswald haften. „Sie da!“ rief er plötzlich überlaut; „holen Sie mir doch einmal ein Glas Wein.“ Oswald wurde erst, als die Augen Aller sich auf ihn wandten, inne, daß diese groben Worte an ihn gerichtet waren. „Der Mensch scheint nicht hören zu können,“ rief Felix. „Sie sollen mir ein Glas Wein holen, ver¬ standen!“ „Ich glaube, ein Glas Wasser würde Ihnen dien¬ licher sein,“ sagte Oswald, ohne seine Stellung zu verändern, mit ruhiger, fester Stimme. Es war so still in dem Zimmer geworden, daß man eine Nadel hätte fallen hören. „Wie gefällt Ihnen das, meine Herren?“ sagte Felix, um sich blickend; „mein Onkel hält sich eine allerliebste Sorte Bedienten, meinen Sie nicht?“ „Zeigen Sie ihm doch, wer Herr im Hause ist,“ sagte von Sylow. „Oder lassen Sie ihn eine Stunde nachsitzen,“ meinte von Grieben. „Oder besser: geben Sie ihm die Ruthe, mit der er seine Buben züchtigt,“ sagte von Cloten. „Oder strafen Sie ihn mit der Verachtung, die er verdient;“ rief von Breesen. Oswald wandte seine Augen von Einem zum An¬ dern, wie ein Löwe, der nicht weiß, ob er sich auf die Hunde, die ihn umheulen, stürzen soll oder nicht. Seine Gestalt war hoch aufgerichtet. Vielleicht zitterte die Hand, die er auf den Tisch gelegt hatte, etwas; aber sicher nicht aus Feigheit. „Werden Sie gehen, oder nicht?“ rief Felix, auf¬ springend und dicht vor Oswald tretend. „Treiben Sie die Unverschämtheit nicht zu weit,“ sagte Oswald, die Rosenknospe, die er für Bruno von Helene erhalten hatte, in das Knopfloch steckend; „ich müßte sonst an Ihnen ein Exempel für die übrigen Bursche statuiren.“ Felix faßte nach Oswalds Brust. Oswald packte ihn mit starken Armen, riß ihn in die Höhe und schmetterte ihn zu Boden, daß die Gläser und das Geld auf dem Tische erklirrten. „Wer hat Lust, der Zweite zu sein?“ rief er mit Donnerstimme; „kommt heran, ihr feigen Wölfe, die ihr nur in Rudeln jagt!“ Seine Augen blitzten vor Kampfeslust; seine Brust F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 18 wogte; seine Hände ballten sich krampfhaft; er achtete in diesem Momente sein Leben keine Nadel werth. Das sahen Alle, und Keiner wagte, seine Heraus¬ forderung anzunehmen. Felix hatte sich wieder aufgerafft und war in die Arme der ihm zunächst Stehenden zurückgetaumelt. Er war betäubt von dem schweren Fall; Blut strömte ihm aus Nase und Mund. Ein drohendes Murren lief durch die Schaar. Man hörte einzelne Stimmen: sollen wir das dul¬ den? — schlagt ihn nieder! — er darf nicht lebend vom Platz! Sie drängten an ihn heran; ein wüstes Schreien und Toben brach aus dem Haufen; Oswalds Blicke suchten den heraus, welcher zunächst an die Reihe kommen sollte. Da stand plötzlich Oldenburg neben ihm. „Wie, meine Herren?“ rief er, sich zu seiner ganzen stattlichen Höhe emporrichtend, „zwanzig gegen Einen? Der Kampf ist doch ein wenig zu ungleich. Wollen Sie sich nicht lieber noch ein paar Bedienten zur Hülfe rufen?“ Dies Wort wirkte wie ein Zauber. Er stellte für Jeden die schimpfliche Scene in das rechte Licht. Die Verständigeren wußten dem Barone Dank, daß er ihnen eine Schande erspart hatte, die der nächste Augenblick über sie gebracht haben würde. Nur Einige schienen seine Dazwischenkunft übel zu em¬ pfinden. „Die Sache geht Sie nichts an, Baron,“ rief Grieben trotzig. „Erlauben Sie, Herr von Grieben,“ erwiederte Oldenburg, „die Sache geht mich aus zwei Gründen etwas an. Einmal, weil ich es für die Pflicht jedes Mannes halte, darauf zu sehen, daß es bei solchen Affairen, ich will nicht einmal sagen, anständig, son¬ dern nur ehrlich zugeht, und zweitens, weil ich die Ehre habe, Herrn Doctor Stein meinen Freund zu nennen. Wenn Sie, oder irgend einer der Herren mich für das, was ich hier gesagt habe, zur Rechen¬ schaft ziehen zu müssen glauben, so stehe ich gern zu Diensten. Vorläufig aber verstatten Sie mir, dafür zu sorgen, daß die Angelegenheit meines Freundes, des Herrn Doctor Stein, wie es sich unter Männern ziemt, zu Ende geführt wird. Ich werde in wenigen Augenblicken wieder unter Ihnen sein, Ihre Auf¬ träge entgegenzunehmen. Wollen Sie mir Ihren Arm geben, Herr Doctor?“ Der Baron nahm Oswald's Arm in den seinen 18* und führte ihn durch die Schaar der jungen Edelleute, die bereitwillig Platz gab, hindurch, zum Zimmer hinaus. Draußen angelangt, sagte er: „Gehen Sie nur auf Ihr Zimmer. Ich folge Ihnen in wenigen Mi¬ nuten. Es versteht sich von selbst, daß Sie der Be¬ leidigte sind.“ „Ja.“ „So werde ich Felix von Grenwitz in Ihrem Namen auf Pistolen fordern.“ „Ihn und wer noch sonst Lust hat, einen Gang mit mir zu machen.“ „Wir wollen uns vorläufig mit Grenwitz begnügen. An den Andern ist Ihnen ja auch wohl so viel nicht gelegen. Wann?“ „Sobald wie möglich natürlich; morgen früh mei¬ netwegen.“ „ Bon . Zehn Schritt Distance etwa?“ „Oder fünf.“ „Zehn reicht aus. Das Uebrige überlassen Sie mir. Also au revoir in Ihrem Zimmer.“ Der Baron kehrte auf den Schauplatz der letzten Scene zurück, wo natürlich die Sache von zwanzig Zungen zugleich besprochen wurde, die bei Oldenburg's Eintreten verstummten. Oldenburg entledigte sich seines Auftrags an von Grieben, der es übernommen hatte, Felix zu secundiren. Es wurde ein Rencontre auf die fünfte Stunde des folgenden Tages (im Fall Felix sich bis dahin nicht erholt haben sollte, auf die zehnte) verabredet; das Rendezvous: ein kleines Wäldchen auf dem Gute Herrn von Cloten's. Dann folgten die Herren — man kann sich denken, in wel¬ cher Stimmung — der schon zweimal an sie ergange¬ nen Aufforderung, sich in den Ballsaal zu verfügen, um die Damen zur Abendtafel hinauf zu begleiten. Felix war schon vorher von Einigen auf sein Zimmer geführt worden, da er zu berauscht und von seinem Falle noch zu betäubt war, um weiter an der Gesell¬ schaft Theil nehmen zu können. Oldenburg begab sich zu Oswald zurück. Als er ihn nicht in seinem Zimmer fand, und ihn bei Bruno vermuthete, aus dessen Zimmer das Licht durch die halb geöffnete Thür schimmerte, ging er leise dorthin und sah Oswald über des Knaben Bett gebeugt. „Wie steht es?“ fragte er. „Ich fürchte, schlecht,“ sagte Oswald, emporblickend; „sein Schlaf ist sehr unruhig und der Puls fliegt.“ „Lassen Sie mich sehen,“ sagte Oldenburg, „ich ver¬ stehe mich auf dergleichen.“ „Er ist in der That sehr krank,“ sagte er nach einer kleinen Pause. „Wie lange währt denn dies schon und wie hat es angefangen?“ Oswald gab ihm mit fliegenden Worten eine Schil¬ derung von Bruno's Krankheit. „Und der Schmerz hatte vor einer Stunde völlig nachgelassen?“ fragte Oldenburg. „Ja, fast gänzlich —“ „Dann machen Sie sich auf das Schlimmste ge¬ faßt. Ich vermuthe, es hat eine Verletzung im Inneru stattgefunden, und jetzt ist der Brand dazu getreten. Einer von uns muß nach dem Doctor.“ — Er sah nach der Uhr. „Es ist zehn; ich wollte vor Tisch wieder nach Hause reiten. Mein Amansor steht in diesem Augenblick gesattelt vor der Thür. Reiten Sie nach der Stadt. Ich bin hier vielleicht jetzt nützlicher wie Sie. Sie haben hellen Mondschein. Der Weg ist gut. Nach B. ist eine halbe Meile. In zehn Minuten spätestens müssen Sie dort sein. Ziehen Sie sich ihren Frack aus und einen Ueberrock an. So! Peitstche und Sporen brauchen Sie nicht. Almansor ist noch ganz frisch. Schonen Sie ihn nicht.“ Der Baron hatte Oswald den Rock anziehen hel¬ fen, ihm den Hut auf den Kopf gesetzt. Oswald ließ Alles mit sich geschehen. Er fand sich erst auf Alman¬ sors Rücken wieder, als ihm der Nachtwind um die Ohren pfiff, und Bäume und Häuser, Hecken und Felder und Gärten rechts und links im Mondenschein gespensterhaft an ihm vorüberflogen. Und jetzt, war er auf der weiten Haide, die sich hinter dem Dorfe bis nach Faschwitz erstreckt. Er sah den Mondenschein unheimlich glitzern in dem schwarzen Wasser der tiefen Torfgräben; er hörte von Zeit zu Zeit den heiseren Schrei eines Sumpfvogels, den er aus seinem Neste aufgeschreckt hatte; sonst nichts, nichts als den dumpfen Donner von Alman¬ sors flüchtigen Hufen und den Nachtwind, der seufzend und klagend über die Haide strich. Und jetzt, als er mitten auf der Haide war — war das nicht noch ein anderer Hufschlag außer dem Almansors, oder war es nur das Echo? Es kam näher und immer näher; Almansor spitzte die Ohren und griff aus, schneller und immer schneller, als flöhe er vor dem Tod. Und doch kam es näher und immer näher. Oswald blickte sich um und ein Grausen packte ihn, als er jetzt dicht hinter sich eine lange schwarze Gestalt auf einem schwarzen Pferde erblickte, dessen Hufe den Boden nicht zu berühren schienen. Noch eine Secunde und der schwarze Reiter war an seiner Seite, die Pferde jagten Kopf an Kopf und schnoben sich an aus weit geöffneten Nüstern. „Was beliebt?“ rief Oswald, sein Grausen be¬ meisternd. „Nicht viel!“ erwiederte der schwarze Reiter mit einer tiefen hohlen Stimme. „Wollte nur vermelden, daß meine gnädige Frau seit vorgestern zurück; ich dachte, der junge Herr wüßten's vielleicht nicht. Nicht für ungut, junger Herr! gute Nacht und gute Ver¬ richtung!“ Der Reiter warf sein Roß herum; Almansor stürmte weiter; im nächsten Augenblicke schon war Oswald wieder allein. War dies die Ausgeburt seines überreizten Hirns? war's Wirklichkeit? war es ein Phantom? war es der alte Baumann auf dem Brownlock gewesen? Oswald hätte es nicht zu sagen gewußt. Und wieder flogen Bäume und Häuser, Hecken und Gärten rechts und links gespensterhaft im Mondenschein an ihm vorüber. Ein Hund fuhr heulend nach Alman¬ sors Hufen. Im nächsten Augenblick schon war Alles verschwunden und unübersehbare Kornfelder wogten und zischelten auf beiden Seiten der Landstraße. Dann schimmerten Lichter herüber, näher und näher. Eine helle Glocke schlug einen Schlag an; schon viertel auf elf! — und wieder Häuser rechts und links, Bäume und Hecken und Gärten. Dann ein dunkles Thor, und dann den Hufschlag Almansors auf dem Straßenpflaster. „Wo wohnt der Doctor Braun?“ „Die Straße zu Ende; das letzte Haus links.“ Vor dem bezeichneten Hause hielt ein Wagen. Aus der offenen Hausthür und den offenen Fenstern in den Parterrezimmern schimmerte Licht. „Ist der Doctor zu Hause?“ „Hier!“ sagte Doctor Braun am Fenster erschei¬ nend. „Von wo her?“ „Von Grenwitz. Ich bin's. Eilen Sie; Bruno liegt auf den Tod.“ „Wollte eben hinaus;“ rief Doctor Braun; schon in der Thür. „Setzen Sie sich zu mir. Ich will selber fahren. Karl kann Ihr Pferd langsam zurück¬ reiten. Sitzen Sie? ja; dann fort!“ Der Wagen donnerte durch die dunkeln Straßen, durch das enge Thor, hinaus in die stille Mondnacht, die über Feldern und Gärten, und Wäldern und Wie¬ sen so duftig und täumerisch lag, denselben Weg, den Oswald vor wenigen Minuten gekommen war. Die kräftigen Pferde des Doctors griffen mächtig aus, schon waren sie wieder auf der Haide. „Es war nicht viel gesprochen worden von beiden Seiten. Oswald hatte von Bruno's Krankheit, wie es der Laie pflegt, Bericht erstattet, auf Nebendingen verweilend, und das Wichtigste auslassend. Doctor Braun hatte einige kurze Fragen gethan. Dann hat¬ ten Beide eine Zeit lang geschwiegen. „Sie müssen sich auf das Schlimmste gefaßt ma¬ men!“ hub Doctor Braun an. „Es ist, nach dem, was Sie mir gesagt haben, sehr wahrscheinlich, daß wir Bruno nicht mehr am Leben finden.“ Oswald antwortete nicht. Ein Stöhnen brach aus seiner Brust, wie eines Gefolterten, wenn die Schrau¬ ben noch um eine Windung angezogen werden. Der Doctor hieb in die Pferde, die nun im Ga¬ lopp weiter stürmten. Ein paar Minuten später hielt der Wagen vor dem Portal. Das ganze Schloß schimmerte von Licht. Aus dem Speisesaale rauschte die Musik. Die Diener liefen geschäftig ab und zu. Als sie in Bruno's Zimmer traten, erhob sich der Baron von dem Bett, über das er gebeugt stand. „Gott sei Dank, daß Sie kommen!“ sagte er; ich habe schon an vielen Krankenlagern gewacht: so lang aber ist mir keine Stunde geworden!“ Er trocknete sich seine Stirn; sein ernstes Gesicht war bleich; er schien auf's Tiefste ergriffen. Doctor Braun untersuchte den Kranken, dann blieb er neben dem Bett stehen, ohne die Andern anzu¬ blicken. „Ist keine Hoffnung?“ „Keine.“ Da richtete sich Bruno halb auf: „Bist Du's, Mutter? kommst mich einzulullen? wie geht doch noch die alte Weise?“ Und in wunderbar süßen Tönen, leise, ganz leise, wie die Klänge einer Aeolsharfe, begann er ein schwe¬ disches Lied zu singen, wie es ihm wol seine Mutter vor langen Jahren gesungen haben mochte. Er lehnte sich wieder in das Kissen zurück. Durch die tiefe Stille im Zimmer tönte nur das Schluchzen Oswalds; auch die Augen der beiden andern Männer standen voll Thränen. „Bist Du es, Oswald?“ fragte Bruno, „weshalb weinst Du? guten Abend, Herr Doctor; wo kommen Sie her? es geht wol zu Ende mit mir? Wo ist Baron Oldenburg? Geben Sie mir die Hand. Sie sind sehr gut gegen mich gewesen. Doctor, muß ich sterben? Ja? — sagen Sie es mir, ich bin kein Feigling, ich habe es schon seit gestern gewußt; muß ich sterben? ja! — dann, Oswald, eine Bitte; ich will es Dir in's Ohr sagen.“ Oswald beugte sich über ihn. Er erhob sich und ging nach der Thür. Olden¬ burg war ihm gefolgt. „Ich weiß, was Bruno will!“ sagte er; „er hat in seinen Phantasien schon hundert Mal nach ihr verlangt; ich will sie rufen. Es ist ja eines Ster¬ benden letzte Bitte.“ Er entfernte sich, Oswald trat wieder an das Bett. „Kommt sie?“ „Ja.“ „Lege mir das Kopfkissen etwas höher, Oswald, und stelle die Lampe da hin, daß der Schein über mich weg, gerade auf sie fällt. Danke, so ist es recht.“ „Sie kommt nicht — doch! war das nicht ihre Stimme? schraube die Lampe tiefer, Oswald — es wird ja so hell im Zimmer . . . Helene!“ Ein seliges Lächeln flog über sein Gesicht. „Helene! wie bleich Du bist! und doch wie schön! gieb mir die Rose an Deinem Busen! o, weine nicht! laß mich Deine Hand küssen, Helene!“ Helene neigte sich zu ihm und küßte ihn auf den Mund. Bruno schlang seine Arme um ihren Hals. „Ich liebe Dich, Helene!“ Seine Arme glitten auf die Decke zurück. Doctor Braun zog Helene sanft in die Höhe. Er beugte sich über das Bett und lauschte einen Augenblick. Indem er sich wieder aufrichtete, strich er mit der Hand leise über die Augen des Todten. Siebenzehntes Kapitel. Es war drei Tage nach den Ereignissen dieser Nacht. In der Frühe des Morgens hatte es geregnet; jetzt in den Vormittagsstunden, blickte die Sonne auf Augenblicke aus den schweren Wolken, die sich lang und langsam vor einem feuchten Westwinde nach Osten ihr entgegenwälzten. Auf dem Kirchhofe zu Faschwitz gingen in der Lindenallee, die von dem einen Ende bis zum andern führt, und die Gräber der Adligen von denen der gewöhnlichen Sterblichen trennt, zwei Personen in ernsten Gesprächen auf und ab. Vor der einen Thür des Kirchhofs, aus der man unmittelbar auf die Landstraße gelangt, hielt eine mit zwei Pferden be¬ spannte elegante Kutsche. Neben der Kutsche hin und her führte ein Reitknecht zwei schöne Pferde am Zügel. Kutscher und Reitknecht unterhielten sich nur im halblauten Ton, als ob sie den alten Mann mit dem langen eisgrauen Schnurbart, der auf einem der Prellsteine an der Kirchhofsthür saß und von Zeit zu Zeit die tiefliegenden ernsten Augen durch das Gitter der Thür auf die in dem Lindengange auf und ab Wandelnden wandte, in seinen Betrachtungen nicht stören wollten. Die auf und ab Wandelnden waren Melitta und Oldenburg. Melitta war nicht in Trauer, aber ihr liebes schönes Gesicht hatte einen Ausdruck von Schwer¬ muth, den man wohl früher nicht darin gesehen hatte. Selbst das Lächeln, mit welchem sie manche Bemer¬ kung ihres Begleiters beantwortete, war nicht das alte, freudige — es war wie die Sonnenblicke heute aus den trüben melancholischen Wolken. „Und Sie wollen wirklich fort?“ fragte sie, eine Pause, die in dem Gespräche eingetreten war, unter¬ brechend. „Ich ritt nach Berkow hinüber, Ihnen meinen Abschiedsbesuch zu machen, und Sie zu fragen, ob Sie noch irgend Befehle für mich hätten. Daß dies keine leere Form war, können Sie daraus sehen, daß ich Ihnen, als ich Sie nicht fand, hierher auf den Kirchhof gefolgt bin, obgleich Kirchen und Kirchhöfe, wie Sie wissen, durchaus nicht zu den Oertern ge¬ hören, die ich mit Vorliebe aufsuche.“ „Und wohin werden Sie diesmal Ihre Schritte lenken?“ „Ich weiß es noch nicht. Was soll ich hier? Da ich für die nicht leben kann, für die ich leben möchte, und da es in unserer engbrüstigen Zeit an jedem großen Zweck gebricht, an dessen Erreichung ein Mann sein Leben setzen könnte, so will ich denn auch, ein anderer Peter Schlemihl, meinen eignen Schatten suchen gehen. Ich fürchte nur, daß ich ihn niemals wieder finde, oder daß, wenn ich ihn finde, er sich wieder von mir trennt, wie das letzte Mal.“ „Haben Sie die Spur der braunen Gräfin nicht verfolgt?“ „Nein. Es würde auch nichts geholfen haben. Wandernde Zigeuner hinterlassen keine Spuren, so wenig wie ein Schiff, das durch die Wogen streicht. Wenn ich nicht wieder kommen sollte, Melitta, lassen Sie sich Ihre Büste, die ich in Rom von dem jungen Goldoni anfertigen ließ, und die jetzt in Cona in mei¬ nem Arbeitszimmer steht, geben. Oder wollen Sie sie sogleich haben?“ „Nein,“ sagte Melitta; „behalten Sie sie immer¬ hin. Ihre unendliche Güte verdiente wohl einen besseren Lohn als kalten Marmor.“ „Oder Marmorkälte?“ sagte Oldenburg lächelnd. „Die empfinde ich nicht gegen Sie, Oldenburg,“ sagte Melitta mit Wärme; „wahrhaftig nicht. Ich liebe Sie wie einen um ein paar Jahre älteren Bruder, der halb und halb Vaterstelle an uns ver¬ treten hat, und zu dem wir mit freudiger Verehrung und Dankbarkeit emporblicken. Es ist unser Schicksal, daß Sie mich mit einer anderen Liebe lieben müssen, daß ich Sie mit keiner andern Liebe lieben kann.“ „Es ist unser Schicksal, Melitta, ja wohl! und nun lassen Sie uns nicht weiter davon sprechen. Gegen das Schicksal läßt sich nichts thun. Wir kön¬ nen nur das Haupt beugen, und die Lorbeerkrone oder den Todesstreich schweigend entgegen nehmen. Das habe ich in den letzten Tagen lernen können, wenn ich es sonst noch nicht gewußt hätte. Und nun, Melitta, da Du mich selbst Deinen Bruder genannt hast, laß mich auch wie ein Bruder mit Dir sprechen. Darf ich?“ „Ja;“ sagte Melitta, die den Kopf bei diesen letzten Worten Oldenburg's gesenkt hatte, leise nach einer kleinen Pause. F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV . 19 „Bekämpfe Deine Liebe zu Oswald! Ich kann Dir nicht rathen, den Pfeil mit einem Ruck aus der Wunde zu ziehen, denn ich fürchte, Dein Leben würde mit Deinem Blute entströmen; aber sträube Dich auch nicht gegen die Wirkungen der Zeit, die fast so allmächtig ist, wie das ewige Schicksal. Du wirst nach einigen Wochen, einigen Monaten, gleichviel! aber Du wirst in Kurzem ruhiger über dies Alles denken; willst Du mir, Deinem Bruder, ver¬ sprechen, diese ruhigeren und weiseren Gedanken nicht wie eine Versündigung an Deiner Liebe von Dir zu weisen?“ „Ja.“ „Denn, Melitta, er ist Dir doch verloren, auch wenn er diese seine neueste Leidenschaft überwinden sollte. Er wird sich auf seiner tollen Jagd nach dem Ideal, das er nie auf Erden außer sich finden kann, weil es nur in seinem Gehirn lebt, in eine andere und wieder in eine andere Liebe stürzen; immer wähnen: dies ist, wonach Du bis jetzt ver¬ geblich gesucht, und immer wieder das Trügerische dieser Illusion erkennen, bis er zuletzt in der Ver¬ zweiflung über sein Schlemihlthum irgend einen Schritt thut, der ihn aller weiteren Sorgen um die confuse Welt überhebt. Die letzten Tage haben ihn diesem unvermeidlichen Ziele um eben so viele Jahre näher gebracht.“ „Wie steht es auf Grenwitz?“ „Felix ist jetzt außer Gefahr, obgleich man ihn in den ersten Stunden aufgegeben hatte. Er wird aber wohl sein Leben lang ein Invalide bleiben — eine schwere Strafe für Jemand, der, wie er, „ge¬ schwelgt in der Blumen Süßigkeit und jede Blume brach.“ Oswald's Kugel hat nur um eines Haares Breite ihr Ziel verfehlt. Felix wird Bruno's Tod sein Leben zu danken haben. Oswald hat während des Duells kein Wort gesprochen, seine Miene blieb unbeweglich; nur als Felix stürzte, flog eine Art von Lächeln über sein blasses Gesicht; er schien das Bild der vollkommensten Ruhe, und nur, wer ihn genauer betrachtete, sah, wie es in ihm wühlte, und bemerkte, daß von Zeit zu Zeit ein Fieberschauer durch seinen Körper zuckte. Er hat sich bei der ganzen Affaire mit einem bewunderungswürdigen Tact benommen, der selbst der Schaar seiner Gegner Achtung abnö¬ thigte. Sogar Cloten fühlte sich gedrungen, in die bewundernden Worte auszubrechen: es ist wahrhaftig Schade, daß der Mensch nicht von Adel ist.“ 19 * „Und Helene?“ „Sie reiste ein paar Stunden vor dem Duell mit ihrem Vater nach Grünwald. Ich glaube, man will das Mädchen dort in einer Art von anständiger Ver¬ bannung lassen, bis eine Aussöhnung mit der Mutter zu Stande gebracht werden kann. Das wird aber lange dauern. Die gute Frau ist vorläufig ganz au¬ ßer sich, und nur die Vorstellungen Cloten's und An¬ derer, daß Felix durchaus der Beleidiger gewesen ist, und durch sein Betragen das Duell unvermeidlich ge¬ macht hat, haben sie verhindert, Himmel und Hölle und die ganze Polizei gegen Oswald in Bewegung zu setzen.“ „Und — Oswald?“ „Ich denke, er hat Dir geschrieben?“ „Ja, aber nichts über seine Pläne für die Zu¬ kunft.“ „Von denen weiß auch ich nichts. Wir haben kaum drei Worte mit einander gewechselt. Ich weiß nur, daß er, um den Ausgang des Duells abzuwarten, sich während dieser letzten Tage in B. beim Doctor Braun aufgehalten hat. Ich freue mich über diese Wahl seines neuen Freundes. Braun scheint ein eben so liebenswürdiger, wie geistreicher und verständiger Mann. Gebe der Himmel, daß er unserm Telemach ein weiserer Mentor ist, als ich ihm bei dem besten Willen zu sein vermochte. — Aber ich muß jetzt schei¬ den, Melitta. Mein Almansor schlägt sich sonst die Hufe ab. Hast Du noch etwas hier zu thun?“ „Nein,“ sagte Melitta; „wir können gehen.“ „Wirst Du oft hierherzurückkehren?“ „Schwerlich. Ich habe nur sehen wollen, ob mei¬ nen Anordnungen Folge geleistet ist. Sie wissen am besten, daß der Todte, den ich zu besuchen kam, schon seit langen Jahren nicht, ja daß er eigentlich nie für mich gelebt hat.“ „Dann laß uns gehen, Melitta.“ Der Baron nahm den Arm der jungen Frau und führte sie die Allee hinauf. Sie sprachen weiter kein Wort. Der alte Baumann öffnete den Schlag der Kutsche. Oldenburg hob Melitta hinein und stand noch einen Augenblick, den Hut in der Hand, an dem offenen Fenster. Als die Pferde anzogen, reichte ihm Melitta die Hand, er drückte sie an seine Lippen. Er stand noch ein paar Augenblicke und sah dem da¬ voneilenden Wagen nach. Dann winkte er seinem Reitknecht, bestieg seinen Almansor und ritt im Ga¬ lopp nach der entgegengesetzten Richtung davon. Diese letzte Scene hatten zwei Männer beobachtet, die in demselben Augenblick, als Melitta und Olden¬ burg den Kirchhof verließen, durch die zweite Thür, welche auf die Dorfstraße führte, eingetreten waren und auf ein frisches Grab, in der Nähe der Thür, auf der adligen Seite, und auf ein etwas älteres, auf der andern Seite, Kränze gelegt hatten. Es waren Oswald und Doctor Braun; beide in Reisekleidern. Sie standen, Arm in Arm, auf der Treppe der Kirche und sahen der Abschiedsscene zwischen Oldenburg und Melitta zu. Als der Baron Melitta's Hand küßte, flog ein ironisches Lächeln über Oswald's bleiches und verfallenes Gesicht. „Können wir gehen?“ sagte er; „Mir ist, als brennte mir der Boden unter den Füßen.“ „Ich bin bereit,“ sagte der Doctor. „Wenn es nach meinem Willen gegangen wäre, hätten Sie diese Gegend schon längst verlassen, und wenn es nach meinem Willen geht, kommen Sie nie wieder hierher zurück. Die Reise, die wir vorhaben, wird Sie wieder zu sich selbst bringen. Sie haben viel verloren, aber nichts, was sich nicht wieder gewinnen ließe. Sie haben Vernunft und Wissenschaft, des Menschen aller¬ höchste Kraft, verachtet; und doch ist für Sie nur Rettung zu hoffen von eben dieser Kraft, „denn“ — Sie erinnern sich der Worte Ihres Lieblingsdichters: „ — was Amor uns entwendet, Kann Apoll nur wiedergeben: Ruhe, Luft und Harmonien Und ein kräftig rein Bestreben — Kommen Sie! lassen Sie die Todten ihre Todten be¬ graben! für Sie muß jetzt ein neues Leben beginnen.“ Ende. Druck von F. Hoffschläger in Berlin.