Bjarne P. Holmsen. Papa Hamlet. UEBERSETZT UND MIT EINER EINLEITUNG VERSEHEN VON Dr. Bruno Franzius . Leipzig. Verlag von Carl Reissner. 1889. Einleitung des Uebersetzers. B ei dem in jüngster Zeit namentlich auch durch die Erfolge Ibsen's noch so gesteigerten Interesse, das man seit ungefähr einem Jahr¬ zehnt der jungen, kräftig aufstrebenden, nor¬ wegischen Litteratur in fast allen Culturländern entgegenbringt, habe ich es für eine nicht un¬ dankbare Aufgabe gehalten, meinen deutschen Landsleuten endlich auch einen Autor zugäng¬ lich zu machen, dessen Schöpfungen, obwohl zur Zeit auch in ihrer norwegischen Heimat noch lange nicht nach Gebühr gewürdigt, doch sicher danach angethan sind, in naher Zukunft die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Dieser Autor ist Bjarne Peter Holmsen. Am 19. December 1860 als der dritte Sohn eines streng orthodoxen Landpfarrers in Hede¬ marken geboren, verlebte er seine Kindheit in der alten Handelsstadt Bergen. Ein Onkel von ihm, ein Bruder seiner Mutter, der dort als Rechtsanwalt thätig war, hatte ihn, um seinen Eltern, deren Nachwuchs sich unterdess noch vergrössert hatte, eine Last abzunehmen, zu sich genommen. Aber die Fortschritte des kleinen Bjarne auf der Lateinschule waren sehr mittelmässige. Der Onkel erlebte nur wenig Freude an ihm. Es schien keine Aussicht vorhanden, dass er jemals sein Nachfolger werden würde. Er ist es auch in der That nicht geworden. Ob nun nur seiner geringen Begabung für die Huma¬ niora zu Folge, mag freilich dahingestellt bleiben. Thatsache jedenfalls ist es, dass der zukünftige Autor des „Papa Hamlet“, an dessen grandiosem Humor sich die Leser dieses Buches sicher er¬ quicken werden, in Christiania bereits durch sein erstes Examen hoffnungslos durchfiel. Ein Band Gedichte, der für die damalige Stimmung des jungen Poeten bezeichnend genug „Ein¬ tagsfliegen“ betitelt war, mochte wohl die meiste Schuld daran getragen haben. Als psychologisch bedeutsam darf uns jedenfalls auch der Umstand gelten, dass der junge Ly¬ riker die weitaus grösste Mehrzahl dieser „Ein¬ tagsfliegen“, denen allzugrosse Originalität aller¬ dings nicht nachgerühmt werden kann, in den Sezirsälen der Anatomie verfasst hatte. Seine spätere Vorliebe für die nackte Realität der Dinge war also damals noch eine ziemlich ge¬ theilte. Erst die Erfahrung, dass seine „Eintags¬ fliegen“ das in Wirklichkeit gewesen waren, wofür er sie prophetischen Gemüths ausgegeben hatte, nämlich Eintagsfliegen, deren kläglicher Existenz die Lumpenstampe bald ein jähes Ende bereitet hatte, mochte den Ausschlag gegeben haben. Mit seinem Studium schien es nichts rechtes werden zu wollen. Ein erneuter Versuch des Onkels, ihn der Wissenschaft dadurch zu retten, dass er ihn dazu beredete, sich wenigstens auf ein Semester in die theologische Fakultät ein¬ schreiben zu lassen, scheiterte. Damit hatte Bjarne Peter Holmsen's akademische Laufbahn ihren Abschluss erreicht. Er war verloren für immer . . . . Nur schwer wollte jetzt sein Vater, dessen Hoffnungen sich arg enttäuscht sahen, seine Einwilligung dazu geben, dass sein Sohn Kauf¬ mann wurde. Erst als der Onkel, der selber kinderlos, trotz der vielen Sorgen, die ihm sein Neffe bereitete, doch eine innige Neigung zu ihm gefasst hatte, sich bereit erklärte, ihn zu diesem Zwecke in's Ausland zu schicken, konnte er sich dazu verstehen, seine Bedenken zu über¬ winden. Das grosse Leben draussen, die neuen Ein¬ drücke, die täglich geregelte Arbeit, und wohl auch nicht in letzter Linie das mehrjährige Fernsein von der Heimat: auf alles das baute man. Und in der That, man hatte sich dies¬ mal nicht verrechnet. Als der junge Bjarne nach dreijähriger, angestrengter Thätigkeit in einem Londoner Bankhause, der sich dann noch ein weiterer zweijähriger Aufenthalt in Brest angeschlossen hatte, wieder nach Bergen zurückgekehrt war, durften die Seinen mit ihm zufrieden sein. Diese Zufriedenheit bekam erst wieder einen Stoss, als man schliesslich dahinter kam, dass der junge Banquier nebenbei auch noch wieder schriftstellerte. Wie die meisten seiner Lands¬ leute, die ihre Entwicklung dem Auslande ver¬ danken, hatte auch er eben Ideen und Anschau¬ ungen von dort mitgebracht, die zu den kleinen Verhältnissen seiner Heimat nicht mehr recht passen wollten. Was natürlicher, als dass jetzt der alte Poet in ihm wieder lebendig geworden war; zumal auch die grossen, neuen Litteratur¬ thaten seines Volkes, für deren Bedeutsamkeit ihm erst jetzt das rechte Verständniss aufge¬ gangen war, nicht ohne Einfluss auf ihn ge¬ blieben sein konnten. Freilich lässt sich constatiren, dass dieser Einfluss kein unbeschränkter war. Bereits aus den vorliegenden Stücken, zu deren Sammlung mich namentlich auch grade ihre unbestreitbare Originalität ermuthigte, wird sich der Leser darüber orientiren können, wie schnell es unsrem Dichter gelang, sich zu einer eignen Individualität emporzuringen. Die vor keiner Consequenz zurückschreckende Energie seiner Darstellungsweise, für die man sich selbst in seiner heimischen, norwegischem Litteratur vergeblich nach Vorbildern umsieht, scheint mir sogar Keime in sich zu enthalten, die bei vollerer Entfaltung weit über die Grenzen des Hergebrachten hinauswachsen werden. Man ahnt, wie sie das lebendige Product einer Zeit ist, von der das Wort geht, dass ihre Anatomen Dichter und ihre Dichter Anatomen sind. — Die Uebersetzung war, wie sich aus dem Vorstehenden wohl bereits von selbst ergiebt, eine ausnehmend schwierige. Die speciell nor¬ wegischen Wendungen, von denen das Origi¬ nal begreiflicherweise nur so wimmelt, mussten in der deutschen Wiedergabe sorgfältig ver¬ mieden werden. Doch glaube ich, dass dies mir in den meisten Fällen gelungen ist. Ich habe keine Arbeit gescheut, sie durch heimische zu ersetzen, wo ich nur konnte. Ueber meinen Autor hier eine Kritik zu fällen, steht mir nicht zu. Doch bekenne ich gerne, dass das Studium, das ich auf ihn ver¬ wandte, ihn mir um so lieber machte, je ein¬ gehender ich mich mit ihm beschäftigte. Es würde mir eine Genugthuung sein, wenn es den Lesern dieses Buches eben so erginge. Dass das Grundcolorit fast aller seiner Schöpfungen, die der jugendliche Dichter frei¬ lich sammt und sonders, bezeichnend genug, nicht etwa bereits als abgerundete Kunstwerke, sondern nur als „Studien“ zu solchen aufgefasst wissen will, Vergl. die Einl. zu: „Ein Städtchen am Fjord“. Christiania 1887. ein düstres ist, wird Niemand Wunder nehmen. Es ist eben die Mitternachts¬ sonne seiner nordischen Heimat, die ihren trüben Schein auch über sie ausgiesst. Zum Theil freilich mögen es auch Umstände rein persön¬ licher Natur sein, die hier mitwirken. Ein hart¬ näckiges Augenübel zwang den kaum Fünf¬ undzwanzigjährigen seiner praktischen Thätig¬ keit zu entsagen. Und es ist nur anzunehmen, dass sich jetzt auch der Schriftsteller durch dieses Leiden beeinträchtigt fühlt. Sein grossartig angelegter Socialroman „Fremud“, dessen Buchausgabe er soeben vor¬ bereitet, wird erkennen lassen, ob dieses Leiden drohend genug ist, um ernstere Befürchtungen für diese Kraft aufkommen zu lassen. Jedenfalls darf uns auch dieses schon ein Beweggrund mehr sein, für den Dichter ein¬ zutreten. Es soll ihm nicht gehen, wie seinem grossen Landsmanne Björnson, dessen beste Novelle im Original bereits in mehr als 70,000 Exemplaren verbreitet war, ehe sie volle 20 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen endlich in’s Deutsche übertragen wurde. Dr. Bruno Franzius. Papa Hamlet . I. W as? Das war Niels Thienwiebel? Niels Thienwiebel, der grosse, unübertroffene Hamlet aus Trondhjem? Ich esse Luft und werde mit Versprechungen gestopft? Man kann Ka¬ paunen nicht besser mästen? . . . „He! Horatio!“ „Gleich! Gleich, Nielchen! Wo brennt's denn? Soll ich auch die Scatkarten mit¬ bringen?“ „N . . . nein! Das heisst . . .“ — — „Donnerwetter nochmal! Das, das ist ja eine, eine — Badewanne!“ Der arme, kleine Ole Nissen wäre in einem Haar über sie gestolpert. Er hatte eben die Küche passirt und suchte jetzt auf allen Vieren nach seinem blauen Pincenez herum, das ihm wieder in der Eile von der Nase ge¬ fallen war. „Hä? Was? Was sagste nu?!“ „Was denn, Nielchen? Was denn?“ „Schafskopp!“ „Aber Thiiienwiebel!“ „Amalie?! Ich . . .“ „Ai! Kieke da! Also das!“ „Hä?! Was?! Famoser Schlingel! Mein Schlingel! Mein Schlingel, Amalie! Hä! Was?“ Amalie lächelte. Etwas abgespannt. „Ein Prachtkerl!“ „Ein Teufelsbraten! Mein Teufelsbraten! Mein Teufelsbraten! Hä! Was, Amalie? Mein Teufelsbraten!“ Amalie nickte. Etwas müde. „Ja doch, Herr Thienwiebel! Ja doch!“ Aber Frau Wachtel mühte sich vergeblich ab. Herr Thienwiebel, der grosse, unüber¬ troffne Hamlet aus Trondhjem wollte seinen Teufelsbraten nicht wieder loslassen. „Hä, oller Junge? Hä?“ „In der That, Nielchen! In der That, ein . . . ein . . . Prachtinstitut! Ein Prachtinstitut!“ „Hoo, hoo, hoo, hopp!! Hoo, hoo, hoo, hopp!! Bumm!!!“ Der grosse Thienwiebel schwelgte vor Wonne. Er hatte sich jetzt sogar auf ein Bein gestellt. Hinten aus seinem carrirten Schlafrock klunkerten die Wattenstücken. „Aber Thiiienwiebel!“ II. „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: Ob's edler im Gemüth, die Pfeil und Schleudern Des wüthenden Geschicks erdulden, oder . . . oder? . . . Scheusslich!“ Der grosse Thienwiebel hielt wieder inne. „Nicht zum Aushalten das! Nicht zum Aus¬ halten!!“ Die fünf kleinen, gelben Lappen hinter dem Ofen, die dort an einer Waschleine zum Trocknen aufgehängt waren, hatten ihn wieder total aus dem Concept gebracht. „Ekelhaft!“ Er hatte sich jetzt die Hände in seinen Schlafrocktaschen vergraben, erbittert vor das Fenster aufgepflanzt. Der Himmel drüben über den Dächern war tiefblau; in den nassen Dachrinnen, von denen noch gerade der letzte Schnee tropfte, zankten sich bereits die Spatzen; es war ein prachtvolles Wetter zum Ausgehn. „Armer Yorick!“ Noch um eine Nüance verdüsterter hatte sich jetzt der grosse Thienwiebel wieder rück¬ lings über das kleine, niedrige, mit blauem Kattun überspannte Sopha geworfen und starrte nun über die Spitzen seiner grünen, aus¬ getretenen Pantoffeln weg melancholisch zu Amalien hinüber. Ihre dünnen, lehmfarbenen Haare waren noch nicht gemacht, ihre Nachtjacke schien heute noch schmutziger als sonst und stand vorn natürlich wieder weit offen; der kleine kirsch¬ rote Spiessbürger, den sie auf ihr Fussbänkchen gekauert, nachlässig aus einem Gummischlauch säugte, sah auf einmal hässlich aus wie ein kleiner Frosch. „Armer Yorick!“ Herr Thienwiebel hatte sich wieder seufzend erhoben und setzte jetzt seine Wanderung von vorhin wieder fort. „ . . . . . . oder? oder . . . Sich waffnend gegen eine See von Plagen Durch Widerstand sie enden. Sterben — schlafen — Nichts weiter! —“ Vor dem Fenster konnte er sich jetzt wie¬ der nicht versagen eine kleine Pause zu machen. Die Sonne draussen ging gerade unter. Die Dächer sahen fuchsroth aus. Aber ein Blick auf seinen alten, abgenutzten Schlafrock unten liess ihn sich wieder zusammennehmen und seinen Monolog von neuem beginnen. „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: Ob's edler im Gemüth . . . Ä, Quatsch!!“ Mit einem Ruck war jetzt der Shakespeare, den er sich eben aus seiner Schlafrocktasche gerissen, auf den Tisch geflogen, wo er die Gesellschaft einer Spirituskochmaschine, eines braunirdenen Milchtopfs ohne Henkel, eines alten, berussten Handtuchs, einer Glaslampe und einer Photographie des grossen Thien¬ wiebel in Morarahmen vorfand. „He! Horatio! Horatio!! . . . Nicht zu Hause! Nicht zu Hause . . .“ 2 Total vernichtet hatte er sich jetzt wieder auf das Sopha zurückgeschleudert und ver¬ tiefte sich nun in den tragischen Anblick eines schmutzigen Kinderhemdchens, das neben einer geplatzten Schachtel schwedischer Zünd¬ hölzchen vor ihm unten auf dem Fussboden lag. „Verwünscht! Wenn man wenigstens mal ausgehn könnte, Amalie! Aber ich fürchte . . . ich fürchte . . . die Welt ist nicht vorurtheils¬ frei genug, um einen Niels Thienwiebel in Schlafrock und Cylinder unbehelligt seines Weges dahingehn zu lassen!“ Aber Amalie antwortete nicht einmal. Der kleine Krebsrothe nahm ihre ganze Aufmerk¬ samkeit in Anspruch. Sein Lutschen zog jetzt den ganzen Schlauch zusammen. „Ja! Es ist so! Es ist so, Amalie! Aber sie schreiben mir noch immer nicht! Sie haben da Leute, Leute — Leute?! Pah! Stümp'rr! O Schmach, die Unwerth schweigendem Ver¬ dienst erweist!“ Jetzt hatte Amalie, die dies Thema bereits kannte, etwas aufgesehn. „Ja . . . es wäre am Ende doch gut, wenn Du einmal . . .“ Ihre Stimme klang heiser, belegt. „Ja, so wird es kommen! Vielleicht . . . bei meiner Schwachheit und Melancholie . . .“ Der kleine Krebsrothe schmatzte! Seine Flasche war jetzt so gut wie leer. „Ich werde selbst hingehn müssen und für¬ lieb nehmen mit dem, was man mir anzubieten wagt! Das Leben ist brutal, Amalie! Verflucht! Wenn man wenigstens einen Rock zum Aus¬ gehn hätte!“ Sein Tenor war jetzt übergeschnappt, er hatte sich wieder lang über das Sopha zurück¬ geeselt. Grosse Pause . . . Die Dächer draussen hatten sich allmählich braun gefärbt. Die Sonne an dem grossen, runden Schornsteine drüben war verblichen. Frau Thienwiebel fing jetzt hinten in ihrer Ecke zu husten an. „Herr Gott, Niels! Ich muss ja inhaliren! Da, nimm doch mal das Kind!“ „Natürlich! Auch noch Kinderfrau! O, ich reisse Possen, wie kein Andrer! Was kann ein Mensch auch andres thun als lustig sein? Still, Krabbe!!“ 2 * Der kleine Krebsrothe schwieg wieder. Er war noch nie so verblüfft gewesen. „Da! Nimm's! Kau's! Friss! Verschluck's!“ Der grosse Thienwiebel hatte es jetzt so¬ gar über sich gewonnen, seinem ungerathnen Sprössling auch den Schnuller in den Mund zu stopfen. Mehr war unmöglich zu verlangen. Amalie hatte unterdessen die Ofenröhre aufgemacht und entnahm ihr jetzt einen kleinen, grünglasirten Kochtopf. Ein nach Salbei duftender Brodem entstieg ihm. Nach¬ dem sie dann noch das kleine Geschirr neben den Ofen auf einen Stuhl und sich selbst auf die Fussbank davor gesetzt hatte, machte sie jetzt ihren Mund auf und athmete das heisse Zeug langsam ein. Der grosse Thienwiebel, der sich unterdess mit seinem impertinenten, kleinen Krebsrothen auf die Tischkante placirt hatte, sah ihr nach¬ denklich zu. „Hm! Weisst Du, Amalie?“ „Hm??“ „Weisst Du? Wir haben eigentlich eine ganz falsche Methode, das Kind zu nähren, Amalie!“ „Ach, was!“ „Ich sage, eine Methode! Eine verkehrte Methode, Amalie!“ „Aber . . .“ „Verlass Dich drauf! Eine unnatürliche, Amalie!“ „Ja, du lieber Gott . . .“ „Eine unnatürliche . . . Wir sollten das Kind nicht mit der Flasche tränken!“ „Nich? Na, womit denn sonst?“ „Du selbst solltest es eben tränken!“ „Ich?“ „Gewiss, Amalie!“ „Ach, lieber Gott! Ich! Selbst!“ „Nun! Warum nicht?“ „Ich?? Bei meiner schwachen, kranken Brust jetzt?“ „Ach was! Das bildest Du Dir ja nur ein, Amalie! Ich sage Dir, Du bist völlig gesund. Du bist völlig gesund, sage ich! . . . Uebrigens: ein Kind kann ein für allemal nur dann ge¬ deihen, wenn es die Mutter selbst säugt!“ Herr Thienwiebel war jetzt ganz eifrig ge¬ worden. Seine Langeweile von vorhin schien er völlig vergessen zu haben. Er schien es sogar nicht bemerkt zu haben, dass dem kleinen, zappelnden Wurm auf seinen Knieen der Schnuller wieder heruntergekullert war. „Verlass Dich drauf, Amalie! Ich sage, die natürlichste Methode ist immer die beste! Denk' doch mal: was sollten denn sonst die Negerweiber anfangen! Sie haben keine Flaschen! Sie nähren eben ihre Kinder selbst, siehst Du . . . und, und — nun ja! Und sie gedeihen dabei! Gedeihen! Na?“ „Ja, Niels, aber ich bin doch kein Neger¬ weib!“ Der grosse Thienwiebel lächelte überlegen. „Ja nun, du musst . . . hehe! Du musst mich eben verstehn, Amalie! He!“ Amalie hatte sich wieder tief über ihren Salbeitopf gebückt. „Ich wollte Dir damit eben nur durch ein . . . ein . . . nun! sagen wir durch ein Beispiel, andeuten, dass das Natürlichste immer das Vernünftigste ist. Ich sehe eben durchaus nicht ein, warum die Negerweiber etwas vor uns voraushaben sollten!“ „Aber sie sind gesund!“ „Ach was! Das bildest Du Dir ja nur ein, Amalie, dass Du krank bist!“ „Ich?“ „Allerdings, Amalie! Ich behaupte . . .“ Amalie war jetzt ein wenig ungeduldig geworden. „Ach was! Lass lieber das Kind nicht so schrein!“ „Auch das ist wieder nur so ein Vorurtheil von Dir, Amalie! Was schadet das! Ich habe gelesen, es ist nichts gesünder! Die Lungen weiten sich dabei! Aber — e . . . wie gesagt! Du solltest das Kind selbst tränken! Die heutige Cultur freilich, die Cultur der europä¬ ischen Welt . . .“ Die Cultur überging Amalie. Sie hielt sich nur an die Ermahnungen, die sie nun schon so oft zu hören bekommen hatte. „So! So! Jawoll doch! Gewiss! Bei unserm Leben! Den ganzen Tag lebt man von Kaffee und Butterbrot! Ich möchte wissen, wie das arme Wurm dabei gedeihen sollte!“ „Ha! Zu leben im Schweiss und Brodem eines eklen Betts, gebrüht in Fäulniss, buhlend und sich paarend über dem garst'gen Nest! Nicht wahr? Du willst damit sagen, dass ich an unsrer Lage schuld bin, Amalie!“ „Na! Etwa ich?!“ „Weib!!?“ . . . „Moi'n!“ Die Thür, an der es schon eine ganze Weile vergeblich geklopft hatte, wurde in diesem Augenblick gross aufgestossen, und herein, in seinem ewigen Havelock, der vor Zeiten wahrscheinlich einmal hechtgrau ge¬ wesen war, den ungeheuren, schwarzen Schlapp¬ hut tief in das kleine, fidele, blasse Gesichtchen gedrückt, tänzelte jetzt der kleine Ole Nissen. „Moi'n! Also lasst Euch nicht stören, Kin¬ der! Bitte, Bitte! Keine Umstände, Nielchen! Keine Umstände! Weiss schon! Probirt 'ne neue Scene ein! Also, wie gesagt . . . Donner¬ wetter! Ist das Biest hart!“ Er hatte sich eben mitten auf das kleine Kattun'ne plumpsen lassen und dabei wieder in einem Haar seine Egypter verloren, die er schief zwischen die Zähne geklemmt hielt. „Also, wie gesagt! Laufe da eben ganz trübselig den Hafendamm runter. Hä? Und wer begegnet mir da? Der Kanalinspector! Na, wer denn sonst? Der Kanalinspector natürlich! Nobel verheirathet, Villa in Brats¬ berg, no! etc. pp! Könnt Euch ja denken! Schleift mich also natürlich sofort zu Hiddersen und lässt vorfahren ... Na, oller Junge? Wie geht's? ... Faul! sag ich also natürlich. Faul! ... Hm! Weisste was? Könntest eigent¬ lich meine Alte porträtiren! ... Hm! Mit Jenuss, Kind! Mit Jenuss! Aber — e ... Farben, siehst Du — he, Leinwand, Rahmen also ... Hä! Was? Nobles Putthuhn!!“ Ole Nissen liess jetzt die schönen, noblen Kronen in seinen Taschen nur so klimpern. „Frau Wach-tel! Frau Wach-tell!! Frau Wach-telll!!!“ Das Haus Thienwiebel schwamm wieder in Wonne. Sein Krach war wieder auf eine Weile verschoben. „Hä! Und dies? Ist das Butter? Und dies? Hä? Ist das Schinken? Hä? Und dies? Hä? Platz für das Silberzeug! Silentium!!“ Der kleine Ole war heute wieder ganz aus dem Häuschen ... Nachdem das „Silberzeug“ dann endlich abgeräumt und die Punschbowle zu zwei Dritteln bereits geleert war, musste Frau Wach¬ tel sogar noch die Scatkarten „'ranschleifen.“ Es war einfach herrlich! Der grosse Thien¬ wiebel hatte seinen türkischen Fez auf, Ole Nissen bot seine Egypter sogar galant der alten Madame Wachtel an, die sich aber empört vor ihnen wieder in ihre Küche zu¬ rückflüchtete, Amalie rauchte tapfer mit. Ihre alten Opheliajahre waren wieder lebendig in ihr geworden. „Ach, Thienwiebel! Niels!! Geliebter!!!“ Der grosse Thienwiebel stand da und weinte. „Bin ich 'ne Memm'? — Ha! Rauft mir den Bart und werft ihn mir in's Antlitz! Nein, reizende Ophelia! Nein! Weine nicht! Mein Schicksal ruft und macht die kleinste Ader meines Leibes so fest als Sehnen des Nemaeerlöwen! . . . Was, alter Jephta? . . . Nein, glaube nicht, dass ich Dir schmeichle! Was für Beförd'rung hoff ich wohl von Dir, der keine Rent' als seinen muntren Geist, um sich zu nähren und zu kleiden hat!“ Seine Stimme brach ab, die Hand, die er ihm auf die Schulter gelegt hatte, zitterte. — Zuletzt, als die alte Glaslampe nur noch wie eine kleine Oelfunzel brannte und die prachtvollen Egypter um ihre grüne Glocke einen schönen, silbergrauen, fingerdicken Nebelring gelegt hatten, wurde auch der kleine Ole Nissen gerührt. Er hatte sich nach und nach zu der reizen¬ den Ophelia auf das kleine, blaue Kattunüber¬ zogene gedrängt und titulirte sie nur noch „Miezchen“. Jetzt hatte er endlich auch ihre Hände zu fassen bekommen und bedeckte sie nun mit seinen Küssen. Der grosse Thienwiebel erhob keine Ein¬ sprache. Er hatte segnend seine Hände über sie gebreitet und konnte sein Herz nur noch stammelnd ausschütten. „Der Kreis hier weiss, ihr hörtet's auch gewiss, wie ich mit schwerem Trübsinn bin geplagt!“ Der kleine Krebsrothe hinten in seiner Ecke hatte unterdessen seine Noth mit sich gehabt. Schon verschiedene, liebe Male hatte er sich in den Schlaf geweint. Jetzt aber war er wieder aufgewacht und konnte absolut nicht mehr seinen Gummipfropfen finden. Die reizende Ophelia hörte ihn nicht. Sie war längst in ihrer Sophaecke eingeschlafen. Er schrie jetzt, als ob er am Spiesse stak. Der grosse Thienwiebel hatte natürlich erst recht keine Zeit für den Schurken. Er hatte den kleinen Ole Nissen, der jetzt kaum noch seine kleinen, wasserblauen Augen aufhalten konnte, vorn an seinem Rockkragen zu packen bekommen und declamirte nur wieder: „Er ist eine Elster, Horatio! Eine Elster! Aber, wie ich Dir sagte, mit weitläufigen Be¬ sitzungen von — Koth gesegnet!“ III. Es war nicht anders! Aber er hegte Tauben¬ muth, der grosse Thienwiebel, ihm fehlte es an Galle . . . Er hatte seit kurzem — er wusste nicht wodurch? — all seine Munterkeit eingebüsst, seine gewohnten Uebungen aufgegeben, und es stand in der That so übel um seine Gemüths¬ lage, dass die Erde, dieser treffliche Bau, ihm nur ein kahles Vorgebirge schien. Dieser herr¬ liche Baldachin, die Luft, dieses wackre, um¬ wölbende Firmament, dieses majestätische Dach mit goldnem Feuer ausgelegt: kam es ihm doch nicht anders vor als ein fauler, verpesteter Haufe von Dünsten. Welch ein Meisterwerk war der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie un¬ begrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Be¬ wegung wie bedeutend und wunderwürdig im Handeln, wie ähnlich einem Engel; im Begreifen, wie ähnlich einem Gotte; die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch: was war ihm diese Quintessenz vom Staube? Er hatte keine Lust am Manne — und am Weibe auch nicht. Die Zeit war aus den Fugen! War es zu glauben? Aber — e — man hatte ihm noch immer nicht geschrieben. Man war un¬ dankbar in Christiania. Armer Yorick! Sterben, schlafen . . . vielleicht auch träu¬ men? . . . Einstweilen jedoch hatte es allen Anschein, als ob gewisse Rücksichten das Elend des armen Yorick noch zu hohen Jahren kommen lassen wollten. Jedenfalls wenigstens durften jetzt die naseweisen Aktschüler unten in der Akade¬ mie den grossen unübertrefflichen Hamlet aus Trondhjem schon seit vollen vierzehn Tagen in den schönen, langen Vormittagstunden als sterbenden Krieger copieren. Das war freilich eine Entwürdigung, aber sie brachte Geld ein. Nur genügte es leider noch nicht. Wenn der „arme Yorick“ jetzt Mittags nach Hause kam und sich mit einem Appetit, als hätte er eben vierundzwanzig Stunden lang ohne aufzusehn Eichenkloben zerkleinert, über die grosse Schüssel herstürzte, die ihm die reizende Ophelia schon vorsorglich verdeckt, der Photographie des grossen Thienwiebel grade gegenüber, auf den Tisch gestellt hatte, fand sich meist nur eine etwas grün angelaufene, dünne Kartoffelsuppe drin vor, in der höch¬ stens hie und da noch ein paar kleine, kohl¬ schwarze Speckstückchen schwammen. Armer Yorick! . . . Amalie schien schon seit undenklichen Zeiten ihre Nachtjacke nicht mehr in die Waschwanne gesteckt zu haben. Wozu auch grosse Toilette machen? Man war ja zu Hause. „Nicht wahr, Thienwiebel?“ Der grosse Thienwiebel hielt es für unter seiner Würde zu antworten. Er hatte sich eben wieder in seinen alten, bequemen Schlafrock geworfen, aus dem die Watte freilich, ihrer nur noch geringen Quantität halber nicht mehr recht klunkern konnte. Seinen William aufgeklappt hatte er sich jetzt wieder tiefsinnig rücklings über das kleine Blaukattunene geworfen. „O, schmölze doch dies allzu feste Fleisch, Zerging' und löst in einen Thau sich auf! Oder hätte nicht der Ew'ge sein Gebot Gerichtet gegen Selbstmord! O Gott, o Gott! Wie ekel, schaal und flach und unerspriesslich Scheint mir das ganze Treiben dieser Welt! Pfui! Pfui darüber!“ Amalie, die sich wieder auf ihre kleine, mollige Fussbank neben den Ofen gesetzt und eben ihre Schmalzstulle in den Kaffee gestippt hatte, sah jetzt etwas verwundert in die Höhe. Als aber der „arme Yorick“ dann nicht mehr weiter las und, seinen William zugeklappt, sich jetzt sogar, ganz wider seine sonstige Gewohn¬ heit, mit dem Kopfe gegen die Wand gedreht hatte, wurde ihr denn doch ein wenig unbehag¬ lich zu Muth. Eine Weile noch überlegte sie; dann aber, endlich hatte sie sich entschieden. Ihre Stimme klang noch kläglicher als sonst. „Ich will nähen gehn, Niels.“ „Nein, Amalie! Niemals! Niemals! Das werde ich nie dulden! Das wäre eine un¬ verzeihliche Vernachlässigung Deiner heiligsten Mutterpflichten!“ Er war wieder empört aufgesprungen. „Nein, Amalie! Nie! Niemals! . . . So lang Gedächtniss haust in dem . . . zerstörten Ball hier!“ Er hatte sich melodramatisch vor die Stirn gestossen. Amalie fühlte sich wieder beruhigt und biss jetzt herzhaft in ihre Schmalzstulle . . . „Herein?“ Es war Frau Wachtel. Sie brachte wieder die Milch für den Kleinen. Der grosse Thienwiebel hatte es sich nicht versagen können, ihn auf den Namen Fortinbras taufen zu lassen. „Na, Dickerchen? Langweilste Dich? Oh, mein Mäuseken! Oh!“ Sie fand nämlich, dass Amalie ihren heilig¬ sten Mutterpflichten etwas nachlässig oblag und gestattete sich öfters eine kleine Controle. Frau Rosine Wachtel war nämlich im Be¬ sitze eines guten Herzens. Und, das musste wahr sein, denn sie sagte es selbst und ver¬ goss jedesmal Thränen dabei. Indessen war ihr dieser Besitz noch nicht allzu gefährlich geworden. Denn es war ihr noch Niemand durchgebrannt und sie war noch immer zu ihrem Gelde gekommen; und das war oft ein Stück Arbeit gewesen. Frau Rosine Wachtel konnte das Jeden versichern . . . „Ach, Du Würmeken! Ach, mein Putteken! Hab'n se Dir so in'n Korb jestochen!“ Die gute Frau Wachtel war ganz gerührt. Aber plötzlich aus irgend einem Grunde, wahr¬ scheinlich, weil draussen auf dem Flur eben Jemand die Treppe heraufzukommen schien, hielt sie es jetzt doch für besser, sich schnell noch mal nach ihrer Küche umzusehn . . . Der grosse Thienwiebel, der etwas un¬ geduldig gewartet hatte, bis ihr runder, trivialer Rücken endlich hinter der Thür verschwunden war, weil er wieder etwas wie einen Monolog in sich verspürte, war jetzt tragisch auf das kleine, runde Spiegelchen über der Kommode zugetreten, aus dem ihm nun sein schöner, edel¬ geformter Apollokopf melancholisch zunickte. 3 „Armer Freund! Wie ist Dein Gesicht be¬ troddelt, seit ich Dich zuletzt sah!“ Amalie bekümmerte sich nicht mehr um ihn. Sie kannte ihren grossen Gatten. „Armer Freund!“ War das sein Haar? Sein schönes, be¬ rühmtes, blauschwarzes Haar? Eine grausame Natur der Dinge hatte ihm nun schon seit Wochen verwehrt, es sich brennen zu lassen. In die Stirn, in diese erhabene Wölbung maje¬ stätischer Gedanken fiel es ihm nun in Strähnen, dick und feist, wie sie selber, diese schale, engbrüstige Zeit. „Armer Freund!“ Nachdem er sich so zu der erhabenen Mission, die ihm vorschwebte, genügend prä¬ parirt zu haben glaubte, drehte er sich jetzt gemessen nach dem kleinen, gelben Korb um, der dicht neben dem Bett quer über zwei Stühle gestellt war. „Armes, kleines Menschenkind! Welch böser Stern verdammte Dich in dieses Elend!“ Das arme, kleine Menschenkind zappelte ihn an und lachte. „Aber still! Still! Ich will alles einsetzen! Ich will meine ganze Kraft einsetzen! Ich werde arbeiten, Freund! Ich werde arbeiten! Ich werde dem Schicksal die Stirn bieten; ich werde ihm abtrotzen, dass Du in dieser herben Welt dereinst jene Stellung einnimmst, die Deinen Talenten gebührt . . . Ja! So macht Gewissen Feige aus uns allen. Der angebornen Farbe der Entschliessung wird des Gedankens Blässe angekränkelt; und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck, durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, verlieren so der Hand¬ lung Namen!“ Seine Stimme bebte, seine Schlafrocktroddeln hinter ihm, die er sich zuzubinden vergessen hatte, zitterten. Amalie hatte jetzt ihr Schmalzbrot wieder bei Seite gelegt. „Niels, ich will doch lieber nähen gehn!“ „Nie! Nie! Sprich nicht davon, Amalia! Bei meinem Zorn! Sprich nicht davon!“ Amalie war wieder beruhigter denn je. Ihr schönes Schmalzbrot war, Gottseidank, noch nicht ganz alle. Der grosse Thienwiebel, der einigermassen aus seinem Concept ge¬ kommen war, hatte jetzt einige Mühe, wieder 3 * hineinzukommen. Den Shakespeare, den er wieder von der Erde aufgelesen hatte, hinten in seinen Wattenklunkern, die Finger krampf¬ haft um seinen rothen Saffianrücken, nickte er jetzt wieder schmerzlich auf das kleine, ver¬ wunderte Bündelchen hinab. Es hatte die ganze Zeit über kaum zu mucksen gewagt. „Ich weiss . . . ich werde sterben, Freund! Ich werde sterben! — Das starke Gift bewältigt meinen Geist. Ich kann von England nicht die Zeitung hören; doch prophezei' ich, die Erwählung fällt auf Fortinbras . . . Du lebst; erkläre mich und meine Sache den Unbefrie¬ digten!“ Der kleine Fortinbras war jetzt ganz ernst¬ haft geworden. Er hatte seinen grossen Papa noch nie so menschlich mit ihm reden hören. „Den Unbefriedigten . . .“ Der Regen draussen, der die braunen Dächer drüben schon seit frühmorgens wie mit Glanz¬ lack überzogen hatte, plätscherte, aus dem Fensterblech, unter das die reizende Ophelia natürlich wieder den Wasserkasten zu hängen vergessen hatte, war er jetzt allmählich sogar die graue Tapete hinab bis mitten unter das kleine Blaukattunene gekrochen. Auf seinem kleinen Teich drunter konnten die beiden an¬ gebrannten Schwefelhölzchen bereits in aller Gemächlichkeit rundherum Gondel fahren. Plötzlich schien den grossen Thienwiebel wieder mal irgend etwas unversehens gestochen zu haben. „Amalie! Amalie!!“ „Was denn schon wieder, Thienwiebel!“ Sie hatte sich nicht einmal umgesehn. „Amalie! Es ist nicht zu leugnen: Das Kind hat ganz aussergewöhnliche Fähigkeiten! Es hat mich soeben angelacht. Es unterhält sich ordentlich mit mir!“ Amalie grunzte nur verdriesslich. „Ich wette, man kann ihm schon die An¬ fangsgründe des Sprechens beibringen, Amalie!“ „Hm? Du! Sag mal: a! Na?! a — a — a . . .“ Der kleine gute Fortinbras wusste sich jetzt vor lauter Verdutztheit gar nicht mehr zu lassen. Er hatte seine beiden dicken Händchen rechts und links in den Korbrand gekrallt und ähte nun, seinen Kopf nach hinten zurückgelegt, seinen grossen Papa ganz vergnügt an. „Nicht ä, mein Junge! Sag a! A sollst Du sagen! Also? Na? Aaaa! . . .“ „Ach, lass doch! Das kann er ja noch nich!“ Amalie hatte es endlich doch für angezeigt gehalten, sich in's Mittel zu legen. „Was?! Das kann er nicht?! Sage das nicht, Amalie! Sage das nicht! Dafür ist er mein Junge! Hä? Bist Du mein Junge? Hä?“ „Aber er ist ja erst kaum ein Vierteljahr alt!“ „So? So? Nun, hm . . . Ich will nicht mit Dir rechten, Amalie! Allein Du wirst doch vorhin bemerkt haben, dass er durchaus ver¬ stand, was ich meinte!“ Amalie gähnte. Sie gab es auf. Es hatte ja keinen Zweck! Es war ja alles egal! So oder so. Der grosse Thienwiebel aber war damit noch nicht zufrieden. Er konnte seine Idee noch nicht so leicht wieder fallen lassen. „Nein, gewiss, Amalie! Der Junge be¬ rechtigt zu den besten Hoffnungen!“ „Ach . . .“ „Nun! Was ist denn da so Ungewöhnliches dran, Amalie? Du weisst: es giebt mehr Ding' in Himmel und auf Erden, als unsere Schul¬ weisheit sich träumt, Amalie!“ Amalie gähnte nur wieder. „ ... und nun ihr Lieben, Wofern ihr Freunde seid, Mitschüler, Krieger: Gewährt ein Kleines mir!“ Sie gewährten es ihm. Es war wirklich zu schön von dem grossen Thienwiebel! Aber er hatte sich jetzt tief über seinen kleinen, süssen Fortinbras, der zu so grossen Hoffnungen berechtigte, gebeugt und wollte ihn nun — o, zum ersten Mal, zum ersten Mal, seit langer, langer Zeit, Horatio! — wieder auf die kleine, bleiche Stirn küssen. Aber es sollte nicht dazu kommen. Er war bereits wieder zurückgetaumelt, noch ehe er seine schöne That zum Austrag gebracht hatte. „Ha!“ Seine Augen rollten, seine Fäuste hatten sich geballt, die beiden rothen Troddeln hinten an seinem Schlafrock schlotterten vor Entrüstung. „Ha!“ Das Räthsel von der alten, lieben, guten, geschäftigen Frau Wachtel von vorhin hatte sich glänzend gelöst. Sei's Farbe der Natur, sei's Fleck des Zu¬ falls, kurz und gut, aber der kleine Prinz von Norwegen lag wieder seelenvergnügt mitten in seinen weitläufigen Besitzungen da. IV. Seit die schöne Frau Kanalinspector sorg¬ sam in Sackleinwand genäht endlich abge¬ gangen war, und weitere Promenaden am Hafen¬ damm sich nicht wieder ergiebig erwiesen hatten, war jetzt auch nebenan bei dem kleinen Ole Nissen nichts mehr zu holen. Erneute Bohr¬ versuche bei dem famosen, noblen Putthuhn hatten auch nichts gefruchtet. Seine „Alte“ schien ihm nicht sonderlich imponirt zu haben. Wenigstens hatte ihr kleiner „Tintoretto“ sie bei seiner letzten officiellen Visite draussen ver¬ geblich an den neuen, schöntapezierten Wänden gesucht. Uebrigens waren die Herrschaften leider gerade ausgegangen. Man schien eben nicht blos in Christiania allein undankbar zu sein. Keine Hummern bei Hiddersen mehr, keine Egypter mehr, keine „Mieze“ mehr! Das Letzte schmerzte den armen kleinen Ole natür¬ lich am meisten. Aber man konnte es der Kleinen wirklich unmöglich verdenken. Von aufgeweichten Brotkrusten liess sich nicht satt werden. Der alten, lieben, guten Frau Wachtel aber war damit ein sehr grosser Stein vom Herzen gefallen. Sie hatte nämlich die niedliche kleine Mieze einmal dabei ertappt, als sie dem ab¬ scheulichen Ole gerade Modell stand, und da sie hierfür wirklich auch nicht das mindeste Verständniss besass, ein gewisses kleines Vor¬ urtheil gegen sie gefasst. Ihr gutes Herz zu bethätigen hatte sie in letzter Zeit leider nur wenig Gelegenheit ge¬ habt. Am unzufriedensten aber war sie jeden¬ falls mit den dummen Thienwiebels. Was bei der alten Schlamperei dort schliesslich raus¬ kommen musste, konnte man sich ja an den Fingern abzählen. Der alte, alberne Kerl flözte sich den ganzen Tag auf dem Sopha rum und trieb Faxen, das faule, schwindsüchtige Frauenzimmer hatte nicht einmal Zeit seinem Schreisack das bisschen blaue Milch zu geben, zu fressen hatten sie alle drei nichts, und die Miethe — ach, du lieber Gott! Wenn man nicht wenigstens noch die paar Sparkreeten gehabt hätte . . . — — Ja! Es war Wermuth! Sein Ver¬ stand war krank! Es fehlte ihm an Beförderung! Im Schoosse des Glückes? O, sehr wahr! Sie ist eine Metze! Was giebt es Neues? Als Roscius noch ein Schauspieler zu Rom war . . . Geharnischt, sagt Ihr? Sehr glaublich! Sehr glaublich! — Ein Mann, der Stöss' und Gaben mit gleichem Dank genommen, der zur Pfeife nicht Fortunen diente, den Ton zu spielen, den ihr Finger griff, ein Bettler, wie er . . . Nichts mehr davon!! Sprich weiter, komm auf Hekuba! In der That, es liess sich nicht mehr läugnen: er war jetzt wirklich zu bedauern, der grosse Thienwiebel! O, welch' ein Schurk' und niedrer Sclav' er war!! War's nicht erstaunlich? War's zu glauben? War's möglich? War's nur durch Angewohnheit, die den Schein gefälliger Sitten überrostet, war's Uebermaass in seines Blutes Mischung: kurz und gut, aber er kam jetzt immer wieder auf sie zurück: auf nichts, auf Hekuba! Wozu sollten Gesellen, wie er, zwischen Himmel und Erde herumkriechen? Dem Staub gepaart, dem er verwandt, so rings umstrickt mit Bübereien . . . nicht doch, mein Fürst!! Die Mausefalle? Und wie das? Metaphorisch! Ich bitte, spotte meiner nicht, mein Schul¬ freund; Du kamst gewiss zu meiner Mutter Hochzeit! Armer Yorick! Denn wenn die Sonne Maden aus einem todten Hunde ausbrütet, eine Gott¬ heit, die Aas küsst . . . Armer Yorick! Sein Wahnsinn war des armen Hamlet Feind. — Amalie, die endlich ihre Drohung wahr¬ gemacht und in der That seit einiger Zeit et¬ was zu thun angefangen hatte, was sie Tricot¬ taillen nähen nannte, liess alles getrost über sich ergehen. Es hatte ja keinen Zweck! Es war ja Alles egal! So oder so. Der gute, kleine Ole Nissen war unendlich zarter besaitet. Da Frau Wachtel so freund¬ lich gewesen war und ihm nach so vielen an¬ dern geliebten Gegenständen kürzlich auch noch seine schönen leberwurstfarbenen Pan¬ talons in's Leihhaus getragen hatte, war er jetzt dazu verdammt, die ganzen Tage über in seinem Bett zu liegen und durch die dünnen Bretterwände durch die ganze Wirthschaft mit anzuhören. „Ha! Büberei! Auf, lasst die Thüren schliessen! Verrath! Sucht, wo er steckt! Du betest schlecht! Ich bitt' Dich! Lass die Hand von meiner Gurgel! Kennst Du diese Mücke?!“ Armer kleine Ole! War es Angst oder nur Langeweile? Aber der Schweiss brach ihm oft tropfenweis durch die Stirn. Der grosse Thienwiebel schien es ordent¬ lich auf ihn abgesehen zu haben! Alle Nach¬ mittag Punkt 5 Uhr versäumte er es jetzt nie, sogar seine „Bude“ zu inspizieren. Diese war freilich noch erbärmlicher als seine eigene, aber sie besass dafür den Vorzug, dass man aus ihrem Fenster bequem unten auf das breite, platte, getheerte Nachbardach klettern konnte, von dem man dann eine erfreuliche Aussicht auf die verschwiegenen Brandmauern mehrerer Hinterhäuser genoss. Ein kleines, anspruchs¬ loses Pflaumenbäumchen, dessen verkrüppelte Aestchen von Raupen und Spatzen nur so wimmelten, vervollständigte das Idyll. Der arme, kleine Ole spürte die verhängnissvolle Zeit schon immer eine ganze Weile vorher in seinen Knochen. Der grosse Thienwiebel be¬ liebte es dann nämlich immer, gewisse Unter¬ haltungen mit ihm anzuknüpfen, die so geist¬ voll, ideentief und farbenreich waren, dass dem armen, kleinen Ole, den seine ewigen Brot¬ krusten schon ohnehin arg mitgenommen hatten, nur so der Kopf danach brummte. „Ich will hier im Saale auf und abgehen, wenn es Seiner Majestät gefällt; es ist jetzt bei mir die Stunde, frische Luft zu schöpfen. Lasst die Rappiere bringen!“ Die „Rappiere“ waren zwei Leiterstücken, die man zusammenlegen und von draussen her in das Fensterkreuz einhaken konnte. Wenn sie „gebracht“ worden waren, endete die Geschichte natürlich stets damit, dass man sie auch richtig einhakte und an ihnen hinab¬ kletterte. „Hic et ubique! Aendern wir die Stelle!“ Dann war man in „Helsingör“ und prome¬ nierte auf der „Terrasse“. Der grosse Thien¬ wiebel in Fez und Schlafrock, der kleine Ole in Havelock und Unterpantalons. „Ich will die Lieb' Euch lohnen, lebt denn wohl, Horatio! Auf der Terrasse zwischen elf und zwölf besuch' ich Euch . . . Nicht wahr? Ihr — e . . . seid ein — Fischhändler?!“ Scham, wo war dein Erröthen! Der arme, kleine Ole wusste zuletzt selbst nicht mehr: war eigentlich er verrückt, oder Nielchen. Aber er hätte sich nicht so zu härmen brauchen. Der grosse Thienwiebel wusste nur zu gut, was er that. Er war nur „toll aus Methode“. Er war nur toll bei Nordnordwest; wenn der Wind südlich war, konnte er sehr wohl einen Kirchthurm von einem Leuchten¬ pfahl unterscheiden. Die ewige Aktsteherei unten in der alten, dummen Akademie war ihm eben nachgerade langweilig geworden, und da er der alten, lieben, guten Frau Wachtel doch unmöglich zutrauen durfte, dass sie ihn noch länger gratis beherbergte, wenn er sich jetzt diese „Quelle köstlicher Dukaten“ so sans façon wieder zu¬ stopfte, war er eben eines schönen Tages auf die grossartige Idee verfallen, sich hier in dieser herben Welt voll Müh' nach und nach für wirklich übergeschnappt auszugeben. „Ha! Heisa Junge! Komm Vögelchen! Komm! Ich muss nach England; wisst Ihr's? Himmel und Erde! Es ist nur eine Thorheit, aber es ist eine Art von schlimmer Vorbe¬ deutung, die vielleicht ein Weib ängstigen würde. Was? Eine Ratte? Die Spitze auch vergiftet? Nein! Nein, schöne Dame! Nicht nur mein düstrer Mantel, gute Mutter, noch die gewohnte Tracht von ernstem Schwarz, noch stürmisches Geseufz beklemmten Odems: nein: Auch die Schmeichelsalb'! Ich hab's ge¬ schworen! Weglöschen von der Tafel der Er¬ innerung will ich all' jene thörichten Ge¬ schichten! Nie beuge sich dieses Kniees gelenke Angel, wo Kriecherei Gewinn bringt! Ich trotze allen Vorbedeutungen: es waltet eine besondere Vorsehung über dem Fall eines Sperlings. In Bereitschaft sein ist alles. Wetter! Denkt ihr, dass ich leichter zu spielen bin als eine Flöte? Nennt mich, was für ein Instrument ihr wollt! Ihr könnt mich zwar verstimmen, aber nicht auf mir spielen . . .“ Ha! Was? Ein königliches Bubenstück! Dem kleinen Fortinbras schien dieses köni¬ gliche Bubenstück am wenigsten zu imponiren. Ja, aus gewissen Anzeichen glaubte sein grosser Papa manchmal sogar schliessen zu dürfen, dass er noch nicht einmal recht Notiz von ihm genommen hatte. Am auffälligsten zeigte sich dies aber regel¬ mässig dann, wenn es sich um die „ersten Elemente der Gesangskunst“ handelte. Denn der „arme Yorick“ war durchaus nicht gewillt, seinem schrecklichen Wahnsinn zu liebe auch die seltnen Talente seines zu so grossen Hoff¬ nungen berechtigenden Söhnchens verkümmern zu lassen. Es war ausgemacht! Es war ausgemacht, o reizende Ophelia! Ja! Sagen wir Ophelia! Teufel! Warum sollten wir nicht Ophelia sagen? Kurz und gut: es war ausgemacht. Es sollte ihn und seine Sache den Unbe¬ friedigten erklären . . . Den Unbefriedigten!... Sobald er daher nur irgendwie merkte, dass der kleine Ole nebenan wieder einmal einge¬ schlafen und die gute Frau Wachtel wieder mal ausgegangen war und so „die Beiden, denen er wie Nattern traute,“ ein Zeitlang wieder „unschädlich“ gemacht waren, ging der Tanz los. Seines Kummers „Kleid und Zier“ war dann plötzlich wie abgefallen von dem grossen Thienwiebel. Seine „Einbildungen, schwarz wie Schmiede¬ zeug Vulkans“ hatten den armen Yorick ver¬ lassen, er war wieder „zahm, Herr!“ „Hört doch! Ich bin wieder zahm, Herr! Sprecht! Ich bin wieder zahm!“ Aber der kleine, verstockte Fortinbras wollte nicht. Er hatte sich wieder nur in Ermanglung seines Gummipfropfens, den ihm die reizende Ophelia verbummelt hatte, seinen grossen Zeh in den Mund gestopft und sog nun, dass es ihm aus den kleinen, mattrosa Mundwinkelchen nur so tropfte. Die ersten Elemente der Gesangskunst liessen ihn heute augenscheinlich noch kälter als sonst. Empört hatte sich jetzt der grosse Thien¬ wiebel wieder in die Höhe gerückt. Die beiden rothen Troddeln hinten an seinem Schlafrock zuzubinden hatte er natürlich wie¬ der vergessen. 4 „Amalie! Ich bemerke soeben zu meinem grössten Erstaunen, Fortinbras ist störrisch!“ Amalie, die jetzt ihre kleine, mollige Fuss¬ bank der Tricottaillen wegen zu ihrem grossen Leidwesen vom Ofen an's Fenster hatte ver¬ legen müssen, war grade dabei, sich ihre erste Nadel für heute einzufädeln. Sie hatte wieder so lange inhaliren müssen . . . „Störrisch?“ „Wie ich Dir sage, Amalie! Störrisch!“ „Ach, nich doch!“ „Amalie? Ich sage Dir noch einmal — störrisch! Fortinbras ist störrisch! Stör-risch!!“ „Ach, red' doch nich! Wo soll er denn störrisch sein!“ „Amalie?!“ Amalie sah sich nicht einmal um. Sie zuckte kaum mit den Achseln. „So! So! Also, Du glaubst mir nicht mehr, wenn ich Dir etwas sage! Du misstraust mir! In der That! In der That! Ich hätte mir das denken können! Sag's doch lieber gleich! Wozu die Umstände! Du bedauerst, dass ich mich nicht noch schneller aufreibe!“ Amalie nieste. Sie wollte ihren Schnupfen gar nicht mehr los werden. Mitten im Sommer. „Natürlich! Wie sollte man auch nicht! Man vertreibt sich die Zeit mit — Niesen! Man trinkt Kaffee und vertreibt sich die Zeit mit — Niesen! In der That! In der That! Andre Leute mögen unterdess zusehn, wie sie fertig werden! . . . Aber, ich werde es Dir beweisen, Amalie! Hörst Du? Ich werde es Dir beweisen, dass Fortinbras störrisch ist! — — Du! Sag a . . . a . . Nun? Wird's bald? . . . Na? . . . A! . . . Du Schlingel! A! . . A!! . . Ha! Siehst Du?! Wie ich Dir sagte, wie ich Dir sagte, Amalie! Der Lümmel brüllt, als wenn ihm der Kopf abgeschnitten wird! Er ist störrisch! Habe ich Recht gehabt?! — Willst Du still sein, Du Zebra?! Gleich bist Du still!“ Jetzt endlich war Amalie an ihrem Fenster plötzlich etwas aufmerksamer geworden. „Du willst ihn doch nicht etwa — schlagen?“ „Gewiss will ich das, Amalie! Ein Kind darf nicht eigenwillig sein! Ein Kind bedarf der Erziehung, Amalie! Eine leichte Züchti¬ gung . . .“ 4 * „Niels!!“ „Ach was! Aus dem Weg! Aus dem Weg, sage ich! . . . Da, Du in-famer Schlingel! Da, Du in . . . Amaaalie!“ „Gewiss, Du alter Esel! Du glaubst wohl, Du kannst hier am Ende thun, was Du Lust hast? Du gehörst ja in die Verrücktenanstalt! Wie kann man denn 'n Kind von 'nem halben Jahr so malträtiren?! Wie kann es störrisch sein?! Wie kann man es schlagen!“ „Amaaalie!!“ War's möglich?! War es zu glauben?! War das seine Backe?! „Amaaalie!!! . . .“ V. „Wirthschaft, Horatio! Wirthschaft! Das Gebackne vom Leichenschmaus gab kalte Hoch¬ zeitsschüsseln. E — doch, um auf der ebenen Heerstrasse der Freundschaft zu bleiben: was macht Ihr auf Helsingör?“ Der grosse Thienwiebel hatte wieder gut auf der ebenen Heerstrasse der Freundschaft zu bleiben; was sollte der kleine Ole gross machen auf Helsingör? Was er nun schon seit Wochen machte: Firmenschilder pinseln! Das rentirte sich nämlich famos, weisst Du!“ Abel Gröndal: Materialwaarenhandlung, auch Häringe — Lars Brodersen: Canariensieen und Hanfsaamen — Jacob Lorrensen: Alle Sorten Rauch-, Schnupf- und Kautabak — etc. etc. Hä?! Was?! Noble Putthühner!! Die schönen Leberwurstfarbenen waren wieder zu Ehren gekommen, die prachtvollen Egypter wurden wieder nur so pfundweis ver¬ pafft, die verteufelte, kleine Mieze liess die arme, liebe, alte, gute Frau Wachtel kaum mehr vom Schlüsselloch wegkommen. Es war aber auch wirklich schrecklich, was es jetzt alles dort drinnen zu sehn gab. Die vielen weissen Salbentöpfe, in die die Farben nur so wie Butter eingequetscht waren, die merkwürdig grossen Maurerpinsel, die der ge¬ schäftige, kleine Ole kaum zu dirigiren ver¬ mochte, die schönen, dicken, mannslangen Bretter, auf denen man jetzt die wunderbarsten Sachen zu lesen bekam, und vor allen Dingen auch jener grosse, geheimnissvolle, grüne Wand¬ schirm dicht neben dem Ofen, hinter dem sich immer die schändliche, kleine Mieze versteckt hielt, das alles interessirte die alte, liebe, gute Frau Wachtel auf das lebhafteste. Noch nie hatte sie sich mit ihrer Stellung als Zimmer¬ vermietherin so zufrieden gefühlt. Die drückend¬ sten alten Rückstände waren wieder aus¬ geglichen, für die dösigen Thienwiebels brauchte ihr jetzt auch nicht mehr so bange zu sein, ja, ja! Der liebe Herrgott! Die reizende Ophelia war wieder in ihren alten Stumpfsinn zurückverfallen. Sie bereute ihre Unthat aufs Tiefste. Das Einzige, was ihr so schliesslich noch vom Leben übrig ge¬ blieben war, war ihr Salbeitopf. Ihr grosser Gatte verachtete sie nur noch . . . Geschrieben — e . . . hatte man ihm zwar unterdessen bereits, aber — e . . . eh! wie kam's, dass sie umherstreiften? Ein fester Aufenthalt war vortheilhafter für ihren Ruf als ihre Einnahme!“ Kurz und gut, es war eben nur eine umherziehende Truppe gewesen und der grosse Thienwiebel hatte sich zu de¬ gradiren gefürchtet. So lange noch der kleine Ole da nebenan da war . . . kurz und gut: er that, was ihm Beruf und Neigung hiess! Denn . . . e . . . jeder Mensch hat Neigung und Beruf! Am schlimmsten erging es entschieden dem kleinen Fortinbras. Seine Zähnchen hatten ihm seinen schönen Gummipfropfen ganz verleidet. Er hatte an nichts mehr Freude; nicht einmal am Schreien mehr. Er war ein vollendeter Pessimist geworden. An seinem künftigen Beruf, seinen grossen Vater den Unbefriedigten zu erklären, schien ihm nur noch wenig zu liegen. Sein kleines Züngchen war dick belegt, seine Händchen sahen weiss, wie Kuchenteig aus, er schlief jetzt oft ganze Tage lang. Nur heute Abend war er auffallend munter. Die beiden hellen Lampen auf dem Tische, die vielen Leute, der Scandal, der merkwürdig grosse Zuckerkringel, den man ihm so uner¬ wartet in die Hand gesteckt hatte: er begriff das alles nicht. Nun blos noch'n bisschen Streupulver! — Die Damen hatten auf dem Sopha Platz genommen, die kleine Mieze, die sich zu den Mannsleuten rechnete, sass dem kleinen Ole vis-à-vis, der grosse Thienwiebel präsidirte. Die grossartige Gans mitten auf dem Tisch, in deren knusprigen Prachtrücken er eben energisch seine blitzende Bratengabel gestossen hatte, roch durch das ganze, kleine Zimmer. Die beiden Lampen rechts und links brannten durch ihren Dampf wie durch einen Nebel. Frau Wachtel, die sich in ihrer Sophaecke wie auf einem Präsentirteller vorkam, athmete schwer. Sie hatte heute ihr „Seidnes“ an. „Willkommen, all ihr Herrn! Wir wollen frisch daran, wie französische Falkonire, auf alles losfliegen, was uns vorkommt! Beim Himmel! Den mach' ich zum Gespenst, der mich zurückhält! . . . Ha! Seid Ihr tugendhaft, schöne Dame?“ „Thienwiebelchen?“ Der kleine Ole, der sich eben über seinen pompösen Flügel hergemacht hatte, blinzelte vor Entzücken. Die kleine Mieze war heute mal wieder ordentlich zum Anknabbern! „Thienwiebelchen?!“ Das reizende Grübchen in ihrem rosa Fingerchen kam jetzt so recht zur Geltung. „Thienwiebelchen? Es giebt was!“ Aber der grosse Thienwiebel, der sich jetzt auch die Serviette unter sein blaues Doppel¬ kinn gestopft hatte, fühlte sich wieder durch¬ aus auf der Höhe der Situation. „Meint Ihr, ich hätte erbauliche Dinge im Sinn? Ein schöner Gedanke, zwischen . . .“ „Nielchen!“ Der kleine Ole hatte es für die höchste Zeit gehalten. Er hatte sich jetzt auch seinen prachtvollen Porter eingeschenkt und schwenkte ihn nun fidel gegen die neue Lampe. „Putthuhn Nro. 25!“ Sein schönes Jubiläum sollte nicht so ohne Weiteres zu Wasser werden. „Putthuhn Nro. 25!“ Die kleine Mieze war jetzt ganz roth vor Vergnügen. Die beiden, kleinen, silbernen Ringe in ihren Ohrläppchen blitzten, ihr Stumpfnäschen sah wie aus Marcipan aus. „Bravo, Dickchen! Es soll leben! Putthuhn Nro. 25!“ Sie hatte ausgelassen mit ihm ange¬ stossen. Frau Wachtel räusperte sich jetzt. Ihr Seidnes hatte sich eben etwas geklemmt. „Etwas — etwas Sauce gefällig, Frau Thienwiebel?“ Amalie nickte. Ihr Teller schwamm zwar schon, aber: es war ja alles egal. So oder so. Ihr grosser Gatte drüben suchte eben wieder einzulenken. „Nun, nun, schöne Dame! Denn — e — wenn die Sonne Maden aus einem todten Hunde ausbrütet, eine Gottheit, die . . . Ha! Wilde Hölle! Wer ist, dess Gram so voll Emphase tönt?!“ Es war der kleine Fortinbras. Sein Zucker¬ kringel war ihm eben über den Korbrand weg auf die Stuhlkante gefallen, dort entzwei¬ geschlagen und lag nun in kleine Stücke zer¬ bröckelt unten auf den schmutzigen Dielen. „Ha, mörderischer, blutschändrischer, ver¬ ruchter Däne! Trink diesen Trank aus! Ich will den Wanst ins nächste Zimmer schleppen!“ Aber die besorgte kleine Mieze hatte ihre Gabel schon schnell wieder auf ihren Teller klappen lassen. „Ach! Nicht doch, Thienwiebelchen! Nicht doch!“ Sie war aufgesprungen und bückte sich jetzt zierlich über den plumpen Korbrand. „O, mein Zuckerpüppchen! Mein Schatz! So ein niedliches, kleines Kerlchen! Nicht wahr, Du willst auch was haben? Ach, mein Liebchen!!“ Sie hatte sich jetzt den kleinen Fortinbras auf den Schooss gesetzt und küsste ihn nur so. „Auch was haben, Dickerchen?“ Kuss! — „Auch was haben, Dickerchen?“ Kuss! Kuss, Kuss, Kuss!! Der kleine Fortinbras juchzte. Er hatte noch nie so etwas erlebt. Er zappelte jetzt, dass es nur so eine Art hatte. Er lachte! Aus vollem Halse! „Grrr . . . grrr . . . grrr . . . äh! Grrr . . . äh!“ Der grosse Thienwiebel sass da. Die Weste unten aufgeknöpft, die Augenbrauen tragisch in die Höhe gezogen. „Wie keck der — e — Bursch ist! . . . Wahrhaftig, Horatio! Ich habe seit diesen drei Jahren darauf geachtet. Das Zeitalter wird so spitzfindig, dass der Bauer dem Hofmann auf die Fersen tritt!“ Aber der kleine Ole beachtete ihn kaum. Die kleine Mieze war ihm jetzt weit inter¬ essanter. Sie sah jetzt ordentlich wie eine kleine Hausmutter aus. „Na, Dickerchen?“ Auch Frau Wachtel machte jetzt grosse Augen. Amalie pappte. „Ja, mein Junge! Sie essen alle, und mein Dickerchen soll gar nichts haben! Wie? Aber das lässt er sich nicht gefallen! Wie? — Ach, bitte, Frau Thienwiebel! Reichen Sie mir doch das Bisschen Bisquit da von der Commode her. Auch die Milch, bitte!“ Frau Thienwiebel erhob sich schwerfällig und brachte das Verlangte. Die kleine Mieze hatte den Bisquit jetzt aufgeweicht und fing nun an, den kleinen Fortinbras damit zu füttern. Von ihrem Teller, auf dem neben den drei gebratenen Aepfeln nur noch ein paar kleine, fetttriefende Haut¬ stückchen lagen, naschte sie kaum. Der kleine Fortinbras stöhnte vor Behagen. „He? Willst Du noch mehr, Dickerchen? Noch mehr?“ Der kleine Ole hatte sich jetzt neugierig über den Tischrand gebogen. Sein Schnurr¬ bärtchen duftete natürlich wieder nach chine¬ sischer Tusche. „Nein! Nein! Nu sieh doch blos, Dicker¬ chen! Wie es dem Balg schmeckt! — Was?! Noch mehr?! — No! No! Nur nicht gleich schreien! — So!“ Frau Wachtel war jetzt ordentlich bis zu Thränen gerührt. Und wenn sie bis zu Thränen gerührt war, vergass sie es auch nie von ihrer verstorbenen Pflegetochter zu erzählen. Und das kam ziemlich oft vor. „Ja, sehn Sie! Sie war ein Engel, Frau Thienwiebel! Ein Engel!“ Frau Thienwiebel kaute. Frau Wachtel beschrieb jetzt ausführlich die Krankheit des Engels und wie er dann gestorben war. Er hatte Malchen geheissen und war dabei so himmlisch geduldig gewesen. „Ja, sehn Sie, Herr Nissen! Sie war mein Einz'ges! Sie tröstete mich noch, als schon der Tod kam. Sie war ein Engel!“ Sie hatte sich jetzt auch auf ihr Taschen¬ tuch besonnen und drückte es sich nun ab¬ wechselnd in die Augen. „Ach, wein' doch nicht, Mutterchen! Wein' doch nicht! Nun komm ich ja zum lieben Gott!“ Sie weinte jetzt, dass ihr die Thränen nur so auf ihr Seidnes kullerten! Der kleine Ole war bereits eine ganze Zeit lang verlegen auf seinem Stuhl hin und her gerutscht. Er hatte es unten auf das kleine, niedliche Füsschen unterm Tisch abgesehn gehabt und war dabei eben auf die alten, pfleg¬ matischen Filzpantoffeln der reizenden Ophelia gestossen. Er war ordentlich roth darüber geworden. „Ja! Sehn Sie! Sie war mein Einziges!“ Der kleine Fortinbras plantschte vor Wonne. „Grrr . . . grrr . . . grrr . . .“ Dieses freundliche, frische Gesicht mit den hellen Augen und den blonden Löckchen über ihm — er kam gar nicht mehr raus aus dem Lachen! „Grrr . . . grrr . . . grrr . . . Äh!“ Seine Händchen hatten jetzt in die Höhe gegrapscht, die kleine Mieze liess von ihm ihre Stirnlöckchen zausen. „Nein, Dickchen! Nu sieh doch blos! Nu sieh doch blos!“ Der kleine Ole schnäuzte sich. Er war jetzt wie mit Blut übergossen. „Ja! Das glaub' ich! Das hast Du wohl noch nicht so gut gehabt, Dickerchen! Wie?“ Jetzt hatte sich endlich auch Frau Wachtel über ihn gebückt. Ihr Taschentuch lag wieder sauber ausgefältelt auf ihrem Schooss, sie kitzelte ihn jetzt wohlwollend unterm Kinn. „Ach, mein Putteken! Ach, mein Mäuse¬ ken! Hab'n se Dir so lange hungern lassen!“ Ihre Stimme zitterte, sie sah noch ganz verweint aus. Amalie tunkte grade ihre Sauce auf. Der grosse Thienwiebel aber hatte sich nunmehr rücklings in seinen Stuhl zurückge¬ lehnt und starrte jetzt, die Hände in den Hosen¬ taschen, erhaben oben in die beiden gelben Lichtklexe, die die Lampen zitternd an die Decke malten. Denn, was ein armer Mann wie Hamlet ist . . . Nichts mehr davon! Der Rest war Schweigen . . . . . . . Endlich war alles wieder abgeräumt. Frau Wachtel, die nicht Scat spielte, hatte sich mit ihrem „Seidnen“, ihrem Taschentuch und ihrer zweiten Lampe wieder hinten in ihre Küche zurückgerettet, Amalie kauerte wieder auf ihrem Fussbänkchen neben dem Ofen. Sie hatte sich noch nachträglich eine kleine Braten¬ schmalzstulle geschmiert. Es war ziemlich kalt im Zimmer. Das Feuer war ausgegangen und man hatte nichts mehr nachzulegen. Der grosse Thienwiebel, dessen Schlafrock mit der Zeit aufgehört hatte scatfähig zu sein, hatte sich statt dessen in die rothe Bettdecke eingewickelt. „Die Luft geht scharf; es ist entsetzlich kalt! Tourner, Horatio!“ „Passez, Nielchen!“ „Dito, Tienchen!“ „Was denn, Schäfchen?“ „Na, wird's bald?“ „Ah so! — Da, Schäfchen!“ „Na, endlich!“ Sie hatte die Cigarrette, die ihr der kleine, eifrige Ole gereicht hatte, mit spitzen Fingern angefasst und zog jetzt ein Gesicht, als ob ihr der Rauch lästig wäre. Sie wusste, dass ihr das liess! Es hatte auch sofort den Erfolg, dass ihr ihr Dickchen einen Kuss mauste. „Nein doch! So eine Unverschämtheit!“ Sie hatte ihn unterm Tisch mit dem Knie gestossen. „Pique Ass! Nicht wahr, Wiebelchen?“ „Sehr wohl, schöne Dame! Sehr wohl! Vortrefflich, meiner Treu! Was wäre da zu fürchten? Ich — e — selbst bin — e — hm! — leidlich tugendhaft . . .“ Der kleine Fortinbras war jetzt vollständig vergessen. „Voll Speis' und Trank in seiner Sünden Maienblüte“ lag er jetzt wieder „sicher beigepackt“ hinten in seiner dunklen Korbecke und starrte nun trübselig drüben in den Cigar¬ rettenqualm, der in dicken Schichten um die grüne Glocke wogte. Seit seiner Geburt war er nicht übermässig oft aus seinem Winkel hervorgeholt worden. Das unerwartete Glück heute hatte ihn ganz sehnsüchtig nach dem Lichte dort gemacht. Der Schooss, der Zucker¬ kringel, die Löckchen . . . er hatte wieder zu quäken angefangen. Amalie rührte sich nicht. Der Bengel wollte blos immer genommen sein. Sie hatte schon an einmal genug. „Coeur Trumpf, Nielchen!“ 5 „Ihr sagtet?“ „Ich sagte: Coeur Trumpf, Nielchen! Coeur Trumpf!“ „Ha, blut'ger kupplerischer Bube! Unmög¬ lich bei diesem verwünschten Geschrei ein Wort zu verstehen! Wenn Du nicht gleich still bist, Du infames Balg, dann schlag' ich Dich blitzblau wie eine Heidelbeere!“ „Nicht doch! Das kneift ja, Ole! Au!“ „Ach was, Schäfchen! Lass doch!“ Das Sopha hatte in diesem Augenblicke genug mit sich selbst zu thun. Amalie, die auf ihrer kleinen Fussbank schon wieder halb eingenickt war, blinzelte kaum. Der grosse Thienwiebel war vor einer zweiten Ohrfeige sicher. Er hatte sich jetzt in seiner rothen Bett¬ decke ergrimmt vor den Korb gestellt und brüllte nun wüthend auf das arme, kleine Bün¬ delchen ein. „Willst Du still sein, Du — Lausbub!?“ Aber der „Lausbub“ war's nicht. Er wollte auch mal va banque spielen. Er schrie jetzt, als wenn er seine kleinen Lungen auseinander¬ sprengen wollte. „Aber . . . Das ist doch wirklich unerhört! . . . Na, warte! Du . . . Du — Lindwurm, Du! Warte!“ Er prügelte ihn jetzt, dass es nur so klitschte. Als aber auch das nichts half, riss er das Kopfkissen unter ihm vor und presste es ihm auf das Gesicht. Der kleine Fortinbras war jetzt auf einen Augenblick vollständig verstummt. Sein Ge¬ schrei war wie abgeschnitten. Aber der grosse Thienwiebel hatte noch nicht genug. „Nichtsnutziger Patron!“ Er hatte ihm jetzt das Kissen noch fester aufgedrückt. Der kleine Ole hatte die kleine Mieze, die noch ganz roth vor Aerger war, wieder losge¬ lassen. Er war jetzt ordentlich ängstlich ge¬ worden. „Um Gottes Willen, Nielchen! Er erstickt ja!“ „Ach Unsinn! So schnell geht das nicht!“ Nein! So schnell ging das auch nicht. Denn als der grosse Thienwiebel nach einiger Zeit das Kissen fortnahm, schnappte zwar der kleine Fortinbras ein paar Augenblicke verzweifelt 5 * nach Luft, fing dann aber sofort wieder von Neuem an. „Ole!“ Empört war die kleine Mieze jetzt aufge¬ sprungen. Das schreckliche Kopfkissen hatte den Kleinen von neuem zugedeckt. „Ole! Das leidst Du?“ „Ach was! Er weiss es ganz gut, der Lümmel! Er soll nicht schreien! Es ist die reine Bosheit! Man bekommt das wirklich satt!“ „Pfui! Ole komm! Lass den alten — Pavian!“ „Pa . . . Pa . . . Pa . . .“ Der kleine Ole hatte jetzt verlegen nach seiner Uhr gesehn. „ . . .Pavian?!!!“ Endlich war der grosse Thienwiebel wieder zu sich gekommen! „Hinaus, sag' ich!! Hinaus!!“ Aber sie waren es bereits. Einen Augen¬ blick lang noch hörte er sie draussen durch die Küche tappen; dann, endlich, war nebenan bei ihnen die Thür zugefallen. Er stand da! Um seine Schultern die rothe Bettdecke, in seiner Rechten das kleine, blau¬ gewürfelte Kopfkissen. Drüben, in der Ofen¬ ecke, die reizende Ophelia. „Da! Nymphe!!“ Er hatte ihr das Kissen in's Gesicht ge¬ schleudert. — VI. Seit ihr zweiter, unliebenswürdiger Gatte ihr vor ungefähr fünf Jahren auf der „dicken Selma“ treulos nach Canada ausgerückt war, hatte die liebe, gute, alte Frau Wachtel keinen solchen Aerger mehr auszustehen gehabt. Nicht blos, dass seine Stiefelabsätze noch überall auf dem Sopha deutlich zu sehen waren, nicht blos, dass das Fensterkreuz von den dämlichen Leiterstücken, die jetzt natürlich zer¬ brochen unten auf dem Pappdach lagen, total ruinirt war, bewahre: auch die ganze Tapete war von oben bis unten mit Oelfarben beklext! Der vermaledeite, knirpsige Schmierpeter schien sich die ganze Zeit dran seine schwein'schen Pinsel ausgequetscht zu haben. Pfui Deibel, ja! Aber, das war ihr ganz recht! Warum hatte sie das ganze Pack nicht schon längst an die Luft gesetzt! Wenn's wenigstens noch die verrückten Thienwiebels gewesen wären. Aber die holte ja der Satan nicht! Die hakten fest wie Kletten an ihr! Die alte, liebe, gute Frau Wachtel war ganz ausser sich. Aber sie hatte wirklich Pech mit ihren Mannsleuten. Der kleine Ole hatte sich in der That nicht entblödet, ihr mit Hinter¬ lassung einiger alter „Schinken“, deren Dar¬ stellungsobjecte es unmöglich zuliessen, dass man sie sich über's Sopha hing, auszukneifen. „Solch' eine That, die alle Huld der Sitt¬ samkeit entstellt, die Tugend Heuchler schilt, die Rosen wegnimmt von unschuldvoller Liebe schöner Stirn und Beulen hinsetzt . . . Ha!“ Aber der grosse Thienwiebel suchte sich jetzt vergeblich beliebt zu machen. Seine „Schmeichelsalb'‟ zog nicht mehr. Frau Ro¬ sine Wachtel verlangte jetzt energisch ihre Miethe. Heut' war der Siebente: wenn ihr bis zum Vierzehnten nicht alles bezahlt war: — raus!! Ja! . . . Sterben — schlafen — nichts weiter! Und zu wissen, dass ein Schlaf das Herzweh und die tausend Stösse endet, die uns'res Fleisches Erbtheil — 's ist ein Ziel auf's Innigste zu wünschen! . . . Ja! dies war ehe¬ dem paradox! Paradox! . . . Doch nun — be¬ stätigte es die Zeit! Armer Yorick! . . . Der grosse Thienwiebel fühlte, dass es jetzt zu Ende war mit seiner Kraft. Er wollte nun arbeiten, Freund! Arbeiten! Er wollte seine ganze Kraft aufbieten. Er — er . . . er wollte ihn „suchen“ gehn! „Lasst mich! Er ist er¬ mordet, Amalie! Er ist ermordet!“ . . . Er hatte sich jetzt wieder seinen alten, oli¬ vengrünen Leibrock zurechtgeflickt und trieb sich nun ganze Tage lang im Hafenviertel umher. — „Ha! Todt?! Für 'nen Dukaten, todt?!“ . . . Er hatte wieder eine prachtvolle Ausrede. Ein Bubenstück! Er brauchte jetzt kaum mehr die Nächte nach Hause zu kom¬ men. Er schnurrte sich herum, so gut es ging. Da gab es noch — e: Collegen! Leute! Leute? Pah, Stümp'rr! Aber — e . . . sie — e . . . Nun ja! Sie sorgten für die Bewirthung der Schauspieler. Wetter! Es lag darin etwas Uebernatürliches! Wenn die Philosophie es nur hätte ausfindig machen können! . . . Aber die Philosophie machte es nicht aus¬ findig. Der grosse Thienwiebel kam nie da¬ hinter. Er hatte sich jetzt nach und nach bis unten in die Hafenspelunken verirrt. Mehrere Sack¬ träger waren bereits seine Dutzbrüder gewor¬ den. Bevor nicht „der Hahn, der als Trom¬ pete dient dem Morgen“ bereits mehrere Male nachdrücklich gekräht hatte, kam er jetzt selten mehr die Treppen in die Höhe gestolpert. Amalie nähte noch immer ihre Tricottaillen. Der Stumpfsinn hatte sie nach und nach zur reinen Maschine gemacht. Die reizende Ophelia in ihr war jetzt endgültig begraben. Für alle Zeiten! . . . Ihre Brust war noch schwächer geworden . . . Dem kleinen Fortinbras ging es noch jäm¬ merlicher. Sein ganzes Gesichtchen war jetzt dicht mit rothen Pusteln betupft. Ein Schäch¬ telchen Zinksalbe, zu dem sich die Familie im Anfang denn doch noch aufgeschwungen hatte, lag jetzt, zusammengequetscht, verstaubt hin¬ term Ofen. Es war nicht mehr erneuert worden. Der grosse Thienwiebel hatte nicht so ganz Unrecht: Die ganze Wirthschaft bei ihm zu Hause war der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters. VII. Zwölf! . . . Erschöpft hatte sie sich wieder auf ihrem Fussbänkchen zurücksinken lassen. Der Ofen hinter ihr war eiskalt. Durch ihre Nachtjacke durch fühlte sie deutlich seine Kacheln. Sie fröstelte! Die letzten Töne draussen brummten und zitterten noch, das kleine Talglicht, das in eine leere, grüne Bierflasche gesteckt dicht vor ihr auf dem umgekippten Kistchen mitten zwischen dem Nähzeug stand, knitterte in der Kälte. Frau Wachtel nebenan schnarchte, der kleine Fortinbras hatte sich drüben in seinem Korb wieder unruhig auf die andere Seite ge¬ wälzt. Sein Athem ging rasselnd, stossweis, als ob etwas in ihm zerbrochen war. Draussen auf das Fensterblech war eben wieder ein Eiszapfen geprasselt. Dicht davor, unterm Bett, jetzt deutlich das scharfe Nagen einer Maus. Zwölf! Sie hatte ihr Nähzeug wieder fallen lassen. Ihre Finger waren krumm zusammengezogen, sie konnte sie kaum noch aufkriegen. Um die Nägel herum waren sie blau angelaufen. Sie hauchte jetzt in sie hinein. Ihr Athem brodelte sich staubgrau um das kleine, zitternde Flämmchen. Eine verspätete Fliege, die dicht neben dem schwarzen Docht in den kleinen, runden Talgkessel drunter gefallen war, ver¬ kohlte langsam. Ab und zu knisterte es .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Halt' ihn! Halt' ihn! Hülfe!! Hülfe!!“ Erschreckt war sie zusammengefahren. Sie sah jetzt auf. Ihr schlaffes, weisses Ge¬ sicht war noch stupider geworden. „Hierher! Hierher! Hülfe!!“ Der gelbe Lichtklex vor ihr liess jetzt das Zimmer dahinter noch dunkler erscheinen. Nur vom Fenster her durch das eckige Loch in der Bettdecke, von draussen, das matte Schneelicht. „Hülfe! Hülfe!!“ Sie war aufgesprungen und an's Fenster gestürzt. Das kleine Talglicht hinter ihr war erloschen. Es war umgekippt und lag jetzt unter dem Nähzeug. „Wächter!! Wächter!! Halt' ihn!! Jonas! Jonas!!“ An allen Gliedern bebend hatte sie jetzt die alte Bettdecke in die Höhe gerafft und suchte nun durch die wirbelnden Schneeflocken draussen unten auf die Strasse zu sehen. Ihre Zähne klapperten vor Frost, die Scheere, die sie noch fest in der Hand hielt, klirrte im Takt gegen die Scheibe. Ein paar Dachgiebel hoben sich bleigrau drüben aus der Dunkelheit ab. Irgendwo in einem Fenster flimmerte noch ein Licht. „Hurrah! Papa Svendsen!! Moi'n, oller Junge! Prost Neujahr!!“ Sie athmete auf. Es hatte laut gelacht. Jetzt: eine barsche Stimme, ein Stock, der schnell noch eine Jalousie runterrasselte, die ganze Gesellschaft war wieder um die Ecke. Eine kleine Weile noch horchte sie. Ab und zu von den Dächern, polternd, der Schnee, in der Ferne, leise, ein Schlitten¬ glöckchen. Sie hatte die Decke wieder fallen lassen. — Einen Augenblick lang stand sie da! Das ganze Zimmer war jetzt schwarz. Nur hinter ihr, matt durch die Decke, das Schneelicht. Sie tappte sich auf den Tisch zu. Gegen die Kante stiess sie. Ein Fläschchen war umgeklirrt, es roch nach Spiritus. Das Zündholzschächtelchen hatte jetzt geraschelt, es flackerte auf! Sie leuchtete über den Tisch hin. Der schmale Goldrand um die kleine Photographie glitzerte. Die Nachtlampe stand auf dem alten, aufgeklappten Buch mitten zwischen dem Geschirr. Jetzt ein leises Sprüh'n und Knistern, der Docht hatte gefangen. Ueber ihr, gross an der Decke, ihr Schatten. Frau Wachtel nebenan schnarchte, der kleine Fortinbras stöhnte. Sie hatte sich jetzt auf den Bettrand ge¬ setzt. Die beiden Zipfel des Kopfkissens, das sie um ihre Schultern gepackt hatte, drückte sie vorn mit ihrem Kinn fest gegen ihre Brust zusammen. Ihre Arme hatten sich gegen ihren Leib gekrampft, ihre hochgezogenen Kniee waren eng aneinander gepresst. Sie zitterte über den ganzen Körper! Ihr Gesicht hatte sich verzerrt, stumpf stierte sie vor sich hin. Die Scheere, die ihr vorhin vom Tisch runter¬ gekippt war, lag unten vor ihr auf den grauen Dielen. Sie flinkerte. Das Lämpchen auf dem Tisch hatte jetzt leise zu zittern angefangen, die hellen, lang¬ gezognen Kringel, die sein Wasser oben quer über die Decke und ein Stück Tapete weg gelegt hatte, schaukelten. Das Geschirr um das Glas hob sich schwarz aus ihnen ab. Die Kaffeekanne reichte quer bis über die Decke. „Brrr . . . . Ae!“ Ihre Pantoffeln waren jetzt unter den Tisch geflogen, sie hatte sich hastig unter das Deck¬ bett gekuschelt. Die weissen Lichtringe oben flutheten und flutheten, das Oel auf dem Tisch knatterte leise, ein kleines Fünkchen war eben von seinem Docht abgespritzt und schwamm nun schwarz in der dicken, goldgelben Masse. Unter dem Deckbett drüben lag es jetzt wie ein Klumpen. An einer Stelle sah noch ihr Unterrock vor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Still, Hund! . . . Ae!!“ Er hatte sich jetzt seinen alten Cylinder, auf dem noch der dicke Schnee lag, vom Kopf gerissen und feuerte ihn nun wüthend drüben in die dunkle, schreiende Ecke, wo der Korb stand. Die Thür hinter ihm war dröhnend in's Schloss gekracht. „Niels!!“ Das Deckbett, das jetzt quer auf den Dielen lag, hatte zur Hälfte den Stuhl mitgerissen. Sie kniete nun aufrecht mitten im Bett. Ihre Nachtjacke vorn hatte sich ihr bis oben unter die Arme verschoben, ihr Haar hing in Strähnen um ihr Gesicht. „Halt's Maul! Fang' nicht auch noch an!“ Er hatte sich jetzt auch seinen alten, ab¬ geschabten Rock runtergezerrt. Das kleine Spiegelchen über der Commode, gegen das er ihn geschleudert hatte, war runtergeschurrt und lag nun zersplittert auf dem blinkernden Wachstuch. „Na, wird's bald?!“ Der kleine Fortinbras jappte nur noch. „Na?! . . . Dein Glück, Canaille! . . .“ Seine Stiefeln waren jetzt dumpf gegen die kleine Kiste neben dem Ofen gebullert. Der aufgeschlammte Schnee dran war nass gegen die Kacheln geplatscht. Er suchte jetzt nach den Pantoffeln. „Ach was! Halt' Dein Maul, sag' ich! . . . Die Ohren vollplärren . . . Könnte mir noch grade passen! . . . Sind die Sachen gepackt?!“ Das Schnarchen nebenan hatte aufgehört. Es schubberte jetzt deutlich gegen die Thür. „Ob Du gepackt hast?!“ „Nein, Niels . . . ich . . .“ Sie stotterte! „Natürlich! Man hat ja mal wieder zur Ab¬ wechslung die Schwindsucht! . . . Bitte, ge¬ niren Sie sich nicht, Frau Wachtel! Treten Sie näher! Heute geht's ja woll noch!“ Sein Schatten, der bis dahin kreuz und quer über die Wand und oben über die weisse Decke geschossen war, war jetzt verschwunden. Er hatte sich unter den Tisch gebückt. Vom Bett her hatte es eben laut zu husten angefangen. „Ach, Du mein lieber Gott! . . . Ach Gott! Ach Gott! Die arme Frau!“ Sie hatte jetzt ihr Gesicht in das Kissen gepresst und weinte. „Nu ja! Nu ja! Nu heul' doch noch'n bisschen! Das ist ja Deine Force! Weiter kannste ja woll nischt!“ Er war eben in die Pantoffeln gefahren und suchte nun auf dem Tisch herum. Ein Messer klapperte gegen die Kochmaschine, eine Tasse war umgekippt. „Natürlich! Keen Fippschen mehr! Für Deine Schwindsucht hast Du ja noch'n janz juten Appetit! . . Herrlich! Das thut immer, als ob es Poten saugt und frisst ein'm die Haare vom Kopp' runter!“ Er hatte sich seine Fäuste in die Hosen¬ taschen gestopft und schnaubte nun im Zimmer auf und ab. „So'ne Zucht! So eine — Zucht!!“ Er hatte jetzt mit dem Fuss in die kleine, hohle Kiste mit dem Nähzeug gestossen. Die Flasche war auf den Boden geschlagen, das Licht bis unter's Bett gekullert. „Lächerlich!“ Er hatte jetzt auch noch die Flasche drunter¬ gestossen. „Lächerlich!! . . . Wirst Du still sein?!!“ Der kleine Fortinbras hatte wieder laut zu schreien angefangen. „Bestie!“ Mit einem Satz war er jetzt auf den Korb zu. „Bestie!!“ Das Geschrei war wieder wie abgeschnitten. „Alberne Komödie!“ Er hatte sich jetzt wieder nach dem Bett zu gedreht. Seine Fäuste waren geballt. Unter seinen Kissen hervor hatte es deutlich ge¬ schluchzt. „Alte Heulsuse!“ Die beiden dicken Falten um seine Nase waren jetzt noch tiefer geworden, zwischen seinen verzerrten Lippen blitzten seine breiten Zähne auf. „Ae!!“ Ueber seinen Rücken war ein Frösteln gelaufen. „So'ne Kälte!“ Er rückte sich jetzt geräuschvoll den Stuhl zurecht. „So'ne Kälte!! Nich mal'n paar lump'je Kohlen hat das! So'ne Wirthschaft!“ 6 Seine Socken hatte er jetzt runtergestreift, der eine war mitten auf den Tisch unter das Geschirr geflogen. „Na?! Willste so gut sein?!“ Sie drückte sich noch weiter gegen die Wand. „Na! Endlich!“ Er war jetzt zu ihr unter die Decke ge¬ krochen. Die Unterhosen hatte er anbehalten. „Nich mal Platz genug zum Schlafen hat man!“ Er reckte und dehnte sich. „So'n Hundeleben! Nich mal schlafen kann man!“ Er hatte sich jetzt wieder auf die andre Seite gewälzt. Die Decke von ihrer Schulter hatte er mit sich gedreht, sie lag jetzt fast bloss da . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Nachtlämpchen auf dem Tisch hatte jetzt zu zittern aufgehört. Die beschlagene, blaue Karaffe davor war von unzähligen Lichtpünktchen wie übersät. Eine Seite aus dem Buch hatte sich schräg gegen das Glas aufgeblättert. Mitten auf dem vergilbten Papier hob sich deutlich die fette Schrift ab: „Ein Sommernachtstraum“. Hinten auf die Wand, über's Sopha weg, warf die kleine, glitzernde Photographie ihren schwarzen, rechteckigen Schatten. Der kleine Fortinbras röchelte, nebenan hatte es wieder zu schnarchen angefangen. „So'n Leben! So'n Leben!“ Er hatte sich eben wieder zu ihr gedreht. Seine Stimme klang jetzt weich, weinerlich. „Du sagst ja gar nichts!“ Sie schluchzte nur wieder. „Ach Gott, ja! So'n . . . Ae!! . . .“ Er hatte sich jetzt noch mehr auf die Kante zu gerückt. „Is ja noch Platz da! Was drückste Dich denn so an die Wand! Hast Du ja gar nich nöthig!“ Sie schüttelte sich. Ein fader Schnaps¬ geruch hatte sich jetzt über das ganze Bett hin verbreitet. „So ein Leben! Man hat's wirklich weit gebracht! . . . Nu sich noch von so'ner alten Hexe rausschmeissen lassen! Reizend!! Na, was 6 * macht man nu? Liegt man morgen auf der Strasse! . . . Nu sag' doch?“ Sie hatte sich jetzt noch fester gegen die Wand gedrückt. Ihr Schluchzen hatte auf¬ gehört, sie drehte ihm den Rücken zu. „Ich weiss ja! Du bist ja am Ende auch nicht Schuld dran! Nu sag' doch!“ Er war jetzt wieder auf sie zugerückt. „Nu sag' doch! . . . Man kann doch nicht so — verhungern?!“ Er lag jetzt dicht hinter ihr. „Ich kann ja auch nicht dafür! . . . Ich bin ja gar nicht so! Is auch wahr! Man wird ganz zum Vieh bei solchem Leben! . . . Du schläfst doch nicht schon?“ Sie hustete. „Ach Gott, ja! Und nu bist Du auch noch so krank! Und das Kind! Dies viele Nähen . . . Aber Du schonst Dich ja auch gar nicht . . . ich sag's ja!“ Sie hatte wieder zu schluchzen angefangen. „Du — hättest — doch lieber, — Niels . . .“ „Ja . . . ja! Ich seh's ja jetzt ein! Ich hätt's annehmen sollen! Ich hätt' ja später immer noch . . . ich seh's ja ein! Es war un¬ überlegt! Ich hätte zugreifen sollen! Aber — nu sag doch!!“ „Hast Du ihn — denn nicht . . . denn nicht — wenigstens zu — Haus getroffen?“ „Ach Gott, ja, aber . . . aber, Du weisst ja! Er hat ja auch nichts! Was macht man nu blos? Man kann sich doch nicht das Leben nehmen?!“ Er hatte jetzt ebenfalls zu weinen ange¬ fangen. „Ach Gott! Ach Gott!!“ Sein Gesicht lag jetzt mitten auf ihrer Brust. Sie zuckte! „Ach Gott! Ach Gott!!“ Der dunkle Rand des Glases oben quer über der Decke hatte wieder unruhig zu zittern begonnen, die Schatten, die das Geschirr warf, schwankten, dazwischen glitzerten die Wasser¬ streifen „Ach, nich doch, Niels! Nich doch! Das Kind — ist ja schon wieder auf! Das — Kind schreit ja! Das — Kind, Niels! . . . Geh doch mal hin! Um Gotteswillen!!“ Ihre Ellbogen hinten hatte sie jetzt fest in die Kissen gestemmt, ihre Nachtjacke vorn stand jetzt weit auf. Durch das dumpfe Gegurgel drüben war es jetzt wie ein dünnes, heis'res Gebell gebro¬ chen. Aus den Lappen her wühlte es, der ganze Korb war in ein Knacken gerathen. „Sieh' doch mal nach!!“ „Natürlich! Das hat auch grade noch ge¬ fehlt! Wenn das Balg doch der Deuwel holte! . . .“ Er war jetzt wieder in die Pantoffeln ge¬ fahren. „Nicht mal die Nacht mehr hat man Ruhe! Nicht mal die Nacht mehr!!“ Das Geschirr auf dem Tisch hatte wieder zu klirren begonnen, die Schatten oben über die Wand hin schaukelten. — „Na? Du!! Was giebt's denn nu schon wieder ? Na ? . . . Wo is er denn ? . . . Ae, Schweinerei!“ Er hatte den Lutschpfropfen jetzt gefun¬ den und wischte ihn sich nun an den Unter¬ hosen ab. „So'ne Kälte! Na? Wird's nu bald? Na? Nimm's doch, Kameel! Nimm's doch! Na?!“ Der kleine Fortinbras jappte! Sein Köpfchen hatte sich ihm hinten in's Genick gekrampft, er bohrte es jetzt verzwei¬ felt nach allen Seiten. „Na? Willst Du nu, oder nich?! — — Bestie!!“ „Aber — Niels! Um Gotteswillen! Er hat ja wieder den — Anfall!“ „Ach was! Anfall! Da! Friss!!“ „Herrgott, Niels . . .“ „Friss!!!“ „Niels!“ . . . . . . . . . . . . . „Na? Bist Du — nu still? Na? — Bist Du — nu still? Na?! Na?!“ „Ach Gott! Ach Gott, Niels, was, was — machst Du denn blos?! Er, er — schreit ja gar nicht mehr! Er . . . Niels!!“ Sie war unwillkürlich zurückgeprallt. Seine ganze Gestalt war vornüber geduckt, seine knackenden Finger hatten sich krumm in den Korbrand gekrallt. Er stierte sie an. Sein Gesicht war jetzt aschfahl. „Die . . . L — ampe! Die . . . L — ampe! Die . . . L — ampe!“ „Niels!!!“ Sie war rücklings vor ihm gegen die Wand getaumelt. „Still! Still!! K — lopft da nicht wer?“ Ihre beiden Hände hinten hatten sich platt über die Tapete gespreizt, ihre Kniee schlot¬ terten. „K — lopft da nicht wer?“ Er hatte sich jetzt noch tiefer geduckt. Sein Schatten über ihm pendelte, seine Augen sahen jetzt plötzlich weiss aus. Eine Diele knackte, das Oel knisterte, draussen auf die Dachrinne tropfte das Thau¬ wetter. Tipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipp . . . . . . . . . . . Tipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Acht Tage später balancirte der kleine, buckelige Bäckerjunge Tille Topperholt seinen Semmelkorb pfeifend durch das dunkle, dick¬ verschneite Severingässchen nach dem Hafen runter. Die Witterung hatte wieder umge¬ schlagen, seine kleine Stuppsnase sah zum Erbarmen blau aus. „Heil Dir, Svea! Mutter für uns alle!“ Es hatte gerade fünf geschlagen. Vor dem neuen, grossen Schnapsladen an der Ecke der Petrikirche stolperte er. Jesus! Seine Semmeln waren ihm in den Rinnstein geflogen, er war mitten in den Schnee geschlagen. Aber er nahm sich nicht einmal die Zeit, sie wieder aufzulesen. Er kam erst wieder zur Besinnung, als er sich bereits drüben am Jakobiplatz mit beiden Händen an die grosse, dick beeiste Glocke gehängt hatte, die denn auch sofort oben die ganze Polizeiwache alarmirte. Jesus! Jesus!! . . . Als der dicke Sieversen dann endlich an¬ gestapft kam, constatirte er, dass der Mann erfroren war. „Erfroren durch Suff!“ Seinen zerbeulten Cylinder hatte ihm der kleine, bucke¬ lige Tille vorhin grade gegen die Laterne ge¬ quetscht. Aus seinen zerlumpten, apfelgrünen Frackschössen sah noch die Flasche. Wohlan! Eine pathetische Rede! Es war der grosse Thienwiebel. Und seine Seele? Seine Seele, die ein un¬ sterblich Ding war? Lirum, Larum! Das Leben ist brutal, Amalie! Verlass Dich drauf! Aber — es war ja alles egal! So oder so! Der erste Schultag. I. D er Herr Rector Borchert sass auf seinem Katheder und ging die eingelaufenen Briefe durch. Es waren wieder drei Stück. Der erste war auf grobem, grauem Armeleutspapier ge¬ schrieben und kaum zu entziffern. Er lautete: „Herr Borchert Ich mus ser bedauern das ich Ihnen mit meine Wenigkeit belästigen mus da sie mein 6 Jähries Mendchen so gebrigelhaben das nach drei Tage noch braun un blau aus sa da ich mich genöthich finde andre wege zu suchn denn das kann mol ein jeder drum bezale ich mein Schulgelt nich das is nu zu zweiten mal das das Kind zu Hause komt one ein Knopff an das kleid zu habn das andre Kindr ihr die sticken nachbringen Frau Gorges.“ Herr Borchert hatte das Schreiben wieder sorgfältig zusammengefaltet und steckte es jetzt vorsichtig in sein Couvert zurück. No. 167! Mit Blaustift! Das hob sich so besser ab und war übersichtlicher . . . An der Sieben besserte er noch ein klein wenig nach. Der Haken hinten schien ihm noch nicht schwungvoll genug. So! Der gehörte in die Schublade rechts. Die Schublade links war für die „Knubbels“ re¬ servirt. — Neben ihm stand eine Tasse Kaffee. Er nahm jetzt einen kleinen, behaglichen Schluck draus und ritzte dann auch den zweiten Brief auf. Dieser war womöglich noch undeutlicher geschrieben und nicht einmal frankirt gewesen. Aber das that nichts. Diese reizende, kleine Sammlung war ja seine einzige Freude . . . Er las: „Herr Lehrer. Ich bitte mein Sohn Emil zu enschulligen weil er die Schule versäumt er hatt so schlimme Augen da bitte ich schon ein Bis¬ chen Rücksicht zu nehmen und mächte si zuchleich bitten den Kindern nicht so aus¬ verschämt zu hauhen des sie abgeschunden zu hause kommen Herzlichen Gruss Frau Munk.“ No. 203a! Herr Borchert hatte seine kleinen, pech¬ schwarzen Ferkeläugelchen prüfend dem in¬ teressanten Document genähert. Gelbes Conceptpapier und die Linien drauf mit dem stumpfen Ende einer Scheere ge¬ zogen. No. 203a! Das Blau drauf nahm sich sehr schön aus. Nur den Fettfleck! Den Fettfleck hier links neben der Unterschrift hätte sich die gute Frau Munk sparen können! Er hatte sich jetzt hinten sein grosses, rot¬ baumwollnes Taschentuch aus der Rocktasche gezogen und schnäuzte sich. Dagegen! Dieses dritte Ding! Wie manierlich! Die Linien auf dem blassrosa Couvert waren augenscheinlich zuerst mit Bleistift gezogen und dann sorgfältig ausradirt. Ausserdem wies auch die Rückseite noch ein Siegel auf, zu dessen Petschaft ein Zwölfschillingsstück ge¬ dient hatte. Es sah ordentlich wohlhabend aus! Das zierliche Briefchen lautete: „Sehr geehrter Herr Borchert! Ich frage gehorsamst an warum Sie mein Kind am 31. dieses Monatts das Gesicht blau geschlagen haben, oder ob Sie überhaupt das Recht dazu haben, ein Kind so zu schlagen dass es im Gesicht blau ist, denn wenn das Kind würde am Gehör davon leiden, was leicht möglich sein kann, würden und könnten Sie Ihn die Gesundheit wieder schaffen? Geehrter Herr Sie wissen vielleicht nicht wie sauer einem die Kinder werden, Ich habe mein Gott gedanckt dass ich ge¬ sunde Kinder habe und nun bin ich nich willens; dass ich, Meine Kinder von Ihn un¬ gesund schlagen lasse, also ich bitte Sie dass nich noch einmal zu riskiren sonst konnte es etwas darauff folgen. Hochachtungsvoll Frau Kuhlmann Georgenstrasse 19.“ Herr Borchert lächelte. Nummero Zweihundert und vier! Wenn er sich nicht irrte, war diese liebens¬ würdige Frau Kuhlmann schon seit circa einem Vierteljahr Wittwe. Herr Kuhlmann musste ihr so eine Art Seifenladen hinterlassen haben. Hm . . . Was nun? Er gähnte. Ein Riss oben, mitten in der weissen Decke, interessirte ihn lebhaft. Eine kleine Weile verging. Ein dicker, blauer Brummer stiess mit seinem Schädel fortwährend gegen das Fenster und summte. Sssss . . . ssss . . . sss . . . Ah! Richtig! . . . Die Noten! Er wollte ja heute noch Notenlinien ziehen. Bon! Er entkorkte das Tintfass. Die dicke, dumme 7 musca domestica hatte aufgehört gegen die Scheibe zu stossen, seine Feder pflügte regel¬ mässig über das Papier . . . In der Klasse war es ganz still. Die Vor¬ mittagssonne, die durch alle drei Fenster zu¬ gleich schien, füllte den ganzen Raum. Er war viereckig und mit einer sehr hässlichen, blauen Wasserfarbe angemalt. Kein Kind rührte sich! Sie hatten alle ihre kleinen, dicken Händchen fest zusammengefaltet und nun vollauf damit zu thun, ihren Athem möglichst regelmässig durch ihre kleinen, kreisrunden Naslöcherchen zu blasen. Sie brauchten dabei zugleich nicht so den fremden, aus Lack und Schulstaub ge¬ mischten Geruch in sich einzuziehen, der in dem ganzen Zimmer die einzige Luft war! Ihre kleinen, kirschrothen Mäulerchen dabei aufzusperren, trauten sie sich nicht. Der Herr Rector Borchert, der vorn vor der grossen, schwarzen Tafel hinter dem grauenhaften, gelben Holzgestell wie ein alter hungriger Rabe da¬ sass, der auf ein Stück Fleisch lauerte, be¬ obachtete sie zu scharf. Es war wirklich schrecklich! Namentlich wenn man so dumm war und vorn auf der ersten Bank sass ... Die Fliegen, die ihnen über die Nasen liefen, hatten gut beissen. Sie zwinkerten nicht ein¬ mal mit den Augen. Der Herr Rector Bor¬ chert hatte es ihnen streng verboten. Sie sollten sie nur alle still in die Tintfässer vor sich stecken und ihn nicht so anglupen. Sonst gab's was mit seinem Fuchsschwanz! Oh!! Natürlich thaten die kleinen Würmerchen das auch und sahen alle sehr ernsthaft aus. Nur schrecklich roth waren sie dabei. Ja! Es war ganz still in der Classe ... Draussen hinter dem grossen, runden Kasta¬ nienbaum, der mit seinen schönen, bunten Blüthen in einem fort gegen das dritte Fenster schlug, funkelte eine Thurmspitze in den Himmel. Sonst sah man weiter nichts. Nur drüben, auf der anderen Seite des Mark¬ tes, die alte Rathhausuhr, die auf ihrem schrä¬ gen, lichtblauen Schieferdach wie ein runder, weisser Klex lag. 7* Die kleine, schwarze Luke drunter war heute mit dem grossen, goldnen Spicker drüben, der sich aber auf der Wetterseite bereits dick mit Grünspan überzogen hatte, durch ein Seil verbunden. Dieses Seil war dick mit Kreide beschmiert und zerschnitt den Himmel in zwei grosse, dunkelblaue Hälften. Denn es war heute Jahrmarkt im Städtchen! Ari-ben-Aribell, der grösste Seilkünstler beider Welten, wollte dort unter hohem Permiss eines gestrengen Herrn Bürgermeisters einem geneigten Publico mit seinen halsbrecherischen Productionen aufwarten. Auf dem grossen, zeisiggrünen Plakat, das der dicke Metzelthien schon am vergangenen Sonnabend unten an die Rathhausthür geklebt hatte, war das alles auf's Schönste abgemalt gewesen. Die „Knubbels“ wussten das. Ihre kleinen, verstockten Herzen schlugen, wenn sie daran dachten. Jeden Augenblick konnte jetzt dieser schreck¬ liche Ari-ben-Aribell seinen Kopf, der ganz roth und weiss war und grade wie bei einem Teufel aussah, drüben aus dem Rathhausdach stecken und dann mit seinen merkwürdigen, grossen, kirschrothen Strümpfen, die ihm hinten bis an den Popo gingen, mitten durch den Himmel bis hoch oben grade auf die Kirch¬ thurmspitze klettern! Dort sollte er sich dann mitten auf die grosse, goldne Kugel stellen und einen wirklichen, schneeweissen Vogel in die Luft werfen! Eine Taube, oder einen Läm¬ mergeier! Diese Taube oder dieser Lämmer¬ geier flog dann dreimal rund um die ganze Stadt rum und setzte sich dann zuletzt wieder auf seine goldpapierne Mütze zurück! Kotel Thiem, der aber ganz und gar bucklig war und dabei mit seinem Finger in das Plakat noch ein grosses, rundes Loch ge¬ bohrt hatte, Kotel Thiem hatte sogar erzählt, dass er zuletzt auch noch aus einem grossen, unsichtbaren Sack allerlei Raritäten — Zucker¬ kringel, Knackmandeln und Apfelsinen! unten unter die „Pudels“ werfen würde! Die „Pudels“ waren die Strassenjungens. Ja! Die! Die! Zuckerkringel, Knackmandeln und Apfel¬ sinen! Und nun musste man hier still in der Rectorschule sitzen und seine Augen in die dummen, langweiligen, schwarzen Tintfässer stecken. Es war wirklich zu schrecklich! Die Sonne, die bis jetzt nur über die Wand und die vielen, kleinen, grünen Mützen dran gestrichen war, hatte sich endlich auch an das Katheder herangewagt und fing nun an, dem Herrn Rector Borchert die Fäden an seinem schwarzen Rockärmel nachzuzählen. Seine Notenfeder hatte er wieder wegge¬ legt. Er puhlte sich jetzt mit seinem Feder¬ messerchen die Nägel aus. Vor ihm stand ein grosses, viereckiges Ding, in dem lauter rothe, kupferne Drähte aufgespannt waren, auf die man wieder sehr, sehr viele bunte Kugeln gespickt hatte. Das war die Rechen¬ maschine. Wenn der Herr Rector Borchert wollte, konnte er sie stellen, wie er Lust hatte. Aber er hatte heute keine. Er puhlte sich nur die Nägel aus . . . Plötzlich sah der Herr Rector Borchert auf! Neben der Thür hatte eben eine Bank geknarrt. Die „Knubbels“ hatten sich alle un¬ willkürlich tiefer geduckt. Seine kleinen, zu¬ gekniffenen Ferkeläugelchen sahen jetzt grün aus. Der kleine Jonathan, der ihn die ganze Zeit über angeschult hatte, steckte seine grossen, blauen Jungensaugen wieder schnell in sein Tintfass. Ari-ben-Aribell hätte jetzt getrost aus seiner Dachluke klettern können. Nicht um alle Zuckerbrätzel der Welt hätte der kleine Jonathan nach ihm hinschmustern mögen. Aber er hätte es ruhig thun können! Der Herr Rector Borchert hatte sich schon längst wieder beruhigt. Die Sache war eben, dass das „Schweinzeug“ vor ihm Respect hatte. Und das „Schweinzeug“ hatte Respect vor ihm. Den Teufel auch! Das „Schweinzeug“ war seine Classe. Sie anders zu tituliren, war ihm noch nicht ein¬ gefallen. Die einzelnen Individuen hiessen „Knubbels“. Ja! Es war alles wieder ganz still. Nur die Fliege, die wieder summte und das dunkle, dumpfe Gebrande, das unten vom Markt her an die hohen, festen Doppelfenster schlug. Ab und zu eine Knubbelnase, die schnurchelte. Der kleine Jonathan sass da wie todt. Seit heute Morgen hatte er vor dem Herrn Rector Borchert einen furchtbaren Respect bekommen. Kotel Thiem war nicht halb so schlimm! Schon sein Gesicht war so grässlich! Er sah es überall! Draussen auf dem grossen, runden Kastanien¬ baum, der mit seinen Blüthen gradezu wie ein Weihnachtsbaum aussah, musste es jetzt grade oben auf der Spitze rumtanzen. Wipp-wapp-wipp-wapp-wipp-wapp — immer¬ zu, immerzu! Auch jetzt, aus dem hässlichen, schwarzen Tintfass schwamm es in die Höhe! Der kleine Jonathan sah es ganz genau. Es war weiss und dick, wie aus Mehlkleister gemacht und hatte als Augen zwei kleine, funkelnde Rosinen drin. Dabei hatten sich seine Haare wie solche Schweinsborsten in die Höhe gesträubt und waren knallroth. Ausser¬ dem hatten ihm auch die Sommersprossen die ganze, dicke Nase noch mit gelben Pickeln betupft. Sicher, er sah noch scheusslicher aus, als der Schornsteinfeger Killkant! Der kleine Jonathan war trostlos. Nein! Lieber machte er seine Augen schon fest zu. — Oh! Heute Morgen! Er hatte sich so gefreut! So zum ersten Male in die Schule gehn zu dürfen und dort so klug zu werden, dass man zuletzt ein Geo¬ graphiebuch hatte und Afrika draus lernte, gewiss, das war zu schön! Zu schön! Seine neue, rothliniirte Schiefertafel war so hübsch rein abgewischt gewesen, seine Fibel in solch einen dicken, blauen Umschlag ge¬ hängt und sein Federkasten, der ganz mit Ab¬ ziehbildern beklebt war, voll lauter Steingriffel. Kaffee hatte er schon gar nicht mehr ge¬ trunken. Er hatte nur immer am Fenster ge¬ standen und an dem schönen, bunten Blumen¬ strauss gerochen, den er dem Herrn Rector auf das grosse Klassenbuch legen sollte. Gewiss! Er wollte nur noch immer in die Schule gehn! Nur noch immer in die Schule und dort so klug wie Papa werden! Ach! Dass das so schwer war, hatte er nie gedacht! So drei ganze, ausgeschlagene Stunden auf ein und derselben dummen Bank sitzen und dabei immer in ein und dasselbe dumme Tint¬ fass sehen müssen, war keine Kleinigkeit. Ja! Es war sogar eine Gemeinheit! Eine richtige Gemeinheit! Man durfte nicht einmal husten! Und dann — der schöne, schöne bunte Strauss! Das alte Pferd hatte ihn genommen und zum Fenster rausgeworfen! Dummheit! hatte es gesagt, Dummheit! Blumen stinken! Pfui! Und dabei hatte doch Mama sie gepflückt, und das blaue Band drum hatte Mama auch gebunden und Mama hatte sich so gefreut und Mama war so gut und . . . Nein! Es war zu gemein! Zu gemein! Der kleine Jonathan war in Thränen aus¬ gebrochen. — — Der kleine Bäckermeister Trimpeter, der dicht neben ihm sass und gerne mal rausge¬ gangen wäre, nahm die Gelegenheit wahr, und weinte gleich mit. Hinter ihm sass der kleine Lewin. Ihm war eben eine Fliege in's Genick ge¬ krochen und dann so lange auf ihm rumge¬ tappelt, bis sie ihm jetzt richtig mitten vorn auf dem Bauch sass. Er hätte es natürlich am liebsten ebenso gemacht wie der dicke Apothekerjunge. Aber der schauderhaft dicke Fuchsschwanz, den der Herr Rector Borchert vorn unter seinen Rock geknöpft trug, hatte ihm einen zu gewaltigen Respect eingejagt. Er begnügte sich damit, die grauenhaftesten Gesichter zu schneiden. Der kleine Conditor Knorr, der kleine Steuereinnehmer Zippe und der kleine Schiffs¬ zimmermeister Bohl waren nicht halb so stand¬ haft. Es war, als ob sie alle nur gewartet hätten, dass einer damit anfing. Sie weinten jetzt, dass ihnen die Thränen nur so von den Backen runtertropften. Es war die reine Meu¬ terei! Mit einem Ruck war jetzt der Herr Rector Borchert aufgesprungen und hatte seinen Fuchs¬ schwanz gezückt. Die Rechenmaschine war quer über die schwarze Kathederplatte ge¬ schlagen, das kleine Federmesserchen lag unten neben dem eisernen Spucknapf auf der sandigen Diele. Das „Schweinzeug“ wollte ihn wohl zum Besten haben ?! Das „Schweinzeug“ wollte wohl Eins mit seinem Fuchsschwanz haben?! Das „Schweinzeug“ war wohl verrückt geworden?! Er schnaubte! Das „Schweinzeug“ war wieder ganz muck¬ chenstill geworden. Nur der Kastanienbaum draussen, der seine scharfgeränderten Zacken über die Bänke zittern liess, und die Sonne, die dazwischen glitzerte. Der gräuliche Fuchsschwanz, mit dem der schreckliche Mensch dort oben auf seinen gelben Tisch geschlagen hatte, hatte alle Thränen, die das „Schweinzeug“ noch vergiessen wollte, mausetodt gemacht. Die kleinen Sträflinge sassen jetzt wieder alle da, wie schlecht ange¬ malte Holzpuppen. Bloss ihre Gesichter waren noch röther geworden, und ihre Augen, statt in die Tintfässer, alle auf den fürchterlichen Fuchsschwanz gerichtet! Ari-ben-Aribell, der grösste Seilkünstler beider Welten, der drüben unter seinem Rath¬ hausdache auf diesen Moment nur gewartet zu haben schien, war hinterlistig genug, grade jetzt seinen grässlichen Hampelmannskopf aus seiner Luke zu stecken. Seine grosse, goldpapierne Mütze reichte mit ihrer Spitze bis grade oben in's Zifferblatt. Er hatte sich seine Backen mit Mehl ein¬ gerieben und seine Nase mit Zinnober bepinselt. Um seinen Leib hatte er eine dicke Badehose aus Sammet an, die ganz kohlschwarz und mit kleinen, silbernen Flinkern bestickt war. Nachdem er sich vor dem vor Erwartung lautlosen Publico unten dreimal verbeugt und zwischendurch seine lange, goldgelbe Balancir¬ stange eben so viele Male hoch in die Luft über sich gewirbelt hatte, setzte er jetzt seinen linken, zierlichen Schuh vorsichtig auf das straffe, weisse Seil und war bereits bis auf die Mitte desselben getänzelt, noch ehe die ver¬ blüfften Bauern unten Zeit gefunden hatten, ihre Mäuler aufzusperren. Kein „Knubbel“ ahnte etwas! Die Katastrophe draussen hatte sich voll¬ zogen, ohne dass sie auch nur an sie gedacht hatten. Die wirklichen schneeweissen Tauben und Lämmergeier waren jetzt alle vergessen. Nur der Fuchsschwanz existirte noch. Nur der Fuchs¬ schwanz ! Ihre grossen, erschreckten Augen hatten sie alle sperrangelweit aufgerissen. Nur der kleine Lewin nicht! Er hatte eben mit Schrecken gespürt ,, wie die schändliche Fliege ihm grade den Bauch in die Höhe kroch und an seinem Nabel Halt machte. Ihr . . . . Uaaah! Er brach jetzt, um nicht wie die andern vorhin zu weinen und so den Herrn Rector Borchert noch mehr zu erzürnen, in ein gräss¬ liches Lachen aus. Der kleine Jonathan wurde weiss wie Kreide. Gewiss! Jetzt schlug er ihn todt!! Er mochte gar nicht hinsehn. Aber er hätte ruhig hinsehn können! Der Herr Rector Borchert schlug den frechen Judenlümmel nicht todt. Dem Herrn Rector Borchert fiel das gar nicht ein. Der Herr Rector Borchert betrieb sein Handwerk weit gründlicher. Er hatte sein System. Und von diesem System wich er nie ab. Der Fuchsschwanz war nur sein Schreckmittel. Sein Züchtigungsmittel, sein eigentliches Züch¬ tigungsmittel, war sein Siegelring. Entschieden! Man musste Grundsätze haben. Man musste sich z. B. hüten, das „Schwein¬ zeug“ zu schlagen. Man war überhaupt gegen alles Schlagen . . . Nein! Knuffen musste man das „Schweinzeug“! Knuffen! Die Handvoll Haare, die man ihm dann noch gelegentlich ausriss, zählte nicht . . . Der kleine Lewin lachte noch immer! Aber schon so krampfhaft, dass die Augen ihm aus den Höhlen traten, und die Zähne ihm zu klappern anfingen. Der kleine Bäckermeister Trimpeter, der jetzt an seinen schwindelnden Hoffnungen, mal rausgehn zu dürfen, vollständig verzweifelte, hatte wieder zu weinen angefangen. „Ah! Auch gut! Auch gut!“ Der Herr Rector hatte seine dünnen Lippen noch fester zugekniffen. Er knöpfte sich jetzt seinen Fuchsschwanz wieder vorn in die Rock¬ tasche. „. . . B . . . Blut, kalt Blut, Borchert!“ Er hatte sich jetzt wieder schwer auf seinen Rohrstuhl gesetzt. Die Sache eilte ja nicht. Die Sache . . . Er spielte mit seinem Siegelring. Einem sehr schönen, werthvollen Exemplar mit einem sehr schönen, werthvollen Stein drin. Glaube, Liebe, Hoffnung war in seine grüne Fläche geritzt. Glaube, Liebe, Hoffnung . . . Seine kleinen, zugedrückten Ferkelaugen schillerten jetzt in allen Farben. Seine Hände zitterten. Es war ganz still in der Classe! Nur dieser einzige, aufrührerische, bodenlos freche Juden¬ lümmel und dies Bäckerbalg, das ihn accom¬ pagnirte! Er hatte sich seinen Siegelring wieder an seinen dicken Finger gesteckt und klopfte jetzt langsam mit ihm an die Seitenwand seines Katheders. „Knubbel! Herkommen!“ Der kleine Lewin war mechanisch auf¬ gestanden. Seine dünnen, wachsgelben Finger¬ chen hatten sich fest um die schwarze Bank vor ihm gekrampft, seine Schultern zuckten. Er bebte an allen Gliedern. „Herkommen, Knubbel?!“ Die ganze Classe hatte wieder laut zu weinen angefangen. Dies grässliche Lachen, das er noch immer ausstiess, ging allen durch Mark und Bein. Ari-ben-Aribell, der jetzt grade draussen auf dem Kirchthurmknauf mitten in dem wunderschönen Grünspanklex sass und dort mit grossem Appetit ein lebendiges Huhn verschlang, nachdem er sich eben erst einen blitzblanken, ellenlangen Degen in den Leib gestossen hatte, hatte jetzt aufgehört für sie zu existiren. Kotel Thiem hätte jetzt lügen können wie gedruckt. Sie hätten nicht einmal auf ihn gehört. Nein! Nur dies Lachen! Nur dies grässliche Lachen! Der Herr Rector Borchert hatte sich jetzt aufrecht auf sein Podium gestellt. Seine 8 Lippen waren weiss geworden. Seine kleinen, spitzen Zähne knurrschten, als ob er an etwas kaute. So eine Canaille!! Solch' eine Sauzucht! Solch' eine Sauzucht war ihm noch nicht vor¬ gekommen! Und dazu noch von solch' einem Bengel, der sich kaum die Nase schnauben konnte! Unglaublich! Unglaublich!! Aber er beherrschte sich noch! Er beherrschte sich noch! „Herkommen, Knubbel?!“ Aber der kleine Lewin hörte nichts mehr. Er lachte nur immer und lachte und lachte . . . Jetzt, jetzt endlich war der Geduldsfaden des Herrn Rector Borchert mitten entzwei gerissen! Mit einem Satz war er auf den wahn¬ sinnigen Judenhund zugesprungen, hatte ihn an seinem schmierigen Jackenkragen zu packen gekriegt und schleifte ihn nun wuthschnaubend auf sein Katheder. „So ein Hund!! So ein Hund!!!“ Die „Knubbels“, die wieder ganz muckchen¬ still geworden waren, hatten alle unwillkürlich ihre Augen fest zugemacht. Die ganze, grosse, rothe Stube schwamm jetzt in Blut. In Blut. Oh! . . . Da!! Plötzlich, mitten durch all das grausenhafte Schnauben und Gurgeln vorn, hatte draussen vom Flur her deutlich ein feines, schrilles Glöckchen angeschlagen. Kein „Knubbel“, der nicht jetzt seine klei¬ nen, rosa Oehrchen spitzte! Das reine Christglöckchen! Es klingelte jetzt, dass es nur so eine Art hatte. Ja! Ja! Das war der Herr Spaarmann, der liebe, gute Herr Spaarmann! Der Herr Spaarmann! Jetzt brauchten Sie nicht mehr zu sterben. Jetzt war die schreckliche, schreck¬ liche Stunde aus. Jetzt . . . Oh! Der Herr Spaarmann! Der Herr Spaarmann! Der kleine Bäckermeister Trimpeter, dem die vielen, dicken Thränen schon unten bis unter den Hals gelaufen waren, athmete er¬ leichtert auf. Jetzt durfte er endlich, endlich mal rausgehn . . . 8 * Der Herr Rector Borchert hatte jetzt sein neues, schönes, rothgelb lackirtes Lineal zu packen gekriegt und es mitten unter die „Knubbels“ geschleudert. „Raus! Raus!! Raus!!!“ Er kannte sich selbst nicht mehr! Das infame, rotznasige Judenthier war schon längst neben das Katheder in den Spucknapf geflogen. Er hatte jetzt auch die grosse, stählerne Rechenmaschine zu packen gekriegt. „Raus! Raus!! Raus!!!“ Ah! Diese Knubbels! Diese verfluchten, vermaledeiten Knubbels!! Aber diese „Knubbels“, diese verfluchten, vermaledeiten „Knubbels“ waren schon längst alle die Treppe hinuntergepoltert. Ueber Hals, über Kopf! Wie es grade gekommen war! Der kleine Conditor Knorr, der kleine Steuer¬ einnehmer Zippe, der kleine Schiffszimmer¬ meister Bohl, der kleine Jonathan Grule und wie sie alle hiessen! Allen voran aber natürlich wieder der kleine, dicke Bäckermeister Trimpeter! Es war wirklich die höchste, die allerhöchste Zeit gewesen . . . Oh! Der Hof! Der Hof! Wie die warme, weiche Luft dort ihnen wohl that! Wie die Sonne dort oben hoch auf den Dächern lag! Auf den Dächern! Die rothen Schornsteine drauf rauchten, die Spatzen zwitscherten und die Sonne schien! Oh! Der Hof! Der Hof! Ari-ben-Aribell, der grösste Seilkünstler beider Welten, hatte soeben seine halsbreche¬ rischen Productionen beendet und verbeugte sich nun submissest vor seinem geneigten Publico. Seine grosse, goldpapierne Mütze war ihm vorn über die fuchsrothe, dreieckige Frisur weg bis unten tief in die breite, niedrige Stirn ge¬ rutscht, sein ganzes, grauenhaftes Teufelsgesicht drunter bestand nur noch aus Mehl, Schweiss und Zinober. Seine dicken, kohlschwarzen Badehosen mussten jetzt klitschnass sein. Die „Pudels“, die sich so lange wie grosse, anständige Leute betragen hatten, fingen jetzt laut zu brüllen an. Ihre dicken, grauen, zer¬ knitterten Tuchmützen waren alle hoch in die Luft geflogen. Kotel Thiem, der heute selbstverständlich schwänzte, war natürlich wieder mitten drunter. Sein dünner, runder, orangerother Latein¬ schülerdeckel war entschieden der allerforscheste. Er wirbelte immer wieder und wieder in die Höhe. Immer wieder und wieder! „Ari-ben-Aribell, Ari-ben-Aribell! Hurra — hoch! Hurra — hoch! Ari-ben-Aribell! Ari¬ ben-Aribell!“ Der grösste Seilkünstler beider Welten ver¬ beugte sich wieder. Er war nur noch Schweiss, Mehl und Zinober! Nur noch Schweiss, Mehl und Zinober! Die Sonne auf seiner langen, goldgelben Balancirstange glitzerte . . . Oben in das stille, geleerte Schulzimmer, in das jetzt der grosse, runde Kastanienbaum draussen seinen ganzen, scharfgezackten Schat¬ ten warf, war der stürmische Applaus der enthusiasmirten Jahrmarktsmenge wie ein lauter, lang anhaltender Wuthschrei gebrochen. Der dicke, blaue Brummer hinten an der letzten Scheibe war entsetzt auf das breite, gelbgestrichene Fensterbrett zurückgetaumelt. Er lag jetzt mitten in der tiefen, ausgetrock¬ neten Regenrinne und ampelte dort verzweifelt mit seinen sechs dickbehaarten, schwarzen Beinen umher. Ab und zu versuchte er sich auch mit seinen kleinen, graudurchäderten, glasharten Flügelchen aufzuhelfen. Schon mehr als ein¬ mal war ihm das auch mit Hülfe seines dicken, kohlschwarzen Rüssels fast gelungen; aber regelmässig kullerte er wieder zurück. Noch eine kleine Weile und er musste rechts durch das grosse, runde Loch mitten unten in den schrecklichen, stockdunklen Wasserkasten stürzen! Sein zorniges, abgerissenes Brummen mischte sich abwechselnd in das scheussliche, ohren¬ zerreissende Gelächter, das noch immer durch das ganze, grosse Zimmer gellte. Der Herr Rector Borchert stand da wie gelähmt. Er war mit seinem dicken, krummen Rücken schwer gegen das grosse, gelbe Ge¬ rüst neben die offene Thür getaumelt. Seine schwarzen, abgeschabten Rockärmel schlotterten ihm wie um zwei lange, dünne Knochen. Seine kleinen, unheimlichen Ferkel¬ äugelchen stierten entsetzt in die grosse, grell¬ beleuchtete Ecke neben dem Katheder. Dort, dicht neben dem kleinen, eisernen Spucknapf, der jetzt umgestülpt war, wand sich etwas, was mit seinen dünnen, krummen Beinchen fortwährend zappelte und mit seinen kleinen, geballten Fäustchen wie wild um sich schlug. Das alte, schmierige Judenkaftanchen war ihm hinten mitten durchgerissen, aus seinen dicken, blauaufgeworfenen Lippen floss es wie Geifer. Es war der kleine Lewin, der den Lach¬ krampf bekommen hatte. — II. „Hier, meine Herrschaften, das Paradies des Sultans von Marokko! Treten Sie ein, meine Herrschaften, treten Sie ein! Man muss so etwas gesehn haben, meine Herrschaften! Man muss so etwas gesehn haben! Die welt¬ berühmte Miss Pepita! Geboren drei Tage hinter dem Mond in der Wüste Sahara! Wo die Bäume ohne Wurzeln wachsen! Speit 40 Fuss in die Höhe und fängt es mit ihrem Rachen wieder auf! Man muss so etwas ge¬ sehen haben, meine Herrschaften! Man muss so etwas gesehen haben! Treten Sie ein! Die Vorstellung wird sogleich beginnen! Soldaten und Kinder zahlen nur die Hälfte! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein!“ Tschullu Wabuhu, der Mohr aus Pernam¬ bucco, konnte kaum noch jappen. Er hatte sich heute sein dickes, rundes Kartoffelgesicht mit Russ eingerieben und seinen spitzen, speckigen Bierbauch in ein dünnes, weiss¬ baumwollenes Tricot gezwängt. Durch die weiten, groben Maschen schimmerte deutlich seine rosa Haut durch. „Das Paradies des Sultans von Marokko! Treten Sie ein, meine Herrschaften! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein! Treten Sie ein!“ Seine Stimme überschlug sich, seine runden, weissen Froschaugen waren ihm dick aus den dunklen Höhlen gequollen. Das Publicum, das die Bude dicht um¬ drängte, sperrte Nasen und Mäuler auf. Dieser Mohr aus Pernambucco imponirte ihm! Mit einem einzigen, furchtbaren Faustschlag, der allen durch Mark und Bein fröstelte, hatte er sich eben seine hohe, spitze Filzmütze, die fingerdick mit Kreide bestrichen war, bis hinten in das rothe, wulstige Genick runtergeschlagen und begann nun den bisher noch unüber¬ troffenen, noch nie dagewesenen Kriegstanz des Königs Murri-Tschidschi-Wauwau. „Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau!“ Seine dicken, runden Fäuste, die roth mit Ochsenblut beschmiert waren, hieben wie wüthend auf die grosse, himmelblaue Pauke ein, die ihm an einem langen, gelben Leder¬ gurt vorn von den Schultern herab bis unten grade mitten vor den Bauch baumelte, die dünnen Bretter unter ihm krachten. „Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau!“ Noch fünf Minuten und er musste in die grässlichsten Zuckungen verfallen sein! Die „Pudels“ wagten kaum zu athmen. Um besser sehn zu können, hatten sie sich alle auf Spitzzehen gestellt. Pole Lackner war sogar auf eine Wagendeichsel geklettert! Etwas weiter nach rechts, auf der anderen Seite des Podiums, stand steif wie aus Holz geschnitzt Eliza Barberini, der Stern aus Para¬ maibo. Er war wie eine Ballettänzerin costü¬ mirt und schlug die Triangel. Dazwischen, hinter den dünnen, kirsch¬ rothen Portièren, grade über der kleinen, höl¬ zernen Treppe, auf der grossen, umgekippten Zuckerkiste, die heute aber dick mit Gold¬ bronze bepinselt war, sass Mardochai. Die schönen, langen, schneeweissen Troddeln an seinen Ohren hingen ihm grade unten bis auf die grosse, kohlschwarze Casse aus Ebenholz herab, die er bewachte. „Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau!“ Da! Jetzt! Pffff . . . . . bautz, rin in die Pauke! Das Publicum, aus dessen Mitte der Stein geschleudert worden war, hatte sich unwill¬ kürlich etwas geduckt. Nanu? Donnerwetter!! Alle Hälse waren jetzt wieder in die Höhe gereckt. Der grosse, ziegelrothe Kanten war der armen Pauke grade oben durch das runde, weisse Fell mitten in den himmelblauen Bauch geplaukscht. „Aah!! Uhahihahú, uhahihahú, ptschau! Ptschau, ptschau, ptschau!!“ Tschullu Wabuhu, der Mohr aus Pernam¬ bucco hatte plötzlich seinen bisher noch un¬ übertroffenen, noch nie dagewesenen Kriegs¬ tanz des Königs Murri-Tschidschi-Wauwau mitten abschnappen lassen. Sacra! Er hatte es ganz deutlich gesehn! Die Bestie war so ein kleiner, verschrumpelter Rotzjung' gewesen, der einen runden, orange¬ rothen Lateinschülerdeckel aufgehabt hatte. „Na wacht! Wacht!“ Er hatte jetzt seine infame Pauke hinter sich auf das dünne, bretterne Gerüst gebullert und bohrte sich nun mit seinem dicken, runden Niggerschädel mitten durch die verblüfften Bauern. Seine spitze, weisse Mütze war ihm hinten unter die kleine, hölzerne Treppe gerollt. Er hob sie nicht einmal auf! „Wenn ick di kreeg, Kreet, wenn ick di kreeg! Wenn ick di kreeg, wenn ick di kreeg!“ Das Publicum, welches sich von seinem Schreck wieder erholt hatte, johlte. „Griep em, Tschullu! Griep em! Griep em!“ Tschullu schäumte! Links aus dem Cagliostrotheater setzte eben die Blechmusik ein. M-ta, m-ta, m-tata, M-ta, m-ta, m-tata, Bum, bum, bum! Mardochai sass oben auf seiner Zuckerkiste und heulte. Der ganze Jahrmarkt war jetzt wie verrückt geworden! Die Meerkatzen drüben aus der Menagerie zeterten, die Löwen brüllten, die Kakadus schrieen, die Schmalzkuchen dufteten, die Schusterbuden stanken. „Griep em, Tschullu! Griep em, griep em!“ Nur der Stern aus Paramaibo hatte sich nicht gerührt. Er stand noch immer wie aus Holz geschnitzt auf der andren Seite und schlug die Triangel. Seine langen, dünnen Beine, die noch immer in den zerplatzten, grässlich grünen Tricots staken, standen noch genau so steif da wie vorhin. Seine spärlichen, straffen Haare hingen ihm wie ein Gewirr von langen, schwarzen Bind¬ fäden über die gelben, knochigen Schultern. „Griep em, Tschullu! Griep em! Griep em!“ Der Stern aus Paramaibo rührte sich nicht. Er stand nur ruhig da und schlug seine Tri¬ angel. Es ging nun schon in das siebenund¬ vierzigste Jahr, dass er taub war . . . „Wenn ick di kreeg, Kreet, wenn ick di kreeg! Wenn ick di kreeg, wenn ick di kreeg!“ Aber Kotel Thiem war längst über alle Berge! Tschullu Wabuhu, der Mohr aus Pernambucco konnte ihm jetzt den Buckel lang rutschen! Draussen auf der sogenannten Bauernvor¬ stadt, zwischen den letzten kleinen, verkrum¬ pelten Häuserchen, die zu beiden Seiten der Chaussee mit ihren alten, gelben, geflickten Strohdächern bis unten in die vielen, kleinen, kreisrunden Pfützen tauchten, in denen Holz¬ scheite, Papierkähne, Enten und Strohwische schwammen, hatten die Jahrmarktsleute ihr Barackenlager aufgeschlagen. Dicht vor seinem Eingange, neben einer alten, umgekippten Tonne, aus der sich ein langer, dünner Theerfaden bis unten mitten in den gelben Sand gebohrt hatte, war Kotel Thiem endlich stehen geblieben. „Puh, die Hitze!“ Das Diarium, das ihm von seinem schnellen Humpeln bis unten auf den Bauch gerutscht war, hatte er sich wieder fest unter seine Weste geknöpft. Die ganze Bauernvorstadt war heute wie auf den Kopf gestellt. Hier, neben einem kleinen, dreieckigen Vorgärtchen, über dessen graue, schiefge¬ nagelte Bretter sich nur eine einzige, grosse, gelbe Sonnenblume bog, stand ein grosser, rother, abgeschirrter Wagen, aus dessen beiden Blechschornsteinen es dick rauchte, dort, zwi¬ schen zwei braunen, wackligen Lehmmauern hatte eine keifende Bajazzofamilie ihr buntes, niedriges, zerrissenes Zelt aufgeschlagen. Auf einem langen, gelben Leiterwagen, an dem drei kleine, dürre, kohlschwarze Klepper ange¬ halftert waren, hockte ein altes, weisshaariges Zigeunerweib und lutschte aus einer dicken, verstaubten Weinflasche kalten Kaffee. Ihre rothen Triefaugen hatte sie stier aufgerissen, die gelben Münzen an ihrem blauen Kopfputz klackerten. Dazwischen überall kleine, ungezogne Bälge, die sich die Gesichter mit Ziegelroth beschmiert hatten, Kobolz schossen und dabei die vielen grossen, angeketteten Hunde ärger¬ ten. Die meisten baarfuss und im Hemde. Alle aber braungebrannt und flachshaarig. Auf einem umgekippten, kupfernen Kessel sass ein Clown und nähte sich Schellen an seine Kappe. Dahinter, halbnackt zwischen zwei ausgespannten Wolltüchern kauernd, vor einem kleinen, runden Taschenspiegelchen ein junges, rothhaariges Weib. Ein kleines, splitternacktes Kind steckte sich neben ihm seine kleinen, rosa Zehchen in den Mund und lachte. Nicht weit davon in dem ausge¬ trockneten, staubigen Chausseegraben, zwi¬ schen den Wurzeln einer riesigen, dunkel¬ grünen Pappel, ein Brett mit der Aufschrift: „Heute Abend bei Eintritt der Dunkelheit feenhafte Beleuchtung“. Kotel Thiem hatte sich jetzt seine Hände grossspurig in die Hosentaschen gesteckt und spuckte nun verächtlich vor sich aus. Die kleinen, flachsköpfigen Bälge zwischen den Tümpeln hatten eben dicht hinter der Mauer unter Steinen und Brennnesseln einen alten, zerbrochenen Kochtopf gefunden und tuteten nun die Nationalhymne auf ihm. Um den ersten kleinen, blauen Tümpel herum ver¬ anstalteten sie einen Gänsemarsch. Der Lehm unter ihren kleinen Füssen platschte, ihre Hem¬ den flatterten. Ulle Lüders, der einen Drei¬ spitz aus Strohpapier aufhatte, allen voran. Kotel Thiem überlegte noch. Die beiden, grossen, weissen Störche oben auf Linkerholts Scheune waren jetzt von dem plötzlichen Lärm unten scheu geworden und schwammen grade mit grossen, weitausgebreite¬ ten Flügeln, die langen dünnen Beine wie zwei riesige, rote Streichhölzer zurückgeklappt, nach 9 dem fernen, grünen Stadtwalde zu. Dort lag die Eselswiese, auf der es still war und Frösche gab. Ihr grosses, rundes, schwarzes Nest starrte jetzt leer hinter ihnen auf dem spitzen, weissgemauerten Giebel in den dunkelblauen Himmel. Nee! Hier war nischt los! Partutemang nischt! Kotel Thiem hatte wieder verächtlich in die dämliche Tonne gespuckt. Partutemang nischt! Er wollte jetzt durch das Thor wieder in die Stadt zurück. Aber noch ehe er die kleine, hölzerne Brücke passirt hatte, war er schon wieder stehn geblieben. „Donnerwetter! Das . . . nee! — Du! Jung'! Rotzvieh! Du schwänzst doch nich etwa? Ich denke, Du Aff', Du ochst jetzt?!“ Der kleine Jonathan war puterroth gewor¬ den. Er war eben hinten durch das kleine, gelbe Häuschen an der Mauer dem Herrn Rector Borchert, der den armen, kleinen Juden¬ jungen todtgeschlagen hätte, ausgerückt und wollte sich nun hinten um die Bauernvorstadt rum zu dem alten Vater Lorenz oben in den Wald schleichen. Nach Hause wollte er nie mehr zurück. „Na, Du Kuhjung'? Wird's bald?“ Kotel Thiem hatte ihm jetzt eins forsch auf die Schulter geschlagen. „Na?“ Er kramte jetzt eifrig in seinen Taschen rum. „Na? Oder willst Du Backzähne schlucken?! Na, Jungchen?!“ Der kleine Jonathan zitterte an seinem ganzen Leibe. Kothel Tiem fing sich immer Frösche! „Na? Eins — Zwei — Himmel — und? Und? Na?“ Kotel Thiem hatte sich jetzt dicht vor ihn hingestellt und fuchtelte ihm nun mit seinem grässlichen, blanken Federmesser in einem fort vor'm Gesicht rum. „Ach, Du! Ach, Du! Ach, Kotel! Ach, lieber, lieber Kotel!“ Der kleine Jonathan hatte jetzt laut zu weinen angefangen. Kotel Thiem schlitzte ihnen damit immer den Bauch auf! 9 * „Nich? Na, denn nich, Du Schafskopp!“ Kotel Thiem hatte jetzt sein gräuliches Groschenmesser wieder grossmüthig zuschnap¬ pen lassen. „Glaubst Du, dass ich nich weiss, dass Dein Vater Pillendreher is? Glaubst Du, dass ich mir an Dir die Finger schmutzig machen wer'? Kotel Thiem wusste sich auf einmal kaum zu lassen vor Ekel. Er hatte eben das dicke, blanke, runde Ding in seiner Hand gesehn und war sich sofort darüber klar geworden, dass das eine Doppelkrone sein musste. Er steckte jetzt sein Messer wieder ruhig in die Tasche. Sein Plan war gefasst. „Glaubt der Aff', dass ich ihm den Bauch aufschlitzen wer'! Nee Du'chen! Weisst Du, was Du bist? 'n Aff' bist Du!“ Der kleine Jonathan trocknete sich noch immer mit seinen beiden Fäusten die Thränen aus den Augen. Kothel Thiem spielte immer Indianerchen! Er schluchzte nur so. Kotel Thiem hatte sich jetzt nach allen Seiten hin vorsichtig umgesehn. Es war Niemand in der Nähe. Nur die kleinen, halbnackten Flachsköpfe, die mit ihren kleinen, schmuddligen Füsschen in den vielen, runden Tümpeln ringsrum rumpatschten und die paar kleinen Mädchen, die sie hinten an den kurzen, zerrissenen Hemdchen gepackt hielten, damit sie nicht mitten zu den Papierkähnen unter die Enten purzelten. Eine alte Frau, die auf einer Steinschwelle hockte, war über ihrem blauen Strickstrumpf eingeschlafen. Ihre Horn¬ brille war ihr über die Nase weg bis unten auf ihr behaartes Kinn gerutscht. Die bunten Gräser oben auf der Stadt¬ mauer nickten, ihre langen, blauen Schatten fielen unten auf die rosa Rücken zweier klei¬ ner, dicker Ferkelchen, die sich mit ihren spitzen Schnauzen in den gelben Sand ge¬ wühlt hatten und nur noch mit den Ohren zuckelten, wenn eine Fliege über sie wegkroch. Weiter hinten bei den Bajazzos wurde gerade ein kleiner Bengel durchgeprügelt. Sein jäm¬ merliches Geschrei zeterte über die ganze Bauernvorstadt hin. Hinten, ganz fern auf der Chaussee konnte man deutlich sehn, wie ein grosser, weisser Mehlwagen ankam . . . Kotel Thiem war jetzt geradezu manier¬ lich geworden. „Weisst Du, Mensch? Soll ich Dir mal was sagen?“ Der kleine Jonathan sah auf. Wenn Kotel Thiem zu einem „Mensch“ sagte, brauchte man keine Angst vor ihm zu haben. „Ich mein' . . .“ Er war jetzt auf einmal roth geworden. Er hustete. „Ich mein' . . . also . . . Kurz und gut, Du Aff', Du sollst mir was pumpen!“ Er hatte sich wieder die Hände mitten in die Hosentaschen gesteckt und sah nun den kleinen Jonathan drohend an. Der kleine Jonathan hatte seine Augen vor Schrecken gross aufgerissen. Er war kreidebleich geworden. „Natürlich brauchst Du Knubbeljung' nich gleich zu denken, dass ich Dir Dein koddriges Geld nich wieder zurückgeb'! Glaubst Du, ich bin ein Jud'? Du giebst mir einfach von Deinem Alten noch was Lakritzensaft zu, und dann geb' ich Dir Maikäfer für. Maikäfer! Na? Zu, Du Aff'! Glaubst Du, ich hab' hier so lange Zeit zu stehn un nich in die Schul' zu gehn? Glaubst Du, wir haben heute keine Schul', Du Aff'? Du bist ausgekniffen, Du Aff'! Na? Willst Du nu oder nich? Eine ganze Schach¬ tel voll! Eine ganze, grosse Schachtel voll! Lauter Müller und Schornsteinfeger! Na? Nu mach' doch, Du Aff'! Nu mach' doch!“ Kotel Thiem hatte seine ganze Beredtsam¬ keit aufgeboten. Er stand jetzt breitbeinig vor ihm da. „Na?“ Die beiden, kleinen, rosa Ferkelchen, denen eben zu gleicher Zeit zwei dicke, blaue Brum¬ mer über die Schnauzen gekrochen waren, hatten sich jetzt beide auf ihren runden Rücken rumgesühlt und grunzten. Ihre acht kleinen, dicken Beine starrten in die Luft. Der kleine Jonathan schwankte noch. „Maikäfer?“ „Zum Donnerwetter, ja doch! Maikäfer, Du Aff'! Verstehst Du denn nich? Maikäfer!“ Kotel Thiem fing jetzt endlich wirklich an die Geduld zu verlieren. Er musste heute noch absolut seinen Aufsatz einschreiben: „Der seltene Edelmuth des Horatius Cocles!“ Er fing an: „Schon die alten Phönizier“. „Also, willst Du nu, oder nich? Eine ganze Schachtel voll!“ „Auf Ehre?“ Der kleine Jonathan hatte gehört, wenn Kotel Thiem zu einem „auf Ehre!“ sagte, dann war Alles wirklich und auf Ernst. „Auf Ehre?“ Kotel Thiem war jetzt wieder roth ge¬ worden. „Natürlich, Du Aff'! Auf was denn sonst? Ich bin doch kein Jud'? Wenn Du nochmal sagst, Du Aff', dass ich ein Jud' bin, dann knuff' ich Dir das Fell voll, aber werd' Dir keine Maikäfer schenken! Glaubst Du, ich bin ein Jud'? Wenn Du nich gleich sagst, dass ich kein Juditzig bin . . .“ „Da!“ Der kleine Jonathan hatte jetzt seine dicke, weisse Patschhand gross aufgemacht. Er hatte sie so lange hinter seinem Rücken gehalten. Die schöne, harte, blanke Doppelkrone lag mitten drin. „Also eine ganze, grosse, dicke Schachtel voll! Müller, Bäcker und Schornsteinfeger! Müller, Bäcker und . . .“ „Au Knaatsch! Au Knaatsch!! Au Knaatsch!!!“ Der kleine Jonathan stand da! Kotel Thiem war mit seiner schönen, har¬ ten, blanken Doppelkrone die lange, dunkle Thorstrasse in die Höhe gelaufen und stand jetzt breitbeinig über dem Rinnstein. Das schöne, silberne Ding schwenkte er immer nur so rund um seine Mütze rum. „Au Knaatsch! Au Knaatsch!! Au Knaatsch !!!“ Der kleine Jonathan dachte nicht einmal daran seinen Mund aufzumachen. Die bunten Gräser oben auf der Stadt¬ mauer zitterten, unten in dem Theerstreifen spiegelte sich die Sonne. Plötzlich war der kleine Jonathan wieder zusammengefahren. Aus dem nächsten Bauern¬ haus mitten unter die kleinen, halbnackten Flachsköpfe hatte sich eben ein altes, trief¬ äugiges Weib gestürzt und bearbeitete sie nun mit einem grossen, strubbligen Besen, der auf einen rothen Birkenpfahl gespiesst war. „Will'n ji rin un stoppen Strümp?!“ Die kleinen Bälge liefen was sie konnten. Mutter Kerstens hinterdrein. „Will'n ji rin un stoppen Strümp?!“ Die beiden kleinen, rosa Ferkelchen hatten sich erschreckt unter die alte Stadtmauer ge¬ flüchtet. Mitten zwischen die dicken Nesseln! Der grosse, weisse Mehlwagen war die lange, staubige Chaussee richtig herunter¬ gekommen und ratterte jetzt schwerfällig über die Brücke. Der kleine Jonathan stand da wie todt. Er sah nur noch die Sonne, die sich unten in dem schwarzen Theerstreifen spiegelte. III. Endlich am Abend, als die Sonne schon roth hinter den stillen, schwarzen Tannen stand, wagte sich der kleine Jonathan wieder aus seinem Versteck. Sein ganzes, schönes, neues Kittelchen war mit Moos beklebt, seine kleinen, kurzen Stulpstiefelchen staken voll Erde. Er war furchtbar hungrig! Wenn er sich jetzt nicht zu dem alten Lorenz traute und um ein Stückchen Brod bettelte, musste er sterben. Dann zerrissen ihn die Wölfe und die Krähen hackten ihm die Augen aus. Dann war er so todt wie der kleine Lewin. Er war wieder stehn geblieben. Ein grosser, rother Strauch hatte ihm hinten in sein zerrissenes Kittelchen einen Dorn ein¬ gehakt. Die dicken, blauen Beeren dran waren gewiss giftig. O, er konnte nicht einmal mehr weinen! Die Farren standen hier noch so hoch, dass sie ihm bis über den Bauch reichten. Ein Bündel Glockenblumen schwamm wie eine kleine, blaue Insel drin. Die grossen, bunten Schmetterlinge drüber waren alle schon schlafen gegangen. Ueber einer kleinen, runden Lich¬ tung spielte nur noch ein dicker, dunkler Schwarm Mücken in der goldnen Luft. Jetzt, irgendwo in der Ferne, sang ein Vogel Bülow. Der ganze Wald roch nach Pilzen. Der kleine Jonathan seufzte. Er konnte sich kaum noch weiter schleppen. Seine Händchen waren ihm dick ge¬ schwollen, seine langen, braunen Locken hingen ihm wirr über die kleine, weisse Stirn und über die grossen, blauen Augen drunter, die ihm weh thaten. Bei jedem Schritt über die dicken, braunen Wurzeln unten stolperte er. Der alte Lorenz war dem kleinen Jonathan sein bester Freund. Er kam immer unten in die Apotheke und verkaufte Kräuterchen. Sein kleines, rothes Häuschen stand draussen dicht am Waldrand. Aus seinen beiden, nied¬ rigen Fensterchen, hinter denen das ganze Jahr durch immer Goldlack, Fuchsien und Verbenen blühten, konnte man grade unten auf die vielen alten, spitzen, grauen Dächer sehn. Oben auf seinem kleinen, kohlschwarzen Schornsteinchen sassen heute zwei Tauben, die sich schnäbelten. Die dicken, dunklen Tannen drüber, die jetzt im Abend winde leise ihre spitzen, vergoldeten Kronen schaukelten, duckten ihre starren, untersten, grünen Aeste bis grade dicht auf ihr weiches, weisses Ge¬ fieder. Der alte, dicke, faule Plumpsack Pluto unten lag quer vor der Thür und schnarchte. Die kleinen, breiten Fensterchen zu beiden Seiten blitzten, der ganze, weiche Waldboden davor war mit Stroh bestreut. Dazwischen die zwölf kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen, die nach Regenwürmern pickten und dabei in einem fort gackerten. Der kleine Jonathan athmete tief auf. Er hatte sich eben hinten durch das kleine, grüne Petersiliengärtchen verstohlen über die graue, ausgetretne Steinschwelle geschlichen und stand nun mitten in dem langen, schmalen, dunklen Flur. Die Sonne, die von vorn her schräg durch die runde, rissige Thür schien, deren untere, viereckige Hälfte offen stand, lag noch auf einem Theil des Fussbodens. Er war roth geziegelt. Der kleine Jonathan hatte sich jetzt mit seinem kleinen, runden Kopf schwer gegen die dicke, weisse Wand gelehnt. Sie war eis¬ kalt! Er fühlte, wie ihm sein kleines Herz klopfte. Seine Augen hatte er fest zuge¬ macht . . . Rechts hinter der dünnen, braunen Thür, die in die grosse, blaue Wohnstube führte, hörte er deutlich, wie in das Ticken der alten Kuckucksuhr etwas schnurrte. Schnurrr . . . schnurrr . . . schnurrr . . . Das war das kleine, rothe Eichkaterchen drin, das sein Bauerchen drehte. Dazwischen über ein morsches Holz tippelte etwas mit seinen Poten. Tipp-tapp . . . tipp-tapp . . . tipp-tapp . . . Immer hin und her! Immer hin und her! Das war der alte Rabe Jacob, der wieder spazieren ging! Der kleine Jonathan hörte es ganz deutlich! Ab und zu blieb er stehn und schimpfte. „Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!“ Dann blieb das kleine, rothe Eichkaterchen jedesmal ganz erschreckt sitzen und alles war wieder eine Zeit lang ganz still. Ganz still . . . Der kleine Jonathan hatte jetzt seine Augen wieder gross aufgemacht. Die zwölf kleinen, kohlschwarzen Hühner¬ chen draussen gackerten, der alte, dicke Pluto, der mit seinem grauen Hintertheil noch grade vorn in das rothe, warme Sonnenviertel reichte, schnarchte, die Tauben oben über dem Dache gurrten, die Tannen drüber rauschten. Der kleine Jonathan horchte. Das war grade wie ein Märchen! Das war wie das Haus von der alten Hexe . . . Nur der alte Papa Lorenz liess sich nicht hören! Der sass jetzt wahrscheinlich wieder in dem grossen, ledernen Lehnstuhl neben dem Fenster und schlief. Blos, er schnarchte heute nicht! Der kleine Jonathan schwankte noch. End¬ lich aber fasste er sich ein Herz. Er stellte sich auf Spitzzehen und klinkte den runden, eisernen Drücker auf. „Schnurrr . . . schnurrr . . . schnurrr . . . Dummkopf!“ Er stand jetzt mitten in der Stube! Die Sonne, die schräg durch das breite, niedrige Fensterchen fiel, schien dem alten Vater Lorenz grade mitten in den alten, runz¬ ligen Mund. Er stand gross auf. Vorn auf seiner dicken, blauen Zunge sass grade eine kleine Fliege. Sie putzte sich eben ihre schwarzen Hinterbeinchen. Ganz erschreckt war der kleine Jonathan stehen geblieben. Noch nie hatte er gewusst, dass ein Mensch so die Augen aufhatte, wenn er schlief! Der alte Papa Lorenz hatte sie starr oben auf den grossen, weissen Balken an der Decke gerichtet, von dem an dem rothen, zerrissenen Schnupftuch noch vom vergangenen Winter her das alte, leere, hölzerne Vogelbauerchen baumelte. Seine runde, blaue Brille, die in der Mitte dick mit Werg umwickelt war, sass ihm grade vorn auf der dünnen, schneeweissen Nasen¬ spitze. Rechts und links auf den blanken, ledernen Lehnen seine beiden Hände. Die Finger dran alle weit auseinandergespreizt, die dicken, blauen Adern drum schwarz ge¬ schwollen. Seine schöne, neue, lange Pfeife war ihm eben ausgegangen! Sie stak jetzt grade mitten zwischen seinen alten, dünnen Beinen, die heute dick mit weissen Lappen umwickelt waren. „Dummkopf!“ Der kleine Jonathan war unwillkürlich zu¬ rückgeprallt. So zornig hatte er den alten Raben Jacob noch nie gesehn! Die dünnen, schwarzen Federn auf seinem Rücken hatten sich gesträubt, seine Augen funkelten. „Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!“ Er hackte jetzt mit seinem grossen, schwarzen Schnabel wie wüthend auf das breite, morsche Fensterbrett ein. Die vielen, kleinen, bunten Blumentöpfe drauf wackelten, von den beiden mittelsten Fuchsien plumpten jetzt nacheinander drei dicke, rosa Blüthen runter. Der kleine Jonathan sah alles ganz genau! Er hatte sich nach und nach bis hinten hinter das grüne, wacklige Küchentischchen geflüchtet. Die erste lag jetzt unten mitten in dem kleinen, weissen Zuckerschälchen, die zweite hing der grossen, himmelblauen Kaffeetasse dicht daneben noch grade schief über den dünnen, abgeschabten Goldrand, die dritte war gleich dahinter mitten in die tiefe, runde, grünbraune Schnupftabaksdose gefallen. Quer davor aus dem alten, rothgefütterten Leder¬ futteral stak noch grade das Rasirmesser von dem alten Vater Lorenz! „Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!“ Seine beiden, alten, welken Hände waren 10 kraftlos rechts und links über die Lehnen runtergeschlottert, seine schöne, neue, lange Pfeife lag jetzt unten mitten zwischen dem blauen Blumenschatten. Das dicke, schwarze Vieh hatte sich ihm eben mitten auf den Bauch plumpen lassen. Der kleine Jonathan zitterte an allen Gliedern. Der alte Papa Lorenz schlief noch immer! Seinen dicken, schwarzen Schnabel hatte der alte Rabe Jacob jetzt mitten in die alte, blassrothe Flanelljacke gehakt. Um nicht unten in die dicke Pfeifenasche zu fallen, schlug er dabei wüthend mit den Flügeln. Sie waren kurz und an ihren Enden abgehackt. Jetzt hatte er endlich auch den ersten, grossen, runden Hornknopf zu packen gekriegt. Er biss sich dran fest! Die Näthe drumrum krachten, er kletterte langsam in die Höhe. Er konnte jetzt vor lauter Wuth nicht einmal mehr schreien. Er krächzte nur noch. „Kraah . . . kraah . . . kraah . . .“ Der kleine Jonathan hatte sich jetzt bis ganz hinten hinter den grossen, grünen Kachel¬ ofen verkrochen. Eine entsetzliche Angst hatte ihn gepackt. Er wollte schreien! Grossvater!! Aber er konnte nicht! Seine kleine Kehle war ihm wie zugeschnürt . . . Der alte Vater Lorenz sass noch immer da. Die kleine, schwarze Fliege aus seinem Munde war aufgesurrt und stiess jetzt mit ihrem kleinen, blauen, glasharten Flügelchen fort¬ während gegen den dicken, weissen Balken oben. „Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!“ Das kleine, rothe Eichkaterchen in seinem Bauerchen hatte sich jetzt mit seinen kleinen krummen Pfoten vorn in die Drahtsprossen gehakt und sah nun neugierig nach dem Raben rüber. Der war eben das roth gestreifte Kissen in die Höhe bis oben auf den Lehnstuhl ge¬ klettert und sass nun dem alten Lorenz grade mitten über dem Kopfe. „Dummkopf! Dummkopf! Dummkopf!“ Seine spitze, abgelederte Brust hatte sich ihm dick aufgebläht, seine schwarzen Flügel schlugen. Der kleine Jonathan hätte am liebsten zu weinen angefangen. Wenn der alte Papa Lorenz jetzt nicht endlich aufwachte, hackte er ihm den Kopf ab! 10 * „Grossvater! Grossvater!“ Ah! Jetzt endlich hatte das alte, schwarze Vieh ihn gesehn. Seine Schwanzfedern hatten sich gesträubt, seine Augen funkelten. Fast wäre es eben mit seinem dicken, schwarzen Schnabel vornübergewippt. Aber er hielt sich noch! „Kraah! Kraah!! Kraah!!!“ Mit einem Ruck war es jetzt dem alten Lorenz mit seinen scharfen, spitzen Krallen auf den alten, nackten Kopf gesprungen. „Kraah!!!“ Dem kleinen Jonathan war es eiskalt über den Rücken gelaufen. Der alte Papa Lorenz hatte nicht einmal Muck gemacht! Sein Kopf war lautlos vornübergewippt, die Kinnlade unten auf die rothe, eingefallne Brust gestossen, der Mund grässlich zugeklappt und die kleine, schwarze Fliege drin, die sich eben wieder auf seine Zunge gewagt hatte, begraben. Der alte Rabe Jacob war bis unten auf die gelben, schrunzligen Dielen mitten in die dicke, graue Pfeifenasche gekullert. „Kraah! Kraah!!“ Er hatte sich jetzt wieder aufgerappelt und kam sehr zornig auf den kleinen Jonathan zu¬ gehumpelt. „Kraah! Kraah!“ Ueber die Pfeife stolperte er. „Kraah!“ Das kleine, rote Eichkaterchen drehte wie¬ der wie toll sein Bauerchen. Schnurrr . . . schnurrr . . . schnurrr . . . Der kleine Jonathan hatte die Thür hinter sich zugeschlagen. Er wusste von nichts mehr! Nur noch die Mama! die Mama! Als er sich dann aber draussen über den alten, dicken Pluto weg mitten unter die kleinen, kohlschwarzen Hühnerchen stürzte, schlugen von unten aus der Stadt her grade die Glocken an. Das war dem kleinen Jonathan sein erster Schultag. Ein Tod. E ndlich, nachdem jetzt der alte Svendsen unten seine eintönige Patrouille eingestellt hatte, konnte sich auch Olaf nicht mehr länger aufrecht erhalten. Die lange Nachtwache, der scharfe Carbol¬ dunst, der das ganze, enge, schwüle Zimmer füllte, das feine Ticken der Taschenuhr drüben vom Sophatische her, das leise, unermüdliche Brühen und Blaffen, mit dem sich das Oel in der kleinen, tiefheruntergeschraubten Lampe verzehrte, sein eigenes Blut, das ihm in den Ohren summte und zwischendurch wie fernes, dünnes Glockengeläute klang: das alles be¬ täubte ihn! Er hatte sich jetzt in den alten, grossen kattunenen Lehnstuhl dicht neben dem Bett noch tiefer zurücksinken lassen. Die glitzernde Flüssigkeit in dem halbvollen Glase neben ihm, die er vergeblich zu fixiren suchte, war jetzt in einen orangefarbenen Licht¬ klex verschwommen, der allmählich in's Bläu¬ liche überging. Schliesslich war's nur noch ein braunrother Funke, der übrig blieb, zuletzt war auch der verloschen. Alles schien jetzt schwarz! Das Glas, das Bett, die Lampe, das ganze Zimmer . . . Sein Kinn war ihm auf die Brust gefallen, er war eingeschlafen. . . . Gottseidank!! Er war wieder wach ge¬ worden. Es musste eine Maus gewesen sein! Er schüttelte sich. Sein Schatten, der jetzt lang und wunder¬ lich geknickt drüben über die weisse, niedrige Thür weg, das kleine, blaue Stück Tapete drüber und die alte, verräucherte Zimmerdecke hin fiel, brachte ihn wieder zu sich. Er sah nach der Uhr. Drei! Der Kranke lag noch immer da wie todt. Er hatte sich jetzt über ihn gebeugt. Das trübe, grellrothe Lampenlicht zeichnete die Augenhöhle neben der spitz vorspringenden Nase wie ein tiefes, scharf umrändertes Loch in den Schädel. „Armer Kerl!“ Das grosse, feuchte Handtuch über seiner Stirn war jetzt wieder behutsam zurechtgedrückt, er war jetzt abermals in seinen Lehnstuhl zurückgefallen. „Armer Kerl!“ Und nun wieder nur das leise unermüdliche Brühen der Lampe, das Ticken der Uhr und Jens, der sich jetzt auf dem alten, wackeligen Sopha drüben im Schlaf auf die andere Seite gedreht hatte . . . Olaf seufzte. Der schmutzige, gelbe Lichtfleck oben an der alten, rissigen Decke zitterte und zitterte, die Uhr tickte, das Blut summte, er war aber¬ mals eingeschlafen. „O . . . Oolaf!!“ Unten, irgendwo auf dem todtenstillen Hofe hatten eben ohrenzerreissend ein paar Katzen aufgekreischt; jetzt war auch Jens in die Höhe gefahren. „Um Gotteswillen! Was . . .“ „Halt's Maul . . . Diese verfluchten Biester!“ Er war jetzt wieder total munter. Jens gähnte. „Ha . . . hach! Ich . . . ich glaub', ich — hab 'n bisschen geschlafen!“ Er hatte den Kneifer, der ihm auf das Sopha gerutscht war, aufgeknippst und drückte ihn jetzt wieder auf seine Stumpfnase. „Hm!“ „Geht's besser?“ „Nein! Er schläft immer noch!“ „Hm!“ Eine Weile war Alles wieder still. Sogar die Katzen draussen hatten sich auf einen Augenblick beruhigt. Jetzt sah auch Jens nach seiner Uhr. Sie war stehn geblieben. „Drei! Nicht wahr?“ „Ja! Erst!!“ „Schön! . . . Ist noch Bier da?“ „Ja! Ich glaube.“ Jens ging nachsehen. Seine dicken Filz¬ socken machten seine Schritte unhörbar. Vor dem Bette blieb er einen Augenblick stehen. „Du! Vielleicht wird's doch besser!“ Olaf zuckte nur die Achseln. Eins . . . zwei . . . drei . . . fünf Stück noch „Dir auch eine?“ „Nein! Danke!“ „Aah! das thut wohl! — Uebrigens . . . scheusslicher Muff hier!“ „Ja! Zum Zerschneiden!“ „Schauderhaft! Schauderhaft!“ Er hatte sich jetzt, beide Hände in den Hosentaschen, dicht vor das Fenster gestellt. „Dieses verdammte Viehzeug!“ Olaf, der schon eine ganze Zeit auf dem kleinen, rothgebeizten Bücherregal über der Kommode gekramt hatte, sah jetzt auf. „Ja! Weiss Gott! Schon die ganze Nacht!“ Jens sah jetzt auf den Hof hinaus. Er hatte die Gardinen bei Seite genommen. Drüben auf die dunkle Wand des Hinter¬ hauses hatten die beiden Fenster ihre zwei trüben Lichtvierecke gelegt, oben auf einem Schornstein zeichneten sich die schwarzen Schattenrisse zweier Katzen deutlich gegen den blauen Nachthimmel ab. Zwei, drei Sternchen flinkerten müde über den mit einem leisen, grauen Lichte überzogenen Dächern. „Tegnér? Hm! Na! Ist ja schliesslich egal!“ Plötzlich hatten sich Beide wieder unruhig umgedreht. Ein scharfes Knacken war eben deutlich durch das todtenstille Zimmer gegangen. „Nein! . . . Nein! . . . Es war wieder nur der dämliche Schrank!“ „Ich dachte schon . . . hm! Wenn's nur nicht wiederkommt!“ Jens hatte unwillkürlich tief aufgeathmet. Seiner ganzen Länge nach hatte er sich jetzt wieder über das Sopha geworfen. Olaf hatte sich den Tegnér dicht unter die kleine, altmodische Lampe gerückt, um deren Glocke noch dazu ein grosser, gelber Zeitungsbogen gesteckt war, dessen Zipfel bis auf den Tisch herunterreichte. Die Blätter knitterten unter seinen Händen. Den Ellbogen aufgestützt las er jetzt halblaut vor sich hin. „Wie schön die Sonne lacht! Wie freundlich Von Zweig zu Zweigen . . .“ Wieder knitterten die Blätter. Die Furche zwischen seinen dichten, buschigen Augen¬ brauen hatte sich noch tiefer gegraben. Jens, der jetzt auf dem Bauch liegend über das Seitenkissen des Sophas weg zwischen den Arabesken der Gardinen hindurch den kleinen, grünen Stern drüben über dem Schorn¬ stein beobachtete, langweilte sich scheusslich. „Willst Du nicht lieber 'n bisschen schlafen?“ „Nein!“ „Aber, Kind! . . . Warum nicht? Ich löse Dich ab!“ „Lass nur! . . . Kann nicht schlafen!“ „Ae! Eigentlich! Ich auch nicht mehr!“ Ein langes Schweigen war eingetreten. Stumpf und müde starrten die Beiden vor sich hin. „Du!“ „Ja?“ „Nichts!“ „Was denn?“ „Still! Hörst Du nichts?!“ Unten im Flur krackelte jetzt etwas an der Hausthür herum. „Aha!“ Schläfrig blinzelte jetzt Jens wieder nach seinem Stern hinüber. „Hm!“ Olaf blätterte wieder weiter. Unten hatte es unterdessen das Schlüssel¬ loch gefunden und drehte nun mühsam auf. Es torkelte herein. „Du! Hör mal den!“ „Na? Ei, du Donnerwetter!“ Schwer kam es jetzt die Treppe in die Höhe gestapft. Am Geländer hielt es sich. Manchmal polterte es wieder ein paar Stufen zurück. Es schnaufte und prustete. Eine tiefe, heisere Bassstimme brummte. Jetzt end¬ lich kam es schwerfällig über den Flur. Ein dicker Körper war dumpf gegen eine Thür geschlagen. Ein abgebrochener Fluch, dann half es sich wieder weiter. „Heiliger Bimbam!“ Jens lachte leise. Jetzt hatte es sich sogar gegen die Wand gestemmt und schurrte sich daran entlang. Ein paar Kalkstücken waren abgebröckelt und prasselten nun unten auf die Dielen. „Was?! Famose Kröte!“ „Still mal!!“ Es kam . . . ja! . . . es kam sogar . . . auf die Thür zu? Jetzt . . . Schwer war es dagegen gekracht! Der dumpfe Schlag war durch das ganze Zimmer gegangen. „Herrgott! Was ist denn das für ein Knote?!!“ Olaf war steil in die Höhe gefahren. Auch Jens war die Sache etwas bunt geworden . . . Sie standen jetzt Beide mitten im Zimmer, die Augen aufmerksam auf die Thür gerichtet. Es tastete nach der Klinke. „Das heisst . . .“ Schnell, auf den Zehen, war jetzt Olaf auf die Thür zugegangen. Aber in demselben Augenblicke war sie auch bereits aufgeprallt, und ein unförmiger, schwarzer Klumpen über die Schwelle weg prustend in's Zimmer gekugelt. Der kühle Luftzug hatte die kleine Lampe neben dem Bett hoch aufflackern lassen. 11 Jens war sofort zugesprungen. Mit Olaf's Hülfe gelang es ihm endlich, den Betrunkenen aufzurichten. In dem matten Schein der Lampe jetzt ein blaurothes, gedunsenes Gesicht, das mit seinen kleinen, verschwommenen Augen blöde im Zimmer umherglotzte. Unter dem eingedrück¬ ten Hut vor dünne, flachsblonde Haare in die rothe, fette, schweisstriefende Stirn. „Mein Herr! Bitte!“ Ein Schlucken und Schnieben war die einzige Antwort. „Sie sind fehlgegangen!“ „Wa . . . hbf . . . wa . . . waas? Hbf! . . .“ „Sie sind fehlgegangen!!“ „Ah! . . . En . . . en . . . hbf! . . . schul . . . jen . . . i . . . hbf! . . . ich . . .“ „Bitte!“ „Hb! Hbf! . .“ Hinterrücks war jetzt der Dicke mit seiner Verbeugung auf den Flur zurückgetaumelt. Olaf drückte die Thür fest an und drehte den Schlüssel um . . . „Nette Wirthschaft hier!“ Endlich hatten sie sich wieder beruhigt. Olaf blätterte wieder zerstreut in seinem Tegnér herum, Jens hatte sich auf das Sopha zurückgeworfen und blinzelte wieder schläfrig vor sich hin durch die Gardine. Am Kopfende des Bettes, in irgend einem Winkel, summte verschlafen ein durch das Licht aufgestörter Brummer. Irgendwo raschelte und nagte eine Maus . . . Die Taschenuhr tickte, vom Schrank her ein paar Holzwürmchen. Jetzt, oben in der dritten Etage klappte endlich auch die Thür zu. Durch die dünne Decke durch hörte man deutlich, wie es dann plump auf ein Bett fiel . . . Das matte, fahle Licht oben auf den Dächern war jetzt ein wenig heller geworden . . . Olaf schüttelte sich. Ihn fröstelte. Den Lampendocht schraubte er etwas höher. Das scharfe, todtblasse Gesicht des Kranken, in dessen feuchte Stirn unter dem Handtuch vor wirr die schwarzen, nassen Haare quollen, zeichneten sich jetzt noch schärfer. „Ach Gott, ja!“ 11 * Müde hatte jetzt Olaf den Kopf auf seine beiden Arme gelegt, die er gegen die Tisch¬ kante gestützt hatte. Plötzlich waren sie beide erschrocken zu¬ sammengefahren ! Das Bett hatte diesmal ganz deutlich ge¬ knarrt. Ein unruhiges Rauschen. Ein Stöhnen. Bleischwer hatte es auf das bauschige Deck¬ bett geklappt. Athemlos starrten die Beiden hin . . . „Ah! . . . aaah!! . . .“ Schnell hatte sich jetzt Olaf über den Kranken gebeugt. „Jens! Jens!“ „Hier!“ Der Kranke war jetzt noch unruhiger ge¬ worden. Sein Kopf drehte sich nach allen Seiten. Seine tiefliegenden, dunklen Augen waren weit aufgerissen. Seine Nägel kratzten scharf über den Bettbezug. Seine blassen, bläu¬ lichen Lippen bewegten sich. „Du! Komm her!“ „Ja!“ Aber wieder lag er jetzt regungslos. Nur seine langen, abgemagerten Hände, die un¬ ruhig an dem Deckbett zupften. Ein paar Secunden lang war alles still . . . Jetzt, kaum hörbar: „Wasser . . .“ „Schnell! Schnell!“ „Da!“ Olaf hatte sich mit dem Glase wieder über das Bett gebeugt. Vorsichtig, leise schob er dem Kranken jetzt seinen langen, sehnigen Arm unter den Kopf. Behutsam rückte er ihn ein wenig in die Höhe und drückte ihm das Glas an den Mund . . . Gierig hatte der Kranke getrunken! Seine irren Blicke waren jetzt starr auf den schmutzig¬ gelben, bebenden Kreis oben über den weiss gestrichenen, niedrigen Querbalken der Decke gerichtet . . . Das leise, zitternde Klappen des leeren Glases, das Jens auf den Tisch zurückstellte und die Taschenuhr drüben. „H . . . h . . . Los! Los denn doch!!“ „Du! Du!“ „Ja!“ „Auf die Mensur! Fertig! Los!!! . . . Ah! . . . Hier! Hier! In die Seite! . . . Ah! Aaah! . . . Es schmerzt! Es schmerzt, Olaf! Olaf!! . . . Hu! Das Blut! Das Blut! . . . Das ganze Gras . . . aaah!! . . . Das ganze — Gras . . . Das ganze Gras . . .“ Jens schüttelte sich. Es überlief ihn. Olaf hatte sich jetzt noch tiefer über das Bett gebückt. „Martin! Martin! Alter Junge!“ Seine Stimme zitterte etwas. „Jens! 'N frisches Tuch!“ . . . „Hier!“ „Ah . . . das Gras ist . . . feucht! . . . kühl . . . so kühl . . . Wir müssen fort, Olaf . . . Die Droschke . . . unten . . . Ruhig, Kind! Ruhig! . . . Der Kerl soll dran glauben!! — Wart mal! Wart mal! . . . Der Briefträger? . . . Flinsberg, alter Junge! Keinen Schilling mehr, auf Wort! . . . Geld! Geld! . . . Mutterchen hat doch geschickt . . . Mutterchen! . . . Aber es wird ihr schwer, Olaf! . . . Sie sagen's nur nicht . . . sagen's nicht . . . Hier! Herr Doc¬ tor! . . . Bitte! . . . Wunderschön! . . . das Getreide . . . die Vögel . . . Ach, Herr Doc¬ tor! . . . Lasst doch! . . . ihr braucht mich doch nicht zu halten? . . . ich kann ja allein . . . nicht doch! . . . Lasst doch!!“ Er wand sich. Olaf hatte jetzt beide Arme um ihn geschlungen. „Nein! Nicht doch! Lass doch, Jens! . . . Mach keinen Unsinn! Gieb meine Mappe her! . . . Ich muss in's Colleg! . . . Sauf's! Sauf's! . . . Rest weg! . . . Donnerwetter! So 'ne wüste Zecherei! . . . Aber . . . aber . . . nicht, nicht doch! . . . Lass doch — los!! . . . Ach — lass doch nur! Lass!! . . . Silentium! Wir wollen eins singen!“ Mit seinen abgemagerten Armen schlug er jetzt wild in der Luft herum. Seine langen, schmalen Hände schlenkerten in den dürren Gelenken. Olaf stöhnte. „Wir singen eins! . . . Das erste Lied! . . . Seite . . . Nein doch! . . . Lass! . . . Lass!! . . . Lass doch — loos!!!“ „Jens! . . . Fass . . . mit — zu!“ „Los! Los!! Loos!!! . . . Lasst mich doch! Lasst mich doch!! . . . Aah! Aaahh!!“ „Fest! — Fest!! . . . Er — will — raus!!!“ Ein Brett, das sich unten aus der alten Bettlade gelöst hatte, war jetzt auf die Dielen gekracht. Sie wurden hin und herge¬ schleudert . . . Endlich hatten sie Martin in das zerwühlte Bett wieder niedergezwängt. Er lag jetzt er¬ schöpft da. Er schwatzte nur noch halblaut vor sich hin. Das runtergezerrte Deckbett hatte Jens wieder sorgsam über ihm zurecht¬ gerückt. Beide athmeten schwer . . . Draussen in der Nachbarschaft krähte jetzt ein Hahn. Im Zimmer raschelte noch immer die Maus. „Ah! Es schmerzt! Es schmerzt ja so!! Aah!! Aaaahhü! . . . Olaf! Olaf!!“ „Ja? Mein Junge? . . . Ich bin's ja! Und Jens! . . . Wird dir besser?“ Er hatte sich wieder zu ihm niedergebeugt. Seine Brust keuchte noch. Er konnte kaum sprechen. „Ja! — Ja . . . Die Sonne scheint so wunderschön . . . Draussen . . . Heut Abend bei Bergenhuus . . . am Strand . . . Nicht wahr, Nora? . . . Ach, schon Morgen . . . Blos ein Frosch! . . . Nicht doch . . . blos ein Frosch . . . hier! Hier! . . . Das Gras ist so schön . . . O, nicht wahr? Wir werden uns nie vergessen? . . . Nie . . . nie . . . O, nicht wahr? . . . Noch ein Kuss? . . . Hm? . . . Gute Nacht . . . Der Mond . . . so schön . . . dort . . . über der See . . . so roth . . . so gross . . . so groooss . . .“ Er lag jetzt da, mit halbgeschlossenen Augen. Er lächelte. „Er wird ruhig!“ „Ja . . .“ Olaf hatte sich jetzt wieder aufgerichtet. Einen Augenblick hatte er seinen Arm ge¬ rieben. Jens wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „So kühl . . . so schön . . . so . . .“ Olaf hatte Martin wieder das feuchte Handtuch fest gerückt. Jens war zur Lampe getreten. „Vier . . . vier erst . . . h! . . .“ Er stand jetzt wieder am Fenster. „Wenn's doch erst Tag wär'!!“ Der fahle Lichtschein draussen auf den Dächern war jetzt heller geworden. Das erste Morgendämmern legte ein mattgoldiges Gelb auf die moosigen, schwarzrothen Dachziegel und auf den viereckigen Schornstein drüben. Der enge Hof unten lag in einem silbergrauen Dämmerlicht. Langsam schlich sich der an¬ brechende Morgen an der Fensternische ent¬ lang in das dumpfige Zimmer ein. Das Glanz¬ leder des Sopha's hatte leise zu schimmern angefangen, der unruhige Lichtfleck oben an der Decke wurde immer blasser. Der Docht der Lampe, von welcher Olaf den Zeitungs¬ bogen genommen hatte, war nur noch ein röthlich kohlender, stinkender Ring. Die Maus war still geworden. Draussen krähte wieder der Hahn. Ein leiser Windstoss strich am Fenster vorbei. In der Nachbar¬ schaft kräuselte sich aus einem Schornstein ein feiner, weisser Rauch in das tiefblaue, eckige Stück Himmel über den Hinter¬ häusern. „Wann können sie denn da sein?“ „In zwei Stunden, denk' ich!“ Jens hatte sich wieder umgedreht. „Du! Komm! — Schnell!“ „Nein! Nein! . . . Die Bummelei hat keinen Zweck! Wir wollen jetzt arbeiten! Arbeiten!!“ „Du!“ „Herrgott! Herrgott!“ Leise schwatzte er jetzt wieder vor sich hin. Plötzlich hatte er sich blitzschnell mit einem jähen Ruck steil aufgerichtet. „Jens! . . . Schnell! . . . Schnell! . . . Nie¬ der! Nie-der! Der Ver-band!“ „Wir wollen eins singen!! . . . Wir wollen eins singen!!“ Martin sang . . . Seine Stimme gellte heiser durch das Zimmer. „Fest! Halt — fest!!“ „Fttt!! Das war ein incommentmässiger Hieb! . . . Bitte den Herrn Unparteiischen, zu constatiren . . . h!! . . . h!! . . . Hierher . . . Aaaahh!! . . .“ Martin war sich mit beiden Händen nach seinem Leibe gefahren. „Fass fest zu! Um — Gotteswillen! . . . Er — reisst sich . . . den — Verband los!!“ Martin raste. „Halt . . . was . . . Du — kannst!“ Jens war mit dem Kopf gegen den Bett¬ pfosten geflogen. „Die verfluchte Kugel! . . . Es wird mir dunkel . . . so dunkel . . . Jens . . . ich . . . sterbe! . . . Ich — sterbe ja!! . . . Ida! Mutter¬ chen! . . . Sie waren so stolz auf mich . . . Ah! Herr Doctor? . . . Gratulire, mein lieber Junge! . . . gratulire! . . . Aber, ich . . . ich will ja! . . . Nein, Nora! nur ein Frosch, Kind! . . . Sieh doch! . . . das Meer . . . es wird . . . ganz schwarz . . . schwarz . . . Mutterchen! . . . Mutterchen . . . Es wird ja alles noch gut . . . gut . . . Ah! Aaahh!! . . . Gute Nacht . . . h! — h! — Gute Nacht, Herr . . . H . . . Herr — Doctor . . .“ „Lass 'n bischen los! — Er wird ruhig!“ Jens richtete sich auf. Sein Athem ging schwer, mühsam. Er besah sein Handgelenk. Es war blau. Ein paar blutige Streifen zogen sich drüber hin. „Lösch . . . die . . . Lampe aus! Sie kohlt!“ Erschöpft war Olaf wieder in seinen Lehn¬ stuhl zurück gesunken. Im Zimmer wurde es jetzt hell. Die Messingthüren an dem weissen Kachelofen neben der Thür funkelten leise. Draussen fingen die Spatzen an zu zwitschern. Vom Hafen her tutete es. Unten hatte die Hofthür geklappt. Jemand schlürfte über den Hof. Ein Eimer wurde an die Pumpe gehakt. Jetzt quitschte derPumpen¬ schwengel . Stossweise rauschte das Wasser in den Eimer. Langsam kam es über den Hof zurück. Die Thür wurde wieder zuge¬ klappt. Sie sahen zu dem hellen Fenster hin. Un¬ willkürlich hatten sie tief aufgeathmet. „Du! Olaf! Sieh mal!“ Olaf antwortete nicht. Er hatte nur den Kopf ein wenig zum Bett hingedreht. „Er liegt wie tot!“ „Ich glaube . . . Hm!“ Er sah nach der Uhr. „Wir müssen 'n neu'n Verband anlegen! Gieb doch mal den Eisbeutel!“ Jens reichte ihm den frischen Eisbeutel vom Tisch herüber. Behutsam legten sie Martin den neuen Verband an. Olaf brummelte etwas Unverständliches in seinen langen, strohgelben Schnauzbart. „Ich glaube, die Wunde ist — nicht sorgfältig genug gereinigt! Es sind sicher noch Stofffäser¬ chen von der Hose dringeblieben! . . . Sieh mal!“ Sie hatten sich Beide auf die Schusswunde niedergebückt, die Martin seitwärts im Unter¬ leibe hatte. „Du! Sieh doch nur! . . . Er verändert sich ordentlich!“ „Hm!“ „Er liegt so still!“ „Ja! Wir müssen den Arzt holen lassen!“ „Ich will klingeln?“ „Ja!“ Hastig war Jens zur Thür gegangen. Grell tönte die Klingel unten durch das noch stille Haus . . . Der erste Sonnenstrahl blitzte jetzt goldig über die Dächer weg in das Zimmer. Er legte einen hellen Schein auf die dunkelblaue Tapete über dem Bett und zeichnete die Fensterkreuze schief gegen die Wand. Die Bücherrücken auf dem Regal funkelten. Die Gläser und Flaschen auf dem Tisch fingen an zu flinkern. Die Arabesken des blanken Bronze¬ rahmes um die kleine Photographie auf dem Tische mitten zwischen dem weissen, ausein¬ andergezerrten Verbandzeug und dem Geschirre glitzerten. Auf den Dächern draussen lärmten wie toll die Spatzen. Unten auf dem Hofe unterhielten sich ganz laut ein paar Frauen. „Donnerwetter! Ist das eine wüste Wirth¬ schaft hier!“ Jens, der zum Sopha ging, war über ein paar Stiefeln gestolpert, die mitten im Zimmer auf dem verschobenen, staubigen Teppich lagen. „Mir ist ganz öd' im Schädel!“ Schwer hatte er sich wieder auf das knackende Sopha sinken lassen. Olaf hatte nicht geant¬ wortet. Jens reckte sich. „Uebrigens. . . Es war eine schneidige Mensur!“ „Ja! Sehr correct!“ „Ja! Sehr ehrenhaft! — Für Beide!“ „Eversen ist in's Ausland, nicht wahr?“ „Wahrscheinlich!“ Jens betrachtete nachdenklich die beiden blitzenden Pistolenläufe über dem Sopha. — „Wenn sie nun kommen?“ „Hm!“ „Ae!“ Jens gähnte nervös. „Wo bleibt denn dieser alte — Ohrwurm?!“ „Wann können sie denn hier sein?“ Olaf hatte sich vom Bett in die Höhe gerichtet. „Ich denke, nach sechs?“ „Hm!“ . . . „Na, endlich!“ Jens war aufgesprungen. Hastig schloss er die Thür auf. „Guten Morgen, meine Herren!“ Guten Morgen, Frau Brömme!“ Die kleine dürre Frau Brömme stand mit ihrem vorgestrekten, ängstlichen, verrunzelten Gesicht in der Thür. Ihre kleinen, grauen Augen hatte sie halb ängstlich, halb verstimmt gleich auf das Bett gerichtet. Mit ihren dürren Fingern zupfte sie an ihrem Schürzenband. „Wie steht es, Herr Doctor?“ „Schlecht! Wollen Sie schleunigst zum Arzt schicken!“ Olaf hatte nicht vom Bette aufgesehen. „Ach, du lieber Gott! . . . Es wird doch . . .“ „Und . . . bringen Sie, bitte, etwas frisches Wasser!“ „Ja! Sofort! Sofort! O, du lieber Gott! Du lieber Gott!“ Die letzten Worte waren schon draussen vom Flur gekommen. Im Zimmer nebenan wurde es jetzt lebendig. Ein Fenster wurde geöffnet. Jemand stimmte eine Geige. „Der Philologe! Er steht jeden Morgen um Sechs auf und spielt! Könnten wir nicht das Fenster ein bisschen aufmachen? Es ist zum Umkommen!“ „Ja! Etwas!“ Jens öffnete. Tief aufathmend sog er die frische Morgenluft ein. 12 Weich und klagend klangen die Töne der Geige, auf der der Philologe jetzt nebenan eine alte Volksballade spielte, auf den sonnigen Hof hinaus in das Zwitschern der Spatzen und das Gurren und Flügelklatschen der Tauben. Von fern durch die klare Morgenluft deutlich die hellen, zitternden Schläge einer Thurmuhr. Sie lauschten Beide. Ihre bleichen, über¬ wachten Gesichter waren tiefernst . . . Vor der Thür hatte es jetzt geklirrt. Jens öffnete. Frau Brömme kam mit dem Wassereimer und Kaffee. Vorsichtig trippelte sie auf den Tisch zu. Sie liess kein Auge vom Bette. „Hier . . . hier, Herr Doctor! Etwas Kaffee, meine Herren! Du lieber Gott! Und hier ist das Wasser! O, du mein Gott, ja!“ Olaf tauchte ein Handtuch in den Eimer und rang es aus. Es plätscherte. Frau Brömme nickte. Jens schlürfte von dem Kaffee. „Wie der arme, junge Mann aussieht! Du mein Gott! Ach wissen Sie, es ist eine rechte Sünde, das Duelliren!“ „Eh! Der Arzt kommt doch bald?“ „Sofort! Sofort, Herr Doctor! Sofort! Ach Gott! So ein junger Mann, an den seine Mutter alles gewendet hat! Entschuldigen Sie! Aber sagen Sie selbst, meine Herren! Und schliess¬ lich, um eine Kleinigkeit, um nichts, wenn man so nimmt! Das ist doch wahr, meine Herren!“ Olaf und Jens hatten eine sehr reservirte Miene angenommen. Ach ja! Man kann was erleben, wenn man zwanzig Jahre an Studenten vermiethet hat!“ Olaf war müde in seinen Stuhl zurück¬ gesunken. „Ach, Sie müssen auch schön müde sein, Herr Doctor! . . . Ja, ein richtiges Buch könnte man schreiben! Glauben Sie? Nebenan wohnte mal ein Herr Eriksen, der kriegte ganz und gar das Delirium! Hier! in meinem Hause! O Gott, wenn ich noch . . .“ „Hm! . . . Wollen Sie — gleich noch etwas Eis heraufbringen!“ „Eis! Eis! Jawohl, jawohl, Herr Doctor! Sofort! O, du lieber Gott!“ Sie trippelte hinaus. „Alte Hexe!“ Olaf hatte das zwischen den Zähnen vor¬ gezischelt. Jens schüttelte sich. Es fröstelte ihn. 12 * „Unheimlich!“ Nebenan klang noch immer die Ballade durch die dünne Holzwand. Im Zimmer fingen die Fliegen an zu summen . . . „Du!“ „Was denn?!“ „Er liegt so auffallend still?“ „Ja! . . . Und . . . Herrgott! Sieh mal!! Seine Nase ist — so spitz ? Und . . . die — Augen . . .“ Olaf hatte sich schnell über Martin gebückt. Um seinen Mund lag jetzt ein krampfiges Lächeln. Die Arme lagen lang über das zer¬ wühlte Bett hin. Das scharfe, spitzige Gesicht, auf welches jetzt schräg die Sonne fiel, war wachsbleich. „Man . . . man spürt — den Puls gar nicht — mehr . . .“ „Was??“ „Ach . . . Er . . . er ist ja — todt??!“ „W . . .??“ „Todt!!“ „Todt?? . . . Du meinst . . . todt???“ Die Worte blieben Jens in der Kehle stecken. Er zitterte. „Todt ?“ Es war, als ob er an dem Worte kaute. „Es . . . es . . . ich will . . . die Wirthin . . .“ „Lass!!“ Olaf hatte sich tief über die Leiche gebeugt. Er drückte ihr die Augen zu . . . Eine Minute war vergangen. Sie hatten nicht gewagt sich anzusehn. Draussen kamen jetzt leichte Schritte die Treppe herauf. Die Wirthin sprach mit Jemand. Sie sahen sich an. „Es kommt wer!“ „Ach . . . wahrscheinlich — der Arzt!“ Jens zupfte an dem untersten Knof seines Jaquetts herum. Sein Athem keuchte leise. Unverwand sahen sie zur Thür hin. Jetzt . . . „H . . . herein . . .“ „Bitte, meine Damen! O, du lieber Gott! . . . Bitte!“ Scheu waren sie jetzt von dem Bett zurück¬ getreten. Sie wagten kaum aufzusehen. In der offenen Thür stand eine schmächtige, ältliche Dame in einem einfachen, schwarzen Tunikakleidchen. Noch halb auf dem Flur draussen ein frisches, hübsches Gesichtchen, das ängstlich suchend schüchtern über ihre Schulter sah. Leise, mit einem halben Lächeln, war sie jetzt in das dumpfe, unfreundliche Zimmer getreten. Ihre leise zitternde Hand, durch deren lila Zwirnhandschuh ein schmaler Goldreif glitzerte, hatte sie halb wie fragend erhoben . . . Jetzt hatte sie sich über die Leiche gebeugt . . . Draussen zwitscherten die Spatzen, die Tau¬ ben gurrten in der blendenden Morgensonne. Vom Fenster bis zum Bett zog sich ein lichter Balken wimmelnder Sonnenstäubchen. Neben¬ an noch immer die weichen Töne der Geige. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Mama!!!“ Druck von C. G. Röder, Leipzig.