Jerusalem oder uͤber religioͤse Macht und Judenthum, von Moses Mendelssohn . Berlin 1783 . S taat und Religion — buͤrgerliche und geistliche Verfassung — weltliches und kirchli- ches Ansehen — diese Stuͤtzen des gesellschaft- lichen Lebens so gegen einander zu stellen, daß sie sich die Wage halten, daß sie nicht vielmehr Lasten des gesellschaftlichen Lebens werden, und den Grund desselben staͤrker druͤcken, als was sie tragen helfen — dieses ist in der Politik eine der schwersten Aufgaben, die man seit Jahrhunderten schon aufzuloͤsen bemuͤhet ist, und hie und da vielleicht gluͤcklicher praktisch beygelegt, als theoretisch aufgeloͤset hat. Man hat fuͤr gut befunden, diese verschiedene Ver- haͤltnisse des geselligen Menschen in moralische Wesen abzusondern, und jedem derselben ei n eignes Gebiet, besondere Rechte, Pflichten , A 2 Gewalt Gewalt und Eigenthum zuzuschreiben. Aber der Bezirk dieser verschiedenen Gebiete, und die Graͤnzen, die sie trennen, sind noch bis itzt nicht genau bestimmt. Man siehet bald die Kirche das Markmal weit in das Gebiet des Staats hin- uͤbertragen, bald den Staat sich Eingriffe er- lauben, die den angenommenen Begriffen zufolge, eben so gewaltsam scheinen. Und unermeßlich sind die Uebel, die aus der Mißhelligkeit dieser moralischen Wesen bisher entstanden sind, und noch zu entstehen drohen. Liegen sie gegen ein- ander zu Felde, so ist das menschliche Geschlecht das Opfer ihrer Zwietracht; und vertragen sie sich, so ist es gethan, um das edelste Kleinod der menschlichen Gluͤckseligkeit; denn sie vertragen sich selten anders, als um ein drittes moralisches Wesen, die Freyheit des Gewissens , die von ihrer Uneinigkeit einigen Vortheil zu ziehen weiß, aus ihrem Reiche zu verbannen. Der Despotismus hat den Vorzug, daß er buͤndig ist. So laͤstig seine Forderungen auch dem gesunden Menschenverstande sind, so sind sie doch unter sich zusammenhaͤngend und syste- matisch. Er hat auf jede Frage seine bestimmte Antwort. Ihr duͤrft euch weiter um die Graͤnzen nicht nicht bekuͤmmern; denn wer alles hat, fragt nicht weiter, wie viel? — So auch nach roͤmisch- katholischen Grundsaͤtzen die kirchliche Verfassung. Sie ist auf jeden Umstand ausfuͤhrlich, und gleichsam aus einem Stuͤcke. Raͤumet ihr alle ihre Forderungen ein; so wisset ihr wenigstens, woran ihr euch zu halten habet. Euer Gebaͤude ist aufgefuͤhrt, und in allen Theilen desselben herrscht vollkommene Ruhe. Freylich nur jene fuͤrchterliche Ruhe, wie Montesquieu sagt, die Abends in einer Festung ist, welche des Nachts mit Sturm uͤbergehen soll. Wer aber Ruhe in Lehr und Leben fuͤr Gluͤckseligkeit haͤlt, findet sie dennoch nirgend gesicherter, als unter einem roͤmischkatholischen Despoten; oder weil auch hier die Macht noch zu sehr vertheilt ist, unter der despotischen Herrschaft der Kirche selbst , So bald aber die Freyheit an diesem syste- matischen Gebaͤude etwas zu verruͤcken wagt, so drohet Zerruͤttung von allen Seiten, und man weis am Ende nicht mehr, was davon stehen bleiben kann. Daher die ausserordentliche Verwirrung, die buͤrgerlichen sowohl als kirchlichen Unruhen in den ersten Zeiten der Reformation, und die auffallende Verlegenheit der Lehrer und Verbes- A 3 serer serer selbst, so oft sie in dem Fall waren, in Ab- sicht auf Gerechtsame, das wie weit? fest zu se- tzen. Nicht nur praktisch war es schwer, den großen, seiner Fessel entbundenen Haufen inner- halb geziemender Schranken zu halten; sondern auch in der Theorie selbst findet man die Schrif- ten jener Zeiten voller unbestimmten und schwan- kenden Begriffe, so oft von Festsetzung der kirch- lichen Gewalt die Rede ist. Der Despotismus der roͤmischen Kirche war aufgehoben, aber — welche andre Form soll an ihrer Stelle einge- fuͤhrt werden? — Noch itzt in unsern aufgeklaͤr- tern Zeiten haben die Lehrbuͤcher des Kir- chenrechts von dieser Unbestimmtheit nicht be- freyet werden koͤnnen. Allen Anspruch auf Ver- fassung will oder kann die Geistlichkeit nicht auf- geben, und gleichwohl weis niemand recht, wor- in solche bestehe? Man will Streitigkeiten in der Lehre entscheiden, ohne einen obersten Rich- ter zu erkennen. Man beruft sich noch immer auf eine unabhaͤngige Kirche, ohne zu wissen, wo sie anzutreffen sey. Man macht Anspruch auf Macht und Recht, und kann doch nicht angeben, wer sie handhaben soll? Tho- Thomas Hobbes lebte zu einer Zeit, da der Fanatismus, mit einem unordentlichen Gefuͤhle von Freyheit verbunden, keine Schranken mehr kannte, und im Begriffe war, wie ihm auch am Ende gelang, die koͤnigliche Gewalt unter den Fuß zu bringen, und die ganze Landesverfassung um zu stuͤrzen. Der buͤrgerlichen Unruhen uͤber- druͤßig, und von Natur zum stillen, spekulati- ven Leben geneigt, setzte er die hoͤchste Gluͤcksee- ligkeit in Ruhe und Sicherheit, sie mochte kom- men, woher sie wollte; und diese fand er nir- gend, als in der Einheit und Unzertrennlichkeit der hoͤchsten Gewalt im Staate. Der oͤffentli- chen Wohlfarth, glaubte er also, sey am besten gerathen, wenn alles, sogar unser Urtheil uͤber Recht und Unrecht, der hoͤchsten Gewalt der buͤr- gerlichen Obrigkeit unterworfen wuͤrde , Um dieses desto fuͤglicher thun zu koͤnnen, setzte er zum voraus, der Mensch habe von Natur die Befugniß zu allem, wozu er von ihr das Ver- moͤgen erhalten hat. Stand der Natur sey Stand des allgemeinen Aufruhrs, des Krieges aller wider alle, in welchem jeder mag, was er kann; alles Recht ist, wozu man Macht hat. Dieser ungluͤckselige Zustand habe so lange ge- A 4 dauert, dauert, bis die Menschen uͤbereingekommen, ihrem Elende ein Ende zu machen, auf Recht und Macht, in so weit es die oͤffentliche Sicher- heit betrift, Verzicht zu thun, solche einer fest- gesetzten Obrigkeit in die Haͤnde zu liefern, und nunmehr sey dasjenige Recht, was diese Obrig- keit befielt. Fuͤr buͤrgerliche Freyheit hatte er entweder keinen Sinn, oder wollte er sie lieber vernichtet, als so gemißbraucht sehen. Um sich aber die Frey- heit zu denken aus zu sparen, davon er selbst mehr als irgend jemand Gebrauch machte, nam er seine Zuflucht zu einer feinen Wendung. Alles Recht gruͤndet sich, nach seinem System, auf Macht , und alle Verbindlichkeit auf Furcht; da nun Gott der Obrigkeit an Macht unendlich uͤberlegen ist; so sey auch das Recht Gottes un- endlich uͤber das Recht der Obrigkeit erhaben, und die Furcht vor Gott verbinde uns zu Pflich- ten, die keiner Furcht vor der Obrigkeit weichen duͤrfen. Jedoch sey dieses nur von der innern Religion zu verstehen, um die allein es dem Weltweisen zu thun war. Den aͤussern Gottes- dienst unterwarf er voͤllig dem Befehle der buͤr- gerlichen Obrigkeit, und jede Neuerung in kirch- lichen lichen Sachen, ohne derselben Autoritaͤt, sey nicht nur Hochverrath , sondern auch Laͤsterung. Die Collisionen, die zwischen dem innern und aͤus- sern Gottesdienste entstehen muͤssen, sucht er durch die feinsten Unterscheidungen zu heben, und ob- gleich noch so manche Luͤcken zuruͤckbleiben, die die Schwaͤche der Vereinigung sichtbar machen; so ist doch der Scharfsinn zu bewundern, mit welchem er sein System hat buͤndig zu machen gesucht. Im Grunde liegt in allen Behauptungen des Hobbes viel Wahrheit, und die ungereim- ten Folgen, zu welchen sie fuͤhren, fließen blos aus der Uebertreibung, mit welcher er sie, aus Liebe zur Paradoxie, oder den Beduͤrfnissen seiner Zeiten gemaͤß, vorgetragen hat. Zum Theil waren auch die Begriffe des Naturrechts zu seiner Zeit noch nicht aufgeklaͤrt genug, und Hobbes hat das Verdienst um die Moralphiloso- phie, das Spinoza um die Metaphysik hat. Sein scharfsinniger Irrthum hat Untersuchung veranlasset. Man hat die Ideen von Recht und Pflicht, Macht und Verbindlichkeit besser ent- wickelt; man hat physisches Vermoͤgen von sittli- chem Vermoͤgen , Gewalt von Befugniß richtiger A 5 unter- unterscheiden gelernt, und diese Unterscheidungen so innigst mit der Sprache verbunden, daß nun- mehr die Widerlegung des hobbesischen Systems schon in dem gesunden Menschverstande, und so zu sagen, in der Sprache zu liegen scheinet. Dieses ist die Eigenschaft aller sittlichen Wahr- heiten. Sobald sie ins Licht gesetzt sind, ver- einigen sie sich so sehr mit der Sprache des Um- gangs und verbinden sich mit den alltaͤglichen Begriffen der Menschen, daß sie dem gemeinen Menschenverstande einleuchten, und nunmehr wundern wir uns, wie man vormals auf einem so ebnen Wege habe straucheln koͤnnen. Wir bedenken aber den Aufwand nicht, den es ge- kostet, diesen Steig durch die Wildniß so zu ebnen. Hobbes selbst mußte die unstatthaften Fol- gen auf mehr als eine Weise empfinden, zu welchen seine uͤbertriebenen Saͤtze unmittelbar fuͤhren. Sind die Menschen von Natur an keine Pflicht gebunden, so liegt ihnen auch nicht einmal die Pflicht ob, ihre Vertraͤge zu halten. Findet im Stande der Natur keine andre Ver- bindlichkeit Statt, als die sich auf Furcht und Ohnmacht gruͤndet; so dauert die Guͤltigkeit der Ver- Vertraͤge auch nur so lange, als sie von Furcht und Ohnmacht unterstuͤtzt wird; so haben die Menschen durch Vertraͤge keinen Schritt naͤher zu ihrer Sicherheit gethan, und befinden sich noch immer in ihrem primitiven Zustande des allgemeinen Krieges. Sollten aber Vertraͤge guͤltig seyn; so muß der Mensch von Natur, ohne Vertrag und Verabredung, an und fuͤr sich selbst nicht befugt seyn, wider ein Paktum zu handeln, das er gutwillig eingegangen; das heißt, es muß ihm nicht erlaubt seyn, wenn er auch kann : er muß das sittliche Vermoͤgen nicht haben, wenn er auch das physische dazu haͤtte. Macht und Recht sind also verschiedene Dinge, und waren auch im Stande der Natur hetero- gene Begriffe. —— Ferner, der hoͤchsten Ge- walt im Staate schreibt Hobbes strenge Gesetze vor, nichts zu befehlen, das der Wohlfarth ihrer Unterthanen zuwider sey. Wenn sie auch keinem Menschen Rechenschaft zu geben schuldig seyen; so haben sie diese doch vor dem allerhoͤch- sten Richter abzulegen; wenn sie auch nach seinen Grundsaͤtzen keine Furcht vor irgend einer mensch- lichen Macht binde; so binde sie doch die Furcht vor der Allmacht, die ihren Willen hieruͤber hin- laͤng- laͤnglich zu erkennen gegeben. Hobbes ist hier- uͤber sehr ausfuͤhrlich, und hat im Grunde weit weniger Nachsicht fuͤr die Goͤtter der Erde, als man seinem System zutrauen sollte. Allein eben diese Furcht vor der Allmacht, welche die Koͤ- nige und Fuͤrsten an gewisse Pflichten gegen ihre Unterthanen binden soll, kann doch auch im Stande der Natur fuͤr jeden einzelnen Menschen eine Quelle der Obliegenheiten werden, und so haͤtten wir abermals ein solennes Recht der Na- tur, das Hobbes doch nicht zugeben will. — Auf solche Weise kann sich in unsern Tagen jeder Schuͤler des Naturrechts einen Triumph uͤber Thomas Hobbes erwerben, den er im Grunde doch ihm zu verdanken hat. Locke, der in denselben verwirrungsvollen Zeitlaͤuften lebte, suchte die Gewissen sf reiheit auf eine andre Weise zu schirmen. In seinen Briefen uͤber die Toleranz legt er die Definition zum Grunde: Ein Staat sey eine Gesellschaft von Menschen, die sich vereinigen , um ihre zeitliche Wohlfahrt gemeinschaftlich zu be- foͤrdern . Hieraus folgt alsdann ganz natuͤrlich, daß der Staat sich um die Gesinnungen der Buͤrger, ihre ewige Gluͤckseligkeit betreffend, gar gar nicht zu bekuͤmmern, sondern jeden zu dul- den habe, der sich buͤrgerlich gut auffuͤhrt, das heißt seinen Mitbuͤrgern, in Absicht ihrer zeit- lichen Gluͤckseligkeit, nicht hinderlich ist. Der Staat, als Staat, hat auf keine Verschiedenheit der Religionen zu sehen; denn Religion hat an und fuͤr sich auf das Zeitliche keinen nothwen- digen Einfluß, und stehet blos durch die Will- kuͤhr der Menschen mit demselben in Verbindung. Sehr wohl! Ließe sich der Zwist durch eine Worterklaͤrung entscheiden; so wuͤßte ich keine bequemere, und wenn sich die unruhigen Koͤpfe seiner Zeit hiemit haͤtten die Intoleranz ausreden lassen; so wuͤrde der gute Locke nicht noͤthig ge- habt haben, so oft ins Elend zu wandern. Allein was hindert uns, fragen jene, daß wir nicht auch unsere ewige Wohlfarth gemeinschaftlich zu befoͤrdern suchen sollten? und in der That, was fuͤr Grund haben wir, die Absicht der Gesellschaft blos auf das Zeitliche einzuschraͤnken? Wenn die Menschen ihre ewige Seligkeit durch oͤffent- liche Vorkehrungen befoͤrdern koͤnnen ; so ist es ja ihre natuͤrliche Pflicht es zu thun , ihre ver- nunftmaͤßige Schuldigkeit, daß sie sich auch in dieser Absicht zusammenthun, und in gesellschaft- liche liche Verbindung treten. Ist aber dieses, und der Staat, als Staat, will sich blos mit dem Zeitlichen abgeben; so entstehet die Frage: wem sollen wir die Sorge fuͤr das Ewige antrauen? — Der Kirche? Nun sind wir auf einmal wie- der da, wo wir ausgegangen waren. Staat und Kirche. — Sorge fuͤr das Zeitliche und Sorge fuͤr das Ewige — buͤrgerliche und kirchli- che Autoritaͤt. Jene verhaͤlt sich zu dieser, wie die Wichtigkeit des Zeitlichen zur Wichtigkeit des Ewigen. Der Staat ist also der Religion untergeordnet; muß weichen, wenn eine Collision entstehet. Nun widerstehe, wer da kann, dem Cardinal Bellarmin , mit dem fuͤrchterlichen Ge- folge seiner Argumente, daß das Oberhaupt der Kirche, zum Behuf des Ewigen, uͤber alles Zeit- liche zu befehlen, und also wenigstens indirecte Bellarmin selbst ward beinahe von dem Pabste Sixtus V verketzert, weil er ihm blos eine in- directe Macht uͤber das Zeitliche der Koͤnige und Fuͤrsten zuschrieb. Sein Werk ward in das Ver- zeichnis der Inquisition gesetzt. ein Hoheitsrecht habe, uͤber alle Guͤter und Ge- muͤther der Welt; daß alle weltliche Reiche in- directe directe unter der Botmaͤßigkeit des geistlichen Einzelherren stuͤnden, und von ihm Befehle an- nehmen muͤßten, wenn sie ihre Regierungsform veraͤndern, ihre Koͤnige absetzen, und andere an ih- rer Stelle einsetzen muͤßten; weil sehr oft das ewi- ge Heil des Staats auf keine andere Weise erhal- ten werden koͤnne — und wie die Maximen seines Ordens alle heißen, die Bellarmin in seinem Wer- ke de Romano Pontifice mit so vielem Scharfsin- ne festsetzet. Alles, was man den Trugschluͤssen des Cardinals in sehr weitlaͤuftigen Werken ent- gegengesetzt hat, scheint nicht zum Ziel zu treffen, sobald der Staat die Sorge fuͤr die Ewigkeit ganz aus den Haͤnden giebt. Von einer andern Seite ist es im genausten Verstande weder der Wahrheit gemaͤß, noch dem Besten der Menschen zutraͤglich, daß man das Zeitliche von dem Ewigen so scharf abschneide. Dem Menschen wird im Grunde nie eine Ewig- keit zu Theile werden: Sein Ewiges ist blos ein unaufhoͤrliches Zeitliche . Sein Zeitliches nimmt nie ein Ende, ist also ein wesentlicher Theil seiner Fortdauer, und mit derselben aus einem Stuͤcke. Man verwirret die Begriffe, wenn man seine zeitliche Wohlfarth der ewigen Gluͤckselig- keit keit entgegen setzet. Und diese Verwirrung der Begriffe bleibt nicht ohne praktische Folgen. Sie verruͤckt den Wirkungskreis der menschlichen Faͤ- higkeiten, und spannet seine Kraͤfte uͤber das Ziel hinaus, das ihm von der Vorsehung mit so vieler Weisheit gesetzt worden. „Auf dem „dunkeln Pfade, man erlaube, daß ich meine „eigenen Worte S. Anmerk. zu Abbts freundschaftlichen Cor- respondenz. S. 28. hier anfuͤhre, auf dem dun- „keln Pfade, den der Mensch hier zu wandeln „hat, ist ihm gerade so viel Licht beschieden, „als zu den naͤchsten Schritten, die er zu „thun hat, noͤthig ist. Ein mehreres wuͤrde „ihn nur blenden, und jedes Seitenlicht nur „verwirren.„ Es ist noͤthig, daß der Mensch unaufhoͤrlich erinnert werde, mit diesem Leben sey nicht alles aus fuͤr ihn; es stehe ihm eine endlose Zukunft bevor, zu welcher sein Leben hie- nieden eine Vorbereitung sey, so wie in der gan- zen Schoͤpfung jedes Gegenwaͤrtige eine Vorbe- reitung aufs Kuͤnftige ist. Dieses Leben, sagen die Rabbinen, ist ein Vorgemach, in welchem man sich so anschicken muß, wie man im innern Zim- Zimmer erscheinen will. Aber nun huͤtet euch auch, dieses Leben mit der Zukunft weiter in Gegensatz zu bringen, und die Menschen auf die Gedanken zu fuͤhren: ihre wahre Wohlfahrt in diesem Leben sey nicht einerley mit ihrer ewigen Gluͤckseligkeit in der Zukunft; ein anderes waͤre es fuͤr ihr zeitliches, ein anderes fuͤr ihr ewiges Wohl sorgen, und es sey moͤglich, eines zu erhalten, und das andre zu vernachlaͤßigen. Dem Bloͤdsichtigen, der auf schmalem Steige wandeln soll, werden durch desgleichen Vorspie- gelungen Standpunkt und Gesichtskreis verruͤckt, und er ist in Gefahr schwindlicht zu werden, und auf ebenem Wege zu stolpern. So mancher ge- traut sich nicht, die gegenwaͤrtigen Wohlthaten der Vorsehung zu genießen, aus Besorgniß eben so viel von denselben dort zu verlieren, und mancher ist ein schlechter Buͤrger auf Erden ge- worden, in Hoffnung dadurch ein desto besserer im Himmel zu werden. Ich habe mir die Begriffe von Staat und Religion, von ihren Graͤnzen und wechselweisem Einfluß auf einander, sowohl, als auf die Gluͤck- seligkeit des buͤrgerlichen Lebens, durch folgende Betrachtungen deutlich zu machen gesucht. So Erster Abschnitt. B bald bald der Mensch zur Erkenntnis koͤmmt, daß er, ausserhalb der Gesellschaft, so wenig die Pflich- ten gegen sich selbst und gegen den Urheber sei- nes Daseyns, als die Pflichten gegen seinen Naͤchsten erfuͤllen, und also ohne Gefuͤhl seines Elends nicht laͤnger in seinem einsamen Zustan- de bleiben kann; so ist er verbunden, denselben zu verlassen, mit seines gleichen in Gesellschaft zu treten, um durch gegenseitige Huͤlfe ihre Be- duͤrfnisse zu befriedigen, und durch gemeinsame Vorkehrungen, ihr gemeinsames Beste zu be- foͤrdern. Ihr gemeinsames Beste aber begreift das Gegenwaͤrtige sowohl als das Zukuͤnftige, das Geistliche sowohl als das Irdische, in sich. Eins ist von dem andern unzertrenn- lich. Ohne Erfuͤllung unserer Obliegenheiten ist fuͤr uns weder hie noch da; weder auf Er- den, noch im Himmel, ein Gluͤck zu erwar- ten. Nun gehoͤret zur wahren Erfuͤllung un- serer Pflichten, zweyerlei: Handlung und Gesinnung . Durch die Handlung geschieht das, was die Pflicht erfordert, und die Ge- sinnung macht, daß es aus der wahren Quelle komme, d. i. aus aͤchten Bewegungsgruͤnden geschehe. Also Also Handlungen und Gesinnungen gehoͤren zur Vollkommenheit des Menschen, und die Ge- sellschaft hat, so viel als moͤglich, durch gemein- schaftliche Bemuͤhungen fuͤr beides zu sorgen; d. i. die Handlungen der Mitglieder zum gemein- schaftlichen Besten zu lenken, und Gesinnungen zu veranlassen, die zu diesen Handlungen fuͤh- ren. Jenes ist die Regierung, dieses die Erzie- hung des geselligen Menschen. Zu beiden wird der Mensch durch Gruͤnde geleitet, und zwar zu den Handlungen durch Bewegungsgruͤnde, und zu den Gesinnungen durch Wahrheits- gruͤnde . Die Gesellschaft hat also beide durch oͤffentliche Anstalten so einzurichten, daß sie zum allgemeinen Besten uͤbereinstimmen. Die Gruͤnde, welche den Menschen zu ver- nuͤnftigen Handlungen und Gesinnungen leiten, beruhen zum Theil auf Verhaͤltnissen der Men- schen gegen einander, zum Theil auf Verhaͤlt- nissen der Menschen gegen ihren Urheber und Erhalter. Jene gehoͤren fuͤr den Staat , diese fuͤr die Religion . In so weit die Handlungen und Gesinnungen der Menschen, durch Gruͤnde, die aus ihren Verhaͤltnissen gegen einander flies- sen, gemeinnuͤtzig gemacht werden koͤnnen, B 2 sind sind sie ein Gegenstand der buͤrgerlichen Verfas- sung; in so weit aber die Verhaͤltnisse der Men- schen gegen Gott, als Quelle derselben ange- nommen werden, gehoͤren sie fuͤr die Kirche , Synagoge oder Moschee . Man liest in so man- chen Lehrbuͤchern des sogenannten Kirchenrechts ernsthafte Untersuchungen: ob auch Juden, Ketzer und Irrglaͤubige eine Kirche haben koͤnnen. Nach den unermeßlichen Vorrechten, die die soge- nannte Kirche sich anzumaßen pflegt, ist die Frage so ungereimt nicht, als sie einem unbefan- genen Leser scheinen muß. Mir koͤmmt es aber, wie leicht zu erachten, auf diesen Unterschied der Benennung nicht an. Oeffentliche Anstalten zur Bildung des Menschen, die sich auf Verhaͤltnisse des Menschen zu Gott beziehen, nenne ich Kir- che ; — zum Menschen, Staat. Unter Bildung des Menschen verstehe ich die Bemuͤhung, bei- des, Gesinnungen und Handlungen so einzurich- ten, daß sie zur Gluͤckseligkeit uͤbereinstimmen; die Menschen erziehen und regieren . Heil dem Staate, dem es gelinget, das Volk durch die Erziehung selbst zu regieren; das heißt, ihm solche Sitten und Gesinnungen ein- zufloͤßen, die von selbst zu gemeinnuͤtzigen Hand- lungen lungen fuͤhren, und nicht immer durch den Sporn der Gesetze angetrieben zu werden brauchen. — Der Mensch im gesellschaftlichen Leben muß auf manches von seinen Rechten zum allgemeinen Besten Verzicht thun; oder wie man es nennen kann, sehr oft seinen eigenen Nutzen dem Wohl- wollen aufopfern. Nun ist er gluͤcklich, wenn diese Aufopferung eigenes Triebes geschiehet, und er jedes Mal wahrnimmt, daß sie blos zum Behuf des Wohlwollens von ihm geschehen sey. Wohlwollen macht im Grunde gluͤcklicher, als Eigennutz ; aber wir muͤssen uns selbst und die Aeusserung unserer Kraͤfte dabey empfinden. Nicht wie einige Sophisten es auslegen, weil alles am Menschen Eigenliebe ist; sondern weil Wohl- wollen kein Wohlwollen mehr ist, weder Werth noch Verdienst mit sich fuͤhret, wenn es nicht aus freyem Triebe des Wohlwollenden fließet. Hierdurch kann man vielleicht auf die be- kannte Frage: Welche Regierungsform ist die beste ? eine befriedigende Antwort geben. Eine Frage auf welche bisher sich widersprechende Antworten, mit gleichem Scheine der Wahr- heit, gegeben worden sind. Im Grunde ist sie zu unbestimmt, fast so wie jene medicinische Frage B 3 von von gleicher Art: Welche Speise ist die gesun- deste ? Jede Complexion, jedes Clima, jedes Alter, Geschlecht, Lebensart u. s. w. erfordert eine andere Antwort. Eben so verhaͤlt es sich mit unserm politischphilosophischen Problem. Fuͤr jedes Volk, auf jeder Stufe der Cultur, auf welcher es stehet, ist eine andere Regierungsform die beste. Manche despotisch regierte Nationen wuͤrden hoͤchst elend seyn, wenn man sie sich selbst uͤberließe; so elend als manche freygesinnten Republikaner, wenn man sie einem Einzelherrn unterwerfen wollte. Ja manche Nation wird, so wie sich Cultur, Lebensart und Gesinnung abaͤndert, auch mit der Regierungsform aͤndern, und in einer Folge von Jahrhunderten den gan- zen Zirkel der Regierungsformen, von Anarchie bis zum Despotismus, durch alle Schattirun- gen und Vermischungen durchwandern, und doch immer die Form gewaͤhlt haben, die in solchen Umstaͤnden fuͤr sie die Beste war. Unter allen Umstaͤnden und Bedingungen aber halte ich es fuͤr einen untruͤglichen Maaßstab von der Guͤte der Regierungsform, je mehr in derselben durch Sitten und Gesinnungen ge- wuͤrkt, und also durch die Erziehungen selbst re- giert giert wird. Mit andern Worten, je mehr dem Buͤrger Anlaß gegeben wird, anschauend zu er- kennen, daß er auf einige seiner Rechte nur zum allgemeinen Besten Verzicht zu thun, von seinem Eigennutzen nur zum Behuf des Wohlwollens aufzuopfern hat, und also von der einen Seite durch Aeusserung des Wohlwollens eben so viel gewinnet, als er durch die Aufopferung verliert. Ja, daß er durch die Aufopferung selbst noch an innerer Gluͤckseligkeit wuchere; indem diese das Verdienst und die Wuͤrde der wohlthaͤtigen Handlung und also die wahre Vollkommenheit des Wohlwollenden vermehret. Es ist z. B. nicht rathsam, daß der Staat alle Pflichten der Menschenliebe, bis auf die Almosenpflege , uͤbernehme, und in oͤffentliche Anstalten verwan- dele. Der Mensch fuͤhlt seinen Werth, wenn er Mildthaͤtigkeit ausuͤbt; wenn er anschauend wahrnimmt, wie er durch seine Gabe die Noth seines Nebenmenschen erleichtert; wenn er giebt, weil er will. Giebt er aber, weil er muß; so fuͤhlt er nur seine Fesseln. Eine Hauptbemuͤhung des Staats muß es also seyn, die Menschen durch Sitten und Ge- sinnungen zu regieren. Nun giebt es kein Mit- B 4 tel, tel, die Gesinnungen, und vermittelst derselben, die Sitten der Menschen zu verbessern, als Ueberzeu- gung . Gesetze veraͤndern keine Gesinnung, will- kuͤrliche Strafen und Belohnung erzeugen keine Grundsaͤtze, veredeln keine Sitten. Furcht und Hoffnung sind keine Kriterien der Wahrheit. Er- kenntniß, Vernunftgruͤnde, Ueberzeugung, diese allein bringen Grundsaͤtze hervor, die, durch An- sehen und Beyspiel , in Sitten uͤbergehen koͤnnen. Und hier ist es, wo die Religion dem Staat zu Huͤlfe kommen, und die Kirche eine Stuͤtze der buͤrgerlichen Gluͤckseligkeit werden soll. Ihr koͤmmt es zu, das Volk auf die nachdruͤcklichste Weise von der Wahrheit edler Grundsaͤtze und Gesinnungen zu uͤberfuͤhren; ihnen zu zeigen, daß die Pflichten gegen Menschen auch Pflichten gegen Gott seyen, die zu uͤbertreten, schon an und fuͤr sich hoͤchstes Elend sey; daß dem Staate dienen ein wahrer Gottesdienst, Recht und Ge- rechtigkeit der Befehl Gottes, und Wohlthun sein allerheiligster Wille sey, und daß wahre Er- kenntniß des Schoͤpfers keinen Menschenhaß in der Seele zuruͤcklassen koͤnne. Dieses zu lehren, ist Amt und Pflicht und Beruf der Religion; dieses zu predigen Amt und Pflicht und Beruf ihrer ihrer Diener. Wie hat es den Menschen beykome men koͤnnen, jene das Gegentheil lehren, diese das Gegentheil predigen zu lassen? Wenn aber der Charakter der Nation, der Grad der Cultur, auf welchen sie gestiegen, die mit dem Wohlstande der Nation gewachsene Volksmenge, vervielfaͤltigte Verhaͤltnisse und Verbindungen, uͤberhand genommene Ueppig- keit und andere Ursachen es unmoͤglich machen, die Nation blos durch Gesinnungen zu regieren; so nimmt der Staat seine Zuflucht zu oͤffentlichen Anstalten, Zwangsgesetzen, Bestrafungen des Verbrechens und Belohnung des Verdienstes. Wenn der Buͤrger nicht aus innerm Gefuͤhl sei- ner Schuldigkeit das Vaterland vertheidigen will; so werde er durch Belohnung gelockt, oder durch Gewalt gezwungen. Haben die Menschen keinen Sinn mehr fuͤr den innern Werth der Gerechtigkeit, erkennen sie nicht mehr, daß Red- lichkeit in Handel und Wandel wahre Gluͤckse- ligkeit sey; so werde die Ungerechtigkeit gezuͤch- tiget, der Betrug bestraft. Freylich erhaͤlt der Staat auf diese Weise den Endzweck der Gesell- schaft nur zur Haͤlfte. Aeußere Bewegungs- gruͤnde machen den, auf welchen sie auch wir- B 5 ken ken, nicht gluͤcklich. Wer aus Liebe zur Recht- schaffenheit den Betrug meidet, ist gluͤcklicher, als der nur die willkuͤhrlichen Strafen fuͤrchtet, die der Staat mit dem Betruge verbunden. Allein seinem Nebenmenschen kann es gleichviel gelten, aus welchen Bewegursachen das Unrecht unterbleibt, durch welche Mittel ihm sein Recht und Eigenthum gesichert wird. Das Vaterland ist vertheidiget; die Buͤrger moͤgen aus Liebe, oder aus Furcht vor positiver Strafe, fuͤr dassel- be fechten; obgleich die Vertheidiger selbst in jenem Falle gluͤcklich, in diesem aber ungluͤcklich sind. Wenn innere Gluͤckseligkeit der Gesell- schaft nicht voͤllig zu erhalten stehet; so werde wenigstens aͤussere Ruhe und Sicherheit allen- falls erzwungen . Der Staat also begnuͤgt sich allenfalls mit todten Handlungen, mit Werken ohne Geist, mit Uebereinstimmung im Thun, ohne Uebereinstim- mung in Gedanken. Auch wer nicht an Gesetze glaubt, muß nach dem Gesetze thun, sobald es Sanction erhalten hat. Er kann dem einzelnen Buͤrger das Recht lassen, uͤber die Gesetze zu urtheilen; aber nicht nach seinem Urtheile zu handeln; denn hierauf hat er als Mitglied der Gesell- Gesellschaft Verzicht thun muͤssen, weil ohne diese Verzicht eine buͤrgerliche Gesellschaft ein Unding ist. — Nicht also die Religion! Diese kennet keine Handlung ohne Gesinnung, kein Werk ohne Geist, keine Uebereinstimmung im Thun, ohne Uebereinstimmung im Sinne. Re- ligioͤse Handlungen, ohne religioͤse Gedanken, ist leeres Puppenspiel, kein Gottesdienst. Diese muͤssen also an und fuͤr sich selbst aus dem Geiste kommen, und koͤnnen weder durch Be- lohnung erkauft, noch durch Strafen erzwun- gen werden. Aber auch von buͤrgerlichen Hand- lungen ziehet die Religion ihre Hand ab, in so weit sie nicht durch Gesinnung, sondern durch Macht hervorgebracht werden. Der Staat hat sich auch keine Huͤlfe mehr von der Religion zu versprechen, sobald er blos durch Belohnung und Bestrafung wuͤrken kann; denn in so weit dieses geschiehet, kommen die Pflichten gegen Gott weiter in keine Betrachtung, sind die Ver- haͤltnisse zwischen dem Menschen und seinem Schoͤpfer ohne Wirkung. Aller Beystand, den die Religion dem Staate leisten kann, ist Be- lehren und Troͤsten ; durch ihre goͤttlichen Leh- ren dem Buͤrger gemeinnuͤtzige Gesinnungen bey- brin- bringen, und durch ihre uͤberirrdische Trostgruͤn- de den Elenden aufrichten, der als ein Opfer fuͤr das gemeine Beste zum Tode verurtheilt worden. Hier zeigt sich also schon ein wesentlicher Un- terschied zwischen Staat und Religion. Der Staat gebietet und zwinget; die Religion belehrt und uͤberredet; der Staat ertheilt Gesetze , die Religion Gebote. Der Staat hat physische Ge- walt und bedient sich derselben, wo es noͤthig ist; die Macht der Religion ist Liebe und Wohl- thun . Jener giebt den Ungehorsamen auf, und stoͤßt ihn aus; diese nimmt ihn in ihren Schoos, und sucht ihn noch in dem letzten Augenblicke seines gegenwaͤrtigen Lebens, nicht ganz ohne Nutzen, zu belehren, oder doch wenigstens zu troͤsten. Mit einem Worte: die buͤrgerliche Ge- sellschaft kann, als moralische Person, Zwangs- rechte haben, und hat diese auch durch den ge- sellschaftlichen Vertrag wuͤrklich erhalten. Die religioͤse Gesellschaft macht keinen Anspruch auf Zwangsrecht und kann durch alle Vertraͤge in der Welt kein Zwangsrecht erhalten. Der Staat besitzet vollkommene , die Kirche blos unvollkommene Rechte. Um dieses gehoͤrig ins ins Licht zu setzen, erlaube man mir zu den ersten Begriffen hinaufzusteigen, und den Ursprung der Zwangsrechte und Guͤltig- keit der Vertraͤge unter den Menschen etwas genauer zu untersuchen. Ich bin in Ge- fahr, fuͤr manche Leser zu spekulativ zu werden. Allein hat doch jeder die Freyheit das zu uͤber- schlagen, was nicht nach seinem Geschmacke ist. Den Freunden des Naturrechts duͤrfte es nicht unangenehm seyn, zu sehen, wie ich mir die ersten Grundsaͤtze desselben zu eroͤrtern gesucht habe. — Die Befugniß (das sittliche Vermoͤgen) sich eines Dinges als Mittels zu seiner Gluͤckseligkeit zu bedienen, heißt ein Recht . Das Vermoͤgen aber heißt sittlich, wenn es mit den Gesetzen der Weisheit und Guͤte bestehen kann, und die Dinge, die als Mit- tel zur Gluͤckseligkeit dienen koͤnnen, wer- den Guͤter genannt. Der Mensch hat also ein Recht auf gewisse Guͤter oder Mittel zur Gluͤckseligkeit, in so weit solches den Gesetzen der Weisheit und Guͤte nicht widerspricht. Was Was nach den Gesetzen der Weisheit und der Guͤte geschehn muß, oder dessen Gegen- theil den Gesetzen der Weisheit oder der Guͤte widersprechen wuͤrde: heißt sittlich nothwendig . Die sittliche Nothwendigkeit (Schuldigkeit) etwas zu thun, oder zu un- terlassen, ist eine Pflicht . Die Gesetze der Weisheit und Guͤte koͤn- nen sich nicht einander widersprechen. Wenn ich also ein Recht habe etwas zu thun; so kann mein Nebenmensch kein Recht haben, mich daran zu verhindern; sonst waͤre eben dieselbe Handlung zu einerley Zeit sittlich moͤglich und sittlich unmoͤglich. Einem jeden Rechte entspricht also eine Pflicht; dem Rechte zu thun entspricht die Pflicht zu lei- den; dem Rechte zu fordern, die Pflicht zu leisten, u. s. w. Man macht den Einwurf: der Kriegsmann habe in waͤhrendem Kriege die Befugniß, den Feind umzubringen, ohne daß diesem die Pflicht ob- liege, solches zu leiden. Allein der Kriegsmann hat diese Befugniß nicht als Mensch ; sondern als Mitglied, oder Soͤldner des Weis- Weisheit mit Guͤte verbunden heißt Ge- rechtigkeit . — Das Gesetz der Gerechtig- keit, auf welches ein Recht sich gruͤndet, ist entweder von der Beschaffenheit, daß alle Bedingungen, unter welchen das Praͤdi- kat dem Subjekte zukommt, dem Rechtha- benden gegeben sind, oder nicht. In dem ersten Falle ist es ein vollkommenes , in dem andern ein nnvollkommenes Recht . Bey dem unvollkommenen Rechte naͤmlich haͤngt ein Theil der Bedingungen, unter welchen das Recht zukoͤmmt, von dem Wissen und Gewissen des Pflichttraͤgers ab. Dieser des kriegfuͤhrenden Staats. Der Staat naͤm- lich ist entweder wirklich beleidiget, oder giebt vor beleidiget zu seyn, und seine Befriedigung nicht anders, als durch die Gewalt, erhalten zu koͤnnen. Das Gefecht ist also eigentlich nicht zwischen Mensch und Mensch; sondern zwischen Staat und Staat; und unter den beiden kriegfuͤhrenden Staaten hat doch offenbar nur einer das Recht auf seiner Seite. Dem Be- leidiger liegt allerdings die Pflicht ob, den Beleidigten zu befriedigen, und alles zu lei- den, ohne welches jener nicht zu seinem gekraͤnk- ten Rechte gelangen kann. Dieser ist also auch in dem ersten Falle voll- kommen , in dem andern aber nur un- vollkommen zu der Pflicht verbunden, die jenem Rechte entspricht. — Es giebt voll- kommene und unvollkommene , sowohl Pflichten , als Rechte . Jene heißen Zwangsrechte und Zwangspflichten; diese hingegen Anspruͤche (Bitten) und Gewis- senspflichten . Jene sind aͤusserlich, diese aber nur innerlich . Zwangsrechte duͤrfen mit Gewalt erpreßt; Bitten aber verwei- gert werden. Unterlassung der Zwangs- pflichten ist Beleidigung, Ungerechtigkeit; der Gewissenspflichten aber blos Unbil- ligkeit . Die Guͤter, auf welche der Mensch ein ausschliessendes Recht hat, sind 1) seine eigenen Faͤhigkeiten; 2) was er durch die- selben hervorbringet, oder deßen Fortkom- men er befoͤrdert, was er anbauet, hegt, schuͤtzt u. s. w. (Produkte seines Fleißes); 3) Guͤter der Natur, die er mit den Pro- dukten seines Fleißes so verbunden, daß sie von denselben ohne Zerstoͤrung nicht mehr getrennt werden koͤnnen, die er sich also also zu eigen gemacht. Hierin bestehet also sein natuͤrliches Eigentum , und diese Guͤ- ter sind auch im Stande der Natur, bevor noch irgend ein Vertrag unter den Menschen Statt gefunden, von der urspruͤnglichen Gemeinschaft der Guͤter ausgeschlossen worden. Die Menschen besitzen naͤmlich ur- spruͤnglich nur diejenigen Guͤter gemein- schaftlich, die von der Natur, ohne eines Menschen Fleis und Befoͤrderung, hervorge- bracht werden. — Nicht alles Eigen- tum ist blos conventionell . Der Mensch kann ohne Wohlthun nicht gluͤcklich seyn; Nicht ohne leidendes , aber eben so wenig ohne thaͤtiges Wohlthun. Er kann nicht anders, als durch gegenseitigen Beystand, durch Wechsel von Dienst und Gegendienst, durch thaͤtige und leidende Verbindung mit seinem Nebenmenschen, vollkommen werden. Wenn also der Mensch Guͤter besitzet, oder Mittel zur Gluͤckseligkeit in seinem Vermoͤ- gen hat, die er entbehren kan, d. i. die nicht nothwendig zu seinem Daseyn erforderlich sind, und zu seinem Besserseyn dienen; so Erster Abschnitt . C ist ist er verpflichtet, solche zum Theil zum Be- sten seines Nebenmenschen, zum Wohlwol- len anzuwenden; denn Besserseyn ist von Wohlwollen unzertrennlich. Er hat aber auch aus aͤhnlichen Ursachen ein Recht auf seines Nebenmenschen Wohl- wollen. Er kan erwarten, und Anspruch darauf machen, daß ihm andere mit ihren entbehrlichen Guͤtern beystehen, und zu sei- ner Vollkommenheit befoͤrderlich seyn wer- den. Man erinnere sich nur immer, was wir unter dem Worte Guͤter verstehen. Alles innere und aͤussere Vermoͤgen des Menschen, in so weit es ihm, oder andern, ein Mittel zur Gluͤckseligkeit werden kann. Was also der Mensch im Stande der Natur an Fleiß, Vermoͤgen und Kraͤften besitzet; alles, was er Sein nennen kan, ist Theils zum Selbst- gebrauch (eigenen Nutzen), Theils zum Wohlwollen gewidmet. Wie aber das Vermoͤgen der Menschen eingeschraͤnkt, und also erschoͤpflich ist; so kann dasselbe Vermoͤgen oder Gut zuweilen nicht mir und meinem Nebenmenschen zu- gleich dienen. So kan ich auch dasselbe Vermoͤ- Vermoͤgen oder Gut nicht gegen alle meine Nebenmenschen, nicht zu allen Zeiten, auch nicht unter allen Umstaͤnden zum Besten an- wenden; und da ich schuldig bin von mei- nen Kraͤften den bestmoͤglichsten Gebrauch zu machen; so koͤmmt es auf die Auswahl und naͤhere Bestimmung an, wie viel von dem Meinigen ich zum Wohlwollen bestim- men soll? Gegen wen? zu welcher Zeit, und unter welchen Umstaͤnden? Wer soll dieses entscheiden? wer die Col- lisionsfaͤlle schlichten? — Nicht mein Naͤch- ster; denn ihm sind nicht alle Gruͤnde gege- ben , aus welchen der Streit der Pflichten entschieden werden muß. Zu dem wuͤrde jeder andere eben das Recht haben, und wenn von meinen Nebenmenschen jeder zu seinem Vortheil entscheiden sollte, wie wahr- scheinlicher Weise geschehen duͤrfte, so waͤre die Verlegenheit nicht gehoben. Mir, und mir allein, koͤmmt also im Stande der Natur das Entscheidungsrecht zu, ob und wieviel, wenn, wem , und un- ter welchen Bedingungen ich zum Wohlthun verhunden bin? und ich kann im Stande der C 2 Natur Natur durch keine Zwangsmittel, zu kei- nerley Zeit, zum Wohlthun angehalten werden. Meine Pflicht wohlzuthun, ist blos Gewissenspflicht , davon ich aͤusserlich niemanden Rechenschaft zu geben habe; so wie mein Recht auf anderer Wohlthun, blos ein Recht zu bitten ist, das abge- wiesen werden kann. — Im Stande der Natur sind alle positive Pflichten der Menschen gegen einander blos unvollkom- mene Pflichten; so wie ihre positive Rechte auf einander blos unvollkommene Rechte, keine Pflichten, die erpreßt wer- den koͤnnen, keine Rechte, die Zwang er- lauben. — Blos die Unterlassungspflichten und Rechte sind im Stande der Natur vollkommen. Ich bin vollkommen ver- pflichtet, niemanden zu schaden , und voll- kommen berechtiget, zu verhindern, daß niemand mir schade . Schaden aber heißt, wie bekannt, wider das vollkommene Recht eines andern handeln . Man koͤnnte zwar glauben, die Pflicht zur Entschaͤdigung sey eine positive Pflicht, zu der der Mensch auch im Stande der Natur Natur verbunden ist. Wenn ich meinem Naͤchsten Schaden zugefuͤgt habe, so bin ich, ohne allen Vertrag, blos nach den Gesetzen der natuͤrlichen Gerechtigkeit, auch aͤusserlich verpflichtet, ihm solchen zu erse- tzen, und kann von ihm mit Gewalt dazu angehalten werden. Allein die Entschaͤdigung ist zwar eine po- sitive Handlung; die Verbindlichkeit aber zu derselben fliesset im Grunde aus der Un- terlassungspflicht; beleidige nicht denn der Schaden, den ich meinem Naͤchsten zu- gefuͤgt habe, ist, so lange er seiner Wir- kung nach nicht aufgehoben wird, als eine fortgesetzte Veleidigung anzusehen. Ich handele also eigentlich wider eine negative Pflicht, so lange ich die Entschaͤdigung un- terlasse; denn ich fahre fort zu beleidigen. Die Entschaͤdigungspflicht macht also keine Ausnahme von der Regel, daß der Mensch im Stande der Natur unabhaͤngig , d. i. niemanden positive verpflichtet sey. Nie- mand hat ein Zwangsrecht mir vorzuschrei- ben, wie viel ich von meinen Kraͤften zum Besten anderer anwenden, und wem ich die C 3 Wohl- Wohlthat davon angedeien lassen soll. Auf mein Gutduͤnken allein muß es ankom- men, nach welcher Regel ich die Collisions- faͤlle entscheiden will. Auch das natuͤrliche Verhaͤltniß zwischen Eltern und Kindern ist diesem allgemeinen Naturgesetz nicht zuwider. Es ist leicht zu erachten, daß nur diejenigen Personen im Stande der Natur unabhaͤngig sind, denen man eine vernunftmaͤßige Entscheidung der Collisionsfaͤlle zutrauen kann. Bevor also die Kinder zu den Jahren gelangen, in wel- chen man ihnen den Gebrauch der Ver- nunft zutrauen kann, haben sie keinen An- spruch auf Unabhaͤngigkeit, muͤssen sie von andern entscheiden lassen, wie und zu wel- chen Absichten sie ihre Kraͤfte und Faͤhigkei- ten anwenden sollen. Die Eltern sind ihrer Seits auch verbunden, ihre Kinder in der Runst die Collisionsfaͤlle vernuͤnftig zu entscheiden , nach und nach zu uͤben, und so wie ihre Vernunft zunimmt, ihnen auch all- maͤhlig den freien, unabhaͤngigen Gebrauch ihrer Kraͤfte zu uͤberlassen. Nun Nun sind die Eltern zwar auch im Stan- de der Natur gegen ihre Kinder zu gewissen Dingen aͤusserlich verpflichtet, und koͤnte man glauben, daß dieses eine positive Pflicht sey, die ohne allen Vertrag, nach den ewi- gen Gesetzen der Weisheit und Guͤte er- zwungen werden koͤnnte. Allein mich duͤnkt, das Zwangsrecht zur Erziehung der Kin- der komme im Stande der Natur blos den Eltern selbst, einem gegen den an- dern, keinem dritten aber zu, der sich etwa der Kinder annehmen und die Er- ziehung von den Eltern erpressen wollte. Niemand ist im Stande der Natur be- sugt, die Eltern zur Erziehung ihrer Kin- der mit Gewalt anzuhalten. Daß aber die Eltern selbst gegen einander dieses Zwangs- recht haben, fließet aus der Verabre- dung, die sie, obschon nicht in Worten, doch durch die Handlung selbst, getroffen zu haben, vorausgesetzt wird. Wer ein zur Gluͤckseligkeit faͤhiges We- sen hervorbringen hilft, ist nach dem Gesetze der Natur verbunden, die Gluͤckseligkeit desselben zu befoͤrdern, so lange es selbst noch C 4 in in dem Stande nicht ist, fuͤr sein Fort- kommen zu sorgen. Dieses ist die natuͤr- liche Pflicht der Erziehung, die zwar an und fuͤr sich blos eine Gewissenspflicht ist, durch die Handlung selbst aber haben die Eltern sich verstanden, einander hierin beyzustehen, d. i. dieser ihrer Gewissens- pflicht gemeinschaftlich Genuͤge zu leisten. Mit einem Worte: die Eltern sind durch die Beywohnung selbst in den Stand der Ehe getreten, haben einen stillschweigen- den Vertrag gemacht, das zur Gluͤckse- ligkeit bestimmte Wesen, das sie gemein- schaftlich hervorbringen, auch gemein- schaftlich der Gluͤckseligkeit faͤhig zu ma- chen, d.i. zu erziehen. Aus diesem Grundsatze fließen alle Pflich- ten und Rechte des Ehestandes ganz natuͤr- lich, und es ist nicht noͤthig, wie die Rechts- lehrer zu thun pflegen, ein doppeltes Prin- cipium anzunehmen, um alle Pflichten der Ehe und des Hausstandes aus demselben herzuleiten. Die Pflicht zur Erziehung folgt aus der Verabredung, Kinder zu erzengen, und die Schuldigkeit in einen gemeinschaft- lichen lichen Hausstand zu treten, aus der ge- meinschaftlichen Pflicht zur Erziehung. Die Ehe ist also im Grunde nichts anders, als eine Verabredung zwischen Personen verschiedenen Geschlechts, gemeinschaftlich Kinder zur Welt zu bringen; und hierauf beruhet das ganze System ihrer gegensei- tigen Pflichten und Rechte Wenn Subjekte von verschiedenen Religionen in ein Ehebuͤndniß treten; so wird beym Contrakte verabredet, nach welchen Grundsaͤtzen der Haus- stand gefuͤhrt, und die Kinder erzogen werden sol- len. Wie aber, wenn Mann oder Weib nach voll- zogner Heurath, Grundsaͤtze aͤndern, und zu einer andern Religion uͤbergehen? giebt dieses der an- dern Partei ein Recht auf die Scheidung zu drin- gen? In einer kleinen Schrift, Das Forschen nach Licht und Recht. Berlin, bey Friederich Maurer, 1782. die zu Wien geschrieben seyn will, und deren ich in dem zwei- ten Abschnitte mit mehrerem zu erwaͤhnen, Gele- genheit haben werde, wird gesagt, daß der Fall itzt daselbst vorliege. Ein Jude der zur christli- chen Religion uͤbergegangen, soll ausdruͤcklich be- gehren, . Daß aber C 5 die die Menschen durch Verabredung den Stand der Natur verlassen, und in den Stand der Gesell- gehren, seine bey der juͤdischen Religion gebliebene Ehefrau zu behalten, und der Proceß soll anhaͤngig gemacht seyn. Genannter Verfasser entscheidet nach dem System der Freyheit. „Man vermuthet „mit Recht, spricht er, daß die Verschiedenheit „der Religion fuͤr keine guͤltige Ursache zur Ehe- „scheidung erkannt werden werde. Nach den „Grundsaͤtzen des weisen Josephs, duͤrfte wohl „Unterschied in kirchlichen Meinungen nicht gesell- „schaftlichen Banden entgegen stehen duͤrfen.“ Sehr uͤbereilt, wie mich duͤnkt. Ich hoffe, ein eben so gerechter als weiser Imperator wird auch die Gegengruͤnde anhoͤren, und nicht zugeben, daß das System der Freyheit zur Bedruͤckung und Gewaltthaͤtigkeit gemißbraucht werde. — Ist die Ehe blos ein buͤrgerlicher Contrakt, wie doch zwi- schen Jude und Juͤdinn, selbst nach katholischen Grundsaͤtzen, die Ehe nichts anders seyn kann; so muͤssen die Worte und Bedingen des Contrakts nach dem Sinne der Contrahenten ausgelegt und erklaͤrt werden, nicht nach dem Sinne des Gesetz- gebers oder Richters. Wenn nach den Grundsaͤtzen der Contrahenten mit Zuverlaͤssigkeit behanptet werden kann, daß sie gewisse Worte so, und nicht anders Gesellschaft treten, wird in der Folge ge- zeigt werden. Mithin ist auch die Erzie- hungs- anders verstanden, und wenn sie gefragt worden waͤren, so und nicht anders erklaͤrt haben wuͤrden; so muß diese moralisch gewisse Erklaͤrung, als eine stillschweigende, vorausgesetzte Bedingung des Contrakts angenommen, vor Gericht eben so guͤl- tig seyn, als wenn sie ausdruͤcklich verabredet wor- den waͤre. Nun ist offenbar, daß das Ehepaar bey Schliessung des Contrakts, da sie beiderfeits, we- nigstens aͤusserlich, noch der juͤdischen Religion zu- gethan gewesen, keinen andern Sinn gehabt als den gemeinschaftlichen Hausstand nach juͤdischen Lebensregeln zu fuͤhren, und die Kinder nach juͤdi- schen Grundsaͤtzen zu erziehen. Wenigstens hat die Partey, der es um die Religion ein Ernst war, nichts anders voraus setzen koͤnnen, und waͤre da- mals eine Veraͤnderung von dieser Art besorglich gewesen, und die Bedingung zur Sprache gekom- men, sie wuͤrde sich sicherlich nicht anders erklaͤrt haben. Sie wußte und erwartete nichts anders, als einen Hausstand nach vaͤterlichen Lebensregeln anzutreten, und Kinder zu erzeugen, die sie nach vaͤterlichen Grundsaͤtzen wuͤrde erziehen koͤnnen. Wenn dieser Person der Unterschied wichtig ist, wenn es notorisch ist, daß ihr der Unterschied der Religion hungspflicht der Eltern, ob sie schon in ge- wisser Betrachtung eine Zwangspflicht zu nen- Religion bey Schliessung des Contrakts hat wich- tig seyn muͤssen; so muß der Contrakt nach ihren Begriffen und Gesinnungen erklaͤrt werden. Ge- setzt der ganze Staat habe hierin andre Gesinnun- gen; so hat dieses keinen Einfluß auf die Deutung des Vertrages. Der Mann veraͤndert Grundsaͤtze, und nimmt eine andre Religion an. Soll die Frau gezwungen werden, in einen Hausstand zu treten, dem ihr Gewissen zu wider ist, und ihre Kinder nach Grundsaͤtzen zu erziehen, die nicht die Ihrigen sind; mit einem Worte, Bedingungen des Ehekon- trakts anzunehmen, und sich aufdringen zu lassen, zu welchen sie sich niemals verstanden hat; so ge- schiehet ihr offenbar Unrecht; so laͤßt man sich of- fenbar durch Vorspiegelung der Gewissensfreyheit zum widersinnigsten Gewissenszwange verleiten. Die Bedingungen des Contrakts koͤnnen nun nicht mehr erfuͤllt werden. Der Mann, der Grundsaͤtze veraͤndert hat, ist, wo nicht in dolo, doch wenigstens in culpa, daß solche nicht mehr in Erfuͤllung ge- bracht werden koͤnnen. Muß die Frau Gewissens- zwang leiden, weil der Mann Gewissensfreiheit haben will? Wo hat sie sich hierzu verstanden, oder verstehen koͤnnen? Ist nicht auch von ihrer Seite das Gewissen ungebunden, und muß die Partey, welche nennen ist, keine Ausnahme von dem an- gefuͤhrten Naturgesetz , daß der Mensch im Stande der Natur unabhaͤngig sey, und ihm allein das Recht zukomme, die Collisions- faͤlle zwischen Selbstgebrauch und Wohl- wollen zu entscheiden. In diesem Rechte bestehet die natuͤrliche Freiheit des Menschen, die einen großen Theil seiner Gluͤckseligkeit ausmacht. Die Unabhaͤngigkeit gehoͤrt also zu seinen eigen- tuͤmlichen Guͤtern , deren er sich, als Mit- tel welche die Veraͤnderung verursacht hat, nicht auch fuͤr die Folgen dieser Veraͤnderung stehen, den Ge- gentheil schadlos halten, und so viel es sich thun laͤßt, wieder in den vorigen Stand setzen? Mich duͤnkt nichts sey einfacher, und die Sache rede fuͤr sich selber. Niemand kann gezwungen werden, Bedingungen eines Contrakts anzunehmen, zu welchen er sich, seinen Grundsaͤtzen nach, nicht hat verstehen koͤnnen. An Erziehung der gemeinschaftlichen Kinder haben beide Theile gleiches Recht. Haͤtten wir unparteyische Erziehungsanstalten; so muͤßten in solchen streitigen Faͤllen die Kinder so lange un- parteyisch erzogen werden, bis sie zur Vernunft kom- tel zu seiner Gluͤckseligkeit zu bedienen be- fugt ist, und wer ihn in dem Gebrauch der- selben stoͤhret, der beleidiget ihn , und be- gehet eine aͤusserliche Ungerechtigkeit. Der Mensch im Stande der Natur ist Herr uͤber das Seinige, uͤber den freien Gebrauch sei- ner Kraͤfte und Faͤhigkeiten, uͤber den freien Gebrauch alles dessen, so er durch dieselben hervorgebracht, (d. i. der Fruͤchte seines Fleißes) oder mit den Fruͤchten seines Flei- ßes auf eine unzertrennliche Weise verbun- den hat, und es haͤnget von ihm ab, wie viel, kommen, und selbst waͤhlen. So lange aber da- fuͤr noch nicht gesorgt worden; so lange noch un- sere Erziehungsanstalten mit der positiven Reli- gion in Verbindung stehen, hat derienige Theil ein offenbares Vorrecht, der bei den vorigen Grundsaͤtzen geblieben ist, und solche nicht ver- aͤndert hat. Auch dieses folgt ganz natuͤrlich aus obigen Grundsaͤtzen, und es ist gewaltsame Anmaßung und Religionsdruck, wenn irgendws das Gegentheil geschiehet. Ein eben so gerech- ter als weiser Joseph wird sicherlich diesen ge- waltsamen Misbrauch der Kirchenmacht in seinen Staaten nicht zulassen. viel, wenn und zum Besten wessen von sei- nen Nebenmenschen er einiges von diesen Guͤtern, das ihm entbehrlich ist, ablassen will. Alle seine Nebenmenschen haben blos auf seinen Ueberfluß ein unvollkommenes Recht, ein Recht zu bitten, und er, der unumschraͤnkte Herr traͤgt die Gewissens- pflicht , einen Theil seiner Guͤter dem Wohl- wollen zu widmen; ja bisweilen ist er ver- bunden, seinen Eigengebrauch so gar dem Wohlwollen aufzuopfern; in so weit die Ausuͤbung des Wohlwollens gluͤcklicher macht, als Eigennutz. Nur muß diese Aufopferung eigenes Willens und aus freiem Triebe geschehen. Alles dieses schei- net keinen Zweifel mehr zu leiden. Allein ich thue einen Schritt weiter. Sobald dieser Unabhaͤngige einmal ein Urtheil gefaͤllt hat; so muß es guͤltig seyn. Habe ich im Stande der Natur den Fall entschieden, wem, wenn und wie viel ich von dem Meinigen uͤberlassen will; habe ich diesen meinen freien Entschluß hinlaͤng- lich zu erkennen gegeben, und mein Naͤch- ster, dem zum Besten der Ausspruch ge- schehen, schehen, hat das Gut in Empfang genom- men; so muß die Handlung Kraft und Wuͤr- kung haben, wenn mein Entscheidungs- recht etwas bedeuten soll. Wenn mein Ausspruch unkraͤftig ist, und die Sachen so laͤßt, wie sie gewesen sind; wenn er nicht in Ansehung des Rechts diejenige Veraͤn- derung hervorbringet, die ich beschlossen; so enthaͤlt mein vermeintes Recht den Aus- spruch zu thun, einen offenbaren Wider- spruch. Meine Entscheidung muß also wir- ken, muß den Zustand des Rechts veraͤn- dern. Das Gut, wovon die Rede ist, muß aufhoͤren das Meine zu seyn, und nunmehr wirklich meines Naͤchsten geworden seyn. Das vorhin unvollkommen gewesene Recht meines Naͤchsten muß durch diese Hand- lung ein vollkommenes Recht geworden; so wie mein vollkommen gewesenes Recht in ein unvollkommenes uͤbergegangen seyn; sonst waͤre meine Entscheidung null. Nach vollzogener Handlung also kann ich das abgetretene Gut, ohne Ungerechtigkeit, mir nicht mehr anmaßen; und wenn ich es thue, so beleidige ich; so han- dele dele ich wider das vollkommene Recht meines Naͤchsten. Dieses gilt sowohl von koͤrperlichen be- weglichen Guͤtern, die von Hand in Hand gegeben und angenommen werden koͤnnen, als von unbeweglichen, oder auch geisti- gen Guͤtern, davon die Rechte blos durch hinlaͤngliche Willenserklaͤrung abgetreten und angenommen werden koͤnnen. Im Grunde koͤmmt alles blos auf diese Wil- lenserklaͤrung an, und die wirkliche Ein- handigung beweglicher Guͤter selbst kann nur guͤltig seyn, in so weit sie fuͤr ein Zei- chen der hinlaͤnglichen Willenserklaͤrung genommen wird. Die bloße Einhaͤndigung an und fuͤr sich betrachtet, giebt und nimmt kein Recht, so oft diese Absicht nicht damit verbunden ist. Was ich meinem Naͤchsten in die Hand gebe, habe ich ihm deswegen noch nicht eingehaͤndiget, und was ich von ihm in die Hand nehme, habe ich da- mit noch nicht rechtskraͤftig angenommen, wenn ich nicht zu erkennen gegeben, daß die Handlung in dieser Absicht geschehen sey. Ist aber die Tradition selbst blos als Erster Abschnitt . D Zei- Zeichen guͤltig; so koͤnnen bey solchen Guͤ- tern, wo die wirkliche Aushaͤndigung nicht Statt findet, andere bedeutende Zeichen dafuͤr genommen werden. Man kann also sein Recht auf unbewegliche oder auch un- koͤrperliche Guͤter durch hinlaͤnglich ver- staͤndliche Zeichen andern abtreten und uͤberlassen. Auf diese Weise kann das Eigentum von Person zu Person wandern. Was ich durch meinen Fleiß zu dem Meinigen gemacht, wird durch Abtreten das Gut eines An- dern, das ich ihm nicht wieder nehmen kann, ohne eine Ungerechtigkeit zu be- gehen. Und nun noch einen Schritt naͤher, so stehet die Guͤltigkeit der Vertraͤge auf siche- ren Fuͤßen. — Das Recht, die Colli- sionsfaͤlle zu entscheiden, selbst ist, wie oben gezeigt worden, ein unkoͤrperliches Gut des unabhaͤngigen Menschen; in so weit es ein Mittel zu seiner Gluͤckseligkeit werden kann. Jeder Mensch hat im Stande der Natur auf den Genuß dieses Mittels zur Gluͤckseligkeit ein vollkommenes, und sein Neben- Nebenmensch ein unvollkommenes Recht. Da aber der Genuß dieses Rechts wenig- stens in vielen Faͤllen zur Erhaltung nicht unumgaͤnglich nothwendig ist; so ist es ein entbehrliches Gut, das, vermoͤge des Er- wiesenen, abgetreten, und vermittelst einer hinlaͤnglichen Willenserklaͤrung, einem An- dern uͤberlassen werden kann. Eine Hand- lung, wodurch dieses geschiehet, heißt ein Versprechen , und wenn von der andern Seite die Annahme hinzukoͤmmt, d.i. die Einwilligung in dieses Uebertragen der Rechte hinlaͤnglich zu erkennen gegeben wird; so entstehet ein Vertrag . Demnach ist ein Vertrag nichts anders, als von der einen Seite die Ueberlassung, und von der andern Seite, die Annahme des Rechts, in Absicht auf gewisse, dem Versprecher entbehrliche Guͤter, die Collisionsfaͤlle zu entscheiden. Ein solcher Vertrag muß vermoͤge des vorhin Erwiesenen, gehalten werden. Das Entscheidungsrecht, welches vorhin einen Theil meiner Guͤter ausmachte, d. i. das Meine war, ist durch diese Abtretung das D 2 Gut Gut meines Naͤchsten, das Seine gewor- den, und ich kann es ihm, ohne Beleidi- gung nicht wieder entziehen. Den An- spruch, den er auf den Gebrauch dieser meiner Unabhaͤngigkeit, in so weit sie nicht zu meiner Erhaltung nothwendig ist, so wie jeder andere machen konnte, ist durch diese Handlung in ein vollkommnes Recht uͤber- gegangen, das er sich mit Gewalt zu er- zwingen befugt ist. Dieser Erfolg ist un- streitig; sobald mein Entscheidungsrecht Kraft und Wirkung haben soll — Auf diese sehr einleuchtende Auseinandersetzung der Begriffe bin ich von dem philosophischen Rechtsgelehrten, meinem sehr werthen Freun- de, dem Herrn Assistenzrath Klein gefuͤhrt worden, mit dem ich das Vergnuͤgen gehabt, mich uͤber diese Materie zu unterhalten. Mich duͤnkt, diese Theorie der Contrakte sey einfach und fruchtbar. Fergouson in seiner Moral- philosophie, und sein vortreflicher Uebersetzer, finden die Nothwendigkeit, das Versprechen zu halten, in der bey dem Nebenmenschen erregten Erwartung und Unsittlichkeit der Tauschung . Allein hieraus scheint blos eine Ge- Ich Ich verlasse meine spekulativen Betrachtun- gen, und komme in mein voriges Geleis zuruͤck; muß aber vorher die Bedingungen festsetzen, un- ter welchen nach obigen Grundsaͤtzen ein Ver- trag guͤltig sey, und gehalten werden muͤsse. 1) Cajus besitzet ein Gut (irgend ein Mittel zur Gluͤckseligkeit: den Gebrauch seiner na- tuͤrlichen Faͤhigkeiten selbst, oder das Recht auf die Fruͤchte seines Fleißes, und die damit verbundenen Guͤter der Natur, oder was sonst auf eine gerechte Weise ihm zu eigen geworden; es sey solches ein koͤrper- liches oder unkoͤrperliches Ding, als naͤm- lich Gerechtsame, Freyheiten u. d. g.) D 3 2) Die- Gewissensrflicht zu folgen. Was ich vorhin im Gewissen verbunden gewesen, von meinen Guͤtern zum Besten meiner Nebenmenschen uͤberhaupt hinzugeben, bin ich durch die bey diesem Subjekt ins besondere erregte Erwar- tung , im Gewissen verbunden, ihm zukommen zu lassen. Wodurch aber ist diese Gewissens- pflicht in eine Zwangspflicht uͤbergegangen? Mich duͤnkt, hierzu gehoͤren unumgaͤnglich die allhier ausgefuͤhrten Grundsaͤtze der Abtretung uͤberhaupt, und ins besondere der Entschei- dungsrechte in Collisionsfaͤllen. 2) Dieses Gut aber gehoͤrt nicht unumgaͤng- lich zu seinem Daseyn , und kann also zum Besten des Wohlwollens , d.i. zum Nutzen anderer angewendet werden. 3) Sempronius hat auf dieses Gut ein unvollkommenes Recht . Er kann, so wie jeder andere Mensch verlangen, aber nicht zwingen, daß dieses Gut itzt zu seinem Besten angewendet werde. Das Recht zu entscheiden gehoͤrt dem Cajus, ist das Seine, und darf ihm mit Gewalt nicht entzogen werden. 4) Nunmehr bedienet sich Cajus seines voll- kommenen Rechts, entscheidet zum Vor- theil des Sempronius, und giebt seine Entscheidung durch hinlaͤngliche Zeichen zu erkennen; d.i. Cajus verspricht. 5) Sempronius nimmt an, und giebt seine Einwilligung gleichfalls auf eine bedeuten- de Weise zu verstehen. So ist der Ausspruch des Cajus wirk- sam und von Kraft; d.i. jenes Gut, das ein Eigentum des Cajus, das Seine ge- wesen, ist durch diese Handlung zum Gute des Sempronius geworden. Das voll- kom- kommene Recht des Cajus ist in ein unvoll- kommenes uͤbergegangen; so wie das un- vollkommene Recht des Sempronius in ein vollkommenes Zwangsrecht verwan- delt worden ist. Cajus muß sein rechtkraͤftiges Verspre- chen halten, und Sempronius kann ihn, im Verweigerungsfalle, mit Gewalt dazu zwingen. Durch Verabredungen dieser Art verlaͤßt der Mensch den Stand der Natur und tritt in den Stand der gesellschaftlichen Verbindung; und seine eigene Natur treibet ihn an, Verbin- dungen mancherley Art einzugehen, um seine schwankenden Rechte und Pflichten in etwas Bestimmtes zu verwandeln. Nur der Wilde klebt, wie das Vieh, an dem Genusse des gegenwaͤrtigen Augenblickes. Der gesittete Mensch lebt auch fuͤr die Zukunft, und will auch fuͤr den naͤchsten Augenblick worauf Rech- nung machen koͤnnen. Schon der Vermeh- rungstrieb, wenn er nicht blos viehischer In- stinkt seyn soll, zwinget die Menschen, wie wir oben gesehen, zu einem gesellschaftlichen Ver- D 4 trage, trage, davon man sogar bey vielen Thieren et- was Analogisches findet. Laßt uns von dieser Theorie der Rechte, Pflichten und Vertraͤge die Anwendung auf den Unterschied zwischen Staat und Kirche machen, davon wir ausgegangen sind. Beide, Staat und Kirche, haben sowohl Handlungen, als Gesinnungen zu ihrem Gegenstande: jene in so weit sie sich auf Verhaͤltnisse zwischen Mensch und Natur; diese in so weit sie sich auf Ver- haͤltnisse zwischen Natur und Gott gruͤnden. Die Menschen beduͤrfen einander, hoffen und versprechen, erwarten und leisten einer dem an- dern Dienst und Gegendienst. Die Vermi- schung von Ueberfluß und Mangel, Kraft und Beduͤrfniß, Eigensucht und Wohlwollen, die ih- nen die Natur gegeben, treibet sie an, in ge- sellschaftliche Verbindung zu treten, um ihren Faͤhigkeiten und Beduͤrfnissen weitern Spiel- raum zu verschaffen, Jedes Individuum ist verbunden, einen Theil seiner Faͤhigkeiten und der dadurch erworbenen Rechte, zum Besten der verbundenen Gesellschaft anzuwenden; aber welchen? wenn? und zu welchem Entzwecke? — An und fuͤr sich sollte dieses nur der bestim- men, men, der leisten soll. Man kann aber auch fuͤr gut finden, auf dieses Recht der Unab- haͤngigkeit durch einen gesellschaftlichen Ver- trag Verzicht zu thun, und durch Positivge- setze diese unvollkommene Pflichten in vollkom- mene verwandeln; d. i. man kann die naͤhere Bestimmungen verabreden und festsetzen, wie viel jedes Mitglied, von seinen Rechten zum Nutzen der Gesellschaft zu verwenden, soll ge- zwungen werden koͤnnen. Der Staat, oder die den Staat vorstellen, werden als eine moralische Person betrachtet, die uͤber diese Rechte zu schalten hat. Der Staat hat also Rechte und Gerechtsame auf Guͤter und Hand- lungen der Menschen. Er kann nach dem Ge- setze geben und nehmen, vorschreiben und ver- bieten, und weil es ihm auch um Handlung als Handlung zu thun ist, bestrafen und be- lohnen. Der Pflicht gegen meinen Naͤchsten geschiehet aͤußerlich Genuͤge, wenn ich ihm leiste, was ich soll; meine Haudlung mag er- zwungen oder freywillig seyn. Kann nun der Staat nicht durch innere Triebfedern wirken, und dadurch fuͤr mich mit sorgen; so wirkt er D 5 wenig- wenigstens durch aͤussere, und verhilft meinem Naͤchsten zu dem Seinigen. Nicht also die Kirche! Sie beruhet auf dem Verhaͤltnisse zwischen Gott und Menschen. Gott ist kein Wesen, das unsers Wohlwollens bedarf, unsern Beystand fordert, auf irgend eines von unseren Rechten zu seinem Gebrauch Anspruch macht, oder dessen Rechte mit den Unserigen je in Streit und Verwirrung gerathen koͤnnen. Auf diese irrigen Begriffe hat die in mancher Betrachtung unbequeme Eintheilung der Pflich- ten in Pflichten gegen Gott und Pflichten gegen die Menschen, fuͤhren muͤssen. Man hat die Parallele zu weit gezogen. Gegen Gott — ge- gen Menschen — dachte man. So wie wir aus Pflicht gegen unsern Naͤchsten etwas von dem Unsrigen aufopfern und hingeben, so auch aus Pflicht gegen Gott. Die Menschen fodern Dienst ; so auch Gott. Die Pflicht gegen mich selbst kann mit der Pflicht gegen meinen Naͤch- sten in Streit und Gegenstoß gerathen; eben also die Pflicht gegen mich selbst, mit der Pflicht gegen Gott. — Niemand wird sich ausdruͤck- lich dazu verstehen, wenn ihm diese ungereim- ten Saͤtze in trocknen Worten vorgehalten wer- den, den, nnd gleichwohl hat jedermann mehr oder weniger davon gleichsam eingesogen, und seine innern Saͤfte damit angesteckt. Aus dieser Quelle flossen alle ungerechte Anmaßungen, die sich sogenannte Diener der Religion, unter dem Namen der Kirche, von je her erlaubt. Alle Gewaltthaͤtigkeit und Verfolgung, die sie aus- geuͤbt, aller Zwist und Zwiespalt, Meuterey und Aufruhr, die sie angezettelt haben, und alle Uebel, die von jeher unter dem Scheine der Religion, von ihren grimmigsten Feinden, von Heucheley und Menschenfeindschaft, ausgeuͤbt worden, sind einzig und allein Fruͤchte dieser armseligen Sophisterey; eines vorgespiegelten Conflickts zwischen Gott und Menschen, Rech- ten der Gottheit und Rechten des Menschen. Im Grunde machen in dem System der menschlichen Pflichten, die gegen Gott keine be- sondere Abtheilung; sondern alle Pflichten des Menschen sind Obliegenheiten gegen Gott. Ei- nige derselben gehen uns selbst, andere unsere Nebenmenschen an. Wir sollen, aus Liebe zu Gott, uns selbst vernuͤnftig lieben, seine Ge- schoͤpfe lieben; so wie wir aus vernuͤnftiger Liebe zu zu uns selbst verbunden sind, unsere Nebenmen- schen zu lieben. Das System unserer Pflichten hat ein dop- peltes Principium; das Verhaͤltniß zwischen Menschen und Natur, und das Verhaͤltniß zwi- schen Geschoͤpf und Schoͤpfer. Jenes ist Mo- ralphilosophie, dieses Religion , und demjeni- gen, der von der Wahrheit uͤberfuͤhrt ist, daß die Naturverhaͤltnisse nichts anders sind, als Aeusserungen des goͤttlichen Willens, dem fallen auch diese beiden Principien in einander, dem ist Sittenlehre der Vernunft heilig, wie Reli- gion. Auch heischt die Religion, oder das Ver- haͤltniß zwischen Gott und Menschen keine andere Pflichten; sondern giebt jenen Pflichten und Ob- liegenheiten nur erhabnere Sanction . Gott bedarf unseres Beystandes nicht; verlanget kei- nen Dienst von uns Die Woͤrter, Dienst, Ehre, u. a. haben in Be- ziehung auf Gott eine ganz andere Bedeutung, als in Beziehung auf Menschen. Gottesdienst ist nicht Dienst, den ich Gotte erzeige, Ehre Gottes nicht Ehre, die ich Gotte anthue. Man hat, um die Worte zu retten, ihre Be- deutung geaͤndert. Der gemeine Mann aber klebt , keine Aufopferung un- serer serer Rechte zu seinem Besten, keine Verzicht auf unsere Unabhaͤngigkeit zu seinem Vortheil. Seine Rechte koͤnnen mit den Unserigen nie in Streit und Irrung kommen. Er will nur unser Bestes, eines jeden Einzelnen Bestes, und die- ses muß ja mit sich selbst bestehen, kann sich ja selbst nicht widersprechen. — Alle diese Gemeinoͤrter sind so trivial, daß der gesunde Menschenverstand sich wundert, wie man je hat anderer Meinung seyn koͤnnen; und gleichwohl haben die Menschen von jeher wider diese einleuchtenden Grundsaͤtze gehandelt; und wohl ihnen! wenn sie im Jahre 2240 aufhoͤren werden, dawider zu handeln. Die naͤchste Folge aus diesen Maximen ist, wie mich duͤnkt, offenbar, daß die Kirche kein Recht habe auf Gut und Eigentum, keinen Anspruch auf Beytrag und Verzicht; daß ihre Gerechtsame mit den Unserigen niemals in Ir- rung gerathen, daß also zwischen Kirche und Buͤr- klebt noch immer an der ihm gewoͤhnlichen Bedeutung, und haͤnget noch immer fest an seinem Sprachgebrauch, woraus in Religions- sachen viele Verwirrungen entstanden sind. Buͤrger nie Collisionsfaͤlle vorkommen koͤnnen. Ist aber dieses, so findet auch zwischen Kirche und Buͤrger kein Vertrag statt; denn alle Ver- traͤge setzen Collisionsfaͤlle voraus, die zu ent- scheiden sind. Wo keine unvollkommene Rechte Statt haben, entstehen keine Collisionen der An- spruͤche, und wo nicht Anspruͤche gegen Anspruͤ- che entschieden werden sollen, da ist Vertrag ein Unding. Alle menschliche Vertraͤge haben also der Kir- che kein Recht auf Gut und Eigentum beyle- gen koͤnnen, da sie ihrem Wesen nach auf keins derselben Anspruch machen, oder ein unvollkom- menes Recht haben kann. Ihr kann also nie- mals ein Zwangsrecht zukommen, und den Mit- gliedern kann keine Zwangspflicht gegen dieselbe aufgelegt werden Alle Rechte der Kirche sind, Vermahnen, Belehren, Staͤrken und Troͤsten, und die Pflichten der Buͤrger gegen die Kirche sind ein geneigtes Ohr und ein williges Herz . Der Psalmist singet: Dir gefaͤllt nicht Opfer, nicht Geschenk Ohren hast du mir gegraben! (Ps. 40, 7.) So So hat auch die Kirche kein Recht Handlungen zu belohnen oder zu bestrafen. Die buͤrgerlichen Handlungen gehoͤren dem Staat, und die eigent- lichen religioͤsen Handlungen leiden, ihrer Na- tur nach, weder Zwang noch Bestechung. Sie fliessen entweder aus freiem Antriebe der Seele, oder sind ein leeres Spiel, und dem wahren Geiste der Religion zuwider. Wenn aber die Kirche kein Eigentum hat, wer besoldet die Lehrer der Religion? Wer loh- net die Prediger der Gottesfurcht? — Religion und Sold — Lehren der Tugend und Bezah- lung — Predigten der Gottesfurcht und Lohn. Die Begriffe scheinen sich einander zu fliehen. Was verspricht sich der Lehrer der Weisheit und Tugend fuͤr Wirkung, so bald er bezahlt wird, und den Meistbietenden feil ist? Was der Pre- diger der Gottesfurcht fuͤr Eindruck, wenn er nach Lohne ausgehet? — Siehe, ich lehre euch Gesetze und Rechte, so wie mich der Ewige mein Gott u. s. w. ( V. B. M. C 4, 5.). So wie mich mein Gott; erklaͤren die Rabbinen, wie er mich, ohne Entgeld; so ich euch, und so auch ihr die Eurigen . Bezahlen, Lohnen, ist fuͤr diese erhabene Beschaͤftigung so unnatuͤr- lich lich mit der Lebensart, welche diese Beschaͤfti- gung erfordert, so unvereinbar, daß die min- deste Anhaͤnglichkeit an Gewinnen und Erwerben diesen Stand zu erniedrigen scheinet. Das Ver- langen nach Reichtum, das man jedem andern Stande gern zu Gute haͤlt, scheinet uns bey die- sem Geiz und Habsucht, oder artet bey Maͤn- nern, die sich diesem edlen Geschaͤfte widmen, wirklich gar bald in Geiz und Habsucht aus, weil es ihrem Berufe so widerratuͤrlich ist. Hoͤchstens kann ihnen Entschaͤdigung fuͤr Zeit- versaͤumniß eingeraͤumt werden, und diese aus- zumitteln und zu ertheilen, ist ein Geschaͤft des Staats, nicht der Kirche. Was hat die Kirche mit Dingen zu schaffen, die feil sind, bedungen und bezahlt werden? Die Zeit macht einen Theil von unserm Vermoͤgen aus, und wer sie zum gemeinen Besten anwendet, darf hoffen, aus dem gemeinen Schatze dafuͤr entschaͤdiget zu werden. Die Kirche lohnet nicht, die Religion kauft nichts, bezahlet nichts, giebt keinen Sold. Dieses sind, meinem Beduͤnken nach, die Graͤnzen zwischen Staat und Kirche, in so weit sie auf die Handlungen der Menschen Einfluß haben. haben. In Absicht auf Gesinnungen treten sie schon etwas naͤher zusammen; denn hier hat der Staat keine andere Wirkungsmittel, als die Kirche. Beide muͤssen unterrichten, belehren, aufmuntern, veranlassen; aber weder belohnen, noch bestrafen; weder zwingen noch bestechen; denn auch der Staat hat durch keinen Vertrag das mindeste Zwangsrecht uͤber Gesinnungen erlangen koͤnnen. Ueberhaupt kennen die Gesin- nungen der Menschen kein Wohlwollen, leiden keinen Zwang. Ich kann auf keine meiner Ge- sinnungen, als Gesinnung betrachtet, aus Liebe zu meinem Naͤchsten Verzicht thun; kann ihm keinen Antheil an meiner Urtheilskraft aus Wohl- wollen uͤberlassen und abtreten, und eben so we- nig ein Recht auf seine Gesinnungen mir anma- ßen, oder auf irgend eine Weise erwerben. Das Recht auf unsere eigene Gesinnungen ist unver- aͤusserlich, kann nicht von Person zu Person wandern; denn es giebt und nimmt keinen An- spruch auf Vermoͤgen, Gut und Freyheit. Da- her das mindeste Vorrecht, das ihr euern Re- ligions- und Gesinnungsverwandten oͤffentlich einraͤumet, eine indirekte Bestechung ; die min- deste Freyheit, die ihr den Dissidenten entziehet, Erster Abschnitt . E eine eine indirekte Bestrafung zu nennen ist, und im Grunde dieselbe Wirkung hat, als eine direkte Belohnung des Einstimmens, und Bestrafung des Widerspruchs. Es ist armseliges Blend- werk, wenn in einigen Lehrbuͤchern des Kirchen- rechts so sehr auf den Unterschied zwischen Be- lohnung und Vorrecht; Bestrafung und Ein- schraͤnkung gedrungen wird. Den Sprachfor- schern kann diese Bemerkung nuͤtzlich seyn; allein dem Elenden, der die Rechte der Menschheit entbehren muß, weil er nicht sagen kann: ich glaube, wo er nicht glaubet; nicht mit dem Munde Muselmann, und im Herzen Christ seyn will, dem bringet diese Distinktion nur leidigen Trost. Und welches sind die Graͤnzen der Vorrechte auf der einen, und der Einschraͤn- kung auf der andern Seite? Mit einer maͤßi- gen Gabe von Dialektik erweitert man diese Be- griffe, und dehnet sie so lange aus, bis sie auf der einen Seite buͤrgerliche Gluͤckseligkeit, auf der andern Unterdruͤckung, Verbannung und Elend werden Ein Collegium von gelehrten und angesehenen Maͤnnern, in einem uͤbrigens ziemlich duldsamen Staate . Furcht Furcht und Hoffnung wirken auf den Be- gehrungstrieb der Menschen; Vernunftgruͤnde auf sein Erkenntnißvermoͤgen . Ihr ergreifet die unrechten Mittel, wenn ihr die Menschen durch Furcht und Hoffnung zur Annahme oder zur Verwerfung gewisser Lehrsaͤtze fuͤhren wollt. Ja, wenn auch dieses gradezu eure Absicht nicht ist; so hindert ihr selbst doch eure bes- sern Absichten, wenn ihr Furcht und Hoffnung nicht so weit zu entfernen sucht, als nur immer moͤglich ist. Ihr bestechet und verfuͤhret euer eigenes Herz, oder euer Herz hat euch ver- fuͤhrt, wenn ihr glaubet, Pruͤfung der Wahr- heit koͤnne bestehen, Freyheit der Untersuchung bleibe ungekraͤnkt, wenn hier Stand und Wuͤr- den, dort Verachtung und Duͤrftigkeit die Un- E 2 ter- Staate, ließ vor einiger Zeit gewisse Dissiden- ten fuͤr die Approbation gedoppelte Gebuͤhren bezahlen, und als sie von der Obrigkeit des- wegen zur Rede gestellt wurden, war die Ent- schuldigung, jene waͤren doch uͤberall im buͤr- gerlichen Leben deterioris Conditionis . Das Sonderbarste ist, daß es bis auf den heuti- gen Tag bey der Erhoͤhung der Gebuͤhren ge- blieben seyn soll. tersuchenden erwarten. Vorstellung des Guten und Boͤsen sind Werkzeug fuͤr den Willen ; der Wahrheit und Unwahrheit fuͤr den Verstand Wer auf den Verstand wirken will, lege jenes Werkzeug zuvoͤrderst aus der Hand; sonst ist er in Gefahr, wider seinen eigenen Vorsatz, auszu- glaͤtten, wo er durchschneiden; zu befestigen, wo er einreissen soll. Was wird also der Kirche fuͤr eine Regie- rungsform anzurathen seyn? — keine! — Wer soll entscheiden, wenn in Religionssachen Strei- tigkeiten entstehen? — Wem Gott die Faͤhig- keit gegeben, zu uͤberzeugen. Was soll Regie- rungsform, wo nichts zu regieren ist; Obrig- keit, wo niemand Unterthan seyn darf; Richter- amt, wo keine Rechte und Anspruͤche zu ent- scheiden vorkommen? Weder Staat noch Kirche sind in Religionssachen befugte Richter; denn die Glieder der Gesellschaft haben ihnen durch keinen Vertrag dieses Recht einraͤumen koͤnnen. Der Staat hat zwar von Ferne darauf zu se- hen, daß keine Lehren ausgebreitet werden, mit denen der oͤffentliche Wohlstand nicht bestehen kann; die wie Atheisterey und Epikurismus den Grund untergraben, auf welchem die Gluͤckselig- keit keit des gesellschaftlichen Lebens beruhet. Plu- tarch und Bayle moͤgen immer untersuchen: ob ein Staat bey der Atheisterey nicht besser beste- hen koͤnne, als beym Aberglauben? moͤgen im- mer die Plagen berechnen, und vergleichen, die dem menschlichen Geschlechte aus diesen verschie- denen Quellen des Elends bisher entstanden sind, und noch zu entstehen drohen. Im Grun- de heißt dieses nichts anders, als untersuchen: ob ein schleichendes oder ein hitziges Fieber toͤd- licher sey? Seinen Freunden wird man gleich- wohl keines von beiden anwuͤnschen. So wird eine jede buͤrgerliche Gesellschaft wohl thun, weun sie keines von beiden, weder Fanatismus, noch Atheisterey Wurzel schlagen und sich aus- breiten laͤßt. Der Staatskoͤrper siecht und ist elend, er mag vom Krebsschaden aufgerieben, oder von Fieberhitze verzehrt werden. Aber nur von Ferne her muß der Staat hierauf Ruͤcksicht nehmen, und selbst die Lehren nur mit weiser Maͤßigung beguͤnstigen, auf wel- chen seine wahre Gluͤckseligkeit beruhet, ohne sich unmittelbar in irgend eine Streitigkeit zu mischen, und durch Autoritaͤt entscheiden zu wol- E 3 len: len: denn er handelt offenbar wider seinen eige- nen Endzweck, wenn er geradezu Untersuchung verbietet, oder Streitigkeiten anders, als durch Vernunftgruͤnde entscheiden laͤßt. Auch hat er sich nicht um alle Grundsaͤtze zu bekuͤmmern, die eine herrschende oder beherrschte Dogmatik annimmt oder verwirft. Die Rede ist nur von jenen Hauptgrundsaͤtzen, in welchen alle Reli- gionen uͤbereinkommen, und ohne welche die Gluͤckseligkeit ein Traum, und die Tugend selbst keine Tugend mehr ist. Ohne Gott und Vorse- hung und kuͤnftiges Leben ist Menschenliebe eine angeborne Schwachheit, und Wohlwollen wenig mehr als eine Geckerey, die wir uns einander einzuschwatzen suchen, damit der Thor sich placke, und der Kluge sich guͤtlich thun und auf jenes Unkosten sich lustig machen koͤnne. Kaum wird es noͤthig seyn, noch die Frage zu beruͤhren: ob es erlaubt sey, die Lehrer und Priester auf gewisse Glaubenslehren zu beeidi- gen ? Auf welche sollte dieses geschehen? Jene Grundartikel aller Religionen, davon vorhin gesprochen worden, koͤnnen durch keine Eid- schwuͤre bekraͤftiget worden. Ihr muͤsset dem Schwoͤrenden auf sein Wort glauben, daß er sie annimmt; annimmt; oder sein Eid ist ein leerer Schall; Worte, die er in die Luft stoͤßt, ohne daß sie ihn mehr Ueberwindung kosten, als eine bloße Versicherung; denn alles Zutrauen zu Eidschwuͤ- ren, und das ganze Ansehen derselben beruhet ja blos auf diesen Grundlehren der Sittlich- keit. Sind es aber besondere Artikel dieser oder jener Religion, die ich beschwoͤren oder ab- schwoͤren soll; sind es Grundsaͤtze, ohne welche Tugend und Wohlstand unter den Menschen be- stehen koͤnnen, und wenn sie auch nach der Meinung des Staats, oder der Personen, die den Staat vorstellen, zu meinem ewigen Heile noch so nothwendig sind; so frage ich: was hat der Staat fuͤr Recht in das Innerste der Men- schen so zu wuͤhlen, und sie zu Gestaͤndnissen zu zwingen, die der Gesellschaft weder Trost noch Frommen bringen? Eingeraͤumt hat ihm dieses nicht werden koͤnnen; denn hier fehlen alle Bedingnisse des Vertrags, die im vorher- gehenden ausgefuͤhrt worden. Es betrift keines von meinen entbehrlichen Guͤtern, das ich mei- nem Naͤchsten uͤberlassen soll; es betrift keinen Gegenstand des Wohlwollens; und Collisions- saͤlle koͤnnen dabei zur Entscheidung nicht vor- E 4 kom- kommen. Wie kann sich aber der Staat ein B efugniß anmaßen, die durch keinen Ver- trag eingeraͤumt, durch keine Willenserklaͤ- rung von Person zu Person wandern und uͤber- tragen werden kann? Lasset uns indessen zum Ueberflusse untersuchen: ob uͤberall Beeidigung uͤber Glauben und Nichtglauben ein reeller Be- griff sey? ob die Meinungen der Menschen uͤber- haupt, ihr Beystimmen und Nichtbeystimmen in Absicht auf Vernunftsaͤtze, ein Gegenstand sind, uͤber welche sie beeidiget werden koͤnnen? Eidschwuͤre erzeugen keine neuen Pflichten. Die feyerlichste Anrufung Gottes zum Zeugen der Wahrheit giebt und nimmt kein Recht, das nicht ohne dieselbe schon da gewesen; legt dem Anrufenden auch keine Verbindlichkeit auf, die ihm nicht auch ohne dieselbe obliegt. Sie die- nen blos, das Gewissen der Menschen, wenn es etwa eingeschlaͤfert seyn sollte, aufzuwecken; und auf das aufmerksam zu machen, was der Wille des Weltrichters schon so von ihm for- dert. Die Eidschwuͤre sind also eigentlich weder fuͤr den gewissenhaften Mann, noch fuͤr den ent- schlossenen Taugenichts. Jener muß ohnehin wissen, wissen, muß ohne Eid und Fluch von der Wahr- heit innigst durchdrungen seyn, daß Gott Zeu- ge sey, nicht nur aller Worte und Aussagen, sondern aller Gedanken und geheimsien Re- gungen des Menschen, und daß er die Uebertre- tung seines allerheiligsten Willens nicht un- geahndet lasse; — und der entschlossene, ge- wissenlose Boͤsewicht? Der fuͤrchtet keine Goͤtter, Der keines Menschen schont. Also blos fuͤr den gemeinen Mittelschlag von Menschen, oder im Grunde fuͤr jeden von uns, in so weit wir alle, so viel unserer sind, in so manchen Faͤllen zu dieser Klasse zu zaͤhlen sind; fuͤr die schwachen, unschluͤssi- gen und schwankenden Menschen, die Grund- saͤtze haben, und sie nicht immer befolgen; die traͤge und laͤssig sind zum Guten, das sie erken- nen und einsehen; die ihrer Laune nachgeben, einer Schwachheit zu gefallen, aufschieben, be- manteln, Entschuldigung suchen, und mehren- theils zu finden glauben. Sie wollen, und haben die Festigkeit nicht, ihrem Willen treu zu bleiben. Diesen muß der Wille gestaͤhlt, E 5 das das Gewissen rege gemacht werden. Der itzt vor Gericht laͤugnet, besitzet vielleicht fremdes Gut, ohne die entschlossene Bosheit, unge- recht seyn zu wollen. Er kann solches ver- zehrt, oder haben von Haͤnden kommen las- sen, und will voritzt durch das Ablaͤugnen nur Zeit gewinnen; und so wird vielleicht der gute Geist, der fuͤr die Gerechtigkeit in ihm kaͤmpft, von Tag zu Tag abgewiesen, bis er ermuͤdet, und unterliegt. Man muß ihm also zu Huͤlfe eilen, und erstlich den Fall, der Aufschub leidet, in eine Handlung ver- wandeln, die itzt geschiehet, wo der Augen- blick entscheidend ist, und alle Entschuldigung wegfaͤllt; sodann aber auch alle Feyerlichkeit aufbieten, alle die Kraft und den Nachdruck zusammennehmen, mit welchen die Erinnerung an Gott, den allgerechten Raͤcher und Vergel- ter, auf das Gemuͤth wirken kann. Dieses ist die Bestimmung des Eides, und hieraus, duͤnkt mich, sey offenbar, daß man die Menschen nur uͤber Dinge beschwoͤren muͤsse, die in die aͤusseren Sinne fallen; davon sie mit der Ueberzeugung, welche die Evidenz der der aͤussern Sinne mit sich fuͤhret, die Wahr- heit behaupten und aussagen koͤnnen: ich habe gehoͤrt, gesehen, gesprochen, empfangen, ge- geben, oder nicht gehoͤrt u. s. w. Man brin- get aber ihr Gewissen auf eine grausame Fol- ter, wenn man sie uͤber Dinge befragt, die blos fuͤr den innern Sinn gehoͤren. Glaubst du? Bist du uͤberfuͤhrt? uͤberredet? duͤnkt es dir? Ist irgend in einem Winkel deines Gei- stes oder deines Herzens noch einiger Zweifel zuruͤck; so zeige an, oder Gott wird den Miß- brauch seines Namens raͤchen. — Um des Himmels willen, schonet der zarten, gewissen- haften Unschuld! Und wenn sie einen Satz aus dem ersten Buche des Euklides zu be- haupten haͤtte; so muͤßte sie in diesem Augen- blicke zagen, und unaussprechliche Marter leiden. Die Wahrnehmungen des innern Sinnes sind an und fuͤr sich selbst selten so handgreif- lich, daß der Geist sie mit Sicherheit feste hal- ten, und so oft es verlangt wird, von sich ge- ben koͤnne. Sie entschluͤpfen ihm zuweilen, in- dem er sie zu fassen glaubt. Wovon ich itzt ver- versichert zu seyn glaube, daruͤber schleichet oder stielt sich in dem naͤchsten Augenblicke ein kleiner Zweifel ein, und lauret in einer Falte meiner Seele, ohne daß ich ihn gewahr wor- den. Viele Behauptungen, uͤber die ich heute zum Maͤrtyrer werden moͤchte, koͤnnen mir mor- gen vielleicht problematisch vorkommen. Soll ich diese innern Wahrnehmungen gar durch Worte und Zeichen von mir geben, oder auf Worte und Zeichen schwoͤren, die andere Men- schen mir vorlegen; so ist die Unsicherheit noch weit groͤßer. Ich und mein Naͤchster, wir koͤnnen unmoͤglich mit eben denselben Worten eben dieselben innern Empfindungen verbin- den; denn wir koͤnnen diese nicht anders ge- gen einanderhalten, mit einander vergleichen und berichtigen, als wiederum durch Worte. Wir koͤnnen die Worte nicht durch Sachen erlaͤu- tern; sondern muͤssen wiederum zu Zeichen und Worten unsere Zuflucht nehmen, und am Ende zu Metaphern, weil wir, durch Huͤlfe dieses Kunstgriffs, die Begriffe des innern Sinnes auf aͤussere sinnliche Wahrnehmungen gleichsam zuruͤckfuͤhren. Was fuͤr Verwirrung und Undeutlichkeit muß aber nicht auf solche Weise Weise in der Bedeutung der Worte zuruͤck- bleiben, und wie sehr muͤssen die Ideen ver- schieden seyn, die verschiedene Menschen, in verschiedenen Zeiten und Jahrhunderten, mit denselben aͤusserlichen Zeichen und Worten ver- binden? Wer du auch seyest, lieber Leser! so be- schuldige mich hier nicht der Zweifelsucht, oder der boͤsen List, dich zum Skepticisten ma- chen zu wollen. Ich bin vielleicht einer von denjenigen, die am weitesten von dieser Krank- heit der Seele entfernt sind, und sie an allen ihren Nebenmenschen kuriren zu koͤnnen, am sehnlichsten wuͤnschen. Aber eben deswegen, weil ich diese Kur so oft an mir selbst verrich- tet, und an andern versucht habe, bin ich ge- wahr worden, wie schwer sie sey, und wie wenig man den Erfolg in Haͤnden habe. Mit mei- nem besten Freunde, mit dem ich noch so ein- hellig zu denken glaubte, konnte ich mich sehr oft uͤber Wahrheiten der Philosophie und Reli- gion nicht vereinigen. Nach langem Streit und Wortwechsel ergab sich zuweilen, daß wir mit denselben Worten, jeder andere Begriffe ver- bun- bunden hatten. Nicht selten dachten wir einer- ley, und druͤckten uns nur verschiedentlich aus; aber eben so oft glaubten wir uͤberein zu stim- men, und waren in Gedanken noch weit von einander entfernt. Gleichwohl waren wir bey- derseits im Denken nicht ungeuͤbt, gewohnt, mit abgesonderten Begriffen umzugehen, und beiden schien es um die Wahrheit in Ernst, mehr um sie, als ums Rechthaben zu thun zu seyn. Demohngeachtet mußten sich unsere Begriffe lange Zeit an einander reiben, bevor sie in einander sich wollten fuͤgen lassen; bevor wir mit einiger Zuverlaͤssigkeit sagen konnten! hierin kommen wir uͤberein! O! wer diese Er- fahrung in seinem Leben gehabt hat, und noch intolerant seyn, noch seinen Naͤchsten hassen kann, weil dieser in Religionssachen nicht denkt, oder sich nicht so ausdruͤckt wie er, den moͤchte ich nie zum Freunde haben; denn er hat alle Mensch- heit ausgezogen. Und ihr, Mitmenschen! ihr nehmet einen Mann, mit dem ihr euch vielleicht niemals uͤber der- gleichen Dinge besprochen habet, ihr leget ihm die subtilsten Saͤtze der Metaphysik und Religion, wie wie sie vor Jahrhunderten in Worte eingeklei- det worden sind, in sogenannten Symbolen vor; ihr lasset ihm bey jenem allerheiligsten Na- men betheuern, daß er bei diesen Worten eben so denket, wie ihr, und beide eben so, wie jener, der sie vor Jahrhunderten niederge- schrieben hat; betheuern, daß er diese Saͤtze von ganzem Herzen annehme, und an keinem derselben Zweifel hege; mit dieser beschwornen Uebereinstimmung verbindet ihr Amt und Wuͤr- den, Macht und Einfluß, deren Reizung gar wohl faͤhig ist, so manchen Widerspruch zu he- ben, so manchen Zweifel zu unterdruͤcken, und wenn sich denn am Ende hervorthut, daß es so nicht ist mit des Mannes Ueberzeugung, wie er vorgegeben; so beschuldiget ihr ihn des graͤßlichsten aller Verbrechen, ihr klaget ihn des Meineides an, und lasset erfolgen, was auf diese Unthat erfolgen soll. Ist hier die Schuld nicht, am gelindesten davon zu urthei- len, auf beiden Seiten gleich? „Ja! sprechen die billigsten unter euch: „wir beeidigen nicht auf den Glauben. Wir „lassen dem Gewissen seine Freyheit, und be- schwoͤ- „schwoͤren den Mitbuͤrger nur, den wir mit ei- „nem Amte bekleiden, daß er dieses Amt, wel- „ches ihm, unter der Bedingung der Ueberein- „stimmung anvertrauet wird, nicht ohne Ueber- „einstimmung annehme. Dieses ist ein Ver- „trag, den wir mit ihm eingehen. Finden sich „nachher Zweifel, die diese Uebereinstimmung „aufheben; so stehet es ja bey ihm, seinem „Gewissen treu zu seyn, und das Amt nieder- „zu legen. Welche Gewissensfreyheit, welche „Rechte der Menschheit erlauben, wider einen „Vertrag zu handeln?“ Nun wohl! ich will diesem Schein von Gerechtigkeit nicht alle die Gruͤnde entgegen setzen, die nach oben ausgefuͤhrten augenschein- lichen Grundsaͤtzen, entgegen gesetzt werden koͤn- nen. Wozu unnoͤthige Wiederholungen? aber um der Menschlichkeit willen! bedenket den Er- folg, den diese Einrichtung bisher unter den gesittesten Menschenkindern gehabt hat. Zaͤhlet die Maͤnner alle, die eure Lehrstuͤhle und eure Kanzeln besteigen, und so manchen Satz, den sie bey der Uebernehmung ihres Amts beschwo- ren, in Zweifel ziehen; die Bischoͤffe alle, die im im Oberhause sitzen; die wahrhaftig großen Maͤnner alle, die in England Amt und Wuͤr- den bekleiden, und jene 39 Artikel, die sie be- schworen, nicht mehr so unbedingt annehmen, als sie ihnen vorgelegt worden; Zaͤhlet sie, und saget alsdenn noch, man koͤnne meiner unter- druͤckten Nation keine buͤrgerliche Freyheit ein- raͤumen, weil so viele unter ihnen die Eide ge- ring achteten! — Ach! Gott bewahre mein Herz vor menschenfeindlichen Gedanken! Sit koͤnnten bey dieser traurigen Betrachtung gar leicht uͤber Hand nehmen. Nein! aus Achtung fuͤr die Menschheit, bin ich vielmehr uͤberredet, alle diese Maͤnner erkennen das nicht fuͤr Meineid, was man ih- nen unter diesem Namen Schuld giebt. Die gesunde Vernunft sagt ihnen vielleicht, daß nie- mand, weder Staat noch Kirche, ein Recht ge- habt, sie uͤber Glaubenssachen zu beeidigen; weder Staat noch Kirche ein Recht gehabt, mit dem Glauben und Schwoͤren auf gewisse Saͤtze, Amt, Ehre und Wuͤrden zu verbinden, oder den Glauben an gewisse Saͤtze zur Bedingung zu machen, unter welchen diese verliehen werden. Erster Abschnitt . F Eine Eine solche Bedingung, glauben sie vielleicht, sey an und fuͤr sich null, weil sie niemanden zum Besten gereicht; weil keines Menschen Recht und Eigentum darunter leidet, wenn sie gebro- chen wird. Eine Bedingung naͤmlich ist guͤltig, und bin- det den Vertrag, wenn eine Moͤglichkeit zu erdenken, unter welcher sie in Bestimmung der Collisionsfaͤlle hat Einfluß haben koͤnnen. Meinungen aber koͤnnen nicht anders, als durch ein irriges Gewissen mit aͤusserlichen Vortheilen in Verbindung gebracht werden, und ich zweifele, ob sie je eine rechtskraͤftige Bedingung machen koͤnnen. Wenn also; wie sie nicht in Ab- rede seyn koͤnnen, Voͤses gethan worden; so sey es damals geschehen, als ihnen die verspro- chenen Vortheile einen so unzulaͤssigen Eid abge- lockt haben. Diesem Uebel sey aber nunmehr nicht abzuhelfen; am wenigsten durch das Nie- derlegen ihres auf diese Weise erlangten Amts abzuhelfen. Damals habe man, um erlaubte irdische Vortheile zu erhalten, freilich auf eine vor Gott unverantwortliche Weise, sich seines allerheiligsten Namens bedient; allem dieses Ge- Geschehene wird dadurch nicht ungeschehen, wenn sie itzt auf die Fruͤchte Verzicht thun, die sie davon genießen; ja die Unordnung, das Aergerniß und andere boͤse Folgen, die das Aufgeben ihres Amts, verbunden mit einem oͤffentlichen Bekenntniß ihrer Abweichung, nach sich ziehen duͤrfte, koͤnnte das Uebel nur ver- mehren. Es sey also allen ihren Mitmenschen, sowohl als ihnen selbst und den Ihrigen besser gerathen, wenn sie es dabey bewenden lassen, und fortfahren, den Staaten und der Kirche die Dienste zu leisten, zu welchen ihnen die Vorse- hung Trieb und Faͤhigkeit verliehen; Hierin liege ihr Beruf zur oͤffentlichen Bedienung, nicht in ihrer Gesinnung in Absicht auf ewige Wahrheiten und Vernunfrsaͤtze, die im Grun- de nur sie selbst und keinen ihrer Nebenmen- schen angehet. — Wenn gleich mancher zu gewissenhaft ist, sein Gluͤck solchen uͤberfeinen Entschuldigungsgruͤnden zu verdanken zu haben; so sind doch auch diejenigen nicht voͤllig zu ver- dammen, die schwach genug sind, ihnen nach- zugeben; wenigstens ist es nicht Meineid, son- dern menschliche Schwachheit, die ich Maͤnnern F 2 von von ihrem Werthe moͤchte zu Schulden kom- men lassen. Zum Beschlusse dieses Abschnitts will ich das Resultat wiederholen, auf das mich meine Betrachtungen gefuͤhrt haben. Staat und Kirche haben zur Absicht, die menschliche Gluͤckseligkeit in diesem und jenem Leben, durch oͤffentliche Vorkehrungen, zu be- foͤrdern. Beide wirken auf Gesinnung und Hand- lung der Menschen, auf Grundsaͤtze und An- wendung: der Staat, vermittelst solcher Gruͤnde, die auf Verhaͤltnissen zwischen Mensch und Mensch, oder Mensch und Natur, und die Kirche, die Religion des Staats, vermittelst solcher Gruͤnde, die auf Verhaͤltnissen zwischen Mensch und Gott beruhen. Der Staat be- handelt den Menschen als unsterblichen Sohn der Erde ; die Religion als Ebenbild seines Schoͤpfers . Grundsaͤtze sind frey. Gesinnungen leiden ihrer Natur nach keinen Zwang, keine Be- stechung. Sie gehoͤren fuͤr das Erkenntnißver- moͤgen des Menschen, und muͤssen nach dem Richt- Richtmaß von Wahrheit und Unwahrheit ent- schieden werden. Gutes und Boͤses wirkt auf sein Billigungs- und Mißbilligungsvermoͤgen. Furcht und Hoffnung lenken seine Triebe. Belohnung und Strafe richten seinen Willen spornen seine Thatkraft, ermuntern, locken, schrecken ab. Aber wenn Grundsaͤtze gluͤckselig machen sollen; so muͤssen sie weder eingeschrenckt, noch eingeschmeichelt, so muß blos das Urtheil der Verstandeskraͤfte fuͤr guͤltig angenommen wer- den. Ideen vom Guten und Boͤsen mit ein- mischen, heißt die Sachen von einem unbe- fugten Richter entscheiden lassen. Weder Kirche noch Staat haben also ein Recht die Grundsaͤtze und Gesinnungen der Menschen irgend einem Zwange zu unterwer- fen. Weder Kirche noch Staat sind berechti- get, mit Grundsaͤtzen und Gesinnungen Vorzuͤ- ge, Rechte und Anspruͤche auf Personen und Dinge zu verbinden, und den Einfluß, den die Wahrheitskraft auf das Erkenntnißvermoͤ- F 3 gen gen hat, durch fremde Einmischung zu schwaͤchen. Selbst der gesellschaftliche Vertrag hat weder dem Staate noch der Kirche ein solches Recht einraͤumen koͤnnen. Denn ein Vertrag uͤber Dinge, die ihrer Natur nach unveraͤus- serlich sind, ist an und fuͤr sich unguͤltig, hebt sich von selbst auf. Auch die heiligsten Eidschwuͤre koͤnnen hier die Natur der Sachen nicht veraͤndern. Eid- schwuͤre erzeugen keine neuen Pflichten, sind blos feyerliche Bekraͤftigungen desjenigen, wo- zu wir ohnehin, von Natur oder durch Ver- trag, verpflichtet sind. Ohne Pflicht ist der Eidschwur eine leere Anrufung Gottes, die laͤsterlich seyn kann, aber an und fuͤr sich zu nichts verbindet. Zu dem koͤnnen die Menschen nur dasje- nige beeidigen, was die Evidenz der aͤussern Sinne hat, was sie gesehen, gehoͤrt, betastet haben. Wahrnehmungen des innern Sinnes sind keine Gegenstaͤnde der Eidesbekraͤftigung. Alles Alles Beschwoͤren und Abschwoͤren in Ab- sicht auf Grundsaͤtze und Lehrmeinungen sind diesemnach unzulaͤssig, und wenn sie geleistet worden, so verbinden sie zu nichts, als zur Reue: uͤber den straͤflich begangenen Leichtsinn. Wenn ich itzt eine Meinung beschwoͤre; so bin ich Augenblicks darauf nichts desto weniger frey, sie zu verwerfen. Die Unthat eines ver- geblichen Eides ist begangen, wenn ich sie auch beybehalte; und Meineid ist nicht geschehen, wenn ich sie verwerfe. Man vergesse nicht, daß nach meinen Grundsaͤtzen der Staat nicht befugt sey, mit gewissen bestimmten Lehrmeinungen, Besol- dung, Ehrenamt und Vorzug zu verbinden. Was das Lehramt betrift; so ist es seine Pflicht, Lehrer zu bestellen, die Faͤhigkeit ha- ben, Weisheit und Tugend zu lehren, und solche nuͤtzliche Wahrheiten zu verbreiten, auf denen die Gluͤckseligkeit der menschlichen Gesell- schaft unmittelbar beruhet. Alle naͤhere Be- stimmungen muͤssen ihrem besten Wissen und Ge- wissen uͤberlassen werden, wo nicht unendliche F 4 Ver- Verwirrungen und Collisionen der Pflichten entstehen sollen, die am Ende den Tugend- haften selbst oft zur Heucheley oder Gewissen- losigkeit fuͤhren. Jede Vergehung wider die Vorschrift der Vernunft bleibet nicht un- gerochen. Wie aber? Wenn das Uebel nun einmal geschehen ist; der Staat bestellt und besoldet einen Lehrer auf gewisse bestimmte Lehrmei- nungen. Der Mann findet nachher diese Lehrmeinungen ohne Grund; was hat er zu thun? Wie sich zu verhalten, um den Fuß aus der Schlinge herauszuwinden, in welche ihn ein irriges Gewissen verwickelt hat? Drey verschiedene Wege stehen hier vor ihm offen. Er verschließt die Wahrheit in sei- nem Herzen, und faͤhret fort, wider sein bes- seres Wissen, die Unwahrheit zu lehren; oder er legt sein Amt nieder, ohne die Ursachen anzugeben, warum dieses geschehe; oder end- lich giebt er der Wahrheit ein lautes Zeugniß, und laͤßt es auf den Staat ankommen, was mit seinem Amte und mit der ihm ausgesetz- ten ten Besoldung werden, oder was er sonst fuͤr seine unuͤberwindliche Wahrheitsliebe leiden soll. Mich duͤnkt, keiner von diesen Wegen sey unter allen Umstaͤnden schlechterdings zu ver- werfen. Ich kann mir eine Verfassung denken in welcher es vor dem Richterstuhle des allge- rechten Richters zu entschuldigen ist, wenn man fortfaͤhrt, seinem sonst heilsamen Vor- trage gemeinnuͤtziger Wahrheiten, eine Unwahr- heit mit einzumischen, die der Staat, vielleicht aus irrigem Gewissen geheiliget hat. Wenig- stens wuͤrde ich mich huͤten, einen uͤbrigens rechtschaffenen Lehrer dieserhalb der Heucheley, oder des Jesuitismus zu beschuldigen, wenn mir nicht die Umstaͤnde und die Verfassung des Mannes sehr genau bekannt sind; so ge- nau, als vielleicht die Verfassung eines Men- schen niemals seinem Naͤchsten bekannt seyn kann. Wer sich ruͤhmt, nie in solchen Din- gen anders gesprochen, als gedacht zu haben, hat entweder uͤberall nie gedacht, oder fin- det vielleicht fuͤr gut, in diesem Augenblicke selbst, mit einer Unwahrheit zu pralen, der sein Herz widerspricht. F 5 Also Also in Absicht auf Gesinnungen und Grundsaͤtze kommen Religion und Staat uͤber- ein, muͤssen beide allen Schein des Zwanges und der Bestechung vermeiden, und sich auf Lehren, Vermahnen, Bereden und Zurechtwei- sen einschraͤnken. Nicht also in Absicht auf Handlung . Die Verhaͤltnisse von Mensch zu Menschen erfordern Handlung, als Handlung; die Verhaͤltnisse zwischen Gott und Menschen, blos in so weit sie zu Gesinnungen fuͤhren. Eine gemeinnuͤtzige Handlung hoͤrt nicht auf, gemeinnuͤtzig zu seyn, wenn sie auch erzwun- gen wird; eine religioͤse Handlung hingegen ist nur in dem Maße religioͤs, in welcher sie aus freyer Willkuͤhr und in gehoͤriger Absicht geschiehet. Daher kann der Staat zu gemeinnuͤtzigen Handlungen zwingen; belohnen, bestrafen; Amt und Ehren, Schande und Verweisung austheilen, um die Menschen zu Handlungen zu bewegen, deren innere Guͤte nicht kraͤftig genug auf ihre Gemuͤther wirken will. Daher hat dem Staate, durch den gesellschaftlichen Ver- Vertrag, auch das vollkommenste Recht und das Vermoͤgen, dieses zu thun, eingeraͤumt werden koͤnnen und muͤssen. Daher ist der Staat eine moralische Person, die ihre eigene Guͤter und Gerechtsame hat, und damit nach Gutsinden schalten kann. Fern von allem diesen ist die goͤttliche Re- ligion. Sie verhaͤlt sich gegen Handlung nicht anders, als gegen Gesinnung; weil sie Hand- lung blos als Zeichen der Gesinnung befielt. Sie ist eine moralische Person; aber ihre Rechte kennen keinen Zwang; Sie treibet nicht mit eisernem Staabe; sondern leitet am Seile der Liebe. Sie zuͤckt kein Rachschwerdt, spen- det kein zeitliches Gut aus; maßet sich auf kein irdisches Gut ein Recht, auf kein Ge- muͤth aͤusserliche Gewalt an. Ihre Waffen sind Gruͤnde und Ueberfuͤhrung; ihre Macht die goͤttliche Kraft der Wahrheit; die Strafen, die sie androhet sind, so wie die Belohnungen, Wirkungen der Liebe ; heilsam und wohlthaͤ- tig fuͤr die Person selbst, die sie leidet. An diesen Merkmalen erkenne ich dich, Tochter der der Gottheit! Religion! die du in Wahrheit allein die seligmachende bist, auf der Erde, so wie im Himmel. Bann und Verweisungsrecht, das sich der Staat zuweilen erlauben darf, sind dem Geiste der Religion schnurstracks zuwider. Ver- bannen, ausschließen, den Bruder abweisen, der an meiner Erbauung Theil nehmen, und sein Herz in wohlthaͤtiger Mittheilung, mit dem Meinigen zugleich zu Gott erheben will! — Wenn sich die Religion keine willkuͤhrliche Stra- fen erlaubt, am wenigsten diese Seelenquaal, die ach! nur dem empfindlich ist, der wirklich Religion hat. Gehet die Ungluͤcklichen alle durch, die von je her durch Bann und Ver- dammniß haben gebessert werden sollen; Leser! welcher aͤusserlichen Kirche, Synagoge oder Moschee du auch anhaͤngest! untersuche, ob du nicht in dem Haufen der Verbannten mehr wah- re Religion antreffen wirst, als in dem ungleich groͤßern Haufen ihrer Verbanner? — Nun hat die Verbannung entweder buͤrgerliche Fol- gen, oder sie hat keine. Ziehet sie buͤrgerliches Elend Elend nach sich; so faͤllt sie nur dem Edelmuͤthi- gen zur Last, der dieses Opfer der goͤttlichen Wahrheit schuldig zu seyn glaubt. Wer keine Religion hat, ist ein Wahnwitziger, wenn er sich einer vermeinten Wahrheit zu gefallen, der mindesten Gefahr aussetzet. Soll sie aber, wie man sich bereden will, blos geistige Folgen ha- ben; so druͤcken sie abermals nur denjenigen, der fuͤr diese Art von Empfindniß noch Gefuͤhl hat. Der Irreligiose lacht ihrer und bleibt verstockt. Und wo ist die Moͤglichkeit sie von allen buͤrgerlichen Folgen zu trennen? Kirchenzucht einfuͤhren, habe ich an einem andern Orte, wie mich duͤnkt, mit Recht gesagt, Kirchenzucht ein- fuͤhren, und die buͤrgerliche Gluͤckseligkeit unge- kraͤnkt erhalten, gleichet dem Bescheide des aller- hoͤchsten Richters an den Anklaͤger: Er sey in deiner Hand, doch schone seines Lebens ! Zerbrich das Faß, wie die Ausleger hinzusetzen; doch laß den Wein nicht auslaufen! Welche kirchliche Ausschließung, welcher Bann ist ohne alle buͤrgerliche Folgen, ohne allen Einfluß auf die buͤrgerliche Achtung wenigstens, auf den gu- ten ten Leumund des Ausgestoßenen und auf das Zu- trauen bey seinen Mitbuͤrgern, ohne welches doch niemand seines Berufs warten, und seinen Mitmenschen nuͤtzlich, das ist, buͤrgerlich gluͤck- selig seyn kann? Man beruft sich immer noch auf das Na- turgesetz. Jede Gesellschaft, spricht man, hat das Recht auszuschließen: Warum nicht auch die religiose? Allein ich erwiedere: grade hier macht die religiose Gesellschaft eine Ausnahme; vermoͤge eines hoͤhern Gesetzes kann keine Gesellschaft ein Recht ausuͤben, das der ersten Absicht der Gesell- schaft selbst schnurstracks entgegengesetzt ist. Ei- nen Dissidenten ausschließen, sagt ein wuͤrdiger Geistlicher aus dieser Stadt, einen Dissidenten aus der Kirche verweisen, heißt einem Kranken die Apotheke verbieten. In der That, die we- sentlichste Absicht religioser Gesellschaften ist ge- meinschaftliche Erbauung . Man will durch die Zauberkraft der Sympathie, die Wahrheit aus dem Geiste in das Herz uͤbertragen, die zuweilen todte Vernunfterkenntniß durch Theil- nehmung zu hohen Empfindnissen beleben. Wenn das das Herz allzusehr an sinnlichen Luͤsten klebt, um der Vernunft Gehoͤr zu geben; wenn es auf dem Punkte ist, die Vernunft selbst mir ins Garn zu locken; so werde es hier vom Schauer der Gottseligkeit ergriffen, vom Feuer der An- dacht entflammt, und lerne Freuden hoͤherer Art kennen, die auch hienieden schon den sinnlichen Freuden die Wage halten. Und ihr wollt den Kranken vor der Thuͤr abweisen, der diese Ar- zeney am meisten bedarf; destomehr bedarf, je weniger er dieses Beduͤrfniß empfindet, und in seinem Irrsinne, sich gesund zu seyn einbildet? Muß nicht vielmehr eure erste Bemuͤhung seyn, ihm diese Empfindung wieder zu geben, und den gleichsam vom kaltem Brande bedroheten Theil seiner Seele ins Leben zuruͤck zu rufen? Statt dessen verweigert ihr ihm alle Huͤlfe, und lasset den Ohnmaͤchtigen den moralischen Tod dahin sterben, dem ihr ihn vielleicht wuͤrdet entrissen haben. Weit edler und dem Zwecke seiner Schule gemaͤßer, handelte jener Weltweise zu Athen. Ein Epikurer kam von seinem Gelage, die Sinne von von naͤchtlicher Wollust benebelt, und das Haupt von Rosen umwunden. Er trat in den Hoͤrsal der Stoiker, um sich in der Fruͤhstunde noch das letzte Vergnuͤgen entnervter Wolluͤsilinge zu verschaffen, das Vergnuͤgen zu spotten. Der Weltweise laͤßt ihn ungehindert, verdoppelt das Feuer seiner Beredsamkeit wider die Ver- fuͤhrung der Wollust, und schildert die Selig- keit der Tugend mit unwiderstehlicher Gewalt. Der Schuͤler Epikurs hoͤrt, wird aufmerksam, schlaͤgt die Augen nieder, reißt die Kraͤnze von seinem Haupte, und wird selbst ein An- haͤnger der Stoa. Ende des ersten Abschnitts. Zweiter Abschnitt . A D as Wesentliche dieser Behauptung, das ei- nem sonst allgemein herrschenden Grundsatze so schnurstracks entgegenstehet, habe ich bereits bey einer andern Gelegenheit auszufuͤhren gesucht. Herrn Dohm vortrefliche Schrift Ueber die buͤrgerliche Verbesserung der Juden veran- laßte die Untersuchung: in wie weit einer aufgenommenen Kolonie eigene Gesetzver- wesung in kirchlichen und buͤrgerlichen Sa- chen uͤberhaupt, und insbesondre ein Bann- und Ausschließungsrecht nachzulassen sey: — Gesetzliche Macht der Kirche — Bannrecht — Wenn die Kolonie diese haben soll; so muß sie von dem Staate, oder von der Mutterkirche damit gleichsam belehnt werden. Jemand, der dieses Recht, vermoͤge des gesellschaftlichen Ver- A 2 trages, trages, besitzet, muß ihr einen Theil davon, in so weit es sich selbst angehet, abgetreten, und uͤberlassen haben. Wie aber? Wenn niemand ein solches Recht besitzen kann? Wenn weder dem Staate, noch der Mutterkirche selbst irgend ein Zwangsrecht in Religionssachen zukaͤme? Wenn nach den Grundsaͤtzen der gesunden Ver- nunft, deren Goͤttlichkeit wir alle anerkennen muͤssen, weder Staat noch Kirche befugt waͤre, sich in Glaubenssachen ein anderes Recht anzu- maßen, als das Recht zu belehren; eine andere Macht, als die Macht der Ueberfuͤhrung, eine andere Zucht, als die Zucht durch Vernunft und Grundsaͤtze? Kann dieses erweislich, und dem gesunden Menschenverstande einleuchtend ge- macht werden; so ist kein ausdruͤcklicher Ver- trag, noch vielweniger Herkommen und Verjaͤh- rung maͤchtig genug, ein Recht geltend zu ma- chen, das ihm entgegengesetzt ist; so ist aller kirchliche Zwang widerrechtlich, alle aͤußere Macht in Religionssachen gewaltsame Anmas- sung, und wenn dieses ist; so darf, so kann die Mutterkirche kein Recht verleihen, das ihr selber nicht zukoͤmmt, keine Macht vergeben, die sie sich sich mit Unrecht angemaßt hat. Es kann seyn, daß der Mißbrauch, durch irgend ein allgemeines Vorurtheil, so um sich gegriffen, so sehr in den Gemuͤthern der Menschen Wurzel gefaßt hat, daß es nicht thunlich, oder nicht rathsam waͤre, ihn mit einem Male, ohne weise Vorbereitung abzuschaffen; aber in diesem Falle ist es doch wenigstens unsere Schuldigkeit, ihm von ferne her entgegen zu arbeiten, und vorerst seiner fer- nern Ausbreitung einen Damm entgegen zu se- tzen. Koͤnnen wir ein Uebel nicht voͤllig ausrot- ten; so muͤssen wir ihm wenigstens die Wurzel abstechen. Dieses war das Resultat meiner Betrachtun- gen, und ich wagte es, meine Gedanken dem Publikum In der Vorrede zu Manasseh Ben Israels Rettung der Juden . zur Beurtheilung vorzulegen; wie- wohl ich meine Gruͤnde damals nicht so ausfuͤhr- lich angeben konnte, als hier in dem vorigen Abschnitte geschehen. Ich habe das Gluͤck, in einem Staate zu le- ben, in welchem diese meine Begriffe weder neu, noch sonderlich auffallend sind. Der weise Re- A 3 gent, gent, von dem er beherrscht wird, hat es; seit Anfang seiner Regierung, bestaͤndig sein Au- genmerk seyn lassen, die Menschheit in Glau- benssachen, in ihr volles Recht einzusetzen. Er ist der Erste unter den Regenten unsers Jahr- hunderts, der die weise Maxime, in ihrem gan- zen Umfange, niemals aus den Augen gelassen: die Menschen sind fuͤr einander geschaffen: belehre deinen Naͤchsten, oder ertrage ihn ! Worte meines verewigten Freundes, Hrn. Ise- lin , in einem seiner letzten Aufsaͤtze in den Ephe- meriden der Menschheit . Das Andenken die- ses wahren Weisen sollte jedem seiner Zeitgenos- sen, der Tugend und Wahrheit werthschaͤtzt, un- vergeßlich seyn. Desio unbegreiflicher ist es mir selbst, wie ich ihn habe uͤbergehen koͤnnen, als ich die wohlthaͤtigen Maͤnner nannte, die in Deutsch- land zuerst die Grundsaͤtze der uneingeschraͤnkten Toleranz auszubreiten suchten, ihn der sie in un- serer Sprache sicherlich fruͤher und lauter, als ir- gend einer, in ihrem weitesien Umfange lehrte. Mit Vergnuͤgen schreibe ich hier die Stelle aus der Anzeige meiner Vorrede K. Manasse , in den Ephemeriden Zehntes Stuͤck, Oct. 1782. Seite 429. ab, wo dieses erinnert wird, um Mit Mit weiser Maͤßigung hat er zwar die Vorrechte der aͤußern Religion geschont, in deren Besitz er A 4 sie um einem Manne nach seinem Tode Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, der in seinem Leben so all- gemein gerecht gewesen. „Der Verfasser der „Eyhemeriden der Menschheit stimmet auch mit „Herrn Mendelssohn gaͤnzlich in demjenigen „uͤberein, was er von den gesetzgebenden Rech- „ten der Obrigkeit uͤber die Meinung der Buͤr- „ger und von den Verkommnissen sagt, welche „einzelne Menschen unter einander uͤber solche „ Meinungen eingehen koͤnnen. Und diese Den- „kungsart hat er nicht erst seit Herrn Dohm „und Herrn Leßing angenommen; sondern er hat „sich schon vor mehr als dreyßig Jahren dazu be- „kannt. Auf die gleiche Weise hat er auch schon „lange anerkannt, daß dasienige, was man Re- „ligionsduldung nennet, nicht eine Gnade, son- „dern eine Pflicht der Regierung sey. Deutlicher „konnte man sich nicht ausdruͤcken, als folgen- „dermaßen Traͤume eines Menschenfreundes, Band 2. S. 12. und 13. : Wenn also eine oder mehrere „Religionen in seinem Staate eingefuͤhrt sind; „so erlaubt ein weiser und gerechter Landesherr „sich nicht, die Rechte derselben zu dem Be- „sten der seinigen anzugreifen. Jede Kirche, „jede Vereinigung, welche den Gottesdienst zur Ab- sie gefunden. Noch gehoͤren vielleicht Jahrhun- derte von Cultur und Vorbereitung dazu, bevor die „Absicht hat, ist eine Gesellschaft, der der Lan- „desherr Schutz und Gerechtigkeit schuldig ist. „Ihnen diese versagen, um auch die beste Re- „ligion zu beguͤnstigen, waͤre wider den Geist „der wahren Gottseligkeit.“ „In Ruͤcksicht auf die buͤrgerlichen Rechte „sind alle Religionsgenossen einander gleich, „diejenigen allein ausgenommen, deren Meinun- „gen den Grundsaͤtzen der menschlichen und der „buͤrgerlichen Pflichten zuwider laufen. Eine „solche Religion kann in dem Staate auf keine „Rechte Anspruch machen. Diejenigen, welche „das Ungluͤck haben, ihr zugethan zu seyn, koͤn- „nen nur Duldung erwarten, so lange sie nicht „durch ungerechte und schaͤdliche Handlungen „die gesellschaftliche Ordnung stoͤhren. Wenn sie „dieses thun, muͤssen sie gestraft werden, nicht „ für ihre Meinungen; sondern für ihre „Thaten .“ Was aber im vorhergebenden (Seite 423) von einer falschen Meinung, in Absicht auf die Zwischenhaͤnde in der Handlung, gesagt wird, die ich dem Verf. der Ephemeriden mit Unrecht zuschreiben soll, verhaͤlt sich in Wahrheit ganz anders. Nicht Hr. Iselin; sondern ein anderer, sonst einsichtsvoller Schriftsteller, hat in den Ephe- die Menschen begreifen werden, daß Vorrechte um der Religion willen weder rechtlich, noch im Grunde nuͤtzlich seyen, und daß es also eine wahre Wohlthat seyn wuͤrde, allen buͤrgerlichen Unterschied um der Religion willtn schlechter- dings aufzuheben. Indessen hat sich die Ration unter der Regierung dieses Weisen so sehr an Duldung und Vertragsamkeit in Glaubenssachen gewoͤhnt, daß Zwang, Bann und Ausschliessungs- recht wenigstens aufgehoͤrt haben, populaͤre Be- griffe zu seyn. A 5 Was Ephemeriden einen Aussatz einruͤcken lassen, in welchem er die Schaͤdlichkeit der Zwischenhaͤnde behauptet, und ward von dem Herausgeber viel- mehr widerlegt. — Die Erinnerungen, welche in derselben Anzeige wider meine Glaubensgenos- sen gemacht werden, uͤbergehe ich mit Stillschwei- gen. Es ist hier der Ort nicht, sie zu vertheidigen, und ich uͤberlasse dieses Geschaͤft dem Hrn. Dohm , der es mit weniger Parteylichkeit verrichten kann. Man vergiebt uͤbrigens einem Baseler sehr leicht ein Vorurtheil wider ein Volk, das er nur aus dem herumstreifenden Theile desselben, oder aus den Observations d’un Alsacien, zu kennen Gele- genheit haben kann. Was aber einem jeden Rechtschaffenen wah- re Freude ins Herz bringen muß, ist der Ernst und Eifer, mit welchem einige wuͤrdige Glieder der hiesigen Geistlichkeit selbst diese Grundsaͤtze der Vernunft, oder vielmehr der wahren Gottes- furcht, unter dem Volke auszubreiten suchen. Ja einige derselben haben kein Bedenken getra- gen, meinen Gruͤnden wider das allgemein an- gebetete Idol des Kirchenrechts uͤberhaupt bey- zutreten, und dem Resultate derselben oͤffentlich Beyfall zu geben. Welche hohe Begriffe muͤssen diese Maͤnner von ihrer Bestimmung haben, da sie so willig sind, alle Nebenabsicht davon zu ent- fernen; welch edles Zutrauen zu der Kraft der Wahrheit, da sie sich getrauen, sie, ohne alle Stuͤtzen, auf ihrem eigenen Postemente sicher zu stellen! Wenn wir uͤbrigens in den Grund- saͤtzen auch noch so verschieden waͤren; so koͤnnte ich nicht umhin, ihnen, wegen dieser erhabenen Gesinnungen, meine ganze Bewunderung und Ehrerbietung zu bezeugen. Manche andere Leser und Buͤcherrichter ha- ben sich gar sonderbar dabey genommen. Meine Gruͤnde haben sie zwar nicht bestritten; sondern viel- vielmehr gelten lassen. Niemand hat es ver- sucht, zwischen Lehrmeinung und Recht den min- desten Zusammenhang zu zeigen. Niemand hat einen Fehler in der Schlußfolge aufgedeckt, daß mein Beystimmen oder Nichtbeystimmen in ge- wisse ewige Wahrheiten mir kein Recht uͤber Dinge, keine Befugniß ertheilen, uͤber Guͤter und Gemuͤther nach eigenem Belieben zu schal- ten. Und gleichwohl haben sie bey dem unmit- telbaren Resultate derselben, wie bey einer un- erwarteten Erscheinung, gestutzt. Wie? So giebt es uͤberall kein Kirchenrecht? So beruhet alles, was so viele Schriftsteller, was wir selbst vielleicht uͤber das Kirchenrecht geschrieben, ge- lesen, gehoͤrt und disputirt haben, auf grundlo- sem Boden? — Dieses schien ihnen zu weit zu gehen, und gleichwol muß in der Schlußfolge ein verborgener Fehler liegen, wenn das Resul- tat nicht nothwendig wahr seyn soll. In den Goͤttingischen Anzeigen fuͤhrt der Recensent meine Behauptung an, daß es kein Recht auf Personen und Dinge gebe, welches mit Lehrmeinungen zusammenhaͤnge, und daß alle Vertraͤge und Abkommnisse der Menschen kein solches solches Recht moͤglich machen koͤnnen, und setzet hinzu: „dieses alles ist neu und hart. Die er- „sten Grundsaͤtze werden weggeleugnet, und al- „ler Streit hat ein Ende.“ Ja wohl, gehet es um die ersten Grundsaͤtze, die nicht anerkannt werden wollen. — Soll aber deswegen aller Streit ein Ende haben? Sollen denn Grundsaͤtze niemals in Zweifel gezogen wer- den? So koͤnnen Maͤnner aus der pythagori- schen Schule in Ewigkeit streiten, woher ihr Leh- rer zur guͤldenen Huͤfte gekommen, wenn es nie- mand wagen darf, zu untersuchen: ob auch Py- thagoras uͤberall eine guͤldene Huͤfte habe? Jedes Spiel hat seine Gesetze, jeder Wett- kamf seine Regeln, nach welchen der Kampf- richter urtheilt. Willst du den Einsatz, oder den Kampfpreis davon tragen; so unterwirf dich den Grundsaͤtzen. Wer aber uͤber die Theorie der Spiele nachdenken will, kann allerdings die Grundbegriffe selbst in Augenschein nehmen. So auch vor Gericht. Jener Criminalrichter, der einen Moͤrder zu richten hatte, brachte ihn zum Gestaͤndnisse seines Verbrechens. Allein der Ruchlose behauptete, er wisse keinen Grund, warum warum e s nicht eben so gut erlaubt sey, einen Menschen zu ermorden, als ein Thier, um sei- nes Vortheils willen, umzubringen. Diesem Unmenschen konnte der Richter mit Recht ant- worten: „du leugnest die Grundsaͤtze, Bursche! „mit dir hat aller Streit ein Ende. Du wirst „wenigstens einsehen, daß es auch uns erlaubt „sey, um unseres Vortheils willen, die Erde „von einem solchen Ungeheuer zu befreyen.“ So aber durfte ihm der Priester schon nicht antworten, der ihn zum Tode vorbereiten sollte. Dieser war verbunden sich mit ihm uͤber die Grundsaͤtze selbst einzulassen, und ihm, wenn sein Zweifel ihm ein Ernst war, solchen zu benehmen. Nicht anders verhaͤlt es sich in Kuͤnsten und Wissenschaften. Jede derselben setzet gewisse Grundbegriffe vor- aus, von denen sie weiter keine Rechenschaft giebt. Deswegen aber ist in dem ganzen Inbe- griff der menschlichen Erkenntnisse kein Punkt uͤber allen Anspruch hinweg zu setzen, kein Titel, der nicht zur Untersuchung gezogen werden darf. Liegt mein Zweifel außer den Schranken dieses Gerichtshofes; so muß ich vor einen andern ver- wiesen werden. Irgendwo muß ich gehoͤrt, und zu rechte gewiesen werden. Der Der Fall, den der Rec. zum Beyspiel anfuͤh- ret, um mich zu widerlegen, trist vollends nicht zum Ziele. Er spricht: „Wir wollen sie (die ge- „leugneten Grundsaͤtze,) indessen auf einen be- „stimmten Fall anwenden. Die Judenschaft in „Berlin bestellt eine Person, die nach den Ge- „setzen ihrer Religion die Kinder maͤnnlichen „Geschlechts beschneiden soll; diese Person er- „haͤlt durch ein Factum gewisse Rechte auf so viel „Einkuͤnfte, auf diesen bestimmten Rang in der „Gemeine etc. Nach einiger Zeit kommen ihr „Bedenklichkeiten uͤber die Lehrmeinung oder das „Gesetz von der Beschneidung bey; sie weigert „sich den Vertrag zu erfuͤllen. Bleiben ihr denn „nun auch die Rechte, die sie durch den Vertrag „erhielt? So uͤberall.“ — Und wie uͤberall? Ich will die Moͤglichkeit des Falls zugeben, der sich hoffentlich nie zutra- gen wird Man genießet unter den Juden, fuͤr das Amt der Beschneidung, weder Einkuͤnfte, noch einen destimmten Rang in der Gemeine. Wer die Ge- schiklichkeit besitzet, verrichtet vielmehr dieses ver- . Was soll diese mir so nahe gelegte In- stanz beweisen? Doch wohl nicht, daß nach der Vernunft Rechte auf Personen und Guͤter mit Lehrmeinungen zusammenhaͤngen, und auf der- selben beruhen? oder daß positive Gesetze und Vertraͤge ein solches Recht moͤglich machen koͤn- nen? Auf diese beiden Punkte koͤmmt es, nach dem eigentlichen Anfuͤhren des Recens. haupt- saͤchlich an, und beide finden in dem erdichteten Falle nicht Statt, denn der Beschneider wuͤrde ja die Einkuͤnfte und den Rang nicht fuͤr den Beyfall zu genießen haben, den er der Lehrmei- nung giebt; sondern fuͤr die Operation, die er an der Stelle der Hausvaͤter verrichtet. Ver- hindert ihn nun sein Gewissen, diese Muͤhwal- tung verdienstliche Werk mit Vergnuͤgen. Ja dem Vater, dem eigentlich die Pflicht seinen Sohn zu beschneiden obliegt, hat mehrentheils unter verschiedenen Mitwerdern, die darum anhalten, zu waͤhlen. Alle Belohnung, die der Beschnei- der fuͤr seine Verrichtung zu erwarten hat, be- stehet etwa darin, daß er beym Beschneidungs- male obenan sitzet, und nach der Mahlzeit den Seegen spricht. — So sollten nach meiner neu und hart scheinenden Theorie alle religioͤse Aemter besetzt werden! tung ferner zu uͤbernehmen; so wird er aller- dings auf die Belohnung Verzicht thun muͤssen, die er dafuͤr sich ausbedungen. Was hat dieses aber mit den Vorrechten gemein, die man einer Person einraͤumt, weil sie dieser oder jener Lehre beystimmet, diese oder jene ewige Wahrheit an- nimmt, oder verwirft? — Alles, womit die er- dichtete Instanz einige Aehnlichkeit haben koͤnn- te, waͤre etwa der Fall, da der Staat Lehrer bestellt und besoldet, die gewisse Lehren so und nicht anders ausbreiten sollen: diese aber nach- her sich im Gewissen verbunden erachteten, von den ihnen vorgeschriebenen Lehren abzuweichen. Diesen Fall, der so oft zu lauten und hitzigen Streitigkeiten Gelegenheit gegeben, habe ich im vorigen Abschnitte umstaͤndlich beruͤhrt, und nach meinen Grundsaͤtzen zu eroͤrtern gesucht. Auf das angefuͤhrte Gleichniß aber scheinet er mir eben so wenig zu passen. Man erinnerte sich des Unterschiedes, den ich gemacht, zwischen Hand- lungen, die als Handlungen verlangt werden, und solchen, die blos als Zeichen der Gesiunun- gen goͤlten. Eine Vorhaut ist abgeschnitten, der Beschneider mag von dem Gebrauche selbst denken denken und glauben, was er will; so wie ein Schuldherr, dem die Gerichte zu seiner Befrie- digung verholfen, bezahlt ist, der Schuldner mag von der Pflicht zu bezahlen, denken, wie er will. Wie kann aber hiervon die Anwendung auf den Lehrer der Religionswahrheiten gemacht werden, dessen Lehren sicherlich wenig Frommen bringen, wenn nicht Geist und Herz damit uͤber- einstimmen; wenn sie nicht aus innerer Ueber- zeugung fließen? — Ich habe bereits an dem angefuͤhrten Orte zu erkennen gegeben, daß ich mich nicht getraue, einem auf diese Weise in die Enge getriebenen Lehrer vorzuschreiben, wie er sich als rechtschaffener Mann zu verhalten habe; oder Vorwuͤrfe zu machen, wenn er sich anders verhaͤlt; und daß nach meinem Beduͤnken alles auf Zeit, Umstaͤnde und Verfassung ankomme, in welchen er sich befindet. Wer darf hier uͤber die Gewissenhaftigkeit seines Naͤchsten den Stab bre- chen? Wer ihr zu einer so kritischen Entschei- dung eine Waage aufdringen, die sie vielleicht nicht fuͤr die richtige erkennt? Indessen liegt diese Untersuchung nicht so ganz auf meinem Wege, und hat wenig mit den Zweiter Abschn. B beiden beiden Fragen gemein, auf welche alles ankoͤmmt, und die ich hier abermals wiederhole. 1) Giebt es, nach dem Gesetzeder Vernunft, Rechte auf Personen und Dinge, die mit Lehrmeinungen zusammenhaͤngen, und durch das Einstimmen in dieselben erworben werden? 3) Koͤnnen Vertraͤge und Abkommnisse voll- kommene Rechte erzeugen, Zwangspflich- ten hervorbringen, wo nicht, ohne allen Ver- trag, schon unvollkommene Rechte und Ge- wissenspflichten da gewesen sind? Einer von diesen Saͤtzen muß aus dem Natur- rechte erwiesen werden, wenn ich eines Irrtums uͤberfuͤhrt werden soll. Daß man meine Be- hauptung neu und hart findet, thut nichts zur Sache, wenn ihr die Wahrheit nur nicht wider- spricht. Noch ist mir kein Schriftsteller bekant, der diese Fragen beruͤhrt, und in Anwendung auf Kirchenmacht und Bannrecht untersucht haͤtte. Sie gehen alle von dem Punkte aus, daß es ein Jus circa sacra gebe; nur modelt es ein jeder nach seiner Weise, und belehnet damit bald eine unsichtbare, bald diese oder jene sichtbare Per- son. son. Selbst Hobbes , der hierin sich am weite- sten von den eingefuͤhrten Begriffen zu entfernen wagt, hat sich von dieser Idee nicht voͤllig los- winden koͤnnen. Er giebt ein solches Recht zu, und sucht nur die Person auf, der man es mit dem geringsten Schaden zutrauen darf. Alle glauben, das Meteor sey sichtbar, und bemuͤhen sich nur, nach verschiedenen Systemen, die Hoͤhe desselben zu bestimmen. Es waͤre nichts uner- hoͤrtes, wenn ein Unbefangener, der gerade auf den Ort hinschaute, wo es erscheinen soll, mit weit geringerer Faͤhigkeit, sich von der Wahrheit uͤberfuͤhrte: es sey uͤberall kein solches Meteor zu sehen. Ich komme zu einem weit wichtigern Ein- wurfe der mir gemacht worden, und der haupt- saͤchlich diese Schrift veranlaßt hat. Abermals ohne meine Gruͤnde zu widerlegen, hat man ih- nen die geheiligte Autoritaͤt der mosaischen Re- ligion, zu welcher ich mich bekenne, entgegenge- setzt. Was sind die Gesetze Moses anders, als ein System von religioͤser Regierung, von Macht und Recht der Religion? „Die Vernunft mag „es gut heissen,“ druͤkt sich ein ungenannten B 2 Schrift- Schriftsteller Das Forschen nach Licht und Recht, in einem Schreiben an Herrn M. Mendelssohn Berlin 1782. hieruͤber aus, „daß alles Kir- „chenrecht und die Macht eines geistlichen Ge- „richts, wodurch Meinungen erzwungen, oder „eingeschraͤnkt werden, eine begriflose Sache „ist; daß kein Fall zu erdenken, wodurch so ein „Gesetz gegruͤndet sey, daß die Kunst nichts schaf- „fen koͤnne, wozu die Natur nicht den Keim her- „vorgebracht habe — aber so vernunftmaͤßig die- „ses alles seyn mag, was sie daruͤber sagen, „ redet er mich an, „so geradezu widerspricht es „dem Glauben ihrer Vaͤter im engern Verstan- „de, und den Grundsaͤtzen der Kirche, welche nicht „blos von den Kommentaristen angenommen; „sondern selbst in den Buͤchern Mose ausdruͤk- „lich festgesetzt sind. Nach der gesunden Ver- „nunft findet gar kein Gottesdienst ohne Ueber- „zeugung statt, und jede erzwungene gottes- „dienstliche Handlung hoͤrt das auf zu seyn. Be- „folgung goͤttlicher Gebote aus Furcht vor der „darauf gesetzten Strafe ist Sklavendienst, der „nach reinen Begriffen nimmermehr Gott ge- „faͤllig „faͤllig seyn kann. Indessen ist es wahr, daß Mo- „ses Zwang und positive Strafen — an Nicht- „beobachtung gottesdienstlicher Pflichten bindet. „Sein statuarisches Kirchenrecht befiehlt den „Sabbathsuͤbertreter, den Laͤsterer des goͤttli- „chen Namens und andere Abweichende von „seinem Gesetze mit Steinigung und Tode „zu bestrafen.“ — — „Das ganze Kirchen- „system Mose,“ spricht er an einer andern Stelle, „war nicht nur Unterricht und Anwei- „sung zu Pflichten, sondern es war zugleich „mit dem strengsten Kirchenrechte verbunden. „Der Arm der Kirche war mit dem Schwerdt „des Fluchs bewafnet. — Verflucht, heißt „es, wer nicht haͤlt alle Worte dieses Gese- „tzes, daß er darnach thue u. s. w. — Und „dieser Fluch war in den Haͤnden der ersten Die- „ner der Kirche. — Das bewafnete Kirchenrecht „ist immer einer der vorzuͤglichsten Grundsteine „der juͤdischen Religion selbst, und ein Haupt- „artikel in dem Glaubenssystem Ihrer Vaͤ- „ter. In wiefern koͤnnen Sie, mein Theurer „Herr Mendelssohn, bey dem Glauben Ihrer „Vaͤter beharren, und durch Wegraͤumung sei- B 3 „ner „ner Grundsteine das ganze Gebaͤude erschuͤttern, „wenn Sie das durch Mosen gegebene, auf goͤtt- „liche Offenbarung sich berufende Kirchenrecht „bestreiten?“ Dieser Einwurf dringet an das Herz. Ich muß gestehen, daß die Begriffe, die hier vom Ju- dentume gegeben werden, bis auf einige Unbe- hutsamkeit im Ausdrucke, selbst von vielen mei- ner Religionsbruͤder dafuͤr angenommen werden. Waͤre nun dem in Wahrheit also, und ich davon uͤberfuͤhret, so wuͤrde ich allerdings meine Saͤtze mit Beschaͤmung zuruͤcknehmen, und die Ver- nunft unter dem Joche des Glaubens — doch nein! was sollte ich heucheln? Autoritaͤt kann demuͤthigen, aber nicht belehren; sie kann die Vernunft niederschlagen, aber nicht fesseln. Stuͤnde das Wort Gottes mit meiner Ver- nunft in einem so offenbaren Widerspruche, so wuͤrde ich der letztern hoͤchstens Stillschweigen gebieten koͤnnen; aber meine nicht widerlegten Gruͤnde wuͤrden im geheimsten Winkel meines Herzens nichts destoweniger wiederkehren, sich in beunruhigende Zweifel verwandeln, und die Zweifel sich in kindliche Gebere, in inbruͤnstiges Flehen Flehen um Erleuchtung aufloͤsen. Ich wuͤrde mit dem Psalmist anrufen: Herr! sende mir dein Licht, deine Wahr- heit, Daß sie mich leiten, und bringen Zu deinem heiligen Berge, zu deinem Ruhesitze! Hart und kraͤnkend aber ist es in allen Faͤl- len, wenn man mit dem ungenannten Forscher nach Licht und Wahrheit , und dem sich nen- nenden Herrn Moͤrschel , der die Schrift des Forschers mit einer Nachschrift begleitet hat, mir die gehaͤssige Absicht zuschreibt, die Reli- gion, zu welcher ich mich bekenne, umzustoßen, und ihr, wo nicht ausdruͤklich, doch gleichsam unter der Hand zu entsagen. Dergleichen Con- sequenzerey sollte aus dem Umgange der Gelehr- ten auf ewig verbannt seyn. Nicht jeder, der sich zu einer Meinung verstehet, verstehet sich zugleich zu allen Folgen derselben, und wenn sie auch noch so richtig aus derselben hergeleitet werden. Aufbuͤrdungen von dieser Art sind gehaͤssig, und B 4 fuͤhren fuͤhren nur zu Verbitterung und Streitsucht, dabey die Wahrheit selten gewinnet. Ja, der Forscher gehet so weit, mich folgen- der Gestalt anzureden: „Sollte der jetzt von Ih- „nen gethane gar merkwuͤrdige Schritt wohl „wirklich ein Schritt zur Erfuͤllung der ehemals „an Sie ergangenen Lavaterschen Wuͤnsche scyn? „Unstreitig haben Sie nach jener Veranlassung „der Sache des Christentums naͤher nachge- „dacht, und den Werth der in mannigfaltigen „Gestalten und Modifikationen vor ihren Augen „liegenden christlichen Religionssysteme mit der „Unparteylichkeit eines unbestechbaren Wahr- „heitsforschers genauer gewogen. Vielleicht sind „Sie jetzt dem Glauben der Christen naͤher getre- „ten, indem Sie der Knechtschaft eiserner Kir- „chenbande sich entreissen, und das Freyheitssy- „stem des vernuͤnftigern Gottesdienstes nun- „mehr selbst lehren, welches das eigentliche Ge- „praͤge der christlichen Gottesverehrung aus- „macht, nach welchem wir dem Zwange und laͤ- „stigen Zeremonien entronnen sind, und den wah- „ren Gottesdienst weder an Samaria noch an „Jerusalem binden, sondern das Wesen der Re- „ligion „ligion darin setzen, daß nach den Worten un- „sers Lehrers die wahrhaftigen Anbeter Gott im „Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Feyerlich und pathetisch genug ist diese An- sinnung vorgebracht. — Allein, Lieber! soll ich diesen Schritt thun, ohne vorher zu uͤberlegen, ob er mich auch wirklich aus der Verwirrung ziehen wird, in welcher ich mich Ihrer Meinung nach befinde? Wenn es wahr ist, daß die Ecksteine meines Hauses austreten, und das Gebaͤude ein- zustuͤrzen drohet, ist es wohlgethan, wenn ich meine Habseligkeit aus dem untersten Stokwer- ke in das oberste rette? Bin ich da sicherer? Nun ist das Christentum, wie sie wissen, auf dem Judentume gebauet, und muß nothwendig, wenn dieses faͤllt, mit ihm uͤber einen Hauffen stuͤrzen. Sie sagen, meine Schlußfolge unter- grabe den Grund des Judentums, und bieten mir die Sicherheit Ihres obersten Stokwerks an; muß ich nicht glauben, daß Sie meiner spotten? Sicherlich! Der Christ, dem es um Licht und Wahrheit im Ernste zu thun ist, wird beim An- scheine eines Widerspruchs zwischen Wahrheit und Wahrheit, zwischen Schrift und Vernunft, B 5 nicht nicht den Juden zum Kampfe auffordern, sott- dern mit ihm gemeinschaftlich den Ungrund des Widerspruchs zu entdecken suchen. Es gehet ih- rer beiden Sache an. Was sie unter sich aus- zumachen haben, mag auf eine andere Zeit aus- gesetzt bleiben. Voritzt muͤssen sie mit vereinig- ten Kraͤften die Gefahr abwenden, und entwe- der den Fehlschluß der Vernunft entdecken, oder zeigen, daß es blos ein Scheinwiderspruch sey, der sie erschreckt hat. So koͤnnte ich nun der Schlinge ausweichen, ohne mich mit dem Forscher in weitere Untersu- chung einzulassen. Allein was wuͤrde mir der Winkelzug helfen? Sein Gefaͤhrte, Herr Moͤr- schel, hat, ohne mich persoͤnlich zu kennen, mir allzutief ins Spiel gesehen. „Er hat“ wie er versichert, „in der geruͤgten Vorrede blos Merk- „male entdeckt, um welcher willen er mich eben „so weit entfernt von der Religion, in welcher „ich geboren worden, als von der, die er von sei- „nen Vaͤtern empfing, halten zu koͤnnen glaubt.“ Zum Beweise seiner Vermuthung fuͤhrt er aus derselben, ausser der Hinweisung auf S. IV. Z. 21. (wo ich Heiden, Juden, Mahometaner und An- haͤnger haͤnger der natuͤrlichen Religion in einer Zeile zusammen nenne, und fuͤr alle Toleranz fordere) — S. V. Z 8. (in welcher ich abermals von Duldung der Naturalisten rede), und endlich S. XXXVII. Z. 13. (wo ich von ewigen Wahrhei- ten rede, die die Religion lehren soll), folgende Stelle woͤrtlich an: „Das Andachtshaus der „Vernunft bedarf keiner verschlossenen Thuͤren. „Sie hat von innen nichts zu verwahren, und „von aussen niemanden den Eingang zu verhin- „dern. Wer einen ruhigen Zuschauer abgeben, „oder gar Antheil nehmen will, ist dem Gottse- „ligen in der Stunde seiner Erbauung hoͤchst „willkommen.“ Man siehet, daß, nach Hrn. M. Meinung, kein Anhaͤnger der Offenbarung so laut um Duldung der Naturalisten anhalte, so laut von ewigen Wahrheiten sprechen wuͤrde, die die Religion lehren soll, und daß ein wahrer Christ oder Jude Bedenken tragen muͤsse, sein Bethaus ein Andachtshaus der Vernunft zu nennen. Was ihn auf diese Gedanken gebracht haben koͤnne, begreife ich nun zwar nicht; in- dessen enthalten sie doch den ganzen Grund zu seiner Vermuthung, und veranlassen ihn, wie er sich sich ausdruͤckt, nicht mich aufzufordern, mich zu „der Religion zu bekennen, die er bekennt, oder „sie zu widerlegen, wofern ich ihr nicht beyzutre- „ten im Stande bin; sondern mich im Namen „aller, denen Wahrheit am Herzen liegt, zu bit- „ten, mich in Ansehung dessen, was immer dem „Menschen das Wichtigste seyn muß, deutlich und „bestimmt zu erklaͤren.“ Er hat zwar, wie er versichert, die Absicht nicht, mich zu bekehren, moͤchte auch nicht gern Veranlassung zu Einwuͤr- fen gegen die Religion seyn, von der er Zufrie- denheit in diesem Leben, und unbegraͤnztes Gluͤck nach derselben erwartet; aber er moͤchte doch gern. — Was weis ich, was der liebe Mann al- les nicht moͤchte, und indessen doch moͤchte — Vorerst also zur Beruhigung dieses gutherzigen Briefschreibers: ich habe die christliche Religion niemals oͤffentlich bestritten, und werde mich auch mit wahren Anhaͤngern derselben niemalen in Streit einlassen. Und damit man mir nicht aber- mals Schuld gebe, ich wolle durch dergleichen Erklaͤrung gleichsam zu verstehen geben, ich haͤt- te gar wohl siegreiche Waffen in Haͤnden, diesen Glauben, wenn ich wollte, zu bestreiten; die Ju- den den besaͤßen etwa geheime Nachrichten, unbe- kannt gewordene Aktenstuͤcke, wodurch die That- sachen in einem andern Lichte erscheinen, als sie von Christen vorgetragen werden, und derglei- chen Vorspiegelungen, die man uns hat zutrauen, oder andichten wollen; um allen Verdacht von dieser Art ein fuͤr allemal zu entfernen, so bezeu- ge ich hiermit vor den Augen des Publikums, daß ich wenigstens nichts Neues wider den Glauben der Christen vorzubringen habe; daß wir, so viel ich weis, keine andere Nachrichten von der Geschichtssache wissen, keine andere Ak- tenstuͤcke aufzuweisen haben, als die allgemein be- kannt sind; daß ich also von meiner Seite nichts vorzubringen habe, das nicht schon unzaͤhlige Male von Juden und Naturalisten gesagt und wiederholt, und vor der Gegenpartey beantwor- tet und wiederholt worden sey. Mich duͤnkt, es sey in so vielen Jahrhunderten, und insbesondere in unserm schreibseligen Jahrhunderte, genug in der Sache replizirt und duplizirt worden. Es ist einmal Zeit, da die Parteyen nichts Neues mehr anzubringen haben, die Akten zu schliessen. Wer Augen hat, der sehe; wer Vernunft hat, der der pruͤfe, und lebe nach seiner Ueberzeugung. Was nuͤtzt es, daß die Ruͤstigen am Wege stehen, und jedem Voruͤbergehenden den Kampf anbie- ten? Allzuvieles Gerede von einer Sache klaͤret in derselben nichts auf, und verdunkelt vielmehr noch den schwachen Schein der Wahrheit. Ihr duͤrft von welchem Satze ihr wollet, nur oft und lange dafuͤr und dawider reden und schreiben und streiten, und koͤnnet versichert seyn, daß er von seiner etwanigen Evidenz immer mehr und mehr verlieren wird. Das allzugrosse Detail verhindert das Ueberschauen des Ganzen. Herr M. hat also nichts zu besorgen. Durch mich soll er sicherlich nicht die Veranlassung zu Ein- wuͤrfen gegen eine Religion werden, von der so viele meiner Nebenmenschen Zufriedenheit in diesem Leben und unbegraͤnztes Gluͤck nach dem- selben erwarten. Ich muß aber auch seinem spaͤhenden Blik Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hat zum Theil nicht unrecht gesehen. Es ist wahr: ich erkenne keine andere ewige Wahrheiten, als die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kraͤfte darge- dargethan und bewaͤhrt werden koͤnnen. Nur darin taͤuscht ihn ein unrichtiger Begriff vom Judentum, wenn er glaubt, ich koͤnne dieses nicht behaupten, ohne von der Religion meiner Vaͤter abzuweichen. Ich halte dieses vielmehr fuͤr einen wesentlichen Punkt der juͤdischen Reli- gion, und glaube, daß diese Lehre einen charakte- ristischen Unterschied zwischen ihr und der christ- lichen Religion ausmache. Um es mit einem Worte zu sagen: ich glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem dieses von den Christen genommen wird. Die Israeliten haben goͤttliche Gesetzgebung. Gesetze, Gebote, Befehle, Le- bensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben, um zur zeitlichen und ewigeu Gluͤckseligkeit zu gelangen; dergleichen Saͤtze und Vorschriften sind ihnen durch Mosen auf eine wunderbare und uͤbernatuͤrliche Weise geoffenbaret worden; aber keine Lehrmeinungen keine Heilswahrheiten, keine allgemeine Ver- nunftsaͤtze. Diese offenbaret der Ewige uns, wie allen uͤbrigen Menschen, allezeit durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen. Ich Ich besorge, daß dieses Auffallen, und man- chem Leser abermals neu und hart scheinen duͤrf- te. Man hat auf diesem Unterschied immer we- nig Acht gehabt; man hat uͤbernatuͤrliche Ge- setzgebung fuͤr uͤbernatuͤrliche Religionsof- fenbarung genommen, und vom Judentume so gesprochen, als sey es blos eine fruͤhere Offen- barung religioͤser Saͤtze und Lehren, die zum Hei- le des Menschen nothwendig sind. Ich werde mich also etwas weitlaͤuftig zu erklaͤren haben, und um nicht misverstanden zu werden, zu fruͤ- hern Begriffen hinaufsteigen muͤssen, um mit mei- nem Leser aus demselben Standpunkte auszuge- hen, und gleichen Schritt halten zu koͤnnen. Man nennet ewige Wahrheiten diejenigen Saͤtze, welche der Zeit nicht unterworfen sind, und in Ewigkeit dieselben bleiben. Diese sind ent- weder nothwendig , an und fuͤr sich selbst un- veraͤnderlich , oder zufaͤllig; das heißt, ihre Bestaͤndigkeit gruͤndet sich entweder auf ihr We- sen , sie sind deswegen so und nicht anders wahr, weil sie so und nicht anders denkbar sind, oder auf ihre Wirklichkeit: sie sind deswegen allge- mein wahr, deswegen so und nicht anders, weil sie sie so und nicht anders wirklich geworden, weil sie, unter allen moͤglichen ihrer Art, so und nicht anders die besten sind. Mit andern Worten: sowohl die nothwendigen als zufaͤlligen Wahr- heiten fließen aus einer gemeinschaftlichen Quelle, aus der Quelle aller Wahrheit: jene aus dem Verstande , diese aus dem Willen Gottes. Die Saͤtze der nothwendigen Wahrheiten sind wahr, weil sie Gott so und nicht anders sich vor- stellet ; der zufaͤlligen, weil sie Gott so und nicht anders gut gefunden, und seiner Weis- heit gemaͤß betrachtet hat. Beyspiele der ersteren Gattung sind die Saͤtze der reinen Mathematik und der Vernunftkunst; Beyspiele der letzteren die allgemeinen Saͤtze der Physik und Geisterleh- re, die Gesetze der Natur, nach welchen dieses Weltall, Koͤrper und Geisterwelt regiert wird. Die ersten sind auch der Allmacht unveraͤnder- lich, weil Gott selbst seinen unendlichen Ver- stand nicht veraͤnderlich machen kann; die letz- tern hingegen sind dem Willen Gottes unter- worfen, und nur in so weit unveraͤnderlich, als es seinem heiligen Willen gefaͤllt, das heißt, in so weit sie seinen Absichten entsprechen. Seine Zweiter Abschn. C All- Allmacht konnte andere Gesetze an ihrer Stelle einfuͤhren, und kann, so oft es nuͤtzlich ist, Aus- nahmen Statt finden lassen. Außer diesen ewigen Wahrheiten giebt es noch Zeitliche, Geschichtswahrheiten ; Dinge, die sich zu Einer Zeit zugetragen, und vielleicht niemals wiederkommen; Saͤtze, die durch einen Zusammenfluß von Ursachen und Wirkungen in einem Punkte der Zeit und des Raumes wahr geworden, und also von diesem Punkte der Zeit und des Raumes nur als wahr gedacht werden koͤnnen. Von dieser Art sind alle Wahrheiten der Geschichte, in ihrem weitesten Umfange. Din- ge der Vorwelt, die sich einst zngetragen, und uns erzaͤhlt werden, die wir aber selbst nie wahr- nehmen koͤnnen. So wie diese Classen der Saͤtze und Wahr- heiten ihrer Natur nach verschieden sind, so sind sie es auch in Ansehung ihrer Ueberzeu- gungsmittel, oder in der Art und Weise, wie die Menschen sich und andere davon uͤberfuͤhren. Die Lehren der ersten Gattung, oder die noth- wendigen Wahrheiten gruͤnden sich auf Ver- nunft , d. i. auf unveraͤnderlichen Zusammen- hang, hang, und wesentliche Verbindung zwischen den Begriffen, vermoͤge welcher sie sich einander ent- weder voraussetzen, oder ausschließen. Von dieser Art sind alle mathematische und logische Beweise. Sie zeigen alle die Moͤglichkeit, oder Unmoͤglichkeit, gewisse Begriffe in Verbindung zu denken. Wer seinen Nebenmenschen davon unterrichten will, muß sie nicht seinem Glauben empfehlen, sondern seiner Vernunft gleichsam aufdringen; nicht Autoritaͤten anfuͤhren, und sich auf die Glaubwuͤrdigkeit der Maͤnner beru- fen, die eben dasselbe behauptet haben; sondern die Begriffe selbst in ihre Merkmale zerlegen, und seinem Lehrling stuͤckweise so lange vorhal- ten, bis sein innerer Sinn ihre Fugen und Ver- bindungen wahrnimmt. Der Unterricht, den wir hierin andern geben koͤnnen, bestehet, wie Sokrates gar wohl gesagt, blos in einer Art von Geburtshuͤlfe. Wir koͤnnen nichts in ihren Geist hineinlegen, das er nicht schon wirklich hat; aber wir koͤnnen ihm die Anstrengung er- leichtern, die es kostet, das Verborgene an das Licht zu bringen; das heißt, das Unbemerkte bemerkbar und anschaulich zu machen. C 2 Zu Zu den Wahrheiten der zwoten Classe wird, außer der Vernunft, auch noch Beobachtung erfordert. Wollen wir wissen, welche Gesetze der Schoͤpfer seiner Schoͤpfung vorrgeschieben, nach welchen allgemeinen Regeln die Veraͤnde- rungen in derselben vorgehen: so muͤssen wir einzelne Faͤlle erfahren, beobachten, versuchen, das heißt, zuvoͤrderst die Evidenz der Sinne brauchen und hernach durch die Vernunft, aus mehrern besondern Faͤllen dasjenige herausbrin- gen, was sie gemein haben. Hier werden wir zwar manches schon auf Glauben und Ansehen von andern annehmen muͤssen. Unsere Lebens- zeit reicht nicht hin, alles selbst zu erfahren, und wir muͤssen in vielen Faͤllen uns auf glaub- hafte Nebenmenschen verlassen: die Beobach- tungen und Versuche, die sie angestellt zu ha- ben vorgeben, als wahr voraussetzen. Wir trauen ihnen aber nur, in so weit wir wissen, und uͤberfuͤhrt sind, daß die Gegenstaͤnde noch immer vorhanden sind, und die Versuche und Beobachtungen von uns oder von andern, die Gelegenheit und Faͤhigkeit dazu haben, wieder- holt und gepruͤft werden koͤnnen. Ja, wenn das das Resultat wichtig wird, und einen merklichen Einfluß auf unsere oder anderer Gluͤckseligkeit hat; so beruhigen wir uns schon weit weniger bey der Aussage der glaubhaftesten Zeugen, die uns die Versuche und Beobachtungen erzaͤhlen, sondern suchen Gelegenheit, sie selbst zu wieder- holen und uns durch ihre eigene Evidenz von denselben zu uͤberfuͤhren. So koͤnnen die Sia- meser z. B. allerdings dem Berichte der Euro- paͤer trauen, daß in ihrer Weltgegend das Was- ser zu gewissen Zeiten hart werde, und schwere Lasten trage. Sie koͤnnen dieses auf Glauben annehmen, und allenfalls in ihren Lehrbuͤchern der Physik als ausgemacht vortragen; in der Voraussetzung, daß die Beobachtung noch im- mer wiederholt und bewaͤhrt werden kann. Wenn es indessen zur Lebensgefahr kaͤme, wenn sie itzt diesem hartgewordenen Elemente sich selbst oder die Ihrigen anvertrauen sollten; so wuͤrden sie sich bey dem Zeugnisse schon weit weniger be- ruhigen koͤnnen, sondern durch mancherley ei- gene Erfahrungen, Beobachtungen und Versu- che von der Wahrheit zu uͤberfuͤhren haben. Hinge- Hingegen die Geschichtswahrheiten, die Stellen, die gleichsam im Buche der Natur nur Einmal vorkommen, muͤssen durch sich selbst er- laͤutert werden, oder bleiben unverstaͤndlich: das heißt, sie koͤnnen nur von denenjenigen ver- mittelst der Sinne wahrgenommen werden, die zu der Zeit und an dem Orte zugegen gewesen, als sie sich in der Natur zugetragen haben. Von jedem andern muͤssen sie auf Autoritaͤt und Zeug- niß angenommen werden; und zwar die zu einer andern Zeit leben, muͤssen sich schlechterdings auf die Glaubhaftigkeit des Zeugnisses verlassen. Denn das Bezeugte ist nicht mehr. Der Ge- genstand und dessen unmittelbare Beobachtung, an der sie etwa appelliren wollen, sind in der Natur nicht mehr anzutreffen. Die Sinne koͤn- nen sich von der Wahrheit nicht uͤberfuͤhren. Das Ansehen des Erzaͤhlers und seine Glaub- haftigkeit machen die einzige Evidenz in histori- schen Dingen. Ohne Zeugniß koͤnnen wir von keiner Geschichtswahrheit uͤberfuͤhrt werden. Ohne Autoritaͤt verschwindet die Wahrheit der Geschichte mit dem Geschehenen selbst. So So oft es nun den Absichten Gottes gemaͤß ist, daß die Menschen von irgend einer Wahr- heit uͤberfuͤhrt seyn sollen; so verleihet ihnen sei- ne Weisheit auch die schicklichsten Mittel, zu dersel- ben zu gelangen. Ist es eine nothwendige Wahrheit, so verleihet sie den dazu erforderli- chen Grad der Vernunft. Soll ihnen ein Na- turgesetz bekannt werden, so giebt sie ihnen den Geist der Beobachtung; und soll eine Geschichts- wahrheit der Nachwelt aufbehalten werden, so bestaͤtiget sie ihre historische Gewißheit, und sez- zet die Glaubwuͤrdigkeit der Erzaͤhler uͤber alle Zweifel hinweg. Blos in Absicht auf Geschichts- wahrheiten, duͤnkt mich, sey es der allerhoͤch- sten Weisheit anstaͤndig, die Menschen auf menschliche Weise, d. i. durch Worte und Schrift zu unterrichten, und wo es zur Bewaͤh- rung des Ansehens und der Glaubwuͤrdigkeit er- forderlich war, ausserordentliche Dinge und Wunder in der Natur geschehen zu lassen. Jene ewigen Wahrheiten hingegen, in so weit sie zum Heile und zur Gluͤckseligkeit der Menschen nuͤtz- lich sind, lehret Gott auf eine der Gottheit ge- maͤßere Weise: nicht durch Laur und Schrift- C 4 zeichen, zeichen, die hier und da, diesem und jenem ver- staͤndlich sind, sondern durch die Schoͤpfung selbst und ihre innerlichen Verhaͤltnisse, die allen Menschen leserlich und verstaͤndlich sind. Er bestaͤtiget sie auch nicht durch Wunder, die nur historischen Glauben bewirken; sondern erwek- ket den von ihm erschaffenen Geist, und giebt ihm Gelegenheit jene Verhaͤltnisse der Dinge zu beobachten, sich selbst zu beobachten, und von den Wahrheiten zu uͤberzeugen, die er hienieden zu erkennen bestimmt ist. Ich glaube also nicht, daß die Kraͤfte der menschlichen Vernunft nicht hinreichen, sie von den ewigen Wahrheiten zu uͤberfuͤhren, die zur menschlichen Gluͤckseligkeit unentbehrlich sind, und daß Gott ihnen solche auf eine uͤbernatuͤrli- che Weise habe offenbaren muͤssen. Die dieses behaupten, sprechen der Allmacht oder der Guͤte Gottes auf der andern Seite ab, was sie auf der einen Seite seiner Guͤte zu zulegen glauben. Er war, nach ihrer Meinung guͤtig genug, den Menschen diejenigen Wahrheiten zu offenbaren, von welchen ihre Gluͤckseligkeit abhaͤnget; aber nicht allmaͤchtig, oder nicht guͤtig genug, ihnen selbst selbst die Kraͤfte zu verleihen, solche zu entdecken. Zudem macht man durch diese Behauptung die Nothwendigkeit einer uͤbernatuͤrlichen Offenba- rung allgemeiner, als die Offenbarung selbst. Wenn denn das menschliche Geschlecht ohne Of- fenbarung verderbt und elend seyn muͤßte; wa- rum hat denn der bey weitem groͤßere Theil des- selben von je her ohne wahre Offenbarung gelebet, oder warum muͤssen beide Indien war- ten, bis es den Europaͤern gefaͤllt, ihnen eini- ge Troͤster zu zusenden, die ihnen Bothschaft bringen sollen, ohne welche sie, dieser Meinung nach, weder tugendhaft, noch gluͤckselig leben koͤnnen? ihnen Bothschaft zu bringen, die sie ihren Umstaͤnden, und der Lage ihrer Erkennt- niß nach, weder recht verstehen, noch gehoͤrig brauchen koͤnnen? Nach den Begriffen des wahren Judentums sind alle Bewohner der Erden zur Gluͤckseligkeit berufen, und die Mittel derselben so ausgebrei- tet, als die Menschheit selbst, so milde ausge- spendet, als die Mittel sich des Hungers und anderer Naturbeduͤrfnisse zu erwehren. Hier der rohen Natur uͤberlassen, die ihre Kraft in- C 5 ner- nerlich empfindet, und sich derselben bedienet, ohne sich in Wort und Vortrag anders, als hoͤchst mangelhaft, und gleichsam stammelnd, auslas- sen zu koͤnnen; dort durch Wissenschaft und Kunst unterstuͤtzt, hellglaͤnzend durch Worte, Bilder und Gleichnisse, durch welche die Wahr- nehmungen des innern Sinnes in deutliche Zeichenerkenntniß verwandelt und aufgestellt wer- den. So oft es nuͤtzlich war, hat die Vorsehung unter jeder Nation der Erde weise Maͤnner aufstehen lassen, und ihnen die Gabe verliehen, mit hellerem Auge in sich selbst, und um sich her zu schauen, die Werke Gottes zu betrachten, und ihre Erkenntnisse andern mitzutheilen Aber nicht zu allen Zeiten ist dieses noͤthig oder nuͤtz- lich. Sehr oft reichet, wie der Psalmist sagt, das Lallen der Kinder und Saͤuglinge hin, den Feind zu beschaͤmen. Der einfaͤltig le- bende Mensch hat sich die Einwuͤrfe noch nicht erkuͤnstelt, die den Sophisten so sehr verwirren. Ihm ist das Wort Natur , der blosse Schall, noch nicht zu einem Wesen geworden, das die Gottheit verdrengen will. Er weis so gar noch wenig von dem Unterschiede zwischen mittelba- rer rer und unmittelbarer Wirkung, und hoͤrt und siehet vielmehr die alles belebende Kraft der Gottheit uͤberall: in jeder aufgehenden Sonne, in jedem Regen, der niederfaͤllt, in jeder Blu- me, die aufbluͤhet, und in jedem Lamme, das auf der Wiese weidet und sich seines Daseyns freuet. Diese Vorstellungsart hat etwas feh- lerhaftes; allein sie fuͤhret unmittelbar zur Er- kenntniß eines unsichtbaren allmaͤchtigen Wesens, dem wir alles Gute, das wir genießen, zu ver- danken haben. Sobald aber ein Epikur oder Lukrez , ein Helvetius oder Hume das Un- vollstaͤndige in dieser Vorstellungsart ruͤget, und (welches der menschlichen Schwachheit zu gute zu halten ist) auf der andern Seite ausschweif- fet, und mit dem Worte Natur ein taͤuschen- des Spiel treiben will; so erweckt die Vorse- hung wiederum andere Maͤnner im Volke, die Vorurtheil von Wahrheit trennen, das Ueber- triebene von beiden Seiten berichtigen, und zeigen, daß die Wahrheit Bestand habe, wenn auch das Vorurtheil verworfen wird. Im Grun- de ist es immer noch derselbe Stoff; dort mit allen rohen aber kraftvollen Saͤften, die ihm die die Natur giebt; hier mit dem verfeinerten Wohlgeschmacke der Kunst, zur Verdauung leichter, aber auch nur fuͤr Schwaͤchliche. Das Thun und Lassen der Menschen und die Sittlich- keit ihres Lebenswandels hat sich von jener ro- hen Vorstellungsart, im Ganzen genommen, vielleicht eben so gute Folgen zu versprechen, als von diesen verfeinerten und gereinigten Be- griffen. Manches Volk ist von der Vorsehung bestimmt, diesen Kreislauf der Begriffe durch zu- wandern; ja zuweilen mehr als Einmal durch zuwandern; aber vielleicht bleibt das Maaß und Gewicht ihrer Sittlichkeit in allen diesen man- nigfaltigen Epochen, im Ganzen genommen, un- gefaͤhr dasselbe. Ich fuͤr meinen Theil habe keinen Begriff von der Erziehung des Menschengeschlechts, die sich mein verewigter Freund Lessing von, ich weis nicht, welchem Geschichtsforscher der Menschheit, hat einbilden lassen. Man stellet sich das collektive Ding, das menschliche Ge- schlecht, wie eine einzige Person vor, und glaubt, die Vorsehung habe sie hieher gleichsam in die Schule geschickt, um aus einem Kinde zum Man- ne ne erzogen zu werden. Im Grunde ist das menschliche Geschlecht fast in allen Jahrhunder- ten, wenn die Metapher gelten soll, Kind und Mann und Greis zugleich, nur an verschiede- nen Orten und Weltgegenden. Hier in der Wiege, saugt an der Brust, oder lebt von Ram und Milch; dort in maͤnnlicher Ruͤstung und verzehrt das Fleisch der Rinder; und an einem andern Orte am Stabe und schon wieder ohne Zaͤhne. Der Fortgang ist fuͤr den einzelnen Menschen, dem die Vorsehung beschieden, einen Theil seiner Ewigkeit hier auf Erden zu zubrin- gen. Jeder gehet das Leben hindurch seinen eigenen Weg; diesen fuͤhrt der Weg uͤber Blu- men und Wiesen, jenen uͤber wuͤste Ebenen oder uͤber steile Berge und gefahrvolle Kluͤfte. Aber alle kommen auf der Reise weiter, und gehen ihres Weges zur Gluͤckseligkeit, zu welcher sie beschieden sind. Aber daß auch das Ganze, die Menschheit hienieden, in der Folge der Zeiten immer vorwaͤrts ruͤcken, und sich vervollkomm- nen soll, dieses scheinet mir der Zweck der Vor- sehung nicht gewesen zu seyn; wenigstens ist dieses so ausgemacht, und zur Rettung der Vor- sehung sehung Gottes bey weitem so nothwendig nicht, als man sich vorzustellen pflegt. Daß wir doch immer wider alle Theorie und Hypothesen uns straͤuben, und von Thatsachen reden, nichts als von Thatsachen hoͤren wollen, und uns gerade da am wenigsten nach Thatsachen umsehen, wo es am meisten darauf ankommt. Ihr wollt errathen, was fuͤr Absichten die Vor- sehung mit der Menschheit hat? Schmiedet kei- ne Hypothesen; schauet nur umher auf das, was wirklich geschiehet, und, wenn ihr einen Ue- berblick auf die Geschichte aller Zeiten werfen koͤnnet, auf das, was von jeher geschehen ist. Dieses ist Thatsache, dieses muß zur Absicht ge- hoͤrt haben, muß in dem Plane der Weisheit genehmigt, oder wenigstens mit aufgenommen worden seyn. Die Vorsehung verfehlt ihres Endzweckes nie. Was wirklich geschiehet, muß von jeher ihre Absicht gewesen seyn, oder dazu gehoͤrt haben. Nun findet ihr, in Absicht auf das gesammte Menschengeschlecht, keinen be- staͤndigen Fortschritt in der Ausbildung, der sich der Vollkommenheit immer naͤherte. Vielmehr sehen wir das Menschengeschlecht im Ganzen kleine kleine Schwingungen machen, und es that nie einige Schritte vorwaͤrts, ohne bald nachher, mit gedoppelter Geschwindigkeit, in seinen vo- rigen Stand zuruͤck zu gleiten. Die mehresten Nationen der Erde leben viele Jahrhunderte auf derselben Stufe von Cultur, in demselben daͤm- mernden Lichte, das unseren verwoͤhnten Augen viel zu schwach scheint. Je zuweilen entzuͤndet sich ein Punkt in der großen Masse, wird zum glaͤnzenden Gestirne, und durchwandelt eine Laufbahn, die ihn nach einer bald kurzen bald laͤngern Periode zuruͤckfuͤhret, und wiederum an seinen Ort des Stillstandes, oder nicht weit davon, absetzet. Der Mensch gehet weiter; aber die Menschheit schwankt bestaͤndig zwischen festgesetzten Schranken, auf und nieder, behaͤlt aber im Ganzen betrachtet, in allen Perioden der Zeit ungefaͤhr dieselbe Stufe der Sittlichkeit, dasselbe Maaß von Religion und Irreligion, von Tugend und Laster, von Gluͤckseligkeit und Elend; dasselbe Resultat, wenn Gleiches mit Gleichem in Berechnung gebracht wird; von allen diesen Guͤtern und Uebeln so viel, als zum Durchgange der einzelnen Menschen erforderlich war, war, damit diese hienieden erzogen werden, und sich der Vollkommenheit so viel naͤhern moͤgen, als einem jeden beschieden und zugetheilt worden. Ich komme wieder zu meiner vorigen Be- merkung. Das Judentum ruͤhmet sich keiner ausschließenden Offenbarung ewiger Wahrhei- ten, die zur Seligkeit unentbehrlich sind; kei- ner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem man dieses Wort zu nehmen ge- wohnt ist. Ein anderes ist geoffenbarte Reli- gion ; ein anderes geoffenbarte Gesetzgebung . Die Stimme, die sich an jenem großen Tage, auf Sinai hoͤren ließ, rief nicht; „ich bin der „Ewige, dein Gott! das nothwendige, selbst- „staͤndige Wesen, das allmaͤchtig ist und allwis- „send, das den Menschen in einem zukuͤnftigen „Leben vergilt, nach ihrem Thun.“ Dieses ist allgemeine Menschenreligion , nicht Juden- tum; und allgemeine Menschenreligion, ohne welche die Menschen weder tugendhaft sind, noch gluͤckselig werden koͤnnen, sollte hier nicht geof- fenbart werden. Kennte im Grunde nicht; denn wen sollte die Donnerstimme und der Po- saunenklang von jenen ewigen Heilslehren uͤber- fuͤhren? fuͤhren? Sicherlich den gedankenlosen Thier- menschen nicht, den seine eigene Betrachtung noch nicht auf das Daseyn eines unsichtbaren Wesens gefuͤhrt hat, das dieses Sichtbare regieret. Die- sem wuͤrde die Wunderstimme keine Begriffe ein- gegeben, also nicht uͤberzeugt haben. Den So- phisten noch weniger, dem so viele Zweifel und Gruͤbeleyen vor dem Gehoͤre sausen, daß er die Stimme des gesunden Menschenverstandes nicht mehr wahrnimmt. Dieser fordert Vernunft- gruͤnde , keine Wunderdinge. Und wenn der Religionslehrer alle Todten aus dem Staube erweckt, die jemals auf demselben gestanden ha- ben, um eine ewige Wahrheit dadurch zube- staͤtigen; der Zweifler spricht: der Lehrer hat viele Todten erweckt, aber von der ewigen Wahrheit weiß ich nicht mehr als vorhin. Ich weiß nunmehr, daß jemand ausserordentliche Dinge thun, und hoͤren lassen kann, aber der- gleichen Wesen kann es mehrere geben, die sich eben itzt zu offenbaren, nicht fuͤr gut finden, und wie weit ist alles dieses noch von der unendlich erhabenen Idee einer Einzigen , ewigen Gott- heit, die dieses ganze Weltall, nach ihrem un- Zweiter Abschn. D um- umschraͤnkten Willen regiert, und die geheimsten Gedanken der Menschen durchschauet, um ihre Handlungen, wo nicht hier, doch in jener Zu- kunft, nach Verdienst zu belohnen? — Wer dieses nicht wußte, wer von diesen zur menschli- chen Gluͤckseligkeit unentbehrlichen Wahrheiten nicht durchdrungen, und so vorbereitet zum hei- ligen Berge hintrat, den konnten die großen wundervollen Anstalten betaͤuben, und nieder- schlagen, aber nicht eines bessern belehren. — Nein! alles dieses ward vorausgesetzt, ward vielleicht in den Vorbereitungstagen gelehrt, er- oͤrtert und durch menschliche Gruͤnde ausser Zwei- fel gesetzt, und nun rief die goͤttliche Stimme: „Ich bin der ewige, dein Gott! der dich „aus dem Lande Mizraim gefuͤhrt, aus der „Sklaverey befreiet hat u. s. w.“ Eine Ge- schichtswahrheit, auf die sich die Gesetzgebung dieses Volks gruͤnden sollte, und Gesetze sollten hier geoffenbaret werden; Gebote, Verord- nungen, keine ewige Religionswahrheiten. „Ich „bin der Ewige, dein Gott, der mit deinen Vaͤ- „tern Abraham, Isaak und Jakob einen Bund „gemacht, und ihnen zugeschworen hat, aus „ihrem „ihrem Samen eine mir eigene Nation zu bilden. „Der Zeitpunkt ist endlich gekommen, da diese „Verheissung in Erfuͤllung gehen soll. Ich ha- „be euch zu dem Ende aus der Sklaverey der „Egyptier erloͤset, mit unerhoͤrten Wundern und „Zeichen erloͤset. Ich bin euer Erretter, euer „Oberhaupt und Koͤnig, mache auch mit euch ei- „nen Bund, und gebe euch Gesetze, nach wel- „chen ihr in dem Lande, das ich euch eingeben „werde, leben und eine gluͤckliche Nation seyn „sollet.“ Alles dieses sind Geschichtswahrhei- ten, die ihrer Natur nach, auf historischer Evi- denz beruhen, durch Autoritaͤt bewaͤhrt werden muͤssen, und durch Wunder bekraͤftiget werden koͤnnen. Wunder und ausserordentliche Zeichen sind nach dem Judentume, keine Beweismittel fuͤr oder wider ewige Vernunftwahrheiten. Daher sind wir in der Schrift selbst angewiesen, wenn ein Prophet Dinge lehret, oder anraͤth, die ausge- machten Wahrheiten zuwider sind, und wenn er seine Sendung auch durch Wunder bekraͤfti- get, ihm nicht zu gehorchen; ja den Wunderthaͤ- ter zum Tode zu verurtheilen, wenn er zur Ab- D 2 goͤt- goͤtterey verleiten will. Denn Wunder koͤnnen nur Zeugnisse bewaͤhren, Autoritaͤten unterstuͤz- zen; Glaubhaftigkeit der Zeugen und Ueberliefe- rer bekraͤftigen; aber alle Zeugnisse und Auto- ritaͤten koͤnnen keine ausgemachte Vernunft- wahrheit umstoßen, keine zweifelhafte uͤber Zwei- fel und Bedenklichkeit hinwegsetzen. Ob nun gleich dieses goͤttliche Buch, das wir durch Mosen empfangen haben, eigentlich ein Ge- setzbuch seyn, und Verordnungen, Lebensre- geln und Vorschriften enthalten soll; so schließt es gleichwohl, wie bekannt, einen unergruͤnd- lichen Schatz von Vernunftwahrheiten und Reli- gionslehren mit ein, die mit den Gesetzen so in- nigst verbunden sind, daß sie nur Eins ausma- chen. Alle Gesetze beziehen, oder gruͤnden sich auf ewige Vernunftwahrheiten, oder erinnern und erwecken zum Nachdenken uͤber dieselben; so daß unsere Rabbinen mit Recht sagen: die Gesetze und Lehren verhalten sich gegen einan- der, wie Koͤrper und Seele. Ich werde hier- von weiter unten ein mehreres zu sagen Gele- genheit haben, und begnuͤge mich dieses hier blos als eine Thatsache vorauszusetzen, davon sich sich ein Jeder uͤberfuͤhren kann, der die Gesetze Moses auch nur in irgend einer Uebersetzung zu dieser Absicht in die Hand nimmt. Die Erfah- rung vieler Jahrhunderte lehret auch, daß die- ses goͤttliche Gesetzbuch, einem großen Theil des menschlichen Geschlechts Quelle des Erkenntnis- ses geworden, aus welcher sie neue Begriffe schoͤpfen, oder die alten berichtigen. Je mehr ihr in demselben forschet, desto mehr erstaunt ihr, uͤber die Tiefe der Erkenntnisse, die darinn verborgen liegen. Die Wahrheit bietet sich zwar in demselben, in der einfachsten Bekleidung, gleichsam ohne Anspruch, auf den ersten An- blick dar. Allein je naͤher ihr hinzudringet, je reiner, unschuldiger, liebe- und sehnsuchtsvoller der Blick ist, mit welchem ihr auf sie hinschauet, desto mehr entfaltet sie euch von ihrer goͤttlichen Schoͤnheit, die sie mit leichtem Flor verhuͤllt, um nicht von gemeinen unheiligen Augen ent- weihet zu werden. Allein alle diese vortrefli- chen Lehrsaͤtze werden dem Erkenntniß dargestellt, der Betrachtung vorgelegt, ohne dem Glauben aufgedrungen zu werden. Unter allen Vorschrif- ten und Verordnungen des Mosaischen Gesetzes, D 3 lau- lautet kein Einziges: Du sollst glauben! oder nicht glauben ; sondern alle heissen: du sollst thun , oder nicht thun ! Dem Glauben wird nicht befohlen; denn der nimmt keine andere Befehle an, als die den Weg der Ueberzeugung zu ihm kommen. Alle Befehle des goͤttlichen Gesetzes sind an den Willen, an die Thatkraft der Menschen gerichtet. Ja, das Wort in der Grundsprche, das man durch Glauben zu uͤbersetzen pflegt, heißt an den mehresten Stel- len eigentlich Vertrauen, Zuversicht , getro- ste Versicherung auf Zusage und Verheissung. Abraham vertraute dem Ewigen, und es ward ihm zur Gottseligkeit gerechnet (1 B. M. 15, 6.): die Israeliten sahen, und hatten Zutrauen zu dem Ewigen und zu Mosen, seinem Diener (2 B. M. 14, 31. Wo von ewigen Vernunftwahrheiten die Rede ist, heißt es nicht, glauben, sondern erkennen und wis- sen. Damit du erkennest, daß der Ewige wahrer Gott, und ausser ihm keiner sey . (5 B. M. 4, 39.) Erkenne also und nimm dir zu Sinne, daß der Zerr allein Gott sey, oben im Zimmel, so wie unten auf der Er- de , de, und sonst niemand (daselbst). Vernimm Israel! der ewige, unser Gott ist ein Einzi- ges, ewiges Wesen ! (5 B. M. 6, 4.) Nirgend wird gesagt: glaube Israel, so wirst du ge- segnet seyn; Zweifle nicht, Israel! oder diese und jene Strafe wird dich verfolgen . Gebot und Verbot, Belohnung und Strafen sind nur fuͤr Handlungen, fuͤr Thun und Lassen, die in des Menschen Willkuͤhr stehen, und durch Begriffe vom Guten und Boͤsen, also auch von Hofnung und Furcht gelenkt werden. Glau- be und Zweifel, Beyfall und Widerspruch hin- gegen, richten sich nicht nach unserem Begeh- rungsvermoͤgen, nicht nach Wunsch und Ver- langen, nicht nach Fuͤrchten und Hoffen; son- dern nach unserer Erkenntniß von Warheit und Unwahrheit. Daher hat auch das alte Judentum keine symbolische Buͤcher, keine Glaubensartikel . Niemand durfte Symbola beschwoͤhren, nie- mand ward auf Glaubensartikel beeidiget; ja, wir haben von dem, was man Glaubenseide nennet, gar keinen Begriff, und muͤssen sie, nach dem Geiste des aͤchten Judentums, fuͤr D 4 un- unstatthaft halten. Majemonides ; kam zuerst auf den Gedanken, die Religion seiner Vaͤter auf eine gewisse Anzahl von Grundsaͤtzen einzu- schraͤnken; damit die Religion, wie er zu verste- hen giebt, so wie alle Wissenschaften, ihre Grund- begriffe habe, aus welchen alles uͤbrige herge- leitet wird. Aus diesem blos zufaͤlligen Gedan- ken sind die dreyzehn Artikel des juͤdischen Ka- techismus entstanden, denen wir das Morgen- lied Jigdal , und einige gute Schriften von Chisdai, Albo und Abarbanell zu verdanken haben. Dieses sind auch alle Folgen, die sie bisher gehabt haben. Zu Glaubensfesseln sind sie, Gottlob! noch nicht geschmiedet worden. Chis- dai bestreitet sie und schlaͤgt Abaͤnderungen vor; Albo schraͤnkt ihre Anzahl ein, und will mir von dreyen Grundartikeln wissen, die mit denen, welche Zerbert von Cherbury in spaͤtern Zei- ten zum Katechismus vorgeschlagen, ziemlich uͤbereintreffen, und noch andere, hauptsaͤchlich Lorja und seine Schuͤler, die neueren Rabbali- sten , wollen gar keine bestimmte Anzahl von Fun- damentallehren gelten lassen, und sprechen: in unsrer Lehre ist alles fundamental. Indessen ward ward dieser Streit gefuͤhrt, wie alle Streitig- keiten dieser Art gefuͤhrt werden sollten: mit Ernst und Eifer, aber ohn Haß und Bitterkeit; und ob schon die dreyzehn Artikel des Majemo- nides von dem groͤßten Theile der Nation ange- nommen worden sind; so hat doch meines Wis- sens noch niemand den Albo verketzert, daß er sie hat einschraͤnken und auf weit allgemeinere Vernunftsaͤtze zuruͤckfuͤhren wollen. Hierin ha- ben wir den wichtigen Ausspruch unserer Weisen noch nicht aus der Acht gelassen: „Obgleich „dieser loͤset, jener bindet, so lehren sie „doch beide Worte des lebendigen Got- „tes.“ Ich habe so manchen Pedanten diesen Spruch zum Beweise anfuͤhren sehen, daß die Rab- binen den Satz des Widersyruchs nicht glau- ben. Ich wuͤnsche die Tage zu erleben, da alle Voͤlker der Erde diese Ausnahme von dem allgemeinen Satze des Widerspruchs werden gelten lassen: der Fasttag des Vierten und der Fasttag des Zehnten Monats mag in Wonne und Freudentag verwandelt wer- den, nur liebet Wahrheit und Frieden . (Zachar. 8, 19) D 5 Im Im Grunde koͤmmt auch hier alles auf den Unterschied zwischen Glauben und Wissen . Religionslehren und Religionsgeboten, an. Al- les menschliche Wissen laͤßt sich allerdings auf wenige Fundamentalbegriffe einschraͤnken, die zum Grunde gelegt werden. Je weniger, desto fester stehet das Gebaͤude. Aber Gesetze leiden keine Abkuͤrzung. In ihnen ist alles fundamen- tal, und in so weit koͤnnen wir mit Grunde sa- gen: uns sind alle Worte der Schrift, alle Ge- bote und Verbote Gottes fundamental. Wollt ihr gleichwohl die Quintessenz daraus haben; so hoͤret, wie jener groͤßere Lehrer der Nation, Zillel der aͤltere der vor der Zerstoͤrung des zweyten Tempels lebte, sich dabey genommen. Ein Heide sprach: Rabbi, lehret mich das ganze Gesetz, indem ich auf einem Fuße stehe! Sa- mai, an den er diese Zumuthung vorher ergehen ließ, hatte ihn mit Verachtung abgewiesen; al- lein der durch seine unuͤberwindliche Gelassen- heit und Sanftmuth beruͤhmte Zillel sprach: Sohn! liebe deinen Naͤchsten wie dich selbst . Dieses ist der Text des Gesetzes; alles uͤbrige ist Kommentar. Nun gehe hin und lerne! Ich Ich habe nunmehr, zum Grundrisse des alten, urspruͤnglichen Judentums, wie ich mir solches vorstelle, die Außenlinien entworfen. Lehrbegriffe und Gesetze; Gesinnungen und Handlungen. Jene waren nicht an Worte und Schriftzeichen gebunden, die fuͤr alle Menschen und Zeiten, unter allen Revolutionen der Spra- chen, Sitten, Lebensart und Verhaͤltnisse im- mer dieselben bleiben, uns immer dieselbe steife Formen darbieten sollen, in welche wir unsere Begriffe nicht einzwaͤngen koͤnnen, ohne sie zu zerstuͤmmeln. Sie wurden dem lebendigen, gei- stigen Unterrichte anvertrauet, der mit allen Veraͤnderungen der Zeiten und Umstaͤnde glei- chen Schritt halten, und nach dem Beduͤrfnis, nach der Faͤhigkeit und Fassungskraft des Lehr- lings abgeaͤndert und gemodelt werden kann. Die Veranlassung zu diesem vaͤterlichen Unter- richte fand man in dem geschriebenen Gesetzbu- che, und in den Zeremonialhandlungen, die der Bekenner des Judentums unaufhoͤrlich zu beob- achten hatte. Es war Anfangs ausdruͤcklich verboten, uͤber die Gesetze mehr zu schreiben, als Gott der Nation durch Mosen hat verzeich- nen nen lassen. „Was muͤndlich uͤberliefert worden,“ sagen die Rabbinen, „ist dir nicht erlaubt, nie- „derzuschreiben.“ Mit vielem Widerwillen ent- schlossen sich die Haͤupter der Synagoge in den folgenden Zeiten zu der nothwendig gewordenen Erlanbnis, uͤber die Gesetze schreiben zu duͤrfen. Sie nannten diese Erlaubnis eine Zerstoͤrung des Gesetzes, und sagten mit dem Psalmisten: „es „ist eine Zeit, da man um des Ewigen willen, „das Gesetz zerstoͤren muß.“ So sollte es aber, der urspruͤnglichen Verfassung nach, nicht seyn. Das Zeremonialgesetz selbst ist eine lebendige, Geist und Herz erweckende Art von Schrift, die bedeutungsvoll ist, und ohne Unterlaß zu Be- trachtungen erweckt, und zum muͤndlichen Un- terrichte Anlaß und Gelegenheit giebt. Was der Schuͤler vom Morgen bis Abend that und thun sahe, war ein Fingerzeig auf religiose Leh- ren und Gesinnungen, trieb ihn an, seinem Lehrer zu folgen, ihn zu beobachten, alle seine Handlungen zu bemerken, den Unterricht zu ho- len, dessen er durch seine Anlagen faͤhig war, und sich durch sein Btragen wuͤrdig gemacht hatte. Die Ausbreitung der Schriften und Buͤ- cher cher, die durch die Erfindung der Druckerey in unsern Tagen ins Unendliche vermehrt worden sind, hat den Menschen ganz umgeschaffen. Die große Umwaͤlzung des ganzen Systems der menschlichen Erkenntnisse und Gesinnungen, die sie hervorgebracht, hat von der einen Seite zwar ersprießliche Folgen fuͤr die Ausbildung der Menschheit, dafuͤr wir der wohlthaͤtigen Vorse- hung nicht genug danken koͤnnen; indessen hat sie, wie alles Gute, das dem Menschen hienie- den werden kann, so manches Uebel nebenher zur Folge, das zum Theil dem Mißbrauche, zum Theil auch der nothwendigen Bedingung der Menschlichkeit zuzuschreiben ist. Wir lehren und unterrichten einander nur in Schriften; lernen die Natur und die Menschen kennen, nur aus Schriften; arbeiten und erholen, erbauen und ergoͤtzen uns durch Schreiberey; der Prediger unterhaͤlt sich nicht mit seiner Gemeine, er liest oder deklamirt ihr eine aufgeschriebene Abhand- lung vor. Der Lehrer anf dem Catheder liest seine geschriebenen Hefte ab. Alles ist todter Buchstabe; nirgends Geist der lebendigen Unter- haltung. Wir lieben und zuͤrnen in Briefen, zanken zanken und vertragen uns in Briefen, unser ganzer Umgang ist Briefwechsel, und wenn wir zusammenkommen, so kennen wir keine andere Unterhaltung, als spielen oder vorlesen . Daher ist es gekommen, daß der Mensch fuͤr den Menschen fast seinen Werth verloren hat. Der Umgang des Weisen wird nicht gesucht; denn wir finden seine Weisheit in Schriften. Alles was wir thun, ist ihn zum Schreiben auf- zumuntern, wenn wir etwa glauben, daß er noch nicht genug hat drucken lassen. Das graue Alter hat seine Ehrwuͤrdigkeit verloren; denn der unbaͤrtige Juͤngling weis mehr aus Buͤ- chern, als jenes aus der Erfahrung. Wohlver- standen, oder uͤbelverstanden, darauf koͤmmt es nicht an; genug er weis es, traͤgt es auf den Lippen, und kann es dreister an den Mann brin- gen, als der ehrliche Greis, dem vielleicht mehr die Begriffe, als die Worte zu Gebote stehen. Wir begreifen nicht mehr, wie der Prophet es hat fuͤr ein so erschreckliches Uebel halten koͤn- nen, daß der Juͤngling sich erhebe uͤber den Greis ; oder wie jener Grieche dem Staate habe den Untergang prophezeihen koͤnnen, weil in ei- ner ner oͤffentlichen Versamlung sich eine muthwil- lige Jugend uͤber einen Alten lustig gemacht hatte. Wir brauchen des erfahrnen Mannes nicht, wir brauchen nur seine Schriften. Mit einem Worte, wir sind litterati, Buchstaben- menschen . Vom Buchstaben haͤngt unser gan- zes Wesen ab, und wir koͤnnen kaum begreifen, wie ein Erdensohn sich bilden, und vervollkomm- nen kann, ohne Buch . So war es nicht in den grauen Tagen der Vorwelt. Kann man nun schon nicht sagen, es war besser; so war es doch sicherlich anders. Man schoͤpfte aus andern Quellen, sammlete und erhielt in andern Gefaͤßen, und vereinzelte das Aufbewahrte durch ganz andere Mittel. Der Mensch war dem Menschen nothwendiger; die Lehre war genauer mit dem Leben, Betrach- tung inniger mit Handlung verbunden. Der Unerfahrne mußte dem Erfahrnen, der Schuͤler seinem Lehrer auf dem Fuße nachfolgen, seinen Umgang suchen, ihn beobachten, und gleichsam ausholen, wenn er seine Wißbegierde befriedi- gen wollte. Um deutlicher zu zeigen, was die- ser Umstand fuͤr Einfluß auf Religion und Sit- ten ten gehabt, muß ich mir abermals eine Ab- schweifung von meinem Wege erlauben, von der ich aber gar bald wieder einlenken werde. Meine Materie graͤnzet an so mannichfache andere Materien an, daß ich mich nicht immer auf dem- selben Gange erhalten kann, ohne in Nebenwege auszuweichen. Mich duͤnkt, die Veraͤnderung, die in den verschiedenen Zeiten der Cultur mit den Schrift- zeichen vorgegangen, habe von jeher an den Re- volutionen der menschlichen Erkenntnisse uͤber- haupt, und insbesondere an den mannigfaltigen Abaͤnderungen ihrer Meinungen und Begriffe in Religionssachen sehr wichtigen Antheil, und wenn sie dieselben nicht voͤllig allein verursacht, doch wenigstens mit andern Nebensachen auf eine merkliche Weise mitgewirkt. Kaum hoͤret der Mensch auf, sich mit den ersten Eindruͤcken der aͤussern Sinne zu begnuͤgen, und welcher Mensch kann es lange dabey bewenden lassen? Kaum fuͤhlet er den seiner Seele eingesenkten Sporn, aus diesen aͤussern Eindruͤcken sich Be- griffe zu bilden, so wird er die Nothwendigkeit gewahr, sie an sinnliche Zeichen zu binden; nicht nicht nur, um sie andern mittheilen, sondern um sie fuͤr sich selbst festhalten, und so oft es noͤ- thig ist, wieder beachten zu koͤnnen Die ersten Schritte zur Absonderung allgemeiner Merkmale wird er zwar ohne Zeichen thun koͤnnen, und thun muͤssen; denn noch itzt muͤssen alle neue abstrakte Begriffe ohne Huͤlfe der Zeichen gebil- det, und sodann erst mit einem Namen belegt werden. Das gemeinsame Merkmal muß zu- voͤrderst, durch die Kraft der Aufmerksamkeit, aus dem Gewebe, in welchem es verflochten ist, her- ausgehoben, und hervorstechend gemacht wer- den. Hierzu verhilft von der einen Seite die objektive Gewalt des Eindruks, den dieses Merkmal auf uns zu machen faͤhig ist; so wie von unserer Seite, das subjektive Interesse, das wir an demselben haben. Aber dieses Heraus- heben und Beachten des gemeinsamen Merk- mals kostet der Seele einige Anstrengung. Nicht lange, so verschwindet das Licht wieder, das die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt des Gegen- standes gesammelt hatte, und er verlieret sich in den Schatten der ganzen Masse, mit welcher er vereinigt ist. Die Seele ist nicht im Stande Zweiter Abschn . E viel viel weiter zu kommen, wenn diese Anstrengung eine Zeitlang anhalten, und gar zu oft wie- derholt werden muß. Sie hat angefangen ab- zusondern; aber sie kann nicht denken. Wie ist ihr zu rathen? — Die weise Vorsebung hat ihr ein Mittel sehr nahe gelegt, dessen sie sich zu al- len Zeiten bedienen kann. Sie heftet das abgezo- gene Merkmal, entweder durch eine natuͤrliche, oder willkuͤhrliche Ideenverbindung an ein sinnli- ches Zeichen, das, so oft sein Eindruk erneuert wird, auch zugleich dieses Merkmal, rein und unvermischt, wieder hervorbringt und beleichtet. So sind, wie bekannt, die aus natuͤrlichen und willkuͤhrlichen Zeichen zusammengesetzten Spra- chen der Menschen entstanden, ohne welche sie sich nur wenig vom unvernuͤnftigen Thiere haͤt- ten unterscheiden koͤnnen; weil der Mensch, ohne Huͤlfe der Zeichen, sich kaum um einen Schritt vom Sinnlichen entfernen kann. So wie die ersten Schritte zur vernuͤnftigen Erkenntnis gethan werden mußten, auf eben die Weise werden die Wissenschaften noch itzt erweitert und mit Erfindungen bereichert, und daher ist zuweilen die Erfindung eines Worts in den den Wissenschaften von großer Wichtigkeit. Der erste, der das Wort Natur erfunden, scheinet eben keine große Entdekkung gemacht zu haben. Gleichwohl hatten es seine Zeitgenossen ihm zu verdanken, daß sie den Gaukler, der sie eine Er- scheinung in der Luft sehen lies, beschaͤmen, und sagen konnten, sein Spiel sey nichts Uebernatuͤr- liches; sondern eine Wirkung der Natur . Ge- setzt, sie wußten noch nichts Deutliches von den Eigenschaften gebrochener Strahlen, und wie durch dieselben ein Bild in der Luft hervorge- bracht werden koͤnne, — und wie weit reichet denn noch itzt unsere Erkenntnis hierin? Kaum um einen Schritt weiter; denn von der Natur des Lichts selbst und von seinen innern Bestandthei- len sind wir noch wenig unterrichtet; — so muß- ten sie doch wenigstens eine einzelne Erscheinung auf ein allgemeines Naturgesetz zuruͤck zubringen, und waren nicht genoͤthiget, jedem Spiele eine be- sondere, freywillige Ursache zuzuschreiben. So war es auch mit der neueren Entdeckung daß die Luft eine Schwere habe. Wissen wir schon nicht die Schwere selbst zu erklaͤren, so sind wir doch wenigstens im Stande, die Beobachtung, daß E 2 die die fluͤssigen Materien in luftleeren Roͤhren in die Hoͤhe steigen, auf das allgemeine Gesetz der Schwere zu reduziren, das dem ersten An- scheine nach, vielmehr die Fluͤssigkeit sinken ma- chen sollte. Wir koͤnnen begreiflich machen, wie durch das allgemeine Sinken, das wir nicht erklaͤren koͤnnen, in diesem Falle hat ein Steigen hervorgebracht werden muͤssen; und auch dieses ist ein Schritt weiter in der Erkenntnis. Es ist also nicht jedes Wort in den Wissenschaften so- gleich fuͤr leeren Schall zu erklaͤren, wenn es nicht aus fruͤhern Elementarbegriffen hergeleitet werden kann. Genug, wenn es eine allgemeine Eigenschaft der Dinge nur in ihrem wahren Um- fange bezeichnet. Der Ausdruck fuga vacui wuͤrde nicht zu tadeln gewesen seyn; wenn er nicht allgemeiner gewesen waͤre, als die Beob- achtung. Man fand, daß es Faͤlle gebe, wo die Natur nicht so gleich das Leere anzufuͤllen eile; daher die Redensart nicht als leer, son- dern als falsch zu verwerfen gewesen. — So bleiben die Worter: Cohaͤsion der Koͤrper und allgemeine Gravitation , in den Wissenschaf- ten noch immer von großer Wichtigkeit; ob wir sie sie gleich noch nicht aus fruͤhern Grundbegriffen abzuleiten wissen. Bevor der Herr von Haller das Gesetz der Reitzbarkeit entdeckte, wird so mancher Beob- achter die Erscheinung selbst in der organischen Natur lebendiger Geschoͤpfe wahrgenommen ha- ben. Allein sie verschwand in dem ersten Augen- blick wieder, und zeichnete sich nicht genug von Rebenerscheinungen aus, um die Aufmerksam- keit des Beobachters fest zu halten. So oft die Bemerkung wiederkam, war sie ihm eine ein- zelne Wirkung der Natur, die ihn an die Menge der Faͤlle nicht erinnern konnte, in welchen er dasselbe wahrgenommen hatte; sie verlor sich also gar bald wieder, so wie die vorher gegange- nen, und ließ weiter kein merkliches Andenken in der Seele zuruͤck. Nur Hallern gelang es, diesen Umstand aus der Verbindung herauszu- heben, seine Allgemeinheit gewahr zu werden, ihn mit einem Worte zu bezeichnen, und nun- mehr hat er unsere Aufmerksamkeit rege gemacht, und wir wissen jeden besondern Fall, in welchem wir etwas aͤhnliches inne werden, auf ein allge- meines Naturgesetz hinzuleiten. E 3 Die Die Bezeichnung der Begriffe ist also doppelt nothwendig: einmal fuͤr uns selbst, gleichsam als ein Gefaͤß, worinnen sie verwahrt, und zum Gebrauch bey der Hand bleiben moͤgen, und so- dann um unsere Gedanken anderen mittheilen zu koͤnnen. Nun haben die Laute, oder die hoͤr- baren Zeichen, in letzterer Ruͤcksicht einigen Vor- zug; denn wenn wir unsere Gedanken andern mittheilen wollen, so sind die Begriffe schon in der Seele gegenwaͤrtig, und wir koͤnnen, nach Erfordern, die Laute hervorbringen, durch wel- che sie bezeichnet und unsern Nebenmenschen vernehmlich werden. So aber nicht in Absicht auf uns selbst. Wollen wir die abgesonderten Begriffe zu einer andern Zeit wieder in der Seele erwecken und vermittelst der Zeichen in Erinnerung bringen koͤnnen; so muͤssen die Zei- chen sich von selbst darbiethen, und nicht erst auf unsere Willkuͤhr warten, die sie hervorrufe; in- dem diese schon die Ideen voraussetzt, deren wir uns erinnern wollen. Diesen Vortheil verschaf- fen die sichtbaren Zeichen, weil sie fortdauernd sind, und nicht immer wieder hervorgebracht werden muͤssen, um Eindruck zu machen. Die Die ersten sichtbaren Zeichen, deren sich die Menschen zu Bezeichnung ihrer abgesonderten Be- griffe bedient haben, werden vermuthlich die Din- ge selbst gewesen seyn. Wie naͤmlich jedes Ding in der Natur einen eigenen Charakter hat, mit wel- chem es sich von allen uͤbrigen Dingen auszeichnet; so wird der sinnliche Eindruck, den dieses Ding auf uns macht, unsere Aufmerksamkeit hauptsaͤchlich auf dieses Unterscheidungszeichen lenken, die Idee desselben rege machen, und also zur Bezeichnung desselben gar fuͤglich dienen koͤnnen. So kann der Loͤwe ein Zeichen der Tapferkeit, der Hund ein Zeichen der Treue, der Pfau ein Zeichen der stolzen Schoͤnheit geworden seyn, und so haben die ersten Aerzte lebendige Schlangen mit sich gefuͤhrt, zum Zeichen, daß sie das Schaͤdliche un- schaͤdlich zu machen wuͤsten. Mit der Zeit kann man es bequemer gefunden haben, anstatt der Dinge selbst, ihre Bildnisse in Koͤrpern oder auf Flaͤchen zu nehmen; end- lich der Kuͤrze halber sich der Umrisse zu bedie- nen, sodann einen Theil des Umrisses Statt des Ganzen gelten zu lassen, und endlich aus hetero- genen Theilen ein unfoͤrmliches, aber bedeu- E 4 tungs- tungsvolles Ganze zusammenzusetzen; und diese Bezeichnungsart ist die Hieroglyphik . Alles dieses hat, wie man siehet, sich ganz natuͤrlich so entwickeln koͤnnen; aber von der Hieroglyphik bis zu unserer alphabetischen Schrift — dieser Uebergang scheinet einen Sprung, und der Sprung mehr als gemeine Menschenkraͤfte zu erfordern. Daß zwar, wie einige glauben, unsere al- phabetische Schrift blos Zeichen der Laute, und nicht anders, als vermittelst der Laute, auf Sa- chen und Begriffe anzuwenden seyn sollte, ist voͤllig ohne Grund. Uns, die wir von den hoͤr- baren Zeichen lebhaftere Vorstellungen haben, bringet allerdings die Schrift auf die vornehm- lichen Worte zuerst. Uns also gehet der Weg von Schrift auf Sache, uͤber und durch die Spra- che; aber deswegen ist es nicht nothwendig also. Dem Taubgebornen ist die Schrift unmittelbar Bezeichnung der Sachen, und wenn er sein Ge- hoͤr erlangt, werden ihn in den ersten Zeiten sicherlich die Schriftzeichen zuerst auf die unmit- telbar mit ihnen verbundenen Dinge, und sodann erst vermittelst derselben auf die Laute bringen, die die ihnen entsprechen. Die Schwierigkeit, die ich mir beym Uebergange auf unsere Schrift vor- stelle, ist eigentlich diese, daß man ohne Vorbe- reitung und Anlaß hat den uͤberdachten Vorsatz fassen muͤssen, durch eine geringe Anzahl von Elementarzeichen und ihre moͤglichen Versetzun- gen eine Menge von Begriffen zu bezeichnen, die weder zu uͤbersehen, noch dem ersten An- scheine nach, in Classen zu bringen, und dadurch zu umfassen scheinen mußten. Indessen ist auch hier der Gang des Verstan- des nicht ganz ohne Leitung gewesen. Da man sehr oft Gelegenheit gehabt, Schrift in Rede und Rede in Schrift zu verwandeln, und also die hoͤrbaren Zeichen mit den sichtbaren zu verglei- chen; so kann man gar bald bemerkt haben, daß sowohl in der Redesprache dieselben Laute, als in verschiedenen hieroglyphischen Bildern diesel- ben Theile oͤfters wiederkommen, aber immer in anderer Verbindung, wodurch sie ihre Bedeu- tung vervielfaͤltigen. Endlich wird man ge- wahr worden seyn, daß die Laute, die der Mensch hervorbringen und vernehmlich machen kann, so unendlich an der Zahl nicht sind, als E 5 die die Dinge, welche durch sie bezeichnet werden, daß man den ganzen Umfang aller vernehmli- chen Laute gar bald umfassen und in Classen ab- theilen koͤnne. Und sonach kann man diese Ein- theilung, Anfangs unvollstaͤndig versucht, mit der Zeit ergaͤnzt und immer verbessert, und jeder Classe ein ihr entsprechendes Schriftzeichen aus der Hieroglyphik zugeeignet haben. Es bleibt zwar auch so noch eine der herrlichsten Entde- ckungen des menschlichen Geistes; allein man sie- het doch wenigstens, wie die Menschen haben allmaͤhlig, ohne Flug der Erfindungskraft, dar- auf gefuͤhrt werden koͤnnen, sich das Unermeß- liche als meßbar zu denken, gleichsam den ge- stirnten Himmel in Figuren abzutheilen, und so jedem Sterne seinem Ort anzuweisen, ohne die Anzahl der Sterne zu wissen. Ich glaube, bey den hoͤrbaren Zeichen war die Spur leichter zu entdecken, der man nur nachgehen durfte, um die Figuren wahrzunehmen, in welche sich das un- ermeßliche Heer der menschlichen Begriffe brin- gen ließe; und sodann war es so schwer nicht mehr, die Anwendung davon auf die Schrift zu machen, und auch diese zu schichten, und in Classen Classen abzutheilen. Mich duͤnkt daher, ein Volk von Taubgebornen, wuͤrde mehr Erfin- dungskraft anzustrengen haben, von der Hiero- glyphik auf die alphabetische Schrift zu kommen; weil sichs bey den Schriftzeichen nicht so leicht einsehen laͤßt, daß sie einen faßlichen Umfang haben, und in Classen zu bringen seyen. Ich bediene mich des Worts Classen, so oft von den Elementen der lautbaren Sprachen die Rede ist; denn noch itzt in unsern lebendigen, ausgebildeten Sprachen, ist die Schrift bey wei- tem so mannigfaltig nicht, als die Rede, und wird dasselbe Schriftzeichen in verschiedener Verbin- dung und Stellung verschiedentlich gelesen und ausgesprochen. Gleichwohl ist es offenbar, daß wir durch den haͤufigen Gebrauch der Schrift unsere Redesprache eintoͤniger, und nach Anleitung und Beduͤrfniß der Schrift, elementarischer gemacht haben. Daher die Nationen, die der Schrift nicht kundig sind, eine weit groͤßere Mannigfaltigkeit in ihrer Redesprache haben, und viele Laute in derselben so unbestimmt sind, daß wir sie durch unsere Schriftzeichen nur sehr unvollkommen an- zudeuten im Stande sind. Man wird also An- fangs fangs die Sachen haben im Ganzen nehmen, und eine Menge aͤhnlicher Laute, durch ein und eben dasselbe Schriftzeichen bezeichnen muͤssen. Mit der Zeit aber werden feinere Unterschiede wahrgenommen, und zu ihrer Bezeichnung meh- rere Buchstaben angenommen worden seyn. Daß aber unser Alphabet aus einer Art von hierogly- phischer Schrift entlehnt worden, ist noch itzt an den mehresten Zuͤgen, und Namen des hebraͤischen Alphabets Als א Rind, ב Haus, ג Kamel, ד Thuͤre. ו Hacken, ז Schwerdt, כ Faust, Loͤffel, ל Stimu- lus, ן Fisch, ס Stuͤtze, Unterlage, ע Auge, פ Mund, ק Affe, ש Zaͤhne. zu erkennen, und aus diesen sind, wie aus der Geschichte offenbar ist, alle uͤbrige uns bekannte Schriftarten entstanden. Ein Phoͤnizier war es, der die Griechen in der Kunst zu schreiben unterrichtete. Alle diese verschiedenen Modifikationen der Schrift und Bezeichnungsarten muͤssen auch auf den Fortgang und Verbesserung der Begriffe, Meinungen und Kenntnisse verschiedentlich ge- wirkt haben. Von der einen Seite zu ihrem Vortheil. Die Beobachtungen, Versuche und Betrach- Betrachtungen in astronomischen, oͤkonomischen, moralischen und religiosen Dingen wurden ver- vielfaͤltiget, ausgebreitet, erleichtert und den Nachkommen aufbehalten. Sie sind die Zellen, in welche die Bienen ihren Honig sammlen, und zum Genusse fuͤr sich und andere aufbewah- ren. — Allein, wie es in menschlichen Dingen allezeit gehet. Was die Weisheit hier bauet, suchet die Thorheit dort schon wieder einzureis- sen, und mehrentheils bedient sie sich derselben Mittel und Werkzeuge. Mißverstand von der einen, und Mißbrauch von der andern Seite verwandelten das, was Verbesserung des mensch- lichen Zustandes seyn sollte, in Verderben und Verschlimmerung. Was Einfalt und Unwissen- heit war, ward nunmehr Verfuͤhrung und Irr- tum. Von der einen Seite Mißverstand: der große Haufe war von den Begriffen, die mit diesen sinnlichen Zeichen verbunden seyn sollten, gar nicht, oder nur halb unterrichtet. Sie sahen die Zeichen nicht als blosse Zeichen an; sondern hielten sie fuͤr die Dinge selbst. So lange man sich noch der Dinge selbst, oder ihrer Bildnisse und Umrisse statt der Zeichen bediente, war die- ser ser Irrtum leicht moͤglich. Die Dinge hatten ausser ihrer Bedeutung, auch ihre eigene Rea- litaͤt. Die Muͤnze war zugleich Waare, die ih- ren eigenen Gebrauch und Nutzen hat; daher der Unwissende desto leichter ihren Werth als Muͤnze, verkennen und unrichtig angeben konnte. Die hieroglyphische Schrift konnte zwar zum Theil diesen Irrtum benehmen, oder beguͤn- stigte ihn wenigstens so sehr nicht, als die Um- risse; denn diese waren aus heterogenen und uͤbel passenden Theilen zusammengesetzt; unfoͤrmliche und widersinnige Gestalten, die kein eigenes Daseyn in der Natur haben, und also, wie man denken sollte, nicht fuͤr Schrift genommen werden konnten. Allein dieses raͤthselhafte und fremde in der Zusammensetzung selbst gab dem Aberglauben Stof zu mancherley Erdichtung und Fabel. Heucheley und muthwilliger Mißbrauch waren von der andern Seite geschaͤftig, und ga- ben ihm Maͤhrchen an die Hand, die er zu erfin- den, nicht sinnreich genug war. Wer einmal Gewicht und Ansehen sich erworben, moͤchte sol- ches, wo nicht vermehren, doch wenigstens gern erhalten. Wer einmal auf eine Frage eine be- friedi- friedigende Antwort gegeben, moͤchte solche gern niemals schuldig bleiben. Da ist keine Fratze so ungeraͤumt, keine Posse so possenhaft, zu der man nicht seine Zuflucht nimmt, keine Fabel so vernunftlos, die man der Einfalt nicht einzubil- den suchet, um nur auf jedes Warum ? also- fort mit einem Darum zur Hand seyn zu koͤn- nen. Unaussprechlich bitter wird das Wort: ich weis nicht! wenn man sich erst als ein vielwissender, oder gar alleswissender angekuͤndi- get hat; insbesondere, wenn Stand und Amt und Wuͤrde von uns zu fordern scheine, daß wir wissen sollen. Ach! wie manchem mag das Herz schlagen, wenn er itzt auf dem Punkte ist, Gewicht und Ansehen zu verlieren, oder an der Wahrheit zum Verraͤther zu werden; und wie wenige besitzen die Klugheit des Sokrates, selbst in den Faͤllen, wo man etwas mehr weis, als sein Naͤchster, immer noch die erste Antwort seyn zu lassen: ich weis nichts ! damit man sich selbst Verlegenheit erspare, und auf den Fall, da ein solches Bekenntniß noͤthig seyn wuͤrde, die Selbstdemuͤthigung zum voraus leichter gemacht habe. Indessen Indessen siehet man, wie hieraus hat Thier- dienst, und Bilderdienst, Goͤtzen und Menschen- dienst, Fabeln und Maͤhrchen entstehen koͤnnen, und wenn ich dieses schon nicht fuͤr die einzige Quelle der Mythologie ausgebe; so glaube ich doch, daß es zur Entstehung und Fortpflanzung aller dieser Albernheiten sehr viel hat beytragen koͤnnen. Insbesondere laͤßt sich hieraus eine Bemerkung erklaͤren, die Hr. Pr. Meiners ir- gend wo in seinen Schriften gemacht hat. Er will durchgehends bemerkt haben, daß bey den urspruͤnglichen Nationen, solchen naͤmlich, die sich selbst gebildet, und ihre Kultur keiner an- dern Nation zu verdanken haben, mehr Thier- dienst als Menschendienst, im Schwange gewe- sen, ja leblose Dinge weit eher als Menschen goͤttlich verehrt und angebetet worden seyn. Ich setze die Richtigkeit der Bemerkung voraus, und lasse den philosophischen Geschichtsforscher dafuͤr die Gewaͤhr leisten. Ich will versuchen sie zu erklaͤren! Wenn die Menschen die Dinge selbst, oder ihre Bildnisse und Umrisse Zeichen der Begriffe seyn lassen; so koͤnnen sie zu Bezeichnung mora- lischer lischer Eigenschaften keine Dinge bequemer und bedeutender finden, als die Thiere. Die Ursa- chen sind eben dieselben, die mein Freund Les- sing , in seiner Abhandlung von der Fabel, an- giebt, warum Aesop die Thiere zu seinen han- delnden Wesen in der Apologue gewaͤhlt hat. Jedes Thier hat seinen bestimmten, auszeich- nenden Charakter, und kuͤndiget sich dem ersten Anblicke gleich von dieser Seite an, indem die ganze Bildung desselben mehrentheils auf dieses eigentuͤmliche Unterscheidungszeichen hinweiset. Dieses Thier ist behende, jenes scharfsichtig; die- ses stark, jenes gelassen; dieses treu, und den Menschen ergeben, jenes falsch, oder liebt die Freyheit u. s. w. Ja die leblosen Dinge selbst haben in ihrem Aeußern mehr Bestimmtheit, als der Mensch dem Menschen. Dieser sagt, dem ersten Anblicke nach, nichts, oder vielmehr al- les. Er besitzet diese Eigenschaften alle, schließt keine derselben wenigstens voͤllig aus, und das Mehr oder Weniger davon zeigt er nicht sogleich an der Oberflaͤche. Sein unterscheidender Cha- rakter faͤllt also nicht in die Augen, und er ist Zweiter Abschn . F zu zu Bezeichnung moralischer Begriffe und Eigen- schaften das unbequemste Ding in der Natur. Noch itzt koͤnnen in den bildenden Kuͤnsten die Personen der Goͤtter und Helden nicht besser angedeutet werden, als vermittelst der thieri- schen oder leblosen Bilder, die man ihnen zuge- sellt. Ist schon eine Minerva von einer Juno der Bildung nach unterschieden, so zeichnen sie sich gleichwohl durch die thierischen Merkmale, die ihnen zugegeben werden, weit besser aus. Auch der Dichter, wenn er von sittlichen Eigen- schaften in Metaphern und Allegorien reden will, nimmt mehrentheils seine Zuflucht zu den Thie- ren. Loͤwe, Tyger, Adler, Stier, Fuchs, Hund, Baͤr, Wurm, Taube, alles dieses spricht, und die Bedeutung springet in die Augen. Daher wird man zuerst auch die Eigenschaften des An- betungswuͤrdigsten durch dergleichen Zeichen ha- ben anzudeuten und sinnlich zu machen gesucht. In der Nothwendigkeit diese abgezogensten Be- griffe an sinnliche Dinge zu heften, und an sol- che sinnliche Dinge, die am wenigsten vieldeu- tig sind, wird man thierische Bilder haben waͤh- len, oder aus ihnen welche zusammensetzen muͤs- sen sen. Und wir haben gesehen, wie ein so un- schuldiges Ding, eine blosse Schriftart, in den Haͤnden der Menschen gar bald ausarten, und in Abgoͤtterey uͤbergehen kann. Natuͤrlich also wird alle urspruͤngliche Abgoͤtterey mehr Thier- dienst, als Menschendienst seyn. Menschen konnten zur Bezeichnung goͤttlicher Eigenschaf- ten gar nicht gebraucht werden, und die Vergoͤt- terung derselben mußte von einer ganz andern Seite kommen. Es mußten etwan Helden und Eroberer, oder Weise, Gesetzgeber und Prophe- ten aus einer gluͤcklichen und fruͤher gebildeten Weltgegend heruͤber gekommen seyn, und sich durch außerordentliche Talente so hervorgethan, so erhaben gezeigt haben, daß man sie als Boten der Gottheit, oder als die Gottheit selbst verehr- te. Daß dieses aber weit fuͤglicher bey Natio- nen eintreffen kann, die ihre Kultur nicht sich selbst, sondern andern zu verdanken haben, laͤßt sich leicht begreifen; weil, wie das gemeine Sprichwort lautet, ein Prophet in seiner Heimat selten zu außerordentlichem Ansehen ge- langet. — Und sonach waͤre die Bemerkung des Herrn Meiners , eine Art von Bestaͤtigung F 2 fuͤr fuͤr meine Hypothese, daß das Beduͤrfniß der Schriftzeichen die erste Veranlassung zur Abgoͤt- terey gewesen. Bey Beurtheilung der Religionsbegriffe ei- ner sonst noch unbekannten Nation muß man sich, aus eben der Ursache, huͤten, nicht alles mit eigenen heimischen Augen zu sehen, um nicht Goͤtzendienst zu nennen, was im Grunde vielleicht nur Schrift ist. Man stelle sich vor, ein zweiter Omhya, der von dem Geheimniß der Schreibekunst nichts wuͤßte, wuͤrde ploͤtzlich, oh- ne sich nach und nach an unsere Ideen zu gewoͤh- nen, aus seinem Welttheile in irgend einen der bil- derfreyesten Tempel von Europa — um das Bey- spiel auffallender zu machen — in den Tempel der Providenz versetzt. Er faͤnde alles leer von Bildern und Verzierung; nur dort auf der wei- ßen Wand einige schwarze Zuͤge Die Worte: Gott, allweise, allmächtig, all- gütig, belohnt das Gute. die vielleicht das ohngefaͤhr dahin gestrichen, Doch nein! die ganze Gemeine schauet auf diese Zuͤge mit Ehrfurcht, faltet die Haͤnde zu ihnen, richtet zu zu ihnen die Anbetung. Nun fuͤhret ihn eben so schnell und eben so ploͤtzlich nach Othaiti zu- ruͤck, und lasset ihn seinen neugierigen Landesleu- ten von den Religionsbegriffen des D. Philan- tropins Bericht abstatten. Werden sie den abge- schmackten Aberglauben ihrer Mitmenschen nicht zugleich belachen und bedauern, die so tief gesun- ken sind, schwarzen Zuͤgen auf weissem Grunde goͤttliche Ehre zu erzeigen? — Aehnliche Fehler moͤgen unsere Reisenden sehr oft begehen, wenn sie uns von der Religion entfernter Voͤlker Nach- richt ertheilen. Sie muͤssen sich die Gedanken und Meinungen einer Nation sehr genau bekannt machen, bevor sie mit Zuverlaͤßigkeit sagen koͤn- nen, ob die Bilder bey ihr noch den Geist der Schrift haben, oder schon in Abgoͤtterey aus- geartet sind. Die Eroberer Jerusalems fanden bey Pluͤnderung des Tempels die Cherubim auf der Lade des Bundes, und hielten sie fuͤr die Goͤtzenbilder der Juden. Sie sahen alles mit barbarischen Augen, und aus ihrem Gesichts- punkte. Ein Bild der goͤttlichen Vorsehung und obwaltenden Gnade nahmen sie, ihrer Sitte nach, fuͤr Bild der Gottheit, fuͤr Gott- F 3 heit heit selber, und freueten sich ihrer Entdeckung. So lachen die Leser noch itzt uͤber die indiani- schen Weltweisen, die dieses Weltall von Ele- phanten tragen lassen; die Elephanten auf eine große Schildkroͤte stellen, diese von einem un- geheuren Baͤren halten, und den Baͤr auf einer unermeßlichen Schlange ruhen lassen. Die gu- ten Leute haben wohl an die Frage nicht gedacht: worauf ruhet denn die unermeßliche Schlange? Nun leset in der Schasta der Gentoos selbst die Stelle, in welcher ein Sinnbild dieser Art beschrieben wird, das wahrscheinlicher Weise zu dieser Sage Gelegenheit gegeben hat. Ich ent- lehne sie aus dem zweiten Theil der Nachrich- ten von Bengalen und dem Kaisertum In- dostan von J. Z. Hollwell , der sich in den hei- ligen Buͤchern der Gentoos hat unterrichten las- sen, und im Stande war mit den Augen eines eingebornen Braminen zu sehen. So lauten die Worte im achten Abschnitte: Modu und Kytu (zwey Ungeheuer, Zwie- tracht und Aufruhr ,) waren uͤberwun- den, und nun trat der Ewige aus der Un- sicht- sichtbarkeit hervor, und Glorie umgab ihn von allen Seiten. Der Ewige sprach: du Birma , (Schoͤpfungs- kraft)! erschaffe und bilde alle Dinge der neuen Schoͤpfung, mit dem Geiste, den ich dir einhauche. — Und du, Bistnu , (Er- haltungskraft)! beschuͤtze und erhalte die erschaffenen Dinge und Formen, nach mei- ner Vorschrift. — Und du, Sieb , (Zerstoͤ- rung, Umbildung)! verwandele die Din- ge der neuen Schoͤpfung, und bilde sie um, mit der Kraft, die ich dir verleihen werde. Birma, Bistnu und Sieb vernahmen die Worte des Ewigen, buͤckten sich und bezeigten Gehorsam. Alsofort schwamm Birma auf die Oberflaͤche des Johala (Meerestiefe,) und die Kin- der Modu und Kytu flohen und verschwan- den, als er erschien. Als durch den Geist des Birma die Bewe- gungen der Tiefen sich legten, verwandelte sich Bistnu in einen maͤchtigen Baͤr (Zei- chen der Staͤrke, bey den Gentoos, weil er in Verhaͤltniß seiner Groͤße das staͤrkste F 4 Thier Thier ist), stieg hinab in die Tiefen des Johala , und zog mit seinen Hauhern Murto (die Erde) ans Licht. — Sodann entsprangen aus ihm freywillig eine maͤch- tige Schildkroͤte (Zeichen der Bestaͤndig- keit bey den Gentoos) und eine maͤchtige Schlange (derselben Zeichen der Weisheit) Und Bistnu richtete die Erde auf dem Ruͤk- ken der Schildkroͤte auf, und setzte Murto auf das Haupt der Schlange u. s. w. Alles dieses findet man bey ihnen auch in Bildern vrrgestellt, und man siehet, wie leicht solche Sinnbilder und Bilderschrift zu Irrtuͤ- mern verleiten koͤnnen. Die Geschichte der Menschheit hat wirklich, wie bekannt, einen Zeitraum von vielen Jahr- hunderten zuruckgelegt, in welchen ein wirkli- cher Goͤtzendienst fast auf dem ganzem Erdboden zur herrschenden Religion geworden. Die Bil- der hatten ihren Werth als Zeichen verloren. Der Geist der Wahrheit, der in ihnen aufbe- wahrt werden sollte, war verduftet, und das schale Vehikulum, das zuruͤckblieb, in verderb- liches Gift verwandelt. Die Begriffe von der Gott- Gottheit, die in den Volksreligionen sich noch erhielten, waren von Aberglauben so entstellt, von Heucheley und Pfaffenlist so verderbt, daß man mit Grunde zweifein konnte: ob nicht Ohn- goͤtterey der menschlichen Gluͤckseligkeit weniger schaͤdlich, ob so zu sagen, die Gottlosigkeit selbst nicht weniger gottlos sey, als eine solche Reli- gion. Menschen, Thiere, Pflanzen, die scheuß- lichsten und veraͤchtlichsten Dinge in der Natur wurden angebetet und als Gottheiten verehrt; oder vielmehr als Gottheiten gefuͤrchtet. Denn von der Gottheit hatten die oͤffentlichen Volks- religionen der damaligen Zeiten keinen andern Begriff, als von einem furchtbaren Wesen, das uns Erdbewohnern an Macht uͤberlegen, leicht zum Zorne zu reitzen, und schwer zu versoͤhnen ist. Zur Schmach des menschlichen Verstandes und Herzens wußte der Aberglaube die unver- traͤglichsten Begriffe mit einander zu verbinden, Menschenopfer und Thierdienst neben einander gelten zu lassen. In dem praͤchtigsten, nach allen Regeln der Kunst erbaueten und ausgezierten Tempeln, sahe man, wie Plutarch sich ausdruͤckt, zur Schande der Vernunft, sich nach der Gott- F 3 heit heit um, die hier angebetet wuͤrde, und fand auf dem Altare eine scheußliche Meerkatze; und die- sem Unthiere wurden bluͤhende Juͤnglinge und Maͤdchen geschlachtet. So tief hatte die Ab- goͤtterey die menschliche Natur erniedriget! Man schlachtete Menschen , wie der Prophet in ei- ner emphatischen Antithese sich ausdruͤckt, man schlachtete Menschen, um sie dem angebe- teten Viehe zu opfern . Hier und da wagten es zuweilen die Philo- sophen, sich dem allgemeinen Verderbniß zu wi- dersetzen, und oͤffentlich, oder durch geheime Anstalten, die Begriffe zu reinigen und aufzu- klaͤren. Sie versuchten es, dem Bildern ihre alte Bedeutung wieder zu geben, oder auch neue unterzulegen, und dadurch dem todten Leichnam gleichsam seinen Geist wieder einzu- hauchen. Aber vergeblich! Auf die Religion des Volks hatten ihre vernuͤnftigen Erklaͤrungen keinen Einfluß. So gierig der ungebildete Mensch nach Erklaͤrung zu seyn scheint, so unzufrieden ist er, wenn sie ihm in ihrer wahren Einfalt gegeben wird. Was ihm verstaͤndlich ist, wird ihm gar bald zum Ueberdrusse, und veraͤchtlich, und und er gehet immer nach neuen, geheimnißvol- len, unerklaͤrbaren Dingen aus, die er mit verdoppeltem Wohlgefallen beherziget. Seine Wißbegier will immer gespannt, niemals befrie- diget seyn. Der oͤffentliche Vortrag fand also bey den groͤßten Haufen kein Gehoͤr, oder viel- mehr von Seiten des Aberglaubens und der Heucheley den hartnaͤckigsten Widerstand, und empfing seinen gewoͤhnlichen Lohn, Verachtung, oder Haß und Verfolgung. Die geheimen An- stalten und Vorkehrungen, in welchen die Rechte der Wahrheit einigermaßen aufrecht erhalten werden sollten, gingen zum Theil, selbst den Weg der Corruption, und wurden zu Pflanz- schulen alles Aberglaubens, aller Laster und al- ler Abscheulichkeiten. — — Eine gewisse Schu- le der Weltweisen faßte den kuͤhnen Gedanken, die abgesonderten Begriffe der Menschen von al- lem bildlichen und bildaͤhnlichen zu entfernen, und an solche Schriftzeichen zu binden, die ihrer Natur nach, fuͤr nichts anders genommen wer- den koͤnnen, an Zahlen . Da die Zahlen an und fuͤr sich selbst nichts vorstellen, mit keinem sinnlichen Eindrucke in natuͤrlicher Verbindung stehen, stehen, so sollte man glauben, sie waͤren keiner Mißdeutung faͤhig; man muͤßte sie fuͤr willkuͤhr- liche Schriftzeichen der Begriffe nehmen, oder als unverstaͤndlich dahin gestellt seyn lassen. Hier sollte man meinen, kan der roheste Ver- stand nicht Zeichen mit Sachen verwechseln, und aller Mißbrauch waͤre durch diesen feinen Kunst- begriff verhuͤtet. Wem die Zahlen nicht ver- staͤndlich sind, dem sind sie leere Figuren. Wen sie nicht aufklaͤren, den koͤnnen sie wenigstens nicht verfuͤhren. So konnte sich der große Stifter dieser Schu- le bereden. Allein gar bald gieng in dieser Schule selbst der Unverstand seinen alten Gang. Unzufrieden mit dem, was man so verstaͤndlich, so begreiflich fand, suchte man in den Zahlen selbst eine geheime Kraft, in den Zeichen aber- mals eine unerklaͤrbare Realitaͤt, wodurch aber- mals ihr Werth als Zeichen verloren ging. Man glaubte, oder machte wenigstens andere glauben, daß in diesen Zahlen alle Geheimnisse der Natur und der Gottheit verborgen laͤgen, schrieb ihnen wunderthaͤtige Kraft zu, und woll- te durch und vermittelst derselben nicht nur die Neu- Neu- und Wißbegierde der Menschen, sondern ihre ganze Eitelkeit, ihr Streben nach hohen unerreichbaren Dingen, ihren Vorwitz und ih- re Habsucht, ihren Geitz und ihren Wahnsinn befriedigen. Mit einem Worte, die Thorheit hatte abermals die Anschlaͤge der Weisheit ver- eitelt, und das wieder vernichtet, oder gar zu ihrem Gebrauche verwendet, was diese zu besserm Endzwecke angeschaft hatte. Und nun bin ich im Stande meine Vermu- thung von der Bestimmung des Zeremonialge- setzes im Judentume deutlicher zu machen. — Die Stammvaͤter unserer Nation, Abraham, Isaak und Jakob, sind dem Ewigen treu geblie- ben, und haben lautere, von aller Abgoͤtterey entfernte Religionsbegriffe bey ihren Familien und Nachkommen zu erhalten gesucht. Und nun waren diese ihre Nachkommen von der Vor- sehung ausersehen, eine priesterliche Nation zu seyn; das ist, eine Nation, die durch ihre Einrichtung und Verfassung, durch ihre Gesetze, Handlungen, Schicksale und Veraͤnderungen immer auf gesunde unverfaͤlschte Begriffe von Gott und seinen Eigenschaften hinweise, solche unter unter Nationen gleichsam durch ihr blosses Da- seyn, unaufhoͤrlich lehre, rufe, predige und zu erhalten suche. Sie lebten unter Barbaren und Goͤtzendienern im aͤußersten Druck und das Elend hatte sie beynahe, gegen die Wahrheit so fuͤhllos gemacht, als ihre Unterdruͤcker der Ue- bermuth. Gott befreiete sie aus diesem sklavi- schen Zustande, durch außerordentliche Wunder- thaten, ward der Erretter, Anfuͤhrer, Koͤnig, Gesetzgeber und Gesetzverweser dieser von ihm gebildeten Nation, und legte ihre ganze Ver- fassung so an, wie es die weisen Absichten sei- ner Vorsehung erforderten. Schwach und kurz- sichtig ist des Menschen Auge! Wer kann sagen, ich bin in das Heiligtum Gottes gekommen, ha- be seinen Plan ganz uͤbersehen, weis seine Ab- sichten, Maß und Ziel und Graͤnze zu bestim- men? Aber erlaubt ist dem bescheidenen Forscher zu muthmassen, aus dem Erfolge zu schließen, wenn er nur bestaͤndig eingedenk ist, das er nichts als vermuthen kann. Wir haben gesehen, was fuͤr Schwierigkeit es hat, die abgesonderten Begriffe der Religion unter den Menschen durch fortdauernde Zeichen zu zu erhalten. Bilder und Bilderschrift fuͤhren zu Aberglauben und Goͤtzendienst, und unsere alphabethische Schreiberey macht den Menschen zu spekulativ. Sie legt die symbolische Er- kenntniß der Dinge und ihrer Verhaͤltnisse gar zu offen auf der Oberflaͤche aus, uͤberhebt uns der Muͤhe des Eindringens und Forschens, und macht zwischen Lehr und Leben eine gar zu wei- te Trennung. Diesen Maͤngeln abzuhelfen, gab der Gesetzgeber dieser Nation das Zeremonial- gesetz . Mit dem alltaͤglichen Thun und Lassen der Menschen sollten religiose und sittliche Er- kenntnisse verbunden seyn. Das Gesetz trieb sie zwar nicht zum Nachdenken an, schrieb ihnen blos Handlungen, blos Thun und Lassen vor. Die große Maxime dieser Vexfassung scheinet gewesen zu seyn: Die Menschen muͤssen zu Handlungen getrieben und zum Nachden- ken nur veranlasset werden . Daher jede dieser vorgeschriebenen Handlungen, jeder Ge- brauch, jede Zeremonie ihre Bedeutung, ihren gediegenen Sinn hatte, mit der spekulativen Er- kenntniß der Religion und der Sittenlehre in ge- nauer Verbindung, stand, und dem Warheits- for- forscher eine Veranlassung war, uͤber jene gehei- ligten Dinge selbst nachzudenken, oder von wei- sen Maͤnnern Unterricht einzuholen. Die zur Gluͤckseligkeit der Nation sowohl als der einzel- nen Glieder derselben nuͤtzliche Wahrheiten soll- ten von allem Bildlichen aͤußerst entfernt seyn; denn dieses war Hauptzweck, und Grundgesetz der Verfassung. An Handlungen und Verrich- tungen sollten sie gebunden seyn, und diese ih- nen statt der Zeichen dienen, ohne welche sie sich nicht erhalten lassen. Die Handlungen der Menschen sind voruͤbergehend, haben nichts Bleibendes, nichts Fortdaurendes, das, so wie die Bilderschrift, durch Mißbrauch oder Miß- verstand zur Abgoͤtterey fuͤhren kann. Sie ha- ben aber auch den Vorzug vor Buchstabenzei- chen, daß sie den Menschen nicht isoliren, nicht zum einsamen, uͤber Schriften und Buͤcher bruͤ- tenden Geschoͤpfe machen. Sie treiben vielmehr zum Umgange, zur Nachahmung und zum muͤnd- lichen, lebendigen Unterricht. Daher waren der geschriebenen Gesetze nur wenig, und auch diese ohne muͤndlichen Unterricht und Ueberlie- ferung nicht ganz verstaͤndlich, und es war ver- boten, boten, uͤber dieselbe mehr zu schreiben. Die ungeschriebenen Gesetze aber, die muͤndliche Ue- berlieferung, der lebendige Unterricht von Mensch zu Mensch, von Mund ins Herz, sollte erklaͤ- ren, erweitern, einschraͤnken, und naͤher bestim- men, was in dem geschriebenen Gesetze, aus weisen Absichten, und mit weiser Maͤßigung un- bestimmt geblieben ist. In allem, was der Juͤngling thun sahe, in allen oͤffentlichen sowohl als Privatverhandlungen, an allen Thoren und an allen Thuͤrpfosten, wohin er die Augen, oder die Ohren wendete, fand er Veranlassung zum Forschen und Nachdenken, Veranlassung einem aͤltern und weisern Manne auf allen seinen Tritten zu folgen, seine kleinsten Handlungen und Verrichtungen mit kindlicher Sorgfalt zu beobachten, mit kindlicher Gelehrigkeit nachzuah- men, nach dem Geiste und der Absicht dieser Verrichtungen zu forschen, und den Unterricht einzuholen, dessen sein Meister ihn faͤhig und empfaͤnglich hielt. So war Lehre und Leben, Weisheit und Thaͤtigkeit, Spekulation und Um- gang auf das Innigste verbunden; oder so sollte es vielmehr der ersten Einrichtung und Absicht Zweiter Abschn . G des des Gesetzgebers nach, seyn; aber, unerforsch- lich sind die Wege Gottes! auch hier gieng es, nach einer kurzen Periode, den Weg des Ver- derbnisses. Nicht lange, so war auch dieser glaͤnzende Zirkel durchlaufen, und die Sachen kamen wieder nicht weit von der Tiefe zuruͤck, von welcher sie ausgegangen waren, wie leider! seit vielen Jahrhunderten am Tage liegt. Schon in den ersten Tagen der so wunder- vollen Gesetzgebung fiel die Nation in den suͤnd- lichen Wahn der Aegyptier zuruͤck, und verlang- te ein Thierbild . Ihrem Vorgeben nach, wie es scheinet, nicht eigentlich als eine Gottheit zum Anbeten; hierinn wuͤrde der Hohepriester und Bruder des Gesetzgebers nicht gewillfahret haben, und wenn sein Leben noch so sehr in Ge- fahr gewesen waͤre. — Sie sprachen blos von einem goͤttlichen Wesen, das sie anfuͤhren und die Stelle Moses vertreten sollte, von dem sie glaubten, daß er seinen Posten verlassen haͤtte. Aron vermochte dem Andringen des Volks nicht laͤnger zu widerstehen, goß ihnen ein Kalb, und um sie bey dem Vorsatze festzuhalten, dieses Bild nicht, sondern den Ewigen allein goͤttlich zu zu verehren, rief er: morgen sey dem Ewi- gen zu Ehren ein Fest ! Aber am Festtage, beym Tanz und Schmause, ließ der Poͤdel ganz andere Worte hoͤren: dieses sind deine Goͤt- ter, Israel! die dich aus Aegypten gefuͤhrt haben ! Nun war das Fundamentalgesetz uͤber- treten, das Band der Nation aufgeloͤset. Ver- nuͤnstige Vorstellungen fruchten selten bey ei- nem aufgewiegelten Poͤbel, wenn die Unord- nung erst eingerissen, und man weis zu welchen harten Maaßregeln der goͤttliche Gesetzgeber sich hat entschließen muͤssen, das aufruͤhrische Gesindel wieder zum Gehorsam zu bringen. Es verdienet indessen angemerkt, und bewundert zu werden, was die Vorsehung Gottes aus die- sem ungluͤcklichen Vorfalle selbst fuͤr Vortheil zu ziehen, zu welcher erhabenen und ganz ih- rer wuͤrdigen Absicht sie ihn anzuwenden ge- wußt hat? Ich habe bereits oben angefuͤhrt, daß das Heidentum von der Macht der Gottheit noch ertraͤglichere Begriffe gehabt, als von ihrer Guͤte. Der gemeine Mann haͤlt Guͤte und Leichtversoͤhnlichkeit fuͤr Schwachheit. Er be- G 2 nei- neidet jeden um dem mindesten Vorzug an Macht, Reichtum, Schoͤnheit, Ehre u. s. w., nur nicht um den Vorzug an Guͤtigkeit. Und wie kann er auch dieses, da es doch groͤßten- theils nur von ihm selbst abhaͤngt, den Grad von Sanftmuth zu erlangen, den er beneidens- werth findet? Es gehoͤrt Nachsinnen dazu, wenn wir begreifen sollen, daß Haß und Rach- sucht, Neid und Grausamkeit, im Grunde nichts anders als Schwachheit , lediglich Wir- kungen der Furcht sind. Furcht, mit zufaͤlliger, unsicherer Ueberlegenheit verbunden, ist die Mut- ter aller dieser barbarischen Gesinnungen. Nur die Furcht macht grausam und unversoͤhnlich. Wer sich seiner Ueberlegenheit mit Sicherheit bewußt ist, findet weit groͤßre Gluͤckseligkeit in Nachsicht und Verzeihung. Hat man erst dieses einsehen gelernt, so kann man nicht laͤnger Anstand nehmen, Liebe fuͤr einen wenigstens eben so erhabenen Vorzug zu halten als Macht, und dem allerhoͤchsten We- sen, dem man Allmacht zuschreibt, auch Allguͤ- tigkeit zuzutrauen; den Gott der Staͤrke auch fuͤr den Gott der Liebe zu erkennen. Aber wie weit weit war das Heidentum von dieser Verfeine- rung entfernt! Ihr findet in ihrer ganzen Goͤt- terlehre, in allen Gedichten und andern Ueber- bleibseln der fruͤhern Zeit keine Spur, daß sie irgend einer ihrer Gottheiten auch Liebe und Barmherzigkeit gegen die Menschenkinder zuge- schrieben haͤtten. „Sowohl das Volk,“ sagt Herr Meiners Geschichte der Wissenschaften in Griechenland und Rom. Zweiter Band. S. 77. von dem weisesten Staate der Griechen, „sowohl das Volk, als der groͤßte „Theil seiner tapfersten Heerfuͤhrer und weise- „sten Staatsmaͤnner, hielten die Goͤtter, die sie „anbeteten, zwar fuͤr Wesen, die maͤchtiger als „Menschen waͤren, die aber mit ihnen einerley „beduͤrfnisse, Leidenschaften, Schwachheiten „und sogar Laster haͤtten. — Alle Goͤtter schie- „nen den Atheniensern, so wie den uͤbrigen „Griechen, so boͤsartig, daß sie sich einbildeten: „ein ausserordentliches oder langedaurendes „Gluͤck ziehe den Zorn und die Mißgunst der „Goͤtter auf sich, und werde durch ihre Veran- „staltungen uͤbern Haufen geworfen. Sie dach- „ten sich ferner eben diese Goͤtter so reitzbar, G 3 daß „daß sie alle Ungluͤcksfaͤlle fuͤr goͤttliche Strafen „ansahen, die ihnen nicht um allgemeiner Sit- „tenverderbniß, oder einzelner großen Verbre- „chen willen, sondern wegen unbedeutender, „meistens unwillkuͤhrlicher Nachlaͤssigkeiten bey „gewissen Gebraͤuchen und Feyerlichkeiten zuge- „schickt wurden.“ Im Homer selbst, in dieser sanften, liebevollen Seele, war der Gedanke noch nicht aufgebluͤhet, daß die Goͤtter aus Liebe verzeihen, daß sie ohne Wohlwollen in ihrem himmlischen Wohnsitze nicht seelig seyn wuͤrden. Und nun sehe man, mit welcher Weisheit der Gesetzgeber der Israeln sich ihrer schreckli- chen Vergehung gegen die Majestaͤt bedienet, um eine so wichtige Lehre dem menschlichen Ge- schlecht bekannt zu machen, und ihm eine Quelle des Trostes zu eroͤfnen, aus welcher wir noch itzt schoͤpfen und uns erquicken. — Welch er- habne und schauervolle Vorbereitung! Der Auf- ruhr war gedaͤmpft, die Suͤnder zur Erkenntniß ihres straͤflichen Vergehens gebracht, die Na- tion in Bestuͤrzung, und der Gesandte Gottes, Moses selbst, ließ fast den Muth sinken: „Ach „Herr! so lange Dein Unwillen sich nicht legt, „laß „laß uns nicht von dannen ziehen! Wodurch sollte „wohl erkannt werden, daß ich und Deine Na- „tion Wohlgewogenheit in Deinen Augen gefun- „den? Ist es nicht, wenn Du mit uns gehest? „Nur dadurch werden wir uns, ich und Deine „Nation, von jeder andern unterscheiden, wel- „che auf dem Erdboden ist. „ Gott . Auch darinn will ich Dir willfah- „ren; denn Du hast Gnade gefunden in meinen „Augen, und ich habe Dich namentlich zu mei- „nem Liebling ausersehen.“ Moses . Durch diese trostreichen Worte auf- gerichtet, wage ich noch eine kuͤhnere Bitte! Ach „Herr! laß mich Deine Herrlichkeit schauen! „ Gott . Ich will meine Allguͤtigkeit vor „Dir voruͤberziehen lassen, Welch großer Sinn! Du willst meine ganze Herr- lichkeit schauen; ich werde meine Guͤte voruͤber- ziehen lassen. — Du wirst sie hinten nach erkennen. Von vorne her ist sie sterblichen Augen nicht sichtbar . und mit dem „Namen des Ewigen Dir bekannt machen, „welchergestalt ich gewogen bin, dem ich „gewogen hin, und mich erbarme, dessen G 4 ich „sen ich mich erbarme. — Meine Erscheinung „sollst Du von hinten nachschauen; denn mein „Antlitz kann nicht gesehen werden.“ — Dar- auf zog die Erscheinung vor Mose voruͤber, und ließ eine Stimme hoͤren: „ Der Herr (ist, „war und wird seyn), ewiges Wesen, all- „maͤchtig, allbarmherzig, und allgnaͤdig; „langmuͤthig, von großer Huld und Treue; „der seine Huld dem tausendsten Geschlechte „noch aufbehaͤlt; der Missethat, Suͤnde „und Abfall verzeihet; aber nichts ohne „Ahndung hingehen laͤßt ! II B. M. C 33. v. 15. u. f. nach meiner mit he- braͤischen Lettern erschienenen Uebersetzung. — Wer ist so abgehaͤrtetes Sinnes, daß er dieses mit trocke- nen Augen les e n; wer so unmenschliches Her- zens, daß er seinen Bruder noch hassen, gegen seinen Bruder unversoͤnlich bleiben kann? Zwar spricht der Ewige, daß er nichts ohne Ahndung wolle hingehn lassen , und es ist bekannt, daß diese Worte schon zu mancherley Mißverstand und Mißdeutung Gelegenheit ge- geben. Wenn sie aber das vorige nicht voͤllig wider aufheben sollen; so fuͤhren sie unmittelbar auf auf den großen Gedanken, den unsere Rabbinen darin gefunden, daß auch dieses eine Eigen- schaft der goͤttlichen Liebe sey, dem Men- schen nichts ohne alle Ahndung hingehen zu lassen . Ein verehrungswuͤrdiger Freund, mit dem ich mich einst in Religionssachen unterhielt, legte mir die Frage vor: ob ich nicht wuͤnschte, durch eine unmittelbare Offenbarung die Versicherung zu haben, daß ich in der Zu- kunft nicht elend seyn wuͤrde? Wir stimme- ten beide darin uͤberein, daß ich keine ewige Hoͤl- lenstrafe zu fuͤrchten haͤtte; denn Gott kann kei- nes seiner Geschoͤpfe unaufhoͤrlich elend seyn lassen. So kann auch kein Geschoͤpf durch seine Handlungen die Strafe verdienen, ewig elend zu seyn. Daß die Strafe fuͤr die Suͤnde der be- leidigten Majestaͤt Gottes angemessen, und also unendlich seyn muͤsse, diese Hypothese hatte mein Freund, mit vielen großen Maͤnnern seiner Kir- che, laͤngst aufgegeben, und hieruͤber hatten wir uns nicht mehr zu streiten. Der nur zur Haͤlfte richtige Begrif von Pflichten gegen Gott , hat den eben so schwankenden Begrif G 5 von von Beleidigung der Majestaͤt Gottes ver- anlasset, und dieser im buchstaͤblichen Verstande genommen, jene unstatthafte Meynung von der Ewigkeit der Hoͤllenstrafen zur Welt gebracht, deren fernerer Mißbrauch nicht viel weniger Menschen in diesen Leben wirklich elend gemacht, als sie der Theorie nach, in jener Zukunft un- gluͤckselig machet. Mein philosophischer Freund kam mit mir darin uͤberein, daß Gott den Men- schen erschaffen, zu seiner, d. i. des Menschen Gluͤckseligkeit, und daß er ihm Gesetze gege- ben, zu seiner, d. i. des Menschen Gluͤckselig- keit. Wenn die mindeste Uebertretung dieser Gesetze, nach Verhaͤltniß der Majestaͤt des Ge- setzgebers bestraft werden, und also ewiges Elend zur Folge haben soll; so hat Gott diese Gesetze dem Menschen zum Verderben gegeben. Ohne die Gesetze eines so unendlich erhabenen Wesens, wuͤrde der Mensch nicht haben ewig elend seyn duͤrfen. O wenn die Menschen, ohne goͤttliche Gesetze, weniger elend seyn koͤnnten, wer zweifelt daran, daß sie Gott mit dem Feuer seiner Gesetze verschont haben wuͤrde, da es sie so unwiderbringlich verzehren muß? — Dieses vor- vorausgesetzt, wurde die Frage meines Freun- des naͤher bestimmt: ob ich nicht wuͤnschen muͤßte, durch eine Offenbarung versichert zu seyn, daß ich im zukuͤnftigen Leben auch vom endlichen Elende befreyet seyn werde? Nein! antwortete ich; dieses Elend kann nichts anders, als eine wohlverdiente Zuͤchti- gung seyn, und ich will in der vaͤterlichen Haus- haltung Gottes die Zuͤchtigung gern leiden, die ich verdiene. — „Wie aber? wenn der Allbarmherzige den „Menschen auch die wohlverdiente Strafe erlas- „sen wolle?“ Er wird es sicherlich thun, so bald die Strafe zur Besserung des Menschen nicht mehr unent- behrlich seyn wird. Hievon uͤberfuͤhrt zu seyn, bedarf ich keiner unmittelbaren Offenbarung. Wenn ich die Gesetze Gottes uͤbertrete; so macht das moralische Uebel mich ungluͤckselig, und die Gerechtigkeit Gottes, d. i. seine allweise Liebe , suchet mich durch physisches Elend zur sittlichen Besserung zu leiten. So bald dieses physische Elend, die Strafe fuͤr die Suͤnde, zu meiner Sinnes- Sinnesaͤnderung nicht mehr unentbehrlich ist, bin ich, ohne Offenbarung, so gewiß als von meinem eigenen Daseyn uͤberfuͤhret, daß mein Vater mir die Strafe erlassen werde. — Und im Gegenfalle: wenn diese Strafe zu meiner moralischen Besserung noch nuͤtzlich ist, wuͤnsche ich auf keine Weise davon befreyet zu werden. In dem Staate dieses vaͤterlichen Regenten lei- det der Uebertreter keine andere Strafe, als die er selbst zu leiden wuͤnschen muß, wenn er die Wirkung und Folgen davon in ihrem wahren Lichte sehen koͤnnte. „Kann aber, versetzte mein Freund, kann „Gott nicht gut finden, den Menschen andern zum „Beyspiele leiden zu lassen, und ist die Befrey- „ung von dieser exemplarischen Strafe nicht „wuͤnschenswerth?“ „Nein, erwiderte ich: In dem Staate Got- „tes leidet kein Individuum blos andern zum „Besten. Wenn dieses geschehen soll: so muß diese Aufopferung zum Besten andrer dem Lei- denden selbst einen hoͤhern sittlichen Werth ge- ben; so muß es in Absicht auf den innern Zu- wachs seiner Vollkommenheit, ihm selbst wich- tig tig seyn, durch seine Leiden so viel Gutes befer- dert zu haben. Und wenn dieses ist; so kann ich einen solchen Zustand nicht fuͤrchten; so kann ich keine Offenbarung wuͤnschen , daß ich niemals in diesen Zustand des großmuͤthigen, meine Mitgeschoͤpfe und mich selbst begluͤckenden Wohlwollens versetzt werden sollte. Was ich zu fuͤrchten habe, ist die Suͤnde selbst. Habe ich die Suͤnde begangen; so ist die goͤttliche Strafe eine Wohlthat fuͤr mich, eine Wirkung seiner vaͤterlichen Allbarmherzigkeit. So bald sie aufhoͤrt Wohlthat fuͤr mich zu seyn; so bin ich versichert, sie wird mir erlassen. Kann ich wuͤnschen, daß mein Vater seine zuͤchtigende Hand von mir abwende bevor sie gewirkt, was sie hat wirken sollen? Wenn ich bitte, daß mir Gott ein Vergehen soll ohne alle Ahndung hin- gehen lassen, weis ich wohl selbst was ich bitte? Ach! sicherlich, auch dieses ist eine Eigenschaft der unendlichen Liebe Gottes, daß er kein Ver- gehen der Menschen ohne alle Ahndung hingehen laͤßt! — — Sicherlich Allmacht Allmacht ist nur Gottes! Und Dein ist auch die Liebe, Herr! Wenn jedem Du nach seinem Thun vergoͤltest. (s. 62, 12. 13.) Daß die Lehre von der Barmherzigkeit Got- tes bey dieser wichtigen Veranlassung zuerst der Nation durch Mosen bekannt gemacht worden sey, bezeuget der Psalmist ausdruͤcklich, an einem andern Orte, wo er dieselben Worte aus der Schrift Moses anfuͤhret, von welchen hier die Rede ist: Mosen zeigt er seine Wege; Den Israeln sein Thun. Allbarmherzig ist der Herr, allgnädig, Langmüthig und von grosser Güte . Er wird nicht unaufhoͤrlich hadern; Nicht ewiglich nochtragen seinen Groll. Er handelt nicht mit uns, nach unsren Suͤnden; Vergilt uns nicht nach unsrer Missethat. So hoch der himmel ist uͤber der Erde; Waitet seine Liebe uͤber seine Verehrer. So fern der Morgen ist vom Abend; Entfernt er von uns unsere Schuld. Wie Wie Vaͤter ihrer Kinder sich erbarmen: Erbarmt der Herr sich seiner Verehrer. Denn er kennet unsere Bildung; Ist eingedenk, daß wir nur Staub sind. Dieser ganze Psalm ist uͤberhaupt von aͤusserst wich- tigem Inhalte. Leser, denen daran gelegen ist, werden wohl thun, ihn ganz mit Aufmerksamkeit durchzulesen, und mit obiger Betrachtung zu ver- gleichen. Er scheinet mir offenbar durch diese merk- wuͤrdige Stelle in der Schrift veranlasset, und nichts anders zu seyn, als ein Ausbruch lebhafter Ruͤhrung, in welche der Saͤnger durch Betrach- tung dieses ausserordentlichen Vorfalls gerathen ist. Er fordert daher im Eingange des Psalms seine Seele zur feyerlichsten Danksagung, wegen der goͤttlichen Verheissung seiner Gnade und so vaͤterlichen Barmherzigkeit auf: Benedeie, mei- ne Seele! den Herrn! vergiß nicht aller sei- ner Wohlthaten! Er vergiebt Dir alle Dei- ne Sünden; er heilet Deine Krankheiten alle; Er erlöset Deine Leben vom Unter- gange; er krönet Dich mit Liebe und Barmherzigkeit , u. s. w. u. s. w. (Ps. 103.) Nunmehr kann ich meine Begriffe vom Ju- dentume der vorigen Zeit kurz zusammenfassen und in einen Gesichtspunkt vereinigen. Das Juden- Judentum bestand, oder sollte der Absicht des Stifters nach, bestehen, in 1) Religionslehren und Sätzen, oder ewigen Wahrheiten von Gott, und seiner Regierung und Vorsehung, ohne welche der Mensch nicht aufgeklaͤrt und gluͤcklich seyn kann. Diese sind nicht dem Glauben der Nation, unter Androhung ewiger oder zeitlicher Strafen, aufgedrungen; sondern der Natur und Evidenz ewiger Wahr- heit gemaͤß, zur vernuͤnftigen Erkenntnis em- pfohlen worden. Sie durften nicht durch un- mittelbare Offenbarung eingegeben, durch Wort und Schrift , die nur itzt, nur hier verstaͤndlich sind, bekannt gemacht werden. Das allerhoͤch- ste Wesen hat sie allen vernuͤnftigen Geschoͤpfen durch Sache und Begriff geoffenbaret, mit ei- ner Schrift in die Seele geschrieben, die zu al- len Zeiten und an allen Orten leserlich und ver- staͤndlich ist. Daher singt der oͤfters angefuͤhrte Saͤnger: Die Himmel erzaͤhlen die Majestaͤt Gottes, Und seiner Haͤnde Werk verkuͤndet die Veste. Ein Tag stroͤmt diese Lehr dem andern zu; Und Nacht giebt Unterricht der Nacht. Keine Keine Lehre, keine Worte, Deren Stimme nicht vernommen werde. Ueber den ganzen Erdball tönet ihre Saite: Ihr Vortrag dringet bis an der Erden Ende, Dorthin, wo er der Sonn’ ihr Zelt aufschlug , u. s. w. Ihre Wirkung ist so allgemein, als der wohl- thaͤtige Einfluß der Sonne, der, indem sie ihren Kreislauf durcheilt, Licht und Warme uͤber den ganzen Erdball verbreitet; wie derselbe Saͤn- ger sich an einem andern Orte noch deutlicher erklaͤrt: Von Sonnenaufgange bis zum Niedergange Preist man des ewgen Namen. oder wie der Prophet im Namen des Herrn spricht: Von Aufgang der Sonne bis zum Niedergange ist mein Name unter Heiden beruͤhmt, und an allen Orten wird meinem Namen geraͤuchert, dargebracht, auch reine Speisegabe; denn mein Name ist beruͤhmt unter Heiden . 2) Geschichtswahrheiten, oder Nachrichten von dem Schiksale der Vorwelt, hauptsachlich von den Lebensumstaͤnden der Stammvaͤter der Na- Zweiter Abschn . H tion; tion; von ihrer Erkenntniß des wahren Gottes, ihrem Wandel vor Gott; von ihren Vergehun- gen selbst und der vaͤterlichen Zuͤchtigung, die darauf gefolgt ist; von dem Bunde, den Gott mit ihnen errichtet, und von der Verheissung, die er ihnen so oft wiederholt: aus ihren Nachkom- men dereinst eine ihm geweihete Nation zu ma- chen. Diese historische Nachrichten enthielten den Grund der Nationalverbindung, und als Geschichtswahrheiten koͤnnen sie, ihrer Natur nach, nicht anders, als auf Glauben ange- nommen werden. Autoritaͤt allein giebt ihnen die erforderliche Evidenz; auch wurden diese Nachrichten der Nation durch Wunder bestaͤtiget, und durch eine Autoritaͤt unterstuͤtzt, die hinrei- chend war, den Glauben uͤber alle Zweifel und Bedenklichkeit hinweg zu setzen. 3) Gesetze, Vorschriften, Gebote, Lebensre- geln, die dieser Nation eigen seyn, und durch deren Befolgung sie sowohl zur Nationalgluͤckse- ligkeit, als jedes Glied derselben zur persoͤnlichen Gluͤckseligkeit gelangen sollte. Der Gesetzge- ber war Gott, und zwar Gott, nicht in dem Verhaͤltnisse, als Schoͤpfer und Erhalter des Welt- Weltalls; sondern Gott, als Schutzherr und Bundesfreund ihrer Vorfahren, als Befreyer, Stifter und Anfuͤhrer, als Koͤnig und Ober- haupt dieses Volks; und er gab seinen Gesetzen die feyerlichste Sanktion, oͤffentlich und auf eine nie erhoͤrte, wundervolle Weise, wodurch sie der Nation und allen ihren Nachkommen, als unab- aͤnderliche Pflicht und Schuldigkeit auferlegt worden sind. Diese Gesetze wurden geoffenbaret, d. i. von Gott durch Worte und Schrift bekannt ge- macht. Jedoch ist nur das Wesentlichste da- von den Buchstaben anvertrauet worden; und auch diese niedergeschriebenen Gesetze sind, ohne die ungeschriebenen, muͤndlich uͤberlieferten und durch muͤndlichen, lebendigen Unterricht fortzu- pflanzenden Erlaͤuterungen, Einschraͤnkungen und naͤheren Bestimmungen, groͤstentheils un- verstaͤndlich, oder mußten es mit der Zeit werden; weil alle Worte und Schriftzeichen kein Men- schenalter hindurch ihren Sinn unveraͤndert be- halten. Sowohl die geschriebenen, als die ungeschrie- benen Gesetze haben unmittelbar, als Vorschrif- H 2 ten ten der Handlungen und Lebensregeln, die oͤffentliche und Privatgluͤckseligkeit zum End- zwecke. Sie sind aber auch groͤstentheils als eine Schriftart zu betrachten, und haben als Zeremonialgesetze , Sinn und Bedeutung. Sie leiten den forschenden Verstand auf goͤttli- che Wahrheiten; theils auf ewige, theils auf Geschichtswahrheiten, auf die sich die Religion dieses Volks gruͤndete. Das Zeremonialgesetz war das Band, welches Handlung mit Betrach- tung, Leben mit Lehre verbinden sollte. Das Zeremonialgesetz sollte zwischen Schule und Leh- rer, Forscher und Unterweiser, persoͤnlichen Um- gang, gesellige Verbindung veranlassen, zu Wetteifer und Nachfolge reizen und ermuntern; und diese Bestimmung hat es in den ersten Zei- ten wirklich erfuͤllt, bevor die Verfassung aus- artete, und die Thorheit der Menschen sich aber- mals ins Spiel mischte, durch Mißverstand und Mißleitung, das Gute in Boͤses, das Nuͤtzliche in Schaͤdliches zu verwandeln. Staat und Religion war in dieser urspruͤng- lichen Verfassung nicht vereiniget, sondern eins ; nicht verbunden, sondern eben dasselbe. Ver- haͤltniß haͤltniß des Menschen gegen die Gesellschaft und Verhaͤltniß des Menschen gegen Gott trafen auf einen Punkt zusammen, und konnten nie in Ge- genstoß gerathen. Gott, der Schoͤpfer und Erhalter der Welt, war zugleich der Koͤnig und Verweser dieser Nation, und er ist ein Einiges Wesen , das so wenig im Politischen, als im Metaphysischen, die mindeste Trennung, oder Vielheit zulaͤßt. Auch hat dieser Regent keine Beduͤrfnisse, und heischet nichts von der Nation, als was zu ihren Besten dienet, die Gluͤckselig- keit des Staats befoͤrdert; so wie von der an- dern Seite der Staat nichts fordern konnte, das den Pflichten gegen Gott zuwider, das nicht vielmehr von Gott, den Gesetzgeber und Ge- setzverweser der Nation befohlen sey. Daher gewann das Buͤrgerliche bey dieser Nation ein heiliges und religioses Ansehen, und jeder Buͤr- gerdienst ward zugleich ein wahrer Gottesdienst. Die Gemeine war eine Gemeine Gottes, ihre An- gelegenheiten waren Gottes, oͤffentliche Steuern waren Hebe Gottes, und bis auf die gering- ste Polizeyanstalt, war alles gottesdienstlich . Die Leviten, die von den oͤffentlichen Einkuͤnf- H 3 ten ten lebten, hatten ihren Unterhalt von Gott. Sie sollten kein Eigentum im Lande haben, den Gott ist ihr Eigentum . Wer ausser- halb Landes herumtreiben muß, der dienet fremden Goͤttern . Dieses kann in verschiede- nen Stellen der Schrift nicht im buchstaͤblichen Verstande genommen werden, und bedeutet im Grund nicht mehr, als er ist fremden politi- schen Gesetzen unterworfen, die nicht, wie die vaterlaͤndischen, zugleich gottesdienst- lich sind . Und nun auch die Verbrechen. Jeder Fre- vel wider das Ansehen Gottes, als des Gesetz- gebers der Nation, war ein Verbrechen wider die Majestaͤt, und also ein Staatsverbrechen. Wer Gott laͤsterte, war ein Majestaͤtsschaͤnder; wer den Sabbath freventlich entheiligte, hob, in so weit es an ihm lag, ein Grundgesetz der buͤrgerlichen Gesellschaft auf, denn auf der Ein- setzung dieses Tages beruhete ein wesentlicher Theil der Verfassung. Der Sabbath sey ein ewiger Bund zwischen mir und den Kindern Israels , spricht der Herr, ein immerwaͤhren des Zeichen , daß der Ewige Ewige in sechs Tagen , u. s. w. Diese Ver- brechen also konnten, ja sie mußten in dieser Verfassung buͤrgerlich bestraft werden; nicht als irrige Meinung, nicht als Unglaube; son- dern als Unthaten, als freventliche Staats- verbrechen, die darauf abzielen, das Ansehen des Gesetzgebers aufzuheben, oder zu schwaͤchen, und dadurch den Staat selbst zu untergraben. Und gleichwohl, mit welcher Gelindigkeit wurden diese Hauptverbrechen selbst bestraft! Mit welcher uͤberschwaͤnglichen Nachsicht gegen menschliche Schwachheit! Nach einem unge- schriebenen Gesetze, konnte keine Leib- und Le- bensstrafe verhaͤngt werden, wenn der Ver- brecher nicht von zween unverdaͤchtigen Zeugen, mit Anfuͤhrung des Gesetzes, und unter Bedrohung der verordneten Strafe gewarnt worden ; ja bey Leib- und Lebens- strafen mußte der Verbrecher mit ausdruͤckli- chen Worten die Strafe anerkannt, uͤber- nommen, und unmittelbar darauf, in Bey- seyn derselben Zeugen, das Verbrechen be- gangen haben . Wie selten mußten die Blut- gerichte bey einer solchen Einrichtung seyn, und H 4 wie wie mancherley Gelegenheit hatten die Richter nicht, der traurigen Nothwendigkeit auszuwei- chen, uͤber ihr Mitgeschoͤpf und Mitebenbild Gottes, den Stab zu brechen! Ein Hingerich- teter ist, nach dem Ausdrucke der Schrift, eine Geringschaͤtzung Gottes . Wie sehr mußten die Richter anstehen, untersuchen und auf Ent- schuldigung bedacht seyn, bevor sie ein Halsge- richts-Urtheil unterzeichneten! Ja, wie die Rabbinen sagen, hat jedes Halsgericht, das fuͤr seinen guten Namen besorgt ist, darauf zu se- hen, daß in einem Zeitraume von siebenzig Jah- ren, nicht mehr als eine Person am Leben ge- straft werde. Hieraus erhellet, wie wenig man die mosai- schen Gesetze und die Verfassung des Judentums kennen muß, um zu glauben, daß nach derselben Kirchenrecht und Kirchenmacht autorisirt, oder Unglaube und Irrglaube mit zeitlichen Strafen zu belegen sey. Der Forscher nach Licht und Wahrheit , sowohl als Herr Moͤr- schel , sind also weit von der Wahrheit entfernt, wenn sie glauben ich habe durch meine Ver- nunftgruͤnde wider Kirchenrecht und Kirchen- macht macht, das Judentum aufgehoben. Wahrheit kann nicht mit Wahrheit streiten. Was das goͤttliche Gesetz gebietet, kann die nicht minder goͤttliche Vernunft nicht aufheben. Nicht Unglaube, nicht falsche Lehre und Irr- tum, sondern freventliches Vergehen wider die Majestaͤt des Gesetzgebers, freche Unthaten wider die Grundgesetze des Staats und der buͤr- gerlichen Verfassung wurden gezuͤchtiget, und nur alsdann gezuͤchtiget, wenn der Frevel in seiner Ausgelassenheit alles Maß uͤberschritt, und dem Aufruhr nahe kam; wenn sich der Ver- brecher nicht scheuete, von zweyen Mitbuͤrgern sich das Gesetz vorhalten, die Strafe androhen zu lassen, ja die Strafe zu uͤbernehmen und in ihrem Angesichte das Verbrechen zu begehen. hier wird der religiose Boͤsewicht ein freventli- cher Majestaͤtsschaͤnder, ein Staatsverbrecher. Auch haben, wie die Rabbinen ausdruͤcklich sa- gen, mit Zerstoͤrung des Tempels, alle Leib- und Lebensstrafen, ja auch Geld- bussen, in so weit sie blos national sind, aufgehoͤret Rechtens zu seyn . Vollkommen nach meinen Grundsaͤtzen, und ohne dieselben H 5 uner- unerklaͤrbar! Die buͤrgerlichen Bande der Na- tion waren aufgeloͤset, religiose Vergehungen waren keine Staatsverbrechen mehr, und die Religion, als Religion kennet keine Strafen, keine andere Busse, als die der reuevolle Suͤn- der sich freywillig auferlegt. Sie weis von keinem Zwange, wirkt nur mit dem Stabe ge- linde, wirkt nur auf Geist und Herz. Man versuche es, diese Behauptung der Rabbinen, ohne meine Grundsaͤtze, vernuͤnftig zu erklaͤren! „Wozu nun, hoͤre ich manchen Leser fragen; „wozu diese Weitlaͤuftigkeit, uns etwas sehr „bekanntes zu sagen? Das Judentum war ei- „ne Hierokratie, eine kirchliche Regierung, ein „Priesterstaat, eine Theokratie, wenn ihr wol- „let. Wir kennen die Anmaßungen schon, die „sich eine solche Verfassung erlaubt.“ Nicht doch! alle diese Kunstnamen werfen auf die Sache ein falsches Licht, das ich ver- meiden mußte. Wir wollen immer nur classi- ficiren, in Faͤcher abtheilen. Wenn wir nur wissen, in welches Fach ein Ding einzutragen sey; so sind wir zufrieden, so unvollstaͤndig der Begriff auch uͤbrigens seyn mag, den wir da- von von haben. Warum suchet ihr ein Geschlechts- wort, fuͤr ein einzelnes Ding, das kein Ge- schlecht hat, das mit nichts schichtet, mit nichts unter eine Rubrik zu bringen ist? Diese Ver- fassung ist ein einziges Mal da gewesen: nennet sie die mosaische Verfassung , bey ihrem Ein- zelnamen. Sie ist verschwunden, und ist dem Allwissenden allein bekannt, bey welchem Volke und in welchem Jahrhunderte sich etwas Aehn- liches wieder wird sehen lassen, So wie es, nach dem Plato, einen irdi- schen und auch einen himmlischen Amor geben soll, so giebt es auch, koͤnnte man sagen, ei- ne irdische und eine himmlische Politik. Neh- met einen flatterhaften Abentheurer, einen Gunsteroberer, wie ihn das Pflaster jeder Hauptstadt darbeut, und unterhaltet ihn von dem Liede der Lieder Salomons, oder von der Liebe der ersten Unschuld im Paradiese, wie sie Milton beschreibt; Er wird glauben, ihr schwaͤrmet, oder wollt euere Lektion aufsagen, wie ihr das Herz einer Sproͤden durch platonische Liebkosungen zu bestuͤrmen verstehet. Eben so wenig wird euch ein Politiker nach der Mode ver- verstehen, wenn ihr von der Einfalt und sittlichen Großheit jener urspruͤnglichen Verfassung redet. Wie jener in der Liebe nur die Befriedigung der gemeinen Luͤsternheit kennet; so spricht dieser in der Staatsklugheit blos von Macht, Geldum- lauf, Handlung, Gleichgewicht, Volksmenge, und die Religion ist ihm ein Mittel, dessen sich der Gesetzgeber bedienet, den unbaͤndigen Men- schen im Zaume zu halten, und der Priester, um ihn auszusaugen, und sein Mark zu verzehren. Diesen falschen Gesichtspunkt, aus welchem wir das wahre Interesse der menschlichen Ge- sellschaft zu betrachten gewohnt sind, mußte ich meinem Leser aus den Augen ruͤcken. Ich habe ihm dieserhalb den Gegenstand bey keinen Na- men genennet; sondern selbst mit seinen Eigen- schaften und Bestimmungen darzustellen gesucht. Wenn wir mit geradem Blick auf denselben hin- schauen, werden wir, wie jener Weltweise von der Sonne sagte, in der aͤchten Politik eine Gottheit erblicken, wo gemeine Augen einen Stein sehen. Ich habe gesagt, daß die mosaische Verfas- sung nicht lange in ihrer ersten Lauterkeit be- standen. standen. Schon zu den Zeiten des Propheten Samuel gewann das Gebaͤude einen Riß, der sich immer weiter aufthat, bis die Theile voͤllig zerfielen. Die Nation verlangte einen sichtba- ren, fleischlichen Koͤnig zum Regenten. Es sey nun, daß die Priesterschaft, wie von den Soͤh- nen des Hohenpriesters in der Schrift erzaͤhlt wird, schon angefangen ihr Ansehen bey dem Volke zu mißbrauchen, oder daß der Glanz einer benachbarten Hofhaltung die Augen geblen- det; genug, sie forderten einen Koͤnig , wie alle andere Voͤlker haben . Der Prophet, den dieses kraͤnkte, stellte ihnen vor, was ein menschlicher Koͤnig sey, der seine eigne Beduͤrf- nisse hat, und sie nach Wohlgefallen erweitern kann, und wie schwer ein schwacher Sterblicher zu befriedigen sey, den man das Recht der Gottheit einraͤumet. Umsonst, das Volk be- stand auf seinen Vorsatz, erhielt seinen Wunsch, und erfuhr, was ihnen der Prophet angedrohet hatte. Nun war die Verfassung untergraben; die Einheit des Interesse aufgehoben; Staat und Religion nicht mehr eben dasselbe, und Col- lision der Pflichten war schon nicht mehr unmoͤg- lich. lich. Indessen mußte sie noch immer selten seyn, so lange der Koͤnig selbst nicht nur von der Na- tion war, sondern auch den Gesetzen des Vater- landes gehorchte. Aber nun verfolge man die Geschichte, durch mancherley Schicksale und Ver- aͤnderungen, durch manche gute und boͤse, got- tesfuͤrchtige und gottvergessene Regierung hin- durch, bis auf jene traurigen Zeiten herunter, in welchen der Stifter der christlichen Religion den vorsichtigen Bescheid ertheilte: gebet dem Kai- ser, was des Kaisers, und Gotte, was Gottes ist. Offenbarer Gegensatz, Collision der Pflichten! Der Staat stund unter fremder Bothmaͤßigkeit, empfing seine Befehle gleichsam von fremden Goͤttern, und die einheimische Re- ligion mit einem Theile ihres Einflusses auf das buͤrgerliche Leben, hatte sich noch erhalten. Hier ist Forderung gegen Forderung, Anspruch gegen Anspruch. „Wem sollen wir geben? wem „gehorchen?“ — So ertraget denn beide La- sten, fiel der Bescheid aus, so gut ihr koͤnnet; dienet zweien Herren in Geduld und Ergeben- heit: Gebet dem Kaiser und gebet auch Gotte! Jedem das Seine, nachdem die Einheit des In- teresse nun zerstoͤrt ist! Und Und noch itzt kann dem Hause Jakobs kein weiserer Rath ertheilt werden, als eben dieser. Schicket euch in die Sitten und in die Verfas- sung des Landes, in welches ihr versetzt seyd; aber haltet auch standhaft bey der Religion eu- rer Vaͤter. Traget beider Lasten, so gut ihr koͤnnet! Man erschweret euch zwar von der ei- nen Seite die Buͤrde des buͤrgerlichen Lebens, um der Religion willen, der ihr treu bleibet, und von der andern Seite macht das Clima und die Zeiten die Beobachtung eurer Religionsge- setze, in mancher Betrachtung, laͤstiger, als sie sind. Haltet nichts desto weniger aus, stehet unerschuͤttert auf dem Standorte, den euch die Vorsehung angewiesen, und lasset alles uͤber euch ergehen, wie euch euer Gesetzgeber lange vorher verkuͤndiget hat. In der That sehe ich nicht, wie diejenigen, die in dem Hause Jakobs geboren sind, sich auf irgend eine gewissenhafte Weise, vom Gesetze entledigen koͤnnen. Es ist uns erlaubt, uͤber das Gesetz nachzudenken, seinen Geist zu erfor- schen, hier und da, wo der Gesetzgeber keinen Grund angegeben, einen Grund zu vermuthen, der der vielleicht an Zeit und Ort und Umstaͤnde ge- bunden gewesen, vielleicht mit Zeit und Ort und Umstaͤnden veraͤndert werden kann — wenn es dem allerhoͤchsten Gesetzgeber gefallen wird, uns seinen Willen daruͤber zu erkennen zu geben; so laut, so oͤffentlich, so uͤber alle Zweifel und Bedenklichkeit hinweg zu erkennen zu geben, als Er das Gesetz selbst gegeben hat. So lange die- ses nicht geschiehet, so lange wir keine so au- thentische Befreyung vom Gesetze aufzuweisen haben, kann uns unsere Vernuͤnfteley nicht von dem strengen Gehorsam befreyen, den wir dem Gesetze schuldig sind, und die Ehrfurcht vor Gott ziehet eine Graͤnze zwischen Spekulation und Ausuͤbung, die kein Gewissenhafter uͤberschreiten darf. Darum wiederhole ich meine vorausge- schickte Protestation: Schwach und kurzsichtig ist des Menschen Auge! Wer kann sagen: ich bin in das Heiligtum Gottes gekommen, habe das System seiner Absichten ganz durchschauet, und was ihnen Maaß und Ziel und Graͤnze zu bestimmen? Ich kann vermuthen, aber nicht entscheiden, aber nicht nach meiner Vermuthung handeln — Darf ich doch in menschlichen Dingen Dingen mich nicht erdreisten, aus eigener Ver- muthung und Gesetzdeuteley, ohne Autoritaͤt des Gesetzgebers oder Gesetzverwesers, dem Ge- setze zuwider zu handeln; um wie viel weniger in goͤttlichen Dingen? Gesetze, die mit Landei- gentum und Landeseinrichtung in nothwendiger Verbindung stehen, fuͤhren ihre Befreyung mit sich. Ohn Tempel und Priestertum und ausser- halb Judaͤa, finden weder Opfer noch Reinigungs- gesetz, noch priesterliche Abgabe Statt, in so weit sie vom Landeigentume abhaͤngen. Aber persoͤnliche Gebote, Pflichten die dem Sohne Israels, ohne Ruͤcksicht auf Tempeldienst und Landeigentum in Palaͤstina, auferlegt worden sind, muͤssen, so viel wir einsehen koͤnnen, strenge nach den Worten des Gesetzes beobachtet wer- den, bis es dem Allerhoͤchsten gefallen wird, un- ser Gewissen zu beruhigen, und die Abstellung derselben laut und oͤffentlich bekannt zu machen. Hier heißt es offenbar: was Gott gebun- den hat, kann der Mensch nicht loͤsen. Wenn auch einer von uns zur christlichen Religion uͤber- gehet; so begreife ich nicht, wie er dadurch sein Zweiter Abschnitt. J Ge- Gewissen zu befreyen, und sich von dem Joche des Gesetzes zu entledigen glauben kann? Jesus von Nazareth hat sich nie verlauten lassen, daß er gekommen sey, das Haus Jakob von dem Gesetze zu entbinden. Ja, er hat vielmehr mit ausdruͤcklichen Worten das Gegentheil gesagt; und was noch mehr ist, hat selbst das Gegen- theil gethan. Jesus von Nazareth hat selbst nicht nur das Gesetz Moses; sondern auch die Satzungen der Rabbinen beobachtet, und was in den von ihm aufgezeichneten Reden und Handlungen dem zuwider zu seyn scheinet, hat doch in der That nur dem ersten Anblicke nach, diesen Schein. Genau untersuchet, stimmet alles nicht nur mit der Schrift, sondern auch mit der Ueberlieferung voͤllig uͤberein. Wenn er gekommen ist, der eingerissenen Heucheley und Scheinheiligkeit zu steuern; so wird er sicher- lich nicht das erste Beyspiel zur Scheinheiligkeit gegeben, und ein Gesetz durch Beyspiel autori- sirt haben, das abgestellt und aufgehoben seyn sollte. Aus seinem ganzen Betragen, so wie aus dem Betragen seiner Juͤnger in der ersten Zeit, leuchtet vielmehr der rabbinische Grund- satz satz augenscheinlich hervor: Wer nicht im Ge- setze geboren ist, darf sich an das Gesetz nicht binden; wer aber im Gesetze geboren ist, muß nach dem Gesetze leben, und nach dem Gesetze sterben. Haben seine Nachfolger in spaͤtern Zeiten anders gedacht, und auch die Juden, die ihre Lehre annahmen, entbinden zu koͤnnen geglaubt; so ist es sicherlich ohne seine Autoritaͤt geschehen. Und ihr, lieben Bruͤder und Mitmenschen! die ihr der Lehre Jesu folget, solltet uns verar- gen, wenn wir das thun, was der Stifter eu- rer Religion selbst gethan, und durch sein Anse- hen bewaͤhrt hat? Ihr solltet glauben, uns nicht buͤrgerlich wieder lieben, euch mit uns nicht buͤrgerlich vereinigen zu koͤnnen, so lange wir uns durch das Zeremonialgesetz aͤusserlich unter- scheiden, nicht mit euch essen, nicht von euch heurathen, das, so viel wir einsehen koͤnnen, der Stifter eurer Religion selbst weder gethan, noch uns erlaubt haben wuͤrde? — Wenn die- ses, wie wir ven christlich gesinnten Maͤnnern nicht vermuthen koͤnnen, eure wohre Gesin- J 2 nung nug seyn und bleiben sollte; wenn die buͤr- gerliche Vereinigung unter keiner andern Be- dingung zu erhalten, als wenn wir von dem Gesetze abweichen, das wir fuͤr uns noch fuͤr verbindlich halten; so thut es uns herzlich leid, was wir zu erklaͤren fuͤr noͤthig erachten: so muͤssen wir lieber auf buͤrgerliche Vereinigung Verzicht thun; so mag der Menschenfreund Dohm vergebens geschrieben haben, und alles in dem leidlichen Zustande bleiben, in welchem es itzt ist, oder in welchen es eure Menschen- liebe zu versetzen, fuͤr gut findet. Es stehet nicht bey uns, hierin nachzugeben; aber es stehet bey uns, wenn wir rechtschaffen sind, euch dennoch bruͤderlich zu lieben, und bruͤder- lich zu flehen, unsere Lasten, so viel ihr koͤn- net, ertraͤglich zu machen. Betrachtet uns, wo nicht als Bruͤder und Mitbuͤrger, doch wenigstens als Mitmenschen und Miteinwohner des Landes. Zeiget uns Wege und gebet uns Mittel an die Hand, wie wir bessere Menschen und bessere Miteinwohner werden koͤnnen, und lasset uns, so viel es Zeit und Umstaͤnde erlauben, die Rechte der Menschheit mit genießen. Von dem Gesetze Gesetze koͤnnen wir mit gutem Gewissen nicht weichen, und was nuͤtzet euch Mitbuͤrger ohne Gewissen? „Wie kann aber auf diese Weise die Pro- „phezeyung in Erfuͤllung kommen, daß dereinst „nur ein Hirt und eine Heerde seyn soll?“ Lieben Bruͤder! die ihr es mit den Men- schen wohlmeinet, lasset euch nicht bethoͤren! Um dieses allgegenwaͤrtigen Hirten zu seyn, braucht weder die ganze Heerde auf Einer Flur zu weiden, noch durch Eine Thuͤr in des Herrn Haus ein und auszugehen. Dieses ist weder dem Wunsch des Hirten gemaͤß, noch dem Gedeien der Heerde zutraͤglich. Ob man die Begriffe vertauscht, oder geflissentlich zu ver- wirren sucht? Man stellet euch vor, Glaubens- vereinigung sey der naͤchste Weg zur Bru- derliebe und Bruderduldung, die ihr Gutherzi- gen so sehnlich wuͤnschet. Wenn wir alle nur Einen Glauben haben, wollen verschiedene euch einbilden; so koͤnnen wir uns einander des Glau- bens, der Verschiedenheit der Meinungen hal- ber, nicht mehr hassen; so ist Religionshaß J 3 und und Verfolgungssucht bey der Wurzel gefaßt und ausgerottet; so ist der Heucheley die Geis- sel, und dem Fanatismus das Schwerdt aus der Hand gewunden, und die gluͤcklichen Tage treten ein, da es heißt; der Wolf wird mit dem Lamme wohnen, und der Leopard ne- ben der Ziege u. s w. — Sie, die Sanft- muͤthigen, die dieses in Vorschlag bringen, sind bereit Hand ans Werk zu legen; sie wollen als Unterhaͤndler zusammentreten und sich die menschenfreundliche Muͤhe geben, einen Glau- bensvergleich zu Stande zu bringen; um Wahr- heiten wie um Rechte , wie um feiles Kaufmanns- gut, zu handeln, wollen fordern, bieten, din- gen, abdrohen und abbitten, uͤbereilen und uͤberlisten, bis die Parteyen sich einander in die Haͤnde schlagen, und der Vertrag zur Gluͤckse- ligkeit des menschlichen Geschlechts niederge- schrieben werden kann. Viele, die ein solches Vorhaben zwar als chimaͤrisch und unaus- fuͤhrbar verwerfen, sprechen doch von der Glaubenseinigkeit, als von einem sehr wuͤn- schenswerthen Zustande, und bedauern das menschliche Geschlecht mit Leidwesen, daß dieser dieser Gipfel der Gluͤckseligkeit, durch menschliche Kraͤfte, nicht zu erreichen stehe. — Huͤtet euch, Menschenfreunde! solchen Gesinnungen, ohne die genaueste Pruͤfung, Gehoͤr zu geben. Es koͤnnen Fallstricke seyn, die der ohnmaͤchtig gewordene Fanatismus der Gewissensfreyheit legen will. Ihr wisset, dieser Feind des Guten ist von mancherley Gestalt und Form; Loͤwen- wut und Lammesart, Taubeneinfalt und Schlan- genlist, keine Eigenschaft ist ihm so fremd, daß er sie nicht entweder besitze, oder anzunehmen verstehe, um seine blutduͤrftigen Absichten zu er- reichen. Da ihm, durch eure wohlthaͤtigen Be- muͤhungen die offene Gewalt benommen ist, so nimmt er vielleicht die Maske der Sanftmuth an, um euch zu hintergehen, heuchelt Bruder- liebe, gleißet Menschenduldung, und schmie- det heimlich die Ketten schon, die er der Ver- nunft anzulegen gedenkt, um sie unversehens wieder in den Pful der Barbarey zu stuͤrzen- aus der ihr sie zu ziehen angefangen. Auch die Ohngoͤtterey hat, wie eine leidige Erfahrung lehrt, ihren Fangtismus. Zwar hat dieser J 4 Man Man glaube nicht, daß dieses eine blos ein- gebildete Furcht sey, die etwa Hypochondrie zur Mutter hat. Im Grunde kann eine Glaubens- vereinigung, wenn sie je zu Stande kommen sollte, keine andere als die unseligsten Folgen fuͤr Vernunft und Gewissensfreyheit haben. Denn gesetzt, man vereinige sich uͤber die Glau- bensformel, die man einzufuͤhren und festzusetzen denkt; dieser vielleicht nie ohne eine Vermischung von innerer Ohngoͤtterey wuͤthend werden koͤnnen. Daß aber auch äusserer offenbarer Atheismus fanatisch werden koͤnne, ist so unleugbar als schwer zu begteifen. So sehr der Atheist, wenn er buͤndig seyn will, alles aus Eigennutz thun muß, und so wenig es diesem gemaͤß zu seyn scheinet, wenn der Atheist Partey zu machen, und das Geheimniß nicht fuͤr sich zu behalten suchet; so hat man ihn doch seine Lehren mit dem hitzigsten Enthusiasmus predigen, und wuͤthend werden, ja verfolgen gesehen, wenn seine Predigt nicht Eingang finden wollte. Und schrecklich ist der Eifer, wenn er einen erklaͤrten Atheisten beseelt; wenn die Unschuld einem Wuͤterich in die Haͤnde faͤllt, der alles fürchtet, nur keinen Gott . denkt; man bringe Symbolen zu Stande, wi- der welche keine von den itzt in Europa herr- schenden Religionsparteyen etwas einzuwenden findet. Was ist dadurch ausgerichtet? Etwa, daß ihr alle uͤber Religionswahrheiten eben dasselbe denket? — Wer von der Natur des menschlichen Geistes nur einigen Begriff hat, kann sich dieses nicht beykommen lassen. Also bloß in den Worten, in der Formel laͤge die Uebereinstimmung. Dazu wollen die Glaubens- vereiniger sich zusammenthun; sie wollen hier und da von den Begriffen etwas abzwacken, hier und da die Maschen der Worte so lange erweitern, sie so unbestimmt und weitschichtig machen, daß sich die Begriffe, ihrer innern Ver- schiedenheit ungeachtet, noch zur Noth hinein- zwaͤngen lassen. Ein jeder verbaͤnde alsdann im Grunde mit denselben Worten eine andere ihm eigene Meynung, und ihr ruͤhmet euch, den Glauben der Menschen vereiniget, die Heerde unter ihren einigen Hirten gebracht zu haben? O wenn diese allgemeine Gleißnerey uͤberall einen Endzweck haben soll; so fuͤrchte ich, man will den freygewordnen Geist der Menschen nur vorerst vorerst wieder in Schranken eingesperrt haben. Das scheue Wild wird sich alsdann schon fan- gen, und den Kappzaum umwerfen lassen. Bin- det den Glauben nur erst an Symbolen, die Meinung an Worte, so bescheiden und nachge- bend ihr immer wollet; setzet nur ein fuͤr alle- mal die Artikel fest: Webe dem Elenden als- dann, der einen Tag spaͤter koͤmmt, und auch an diesen bescheidenen, gelaͤuterten Worten etwas auszusetzen findet! Er ist ein Friedens- stoͤrer! Zum Scheiderhaufen mit ihm! Bruͤder! ist es euch um wahre Gottselig- keit zu thun; so lasset uns keine Uebereinstim- mung luͤgen, wo Mannigfaltigkeit offenbar Plan und Endzweck der Vorsehung ist. Keiner von uns denkt und empfindet vollkommen so, wie sein Nebenmensch; warum wollen wir denn einander durch truͤgliche Worte hintergehen? Thun wir dieses schon leider! in unserm taͤgli- chem Umgange, in unsern Unterhaltungen, die von keiner sonderlichen Bedeutung sind; warum denn noch in solchen Dingen, die unser zeitli- ches und ewiges Wohl, unsere ganze Bestim- mung mung angehen. Warum uns einander in den wichtigsten Angelegenheiten unsers Lebens durch Mummerey unkenntlich machen, da Gott einem jeden nicht umsonst seine eigenen Gesichtszuͤge ein- gepraͤgt hat? Heißt dieses nicht, so viel an uns liegt, sich der Vorsehung widersetzen, den Zweck der Schoͤpfung, wenn es moͤglich ist, vereiteln; unserm Beruf; unserer Bestimmung in diesem und jenem Leben geflissentlich zuwider handeln? — Regenten der Erde! wenn es einem unbe- deutenden Mitbewohner derselben vergoͤnnt ist, seine Stimme bis zu euch zu erheben; trauet den Raͤthen nicht, die euch mit glatten Worten zu einem so schaͤdlichen Beginnen verleiten wol- len. Sie sind entweder selbst verblendet, und sehen den Feind der Menschheit nicht, der im Hinter- halt lauret, oder suchen euch zu verblenden. Es ist gethan, um unser edelstes Kleinod, um die Freiheit zu denken, wenn ihr ihnen Gehoͤr gebet! Um eurer und unserer aller Gluͤckselig- keit willen, Glaubensvereinigung ist nicht To- leranz; ist der wahren Duldung grade entge- gen! Um eurer und unserer Gluͤckseligkeit wil- len, gebet euer vielvermoͤgendes Ansehen nicht her, her, irgend eine ewige Wahrheit , ohne welche die buͤrgerliche Gluͤckseligkeit bestehen kann, in ein Gesetz; irgend eine dem Staate gleichguͤl- tige Religionsmeinung in Landesverordnung zu verwandeln! Haltet auf Thun und Lassen der Menschen; ziehet dieses vor den Richter- stuhl weiser Gesetze, und uͤberlasset uns das Denken und Reden , wie es uns unser aller Vater, zum unveraͤusserlichen Erbgute beschie- den, als ein unwandelbares Recht eingegeben hat. Ist etwa die Verbindung zwischen Recht und Meinung zu verjaͤhret, und der Zeitpunkt noch icht gekommen, daß sie, ohne besorgli- chen Schaden, voͤllig aufgehoben werden koͤnne; so suchet wenigstens ihren verderblichen Ein- fluß, so viel an euch ist, zu mildern, dem zu grau gewordenen Vorurtheile Leider! hoͤren wir auch schon den Congreß in Amerika das alte Lied anstimmen, und von einer herrschenden Religion sprechen. weise Schran- ken zu setzen. Bahnet einer gluͤcklichen Nachkom- menschaft wenigstens den Weg zu jener Hoͤhe der Cultur, zu jener allgemeinen Menschendul- dung, dung, nach welcher die Vernunft noch immer vergebens seufzet! Belohnet und bestrafet keine Lehre, locket und bestechet zu keiner Religions- meinung! Wer die oͤffentliche Gluͤckseligkeit nicht stoͤhret, wer gegen die buͤrgerlichen Ge- setze, gegen euch und seine Mitbuͤrger recht- schaffen handelt, den lasset sprechen, wie er denkt, Gott anrufen nach seiner oder seiner Vaͤter Weise, und sein ewiges Heil suchen, wo er es zu finden glaubet. Lasset nieman- den in euern Staaten Herzenskuͤndiger und Gedankenrichter seyn; niemanden ein Recht sich anmaßen, das der Allwissende sich allein vorbehalten hat! Wenn wir dem Kaiser ge- ben , was des Kaisers ist; so gebet ihr selbst Gotte, was Gottes ist! Liebet die Wahr- heit! Liebet den Frieden ! Verbesserungen: Im 2ten Abschn. S. 12. Z. 20. lies Anspruch st. Au- genschein — — S. 15. in der Anmerk. Z. 1. lies der Vater st. dem Vater.