Der religiöse Wahnsinn, erlaͤutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Von Dr. Karl Wilhelm Ideler, Professor der Medizin und Lehrer der psychiatrischen Klinik an der Friedrich-Wilhelms- Universität, dirigirendem Arzte der Irrenabtheilung an der Charit é , mehrerer gelehrten Gesellschaften Mitgliede und Correspondenten. Halle, C. A. Schwetschke und Sohn. 1847. Einleitung. D as freie Streben nach dem Unendlichen, als der Grund¬ charakter des Menschen, wendet sich seiner Natur nach einer uͤbersinnlichen Welt zu, da es mit den zahllosen Beschraͤn¬ kungen der sinnlichen Wirklichheit uͤberall in den schroffsten Widerstreit tritt, und dadurch mehr oder weniger seiner Be¬ friedigung verlustig geht. Das religioͤse Bewußtsein, in wel¬ chem jene uͤbersinnliche Welt zur deutlichen Vorstellung gelan¬ gen soll, muß daher auch als der aus dem innersten Wesen des Menschen entspringende Urtrieb, als die Grundbedingung seines Denkens und Wollens, als das Gesetz angesehen wer¬ den, durch dessen Erfuͤllung allein seine Gesammtthaͤtigkeit das Ziel ihrer Bestimmung erreichen kann. Denn indem das re¬ ligioͤse Bewußtsein dem Menschen eine hoͤhere und vollkomm¬ nere Weltordnung, als seinen Sinnen sich darstellt, offenbart, und ihm sein Buͤrgerrecht in derselben verheißt, fordert sie ihn mit dem staͤrksten Machtgebot auf, sich dieses herrlichen Berufes wuͤrdig zu bezeigen, indem er letzterem seine welt¬ lichen Interessen dergestalt unterordnet, daß sie ihn demselben nicht abtruͤnnig machen koͤnnen. In diesem Sinne ist daher je¬ nes Bewußtsein die Quelle aller Pflichtbegriffe, naͤmlich der nothwendigen Vorschriften, durch deren treue Befolgung er allein des durch die Religion ihm feierlich verheißenen hoͤchsten Gutes theilhaftig werden, und sonach mit den Forderungen seiner geistigen Natur in Uebereinstimmung treten kann. End¬ lich schließen die religioͤsen Vorstellungen den Grundbegriff eines goͤttlichen Wesens in sich, welches der Mensch als den Urhe¬ ber und Gesetzgeber der Welt anerkennen muß, um der abso¬ luten Heiligkeit und Nothwendigkeit seiner Gebote stets mit tiefster Ehrfurcht und festester Ueberzeugung inne zu werden. Ideler uͤber d. rel. Wahnsinn. 1 Indeß gelangt der Mensch wegen der beschraͤnkten Ein¬ richtung seines Denkvermoͤgens im religioͤsen Bewußtsein nicht zu einer unmittelbaren Anschauung des Unendlichen, und nicht zu einer deutlichen Erkenntniß desselben, welche er mit Huͤlfe streng wissenschaftlicher Beweise Anderen aufdringen koͤnnte; sondern jenes Bewußtsein gestaltet sich in jedem Einzelnen ganz nach der geistigen Eigenthuͤmlichkeit desselben, daher denn die individuellen Verschiedenheiten der Menschen nirgends deutli¬ cher zu Tage kommen, als in den unzaͤhlig verschiedenen Denk¬ weisen, mit denen sie das Goͤttliche auffassen. Die Religions¬ geschichte, welche einerseits den unwiderlegbaren Beweis fuͤhrt, daß die Voͤlker aller Zeiten und Orte die Anbetung Gottes und die Befolgung seiner Gebote an die Spitze ihrer Angele¬ genheiten stellten, lehrt andrerseits eben so unwidersprechlich, daß sie ihr religioͤses Bewußtsein in dem Maaße verunstalte¬ ten, als sie sich der urspruͤnglichen Bestimmung desselben ent¬ fremdeten, ihnen den Weg zur geistig sittlichen Vervollkomm¬ nung zu bahnen. Denn niemals erfolgt die Entwickelung je¬ nes Bewußtseins in einer voͤlligen Abgeschlossenheit von den uͤbrigen Interessen des Lebens, sondern da es letztere als das Princip ihrer fortschreitenden Veredlung innig durchdringen soll, so muß es in seiner eigenen Ausbildung um so groͤßere Hinder¬ nisse erfahren, je mehr jene Interessen in sinnlicher, geistloser Rohheit und in der Zwietracht der Leidenschaften von ihrer ur¬ spruͤnglichen Bedeutung ausgeartet sind. Eine große Wahr¬ heit liegt daher in den Worten: so wie der Mensch , so ist auch sein Gott , woraus sich wohl mit voller Befug¬ niß die Folgerung ableiten laͤßt, daß nicht zwei Menschen in ihren religioͤsen Begriffen durchaus uͤbereinstimmen, weil letz¬ tere den hoͤchsten und vergeistigsten Ausdruck der ganzen Denk¬ weise und Gesinnung darstellen, und daher den zahllosen Ab¬ weichungen derselben von einander unterworfen sind. Ist es also wahr, daß die Religion den wesentlichen Beruf des Menschen, oder das Gesetz offenbart, dem er mit unverbruͤchlichem Gehorsam nachleben muß, wenn er mit sich in Uebereinstimmung kommen, und dadurch die unendliche Fuͤlle der ihm verliehenen Kraͤfte zur wirklichen Erscheinung und rastlos fortschreitenden Entwickelung bringen soll; so liegt hierin fuͤr ihn zugleich die staͤrkste Aufforderung zu einer gruͤnd¬ lichen Erforschung der Hindernisse, welche sich der Ausbildung seines religioͤsen Bewußtseins entgegenstellen, und ihn durch eine Verunstaltung desselben in das tiefste Elend stuͤrzen. Die Geschichte der christlichen Kirche als der großen und allgemei¬ nen Erziehungsanstalt, in welcher alle Voͤlker fuͤr ihre wahre Bestimmung ausgebildet werden sollen, enthuͤllt vor unserm Blick eine unermeßliche Schilderung der verderblichsten Ver¬ irrungen als nothwendiger Folgen einer entarteten Froͤmmig¬ keit, welche als unerschoͤpfliche Quelle der Schwaͤrmerei und des Fanatismus laͤngst das Evangelium, die Urkunde des goͤttlichen Gesetzes, auf der ganzen Erde vertilgt haͤtte, wenn nicht seine heilige, ewige Wahrheit immer von neuem in ed¬ leren Gemuͤthern wieder auflebte, um durch sie ein Zeugniß von sich zu geben. Große Geschichtsforscher, durchdrungen von der Nothwendigkeit, die wesentlichen Ursachen aufzudecken, wel¬ che in Religionskriegen, Inquisitionen, Hexenprocessen und zahllosen anderen Gewaltthaten der Hierarchie unermeßliches Unheil uͤber eine lange Reihe von Jahrhunderten ausschuͤtte¬ ten, und noch jetzt einer freien Entwickelung des Volkslebens maͤchtig entgegegen arbeiten, haben den reichsten Schatz prag¬ matischer Erkenntniß zu Tage gefoͤrdert, durch welche das hell¬ ste Licht auf den Ursprung der Schwaͤrmerei und des Fana¬ tismus geworfen wird. Nur einer Art der frommen Verir¬ rungen, naͤmlich dem religioͤsen Wahnsinn, widmeten sie weni¬ ger ihre Aufmerksamkeit, weil derselbe allerdings ein ganz ei¬ genthuͤmliches Studium erheischt, zu welchem allein das prak¬ tische Wirken der psychischen Aerzte in den Irrenheilanstalten eine guͤnstige Gelegenheit darbietet. Jenen Aerzten liegt es daher vorzugsweise ob, die Erscheinungen des religioͤsen Wahn¬ sinnes einer sorgfaͤltigen Pruͤfung zu unterwerfen, um Rechen¬ schaft von seinen Ursachen und Entwickelungsgesetzen zu ge¬ ben, und dadurch den Beweis zu fuͤhren, daß seine gruͤndli¬ che Kenntniß tief in die heiligsten Angelegenheiten der Voͤl¬ ker eingreift. Es duͤrfte mir sehr schwer, wenn nicht unmoͤglich wer¬ den, diesen Beweis in gedraͤngter Kuͤrze einleuchtend zu ma¬ chen, da ihm die noch weit verbreiteten Vorurtheile uͤber die 1 * Natur der Geisteskrankheiten das staͤrkste Hinderniß entgegen¬ stellen. An sich ist der Wahnsinn schon eine so grauenvolle Erscheinung, daß er fast wie ein Medusenhaupt den Blick zu¬ ruͤckschreckt. Denn unsre tief gegruͤndete Ueberzeugung, daß die Vernunft als der Spiegel Gottes in uns die Urkunde uns¬ rer Abstammung von ihm ausstellt, erzeugt ein wahres Ent¬ setzen vor einem Menschen, dessen ganze Erscheinung die Ver¬ nunft als das Gesetz alles Denkens und sittlichen Handelns verleugnet. Kann irgend Jemand so vollstaͤndig von seiner Natur und Bestimmung abfallen, wer steht uns dafuͤr, daß uns nicht dasselbe Loos betreffen werde? Ist uͤberhaupt der Beweis gegeben, daß der Mensch den Tod seines Geistes uͤberleben koͤnne, wo giebt es dann noch eine Buͤrgschaft fuͤr seine Unsterblichkeit? Alle diese marternden Vorstellungen sind oft genug ausgesprochen worden, und aus ihnen erklaͤrt sich hinlaͤnglich die Scheu, mit welcher fast Jeder es sorgfaͤltig ver¬ meidet, dem Wahnsinn sein Nachdenken zu widmen, um nicht ein daͤmonisches Gespenst aus Grabesnacht in sein Bewußt¬ sein heraufzubeschwoͤren, und nicht letzteres dem Hauche des Todes auszusetzen. Indem man daher der kleinen Schaar der psychischen Aerzte allein die Sorge fuͤr die ungluͤcklichen Geisteskranken bereitwillig uͤberließ, pflegte man erstere tief zu beklagen, daß ihr Beruf sie gleichsam auf einen verlorenen Posten gestellt habe, wo sie im steten Kampfe mit den grau¬ sigsten Schrecknissen jeder reinen Lebensfreude verlustig gehen muͤßten. Selbst den meisten Irrenaͤrzten blieb der Begriff eines wirklichen Erkranktseins des Geistes, also der schein¬ baren Gefahr seiner wesentlichen Vernichtung so unertraͤglich, daß sie denselben gaͤnzlich verwarfen, und eine Menge von hypothetischen Deutungen erkuͤnstelten, nach denen der Geist bei den Verirrungen und Zerruͤttungen des Bewußtseins im Wahnsinn unmittelbar gar nicht betheiligt, sondern dieselben nur Wirkungen koͤrperlicher Leiden sein sollten, welche in Ner¬ venfiebern, Entzuͤndungen, Kraͤmpfen und dgl. oft genug das Irrereden als die dem Wahnsinn zunaͤchst verwandte Erschei¬ nung hervorrufen, und nach ihrem Ablauf das geregelte Wir¬ ken der Seele ohne den geringsten Abbruch wieder hervortre¬ ten lassen. Damit war nun freilich jede Angst vor einem Erkranken des Geistes beschwichtigt, zugleich aber auch jedes Interesse zerstoͤrt, welches tiefere Denker an der Lehre vom Wahnsinn haͤtten nehmen koͤnnen, da dieselbe als ein Labyrinth willkuͤrlicher und subjectiver Ansichten durch deren endlose Widerspruͤche jede wissenschaftliche Befriedigung unmoͤg¬ lich machte. Es wiederholt sich hier wie uͤberall die Erfahrung, daß die tief verborgene Wahrheit sich mit unzaͤhligen Hindernissen umgiebt, um den forschenden Geist zur hoͤchsten Anstrengung in Ueberwindung derselben herauszufordern; denn sie will aus¬ schließlich der Preis eines Muthes sein, welcher das Leben selbst in die Schanze schlaͤgt, um seinen Zweck zu erreichen. Alle jene grausigen Nebenvorstellungen, welche sich an den Begriff einer urspruͤnglichen Geisteskrankheit knuͤpfen, entspringen aus einer ganz irrthuͤmlichen Auffassung desselben, und zerfallen also mit seiner Berichtigung in sich selbst. Ich kann mich hier freilich nicht auf eine Kritik jener grundfalschen Ansicht einlassen, welche in allen Krankheiten nur Zerstoͤrungsprocesse, also Vernichtung der Lebensgesetze, Aufruhr der Natur sieht, als ob sie die Ewige und Unwandelbare je in Zwiespalt mit sich gerathen, ihren vollkommenen Werken den Charakter der Nichtigkeit einpraͤgen koͤnne. Nur daruͤber darf ich mir einige Bemerkungen erlauben, daß auch im Wahnsinn das innere und urspruͤngliche Gesetz der Seele noch in seiner ganzen we¬ sentlichen Bedeutung waltet, daß nach demselben ihre schoͤpfe¬ rische Kraft rastlos thaͤtig ist, und daß sie nur von einigen nothwendigen Bedingungen ihres Wirkens abweicht, und des¬ halb mit sich selbst in Widerspruch geraͤth, dessen Erscheinung, weit entfernt einen auf Selbstzerstoͤrung hinarbeitenden Geist zu verrathen, vielmehr sein stetiges Streben nach unendlicher Entwickelung des Bewußtseins, wenn auch unter mannigfa¬ cher Hemmung und Verkuͤmmerung zu erkennen giebt. Ich muß mich hier auf einige Andeutungen beschraͤnken, welche eine unmittelbare Beziehung zu dem Inhalt dieser Schrift haben. Das Streben nach dem Unendlichen als der Grundcha¬ rakter des Menschen offenbart sich unmittelbar in einer nie zu stillenden Sehnsucht, welche ihn nach jeder scheinbaren und zeitweiligen Befriedigung seiner Wuͤnsche rastlos weiter treibt, und selbst am Grabesrande uͤber die Todesnacht in die Ewig¬ keit sich hinuͤberschwingend eben deshalb in sich die Buͤrgschaft der Unsterblichkeit traͤgt. Jenes Streben regt sich um so maͤch¬ tiger, je harmonischer der Mensch in allen seinen Seelenkraͤf¬ ten durchgebildet, je mehr er in ihnen zur hoͤchsten Energie und Selbstaͤndigkeit erstarkt ist, daher die satte Befriedigung aller Wuͤnsche als das sicherste Kennzeichen eines veroͤdeten, erschoͤpften, blasirten Geistes anzusehen ist. Alle Wuͤnsche entspringen aus bestimmten Neigungen, welche dem Menschen angeboren, ihm den Antrieb zu ihrer Befriedigung geben, in deren Ermanglung sie eben die Sehnsucht erzeugen, deren scharfer Sporn ihn nicht rasten laͤßt, bis er mit verdoppelter Kraft ihr Ziel erreicht hat. Indem nun seinen Wuͤnschen zahllose Hindernisse der Außenwelt entgegentreten, ist sein Leben ein steter Kampf mit denselben, durch welchen er zu immer hoͤheren Kraftaͤußerungen erstarken soll, in denen wie¬ derum seine Neigungen maͤchtiger hervortreten, um das Ziel seiner neu erwachenden Sehnsucht weiter hinaus zu stecken, so daß eben in diesem steten Wechsel von errungener Befriedi¬ gung und den aus ihr mit verstaͤrkter Kraft auftauchenden Wuͤnschen der eigentliche Entwickelungsproceß des ins Unend¬ liche fortschreitenden Seelenlebens enthalten ist. Dieser natur¬ gemaͤße Bildungsgang desselben setzt aber zwei Bedingungen nothwendig voraus, zunaͤchst eine moͤglichst große Ausbreitung des objectiven Denkens, naͤmlich der erfahrungsmaͤßigen Er¬ kenntniß von dem Verhaͤltniß des Menschen zur Außenwelt, widrigenfalls er nicht die Mittel zur Erfuͤllung seines Zwecks richtig auswaͤhlen und ergreifen kann, und zweitens ein we¬ nigstens relatives Gleichgewicht aller Neigungen, dergestalt daß sie insgesammt den Antrieb zu ihrer Befriedigung geben koͤn¬ nen. Denn herrscht irgend eine Neigung in einem solchen Grade vor, daß sie in Leidenschaft entartend die uͤbrigen zu unterdruͤcken strebt, um ihr Interesse allein im Bewußtsein geltend zu machen, und ihm dasselbe als das ausschließliche Gesetz aller Bestrebungen vorzuschreiben; so zwingt sie dadurch den Menschen, ihr das Opfer aller uͤbrigen Neigungen zu bringen, und dadurch seine Wohlfahrt zu Grunde zu richten, weil diese nur aus der gemeinsamen Pflege aller natuͤrlichen Neigungen oder Triebe entstehen kann. Man braucht sich nur die nothwendigen Wirkungen der einzelnen Leidenschaften, z. B. des Ehrgeizes, der Herrsch- und Habsucht, der uͤbermaͤ¬ ßigen Geschlechtsliebe u. s. w. lebhaft zu vergegenwaͤrtigen, um sich davon zu uͤberzeugen, daß sie Geist und Gemuͤth despotisch beherrschend ihre verderblichen Folgen durch Unter¬ druͤckung der ihnen widerstrebenden Neigungen hervorbringen. In den Leidenschaften hat sich daher das Gesammtstre¬ ben der Seele in einer einzigen Neigung concentrirt, welche nun den uͤberschwenglichen Charakter derselben am deutlichsten zur Schau traͤgt, waͤhrend bei der ganz naturgemaͤßen Ge¬ muͤthsverfassung die im Gleichgewichte stehenden Neigungen sich gegenseitig beschraͤnken, maͤßigen, und dadurch ihrem uͤbereil¬ ten Wirken vorbeugen. Also indem die Leidenschaft alle Zuͤgel von sich wirft, welche die uͤbrigen Gemuͤthsinteressen ihr an¬ legen sollten, artet ihr Drang sogleich ins Maaßlose aus, so daß derselbe in jeder theilweisen Befriedigung nur den Zun¬ der zu einer noch groͤßeren Flamme der Begierden findet, etwa wie der Weinerregte immer durstiger wird, je mehr Wein er trinkt. Nur deshalb, weil die Leidenschaft sich noch mit einem hinreichenden Grade von Besonnenheit oder objectivem Verstandesgebrauch paart, weil sie der Nothwendigkeit einer richtigen Berechnung ihres Verhaͤltnisses zur Außenwelt behufs der Erfuͤllung ihrer Zwecke eingedenk bleibt, erhaͤlt sie sich auch im fortwaͤhrenden Zusammenhange mit derselben; der von ihr Beherrschte ist noch ein Buͤrger der wirklichen Welt, ihren Gesetzen unterthan, weil er es recht gut weiß, daß ihre Ueber¬ tretung ihn ins Verderben stuͤrzen muß. Ja er erkennt es, daß der praktische Verstandesgebrauch recht eigentlich das Mit¬ tel ist, seine Zwecke in weitester Ausdehnung zu erfuͤllen, da¬ her denn die aͤchte Leidenschaft sich mit einem hohen Grade von Weltklugheit paart, und in der Geistesbildung eine große Mei¬ sterschaft erreichen wuͤrde, wenn nicht ihre verwerflichen Zwecke im absoluten Gegensatze mit den Vernunftbegriffen staͤnden, dadurch dem gesammten Denken einen unvertilgbaren Wider¬ spruch einimpften, welcher selbst von der dialektischen Virtuositaͤt der leidenschaftlichen Sophistik nicht ganz verdeckt werden kann. So lange die Leidenschaft noch irgend eine Moͤglichkeit zur Erreichung ihrer Zwecke vor sich sieht, arbeitet sie auch gewiß auf dieselbe hin, und schaͤrft daher den Verstandesge¬ brauch, um nicht in den Mitteln fehl zu greifen. Sobald sie aber zu einem solchen Grade der Entwickelung gediehen ist, daß ihre Sehnsucht gar keine Befriedigung in der Wirklichkeit mehr finden kann, muß sie auch in ihrem ganzen Wirken ei¬ nen voͤllig veraͤnderten Charakter annehmen. Sie sollte sich freilich maͤßigen, wenn sie des absoluten Widerspruchs zwischen ihrer Sehnsucht und der Moͤglichkeit ihrer Erfuͤllung inne wird; aber eben als despotisch herrschendes Verlangen kennt sie keine Grenzen ihres Strebens mehr, dem die unterdruͤckten uͤbrigen Neigungen keinen Einhalt thun koͤnnen. Sie strebt also rast¬ los weiter, und wendet sich von der Wirklichkeit ab, in wel¬ cher sie keinen Raum mehr findet, d. h. sie muß aus dem Be¬ wußtsein alle Vorstellungen verbannen, durch welche sie an die wirkliche Welt erinnert wird, mit welcher sie entschieden gebrochen hat. Bliebe nun das Bewußtsein nach Vertilgung der objectiven Vorstellungen von der wirklichen Welt eine in¬ haltsleere Oede, so wuͤrde die ungestillte Sehnsucht in dum¬ pfen Gefuͤhlen sich abquaͤlen muͤssen, welches mit dem rastlosen Streben des Geistes nach bestimmter Auspraͤgung und Gestal¬ tung aller seiner Regungen durchaus unvereinbar ist. Nach¬ dem also die unbefriedigte Leidenschaft im Bewußtsein die wirkliche Welt in Truͤmmer zerschlagen hat, muß sie in dem¬ selben eine neue erschaffen, deren Gesetz eben ihr Interesse ist, welches sie in den riesenhaften Bildern einer gluͤhenden Phan¬ tasie sich vergegenwaͤrtigt, und mit den Trugbegriffen eines irregeleiteten Verstandes vor sich zu rechtfertigen sucht. Gleich¬ wie jede Dichtung nicht mit uranfaͤnglicher Schoͤpfungskraft ganz neue Elemente der Dinge hervorbringen, sondern sie nur zu einem idealen Gebilde zusammensetzen kann; eben so muß die von der unbefriedigten Leidenschaft neugeborene Welt, ob¬ gleich mit der Wirklichkeit uͤberall im grellsten Widerstreit, doch von ihr den Bildungsstoff entlehnen, den sie nur nach ganz anderen Gesetzen und Verhaͤltnissen zu neuen Formen gestaltet. Dies ist der wesentliche Ursprung des Wahnsinns, welcher frei¬ lich in so tausendfaͤltigen Verschiedenheiten auftritt, daß ich hier auch nicht im Entferntesten die Bedingungen aufzaͤhlen kann, durch welche die Eigenthuͤmlichkeit seiner verschiedenen Arten hervorgerufen wird. Eben so muß ich es mir auch ver¬ sagen, die pathologischen Bildungsgesetze naͤher zu eroͤrtern, nach welchen im Wahnsinn alle Vorstellungen von den sinn¬ lichen Anschauungen bis hinauf zu den Vernunftbegriffen auf die eigenthuͤmlichste Weise umgestaltet werden, woraus sich das charakteristische Gepraͤge des irren Bewußtseins leicht erklaͤren laͤßt. Nur einer der auffallendsten Erscheinungen des Wahn¬ sinns erlaube ich mir besonders zu gedenken, naͤmlich der Sin¬ nestaͤuschungen, durch welche den Geisteskranken Bilder von nicht vorhandenen Gegenstaͤnden, mit derselben Klarheit, Deut¬ lichkeit, Lebendigkeit und Staͤrke vorgespiegelt werden, als wenn sich ihrer Anschauung wirklich gegenwaͤrtige Dinge dar¬ boͤten. Diese Sinnestaͤuschungen, welche Visionen heißen, wenn sie den Sinn des Gesichts betreffen, stellen meistentheils die Objecte der herrschenden Leidenschaft dar, namentlich schweben dem religioͤsen Schwaͤrmer oft Gestalten vor Augen, welche er fuͤr die Person Gottes, des Heilandes, des heiligen Geistes, fuͤr Engel und Schaaren seeliger Geister, umgeben von der Herrlichkeit des Paradieses haͤlt, oder er erblickt den Teufel unter allen jenen fuͤrchterlichen Bildern, welche der Aberglaube ihm andichtet, die Hoͤlle mit ihren Flammen und den Quaalen der Verdammten. Fast noch haͤufiger hoͤrt der fromme Wahn¬ sinnige Stimmen, welche ihm die Gebote, Strafen, Beloh¬ nungen, Verheißungen Gottes zurufen, oder welche ihm aus der Hoͤlle als Hohngelaͤchter des Teufels, als Gotteslaͤsterun¬ gen, als die Donnerworte ewiger Verdammniß u. s. w. zu kommen scheinen. Ohne die Mannigfaltigkeit dieser Erschei¬ nungen aufzuzaͤhlen, begnuͤge ich mich zu ihrer Erklaͤrung die Bemerkung hinzuzufuͤgen, daß der herrschende Grundgedanke von der innen gluͤhenden Leidenschaft gleichsam nach außen bildlich projectirt wird, welches wir uns am leichtesten, durch das Spiel einer Zauberlaterne versinnlichen koͤnnen, welche aus ih¬ rem Innern ein Bild mit solcher Lebendigkeit auf rauchige Duͤnste im Zimmer wirft, daß dasselbe sich zu einer wirklichen Koͤrpergestalt objectivirt, und dadurch den Unkundigen in Stau¬ nen versetzt, da er dessen taͤuschende Ursache nicht ahnt. Gleich dem unwissenden Zuschauer jener magischen Gaukelei ist der Wahnsinnige, welcher den Mechanismus des ihn bethoͤrenden Blendwerks der Phantasie nicht kennt, voͤllig von der Wirk¬ lichkeit der aus seinem Innern nach außen reflectirten Trug¬ bilder uͤberzeugt, und er wird durch sie ganz in dieselben Ge¬ muͤthsbewegungen versetzt, wie wenn sie Erscheinungen wirkli¬ cher Wesen waͤren. Ist also der Wahnsinn in seiner weitesten Bedeutung der Untergang des Bewußtseins der wirklichen Welt in einer unendli¬ chen Sehnsucht, welche sich eine neue Welt in Bildern und Be¬ griffen erschafft, in denen sie sich zu befriedigen strebt; so er¬ hellt daraus schon, daß durch ihn die gesammte Seelenthaͤtig¬ keit sowohl in Bezug auf die Vorstellungen als Willensan¬ triebe in die hoͤchste Spannung versetzt wird, welche somit den unmittelbaren Gegensatz zu jener irrthuͤmlichen Ansicht von einem passiven Verhalten der Seele waͤhrend des ersteren aus¬ spricht. Oft freilich sind die Mißverhaͤltnisse, in welche der Geist durch sein gaͤnzliches Losreißen von seinen bisherigen durch die Wirklichkeit bedingten Vorstellungen versetzt wird, zu groß, als daß er sich unter den Truͤmmern der in seinem Be¬ wußtsein zusammengestuͤrzten Weltordnung zurecht finden koͤnnte. Denn brauchte sein natuͤrlicher Entwickelungsgang schon eine lange Reihe von Jahren, um aus einzelnen Anschauungen, Erfahrungen und objectiven Begriffen ein Bild des Weltgan¬ zen in sich zusammenzusetzen, dessen Bewußtsein die Grund¬ lage seines fortschreitenden Denkens und Handelns ausmacht: woher soll er nun in aller Eile, nachdem Alles fuͤr ihn un¬ wahr, widersinnig geworden, ja in ein Chaos zerfallen ist, den Stoff zu einer neuen Welt hernehmen? Indeß wenn auch viele Wahnsinnige an ihrem bisherigen Leben so vollstaͤndig irre werden, daß sie nur in faselnder, sinnloser Rede noch ihre Verlegenheit und Unbeholfenheit aussprechen koͤnnen, welche nothwendig, aus einer so gaͤnzlichen Verwuͤstung ihrer Denk¬ weise entspringen muß; so arbeiten doch die meisten so unab¬ laͤssig und angestrengt an einer Reorganisation ihres Bewußt¬ seins, natuͤrlich im Sinne der sie beherrschenden maaßlosen Sehnsucht, daß sie dabei oft eine logisch dialektische Meister¬ schaft, ein bis zum wahren Dichtertalent gesteigertes Wirken der Phantasie beurkunden, und mit Huͤlfe beider ein Zauber¬ reich von Vorstellungen hervorrufen, dessen kuͤhnen Verhaͤlt¬ nissen, großartiger Bedeutung, ja idealer Verklaͤrung man seine Bewunderung nicht versagen kann. Ja es ereignet sich zu¬ weilen, daß Personen, deren Geist in fruͤherer Lebensbeschraͤn¬ kung es nur bis zu einer duͤrftigen Entwickelung bringen konnte, im Wahn die Fesseln derselben abschuͤtteln, und in schwunghafte Thaͤtigkeit versetzt, mit einer Fuͤlle der großar¬ tigsten Vorstellungen uͤberraschen. Gewiß, es eroͤffnet sich auf diesem Standpunkte der Be¬ trachtung die Aussicht auf ein ganz unermeßliches Gebiet der psychologischen Forschung, wo unzaͤhlige Probleme von der wich¬ tigsten Bedeutung sich an einander reihen, und weit entfernt, daß der Wahnsinn das trostlose Bild eines sich selbst vernich¬ tenden Geistes gewaͤhren sollte, beurkundet er vielmehr das durch Nichts zu verwuͤstende schoͤpferische Vermoͤgen desselben, immer aufs Neue Welten von Vorstellungen aus sich zu er¬ zeugen, nachdem die fruͤheren in sich zerfallen sind. Erwaͤgt man nun noch, daß der Ursprung des Wahns aus dem fruͤ¬ heren Leben die innersten Entwickelungsvorgaͤnge, den wesent¬ lich ursachlichen Zusammenhang seiner auf einander folgenden Zustaͤnde aufdeckt, und dadurch das geheime Werden und Wach¬ sen der in den tiefsten Grund der Seele gelegten Keime, also ihr innerstes und urspruͤnglichstes Leben zur unmittelbaren An¬ schauung bringt, aus welcher sodann auch die Bedingungen der Heilung klar werden muͤssen; so begreift es sich leicht, daß dem Menschenforscher gerade im Gebiete der Geisteskrankheiten der tiefste Schacht der Erkenntniß eroͤffnet wird, dessen Reich¬ thum sich noch gar nicht ahnen laͤßt. Wir duͤrfen bei diesen Betrachtungen nicht laͤnger verweilen, da sie nur dazu dienen sollten, die hochwichtige Bedeutung des religioͤsen Wahns etwas naͤher zu bezeichnen, um ihm ein allgemeineres Interesse zuzuwenden. Ist derselbe naͤmlich im Sinne des bisher Gesagten nichts Anderes, als die Wirkung einer so grenzenlosen Sehnsucht nach dem Goͤttlichen, daß die¬ selbe jede andere Neigung sich unterordnet, oder geradezu un¬ terdruͤckt, so stellt er sich deshalb als eine der großartigsten und maͤchtigsten Erscheinungen des Lebens dar. Denn zuvoͤr¬ derst verkuͤndet er mit furchtbarem Ernste die strenge Wahrheit, daß der Mensch auch in seinem heiligsten Interesse Maaß halten soll, daß er ungeachtet der Ueberschwenglichkeit seines Wesens an einen allmaͤhlig fortschreitenden Entwickelungsgang gebunden ist, den er nicht im eigenmaͤchtigen Ungestuͤm uͤber¬ springen darf, und daß er sich daher das gemessene Walten der Natur zum Muster nehmen muß, welche ihre Welten er¬ zeugende Schoͤpferkraft nie aus den Schranken des Gesetzes heraustreten laͤßt, und gerade ihre Vollkommenheit in der un¬ bedingtesten Uebereinstimmung mit sich selbst offenbart. Frei¬ lich predigen Schwaͤrmerei und Fanatismus ganz dieselbe Lehre, und ihr Reich breitet sich so weit uͤber die Erde aus, daß man die Verirrungen des religioͤsen Bewußtseins nicht erst in Ir¬ renhaͤusern aufzusuchen braucht. Aber letztere bieten doch den unschaͤtzbaren Vortheil dar, daß in ihnen die wissenschaftliche Forschung sich mannigfacher wichtiger Huͤlfsmittel bedienen kann, welche das oͤffentliche Leben ihr schlechthin verweigert. Denn wer darf sich in den buͤrgerlichen Verhaͤltnissen unterstehen, diejenigen zur strengen Rechenschaft uͤber die geheime Geschichte ihrer Gedanken und Gefuͤhle zu ziehen, welche durch auffal¬ lende Ostentation ihrer Froͤmmigkeit die allgemeine Aufmerk¬ samkeit auf sich ziehen? Wie oft schwangt daher das Urtheil der besten Beobachter, ob das Gepraͤge des religioͤsen Eifers aͤcht, oder ob es ein Blendwerk sei, hinter welchem die Heu¬ chelei ganz andere Motive oft so geschickt verbirgt, daß die Entlarvung des Betruges entweder voͤllig mißlingt, oder nur zum Theil bewirkt werden kann. Selbst wenn uͤber die Lau¬ terkeit der Gesinnung kein Zweifel entstehen kann, bleibt doch ihre ganze Erscheinungsweise zuweilen raͤthselhaft, da sich in ihr Gewebe so manche fremdartige Faͤden heimlich hineinflech¬ ten, deren Ursprung man nicht kennt. Daher muß der Beobach¬ ter Vieles hinzudenken und interpretiren, und seine Auffassung merkwuͤrdiger Charaktere ist oft in einem so hohen Grade sub¬ jectiv gehalten, daß sich daraus die zahllosen Widerspruͤche un¬ ter den verschiedenen Geschichtsforschern zur Genuͤge erklaͤren. Die psychischen Aerzte koͤnnen diese Klippe wenigstens großen¬ theils vermeiden, da ihnen die beste Gelegenheit zu Gebote steht, das fruͤhere und gegenwaͤrtige Leben der Geisteskranken sorgfaͤltig zu erforschen, und die wesentlichen Thatsachen aus¬ zumitteln, deren organische Verbindung den urspruͤnglichen Ent¬ wickelungsproceß des Wahnsinns zur unmittelbaren Darstellung bringt. Sie duͤrfen sich freilich noch keiner fehlerfreien Me¬ thode der Beobachtung ruͤhmen, welche jede Moͤglichkeit der subjectiven Taͤuschung ausschloͤsse; ist indeß nur erst der An¬ fang damit gemacht, und dadurch wenigstens in einzelnen Faͤl¬ len der Beweis gefuͤhrt worden, daß im Wahnsinn die inner¬ ste Seelenverfassung zur aͤußeren, objectiv erkennbaren Erschei¬ nung gelangt, so wird das dadurch eroberte neue Gebiet der Wissenschaft seine hochwichtige Bedeutung schon von selbst gel¬ tend machen. Einen vorzuͤglichen Werth erlangt der Wahnsinn als hoͤch¬ ste Entwickelungsstufe der Leidenschaften auch dadurch, daß er ihre wesentliche Beschaffenheit und ihre psychologischen Verhaͤlt¬ nisse im allergroͤßten Maaßstabe zur Anschauung bringt, und dadurch ihre Erkenntniß ungemein erleichtert. Dieser Vortheil muß unstreitig sehr hoch angeschlagen werden, da die Leiden¬ schaften wegen ihres versteckten, hinterlistigen Charakters mit Recht uͤbel beruͤchtigt sind, und eben deshalb einer gruͤndli¬ chen Forschung sich bisher so sehr entzogen haben, daß uͤber sie noch die willkuͤrlichsten Ansichten herrschen, deren Wider¬ streit bisher durch keine aͤcht wissenschaftliche Darstellung aus¬ geglichen werden konnte. Denn jede Leidenschaft strebt ihre uͤberschwenglichen Zwecke auf Kosten aller uͤbrigen Interessen zu erreichen, und sie geraͤth dadurch in einen unvermeidlichen Kampf mit Allen, deren Wohlfahrt sie feindlich entgegentritt. Leidenschaftliche Menschen bemuͤhen sich daher, ihren wahren Charakter sorgfaͤltig hinter einer erkuͤnstelten Gesinnung zu ver¬ bergen, um der Gegenwirkung Anderer moͤglichst auszuweichen, und ihre ganze zur Schau getragene Denk- und Handlungs¬ weise wird dadurch zu einem Luͤgengewebe, in welchem das Aechte vom Falschen zu unterscheiden oft dem scharfsinnigsten Menschenkenner nicht gelingt. Je groͤßer die hieraus unver¬ meidlich entspringenden Irrungen sind, weil ein Jahr¬ hundert, ein Volk, ja jedes Individuum den uͤbrigen mehr oder weniger zum Raͤthsel wird, um so willkommener muß uns die Gelegenheit sein, tiefe Blicke in die Geheimnisse der Menschenbrust zu werfen, und die wahre Bedeutung der in ihnen waltenden Vorgaͤnge zu erkennen. Eine solche Gelegen¬ heit bietet uns der Wahnsinn dar, welcher den Schleier der wahren Gesinnung luͤftend, sie noch dazu in so starken Zuͤ¬ gen hervortreten laͤßt, daß ihr wesentlicher Charakter nicht laͤn¬ ger zweifelhaft bleiben kann. Denn der Geisteskranke, wel¬ cher mit der Flucht aus dem wirklichen Leben auch die Mo¬ tive der in ihr herrschenden Verstellung vergessen hat, und sich in eine Traumwelt versetzt, wo kein aͤußerer Zwang seinem maͤchtigen Gefuͤhlsdrange angethan wird, giebt daher denselben auch in den unzweideutigsten Aeußerungen durch Wort, That und Betragen vollstaͤndig kund; er spricht Alles aus, was in ihm vorgeht, sein Hoffen und Fuͤrchten, sein Lieben und Has¬ sen, sein Denken und Begehren, daher es nur der aufmerk¬ samen Beobachtung bedarf, um den Schluͤssel zu allen Er¬ scheinungen zu finden. Zwar wirken auch auf ihn haͤufig ge¬ nug Beweggruͤnde zur Verstellung, wohin namentlich seine Versetzung in eine Irrenanstalt zu rechnen ist, uͤber deren Zweck, in sofern er dadurch zu einer Sinnesaͤnderung bewogen wer¬ den soll, er meistentheils bald genug hinreichend ins Klare kommt, um den ihn beherrschenden Wahn moͤglichst zu ver¬ hehlen, und eine scheinbare Besonnenheit zu affectiren, mit welcher er das Recht der Entlassung aus der Heilanstalt gel¬ tend zu machen sucht. Wer indeß nur einigermaaßen mit den Eigenthuͤmlichkeiten der Geisteskrankheiten durch laͤngere auf¬ merksame Beobachtung sich vertraut gemacht hat, durchschaut diese Verstellung gewoͤhnlich bald, und weiß den Wahnsinni¬ gen zu bestimmen, seine eigentliche Denkweise hervortreten zu lassen. Die Anwendung dieser Bemerkungen auf den frommen Wahn laͤßt uns die hohe Wichtigkeit seines Studiums fuͤr die richtige Beurtheilung unsrer heiligsten Angelegenheiten deutlich erkennen. Jede Epoche allgemein verbreiteter religioͤser Aufre¬ gung muß als eine hoͤhere Entwickelungsstufe des Volksthums angesehen werden, welches in seiner durch fortschreitende Civi¬ lisation erweiterten Lebensanschauung zu dem Bewußtsein der Nothwendigkeit ihrer tieferen Begruͤndung durch eine gelaͤuterte und veredelte religioͤse Denkweise zu gelangen strebt. Denn es giebt keinen verderblicheren Widerspruch in der innersten Grundlage des Volkslebens, als wenn letzteres in allen uͤbri¬ gen Angelegenheiten eine groͤßere Ausbildung gewonnen hat, aber mit seinen Glaubensformen auf der Stufe fruͤherer Jahrhun¬ derte stehen geblieben ist, zu deren Zeit dieselben im voͤllig¬ sten Einklange mit einer auf die rohen Anfaͤnge beschraͤnkten Cultur standen, deren geringe Beduͤrfnisse in schlichteren socia¬ len Verhaͤltnissen auch in einem wenig entwickelten religioͤsen Bewußtsein volle Befriedigung finden konnten. Soll die Re¬ ligion zur Wahrheit werden, so setzt dies nothwendig voraus, daß sie als hoͤchstes Lebensprincip alle menschlichen Angelegen¬ heiten innig durchdringe, daß sie in der Wissenschaft, der Kunst und den praktischen Verhaͤltnissen, als den nothwendigen Ele¬ menten menschlichen Strebens und Wirkens die Widerspruͤche mit dem goͤttlichen Gesetz im unvermeidlichen Kampfe zuletzt uͤberwinde. Eine Religion, welche in beharrlich festgehaltenen Formeln abgeschlossen, nicht in sich mehr jenes schoͤpferische Vermoͤgen findet, mit welchem sie sich, unbeschadet ihrer goͤtt¬ lichen Wahrheit zu immer freieren Begriffen gestalten, und in ungehinderter Entwickelung derselben das rastlose Fortschreiten aller menschlichen Bestrebungen einholen, ja uͤberfluͤgeln kann, eine solche Religion muß eine Kirche außerhalb der wirklichen Welt stiften, und ihren maͤchtigen Einfluß auf die hoͤchste Ver¬ edlung des Lebens um so gewisser einbuͤßen, je mehr letzteres durch den riesenhaften Wetteifer zahlloser Interessen ein Kampf¬ platz titanischer Kraͤfte geworden ist. Wenn nun ein Volk daruͤber zur Erkenntniß gelangt ist, daß es die versaͤumte Entwickelung seines religioͤsen Bewußt¬ seins nachholen muͤsse, um dasselbe in wahrhafte Uebereinstim¬ mung mit seinen maͤchtigen Fortschritten in allen uͤbrigen Cul¬ turzweigen zu bringen; so beurkundet es dadurch eben so ge¬ wiß seine voͤllige Reife fuͤr eine veredelte und vervollkommnete Freiheit seines Gesammtlebens, seine Erhebung zu einer hoͤ¬ heren Stufe der welthistorischen Bedeutung, als es durch das Gegentheil unfehlbar in die geistlose Rohheit grob materieller Interessen versinkt; und unter ihrer despotischen Alleinherrschaft immer groͤßeren Abbruch an seinen geistig sittlichen Guͤtern er¬ leidet, bis es des wahren Lebensprincips voͤllig beraubt, in sich zu Grunde gehen muß. Aber das historische Recht, kraft dessen die ausgelebten Glaubensformeln sich behaupten, setzt der freien Entwickelung des religioͤsen Bewußtseins ein schwer zu uͤberwindendes Hinderniß entgegen, und ein heftiger Kampf entbrennt zwischen den Partheien des Stabilismus und des Fortschritts, deren jede ihr heiligstes Interesse durch die Geg¬ ner mit Vernichtung bedroht sieht. Daß in diesem Kampfe um die hoͤchsten und theuersten Guͤter die Leidenschaften den aͤußersten Grad der Heftigkeit erreichen, und oft genug den zerstoͤrendsten Charakter annehmen, lehrt nicht nur die Geschichte aller Zeiten und Voͤlker, sondern liegt auch in der Natur der Sache, da es sich hierbei um nichts Geringeres handelt, als um das Geltendmachen der urspruͤnglichen Grundsaͤtze, in wel¬ chen das Leben nach allen seinen Beziehungen gedacht und ge¬ staltet werden soll. In diesem Sinne erlangen daher auch die religioͤsen Leidenschaften eine edlere Bedeutung, da nur in dem Zusammenstoß der schroffsten Gegensaͤtze die Gemuͤthskraͤfte zu ihrer hoͤchsten Energie sich steigern, und somit ein wirklich schoͤpferisches Vermoͤgen gewinnen koͤnnen, um eine neue Ord¬ nung der Dinge hervorzurufen und zu begruͤnden, waͤhrend die laue, ja indifferente Gesinnung, welche nur mit den Gegen¬ saͤtzen ein loses Spiel treibt, desselben bald uͤberdruͤssig wird, da aus ihm nichts Bleibendes hervorgehen kann. Je mehr also die Geister auf einander platzen, je heißer der Kampf zwischen den Partheien entbrennt, um so mehr legen sie das Zeugniß ihres heiligen Ernstes ab, und wenn es ihnen auch nicht immer beschieden ist, die Fruͤchte davon zu ernten, so hatten sie doch wenigstens auf dem nothwendigen Entwicke¬ lungsgange der Menschheit eine hoͤhere Stufe erreicht, welche den Weg zu weiteren Fortschritten bezeichnet. Indeß wenn auch diese welthistorische Bedeutung der Glaubensstreitigkeiten Trost gewaͤhren kann fuͤr die durch re¬ ligioͤse Leidenschaften angerichteten Verwuͤstungen menschlicher Wohlfahrt, so muͤssen doch letztere den entsetzlichsten Schicksa¬ len beigemessen werden, von denen unser Erdenloos betroffen werden kann. Nur die Ueberzeugung, daß die edelsten Ideen zuletzt immer siegreich aus allen Verheerungen des Fanatismus hervorgehen, und daß letzterer ein nothwendiges Element im Bildungsgange des Menschengeschlechts war, kann den Muth einfloͤßen, die Schrecken seiner Herrschaft kaltbluͤtig mit dem Auge des wissenschaftlichen Forschers zu betrachten. Endlich aber hat derselbe Blut genug vergossen, und den freien Ent¬ wickelungstrieb hochherziger Voͤlker, vor allen der Spanier, lange genug darniedergehalten. Soll unsre Zeit ihren reformatori¬ schen Charakter im edelsten Sinne bewaͤhren, nicht ihren ho¬ hen Beruf dadurch herabwuͤrdigen, daß sie fuͤr die Herrschaft engherziger Interessen streitet; so ist dazu vor Allem erforder¬ lich, daß sie den Sieg der Religion erringt, indem sie Frie¬ den unter den entzweiten Bestrebungen der Voͤlker stiftet, daß sie nicht mehr die frommen Leidenschaften als treulose Bun¬ desgenossen zu Huͤlfe ruft, um ihre großartigen Zwecke zu er¬ reichen. Wollte man den zelotischen Eiferern Glauben beimes¬ sen, so waͤre die religioͤse Wiedergeburt eines in Selbstsucht und Materialismus geistig erstorbenen Volks nur von der Fa¬ natisirung desselben zu hoffen, daher denn erstere ein kuͤnstlich organisirtes System von Huͤlfsmitteln ersonnen haben, um durch Stiftung schwaͤrmerischer Secten, durch Befoͤrderung des My¬ sticismus in pietistischen Conventikeln, in der Verbreitung einer Fluth von vernunftbethoͤrenden Traktaͤtlein, durch Verketzerung der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Bunde mit der Wis¬ senschaft, ja durch Erregung wirklicher Epidemieen schwindel¬ hafter Schwaͤrmerei die tiefste Finsterniß uͤber alle Geister aus¬ zugießen, weil in derselben nach ihrer Ueberzeugung die Reli¬ gion allein ihr Gedeihen finden kann. Aber gleichwie das Son¬ nenlicht (einige unbedeutende Ausnahmen abgerechnet) ein ab¬ solut nothwendiges Lebens-Element aller organischen Geschoͤpfe ist, welche dem heilsamen Einflusse desselben entzogen zu Mi߬ gestalten entarten; eben so muß auch das Licht der Vernunft als die unerlaͤßliche Bedingung der geistigen Entwickelung an¬ gesehen werden, welche derselben beraubt nur noch Monstro¬ sitaͤten des Charakters erzeugen kann. In einem thatkraͤftigen, gesinnungstuͤchtigen Volke wird der religioͤse Obscurantismus seine verderblichen Wirkungen nur in einem beschraͤnkten Maaße hervorbringen koͤnnen, daher letztere dann leicht der Beobach¬ tung sich entziehen. Bemaͤchtigt sich derselbe aber schwacher Gemuͤther, denen jede Faͤhigkeit der freien Selbstbestimmung Ideler uͤber d. rel. Wahnsinn. 2 mangelt, mit welcher sie sich einer ihnen gegebenen verderb¬ lichen Richtung eigenmaͤchtig entreißen koͤnnten; dann bringt er jene gaͤnzliche Verdumpfung des religioͤsen Bewußtseins her¬ vor, welche eben so leicht einerseits in zerstoͤrende Leidenschaf¬ ten umschlagen, als andrerseits einen voͤlligen Geistestod zur Folge haben kann. Da die Religion die hoͤchste Vergeistigung des Menschen zu ihrem wesentlichsten Zwecke hat, so verlieren ihre Lehren voͤllig ihre urspruͤngliche Bedeutung, wenn sie die¬ sem Zwecke geradezu entgegenarbeiten, und weit entfernt, noch das Entwickelungsprincip der Seele darzustellen, beguͤnstigen sie ein uͤppiges Wuchern sinnlicher Begierden und selbstsuͤchtiger Leidenschaften, welche die Erfahrung noch immer als unzer¬ trennliche Begleiter des Obscurantismus kennen gelehrt hat. Wollen wir auch nicht das Zeugniß der Kirchengeschichte auf¬ rufen, so brauchen wir nur an die Tagesblaͤtter der Gegen¬ wart zu erinnern, welche unzaͤhlige Male die grausenerregen¬ den Folgen eines irre geleiteten frommen Eifers in den man¬ nigfachsten Thatsachen geschildert, und dadurch einen Schatten auf die heilverkuͤndende religioͤse Aufregung unsrer Tage ge¬ worfen haben. Nun sind auch die psychischen Aerzte wesentlich dabei be¬ theiligt, die eigentlichen Bedingungen zu erforschen, unter de¬ nen jene beklagenswerthen Verirrungen zu Tage kamen. Denn es genuͤgt dabei keineswegs, einzelne Ursachen derselben her¬ vorzuheben, z. B. den mystisch zelotischen Charakter der all¬ zusehr gehaͤuften Andachtsuͤbungen, die Versaͤumniß strenger Pflichterfuͤllung in einem bequem beschaulichen Leben, die Er¬ schlaffung des Charakters in Ueppigkeit, weil das unertraͤgliche Gefuͤhl der Blasirtheit den staͤrksten Antrieb zu einem schwaͤr¬ merischen Rausche froͤmmelnder Einbildungskraft geben kann, oder andrerseits das Erlahmen aller Gemuͤthskraͤfte unter dem fortdauernden Druck schwerer Leiden und harter Entbehrungen, die Verzweiflung eines schuldbeladenen, oder die grundlose Selbst¬ peinigung eines allzu zarten Gewissens, Ueberbildung oder Rohheit des Geistes u. s. w. Die Kenntniß dieser und un¬ zaͤhliger anderer Ursachen der religioͤsen Verirrungen erklaͤrt noch keinesweges vollstaͤndig ihren wahren Ursprung, weil die¬ ser in der Regel ein Zusammentreffen vielfacher unguͤnstiger Bedingungen voraussetzt, und dabei an eigenthuͤmliche Entwicke¬ lungsgesetze gebunden ist, welche bei der sorgfaͤltigen Erforschung der Geisteskrankheiten am deutlichsten hervortreten. Ja es kommt da¬ bei oft weit weniger auf grell in die Augen springende Thatsa¬ chen, sondern haͤufig weit mehr auf ein leises Zusammenwir¬ ken von Einfluͤssen an, welche ihres geringfuͤgigen Anscheins wegen nicht beachtet werden, obgleich gerade sie durch ihr be¬ harrlich fortgesetztes Wirken dem Gemuͤth eine durchaus falsche Richtung geben, in welcher es unmerklich von einer klaren Be¬ sonnenheit zu einer gaͤnzlichen Verblendung und Selbstbethoͤ¬ rung abgeleitet, und dadurch ins Verderben gestuͤrzt werden kann. Im geistigen Leben ist Nichts unbedeutend, sondern das Groͤßte kann aus dem Kleinsten entspringen, wenn Gleiches sich zu Gleichem gesellt, so wie die Lawine aus einem Haͤuf¬ lein Schnee entsteht, welches von einem Felsen herabrollend immer neue Schneemassen an sich zieht, und dadurch zur un¬ geheuersten Wucht anwaͤchst, welche mit zermalmender Gewalt in die Tiefe stuͤrzt. Mit einem Worte, wir beduͤrfen einer psychologischen Ent¬ wickelungsgeschichte der religioͤsen Verirrungen, wenn wir eine richtige Einsicht erlangen sollen, auf welche allein wirksame Weise die Quellen derselben verstopft werden sollen. Um aber die Elemente einer solchen Entwickelungsgeschichte auffinden zu koͤnnen, muß man sie in vielen einzelnen Faͤllen sorgfaͤltig studirt haben, um einen Begriff von dem inneren organi¬ schen Zusammenhange zu bekommen, in welchem die verschie¬ denen Thatsachen sich an einander reihen. Denn die wesent¬ liche Bedeutung der letzteren kann nur in ihrer wissenschaft¬ lichen Verbindung aufgefunden werden, dagegen ihre verein¬ zelte Betrachtung zu den verkehrtesten Urtheilen verleitet. Wie wahr dies sei, davon kann man sich leicht aus den voͤllig wi¬ dersprechenden Ansichten uͤberzeugen, welche uͤber sie herrschen. Zwar die Erscheinungen eines in den staͤrksten Zuͤgen ausge¬ sprochenen frommen Wahns werden von allen Partheien als solche erkannt; aber daß jene Zuͤge ihrem wesentlichen Charak¬ ter, ihrem Ursprunge, ihrer inneren Bedeutung nach durchaus uͤbereinstimmen mit den Aeußerungen, in denen sich eine uͤber¬ triebene Froͤmmigkeit kund giebt, dagegen straͤuben sich natuͤr¬ 2 * lich alle Glaubenseiferer, welche rastlos und methodisch auf eine Ueberspannung des religioͤsen Bewußtseins hinarbeiten, und dadurch nur allzu haͤufig zur Entstehung des frommen Wahn¬ sinns Veranlassung geben, indem sie eine geistig sittliche Wie¬ dergeburt des Menschengeschlechts allein auf jene Weise hervor¬ bringen zu koͤnnen glauben. Da nun der religioͤse Wahnsinn im kolossalen Maaßstabe alle Mißverhaͤltnisse eines im falschen Glaubenseifer irre geleiteten Gemuͤths, und alle daraus ent¬ springenden verderblichen und zerruͤttenden Folgen zur Anschauung bringt; so ist seine gruͤndliche Kenntniß gleichsam das Mikro¬ skop, mit welchem der psychologische Forscher sich das zarte und innig verflochtene Grundgewebe der frommen Leidenschaften deutlich machen kann; sie haͤlt uns einen riesenhaften Spiegel vor Augen, in welchem das lebendigste und naturwahrste Bild alles unsaͤglichen Elends erscheint, welches die Menschen im blinden Glaubenseifer uͤber sich gebracht haben. Denn in letz¬ terem ist vorzugsweise die furchtbare Gewalt enthalten, welche dem Menschen alle Segnungen des Himmels, den aͤchten Glau¬ ben, die Liebe und Hoffnung raubt, seine Anschauung Gottes in fratzenhafte Wahngebilde verkehrt, ihn mit Verzweiflung, Raserei oder aberwitziger Selbstbethoͤrung erfuͤllt, indem er der Gnade Gottes verlustig gegangen zu sein glaubt, oder mit fa¬ natischem Grimme das ganze Menschengeschlecht vor das Blut¬ gericht der Inquisition stellen, oder selbst den Thron der Welt¬ regierung einnehmen will, damit auf allen Altaͤren die Andacht ihm ihre Opfer bringe. Giebt es im ganzen Gebiete des von zahllosen Widerspruͤchen zerrissenen Lebens eine schneidendere Ironie, eine verderblichere Selbsttaͤuschung, ein unvermeidliche¬ rer Untergang, wo Alles sich vereinigt, was dem Menschen sein Dasein, sein Streben zur absoluten Luͤge machen kann? Gott allein weiß es, welche zelotische Eiferer ihr Herz von jeder Selbst¬ sucht frei erhalten haben, und nur im Antriebe einer uͤberspann¬ ten Froͤmmigkeit handeln, zum Unterschiede von jenen, welche vom Glauben ganz denselben Gebrauch machen, wie die Chi¬ nesen vom Opium, dessen Duͤnste sie heimlich in ein Zimmer leiten, um die Bewohner desselben zu betaͤuben, und sie dann bequem zu berauben. Um letztere uͤber ihr Treiben zur Be¬ sinnung zu bringen, gaͤbe es meines Erachtens kein wirksame¬ res Mittel, als sie zu noͤthigen, in Irrenhaͤusern die taͤglichen Augenzeugen all des unaussprechlichen Jammers und Wehes zu sein, welches sie durch mystische Verdumpfung des Geistes in den von ihnen Bethoͤrten hervorgebracht haben. Gewiß wuͤr¬ den sie dann, wenn irgend noch menschliches Gefuͤhl in ihnen sich regte, reuig an ihre Brust schlagen, und von ihrer pha¬ risaͤischen Selbstverblendung zuruͤckkommen. Nach diesen Bemerkungen bedarf es wohl keines weite¬ ren Beweises der hochwichtigen Bedeutung, welche eine psycho¬ logische Entwickelungsgeschichte des religioͤsen Wahnsinns fuͤr die Cultur der Voͤlker hat, da letztere nur unter der Bedingung fortschreiten kann, daß ihr innerstes Lebensprincip, der Glau¬ be, zur vollen Reinheit gelaͤutert werde, dagegen die Ent¬ artung desselben in falschen Begriffen wie ein zerstoͤrendes Gift, dessen Wirkungsweise jene Entwickelungsgeschichte zur objectiven Erkenntniß bringen soll, sich durch die ganze Organisation der Seele verbreitet. Wie weit wir aber noch von dem Besitz jener so hoͤchst nothwendigen Wissenschaft entfernt sind, laͤßt sich am deutlichsten aus den Ansichten der meisten psychischen Aerzte ermessen. Denn sie behandeln den religioͤsen Wahnsinn als eine so aͤußere und unwesentliche Erscheinung, daß sie seine Deutung mit Blutwallungen, Nervenverstimmungen und an¬ deren grob materiellen Krankheitszustaͤnden des Gehirns abfer¬ tigen, in dessen verstoͤrter Thaͤtigkeit sich die herrschenden Zeit¬ bestrebungen eben so verzerrt reflectiren sollen, wie ein truͤber, geborstener Spiegel ein falsches Bild der Außenwelt zuruͤckwirft. Ist denn aber das Bewußtsein des Menschen nichts Anderes, als eine katoptrische Erscheinung, welche zufaͤllig entsteht, wenn die einander voͤllig fremden Elemente der Lichtausstrahlungen aͤußerer Gegenstaͤnde und der polirten Oberflaͤche eines Glases oder Metalls gelegentlich zusammentreffen, so daß jener Erschei¬ nung jede innere Nothwendigkeit ihres eigenmaͤchtigen und selbst¬ staͤndigen Ursprungs fehlt? Oder mit anderen Worten, ist der religioͤse Wahnsinn eine der fruͤheren Gemuͤthsverfassung so schlechthin von außen aufgedrungene Erscheinung, von welcher man in ihr selbst nicht den geringsten Erklaͤrungsgrund findet? Unsere reformatorische Zeit, deren Geist wenigstens in dem tief¬ sinnigen und gedankenreichen Deutschland daruͤber zur Erkennt¬ niß gekommen ist, daß er vor Allem aus dem religioͤsen Be¬ wußtsein die Weihe und die Kraft zur Vollbringung seines großen Werks schoͤpfen muß, erheischt daher auch eine tiefere Erforschung des frommen Wahnsinns, um alle verborgenen Quellen aufzufinden, aus denen er wie ein verfinsternder Ne¬ bel aufsteigt, um in der Nacht des Mysticismus die Voͤlker von der Bahn zur geistig sittlichen Freiheit abzulenken, indem er sie mit dem verderblichen Irrthum bethoͤrt, daß das Feuer¬ zeichen des Fanatismus die flammende Wolke sei, welche Is¬ rael durch die Wuͤste fuͤhrte. Da jene Forschung, wie schon bemerkt, besonders die Aufgabe der psychischen Aerzte sein muß, so darf mich das Gefuͤhl unzureichender Kraͤfte nicht von einem Versuch dazu abschrecken, nachdem ich waͤhrend der langen Zeit meines Wirkens an einer großen Irrenheilanstalt der taͤgliche Augenzeuge der furchtbaren Seelenleiden gewesen bin, welche aus einer falsch verstandenen Froͤmmigkeit ent¬ springen. Wer die außerordentlichen Schwierigkeiten kennt, welche mit der Eroͤffnung einer neuen Bahn wissenschaftlicher Untersuchungen unzertrennlich verbunden sind, muß auch den Muth der Selbstverleugnung besitzen, um auf die Gefahr eines Mißlingens seiner Bemuͤhungen gefaßt zu sein. Denn jede noch zu entdeckende Wahrheit ist ein tief im Schooße der Erde geborgener Erzgang, zu welchem man einen Stollen hinabtrei¬ ben muß, ohne mit Sicherheit vorher zu wissen, ob man jenen treffen, oder ganz in seiner Naͤhe nur auf taubes Gestein stoßen werde, welches zu Tage gefoͤrdert der angestrengten Arbeit keinen weiteren Lohn, als das Zeugniß der verlorenen Muͤhe bringt. Seit Jahren mit Vorliebe dem Studium des religioͤsen Wahnsinns ergeben, dessen hochwichtige Bedeutung mir immer lebendiger entgegentrat, ging ich lange mit mir daruͤber zu Rathe, in welcher Form ich am schicklichsten die Ergebnisse desselben veroͤffentlichen koͤnnte. Die zweckmaͤßigste Weise schien mir die zu sein, zuvoͤrderst eine Reihe von eige¬ nen Beobachtungen mitzutheilen, weil die Psychologie als Er¬ fahrungswissenschaft vor Allem den wesentlichen Thatbestand ermitteln, und aus ihm auf inductivem Wege die wis¬ senschaftlichen Begriffe entwickeln muß. Jener Thatbestand wird aber, so weit er den religioͤsen Wahnsinn betrifft, in der Kirchen- und Weltgeschichte nur bruchstuͤcksweise gegeben, da derselbe wie ein aus Grabesnacht auftauchendes Gespenst in den Reihen thatkraͤftiger Gestalten, welche uͤberall den Vor¬ dergrund der Geschichte einnehmen muͤssen, zur bedeutungslosen, kaum bemerkten Erscheinung wird, von welcher der Historiker sich mit Grauen abwendet. Um ihn ganz kennen zu lernen, muß man sich voͤllig in ihn hineinleben, indem man sich so viel als moͤglich in das verduͤsterte und zerrissene Bewußtsein seiner Opfer versetzt, um durch fortgesetzte Betrachtung seiner Mißverhaͤltnisse in ihnen die innere Nothwendigkeit seiner Ent¬ stehung zu erspaͤhen. Erst nachdem sich das geistige Auge lange an die in der irren Seele herrschende Finsterniß gewoͤhnt hat, erblickt es in ihr das geheimnißvolle Walten ihrer unverbruͤch¬ lichen Gesetze, welche auch noch den chaotischen Traͤumen des Wahns eine tiefverhuͤllte organische Gestalt verleihen, und sie dadurch zum Gegenstande der Wissenschaft machen. Ist auf diese Weise der Schluͤssel zur Deutung des Wahnsinns gefun¬ den, dann werden auch die verstuͤmmelten Thatsachen verstaͤnd¬ lich, welche in den historischen Urkunden enthalten sind, und man darf alsdann hoffen, aus ihnen eine vollstaͤndige Theorie zu entwickeln, deren Licht eine unerwartete Aufklaͤrung in zahlreiche unaufgeloͤsete Raͤthsel des Lebens werfen wird, welche als Glaubenszweifel auch die staͤrksten und frischesten Gemuͤther verstoͤren muͤssen. Indem ich daher zunaͤchst eine Sammlung von eigenen Beobachtungen des religioͤsen Wahnsinns der Oeffentlichkeit uͤber¬ gebe, erlaube ich mir die Bemerkung, daß ich mich dabei fast ausschließlich auf eine rein historische Schilderung beschraͤnkt, und nur selten einige reflectirende Betrachtungen eingeflochten habe. In der Gruppirung der Thatsachen muß schon die An¬ deutung ihres Entwickelungsgesetzes enthalten sein, dessen wis¬ senschaftliche Darstellung eine viel zu umfassende Aufgabe ist, als daß sie beilaͤufig in einzelne Krankheitsgeschichten aufge¬ nommen werden koͤnnte. Den Versuch einer Theorie des reli¬ gioͤsen Wahnsinns muß ich mir auf eine spaͤtere Schrift vor¬ behalten, von welcher die vorliegende nur eine thatsaͤchliche Einleitung sein soll, und den mannigfachen Einwuͤrfen, welche diesem Buche wahrscheinlich entgegentreten werden, kann ich jetzt nur mit der Bezugnahme auf meinen Grundriß der See¬ lenheilkunde antworten, in welchem ich meine Ansichten von den Geisteskrankheiten ausfuͤhrlich eroͤrtert habe. Was die Aus¬ wahl der einzelnen Faͤlle aus einer sehr großen Zahl von Be¬ obachtungen betrifft, so kam es mir dabei vorzuͤglich auf ihre Mannigfaltigkeit an, um die proteusartigen Formen zu schil¬ dern, unter denen der religioͤse Wahnsinn erscheint. Daher habe ich auch mehrere Beispiele aufgenommen, wo derselbe keinesweges aus einer im fruͤheren Leben vorherrschenden my¬ stischen Froͤmmigkeit sich entwickelte, sondern gerade im Wider¬ spruch mit einer frivolen Gesinnung und zuͤgellosen Ausschwei¬ fungen entstand, ohne daß er deshalb seine wesentliche Bedeu¬ tung verleugnete. Gerade hierin spricht sich die tiefe Noth¬ wendigkeit des religioͤsen Bewußtseyns aus, welches in unzer¬ stoͤrbarer Anlage des Gemuͤths gegruͤndet, in allen Zerruͤttun¬ gen desselben durch Leidenschaften immer wieder zur Entwicke¬ lung zu kommen strebt, welche freilich in einer entarteten Ver¬ fassung der Seele mehr oder weniger mißlingen muß, und dann nur in Zerrbildern seine Heiligkeit erscheinen laͤßt. Be¬ trachtungen dieser Art duͤrften sich vorzugsweise dazu eignen, ein helleres Licht auf die hochwichtige Thatsache zu werfen, daß Denker, welche durch die eigenthuͤmliche Richtung ihres Geistes sich ganz dem religioͤsen Interesse entfremdeten, und alle ihre Begriffe in einem demselben widersprechenden Sinne auspraͤgten, dennoch fruͤher oder spaͤter durch eine unwider¬ stehliche Noͤthigung zu demselben sich hingezogen fuͤhlen. Wenn z. B. Voltaire, dessen ganzes Leben dem Bekaͤmpfen des Christenthums geweiht war, dennoch in Krankheiten, und na¬ mentlich auf dem Todtenbette, das Beduͤrfniß nach einer Aus¬ soͤhnung mit der katholischen Kirche gefuͤhlt haben soll; so heißt es jenem unleugbar großen Denker einen sehr schlechten Dienst erweisen, wenn man diese Thatsache mit der oberflaͤchlichen Bemerkung des Widerspruchs im menschlichen Gemuͤthe buͤndig abgefertigt zu haben glaubt. Was heißt denn Widerstreit im Charakter anders, als Gegensatz unter seinen Elementen, von denen dasjenige, welches durch die systematischen Bestrebungen eines langen Lebens, durch die schaͤrfsten Waffen eines bis jetzt noch unuͤbertroffenen dialektischen Witzes, durch den gluͤhend¬ sten litterarischen Ehrgeiz nicht niedergekaͤmpft werden konnte, sondern immer wieder, und zuletzt noch am Grabesrande maͤch¬ tig hervortrat, gewiß nicht das schwaͤchste war. Liegt da nicht die Erklaͤrung naͤher, daß Voltaire neben allen Antrieben eines selbstsuͤchtigen Gemuͤths, denen seine glaͤnzenden Geistesgaben eine uͤberreichliche Befriedigung verschafften, doch auch ein tief empfundenes religioͤses Beduͤrfniß hegte, dem er aber bei der Verderbtheit, und namentlich bei der Glaubensfaͤulniß der da¬ maligen Zeit so wenig eine Befriedigung zu verschaffen wußte, daß er sich daruͤber in der vollstaͤndigsten Taͤuschung befand? War nicht sein erbitterter Kampf gegen die damalige katholi¬ sche Geistlichkeit, mit deren verlornen Sache er leider auch die von ihm verkannte christliche Religion identificirte, in tieferer Bedeutung ein Ausbruch der Verzweiflung, daß durch ihre Satzungen ihm der Seelenfriede geraubt wurde, welchen an einem andern Orte wiederzufinden seine einmal eingeschlagene und eifrigst verfolgte Geistesrichtung ihm unmoͤglich machte? Sei es, daß eine Menge unedler, ja niedriger Motive ihm den giftigen Hohn gegen das Christenthum in seine satyrische Feder floͤßte; derselbe Mann hat allzuviele Beweise von hoch¬ herziger Denkweise gegeben, als daß nicht in seinem Innern ein hoͤheres Gesetz gewaltet haͤtte, welches freilich nur in einem aͤcht religioͤsen Sinne zum deutlichen und vollstaͤndigen Be¬ wußtsein kommen kann. Versetzen wir denselben Voltaire in ganz entgegengesetzte Verhaͤltnisse, wo er fern von der Heu¬ chelei unter dem Regimente der Frau von Maintenon, und von der unter dem Herzog von Orleans und der Marquise von Pompadour herrschenden moralischen Verwesung, einer harmo¬ nischen Durchbildung seiner außerordentlichen Geistes- und Ge¬ muͤthsgaben theilhaftig geworden waͤre, welch einen ganz an¬ deren, vielleicht weniger glaͤnzenden, aber dafuͤr weit gediege¬ neren Charakter wuͤrde er sich dann angeeignet haben. Auch uͤber den scheinbaren Widerspruch habe ich mich mit wenigen Worten zu erklaͤren, in welchem mehrere der mitge¬ theilten Beobachtungen mit dem oben ausgesprochenen Grund¬ satze stehen, daß der Wahnsinn die Wirkung einer unbefrie¬ digten uͤberschwenglichen Sehnsucht sei. In Bezug auf die Quaalen eines tief verletzten Gewissens koͤnnte man es mir schon eher zugeben, daß gerade sie das hoͤchste Maaß eines heißen Verlangens nach dem verlorenen Seelenfrieden bezeich¬ nen, welche Erklaͤrung insbesondere darin ihre Rechtfertigung findet, daß gewoͤhnlich gutgeartete Menschen in irrsinniger Bethoͤrung sich mit falschen Selbstanklagen uͤberhaͤufen, eben weil ihr zartes Gewissen am tiefsten durch Gemuͤthsleiden er¬ schuͤttert wird. Aber weniger deutlich duͤrfte es auf den ersten Anblick sein, wie der Teufelswahn der unmittelbare Ausdruck einer ungestillten maaßlosen Sehnsucht sein koͤnne. Eine aus¬ fuͤhrliche Erklaͤrung hieruͤber muß ich mir fuͤr die Zukunft ver¬ sparen, weil sich nicht mit wenigen Worten eine deutliche Be¬ zeichnung dafuͤr geben laͤßt, daß der Glaube an den Teufel selbst schon eine Entartung der Ehrfurcht vor dem goͤttlichen Gesetz ist, in sofern naͤmlich dem unaufgeklaͤrten religioͤsen Be¬ wußtseyn die Gerechtigkeit der goͤttlichen Weltordnung als ein hochnothpeinliches Halsgericht nach dem Muster der Constitu¬ tio Criminalis Carolina erscheint, bei welchem der Teufel das Amt eines Schergen, Buͤttels oder Folterknechts versieht. In ihrer urspruͤnglichen Bedeutung ist die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des goͤttlichen Gesetzes die Sehnsucht nach der nie vollstaͤndig zu erreichenden Erfuͤllung desselben, weil der Mensch im tiefsten Selbstbewußtsein die durch die Majestaͤt des Ge¬ wissens bekraͤftigte Nothwendigkeit erkennt, das Gesetz Gottes als urspruͤngliche Bedingung der geistig sittlichen Vervollkomm¬ nung, als die ewige Grundlage seines freien Strebens nach dem Unendlichen zu erfuͤllen. In dieser wesentlichen Bedeu¬ tung kann das goͤttliche Gesetz nur der aufgeklaͤrten Froͤmmig¬ keit erscheinen, welche demselben als der Quelle alles Heils einen liebenden Gehorsam weiht; aber der im Aberglauben berauschte Geist wird durch den verduͤsternden Schwindel seiner Gedanken dergestalt bethoͤrt, daß er nur die fratzenhaften Zerr¬ bilder der Hoͤlle erblickt, wo vor dem klaren Blick des kindlich frohen Glaubens die Schoͤnheit der goͤttlichen Weltordnung im reinsten Glanze des Himmels strahlt. 1. R . , im Jahre 1813 geboren, der Sohn eines Zimmer¬ manns in Potsdam, wurde seit seiner fruͤhesten Kindheit durch ein hartnaͤckiges Skrofelleiden, welches namentlich auch eine bis in das 16te Jahr fortdauernde Augenentzuͤndung zur Folge hatte, dergestalt in seiner Lebensentwickelung zuruͤckge¬ halten, daß er sich stets schwach und elend fuͤhlte, niemals zum Frohsinn und kindlichen Spielen aufgelegt war, sondern stets ernst und schwermuͤthig gestimmt blieb. Der Vater, ein Trunkenbold, mißhandelte haͤufig die Kinder, und entzweite sich daruͤber mit seiner Ehefrau, welche aus stetem Aerger und Kummer in Epilepsie verfiel, deren oft widerkehrende Anfaͤlle zuletzt ihren Verstand zerruͤtteten, und nach 16jaͤhrigen Lei¬ den ihrem Leben ein Ziel setzten. Durch das langjaͤhrige Augenuͤbel meistentheils vom Schulbesuche zuruͤckgehalten, konnte R. sich nur die nothwendigsten Elementarkenntnisse aneignen; einen tiefen Eindruck machte jedoch der Religionsunterricht auf seinen weichen und empfaͤnglichen Sinn, so daß er na¬ mentlich die Unsittlichkeit anderer Knaben, welche den Pre¬ diger heimlich verhoͤhnten und nachaͤfften, mit lebhaftem Un¬ willen empfand, und bei den haͤufig wiederkehrenden schweren Leiden seiner Mutter in inbruͤnstigem Gebet Gott um ihre Besserung von denselben anflehte. Alles dies wirkte zusam¬ men, ihm eine immer mehr zunehmende Schuͤchternheit und Aengstlichkeit einzufloͤßen, wozu unstreitig ein taͤglich wieder¬ kehrendes, oft bedeutendes Nasenbluten wesentlich beitrug, welches vom 16. bis zum 25. Jahre anhielt, haͤufig von hef¬ tigem Herzklopfen begleitet war, zumal bei Gemuͤthsbewegun¬ gen, und zuweilen mit Kopfschmerzen abwechselte. Er fuͤhlte sich oft so schwach, daß er auf der Straße hinzufallen fuͤrch¬ tete, wurde bei Todesanzeigen von Zittern und Furcht vor seinem nahen Ende befallen, und in stets truͤber und ver¬ zagter Stimmung beim Anblick so vieler haͤuslichen Leiden befangen, mied er nicht nur jede Gelegenheit zur Aufheite¬ rung, sondern bestaͤrkte sich auch in der resignirenden Vor¬ stellung, daß Gott ihn zum Dulden bestimmt habe. Oft brach er uͤber sein Ungluͤck in Thraͤnen aus, ja beim Anblick der Sonne fragte er sich bisweilen, ob er werth sei, daß sie ihn bescheine. Durch entschiedene Vorliebe fuͤr das Gewerbe seines Va¬ ters ließ er sich bestimmen, im 18. Jahre bei einem Zimmer¬ meister in die Lehre zu treten. Er verhehlte sich zwar die mit diesem Geschaͤft verbundene Lebensgefahr nicht, welche auf seinen furchtsamen Sinn schon im Voraus einen tiefen Ein¬ druck machte, aber troͤstete sich mit der Zuversicht, es koͤnne ihm gegen den goͤttlichen Rathschluß nichts Schlimmes be¬ gegnen. Dennoch wurde er jedesmal von Todesfurcht befal¬ len, wenn er in gefaͤhrlichen Lagen sich befand, und von star¬ kem Schwindel ergriffen, wagte er nicht, uͤber freischwebende Balken zu gehen, sondern kroch uͤber sie hinweg, und suchte sich uͤberhaupt mit jeder erdenklichen Vorsicht zu schuͤtzen. Als er nach beendigter vierjaͤhriger Lehrzeit bei einem anderen Meister in Dienst getreten war, erschuͤtterte dessen ploͤtzlicher Tod ihn tief, da die Besorgniß immerfort in ihm er¬ wachte, daß auch er leicht ein schnelles Ende finden koͤnne. Anfangs war es nur die Liebe zum Leben, welche sich in ihm gegen diese Vorstellung empoͤrte; spaͤter gesellte sich aber noch die Besorgniß hinzu, daß der Tod ihn unvorbereitet er¬ eilen koͤnne, und er alsdann der ewigen Seeligkeit verlustig gehen muͤsse. Im 22. Jahre siedelte er sich nach Berlin uͤber, wo¬ selbst er, durch Fleiß, Tuͤchtigkeit und gute Auffuͤhrung aus¬ gezeichnet, stets eine hinreichende Beschaͤftigung fand, in wel¬ cher er sich durch mannigfache koͤrperliche Beschwerden nicht stoͤren ließ. An die Stelle des oben erwaͤhnten Nasenblutens traten naͤmlich haͤufig wiederkehrende Erscheinungen eines hef¬ tigen Blutandranges nach dem Kopfe und der Brust, starkes Herzklopfen, heftiges Kopfweh, Schwindel und Flimmern vor den Augen, wovon ihn weder widerholte Aderlaͤsse noch andere Heilmittel gruͤndlich befreiten. Seine Plagen wurden noch dadurch verschlimmert, daß er, durch den schlechten Rath ande¬ rer Gesellen verleitet, im wolluͤstigen Umgange mit feilen Dirnen eine Befreiung von seinen Beschwerden zu erlangen suchte, wor¬ uͤber er die bitterste Reue empfand, welche ihn zum haͤufigen Ge¬ nuß des heiligen Abendmahls antrieb. Noch muͤssen wir hier einer pathologischen Erscheinung gedenken, welche vielleicht als Wirkung einer durch das Skrofelleiden veranlaßten Reizbarkeit der Nerven anzusehen, bereits im 7. Jahre hervortrat, in der Folge durch den haͤufigen Blutandrang nach dem Kopfe unterhalten wurde, und mit geringen Unterbrechungen durch sein spaͤteres Leben fortdauerten. Anfangs hatte er, wenn er in einer finstern Kammer zu Bette gegangen war, Visionen von menschlichen Gestalten, deren Rumpf wohlgeformt, aber deren Gesicht gleich Larven auf die mannigfachste Weise verzerrt war. Meistens wa¬ ren die Nasen sehr lang, die Augen groß, der Mund weit auf¬ gerissen: gewoͤhnlich sah er 4 — 6 solcher Gestalten, welche theils blieben, theils wechselten, meist ihm unbekannte Personen, zu¬ weilen auch bekannte darstellten, und nach 5 Minuten spurlos verschwanden. In fruͤherer Zeit waren jene Phantome regungs¬ los, in der Folgezeit bewegten sie sich, machten fuͤrchterliche Gri¬ massen, indem sie den Mund weit aufsperrten, die Augen umher¬ rollten. In den spaͤteren Jahren hatte er diese Visionen auch bei Tage, zumal waͤhrend der Sommerhitze, beim Heben schwerer La¬ sten, oder wenn aus Furcht Flimmern vor den Augen, Schwin¬ del und Herzklopfen sich einstellten: nur nach den Aderlaͤssen blieb er auf einige Zeit von ihnen verschont. Da diese Visionen schon in seinem fruͤhesten Alter auftraten, wo das Kind noch keine Re¬ flexionen anstellt, so machten sie auch keinen tiefen Eindruck auf ihn, und nur gelegentlich empfand er eine Anwandlung von Furcht, wenn entweder die Larven ein sehr abschreckendes Anse¬ hen annahmen, oder wenn das Anhoͤren von Gespenstergeschichten ihm ein aberglaͤubiges Grauen eingefloͤßt hatte. Indeß durch ihre haͤufige Wiederkehr wurden sie ihm dergestalt zur Gewohnheit und dadurch gleichguͤltig, daß er wortkarg und schuͤchtern gegen Nie¬ manden sich daruͤber aͤußerte, und als er bei zunehmender Ver¬ standesreife einer freieren Reflexion faͤhig wurde, sagte er sich selbst, daß Alles nur ein Spuk der Einbildungskraft sei. Erst dann erlangte derselbe fuͤr ihn eine schwere Bedeutung, als dar¬ aus unter zunehmender religioͤser Bangigkeit Teufelsvisionen her¬ vorgingen. Durch diese anhaltende krankhafte Erregung hatte jedoch seine Phantasie zuletzt eine so große Lebendigkeit erlangt, daß er sich das Bild abwesender Personen, z. B. seiner laͤngst verstorbenen Mutter, mit der groͤßten Anschaulichkeit vor Augen stellen konnte. Eine Reihe von Jahren verstrich fuͤr ihn ohne bemerkens¬ werthe Ereignisse, und er haͤtte unter guͤnstigen Verhaͤltnissen sei¬ nes Lebens froh werden koͤnnen, wenn nicht seine durch aͤngst¬ liche Gewissenhaftigkeit und haͤufig wiederkehrende Todesfurcht erzeugte truͤbe Gemuͤthsstimmung immer mehr die Energie seines Charakters untergraben haͤtte. Geringfuͤgige Veranlassungen er¬ regten in ihm die peinlichsten Gewissensscrupel, z. B. kleine Aus¬ gaben bei festlichen Gelegenheiten, worin er leichtsinnige Ver¬ schwendung seines Geldes sah, welches er den Armen oder sei¬ nem huͤlfsbeduͤrftigen Vater haͤtte geben sollen. Seine fort¬ dauernden Koͤrperbeschwerden drangen ihm die Ueberzeugung auf, daß Gott sie ihm als Strafe fuͤr seine vielen Suͤnden auferlegt habe. Er war Taufzeuge bei dem Sohne seiner Schwester gewe¬ sen, und als Jemand es als einen Uebelstand ruͤgte, daß das Kind von einem maͤnnlichen Pathen uͤber die Taufe gehalten wor¬ den sei, da nach einer aberglaͤubigen Meinung ein weibliches In¬ dividuum diesen Liebesdienst haͤtte thun muͤssen, stimmte er in das Gelaͤchter Anderer uͤber diese Albernheit ein. Dies bereute er aber in der Folge tief, als das Kind an Abzehrung gestorben war, wovon er sich die Schuld durch frivoles Entweihen der Taufe beimaaß. Fortan sah er nur Suͤndhaftigkeit und Laster in der Welt, namentlich glaubte er, daß beim Bauen der Haͤuser die aͤrgsten Betruͤgereien veruͤbt wuͤrden, und bald kam es mit ihm so weit, daß er das Hereinbrechen des goͤttlichen Strafgerichts uͤber das in Suͤnden versunkene Menschengeschlecht fuͤr nahe bevorste¬ hend hielt. Indeß sein milder, gutgearteter Sinn bildete einen zu starken Gegensatz gegen jede fanatische Regung, als daß er in Haß gegen andere Menschen haͤtte entbrennen sollen, welches nur jenen zelotischen Egoisten zu begegnen pflegt, welche sich selbst eine um so groͤßere Froͤmmigkeit anmaaßen, je erbarmungsloser sie die Schwaͤchen anderer Menschen als die verworfensten Frevel verdammen. Vielmehr hielt er es nun fuͤr seine Pflicht, durch eifrige Andachtsuͤbungen, namentlich durch fleißigen Kirchenbesuch die Gnade Gottes zur Vergebung seiner Suͤnden zu erflehen. Aber schon hatte ihn eine zu tiefe Schwermuth niedergedruͤckt, als daß er sich im kindlich freudigen Glauben an das liebende Erbarmen des himmlischen Vaters haͤtte aufrichten koͤnnen; immer schwerer lastete auf ihm die falsche Selbstanklage, welche bald den letzten Rest des Frohsinns von ihm verscheuchte. Er mied nun alle Ver¬ gnuͤgungen, und konnte nur in eifriger Thaͤtigkeit noch eine leid¬ liche Haltung sich erringen. Sein Bruder, mit welchem er bei einer hier verheiratheten Schwester zusammenwohnte, war, ohne ausschweifend zu sein, doch dem Vergnuͤgen ergeben, und vertheidigte sich gegen die von seinem Bruder ihm gemachte Zurechtweisung mit der Entschuldi¬ gung, so lange man jung sei, muͤsse man das Leben genießen. R. ließ aber nicht ab, mit frommen Ermahnungen in ihn zu drin¬ gen, und bewog ihn endlich, am Charfreitage 1845 mit ihm das heilige Abendmahl zu genießen. Von mystischen Vorstellungen erfuͤllt, wusch R. sich vorher die Fuͤße, weil Christus dasselbe bei seinen Juͤngern vor der Einsetzung des Abendmahls gethan, und er haͤtte auch gern seinen Bruder dazu bewogen, wenn dieser nicht schon angekleidet gewesen waͤre. Zu seiner großen Freude erfuhr er von demselben, daß der Gottesdienst auf ihn einen tiefen Ein¬ druck gemacht habe, daß er Reue uͤber seinen bisherigen Leicht¬ sinn empfinde, und daß er eifriger die Kirche besuchen wolle, wel¬ ches er auch that. Hieraus schoͤpfte R. die Hoffnung, daß es ihm gelingen werde, seine drei Schwestern zu einer Sinnesaͤnderung zu bewegen. Dies lag ihm um so mehr am Herzen, als zwi¬ schen letzteren oft Streitigkeiten ausgebrochen waren, wozu vor¬ zuͤglich der Plan des R. Veranlassung gab, die ganze Familie in einer Wohnung zu vereinigen, und dadurch das Loos seines ver¬ armten Vaters zu erleichtern, welcher von den Geldunterstuͤtzun¬ gen seiner Soͤhne lebte. Jene Zwistigkeiten waren ohne alle Be¬ deutung, da es durchaus zu keinen schlimmen Auftritten kam; dennoch betruͤbte R. sich hieruͤber tief, weil er bei seinen Schwe¬ stern einen Mangel an christlicher Gesinnung wahrzunehmen glaub¬ te, welche sich nach seiner Ueberzeugung durch einen lebendigen Wetteifer in gegenseitigen Liebesdiensten und Aufopferungen zu erkennen geben sollte. Besonders kraͤnkte ihn das Benehmen seiner hiesigen Schwester, welche an einen Fuhrmann verheirathet und Mutter mehrerer Kinder seiner Meinung nach ihre Pflichten als Hausfrau vernachlaͤssigte. Nur gelegentlich wagte er es, ihr hieruͤber Vorwuͤrfe zu machen; desto ernstlicher drang er aber in sie, daß sie sich gleichfalls zu einem froͤmmeren Lebenswandel be¬ kehren, und namentlich mit den Schwestern aussoͤhnen solle, weil außerdem der noch immer festgehaltene Plan, die ganze Familie zu vereinigen, nicht in Ausfuͤhrung gebracht werden konnte. Zu diesem Zwecke verlangte er, daß die Schwestern gemeinschaftlich mit dem Vater an einem der naͤchsten Sonntage das heilige Abend¬ mahl genießen sollten, um den geschlossenen Frieden zu besiegeln. Sie nahm diese Ermahnungen mit muͤrrischem Schweigen auf, gab ihm inzwischen immer neue Gelegenheit zur Unzufriedenheit durch Vernachlaͤssigung seiner haͤuslichen Beduͤrfnisse, und ver¬ anlaßte dadurch bei ihm eine so anhaltende Gemuͤthsverstimmung, daß er schon des Nachts nicht mehr ruhig schlafen konnte, und eine steigende Bangigkeit, ja Angst empfand, von welcher er sich bei seiner passiven Gemuͤthsart nicht mehr befreien konnte. Da er seinem beduͤrftigen Vater wiederholte Baarsendun¬ gen zuschickte, so entbloͤßte er sich oft so sehr von Geld, daß er kleine Anleihen bei seiner Schwester machen mußte. Dies ge¬ schah auch an einem Morgen, wo ihre Weigerung, ihm auch nur noch 8 Groschen vorzustrecken, ihn mit großem Unwillen gegen sie erfuͤllte. Als er schon das Zimmer verlassen hatte, oͤffnete sie die Thuͤre, um ihm das verlangte Geld dennoch zu reichen, machte ihm aber dabei ein so boͤses Gesicht, daß er sich daruͤber entsetzte. Zugleich bemerkte er einen alten, an die Wand gelehnten Besen, welcher, nach einem verbreiteten Aberglauben am Morgen in den Weg gelegt, Ungluͤck bedeuten, ja selbst den Teufel herbeirufen soll. Wie ein Wetterstrahl traf ihn der Gedanke, daß seine Schwester der Teufel selbst sei, welcher ihm das Geld gege¬ ben habe, um ihn zum Boͤsen zu verlocken, und obgleich er waͤh¬ rend der Arbeit sich noch daruͤber besann, daß sie wirklich seine Schwester sei, so hatte doch die Vorstellung des Teufels ihn so maͤchtig ergriffen, daß er das empfangene Geld fuͤr eine Gabe desselben hielt. Da ihm zugleich der Unfall begegnete, daß ein Glasscherben durch den einen Stiefel ihm bis in den Fuß eindrang, so hielt er die unbedeutende Verletzung desselben fuͤr einen neuen Angriff des Teufels, welcher ihm uͤberall in den Weg trete. Von rastloser Quaal gefoltert, hatte er nach der Ruͤckkehr von der Ar¬ beit nichts Eiligeres zu thun, als die erhaltenen 8 Groschen in den zerrissenen Stiefel zu stecken, und letzteren an einem entfernten Orte ins Wasser zu werfen. Das Entsetzen uͤber die Versuchungen des Teufels machte in ihm die Empfindung rege, als ob dieser ihn in Stuͤcke zerreißen wollte, weshalb er im schnel¬ len Laufe nach der Wohnung zuruͤckkehrte, um alle Gegenstaͤnde, welche seiner Meinung nach irgend vom Teufel beruͤhrt sein konn¬ ten, sorgfaͤltig abzuwaschen. Eifriges Flehen zu Gott um Schutz gegen den Boͤsen und fleißiges Bibellesen wurden ihm nun zum Beduͤrfniß, konnten aber nur dazu dienen, seiner schon in Wahn¬ witz ausgearteten Schwaͤrmerei neue Nahrung zu geben. Nachdem der zur Aussoͤhnung seiner Familie bei der Abend¬ mahlsfeier von ihm bestimmte Sonntag verstrichen war, ohne seine sehnliche Hoffnung in Erfuͤllung zu bringen, betete er in¬ bruͤnstig zu Gott, daß er durch seine Gnade die Aussoͤhnung der Entzweiten bewirken wolle, wobei er eifrig in der Bibel las, um aus ihr Trost zu schoͤpfen. Vorzuͤglich wurde seine Aufmerk¬ samkeit gefesselt durch das 10. Kapitel der Apostelgeschichte, wo die von Petrus an dem Hauptmann Cornelius vollzogene Taufe erzaͤhlt, und zugleich berichtet wird, daß letzterer 4 Tage fastete und betete, worauf ein Mann in hellem Kleide mit den Worten auf ihn zutrat: „Corneli, dein Gebet ist erhoͤrt, und deiner Almosen ist gedacht vor Gott.” R. glaubte hieraus folgern zu duͤrfen, daß man durch Fasten Gott zur Erhoͤrung inbruͤnstiger Gebete bewegen koͤnne, und sogleich stand sein Entschluß fest, sich dieses Mittels zu bedienen. Er enthielt sich daher von naͤch¬ ster Mittwoche an aller Nahrung gaͤnzlich, wollte dies zuerst nur bis zum Donnerstage fortsetzen, weil an demselben eine Wochen¬ communion gehalten wurde, fuͤhrte aber seinen Vorsatz, da seine Familie an letzterer nicht Theil nahm, bis zum naͤchsten Montage, wo seine Versetzung in die Charité erfolgte, beharrlich durch, in der festen Ueberzeugung, daß Gott sein inbruͤnstiges Flehen er¬ hoͤren werde. Er versichert, in dieser ganzen Zeit nicht den ge¬ ringsten Hunger, und erst am Sonntage einigen Durst empfun¬ den zu haben, wurde aber zu aller Arbeit unfaͤhig, und beschaͤf¬ tigte sich nur mit anhaltendem Bibellesen bei verschlossener Thuͤre, Ideler uͤber d. rel . Wahnsinn. 3 indem er allen Aufforderungen zum Genuß von Speisen den hart¬ naͤckigsten Widerstand entgegenstellte. Die Naͤchte brachte er meist schlaflos zu, und die fruͤher schon bemerkten Visionen gestalteten sich ihm nun zu voͤlligen Teufelsfratzen, so daß er aus seiner Furcht vor dem Satan gar nicht herauskam. Vorzuͤglich folterte ihn letzterer bei folgender Gelegenheit. Er pflegte in diesen Tagen zu seiner Erbauung Verse aus der Bibel abzuschreiben, wobei er gewissenhaft die Stunde von 12 — 1 Uhr Mittags vermied, weil in dieser Zeit sein Schwa¬ ger zum Essen nach Hause kam, dabei mit seiner Frau haͤufig in Streit gerieth, und besonders ihn, den R., zum Genuß von Speisen noͤthigen wollte. In seiner damaligen Stimmung konnte er hierin nur eine Verlockung des Satans sehen, indem er glaubte, daß letzterem jene Stunde geweiht sei. Ohne Kennt¬ niß der Zeit glaubte er am Freitage, daß jene boͤse Stunde schon verstrichen sei, weshalb er wieder Verse abzuschreiben anfing. Als aber in der Nebenstube die Uhr Eins schlug, uͤberfiel ihn eine große Angst, daß der Teufel ihn zur boͤsen Zeit zum Abschreiben aus der Bibel verfuͤhrt, und ihm dazu das Papier hingelegt habe, daher er voll Entsetzen das Papier in Stuͤcke zerriß, waͤhrend es ihm vorkam, daß die Fensterscheiben von einem lauten Knall er¬ droͤhnten. Als er voll Abscheu jene Papierstuͤcke auf das Dach vor seinem Fenster geworfen hatte, fiel es ihm ein, daß er den Namen Gottes auf dieselben geschrieben, und durch das Zerrei¬ ßen gleichsam mit Fuͤßen getreten habe. Deshalb bediente er sich einiger zangenartig zusammengefaßten Holzstaͤbe, um die beschrie¬ benen Papierstuͤcke zuruͤckzuholen, und sie als geheiligte Zeichen in die Bibel zu legen. Die unbeschriebenen Papierstuͤcke hielt er dagegen fuͤr ein Eigenthum des Teufels, welcher sich nicht nur darauf vor seinem Fenster lagerte, sondern auch fast ununterbro¬ chen als ein gestaltloser Schein ihn umschwebte. Da die Holz¬ staͤbe, mit denen er das beschriebene Papier heraufgeholt hatte, durch die Beruͤhrung desselben geheiligt waren, so glaubte er sie nicht zur Entfernung des teuflischen Papiers gebrauchen zu duͤr¬ fen, weshalb er drei Spazierstoͤcke hervorsuchte, um damit jenen boͤsen Talisman hereinzuholen. Dies Papier nebst den Stoͤcken, einem Rasiermesser und einer Wasserflasche, welche seiner Mei¬ nung nach durch teuflische Beruͤhrung unheilstiftend geworden wa¬ ren, band er zusammen, und warf am Abend dies Buͤndel an derselben Stelle weg, wo er sich des Stiefels entledigt hatte. Dann ging es an ein fleißiges Abwaschen der Wohnung, welches er in den naͤchsten Tagen wiederholte, und da auch dies ihm noch nicht als Desinfection von dem hoͤllischen Miasma genuͤgte, so zog er fortwaͤhrend Kreise um sich, um den Satan von sich abzu¬ halten. Aber die Furcht vor demselben erfuͤllte ihn dergestalt, daß er schon ganz von ihm verunreinigt zu sein glaubte, und des¬ halb seinen Bruder bat, als ein durch die Abendmahlsfeier Ge¬ heiligter mit den geweihten Holzstaͤben unter die Betten zu fah¬ ren, um den Teufel aus seinem Versteck unter denselben zu ver¬ scheuchen. Dies muͤsse demselben, meinte er, gelingen, da der fromme Glaube Berge versetzen koͤnne. Aus bruͤderlicher Liebe duldete er denselben auch des Nachts nicht in der gemeinschaftli¬ chen Schlafkammer, da er von Teufelsvisionen geaͤngstigt, jenen wenigstens von gleicher Noth befreien wollte. In der Meinung, daß der Boͤse Schuld an allen Zerwuͤrf¬ nissen in der Familie sei, und sich deshalb unter der Gestalt einer zaͤnkischen Nachbarin zu seiner Schwester geschlichen habe, um sie gegen ihre Verwandten aufzuhetzen, hielt er es fuͤr seine Pflicht, dagegen anzukaͤmpfen. Zu diesem Zweck nahm er am Sonntag fruͤh zuvoͤrderst wieder das Besprengen und Abwaschen der Woh¬ nung zum Vertreiben des Teufels vor, und las hierauf seiner Schwester die Kapitel aus der Bibel vor, welche er durch das Einlegen der geheiligten Papierstreifen als die dazu passenden be¬ zeichnet hatte. Um nicht gestoͤrt zu werden, hatte er die Thuͤre verriegelt, und da einige inzwischen angelangte Vettern eingelas¬ sen zu werden forderten, so fuͤhrte dies zu einem heftigen Auf¬ tritt. Jene Vettern hatten naͤmlich mehrmals uͤber seinen Wahn¬ sinn mit verletzendem Hohn gespottet, und ihn mit Ungestuͤm zum Essen aufgefordert, eben dadurch aber in der Ueberzeugung be¬ staͤrkt, daß sie vom Teufel besessen, ihn zum Boͤsen verfuͤhren und deshalb gewaltsam eindringen wollten. Als daher die Thuͤre seines Straͤubens ungeachtet geoͤffnet wurde, fluͤchtete er sich in seine Kammer, wo er sich wieder fleißig mit Bibellesen beschaͤf¬ tigte, und namentlich die Verkuͤndigung Christi von der Zerstoͤ¬ rung Jerusalems sich zu Herzen nahm. Denn da er von der Verderbtheit der Menschen uͤberzeugt, den baldigen Untergang 3 * der Welt erwartete, so machte er sich darauf gefaßt, daß das Strafgericht Gottes demnaͤchst uͤber Berlin hereinbrechen, und letzteres in Flammen aufgehen werde. Diese Vorstellung beherrschte ihn besonders am Nachmittage, als er einen Rock verkaufen wollte, um mit dem Erloͤs die Ueber¬ siedelung seines Vaters nach Berlin zu bewirken. Durchdrun¬ gen von dem Wunsche, seine Freunde von dem drohenden Ver¬ derben zu erretten, griff er in seine Rocktasche, und fand darin ein Stuͤck von den geweihten Staͤben, welches er als ein Amulet bei sich trug. Mit diesem Hoͤlzchen glaubte er das Haus eines Freundes segnen, und dadurch vor der Zerstoͤrung schuͤtzen zu koͤn¬ nen; er nahm es daher in die Hand, schritt am Hause voruͤber, und murmelte dabei die Worte: „Im Namen Gottes des Va¬ ters, des Sohnes und des heiligen Geistes, Amen”; dies brachte ihn ganz einfach auf den Gedanken, auch andere Haͤuser auf gleiche Weise gegen den Untergang zu sichern, weshalb er zunaͤchst einige Kirchen mit jenem Spruch glaͤubig umwandelte, und hierauf nach der Charite' sich begab, welche wegen der vielen Kranken und Nothleidenden in ihr seine Theilnahme erweckte. Hier betete er ein Vaterunser, trank von Durst gequaͤlt aus einem Brunnen, welchen er gleichfalls segnete, weihte hierauf das Invalidenhaus, um die betagten Krieger in demselben von dem Feuertode zu ret¬ ten, und vollzog noch eine Menge aͤhnlicher Weihen an mehreren oͤffentlichen Gebaͤuden und Privatwohnungen, worauf er um 10 Uhr in seine Wohnung zuruͤckkehrte. Am naͤchsten Tage erfolgte seine Aufnahme in die Charite', woselbst er zuvoͤrderst in die Abtheilung fuͤr innere Kranke ge¬ bracht wurde, weil in der Eile keine aͤrztlichen Zeugnisse, wie sie fuͤr die Reception in die Irrenabtheilung gesetzlich erforderlich sind, hatten herbeigeschafft werden koͤnnen. Auch hier weigerte er sich hartnaͤckig, Speisen zu genießen, indem er glaubte, daß der liebe Gott, welcher die Herzen lenke, ihm andere und bessere Speisen geben werde, in welchem Glauben er sich noch vollkommen kraͤf¬ tig und immer noch bis oben an voll fuͤhlte. Selbst ein herbei¬ gerufener Prediger, welcher durch Ermahnungen ihn zu einer Sinnesaͤnderung zu bewegen suchte, richtete Nichts aus, und es mußte daher die in solchen Faͤllen allein uͤbrig bleibende Huͤlse in Anwendung kommen, ihm wiederholt eine elastische Roͤhre durch den Mund bis in den Schlund einzufuͤhren, und ihm durch dieselbe eine hinreichende Menge von kraͤftiger Fleischbruͤhe einzu¬ floͤßen, um ihn gegen den Hungertod zu schuͤtzen. Es kraͤnkte ihn tief, daß auf diese Weise sein Vorsatz, bis zur Aussoͤhnung seiner Geschwister zu fasten, vereitelt wurde, ja er glaubte selbst darin einen neuen Angriff des Teufels, welcher ihm uͤberall mit Gewalt entgegentrat, erblicken zu muͤssen; indeß theils meinte er, wie Christus viele Leiden und Anfechtungen erdulden zu muͤssen, theils troͤstete er sich, daß die erzwungene Uebertretung seiner ver¬ meintlichen Pflicht ihm nicht zur Schuld angerechnet werden koͤnne, da ihm die Nahrung aufgedrungen werde. Immer noch mit der Vorstellung von dem nahen Untergange Berlins beschaͤftigt, glaubte er in der naͤchsten Nacht Feuerlaͤrm zu hoͤren, welches ihm die Furcht einfloͤßte, daß auch die Charité bald von den Flammen werde ergriffen werden, weshalb er inbruͤnstig zu Gott um Erret¬ tung der Kranken flehte, damit dieselben nicht unvorbereitet den Tod der Suͤnder im Feuer stuͤrben, und der ewigen Verdammniß anheimfielen. Uebrigens fand er sich bald in seine neue Lage, uͤberzeugt, daß dieselbe eine Schickung von Gott sei. Nachdem durch hinreichende Beobachtung sein Gemuͤthslei¬ den bestaͤtigt worden war, erfolgte seine Versetzung in die Irren¬ abtheilung, woselbst er ganz in sich gekehrt und hoͤchst wortkarg nur sehr mangelhafte, einsylbige Antworten gab, durch welche blos das eigentliche Motiv seiner immer noch hartnaͤckigen Weige¬ rung, Speisen zu genießen, ermittelt werden konnte. Es mußte natuͤrlich mit dem Einfloͤßen von Fleischbruͤhe durch eine elastische Roͤhre in den naͤchsten Tagen fortgefahren werden; als ihm in¬ deß die Nachricht gebracht wurde, daß seine Familie zum gemein¬ samen Genuß des Abendmahls bewogen, und dadurch ihre Ver¬ soͤhnung zu Stande gebracht worden sei, glaubte er sein Geluͤbde treu erfuͤllt, dadurch die Erhoͤrung seines Gebets von Gott er¬ langt zu haben, und fing daher an, freiwillig die ihm dargebo¬ tenen Speisen zu genießen, obgleich er immer noch einen Wider¬ willen dagegen empfand. Ungeachtet meiner dringendsten Ge¬ genvorstellungen nahm sein Vater, nicht unwahrscheinlich aus Ei¬ gennutz, ihn zu sich zuruͤck, und gestattete ihm, schon nach we¬ nigen Tagen wieder in seine fruͤheren Verhaͤltnisse zuruͤckzutreten. Mehrere Tage arbeitete er auch wirklich recht eifrig, indeß die haͤu¬ fige Lectuͤre der Bibel fachte seinen Teufelswahn bald wieder an. Um sich haͤuslich einzurichten, hatte er bei einem Troͤdler mehre¬ res altes Geraͤth eingekauft, welches er aber, da der Teufel seiner Meinung nach in diesem Kram stecke, gegen neues vertauschte, damit der Boͤse nicht wieder ins Haus gebracht werde, und aber¬ mals Unfrieden stifte. Bei seinem oben erwaͤhnten Weihen der Haͤuser hatte er nur die linke Seite einer Straße seiner Meinung nach von dem Einfluß des Teufels befreit, daher er es sehr be¬ dauerte, in jener Reihe keine Wohnung finden zu koͤnnen, und genoͤthigt zu sein, eine solche auf der andern nicht geweihten, dem Teufel preis gegebenen Seite miethen zu muͤssen. In diesen dia¬ bolischen Vorstellungen wurde er noch bestaͤrkt, als er in der neuen Wohnung eine Menge von Schmutz, faules Stroh, verkehrt ein¬ gehaͤngte Thuͤren und andere Unordnungen antraf, welche seiner Ueberzeugung nach vom Teufel herruͤhrten. Tief bekuͤmmert, demselben uͤberall zu begegnen, und gegen ihn nirgends durch die Gnade Gottes geschuͤtzt zu sein, schritt er sogleich zum Exorcisiren der Wohnung; er sprengte uͤberall geweihtes Wasser aus, wel¬ ches er in einem dazu neu angekauften Topfe von einem fruͤher gesegneten Brunnen holte, verbrannte einen von Rauch geschwaͤrz¬ ten papiernen Vorhang des Kuͤchenheerdes, welcher vom Boͤsen herruͤhren sollte, und schuͤttete die Asche nebst alten Naͤgeln, denen er denselben Ursprung beilegte, in einen Topf, welchen er mit einem Stein beschweren und ins Wasser werfen wollte, damit der darin gefangene Satan nicht wieder ans Tageslicht komme, und nicht wie das erste Mal mit dem weggeworfenen Rasiermesser aus den ihm angelegten Banden sich befreien koͤnne. Indeß weil er mit den teuflischen Sachen auch geweihtes Wasser in den Topf geschuͤttet hatte, uͤberfiel ihn dabei ein solches Entsetzen, daß er seinen Entschluß diesmal nicht ausfuͤhren konnte, und es ihm nur bei einer andern Gelegenheit gelang, ein mit dem Teufel behaf¬ tetes Geraͤth an einen Stein zu befestigen, aus dem Thore zu tra¬ gen und in die Spree zu werfen. Am staͤrksten kam aber sein Teufelswahn bei folgender Ver¬ anlassung wieder zum Ausbruch. Er wollte seinem Vater zur Unterstuͤtzung 3 Thaler zusenden, und bat seine Schwester, ihm dieselben gegen Kassenanweisungen umzuwechseln, welche er be¬ quem in einen Brief einschließen koͤnne. Als er letztere erhalten, mit einem Couvert versehen hatte, und eben das 5te Siegel auf¬ druͤcken wollte, hoͤrte er einen starken Knall, woruͤber er in ein heftiges Zittern verfiel, indem er glaubte, daß der Teu¬ fel von neuem uͤber ihn Gewalt bekomme, weil er sich zum Siegel eines Petschaftes bediente, welches er aus einer fruͤ¬ heren Wohnung einmal weggenommen hatte. Eiligst riß er das Couvert wieder auf, noͤthigte seine Schwester, die Kas¬ senanweisungen bei dem Kaufmann, von welchem sie diesel¬ ben geholt hatte, wieder in Courant umzusetzen. Nun stieg seine Noth auf den hoͤchsten Grad, denn der Teufel war mit den Kassenanweisungen zu dem Kaufmanne gewandert, um alle seine Waaren zu verderben, zugleich war derselbe aber auch mit dem Gelde zu R. zuruͤckgekehrt, welcher dasselbe nicht an seinen huͤlfsbeduͤrftigen Vater senden durfte, um ihn nicht dem zeitlichen und ewigen Untergange preis zu geben. Mit einem Worte, der herrschende Teufelsgedanke wurde der Rahmen, welcher alle seine Vorstellungen umschloß, und ihn dadurch in Verzweiflung stuͤrzte. In dieser grenzenlosen Be¬ draͤngniß flehte R. zu Gott um Huͤlfe, und es erklaͤrt sich leicht aus seiner damaligen Gemuͤthsverfassung, daß er wieder den Vorsatz faßte, sich aller Nahrung zu enthalten, um Gott zur Erhoͤrung seines Gebets und zur Offenbarung eines ret¬ tenden Gedankens zu bewegen. Wirklich fuͤhrte er diesen Entschluß mit derselben zaͤhen Hartnaͤckigkeit aus, welche er das erste Mal gezeigt hatte, wie es denn uͤberhaupt charakteristisch ist, daß passive Gemuͤ¬ ther, welche zu keiner resoluten Handlung faͤhig sind, eine negative Standhaftigkeit im Erdulden der hoͤchsten Leiden und in freiwillig uͤbernommenen Bußuͤbungen entwickeln koͤnnen, woran die entschlossenste Energie Thatkraͤftiger oft scheitern wuͤrde. Ein auffallendes Beispiel davon im Großen bieten uns die hindostanischen Schwaͤrmer dar, welche bei aller Feig¬ heit des Nationalcharakters unter Selbstpeinigungen der grau¬ samsten Art eine Reihe von Jahren zubringen. R. fastete wiederum eine ganze Woche, ehe sich seine Angehoͤrigen ent¬ schlossen, ihn nach der Charité zuruͤckzubringen, und da er nur zuweilen seinen brennenden Durst mit etwas Wasser stillte, so mußten nach so vielen Stuͤrmen auf Gemuͤth und Koͤrper diesmal weit schlimmere Folgen hieraus hervorgehen, wie fruͤ¬ her. Daher wurden die Teufelsvisionen in den schlaflosen Naͤchten schrecklicher und anhaltender, als je, fortwaͤhrend sah er sich von fratzenhaften Koͤpfen mit Hoͤrnern, feurigen, rol¬ lenden Augen, langen Nasen, weit aufgerissenen Maͤulern, aus denen eine blutrothe Zunge weit heraushing, umgeben; ihre Zahl nahm immer mehr zu, je eifriger er durch Beten und durch Sprengen mit geweihtem Wasser sie zu vertreiben suchte. Zugleich umzischte und umsauste es ihn, wie unsicht¬ bare Gespenster, niemals aber hoͤrte er deutliche Worte. Von fuͤrchterlicher Angst bis zur Erschoͤpfung gefoltert, warf er sich zuweilen aufs Bette, wurde indeß bald wieder aus seiner Betaͤubung durch neue Wahnbilder aufgeschreckt. Zuletzt konnte er es im Dunkeln nicht mehr aushalten, indeß auch ein bren¬ nendes Licht brachte ihm keine große Erleichterung. Daß er nun eifriger als je Andachtsuͤbungen, Sprengen mit Wasser, Hinausscheuchen der Teufel aus allen Ecken vornahm, welche uͤberall in Schaaren auf ihn einstuͤrmten, begreift sich leicht. Schon fruͤher hatte er mit dem groͤßten Mißfallen bemerkt, daß Kaufleute Blaͤtter aus der Bibel und aus Andachtsbuͤ¬ chern zum Einpacken von Waaren benutzten, durch welche das goͤttliche Wort herabgewuͤrdigt werde; noch mehr empoͤrte es ihn, wenn die Kinder seiner Schwester solche Blaͤtter zerris¬ sen und auf die Erde warfen, wo es dann nicht ausbleiben konnte, daß der Name Gottes mit Fuͤßen getreten wurde. Vergebens suchte er diesem, in seinen Augen gotteslaͤsterlichen Unfug zu steuern, und nur dadurch wußte er sich zu helfen, daß er alle solche Blaͤtter, auch wenn sie noch so sehr be¬ schmutzt waren, sorgfaͤltig in einem Spinde aufhob. In letz¬ terem lagen aber auch einige lustige Lieder, welche er fuͤr teuflische erklaͤrte, weshalb er in seiner damaligen Aufregung es fuͤr seine Pflicht hielt, eine Sonderung vorzunehmen. Vor¬ naͤmlich machte ihm dabei eine Sammlung von geistlichen und weltlichen Liedern zu schaffen, wobei er sich nicht anders zu helfen wußte, als daß er die frommen Lieder herausriß, um die uͤbrigen nebst den anderen vom Satan inficirten Sachen aus dem Hause zu schaffen. Hiermit beschaͤftigt, waͤhnte er, einen betaͤubenden Donnerschlag zu hoͤren, und einen auf das Haus niederzuckenden Blitzstrahl zu sehen. Entsetzt glaubte er, die Zeit sei gekommen, wo Berlin in Flammen aufgehen werde, und er warf sich auf die Kniee, um das goͤttliche Erbarmen fuͤr alle Glaͤubige anzuflehen. Bei einer anderen Gelegenheit riß er sich in seiner Angst die Kleider vom Leibe, und als er zugleich ein stetes Klopfen hoͤrte, war er uͤber¬ zeugt, daß der Teufel vor dem Hause ein Geruͤst aufrichte, um ihn durch dasselbe am Entfliehen zu verhindern und zu zerreißen. In großer Bestuͤrzung kleidete er sich eilig wieder an, und verlangte sogar von seinem Bruder, daß derselbe sich gemeinschaftlich mit ihm in dieselben Kleider stecken solle. Nach seiner am 12. Juli 1845 erfolgten Wiederauf¬ nahme in die Charité war er in ein tiefes und regungsloses Schweigen versunken, welches jede Unterredung mit ihm un¬ moͤglich machte; er achtete weder auf die ihm vorgelegten Fra¬ gen, noch auf seine Umgebungen, sondern stierte in voͤlliger Geistesabwesenheit vor sich hin. Es war dies der Zustand von gaͤnzlicher Concentration der gesammten Geistesthaͤtigkeit auf Einen Gegenstand, wie er bei den Anachoreten und spaͤ¬ teren Einsiedlern oft genug vorgekommen ist, welche, ganz in ihre religioͤsen Contemplationen vertieft, der Außenwelt so voͤl¬ lig mit ihrem Bewußtsein entfremdet waren, daß sie auf Nichts um sich her achteten. Zuvoͤrderst mußte durch das Ein¬ floͤßen von Bouillon mit Huͤlfe einer elastischen Roͤhre der Ge¬ fahr eines Hungertodes vorgebeugt werden, und es war diese erzwungene Ernaͤhrung 6 Tage hindurch erforderlich, ehe er sich zum freiwilligen Genuß der Speisen bequemte. Theils glaubte er, man wolle ihn ersticken, weil durch das Einbrin¬ gen der Roͤhre in den Schlund das Athemholen ein wenig beeintraͤchtigt wurde, in welche Vorstellung er sich jedoch mit Ergebung in den Willen Gottes fuͤgte, nach welchem er in die Charité zuruͤckgebracht worden sei; theils setzte er aber auch voraus, der Teufel habe den Aerzten befohlen, ihn durch Einfloͤßen von Nahrung zum Bruch seines Geluͤbdes zu zwin¬ gen, in welchem er sich durch den Spruch zu bestaͤrken suchte, daß er Berge versetzen koͤnne, wenn er den rechten Glauben habe. — Zugleich war es aber dringend nothwendig, durch eine heilsame Erschuͤtterung des Nervensystems mit Huͤlfe der Douche ihn aus der Welt des Wahns in die Wirklichkeit zu¬ ruͤckzurufen, ihn gleichsam aus seinem wachen Traum aufzu¬ wecken. Es geschah dies auch mit so guͤnstigem Erfolge, daß er bald die innere Angst verlor, und sich uͤber seine Lage zu besinnen anfing, indem sich zugleich ein ruhiger Schlaf ein¬ stellte. Er bezog diese heilsame Veraͤnderung selbst so be¬ stimmt auf die Douche, daß er in spaͤterer Zeit wiederholt um ihre Anwendung bat, wenn er von Visionen sehr belaͤ¬ stigt wurde, welches besonders dann der Fall war, wenn er reichlich Speisen genossen hatte, deren Menge zu beschraͤnken er dann selbst fuͤr nothwendig hielt. Schon nach 3 Wochen war seine Besserung so weit fort¬ geschritten, daß er durch freiwilligen Genuß der dargebotenen Nahrung seine durch Fasten, leidenschaftliche Aufregung und Schlaflosigkeit erschoͤpften Kraͤfte voͤllig wiedererlangte, und somit in den Stand gesetzt wurde, mit den uͤbrigen reconva¬ lescirenden Geisteskranken an den uͤblichen geistigen und koͤr¬ perlichen Beschaͤftigungen Theil zu nehmen. Die Vorzuͤge sei¬ nes sittlichen Charakters bewaͤhrten sich auch jetzt durch sein musterhaftes Betragen, namentlich durch seine Bereitwilligkeit, sich daruͤber aufklaͤren zu lassen, daß das Uebermaaß seiner durch uͤbertriebene Andachtsuͤbungen erhitzten Froͤmmigkeit die wesentliche Ursache seiner Seelenleiden geworden war, deren verderbliche Folgen auch ihm einleuchteten. Weniger gelang es mir indeß, ihm begreiflich zu machen, daß er wohl daran thun werde, sich mit der Erklaͤrung der Bibel, wie sie ihm in den Predigten aufgeklaͤrter Geistlichen dargeboten werde, zu begnuͤgen, und sich alles Forschens in derselben zu ent¬ halten, wobei er leicht wieder auf schlimme Abwege gerathen koͤnne; die Ueberzeugung, daß das Lesen der Bibel heilige Pflicht eines jeden Christen sei, war bei ihm zu tief gewur¬ zelt, als daß er sich davon haͤtte lossagen wollen. Auch die naͤchtlichen Hallucinationen gehoͤrten gewissermaaßen zu seinem Naturell, dessen gaͤnzliche Umwandlung binnen einiger Mo¬ nate nicht zu Stande gebracht werden konnte; indeß verloren sie ganz ihren beunruhigenden Charakter, so daß er nicht wei¬ ter auf sie achtete. Nach Ablauf von 8 Monaten forderte sein Vater abermals seine Entlassung, welche gesetzlich nicht ver¬ weigert werden durfte; auch konnte er in sofern fuͤr geheilt erklaͤrt werden, als er schon seit einer Reihe von Monaten von seinem Wahn gaͤnzlich befreit und in eine geistige und koͤrperliche Verfassung versetzt war, welche ihn zum Betriebe seines Handwerks vollstaͤndig befaͤhigte. Ob aber bei der vor¬ herrschenden Passivitaͤt seines Charakters und seiner immer noch zur Schwaͤrmerei sehr hinneigenden Froͤmmigkeit seine Heilung eine fuͤr das ganze Leben andauernde sein werde, muß die Folgezeit lehren. 2. W. , 45 Jahre alt, der Sohn eines Schuhmachers in Stadt am Hof, erhielt von ihm eine angemessene Erziehung, erlernte nach der Einsegnung das Schneiderhandwerk, und trat hierauf seine Wanderschaft an, welche ihn zuletzt nach Ber¬ lin fuͤhrte, woselbst er sich vor 23 Jahren ansiedelte, zuerst als Geselle arbeitete, spaͤter als Meister sich einrichtete, und nachdem seine erste Frau, welche ihm in mehrjaͤhriger gluͤckli¬ cher Ehe 4 Kinder geboren hatte, gestorben war, sich mit einer Jugendfreundin verheirathete, mit welcher er in gleich¬ falls gluͤcklicher, kinderloser Ehe lebte. Wir uͤberspringen alle diese Verhaͤltnisse, weil sie zur Entwickelung seines spaͤteren religioͤsen Wahns nichts beitrugen, mit der Bemerkung, daß er stets gesund, heiter und kraͤftig von Gemuͤth war, und daß er seiner ganzen Erscheinung nach jenen ehrbaren, fleißi¬ gen und redlichen Handwerkern angehoͤrt, welche in der Be¬ schraͤnktheit kleinbuͤrgerlicher Verhaͤltnisse eine hinreichende Be¬ friedigung gemaͤßigter Wuͤnsche finden, um mit jedem An¬ triebe maͤchtiger Leidenschaft fuͤr immer verschont zu bleiben, wenn ihnen dieselben nicht im Widerspruch mit ihrem Natu¬ rell eingeimpft werden. Zur religioͤsen Schwaͤrmerei neigte er so wenig hin, daß er nur selten am Gottesdienste Theil nahm, und sich auch außerdem nicht vielen Andachtsuͤbungen hingab. Im Jahre 1842 theilte ihm ein Mitglied der hier be¬ stehenden Secte der Wiedertaͤufer mehrere Missionsblaͤtter und Traktaͤtchen mit, wodurch er sich bestimmen ließ, den gottes¬ dienstlichen Versammlungen derselben zuerst seltener, dann haͤufiger beizuwohnen. Indeß dauerte es doch lange, ehe W. der neuen Secte seine innere Ueberzeugung und sein ganzes Herz zuwandte. Schon der allzu sehr gehaͤufte Gottesdienst, welcher an den Sonntagen zweimal und außerdem noch an mehreren Wochenabenden gehalten wurde, uͤberbot seine Fas¬ sungsgabe so sehr, daß er an manchen Tagen nicht mehr wußte, was er gehoͤrt hatte, und er seinen Kopf mit einem von Speisen uͤberfuͤllten Magen verglich. Noch mehr wurde sein Mißfallen erregt durch das zelotische Eifern gegen den als Suͤnde verschrieenen Besuch erlaubter Vergnuͤgungsorte, durch die in der Gemeinde haͤufig ausbrechenden Streitigkei¬ ten uͤber die richtige Auslegung der Bibel, am meisten aber durch die oft gehoͤrte Behauptung, daß die anderen Christen nicht seelig werden koͤnnten, weil sie nicht die wahre Taufe empfangen haͤtten, und deshalb nicht nach dem Evangelium lebten. W. fuͤhlte sich dadurch so sehr zuruͤckgestoßen, daß er nur um so eifriger den verpoͤnten Besuch der Kirchen fort¬ setzte, und wahrscheinlich wuͤrde sein damals noch gesundes Ur¬ theil ihn gegen die hereinbrechende Gefahr des Wahnsinns ge¬ schuͤtzt haben, wenn nicht die zu jedem fanatischen Sectengeiste sich hinzugesellende religioͤse Schwaͤrmerei auch in sein Ge¬ muͤth sich heimlich eingeschlichen und dasselbe zuletzt beherrscht haͤtte. So geschah es, daß er aller urspruͤnglichen Abneigung gegen die Wiedertaͤufer ungeachtet dennoch zuletzt durch einen unwiderstehlichen Drang zu ihnen sich hingezogen fuͤhlte und ihren Lehren nun ein offenes Ohr lieh, zumal da oft genug Emissaire an ihn abgeschickt wurden, um ihn zu bearbeiten. Immer noch machte er diesen genug zu schaffen, denn wie oft sie ihm auch begreiflich zu machen suchten, daß der Ritus der Taufe, wie sie an Christus im Jordan vollzogen worden, das Vorbild zur Wiederholung dieses Sacraments an Erwach¬ senen werden muͤsse, welche nur dadurch, so wie durch den rechten Glauben seelig werden, außerdem aber der Verdamm¬ niß nicht entgehen koͤnnten; so wollte ihm dies doch keines¬ weges einleuchten, da er standhaft seine alte Ueberzeugung vertheidigte, daß ein rechtschaffener Wandel die Hauptbedin¬ gung zur Seeligkeit, und ohne ihn der Glaube nur Heuchelei sei. Indeß eine ungewohnte starke Erregung des religioͤsen Gefuͤhls, welches eben dadurch in den Vordergrund des Be¬ wußtseins tritt, und sich an allen uͤbrigen Vorstellungen und Gefuͤhlen reflectirt, hat meistentheils die Wirkung, daß der Mensch, indem er sein ganzes Innere und alle Außenverhaͤlt¬ nisse anhaltend vom religioͤsen Standpunkte uͤberschaut, Alles in einer voͤllig veraͤnderten Bedeutung erblickt, und deshalb leicht einen gaͤnzlichen Umschwung der Gesinnung und Denk¬ weise erfaͤhrt. Indem naͤmlich das religioͤse Bewußtsein in praktischer Beziehung sich als Gewissen darstellt, muß auch seine erhoͤhte Lebendigkeit den inneren Richter zu einer weit groͤßeren Strenge und Schaͤrfe des Urtheils veranlassen, so daß eine Menge von Gefuͤhlen und Handlungen, welche fruͤ¬ her fuͤr erlaubt gehalten wurden, jetzt als verdaͤchtig, tadelns¬ werth, ja verdammlich erscheinen. Der Mensch wird dann im Handeln zaghaft und unentschlossen, weil er uͤberall auf Gewissensscrupel stoͤßt, welche ihm bisher unbekannt geblieben waren, und zieht sich daher mehr in ein beschauliches Leben zuruͤck, wo er dem unvermeidlichen Widerstreit im Praktischen ausweichen zu koͤnnen hofft, aber um so mehr in allen Ge¬ fuͤhlen zur hoͤchsten Reizbarkeit sich steigert, so daß sein fruͤ¬ heres Leben ihm nur tadelnswerth erscheint, und ihm bittere Reue bringt. Hieraus erklaͤrt es sich, daß W. durch die Tribulationen seiner neuen Glaubensgenossen zuletzt in eine Beaͤngstigung versetzt wurde, als ob sein Gewissen ihn mit schweren Anklagen belaste, und ihm dadurch ein neues Heils¬ mittel zum dringenden Beduͤrfniß mache. Um sich daruͤber weiter aufzuklaͤren, las er selbst waͤhrend der Arbeit fleißig in der Bibel, welches ihm von den Sectenmitgliedern nicht nur zur Pflicht gemacht, sondern woruͤber er noch oft von ihnen controlirt wurde. Von Zweifeln noch immer bewegt, vergeblich nach Klarheit ringend, gerieth er allmaͤhlig in eine solche Bangigkeit, daß er seine Arbeit nicht geregelt betreiben konnte, und selbst waͤhrend der Naͤchte keine erquickende Ruhe fand, sondern durch aͤngstliche Traͤume von finsteren Larven und haͤßlichen alten Weibern aus dem Schlafe aufgeschreckt wurde. Endlich glaubte er in der Bibel die Bestaͤtigung da¬ fuͤr zu finden, daß er fuͤr die vielen von ihm begangenen Suͤnden der Gnade Gottes und der geistlichen Wiedergeburt durch eine erneuerte Taufe in einem besonders hohen Grade beduͤrftig sei, und so bewarb er sich um die Aufnahme in die Gemeinde der Wiedertaͤufer, als an einem Abende diejenigen aufgerufen wurden, welche dazu bereitwillig waren. Sie alle, 14 an der Zahl, mußten Reue uͤber ihre Suͤnden bezeugen, und es sollen Viele unter ihnen geweint, geseufzt, laut auf¬ geschrieen und ihr Bedauern ausgesprochen haben, daß sie sich nicht von Jugend auf an Gottes Wort gehalten haͤtten. Am 29. April 1842, fruͤh um 6 Uhr, begab er sich mit den uͤbrigen Taͤuflingen an den ¼ Meile von Berlin entfernten Rummelsburger See, an dessen Ufer zwei Zelte zum Auskleiden fuͤr beide Geschlechter aufgeschlagen waren. Jeder mußte seine Kleider bis aufs Hemde ablegen, uͤber welches ein anderes in Form einer Blouse angelegt und mit einem Guͤrtel befestigt wurde. Vor der Taufhandlung wurde ein Gebet abgehalten, ein Kirchenlied gesungen und ein Text aus dem neuen Testamente vorgelesen, an welchen der Red¬ ner eine Ermahnung knuͤpfte, und in letzterer die aufgehende Sonne als Symbol der Gnadensonne Christi benutzte, welche ihrem Geiste leuchten, und die in der freien Natur als dem Tempel Gottes zu vollziehende Taufe heiligen solle. Hierauf wurde jeder Taͤufling in den See gefuͤhrt, woselbst der Red¬ ner ihn mit der linken Hand am Guͤrtel ergriff, und mit seiner Rechten den Kopf unter das Wasser druͤckte, indem er die Worte aussprach:„ich „ich taufe dich im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.” Die ganze Handlung war indeß weit entfernt, einen erheben¬ den Eindruck auf W. zu machen, da ein Gemisch der wi¬ derstreitendsten Gefuͤhle sich seiner bemaͤchtigte. Das Schluch¬ zen und Schreien der Weiber, unter denen auch seine 15jaͤh¬ rige Tochter war, stoͤrte eben so sehr seine Andacht, als das Schaamgefuͤhl, sich oͤffentlich entkleiden zu muͤssen, und dem Gaffen vieler neugierigen Zuschauer ausgesetzt zu sein; dabei klapperten ihm die Zaͤhne vor Frost, und erst als er in seine Wohnung zuruͤckgekehrt am Tische niederkniete, um Gott fuͤr die Wiedergeburt in der Taufe zu danken, fuͤhlte er sich gluͤcklich in der Ueberzeugung, durch sie nunmehr der Seeligkeit gewiß geworden zu sein. Jedoch es sollte ihm nicht so wohl werden, sich lange Zeit des vermeintlich gewonnenen Heils erfreuen zu koͤnnen. Seine uͤbertriebenen Andachtsuͤbungen, zumal ein haͤufiges Bibellesen waͤhrend der Arbeit, erhielten ihn in einer uͤberaus reizbaren Stimmung, welche oft in uͤble Laune uͤberging, wenn seine neuen Glaubensgenossen ihn besuchten, um ihn uͤber seine Fortschritte in der Froͤmmigkeit auszuforschen, und ihn aufforderten, reuig in sich zu gehen, um jede noch uͤbrig gebliebene Herzenshaͤrtigkeit aufzuspuͤren und zu vertilgen. Daß es dabei nicht ohne Streit, animose Anspielungen und mannigfache Retorsionen abging, laͤßt sich leicht denken, da eine sittliche Censur, wenn sie von gewoͤhnlichen Menschen ausgeuͤbt wird, welche sich selbst viel zu wenig kennen, als daß sie die Moralitaͤt Anderer richtig beurtheilen koͤnnten, nur allzuleicht gehaͤssige, egoistische Nebenabsichten in sich schließt, und dadurch im hoͤchsten Grade kraͤnken, erbittern, verletzen muß. Vorzuͤglich kam es aber zum Bruch zwischen W. und seinen Glaubensgenossen, als er der unter ihnen bestehenden Sitte gemaͤß die kranke Ehefrau eines gewissen K. besuchte, um ihr Trost einzusprechen und ihr seine Theilnahme zu be¬ zeugen. Dabei knuͤpfte er mit dem K. ein Gespraͤch uͤber Bibelstellen an, und berief sich unter anderem auf einen Vers, in welchem Christus von dem durch ihn dem Men¬ schengeschlecht verliehenen Frieden spricht. K. verneinte die Guͤltigkeit dieses Ausspruchs mit Hindeutung auf die aus¬ druͤckliche Erklaͤrung Christi, daß er das Schwert in die Welt gebracht habe, und erzuͤrnte dadurch den W. dergestalt, daß dieser ausrief: „Sie luͤgen”, von jenem aber die richtige Ge¬ genbemerkung hoͤren mußte: „Lieber Bruder, haben Sie denn den Frieden?” Hoͤchst aufgebracht entfernte sich W., und ein¬ gedenk, daß Christus seinen Juͤngern rieth, sie sollten den Staub von den Fuͤßen schuͤtteln, wenn sie irgendwo uͤbel auf¬ genommen wuͤrden, that er das Gleiche beim Weggehen, und fuͤhlte sich dadurch in seinem Innern erleichtert und beruhigt. Hierauf theilte er den ganzen Vorgang dem Vorsteher der Gemeinde mit, welcher ihm einen derben Verweis ertheilte, ihm die Theilnahme an der naͤchsten Abendmahlsfeier versagte (also eine wahre Ercommunication), und ihn vor der darauf folgenden Communion aufforderte, sich zuvor mit dem K. aus¬ zusoͤhnen. Dazu war indeß W. nicht zu bewegen, welcher weit entfernt, sein Benehmen zu bereuen, dasselbe vielmehr mit Berufung auf Bibelstellen zu rechtfertigen suchte, und es durchzusetzen wußte, daß er, ohne nachgeben zu muͤssen, an dem Abendmahl Theil nehmen konnte. Was ist uͤberhaupt fuͤr einen mehr heißen als erleuchte¬ ten Kopf leichter, als uͤber die Bibel in einen endlosen und erbitterten Streit zu gerathen, da sie das ganze Leben mit seinem unendlichen Reichthum an Gegensaͤtzen umfassend, sie oft nur mit orakelartiger Kuͤrze beruͤhren kann, weshalb jene Gegensaͤtze, wenn sie nicht von einem tuͤchtigen Denker in ih¬ rem inneren organischen Zusammenhange ergriffen werden, in ihrem Widerspruche stehen bleiben, und deshalb die Einseiti¬ gen zu dem grimmigsten Hader verfeinden. Da W. nicht aus innerer Noͤthigung eines urspruͤnglichen Glaubensbeduͤrf¬ nisses zu den Wiedertaͤufern uͤbergetreten, sondern nur durch eine erzwungene Aufregung mystischer Gefuͤhle fast gewaltsam zu ihnen hingezogen war; so schloß sein Bund mit ihnen schon von vorn herein alle Elemente der Zwietracht in sich, welche durch taͤgliche Zaͤnkereien noch mehr genaͤhrt wurden, und ihn zu einer Streitsucht herausforderten, welche bei den mannigfachsten Gelegenheiten zum Ausbruch kam. Es war ihm unstreitig Ernst mit seinem Glaubenseifer, da sein ent¬ schiedener Charakter Nichts nur zur Haͤlfte ergreift; daher for¬ derte er, daß dem Evangelium im rigoristischem Sinne nach¬ gelebt werden solle; z. B. verlangte er, daß das Brot beim Abendmahl nicht geschnitten, sondern gebrochen werden muͤsse, weil Christus es so gethan habe; daß die Ceremonie des Fu߬ waschens eingefuͤhrt werde, da Christus zu Petrus gesagt habe: „So nun Ich, Euer Herr und Meister, Euch die Fuͤße ge¬ waschen habe, so sollt Ihr auch Euch unter einander die Fuͤße waschen.” (Evang. Joh. 13, V. 14.). Natuͤrlich setzte diese buchstaͤbliche Bibelauslegung wieder tuͤchtigen Streit, welcher fast gar kein Ende nahm. Mehr als alles Uebrige erregte es aber sein Befremden, daß den Predigten beinahe niemals Texte aus den Evangelien und Episteln, sondern fast nur aus dem alten Testamente und der Offenbarung Johannis zum Grunde gelegt wurden, um durch die mosaische Lehre von dem starken und eifrigen Gotte, wel¬ cher die Juden fuͤr ihren Goͤtzendienst zuͤchtigte, und durch die Vergleichung des siebenkoͤpfigen Thiers in der Apokalypse mit dem auf 7 Huͤgeln erbauten Rom Gelegenheit zum zelotischen Eifern gegen alle Diejenigen zu geben, welche von dem (al¬ lein) seligmachenden Glauben der Wiedertaͤufer abwichen. Es fehlte nicht an wiederholten Anspielungen, daß der Besuch an¬ derer Kirchen den Weg zum Verderben bahne, wogegen daher dringend gewarnt wurde. Dadurch bestaͤrkte W. sich immer mehr in der Ueberzeugung, daß die Secte der Wiedertaͤufer voͤllig vom Christenthume abgewichen, und zum juͤdischen Glau¬ ben uͤbergetreten sei, und er nahm davon Veranlassung, an den Vorstand der Gemeinde einen Brief voll der heftigsten Vor¬ wuͤrfe zu richten, und in ihm eine offene Erklaͤrung des Glau¬ bensbekenntnisses zu fordern. Da er keine Antwort erhielt, so griff er, auf Ausspruͤche der Bibel gestuͤtzt, seine neuen Gegner mit einer solchen Erbitterung an, daß sie ihm wiederholt zu¬ riefen: „Du hast den Teufel!” Es liegt im Wesen des Arg¬ wohns, gehaͤssigen Voraussetzungen eine moͤglichst große Aus¬ dehnung zu geben, und so kam W. bald dahin, die Stiftung der neuen Secte aus den niedrigsten Motiven des Eigennutzes abzuleiten, und das Erheben einer woͤchentlichen Abgabe von durchschnittlich 5 Silbergroschen, welche jedes Mitglied zur Be¬ streitung der Kosten des Gottesdienstes entrichten mußte, fuͤr eine habsuͤchtige Besteuerung im Namen der Religion zu halten. Kein Wunder daher, daß er sich allmaͤhlig immer mehr den Wiedertaͤufern entfremdete, und in die evangelische Kirche zuruͤckkehrte, wo die gehaltvollen und durchdachten Predigten ausgezeichneter Kanzelredner, mit denen die von den Wieder¬ taͤufern gehaltenen Vortraͤge auch in seinem Urtheile nicht den entferntesten Vergleich aushalten konnten, ihn bald zur Besin¬ nung brachten. Als es so weit mit ihm gekommen war, em¬ pfand er bittere Reue uͤber seinen Uebertritt zu ihnen, welcher Ideler uͤber d. rel. Wahnsinn. 4 ihm als Abfall vom wahren Glauben erscheinen mußte, und da seine Selbstanklagen noch geschaͤrft wurden durch bittere Vorwuͤrfe uͤber seinen Religionswechsel von hiesigen Freunden und von Verwandten in der Heimath, so ließ er sich weder durch Liebkosungen einiger Gemeindemitglieder, welche sich ihn gern erhalten wollten, noch durch Anspielungen in den Ver¬ sammlungen auf ihn als einen abtruͤnnigen Judas laͤnger irre machen, sondern riß sich entschieden und auf immer von ihnen los. Das Bibellesen war ihm schon zum Beduͤrfniß gewor¬ den, und mit sich in seinen religioͤsen Begriffen uneins, hielt er eine eifrige Fortsetzung desselben fuͤr seine dringendste Pflicht, um durch fortgesetztes Forschen in der Schrift zur wahren Got¬ teserkenntniß und zum richtigen Urtheil uͤber seine bisherigen, von ihm verkannten Irrthuͤmer zu gelangen. Zwar vernach¬ laͤssigte er seine Erwerbsthaͤtigkeit noch nicht, aber sein Sinn hatte sich doch schon den Weltverhaͤltnissen zu sehr entfremdet, als daß die Reflexion uͤber dieselben ihn noch gegen den all¬ maͤhlig aufkeimenden Wahn haͤtte schuͤtzen koͤnnen. Denn es fehlte seinem Geiste schon durchaus jene Klarheit, welche das Licht der religioͤsen Wahrheiten haͤtte ungetruͤbt in sich aufneh¬ men koͤnnen; sein von Zweifeln und inneren Widerspruͤchen zerrissenes Denken war zur folgerichtigen Entwickelung jener Wahrheiten zu uͤbereinstimmenden praktischen Begriffen voͤllig unfaͤhig geworden. Das Ebengesagte sprach sich besonders in einigen schrift¬ lichen Aufsaͤtzen aus, welche W. waͤhrend der letzten Monate vor dem Ausbruche seines Wahnsinns verfaßte. Nicht zufrie¬ den, den Inhalt der Bibel durch unablaͤssiges Lesen derselben sich anzueignen, wollte er ihn auch zu bestimmten Begriffen auspraͤgen, und er benutzte deshalb mannigfache aͤußere Ver¬ anlassungen, welche sein religioͤses Interesse erregend, ihn zu verschiedenartigen, oft sehr ausfuͤhrlichen Betrachtungen daruͤber herausforderten. Insbesondere machte die Ausstellung des hei¬ ligen Rocks in Trier einen so tiefen Eindruck auf ihn, daß er als Schriftsteller dagegen auftreten, und nicht blos Artikel in Zeitungen einruͤcken lassen, sondern auch selbststaͤndige Schrif¬ ten daruͤber in Druck geben wollte. Eben so empoͤrte es ihn tief, als die Nachricht von dem Attentat auf Se. Majestaͤt den Koͤnig ihm bekannt wurde, weil seine streng religioͤse Denk¬ weise die Groͤße des Frevels hinreichend begriff. Er machte seinem Gefuͤhle in einer Reihe von Gedichten Luft, wie er denn auch bei anderen Gelegenheiten, z. B. beim Jahreswechsel Ge¬ dichte verfertigte, denen meistens schon aller innere Gedanken¬ zusammenhang fehlte. Wer wollte die Gesinnung des W. nicht loben, welcher nach deutlichen Vorstellungen rang, nachdem er im unseeligen Zwiespalt seines religioͤsen Gefuͤhls die Klarheit und Ordnung seiner Begriffe verloren hatte; wer ihn nicht aufrichtig beklagen, daß er daruͤber seinen naͤchsten Beruf gaͤnzlich vergaß, fuͤr die Wohlfahrt seiner Familie zu sorgen? Denn schon war es dahin gekommen, daß er seinen Erwerb vernachlaͤssigte, um die meiste Zeit dem Abfassen von Aufsaͤtzen zu widmen, und wenn es ihm damit nicht gelingen wollte, viele Kapitel aus der Bibel bis tief in die Nacht abzuschrei¬ ben. Er lebte in der Taͤuschung, welche so oft der unklaren, aber leidenschaftlich aufgeregten Koͤpfe sich bemaͤchtigt, daß das Ungewohnte lebhafte Aufsprudeln selbst der verworrensten Vor¬ stellungen schon die Befaͤhigung anzeige, uͤber die großen und allgemeinen Angelegenheiten ein Wort mitzureden. Daher wollte er seine Aufsaͤtze, welche er groͤßtentheils von einem ihm ver¬ schuldeten Schreiber corrigiren und mundiren ließ, drucken lassen. Vergebens stellte ihm seine Frau vor, daß ihm alle Erforder¬ nisse eines Schriftstellers abgingen, und daß er fuͤr die Sei¬ nigen, namentlich fuͤr den bald faͤlligen Miethzins sorgen solle. Anstatt ihn zur Besinnung zu bringen, floͤßte sie ihm einen heftigen Haß gegen sich ein, so daß er oft es aussprach, er Wolle sie verstoßen, ungeachtet sie ihn kuͤmmerlich mit Hand¬ arbeiten ernaͤhren mußte. In die heftigste Aufregung wurde aber W. versetzt, als etwa 6 Wochen vor seiner Aufnahme in die Charité ein Wie¬ dertaͤufer nochmals den Versuch machte, ihn zur Ruͤckkehr zu der verlassenen Secte zu bewegen. Es kam dabei zu einem erbitterten Streit, indem jener die Behauptung ausgesprochen haben soll, daß die Vorsteher jener Secte die Schluͤssel zum Himmelreich fuͤhren, worauf W. mit der groͤßten Entruͤstung erwiederte, daß Christus allein diese Schluͤssel habe. Dieser Streit veranlaßte ihn, einen heftigen Brief an den Vorstand 4 * der Wiedertaͤufer zu schreiben, welcher ihm den Bescheid er¬ theilte, daß er nunmehr definitiv aus der Secte ausgestoßen sei. Daß sein Gemuͤthszustand durch die nochmalige Aufregung aller ihm so verderblich gewordenen religioͤsen Controversen und nach allem Vorhergegangenen nun gaͤnzlich aus den Fugen wei¬ chen mußte, begreift sich leicht, daher denn auch der Ungestuͤm seiner Aufregung in eine mit jedem Tage zunehmende Verstan¬ desverwirrung uͤberging. Merkwuͤrdig ist besonders ein in dieser Zeit von ihm verfaßter Aufsatz mit der Ueberschrift: „Beant¬ wortung uͤber das Rundschreiben des Papstes Gregor XVI . aus Rom vom 23. Mai 1844.” Derselbe beginnt mit richtigen, wenn auch desultorischen Bemerkungen, um bald in die unge¬ reimtesten Wahnvorstellungen sich zu verlieren, wie es denn oft beobachtet wird, daß Geisteskranke einen Aufsatz ganz verstaͤn¬ dig anfangen, weil sie noch in Gemuͤthsruhe sich befinden, bald aber beim Schreiben durch die ihnen zustroͤmenden Vorstellun¬ gen in Aufregung und durch sie in voͤllige Geistesverwirrung gerathen. Als Probe davon moͤgen einige Bruchstuͤcke aus je¬ nem Aufsatze dienen, welcher mit den Worten anhebt: „Die Verdammung ist nicht goͤttlich, denn bei Gott ist kein Verdammen mehr. Sein Wort auszubreiten ist sogar Befehl unsres Herrn Jesu Christi: Gehet hin in alle Welt, und lehret alle Voͤlker, und taufet sie im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, denn siehe, Ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende. Und wir sind aus der lebendigen Kraft Gottes uͤberzeugt von seiner Wahrheit, welche es verheißen hat, daß er bei uns ist und in uns ist der Geist der Wahrheit. — Nun sind wir zwar noch nicht vollendet, aber er ist in uns, der Vater und der Sohn, weil wir in seiner Lehre bleiben. — Die Heiligen rufen wir nicht an, weil sie Menschen gewesen sind, und wenn wir ih¬ nen im Glauben nachfolgen, sind wir so heilig wie sie, denn sie hat der Geist Gottes getrieben, wie uns, und wir sind Gottes Kinder gleichwie sie. Gott aber lehrt uns, alle Ab¬ goͤtterei zu verabscheuen.” Bald aber folgt eine Menge von Ungereimtheiten, in denen man vergebens einen Sinn sucht: „Du XVI Kreuz Vater, du stellst deine X auf die Dreieinigkeit, dann bleiben Dir drei 666, und den einen Menschen Christus, der 33 Jahre — 666 hier lebte, kreuzigst du, und weil du den Dreieini¬ gen kreuzigest, der 33 Jahre Mensch war (Offenbarung 13, V. 18) uͤber einander 3 \atop 3 , so sind es Gott Vater, Sohn und heiliger Geist 10 10 10 Heu Stroh Stoppeln. Mammala, wollen wir hahm gehen? Laß mich noch die Schmoͤlbel abbeißen, dann gehen wir hahm. Offenb. 11, V. 4; 11, V. 7. — Ausschluß Offenb. 11, V. 8. Verachtung von den anderen 11, V. 9. Ja wir haben sie gequaͤlet, daß sie das Wort rein lehren sollten, Kap. 11, V. 11. Große Furcht. Der zehnte Theil der Stadt faͤllt, siebzig Tausend werden er¬ schlagen durch Erdbeben; der Grund Ebnezar ist gelegt bereits schon 15 Jahre von meiner eigenen Hand in Karls Garten, worauf der Tempel kommt, Schaͤfergasse, Exercierhaus kommt in die beiden Anlagen, in den Mittelpunkt, die Stellung Mi¬ chaels. Die Mauern der Stadt werden eingerissen, die Thore bleiben stehen, im Thore die ganze Umgebung, viele Brunnen mit Bechern, damit die Wanderer trinken koͤnnen. Ich wohne im Hinterhaͤuschen, Orangenstraße Nr. 20 mit meiner Fami¬ lie” u. s. w. Wer vermoͤchte die wilde Empoͤrung zu schildern, in welcher W.'s Bewußtseyn sehr bald den letzten schwachen Zusammen¬ hang verlor, so daß nur einzelne Bruchstuͤcke seiner Aeußerun¬ gen in Wort und That, welche einiges Licht auf sein Inneres werfen, sich mittheilen lassen. Denn er selbst hat nur eine hoͤchst mangelhafte Erinnerung an Einzelnes wie aus einem wuͤsten, schweren Traum zuruͤckbehalten. Insbesondere erreichte seine Aufregung waͤhrend der schlaflos von ihm zugebrachten Naͤchte den hoͤchsten Grad; er weigerte sich, zu Bette zu ge¬ hen, forderte Tinte und Feder, um niederzuschreiben, was der Herr ihm eingegeben habe, stampfte aber dabei oft mit dem Fuße auf den Boden, und beschwerte sich daruͤber, daß der Teufel ihm hinderlich sey. Einmal forderte er dabei Milch zu trinken, verschuͤttete dieselbe, und bestand darauf, daß die Dielen noch in der Nacht gescheuert werden mußten. An ei¬ nem Morgen zeichnete er die Eisblumen am Fenster ab, und fragte, ob die Menschen so schoͤn zeichnen koͤnnten, wie der liebe Heiland. Mitunter war er in seiner verworrenen Bilder¬ jagd verloren, von der Außenwelt ganz abgewandt; dann aber brauste er, von irgend einer fanatischen Vorstellung ergriffen, in der groͤßten Heftigkeit auf. Bei einer solchen Gelegenheit zerschlug er eine Stahlfeder mit dem Buͤgeleisen, und rief da¬ bei aus: so sollen alle Menschen zermalmt werden. Nicht nur wollte er seine Frau aus dem Fenster (der Kellerwohnung) treiben, sondern er ging auch mit einem Messer bewaffnet auf seine Kinder los, um sie, wie Abraham den Isaak, zu ermor¬ den. Bekanntlich haben Fanatiker oft genug in rasender Ver¬ blendung dem Erzvater nachahmen zu muͤssen geglaubt, und lei¬ der ist mehrmals von ihnen die Moͤrderhand an geliebte Kinder gelegt worden. In diesem Falle ist der blutduͤrstige Entschluß wahrscheinlich nur das Ergebniß einer zufaͤlligen Ideenassociation gewesen, und mit ihr spurlos verschwunden. Endlich am Abende des 17. Maͤrz 1845, welchen er ohne zu arbeiten mit Dictiren zugebracht hatte, brach eine bis zur Wuth gesteigerte Tobsucht bei ihm aus; er zertruͤmmerte das Hausgeraͤth, zerschnitt die Betten, und zwischenher tanzte, pfiff, sang, trommelte er, und rief den aus Furcht entfliehenden Kindern zu: „rasch, rasch, jedem einen Kuß.” Eine große Beaͤngstigung noͤthigte ihn, sich die Kleider bis aufs Hemde abzureißen; dafuͤr umguͤrtete er sich den Unterleib mit einem Tischtuche, und umwickelte die Brust mit einem anderen Tuche so fest, daß ihm der Athem beklommen wurde. Er selbst hat von dieser Scene noch die Erinnerung, daß er zuerst einen Feuerlaͤrm zu hoͤren glaubte, welcher ihn beaͤngstigte, worauf er sich einbildete, mehrere Polizeibeamte staͤnden vor den ver¬ schlossenen Fensterlaͤden, um ihn durch die Ritzen derselben zu beobachten, welches ein anwesender Hausbewohner ihm durch Winken andeute. Indem nun die Furcht vor Verfolgung und Verhaftung, welche als symbolischer Ausdruck der sinnlosen Angst uͤberaus haͤufig den Ausbruch der Seelenkrankheiten be¬ gleitet, unsern W. befiel, riß er gewaltsam das Fenster auf, ergriff die Flucht, und rief uͤberlaut: Engelein kommt, Enge¬ lein kommt (um ihn zu beschuͤtzen). Barfuß, kaum mit ei¬ nem Hemde bekleidet, rannte er durch mehrere mit Eis und Schnee bedeckte Straßen, welches die Folge hatte, daß Mehrere Zehen von entzuͤndeten Frostbeulen befallen wurden, woran er in den naͤchsten Wochen sehr zu leiden hatte. Ver¬ gebens bemuͤhte sich seine Frau, ihn einzuholen, und erst meh¬ reren Soldaten einer nahe belegenen Wache gelang es, ihn fest¬ zuhalten und nach seiner Wohnung zuruͤckzufuͤhren, woselbst man ihn auf Stroh legte, seine Fuͤße mit einem Stricke zu¬ sammenband, um ihn am Davonlaufen zu verhindern. Am folgenden Tage erfolgte seine Versetzung in die Irrenabtheilung der Charité. Eine ins Einzelne gehende Schilderung des weiteren Ver¬ laufs seiner Krankheit waͤhrend der naͤchsten Wochen wuͤrde kein psychologisches Interesse gewaͤhren, da der sinnlose Rede¬ schwall der Tobsuͤchtigen gewoͤhnlich alles Zusammenhanges er¬ mangelt, und daher jede Deutung der ganz zuͤgellosen Ideen¬ associationen, welche sich in das zerrissene Bewußtseyn mit dem groͤßten Ungestuͤm draͤngen, voͤllig unmoͤglich macht. Zuweilen war W. in ein stilles Hinbruͤten versunken, und gab nur ab¬ gerissene Antworten auf vorgelegte Fragen; mehrere Tage und Naͤchte brachte er aber in der fuͤrchterlichsten Raserei zu, so daß sein uͤberlautes Bruͤllen in allen benachbarten Zimmern wiederhallte, und die Ruhe der andern Kranken auf das Em¬ pfindlichste stoͤrte. Indeß gelang es doch durch die Anwendung lauwarmer Baͤder mit kalten Uebergießungen, so wie durch gelinde Abfuͤhrungen, ihn nach wenigen Wochen so weit zu beruhigen, daß er nicht nur des Nachts einen erquickenden Schlaf fand, sondern auch am Tage keine auffallende Aufre¬ gung mehr wahrnehmen ließ, vielmehr allgemach an die Ord¬ nung des Hauses sich gewoͤhnte. Doch weigerte er sich nicht nur hartnaͤckig, an den uͤblichen geistigen und koͤrperlichen Be¬ schaͤftigungen Theil zu nehmen, sondern verrieth auch in den mit ihm gefuͤhrten Gespraͤchen eine voͤllig verkehrte Auffassung seines bisherigen Lebens, und wollte es namentlich nicht ein¬ raͤumen, daß er seine Erwerbthaͤtigkeit zu seinem und seiner Familie Schaden vernachlaͤssigt habe. Da waͤhrend der naͤchsten Monate die in Anwendung gesetzten Heilversuche zu keinem guͤnstigen Ergebniß fuͤhrten, so entschloß ich mich im Juni, ihm die Brechweinsteinsalbe in den kahl geschorenen Scheitel einreiben zu lassen, weil die da¬ durch erzeugte Hautentzuͤndung und Eiterung eins der kraͤf¬ tigsten Mittel ist, den in wahnsinnige Traͤume verlorenen Geist zum besonnenen Bewußtsein der Wirklichkeit zuruͤckzufuͤhren. Wirklich kehrte er bald darauf zu einiger Besinnung zuruͤck, und ließ sich nun bereitwillig uͤber alle seine bisherigen Irr¬ thuͤmer, namentlich uͤber die ihm so verderblich gewordene reli¬ gioͤse Schwaͤrmerei aufklaͤren, wodurch er nur in seinem Wi¬ derwillen gegen die Wiedertaͤufer bestaͤrkt werden konnte. Er begriff es, daß auch die Froͤmmigkeit in bestimmte Grenzen eingeschlossen werden muß, daß sie niemals den werkthaͤtigen Fleiß und die eifrige Erfuͤllung der Pflichten verbannen darf, welche der Mensch in seiner ganzen Lebensstellung nach allen Seiten hin uͤben muß, daß vielmehr gerade die Religion den staͤrksten Antrieb geben soll, den persoͤnlichen Beruf gewissen¬ haft zu erfuͤllen, und daß daher uͤbertriebene Andachtsuͤbun¬ gen, welche ganz heimlich eine sinnbethoͤrende Schwaͤrmerei ein¬ impfen, im offenbaren Widerspruche mit einer aͤchten, weil that¬ kraͤftigen Froͤmmigkeit stehen. Sein ganzes Betragen war mit dieser wieder gewonnenen richtigen Lebenserkenntniß in voller Uebereinstimmung, so daß sein fruͤherer tuͤchtiger Charakter sich durch Fleiß, Ordnungsliebe und sittliche Auffuͤhrung zu erken¬ nen gab. Ein leichter Ruhranfall wurde in kurzer Zeit ohne schlimme Folgen uͤberstanden, und so konnte er, an Seele und Leib voͤllig wieder genesen, zu Anfang des Octobers zu den Seinigen als liebevoller Gatte und Vater zuruͤckkehren. 3. W. , im Jahre 1810 in Berlin geboren, ist die Tochter eines Tischlermeisters, welcher mit Nahrungssorgen kaͤmpfend sich einen sehr ernsten Sinn angeeignet hatte, in fleißigen An¬ dachtsuͤbungen Trost suchte und fand, und daher auch sorg¬ faͤltig darauf bedacht war, bei seiner Tochter fruͤhzeitig eine gleiche Gesinnung anzuregen und zu erhalten. Er schickte sie daher schon vor dem 6ten Jahre in die Schule, und ließ sie haͤufig Kirchenlieder und fromme Spruͤche auswendig lernen, welche einen so tiefen Eindruck auf sie machten, daß sie sich recht wohl im Herzen fuͤhlte. Ihre fruͤhzeitig verstorbene Mut¬ ter wurde ihr sehr schlecht durch eine Stiefmutter ersetzt, wel¬ che sie bei jeder Gelegenheit mit Schimpfworten, ja mit Schlaͤ¬ gen mißhandelte, ja selbst ihren Vater gegen sie einnahm. In eine anhaltend truͤbe, schwermuͤthige Stimmung versetzt, so daß ihr die Welt wie eine Wuͤste vorkam, besaß sie doch so viele geistige Regsamkeit, daß sie gute Fortschritte im Schulunter¬ richte machte, und deshalb eine Freude am Lernen empfand, welche ein vorherrschender Zug in ihrem spaͤteren Leben geblie¬ ben ist. Denn aus eigenem Antriebe besuchte sie noch lange nach ihrer Einsegnung eine Sonntagsschule, selbst so viel es sich thun ließ in Dienstverhaͤltnissen, in welche sie nach dem Tode ihres Vaters eintreten mußte, obgleich sie mit man¬ nigfachen Koͤrperbeschwerden in Folge der vielen Entbehrungen und deprimirenden Gemuͤthszustaͤnde zu kaͤmpfen hatte, wovon sie durch aͤrztliche Huͤlfe nie ganz befreit wurde, weil die Ur¬ sachen fortdauerten. Sie war mit habitueller Hartleibigkeit geplagt, ihre Augen entzuͤndeten sich haͤufig in Folge des vie¬ len Weinens, und die Menstruation trat nur selten, ungenuͤ¬ gend und unter großen Beschwerden ein, namentlich litt sie dann an heftigen Kopfschmerzen, großer Angst und Herzklo¬ pfen, und wurde erst zum Theil davon befreit, als mit dem 23. Jahre die Menstruation zu voͤlliger Entwickelung kam. Nur einige Jahre brachte sie in Dienstverhaͤltnissen zu, weil ihr dieselben theils durch Anstrengungen uͤber das Maaß ihrer schwachen Kraͤfte, theils durch Rohheit und Unsittlichkeit in manchen Familien verleidet wurden, z. B. in einer Schenke, wo sie den brutalen Liebkosungen der Gaͤste sich oft durch die Flucht entziehen mußte. Mit Abscheu gegen solche Auftritte erfuͤllt, nahm sie Unterricht bei einem Schneider, um sich durch weibliche Handarbeiten eine aͤußere Selbststaͤndigkeit zu errin¬ gen, und ergab sich bei einem sehr eingezogenen Leben haͤufig den inbruͤnstigsten Andachtsuͤbungen zum Troste fuͤr viele bittere Erfahrungen uͤber die Schlechtigkeit der meisten Menschen, mit denen sie in naͤhere Beruͤhrung kam, wie denn auch ihr Ver¬ such, ein freundschaftliches Verhaͤltniß mit einigen jungen Maͤd¬ chen zu knuͤpfen, an der Leichtfertigkeit, Luͤsternheit und Schmaͤhsucht derselben scheiterte. Es kam mit ihr schon damals bei ihren erbaulichen Betrachtungen so weit, daß sie die Naͤhe des Erloͤsers als eines steten Begleiters zu spuͤren glaubte, und daß sie, in ascetischer Selbstpruͤfung sich mit unverdienten Selbstanklagen beschwerend, in dem durch ihre Beklommenheit veranlaßten Herzklopfen eine Bestaͤtigung des Liederverses zu finden meinte: „Er klopfet fuͤr und fuͤr so stark an unsres Her¬ zens Thuͤr.” Im erzwungenen Ernst einer schon damals exaltirten Stimmung empfand sie selbst fuͤr die unschuldigen Jugendfreuden so wenig Sympathie mehr, daß sie in heiteren geselligen Kreisen ihren bangen Gefuͤhlen durch Weinen Luft machen mußte, und daß sie die Werbung eines jungen Mannes um ihre Hand entschieden zuruͤckwies. Sie beschaͤftigte sich so eifrig mit den Aufgaben aus der Sonntagsschule und mit weiblichen Arbeiten, daß ihr gar keine Zeit zur Erholung blieb, und die karge Kost, mit welcher sie sich bei duͤrftigem Erwerbe begnuͤgen mußte, wirkte dazu mit, daß sie sich in koͤrperlicher Beziehung sehr unwohl befand. Nach anhaltender religioͤser Erregung begierig, ergriff sie jede Gelegenheit, dieselbe in sich zu wecken und zu unterhalten, daher sie nicht nur sehr haͤufig die Kirche und pietistische Ver¬ sammlungen besuchte, sondern sich auch eine Menge frommer Spruͤche einpraͤgte. Sie glaubte nun erst zur Erkenntniß der Wahrheit gelangt, gleichsam aus dem Seelenschlafe der Welt¬ leute erwacht zu sein, und es uͤberkam sie dabei eine so große Freudigkeit, daß sie oft auf die Worte der Predigten gar nicht mehr hoͤrte, sondern bei dem Namen Jesu jedesmal in sich wiederholte: „ich halte dich, ich lasse dich nicht”. Sie erzaͤhlt ferner: „ich hatte mich zu jener Zeit ganz entschieden im Her¬ zen gegen Gott erklaͤrt: nimm mich nur hin, und fuͤhre mich durch die Welt, wie es dem Heilande und dir gefaͤllt, und so uͤbergebe ich mich dem Herrn, nicht halb, nicht dreiviertel, son¬ dern ganz.” Indeß der muͤhsam errungene Friede ihres Her¬ zens wurde bald wieder gestoͤrt durch die Lectuͤre jener fanatisch mystischen Traktaͤtlein, welche schon so viele Verwirrung und Finsterniß in die Koͤpfe, so viele Gewissensangst oder schwaͤr¬ merische Exaltation in die Gemuͤther gebracht haben. Nament¬ lich forderte ein solches Traktaͤtlein sie zu jener rigoristischen Selbstpruͤfung auf, welche bei reizbarer Schwaͤche des Charak¬ ters eine tiefe Erschuͤtterung des moralischen Gefuͤhls nur allzu¬ leicht herbeifuͤhrt, und durch erregten Zwiespalt im Herzen oft genug die Kraft des Willens bricht. So geschah es auch bei der W., welche in großer Beklemmung mehrere Naͤchte schlaflos zubrachte, und auch an den Tagen keine Ruhe fand, daher schon damals (im Fruͤhlinge 1832) die ersten Erscheinungen des Wahnsinns, gleichsam ein fernes Wetterleuchten aus dunstig schwuͤlem Himmel, hervortraten. Denn als die W. an einem Abende, nachdem sie am Schlusse der Arbeit in einem fremden Hause von den Bewohnern desselben sich mit der Aeußerung verabschiedete, sie werde wegen großer Koͤrperschwaͤche schwerlich wiederkommen, tief bekuͤmmert nach ihrer Wohnung zuruͤckkehrte, schaute sie auf der Straße zum Himmel auf, und erblickte das Abendmahl des Herrn, welches er mit seinen Juͤngern am Ti¬ sche sitzend feierte. Unter diesem Bilde waren mehrere Linien gezogen, welche ihrer Meinung nach bedeuteten, daß die Glau¬ bensstufen der Menschen nach dem Grade ihrer Froͤmmigkeit ver¬ schieden seien. Diese Vision war unstreitig aus dem tief gefuͤhlten Beduͤrfnisse einer hoͤheren sittlichen Laͤuterung entsprungen, wel¬ che mit eigener Kraft vollbringen zu koͤnnen sie nicht hoffte, daher sie von der Nothwendigkeit, der Gnade Gottes durch das Sacrament theilhaftig zu werden, durchdrungen war, und des¬ halb in jenem Bilde die Verklaͤrung des Abendmahls erblickte, wie es beim leiblichen Genusse auf Erden zugleich mit frommer Erhebung in den Himmel gefeiert werden muͤsse. Dennoch war ihr so viel Reflexion geblieben, daß sie daruͤber erstaunte, wie sie gleichzeitig in einen traͤumenden Zustand versetzt sein, und dennoch wach auf der Straße wandeln koͤnne; indeß konnte eine solche objective Dialektik fuͤr sie, welche mit ganz anderen Interessen beschaͤftigt war, keine große Bedeutung haben. Nach schlafloser Nacht besuchte sie am unmittelbar darauf folgenden Himmelfahrtstage die Kirche, wo sie aber, ganz er¬ fuͤllt vom maͤchtigen Gefuͤhlsdrange, kaum auf die Predigt hoͤrte. Ihr vorherrschender Gedanke muß die Nothwendigkeit einer Gna¬ denwirkung Gottes durch die Sacramente und ihre hohe Be¬ duͤrftigkeit derselben gewesen sein, denn ploͤtzlich vernahm sie in ihrem Herzen einen maͤchtigen Ruf: „du bist ein Jude, und mußt getauft werden.” Sie erschrak daruͤber heftig, weil sie nicht wußte, was sie dabei denken, und wie die Taufe nochmals an ihr vollzogen werden solle; dennoch sah sie sich unwillkuͤrlich nach dem Taufstein um. Nach Fassung ringend, erinnerte sie sich an das Vorbild von Christus, welcher gehor¬ sam war bis zum Tode am Kreuze. Ganz erfuͤllt von diesem Gedanken erblickte sie auf dem Ruͤckwege nach Hause den Hei¬ land, wie er aufgefahren ist, sitzend zur Rechten Gottes; aber sein Haupt war geneigt, und sah sehr leidend aus, wobei sie sich dachte, ohne Heiligung wird Niemand den Herrn sehen. Beide Visionen waren von sehr kurzer Dauer, so daß sie keine genauere Aufmerksamkeit darauf richten konnte; jedoch erinnert sie sich namentlich die beim Abendmahl versammelten Juͤnger deutlich unterschieden zu haben, wobei ihre Phantasie wahr¬ scheinlich das bekannte Bild von Leonardo da Vinci reprodu¬ cirte. Sie hielt die Visionen fuͤr ein von Gott ihr offenbartes Geheimniß, welches zur Staͤrkung ihres Glaubens dienen solle, und sie fuͤhlte sich deshalb in eine so seelige Stimmung ver¬ setzt, daß sie dieselbe gegen keine Guͤter der Welt vertauscht haͤtte. Ihren immer staͤrker hervortretenden Glaubenseifer suchte sie im Jahre 1836 dadurch zu bethaͤtigen, daß sie an jedem Sonntag-Morgen mehrere junge Maͤdchen, oft 12 an der Zahl, um sich versammelte, sie zuerst einige Verse aus dem Gesang¬ buche singen ließ, hierauf mit ihnen betete, ein Kapitel aus der Bibel vorlas, uͤber welches sie die Kinder katechisirte, zum Schlusse wieder einige Verse singen ließ, worauf sie jene ver¬ abschiedete, um selbst in die Kirche zu gehen. Es sollen da¬ mals mehrere solcher Versammlungen unter dem Namen der Sonntags-Kindervereine gehalten worden sein, bis die Behoͤr¬ den aus leicht begreiflichen Gruͤnden dagegen einschritten. Die W. empfand indeß so vielen Geschmack am Unterrichte, daß sie sich von dem Vorsteher ihrer Sonntagsschule ein Empfehlungs¬ schreiben an einen Schuldirector verschaffte, welcher fuͤr kuͤnftige Lehrerinnen Vortraͤge uͤber Paͤdagogik, Didaktik und Kirchen¬ geschichte hielt, denen sie mit großem Eifer beiwohnte, obgleich dabei wahrscheinlich ihr Fassungsvermoͤgen uͤberboten wurde. Mit angestrengtem Fleiße bemuͤhte sie sich, das Gehoͤrte schrift¬ lich auszuarbeiten, wobei sie zwar viele Schwierigkeiten zu uͤber¬ winden hatte, aber zugleich eine innige Freudigkeit empfand, weil sie fuͤr eine, ihrem lebendigsten Interesse so ganz entspre¬ chende Wirksamkeit sich auszubilden hoffte, und eben deshalb sich sehr kuͤmmerlich behalf, weil sie ihre Erwerbsthaͤtigkeit bis auf die dringendsten Beduͤrfnisse einschraͤnkte. Gleichzeitig las sie mehrere paͤdagogische Schriften, suchte mit Schulamts-Can¬ didaten in naͤhere Beruͤhrung zu kommen, und bot mit einem Worte Alles auf, um selbst Lehrerin zu werden. Im Jahre 1841 wohnte sie bei einer Altlutheranerin, welche ihren Glauben als den allein seelig machenden pries, und dabei hinzufuͤgte, daß Alle, welche nicht denselben theilten, verdammt werden wuͤrden. Ein oft zum Besuch einsprechender gleichgesinnter Schuhmachergeselle sprach wiederholt im fanati¬ schen Eifer das heftigste Anathema gegen die Wiedertaͤufer aus, von denen er sagte, sie gingen in Engelsgestalt umher, aber hinter ihnen sei der Teufel. Von beiden mehrmals zum Be¬ such des altlutherischen Gottesdienstes aufgefordert, entschloß sie sich endlich, einmal an demselben Theil zu nehmen. Der dabei gehaltene Vortrag bezog sich auf einen aͤrgerlichen Auftritt in einer kleinen Provinzialstadt, woselbst der Poͤbel die Fenster des Bet¬ saals der Altlutheraner eingeworfen hatte, nachdem ihnen vom Magistrate die Austheilung des Abendmahls nach ihrem Ritus untersagt worden war. Der Redner hielt uͤber jenes Ereigniß eine donnernde Predigt, in welcher er den goͤttlichen Zorn auf die Stoͤrer des altlutherischen Cultus herabrief. Die fanati¬ schen Exclamationen jenes Mannes empoͤrten die W. in ihrem Innern, da sie in ihnen, gleichwie in den lieblosen Urtheilen des Schuhmachers nur eine hoͤchst unchristliche Gesinnung er¬ blicken konnte, und sie wies daher entschieden die Einladung zu ferneren Besuchen jener Versammlung zuruͤck, in welcher ihr eine so gehaͤssige Gesinnung entgegengetreten war. Ja sie fand sogar in der Verdaͤchtigung der Wiedertaͤufer eine in¬ directe Apologie derselben, und sie beschloß daher, letztere kennen zu lernen, um sich ein sicheres Urtheil hieruͤber zu bilden. Sie wurde von denselben mit großer Zuvorkommenheit aufgenom¬ men, in welcher sie zwar einige Verstellung wahrzunehmen glaubte; indeß da die Andachtsuͤbungen derselben ihrer Sinnes¬ weise im Allgemeinen zusagten, so beschloß sie, an denselben Theil zu nehmen, wobei sie indeß den Besuch der evangeli¬ schen Kirchen nicht versaͤumte. Ihre gelegentliche Erwaͤhnung, daß fruͤher eine innere Stimme ihr zugerufen habe, sie sei eine Juͤdin, und muͤsse getauft werden, gab dem Vorsteher der Secte Veranlassung, in einem Vortrage auf die Nothwendigkeit der Wiedertaufe hinzudeuten, wogegen sie aber eifrig opponirte, und zugleich bemerkte, damals wuͤrde sie sich wohl dazu entschlossen haben, jetzt aber nicht mehr; und in ihrem Innern sagte sie sich, daß die Wiedertaͤufer keinen Anspruch darauf haͤtten, sich fuͤr froͤm¬ mer, als die anderen Christen zu halten. Man vermied es sorgfaͤltig, sie durch Widerspruch zu erbittern, und als sie in ihre Wohnung zuruͤckkehren wollte, gesellte sich ihr ein Mit¬ glied der Gemeinde als Begleiter zu, welcher ihr unterweges sagte, die evangelischen Christen seien in Bezug auf die Taufe insgesammt Betruͤger und Betrogene, indem er zugleich aus der an Christus im Jordan vollzogenen Taufe die Nothwen¬ digkeit ihrer Wiederholung zu beweisen sich bemuͤhte. Die W. erwiederte hierauf zwar: was nutzt dies Alles, wenn Christus nicht im Herzen wohnt; indeß wurde ihr dabei unheimlich, und sie fuͤhlte sich so aufgeregt, daß sie im Bette ein Kni¬ stern und Klappern hoͤrte und die peinliche Stimmung fuͤr die Folge einer von den Wiedertaͤufern ausgeuͤbten Einwirkung auf sie hielt. Doch fuͤhlte sie noch einen lebhaften Muth des Widerstandes, und ungewiß, welchen Vorsatz sie fassen solle, und Gott um seinen Beistand anflehend, wollte sie ihren Ent¬ schluß von einer Fuͤgung des Himmels abhaͤngig machen, in¬ dem sie sich vornahm, die Lehrstunden der Anabaptisten nur dann wieder zu besuchen, wenn sie nicht durch die Aufforde¬ rung zu irgend einer bestimmten Arbeit davon zuruͤckgehalten wuͤrde. Da ein solches Hinderniß nicht eintrat, so begab sie sich wieder in die naͤchste Lehrstunde, in welcher unstreitig mit besonderer Beziehung auf sie alle Stellen des Neuen Testa¬ ments vorgelesen wurden, in welchen der an mehreren Perso¬ nen vollzogenen Taufe Erwaͤhnung geschieht. Sie empfand dabei ein wahres Grauen, wie wenn sie sich am Rande eines Abgrundes befaͤnde, oder eine schwere Nacht ihr bevorstaͤnde, suchte sich aber zu fassen, zumal da sie vorher Gott angefleht hatte, sie vor Streit zu bewahren, weil sie ihre Geneigtheit dazu kannte. Nach der Verlesung jener Bibelstellen erging die Einladung an die Versammlung: wer etwas dagegen ein¬ zuwenden habe, moͤge hervortreten. Dadurch fuͤhlte sie sich veranlaßt, ihre erste Erklaͤrung zu wiederholen: fruͤher waͤre sie vielleicht zur Taufe zu bewegen gewesen, jetzt nicht mehr. Sie mußte hierauf die Bemerkung hoͤren: wenn nur erst der eigene Wille gebrochen waͤre, dann wuͤrde es schon anders werden; indeß in ihrem freudigen Glaubenseifer fuͤhlte sie sich dadurch keineswegs eingeschuͤchtert. Mehrere Anwesende um¬ ringten sie darauf, und sprachen liebkosend zu ihr: „ach, Sie wollen ja doch den Herrn lieben, entschließen Sie sich doch dazu.” Dieser Auftritt kam ihr kindisch und laͤcherlich vor; und als ihr emphatisch gesagt worden war: „Nichts koͤnnen, Nichts wissen, Nichts wollen, Nichts thun, als Jesu folgen muͤssen, das heißt in Freuden ruhn”, sah sie sich genoͤthigt zu der Erklaͤrung: „Und wenn Jemand zwanzigmal getauft wird, so hilft ihm dies Nichts, wenn sein Herz nicht anders wird.” Man suchte sie durch allerhand sophistische Redewen¬ dungen in Verlegenheit zu setzen; namentlich bemerkte einer der Anwesenden gegen sie: „Sie wollen es nicht gut haben, nicht zu dem Herrn gelangen”, worauf sie ihm erwiederte: „Sie sind nicht allwissend.” Ferner nahm derselbe in seinen Anspruͤchen an sie einen sehr pathetischen, dominirenden Ton an, so daß sie nochmals zu der Erklaͤrung sich genoͤthigt sah, sie lasse sich nicht zwingen. Einen tiefen Eindruck machte es aber auf sie, als einer der Anwesenden ihre Hand ergriff, und sie stark an seine Brust druͤckte; denn es war ihr, als ob ihr Geist im Innersten getroffen wuͤrde. Indem sie zur Thuͤre hinausging, rief man ihr nach, sie werde keine Ruhe haben; jedoch sie empfand eine große Freudigkeit im Gemuͤth. Aber es sollte bald anders kommen, da ein ihren fruͤhe¬ ren mystischen Contemplationen nur allzu nahe verwandter Geist der Schwaͤrmerei sie schon im Innersten ergriffen hatte. Am naͤchsten Pfingsttage hoͤrte sie eine evangelische Predigt, deren wesentlicher Inhalt so von ihr aufgefaßt wurde, daß eine wuͤrdige Feier jenes Festes begangen werde, wenn Christen sich versammelten, um sich auf ihren allerheiligsten Glauben zu er¬ bauen. Die W. war kurz zuvor von den Wiedertaͤufern ein¬ geladen worden, einem am zweiten Pfingstabende zu begehen¬ den Liebesmahle beizuwohnen, empfand aber dabei eine große Bedenklichkeit, weshalb sie nur darauf erwiedern konnte: so Gott will. Jene Pfingstpredigt wurde ihr aber um so mehr eine Aufforderung, an dem Liebesmahle Theil zu nehmen, als auch eine Frau, gegen welche sie ihre Zweifel geaͤußert hatte, ihr erwiederte, sie wuͤrde durch das Ausbleiben eine Suͤnde begehen. Sie begab sich daher zur bezeichneten Stunde auf den Weg, fuͤhlte sich aber in einem hohen Grade betroffen, als ihr eine innere Stimme zurief, sie werde gefangen genom¬ men werden. Schnell entschlossen umzukehren, empfand sie zu ihrer großen Bestuͤrzung einen unwiderstehlichen Zug nach dem Versammlungshause der Wiedertaͤufer, so daß ihr Inneres ein wahrer Kampfplatz widerstreitender Antriebe wurde, welche ih¬ rer Meinung nach von aussen in sie eingedrungen waren. In diesem Spiel contrastirender Gefuͤhle sprach sich unstreitig das ohnmaͤchtige Ringen der Besonnenheit mit den unwiderstehli¬ chen Impulsen der Schwaͤrmerei aus, woruͤber sie so wenig in einem deutlichen Bewußtsein sich aufklaͤren konnte, daß ihr der ganze Vorgang in dem mystischen Lichte uͤbernatuͤrlicher Einwirkungen erschien. Das Liebesmahl selbst wurde durch Gesang unter Begleitung einer Violine und eines Fortepiano's eroͤffnet, und es folgte darauf der Genuß von Kuchen und Thee, waͤhrend eine freiere Unterhaltung sich entspann, bei welcher man besonders ihre fruͤheren Erlebnisse auszuspaͤhen suchte. Sie war nun schon dergestalt befangen in ihren neuen Gefuͤhlsregungen, daß sie wenigstens an diesem Abende eine große Seeligkeit empfand. In aͤhnlicher Weise freudig erregt war sie an einem spaͤteren Feste, wo die Kinder der Ana¬ baptisten der versammelten Gemeinde vorgestellt, und unter Gesang und Gebet unter Auflegung der Haͤnde gesegnet wur¬ den. Wirklich mochte diese Scene einen idyllisch patriarcha¬ lischen Charakter angenommen haben. Indeß so leicht konnte ihre bisherige Gemuͤthsrichtung, in welche sie sich seit vielen Jahren mit Eifer und Anstren¬ gung hineingelebt hatte, nicht in eine neue verwandelt wer¬ den, um so mehr, als sie sich durchaus keine Rechenschaft daruͤber geben konnte, welche Neuerungen in ihr vorgehen sollten. Denn die oft gehoͤrte Behauptung, daß nur der Ri¬ tus der Wiedertaufe zur Seeligkeit fuͤhren koͤnne, stand mit ihrer bisherigen Denkweise in einem allzu schroffen Wider¬ spruch, welcher durch keine Gruͤnde entkraͤftet wurde. Sie setzte noch eine Zeit lang in den Lehrstunden ihre Polemik ge¬ gen die Wiedertaͤufer fort, legte ihnen Fragen vor, um sie zu pruͤfen, worauf ihr keine andere Antwort wurde, als: sie sei in Suͤnden befangen. Jedoch ihre Dialektik hielt bessern Stand gegen die aͤußeren Bekehrungsversuche, als gegen die in ih¬ rem Innern immer staͤrker heranwachsende Macht der Schwaͤr¬ merei, welche sich ihr unter dem Gefuͤhle der schon fruͤher em¬ pfundenen unwiderstehlichen Anziehungskraft beurkundete. Sie konnte nicht wegbleiben, wie sie selbst gesteht, und wurde im¬ mer mit Liebkosungen uͤberhaͤuft. Schon konnte sie daher einem heftigen inneren Kampfe nicht mehr ausweichen, dem sie besonders in den Abendstunden bis tief in die Nacht aus¬ gesetzt war, so daß sie zwischen Zweifeln der mannigfachsten Art schwankend, ob sie nicht durch die Wiedertaufe eine schwere Schuld auf sich lade, inbruͤnstig zu Gott um Erleuchtung flehte uͤber das, was sie thun solle. Nach ihrer Erklaͤrung war dies eine sehr schwere Zeit, welche uͤberstanden zu haben sie Gott innig dankt. Wiederum ging aus ihrer schwaͤrmerischen Erregung eine seltsame Vision hervor. Als sie naͤmlich eines Abends nach heftigen inneren Kaͤmpfen sich zur Ruhe begeben hatte, er¬ schien ihr das vollstaͤndige Bild einer Anabaptistin, welche be¬ sonders angelegentlich sie zum Uebertritt in ihre Secte zu be¬ wegen gesucht hatte. Erschreckt rief die W. dem Phantom beschwoͤrend zu: wir glauben Alle an einen Gott, und sah hierauf, wie jenes mit ernster Miene den Kopf zuruͤckneigte, und dabei ihr pantomimisch Stillschweigen gebot. Je weniger sie sich uͤber die Bedeutung dieser Vision Rechenschaft geben konnte, um so mehr fuͤhlte sie sich von einer daͤmonischen Macht beherrscht, und es kam ihr vor, als sei ihr von der neuen Secte es als eine Buͤrde auferlegt worden, daß man IdeIer uͤber d. rel. Wahnsinn. 5 dem Herrn Gehorsam leisten solle. In ihrem ganzen Wesen empfand sie ein Ruͤtteln und Schuͤtteln, als ob das bisheri¬ ge kirchliche Wesen ganz aus ihr herausgerissen wuͤrde. Durch alles dies wurde ihr Widerstreben gegen die Anabaptisten mit jedem Tage verringert, und sie fing schon an, den neuen Taufritus mit Scheingruͤnden vor sich zu rechtfertigen. Aus der Kirchengeschichte war ihr bekannt, daß in den ersten christ¬ lichen Gemeinden keine Wiedertaufe vollzogen wurde; daher schien ihr der erste Ritus ganz gerechtfertigt, und wenn sie auch noch nicht ganz und unbedingt zu den Anabaptisten sich zu bekehren entschlossen war, so glaubte sie doch von der Wie¬ dertaufe als einem dem Abendmahle nicht unaͤhnlichen Sacra¬ mente Gebrauch machen zu duͤrfen. Endlich wurde ihr Be¬ denken durch die Erwaͤgung beseitigt, daß die neue Secte als eine von der Obrigkeit geduldete nicht ganz verwerflich sein koͤnne. Zuletzt schloß sie mit ihren Zweifeln ab, indem sie sich sagte, sie wolle sich nicht taufen lassen, um damit erken¬ nen zu geben, das sie zum Lichte erwacht, und dadurch heils¬ begierig geworden sei, sondern um den von ihr geforderten strengen Gehorsam zu beweisen. Als sie endlich einem Gemein¬ demitgliede ihren Entschluß mittheilte, erhielt sie zur Antwort, nun endlich habe der Herr ihr den Teufel ausgetrieben, und ihre Geburtsstunde habe geschlagen. Diese Worte mißfielen ihr sehr, aber sie war schon zu sehr umstrickt, als daß sie noch haͤtte zuruͤcktreten koͤnnen. Dennoch ruhte der Widerspruchsgeist in ihr nicht, denn als von ihr gefordert wurde, sie muͤsse nun dem Besuche der uͤbrigen Kirchen entsagen, nahm sie sich bestimmt das Gegen¬ theil vor. Auch konnte sie bei Gelegenheit einer Katechisation, welche von mehreren Sectenmitgliedern zur Pruͤfung ihres Glaubens mit ihr unternommen wurde, nicht der Bemerkung sich erwehren, daß jene der Selbsterkenntniß in einem hohen Grade ermangelten. Besonders straͤubte sie in ihrem Innern sich dagegen, daß die Taufe schon in den naͤchsten Tagen an ihr vollzogen werden solle, da sie gern noch eine zweijaͤhrige Zeit zur Vorbereitung gewonnen haͤtte; indeß sie wagte keinen Widerspruch einzulegen, vielmehr fuͤhlte sie sich so ergriffen, daß sie sich der Aeußerung nicht enthalten konnte, sie betrachte die Wiedertaufe als ein Werkzeug Gottes, um dessen vor neun Jahren an sie ergangenen Ruf, sich taufen zu lassen, in Er¬ fuͤllung zu bringen. Am 26. Juni in den Morgenstunden wurde sie vor einem Thore an das Spreeufer gefuͤhrt, woselbst die Taufe auf aͤhnliche Weise wie im vorigen Falle an ihr vollzogen wurde. Sie befand sich dabei in einer ekstatischen Stimmung, welche selbst ein leibliches Wohlbehagen hervor¬ brachte, als ob sie auf das Schoͤnste gesalbt in einem weichen Bette sich befinde. Eine innere Stimme rief ihr zu, sie sei nun vom boͤsen Gewissen befreit; und mit dem weißen Tauf¬ zeuge bekleidet, war es ihr, als ob sie Christus gleich einem heiligen Gewande angelegt habe. Ihre freudig erregte religioͤse Stimmung machte indeß bald ganz anderen Gefuͤhlen Platz, da sie in fortwaͤhrende Haͤndel mit ihren neuen Glaubensgenossen gerieth, von denen mehrere eine nur allzu unlautere Gesinnung hegten, obgleich sie sich selbst in hochmuͤthiger Selbstverblendung bei jeder Ge¬ legenheit eine Gemeinde von Heiligen nannten. Schon in den naͤchsten Tagen richteten zwei Wiedertaͤuferinnen bei einem Besuche in ihrer Wohnung im Namen der Gemeinde die For¬ derung an sie, daß sie ihr Hausgeraͤth verkaufen, und zu ei¬ ner von ihnen beiden ziehen sollte, und entgegneten mit uͤbel verhehlter Heftigkeit auf ihre bestimmte Weigerung, daß ihr Herz sich noch nicht vom Irdischen losgerissen habe. Offenbar lag hierbei eine habsuͤchtige Intrigue zum Grunde, da andere Mitglieder der W. die bestimmte Versicherung gaben, daß jene nicht im Auftrage der Gemeinde gehandelt haͤtten. Da sie, einmal aus ihrer Taͤuschung erwacht, sehr bald den hoffaͤhrti¬ gen, streitsuͤchtigen, gebieterischen Sinn Mehrerer bemerkte, so wurde sie in ihrem sittlich durchgebildeten Gemuͤthe bald an ihren neuen Glaubensgenossen irre, welche sie nicht mehr fuͤr wahre Christen halten konnte. Sie nahm sich daher vor, im Stillen zu beobachten, und vermied es besonders, an den Klaͤtschereien Theil zu nehmen, in denen sich Mehrere gegen¬ seitig anschwaͤrzten, um nicht in boͤse Haͤndel verwickelt zu werden. Man suchte sie vergeblich uͤber ihre Hausgenossen auszuforschen, da ihr ein solches Spioniren verhaßt war, und sie zog sich dadurch ein unverkennbares Uebelwollen zu. Mit 5 * diesen steten Kraͤnkungen ihres sittlichen Gefuͤhls vereinigten sich bald eine Menge von Wahrnehmungen, welche eben so sehr ihren religioͤsen Sinn verletzen mußten. Es mißfiel ihr, daß vor dem Genuß des Abendmahls die Theilnehmer an demselben eine oͤffentliche Buße ablegen mußten, wobei es ihr nicht entging, daß diejenigen, welche eine große Zerknirschung des Herzens zeigten, sich das groͤßte Ansehen erwarben, daher sie hierin nur eine heuchlerische Gaukelei sehen konnte. Es empoͤrte sie, als die lasterhaften Verirrungen einiger Neuauf¬ genommenen fuͤr die Folgen des Besuchs evangelischer Kirchen erklaͤrt wurden; sie wurde zu Spott und Verachtung angeregt, als ein verstaͤndiger Mann, welchen man vergebens zum Ein¬ tritt in den Bund aufgefordert hatte, ihr erzaͤhlte, daß meh¬ rere Mitglieder ihren blinden Eifer, ihn eines Besseren zu be¬ lehren, durch eine kauderwaͤlsche Saalbaderei uͤber religioͤse Gegenstaͤnde bethaͤtigt hatten. Durch die Kanzelvortraͤge fuͤhlte sie sich so wenig erbaut, daß sie dieselben in das eine Ohr hinein, aus dem andern wieder hinausgehen ließ. Oft kam es auch zu Glaubensstreitigkeiten, wo sie mit Haͤrte zur Ruhe verwiesen wurde, wenn sie Ansichten aͤußerte, welche mit den in der Gemeinde angenommenen nicht uͤbereinstimmten. Nicht nur wurde durch dies alles ein wahrer Glaubens¬ zwang auf sie ausgeuͤbt, von welchem sich zu befreien sie sich zu schwach fuͤhlte, so daß sie gar nicht aus einem Widerstreite ihrer besseren Gefuͤhle herauskam, sondern sie mußte auch of¬ fenbare Eingriffe in ihre persoͤnlichen Rechte erfahren, gegen welche sie sich nur mit Muͤhe vertheidigen konnte. Sie wurde auf Grund absichtlicher Verleumdung der Faulheit beschuldigt, und man wollte sie zwingen, bei einer Tapisseriearbeiterin in Dienst zu treten, wozu sie sich auch wirklich auf einige Zeit bewegen ließ; sie sollte uͤber Alles Rechenschaft ablegen, na¬ mentlich auch uͤber ihr kuͤmmerlich erspartes Geld, indeß wußte sie sich diesem Ansinnen zu entziehen. Ein junges Maͤdchen wollte in den Bund mit der unverkennbaren Absicht eintre¬ ten, dadurch Gelegenheit zu einer Verheirathung zu finden. Die W., welche eine solche Absicht mißbilligte, wurde beschul¬ digt, daß sie eine Veraͤchterin der Ehe sei, welche sie nur aus der richtigen Wuͤrdigung ihrer unguͤnstigen Lage vermie¬ den hatte, um nicht mit einer vielleicht zahlreichen Familie in Noth zu gerathen. Einen besonders widerwaͤrtigen Eindruck machte es auf sie, daß bei dieser wie bei vielen anderen Ge¬ legenheiten, auf Drohungen und Strafreden bald Liebkosun¬ gen und Schmeicheleien folgten, und ihr namentlich das Gluͤck der Ehe in der unverkennbaren Absicht gepriesen wurde, sie fuͤr einen fanatischen Seidenwirkergesellen zu gewinnen, wel¬ cher ihr in einer hoͤchst laͤcherlichen Gestalt erschien. Ungeach¬ tet er ein ganz unwissender, roher Mensch war, hatte er es doch uͤbernommen, mehrere Kinder im Glauben der Wieder¬ taͤufer zu unterweisen, wobei er sich so ungeschickt benahm, daß die Kinder, anstatt die aufgegebenen Bibelverse zu lernen, und seine kauderwaͤlsche Erklaͤrung derselben anzuhoͤren, durch¬ einander laͤrmten und tobten. Die W., welche aufgefordert wurde, ihm Beistand zu leisten, sonderte die Maͤdchen von den Knaben ab, und wußte erstere zur Aufmerksamkeit und zum stillen Fleiße zu bewegen. Hieruͤber gab es aber einen neuen Streit, weil jener Geselle von ihr verlangte, daß sie gemeinschaftlich mit ihm Unterricht ertheilen solle. Nicht wenig wurde sie in ihren Ansichten, welche sie sich uͤber ihre Glaubensgenossen bilden mußte, durch zwei Redner bestaͤrkt, deren einer, ein Hamburger Wiedertaͤufer, laut seine Mißbilligung uͤber die in der hiesigen Gemeinde herrschende Zwietracht aussprach. Um so tieferen Eindruck machte daher auf sie die Predigt eines hiesigen evangelischen Geistlichen uͤber den Frieden der christlichen Gesinnung. Ueber diesen Kirchenbesuch wurde sie von jenem Hamburger zur Rede gestellt, welcher ihr denselben als eine Versuͤndigung gegen ihre Gemeinde vorwarf. Als sie sich dagegen mit dem Grunde vertheidigte, daß das Anhoͤren einer christlichen Predigt un¬ moͤglich eine Suͤnde sein koͤnne, erwiederte er, sie habe bei der Aufnahme in den Bund der Wiedertaͤufer der evangelischen Kirche entsagt. Auf ihre entschiedene Erklaͤrung, daß sie dies nicht gethan, wußte er nur zu erwiedern, Gott habe sie dort¬ hin (in den Betsaal) gesetzt, damit sie diesen Platz einnehmen solle. Ueberhaupt redete er die Gemeinde in wiederholten Vor¬ traͤgen mit wahren Donnerworten an, und hielt die fuͤrchter¬ lichsten Strafgerichte uͤber die Suͤnden der Menschen. Ohne sich dadurch einschuͤchtern zu lassen, dachte die W. bei sich, mit dem Maaße, womit du missest, wirst du wieder gemessen werden; aus einer solchen Schule koͤnnen nur Pharisaͤer her¬ vorgehen. Nach einer uͤblichen Sitte wurden die in den Bund Aufzunehmenden von den aͤlteren Mitgliedern uͤber ihren Glau¬ ben gepruͤft, wobei man nach der Meinung der W. viel zu leichtfertig verfuhr, besonders als einmal 14 Personen sich der Gemeinde anschließen wollten, welche man nicht durch strenge Anforderungen zuruͤckschrecken durfte. Die W. richtete an eine der Anwesenden die Frage, wodurch sie seelig zu werden hoffe, und sah sich genoͤthigt, deren Behauptung, daß dies allein durch die Wiedertaufe geschehen koͤnne, mit der Bemerkung zu widersprechen, daß eine aͤußerliche Handlung nicht eine sol¬ che Kraft besitzen koͤnne, womit sie zugleich die Weigerung aussprach, durch Aufhebung der Haͤnde ihre Zustimmung zu der Aufnahme jener Personen zu geben, weil sie dieselben viel zu wenig kenne, als daß sie ein Urtheil uͤber dieselben faͤllen koͤnne. Durch diese freisinnigen Aeußerungen zog sie sich eine Menge von Schmaͤhungen zu, deren Bitterkeit sie noͤthigte, sich zuruͤckzuziehen. Unter jenen Neuaufgenommenen fand sie indeß bald ei¬ nen Gleichgesinnten, einen Schneider, welcher zwar Anfangs sehr erbaut uͤber die Froͤmmigkeit der Wiedertaͤufer schien, dem aber bald die Augen uͤber den wahren Charakter derselben aufgingen, nachdem die W. Gelegenheit gefunden hatte, sich gegen Verleumdungen bei ihm zu rechtfertigen, welche eine neidische Anabaptistin wider sie ausgesprengt hatte. Ein zu ihrem Bunde uͤbergetretener Zuckersiedergehuͤlfe hatte im blinden Bekehrungseifer seine Mitgesellen, denen er ihren Unglauben vorwarf, dergestalt gegen die Wiedertaͤufer aufgebracht, daß sie am Himmelfahrtsfeste 1842 sich in einer unter dem Betsaale gelegenen Schenke versammelten, wo sie, von Branntwein er¬ hitzt, durch den Gesang der Wiedertaͤufer zu einer offenen De¬ monstration gegen dieselben herausgefordert wurden. Sie drangen daher in den Betsaal ein, unterbrachen zuerst den begonnenen Vortrag durch ein lautes Murren, hierauf durch den heftigen Ruf: Halt, Halt! und warfen sich endlich, als der Redner sich nicht stoͤren ließ, mit funkelnden Augen und zornigen Gebaͤrden auf ihn, um ihn von dem Katheder herab¬ zureißen und mit Schlaͤgen zu mißhandeln. Es entstand ein fuͤrchterlicher Tumult, der Katheder und die Baͤnke wurden zerbrochen, und so war das Signal zu einer allgemeinen Schlaͤ¬ gerei gegeben, welche damit endete, daß der wilde Haufe sich gegenseitig von der Treppe herabwarf. An allen Gliedern zit¬ ternd, entfloh die W. noch unangefochten; aber natuͤrlich em¬ pfand sie kein Verlangen, sich der Gemeinde sobald wieder anzuschließen, zumal da sie durch jenen Vorgang so tief er¬ schuͤttert wurde, daß sie sich mehrere Tage sehr leidend befand. Durch ihr Ausbleiben zog sie sich aber wieder mannigfache Schmaͤhungen zu, sie habe die Gemeinde feige verlassen, und sich kreuzesscheu gezeigt. Jener Schneider, welcher sie auf ihrer Flucht begleitet hatte, warf sich zu ihrer Vertheidigung auf, daß sie als eine Schwache nicht habe Widerstand leisten koͤnnen, fand aber so wenig Gehoͤr, daß er empoͤrt uͤber viel¬ fach erlebte Schlechtigkeiten einzelner Sectenmitglieder, an ei¬ nem der naͤchsten Abende, als man ihn zum Gebet aufforderte, in die Worte ausbrach: „Herr, treibe die Falschheit aus der Gemeinde aus!” Allgemeine Bestuͤrzung verbreitete sich in der Versammlung, welche Anfangs unfaͤhig war, den auf sie ge¬ worfenen strengen Tadel zuruͤckzuweisen. Bald aber entspann sich ein heftiger Streit, in welchem der Schneider mehrere der angezettelten Intriguen aufdeckte. Es wuͤrde zu weit fuͤhren, alle aͤrgerlichen Auftritte, welche eine natuͤrliche Folge davon waren, zu erzaͤhlen; sie lassen sich nach dem bisher Mitgetheil¬ ten leicht errathen, da eine unter heuchlerischer Froͤmmigkeit versteckte niedrige Gesinnung in ihrer ganzen Haͤßlichkeit her¬ vortritt, wenn ihr der Schleier abgerissen wird. Die W., welche niemals durch ein inniges Vertrauen an ihre Glaubensgenossen gefesselt war, konnte sich durch alle diese Vorgaͤnge nur immer mehr zuruͤckgestoßen fuͤhlen. Im¬ mer lebendiger wurde in ihr die Ueberzeugung, daß man ih¬ ren wahren Glauben angefeindet, daß man sie von Gott los¬ gerissen habe, um ihr ganz falsche Satzungen aufzudringen, daß der Gemeinde nur die Schwachen am Geiste willkommen seien, welche sich wie eine Schaafheerde willenlos leiten lie¬ ßen; namentlich hatte sie einen der Angesehensten in Verdacht, worauf auch die Aeußerungen einiger Mitglieder hindeuteten, daß er sich fuͤr einen wahren Messias ausgeben wolle. Sie aͤußerte daher geradezu gegen ihn, sie wisse nicht, ob sie ver¬ rathen oder verkauft sei, da sie sich uͤberall von Hinterlist umstrickt saͤhe, deshalb bete sie eifrig zu Gott um Beistand und Erleuchtung uͤber ihr wahres Seelenheil. Ja sie aͤußerte ganz bestimmt, daß ihr durch die Unlauterkeit des anabaptisti¬ schen Gottesdienstes die Religion zuletzt ganz zuwider gewor¬ den sei; und wenn man hierbei ihre ganze geistige Richtung von Kindheit an ins Auge faßt, so kann es wohl mit keinem staͤrkeren Ausdrucke bezeichnet werden, daß sie damals mit ih¬ rem heiligsten Interesse ganz zerfallen war. Seit einer Reihe von Jahren war sie also in Widerstreit mit ihrer fruͤheren Denkweise und Gesinnung gekommen, und gleichsam in einer Aufloͤsung ihrer Seelenverfassung begriffen, anstatt in folge¬ rechter Entwickelung derselben fortzuschreiten, daher denn ein solcher Zustand nicht fortdauern konnte, sondern auf irgend eine Weise einen gaͤnzlichen Umschwung erfahren mußte. Sie fuͤhlte dies auch so gut, daß sie mehrmals auf dem Punkte stand, sich von den Wiedertaͤufern loszureißen; indeß der alle schwaͤrmerischen Secten beherrschende fanatische Geist hielt sie noch viel zu fest umstrickt, als daß sie zu einem festen Ent¬ schlusse kommen konnte, und da mehrere Mitglieder dasselbe von sich aussagten, so sah sie sich gefangen in einer fremden Macht. Besser war es ihrem Freunde, dem Schneider, gelungen, welcher, als er durch den Beschluß von 14 Stimmen excom¬ municirt worden war, und nicht einmal die Namen seiner Gegner erfahren konnte, hiervon Veranlassung nahm, fuͤr im¬ mer aus dem Bunde zu scheiden. Indeß diente das fernere Verbleiben unter den Wiedertaͤufern nur dazu, die W. immer mehr gegen dieselben zu empoͤren, indem sie bei mannigfachen Gelegenheiten die Beweise arger Heuchelei erhielt. Den oͤf¬ fentlichen Suͤndenbekenntnissen folgte oft ein Ausbruch frivoler Gesinnung; wirkliche Forderungen des Christenthums, z. B. daß man dem Schuldigen verzeihen solle, wurden geradezu als unausfuͤhrbar verspottet; haͤufig wurde das Gewissen durch neue Satzungen beschwert, z. B. durch Aufforderungen zum Fasten, zur Theilnahme an willkuͤrlich angestellten Festen. Als die W. sich dawider mit den Worten erklaͤrte, sie muͤsse nach ihrem Gewissen handeln, wurde ihr die Antwort zu Theil: „ach was Gewissen, man muß dem Geiste folgen”, wobei man nicht undeutlich zu verstehen gab, die Vorsteher seien die Verwalter der Geheimnisse Gottes. Insbesondere wurde der unausgesetzte Besuch der fast alltaͤglichen Versammlungen zur strengen Pflicht gemacht, welcher die W. nicht nachleben konnte, da sie ihrem Erwerbe nachgehen mußte. Ja, um die schwachen Gemuͤther noch mehr zu aͤngstigen, wurden uͤber die Abtruͤnnigen, welche man gleichsam dem Satan uͤbergab, schwere Fluͤche und Verwuͤnschungen ausgesprochen, wobei der W., wie sie sich ausdruͤckt, oft die Haare zu Berge standen. Wenn sie uͤber alles Erlebte ganz irre an sich geworden war, und um Belehrung bat, so wurden ihr so schwankende Ant¬ worten ertheilt, daß sie in immer groͤßere Verwirrung gerieth. Auch koͤrperlich war sie stets sehr leidend, wozu außer den fortwaͤhrenden Gemuͤthsunruhen insbesondere angestrengte weibliche Arbeiten bei sitzender Lebensweise und der uͤbermaͤßige Genuß des Kaffee's bei einer sehr mangelhaften und ungere¬ gelten Ernaͤhrung beitrugen. Vornaͤmlich war sie von hart¬ naͤckigen Leibesverstopfungen geplagt, welche gelegentlich mit Durchfaͤllen wechselten; zugleich litt sie noch an anderen Un¬ terleibsbeschwerden, welche wesentlich dazu beitrugen, ihre Ge¬ muͤthsunruhe und geistige Befangenheit zu verschlimmern. Ei¬ nen sehr hohen Grad erreichten diese laͤstigen Zufaͤlle im Spaͤt¬ herbste 1844, wo sie in einem ungeheizten Zimmer sehr aͤmsig mit Naͤhen und anderen Handarbeiten beschaͤftigt war. Sie fuͤhlte sich sehr matt und angegriffen, raffte sich zwar immer wieder auf, und suchte sich selbst durch Spaziergaͤnge zu er¬ muntern, wurde indeß gewahr, daß ihre Krankheit mit jedem Monate zunahm. Als sie endlich genoͤthigt war, das Bett zu huͤten, ließ sie eine Frau M. bitten, ihr Huͤlfe zu leisten, welche sogleich beim Eintreten von dem Tode ihrer Mutter zu reden anfing, und dabei nicht undeutlich zu verstehen gab, daß die W. gleichfalls lebensgefaͤhrlich krank sei. Bald darauf traten drei Maͤnner ins Zimmer (vielleicht nur eine Sinnes¬ taͤuschung der W.), unter denen einer beim Leichenbegaͤngnisse ihrer Stiefmutter zugegen gewesen war, an welche sie dadurch schmerzlich erinnert wurde. Grauen erregende Bilder aus der Vergangenheit gesellten sich zu den peinlichen Gefuͤhlen, welche durch jene Frau erweckt waren, und um ihre Stimmung noch krankhafter aufzuregen, quaͤlte einer der Anwesenden sie mit einem fanatischen Bekehrungseifer, als ob sie, dem Tode nahe, erst des wahren Glaubens theilhaftig werden muͤsse, und hielt unaufgefordert lange Gebete fuͤr ihr Seelenheil. Als jene Maͤnner sie verlassen hatten, fiel sie in eine wahre Erschoͤ¬ pfung, und sie war noch am Abende, als ein Wiedertaͤufer sie besuchte, so betaͤubt, daß sie denselben Anfangs gar nicht kannte. Auf seine Veranstaltung uͤbernahmen einige Wieder¬ taͤuferinnen abwechselnd ihre Pflege waͤhrend der naͤchsten Tage, und erst als ihre Krankheit sich in die Laͤnge zog, blieben jene aus, so daß sie sich sehr verlassen fuͤhlte. Ihrer Huͤlfslosigkeit sich bewußt, empfand sie eine große Erbitterung gegen die Wie¬ dertaͤufer, welche die Krankenpflege zu einer Hauptangelegen¬ heit ihres Bundes machten, und dieselbe auch wirklich in ei¬ nem ziemlich ausgedehnten Maaße ausgeuͤbt zu haben scheinen. Die Entruͤstung der W. gegen sie muß daher aus ihrer schon damals beginnenden Geistesverwirrung entschuldigt werden, da sie wirklich uͤbertriebene Forderungen an jene richtete. Inzwischen wuchs ihre Krankheit mit jedem Tage, und dieselbe scheint damals einen fieberhaften Charakter angenom¬ men zu haben, denn sie litt an starker Hitze, heftigen Kopf¬ schmerzen, großer Angst auf der Brust, waͤhrend die hart¬ naͤckige Leibesverstopfung fortdauerte, und eine stete Uebelkeit und starke Neigung zum Erbrechen sich hinzugesellte. Noch war ihre Besinnung nicht ganz geschwunden, und sie wurde daher durch die endlose Geschwaͤtzigkeit der M., deren Huͤlfe sie wieder in Anspruch nehmen mußte, so sehr geplagt, daß sie selbst uͤble Folgen davon befuͤrchtete, und sie wiederholt zum Schweigen aufforderte. Jene Frau benutzte ihre Schwaͤ¬ che, ihr mancherlei Kleinigkeiten abzuschwatzen, so daß sie vor deren Habsucht in steter Furcht war, und den wahrscheinlich nicht ungegruͤndeten Verdacht hegte, jene warte nur auf ih¬ ren Tod, um sich Manches von ihrer Habe anzueignen. Da¬ bei raubte sie ihr durch Schwatzhaftigkeit immer wieder die noͤthige Ruhe, peinigte sie geradezu durch scandaloͤse Erzaͤh¬ lungen, und uͤbergab waͤhrend ihrer Abwesenheit einem Kinde die Aufsicht, welches durch zu starkes Heizen des eisernen Ofens nicht nur die Fieberhitze der W. bis zu einem uner¬ traͤglichen Grade steigerte, sondern ihr auch eine große Furcht vor Feuersbrunst einfloͤßte. Bei zunehmender Entkraͤftung stand sie daher eine große Angst aus; die Vorstellung des nahen Todes, welchen sie bis dahin nicht erwartet hatte, trat ihr immer lebendiger vor die Seele, indeß suchte sie sich daruͤber mit dem Gedanken zu troͤsten, daß sie mit dem Le¬ ben nicht viel verliere. Das vorherrschende Gefuͤhl blieb aber der Widerwille gegen die Wiedertaͤufer, von denen sie sich auf eine pflichtvergessene Weise verlassen glaubte. Allmaͤhlig fing ihr die deutliche Besinnung an zu schwinden, und es kam ihr vor, als ob sie in einer dunklen Hoͤhle liege, und dabei war ihr so graͤßlich zu Muthe, daß es sich gar nicht beschreiben ließ. Nur zuweilen schreckte sie aus ihrer Betaͤubung auf, und sie glaubte dann Zwiegespraͤche von mehreren Personen in ihrem Zimmer zu hoͤren, von denen sie indeß so wenig verstand, daß ihre Gedankenverwirrung dadurch noch vermehrt wurde. Dabei wurde ihr Schaamgefuͤhl durch die Anwesen¬ heit eines Mannes verletzt, und ein fortwaͤhrendes Getoͤse im Hause, wie wenn Thuͤren heftig zugeworfen wuͤrden, ver¬ muthlich eine Sinnestaͤuschung, erhielt sie in steter Unruhe. In wiefern es gegruͤndet sein mag, daß ein Anwesender sie fuͤr eine Abtruͤnnige von Gott erklaͤrt und zur Buße aufge¬ fordert habe, muß auf sich beruhen, wenn es auch viel wahr¬ scheinlicher ist, daß eine solche noch dunkel vor ihrer Seele schwebende Scene eine leere Ausgeburt ihrer Phantasie war, deren Schreckbilder aus dem finsteren Hintergrunde ihres Be¬ wußtseins hervortraten. Die Anwesenden erschienen ihr als zwei einander feindlich gesinnte Partheien, deren Unversoͤhn¬ lichkeit sie im innersten Herzen beklagte, und damit die Vor¬ stellung verband, wenn die Menschen nicht auf Erden in Frie¬ den zusammen lebten, so koͤnnten sie noch weniger in der Ewigkeit mit Gott versoͤhnt sein. Ja sie sah hierin eine wahre Versuchungsgeschichte, als ob der boͤse Feind mit ihr sein Spiel triebe, und ihre Schwaͤchen mißbrauchen wolle, und brach zuletzt in die Worte aus: der Teufel muß doch abziehen, er kann mir Nichts thun, meine Seele gehoͤrt Gott dem Herrn. In dem aͤrztlichen Zeugnisse, welches ihre Auf¬ nahme in die Charité bewirkte, wird hieruͤber bemerkt, sie habe geaͤußert, daß sie von Teufeln umschwaͤrmt und geschla¬ gen werde, und daß sie nur durch ihr eifriges Gebet Ruhe erlangt habe; zugleich sei ihr der Vorsteher der Wiedertaͤufer in einem hellen Punkte erschienen. Bei zunehmender Angst uͤber die vermeintlich boͤsen Absichten der Anwesenden und bei dem sehnsuͤchtigen Verlangen nach Befreiung von ihren Lei¬ den, dem niemals Genuͤge geleistet wurde, war es ihr zuletzt, als ob ihr der Odem ausgehe. Erst als Anstalten zu ihrem Transporte nach der Charité getroffen wurden, empfand sie Ruhe, als ob der boͤse Feind von ihr gewichen sei; aber na¬ tuͤrlich konnte bei der Groͤße ihres Seelen- und Koͤrperleidens diese Erleichterung nicht dauernd sein. Bei ihrer am 24. Februar 1845 erfolgten Aufnahme in die Irrenabtheilung befand sie sich wieder in großer Angst; sie erklaͤrte sich fuͤr eine schwere Suͤnderin, und glaubte Teufel um sich zu erblicken, welche sich ihrer bemaͤchtigen wollten. Die große Verworrenheit ihres Geistes gestattete kein fortge¬ setztes Gespraͤch mit ihr, und als sie spaͤter zu groͤßerer Ruhe und Besinnung zuruͤckgekehrt war, blieb nur eine dunkle Er¬ innerung an jene Wahnvorstellungen. Noch brachte sie die naͤchste Nacht in aͤußerster Unruhe zu, sprach viel von began¬ genen schweren Suͤnden, forderte Gebetbuͤcher, und war auch noch waͤhrend der naͤchsten Tage auf gleiche Weise in hohem Grade befangen und beklommen. Indeß unter der Anwen¬ dung von lauwarmen Baͤdern mit kalten Uebergießungen uͤber den Kopf und von gelinden Abfuͤhrungen trat bald eine auf¬ fallende Besserung ein; sie schlief in den Naͤchten sehr fest, wurde mit jedem Tage ruhiger, und schon im Verlaufe des naͤchsten Monats waren alle koͤrperlichen Beschwerden gaͤnzlich gewichen. Als sie uͤber ihren Zustand sich naͤher erklaͤren konnte, sprach sie es bestimmt aus, daß sie noch immer un¬ ter der despotischen Macht der Wiedertaͤufer zu stehen glaubte, wobei sie erwaͤhnte, daß sie Gott eifrig um Befreiung von der¬ selben angefleht habe. Es kamen hierbei die meisten oben mitgetheilten Thatsachen zur Sprache, wobei es sich offenbarte, daß es ihr gaͤnzlich an Kraft gebrach, sich jenem mystischen Einfluͤsse zu entziehen. Alle mystischen Regungen sind aber außerordentlich schwer zu unterdruͤcken, da sie sich ganz dem Gebiete der deutlichen Begriffe entziehen, und dennoch eine so große Gewalt uͤber die Seele ausuͤben, weil sie das Bewußt¬ sein dergestalt in Fesseln schlagen, daß die schaͤrfste Dialektik mit allen moͤglichen Pflicht- und Erfahrungsbegriffen nicht den geringsten Eindruck auf den ganz verdumpften Verstand macht. Ja die Mystik paralysirt geradezu die gesammte Denkkraft in einem solchen Grade, daß letztere kaum mehr bei voͤlligem Widerspruche der Vorstellungen der Nothwendigkeit ihrer Aus¬ gleichung inne wird, und hoͤchstens in kraftlosen Versuchen dazu ihre Ohnmacht erfaͤhrt. Unausgeglichene Widerspruͤche haben aber eine truͤbe, innerlich zerstoͤrende Gaͤhrung des Den¬ kens zur unvermeidlichen Folge, deren letzter Ausgang eine voͤl¬ lige Geistesverwirrung, naͤmlich eine gaͤnzliche Aufloͤsung des logischen Zusammenhangs alles Denkens sein muß. In die¬ sen Saͤtzen liegt die vollstaͤndige Erklaͤrung der unermeßlichen Macht, welche die fanatische Hierarchie bis auf den heutigen Tag uͤber das Menschengeschlecht ausgeuͤbt hat, einer Macht, welche schlechthin unbegreiflich sein muͤßte, da sie in absoluter Feindschaft mit allen menschlichen Gefuͤhlen und Bestrebungen, so wie mit den ewigen Wahrheiten der reinen Christuslehre, laͤngst von diesen heiligen Interessen im Bunde mit der Wis¬ senschaft und Vernunft vertilgt worden waͤre, wenn sie nicht in dem Dunkel mystischer Gefuͤhle eine fast unangreifbare Stel¬ lung behauptete, von welcher aus sie die Gemuͤther der un¬ aufgeklaͤrten Massen mit despotischer Gewalt beherrscht. Das Uebel ist daher weit schlimmer, als es dem Unkun¬ digen scheint, welcher sich durch solche Zustaͤnde leicht taͤuschen laͤßt, wenn ihnen nicht durch grelle Wahnvorstellungen ein auffallend verkehrtes Ansehen gegeben wird. Die Schwierig¬ keit des Heilverfahrens trat bei der W. in einem besonders hohen Grade hervor, da sie schon seit einer Reihe von Jah¬ ren vergebens gegen jene ihr Denken desorganisirende Macht einer fanatischen Mystik gerungen hatte, niemals uͤber ihre Zweifel aufgeklaͤrt wurde, und jeden Vorsatz, aus der Secte der Wiedertaͤufer auszuscheiden, scheitern sah. Was half es ihr, daß ihre fruͤheren tief gegruͤndeten religioͤsen Ueberzeugun¬ gen, ihr sittliches Gefuͤhl sich gegen letztere empoͤrten; sie hatte in dem stets contemplativen Charakter ihres geistigen Lebens zu sehr alle innere Haltung und Energie verloren, um noch irgend einen Schritt aus freier Selbstbestimmung thun zu koͤn¬ nen, obgleich ihr Nichts leichter gewesen waͤre, als die ent¬ schiedene Ruͤckkehr zur evangelischen Kirchengemeinde, wovon kein religioͤses, sittliches, politisches Gesetz sie zuruͤckhielt, ja wovon sie nicht den geringsten Nachtheil fuͤr ihre socialen Verhaͤltnisse zu befuͤrchten hatte. Aber sie war eben in ih¬ rem Innern paralysirt, und blieb sich dieser fuͤrchterlichen Gei¬ stessklaverei um so deutlicher bewußt, je mehr sie fruͤher nach einer freien und selbststaͤndigen Gestaltung ihres religioͤsen Be¬ wußtseins gerungen hatte. Ohne Uebertreibung kann man daher ihren damaligen Seelenzustand mit dem der kleinen Voͤ¬ gel vergleichen, welche nach einer bekannten Sage durch den Blick einer Klapperschlange dergestalt fascinirt werden, daß sie betaͤubt das einfache Rettungsmittel der Flucht vergessen, und ihrem Feinde in den Rachen fallen. Wahrscheinlich wuͤrden alle Bemuͤhungen, die W. zur vollen Besinnung und Geistesfreiheit zuruͤckzufuͤhren, ganz vergeblich gewesen sein, wenn nicht in ihr eine so große Sehnsucht nach Rettung, welche sie nicht aus eigenen Mitteln bewerkstelligen konnte, sich erhalten haͤtte, und wenn sie da¬ her nicht allen zu ihrer Heilung getroffenen Anordnungen so bereitwillig entgegengekommen waͤre. Sie war ein Muster des Fleißes, der Ordnungsliebe und des gesitteten Betragens uͤber¬ haupt, und nahm mit dem groͤßten Eifer an dem auf der Ir¬ renabtheilung eingefuͤhrten Unterricht Theil, welcher sowohl eine richtige Leitung des sittlichen und religioͤsen Bewußtseins der Kranken, als eine heilsame Bethaͤtigung ihres Verstandes mit nuͤtzlichen Kenntnissen zur Aufgabe hat. Freilich hielt es noch lange sehr schwer, sie uͤber ihr Inneres aufzuklaͤren, da sie durch eine solche Menge von Vorurtheilen und schiefen Be¬ griffen irre geleitet, und durch den unmittelbaren Angriff aus dieselben so leicht in eine schwaͤrmerische Stimmung versetzt wurde, in welcher sie die einfachsten Lehren falsch verstand, daß es eine Reihe von Monaten sehr zweifelhaft blieb, ob sie je wieder zur vollen Geistesfreiheit gelangen wuͤrde. Indeß sie war dem Einflusse der Wiedertaͤufer gaͤnzlich entruͤckt; sie empfand eine so tiefe Befriedigung bei der wiederholt gegebe¬ nen Versicherung, daß die vermeintliche Macht derselben uͤber sie lediglich in der Einbildung begruͤndet sei, eben weil diese Versicherung ihrem sehnsuͤchtigen Verlangen entsprach; nach vieljaͤhrigen Glaubensstreitigkeiten und Wirren fand sie endlich Frieden und Aufklaͤrung, welche mit ihrer fruͤheren Gesinnung und Denkweise uͤbereinstimmten, so daß ihr allmaͤhlig die Schup¬ pen von den Augen fielen, und sie im Laufe des Sommers immer mehr mit sich in Uebereinstimmung kam. Um indeß die Gewißheit zu erlangen, daß sie mit ihrer innersten Ueberzeu¬ gung in einem berichtigten Denken wieder einen festen Grund und Boden gefunden habe, wurde es nothwendig, ihr die Aufgabe zu stellen, daß sie die Ereignisse ihres bisherigen Le¬ bens ausfuͤhrlich schilderte, um zu zeigen, in welchem Sinne sie dieselben auffasse. Ihre Selbstbiographie fuͤllte nicht weni¬ ger als 12 eng geschriebene Bogen, enthielt zwar viel Ueber¬ fluͤssiges, war aber in einem so durchweg richtigen Urtheile uͤber alle Personen und Verhaͤltnisse, namentlich auch uͤber sich selbst gedacht, daß nicht laͤnger an ihrer vollstaͤndigen Wieder¬ herstellung gezweifelt werden konnte, zumal da in ihrem Ge¬ muͤthe schon seit langer Zeit der tiefste Friede und eine unge¬ truͤbte Heiterkeit waltete, und sie auch in koͤrperlicher Bezie¬ hung der vollsten Gesundheit sich erfreute. Daher konnte sie am 12. Januar 1846 unbedenklich als geheilt entlassen werden. 4. S ., im Jahre 1815 in Berlin geboren, ist die Toch¬ ter eines Faͤrbers, welcher durch den Verlust seines Vermoͤ¬ gens genoͤthigt wurde, sich nach einer kleinen Provinzialstadt uͤberzusiedeln, wo er aller Anstrengungen ungeachtet sich nicht aus großer Duͤrftigkeit emporarbeiten konnte, welche bei einer Schaar von 11 Kindern um so druͤckender von Allen empfun¬ den werden mußte. Dennoch herrschte in der Familie die in¬ nigste Eintracht als die treue Begleiterin reiner Sitte und red¬ lichen Fleißes. Unsere Kranke zeigte schon in fruͤher Kindheit eine große Schweigsamkeit, fuͤhrte ein von ihren Altersgenos¬ sen zuruͤckgezogenes Leben, weil ihr zarter, empfaͤnglicher Sinn durch die Vorstellung des haͤuslichen Elendes zeitig verduͤstert wurde, und sich auf den Ernst der Lebensbeduͤrfnisse richtete, so daß sie bereits im 10. Jahre bei der Fuͤhrung der haͤusli¬ chen Geschaͤfte und bei der Pflege ihrer Geschwister eine große Umsicht, Geschicklichkeit und Thaͤtigkeit entwickelte. Durch die haͤufigen Andachtsuͤbungen ihrer Aeltern wurde ihr religioͤses Gefuͤhl zeitig geweckt, und bei der stets herrschenden Noth bald in eine schwaͤrmerische Stimmung versetzt, welche sich um so leichter erklaͤrt, je mehr ihr zartes, leicht erregbares Gemuͤth von einer durch die geringfuͤgigsten Ereignisse verletzbaren Reiz¬ barkeit beherrscht wurde. Der Contrast ihres von den bitter¬ sten Leiden und Entbehrungen erfuͤllten Lebens mit der geisti¬ gen Erhebung durch jene Andachtsuͤbungen ließ sie letztere so lieb gewinnen, daß sie schon fruͤhzeitig in religioͤse Betrachtun¬ gen sich vertiefte, und eine wahre Sehnsucht nach der unmit¬ telbaren Anschauung Gottes und der Engel empfand, deren Herrlichkeit sie mit mannigfachen Bildern der Phantasie sich zu vergegenwaͤrtigen strebte. Mit jedem Jahre verschlimmerte sich die Lage ihrer Aeltern, so daß sie von hartherzigen Glaͤubigern ausgepluͤndert oft die druͤckendste Noth leiden mußten, welche fuͤr sie um so uner¬ traͤglicher war, da ihr sittlicher Charakter ihnen die schlimme Selbsthuͤlfe der Bettelei abschnitt. Wie haͤtte das weiche Ge¬ muͤth unsrer Kranken bei taͤglicher Theilnahme an den haͤrte¬ sten leiden nicht den letzten Rest von Heiterkeit und Neigung zur Geselligkeit einbuͤßen sollen? Sie wurde immer schweigsa¬ mer und menschenscheuer, und in dem Maaße, als unter dem steten Druck der haͤrtesten Drangsale ihre schwache Kraft er¬ lahmte, verlor sie allmaͤhlig die Neigung, im Hauswesen thaͤ¬ tig zu sein, da sie nur nach Trost im eifrigen Lesen von An¬ dachtsbuͤchern fand. Ihrer schwaͤrmerischen Stimmung ent¬ sprach vornaͤmlich die Erzaͤhlung von Heiligen und von Wun¬ dern, welche Gott an Frommen offenbarte, wodurch sich ihr das Reich der himmlischen Gnade eroͤffnete, welche so oft der groͤßten Noth unmittelbare Huͤlfe gebracht hat. Durch die Schilderung der Barmherzigkeit Gottes gegen Ungluͤckliche, womit ihre Aeltern sich so oft troͤsteten, gerieth sie in eksta¬ tisches Entzuͤcken, ihre Augen strahlten, ihre Lippen flossen von begeisterter Rede uͤber, und es ist bei dem schlichten Sinne ihrer Angehoͤrigen wenigstens verzeihlich, wenn sie in ihr einen wahren Engel zu erblicken glaubten. Wer mag berechnen, in wiefern sie dadurch die im weiblichen Herzen nie ganz schlummernde Eitelkeit bei unsrer Kranken weckten, und an¬ statt ihre Schwaͤrmerei durch weise Disciplin zu beschraͤnken, ihr durch die Vorstellung einer Bevorzugung bei Gott nur noch eine staͤrkere Gluth einhauchten, und somit den Ausbruch ihres spaͤteren Wahnsinns befoͤrderten? Unter diesen Bedingun¬ gen konnte der empfangene Religionsunterricht an ihrer Denk¬ weise nichts Wesentliches mehr aͤndern, denn der entschiedene Sinn eignet sich von allen aͤußeren Anregungen nur das an, was ihm zusagt, um sich gegen jede anderweitige Betrachtung hartnaͤckig zu verschließen. Obgleich ihre koͤrperliche Entwickelung unter den geschil¬ derten unguͤnstigen Bedingungen zuruͤckblieb, so litt sie doch nicht eben an hervorstechenden Krankheitszufaͤllen, außer daß sie eine Zeit lang vor dem im 18. Jahre erfolgten Eintritt ihrer Menstruation mit Anfaͤllen von Nachtwandeln behaftet war, welche sich aus der Ueberreizung des Nervensystems durch anhaltende Schwaͤrmerei bei unthaͤtiger Lebensweise um so leichter erklaͤren lassen, da aͤhnliche Erscheinungen bei jungen Maͤdchen, waͤhrend ihrer Pubertaͤtsentwickelung, nicht selten beobachtet werden. Auch verschwand das Nachtwandeln beim Beginnen der Menstruation, obgleich letztere nicht regelmaͤßig wiederkehrte. Statt dessen stellte sich jedoch etwas spaͤter ein Leiden ein, welches auf ihr Gemuͤth einen tiefen Eindruck machte. In Folge wiederholter Erkaͤltung entstand naͤmlich ohne andere schlimme Zufaͤlle jene eigenthuͤmliche, fast immer unheilbare Laͤhmung der Gesichtsnerven (auf der linken Seite), welche immer eine widrige Entstellung des Gesichts durch das Vertrocknen und Einschrumpfen der Wangenmuskeln zur Folge hat. Sie wurde in Berlin von einem beruͤhmten Arzte lange Zeit erfolglos behandelt, und behielt nun bleibend jene ab¬ schreckende Verunstaltung des Gesichts, welches auf der rech¬ ten Seite die Frische und Fuͤlle einer jugendlichen Wange, Ideler uͤber d. rel . Wahnsinn. 6 und auf der linken die duͤrren, verzerrten, mißfarbigen Run¬ zeln einer Greisin darbot. So scheiterte daher die letzte Hoff¬ nung, welche wohl in jedem jungfraͤulichen Herzen sich regt, daß die unverletzte Wohlgestalt einen Geliebten anlocken und zum dauernden Lebensbunde bewegen werde. Sie empfand diesen herben Verlust so schmerzlich, daß selbst ihr religioͤses Bewußtsein, der einzige Lichtpunkt in ihrem verduͤsterten Leben, sich verfinsterte. Nicht nur floh sie den Umgang mit andern Menschen fast gaͤnzlich, sondern im truͤben Sinnen gelangte sie auch zu der Ueberzeugung, daß Gott diese Strafe uͤber sie ver¬ haͤngt habe, weil sie die Heilswahrheiten sich nicht genug zu Herzen genommen habe, und in ihrem frommen Eifer zu lau gewesen sei. Natuͤrlich fand sie hierin den staͤrksten Antrieb, alles Andere uͤber anhaltende Andachtsuͤbungen zu versaͤumen; sie zog sich nicht nur von allen haͤuslichen Arbeiten gaͤnzlich zuruͤck, sondern bestrebte sich auch, den darbenden Aeltern aus der Bibel Trost zuzusprechen, als ob es außer inbruͤnstiger Froͤmmigkeit kein Mittel gebe, sich aus dringender Noth zu erretten, welche allein durch goͤttliche Gnadenwunder beseitigt werden koͤnne. Daß die weichherzigen Aeltern sich in voͤlliger Rathlosigkeit befanden, wie sie den irren Sinn der Tochter zur Besonnenheit zuruͤckleiten sollten, begreift sich leicht; ja als es einmal mit letzterer so weit gekommen war, wuͤrde selbst ein tuͤchtiger Seelenarzt in einer wohleingerichteten Irrenheilanstalt schwerlich noch Etwas auszurichten vermocht haben, da laͤngst alle Interessen, durch deren Bethaͤtigung nur noch das Ueber¬ maaß der Froͤmmigkeit in die richtigen Schranken hatte zuruͤck¬ gedraͤngt werden koͤnnen, im Herzen der Kranken erstickt waren. Aber es warteten ihrer noch viel haͤrtere Pruͤfungen, welche ihr Gemuͤth bis zu einer fruͤher ungekannten Tiefe in die furcht¬ barste Erschuͤtterung versetzen sollten. Waͤhrend sie nur noch in heißesten Gebeten lebte, um Gott gleichsam Gnade abzuringen, ertrank einer ihrer Bruͤder. Kurz vor dessen Beerdigung, de¬ ren Kosten nicht mehr zu erschwingen waren, confiscirten Ge¬ richtsdiener im Auftrage von Glaͤubigern die letzte Habe der ungluͤcklichen Aeltern, und nahmen, da sie kaum, noch Etwas von Werth vorfanden, einem andern Bruder seine besten Klei¬ der. Letzterer setzte sich dabei zur Wehre, weil er ohne jene die Leiche seines Bruders nicht zum Grabe begleiten konnte, gab indeß zuletzt mit schwerem Herzen nach, und oͤffnete hier¬ auf eine Grube, in welcher der Wintervorrath von Kartoffeln aufbewahrt wurde. Er fand sie saͤmmtlich verfault, und von Entsetzen uͤber alles fruͤhere Elend und uͤber bevorstehende grim¬ mige Noth ergriffen, gerieth er in die heftigste Wuth, und warf sich, nach Hause zuruͤckgekehrt, auf unsere Kranke und ihre Schwester, um beide zu ermorden. Nur die herbeieilen¬ den Aeltern konnten den Frevel verhindern, jedoch nicht die Wuth des Rasenden baͤndigen, welcher aus dem Hause ent¬ floh, mit einem Beile sich die Hand abhieb, und in Ketten gelegt werden mußte, in denen er bald darauf starb. Jeder Versuch, mit grellen Farben ein Gemaͤlde der groͤßten See¬ lennoth zu entwerfen, ist fast eine leichtsinnige Verhoͤhnung zu nennen; sie hat in ihrer Erscheinung fast die Majestaͤt des Unermeßlichen, welches keine beschauende Vorstellung umfaßt. Wir koͤnnen daher uͤber den damaligen Seelenzustand der S. nur so viel sagen, daß derselbe die Verzweiflung unter dem Schleier der Religion war, naͤmlich jene Todesangst, welche sich noch an den Glauben als den letzten Rettungsanker klam¬ mert, ohne jedoch inmitten der tobenden und verschlingenden Brandung des Lebens noch irgend eines klaren Gedankens, ei¬ nes beruhigten und befriedigten Gefuͤhls theilhaftig werden zu koͤnnen. Solche Zustaͤnde sind die der innerlichsten Zerruͤttung, deren schneidende Widerspruͤche sich erst durch die schreiendsten Dissonanzen, fuͤr welche die Sprache keine Bezeichnung, die Phantasie kein Bild mehr hat, und welche hoͤchstens noch die Musik mit ihren Tonfiguren ausdruͤckt, hindurchkaͤmpfen muͤs¬ sen, um uͤberhaupt erst die Fassung der Vorstellungen und Ge¬ fuͤhle zu irgend einer Form nach innerem Gesetz wieder moͤglich zu machen. Oft genug geht die Organisation der Seele nach einer solchen Verwuͤstung fuͤr das ganze kuͤnftige Erdenleben in voͤlliger Geistesverwirrung zu Grunde. Wenn die S. nicht auf diese Weise einer gaͤnzlichen Selbstvergessenheit zum Raube wurde, so verdankt sie dies allein ihrer tief gewurzelten Froͤm¬ migkeit, welche wohl erschuͤttert, aber nicht mehr vertilgt wer¬ den konnte. In ihr fand sie zuletzt doch die Kraft, sich aus der Betaͤubung und Erstarrung im heftigsten Schmerze wieder 6 * zu einem lebendigen Bewußtsein aufzurichten, wenn auch die Kluft, welche sie vom wirklichen Leben trennte, dadurch nur noch weiter geworden war. Denn wiederum erwachte in ihr mit erneuerter Staͤrke die Vorstellung, alle Noth sei von Gott deshalb uͤber sie verhaͤngt worden, weil ihr Gebet nicht inbruͤnstig genug, ihr Sinn noch nicht vollstaͤndig vom Irdischen abgelenkt gewesen sei. Deshalb weihte sie sich wo moͤglich noch mit groͤßerem Eifer ihren from¬ men Contemplationen, welche nach allen bisherigen Erlebnissen nun den voͤlligen Charakter des Wahnsinns annahmen. Denn je heißer ihr Verlangen wurde, in unmittelbare Gemeinschaft mit Gott zu treten, um so vollstaͤndiger mußte auch die Gluth ihrer Gefuͤhle das Bewußtsein dergestalt durchdringen, daß selbst der aͤußere Sinn nicht mehr dem physiologischen Gesetz der An¬ schauung gehorchte, sondern von der Außenwelt in das Reich des Uebernatuͤrlichen abschweifend in dessen Dunkel hineinstarrte, bis dasselbe von dem Glan e des selbstgeschaffenen Wahns er¬ hellt wurde. Nachdem sie Tage und Naͤchte im rastlosen Be¬ ten zugebracht, und sich dadurch in fieberhafte Aufregung ver¬ setzt hatte, erschien ihr Gott in strahlender Majestaͤt mit gnaͤ¬ digem Antlitz, um ihr die Gewißheit zu geben, daß er ihre Gebete erhoͤrt habe. Daß sie in dieser Vision eine untruͤgliche und unmittelbare Offenbarung Gottes erkennen zu muͤssen glaubte, bedarf nach allem Bisherigen wohl keines weiteren Beweises. Eine spaͤtere Christuserscheinung abgerechnet will sie fernere Vi¬ sionen nicht mehr gehabt haben, welches wohl darauf schließen laͤßt, daß die Entstehung derselben bei ihr nur unter der Be¬ dingung der furchtbarsten Gemuͤthserschuͤtterung durch jene Ka¬ tastrophe moͤglich war. Denn ein aͤhnlicher Seelenzustand kehrte nicht wieder, sondern es war nun ein entscheidender Wende¬ punkt in ihrem Leben eingetreten, wo mit der voͤlligen Ent¬ wickelung ihres Wahns auch eine gaͤnzliche Veraͤnderung der Gemuͤthsverfassung eintreten mußte. Bis dahin hatte sie mit der Kraft der Verzweiflung nach irgend einem Erweise der Gnade Gottes gerungen, und die Nichtbefriedigung ihrer hei¬ ßen Sehnsucht mußte dieselbe noch steigern. Jetzt war dieselbe im vollen Maaße durch die Erscheinung Gottes erfuͤllt, die fol¬ ternde Angst war fuͤr immer beschwichtigt, und es bedurfte nur des Hinblicks auf das im innern Sinn erfahrene und in le¬ bendigster Erinnerung festgehaltene Wunderzeichen, um den wan¬ kenden Muth mit frischem Eifer wieder aufzurichten. Ihr Sinn wandte sich daher so entschieden von der Wirklichkeit ab, daß sie fuͤr die Noth ihrer Aeltern kein Mitgefuͤhl mehr zeigte, denn sie glaubte schon einer inneren Seeligkeit theilhaftig geworden zu sein, welche selbst die dunkelsten Verhaͤltnisse des Lebens mit himmlischem Lichte uͤberstrahlte. Aber eben weil sie inner¬ lich beruhigt nicht mehr einen so leidenschaftlichen Drang nach fortgesetzten Andachtsuͤbungen empfand, gab sie wenigstens den Anforderungen der Aeltern, dieselben zu beschraͤnken, anschei¬ nend nach, und nahm selbst einen mechanischen Antheil an haͤuslichen Geschaͤften, wenn sie auch alles Interesse an densel¬ ben verloren hatte, und namentlich niemals bewogen werden konnte, die bisherige Uebertreibung ihrer Froͤmmigkeit als solche anzuerkennen. Indeß weit entfernt, daß diese scheinbare Ruͤckkehr zur Wirklichkeit durch Erweckung natuͤrlicher Neigungen einen wohl¬ thaͤtigen Einfluß auf sie haͤtte ausuͤben koͤnnen, wurde dadurch nur ein neuer Widerstreit in ihr aufgeregt, weil die Ueberzeu¬ gung, daß sie allein der Froͤmmigkeit sich weihen muͤsse, schon viel zu tief in ihr begruͤndet war, als daß dieselbe mit Nach¬ giebigkeit gegen die Forderungen der Aeltern sich noch haͤtte ver¬ einbaren lassen. Sie empfand daher eine lebhafte Unruhe, welche als Gewissenszweifel in ihr den Wahn heraufbeschworen, daß sie den Verlockungen des Satans ausgesetzt sei, durch wel¬ chen der Friede ihrer Seele gestoͤrt wuͤrde. Von neuem ent¬ brannte daher der fromme Eifer, den Versucher durch inbruͤn¬ stige Gebete und durch Geluͤbde eines Gott allein geweihten Le¬ bens von sich zuruͤckzuscheuchen, und es begreift sich leicht, daß Niemand von ununterbrochenen Andachtsuͤbungen sie mehr zu¬ ruͤckhalten konnte. Waͤre noch eine Verschlimmerung ihres Seelenzustandes moͤglich gewesen, so wuͤrde er dadurch bewirkt worden sein, daß eine froͤmmelnde Verwandte in Berlin, welche vermuthlich im Kreise anderer Betschwestern mit einer solchen Heiligen Parade machen wollte, sie zu sich ins Haus nahm, um sich zugleich ihrer Pflege bei eigener Kraͤnklichkeit zu bedienen. Daß in einer solchen pietistischen Umgebung nur noch andaͤchtige Herzensergießungen die Zeit unsrer Kranken erfuͤllten, begreift sich leicht. Inzwischen war sie, von ihrer Verwandtin huͤlflos gelassen, in die bitterste Noth gerathen, da sie an Erwerbsthaͤtigkeit nicht im Entferntesten dachte, son¬ dern die Ueberzeugung hegte, daß Gottes Gnade sie mit Klei¬ dern, Speisen, Wohnung und anderen Lebensbeduͤrfnissen zur Genuͤge versehen werde. So erregte sie die Aufmerksamkeit der Polizei, und da sie sich uͤber ihre Verhaͤltnisse nicht genuͤ¬ gend ausweisen konnte, wurde sie ins Gefaͤngniß gefuͤhrt. Hier mußte ihr frommer Sinn uͤber die aͤrgerlichen Gespraͤche des Gesindels, mit welchem sie zusammengesperrt war, in Entruͤ¬ stung gerathen, daher sie denn im Bekehrungseifer zur Buße und zum gottseeligen Wandel dringend ermahnte, sich aber nur bitteren Spott und Verhoͤhnung zuzog. Am 27. August 1843 erfolgte ihre Aufnahme in die Cha¬ rité, woselbst sie zuerst der Abtheilung fuͤr innere Kranke uͤber¬ wiesen wurde. Sie brachte daselbst ihre ganze Zeit mit Beten und Bibellesen zu, lag dabei Stunden lang auch bei Nacht in einer Ecke des Zimmers auf den Knieen, und weigerte sich hartnaͤckig, weibliche Arbeiten zu verrichten, indem sie sagte, sie muͤsse Gott dienen, denn es stehe geschrieben, betet ohne Unterlaß, der liebe Gott werde schon Arbeiter fuͤr sie finden. Allen Einwendungen und Aufforderungen setzte sie stets eine Menge falsch angewandter Bibelspruͤche entgegen, und gegen ihre fruͤher zaͤrtlich geliebte Mutter zeigte sie eine große Kaͤlte. Sie wurde daher auf die Irrenabtheilung verlegt, woselbst ihr Seelenzustand sich unter den naͤmlichen Erscheinungen darstellte. Unter anderem sagte sie noch aus, daß auch Christus das Haupt von einer Glorie umgeben, einmal waͤhrend ihres inbruͤnstigen Gebets zur Thuͤre hereingekommen sei, sich gegen sie verneigt habe, ohne jedoch ein Wort zu sprechen, und hierauf verschwun¬ den sei, daher es denn ihre Pflicht sei, sich ununterbrochenen Andachtsuͤbungen hinzugeben, um sich die ihr besonders wieder¬ fahrene goͤttliche Gnade zu erhalten, durch welche sie jeder Sorge fuͤr ihren Lebensunterhalt uͤberhoben sei, da diesen ihr zu verschaffen anderen Menschen obliege. Bei einer anderen Gelegenheit gab sie Folgendes an: einst habe sie in ihrem Bette gelegen, da sei ihr der Hals ploͤtzlich so zugeschnuͤrt worden, als wenn sie erdrosselt wuͤrde, welches Gefuͤhl so lange fortgedauert habe, bis sie „Herr Jesus” habe rufen koͤnnen. Hierauf habe sie sich erleichtert gefuͤhlt, und es sei ihr gewesen, als wenn Etwas vom Bette gesprungen waͤre, wobei es einen ordentlichen Knall gegeben haͤtte. Ja, fuhr sie fort, der boͤse Geist geht herum wie ein bruͤllender Loͤwe, und sucht Alles zu verschlin¬ gen. Bei einer anderen Veranlassung hatte sie eine vollstaͤn¬ dige Vision des Teufels, welcher nach ihrer Schilderung von der Groͤße eines Menschen sein, ein Horn auf dem Kopfe und eine Habichtsnase haben solle, und welcher oft ein bestaͤndiges Poltern vor der Thuͤre ihres Zimmers erregt habe. Merkwuͤr¬ dig ist auch noch ihre spaͤtere Aeußerung, sie hoffte, der Him¬ mel werde sich endlich durch ihr Gebet bewegen lassen, ihr ent¬ stellendes Kopfleiden zu beseitigen, gegen welches sie bisher bei Menschen vergeblich Huͤlfe gesucht habe. Es wuͤrde kein Interesse gewaͤhren, das ganz erfolglos in Anwendung gebrachte Heilverfahren zu schildern, welches bis zu ihrer im August des naͤchsten Jahres bewirkten Entlassung aus der Anstalt fortgesetzt wurde. Seit einer Reihe von Jah¬ ren war durch anhaltende religioͤse Schwaͤrmerei jedes andere natuͤrliche Gefuͤhl in ihrem Gemuͤth so vollstaͤndig unterdruͤckt worden, daß wenigstens in der angegebenen Zeit kein Umschwung seiner Thaͤtigkeit bewirkt werden konnte. Da jene Schwaͤrmerei zugleich in Theophanieen eine vollstaͤndige Rechtfertigung fuͤr den in mystischen Gruͤbeleien verdumpften Verstand der Kran¬ ken fand, so wurde hierdurch ein eben so wesentlicher Grund ihrer Unheilbarkeit bezeichnet. Nur in sofern ließ sich eine theil¬ weise Aenderung ihres Benehmens hervorrufeu, als sie wenig¬ stens von den unausgesetzten Andachtsuͤbungen abließ, und sich zu den uͤblichen weiblichen Beschaͤftigungen bequemte; auch war ihr Betragen im hoͤchsten Grade anstaͤndig, gesittet und fried¬ fertig. Aber ihr Verstand war zu tief in falsch verstandenen und uͤbelverdauten religioͤsen Begriffen verstrickt, und durch sie zu sehr aller Klarheit, Schaͤrfe und Folgerichtigkeit des Den¬ kens beraubt worden, als daß eine Berichtigung seiner Irr¬ thuͤmer haͤtte gelingen koͤnnen. Ihren Gespraͤchen war daher auch jene Eintoͤnigkeit der Vorstellungen eigen, welche wir fast immer antreffen, wenn mystische Gemuͤthsstimmung dem Be¬ wußtseyn ihre stereotypen Formeln eingepraͤgt hat, welche mit Ausschließung aller dialektischen Verstandesthaͤtigkeit auf einen engsten Kreis von Begriffen sich beschraͤnken. 5. M . , 28 Jahre alt, die Tochter eines Colonisten, mußte nach dem fruͤhzeitig erfolgten Tode ihrer Mutter das harte Loos erdulden, von zwei Stiefmuͤttern, deren erste durch Boͤsartig¬ keit sogar ihren Vater zur Ehescheidung noͤthigte, aͤußerst lieb¬ los, ja grausam behandelt zu werden. Als Probe dieser schlech¬ ten Erziehung mag es dienen, daß die M. schon als kleines Kind oft gezwungen wurde, auf der Wiese eines Nachbarn Gras fuͤr die Kuͤhe zu stehlen, und daß sie unbarmherzig ge¬ zuͤchtigt wurde, wenn sie entweder nicht Futter genug fuͤr die¬ selben brachte, oder wenn man ihr den Korb abgepfaͤndet hatte. Mit den kraͤnkendsten Schimpfworten uͤberschuͤttet, durfte sie sich kaum satt essen, und bei ihrem charakterlosen Vater fand sie gar keinen Schutz gegen diese Unbilden. Dennoch hatte die M. einen lebensfrohen Sinn, welcher bei Spielen mit Altersgenossen sich fuͤr alles haͤusliche Ungemach entschaͤ¬ digte, und da sie uͤberdies stets einer guten Gesundheit sich erfreute, so schritt ihre koͤrperliche Entwickelung ungehindert fort, so daß sie zu einer bluͤhenden und kraͤftigen Jungfrau heranwuchs. Eine Reihe von Jahren, welche sie nach erfolgter Ein¬ segnung als Dienstmaͤdchen in mehreren Haushaltungen auf dem Lande und in einer kleinen Stadt zubrachte, verstrich fuͤr sie unter sehr druͤckenden Verhaͤltnissen, da sie fast immer eine harte und kraͤnkende Behandlung, ja selbst bei geringfuͤgigen Veranlassungen zuweilen Schlaͤge erdulden mußte, so daß sie oft der Verzweiflung nahe war. Vielleicht liegt diesen Anga¬ ben von ihr eine theilweise Uebertreibung zum Grunde, wie sie denn auch wohl nicht von aller Schuld frei zu sprechen seyn mag; indeß nach laͤngerer Bekanntschaft mit ihr muß man ihr durchaus das Zeugniß geben, daß sie eine sanfte, friedliebende Gemuͤthsart besitzt, und daß sie durch Nichts Roh¬ heit der Sitten oder gar noch schlimmere Fehler verraͤth. Un¬ streitig ist der laͤngere Aufenthalt in einem Irrenhause ein ri¬ goroͤses Examen des Charakters, da die Kranken ihren Leidens¬ genossen gegenuͤber in einer Lage sich befinden, durch welche die verstecktesten Seiten ihres Herzens ans Licht kommen. Ih¬ rem Naturell ist uͤberdies eine heitere Freundlichkeit eigen, und sie versichert, daß sie nur zuweilen ganz niedergebeugt gewesen sei, wo sie dann Trost im Lesen der Bibel und einiger An¬ dachtsbuͤcher zu schoͤpfen suchte, weil ihr der Besuch der Kir¬ chen selten gestattet wurde. Erst als sie vor einigen Jahren sich nach Berlin uͤbersiedelte, gestaltete sich ihr aͤußeres Leben guͤnstiger, da sie in wechselnden Dienstverhaͤltnissen einer mensch¬ licheren Behandlung sich zu erfreuen hatte. Zuletzt (im Jahre 1845) war sie Magd bei einem hiesigen Posamentier, dessen naher Verwandter, ein Oberlehrer in einer hiesigen Schule, bei seinen haͤufigen Besuchen durch sein freundliches Beneh¬ men einen tiefen Eindruck auf sie machte, ungeachtet er nie in ein laͤngeres Gespraͤch mit ihr sich einließ, und noch weni¬ ger ihr eine besondere Aufmerksamkeit bewies. Sie bekennt selbst, daß sie sich nicht satt an ihn habe sehen koͤnnen, daß sie oft unwillkuͤrlich an ihn habe denken muͤssen, und daß in ihr der Wunsch aufgestiegen sei, seine Gattin zu werden, wenn sie sich auch selbst gesagt habe, daß er als Gelehrter weit uͤber ihren Stand sei. Kaum ein Vierteljahr hatte die M. Gelegenheit, ihn zu sehen, als seine Abreise nach Tyrol erfolgte, wo er durch den Sturz von einem Felsen sein Grab fand. Sie hatte bis da¬ hin ihr Geheimniß sorgfaͤltig in ihre Brust verschlossen, konnte sich aber des Gedankens nicht erwehren, daß sie als seine Gattin das hoͤchste Gluͤck genießen wuͤrde, befreit von aller Noth, welche sie bisher im reichlichsten Maaße erfahren zu haben meinte, daher sie sich stets einredete, sie sei zum Leiden geboren. In stets erregter Stimmung wurde sie fuͤr aͤußere Eindruͤcke ganz besonders empfaͤnglich; daher wurde sie eines Tages durch das mehrmalige Stillstehen einer Wanduhr hef¬ tig erschreckt, weil sie aus Aberglauben hierin die Ankuͤn¬ digung eines großen Ungluͤcks fand, und namentlich meinte, ihr Vater sei gestorben. Spaͤter, als sie die Nachricht von dem toͤdtlichen Sturze des Oberlehrers erhielt, glaubte sie es durch genaues Ausrechnen der Zeit herauszubringen, daß er¬ sterer genau mit dem Stillestehen der Uhr zusammentreffe. Sie hatte im alltaͤglichen Geleise des haͤuslichen Lebens schwerlich ein deutliches Bewußtsein von der Staͤrke ihrer Leidenschaft, welche von der einlaufenden Todesbotschaft toͤdtlich getroffen, sie mit Entsetzen erfuͤllte, wie denn der Mensch uͤberhaupt seine wahre Gesinnung erst in erschuͤtternden Katastrophen recht kennen lernt, in deren strenger Probe nur die aͤchten, natur¬ wahren Gefuͤhle, nicht aber die erkuͤnstelten, aͤußerlich ange¬ woͤhnten Empfindungen bestehen. Nicht nur zitterte sie wie in einem heftigen Fieberschauer, sondern sie sah auch in einer urploͤtzlichen Vision ein offenes Grab, und auf dessen Grunde einen Sarg, durch dessen geborstenen Deckel der Verstorbene sich aufrichtete. Waͤhrend der naͤchsten Stunden konnte sie sich gar nicht fassen und sammeln, und bei dem Wehklagen in der Familie glaubte sie unter die Erde sinken zu muͤssen. Noch kaͤmpfte ihre ruͤstige Natur gegen diesen Schlag an, und sie erlangte wenigstens so viele aͤußere Ruhe wieder, daß sie ihre Arbeiten, wenn auch mit großer Anstrengung und nur unvoll¬ staͤndig verrichten konnte. Aber schon trug sie den Entwicke¬ lungskeim einer Geisteskrankheit in sich, denn sie mußte im¬ merfort an den Verstorbenen denken, brach dabei haͤufig in Weinen aus, uͤber dessen Ursache befragt sie sich mit heftigem Kopfweh entschuldigte, und gerieth oft in die heftigste Angst. Wie stark schon damals ihre Selbsttaͤuschung war, geht beson¬ ders daraus hervor, daß sie hartnaͤckig die Ueberzeugung fest¬ hielt, der Verstorbene sei nur scheintodt gewesen, und werde gewiß wiederkehren. Sie gerieth daruͤber selbst mehrmals in Streit mit einer anderen Magd, welche sie eine Thoͤrin schalt, und ihr Schweigen gebot, ja sie ging so weit, gegen jene zu behaupten, der Verstorbene werde nicht nur wiederkehren, son¬ dern auch sie heirathen, worauf sie die kraͤnkende Bemerkung hoͤren mußte: „auf sie werde er auch gerade gewartet haben.” Begierig suchte sie die Zeitungen auf, welche jenen Ungluͤcks¬ fall berichtet hatten, konnte aber dadurch nur auf Augenblicke in ihrer widersprechenden Ueberzeugung irre gemacht werden, wie es denn uͤberhaupt oft genug sich ereignet, daß Geistes¬ kranke behaupten, man habe die Zeitungen umgedruckt, um sie zu taͤuschen. Ja ein von mir behandelter gemuͤthskranker Arzt behauptete hartnaͤckig, alle seine medizinischen Buͤcher seien von seinen Feinden umgedruckt worden, um ihn voͤllig irre zu leiten. Eben weil sie in hartnaͤckiger Selbsttaͤuschung die Ueber¬ zeugung festhielt, der Verstorbene werde wiederkehren, gelangte sie schon nach einigen Wochen wieder zu einer theilweisen Ruhe und selbst Freudigkeit. Unablaͤssig mit ihrem Liebeswahn be¬ schaͤftigt, nahm sie denselben sogar in ihre naͤchtlichen Traͤume hinuͤber, aus denen ihre Gefuͤhle neue Nahrung schoͤpften. Etwa 3 Wochen nach der erhaltenen Todesnachricht erschien ihr der Verstorbene im Traume ganz verhuͤllt mit einem grauen Man¬ tel, um seine Verwandten zu uͤberraschen, welche ihn aber mit der Erklaͤrung abwiesen, er sei es nicht. In einem zweiten Traume erblickte sie ihn, mit Stricken gebunden, sie mit star¬ ren Augen anschauend, und mit lahmen Schritten umherwan¬ kend, wobei die Anwesenden bemerkten, er werde nicht lange mehr leben. Im dritten Traume sah sie ihn am ganzen Leibe braun, wie mit Blut unterlaufen; sie sprach zu ihm, daß sie ihm die Kraͤnze zeigen wolle, welche sie geholt habe, worauf er erwiederte, sie muͤsse zuvor nach Tyrol zu ihm kommen. Zugleich kam es ihr vor, als ob er sie aus der Kuͤche abho¬ len wolle, woruͤber sie in Ohnmacht fiel, von ihm aber mit den Worten getroͤstet wurde: „Geniren Sie sich nicht, Sie sind ja bei mir gewesen, mit mir uͤber die Felsen gegangen.” Hierbei erwachte sie, sah um sich, glaubte ihn erblicken zu muͤssen, und fand namentlich in diesem Traume die Bestaͤti¬ gung dafuͤr, daß er nicht gestorben sei. Uebrigens hatte sie die Kraͤnze, welche sie ihm im Traume zeigen wollte, wirk¬ lich bei einem Gaͤrtner bestellt, um sie ihm bei seiner als nahe geglaubten Ankunft zum Empfang zu reichen. Es waren vier Kraͤnze, welche aus Vergißmeinnicht, Rosen, Myrthen und weißen Blumen gewunden uͤber ihre Bedeutung keinen Zweifel uͤbrig lassen; sie hatte fuͤr dieselben 1½ Thaler bezahlt, und erhielt sie eine Woche hindurch frisch im Wasser, ließ sie aber alsdann vertrocknen, als sie vergeblich auf seine Ankunft ge¬ harrt hatte. Zugleich glaubte sie, von ihrer bereits vor zwanzig Jahren verstorbenen Mutter sei ihre Ausstattung im Himmel besorgt worden, auch habe Gott ihren Lebenswandel gesehen, und da sie aus freiem Willen gut gewesen, so habe es ihre Mutter durch eifriges Gebet zu Gott dahin gebracht, daß es fuͤr sie und die ganze Welt besser werde. Sie waͤhnte, der Verstorbene werde durch die Wolken kommen, sie abzuholen, und er werde ihr die Siegerkrone und den Ehrenstab mit den Worten reichen: „Wohl dir du Kind der Treue, du hast und traͤgst davon mit Ruhm und Dankgeschreie den Sieg, die Eh¬ renkron. Gott giebt dir selbst die Palme in deine rechte Hand, und du fingst Freudenpsalme Dem, der dein Leid gewandt.” Sie war von dieser bevorstehenden uͤbernatuͤrlichen Erscheinung des Geliebten dergestalt uͤberzeugt, daß sie die Gaͤrtnerin ein¬ lud, nach den Linden zu kommen, wo sich etwas Großes er¬ eignen werde, und fuͤgte hinzu, wenn es fruͤhe regnet und hierauf stuͤrmt, so folgt endlich Sonnenschein, Gott habe sie erst pruͤfen und dann belohnen wollen. Da aber der Erwartete immer nicht kam, so wurde sie von großer Angst unbefriedigter Sehnsucht uͤberfallen, sie litt oft an betaͤubendem, heftigem Kopfschmerz, konnte nicht mehr ruhig schlafen, schreckte oft aus ihren Traͤumen auf, verlor den Appetit, und ihre Koͤrperkraͤfte wurden nur noch durch die krampfhafte Spannung der Leidenschaften aufrecht erhalten. Auch war es schon so weit mit ihr gekommen, daß sie ihre Arbeiten versaͤumte, und ihre Herrschaft ihr den Dienst auf¬ kuͤndigen mußte. Anfangs fiel es ihr gar nicht ein, sich um einen neuen zu bewerben, denn sie war uͤberzeugt, der Ver¬ storbene werde bald wiederkehren und sie heirathen. Spaͤter bemuͤhte sie sich doch um einen neuen Dienst; da aber diejeni¬ gen, bei denen sie sich meldete, sich nicht bei ihrer bisherigen Herrschaft nach ihrem Betragen erkundigten, so glaubte sie, es sei schon allgemein bekannt, daß der Verstorbene sie nach Tyrol abholen werde. Mit jedem Tage steigerte sich ihre lei¬ denschaftliche Spannung, und hieraus entsprang eine Ideen¬ association, welche sich so haͤufig bei Schwermuͤthigen entwik¬ kelt, welche im Gefuͤhl ihrer Leiden eine Strafe Gottes fuͤr ihre Suͤnden erblicken. Die M. hegte daher die Ueberzeugung, sie sei in Suͤnden geboren, muͤsse in Suͤnden umkommen, weil sie sich immer schlecht in der Welt betragen habe, besonders weil sie den Verstorbenen durch ihre heiße Sehnsucht im Grabe beunruhigt habe. Sie suchte Trost zu schoͤpfen aus dem flei¬ ßigen Lesen der bekannten Erbauungsschrift, Stunden der An¬ dacht, woselbst sie die Aeußerung gefunden haben will: „Der erste Mensch ist aus Erde geboren, und mußte wieder zur Erde werden; wir aber sind in der Zeit nach Christus gebo¬ ren, und werden des ewigen Lebens theilhaftig werden.” Weit entfernt, diesen symbolisch ausgedruͤckten Satz in seiner tieferen Bedeutung zu ergreifen, entwickelte sie aus ihm ein Gewebe von Wahnvorstellungen, mit denen sie sich uͤberredete, sie selbst sei aus dem Geiste geboren, und Gott habe sie deshalb zu der Felsengruft des Verstorbenen gefuͤhrt, um ihn vom Tode zu erwecken, und dabei zu ihr gesprochen: hier ist der Mann, welcher sich fuͤr die Welt aufgeopfert hat, auch sie habe das¬ selbe gethan, daher sollten sie beide einen Ehebund schließen, und mit demselben der Welt ein Vorbild zu allem Guten ge¬ ben, damit Freude in dieselbe komme, und alle Voͤlker eine Heerde unter einem Hirten bildeten. Diese Vorstellung weiter ausspinnend sagte sie sich, der Verstorbene besitze als Gelehrter die hoͤchsten Geistesgaben, die Menschen zum wahren Glauben zu fuͤhren, damit Alle evangelisch wuͤrden; von sich selbst meinte sie in Erinnerung aller uͤberstandenen Leiden, sie solle fuͤr die Welt kaͤmpfen, wie Christus in seiner verderbten Zeit gethan, und ihr als seiner Nachfolgerin werde es gelingen, da sie wie er unschuldig gebuͤßt habe, die ganze Welt durch ihr Vorbild gluͤcklich zu machen. Deshalb habe auch Gott den Verstorbenen im Tode zu sich gerufen, um ihm zu sagen, welche Leiden sie ertragen habe, auf daß er mit ihr die Welt erloͤse. Indeß wie anhaltend sie auch diese Vorstellungen in sich gehegt hatte, so wurde sie doch der Vermessenheit derselben sogar noch waͤhrend der Zeit ihres schon voͤllig ausgebildeten Wahns deutlich sich bewußt. Denn als sie am Schaufenster eines Kunsthaͤndlers ein Bild von dem Leiden Christi erblickte, fiel es ihr ein, daß sie zwar viel gelitten habe, aber sich doch darin nicht mit Christus vergleichen duͤrfe, und deshalb Gott um Verzeihung fuͤr ihren Hochmuth bitten muͤsse, in welchem sie auch andere Menschen beleidigt haben moͤge. Sie nahm es sich daher fest vor, einen besseren Lebenswandel zu fuͤhren, sich von ihren bisherigen aberwitzigen Wuͤnschen und Hoffnun¬ gen loszureißen, und um sich in diesem Vorsatze zu bestaͤrken, beschloß sie, jenes Bild zu kaufen und in ihrem Schlafzim¬ mer aufzuhaͤngen, um durch dessen Betrachtung ihre Besinnung wieder zuruͤckzurufen. Jedoch diese letzte Regung ihrer gegen den beginnenden Wahn ohnmaͤchtig ankaͤmpfenden Vernunft wurde bald erstickt; denn da die Kranke alle ihre Lebens¬ interessen in die Hoffnung auf den Besitz des Verstorbenen zusammengefaßt hatte, und da diese Hoffnung ihrer Natur nach alle Grenzen der Wirklichkeit uͤberfliegen, dem Tode seine Beute wieder abjagen, also die Moͤglichkeit ihrer Erfuͤllung von einer unmittelbaren Gnadenwirkung Gottes abhaͤngig ma¬ chen mußte, so waren hiermit alle Elemente gegeben, aus denen sich der Wahn in ihrem Bewußtsein construirte. Mit anderen Worten, ohne fruͤher irgend eine Neigung zur reli¬ gioͤsen Schwaͤrmerei zu haben, mußte letztere doch gleichsam den Einschlag in den Aufzug des Gewebes ihrer irrsinnigen Fase¬ leien geben, denn nur durch Gott konnte sie zu ihrem Ge¬ liebten kommen; kein Wunder daher, daß die heiße Sehnsucht nach dem letzteren in ihr eine monstroͤse Froͤmmigkeit erzeugte, deren krankhafter Charakter alle Vorstellungen von Gott zum grellsten Unsinn verzerrte. Hiermit ist wiederum nichts In¬ dividuelles, welches nur unsre Kranke betreffen koͤnnte, gege¬ ben, sondern wir finden darin das allgemeine Gesetz zahlloser Thatsachen, welche darin uͤbereinstimmen, daß der Mensch, selbst wenn er das religioͤse Bewußtsein im fruͤheren Leben unentwickelt gelassen, ja geflissentlich in sich darnieder gehalten hat, zu den staͤrksten Regungen desselben erwacht, wenn ein ihn maͤchtig ergreifendes Schicksal ihn letztere zu einem tief ge¬ fuͤhlten Beduͤrfniß macht, in welchem sich die absolute Noth¬ wendigkeit der in seinem innersten Wesen gegruͤndeten Religio¬ sitaͤt auf das Ueberzeugendste beurkundet. Freilich kann eine solche, wie ein Deus ex machina hervortretende Froͤmmigkeit, welche keine die wechselnden Seelenzustaͤnde vermittelnde und ausgleichende Entwickelung im bisherigen Leben fand, nicht von einem folgerechten Denken zu wuͤrdigen Begriffen gestaltet wor¬ den war, auch nicht durch die Noth der bedraͤngten Leiden¬ schaft wie durch eine Inspiration oder Divination zu edlen und reinern Formen ausgepraͤgt werden; sondern das ploͤtzlich er¬ wachende maaßlose Gefuͤhl des Unendlichen, welches mit un¬ gekannter Macht die Seele ergreift, reißt sie eben deshalb zu wilden, stuͤrmischen Aufwallungen fort, von denen der Verstand dergestalt uͤberwaͤltigt wird, daß er daruͤber alle bisherigen rich¬ tigen Begriffe verliert, und von einer schwaͤrmenden Phantasie sich die Zuͤgel entreißen lassen muß. Koͤnnten wir in den Seelen derer lesen, welche auf langer Irrfahrt in dem Laby¬ rinth der Leidenschaften das Goͤttliche ganz aus den Augen verloren hatten, und endlich durch irgendwelche harte Schlaͤge des Schicksals, ja wohl erst auf dem Sterbelager aus ihrem wuͤsten Taumel oder aus ihrer sophistischen Selbsttaͤuschung uͤber ihre verfehlte Bestimmung durch den strengen Ruf des inneren Richters erwachten, gewiß wir wuͤrden oft die furchtbarsten Zerrbilder des Ewigen erblicken, welches dem lange verblende¬ ten Thoren mit allen Schrecken angethan erscheinen muß, in denen das bebende Gemuͤth aller Besinnung verlustig geht. Hiermit soll nur im Allgemeinen der Mangel an richtigen re¬ ligioͤsen Begriffen bei einer improvisirten Froͤmmigkeit bezeich¬ net werden, weil die M., in liebender Hoffnung schwaͤrmend, und ihre Erfuͤllung von Gott erflehend, weit von bangem Entsetzen entfernt war, vielmehr sich in das Trugbild eines messianischen Berufs hineinphantasirt hatte, durch welchen sie nur einer wunderbaren Gnadenwirkung Gottes wuͤrdig zu sein waͤhnen konnte. In diesem Sinne spann sie das Gewebe ihrer Wahn¬ vorstellungen weiter aus, und insbesondere war ihre Phantasie, welche am Tage noch durch die Verrichtung haͤuslicher Geschaͤfte einigermaaßen im Zaum gehalten wurde, in naͤchtlichen Traͤu¬ men uͤberaus geschaͤftig, die glaͤnzendsten Bilder zu dichten, denen sie in ihrer Verstandesbethoͤrung die Wahrheit der ob¬ jectiven Wirklichkeit beilegte. So sah sie in einem Traume drei herrliche Gaͤrten voll schoͤner Blumen und Baͤume, und eine unendlich große Wiese, auf welcher nur einige Schafe weideten, das Ganze von einer am reinsten Himmel hellstrahlen¬ den Sonne beleuchtet. Menschen erblickte sie darauf nicht, außer sich selbst mit zwei Kindern spielend und tanzend, und sie war nun uͤberzeugt, daß dies das Paradies sei, in welches nur wenige Menschen, welche sich von dem Verstorbenen zum rech¬ ten evangelischen Glauben wuͤrden bekehren lassen, gelangen wuͤrden, denn es stehe ja in der Schrift, viele seien berufen, aber wenige auserwaͤhlt. In einem anderen Traume glaubte sie den Verstorbenen an der Hand im Himmel herumzufuͤhren, bei welcher Gelegenheit sie die Pforte zu einem von blutrothen Flammen erfuͤllten unermeßlichen Raum eroͤffnete, welcher ihrer Meinung nach die Hoͤlle sein muͤsse, in welche alle Diejenigen verstoßen werden wuͤrden, welche sich durch sie und den Ver¬ storbenen nicht bekehren ließen. Was aber am meisten ihr Er¬ staunen erregte, war der Contrast ihrer naͤchtlichen Versetzung in den Himmel, waͤhrend sie am Tage auf der Erde geschaͤf¬ tig sei. Sie wußte sich dies nicht anders zu erklaͤren, als daß sie mit zwei Seelen geboren sei, von welcher die eine im Him¬ mel wohne, woselbst sie durch die Gnade Gottes den Verstor¬ benen wieder zum Leben erweckt habe, waͤhrend die andere wiederum nur unter dem Beistande Gottes noch auf Erden weilen koͤnne, weil sie außerdem von den vielen erhaltenen Schlaͤgen habe sterben muͤssen. Indem sie nun in allen jenen Traͤumen goͤttliche Offen¬ barungen, welche als solche gewiß in Erfuͤllung gehen wuͤrden, sehen zu muͤssen glaubte, bestaͤrkte sie sich immer mehr in der Vorstellung ihrer messianischen Bestimmung. Denn da sie sich sagte, man muͤsse Gott als dem unsichtbaren Geiste mehr fol¬ gen, als der Welt, und daher den rechten Glauben hegen, welchen so Viele durch die That verleugneten, weil nament¬ lich sie, die M., so oft von ihnen unchristlich gemißhandelt worden sei; so hielt sie die Welt im hoͤchsten Grade fuͤr ver¬ derbt, und der Besserung beduͤrftig. Gott koͤnne dies nun nicht laͤnger dulden, sondern es muͤsse anders werden, daher habe er durch sie das Wunder der Wiedererweckung des Todten vollbracht, damit sie durch Dulden und fromme Lebensfuͤhrung ein Muster fuͤr die Menschen werde, welche der Verstorbene auf ihr Vorbild aufmerksam machen, und somit als zweiter Luther unter ihnen mit großer Gelahrtheit auftreten solle. Aber wie schmeichelnd auch dieser Wahn sie umfing, er war die Ausgeburt einer tiefen Gemuͤthskrankheit, welche ihr inneres Gefuͤhl zu tief entzweite, als daß sie noch irgend einer Ruhe theilhaftig werden konnte. Bei Tag und Nacht von Angst gequaͤlt, klagte sie ihre Noth der andern Magd, wobei sie un¬ streitig schon genug Verkehrtheiten herausbrachte, weil letztere ihr sagte, sie sei nicht klug. Inzwischen las sie oft in den „Stunden der Andacht”, und es war gewiß nicht die Schuld dieses anerkannt vortrefflichen Werks, daß sie aus demselben keine Aufklaͤrung, sondern nur neue Nahrung fuͤr ihren Wahn¬ witz schoͤpfte. In der Nacht zum 9. Sept. 1845, als sie mit mehreren Weibern bei der Waͤsche beschaͤftigt war, sah sie um Mitter¬ nacht mehrmals die Sonne uͤber einem nahe gelegenen niedri¬ gen Hause aufgehen und wieder verschwinden, und dachte da¬ bei, der Herr laͤßt die Sonne aufgehen uͤber die Guten und Boͤsen, und laͤßt regnen uͤber die Gerechten und Ungerechten. Sie sprach diese Vision aus, und mußte von der andern Magd den Vorwurf hoͤren, daß sie mit ihrem Unsinn Andere angst und bange mache, es solle der Herrschaft angezeigt werden. Die M. erwiederte hierauf: „Sie haben mich oft geaͤrgert und zum Boͤsen verfuͤhren wollen, aber spaͤter muͤssen Sie mir doch nachfolgen”. Auf die Bemerkung jener: „Sie thun ja, als wenn Sie in Gottes Allmacht staͤnden”, entgegnete sie: „das thue ich nicht, sondern ich spreche nur aus, was recht und unrecht ist”. Dabei war sie hoch erfreut, weil sie jene Vision fuͤr die Ankuͤndigung der nahen Ankunft des Verstor¬ benen hielt, schwieg jedoch daruͤber, weil die anderen Weiber ihr wiederholt sagten, sie wuͤßten nicht, was sie von ihr den¬ ken sollten. In ihrer Ekstase daruͤber, daß nun die verheißene Seeligkeit beginnen werde, glaubte sie wahrzunehmen, daß die uͤbrigen Weiber vor Ruͤhrung weinten, worin sie eine Bestaͤ¬ tigung ihres Wahns zu finden glaubte. Bald gerieth sie so außer sich, daß sie die Arbeit nicht fortsetzen konnte, und da sie dessenungeachtet zu derselben angetrieben wurde, so brach sie in Schreien und Weinen aus, indem sie von einem solchen Fieberfrost ergriffen wurde, daß ihr die Zaͤhne klapperten. Zu¬ gleich rief sie, daß sie nach den Eisbergen von Tyrol abreisen muͤsse, der Verstorbene habe jaͤhrlich (in den Ferien) so große Ideler uͤber d. rel. Wahnsinn. 7 Reisen unternommen, um die Menschen zu bekehren, jetzt muͤsse sie ihm nachfolgen. Ueberblickt man die bisher gegebene pathogenetische Dar¬ stellung, so kann man sich einer Ruͤhrung daruͤber nicht er¬ wehren, daß in allen Menschenseelen die Keime des Schoͤnsten und Edelsten liegen, aber wegen aͤußerer Hindernisse nicht zur Entwickelung kommen, und deshalb, wenn erschuͤtternde Er¬ eignisse den Wahn erzeugt, und durch ihn die innersten Tiefen des Gemuͤths aufgewuͤhlt haben, in ihrer erzwungenen Anregung nur verkuͤmmern koͤnnen. Eine Magd, in den untergeordnet¬ sten Verhaͤltnissen lebend, von mannigfacher Noth und Truͤbsal bedraͤngt, von welcher sie aus Mangel an kraͤftiger Selbstbe¬ stimmung sich nicht befreien, und deshalb uͤber die materiellsten Verhaͤltnisse nicht zu einem freieren Selbstbewußtsein sich er¬ heben kann, wird von einer Liebe ergriffen, welche schon von vorn herein die Moͤglichkeit jeder Erfuͤllung ihrer Sehnsucht ausschließt, und deshalb sogleich einen idealen Charakter an¬ nehmen muß. Ein tragisches Geschick, welches jede fernere Taͤuschung haͤtte zerstoͤren muͤssen, bringt diese Wirkung nicht hervor, da die Liebe dem Gemuͤth so nothwendig geworden war, daß sie den Wahnsinn nicht scheute, und unter anderen Verhaͤltnissen wahrscheinlich dem Tode nicht ausgewichen sein wuͤrde, um sich selbst fuͤr diesen Preis im Bewußtsein zu be¬ haupten. Im Innersten ergriffen und rastlos bewegt, erhebt die Kranke sich durch eine maͤchtige Steigerung ihrer Seelen¬ kraͤfte zu allgemeinen Weltanschauungen und zur Vorstellung der hoͤchsten Lebensinteressen, von denen sie fruͤher schwerlich die leiseste Ahnung hatte; sie fuͤhlt die Verderbniß der Welt nicht allein in dem beschraͤnkten Sinne, daß sie darunter zu leiden habe, sondern in der Erkenntniß, daß derselben Einhalt gethan werden muͤsse, und mit liebetrunkener Phantasie schwaͤrmend, entwickelt sie ein poetisches Talent, welches in einer Fuͤlle dich¬ terischer Bilder schwelgend die Erloͤsung des Menschengeschlechts durch die an ihr und an ihrem Geliebten offenbarte Gnaden¬ wirkung Gottes zu einer uͤberschwenglichen Seeligkeit verheißt. Daß alles dies in wahnsinniger Verzerrung unter den Zuckun¬ gen einer maaßlosen Leidenschaft zum Vorschein kam, und da¬ durch jeder tieferen Bedeutung verlustig ging, beweiset nur so viel, daß gerade das Edelste im Menschen der sorgfaͤltigsten Pflege und einer geregelt fortschreitenden Entwickelung bedarf, wenn nicht die in ihm waltende Kraft zum Verderben ausschla¬ gen soll, da die Weltgeschichte es lehrt, daß unser Geschlecht fast eben so viel unter dem irre geleiteten Enthusiasmus fuͤr das Gute, Edle und Schoͤne, als unter dem wilden Draͤngen niedriger Begierden zu leiden gehabt hat. Aber in der kranken Seele konnte doch Nichts zur Erscheinung kommen, was nicht in der gesunden wenigstens als schlummernder Keim vorhanden gewesen waͤre; und giebt es daher eine Fuͤlle des Schoͤnen, welches erst durch den Wahnsinn, wenn er die aͤußere Rinde des Menschen sprengt, der Seele entlockt werden kann, so werden wir mit Staunen inne, welche unermeßliche Aufgaben der aͤch¬ ten Seelenbildung noch vorliegen, an deren Erfuͤllung bisher noch Niemand gedacht hat. Bei unsrer M. war freilich keine dieser Aufgaben zu loͤsen, denn sie mußte zuruͤckkehren in dienst¬ liche Verhaͤltnisse, welche mit jedem idealen Bewußtsein in ei¬ nem allzuschroffen Widerstreit stehen, als daß derselbe vom staͤrksten Gemuͤth ertragen werden koͤnnte. Fuͤr sie durfte es hinfort keine ideale Liebe, kein Denken uͤber Weltverbesserung, keine Theilnahme an den hoͤchsten Aufgaben des Menschenge¬ schlechts geben, wenn nicht alle diese Regungen einer hoͤheren Seelennatur unvermeidlich wieder in Wahnsinn ausarten soll¬ ten. Verschuͤttet mußte daher geflissentlich jede Quelle bei ihr werden, aus welcher ein veredeltes Bewußtsein hervorge¬ hen koͤnnte, da dasselbe nur wie ein nachtwandelndes Gespenst durch ihr spaͤteres Leben gehen wuͤrde. In die Irrenabtheilung der Charité am 9. September aufgenommen, wurde sie im Gefuͤhl der tiefen Gemuͤthserschuͤt¬ terung vorzugsweise von großer Angst gequaͤlt, welche immer der unmittelbare Ausdruck einer aus allen Fugen weichenden und in regellose Verwilderung gerathenen Seelenthaͤtigkeit ist. Sie sah, daß einer anderen Kranken zur Ader gelassen wurde, und bildete sich dabei ein, daß ihr alles Blut abgezapft wer¬ den solle, weshalb sie sich auf die Kniee warf, und Gott an¬ flehte, sie eines sanften Todes sterben zu lassen. In den bei¬ den ersten schlaflosen Naͤchten empfand sie noch die groͤßte Sehnsucht nach dem Verstorbenen, von welchem sie aus ihrer 7 * schrecklichen Lage errettet zu werden hoffte, weshalb sie sich mehrmals im Bette in der gewissen Erwartung aufrichtete, daß er unverzuͤglich anlangen werde. Dennoch von steter Todes¬ angst gequaͤlt glaubte sie in dem Geschrei anderer Kranken die klagende Stimme des Verstorbenen zu vernehmen, welcher gleich¬ falls unter grausamer Behandlung zu leiden habe, daher sie in einen Thraͤnenstrom ausbrach, und erst spaͤt mit der Vor¬ stellung sich beruhigte, er solle in der Charité voͤllig geheilt werden. Eine vorhandene Hartleibigkeit machte den Gebrauch gelinder Abfuͤhrungen noͤthig, und da sie außerdem, die Ner¬ venunruhe abgerechnet, an keinen auffallenden Krankheitserschei¬ nungen litt, so wurde alsbald zur Anwendung der Douche geschritten. Anfangs glaubte sie wiederum, sie solle in dersel¬ ben getoͤdtet werden; indeß sehr schnell trat die heilsame Wir¬ kung derselben bei ihr ein, so daß sie durch eine kraͤftige Re¬ action der Nerven aus dem wilden, leidenschaftlichen Taumel zu einiger Besinnung erweckt und dadurch beruhigt schon in den naͤchsten Naͤchten einen festen Schlaf fand, wenn auch eine gewisse Bangigkeit noch waͤhrend der ersten 14 Tage fort¬ dauerte. In ihren Wahnvorstellungen trat freilich Anfangs keine wesentliche Veraͤnderung ein, sondern sie aͤußerte diesel¬ ben bei den mit ihr angeknuͤpften Gespraͤche noch unverhohlen; allmaͤhlig kam ihr aber doch der Gedanke in den Sinn, daß es unendlich besser um sie bestellt gewesen sein wuͤrde, wenn sie nicht in den letzten Dienst getreten waͤre, und in ihm nicht ein so schweres Leid erfahren haͤtte. Waͤre sie nur erst aus ihrer jetzigen Lage befreit, so wolle sie sich bald aus Berlin entfernen. Indeß Leidenschaften sind nicht auf einen Schlag zu ver¬ tilgen, und obgleich die M. bald zu so vieler aͤußeren Besin¬ nung zuruͤckkehrte, daß sie von selbst keine wahnwitzigen Vor¬ stellungen mehr aͤußerte, selbst ihren bisherigen Zustand als einen krankhaften anerkannte, und uͤberdies in ihrem ganzen Betragen Besonnenheit, Fleiß, Ordnungsliebe und friedfertige Ruhe zeigte, so lebte doch in der Tiefe des Herzens das Bild des Verstorbenen fort. Nicht nur sah sie denselben noch im Traume, sondern sie glaubte selbst noch nach 2 Monaten, Gott habe ihr Gebet erhoͤrt, den Verstorbenen ins Leben zu¬ ruͤckgerufen, wenn sie auch nicht eher daruͤber Gewißheit erlan¬ gen koͤnne, als bis sie ihn saͤhe. Sie hielt es wenigstens fuͤr moͤglich, daß Gott jeden sehr guten Menschen, gleichwie Chri¬ stus, vom Tode erwecken koͤnne, und versicherte außerdem nicht zu wissen, warum sie soviel habe leiden muͤssen. Um diesen Ueberrest ihres Wahns durch eine kraͤftige Maaßregel zu vertil¬ gen, brachte ich daher die Einreibung der Brechweinsteinsalbe mit so entschieden guͤnstigem Erfolge bei ihr in Anwendung, daß auch nicht die geringste Spur von Unklarheit und Befan¬ genheit des Bewußtseins mehr bemerkt wurde. Da die be¬ schraͤnkten Vermoͤgensumstaͤnde ihres Vaters eine moͤglichste Ab¬ kuͤrzung des Heilverfahrens gebieterisch forderten, so wurde sie im Februar 1846 nach mehrmonatlicher Dauer einer vollen Besonnenheit als geheilt entlassen. 6. An einem Sonntage vor Ostern 1846 stoͤrte der Drechs¬ lergeselle F. , zwanzig und einige Jahre alt, aus Thuͤringen gebuͤrtig, durch laute Ausrufungen den oͤffentlichen Gottesdienst in der hiesigen Domkirche, wodurch seine Verhaftung und Ab¬ fuͤhrung in das Polizeigefaͤngniß nothwendig gemacht wurde. Ich erhielt den amtlichen Auftrag, seinen Gemuͤthszustand zu untersuchen, und von ihm die Beweggruͤnde zu erforschen, wel¬ che ihn veranlaßt hatten, an hohe Behoͤrden Briefe voll my¬ stischer Declamationen zu schreiben. Folgendes ist ein Auszug meines uͤber ihn erstatteten Berichts. F., von hagerer Statur und bleichem Gesichte, mit kei¬ nen auffallenden Krankheitssymptomen behaftet, verraͤth schon in seiner ganzen aͤußeren Erscheinung einen hohen Grad von Gemuͤthsaufregung durch unruhige Gestikulationen, durch be¬ wegten Gesichtsausdruck, besonders aber durch einen hastigen, wortreichen Redefluß, in welchem er sich nur ungern unterbre¬ chen laͤßt. Offenbar besitzt er nur einen geringen Grad von geistiger Bildung und sehr mittelmaͤßige Verstandeskraͤfte, so daß es ihm schwer faͤllt, seine Vorstellungen naͤher zu bezeich¬ nen. Vielleicht wuͤrde ihm dies in Bezug auf Gegenstaͤnde des alltaͤglichen Lebens besser gelingen, aber da sein Gespraͤch sich ausschließlich auf religioͤse Begriffe bezog, so gerieth er fort¬ waͤhrend in eine voͤllige Geistesverwirrung, welche desultorisch zwischen den verschiedenartigsten Verhaͤltnissen umherschweifend, nur mit Muͤhe einen verknuͤpfenden Faden auffinden ließ.Haͤtte ich ihn durch oft eingemischte Fragen zu bestimmteren Erklaͤ¬ rungen veranlassen wollen, so wuͤrde ich ihn in seinem unver¬ hohlenen Argwohn nur noch mehr bestaͤrkt, und ihn dadurch entweder zum heftigen Streit gereizt, oder zum muͤrrischen Schweigen gebracht haben. Auch fielen seine Antworten auf einzelne Fragen, von deren Sinn er sogleich zu anderen Din¬ gen uͤbersprang, so ungenuͤgend aus, daß ich nicht hoffen durfte, mir durch sie eine naͤhere Aufklaͤrung zu verschaffen; ja vielen seiner Aeußerungen konnte nicht einmal ein bestimm¬ ter Sinn untergelegt werden. Den Mittelpunkt, um welchen sich der irre Lauf seiner Vorstellungen bewegt, bildet unstreitig seine Ueberzeugung, wel¬ che er schon wiederholt in seinen Briefen an die Koͤnigl. Be¬ hoͤrden ausgesprochen hat, daß ihm in naͤchtlichen Traͤumen goͤttliche Offenbarungen zu Theil, und mit ihnen ihm die Pflicht auferlegt worden, dieselben oͤffentlich zum Heil der Welt zu verkuͤndigen. Er hat diese Offenbarungstraͤume in einem aus¬ fuͤhrlichen Tagebuche, meist unter Angabe des Datums ver¬ zeichnet, woraus er mir Mehreres vorlas. Ein besonderes Ge¬ wicht legte er auf den einen, in welchem er als Koͤnig aus dem hiesigen Schlosse mit einem vierspaͤnnigen Wagen abgeholt, und durch die Linden zum Thore hinausgefuͤhrt worden war. Da er sich fuͤr einen Propheten, und ziemlich bestimmt fuͤr Elias haͤlt, so sieht er in jenem Traume seine symbolische Verherrlichung, in deren Glanze er unter den Menschen auf¬ treten soll. Ueberhaupt scheinen alle Phantasmagorieen bei ihm von einem blendenden Nimbus umgeben zu sein, indem er versichert, daß es ihm oft vorkomme, als ob er in Flammen liege. Waͤhrend eines anderen Traums befand er sich bei ge¬ woͤhnlichen Leuten im Dienste, von welchen er uͤber das Feld geschickt wurde, um eine Ziege zu holen. Unterwegs wurde er auf einen Berg von einem Manne gefuͤhrt, welcher mit einem Stabe nach dem Himmel zeigte, aus dessen geoͤffneten Thoren Armeen drangen, welche in der Luft sich eine Menge von Schlachten lieferten, aus denen nur wenige Sieger unter Triumphmaͤrschen in den Himmel zuruͤckkehrten. Auf die wun¬ derlichste Weise sah er hierin den goͤttlichen Befehl, ein Perpetuum mobile anzufertigen, durch welches er nicht allein sein Gluͤck machen sollte, sondern welches auch eine mystische Bedeutung haben werde. Dasselbe solle naͤmlich unter der Form eines Rades ein Zeugniß von dem Himmel, der Erde und allen Elementen ablegen, um es deutlich zu machen, wie der Thau des Himmels Petillio in dem Flusse Piso um die ganze Erde stroͤme, und mit sich Gold und die Edelsteine Kuri fuͤhre. Da er uͤberzeugt war, allein unter allen Menschen ein solches Kunstwerk anfertigen zu koͤnnen, so arbeitete er seiner Aussage nach drei Wochen an demselben, versetzte seine Sachen, um sein Leben kuͤmmerlich zu erhalten, und befand sich, nach¬ dem er noch eine ganze Nacht darbend bei seinem Werke zu¬ gebracht hatte, am darauf folgenden Morgen von Allem ent¬ bloͤßt in der druͤckendsten Lage. Um sich zu troͤsten schlug er die Bibel auf, in welcher er die Worte zu finden glaubte, er solle sagen, was er gesehen, und reden was er gehoͤrt habe, wodurch er natuͤrlich noch mehr in seinem Vorsatze bestaͤrkt wurde, die ihm gewordenen Offenbarungen zu verkuͤndigen. Noch mehr scheint sein schwaͤrmerischer Eifer durch folgen¬ den Traum entflammt worden zu sein. Er sah sich im Geiste nach seiner Heimath entruͤckt, wo er als Knabe mit mehreren Altersgenossen in Spielen sich ergoͤtzte. Ploͤtzlich erschien ein großer Leichenzug, in welchem 12 Kronen getragen wurden, von denen 2 zur Erde fielen. Hierauf folgten 6 Knaben, welche auf Tafeln 12 neue Kronen trugen, und nach ihnen mehrere Leidtragende, welche Geld auswechselten. Als sodann ein Mann auf der Straße Feuer schrie, erschien am Himmel ein Engel, welcher mit einer Sonne umkleidet und von Re¬ genbogenfarben umgeben war, und welcher nach des F. Ueber¬ zeugung kein anderer, als Gott selbst war. Zugleich stand vor seinen Augen eine Stadt in hellen Flammen, wodurch die Ein¬ aͤscherung Berlins als des neuen Jerusalems angekuͤndigt werde, wenn dasselbe die Zeichen beharrlich verleugnete, welche ihm ge¬ geben werden sollten. Zur Bestaͤtigung dieser Prophezeiung erschien zuletzt noch Christus auf einem weißen Pferde reitend, und von einer strahlenden Sonne umgeben. Diese naͤchtliche Vision, von deren himmlischem Ursprunge er fest uͤberzeugt ist, wurde ihm deshalb zum goͤttlichen Befehl, das der Stadt Ber¬ lin bevorstehende Strafgericht prophetisch anzukuͤndigen, und er hielt es daher fuͤr seine heilige Pflicht, den Koͤnigl. Behoͤrden davon Anzeige zu machen, um das drohende Verderben moͤg¬ lichst abzuwenden. Da er seinen Zweck nicht erreichen konnte, und sich doch im Geiste unwiderstehlich getrieben fuͤhlte, so versuchte er es seiner Angabe nach, sich bei mehreren hiesigen Geistlichen Gehoͤr zu verschaffen, welche natuͤrlich seine Mit¬ theilungen ignorirten. Deshalb nennt er sie Luͤgner, da sie wohl von ihm und seiner prophetischen Sendung wissen muͤ߬ ten, weil davon in den Zeitungen die Rede gewesen sei. End¬ lich als ihm jede Gelegenheit abgeschnitten war, seiner Her¬ zensbedraͤngniß Luft zu machen, entschloß er sich, oͤffentlich in der Domkirche waͤhrend des Gottesdienstes seinen Weheruf ge¬ gen Berlin zu erheben, weil er auf Befehl Gottes reden muͤßte. Denn er wurde bei Tag und Nacht durch eine un¬ aufhoͤrliche Quaal dazu angetrieben, weil, wenn er nicht ge¬ hoͤrt werde, die Strafe Gottes nicht ausbleiben koͤnne. Ja er scheint sogar eine Donnerstimme, welche in einer Nacht ihm dreimal zurief, daß Gott im Fleische offenbart sei, auf seine Person zu beziehen, und er war fest davon uͤberzeugt, daß er Alles im Namen des Herrn thue. Deshalb fuͤgte er auch die bestimmte Versicherung hinzu, daß er unfehlbar nach Berlin zuruͤckkehren werde, wenn man ihn auch nach seiner Heimath zuruͤckgebracht habe, da es sich auf Befehl Gottes um die Rettung des Menschengeschlechts handle. Unstreitig hat seine ununterbrochene schwaͤrmerische Auf¬ regung in Verbindung mit peinlichen koͤrperlichen Entbehrun¬ gen ihn in einen sehr qualvollen Zustand versetzt, welchen er sich aus der Nichtbefriedigung seines prophetischen Dranges er¬ klaͤrte. In der letzten Zeit, zu Anfang des Maͤrzes, muß diese Quaal einen besonders hohen Grad erreicht haben, da er mehrere Naͤchte von Teufelserscheinungen gefoltert wurde. Er wurde seiner Aussage nach dergestalt gemartert, daß er vor Schwaͤche am Tage nicht arbeiten konnte, denn waͤhrend der Naͤchte lag der Satan, eine lange Gestalt mit einem Kalbskopfe, so schwer auf ihm, daß er kein Glied ruͤhren konnte. Waͤhrend dieser Hoͤllenpein vernahm er dreimal den Ruf: mein Sohn ! und vergebens schrie er: weiche von mir , Satan ! Seine Phantasie war in einem solchen Grade aufgeregt, daß er in einer jener Naͤchte eine Menge Visionen von Maͤnnern, Bergen, Waͤldern, Waizenfeldern und Dornen¬ hecken hatte, aus denen eine Stimme dreimal mein Schaͤf ¬ lein und dreimal Israel rief. Diese Anfechtungen des Teufels riefen ihm lebhaft die Versuchung des Heilandes durch den Boͤsen in die Erinnerung, und da er durch Quaa¬ len und Entbehrungen zum Prophetenthum gefuͤhrt zu sein glaubt, so ist er voͤllig uͤberzeugt, daß er als Elias in der jetzigen Zeit auftreten solle. Ueber den Ursprung seines Seelenleidens habe ich mir keine naͤheren Aufschluͤsse verschaffen koͤnnen, da er auf Fragen nach seinen fruͤheren Lebensverhaͤltnissen sich nicht einließ, und anderweitige Nachrichten uͤber ihn mir nicht zugekommen sind. Nur die eine Bemerkung glaube ich hieruͤber machen zu duͤr¬ fen, daß das eifrige Lesen sogenannter Traktaͤtlein, von denen er mehrere bei sich fuͤhrt, wesentlich dazu beigetragen hat, sei¬ ne schwaͤrmende Phantasie noch mehr zu erhitzen. Insbeson¬ dere scheint eine kleine Schrift, welche im Jahre 1845 unter dem Titel der Antichrist in Berlin gedruckt worden ist, einen starken Einfluß auf ihn ausgeuͤbt zu haben, denn er erklaͤrte ausdruͤcklich, daß sie von ihm zeuge, und berief sich zur Bestaͤtigung dessen namentlich auf folgende Stelle: „Der Geist der Wahrheit, der da ist der heilige Geist, welcher im Menschen wohnt, wird eroͤffnen, was die sieben Donner ge¬ redet haben, die Johannes versiegeln mußte.” 7. F. , 54 Jahre alt, ist die Tochter eines Ackerbuͤrgers in einer kleinen Provinzialstadt, welcher wegen seiner duͤrfti¬ gen Lage genoͤthigt war, sich als Fuhrmann zu ernaͤhren. Sie schildert ihn als einen rohen, ja boͤsartigen Trunkenbold, wel¬ cher bei jeder Gelegenheit seine Frau und seine 6 Toͤchter mißhandelte, und dadurch letztere zwang, fruͤhzeitig in fremde Dienste zu treten. Nur unsre Kranke mußte wegen ihres zarten Alters noch bei den Aeltern zuruͤckbleiben, und sie war daher oft Zeugin von der brutalen Behandlung, welche ihre Mutter erduldete, wie sie dann einmal so schwer verletzt wur¬ de, daß sie laͤngere Zeit das Bette huͤten mußte. Mit In¬ nigkeit ihrer liebevollen Mutter ergeben, fuͤhrte sie die sanfte Dulderin zuweilen ins Freie und wieder auf das Schmerzens¬ lager zuruͤck, und sie vergießt noch jetzt heiße Thraͤnen bei der Schilderung der herzzerreißenden Scenen, welche auf ihr kind¬ liches Gemuͤth den tiefsten Eindruck machen mußten. Nament¬ lich wurde sie tief durch den Tod derselben erschuͤttert, dem ein ruͤhrender Auftritt vorherging, da die Sterbende alle Kin¬ der an das Bette hatte rufen lassen, und von ihnen mit den Worten Abschied nahm: „Lebt wohl, in einer besseren Welt sehen wir uns wieder.” Es ist eine oͤfters vorkommende That¬ sache, daß das zarte Gemuͤth der Kinder, obgleich urspruͤng¬ lich nicht zu tieferer Erregung geeignet, doch durch schlimme Ereignisse aus seinem suͤßen Frieden feindseelig aufgestoͤrt, und dann fuͤr unausloͤschliche Eindruͤcke empfaͤnglich werden kann, welche nicht selten den Charakter des spaͤteren Lebens bestim¬ men, daß namentlich religioͤse Gefuͤhle gewaltsam geweckt der Gesinnung einen Ernst, ja eine Duͤsterheit verleihen, welche spaͤter niemals verwischt wird, so daß selbst religioͤse Sinnes¬ taͤuschungen, welche im spaͤteren Leben nur durch einen hohen Grad von Schwaͤrmerei hervorgerufen werden, bei Kindern zu¬ weilen vorkommen. Die F., damals erst 6 Jahre alt, gerieth durch den Tod der geliebten Mutter religioͤs aufgeregt in ein solches Entsetzen, daß ihr das ganze Leben als ein Schreckbild erschien, und sie deutlich in ihrem Herzen die Stimme Gottes zu vernehmen glaubte, welche ihr zurief: „mein Kind, dir wird es traurig gehen in der Welt.” Sie versichert, diese prophetische Offenbarung nie aus dem Sinne verloren zu ha¬ ben, und an sie besonders bei Gelegenheit ihrer Einsegnung lebhaft erinnert worden zu sein, da der Prediger in seiner Rede vornaͤmlich darauf hindeutete, daß die um ihn versam¬ melte Schaar der Confirmanden wie eine Heerde in der Welt zerstreut werden, hoffenllich aber in einem besseren Leben sich wieder vereinigen werde. Sie dachte spaͤter bei diesen Wor¬ ten um so lebhafter an den Tod ihrer Mutter, als viele der Juͤnglinge bald nachher in den Krieg ziehen mußten. Sie kannte seit ihrer zartesten Kindheit nur Leiden und Entbehrungen. Zwar giebt sie ihrer Stiefmutter, welche bald die Stelle der eigenen vertrat, ein gutes Zeugniß, desto schlimmer war sie aber mit dem Vater daran, vor welchem sie geradezu die Flucht ergriff, wenn er von seiner Reise zuruͤck¬ kehrend die Branntweinflasche auf den Tisch warf, seine Kin¬ der Hunde nannte, und jede Gelegenheit benutzte, seine ganz verschuͤchterte Tochter um der geringfuͤgigsten Ursachen willen zu mißhandeln. Insbesondere ist ihr ein schrecklicher Auftritt in Erinnerung geblieben, welcher dadurch herbeigefuͤhrt wurde, daß er ihr befahl, waͤhrend der Nacht sein Pferd auf einer Wiese neben einem Acker zu huͤten, und zu verhindern, daß dasselbe nicht von den Garben fresse, wenn sie nicht halbtodt geschlagen werden wolle. Sie strengte daher alle Kraͤfte an, um dieser Drohung zu entgehen, und wurde dennoch unbarm¬ herzig von ihm geschlagen, als sie seine Frage, ob sie das Pferd zur Traͤnke gefuͤhrt habe, mit dem Zusatz verneinte, daß sie alsdann nicht das Pferd habe vom Acker zuruͤcktreiben koͤnnen. Sie bebte daher bei jedem Anlaß zitternd vor dem Wuͤthrig zuruͤck, vor welchem sie sich so viel als moͤglich ver¬ barg, daher sie auch stets in Angst lebte, und ihrem gepre߬ ten Herzen durch Weinen Luft machte. Vom Schulbesuch konnte demnach kaum die Rede sein; ja sie mußte theils durch Bettelei, theils durch den Verkauf von getrockneten Fischen einen kuͤmmerlichen Erwerb schaffen, wenn der Vater auf Rei¬ sen war, und die Seinigen zu Hause geradezu darben ließ. Schon fruͤhzeitig mußte sie bei einem Baͤckermeister als Kin¬ dermagd dienen, sah sich jedoch durch Erfrieren der Fuͤße ge¬ noͤthigt, in das aͤlterliche Haus zuruͤckzukehren, um nach er¬ folgter Heilung bei einem Schmied in Dienst zu treten, wo sie neben schwerer, fast ihre Kraͤfte uͤbersteigender Arbeit noch obenein eine aͤußerst harte Behandlung erfuhr, indem ihr die Frau desselben oft Schlaͤge auf den Kopf gab. Sie litt da¬ her oft an den heftigsten, fast betaͤubenden Kopfschmerzen, und wenn sie auch außerdem nicht mit besonderen Krankheits¬ zufaͤllen behaftet war, so erklaͤrte es sich doch aus dem Ver¬ ein aller dieser unguͤnstigen Bedingungen, daß sie in der koͤr¬ perlichen Entwickelung zuruͤckblieb, und nie zur vollen Kraft gelangte. Sehr gern haͤtte sie diesen Sklavendienst verlassen; aber ihre Aeltern kuͤmmerten sich nicht um sie, andere Perso¬ nen noch weniger, und so mußte sie 3 Jahre aushalten, bis eine in Berlin wohnende Schwester sie zu sich nahm. Aber auch hier fand sie kaum ein besseres Loos, da letztere ihr gleichfalls haͤufig Schlaͤge auf den Kopf gab, und ihr uͤberhaupt das Leben so verbitterte, daß sie zu einer Witt¬ we zog, bei welcher sie zwar keine Mißhandlungen, aber desto mehr Hunger zu erleiden hatte. Eben so erging es ihr bei einem Baͤckermeister, welcher sie so karg in Speisen hielt, daß sie oft genoͤthigt war, ganz altes und trockenes Brod mit Wasser aufzuweichen, um dasselbe genießen zu koͤnnen. Um diese Zeit zog sie sich durch Erkaͤltung ein heftiges rheumati¬ sches Fieber zu, wobei sie in allen Gliedern dergestalt erstarrte, daß sie sich kaum regen konnte, eine große Angst und hefti¬ gen Durst empfand, indem sie zugleich durch die Vorstellung ihrer stets traurigen Lage gepeinigt wurde. Sie flehte daher in inbruͤnstigem Gebet Gott um Beistand an, dessen troͤstende Stimme sie in sich zu vernehmen glaubte, welche ihr zurief, er werde sie nicht verlassen, sondern ihr Huͤlfe bringen. Je¬ nes Fieber brachte in sofern eine guͤnstige Wirkung in ihr hervor, als dadurch zum ersten Male die Menstruation her¬ vorgerufen wurde. Vielleicht mischt sich viel Uebertreibung in die Schilderung ein, welche die F. von ihren uͤberstandenen Leiden entwirft, da das Selbstbewußtsein der Schwermuͤthigen ein truͤbes Glas ist, durch welches sie ihr vergangenes Leben in einem falschen Lichte erblicken. Aber es kommt in psycho¬ logischer Beziehung wirklich weniger auf den objectiven That¬ bestand, als auf die Auffassungsweise an, mit welcher der Mensch sich sein Leben aneignet. Waͤhrend der starke Cha¬ rakter schwere Schicksale mit ungebeugtem Muth ertraͤgt, und deshalb ihre Last viel weniger empfindet, erliegt dagegen ein schwaches Gemuͤth unter einer weit geringeren Buͤrde. Genug die Lebensanschauung der F. verduͤsterte sich immer mehr, ver¬ bannte aus ihr jede Hoffnung und Gefuͤhlsfrische, und ließ ihr die Welt als ein Exil erscheinen, in welchem sie nach Er¬ loͤsung schmachtete. Sie stand ganz allein, lernte die Men¬ schen nur von einer haͤßlichen Seite kennen, traf uͤberall auf rohe, unsittliche Verhaͤltnisse, unter denen sie so viel zu lei¬ den hatte, und schoͤpfte nur Trost aus dem Besuch der Kirche, wo sie oft ihrer Wehmuth durch einen Thraͤnen¬ strom Luft machte. Denn zur eigentlichen Glaubensfreudigkeit fehlte ihr die noͤthige Elasticitaͤt des Gemuͤths, und sie konnte es in ihrer religioͤsen Anschauung nur so weit bringen, daß sie ein wirkliches Verzagen von sich fern hielt, und nament¬ lich das Abendmahl mit der innigen Ueberzeugung empfing, Gott werde ihr ihre Suͤnden verzeihen, und ihr Kraft und Huͤlfe in aller Noth gewaͤhren. Uebrigens fehlte es ihr zu anderen Andachtsuͤbungen an Zeit. Ihre naͤchste mehrjaͤhrige Dienstzeit bei einem hiesigen Ackerbuͤrger, welcher ihr eine in jeder Beziehung gute Behand¬ lung angedeihen ließ, war die einzige sorgenfreie Zeit ihres Lebens; sie lernte hier ihren ehemaligen Ehemann kennen, wel¬ cher Hausknecht von jenem war, und gewann ihn lieb, da er seine schlimmen Neigungen zum Trunk und zum Kartenspiel sorgfaͤltig verheimlichte, und sich ihr von einer moͤglichst vor¬ theilhaften Seite zeigte. Im 25. Lebensjahre reichte sie ihm die Hand, nachdem er ihr vorgeschwatzt hatte, daß er im Be- sitz eines kleinen Vermoͤgens zu ihrer haͤuslichen Einrichtung sei; nachdem sie aber ihre kleinen Ersparnisse zu diesem Zwecke verwandt hatte, erfuhr sie zu ihrem Schrecken, daß er seine Baarschaft vergeudet habe. Bald wurde sie gewahr, daß sie einen Nichtswuͤrdigen zum Manne gewaͤhlt hatte, welcher von seiner Arbeit fast immer berauscht zuruͤckkehrte, und ihre Er¬ mahnungen zu einem besseren Lebenswandel entweder unbeach¬ tet ließ, oder sie mit Fluͤchen und Schimpfworten erwiederte, wobei er sie oft auf die Erde warf, mit Schlaͤgen auf den Kopf und mit Fußtritten mißhandelte, oder sie an den Haa¬ ren in der Stube herumzerrte. Einmal hatte er ihr einen so schweren Schlag gegeben, daß sie eine Stunde lang besin¬ nungslos blieb. Nie konnte sie mit ihm ein vernuͤnftiges Wort sprechen, selten bekam sie von seinem Erwerbe, welchen er in Schenken bei Branntwein und Kartenspiel bis spaͤt in die Naͤchte verpraßte, so viel, um nur die nothwendigsten Beduͤrfnisse zu befriedigen, und wie sehr sie sich auch anstrengte, durch weibliche Arbeiten bis tief in die Naͤchte hinein, einen Nothpfennig anzuschaffen, so konnte sie doch nicht ihren und der Kinder Hunger stillen. Nur selten wagte sie es, die Kirche zu besuchen, da ihre Kleider gewoͤhnlich so zerlumpt waren, daß sie sich nicht oͤffentlich sehen lassen konnte. Nicht einmal den Trost des Gebetes goͤnnte ihr der Scheußliche, denn er schlug sie jedesmal, wenn er sie bei demselben an¬ traf, unstreitig weil er darin eine stille Anklage seiner Ver¬ worfenheit fand. Sie ist auch uͤberzeugt, daß er mit luͤder¬ lichen Weibern, mit denen er gemeinschaftlich in einem Ma¬ gazin arbeitete, einen verbotenen Umgang gepflogen, und daß er ihnen Geld zugesteckt habe, waͤhrend sie selbst mit den Kindern darben mußte. Zwanzig Jahre dauerte dies infernalische Verhaͤltniß, bis der Ruchlose in Folge seiner unaufhoͤrlichen Ausschweifungen eines elenden Todes in der Charité starb. Wer zaͤhlt die Thraͤnen und Seufzer, welche er ihr waͤhrend dieser langen Marterzeit auspreßte, wer mißt die Summe der bittersten Noth, welche sie erdulden mußte! Denn zu allem geschilderten Elende gesellte sich noch das Ungemach von 10 Wochenbetten, in de¬ nen sie mit Entbehrungen der schlimmsten Art zu kaͤmpfen hatte, daher denn auch die meisten Kinder aus Mangel an hinreichender Ernaͤhrung und Pflege fruͤhzeitig starben, und nur drei am Leben blieben. Die meisten Entbindungen gin¬ gen doch noch gluͤcklich genug von Statten; nur nach einer Fruͤhgeburt in Folge eines Schlages auf den Unterleib litt sie 18 Wochen lang an einem starken Mutterblutfluß, durch wel¬ chen sie auf das Aeußerste entkraͤftet wurde. Huͤlflos schmach¬ tete sie mit zwei kleinen Kindern, denen sie oft keinen Bissen Brodt reichen konnte, wobei ihr das Herz blutete. Ihr Lei¬ den wurde noch durch ein schlimmes Geschwuͤr, wahrscheinlich in einer Kieferhoͤhle erschwert, welches durch eine Zahnluͤcke aufbrach, und eine Menge von Eiter ergoß. Ehe es so weit kam, hatte sie an betaͤubenden Kopfschmerzen gelitten, sie konnte Tage lang nicht sprechen, sich nur durch Zeichen verstaͤndlich machen, fuͤhlte aber nach der Befreiung von dieser Plage eine solche Erleichterung im Kopfe, daß sie von Gott in ihrem In¬ nern erleuchtet zu sein glaubte, und ihm dafuͤr innig dankte. Waͤhrend einer anderen Schwangerschaft litt sie 3 Monate lang am kalten Fieber, welches endlich von einem Armenarzte ge¬ heilt wurde, nach welchem sie aber einen sehr heftigen Anfall von hysterischen Kraͤmpfen bekam. Waͤhrend 9 Stunden konnte sie nicht sprechen, nur seufzen, der Unterleib war krampfhaft zusammengezogen, und eine große Beklemmung auf der Brust versetzte ihr fast den Athem. Ihr frommer Sinn fand auch hierin eine heilsame Pruͤfung, welche Gott ihr auferlegt habe, daher nannte sie den Krampfanfall eine Reise nach dem Oel¬ berge, indem sie uͤberzeugt war, daß Krankheiten Liebesruthen seien, mit denen, so wie mit anderen Leiden Gott seine Kin¬ der zuͤchtige, um sie zu heiligen, wofuͤr sie ihm dankbar sein muͤßten. Waͤhrend der vielen Monate, welche die F. unter meiner Aufsicht zubrachte, hat sich ihr Charakter stets im guͤnstigsten Lichte gezeigt, da sie niemals ihre Sanftmuth, Ordnungsliebe und emsige Thaͤtigkeit verleugnete, und in ihrer ganzen Er¬ scheinung das ruͤhrende Bild einer stillen, ergebenen Dulderin darbot, welche durch die Erinnerung an ein unter steten Mi߬ handlungen zugebrachtes Leben nie zum bitteren Rachegefuͤhl ge¬ stimmt wurde. Ihr Verstand wird sich schwerlich jemals wieder aus den Schlingen des Wahnsinns befreien koͤnnen, aber ihr Ge¬ muͤth hat eine sittliche Laͤuterung gewonnen, welche ihr Hoch¬ achtung und Theilnahme zuwenden muß. Eine solche Gesin¬ nung wirft daher ein helles Licht auf ihre Vergangenheit, und man darf ihr unbedenklich Glauben beimessen, daß die niemals heftig gegen ihren brutalen Ehemann gewesen sei, und oft Gott auf den Knieen um seine Besserung angefleht habe. Ja sie schloß alle uͤbrigen Menschen, welche wie Bruͤder und Schwestern sich lieben sollten, in ihr Gebet ein; und erwaͤgt man, daß sie fast nur unsittlichen Personen, von denen sie so viel erduldet hatte, im Leben begegnet war, daß nie Jemand sich ihrer Noth erbarmte, und daß sie oft Wochen lang im tiefsten Jammer mit ihren hungernden Kindern schmachtete, deren Elend ihr noch jetzt das Herz zerreißt, so legt alles dies das staͤrkste Zeugniß dafuͤr ab, daß aͤchte Froͤmmigkeit stets der vorherrschende Zug ihres Charakters war. Denn kein anderes Gefuͤhl konnte in ihr rege werden, da jedes In¬ teresse, welches den Menschen so eng an die Erde fesselt, in ihr durch stete Mißhandlung und Noth erstickt war, und sie nur in religioͤsen Herzensergießungen noch eines lebendigen Bewußtseins theilhaftig werden konnte. Selbst die Liebe zu den Kindern ist in wehmuͤthige Erinnerung uͤbergegangen, wel¬ che kaum den Wunsch des Wiedersehens bei ihr erzeugt, da sie fuͤrchtet, daß ihr dieselben durch den Tod entrissen worden sind. Es ist nicht wohl moͤglich, den eigentlichen Ursprung ih¬ res wirklichen Wahnsinns naͤher zu bezeichnen, und in truͤber Gaͤhrung ihres Innern moͤgen schon lange die auffallendsten Ungereimtheiten vorhanden gewesen sein, welche Niemand beobachtete, weil Niemand sich um sie kuͤmmerte. Sie selbst weiß noch weniger davon anzugeben; doch sind deutliche Er¬ scheinungen wirklicher religioͤser Geistesbethoͤrung wahrscheinlich schon in fruͤhen Jahren vorgekommen, wenn das Gemuͤth der F. besonders tief erschuͤttert war. Namentlich war dies der Fall, als ihr ein Traktaͤtlein, das Herzensbuch betitelt, ein¬ gehaͤndigt, und von einer Frau ihr gesagt wurde, daß dasselbe die Schilderung des menschlichen Herzens enthalte. Durch die Lectuͤre desselben wurde sie mit wahrem Entsetzen erfuͤllt, als wenn sie schon die Flammen der Hoͤlle empfinde, denn jene Schrift, gleich so vielen aͤhnlichen, welche den Sinn schwacher Gemuͤther verdumpfen, verwirren, aͤngstigen oder fanatisiren, stellte das Herz dar als erfuͤllt von Schlangen, Froͤschen und anderem Ungeziefer, als Emblemen der Laster. In ihrer Angst glaubte sie die Stimme Gottes in sich zu vernehmen, welche ihr ankuͤndigte, daß Heulen und Zaͤhnklappen auf ihren krank darnieder liegenden Ehemann kommen wuͤrden, daß Schlangen sein Deckbette sein sollten, wenn er sich nicht von seinen Aus¬ schweifungen bekehre. Sie theilte ihm diese angebliche Offen¬ barung mit, versetzte ihn aber dadurch dergestalt in Wuth, daß sie nur durch die Flucht seinen Mißhandlungen sich entziehen konnte. Eben so hatte sie waͤhrend ihrer Ehe, als sie ihre Verzweiflung durch inbruͤnstiges Beten zu beschwichtigen suchte, eine deutliche Vision ihrer Mutter, welche weiß gekleidet in natuͤrlicher Gestalt zu ihr trat, und ohne zu sprechen nach einigen Minuten wieder verschwand. Die F ., welche ein sehn¬ suͤchtiges Verlangen nach ihrer liebevollen Mutter hegte, be¬ trachtete gleichfalls schweigend ihre Gestalt, und empfand eine große Freude bei der Vorstellung, daß dieselbe aus dem Him¬ mel zu ihr herabgestiegen sei, um ihr Trost zu bringen. Waͤh¬ rend eines Wochenbettes vernahm sie in sich die Stimme von Christus, welcher sie fragte, wer hat dich erloͤset? und darauf hinzusetzte: „Der suͤße Heiland.” Sie flehte ihn an, er moͤge ihr die Kraft schenken, im Gebete die Kniee zu beu¬ gen vor seiner Gnadenhand. Da sie am 3. Tage nachher schon von schwerem Krankenlager aufstehen konnte, so sah sie hierin die gnaͤdige Erhoͤrung ihres Gebets. Bald nach dem Tode ihres Mannes kam aber ihr Wahnsinn deutlicher zur Erscheinung. Ein Uhrmacher mußte naͤmlich als Armenvorsteher ihr woͤchentlich 6 Groschen einhaͤn¬ digen, und da sie auch haͤufig in seinem Hause arbeitete, und dafuͤr einiges Geld empfing, so entstand sehr bald eine mystische Neigung gegen ihn in ihr, welche sofort eine seltsame Gestalt annahm. Anfangs mochte sie ihn fuͤr ihren Wohlthaͤter gehal¬ ten haben, ohne an seinen amtlichen Charakter zu denken, dem sie seine Gaben verdankte. Das Gefuͤhl der Erkenntlich¬ keit gegen einen Mann, welcher, vielleicht der erste, ihr ein thaͤtiges Wohlwollen bezeigte, ging aber bald in wirkliche Zu¬ neigung uͤber, welche gewiß nicht die geringste erotische Be¬ deutung bei einer schon bejahrten Frau hatte, der die Ehe nur in der abschreckendsten Gestalt erschienen war. Aber trotz aller erduldeten Kraͤnkung hatte sie in sich die Vorstellung le¬ bendig erhalten, daß die Menschen sich gegenseitig als Bruͤder und Schwestern lieben sollten, und in diesem Sinne glaubte sie von Gott die Weisung erhalten zu haben, jenen Uhrma¬ cher von Herzen zu lieben, und sich an ihn als ihren Ehe¬ mann innig zu ketten, da auch ihm geboten worden sei, sie zu heirathen, und fuͤr ihren Haushalt, so wie fuͤr ihre Kin¬ der zu sorgen. Nicht nur machte sie gegen ihn von dieser Forderung kein Geheimniß, sondern sie verlangte auch von ihm, so wie von ihrer Schwester, daß beide ihr behuͤlflich sein soll¬ ten, ein Erbtheil von ihrer Mutter, welches nach ihrer Mei¬ Ideler uͤber d. rel. Wahnsinn. 8 nung auf einige hundert Thaler sich belaufen sollte, zu erlan¬ gen. Mit rauhen Worten abgewiesen, ließ sie sich doch nicht in ihrer Hoffnung irre machen, vertraute fest auf die Verhei¬ ßung Gottes, daß jener ihr Ehemann werden solle, um sie fuͤr die vielen, vom ersten Manne erduldeten Leiden schadlos zu halten, und sie zu den liebenden Bruͤdern und Schwestern zuruͤckzufuͤhren. Je mehr Kraͤnkungen sie hieruͤber erdulden mußte, um so eifriger betete sie fuͤr ihren Auserwaͤhlten. Es ist nicht mehr auszumitteln, welche von beiden nach¬ folgenden Visionen, in denen ihr religioͤser Wahn zur hoͤchsten Entwickelung kam, ihr zuerst zu Theil wurde. Einst lag sie in ihrer Wohnung mit Fußgeschwuͤren behaftet im Bette, als das Gefuͤhl ihrer schweren Leiden sich ihr in einem Schreckbil¬ de von Flammen, in denen sie die Hoͤlle zu sehen glaubte, reflectirte; der ganze Himmel, so weit sie ihn aus dem Fen¬ ster sehen konnte, stellte eine unermeßliche Feuersbrunst dar, in welcher sie eine wirbelnde Erscheinung ohne bestimmte Ge¬ stalt, von ihr eine schwebende Seele genannt, wahrzunehmen glaubte. Nicht nur empfand sie dabei einen brennenden Schmerz in den Geschwuͤren, sondern sie fuͤhlte auch zugleich die ewige Hoͤllenpein, durch welche Gott ihr ankuͤndigte, sie solle die Menschen zur Buße und Besserung auffordern, da¬ mit sie nicht auf immer in den Feuerpfuhl geriethen. Da jene Vision etwa ¼ Stunde dauerte, so machte sie einen so tiefen Eindruck auf die F., daß sie nicht saͤumen zu duͤrfen glaubte, den ihr vom Himmel gegebenen Auftrag zu erfuͤllen, wodurch sie sich eine neue Verhoͤhnung vom Uhrmacher zuzog, durch welchen sie ihre Verkuͤndigung an die uͤbrigen Menschen gelangen lassen wollte. Sie nennt diese Erscheinung ihre zweite Hoͤllenfahrt, indem sie ihre durch das Herzensbuch ver¬ anlaßte Angst als die erste bezeichnet. Etwa um dieselbe Zeit glaubte sie aber auch eine Himmelfahrt angetreten zu haben, nachdem sie im Schooße ihrer Mutter gelegen hatte. Sie sah dieselbe nicht, empfand aber ein ungemein behagliches Gefuͤhl, als ob sie in Sammt und Seide gebettet waͤre, und eine in¬ nere Stimme sagte ihr, wo sie sich befaͤnde. Da sie zugleich koͤrperlich sehr leidend war, so kam es ihr vor, als ob sie gestorben, und in einem Sarge von Engeln in den Himmel getragen worden sei, woselbst der Deckel von dem Sarge ge¬ nommen wurde, um sie auferstehen zu lassen. Außer dem Sarge sah sie Nichts, nur eine innere Stimme sagte ihr an, in welcher Umgebung sie sich befaͤnde, aus welcher sie wieder von unsichtbaren Engeln auf die Erde zuruͤckgetragen wurde. Hiermit war ein bestimmter Wendepunkt in ihrem Selbst¬ bewußtseyn eingetreten, da sie ihre sterbliche Natur abgelegt zu haben, und als auferstandener Messias, als wirklicher Sohn Gottes auf die Erde wiedergekehrt zu sein uͤberzeugt war, um das Reich Gottes zu stiften und auszubreiten. Sie nahm kei¬ nen Anstoß daran, daß sie als Weib, als Mutter vieler Kin¬ der in die Person Christi, welcher seinerseits zur obersten Gott¬ heit geworden, eingetreten sei, da Gott als Schoͤpfer aller Dinge seinen Sohn aus sich geboren habe, und sie als Ge¬ baͤrerin in seine Fußtapfen eingetreten sei. Denn sie habe der Gna¬ de Gottes die ganze Welt im Gebete uͤberliefert, und sie als ihr Eigenthum von ihm zuruͤckempfangen. Durch ihr Leiden sei ihr messianischer Beruf fuͤr alle Menschen außer Zweifel gesetzt, sie sei daher die Felsenburg, auf welcher das Reich Gottes gegruͤndet werden solle, gleichwie sie auf Gott als eine feste Burg gebaut habe. Denn sie habe sich in Demuth er¬ niedrigt, um von Gott erhoͤht zu werden. Fortan handelte sie nun im Sinne jener Apotheose, welche ihr durch unmittel¬ bare Kundgebung des goͤttlichen Willens in ihrem Inneren den von ihr zu betretenden Weg vorzeichnete. Zunaͤchst er¬ waͤhlte sie wieder den Uhrmacher zu dem Organ ihrer Bot¬ schaft an das Menschengeschlecht, welcher dieselbe in einem gro¬ ßen Actenstuͤck verzeichnen, und der Stadtvogtei uͤbergeben solle, um von hier aus durch die ganze Welt verbreitet zu werden. Sie erklaͤrte sich fuͤr die von Gott eingesetzte Beherrscherin der Erde, und als Landesmutter aller auf derselben wohnenden Geschlechter, und um ihrem Machtgebot mehr Nachdruck zu geben, verlangte sie, daß ein Courier an den Kaiser von Rußland abgesandt werde, welcher sie als seine Mutter zur Regentin seines Reichs einsetzen, und fuͤr ihre leiblichen Be¬ duͤrfnisse Sorge tragen solle, weil sie fuͤr ihn gesiegt, und ihn mit ihrem Blute erkauft habe. Auch sei derselbe wirklich, wie sie versichert, unter der Verkleidung eines Officiers vor 8 * ihr erschienen, um sich von ihr segnen zu lassen. Anlangend ihren messianischen Beruf sollte sie vornaͤmlich dafuͤr Sorge tragen, daß alle Kinder in der rechten Glaubenserkenntniß er¬ zogen, und daß alle aͤrmeren Kinder auf Kosten der Reichen, jedes mit 300 Thalern, ausgestattet werden sollten. Alle Menschen sollten ferner durch den Genuß des heiligen Abend¬ mahls in den Bund der Bruͤder und Schwestern aufgenom¬ men werden, sich als solche innig lieben, und dies durch das geschwisterliche Du bekraͤftigen, weil dies der einzige Weg zur Seeligkeit sei. Durch sie sei mit dem Reiche Gottes der ewige Friede auf die Erde gebracht worden, und fortan muͤßten alle Kriege aufhoͤren, alles Unrecht und Unordnung abgestellt wer¬ den, wenn nicht ewige Verdammniß als Strafe fuͤr die Ver¬ achtung des durch sie kundgegebenen Willens Gottes erfolgen solle. Im Antriebe ihres Wahns verwickelte sie sich in eine Menge verdruͤßlicher Auftritte, wodurch sie in der Meinung be¬ staͤrkt wurde, daß die Welt ihren messianischen Beruf nicht anerkenne, die Gebote Gottes nicht beachte und erfuͤlle, also des ewigen Heils nicht theilhaftig werden wolle. Insbesondere gerieth sie mit dem Uhrmacher in Streit, als sie ihn mit der Anrede, lieber Bruder, dutzte, und ihm diese Vertraulichkeit als eine heilige Pflicht begreiflich machen wollte. Da sie sich dasselbe gegen seine Frau herausnahm, und sie sogar umar¬ men wollte, um ihr den Schwesterkuß zu geben, so mußte sie nicht nur harte Worte, daß sie wahnsinnig sei, hoͤren, son¬ dern sie scheint auch noch auf eine derbere Art abgewiesen worden zu sein. Gleiches Loos widerfuhr ihr bei einem Kauf¬ mann, den sie ebenfalls mit Du anredete, und welcher sie nach einem Wortstreit aus dem Laden warf, welches zu ihrer großen Kraͤnkung von dem Uhrmacher belobt wurde. Wahr¬ scheinlich wurde sie in der Nachbarschaft wegen ihrer Schwaͤr¬ merei verspottet, so oft sie sich auf der Straße blicken ließ, und sie mag wohl oft von den Gassenbuben mit Schimpf vefolgt, selbst in ihrer Wohnung nicht ganz geschuͤtzt gewesen sein. Tief bekuͤmmert klagte sie Gott ihre Noth, welcher ihr im Innern den Trost zusprach: „Laß sie spotten, laß sie la¬ chen, ich werde sie alle zu Schanden machen, ich habe ein Auge auf dich bis ans Ende. Wenn die Welt ihr zu viele Leiden aufbuͤrde, so solle die Strafe nicht ausbleiben. Dann solle sie auf einer Eisenbahn in den Himmel abgeholt wer¬ den, weil die Boten Gottes wie die schnellste Post im Sturme daherfuͤhren.” Vergebens hatte sie sich also mit der Hoffnung getroͤstet, daß durch sie das Menschengeschlecht zu einer neuen Glaubens¬ erkenntniß wiedergeboren werden sollte, daß auf ihren Befehl eine Menge von Haͤusern errichtet werden wuͤrden, um die Nothleidenden aufzunehmen; ihre angebotene Liebe wurde ver¬ schmaͤht, vergebens hatte sie den Menschen zugerufen: „Liebe Bruͤder, freut Euch allzumal, das Himmelreich steht Euch of¬ fenbar.” Der ersehnte Friede kam nicht, und die Strafe Got¬ tes konnte nicht ausbleiben, nachdem sowohl der russische Kai¬ ser, als der Uhrmacher taub gegen die durch sie verkuͤndigte goͤttliche Drohung geblieben waren, daß Donner und Krachen uͤber sie kommen wuͤrden, wenn sie nicht hoͤren wollten. Da sprach der himmlische Vater zu ihr, sie solle nun nicht mehr mit Leiden von den Menschen belastet werden, denn sie habe schon genug gelitten, wobei ihr zugleich verkuͤndigt wurde, daß im Himmel Gericht uͤber die Suͤnder gehalten werde. Etwa ein Jahr spaͤter, als sie sich schon in der Charité be¬ fand, offenbarte ihr Gott abermals, daß uͤber das unbußfer¬ tige Menschengeschlecht Gericht gehalten werde, welches sie ei¬ ligst den Aerzten ankuͤndigte, damit nicht die letzte Gnaden¬ zeit zur Bekehrung von den Suͤndern unbenutzt gelassen werde. Es wirft ein helles Licht auf ihren Charakter, daß sie bei dieser Vorstellung nicht von fanatischem Eifer bigotter Schwaͤrmer ergriffen wurde, welche mit Schadenfreude die Welt der ewigen Verdammniß, von welcher sie fast allein be¬ freit zu sein uͤberzeugt sind, uͤberliefern, sondern daß sie in ein wahres Angstgeschrei ausbrach, in Thraͤnen zerfloß, und mehrere Tage hindurch in trostlosem Jammer uͤber die Mar¬ tern ihrer Bruͤder wehklagte, welche sie seit Jahr und Tag vergebens mit Ankuͤndigung des Gerichts aufgefordert hatte, auf die Kniee zu fallen, und Gott um Vergebung ihrer Suͤnden anzuflehen. Haͤnderingend bat sie den lieben Heiland, den Suͤndern zu verzeihen, welche nicht wuͤßten, was sie thaͤten, und fand nur in der Vorstellung endlich Beruhigung, daß Gott auf ihr Flehen die Hoͤllenstrafe, welche Heulen und Zaͤhn¬ klappen bewirke, abkuͤrzen werde. Dieser letzten Ankuͤndigung des Gerichts war eine dritte Hoͤllenfahrt in der Nacht voran¬ gegangen, welche sie schlaflos unter namenloser Quaal zu¬ brachte, so daß sie sich dem Tode nahe glaubte, ohne jedoch von Sinnestaͤuschungen heimgesucht zu werden. Erst nachdem sie ein Gebet an den Heiland um Verleihung des Sieges ge¬ richtet hatte, wurde ihr wohler. Am 28. Mai 1845 in die Charité aufgenommen hat sie nicht die geringste Veraͤnderung in ihrem Zustande wahrneh¬ men lassen. Ihre Verstandesbethoͤrung grenzte schon an Gei¬ stesverwirrung, so daß sich nur mit Muͤhe der bisher geschil¬ derte Zusammenhang ihrer schwaͤrmerischen Grillen auffinden ließ. Ob sie sich als zweiter Messias, als Landesmutter eine hoͤhere Sanction beilegte, konnte nicht bestimmt ermittelt wer¬ den; denn obgleich dies einerseits aus ihren Worten zu folgen schien, so widersprach dem theils ihre anderweitige Behauptung, daß alle Menschen auf gleiche Weise Kinder Gottes seien, theils ihre demuͤthig harmlose Freundlichkeit und Anspruchslosig¬ keit, welche den absoluten Gegensatz zu dem kolossalen Hoch¬ muth fanatischer Theomanen bildet. Schon fruͤher habe ich ihren sittlich vortrefflichen Charakter geschildert, als dessen Haupt¬ zug eine liebevolle Sorgfalt fuͤr alle Nothleidenden angesehen werden muß. Ueberzeugt, daß alle Krankheiten Liebesruthen sind, mit welchen Gott alle Menschen zu ihrer Besserung zuͤchtige, beklagt sie es vornaͤmlich sehr, daß so viele Kranke ihr Loos nicht in diesem Sinne ansehen, nicht Buße thun, nicht im haͤufigen Morgengebet sich heiligen, sondern mit leichtfer¬ tigem Gemuͤth in ihre fruͤheren Verhaͤltnisse zuruͤckkehren. Ins¬ besondere verabscheut sie aus tiefster Seele das Fluchen, wel¬ ches sie eine Versuchung des Teufels zum Abfall von Gott, eine Suͤndfluth nennt, in welche versenkt die Menschen ihre Besinnung verlieren. Gewoͤhnlich verhaͤlt sie sich ruhig und harmlos, nur bei der erwaͤhnten Gelegenheit gerieth sie in eine heftige Angst, welche nur mit Muͤhe beschwichtigt werden konnte. 8. B. , 59 Jahre alt, ein Pfeifenschlauchmacher, ist seiner Aussage zufolge fruͤher niemals schwer krank gewesen. Dem Branntweintrinken ausschweifend ergeben, wurde er durch einen Traum seiner Frau heftig erschreckt, welche darin eine Erschei¬ nung hatte, durch die ihr geboten wurde, ihm das Brannt¬ weintrinken ganz zu verwehren, weil dies ihm den Untergang bringen wuͤrde. Er sah hierin eine Eingebung Gottes, und nahm von da an fleißig Theil an pietistischen Versammlungen, welche ihm die Enthaltsamkeit von spirituoͤsen Getraͤnken zur Pflicht machten. Hierdurch in eine uͤberspannte Froͤmmigkeit versetzt, versaͤumte er nun beinahe ganz seine Arbeit, und theilte seine Zeit zwischen dem Besuch der Betstunden und dem Lesen der Bibel und des Gesangbuches. Wenn er sich auch einmal mit seiner Profession beschaͤftigte, so hatte er doch immer geist¬ liche Buͤcher zur Hand, in denen er mehr las, als arbeitete. Die Klagen seiner Familie uͤber Mangel an Lebensunterhalt erwiederte er mit den Worten, daß Hunger und Elend Schickun¬ gen Gottes seien, in die man sich fuͤgen muͤsse, Gott werde schon fuͤr sie sorgen, wenn er wolle. Er bildete sich ein, zur Strafe fuͤr sein fruͤheres suͤndiges Leben von hoͤllischen Geistern in seinem Inneren beherrscht und aͤußerlich belagert zu werden. Mit diesen Gaͤsten unterhielt er sich, und waͤhnte, daß sie ei¬ nen Ausweg aus seinem Koͤrper suchten, ihn aber nicht finden koͤnnten. Seit vielen Jahren litt er, unstreitig in Folge sei¬ ner Ausschweifungen, an oft sehr lange dauernder Leibesver¬ stopfung und an Haͤmorrhoiden, welche ihm haͤufig große Be¬ schwerden, das Gefuͤhl von Vollsein und Beaͤngstigung im Unterleibe verursachten. Oft war er Willens, sich mit einem Messer den Bauch aufzuschneiden, um den Geistern einen freien Ausweg aus dem Koͤrper zu verschaffen. Bei seiner am 25. November 1840 erfolgten Aufnahme in die Charité beklagte er sich sehr lebhaft uͤber die Anfechtungen des Satans, wel¬ cher ihn mit deutlichen Worten zur Gotteslaͤsterung auffordere, ihm alle frommen Gedanken waͤhrend des Gottesdienstes raube, so daß von den angehoͤrten Predigten nicht die geringste Erin¬ nerung bliebe, auch treibe derselbe den groͤßten Unfug in sei¬ nem Leibe, wogegen er kein anderes Huͤlfsmittel habe auffin¬ den koͤnnen, als das Zeichen des heiligen Kreuzes, wozu auch eine Stimme ihm gerathen habe. Dieser Kampf mit dem Teufel sei allerdings sehr quaͤlend, indeß Gott habe ihm zum Schutz gegen denselben den heiligen Geist gesandt, denn er fuͤhle deutlich ein lebendiges kleines Wesen in seinem Leibe sich be¬ wegen, welches eine Reinigung desselben vornehme, weshalb er viel spucken muͤsse. Uebrigens behauptete er, gesund zu sein, und sah es als eine Schickung Gottes an, daß er ins Irren¬ haus gebracht sei, da dies zu seinem Besten gereiche, und worin er sich willig ergebe, da er noch nicht den rechten Glauben gehabt habe. Nach der fortgesetzten Anwendung ge¬ linder Abfuͤhrungen, wodurch seine Unterleibsbeschwerden groͤ߬ tentheils beseitigt wurden, erlangte er scheinbar eine groͤßere Ruhe, indem er Trost aus der Ueberzeugung schoͤpfte, daß er als Arbeiter im Weinberge des Herrn seine Suͤnden abarbeiten koͤnne. Indeß eine wesentliche Veraͤnderung trat nicht ein, namentlich aͤußerte er bei einer spaͤteren Gelegenheit, er habe in sich zwei Stimmen, eine gute und eine boͤse, die eine auf der rechten, die andere auf seiner linken Seite; die boͤse sage immer, fluche Gott, wie er dies von Menschen, namentlich von einem Polizeicommissaͤr gehoͤrt habe, welcher die Bibel ein verfluchtes Buch nannte. Die gute Stimme ermunterte ihn, seinem Heilande treu zu bleiben. In seinem 35. Jahre habe er als Vorsteher einer Kasse den Kassenschreiber, der diese betrogen, angezeigt; dies sei eine Verraͤtherei von ihm gewe¬ sen, da man lieber Unrecht leiden, als Anderen Unrecht zu¬ fuͤgen muͤsse. Hierbei gerieth er in ein heftiges Weinen und Schluchzen, und rang die Haͤnde, so daß er nur mit Muͤhe beschwichtigt werden konnte. Dann aͤußerte er, nachdem der heilige Geist seine Reinigung vorgenommen, stehe er fest im Glauben, und troͤste sich mit den Worten Davids: „Ihr habt einen schweren Bußkampf gehabt, und seid noch jung wie die Adler”. Endlich sprach er „ich bin auf Golgatha gewesen, d. h. ich habe die Gnadenthraͤnen gehabt, die der Herr schickt, und zwar als ich in die Georgenkirche gegangen bin, denn das ist die Gnade und Freudigkeit des heiligen Geistes, die man nur fuͤhlen kann,” Nachdem sein Wahn, welcher zuletzt in die Ueberzeugung uͤberging, daß er durch die Gnade Gottes einer besondern Erleuchtung theilhaftig geworden sei, ohne Erfolg bekaͤmpft worden war, wurde er im Mai 1842 in eine Ver¬ pflegungsanstalt versetzt. 9. M. , im Jahre 1796 geboren, wurde unter gluͤcklichen Verhaͤltnissen erzogen, und erfreute sich fruͤher einer stets bluͤ¬ henden Gesundheit. Um so trauriger gestaltete sich aber seine Lage, als er in seinem 24. Jahre, noch waͤhrend er die Ve¬ terinaͤrkunde studirte, sich verheirathete, und dadurch an einer gruͤndlichen wissenschaftlichen Ausbildung verhindert wurde, so daß er die hoͤheren Pruͤfungen nicht ablegen konnte, sondern sich mit gelegentlichen unbedeutenden Curen einen kaͤrglichen Erwerb verschaffen mußte, welcher noch durch Geldstrafen fuͤr unbefugte Heilversuche an Menschen geschmaͤlert wurde. Er hatte daher stets mit Nahrungssorgen und haͤuslichen Wider¬ waͤrtigkeiten zu kaͤmpfen, welche er durch haͤufigen Genuß spi¬ rituoͤser Getraͤnke zu vergessen bemuͤht war. Bei seinem chole¬ rischen Temperamente kam es oft zu den Ausbruͤchen des hef¬ tigsten Zorns, auf welche in ruhigeren Stunden ein tiefer Gram uͤber seine zerruͤtteten Verhaͤltnisse folgte. Unter dem Verein dieser Einfluͤsse entwickelte sich allmaͤhlig eine anhaltende Auf¬ regung des Gemuͤths und Koͤrpers, welche ihrer wesentlichen Bedeutung nach als Delirium tremens angesehen wurde, und deshalb im August 1841 Veranlassung zu seiner Aufnahme in die Abtheilung der Charité fuͤr innere Kranke gab. Hier zeigte er sich Anfangs ziemlich ruhig, war im Stande, die ihm vorgelegten Fragen zu beantworten, konnte aber nicht lange einen Gegenstand festhalten, weil er sich fortwaͤhrend mit der Vorstellung beschaͤftigte, daß er der leibhafte Sohn Gottes und kein Mensch sei. Sich selbst uͤberlassen saß er versunken im Bruͤten uͤber seine goͤttlichen Eigenschaften, ohne auf seine Umgebungen Acht zu geben, gerieth aber leicht in Heftigkeit, wenn er in seinen Grillen gestoͤrt wurde. Schon am naͤchsten Tage brach ein voͤlliger Wuthanfall bei ihm aus, er schlug um sich, tobte und schrie, und mußte durch Coercitivmaaß- regeln verhindert werden, Schaden anzurichten. Durch Dar¬ reichung von gelinden Abfuͤhrungen wurde diese Aufregung schnell beschwichtigt, ja er schien bald zur voͤlligen Besinnung zuruͤck¬ zukehren, und zuckte bei der Frage nach seiner goͤttlichen Ab¬ kunft mit den Achseln, indem er aͤußerte, daß dies nicht so gemeint gewesen sei. Da es demnach den Anschein hatte, als ob jene Wahnvorstellung nur die Folge eines ausschweifenden Branntweinsgenusses gewesen sei, so wurde er schon im naͤch¬ sten Monate wieder aus der Charité entlassen. Indeß der fortgesetzte Mißbrauch spirituoͤser Getraͤnke weckte bald wieder die kaum beseitigte Verstandesbethoͤrung; er hielt sich fuͤr einen Gottesgesandten, welcher die Leiden des Lebens tragen muͤsse, glaubte Apostel zu sein, und ließ das Kopf- und Barthaar wachsen, um sich ein ehrwuͤrdiges Ansehen zu geben. Erneuerte Wuthanfaͤlle machten seine abermalige Aufnahme in die Charité am 19. April 1845 noͤthig, welches nicht ohne einen Volksauflauf bewirkt werden konnte, da er auf dem Wege dort¬ hin von seinem Begleiter sich losriß, eilig die Kleider abwarf, um nackend eine Predigt auf der Straße zu halten, so daß es zu einem Handgemenge kam, in welchem er eine Verwundung an der Hand davontrug. In die Irrenabtheilung gebracht, mußte er wegen seines gewaltthaͤtigen Betragens in den Zwangs¬ stuhl gesetzt werden. Sein sinnloses Schwatzen, Schreien und Laͤrmen machte jede Unterredung mit ihm unmoͤglich, und man konnte nur soviel in seinem Wortschwall unterscheiden, daß er sich fuͤr einen Abgesandten Gottes und fuͤr einen Apostel Christi halte. Nach einigen Tagen beruhigte er sich, und gab nun an, daß er aus Nahrungssorgen an großer Angst litt, welche zuletzt die Vorstellung hervorrief, daß Moͤrder im Hinterhalte lauer¬ ten, und in jedem Augenblicke bereit seien, hervorzuspringen und Hand an ihn zu legen. Dies sei auch, fuͤgte er hinzu, die Ursache seiner Raserei gewesen. Ferner behauptete er, Gott habe ihm mit vernehmlicher Stimme zugerufen, er sei sein Vater, werde ihn beschuͤtzen, ihm nicht ein Haar auf seinem Haupte kruͤmmen lassen, und gab zu verstehen, daß er sich deshalb fuͤr einen Gottgesandten halte. Doch wollte er sich nicht naͤher hieruͤber erklaͤren, und begnuͤgte sich mit der Be¬ merkung, daß er ohne unmittelbaren goͤttlichen Beistand, wie ihm derselbe in jener Offenbarung verheißen worden, seine un¬ zaͤhligen Leiden nicht haben ertragen koͤnnen. Bei jeder nach¬ folgenden Unterredung trat besonders sein Bestreben hervor, sich daruͤber zu taͤuschen, daß er durch Thorheit und Ausschweifun¬ gen der Urheber seines traurigen Looses geworden sei, denn nie wollte er es anerkennen, daß er zur gesetzlichen Ausuͤbung der Veterinaͤrkunde, und noch weniger zu Curen an Menschen be¬ fugt gewesen, und deshalb mit Recht in Strafe genommen wor¬ den sei. Er sah hierin nur die unbarmherzige Verfolgung ge¬ gen einen Mann, der an dem noͤthigen Erwerbe fuͤr die Sei¬ nigen verhindert worden sei, und behauptete, daß er Curen an Menschen ohne allen Privatvortheil, blos aus christlicher Liebe unternommen habe, weil ihm mehrere Heilungen auf eine glaͤn¬ zende Weise gelungen seien. Noch weniger raͤumte er die nach¬ theiligen Wirkungen des Branntweins ein, welches zu begrei¬ fen fast alle Trunkenbolde sich hartnaͤckig weigern, da sie sich absichtlich uͤber die Folgen ihrer Ausschweifungen taͤuschen, um nicht durch das Gewissen genoͤthigt zu werden, sich ihrer zu enthalten. Er hatte zu lange unter demoralisirenden Einfluͤssen ge¬ litten, und war zu tief in Geist und Gemuͤth zerruͤttet worden, als daß seine Heilung haͤtte gelingen koͤnnen; vielmehr fand er Trost in der Selbstvergessenheit seines religioͤsen Wahns, wel¬ cher unveraͤndert fortdauerte, und dadurch einen voͤllig abge¬ schlossenen Charakter angenommen hatte. Er behauptete daher, daß er den Proceß Gottes gegen den Teufel zu fuͤhren berufen sei, denn die Stimme Gottes habe ihn dazu angetrieben, als er in Betracht des gefaͤhrlichen Unternehmens sich dagegen ge¬ straͤubt habe, auch sei seine Hand im Niederschreiben der Ver¬ handlungen Gottes gegen den Teufel unstreitig von hoͤherem Willen gelenkt worden, als dessen Werkzeug er sich ansehen muͤsse. Bei einer Unterredung mit seinem zum Juͤnglingsalter herangereiften Sohne, welcher bittere Klage daruͤber fuͤhrte, daß ihm jede Gelegenheit fehle, sich zu einem brauchbaren Manne auszubilden, aͤußerte M. mit aufgeblasenem Pathos, der Mensch muͤsse sein Schicksal Gott anheimstellen, und nicht ein Streben nach weltlichen Dingen in sich aufkommen lassen. Nach eini¬ gen Monaten wurde er in anderweitige Verhaͤltnisse versetzt. 10. K . , 42 Jahre alt, wurde in Manheim von katholischen Aeltern geboren, erlernte das Zimmerhandwerk, und trat als Geselle eine mehrjaͤhrige Wanderschaft an, welche ihn zuletzt nach Berlin fuͤhrte, woselbst er sich mit einer geschiedenen evan¬ gelischen Frau verheirathete, und mit ihr in einer sehr gluͤck¬ lichen Ehe lebte. Dieser Umstand gab Veranlassung, daß ihm von einem katholischen Geistlichen der Genuß des heiligen Abend¬ mahls verweigert wurde, da seine Ehe nur als Concubinat an¬ zusehen sei; er muͤsse sich daher von seiner Frau scheiden lassen, wenn er in die Gemeinde der Rechtglaͤubigen wieder aufgenom¬ men werden wolle. Diese Excommunication belastete ihn eine lange Reihe von Jahren hindurch mit Gewissensscrupeln, da er stets im Kampfe zwischen seinem religioͤsen Herzensbeduͤrfniß und der innigen Liebe zu seiner braven Frau schwankte; indeß angestrengte Arbeiten, bei denen er sich stets der kraͤftigsten Gesundheit erfreute, erhielten ihn wenigstens in leidlicher Fas¬ sung, so daß er sich oft seiner quaͤlenden Sorgen entschlagen konnte. Nun faßte er aber in seinem bereits vorgeruͤckten Al¬ ter den Entschluß, das Examen als Zimmermeister abzulegen, um sich eine selbststaͤndige Stellung und dadurch einen reich¬ licheren Erwerb zu verschaffen, weshalb er mehrere Monate Unterricht in der Mathematik, im Zeichnen und in anderen das Baufach betreffenden Gegenstaͤnden nahm, um sich fuͤr die Pruͤ¬ fung vorzubereiten. Er soll darin gute Fortschritte gemacht ha¬ ben, so daß er sich einen guͤnstigen Erfolg versprechen konnte; indeß der ploͤtzliche Uebergang von den gewohnten koͤrperlichen Arbeiten zu den ihm fremden geistigen Anstrengungen versetzte ihn in eine peinliche Aufregung, welche bald die Besorgniß erzeugte, daß er im Examen nicht bestehen werde. Tief be¬ kuͤmmert uͤber das Scheitern seiner Hoffnungen gerieth er bald in eine voͤllige Verzweiflung, welche von fieberhaften Erschei¬ nungen begleitet, seine Aufnahme in die Abtheilung der Cha¬ rité fuͤr innere Kranke am 12. Mai 1842 nothwendig machte. Er schrie und tobte, klagte sich unverzeihlicher Suͤnden an, be¬ jammerte das Schicksal seiner durch ihn ungluͤcklich gewordenen Familie, und verlangte einen Beichtvater. Der Anfall dauerte mehrere Stunden, und wurde nach einigen ruhigen Pausen noch heftiger. Er lief tobend in der Stube umher, zertruͤm¬ merte das Geraͤth, zerschlug das Fenster, und war bemuͤht, dem Waͤrter Verletzungen beizubringen, weshalb er sofort in die Irrenabtheilung versetzt wurde. Hier artete sich sein Zu¬ stand ganz auf dieselbe Weise, indem er mehrere Tage und Naͤchte hindurch seine tobsuͤchtige Angst durch lautes Jammern uͤber seine schwere moralische Schuld und durch Wehklagen uͤber seine durch ihn ungluͤcklich gewordene Familie verrieth, und keine Frage genuͤgend beantwortete. Er betheuerte, Alles zur Er¬ leichterung seines Gewissens gestehen zu wollen, und gab beson¬ ders als Ursache seiner Verzweiflung an, daß er vor vielen Jahren in Wien ein uneheliches Kind gezeugt, und spaͤter eine geschiedene Frau geheirathet habe. Indem er sich unter den ausdrucksvollsten Mienen und Gesticulationen den ungluͤcklichsten, verworfensten und schuldbelastesten Mann nannte, verfluchte er seinen Leichtsinn, seine Schwaͤche, so wie die Strenge seiner Examinatoren, und gedachte jammernd seines fruͤheren, nun auf immer zerstoͤrten Gluͤcks. Nachdem dieser Zustand mehrere Tage fast unveraͤndert fortgedauert hatte, entstand unstreitig in Folge seiner heftigen Bewegungen an dem linken Arm, an welchem er schon vor seiner Aufnahme in die Irrenabtheilung zur Ader gelassen wor¬ den war, eine Entzuͤndung, indem sich zugleich ein Eiterge¬ schwuͤr an der Aderlaßwunde bildete. Erweichende Umschlaͤge und warme Armbaͤder nebst der Anwendung kuͤhlender Arz¬ neien beseitigten bald die Entzuͤndung. Dies zufaͤllig hinzu¬ getretene Koͤrperleiden uͤbte allem Anschein nach einen wohl¬ thaͤtigen Einfluß auf seinen Seelenzustand aus; er wurde ru¬ higer, bekam einen bessern Appetit, regelmaͤßige Leibesoͤffnung, schlief ruhig, und seine Besserung schritt im naͤchsten Monate so auffallend fort, daß er gegen Ende desselben zur vollen Be¬ sinnung zuruͤckgekehrt war. Es wurde nun moͤglich, mit ihm uͤber sein bisheriges Leben und uͤber die Veranlassung seines Seelenleidens laͤngere Gespraͤche zu fuͤhren, aus denen erhellte, daß er seine Excommunication zwar immer peinlich empfunden habe, daß er aber dadurch nicht bewogen worden sei, sich von seiner braven, herzlich geliebten Frau, an welche er durch heilige Pflichten gebunden sei, zu trennen. So lebte also die¬ ser durchaus tuͤchtige und redlich gesinnte Mann eine lange Reihe von Jahren hindurch in einem unausgleichbaren Wider¬ streit zwischen seinem kraͤftigen sittlichen Gefuͤhl und seinem positiven Glauben, woraus sich die Entstehung seines Seelen¬ leidens leicht erklaͤrt, da dasselbe nichts Anderes war, als die hoͤchste leidenschaftliche Steigerung jenes in seinem Inneren fortgaͤhrenden Kampfs zu einer Zeit, wo die Klarheit seines Verstandes durch ungewohnte und uͤbermaͤßige geistige Anstren¬ gungen getruͤbt, und sein Gemuͤth durch die Furcht vor einem unguͤnstigen Ausgange seines Examens tief erschuͤttert war. Dies gab mir Veranlassung, ihm eindringlich vorzustellen, daß er vor Allem auf eine voͤllige Ausgleichung jenes noch immer fortbestehenden Widerstreits hinarbeiten, daß er um jeden Preis eine Aussoͤhnung zwischen seinem Glauben und seiner Pflicht zu Stande bringen muͤsse, wenn seine wiedergewonnene Ge¬ muͤthsruhe nicht eine voͤllig truͤgerische bleiben, und er bei ir¬ gend einer ihn erschuͤtternden Veranlassung nicht von neuem ein Raub der Verzweiflung werden solle. Da ihm dies ein¬ leuchtete, so suchte er auf meinen Rath einen katholischen Priester auf, mit welchem er nach mannigfachen Verhandlun¬ gen den Vergleich schloß, daß er nach Ablauf eines halben Jahres wieder zum Abendmahl hinzugelassen werden solle, wenn er sich bis dahin des ehelichen Umganges mit seiner Frau ent¬ halten, und das Versprechen geben wolle, sich mit derselben nochmals katholisch trauen zu lassen, wenn ihr noch lebender geschiedener Ehemann gestorben sei. Da diese Bedingungen leicht zu erfuͤllen waren, so rieth ich dem K., der Religion seiner Vaͤter treu zu bleiben, weil ein Glaubenswechsel, zu welchem er bei fortgesetzter Excommunication entschlossen war, bei seiner aͤngstlichen und befangenen Gemuͤthsart leicht die schlimmsten Folgen fuͤr ihn haben koͤnne. Auf dringende Ver¬ wendung seiner Ehefrau wurde er am 14. Juni beurlaubt, und da er bei spaͤter wiederholten Pruͤfungen seines Gemuͤths¬ zustandes sich voͤllig besonnen zeigte, so erfolgte die definitive Erklaͤrung seiner Heilung am 19. September. 11. L ., 32 Jahre alt, ist die Tochter eines hiesigen Tafel¬ deckers, dessen oft nur spaͤrlicher Erwerb eine große Einschraͤn¬ kung des Hauswesens bei einer Familie von 4 Kindern noͤ¬ thig machte. Dennoch herrschte in letzterer ein heiterer Sinn und sittlicher Geist, welchen der Vater dadurch stets rege er¬ hielt, daß er seinen in Dienst getretenen Toͤchtern jeden Be¬ such oͤffentlicher Vergnuͤgungsorte mit der Drohung untersagte, die seinem Befehl Ungehorsame sofort verstoßen zu wollen. Dafuͤr sorgte er durch Spiel auf der Geige, welche zum Tanze mit Hausfreunden aufforderte, und durch andere unschuldige Erheiterungen dafuͤr, daß der Frohsinn unter den Seinigen einheimisch blieb, und seine mit Ernst gepaarte herzliche Freund¬ lichkeit erwarb ihm die Liebe derselben in einem so hohen Grade, daß sie sich in seiner Naͤhe am gluͤcklichsten fuͤhlten. Insbe¬ sondere war unsere Kranke sein Liebling, weil sie sich durch Munterkeit und witzige Einfaͤlle vor ihren Geschwistern aus¬ zeichnete. Sie konnte nur mehrere Jahre hindurch eine Ar¬ menschule besuchen, in welcher sie sich die nothwendigsten Ele¬ mentarkenntnisse erwarb, und trat bald nach ihrer im 13. Jahre erfolgten Einsegnung in Dienst, welcher sie nach einigem Wech¬ sel in das Haus eines Schullehrers fuͤhrte, bei welchem sie 6 Jahre verblieb. Dieser Umstand spricht um so mehr fuͤr ihren sittlichen Charakter, als die Familie, der sie diente, eine sehr wohlgesinnte war, und ihr eine durchaus freundliche Be¬ handlung zu Theil werden ließ. Da uͤberdies ihre Arbeiten durchaus nicht das Maaß ihrer Kraͤfte uͤberboten, so schritt sie, schon als Kind fast immer gesund, ungehindert in ihrer geistigen und koͤrperlichen Entwickelung fort, und bewahrte sich einen sehr lebensfrohen Sinn, welcher fast nie durch ein trau¬ riges Ereigniß getruͤbt wurde. Vom Vater zum fleißigen Be¬ such des oͤffentlichen Gottesdienstes angehalten, wurde sie in letzterem auf eine wohlthaͤtige Weise angeregt; denn ihre durch gute Predigten erweckte Froͤmmigkeit, welche sie oft bis zu Freudenthraͤnen ruͤhrte, nahm einen sehr heitern Charakter an, so daß sie sich Gott stets unter dem Bilde eines liebenden Vaters vorstellte, in dessen Naͤhe sie zu weilen, ja mit wel¬ chem sie innerlich zu sprechen glaubte. Da sie zugleich der hochbejahrten Mutter ihres Dienstherrn oft Predigten vorlesen mußte, so steigerte sich ihre religioͤse Erregung oft zu einem solchen Grade, daß sie niederkniete, um ihr frommes Gefuͤhl im Gebet zu ergießen. Vielleicht uͤberschritt sie dabei gelegent¬ lich das rechte Maaß, denn schwerlich wuͤrde bei ihr in spaͤ¬ terer Zeit ein so furchtbarer religioͤser Wahnsinn zum Ausbruch gekommen sein, wenn nicht ihre Froͤmmigkeit einen etwas sen¬ timentalen Charakter angenommen haͤtte, aus welchem indeß damals kein Nachtheil hervorging. Denn daß sie gelegentlich von Gewissensscrupeln befallen wurde, wenn sie sich einmal eine kleine Luͤge oder sonst eine unbedeutende Pflichtwidrigkeit hatte zu Schulden kommen lassen, kann nur als Ausdruck ih¬ res sittlichen Charakters angesehen werden, welcher sie von so vielen jugendlichen Verirrungen ferne hielt. Nur in sofern gerieth sie dabei in eine bedrohliche Exaltation, als sie in ih¬ rem Gemuͤth beaͤngstigt, sogar den Einwirkungen des Teufels ausgesetzt zu sein glaubte, wobei es ihr vorkam, als wenn derselbe hinter ihrem Ruͤcken Fluͤche ausstieße, und sie gewalt¬ sam am Beten verhindern wolle, bis sie sich mit aller Kraft zusammennahm, und durch eifriges Flehen zu Gott, so wie durch den Besuch der Kirche bald ihre Freudigkeit wieder er¬ langte. So wurde der heitere Spiegel ihres Selbstbewußtseins nur selten und voruͤbergehend getruͤbt, und erst waͤhrend der letzten Zeit ihres Dienstes erfuhr sie eine tiefere Bewegung ih¬ res Gemuͤths durch die hoffnungslose Liebe zu einem jungen Manne, welcher als Hausfreund sie oft durch sein Klavierspiel entzuͤckte, und auch sonst ihr freundlich begegnete, ohne ihr je¬ doch jemals eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Bei ihrer lebhaften Phantasie und ihrem leicht erregbaren Gemuͤth erlangte jene Neigung bald einen hohen Grad von Innigkeit, und nahm oft das Gepraͤge einer tiefen Schwermuth an; aber ihr geregelt thaͤtiges Leben hatte ihr hinreichende Besonnenheit und Selbstbeherrschung verliehen, so daß es ihr gelang, den Seelenfrieden, wenn auch erst nach manchem Kampfe, wieder zu gewinnen. Sie diente hierauf noch eine Reihe von Jahren hindurch bei mehreren Banquiers, in deren Familien sie sich stets einer sehr guten Behandlung zu erfreuen hatte, da ihr freundliches und gesittetes Betragen ihr das Wohlwollen Aller erwarb. Es wurde ihr selbst der nicht seltene Besuch des Theaters gestattet, an welchem, zumal an der Oper sie ein großes Wohlgefallen empfand; dabei blieb sie aber den Aeltern stets mit inniger Liebe zugethan, und unterstuͤtzte sie in ihrer bedraͤngten Lage oft mit dem Ueberschuß ihres Lohns. Sie war stets gesund und kraͤftig, und erkrankte nur einmal in Folge starker Erkaͤl¬ tung mehrere Wochen hindurch an einem heftigen Nervenfieber, welches lebhaftes Irrereden zum Begleiter hatte, erlangte aber bald ihre fruͤhere Kraft und Lebensfrische wieder. Im 27. Jahre lernte sie bei einer Freundin einen Tischlermeister kennen, wel¬ cher sich um ihre Hand bewarb, und sie auch erhielt, obgleich sie in wehmuͤthiger Erinnerung an ihre erste Liebe ihm nicht eine so lebhafte Neigung schenken konnte. Indeß da er fleißig, brav, haushaͤlterisch, und in jeder Beziehung gegen sie wohl¬ gesinnt war, und ihr gern den gelegentlichen Besuch des Thea¬ ters goͤnnte; so fuͤhrte sie mit ihm eine gluͤckliche Ehe, deren Zufriedenheit durch keine Sorgen gestoͤrt wurde. Dabei ver¬ saͤumte sie den Besuch der Kirche nicht, in welcher ihre fromme Ruͤhrung oft in Thraͤnen sich ergoß. Nach einjaͤhriger Ehe wurde sie gluͤcklich von einem gesunden Kinde entbunden, wel¬ ches sie zaͤrtlich liebte, weshalb sie in tiefe Traurigkeit versetzt wurde, als ihr dasselbe ein Jahr alt durch Zahnkraͤmpfe ent¬ rissen wurde. Ihr Schmerz wurde noch vermehrt durch die Vorstellung, von welcher ungluͤckliche Muͤtter in gleicher Lage so oft heimgesucht werden, daß der Tod ihres Kindes eine Strafe Gottes sei, und da sie sich keiner wichtigen Schuld be¬ wußt war, so glaubte sie darin gesuͤndigt zu haben, daß sie ihrem ersten Geliebten nicht treu geblieben sei. Wer erkennt hierin nicht den aͤcht charakteristischen Zug des weiblichen Her¬ zens, dem die erste Liebe fast ein unverbruͤchliches Gesetz fuͤr das ganze Leben auferlegt, so daß es, selbst vom Schicksal von demselben losgesprochen, dennoch ihm zu gehorchen durch einen Unwiderstehlichen Zug sich angetrieben fuͤhlt, ohne daß es dem Verstande gelingt, die Thorheit einer solchen Neigung gegen das eigensinnig beharrende Gefuͤhl deutlich zu erkennen. Da die L. selbst waͤhrend ihres schweren Seelenleidens eine aͤhn¬ Ideler uͤber d. rel. Wahnsinn, 9 liche Selbstanklage aussprach, so erhellt daraus, daß jene Nei¬ gung tiefe Wurzel in ihrem Herzen geschlagen hatte, und wer mag berechnen, wie ein geheimer Widerstreit in ihrem Innern, ihr halb unbewußt, ihre Ruhe untergraben, und zur boͤsen Stunde dazu beigetragen hat, die Entzweiung ihres Gemuͤths zum vollen Ausbruch zu bringen? Indeß sie wurde durch haͤusliche Geschaͤfte zu sehr in Anspruch genommen, als daß sie sich ihrem Kummer haͤtte hingeben koͤnnen. Etwa anderthalb Jahre nach dem Tode des Kindes wurde sie zum zweitenmal schwanger, und auch diesmal erfreute sie sich ihrer vollen Gesundheit, so daß sie selbst an der beschwer¬ lichen Arbeit des Polierens der Moͤbel fortgesetzt Theil neh¬ men konnte. Die Hoffnung neuer Mutterfreuden stillte allmaͤhlig ihren Gram, und da keine Sorge und Bedraͤngniß sie traf, so lebte sie meist in heiterer Zufriedenheit, welche nur dadurch etwas getruͤbt wurde, daß ihr hochbejahrter Vater aus Mangel an eigener Arbeit genoͤthigt wurde, ihrem Ehemanne bei manchen Geschaͤften behuͤlflich zu sein, und dadurch von ihm abhaͤngig wurde. Ihre Entbindung erfolgte zu Ende Augusts 1845 ganz gluͤcklich, und mit innigster Liebe widmete sie sich der Pflege ihres ganz gesunden Kindes, dem sie an ihrer Brust eine reichliche Nahrung bieten konnte. Die erste Zeit des Wochenbettes verlief ohne die geringste Stoͤrung, so daß sie am 8. Tage ihr Lager verlassen, und die haͤuslichen Ge¬ schaͤfte wieder verrichten konnte. Indeß ihre kalte, dem Zug¬ winde ausgesetzte Kuͤche gab Veranlassung, daß sie sich mehr¬ mals stark erkaͤltete, so daß ihr die Beine vor Frost beinahe erstarrten. Mit jedem Tage fuͤhlte sie sich unwohler, sie verlor ihren guten Appetit, klagte uͤber Zerschlagenheit, Wuͤstheit und Verwirrung im Kopfe, Angst, haͤufiges Froͤsteln, auf welches zumal in der Nacht eine lebhafte Hitze folgte, wodurch ihr der Schlaf geraubt wurde. Als sie in diesem krankhaft erregten Zustande an einem Tage vor dem Thore spazieren ging, wurde sie von einem Schwindel befallen, so daß ihr alle Gegenstaͤnde zu schwanken schienen, und sie dadurch in eine peinliche Spannung versetzt wurde. Die gleichzeitig empfun¬ dene Wuͤstheit in ihrem Kopfe deutete noch mehr auf eine krankhafte Erregung ihres Nervensystems hin, und hieraus muß es wohl erklaͤrt werden, daß sie von einer Vision heim¬ gesucht wurde, in welcher ihr Gott wie in Flammengestalt, umgeben von theils noch lebenden, theils schon gestorbenen Verwandten, Freunden und Fremden erschien. Diese Vision dauerte nur kurze Zeit, so daß sie kaum die einzelnen Figuren, welche in einander zu fließen schienen, unterscheiden konnte. Noch waͤhrend des Spazierganges wiederholte sich diese Erschei¬ nung zweimal, bald auf der Erde, bald im Himmel. In ihrer exaltirten Stimmung wurde sie dergestalt davon ergriffen, daß sie die wirkliche Welt aus den Augen verlor, schon in den Himmel erhoben, und der ewigen Seeligkeit theilhaftig gewor¬ den zu sein glaubte, und daher ihren Ehemann voll Entzuͤcken mit dem Ausruf kuͤßte: „wir sind nun alle gluͤcklich!” Er suchte sie zu beruhigen, sie zu uͤberreden, daß sie von ihrer Einbildung getaͤuscht sei, und bewirkte dadurch wenigstens so viel, daß sie nach ihrer Wohnung zuruͤckgekehrt mit Zweifeln uͤber die Wahrheit oder Nichtigkeit ihrer Vision kaͤmpfte. Durch diesen inneren Widerstreit wurde sie geaͤngstigt, und ihre Un¬ ruhe reflectirte sich in der Gehoͤrstaͤuschung, als ob um sie her ein verworrenes Geraͤusch erregt werde, in welchem ihre er¬ hitzte Phantasie die Naͤhe des Teufels sie ahnen lies, welcher von ihr das Opfer ihres Kindes verlange, um sie ganz von Gott loszureißen. Ueber diese schreckliche Forderung entsetzte sie sich dergestalt, daß in ihr eine Verstandesverwirrung ent¬ stand, in welcher ihr eine Stimme unaufhoͤrlich zurief, jene flammende Sonne sei Gott gewesen, und auf sein Geheiß solle sie ihr Kind opfern. Es kam nun zum Ausbruch eines starken Fiebers, welches von keinem oͤrtlichen Leiden der Brust- und Unterleibsorgane begleitet gewesen zu sein scheint, desto staͤrker aber ihren Kopf angriff, so daß sie bald in ein heftiges Irrereden verfiel. Die Fieberhitze muß ihr besonders peinlich gewesen sein, da sie noch in spaͤterer Zeit versicherte, es sei ihr vorgekommen, als ob sie¬ dendes Metall in ihren Adern umliefe. In den Morgenstun¬ den, pflegte sich ein Nachlaß des Fiebers einzustellen, so daß sie bald bei geringerer Hitze und Unruhe zur Besinnung zu¬ ruͤckkehrte, dagegen die genannten Zufaͤlle in den spaͤteren Ta¬ gesstunden einen hohen Grad erreichten, und ihr den Schlaf 9 * gaͤnzlich raubten. Ihre Geistesstoͤrung trat also Anfangs ganz unter der Form eines Fieberdeliriums auf, und zeigte daher auch den wechselnden, unbestimmten Charakter desselben, indem die verschiedenartigsten Vorstellungen, von denen ihr noch einzelne in der Erinnerung geblieben sind, in ihrem Kopfe sich durchkreuzten. Insbesondere kam es ihr vor, als ob man¬ nigfaltige Gestalten vor ihren Augen vorbeirauschten; dabei hoͤrte sie viele Stimmen durch einander, welche sie bei Namen riefen, und die durch den Wirbel dieser Bilder veranlaßte Unruhe brachte in ihr die Vorstellung hervor, als ob sie verfolgt werde. Zu drei Malen erblickte sie ein Lichtmeer, in welchem geister¬ aͤhnliche Gestalten als auferstandene Seelen um einen hellstrah¬ lenden Mittelpunkt, den sie fuͤr Gott hielt, herumschwebten‚ indem sie Lobgesaͤnge auf ihn im Chor anstimmten, und ihre Seeligkeit priesen, von welcher auch die L. erfuͤllt war, da sie schon ins Paradies eingegangen zu sein, und die Ihrigen zu erblicken glaubte. Andere Male sah sie eine Menge unbestimm¬ ter kreisender Gestalten, wobei sie glaubte, daß eine neue Welt entstehe. Aber es fehlte auch nicht an bangen Gefuͤhlen, welche besonders eine Folge davon gewesen sein moͤgen, daß sie zur Zeit des nachlassenden Fiebers ihrer Besinnung wieder theil¬ haftig geworden, sich fuͤr toͤdtlich krank hielt, deshalb mit ihrem Manne Verabredungen uͤber die nach ihrem Tode vorzuneh¬ menden Einrichtungen traf, und lebhaften Schmerz daruͤber empfand, daß sie ihr geliebtes Kind und ihren huͤlflosen Va¬ ter zuruͤcklassen muͤsse, wenn auch der Tod selbst ihr keinen Schreck einfloͤßte, vielmehr die Hoffnung auf nahe Seeligkeit, welche sie schon empfunden zu haben glaubte, ihr eine weh¬ muͤthige Freude einfloͤßte. Bei dem Mangel an genauer Beobachtung zu jener Zeit laͤßt sich die Uebergangsepoche des Fieberdeliriums in wirk¬ lichen Wahnsinn nicht mehr naͤher bestimmen, denn bei ihrer am 3. October erfolgten Aufnahme in die Irrenabtheilung war bereits jede Spur von Fieber verschwunden, und die Erschei¬ nung einer allgemeinen Nervenaufregung in Folge ihres hefti¬ gen Gemuͤthsleidens abgerechnet, jedes anderweitige Krankheits¬ symptom gewichen, auch die Milchabsonderung und der Lochial¬ fluß hatten gaͤnzlich aufgehoͤrt. Die pathogenetische Bezeichnung der Bedingungen, welche die Entstehung einer selbststaͤndigen Seelenstoͤrung aus einem uͤbrigens gluͤcklich abgelaufenen Fie¬ ber veranlassen, ist im Allgemeinen sehr schwierig, und Alles, was sich daruͤber im vorliegenden Falle ohne gewagte Voraus¬ setzungen sagen laͤßt, duͤrfte sich darauf beschraͤnken, daß unter den Verhaͤltnissen des Wochenbettes, welche so oft die Entste¬ hung einer Geisteskrankheit beguͤnstigen, die außerordentliche Lebhaftigkeit der Fieberdelirien eine tiefe Erschuͤtterung des Ge¬ muͤths bewirkte, welche eine Exaltation des in ihm stark her¬ vortretenden religioͤsen Gefuͤhls veranlaßte, dessen Erregung vorzugsweise durch die himmlischen Bilder, und durch die To¬ desgedanken in den Stunden der wiederkehrenden Besinnung gesteigert und dauernd erhalten wurde. Ihre von jeher sehr geschaͤftige und bilderreiche Phantasie setzte daher das mit un¬ gestuͤmer Lebhaftigkeit begonnene und durch heftige Gefuͤhle be¬ schleunigte Spiel zur Bethoͤrung des Geistes fort, nachdem das Fieber schon zu seinem vollen Ablauf gelangt war. Wie see¬ lig sie sich aber auch in den Augenblicken der himmlischen Vi¬ sionen gefuͤhlt hatte, so war doch ihr geistig koͤrperlicher Zu¬ stand in eine so heftige Erschuͤtterung versetzt worden, als daß sie sich derselben nicht durch peinliche Gefuͤhle haͤtte bewußt werden sollen, welche die Phantasie als treues Echo aller An¬ klaͤnge des Gemuͤths in analogen Bildern symbolisirte. Sie glaubte dann, der Teufel verfolge sie, und wenn sie ihn auch damals noch nicht leibhaftig sah, so kam es ihr doch vor, als ob er hinter ihrem Ruͤcken huste, und sie ergreifen wolle, um sie gewaltsam von den Ihrigen loszureißen und auf immer zu trennen. Aus dieser Vorstellung ging eine andere hervor, welche sich auf lange Zeit in ihrem Bewußtsein als der eigent¬ liche Ausgangspunkt ihres Wahnsinns fixirte. Sie glaubte naͤmlich eine schwere Suͤnderin zu sein, der Gott ihr Kind zur Strafe nehmen wolle, indem dasselbe seinem Zorn zur Suͤhne fuͤr das ganze Menschengeschlecht gebracht werden solle. Von dem heftigsten Entsetzen wurde sie in ihrem Muttergefuͤhl getroffen, als sie in ihrem Innern die Offenbarung zu ver¬ nehmen waͤhnte, daß sie selbst dies Opfer vollziehen muͤsse, daher sie dann wiederholt in rasender Angst aus dem Bette sprang, um das Kind zu ergreifen und sich mit ihm ins Was¬ ser zu stuͤrzen. Dieser schreckliche Auftritt wiederholte sich in ihrer Wohnung mehrmals, nur mit Muͤhe konnte sie ins Bette zuruͤckgebracht werden, indem sie schrie, Gott habe es ihr be¬ fohlen, sie muͤsse gehorchen. Da sie zugleich mit dem Wahn behaftet war, daß ihre Angst durch Gift veranlaßt worden sei, welches man ihr in der Arznei reiche, und sie dieselbe jedesmal zuruͤckschlug; so wurde ihre Aufnahme in die Charité noth¬ wendig. Hier saß sie tagelang am Fenster und starrte unbeweglich hinaus, indem sie wehklagte, daß ihr Kind in die Kirche ge¬ bracht werden solle, um daselbst fuͤr die Suͤnden der Welt von einem Geistlichen geopfert zu werden, welches aber waͤhrend des Sonnenscheins geschehen muͤsse, da nach dem Untergange der Sonne das Opfer seine Kraft verlieren werde. In einer Nacht sah sie noch einmal den Himmel offen, aus welchem Choͤre von Seeligen, zu denen auch sie zu gehoͤren glaubte, zu ihr herabschwebten. Ein anderes Mal sah sie Gott wie¬ der als flammendes Sonnengesicht, welches der Teufel an der Nase faßte und zur Erde herabzog, um mit ihm um die Herr¬ schaft der Welt einen Kampf anzufangen, dessen Ende sie nicht sah, wobei sie indeß eine große Angst empfand. Die An¬ wendung lauwarmer Baͤder mit kalten Uebergießungen uͤber den Kopf nebst gelinden Abfuͤhrungen brachte nur in so¬ fern eine guͤnstige Wirkung hervor, als sie allmaͤhlig, des Nachts einen ruhigeren Schlaf erlangte, und auch am Tage nicht mehr eine so heftige Aufregung wahrnehmen ließ. Indeß bis zu Ende des Octobers trat in ihren Wahnvorstellungen keine wesentliche Veraͤnderung ein, vielmehr war ihr Bewußt¬ sein so gaͤnzlich erfuͤllt von der Vorstellung, ihr Kind muͤsse beim Schein der Sonne, in welcher sie die Anwesenheit Got¬ tes wahrzunehmen glaubte, von einem Priester als einem Ge¬ weihten der Kirche zur Suͤhne fuͤr die Suͤnden der Menschen geopfert werden, wenn nicht alle bei lebendem Leibe verfaulen sollten, daß sie auf gar kein anderes Gespraͤch sich einließ, son¬ dern mit dem Ausdruck tiefer Angst am Fenster saß, und re¬ gungslos hinausstierte. Nur darin war sie mit sich uneins, daß sie bald von Gott, bald vom Teufel die Aufforderung zu einer so schrecklichen That durch den Zuruf von Stimmen er¬ halten zu haben glaubte. Fruͤher hatte noch ihr inniges Mut¬ tergefuͤhl sich in Ausbruͤchen der Verzweiflung dagegen gestraͤubt; aber im graͤßlichen Seelenschmerze verstummte zuletzt auch jene maͤchtige Stimme der Natur, so daß sie in dumpfer Betaͤu¬ bung sich sagte, es solle so sein, sie muͤsse es thun, wobei ihr in dunkler Erinnerung das Bild des den Isaak opfernden Abra¬ ham vorschwebte. Ueberhaupt kam ihr die Welt wie veroͤdet und ausgestorben vor, als wenn sie nach dem Verlust aller ihrer Angehoͤrigen allein in derselben zuruͤckgeblieben sei, und sie konnte noch nach ihrer Heilung nicht Worte finden, die furchtbaren Quaalen zu schildern, in welchen sie damals zu Boden gedruͤckt war. Hieraus erklaͤrt sich auch die Erstarrung ihres ganzen Wesens, so daß ihre urspruͤnglich hoͤchst beweg¬ liche Phantasie, welche außerdem die herrschenden Wahnvorstel¬ lungen gewiß zu einer Menge von Dichtungen verarbeitet ha¬ ben wuͤrde, gleichsam gelaͤhmt war, und ihr geistiges Auge von dem Gedanken des Opfers wie von einem Medusenantlitz gefesselt wurde. Erst zu Ende Octobers trat ein scheinbarer Nachlaß ihrer Angst ein, indem sie aͤußerte, daß ein solches Opfer nicht Gott wohlgefaͤllig sein koͤnne, wenn sie auch noch gelegentlich Stim¬ men hoͤrte, welche dasselbe von ihr forderten. Ja es erwachte selbst eine so lebhafte Sehnsucht nach den Ihrigen, daß dieselbe sich in neuen Stimmen reflectirte, welche ihr zuriefen, daß sie nach Hause zuruͤckkehren solle. Indeß diese scheinbare Besse¬ rung war nur von kurzer Dauer, denn am Abend des 8. No¬ vember wurde sie ploͤtzlich wieder sehr unruhig, sprang vom Stuhl auf, weil sie vom Teufel verfolgt zu sein glaubte, welcher ihr zuerst als ein schwarzer Schatten an der im Zim¬ mer haͤngenden Lampe erschienen, und hierauf durch das Zim¬ mer uͤber dem ihrigen gelaufen sei. Sie umklammerte fest jene Lampe, indem sie behauptete, daß nur dann der Teufel keine Macht uͤber sie habe, wenn sie jene festhalte, und konnte nur mit Muͤhe von derselben entfernt werden. Ihre hierdurch ver¬ anlaßte Angst dauerte lange fort, und hatte den Ausbruch eines reichlichen Schweißes auf dem Gesicht zur Folge, bis sie sich endlich beruhigte, und selbst anerkannte, daß ihre aufgeregte Phantasie ihr einen Streich gespielt, und unter Anderem auch vorgespiegelt haͤtte, sie sei durch den Teufel zur Ehe verleitet worden. Aber dieser Schimmer von Besinnung verschwand bald wieder, denn immer von neuem kehrte die Vorstellung zuruͤck, der Teufel verfolge sie, er sei ihr in Flammen an der Decke des Zimmers erschienen, rausche durch dasselbe an ihr voruͤber, und da inzwischen auch die schon erwachte Sehnsucht nach den Ihrigen sich von neuem wieder regte, so gerieth sie in einen sehr qualvollen Zustand, welcher ihr die naͤchtliche Ruhe raubte. Endlich entstand in ihr eine gewisse Reaction gegen die unaufhoͤrlichen Verfolgungen des Satans, so daß sie denselben gleichsam zum Kampfe herausforderte, indem sie mit ihm zu wuͤrfeln verlangte, um dadurch endlich die Entscheidung herbeizufuͤhren, ob Gott oder er die Oberhand bei ihr gewin¬ nen solle. Nicht nur hoffte sie, durch einen gluͤcklichen Wurf von ihm sich zu befreien, und ihm dadurch den Tod zu bringen, sondern eine Stimme rief ihr auch zu, daß das Schicksal der ganzen Welt an das ihrige gekettet sei, und bei dem Verlust des Spiels dem Teufel und dem Tode zum Raube werden muͤsse, worauf alle Menschen in ewige Hoͤllenquaalen gerathen wuͤrden. Ein so stark ausgepraͤgtes und hartnaͤckiges Seelenleiden forderte zu energischen Maaßregeln auf, nachdem die fruͤher in Anwendung gesetzten Heilmittel sich als durchaus unwirksam erwiesen hatten. Denn die unertraͤgliche Folter ihres Gemuͤths mußte bei laͤngerer Dauer nicht blos aͤußerst nachtheilig in den Fortgang ihrer koͤrperlichen Functionen eingreifen, welche bis dahin mit Ausnahme des haͤufig von aͤngstlichen Traͤumen un¬ terbrochenen Schlafs noch leidlich genug von Statten gegangen waren, sondern es war auch eine mit jedem Tage tiefer einreißende Zerruͤttung der geistigen Kraͤfte zu befuͤrchten, durch welche die Organisation der Seele in ihren Grundfesten bedroht wurde. Freundlicher Zuspruch, Trost, das Bemuͤhen, sie von ihren grausigen Vorstellungen abzulenken, blieben von ihr ganz unbeachtet, zu einer ihre Aufmerksamkeit ablenkenden Thaͤtig¬ keit war sie durchaus nicht zu bewegen. Zum Gluͤck besitzt die Psychiatrie die schon mehrmals genannten aͤußerst kraͤftigen Mittel, die Douche und Brechweinsteinsalbe, um durch phy¬ sische Erschuͤtterung des Nervensystems gleichsam mit Gewalt die verschlossenen Pforten der Seele zu sprengen, und dadurch ihre Gemeinschaft mit der Außenwelt wieder herzustellen. Was bliebe auch dem Arzte unter so mißlichen Umstaͤnden zu thun uͤbrig, wo weder die Philosophie noch die Apotheke irgend ein Heilmittel darbietet? Viele Aerzte, namentlich Pinel und seine Schuͤler, rathen, man solle sich unter solchen Bedingungen jedes eingreifenden Verfahrens enthalten, fuͤr die Befriedigung der koͤrperlichen Beduͤrfnisse Sorge tragen, und im uͤbrigen gedul¬ dig die Zeit abwarten, wo aus unerforschlichen Bedingungen durch die Heilkraft der Natur eine guͤnstige Wendung herbei¬ gefuͤhrt werde. Wir wollen nicht leugnen, daß die Macht der Leidenschaften sich haͤufig an ihrem eigenen Ungestuͤm bricht, daß die erschoͤpften geistigen und koͤrperlichen Kraͤfte endlich dem Toben des Gemuͤths Schweigen gebieten, und daß alsdann unter sorgfaͤltiger Vermeidung aller Schaͤdlichkeiten die Beson¬ nenheit von selbst wiederkehren kann. Aber ein solcher guͤnsti¬ ger Ausgang ist stets ungewiß, wird nur zu haͤufig durch die in wiederholten Ausbruͤchen zum hoͤchsten Uebermaaß sich stei¬ gernden Leidenschaften vereitelt, so daß die endlich eintretende Ruhe nicht die der wiederkehrenden Besinnung, sondern das Grab aller Geisteskraft im Bloͤdsinn ist, nachdem die rastlosen Stuͤrme der Seele zuletzt die Energie des Nervensystems gaͤnz¬ lich vernichtet hatten. Wir duͤrfen es daher unbedenklich als einen wesentlichen Fortschritt der Psychiatrie anerkennen, daß durch die Anwendung der oben genannten Mittel, freilich un¬ ter gewissen hier nicht zu eroͤrternden Einschraͤnkungen, ohne alle Gefahr und sonstige nachtheilige Folgen ein wesentlicher Umschwung der gesammten Seelenthaͤtigkeit, geradezu ein Er¬ wecken des in die Traumnacht des Wahnsinns versunkenen Verstandes eben so bewirkt werden kann, wie jede Exaltation der Geistes- und Gemuͤthskraft auch im gesunden Zustande fast unfehlbar verschwindet, wenn das Nervensystem einen hef¬ tigen Anstoß von irgend einer Seite her erhalten hat. Nachdem bei der L. laͤngere Zeit hindurch die Douche ohne allen wesentlichen Erfolg in Anwendung gesetzt worden war, mußte ich mich endlich zum Gebrauch der Brechweinsteinsalbe, welche auf dem kahl geschorenen Scheitel eingerieben wurde, entschießen, und auch diese brachte erst den guͤnstigen Erfolg hervor, nachdem die durch sie veranlaßte Eiterung und Ent¬ zuͤndung mehrmals von neuem erregt worden war. Es war ein hartnaͤckiger, fast verzweifelter Kampf mit einer fuͤrchter¬ lichen Krankheit, welche Anfangs so wenig weichen wollte, daß die Leidende noch immerfort die Anfechtungen des Satans zu erdulden glaubte, und dadurch ihres Lebens so uͤberdruͤssig wurde, daß ihre Sehnsucht nach dem Tode eine geschaͤrfte Wachsamkeit zur Verhuͤtung einer That der Verzweiflung noͤ¬ thig machte. Endlich im Februar 1846 trat eine voͤllige Ge¬ muͤthsruhe ein, indem die L. versicherte, von allen Angriffen des Teufels sich nunmehr gaͤnzlich frei zu fuͤhlen. Dem fer¬ neren Wirken der Salbe wurde nun Einhalt gethan, um der schwer gepruͤften Dulderin die noͤthige Ruhe zu goͤnnen. Meh¬ rere Wochen verharrte sie noch in einem dumpfen, hinbruͤten¬ den, fast an Betaͤubung grenzenden Zustande als unvermeid¬ licher Folge der schweren Erschuͤtterung, von welcher sie zu¬ gleich in der Seele und im Koͤrper betroffen worden war; in¬ deß ihre koͤrperlichen Kraͤfte nahmen mit jedem Tage zu, und gaben ihr auch in geistiger Beziehung mehr Haltung und Reg¬ samkeit, so daß sie an den weiblichen Arbeiten und am Unter¬ richte Theil nehmen konnte. Gegen Ende Februars wurde ihre Genesung durch die Freude des Wiedersehens ihrer Ange¬ hoͤrigen, namentlich ihres heiß geliebten Kindes, um welches sie Unsaͤgliches erduldet, wie durch einen Zauberschlag vollen¬ det. Gern haͤtte ich sie zur Sicherstellung dieses guͤnstigen Erfolges noch einige Monate unter fortgesetzter Heilpflege er¬ halten; indeß ihr Ehemann forderte sie mit einer solchen Ent¬ schiedenheit zuruͤck, daß sie am 26. Maͤrz zu ihm zuruͤckkehren mußte. 12. G . , 54 Jahre alt, wurde von ihrem Vater, einem Huͤt- tenfactor, unehelich erzeugt, und nebst ihrem Bruder der Mut¬ ter schon im fruͤhesten Alter entnommen, so daß sie mit dersel¬ ben nie in ein innigeres Verhaͤltniß trat. Ihr Vater uͤbergab sie der Pflege seiner Haushaͤlterin, welche eine wohlgesinnte Person gewesen sein soll, so daß beide der muͤtterlichen Sorg¬ falt beraubten Kinder wenigstens nicht verwahrloset und schlecht behandet wurden, wie sie denn auch von Seiten ihres Vaters einer zaͤrtlichen Liebe sich zu erfreuen hatten. Die Kindheit der G. verstrich daher unter freundlichen Verhaͤltnissen, zu de¬ ren Gluͤck ihre ungestoͤrte Koͤrperentwickelung wesentlich beitrug. Indeß noch waͤhrend ihres Schulbesuchs traf sie das harte Loos, daß ihr Vater seinen Posten verlor, und aller Subsi¬ stenzmittel beraubt, sich von ihr trennen, und sie der Sorge eines Freundes uͤberlassen mußte. Tief betruͤbt, schon im fruͤ¬ hen Alter, noch bei Lebzeiten ihrer Aeltern, eine Waise ge¬ worden zu sein, fuͤhlte sie das Druͤckende ihrer Lage um so pein¬ licher, als ihr dieselbe durch Noͤthigung zu laͤstigen Arbeiten noch mehr erschwert wurde. Nach erfolgter Einsegnung kam sie im 15. Jahre nach Berlin, wo sie 4 Jahre lang unter er¬ traͤglichen Verhaͤltnissen Dienste bei verschiedenen Familien nahm, und sie wuͤrde sich wohl gefuͤhlt haben, wenn nicht ihr Vater wegen Verdacht auf Falschmuͤnzerei verhaftet worden, und im Gefaͤngnisse gestorben waͤre. Die bittere Erinnerung an sein klaͤgliches Ende, die Trauer um ihre Mutter, von welcher sie nur so viel erfuhr, daß dieselbe nicht gestorben sei, die Tren¬ nung von ihrem Bruder, alles dies truͤbte ihren Sinn, und ließ einen Hang zur Schwermuth zuruͤck, welcher zwar ihre koͤrperliche Gesundheit nicht truͤbte, aber im spaͤteren Leben wesentlich zur Entstehung ihres Wahns beitrug. Ein Baͤckergeselle verleitete sie durch ein Eheversprechen zum Concubinat, in welchem sie auf laͤngere Zeit mit ihm lebte, so daß sie ihm 2 Kinder gebar. Nachdem er sie lange mit eiteln Hoffnungen vertroͤstet hatte, war sie endlich genoͤthigt, sich von ihm zu trennen; ja sie mußte den Beistand der Ge¬ richte aufrufen, um von ihm fuͤr die Erziehung beider Kinder eine Summe von 140 Thalern zu erlangen. Hierdurch wurde sie in den Stand gesetzt, sich bei einer Frau einzumiethen, welche die Pflege der Kinder uͤbernahm, waͤhrend sie selbst ihren Unterhalt durch Waschen und Scheuern sich erwarb. Leichtsinnig, wie so Viele unter aͤhnlichen Verhaͤltnissen, schlug sie sich dies verschuldete Mißgeschick aus dem Sinn, besaß aber doch Muttergefuͤhl genug, um sich in der Naͤhe ihrer Kinder gluͤcklich zu fuͤhlen, und auf jede andere Erheiterung Verzicht zu leisten. Im 30. Jahre heirathete sie einen Schuhmacher, mit welchem sie eine friedliche Ehe fuͤhrte, da er gegen ihre Kinder liebreich war, und sie gebar ihm uͤberdies noch 3 Kin¬ der, von denen außer ihrer aͤltesten unehelichen Tochter nur noch eins am Leben ist. Da sie immer, so viel die Umstaͤnde es gestatteten, dem fruͤheren Erwerbe nachging, und hierdurch ihren Mann unterstuͤtzte, so blieben beide von Sorgen befreit, und es war daher fuͤr sie ein sehr schmerzlicher Verlust, als je¬ ner nach zehnjaͤhriger Ehe an der Cholera starb. An anstren¬ gende Arbeit gewoͤhnt, erwarb sie fuͤr sich und die beiden Kin¬ der den noͤthigen Lebensunterhalt, bis Anfaͤlle von Rheuma¬ tismus, zumal unter den Erscheinungen von heftigem Kopf¬ schmerz und Schwindel in Folge des unaufhoͤrlichen Waschens im Herbste und Winter sie noͤthigten, von dieser Beschaͤftigung, der auch ihre abnehmenden Kraͤfte nicht mehr gewachsen waren, abzusehen, und sich mit weiblichen Handarbeiten zu ernaͤhren. Ihre nun schon herangewachsene Tochter unterstuͤtzte sie dabei, indeß reichte doch der Ertrag ihres Fleißes nicht mehr zur Be¬ friedigung ihrer Beduͤrfnisse aus; sie blieb den Miethzins schul¬ dig, wofuͤr ihr das Hausgeraͤth abgepfaͤndet wurde, und mußte sich durch Anschaffen neuer Moͤbel wiederum in Schulden stuͤrzen. Sie befand sich daher in einer peinlichen Verlegenheit, als sie zur Bezahlung derselben ungestuͤm aufgefordert wurde, und konnte sich nicht dazu entschließen, den Rath zu befolgen, daß sie den wohlhabenden Braͤutigam ihrer Tochter um pecuniaͤren Beistand ansprechen solle. Der Huͤlfe und des Trostes beraubt, kam sie sich sehr einsam und verlassen vor, und es fiel ihr nun besonders schwer auf's Herz, daß sie weder von ihrer Mutter noch von ihrem Bruder, welche sie beide noch am Leben glaubte, etwas wußte. Zu diesen bangen Gefuͤhlen gesellte sich noch ein wichtiges pathologisches Moment, naͤmlich das allmaͤhlige Aufhoͤren der Menstruation, wodurch ein starker Andrang des Bluts nach dem Kopfe, und hierdurch Anfaͤlle von Schwindel und Ohnmacht veranlaßt wurden. Aus dem Zusammentreffen dieser Bedingungen laͤßt es sich erklaͤren, daß im Jahre 1844 bei ihr ein Gemuͤthsleiden zum Ausbruch kam, zu welchem keine anderweitigen Ursachen beigetragen zu haben scheinen. Wenigstens laͤßt sich ein Hang zur religioͤsen Schwaͤr¬ merei nicht nachweisen, da sie nur selten die Kirche besuchte, wenig in Erbauungsschriften las, und selbst eine Abneigung gegen pietistische Conventikel, besonders gegen die in ihnen uͤbliche fromme Ostentation in Kniebeugungen beim Namen des Heilandes u. dgl. empfand. Als sie an einem Abende in eine besonders tiefe Schwermuth bei der Erinnerung an ihre Verwandten versunken war, viel geweint, und im inbruͤnstigen Gebete Gott angefleht hatte, es ihr anzuzeigen, ob jene noch lebten, wurde sie, schon im Bette liegend, durch eine glaͤn¬ zende Vision uͤberrascht, welche zuerst als ein starker Lichtschein das Zimmer erfuͤllte. Hierauf trat eine alte Dame zur Stu¬ benthuͤr herein, welche bekleidet mit einer Haube, einem schwarzen Tuche und weißen Rocke sich an eine Commode stellte, in welche ihre schwangere Tochter Windeln gelegt hatte. Jene besah sich zuerst das auf der Commode befindliche Ge¬ schirr, oͤffnete dann dieselbe, und nahm die Windeln heraus, um sie naͤher zu besehen, und sie auf einen Stuhl zu legen. Dann erschienen ploͤtzlich zwei Kinder, von denen sie eins auf ein Kissen legte, waͤhrend das andere etwa 8 Jahre alt an eine Tischecke sich lehnte, bekleidet mit einem silberbetreßten Rocke, in der Hand einen silbernen Stab haltend, auf wel¬ chem eine silberne Krone schwebte, die es hoch emporhob. Die G. rief erschreckt ihre Kinder, ob sie Niches saͤhen? Die alte Dame setzte sodann 2 Stuͤhle zusammen, breitete uͤber beide ein Laken, und legte jene Kinder darauf, wonach alle Gestal¬ ten verschwanden. Inzwischen erfuͤllte das sich immer mehr verstaͤrkende Licht bis zum Morgen das Zimmer, und ließ bald folgende Visionen wahrnehmen. Am Fußende des Bettes der G. schien ein großer Saal sich zu eroͤffnen, in welchem sich 4 Betten befanden, auf welchen je zwei weiße und rothe Decken lagen; zugleich schwebte an der Decke ein Kameel mit auf¬ waͤrtsgekehrten Beinen, so daß es eine Art von Bettstelle bil¬ dete, in welcher mehrere Menschen lagen. Bald nachher schwebten mehrere Engel von oben herab, von denen der groͤßte ein Fuͤllhorn trug, und sie gaben durch ihre Ankunft ein Sig¬ nal, auf welches jene Maͤnner von dem Kameelbette aufstanden. Am naͤchsten Abende kam es ihr vor, als ob mit einer magischen Laterne ein Zauberspiel in ihrem Zimmer getrieben wuͤrde, da die nun folgenden Gestalten ihr nicht mehr koͤr¬ perlich plastisch, sondern nur als Schatten erschienen. Zuerst sah sie Maͤnner, wie auf einer Schaubuͤhne mit Coulissen, dann gallopirten Schaaren von Reutern wie zum Fastnacht¬ spiel maskirt ins Zimmer, hierauf eine Dame in grauem Man¬ tel gleichsam als Buͤßerin, da sie unter einem Stuhl nieder¬ kauern mußte, und die uͤber denselben fortlaufenden Kraͤhen zaͤhlte, waͤhrend ein Herr gleichfalls in grauem Mantel und einem koͤniglichen zweizipfeligen Hute, und ein Greis in glei¬ chem Mantel sich daneben stellte. Spaͤter wurde ein Kreis von Buͤrgern geschlossen, in welchem ein Officier hineingallo¬ pirte; darauf oͤffnete sich ein viereckiges Grab von gruͤnem Rasen umgeben, aus welchem Maͤnner sich erhoben, um durch die Fenster eines Saals zu steigen, in welchem sie einen lau¬ ten Jubel anstimmten. Unter ihnen befanden sich zwei schon gestorbene alte Jungfern, fruͤhere Besitzerinnen jenes Saales, bei deren Anblick die G. sich fragte, ob sie im Grabe nicht Ruhe haͤtten, und daher auf die Erde zuruͤckgekehrt waͤren? Dies Gaukelspiel der Phantasie, von welchem gewiß eine Menge von Bildern aus ihrem Gedaͤchtniß verschwunden ist, nahm hierauf eine bestimmtere Bedeutung an, insofern nun eine wirkliche religioͤse Beziehung hervortrat, und seitdem blei¬ bend geworden ist. Als sie naͤmlich einmal mehrere Pferde sah, hielt sie dieselben fuͤr verwuͤnschte Menschen, von denen sie in Zaubermaͤhrchen gelesen hatte, besonders kamen ihr zwei praͤch¬ tig aufgeschirrte Rosse als Grafen und Fuͤrsten vor. Hierbei ent¬ wickelte sich in ihr die Vorstellung, daß alle Menschen zur Strafe ihrer Suͤnden in Thiere verwandelt werden muͤßten, um der Buße, welche Christus fuͤr sie gethan, Genuͤge zu leisten. Erst hier¬ auf koͤnne ihre Verwandlung in Engel geschehen, in welcher sie ihre Auferstehung feierten, und welche die G. wahrzunehmen glaubte. Sie sah, wie unfoͤrmliche Schatten in Moos verhuͤllt, und in einem Teich von Silberwasser gelegt wurden, um hier¬ auf zuerst in graue, und dann in blaue Engel verwandelt zu werden, welche zwar schon eine bestimmte Gestalt, aber noch kein deutliches Gesicht hatten. Die blauen Engel nahmen endlich die ganz unbekleidete Gestalt der Fleischengel an, welche zur Erde niederschwebten, und die von Christus in einem Hause eingesperr¬ ten Apostel befreiten. Einmal erschienen schwarze Engel ohne Gesicht, gleich Mohren, und sie stellten die im Feuer verbrannten Boͤsen vor, welche sich rings um die G. an den Waͤnden aufstel¬ len mußten, wodurch Gott aus Erbarmen fuͤr ihre unschuldigen Aeltern sie als Engel erweisen wollte. Bei einer anderen Gele¬ genheit lief eine Kette, schwarz mit goldenen Punkten, durch die Waͤnde queer uͤber die Commode fort, waͤhrend Ratten und Maͤuse auf derselben herumschwaͤrmten, und in die Tassen hinein¬ schauten; es sollte damit bezeichnet werden, daß die Allmacht Gottes Alles durchdringe, und die Menschen, welche von Ael¬ tern bis auf Adam gleich Gott abstammten, zu Insecten und Thieren geworden seien. Diese Visionen, welche Anfangs nur in den Naͤchten sich zeigten, dauerten spaͤter auch den Tag uͤber fort, und die G. ist waͤhrend der letzten beiden Jahre niemals mehr von ihnen ganz befreit gewesen. Fast immer waren sie Darstellungen von Meta¬ morphosen der Menschen in Thiere, und ihrer Auferstehung zu einem hoͤheren Dasein in mannigfachen Stufenfolgen von Umbil¬ dungen, bis sie zur Gestalt der Fleischengel verklaͤrt wurden. Je¬ desmal sah die G. nur einzelne Abschnitte der Metempsychosen, welche sich in den mannigfaltigsten Formen wiederholten, und von mancherlei himmlischen Erscheinungen anderer Art begleitet waren. So gewahrte sie einst die im Himmel umherstehenden Apostel, welche in blauen Roͤcken wie Uniformen gekleidet wa¬ ren, nachdem sie ihre Maͤntel abgeworfen hatten. Sie stiegen auf die Erde herab, welches sie jedoch erst vermochten, als die G. auf Befehl Gottes Schwenkungen mit dem Arm in der Luft, gleichsam Beschwoͤrungsgesticulationen gemacht hatte. Hier¬ auf eroͤffnete sich ein Grab, aus welchem Gott als ein klei¬ ner grauer Mann emporstieg, um ihr anzukuͤndigen, daß die Arbeit nun beginnen solle, worunter jene Umgestaltung der Menschen zu verstehen war. Darauf erschien uͤber einem gro¬ ßen Walde ein Altar, auf welchem sich Gott rechts, und Christus links in der Uniform eines Jaͤgerofficiers stellte, um¬ ringt von Fleischengeln in großen Schaaren, zu deren Linken graue und blaue Engel standen. Gott sprach so dumpf, daß die G. es nicht verstehen konnte; sie ahnte jedoch, daß er die Schoͤpfungsworte zu Anfang der Genesis gesprochen, habe. — Analog war folgendes Bild. Auf einer Sandflaͤche war ein weißes Laken ausgebreitet, welches von mehreren Damen hinweggezogen wurde, worauf eine Menge von Maͤnnern zum Vorschein kamen, welche als Leichen darunter gelegen hatten, und jetzt auferstanden. Jene Damen waren sehr prachtvoll gekleidet in Gelb und Blau, die vornehmeren trugen silberne Gewaͤnder mit Guirlanden besetzt, und Kronen auf den Haͤup¬ tern. Die Damen waͤhlten sich je einen Mann aus. Die Scene war von Fleischengeln umgeben, welche sich wie im Reifenspiel Kraͤnze von Wiesenblumen gegenseitig reichten, und das Ganze zeigte eine außerordentliche Pracht. — Ein großer Teich schloß eine Menge verwuͤnschter Menschen unter Fischge¬ stalt ein, welche von Damen in einem Kahne herausgeholt, und Maͤnnern uͤbergeben wurden, welche in Gruben unter Mooskraͤnzen verborgen mit den Damen heimliche Gespraͤche fuͤhrten. Eine Reminiscenz aus einem Zauberroman, in wel¬ chem eine Seejungfer halb Mensch halb Fisch allmonatlich ihren Bach unter voller Menschengestalt verließ, um mit einem Ritter in braͤutlicher Liebe zu kosen, gab der G. Veranlas¬ sung, daß sie dergleichen Seejungfern fuͤr verwuͤnschte Men¬ schen hielt, welche wie wir alle ihre Strafen abbuͤßten, aber nach dem Willen Gottes Menschen wurden, und zuletzt En¬ gelsgestalt annahmen, unter welcher sie von langen seidenen Floͤren umhuͤllt durch den Himmel schwebten. Hierauf ließen sich dieselben auf blauen, rothen und gruͤnen Sammetkissen von herzfoͤrmiger und viereckiger Gestalt nieder, welche auf einem Gewaͤsser unter den Dielen des Zimmers schwammen, bis sie in wirkliche Fleischengel verwandelt wurden: Diese Metamorphose zu dem hoͤchsten Grade der Vollkommenheit, wovon die G. indeß nicht Augenzeuge war, ging ihrer Mei¬ nung nach so von Statten, daß Gott ein Kalb schlachtete, in eine Menge von Stuͤcken zertheilte, und diese an Ketten band, mit denen sie in den Himmel aufgezogen wurden, wo jedem Engel ein Stuͤck gegeben wurde, um sich mit demsel¬ ben zu verleiblichen. Aber nicht blos die Menschen wurden zu hoͤheren Gestalten gleichsam auferbaut, um ihre Auferstehung zu feiern, sondern auch Thiere wurden vor ihren Augen durch einen wahren Schoͤpfungsproceß hervorgerufen, wie sie dann unter Anderem sah, daß der Himmel unter der Gestalt zweier Wolken sich vor ihrem Fenster auf die Erde herabließ, und daneben zwei schoͤne Pferde gebaut, und mit praͤchtigen Decken belegt wurden. Viele Visionen zerflossen dergestalt in Nebel¬ gebilde, daß sie dieselben gar nicht mit Worten bezeichnen konnte, wie dies namentlich von den Verwandlungen vieler Thiere, besonders der Insecten gilt, welche alle Daͤcher be¬ beckten. Mehr oder weniger hatten aber alle diese Gebilde, welche luftig und wesenlos als Schatten eines Traumes an ihrem innern Sinne voruͤbergaukelten, eine religioͤse Bedeutung. Neben einem Kirchhofe wohnend sah sie auf demselben eine wahre Auferstehungsscene, deren Anfang die Eroͤffnung eines Grabes machte, aus welchem Menschen emporstiegen, die theils schon voͤllig ausgebildet waren, theils erst auferbaut werden mußten, wie sich dies an ihren schlechten Kleidern erkennen ließ, worauf sie insgesammt in Regimentern zusam¬ mengeschaart wurden. Ein runder Kessel nebst zwei großen kupfernen Toͤpfen mit vielen Zapfen sollten einen Altar vor¬ stellen. Dann erschien eine Schaar von Cadetten, welche Christus als eine Leiche in das Grab legten, und sich hierauf unter der Erde um ihn stellten, um ihn zu bewachen. Sie sah diese Erscheinung dreimal, war aber nicht Zeugin der Auferstehung Christi am dritten Tage, nach welchem er sich ihr zu erkennen gab. Wohl aber nahm sie wahr, daß zwei Damen mit halbem Leibe sich aus dem Grabe aufrichteten, von denen ihr gesagt wurde, daß eine die Jungfrau Maria, die andere aber Magdalena, die wahre Mutter Gottes sei. Gott als alter, und Christus als junger Mann erschienen ihr spaͤter sehr haͤufig, und sagten ihr, die Menschen muͤßten, ehe sie auferstehen koͤnnten, zuvor noch vorbereitet werden, und sie, die G., sei zur Mitwirkung dazu berufen und vorbereitet. Dies geschah nun auf folgende Weise. Wolken aus See¬ wasser, welche die Leichen verhuͤllten, schwebten zur Erde nie¬ der, jedoch nur, wenn die G. durch Schwenkungen der Arme dazu behuͤlflich war. Unterließ sie dieselben, so konnten die Koͤrper nicht aus den Wolken herauskommen, sondern es er¬ hob sich ein Jammergeschrei: „die Welt geht unter!” worauf Ideler uͤber d. reI. Wahnsinn. 10 sie sich dann eifrig bemuͤhte, den Verwuͤnschten Huͤlfe zu lei¬ sten. Aus den Wolken befreit, wurden die Leichen in einem Bade von Gold- und Silberwasser, Gottesacker genannt, un¬ tergetaucht, und wenn sie aus dem Bade mit Silberstoff be¬ kleidet auftauchten, waren sie fertige Menschen, von aller Ver¬ wuͤnschung befreit, worauf der Ruf Gottes erscholl: „Viele Mil¬ lionen sind nun fertig!” Die G. wurde durch den ihr uͤbertragenen Beruf in einem hohen Grade geaͤngstigt, und wagte doch nicht, sich demselben zu entziehen, um nicht gegen Gott ungehorsam zu sein, obgleich sie sich durch die dazu erforderliche Anstren¬ gung, zu welcher sie jeden Tag mehrmals genoͤthigt war, sehr erschoͤpft fuͤhlte, und ihre Verlegenheit nahm in der Charité noch zu, da ihre beschwoͤrenden Gesticulationen von andern Kranken belacht, und als Wahnsinn verhoͤhnt wurden, welches nur die Verdammung der gotteslaͤsternden Spoͤtter bewirken koͤnne. Sie mied daher jede aͤußere Kundgebung ihrer Heils¬ operationen, und verrichtete dieselben nur in Gedanken, oder sie nahm sie nur dann wirklich vor, wenn sie sich allein be¬ fand, weil sie dann jedesmal die Huͤlfeflehenden von ihrer Noth befreite. Unter dem steten Einflusse dieser hoͤchst phantastischen Wahnvorstellungen haben sich ihre religioͤsen Begriffe in baa¬ ren Unsinn verkehrt. Sie glaubt z. B. daß Gott vor 1500 Jahren aus einem Insect, und mit ihm eine neue Welt ent¬ standen sei, und fragt man sie, woher jenes Insect gekom¬ men sei, so spiegelt sich in ihren Vorstellungen das Bild des alten Chaos ab, dessen Gewimmel sie nicht anders, als einen großen Insectenschwarm zu bezeichnen weiß. Die Be¬ griffe von einem ewigen Leben haben bei ihr eine eben so seltsame Gestalt angenommen, denn ihrer Meinung nach hat dasselbe schon angefangen, und obgleich die Auferstehung der Todten unter ihrer Mitwirkung unaufhoͤrlich erfolgt, wobei eine stufenweise Verwandlung der Menschen in verschiedene Klassen von Engeln Statt findet, und selbst die Verwuͤnsch¬ ten zu einem bessern Dasein veredelt werden, so ist doch eigent¬ lich hiermit nicht viel gewonnen, da im Grunde Alles beim Alten bleiben wird. Denn die Menschen muͤssen nach wie vor arbeiten, werden haͤufig erkranken, damit die Aerzte nicht ihre Kundschaft verlieren. Nur wenn die Uebel zu arg wer¬ den, hilft Gott unmittelbar durch Wunder; z. B. wenn Zimmerleute vom Geruͤst herabfallen, ist er sogleich bei der Hand, um sie wieder aufzubauen, Verbrecher muͤssen hinge¬ richtet werden, damit Gott sie von neuem bereite. Werfen wir noch einen Blick auf die Entstehung ihres Wahnsinns, so laͤßt sich derselbe seinem Ursprunge nach kaum als ein religioͤser bezeichnen, da die ersten Visionen wohl nur das Erzeugniß eines durch Kummer bewegten Gemuͤths waren, dessen Erregung unter dem Einfluß einer krankhaften Gehirn¬ reizung sich zuerst unter bedeutungslosen Visionen abspiegelte. Auch versichert sie, in den ersten Tagen jene Erscheinungen nicht fuͤr himmlische gehalten zu haben, sondern durch sie in Erstaunen versetzt worden zu sein, da sie denselben keine be¬ stimmte Bedeutung beilegen konnte. Aber sie fuͤhlte sich bei der steten Wiederkehr und mannigfaltigen Umgestaltung jener Visionen, wodurch ihre Aufmerksamkeit ganz absorbirt wurde, ihren bisherigen Verhaͤltnissen voͤllig entruͤckt, und in eine neue Welt versetzt, in deren phantastischen Erscheinungen sich der Verstand zuletzt nur dadurch orientiren konnte, daß er in ihnen eine Verwirklichung der Glaubensdogmen sah, und dadurch das Gemuͤth in eine anhaltende religioͤse Erregung versetzte. Hierdurch erlangten zugleich die Visionen ungeachtet ihrer steten Verwandlungen einen bleibenden Charakter, der wie ein leitender Faden durch das Ganze geht, und ein Ab¬ schweifen der Phantasie auf wesentlich verschiedenartige Bilder verhindert. 13. H . , 34 Jahre alt, aus Kopenhagen gebuͤrtig, ist der Sohn eines Porzellanhaͤndlers, welcher im Wohlstande lebte, und daher seinen acht Kindern eine angemessene Erziehung geben konnte. Die fruͤhere Jugend des H. verstrich daher unter angenehmen Verhaͤltnissen, da der Vater, zwar streng in seinen Grundsaͤtzen, doch auch seinen Kindern erlaubte Freu¬ den goͤnnte, weshalb ersterer als ein munterer und meist auch gesunder Knabe aufwuchs. Er besuchte bis zu seiner im 10 * 14. Jahre erfolgten Einsegnung eine Stadtschule, in welcher er außer den Elementarkenntnissen auch noch in der deutschen Sprache, welche er gelaͤufig spricht, und in der Geschichte und Geographie Unterricht erhielt, dem er ohne Muͤhe folgen konnte. Der Vater hielt die Kinder zum fleißigen Besuch der Kirche an, nahm mit ihnen gewoͤhnlich noch an jedem Sonntag Abend Theil an dem Gottesdienste der dortigen Herrenhuter Ge¬ meinde, und bemuͤhte sich, ihnen besonders dadurch die reli¬ gioͤsen Begriffe tief einzupraͤgen, daß er sie jedesmal uͤber den Inhalt der gehoͤrten Predigt befragte. Die in diesem Kreise herrschende Glaubensrichtung scheint eine streng orthodoxe ge¬ wesen zu sein, da in den Predigten und in den herrenhuti¬ schen Andachtsuͤbungen sehr haͤufig auf den Teufel Bezug ge¬ nommen wurde, welcher wie ein bruͤllender Loͤwe die Menschen umschleiche, daher Jeder gegen seine Verfuͤhrung und gegen den Zorn Gottes gewarnt werden muͤsse. Indeß war der da¬ durch in dem Gemuͤth des H. hervorgebrachte Eindruck nicht groß, und truͤbte namentlich nicht seinen lebensfrohen Sinn. Nach erfolgter Einsegnung trat er als Lehrling bei einem Schneider ein, bei welchem er eine harte Behandlung erfuhr, so daß er fuͤr leichte Vergehungen gezuͤchtigt wurde, und gern seine Lage mit einer anderen vertauscht haͤtte, wenn ihm da¬ zu von seinem Vater die Bewilligung gegeben waͤre. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Druck, welchen er eine Reihe von Jahren hindurch erdulden mußte, wesentlich dazu beitrug, seine sinnlichen Neigungen um so staͤrker hervorzurufen, als er Geselle geworden war, und dadurch eine hinreichende Unab¬ haͤngigkeit erlangte. Denn er mißbrauchte seinem Gestaͤndniß nach dieselbe zu Ausschweifungen im Branntweintrinken und in der Wollust, war dem Tanzen in einem hohen Grade erge¬ geben, vergeudete meist seinen reichlichen Erwerb, so daß er nicht selten in Geldverlegenheit gerieth, aus welcher er sich indeß durch fleißige Arbeit leicht wieder befreien konnte. In ruhi¬ gen Stunden empfand er nicht selten eine lebhafte Reue uͤber sein leichtfertiges Leben, ohne sich jedoch dadurch zu einer Bes¬ serung bewegen zu lassen, daher er selbst durch wiederholte syphilitische Ansteckungen, von deren Folgen er von geschickten Aerzten bald wieder befreit wurde, nicht gewitzigt wurde. Er scheint selbst am Nervenfieber gelitten zu haben, kann jedoch daruͤber keine bestimmte Auskunft geben, da seine Geistes¬ kraͤfte und namentlich sein Gedaͤchtniß in Folge der haͤufigen Ausschweifungen geschwaͤcht sind. Deshalb ist er auch unver¬ kennbar in seiner koͤrperlichen Entwickelung zuruͤckgeblieben. Da eine solche Lebensfuͤhrung sich nicht zu einer ausfuͤhrlichen Schil¬ derung eignet, so bemerke ich nur noch, daß er eine Reihe von Jahren hindurch eine Wanderschaft durch mehrere Staͤdte Daͤ¬ nemarks, Norwegens und Schwedens antrat, und zuletzt nach Kopenhagen zuruͤckkehrte, ohne jemals einen festen Plan fuͤr die Zukunft zu fassen, da selbst mehrere Liebesverhaͤltnisse ihn nicht bestimmen konnten, sich als Meister niederzulassen, und einen Hausstand zu begruͤnden. Als Wirkung jener wuͤsten Lebensweise, welche er na¬ mentlich auch noch nach seiner Ruͤckkehr nach Kopenhagen fort¬ setzte, zum Theil wohl auch in Folge des Kummers uͤber den durch Sorglosigkeit seiner Mutter bewirkten Verfall des Wohl¬ standes seiner Aeltern, erlitt er schon vor drei Jahren einen Anfall von Geistesstoͤrung, welche unverkennbar den Charakter des Saͤuferwahnsinns an sich trug. Nicht nur hatte er zuvor sehr viel Branntwein getrunken, sondern sein Irrereden zeigte auch ganz das Gepraͤge des Delirium potatorum , welches sich durch Visionen von allerlei Thieren auszuzeichnen pflegt. Es duͤrfte schwer zu erklaͤren sein, warum gedachtes Delirium so haͤufig unter dieser Form auftritt, daß ich in den mehreren Hundert Faͤllen von Saͤuferwahnsinn, welche ich zu beobachten Gelegenheit hatte, immer meine Fragen darauf hin¬ lenkte, und fast immer eine bejahende Antwort erhielt, wenn auch haͤufig sich andere Wahnvorstellungen einmischten. Wirk¬ lich wurde H. damals von vielerlei Thiergestalten sehr geneckt und geaͤngstigt, Ratten liefen um ihn her, Schlangen krochen uͤber sein Bette, so daß er oft in ein lautes Schreien aus¬ brach. In einer Nacht nahm er auch einen Leichenzug wahr, und glaubte, sein Vater sei gestorben. Zugleich litt er an großer Bangigkeit, glaubte nicht essen zu duͤrfen, und straͤubte sich so sehr gegen den Genuß der Speisen, daß ihm dieselben wider seinen Willen eingefloͤßt werden mußten. In die Ir¬ renanstalt zu Roeskilde versetzt, erlangte er nach einiger Zeit seine Besinnung wieder, zog sich aber wiederholte Ruͤckfaͤlle seines Deliriums dadurch zu, daß er die ihm ertheilte Erlaub¬ niß zum Besuch der Stadt zu neuen Excessen im Brannt¬ weintrinken mißbrauchte. Endlich gewann er seine Besinnung dauernd wieder, so daß er nach Jahresfrist aus der Anstalt entlassen werden konnte. Hierauf trat er wiederum seine Wanderschaft an, welche ihn auch nach Hamburg fuͤhrte. Ungeachtet er von den Aerz¬ ten wiederholt gegen den Genuß des Branntweins gewarnt worden war, dessen Nachtheile er hinreichend kennen gelernt hatte, so wurde er doch durch diese bittere Erfahrung keines¬ weges gewitzigt, sondern fing seine alte Lebensweise wieder an. Von Hamburg aus, wo er laͤngere Zeit verweilte, setzte er seine Wanderung uͤber Mecklenburg und Hannover nach Berlin im Spaͤtherbste 1845 fort, und hatte auf diesem lan¬ gen Wege mit vielem Ungemach zu kaͤmpfen, da er Tage lang im Regen und auf uͤberschwemmten Pfaden wandern, und gaͤnzlich durchnaͤßt, halb erstarrt seine Naͤchte auf kaltem Stroh¬ lager zubringen mußte. Seine Kleider waren zerrissen, sein Geld meist verthan, als er in Berlin anlangte, wo er fern von der Heimath mit großer Sorge fuͤr seinen Lebensunter¬ halt kaͤmpfen mußte, und in der ihm unertraͤglichen Furcht schwebte, als Vagabond aus dem Lande verwiesen zu werden. Zwar gelang es ihm, einen Dienst als Geselle zu finden, aber die Erschoͤpfung durch die Anstrengungen der Reise, die Nach¬ wirkung durch das uͤble Wetter auf seine ausgemergelten Ner¬ ven, und die Aufregung durch peinliche Gefuͤhle wirkten zu¬ sammen, ihn in eine an Verzweiflung grenzende Stimmung zu versetzen, welche durch wiederholten Branntweingenuß in voͤllige Geistesstoͤrung verwandelt wurde. Schon hatte er meh¬ rere Naͤchte fast schlaflos in großer Unruhe zugebracht, und am Tage eine große Wuͤstheit im Kopfe empfunden, als er an einem Morgen nach dem Fruͤhstuͤck in einem Branntweinskeller auf die Straße zuruͤckkehrend ploͤtzlich eine Stimme vernahm, welche ihm zurief: „Dich soll der Teufel holen!” Voll Ent¬ setzen ergriff er die Flucht, so daß er betaͤubt den Tag uͤber in den Straßen der ihm unbekannten großen Stadt umher¬ lief, und sein Schreck erreichte den hoͤchsten Grad, als eine fuͤrchterliche Teufelsgestalt, aus deren Munde und Augen Flam¬ men hervorwirbelten, und deren Stirn mit Hoͤrnern besetzt war, ihm erschien, und die Krallen nach seinem Kopfe aus¬ streckte, um ihn an den Haaren zu packen und in die Hoͤlle zu schleppen. H. glaubte von den Flammen erreicht zu wer¬ den, und empfand deshalb einen heftig brennenden Schmerz. Bald wurde seine Quaal so unertraͤglich, das er an das Ufer der Spree eilte, sich die Kleider vom Leibe riß, und im Be¬ griff stand in den Fluß zu springen, als er verhaftet, und in das Polizeigefaͤngniß gebracht wurde. Von dem Aufenthalte in demselben ist ihm nur so viel erinnerlich, daß er fast un¬ unterbrochen von Teufelserscheinungen gequaͤlt wurde, woruͤber er in Jammern und Wehklagen ausbrach, welches Veranlas¬ sung gab, daß seine Mitgefangenen, wohl groͤßtentheils ein roher Haufe, ihn verspotteten. Dies, so wie ihre Menge, welche ihm in seiner verzweifelnden Stimmung als drohend und un¬ heilverkuͤndend vorkommen mußte, weckte in ihm die Vorstel¬ lung, daß er verfolgt und fuͤr seine Suͤnden bestraft werde. Besonders arg setzten ihm die Teufel, welche ihn oft in gan¬ zen Schaaren unter derselben fuͤrchterlichen Gestalt erschienen, des Nachts zu, so daß er dann vor Angst laut schrie. Nach einigen Tagen wurde er in die Irrenabtheilung versetzt, woselbst sein Zustand sich im Wesentlichen auf dieselbe Weise darstellte. In Folge des Branntweintrinkens und sei¬ ner sinnlosen Angst zeigte er jenen Ausdruck von Stupiditaͤt, welche das Zeichen eines Stockens der gesammten Geistesthaͤ¬ tigkeit ist, wo entweder eine voͤllige Nacht uͤber das Bewußt¬ sein sich ausbreitet, oder nur einzelne Traumbilder vor dem geistigen Auge weilen, an denen der Mensch weder uͤber sich, noch uͤber die Welt zur Besinnung kommen kann. Erwaͤgt man, daß bei wahnsinnigen Branntweintrinkern die Thaͤtigkeit des Gehirns und Nervensystems durch die zerstoͤrend narkotische Wirkung des Alkohols in einer wahren Aufloͤsung begriffen ist, welche unfehlbar den Tod nach sich zieht, wenn nicht dem ein¬ reißenden Verderben Einhalt geschieht; so duͤrfte das Bild nicht zu kuͤhn sein, welches ihren Zustand mit einem faulen¬ den Sumpfe vergleicht, aus welchem in der Nacht einzelne Irrlichter aufblitzen, zum Zeichen, daß in ihnen eine Fuͤlle von Pflanzen- und Thierleben zu Grunde gegangen ist. So war es auch mit H. beschaffen, welcher uͤber sein fruͤheres Le¬ ben keine Auskunft geben konnte, da er in Angst, welche sein scheuer, stierer Blick deutlich zu erkennen gab, vor den unab¬ laͤssigen Teufelserscheinungen ganz im Geiste erstarrt war. Als er zu einiger Besinnung zuruͤckkehrte, gab er an, daß die Teu¬ fel unter Hohngelaͤchter, aber ohne ein Wort zu sprechen, fast immer nach seinem Kopfe gegriffen haͤtten, und daß sie nur zuweilen unter die Betten und hinter seinen Ruͤcken geschluͤpft waͤren, um ihn im Verborgenen zu quaͤlen. Der weitere Verlauf seines Seelenleidens bietet keine bemerkenswerthe Ereignisse dar, denn unter dem Gebrauch ge¬ eigneter Heilmittel, namentlich der lauwarmen Baͤder mit kal¬ ten Uebergießungen uͤber den Kopf und der gelinden Abfuͤhr¬ mittel, trat bald eine groͤßere Ruhe, zumal des Nachts ein, und nach einigen Monaten war seine Genesung voͤllig ent¬ schieden. Indeß wurde eine Verlaͤngerung seines Aufenthaltes in der Heilanstalt dadurch nothwendig bedingt, daß er uͤber die verderblichen Wirkungen des Branntweintrinkens hinreichend aufgeklaͤrt, und zugleich an Maͤßigkeit gewoͤhnt werden mußte, um ihn in den gefaßten besseren Entschluͤssen fuͤr die Zukunft zu bestaͤrken; auch hatten seine Geisteskraͤfte in Folge lang¬ jaͤhriger Ausschweifungen so sehr gelitten, daß sie der naturge¬ maͤßen Uebung durch den ertheilten Schulunterricht dringend bedurften. Er zeichnete sich durch Fleiß, Ordnungsliebe und friedfertigen Sinn aus, und erklaͤrte sich bereit, nach seiner Entlassung in einen Maͤßigkeitsverein zu treten, als das zu¬ verlaͤssigste Mittel, durch fortgesetzte Theilnahme an dessen Ver¬ sammlungen in seinen gefaßten Vorsaͤtzen befestigt zu werden, und sich durch das gegebene gute Beispiel zur Nacheiferung be¬ stimmen zu lassen. Hierauf erfolgte seine Entlassung als ge¬ heilt am 12. Octbr. 1846. 14. H ., im Jahre 1816 geboren, ist die Tochter eines Kaufmanns in einer Provinzialstadt, in dessen aus acht Kin¬ dern bestehender Familie ein haͤuslich friedlicher Sinn herrschte. Sie war als Kind immer gesund, zeigte aber nicht die dem fruͤheren Lebensalter natuͤrliche Munterkeit, sondern hielt sich still und zuruͤckgezogen, so daß sie selten zu den froͤhlichen Spielen jener gluͤcklichen Zeit aufgelegt war. Vom 6 —15. Jahre besuchte sie die Toͤchterschule der Stadt, woselbst sie außer den Elementarkenntnissen noch Unterricht in der Ge¬ schichte und Geographie erhielt, uͤber welche Gegenstaͤnde sie viele schriftliche Aufsaͤtze anfertigen mußte. Da ihre Verstan¬ deskraͤfte nur sehr mittelmaͤßig waren, so kostete ihr diese Ar¬ beit eine große Anstrengung, welche wie eine große Pein auf ihr lastete, und ihren Sinn schuͤchtern und verlegen machte. Nach erfolgter Einsegnung nahm sie an den Wirthschaftsge¬ schaͤften Theil, oder verrichtete weibliche Arbeiten, und die Ein¬ foͤrmigkeit ihres stillen Fleißes wurde fast niemals durch ge¬ sellige Vergnuͤgungen unterbrochen, zu denen sie schon wegen der Passivitaͤt ihres Gemuͤths so wenig aufgelegt war, daß sie ihrer Versicherung zufolge niemals tanzte. Da sie von den Aeltern liebevoll behandelt wurde, und sich auch bei rasch fort¬ schreitender Entwickelung (sie war schon im 15. Jahre voͤllig ausgewachsen, und ihre Menstruation kehrte seitdem regel¬ maͤßig und ohne alle Beschwerden wieder) immer wohl be¬ fand; so laͤßt diese Indolenz allerdings auf eine geringe Be¬ gabung mit Geist und Gemuͤth zuruͤckschließen. Nun ist es allerdings wahr, daß unzaͤhlige solche Individuen ihren Lebens¬ gang ohne große Stoͤrungen zuruͤcklegen, ja eben wegen ihrer Apathie gegen tiefere Erschuͤtterungen geschuͤtzt bleiben, von denen reicher begabte Naturen so oft getroffen werden; aber andrer¬ seits muß eine solche Indolenz in sofern als eine geistige Krank¬ heitsanlage angesehen werden, weil sie schlimmen Ereignissen nicht die Widerstandskraft eines energischen Charakters entge¬ gensetzen kann, zumal wenn Leiden lange auf dem Gemuͤth lasten, und dasselbe gleichsam erdruͤcken. An vielfachen Gele¬ genheiten dazu sollte es der H. nicht fehlen, denn auch bei ihr machte die Natur ihr Gesetz geltend, nach welchem das Weib zur Liebe geschaffen ist, auf welche Verzicht zu leisten, ohne den Frieden des Herzens anhaltend zu verlieren, fuͤr dasselbe eine der schwersten Aufgaben ist. Die unbedeutende Persoͤn¬ lichkeit der H. hatte ihr keinen Geliebten erwerben koͤnnen, und in Ermangelung eines anderen Gegenstandes richtete sich ihre Neigung auf einen Handlungsdiener ihres Vaters, weil sie wohl fuͤhlte, daß sie zu keinen hoͤheren Anspruͤchen berech¬ tigt sei. Sie mußte indeß, wie so viele ihres Geschlechts, ihre Neigung in sich verschließen, da sie von jenem nicht einmal beachtet und ausgezeichnet wurde, und wenn ihre hoffnungs¬ lose Liebe sie auch nicht in eine wirkliche Gemuͤthskrankheit versetzte, so beduͤrfte sie doch mehrerer Jahre, um ihre fruͤhere Ruhe wieder zu gewinnen, welche eigentlich nur eine truͤbe Resignation auf ein von ihr nicht zu erlangendes Lebensgluͤck sein konnte. Inzwischen waren die Vermoͤgensumstaͤnde ihres fruͤher wohlhabenden Vaters, dem es wohl an kaufmaͤnnischer Be¬ triebsamkeit gefehlt haben mag, so weit heruntergekommen, daß er, ohne gerade Bankrutt gemacht zu haben, genoͤthigt war, sein Geschaͤft aufzugeben und sich mit seiner Familie in Berlin anzusiedeln, wo seine Toͤchter mit emsigem Fleiße in Anfertigen weiblicher Arbeiten so viel erwarben, daß sie we¬ nigstens gegen druͤckende Noth geschuͤtzt blieben. Diese be¬ schraͤnkte Lage nebst den unzertrennlich damit verbundenen Sorgen fuͤr die Zukunft machte besonders auf das schwache Gemuͤth unsrer damals 28 Jahre alten Kranken einen tiefen Eindruck, so daß sie oft weinte und wehklagte, und von ihrer Mutter getroͤstet werden mußte. Durch die Missionsblaͤtter, welche ihr Vater schon seit laͤngerer Zeit gehalten hatte, auf die Gesellschaft zur Befoͤrderung des Christenthums unter den Heiden aufmerksam gemacht, fing sie an, den Versammlungs¬ saal derselben zu besuchen, wo außer den Andachtsuͤbungen besonders die Berichte uͤber die guͤnstigen und unguͤnstigen Un¬ ternehmungen der Missionaͤre in fremden Laͤndern ihr Gemuͤth tief bewegten. Es liegt in der Natur der Sache, daß solche Berichte in einem ascetischen, streng kirchlichen Geiste gehalten sein muͤssen, da jeder Missionaͤr sich mit Glaubensmuth, Selbst¬ verlaͤugnung, namentlich im Verzichtleisten auf die meisten Lebensfreuden, ja mit Todesverachtung ausruͤsten muß, um sich seinem gefahrvollen Beruf mit Erfolg widmen zu koͤnnen. Wer wollte es nicht freudig anerkennen, daß auch die Gegen¬ wart noch eine Menge von Glaubenshelden aufzuweisen hat, deren hochherzige Gesinnung innige Hochachtung einfloͤßen muß, wenn auch einzelne Missionaͤre als Schwaͤrmer und Fanatiker in einem sehr zweideutigen Lichte erscheinen. Die Spoͤtter uͤber diese Angelegenheit vergessen es gaͤnzlich, daß noch nie¬ mals Versuche zur Entwilderung und geistig sittlichen Cultur der rohen Volksstaͤmme auf andere Weise als durch die Aus¬ breitung des Christenthums unter ihnen gelungen sind, wel¬ ches auch dadurch seinen goͤttlichen Ursprung deutlich bezeugt, daß jedes auf diese Weise fuͤr die Menschheit gewonnene Volk erst eine lange Reihe von Entwickelungsstufen, wie unsre Vor¬ aͤltern, durchlaufen muß, ehe es von seiner urspruͤnglichen Roh¬ heit zu dem Genuß der geistig sittlichen Freiheit auf der Grund¬ lage eines gelaͤuterten Glaubens gelangen kann. Das Chri¬ stenthum kann und soll eben wegen seiner goͤttlichen Natur Allen Alles sein, so daß aus ihm Jeder volle Befriedigung zu schoͤpfen vermag, der erleuchtetste, tiefsinnigste Philosoph, wie der schlichteste Verstand, dessen Gesichtskreis nicht uͤber die Grenze der engsten Verhaͤltnisse hinausreicht. Wer darf also fordern, daß der Gottesdienst, welcher so unendlich verschiedenen Beduͤrfnissen des Geistes und Herzens Befriedigung verschaffen soll, uͤberall in der naͤmlichen Form und Fassung gehalten, in einer bestimmten Begriffssphaͤre abgeschlossen werde? Goͤnnt doch den Muͤhseeligen und Beladenen, welche sich nicht zu hoͤ¬ herer Weltbetrachtung aufschwingen koͤnnen, eine schlichte, ihren Beduͤrfnissen angemessene christliche Lehre, welche ihnen Muth und Trost einfloͤßt, indem sie das Leben darstellt als den Kampf des glaͤubigen Gemuͤths gegen die Leiden und Verlockungen die¬ ser Welt, als die Nachfolge des Kreuzes Christi. Sie haben ja hier Noth genug zu erdulden, und wie wollten sie sie ertra¬ gen, wenn nicht auf die Trauerbuͤhne ihres verkuͤmmerten Da¬ seins ein himmlischer Lichtstrahl fiele, welcher ihr Bewußtsein erleuchtend sie gegen gaͤnzliches Verdumpfen in Verzweiflung uͤber endloses Erdenweh schuͤtzte? Aber freilich laͤßt der Vortrag, in welchen solche asceti¬ sche Lehren eingekleidet werden, haͤufig nur allzuviel zu wuͤn¬ schen uͤbrig, da er oft genug nicht aus einem liebevollen Herzen, sondern aus einem fanatischen Munde kommt, welcher die schon geaͤngstigten Gemuͤther mit den Strafgerichten Gottes uͤber die Weltkinder niederschmettert, und mit Teufelsbildern und Hoͤl¬ lengemaͤlden jede unschuldige Freude aus dem Leben verscheucht. Auch wenn die Kirche nicht durch hierarchischen Zelotismus in ein Zuchthaus verwandelt wird, wo dem zerknirschten Buͤßenden die Geißel um die Ohren geschwungen wird, muß sie doch ihre Bestimmung, ein rettendes Asyl des Friedens fuͤr den Gram¬ gebeugten zu sein, ganz verlieren, wenn sie nur von finsteren Declamationen uͤber den unausgleichbaren Widerstreit zwischen dem ewigen und zeitlichen Leben wiederhallt, welcher nur da¬ durch geschlichtet werden koͤnne, daß man letzteres dem ersteren zum Opfer bringe. Dergleichen Betrachtungen sind nur in den Kloͤstern als den großen Kirchhoͤfen fuͤr Lebendigbegrabene an ihrem Orte, um ihnen das fortwaͤhrende Absterben bis zum Tode zu erleichtern; wer aber in der Welt lebt, und in ihr Pflichten zu erfuͤllen hat, muß auch die Kraft dazu besitzen, welche ihm unfehlbar geraubt wird durch die Vorstellung aller Weltverhaͤltnisse als suͤndlicher, mit denen der Fromme nichts zu schaffen habe. Es muß voͤllig dahin gestellt bleiben, in welchem Sinne jene Vortraͤge gehalten waren, welche auf die H. einen so tie¬ fen Eindruck machten; ja man kann es dreist voraussetzen, daß sie einen aͤcht christlichen Geist athmeten, ohne daß sie des¬ halb weniger nachtheilig auf ihr schon verduͤstertes Bewußtsein gewirkt haͤtten. Denn Leiden, Entbehrungen, Hoffnungslosig¬ keit waren der Gegenstand ihres truͤben Sinnes, und sie mußte daher um so empfaͤnglicher werden fuͤr die schlimmste Ausdeu¬ tung jener Missionspredigten, welche die Nachfolge des Kreuzes Christi fuͤr die vornehmste Pflicht erklaͤrten. Ihrer Aussage nach gruͤbelte sie oft uͤber solche Betrachtungen, welche nicht dazu dienen konnten, Licht und Heiterkeit in ihren verfinster¬ ten Geist zu bringen, zumal da sie in ihrer Ansicht, daß auch sie dem Weltlichen entsagen, und das Kreuz Christi auf sich nehmen muͤsse, noch mehr bestaͤrkt wurde durch die Predigten eines Geistlichen, der sich stets durch mystisch ascetische Lehren bekannt gemacht hat. In einer solchen Predigt glaubte sie auch die Ankuͤndigung eines baldigen Unterganges der Welt und des hereinbrechenden Strafgerichts Gottes uͤber die Suͤnder vernommen zu haben, und es begreift sich leicht, daß nun jener Untergang eine herrschende Vorstellung in ihrem Gemuͤthe wurde. Wer die Contraste im weiblichen Herzen kennt, wird nicht daruͤber erstaunen, daß jener Bußprediger, dessen Ana¬ themen in ihrer Brust schauerlich widerhallten, der Gegenstand ihrer Zuneigung wurde. Daß ein reines Liebesbild nicht aus der dumpfen Gaͤhrung ihres Herzens auftauchen konnte, son¬ dern daß erotische und religioͤse Regungen bei ihr zu jenen formlosen Wallungen unverstandener Gefuͤhle sich vereinigten, welche ihr kaum die Unterscheidung beider von einander ge¬ statteten, und deshalb jede besonnene Reflexion uͤber sie un¬ moͤglich machten, begreift sich leicht. Nur in sofern fand eine Uebereinstimmung unter ihren Gemuͤthsregungen Statt, als sie in ihrer Gesammtheit den Charakter der Schwermuth an sich trugen, welche nirgends durch einen Strahl von Hoffnung erhellt wurde. Diese finstere Stimmung wurde noch truͤbseeliger, als der Versuch ihres aͤl¬ testen Bruders, mit den Truͤmmern des Familienvermoͤgens einen Victualienhandel anzulegen, nach anfangs guͤnstigem Er¬ folge zuletzt gaͤnzlich scheiterte, und dadurch die Bedraͤngniß der Familie fast bis zur wirklichen Noth steigerte. Die H. versank nun mit jedem Tage tiefer in Trostlosigkeit, so daß sie zu jeder Beschaͤftigung unfaͤhig wurde, die Nacht schlaflos zubrachte, ja ihr Leiden erreichte binnen wenigen Wochen eine solche Hoͤhe, daß sie am 23. Maͤrz 1842 in die Charité auf¬ genommen werden mußte. Hier verrieth sie eine bis zur Angst gesteigerte Unruhe, welche sie zu haͤufigem Jammern und Weh¬ klagen antrieb; zugleich war sie so verworren und befangen, daß sie uͤber den Grund ihres bangen Gefuͤhls keinen Auf¬ schluß geben konnte. Bald klagte sie sich als eine schwere Suͤnderin an, welche zeitliche und ewige Strafen zu fuͤrchten habe, ließ aber jede Frage nach dem Motive ihrer Selbst¬ anklage unbeantwortet; bald schrieb sie ihre Angst der Entfer¬ nung von ihren Aeltern zu, oder sie fuͤrchtete sich vor Ver¬ giftung, und straͤubte sich daher mit großer Hartnaͤckigkeit ge¬ gen den Genuß der Speisen und Arzneien, welche ihr nur mit Muͤhe eingefloͤßt werden konnten. Noch jetzt ist ihr erin¬ nerlich, daß damals aus der Erinnerung an den verkuͤndeten baldigen Untergang der Welt die Vorstellung von dem nahen Ende derselben in ihr auftauchte, und sie quaͤlte. Unter an¬ derem gab sie auch an, daß sie im Herbste 1840, als gerade ihre Menstruation im Flusse begriffen war, von einem starken Regen ganz durchnaͤßt worden sei, und sich heftig erkaͤltet habe, und daß danach Schmerzen in der rechten Seite zuruͤckgeblie¬ ben waͤren, von denen sie stets geplagt und in große Unruhe versetzt worden sei. Die gewoͤhnlichen Unterleibsbeschwerden bei der Melancholie abgerechnet, war indeß keine eigenthuͤmliche Functionsstoͤrung bei ihr wahrzunehmen. Im Laufe der beiden naͤchsten Monate trat wenigstens eine theilweise Besserung ein, so daß sie koͤrperlich ganz wohl sich befand, auch eine groͤßere Ruhe und Klarheit des Geistes wiedergewonnen hatte, nament¬ lich nicht mehr so haͤufig daruͤber jammerte, daß sie gefehlt habe. Aber eine wesentliche Umgestaltung ihres Zustandes war nicht erfolgt, als sie am 21. Mai auf Verlangen ihres Va¬ ters aus der Anstalt entlassen werden mußte. Die Ruͤckkehr zu den Ihrigen, nach denen sie eine große Sehnsucht empfunden hatte, gewaͤhrte ihr allerdings einigen Trost, und da wenigstens die heftigsten Ausbruͤche ihrer Krank¬ heit beschwichtigt waren, so sah sie sich im Stande, weibliche Arbeiten zu verrichten, und dem aͤußeren Anschein nach sich besonnen zu betragen. Aber voͤllig unaufgeklaͤrt geblieben uͤber den Nachtheil, welchen die schwaͤrmerische Richtung ihrer Froͤm¬ migkeit auf sie ausgeuͤbt hatte, folgte sie bald wieder dem Zuge derselben, und suchte daher sowohl den Betsaal der Mis¬ sionsgesellschaft, als jenen Prediger auf, dem sie noch immer mit inniger Neigung zugethan war. Stets bewegte sie sich in dem engen Kreise finsterer Gruͤbeleien uͤber die vornehmste Pflicht, das Kreuz Christi auf sich zu nehmen, uͤber den bal¬ digen Untergang der Welt und das Strafgericht Gottes gegen diejenigen, welche derselben nicht entsagt haͤtten. Wenn viel¬ leicht auch in den gehoͤrten Predigten Worte des Trostes und des freudigen Glaubens ausgesprochen wurden; so hatte sie doch alle Empfaͤnglichkeit dafuͤr verloren. Nicht damit zufrie¬ den, jenen ascetischen Andachtsuͤbungen an den Sonntagen und an mehreren Wochenabenden beizuwohnen, vertiefte sie sich noch in die Lectuͤre der Bibel und jener schon oft genannten Tractaͤtlein, durch welche schon so manche schwache Intelligenz irre geleitet worden ist. Es wurde schon oͤfter von Schrift¬ stellern bemerkt, daß selbst die vorzuͤglichsten Koͤpfe, Rousseau, Alfieri, Lord Byron, durch eine stets truͤbe Stimmung in Un¬ ordnung gebracht worden sind; daß auch das hellste Auge des Geistes wie des Leibes im Finstern Gespenster und Zerrbilder sieht, und daß beiden Sehorganen das klarste Licht das noth¬ wendige Element zur vollen Entwickelung ihrer Thaͤtigkeit ist, welche außerdem durchaus einen krankhaften Charakter anneh¬ men muß. Wie vielmehr muß daher das Ebengesagte fuͤr eine Person guͤltig sein, deren an sich duͤrftiger Verstand uͤberdies durch eine ungeheilt gebliebene Geisteskrankheit noch mehr ge¬ schwaͤcht worden war. Insbesondere wurde sie durch die Lectuͤre von Missionsberichten gefesselt, in denen nicht selten vom Maͤr¬ tyrertode einzelner Missionaͤre die Rede war, welcher ihren ascetischen Ansichten eine um so reichlichere Nahrung darbieten mußte. Schwerlich kann man sich etwas Trostloseres denken, als die winterliche Oede ihres Bewußtseins waͤhrend der naͤch¬ sten Jahre, wo aus ihrem Gemuͤth kein frischer Lebensquell hervorbrach, kein erfreuliches Ereigniß wenn auch nur voruͤber¬ gehend Klarheit und Waͤrme in ihren gaͤnzlich verdumpften Sinn brachte. Nur in sofern zeigte ihr in passive Resignation versunkenes Gemuͤth einige Reaction, als sie erfuͤllt von ihren finstern Glaubensansichten in ihre Aeltern und Geschwister drang, daß dieselben eben so eifrig wie sie an den Andachtsuͤbungen Theil nehmen sollten, um den Zorn Gottes von sich abzuwen¬ den, welcher außerdem zeitliches und ewiges Verderben uͤber sie bringen wuͤrde. Hieruͤber gerieth sie oft in Streit mit ihren Angehoͤrigen, welche sich vergebens bemuͤhten, sie uͤber die Ueber¬ treibung ihres frommen Eifers aufzuklaͤren, und sich uͤber ihre gehaͤssigen Anschuldigungen eines weltlichen Sinnes beklagten, dem ihrer Meinung nach auch nicht mit den unschuldigsten Freuden eine Befriedigung gewaͤhrt werden duͤrfe. So bestaͤ¬ tigt sich auch hier die traurige Erfahrung, daß selbst die mil¬ deste Gesinnung durch rigoristische Glaubensansichten zur fana¬ tischen Lieblosigkeit verhaͤrtet werden kann, weil dem truͤben Schwaͤrmer jeder Maaßstab eines richtigen Urtheils entfaͤllt, und das fuͤrchterliche Dogma ewiger Hoͤllenstrafen jede menschliche Regung zu Eis erstarren laͤßt. Daß es bei der H. so weit kam, dazu hatte besonders ihrem eigenen Gestaͤndniß nach die Lectuͤre einer Predigtsammlung sie gebracht, deren Verfasser den Kampf mit dem Teufel zu seiner Hauptaufgabe gemacht hatte, welche auch der H. bei dem erwarteten baldigen Unter¬ gange der Welt die wichtigste sein mußte. Ein solcher Seelenzustand, welcher alle Elemente eines naturgemaͤßen Wirkens ausschloß, mußte unaufhaltsam in sei¬ ner Entwickelung zu den heftigsten Ausbruͤchen des Wahns fortschreiten. Zunaͤchst leitete sich derselbe dadurch ein, daß die H. bei der anhaltenden Verfinsterung ihres religioͤsen Bewußt¬ seins und dem steten Schmerzgefuͤhl eines zerquaͤlten Gemuͤths selbst des fruͤheren Trostes verlustig ging, den sie aus der Ueberzeugung schoͤpfte, daß sie durch eifrige Froͤmmigkeit den Zorn Gottes besaͤnftigt habe. Es war schon wiederholt davon die Rede, daß ein leidenschaftlich erregtes religioͤses Gefuͤhl nur allzuleicht in Gewissenspein umschlaͤgt, welches der H. um so mehr begegnen mußte, da sie schon in ihrer ersten Gemuͤths¬ krankheit sich fuͤr eine schwere Suͤnderin hielt. Sie wurde im Nov. 1844 still, tiefsinnig, theilnahmlos, aͤußerte, sie solle hin¬ gerichtet werden, weil sie sich gegen Gott versuͤndigt habe. Zu Anfang des Decembers stellten sich haͤufige Anfaͤlle von Tob¬ sucht ein, in denen sie unbaͤndig schrie, auf keine Frage ant¬ wortete, auf keine Weise zu beruhigen war, weshalb sie am 3. December wieder in die Charité aufgenommen werden mußte. Hier erreichte ihre Tobsucht den hoͤchsten Grad, und noͤthigte sie zu einem lauten Schreien, sinnlosem Schwatzen und zu hef¬ tigen Bewegungen bei Tag und Nacht, so daß sie auf ihre Umgebungen gar keine Aufmerksamkeit richten konnte. Sie hielt sich fuͤr eine schwere Suͤnderin, welche von Gott zur ewigen Hoͤllenstrafe verdammt sei, aͤußerte aber auch zwischendurch ero¬ tische Vorstellungen, in sofern sie den oben bezeichneten Pre¬ diger ehelichen zu wollen versicherte; denn derselbe sei ihr himm¬ lischer Braͤutigam, und werde sie bald abholen. Oft brach sie unter heftigen Gesticulationen und entstellten Gebaͤrden in den Angstruf aus: „ach Gott, was habe ich gethan!” Auch der alte Vergiftungswahn tauchte wieder auf, so daß sie hart¬ naͤckig Speisen und Arzneien verweigerte. Trank sie Wasser, so glaubte sie eine schwere Suͤnde begangen zu haben. Da¬ zwischen wehklagte sie uͤber die Entfernung von ihren Aeltern, zu denen sie zuruͤckgebracht zu werden verlangte. Durch die Anwendung gelinder Abfuͤhrungen und lau¬ warmer Baͤder gelang es allmaͤhlig, ihre heftige Aufregung zu daͤmpfen, so daß sie seit dem 15. December besser schlief, nicht mehr einen so großen Ungestuͤm in ihren Bewegungen zeigte, und das laute Wehklagen einstellte. Ihr Gesichtsaus¬ druck verrieth zwar noch einen großen Schmerz, auch glaubte sie mit den geringfuͤgigsten Handlungen etwas Boͤses gethan zu haben; doch ließ sich in ihrem ganzen Benehmen jene heilsame Abstumpfung des Gefuͤhls wahrnehmen, in welche die unmaͤßige Spannung der Seele und des Koͤrpers uͤbergehen muß, wenn ein guͤnstiger Erfolg eintreten soll. Sie war stundenlang ganz in sich versunken, so daß sie auf die vorgelegten Fragen kaum achtete, nur ihren Wunsch aͤußerte, zu ihren Angehoͤrigen zu¬ ruͤckzukehren, bei gelegentlicher Erwaͤhnung des Predigers selbst laͤchelte. Die Furcht vor Vergiftung schwand gaͤnzlich, sie aß und trank mit großem Appetite, und befand sich leidlich wohl. Indeß ihr Seelenleiden war zu tief begruͤndet, als daß der erste Nachlaß desselben schon zu einer fortschreitenden Genesung haͤtte fuͤhren koͤnnen, und wenn ersteres auch nicht wieder die aͤußerste Hoͤhe, wie zu Anfang erreichte, so wurde doch die Kranke schon im naͤchsten Monate wieder unruhiger, aͤußerte die Sehnsucht, zu den Ihrigen zuruͤckzukehren, auf eine ungestuͤme Weise, und erblickte in den geringfuͤgigsten Handlungen eine schwere Suͤnde. Die sorgfaͤltige Erwaͤgung des ganzen Sachverhaͤltnisses mußte die Aufforderung zu einem energischen Verfahren geben, durch dessen Anwendung man nur noch hoffen konnte, die Fes¬ seln zu sprengen, in denen ihr Gemuͤth schon seit Jahren be¬ fangen war. Denn der psychische Arzt muß in solchen Faͤllen der ernsten Lehre eingedenk sein, daß halbe Maaßregeln nicht zum Ziel fuͤhren, ja den Zustand noch verschlimmern, weil ein Angriff auf eine Leidenschaft, welcher sie nicht uͤberwindet, sie zu einer Reaction herausfordert, durch welche sie nur noch hart¬ naͤckiger werden muß. Wer diese Wahrheit nicht beherzigt, kann durch ein an sich ganz richtiges Heilverfahren die psychi¬ sche Krankheit leicht methodisch verschlimmern, wengistens wird Ideler uͤber d. rel. Wahnsinn, 11 er ihr nicht Einhalt thun, und ihr dadurch Zeit lassen, immer tiefere Wurzeln zu schlagen, bis diese die innerste Tiefe der Seele voͤllig durchdrungen und dadurch jede Heilung unmoͤg¬ lich gemacht haben. Das rechte Maaß zu treffen ist freilich sehr schwer, da sich bei den unzaͤhligen individuellen Verschie¬ denheiten keine allgemeine Regel daruͤber aufstellen laͤßt, und der Arzt auf seinen durch Erfahrung erworbenen Tact ange¬ wiesen ist, dessen Bestimmungsgruͤnde er sich oft selbst nicht klar machen, ja die er fast nur fuͤhlen kann. Man muß sich moͤglichst in die Empfindungs- und Anschauungsweise der Kran¬ ken hineinzuleben suchen, um aus ihrem Bewußtsein heraus das Nothwendige zu treffen, indem man sich ungefaͤhr sagt, was auf sie einwirken kann, was nicht. Denn vergegenwaͤr¬ tigt man sich lebhaft ihre Betaͤubung, Verwirrung, Befan¬ genheit, wie Jeder im eigenen Leben Einiges davon erfahren hat, um es sich deutlich zu machen, wie in solchen Zustaͤnden die Seele ganz von der Außenwelt abgeschieden ist, und uͤber¬ schlaͤgt man in einer ungefaͤhren Wahrscheinlichkeitsrechnung aus den bekannt gewordenen Bedingungen der Krankheit die Hart¬ naͤckigkeit ihrer Erscheinungen; so erlangt man wenigstens einen approximativen Maaßstab fuͤr die Intensitaͤt, welche die Heil¬ bedingungen erreichen muͤssen, wenn durch sie das verschlossene Innere der Kranken wieder fuͤr die Außenwelt eroͤffnet wer¬ den soll. In diesem Sinne mußte daher im Februar unbedenklich zur Anwendung der Brechweinsteinsalbe geschritten werden, da sie unter allen bekannten heilsamen Einfluͤssen auf Geisteskranke ruͤcksichtlich der Intensitaͤt und Dauer der Wirkung den vor¬ nehmsten Rang behauptet. Auch trat der erwartete guͤnstige Erfolg im vollen Maaße ein, denn schon zu Ende des Monats erkannte die H. ihre bisherigen Wahnvorstellungen als solche, sie sah die Unstatthaftigkeit ihrer ungestuͤmen Forderung, ent¬ lassen zu werden, deutlich ein, und begriff die Nothwendigkeit ihres laͤngeren Aufenthalts in der Anstalt zu ihrer voͤlligen Hei¬ lung von einem Seelenleiden, dessen furchtbarer Charakter ihr in lebhafter Erinnerung geblieben war. Da sie auch in koͤr¬ perlicher Beziehung sich ganz wohl befand, so konnte sie nicht nur an den uͤblichen weiblichen Arbeiten, sondern auch an den Unterrichtsstunden mit so gutem Erfolge Theil nehmen, daß ihre Wiedergenesung im Laufe der naͤchsten Monate einen unge¬ stoͤrten Fortgang zu nehmen schien. Sie betrug sich ruhig, an¬ staͤndig, war sehr fleißig und ordnungsliebend, und beantwortete alle Fragen verstaͤndig, namentlich sah sie es deutlich ein, daß sie Jahre lang einer verderblichen religioͤsen Schwaͤrmerei ergeben gewesen sei. Aber ihr Seelenleiden haͤtte minder schwer gewesen sein muͤssen, wenn das Gleichgewicht ihres Gemuͤths nach voͤlliger Ueberwindung ihrer mystischen Leidenschaft schon dauernd haͤtte wiederhergestellt sein sollen. Der alte finstere Geist war nur zuruͤckgescheucht, nicht vertrieben, und wenn er sich auch nicht in seiner fruͤheren Gestalt wieder zeigte, so regte er die Kranke doch schon gegen Ende Aprils zu einer neuen Unruhe an, wel¬ che die Klarheit ihres Bewußtseins truͤbte. Ob sie es nicht wagte, die fruͤheren religioͤsen Wahnvorstellungen wieder laut werden zu lassen, nachdem sie selbst oft genug ein mißbilli¬ gendes Urtheil uͤber dieselben ausgesprochen hatte, oder ob das Gefuͤhl eines koͤrperlichen Mißbehagens vorzugsweise ihre Auf¬ merksamkeit in Anspruch nahm, muß dahin gestellt bleiben; genug sie sprach nur den Wahn aus, daß ihr Koͤrper kleiner und dicker geworden sei, woruͤber sie sich sehr aͤngstigte. Es erschien daher angemessen, eine kraͤftige Reaction ihres Nerven¬ lebens durch die Douche hervorzurufen, um aus ihrer koͤrper¬ lichen Empfindung die seltsame Taͤuschung zu verbannen, wel¬ che jenem Wahn zum Grunde lag; jedoch dauerte es bis zum Anfange des Juni, ehe sie ihre Heiterkeit und Klarheit wie¬ dererlangte, so daß sie nun selbst ihre bisherigen Irrthuͤmer einsah, und nicht begreifen konnte, wie sie in dieselben ver¬ fallen sei. Auch diesmal sollte die Freude uͤber den scheinbar guͤn¬ stigen Erfolg nicht lange dauern, denn schon vom 10. Juni an erschien die H. auffallend stille und traͤumerisch, und wenige Tage spaͤter war sie wieder in den fruͤheren Zustand zuruͤckge¬ fallen. Von unsaͤglicher Angst getrieben lief sie haͤnderingend umher behauptete die schwersten Suͤnden und Verbrechen be¬ gangen zu haben, und wurde unablaͤssig von der Vorstellung gequaͤlt, daß sie hingerichtet werden solle. Die nochmalige An¬ 11 * wendung der Brechweinsteinsalbe hatte einen nur theilweisen Erfolg, da die Kranke nur dem Anschein nach ruhiger wurde, sich ihrer Wahnvorstellungen zu schaͤmen vorgab, und an an¬ dere Dinge zu denken versprach. Dennoch zeigte sie in ihrer ganzen Haltung noch immer eine große Unsicherheit und Be¬ fangenheit, so daß man eines abermaligen Ruͤckfalls gewaͤrtig sein mußte, wenn sie auch außerdem fleißig und aufmerksam auf alle ihr ertheilten Vorschriften war. Wirklich ließ eine Verschlimmerung ihres Zustandes nicht lange auf sich warten, denn schon um die Mitte des Julius quaͤlte sie sich wieder mit der Vorstellung, daß sie hingerichtet werden solle, und daß man ihr das Todesurtheil bald verlesen werde, wofuͤr sie besonders die Bestaͤtigung in dem unvermeidlichen Geraͤusch in dem uͤber dem ihrigen belegenen Krankenzimmer zu finden glaubte, woselbst ein Criminalgericht sich versammelt habe. Je¬ des Kommen anderer Menschen hielt sie fuͤr die Annaͤherung der Gerichtsdiener, welche sie abholen sollten, und die groͤßte Furcht hegte sie vor den Oefen, durch welche im Winter die Luftheizung bewirkt wird, weil sie uͤberzeugt war, daß man sie in die Flammen derselben werfen werde, damit sie nach dem Tode die Suͤnden aller Menschen in ewigen Hoͤllenstrafen abbuͤße, waͤhrend die ganze Welt untergehe. Im Vorgefuͤhl des nahen Todes hielt sie sich fuͤr durchaus krank, ohne jedoch angeben zu koͤnnen, worin ihr Koͤrperleiden bestehe. Um ermuͤdende Wiederholungen zu vermeiden, bemerke ich nur noch, daß die S. im Laufe der naͤchsten Monate einen mehrmaligen Wechsel von scheinbarer Ruhe und Besonnenheit mit Anfaͤllen von Todesfurcht und Angst vor den ewigen Hoͤl¬ lenstrafen erfuhr, so daß sie noch im Laufe des Novembers von der Anwesenheit eines Criminalgerichts in einem hoͤheren Stockwerke, durch welches sie verdammt werden solle, uͤber¬ zeugt war. Dann aber wich die Krankheit einem dauernden Seelenfrieden, in welchem ihr Geist mit jeder Woche sich mehr aufklaͤrte. Ich benutzte nun sorgfaͤltig diese guͤnstige Wendung, mit ihr wiederholte und ausfuͤhrliche Gespraͤche uͤber ihr fruͤhe¬ res Leben anzuknuͤpfen, und ihr namentlich die Vermeidung aller pietistischen Aufregungen als die nothwendige Bedingung zur Erhaltung ihrer Seelengesundheit zu bezeichnen, indem ich ihr den Rath ertheilte, sich auf den Besuch des oͤffentlichen Gottesdienstes zu beschraͤnken. Alle diese Ermahnungen mach¬ ten auf sie den erwuͤnschten Eindruck, und nachdem sie eine lange Reihe von Monaten eine volle Gemuͤthsruhe und Gei¬ stesklarheit in jeder Beziehung documentirt hatte, wurde sie am 1. Juli 1846 als geheilt entlassen. 15. Z .‚ 31 Jahre alt, von seinem Vater, einem Buͤrger¬ meister, vielleicht zu nachsichtig erzogen, trat mit dem 18 Jahre, nachdem er seine Ausbildung in einer hoͤheren Buͤrgerschule em¬ pfangen hatte, bei der Artillerie in den Militairdienst. In seiner Hoffnung, sich zu dem Range eines Officiers aufzu¬ schwingen, bitter getaͤuscht, da er in den dazu erforderlichen Pruͤfungen nicht bestand, grollte er seinen Vorgesetzten, welche er gewiß ohne Grund einer Zuruͤcksetzung beschuldigte. Sein gekraͤnkter Ehrgeiz, welcher ihn uͤber seine beschraͤnkten Faͤhig¬ keiten und Kenntnisse verblendete, wurde dadurch fuͤr ihn zur Quelle einer verduͤsterten Lebensansicht und des Argwohns, welcher seitdem als vorherrschender Zug in seinem Charakter hervortrat. Mannigfache rheumatische Beschwerden noͤthigten ihn, nach vierjaͤhriger Dienstzeit aus dem Militair auszuschei¬ den, und zu seinem Vater zuruͤckzukehren, bei welchem er seit¬ dem als Privatschreiber lebte. Seine Gemuͤthsstimmung truͤbte sich immer mehr, als er von einer luͤderlichen Dirne verklagt, und vom Gerichte als der Vater eines mit ihr erzeugten Kin¬ des zu den Kosten verurtheilt wurde, welche zu zahlen er sich voͤllig außer Stande befand. Er befuͤrchtete in eine Kette von Ungluͤcksfaͤllen ohne Aussicht auf eine guͤnstige Wendung seines Schicksals verflochten zu sein, zumal da mehrere Bewerbungen bei Koͤniglichen Behoͤrden um Anstellung im Civildienste er¬ folglos blieben, ja es bemaͤchtigte sich seiner eine solche Muth¬ losigkeit, daß er oft gegen seine fruͤhere Gewohnheit in Thraͤ¬ nen ausbrach oder auch seinem gepreßten Gemuͤth in Aeuße¬ rungen verdrießlicher Laune Luft machte. Der durch einen ungluͤcklichen Schuß auf der Jagd verursachte Tod eines Freun¬ des wirkte daher erschuͤtternd auf ihn, noch mehr aber der Tod eines jungen schoͤnen Maͤdchens, zu welchem er zwar in keiner naͤheren Beziehung stand, da sie schon die Geliebte ei¬ nes Andern war, zu welcher er aber doch eine starke Neigung empfunden haben muß, da er seine Fassung ganz verlor. Im Herbste 1844 trat das Seelenleiden des Z. zuerst unter den bei so vielen Geisteskranken vorkommenden Erschei¬ nungen des Argwohns auf, welcher sich hinreichend aus dem Widerspruch erklaͤrt, worin sie sich mit der ganzen Welt ver¬ setzt sehen, und welcher bei ihm eigentlich nur die verstaͤrkte Wirkung seiner schon seit lange vorherrschenden Gesinnung war. Er behauptete, man gehe damit um, ihn ins Gefaͤngniß zu werfen, womit ein Festungscommandant beauftragt sei; sehr bald sprang er aber von dieser Vorstellung zu der entgegen¬ gesetzten uͤber: er sei unverletzlich, und keine Gewalt, Dolch, Gift u. s. w. waͤre im Stande, ihm das Leben zu rauben, er koͤnne trockenen Fußes uͤber Seen und Fluͤsse gehen, da er ein auserwaͤhltes Werkzeug Gottes sei. Diese Behauptungen sind nur ein Wiederschein seines uͤberspannten Selbstgefuͤhls, wel¬ ches sich gegen die Furcht vor Verfolgung anstemmte, und wel¬ ches auch bald Veranlassung zum Ausbruch einer heftigen Tob¬ sucht gab, da ihm die durch seine Aufregung nothwendig erheischte Beschraͤnkung und die im falsch verstandenen Eifer ver¬ suchte Bekaͤmpfung seiner Aeußerungen unertraͤglich waren. Er mußte deshalb gebunden in ein staͤdtisches Krankenhaus gebracht werden, welches ihn dergestalt erbitterte, daß er kurz darauf die Eisenstaͤbe eines Fensters verbog, und sich an zerrissenen und zusammengeknuͤpften Bettlaken auf die Erde herabließ, um zu entfliehen. In sein Zimmer zuruͤckgefuͤhrt und sorgfaͤl¬ tiger bewacht, beruhigte er sich unter der Anwendung von Sturz¬ baͤdern nach einiger Zeit so sehr, daß er auf sein dringendes Bitten entlassen in das vaͤterliche Haus zuruͤckkehrte. Hier verhielt er sich mehrere Wochen ruhig, fuͤhrte keine irren Re¬ den mehr, arbeitete sogar wieder, und forderte die Fortsetzung der Sturzbaͤder; indeß die fleißige Lectuͤre der Bibel, in wel¬ cher besonders die Offenbarung Johannis ihn wegen ihres my¬ stischen Inhalts anzog, trug unstreitig dazu bei, seine immer noch aufgeregte Phantasie im hoͤchsten Grade zu erhitzen, und seiner aͤußerst leidenschaftlichen Spannung eine bestimmte Rich¬ tung zu geben, zu welcher seine duͤnkelvolle Selbstuͤberschaͤtzung ihn schon von selbst hindraͤngte. Denn nur allzugeneigt, seinem Ich die mannigfachsten eingebildeten Vorzuͤge beizulegen, mußte er sich ihrer im reli¬ gioͤsen Elemente dadurch bewußt zu werden streben, daß er sich geradezu Attribute der Gottheit beilegte. Er blieb deshalb nicht dabei stehen, daß er jede Beschaͤftigung und fernere An¬ wendung von Heilmitteln hartnaͤckig zuruͤckwies, weil er sein eigener Arzt sei, und am besten wisse, was ihm fehle, son¬ dern er sprach auch unumwunden aus, er sei von Gott dazu berufen, die Welt zu begluͤcken, der Retter und Helfer der Ungluͤcklichen bei so vielen Ungerechtigkeiten auf Erden zu wer¬ den. Seine Phantasie, von der Disciplin des Verstandes durch Leidenschaften losgerissen, an andere Interessen gekettet, kannte maaßlos ausschweifend keine Grenze ihrer Dichtungen mehr, weshalb er sich bald fuͤr einen berufenen Apostel, ja fuͤr den auferstandenen Christus selbst erklaͤrte. Um sich in dieser hoch¬ muͤthigen Meinung von sich zu bestaͤrken, setzte er die Lectuͤre der Bibel eifrig fort, und gerieth in die heftigste Entruͤstung, wenn man ihm dieselbe entzog, oder auch außerdem mit sei¬ nen hochfliegenden Traͤumen in Widerspruch gerieth. Sein Wahn schien indeß anfangs mehrmals auf einige Wochen ganz zuruͤckzutreten, wo er dann nur gleichsam verstohlen gegen ge¬ naue Bekannte uͤber seinen Beruf zum Propheten sprach. In fremder Gesellschaft beobachtete er den gemessensten Anstand, so daß Niemand ihm sein Seelenleiden anmerkte. Dieser taͤu¬ schende Anschein von Besserung verbunden mit dem Umstande, daß er sich laͤngere Zeit bei entfernt wohnenden Verwandten aufhielt, verzoͤgerte seine Aufnahme in die Irrenabtheilung, welche erst durch neue Ausbruͤche von tobsuͤchtiger Heftigkeit gebieterisch gefordert wurde. Inzwischen trat seine Liebe zu dem verstorbenen Maͤd¬ chen, welche er schon fruͤher in einem so hohen Grade geaͤu¬ ßert hatte, daß er mehrere Naͤchte im heftigsten Schmerze auf ihrem Grabe zubrachte, jetzt in ihrer ganzen Staͤrke hervor, und forderte seinen Wahn, mit goͤttlicher Macht ausgestattet zu sein, zu dem Wunder ihrer Wiedererweckung aus dem Tode heraus. Es kam ihm vor, als ob jene Jungfrau im Grabe nur schlummere, und mit ihm in einer geheimnißvollen, my¬ stischen Verbindung stehe; er wollte sie daher ausgraben, ins Leben zuruͤckrufen, ihren Aeltern und der Liebe wiedergeben, wozu er auch wahrscheinlich ernstliche Anstalten getroffen haben wuͤrde, wenn man ihn nicht nachdruͤcklich davon zuruͤckgehalten haͤtte. Spaͤter nahm seine erotische Neigung eine andere Rich¬ tung, und rief dadurch eine andere Reihe von Wahnvorstel¬ lungen hervor, von denen hernach die Rede sein wird. In jene Zeit fiel auch das erste Auftreten des Joh. Ronge, und auch Z. wurde von der maͤchtigen Bewegung jener Tage er¬ griffen, freilich nur im Sinne seines schon ausgebildeten Wahns, in sofern ihm im Geiste die Palme eines Weltverbesserers vorschwebte. Er begnuͤgte sich deshalb nicht damit, Ronge und die Rationalisten zu vertheidigen, sich mit einem Plan zur Verbesserung der Staatsverwaltung zu beschaͤftigen, auf die Vervollkommnung der Wissenschaften seine Aufmerksamkeit zu richten; sondern immer von neuem tauchten in ihm die Vor¬ stellungen auf, daß er als Hohepriester, ja als Christus selbst die Welt regiere, daß die Geisterwelt ihm Unterthan sei, daß Wind und Wetter ihm gehorchten, daß er Todte auferwecken koͤnne u. dgl. m. Dem Hause seines Vaters gegenuͤber wohnte eine Frau von O. mit ihrer Schwester, deren Liebenswuͤrdigkeit einen tiefen Eindruck auf ihn machte, nachdem er laͤngere Zeit vergeblich auf die Wiedererweckung seiner ersten Geliebten ge¬ harrt hatte. Seiner Versicherung zufolge fand er Zutritt bei jenen Damen, hielt um die Schwester an, wurde aber natuͤr¬ lich auf eine hoͤfliche Weise abgewiesen. Tief hierdurch gekraͤnkt gab er der Ueberzeugung Raum, daß die Frau von O. seinen Wuͤnschen heimlich entgegentrete, und daß sie sich der Huͤlfe eines in ihren Diensten stehenden boͤsen Geistes bediene, um ihn zu quaͤlen und ins Verderben zu stuͤrzen. Obgleich ihm die 7 Engel der Apokalypse zugethan und untergeben seien, so ver¬ moͤchten sie doch Nichts gegen den Geist der Frau von O., weil sie Weibern Nichts anhaben koͤnnten, daher er denn schutzlos der Bosheit dieses Daͤmons preisgegeben sei. Diese aͤußerte sich nun vornaͤmlich in dem Bemuͤhen, ihm seinen Verstand‚ den er sich als ein Puͤnktchen in seinem Kopfe dachte, zu neh¬ men, durch welche Vorstellung er mehrere Male in verzweifelnde Wuth versetzt wurde. Aber jener Daͤmon hatte es auch auf sein Leben abgesehen, denn er nahm ihm die Eingeweide aus der Brust, welches er deutlich wahrnehmen konnte, da der Geist Gottes ihm den Sinn dafuͤr gegeben hatte, daher ihm auch Alles in der Brust zerrissen und von Blut erfuͤllt vorkam. Ja die Frau von O. setzte ihre Angriffe auf seine Person so weit fort, daß sie mehrmals durch das Schluͤsselloch in sein Zimmer schluͤpfte, nackt vor ihm erschien, und ihn zu sinnlichen Be¬ gierden reizte, gegen welche er standhaft angekaͤmpft zu haben behauptet. Dennoch haͤlt er es fuͤr ein großes, der ganzen Welt widerfahrenes Ungluͤck, daß er jenen Begierden nicht nachge¬ geben habe. Hoͤchst bezeichnend fuͤr die maaßlose Entwickelung seines Wahns ist auch die Vorstellung, daß seit Anbeginn der Welt zwei Geschlechter der Menschen auf Erden lebten, welche sich gegenseitig bekaͤmpften; das eine stammt von Gott ab, und begreift die Familie des Z. in sich; das andere Geschlecht, wel¬ ches von Adam ausgeht, umfaßt alle Adligen, und namentlich die Familie der Frau von O. Bei seiner am 21. April 1846 erfolgten Aufnahme in die Charite' gerieth er in die heftigste Wuth, konnte nur durch die Bemuͤhungen mehrerer Waͤrter zur Folgsamkeit gebracht werden, und forderte mit dem groͤßten Ungestuͤm seine Freiheit. Indeß legte sich doch diese heftige Aufregung bald, er wurde mitthei¬ lender, und sprach ohne Ruͤckhalt die oben bezeichneten Wahn¬ vorstellungen aus. Ueber sein Benehmen waͤhrend des Som¬ mers und des Herbstes bis zu seiner im November erfolgten Versetzung in anderweitige Verhaͤltnisse laͤßt sich nur so viel im Allgemeinen sagen, daß er sich große Muͤhe gab, seine Wahn¬ vorstellungen zu verhehlen, ja uͤber sie eine deutliche Besinnung zu affectiren, um darauf die wiederholten ungestuͤmen Forderun¬ gen seiner Entlassung zu begruͤnden. Oft wurde er jedoch von den in ihm tobenden Leidenschaften dergestalt uͤbermannt, daß er ganz aus der Rolle fiel, seinen Wahn mehr oder weniger deutlich aussprach, und in allen getroffenen Heilmaaßregeln so wie in seiner Detention im Irrenhause eine schreiende Verletzung seiner Rechte sah, welche er durch Reclamationen an die hoͤch¬ sten Behoͤrden raͤchen zu wollen drohte. Wirft man einen un¬ partheiischen Blick auf die hochmuͤthige Selbstverblendung, in welcher er seit einer langen Reihe von Jahren bei gaͤnzlichem Mangel an Talent und praktischer Tuͤchtigkeit gelebt hatte; so wird wohl die Voraussetzung der Unheilbarkeit seines Seelen¬ leidens hinlaͤnglich gerechtfertigt. 16. E. , 26 Jahre alt, in Berlin gebuͤrtig, der Sohn eines Tafeldeckers, wurde von demselben aus Armuth bereits im 10. Lebensjahre einem Faͤrbermeister zur weiteren Pflege und Erziehung anvertraut, welche ihm aber nur auf eine hoͤchst mangelhafte Weise zu Theil wurden, da er die meiste Zeit un¬ ter koͤrperlichen Arbeiten fast uͤber das Maaß seiner Kraͤfte zu¬ bringen mußte, und uͤberdies von seinem rohen Pflegerater, einem Trunkenbolde, eine sehr harte Behandlung erfuhr. Er konnte sich daher in einem sehr spaͤrlichen Schulbesuche nur duͤrftige Elementarkenntnisse aneignen, und es bedurfte der vorherrschenden Weichheit und Milde seines Gemuͤths, um ihn unter so unguͤnstigen Verhaͤltnissen gegen sittliche Verwilderung zu schuͤtzen. Seine fruͤh verstorbene Mutter weckte durch haͤu¬ figes Bibellesen und andere Andachtsuͤbungen schon zeitig sein religioͤses Gefuͤhl, welches bei ihm schnell zur lebendigen Ent¬ wickelung kam, so daß er in der geschilderten druͤckenden Lage, in welcher er 4 Jahre ausharren mußte, allein Trost und Muth aus dem Besuche des Gottesdienstes schoͤpfte, dem er an jedem Sonntage meistentheils zweimal beiwohnte. Die vielen Muͤhen und Beschwerden warfen ihn zwar nicht auf das Krankenbette, hielten ihn jedoch in seiner koͤrperlichen Ausbildung zuruͤck, da sein Wuchs unter dem natuͤrlichen Maaß zuruͤckgeblieben ist; auch wurde dadurch sein Sinn nicht nur zum steten Ernst gestimmt, sondern er empfand auch ein so nothwendiges Beduͤrfniß from¬ mer Erregung, daß er sie immerfort hervorzurufen strebte, in¬ dem er nicht nur eifrig, selbst in schlaflosen Naͤchten betete, sondern auch in der Bibel fleißig las, daher er denn das neue Testament fast auswendig gelernt hatte. Soweit seine Erinne- rung reicht, scheint die Entwickelung seines religioͤsen Bewußt¬ seins ziemlich geregelt von Statten gegangen zu sein, denn er versichert, daß er eben so wohl ein inniges Vertrauen gegen Gott, welcher ihm aus aller Noth helfen werde, als eine tiefe Ehrfurcht vor der Heiligkeit der goͤttlichen Gebote empfunden habe, daß er zur Glaubensfreudigkeit gestimmt gewesen sei, und nur gelegentlich Anwandlungen von frommer Schwermuth erfahren habe. Insbesondere empfand er diesen Wechsel der Gefuͤhle waͤhrend des Religionsunterrichts bei Gelegenheit der Lehre, daß der Mensch im verblendeten Hochmuth eine schwere Suͤnde auf sich lade, wenn er durch eigenes Verdienst sich den Weg zum Guten bahnen zu koͤnnen glaube, und nicht alle Hoffnung auf Seeligkeit in die Gnade Gottes setze. Durch das Auswendiglernen vieler Psalmen in seinen frommen Ge¬ fuͤhlen lief erregt, wurde er durch jene strenge Lehre dergestalt erschuͤttert, daß er eine Zeitlang an seiner Seeligkeit verzwei¬ felte, und vielleicht wuͤrde er schon damals dem Wahn zum Raube geworden sein, wenn ihn nicht das schoͤne Vorrecht der fruͤhen Jugend, von jener schlimmsten Geißel des Lebens befreit zu bleiben, dagegen geschuͤtzt, und ihm den Frieden seiner Seele wiedergegeben haͤtte. Indeß wer ermißt die spaͤteren Nach¬ wirkungen so tiefer Eindruͤcke in das zarte Gemuͤth, welche gewiß oͤfter, als es bei oberflaͤchlicher Anschauung scheint, in dasselbe die Saat kuͤnftiger Leiden und Verirrungen streuen, um sie nach laͤngerem Schlummer in spaͤteren Jahren zur Ent¬ wickelung und Reife zu bringen. Schon fruͤhzeitig hatte er die Mangelhaftigkeit des em¬ pfangenen Schulunterrichts schmerzlich empfunden, weshalb er mit Eifer die ihm dargebotene Gelegenheit ergriff, sich durch den Jahre lang fortgesetzten Besuch einer Sonntagsschule wei¬ ter auszubilden. Durch leichte Fassungsgabe unterstuͤtzt, und durch fleißige Lectuͤre von Erbauungsschriften in einer steten Aufregung erhalten, erwarb er sich eine geistige Lebendig¬ keit, welche unter den druͤckenden Verhaͤltnissen seiner Lage von aller Theilnahme an geselligen Aufheiterungen ausgeschlos¬ sen um so entschiedener eine mystische contemplative Richtung einschlug. Zwar befand er sich nach seiner im 14. Lebensjahre erfolgten Ruͤckkehr zu seinem Vater unter etwas guͤnstigeren Umstaͤnden; indeß seine Gesinnung hatte schon einen so entschiede¬ nen ascetischen Charakter angenommen, daß er wegen seiner zur Schau getragenen Froͤmmigkeit oft genug von Anderen verspottet wurde, welche er deshalb fuͤr Weltkinder hielt, mit denen an oͤffentlichen Vergnuͤgungsorten zusammenzutreffen ihm als Suͤnde erschien. Gerade diese Denkweise hatte ihn einem Kaufmanne sehr empfohlen, welcher eifrigen Andachtsuͤbungen ergeben, in seinem Hause pietistische Conventikel hielt, und in unserm E. ein sehr geeignetes Mitglied derselben zu finden glaubte. Er nahm ihn daher in sein Haus auf, beschaͤftigte ihn nur mit leichten Arbeiten, und entließ ihn erst nach zwei Jahren, worauf er wegen großer Kurz¬ sichtigkeit fuͤr die meisten Gewerbe untauglich, bei einem Pfropfen¬ schneider in die Lehre trat. Natuͤrlich fand die bei ihm schon vor¬ herrschende Froͤmmigkeit in den bei jenem Kaufmanne woͤchentlich mehrere Male abgehaltenen Conventikeln eine uͤberreiche Nahrung, um so mehr, als in denselben eifrig auf die Erweckung einer streng orthodoxen Glaͤubigkeit hingearbeitet wurde. Die Anwe¬ senden, deren Zahl sich gewoͤhnlich auf 20 — 30 belief, mußten nicht nur beim Gebete niederknieen, sondern sich auch zur fleißi¬ gen Theilnahme an diesen Andachtsuͤbungen verpflichten, so daß sie ihr gelegentliches Ausbleiben zu entschuldigen genoͤthigt wa¬ ren. Daher bezogen sich auch die Bibelerklaͤrungen vornaͤmlich auf die Pflicht eines inbruͤnstigen Gottesdienstes, um gegen die Weltsuͤnden moͤglichst geschuͤtzt zu werden, und da auch außerdem in der Familie des Kaufmanns ein strenger Ernst waltete, wel¬ cher außer den Morgen- und Abendandachten kaum vertrauliche Mittheilungen der Mitglieder gestattete, so begreift es sich leicht, welchen Eindruck alles dies auf das weiche, passive Gemuͤth un¬ sers E. machen mußte. Hieraus erklaͤrt es besonders, daß er zur Theilnahme an den gottesdienstlichen Versammlungen der Altlutheraner eingeladen, durch sie in eine tiefe Erschuͤtterung versetzt wurde. Der in den Predigten herrschende fanatische Geist wirkte auf ihn um so maͤchtiger, als auch einige Mitglieder jener Secte in Privatgespraͤchen ihn zu uͤberzeugen suchten, daß die ewige Seeligkeit durch den Besuch der evangelischen Kirchen verscherzt werde, weil diese eine wahre Verfolgung gegen den wahren Glauben ausuͤbten, dessen Gemeinden in der tiefsten Unter¬ druͤckung schmachteten. Namentlich bezeichneten sie die Agende als Menschenwerk, welches an die Stelle des goͤttlichen Wor¬ tes gesetzt werden solle; kurz sie boten Alles auf, den E. zum Bruch mit seinen religioͤsen Grundsaͤtzen zu bringen. Erst 17 Jahre alt wußte er sich in seiner großen Bestuͤrzung nicht zu helfen und zu rathen, und wenn auch eine leise Ahnung ihm sagte, daß jener Fanatismus mit dem Geiste des Christenthums im Widerspruch stehe, so konnte er sich doch der Furcht vor der ewigen Verdammniß nicht erwehren. In wahrer Herzens¬ noth wandte er sich an einen Hamburger Wiedertaͤufer, wel¬ cher mit dem Conventikel im Hause des Kaufmanns in naͤ¬ here Verbindung getreten war, um die Mitglieder desselben fuͤr seine Secte zu gewinnen. Derselbe suchte ihn durch ein lieb¬ reiches und aufmunterndes Benehmen zu gewinnen, tadelte streng das Verfahren der Altlutheraner, ermahnte ihn, sich an die Bibel zu halten, und uͤbergab ihm zugleich einige Tracraͤtlein, welche die angeblichen Vorzuͤge und Verdienste der Anabaptisten in ein helles Licht stellen sollten. Begierig ver¬ schlang E. den Inhalt derselben, weil die dadurch seinem Geiste gegebene andere Richtung ihn von seiner bisherigen Angst befreite, und was den dadurch erlangten religioͤsen An¬ sichten an Klarheit fehlte, wurde reichlich ersetzt durch den hinreißenden Zauber, den alle mystischen Schriften auf hinrei¬ chend vorbereitete Gemuͤther ausuͤben. Um ihn daher zum Uebertritt zu der Secte der Wiedertaͤufer zu bewegen, haͤtte es kaum der feierlichen Salbung und der imponirenden Wuͤr¬ de bedurft, mit welcher der Hamburger ihn anredete, daß es seine heilige Pflicht sei, Christus in Allem nachzufolgen, an welche Ermahnung mit einigen Redewendungen die Behaup¬ tung geknuͤpft wurde, daß in den Worten des Erloͤsers auf die Weigerung des Johannes, ihn im Jordan zu taufen (laß also sein, also gebuͤhrt es uns, alle Gerechtigkeit zu thun), die Einsetzung der Wiedertaufe enthalten sei. Wie seltsam eine solche Schlußfolge jedem Unbefangenen erscheinen mag, so hatte sie doch fuͤr unsern E. in seiner damaligen Gemuͤths¬ stimmung volle Beweiskraft, zumal da ihm versichert wurde, daß in England und Amerika sich bereits 4 Millionen zu der neuen Secte bekannten, welche sich allmaͤhlich uͤber die ganze Erde ausbreiten wuͤrde, und daß auch in Berlin eine Schaar von Glaͤubigen im Begriffe stehe, sich derselben anzuschließen. Deshalb zauderte er in tiefer Bewegung um so weniger, seine Bereitwilligkeit dazu auszusprechen, als es ihm zur dringenden Pflicht gemacht wurde, dem Rufe des Herrn augenblicklich Folge zu leisten. So war er einer der 6 Mitglieder, durch deren Taufe am Morgen vor dem Pfingsttage 1837 die hie¬ sige Gemeinde der Wiedertaͤufer gestiftet wurde. Zwar be¬ fremdete ihn die geringe Zahl derselben, da er auf eine große Schaar von Bekehrten, namentlich auf den Beitritt der evan¬ gelischen Geistlichkeit gehofft und sich gefreut hatte, einer der ersten im neuen Bunde zu sein, und dadurch den geistlichen Trost und Zuspruch zu erhalten, dessen er in seiner Rathlo¬ sigkeit sehr beduͤrftig war. Jedoch ließ er sich uͤber sein Be¬ denken so leicht beschwichtigen, daß er im frommen Eifer er¬ gluͤhend, seiner ewigen Seeligkeit gewiß geworden, in eine Gemeinde von Heiligen aufgenommen zu sein glaubte, und erst spaͤt daruͤber zur Besinnung kam, daß seine neuen Glau¬ bensgenossen gleich ihm schwache und suͤndige Menschen seien. Vielleicht laͤßt sich mit diesen Zuͤgen am staͤrksten die Bethoͤrung seines Verstandes durch religioͤse Ueberspanntheit bei großer Gutmuͤthigkeit bezeichnen, welche bei Anderen nichts Ar¬ ges sucht und findet, weil sie selbst davon frei ist. Bei den haͤufigen Versammlungen der Wiedertaͤufer zeichnete er sich durch eine so heiße Inbrunst aus, daß er auf den Wunsch der Ge¬ meinde haͤufig aufgerufen wurde, Gebete zu halten, welche er im Herzensdrange improvisirt zu haben behauptet. Eine ver¬ steckte Regung von Eitelkeit, welche spaͤter in so großen Zuͤgen hervortrat, wurde nicht nur dadurch, sondern auch durch die ausdruͤckliche Versicherung eines Mitgliedes erweckt, daß er große Gaben besitze, welche freilich noch sehr der Leitung und Pflege beduͤrften, durch welche er aber dann zu hohen Ehren in ihrem Bunde und in der Welt gelangen koͤnne. Zu die¬ ser Aeußerung hatten die fruͤher schon erwaͤhnten Glaubens¬ streitigkeiten Veranlassung gegeben, durch welche aus der neuen Gemeinde fast von Anfang an jede Eintracht verbannt wurde. Einer dieser Controverspunkte betraf die goͤttliche Gnadenwahl, welche von mehreren Mitgliedern heftig bestritten, von anderen aber im strengsten Sinne behauptet wurde, als ob Gott schon vor Erschaffung der Welt das Loos jedes Einzelnen zur See¬ ligkeit oder Verdammniß vorherbestimmt habe. Da E. zwischen richtigen Begriffen und aufgedrungenen mysterioͤsen Vorstellun¬ gen von seinem schwachen Charakter in der Schwebe erhalten wurde; so half es ihm Nichts, daß er mit gesundem Urtheil den Hochmuth der Pharisaͤer erkannte, welche sich im Herzen fuͤr Auserwaͤhlte hielten, um Andere zu verdammen, denn er wurde dadurch nicht von seinem bangen Zweifel befreit, ob auch er zu den Auserwaͤhlten gehoͤren moͤge, und fand keinen nachhaltigen Trost in der Versicherung, daß seine Seeligkeit durch die Wiedertaufe gerettet, und daß seine Unruhe ein Zei¬ chen der Gnadenwirkung Gottes in seinem heilsbegierigen Her¬ zen sei, welches nur in einem gleichguͤltigen Gemuͤth vermißt werde. Inzwischen wurden die stets fortgesetzten Streitigkeiten uͤber die Gnadenwahl mit einer solchen Erbitterung in harten Worten gefuͤhrt, daß E. sich oft dadurch in seinem Innern verletzt und empoͤrt gegen die Engherzigkeit und Verachtung fuͤhlte, welche seine Glaubensgenossen gegen Andersdenkende offenbarten. Ein anderer oft mit Heftigkeit discutirter Con¬ troverspunkt bezog sich auf die Wiederbringung aller Dinge, deren Vertheidiger sich besonders auf die Schriften von Jung Stilling beriefen, welcher gelehrt haben soll, daß die Frommen im ewigen Leben alle Erdenguͤter und sinnliche Lust wieder¬ faͤnden. Diese mystische Behauptung erschien dem E. im vollen Widerspruche mit dem reinen Geiste des Christenthums, und da er aus Gesinnung die unaufhoͤrlichen Wortkriege haßte, welche den Frieden seiner Seele durch ein Heer von Glaubens¬ zweifeln stoͤrten, deren Loͤsung er bei den Wiedertaͤufern nicht fand; so kehrte er allmaͤhlig in die evangelischen Kirchen zuruͤck, um in ihnen Aufklaͤrung uͤber das wahre Christenthum zu su¬ chen, und daraus Trost fuͤr seine große Bedraͤngniß zu schoͤ¬ pfen. Hierdurch zog er sich aber den strengsten Tadel eines seiner Glaubensgenossen zu, welcher, indem er ihm das oben er¬ waͤhnte Lob wiederholt spendete, und seinen fruͤheren Glaubens¬ eifer ruͤhmte, ihm zugleich vorwarf, daß er jung, unerfahren, und noch schwach am Verstande von der Gemeinde, welche eng zusammenhalten und sich dadurch hervorthun muͤsse, abzufallen beabsichtige, und ihr dadurch bei ihren Feinden großen Scha¬ den bringen werde. Da er sich hierdurch nicht irre machen ließ, so nahm jener Tadel bald einen drohenden Charakter an, als ob er mit Macht von einem Schritte zuruͤckgehalten wer¬ den solle, dessen Folgen er nicht einsehen koͤnne, weshalb An¬ dere fuͤr ihn denken und handeln muͤßten. Vergebens beklagte E. sich daruͤber, daß in dieser harten Behandlung alle christ¬ liche Liebe verleugnet werde; er erhielt zur Antwort, wenn nur die Seele gerettet werde, so moͤge der Leib zu Grunde gehen, gerade in der eifrigen Fuͤrsorge fuͤr seine Seeligkeit of¬ fenbare sich die fuͤr ihn vaͤterlich sorgende Liebe. Auch die Bemerkung half ihm Nichts, daß Andere ihm nicht die See¬ ligkeit verschaffen koͤnnten; er wurde ein Hochmuͤthiger genannt, welcher als Abtruͤnniger der Gemeinde vorgestellt werden solle, wenn er nicht umkehre. Zu diesen waͤhrend seines 5jaͤhrigen Verbleibens bei den Wiedertaͤufern zuletzt bis zum Unertraͤglichen fortgesetzten Tri¬ bulationen kam nun noch, daß die zum Abfall Geneigten vom Abendmahl ausgeschlossen, der Gemeinde mit hartem Tadel vorgefuͤhrt, von gewissen vertraulichen Sprechstunden abgewie¬ sen, und sie durch dies Alles so lange bearbeitet wurden, bis die Excommunicirten sich zerknirschten Herzens zeigten. So sollte auch er als ein Ungehorsamer der Gemeinde vorgestellt, und wenn er nicht von seinem Widerspruche abließe, aus der¬ selben ausgestoßen werden. Dem beugte er aber im Jahre 1842 vor, indem er dem Gemeindevorstande schriftlich seinen Austritt anzeigte, nachdem er sich in seiner Herzensbedraͤngniß den Rath von 2 evangelischen Geistlichen erbeten hatte, welche ihn in seinem Entschluß durch die Mittheilung geeigneter Er¬ bauungsschriften bestaͤrkten. Dennoch betruͤbte es ihn, als er von seinen fruͤheren Glaubensgenossen bei gelegentlichen Besu¬ chen kalt empfangen wurde. Bald aber gewann die Vorstellung bei ihm das Uebergewicht, daß ihm die Lossagung von der evan¬ gelischen Kirche zum Vorwurf gereiche, in welcher er mehr Er¬ leuchtung fuͤr seinen Geist gefunden haben wuͤrde. Da einmal der Verdacht gegen die Wiedertaͤufer in ihm rege gewor¬ den war, beschuldigte er sie auch, daß sie ihn in seinem Erwerbe zuruͤckgehalten haͤtten, weil sie ihm oͤfters Geld unter dem Vorwande abschwatzten, daß er nicht an Irdisches sein Herz haͤngen solle. Seit jener Zeit widmete er sich zwar ei¬ ner eifrigen Erwerbsthaͤtigkeit, indeß sein lebhaftes Verlangen nach hoͤherer Geistesbildung trieb ihn an, sich in den Muße¬ stunden fleißig mit Lectuͤre nicht nur von Erbauungsschriften, sondern auch von Werken der verschiedensten Art zu beschaͤfti¬ gen. Zu diesem Zweck erborgte er sich historische, criminalisti¬ sche Werke, Theaterstuͤcke, Reisebeschreibungen und mehreres Andere theils aus Leihbibliotheken, theils schaffte er sich fuͤr seine geringen Ersparnisse Grammatiken, geistliche Gedichte, Paraphrasen der Psalmen, die Harfentoͤne u. dgl. an. Kaum bedarf es der Bemerkung, daß eine so planlose Lectuͤre, auf welche er nicht im Mindesten vorbereitet war, nur dazu bei¬ trug, seinen ohnehin schon so unklaren Kopf noch mehr zu verwirren. Er ergab sich diesen geistigen Beschaͤftigungen mit einem solchen Eifer, daß er oft bis 2 und 3 Uhr nach Mit¬ ternacht las, und sich dadurch dergestalt entkraͤftete, daß er am Tage kaum arbeiten konnte. Dennoch setzte er diese ver¬ kehrte Lebensweise ein halbes Jahr fort, wo er sich dann durch zunehmende Schwaͤche genoͤthigt sah, dieselbe zu beschraͤnken, ohne sie jedoch ganz aufzugeben, da er eine gewisse Redselig¬ keit, mit welcher er seine unverdauten Kenntnisse auskramte, fuͤr einen Fortschritt seiner Geistesbildung hielt. Die vorherrschend religioͤs mystische Richtung wurde von ihm besonders dadurch befoͤrdert, daß er mehrere Jahre hin¬ durch im Auftrage eines Pietisten an den Sonntagen Bibeln und Tractaͤtlein austheilte. Zu diesem Zwecke suchte er arme Handwerker, welche ihm meistens unbekannt waren, in ihren Haͤusern auf, und richtete salbungsvolle Reden an sie, um sie zu bewegen, den Sonntag mit frommen Betrachtungen und erbaulicher Lectuͤre zu feiern, und sich aller Arbeit zu enthalten. Bei Einigen fand er eine bereitwillige Auf¬ nahme, bei Anderen dagegen Spott und Hohn, wodurch er in der Meinung von dem Widerstreben der Weltkin¬ der gegen seine Gesinnung bestaͤrkt wurde, welches er indeß mit Gelassenheit ertrug. Da er selbst jene Tractaͤtlein eifrig studirte, so wurde er durch ihren mystisch fanatischen Inhalt Ideler uͤber d. rel. Wahnsinn. 12 in fortwaͤhrende Aufregung und Spannung des Gemuͤths ver¬ setzt, durch welche sein von disparaten Kenntnissen wimmeln¬ der und schwindelnder Kopf noch mehr in Unklarheit und Ver¬ worrenheit gerathen mußte. Die hierdurch in seinem Innern fortdauernd unterhaltene truͤbe und ungestuͤme Gaͤhrung der verschiedensten Elemente erzeugte bald ein Heer von Zweifeln, welche zuletzt eine schwermuͤthige, bange Stimmung hervorrie¬ fen. Da er zugleich die Predigten eines Geistlichen fleißig be¬ suchte, welcher oft von dem Teufel als dem Fuͤrsten der Fin¬ sterniß redete, so wurde er durch eine einfache Gedankenver¬ bindung leicht zu der Ueberzeugung gefuͤhrt, daß der Teufel, um ihn vom rechten Wege zu verlocken, ihm jene Zweifel, die in seinem Herzen aufsteigenden boͤsen, sinnlichen Begierden und seine Lauigkeit im Guten eingegeben habe. An seinem redlichen Willen fehlte es wenigstens nicht, da er ungeachtet seiner Duͤrftigkeit doch laͤngere Zeit hindurch seinen Bruder bei sich aufnahm, und außerdem noch Armen aus theilnehmendem Herzen einen Nothpfennig reichte. Endlich fand er doch nach heftiger und anhaltender Beaͤngstigung den Frieden des Her¬ zens in der fleißigen Lectuͤre frommer Werke, namentlich in Barter's Schrift: Die Ruhe des Heiligen, wieder; denn er schoͤpfte vollen Trost aus der Vorstellung, daß Christus sein Leben fuͤr die Erloͤsung der Welt gegeben, und daß besonders Paulus den Glaͤubigen die Gnade Gottes verkuͤndigt habe. Mit diesen Gedanken beschaͤftigte er sich nicht nur oft waͤhrend der Arbeit, sondern auch vornaͤmlich auf einsamen Spazier¬ gaͤngen an den Sonntagen, wo seine Betrachtungen am lieb¬ sten bei der Herrlichkeit des neuen Bundes verweilten, in welchem sich Gott durch Christus offenbart habe, wodurch er selbst von seinen Suͤnden befreit worden sei. Die hierdurch erregte enthusiastische Stimmung erreichte nicht selten einen so hohen Grad, daß er mehrere Tage hindurch einer wahren Seeligkeit theilhaftig geworden zu sein glaubte, und somit in dem Wahn erhalten wurde, daß der Eintritt des Reiches Got¬ tes auf Erden nahe bevorstehe. Zu dieser schwaͤrmerischen Hoffnung hatte insbesondere die Offenbarung Johannis beige¬ tragen, mit welcher er sich eine Zeit lang vorzugsweise be¬ schaͤftigte, so daß er sich das Bild des himmlischen Jerusalems tief einpraͤgte. Hiermit brachte er insbesondere noch das 11. Kapitel des Jesaia in Verbindung, welches ihm den Frieden des erwarteten Gottesreichs in den lebendigsten Zuͤgen vor Au¬ gen stellte. Es laͤßt sich nicht mehr bestimmen, zu welcher Zeit er in jener enthusiastischen Aufregung wirkliche Visionen von Christus hatte, welchen er im weißen Gewande, auf ei¬ ner Wolke unter Heiligenbildern thronend in magischer, unbe¬ stimmter Zeichnung sah; denn nur zu Anfang seines Aufent¬ halts in der Charité sprach er sich hieruͤber aus, und versi¬ cherte spaͤter, daß er sich nicht mehr deutlich darauf besinnen, und sich nur einer dreimaligen augenblicklichen dunklen Vision erinnern koͤnne, in welcher geisterartige Gestalten vor seinem Auge geschwebt haͤtten. Indeß jedes Uebermaaß frommer Erregung, in welcher das Gemuͤth seine innere Haltung verliert, schlaͤgt fast noth¬ wendig in Gegensaͤtze um, weil der Mensch nicht zum steten Fluge in ekstatischer Spannung seiner Kraͤfte geschaffen ist, und dann leicht eben so tief in Traurigkeit versinkt, als er vorher den hoͤchsten Aufschwung genommen hatte. Zwar scheint es bei E. in der letzten Zeit nicht mehr zu Gewissensbissen und zur Teufelsfurcht gekommen zu sein; aber er fuͤhlte den Widerspruch seiner schwaͤrmerischen Stimmung zur Außenwelt lebhaft genug, um hierdurch beunruhigt zu werden. Dieser Widerspruch kam ihm in der Vorstellung zum Bewußtsein, daß er wegen seiner Froͤmmigkeit, durch deren Ostentation er fruͤher schon oft genug Anstoß gegeben hatte, von Spoͤttern verfolgt werde, indem dieselben auf der Straße sich um ihn versammelten, Drohungen gegen ihn ausstießen, die Hunde auf ihn hetzten, ja ihn selbst koͤrperlich mißhandeln wollten. Da er wegen großer Kurzsichtigkeit Niemanden deutlich erken¬ nen konnte, so kam er auf verschiedene Vermuthungen; bald sollten seine Verfolger fruͤhere Bekannte, bald sollten es Stu¬ denten sein, welche auf der Straße mit ihm eine dramatische Scene auffuͤhren wollten. Oder es kam ihm vor, als wenn man ihm wider seinen Willen die Gunst von Maͤdchen auf¬ dringe, welche sich in ihn verliebt haͤtten. Alles dies beun¬ ruhigte ihn um so mehr, da er vergeblich erwartete, daß Je¬ mand ihm naͤher treten, und ihm uͤber den Grund der Ver¬ 12* folgung aufklaͤren werde; statt dessen hoͤrte er nur aus der Ferne ein undeutliches Reden, in welchem er blos seinen Na¬ men unterscheiden konnte. Mit beschleunigten Schritten kehrte er dann in seine Wohnung zuruͤck, um sich den laͤstigen Nach¬ stellungen zu entziehen. Schon waͤhrend einer Reihe von Monaten vor seiner Auf¬ nahme in die Charité bemerkte seine Wirthin ein eigenthuͤm¬ lich verstoͤrtes und zerstreutes Benehmen an ihm, und bald aͤußerte er eine Menge von wahnwitzigen Vorstellungen, wo¬ durch er ihr so laͤstig wurde, daß sie ihm wiederholt Schwei¬ gen gebot, ohne ihren Zweck zu erreichen. Er behauptet haͤu¬ fig, Thronfolger zu sein, nach erreichtem 30. Jahre als Koͤnig gekroͤnt zu werden, ja er gab sich fuͤr Napoleon, den Kaiser von China und endlich fuͤr Gott selbst aus, da er mit seinen Haͤnden Alles geschaffen habe. Wenn ihm seine Wirthin darauf entgegnete, daß er gleich allen Menschen ein Suͤnder sei, so nahm er dies sehr uͤbel, lief heftig aufgeregt in der Stube auf und ab, setzte sich auch wohl an einen Tisch, auf welchem er mit den Fingern trommelte, als ob er Klavier spielte, in¬ dem er dazu geistliche Lieder sang. Die Lectuͤre der Harfen¬ toͤne veranlaßte ihn zu der Aeußerung, er wolle die geistliche Harfe spielen, deren Toͤne durch die ganze Welt schallen wuͤr¬ den. Eben so bemerkte sein Meister, daß er in seinem ge¬ wohnten Fleiße nachließ, oft in ein traͤumerisches Hinbruͤten versank, und mit den Fingern auf dem Tische mit der Be¬ merkung trommelte, so muͤsse man Klavier spielen. Gelegent¬ lich erklaͤrte er, Christus gleich zu sein, eine neue Secte stif¬ ten zu wollen, da das Christenthum nicht recht ausgebildet sei; auch sprach er davon, daß auf dem hiesigen Alexanderplatze der babylonische Thurm erbaut werden solle. Zu dieser Aeu¬ ßerung scheint er durch den Anblick der zahlreichen Besucher des Koͤnigsstaͤdtischen Theaters, welche nach dem Schluß dessel¬ ben ihm entgegenstroͤmten, veranlaßt worden zu sein, indem ihm die Vorstellung einer Voͤlkerwanderung vorschwebte, wel¬ cher dadurch ein fester Punkt der Ansiedelung bezeichnet wer¬ den solle. Wiederholt beklagte er sich daruͤber, daß die Wie¬ dertaͤufer ihm die ewige Verdammniß angekuͤndigt haͤtten, und heftig bewegt durch alle diese sich durchkreuzenden Vorstellun¬ gen vermochte er zuletzt gar nicht mehr zu arbeiten, und ge¬ rieth, von dem Meister zur Thaͤtigkeit aufgefordert, gegen den¬ selben in einen solchen Ungestuͤm, daß er behauptete, dessen Wohnung gehoͤre ihm, so daß jener sich genoͤthigt sah, ihm bei seiner Wiederkehr die Thuͤre zu verschließen. Auch gegen seine Schwester behauptete er, Christus zu sein, und einen babylonischen Thurm bauen zu wollen, so daß sie durch diese und aͤhnliche Faseleien genoͤthigt wurde, seine Aufnahme in die Charité zu veranlassen, in welche er am 30. Juni 1846 ge¬ bracht wurde. Nach den bisherigen Mittheilungen wird man sich leicht ein Bild von seinem Zustande entwerfen koͤnnen. Vorzugs¬ weise sprach er seine religioͤsen Wahnvorstellungen aus, indem er sich wiederholt fuͤr Christus erklaͤrte, und bei anderen Ge¬ legenheiten versicherte, daß Gott ihm den Thron der Welt uͤber¬ lassen werde. Auch nannte er sich einen Nachfolger Napoleon's, denn auch dieser sei Gott gewesen, und habe die Bestimmung gehabt, das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen. In den ersten Naͤchten sah er noch Gott und die himmlischen Heerschaaren, aber Alles in magischen, unbestimmten Zeichnun¬ gen; am Tage sprach er oft vor sich hin, meist sinnlose und unverstaͤndliche Worte, oder er fing an zu singen, wofuͤr er als Grund angab, daß er seine Stimme uͤben muͤsse. Dabei herrschte eine außerordentliche Verworrenheit in seinem Kopfe, welche es ihm nicht gestattete, ihn zu bestimmten Erlaͤuterun¬ gen seiner aberwitzigen Aeußerungen zu bewegen; namentlich war durch seine planlose Lectuͤre der verschiedensten Buͤcher ein wahrer Strudel von Chimaͤren erzeugt worden, indem er fuͤr Alles einen Beruf zu haben glaubte, und sich den heterogen¬ sten Geschaͤften widmen wollte, um sich zu vervollkommnen. Bei dem Singen aͤußerte er gelegentlich, er muͤsse Operncom¬ ponist und Taͤnzer werden, weil David vor der Bundeslade getanzt habe, Militaͤr-Chirurgus, weil in der Bibel oft von geheilten Wunden die Rede sei. Das Maurerhandwerk muͤsse er erlernen, um dem Fuͤrsten von Sonnenburg ein großes Triumphthor zu erbauen. Auf dem Theater wollte er wissen¬ schaftliche Ausbildung suchen, durch den Gebrauch der Dreh¬ orgel sich in der Musik vervollkommnen, selbst das Gewerbe eines Schornsteinfegers und andere Handwerke duͤrfe er nicht verschmaͤhen, denn auch Gott sei Mensch gewesen, und habe Alles durchgemacht, ehe er vollkommen geworden sei, und da er, E., sein Nachfolger werden solle, so muͤsse er ihm auch hierin nachahmen. Im Uebrigen war sein Betragen ruhig, friedlich, folgsam, und nur einmal wurde er ungehalten, als man ihm den langgewachsenen Bart abschor, durch welchen er sich ein wuͤrdevolles Ansehn geben wollte, und dem er eine gewisse Zugkraft zuschrieb. Die Beurtheilung des vorliegenden Krankheitsfalles hat besonders Ruͤcksicht auf zwei ursachliche Bedingungen zu neh¬ men, durch deren Zusammentreffen demselben sehr wahrschein¬ lich der Charakter der Unheilbarkeit mitgetheilt worden ist. Zuvoͤrderst ist E. durch die schwaͤrmerische Ueberspannung seiner Froͤmmigkeit seit fruͤher Jugend einer naturgemaͤßen Entwicke¬ lung des Geistes gaͤnzlich verlustig gegangen; er lernte es nie, sich in die Verhaͤltnisse und Beduͤrfnisse der wirklichen Welt hineinzudenken, und blieb in ihr so sehr ein Fremdling, daß er seine ganze Bestimmung durch bodenlose Gruͤbeleien uͤber religioͤse Contemplationen zu erfuͤllen glaubte, woran selbst sein mechanischer Fleiß in einem Gewerbe ihn nicht verhindern konnte, welches seine Reflexion gar nicht in Anspruch nahm. Durch ein hoͤchst unguͤnstiges Mißgeschick wurde er uͤberdies noch meh¬ rere Jahre hindurch in die unseeligen Glaubensstreitigkeiten der Wiedertaͤufer verwickelt, in denen er sich so wenig zurecht¬ zufinden wußte, daß er in dem Kampfe der in ihm aufgereg¬ ten Glaubenszweifel den Frieden seines Gemuͤths einbuͤßte, und nur kuͤmmerlichen Trost in dem Loßreißen von der ihm so ver¬ derblich gewordenen Secte fand. Vielleicht haͤtte er damals noch zur Besonnenheit zuruͤckgefuͤhrt werden koͤnnen, aber sein Unstern wollte, daß er aus uͤbelverstandener Neigung zur wis¬ senschaftlichen Ausbildung, woran wahrscheinlich versteckte Ver¬ standeseitelkeit einen bedeutenden Antheil hatte, Jahre lang ei¬ ner planlosen, ja sinnverwirrenden Lectuͤre sich ergab, welche seinen Kopf mit einer Menge von unverdauten Kenntnissen erfuͤllte, und dadurch unmittelbar auf eine Zerruͤttung des Denkens hinarbeitete. Unter den mannigfachen Gebrechen ei¬ nes verbildeten Verstandes ist unstreitig die gaͤnzliche Unter¬ druͤckung des gesunden Urtheils durch einen Wust von zer¬ streuten Begriffen eines der schlimmsten, weil dadurch dem Gei¬ ste geradezu die Moͤglichkeit geraubt wird, in irgend eine Ueber¬ einstimmung mit sich wieder zu kommen. Gleich einer zer¬ setzenden Gaͤhrung wirbeln die abgerissenen Vorstellungen wie in einem wuͤsten Traume durch einander, verschwinden wie dieser fast spurlos aus dem Bewußtsein, so daß eine tief in¬ nerliche Zerstoͤrung aller wesentlichen Denkoperationen die noth¬ wendige Folge davon sein muß, welche sich dann unter den Erscheinungen der Verstandesverwirrung darstellt. Ohne bei diesen Betrachtungen laͤnger zu verweilen, be¬ merke ich nur, daß sie uns einen genuͤgenden Aufschluß uͤber den Seelenzustand des E. geben. Er hat zwar noch so viele aͤußere Besinnung uͤbrig behalten, daß er nicht nur uͤber sein fruͤheres Leben ausfuͤhrlich Auskunft ertheilen, sondern daß er auch noch an den Unterrichtsstunden Theil nehmen kann, in denen der Versuch gemacht wird, durch Rechenuͤbungen und andere elementare geistige Beschaͤftigungen seinem Verstande einige Ordnung und Klarheit zuruͤckzugeben; aber ein bleiben¬ der Vortheil hat sich dadurch noch nicht erringen lassen. Denn sein Hang zu wahnwitzigen Gruͤbeleien ist so groß, daß er je¬ den Tag neue Grillen ausheckt, uͤber deren Ungereimtheit er durchaus nicht zur Besinnung gebracht werden kann. So be¬ schaͤftigt er sich z. B. mit apokalyptischen Traͤumereien uͤber das ewige Leben, welches er auf die abgeschmackteste Weise schildert, indem er unter anderem behauptet, daß alle Seeli¬ gen der Ordnung und Schoͤnheit wegen eine glaͤnzende Uni¬ form tragen wuͤrden. Ein andermal versichert er, Koͤnig von Zion werden zu sollen, und deshalb den tuͤrkischen Kaiser zur Abtretung Jerusalems durch eine Armee zwingen zu muͤssen, welche er allmaͤhlig Mann fuͤr Mann anwerben wolle. Auch sein Wahn, Nachfolger oder Sohn Napoleon's zu sein, tauchte wieder auf; er verkuͤndete, daß derselbe nach einigen Jahren unter großem Siegesgepraͤnge in Berlin einziehen werde, dessen Straßen erweitert werden muͤßten, um die Schaaren des Triumphators zu fassen. Wenn man ihn bei einem Bilde festhalten will, geraͤth er bald in eine Verwirrung der Vor¬ stellungen, deren Sinnlosigkeit zu einem Abbrechen des Ge¬ spraͤchs noͤthigt. So viel als moͤglich mischt er Bibelspruͤche ein, um seinen Behauptungen einen groͤßeren Nachdruck zu geben, und wenn auch der irre Lauf seines Geistes fast die ganze Welt durchschweift, so laͤßt sich doch die Grundrichtung seines Wahnwitzes auf ein durch ihn zu stiftendes Gottesreich mit allem Glanze der Apokalypse nicht verkennen. 17. G . , 31 Jahr alt, der Sohn eines Schuhmachers in ei¬ ner maͤrkischen Provinzialstadt, mußte von seiner zartesten Kindheit Augenzeuge der Brutalitaͤt sein, welche letzterer, ein arger Trunkenbold, namentlich gegen seine Ehefrau ausuͤbte, welche er sehr haͤufig mißhandelte, wodurch er unstreitig ihren Tod in Folge von Blutfluͤssen beschleunigte. G. wurde durch diese taͤglich wiederkehrenden haͤuslichen Leiden fruͤhzeitig zu einem tiefen Ernst gestimmt, welcher bald den Charakter einer erregten Froͤmmigkeit annahm. Denn der Schulbesuch wurde ihm durch den darin empfangenen Religionsunterricht, in wel¬ chem er sich erhoben und ermuthigt fuͤhlte, zum Gegenstande einer so starken Vorliebe, daß er sich selbst durch Mißhand¬ lungen seines Vaters, welcher ihn bei seinem Handwerke be¬ schaͤftigen wollte, nicht davon zuruͤckhalten ließ. Er spricht sich bestimmt dahin aus, daß jene fromme Neigung, welche ihn gegen die uͤbrigen Lehrgegenstaͤnde gleichguͤltig machte, al¬ lein in ihm erwacht sei, weil der rohe Vater gegen alle Re¬ ligiositaͤt mit cynischen Worten sich erklaͤrte, und seine Mutter es nicht wagen durfte, mit ihm und seinen Geschwistern An¬ dachtsuͤbungen anzustellen. Desto mehr Nahrung fuͤr seinen frommen Sinn fand er bei dem Ortsgeistlichen, welcher den¬ selben waͤhrend des Religionsunterrichts bemerkt hatte, ihn lieb gewann, und oft zu sich einlud, um mit ihm uͤber reli¬ gioͤse Gegenstaͤnde zu sprechen. Es scheint indeß nicht, daß er mystische Vorstellungen ihm eingepflanzt habe, da er zu ihm nur von der Nothwendigkeit sprach, dem Vorbilde Christi in Leiden und Drangsalen nachzufolgen, und seinen Glauben nicht nur durch das Wort, sondern auch durch treue Pflicht¬ erfuͤllung zu bewaͤhren. G. muß auf den Inhalt dieser Ge¬ spraͤche mit großer Empfaͤnglichkeit eingegangen sein, und da¬ bei eine lebendige Erregtheit des Geistes gezeigt haben, so daß der Prediger dadurch bewogen wurde, in ihm den Wunsch, Theologie zu studiren, zu erwecken, wozu er ihm nicht un¬ wahrscheinlich behuͤlflich gewesen sein wuͤrde. Indeß dieser Wunsch scheiterte vielleicht weniger an der Armuth des Va¬ ters, als an seiner Abneigung gegen den geistlichen Stand, uͤber welchen er sich mit frivolen Worten aͤußerte. Die Gemuͤthsentwickelung des G. nahm daher fruͤhzeitig eine so entschieden religioͤse Richtung, daß er stets ernst ge¬ stimmt, fuͤr die kindlichen Spiele allen Sinn verlor, sich von seinen Altersgenossen fern hielt, und von ihnen mit Hohn und Spott verfolgt wurde. Sie kraͤnkten ihn hierdurch oft in einem solchen Grade, daß er, zur Gegenwehr unfaͤhig, und seinen Schmerz in sich verschließend, zuweilen Anfaͤlle von epileptischen Kraͤmpfen erlitt, welche auch in spaͤteren Ver¬ haͤltnissen gelegentlich nach Gemuͤthsbewegungen sich einstellten, indeß waͤhrend der letzten Jahre nicht mehr erschienen sind. Sie waren jedesmal nur von kurzer Dauer, und die nach ih¬ nen zuruͤckbleibende Ermattung verschwand schon nach einigen Stunden. Er besuchte fleißig die Kirche, nahm als Chorknabe eifrig an den liturgischen Gesaͤngen Theil, und sowohl der Gottesdienst, als der Religionsunterricht und die Gespraͤche mit dem Geistlichen durchdrangen ihn mit einer tiefen Freudigkeit, welche ihn immer begieriger nach frommen Herzensergießungen machte. Nicht wenig wurde diese Gemuͤthserregung dadurch befoͤrdert, daß er seine Heilung von mehreren Krankheiten erst nach wiederholten Gebeten fand. Zuerst erlitt er im 8. Jahre eine Geschwulst unter der Zunge, welche ein halbes Jahr fort¬ dauerte, und zuletzt eine solche Groͤße erreichte, daß er den Mund nicht mehr schließen, und nur noch mit Muͤhe etwas Fluͤssiges schlucken konnte. Die von Aerzten angerathene Ope¬ ration wurde von der Mutter verworfen, welche auf den Rath eines Nachbarn an drei auf einander folgenden Freitagen die Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und heiligen Geistes aussprach, worauf die Geschwulst bald verschwunden sein soll. Im 14. Jahre zog G. sich durch mechanische Verletzung eine Augenentzuͤndung zu, welche ihn laͤngere Zeit des Sehvermoͤ¬ gens beraubte, und von einem Arzte vergeblich mit dem Ein¬ blasen von gestoßenem Zucker behandelt wurde. Ein benachbarter Bauer soll dadurch die Heilung bewirkt haben, daß er an drei auf einander folgenden Freitagen jedesmal drei leise Ge¬ bete uͤber den Kranken hielt, und sie mit den lauten Wor¬ ten: im Namen Gottes des Vaters u. s. w. schloß, worauf er in die Augen hauchte. G. versichert, daß die ersten beiden Male seine Mutter ihn habe fuͤhren muͤssen, und daß er das letzte Mal schon im Stande gewesen sei, allein den Weg zu jenem Bauer zu finden. Endlich zog er sich einige Zeit spaͤ¬ ter durch Erkaͤltung eine Wassersucht zu, welche gleichfalls erst nach laͤngerer Zeit gewichen sein soll, als wiederholte Gebete an seinem Bette gehalten wurden. Wenn wir es auch mit diesen Erzaͤhlungen nicht genau nehmen duͤrfen, so steht doch die Thatsache unbezweifelt fest, daß G. in diesen Heilungen die unmittelbare Gnadenwirkung des allgegenwaͤrtigen Christus und seiner alldurchdringenden Wunderkraft sah. Nach seiner Einsegnung mußte er ganz gegen seine Nei¬ gung bei dem Vater das Schuhmacherhandwerk erlernen, wo¬ bei er der taͤgliche Augenzeuge der empoͤrenden Auftritte blieb, welche die Trunksucht des letzteren herbeifuͤhrte; ja er konnte sich beim Anblick seiner gemißhandelten Mutter nicht enthal¬ ten, ihn mit harten Worten daruͤber zur Rede zu stellen, wo¬ fuͤr er gleichfalls derb gezuͤchtigt wurde. Mehrmals gerieth er, mit ihm von Jahrmaͤrkten heimkehrend, in eine aͤußerst uͤble Lage, weil jener gewoͤhnlich berauscht am Wege umfiel, sich dann nicht nach Hause leiten lassen wollte, so daß der un¬ gluͤckliche Sohn oft von Kaͤlte erstarrte. Am Tage mußte er Geschaͤfte außer dem Hause, auf dem Felde verrichten, dann bis spaͤt in die Nacht dem Handwerk obliegen, und wenn er einmal zum Troste in der Bibel lesen wollte, wurde ihm die¬ selbe mit Hohn und Schimpf weggerissen. So fand er nur Beruhigung im Gottesdienste und in den Besuchen, welche er dem ihm stets wohlwollenden Geistlichen abstattete, dagegen ihm der Umgang mit anderen Menschen meist durch deren fri¬ volen oder religioͤs indifferenten Sinn verleidet wurde, zumal da er oft von ihnen Spottreden hoͤren mußte. Immerfort mit dem Gedanken beschaͤftigt, daß man als Nachfolger Christi gleich ihm leiden und streiten muͤsse, glaubte er oft dessen heiliges Walten in sich zu spuͤren; jedoch erklaͤrt er ausdruͤck¬ lich, niemals Visionen gehabt zu haben. Nach zuruͤckgelegtem 17. Jahre arbeitete er als Geselle mehrere Jahre bei einem hiesigen Schuhmacher, und befand sich nun zum ersten Male in einer unabhaͤngigen und sorglo¬ sen Lage. Dann zog er nach einem Dorfe, wo er seine jetzi¬ ge Frau, eine Wittwe und Mutter mehrerer Kinder, kennen lernte, und wie er versichert, mehr aus Mitleid fuͤr ihre be¬ draͤngte Lage als aus inniger Liebe schon in seinem 20. Jahre mit ihr sich verheirathete. Seine Ehe, welche ihm keine Kin¬ der brachte, war gluͤcklich, da er ihren Fleiß, ihre Treue und Anhaͤnglichkeit lobt. Spaͤter siedelte er sich nach einem ande¬ ren Dorfe uͤber, woselbst er aus Mangel an anderer Beschaͤf¬ tigung als Handlanger bei einem Schleusenbau arbeiten mußte. Ungeachtet seines spaͤrlichen Einkommens konnte er dennoch Armen einen Nothpfennig reichen, wozu er sich durch christ¬ liche Gesinnung verpflichtet fuͤhlte. Nach seiner Geburtsstadt zuruͤckgekehrt, war er genoͤthigt, sich als Arbeiter bei einer Ei¬ senbahn zu verdingen, da ihm die Mittel fehlten, sich als Schuhmacher eine Werkstaͤtte einzurichten. Endlich vor 4 Jah¬ ren zog er hierher zuruͤck, und fand bald Beschaͤftigung in einer Zuckersiederei, welche ihm einen fuͤr seine geringen Be¬ duͤrfnisse genuͤgenden Erwerb verschaffte. Seiner Versicherung zufolge hat er waͤhrend dieser Zeit zwar fleißig den oͤffentli¬ chen Gottesdienst besucht, und sich an den Reden der Geistli¬ chen, welche ihren Vortraͤgen Leben und Waͤrme zu verleihen wußten, innig erbaut, jedoch mit dem Lesen der Bibel sich nur selten beschaͤftigt, und die Theilnahme an pietistischen Conventikeln geradezu vermieden, weil es seiner Beobachtung nicht entging, daß Viele in denselben eine eifrige Froͤmmig¬ keit zur Schau tragen, mit welcher ihr Leben in einem schrof¬ fen Widerspruch steht. Ihm mißfiel uͤberdies der separatisti¬ sche Charakter derselben, da der Gottesdienst ein freier und oͤffentlicher sein soll. Sein Christenthum war durchaus prak¬ tischer Art, und indem er sich die heilbringenden Lehren des¬ selben tief einpraͤgte, floͤßte es ihm ein inniges Bedauern ein, daß die Heiden dem Goͤtzendienste ergeben und deshalb des goͤttlichen Lichts aus dem Evangelium beraubt seien. Aus seinem in fruͤher Jugend gehegten Wunsche, die biblische Wahr¬ heit zu verkuͤndigen, entsprang daher in spaͤterer Zeit ein so sehnliches Verlangen, als Missionaͤr unter den Heiden das Evangelium zu predigen, daß er wiederholt den ihm befreun¬ deten Prediger deshalb um Rath befragte. Dieser rieth ihm zwar davon ab, da er schon zu alt sei, um die dazu erfor¬ derlichen fremden Sprachen noch mit Erfolg lernen zu koͤnnen, indeß erregte dies in ihm eben so wenig ein Bedenken, als die Vorstellung, daß er als Missionaͤr sich wahrscheinlich von seiner Familie werde trennen muͤssen, indem er sich mit dem Ausspruch Christi ermuthigte: Wer Vater und Mutter, Weib und Kind, das Leben mehr liebt als mich, der ist meiner nicht werth. Deshalb schrieb er noch vor wenigen Jahren an einen hochgestellten Mann, um durch dessen Vermittelung Auf¬ nahme in eine Missionsanstalt zu finden, wobei er sich des Ausdrucks bediente, daß ihm vom Geiste Gottes eingegeben worden sei, was Andere sich erst erwerben koͤnnten, nachdem sie Tausende von Thalern auf ewandt haͤtten. Da er keine Antwort erhielt, so sah er hierin einen Fingerzeig, daß Gott seinen Vorsatz verwerfe, daher er denn von demselben abstand. Uebrigens versichert er nichts weniger als ein Kopfhaͤnger, vielmehr so lebensfroh gewesen zu sein, daß er mit seiner Familie oͤfters anstaͤndige Vergnuͤgungsoͤrter besucht, und noch lieber in der freien Natur sich ergangen habe. Am Weihnachtsfeste 1845 traf er in der Kirche mit einem ihm unbekannten Manne H. zusammen, und ließ sich vor Anfang des Gottesdienstes in ein Gespraͤch mit ihm ein. Es muß derselbe ein fanatischer Schwaͤrmer gewesen sein, da er dem G. nicht nur versicherte, daß Gott und Christus ihm erschienen seien, und ihm befohlen haͤtten, an dem Glaubens¬ werke der Zeit zu arbeiten, sondern auch an G., welcher ihm bei einer spaͤteren Gelegenheit das Concept des oben er¬ waͤhnten Briefes als Beweis seines frommen Strebens zeigte, die krankende Aeußerung richtete, der Brief sei nicht aus goͤttlicher Gesinnung, sondern aus Eingebung des Teufels her¬ vorgegangen. Denn G. wuͤrde, wenn ihm seine Bitte ge¬ waͤhrt worden waͤre, den Menschen gedankt haben, da doch Gott allein die Ehre gebuͤhre. Wenn Gott ihn zu seinem Werke berufen wolle, so werde er ihm sein Wort ohne Stu¬ dium eingeben, ja er brauche sich dann so wenig um die Menschen zu kuͤmmern, daß selbst der Koͤnig kommen, und ihn zu seinem frommen Berufe auffordern werde. Beide Maͤnner sahen sich oͤfter bei gegenseitigen Besuchen, wo H. sich den Propheten und Koͤnig Zerubabel nannte, und dem G. aus einem Buche Mehreres vorlas, welches er als Ein¬ gebungen Gottes niedergeschrieben zu haben behauptete. Un¬ streitig imponirte der Fremde dem G. in einem hohen Grade, so daß dieser an seiner eigenen Froͤmmigkeit irre wurde, und von innerer Beaͤngstigung getrieben die Pausen waͤhrend der Arbeit benutzte, um auf den Knieen unter heißen Thraͤnen inbruͤnstig zu Gott zu beten, er moͤge ihm alle Fehler, welche er wissentlich oder unwissentlich begangen habe, verzeihen, und ihn dem Heilande aͤhnlich machen. Eine innere Stimme rief ihm dann zu, es sei ihm Alles vergeben, er solle nur dem Erloͤser nachfolgen; worauf er sich voll Freudigkeit und mit großem Eifer wieder an die Arbeit begab. Auch muß er sich schon damals mitunter in einer schwaͤrmerisch aufgeregten Stimmung befunden haben, denn in der Neujahrsnacht hatte er einen Traum, wo er mitten im Winter Fruͤchte von einem Baum pfluͤckte, und auf einen Wagen lud. Die Fruͤchte wurden immer zahlreicher, so daß er damit eine lange Wa¬ genreihe befrachten konnte, welche von einer unabsehbaren Reihe feierlich in Schwarz gekleideter Menschen begleitet wurde. Hieruͤber nachsinnend glaubte er im Wachen, daß sein Wir¬ ken im Verbreiten des goͤttlichen Worts gesegnet sein werde, worin ihn mehrere Andeutungen des Fremden bestaͤrkten. In¬ deß wurde ihm der Charakter desselben immer verdaͤchtiger, so daß er ihn geradezu fuͤr einen Schwaͤrmer hielt, weil der¬ selbe vorgab, er habe in Glaubensangelegenheiten bereits 600 Thaler ausgegeben, welche ihm aber zehnfach ersetzt werden wuͤrden, und dabei die Bemerkung einfließen ließ, man muͤsse sich Geld erwerben, um die Menschen an sich zu ziehen. G. sah hierin um so mehr eine hochmuͤthige, unchristliche Gesin¬ nung, als der Fremde sich geringschaͤtzig uͤber die aͤrmliche Ein¬ richtung seiner Wohnung geaͤußert, und die eigene Behausung luxurioͤs ausgestattet hatte. G. glaubte, daß durch jenen Mann, welcher ihn zu seinem Mißfallen in ein Missionshaus gefuͤhrt hatte, die Aechtheit seines Glaubens gepruͤft werden solle, und da er sich in seinen Zweifeln nicht zurecht zu finden wußte, bat er einen angesehenen Geistlichen brieflich um Aufklaͤrung hieruͤber. Dieser soll gleichfalls ein unguͤnstiges Urtheil uͤber den Fremden geaͤußert, und den G. ermahnt haben, sich allein an den Herrn zu halten. In seiner schon begonnenen religioͤsen Aufregung machten diese Worte einen tiefen Eindruck auf ihn, denn es kam ihm vor, als ob er in der Nachfolge Christi noch nicht eifrig genug gewesen sei; besonders wurden seine Scrupel lebhafter waͤhrend einer leichten Unpaͤßlichkeit, welche ihm das Bild des Todes vor Augen stellte, und ihm dadurch die Furcht einfloͤßte, daß er das ewige Leben nicht erwerben werde, wenn er dem Heilande nicht aͤhnlich genug geworden sei, ihn nicht immer im Herzen getragen habe. Schon war es mit ihm so weit gekommen, daß diese Vorstellungen ihn fast keinen Augen¬ blick mehr bei der uͤbrigens sehr eifrig betriebenen Arbeit ver¬ ließen, und wenn er sie auch noch vor seinen Mitarbeitern ver¬ hehlte, so fuͤhlte er sich doch gedrungen, sein Herz gegen seine Frau auszuschuͤtten. Aber durch die Gespraͤche mit dem Fremden wurde noch eine andere schwaͤrmerische Vorstellungsweise in G. erregt. In ihren mystischen Disputationen war die Rede davon gewesen, daß außer dem Zerubabel, fuͤr welchen jener sich erklaͤrte, noch ein Anderer im Auftrage Gottes auf Erden erscheinen solle. Wenn den Erinnerungen des G. Glauben beizumessen ist, so soll jener, wie es die Art dunkelgluͤhender Koͤpfe ist, sich ge¬ heimnißvoll geaͤußert haben: jener Zweite ist und ist nicht, er war nicht, und ist doch, indem er hinzufuͤgte, G. habe nicht das Recht, sich fuͤr diesen Gottgesandten zu halten, da er nicht gleich ihm dem Glauben bedeutende Summen geopfert habe. G., welcher sich bewußt war, aus seinen duͤrftigen Mit¬ teln den Armen beigestanden, und uͤberhaupt einen frommen Lebenswandel gefuͤhrt zu haben, wurde hierdurch zum Wider¬ spruch herausgefordert, und durch der unklaren Rede dunklen Sinn noch mehr irre geleitet, maaßte er sich im frommen Eifer an, jene zweite Person zu sein, welche als Elias ins Leben zuruͤckgekehrt, gemeinschaftlich mit Zerubabel als Zeuge Gottes und als Prophet die Wiedererscheinung Christi auf Erden und das dadurch neu zu stiftende Gottesreich vorherverkuͤndigen solle. Denn er habe von Jugend auf die Nachfolge Christi zu seinem Hauptaugenmerk gemacht, sich von schwerer Schuld rein erhalten, und sei deshalb von Gott zu Hoͤherem auser¬ waͤhlt worden. Dabei gab er deutlich sein Mißfallen an dem hochfahrenden und anmaaßlichen Betragen des Fremden zu er¬ kennen, und wiederholte heftige Wortwechsel mit ihm hatten endlich zur Folge, daß er dem ferneren Umgange mit ihm aus¬ wich. Sein Unstern wollte aber, daß er unmittelbar darauf die Bekanntschaft eines fanatischen Katholiken H. machte, von welchem er laͤngere Zeit hindurch fast jeden Abend einen Be¬ such empfing, wo er sich sodann mit ihm in die Kammer ein¬ schloß, und mit ihm mystische Gespraͤche so laut fuͤhrte, daß seine Frau das Meiste davon hoͤren konnte. Nach ihrer Aus¬ sage wiederholte H. haͤufig, es werde schon im naͤchsten Jahre ein allgemeiner Religionskrieg ausbrechen, in welchem nur ein Theil der Menschen errettet, deren Mehrzahl aber durch die Kraft Gottes umkommen wuͤrde. Jener Krieg werde bis zum Jahre 1850 dauern, wo dann von Berlin nur noch ein klei¬ ner Theil uͤbrig bleiben werde, um spaͤter voͤllig in Truͤm¬ mer zu verfallen. Denn die Prediger haͤtten ein falsches Chri¬ stenthum verbreitet, weil sie durch die Verkuͤndigung der rei¬ nen Lehre sich um ihr Amt bringen wuͤrden; sie sowohl als die Herrscher seien Schelme. Von allen vier Weltgegenden wuͤrden Boten in weißen Kleidern und mit Sensen bewaffnet hier ein¬ treffen, den Krieg anzukuͤndigen, den Gottlosen die Koͤpfe ab¬ zuhauen, und die Frommen zu beschuͤtzen. G. solle als Vor¬ gaͤnger unter diesen Boten in weißen Kleidern auftreten, denn er sei einer der beiden Zeugen in der Apokalypse, welcher in der Kirche die Wahrheit verkuͤnden, dafuͤr aber den Maͤrtyrer¬ tod sterben solle, waͤhrend H. als anderer Zeuge zum Darein¬ hauen und Stechen bestimmt sei, und ein Alter von 100 Jah¬ ren erreichen werde. Zugleich borgte H. dem G. Geld ab, welches er ihm doch spaͤter wiedererstattete; er theilte ihm meh¬ rere mystische Schriften mit, in welchen G. fleißig las, verbot ihm den Genuß des Fleisches, weil er dadurch zum Thier wuͤrde, und gebot ihm, des Freitags zu fasten, worin G. ihm auch bereitwillig folgte. Auch veranlaßte er ihn, sich ein ge¬ wirktes Bild von Christus zu kaufen, und dasselbe auf Leder befestigt an einer Schnur auf der Brust zu tragen, welches er auch that, bis ihm das Bild in der Charité abgenommen wurde. Endlich forderte er ihn auf, den Armen so reichlich Almosen zu geben, als er irgend koͤnne, daher denn G. meh¬ rere Sachen von Werth wegschenkte, einige Bilder, welche ihm als heidnisch bezeichnet wurden, fremden Kindern gab, und sich darin durch den Widerspruch seiner Frau nicht irre machen ließ, indem er ihr erwiederte, das gehe sie nichts an, sie werde schon sehen, wenn die Zeit komme. Durch gehaͤssige Einfluͤste¬ rungen des H. entstand zuletzt eine solche Zwietracht zwischen beiden Ehegatten, daß die Frau waͤhrend der letzten Monate mit ihren Kindern eine andere Zufluchtsstaͤtte aufsuchte. Un¬ ter anderen hatte er ihr auch gesagt, er werde von jetzt an alle sinnliche Gemeinschaft mit ihr abbrechen, und nur im Geiste mit ihr leben, um dem Heilande ganz aͤhnlich zu wer¬ den. Denn nach dem Ausspruche desselben, daß Niemand das Himmelreich ererben koͤnne, es sei denn, daß er von neuem geboren werde, muͤsse sich der Mensch aller Fleischeslust erweh¬ ren, durch welche er zum Thier herabgewuͤrdigt werde. Der fromme Wahn des G. war nun zum vollen Ausbruch gekommen in der Ueberzeugung, daß er der Prophet Elias sei. Bethoͤrt durch die Faseleien des H. hielt er es fuͤr nothwen¬ dig, fuͤr die Feier des Gottesdienstes ein weißes Kleid anzu¬ legen, zum Unterschiede von den schwarzen Kleidern, welche die Weltkinder sowohl in der Kirche als bei ihren Trinkgela¬ gen und anderen noch schlimmeren Vergnuͤgungen tragen, und dadurch besudeln; dagegen das beim Gottesdienste benutzte Ge¬ wand zu keinem anderen Gebrauch dienen solle. Er ließ sich deshalb von weißem Kattun Rock, Beinkleider und Weste ver¬ fertigen, schaffte sich einen weißen Hut an, und besuchte in diesem Aufzuge mehrmals die Kirche. Nach seiner Versiche¬ rung zog er zwar in letzterer die Aufmerksamkeit der Versamm¬ lung auf sich, ohne indeß eine Stoͤrung zu veranlassen, dage¬ gen er auf der Straße oft von Gassenbuben verfolgt wurde, welche ihn spottend ein Gespenst nannten. Mit jedem Sonn¬ tage wurde das durch ihn erregte oͤffentliche Aufsehen aͤrger, so daß die Polizei zuletzt einschritt, und ihn gegen die Mitte Octobers 1846 ins Gefaͤngniß abfuͤhren ließ. Auch fruͤher schon hatte er seine Arbeitsgenossen durch die ihn beherrschende Schwaͤrmerei zu mannigfachen Verhoͤhnungen veranlaßt. Um ihn zu kraͤnken, verlangten sie oft, er solle ihnen seine Erfah¬ rungen in geistlichen Dingen mittheilen, worauf er ihnen ge¬ woͤhnlich erwiederte, man solle die Perlen nicht vor die Saͤue werfen. Hierdurch erbitterte er sie dermaaßen, daß sie, als sein Aufzug in weißen Kleidern bekannt geworden war, eines Tages sich alle Huͤte von weißem Papier aufsetzten, und ihm neckend zuriefen, er solle doch Einem unter ihnen den Hut herabschlagen, und wenn er es hier nicht thun wolle, wenig¬ stens des Sonntags auf der Straße. Er entgegnete ihnen, Narren bleiben Narren so lange bis sie nach der Charité ge¬ bracht werden; und indem so der Anfang zu einem heftigen Streit gegeben war, kam es bald zu einer Schlaͤgerei, bei welcher Alle uͤber ihn herfielen, ihn zur Erde warfen, eine Treppe hinunterschleppten, und am Eingange des Hauses lie¬ gen ließen. Da er mehrere starke Quetschungen am Kopfe bekommen hatte, so blieb er betaͤubt eine Zeit lang liegen, raffte sich jedoch wieder auf, und mußte noch die Kraͤnkung erfahren, daß saͤmmtliche Mitarbeiter gegen den Werkmeister erklaͤrten, sie wuͤrden ihn nicht laͤnger unter sich dulden, wes¬ halb er nach Empfang seines Lohns entlassen wurde. Muͤh¬ sam schleppte er sich nach Hause, woselbst er wegen der erlit¬ tenen Verletzungen mehrere Tage das Bette huͤten mußte. Schon fruͤher hatte eine schwarzgekleidete Frau, der sein wei¬ ßer Anzug und sein ganzes Betragen aufgefallen war, auf der Straße mit der Frage sich an ihn gewandt, weshalb er so ein reines Gewand trage. Da er ihr erwiederte, daß er als Elias sich so kleiden muͤsse, entgegnete sie ihm, auch sie werde vom Geiste getrieben, und lud ihn zum Besuch bei sich ein. Erst nachdem er sich soweit erholt hatte, daß er das Bette verlas¬ sen konnte, folgte er dieser Einladung, und erhielt von ihr die Schrift Krummacher's uͤber den Elias, welche er seitdem bestaͤndig bei sich fuͤhrte, und deren eifrige Lectuͤre ihn zu einem Briefe an seine neue Freundin veranlaßte, dessen In¬ Ideler uͤber d. rel. Wahnsinn.13 halt mehr als alles andere seinen damaligen Zustand charak¬ terisirt: Geehrte Freundin in Christo!!! Jesu!!! meinem ewigen Koͤnige!!! Sehr gern, ja von Herzen gern wuͤnschte ich, daß wir uns naͤher aussprechen koͤnnten; allein der Geist des lieben Heilandes sagt mir, solches zu unterlassen — ich antwortete zwar, lieber Heiland laß mich doch, denn meine Freundin will gerne etwas von den Geheimnissen wissen, welche Du mir kund gethan. Allein ich darf nicht, mein Heiland sagt mir, siehest du das Kreuz nicht? Willst du Judas sein? So werde ich noch einmal gekreuzigt, und du weißt's doch, daß man mich vor zwei Jahren hier in Jerusalem gekreuzigt hat. O mein lieber Juͤnger, ich habe es wohl gesehen, daß du im Geiste mit Petro das Schwert zogst. Ich aber sprach: stecke ein dein Schwert! Ich werde selbst kommen, wie ich gesprochen im Buche, daß wenn Du diese Zeichen siehest, Ich nahe sei. Dich aber will ich voransenden, sie einzuladen (meine Schaafe) zu dem herrlichen großen Abendmahl, welches Ich mit ihnen ab¬ halten werde. Ach! vielen wird dies Mahl nicht schmecken (O Thraͤnen fließet). Ja Geliebte in dem Herrn meinem ewigen Koͤnige, das Grab ist leer, mein Koͤnig ist auferstan¬ den, deß bin ich Zeuge!!! Warum? achtzehn hundert Jahre am Kreuze? O komm mein Heiland, bei mir sollst Du nicht mehr am Kreuze hangen, komm auferstandener Siegesfuͤrst, komm an meine Brust, moͤge Dich kreuzigen, wer da will, ich weiß Du lebst! deß bin ich Zeuge. Amen. Ja meine theure Freundin, ich kann getrost sagen, Tod, wo ist Dein Stachel, Hoͤlle wo ist Dein Sieg. Denn ich kenne keinen Tod. Lebt Christus in mir, wer will mich toͤdten? O Schwert, meinst du mich zu schrecken? Du Schwert, meines und meines Hei¬ landes Feind, du sollst mich nur verwandeln. Du Feind dachtest meinen Koͤnig zu ermorden, aber siehe das Grab ist leer, mein Koͤnig ist auferstanden!!! Glaubst du's? Du meine Freundin weißt, Jehova spricht: Siehe ich sende Euch den Propheten Elias , ehe denn da komme der große und schreckliche Tag des Herrn!!! Du Freundin sollst aber wissen, es ist dieser Tag laͤnger denn 24 Stunden; auch sollst Du wissen, daß Du diesen Elias schon gesehen, ob Du ihn aber erkannt hast, das weiß ich nicht. Sela. Freundin hoͤre! die Harfe stimmt an, Auferstehung zu singen. Ach! die erste Auf¬ erstehung, wohl denen, die Theil daran haben, an denen hat der zweite Tod keine Macht. Wohl denen, die da leben 1228 Tage. Ja Haͤrflein, ich ließe dich gern singen, du weißt aber, meine Stunde hat noch nicht geschlagen. Amen, Amen, Amen. Jerusalem den 15, 10, 46. (Am Rande sind einige Bibelverse bemerkt, welche sich auf die nahe und unerwartete Wiedererscheinung des Erloͤsers beziehen). Freundin gieb acht! Die Sonne spiegelt sich im Wasser ab. Das Wasser ist die Demuth, denn es sucht die Gruͤnde (Erniedrigung). Gott unser lieber Vater spiegelt sich in Christo ab. Darum spricht Er: wer mich siehet, der siehet den Vater. Wahrlich ich sage Dir, wer Vater oder Mutter, Weib oder Kind, wer sein Le¬ ben dahin giebt fuͤr die armen Schaafe, der spiegelt sich in Christo ab, und er kann sagen, wer mich siehet, der siehet Jesum Christum. Ein guter Hirte laͤßt sein Leben fuͤr die Schaafe; der Miethling verkauft sie fuͤr Gold und Silber an den Wolf. O errathe, was ich meine. Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn, Hosianna in der Hoͤh. Friede sei mit Dir, Halleluja. Amen. Ein zweites, um dieselbe Zeit geschriebenes Blatt enthaͤlt unter mehreren Bibelversen noch folgenden verstuͤmmelten: Ja fuͤrwahr, es werden sich in diesen Tagen die Kraͤfte des Him¬ mels bewegen, die Sonne wird ihren Schein verlieren, und der Mond in Blut verwandelt werden, und die Sterne wer¬ den auf die Erde fallen. G. bemerkt dazu: „Darum weil man die Auserwaͤhlten verfolgt, verhoͤhnt, verspottet, teuflisch hoͤhnend verlacht, ja weil man den Auserwaͤhlten der Polizei uͤbergeben, ihn einzukerkern gesonnen ist. Wehe dir, wehe dir Jerusalem.” Im Gefaͤngniß las er fleißig in der Schrift uͤber Elias, wodurch er noch mehr in seiner Ueberzeugung bestaͤrkt wurde, daß er derselbe sei, da er gleichwie Elias von Gott in die Wuͤste gefuͤhrt, von einem Raben ernaͤhrt und dann zu gro¬ ßen Dingen berufen, auch ihm nach mannigfachem Drangsal die Wuͤrde eines Propheten bestimmt sei. Zugleich troͤstete er 13* sich damit, daß Paulus in Ketten und Banden geschlagen, daß selbst Christus gegeißelt worden sei; daher habe auch er seine Verfolgung nicht als weltliche Strafe fuͤr Missethat, son¬ dern als Pruͤfung Gottes anzusehen, damit er im Geiste ver¬ sucht und seines himmlischen Auftrags wuͤrdig befunden werde. Hierbei verdient bemerkt zu werden, daß er sich von seinem kuͤnftigen Auftreten als Prophet durchaus keine klare Vorstel¬ lung machte, sondern sich fuͤr uͤberzeugt hielt, Gott werde zur rechten Zeit ihn in seinen neuen Beruf einfuͤhren, und ihm die dazu erforderliche Weihe und Erleuchtung verleihen. We¬ nige Tage nachher in die Charité aufgenommen, sprach er An¬ fangs seine Wahnvorstellungen unbefangen aus, indeß da sein weicher, milder Sinn den getroffenen Heilmaaßregeln durchaus keinen Widerstand entgegensetzte, so machten letztere einen hin¬ reichenden Eindruck auf ihn, um ihn aus dem Schwindel sei¬ ner schwaͤrmerischen Vorstellungen und Gefuͤhle bald zu einiger Besinnung zuruͤckzufuͤhren. Es gab Tage, wo er das Irr¬ thuͤmliche seiner bisherigen Denk- und Handlugsweise deut¬ lich einzusehen schien, und wirklich war auch der Wust aber¬ witziger Begriffe uͤber seine Person eigentlich nur von Fana¬ tikern ihm eingeimpft worden, welche seinen aͤcht frommen Sinn vielleicht aus selbstsuͤchtigen Zwecken mißleitet hatten. Ist aber ein empfaͤngliches Gemuͤth einmal von Schwaͤrmerei ergriffen worden, so muß es eben so einen bestimmten Krank¬ heitsproceß durchmachen, wie ein gesunder Koͤrper, welcher von contagioͤsem Gifte angesteckt erst dann zur Gesundheit zu¬ ruͤckkehren kann, nachdem er dasselbe durch kritische Bestrebun¬ gen in heilkraͤftiger Gegenwirkung in sich neutralisirt, und von sich ausgestoßen hat. Dieser Kampf der innerlich gesun¬ den Lebensverfassung mit einem zerstoͤrenden Krankheitsele¬ mente dringt zu tief in dieselbe ein, als daß die Genesung von so heftiger Erschuͤtterung ohne mannigfache Schwankungen zu Stande kommen koͤnnte, welche leicht wieder zum Schlim¬ men umschlagen, und erst durch rastloses Heilbemuͤhen einem guͤnstigen Ausgange entgegengefuͤhrt werden. Nach einer sechs¬ woͤchentlichen Behandlung des G. war noch kein Ergebniß erreicht worden, welches mit einiger Wahrscheinlichkeit den guͤnstigen oder unguͤnstigen Ausgang seines Seelenleidens vorhersehen ließ. 18. Die Darstellung des nachfolgenden Falles von Wahnsinn ist groͤßtentheils aus einer vortrefflich geschriebenen Selbstbio¬ graphie entnommen, welche der Genesene vor seinem Abgange aus der Charité verfaßte. Um jedem nachtheiligen Einflusse vorzubeugen, den die Veroͤffentlichung seines Seelenleidens auf sein ferneres Schicksal ausuͤben koͤnnte, unterdruͤcke ich geflis¬ sentlich die Bezeichnung seiner naͤheren Lebensverhaͤltnisse, welche uͤberdies so einfach waren, daß sie nur in entfernter Beziehung zur Entstehung seines Wahns standen. Von aͤcht frommen Aeltern wurde er in seiner Kindheit mit jener ge¬ wissenhaften Sorgfalt erzogen, welche jeden Keim des Guten in das zarte Gemuͤth zu pflanzen sich bestrebt, und doch im wohlgemeinten Eifer ihren Zweck dadurch zum Theil vereiteln kann, daß sie der selbststaͤndigen Entwickelung des erwachenden Geistes zu wenig Spielraum gewahrt, indem sie denselben in den Mechanismus pedantischer Schulformen einzwaͤngt, damit nirgends ein eigenmaͤchtiges Denken und Wollen mit der in ihnen liegenden Gefahr einer Verirrung zum Vorschein komme. Er selbst schildert dies Verfahren, wodurch ihm fast jede Ge¬ legenheit zu kindlichen Spielen verkuͤmmert wurde, mit folgen¬ den Worten: „Ein falscher Spiritualismus, der sich bis ins Volksle¬ ben hineingeschlichen, stand noch der gesunden Entwickelung des leiblichen Lebens hemmend entgegen. Wie die materielle Seite des jugendlichen Alters unter dem Drucke eines einseitigen Spiritualismus stand, so ward hinwiederum die specielle Natur des Kindes durch eine abstract materielle Lehrmethode, der man eigentlich mit Unrecht den Namen einer Melhode giebt, an einer freien, aus dem innersten Kern des individuellen Gei¬ stes hervorgehenden Entfaltung gehindert. Die Uebung der Gedaͤchtnißkraft durch mehr oder weniger mechanisches Auffas¬ sen und Auswendiglernen von gewissen sogenannten positiven Kenntnissen und Lehrobjecten, die als fertig hingegeben die Selbstthaͤtigkeit des kindlichen Geistes wenig oder gar nicht er¬ regten und erweckten, war in jeder Beziehung auf jedem be¬ sonderen Gebiete der paͤdagogischen Wirksamkeit wie fast uͤber¬ all, so auch in meiner Vaterstadt durchaus uͤberwiegend. Diese Lehrart erschlafft die elastische Spontaneitaͤt des zum Selbst¬ suchen und Selbstfinden der Wahrheit, so wie zu einer lebens¬ frischen Aneignung der positiven Lehrgegenstaͤnde von Gott be¬ stimmten Menschengeistes, dessen Natur schon der weise Sokra¬ tes in dieser Hinsicht tief erkannte, der auch aus dieser Erkennt¬ niß heraus durch seine Zwiegespraͤche Veranlasser und Stifter der in neuerer Zeit immer mehr vervollkommneten sokratischen Lehrmethode geworden ist. Nicht allein, daß diese Art des Unterrichts dem jugendlichen Geiste zum wahrhaft festen Besitz des Erlernten leicht und angenehm verhilft, sie ernaͤhrt, ent¬ wickelt und befruchtet in hohem Maaße die sittliche Willens¬ kraft des Menschen, die Energie des schoͤpferischen Geistes. Geht damit eine gesunde Gymnastik des Leibes Hand in Hand, wie es auch in der Bluͤthezeit des griechischen und roͤmischen Volksthums der Fall war; so kann es gar nicht fehlen, daß unter der Voraussetzung eines wahrhaft christlichen Gemeinde¬ lebens die Jugend zu einer froͤhlichen, geistig und leiblich gesun¬ den, charakterfesten, gesinnungsreifen Maͤnnlichkeit heranwaͤchst.” Sein weiches und bildsames Gemuͤth fuͤgte sich ohne Wi¬ derstrebender bezeichneten Erziehungsmethode, konnte sich aber eben deshalb nicht zur Selbststaͤndigkeit des Charakters ausbilden, welche jedesmal in Widerspruch steht mit einer mehr oder weniger mechanischen Abrichtung des Geistes und Gemuͤths. Unstreitig wurde seine passive Sinnesweise noch dadurch vermehrt, daß sein schwacher, reizbarer Koͤrper nicht in munteren Knaben¬ spielen erstarkte, und in seiner Entwickelung einen großen Ab¬ bruch erlitt durch ein im fruͤhen Alter uͤberstandenes hartnaͤcki¬ ges rheumatisches Leiden, welches fast bis zur Laͤhmung der Glieder sich steigerte. Indeß genas er doch voͤllig, so daß er ein Gymnasium beziehen konnte, wo er der Aufsicht seiner Ael¬ tern entruͤckt zwar in seiner wissenschaftlichen Ausbildung gute Fortschritte machte, jedoch durch einen Schulgenossen zur Selbst¬ befleckung verleitet den Grund zu seinen spaͤteren Leiden legte. Jene Pest der Jugend ist zwar schon oft genug geschildert wor¬ den; jedoch scheint es mir nothwendig, darauf hinzudeuten, daß jenem Uebel in den bisherigen paͤdagogischen Verhaͤltnissen durchaus noch keine gewaͤhrleistenden Maaßregeln entgegengestellt worden sind, woraus sich die furchtbaren Verheerungen zur Genuͤge erklaͤren, welche durch dasselbe noch immerfort unter der Jugend angerichtet werden. Denn das vorzuͤglichste Mit¬ tel, seiner Entstehung vorzubeugen, und seinen Ausbruch mit Sicherheit zu bekaͤmpfen, naͤmlich die Gymnastik, blieb bisher fast gaͤnzlich von der Erziehung ausgeschlossen. Ich muß mich hier auf meine allgemeine Diaͤtetik fuͤr Gebildete beziehen, wo¬ selbst ich den physiologischen Beweis gefuͤhrt zu haben glaube, daß angemessene Muskelanstrengungen die unerlaßlich nothwen¬ dige Bedingung einer harmonischen Durchbildung des Geistes und Koͤrpers sind, wenn beide zu jener lebensvollen Thatkraft er¬ starken sollen, an welcher wie an einem gehaͤrteten Stahl kaum ein Rost sich ansetzen, oder wenigstens leicht wieder abgeschlif¬ fen werden kann. Gerade die einseitige Schulbildung, welche der koͤrperlichen Entwickelung ihre unveraͤußerlichen Rechte strei¬ tig macht, bringt durch Ueberreizung der Nerven in rastlosen Geistesanstrengungen jene physische Ausmergelung, jene reizbare Schwaͤche hervor, welche dem Spiel der Phantasie mit luͤster¬ nen Bildern in Ermangelung thatkraͤftiger Gefuͤhle nur allzu¬ reichliche Nahrung giebt, und dadurch Begierden entflammt, denen die gebrochene Kraft des Willens nicht Widerstand lei¬ sten kann. Nach dem Grundgesetze der koͤrperlichen Entwicke¬ lung soll der in der Jugend so uͤberreichlich erzeugte physische Nahrungsstoff zu der rasch fortschreitenden Entwickelung aller Organe verwandt werden, wozu vor Allem tuͤchtige Leibesbe¬ wegungen nothwendig sind, welche den Eingeweiden sowie den Muskeln eine hinreichende Kraft verleihen, jenen Nahrungsstoff an sich zu ziehen, in sich zu verarbeiten. In Ermangelung dieser nothwendigen Bedingungen stroͤmt der Bildungssaft um so reich¬ licher nach den Genitalien, je mehr sie durch unnatuͤrliche Luͤste in einen krankhaften Reizzustand versetzt sind, um in ihnen fortwaͤhrend die Flamme der Begierden anzuschuͤren, deren ver¬ heimlichte Befriedigung ihre Gefahr noch vermehrt. Wie un¬ zureichend im Kampfe gegen die sinnlichen Begierden oft selbst die Motive der Religion und Sittlichkeit sind, davon giebt uns das Leben der Anachoreten einen auffallenden Beweis, welche die Unterdruͤckung der Wollust zu einer Hauptaufgabe ihres frommen Eifers machten, und sie dennoch nicht durch die haͤr¬ testen ascetischen Uebungen, durch eine bis zur Schwaͤrmerei gesteigerte Andacht ganz uͤberwaͤltigen konnten, sondern oft ge¬ nug durch sie in Verzweiflung gestuͤrzt, ja mitunter zum Selbstmorde angetrieben wurden. Die weitere Entwickelung dieser hochwichtigen Erfahrung fuͤr eine spaͤtere Gelegenheit mir versparend, deute ich nur auf jene bekannte Bezaube¬ rung des Bewußtseins durch die Wollust hin, welche aus dem¬ selben durch ihre heißen Wallungen in einem Augenblicke alle besseren Vorsaͤtze und Gefuͤhle verbannt, um in der nachfol¬ genden Reue, ja Verzweiflung die Kraft des Willens noch mehr zu laͤhmen. So faͤllt die unersetzliche Entwickelungszeit der verfuͤhrten Knaben und Juͤnglinge einem zerstoͤrenden Kampfe anheim, in welchem sie hart die schreienden Maͤngel der Jugenderziehung buͤßen muͤssen, und waͤhrend viele unter ihnen geistig und leiblich zu Grunde gehen, muß man noch diejenigen gluͤcklich preisen, welche sich einen hinreichenden Schatz von besserer Gesinnung bewahrten, um durch sie zu immer erneuten Anstrengungen in der Unterdruͤckung ihrer Begierden und in der geistigen Fortbildung angetrieben zu werden. Unser Z. gehoͤrte diesen letzteren an, und wenn ihm auch ein großer Theil seiner Jugendkraft und Lebensfreude geraubt wurde, so gelang es ihm doch, in seiner Gymnasial¬ bildung so gute Fortschritte zu machen, daß er mit dem Zeug¬ niß der Reife ausgestattet auf einer Universitaͤt das Studium der Theologie beginnen konnte. Es wuͤrde mich zu weit fuͤh¬ ren, wenn ich die lebendige Schilderung aufnehmen wollte, welche Z. von seiner oft empfundenen Seelennoth entworfen hat; es genuͤge die Bemerkung, daß er sich doch allmaͤhlig zu einer groͤßeren Geistesklarheit und Willenskraft emporarbei¬ tete, und deshalb seine Begierden besser zu zuͤgeln lernte. Indeß auf der Universitaͤt erwartete ihn eine neue harte Pruͤ¬ fung, da in exegetischen und philosophischen Vortraͤgen sein bisher streng orthodoxer Glaube in ein Meer von Zweifeln ge¬ stuͤrzt wurde, welche ihn zuletzt zu einem gemaͤßigten Ratio¬ nalismus fuͤhrten, wozu besonders der vertraute Umgang mit hellen und frischen Koͤpfen unter seinen Commilitonen wesent¬ lich beitrug. Die naͤchsten Jahre, welche er als Hauslehrer in verschiedenen Familien zubrachte, sind fuͤr unser Interesse von keinem besonderen Belang; die eigentliche Entwickelung seines Seelenleidens wurde erst dadurch eingeleitet, daß er ein Jahr lang von schweren Brustleiden heimgesucht, mit man¬ cherlei Kummer und Sorgen, namentlich auch uͤber das ge¬ faͤhrliche Erkranken mehrerer Mitglieder seiner Familie zu kaͤm¬ pfen hatte. Geistige und koͤrperliche Anstrengungen (letztere auf einer weiten Reise), quaͤlende Unruhe uͤber das Schicksal der entfernten Verwandten, uͤble haͤusliche Verhaͤltnisse wirk¬ ten uͤberaus schwaͤchend auf seinen Koͤrper, so daß er oft an Nasenbluten, Schlaflosigkeit, phantastischen Traͤumen und Hart¬ leibigkeit litt, und in der Besorgniß schwebte, in ein schwere¬ res Nervenfieber zu verfallen. Noch widerstand er eine Zeit lang diesen niederdruͤckenden Einfluͤssen; nachdem er sich aber in ungluͤcklicher Stunde durch wolluͤstige Wallungen zur Selbst¬ befleckung hatte verleiten lassen, und tiefe Reue ihn mehrere Tage hindurch folterte, wurde er beim Genuß des heiligen Abendmahls von einer religioͤsen Exaltation ergriffen, in wel¬ cher er eine erhoͤhte Geistesklarheit im tieferen Verstaͤndniß der Bibel gewonnen zu haben glaubte. Mit der Lectuͤre derselben in den naͤchsten Tagen vorzugsweise beschaͤftigt, waͤhnte er ei¬ ner segensreichen Ausgießung des heiligen Geistes theilhaftig ge¬ worden zu sein, und erfuͤllt von schwaͤrmerischem Eifer richtete er nicht nur salbungsreiche Reden an seine Hausgenossen, um sie zu einer strengen Froͤmmigkeit zu bewegen, sondern glaubte auch durch Gebete die Wunderheilung eines kranken Kindes bewir¬ ken zu koͤnnen. Nachdem diese erregte Stimmung mehrere Tage gedauert, und ihm den Schlaf geraubt hatte, sah er in einer Nacht Visionen von Farben und mannigfachen Gestalten, in deren ergoͤtzlicher Betrachtung durch Geraͤusch auf der Straße gestoͤrt er in letzterem eine Demonstration des teuflischen Prin¬ cips gegen sich voraussetzte, und sich dem Schutze Gottes und der Engel empfahl. In Gruͤbeleien der mannigfachsten Art versunken glaubte er am folgenden Tage, nach einem inbruͤn¬ stigen Gebete, daß Christus bald wiederkehren und daß jetzt schon die Welt eine veraͤnderte Gestalt in himmlischer Schoͤnheit und Herrlichkeit annehmen werde, weshalb er auf einem Spa¬ zierganze mit seinem Stocke auf mystische Weise einen Kreis in der Luft beschrieb, um alle Weltgegenden dem Herrn zu wei¬ hen, indem er als Zauberer die Welt umgestalten zu koͤnnen glaubte. Es kam ihm oͤfter vor, als ob Christus in ihm wie¬ dererscheinen werde, bezog dabei namentlich eine Stelle im Je¬ saias, wo von der Gestalt des kommenden Messias als einer haͤßlichen die Rede ist, auf sich, und faßte den Entschluß, uͤber die ganze Erde predigend, segnend und heilend zu wandeln. Vielfaͤltigen Laͤrm auf dem Felde hielt er wiederum fuͤr teuf¬ lische Demonstrationen, waͤhrend eine vorbeiziehende Schaaf¬ heerde in ihm die Hoffnung von neuem erweckte, daß die Zeit nahe sei, in welcher Christus seine Schaafe zu einer großen Ge¬ meinde unter seiner Obhut vereinigen werde, weshalb er knieend den Herrn anflehte, daß Er auch ihn zu einem Gliede an sei¬ nem Leibe machen moͤge. Bald aber wich die danach empfun¬ dene seelige Ruhe der Vorstellung, daß er verdammt sei, und daß der Teufel ihn in der naͤchsten Nacht holen werde. Ins Bette gebracht hoͤrte er deutlich aus den Waͤnden seines Zim¬ mers ein Froschgequak und Unkengeschrei hervordringen. Indeß auch die dadurch erregte bange Stimmung verlor sich bald wieder unter inbruͤnstigem Gebet, und abermals glaubte er, daß sein Leib eine himmlische Ueberkleidung erhalten und sein Geist eine hoͤhere Kraft empfangen werde, damit er in Berlin als dem Centralpunkte der politischen und kirchlichen Welt das leuchtende und waͤrmende Himmelslicht uͤber alle Laͤnder aus¬ stroͤmen, und alle Gebrechen und Leiden des socialen Lebens heilen koͤnne. Das Wehen des hoͤheren Geistes und den Fluͤ¬ gelschlag der himmlischen Taube wollte er durch ein ungemein schnelles Zusammenschlagen beider Haͤnde beweisen, indem er Gebete in lateinischer, franzoͤsischer und deutscher Sprache hielt, und Kirchenlieder sang. Seine Stimme kam ihm dabei sehr rein und umfangreich vor, und er sprach dabei zu den fingir¬ ten Engeln: „nun das ist wahr, ihr gebt vortrefflichen Un¬ terricht im Gesange.” Zugleich vernahm er einen hellen, liebli¬ chen Chorgesang unter sanfter Instrumentalbegleitung, welcher von dem monderhellten Himmel zu ihm herabtoͤnte. Auch hatte er eine innere Anschauung der Himmelsleiter und des durch dieselbe vermittelten Verkehrs eines kecken Erdenknabens mit einem Engel. Den Satan dachte er sich außerhalb des Hau¬ ses an dem Fenster auf Alles horchend und merkend, und re¬ dete ihn mit laͤchelndem Hohne an; bald aber gerieth er in Entsetzen bei der Vorstellung, daß der gute Engel von ihm Ab¬ schied nehme. Zweifel uͤber die Gewißheit seiner Erloͤsung quaͤlten ihn, und es entspann sich zwischen ihm und dem unsichtbar vor ihm stehenden Satan ein Dialog, in welchem letzterer sei¬ nen Glaubenssaͤtzen Einwuͤrfe entgegenstellte, wovon folgendes Bruchstuͤck eine Probe geben mag. Fr.: „Worauf gruͤndest du deine Seeligkeit, deine Erloͤsung? — Antw.: Auf den ver¬ dienstlichen Tod des Heilandes” — Fr.: „Woher weißt du, daß Christi Tod rein von Suͤnden und Suͤndenschuld macht?” — Antw.: „aus der heiligen Schrift.” — Fr.: „Wer sagt dir, daß die Schrift die Quelle der Wahrheit sei?” — Antw.: „der in mir wohnende heilige Geist.” — Fr.: „Wie weißt du, daß der Geist in dir der heilige Geist ist? Kannst du mit deinem unheiligen Geiste den goͤttlichen Geist pruͤfen? Du nimmst und schoͤpfst den Geist aus der Schrift durch glaͤu¬ bige Annahme ihres Inhalts, und dann willst du wiederum mit diesem Geiste erkennen, daß die Schrift Erkenntnißquelle der Wahrheit ist? Wie unterscheidest du dein geistiges Be¬ wußtsein vom goͤttlichen Geiste in dir?” u. s. w. Z. bemerkt hieruͤber sehr treffend: „meine eigenen fruͤher gehegten Zweifel und von mir selbst gemachten Einwuͤrfe traten hier in die singirte Persoͤnlichkeit des Teufels, dessen Ich mein eigenes Ich war, reflectirt mir objectiv gegenuͤber.” Vergebens gegen alle Einwuͤrfe ringend sank er in unbeschreiblicher Angst auf die Kniee, und eine Bibel als Panier festhaltend konnte er nichts mehr hervorbringen, als: „wachet, betet.” Waͤh¬ rend dieses ununterbrochenen Ausrufs hatte er das Gefuͤhl ei¬ nes ungeheuern Falles, dessen Dauer ihm gegen 2 Stunden erschien. Er glaubte in die Hoͤlle zu stuͤrzen, welche er fuͤr sein Fegefeuer hielt, daß alle Verdammten durch seine Niederfahrt erloͤst wuͤrden. Dabei setzte er den obigen Ausruf, durch das Kraͤ¬ hen eines Hahns noch mehr angetrieben, ununterbrochen fort, bis seine Stimme heiser und schwach wurde, und endlich unter un¬ saͤglicher Angst der eingebildete Sturz aufhoͤrte. Gleich einem Schamanen oder Derwisch drehte er sich auf der Erde rasch herum, zuerst in sitzender, dann in liegender Stellung, wodurch, wie durch lautes Rufen er den Satan noͤthigen wollte, zu erscheinen und ihn in die Hoͤlle zu fuͤhren. Einen eintretenden Freund hielt er fuͤr den Repraͤsentanten des Teufels, und warf mit der Bibel nach ihm. Er meinte noch immer es erzwingen zu koͤnnen, daß die Hoͤlle ihre Flammen aufschlagen ließe, welche einen Weltbrand erzeugen, und durch diesen Alles rei¬ nigen und lautern solle. Satan wollte dies durch Zuruͤckhal¬ ten des Feuers verhindern, deshalb suchte Z. ihn zu reizen durch ein lautes Aufzaͤhlen aller Greuel, Schandthaten und Niedertraͤchtigkeiten seit Adam, wobei Religion, Politik, Wis¬ senschaft, Kunst, Handel, Gewerbe, kurz jeder Zweig mensch¬ lichen Wissens und Strebens in Betracht gezogen, und alle merkwuͤrdigen Ereignisse nebst den dabei betheiligten großen Maͤnnern genannt wurden. Den naͤchsten Tag brachte er in einer beruhigten Stim¬ mung zu, indem er viele Gegenstaͤnde exorcisirte, bis am Abend wieder eine groͤßere Aufregung eintrat. Indem er die ihm zur Aufsicht gesetzten Waͤrter fuͤr die Repraͤsentanten der Ar¬ men dieser Welt hielt, und fuͤr sie eine innige Theilnahme empfand, wollte er mit ihnen das heilige Abendmahl mit ei¬ ner Tasse Kaffee und etwas Brot genießen und das Weih¬ nachtsfest feiern, an welchem seine Verwandten, die Armen der Stadt, ja alle lebenden Menschen und zuletzt auch alle Todten, Theil nehmen sollten. Mit heftigem Ungestuͤm be¬ gehrte er hierauf den Satan zu bannen, damit derselbe ihn in das Todtenreich fuͤhre, und er die Gestorbenen in die Ober¬ welt zuruͤckbringen koͤnne. Bald nachher sprang er aus dem Bette, um in der Kirche eine Weihnachtspredigt zu halten, in dem Wahne, er habe als Osterlamm sein Blut fuͤr die Welt vergossen. Die ihn zuruͤckhaltenden Waͤrter sah er als Gesellen des Satans an, welche ihn von seinem Segenswerke abhalten wollten, weshalb er sich mit ihnen in einen langen und harten Kampf einließ, bis er endlich von ihnen uͤber¬ waͤltigt und ans Bette gefesselt wurde. Eine Menge von Schreckbildern durchkreuzten nun seinen Kopf, bald hielt er seine Waͤrter fuͤr Moͤrder, gedungen von dem Ortsgeistlichen, welcher von seiner Predigt einen allgemeinen Aufruhr befuͤrch¬ tete, bald erschien ihm die dargereichte Arznei als Gift, oder er erwartete von Hunden gehetzt und erwuͤrgt zu werden. Nach diesen stuͤrmischen Auftritten folgten ruhigere Tage, an welchen ihn zwar die bisher geschilderten Wahnvorstellun¬ gen noch mannigfach beschaͤftigten, es ihm jedoch gestatteten, unter Begleitung im Freien spazieren zu gehen, ja er fing schon wieder an, Unterricht zu ertheilen. Indeß nach einigen Wochen steigerte sich das nur zuruͤckgetretene Gemuͤthsleiden wieder bis zur heftigsten Tobsucht, welche ihn zu einem ge¬ waltsamen Ringen mit seinem Waͤrter antrieb, und von ihm selbst fuͤr einen Anfall der Hundswuth gehalten wurde, wes¬ halb er ein lautes Hundegebell anhob, wobei ihm reichlicher Schleim aus dem Munde floß. In einer Nacht wurde er von einer Menge Visionen ergoͤtzt, welche ganz die Lebendig¬ keit und Frische wirklicher Anschauungen hatten; er sah schoͤne Gegenden, volkreiche Staͤdte, ferner einen mit 2 Rossen be¬ spannten Wagen, auf welchem eine Heldengestalt, eine Gei¬ ßel schwingend aus dem Himmel auf die Erde herabschwebte, u. dgl. Auch diesmal tobte sich sein Aufruhr in wenigen Tagen aus, und er erlangte so viele scheinbare Besinnung, daß er zu einer Reise nach Berlin bewogen werden konnte, um bei einem hier wohnenden Bruder eine guͤnstigere Gele¬ genheit zu seiner Wiederherstellung zu finden. Wirklich schien er sich in einem solchen Grade beruhigt zu haben, daß er die Sehenswuͤrdigkeiten der Residenz in Augenschein nehmen konnte. Besonders beschaͤftigten ihn die Frescogemaͤlde im Koͤnigl. Mu¬ seum, welche ihm die Bemerkung aufdrangen, wir lebten in einer Zeit, worin fast in allen Zweigen des geistigen Lebens die Gegensaͤtze bis zur groͤßten Spannung gekommen seien, welche darauf hinwiesen, daß in der naͤchsten Zeit etwas ge¬ schehen muͤsse, die extremen Gegensaͤtze in eine hoͤhere Einheit zu bringen. So waren auch die Frescogemaͤlde Belaͤge fuͤr das erwachte Streben, die antike, heidnische Kunst mit der christlichen zu verschmelzen. Deshalb war er eifrig bemuͤht, die griechische Mythologie und die religioͤsen Vorstellungen an¬ derer Voͤlker mit dem christlichen Lehrgebaͤude in Einheit zu bringen, wobei die Lehren von den Engeln ihm den Dienst der Vermittelung leisten sollten. Auch besuchte er einige Vor¬ lesungen, wobei er sich dachte, daß sein Erscheinen auf die ganze Universitaͤt einen reinigenden und erhebenden Einfluß ausuͤbe, daß aber auch er hinwiederum auf eine mystisch ver¬ borgene Weise eigenthuͤmliche Geistes- und Leibeskraͤfte dabei gewinne. Er sah alle Menschen in einem wechselseitigen Pro¬ ceß mit ihm und unter sich begriffen, woraus eine neue wun¬ derherrliche Schoͤpfung, Sonne, Mond und Sterne mit ein¬ begriffen, hervorgehen werde. Er traͤumte sich in den Besitz einer so großen Macht hinein, daß er nur Worte in wuͤthen¬ der oder befehlender Form auszusprechen brauche, um auf das Ganze der Welt zu wirken. Besonders fuͤhlte er sich durch das koͤnigliche Schloß angezogen, auf dessen Hoͤfen er Se¬ genswuͤnsche in lateinischer, deutscher und franzoͤsischer Sprache uͤber das koͤnigliche Haus aussprach, indem er die Diener des¬ selben zum Eifer und treuen Gehorsam, zur weisen und kraͤf¬ tigen Befoͤrderung der Wohlfahrt des Vaterlandes ermahnte. Jeder Stand, jedes Gewerbe, jede Kunst und Wissenschaft suchte er durch exorcisirende Formeln zu reinigen, welche er auch unter Gebeten und Bekreuzigungen und uͤber die Badewanne aussprach, deren sein kranker Bruder sich bediente, dem er durch seine persoͤnliche Naͤhe vollstaͤndige Heilung zu bringen glaubte. Dabei gerieth er aber mit demselben oft in heftigen Streit, indem er dessen Denk- und Handlungsweise berichti¬ gen wollte. Einer dieser Controverspunkte betraf die Lehre vom Teufel, welche er fruͤher im orthodoxen Sinne aufgefaßt hatte. Beim Ausbruch seiner Krankheit ging ihm aber die ewige Unseeligkeit des Teufels und seines Anhanges zu Her¬ zen, er konnte die ewige Hoͤllenpein nicht mit der allbarmher¬ zigen und allmaͤchtigen Liebe in Einklang bringen, und glaubte daher, daß dieselbe nur eine gewisse Zeit dauern werde. Hiermit brachte er in Berlin die Vorstellung in Verbindung, daß die Existenz des Teufels bei der Entstehung und Fortbil¬ dung des Christenthums von großer Bedeutung gewesen sei. Die Versuchung durch den Satan habe erst den Erloͤser zur vollkraͤftigen Erkenntniß seines Berufs, zur entschiedenen Fe¬ stigkeit seines Willens gefuͤhrt. Das dem Christenthume ent¬ gegengetretene Heiden- und Judenthum habe erst durch seine kraͤftige Opposition den Geist der Apostel und aller Glaubens¬ helden hervorgelockt, durch den Kampf gestaͤrkt, und durch Ueberwindung ermuthigt. Auf dualistischem Standpunkte sah Z. daher das Boͤse in der Welt als nothwendig an, indem erst durch das Boͤse das Gute zur energischen Thaͤtigkeit an¬ gespornt werde. Ja er hielt das Boͤse fuͤr eine Anordnung Gottes, und kam zuletzt zu der Vorstellung, daß der Teufel der maskirte Gott sei, und daß die Weltgeschichte ein gro߬ artiges Maskenspiel Gottes und seiner himmlischen Heerschaa¬ ren mit den Menschen darstelle. Es werde aber bald eine Zeit kommen, in der die Masken abfielen. Der lichte, helle Sonnenglanz Gottes muͤßte dem schwachen, bloͤden Auge des Sterblichen zu uͤbermaͤchtig sein, so daß selbst das Helle ihm zum Dunkeln und Schrecklichen werden koͤnne. Da die Bi¬ bel sich mit diesen Ansichten nicht in Uebereinstimmung brin¬ gen ließ, so meinte Z., daß dieselbe voll Ironie sei, die der Geist der Wahrheit, den Schriftstellern unbewußt, in die Worte gelegt habe, damit man erst durch muͤhsames Forschen, und durch muthige, keine Autoritaͤt fuͤrchtende Entschlossenheit in den verborgenen, fein angedeuteten Schriftsinn dringen solle. Wie Christus der ins suͤndige Fleisch erniedrigte Gottessohn sei, so waͤre auch sein Wort, und sonach die Schrift die ins Fleisch der Suͤnde und Luͤge verstellte Wahrheit, die man erst hinter dem Vorhange suchen muͤsse. Durch diese und aͤhnliche Gruͤbeleien wurde er im blinden Vertrauen zu seinem Geiste bestaͤrkt, daß er glaubte, gar nicht mehr suͤndigen zu koͤnnen, sondern absolut frei zu sein. Die formale Freiheit, in wel¬ cher der Mensch noch zwischen 2 entgegengesetzten Handlungs¬ weisen waͤhlend schwanke, hielt er fuͤr eine Knechtschaft des Geistes, welcher ohne Ueberlegung und Besonnenheit mit Blitzesschnelle das Gute und Rechte treffen muͤsse. Eine in dem von ihm bewohnten Hause ausgebrochene Feuersbrunst versetzte ihn in heftigen Schreck; da er aber uͤber¬ all Zeichen zu erkennen glaubte, welche von dem Weltgeiste ihm zur Bestaͤtigung seiner Gedanken und als Vorbote eines nahen Umschwunges aller sichtbaren Verhaͤltnisse gegeben waͤ¬ ren, so hielt er auch dies Feuer fuͤr das Vorspiel des zukuͤnf¬ tigen Weltbrandes. Sein Zimmer und sein Bette war von dem Loͤschen des Feuers ganz durchnaͤßt worden; anfangs hielt er die Feuchtigkeit fuͤr zutraͤglich, bis ihm in einer Nacht ein azurblaues Schild mit einem Dreizack als ein Zeichen Neptuns erschien, daß nun des Wassers genug sei. — Indem ich eine Reihe von Tagen uͤberschlage, an denen Z. eine Menge von excentrischen Handlungen, jedoch ohne gefaͤhrlichen Charakter beging, bemerke ich, daß zuletzt seine Aufregung wieder bis zum Ausbruch von Wuth sich steigerte, wobei er die Fenster¬ scheiben zerschlug, die Anwesenden aus dem Zimmer trieb, in¬ dem er nach ihnen warf, und dadurch seine Aufnahme in die Charité nothwendig machte. Dort angelangt betrachtete er mit¬ leidig die Kranken, denen er zur Huͤlfe gerufen zu sein glaubte, daher er denn an einem Bette niederkniete und betete. Hier¬ auf wurde er wieder ungestuͤmer bis zur Wildheit, sang, pfiff, betete, predigte. In dieser waͤhrend mehrerer Tage und Naͤchte fortdauernden Aufregung entwickelte sich das Bilderspiel einer zuͤgellosen Phantasie, welche gleichsam alle Kraͤfte der Seele in sich zusammenfaßt, und deshalb ihren Dichtungen die volle Klar¬ heit, Lebendigkeit und Staͤrke sinnlicher Anschauungen verleiht, weil die uͤbrigen Seelenvermoͤgen bei dieser Gaͤhrung im Be¬ wußtsein nicht zu einem stetigen Wirken gelangen koͤnnen. So erblickte er einen Mohren mit einem Turban auf dem Kopfe in sitzender Stellung, ein Kameel an einem Halfter¬ bande haltend. In einem neben ihm liegenden Manne mit einer weißen Kopfbedeckung glaubte er seine Mutter, in einem anderen juͤngeren seinen Bruder zu sehen. In dem Bade widersetzte er sich mit Heftigkeit, gab sich fuͤr Jesus Christus aus, und hieruͤber zur Rede gestellt nannte er sich Judas Ischarioth. Dabei erwartete er noch immer eine baldige Um¬ waͤlzung der Dinge, welche dann vor sich gehen werde, wenn der Koͤnig ihn besuche. In einer spaͤteren Nacht sah er sei¬ nen Bruder nebst einem seiner Schuͤler am Fenster stehend in eine mondhelle Landschaft hinausblickend. Vor ihnen stand eine Gestalt in Form eines Kreuzes, welches sich langsam umdrehte, und an welchem einige Menschen im bunten Co¬ stuͤm ihre Kunstfertigkeit im Turnen zeigten. Ueber gruͤne Felder hinweg sah er am Horizont einen maͤßigen Huͤgel, auf welchem in nebelhaften Umrissen die Truͤmmer einer Burg standen. Ein andermal erblickte er einen aus der Wand her¬ vorragenden Holzstock, auf welchem sich kleine Marionetten be¬ wegten, ferner in einem halb mit Wasser angefuͤllten Glas¬ napfe ein schoͤnes Kind, welches nach einem andern eben so schoͤnen die Hand ausstreckte. Eine Zeit lang kam ihm seine Bettdecke wie ein marmorner Sarkophag vor, auf welchem Hautreliefs in mannigfach scharf ausgepraͤgten Gebilden, na¬ mentlich Menschengestalten dargestellt waren. An einem Abende wollte er ein großes, wunderbares Schattenspiel an der Wand produciren, denn er glaubte den Zauberspiegel Salomos zu besitzen, mit dessen Huͤlfe er alles Denkbare und Undenkbare ausfuͤhren koͤnne. Ferner stieg die Vorstellung in ihm auf, daß er der neugeborene Sohn einer Koͤnigin sei, daß bei sei¬ ner Geburt saͤmmtliche Planeten in eine gerade Linie zur Sonne getreten, und daß eine alte koͤnigliche Familienuhr wie¬ der in Gang gekommen sei, deren Bewegung er in der nahen Wand zu hoͤren waͤhnte. Seine Mitkranken hielt er fuͤr gro߬ artige Weltschiffer, welche hier nur etwas rasteten. Die Bet¬ ten schienen ihm aus zwei durch Gelenke verbundenen Thei¬ len zu bestehen, von denen bei der gewaltig schnellen Bewe¬ gung der eine uͤber den anderen sprungartig hinwegschieße. Auf diese Weise bereiseten jene Schiffer die Weltkoͤrper, und braͤchten Botschaft von dem einen auf den andern. Das Be¬ wußtsein seiner Persoͤnlichkeit bemuͤhte er sich durch haͤufige Nennung seines Namens und derjenigen seiner Verwandten mit Anstrengung festzuhalten. Auch die Zeitrechnung der naͤch¬ sten Vergangenheit strebte er sich einzupraͤgen, da er glaubte, daß die uͤbrigen Menschen die Zeitrechnung verloren haͤtten, und sie nur durch ihn wiedererlangen koͤnnten. Die Charité hielt er laͤngere Zeit fuͤr ein Operntheater, auf welchem er als Papageno mit wirklichen Federn und Fluͤgeln von den schoͤnsten Farben erscheinen solle, und jedes Geraͤusch daͤuchte ihm von den ungeduldig harrenden Zuschauern auszugehen. Natuͤrlich waren seine Antworten auf vorgelegte Fragen ein Wiederhall des in seinem Kopfe kreisenden Wirbels von Vorstellungen. Er erzaͤhlte z. B., daß ihm im Geiste die Himmelsleiter erschienen sei, auf welcher ein Engel einen hin¬ aufsteigenden Knaben zuruͤckgehalten habe, damit dieser nicht in den Himmel hineinschauen, und nicht beim Anblick der den Ideler uͤber d. rel. Wahnsinn. 14 Menschen verborgenen Geheimnisse schwindlich werde. Da¬ gegen habe der Knabe dem Engel erzaͤhlen sollen, wie es auf der Erde zugehe. Er selbst habe das Gespraͤch zwischen bei¬ den deutlich gehoͤrt, und sei dadurch auf den Gedanken ge¬ kommen, daß dadurch das Schicksal derer bezeichnet werde, welche uͤber die unerforschlichen Geheimnisse des Himmels nach¬ daͤchten, und daruͤber leicht ihren Verstand verloͤren. Ferner sei ihm der Himmel als ein unendlich tiefer, mit Wasser an¬ gefuͤllter Brunnen erschienen, welcher nach seinem Grunde zu immer heißer werde, und zuletzt von einer gluͤhenden Masse erfuͤllt sei, welche die Hoͤlle darstelle. Er sei zwei Stunden lang in diese Tiefe hinabgestuͤrzt, und habe den Wunsch ge¬ hegt, durch das Hoͤllenfeuer von seinen Suͤnden gereinigt zu werden u. s. w. Unter Anwendung beruhigender Heilmittel, namentlich der lauwarmen Baͤder mit kalten Uebergießungen, ließ seine Aufregung schon in den naͤchsten 2 Wochen dergestalt nach, daß er des Nachts ruhig schlief, und am Tage eine groͤßere Klarheit des Bewußtseins erlangte. Bald konnte er schon mit großer Genauigkeit und Vollstaͤndigkeit Auskunft uͤber sein fruͤheres Leben geben, ja er war faͤhig, sich litteraͤrisch zu be¬ schaͤftigen, und gelangte schon nach etwa einem Monate zu einer richtigen Erkenntniß seines bisherigen Zustandes, wes¬ halb er im ernstlichen Verlangen nach seiner gruͤndlichen Hei¬ lung die ihm ertheilten aͤrztlichen Verordnungen mit der puͤnkt¬ lichsten Gewissenhaftigkeit befolgte. Seine Zeit theilte sich in wissenschaftliche Arbeiten, welche von seiner wiederkehrenden Geistesschaͤrfe den erfreulichsten Beweis lieferten, und in koͤr¬ perliche Beschaͤftigungen, welche seinen geschwaͤchten Koͤrper staͤrkten. Doch war seine physische Gesundheit tief erschuͤttert worden, weshalb er mitunter an Durchfaͤllen, rheumatischen Beschwerden und Augenentzuͤndung litt. Indeß wichen diese Uebel einer angemessenen Behandlung bald, und brachten des¬ halb keine ernstliche Unterbrechung des psychischen Heilverfahrens hervor. Laͤngere Zeit hindurch nahm er auch mit dem besten Erfolge an der Leitung des den anderen Geisteskranken ertheil¬ ten Unterrichts Theil, wozu sein Talent und seine Kenntnisse ihn hinreichend befaͤhigten. Nach einer 7monatlichen Behand¬ lung war er geistig und koͤrperlich so vollstaͤndig wiedergenesen daß seine Entlassung ohne Bedenken erfolgen konnte. 19. S ., 40 Jahre alt, erhielt von seinen im Mittelstande lebenden Aeltern eine angemessene Erziehung, und besuchte ein hiesiges Gymnasium, welches er indeß vor dem Eintritt in die oberen Klassen verließ, um sich dem kaufmaͤnnischen Gewerbe zu widmen. Schon in seiner fruͤhen Jugend zeigte er einen, nicht durch kraͤnkliche Reizbarkeit der Nerven bedingten Hang zur Schwaͤrmerei und zum gruͤblerischen Nachsinnen in man¬ chen auffallenden Erscheinungen; so uͤberreichte er z. B. einem Lehrer einen Aufsatz, welcher allerlei Gedanken uͤber Schul¬ reformen enthielt, und uͤberhaupt wurde bei ihm der kindliche Frohsinn vermißt, an dessen Stelle ein geheimnißvolles Insich¬ gekehrtsein trat. Diese naturwidrige Richtung seines Geistes verirrte sich sogar zu phantastischen Sinnestaͤuschungen, wie er sich |denn unter anderem einbildete, einmal von einem Geiste eine Treppe hinuntergetragen worden zu sein. Wenn er sich auch seinem Berufe, in welchem er ein nicht geringes Talent bewiesen haben soll, mit Neigung und Eifer ergab; so blieb doch sein erwaͤhnter Hang vorherrschend, und veranlaßte ihn, in den Mußestunden philosophische, politische und religioͤse Schriften zu lesen, welche, anstatt ihn in aͤchter Geistescultur zu foͤrdern, seinen Kopf mit einer Menge von unverdauten Begriffen erfuͤllten, durch sie sein Urtheil irre leiteten, und ihn außer Stand setzten, uͤber seine wahre Bestimmung zum deutlichen Bewußtsein zu kommen. In einer solchen Gedan¬ kenverwirrung giebt sich der Verstand leicht den Chimaͤren einer erhitzten Einbildungskraft gefangen, und laͤßt den Zuͤgel fah¬ ren, mit welchem er den Willen innerhalb der Grenzen der Wirklichkeit lenken soll. Da uͤberdies die Schwaͤrmerei gewoͤhn¬ lich einen geheimen Stolz naͤhrt, worin der Mensch sich mit dem Wahn bethoͤrt, die hoͤchsten Staffeln menschlicher Verhaͤlt¬ nisse uͤberfliegen zu koͤnnen; so wird in der dadurch unterhal¬ 14 * tenen fieberhaften Spannung des Gemuͤths oft ein Plan zur Weltverbesserung ausgebruͤtet, zu dessen Ausfuͤhrung der Phan¬ tast bestimmt zu sein glaubt, weshalb er die Forderung gel¬ tend macht, an die Spitze des ganzen Menschengeschlechts als dessen Orakel oder Beherrscher zu treten. Unser S. wurde um so mehr zu diesem erhabenen Selbstgefuͤhle verlockt, da ihm waͤhrend eines Wachtdienstes, den er als freiwilliger Jaͤger zu leisten hatte, zur Nachtzeit der Himmel sich aufthat, und die Hand eines Unsichtbaren eine brennende Fackel zu ihm herab¬ reichte. Deutlicher als durch diese Offenbarung konnte ihm sein glanzvoller Beruf nicht angekuͤndigt werden. Wie sich nun das Bewußtsein desselben immer lebendiger bei ihm heraus¬ gestaltete, moͤchte sich um so weniger im Einzelnen nachweisen lassen, je unfaͤhiger er war, eine praͤcise Geschichte seiner ge¬ heimen Lucubrationen zu entwerfen. Auch war sein beschauli¬ ches Leben noch viel zu sehr mit irdischen Interessen vermengt, denn er gruͤndete einige Jahre spaͤter in einer Provinzialstadt eine Handlung, welche er in einen bluͤhenden Stand setzte; uͤberdies verheirathete er sich, trennte sich aber nach kinderloser Ehe wieder von seiner Gattin, welche bei ihrem schwaͤrmerischen Lebensgefaͤhrten wahrscheinlich keine Befriedigung gefunden hatte. Inzwischen dauerte die innere Gaͤhrung in ihm fort, welche, da sie nicht durch andere und maͤchtigere Interessen er¬ stickt wurde, zu irgend einem Ausbruche kommen mußte. Meh¬ rere Jahre hindurch fand dieselbe ihren Ausfluß nur durch die Feder; er bezeichnet selbst einen fruͤhzeitigen, aber verungluͤck¬ ten schriftstellerischen Versuch, dem im Jahre 1826 ein ande¬ rer unter dem Titel: Staat, Kirche und Philosophie, folgen sollte, aber, wie er sich ausdruͤckt, durch Mißverstaͤndnisse von Seiten der Censurbehoͤrde confiscirt wurde. Ohne sich hierdurch irre machen zu lassen, gab er im Jahre 1830 eine Schrift un¬ ter dem Titel: das Reich Gottes auf Erden, heraus. Schon die Inhaltsanzeige ergiebt, daß auf 210 Seiten fast alle Probleme zur Sprache gebracht werden, mit denen sich die Denker von jeher beschaͤftigt haben. Im ersten Theile ist naͤmlich von der Politik, von dem Staate nach seinen organischen und intel¬ lectuellen Kraͤften und von der Kirche die Rede. Den zwei¬ ten Theil leiten Betrachtungen uͤber Recht und Philosophie ein, denen eine Kritik des natuͤrlichen Eigenthumsrechts und eine Einleitung zum Naturrecht, welches als der Inbegriff aller Rechte bezeichnet wird, folgen. Hieran reiht sich seine in 175 Thesen entwickelte Naturphilosophie und ein Kapitel mit der Ueberschrift: Stand der Ordnung, der Ruhe und des Friedens, wohin er das Personenrecht, Voͤlkerrecht, Staatsrecht, Kirchen¬ recht, Privatrecht und Familienrecht zaͤhlt. Den Beschluß ma¬ chen Betrachtungen uͤber den Stand der Unordnung, des Krie¬ ges, der Verbrechen und Strafen. Wenn man sein desulto¬ risches, widerspruchsvolles, zielloses Raͤsonnement durchlieset, so wird man leicht gewahr, daß die Namen einer Menge von Be¬ griffen durch seinen Kopf gegangen sind, und er folglich man¬ nigfache Schriften in Haͤnden gehabt haben muͤsse; aber einige sinnreiche Einfaͤlle abgerechnet, welche wie Blitze aus einem fin¬ stern Gewoͤlk hervorbrechen, sucht man vergebens nach einem deutlich gedachten Sinne seiner Worte. Zum Beispiele moͤgen einige naturphilosophische Thesen dienen: „Absoluter Raum ist eine allgemeine subjective Form aller objectiven Formen, oder die quantitative Form aller Qualitaͤten. Absolute Zeit ist eine allgemeine subjective Form aller objectiven Formen, oder die qualitative Form aller Quantitaͤten. Bewußtsein ist eine all¬ gemeine subjective Form der objectiven Formen; folglich muß absoluter Raum = Bewußtsein sein, und eben so muß abso¬ lute Zeit = Bewußtsein sein. Zeitraum ist eine allgemeine objective Form aller objectiven Formen, folglich auch = Be¬ wußtsein. Ich stehe demnaͤchst nicht laͤnger an, den Inbegriff der drei Urprincipe: eine heilige Dreieinigkeit zu nennen, oder Gottheit, und zwar: den absoluten Raum: Gott den Vater — die absolute Zeit: Gott den heiligen Geist — und den absolu¬ ten Zeitraum: Gott den Sohn. Die subjectiven Formen aller objectiven Formen, oder absolute Zeit, Raum und Bewußtsein sind: Formen der sinnlichen oder empirischen Gegenstaͤnde, oder Formen der Sinnlichkeit. Das ist: das Transcendentale ist Form der Empirie, und die Formen sind von objectiver im¬ materieller Realitaͤt oder Idealitaͤt.” Spaͤterhin heißt es: „In der unorganischen Welt ist ferner der active Naturstand 1) der urspruͤnglich positiv elektrische; der passive Naturstand 2) der urspruͤnglich negativ elektrische; der neutrale Naturstand 3) der urspruͤnglich magnetische oder der Inbegriff des positiv und negativ elektrischen zugleich.” Wie abgeschmackt nun auch alles dies sein mag, so ge¬ waͤhrt es doch ein eigenes Interesse, wahrzunehmen, wie ein uͤber Weltverbesserungsplanen bruͤtender Schwaͤrmer sich mit hohlen und mißverstandenen metaphysischen Formeln abquaͤlt, um sich vor seinem eigenen Bewußtsein mit einem Klingklang von Woͤrtern als ein scharfsinniger Dialektiker auszuweisen, der die Rechtfertigung seiner hochfliegenden Entwuͤrfe wissen¬ schaftlich zu fuͤhren vermag, und um so festeres Vertrauen in seine Einsicht setzen darf, je mehr er mit derselben das Uni¬ versum zu umfassen glaubt. Der eigentliche Zweck dieser Schrift spricht sich noch am deutlichsten aus in der Dedication derselben an Seine kaiserliche Majestaͤt den Großsultan und wirklichen Nachkommen des Propheten der Osmanen, Mah¬ mud II . Warum er gerade auf diesen sein Augenmerk ge¬ richtet hat, erhellt theils aus der Zuschrift selbst, welche cha¬ rakteristisch genug ist, um hier einen Platz zu finden, theils wird sich dies noch mehr in der Folge ergeben. Der Verf. sagt hierin: „Es ist eine glaͤnzende Weisheit, im Gluͤcke nicht vermessen, und eine glorreiche Macht, im Ungluͤcke nicht verzagt zu sein. Solche hohe Eigenschaften der Seele erzeugen die unuͤber¬ windliche Groͤße, um alle Fuͤrsten und Voͤlker, welche durch Vor¬ urtheile und Aberglauben die Feinde der hohen Pforte sind, be¬ siegen zu koͤnnen. Es ist eine glorwuͤrdige Gerechtigkeit, welche im guten Glauben fuͤr Wahrheit und Recht streitet, und nach der Stimme der Vernunft, ohne Ansehen der Person, des Glaubens und Geschlechts, lohnt und straft und endlich alle Leidenschaften zum Schweigen bringt. Es ist ein Gefuͤhl im Menschenfreunde, das sich stolz uͤber alle kleinliche Begierden erhebt, wenn man verkannt und verfolgt wird. Dasselbe treibt uns um so mehr zur Langmuth und Großmuth gegen unsere Feinde an; es offenbart die Groͤße aller seltenen Menschen. Aber es ist auch ein Gefuͤhl im Menschenfreunde, welches ihn Freude und Genugthuung empfinden laͤßt, sobald unsere Ge¬ danken und Empfindungen von Anderen errathen, mit erkannt und mitempfunden werden, und hieruͤber kann sich kein Wei¬ ser und Koͤnig hinwegsetzen, da es ein Widerspruch in der besseren Natur des Menschen waͤre. Auf den Grund dieses wahren, menschlichen Gefuͤhls wage ich im Namen aller mei¬ ner Landsleute, welche sich ruͤhmen, nicht sowohl im Blute, als in der Liebe fuͤr Wahrheit und Recht mit den Osmanen verwandt zu sein, Ew. Hoheit durch die Zueignung dieser Schrift unsere außerordentliche Ehrfurcht zu bezeugen, welche Sich Allerhoͤchstdieselben in so schwierigen Umstaͤnden des Staats, des Rechts und der Politik, der Kirche und Philosophie selbst im Verhaͤngnisse erworben, und klar an den Tag gelegt ha¬ ben, was es heißt, ein wuͤrdiger Nachkomme des Propheten zu sein. Aus dem Inhalte dieser Schrift thut sich mein Glau¬ bensbekenntniß kund, dessen Idealitaͤt ein politisches, religioͤ¬ ses und philosophisches in sich begreift, welches ich mit Ver¬ gnuͤgen zur oͤffentlichen Beurtheilung darlege. Da Christus den mosaischen Glauben erfuͤllte und bestaͤtigte, aber Moha¬ med, verwandt mit den alten Propheten, Christum und Mo¬ sen fuͤr wahrhaftige Apostel anerkennt, und nur ihre von den Menschen verfaͤlschte Lehre verdammt hat; so ist sehr einleuch¬ tend, daß Juden, Christen und Mohamedaner, wenn sie wie ihre Propheten, den einzigen Allmaͤchtigen im Geist und in der Wahrheit anbeten, eben so unter einander eines Glaubens leben und unter einander gleiche Bruͤder sind, wie Moses, Christus und Mohamed selbst die Kinder des einzig wahren Allmaͤchtigen sind, und in koͤniglich-goͤttlich-bruͤderlicher Liebe ewig vereinigt sein werden. Wer wollte sich zum Rich¬ ter des Allerhoͤchsten, welcher in seinem ewigen Lichte war, ist und sein wird, aufwerfen, welchen von diesen drei maͤchti¬ gen Fuͤrsten und Erdensoͤhnen, die das Menschengeschlecht als ein dreiseitiges Ganzes beschreiben, er lieber haben wollte? Obgleich nun Juden, Christen und Mohamedaner Eins waͤ¬ ren, wenn ihre Propheten nicht zu verschiedenen Zeiten gelebt haͤtten, so giebt es doch unter ihnen Menschen, welche durch den Fanatismus nur Eiferer ihres Glaubens der Aeußerlichkeit wegen, in der Wahrheit aber nur Goͤtzendiener sind. Nach ihnen soll man der Verehrung des einen oder anderen Pro¬ pheten und ihres gestifteten Glaubens entsagen, wenn man sich der Ordnung und des Eingeborenen und Hergebrachten wegen zu dem Andern bekennt. Solche Leute wissen nicht was Glauben, was Religion, was Apostel heißt. Sie thun gleichsam, als wenn Jeder, der nicht mit ihnen gleichen fa¬ natischen Glaubens ist, ein Goͤtzendiener, ein Ketzer, ein vom Schoͤpfer der Liebe Verdammter waͤre. Sie predigen Feuer und Schwert, und mahnen fortwaͤhrend durch Kriege gegen die goͤttliche Ordnung des Friedens, der Freude und Gerech¬ tigkeit, wovon noch heutiges Tages das gelobte Land durch die Kreuzzuͤge ein untruͤglicher Zeuge ist. Das einzige, wahre Kennzeichen des einzig wahren Glaubens ist da, wo man dem Allmaͤchtigen allein die Ehre giebt, ihn allein im Geiste und in der Wahrheit anbetet, und gegen die Goͤtzendiener zu Felde zieht, einen jeden Anderen aber den allein wahren Gott nach seinen eingebornen Sitten, hergebrachten Gebraͤuchen und ehr¬ wuͤrdig gewordenen Gewohnheiten, oder nach eines Jeden son¬ stigen besonderen und eigenthuͤmlichen geistigen Faͤhigkeiten duld¬ sam und liebevoll verehren laͤßt. Selbst um eines guten Zweckes willen koͤnnte ich niemals Papist werden, da ich die Luͤge desjenigen, welcher als ein Freund der Finsterniß und als Feind des Lichts, der Wahrheit, des Rechts, der Mensch¬ heit, ihres Friedens und ihrer Gluͤckseeligkeit sich die aͤußere Macht der christlichen Kirche bisher angemaaßt hat, erkenne. Aber dagegen koͤnnte ich sehr wohl mit einem eingebornen Glau¬ ben einen anderen, welcher ebensfalls lehrt, Gott in Christo und in der Wahrheit anzubeten, verbinden; und wenn es ehr¬ wuͤrdige Landesgebraͤuche verlangen, so koͤnnte ich, um dem Rechte und der Wahrheit zu dienen, nicht nur den Turban aufsetzen, sondern mich auch zum Islam bekennen, da es hier von Gottes und Rechts wegen angeht, daß ich, mit den auf¬ richtigsten Empfindungen fuͤr Jesum Christum, Mohamed und seine Lehre mit verehre, und umgekehrt als ein guter Moha¬ medaner auch die vor dem Islam gelebten Apostel Gottes ver¬ ehren kann. So wenigstens dachte mir Mohamed in Bezie¬ hung zu Mosen und Christum, so dachte Christus in Bezie¬ hung auf Mosen; so dachte endlich Moses in Beziehung auf diejenigen Propheten, welche nach ihm kommen sollten, auch in Beziehung auf Abraham, Isaak und Jacob, und so wer¬ den die Menschen alle denken, wenn dermaleinst im Reiche Gottes ein Hirt und eine Heerde sein wird. In meiner Vor¬ stellung vom Reiche Gottes betrachte ich in den Haͤnden der einzigen und ewigen Vorsehung den Mohamedanismus als eine Schutzmauer des wahren Glaubens, der wahren Religion unter der Obhut meines Herrn, Heilandes und Koͤnigs aller Koͤnige, welchen wir Christum nennen, mit welchem Mohamed nach der Verheißung dienstbarer Engel Gottes neben dem Herrn aller Herren, dem Allmaͤchtigen, auf einem Stuhle sitzt. Diese Schutzmauer ist von dem Allbarmherzigen hingestellt, und dient in seinem Reiche gegen den Andrang des Papismus, oder ge¬ gen den christlichen Goͤtzendienst, gegen den Andrang des Aber¬ glaubens und Unglaubens, und zur Vermittelung und Annaͤhe¬ rung aller Religionen an einander, welche Gott noch nicht im Geiste und in der Wahrheit verehren. Diese Schutzmauer sucht der Aberwitz der Menschen vergeblich zu zertruͤmmern. Nur Gott kann in einem Augenblicke zertruͤmmern, was der Aberwitz der Menschen in Jahrhunderten erbaute. Weder der Mond noch das Kreuz wird brechen. Im Palaste des Herrn Herrn glaͤnzen Sonne, Mond und Sterne und haben Raum, und Himmel und Erde preisen Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Hallelujah! In der Hoffnung, daß alle Freunde der Wahr¬ heit endlich zu Frieden kommen werden, uͤberreiche ich Ew. Ho¬ heit diese meine Empfindungen und Gedanken. Ich werde immerdar die hohen Eigenschaften Ew. Hoheit vor Augen ha¬ ben, und wuͤrde es fuͤr die hoͤchste Ehre halten, Allerhoͤchstden¬ selben mit den hierin abgelegten Vorstellungen vom Rechte und der Wahrheit dienen zu koͤnnen.” In Uebereinstimmung hiermit stehen folgende Worte im Terte der Schrift: „Der in dicke Finsterniß eingehuͤllte Ver¬ stand und die große Gewalt der zuͤgellosesten Leidenschaften uͤber die Herzen der Menschen hatten eine Zeit lang einer gewissen Kaste, einem Staate im Staate (wir meinen den Stand der Diener der Religion) ein uͤbermenschliches Ansehen verliehen, und damit so obscure Vorstellungen von der Kirche und ihren Angelegenheiten verbreitet, daß der wahre Glaube, die Wahrheit oder das Reich Gottes auf Erden lange Zeit trauriger Weise verdraͤngt waren. So aͤhnlich der Fehl des Interpretirens des Wortes Gottes bei den Juden und Chri¬ sten war, entfremdete sich der Mosaismus und Christianismus immer mehr und mehr, und es blieb zuletzt keine Hoffnung zu ihrer jemaligen Vereinigung. Das Judenthum und Chri¬ stenthum glichen zwei aus einem Mittelpunkte entgegengesetz¬ ten Richtungen, und wir muͤssen sagen, daß das Christen¬ thum, oder wie man es zu einer gewissen Zeit das Antichri¬ stenthum nennen konnte, dem Heidenthum viel aͤhnlicher war, wie das Judenthum, denn weder das Heidenthum noch Ju¬ denthum wuͤhlten viehischer Weise, wie das Christenthum, in ihren eigenen Eingeweiden. O wer weiß, wie weit das Fe¬ gefeuer des Antichristenthums allen Glauben verscheucht und um sich gefressen haͤtte, wenn nicht der Herr dem hoͤllischen Treiben des boͤsen Princips mittelst einer neuen Offenbarung Grenzen gesetzt haͤtte. Aber der Herr hatte noch andere Schaafe aus einem anderen Stalle, fuͤhrte sie her, und sie hoͤrten seine Stimme, damit ein Hirt und eine Heerde werde. Gott berief solche Schaafe durch den Engel Gabriel mittelst des Propheten Mohamed, und stellte sie, vielleicht zur Wiederver¬ einigung aller Glaͤubigen, zwischen den Aberglauben der Chri¬ sten und den Unglauben der Juden; kurz gesagt, er stiftete durch Mohamed eine neue Kirche, worin die Menschen Gott im Geiste und in der Wahrheit dienen sollten.” Mohamed wird nun wider die Schmaͤhsucht, welche an ihm Flecken aufsucht, um seine Prophetenwuͤrde in Zweifel zu ziehen, mit der Bemerkung gerechtfertigt: „Kein großer Mann, der nicht durch große Leidenschaften groß wird. Mohamed, der die groͤßten Staatsveraͤnderungen und die spaͤteren Jahr¬ hunderte durch uͤbernatuͤrliche Ursachen geschafft und geformt hat, dessen Fruͤchte gut, edel und rein sind, ist ein wahr¬ haftiger Prophet des Herrn, und seine Religion goͤttlicher Natur und goͤttlichen Ursprungs. Ganz im Sinne der christ¬ lichen Lehre, nach dem Ausspruche: wer wissen will, ob meine Lehre von Gott sei, der thue den Willen meines himmli¬ schen Vaters, und alsdann wird er erkennen, daß meine Lehre von Gott sei — verlangte auch Mohamed von den Menschen den Glauben zur Seeligkeit, keinesweges aber den blinden Koͤder oder einen Aberglauben, welcher mit dem Un¬ glauben gleich gefaͤhrlich ist. Nun aber, wo der Un- und Aber¬ glaube in lauter Goͤtzendienst ausgeartet war, zerwarf er die Heiden, wie eines Toͤpfers Gefaͤß, weil er das Zeugniß als Prophet, und mit ihm einen Namen und die Macht dazu von Oben herab erhalten hatte, und ohnedem wuͤrde es ihm schwer¬ lich gegluͤckt sein, eine ganze Welt voll Heiden zu bekehren, und viele Geschlechter der wahrhaftigen Anbetung Gottes uͤber 1000 Jahre wuͤrdig zu erhalten. Auch Mohamed verlangte von den Menschen, daß sie mittelst der wahren Lebensphi¬ losophie, d. h. mittelst der durch den Glauben erleuchte ten Vernunft, den Willen Gottes thun, darin die Wahr¬ heit erkennen, Gott dienen und selig werden sollen, kei¬ nesweges aber mitttelst der Speculation, abstracten Ver¬ nunft oder metaphysischen Traͤumereien, und weit war Mo¬ hamed davon entfernt, seine Glaͤubigen mit einem Ceremonien¬ dienste zu belasten.” — So faͤhrt der Verf. noch lange fort, unter Anfuͤhrung evangelischer Ausspruͤche an Mohamed alle Praͤdicate der Vollkommenheit Christi zu preisen, und die Uebereinstimmung ihrer Lehren zu behaupten. Auch den Mo¬ hamedanern werden die erhabensten Tugenden der Toleranz, Froͤmmigkeit, Menschenliebe, Gerechtigkeit nachgeruͤhmt: kurz der Verf. verstrickt sich voͤllig in einem Truggewebe von Schein¬ gruͤnden, um seiner Absicht gemaͤß die innere Einheit der juͤdi¬ schen, christlichen und mohamedanischen Glaubenslehre heraus¬ zustellen, welche Einheit alle Voͤlker zu einem gemeinsamen Bunde umfassen soll; denn darauf bezieht sich sein Ausruf: „O Fuͤrsten unsrer Zeit! glaubt sicherlich, daß Gott zu Euch spricht: Tretet fuͤr meine Rechte in einen Fuͤrstenrath zusammen, o las¬ set es Eure Pflicht sein, durch einen gemeinschaftlichen Willen Mein Reich und die Ordnung der Dinge auf Erden zu erhal¬ ten.” Und um ihnen ihren erhabenen Beruf vor Augen zu stellen, haͤlt der Verf. ihnen ein Musterbild eines großen Poli¬ tikers vor. „Ein solcher betrachtet die Zeit als das Meer, den Staat als das Schiff, den Krieg als den Sturm, den Koͤnig als den Steuermann, die Politik aber als jene Geschicklichkeit, das Schiff uͤber alle moͤgliche und wirkliche Hindernisse fort und sicher in den Hafen der Ruhe zu leiten, dem Frieden zuzufuͤh¬ ren, um auf festem Boden, das ist eine ewige und unveraͤn¬ derliche Grundlage, Anker zu werfen, und der ist Gott. Große Politiker, in diesem ausgedehnten Sinne des Worts genommen, waren: Zoroaster, Moses, Confucius, Mohamed, Constantin, Karl der Große, Gustav Adolph, Heinrich IV ., Joseph II ., Friedrich der Große, Epaminondas, du Guesclin, Bayard, Canning. Ein großer Politiker opfert nicht wie Alexander der Große, Caͤsar und Napoleon die Welt seinem Ich, son¬ dern Sich der Welt auf.” — Ich uͤbergehe des Verf. com¬ merziellen, staatswissenschaftlichen und finanziellen Projecte, deren eins z. B. die Tilgung der preußischen Staatsschul¬ den betrifft, welches er dem Finanzministerio uͤberreicht haben will. So durchkreuzten sich eine Reihe von Jahren hindurch unzaͤhlige schiefe Begriffe in seinem Kopfe, welche alle mensch¬ lichen Angelegenheiten umfassend, jede Moͤglichkeit einer Be¬ richtigung durch nuͤchtene Erfahrung ausschlossen, und daher seine Besonnenheit gaͤnzlich vernichten mußten. Seine herr¬ schenden Vorstellungen von einer, alle Voͤlker und Religions¬ partheien vereinigenden Theokratie erzeugten daher in seinem truͤbverworrenen Geiste den Wahn, daß er den Beruf habe, letztere auf Erden zu begruͤnden. Es kam nur noch auf die Mittel zur Ausfuͤhrung seines großen Werkes an, und uͤber sie war er um so weniger verlegen, da ihm der Sultan Mah¬ mud der uͤber allen Vorurtheilen erhabene Herrscher zu sein schien, welcher ihm dazu die Hand bieten werde. Folglich mußte er diesen fuͤr seinen Plan zu gewinnen suchen, und er versprach sich davon, wie er mir sagte, den groͤßten Vor¬ theil, weil in der Tuͤrkei die Bekenner jedes Glaubens bei¬ sammen leben, deren Vereinigung von Constantinopel aus am leichtesten zu bewerkstelligen sein wuͤrde. Ueberdies ist im Umfange jenes Reichs Jerusalem gelegen, welches er sich zum Herrschersitze erkoren hatte, wahrscheinlich weil die alte Haupt¬ stadt des juͤdischen Volks, in welcher auch das Christenthum gegruͤndet wurde, Jahrhunderte hindurch das Ziel der from¬ men Sehnsucht war, welche in Zion das Reich Gottes auf Erden stiften wollte. An dem Gelingen seines Vorhabens zweifelte er eben so wenig, als jemals ein Schwaͤrmer uͤber die Ausfuͤhrbarkeit seiner Entwuͤrfe in Verlegenheit gewesen ist; er verkaufte daher seine Handlung, und schiffte sich in Triest nach Constantinopel ein, welches er wohlbehalten er¬ reichte. Auf meine Frage, wie er sich einen Weg zum Sul¬ tan habe bahnen wollen, erzaͤhlte er mir, daß er demselben einen Finanzplan zu uͤberreichen willens gewesen sei, welcher aller Noth und Bedraͤngniß der hohen Pforte ein Ende habe machen koͤnnen. In Constantinopel gelangte nun sein Wahn zur voͤlligen Reife; denn aus Pera sind alle Aufforderungen an die Herrscher und Voͤlker Europas datirt, welche er, nach Deutschland zuruͤckgekehrt, nebst mancherlei Betrachtungen uͤber Freiheit, Religion, Glaube, Liebe, Gottesdienst, Buße, Bes¬ serung, Gebet, unter dem Titel drucken ließ: Der Mensch als Buͤrger im Reiche Gottes, sieben Sendschreiben von Zion, nebst einigen Noten aus einem diplomatischen Actenstuͤcke, das Reich Gottes betreffend. Von Siegfried Justus I ., Koͤnig von Israel und Hoherpriester von Jerusalem. Mainz, bei C. G. Kunze. 1832. — Einige charakteristische Bruchstuͤcke aus dieser Schrift werden es am besten bezeichnen, bis zu welchem Umfange sein Wahn gediehen war, und wie er dem¬ selben eine innere Uebereinstimmung zu geben suchte: „Denen Kaiserl. Koͤnigl. Herzogl. Gesandtschaften der Hohen Maͤchte Europa's zu Constantinopel theilen Wir hier¬ durch mit, daß die unruhigen Begebenheiten und zeitigen Ereignisse in der Welt als Zeichen dem Reiche Gottes ange¬ hoͤren, welches, indem es im Jahre 1830 nach christlicher Rechnung seinen Anfang genommen hat, in voller Freude und Gerechtigkeit zum Heile aller Koͤnige und Voͤlker einbricht, damit sie hinfort in einer reinen, unumwoͤlkten Atmosphaͤre den ewigen Frieden genießen. Das Reich Gottes besteht in der moralischen Vereinigung aller Machthaber, von, durch und in Gott, Allerhoͤchstwelcher sie deshalb um seinen Thron be¬ rufen hat, um sie in seiner absoluten Integritaͤt zu vereini¬ gen. Diese Aufforderung Gottes mit den naͤheren Verfuͤgun¬ gen ist bereits schon im vorigen Jahre erlassen, und nebst Unsrer Legitimation den Koͤnigl. Haͤnden eines frommen und gerechten Regenten uͤbergeben worden. Der Herr Herr will bis ans Ende der Welt seinen allmaͤchtigen Arm offenbaren, mit Israel die Voͤlker frei, und mit der Freiheit der Voͤlker die Macht der Koͤnige vollkommen machen. Der Herr Herr will wiederum kund thun, daß alles Heil von Osten und zwar von den Juden komme, und das ist die Bedeutung der hohen Pforte, daß von ihr die buͤrgerliche Gluͤckseligkeit auf Erden ausgehen soll. Der Herr will selbst Oberpriester seiner Heerde sein, und als Koͤnig aller Koͤnige in der sicht¬ baren Welt die Regierung annehmen, und das hat Gott zum Zeugniß zwischen Recht und Unrecht der Streitenden gestellt. Wer wider Uns ist, der ist wider den, der Uns gesandt hat, und wer wider die goͤttliche Ordnung streitet, ist wider sich selbst. Gott selbst will in der Mitte der Voͤlker und Koͤnige mit Recht und Gerechtigkeit richten, und ihre gegenseitigen Anforderungen zu Aller vollkommensten Zufriedenstellung auf dem Wege des Friedens, wenn ihn die Welt im Glauben annehmen will, schlichten. Das Blut, das demnach noch vergossen wird, soll auf die kommen, welche im Unglauben dazu Veranlassung geben, aber die Fuͤlle des himmlischen Se¬ gens wird denen verheißen, welche im Glauben an Gott treu und in der Liebe zur Wahrheit stark befunden, und dem ein¬ brechenden Frieden auch jetzt schon zu erhalten bemuͤht sein werden. Indem Wir Sie kraft Unsres Amtes, in der Welt Frieden zu stiften, und kraft des heiligen Geistes von dem Willen des Allvaters in Kenntniß setzen, ersuchen Wir Sie auf den Grund der vorerwaͤhnten Verheißung und unter An¬ drohung der goͤttlichen Strafen nach allen Ihren Kraͤften zur Erhaltung des Friedens beizutragen. Wir bitten Sie, den Inhalt dieses Schreibens auf dem kuͤrzesten Wege Ihren Ho¬ hen Haͤusern mitzutheilen, damit Hochdieselben wegen eines Termins zur baldigen Versammlung der Machthaber um den Thron Gottes, zur heiligen Feier der Legitimitaͤt und Ord¬ nung der Dinge auf Erden, und zum großen Abendmahl des Herrn mit den anderen Hohen Maͤchten ohne Versaͤumniß Abrede treffen koͤnnen. In dieser Erwartung verharren Wir und zeichnen Uns ehrfurchtsvoll Denen Kaiserl. Koͤnigl. Herzogl. Hohen Gesandtschaften der Großen Maͤchte Europa's zu Constantinopel Zion (Pera), den 12. Februar ergebener im Reiche Gottes II. Siegfried Justus I. legitimer Erbe des Thrones Davids, Apostel des Herrn, Koͤnig von Israel und Hoherpriester von Jerusalem. „Wir von Gottes Gnaden, Hoherpriester von Jerusalem und Koͤnig von Israel, Siegfried Justus I. , thun demnach allen Erlauchten Fuͤrsten und Voͤlkern, Staaten und Unter¬ thanen, insbesondere aber auch Unserem in allen Reichen der Welt zerstreuten und verjagten vielgeliebten Volke kund und zu wissen, daß Wir Unseren Titel mit der Wuͤrde eines Koͤnigs und Hohenpriesters auf ausdruͤcklichen Befehl Gottes angenommen, und Uns auf den Thron Unsres Vaters David gesetzt und den Zepter Juda's angenommen haben, indem das Wort des heiligen Geistes also zu Uns lautete, nachdem Uns sein allmaͤchtiger Arm, welcher Uns offenbaret worden ist, bis hierher geleitet, und Uns sein goͤttliches Auge erleuchtet hat: „„Ich habe Dich gerufen und Dich kommen lassen. Dein Weg soll Dir gelingen und nicht gereuen. Du bist mein Knecht, die Staͤmme Jacob's aufzurichten, und die Zerstreue¬ ten in Israel zusammenzubringen; aber ich habe dich auch zum Lichte der Heiden gesetzt. Ich habe dich, als du einmal betetest, mein Knecht sein zu wollen, wohl erhoͤret, und stelle dich jetzt zum Bunde unter das Volk, damit du das Land, was von Mir gesegnet ist, und das zerstoͤrte Erbe einnehmest. Ich lege Mein Wort in deinen Mund, darum sprich zu Zion: Du bist mein Volk; der Herr kommt, das Erdreich zu rich¬ ten mit Recht und Gerechtigkeit. Er will seinem Koͤnige Macht geben, und erhoͤhen das Horn seines Gesalbten. Die mit dem Herrn hadern, muͤssen zu Grunde gehen. Ueber ihnen wird er donnern im Himmel, damit die Lebendigen erkennen, daß der Herr Gewalt habe uͤber die Menschenkoͤnig¬ reiche, und giebt sie, wenn Er will, und erhoͤht die Niedri¬ gen zu denselbigen. Ich stelle Dich zum Zeugniß unter die Voͤlker. Wer wider Dich ist, der ist wider Mich, und aus seinem eigenen Munde will Ich ihn richten, damit mein Arm bis an's Welt Ende offenbar werde. Von Zion aus soll das Gesetz ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem, und das ist das Wort, daß Mein Wille nicht durch Heer und Gewalt, sondern durch Meinen Geist geschehe, welcher verkuͤn¬ digt ist von Alters her, spricht der Herr Zebaoth. Der Herr will Koͤnig sein uͤber alle Laͤnder. Nur Einer soll Herr sein, und sein Name nur Einer. Ich will Gerechtigkeit anrichten, Ideler uͤber d. rel . Wahnsinn. 15 und Fuͤrsten sollen herrschen, das Recht zu handhaben. Und der Gerechtigkeit Frucht wird Frieden sein, und der Gerechtig¬ keit Nutzen ewige Ruhe und Sicherheit. Mein Thron soll zu Jerusalem sein und Jerusalem soll heißen: hier ist der Herr. Fremde sollen sie wieder aufbauen, und die Koͤnige ihr dienen. Welche Heiden und Koͤnige aber ihr nicht dienen wol¬ len, die sollen umkommen, und ihr Erbe verwuͤstet werden. Ueber alle Berge sende Boten, zum Frieden einzuladen, Gu¬ tes zu predigen und Heil zu verkuͤndigen. Denn von nun an heißt mein Haus ein Bethaus allen Voͤlkern. Zu allen Voͤlkern will ich ein Panier auswerfen. Rufe und bringe Israel zusammen, oͤffne die Thore, bereite dem Volke den Weg, mache Bahn, raͤume die Steine auf und bessere die Luͤcken aus. Alsdann will Ich dich speisen mit dem Erbe deines Vaters Jacob. Ich will selbst eine feurige Mauer um Jerusalem sein. Ich selbst will darin sein und Mich darin verherr¬ lichen. Also mache dich auf und werde Licht. Denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht uͤber dir auf. Denn Finsterniß bedeckt das Erdreich und Dunkel die Voͤlker. Aber uͤber dir geht der Herr auf; seine Herrlichkeit erscheint uͤber dir. Die Heiden werden in Deinem Lichte wandeln, und die Koͤ¬ nige im Glanze, welcher uͤber dir aufgeht. Werde denen, welche zu Zion wohnen, ein Erloͤser, denen, welche sich von den Suͤn¬ den in Jacob bekehren, spricht der Herr!”” — „Der Geist des Herrn ist uͤber mir; darum hat mich der Herr gesalbt. Er hat mich gemacht, die Elenden zu troͤ¬ sten, die gebrochenen Herzen zu verbinden, und den Gefan¬ genen und Gebundenen eine Erledigung zu predigen. Er hat mich gesandt, ein gnaͤdiges Jahr des Herrn, und einen Tag der Rache des Herrn zu verkuͤndigen, zu troͤsten alle Traurigen. — Kraft meines Amtes im Namen des heiligen Geistes erklaͤre ich hiermit, daß der Schoͤpfer aller Dinge auch Eigenthuͤmer aller Dinge ist, und kein Koͤnig und Volk ein Eigenthumsrecht, sondern nur ein Besitz- und Benutzungs¬ recht auf den Grund und Boden und seine Fruͤchte hat. Kraft meines Amtes i. N. d. h. G. erklaͤre ich hiermit, daß der Herr aller Herren auch Koͤnig aller Koͤnige ist und kein Machthaber und Volk im Reiche des Herrn das Recht hat, sich selbst Recht zu schaffen. Kraft meines Amtes i. N. d. h. G. erklaͤre ich hiermit, daß die regierenden Fuͤrsten und Voͤlker auf Erden in der Gesammtheit vereinigt, die Oberste aller Obrigkeiten ist, um vom Throne des Allerhoͤchsten aus die Rechte Gottes und die Pflichten aller Voͤlker und Koͤnige zu vertreten. Kraft meines Amtes i. N. d. h. G. fordere ich hiermit alle regierenden Machthaber, welche sich von Got¬ tes Gnaden nennen, auf, sich zu einem Rathe und Gottes¬ gerichte zu constituiren, und alle streitigen Angelegenheiten zwischen Fuͤrsten und Fuͤrsten, zwischen Voͤlkern und Fuͤrsten zu schlichten, und durch das Reich Gottes auf Erden das Reich der Welt zu verdraͤngen. Kraft meines Amtes i. N. d. h. G. gebe ich Jerusalem den Namen: Gott ist hier, und nenne den Fuͤrstenrath Thron des Allerhoͤchsten, indem ich jedem regierenden Fuͤrsten, welcher den Titel: Hoherpriester von Jerusalem annimmt, die Gnade Gottes bestaͤtige. Kraft meines Amtes i. N. d. h. G. erklaͤre ich hiermit, daß die Hierarchie auf den Thron des Allerhoͤchsten uͤbertragen ist. Alle Bullen, Breven, Edicte und Verordnungen der Paͤpste, so lange und so weit sie nicht vom Fuͤrstenrathe bestaͤtigt worden sind, sind null und nichtig. Den roͤmischen Staat uͤbergebe ich hiermit dem Gottesgerichte zur beliebigen Dispo¬ sition. Kraft meines Amtes i. N. d. h. G. erklaͤre ich hier¬ mit, daß Gott sein Wort in den Mund des Fuͤrstenraths und seine Macht und Herrlichkeit auf Erden in seine Haͤnde legen will. Hiermit fordere ich alle Kaiser, Koͤnige, Fuͤr¬ sten, Staaten, Voͤlker und Unterthanen auf, die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Allerhoͤchsten Stuhles Gottes auf Er¬ den in Demuth anzuerkennen, und hoch zu verehren, widri¬ genfalls sie umkommen, verbannt, und ihr Land und Ver¬ moͤgen zur Beute ausgetheilt werden soll. Kraft meines Amtes i. N. d. h. G. fordere ich hiermit alle Fuͤrsten, Voͤl¬ ker und Staaten auf, so weit sie noch unter einander An¬ spruͤche zu machen haben, diese im Wege Rechtens vor dem Allerhoͤchsten Stuhle Gottes auf Erden anzubringen. Kraft Unseres Amtes i. N. d. h. G. publiciren Wir im Reiche Gottes die Constitution Israels, welche vom Tage Unsrer Kroͤnung an in's Leben treten soll, indem Wir hiermit er¬ 15 * klaͤren, daß alle Unsere Verfuͤgungen, welche bis dahin von Uns erlassen werden, uͤber die Constitution hinausreichen, und volle gesetzliche Kraft haben. Kraft Unseres Amtes i. N. d. h. G. erklaͤren Wir hiermit, daß Wir von heute an durch Gott, den ausschließlichen Eigenthuͤmer Palaͤstina's, die aus¬ schließlichen Besitzer des alten Judaͤa's sind und bleiben wer¬ den. Damit zugleich fordern Wir Jedermann auf, welcher deshalb noch Anspruͤche an Uns machen koͤnnte, solche vor dem Throne des Allerhoͤchsten auf Erden anzubringen, und, wie Gott will, im Wege der Ordnung, des Friedens und Rechtens die allervollkommenste Genugthuung zu gewaͤrtigen. Endlich zeigen Wir hiermit an, daß Wir Unsere Kroͤnung hinaussetzen, bis die Krone David's, der Zepter Juda's mit der Macht und Herrlichkeit Unseres vielgeliebten Volkes so umgeben sein wird, als es fuͤr einen Koͤnig nothwendig ist, die Rechte Gottes und die Pflichten der Menschen zu vertre¬ ten. Wir adoptiren bei dieser Gelegenheit den Wuͤrdigsten aus der großen Familie der Menschheit und Unserem vielge¬ liebten Volke zu Unserem Nachfolger, sollten Wir im Rathe des Herrn ohne Leibeserben versterben. Wir machen das Al¬ lerhoͤchste Fuͤrsten-Collegium hiermit Unserem Testaments- Vollstrecker, und sollten Wir ohne Testament versterben, er¬ maͤchtigen Wir Allerhoͤchst dasselbe, nach Seiner hohen Einsicht Unsere Stelle zu besetzen.” — „An Israel”. „Israel, berufen, nach wie vor allen Voͤlkern der Erde zum Vorbilde zu dienen, muß sich vorzugsweise einer Ver¬ fassung erfreuen, worin es die Mittel findet, jenem großen Ziele nachleben zu koͤnnen. Ein Volk ist stark, gluͤcklich, loͤblich und goͤttlich, wenn seine Kinder unter einander sich lieben. Israel ist nur Israel, wenn seine Kinder Gott und das Vaterland uͤber Alles lieben. Ohne das gemeinschaftliche Band des Glaubens und der Liebe hat das Priestervolk Got¬ tes unter allen Sprachen und Geschlechtern keine Macht, sich seines hohen Zweckes wuͤrdig zu zeigen. Ist nun Liebe zu diesem heiligen Zwecke das heilige Mittel, so setzt jedoch die Vaterlandsliebe ein Vaterland voraus, eine Ordnung der Dinge, jener haͤuslichen und oͤrtlichen Verhaͤltnisse, Sitten, Gebraͤuche und Einrichtungen, deren Regeln und Vorschriften, welche, wenn sie einem bestimmten Plane zum Grunde liegen, man eine Verfassung oder Constitution nennt, und welche die Kinder des Vaterlandes wie ihre Mutter so leicht lieb gewinnen, und worin sie ihr Vaterland recht eigentlich erst lieb gewinnen lernen. Es ist der Beruf des Staatsraths in Israel, dafuͤr Sorge zu tragen, daß das gemeinschaftliche Band der Liebe, welches die Kinder Israels immer schoͤner und inniger vereinigen soll, rein erhalten werde. Weil aber der Staatsrath nicht eher in Thaͤtigkeit treten kann, als zu¬ vor das Vaterland bezeichnet ist, und weil dieser Abriß Re¬ geln und Vorschriften voraussetzt, welche dem kuͤnftigen Leben des israelitischen Volkes zur Grundlage dienen, so muß der Abriß von einem Punkte ausgehen, worin sich das ganze Vaterland, alle Israeliten, wie eine Mannigfaltigkeit von Lichtstrahlen in einem Brennpunkte vereinigen. Dieser Ver¬ einigungspunkt sind Wir, Israels Koͤnig von Gottes Gnaden und Hoherpriester von Jerusalem, Siegfried Justus I . Kraft Unseres Amtes und des heiligen Geistes Zebaoth haben Wir durch einen, den Hohen Maͤchten mit Unserem Aufrufe im Monat October vorigen Jahres zugesandten und vorgelegten Constitutionsentwurf denjenigen Abriß bezeichnet, welcher von Uns fuͤr eine Nation bedacht worden ist, die von der Vorse¬ hung den hohen Beruf hat, durch ihre wunderbare Geschichte und an ihrem Busen alle Voͤlker und Geschlechter zu er¬ waͤrmen und zu erleuchten. Was hingegen die besonderen Verhaͤltnisse des israelischen Volkes betrifft, so steht dieses bereits durch seine religioͤsen Institutionen fest, und um so weit es noch einer Vereinigung bedarf, liegt dies der freien Wirksamkeit Israels und seiner Landesdeputirten ob. Als Rechtsgrundlage aller Gesetze, Verordnungen und Vorschriften, welche gegeben werden, dient das goͤttliche Recht, d. i. das Recht der Natur, welches Wir unter dem Titel „die Rechte Gottes sind die Pflichten der Menschen”, dem Reiche Gottes oder dem vereinigten Fuͤrsten- und Voͤlkerbunde vorlegen wer¬ den. So lange aber die speciellen Gesetze und Bestimmun¬ gen vom Staatsrathe nicht geordnet, vereinigt und Unserer Beurtheilung vorgelegt werden koͤnnen, dient im Allgemeinen das roͤmische, und in besonderen Faͤllen das koͤnigl. preußische Landrecht und die preuß. Proceßordnung als Regel zur Beur¬ theilung. Damit Wir Uns aber mit Unserem vielgeliebten Volke in eine organische Wirksamkeit setzen koͤnnen, so ordnen Wir hiermit an, daß alle und jede Gemeinde sofort, nachdem sie von dieser Verfuͤgung Kenntniß bekommen hat, sich aus ihrer Mitte einen Gemeindevorsteher erwaͤhlt, welcher vorzugs¬ weise durch seine Eigenschaften das Vertrauen der Commune besitzt. Dieser Gemeinde-Deputirte sammelt von den Fami¬ lienvaͤtern die von ihm vorgeschriebenen Verzeichnisse, wodurch Wir zu einer kurzen und deutlichen Uebersicht von dem Ge¬ schlechte, dem Alter, Namen und Stande, den persoͤnlichen Eigenschaften, den Sprachkenntnissen oder den sonstigen Faͤhig¬ keiten der Familienmitglieder gelangen, und welche zugleich die Bemerkung enthalten koͤnnen, wie und unter welchen Um¬ staͤnden dieser und jener nach Palaͤstina heimzukehren, oder seinen jetzigen Wohnsitz beizubehalten gedenkt. Es ist bei die¬ ser Gelegenheit einem Jeden unbenommen, Uns seine Wuͤnsche, Hoffnungen, Anrathungen und Segnungen zukommen zu las¬ sen und sich auf diesem Wege mit Uns in Bekanntschaft und geistige Verwandtschaft zu setzen. Dem Gemeinde-Deputirten steht es zu, die Familienverzeichnisse mit denjenigen seiner Bemerkungen in einer besonderen Rubrik dafuͤr zu versehen, wo er denken kann, daß Wir die Mittheilung gern anneh¬ men werden. Uebrigens machen Wir es dem Deputirten hier¬ mit zur heiligsten Pflicht, diese in Rede stehenden Verzeichnisse so in Ehren zu halten, als es der Zweck der Sache mit sich bringt. Nach eingesammelten Verzeichnissen schreiten die Com¬ munal-Deputirten der Provinzen dazu, sich aus ihrer Mitte einen Provinzialrath oder Obervorsteher durch das Loos zu erwaͤhlen, welchem alsdann jene ungebundenen oͤrtlichen Ver¬ zeichnisse eingehaͤndigt werden, und welcher dieselben wiederum mit seinen Anmerkungen von den oͤrtlichen Verhaͤltnissen einer jeden Commune und ihres Vorstehers versieht. Die Provin¬ zialraͤthe werden sich alsdann bald uͤber den Tag zu vereini¬ gen wissen, wo sie sich in dem befindlichen Staate in der Hauptstadt unter dem Schutze ihrer Obrigkeit versammeln, um alles Erforderliche, die Wohlfahrt Israels Betreffende zu ver¬ abreden, und um aus ihrer Mitte durch das Loos einen Landespraͤsidenten zu erwaͤhlen. Nach der getroffenen Wahl des Praͤsidenten wird Uns das israelitische Landes Collegium, welches aus den Provinzialraͤthen besteht, davon unterrichten, und die Wahl Unserer Bestaͤtigung vorlegen. Wir werden Uns alsdann die Landespraͤsidenten vorstellen lassen, aus ih¬ ren Haͤnden die Verzeichnisse und Gluͤckwuͤnsche Unseres ge¬ liebten Volkes entnehmen, und Uns mit ihnen uͤber das Wohl Israels berathen,” u. s. w. Nachdem unser Weltverbesserer durch Veranlassung der Koͤnigl. Preuß. Gesandtschaft in Constantinopel nach Deutsch¬ land zuruͤckgebracht worden, und er seinen Angehoͤrigen, welche den Erwerblosen bei sich aufnehmen mußten, durch die stets wiederholten Aeußerungen seines Wahns sehr zur Last gefal¬ len war, erfolgte im Winter des Jahres 1834 seine Auf¬ nahme in die Charité. Diese seinen Hochmuth demuͤthigende Maaßregel beugte ihn tief, und er gab waͤhrend der ganzen Zeit seiner Anwesenheit in der Heilanstalt durch sein Benehmen eine leidende Haltung des Gemuͤths zu erkennen, weshalb er allen an ihn gerichteten Anforderungen mit der strengsten Puͤnktlichkeit nachlebte. Eine Zeit lang gab er sich das An¬ sehen, als ob er uͤber seine Verirrungen zum deutlichen Selbst¬ bewußtsein gekommen sei, und deshalb seinen hochfliegenden Planen auf immer entsage; denn er versicherte, durch den Er¬ folg seines Unternehmens zu der Ueberzeugung gelangt zu sein, daß er dasselbe nicht nach goͤttlichem Willen begonnen habe. Indeß beduͤrfte es nur eines Blicks auf den langjaͤhrigen Ursprung seines Gemuͤthsleidens, um zu erkennen, daß das¬ selbe mit seiner ganzen geistigen Entwickelung innig verwebt war, und daher die Hoffnung auf Heilung fast unbedingt ausschloß. Auch verrieth er seine wahre Gesinnung in einigen unbewachten Augenblicken, wo er, gereizt durch die Bemer¬ kungen eines anderen Kranken, der seine Verirrungen richtig beurtheilte, seinen grenzenlosen Hochmuth in den unzweideu¬ tigsten Ausdruͤcken kund gab. Nachdem ihm die Larve der Verstellung entfallen, und er auf die Unredlichkeit einer ab¬ sichtlichen Taͤuschung aufmerksam gemacht worden war, ent¬ hielt er sich auch derselben in der Folgezeit; doch versicherte er, daß er durch oͤffentliche Bekanntmachung der ihm zu Theil gewordenen Offenbarungen dem ihm von Gott bestimmten Be¬ rufe Genuͤge geleistet habe, und daß er daher von persoͤnlicher Mitwirkung zur Erfuͤllung desselben entbunden, in untergeord¬ nete Lebensverhaͤltnisse zuruͤcktreten wolle, wenn man ihm die Gelegenheit dazu verschaffe. Auf den Antrag eines Freundes, der ihm die Mittel zu einem angemessenen Erwerbe darzu¬ bieten versprach, wurde er nach mehreren Monaten aus der Charité entlassen. Halle, Gebauer-Schwetschkesche Buchdruckerei.