Problematische Naturen. Problematische Naturen. Roman von F. Spielhagen. Zweiter Band. Berlin. Verlag von Otto Janke. 1861. Erstes Kapitel. Es waren seit diesem Abend einige Tage verflossen. Bemperlein war mit Julius nach Grünwald ab¬ gereist und hatte von dort aus schon an Melitta und an Oswald geschrieben, der Ersteren, um zu melden, daß sein Zögling in der sehr liebenswürdigen Familie eines Beamten, der zwei Söhne fast in demselben Alter, wie Julius, habe, glücklich untergebracht sei, an Oswald, daß er eine höchst interessante Unter¬ redung mit Professor Berger gehabt habe, deren In¬ halt er seinem neuen Freunde mittheilen wolle, wenn er in nächster Woche nach Berkow zurückkäme, um definitiv Abschied zu nehmen. Nur so viel wolle er sagen, daß er in seinem Entschlüsse fester wie je sei und kaum die Zeit erwarten könne, sich Hals über Kopf in seine neuen Studien zu stürzen. Den Tag nach Herrn Bemperlein's Abreise war der Geometer von Grünwald in Grenwitz angekommen. F. Spielhagen, Problematische Naturen. II . 1 aber nur ein paar Stunden geblieben, um mit dem Baron und der Baronin zu conferiren, und dann nach dem zweiten Gute, das vermessen werden sollte, ge¬ fahren, wo er für's erste „sein Wigwam aufschlagen müßte,“ wie er zu Oswald sagte. Oswald hatte in dem Geometer einen sehr lebhaften, witzigen und wie es schien, sehr belesenen und vielfach gebildeten, noch jungen Mann kennen gelernt, und er freute sich, diese Bekanntschaft fortsetzen zu können, da Herr Timm in kurzer Zeit nach Grenwitz kommen mußte, um die Karten und Pläne zu zeichnen. Schon waren von der stets weit vorausschauenden Baronin zwei Zimmer in demselben Flügel des Schlosses, in welchem Oswald wohnte, für ihn bestimmt und mit großen Tischen u. s. w. schicklich eingerichtet. Auf den Sonntag waren die Herrschaften von Grenwitz nebst Herrn Doctor Stein zu Herrn von Barnewitz, dem Vetter Melitta's, eingeladen. Oswald hatte große Lust gehabt, diese Einladung rundweg auszuschlagen, und hatte sich nur auf Melitta's Zu¬ reden bewegen lassen, von der Partie zu sein. „Was soll ich dort?“ hatte er zu Melitta gesagt, „man ladet mich nur ein, entweder weil es an Tän¬ zern fehlt, oder um dem alten Baron eine Höflichkeit zu erweisen, in keinem Fall um meiner selbst willen. Ich werde in der Gesellschaft wie ein Mohikaner unter den Irokesen, wie ein Spion im Lager an¬ gesehen werden. Ich kenne den Adel. Der Adlige ist nur höflich und liebenswürdig gegen den Bürger¬ lichen, so lange er mit ihm allein ist; sind mehre Adlige bei einander, so fließen sie zusammen wie Quecksilber und kehren gegen den Bürgerlichen den esprit de corps heraus. Ich sage Dir, Melitta, ich kenne die Adligen und ich hasse die Adligen.“ „Aber Du liebst doch mich, Oswald, und ich ge¬ höre doch auch zu der verfehmten Klasse.“ „Leider,“ sagte Oswald, „und es ist das der einzige Fehler, Du Holde, den ich an Dir habe ent¬ decken können. Aber dann bist Du so engelgut und lieb, und da gehst Du durch diesen Schwefelpfuhl, ohne auch nur den Saum Deines leuchtenden Ge¬ wandes zu beflecken. Und so sehr Du auch im Ver¬ gleich mit diesen eitlen, dummen Pfauen gewinnen mußt, so fürchte ich doch, daß von dem feurigen Haß, den ich gegen die ganze Sippschaft habe, unversehens auch ein Funken auf Dich spritzen könnte. Jetzt bist Du mir eine Königin, eine Chatelaine, die aus ihrem Schloß sich weggestohlen hat, den Herzallerliebsten flüchtig zu umarmen, und ich vergesse Deinen Rang, Deine Hoheit hier in dieser traulichen Waldeinsamkeit. 1* Du bist mir nur das geliebte angebetete Weib, die Krone der Schöpfung, bist, was Du mir auch im Ge¬ wande der Bettlerin sein würdest — dort aber im kerzenerhellten Saale, umgeben von Deinen Granden, von Allen gehuldigt und gefeiert, kann ich meine Augen vor dem Glanze nicht verschließen, und werde schmerz¬ lich daran erinnert werden, daß ich aus meiner Nie¬ drigkeit nicht hätte wagen sollen, sie zu solcher Höhe zu erheben.“ „Sieh, Oswald,“ sagte Melitta, und ihre Augen ruhten fest in den seinen; „ist das nun gut von Dir? Spottest Du nicht meiner, indem Du so sprichst? Höre ich es nicht in dem herben Ton Deiner Stimme, sehe ich es nicht an dem unruhigen Blitzen Deiner Augen, das so seltsam mit ihrem sonstigen tiefen, klaren Licht contrastirt, daß Du recht wohl fühlst, wie Du traft Deines Geistes, kraft Deiner stolzen männlichen Schönheit und Stärke unter uns Anderen einher¬ schreitest, wie der geborene Herrscher? — Ich habe mich Dir ergeben mit Leib und Seele, Du bist mein Herr und Gebieter, ich würde mich selbst Deiner tollsten Laune willig fügen, ich würde von Dir das Bitterste ertragen, von Deiner Hand würde mir der Tod nicht grausig sein — aber weshalb auch nur einen Tropfen Wermuth in den Kelch der Liebe mischen, aus dem ich mit so vollen, durstigen Zügen schlürfe. Oswald spotte meiner nicht!“ „Ich spotte Deiner nicht, Melitta; ich bin von Deiner Liebe überzeugt, trotz dem, daß ich sie, weiß Gott, wenig verdiene; ich weiß, daß Deine Liebe de¬ müthig ist, wie es die Liebe ist, die Alles duldet und Alles glaubt, und nimmer aufhören wird — aber sieh, Du Theure, das ist ja eben der Fluch dieser ver¬ ruchten Institutionen, daß sie Haß und Zwietracht und Mißtrauen säen in die Herzen der Menschen, selbst in solche Herzen, die von Gott für einander geschaffen scheinen. Und dieser giftige Samen wuchert auf und überwuchert der Liebe rothe Rosen. Ich schelte Dich nicht, daß dem so ist, ich schelte überhaupt keinen Einzelnen, der ja, ohne es vielleicht zu wissen, unter dieser naturwidrigen Trennung ebenso leidet wie ich. Aber daß dem so ist, davon sei überzeugt. Nie wird der Katholik in dem Protestanten, nie der Adlige in dem Bürgerlichen, nie der Christ in dem Juden und umgekehrt wahrhaft seines Gleichen sehen — seinen Bruder! Nathan's frommer Wunsch, daß es dem Menschen doch endlich genügen möchte, ein Mensch zu sein, ist noch lange nicht erfüllt, wer weiß, ob er in Jahrhunderten erfüllt sein, ob er sich auch nur jemals erfüllen wird.“ „Und bis dahin,“ sagte Melitta in ihrem gewöhn¬ lichen schalkischen Ton, Oswald das Haar aus der Stirn streichend, „bis dahin, Du träumerischer Träu¬ mer und unverbesserlicher Weltverbesserer, wollen wir die kurzen Augenblicke genießen, und deshalb mußt Du morgen nach Barnewitz kommen. Bitte, bitte, lieber Oswald, ich will auch nur mit Dir sprechen, nur mit Dir tanzen — ich muß in diese eine Gesellschaft gehen, um das Recht zu gewinnen, zehn andere auszuschlagen, in denen ich — in denen ich — mich weniger frei fühlen würde, wie gerade in dieser. Und ohne Dich habe ich nicht den mindesten Genuß davon, im Gegen¬ theil, ich werde traurig sein, wie ein Vögelchen, das man der Freiheit beraubt und in ein enges Bauer gesteckt hat. Wenn Du aber da bist, liebes Herz, so will ich fröhlich sein, und tanzen und — singen — nein, singen nicht, aber hübsch will ich sein — sehr hübsch, und Alles Dir zu Ehren; soll ich weiß ge¬ hen? mit einer Camelie im Haar, oder einer Rose? Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie Du mich am liebsten siehst? Gott, welch' hölzerner Ritter Du bist.“ Am nächsten Tage, es war ein Sonntag, Nach¬ mittags um 5 Uhr, hielt der Staatswagen vor dem Portale des Schlosses in Grenwitz. Die schwerfälligen Braunen hatten das beste Geschirr mit den neusilbernen Beschlägen aufgelegt bekommen, der schweigsame Kut¬ scher seine Galalivree angezogen; der Baron den schwarzen Frack, in dessen Knopfloch das Band des Ordens, den er bei irgend einer geheimnißollen Ge¬ legenheit von irgend einem der deutschen Duodezfürsten bekommen hatte, und die Baronin selbst ausnahms¬ weise eine Toilette gemacht, die sie denn doch nur fünf Jahre älter erscheinen ließ, als sie wirklich war. Nachdem der nöthige Ballast von Mänteln und Shawls für die Rückfahrt eingenommen war, und die Baronin noch einmal vom Wagen aus Mademoiselle Marguerite, die, wie es Oswald schien, viel lieber mitgefahren wäre, feierlich mit der Würde einer Castellanin belehnt und ein kurzes Examen von zehn Minuten angestellt hatte, um zu prüfen, ob die hübsche kleine Französin auch noch alle die Verhaltungsmaßregeln für gewisse, genau stipulirte Fälle ordentlich im Kopfe habe — setzte sich das Fuhrwerk mit demjenigen Tempo in Bewegung, welches dieser feierlichen Gelegenheit, dem Temperament der Braunen und den Grundsätzen des schweigsamen Kutschers entsprach. Als sie unter der Brücke wegfuhren, brachte Bruno, der Malten und ein paar Bauerknaben, die im Garten Unkraut gäte¬ ten, hier postirt hatte, den Davonziehenden ein so¬ lennes dreimaliges Hurrah, ein Einfall, der selbst die Lippen der Baronin zu einem Lächeln zu bewegen ver¬ mochte. Ueberhaupt war diese Dame, wahrscheinlich um sich auf die Gesellschaft vorzubereiten, heute in der besten und mittheilsamsten Stimmung. Sie fand das Wetter herrlich, nur ein wenig zu warm, den Weg vortrefflich, nur ein wenig zu staubig; sie freute sich schon auf die Abendkühle beim Heimwege, nur fürchtete sie, daß sich bis zu der Zeit ein Gewitter zusammengezogen haben würde, da ihr eine Wolke am westlichen Horizont ein sehr verdächtiges Aussehen zu haben schien. Darauf wurde die Frage erörtert, ob Fräulein Marguerite, wenn wirklich ein Gewitter aus¬ brechen sollte — ein Fall, für den sie keine Instruc¬ tionen hatte — wol die Fenster in den Gesellschafts¬ räumen im oberen Stock schließen lassen, und über¬ haupt ihre Schuldigkeit thun würde. Da es nicht möglich war, eine Stimmenmehrheit zu erzielen, indem die Baronin die aufgeworfene Frage entschieden ver¬ neinte, Oswald sie eben so entschieden bejahte, und der alte Baron sich keine bestimmte Ansicht zu bilden vermochte, so gab man die Debatte über diesen Punkt auf und ging zur Erörterung des nicht weniger wich¬ tigen Punktes über, ob sich der Graf Grieben von seinem akuten Rheumatismus wol so weit erholt haben würde, um an dem heutigen Zauberfest in Barnewitz Theil zu nehmen, oder nicht. Von dem Rheumatis¬ mus des Grafen Griebenk kam man dann auf die Gicht des Barons von Trantow und von dieser ganz allmälig in den allbekannten Familienklatsch, der unter dem hohen und niedrigen Adel eben so im Schwunge ist, wie bei Gevatter Schneider und Handschuhmacher, nur daß man dort über von Hinz und von Kunz und hier schlechtweg über Hinz und Kunz spricht. Oswald hatte sonst die Gewohnheit, sobald das Gespräch auf dies beliebte Thema kam, nicht länger aufzumerken, und er hatte es in dieser wichtigen Kunst, zu hören und doch nicht zu hören, während der kurzen Zeit seines Aufenthaltes in Grenwitz schon zu einer be¬ deutenden Fertigkeit gebracht; heute aber, da er die Persönlichkeiten, von denen er schon so oft gehört hatte, selber sehen sollte, war dies Thema nicht mehr so ganz uninteressant für ihn, wie sonst, um so we¬ niger als Melitta's Namen zu wiederholten Malen genannt wurde. Er erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß Herr von Barnewitz und Melitta Geschwisterkinder wären, Melitta's Vater, der Bruder des alten Herrn von Barnewitz, welcher Herrn Bemperlein die Pfarre zugedacht hatte, Offizier in schwedischen Diensten ge¬ wesen, als solcher die Feldzüge gegen Napoleon mit¬ gemacht und bald nach der Vermählung Melitta's mit Herrn von Berkow gestorben sei. „Uebrigens weißt Du, Grenwitz,‟ sagte die Baro¬ nin, „Melitta wird heute nicht da sein.“ Oswald horchte hoch auf. „Woher weißt Du das, liebe Anna-Maria?“ ent¬ gegnete der Baron. „Ich habe mir von dem Bedienten die Einladungs¬ liste geben lassen, wie ich das immer thue, um zu wissen, wen man denn finden wird, und sie sorgfältig durchgelesen. Frau von Berkow war nicht darauf verzeichnet.“ „Das wird ein Versehen gewesen sein.“ „Ich glaube nicht; Du weißt, Melitta und ihre Cousine sind gerade nicht die größten Freundinnen, es wäre nicht das erste Mal, daß man Melitta über¬ gangen hätte; aber dafür wird eine andere merk¬ würdige Persönlichkeit zu finden sein; rathe einmal, Grenwitz.“ „Der Fürst von P.,“ sagte der alte Baron halb erschrocken, und bedauerte schon heimlich, nicht den Orden selbst und blos das Ordensband angelegt zu haben, „doch nicht der Fürst von P.?“ „Nein! Rathen Sie einmal, Herr Doctor.“ „Der Mann aus dem Monde?“ „Eine beinahe nicht weniger merkwürdige Person: der Baron Oldenburg; sein Name stand, wie es sich gehört, auf der Liste gleich nach unserem Namen.“ „Die Oldenburg's sind ein alter Adel?“ fragte Oswald, der den Sinn jener Reihenfolge schon ver¬ muthete. „Die Oldenburg's sind nach den Grenwitzen's der älteste Adel hier im Lande,“ sagte die Baronin mit einem unendlichen Selbstgefühl. „Die Grenwitzen's können ihren Stammbaum bis in den Anfang des zwölften Jahrhunderts verfolgen, die Oldenburg's sind erst aus dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts, wo Adalbert, der Stammvater des Geschlechts, von dem Kaiser zum Reichbaron erhoben wurde.“ „Woher der Name Oldenburg?“ fragte Oswald. „Den Oldenburg's fehlt blos die Legitimität, um heut zu Tage so gut souverän zu sein, wie viele Andere, die ursprünglich auch nur reichsfrei waren, wie wir.“ „Und was macht den Baron, abgesehen von seiner erlauchten Abstammung, zu einer so merkwürdigen Per¬ sönlichkeit?“ fragte Oswald. Die Baronin kam durch diese Frage einigermaßen in Verlegenheit. Das, was in ihren Augen vor allem merkwürdig am Baron erschien, nämlich seine souve¬ räne Verachtung gegen Rang und Stand, sein sar¬ kastisches, höhnisches Wesen, seinen Standesgenossen gegenüber, deren Verehrung vor seinem altehrwür¬ digen Adel dadurch manchmal auf eine harte Probe gestellt wurde — dieser merkwürdige, ja in ihren Augen geradezu unnatürliche Zug eignete sich nicht zum Gegenstand der Unterhaltung mit einem Bürger¬ lichen. Sie begnügte sich also mit der vieldeutigen Antwort: „Der Baron hat über die meisten Dinge die son¬ derbarsten Ansichten von der Welt, so daß man manch¬ mal wirklich für seinen Verstand bange wird.“ In diesem Augenblick kam ein Reiter im Galopp aus einem Seitenwege heraus und parirte sein Pferd vor dem vorbeifahrenden Wagen. Er war ein junger Mann mit hübschem, braunem Gesicht, dem ein blon¬ der Schnurrbart sehr gut stand. „Ah, gnädige Frau, Herr Baron — freue mich unendlich,“ rief er, den Hut ziehend und an den Wagenschlag heranreitend — „habe in in einer Ewig¬ keit nicht das Vergnügen gehabt —“ „Das kommt daher, mon cher ,“ sagte die Baronin mit holdestem Lächeln, „weil Sie sich seit einer Ewig¬ keit nicht bei uns auf Grenwitz sehen ließen.“ „Ah, sehr gütig, gnä—ge Fra', sehr gütig; gnä—ge Fra' hatten noch nicht die Gnade, mich mit dem Herrn bekannt zu machen — Baron Felix? nicht wahr?“ fuhr der Dandy fort, den Hut gegen Oswald lüftend. „Herr Doctor Stein,“ sagte die Baronin, „der Erzieher meines Sohnes — Herr von Cloten —“ „Ah, ah, in der That,“ sagte Herr von Cloten — freue mich außerordentlich — ja, ja, was ich sagen wollte, gnä—ge Fra', wohin geht es? wenn man fragen darf?“ „Nach Barnewitz —“ „Ah, wollte ebenfalls dorthin — ruhig Robin, ruhig!“ „Aber Herr von Cloten, es ist große Gesellschaft,“ sagte die Baronin, auf des Junkers Stulpenstiefel und Jagdrock anspielend. „Unmöglich, gnä—ge Fra'; Barnewitz sagte mir gestern, als ich ihn zufällig traf, ich möchte zu einer Partie Boston hinüberkommen, aber von einer Gesell¬ schaft hat er kein Wort gesagt.“ „Es ist ein Scherz von Barnewitz; verlassen Sie sich darauf.“ „Ah, ja, sehr wahrscheinlich; Barnewitz hat immer so tolle Einfälle; ruhig Robin! — Teufelskerl, der Barnewitz — sich schon gefreut, mich in Stulpen¬ stiefeln in Salon treten zu sehen — Freude ver¬ derben— Beschwöre Sie, gnä—ge Fra', meine Herren, erzählen Sie Niemand, daß Sie mich gesehen haben. In einer Viertelstunde in Barnewitz. Au revoir !“ Damit warf der junge Mann sein Pferd herum und sprengte in voller Carri è re in der Richtung fort, aus der er gekommen war. Bald darauf fuhr der Wagen über einen etwas holperigen Steindamm, der quer über den Gutshof von Barnewitz bis zu dem kiesbestreuten Platze vor dem Herrenhause führte. Ein Diener trat an den Wagen, den Schlag her¬ unterzulassen; in der Thür erschien die Gestalt eines breitschultrigen, bärtigen Mannes, der schön zu nennen gewesen wäre, wenn nicht Wohlleben und Indolenz die Harmonie der regelmäßigen Züge wesentlich be¬ einträchtigt hätte. Es war Malitta's Vetter, Herr von Barnewitz. „Sie sind die Allerersten, wie Sie sehen,“ sagte er, die Gäste in einen dreifenstrigen Saal rechts vom Flure führend, wo sie von Frau von Barnewitz, einer hübschen Blondine, begrüßt wurden. „Sie wissen, daß ich die Pünktlichkeit über Alles liebe,“ erwiederte die Baronin, den ihr angebotenen Platz auf dem Sopha einnehmend. „Vortreffliche Eigenschaft das,“ antwortete Herr von Barnewitz, „ganz mein Grundsatz — stets ge¬ wesen — im Leben und auf der Jagd die Haupt¬ sache — Schnepfe aufgestoßen — Baff — liegt — pünktlich — Ha —ha — ha.“ „Wie ist es?“ sagte die Baronin, zur Frau von Barnewitz gewendet, „werden wir heute eine zahlreiche Gesellschaft haben?“ „Nun vierzig bis fünfzig höchstens.“ „Das heißt so ziemlich unser ganzer Cirkel.“ „So ziemlich, ja.“ „Und — wir sprachen schon unterwegs darüber — wird Ihre liebe Cousine erscheinen?“ „Da müssen Sie meinen Mann fragen, der die Einladungen besorgt hat.“ „Ha, ha, ha,“ lachte Herr von Barnewitz. „Köst¬ licher Spaß, meine Herrschaften, muß Ihnen erzählen, bevor die Andern kommen. Sie wissen, daß wir mit Melitta durch Italien reisten, und daß sich uns dort der Baron Oldenburg anschloß. Wir lebten sehr ver¬ gnügt zusammen — denn Oldenburg kann sehr liebens¬ würdig sein, wenn er will. Auf einmal war das gute Einvernehmen zum Teufel! — entschuldigen, gnädige Frau — der Eine ging hier hin, der Andere dort hin. Melitta und Oldenburg sagten sich nur noch Malicen, und eines schönen Morgens war mein Ol¬ denburg fort — verschwunden — Billet zurückgelassen: er fände die Luft in Sicilien zu drückend als an¬ gehender Schwindsüchtiger, und wollte einen kleinen Abstecher nach Aegypten machen. Seit der Zeit sind drei Jahre verflossen; jetzt ist Oldenburg wieder hier; ist aber nur bei mir gewesen, um mir, wie er sagte, oder meiner Frau, wie ich sage —“ „Aber Karl —“. „Nun, liebe Hortense, unter Freunden muß ein Scherz erlaubt sein; also um uns Beiden seine Auf¬ wartung zu machen. Als ich ihn neulich vorläufig einlade, sagt er: ja, wenn Deine Cousine nicht kommt; als ich vor ein paar Tagen Melitta begegne und sie frage, antwortete sie: ja, wenn Dein Freund Olden¬ burg nicht kommt. Natürlich versicherte ich Beiden, daß sie ganz ruhig sein könnten, sie würden dem Ge¬ genstande ihrer Abneigung nicht begegnen. Um die Sache noch glaublicher zu machen, schicke ich zwei Kerls aus mit zwei verschiedenen Listen, auf deren einer Melitta und der andern Oldenburg stand. Und nun kommen sie alle Beide, — ist das nicht ein Haupt¬ spaß? — Entschuldigen Sie, meine Herrschaften, ich höre so eben einen Wagen vorfahren.“ Allmählig füllte sich der Saal und die daran sto¬ ßende Flucht hoher, schöner Zimmer, die auf der Hinterseite des Hauses wieder in einen Saal endigte, aus dem zwei Flügelthüren ein paar Stufen hinab in den Garten führten, mit Gästen. Oswald hatte sich, nachdem er einigen Herren und Damen vorgestellt war, die seine Verbeugung mit jener kühlen Höflichkeit erwiederten, deren sich der Adlige gegen einen Bürgerlichen, noch dazu in der untergeordneten Stellung, die er in den Augen dieser Leute einnahm, stets befleißigt, in eine der Fensternischen des Saales gestellt, von wo aus er die Ankommenden draußen und die Gesellschaft drinnen zugleich beobachten konnte. Ein junger Mann mit einnehmenden hübschen Zügen und blauen freundlichen Augen gesellte sich zu ihm. „Ich habe das Vergnügen, mit Herrn Doctor Stein zu sprechen?“ Oswald verbeugte sich. „Mein Name ist von Langen. Ich höre, daß Sie während der letzten Jahre in Berlin studirten. Haben Sie dort vielleicht die Bekanntschaft eines Herrn P. gemacht? Er war Philolog und von der Schule her mein sehr intimer Freund; es interessirt mich sehr, zu erfahren, was aus ihm geworden ist.“ Zufällig kannte Oswald den Betreffenden, und konnte so Herrn von Langen die gewünschte Auskunft geben. Die aufrichtige Theilnahme, die dieser junge Mann für einen Menschen an den Tag legte, der, F. Spielhagen, Problematische Naturen. II. 2 wie Oswald wußte, außer vortrefflichen Anlagen und einem rastlosen Fleiß keine anderen Empfehlungen auf Erden hatte, machte auf Oswald einen sehr angenehmen Eindruck. Er sah es daher, trotz seiner inneren Un¬ ruhe, nicht ungern, daß Herr von Langen große Lust zu haben schien, das angefangene Gespräch fortzusetzen; auch that es ihm wohl, in dieser Menge unbekannter Menschen Einen zu haben, der seine Bekanntschaft gesucht hatte. „Wie wär's, Herr von Langen,“ sagte er nach einigem Hin- und Herreden, „wenn Sie mir für die gute Auskunft, die ich Ihnen über einen Abwesenden geben konnte, Auskunft über einige Anwesende gäben. Wer ist zum Beispiel der alte Herr dort im blauen Frack mit den weißen Haaren und dem rothen Gesicht, der so entsetzlich schreit, als ob er sich Jemand, der auf der andern Seite eines tosenden Wildbachs steht, verständlich machen wollte?“ „Das ist Graf Grieben, einer unserer reichsten Edelleute. Sie kennen doch die hübsche Anecdote, die ihm vor einigen Jahren mit dem Landesherrn pas¬ sirt ist?“ „Nein, wollen Sie sie mir erzählen?“ „Der Landesherr besucht auf einer Reise die nahe Hafenstadt. An der Landungsbrücke, wo sich die Spitzen der Behörden, der Adel und so weiter zu seinem Empfange eingefunden haben, hält des Grafen mit sechs herrlichen Braunen bespannte Equipage, auf jedem der Sattelpferde ein Jockey in der gräflichen Livree. Der König bewundert die schönen Thiere. „Alles eigene Zucht, Majestät,“ schreit der Graf mit einer kühnen Handbewegung. „Die Jockeys auch?“ antwortet der witzige Monarch.“ „Nicht übel,“ sagte Oswald, „und wer ist die große starke Dame mit den männlich-kühnen Zügen, die eben mit den drei schönen Mädchen in den Saal tritt?“ „Eine Baronin von Nadelitz mit ihren Töchtern. Sie ist eine Katharina von Rußland im Kleinen. Ur¬ sprünglich hütete sie die Gänse des Barons, ihres nachherigen Gemals. Sie soll so wunderbar schön gewesen sein, daß sich jeder Mann in sie verlieben mußte, und dabei so guten Herzens, daß nicht leicht Jemand, ohne gehört zu werden, von ihr ging. So soll die Ehe nicht die glücklichste gewesen sein.“ „Die Töchter sind auf alle Fälle sehr hübsch,“ sagte Oswald. „Der Baron ist also todt?“ „Ja; seitdem hat sie, wie man zu sagen pflegt, die Hosen angezogen, das heißt diesmal in des Wortes ernstester Bedeutung. Ich selbst habe sie in Stulpen¬ 2* stiefeln und Inexpressibeln mit ihrem Inspector auf einem Felde gehen sehen, auf dem man bei jedem Schritt bis über die Knöchel einsank.“ „Wer sind die beiden hübschen Mädchen, die eben Arm in Arm durch den Saal kommen?“ „Emilie von Breesen und Lisbeth von Meyen; sie sind erst letzte Ostern eingesegnet, und tragen, so viel ich weiß, heute zum ersten Mal lange Kleider. Soll ich Sie vorstellen?“ Oswald antwortete nicht; denn in diesem Augen¬ blick ging die Thür auf und von Herrn von Barne¬ witz begleitet, dessen Gesicht in der Erwartung der von ihm so fein eingefädelten Ueberraschung vor Freude glänzte, trat ein Mann in den Saal, dessen Erschei¬ nung offenbar einige Sensation erregte. Die laute Stimme des Grafen Grieben verstummte, einzelne Herren steckten die Köpfe zusammen, und in dem Kreise der Damen um Frau von Barnewitz auf dem Sopha wurde es verhältnißmäßig still. Der Ankömmling war ein Mann von hohem, aber allzu schlankem Wuchs, dessen äußerst nachlässige Haltung das Mißverhältniß zwischen Höhe und Breite nur noch mehr hervortreten ließ. Auf dem langen Leibe saß ein kleiner Kopf, dessen wohlgerundeter Schädel mit einem kurzen, star¬ ren, schwarzen Haar bedeckt war. Ein Bart von der¬ selben Beschaffenheit zog sich um Kinn und Wangen und Mund, so daß nur die obere Hälfte seines Ge¬ sichts dem Physiognomen zur ungehinderten Beobach¬ tung blieb. Aber auf dieser Hälfte stand schon des Räthselhaften genug. Die Stirn war eher hoch als breit, aber von außerordentlich zarten und zugleich kühnen Linien umschrieben. Ein Paar wie mit dem Pinsel gezeichnete Brauen zogen sich in einer leichten Krümmung über einem Paar grauer Augen hin, deren Ausdruck in diesem Momente wenigstens, wo sie rasch über die Versammlung flogen, mindestens nicht an¬ genehm war, eben so wenig wie das Lächeln, das wie Wetterleuchten an der feinen, geraden Nase mit den beweglichen Flügeln hinzuckte, und des Mannes ganze Antwort auf das lustige Geschwätz zu sein schien, mit dem Herr von Barnewitz ihn überschüttete, wäh¬ rend er ihn von der Thür bis zu dem Platze der Dame vom Hanse auf dem Sopha begleitete. Frau von Barnewitz erhob sich, den Ankömmling zu be¬ grüßen, der ihr die Hand küßte und nach einer leichten Verbeugung gegen die anderen Damen sich auf einen leeren Stuhl neben ihr sinken ließ und alsbald, ohne die Uebrigen weiter zu beachten, eine lebhafte Unter¬ haltung mit ihr begann. Oswald hatte den Ankömmling mit dem Auge des Indianers, der den Spuren seines Todfeindes nach¬ spürt, beobachtet, denn er hatte auf den ersten Blick jenen Reiter wieder erkannt, der ihm und Bemperlein im Walde begegnete. Es war Baron Oldenburg. „Nun geben Sie Acht,“ sagte Herr von Barnewitz, auf Oswald zutretend und sich vergnügt die Hände reibend. „Ich bin ganz Auge,“ sagte Oswald mit einem nicht eben sehr natürlichen Lächeln. „Worauf sollen Sie Acht geben?“ fragte Herr von Langen, während Barnewitz sich zu einer andern Gruppe wandte. „Herr von Barnewitz hatte die Güte gehabt, mich auf Baron Oldenburg, der eben eintrat, als auf einen höchst interessanten Mann aufmerksam zu machen.“ „Ah, ist das Oldenburg,“ sagte Herr von Langen, „ich kannte ihn noch nicht.“ Da fuhr ein Wagen vor und Oswald erkannte in der Dame, die ausstieg, Melitta. Es war ein Glück für ihn, das Herr von Langen in diesem Augenblicke die Sopharegion lorgnettirte, denn er hätte unmöglich seine Aufregung verbergen können. Die paar Minuten, die Melitta in dem Toilettenzimmer zubrachte, erschienen ihm wie eine Ewigkeit. Endlich trat sie durch die offene Thür herein, und Oswald schien plötzlich der ganze Saal mit Licht und Rosen angefüllt. Melitta trug ein weißes Kleid, das Busen und Schultern züchtig verhüllte, und den schlanken, schönen Hals in einer leichten Krause umschloß. Ein Shawl lag leicht auf den runden Schultern. Eine dunkelrothe Camelie im Haar, das war ihr ganzer Schmuck. Aber welches Schmuckes bedarf Schönheit und Anmuth — und Melitta's Erscheinung war so schön und anmuthig, daß ihr Eintreten eine noch größere Sensation erregte, als Oldenburg's. Die älteren Herren unterbrachen ihr Gespräch, sie mit Herzlichkeit zu begrüßen; einige jüngere Herren eilten ihr entgegen, um womöglich den zweiten Walzer, die erste Polka — nur einen Tanz, gleich viel welchen, zu erbetteln, und sie lächelte Alt und Jung freundlich zu, beantwortete hier eine Frage, verwies dort einen Stürmischen zur Geduld — während sie quer durch den Saal nach dem Sopha ging, sich den andern Damen anzuschließen. Baron Oldenburg war, als Frau von Barnewitz aufstand, ihrer Cousine entgegenzugehen, ruhig, und ohne sich nach dem Gegenstand der allgemeinen Sensation umzu¬ sehen, den einen Arm über die Stuhllehne gelegt, sitzen geblieben. Da mußte Melitta's Name, von einer der Damen am Sopha ausgesprochen, sein Ohr getroffen haben; denn er sprang in die Höhe, wandte sich um — und stand Melitta, die von ihrer Cousine an der Hand geführt wurde, Angesicht gegen Angesicht gegen¬ über. Oswald war wie von einer magnetischen Kraft aus der Fensternische bis nahe an die Stelle gezogen worden, so daß ihm kein Wort, kein Blick entging. Er sah, daß Melitta erblaßte und ihre dunkeln Augen wie im Zorn aufflammten, als Oldenburg sich tief vor ihr verbeugte. „Ah, gnädige Frau,“ sagte er mit einem eigen¬ thümlichen Lächeln: „als wir uns zuletzt sahen, schien uns die Sonne Siciliens, und jetzt“ — „Scheint der Mond — wollen Sie sagen,“ ent¬ gegnete Melitta, und um ihre Lippen spielte ein höhnisch¬ bitterer Zug, den Oswald noch nicht an ihr gesehen hatte — „umgekehrt, lieber Baron, als wir uns zu¬ letzt sahen, schien der Mond; wissen Sie wohl noch in dem Garten der Villa Serra di Falco bei Palermo? — und da wir uns wiedersehen, scheint die Sonne — mir wenigstens.“ Der Sinn dieser letzten Worte mußte wohl Jedem verborgen bleiben, nur nicht dem, für welchen sie ge¬ sprochen waren. Melitta hatte, indem sie sich halb umwandte, Oswald bemerkt, und ihm so freundlich zugelächelt, daß Herr von Barnewitz, der neben ihm stand, sich an der Ueberraschungsscene, die er so mühsam arrangirt hatte, zu weiden, ihn fragte: „Kennen Sie meine Cousine schon?“ „Ja,“ sagte Oswald, von ihm weg auf Melitta zutretend, und sie ehrfurchtsvoll begrüßend. „Ah! Herr Doctor,“ rief Melitta mit vortrefflich gespielter Ueberraschung, „das ist ja köstlich, daß ich Sie hier finde. Denken Sie, Bemperlein hat schon geschrieben, Julius befindet sich sehr wohl — aber setzen Sie sich doch zu mir, daß ich Ihnen in aller Muße erzählen kann — Julius befindet sich vortrefflich — und ist in den fünf Tagen, wie Bemperlein schreibt, ein vollkommener Dandy geworden. Er hat schon einen großen Kinderball mitgemacht und mit der schönsten Dame, das heißt, derjenigen, die ihm am besten gefiel, den Cotillon getanzt, den Cotillon — merken Sie wohl! trotz des heftigen Widerspruchs von einem halben Dutzend junger Herren.“ „Der Unglückliche,“ lachte Oswald; „er wird sich dadurch eben so viele Duelle zugezogen haben.“ „Möglich, aber Sie wissen, Julius ist tapfer, wie ein Löwe, und wird für die Dame seines Herzens Alles wagen. — Ah, Herr von Cloten! Sind Sie es wirklich? Ich hörte ja, Sie und Robin hätten sich auf der letzten Fuchsjagd die Hälse gebrochen!“ „ Quelle idée , gnä'ge Fra! Jedenfalls wieder Er¬ findung von Barnewitz. Teufelskerl der Barnewitz! Befinde mich vortrefflich. Ah! ja — wollte gnä'ge Fra um einen Tanz bitten, wo möglich Cotillon. Muß noch einen Versuch machen, ob gnä'ge Fra nicht bewegen kann, mir den Brownlock zu verkaufen.“ „ Non, mon cher , zu diesem liebenswürdigen Zweck bekommen Sie keinen Tanz, am wenigsten den Cotillon. Wenn Sie mir aber den Brownlock in Frieden lassen wollen, so sollen Sie den ersten Con¬ tretanz haben. Zum Cotillon bleibe ich so wahr¬ scheinlich nicht hier. Sind Sie zufrieden?“ „Ah! gnä'ge Fra — zufrieden! quelle idée! glücklich — selig.“ „Mein Gott, Herr von Cloten, beruhigen Sie sich nur. Haben Sie schon ein vis-à-vis? “ „Nein! gnä'ge Fra — gleich suchen!“ „Hier, bitten Sie den Doctor Stein — Erlauben die Herren, daß ich Sie —“ „Ah, hatte schon das Vergnügen,“ sagte der Dandy, Oswald, der einen Schritt von ihm entfernt gestanden hatte, scheinbar zum ersten Male bemerkend. „Desto besser,“ sagte Melitta — „die Herren sind also einig?“ Von Cloten und Oswald verbeugten sich gegen¬ einander, und dann vor Melitta, die sie mit einer graziösen Handbewegung verabschiedete, um sich mit den zunächst sitzenden Damen in ein tiefsinniges Ge¬ spräch über die neuesten Moden einzulassen. Oswald war wieder zu Herrn von Langen getreten, der ihm zu der Bekanntschaft mit Melitta gratulirte: „Ich bewundre Sie,“ sagte der junge Mann, „daß Sie so ungenirt mit ihr sprechen können; ich hätte nicht den Muth dazu.“ „Sie scherzen.“ „Auf Ehre, nein. Die Frau hat etwas in ihrem Blick und in ihrer Stimme, was einem um das Heil seiner Seele bange machen möchte. Ich weiß, es geht mir nicht allein so.“ „Vielleicht bin ich um das Heil meiner Seele weniger bekümmert,“ sagte Oswald. Unterdessen hatte Oldenburg, während er sich un¬ befangen mit einigen Herren zu unterhalten schien, in einem hohen Spiegel die Gruppe um Melitta genau beobachtet. „Sieh da, Cloten! wie geht's, mon brave !“ sagte er, sich schnell zu dem Angerufenen umwendend, als dieser in seine Nähe kam. „Baron Oldenburg! Auf Ehre, hätte Sie kaum erkannt mit dem horribeln Bart.“ „Horribel, mon cher ! Machen Sie mich nicht unglücklich; ich pflege ihn nun schon drei Jahre und habe ihn mich wenigstens eine Million kosten lassen.“ „Ah, Spaß,“ sagte der Dandy, seinen blonden Schnurrbart streichend. „ Upon my word and honour ,“ sagte Olden¬ burg; „die Sache ist einfach die: Ich lernte in Kairo eine englische Familie kennen, mit der ich noch mehr¬ mals auf dem Nil zusammentraf; ich war so glücklich, ihr einige nicht unwesentliche Dienste leisten zu können. Die Familie bestand aus Vater, Mutter und einer einzigen Tochter — aber welcher Tochter! mon cher , ich sage Ihnen —“ „Ah, ja, verstehe!“ sagte Herr von Cloten; „reines Vollblut. Diese englischen Misses jottvoll — schön — sah mal eine in Baden-Baden, werde mein Lebtag nicht vergessen.“ „Gerade so sah meine Mary auch aus,“ sagte Oldenburg. „Nicht möglich!“ „Verlassen Sie sich darauf. Alle englischen Misses gleichen sich wie eine Lilie der andern. Eh bien ! Das Mädchen verliebt sich in den Retter ihres Lebens. Der Vater ist mir geneigt, die Mutter günstig. Ich war zwar kein Millionär, wie Mr. Brown, dafür war er aber auch nur ein in Ruhestand getretener Eisenhändler; und ich ein alter deutscher, weiland reichsfreier Baron. Genug, wir werden Handels einig. Da sagt Mary eines Abends — es ist mir, als wäre es heute — wir saßen im Mondenschein auf der Ter¬ rasse des Tempels von Philä und blickten träumend über den stillen Fluß und leerten Tropfen um Tro¬ pfen den diamantengeränderten Becher der Liebe. Da sagte sie, ihre weichen Arme um mich schlingend, — o Gott, wie deutlich ich noch immer diese Stimme höre! — Adalbert, sagte sie. — Was, Holde? sagte ich. — Adalbert, pray , dearest love, cut off your horrible beard — it's so vulgar.“ „Ah, ja, jottvoll, jottvoll — diese englischen Misses; aber was heißt's denn eigentlich?“ „Es heißt: Adalbert, mein Junge, laß Dir den „Bart scheeren; Du siehst schauderhaft gemein darin aus.“ „Verdammt.“ „Das sagte auch ich. Sie bat, sie beschwor mich; endlich lag sie sogar vor mir auf den Knieen. Ich blieb fest, wie der Koloß Memnons. Da sprang sie empor, und sich bewaffnend mit dem ganzen Stolze Englands, die Hand zum sternengeschmückten Himmel erhebend, rief sie: „ Sir, either you will cut off your beard, or I must cut your acquaintance. “ „Then, cut my acquaintance! “ sagte ich. „Famos,“ sagte von Cloten; „was sagte sie?“ „Mein lieber Herr,“ sagte sie, „Sie scheeren sich entweder den Bart, oder Sie scheeren sich zum Teufel.“ „Verdammt; und Sie?“ „Ich sagte: Fräulein, ich habe geschworen, daß ich das Weib verachten und mit dem Mann auf Leben und Tod kämpfen will, der mir mit Worten oder in Wirklichkeit an meinem Barte zupft.“ „Merkwürdig; das Alles sagten Sie in den drei Worten?“ „Ja, die englische Sprache, wissen Sie, ist wun¬ derbar kurz. Apropos, wer ist denn der junge Mann, mit dem Sie vorhin sprachen, er steht jetzt dort an der Thür zum andern Zimmer mit dem alten Grenwitz.“ „Ja, rathen Sie einmal!“ „Wie kann ich das rathen? Ich vermuthe, daß es Felix von Grenwitz, sein Neffe, ist.“ „So dachte auch ich. Und nun denken Sie, cher Baron , der Mensch ist ein Bürgerlicher, heißt Stein, Doctor Stein, glaube ich, und ist, nun rathen Sie einmal!“ „Nach dem Entsetzen, das sich in Ihren Zügen malt, zu schließen, vermuthe ich, daß der junge Mann der Scharfrichter von Bergen ist.“ „Scharfrichter! Quelle idée ! Welch' sonderbare Einfälle Frau von Berkow und Sie immer haben. Nein — Hauslehrer bei Grenwitz — ist das nicht wunderbar?“ „Ich kann nichts besonders Wunderbares in der Sache finden. Es muß auch Hauslehrer geben, wie es Arbeiter in den Arsenikgruben geben muß, obgleich ich für mein Theil weder das Eine noch das Andere sein möchte.“ „Aber der Mensch sieht beinahe genteel aus?“ „Beinahe genteel? Lieber Freund, er sieht nicht nur beinahe genteel aus, sondern ausnehmend genteel, genteeler wie irgend einer der Herren hier im Saale, Sie selbst und mich nicht ausgenommen.“ „Ah, Baron, Sie sind heute einmal wieder in einer jottvollen Laune.“ „Meinen Sie? freut mich. Das verhindert mich indessen nicht, den Mann ausnehmend genteel aus¬ sehend zu finden. Ja, was in Ihren Augen wol noch mehr ist, er hat nicht nur das Charakteristische, wel¬ ches die gebornen Vornehmen auf der ganzen Erde auszeichnet, sondern den speciellen Typus des Adels dieser Gegend.“ „O, in der That, ich denke Typus ist eine Krankheit.“ „Typhus, mon cher ! Typus ist, wenn mehre Leute dieselben Nasen, Stiefel, Augen und Handschuhe haben. Nun sehen Sie selbst, ob nicht Alles und noch mehr bei diesem Doctor Stein stimmt; zum Beispiel im Vergleich mit Ihnen, der Sie doch gewiß alles Spe¬ cifische des Adels in der höchsten Potenz in und an sich entwickelten. Er ist schlank und gut gewachsen, wie Sie, nur einen halben Kopf höher und ein paar Zoll breiter in den Schultern, er hat dasselbe hell¬ braune gelockte Haar, nur daß Sie sich Ihre Haare entschieden brennen lassen und die seinen, wie mir scheint, natürlich gelockt sind; er hat blaue Augen, wie Sie, und Sie werden selbst zugeben, daß diese Augen groß und ausdrucksvoll sind.“ „Ah, ja, — ich gebe zu, daß er ein verdammt hübscher Kerl ist,“ sagte der ärgerliche Dandy, einen schelen Blick auf den Gegenstand seiner unfreiwilligen Bewunderung werfend. „Nun, und was sein Auftreten anbelangt,“ fuhr Oldenburg fort, „so gäbe ich meinestheils eins meiner Güter darum, wenn ich mich mit diesem Anstande, dieser Grazie bewegen könnte.“ „Das ist stark, weshalb?“ „Weil die Weibsen in einen schmalen Fuß, ein wohlgeformtes Bein und so weiter vernarrt sind. Solche hübsche Puppen, wie der Doctor, sind geborne Alexander; sie stiegen von einer Eroberung zur andern und sterben auch meistens jung zu Babylon.“ „Gott, Baron, welch' liebenswürdiger Mensch Sie sein würden, wenn Sie nur nicht so schauderhaft ge¬ lehrt wären!“ „Meinen Sie? Möglich! Es ist ein Erbfehler; meine selige Mutter hat während ihrer Schwanger¬ schaft außer dem Rennkalender des betreffenden Jahres auch noch, einen oder den andern Roman gelesen. So erklären sich die paar menschlichen Züge in meiner Natur.“ „Wollt Ihr Herren meine neuen Pistolen mit einschießen helfen?“ fragte Herr von Barnewitz, der eben herantrat. „Ich denke, es soll getanzt werden,“ antwortete Cloten. „Später. Du kommst doch mit, Oldenburg?“ „Versteht sich! Du kennst ja meinen Wahlspruch: aux armes, citoyens!“ F. Spielhagen, Problematische Naturen. II. 3 Zweites Kapitel. Die jetzt vollständig versammelte Gesellschaft hatte sich allmälig aus den Zimmern in den Garten be¬ geben, da der herrliche Sommernachmittag unwider¬ stehlich ins Freie lockte. Die älteren Herren und Damen promenirten in den schattigen Gängen, oder besichtigten die prächtigen Gewächshäuser; die jungen Leute suchten auf einem schönen runden Rasenplatze, der zum Theil von hohen breitkronigen Bäumen über¬ schattet war, gesellschaftliche Spiele zu arrangiren, aus einer Ecke des Parkes, wo ein Schießstand eingerichtet war, ertönte von Zeit zu Zeit der scharfe Knall der neuen Pistolen. Melitta hielt sich, eingedenk der alten Regel, daß der Ruf junger Frauen in der Gesellschaft von den alten Damen gemacht wird, und wohl wissend, daß sie die Freiheiten, die sie sich während des Balls zu nehmen gedachte, durch einige vorhergehende Opfer erkaufen müsse, in der Gesellschaft der Gräfin Grie¬ ben, der Baronin Trantow, der Frau von Nadelitz, der Baronin Grenwitz und der andern ältern Damen. Oswald hatte sich zuerst der Jugend angeschlossen, bei der ihn Herr von Langen einführte, und mit einigen Reminiscenzen aus den Gesellschaften in der Residenz und einigen geschickten Combinationen verschiedene ge¬ sellschaftliche Spiele befürwortet und arrangirt, die mit allgemeinem Beifall angenommen und mit sicht¬ licher Zufriedenheit der Theilnehmer ausgeführt wur¬ den. Als er aber sah, daß Melitta, gegen seine Hoff¬ nung, sich durchaus nicht in den Kreis der Spielenden mischen wollte, benutzte er eine schickliche Gelegenheit, sich selbst aus demselben zurückzuziehen. Herr von Langen war ihm gefolgt und holte ihn in einem Hecken¬ gange ein, wo Oswald sich der harmlosen Beschäf¬ tigung des Stachelbeerpflückens hingab. „Gott sei Dank,“ sagte Herr von Langen, Oswalds Beispiele folgend und einen Johannisbeerbusch, der voll dunkelrother Früchte hing, plündernd. „Dem Unheil wären wir glücklich entronnen. Fluch dem Ersten, der gesellschaftliche Spiele erfand. Sind die Stachelbeeren reif?“ „Köstlich.“ „Sie müssen mich auf jeden Fall in nächster Zeit besuchen. Mein Gut liegt nur ein Stündchen von 3* Grenwitz. Meine Frau, die mich erst vor ein paar Wochen mit einem allerliebsten kleinen Mädchen be¬ schenkt hat, und sich noch nicht kräftig genug fühlt, so große Gesellschaften mitzumachen, wird sich freuen, Sie kennen zu lernen. Wenn Sie mir einen Tag bestimmen wollen, schicke ich Ihnen meinen Wagen.“ „Ich nehme Ihre Einladung mit Dank an,“ sagte Oswald, der sich einigermaßen durch die liebenswür¬ dige Freundlichkeit eines Mannes aus dem von ihm so sehr gehaßten Stande beschämt fühlte. „Sollen wir sagen, nächsten Sonntag?“ „Sie sind jeder Zeit willkommen; wenn Sie die Knaben mitbringen wollen, thun Sie es ja; ich habe ein Paar Ponys, die den Jungen besser gefallen wer¬ den, als Cornel und Ovid zusammen. — Ach, Herr des Himmels! Incidit in Scyllam, qui vult vitare Charybdim ! Dort biegt die Gräfin Grieben an der Spitze ihrer Suite um die Ecke. Sauve qui peut !“ Die jungen Männer schlugen einen andern Gang ein, der den ersten rechtwinklig durchschnitt, und waren bald den herankommenden Damen aus den Augen. Oswald seinerseits wäre eben so gern geblieben, denn er hatte in der „Suite“ auch Melitta bemerkt und gehofft, wenigstens im Vorübergehen einen Blick von ihr zu erhaschen; aber er hielt es für seine Pflicht, gute Kameradschaft mit seinem neuen Freunde zu halten, der ihm im Laufe des Nachmittags schon mehr als eine Gefälligkeit erwiesen hatte. „Sie scheinen die Gesellschaft nicht besonders zu lieben, Herr von Langen,“ sagte er lächelnd über die Eilfertigkeit des jungen Mannes. „Die große Gesellschaft — nein! Ich bin in fast absoluter Einsamseit aufgewachsen. Mein Vater, der nicht eben reich war, schloß sich in dem Interesse seiner Kinder von dem geselligen Leben des hiesigen Adels fast gänzlich ab. Hernach kam ich auf die Schule. Ich hätte gern studirt; aber der Vater be¬ durfte meiner für die Wirthschaft, welche er bei zu¬ nehmendem Alter nicht mit derselben Rüstigkeit leiten konnte; so mußte ich denn von der Schule abgehen, als ich ein Jahr in Prima gesessen hatte. Seitdem ist der gute Vater gestorben und ich habe die paterna rura , die ich für mich und meine jüngern Geschwister verwalte, kaum verlassen. Sind Sie Jäger?“ „Nein, ich habe bis jetzt nicht die mindeste Ge¬ legenheit gehabt, die Nimrodnatur, die möglicherweise in mir schlummert, zu cultiviren.“ „Ah, das ist schade; aber das lernt sich — wir haben eine recht hübsche Hühner- und Hasenjagd. Sie sollten vorläufig etwas mit der Pistole schießen. Man lernt dabei visiren und bekommt eine sichere Hand.“ „Nun mit Pistolenschießen habe ich im Leben leider schon beinahe zu viel Zeit verbracht,“ antwortete Os¬ wald. „Mein Vater, ein Sprachlehrer und im Uebri¬ gen sehr friedfertiger Mann, hatte eine wahre Leiden¬ schaft für das Pistolenschießen; es war seine einzige Erholung. Er schoß, wie ich nie im Leben wieder Jemand habe schießen sehen, mit einer fast wunder¬ baren Geschicklichkeit. Ich habe nie den Grund dieser seltsamen Leidenschaft erfahren können. Einmal fiel es mir ein, ihn zu fragen, wie er dazu gekommen sei? Ich werde den Ton nie vergessen, in welchem er mir antwortete: Es gab eine Zeit, wo ich hoffte, mich durch eine Kugel an einem Manne rächen zu können, der mich tödtlich beleidigt hatte. Als ich meines Zieles vollkommen sicher war — starb der Mann. Seitdem schieße ich in Gedanken auf ihn; jedes Aß, das meine Kugel trifft, ist sein falsches, grausames Herz. Ich drang in ihn, mir den Mann zu nennen. „Das kann ich nicht,“ antwortete er; „aber wenn Du Dir auch etwas bei der Sache denken willst, nimm an, jedes Aß sei das Herz irgend eines belie¬ bigen Adligen.“ „ Mon Dieu! “ sagte Herr von Langen; „und haben Sie diesen fanatischen Haß Ihres Vaters gegen meinen Stand geerbt?“ „Nur zum Theil,“ sagte Oswald, „ebenso wie ich auch nur einen Theil seiner Fertigkeit mit der Pistole geerbt habe. — Wollen wir einen Augenblick nach dem Schießstande gehen? ich höre an dem Knall, daß wir ganz in der Nähe sein müssen.“ „Bravo, bravo!“ erschallte es von dem Schie߬ stande herüber. „Cloten, ich parire auf Sie.“ „Ich parire auf Breesen,“ rief eine andere Stimme. Sie fanden auf dem Schießplatze ein halbes Dutzend Herren etwa, alle in größtem Eifer, mit Ausnahme des Baron Oldenburg, der, die Hände in den Taschen seiner Beinkleider, an einen Baum gelehnt, die Schützen beobachtete, und Strophen aus der Marseillaise dazu zwischen den Zähnen summte. „Bravo, Cloten, wieder Centrum — der Kerl schießt verteufelt,“ schallten die Stimmen durchein¬ ander. „Hat sonst Jemand von den Herren Lust zu pariren?“ sagte Herr von Cloten, mit einem wunder¬ bar selbstgefälligen Lächeln sich umsehend. „Ich, wenn Sie erlauben,“ sagte Oswald. „Sie?“ erwiderte der Dandy mit einem Blick sprachlosen Erstaunens. „Ich parire einen Louis auf den Herrn,“ sagte Baron Oldenburg grinsend. „Wer hält?“ „Ich, ich!“ riefen mehrere Stimmen. „Ich halte Alles,“ sagte Oldenburg, dem die Sache einen köstlichen Spaß zu machen schien. „Unser Einsatz ist bisher ein Thaler gewesen; es ist Ihnen doch recht?“ sagte Herr von Cloten zu Oswald. „Natürlich.“ „Aber Doctor Stein kennt die Pistolen nicht,“ rief von Langen, „und Cloten muß sich bereits voll¬ ständig eingeschlossen haben. Die Partie ist ungleich.“ „Wenn nur mein Geld auf dem Spiele stände,“ sagte Oswald, „so würde ich den Versuch wagen. Da aber auf mich gewettet ist, so möchte ich bitten, mir vorher einen Schuß zu erlauben.“ „Natürlich,“ rief Herr von Breesen; „das ver¬ steht sich von selbst,“ Herr von Barnewitz. „Wird nicht viel helfen,“ sagte von Cloten leise zu einem Andern. „Sehen Sie den Tannenzapfen dort, Herr von Langen?“ sagte Oswald, nachdem ihm eine geladene Pistole gereicht war, „den an dem äußersten Ende des Zweiges.“ „Ja, aber das ist mindestens funfzig Fuß.“ „Thut nichts. Diese Pistolen scheinen mir noch auf weitere Distancen einen sichern Schuß zu er¬ lauben.“ Oswald hob die Pistole. Aller Augen waren ge¬ spannt auf den Tannenzapfen gerichtet. „Ja so,“ sagte Oswald, die erhobene Pistole sinken lassend. „Wollen Sie nicht die Güte haben, Herr von Barnewitz, mich dem Herrn vorzustellen, der ein so günstiges Vorurtheil für meine sehr frag¬ liche Fertigkeit im Schießen an den Tag gelegt hat.“ „Hatte ganz vergessen; bitte um Entschuldigung. Baron Oldenburg — Doctor Stein.“ „Ah, Baron Oldenburg!“ sagte Oswald, mit der linken Hand den Hut abnehmend. „Sie sehen doch den Tannenzapfen, Herr Baron.“ „Vollkommen deutlich,“ sagte Oldenburg, sich höflich verbeugend. Oswald hob die Pistole wieder, zielte eine Se¬ cunde — der Tannenzapfen kam in Stücken zur Erde. „Famos!“ schrie Herr von Barnewitz; „Cloten, Du findest Deinen Meister.“ „ Nous verrons ,“ sagte Herr von Cloten. „Sie haben den ersten Schuß, Herr Doctor.“ Oswald nahm die andere Pistole, und schoß, ohne scheinbar auch nur zu zielen. „Centrum!“ schrie der Bediente an der Scheibe eine Reverenz nach dem Schützen machend, bevor er das Loch mit einem Pflaster verklebte. „Cloten, zahlen Sie Reugeld!“ rief Oldenburg, mit dem Gelde in seiner Tasche klappernd. „Centrum!“ ertönte es von der Scheibe. „Sehen Sie?“ sagte von Cloten, Herrn von Bar¬ newitzens Jäger die Pistole zum Laden gebend. „Ich denke, wir nehmen eine größere Distance, oder ein anderes Ziel," sagte Oswald, „bei diesem thalergroßen Centrum auf vierzig Schritt werden Herr von Cloten und ich wohl noch lange ohne Ent¬ scheidung fortschießen können. Sind keine Karten zur Hand? „Ich bin's zufrieden,“ sagte von Cloten. „Hast Du Karten mitgebracht, Friedrich?“ rief von Barnewitz. „Ja, Herr!“ „Nimm die Scheibe ab und nagle ein Aß an den Baum!“ „Natürlich gilt nur die Kugel, die durch das Aß schlägt oder es wenigstens berührt hat,“ sagte Oswald. „Natürlich,“ sagte von Cloten. „Jetzt kommt die Sache in Gang,“ rief der junge Breesen und rieb sich vor Vergnügen die Hände. „Cloten zahlen Sie Reugeld,“ sagte Oldenburg wieder und durch die Zähne murmelte er: Tannenzapfen — Herzenaß — Ei, mein Schätzchen, merkst Du was? Ist es Liebe? ist es Haß? Von Cloten zielte lange, aber sei es, daß das neue Ziel ihn verwirrte, sei es, daß seine Hand schon unruhig geworden war — seine Kugel traf nur den oberen Rand der Karte. Oswald trat vor; sein Auge schweifte über die Schaar der Edelleute, die um ihn herum stand. „Denke Dir, daß Aß sei das Herz irgend eines beliebigen Adligen,“ hörte er eine wohlbekannte Stimme flüstern . . . Sein Schuß krachte. An der Stelle des Asses war das Loch der Kugel in der Karte. „Trösten Sie sich, Cloten,“ sagte Oldenburg. „ Non semper arcum tendit Apollo — zu deutsch: Vorbeischießen muß auch sein.“ „Wirklich meisterhaft,“ sagte von Barnewitz, die Karte herumzeigend; „das Aß rein herausgeschossen.“ „Wollen Sie Revanche haben, Herr von Cloten?“ „Nein, danke, ein andermal. Fühle, daß meine Hand nicht mehr sicher — “ „Warum haben Sie nicht Reugeld gezahlt, Cloten?“ lachte Oldenburg, das gewonnene Geld in die Tasche steckend. — „Hier sind sie! hier sind sie!“ riefen da auf ein¬ mal helle Mädchenstimmen, und um das Gebüsch herum, das den Schießstand vom Wege trennte, kamen Emilie von Breesen, ihre Cousine Lisbeth von Meyen und eine von den jungen Fräulein von Na¬ delitz, wie eben soviel weiße Schmetterlinge. „Sie sind allerliebste Herren — Spielverderber — im Augenblick kommen Sie wieder zurück“ — so schallten die Stimmchen durcheinander. „Du könntest auch etwas Besseres thun, Adolf, als hier den ganzen Nachmittag bei dem alten dummen Schießen zubringen,“ sagte Emilie von Breesen zu ihrem Bruder. „Er muß auch mit,“ rief Lisbeth, „wir nehmen sie gefangen. Du Emilie, nimm den Doctor, Du bist die Stärkste und er ist der Rädelsführer — Na¬ talie, Natalie, halt Herrn von Langen fest! er will davon laufen.“ „Meine Herren,“ rief Oswald, jeder Widerstand wäre Hochverrath! — Meine Damen! wir ergeben uns auf Gnade und Ungnade,“ und er bot Fräulein von Breesen den Arm. Die beiden andern Herren folgten seinem Beispiele; die drei hübschen Pärchen eilten lachend und scherzend davon. „Eine Entführung in optima forma ,“ grinste Oldenburg. „Wir gehen auch wohl, Ihr Herren,“ rief Bar¬ newitz; „denn ich fürchte, wenn wir warten wollen, bis wir von den jungen Damen abgeholt werden, so können wir lange warten.“ „ Allons enfants de la patrie !“ sang Oldenburg in möglichst falschen Tönen mit einer Stimme, die wesentlich dem Krähen eines heisern Hahns an einem regnerischen Tage glich, und faßte von Cloten unter den Arm. „Cloten, mon brave , wir werden alt,“ sagte er, während sie in einiger Entfernung hinter den Andern dem Hause zuschritten. „Wenn wir nicht bald machen, daß wir unter die Haube kommen, so ist uns jede Hoffnung auf eheliches Glück, legitime Vaterfreuden und ein seliges Ende, Amen, abgeschnitten.“ „Ah, Spaß! Baron, Sie sind mindestens fünf Jahre älter wie ich.“ „Das hindert nicht, daß die jungen Damen einen wie den andern en canaille behandelt haben.“ „Die kleine Emilie ist ein verdammt hübscher Backfisch.“ „ Si signore , und was für ein Paar große, graue, verliebte Augen sie dem Doctor machte! Mit sechs¬ zehn Jahren! wahrhaftig alles Mögliche!“ „Verdammte Puppe!“ „Wer? Fräulein Emilie?“ „Ah, — der Mensch, der Doctor!“ „Ja, so! Ich hab's Ihnen ja gleich gesagt? Die Mägdelein reißen sich um ihn! Und wie der Kerl schießt. Cloten! Möchte ihm nicht auf fünf Schritte Barriere, und zehn Distance gegenüberstehen?“ „Ah! danke für ein Duell mit so einem Bürger¬ lichen. Partie ist zu ungleich. Meinen Sie nicht auch, Baron?“ „Vielleicht ist der Mann die Frucht einer Liaison zwischen einem Sohne des Himmels und einer Tochter der Erde.“ „Was heißt das?“ „Wissen Sie nicht, daß in der alten Zeit die Kinder von Adligen mit Bürgermädchen so bezeichnet wurden?“ „Nein, habe nie gehört! Sohn des Himmels — famos! Uebrigens traue Schrift nicht. Müssen doch selbst zugeben, Baron, diese Idee, alle Menschen von einem Paare abstammen zu lassen — Adlige und Bür¬ gerliche — geradezu abgeschmackt, horribel — lächer¬ lich! Habe mir immer gedacht: daß Schrift von diesen Bürgerlichen in ihrem Interesse zurecht gemacht ist. Hat mich stets geärgert, wenn Hauslehrer mir die alte Geschichte erklären wollte.“ „Cloten,“ sagte Oldenburg stehen bleibend und seinem Begleiter die Hand auf die Schulter legend! „Cloten, Sie sind ein großer Mann. Dieser Ge¬ danke bringt Sie in eine Reihe mit den tiefsinnigsten Denkern aller Jahrhunderte.“ „Ah, wah — reden Sie nun im Ernst, Baron, oder scherzen Sie, wie gewöhnlich?“ „Lieber Cloten,“ sagte Oldenburg, seinen Arm wieder unter den seines Begleiters steckend und weiter gehend; „lassen Sie sich ein für alle Mal gesagt sein, daß es mir immer um das, was ich sage, fürchter¬ licher Ernst ist, und der Gegenstand, von dem wir sprechen, ist wahrlich von zu ungeheurer Bedeutung, als daß er eine scherzhafte Behandlung vertrüge. So hören Sie denn — aber machen Sie keinen unge¬ eigneten Gebrauch von der Sache, Cloten —“ „Gott bewahre — parole d'honneur !“ „So hören Sie denn, daß dieselbe Frage, deren richtige Beantwortung Sie mit dem sichern Tacte des Genies sofort fanden, mich jahrelang beschäftigt hat. Auch ich sagte mir: der Unterschied zwischen Adligen und Bürgerlichen ist kein bloßer Unterschied des Na¬ mens, des Standes — er ist ein Unterschied des Blutes, des Gemüthes, der Seele — enfin : der ganzen Natur. Wie können nun zwei so verschiedene Wesen von demselben Menschenpaare abstammen? Wo bleibt der Unterschied, wenn sie von einem Menschen¬ paare abstammen? Der Geist verwirrt sich in diesem schauderhaften Widerspruch.“ „Gott, Baron, endlich sprechen sie doch einmal wie —“ „Wie ein Baron. Hören Sie weiter. Diese Frage beschäftigte mich so unausgesetzt, daß ich endlich be¬ schloß, sie zu lösen, es koste, was es wolle. Ihr habt Alle über mein einsames Leben, über mein Stu¬ diren und so weiter gespottet. Wissen Sie, Cloten, was ich studirte, während Ihr Euch auf der Jagd, oder beim Pharao amüsirtet?“ „Nein — auf Ehre —“. „Aramäisch, chaldäisch, syrisch, mesopotamisch, hin¬ dostanisch, gangobramaputraisch — sanscrit —“ „Herr Gott des Himmels! Das ist ja schauder¬ haft! Wozu?“ „Weil ich die feste Ueberzeugung hatte, daß sich in den Klöstern Armeniens, in den Katakomben Aegyp¬ tens, oder sonst irgendwo im Orient eine alte Hand¬ schrift, welche die Sache aufklärte, entdecken lassen müsse. Als ich alle jene Sprachen und Dialecte so fertig wie deutsch und französisch sprach, trat ich vor drei Jahren meine letzte große Reise nach dem Orient an. Im Vorübergehen durchstöberte ich die Biblio¬ theken Italiens. In Rom traf ich Barnewitzens. Dies Zusammentreffen war mir im Grunde sehr un¬ angenehm. Aus Höflichkeit mußte ich sie bis Sicilien begleiten. In Palermo aber machte ich, daß ich da¬ von kam.“ „Ah, das erklärt Ihr plötzliches Verschwinden — das unterbrochene Opferfest, ha, ha, ha!“ „Unterbrochenes Opferfest — der Ausdruck stammt nicht von Ihnen, Cloten.“ „Nein, auf Ehre — ist 'ne Erfindung von Hor¬ tense, wollte sagen von der Barnewitz,“ verbesserte sich der junge Edelmann. „Sie behauptet — entre nous , Baron, daß Ihr Zusammentreffen in Rom gar nicht so absichtslos von Ihrer Seite und die ganze Reise von Rom nach Palermo — heißt ja wol, Pa¬ lermo? — ein reiner Triumphzug für die Berkow F. Spielhagen, Problematische Naturen. II . 4 gewesen sei; Opferfest — unterbrochenes Opferfest! Ha! ha!“ „Aber ich verstehe Sie gar nicht, Cloten.“ „Na, entre nous , Hortense weiß von der Reise allerlei Geschichten zu erzählen. So eine Scene auf der Ueberfahrt von Ciproda.“ — „Procida," verbesserte Oldenburg. — „Procida, meinetwegen, der Teufel mag all' die verrückten Namen behalten, von Procida also nach Neapel.“ „Nun?“ „Aber zum Teufel, Baron, Sie fragen Einem auch die Seele aus dem Leibe. — Sie hatten einen kleinen Fischerkahn, und es kam ein richtiger Sturm auf — die Wellen gingen haushoch, und Sie mußten jeden Augenblick erwarten, daß das Boot kenterte. Da sollen Sie auf italienisch —“ „Die Barnewitz versteht kein Wort italienisch, so viel ich weiß —,“ sagte Oldenburg. „Hortense nicht, aber die Schiffer, die sie hernach ausgefragt hat —“ „Hm!“ murmelte Oldenburg. „Nun?“ „Da sollen Sie zu der Berkow gesagt haben: Liebe Seele, mit Dir zusammen zu ertrinken, ist mehr werth, als mit Deiner Cousine, oder irgend einer andern Frau hundert Jahr zusammen zu leben.“ „In der That? Erzählt Hortense ihren guten Freunden so hübsche Geschichten? Nun, Cloten, ich will Ihnen einen guten Rath geben: Glauben Sie jedem Kuß, den Sie von Hortense's Mund schon ge¬ küßt haben, oder noch küssen werden —“ „Ah, dummes Zeug, Baron,“ sagte der Dandy mit jenem Lächeln, das bescheiden sein soll und doch so entsetzlich unverschämt ist. „Aber glauben Sie keinem Wort, das aus ihrem Munde geht. Können Sie wirklich denken, daß ich nichts Besseres zu thun hatte, als Melitta von Berkow den Hof zu machen, während so ernste, ja so zu sagen heilige Dinge meine Seele beschäftigten? Lassen Sie sich erzählen: Ich reiste also von Sicilien nach Aegyp¬ ten hinauf bis Abu Simbul, zurück nach Kairo, von da nach Palästina, Persien, Indien; — durchsuchte jeden Tempel, jede Ruine, jede Felsenspalte — ich fand nicht, was ich suchte. Endlich — als ich schon an dem Erfolge verzweifelte, als ich schon auf der Rückreise war, da — in der Bibliothek des Klosters auf dem Vorgebirge Athos —“ „Wo ist das, Baron?“ „Zwischen dem Indus und dem Oregon — dort 4* in der Kloster-Bibliothek entdeckte ich endlich das lang gesuchte Manuscript. Da stand denn die ganze Ge¬ schichte.“ „Was stand da?“ „Da stand im reinsten Hoch — bramaputraisch, daß — ich übersetze das nun Alles in unsere modernen Begriffe und Ausdrücke —“ „Ja machen Sie's um's Himmelswillen so, daß ich es verstehe.“ „Daß gleich von vornherein zwei Menschenpaare geschaffen wurden, wie es ja auch gar nicht anders sein kann: ein adliges und ein bürgerliches. Der Name dieses ersten adligen Geschlechts ist aus dem Manuscript nicht ersichtlich. Gerade an der einen Stelle, wo er ausgeschrieben gestanden hat, ist ein großer Klex. So viel ist sicher, Oldenburg hat es nicht geheißen; es war noch ganz deutlich ein C zu er¬ kennen, und in der Mitte ein t. „Vielleicht Cloten,“ sagte der Andere. „Es ist möglich, aber beschwören kann ich es nicht. Auch was für eine Geborne seine Gemahlin gewesen ist, die schlechtweg Fräulein genannt wird, ist nicht ersichtlich.“ „Aber ich denke, sie ist aus der Rippe des Mannes gemacht und gar nicht geboren.“ „Ah, lassen Sie sich doch kein dummes Zeug ein¬ reden, Cloten. Sie wird ausdrücklich Fräulein genannt, dann muß sie doch auch ein Fräulein von so und so gewesen sein.“ „Das ist ja aber eine verflucht verwickelte Ge¬ schichte.“ „Gar nicht so sehr, wie Sie glauben. Genug, der Herr und das Fräulein, das bald genug zur gnädigen Frau wurde, hatten ein Landgut, welches Paradies hieß; — warum soll ein Landgut nicht Paradies heißen, Cloten?“ „Verdammt schnurriger Name, indessen!“ „Warum? Nennt doch einer seinen Landsitz Soli¬ tude, der Andere Sanssouci, der Dritte Bellevue, warum soll nicht einmal Einer das seine Paradies genannt haben? Eh bien ! Der Bediente des Herrn hieß Adam. Vortrefflicher Name für einen Bedienten. Als er steif und lahm wurde, schimpften sie ihn den alten Adam — haben Sie je von einem Adligen gehört, der Adam geheißen hätte, Cloten?“ „Im Leben nicht.“ „Sehen Sie, da haben Sie wieder den schönsten Beweis. Er rief also seinen Kerl Adam, und die Zofe seiner Gemahlin Eva, Evchen — allerliebster Kammerzofenname das. Meine Mutter hatte ein Kammermädchen „Evchen“, ein bildhübsches Ding. Der Adam war aber ein großer Schlingel, wie die Bedienten das bekanntlich bis auf den heutigen Tag sind. Das Ding, die Eva, war auch nicht viel besser. Zuletzt trieben es die Beiden zu arg. Schließlich er¬ griff der Herr denn einmal die Hetzpeitsche und jagte die Beiden vom Hofe. In das Gesindebuch schrieb er: Entlassen wegen Unehrlichkeit, Putzsucht und Ar¬ beitsscheu. Das ist so in großen Umrissen der eigent¬ liche Verlauf der Geschichte.“ „Wirklich merkwürdig — ganz famös, auf Ehre! Haben Sie das Buch mitgebracht, Baron?“ „Nein; aber eine von dem dortigen Landrath be¬ glaubigte Abschrift.“ „Giebt's denn dort auch Landräthe?“ „Aber, lieber Freund, wie kann denn ein Land ohne Landräthe bestehen?“ „Natürlich; aber es wäre doch besser, wenn wir das Buch selbst hätten.“ „Vielleicht macht es sich. Die Mönche sind ent¬ setzlich obstinat; ich hatte schon vor, sie alle mit Blau¬ säure zu vergiften. Wahrscheinlich thue ich das auch noch, wenn ich wieder in die Gegend komme. Bis dahin müssen wir uns mit der Copie begnügen. „Hören Sie, Baron, können Sie mir nicht auch so eine Copie geben? ich meine natürlich in deutscher Uebersetzung, nicht in bramaputraisch, oder wie der verdammte Jargon heißt.“ „Hm; aber versprechen Sie mir, es Niemand zu zeigen.“ „Verlassen Sie sich d'rauf!“ „Höchstens Einem oder dem Andern aus unserem Cirkel.“ „Das also darf ich?“ „Meinetwegen; aber nennen Sie meinen Namen nicht. Sagen Sie, es wäre eine bloße Hypothese von Ihnen —“ „Eine was?“ „Eine bloße Vermuthung, die noch der Bestätigung bedürfe; wenn wir denn hernach das Original in die Hände bekommen, so ist das Ihr Triumph und der Triumph der guten Sache zu gleicher Zeit.“ Drittes Kapitel . Die Sommersonne war bereits seit einer Stunde hinter den Bäumen des Parks untergegangen; dunkle Schatten lagerten sich in den dichteren Boskets, hier und da zirpte noch ein Vogel, ehe er zur Ruhe das Köpfchen unter den Flügel steckte; sonst war es still geworden in dem vor kurzer Zeit noch so belebten Garten. Aber desto lauter war es jetzt im Schlosse. Das blendende Licht von hundert Wachskerzen auf Kronleuchtern und Girandolen strahlte aus den Fenstern auf den weiten Rasenplatz vor dem Gartensaale. Musik erschallte aus den geöffneten Flügelthüren, und an Thüren und Fenstern vorüber sahen die Dorfleute, die sich in ehrfurchtsvoller Ferne im Park hielten, die Paare der Tanzenden schweben. In den Zimmern, die an den Tanzsaal stießen, waren für die älteren Herrschaften Spieltische arrangirt, und des Grafen von Grieben kreischende Stimme wurde mehr als ein mal vernommen, wenn der alte Baron Grenwitz, der nur ein sehr mittelmäßiger Bostonspieler war, auf drei Asse zum Mitgang gepaßt, oder sonst durch seine Zaghaftigkeit verleitet, einen jener horribeln Fehler begangen hatte, die das Gemüth eines metho¬ dischen Spielers so schmerzlich berühren. Herr von Barnewitz und seine Gemahlin wechselten im Spiele ab, damit stets eines von ihnen entweder bei den Tanzenden oder Spielenden war und sich so jede Partei gleicher Gunst erfreute. Hortense hatte ur¬ sprünglich den ganzen Ball mitmachen wollen; aber schon nach den ersten beiden Tänzen ärgerte sie sich so über die Huldigungen, die ihrer schönen Cousine von allen Seiten gezollt wurden, daß sie ihrem Ge¬ mahl jenes Arrangement vorschlug, in welches er sich um so williger schickte, als er trotz seiner Corpulenz gern und gut tanzte, und auf alle Fälle ein sehr eif¬ riger Bewunderer hübscher Mädchen und Frauen in Balltoilette war. Und an solchen fehlte es in dem Saale wahrlich nicht. Es war ein Kranz von lieb¬ lichen und schönen Gestalten, der auch wohl ein sin¬ nigeres Auge, als das des wüsten Edelmannes ent¬ zückt haben würde. Die lieblichste und schönste aber war nach dem ausgesprochenen oder schweigenden Ur¬ theil aller Herren wenigstens — die Ansicht der Damen über diesen Punkt war allerdings sehr getheilt — Melitta. Die sonst etwas bleichen Wangen vom leb¬ haften Tanz geröthet, die großen Augen strahlend von Licht und Leben, die schlanken elastischen Glieder der herrlichen Gestalt mit wunderbarer Anmuth in rhyth¬ mischem Schwunge bewegend — so schwebte sie über den glatten Boden des Saals wie die Muse des Tanzes selbst. Neben dieser blendenden Erscheinung wurden die hübschen Frauen ihres Alters zu Wachs¬ figuren und die jüngeren Mädchen zu allerliebsten Marionetten. So dachte wenigstens Oswald, wenn er sie im Walzer an sich vorbeifliegen sah oder sie ihm Contretanze entgegen schwebte. Ein wunderbares Gemisch widersprechendster Empfindungen erfüllte seine Seele. Seit jenem Augenblick, wo er in Melittas Album das Bild des Baron Oldenburg zum ersten Mal gesehen hatte, war er unablässig von dem Ge¬ danken verfolgt worden: in welchem Verhältniß stand sie zu diesem Mann? Aber so oft auch schon die Frage auf seinen Lippen geschwebt hatte, nie hatte er sie auszusprechen gewagt, und je höher die Sonne seiner Liebe stieg, desto blasser war der drohende Schatten geworden. Heute aber hatte Barnewitzens Erzählung, das Erscheinen des Mannnes selbst, Me¬ littas Benehmen in der ersten Begegnung — die halb entschlafenen Zweifel furchtbar geweckt. Wieder drängte sich das Wort auf seine Lippen, und immer wieder kroch es scheu zum Herzen zurück. Er zürnte Melitta, daß sie ihn diese Qualen dulden ließ; er zürnte sich selbst, daß er sich von der Geliebten hatte bestimmen lassen, ihr in diese Gesellschaft zu folgen, diese Junker¬ welt, in die er nicht gehörte, in welcher er sich nur geduldet wußte, in diese Welt frivolen Genusses und hochmüthigen Dünkels, diese lärmende blendende Welt, die so grausam mit der Romantik seiner Liebe con¬ trastirte, und der wonnigen, liebeverklärten Waldein¬ samkeit von Melitta's Kapelle Hohn zu sprechen schien. Es kam ihm wie ein halb verklungenes Märchen vor, daß dies wunderbare Weib in seinen Armen geruht, daß er — wie oft schon! seinen Mund auf diese ro¬ sigen Lippen gedrückt hatte. Sie erschien ihm so fremd, so ganz verwandelt; er konnte sich nicht überreden, daß dies Melitta sei, seine Melitta, sie, die dort mit dem jungen Breesen lachte und schwatzte, die dort die faden Complimente von Cloten's mit so huldvoller Miene beantwortete — und dann wieder, wenn ihr leuchtendes Auge das seine traf, wenn ihre Hand bei den Touren des Contretanzes seine Hand so traulich drückte, wenn bei dieser Gelegenheit ein: süßes Herz! Du Lieber! — ihm nur vernehmbar geflüstert, sein Ohr traf — ja, dann war es doch wieder Melitta, seine Melitta . . . Und immer wieder jagten sich Zwei¬ fel, die sich zu wahnsinniger Angst steigerten, und Ge¬ wißheit, die ihn mit unsäglichem Entzücken erfüllte, durch seine Seele, wie tiefdunkle Schatten und heller Sonnenschein über eine Sommerlandschaft jagen, und um dieser süßen Qual, dieser bittern Wonne zu ent¬ gehen, schlürfte er mit hastigen, gierigen Zügen den berauschenden Trank, der, aus blendenden Lichtern, jubelnden Tönen und wollüstigen Düften so seltsam gemischt, in einem Ballsaal die Sinne der Tanzenden bis zum bacchantischen Taumel aufregt und das Ge¬ hirn umnelbelt. Oswald lachte und scherzte wie von der tollsten Laune ergriffen: hier ein übermüthiges keckes Wort, dort eine feine Schmeichelei; hier eine satyrische Be¬ merkung, dort eine Sentimentalität . . . Die Damen schienen vollkommen vergessen zu haben, daß ein so unermüdlicher und gewandter Tänzer, ein so hübscher Mann, der ihnen so viele hübsche Sachen zu sagen wußte, doch nur ein Bürgerlicher sei, der auf alle diese Vorzüge eigentlich gar keinen Anspruch machen durfte, und wenn ja eine der hochadligen Mütter dem Töchterchen ihr unpassendes Benehmen mit dem jungen Menschen, dem Doctor Stein, verwies, so fiel das goldene Wort diesmal auf ganz unfruchtbaren Boden, und die hübsche Kleine beruhigte ihr aufgeschrecktes adliges Gewissen mit dem tröstlichen Gedanken: es ist ja nur für heute Abend . . . Es steht sehr zu vermuthen, daß das Glück, welches Oswald an diesem Abend bei den Damen machte, mehr als ein junker¬ liches Gemüth auf das Tiefste indignirte; aber der Ausdruck dieser feindseligen Stimmung beschränkte sich auf einige höhnische Worte, von denen aber keins bis zu Oswalds Ohr drang, und auf einige ärgerliche Blicke, die, wenn er sie bemerkte, nur zu Erhöhung seiner tollen Laune beitrugen. Daß er sich auf einem sehr glatten Boden bewegte, wußte er sehr gut; aber die Nähe der Gefahr, welche die schwachen Geister lähmt, läßt starke Herzen nur desto muthiger pochen; und das Bewußtsein, wie er sich jeden Augenblick einer impertinenten Beleidigung versehen könne, gab seinem Benehmen den Junkern gegenüber eine Kühn¬ heit, seinem Auftreten eine Sicherheit, die, wenn sie einerseits den Unwillen dieser Herren herausforderte, andererseits für sie die Kluft zwischen Wollen und Vollbringen geradezu unübersteiglich machte. Und übrigens muß zur Ehre dieser jungen Adligen be¬ merkt werden, daß sich in einer Schaar von zwölf oder vierzehn denn doch zwei oder drei fanden, welche von Vorurtheilen nicht so sehr befangen waren, daß sie Oswalds ritterliches Wesen nicht gern hätten gelten lassen. So Herr von Langen, welcher seinen Arm vertraulich unter den Oswalds schob, und in der Pause mit ihm im Saale freundlich plaudernd, auf- und abschritt; so der junge von Breesen, der hübscheste und gewandteste von der Schaar, welcher Oswald bat, ihm ein paar Lectionen im Pistolen¬ schießen zu geben, und als seine Schwester durch Un¬ achtsamkeit eine Verwirrung im Tanz angerichtet hatte, zu ihm kam, ihn im Namen der jungen Dame um Entschuldigung bat und ihn zu ihr führte, damit sie sich selbst entschuldigen könne; so endlich selbst¬ redend Baron Oldenburg, der die Tugenden Oswalds als Tänzer und Schütze gegen mehr als Einen bis in den Himmel erhob, wobei es nur nicht ganz er¬ sichtlich war, ob er dies aus aufrichtiger Ueberzeugung oder mehr in der Absicht that, seine jungen Standes¬ genossen gründlich zu ärgern. Dieser dankbaren Aufgabe konnte er sich mit um so größerem Behagen unterziehen, als er auf Herrn von Barnewitzen's Frage, ob er spielen wolle, geant¬ wortet hatte: ja, wenn Pharo gespielt wird; und auf Lisbeths von Meyen Bemerkung, ob er denn nicht zu tanzen gedenke, geäußert hatte: „Meine Gnä¬ dige, in diesem Augenblick bedaure ich es zum ersten Male in meinem Leben, daß mich mein Tanzlehrer nie dahin bringen konnte, die erste Position von der zweiten, und mein Musiklehrer ebenso wenig, einen Walzer von einem Choral zu unterscheiden.“ So trieb er sich denn bald zwischen den Spieltischen um¬ her, und weckte den leicht erreglichen Zorn des Grafen von Grieben dadurch, daß er in alle Karten der Reihe nach sah, und Jedem guten oder vielmehr möglichst schlechten Rath ertheilte; bald war er im Tanzsaal und schaute mit den Augen eines gutge¬ launten Katers, der weiße und schwarze Mäuschen auf der Scheundiele munter spielen sieht, auf die tan¬ zenden Paare. In dieser angenehmen Beschäftigung störte ihn Herr von Barnewitz, der eilfertig zur Thür des Tanzsaales hereinkam. „Oldenburg, da Du ja doch hier nichts zu thun hast —“ „Nein, guter Freund, ich habe in der That hier nichts zu thun.“ „So komm mit hinauf in den Speisesaal und hilf mir beim Arrangiren der Plätze. Willst Du?“ „Das Vertrauen, welches Du zu meinen organi¬ satorischen Talent hast, ehrt mich hoch, mon ami; “ sagte Oldenburg und folgte dem Voraneilenden über den Flur, die breite mit Teppichen belegte Treppe hinauf in den glänzend erleuchteten Speisesaal, wo die Bedienten eben mit der Herrichtung der Tafel fertig geworden waren. „Hier, Oldenburg, sind die Zettel, alle schon aus¬ geschrieben; nun sage mir, sollen wir —“ „Werthgeschätztester,“ sagte der Baron zu einem Bedienten, „könnten Sie mir wohl, behufs der Ent¬ korkung dieser Flasche das passende Instrument be¬ sorgen? — So, danke! — Festina lente , Barnewitz, auf deutsch: Du sollst dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden. Auf Dein Wohl, mein Junge! dieser Knabe Cliquot gehört zu den tugend¬ hafteren seines weit verbreiteten Geschlechts. Wirklich genießbar,“ und dabei schlürfte er ein Glas nach dem andern. „So, jetzt stehe ich vorläufig zu Deinen Diensten. — Stellen Sie die Flasche dort auf den kleinen Tisch, lieber Tressenrock! es sind noch ein paar Gläser drin. — Gräfin von Grieben — Baron Oldenburg, Baronin von Nadelitz, — bist Du des Teufels, Barnewitz? Ich soll zwischen den alten Schachteln zwei Stunden lang eingeklemmt sitzen? lieber will ich mit aufwarten helfen! Nein! wir wollen die Sache so machen. Die ganze alte Litanei setzen wir an das eine Ende des Tisches und das junge Deutschland an das andre. Geh' Du mit Deiner Heerde von Widdern und Mutterschaafen nach Osten, und ich will mit den Böcklein und Zicklein nach Westen gehen.“ „Das wird auch wohl das Beste sein,“ sagte Barne¬ witz; „hier sind Deine Zettel.“ Die Bedienten hatten den Saal verlassen; die bei¬ den Herren fingen, jeder auf seinem Ende, an, die Zettel zu vertheilen. „Fräulein Klauß,“ sagte Oldenburg, einen Zettel in die Höhe haltend; „wer, bei allen Olympiern ist Fräulein Klauß?“ „Unsre Erzieherin. Hast Du sie nicht bemerkt, das hübsche kleine Ding mit den hochverrätherischen Augen?“ sagte Barnewitz eifrig sortirend. „Wir konn¬ ten sie nicht in ihrer Kinderstube lassen. — Herr des Himmels, da sitzen ja schon wieder Mann und Frau zusammen! — weil sonst eine Tänzerin zu wenig ge¬ wesen wäre. Du kannst sie mit dem Doctor Stein zusammen setzen. Gleich und gleich gesellt sich gern.“ „Schön,“ sagte Oldenburg und grinste. „Wer soll denn die Berkow führen?“ „Zum Kuckuck, laß mich in Ruhe! Du meinet¬ wegen.“ F. Spielhagen, Problematische Naturen. II . 5 „ Bon ,“ sagte Oldenburg und trank ein Glas Cham¬ pagner. Nach einer kurzen Pause eifrigen Arrangirens: „Wer soll die Ehre haben, bei Deiner Frau zu sitzen?“ „Heilige Kreuz — ja freilich, das ist wichtig. Weißt Du was, Oldenburg, nimm den Unbedeutend¬ sten; dagegen kann Niemand etwas einwenden.“ Will's schon machen“, sagte Oldenburg und suchte unter den Zetteln, bis er den rechten gefunden hatte. „Dir will ich Deine unverbürgten Schiffernachrichten einträcken,“ murmelte er zwischen die Zähne. „Bist Du fertig, Oldenburg?“ „Gleich — So!“ „Nun, weißt Du was, Baron, geh' Du in den Tanzsaal und sage jedem Herrn, welche Damen er führen soll; ich will dasselbe bei den Spielern thun.“ „ Ainsi soit-il, “ lachte Oldenburg, dem Davon¬ eilenden folgend. Als er in den Ballsaal trat, fing man so eben einen Contretanz zu arrangiren an. Unmittelbar nach diesem Tanze sollte gespeist werden. „Die Gelegenheit ist günstig,“ murmelte er und ging, einem schwarzgefiederten langbeinigen Vogel zu vergleichen, der sich auf der Wiese Frösche sucht, mit wunderbarer Gravität hinter der Linie der Tanzenden hin, den schicklichen Moment benutzend, jedem der Herren den Namen der Dame, die er ihm zugetheilt hatte, in's Ohr zu flüstern. Oswald tanzte mit Frau von Barnewitz, die in aller Eile für Fräulein Klauß eingetreten war, welche noch schnell eine Commission in die Küchenregion auszurichten hatte, vis-à-vis Melitta und Herrn von Cloten. Oldenburg hatte schon sämmtlichen Herren ihr Schicksal verkündet, das Allen mehr oder weniger günstig zu sein schien, denn Jeder nickte mit zufriedener Miene. Ganz zu aller¬ letzt trat er zu Cloten und raunte ihm zu: „Cloten, ich habe Ihnen die Barnewitz gegeben.“ Dann zu Oswald: „Herr Doctor, Sie werden Frau von Berkow führen.“ Darauf entfernte er sich eiligst. „Hortense,“ flüsterte der überglückliche Cloten dieser Dame zu: „Weißt Du, wer Dich führen wird?“ „Doch nicht Du, Arthur?“ rief diese erschreckend. „Ja, mein Engel.“ „Unmöglich, Arthur. Du gehst gleich hernach zu Oldenburg und sagst, daß Du mich nicht haben willst.“ „Aber“ — „St! nicht so laut — Du bist ein Narr, ich 5* sage Dir, daß Barnewitz unser Verhältniß mehr als ahnt; dies fehlte noch gerade.“ „ Changez les dames !“ „Melitta, ich werde Dich zu Tisch führen.“ „Unmöglich, Oswald. Du mußt das zu redres¬ siren suchen.“ „Weshalb?“ flüsterte Oswald, und seine Augen¬ brauen zogen sich zusammen. „Sieh nicht so finster aus, liebes Herz! Ich will Dir Alles erklären.“ Fräulein Klauß erschien in dem Nebenzimmer. Sobald Oldenburg sie bemerkte, trat er auf sie zu und seine hohe Gestalt ehrfurchtsvoll neigend, sagte er in einem Ton, dessen Milde sonderbar mit der sonstigen Herbheit seiner Rede contrastirte: „Mein Fräulein, ich werde das Vergnügen haben, Sie zu Tisch zu führen.“ Die arme Kleine stand wie vom Blitz getroffen. Baron Oldenburg, der stolze unheimliche Baron, sie zu Tische führen. Mit einem wunderbar fragenden Gesicht blickte sie zu ihm auf. „Ich habe die Plätze selbst arrangirt, mein Fräu¬ lein; wenn sie einen besondern Wunsch haben, sprechen sie ihn frank und frei aus; ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen gefällig sein zu können.“ „Gott bewahre, Herr Baron —“ „ Eh bien, nous voilà d'accord . Wollen Sie mir Ihren Arm geben; ich sehe die Paare arangiren sich.“ In diesem Augenblick kam Cloten athemlos herbei. „Auf ein Wort, Oldenburg. — Sie verzeihen, Fräulein. — Oldenburg, Du mußt mir eine andere Dame verschaffen; ich kann unmöglich Hortense führen.“ „ Pourquoi pas, mon cher ?“ „Weil — zum Henker, weil — “ „ Je suis au désespoir, mon brave , aber Barne¬ witz hat Sie selbst vorgeschlagen.“ „Ist das gewiß?“ „Verlassen Sie sich darauf.“ Mit vor Freude strahlendem Gesicht eilte der An¬ dere zu seiner Dame zurück. „Oswald,“ sagte Melitta, „ich hab' mir's überlegt. Es ist doch besser so — aber mit der Aussicht auf den Cotillon ist es vorbei. Nun komm, gieb mir Deinen Arm und sei wieder gut.“ Die älteren Herrschaften waren zuerst in den Speisesaal getreten, und hatten sich bereits hinter ihren Stühlen gereiht; die Gesellschaft aus dem Tanz¬ saal kam hinterdrein. Herr von Barnewitz kam für einen Augenblick von jener Seite herüber, zu sehen, ob Alles in Ordnung war. Seine Stirn verdüsterte sich, als er seine Frau an Cloten's Arm, Melitta neben Oswald stehend bemerkte, und endlich Olden¬ burg selbst, seine kleine Dame wie eine Prinzeß von Geblüt führend, in den Saal trat. „Oldenburg, zum Teufel, was hast Du denn da angerichtet,“ flüsterte Barnewitz heftig. „Ich will nicht, daß Cloten meine Frau führt, Sie reden schon genug über die Beiden.“ „Ja, lieber Freund, Du sagtest, ich sollte den Un¬ bedeutendsten wählen; da war ja gar keine Wahl.“ „Und Melitta mit dem Doctor, Du mit der Klauß — das ist ja geradezu lächerlich.“ „Ja, Barnewitz, das ist nun einmal geschehen; und nun würdest Du mir einen ausnehmenden Ge¬ fallen erweisen, wenn Du nicht desavouirtest, was ich in Deinem Auftrage gethan habe, und Dich ruhig an Deinen Platz verfügtest; die Gräfin Grieben sucht Dich überall mit ihren großen Eulenaugen.“ „Ich wasche meine Hände in Unschuld,“ grollte Barnewitz, davon eilend. „Und ich will eine Flasche Champagner auf meinen gelungenen Staatsstreich trinken,“ grinste Oldenburg, an der Seite der kleinen Erzieherin, gegenüber Os¬ wald und Melitta, in unmittelbarer Nähe von Cloten und Hortense Platz nehmend.“ „Meine Damen und Herren,“ sagte er; ich hoffe, daß Sie mit mir in ein stilles begeistertes Hoch auf das Wohl des Mannes einstimmen werden, der Jedem von uns seinen Platz anwies, und der, während er nur das Gemeinwohl vor Augen zu haben schien, doch die geheimen Wünsche jedes Einzelnen zu erfüllen wußte. Ich gebe Ihnen zu bedenken, meine Damen und Herren, daß ein Mangel an Enthusiasmus in diesem feierlichen Augenblick nicht nur die Gefühle jenes Mannes schmerzlich berühren, sondern auch die Em¬ pfindungen eines Ihrer Nächsten auf's Tiefste verletzen würde, Ihres Nächsten, den mindestens wie sich selbst zu lieben, Sie schon die Religion der Liebe ver¬ pflichtet, zu der wir uns ja Alle ohne Ausnahme be¬ kennen. Meine Damen und Herren, trinken Sie mit mir auf das Wohl Ihres und meines besten Freundes, auf das Wohl Adalberts von Oldenburg.“ Man kann sich denken, daß, so weit als des Barons mäßig erhobene Stimme schallte. Wenige Lust hatten und Niemand es wagte, sich von diesem ironischen Toast auszuschließen. Die krystallenen Gläser klangen aneinander, und bald flackerte die lebhafteste Unter¬ haltung um den ganzen Tisch herum auf, wie das Feuer in einem Haufen Stroh, der an allen Ecken und Enden zugleich angezündet ist; jene schwirrende, summende, kichernde, lachende, lärmende, flüsternde Unterhaltung, wo der geistreichste Einfall und die al¬ bernste Bemerkung zuletzt als gleich werthvolle oder werthlose Münze coursiren. „Achte auf Deine Augen, Oswald,“ sagte Melitta, in jener rapiden Weise, wo die Rede sich kaum vom Hauch unterscheidet und doch jede Silbe deutlich ge¬ hört wird. — „Deine holden Liebesbriefe werden von profanen Augen unterwegs aufgefangen, erbrochen und gelesen.“ Von Cloten hatte Hortense vergeblich zu über¬ reden gesucht, es sei ihres Gemahls eigener Wunsch gewesen, daß er sie zu Tische führe. „Sei doch nicht so einfältig, Arthur,“ sagte die junge Frau. „Es ist eine Intrigue von Oldenburg, verlaß Dich darauf. Hast Du je mit Oldenburg über mich gesprochen?“ „Nein, Hortense — parole d'honneur .“ „Ich bin überzeugt, Du hast es gethan; Du wirst mich noch unglücklich machen mit Deiner albernen Schwatzhaftigkeit.“ „Aber, Hortense — “ „Still, Oldenburg beobachtet uns fortwährend.“ „Cloten!“ rief der Baron. „Was, Baron?“ „Wollen Sie in diesem Herbst mit mir nach Italien reisen? Sie wissen, in der bewußten Angelegenheit.“ „Ginge rasend gerne mit, Baron; aber Sie wissen, tausend Gründe dagegen; erstens Jagd, zweitens Pferderennen, drittens hasse Reisen, viertens, verstehe kein Wort italienisch.“ „Nun, das ist das Wenigste. Was man noth¬ wendig wissen muß, beschränkt sich auf Si signore, Anima mia dolce , das Andere läßt man sich von den Schiffern sagen.“ Von Cloten erröthete bis in die Stirn hinauf, denn, wie Oldenburg diese Worte lachend sprach, fühlte er Hortenses Fuß auf dem seinen und hörte ihre von inneren Thränen fast erstickte Stimme: „Siehst Du, Arthur; habe ich es nicht gesagt?“ Auch Melitta, die seitdem sie den Baron sich ge¬ rade gegenüber sah, sehr still geworden war, schien über diese Bemerkung sichtlich betroffen. Sie senkte plötzlich die langen Wimpern, wie wenn sie verbergen wollte, was jetzt in ihrer Seele vorging. „Ich rufe Sie zum Zeugen auf, gnädige Frau,“ rief Oldenburg. „Hat Ihnen Ihr Italienisch viel genützt?“ „Im Gegentheil,“ sagte Melitta, und ihre dunklen Augen flammten auf; „ich habe so nur manches al¬ berne, lügnerische Wort mit anhören müssen, das mir sonst unverständlich geblieben wäre.“ „Ja, ja, die Italiener lügen viel,“ lachte der Baron. „Sagen wir lieber, es wird in Italien viel gelogen,“ replicirte Melitta. „Zum zweiten Mal abgefallen,“ murmelte der Baron. „Das Weib ist noch immer schön, wie ein Engel und klug wie die Schlange. Ja, sie ist schöner, als früher. Ihre Augen sind noch größer und leuch¬ tender, ihre Schultern noch runder; ihre Stimme ist noch weicher und wohllautender — und das Alles in majorem Dei Gloriam , das heißt dem hübschen Fant an ihrer Seite zu Liebe! Hm! — Herr Doctor, wollen Sie mir die Ehre erweisen, ein Glas Cham¬ pagner mit mir zu trinken? Ich dächte, es läge eine Wolke auf ihrer Stirn. Verscheuchen Sie dieselbe. Sie wissen: dulce est desipere in loco .“ „Was für eine verzweifelte Sprache ist denn das nun wieder, Baron?“ rief von Cloten. „Platt — bramaputraisch — mon cher . Auf Ihr Wohl, Cloten!“ Je mehr sich die Mahlzeit ihrem Ende nahte, und je schneller sich die von den Bedienten stets wieder ge¬ füllten Champagnergläser leerten, desto lärmender und wüster wurde die Unterhaltung, so daß selbst die Stimme des Grafen Grieben, die man bisher wie das Kreischen eines großen Papagei's in einer Me¬ nagerie immer durchgehört hatte, übertönt wurde. Der dünne Firniß äußerlicher Cultur, aus welchem die ganze sogenannte Bildung dieser bevorrechtigten Klasse bestand, begann von den Strömen Weines, die unaufhörlich flossen, in einer erschreckenden Weise her¬ untergespült zu werden, und die nackte, trostlos dürf¬ tige Natur kam überall zum Vorschein. Die jungen Herren erzählten den jungen Damen ihre Abenteuer auf der Jagd, bei den Pferderennen, ihre Heldenthaten während ihrer militairischen Dienstzeit, oder gefielen sich in Unterhaltungen, die scherzhaft und galant sein sollten, und die für jedes feinere weibliche Gemüth einfach plump und zweideutig waren. Indessen schienen die jungen Damen leider an diese Sorte Unterhaltung viel zu sehr gewöhnt zu sein, als daß dieselbe irgend einen unangenehmen Eindruck auf sie hätte hervor¬ bringen können. Im Gegentheil, sie ließen sich ein Glas Champagner nach dem andern aufnöthigen, sie wollten sich todtlachen über die reizenden Einfälle der jungen Herren, besonders des jungen Grafen Grieben, eines sehr langen, sehr dünnen und sehr blonden Jünglings, dessen Erscheinung flüchtig an eine Giraffe erinnerte, und der, wenn er wie diesmal nicht in un¬ mittelbarer Nähe Oldenburg's sich befand, gern den starken Geist spielte und eine gewisse Autorität über seine Kameraden ausübte. Oldenburg selbst schien entweder ein feuriger Verehrer des Gottes Bacchus zu sein, oder ein ganz besonderes Vergnügen darin zu finden, den bacchantischen Taumel um sich her ge¬ flissentlich zu vermehren; denn er trank und sprach unaufhörlich und forderte die Andern unausgesetzt zum Trinken auf. Besonders hatte er dabei von Cloten im Auge, der im Anfang der Mahlzeit, durch Hor¬ tense's Vorwürfe aufgeschreckt, sehr still und verlegen gewesen war, kaum aber eine Flasche getrunken hatte, als er die schönen Vorsichtsmaßregeln, die ihm seine Geliebte in aller Eile für diesen kritischen Fall ge¬ gegeben, vergaß, und ihre abwehrenden Blicke mit desto feurigeren, und ihr geflüstertes: „Aber Arthur, nimm Dich doch zusammen!“ mit einem fast hörbaren: „Aber, Kind, was willst Du nur? es achtet kein Mensch auf uns,“ beantwortete. Ja, der junge Edelmann trieb die Unvorsichtigkeit so weit, bei einer Gelegen¬ heit, unter dem Vorwande ein Tuch aufzuheben, Hor¬ tense's herabhängende Hand zu küssen, ein andermal ihr Glas mit dem seinen zu vertauschen; mit einem Worte, er benahm sich so, daß, wer das Verhältniß der Beiden noch nicht kannte, es heute Abend kennen lernen, und wer es ahnte, in seinem Verdacht bestätigt werden mußte. „Ich werde sogleich nach Tische fahren, Oswald,“ sagte Melitta zu diesem, der in der letzten Viertel¬ stunde sich fast nur mit Emilie von Breesen, seiner Nachbarin auf der andern Seite, unterhalten hatte. „Ich wollte, Du wärst gar nicht gekommen, oder hättest mich zu Hause gelassen,“ sagte der junge Mann bitter. „Schilt mich nur noch,“ sagte Melitta, und schmerz¬ lich zuckte es um den reizenden Mund. „Ach, Os¬ wald, ich wollte, ich könnte Dich mitnehmen — für jetzt und für immer.“ „Hoffentlich erlaubt es Baron Oldenburg,“ ant¬ wortete Oswald, der bemerkte, wie die grauen Augen des Barons, während er sich lebhaft mit dem kleinen Fräulein Klauß unterhielt, unausgesetzt Melitta und ihn selbst beobachteten. Melitta antwortete nicht, aber die Thräne, die plötzlich an ihren dunklen Wimpern erglänzte und die sie mit einer schnellen Bewegung ihres feinen Taschen¬ tuchs sogleich trocknete, war Antwort genug. „Verzeih' mir, Melitta,“ murmelte Oswald, „aber ich bin sehr unglücklich.“ „Ich bin es nicht minder, vielleicht noch mehr — und darum gerade möchte ich, daß Du ganz glücklich wärest, wünschte ich, ich könnte Dich ganz glücklich machen.“ „Du kannst es durch ein Wort!“ „Was ist es, Oswald?“ „Sage, daß Du mich liebst.“ „Oswald, so fragt die Liebe nicht, so fragt die Eifersucht.“ „Giebt es eine Liebe ohne Eifersucht?“ „Ja, die echte Liebe, die nichts fürchtet, und Alles glaubt.“ „So wäre meine Liebe nicht die echte? Freilich, wie können wir, die wir nicht vom Adel sind, auch Anspruch auf irgend etwas Echtes machen! Unsere Mütter und Schwestern tragen böhmisches Glas statt Diamanten, wir selbst haben keine echte Ehre, keine echte Liebe — das ist ja sonnenklar.“ Wenn Oswald, indem er diese wahnsinnigen Worte sprach, in Melitta's Herz hätte sehen können, ja wenn er nur einen Blick in ihr Gesicht geworfen hätte, er würde vor Scham haben vergehen müssen. Melitta antwortete nicht; sie weinte auch nicht, sie blickte nur starr vor sich hin, als könne sie das Ungeheure nicht begreifen, daß die Hand, die zu küssen sie sich nieder¬ beugte, sie in's Antlitz geschlagen; daß der Fuß, den mit Narden zu salben, sie niedergekniet war, sie grau¬ sam zurückgestoßen habe... Wie hatte sie sich gefreut auf diesen Abend, wie schön hatte sie es sich gedacht, mitten im Lärm der Gesellschaft allein zu sein mit dem Geliebten, seinen Worten zu lauschen, seine Hand verstohlen zu drücken, und während hübsche Frauen und reizende Mädchen mit ihm coquettirten, in seinen Augen zu lesen: Ich liebe doch nur Dich, Melitta! Und über diesen Abend hinaus hatte eine rosige Zu¬ kunft sich vor ihren Blicken aufgethan — ein Land der Hoffnung — nicht in deutlichen Umrissen, aber voll Ruhe und Liebe und Sonnenschein... Aber da hatte sich ihre Vergangenheit herangewälzt, wie ein grauer giftiger Nebel, und hatte das sonnige Land der Zukunft immer dichter und dichter verschleiert... Und jetzt erschien ihr durch den giftigen Nebel das Antlitz des Geliebten wie von Haß verzerrt, und seine Stimme drang seltsam fremd zu ihrem Ohr. War das sein Antlitz? war das seine Stimme, die jetzt die Worte sprach: „Gnädige Frau, man hebt die Tafel auf, darf ich um Ihren Arm bitten?“ Während sie in den Reihen der Uebrigen die Treppe hinunterschritten, sprach Melitta kein Wort; auch Oswald nicht. Als sie unten im Saale ange¬ kommen waren, verbeugte er sich tief vor ihr, und als er den Kopf hob, schaute er auf einen Augenblick in ihr Antlitz. Er sah, wie schmerzlich es um ihre Lippen zuckte; er sah, welch' rührende Klage aus ihren großen dunkeln Augen sprach — aber sein Herz war verschlossen, und er wandte sich zu einer Gruppe junger Mädchen und Herren, die das abgebrochene über¬ müthige Tischgespräch noch eine Weile fortsetzen zu wollen schienen. Melitta sah ihm noch für einen Mo¬ ment nach, sah, wie die hübsche Emilie von Breesen sich lebhaft zu ihm wandte, wie er ihr mit einem Scherze entgegentrat, sie lachend etwas erwiderte und ihn mit ihrem Fächer auf den Arm schlug. Weiter sah sie nichts mehr; als sie sich wiederfand, saß sie in der Ecke ihres Wagens. Auf die Bäume und Hecken an der Wegseite, die an dem Fenster vorübertanzten, fiel das helle Licht aus den Laternen, aber Melitta sah Alles nur wie durch einen Nebelflor, denn ihr Herz und ihre Augen waren voll Thränen. Viertes Kapitel. Mit Melitta schien der gute Genius aus der Ge¬ sellschaft gewichen und allen Dämonen freies Spiel gegeben. Immer lauter kreischten die Geigen, immer feuriger wurden die Blicke der Herren, immer fri¬ voler ihre Rede, immer üppiger und leidenschaftlicher die Bewegungen der Tänzerinnen. Und noch immer floß der Champagner in Strömen. Frische Lichter waren während des Abendessens überall auf den Kronleuchtern der Säle und rings in den Zimmern aufgesteckt — es schien, als ob die Lust kein Ende nehmen solle, nehmen könne. Auch die älteren Herr¬ schaften hatten sich wieder an die Spieltische begeben; aus einem kleinen Nebenzimmer, in welches fünf oder sechs Herren sich zurückgezogen hatten, hörte man das Klingen von Goldstücken und ein gelegentliches: Faìtes votre jeu, messieurs ! Oswald hatte sich vor dem Beginn des zweiten F. Spielhagen, Problematische Naturen. II . 6 Tanzes nach Herrn und Frau von Grenwitz umgesehen, denn er hatte nicht bemerkt und erfuhr erst jetzt, daß diese die Gesellschaft schon vor dem Abendessen ver¬ lassen hatten, und daß der Wagen wiederkommen würde, ihn abzuholen. Er hatte Melitta, da sie nicht in dem Ballsaal erschienen war, in einem der andern Zimmer vermuthet. Ein Diener, der mit einem Prä¬ sentirbrette voll Weingläsern an ihm vorübereilte, antwortete auf seine Frage, ob er Frau von Berkow nicht gesehen habe? „die gnädige Frau ist soeben fort¬ gefahren. Befehlen Limonade oder Champagner?“ Oswald nahm ein Glas Wein und leerte es auf einen Zug. „Fortgefahren — ohne Abschied! Vortrefflich,“ murmelte er, indem er sich in den Ballsaal zurückbegab. Und immer nächtiger wurde es in seiner Seele. Jetzt zürnte er nicht mit sich, daß er die Geliebte so schnöde gekränkt und sie so gekränkt hatte ziehen lassen, sondern ihr, daß sie fortgegangen war, ohne ihm Gelegenheit zu geben, sie um Verzeihung zu bitten. Ihm war zu Muthe, wie einer Seele zu Muthe sein könnte, die in ihren Sünden zur Hölle gefahren ist, weil sie des Priesters Absolution verschmähte, und die nun gegen sich selbst und gegen den unschuldigen Priester wüthet. Tolle Gedanken wirbelten durch sein überreiztes Gehirn — es wäre ihm eine Wollust gewesen, wenn einer von diesen jungen Adeligen, durch seinen Uebermuth beleidigt, ihm feindlich entgegen¬ getreten wäre. Ja, er legte es darauf an, er witzelte und spöttelte auf die übermüthigste Weise; aber ent¬ weder verstanden die Halbberauschten ihn nicht oder sie hatten noch so viel Verstand behalten, einzusehen, daß ein Duell mit einem Manne, dessen Kugel unfehlbar war, eine Sache sei, die wohl bedacht sein wolle. Er suchte sich zu überreden, daß von den anwesenden Damen mehr als eine vollkommen so schön und liebens¬ würdig sei wie Melitta — daß es lächerlich sei, sich um die Abwesende zu grämen, da ihm hier mehr wie ein feuriges Auge zu entschädigen versprach. . . Warum sollte er sich nicht in Emilie von Breesen verlieben? Warum nicht? Sie war eine Knospe, die zu einer wundervollen Rose aufblühen mußte. Warum sollte er nicht den ersten Blick in dieses schwellende Knospen¬ leben thun? sich nicht zuerst an dem Duft dieser frischen Blume berauschen? Und war sie nicht schlank und geschmeidig wie ein Reh? und war ihr rosiger Mund nicht schon zu einem wollüstigen Kusse halb geöffnet, und blickte sie nicht mit so großen, grauen, halb scheuen, halb kecken, halb neugierigen und halb verständnißklaren Augen zu ihm auf, wie er jetzt über die Lehne ihres Stuhls gebeugt mit ihr schwatzte? . . . 6* „Sie müssen uns ja besuchen, Herr Stein! Ich lade Lisbeth noch dazu, und dann reiten wir zusammen spazieren.“ „Lassen Sie Fräulein von Meyen nur zu Hause. Ich ziehe die Duetts den Terzetts bei weitem vor.“ „Ist das wahr? Aber meine Cousine ist ein sehr hübsches Mädchen. Finden Sie nicht?“ „Fräulein Lisbeth ist ein reizendes Wesen, das nur den einen Fehler hat, Sie zur Cousine zu haben, und nur den einen Fehler begeht, sich zu häufig neben Sie zu stellen.“ „Warten Sie, das sage ich ihr wieder —“ „Sie würden mich dadurch dem Haß der jungen Dame aussetzen und mir dafür eine Entschädigung schuldig sein.“ „Und liegt diese Entschädigung in meiner Macht?“ „Nein, in Ihren Augen.“ „Sie Spötter, kommen Sie, die Reihe ist an uns.“ Oswald hatte sich in der folgenden Pause zwecklos in den Zimmern umhergetrieben. Als er in den Ball¬ saal zurückkam, sah er sich vergeblich nach Emilie von Breesen um. Halb und halb sie suchend und auch wieder ohne Plan, von seinen bösen Gedanken gejagt, weiter irrend, gerieth er in eine andere Flucht von Zimmern, die an der den Spielzimmern entgegenge¬ setzten Seite an den Ballsaal stieß und in welchen er bis jetzt noch nicht gewesen war. Nur hier und da brannte noch ein halb verlöschendes Licht auf einem Wandleuchter oder vor einem Spiegel, und zeigte ihm wie in einem bösen Traum ein altes verbräuntes Fa¬ milienportrait oder sein eigenes bleiches Gesicht. Die Stühle standen wirr durcheinander. Die Fenster waren mit Vorhängen verhüllt. Durch die Spalten schim¬ merte der Mond, der jetzt aufgegangen war, herein und zeichnete hier und da einen hellen Streifen auf die Teppiche des Fußbodens, Oswald trat, um frische Luft zu schöpfen, an eins dieser Fenster. Als er den dunkelrothen, schweren Vorhang zurückschlug, fuhr eine weiße Gestalt, die in der tiefen Nische des Fensters auf einem niedrigen Rohrsessel gesessen und den Kopf in die Hand gestützt hatte, scheu empor und stieß einen leisen Schrei der Ueberraschung aus. Oswald wollte den Vorhang wieder fallen lassen und sich zurückziehen, als die Gestalt einen Schritt auf ihn zutrat und die Hand nach ihm ausstreckte. . . Und ein Paar weiche Arme umschlangen ihn und ein knospender Busen wogte stürmisch an seiner Brust; zwei glühende Lippen pre߬ ten sich auf seinen Mund, und eine leise Stimme hauchte: „Oswald, o mein Gott, Oswald!“ Ein Knabe, der mit seinem Schwesterchen gespielt und aus Unachtsamkeit das Kind schwer verletzt hat, kann nicht bestürzter und erschrockner sein, wenn er das Blut der Kleinen fließen sieht, wie es Oswald war, als er die Thränen des Mädchens auf seiner Wange fühlte. Sein wahnsinniger Rausch von Liebe und Eifersucht war in einem Augenblicke verflogen. Was hatte er gethan? Er hatte die schnöde Rolle des listigen Finklers gespielt; er hatte das arme Vö¬ gelchen mit Schmeichelworten und Liebesblicken gelockt, bis es zu ihm herangeflattert kam und sich an seinen Busen schmiegte. . . „Mein Fräulein,“ flüsterte er, indem er sanft den Kopf des Mädchens, das jetzt leise an seiner Brust schluchzte, emporzuheben suchte, „Emilie, theures Kind, um Gotteswillen, beruhigen Sie sich! Bedenken Sie, wenn Jemand Sie hier sähe, oder hörte —“. „Was gehn mich die Andern an, ich liebe Dich,“ murmelte das Mädchen. „Mein bestes Fräulein, ich beschwöre Sie, kommen Sie zu sich, machen Sie sich nicht unglücklich —“. „So lieben Sie mich nicht,“ sagte das leidenschaft¬ liche Mädchen sich schnell emporrichtend, „so lieben Sie mich nicht? Gut, ich gehe —“. Sie machte einen Schritt nach dem Vorhang hin aber die Leidenschaft hatte ihre Kräfte aufgezehrt. Sie schluchzte laut auf, und wäre zu Boden gestürzt, hätte Oswald sie nicht in seinen Armen aufgefangen. Seine Lage war so peinlich wie möglich. In jedem Augenblick fürchtete er, Stimmen in dem Zimmer zu hören, den Vorhang zurückschlagen zu sehen — und wiederum, die Aermste in diesem Zustand halber Ohnmacht zu verlassen, zumal da er ihr schicklicher¬ weise Niemand zu Hülfe senden konnte, war ihm un¬ möglich. Und doch mußte er sich losreißen, denn er fühlte, wie das für einen Augenblick zurückgedrängte Fieber seiner Sinne, je länger diese wunderliche Si¬ tuation währte, wieder heiß und immer heißer durch seine Adern zu rieseln begann . . . zärtliche, liebe¬ volle, leidenschaftliche Worte mischten sich, er wußte selbst nicht wie, in seine leisen Bitten; eine unwider¬ stehliche Gewalt drückte ihm den schlanken jugend¬ lichen Leib fester und fester in die Arme, ließ seine Lippen flüchtig die Lippen, die Augen, das Haar des holden Geschöpfes berühren. . . . Mehr als alle Worte es vermocht hätten, brachten diese Zeichen der Liebe das leidenschaftliche Kind wieder zu sich. „So liebst Du mich doch, Oswald?“ flüsterte sie, sich innig an ihn schmiegend. „Ja, ja, Holde, wer könnte so grausam sein, Dich nicht zu lieben. Aber bei Ihrer Liebe beschwöre ich Sie, verlassen Sie mich jetzt, ehe es zu spät ist. Ich sehe Sie im Saale wieder“ Das Mädchen legte noch einmal ihren Kopf an seine Brust, als ahnte ihr, daß er da zum ersten und zum letzten Male geruht, und hob noch einmal den Mund zum Kusse zu ihm empor, als wüßte sie, daß so süße verstohlene Küsse sie nun und nimmer wieder im Leben geben und empfangen würde. . . . Die weiße, schlanke Gestalt war verschwunden und nur der Mondschein flimmerte auf dem dunkelrothen Vor¬ hang, der das Fenster von dem Zimmer trennte. Und jetzt, als Oswald die Hand an den Vorhang legte, sich, wo möglich auf einem Umwege wieder in den Ballsaal zurückzubegeben, hörte er die Stimme zweier Männer, die so eben in das Gemach traten. Fünftes Kapitel. „Wer zum Tausend war denn das,“ sagte die eine Stimme — es war die Stimme des Baron Ol¬ denburg — „war das nicht die schlanke Emilie?“ Wonach hat denn die kleine Menschenfischerin hier im Trüben geangelt? — Aber jetzt, Barnewitz, sage ich mit Hamlet: Wo führst Du hin mich? Red', ich geh' nicht weiter. Zweimal habe ich schon in dem ver¬ dammten Clairobscur, das in diesen Räumen herrscht, meine freiherrlichen Schienbeine mit einem groben Schemelbeine in unangenehme Berührung gebracht. Gott sei Dank, hier ist eine Causeuse: eh bien, mon ami, causons; que me vous? “ „Ich bitte Dich, Oldenburg, sei für einen Augen¬ blick ernsthaft,“ sagte Herr von Barnewitz, und seine Stimme klang seltsam gepreßt — „mir ist wahrhaftig nicht lächerlich zu Muthe.“ „Ihr seid seltsame Menschen! Du und Deines Gleichen. Ihr glaubt, ein ehrlicher Kerl, könne kein ernsthaftes Wort vorbringen, ohne eine Leichenbitter¬ miene dabei zu machen. Der Humor ist Euch ein unbekannter Luxus. Nun wohl, mein ernsthafter Freund, was hast Du?“ „Höre, Oldenburg —“. „Still! wir sind doch hier unbelauscht? Mir war, als hörte ich eine Ratte hinter den Tapeten?“ „Es war nichts.“ „ Eh bien , so verkünde mir in möglichst verständ¬ lichen Worten Deine Trauermähr.“ Die Stimmen der Redenden wurden leiser, aber nicht so sehr, daß Oswald nicht jedes Wort deutlich hörte. Er verwünschte seine Situation, die ihm die Rolle des Lauschers aufzwang; aber er sah keine Mög¬ lichkeit zu entrinnen. Da Oldenburg Fräulein von Breesen erkannt hatte, würde er die Ehre dieser jungen Dame preisgegeben haben, wäre er jetzt aus seinem Versteck hervorgekommen. Er versuchte, ob er nicht geräuschlos das Fenster öffnen könne, um mit einem kühnen Sprunge über die Stachelbeerhecke fort, die sich unter demselben hinzog, in den Garten, und von dort durch die offene Thür des Ballsaales in diesen zurückzugelangen, aber er stand von diesem Vorhaben, als zu gewagt ab, und ergab sich, nicht ohne heimlich seinen Unstern zu verwünschen, in die halb lächerliche, halb ärgerliche Situation. „Oldenburg,“ sagte Barnewitz, „hat Cloten Dich gebeten, ihn zu meiner Frau zu setzen, oder war es blos ein Einfall von Dir?“ „Wie kommst Du auf diese seltsame Frage?“ „Gleichviel! beantworte sie mir nur?“ „Nicht bevor ich weiß, wo dies Alles hinaus soll!“ „Ich will eine Antwort und keine Ausflucht,“ sagte der wüthende Edelmann. „Euer Drohen hat keine Schrecken, Cassius,“ ant¬ wortete Oldenburg mit einem Tone, dessen königliche Ruhe sonderbar mit dem heisern, leidenschaftlichen Ton der Stimme des Andern contrastirte. „Ich sage Dir noch einmal, Barnewitz, entweder Du sagst mir, was meine Aussage in dieser Sache für eine Bedeu¬ tung hat, oder ich verweigere, Dir Rede zu stehen.“ „Nun wohl, die Sache ist kurz und bündig die: Cloten liebt Hortense!“ „O! und vice versa : liebt Deine Frau auch diesen liebenswürdigen Jüngling?“ „Der Teufel soll ihn holen.“ „Ein höchst christlicher Wunsch, dem ich mich von ganzem Herzen anschließe. Seit wann spielt dies romantische Verhältniß?“ „Seit wir von unsrer Reise zurück sind.“ „Und welche Beweise hast Du?“ „Tausend!“ „Und was gedenkst Du zu thun? „Herr Gott des Himmels, Oldenburg, Du fragst, als ob es sich um eine Whistparthie handelte! Um¬ bringen will ich den Schuft, mit der Hetzpeitsche will ich ihn von meinem Hofe jagen, ihn und seine Maitresse.“ „ Bon ! Und willst Du mir einen dieser tausend Beweise nennen?“ „Nun, ich dächte der heutige Abend wäre Beweis genug. Erst läßt sie sich von ihm zu Tische führen, hernach coquettirt sie mit ihm auf eine unverschämte Weise —“. „Halt, wer hat Dir das gesagt?“ „Der junge Grieben.“ „Dann sage dem jungen Grieben, daß er sein Spatzengehirn zu etwas Besserem verwenden könnte, als so alberne Geschichten zu erfinden und sie Dir zuzutragen. Ich habe näher gesessen, als er, und bin mindestens kein schlechterer Beobachter, und ich sage Dir, daß Deine Frau und Cloten sich über Tische so anständig benommen haben, wie — man es nur von einem Edelmann und einer Edelfrau erwarten kann. Und dann bedenke doch gefälligst, daß das ganze Arrangement nur ein Einfall, und, wie ich jetzt sehe, ein schlechter Einfall von mir war.“ „Ich kann mich darauf verlassen, Oldenburg?“ „Ich meine gewöhnlich, was ich sage.“ „Aber es ist doch wahr!“ knirschte von Barnewitz. „Lieber Freund, ich kann darüber gar nicht urtheilen, und Du würdest mich also ausnehmend verbinden, wenn Du mich aus dem Handel ließest. Willst Du aber meinen freundschaftlichen Rath, so steht er Dir gern zu Diensten.“ „Was soll ich thun.“ „Deine Hetzpeitsche an der Wand hängen lassen, und auf jede Weise einen Scandal vermeiden, in welchem sich derjenige immer am meisten blamirt, auf dessen kosten der ganze Spectakel schließlich aufge¬ führt wird, c'est à dire : der Ehemann. Sodann rathe ich Dir, zu bedenken, daß unsere chronique scandaleuse überreich ist an dergleichen Geschichten, und daß, wenn alle gekrönte Häupter unter uns bei jedem neuen Ende, daß ihrem Schmucke angesetzt wird, zur Hetzpeitsche greifen wollten, schließlich keine Seiler und Riemer im Lande mehr aufzutreiben sein würden. Drittens erlaube ich mir, Dir den unmaßgeblichen Rath zu ertheilen: schaffe die Hälfte von Deinen Jagdhunden, und Deine sämmtlichen Maitressen ab. Lasse die Hasen ihren Kohl in Ruhe fressen, und die Bauerbengel ihre Schätze in Frieden küssen; bekümmere Dich mehr um Hortense, die wie alle Frauen, nichts Besseres verlangt, als geliebt zu werden, und die eine viel zu kluge Dame ist, als daß ihr, wenn sie die Wahl zwischen Dir und Cloten hat, Deine Vorzüge nur einen Augenblick verborgen bleiben könnten. Und schließlich, laß uns wieder unter Menschen gehen, denn dieses philosophische Gespräch in diesem mysti¬ schen Halbdunkel hat mich außerordentlich angegriffen, und mich verlangt herzinnig nach einem Glase Cham¬ pagner.“ „Ha, ha, ha,“ lachte der halb betrunkene Barne¬ witz, der, wie es bei beschränkten Menschen zu gehen pflegt, aus einem Extrem in das andere verfiel; „Ja, das ist wahr, Oldenburg, ich bin ein ganz andrer Kerl, als dieser verdammte Hasenfuß, dieser Cloten. Und Hortense weiß das auch recht gut, ha, ha, ha! S'ist auch war: ich habe in der letzten Zeit ein bischen flott gelebt. Weißt Du, unsre italienische Reise hat mich eigentlich so liederlich gemacht. Die verdammten Weibsen mit ihren schwarzen glänzenden Augen — Ja und à propos , glänzende Augen. Was ich Dich immer fragen wollte: ist es denn jetzt ganz vorbei mit Dir und der Berkow?“ „Mit mir und Frau von Berkow? Welch' tolle Blase treibt denn Dein Gehirn nun schon wieder? Was soll vorbei sein zwischen ihr und mir?“ „Aber Oldenburg, Du wirst einem alten Fuchs wie mir doch nicht einbilden wollen, daß Du die süßen Trauben nur immer fein säuberlich aus der Ferne bewundert hast?“ „Höre, mein Schatz,“ sagte Oldenburg nur seine Stimme klang scharf wie ein zweischneidiges Messer; „Du weißt, ich verstehe Scherz, wie Einer; wer es aber wagt, Melitta's Ehre zu begeifern, beim allmäch¬ tigen Gott: er stirbt von meiner Hand.“ „Nun sieh', wie heftig Du gleich wieder wirst.“ „Ich heftig? Ich bin so kühl wie Champagner in Eis. — Ja, was ich sagen wollte, versprich mir, Barnewitz, daß Du weder heute noch morgen, über¬ haupt nicht bevor Du mit mir Rücksprache genommen, etwas in dieser Angelegenheit thust; vor allem Dir gegen Deine Frau nicht das Mindeste merken läßt; hörst Du Barnewitz, nicht das Mindeste!“ „Ja, der gute Rath kommt nun zu spät,“ sagte Barnewitz; „ich habe schon im Vorübergehen ein paar Worte gegen Hortense fallen lassen; ich sage Dir: sie wurde bleich wie die Wand. Der verdammte Hallunke!“ „Das war sehr unrecht, und sehr unritterlich, mein Ritter von der traurigen Gestalt,“ sagte Olden¬ burg; „alte Weiber schwatzen, Männer handeln; solche Scenen zwischen einem heulenden Weibe und einem polternden Ehemanne finde ich über alle Begriffe ple¬ bejisch und gemein, und das Bewußtsein, das wir im Rechte, der andere im Unrechte ist, sollte uns doppelt mild, zartfühlend und nachsichtig machen. Im Un¬ rechte sein, und es noch dazu eingestehen müssen, ist an sich schon Unglück genug.“ „Ach Oldenburg; das ist Alles für mich zu hoch. Und dann, Du kennst die Weiber nicht, wenn Du glaubst, sie nehmen sich dergleichen so sehr zu Ge¬ müth. Zum einen Ohr hinein, zum andern wieder heraus. Komm Oldenburg, und überzeuge Dich, ob Du Hortense ansehen kannst, daß ich ihr vor zehn Minuten gesagt habe, ich würde Cloten die Knochen im Leibe entzweischlagen, wenn die verdammte Ge¬ schichte nicht sofort ein Ende nähme.“ „Ja, ja, Du bist der wahre Othello! Und ich in meiner gutmüthigen Dummheit versuche diesen bru¬ talen Mohren zu einem civilisirten Europäer zu waschen! Quelle bêtise !“ Als Oswald die Stimme der Redenden nicht mehr vernahm, und die Musik, die aus dem Saale herüber¬ tönte, zeigte, daß der Tanz wieder begonnen hatte, kam er aus seinem Versteck hervor. Er vermuthete, daß diese Flucht von Stuben auf einem langen Cor¬ ridor enden müsse, den er beim Hinaufgehen in den Speisesaal bemerkt hatte. Er hatte sich nicht getäuscht. Schon aus dem nächsten Zimmer führte eine Thür auf den Corridor. Aus demselben gelangte er auf den Hausflur und von dort, ohne irgend Aufsehen zu erregen, in den Empfangssaal und die Gesellschafts¬ zimmer. Hier und da wurde noch gespielt, aber die meisten Herrschaften hatten sich nach dem Ballsaale begeben, wo demnächst der Cotillon getanzt werden sollte. Dahin begab sich denn auch Oswald. Sein Auge suchte und fand alsbald Emilie von Breesen. Er traute seinen Augen kaum, so ganz schien sie ihm verwandelt; aus dem wilden Mädchen von heute Nachmittag war eine Jungfrau geworden. Sie er¬ schien ihm größer und bedeutender; ihr vorher rosiges Antlitz war jetzt bleich, aber ihre Augen leuchteten mit einem ganz ungewöhnlichen Feuer, und für die Scherze ihres Tänzers hatte sie kein Lächeln mehr. Sobald sie Oswalds ansichtig wurde, zuckte ein Freu¬ denblitz über ihr Gesicht. Eifrig wandte sie sich zu ihm, als er in ihre Nähe trat. F. Spielhagen, Problematische Naturen. II . 7 „Auf ein Wort, Herr Doctor!“ — und dann im leisen Ton: „Ich tanze den Cotillon mit Ihnen, ich weiß, Sie sind nicht engagirt; ich habe den Grafen Grieben so zur Verzweiflung gebracht, daß er so eben mit seinen Eltern fortgefahren ist. Er vermuthet wahrscheinlich, das werde großen Eindruck auf mich machen, der Narr! Entschuldigen Sie Herr von Sylow, ich bin noch zu angegriffen. Tanzen Sie eine Extra¬ tour mit meiner Cousine. Sie schmachtet nach Ihnen. — Gott sei Dank, daß er fort ist! — Oswald, und Du liebst mich? liebst mich wirklich? Ich kann es kaum glauben. Mir schwindelt der Kopf; ich möchte laut aufjauchzen vor Lust und Wonne. O, bitte, bitte, sieh' mich nicht so an, ich muß — muß Dir sonst um den Hals fallen und Dich küssen, wie vorhin. Bist Du mir bös, Oswald? Es war wohl recht schlecht von mir. Aber sieh', ich konnte nicht anders. Warum sprichst Du nicht Oswald?“ „Weil es süß ist, Ihrem Geplauder zuzu¬ hören.“ „Ich bin wohl ein rechtes Kind, nicht wahr? Aber warum nennen Sie mich nicht Du?“ Glaubst Du denn, Holde, daß man nur die liebt, die man Du nennt?“ „Nein, aber daß man die Du nennt, die man liebt. O, ich finde dies Du so himmlisch. Gott sei Dank, der Tanz ist zu Ende. Komm, wir wollen uns einen guten Platz suchen, den dort in der Ecke, am Fenster.“ Die Herren waren eifrig beschäftigt, nach den vorher von ihren Damen eingeholten Instructionen, die Stühle zu arrangiren; schon war der Kreis fast geschlossen, als plötzlich durch das Plaudern und Lachen der übermüthigen Jugend, und das Quinqui¬ liren der armen gequälten Musiker auf ihren seit einiger Zeit sehr widerspänstigen Instrumenten, und das Klappern der Gläser und Tassen auf Präsentir¬ brettern, und in den Händen der Durstenden — Stimmen aus dem Nebenzimmer ertönten, die nichts weniger als festlich klangen — laute, von Wein und Wuth heisere Stimmen, — drohende Worte hinüber und herüber — nur ein paar Worte, aber gerade genug, um wenigstens alle, die sich auf dieser Seite des Saales befanden, für einen Moment aus ihrem Freudentaumel aufzuschrecken. Freilich auch nur für einen Moment, denn ein mit unfeinen Worten ge¬ führter Streit war dieser feinen Gesellschaft nichts Unerhörtes, und dauerte nicht immer so kurze Zeit, wie diesmal. Auch dieser Vorfall würde wie so viele andere ähnliche kein weiteres Aufsehen erregt haben, wenn nicht ein zweiter Vorfall, der sich in dem Ball¬ 7* saale ereignete, dem ersteren eine eigenthümliche, und für die Scharfsinnigeren wenigstens keineswegs räth¬ selhafte Bedeutung gegeben hätte. Kaum waren näm¬ lich die drohenden, heiseren Stimmen nebenan von einer dritten, die eine große Autorität über die trun¬ kenen Lapithen ausüben mußte, zum Schweigen ge¬ bracht, als Hortense von Barnewitz, die mit dem jungen Herrn von Süllitz den Cotillon tanzen sollte, den Arm dieses Herrn faßte, der, ihre Blässe bemer¬ kend, schnell einen Stuhl herbeizog, auf welchem sie ohnmächtig niedersank. Die Bestürzung der Gesell¬ schaft war natürlich sehr groß. Trotzdem daß ein Dutzend Riechfläschen sofort zur Hand waren, und mit dem Inhalt derselben die Stirn, die Augen, die Schläfe der schönen Ohnmächtigen reichlich benetzt wurden, dauerte es doch einige Minuten, bis Hortense nur so weit zu sich kam, um mit blassen Lippen den sie umgebenden Damen ihren Dank zuzulächeln, und sie mehr mit Blicken, als mit Worten zu bitten, sie aus dem Ballsaale zu führen, was denn auch alsbald geschah. Die Zurückbleibenden sahen sich einander an, als wenn sie fragen wollten; was hatte denn das zu bedeuten? „Mit dem Balle ist es nun wohl vorbei?“ fragte Adolph von Breesen, der mit seiner jungen Cousine Lisbeth, welche er anbetete, zum Cotillon engagirt war, kleinlaut Oswald, der neben ihm stand. „Ich fürchte, ja,“ antwortete dieser. „Wir tanzen doch weiter?“ fragte eine dritte Stimme. „Unmöglich,“ sagte Herr von Langen, „ich habe schon anspannen lassen.“ „Was war denn eigentlich das vorhin für eine Geschichte zwischen Barnewitz und Cloten?“ fragte ein Anderer. „Was wird's sein? Sie haben Beide ein Glas über den Durst getrunken. Das ist Alles,“ sagte von Langen. „Es sollte mich sehr freuen, wenn das Alles wäre,“ sagte von Breesen; „aber ich fürchte, dahinter steckt mehr. Ich höre, daß Cloten über Hals und Kopf davon gefahren ist.“ Herr von Barnewitz erschien an Oldenburgs Seite in dem Ballsaal. Das Gesicht des Barons war so ruhig wie immer, aber das des andern Edelmanns war von Aufregung, Zorn und allzureichlich genossenem Weine purpurroth; seine Augen schwammen, und seine Stimme war etwas lallend, als er jetzt den Herrn, die ihm in den Weg kamen, zuredete, den Ball fort¬ zusetzen. „Aufhören, nach Hause fahren — dummes Zeug — lasse keinen Menschen vom Hofe — Heda! Champagner hierher. — Nach Hause? Warum? meine Frau wird alle Augenblicke ohnmächtig, mit und ohne Grund — da könnte ich gar keine Gesellschaft geben. Musik an¬ fangen!“ Aber trotz dieser gastfreundlichen Worte, deren Wirkung durch das allzusichtlich aufgeregte Wesen des Sprechenden wesentlich beeinträchtigt wurde, und trotz der ersten Töne der Instrumente, die mit einem wahr¬ haft schauerlichen Accord einsetzten, waren nur sehr Wenige bereit, den unterbrochenen Ball wieder aufzu¬ nehmen. Alle Uebrigen fanden plötzlich, daß es schon sehr spät sei, daß man zu lange bei Tisch gesessen habe, daß es unverantwortlich wäre, ein Fest fortzu¬ setzen, an welchem die Wirthin selbst nicht mehr theil¬ nehmen könnte — und was dergleichen Phrasen denn mehr sind, durch die eine Gesellschaft, die einmal aufbrechen will, ihren Rückzug zu motiviren sucht. Schon hörte man einen Wagen nach dem andern vorfahren. Mütter suchten ihre Töchter, diese ihre Shawls und Fächer — überall ein Aufbrechen, Abschied¬ nehmen, hier ein übermüthiger Scherz, dort eine bös¬ willige Bemerkung, hier ein verstohlenes Liebeswort. — Oswald sah nicht viel Anderes, als die Gestalt des hübschen, leidenschaftlichen Kindes, das ihm in den wenigen Augenblicken so theuer geworden war. — Die Liebe ist etwas so Wunderbares, daß schon das bloße Bewußtsein, diese dämonische Kraft in Anderen ent¬ fesselt zu haben, hinreicht in uns eine Empfindung zu erwecken, die, wenn sie nicht Liebe ist, der Liebe we¬ nigstens täuschend ähnlich sieht. Die Liebe ist ein Spiegel, der unser Bild so verklärt zurückstrahlt, daß selbst die Klügsten, selbst die Bescheidensten bei diesem Anblick sich eines Gefühles des Stolzes nicht erwehren können. Die Liebe macht uns zu einem Gott, und wir müßten nicht Menschen, nicht die Brüder des Phaeton und des Ixion sein, wenn es uns nicht Alle gelüstete, dann und wann ein wenig den Gott zu spielen, oder mindestens einmal an der Tafel der Götter zu speisen. Welcher Nektar aber kann so süß sein, wie die Küsse von den thaufrischen Lippen eines so holden jungen Geschöpfes? wie die Blicke aus den Augen eines Mädchens, dessen Busen sich zum ersten Male in Liebessehnsucht hebt? wie ihre verwirrte und doch so verständliche Rede, dem Gezwitscher eines jungen Vögleins vergleichbar, das aus voller Brust heraus¬ singen möchte, und doch die rechten Töne noch nicht finden kann? . . . Und Oswald hatte noch vor wenigen Minuten solche Lippen geküßt, und Oswald sah so junge, strah¬ lende Augen voller Seligkeit zu ihm aufgeschlagen, und Oswald vernahm so leise, liebedurchglühte Worte. Was Wunder, daß er in diesen wenigen Momenten, die ihm mit dem süßen Kinde noch beisammen zu sein vergönnt waren, Liebe für Liebe gab, daß er dem letzten Augenblicke, der sie trennen würde, mit kaum ge¬ ringerer Angst entgegensah, wie das Mädchen selbst, welches bei der Ankündigung, der Wagen sei vor¬ gefahren, fast in Thränen ausbrach. Emilie hatte den Augenblick, wo Oswald sie nach dem Tanze zu ihrer Tante zurückführte, wahrgenommen, ihn dieser Dame, die bei ihr Mutterstelle vertrat, vorzustellen. Ein paar gewandte, witzige Worte hatten ihn schnell bei der Matrone, die mit dem besten Herzen von der Welt gern auf Kosten Anderer lachte, in Gunst gesetzt. Auch sie lud Oswald ein, doch ja recht bald einmal nach Candelin (dem Gute von Emilien's Vater, der Vater litt für den Augenblick an der Gicht und hatte des¬ halb zu Hause bleiben müssen —) herüber zu kommen. „Ja, und dann wollen wir etwas nach der Scheibe schießen,“ sagte Adolf von Breesen, der herantrat, um den Damen anzukündigen, daß der Wagen da sei. „Ich lade noch ein paar Herren dazu, damit Sie sich nicht allzusehr bei uns langweilen.“ „Ich besitze das Talent, mich zu langweilen, nur in einem sehr bescheidenen Maße, und überdies glaube ich, daß die Gegenwart dieser Damen und Ihre eigne, Herr von Breesen, ein besseres Präservativ gegen diese Krankheit ist, als eine Gesellschaft von hundert Personen,“ sagte Oswald mit höflicher Verbeugung. „Siehst Du, Adolf,“ rief die lebhafte alte Dame, „Herr Stein sagt dasselbe, was ich Dir schon tausend¬ mal gesagt habe: nur langweilige Menschen langweilen sich; zum Beispiel Du und Deine Schwester, die ihr jeden Tag hundertmal vor langer Weile sterben wollt.“ „Ich langweile mich nie, Tante,“ rief Fräulein Emilie eifrig. „Kind, Du beginnst irre zu reden, es ist die höchste Zeit, daß wir nach Hause kommen. Also au revoir, Monsieur .“ „Ich bitte um die Gnade, Sie bis zum Wagen begleiten zu dürfen," sagte Oswald, der alten Dame den Arm bietend. „Vous êtes bien aimable, monsieur,“ erwiederte sie, den dargebotenen Arm annehmend. „Sind Sie überzeugt, Herr Stein, daß Sie nicht von Adel sind?“ „Wie von meinem Dasein, gnädige Frau. Wes¬ halb?“ „Hm; Sie haben in Ihrem ganzen Wesen etwas Chevalereskes, das man heut zu Tage nur zu selten und nur bei unsern jungen Leuten aus den besten Familien findet. Adolf kann in dieser Hinsicht noch sehr viel lernen. Hörst Du, Adolf?“ „Ich höre stets auf das, was Sie sagen, liebe Tante,“ antwortete der junge Mann, der mit seiner Schwester folgte, „auch wenn ich, was Sie sagen, schon ein oder das andre Mal von Ihnen gehört haben sollte. Emilie, Kind, wo hast Du denn die Augen, Du wärst um ein Haar unter das Rad gekommen!“ Die Damen waren eingestiegen, Adolf von Breesen gab dem Kutscher auf dem Bocke noch eine Instruc¬ tion über den einzuschlagenden Weg. Oswald stand an der geöffneten Thür, die Tante hatte sich schon bequem in ihrer dunkeln Ecke zurecht gesetzt, Emilie hatte sich etwas nach vorn gebeugt. Das Licht von den Laternen auf dem Bocke und vor der Hausthür fiel auf ihr Gesicht. Ihre Blicke hingen unverwandt an Oswald; aber sie sah ihn wol kaum, denn ihre großen Augen waren von Thränen verschleiert; sie wagte nicht zu sprechen, aber ihr leise zuckender Mund war beredt genug. Ihr Bruder sprang in den Wagen und zog die Thür hinter sich zu. „Fort!“ die Pferde zogen an. Eine kleine Hand in weißem Handschuh winkte aus dem Fenster. Das war das letzte Liebes¬ zeichen. Im nächsten Augenblick stand ein andrer Wagen auf demselben Platze. Oswald kehrte in das Haus zurück. Die Gesell¬ schaft war schon sehr zusammengeschmolzen; unter den Wenigen, die noch da waren und, in Mäntel und Shawls gehüllt, auf ihre Equipagen warteten, war Niemand von denen, welche Oswald im Laufe des Tages genauer kennen gelernt hatte. Herr von Langen war der Erste gewesen, der aufgebrochen war, nach¬ dem er seinen neuen Freund auf das dringendste wiederholt zu einem Besuche aufgefordert hatte. Os¬ wald hatte sich draußen erkundigt, ob der Wagen von Grenwitz wieder da sei, aber eine verneinende Ant¬ wort erhalten. Je mehr die Gesellschaft sich lichtete, desto unangenehmer wurde ihm dies ganz unbegreif¬ liche Ausbleiben. Er sah schon im Geiste, wie er der letzte von Allen sein würde, und hatte schon beschlossen, lieber vorher zu Fuß aufzubrechen, als schließlich auf die Gastfreundschaft des Herrn von Barnewitz an¬ gewiesen zu sein. Da kam der Baron Oldenburg aus einem der Nebenzimmer und schien Jemand mit den Augen zu suchen. Sobald er Oswald bemerkte, lenkte er seine Schritte auf diesen zu. „Wie ist es, Herr Doctor,“ sagte er, „ich dächte, es wäre Zeit nun abzufahren.“ „Ich wäre schon auf nnd davon,“ antwortete Os¬ wald, nur fehlt es mir vorläufig noch an Roß und Wagen; ich vermuthe, daß des Barons Kutscher und Pferde, die mich abholen sollen, unterwegs einge¬ schlafen sind.“ „Ich mache mir ein besonderes Vergnügen daraus, Ihnen einen Platz in meinem Wagen anzubieten,“ sagte der Baron. „Der kleine Umweg, den ich machen muß, um Sie vor dem Thore in Grenwitz abzusetzen, wird mir durch das Vergnügen Ihrer Gesellschaft doppelt und dreifach entschädigt.“ „Ich nehme Ihr freundliches Anerbieten mit Dank an.“ „ Eh bien partons !“ Auf dem Flure trafen sie Herrn von Barnewitz, der augenscheinlich seinen Pflichten als Wirth nur noch mit der größten Mühe nachkam. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Stimme war auf eine unangenehme Weise rauh und heiser. Er schwatzte allerlei tolles Zeug durcheinander, während er den einzelnen Gästen, die er bis an den Wagen begleitete, eine höfliche Phrase mit auf den Weg zu geben be¬ müht war. „Wollen schon fort — na, bleiben Sie gut nach Hause — Johann! Deinen Wagen für Frau von Poggendorf — gnädige Frau müssen noch einen Augenblick anspannen lassen. Empfehlen mich Ihrem Herrn Gemahl! Ah! Poggendorf, alter Junge, hatte Dich gar nicht gesehen, laß Deine Frau in Teufels Namen allein fahren, wollen Glas Champagner — Ol¬ denburg, Doctor, auch schon fort? — Unsinn! freue mich Ihre Bekanntschaft zu machen — schießen wie der Teufel — ist recht, daß Sie den Cloten blamirt haben — ist ganz recht; bist ein famoser Kerl, Doc¬ tor, (zärtliche Umarmung), bist mein Herzensfreund, (Schluchzen), mein bester Freund, (neue Umarmung), hättest ihn todt schießen sollen, den Hallunken.“ „Komm, Barnewitz, ich habe Dir etwas mitzu¬ theilen,“ sagte der Baron, Herrn von Barnewitz ziem¬ lich derb auf die Schulter schlagend und ihn ein paar Schritte von dem Wagen fortführend. „Entschuldigen Sie auf eine Minute, Herr Doctor; Karl! Platz machen, daß die andern Wagen vorfahren können.“ Die Beiden gingen eine Weile im Gespräch auf und ab, bald in dem Dunkel des Hofes fast ver¬ schwindend, bald in den lichten Kreis, der das Haus umgab, tretend. Oswald konnte sich wol denken, wo¬ von zwischen den Beiden die Rede war. Ein paar Mal erhob Herr von Barnewitz seine Stimme, aber er senkte sie auch alsbald wieder vor einem „St!“ oder „bist Du nicht gescheut?“ Oldenburg's, wie eine wilde Bestie in der Menagerie aufbrüllt und sofort schweigt, wenn der Blick oder die Peitsche des Herrn sie trifft. „Dieser Mann übt eine magische Gewalt über die Andern aus,“ sagte Oswald bei sich, während er die lange Gestalt des Barons neben dem um einen Kopf kleineren Barnewitz, wie das personificirte böse Gewissen neben einem armen Sünder, hin- und her¬ schreiten sah — „ich selbst verspüre schon seine Ein¬ wirkung. Es ist ein Dämon in dem Manne, ein Dämon, den man entweder lieben oder hassen, oder vielmehr lieben und hassen muß, denn ich möchte diesen Menschen gern hassen und kann es nicht. Und was hat er Dir denn schließlich auch gethan? Wenn er Melitta noch immer liebt, wie ich glaube, so bin ich für ihn ein schlimmerer Feind, als er für mich. Aber warum hat mir Melitta nicht gesagt, wie ihr Verhältniß mit dem langen Gespenst dort war und ist? ich hätte sie heute nicht gekränkt. Arme Melitta! wie sie mich ansah — und was würde sie sagen, wenn sie die Scene in der Fensternische gesehen hätte? . . . Das süße, herzige Mädchen! — und auch ihre Augen waren voll Thränen, als sie im Wagen saß und mich so unverwandt anblickte. O! wer könnte so grausam sein, die Liebe dieses holden Geschöpfes zurückzuweisen? Und dennoch: „All dieses Neigen von Herzen zu Herzen — Ach, wie so eigen schaffet es Schmerzen.“ Heiliger Goethe, bitt' für mich! Du hast ja auch die Lilie nicht verschmäht, weil die Rose so schön ist, und deshalb umgiebt nun ein Kranz von Rosen und Lilien Dein ambrosisches Haupt. Du hättest die kleine Emily an Dein großes Herz genommen und hättest ihr sanft die üppigen Haare aus der Stirn gestreichelt und hättest sie zärtlich auf die zärtlichen Augen ge¬ küßt. O, ihr ewigen Sterne, wie reizend das Kind in dem Augenblicke war! Denn, Alles in Allem, ist es doch nur ein Kind, und morgen wird sie in ihrem Daunenbettchen erwachen und glauben, daß sie die Scene in dem Erker geträumt hat.“ So suchte Oswald sein Gewissen zu beschwichtigen — für den Augenblick gelang es ihm auch. „Darf ich jetzt bitten einzusteigen, Herr Doctor?“ rief der Baron, der mit Herrn von Barnewitz heran¬ trat. „Es bleibt also dabei, Barnewitz?“ „Verlaß Dich darauf!“ sagte dieser, dem die Unter¬ redung mit seinem Mentor und die kühle Nachtluft sehr wohl gethan zu haben schienen. „Verlaß Dich d'rauf. Ich gebe Dir mein Ehrenwort, daß ich —“ „St! sitzen Sie bequem, Herr Doctor? Adieu, Barnewitz! fort, Karl!“ Sechstes Kapitel. Die Pferde zogen im Galopp an, der leichte Hol¬ steiner-Wagen rasselte über den etwas holprigen Damm des Hofes. Im Nu lag das Schloß mit seinen noch immer lichterhellten Fenstern, die dunklen Scheunen und Ställe, die kleinen Häuslerwohnungen hinter ihnen, und sie befanden sich draußen zwischen den nickenden Kornfeldern und den nebelverhüllten Wiesen. Die kurze Sommernacht ging zu Ende. Im Osten ver¬ kündete ein hellerer Streifen den neuen Tag; die Dämmerung breitete über Alles gleichmäßig ihren grauen Schleier. Gerade vor ihnen nach Norden wetterleuchtete es von Zeit zu Zeit aus den trüben, dichten Dunstmassen. Alles war noch still auf den weiten Feldern, selbst die Lerche, die Tagverkünderin, säumte noch. Oswald hatte sich in seine Ecke zurück¬ gelehnt, und sah träumend in die Dämmerung hinaus, nur manchmal, wenn der Dampf von des Barons Cigarre an ihm vorbeifuhr, wandte sich sein Blick auf diesen, der den Hut etwas in den Nacken gesetzt, den Kragen seines Rockes in die Höhe geschlagen, die langen Beine von sich streckend, in Nachdenken ver¬ sunken schien. So mochten sie wol eine Viertelstunde lang schweigend neben einander gesessen haben, als der Baron plötzlich sagte: „Sie rauchen ja nicht?“ „Nein.“ „Darf ich Ihnen eine Cigarre anbieten?“ „Ich danke: ich bin kein Raucher!“ „Das ist wunderbar.“ „Weshalb?“ „Weil ich nicht begreifen kann, wie es ein Mensch im neunzehnten Jahrhundert aushalten kann, ohne Taback oder Opium zu rauchen, Haschisch zu kauen oder sonst auf irgend eine Weise das katzenjämmerliche Gefühl seiner elenden Existenz in etwas abzuschwächen. Und gerade von Ihnen begreife ich es am wenigsten.“ „Warum gerade von mir? „Weil, wenn mich nicht Alles täuscht, Sie vor Sehnsucht nach der blauen Blume tödtlich erkrankt sind, und in dieser unbefriedigten Sehnsucht auch eines schönen Tages sterben werden. Sie erinnern sich doch der blauen Blume in Novalis' Erzählung? F. Spielhagen, Problematische Naturen. II . 8 der Blume, nach der Heinrich von Ofterdingen's armes Herz verschmachtete? Die blaue Blume! Wissen Sie, was das ist? Das ist die Blume, die noch keines Sterblichen Auge erschaute, und deren Duft doch die ganze Welt erfüllt. Nicht alle Creatur ist fein genug organisirt, diesen Duft zu empfinden; aber die Nachtigall ist von ihm berauscht, wenn sie beim Mondenschein oder in der Dämmerung des Morgens singt und klagt und schluchzt, und all die närrischen Menschen waren es und sind es, die früher und jetzt in Prosa und Versen dem Himmel ihr Weh und Ach klagten und klagen, und noch Millionen dazu, denen kein Gott gab, zu sagen, was sie leiden, und die in ihrer stummen Qual zum Himmel blicken, der kein Erbarmen mit ihnen hat. Ach, und aus dieser Krank¬ heit ist keine Rettung — keine, als der Tod. Wer nun einmal den Duft der blauen Blume eingesogen, für den kommt keine ruhige Stunde mehr in diesem Leben. Als wäre er ein verruchter Mörder, als hätte er den Herrn von seiner Schwelle gestoßen, so treibt es ihn weiter und immer weiter, wie sehr ihn auch seine wunden Füße schmerzen und es ihn verlangt, das müde Haupt endlich einmal zur Ruhe zu legen. Wol bittet er, von Durst gequält, in dieser oder jener Hütte um einen Labetrunk, aber er giebt den leeren Krug ohne Dank zurück; denn es schwamm eine Fliege in dem Wasser, oder das Gefäß, und wäre es von Asbest, war nicht reinlich, und so oder so — Er¬ quickung hatte er sich nicht getrunken. Erquickung! Wo ist das Auge, in das wir einmal geschaut haben, um nie wieder in ein anderes, glänzenderes, feurige¬ res schauen zu wollen; wo ist der Busen, an dem wir einmal ruhten, um nie wieder das Pochen eines anderen, wärmeren, liebedurchglütheren Herzen hören zu wollen? wo? ich frage Sie wo?“ Der Baron schwieg: Oswald fühlte sich auf die seltsamste Weise bewegt. Was der sonderbare Mann an seiner Seite in einem fast elegischen Tone, der auffallend mit seiner sonstigen herben, rauhen Sprach¬ weise constratirte, wie träumend, wie mit sich selbst redend, sprach, das waren so ganz seine eigenen Ge¬ danken, die er oft und oft, als Knabe schon, und immer wieder im Leben gehabt, daß ihm fast ein Grauen ankam vor dieser geistigen Doppelgängerei. Er fand keine Antwort auf eine Frage, die er selbst aufgeworfen zu haben schien. „Es hat mir immer viel zu denken gegeben“, hub der Baron wieder an, „daß der Mensch sich selbst, seine Existenz erst mehr oder weniger vergessen muß, bevor er in den Zustand kommt, den wir in Ermangelung 8* andern Wortes mit glücklich bezeichnen, und das wir ihn um so glücklicher nennen müssen, je tiefer diese Vergessenheit ist. The best of life is but intoxi ¬ cation , sagt Lord Byron; ja wohl! die Liebe, die Romeo- und Julieliebe, für die man in den Tod geht, wie zu einem heitern Fest, ist auch nur ein Rausch! Schlafen ist besser, als wachen, sagt die Weisheit der Inder; das Beste von allen aber ist der Tod.“ „Und doch tödten sich im Verhältniß so wenig Menschen“ — warf Oswald ein. „Ja, das ist merkwürdig genug,“ sagte der Baron, „besonders heut' zu Tage, wo die Meisten sich selbst vor den Hamlet-Träumen, die uns in jenem ewigen Schlafe kommen möchten, nicht mehr fürchten.“ „Sollte dies nicht ein Beweis dafür sein, daß es mit dem vielgeklagten Unglück dieser Leute so sehr arg nicht sein kann?“ „Vielleicht, vielleicht beweist es aber auch nur, wie schwer es dem Menschen wird, die letzte Hoffnung schwinden zu lassen. Warum schleppt sich der verirrte Wandrer mechanisch weiter durch den tiefen Schnee, warum späht der arme Schiffbrüchige auf Salas y Gomez ein halbes Jahrhundert über die öde Wasser¬ wüste nach dem rettenden Segel? warum zerschellt sich der auf Lebenszeit Eingekerkerte nicht den Kopf an der Wand seines Kerkers? warum erhängt sich der arme Schelm, der morgen früh hingerichtet wer¬ den soll, nicht heute Nacht schon in seinen Ketten — weil ihr Unglück so groß nicht ist? Pah, glauben Sie doch das nicht — einzig und allein, weil noch immer ein schwacher Schimmer von Hoffnung, von Rettung durch die Hölle ihrer Leiden dämmert, wie dort der blasse Streifen im Osten. Wenn auch dieser matte Schimmer einmal verlöschte, dann, ja dann muß die alte Mutter Nacht ihr armes, verirrtes Kind wieder¬ nehmen, die milde, gute, liebevolle Todesnacht.“ Nach einer kurzen Pause, während welcher der Baron mächtige Dampfwolken aus seiner Cigarre ge¬ blasen hatte, fuhr er in etwas ruhigerem Tone fort: „Ich bin ein paar Jahre älter, als Sie, und das Geschick verstattete mir, in kürzerer Zeit ein größeres Stück vom Leben zu sehen, als es sonst wohl den Menschen gegeben ist. Ich habe das, wovon der graue Freund dem jungen Wolfgang in Leipzig eine möglichst große Portion wünschte: Erfahrung. Ich könnte, müßte wenigstens mittlerweile erfahren haben, das für mich und Meinesgleichen keine Hoffnung mehr im Leben ist, und dennoch, trotzdem das ich sage: ich habe keine Hoffnung mehr, hoffe ich im Stillen doch noch immer auf ein mögliches Glück, wie der Schwindsüchtige auf Genesung. Nehmen Sie zum Beispiel eine Gesellschaft, wie die, aus der wir eben kommen. Ich weiß, wie hohl die Freuden dieser Menschen sind, ich weiß wie kummervolle Gesichter, welch' erbärmliche Armensündermienen sich hinter den lachenden Gesellschaftsmasken verstecken — ich weiß, daß dieses hübsche Mädchen in zehn Jahren eine un¬ glückliche Frau, oder eine Idiotin ist, daß dieser prächtige Junge, der den Kopf so hoch trägt und aussieht, als ob er sämmtliche zwölf Arbeiten des Herkules an einem Tage verrichten könne, ein plumper Landjunker sein wird, der gegen die Bauern das jus primae noctis geltend macht und nebenbei seine Frau womöglich prügelt — das weiß ich, und weiß noch mehr, und habe es tausend- und aber tausendmal im Leben gesehen, und doch bin ich noch so wenig blasirt, daß diese trügerische Fata Morgana eine zauberische Wirkung auf mich hat, bin so wenig ernüchtert, daß jede hübsche Mädchenblume die Hoffnung in mir er¬ weckt, ich könnte wirklich einmal im Leben lieben oder geliebt werden, daß jede jugendlich schöne männliche Erscheinung mich wieder an Freundschaft glauben macht. Hätten Sie mir solchen Unsinn zugetraut?“ „Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie so denken, so fühlen könnten.“ „Und darin hatten Sie vollkommen Recht“, sagte der Baron; „ich denke und fühle so auch nur, wenn ich, wie jetzt, complet betrunken bin. — Was war das?“ Ein greller Schrei tönte aus geringer Entfernung durch den stillen Morgen zu ihnen herüber, — und noch einmal, schriller, verzweifelnder, wie wenn ein Weib — denn es war eines Weibes Stimme — das Messer in des Mörders Hand blinken sieht. Vor ihnen in geringer Entfernung lag ein Stück Wald¬ land; der Weg führte daran herum, das Geschrei mußte von der andern Seite kommen, die jetzt noch durch ein paar einzeln stehende Eichen und durch dichtes Unterholz verdeckt war. „Zu, Karl! zu!“ schrie der Baron. Der Kutscher hieb kräftig in die Pferde. Die edlen Thiere, wie voll Entsetzen über eine so unwürdige Behandlung, stürmten mit einer Schnelligkeit dahin, die den Insassen des Wagens leicht hätte gefährlich werden können. Im Nu war die Waldecke erreicht. Sobald sie einen Blick auf die andere Seite werfen konnten, bot sich ihnen das seltsamste Schauspiel dar. — Ein seltsam gekleidetes, braunes Weib, um deren bläu¬ lich schwarze Haare ein Stück rothes Zeug turban¬ artig gewunden war, lief kreischend her hinter drei Reitern, die ihre Rosse zur größten Eile spornend, im nächsten Augenblicke schon in einer neuen Biegung des Weges hinter den Bäumen verschwunden waren. Als der Wagen des Barons herandonnerte, sprang das Weib auf die Seite, und rief mit gellender Stimme, die Hände flehend erhebend: „Mein Kind — mein Kind! sie haben mir mein Kind geraubt!“ Nur mit Mühe konnte der Kutscher die Pferde zum Stehen bringen. Oswald, der in dem Weibe sofort die braune Gräfin erkannt hatte, war vom Wagen herab¬ gesprungen. „Rette mein Kind, Herr! rette mein Kind!“ schrie die Zigeunerin, sich vor ihm niederwerfend und seine Knie umklammernd. Der Baron lachte. „Eine ungeheuer romantische Situation, Herr Doc¬ tor!“ rief er vom Wagen herab. „Morgendämmerung, Wälderrauschen, Zigeuner, des Königs Hochstraße, — wahrhaftig: reiner Eichendorf! Unterdessen daß Sie die schöne Beraubte trösten, will ich den Räubern nachsetzen, die übrigens nur Schafe in Wolfskleidern, das heißt ein paar unsrer hohlköpfigen Junker sein werden, die das Ganze für einen genialen Spaß halten.“ „Der auf dem Schimmel war der junge Herr von Nadelitz,“ sagte der Kutscher, der die wilden Pferde kaum halten konnte, über die Schulter gewandt. „Zu!“ rief der Baron, „wir wollen die Junker Mores lehren!“ Der Wagen donnerte weiter. Die Zigeunerin hatte sich wieder erhoben. Sie sah dem Wagen nach, der in rasender Schnelligkeit auf dem höckrigen Waldweg dahinfuhr und jetzt hinter der vorspringenden Ecke verschwand. Ein seltsames Lächeln flog über ihr Gesicht, während sie, in athem¬ loser Aufmerksamkeit lauschend, dastand. Dann, als ihr scharfes Ohr das Rollen des Wagens nicht mehr vernahm, kreuzte sie die nackten Arme über der vollen Brust, deren unruhiges Wogen einzig von dem Sturm, der eben noch ihren ganzen Organismus erschüttert hatte, zeugte, und starrte, in tiefes Nachdenken ver¬ sunken, düster vor sich nieder. Plötzlich hob sie den Kopf und sagte, die großen glänzenden Augen auf Oswald heftend: „Kennst Du den schwarzen Mann, der mir die Czika wiederbringt?“ „Ja, Isabel.“ „Ist er Dein Freund?“ „Nein.“ „Aber er wird es einst sein?“ „Vielleicht.“ „Ist er gut?“ „Ich halte ihn dafür.“ „Gedenkst Du noch des Nachmittags am Sumpfes¬ rand, Herr?“ „Ja Isabell.“ „Kannst Du die Stelle wiederfinden?“ „Ich glaube ja; — weshalb?“ „Willst Du, wenn wiederum der volle Mond, wie heute Nacht, am Himmel steht, den schwarzen Mann an diese Stelle führen? O, sage: ja! bei Deiner Liebe zu der schönen, guten Frau, bei den Gebeinen Deiner Mutter beschwöre ich Dich, sage: ja!“ Die Zigeunerin hatte sich abermals vor Oswald auf die Knie geworfen, und blickte, die Hände über den Busen kreuzend, flehend zu ihm empor. „Steh auf, Isabel;“ sagte der junge Mann; „ich will Deinen Wunsch erfüllen, wenn ich kann.“ Die Zigeunerin ergriff seine Hände, die er nach ihr ausstreckte, sie vom Boden zu heben, und küßte sie mit leidenschaftlicher Dankbarkeit. Dann sprang sie empor, eilte über die Breite des Weges dem Walde zu, und war im nächsten Augenblicke schon in dem dichten Gestrüpp, durch das sie mit der Kraft und Schnelligkeit des Hirsches brach, verschwunden. Ehe sich Oswald von dem sprachlosen Erstaunen, in welches ihn das räthselhafte Betragen der braunen Gräfin versetzt hatte, erholen konnte, vernahm er schon das Rollen des Wagens, der in derselben Eile, mit der er sich vorher entfernt hatte, zurückkam. Aber, bevor das Fuhrwerk die vorspringende Waldecke, hinter der es verschwunden war, erreicht hatte, hielt es plötzlich, und um die Büsche herum kam der Baron, im bloßen Kopf, die kleine Czika auf dem Arm tragend. „Wir haben gejagt, wir haben gefangen;“ rief er schon von weitem. „Die feigen Wölfe ließen, sobald sie sahen, daß sie verfolgt wurden, die schöne Beute fahren, und machten, daß sie davon kamen. — So, Du kleiner Ganymed, nun sieh' zu, ob Dich Deine Füße wieder tragen. —“ Der Baron ließ das Kind aus seinen Armen auf den Boden gleiten. „Aber, wo ist denn die Mutter geblieben, oder wer sonst das braune Weib war?“ fragte er, erstaunt, Oswald allein zu finden. Oswald theilte ihm in kurzen Worten mit, was sich während seiner Abwesenheit zugetragen hatte. „Nun, das ist nicht übel;“ sagte der Baron; „die Sache wird immer romantischer, Vollmond, Sumpfes¬ rand, ein schlaues ägyptisches Weib und zwei gute deutsche Jungen, die sich nasführen lassen! — Was sollen wir denn mit der Czika, wie Sie die kleine Prinzessin nennen — denn ich wette, es ist ein ge¬ stohlenes Königskind — unterdessen anfangen?“ „Wenn wir sie nicht auf der offenen Landstraße zurücklassen wollen, werden wir uns wohl entschließen müssen, sie mit uns zu nehmen.“ „Aber das Kind wird nicht mit uns gehen wollen. Höre, kleine Czika, willst Du mit mir gehen?“ „Ja, Herr,“ sagte das Kind, das bis jetzt, ohne eine Spur von Besorgniß, Furcht oder Angst zu ver¬ rathen, ruhig dagestanden hatte. „Hm!“ sagte der Baron, „da komme ich ja zu einem Adoptivkinde, ich weiß nicht wie.“ Er war mit einem Male sehr ernst geworden. Er streichelte der Czika die blauschwarzen seidenen Locken von der feinen Stirn, und betrachtete sie lange un¬ verwandt. „Wie schön das Kind ist!“ murmelte er; „wie wunderschön! Und wie groß es geworden ist! — Komm mit mir, kleine Czika, Du sollst es gut, sehr gut bei mir haben; ich will Dich mehr lieben als Deine Mutter, die Dich so schnöde verlassen, Dich je geliebt hat.“ „Mutter verläßt die Czika nicht;“ sagte das Kind, ruhig zum Baron emporblickend; „Mutter ist, wo die Czika ist; Mutter ist überall.“ Sich von den Männern abwendend, legte es die Händchen an den Mund; und in den stillen Wald hinein gellte ein Schrei, dem Ruf des jungen, hung¬ rigen Falken täuschend ähnlich. Das Kind neigte den Kopf und lauschte; der Baron und Oswald hielten unwillkürlich den Athem an. Da ertönte aus dem Walde, aber offenbar schon aus größerer Entfernung, die Antwort: Der helle, wilde Schrei des alten Falken, wenn er aus seiner luftigen Höhe, tief unter sich, die sichere Beute er¬ späht hat. „Siehst Du, Herr,“ sagte das Kind; „Mutter verläßt die Czika nicht; wenn Du die Czika mit Dir nehmen willst, die Czika will mit Dir gehen.“ „Nun denn, so komm, Du junge Falkenbrut!“ sagte der Baron das Kind bei der Hand ergreifend. „Kommen Sie, Doctor! Ich glaube, daß Karl den Riemen, der vorhin riß, wohl wieder zusammengeflickt haben wird. Da kommt er schon. Alles in Ord¬ nung, Karl?“ „Ja, Herr.“ Die Herren stiegen ein, und nahmen das Kind zwischen sich. „Fort!“ rief der Baron; „scharfen Trab!“ Bald kamen sie aus dem Walde auf die weite Haide, die sich zwischen Faschwitz und Grenwitz hin¬ zieht, dieselbe Haide, auf der Oswald die alte Frau aus dem Dorfe getroffen hatte. — Es war noch eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang. Am östlichen Himmel legte sich ein Purpurstreifen über den andern. Die Luft wehte vom Meere her kühl über das feuchte Moor. Die kleine Czika hatte sich dicht an den Baron geschmiegt, und war fest eingeschlafen. „Wie leicht das Kind gekleidet ist,“ sagte dieser; „es wird sich erkälten in der scharfen Morgenluft.“ Er richtete sich in die Höhe, zog seinen Ueberrock aus; hüllte die Kleine hinein, nahm sie auf den Schooß, und legte ihren Kopf an seine Brust. „So, so!“ sagte er gütig, „so, so! und dann zu Oswald, der in Nachdenken über den räthselhaften Charakter des Mannes an seiner Seite versunken, schweigend dagesessen hatte: „Ich komme Ihnen ein ganz klein wenig toll vor; nicht wahr, Doctor?“ „Nein,“ sagte dieser, den Kopf emporhehend; „nicht im mindesten.“ „Das kommt, weil Sie an derselben Krankheit laboriren. Was Andere vor Erstaunen sprachlos macht, erscheint uns ganz natürlich; und was die guten Leute und schlechten Musikanten für ganz selbstver¬ ständlich halten, kommt uns oft geradezu fabelhaft vor. Ihnen wird es z. B. nicht unglaublich er¬ scheinen, wenn ich Ihnen sage, daß mir dieses Kind hier nun schon zum dritten Male im Leben begegnet, und daß ich so abergläubisch bin, in dieser dreimaligen Begegnung viel mehr zu sehen, als einen bloßen Zu¬ fall, wie ich denn überhaupt mit Wallenstein der Meinung bin, daß es keinen Zufall giebt.“ „Und wo und wann glauben Sie die Czika ge¬ sehen zu haben?“ „Das erste Mal vor vier Jahren in England. Ich ritt mit einem paar meiner englischen Freunde in einem abgelegenen Theile des Hyde-Park. Als wir im Galopp um eine Ecke biegen, steht ein Kind da — ein braunes Kind mit großen, glänzenden, schwarzen Augen — und hebt die Händchen bittend empor. Ich achtete seiner, in lebhaftem Gespräch begriffen, kaum. Als wir ein paar hundert Schritte weiter ge¬ ritten sind, packt es mich plötzlich wie mit Geister¬ hand. Ich kann die Empfindung, die mich überkam, nicht beschreiben. Mir war, als hätte ich, an diesem holden, hülflosen Geschöpf gleichgültig vorüberreitend, einen Frevel begangen, der mich zu dem Erbärm¬ lichsten aller Menschen machte. Ich warf mein Pferd herum, und jagte, wie wahnsinnig, nach dem Orte zu¬ rück. Das Kind war verschwunden. Ich rief nach ihm; ich stieg ab; ich durchsuchte die nächsten Ge¬ büsche; die Freunde halfen, trotzdem sie über meine Tollheit, wie sie es nannten, lachten. Vergebens. Das zweite Mal sah ich das Kind in Aegypten. Es sind jetzt gerade zwei Jahre. Wir, das heißt, eine kleine Karavane von Nilfahrern, die sich zufällig zusammengefunden hatten, durchzogen, auf Eseln reitend, die engen, winkligen Straßen Asyuts. Neben einer offenen Thür, durch die wir auf den stillen, schattigen Hof einer Moschee blickten, stand in der Nische der Mauer ein Kind, älter wie das Kind aus dem Hyde- Park, und jünger wie das, welches hier in meinen Armen ruht, aber dasselbe braune Kind mit den blau¬ schwarzen Locken und den leuchtenden Gazellenaugen. Wieder streckte es die Händchen bittend nach den Vor¬ übergehenden aus, und rief den Ruf, den Sie überall in Aegypten hören: Buickschiesch, Howadji! Almosen, o Kaufleute! Ich sah das Kind, und sah es auch wieder nicht, denn ich war in einer jener verzweifelten Stimmungen, wie sie mich manchmal überkommt, wo ich Ohren und Augen offen habe, und dennoch weder sehe, noch höre. Als wir um eine Ecke in die nächste Straße biegen, überkommt mich genau dasselbe Ge¬ fühl, wie damals im Hyde-Park. Ich springe vom Esel herab, laufe, was ich kann, nach der Stelle zu¬ rück. — Die Nische war leer. Die Thür zum Hofe der Moschee stand, wie gesagt, offen. Der Hof hatte auf der anderen Seite eine zweite, ebenfalls nicht ver¬ schlossene Thür, die auf eine der Hauptstraßen führte, in der sich um diese Stunde, — es war in der Abend¬ dämmerung — Menschen, Kameele und Esel durch¬ einander drängten. Das Kind war und blieb ver¬ schwunden, und mit schwerem Herzen kehrte ich zu meiner Gesellschaft zurück, die sich mein Davonlaufen menschenfreundlichst durch die Annahme, ich sei ur¬ plötzlich toll geworden, erklärt hatte. — Halten Sie es für möglich, daß dieses Kind, das ich zuerst im englischen Nebel und das zweite Mal unter dem warmen Himmel Aegytens gesehen habe, mir jetzt in dem deutschen Buchenwalde zum dritten Male begegnet?“ „Und wäre es nicht dasselbe Kind, und — offen gestanden, ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, daß es dasselbe ist;“ antwortete Oswald; „es müßte Ihnen dasselbe sein. Ich glaube an den Weltgeist, den ewig gleichen, der sich hinter den Dingen verbirgt, den ewig wechselnden; ich glaube, daß jene Lerche, die dort aus dem Haidekraut aufsteigt, und singend zum Himmel schwebt, dieselbe Lerche ist, zu der ich als Kind entzückt emporschaute, bis sie den scharfen Augen im F. Spielhagen, Problematische Naturen. II. 9 blauen Raum verloren war; ich glaube, daß alle Helden Brüder sind und daß jeder Unglückliche eben derselbe Nächste ist, den, wie uns selbst zu lieben, Vernunft und Herz gleich gebieterisch von uns heischen. — Ob dieses Kind dasselbe ist, nach dem Sie nun schon zweimal vergeblich suchten — darauf kommt es nicht an; wohl aber darauf, daß Sie nach ihm suchten, daß der Ruf des armen verlassenen Geschöpfes jedesmal durch das Erz, mit dem Sie geflissentlich ihre Brust umpanzern, bis zu Ihrem Herzen drang. . . Verzeihen Sie einem Manne, den Sie an Erfahrung und an Geist so weit überragen, diese Sprache, zu der ihn nichts berechtigt, als die Hochachtung, die er, halb gegen seinen Willen, vor Ihnen empfindet. Und ver¬ statten Sie mir noch dies eine Wort! Wenn Sie sich entschließen könnten, dies Kind zu lieben, so wäre es für Sie ein Geschenk, köstlicher und reicher, als Alla¬ dins Wunderlampe. Liebe ist allenthalben, außer in der Hölle, lautet ein tiefsinniges Wort Wolframs von Eschenbach; daß heißt: wo keine Liebe ist, da ist die Hölle. Die Liebe ist der Duft der blauen Blume, der, wie Sie vorher sagten, die ganze Welt erfüllt, und in jedem Wesen, das Sie von ganzem Herzen lieben, haben Sie die blaue Blume gefunden, nach der Sie Ihr Leben lang vergeblich suchten.“ Ein unsägliches wehmüthiges Lächeln umspielte des Barons Lippen, während Oswald diese Worte sprach. „Sie lösen so doch das Räthsel nicht,“ sagte er leise und traurig, „denn eben die Bedingung, daß wir von ganzem Herzen lieben müssen, wollen wir die Qual los werden, die uns das Leben zur Hölle macht, können wir ja nicht erfüllen. Wer von uns kann denn noch mit ganzen Herzen lieben? Wir Alle sind so ab¬ gehetzt und müde, daß wir weder die Kraft noch den Muth haben, die zu einer wahren, ernsten Liebe gehören, zu jener Liebe, die nicht ruht und rastet, bis sie jeden Gedanken unsers Geistes, jedes Gefühl unsers Herzens, jeden Blutstropfen unserer Adern sich zu eigen gemacht hat. Wenn Sie noch jung und gut und gläubig genug zu einer solchen Liebe sind — wohl Ihnen! Von mir kann ich nur wiederholen, was ich vorhin schon sagte: ich habe es aufgegeben, die blaue Blume zu finden, die wunderholde Blume, die nur dem Glücklichen blüht, der noch mit ganzem Herzen lieben kann. — Doch hier sind wir vor dem Thore von Grenwitz, und wir müssen ein Gespräch abbrechen, daß ich in allernächster Zeit mit Ihnen forsetzen zu können hoffe und wünsche. Leben Sie wohl, und erkundigen Sie sich recht bald persönlich nach dem Befinden des kleinen Wesens, das ja Ihr Schützling fast noch mehr ist, wie der meine.“ 9* Der Wagen entfernte sich rasch. Oswald schaute ihm noch lange nach; dann schritt er, gesenkten Hauptes, über die Brücke und über den Hof dem Schlosse zu. Die Sonne war aufgegangen und badete die grauen Mauern in Frührothlicht; in dem thaufrischen Garten jubelten die Vögel, — aber für Oswald lag ein grauer Schleier über dem köstlichen Morgen, denn in seinem Ohre klangen die Worte des Barons: Wer von uns kann denn noch mit ganzem Herzen lieben; wer von uns hat denn noch ein ganzes Herz? Siebentes Kapitel . „Hat Dir das Schläfchen gut gethan, lieber Gren¬ witz?“ fragte die Baronin. „Ich danke, liebe Anna-Maria, recht gut,“ er¬ wiederte der alte Baron. Es war in der Nachmittagsstunde des Tages nach dem ereignungsreichen Balle in Barnewitz; die Re¬ denden befanden sich in demselben, nach dem Garten hinaus liegenden Zimmer des Schlosses, in welchem vor ungefähr acht Tagen die Unterredung zwischen der Baronin und Melitta stattgefunden hatte. Die Baronin saß wieder, wie damals, in der Nähe der geöffneten Flügelthür, die nach dem großen Rasenplatz führte, auf welchem Melitta's Augen Oswald zum ersten Male erblickten, und wieder nähte die muster¬ haft fleißige Frau emsig und unverdrossen, als müßte sie sich ihr tägliches Brod mit der Nadel verdienen. Der Baron saß ihr gegenüber in demselben Schaukel¬ stuhl, in welchem sich Melitta gewiegt hatte. Er er¬ wachte so eben aus einem erquickenden Nachmittags¬ schlaf und schaute mit den alten, glanzlosen Augen freundlich durch die offene Thür auf den Rasenplatz, wo sein Liebling, der Pfau, das prächtige Gefieder im Sonnenschein erglänzen ließ. „Recht gut!“ wiederholte er, die Glieder streckend. „Aber Du siehst doch sehr angegriffen aus;“ sagte die Baronin, die großen, kalten grauen Augen for¬ schend auf die verwitterten Züge des Barons heftend; „diese anspruchsvollen, lärmenden Gesellschaften sind wahres Gift für Dich; und ich habe mir schon, wäh¬ rend Du schliefst, im Stillen rechte Vorwürfe gemacht, daß ich gestern nicht früher zum Aufbruch mahnte.“ „Aber ich versichere Dich, liebe Anna-Maria, ich befinde mich vortrefflich, das heißt, nicht schlechter, wie gewöhnlich, oder doch nicht viel schlechter,“ sagte kleinlaut der gute alte Mann, der schon seit vielen Jahren gewohnt war, den Aussprüchen seiner Anna- Maria, die er über Alles liebte und verehrte, niemals direkt zu wiedersprechen. „Du mußt Dich in dieser Zeit noch recht in Acht nehmen,“ sagte diese, wieder emsig nähend; „heute über acht Tage spätestens müssen wir reisen, und Du wirst zu den Strapazen einer so großen Tour Deine ganze Kraft nöthig haben. Wollte Gott, wir wären Alle schon glücklich wieder hier! Ich entschließe mich wahrlich höchst ungern dazu. Deine angegriffene Ge¬ sundheit — die Gefahren einer Seereise — und dann: wird Dir das Bad in Helgoland auch wirklich gut thun? Doctor Braun versichert es freilich, aber wer kann den Aerzten trauen? Schlägt eine Kur an, trium¬ phiren sie, und schlägt sie nicht an, sind nicht sie daran Schuld, sondern der Patient, der sich nicht ordentlich gehalten hat. Und was kümmert es den Herrn Doc¬ tor, ob Du gesund oder krank zurückkommst, ob Du lebst oder stirbst — aber ich, aber wir —, o Gren¬ witz, was sollte wol aus uns werden, wenn Du uns genommen würdest!“ Die Baronin blickte von ihrer Arbeit empor, und in ihren Augen blickte etwas, das man bei einer an¬ dern Frau für eine Thräne gehalten haben würde. Der alte Baron erhob sich von seinem Stuhl, trat auf seine Frau zu und küßte sie zärtlich auf die Stirn. „Du mußt Dir nicht solche Gedanken machen, liebe Anna-Maria,“ sagte er gütig. „Der liebe Gott wird mich noch nicht so bald sterben lassen; ich bete jeden Morgen zu ihm und danke ihm für jeden neuen Tag, den er mir schenkt, nicht meinethalben, denn ich bin ein alter Mann und sterben müssen wir ja Alle einmal — sondern Deinethalben, weil ich weiß, wie sehr Dich mein Tod schmerzen würde, und auch, weil ich noch gern, bevor ich sterbe, Deine und Helenen's Zukunft gesichert sehen möchte.“ Der alte Mann hatte sich wieder gesetzt und aus einer goldenen Dose, die neben ihm auf einem runden Tischchen stand, eine Prise genommen, um die Rüh¬ rung, in die er sich hineingesprochen hatte, schneller zu überkommen; die Baronin nähte wieder eifrig an ihrer Arbeit. „Du bist so gut,“ sagte sie, „viel zu gut, denn Du bist es selbst gegen die, welche Deine Güte in keiner Weise verdienen, und Du hast Dir dadurch manche schwere Sorge bereitet, deren Du mit ein wenig mehr — ich will nicht sagen: Egoismus, denn ich hasse das Wort — aber mit etwas mehr Discre¬ tion überhoben gewesen wärest. Du bist jetzt für meine und Helenen's Zukunft besorgt, mit Recht be¬ sorgt. Diese Sorge wäre unnöthig, hättest Du nicht, als Du vor vierundzwanzig Jahren das Majorat erbtest, die Güter zu wahren Spottsummen an Leute verpachtet, die jetzt auf Deine Kosten reich geworden sind und noch dazu die Unverschämtheit haben, uns als habsüchtig zu verschreien, weil wir im nächsten Jahre die Contracte nicht unter den alten Bedingun¬ gen erneuern wollen; und hättest Du nicht — was ich nie habe begreifen können und nie begreifen werde, — damals ohne alle Noth die enormen Schul¬ den Harald's übernommen, deren Abtragung Alles verschlang, was Deine und später unsere Sparsamkeit von unsern Renten erübrigen konnte.“ Dem alten Baron schien das von seiner Gemahlin angeschlagene Thema nicht besonders angenehm: er nahm, während sie sprach, eine Prise über die andere und antwortete, als sie jetzt schwieg, nicht ohne einige Lebhaftigkeit: „Ich kann Dir nicht ganz Unrecht geben, liebe Anna-Maria, aber auch nicht ganz Recht. Die alten Contracte sind allerdings den Pächtern sehr günstig, aber die Zeiten waren damals auch andere; das Geld war nach dem Kriege äußerst knapp, die Güter im Allgemeinen standen sehr niedrig im Werth, und unsere Güter waren, allerdings durch Harald's Schuld, in Grund und Boden gewirthschaftet. Die Pächter hatten wahrlich im Anfang ihre liebe Noth, und wenn sie jetzt mit der Zeit reich und unverschämt geworden sind, so bin ich an dem einen so wenig Schuld, als an dem andern. Ich habe es gut mit ihnen gemeint, das weiß der liebe Gott. Was aber mein Benehmen Harald's Gläubigern gegenüber anbetrifft, so weiß ich wirklich noch heute nicht, wie ich es hätte anders ein¬ richten sollen. Die Ehre meiner Familie erforderte, daß ich seine Schulden übernahm, denn nicht dem Baron Harald von Grenwitz, der, das wußten die Leute recht gut, bei der Unantastbarkeit des Majo¬ rats niemals seine Schulden bezahlen konnte, hatten sie creditirt, sondern der Familie Grenwitz, die nicht zugeben würde, daß Einer aus der Familie ehrlos werde. Und dann hatte ich gegen meinen Vetter Pflichten der Dankbarkeit. Als er und ich junge Offiziere im Regimente waren, und auch im späteren Leben, hat er stets wie ein Bruder gegen mich ge¬ handelt. Es ist wahr, ich habe seine Güte nie ge¬ mißbraucht, und für jedes Hundert Thaler Schulden, die er für mich bezahlt hat, habe ich Tausend für ihn bezahlt, aber er würde mich, davon bin ich überzeugt, aus jeder Verlegenheit gerissen haben, denn seine Frei¬ gebigkeit kannte keine Grenzen.“ „Du ereiferst Dich ohne Noth, lieber Grenwitz, ganz ohne Noth,“ sagte die Baronin ruhig, während der alte Mann von der ungewohnt langen und leb¬ haften Rede erschöpft in den Stuhl zurückgesunken war, „es fällt mir nicht ein, Dir Vorwürfe machen zu wollen. Du weißt, wie wenig Werth ich selbst auf Reichthum lege, wie gering meine persönlichen Bedürfnisse sind, und daß, wenn ich mir über die Zukunft Sorgen mache, es nicht meinethalben, son¬ dern der Kinder wegen ist.“ „Ich weiß es, liebe Anna-Maria,“ sagte der Baron; „ich weiß es. Ich habe Dir nicht weh thun wollen, und ich bitte Dich wegen meiner Heftigkeit um Verzeihung.“ Eine Pause in dem Gespräche der Gatten erfolgte. Die Baronin nähte emsiger wie je, der Baron hatte sich seine Brille aufgesetzt, ein Zeitungsblatt ergriffen, das der Postbote vor einer Stunde gebracht hatte, und begann, die Lippen leise bewegend — denn Lesen und Schreiben war des guten Mannes Sache nie ge¬ wesen — sich in die Lecture desselben zu vertiefen. „Personalveränderungen in der Armee‘“ murmelte er; „der Oberst von —, der Major von —, lauter alte Bekannte. Der junge Grieben schon Premier- Lieutenant — das geht schnell. Dem Seconde-Lieu¬ tenaut Felix von Grenwitz — Ersuchen — Abschied — ei der Tausend! ich dachte, Felix wolle nur um Urlaub einkommen, und hier lese ich, daß er seinen Abschied genommen hat.“ „In der That!“ sagte die Baronin, die betreffende Stelle in dem Blatte, das ihr der Baron hinreichte, lesend, „nun das freut mich, freut mich sehr. Ich will es nur gestehen, lieber Grenwitz, daß ich selbst Felix diesen Rath ertheilt, und seinen Austritt aus der Armee mit zu den Bedingungen gerechnet habe, die er erfüllen müßte, bevor wir ihm unsere Helene geben könnten.“ „Aber warum das?“ fragte der Baron erstaunt. „Warum?“ antwortete die Baronin. „Nun, ich dächte, lieber Grenwitz, der Grund wäre doch klar genug. Ich dächte es wäre die allerhöchste Zeit, daß Felix ein anderes Leben beginnt, und darauf möchten wir doch wohl vergeblich warten, so lange er in den¬ selben Kreisen und denselben Verhältnissen bleibt, wo er seine Lebensweise nicht ändern könnte, selbst wenn er wollte. Ich sehe aus diesem Schritt, der auch mich überrascht — denn ich glaubte nicht, daß er sich so schnell dazu entschließen würde, — daß es ihm wirklich ernstlich um die Hand Helenens zu thun ist; und, wie gesagt: ich freue mich, freue mich sehr darüber.“ „Aber, liebe Anna-Maria“, sagte der Baron, sich hinter dem Ohr reibend, fast verdrießlich; „wir laden uns auf diese Weise Verpflichtungen auf, die wir am Ende gar nicht erfüllen können. Wenn nun unser Kind, wenn Helene nun —“ „Nicht will — meinst Du?“ unterbrach ihn die Baronin, sich in ihrem Stuhl in die Höhe richtend, und die Augenbrauen zusammenziehend; „o, ich denke sie wird wollen; ich denke, sie wird nicht vergeblich gelernt haben, daß ein Kind den Eltern Gehorsam schuldig ist.“ „Aber, wenn sie den Felir nun nicht lieben kann?“ sagte der alte Mann bekümmert. „Aber, Grenwitz! ich begreife Dich nicht;“ erwie¬ derte die Baronin; „diese Heirath ist seit langer Zeit unser liebster Wunsch gewesen. Helene hat die paar tausend Thaler, die wir bis jetzt zurückgelegt haben und die Ersparnisse, die wir in den kommenden Jahren etwa noch machen können, abgerechnet, kein Vermögen; denn Stantow und Bärwalde gehören vorläufig noch nicht uns, sondern, Dank der Freigebigkeit des freige¬ bigen Barons Harald — jedem beliebigen Abenteurer, der unverschämt genug ist, mit ein paar gefälschten Zeugnissen in der Hand, die Güter für sich zu bean¬ spruchen. Felix' Güter sind allerdings sehr verschuldet, ich gebe es zu; aber er kann, wenn er nur will, und ich bin überzeugt, daß er jetzt zur Vernunft gekommen ist, sich mit unsrer Hülfe wieder herausreißen, und wenn Malte, was der Allgütige verhüten wolle! — aber in solchen Dingen muß man an Alles, selbst das Aeußerste denken, und Malte's Gesundheit macht mir unbeschreibliche Sorge — wenn, sage ich, Malte ja vor der Zeit sterben sollte, so ist Felix Herr von Grenwitz und ich dächte, es müßte Dir ein lieber Ge¬ danke sein, Deine Tochter so gleichsam an Malte's Stelle treten zu sehen.“ In diesem Augenblick öffnete sich langsam die Thür, ein bebrilltes Gesicht schaute vorsichtig herein, und eine quäkende Stimme fragte: „Darf ich näher treten, Gnädigste?“ „Ah, sieh, der Herr Pastor!“ sagte der Baron, aufstehend und dem Eintretenden entgegengehend, „sein Sie bestens willkommen? Wollen Sie nicht ablegen?“ „Bitte, bitte, Herr Baron — bemühen Sie sich doch ja nicht — ich kann ja selbst — danke verbind¬ lichst!“ sagte Pastor Jäger, Hut und Stock auf einen Stuhl legend; „ich wollte mich gar nicht aufhalten; — danke verbindlichst — ich würde einen Rohrstuhl vorziehen — danke! — ich wollte mich nur nach dem Befinden der gnädigen Herrschaften erkundigen, denn ich hörte heute Morgen, daß Sie das Zauberfest in Barnewitz gestern mit Ihrer Gegenwart beehrt haben. Recht gut bekommen? Nicht sonderlich? O! die Frau Baronin sehen in der That etwas angegriffen aus —“ und der Pastor blickte, den Kopf, wie ein kranker Papagei auf die rechte Schulter neigend, mit dem Ausdruck innigsten Bedauerns auf die Baronin. „Ich befinde mich leidlich,“ sagte diese, die Arbeit, die einen Augenblick geruht hatte, wieder ergreifend; „aber Grenwitz scheint die Tour weniger gut bekom¬ men zu sein.“ „O, in der That!“ sagte der Pastor den Kopf schnell auf die linke Schulter neigend. „Darf ich Ihnen von meinen Tropfen offeriren, Herr Baron? sechs bis zwölf auf Zucker?“ „Sie sind doch der wahre Arzt für Seele und Leib;“ sagte die Baronin, während der Pastor auf eine abwehrende Bewegung des Barons sein Fläsch¬ chen wieder in das Papier wickelte und in die Tasche steckte. „Ja, ja: mens sana in corpore sano , ein ge¬ sunder, das heißt ein frommer Geist in einem gesun¬ den Körper, — das habe ich als Knabe in der Schule gelernt, und suche es jetzt als Mann zu üben. — Wo sind denn aber die lieben Knaben? Noch beim Unterricht? Ja, ja, der Herr Doctor Stein scheint ein sehr strebsamer, fleißiger junger Mann, unter dessen Anleitung die Junker es mit Gottes Hülfe recht weit bringen werden.“ Nun glaubte der Pastor Jäger mit diesen Oswald gespendeten Lobsprüchen etwas dem Baron und mehr noch der Baronin besonders Wohlgefälliges gesagt zu haben. Oswald's ruhiges, sicheres Auftreten hatte seiner feigen Seele gewaltig imponirt; Primula Beris, deren Urtheile über Dinge und Menschen ihm Evan¬ gelien waren, hatte seit acht Tagen nur das Lob des jungen „Gastfreundes“ gesungen, der ihr in einer Stunde mehr Verbindliches gesagt hatte, als ihr sonst vielleicht in einem Jahr gesagt wurde; heute Morgen hatte Frau von Plüggen, die Nachbarin und gute Freundin Primulas, dieser einen Besuch gemacht, um ihr von dem gestrigen Balle den pflichtschuldigen Be¬ richt abzustatten. Frau von Plüggen, eine Dame, die schon erwachsene Töchter hatte, aber noch immer gern die jugendliche spielte, war entzückt von Oswald, welcher ihr mit scheinheiliger Miene versichert hatte, sie könne sich getrost für ihre jüngste Tochter ausge¬ ben. Sie erzählte der horchenden Primula, welche Sensation Oswald's Geschicklichkeit im Schießen unter den jungen Männern hervorgebracht, welche Anerken¬ nung seine schöne Gestalt, seine feinen Manieren in der Damenwelt gefunden; wie er mit Hortense ge¬ tanzt, Frau von Berkow zu Tische geführt habe; und eigentlich, Alles in Allem, der Löwe des Tages gewe¬ sen sei. Schon daß Oswald an einer Gesellschaft, deren exclusive Tendenzen dem Pastor sehr wohl be¬ kannt waren, überhaupt hatte Theil nehmen dürfen, war in den Augen des Letzteren ein merkwürdiges, tief bedeutungsvolles Zeichen. Und zu alle diesem kam noch ein Umstand, welcher dem hochwürdigen Herrn Oswald's Gunst und Freundschaft vorzüglich wünschenswerth erscheinen ließ. Der Pastor war nicht ohne Ehrgeiz. Er glaubte sich zu größeren Dingen berufen, als den Bauern von Faschwitz das Evange¬ lium zu predigen. Er wollte nicht umsonst sich bei der Lectüre alter Manuscripte der Grünwalder Uni¬ versität die Augen verdorben, nicht umsonst über die verschollenen Fragmente der verschollenen Schriften eines verschollenen Kirchenvaters eine grundgelehrte Dissertation geschrieben haben. Er war Doctor, er wollte Professor sein, Professor in derselben Musen¬ stadt, die ihn vor fünfzehn Jahren als verkümmerten Studiosus der Theologie in abgeschabtem Röckchen durch ihre Gassen hatte schleichen sehen. Er wollte es um so mehr, als seine Primula es wollte, Primula, welche die ländlichen Gefilde, in denen ihre „Kornblumen“ erblüht waren, herzlich satt hatte, und sich im Geiste als geniale Gemalin des gelehrten Professors an den ästhetischen Thee¬ F. Spielhagen, Problematische Naturen. II. 10 tischen der Musenstadt glänzen sah. — Zur Erreichung dieses höchsten Ziels konnte dem Pastor der Professor Berger, dessen Stimme in der philosophischen Facul¬ tät entscheidend war, Professor Berger, den er wegen seines offen zur Schau getragenen Voltaireanismus, Spinocismus, Atheismus gründlich verabscheute, und dessen Protection er doch schon oft vergeblich erstrebt hatte, außerordentlich nützlich werden. Oswald aber war der erklärte Günstling des großen Mannes, der erste Schüler des alten Meisters. Eine Empfehlung Oswald's war mehr werth als eine gelehrte Disser¬ tation — folglich Oswald's Freundschaft ein Ziel, „aufs innigste zu wünschen“, und ein gelegentliches Lob, das ihm doch wol wieder zu Ohren kommen konnte, gar „keine schlechte Theologie.“ So dachte, so rechnete der Pastor. Wie erstaunt war er daher, als die Baronin mit einem Ton der Stimme, der nicht viel Gutes verhieß, seine huldvolle Phrase mit der Frage beantwortete: „Sagen Sie einmal aufrichtig, Pastor Jäger, was halten Sie von dem jungen Menschen?“ Den Schüler Berger's, den Günstling Primula's, den Löwen vom gestrigen Junkerfest schlechtweg als einen „jungen Menschen“ bezeichnen zu hören! der Pastor traute seinen Ohren kaum. Er schoß über die runden Brillengläser fort einen forschenden Blick auf die Baronin, ob ihr Gesicht etwa einen Commentar zu der räthselhaften Frage geben möchte. Da er sich in dieser Hoffnung getäuscht sah, und schlechterdings nicht wußte, was er antworten solle, griff er zu dem Mittel, zu welchem er in solchen kritischen Fällen stets seine Zuflucht nahm, das heißt: er zog die Schultern und die Augenbrauen möglichst in die Höhe und die Mundwinkel möglichst tief herunter, und überließ es dem indiscreten Frager, aus dieser Miene zu machen, was er wollte und konnte. „Sie zögern mit Ihrer Antwort!“ sagte die Baronin; „ich gebe zu, es ist nicht ganz leicht, über Herrn Stein in's Klare zu kommen. Er hat unleugbar manche schätzenswerthe Eigenschaften. Seine Manieren sind für einen Menschen von so niedriger Extraction wirk¬ lich überraschend gut; noch gestern glaubte die Gräfin Grieben im Anfang, ich wolle sie mystificiren, als ich ihr sagte: der junge Mann, der mit uns gekommen, sei unser Hauslehrer. Aber mit einer erträglichen Tournüre, mit gewandter Rede und dergleichen ist es leider nur nicht gethan, und ich bin heute noch immer nicht mit mir darüber einig, ob wir an dem jun¬ gen Mann eine gute Acquisition gemacht haben oder nicht.“ 10* „Aber liebe Anna-Maria,“ sagte der Baron; „warum sollen wir uns nicht auf den Professor Berger verlassen, der —“ „Lieber Grenwitz, ich verlasse mich auf Nieman¬ den, als auf mich selbst. Der Professor kann sich durch Stein's einnehmendes Wesen so gut haben be¬ stechen lassen, wie Du und viele Andere; und gesetzt auch, seine wissenschaftliche Bildung sei wirklich aus¬ reichend —“ „Nun, darüber dürfte wohl kein Zweifel obwalten, Gnädigste,“ sagte der Pastor, der, wenn er Oswald, wie er jetzt wohl einsah, fallen lassen mußte, sich wenigstens nach dieser Seite sichern wollte. „Es ist durchaus nicht anzunehmen, daß der Professor, dem Niemand, man mag über seine — ich will nicht sagen unchristliche, aber wenig kirchliche Gesinnung, denken, wie man will, einen durchdringenden Scharfblick, eine eminente Gelehrsamkeit absprechen kann, sich in dem intimen Umgange eines Ignoranten wohl gefühlt haben sollte.“ „Ich erlaube mir in wissenschaftlichen Dingen kein Urtheil,“ sagte die Baronin; „und so mag meinet¬ wegen Herr Stein neben dem Pistolenschießen, worin er ja, wie ich höre, brilliren soll, auch noch zu streng wissenschaftlichen Studien Zeit gefunden haben; aber es kann Jemand gute Manieren haben und Gelehr¬ samkeit dazu, und doch ein unmoralischer Mensch sein.“ „Aber liebe Anna-Maria,“ sagte der alte Baron ganz erschrocken, während der Pastor die Mundwinkel herunterzog und beistimmend nickte. „Ich bleibe dabei,“ fuhr die Baronin fort, „ein unmoralischer Mensch. Hätte ich gewußt, was ich leider zu spät erfuhr, daß der Professor Berger bei aller seiner vielgerühmten Gelehrsamkeit in dem Ge¬ ruche eines Demokraten und Atheisten — ich weiß nicht, welches von beiden das Schlimmere ist, denn, wer seinen Gott nicht ehrt, kann auch seinen König nicht ehren und umgekehrt — ich sage, hätte ich ge¬ wußt, daß der Professor ein Freidenker und ein Mann der Umsturzpartei ist, ich würde ihm nimmermehr bei der Wahl eines Erziehers für meinen Sohn eine ent¬ scheidende Stimme eingeräumt haben.“ „Aber liebe Anna-Maria,“ sagte der Baron; „es ist doch möglich, daß Du in Betreff Stein's unge¬ gründeten Befürchtungen Raum giebst. Ich erinnere mich nie, ein Wort von ihm gehört zu haben, in dem man mit Sicherheit die Bestätigung eines so schreck¬ lichen Verdachtes hätte finden können.“ „Nun, Pastor Jäger,“ sagte die Baronin, „sind Sie auch von der Unschuld des jungen Mannes so fest überzeugt?“ „Ich würde nicht der Wahrheit die Ehre geben,“ sagte dieser mit der Miene und dem Ton herzinnigsten Bedauerns, „wollte ich leugnen, aus seinem Munde Aeußerungen vernommen zu haben, die an das Ge¬ biet des Frivolen, ja ich möchte sagen Unheiligen nahe genug streiften, um mich, ich darf wohl sagen — recht schmerzlich zu berühren. Aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß auch ein späterhin trefflicher Wein in der Zeit der Gährung unschmackhaft und trübe ist, und vertraute der Allgüte dessen, der aus dem Saulus einen Paulus machte.“ „Das ist sehr schön und christlich,“ sagte die Ba¬ ronin, „beruhigt mich aber keineswegs. Wenn die Seele meines Kindes einmal vergiftet ist, kann es mir gleichgültig sein, ob der Vergifter später seinen Frevel bereut; und ich gestehe: nach den Ereignissen des ge¬ strigen Tages hat sich der Verdacht, den ich, ohne Uebertreibung, von dem ersten Augenblicke an gegen Stein nährte, fast bis zur Gewißheit gesteigert.“ „Ist etwas Besonderes vorgefallen, Gnädigste?“ fragte der Pastor, mit seinem Stuhle einen halben Zoll näher rückend. „Ich spreche nicht gern darüber,“ antwortete die Baronin, „und wenn ich es doch thue, so ist es, weil ich Sie als einen langjährigen Freund unsers Hauses kenne, und zu Ihrer Discretion —“ „Meine Pflicht und Schuldigkeit, Gnädigste,“ rief der Pastor, die Hand auf's Herz legend und den Rücken krümmend. „Sie kennen den Baron Oldenburg,“ fuhr die Baronin fort. „Nicht persönlich, Gnädigste, nur nach dem, was ich in vertraulichen Unterredungen der gnädigen Herr¬ schaften, denen ich beiwohnen zu dürfen gewürdigt wurde, über den Herrn Baron zu hören nicht umhin konnte.“ „Sie wissen also, in welchem Ruf — Gott sei es geklagt — der Baron steht; Sie wissen, daß wir den Kummer haben, sehen zu müssen, wie der letzte Sproß aus einer unsrer ältesten, berühmtesten Familien mit sehenden Augen — denn der Baron ist ein außer¬ ordentlich begabter Mann — in's Verderben rennt.“ „Aber, liebe Anna-Maria,“ sagte der Baron, der unruhig in seinem Stuhle hin- und herrückte, „ich dächte, der Gegenstand dieses Gespräches eignete sich nicht besonders — “ „Ich kenne die Rücksichten, die ich unserm Stande schuldig bin,“ sagte die Baronin, „und werde sie zu beobachten wissen. Der Abfall des Barons von dem Glauben seiner Väter ist leider zu notorisch, als daß ich einem Freunde des Adels (der Pastor krümmte den Rücken), einem Freunde unsers Hauses (Sr. Ehr¬ würden legte die Hand auf's Herz) gegenüber mit dem schmerzlichen Geständniß der Wahrheit zurückhalten sollte. — Sie wissen, Pastor Jäger, daß der Baron unsre Gesellschaft flieht, um die von allerlei sonder¬ baren Menschen, denen man sonst geflissentlich aus¬ weicht, mit Vorliebe aufzusuchen, daß er die gottlose Phrase von den sogenannten Rittern vom Geist be¬ ständig im Munde führt, und daß von ihm ausge¬ zeichnet zu werden — namentlich, wenn diese Aus¬ zeichnung Jemanden trifft, dessen gesellschaftliche Stel¬ lung so himmelweit von der seinigen verschieden ist — beinahe so viel heißt, als ein verlorener Mensch sein. Nun hat der Baron gestern Abend Herrn Stein in einer ganz auffallenden, um nicht zu sagen, anstößigen Weise ausgezeichnet; er hat nicht nur sein Möglichstes gethan, ihn bei der Gesellschaft zu introduciren, son¬ dern ihn vollkommen wie seines, wie unsers Gleichen behandelt, und um diesem Benehmen, für das ich keinen Ausdruck suchen will, die Krone aufzusetzen, ihn, als der Wagen von Grenwitz, der Herrn Stein von Barnewitz abholen sollte — wir waren schon vor dem Souper aufgebrochen — nicht gleich zur Stelle war, in seinem eigenen Wagen bis vor unser Hofthor mitgenommen, das heißt, ihm zu Gefallen einen Um¬ weg von fast einer Meile gemacht.“ „Aber, liebe Anna-Maria, das würde auch jeder Andre —“ „Verzeihe, lieber Grenwitz, das würde nicht jeder Andre gethan haben, und vor Allem würde es der Baron, dessen schroffes, ungefälliges Wesen, selbst den Standesgenossen gegenüber, sprichwörtlich ist, nicht gethan haben, wenn er nicht in Herrn Stein auch so einen Ritter vom Geist, das heißt einen Gesinnungs¬ genossen, einen Freidenker und Freiheitshelden, enfin einen unmoralischen Menschen, um das Wort zu wieder¬ holen, das vorhin Deinen Unwillen erregte, lieber Grenwitz, und von dem Du mir jetzt zugeben wirst, daß es leider das passende ist — gefunden zu haben glaubte.“ Die Baronin schwieg, in dem wohlthuenden Be¬ wußtsein, ihre Ansicht siegreich verfochten zu haben; der Pastor schwieg, die edle Gönnerin in diesem Ge¬ nusse nicht zu stören und der Baron schwieg, weil er schlechterdings nichts zu sagen wußte. In dieses drei¬ fache Schweigen hinein ertönte vom Hausflur her, auf welchen die Thür des Zimmers führte, das Miauen einer Katze, dem sofort das lautige, zornige Kläffen eines Hundes folgte. Diese Töne waren im Schlosse Grenwitz, wo weder Hunde noch Katzen geduldet wur¬ den, etwas so Unerhörtes, daß die im Zimmer Be¬ findlichen sich erstaunt ansahen. „Was bedeutet denn das?“ sagte der Baron auf¬ stehend und die Thür öffnend. „Ah, sieh da, Herr Baron!“ ertönte eine helle, klare Stimme. „Es ist Herr Timm!“ sagte dieser zu den im Zimmer Befindlichen zurückgewandt, und dann zu Dem draußen: „Wollen Sie nicht näher treten, Herr Geometer?“ Achtes Kapitel. Der, welcher dieser Aufforderung des Barons so¬ fort folgend, in das Zimmer trat, war ein junger Mann von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, obgleich die frische Farbe seines hübschen bartlosen Gesichtes ihm kaum dem Jünglingsalter entwachsen erscheinen ließ. Der wohlgeformte Kopf war mit einem schlich¬ ten, blonden Haar bedeckt, das lang genug war um nach hinten gestrichen zu werden, und die weiße Stirn frei zu lassen, die keck und fest sich über einem Augen¬ paare wölbte, deren Farbe, so weit man es durch die Gläser der Brille, die der junge Mann trug, erken¬ nen konnte, ein mattes Blau war. Seine Gestalt war mittelgroß, aber breitschultrig und sein gedrun¬ gener, muskulöser Köper augenscheinlich zur Ertragung von Strapazen aller Art ausnehmend geeignet. Auf sein Aeußeres schien der junge Mann sehr wenig zu geben. Seine Kleidung bestand aus einem hellen Sommerrock von zweifelhafter Farbe, der schon manchen Sturm erlebt zu haben schien, und aus Beinkleidern von demselben Stoff und derselben Farbe und Be¬ schaffenheit. Seine Wäsche war, als sie aus den Hän¬ den der Wäscherin kam, jedenfalls reiner gewesen. Seine Haltung entsprach seiner Kleidung, daß heißt, sie war weniger elegant als bequem, und hatte noch das mit jener gemein, daß Herr Timm sie offenbar unter Umständen mit einer besseren vertauschen konnte. „Bitte tausenmal um Entschuldigung,“ sagte er lachend, indem er sich vor der Baronin ohne alle Förmlichkeit verbeugte und dem Pastor vertraulich zu¬ nickte, „daß ich die Unterhaltung der Herrschaften durch mein lyrisches Intermezzo stören mußte, aber ich, wußte mir wirklich nicht anders zu helfen, da ich nicht die Ehre habe, Frau Baronin, Ihre Bedienten namentlich zu kennen, trotz alles Suchens keinen Klingelzug auf dem Flur entdecken konnte, und schon vergeblich in vier Thüren hineingesehen hatte. Hätte ich ahnen können, daß die fünfte, welche ich übrigens gar nicht bemerkt hatte, von dem Herrn Baron selbst geöffnet werden sollte, so würde ich mir natürlich meinen musikalischen Vortrag erspart haben, der aller¬ dings nur für das weniger empfindliche Ohr eines in der Nähe befindlichen dienstbaren Geistes berechnet war. — Wie befinden sie sich Frau Baronin? Ange¬ griffen von der Hitze? Wäre kein Wunder — fünf¬ undzwanzig Grad im Schatten — reine Treibhaus- Temperatur. — Ich soll Sie von Ihrer Frau Ge¬ malin grüßen, Herr Pastor; sprach sie vor einer Stunde in Faschwitz. Sie wird gegen Abend mit dem Einspänner herüberkommen. Sie abzuholen. — Mit der Vermessung von Sassitz wären wir fertig, Herr Baron. Wenn es Ihnen recht ist, will ich jetzt sogleich die Karten zeichnen, wenn die Frau Baronin die Güte haben will, mir ein Zimmer des Schlosses einzuräumen.“ So sprach Herr Timm und griff in die Tasche nach seinem Taschentuche, um sich die von Schwei߬ tropfen perlende Stirn abzutrocknen. Da er sich aber noch zur rechten Zeit darauf besann, daß das betref¬ fende, so überaus nützliche Stück der Toillette sich für den Augenblick bei ihm in einem keineswegs salonfä¬ higen Zustand befand, so ließ er es, wo es war, fuhr sich mit der Hand über Stirn und Haar, und schaute so vergnügt um sich, als ob ihm die Grenwitzer Be¬ sitzungen, die er im Schweiß seines Angesichts ver¬ messen mußte, erb– und eigenthümlich gehörten. „Gewiß;“ sagte die Baronin, bei der Herr Timm wegen seiner scheinbaren Anspruchslosigkeit in großer Gunst stand, und die, herrschsüchtig wie sie war, oder gerade, weil sie herrschsüchtig war, unwillkürlich einen Mann schätzen mußte, der sich durch nichts imponiren ließ, und den nichts aus der Fassung zu bringen ver¬ mochte; „gewiß Herr Timm. Sie wissen, daß Sie uns zu jeder Zeit willkommen sind. Sie werden hier, wo Sie nichts stört, besser arbeiten können, als in der Stadt, und es ist ja zu unserm beiderseitigen Vortheil, daß die Arbeit möglichst schnell beendet wird. Sie haben doch Ihre Sachen gleich mitgebracht, Herr Timm?“ „Steht Alles schon auf dem Hausflur, wo es der ländliche Jüngling, welcher die Oeländer lenkte, die mich im Hundetrab von Sassitz hierher kutschirten, deponirt hat;“ sagte Herr Timm, dessen „Sachen“ aus einem kleinen melancholisch aussehenden Koffer bestanden, in welchem etwas reine und nicht viel schmutzige Wäsche und die sonstigen Stücke seiner nicht eben luxuriösen Garderobe in chaotischer Verwirrung durcheinander lagen, und aus einer großen Mappe, die seine Zeichnenmaterialien, Flurkarten u. s. w. ent¬ hielt. „Ich bedarf nur noch der Anweisung auf einen Ihrer dienstbaren Geister, der mich auf das mir von Ihnen gütigst angewiesene oder anzuweisende Zim¬ mer führt, um mich sofort häuslich einrichten zu können.“ „Wollen sie die Güte haben, jenen Klingelzug zweimal zu ziehen;“ sagte Anna-Maria mit huldvollem Lächeln. „Mit Vergnügen,“ sagte Herr Timm, diese instru¬ mentale Methode des Beschwörens dienstbarer Geister ist viel bequemer, als meine vocale, und auch viel wirksamer, wie ich sehe.“ Der eintretende Bediente erhielt den Auftrag, Herrn Timm auf sein Zimmer zu führen. „Es steht schon seit Wochen für Sie bereit, Herr Geometer;“ sagte die Baronin. „Sie sind umsichtig und gütig, wie die Vorsehung selbst, gnädige Frau;“ sagte Herr Timm, aufstehend und der Baronin ohne Umstände die Hand küssend; „ au revoir , meine Herrschaften, bis zum Abendessen, bei dem Sie hoffentlich wie ich erscheinen werden, daß heißt mit guter Laune und noch besserem Appetit;“ und er folgte leichten Schrittes dem Bedienten aus dem Gemache. „Wirklich ein charmanter Mensch, der Herr Timm.“ sagte die Baronin, „so harmlos, unbefangen, anspruchs¬ los, so ganz sich seiner Stellung in der Gesellschaft bewußt, und nicht stets hoch oben hinauswollend, wie gewisse andere Leute.“ „Ei, ja wohl,“ bestätigte der Pastor, ein äußerst charmanter, bescheidener junger Mann, „und der so¬ wohl was seine Talente betrifft, die wirklich über¬ raschend sind, als auch wegen der angesehenen Familie, aus welcher er stammt, Beachtung verdient. Gustava kennt seine Familienverhältnisse genau; auch ich erinnere mich aus meiner Grünwalder Zeit her sehr wohl seines Herrn Vaters, eines ausgezeich¬ neten Advokaten, der sein bedeutendes Vermögen kurz vor seinem Tode in einer unglücklichen Speculation verlor. Seine Verwandten befinden sich zum Theil in ganz respectabeln Stellungen. Ein Onkel vom ihm ist Major. Auch Herr Timm war anfangs zu einer militärischen Carriere bestimmt, und war, so viel ich weiß, schon Fähndrich, als er in Folge der großen Verluste seines Vaters, diese Laufbahn aufgab, um sich dem Baufach zu widmen. Er wünscht sehnlichst, die Akademie in der Residenz beziehen zu können, nur fehlt es ihm leider —“ der Pastor machte mit dem Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand eine bezeichnende Bewegung. „Das ist ja jammerschade,“ sagte die Baronin; „wer doch dem armen Menschen helfen könnte! kann ihm denn sein Onkel, der Major, nicht die paar hundert Thaler vorschießen? aber freilich die Herrn vom Mi¬ litär haben meistens genug mit sich selbst zu thun. — Ah mademoiselle, vous arrivez bien à propos! Veuillez avoir la bonté — “ Die Baronin war auf¬ gestanden, um der eben eintretenden Mademoiselle Marguerite eine Instruction zu ertheilen. „Wollen Sie meine Bienenstöcke einmal ansehen, Pastor Jäger? sagte der Baron. „Mit dem größten Vergnügen;“ erwiederte dieser, Hut und Stock ergreifend. „Bleiben die Herrn nicht zu lange,“ sagte die Baronin; „wir wollen heute etwas früher soupiren. — Que voulais-je dire? Ah, oui! du chocolat, mai s pas si énormement sucré que la dernière fois, et particulièrement prenez garde — — —“ Der Abend war gekommen, mit ihm Frau Pastor Jäger auf dem Einspänner. Primula trug dasselbe Kleid von ungefärbter Seide, in welchem sie Oswald an jenem Sonntag Morgen erschien, und sah, von der übergroßen Hitze des Tages angegriffen, mehr denn je wie ein kranker Kanarienvogel aus. Ihr Gatte hatte, sobald der langathmige Selam zwischen ihr und der Baronin vorüber war, die erste schickliche Gelegenheit ergriffen, ihr zuzuraunen, von dem „Gast¬ freunde“ weniger entzückt zu erscheinen, als sie und er sich vorgenommen hatten, da „der junge Mensch“ keineswegs in besonderer Gunst bei der Baronin zu F. Spielhagen, Problematische Naturen. II. 11 stehen scheine — eine Nachricht, welche die Bewohnerin der Sphären höherer Bildung in ein solches Erstaunen versetzte, daß, als jetzt Oswald kurz vor dem Abend¬ essen erschien, sie seine höfliche Begrüßung nur mit einer sehr förmlichen Verbeugung zu erwiedern ver¬ mochte. Dies wunderliche Benehmen der vorher für den „Gastfreund“ so begeisterten Dichterin würde wahr¬ scheinlich nicht wenig zur Erhöhung von Oswald's guter Laune beigetragen haben, wenn er es überhaupt bemerkt hätte. Leider aber befand er sich heute Abend in einer Stimmung, in welcher man, wie Oldenburg es ausdrückte, Ohren und Augen offen hat und doch weder sieht noch hört. Die Schatten der Ereignisse des letzten Tages und der letzten Nacht lagen noch auf seiner Seele und auf seiner Stirn. Seine ge¬ wöhnliche Lebhaftigkeit war einer melancholischen Ruhe gewichen; er sah bleich und nachdenklich aus, aber so schön und vornehm, daß Primula's zartbesaitete Seele alsbald den Zauber, welchen die Erscheinung des jungen Fremden bei der ersten Begegnung auf sie ausgeübt hatte, wiederum zu fühlen begann, und sie die War¬ nung ihres vorsichtigen Gatten um so lieber vergaß, als sie sah, mit welcher ausgesuchten Höflichkeit und Zuvorkommenheit die Baronin und der Baron denselben Mann behandelten, der ihr soeben als eine gefallene Größe denuncirt war. Sie bereitete sich schon im Stillen auf eine Strafpredigt vor, die sie auf der Heimfahrt ihrem Jäger halten wollte, der „wieder einmal nach seiner Gewohnheit den Wald vor Bäumen nicht gesehen hatte.“ Der würdige Geistliche selbst war für den ersten Augenblick durch den vollkommenen Widerspruch zwischen den Worten und der Handlungs¬ weise der Baronin aus der Fassung gebracht. Er wußte indessen besser, als irgend Einer, daß die Menschen nicht immer scheinen, was sie sind und nicht immer sind, was sie scheinen, und hielt es auf alle Fälle für das Gerathenste, das Benehmen seiner Gönnerin möglichst treu zu copiren, was ihm bei seiner voll¬ endeten Virtuosität in der edlen Kunst der Heuchelei natürlich nicht schwer fallen konnte. Indessen würde trotz des scheinbaren guten Einver¬ nehmens der Gesellschaft die Unterhaltung bei der Abendmahlzeit, die auf der Terrasse im Freien einge¬ nommen wurde, nicht besonders lebhaft gewesen sein, hätte Herrn Timm's Gemüth die Eigenschaft gehabt, die Farbe seiner Umgebung anzunehmen. Dies war indessen durchaus nicht der Fall. Herr Timm hatte sein Versprechen, bei Tische mit guter Laune und noch besserem Appetit zu erscheinen 11* wahr gemacht. Er fand die Chocolade, die diesmal keineswegs énormement sucré war, vortrefflich, das Brod vortrefflich, die Butter vortrefflich. Alles vor¬ trefflich. Und wie köstlich war der Einfall, sich an diesem herrlichen Abend nicht in die Stube einzuschließen! wie glücklich der Gedanke, die Tafel gerade auf die¬ sem Punkt der Terrasse zu decken, von dem man einen so herrlichen Blick auf den Garten hatte! wie wunder¬ voll waren die Schatten und Lichter in den hohen Bäumen drüben jenseits des Rasenplatzes! wirklich ein Gemälde von Claude Lorrain! Wahrhaftig, Herr Baron, wenn ich nicht Diogenes wäre, so möchte ich wol Alexander sein! Aber freilich, wir können nicht Alle in Schlössern hausen, es muß auch Tonnenbewohner geben, und wohl dem Manne, dem sein Schloß nicht wie eine Tonne, oder dem seine Tonne wie ein Schloß erscheint! Sie sollten diesen Gedanken zu einem Epi¬ gramm verwerthen, Frau Pastor! Sie haben ein ganz entschiedenes Talent für diese Gattung; selbst in Ihren hoch-lyrischen Gedichten findet sich oft eine epigram¬ matische Wendung. So in dem reizenden Sonett auf den Maikäfer. Wie heißt doch noch der Schluß? „Des Maies Käfer, falscher Liebe Bild —“ das ist an und für sich schon ein tiefsinniges Epigramm. Wissen Sie, daß man in Grünwald Ihre Uebersiedelung nach Faschwitz noch immer nicht verschmerzen kann? Noch neulich sagte Professor Lichtscheu, den ich in einer Gesellschaft beim Kanonikus Schwarz traf: es sei unverantwortlich, daß ein gewisser Gelehrter, den ich nicht nennen will, den reichen Schatz seines Wissens in der Einsamkeit eines Dorfes, dessen Namen mir entfallen ist, vergraben solle; worauf ich ihm erwiederte: es sei nicht minder unverantwortlich, daß die Dichterin der „Kornblumen“ noch immer unter Kornblumen wandle. So ging es mit unendlicher Zungenfertigkeit fort, dabei war Alles, was Timm sprach, so augenscheinlich ohne jegliche Absicht, witzig und geistreich sein zu wollen, — trotzdem es manchmal geistreich und witzig genug war — gesagt, daß man ihm zuhören konnte wie einem lustigen und in seiner Lustigkeit freilich et¬ was überlauten Kanarienvogel, dem die Morgensonne in das Bauer scheint und der dabei auf den Einfall kommt, sich einmal ordentlich auszusingen. Nur kam es Oswald manchmal vor, als ob Herr Timm's Hu¬ mor durchaus nicht so natürlich sei, als es den An¬ schein hatte; als ob Herr Timm nur eine wohl ein¬ studirte und fein berechnete Rolle, allerdings mit voll¬ endeter Naturwahrheit, spiele, und als ob der gut¬ müthige Bonvivant und anspruchlose Naturbursche bei Licht besehen die ganze Gesellschaft, die er mit dem Feuerwerk seines Witzes unterhielt, gründlich verhöhne und nasführe. Er wurde in diesem Verdachte um so mehr bestärkt, als Herr Timm, so bald er zu ihm sprach, stets einen andern Ton anschlug, als wollte er sagen: Dir darf ich mit solchen Narrenspossen nicht kommen, aber für den andern Pöbel sind sie gut genug. Diesen Verdacht, auf den Oswald übrigens um so leichter verfallen mußte, als er selbst nur zu oft die Gesellschaft, gegen die er eine so gründliche Ver¬ achtung empfand, zum Besten hatte, schien von den Andern Niemand zu theilen, es hätte denn Bruno sein müssen, der heute noch düsterer und verschlossener wie gewöhnlich auf seinem Platze neben Oswald saß, und seinen stolzen Mund nicht ein einziges Mal zu einem Lächeln verzog, obwohl er Alle um sich her — selbst Oswald nicht ausgenommen — lachen sah, zu¬ mal als gegen das Ende der Mahlzeit Herr Albert Timm mit seiner Nachbarin, Mademoiselle Marguerite, eine Conversation begann, in welcher er französisch und deutsch auf die possirlichste Weise durcheinander mischte. Die hübsche scheue Genferin hatte sich die möglichste Mühe gegeben, Herrn Timm's Kreuz- und Quersprüngen in der Unterhaltung zu folgen, und sich alle Augenblicke mit einem rapiden: qu'est ce qu'il dit? que veut dire cela? an Malte, ihren Nachbar auf der andern Seite, gewandt, der ihr die Antwort um so häufiger schuldig bleiben mußte, als er selbst von Allem, was der unerschöpfliche Albert vorbrachte, kaum die Hälfte begriff, bis dieser mit ihr zu kauder¬ wälschen anfing, um mit vielem Tacte den Scherz so¬ fort abzubrechen, als er merkte, daß die hübsche Kleine durch das Gelächter der Andern in Verlegenheit gerieth. Es war bereits dunkel geworden, als die Baronin die Tafel aufhob, und Herr und Frau Pastor Jäger, die sich jetzt unter vielen Danksagungen für den so angenehm verbrachten Abend empfehlen wollten, ein¬ lud, mit ihr und dem Baron noch ein „gemüthliches kleines Boston — in der alten Weise, wissen Sie, Pastor Jäger, wie es sich für solide Leute schickt“ — in dem Salon zu spielen. Malte war zu Bett gegangen. Oswald und Bruno, Albert und Mademoiselle Margueritte pro¬ menirten paarweise um den Rasenplatz und in den zunächst gelegenen Gängen des Gartens. „Du hast mir noch gar nicht gesagt, Oswald,“ sagte Bruno — er nannte jetzt seinen Freund, wenn sie allein waren, stets mit dem brüderlichen Du — „ob Du Tante Berkow gestern gesehen hast?“ „Ja, Bruno.“ „Sah sie schön aus?“ „Wie immer.“ „Läßt sie mich grüßen?“ „Natürlich.“ „Weißt Du, Bruno, daß ich glaube, Tante Ber¬ kow mag Dich sehr gern leiden?“ „Warum, Du Närrchen?“ „Sie sah Dich an dem Abend, als sie hier war, immer mit so glänzenden Augen an — so recht lieb und freundlich, wie sie mich manchmal anblickt, wenn sie mir das Haar streichelt, aber doch anders — so —“ „Ach, Du weißt ja nicht, was Du sprichst, Bruno.“ „Ich weiß es recht gut, aber ich kann mich nur nicht so ausdrücken, wie ihr klugen, großen Leute. Ich bin an dem Abend ordentlich eifersüchtig auf Dich gewesen, denn früher war sie gegen mich am freund¬ lichsten. Ich nicht wissen, wie Tante Berkow aus¬ sieht, wenn sie Jemanden gern hat? ich weiß es sehr wohl – –“ sagte Bruno trotzig. „Und ich weiß auch noch mehr,“ fuhr er nach einer Pause fort. „Ich sollte es eigentlich nicht sagen, denn Tante hat es mir verboten, aber ich glaube jetzt, es ist ihr gar nicht Ernst mit dem Verbot gewesen.“ „Was war es?“ fragte Oswald mit angenom¬ mener Gleichgültigkeit. „Das war es;“ sagte Bruno. „Ich war am Sonnabend Nachmittag, als Du Briefe schriebst, allein in den Wald gegangen, nach Berkow zu, weil das mein liebster Weg ist. Da kommt mir auf einmal Tante entgegen, zu Pferde, ganz allein, nicht einmal der Boncoeur war bei ihr. Sie ritt den Brownlock, den sie immer reitet, wenn sie schnell reiten will, und schnell mußte sie geritten sein, denn Brownlock's Brust und Hals und selbst Tantes Kleid waren voll weißer Schaumflecken. Sieh' da, Bruno! sagte sie, mir vom Pferde herab die Hand reichend, wo willst Du hin? — Nirgends hin, Tante, wie gewöhnlich, sagte ich, aber wo wollen Sie hin? — Auch nirgends! ant¬ wortete sie lachend, da können wir ja zusammen unsern Weg fortsetzen. — Wenn Sie Schritt reiten wollen, sagte ich, sonst nicht. — Und da sind wir wohl eine halbe Stunde zusammen durch den Wald gezogen, und haben die ganze Zeit von nichts als von Dir ge¬ sprochen, und Tante fragte mich, ob ich Dich lieb hätte, worauf ich natürlich mit Nein antwortete; ob Du wohl aussähest, ob Du recht munter wärest? ob Du viel studirtest? und noch hunderterlei, was ich wieder vergessen habe. Zuletzt trug sie mir auf, Dich zu grüßen und zu fragen, ob Du die Kupferstiche noch nicht hättest, von denen ihr neulich gesprochen, und ob Du sie ihr nicht schicken wolltest — und dann rief sie mich wieder zurück und sagte: ich solle Dich lieber doch nicht daran erinnern, Dir auch nicht sagen, daß ich sie gesprochen hätte — aber, wie gesagt, ich glaube jetzt nicht mehr, daß es ihr Ernst gewesen ist.“ „Warum jetzt nicht mehr, Bruno? “ „Weil —“ der Knabe schwieg; plötzlich sagte er in gedämpftem Ton, als fürchtete er, die dunklen Ge¬ büsche neben ihnen könnten es hören. „Sage mir, Oswald, wie ist das, wenn man Je¬ mand liebt? “ „Wie meinst Du das, Bruno?” antwortete Os¬ wald, den die Frage in nicht geringe Verlegenheit setzte. „Ich meine: was ist das für eine Liebe, von der so oft in den Büchern die Rede ist? Ich habe Dich lieb, sehr lieb; aber es ist mir, als müßte es noch eine andre Liebe geben. So habe ich immer nicht verstanden, warum der Marquis Posa so bestürzt ist, als Don Carlos sagt: ich liebe meine Mutter. — Weshalb soll er seine Muttrr nicht lieben? Ich habe meine Mutter nie gekannt, und so weiß ich gar nicht, wie man seine Mutter liebt, aber ich denke sie mir immer so jung und schön, wie Tante Berkow. Für die könnte ich Alles, Alles thun! Ich wünsche manchmal: sie fiele vor meinen Augen in's Wasser, und ich könnte ihr nachspringen; oder wie neulich: Brownlock bäumte sich, und ich faßte ihn in den Zügel und kämpfte mit ihm, und ließe nicht los, und wenn er mich auch mit seinen Hufen zerträte. — Warum kommen mir solche Wünsche nie, wenn ich in Deiner Nähe bin, Os¬ wald, oder wenn ich, von Dir getrennt, an Dich denke?“ „Weil ich ein Mann bin, Bruno, und Du weißt, daß ich mir selbst helfen könnte und helfen würde. In die Liebe aber, die wir für eine Frau empfinden, mischt sich noch das Gefühl, daß wir sie, die sich selbst nicht schützen kann, mit unsrer größeren Kraft und unserm kühneren Muthe schützen müssen, und das macht unsre Liebe zärtlicher, inniger, mitleidiger; und dann noch ein Gefühl, von dem ich Dir jetzt nur so viel sagen will, daß es ein Ausfluß der ewigen Kraft ist, welche das Weltall schafft und trägt, ein Gefühl, welches rein ist, wie alle Natur, aber auch eben so keusch, und das deshalb, vor der Zeit wachgerufen, dem Voreiligen so verderblich werden kann, als seine Kühnheit dem Jüngling, den des Wissens Drang nach Sais und in den Tempel trieb, wo sie in dichtem Schleier verhüllt, thronte, Isis, die heilige, keusche Göttin der Natur.“ „Ich verstehe Dich nicht ganz, Oswald.“ „Die Welt und das Leben sind voller Räthsel, Bruno. Das Leben ist die Sphinx und wir sind der Oedipus. Und es ist der Fluch des Oedipus, daß er das Räthsel lösen muß, und ihn des Räthsels Lösung doch unglücklich macht.“ „Du bist mir nicht böse, Oswald?“ „Ich Dir böse, liebes Herz? weshalb?“ „Daß ich Dir mit solchen wunderlichen Fragen komme.“ „Du sollst mich fragen, Bruno; nach Allem fragen, was Dich in Erstaunen und Verwirrung setzt. Deine Seele muß offen vor mir liegen, wie ein Buch, in dem ich blättern und wieder blättern kann. Wollte Gott, ich möchte nur Weises und Gutes auf die reinen Blätter schreiben!“ „Du bist stets so gut so unendlich gut gegen mich, Oswald; und ich vergelte Dir all' Deine Güte nur mit Undankbarkeit und Trotz.“ „Das thust Du nicht — und dann: sind wir nicht Brüder? Brüder müssen sich untereinander lie¬ ben und tragen und stützen, und dürfen nicht rechten um Mein und Dein. Sieh' Bruno, wenn der fromme Glaube, der die Geister der verstorbenen die auf Er¬ den zurückgelassenen Lieben umschweben läßt, der meine wäre, so würde ich sagen: dort oben, von dem leuch¬ tenden Sternenhimmel, schauen unsre Mütter auf uns hernieder und freuen sich der Vereinigung und Liebe ihrer Kinder. Laß uns zusammenstehen in diesem wirren Kampfe des Lebens zu Schutz und Trutz. Wie lange wird es dauern und Du bist ein Mann, wie ich, und wollte Gott, ein besserer Mann. Dann wird auch der letzte Unterschied, der Unterschied der Jahre von uns nicht mehr empfunden werden, wie ich ihn denn jetzt kaum noch empfinde. Dann werde ich viel¬ leicht zu Dir aufschauen, wie Du jetzt zu mir; dann wirst Du mir doppelt und dreifach das Wenige be¬ zahlen, das ich jetzt für Dich thun kann; dann werde ich — und wie gern! Dein Schuldner sein!“ „O, das wird nie geschehen;“ sagte Bruno; „Du wirst immer unerreichbar weit von mir vorauseilen: ich werde nie auch nur das werden, was Du jetzt schon bist.“ „Du Närrchen!“ sagte Oswald und streichelte liebevoll Bruno's Haar; „Du sitzt jetzt im Parterre vor der Bühne des Lebens, und der Felsen von Pappe erscheint Deinem begeisterten Auge ein Urgebirge, und all die Trödelwaare echt. Wenn Du erst selbst auf die Bühne trittst, wird Dir der holde, rosige Schleier der Illusion von den Augen fallen und Du wirst Deinen Irrthum erkennen. Aber wenn auch! Du wirst, wenn Du von Deinem ersten schmerzlichen Er¬ staunen Dich erholt hast, begreifen, daß es nicht an¬ ders sein kann, und Deinen Bruder nicht verachten, weil Du siehst, daß sein stolzer Rittermantel von ver¬ schossener Seide und arg geflickt ist, und seine Sporen eitel Messing — doch still! da kommen uns Herr Timm und Mademoiselle entgegen. Es scheint Herr Timm will die gute Gelegenheit, seine Aussprache des Französischen zu cultiviren, nicht unbenutzt lassen. Wir wollen ihn in diesem edlen Streben nicht stören. Laß uns in diesen Gang einbiegen.“ Herr Timm, der jetzt Arm in Arm mit Made¬ moiselle Marguerite, ohne Oswald und Bruno zu be¬ merken, eifrig sprechend und seine helle Stimme dabei sorgfältig dämpfend, vorüberstrich, hatte in der That „die gute Gelegenheit“, obgleich in etwas anderer, als in der von Oswald angedeuteten Weise, zu nutzen verstanden. Auf seine Aussprache des Französischen, wie überhaupt auf alles rein Aeußerliche, legte der junge Mann sehr wenig Gewicht, desto mehr aber auf den soliden Vortheil, den ihm die Gunst der jungen Dame, welche dem innern Hauswesen des Schlosses vorzustehen schien, während eines, voraussichtlich mehre Wochen lang dauernden Aufenthalts in Grenwitz ge¬ währen mußten; und sich diese Gunst, die auch viel¬ leicht in anderer Weise die Monotonie des Landlebens in angemessener Weise mildern konnte, möglichst schnell zu erwerben, war Herr Albert Timm in dem aller¬ liebsten verschwiegenen tête-a-tête mit der kleinen Französin eifrigst bedacht gewesen. Die Unterhaltung war von beiden Seiten, ohne einem gelegentlichen französischen Worte das Dasein zu verkümmern, deutsch geführt worden, da Mademoiselle das Deutsche ziemlich und Herr Timm das Französische sehr schlecht sprach, und dem jungen harmlosen, aufrichtigen, wahrheits¬ liebenden Manne nichts verhaßter war, als der Ge¬ danke, nicht verstanden oder vielleicht gar mißverstanden zu werden. „Und Sie sind schon lange hier?“ fragte er. „Drei Jahre.“ „Der Tausend! und Sie sind vor langer Weile noch nicht gestorben. Sie müssen eine famose Natur haben.“ „Plait-il? “ „Ich meine, das muß doch zum Verzweifeln lang¬ weilig sein, Jahr aus Jahr ein in diesem öden Nest zu hocken, und noch dazu in so ausnehmend inter¬ essanter Gesellschaft. Aber Sie haben wohl viel zu thun?“ „Enormément! Ich muβ arbeiten comme unforçat — “ „ Comme was?“ „ Vous ne savez pas ce que c′est qu′un forçat? “ „Nein — schadet aber nichts. Wollen einmal sagen: wie ein Pferd; das wird wol auf dasselbe herauskom¬ men. Also: Sie müssen arbeiten wie ein forçat?“ „ Justement ! ich muβ ausschlieβen und zuschlieβen alle Schlösser —“ „Hat auch sein Angenehmes,“ bemerkte Herr Timm. „Ich muβ hören den ganzen Tag: Mademoiselle, thu Sie dies, Mademoiselle, thu Sie das! Und des Abends, wenn ich bin müde, daβ ich nicht kann offen halte die Augen, ich muβ lesen aus die alte dumme Bücher, bis Madame hat die Güte zu sagen: c'est, assez ! — Non , madame , ce n′est pas assez, c′est trop — mille fois trop ,“ sagte die lebhafte kleine Dame und stampfte mit dem Fuße. „Sie scheinen in einer allerliebsten Stimmung,“ sagte Herr Timm; „aber das ist recht, sprechen Sie sich aus — das erleichtert das Herz — aber, wenn die Baronin Ihnen ein solches Vertrauen schenkt, so müssen Sie doch auch in groβer Gunst bei ihr stehen." „ Au contraire ! Sie mich braucht, weil Sie muß. Sie würde mir heute geben mon congé lieber als morgen. Sie mich hat gern, weil ich nicht habe nöthig viel Schlaf und weil ich esse wenig.“ „Na, da werde ich nie ihr Liebling werden,“ sagte Herr Timm. „Aber Sie armes Kind, da sind Sie ja in einer schauderhaften Situation. Viel Arbeiten und keinen Dank dafür; früh Aufstehen und dafür spät zu Bette gehen; den ganzen Tag dreschen müssen, wie das gutmüthige Thier in der Bibel, ohne die demselben verstattete Freiheit — das halte ein Andrer aus. Sie sollten sich verheirathen, Mademoiselle.“ Marguerite zuckte die Achseln: „Wer wird wollen mich 'eirathen? Je suis si pauvre et si laide !“ „Was ist das?“ „Ich sage: ich bin arm und ich bin äßlich.“ „Das Erstere will ich zugeben,“ sagte Herr Timm; „das Zweite ist aber eine arge Verleumdung. Sie häßlich! Au contraire : Sie sind hübsch, Mademoi¬ selle, très hübsch, belle , sehr belle —“ „ Vous plaisantez, Monsieur !“ „Ohne Spaß!“ sagte Herr Timm, „Sie sind wirklich ein auffallend hübsches Mädchen. Erstens haben Sie eine reizende Figur —“ „ Trop petite, “ sagte Marguerite. F. Spielhagen, Problematische Naturen, II. 12 „Nicht die Spur,“ versicherte Herr Timm; „Zwei¬ tens haben Sie wunderhübsche braune Augen; eine reizende Hand, einen entzückend niedlichen Fuß —“ „Mais, monsieur! “ „Was denn? es ist ja wahr; was wahr ist, darf man sagen. Ich wette, daß Monsieur le docteur Stein vollkommen meiner Meinung ist. Lieben Sie den Doctor?“ „Ich ihn lieben?“ sagte die kleine Französin mit großer Lebhaftigkeit; „ich ihn lieben? — ich ihn affe!“ „Na, na!“ sagte Herr Timm; „warum denn? er ist doch ein sehr schöner Mann.“ „C'est un bel homme, mais c'est un fat.“ „ Un was?“ „Er ist ein Narr, oui un Narr, qui est mon¬ strueusement amoureux de lui-mème; mais avec toute sa fierté je me moque de lui, je me moque de sa fierté, oui, je m'en moque, moi! “ „Bitte, ereifern Sie sich nicht, und sprechen Sie vor allen Dingen deutsch, wenn Sie wünschen, daß ich Sie verstehen soll. Was hat Ihnen denn der Unglückliche gethan?“ „Lui? malheureux? Il n'est pas malheureux; ce monsieur-la. Tout le monde le flatte, le ca¬ jole —“ „Aber so sprechen Sie doch um Himmelswillen deutsch!“ „Glauben Sie, daß er hat gesprochen zehn Worte mit mir, seitdem daß er ist hier?“ „Das ist freilich abscheulich! Au! da habe ich mir schon wieder den Fuß an so einer verdammten Baumwurzel gestoßen. Ich bin im Dunkeln so blind, wie ein Maulwurf. Sie thäten wirklich ein Werk der Barmherzigkeit, wenn Sie meinen Arm annehmen und mich ein wenig führen wollten.“ „ Très volontiers, Monsieurs .“ „Also so ein eitler Herr ist dieser Doctor Stein,“ sagte Herr Timm, den Arm der hübschen Marguerite in den seinen legend und dabei, wahrscheinlich aus Kurzsichtigkeit, ziemlich fest an seine Brust drückend; „ei, wer hätte das gedacht! Na, wissen Sie was, liebe Marguerite — welch’ ein reizender Name das ist: Marguerite! — ich darf Sie doch Marguerite nennen? — Ja, was ich sagen wollte: ärgern Sie sich nicht über den albernen Menschen, liebe Margue¬ rite! Wenn er nicht mit Ihnen sprechen will, so ist das sein eigener Schade, und wenn er Sie nicht hübsch findet, so finden Sie dafür andre Leute desto hübscher; ich zum Beispiel, obgleich ich sehr kurzsichtig bin, be¬ sonders hier in diesem Baumgange, wo es so dunkel 12* ist, daß man wahrhaftig nicht die Hand vor den Augen sehen kann. — Fürchten Sie sich, kleine Marguerita? Nein? warum klopft denn Ihr Herz so? oder hätten Sie mich gar aus Versehen ein bischen lieb? Haben Sie mich ein bischen lieb, Marguerite? Geniren Sie sich gar nicht; mir kann man Alles sagen. Oder sagen Sie lieber nichts und geben Sie mir einen Kuß! Sie wollen nicht — so! das ist vernünftig: ihr Fran¬ zosen und besonders ihr Französinnen seid eine char¬ mante Nation. Aber warum weinst Du denn, kleiner Narr? Ist es bei euch denn ein Staatsverbrechen, einem ehrlichen Kerl einen Kuß gegeben zu haben, und noch dazu im Dunkeln . . . Verdammt, da kommt der alberne Mensch, der Doctor mit seinem Gras¬ affen . . . Bon soir , meine Herren, wir können hier Begegnen spielen.“ „Oder Blindekuh,“ sagte Oswald, „und noch dazu ohne Binde. Ich dächte, wir gingen hinein. Wenn ich nicht irre, hat die Baronin schon nach Mademoi¬ selle gerufen.“ Herr und Frau Pastor Jäger hatten sich unter vielen Danksagungen und Freundschafts- und Ergeben¬ heitsversicherungen empfohlen, um auf dem Einspänner in die idyllische Ruhe von Faschwitz und unter „ihr niedriges Dach“ zurückzukehren; Oswald und Herr Timm — Bruno hatte sich schon einige Minuten zu¬ vor entfernt — stiegen die Wendeltreppe des Thurms hinauf, um sich auf ihre Zimmer zu begeben. „Dies ist Ihr Zimmer, so viel ich weiß, Herr Timm,“ sagte Oswald, vor einer der vielen Thüren stehen bleibend, die auf denselben Corridor gingen, welcher Stufen auf Stufen ab, in vielfachen Biegungen durch den alten Theil des Schlosses, wo Oswald und die Knaben wohnten, und mehere der weniger stattlichen Gastzimmer lagen, führte. „Und wo ist denn Ihr Wigwam, Herr Doctor?“ „Ein paar Thüren weiter.“ „Sind Sie sehr müde?“ „Nicht besonders.“ „So erlauben Sie mir, noch ein paar Minuten mit zu Ihnen zu kommen. Ich empfinde das sehr natürliche Bedürfniß, nach all dem Unsinn, den ich geschwätzt habe, und habe schwätzen hören, in ver¬ nünftiger Gesellschaft eine gute Cigarre zu rauchen.“ „So kommen Sie,“ sagte Oswald, der viel lieber allein geblieben wär, aber eine zu hohe Meinung von der Pflicht der Gastfreundschaft hatte, um eine so directe Anrufung derselben zurückzuweisen; „ob Ihnen freilich meine Cigarren gut und meine Gesellschaft vernünftig genug —“ „Um Gotteswillen für heute nicht noch mehr Com¬ plimente!“ rief Herr Timm; „ich bin mit den bereits Genossenen vollkommen zufrieden. Bitte! spazieren Sie voran —“ „Ein reizender Wigwam,“ sagte Herr Timm, als sie in das Zimmer getreten waren und Oswald die Lampe auf dem runden Tisch vor dem Sopha ent¬ zündet und ein Kistchen mit Cigarren aus seinem Secretär geholt hatte; „eine allerliebste Tonne für einen Cyniker, der gelegentlich bei den Sybariten in die Schule geht; wirklich famos behaglich, für meinen Geschmack fast zu behaglich. Der große Lehnstuhl in der tiefen Fensternische, von dem man auf der einen Seite so bequem in den Garten, und auf der andern „still und bewegt“ nach dem schönen Apollokopfe dort auf dem Schranke blicken kann, Natur und Kunst vis-à-vis , und man selbst mitten dazwischen, wie der Mann sagte, als er aus dem Luftballon fiel. — Die Cigarre ist suberb, wirkliche Havannah und kein Stinka¬ dores — rauchen Sie nicht? nein? und halten sich für ihre Freunde und Bekannten ein solches Blatt! — Edelster der Menschen! der heilige Crispinus ist ja ein Straßenräuber in Vergleich mit Ihnen! Was haben Sie denn da in der höchst verdächtig aussehenden Flasche oben auf dem Bücherbrett? ich glaube gar Cognac—“ „Und noch dazu alten, echten,“ sagte Oswald, „wenigstens versichert es mein Freund, der Inspector Wrampe, der mir diese, jedenfalls geschmuggelte, Flasche aufgenöthigt hat —“ „Und noch nicht einmal entkorkt — Me herculem ! Da müssen wir doch einmal untersuchen, ob der In¬ spector Sie nicht belogen hat. Trinken Sie auch ein Glas Grog?“ „Ich nicht, aber lassen Sie sich dadurch nicht ab¬ halten;“ sagte Oswald gutmüthig, die Flasche herab¬ nehmend und entkorkend; „ich will auf meiner Maschine Wasser heiß machen —“ „Bewahre! wozu die Umstände! kaltes Wasser thut dieselben Dienste, besonders in geringer Quan¬ tität — das ist ja ein reizender Abend;“ sagte Herr Timm, sich vergnügt die Hände reibend. „Nun setzen Sie sich gefälligst in die Sophaecke, damit ich die Ueberzeugung gewinne, daß Sie sich so behaglich fühlen, wie sich Jemand, der nicht raucht und trinkt, über¬ haupt fühlen kann; ich werde mir den Lehnstuhl heranrücken — was der Kerl für eine Wucht hat! — und nun lassen Sie uns eins plaudern, wie es sich für zwei ehrliche Kerle, die dem ganzen Blödsinn der sogenannten guten Gesellschaft ein Schnippchen schlagen, geziemt.“ So sprach Herr Timm, zog mit dem Fuße noch einen Rohrstuhl herbei, um seine Beine darauf zu legen, und streckte sich behaglich, den Kopf etwas hinten¬ über gebogen, um dem Rauch seiner Cigarre bequemer und länger nachschauen zu können. Der Schein der Lampe fiel ihm dabei voll ins Gesicht und Oswald bemerkte jetzt zum ersten Male, daß Herrn Timm's Züge, besonders im Profil ge¬ sehen, wo die kecken, saubern Linien zur vollen Geltung kamen, wirklich überraschend hübsch und in¬ teressant waren. Diese Entdeckung war für Oswald durchaus nicht gleichgültig. Er ging noch einen Schritt weiter als Voltaire, und hielt dafür, daß nicht nur von den Büchern, sondern auch von den Menschen das genre ennuyeux das schlimmste sei, und bei einem überaus regen und durch Studien vielfach gebildeten Formensinn ließ er sich von seiner leiden¬ schaftlichen Liebe für malerische und plastische Schön¬ heit in einer Weise beherrschen, daß sein Gefühl des Wahren und Guten dabei Gefahr lief, nicht unterdrückt, aber doch getrübt zu werden. So war es in diesem Falle. Herrn Timm's formloses Wesen und nur dünn verschleierter derber Realismus hatten ihn im Laufe des Abends ein paar mal recht empfindlich be¬ leidigt, und er war schon entschlossen gewesen, den Verkehr mit dem übermüthigen Gesellen während dessen Verweilens in Grenwitz auf das Unvermeidlichste zu beschränken; aber während er jetzt die Umrisse des hübschen Gesichtes im Geist nachzeichnete, hatte er den kaum gefaßten Vorsatz schon halb und halb vergessen. „Wollen Sie einmal ein paar Minuten so sitzen bleiben?“ sagte er, unwillkürlich nach einem Bleistift greifend, und auf dem ersten Blatte, das ihm auf dem mit Büchern und Papieren bedeckten Tische in die Hände fiel, anfangend, Albert's Profil zu skizziren. „Eine halbe Stunde, wenn Sie wollen,“ sagte die¬ ser; „ich liege vortrefflich; wenn ich nur dabei rauchen, sprechen und gelegentlich einen Schluck dieses irdischen Nektars nehmen darf.“ „Lassen Sie sich ja nicht stören,“ sagte Oswald, eifrig zeichnend. „Es ist doch ein merkwürdiger, alter Kasten, dies Schloß,“ phantasirte Albert; „ich glaube, ich habe ver¬ dammt wenig Sinn für Romantik, aber ich brauche nur den Fuß auf die Wendeltreppe zu setzen, die in diesen Flügel führt und mich umwehen Schauer des Mittelalters. Selbst meine Sprache wird eine andere, wie Sie hören, und kriegt einen Beischmack von van der Velde und Tromlitz. Welche Mauern! man würde jetzt ein Dutzend daraus machen. Wenn es damals, wie zu vermuthen steht, auch Leute gegeben hat, mit denen man Thüren und Wände einrennen konnte, welche dicke Schädel müssen die gehabt haben!“ „Wollen Sie gefälligst einmal die Brille abneh¬ men?“ sagte Oswald. „Mit Vergnügen. Hätte ich im Mittelalter ge¬ lebt, würde ich mir nicht an der Lectüre schlecht ge¬ druckter Schmöcker die Augen verdorben haben. Wenn das Mittelalter überhaupt einen Vorzug vor unserer Zeit hatte, so ist es der, daß die Leute nichts zu ler¬ nen brauchten. Denken Sie sich: keine Schulen, keinen Cornelius Nepos, keine Geschichte des Mittel¬ alters, keine Examina; blos ein paar Fechtstunden bei einem alten Haudegen von Knappen, der, wie der Klosterbruder im Nathan, der Herren gar viel gehabt und von dem einen noch immer ein hübscheres Schel¬ menstückchen zu erzählen weiß, als von dem andern; und dann etwa, wenn man Anspruch auf höhere Bil¬ dung machte, ein paar Lectionen auf der Laute bei einem lustigen, fahrenden Gesellen, der voller hübscher Lieder und toller Schwänke steckt, der vor tausend Thüren gesungen und eben so viel schöne Mädchen geküßt hat — das muß doch ein famoses Leben ge¬ wesen sein! Und vor allem diese Leichtigkeit der Orts¬ veränderung, diese unbedingte, oder höchstens durch ein paar handfeste Bursche, die einem in den ersten besten Hohlweg den Schädel ein ganz klein wenig einschla¬ gen, bedingte Freizügigkeit! George Sand hat ein¬ mal ein hübsches Wort, das einzige, das ich aus allen ihren vielen Romanen behalten habe, wahr¬ scheinlich weil es mir aus der Seele geschrieben war: „Was giebt es schöneres, als eine Landstraße!“ Ist das nicht prächtig? Ist das nicht die ganze Poesie, zum wenigsten die Poesie des Abenteuerlichen in einem Worte? Ich könnte die Frau küssen für das Wort, obgleich sie ein Blaustrumpf ist, und ich die blauen Strümpfe hasse, wie den Teufel, oder vielmehr ärger als den Teufel, der doch im Grunde nur ein ver¬ kanntes Genie ist und als solches auf die Sympathie jedes Gebildeten Anspruch machen kann. Aber wenn Einen in unserer Zeit der Teufel und seine Helfers¬ helfer und Diener auf Erden, die Gläubiger, plagen, wo soll man hinfliehen vor ihrem Angesicht? Damals, in der guten alten Zeit, packte man eines schönen Morgens vor Sonnenaufgang seinen Ränzel, oder in Ermangelung dessen, sich selbst, marschirte zum Thor hinaus und war, wenn man nach einer Stunde das Weichbild der Stadt hinter sich hatte, in Sicherheit, und, ehe der Abend kam, mußte Einem schon so viel Abenteuerliches begegnet sein, daß man die alte Stadt und das hübsche braune Mädel darin, für die man gestern noch leben und sterben wollte, bis auf die Er¬ innerung vergessen hatte. — Sind Sie fertig? Na, lassen Sie einmal sehen. Hm! Sie zeichnen, wie der Maler Conti in der Emilia Galotti, nicht, was die Natur geschaffen hat, sondern was sie hätte schaffen sollen, wenn sie in dem betreffenden Augenblicke nicht unglücklicherweise blind gewesen wäre. Sehr hübsch in der That, aber das Original ist mir doch lieber. Und Dichter sind Sie auch, wie ich sehe.“ „Wie so?“ „Nun, die andere Seite des Blattes ist ja von oben bis unten mit Versen beschrieben. Und noch dazu Sonette, die ich über alles liebe. Ich darf sie doch lesen?“ „Es ist nicht des Lesens werth.“ sagte Oswald, den Alberts Frage sichtbar verlegen machte. — Die Verse waren an Melitta, waren in der Erinnerung an die erste köstliche Zusammenkunft im Waldhäuschen geschrieben! Er. glaubte das Blatt sicher in seinem Pult verwahrt, und bereute bitter seine Unvorsichtig¬ keit, die es jetzt seinem übermüthigen und, wie er fürchten mußte, keineswegs sehr discreten Gast in die Hände gespielt hatte. Glücklicherweise war Melitta's Name nicht genannt. „Nicht des Lesen werth?“ sagte Albert; „das wollen wir gleich einmal sehen. Dichter haben kein objectives Urtheil über ihre Producte. Denken Sie einmal, ich hätte die Verse gemacht und fühlte mich gedrungen, sie Ihnen vorzulesen. Hören Siezu!“ „Sie liebt mich!“ Der Anfang ist weniger originell, als wahr. Aber Sie werden mir zugeben, daß man ein so uraltes Thema nicht immer wieder neu behandeln kann. Also: Sie liebt mich! Herz, hör auf so wild zu schlagen! Halt aus, mein Herz! Du darfst nicht auch zerspringen, Weil er zersprang, der letzte von den Ringen, Die Du so lange Jahre hast getragen! Sie liebt mich! wie die Wolken eilend jagen Dort droben auf des Nachtwinds feuchten Schwingen! Die Wälder rauschen und der Quellen klingen, Und Wolken, Wälder, Quellen — Alle sagen: Sie liebt mich! O, noch schwebt auf meinem Munde Der süße Kuß, den sie mir hat gegeben In dieser holden, gnadenreichen Stunde; Noch fühl' ich ihre Brust an meiner beben Die stumme, wunderbar beredte Kunde Von ihres Herzens tiefgeheimsten Leben. „Wie finden sie das? Ich dächte, ich hätte das erste, stürmische Entzücken eines Liebenden in dem Augenblicke, wo er sich der Gegenliebe des angebeteten Wesens versichert hat, gar nicht so übel gezeichnet. Aber hören Sie weiter, wie das Allegro in ein Ada¬ gio verklingt: O sterngeschmückte, milde, heil'ge Nacht! Du grabesstiller, tiefer Gottesfrieden! Du heilst die Kranken und erquickst die Müden Nach ihrer wirren, tollen Lebensjagd. Und du hast mich so überreich bedacht, Du hast mir gnädiglich ein Glück beschieden, Wie es so groß und schön noch nie hienieden Der Erdenkinder einem hat gelacht. O Mutter Nacht! die Du uns hast geboren, Die Du uns trägst in Deinen weichen Armen, An deren Brust wir Kraft und Ruhe trinken — O, ginge einst mein holdes Glück verloren, Dann, große gute Mutter üb' Erbarmen, Dann laß zurück in Deinen Schooß mich sinken! Albert hatte die Verse ohne alle Affectation, klar und verständig, ja mit einem gewissen Anflug von Wärme vorgetragen. Oswald wußte ihm Dank dafür. Er hatte schon gefürchtet, die Gedichte, auf die er freilich nur in so fern Werth legte, als sie ein treuer Ausdruck seiner Empfindungen waren, von dem frechen Spötter ihm gegenüber schonungslos profanirt zu sehen. Er war froh, so leichten Kaufs davon gekommen zu sein. „Machen Sie nie Verse?“ fragte er, indem er das Blatt nahm und in ein Heft legte, das noch andere Poesien zu enthalten schien. „Ich?“ sagte Herr Timm, einen tiefen Schluck aus seinem Glase thuend; „bewahre! dazu bin ich viel zu praktisch. Die praktische Weltanschauung und die poetische vertragen sich wie Hund und Katze. Wenn das Kätzchen Poesie gerade am zärtlichsten miaut, bellt der Hund Prosa mit seiner groben Stimme dazwischen und die kleine Schwärmerin verstummt. Warum wollen Sie zum Beispiel Knall und Fall sterben, wenn Ihnen das „holde Glück“, wie Sie es nennen, verloren geht? Das ist doch so unpraktisch wie möglich. Warum sagen sie nicht statt: „Dann laß zurück in Deinen Schooß mich sinken“ — „Dann laß mich schnell in andre Arme sinken“ — oder der¬ gleichen, wodurch das Gemüth des Hörers beruhigt und vor seinem Auge eine höchst angenehme Perspec¬ tive aufgethan würde. Was habt ihr Poeten über¬ haupt davon, einem das bischen Vergnügen, das man sich noch allenfalls auf diesem melancholischen Plane¬ ten verschaffen kann, geflissentlich zu verkümmern! Aber freilich, ich spreche davon, wie ein Blinder von der Farbe. Vielleicht befindet ihr euch dort oben in Wolkenkukusheim, Alles in Allem, doch besser, als wir auf der höckrigen Erde, wo man von Hühneraugen¬ schmerzen und anderen irdischen Empfindungen, die euch lustigen Gesellen erspart sind, gar viel zu leiden hat. Ich habe mir schon manchmal gewünscht, ich hätte ein bestimmt ausgesprochenes Talent für diese oder jene Kunst: Poesie, Musik, Hühneraugenoperiren, Ma¬ lerei, Grimassenschneiden, Plastik, Gliederverrenken — gleichviel, nur irgend einen Sparren, an dem man sich halten kann, wenn einem die Wellen des Lebens über dem Kopf zusammenschlagen. Ich erinnere mich einmal in einer Thierbude an einem Dachs gesehen zu haben, welcher Segen im Unglück ein solches Ta¬ lent ist. Die übrigen talentlosen Bestien liefen wie verrückt in ihren Käfigen umher, oder brüllten vor Wuth und Hunger, oder ergaben sich im besten Falle einer stummen Verzweiflung. Meister Dachs dagegen seinem angebornen künstlerischen Triebe folgend, arbeitete unverdrossen an einer imaginären Höhle in dem Boden seines Käfigs, kratzend, kratzend, immer kratzend, vom Morgen bis zum Abend. Er vergaß dabei augen¬ scheinlich Hunger und Kälte, vergaß, daß er gefangen war; in der Ausübung seines Talents, selbst unter so verzweifelt ungünstigen Verhältnissen, seine Seligkeit findend. Ich wollte, ich wäre so ein Dachs! — Der Cognac ist wirklich superb, Sie sollten auch ein Glas trinken, Doctor, um die Wolken von ihrer Apollostirn zu verscheuchen. — Aber ich habe zu Allem Talent, das heißt zu Nichts. In meiner Jugend war ich weit und breit als ein Wunderkind verschrieen, weil ich wie ein Staarmatz Alles nachpfiff, was mir die Andern vorpfiffen. Der Junge wird's einmal weit bringen, sagten die albernen Menschen, wenn ich wieder einmal so eine erstaunliche Probe meines Gedächtnisses, in welchem alles Dumme und Kluge gleich fest haftete, zum Besten gab. Ich wollte, ich hätte sitzen und schwitzen müssen, wie die andern armen Jungen, denen ich damals die Exercitien machte und die dafür jetzt gemachte Leute sind, während ich nichts viel Besseres bin, wie ein Vagabund. Aber, vive la joie et vive la bagatelle ! Es muß auch Vagabunden geben, aus dem einfachen Grunde, weil es sonst keine soliden Leute gäbe. Die Vagabunden sind das Salz der Erde, oder wenigstens der fliegende Same, der die sonst fest am Boden klebende, und am Boden verrottende Cultur über die ganze Erde ver¬ breitet. Vagabunden gründeten Karthago, Vagabun¬ den gründeten Rom. Was soll ein ehrlicher Kerl, der in Europa nicht mit einer echten Havana-Cigarre im Munde geboren ist, anders thun, als nach Amerika F. Spielhagen, Naturen. II . 13 auswandern, wenn er das sehr natürliche Bedürfniß empfindet, einmal eine echte Cigarre zu rauchen, und sie nicht geradezu stehlen will, oder nicht das Glück hat, einen so liebenswürdigen Menschen aufzutreiben, wie Sie, der Sie sich echten Cognac und echte Cigar¬ ren für ihre Bekannten halten und dabei noch die Gutmüthigkeit haben, dem Geschwätze dieser Bekann¬ ten zuzuhören, obgleich Ihnen die Augen beinahe vor Müdigkeit zufallen. Der Tausend! Der Inhalt der Flasche hat sich fast um den dritten Theil seines Vo¬ lumens verringert. Wie vergänglich doch alles Irdische ist! Buona notte, Don Oswaldo! dormite bene und träumen Sie dolce von den bei occhi della donna bella, amata, immaculuta Ihrer Sonette. Ich für mein Theil will, wie Hamlet, beten gehen, denn nicht einmal zum Schlafen habe ich Unglücklicher Talent, geschweige denn zum Träumen. Gute Nacht, Dottore !“ „Gute Nacht!“ sagte Oswald, sich schlaftrunken aus seiner Sophaecke erhebend und Albert bis zur Thür begleitend. „keinen Schritt weiter, Dottore !“ sagte dieser, „Alles hat seine Grenzen!“ und als die Thür sich hinter ihm geschlossen hatte, blieb er noch einen Au¬ genblick stehen, legte den Daumen seiner rechten Hand an die Nase, die übrigen vier Finger schnell bewe¬ gend — eine Geste, die für Oswald weniger schmeichel¬ haft, als für das kindlich-harmlose Gemüth des Herrn Timm bezeichnend war. 13* Neuntes Kapitel. Der drückenden Hitze, die in der letzten Zeit ge¬ herrscht hatte, folgten einige kühle regnerische Tage. An solchen Tagen erschien Schloß Grenwitz noch öder und einsamer, als gewöhnlich. Sonst kam, wenn auch Niemand anders, doch wenigstens der Sonnen¬ schein zu Besuch auf Schloß Grenwitz, und blieb bis zum Abend und drang in alle Räume, selbst in die verschlossenen Gesellschaftszimmer des oberen Stocks, wo er flüchtig über die Stühle und Sophas mit den kostbaren, obgleich ein wenig verblichenen Damast¬ überzügen weghuschte und hier und da ein Bild an der Wand begrüßte, das er schon seit hundert Jahren und darüber kannte. Sonst waren, wenn weiter auch Niemand, doch wenigstens die Spatzen lustig und guter Dinge, die in den Löchern des alten Thurmes und in den Stuckornamenten des Neubaus nisteten und schon vom frühesten Morgen sich so ungenirt über ihre Angelegenheiten unterhielten und zankten, als ob das Baronenschloß ihnen nicht mehr Achtung ab¬ nöthigte, als eine Bauernscheune. Und wem es trotz alledem zu einsam und öde im Schlosse wurde, der konnte in den Garten hinabgehen, wo die Blumen in noch viel schöneren und vor allem frischeren Farben prangten, als die Tapeten und die Stühle nur Sophas drinnen in den Prunkzimmern, wo über den bunten Blumen sich bunte Schmetterlinge wiegten, wo die Vögel jubilirten, die Bienen geschäftig summten und für den, welcher Augen hatte, zu sehen, und Ohren, zu hören, allüberall ein wundersames, still geschäftiges, an Leiden und Freuden reiches Leben herrschte. Das war nun Alles anders an Regentagen. Da konnten sich die Bilder an der Wand ohne Furcht vor dem neugierigen Sonnenschein mit den Stühlen und Sophas alte, gemeinsam erlebte Geschichten erzählen, so viel sie wollten; da ließen selbst die Spatzen ihre ewigen Streitigkeiten für den Augenblick ruhen, oder bissen sich in aller Stille um die besten und trockensten Plätze; und in dem Garten ließen die Blumen die regenschweren Köpfchen hängen; und all' das bunte, reiche Leben schien erstorben. In den nassen Gängen und über die Beete weg spielten die Winde Haschens und zerzausten dabei mitleidlos die armen Blumen, und warfen die Bohnenstangen um und fuhren die Bäume hinauf, und schüttelten und rüttelten an den Aesten, daß die schlanken Zweige hinüber und herüber rauschten. Dies melancholische Wetter paßte nur zu gut zu Oswald's Stimmung. Seit dem Tage in Barnewitz war eine Veränderung mit ihm vorgegangen, die er sich selbst kaum zu erklären wußte. Es war, als ob ihm plötzlich ein dichter Schleier über die Augen ge¬ fallen wäre, durch den hindurch ihm Alles farblos und reizlos erschien; es war, als ob ihm eine feind¬ liche Hand Wermuth in den Kelch des Lebens gemischt hätte, aus welchem er in der letzten Zeit mit so vollen, gierigen Zügen getrunken. Selbst das Bild der schönen lieben Frau, die in dem Allerheiligsten seines Herzens thronte, schien seine Wunderkraft verloren zu haben. Wo war all' die Seligkeit geblieben, die ihn sonst bei der Erinnerung an sie und an die einzig wonnigen Stunden, die er mit ihr verlebt hatte, erfüllte? wo die ruhelose Sehnsucht nach ihrem Anblick, nach dem Ton ihrer Stimme? wo die fieberhafte Ungeduld, mit der er die Sonne in ihrem Lauf verfolgte und die Nacht herbeiwünschte, unter deren Schutz er sich die enge Treppe, die dicht neben seinem Zimmer in den Garten führte, hinabstahl, um zu ihr zu eilen, die seiner in der verschwiegenen Kapelle harrte; ihm oft schon, ohne Furcht vor den Schauern der Nacht und der Einsamkeit, in dem Walde unter den hohen, ernsten, finstern Bäumen entgegen gekommen war! — Und doch wußte er, daß sie jetzt einsam um ihn trauerte, daß sie ihm längst vergeben hatte, was sein knaben¬ hafter Trotz und seine kindische Laune an ihr ge¬ frevelt; daß kein strafendes Wort, kein vorwurfsvoller Blick ihn empfangen würden, wenn er zu ihr zurück käme; daß sie freudig ihre Arme ausbreiten und ihn an ihr liebevolles Herz ziehen würde. Ach! nicht an ihr zweifelte er, nicht an ihrer Liebe, aber an sich selbst, an seiner Liebe! Wie dumpfes Glockenläuten, wie Grabgesang tönten ihm noch immer die letzten Worte Oldenburg's: Wer von uns kann denn noch mit ganzem Herzen lieben? wer von uns hat denn noch ein ganzes Herz, und eine Stimme, die er nicht zum Schweigen bringen konnte, raunte ihm zu, wo er auch ging und stand und selbst des Nachts in seinen wirren Träumen: Du nicht! Du nicht! — In den Linien Deiner Hand steht es ja geschrieben! Das braune Weib im Walde sah es ja auf den ersten Blick: Du kannst nicht treu sein: Du nicht! Du nicht! — Und als Du zu Melitta's Füßen sankst, und den Schwur der Liebe und Treue stammeltest, schloß sie Dir nicht den Mund, ängstlich, hastig, als wollte sie Dir das Verbrechen des Meineids ersparen: „o, schwöre nicht! Ich kann Dir Liebe schwören nun und Treue auf immerdar, aber Du nicht! nicht! — Regenwetter! wie der Wind die Tropfen gegen die Fensterscheiben jagt, daß sie trüb werden wie ver¬ weinte Augen! wie schwer und tief die Wolken schleppen, die grauen Trauermäntel, als würden sie mit dem Saum die Wipfel der Pappeln drüben auf dem Schloßwalle streifen! Wer doch da draußen läge in der schwarzen nassen Erde, überhoben aller Qual des Zweifels und der Reue! Wer doch Theil haben könnte an dem ewigen Frieden der Natur! wer doch Eines sein könnte mit den Elementen! mit dem Winde über die Erde brausen, mit der Flamme zum Himmel lodern, mit dem Wasser des Stromes im Ocean ver¬ rinnen könnte! Hat die schwermüthige Weisheit der Inder Recht? und ist das ganze Menschenleben nur ein ungeheurer Irrthum? sind wir Alle, Alle nur verlorne Söhne, die das Haus des guten alten Vaters verließen, um uns von Träbern zu nähren? Und ist es wahr, daß wir jeder Zeit zu ihm zurückkehren können? daß wir zurücksinken können in den Schooß der lieben Mutter Nirwana, der uranfänglichen Nacht, wenn wir es nur von ganzem Herzen wünschen? Von ganzem Herzen? Wer von uns hat denn noch ein ganzes Herz zum Leben und zum Sterben? Du nicht! Du nicht! – — Vertrauen zu uns selbst ist wie eine Götterwolke, in die gehüllt wir die Gefahren des Lebenskampfes unverletzt durchwandeln, und, wenn wir fallen, als Helden fallen, mit der Todeswunde auf der stolzen Stirn, in der muthigen Brust, Zweifel an uns selbst ist wie ein jäher Schwindel, der uns auf steiler Fel¬ senhöhe packt, unser Blut gerinnen macht, die Kraft unsrer Sehnen löst, und uns zuletzt rettungslos in den Abgrund schleudert. In solchen qualvollen Augenblicken schließt sich der Mensch, wie ein im Walde verirrtes Kind, an den ersten Besten, der ihm begegnet, an Jeden an, der singend die Straße des Lebens einherzieht und der Gefahren des Weges spottet. Ein solcher muthiger Wanderer erschien dem ver¬ düsterten, entmuthigten Oswald sein neuer Bekannter, und so kam es, daß er sich in diesen bösen Tagen an den stets zu Scherz und Lachen und tollen Streichen aufgelegten Albert mit einer Herzlichkeit anschloß, die ihn, der sonst in der Wahl seiner Freunde so äußerst wählerisch war, selbst in Erstaunen setzte. Albert brauchte nicht mehr Zeit, sich an einem fremden Orte einzurichten, wie ein Araber, um sein Zelt aufzuschlagen. Und von einer Einrichtung konnte eigentlich bei ihm keine Rede sein. Er überließ es jeder seiner Sachen, deren nicht viele waren, sich in seinem Zimmer einen Platz zu suchen. Wollte der eine Stiefel lieber auf dem Stuhle stehen und der andere mit dem Absatz nach oben auf der Erde liegen — er hatte nichts dagegen. Fand es der Frack, das ein¬ zige einigermaßen respectable Kleidungsstück, dessen er sich erfreute, behaglich, in einer Ecke des kleinen me¬ lancholisch aussehenden Koffers zu einem unförmlichen Bündel geballt, zwischen schmutziger Wäsche sein Da¬ sein zu vergessen, — er wollte ihn in seinem Ver¬ gnügen nicht stören. Und er selbst, der glückliche Be¬ sitzer all' dieser emancipirten Herrlichkeiten, stand trotz des kühlen Wetters in Hemdsärmeln über ein großes Reißbrett gebeugt und pfiff und sang und zeichnete und lachte Oswald, der am Nachmittage, ihn zu be¬ suchen, kam, wegen seiner Leichenbittermiene, wie er es nannte, aus. „Dottore, Dottore!“ rief er, „Sie sehen aus, als ob Sie von dem Grog, den ich gestern Abend ge¬ trunken, den wildesten Katzenjammer gehabt hätten! Wahrhaftig, Sie beschämen das Wetter! Die Wolken draußen sind ja verglichen mit denen auf ihrer Stirn in hundert bunten Farnen schimmernde Seifenblasen! Haben Sie je als Junge an einem schönen hellen Sommermorgen in der Bodenluke gesessen und aus einem kleinen Stummel von Tonpfeife bunte Seifen¬ blasen in die blaue Luft hinausgesandt, während unten zwischen den bleiernen Soldaten auf dem großen Tisch in der Kinderstube ein angefangenes lateinisches Exer¬ citium lag, für dessen fragmentarischen Zustand Sie ein paar Stunden darauf von Ihrem Lehrer die schön¬ sten Prügel besahen! Sehen Sie, das ist das Bild des Lebens. Unser Wissen ist Stückwerk, und unsre besten Exercitien bleiben Stückwerk, die buntesten Sei¬ fenblasen zerplatzen, und die derbsten Prügel fühlt man eine Stunde nachher nicht mehr. Es ist Alles eitel, vor allem aber unser Grämen darüber, daß Alles eitel ist. Zum Kukuk! Ich habe die Welt nicht gemacht und Sie, so viel ich weiß, auch nicht. Wes¬ halb sollten wir Beide uns also darüber den Kopf zerbrechen? Ich zerbreche mir über Nichts den Kopf, über gar nichts, zum Beispiel auch nicht über diese Linie, die ich offenbar zu kurz gemessen habe, und die ich nun nach Gutdünken mit Grazie verlängern muß, bis sie diese Ecke hier trifft, — nebenbei eine höchst romantische Waldecke, wo ich eine allerliebste stumpf¬ näsige, rothbäckige, hochgeschürzte Bauerdirne traf, die jedenfalls diese ganze Confusion veranlaßt hat. Na, schadet nicht. Die Rechnung kann ja nicht immer rein aufgehen, wozu wären denn sonst die Brücke da, und das Grenwitz'sche Majorat bleibt darum doch, was es ist, eine ausgezeichnet schöne Erfindung, be¬ sonders für den Spatzenkopf, den Malte. Ist der Junge wirklich so dumm, wie er aussieht?“ „Durchaus nicht,“ sagte Oswald, der mit einem Stiefelknecht und einer Botanisirkapsel, aus der ein Strumpf von blauem Garn schamhaft hervorlugte, das kleine Sopha im Zimmer theilte. „Malte kann nicht blos bis fünf, sondern sehr viel weiter zählen. Er hat für Manches ein ganz entschiedenes Talent, besonders zum Rechnen, worin er Bruno, der sehr wenig Sinn dafür hat, weit vorausgeeilt ist.“ „Ja, die Vorsehung ist wunderbar weise,“ sagte Albert, in einem kleinen Näpfchen schwarze Tusche anreibend; „wem sie die Schildkrötensuppe des Reich¬ thums zugedacht hat, beschert sie gleich den silbernen Löffel dazu, und wem sie den Schiffszwieback der Ar¬ muth mittheilte, versieht sie freundlichst mit hohlen Backenzähnen, damit er sich nicht lange über die trockene Kost zu ärgern braucht. Ich für mein Theil habe aus Versehen vortreffliche Zähne bekommen, und so mundet mir mein Zwieback ausgezeichnet, so aus¬ gezeichnet, daß ich mich nicht einmal über die hohl¬ köpfigen, dickbäuchigen, silberne Löffel führenden, Schild¬ krötensuppe essenden, verzogenen rechten Kinder der Stiefmutter Natur ärgern kann. Aber eines sollte mich doch freuen, und das wäre, wenn sich zu dem Codicil im Testamente des vortrefflichen, im Delirium verstorbenen und jetzt in Abraham's Schooße seinen Rausch ausschlafenden Baron Harald ein Liebhaber fände.“ „So kennen Sie auch die traurige Geschichte?“ sagte Oswald. „Wer sollte die nicht kennen,“ erwiederte Albert, sich eine Cigarre anzündend und sich auf die Lehne eines Stuhles setzend, so daß seine Füße auf dem Sessel standen. „Wird doch die Geschichte durch die testamentarisch vorgeschriebene Publication zum fürch¬ terlichsten Aerger der hochmüthigen und ebenso geizigen wie hochmüthigen Anna-Maria alljährlich in den Zei¬ tungen aufgewärmt, obgleich ich glaube, daß es in den letzten Jahren gar nicht einmal mehr geschehen ist.“ „Es wundert mich,“ sagte Oswald, „daß ich von der Sache niemals hörte, bis ich hierher kam, und auch in den Blättern nie davon gelesen habe.“ „Wer bekümmert sich denn um die Publicandas, Steckbriefe und sonstigen heitern Bekanntmachungen, wenn man, wie wir, von denselben weder etwas zu fürchten, noch zu hoffen hat! Ich wüßte wahrschein¬ lich von dem originellen Streich, den Vetter Liederlich Cousine Gieremund gespielt hat, auch nicht mehr, wie Sie, wenn mein Vater, den als Juristen die Sache interessirte, und der, glaube ich, irgendwie dabei be¬ theiligt war — möglicherweise war er Vetter Lieder¬ lich bei der Abfassung des Testamentes behülflich ge¬ wesen — nicht manchmal davon gesprochen hätte. Uebrigens war die Aufforderung in ziemlich vagen Ausdrücken abgefaßt und lief ungefähr darauf hinaus, daß die betreffende junge Dame, oder ein von ihr bis zum Ende, ich erinnere mich nicht mehr, welchen Jahres, geborenes Kind, gleichviel ob masculini oder feminini generis , sich bei den unterzeichneten Testa¬ mentsexecutoren — natürlich unter Beibringung der nöthigen Legitimations-Urkunden — schleunigst melden möchten, da ihnen von dem zu seinen Vätern — die jedenfalls ebenso saubre Kunden waren, wie der wür¬ dige Sohn — versammelten Baron Harald ein be¬ deutendes Legat vermacht sei. Worin dies Legat be¬ stehe, ist nicht gesagt. Ich aber weiß, und es wissen's auch noch Viele, daß damit nichts weniger als zwei der schönsten Güter hier auf der Insel: Stantow und Bärwalde, die ich ganz genau kenne, da ich sie im vorigen Sommer vermessen habe, gemeint sind.“ „Es müßte allerdings eine reizende Ueberraschung für unsre liebenswürdigen Freunde sein, wenn der im Testament vorgesehene Fall einträte.“ sagte Oswald. „Na, ob!“ erwiederte Albert; „leider ist dazu nur noch sehr wenig Aussicht, da das Legat nur fünfund¬ zwanzig Jahre in suspenso bleibt und dann an die Familie zurückfällt. Von den fünfundzwanzig müssen aber mindestens zwei- oder gar schon dreiundzwanzig verflossen sein, denn ich bin jetzt sechsundzwanzig und erinnere mich, daß ich mich jedesmal ärgerte, nicht das testamentarische Alter zu haben.“ „Warum?“ „Um mich wenigstens in der reizenden Ungewißheit wiegen zu können, ob ich nicht am Ende doch der Ivanhoe wäre, der, aus seinem väterlichen Erbe ver¬ trieben, unbekannt in dem Lande umherirrt, trotz seiner ritterlichen Abstammung mit Schweinehirten Freund¬ schaft schließen und von alten schmutzigen Juden borgen muß, bis er endlich das Incognito fallen lassen und die schöne Rowena als sein ehelich Gemahl heim¬ führen kann, obgleich ich für mein Theil auf den letzten Punkt weniger Gewicht legen würde.“ „Haben Sie Ihrem Herrn Vater, wenn sie sich mit ihm von dieser mysteriösen Angelegenheit unter¬ hielten, auch diesen für denselben so äußerst schmeichel¬ haften Wunsch mitgetheilt?“ „Ich erinnere mich nicht; indessen, wenn ich es gethan habe, so hat der Alte meine kindliche Regung wahrscheinlich sehr natürlich gefunden, denn er war ein sehr aufgeklärter Mann. Einen Vater muß doch nun einmal jeder Mensch haben, obgleich diese so äußerst weise Einrichtung der Natur auch manchmal zum Beispiel, wenn man eben einen dummen Streich ausgeführt hat, oder auszuführen gedenkt, ziemlich unbequem ist; und da sehe ich nicht ein, weshalb ich einem Vater, der mir zwei prachtvolle Güter hinter¬ läßt, nicht einem andern, der mich in die Welt laufen läßt, wie ein Krokodil sein Junges ins Wasser, das heißt mit zwei Reihen ausgezeichneter Zähne und nichts zum Beißen dazu, nicht den Vorzug geben sollte, auch wenn der Erstere in Betreff gewisser, bei christlichen Nationen landesüblicher Gebräuche mehr orientalisch¬ muhamedanischen Ansichten huldigte.“ „Das ist Geschmackssache,“ sagte Oswald. „Gewiß,“ erwiederte Albert; „obgleich ich über¬ zeugt bin, daß von hundert Menschen, wenn ihnen die Alternative nicht blos als Problem, sondern in greifbarer Wirklichkeit gestellt würde, si c h n eunund¬ neunzig, versteht sich, mit obligatem schamhaften Er¬ röthen, zu meiner Ansicht bekennen, oder sich auch noch immer zu Ihrer Ansicht bekennen, jedenfalls aber mit beiden Händen zugreifen würden. Verspürte doch selbst der große Goethe ähnliche Gelüste, obgleich er natürlich vermöge seiner Größe noch ein paar Zweige höher nach den goldenen Aepfeln schielte, und gern eines Kaisers Sohn gewesen wäre, während ich schon mit einem Papa Baron zufrieden bin.“ „Der große Goethe war, als er diese Gelüste verspürte, eben noch nicht der große, sondern ein ganz kleiner Goethe, und hatte wie andere Kinder, kindische Einfälle.“ „Na, ich weiß nicht, ob dem alten Geheimerath die beiden Güter nicht auch willkommen gewesen wären: denn in gewisser Hinsicht, zum Exempel darin, daß uns gebratene Aepfel besser schmecken als rohe Kar¬ toffeln, bleiben wir alle Kinder, und wenn wir Me¬ thusalems Alter erreichten. Indessen, dem sei, wie ihm wolle. Wenn Sie ein besonderes Gewicht darauf legen, Ihres Herrn Vaters Sohn zu sein, so wäre es Unrecht von mir, Ihnen dies kindliche Vergnügen zu verleiden. — Wie wär's, Dottore, wenn wir unser philosophisches Gespräch als Peripatetiker im Freien fortsetzten? Der Himmel sieht freilich noch immer aus F. Spielhagen, Problematische Naturen. II . 14 wie ein nasser Scheuerlappen, aber es hat doch we¬ nigstens für den Augenblick aufgehört zu regnen, und ich meinestheils will lieber in die Sündfluth hinein¬ schwimmen, als den ganzen Tag in dieser langweiligen Arche Noah sitzen, wo man sogar gegen alle Natur- und biblische Geschichte gezwungen ist, ohne das be¬ treffende weibliche Exemplar der Species, die man selbst repräsentirt, leben zu müssen. Sie können doch schwimmen?“ „O ja,“ sagte Oswald lächelnd. „Nun, dann setzen Sie sich eine Mütze auf und kommen Sie; die Jungen sind jetzt unten beim Vesper¬ brod und werden ihren Mentor wol auf eine Stunde entbehren können.“ Die beiden neuen Freunde gingen die enge Treppe, die dicht neben Oswald's Zimmer durch die gewaltige Mauer des unteren Stocks in den Garten führte, hinab. Es regnete nicht mehr, auch der Wind hatte aufgehört zu wehen, aber der ganze Himmel war mit schweren trüben Wolken bedeckt, die mit jedem Augen¬ blick tiefer zu sinken schienen. Aus den Kelchen der Blumen tropften die Regenperlen wie helle Thränen aus überströmenden Kinderaugen. Dann und wann ertönten leise klagende Vogellaute aus den breiten Kronen der Bäume, sonst tiefe Stille allüberall. Eine unaussprechliche Wehmuth bemächtigte sich Oswald's Herz. Das Leben erschien ihm wie ein dumpfer, beängstigender Traum, durch den geliebte Gestalten mit verhülltem Antlitz glitten. Er gedachte Melitta's, aber wie einer Todten. ... Auch Albert war still geworden in dem stillen Garten: „Lassen Sie uns weiter gehen,“ sagte er; „es ist hier wie auf einem Friedhof.“ Sie gingen aus dem alten verfallenen Thore über die Zugbrücke in den Wald, den Weg nach Berkow, denselben Weg zwischen den hohen ernsten Tannen, den Oswald an dem Abend seiner Ankunft auf Schloß Grenwitz dahergefahren kam, und den er seitdem mit wie verschiedenen Empfindungen nun schon so oft zurückgelegt hatte. Jener Abend hatte eine Kluft in sein Leben ge¬ rissen, deren Tiefe er jetzt erst inne ward. Seit jenem Abend war die weite Welt draußen hinter den stillen Wäldern für ihn versunken, und eine neue Welt war für ihn emporgeblüht, eine paradiesische Welt voll Liebe und Sonnenschein; und jetzt war es ihm, als versänke ihm auch diese Welt unter den Füßen, und die alte Welt draußen jenseits der stillen Wälder läge ihm weit, unerreichbar weit. Würde er je mit frischen, muthigen Sinnen in diese Welt zurückkehren? nicht 14* stets sich zurücksehnen nach der blauen Blume, die ihm hier nahe wie noch nie geblüht hatte, so nahe, daß ihm der Duft bis in's Herz gedrungen war? Was war aus den stolzen Ideen geworden, denen nachzudenken sonst die Freude seines Lebens gewesen? aus den kühnen Plänen, mit denen er sich schon Jahre lang getragen? war Alles nun dahin? und dahin um eines Weibes willen, um der Liebe willen zu einer Frau, die nie die seine werden konnte? Nein und tausendmal nein! Er mußte sich los¬ reißen aus dieser sinnverwirrenden Zauberwelt, und sollte es ihm das Herz zerreißen! ihm! was war an ihm gelegen! er hatte ja kein ganzes Herz mehr zu verlieren! aber sie — was sollte dann aus ihr werden? „Ich glaube, Ihre Melancholie steckt an, Dottore,“ sagte Albert, als sie eine Zeit lang schweigend neben¬ einander hergegangen waren; „wie kann sich nur ein so geistreicher Mann wie Sie von den Einflüssen der Witterung, oder was Ihnen sonst in den Gliedern steckt, so gänzlich beherrschen lassen! Ihr melancho¬ lischen Genies seid doch pudelnärrische Menschen. Im¬ mer heißt es bei euch: hie Welf! oder: hie Waiblingen. Die aurea mediocritas des Horaz ist für euch um¬ sonst gepredigt. Ihr wollt nicht darauf hören, weil euch der Stolz nicht erlaubt, jemals mittelmäßig zu sein, und doch müßtet ihr einsehen, daß wir mittel¬ mäßigen Kinder der Natur uns zehntausendmal wohler in unserer Haut fühlen, als ihr. Wahrhaftig, Dot¬ tore, Sie können sich porträtiren und unter die Fa¬ milienbilder der Grenwitzer, oben im Saale, hängen lassen; es findet Sie Keiner als einen Fremden her¬ aus. Die haben auch Alle so verteufelt melancholische Gesichter. Mir däucht, man sieht es der Race an, daß Jeder von ihnen so oder so zum Teufel gehen mußte, wie sie es denn auch, so viel ich weiß, bis jetzt ohne Ausnahme gethan haben. Die Gesichter — ich habe sie heute nach Tische der Reihe nach durch¬ gemustert — können alle als Titelkupfer zu grauslichen Räuber- und Rittergeschichten gestochen werden. Diese Gesichter erzählen von tausend übertollen Streichen, von durchzechten Nächten, und vor allem von vielen, vielen schönen Weibern, die sich an ihnen den Tod küßten. Denn für die Weiber, wie ich sie kenne, müssen Kerle mit solchen Fratzen unwiderstehlich sein, vor allem, wenn die Kerle, wie in diesem Falle, reiche Barone sind. Besonders ist mir der Harald, dieser Rattenfänger von Hameln, aufgefallen. Er ist nicht so schön wie sein Vater Oscar, mit dem Sie nebenbei, wenn Sie so finster aussehen, wie eben, ohne Schmei¬ chelei eine merkwürdige Aehnlichkeit haben — aber er scheint mir mit seinen großen, verführerischen blauen Augen, seinen so feinen und doch so wollüstigen Lippen der wahre Typus dieser hochadeligen und hochgefähr¬ lichen Raçe.“ „Sie thun mir wahrlich eine unverdiente Ehre an, wenn Sie mich so ohne Weiteres mit dieser noblen Sippschaft zusammenstellen,“ sagte Oswald. „Nein, Scherz bei Seite,“ erwiederte Albert, „Sie haben wirklich in Ihrer Physiognomie den verhäng¬ nißvollen Grenwitzer Zug; ich will Ihnen damit nicht etwas Angenehmes sagen, denn Andre, ich für mein Theil zum Beispiel, ziehe es bei weitem vor, denselben nicht zu haben. Ja, ich gehe noch weiter. Ich wette meine Karten der Grenwitzer Güter gegen die Güter selbst, daß Sie, im erb- und eigenthümlichen Besitz dieser Güter, dasselbe Leben führen würden, das den Grenwitzern bis auf die jetzt regierende Seitenlinie, die gänzlich aus der Art geschlagen ist, erb- und eigenthümlich war.“ „Sie verpflichten mich in der That durch die so überaus wohlwollende Meinung, die Sie von meinen Fähigkeiten und Neigungen haben, zu dem lebhaftesten Dank.“ „Ironisiren Sie, so viel Sie wollen, ich bleibe dabei, Sie würden es gerade so machen, wie die tollen Barone, gegen die Sie eine so gründliche An¬ tipathie zu haben vorgeben, vielleicht auch wirklich haben, etwa so wie eine Dogge, die an den Karren gespannt ist, eine Anthipathie gegen die andere hat, die frei umherläuft.“ „Aber was, ums Himmelswillen, bringt Sie — was berechtigt Sie zu diesen wunderlichen Hypo¬ thesen?“ „Meine tiefsinnigen und ebenso oberflächlichen, wie tiefsinnigen Studien in der Physiognomik,“ erwiederte Albert. „Ich war ein Adept dieser Wissenschaft von Kindesbein an, ja ein Märtyrer derselben, denn ich habe mir für den allzugroßen Eifer, mit dem ich ihr oblag, oft sehr derbe Prügel geholt, wenn ich in den Schulstunden, anstatt aufzupassen, die geistreichsten Karrikaturen von den Spatzen-, Affen-, Schafs- und anderen Köpfen um mich her zeichnete; denn Ihnen brauche ich natürlich nicht zu sagen, daß man das Charakteristische eines Gesichts, einer Gestalt am schnellsten faßt, wenn man sie zu karrikiren versucht. Aus Ihrem Gesicht nun, wenn ich das Charakte¬ ristische stark betone, wird das schmermüthige, und bei aller Schwermuth so verführerisch-sinnliche Gottseibei¬ uns-Gesicht der Grenwitzer, — Gottseibeiuns-Gesicht, nämlich aus der armen Seele oder für die arme Seele der Mägdelein gesprochen, die sich darin ver¬ gaffen. Ich will mich hängen lassen, wenn sie nicht noch im Leben ein rasendes Glück bei den Weibern machen, — und schon gemacht haben.“ „Und wenn ich Ihnen nun das Gegentheil ver¬ sicherte?“ „So ist der Baron Harald kein Rattenfänger, sondern ein Nachtwächter gewesen, und nicht von seiner allzugroßen Neigung für junge schöne Weiber und guten alten Wein, sondern von vielem Studiren ge¬ storben; so hat die kleine Marguerite — die nebenbei ein bildhübsches und auch nicht allzusprödes Kind ist — gelogen, die mich gestern versicherte: sie hasse Sie, was doch auf deutsch so viel heißt, als; sie sei sterb¬ lich in Sie verliebt, und so hat die Fama gelogen, die Ihren Namen mit dem einer andern und aller¬ dings zu höheren Ansprüchen, als die kleine Mague¬ rite berechtigten Dame in Verbindung bringt.“ „Was meinen Sie?“ fragte Oswald, welcher fühlte, daß ihm das Blut in die Schläfen schoß. „Nichts, mein Prinz, nichts!“ erwiederte Albert lachend; „muß man denn immer etwas meinen, wenn man etwas sagt? Ich wollte nur auf den Busch klopfen, ob die Vögel vielleicht herausflögen. Denn daß an Ihrer Melancholie nicht blos das Wetter schuld ist, das zu sehen, braucht man nicht einmal, wie ich, eine Brille zu tragen und ein Physiognom trotz Lavater und Lichtenberg zu sein. Wenn unser Einer melancholisch ist, sind immer ein paar schwarze oder blaue Augen mit im Spiele. Die schwarzen Augen der kleinen Marguerite sind es aber nicht, denn ich habe selbst gesehen, mit welcher souveränen Gleichgültigkeit Sie das arme Ding behandeln, folg¬ lich sind es ein paar andere Augen; und folglich, wenn es ein paar andere Augen sind, müssen diese Augen doch irgend wem gehören; und wenn sie irgend wem gehören —“ „Genug, genug!“ sagte Oswald, trotz seiner bösen Laune über das lustige Geschwätz des wunderlichen Gesellen an seiner Seite lachend; „Sie werden mir noch nächstens beweisen, daß ich der Mann im Monde bin und vor Liebe zu einer schönen Prinzessin, die auf dem Sirius wohnt, mich kopfüber in den Welten¬ raum hineinstürze.“ „Warum nicht?“ sagte Albert; „ich bin Merlin der Weise. „Ich kenne alle Raupen, die ein Mensch im Kopf haben kann; ich höre einen Bären, beson¬ ders wenn ich ihn selber angebunden habe, schon von weitem brummen, und prophezeihe, daß, wenn wir nicht in fünf Minuten unter Dach und Fach kommen, wir so ausgewaschen werden, wie man es nur im Inte¬ resse seiner Reinlichkeit wünschen kann.“ Die Beiden befanden sich jetzt, nachdem sie aus dem Walde getreten waren, auf dem offenen Felde zwischen dem Walde und den Häuslerwohnungen von Grenwitz. Alberts Phrophezeihung schien in Erfül¬ lung gehen zu sollen. Die trüben, schweren Dunst¬ massen senkten sich tiefer und tiefer, daß es trotz der nicht allzuspäten Stunde beinahe Nacht wurde; schon fielen einzelne große Tropfen. „ Sauve qui peut “; rief Albert. „Wie wär's mit einem kleinen Dauerlauf, Dottore, bis zu jenem Häuschen?“ „Nur zu!” sagte Oswald — „Na, das war noch gerade vor Thorschluß“, sagte Albert, als sie unter dem vorspringenden Dache der Hütte angelangt waren, und schüttelte sich wie ein Pudel. „Meinem Rock hätte die Wäsche freilich nichts geschadet, aber ich bin hier doch lieber. Nein, wie das regnet! wollen wir nicht in das Innere dieses Palazzo dringen, Dottore, oder glauben Sie, daß das alte Weib, das da zum Fensterchen hervor¬ lugt, dieselbe Hexe ist, die dieses Hexenwetter gemacht hat?“ „Guten Tag, Mutter Clausen!“ sagte Oswald, der seine alte Freundin vom Kirchgang nach Faschwitz erkannte. „Schön Dank, Junker;“ sagte Mutter Clausen und nickte freundlich mit dem grauen Haupte; „ich hab Dich schon erwartet. Komm nur herein, und der Andere auch, wenn er Dein Freund ist.“ „Na, was bedeutet denn das?“ fragte Albert ver¬ wundert. „Folgen Sie mir nur;“ erwiederte Oswald; „Sie sollen eine merkwürdige alte Frau kennen lernen.“ Und sie traten, nicht ohne sich zu bücken, durch die niedrige Thür in die Hütte. Zehntes Kapitel. „Nur hier herein,“ sagte Mutter Clausen, Os¬ wald bei der Hand ergreifend, und ihn von dem dunklen Flur in ein einfenstriges Stübchen ziehend, das der größeren Stube auf der andern Seite, in welche Oswald mit dem Inspector Wrampe den kranken Knecht an jenem Abend getragen hatte, gegenüberlag, während sie sich um Albert nicht weiter bekümmerte, als wüßte sie, daß dieser junge Mann das Talent hatte, seinen Weg auch im Dunkeln zu finden: „ich habe schon nach Dir ausgeschaut, denn ich weiß von Alters her, daß Du nur zu gern in solchem Wetter umherläufst, das heiße junge Blut ein bischen abzu¬ kühlen. Bist wohl wieder durchgeweicht, wie gewöhn¬ lich? Nu, das geht ja heute noch. Da, setze Dich in den großen Stuhl. Es hat Niemand von Euch darauf gesessen, seitdem Baron Oskar heute vor dreiundvierzig Jahren darin gestorben ist.“ „Für abergläubische Gemüther keine besondere Empfehlung,“ sagte Albert, auf einer großen hölzernen Lade im Hintergrunde des Stübchens Platz nehmend, während die alte Frau Oswald in den Lehnstuhl drängte, und sich zu seinen Füßen auf einen niedrigen Schemel setzte; „indessen Ehre, wem Ehre gebührt. Sie nehmen sich auf dem einzigen Prunkmeubel in diesem sonst äußerst prunklosen Gemach ganz famos aus, Dottore, besonders bei dieser Rembrandt'schen Beleuchtung und mit der alten Frau à la Murillo zu Ihren Füßen; wie ein vertriebener König, der bei einer alten Fee im Walde Schutz sucht und findet, während sein getreuer Eckart im Hintergrunde sitzt und nickt. Ich glaube wirklich, das Laufen hat mich müde gemacht, und ich könnte ein paar Minuten schlafen. Wecken Sie mich, Dottore, wenn es wieder aufgehört hat, zu regnen —“ und Albert streckte sich der Länge nach auf der Lade aus, legte die Hände unter den Kopf und schien trotz der, für jeden Andern wenigstens, höchst unbequemen Lage nach wenigen Minuten, während dessen nur das monotone Tik-tak der alten Schwarzwälder-Uhr in der Ecke und das Rauschen des noch immer in Strömen herabfallenden Regens die lautlose Stille in dem kleinen Gemache unterbrachen, alles Ernstes eingeschlafen zu sein. Mutter Clausen hatte ihr Strickzeug zur Hand genommen, und strickte wieder wie neulich an einem winzigen Kinderstrümpfchen, emsig, emsig, emsig, daß die Nadeln klapperten. Nur von Zeit zu Zeit schaute sie zu Oswald empor und nickte ihm freundlich zu, als freute sie sich, daβ er gar so bequem in dem alten weichen Lehnstuhl säße, hier in der trockenen Stube, während es draußen so unbarm¬ herzig regnete. „Nicht wahr, Junker, es sitzt sich gut in dem Stuhl?“ sagte sie für einen Augenblick das Strickzeug in den Schooß und die rechte Hand auf Oswald's Knie legend. „Die gnädige Frau hat ihn mir ge¬ schenkt, als der Baron gestorben war. Sie konnte den Anblick nicht ertragen, sagte sie, denn sie müsse dabei stets an den Augenblick denken, wo die Leute ihn hereintrugen, als er mit dem Wodan gestürzt war, und hier in diesen Stuhl setzten; und Harald kam herbeigelaufen, und schrie, als er den Vater so bleich und entstellt sah, und sie selbst lief im Zimmer umher und rang die Hände, und ich stand neben dem Baron, und wischte ihm den Todesschweiß von der blassen Stirn. Ich hatte damals keine Zeit zum Weinen, ich wußte es wohl, daβ ich hernach Zeit genug dazu haben würde.“ „Und wie alt war Baron Harald, als sein Vater starb?“ fragte Oswald. „Zehn Jahre,“ antwortete Mutter Clausen; „und ihm wäre besser gewesen, er wäre an dem Tage ge¬ storben, — ihm und manchem Andern.“ Die Alte hatte das Strickzeug, das in ihrem Schooß müßig gelegen hatte, wieder zur Hand genommen und strickte emsiger wie zuvor, als müsse sie die verlorne Zeit einholen. „Ja, ja,“ sagte sie; es wäre besser gewesen. Da¬ mals war er ein bildhübscher, unschuldiger Junge mit Augen, blau wie Veilchen und rosenrothen Wan¬ gen; und als er starb —“ Die Alte schwieg — die Nadeln klapperten und der Regen klatschte gegen die Scheiben. „Nun, sagte Oswald, „und als er starb —“ „Da starb ein böser Mann, und es war ein böses, böses Sterben. Ich weiß es allein, denn ich war allein mit dem Unseligen, als der Tod ihn packte mit seiner eisernen Faust. Da rangen sie Beide, der starke Harald und der starke Tod, und gräßlich genug war es anzu¬ sehen, so gräßlich, daß die Andern davon liefen — aber ich wollte ihn nicht verlassen in seiner letzten Noth, denn er war, böse wie er war, doch Oskar's Sohn und ich hatte ihn, als er ein unschuldig Kind war, auf meinen Armen getragen und auf meinen Knien ge¬ wiegt. So hielt ich aus und betete, während er sich und Gott verfluchte, bis der Tod ihm auf's Herz schlug, daß er laut aufschrie und auf sein Kissen zu¬ rückfiel. Da war es aus mit ihm, und seine arme Seele hatte Ruhe.“ „Und hatte der Baron keinen Freund, der ihm in seiner letzten Stunde hätte beistehen können?“ „Freunde genug, und es waren Männer dabei, die sich vor einem Sterbebette nicht fürchteten; aber vor Harald fürchteten sie sich; er hätte den erwürgt und zerrissen, der ihm in dieser Stunde vor die Augen ge¬ treten wäre. Ja, ich möchte, sie wären gekommen, Einer nach dem Andern; es verdiente Jeder von ihnen, daß ihm der Hals wäre umgedreht worden.“ „Und wer waren diese schlimmen Freunde?“ „Zuerst Herr von Barnewitz, nicht der auf Süllitz, der noch lebt, der Vater von dem jungen Herrn von Barnewitz — das ist ein guter Mensch, dem Keiner nichts Böses nachsagen kann, — sondern der auf Schmittow, der hernach all' sein Geld an Herrn von Berkow verspielte, und ihm dafür seine Tochter ver¬ kaufte.“ „Melitta?“ stöhnte Oswald und seine Hände griffen krampfig nach den Lehnen des Stuhls. „Was hast Du, Junker?“ sagte die Alte. „Nichts, nichts; murmelte Oswald, mit überna¬ türlicher Anstrengung das aus Abscheu, Mitleid, Haß und Rachedurst grauenhaft gemischte Gefühl nieder¬ kämpfend, das in seiner Brust aufkochte, als er der Geliebten heiliges Bild so in den Schmutz gemeiner Leidenschaften geschleift sah. — Melitta verkauft, von ihrem eignen Vater einem Mann verkauft, den sie nicht liebte, dem sie sich nur vermählte, ihren Vater von der Schande zu retten — Oswald fühlte, daß dieser Gedanke ihn wahnsinnig machen würde, wenn er ihn bis zu Ende verfolgte; und zugleich fürchtete er, der scharfsinnige Albert, von dessen festem Schlaf er keineswegs überzeugt war, obgleich ein gelegent¬ liches leichtes Schnarchen von der Lade her ertönte, könne seine Aufregung bemerken. So zwang er sich denn, sitzen zu bleiben und mit scheinbarer Ruhe zu fragen: „Gehörte Herr von Berkow auch zu den Freunden des Barons? war er damals nicht noch zu jung?“ „Er war der Jüngste,“ sagte Mutter Clausen, und auch der Beste. Er that, was er die Andern thun sah, ohne weiter zu überlegen, ob es Recht sei oder Unrecht. Auch hatte er nicht die mächtige Natur der Andern. Wo er eine Flasche trank, trank Harald F. Spielhagen, Problematische Naturen. II . 15 drei, und dabei blieb Harald bei Besinnung und Ber¬ kow lag unter dem Tisch.“ „War es ein hübscher Mann?“ fragte Oswald. „Nicht so hübsch, wie Harald und lange nicht so hübsch wie Du, Junker. Er war kleiner und schwäch¬ licher, wie ihr, und Harald hätte es mit sechs solchen Männern zugleich aufnehmen können. Aber es war auch weit und breit Niemand so stark und so kühn, wie Harald. Er konnte das wildeste Pferd im Lauf aufhalten und zahm und folgsam machen, wie einen Hund, und in den Sattel sprang er, ohne die Bügel zu berühren. Sie erzählten sich Wunderdinge von seiner Riesenkraft, aber es war just so, als sie sagten. Wenn er zornig war, und er war es nur zu oft, zer¬ brach er einen schweren eichenen Stuhl oder Tisch, als wären sie von Glas. Dann schwollen ihm die Adern auf der Stirn an, wie Aeste, und der weiße Schaum trat ihm vor dem Mund, daß er gräulich an¬ zusehen war; aber wenn er lachte und freundlich that, da mußte man ihn doch wieder lieb haben. Da konnte er so schön thun, und so gute Worte geben, daß kein Mensch nicht glauben konnte, wie böse er war. Denn böse war er bei alledem; was ihm gefiel, das mußte er haben, es mochte kosten, was es wollte, und wenn Alles darüber zu Grunde ging.“ „Waren Sie denn während dieser ganzen Zeit noch auf dem Schlosse?“ „Warum nennst Du mich Sie, Junker? Du hast es ja sonst nie gethan — ja wol war ich auf dem Schlosse. Mein Mann war ja gestorben und die Jungen und die Dirnen waren gestorben und ich war ja die einzige, die nach dem Tode der gnädigen rau Mutter noch ein bischen auf Ordnung sah. Ich war nicht gern da, das weiß der Himmel, denn im Schlosse ging es zu wie zu Sodom und Gomorrha. Alle Tage die saubern Freunde, und oft noch ein halbes Dutzend dazu und dann gespielt und gezecht bis an den hellen Morgen.“ „Kamen denn nie Damen aufs Schloß?“ „Nein, selbst die frechsten und übermüthigsten fürchteten sich vor diesen wilden Männern. Und es waren die Meisten von ihnen auch nicht verheirathet, wie Herr von Berkow; oder ihre Frauen waren ge¬ storben, wie dem Herrn von Barnewitz seine Frau; so konnten sie denn ihr böses Leben ganz ungestört führen. Freilich, an Weibern fehlte es nie auf dem Schlosse, aber sie blieben niemals lange und es waren immer nur solche, an denen nichts zu verderben war, bis auf Eine, bis auf Eine —“ „Und wer war diese Eine?“ 15* „Die Letzte — ein schöner, unschuldiger Engel, der auch die Teufel hätte bekehren können, aber Ha¬ rald und seine Gesellen waren schlimmer wie die Teufel.“ „Wie hieß sie? woher kam sie?“ „Wir nannten sie nur Fräulein Marie; woher sie kam, habe ich nie erfahren, und eben so wenig, wo¬ hin sie ging.“ „So hat sie sich nicht das Leben genommen, wie die Leute sagten?“ „Nein, denn dazu war sie zu fromm und gut; sie hätte ihr Kreuz bis Golgatha getragen. O, sie war so jung und schön und so sanft und so lieb, wie meine alten Augen nie, weder vorher noch nachher, etwas gesehen haben. Wenn ich gewußt hätte, daß sie gemeint war, als Baron Harald über dem Weine mit Herrn von Barnewitz um, ich weiß nicht wie viel Tausend Thaler wettete, das Mädchen solle ihm frei¬ willig nach Grenwitz folgen und freiwillig ein Jahr auf dem Schlosse bleiben — ich hätte sie Alle, wie sie da saßen, mit Gift vergeben, wie schnöde Ratten.“ „Und wie fing es Baron Harald an, um seine Wette zu gewinnen?“ „Es ist eine lange Geschichte, Junker, und ich will sie Dir erzählen. Ich sage Dir, wenn alle Tropfen, die draußen fallen, Thränen wären, und alle um das arme Kind geweint würden — ich würde sagen: es sind nur eben genug. Als Harald mit Herrn von Barnewitz die schlimme Wette machte, war er vorher zwei oder drei Wochen mit ihm zusammen verreist gewesen; ich weiß nicht wohin; ich glaube in eine große Stadt, weit von hier, und da hatten sie, denke ich, daß arme Kind gesehen. Bald darauf reiste er wieder fort und diesmal blieb er beinahe zwei Monate aus. Endlich schrieb er, er komme zurück, aber nicht allein. Seine Tante Gren¬ witz komme mit; ich solle die Zimmer der verstorbenen gnädigen Frau auslüften und die Möbel gut aus¬ klopfen lassen und Alles zu ihrem Empfang herrichten. Nun wußte ich wol, daß der Baron eine Großtante hatte, die Schwester seines Großvaters; aber sie mußte nach meiner Rechnung achtzig Jahre und drüber sein; sie war zu meinen Lebzeiten nie in Grenwitz gewesen, und hatte sich nie um Harald bekümmert, so wenig, wie er sich um sie. Deshalb war ich denn nicht wenig erstaunt über den sonderbaren Entschluß, noch in so hohen Jahren eine so weite Reise zu unternehmen, denn sie wohnte viele, viele Meilen von hier; aber ich that, was mich der Baron geheißen hatte. Sie kamen auch an dem von ihm bestimmten Tage; ich empfing sie und wunderte mich, wie rüstig die alte Dame noch war, trotzdem sie an einem Stock ging und silbergraue Haare und Augenbrauen hatte. Harald war voller Respect gegen sie; er führte sie an seinem Arm durch alle Zimmer des Schlosses und zeigte ihr Alles ganz genau, besonders die Familienbilder oben im großen Saale, wo auch ihr eigenes hing, wie sie als achtzehn¬ jähriges Mädchen gewesen war. Davor blieben sie stehen und wollten sich todtlachen, und die Alte kriegte den Husten und Harald klopfte sie derb in den Rücken. Ich wußte nicht, weshalb sie so lachten — ich glaubte, weil aus dem schönen Mädchen ein so häßliches altes Weib geworden war, denn damals ahnte ich noch nichts von dem schändlichen Spiele. Am Morgen des nächsten Tages ließ der Baron wieder anspannen und die Tante setzte sich zu ihm in den Wagen. „Wir kommen heute Abend wieder,“ sagte er „wenn es auch spät werden sollte. Wir bringen noch eine junge Dame mit, die Gesellschafterin bei Tante Grenwitz ist. Sie muß das Zimmer nebenan haben, hörst Du, Alte?“ „Aber Herr,“ sagte ich „in der rothen Stube ist die Baronin gestorben und es liegt und steht noch Alles so darin, wie an ihrem Todestage.“ „So laß Alles ausräumen,“ sagte er, „hörst Du, Alles, und schaffe es in ein anderes Zimmer und setze dafür andere Möbel hinein. Die junge Dame muß in Tante Grenwitz's Nähe schlafen.“ „Was sagst Du, lieber Harald?“ fragte die Tante, die auf dem einen Ohre taub war, und auf dem anderen auch nicht besonders hörte, so daß sie mich durchaus nicht verstehen konnte, so laut ich auch schrie. „Nichts, nichts, liebe Tante!“ sagte der Baron; „fort Jochen!“ Es war spät in der Nacht, als sie wieder kamen. Ich hatte alle Leute zu Bett gehen lassen mit Aus¬ nahme des neuen Kammerdieners, den der Herr von seiner Reise mitgebracht hatte. Die junge Dame war mit im Wagen. Als sie auf den Flur traten und der Schein des Lichtes, das der Baptiste, so hieß der Mensch, in der Hand trug, auf das rosige Ge¬ sichtchen der jungen Dame fiel, verzog sich sein Ge¬ sicht zu einem recht widerlichen Lachen. Aber ich sah, daß Harald die Stirn runzelte, und mit dem Augen winkte; da war Baptiste gleich wieder ganz Ernst und Diensteifer. „Führe die Damen auf Ihre Zimmer, Alte!“ sagte Harald zu mir, und dann verbeugte er sich stattlich vor den Frauen und wünschte ihnen wohl zu schlafen. „Wollen Sie mir Ihren Arm geben, liebe Marie?“ sagte die Tante, als ich mit dem Licht vor ihnen her die Treppe hinaufging; „meine alten Glieder sind doch etwas müde von der heutigen Fahrt.“ „Wie soll ich Ihnen Ihre Güte danken, gnädige Frau!“ sagte das Mädchen mit einer so weichen, süßen Stimme, daß ich mich unwillkürlich umsehen mußte. Die Alte und das Mädchen standen auf dem Absatz der Treppe. Der Schein von den drei Kerzen auf dem Armleuchter, den ich trug, fiel hell auf die Beiden und ich werde den Anblick nie vergessen, und sollte ich noch einmal achtzig Jahre leben. So wiederlich häßlich war mir die Tante noch nie erschienen, und so etwas Holdes und Schönes, wie die junge Dame, hatte ich im Leben noch nicht gesehen. „Sie wissen es am besten, liebes Kind,“ sagte die Alte und dabei zog sie eine schein¬ heilige Fratze, die sie wo möglich noch häßlicher machte. „Ich habe nur noch einen Wunsch auf Erden; es steht bei Ihnen, ob mir dieser Wunsch erfüllt werden soll, oder nicht.“ Das Mädchen antwortete nicht, aber die hellen Thränen traten ihr in die Augen, und dann beugte sie die schlanke, hohe Gestalt nieder und küßte der alten Hexe die Hand. „Nun, nun,“ sagte die, „Sie sind ein gutes Kind, wir werden uns schon ver¬ stehen, und mein Harald, mein Augapfel, wird noch glücklich werden. — Lassen sie sich den Leuchter geben liebe Marie; ich kenne das Schloß meiner Ahnen noch recht gut, obgleich ich es nun seit sechzig Jahren nicht gesehen habe. Gehe Sie zu Bett, liebe Clausen; ich bemühe die Leute nicht gern unnöthiger Weise.“ Und das mußte man der Tante lassen; wir be¬ kamen nur sehr selten ihre Klingel zu hören. Sie zog sich selbst an und aus; freilich brauchte sie mehre Stunden dazu, aber Keiner von uns durfte ihr die geringste Hülfe leisten; ja, seitdem eins der Mädchen einmal, während sie sich anzog, in ihre Stube ge¬ kommen war, schloß sie stets hinter sich ab. Sie hatte sonderbare Gewohnheiten, die alte Frau. So konnte sie des Abends nicht müde werden, und ich sah sie manchmal noch bis zum hellen Morgen in ihrem Zimmer umherwandern, dafür schlief sie aber bis in den Nachmittag hinein. Bei Tische hatte sie nie Appetit, aber auf ihrem Zimmer konnte sie desto mehr essen und trinken, manchmal zwei, drei Flaschen alten Wein an einem Tage. Aber was das Merk¬ würdigste war, sie schien heute fünfzig und morgen achtzig Jahre alt zu sein; sie konnte in dieser Minute das leiseste Wort hören und in der nächsten war sie stocktaub; sie schleppte sich das eine Mal nur so an ihrem Stocke fort und das andere Mal kam sie die Treppen schneller hinab, wie ich, obgleich ich damals erst sechszig Jahre und noch vollkommen rüstig war. Mir war es ganz unheimlich bei der alten Frau, und ich war froh, wenn ich ihr möglichst weit aus dem Wege gehen konnte.“ „Und wie lebte Fräulein Marie unterdessen?“ „Sie war fast immer in Harald's Gesellschaft. Ich sah sie des Morgens zusammen zwischen den thaufrischen Beeten des Gartens umherschweifen, Arm in Arm, sie die Augen verschämt niederschlagend und Harald, eifrig und leise zu ihr sprechend. Ich sah sie des Nachmittags in den kühlen Zimmern, die nach dem Park hinausliegen, sitzen, sie, mit einer Arbeit beschäftigt, die aber oft müßig in ihrem Schooß lag; ihn, aus einem Buche vorlesend, noch öfter aber den Arm auf die Lehne ihres Stuhles gestützt, während sie selig lächelnd zu ihm emporschaute, sie mit glü¬ henden Blicken verschlingend und ihr von Zeit zu Zeit das seidenweiche braune Haar aus der schönen Stirn streichend. Ich sah sie des Abends wieder draußen umherschweifen, oder in den hellerleuchteten Zimmern, Arm in Arm, langsam auf- und abwandeln, während Tante Grenwitz auf dem Sopha saß und las, oder doch that, als ob sie läse. — Ach! es war eine köstliche Zeit für das arme Kind; und sie sah stets so glücklich und selig aus, daß es einem angst und bange wurde, wie das enden solle; und wenn sie mich traf, hatte sie stets ein freundliches Wort für mich: „Wie geht's, liebe Frau Clausen?“ oder: „kann ich Ihnen nicht helfen, liebe Frau Clausen? Sie lassen es sich gar so sauer werden. Ich schäme mich, daß ich hier so müßig gehe.“ Eines Nachmittags begegnete sie mir im Garten. Es war ein sonniger heißer Tag; sie hatte ein weißes Kleid an und ein Strohhut mit breitem Rande hing an ihrem schönen runden Arm. Der Baron war aus¬ geritten, seit langer Zeit zum ersten Male, die Tante war noch nicht aufgestanden. Ich hatte mir schon lange vorgenommen, wenn es die Gelegenheit erlaubte, ein Wort mit dem Mädchen zu sprechen und ihr die Augen zu öffnen. So faßte ich mir denn ein Herz, als sie mit einem: Guten Tag, Mutter Clausen, wie geht's? an mir vorüber wollte, und sagte: „Schön Dank, Fräulein Marie; haben Sie einen Augenblick Zeit? ich möchte gern ein paar Worte mit Ihnen sprechen?“ — „Was giebt's?“ sagte sie, und als sie in mein Gesicht sah, das wol recht ernst und traurig sein mochte, rief sie: „Um Gotteswillen, es ist doch kein Unglück passirt?“ — „Nein, Fräulein Marie,“ sagte ich, „aber es könnte leicht eins passiren, wenn Sie sich nicht besser vorsehen; und das sollte mir herzlich leid thun, denn Sie sind so jung und sehen so engelsgut und rein und unschuldig aus.“ — „Was meinen Sie?“ sagte das arme Kind und wurde dunkel¬ roth. — „Kommen Sie hierher, Fräulein Marie,“ sagte ich und zog sie in einen Buchengang, wo wir vom Schlosse aus nicht gesehen werden konnten, „ich will Ihnen Alles sagen, was ich auf dem Herzen habe. Ich bin eine alte Frau und Sie sind ein junges Ding, das viel weiß, wie's in der Welt aussieht und wie es hier in Grenwitz zugeht.“ Und nun schilderte ich ihr das Leben auf dem Schlosse, wie es bis zu ihrer Ankunft gewesen war, und welch' ein wilder, wüster Mensch Harald sei, und daß er falsch und grausam sei, wie ein Tiger. Sie hörte mir mit glü¬ henden Wangen und die langen dunkeln Wimpern nicht von den schönen blauen Augen aufschlagend, ohne mich nur einmal zu unterbrechen, ruhig zu, dann sagte sie leise: „Ich danke Ihnen, liebe Frau Clausen — aber was Sie mir da sagen, das weiß ich Alles schon.“ — Ich war wie vom Donner gerührt. „Sie wissen das,“ rief ich, „und haben der gnädigen Frau Tante hierher folgen können? Sie wissen das und sind noch hier? Sie wissen das und fürchten sich nicht, mit dem Baron stundenlang, halbe Tage lang allein zu sein? O, Kind, Kind, was soll ich von Ihnen denken!“ — „Denken Sie nichts Schlechtes von mir, gute Frau,“ sagte sie, mir die Hand auf die Schulter legend. „Und denken Sie auch nicht so schlecht vom Baron. Er wird nie wieder so wild und bös sein, wie er vormals gewesen ist.“ — „Wo¬ her wissen Sie das, Fräulein?“ sagte ich. — „Weil er es mir versprochen hat.“ — „Und glauben Sie, daß er dies Versprechen hält?“ — „O, gewiß.“ — „Warum.“ — „Weil er mich liebt.“ — „O, Kind, Kind,“ rief ich, „um Gotteswillen, es ist die höchste Zeit: fliehen Sie, oder Sie sind rettungslos verloren. Unglückliche, die Sie seinen Schwüren glauben! Er schießt das Pferd todt, das ihm nicht länger gefällt, und er bricht den Schwur, der ihm lästig wird. Was er Ihnen geschworen hat, ist ein altes Lied; er pfeift es, wie ein Staar sein Stückchen pfeift, ohne etwas dabei zu denken. Was er Ihnen schwur, hat er schon hundert Andern geschworen, von denen freilich die Meisten nicht viel besser waren, wie er selbst, und sich einen Treubruch schon gefallen ließen, wenn er nur gut bezahlt wurde.“ — „Hören Sie auf,“ rief Fräulein Marie heftig; „ich kann und darf Sie nicht länger anhören.“ Und dann setzte sie lächelnd hinzu: „Sie werden bald einsehen, gute Frau, wie bitter Unrecht Sie meinem Harald — wie sehr Sie dem Baron Unrecht gethan haben.“ — „Ihrem Harald?“ sagte ich, „armes Kind, er wird nie Ihr Harald. Der nimmt, was ihm der Zufall in den Weg führt, und weil Sie nun einmal zufällig hier sind“ — „Und wenn ich nun nicht zufällig hier wäre?“ sagte sie, schelmisch lachend; „wenn ich nun nicht der alten Baronin, sondern die alte Baronin meinethalben hier wäre? und wenn ich nun gar nicht wieder fort ginge und ganz hier bliebe — “. In diesem Augenblick kam Harald plötzlich in den Baumgang, in welchem wir redend auf und ab gingen. Er stutzte, als er mich mit dem Mädchen allein sah. — „Fräulein Marie,“ sagte er, „ich glaube, die Tante wünscht Sie zu spre¬ chen.“ Und als das Mädchen fort war, trat er an mich heran und sagte leise durch die weißen Zähne: „Was hast Du ihr gesagt, Alte?“ — „Daß Du sie an der Nase führst, Harald,“ antwortete ich. — „Ich werde Dir dafür den Hals umdrehen,“ sagte er, und die Zornesader auf seiner Stirne schwoll. — „Immer noch besser, als wenn Du dem armen Dinge das Herz brichst,“ sagte ich. — „Höre, Alte,“ sagte er, „und wenn ich es nun diesmal wirklich ehrlich meinte; wenn ich das wüste Leben, bei dem man ja doch früher oder später zum Teufel gehen muß, herzlich satt hätte; wenn ich nun das Mädchen heirathete, wie dann?“ — „Ist sie von Adel?“ sagte ich. — Harald lachte: „Eines Schneiders Tochter ist sie. Ich werde die Scheere und das Bügeleisen in unser Wappen zeichnen lassen müssen.“ — „Wenn sie nicht von Adel ist,“ sagte ich, „wirst Du sie nie heirathen, und es wäre auch nur eine Grausamkeit mehr. Das arme Geschöpf würde unter Deinem Spott und dem Hohn Deiner Freunde verbluten, wie ein gehetzter Hirsch unter den Zähnen der Hunde. Schicke das Mädchen fort; ich beschwöre Dich, Harald, heute lieber, wie morgen. Und die alte Baronin auch;“ setzte ich hinzu. — Er sah mich groß an und dann lachte er und sagte: „Du bist doch dummer, als ich gedacht habe, Alte.“ — Damit wandte er mir den Rücken und ging trällernd in das Schloß. Ich wußte nicht, was ich von dem Allen denken sollte. Hatte Harald dem Mädchen die Ehe ver¬ sprochen? und glaubte sie alles Ernstes, daß er — von dem sie sagte, daß sie sein früheres Leben kenne — dies Versprechen halten würde? Sie schaute so klug und verständig aus ihren großen blauen Augen, wie konnte sie sich ein solches Märchen aufbinden lassen? Wie hatte es Harald angefangen, ihre Klug¬ heit so ganz zu umnebeln? Was meinte das Mädchen damit, daß die Tante ihrethalben hier sei? Mir ging das Tag und Nacht im Kopf herum, daß ich fast krank darüber wurde. Ich hätte das arme unschuldige Lamm so gern gerettet, und dem Harald diese Sünde erspart — hatte er doch schon genug auf dem Ge¬ wissen? Aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte. Seit jener Unterredung im Garten wich Fräu¬ lein Marie mir überall aus; die Tante kam nur noch des Abends aus ihrem Zimmer und hatte trotz des heißen Wetters den Kopf stets dicht in Tücher ein¬ gewickelt. Harald hatte schon seit Tagen kein Wort mehr mit mir gesprochen. Er schien wirklich ein ganz anderer Mensch geworden zu sein. Er war, so lange Fräulein Marie auf dem Schlosse war, nicht ein ein¬ ziges Mal betrunken gewesen; hatte keinen der Leute geprügelt; kein Pferd zu Schande geritten, während doch sonst kein Tag hinging, wo er nicht diesen oder jenen verrückten Streich ausführte. Wenn er sonst bei der geringsten Veranlassung tobte und fluchte und sich wie ein Rasender gebehrdete, so war er jetzt ge¬ gen Alle mild und freundlich, nur nicht gegen mich, weil er wußte, daß er sich vor mir nicht verstecken konnte, die ich ihn von Kindesbeinen an kannte — und gegen den neuen Kammerdiener Das war ein widerwärtiger Mensch, der beständig lächelte, und im¬ mer hinter den Mädchen her war, die ihn alle nicht leiden konnten. Er hatte den ganzen Tag nichts zu thun, als mit den Händen in den Taschen umherzu¬ schlendern und Grimassen zu schneiden. Für den Baron that er gar nichts, im Gegentheil, seitdem Ha¬ rald ihm einmal einen Fußtritt gegeben, daß er noch vierzehn Tage nachher hinkte, ging er ihm überall aus dem Wege. Kein Mensch konnte begreifen, wes¬ halb ihn der Baron nicht wieder fortjagte. — Wäh¬ rend dieser ganzen Zeit war keiner von den Herren, die sonst bei uns aus- und eingingen, zum Besuch auf dem Schlosse gewesen. Ich hatte immer gehofft, es sollten welche kommen, damit ich Gelegenheit be¬ käme, mit Fräulein Marie zu sprechen, der Harald jetzt gar nicht mehr von der Seite ging. Wenn sie vorher schön mit einander gethan hatten, so war das jetzt noch viel schlimmer geworden. So wie sie sich unbeobachtet glaubten, lagen sie einander in den Ar¬ men, und das war ein Herzen und Küssen! — Du lieber Himmel, das ist unter Liebesleuten so der Brauch, und ich hatte es nicht besser gemacht, als ich ein so junges Ding war, wie die, und ich wußte am besten, wie die Grenwitzer Barone einem armen hüb¬ schen Mädchen schön thun und schmeicheln können; aber ich wußte auch, daß man jeden ihrer Küsse mit hunderttausend Thränen bezahlen muß. — Und eines schönen Morgens, als ich Fräulein Marie wieder ein¬ mal begegnete, und fragte: wie gehts Fräulein Marie? F. Spielhagen, Problemalische Naturen. II . 16 gut geschlafen? da wurde sie purpurroth und konnte vor Verlegenheit kein Wort hervorbringen und stand da und zitterte, wie ein Espenblatt. Und als ich das sah, wußte ich auch, was geschehen war, und da wurde mir das Herz so centnerschwer, daß ich mich auf eine Bank setzte und weinte. Als das Fräulein Marie sah, fing sie auch an zu weinen und setzte sich zu mir, schlang ihren Arm um meinen Hals und sagte schluchzend: „Weinen Sie nicht, gute Mutter Clausen! Es wird noch Alles gut werden!“ — „Das gebe Gott, Kind, sagte ich; aber ich glaube es nicht.“ — „Aber, sagte sie, Sie sehen ja selbst, wie gut und freundlich der Baron jetzt ist, und er ist doch nur so, weil er mich liebt, und wenn er mich nicht heirathen wollte, warum hätte er dann die Tante mitgebracht? und wenn die Tante nichts dagegen hat, die so stolz und hoffärtig ist, wie Harald sagt, da können ja die andern Verwandten doch auch nicht Nein sagen!“ — „So sind Sie nicht Gesellschafterin bei der alten Ba¬ ronin?“ fragte ich verwundert. — „Nein, sagte sie, ich habe sie hier zum ersten Mal gesehen.“ — „Aber ums Himmelswillen, Kind, rief ich, wie kommen Sie denn hierher, wenn Sie nicht mit der Baronin ge¬ kommen sind?“ — Die Kleine weinte noch stärker, wie zuvor. „Ich darf es Ihnen nicht sagen, rief sie, ich habe dem Baron versprochen, gegen Jedermann zu schweigen, bis wir uns öffentlich“ — sie schwieg, als hätte sie schon zu viel gesagt. „Ich darf nicht sprechen, wiederholte sie; aber glauben Sie mir, ich bin kein so schlechtes Mädchen, wie Sie denken.“ — Damit küßte sie mich auf die Stirn und eilte von mir fort ins Schloß. Seit diesem Tage sah ich Fräulein Marie oft mit verweinten Augen; und wohl mochte sie Ursache zum Weinen haben, das arme Kind. Harald that, was ich schon längst gefürchtet hatte: er fing sein altes Leben wieder an; freilich nur allmälig. Die Freunde kamen noch immer nicht aufs Schloß, aber er selbst ritt oft aus, und blieb halbe und manchmal ganze Tage lange fort. Wenn er wieder kam, war er oft in seiner bösen Weinlaune, wo er die Diener mit Fußtritten und Stockschlägen tractirte, und die armen unschuldigen Möbel zerschlug. Doch war es noch im¬ mer golden, im Vergleich mit sonst, und er war auch noch immer zärtlich gegen Fräulein Marie, besonders wenn er sah, daß seine wüthende Heftigkeit sie bis zum Tode erschreckt hatte. Mit der Tante verkehrte er beinahe gar nicht mehr, seitdem sie sich des Abends, wenn Fräulein Marie zu Bette gegangen war, ein paar Mal im Salon gezankt hatten, daß wir es 16* draußen hörten. Ich glaubte, die Alte setzte ihm den Kopf zurecht und da schickte ich ihr gern so viel Braten und Wein auf ihr Zimmer, wie sie haben wollte, obgleich es unglaublich war, was sie verzehren konnte. Da geschah es, daß, als ich einmal in der Nacht, nachdem Alle zu Bett waren, die Runde durchs Haus machte, wie ich es immer that, um zu sehen, ob die Lichter überall ausgelöscht waren, mir auf einmal auf dem Corridor, der von dem Thurm aus in das alte Schloß führt, wo die Damen logirten, ein heller Schein entgegenleuchtete. In dem ersten Schrecken und ohne noch zu wissen, ob die Gefahr groß oder klein war, schrie ich Feuer! Feuer! so laut ich konnte. Zugleich lief ich den Corridor entlang nach der Stelle zu, wo es brannte. Auf einmal war Harald an meiner Seite. Ich wußte nur zu gut, aus welcher Thüre er gekommen war, obgleich ich ihn nicht hatte kommen sehen. — Still, Alte, rief er, Du siehst ja, es brennt nur die Gardine vor dem Fenster. Und damit fing er an, die brennenden Fetzen herabzureißen und mit den Füßen auszutreten. Plötzlich öffnete sich die Thür, die zu dem Zimmer der Baronin führte, und die dem brennenden Fenster gerade gegenüber lag, und heraus stürzte die alte Hexe mit einem großen Bündel unter dem Arm, und der Kammer¬ diener mit einem noch größeren Bündel auf der Schulter, kam hinterher. Sie hätten uns beinahe umgerannt, aber Harald packte den Kammerdiener und schleuderte ihn so gewaltig zurück, daß der Mensch sammt seinem Packet zu Boden stürzte. „Steckt ihr wieder einmal bei einander, Lumpenpack?“ herrschte er die Alte an, die, als sie den Baron so wüthend sah, am ganzen Leibe zitternd stehen geblieben war; „schert Euch in die Stube zurück, oder ich will euch auf den Marsch bringen.“ Auf einmal fing er laut zu lachen an, denn er sah, und ich bemerkte es auch erst jetzt, daß die Alte in der Eile vergessen hatte, sich die Perrücke aufzusetzen, und ihr eigenes rothes Haar in nicht allzu kurzen Zöpfen aus der schmutzi¬ gen Haube herabhing. Den Stock hatte sie natürlich auch stehen lassen, und sah überhaupt so ganz verän¬ dert aus, daß ich meinen Augen kaum traute. — „Scher Dich zum Teufel, alte Hexe, rief Harald, noch immer aus vollem Halse lachend, und laß Dich erst wieder anstreichen, sonst sieht man doch gar zu deut¬ lich, woher Du stammst.“ — Die Alte murmelte etwas, das ich nicht verstand, und ging in das Zim¬ mer zurück; der Kammerdiener hatte sich unterdessen wieder aufgerafft und war die kleine Treppe, die von dem Corridor in den Garten führte, hinab, davonge¬ schlichen. — „Geh zu Bett, Alte, sagte der Baron zu mir, und denke, Du hast dies Alles geträumt, oder denke auch, was Du willst, mir gilt es gilt es gleich. Die Komödie kann ja doch nicht ewig dauern.“ Und die Komödie war denn nun auch vorbei. Am nächsten Morgen waren die Alte und der Kammer¬ diener verschwunden und Niemand von uns hat je wieder etwas von ihnen gesehen oder gehört; Keiner jemals erfahren, wer sie waren, woher sie kamen. Nur das Eine war sicher, daß die Alte so wenig des Barons Tante gewesen war, wie ich seine Mutter. Die Leute lachten, und der Baron lachte, trotzdem die Beiden an Silberzeug und Kostbarkeiten mitgenommen hatten, was sie forttragen konnten, aber ich lachte nicht, und da war noch eine Andre, die auch nicht lachte. Das arme herzige Kind! sie wollte es zuerst gar nicht glauben, daß der Baron sie so schändlich hätte betrügen können. Sie ging mit weiten, starren, thränenlosen Augen umher, und wenn sie mir be¬ gegnete, sah sie mich an, so angstvoll, so kummervoll, daß es mir in's Herz schnitt. Ach, ich konnte ihr ja nicht helfen; ich konnte nur mit ihr weinen und das that ich denn redlich, als das arme Kind sich von ihrem ersten Entsetzen erholt und wieder Thränen ge¬ funden hatte. Wir waren jetzt oft beisammen, denn seit jener Nacht kümmerte sich Harald nicht mehr viel um Fräulein Marie. Er ritt alle Tage aus, und nun kamen auch die Herren wieder auf's Schloß, wie sonst, und das alte Leben fing wieder an. Ob Harald seine Gewissensbisse zum Schweigen bringen, ob er die ver¬ lorene Zeit nachholen wollte, er war jetzt wilder und unbändiger, als ich ihn je gesehen hatte, und die Leute gingen ihm aus dem Wege, wo sie konnten. Eines Abends, als die Herren wieder einmal zu Besuch auf dem Schlosse waren, — es war gegen sieben und sie hatten seit drei Uhr bei Tische ge¬ sessen — Fräulein Marie war bei mir auf dem Zim¬ mer, wo sie jetzt die meiste Zeit zubrachte — kam Harald plötzlich zur Thür herein. Ich sah auf den ersten Blick, daß er betrunken war. Sein Gesicht glühte und seine Augen funkelten, wie die einer wilden Katze. Als er Marie erblickte, die im Fenster gesessen hatte und bei seinem Eintritt voller Schrecken auf¬ gesprungen war, lachte er und sagte: „Treffe ich Dich hier, mein Täubchen? ich habe das ganze Schloß nach Dir durchsucht. Komm, Schatz, ich will Dich den Herren vorstellen; einen davon kennst Du schon — Du mußt aber hübsch artig und freundlich sein, hörst Du?“ — Marie war bei diesen Worten bleich wie der Tod geworden und zitterte an allen Gliedern; ich sah, wie sie die Lippen bewegte, um etwas zu erwiedern, aber sie brachte keinen Laut hervor. Ich konnte es nicht länger mehr mit ansehen. „Schämst Du Dich nicht, Harald,“ sagte ich, „das arme, unschuldige Lamm so zu quälen. Pfui, Ha¬ rald, — daß Du schlecht warst, habe ich immer ge¬ wußt, aber für so schlecht hätte ich Dich nicht ge¬ halten!“ — Er sprang mit einem Satze auf mich zu und packte mich mit seinen Eisenhänden an der Kehle. — „Sprich noch ein Wort,“ knirschte er zwischen den Zähnen, „und ich breche Dir das Genick, verdammte Hexe!“ — Ich wußte, daß er seine Drohung aus¬ führen könnte, aber ich fürchtete mich nicht vor dem Tode. — „Thu', was Du willst,“ sagte ich ruhig, „aber so lange ich noch einen Athemzug habe, will ich Dir's in's Gesicht sagen: Du bist ein Elender.“ — Ich sah ihm fest in's Auge; ich sah, wie der Zorn immer wüthender in ihm aufkochte, und fühlte, daß seine Finger sich wie eiserne Klammern um meine Kehle schlossen. Ich glaubte meine letzte Stunde ge¬ kommen. — Da stand Marie plötzlich neben uns; sie legte ihre Hand auf Harald's Arm und sagte ganz leise: „laß sie los, Harald; ich will mit Dir gehen.“ — Weiter sagte sie nichts, aber es war genug, selbst ein so wildes Herz wie Harald's zu rühren. Er ließ die Arme sinken und starrte Marie an, als ob er aus einem schweren Traum erwachte. Plötzlich fiel er vor ihr auf die Knie, verbarg sein glühendes Gesicht in den Falten ihres Kleides und schluchzte: „Vergieb mir, Marie; vergieb mir!“ Dann sprang er auf, und als er sah, daß sie durch Thränen ihn anlächelte, hob er sie in seinen Armen empor, wie ein Kind, trug sie in der Stube auf und ab und herzte und küßte sie. Dann setzte er sie hier in den Lehnstuhl, auf dem Du jetzt sitzst, und kniete vor ihr nieder, ihre Hände und ihre Kleider küssend, und wandte sich zu mir und rief: „Geh, Alte, und sage dem Karl: er solle die Pferde für die Herren satteln lassen. Ich sei krank geworden, oder gesund geworden, oder was sie wollen, aber ich könnte sie heute nicht mehr sehen und morgen auch nicht. Ist es so gut, lieb' Herz? nicht wahr, ich bin nicht so schlecht, wie die Alte sagt?“ — Ich ging, vor Freude laut weinend, aus der Stube und dachte: es kann doch vielleicht noch Alles gut werden. Aber das wurde es nicht. Schon nach wenigen Tagen war Alles wieder beim Alten. Aehnliche Sce¬ nen kamen noch manchmal vor, aber Harald's gute Vorsätze hielten immer nur wenige Tage Stand, und wir mußten jede Spottrede der Herren mit bitteren Thränen bezahlen. Ich sage: wir, denn ich hatte die süße Dirne so lieb, als ob sie mein eigen Kind ge¬ wesen wäre. Und jetzt hatte die Aermste Trost und Liebe nöthiger als je. Sie wußte schon seit Monaten, daß sie die Frucht ihrer Liebe zu Harald unter dem Herzen trüge, und das Schicksal dieses Kindes, ihres und seines Kindes, bekümmerte sie tausendmal mehr als ihr eigenes. — „Was aus mir werden soll,“ sagte sie, „was ist daran gelegen? Ich stürbe lieber heute wie morgen; aber meines Kindes halber muß ich leben und will ich leben. Und ich will auch nicht mehr weinen und klagen; es hilft ja doch zu nichts, und Harald sagt ja, daß ihm nichts so verhaßt sei, als verweinte Augen.“ — Ich fragte sie, ob sie keine Eltern, keine Verwandte, keine Freunde hätte, zu denen sie ihre Zuflucht nehmen könnte. Sie schüttelte traurig den Kopf: „ich habe Niemand auf der weiten Welt, Niemand, als Sie, liebe Mutter Clausen, und noch Einen, der Alles für mich thun würde, wenn er wüßte, wo ich wäre; aber er weiß es nicht und soll es auch nie erfahren.“ — Ueber ihr früheres Leben sprach sie nie; „ich habe dem Baron versprochen, darüber zu schweigen, bis er sich öffentlich mit mir verlobte; und,“ setzte sie wehmüthig lächelnd hinzu, „da sehen Sie selbst, daß ich wohl ewig werde schweigen müssen.“ Sie kam fast nicht mehr von meiner Seite, und was Harald betrifft, so schien er in der letzten Zeit ganz vergessen zu haben, daß Marie noch auf dem Schlosse war. Nur manchmal, wenn ich mit ihm allein war, erkundigte er sich in kurzen, abgerissenen Fragen nach ihr, aus denen ich sah, daß er über ihren Zustand vollkommen unterrichtet war. So standen die Sachen. Der Sommer war zu Ende; der Herbst kam mit Sturm und Regen, und die dürren Blätter wehten von den Bäumen. Es war an einem Nachmittage, Harald war ein paar Tage verreist gewesen; ich war mit Marie im Garten und suchte ihr Trost zuzusprechen, da sie heute ganz besonders traurig war. Da schaute plötzlich ein Scha¬ cher-Jude über das Stacket und schrie, als er uns erblickte, in den Garten hinein: nichts zu handeln? nichts zu handeln? Ich brauchte gerade, ich weiß nicht mehr was, und so rief ich ihn. Er kam. Es war ein alter, schmutziger, schlottriger Mensch, mit einem weißen Bart und einer Brille mit blauen Glä¬ sern über den Angen. Er kramte seine Waaren aus, und weil die Sachen hübscher waren, wie sie diese Leute sonst wol führen, so kauften Marie und ich ihm Verschiedenes ab. Er forderte einen mäßigen Preis, aber es war doch mehr, als wir bei uns hatten, und so ging ich in's Schloß, das Uebrige zu holen. Zu¬ fällig konnte ich den Schlüssel zu meiner Commode nicht gleich finden, und als ich ihn gefunden hatte, fiel mir ein, daß ich in der Küche nothwendig etwas besorgen mußte; so verging wol eine halbe Stunde, bis ich wieder in den Garten kam. Ich traf Marie allein. „Wo ist der Jude?“ sagte ich. „Er will morgen wieder kommen,“ antwortete sie. „Was haben Sie, Kind?“ sagte ich, denn ich sah, daß sie roth¬ geweinte Augen hatte und ganz verstört aussah. — Da fiel sie mir um den Hals und weinte, aber so sehr ich sie auch bat, mir zu sagen, was vorgefallen sei, ich konnte nichts aus ihr herausbringen. Der Jude kam am nächsten Tage nicht, aber Ba¬ ron Harald kam. Er brachte ein paar Herren mit. Sie waren auf der Jagd gewesen und tüchtig müde geworden. So gingen sie heute früher zu Bett, nach¬ dem sie ein paar Flaschen Wein getrunken hatten. Ich mochte wohl schon ein paar Stunden im Bett gelegen haben, ohne einschlafen zu können, denn es regnete und stürmte in dieser Nacht gar heftig und die Laden klappten und die Jagdhunde heulten. — Da hörte ich einen leisen Schritt auf dem Gange vor meiner Stube, eine Hand suchte nach dem Drücker meiner Thür und als ich mich erschreckt im Bett emporrichtete, ging die Thür auf; es trat Je¬ mand herein und kam auf mein Bett zu. — „Wer ist da?“ rief ich. — Ich bins, Mutter Clausen,“ sagte eine leise Stimme. Es war Marie. „Sind Sie krank geworden, Kind?“ sagte ich. Nein, sagte sie, sich zu mir aufs Bett setzend, ich wollte nur Ab¬ schied nehmen, und Ihnen für all' die Liebe und Güte danken, die Sie an mir gethan haben.“ — Ich glaubte, sie wollte sich das Leben nehmen, und sagte voller Entsetzen: „Um Gotteswillen, Kind, was hast Du vor?“ — „Fürchten Sie nichts, Mutter Clausen, sagte sie, und dabei umarmte und küßte sie mich unter vielen heißen Thränen; ich will fort, aber nur fort von hier. Ich habe es schon längst gewollt und jetzt ist die Stunde gekommen.“ — „Warum jetzt?“ sagte ich; „wo willst Du hin mitten in der Nacht? und noch dazu in solcher Nacht! Hörst Du nicht, wie Wind und Regen mit den Hunden um die Wette heu¬ len? Und Du kennst ja weder Weg noch Steg — Du rennst ja gerade ins Verderben, und wenn Du nicht an Dich denkst, so denke wenigstens an das Kind, das Du unter dem Herzen trägst.“ — „An das eben denke ich, sagte sie. Es soll nicht hier, wo seine Mutter so grenzenlos elend gewesen ist, das Licht erblicken; es soll nie erfahren, wer sein Vater war. Leben Sie wohl, liebe Mutter! möge der all¬ gütige Gott Sie behüten! und fürchten Sie nichts für mich! Ich gehe nicht allein; es ist Jemand bei mir, der mich beschützen und über mich wachen wird, und der sein Leben für mich lassen würde.“ — „Weißt Du das auch gewiß, Kind?“ sagte ich; „ich dächte, Du hättest jetzt gelernt, was den Männern ihre Schwüre werth sind. Wer ist es?“ — „Ich darf es nicht sagen,“ antwortete sie; „und jetzt muß ich fort, es ist die höchste Zeit.“ — Sie hatte sich von dem Bett erhoben. „Warte,“ sagte ich, „ich will Dir we¬ nigstens das Geleit aus dem Schlosse geben.“ Sie bat mich inständig, zu bleiben; aber ich kehrte mich nicht daran. Schnell hatte ich ein paar Kleider übergeworfen; ich war fest entschlossen, sie nicht eher fort zu lassen, bis ich mich überzeugt hatte, daß sie wußte, was sie that. Ich fürchtete noch immer, sie wolle sich das Leben nehmen. Als sie sah, daß ich von meinem Vorsatz nicht ab¬ zubringen war, half sie mir, mich vollends ankleiden und sagte: „So kommen Sie, Mutter Clausen; er sieht dann doch, daß ich auch hier nicht ganz verlassen gewesen bin.“ Wir gingen, uns an den Händen haltend, auf den Zehen durch die Corridore, dann die Treppen hinab, die aus dem alten Schlosse in den Garten führt. Es hatte aufgehört zu regnen, und der Mond schien auf Augenblicke durch die schwarzen, treibenden Wol¬ ken. Ich hatte noch immer Mariens Hand in der meinigen; sie eilte, mich mit sich ziehend, durch die wohlbekannten Wege. Als wir an einer Bank vor¬ überkamen in einem der dichteren Baumgänge, wo ich sie oft mit Harald hatte sitzen sehen, blieb sie einen Augenblick stehen, und ich fühlte, wie ihre Hand zuckte. Aber sogleich raffte sie sich wieder auf: „Nein, nein! murmelte sie, er hat Recht; Harald hat mich nie geliebt, und darum darf ich auch nicht länger bleiben.“ Wir gingen aus dem Garten in den Hof, aus dem Hof durch das große Thor in den Wald hinein, die Straße nach Berkow. Als wir ein paar hundert Schritte gegangen waren, kam uns ein Mann entge¬ gen. „Er ist es;“ sagte Marie; „Sie müssen mich jetzt verlassen, Mutter Clausen; ich habe ihm ver¬ sprochen, allein zu kommen, und keinem zu sagen, daß ich fortgehe.“ „Du hättest das nicht versprechen sollen, Kind, sagte ich; ich glaube, ich habe das Recht, zu wissen, wo Du bleibst.“ — Unterdessen war der Mann herangekommen. „Bist Du's, Marie?“ sagte er; „warum kommst Du nicht allein?“ — „Weil ich sie nicht losgelassen habe; sagte ich, und sie auch nicht loslassen will, bis ich weiß, wo sie bleibt.“ — „In Gottes Hut, und unter dem Schutz eines Freundes;“ sagte der Mann. Das klang so treu und gut, daß all' meine Angst und Sorge in einem Augenblick verschwunden war. Der Mond trat aus den Wolken hervor, und ich konnte den Mann, der jetzt neben uns herging, etwas deutlicher sehen. Er war klein und nicht mehr jung; und hatte eine Habichtsnase, wie der Jude von gestern Morgen. Er hatte einen langen Ueberrock an, und als der Wind denselben auseinander wehte, sah ich beim Schein des Mondes den Lauf einer Pistole blinken, die in einem Gürtel steckte, den er um den Leib geschnallt trug. Einige Schritte weiter hielt eine mit zwei Pferden bespannte Kutsche. „Es ist die höchste Zeit“; sagte der Mann auf dem Bocke. Er sprach plattdeutsch, und mir war, als ob ich die Stimme kannte. „Schnell, schnell“, sagte der kleine Mann mit der Brille und drängte Marie nach dem herabgelassenen Wagentritt. „Adieu, adieu“, schluchzte Marie, mich noch einmal umarmend, und als ihr Kopf für einen Augenblick auf meiner Schulter lag, flüsterte sie mir ins Ohr: Sagen Sie ihm, daß ich ihm Alles, Alles vergeben habe! „Schnell, schnell, Marie“; rief der Mann und stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Er hing ihr einen weiten Mantel um und half ihr in den Wagen; dann wandte er sich zu mir: „Wenn Sie das unglückliche Mädchen wirklich lieb haben, sagte er, schweigen Sie zwei mal vierundzwanzig Stunden. Ich bin freilich auf Alles gefaßt, aber ich möchte um Mariens willen gern, daß es ohne diese hier abginge.“ Er schlug mit der Hand an die Pistole. „Verlassen Sie sich auf mich, sagte ich, und ich will mich auf Sie verlassen.“ „Thun Sie das, sagte er: es sind ja nicht alle Menschen Schurken und Barone.“ Er sprang in den Wagen und schlug die Thür zu. Die Pferde zogen in Galopp an, und schon nach wenigen Minuten hörte ich nur noch das Sausen des Windes in den Tannen. Ich ging langsam in das Schloß zurück; und ge¬ langte auf mein Zimmer, ohne von Jemand gesehen zu werden. Ich schloß hinter mir ab; dann warf ich mich auf mein Bett, und weinte, als ob mir ein lie¬ bes Kind gestorben wäre; und doch war ich glücklich und dankte Gott, daß er sich des armen Kindes er¬ barmt und sie aus dieser Hölle erlöst hatte. F. Spielhagen, Problematische Naturen. ll . 17 Als ich am andern Morgen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Es war ein heller, kühler Morgen und Harald ging mit seinen Gästen auf die Jagd. Ich war froh darüber; so konnte ihm doch Mariens Flucht bis zum Abend wenigstens ver¬ schwiegen werden. Den Leuten freilich mußte ich schon gegen Mittag sagen, daß Fräulein Marie nir¬ gends zu finden sei, und ob sie sie nicht gesehen hät¬ ten? Die waren nicht wenig erschrocken, denn da war Keiner, der das sanfte, schöne Mädchen nicht gern ge¬ habt hätte. Sie durchsuchten das Haus, die umlie¬ gende Gegend, den Wald bis zum Strande und selbst den Wallgraben, denn daß sich die Aermste das Leben genommen habe, darüber waren sie Alle einig. Spät am Abend kam Harald zurück. Er war allein. Als er in das Haus trat, sah er auf den ersten Blick an den verstörten Gesichtern der Leute, daß etwas vorgefallen sein müsse. Sein böses Gewissen sagte ihm sogleich, was. „Ist sie todt?“ fragte er und wurde weiß wie Kalk. „Wir wissen es nicht, Herr,“ sagte der alte Jochen; „wir haben den ganzen Tag gesucht, aber haben sie noch nicht ge¬ funden.“ Er ging, ohne ein Wort zu erwiedern, an den Leuten vorbei nach seinem Zimmer. Als er in der Thür war, drehte er sich um, und winkte mir, ihm zu folgen. Er schritt in dem Gemache auf und ab, endlich blieb er vor mir stehen und sagte mit dumpfer Stim¬ me: „Hat Dir Marie je gesagt, sie wolle sich das Leben nehmen?“ „Nein“, sagte ich. „War sie in der letzten Zeit besonders traurig?“ „Ja.“ Wieder ging er im Zimmer hin und her, mit un¬ gleichmäßigen Schritten und unverständliche Worte durch die Zähne murmelnd. Dann blieb er abermals vor mir stehen. „Und wenn sie sich das Leben genom¬ men hätte, so wäre ich ihr Mörder; murmelte er. „Wer sonst?“ antwortete ich. Er zuckte zusammen, als ob ihm ein Messer in die Brust gestoßen wäre. „Es kann nicht sein,“ sagte er mit bleichen Lippen, „es wäre zu gräßlich.“ Ich wußte, welche Qualen er in diesem Augenblicke ausstand, aber ich wußte auch, daß der stolze Mann sie doch noch lieber dem Tod, als einem Andern gönnte, und überdies hatte ich zu schweigen versprochen. So blieb ich still und wartete ab, was er beginnen würde. Er hieß mich klingeln und die Leute hereinrufen. Sie kamen. „Wer von Euch zu müde ist, mag zu Bette gehen:“ sagte er, „wer noch weiter mit mir suchen will, soll dafür haben, was er verlangt.“ 17* Es meldeten sich Alle, nicht des Lohnes wegen, sondern weil doch Keiner vor Angst und Aufregung hätte schlafen können. Er ließ so viel Lichter anzünden, als nur aufzu¬ treiben waren und nun fing das Suchen von Neuem an, unten in den Kellern, durch alle Zimmer, Trepp auf, Trepp ab, auf den Böden, bis hinauf auf den Thurm, — Harald immer voran, jeden Winkel durch¬ spähend, überall die Augen habend, mit fester Stimme Befehle ertheilend, unermüdlich, bis der Morgen kam. Nun mußten sich die Frauen zu Bett legen, aber von den Männern, nahm er, was sich noch auf den Beinen halten konnte. Mit denen durchsuchte er jedes Gebüsch im Garten, und den Wallgraben von der Zugbrücke an bis wieder zur Zugbrücke. Es regnete an dem Tage, was nur vom Himmel wollte, und die Leute fielen beinahe um vor Müdigkeit, aber Harald gab ihnen — wohl zum ersten Mal in seinem Leben — gute Worte und bat und beschwor sie, nicht nachzu¬ lassen und versprach ihnen Geld, soviel sie wollten. So hielten sie bis gegen Mittag aus; da konnten sie nicht mehr. Nun nahm Harald die Andern, die sich ausgeruht hatten und mit denen ging er auf das Moor nach Faschwitz und in den Wald nach Berkow und bis an den Strand. Gegen Abend kamen sie wieder, triefend von Regen und dem Moorwasser, in welchem sie stundenlang um¬ hergewatet hatten. Die Männer waren so müde, daß sie im Gehen schliefen, aber Harald's Kraft war noch nicht gebrochen. Er hieß mich ein paar Flaschen Wein holen, und während er sie hinuntergoß, sagte er zu mir: „Höre, Alte! ich glaube nicht, daß sie sich ertränkt hat. Es wäre zu gräßlich; ich müßte ver¬ rückt werden über dem Gedanken. So grausam hat sie sich nicht an mir rächen können; dazu war sie viel zu gut und hatte mich viel zu lieb. Hat sie nie ge¬ sagt, sie wolle mich verlassen? hat sie nie von einem Manne gesprochen, der alle Zeit bereit sei, sie bei sich aufzunehmen?“ Ich dachte, daß ich Harald einen Funken Hoff¬ nung lassen müsse, und sagte: ja, Marie, hätte öfter und besonders in der letzten Zeit so geredet. „Siehst Du?“ sagte er und stieß das Glas, aus dem er getrunken hatte, auf den Tisch, daß es zer¬ brach; „jetzt kommt die Meute endlich auf die Spur. Nun wollen wir eine richtige Hetzjagd machen.“ Er riß an der Klingel, daß ihm der Griff in der Hand blieb. „Anspannen lassen!“ schrie er dem alten Jochen, der eintrat, entgegen, „sofort!“ Ich bat ihn, ein paar Stunden wenigstens zu schlafen, denn ich sah, daß seine Augen wie im Fieber glühten und seine Glieder flogen. „Pah,“ sagte er, „schlafen? Ich habe mehr zu thun, als zu schlafen. Ich weiß nicht, wie lange ich fortbleibe, Alte; aber ich komme entweder mit ihr zurück oder — wird's bald?“ schrie er auf den Flur hinaus, „ich will Euch Beine machen, Ihr verdammten Hallunken!“ So fuhr er ab, ohne auch nur die Kleider ge¬ wechselt zu haben. Er blieb vier Wochen fort; Keiner wußte, wo er geblieben war. Eines Abends spät kam er wieder. Die erste Frage, die er an mich richtete, war: „Hast Du Nachricht von ihr?“ — Er sah so bleich und verfallen aus, daß ich ihn kaum wieder erkannte. Seine Augen waren tief in den Kopf gesunken und blitzten wie glühende Kohlen. „Ich habe sie nicht gefunden;“ sagte er, als wir Beide in seinem Zimmer allein waren; „gieb mir Wein, Alte; ich muß das höllische Feuer, das in mir brennt, ersäufen.“ Mich jammerte des unglücklichen Mannes, denn jetzt erst fühlte ich, wie sehr ich ihn liebte. Ich sagte ihm Alles, was ich von der Flucht Mariens wußte. Gegen mein Erwarten blieb er ruhig: „Es kommt auf eins heraus, sagte er; ob sie gestorben ist oder nicht; für mich ist sie doch todt; sie konnte nicht an¬ ders, als mich verlassen; sie war zu stolz, um sich wie ein Hund behandeln zu lassen. Ich habe sie be¬ handelt wie einen Hund, schlimmer wie einen Hund, ich Elender!“ Er schlug sich mit der geballten Faust vor die Stirn; dann warf er sich in einen Lehnsessel, legte den Kopf in die Hände und schluchzte: „Und doch habe ich sie geliebt! und doch liebe ich sie! o mein Gott, mein Gott!“ Es war schrecklich, den wilden Harald weinen zu sehen. Ich hob seinen Kopf in die Höhe, er legte ihn an meine Brust und weinte, wie er oft als Knabe in meinen Armen geweint hatte. Ich bat ihn, sich zu beruhigen, ich sagte ihm, daß Mariens letzte Worte gewesen seien: „ich vergebe ihm Alles.“ „Und wenn sie mir auch vergeben hat, ich werde es mir nie vergeben,“ rief er. „Geh zu Bett, Alte. Wir wollen morgen weiter darüber sprechen.“ Aber als der alte Jochen am nächsten Morgen zu ihm kam, lag Harald in hitzigem Fieber. Das währte sieben Tage, sieben fürchterliche Tage und Nächte. Da war es aus mit Harald von Grenwitz. Die alte Frau schwieg; strich den Strumpf, an dem sie gestrickt hatte, über den Knieen glatt, legte ihn zusammen und sagte: „So, Junker! nun mache, daß Du nach Hause kommst. Ich muß nach den Kindern sehen, die drüben auf dem Jochen seinem Bette schlafen. Es hat eben aufgehört zu regnen, aber es wird bald stärker an¬ fangen. Deshalb halte Dich nicht auf unterwegs. Adjies.“ „Kommen Sie;“ sagte Oswald zu Albert, der sich so eben, gähnend und sich reckend, von seinem harten Lager erhoben hatte. „Es ist die höchste Zeit, wenn wir noch zum Abendessen auf dem Schlosse sein wollen. Adieu, Mutter Clausen.“ Adjies, adjies Junker!“ sagte die Alte, schon in der Thür. Als die beiden jungen Männer auf der schmutzigen Dorfgasse standen, deutete Albert mit dem Daumen über die Schulter nach dem Häuschen, das sie so eben verlassen und sagte: „Schnurrige alte Dame das! War die Geschichte nicht famos, Dottore?“ „Haben Sie denn nicht geschlafen?“ „Nicht die Spur. Ich wollte anfänglich, aber ihr ließt einen ja nicht dazu kommen, und hernach, als die Geschichte von Baron Harald anfing, war so an Schlafen nicht mehr zu denken. Aber ich blieb ruhig liegen, und schnarchte von Zeit zu Zeit, um die Alte sicher zu machen, die die Geschichte jedenfalls nur ihrem „Junker“ erzählen wollte. Weshalb nennt die alte Dame Sie, Junker, Dottore, und Du?“ „Ich weiß nicht; sagte Oswald.“ „Oder wollen es nicht wissen; erwiederte Albert; na, schadet nicht. Man darf auch nicht Alles wissen wollen. Warum wollte Baron Harald wissen, wo das hübsche Ding, die Marie, geblieben war? Ohne diese überflüssige Neugierde könnte er noch heute seinen Burgunder trinken. Merkwürdig, daß so ein vernünf¬ tiger Mann solche verrückte romantische Grillen im Kopf haben konnte! Können Sie das begreifen, Dottore?“ „So ziemlich,“ sagte Oswald; „aber sprechen wir von etwas Anderm.“ „Wie Sie wollen, Theuerster. Was halten Sie zum Beispiel von der Unsterblichkeit?” Ende des zweiten Bandes . Druck von F. Hoffschläger in Berlin.