Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Erster Band . Mit Königl. Preuß. Churfürstl. Brandenb. und Churfürstl. Säch- sischen allergnädigsten Freiheiten. Berlin und Stettin , bey Friedrich Nicolai . 1773 . Vorrede . O bgleich die leidigen Poeten, Komoͤ- dien- und Romanenschreiber zu glau- ben pflegen, sie haͤtten das Leben ihres Hel- den weit genug beschrieben, wenn sie ihn bis zur Heurath bringen: so sind doch gruͤndliche Gelehrten der Meinung, daß die Begeben- heiten nach der Heurath oft viel merkwuͤrdiger sind, als die Liebesbegebenheiten vor derselben. Die Liebesbegebenheiten sind zwar fuͤr junge Herren und fuͤr junge Jungfern anmuthiger zu lesen; aber gemeiniglich wird diese Anmuth auf Kosten der Wahrheit verschafft: denn die verliebten Scenen werden nicht so wie sie in der Welt vorgehen erzaͤhlet; sondern so wie es das Beduͤrfniß des Dichters, seine Geistes- gaben zu zeigen, oder die Leidenschaften seiner )( 2 Leser Leser zu vergnuͤgen, mit sich bringt. Jn die- ser wahrhaftigen Lebensbeschreibung hinge- gen, wollen wir nichts der Anmuth oder des Wunderbaren wegen erdichten, sondern al- les ganz einfaͤltig erzaͤhlen, wie es vorgegan- gen ist. Es wird uns dazu nicht wenig be- foͤrderlich seyn, daß wir das Leben unsers Dorfpastors erst nach seiner Heurath zu be- schreiben anfangen duͤrfen, indem schon ein anderer Verfasser die Liebesbegebenheiten des- selben vor der Heurath, in dem bekannten prosaisch- komischen Gedichte Wilhel- mine, beschrieben hat. Freilich ist dieser Verfasser ein Poet, und ist daher nicht, wie es einem gruͤndlichen Ge- schichtskundigen gebuͤhret, beflissen gewesen, eine richtige Chronologie zu beobachten und seine Erzaͤhlungen von allen Erdichtungen rein zu erhalten. Es sind daher manche Um- staͤnde sehr verdaͤchtig, und er scheint nicht im Stande zu seyn, eine einzige von seinen Erzaͤh- Erzaͤhlungen, mit ungedruckten Urkun- den zu belegen. Daß er der Chronologie nicht genugsam erfahren gewesen, ist offenbar, da er die Heurath des Sebaldus im Jahre 1762, und also, wie aus aͤchten brieflichen Urkunden zu erweisen, an zwanzig Jahre zu spaͤt annimmt. Er ist hierinn eben so un- achtsam, wie sein Mitbruder, der nachlaͤssige Virgil, in dessen Aeneide die verpfuschte Chro- nologie, von den gelehrtesten Commenta- toren, mit vieler Muͤhe kaum hat in Ord- nung gebracht werden koͤnnen. Jn dieser wahrhaften Lebensbeschreibung hingegen, hat man die Zeitrechnung so genau be- obachtet, daß man nicht allein das Jahr, sondern auch den Monath und den Tag angeben kann, wenn eine jede Begebenheit vorgegangen ist, und an vollstaͤndigen diplomatischen Bewei- sen wird diese Geschichte keiner andern nach- zusetzen seyn. Wir haben die Vocation des Sebaldus und seine Absetzungsacte, die )( 3 Pre- Predigten des Doctor Stauzius, Saͤug- lings saͤmmtliche hieher gehoͤrige Gedichte, Wilhelminens, und Sebaldus, Saͤug- lings, Marianens, der Graͤfin von ***, Rambolds und anderer Personen Brief- wechsel, mit ihren Siegeln und Unterschriften, ja selbst einige sonderbare tironische Zeichen des Bauers, der den Sebaldus beherbergte, in Haͤnden, mit welchen unverwerflichen un- gedruckten Urkunden wir jedes Wort das wir gesagt, aufs glaubwuͤrdigste belegen koͤnnen. Sie wuͤrden im Drucke nur etwan sieben bis acht Quartbaͤnde betragen. Demohngeachtet koͤnnen sie bloß aus der Ursach nicht mit der Ge- schichte zugleich bekannt gemacht werden, we- gen deren schon so manche trefliche Urkunden- sammlung ungedruckt geblieben ist; naͤmlich wegen des wenigen Geschmacks unsers Jahr- hunderts an gruͤndlichen Studien. Es ist dies sehr zu beklagen, aber es ist schwerlich ein Mittel vorhanden, die Bekanntmachung die- ser ser nuͤtzlichen Urkunden zu befoͤrdern. Wir ha- ben zwar noch einige ob gleich nur schwache Hof- nung, auf den Herrn Generalsuperintendenten Pratje in Stade und auf den Hrn. Professor Cassel in Bremen gesetzt. Diese grundgelehrten Maͤnner haben schon so viele tuͤchtige Baͤnde voll Urkunden zu der Brem- und Verdischen Staats-Schul- und Kirchengeschichte ans Ta- geslicht gebracht, daß sich manche Leser einbil- den, man habe fuͤr so wenig interessante Wahr- heit, schon viel zu viel uninteressante Beweise erhalten. Wir sind aber dieser Meinung gar nicht, sondern leben vielmehr noch der Hof- nung, daß diese Herren, die beweisenden Urkunden zu unserer Geschichte, als ein Supplement von Urkunden zur Bremi- schen Kirchengeschichte, durch ihre heb- ammliche Sorgfalt, ans Licht bringen koͤnten; weil, wie aus der Folge erhellen wird, Se- baldus, in der Nachbarschaft von Bremen eine Zeitlang herumgewankt hat. )( 4 Sollte Sollte auch diese Hofnung fehl schlagen, so waͤre der Vorschlag zu thun, daß einmahl irgend eine Gesellschaft der Wissenschafften, einen kritischen Auszug daraus, in einigen Baͤnden in Großoctav herausgebe, oder wenn auch hiezu alle Hofnung verlohren waͤre, so ist kein anderer Rath, als daß die wenigen gruͤndlichen Gelehrten, welche die diplomati- schen Beweise zu untersuchen pflegen, dem Verfasser eben so gut auf sein Wort glauben muͤssen, als die vielen leichtsinnigen Leser, die die Urkunden doch nicht ansehen, wenn sie gleich den Geschichtbuͤchern des breitern bey- gefuͤgt sind. Da wir uͤbrigens eine wahre Geschichte zu erzaͤhlen haben, so muß man in derselben weder den hohen Flug der Einbildungskraft suchen, den ein Gedicht haben muͤßte, noch den kuͤnstlich verwickelten Plan, den die Kunst- richter, von Theorie und Einsicht erfuͤllt, den Romanen vorschreiben. Alle Bege- benhei- benheiten sind in unserer Erzaͤhlung so unvor- bereitet, so unwunderbar, als sie in der wei- ten Welt zu geschehen pflegen. Die Perso- nen welche auftreten sind weder an Stande erhaben, noch durch Gesinnungen ausgezeich- net, noch durch ausserordentliche Gluͤcksfaͤlle von gewoͤhnlichen Menschen unterschieden. Sie sind ganz gemeine schlechte und gerechte Leute, sie strotzen nicht so wie die Romanen- helden von hoher Jmagination, schoͤner Tu- gend und feiner Lebensart, und die ihnen zu- stoßenden Begegnisse sind so, wie sie in dem ordentlichen Laufe der Welt taͤglich vorgehen. Solte bey allem diesem unsere Erzaͤhlung etwas langweilig werden, so troͤsten wir uns damit, daß mehrere gruͤndliche deutsche Ge- schichtschreiber, die die unwidersprechlichsten Thatsachen in der besten Ordnung erzaͤhlen, das naͤmliche Schicksal gehabt haben. Hingegen koͤnte der Leser vielleicht, durch die in dieser Geschichte bekannt gemachten Mei- )( 5 nungen, nungen, in etwas schadlos gehalten werden. Denn da fast jeder Mensch seine eigenen Mei- nungen fuͤr sich hat: so waͤre es moͤglich, daß unter den hier vorgetragenen Meinungen et- was neues und wenigstens in so fern interes- santes vorhanden waͤre. Der Titel verspricht zwar nur die Meinungen des Magisters Se- baldus, aber man koͤnnte deshalb doch in diesem Werke vielleicht auch die Meinungen einiger andern Leute, ja wohl selbst einige Meinungen des Verfassers finden; obgleich, mehrerer Sicherheit halben, nicht gaͤnzlich darauf zu rechnen seyn duͤrfte, daß alle Mei- nungen die er erzaͤhlt, auch die seinigen waͤren. Man beliebe nicht sich zu wundern, wenn es sich etwan ergeben sollte, daß, alles wohl berechnet, in diesem Werke mehr Meinun- gen, als Geschichte und Handlungen vorkaͤ- men. Der ehrliche Sebaldus kannte die grosse Welt nicht, die die Englaͤnder high- life nennen. Speculation war die Welt in der er er lebte, und jede Meinung war ihm so wich- tig, als kaum manchem andern eine Hand- lung. Daher ist dieses Werk auch gar nicht fuͤr die große Welt, sondern — deutsch her- aus zu reden — nur fuͤr Gelehrten von Pro- fession gefchrieben. Wir hoffen nicht von der halbunangekleideten Schoͤne am Nachttische gelesen zu werden, die indem sie den Grazien opfert, auf Tant mieux pour elle einen schraͤ- gen Blick wirft; nicht von dem piruettiren- den Petitmaiter, beym Aufstehen oder Frisiren, auch nicht wenn er en Chenille mit ungepu- derten Haaren und hochaufgebundenem Ca- dogan von Toilette zu Toilette schwaͤrmt; nicht von dem Hofmanne, der den Wink des Fuͤrsten und des Ministers zu studieren ver- steht und alle Galatage an den Fingern her- beten kann; nicht von dem Spieler; nicht von der Buhlschwester; nicht von — Jst aber irgendwo ein hagerer Magister, der das ganze unermessliche Gebaͤude der Wis- senschaf- senschaften aus einem Kapitel seines ontologi- schen Compendiums uͤbersieht; ein feister Su- perintendent, der alle Falten der Dogmatik aufhebt, worinn eine Ketzerey verborgen seyn koͤnnte; ein weiser Schulmann, der uͤber Handel Manufacturen und Lurus, Pro- grammen geschrieben hat; ein Student mit der Kennermine, der auf Universitaͤten die Kunst aus dem Grunde studiert; ein belesener Dorfpastor, der die Statistik verbessern will, und uͤber die politische Regierungskunst ge- lehrte Rathschlaͤge geben kann; — so moͤgen sie hinzutreten und sich an dem Mahle weiden, welches hier ihrem Geiste aufgetischt wird. Dies ist wenigstens die Gattung Leser die wir uns gewiß versprechen, ob wir aber auch Leser anderer Art erhalten werden, ist eben so ungewiß, als das Schicksal uͤberhaupt, welches dieses Werk und dessen Verfasser zu erwarten haben. Freilich ist zu vermuthen, daß durch viele Erzaͤhlungen, Spaltungen in der der Kirche erregt werden moͤchten, und daß man in verschiedenen Meinungen, Abwei- chungen von den allgemeinen symbolischen Buͤchern, und von den besondern formulis committendi einzelner Kirchen entdecken koͤnnte. Man wird vielleicht daraus schlies- sen, daß der Verfasser das Staatsrecht nicht verstehe, und daß er im Kirchenrechte gefaͤhr- liche Neuerungen einzufuͤhren zur Absicht habe. Man wird sich vielleicht ins Ohr rau- nen, daß er verschiedene Gelehrsamkeit nicht fuͤr Gelehrsamkeit, verschiedene Gelehrten nicht fuͤr gelehrt, und verschledene beruͤhmte Leute nicht fuͤr beruͤhmt halte u. s. w. Man koͤnnte ihn sonach etwa zum Schei- terhaufen verdammen, in den Bann thun, in eine Vestung schicken, oder auch ein Buch wider ihn schreiben, ein Pasquill wider ihn machen, oder ihm in einer Recension bewei- sen, daß er kein gutes Herz habe, sondern ein haͤmischer und boshafter Mensch sey. Doch Doch vielleicht koͤnnte auch von allem die- sem nichts geschehen. Vielleicht lieset nie- mand dieses Buch, niemand findet etwas be- sonders darin, und es erregt vielleicht bloß die voruͤbergehende Aufmerksamkeit eines Ge- wuͤrzkraͤmers, der schon bey sich uͤberdenkt, welche dauerhafte Caffeduͤten aus dem halt- baren Papiere koͤnnten gemacht werden. Es duͤrften sich auch wohl einige wenige Leser finden, die sich an dem Leben des Se- baldus, bloß weil er ein ehrlicher aufrichti- ger Mann ist, eine Viertelstunde ergoͤtzen, oder von seinen Meinungen Gelegenheit nehmen moͤchten, uͤber gewisse Materien wei- ter nachzudenken; da dies aber offenbar bey weitem die kleinere Anzahl seyn kann, so werden sie eben nicht in Anschlag kommen. Erstes Erstes Buch. Erster Abschnitt. D er Pastor Sebaldus und die schoͤne Wilhel- mine, brachten die ersten Monate nach ih- rer Verheirathung, welche sonst andern neuverehlich- ten Paaren die Zeit einer girrenden Zaͤrtlichkeit zu seyn pflegen, vielmehr in einer Art von Kaͤlte und Verlegenheit zu. Sebaldus bemerkte einen Abstand zwischen seiner landmaͤnnischen Treuherzigkeit, und den feinen Hofmanieren seiner vornehmen jungen Frau. Er konnte sich noch nicht recht darinn schicken, mit ihr als mit seines gleichen umzugehen. Wilhel- mine, auf ihrer Seite, konnte den wohlgeputzten Hof, den sie verlassen hatte, nicht so geschwind ver- gessen. Das Andenken der Pracht der von der Fuͤr- stinn abgelegten Kleider, in der sie sich oft der gaffen- den Menge der Zofen und Kammerdiener gezeigt hatte, verleidete ihr ihren laͤndlichen aber neugemach- Erster Theil. A ten ten Anzug. Es war ihr sogar verdruͤßlich, daß sie ferner nicht Aufwartung machen, und sich vor hoͤhe- ren Personen tief verneigen sollte. Das Gluͤck un- abhaͤngig zu seyn, schien ihr Erniedrigung. Die un- gekuͤnstelte Schoͤnheit der Natur, die sie auf dem Lan- de vor sich hatte, konnte sie noch nicht wegen des Flit- terstaats der Kunst, den sie nun nicht mehr erblickte, schadlos halten. Sie erinnerte sich mit Sehnsucht der glaͤnzenden Scenen von Baͤllen, Concerten und Schlittenfahrten, die sie ost — angesehen hatte, noch mehr des gnaͤdigen Kopfneigens der Fuͤrstinn, durch das sie zuweilen unter der Menge gaffenden Hofgesindes war hervorgezogen worden. Sie that bey jeder Gelegenheit kleine Reisen in die Stadt, und unterließ nicht, ihre Aufwartung bey Hofe zu machen. Sie merkte aber gar bald, daß man sich am Hofe um die nicht bekuͤmmert, die man nicht braucht, und daß ihre Stelle von andern eingenommen war. Dies kostete ihr zwar manche Thraͤne, war aber doch die erste Ursach, daß ihr ihr itziger Zustand ertraͤglicher vorkam, und daß sie anfieng, die guten Gesinnungen ihres Sebaldus einzusehen, welche zu bemerken, sie bisher durch sein unmodisches Kleid und durch seine ungepuderte Pernke war verhindert worden. Sie er- wiederte seine Liebkosungen mit freundlichen Blicken, er kam kam ihr mit Freundschaftsbezeugungen zuvor. Aus diesem Wechsel von Gefaͤlligkeiten, entstanden bey beiden Empfindungen einer Gluͤckseligkeit, die sie vor- her noch gar nicht gefuͤhlt hatten. Von dieser Zeit an, vergaß die schoͤne Wilhelmine voͤllig den Hof, und ward ganz eine Landwirthin. Vorher hatte sie nur zu gehorchen gewust, nun be- gann sie zu regieren. Es kostete ihr einige kleine Lieb- kosungen, so fieng Sebaldus, der bisher als ein hal- ber Wilder gelebt hatte, an, sich fleissiger den Bart zu putzen, und nicht so viel Federn auf seinem schwarzen Rocke zu leiden. Durch gleiche Freundlichkeit, er- streckte sie bald ihre Herrschaft auf ihre Nachbarin- nen, die sie bisher durch ein gnaͤdiges Hoflaͤcheln weg- gescheuchet hatte. Nun erwarb sie bald derselben Vertraulichkeit, ertheilte den Wohlhabenden guten Rath, den Armen Allmosen, und ward in kurzer Zeit im Kirchspiele eben so beliebt, als ihr Mann schon vorher gewesen war. Diese Liebe hatte sich Sebaldus durch die Sorg- falt, die er fuͤr seine Gemeine trug, erworben. Er war in den Haͤusern seiner Bauern als ein Vater und als ein Rathgeber willkommen. Nie ließ er es dem Bekuͤmmerten an Trost, nie dem Hungrigen an Lab- sal fehlen. Er war von allen haͤuslichen Vorfaͤllen A 2 unter- unterrichtet, nicht, weil er in das Hausregiment der Layen einen Einfluß zu haben suchte, sondern weil er von ihnen bey allen ihren Verlegenheiten um Rath, bey allen ihren Zwistigkeiten um Vermittelung ersucht ward. Er war gewohnt, in seinen Predigten nicht auf die Laster zu schelten, aber wenn ein Laster in der Gemeine veruͤbt wurde, pflegte er, ohne desselben zu gedenken, die entgegengesetzte Tugend einzuschaͤrfen. Daher richtete er seine Predigten auch mehr nach den Beduͤrfnissen seiner Gemeinde als nach der Folge der Evangelien ein. Er hat wohl eher uͤber das Evan- gelium vom Zinsgroschen: von den Vortheilen eines maͤssigen und nuͤchternen Lebens gepredigt, bloß weil sich kurz vorher ein paar Bauren in der Schenke betrunken hatten. Als er einst vergeblich versucht hatte, zween Bauern, die in offenbarer Feind- seligkeit lebten, zu vergleichen, und von dem einen hart mit Worten war angelassen worden, predigte er am Tage St. Stephani des Maͤrtyrers: von der ersten Pflicht wahrer Christen, ihren Naͤch- sten zu lieben, und gedachte der empfangenen Schelt- worte nicht, ob ihm gleich die Worte des Evangelium: Jerusalem, die du toͤdtest die Propheten und steinigest, die zu dir gesandt sind, die schoͤnste Ge- legenheit dazu gegeben haͤtten. Zu Zu beklagen war es freilich, daß dieser sonst gut- herzige Mann, und der beym Antritte seines Amtes auf die symbolischen Buͤcher gefchworen hatte, in sei- nem Herzen nichts weniger als orthodor war. Ueber das athanasische Glaubensbekenntniß hat er zwar sich niemals erklaͤrt, nur weil er anstatt des Liedes: Wir glaͤuben all an einen Gott ꝛc. welches sonst alle Sonntage in seiner Kirche war gesungen worden, oft ein geistliches Lied von Gellerten singen ließ, war er bey einigen vielleicht allzubruͤnstigorthodoren Land- predigern in der Naͤhe, nicht in allzugutem Geruche. Ueber die Lehre von der Genugthuung aber aͤußerte er bey Gelegenheit viele Zweifel. Er verschwendete (ohne Eregese, von der er wenig hielt) viel philosophi- sche Spitzfuͤndigkeit, um dieser Lehre eine bessere Form zu geben; denn er war ein eifriger Anhaͤnger der Crusiusschen Philosophie, welche unter allen andern Philosophien am geschicktesten scheinet, die Theologie philosophischer, und die Philosophie theologischer zu machen. Am meisten aber ging er in der Lehre vom tausendjaͤhrigen Reiche und von der Ewigkeit der Hoͤllenstrafen von der Dogmatik ab. Er glaubte das erstere steif und fest, und von der letztern hatte er sich nie uͤberzeugen koͤnnen. Er glaubte, daß in dem himmlischen Jerusalem alle Gottlosen fromm werden A 3 wuͤrden. wuͤrden. Diese troͤstliche Hofnung hatte er aus ei- nem fleissigen Studium der prophetischen Buͤcher der Schrift, besonders der Apocalypse geschoͤpft, welches Studium er schon seit langen Jahren mit unablaͤssi- gem Eifer getrieben hatte. Er war auf eine sehr sonderbare Weise darauf gekommen, diese Buͤcher vorzuͤglich zu studieren. Er hatte sich schon in seinen juͤngern Jahren, durch sorgfaͤltiges Nachdenken uͤber- zeugt, daß der Willen Gottes, der unsre itzige und zukuͤnftige Gluͤckseligkeit bestimmt, wenn auch Gott fuͤr gut befunden habe ihn besonders zu offenbaren, dennoch auch nothwendig durch Vernunft muͤsse ein- gesehen werden koͤnnen, und mit der Vernunft uͤber- einstimmen muͤsse. Die einzige Offenbarung, die uns etwas ganz unbekanntes entdecken koͤnnte, wor- auf die blosse Vernunft nie gefallen seyn wuͤrde, glaubte er, sey die prophetische Offenbarung von zu- kuͤnftigen Dingen, Nachdem er also bey sich uͤber den Werth aller dogmatischen und moralischen Wahr- heiten einig war, indem er keine dogmatische Wahr- heiten fuͤr noͤthig und nuͤtzlich hielt, als die auf das Verhalten der Menschen einen Einfluß haben, und sich mehr angelegen seyn ließ, alle moralische Gesetze Gottes auszuuͤben, als sie zu zergliedern oder zu umschreiben; so hatte er sich ganz dem Studium der prophe- prophetischen Schriften gewidmet. Jeder Mensch hat sein Steckenpferd, und Sebaldus hatte die Apo- calypse dazu erwaͤhlet, welches er auch, seine ganze Lebenszeit durch, vom Montage bis zum Freytage fleißig ritt. Nur der Sonnabend, wenn er sich zu seiner Predigt vorbereitete, und der Sonntag, wenn er sie hielt, war moralischen Betrachtungen gewidmet. Denn so sehr er auch die Prophezeyungen der Unter- suchung eines scharfsinnigen Kopfes wuͤrdig hielt, so wenig glaubte er, wuͤrden seine Bauern davon ver- stehen oder nuͤtzen koͤnnen, und es war sein unwider- ruflicher Willen, seinen Bauren nichts zu predigen, als was ihnen sowohl verstaͤndlich, als nuͤtzlich waͤre. Er hatte mit vielen seiner wohlehrwuͤrdigen Amts- bruͤder, denen er sonst in so vielen Stuͤcken unaͤhn- lich war, dennoch eine besondere Aehnlichkeit. Man solte kaum glauben, daß viele Landprediger, die den Sontag mit lauter Stimme das Gesetz predigen, und die Unglaͤubigen und Ketzer, mit starken Ausrufun- gen und Citationen aus dem Grundterte, so sein zusammenzutreiben wissen, eben die Maͤnner waͤren, die man die ganze Woche uͤber, als dickstaͤmmige Paͤchter, wilde Pferdebaͤndiger, drolligte Trinkge- sellschafter, und vorsichtige Wucherer gesehen hat. A 4 Eben Eben also, wenn man, des Sontags den einfaͤlti- gen, allen Bauern verstaͤndlichen Vortrag des Pastor Sebaldus hoͤrte, so haͤtte man sich kaum vorstellen sollen, daß dis der grundgelehrte Mann sey, der alle Commentarien uͤber die prophetischen Buͤcher durch- studirt hatte, der alle alte und neue Prophezeyungen nebst ihren Erfuͤllungen und Nichterfuͤllungen auf ein Haar wuste, der Vorbilder und Gegenbilder, wie Schachtel und Deckel zusammenpassen konnte, dem keine Meinung der Mystiker und Gnostiker entgan- gen war, der Buchstabenziffern und Jahrwochen, prophetische Zeitzirkel und abgekuͤrzte Abendmorgen, bildliche Geschichte und weissagende Traͤume, nebst der ganzen Kabbala und dem Buche Raja Mehemna gaͤnzlich inne hatte, und aus diesem reichen Stoffe mit Huͤlfe der Crusiusschen Philosophie, die feiner als die feinste Nadel zugespitzt, die einfachsten Be- griffe zertheilen, und sogar die beiden Seiten einer Monade von einander spalten kan, eines der scharf- sinnigsten Gewebe von Prophezeyungen aus der Apo- kalypse gezogen hatte, dem, Crusius unumstoͤßliche Hypomnemata der prophetischen Theologie, Ben- gels unwidersprechliche Aufloͤsung der apocalyptischen Weissagungen, Don Jsaak Abarbanels Maje- neh Jeschuah und Michaelis unwiderlegliche Erklaͤ- Erklaͤrung der siebenzig Wochen, zwar vielleicht an Richtigkeit und Wahrheit, aber gewiß nicht an Neu- heit, Scharfsinn und sinnreicher Aufklaͤrung der dun- kelsten Bilder zu vergleichen sind. So wie die meisten großen Begebenheiten, aus sehr geringfuͤgigen Ursachen zu entspringen pflegen, so ging es auch derjenigen Hypothese uͤber die Apokalypse, auf die sich Sebaldus am meisten zu gute that. Wil- helmine war, als sie vom Hofe kam, sehr franzoͤ- sisch gesinnet, sie sprach und laß gern franzoͤsisch, sie ließ sich sogar merken, daß sie nichts eifriger wuͤnschte, als einmahl in ihrem Leben Paris zu sehen, und warf es ihrem Mann mehr als einmahl vor, daß er gar nichts von franzoͤsischer Artigkeit an sich haͤtte. Nun fuͤgte es sich ungluͤcklicher Weise, daß der ehrliche Se- baldus schon vorher an allem, was franzoͤsisch war, einen uͤberaus großen Misfallen hegte. Es war ihm von Jugend auf in der Schule ein herzlicher deutscher Haß gegen die Krone Frankreich eingepraͤgt worden, man hatte ihm oft wiederhohlt, daß sie nebst dem lei- digen Tuͤrken der Erb- und Erzfeind von Deutschland sey, daß sie den Kaiser und Reich so oft bekrieget, und ganze Provinzen von dem deutschen Reiche |abge- zwackt habe. Da nun Frankreich ausser dem vielen und oͤftern Unheil, das es auf deutschem Boden A 5 ange- angerichtet hatte, sich auch gar in des Sebaldus Hausangelegenheiten mengte, (denn er ließ sichs nicht ausreden, daß bloß die Liebe zur Franzoͤsischen Sprache Ursach sey, daß ihn Wilhelmine nicht so herzlich liebte, als ers wuͤnschte), so verdoppelte sich sein Haß gegen alles was franzoͤsisch war. Weil er nun sonst kein Mittel sahe, seinen Unwillen auszulaßen, so wandte er sich mit Ernst zu seiner allgemeinen Zuflucht, der Apoca- lypse, und forschte nach, ob denn in diesem Maga- zine von Weissagungen, nicht eine Weissagung wider die Franzosen enthalten seyn sollte. Es hat einer von den zweyhundert schwaͤbischen Theologen, die die Offenbarung Johannes erklaͤ- ret haben, es als einen sichtbaren Beweis der wirklichen goͤttlichen Jnspiration dieses Buchs an- gegeben, daß man alles darin finde, was man mit aufrichtigem Herzen darin suche. Dis erfuhr auch Sebaldus. Denn da er die Apocalypse mit einem Seitenblicke auf Frankreich las, so glaubte er gewisse bisher geheime Bilder in der unstreitigsten Klarheit zu sehen, und er uͤberzeugte sich gaͤnzlich, daß ein gro- ßer Theil der Offenbarung Johannes, nichts als ein Compendium der franzoͤsischen Geschichte waͤre, das vor dem Hainault und Mezeray nur den einzigen Vortheil habe, daß es etwas uͤber tausend Jahre eher geschrie- geschrieben worden, als die Begebenheiten sich zuge- tragen haͤtten. Er war fest versichert, daß die große Babylon im XVII ten Capitel, weder die Stadt Rom noch die Freymaͤurerey, sondern die Stadt Paris an- deute. Die Bedeutung der beiden Thiere im XIII ten und XVII ten Kapitel, konte er aus dem P. Daniel erlaͤutern, den er deshalb ausdruͤcklich, nach der nuͤrn- bergischen Uebersetzung, durchgelesen hatte. Die Ent- deckung aber, worauf er sich am meisten einbildete, war, daß die Zahl des ersten Thieres 666 oder , die Jesuiten bedeute, deren Verjagung aus Frank- reich, er wirklich einige Jahre eher wuste, als der Herzog von Choiseul daran gedacht hatte. Nebenher war er auch versichert, daß das Buͤchlein im X ten Capitel, daß im Munde suͤß war wie Honig, und hernach im Bauche grimmete, offenbar auf die viele schluͤpfrige sittenverderbende franzoͤsische Duodezbaͤnde gedeutet werden muͤsse, die wir Deutschen mit so vie- ler Begierde lesen. Alle diese und mehrere neue Ent- deckungen uͤber die Apocalypse, samlete er in einem großen Werke, an dem er unablaͤßig arbeitete. Freilich hatten, diese gelehrte Bemuͤhungen, nicht ganz den Beifall der schoͤnen Wilhelmine. Sie warf sich zwar, nachdem sie den Hof gaͤnzlich verlas- sen, in die Litteratur, so wie sich die vom Hofe ver- wiesene wiesene franzoͤsische Damen in die Devotion werfen; aber diese Litteratur war von der, die Sebaldus trieb, himmelweit unterschieden. Wilhelmine war eine suͤsse Verehrerin der schoͤnen Wissenschaften, wovon Sebaldus ganz und gar nichts verstand. Sie hatte alle gute deutsche und franzoͤsische Dichter fleißig ge- lesen, und fuͤhrte in der Conversation nicht selten Stellen daraus an. Jm Urtheile uͤber den Werth der Romanen, war sie das Orakel der ganzen Gegend. Sie war aber auch in der ganzen Gegend die einzige, die alle unsre besten neuern Dichter, ganz frisch von der Presse, und die Bremischen Beitraͤge, die Sammlung vermischter Schriften, und die Briefe die neueste Litteratur betreffend, stuͤck- weise kommen ließ. Von ihr erhielten sie die wenigen gnaͤdigen Fraͤulein, die Landvrediger und die Conrecto- ren in den benachbarten kleinen Staͤdten, die noch in der dortigen Gegend unsere schoͤnen Geister des Lesens wuͤrdigten. Jn der Philosophie waren Sebaldus und seine Wilhelmine noch weit mehr von einander unterschie- den. So sehr er ein eifriger Crusianer war, eben so sehr war sie aus allen Kraͤften der Wolfischen Philo- sophie ergeben. Sie hatte Wolfs saͤmtliche deutsche Schriften gelesen, besonders aber wuste sie desselben kleine kleine Logik auswendig. Wenn eine von ihren Freundinnen sich den Geschmack bilden wollte, so pries sie derselben das zehnte Kapitel wie man von Schrif- ten urtheilen soll, nebst dem eilften an, wie man Buͤcher recht mit Nutzen lesen soll. Der Cru- siusschen Philosophie war sie von Herzen gramm, welches auch kein Wunder war, weil sie sich niemals hatte uͤberwinden koͤnnen, eine einzige von den Schrif- ten des Hochwuͤrdigen Mannes zu lesen. Sebaldus gab sich oft alle moͤgliche Muͤhe, sie dahin zu bringen, daß sie nur wenigstens Wuͤstemanns Compendium der Crusiusschen Philosophie durchlesen solte, welches er fuͤr eine nahrhafte Milch fuͤr unmuͤndige Philosophen hielt. Umsonst! Sie legte es, nachdem sie sechs Seiten durchgelesen hatte, mit Verachtung aus der Hand, und war und blieb eine Wolfianerin. Es ist leicht zu begreifen, wie die Philosophie der schoͤnen Wilhelmine zuweilen eine kleine Unordnung im Hauswesen habe verursachen koͤnnen, und wie moͤglich es gewesen, daß ein neuangekommenes Stuͤck der Litteraturbriefe der zureichende Grund seyn koͤn- nen, daß der Reißbrey anbrennen muste. Solche kleine haͤusliche Widerwaͤrtigkeiten stoͤrten aber keines- weges die beiderseitige Zufriedenheit. Da Sebaldus gemei- gemeiniglich zu eben der Zeit uͤber ein Gesicht aus der Apocalypse geschwitzt hatte, so schmeckte er entweder den Fehler der Speise nicht, oder nahm ihn ganz gut- herzig auf sich, weil er glaubte, er habe auf sich allzu- lange warten laßen. So gebiert das Bewustseyn eigener Schwachheiten Toleranz, und Toleranz ge- biert Liebe. Jm Anfange freilich verursachten, die sich gerade entgegen gesetzten gelehrten Meinungen beider Ehe- leute, unter ihnen manchen heftigen Zwist, so bald aber nur die beiderseitige Zuneigung staͤrker geworden war, so konten die verschiedenen Meinungen nicht mehr den Wachsthum ihrer Liebe hindern. Auf die Phi- losophie, uͤber die sie sich so oft ohne Erfolg gestritten hatten, liessen sie sich ferner gar nicht ein. Hingegen ließ sich Sebaldus zuweilen gefallen, von Wilhel- minen ein Stuͤck aus einem neuen deutschen Schrift- steller vorlesen zu hoͤren, (denn wider die franzoͤsischen Schriften hatte er sich allzudeutlich erklaͤret, als daß sie sich derselben zu erwaͤhnen getrauet haͤtte,) Wilhelmine war auch zuweilen so gefaͤllig, von ihrem Manne ein Stuͤck seiner neuen Erklaͤrung der Apoca- lypse mit Parallelstellen aus P. Daniels Geschichte bestaͤrkt, sich vorlesen zu lassen. Sie rief wohl zuwei- len aus: „sinnreich! wirklich sehr sinnreich!‟ Mit diesem diesem Beifalle war er vergnuͤgt wie ein Koͤnig. Er ließ ihn auch nicht unbelohnt. Er setzte sich ans Clavier, und spielte ungebeten einige der Oden mit Melodien, von denen er wuste, daß sie seiner Frau am angenehmsten waren. Wilhelmine sang mit frohem Herzen dazu, und gewoͤhnlich war ein solcher Auftritt eine reiche Quelle guter Laune fuͤr diesen und einige folgende Tage. Gegen das Ende der erstern neun Monate ihres Ehestandes, ward er mit einem Sohne gesegnet, dessen sich der Hofmarschall aus alter Bekanntschaft beson- ders annahm. Er ließ ihn oft zu sich in die Stadt holen, beschenkte ihn, und konnte lachen, daß ihm der Bauch schuͤtterte, wenn der Junge, der von seiner ersten Jugend an versprach, einst ein durchtriebener Kopf zu werden, einen Umstehenden in die Waden zwickte, oder sonst jemand einen kleinen Schabernack anthat. Als der Knabe sechs Jahr alt war, so nahm er ihn ganz zu sich, so, daß er seitdem seine Aeltern nur selten zu sehen bekam. Jm vierzehnten Jahre war der Knabe so weit gekommen, daß er die muthwillige Neckereyen, die der Hofmarschall so oft in seiner ersten Kindheit an ihm bewundert hatte, auch an seinem Wohlthaͤter selbst auszuuͤben anfing. Dieser machte sich also nicht so viel daraus, einen Knaben ferner um sich zu haben, dessen dessen Witze er zwar Beifall gab, wenn er andere hohnneckte, aber nicht, wenn er sich auch an ihn, den Hofmarschall selbst, wagte. Er besann sich, daß er einen guten Freund hatte, der Curator uͤber eine etwa 25 Meilen entlegene Fuͤrstenschule war, in derselben verschafte er dem jungen Nothanker eine Freystelle. Als der Knabe in derselben sechs Jahre verharrt hatte, und es nun Zeit schien, ihn auf Universitaͤten zu brin- gen, verschafte er demselben durch gleiche Protection zwey Stipendien auf einer beruͤhmten Universitaͤt. Weil nun zwey Stipendien eintraͤglicher waren, als eins, so konnte der junge Nothanker auch seine Stu- dien mit viel gluͤcklicherm Erfolge fortsetzen, als sonst ein armer einfacher Stipendiat haͤtte thun koͤnnen. Er studierte also nicht allein in den Collegien, sondern auch in den Caffehaͤusern, bey den Jungemaͤdgen, in den Dorfschenken, und uͤberhaupt cavaliermaͤssig in der großen Welt. Er machte auch Verse und Sati- ren, wodurch er denn bald ein Mitglied der deutschen Gesellschaft des Ortes ward. Von der Philosophie machte er Profession, und setzte sich schon in seinen Studentenjahren vor, in derselben einst große Veraͤn- derungen vorzunehmen, in der philosophischen Kritik aber war er so stark, daß er den Longin und Home, immer beym dritten Worte citirte. Diese Nachrichten erfrene- erfreueten Wilhelminen ungemein, welche ihn als ihren wuͤrdigen Erben ansahe, obgleich Sebaldus ein wenig daruͤber deu Kopf schuͤttelte, und die Hof- nung, die er sich seit zehen Jahren gemacht hatte, ihn zum Adjunkt seiner Pfarre zu bekommen, beinahe aufzugeben anfing. Etwa sechs Jahre nach der Geburt des Sohnes, eben als die Zuneigung zwischen Sebaldus und Wil- helminon zur waͤrmsten Zaͤrtlichkeit gestiegen war, wurden sie mit einer Tochter erfreut, die den Namen Mariane bekam. Sie war von ihrer ersten Jugend an, der Gegenstand der vaͤterlichen und muͤtterlichen Zaͤrtlichkeit. Besonders wendete Wilhelmine ihre ganze Sorgfalt auf die Erziehung ihrer Tochter. Sie unterwies sie in allen weiblichen Arbeiten und in der franzoͤsischen Sprache, ihr Vater war ihr Lehrer in der Geschichte und Erdbeschreibung, und beide vergaßen nichts um den Geist und das Herz dieser gelieb- ten Tochter zu bilden. Als Mariane sechszehn Jahre alt war, hatte sie die besten deutschen und fran- zoͤsischen Schriftsteller gelefen. Wenn ihre haͤus- lichen Geschaͤfte geendigt waren, so war ihr Amt wechselsweise ihrer Mutter vorzulesen, oder auf dem Claviere zu spielen, worauf ihr Vater ihr erster Lehr- meister gewesen war, und ihr eigner Fleiß sie zu meh- Erster Theil. B rerer rerer Vollkommenheit gebracht hatte. Eine sanfte Seele, ein mitleidiges Herz, kroͤnte ihre uͤbrige gute Eigenschaften, und gab ihnen in den Augen ihrer El- tern noch einen viel groͤßern Werth. Als diese aͤlteste Tochter schon erwachsen war, wurde das Haus mit noch einer kleinen Tochter vermehret, die auch die besten Hofnungen von sich gab, da so- wohl Wilhelmine als die junge Mariane wetteifer- ten, der kleinen Charlotte die beste Erziehung zu geben. Zweyter Abschnitt. D ie haͤusliche Zufriedenheit hatte auf solche Art in die- ser Familie viele Jahre ununterbrochen fortge- dauret. Sebaldus verrichtete seine Amtsgeschaͤfte in der Kirche mit frohem Gemuͤthe eben so wie Wilhel- mine in der Kuͤche und in der Milchkammer. Die willige Unterstuͤtzung ihrer nothleidenden und bekuͤm- merten Nachbaren war ihnen beiden ein gemeinschaft- liches Geschaͤft. Wenn diese Geschaͤfte vorbey waren, so kehrten sie mit Vergnuͤgen zu ihrer eigenen Gesell- schaft, und zur Gesellschaft ihrer herzlichgeliebten Kin- der zuruͤck. Ein vergnuͤgtes Herz war die Wuͤrze jeder laͤndlichen Mahlzeit, und verschoͤnerte ihre ruhigen Abendspaziergaͤnge. Das Einfoͤrmige in ihrer Le- bensart bensart und in ihren Vergnuͤgen gewann mehrere Veraͤnderung, so wie ihre Kinder zunahmen. Eine richtige Anmerkung, oder ein witziger Einfall, den Mariane hoͤren ließ, ein neues musikalisches Stuͤck das sie zum ersten mahl spielte, war der aͤlterlichen Zaͤrtlichkeit ein Fest, woran ihr Vergnuͤgen Tage lang Nahrung hatte. Der Tag, da Charlottchen zuerst das suͤsse Wort Mutter lallte, der, da sie zu- erst auf ihren kleinen Fuͤssen drittehalb Schritte von dem Schooße der Mutter zum Vater allein forttau- melte, der, da sie ihm das erste von ihr genaͤhte Saͤum- chen vorzeigen konnte, oder der, da sie, durch ihre zaͤrtliche Schwester gelehrt, beide Eltern durch Her- sagung der Gellertschen Fabel vom Zeisig uͤberraschte, waren in dieser kleinen Familie Galatage, deren Anmuth, wider die Art der hoͤfischen, auch noch nachdem sie vorbey waren genossen ward. So vollkommen das Gluͤck dieser Familie war, so drohete es doch ein kleiner Vorfall zu unterbrechen. Es erschien in den letzten Jahren des vergangenen Krieges eine Schrift: Vom Tode fuͤr das Vater- land, betittelt. Diese kleine Schrift wuͤrde in das ruhige Fuͤrstenthum, so leicht nicht eingedrungen seyn, welches von neuen Schriften, sonderlich von solchen, die sich mit dem Tande der weltlichen Weisheit, und B 2 mit mit dem Spielwerke der schoͤnen Wissenschaften be- schaͤftigten, gar nicht beunruhigt wurde. Man hatte darin gewoͤhnlicherweise ausser dem fuͤrstl. privile- girten Gesangbuche, welches jaͤhrlich in grobem und feinem Drucke aufgelegt ward, und einigen aus- waͤrtigen Calendern, als dem hinkenden Staats- boten, dem Nuͤrnbergischen Land- und Haus- Calender, Lachneaulici allgemeinen Haus- und Wirthschaftsregeln u. s. w. nichts, als des Herrn von Bogazky taͤgliches Hausbuch, den kleinen Goͤrgel in Lebensgroͤße, Schabalie wandelnde Seele, Foͤrsters erpediten Prediger in sechs Quartbaͤnden, die Grundrisse von Predigten der Hamburgischen Herren Pastoren, nebst der Jnsel Felsenburg, dem im Jrrgarten der Liebe taumelnden Cavalier, Eulenspiegel dem juͤn- gern, und einigen Romanen des Dreßdner Thuͤr- mers, z. B. das Leben Peter Roberts, das wun- derbare Schicksal Antoni, das Leben des Maler Michaels, und dergleichen Sachen mehr. Wilhelmine aber, die auf alle neue Buͤcher neu- gierig war, die in die schoͤnen Wissenschaften, in die Sittenlehre, Geschichte u. s. w. einschlugen, hatte, wie wir schon erwaͤhnt haben, fuͤr sich selbst eine kleine auserlesene Bibliothek solcher Buͤcher, der- dergleichen in dem ganzen Fuͤrstenthume nicht an- zutreffen war. Sie hatte dem Buchhaͤndler in der fuͤrstlichen Residenzstadt, ihrem Gevatter, den Auftrag gegeben, ihr alles was von solcher Art Buͤchern wichtiges erschien, in eben dem Pakete zuzusenden, worinn Sebaldus alle neue Schriften, die uͤber die Apocalypse herauskamen, empfing. So naͤhrte der ehrliche Hieronymus den Geist beider Eheleute, den einen mit Witz, und den andern mit Prophezeiungen. Dieser Buchhaͤndler hatte in seiner Jugend einige Schulstudien gehabt, und hatte dadurch vor verschie- denen seiner Handlungsgenossen den kleinen Vorzug erlanget, die Titel der Buͤcher, die er verkaufte, ganz zu verstehen. Er hatte in verschiedenen ansehnlichen Buchhandlungen in Holland, Frankreich und Jtalien, als Handlungsdiener gestanden. Er hatte dabei nicht allein sein eigenes Gewerbe in einem weit groͤßern Umfange eingesehen, sondern er hatte auch Staͤdte und Sitten der Menschen kennen lernen, und daher kam es, daß er zuweilen, vielleicht ohne es selbst zu wissen, ein vernuͤnftigeres Urtheil von verschiedenen Sachen faͤllete, als sein Nachbar der Superinten- dent, oder sein anderer Nachbar der Rath in dem fuͤrstlichen Expeditionscollegium, die beide, ausser ihren B 3 auf auf einer benachbarten Universitaͤt verbrachten Uni- versitaͤtsjahren, niemals ihre Vaterstadt verlaßen hatten. Hieronymus pflegte aber die Einsichten die er besaß, eben nicht unablaͤßig geltend zu machen, daher hatten sie ihm auch nicht Feinde zugezogen. Er war in der kleinen Residenzstadt, in der er sich gesetzt hatte, in Ansehen, ohne von jemand beneidet zu werden, denn er war gegen jedermann dienstfertig, und hatte eine natuͤrliche Abneigung jemand ins Gesicht zu widersprechen, oder erlangte Vortheile von irgend einer Art zur Schau zu tragen. Bey diesen Grund- saͤtzen und einer so gluͤcklichen Temperamentstugend war er in seinem Staͤdtchen wohlhabend geworden, ohne daß es bey seinen Nebenbuͤrgern eben sonderli- ches Aufsehen verursacht haͤtte. Gleichwol hatte er durch seinen Fleiß, ganz un- vermerkt, in dem Laͤndchen wo er sich befand, zween ganz neue Handlungszweige eroͤfnet, an die vorher noch niemand daselbst gedacht hatte. Es hatte das kleine Fuͤrstenthum einen fruchtbaren Boden, und nicht wenig Viehzucht, es brachte alles hervor was die Einwohner naͤhren konte. Sie naͤhrten sich auch, und zehrten richtig dasjenige auf, was ihnen zuwuchs. Weil sie aber ausser ihrem maͤßig bestellten Ackerbaue, gar gar keine einzige Art von Kunstfleiß hatten, so war freilich unter ihnen wenig Geld. Es reichte kaum zu, die Roͤcke und die Struͤmpfe zu bezahlen, die die Hand- werker eines benachbarten Herzogthums, aus der Wolle die in diesem kleinen Fuͤrstenthum sehr wohl- feil verkauft ward, webten, und alsdenn in dasselbe wieder einfuͤhrten. Es war also kein Wunder, daß bisher noch kein Buchhaͤndler in diesem Laͤndchen hatte Buͤcher verkaufen koͤnnen. Hieronymus, war der erste, der sich unterstand Buͤcher darin einzufuͤhren. Er sahe aber auch nicht so genau darauf, ob er eben baar Geld erhielt. Er verkaufte mehrmahls Z. B. das Juristische Oraculum in sechzehn Foliobaͤnden fuͤr einen fetten Ochsen, Leopolds Landwirth- schaftsbuch fuͤr sechs Scheffel Roggen, und Rie- gers Herzpostill, oder Cardilucii Kunst-Arzney- Natur- und Nahrungspostill fuͤr ein paar Schock Eyer, ja er gab noch wohl Muͤrdelii suͤsse Geistes- erquickungen, oder Meletaons Tugendschul in den Kauf. Hierdurch machte er sich besonders bey den Pre- digern in Staͤdten Flecken und Doͤrfern sehr be- liebt, die gern etwas von ihren Zehenden oder von ihrem Naturaldeputat daran wagten, um sich Krau- sens evangelischen und epistolischen Prediger- B 4 schatz, schatz, Kleiners Hirtenstimme, Schlichthabers fuͤnffache Dispositionen aller Evangelien, oder Weihenmayrs epistolische Spruch-und Kernpostill anzuschaffen, und sich dadurch die schwere Last des Predigtamts, die sie so sehr druͤckte, zu erleich- tern. Die Buͤrger folgten bald dem Exempel ihrer Seelenhirten, und schaften sich von einem Theile des Ertrags ihrer Erndte, und ihrer Kaͤlber- und Ham- melzucht einige erbauliche und nuͤtzliche Buͤcher an, z. B. Hollatzens Gnadenordnung und Pilger- straße, Staricii Heldenschatz, die reine Wasser- quelle, den vom Engel Raphael begleiteten Wandersmann, Goezens Betrachtungen uͤber die Dinge die nach dem juͤngsten Gerichte vor- gehen werden, Hocuspocus oder die neuvermehrten Taschenspielerkuͤnste, die neueroͤfnete Kunst- pforte, Schnurrs Kunst- und Wunderbuch, der getreuen Bellamira wohlbelohnte Liebes- proben, Heußens biblische Seelenweide, Wid- ders Krankenpostill u. d. gl. Die fuͤrstlichen Raͤ- the und Secretarien aber kauften Bolzens Amts-und Gerichts-Actuarium, dessen Anweisung zum Ambthierungswerke, Salanders alias Sieckels alle- zeitfertigen Notarium, Heumanns rechtlichen Catechismum, besonders aber des deutlichen Schwe- sers sers oder Philoparchi wohlunterrichteten Beam- ten ꝛc. Hieronymus erhielt also, als ein Laye, einen Vortheil der sonst nur der Geistlichkeit eigen war, nemlich er speisete den Geist seiner Mitbuͤrger, und eignete sich dafuͤr ihre Gluͤcksguͤter zu. Er ließ die eingetauschten Ochsen Haͤmmel und Schweine in seine Staͤlle treiben, und das eingetauschte Getraide auf seine Boͤden schuͤtten, und verkaufte alles auf den Maͤrkten des obengedachten Herzogthums fuͤr baares Geld, weil daselbst die bluͤhendenden Manufacturen, und die dadurch verursachte Bevoͤlkerung einen etwas hoͤhern Preiß der Nahrungsmittel verursacht hatten. Man kennete ihn daselbst nicht unter dem Namen des Buchhaͤndlers Hieronymus, aber der Namen des Korn- oder Viehhaͤndlers Hieronymus, war bey den Muͤllern, Baͤckern und Schlaͤchtern daselbst, um desto bekannter. Seine Nachbarn hatten selbst Aecker und Wiesen, aber zufrieden sich selbst zu naͤhren, baueten sie nicht mehr, als sie brauchten, noch weniger dachten sie daran, den Ueberfluß ihren Nachbarn weiter, als etwa bis in die naͤchste kleine Landstadt, zuzufuͤhren. Es waͤhrete Jahre lang, bis durch die beladenen Wa- gen und durch die Heerden Vieh, die sie so oft aus B 5 Hie- Hieronymus Hause, wegfahren und wegtreiben sa- hen, ihre Neugier rege gemacht ward. Sie versuchten bald eben diesen Weg, und da ih- nen ihr Unternehmen gelang, fingen sie an ihre Vieh- zucht zu vermehren, und ihre Aecker fleissiger zu bauen. Sie nahmen dadurch selbst an gutem Wohlstande zu, und das ganze Laͤndchen kam in wenig Jahren in so gutes Aufnehmen, daß die Staatsklugen zu eroͤrtern anfingen, warum das Land sich so schnell verbessert habe. Eigentlich war freilich der Fleiß des Hierony- mus und das Beyspiel, das er seinen Mitbuͤrgern gegeben hatte, die Ursach davon. Es ist aber allen denen, die politische und Finanzvorfaͤlle untersuchen, schon laͤngst zur Regel geworden, nicht die kleinen Umstaͤnde anzufuͤhren, welche gemeiniglich die wah- ren Ursachen der Begebenheiten zu seyn pflegen, son- dern große Umstaͤnde, welche gemeiniglich nicht die wahren Ursachen sind. Daher ward in einer in das fuͤrstliche Jntelligenzblatt eingeruͤckten Abhandlung, die schnelle Zun a hme des Wohlstandes des Landes, der landesvaͤterlichen Vorsorge des Fuͤrsten zugeschrie- ben, (der auf seinem Lustschlosse, seine Zeit zwischen der Jagd und seiner Maͤtresse theilte) und nach der- selben den klugen Anstalten seines ersten Geheimen- raths, raths, (der in der fuͤrstlichen Residenzstadt im Ca- binet unermuͤdet arbeitete, alle Stellen im Lande mit seinen Verwandten und Creaturen zu besetzen) Der Superintendent D. Stauzius hingegen, ein scharfer Gesetzprediger, nahm diese Abhandlung in der Ein- weihungspredigt der neugebauten St. Bartels Ka- pelle ziemlich durch, und versicherte, der zugenommene Wohlstand des Landes sey ein sichtbarer Segen des Hoͤchsten, wegen der frommen Auffuͤhrung der Ein- wohner. Man muß nemlich wissen, daß in der fuͤrstlichen Residenzstadt ein paar Jahre vorher, fuͤnf Strassen nebst einer kleinen verfallenen Kapelle abgebrannt waren. Die Einwohner trugen, auf die nachdruͤck- liche Ermahnung des Superintendenten, zum Bau der Kapelle, welche viel vergroͤßert und verschoͤnert aufge- bauet werden sollte, so reichlich bey, daß sie freilich kein Geld uͤbrig behielten, zu einer Hauscollecte etwas beyzutragen, die der Buͤrgermeister veranlasset hatte, um von deren Ertrage einige gemeine Feuerspritzen anzuschaffen, weil bloß aus Mangel derselben, das Feuer soweit um sich gegriffen hatte. Noch weniger kehrten sie sich an die leichtsinnigen Reden des Buͤr- germeisters, der oͤffentlich sagte, daß man vor allen Dingen den abgebrannten Einwohnern beyspringen muͤsse, muͤsse, und daß es uͤberhaupt unnoͤthig sey die Kapelle wieder zu bauen, da andere Kirchen genug in der Stadt waͤren, noch weniger zu vergroͤßern, so lange die Haͤuser der Einwohner zu deren Gebrauch die Kapelle dienen sollte, noch in der Asche laͤgen. Diese musten sich freilich, da sie nirgend unterkommen kon- ten, und gar keine Hofnung sahen, sich wieder auf- zuhelfen, in wenig Wochen zu Colonisten nach Rußland anwerben lassen. Sie bekamen also die fuͤr Sie neuerbaute Kapelle nicht zu sehen. Hinge- gen hatten sie doch den Trost, daß sie an dem Ufer der Wolga die gedruckte Einweihungspredigt des D. Stauzius nebst den beygefuͤgten Carminibus des Stadtministerii und aller Primaner des fuͤrstlichen Lycei mit vieler Erbauung verlesen hoͤrten. Sebaldus erhielt diese gedruckte Einweihungs- predigt in eben dem Pakete, worin Wilhelmine die Schrift vom Tode fuͤrs Vaterland erhielt. Sie machte ihm aber nicht sonderliches Vergnuͤgen. D. Stauzius hatte in derselben mehr als einmal, denen die Kirchen und Kapellen verachten, und den Bau oder Verschoͤnerung derselben hindern, mit der ewigen Verdammniß gedrohet. Sebaldus aber konnte diese Lehre niemals behauptet sehen, ohne in eine Art von Bekuͤmmerniß zu gerathen, die dem Mißvergnuͤ- gen gen nahe war. Der Tod fuͤrs Vaterland hinge- gegen hatte auf Wilhelminen eine ganz entgegenge- setzte Wirkung. Er setzte ihren ohnedis zum roman- tischen geneigten Geist in ein neues Feuer. Sie fuͤhlte Entzuͤckung uͤber die Gedanken, daß auch der Unter- than einer Monarchie nicht eine blosse Maschine sey, sondern seinen eigenthuͤmlichen Werth als Mensch habe, daß die Liebe fuͤrs Vaterland einer Nation eine große und neue Denkungsart gebe, daß sie eine Na- tion als ein Muster fuͤr andere darstelle. Von diesen Jdeen erhitzt, sann sie nach, wie sie in dem allgemei- nen Kriege der damahls Deutschland verheerte, ein Beyspiel ihrer Liebe fuͤrs Vaterland geben koͤnne. Mitten unter diesen Gedanken fiel ihr gleich auf der ersten Seite folgende Stelle aufs Herz: „Sollte wohl „ein Diener der Religion sich entweihen, sollte er wohl „dadurch sein Amt vernachlaͤssigen, wenn er, nachdem „er tausendmal gesagt hat: Thut Busse; auch ein- „mal rieffe: Sterbet freudig fuͤrs Vaterland ?‟ Sie beschloß, daß niemand ihrem Manne das Ver- dienst rauben sollte, dieser Aufforderung zuerst ein Genuͤge gethan, noch ihr das Verdienst, ihn dazu aufgemuntert zu haben. Von diesem Vorsatze voll, trat sie, welches sie sonst selten zu thun pflegte, in Sebaldus Studierstube. Sie las ihm aus der Schrift, Schrift, die ihr so sehr gefiel, die staͤrksten Stellen vor. Sie beschloß mit der eben angefuͤhrten an die Prediger gerichteten Stelle, und setzte alle Gruͤnde, die sie sammlen konnte zusammen, um ihn zu bewe- gen, daß er den naͤchsten Sonntag seiner Gemeine predigen sollte: Sterbet freudig fuͤr das Vater- land. Sie fand bey Jhrem Manne einen staͤrkern Wi- derstand, als sie sich vorgestellet hatte. Sebaldus, dessen Geist, ohne Prophezeiung nicht so leicht in En- thusiasmus gerieth, und der durch D. Stauzius Ein- weihungspredigt noch weniger erwaͤrmt worden war, hatte ihrer feurigen Deklamation hundert kalte Gruͤnde entgegen zu setzen, auf die sie sich nicht gefaßt gemacht hatte. Er sagte ihr unter andern, daß ein Geistlicher, wenn er glaubte, oft genug gerufen zu haben: Thut Busse, noch eine Menge Wahrheiten zu predigen habe, die ihn alle noch nuͤtzlicher duͤnkten, als der Tod fuͤr das Vaterland. „Und, setzte er hinzu, „wo ist in unserm unter Krieg und Verheerung seuf- „zenden Deutschlande, jezt wohl das Vaterland zu „finden? Deutsche fechten gegen Deutsche. Das „Contingent unsers Fuͤrsten ist bey dem einen Heere, „und in unserm Laͤndchen wirbt man fuͤr das andere. „Zu welchem sollen wir uns schlagen? Wen sollen „wir „wir angreifen? Wen sollen wir vertheidigen? Fuͤr „wen sollen wir sterben? Wilhelmine, die einmal beschlossen hatte, daß vom Tode fuͤrs Vaterland gepredigt werden sollte, sahe wohl ein, daß allgemeine Gruͤnde ihren Mann nicht bewegen wuͤrden, sie nahm also zu solchen ihre Zuflucht, die ihn naͤher angiengen. Sie versetzte: „Wird denn nicht in diesem Kriege wider die Franzosen „gestritten? Jch glaube immer, die Deutschen sind „aͤchte Deutsche, die auf Tuͤrken und Franzosen los- „gehen. Sie haben mir, mein Lieber! oft von Weissa- „gungen vom nahen Untergange Frankreichs vorge- „sagt; sollte in der Apocalypse keine Weissagung seyn, „die den itzigen Krieg angehet? Schlagen Sie doch „nach. Wer weiß, ob in diesem Kriege nicht Deutsche „das stolze Frankreich erobern sollen? Wie? Wenn „es ihnen nun vorbehalten waͤre, durch Jhre Predigt „zu diesem großen Werke den ersten Anlaß zu geben? „Welcher Ruhm fuͤr Sie, wenn auch auf Sie und „auf Jhre Predigt mitgeweissagt waͤre! Koͤnnen Sie „der Kraft so vieler Gruͤnde wohl widerstehen? Jch „daͤchte, Sie muͤsten dadurch determinirt werden!‟ Der arme Sebaldus war nun bey allen seinen Schwaͤchen angegriffen, denn Wilhelmine pflegte sehr selten die Apocalypse anzufuͤhren, noch weniger pflegte pflegte sie der Franzosen mit einem wiedrigen Seiten- blicke zu gedenken, und uͤber den zureichenden und determinirenden Grund, waren ihre Gedanken ihres Mannes Gedanken so schnurstracks zuwider, daß weder Sebaldus das Wort zureichend, noch Wil- helmine das Wort determinirend jemals in den Mund zu nehmen pflegte. Es geschahe also hier, was immer zu geschehen pflegt, daß die gefaͤllige Freundlichkeit eines Frauenzimmers die besten Gruͤnde einer Mannsperson unkraͤftig machte. Sebaldus waͤhlte einen schicklichen Text fuͤr den naͤchsten Sonntag aus der Apocalypse, und da die- ses das erste mahl war, daß er uͤber einen Text aus diesem von ihm so geliebten Buche predigte, so hielt er seine Predigt, vom Tode fuͤrs Vaterland, in einem enthusiastischen Feuer, das seine Gemeine sonst an ihm nicht gewohnt war. Als er aus der Kirche nach Hause gieng, bemerkte er sogleich die Frucht sei- nes Eifers. Er sahe auf dem Kirchhofe einen ziem- lichen Anflauf, und hoͤrte jemand sehr laut reden. Als er naͤher hinzu kam, hoͤrte er, daß ein im Dorfe lie- gender Unterofficier, der mit in der Kirche gewesen, zu seiner Predigt einen epanorthotischen Usum hinzu that, und nicht ohne Frucht, denn zehn junge, ra- sche Bauerkerl, nahmen auf der Stelle Dienste. Den Dem Sebaldus klopfte hiebey ein wenig das Herz, aber Wilhelmine jubilirte uͤber den gluͤcklichen Erfolg ihres Vorschlags. Sie wendete auf dem Wege aus der Kirche nach Hause alles an, um ihrem Mann eben so freudige Gesinnungen mitzutheilen. Es wuͤr- de ihr vielleicht gelungen seyn, wenn nicht zween Briefe, die sie bey ihrer Ankunft zu Hause fanden, ihre Freude etwas niedergeschlagen haͤtten. Der eine war von ei- nem Professor der Universitaͤt wo ihr aͤltester Sohn studierte. Er meldete ihnen ohne Umschweife, daß ihr Sohn, mit Hinterlaßung vieler Schulden davon gelaufen sey, und daß niemand wisse, wohin. Beide Aeltern fuhren bei dieser unvermutheten Nachricht zu- sammen, und zitterten fuͤr den zweyten Brief. Als sie auf der Aufschrift ihres Sohnes Hand erblickten, so riß ihn Wilhelmine aus Sebaldus Haͤnden, und laß ihn. Der Sohn meldete darinn, ohne von seinen Schulden etwas zu erwehnen, „daß er es fuͤr einen „guten Buͤrger fuͤr schimpflich halte, stille zu sitzen „wenn das Vaterland in Noth sey; daß die Roͤmer „und Griechen in ihrer Jugend Kriegsdienste gethan „haͤtten, daß er diesem glorreichen Exempel folgen „wolte, und daher auch zur Armee gegangen sey. Er „meldete zu gleicher Zeit seinen Eltern, daß er vor der „Hand einen fremden Namen angenommen habe, Erster Theil. C „und „und so lange fuͤhren wolle, bis er seinem wahren Nah- „men Ehre bringen koͤnnte.‟ Sebaldus ward bei dieser Nachricht ganz blaß, und Wilhelmine fiel mit einem lauten Geschrey ruͤcklings aufs Canape. Sie besann sich aber bald, daß itzt die beste Gelegenheit sey, spartanische Gesinnungen zu zeigen, ermannete sich, stand auf, und sagte mit thraͤnenden Augen: „ Jch habe ihn dazu gebohren! ‟ Sie suchte auf alle Weise ihre heldenmuͤthige Gesinnungen bey sich wieder hervor zu ziehen. Bald stellte sie sich die gro- ßen Thaten vor, die ihr Sohn verrichten wuͤrde; bald bedaurete sie nur, daß er seinen Nahmen veraͤndert hatte, weil sie auf diese Art von ihr unbemerkt ge- schehen koͤnnten. Bald hofte sie wieder, daß er, wenn er etwas großes verrichtet haͤtte, gewiß sei- nen Namen kund thun werde. Jnzwischen konnten alle diese heroische Gesinnungen, mit denen sie sich troͤstete, und die dem Sebaldus gar keinen Trost gaben, weder ihre muͤtterliche Zaͤrtlichkeit noch des Sebaldus weise Betrachtungen unterdruͤcken, die sich bestaͤndig dazwischen mischten. Nachdem sie damit den Nachmittag zugebracht hatten, legten sie sich bei- derseits in einer solchen Gemuͤthsverfassung schlafen, daß, wenn sie vier und zwanzig Stunden vorher darin gewesen waͤren, Sebaldus schwerlich wuͤrde gepre- digt digt haben: Sterbet freudig fuͤr das Vaterland, noch Wilhelmine ihn dazu wuͤrde haben ermuntern wollen. Dritter Abschnitt. J ndessen erscholl die Nachricht von Sebaldus Pre- digt und von ihren Folgen, bald bis in die fuͤrstli- che Residenzstadt. Sebaldus hatte im Consistorium zwey sehr maͤchtige Feinde. Der eine war der Praͤ- sident, der als ein Ehrenmitglied verschiedener deut- schen und lateinischen Gesellschaften viele sehr fliessende deutsche Reime, und viele sehr deutliche lateinische Chronodistichen verfertigte. Alle am fuͤrstlichen Hofe vorfallende Galatage, alle Landplagen, als Heu- schrecken, Hagel, feindliche Einfaͤlle, alle Promo- tionen der ihm untergebenen Conrectoren, und Landpre- diger, besang seine Muse ungesaͤumt. Wilhelmine war eine viel zu feine Kennerin der schoͤnen Wissen- schaften, als daß sie sich dem falschen Geschmacke, der in ihrem Vaterlaͤndchen beschuͤtzt ward, nicht haͤtte wider- setzen sollen. Sie sprach bey jeder Gelegenheit von den deutschen Versen des Praͤsidenten uͤberaus veraͤchtlich, und seine lateinische Chronodistichen, wenn sie sie auch C 2 und nicht verstand, so wuste sie sie doch aus dem Zuschauer mit einer Reihe Soldaten zu vergleichen, in welcher einige Riesen zwischen einer Anzahl Zwerge staͤnden. Nun ist es bekannt, daß alle Dichter sehr empfind- lich, und die schlechten Dichter gemeiniglich die em- pfindlichsten sind. Es ist also leicht zu erachten, daß es der Praͤsident fuͤr einen unerhoͤrten Eingriff in die Landesverfassung und gute Subordination hielt, daß eine Landpfarrerfrau sich uͤber die Verse eines Man- nes wie er, oͤffentlich aufhalten duͤrfte, und daß er keine Gelegenheit wird verabsaͤumet haben, ihrem Manne empfinden zu laßen, daß er sein Oberer war. Der zweyte Feind des Sebaldus, war der Generalsu- perintendent D. Stauzius. Dis war eben der Pfar- rer, der Sebaldus mit Wilhelminen getrauet hatte, der wilde Mann, der so gern von dem Obersten Men- zel und von dem lustigen Treffen zu Roßbach sprach. Er hatte kurz nach Sebaldus Heirath die Ausgebe- rin des Praͤsidenten geheirathet, die Sebaldus ver- schmaͤhet hatte, und war dadurch Generalsuperinten- dent worden. So wie er am Stande zunahm, wuchs auch sein Eifer fuͤr die Orthodoxie. Es lies sich zum Doctor der Theologie machen, damit er einen doppel- ten Beruf habe, sich der Orthodoxie alles Fleisses an- zunehmen. Er erhielt im Lande eine solche Einfoͤr- migkeit foͤrmigkeit in der Lehre, wie ein Hauptmann bey einer wohleingerichteten Compagnie Soldaten, bey der jeder Rock so lang als der andere, jeder Zopf so dick als der andere, jede Stiefelette so lang aufgeknuͤpft ist als die andere, und die sich nie nach ihrem eigenen Willen, sondern blos nach dem Wink ihrer Obern beweget. So bald ein Prediger nur den geringsten Geruch von Ketzerey an sich spuͤren ließ, ward er abgeschaft. Dadurch ward das Laͤndgen wirklich so rein gehalten, daß Sebaldus der einzige war, der auf der schwar- zen Liste stand. Schon als D. Stauzius noch Dorf- pfarrer war, hatte er sich mit Sebaldus oft uͤber die Ewigkeit der Hoͤllenstrafen gestritten, die er mit großem Eifer behauptete, und von der Sebaldus, wie wir dem Leser schon haben merken lassen, Begriffe hatte, die zwar ganz menschenfreundlich, aber gar nicht orthodox waren. Seitdem D. Stauzius Su- perintendent worden war, hatte er die Lehre von der Ewigkeit der Hoͤllenstrafen noch nothwendiger gefun- den. Er merkte beim Antritt seines Amts bald, daß er bey den Kammerjunkern und den fuͤrstlichen Raͤthen, mit dem florentischen Wetterglase, aus welchem er vormahls seinen Bauern Wind und Wetter vorher- sagte, S. Wilhelmine S. 105. nicht viel ausrichten konnte. Er legte sich C 3 also also, um sie in kirchlicher Zucht zu halten, auf ein recht derbes Gesetzpredigen. Er mahlte ihnen den hoͤlli- schen Schwefelpfuhl recht schrecklich, und die Mar- tern der Verdammten recht graͤßlich vor, wobei er denn mit einem holen klagenden Tone das Wort ewig! ewig! ewig! sehr oft erschallen ließ. So streng und unerbittlich er aber auf der Kanzel gegen die Suͤnder war, so gefaͤllig und nachgebend war er gegen seine Frau, die er aus so vornehmen Haͤnden empfangen hatte. Sie regierte ihn ganz. Ungluͤcklicherweise aber fuͤr Sebaldus war sie auf denselben und seine Frau auch sehr uͤbel zu sprechen. Sie konnte es ihm noch nicht vergeben, daß er ihre Hand und mit ihr das ein- traͤgliche Amt ausgeschlagen hatte, bloß um eine juͤn- gere und schoͤnere Person zu heirathen. Wenn also D. Stauzius gegen Sebaldus nur ein verdries- liches Wort sagte, so setzte sie noch zwey oder drey hinzu, und brachte sowohl ihren itzigen Mann, als ihren gewesenen Herrn wider ihn auf. Welch Wun- der also, daß Sebaldus sehr oft, auch bei den ge- ringfuͤgigsten Vorfaͤllen nachdruͤckliche Verweise aus dem Consistorium bekam. Die gegenwaͤrtige Sache hingegen war zu wichtig, als daß sie mit einem bloßen schriftlichen Verweise konnte abgemacht werden. Sebaldus ward also in Person Person nach der fuͤrstlichen Residenz, vor dem Consisto- rium zu erscheinen, gefordert. Als er erschien, sahe ihn der Praͤsident von oben bis unten an, seufzte, machte die Augen zu, hob das Angesicht gen Himmel, und hielt ihm in einem feinen etwas heisern und lang- gezogenen Ton seinen Unfug vor, daß er von etwas anders, als von Busse und Zerknirschung des Herzens gepredigt haͤtte, welches den symbolischen Buͤchern schnurstracks zuwider sey. Kaum hatte er ausgeredet, als der Superintendent aufstand. Er schrie mehr, als er sprach, zitterte vor Eifer, ward feuerroth im Gesichte, runzelte seine starke halbgraue und halbrothe Augenbraunen, konnte noch nicht sprechen, und schuͤttete als er anfieng, in einem holen bellenden Ton so schnell daß ein Wort das andere jagte, ein gestot- tertes Anathema uͤber das andere auf den armen Sebaldus aus. Er hielt ihm vor, daß die zehn an- geworbenen Bauerkerl, vermuthlich haͤtten in den Stand der Gnade kommen koͤnnen, daß sie aber nun in dem Lande wohin sie gebracht wuͤrden, Atheisten werden, und also ewig verdammt werden muͤsten. Auch Er, Sebaldus, haͤtte die ewige Verdammniß dadurch verdient, daß er an dem ewigen Wehe von zehn Seelen schuld waͤre, u. s. w. C 4 Sebal- Sebaldus antwortete bescheiden mit wenig Wor- ten, und ließ am Ende seiner Rede einfließen, „daß „Gott gnaͤdiger waͤre, als erbitterte Menschen, daß „er uns nach der reinen Absicht unsers Herzens, nicht „aber nach einem nicht |vorhergesehenen Erfolge unse- „rer Handlungen, richten werde.‟ Stauzius fuhr ihn mit unbeschreiblicher Wuth an: „Ob er die Ewig- „keit der Hoͤllenstrafen glaube?‟ Sebaldus ant- wortete ganz gelassen: „Er glaube nicht, daß es „Menschen gezieme, der Guͤte Gottes Maaß und Ziel „zu setzen.‟ „Sie sehen, meine Herren, redete der aͤus- „serst aufgebrachte Superintendent die anwesende an, „daß dieser gottlose Mann in den Grundlehren des „Glaubens irrig ist, und schaͤndliche grundstuͤrzende „Jrrthuͤmer behauptet, ich trage also darauf an, daß „er unverzuͤglich seines Amtes entsetzt werde, damit „er die Seelen der ihm anvertrauten Heerde nicht fer- „ner in Gefahr bringe.‟ Der Praͤsident antwortete hierauf mit sanftmuͤthiger Mine: „Es ist zwar wahr, „daß Ehrn Nothanker sich eine schwere Verschul- „dung hat zur Last kommen lassen, doch erfordert die „christliche Liebe, daß man in einer so wichtigen Sache, „als die Absetzung vom Amte ist, sich nicht uͤbereilen „muͤsse. Daher ist meine Meynung, daß dem Fiscal „aufgetragen werde, eine in gehoͤriger Form abgefaßte „Klage „Klage zu uͤberreichen, welche dem Beklagten mit dem „Bedeuten, sie in zween Tagen zu beantworten, „ fub pœna præclusi und daß alsdenn in conrumaciam „wider ihn erkannt werde, zu communiciren sey, deß- „gleichen daß derselbe auf naͤchste Session in vierzehn „Tagen beschieden werde, um die alsdenn abzufassende „Sentenz anzuhoͤren.‟ Dieser Meinung fielen alle bey, und Sebaldus verfuͤgte sich mit schwerem Herzen nach Hause. Die Klage des Fiscals lief in wenig Tagen ein, und weil darin noch mehr auf die Ewigkeit der Hoͤllenstra- fen, als auf die gehaltene Predigt Ruͤcksicht genom- men war, so glaubten Sebaldus und Wilhelmine, darin die Feder des D. Stauzius zu erkennen. Se- baldus beantwortete sie in den gesetzten zween Tagen ausfuͤhrlich, und Wilhelmine fuͤgte noch einige An- merkungen hinzu, die ihrer Meinung nach die Unschuld ihrer Mannes so treffend bewiesen, daß sich auch nicht das geringste nur mit einigem Scheine, dawider sa- gen liesse. Die Verantwortung ward uͤbergeben, und Sebaldus schwebte indessen zwischen Furcht und Hof- nung. An dem angesetzten Tage begab er sich nach der Residenz. Er muste in dem Vorzimmer der Ses- sionsstube eine halbe Stunde warten, unterdessen daß uͤber sein Schicksal gerathschlagt ward. Darauf ward C 5 er er hineinbeschieden, um die Sentenz anzuhoͤren, wel- che, nach dem gewoͤhnlichen Eingange, folgenderma- ßen lautete: „daß Beklagter wegen irriger Lehre und „Abweichung von den so theuer beschwornen symboli- „schen Buͤchern, wobey er aller liebreichen Ermah- „nungen ohnerachtet verharret, seines Predigt- und „Lehramts zu entsetzen, und er bedeutet werde, sich alles „fernern Lehrens, Predigens und sonstiger Actuum mi- „nisterialium gaͤnzlich zu enthalten, so lieb als ihm die „Vermeidung fuͤrstl. Ungnade, und zweyjaͤhriger Zucht- „hausstrafe sey. V. R. W.‟ Es fand keine Appella- tion statt. Es ward dem guten Sebaldus von dem Consistorialbothen unverzuͤglich Kragen und Mantel abgenommen, zugleich ward er ernstlich bedeutet, die Pfarrwohnung zu raͤumen, indem die Pfarre bereits vergeben sey, und darauf ward er mit einer vaͤterlichen Ermahnung in Frieden entlassen. Das Consistorium aber blieb noch versammlet, um den Praͤsidenten, ein lateinisches Chronodistichon, auf die- sen merkwuͤrdigen zur Festhaltung der reinen orthodo- ren Lehre abzweckenden Actum, verlesen zu hoͤren, das er in den vierzehn Tagen seit der letzten Seßion zu Stande gebracht hatte. Sebaldus war, als er auf die Straße kam, von dem, was vorgegangen war, so betaͤubt, daß er alle alle Besonnenheit verlohr. Seine Fuͤsse trugen ihn mechanischer Weise gerade nach Hanse. Wilhelmine hatte sich, aus zureichenden Gruͤnden, von dem Aus- gange des Processes die beste Hofnung gemacht. Sie hatte daher, in der von ihr selbst gepflanzten Laube, neben dem Pfarrhause, eine laͤndliche Abendmahlzeit zugerichtet. Als sie damit fertig war, gieng sie ihrem Manne, mit ihren beiden Toͤchtern, entgegen. Er kam endlich. Als er noch einige Schritte von ihr war, sahe sie schon in seinen wilden starr auf sie gerichteten Augen, einen Theil des uͤber sie schwebenden Unfalls. Er kam naͤher, und sagte ihr in wenig Worten, wie groß ihr Ungluͤck sey. Wilhelmine ward blaß, die Knie zitterten ihr, sie fiel in ihrer Tochter Arme, und die kleine Charlotte warf sich auf ihre Mutter und weinete. Wilhelmine ward erst nach geraumer Zeit ihrer Sinne wieder maͤchtig, und in großer Schwach- heit nach Hause gebracht. Alle die Vergnuͤgungen, die sich diese kleine Familie, bey dem Abendmahl in der Laube, nach der Zuruͤckkunft ihres Vaters ver- sprochen hatte, waren dahin. Wilhelmine war von dem heftigen Schrecken so sehr beweget worden, daß sie in wenig Stunden in einem starken Fieber lag. Mariane, ob sie gleich ihr Herzeleid verbarg, konte doch, indem sie ihrer Mutter Handreichung leistete, ihre ihre naßen Augen nicht verbergen. Die kleine Char- lotte winselte unaufhoͤrlich, weil sie ihre Mutter leiden sahe. Sebaldus aber, uͤber sein Ungluͤck kaum so sehr niedergeschlagen, als uͤber die Haͤrte rach- gieriger Menschen bestuͤrzt, saß staunend, in der stillen Schwermuth die aͤusserlich kalt scheint, aber innerlich mit desto groͤßerer Heftigkeit auf die Lebens- geister wuͤtet. Vierter Abschnitt. D es andern Morgens fruͤhe, erschien vor Sebal- dus Thuͤre ein Wagen, in welchem Mag. Tuffelius, der Jnformator des Superintendenten saß. Diese Person war fuͤnf Fuß vier Zoll lang, und naͤherte sich mehr der Magerkeit eines Candidaten, als der Feistigkeit eines Pfruͤndenbesitzers. Sein hageres bleiches Gesicht war bestaͤndig wasserrecht gerichtet, ohne sich herauf oder herunter zu neigen. Seine Haͤn- de die etwas laͤnger waren, als sie haͤtten seyn sollen, hielt er mehrentheils gerade vor sich weg, und bewegte sie wellenfoͤrmig, wie ein Schwimmender im Wasser Sein Gang war abgemessen und bedaͤchtlich, als wenn er sich fuͤrchtete auf etwas zu treten, und wenn er sprach, welches nie ohne Noth geschah, war seine Stimme Stimme allezeit einen halben Ton hoͤher gestimmet, als anderer Leute Stimme, und hatte dabey etwas quaͤckendes, daß man glaubte einen Staar zu hoͤren. Er ließ sich durch den Bauer der ihn gefahren hatte aumelden, stieg nach empfangener Antwort langsam aus dem Wagen, und schritte fort, bis er ins Zim- mer kam, wo ihn Sebaldus und Mariane em- pfiengen. Er legte seinen Hut vor seinen Bauch, und beide Haͤnde in den Hut, gruͤßte die Awesenden mit einem halbtiefen Buͤcklinge ohne Haupt und Fuͤsse zu bewegen und ohne ein Wort zu sprechen, setzte sich, und nach verschiedenen Hem, Hem, ließ er sich folgendermaßen aus: „Da ich den goͤttlichen Beruf „erhalten habe, die Seelen dieses Dorfs als ein treuer „Hirte zu weiden, so wird es dann wohl noͤthig seyn, „daß mir dieses Pfarrhaus als meine kuͤnftige Woh- „nung sogleich geraͤumet werde, sintemahl ich in dem „Herrn entschlossen bin, mein Amt unverzuͤglich anzu- „treten, und zu dem Ende noch anheute, auf meine „naͤchstens zu haltende Antrittspredigt zu studieren.‟ Sebaldus stellte ihm vor, daß es unmoͤglich seyn wuͤrde, das Haus zu raͤumen, um so viel mehr, da seine Frau diese Nacht krank worden waͤre. Tuffe- lius antwortete sehr trocken: „Die Jhnen in Person „vorgelesene Sentenz enthaͤlt deutlich, daß sie die Pfarr- „wohnung sogleich raͤumen sollen, und es muß jeder „Christ der Obrigkeit unterthan seyn, die Gewalt „uͤber ihn hat, ich rathe Jhnen also wohlmeinend an, „sich zu huͤten, daß Sie nicht einst zu einem Beispiele „angefuͤhet werden, wie die Abweichung von der rei- „nen Lehre, auch zuletzt Rebellion wider die Obrigkeit „hervorbringt.‟ Sebaldus war durch diese Rede so sehr zum Erstaunen gebracht, daß er den Mag. Tuf- felius mit starren Augen ansahe, und stillschwieg. Mariane aber nahm das Wort, und sagte mit sanf- ter und zitternder Stimme zu Tuffelius: „Wir sind „nicht willens, uns zu widersetzen, wir sind auch dazu „viel zu schwach, wir verlangen nur so viel Zeit, als „noͤthig ist, um eine andere Wohnung zu suchen, dazu „ist ein Tag zu kurz, zudem ist meine Mutter gefaͤhr- „lich krank worden. Ein Prediger ist Bothe des Frie- „dens, er soll Ruhe, Einigkeit und Wohlwollen be- „foͤrdern. Wollen Sie also wohl den Anfang Jh- „res Predigtamts damit machen, daß sie eine aͤus- „serst schwache Kranke aus dem Hause werfen?‟ Tuffelius der mit seinen Augen bishero noch im- mer unverwandt gerade vor sich weggesehen hatte, richtete sie in einer mit dem Horizonte parallelen Linie gegen Marianens Antlitz, runzelte die Stirn, zog den Mund ein wenig in die Breite, und sagte mit etwas etwas lauterer Stimme und aufgehabener rechten Hand: „ Mulier taceat in rebus ecclesiasticis! Meine „liebe Jungfer, ich waͤre nicht werth, ein vieljaͤhriger „Candidat des heiligen Predigtamts zu seyn, wenn „ich die Pflichten dieses hochwichtigen Amts nicht „wuͤste. Die erste Pflicht desselben ist wohl warlich, „daß in Ruͤcksicht auf geistliche und goͤttliche Dinge „alle irrdische und weltliche Dinge uns gar nicht be- „wegen muͤssen. Es wuͤrde unverantwortlich seyn, „wenn man die arme verirrte Schafe einen Sontag „uͤber ohne Hirten lassen wollte, es ist also meine „hoͤchste Pflicht, mich ihrer ohne Verzug anzuneh- „men, und sie bald wieder auf den rechten Weg „und auf die gute gesunde Weide der reinen Lehre zu „fuͤhren, wovon sie vielleicht leider! (hier seufzete er, „und that einen halben Blick auf Sebaldus ) ab, und „in den stinkenden Sumpf der Heterodoxie gefuͤhret „worden.‟ Es ward hieruͤber noch vieles hin und her geredet, und Tuffelius ließ sich endlich mit Muͤhe bereden, damit zufrieden zu seyn, daß ihm vor der Hand eine Stube eingeraͤumet wuͤrde, begab sich in dieselbe schrieb einen langen Brief, mit dem er den Bauer der ihn gefahren hatte zuruͤcksendete, legte Lanki- schens Concordanz, die er im Kuffer mitgebracht hatte, auf den Tisch, und fing an den Faden seiner Anzugspredigt zu spinnen. Sebal- Sebaldus, Wilhelmine und Mariane hatten sich immer blos auf ihre gute Sache verlaßen, und sa- hen nunmehr zu spaͤt ein, daß so gut eine Sache auch ist, dennoch eine maͤchtige Protection zu einem vor- theilhaften Ausschlage, nie uͤberfluͤssig seyn werde. Wilhelmine erinnerte sich des Hofmarschalls und des Grafen von Nimmer, sie glaubte, daß diese maͤch- tige Patronen sie gewiß nicht wuͤrden verlaßen haben, wenn man sie um Huͤlfe ersucht haͤtte. Da sie bey der Schwachheit ihres Koͤrpers nichts von der Leb- haftigkeit ihres Geistes verlohren hatte, so fing sie an, muthige Hofnung zu hegen, daß durch maͤchtige Vor- worte vielleicht ihr Schicksal noch koͤnnte geaͤndert werden. Sie wendete alle Kraͤfte an, ihren Mann zu bereden, daß er nach der Stadt gehen und bei sei- nen Goͤnnern Huͤlfe suchen sollte, welches Sebaldus endlich versprach. Es ward ferner verabredet, daß man die Pfarrwohnung nicht freiwillig raͤumen wollte, und Wilhelmine wuste viele zureichende Gruͤnde an- zufuͤhren, warum Gewalt weder gebraucht werden koͤnnte noch wuͤrde. So lange man nur im Besitz waͤre, glaubte sie, koͤnnte noch wohl die Absetzung widerru- fen werden. Mit diesen Ueberlegungen beschaͤftigten sie sich bis auf den Abend, da sie sich etwas beruhigt niederlegten. Eben dis that auch Tuffelius, nach- dem dem er mit lauter Stimme seinen Abendsegen abgele- sen, und ein Abendlied von zehen Versen gesungen hatte, wir wissen aber nicht genau, ob es Der Tag hat sich geneiget, oder Nun sich der Tag geen- det hat, gewesen sey. Fuͤnfter Abschnitt. D en andern Morgen fruͤh ging Sebaldus bey Sonnenaufgang nach der Stadt. Wilhel- minen hatten ihre suͤße Hofnungen eine ruhige Nacht verschaft, wodurch sie merklich gestaͤrkt ward. Sie ließ sich einige Stunden nachher in einem Großva- terstuhl setzen, trank Thee, und hielt den Kopf der kleinen Charlotte, die selbst die Nacht sehr unruhig zugebracht hatte, und uͤber Hitze und Bangigkeit klagte. Sie wollte sich eben von Marianen etwas aus Wielands Sympathien vorlesen laßen, als Tuffelius unangemeldet in ihr Schlafzimmer trat. Er war im Schlafrocke, und hatte eine von seiner eigenen Hand sehr weiß gepuderte Perucke aufgesetzt. „Jch freue mich, sagte er, (nachdem er ihr in dem „Herrn Friede gewuͤnscht hatte) Sie ausser dem Bette „und so gesund, stark und munter zu sehen, welches sehr „gut ist, indem Sie mir anheute ohne Widerrede das Erster Theil. D „ganze „ganze Haus einraͤumen muͤssen.‟ Wilhelmine, ganz erstaunt, stellte ihm die Unmoͤglichkeit vor. Tuf- felius erwiederte aber: „Es kan kein fernerer Aufschub „statt finden. Auf naͤchstkuͤnftigen Sonntag wird meine „Jntroduction vor sich gehen, daher wird der Herr „Generalsuperintendent des Sonnabends bey mir „abtreten, dazu muß ich in meinem Hause alle noͤthi- „gen Anstalten machen, zumahl da er die Jungfer „ Ursula Stauziin mit sich bringen wird, mit wel- „cher ich mich in ein christliches Eheverloͤbniß einge- „laßen, so ich Jhnen aus nachbarlicher Freundschaft „hiemit will notificirt haben. Saͤumen Sie also nicht „ferner. Es stehet geschrieben: Bittet, daß eure „Flucht nicht geschehe im Winter, itzt sind wir mit- „ten im Sommer, und Sie koͤnnen also wohl zufrieden „seyn.‟ Hiebey blieb es. Wilhelminens Gruͤnde, Marianens Bitten, Charlottchens Weinen und Aechzen, ob sie sich gleich ihm zu Fuͤssen warf, halfen nichts. Er fuͤhrte sie saͤuberlich, eine nach der andern zur Thuͤre hinaus, wo sie zu ihrem nicht geringen Erstaunen vier fuͤrstliche Trabanten von einem Un- terofficier befehligt, vorfanden, durch dieselben ließ Tuffelius, alles was im Hause befindlich, sehr be- hutsam auf die Straße setzen, und gab selbst Achtung, daß nicht das geringste zerbrochen ward. Es Es war heller Sonnenschein, da dis geschah, hin- gegen war es freilich Tuffelius Schuld nicht, daß eine Viertelstunde darauf ein starker Regen fiel. Wilhelmine mit ihren Kindern suchte sich unter einen am Hause gelegenen Schuppen vorm Regen zu verwahren. Alle Bauern waren zusammengelaufen. Sie haͤtten bey einer andern Gelegenheit ihrem Pfar- rer freilich nachdruͤcklich Huͤlfe geleistet. Aber der An- blick der fuͤrstlichen Uniform und des blanken Palla- sches des Unterofficiers, erinnerte sie ihrer treugehor- samsten Pflicht. Einer kratzte sich den Kopf, der an- dere schuͤttelte den Kopf, und so gieng einer nach dem andern weg, bis sie der Regen vollends zerstreute. Nur ein Bauer, den Sebaldus bey einem gewis- sen Vergehen, wegen dessen er ihn haͤtte zur Kirchen- buße zwingen koͤnnen, mit einer bloßen liebreichen Ermahnung bestraft hatte, ließ sich das Elend zu Her- zen gehen. Er fuͤhrte Wilhelminen mit ihren Kin- dern in sein Haus, und holte mit seinem Knechte ihre Sachen nach, die er bis auf weitere Anordnung we- nigstens vor dem Regen sicher stellte. Sebaldus war unterdessen in der Stadt ange- kommen. Sein erster Gang war zum Hofmarschall, bey dem er sich melden ließ, und auch nach einem halb- stuͤndigen Warten vorgelaßen ward. Der Hofmar- D 2 schall schall war nicht mehr eben derselbe, der er vor einigen zwanzig Jahren gewesen war, als er Wilhelminen dem Pastor zufuͤhrete. Er hatte sich unterdessen mit der schoͤnen Clarisse vermaͤhlet. Dis war ein eitles, verschwenderisches, cokettes Ding, bey der er wenig vergnuͤgte Stunden hatte. Sie verschwendete seine Guͤter, putzte sich den halben Tag, und brachte die an- dere Haͤlfte mit ihren Liebhabern zu, die sie alle vier Wochen abwechselte. Jhren Gemahl bekam sie nicht zu sehen, als wenn sie Geld zur Bezahlung ihrer Spielschulden von ihm zu fordern, oder sonst mit ihm zu zanken hatte, und endlich nach einem zehnjaͤhrigen Ehestande starb sie im Wochenbette, woran, wie da- malige Hofnachrichten bezeugen, der Hofmarschall gar nicht schuld zu seyn glaubte. Er auf seiner Seite hatte mehr als fuͤnf und zwanzig Jahre lang, wie es einem treugehorsamsten Hofmarschall gebuͤhret, allen Hof- festen Ehre gemacht, und zur Ehre des Fuͤrsten dessen Wein nie gesparet, sondern hatte alle durchreisende hoch- adeliche, freyherrliche und graͤfliche Layen, redlich unter den Tisch getrunken, hingegen war er auch freilich von manchen geistlichen Herren, als Aebten, Domherren, Moͤnchen, Capitularen, deutschen Rittern und Malthe- serrittern, wieder redlich unter dem Tisch getrunken worden. Er hatte auf diese Art in den Diensten der gnaͤdig- gnaͤdigsten Landesherrschaft, seine Gesundheit, und den groͤßten Theil des Vermoͤgens, das ihm die schoͤne Clarißa uͤbrig’ gelaßen hatte, zugesetzt. Er glaubte also ein Recht zu haben, fuͤr seine treugeleisteten Dienste mit einer ansehnlichen Pension anf Lebenszeit belohnt zu werden. Er hatte damals vor einigen Wochen darum angehalten, hatte aber statt derselben in sehr gnaͤdigen Ausdruͤcken seinen Abschied, mit dem Pre- dicat, als fuͤrstl. Geheimderrath erhalten. Seit die- ser Zeit hatte er zum oͤstern Anfaͤlle von Devotion, die mit den Anfaͤllen vom Stein, vom Chiragra und Podagra abwechselten, und itzt da Sebaldus ihm aufwarten wollte, hatte er eben einen Anfall von Devotion, Chiragra und Podagra zugleich. Er lag auf einer Bergere, Ein Lehnstuhl mit vorstehendem Sessel, um darauf die Fuͤss- zu legen. beide Fuͤsse in Flanell gewickelt, und auf einer nebensteheuden Servante Eine Art von kleinem Tische. von Ma- hagoniholze lagen Goezens Todesbetrachtungen auf alle Tage, und der wohlgeruͤstete Himmels- wagen nebst den Frankfurter Reichs-Ober-Post- Amts-Zeitungen. Sobald der Schmerz in den Haͤnden und Fuͤßen zu arg ward, ergrif er eins von den Buͤchern, und laß uͤberlaut eine Betrachtung oder D 3 Gebet Gebet uͤber das andere, und um desto heftiger und lauter je aͤrger der Schmerz war; so bald er aber nach- ließ, ergriff er die Zeitungen, um sich an den Berich- ten von den grausamen Metzelungen, die die Reichs- executionsarmee unter den Preußischen Heeren zuletzt angerichtet hatte, in der Stille das Herz zu laben. Eben beym Zeitungslesen traf ihn Sebaldus an, und dis war fuͤr sein Anliegen eben nicht vortheil- haft. Der Hofmarschall fuhr ihn ziemlich daruͤber an, daß er nicht Busse gepredigt haͤtte, anstatt durch seine Predigt eine Armee zu verstaͤrken, von der, wenn das verwuͤnschte Reerutiren nicht waͤre, schon kein Mann uͤbrig seyn muͤste. Er hielt ihm dabey eine lauge Predigt vom deutschen Vaterlande, die der beruͤhmte Verfasser des deutschen Nationalgeistes und der Reliquien, irgendwo auch einmal gehoͤret haben muß, weil man in diesen Buͤchern woͤrtlich wieder findet, was damals der alte podagrische Hof- marschall zum Pastor Sebaldus sagte. Nachdem diese Lection eine halbe Stunde gewaͤhret hatte, kam er auf Sebaldus Anliegen zuruͤck, wegen deßen er ihn an den Consistorjalpraͤsidenten verwies. Doch versi- cherte er ihn, als ein alter Hofmann, hoͤflich bey allen Gelegenheiten seiner Protection. Sebaldus fuhr nach dem Schlafrockzipfel, um ihn zu kuͤssen, welches er er auch ruhig geschehen ließ. Hingegen hob er seine Hand auf, um an seine Schlafmuͤtze zu greifen, weil er aber vermuthlich vergaß, daß er die Hand nicht wohl beugen konnte, empfand er ploͤtzlich einen so empfindlichen Schmerz, daß er ein Sacr ** ausrief, sogleich nach Goezens Todesbetrachtungen griff, und laut an zu lesen fieng: Betrachtung am 15ten Junius. Sebaldus war durch diesen Besuch wenig getroͤ- stet worden. Er suchte seinen Freund Hieronymus auf, hoͤrte aber, daß derselbe verreiset waͤre. Er ging daher nach einem Wirthshause, wo er den Rest des Tages blieb. Den andern Morgen fruͤhe machte er sich nach Rennsdorf, dem Sitze des Grafen von Nimmer, auf, wo er gegen eilf Uhr ankam. Die- se Zeit, die dem buͤrgerlichen Theile der menschlichen Gesellschaft beinahe Mittag ist, war fuͤr den Hoch- graͤflichen Greis kaum Morgen. Seit einer halben Stunde ohngefehr hatte er das Bette verlaßen, hat- te das wichtige Geschaͤfft des Kuͤchenzettels abgefer- tigt, und war itzt beschaͤftigt, auf einem weichen So- fa seine Chocolate einzuschluͤrfen, und auf die Ver- dauung der gestrigen Mahlzeiten zu warten. Sobald sich Sebaldus anmelden ließ, ward er sogleich vor- gelaßen. Er naͤherte sich mit wenigstens zwanzig D 4 Buͤck- Buͤcklingen dem hochgraͤflichen Lager, und stamlete etwas einem Complimente aͤhnliches, welches der Graf, in eine Frage nach seinem Befinden verdol- metschte, und nach verschiedentlichem Raͤuspern ant- wortete: „Nicht recht wohl mein lieber Herr Pastor, „mein boͤser Morgenhusten quaͤlet mich alle Tage „mehr! Jch kaun nichts mehr eßen. Gestern habe „ichs nur einmal gewagt, eine Auerhahnpastete zu „kosten, die liegt mir heute noch im Magen. Jch „bin gar zu schwach. Selbst die astrakanschen Melo- „nen wollen mir nicht bekommen, die Ananas ma- „chen mir Blaͤhungen. Jch habe mir heute blos ein „einziges Ragout fin bestellt, ich muß heute fasten, „um meinen Magen wieder herzustellen. Aber ists „nicht elend, mein lieber Herr Pastor, wenn man „nicht eßen kann.‟ Sebaldus antwortete mit ei- nem tiefen Seufzer: „Ja wohl, Ew. Hochgraͤfl. „Gnaden, beinahe eben so schlimm, als wenn man „nichts zu eßen hat, ich befuͤrchte beinahe, daß ich in „diesem Fall—‟ der Graf fiel ihm ins Wort: „Sie „haben Recht, lieber Herr Pastor, bald wird man „auch gar nichts zu eßen haben, der leidige Krieg ver- „derbt alles. Jch habe vorigen Winter recht elend „zugebracht. Die Austern kamen sehr unrichtig an. „Den ganzen Winter uͤber habe ich aus Preußen kein „Birk- „Birkhuhn gesehen, auch Stoͤr bekomt man nicht. „Sehen Sie, Herr Pastor, ich bin ein deutscher Pa- „triot, ich kann das franzoͤsische Eßen nicht leiden. „Jch kann ihre Consommés à la Cardinale, ihre „ C—les d’agneau frites nicht ausstehen. Lieber Herr „Pastor, wir muͤßen bedenken, daß wir Deutsche sind. „Wir koͤnnen uns zwar die guten franzoͤsischen Bruͤ- „hen gefallen laßen, aber unsere Speisen selbst muͤs- „sen deutsch seyn. Jch weiß was in allen deutschen „Provinzen das Beste ist. Wenige Leute verstehen „Z. B. hier zu Lande, was eine pommerische große Mu- „raͤhne ¾ Ellen lang, oder eine Flinder von der Jnsel „Hela, oder ein berlinischer Sander fuͤr Dinge sind, „die habe ich sonst posttaͤglich bekommen. Aber izt „Herr Pastor, izt ist alles aus. Jch habe mir im „vorigen Maͤrz aus Hanau eine kalte Pastete, und „aus Frankfurt am Mayn einen gewuͤrzten Schwar- „tenmagen kommen laßen, den haben die preußischen „Husaren bey Fulda aufgefangen, welcher Teufel soll „denn auch denken, daß die Kerlen schon im Maͤrz „aus den Winterquartieren seyn werden. Jm vori- „gen October sollte ich Krammetsvoͤgel vom Harze „bekommen, die hatten die Lucknerischen Husaren sich „auch wohl schmecken laßen. Jm Februar habe ich „Fasanen aus Boͤhmen verschrieben, ja! wenn nicht D 5 „die „die Graͤnitzer bei Wilsdruf gestanden haͤtten! Die „Franzosen machens nicht beßer. Meine westphaͤli- „sche Schinken, und den Champagner, in dem ich sie „wollte kochen laßen, haben sie im vorigen Monate „in Bielefeld gepluͤndert. Da sieht mans klar, daß „es ihnen mehr um die westphaͤlischen Schinken, als „um den westphaͤlischen Frieden zu thun ist. Jch „ließ mir Caviar aus Koͤnigsberg kommen, da ha- „ben die Rußen die Post bey Coͤßlin angehalten, „und bey Colberg auf die Flotte gebracht. Jch „moͤgte nur wißen, was mein Caviar auf der Flotte „zu thun haͤtte, ich habe niemals ein Korn davon zu „kosten bekommen. Jzt habe ich aus Sonnenburg „Krebse verschrieben, Herr Pastor, dis sind die schoͤn- „sten Krebse an Groͤße und an Geschmack, aber die „werden wohl die Schwedeu speisen, denn die Erlan- „gische Kriegs- und Friedenszeitung schreibt, daß sie „naͤchstens in Berlin seyn werden. So sind wir al- „lenthalben mit Feinden umgeben, die uns alles weg- „nehmen. Kein Wunder wenn wir schon ganz aus- „gehungert sind.‟ Jndem er dis sagte, kam der Cammerdiener, und fragte, ob es Sr. Hochgraͤfli- chen Gnaden gefaͤllig waͤre, das Fruͤhstuͤck zu sich zu nehmen. „Ja,‟ sagte der Graf, „und gebt noch „ein Couvert fuͤr den Herrn Pastor. Sie muͤßen „wißen „wißen, fuhr er fort, daß ich meinen Kuͤchenzettel „zu Mittag und Abend selbst mache, aber das Fruͤh- „stuͤck zu waͤhlen uͤberlaße ich meinem Koche, der „sinnet denn mir jeden Tag etwas neues zu machen, „das ist mir unerwartet, und reizt ein wenig den Ap- „vetit. Wir wollen einmal sehen, was wir heute „gutes zum besten haben. Aha! einen Capaun, und „mit Truͤffeln gefuͤllt, — nicht uͤbel, hier haben Sie „Herr Pastor — hiemit legte er dem Sebaldus ein „Stuͤck vor und nun ging weiter kein Wort aus sei- „nem Munde, so daß Sebaldus, nachdem er ein „paar Stuͤcken verzehret, Zeit genug hatte, seine und „seiner Familie Noth vorzutragen. Der Graf schuͤt- telte dabey den Kopf, sagte mit vollem Munde man- ches Hm, und brach endlich aus: „Herr Pastor ich „wuͤste nicht, wie ich Jhnen helfen sollte, die Zeiten „sind gar zu elend. Ja wenn die preußischen Ein- „faͤlle nicht waͤren. Stellen Sie sich nur vor, daß „gestern der Rittmeister, der eine Meile von hier auf „Postierung stand, sechszehn Stuͤck Rothwildpret in „meinem Holze hat schießen laßen, und noch dazu mei- „stens Riecken. Da moͤgte man vergehen, itzt in der „Setzzeit.‟ Sebaldus versicherte Se. Graͤfl. Gnaden, daß er von Jhnen keine weitere Unterstuͤtzung verlangte, als nur Dero hohes Vorwort bey dem Consistorialpraͤsi- den- denten, damit er nicht aus der Pfarre geworfen werde. „Ja so, versezte der Graf, „mein Vorwort wollen sie „haben, ich bedaure, daß ich Jhnen damit nicht dienen „kann, denn ich komme izt gar nicht mehr nach der „Stadt, sehen Sie, man ißt da gar zu erbaͤrmlich, „zumal bey dem Praͤsidenten, dem komme ich in mei- „nem Leben nicht wieder. Er hat mir vor einem hal- „ben Jahre eine Zwiebelsuppe und darin kleine nuͤrn- „berger geraͤucherte Wuͤrste vorgesetzt, ich begreise gar „nicht, wie eine menschliche Creatur sich mit so etwas „naͤhren kann. Nein, Hr. Pastor, bleiben Sie „heute Mittag bei mir, nur auf ein Gericht Gern- „gesehn, aber das doch besser seyn soll, als ein Tra- „ctament beym Praͤsidenten.‟ Sebaldus ent- schuldigte sich damit, daß er heute noch zu Hause seyn muͤße. „Nun, so bedaure ich, daß ich Sie „nicht bey mir sehen kann. Leben Sie wohl, Herr „Pastor, meinen Empfehl an Jhre Frau Liebste.‟ Sebaldus stand nach also erhaltenem Abschiede, vol- ler Verwirrung auf, machte drey oder vier Buͤcklinge, griff dem Grafen nach dem Schlafrockzipfel, der ihn aber zuruͤck schlug, und dafuͤr den Pastor umarmete, der ganz verwirrt uͤber diese graͤfliche Gnade, wieder Buͤcklinge vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts zu machen anfing, so daß er nicht wußte, wie er zur Thuͤre herauskam, und und da er heraus war, nicht wußte, ob er frendig oder betruͤbt seyn sollte. Jndessen da er eine kleine Strecke gegangen war, fing die Betruͤbniß an, die Oberhand zu gewinnen. Er sahe nur allzuwohl ein, daß er nunmehr alle Hof- nung verlohren haͤtte, von seinen Goͤnnern einige Huͤlfe zu erlangen. Er kam mit traurigem Gemuͤ- the nach Hause. Aber wie groß war sein Entsetzen, da er sein Haus von einem andern eingenommen, seine Familie in einer fremden Huͤtte, seine Frau und seine juͤngste Tochter auf dem Krankenbette, und seine aͤlteste Tochter ganz in Thraͤnen zerfließend antraf! Er sank trostloß auf eine Bank nieder, stand nach einigen Minuten auf, umarmte seine Frau und seine Kinder. „Jch bin nicht so gluͤcklich gewesen, sagte „er, bey Menschen einige Huͤlfe fuͤr uns zu finden, „wir muͤßen alle Huͤlfe von dem allmaͤchtigen Gott „erwarten, und der wird die ungluͤckliche Unschuld „nicht verlassen.‟ Sechster Abschnitt. W ilhelminens Krankheit nahm sehr schnell zu, und bey der kleinen Charlotte, die einige Tage in der aͤussersten Hitze lag, fingen sich an die Pocken Pocken zu zeigen. Der ehrliche Bauer pflegte sie so sehr, als es seine eigene nothduͤrftige Umstaͤnde er- laubten. Er gab ihnen seine einzige Stube ein, schlief mit Sebaldus abwechselnd in der Scheune, und wachte mit ihm abwechselnd bey den Kranken. Ma- riane aber kam ihrer kranken Mutter und Schwe- ster nie von der Seite. Alles was moͤglich war, um ihnen Erleichterung zu verschaffen, that sie, aber leider! war nur sehr wenig moͤglich. Mit jedem Tage vermehrte sich das Elend. Wilhelmine in der aͤussersten Entkraͤftung, Charlottchen mit zusam- menfliessenden Eiterbeulen uͤberdeckt, keine Arzney, wenig Speise, keinen Freund ausser dem ehrlichen Bauer, keine Hofnung, daß dieser Zustand verbes- sert werde, keine Aussicht wie man in diesem Zustande fortleben koͤnne. Schon seit einigen Wochen hatte die Familie von dem Verkaufe einiger Waͤsche und Mo- bilien gelebt, die der Bauer, wenn er zu Markte fuhr, in der Stadt verkauste. Es war zu uͤbersehen, daß diese kleine Huͤlfe nicht lange dauren koͤnnte. Her- nach zeigte sich der kommende Winter, keine Nah- rung, kein Obdach, das bitterste Elend. „O großer „Gott, rief Sebaldus aus, verdienet eine Abwei- „chung von den symbolischen Buͤchern, daß eine Fa- „milie, die bestaͤndig nach deinen Geboten zu wan- „deln „deln beflißen gewesen, in den klaͤglichsten Mangel „gestuͤrzt werde!‟ Jnzwischen beschaͤftigte das gegenwaͤrtige und ver- gangene Elend den Geist viel zu sehr, als daß oft an das kuͤnftige gedacht werden konnte. Jeder Tag sezte zu der großen Masse des Kummers seinen reich- lichen Antheil hinzu. Charlottgens Krankheit stieg schnell bis auf den aͤußersten Gipfel. Je mehr die Saͤfte ihres Koͤrpers in die schreckliche Gaͤhrung ge- riethen, durch die alle Theile aus der Mischung, in der sie sich einander zusammenhalten und ernaͤhren, in die versezt werden, in der sie sich einander zerstoͤren und aufloͤsen, desto mehr nahm ihr zarter Geist an gezwungener Staͤrke, an tumultuarischer Thaͤtigkeit zu. Phantasien traten an die Stelle der Empfindun- gen, und ein taubes Hinbruͤten an die Stelle der sanften Ruhe, die Koͤrper und Geist erquickt. Sie gerieth endlich einen Tag lang in einen betaͤubenden Schlummer, aus dem sie mit der Heiterkeit einer ge- sunden Person erwachte, sie streckte ihre kleine Haͤnde mit einem zaͤrtlichen Lallen nach dem Bette ihrer schwa- chen Mutter aus, redete ihren Vater und ihre Schwe- ster an, die sie seit acht Tagen, bey aller zaͤrtlichen Bemuͤhung derselben ihr zu helfen, nicht gekannt hatte, richtete ihr Haupt auf, forderte ihres Vaters Segen, Segen, aber indem er ein Schritt zu ihr trat, sank sie zuruͤck in die Arme ihrer Schwester, die sie unter- stuͤtzen wollte. Mariane that einen lauten Schrey, Sebaldus fiel auf den todten Koͤrper, die schwache Wilhelmine richtete sich auf, als ob sie ihrer Toch- ter helfen wollte. Umsonst! sie war dahin. Nun sank Sebaldus in die tiefe Betaͤubung, die keinen Theil des Elends einzeln empfindet, weil das Ganze die Seele voͤllig eingenommen hat. Auch Maria- nens Kraͤfte reichten nicht zu, so viel Ungluͤck zu er- tragen. Sie fiel unter einem Strome von Thraͤnen auf ihr Lager, und blieb den ganzen Tag in einer be- taͤubenden Mattigkeit, ohne daß sie im Stande war, ihrer kranken Mutter die gewoͤhnlichen zaͤrtlichen Lie- besdienste zu leisten. Wilhelmine aber, die bisher in der aͤußersten Entkraͤftung gelegen hatte, rief alle ihre Lebensgeister hervor, um ihr uͤberschwengli- ches Elend zu empfinden, denn bey großer Traurig- keit ist die Traurigkeit selbst der einzige Genuß, und daher der Seele angenehm. So schwach sie war, so wendete sie Kraͤfte an, bald zu klagen, bald zu seuf- zen, bald, weil selbst der Anblick der Leiche ihre Zaͤrtlichkeit staͤrker auf die Lebendigen zog, um ihren Mann und ihre Tochter zu troͤsten. Sie wollte so- gar aufstehen, um denen Handreichung zu leisten, deren deren Handreichung sie selbst noͤthig hatte. Aber hier merckte sie, daß ihr Koͤrper schwaͤcher war, als ihr Geist. Sie fiel ermattet nieder, und konnte nur noch blos durch Zureden Trost geben. So brachte diese ungluͤckliche Familie eine Nacht und einen Tag zu, ihr Elend ganz zu empfinden, und einen sehr kleinen Theil davon durch wechselseitigen Trost zu erleichtern. Am Ende dieses Tages fuͤhlte Wilhel- mine schon, daß sie mehr Kraͤfte hatte anwenden wollen als sie besaß, sie fiel Abends in eine außeror- dentliche Ermattung, und in ein mit vieler Hitze ver- knuͤpftes Fieber. Kaum konnte sie gegen Mitternacht einen unruhigen unerquickenden Schlaf genießen. Sie brachte den folgenden Tag in einem schmachten- den Zustande zu. Gegen Abend ergriff sie das Fie- ber mit viel staͤrkerer Hitze, sie erwachte des andern Morgens bey Sonnenaufgang aͤusserst entkraͤftet, und empfand etwas, dergleichen sie noch nie empfunden hatte. Sie legte ihre Hand in die Hand ihres Man- nes, der nebst Marianen die ganze Nacht uͤber nicht von ihrem Bette gewichen war, und sagte mit schwacher Stimme: „Jch sterbe, ich fuͤhle es. Ver- „geben Sie mir es, mein lieber Mann, daß mein „unbedachtsamer Enthusiasmus, den ich oft genug be- „reuet habe, die unerwartete Folge gehabt hat, Sie Erster Theil. E „und „und unsere ganze Familie ungluͤcklich zu machen. „ Der Tod fuͤrs Vaterland ist der Vorwand unsers „Ungluͤcks; wollte Gott, ich koͤnnte ihn sterben diesen „Tod! Doch ich wuͤrde achten, daß ich fuͤrs Vater- „land gestorben waͤre, wenn unser Ungluͤck von einer „empsindsamen Seele nacherzaͤhlt, unsere Geistlichen „warnen, koͤnte, wegen Verschiedenheit der Lehre „nicht die bittere Feindschafft aufeinander zu werfen, „die die eigentliche Ursach unsers Ungluͤcks ist. Mei- „ne Absicht war gut. Mich und unsere Feinde richte „der allmaͤchtige Gott, der das innerste der Herzen „kennet. Lebe wohl, meine liebe Tochter, lebe so, „wie dich deine Aeltern gelehret haben, tugendhaft und „unstraͤflich. Gott gebe, daß du deinen Bruder noch „einmahl gluͤcklich wieder sehest. Jsts moͤglich, so un- „terstuͤtze deinen alten Vater, so lange er lebt. Gott „sey dein Erhalter! Seiner Vorsorge empfele ich dich, „denn leider von Menschen bist du verlaßen! Umar- „me mich! — Hier entrannen zwo Thraͤnen ihren sich brechenden Augen, deren jedes nicht mehr Feuch- tigkeit in sich zu halten schien, als nur eine einzige Thraͤne. Mariane kuͤßte sie auf, und druͤkte ihren Mund auf den Mund ihrer Mutter, deren Haupt in diesem Augenblick sanft auf ihre linke Schulter sank, und die matten Haͤnde glitten ab, die sie eben um um ihre Mariane schlingen wollte. Sie entschlief. Mariane hatte nur noch Kraft, ein wimmerndes Seufzen hoͤren zu laßen, indem sie ihr nochmals den kalten Mund kuͤßte, und hernach sanft die Augen zu- druͤckte. Sie fiel stumm in ihren Stuhl zuruͤck, oh- ne Thraͤne, gleich einem unbeweglichen Bilde. Se- baldus in thraͤnenloser Verzweifelung, stumm und staunend, saß ohne Bewegung, außer, daß er seinen duͤstern Blick von der Leiche seiner kleinen Tochter zu der Leiche seiner Frau wendete. So saßen zwischen zwo geliebten Leichen zween Lebende, todtenaͤhnlich, in stummen Todeskummer. Der einzige Laut den man hoͤrete, war von dem gutherzigen Bauer, der auf der Bank am Ofen sitzend, den Kopf an die Wand gelehnt, innerlich schnuckte. So saßen sie, und der Mittag war vorbey, ohne daß jemand sich gereget, oder etwas zu sich genom- men haͤtte, als ein Mann in einem großen Reiserocke und in einer Reisekappe vor der Thuͤr vom Pferde abstieg, und in die Stube trat. Es war Hierony- mus, der in seinen Geschaͤften verreiset gewesen war. Weil ihn sein Ruͤckweg durch dieses Dorf fuͤhrte, so wolte er seinen alten Freund den Pastor besuchen. Er fand aber im Pfarrhause, anstatt seines Freundes, den Magister Tuffelius und den Superintendenten, E 2 die die eben abgespeist hatten, und nach Tische noch bey einem Glase Wein, von alten Geschichten, von der Convention von Closter-Seven und von dem Atheismus der in den Brandenburgischen Landen, statt der symbolischen Buͤcher eingefuͤhrt werden solte, u. d. gl. sich unterhielten. Sie noͤthigten ihn aufs freund- lichste hinein, so bald er aber von ihnen den ganzen Vorgang erfahren hatte, setzte er sich alles Noͤthigens ohngeachtet wieder zu Pferde, und ritt nach dem ihm bezeichneten Bauerhause. Hier fand er den traurigsten Anblick. Das Kind im Sarge, die Mutter erblasset, die Tochter halb ohn- maͤchtig, den Vater vor Schmerz betaͤubt, den gut- herzigen Bauer, der anfing ihnen Trost zuzuspre- chen, da er selbst Trost noͤthig gehabt haͤtte. Beym Anblicke des Hieronymus ergoß sich das weiche Herz der Mariane in einen Thraͤnenstrom. Sie zeigte auf die Leiche ihrer Mutter nnd Schwester, ihre Blicke sagten mehr, als ihre gestamleten Worte. Hierony- mus brachte auch Thraͤnen anstatt Worte herfuͤr. Mariane fiel vor Thraͤnen erschoͤpft in seinen Armen in Ohnmacht. Er brachte sie mit Huͤlfe des guther- zigen Bauers wieder zu sich. Nun ging seine Sorge auf Sebaldus, der, starre Blicke auf beide geliebte Leichen geheftet, ohne alle Empfindung dessen, was um um ihn vorgieng, da saß. Auf alles Zureden des Hieronymus, antwortete er nur durch abgebro- chene Worte, tiefe Seufzer und starre Blicke gen Himmel. Endlich stand er auf, hob seine beiden Haͤnde empor, faltete sie, und brach in apocalypti- scher Entzuͤckung folgendermaßen aus: ‚Ja, ich habe „Unrecht, o meine verklaͤrte Wilhelmine, dich zu „beklagen, daß du einer Welt voll Elend, voll Be- „trug, voll Bosheit bist entrissen worden: wo das „Laster in guͤldenem Stuͤcke gehet, wo Tugend und „Menschenfreundschaft betteln muß, wo fuͤhllose Prie- „ster noch jenseits dieses Lebens ihre Verdammungen „ausspenden. Wohl dir, daß du gestorben bist! „Zwar betruͤbt mich dein Abschied jetzt sehr, aber o „wie sehr viel freudiger wird unsere Zusammenkunft „seyn, wenn wir uns in dem himmlischen Jerusalem „wiedersehen werden, wo kein Verbannetes mehr seyn „wird, wo wir sehen werden den lautern Strom „des lebendigen Wassers, klar wie ein Crystall, wo „die, die da siegeten an dem Thiere und seinem Bilde „und an der Zahl seines Namens, stehen werden, „und haben Gottes Harfen, und singen das Lied „Mosis und das Lied des Laͤmmleins, und sprechen: „Groß und wundersam sind deine Werke, Herr Gott, „Allmaͤchtiger, gerecht und wahrhaftig sind deine E 3 „Wege „Wege du Koͤnig der Nationen! Wer sollte dich nicht „fuͤrchten, Herr, und deinen Namen verherrlichen, „weil du so gnaͤdig bist!‟ Mit diesen und andern Worten der Apoealypse troͤstete sich Sebaldus, und suchte Kraͤfte, sein Leid zu ertragen. Hieronymus ließ ihn in dieser beruhi- genden Extase, gieng zu seinem Mantelsacke, der noch auf dem Pferde lag, holte daraus ein paar gebra- tene Huͤner, und unter einem seiner Pistolenhulf- ter, eine geschliffene Flasche Rheinwein hervor, denn er pflegte auf Reisen, die Pistolen fuͤr seine Feinde, und den Wein fuͤr seine Freunde bey sich zu fuͤhren. Er zog seinen schweren Reiserock aus, und bereitete in der Scheune das Mahl, von dem er und der Bauer ihrer Traurigkeit ungeachtet, dennoch herzlich aßen, weil sie beide hungrig waren. Sebaldus und Ma- riane aber, nahmen auf wiederhohltes Zureden, we- nigstens so viel zu sich, daß der Koͤrper in den Stand gesetzt ward, die Bekuͤmmernisse der Seele besser zu ertragen. Nach der Mahlzeit trug Hieronymus mit dem Bauer, Wilhelminens erblassten Koͤrper, und den Sarg der kleinen Tochter in die Scheune, die dem Sebaldus bisher zum Nachtlager, und noch kuͤrz- lich lich zum Speisezimmer gedient hatte. Er rieth Se- baldus und Marianen, nunmehr ihren Koͤrper zu pflegen, da sie die Todten nicht mehr pflegen konnten. Er versprach in zween Tagen wiederzukommen, und fuͤr Wilhelminens und des Kindes Begraͤbniß zu sorgen. Zuletzt erbot er sich, alsdenn Sebaldus und Marianen mit sich nach der Stadt zu nehmen, wo sie ihm in seinem Hause willkommen seyn solten. Beide nahmen ein so freundschaftliches Anerbieten mit Dank an. Hieronymus bat Vater und Tochter nochmals, ihre Traurigkeit zu maͤßigen, gab, als er seinen Reiserock aus der Scheune holte, dem Bauern etwas Geld, um sie besser pflegen zu koͤnnen, um- armte sie, und ritt nach Hause. Siebenter Abschnitt. N ach zween Tagen erschien Hieronymus, vor des Bauers Huͤtte, abermals zu Pferde. Jhm folgten zween von seinen Kornwagen, leer, nur daß auf einem ein Sarg stand. Jn diesen ward Wilhel- minens Leichnam geleget. Unterdessen daß der Bauer mit seinen und Hieronymus Knechten des Sebal- dus saͤmtliche Mobilien auf die Wagen packte, ging Hieronymus zum Mag. Tuffelius, um fuͤr die E 4 doppel- doppelte Beerdigung die Gebuͤhren zu bezahlen. Tuf- felius bezeigte uͤber des Sebaldus Unfaͤlle ein christli- ches Mitleiden, versicherte, daß er gegen denselben gar keine Feindschaft hege, und um sein vertraͤgliches Gemuͤth zu zeigen, erbot er sich sogar, der sel. Frau Pastorin eine oͤffentliche Leichenpredigt zu halten, wenn es dem Herrn Hieronymus beliebte die Gebuͤhren dafuͤr zu entrichten. Dieser fand es aber eben nicht noͤthig, und kehrte nach dem Bauerhause zuruͤck, wo er mit Beyhuͤlfe des gutherzigen Bauern die Beer- digung beider Leichen besorgte, und unmittelbar dar- auf Sebaldus und Marianen mit sich nach der Stadt nahm. Sie hielten sich einige Monate in Hieronymus Hause auf, ohne daß ihnen der geringste Unfall be- gegnet waͤre. Zwar hielt D. Stauzius, den Sonn- tag nach ihrer Ankunft, eine scharfe Gesetzpredigt uͤber den Spruch: einen ketzerischen Menschen meide, worinn er sehr deutlich zeigte, daß derjenige, der einen ketzerischen Menschen beherberget, sich seiner Suͤnden theilhaftig machet, welches er mit 2 Joh. v. 10. be- staͤtigte. Doch hatte er das Misvergnuͤgen, daß diese Predigt gar nicht auf Sebaldus, sondern auf einen katholischen Zuckerbecker gedeutet ward, den der Fuͤrst hatte aus Wien kommen lassen. Und da durch Ver- anlas- aulaßung dieser Predigt, auf dem eben vorseyenden Landtage, die Ritterschaft aus diesem Zuckerbecker ein Landesgravamen machte, und Sr. Durchl. in Unter- thaͤnigkeit vorstellte, daß das suͤße Confect dieses Man- nes die Bitterkeit der papistischen Lehre nimmermehr versuͤßen koͤnte, so bekam D. Stauzius noch dazu aus dem Fuͤrstl. Cabinette einen Verweis, den er zu den Truͤbsalen rechnete, die der Satan frommen Lehrern erwecket, und ihn in Geduld ertrug, bis er in der am Ende des Landtages zu haltenden Predigt, sich wider diejenigen die den Waͤchtern Zions ihre Wachsam- keit verweisen, mit Nachdruck erklaͤren koͤnnte, Sebaldus und Mariane, die die ihnen zuge- dachte Abkanzelung nicht einmahl erfahren hatten, lebten indessen sehr ruhig und vergnuͤgt. Mariane beschaͤftigte sich mit weiblichen Arbeiten und mit dem Unterricht zweyer kleinen Toͤchter des Hieronymus. Sebaldus aber, brachte die meiste Zeit in Hierony- mus Laden zu, um aus alten prophetischen Schriften Collectaneen zu seinem apocalyptischen Commentar zu zu sammlen. Er durfte auch nicht befuͤrchten, daß ihn hier etwa einer von seinen Feinden stoͤren moͤchte, denn weder der Praͤsident, noch der Superintendent hatte im Buchladen etwas zu thun. Der erste war ein Genie, und als ein solches hielt er es fuͤr sich nicht E 5 anstaͤn- anstaͤndig, viel zu lesen, der andere erwartete alle Wirkung seiner Predigten von der seligmachenden Gnade, und hielt also alle menschliche Gelehrsamkeit fuͤr ganz uͤberfluͤßig. So zufrieden aber auch Sebaldus und Mariane in dem Hause ihres freundschaftlichen Wirthes waren, so lagen sie ihm doch bestaͤndig an, fuͤr sie Posten zu finden, in denen sie ihren Unterhalt erwerben koͤnnten. Kurz darauf fand sich eine gewuͤnschte Stelle fuͤr Ma- rianen, denn als Hieronymus wieder in Geschaͤf- ten verreiset war, ersuhr er, daß eine adeliche Da- me, eine franzoͤsische Demoiselle zu Erziehung ihrer beiden Fraͤulein verlangte. Hierzu schlug er Ma- rianen vor, die auch sehr gern darin willigte. „Diese „Stelle, sagte Hieronymus, scheint fuͤr Sie sehr „vortheilhaft zu seyn, aber ich rathe Jhnen, nicht „Jhren Namen zu fuͤhren. Diese Dame ist eine weit- „laͤuftige Verwandtin des D. Stauzius, und ich „befuͤrchte, er moͤgte aus Rachgier Jhnen auch dort „uͤble Dienste leisten. Und ob es gleich heißt, daß „Sie zur Erziehung der jungen Fraͤulein berufen wer- „den, so ist doch, wie ich merke, die Uebung in der „franzoͤsischen Sprache, das vornehmste, das von „Jhnen verlangt wird. Jch habe Sie also, als die „Tochter eines von den Russen vertriebenen franzoͤsi- „schen „schen Predigers aus einem Staͤdtgen der Neumark „angekuͤndigt. Dessen Namen muͤssen Sie also fuͤh- „ren, weil der Namen vielleicht nicht wenig beigetra- „gen hat, daß Sie andern Competentinnen sind vor- „gezogen worden.‟ Mariane nahm also einen franzoͤsischen Namen an, ob in en oder in ere, oder in on, oder in ac, ha- ben wir nicht eigentlich erfahren koͤnnen, und reisete mit demselben, und einem Empfelungsschreiben des Hieronymus versehen, nach dem Gute der Frau von Hohenauf ab, welches sechszehn Meilen von der fuͤrstl. Residenzstadt entlegen war. Ende des ersten Buchs. Zweytes Zweytes Buch. Erster Abschnitt. S ebaldus hatte seine Mobilien groͤstentheils ver- kauft, und das daraus geloͤsete wenige Geld Marianen zur noͤthigen Einrichtung mitgegeben. Er hatte sich in den Zustand jenes Philosophen ver- setzt, daß er alles das seinige bey sich tragen konnte. Nunmehr bestand er darauf, auf irgend eine Art, und wo moͤglich, ausser der Stadt, in der seine Feinde wohnten, selbst sein Auskommen zu ver- dienen. Nach einiger Ueberlegung, nahm ihn Hie- ronymus mit sich, als er nach Leipzig zur Messe reisete, wo er ihm bald bey einigen großen Druckereyen die Stelle eines Correctors verschafte. Sebaldus miethete eine kleine Dachstube im sechsten Stockwerke, und war bey seinem obwohl duͤrftigen Auskommen uͤberaus vergnuͤgt mit seinem Zustande, weil er nur ein Drittel des Tages mit Correcturen zu thun hatte, und die die uͤbrige Zeit auf seine apocalyptische Erklaͤrung wen- den konnte, die ihm, wie ein alter Freund, in seinen Widerwaͤrtigkeiten nur noch lieber geworden war. Ob uͤbrigens Sebaldus zuerst den Herrn D. Er- nesti oder den Herrn D. Crusius besucht habe, wis- sen wir nicht. Vielleicht hat er bedacht, daß ein ar- mer Corrector nicht so leicht zu einem vertraulichen Umgang mit solchen Maͤnnern gelange, und daß es unnuͤtz sey, einen Gelehrten auf eine halbe Viertel- stunde zu besuchen, um sein Gesicht zu begaffen, und ist also gar zu Hause geblieben. Ob er jemals Prof. Gellerts moralischen Vorlesungen beigewohnt, oder jemals mit Mag. Froriep uͤber die symboli- schen Buͤcher, oder uͤber die Nunnation der arabischen Nennwoͤrter disputirt habe, laͤßt sich auch so genau nicht sagen. Ob er in der Nicolaikirche, des in Leipzig und dessen saͤmtlichen Vorstaͤdten beruͤhmten Mag. Mat- thesius salbungsvolle Predigten wider die Schau- buͤhne mit angehoͤrt, oder ob er zu eben der Zeit da sie gehalten worden, im Kuchengarten, des eben so weit beruͤhmten Haͤndels von Butter triefende Maul- schellen und Wetzsteine verzehret habe, daruͤber sind gar keine Nachrichten vorhanden. Es haben sehr ernsthafte Gelehrten behauptet, daß die Wahrheit das Wesen der Geschichte sey. Wir Wir sind weit entfernt, Maͤnnern die so scharf de- monstrirte Theorien der Geschichte zusammensetzen koͤn- nen, im geringsten zu widersprechen, nur haben wir uns unterstanden zu muthmaßen, daß ob man gleich in der Geschichte lauter wahre Begebenheiten erzeh- len solle, man doch auch lieber den groͤsten Theil der wahren Begebenheiten koͤnnen unerzaͤhlt laßen. Es sind funfzigtausend Baͤnde voll Wahrheit uͤber die Geschichte Deutschlands zusammengetragen worden, so daß der schon ein gelehrter Geschichtskundiger heißet, der nur den funfzigsten Theil dieser Wahrheiten gelesen hat. Dieser Ueberfluß von Wahrheit, hat manchen braven Deutschen zu dem angenehmen Luͤgner Voltaire ge- fuͤhret, der uns ein halbes Jahrhundert in wenigen Blaͤttern uͤbersehen laͤßt, aber dafuͤr auch oft unver- antwortlicherweise eine Hildegardis hinsetzt, wo eine Mathildis stehen solte, oder die Jahrzahl funfzig angiebt, wo die Jahrzahl sechzig solte angegeben wer- den. Der Unterschied zwischen unsern deutschen wahr- haften Geschichtschreibern, und den oft luͤgenhasten Franzosen, (woraus auch zu erklaͤren ist, warum Haͤ- berlins Auszug der deutschen Geschichte un- gleich corpulenter gerathen ist, als Voltairens al- gemeine Weltgeschichte, ) besteht darin: Der ge- lehrte Deutsche verschweigt dem Leser nichts, was er er gewiß weiß, und das ist denn sehr viel, aber er bedenkt oft nicht, was der Leser zu wissen verlange, welches gemeiniglich sehr wenig ist. Hingegen der Franzose, der nur wenig weiß, thut sich auch darauf nichts zu gut, sondern erzaͤhlet nur das, was er meint, daß seine Leser zu wissen verlangen koͤnnten, macht sich aber auch kein Bedenken, es ihnen zuweilen mit einer kleinen Bruͤhe von Erdichtung schmackhafter zu machen. Wir die wir diese Beyspiele vor uns sehen, spiegeln uns an denselben- Wir wissen von Sebaldus Auf- enthalte in Leipzig sehr viele Umstaͤnde, die wir nicht wie die deutschen Geschichtschreiber, samt und sonders erzaͤhlen, sondern sie vielmehr mit einiger Verlaͤngnung unterdruͤcken wollen, weil wir nach reifer Ueberle- gung gefunden haben, daß unsere Leser weder Nu- tzen noch Vergnuͤgen daraus schoͤpfen koͤnnen. Hin- gegen soll auch die Wahrheit das Wesen dieser Ge- schichte bleiben, und wir werden daher keinesweges, gleich dem leidigen Voltaire, Umstaͤnde verstellen oder erdichten, um unsere Erzaͤhlung intereßanter zu ma- chen. Damit man aber nicht etwa glaube, wir wuͤ- sten nichts, weil wir nichts sagen, so wollen wir, um das Gegentheil zu zeigen, aus der grossen Menge der vor uns liegenden Nachrichten, einige bey Sebaldus Aufenthalt in Leipzig vorgefallenen Abendgespraͤche mittheilen. Neben Neben der Dachstube des Sebaldus, wohnete auf einer andern Dachstube ein alter Magister, mit dem er bald Bekanntschaft machte, und mit ihm in kurzen vertraut wurde, weil es sich aͤusserte, daß der- selbe, so wie er, an der Ewigkeit der Hoͤllenstrafen zwei- felte. Dieser Mann hatte gruͤndliche Kenntnisse der alten Sprachen und alles dessen, was zur Philologie gehoͤrt. Er hatte die alten griechischen Philosophen fleißig gelesen, und sie mit den Schriften neuerer Phi- losophen verglichen, wodurch er gute Einsichten in die Philosophie erlanget hatte. Aber weil seine Kennt- nisse nicht nach nach der Mode zugeschnitten waren, und weil er, sobald er mit Menschen reden solte, uͤber- aus schuͤchtern und aͤngstlich war, so hatte er sich nie getraut, um ein Amt, selbst nicht um ein Schulamt anzuhalten, man wuͤrde es ihm vielleicht auch nicht gegeben haben. Er war daher als Corrector bey ver- schiedenen Druckereyen, grau worden. Er kennte alle Vorfaͤlle des Verleger- und Autorgewerbes. Denn gleichwie ein Lichtputzer in der Comoͤdie, zuweilen einen stummen Staatsminister oder einen redenden Lakayen vorstellen muß; so war auch er, obgleich eigentlich nur ein Corrector, dennoch von seinem Verleger oft zum Uebersetzer, ja wohl gar zum Schreiber einer zuverlaͤßigen Nachricht, oder schrift- und und vernunftmaͤßiger Gedanken, gebraucht worden. Einige Tage nach Sebaldus Ankunft, besuchte ihn der Magister, um den Abend bey einer sehr fruga- len Abendmahlzeit zu verplaudern. Der Magister fragte, wie ihm Leipzig gefiele. Sebaldus der nichts fuͤr merkwuͤrdig hielt, was nicht einem Buche aͤhnlich sahe, hatte auch in Leipzig nichts als die vielen Buch- druckereyen und Buchlaͤden bemerkt. Jhm war gar nicht in die Augen gefallen, ob die Einwohner den Rang oder die Bequemlichkeit liebten, ob sie gesellig oder steif waͤren, ob die Damen lieber geputzt als schoͤn zu seyn suchten, ob die Studenten ein gelehrtes oder ein soldatisches, ein galantes oder ein liederliches Ansehen affectirten, ob die Jungemaͤdgen Niedlich- keit und Artigkeit fuͤr den ersten Zweck ihres Da- seyns hielten oder nicht. Jhm war es nie eingekom- men zu untersuchen, wie die Bauart der Haͤuser, den Zweck der Eigenthuͤmer bey wenigem Platze ihre Wohnungen bequem zu machen, verriethe, welchen Beweis des Wohlstandes der Einwohner die schoͤnen Gaͤrten und Gartenhaͤuser in den Vorstaͤdten darboͤ- ten, und ob daselbst Reichthum und Kenntniß des Schoͤnen mit gleichen Schritten fortgegangen sey. Er hatte sich auf den Straßen nie umgesehen, und Erster Theil. F es es war ihm nie eingefallen zu eroͤrtern, ob das Ho- mannsche Haus oder die Wage schoͤner gebauet sey, ob am Erker des Romanusschen Hauses, mit Rechte, drey uͤbereinanderstehende Saͤulenordnungen auf einem Kragsteine ruhen, oder ob im Großbosischen Garten die fleißige Kunst die schoͤnsten Anlagen der Natur verderbt habe. Den schoͤnsten unter den Leipziger Gaͤrten, den Richterschen, hatte er eben so wenig, als die reizende Aussicht aus demselben gegen das Zscho- chersche Hoͤlzgen zu, gesehen. Die schoͤne Gegend hinter Raschwitz war ihm nicht zu Gesichte gekommen, und vom Linkschen, Winklerschen und Richterschen Ca- binette, hatte er nicht einmahl reden hoͤren. Weil die Rathsbibliothek und die Universitaͤtsbibliothek, die einzigen Gegenstaͤnde seiner Neugierde, in der Messe nicht offen waren, so hatte er alle Tage seines Aufenthalts in Leipzig damit zugebracht, von Dru- ckerey zu Druckerey und von Buchladen zu Buchla- den zu wandern. Noch ganz voll von diesen Gegen- staͤnden, rief er aus: Wie solte mir Leipzig nicht gefallen, der aͤchte Sitz der Gelehrsamkeit, die wahre Stapelstadt ge- lehrter Kenntnisse, welche aus Deutschland hieher ein- gesamlet, und von hieraus allen andern deutschen Pro- vinzen wieder mitgetheilet werden! Hier siehet man in in unzaͤhlbarer Menge die Fruͤchte der Nachtwachen einer grossen Anzahl gelehrter Maͤnner, die, nachdem sie beschaͤftigt gewesen, ihren Geist mit allen nuͤtz- lichen Kenntnissen zu bereichern, diese Kenntniße, durch unermuͤdetes Nachdenken vervollkommet, der ganzen Welt mittheilen und sie dadurch zu erleuchten suchen. Wenn ich die hiesigen unermeßlichen Buͤ- cherniederlagen betrachtet habe, ist mir die unaus- gesetzte Geschaͤftigkeit der Gelehrten recht ehrwuͤrdig vorgekommen. Jch haͤtte nie gedacht, daß so viele Buͤcher in der Welt waͤren, als ich hier beisammen finde, und daß noch jaͤhrlich einige hundert oder tau- send hinzukommen. Mag. Und daruͤber freuen Sie sich? Jch nicht. Sie kommen mir vor, wie ein hungriger Ankoͤmm- ling an einer reichbesetzten Tafel, der den grossen Vor- rath von Speisen siehet, und schon uͤberschlaͤgt, wie gut er sich mit diesen herrlich aussehenden Nahrungs- mitteln fuͤttern wolle. Jch bin einer von den Gaͤsten, die schon oft an dieser Tafel geseßen haben, und schon oft hungrig aufgestanden sind. Einige Speisen hat- ten einen sehr wiedrigen haut-gout, andere schmeck- ten angenehm aber waren aͤußerst unverdaulich, an- dere waren nicht gahr gekocht, und andere waren bloße Schaueßen. Endlich blieb ich zu Hause, F 2 aß aß mein Stuͤck Kaͤse und Brodt, und verwuͤnschte alle Koͤche. Seb. Aber ist es nicht ein herrliches Schauspiel, eine so große Menge gelehrter Werke zusammen zu se- hen, die doch alle, jedes in seiner Art, die Menschen kluͤ- ger, gelehrter, weiser, tugendhafter, kurz beßer machen? Mag. Ein Schauspiel wie manches andere, von dem uns die Einbildungskraft, ehe wir es sehen, die angenehmste Vorstellungen macht. Wer wie Sie vom Lande, aus der Einsamkeit kommt, ist sehr ge- neigt sich durch jeden ersten Glanz blenden zu laßen, und alles fuͤr schoͤner anzusehen als es ist. Mein lie- ber Freund! Wenn die Gelehrten durch ihre Buͤcher sonst nichts zu erlangen suchten, als was sie da sagen, so wuͤrden neun Zehentheile der Buͤcher gar nicht ge- schrieben werden. Wie die Menschen kluͤger weiser und beßer werden sollen? Jch wette daran haben neun Zehentheile der Schriftsteller, deren Werke die Meße zur Meße machen, gar nicht gedacht. Sie haben ganz andere Absichten zu erlangen und ganz andere Beduͤrfniße zu befriedigen. Seb. Welche koͤnten die seyn? Ein Gelehrter hat freilich viele Absichten und Beduͤrfniße, als Mensch mit andern Menschen gemein. Was koͤnte er aber als Gelehrter fuͤr ein anderes. Beduͤrfniß haben, als seinen seinen Geist durch alle nuͤtzliche Kenntniße aufzuklaͤ- ren, und wenn er findet, daß er erleuchteter ist als andere, was folget natuͤrlicher darauf, als die Ab- sicht, andern seine Kenntniße mitzutheilen, das heist- ein Schriftsteller zu werden. Mag. Diese Folge scheint so natuͤrlich, gleich- wohl muß sie nicht nothwendig seyn, denn gewiß sehr viel Schriftsteller haben nicht daran gedacht ob ihr Geist aufgeklaͤrt gnug sey, noch weniger ob er aufge- klaͤrter sey, als der Geist anderer Leute, und gleich- wohl sind sie Schriftsteller in bester Form, und wenn Zeitungslob und eigen Lob etwas gilt, große beruͤhm- te Schriftsteller. Hingegen haben wir beide, Sie mein Freund und ich, von Jugend auf gearbeitet unsere Kenntniße zu erweitern und volkommner zu machen, und ich darf sagen, wir wißen es auch, daß wir man- che Sachen beßer einsehen, als manche andere Leute, und gleichwohl duͤrften wir beide vielleicht nie Schrift- steller werden. Seb. Jch weiß nicht, was Sie zu thun willens sind. Jch aber, ich muß es mit einiger Schuͤchtern- heit gestehen — ich arbeite schon seit vielen Jahren, an einem Commentar uͤber die Apocalypse. Mag. Ueber die Apocalypse? Da sind Sie mehr als jemand bey mir im Verdacht, daß nicht allein F 3 die die von Jhnen vorher angefuͤhrten schoͤnen Absichten, sondern einige kleine Nebenabsichten Sie zum Schrift- steller machen. Seb. Jch bin mir keiner Nebenabsichten bewust. Walche koͤnte ich auch haben? Mag. Jch weiß nicht. Vielleicht ein wenig Ruhmsucht. Sie wollen der Welt gern etwas neues und scharsfinniges sagen, denn etwas fuͤr das menschliche Geschlecht nuͤtzliches werden Sie doch schwerlich sagen koͤnnen. Die Apocalypse ist eine dick- schaͤligte Citrone, aus der so viele hundert Commenta- toren, den wenigen Saft der in ihr war, schon laͤngst ausgepreßt haben. Seb. Wenn sie nicht mehr Saft in sich hat, so koͤnte sie doch vielleicht noch Oel enthalten. Glauben Sie nicht, daß es dem menschlichen Geschlechte wich- tig waͤre, wenn ich zeigte, daß alles was man bisher, uͤber dis seit vielen Jahrhunderten vielen Menschen so wichtig scheinende Buch, geschrieben hat, alberne Fratzen sind, voller Unsinn, auf Kosten des gesun- den Menschenverstandes, der Religion und der Ge- schichte gesagt. Waͤre es nicht ein Verdienst so viel Luͤgen um ihr Ansehen zu bringen, wenn ich auch nur wenig Wahrheit an die Stelle setzen koͤnte. Und gleichwohl, ohne ruhmredig zu seyn, versichere ich, daß ich ich die erfuͤllten historischen Weissagungen, aus der Ge- schichte anzeigen und von einigen wenigen noch uner- fuͤllten, solche Muthmaßungen an die Hand geben will, die selbst Koͤnigen und Fuͤrsten nicht gleichguͤl- tig seyn duͤrften. Dennoch schaͤtze ich diese meine hi- storische Entdekungen sehr gering gegen diejenigen, die etwas beitragen koͤnnen den moralischen Zustand des Menschen zu verbeßern. Wie, wann ich aus die- sem Buche, von dem kuͤnftigen Zustande der Auser- waͤhlten die sichersten Schluͤße ziehen, wenn ich (hier funkelten dem ehrlichen Sebaldus die Augen) aus demselben die Lehre, die Sie wie ich verab- scheuen, die Ewigkeit der Hoͤllenstrafen, gaͤnzlich wiederlegen, und deutlich zeigen koͤnte, wie in Got- tes Haushaltung alle Bestrafung auf Beßerung abzielen muß und wird — koͤnte dis dem menschlichen Geschlechte gleichguͤltig seyn? Mag. Mein Freund, Sie haben wirklich eine gute Anlage zum Schriftsteller, Sie kommen in Feuer wenn Sie von Jhrem Buche reden. Doch scheint es mir, indem Sie mir beweisen wollen, daß die Ruhmsucht nicht der Bewegungsgrund Jhres Schrei- bens ist, so ruͤhmen Sie sich so sehr als man sich ruͤh- men kann. F 4 Seb. Seb. Den Ruhm, der aus einer wohlgelunge- nen Ausfuͤhrung eines nuͤtzlichen Unternehmens ent- springt, verachte ich gar nicht. Er ist jedem rechtschaf- fenen Manne angenehm, und kann mit der Begierde der Welt zu nuͤtzen, sehr wohl bestehen, und so wird es vermuthlich auch wohl mit den Nebenabsichten seyn, die Sie den Schriftstellern schuld geben. Mag. Nicht voͤllig eben so. Die meisten Schrift- steller schreiben, um bekannt zu werden, ein Amt zu erschreiben, einem Patron ein Buch zu dediciren, ei- nen Freund zu erheben, oder einen Feind zu erniedri- gen, und sie denken mehrentheils nicht daran, ob die Welt von ihren Buͤchern Nutzen oder Schaden habe, wenn sie nur ihren Privatendzweck erreichen. Seb. Den koͤnnen sie aber nicht erreichen, wenn sie nicht zugleich etwas nuͤtzliches schreiben. Denn es kann doch niemand so unverschaͤmt seyn, ein Buch her- auszugeben, um etwas bekanntes oder langweiliges oder nichtsbedeutendes zu sagen. Mag. Das sollte freilich nicht seyn, wie will es aber ein armer Schriftsteller machen, wenn er nichts neues intereßantes und wichtiges zu sagen hat, und doch ein Buch schreiben soll. Meinen sie nicht, daß ein wichtiges und nuͤtzliches Buch viel Geschicklichkeit er- fodere, daß man sehr viel mehr wißen muͤße, als was man man sagt, daß man vorher alles nachlesen muͤße, was andere bekannte Schriftsteller uͤber diese Materie ge- schrieben haben, daß man sich aber doch nicht muͤße merken laßen, wie viel man gelesen habe, daß man seine ganze Materie wohl uͤberlegen und anordnen muͤße, und daß zu allem diesen sehr viel Zeit und Ar- beit gehoͤre? Seb. Allerdings! Mag. Meinen Sie aber, daß der, der bekannt werden, ein Amt erschreiben, seinem Patron ein Buch dediciren, seinen Freund erheben oder seinen Feind erniedrigen will, allemahl Geschicklichkeit ha- ben werde, oder viel Zeit und Arbeit werde anwen- den koͤnnen? Seb. Nein! Wenn aber dis nicht ist, so muß er auch gar kein Buch schreiben, denn den wahren Hauptzweck des Schriftstellens unwichtigen Neben- zwecken aufopfern, ist eines wahren Gelehrten ganz unwuͤrdig. Mag. Ja freilich eines Gelehrten! Aber ein Schriftsteller, kann es im Laufe seines Gewerbes nicht so genau nehmen. Seb. Jch weiß nicht wie Sie sprechen. Ein Buchdrucker oder ein Buchhaͤndler, mag ein Gewer- be mit Buͤchern haben, aber ein Schriftsteller ist ein F 5 Gelehrter Gelehrter, der der Welt nuͤtzliche Kenntniße mitzuthei- len sucht, der Wahrheit und Weisheit befoͤrdern will. Mag. Jhre Einbildungskraft, mein liebster Freund, fliegt noch ziemlich hoch, laßen Sie sich her- unter, und kommen Sie der Erde naͤher. Der groͤ- ste Haufen der Schriftsteller von Profeßion, treibt ein Gewerbe, so gut als die Tapetenmaler oder die Kunstpfeifer, und sieht die wenigen wahren Gelehr- ten, fast eben so, fuͤr zudringliche unzuͤnftige Pfuscher an, als jene Handwerker einen Mengs oder Bach. Durch dis Gewerbe, und nicht durch die Begierde das menschliche Geschlecht zu erleuchten, entsteht die unsaͤgliche Menge von Buͤchern die Sie so bewun- dert haben; denn Leipzig ist freilich seit mehr als hun- dert Jahren die Stapelstadt der Waaren, die diese gelehrten Handwerker zu jeder Meße verfertigen. Seb. Sie haben ein sonderbares Vergnuͤgen da- ran, Woͤrter zusammenzusetzen, deren Begriffe of- fenbar miteinander zu streiten scheinen. Gelehr- samkeit ein Handwerk? Buͤcherschreiben ein Ge- werbe? Mag. Allerdings, und zwar ein solches Gewer- be, worin jeder den Nutzen so sehr auf seine Seite zu ziehen sucht, als es nur moͤglich ist. Der Autor will gern dem Verleger so wenig Bogen Manuscript als moͤglich, moͤglich, fuͤr so viel Geld als moͤglich ist, uͤberliefern. Der Verleger will gern so viele Alphabete als moͤg- lich, so wohlfeil als moͤglich einhandeln, und so theuer als moͤglich verkaufen. Der Autor will gern so we- nig Zeit, Muͤhe, Ueberlegung und Geschicklichkeit an sein Buch wenden, und doch so viel Ruhm, Beloh- nung, Befoͤrderung, von der Welt einaͤrndten, als moͤglich. Zu dem letzten sind leider nur allzuviel Mit- tel vorhanden. Seb. Sie sagen mir da so unerhoͤrte Sachen, daß ich vor großem Erstaunen mich fast nicht ge- traue, ein Wort dagegen zu sagen, und doch begreife ich alles ganz und gar nicht. Was fuͤr Mittel koͤn- nen vorhanden seyn, durch ein Buch Ruhm und Be- lohnung zu erlangen, in dem man nicht Talente zeigt und auf das man wenig Zeit gewendet hat? Mag. Ey sehr viele. Z. B. ein Profeßor muß Amtswegen ein Collegium lesen, dazu schreibt er ein besonderes Compendium der ganzen Wissenschaft. Dis kostet wenig Zeit und Muͤhe, erfordert auch wenig Talente, und doch giebt es bey den Studenten das Ansehen, als ob man die Sachen besser verstehe als seine Vorgaͤnger, und bey der Welt das Ansehen, als ob man ein Buch schreiben koͤnne. Seb. Seb. Aber die Welt kan doch unmoͤglich ein blo- ßes Compendium einer bekannten Wissenschaft fuͤr ein Buch ansehen. Mag. Die deutsche Welt ist gutwillig, sie hat sich schon sehr viele Compendienschreiber fuͤr Schrift- steller anfdringen laßen. Und denn weiß mancher Lehrer noch wirthschaftlicher mit seinem Pfunde zu wuchern. Will das Compendium nicht Ruhm gnug bringen, so laͤst man einen Theil des Discurses oder der Amplification des Compendiums unter einem Modetitel drucken, und denn ist man ein Schriftsteller in bester Form. Seb. Ja! aber doch sind meines Erachtens, Stu- denten und Leser sehr unterschieden. Mag. Ja freilich, darum werden auch die Stadt- histoͤrchen, die Anspielungen auf die Herren Colle- gen, die Schwaͤnke die die Benevolenz der Herren Commilitonen captiviren sollen, weggelassen, wenig- stens von denen, die Keuntniß der Welt und Lebens- art im Munde fuͤhren. Seb. Das ist ganz gut! Aber ich daͤchte doch, der ganze Ton muͤste veraͤndert werden. Ein Lehrer kann voraussetzen, daß er mehr Einsichten habe als seine Zuhoͤrer, deshalb kann er ihnen manches sagen, daß er den Lesern mit Anstand nicht sagen darf, weil er er vermuthen kan, daß darunter viel seyn moͤchten, die eben so viel, und mehr Einsicht haben als er. Mag. Sehr wenige Profeßoren denken so deli- cat als Sie, ich kenne mehr als einen, der seine Le- sern voͤllig eben so anredet und unterrichtet, als ob sie lanter junge Studenten waͤren. Seb. Das befremdet mich sehr. Jch wenigstens wenn in dem Falle waͤre, wuͤrde mir immer vorstel- len, daß die erleuchtetesten Leute meiner Zeit meine Le- ser seyn koͤnnten, und welche armselige Figur ich gegen sie machen muͤste, wenn ich ihnen ganz bekannte Sa- chen vordociren wolte, die sie viel besser wuͤsten. Ue- berhaupt daͤchte ich, ein Lehrer in einem Collegium fuͤr junge Leute, muͤsse sich nach dem Verstaͤndnisse des Geringsten unter seinen Zuhoͤrern bequemen, hin- gegen ein Schriftsteller, suche hauptsaͤchlich den Ver- staͤndigsten unter seinen Lesern zu gefallen, daher koͤnne ein gutes Collegium, doch schwerlich ein gutes Buch werden. Mag. Ey sie machen sich feine Schwierigkeiten! Wissen Sie hiemit, was gedruckt werden kann, kann ein Buch werden. Eine Dißertation, eine Prolusion, eine Oration, ein Programma, ein Oster- oder Pfingst- anschlag den ein Schulmann oder Profeßor amts- halber schreiben muß ist ja wohl noch weniger ein Buch. Seb. Seb. Jch wenigstens halte die Verfertigung sol- cher Aufsaͤtze fuͤr ein Opus operatum, bei dem gewoͤhn- licherweise mehr die Hand als der Kopf noͤthig ist. Mag. O man kann ein Schriftsteller von vielen Baͤnden werden, ohne den Kopf sonderlich anzustren- gen. Was denken Sie wohl Z. B. von einem Pre- diger der seine gehaltene Predigten drucken laͤst? Seb. Wenn meine Gemeinde meine Predigten verlangte, so wuͤrde ich sie sehr gern zu ihrem Ge- brauche drucken lassen, denn warum folte ich ihr nicht schriftlich sagen, was ich ihr muͤndlich gesagt habe? Aber auch bloß fuͤr meine Gemeine solten meine Pre- digten gedruckt werden. Jch habe meine Predigten immer besonders nach den Umstaͤnden meiner Gemeine eingerichtet. Nun wuͤrde ich immer denken, die Welt wuͤrde nicht weiter nutzen koͤnnen, was ich blos mei- ner Gemeine, gesagt habe, als das, was ich als Vater meinen Kindern zu ihrem bessern Verhalten einge- schaͤrft habe. Mag. Vielleicht wuͤrde doch die Welt, das was Sie so bescheiden ankuͤndigen, mit mehrerm Nutzen lesen, als die Predigten der Herren, welche die ganze Welt fuͤr ihre Dioͤcese halten. Seb. Es kan seyn, daß auch in meinen Predig- ten etwas gemeinnuͤtziges ist, aber doch wuͤrde das Baͤnd- Baͤndgen, das ich mir der Welt vorzulegen getraute, immer sehr klein seyn. Mag. Das Baͤndgen? Wer sich recht auf Pre- digtschreiben legt, hoͤrt vor dem dreyzehnten oder vierzehnten Bande nicht auf. Seb. Wie? dreyzehn oder vierzehn Baͤnde Pre- digten? dazu gehoͤrt mehr Herz als ich habe! Mag. Freilich Sie haben viel Bedenklichkeiten. Wenn Sie eine Dedication an einen Patron zu ma- chen haͤtten, und sie koͤnnten kein Buch schreiben, so daͤchten Sie auch wohl nicht daran, das erste beste Buch wieder drucken zu laßen, und es ihrem Goͤnner zuzueignen? Seb. Jch daͤchte wenigstens, der Patron wuͤrde mir nur wenig dauken, wenn ich ihm austatt etwas neues, nur etwas aufgewaͤrmtes vorsetzte. Mag. Als wenn der Patron nicht zufrieden seyn muͤste, daß sein Namen vor dem Buche stehet, und als wenn er es auch noch wuͤrde lesen wollen! Gnug daß Jhnen mancher Journalist danken wird, daß Sie durch die neue Herausgabe, unserer Litteratur einen so großen Dienst geleistet haben. Und sie werden noch dazu als ein wichtiger Mann erscheinen, wenn Sie dem Buche eine Vorrede vorsetzen, um es durch ihren Namen der Welt anzupreisen. Seb. Seb. Aber wenn man nicht wirklich sehr beruͤhmt ist, so gehoͤrt viel Charletanerie dazu, so eine vor- nehme Mine zu affectiren. Mag. Ja! wenn Sie ihren Namen selbst nicht fuͤr beruͤhmt halten, so sind sie auf gutem Wege, ihn nie beruͤhmt zu machen. Jch merke wohl Sie wollen incognito arbeiten; damit ist Jhnen auch zu dienen. Da ist mehr als ein Verleger, der seinen Autoren auf- traͤgt was er zu brauchen denkt: Geschichte, Ro- manen, Mordgeschichte, zuverlaͤßige Nach- richten, von Dingen die man nicht gesehen hat, Be- weise, von Dingen die man nicht glaubt, Gedanken, von Sachen die man nicht versteht. Jch kenne einen der in seinem Hause an einem langen Tische zehn bis zwoͤlf Autoren sitzen hat, und jedem sein Pensum fuͤrs Tagelohn abzuarbeiten gibt. Jch laͤugne es nicht — denn warum solte ich Armuth fuͤr Schande halten — ich habe auch an diesem langen Tische gesessen. Aber ich merkte bald, daß ich zu diesem Gewerbe nichts taugte, denn ich kann zwar ohne Gedanken eine Cor- rectur lesen, aber nicht ohne Gedanken Buͤcher schrei- ben, und bey solchen Buͤchern ist immer der am an- genehmsten, der nur am geschwindesten schreibt, wenn er auch gleich am schlechtesten schreiben solte. Seb. Seb. Am schlechtesten? da handelt ja der Verle- ger wider seinen eigenen Vortheil; denn was kan die Welt mit den schlechten Buͤchern machen. Mag. Was gehet den Verleger die Welt an? er bringt sein Buch auf die Messe. Seb. Nun — und durch die Messe kommen die Buͤcher in die Welt. Mag. Freilich, nur mit dem Unterschiede, daß sie vorher vertauscht werden, und daß also der Ver- leger am besten daran ist, der die schlechtesten Buͤcher hat, weil er gewiß ist, etwas bessers zu bekommen. Seb. Aber denn muͤssen doch einige Buchhaͤndler die schlechtesten Buͤcher bekommen, und die bedaure ich. Mag. Weswegen? Es ist ihnen ja unbenommen, Narren zu suchen, die aus dem schlechtesten Buche klug zu werden denken, oder die es um Gotteswil- len lesen, wie mein alter Conrector wolte, daß ich die schlechten Prediger hoͤren solte. Seb. Nun faͤngt mir an ein Licht aufzugehen. So koͤnnte es ja wohl der Vortheil der Buchhaͤndler erfordern, zuweilen schlechte Buͤcher zu verlegen. Mag. Dis koͤnnte wohl seyn, wenigstens scheint es nicht, als ob sie sich sonderlich darum zu bekuͤm- mern haͤtten, ob die Buͤcher gut sind, oder nicht. Erster Theil. G Seb. Seb. Ja, wenn dis wahr ist, was Sie sagen, so muͤste ich freilich von der Menge der nuͤtzlichen Buͤ- cher, uͤber deren Daseyn ich mich gefreuet habe, alle diejenigen abziehen die die Convenienz der Schrift- steller und die Laune der Buchhaͤndler zur Welt bringt. Mag. Und rechnen Sie immer auch den groͤsten Theil der ungeheuer großen Anzahl von Buͤchern ab, mit denen vermittelst unserer Uebersetzungsfabriken Deutschland uͤberschwemmt wird. Seb. Habe ich recht gehoͤrt? Uebersetzungsfa- briken? Was soll denn das bedeuten? Mag. Fabriken, in welchen Ueberfetzungen fabricirt werden, das ist ja deutlich. Seb. Aber Uebersetzungen sind ja keine Leinwand oder keine Struͤmpfe, daß sie auf einem Stuhle gewebt werden koͤnnten. Mag. Und doch werden sie beinahe eben so ver- fertigt, nur, daß man wie bey Struͤmpfen, bloß die Haͤnde dazu noͤthig hat, und nicht, wie bey der Lein- wand, auch die Fuͤße. Auch versichre ich Sie, daß keine Lieferung von Hemden und Struͤmpfen fuͤr die Armee genauer bedungen wird, und richtiger auf den Tag muß abgeliefert werden, als eine Ueberse- tzung aus dem franzoͤsischen, denn dies wird fuͤr die schlechteste, aber auch fuͤr die gangbarste Waare, in dieser Fabrik geachtet. Seb. Seb. Alles was Sie mir sagen, ist mir unerhoͤrt. Also giebt es unter den Uebersetzungen, und unter den Uebersetzern auch wohl einen Rang oder Unterschied. Mag. Allerdings! Ein Uebersetzer aus dem eng- laͤndischen ist vornehmer, als ein Uebersetzer aus dem franzoͤsischen, weil er seltener ist. Ein Uebersetzer aus dem italiaͤnischen laͤßt sich schon bitten, ehe er zu ar- beiten anfaͤngt, und laͤßt sich nicht allemahl den Tag vorschreiben, an dem er abliefern soll. Einen Uebersetzer aus dem spanischen aber, findet man fast gar nicht, daher koͤmmt es auch, daß zuweilen Leute aus dieser Sprache uͤbersetzen, wenn sie sie gleich nicht verstehen. Uebersetzer aus dem lateinischen und griechischen sind haͤufig, werden aber gar nicht gesucht, daher bieten sie sich mehrentheils selbst an. Außerdem giebt es auch Uebersetzer, die zeitlebens gar nichts anders thun als uͤbersetzen; Uebersetzer, die ihre Uebersetzungen in Ne- benstunden zur Erholung machen, wie die Frauen- zimmer die Knoͤtchenarbeit, Marly und Filet; Vor- nehme Uebersetzer, diese begleiten ihre Uebersetzungen mit einer Vorrede, und versichern die Welt, daß das Original sehr gut sey; Gelehrte Uebersetzer, diese verbes- sern ihre Uebersetzungen, begleiten sie mit Anmerkungen und versichern, daß es sehr schlecht sey, daß Sie es aber doch leidlich gemacht haͤtten; Uebersetzer, die G 2 durch durch Uebersetzungen Originalschriftsteller werden, diese nehmen ein franzoͤsisches oder englaͤndisches Buch, lassen Anfang und Ende weg, aͤndern und verbessern das uͤbrige nach Gutduͤnken, setzen ihren Namen keck auf den Titel, und geben das Buch fuͤr ihre eigene Ar- beit aus. Endlich giebt es Uebersetzer, die ihre Ue- bersetzungen selbst machen, und solche die sie von an- dern machen lassen. Seb. Sie vergeßen, duͤnkt mich, noch einen wich- tigen Unterschied, unter den Uebersetzern, die die Sache und beide Sprachen verstehen, und denen, die nichts davon verstehen. Jch glaube diesen Unterschied bey den wenigen Uebersetzern gemerkt zu haben, die neue Uebersetzungen der Apocalypse versuchten. Mag. Vielleicht mag dis bey der Apocalypse einen merklichen Unterschied machen, aber bey unsern ge- woͤhnlichen Uebersetzungen aus dem franzoͤsischen und dem englaͤndischen wird so genau darauf nicht geachtet. Seb. Aber ich daͤchte dis waͤre das vornehmste, worauf besonders der Verleger, seines eigenen Nutzens wegen, Acht haben muͤste. Mag. Keinesweges! Hieran denkt er gemeinig- lich gar nicht, oder sehr wenig. Wenn er drey Al- phabete in groß Octav oder in groß Quart zu Com- pletirung seiner Meße noch noͤthig hat, so sucht er unter unter allen neuen noch unuͤbersetzten Buͤchern von drey Alphabeten dasjenige aus, dessen Titel ihm am besten gefaͤllt. Hat er einen Uebersetzer gefunden (welches eben nicht schwer ist), der noch drey Alphabete bis zur naͤchsten Messe zu uͤbersetzen Zeit hat, so handeln sie uͤber den armen Franzosen oder Englaͤnder, wie zween Schlaͤchter uͤber einen Ochsen oder Hammel, nach dem Ansehen, oder auch nach dem Gewichte. Wer am theuresten verkauft, oder am wohlfeilsten einge- kauft hat, glaubt, er habe den besten Handel gemacht. Nun schleppt der Uebersetzer das Schlachtopfer nach Hause, und toͤdtet es entweder selbst, oder laͤst es durch den zweyten oder dritten Mann toͤdten. Seb. Durch den zweyten oder dritten Mann? Wie ist das zu verstehen? Mag. Dis ist eben das fabrikenmaͤßige beym Ue- bersetzen. Sie muͤssen wissen, daß es beruͤhmte Leute giebt, die die Uebersetzungen im Großen entrepreni- ren, wie ein irrlaͤndischer Lieferant das Poͤckelfleisch fuͤr ein spanisches Geschwader, und sie hernach wieder an ihre Unteruͤbersetzer austheilen. Diese Leute haben von allen neuen uͤbersetzbaren Buͤchern in Frankreich, Jtalien und England die erste Nachricht, wie ein Maͤckler in Amsterdam Nachricht von Ankunft der ostindischen Schiffe im Texel hat. An diese wenden G 3 sich sich alle Buchhaͤndler, die Uebersetzungen haben wollen, und sie kennen wieder jeden ihrer Arbeiter, wozu er zu gebrauchen ist, und wie hoch er im Preise stehet. Sie wenden ihnen Arbeit zu, bestrafen sie wenn sie saͤumig sind mit Entziehung ihrer Protection, merzen die Fehler ihrer Uebersetzungen aus, oder bemaͤnteln sie mit ihrem vornehmen Namen, denn mehrentheils sind Entrepreneure von dieser Art stark im Vorredenschrei- ben. Sie wissen auch genau, wie viel Fleiß an jede Art der Uebersetzung zu wenden noͤthig ist, und wel- che Mittel anzuwenden sind, damit ihre Uebersetzun- gen allenthalben angepriesen, und dem beruͤhmten Manne oͤffentlich gedanket werde, der die deutsche ge- lehrte Welt damit begluͤckt hat. Seb. Sie wissen, wie viel Fleiß an eine jede Art der Uebersetzung zu wenden noͤthig ist? Gehoͤrt denn nicht einerley Grad von Fleiße zu jeder Uebersetzung, wenn sie in ihrer Art gut seyn soll? Mag. Keinesweges! Dis kann nach den Um- staͤnden sehr verschieden seyn. Z. B. Zu theologischen Buͤchern thut gemeiniglich ein Hochwuͤrdiger Herr ei- nem Buchhaͤndler den Vorschlag, sie unter seinem Namen und mit seiner Vorrede uͤbersetzen zu lassen, es versteht sich aber, daß er das Buch nicht selbst uͤber- setzt, sondern er giebt es gegen zwey Drittheile der mit dem dem Verleger abgeredeten Bezahlung, an einen sei- ner Arbeiter ab. Dieser verdingt es gemeiniglich ge- gen drey Viertheil dessen was ihm der Hochwuͤrdige Herr goͤnnen will, an einen dritten, der es zuweilen, wenn die Fabrik stark gehet, an einen vierten gegen funfzehen Sechzehntheile deßen was er bekomt, ab- laͤßt. Dieser uͤbersetzt es wirklich, so gut oder schlecht er kann. Bey dicken Beweisen daß der Meßias schon gekommen ist, bey biblischen Geschichten in zwoͤlf Baͤn- den, bey voluminoͤsen Dogmatiken, bey Predigten aus dem franzoͤsischen oder englaͤndischen uͤbersetzt, kann dis ohne Bedenken gewagt werden, denn die Leser, die solche Buͤcher lesen, merken nicht, ob ir- gendwo etwas falsch sey, und die theologische Kunst- richter sind nicht so schlimm, daß sie durch den Na- men eines beruͤhmten Vorredners oder durch ein hoͤfli- ches Schreiben eines Bruders im Herrn, nicht solten zur Duldung und Schonung einer schlechten Ueber- setzung bewegt werden koͤnnen. Die Ausgaben der Uebersetzungen historischer Werke, Reisebeschreibungen u. d. gl. sind meistens das Werk der Buchhaͤndler, die sich dazu einen Wohlgebohrnen oder Hochedelge- bohrnen Herrn aussuchen, weil in diesem Fache die Uebersetzungsentrepreneure nicht so haͤufig sind, als im theologischen Fache. Doch werden solche Ue- G 4 berse- bersetzungen gemeiniglich auch an Unterarbeiter aus- getheilt. Diese muͤßen sich aber schon mehr in Acht nehmen, daß sie wenigstens die eigenen Namen rich- tig uͤbersetzen und die Jahrzahlen recht abschreiben, denn auf solche Sachen lauren unsere historische Re- censenten wie Falken. Dagegen ist auch nicht so viel daran gelegen, wenn sie die Vorstellungen der Bege- benheiten und die eingestreute Reflexionen etwas fluͤch- tig und schielend uͤbersetzen, denn sie werden auf die Art der Schreibart einiger deutschen Geschichtschrei- ber desto aͤhnlicher, die in ihrer Freunde gelehrten Zei- tungen und Journalen gewohnt sind am lautsten ge- lobt zu werden. Aber neue Komoͤdien und neue Romanen muß meistens der selbst uͤbersetzen, der als Uebersetzer bekannt seyn will, denn diese Buͤcher kommen alzuvielen Lesern in die Haͤnde, und die Kunstrichter sind hier gleich bey der Hand, und lassen sich selten durch einen beruͤhmten Namen vom Tadel abschrecken. Seb. Jch erstaune immer mehr uͤber das was Sie mir sagen. Es ist mir, als ob Sie von einer andern Welt redeten. Sie koͤnnen auch unmoͤglich Deutschland im Sinne haben. Mag. Sie vielmehr kommen aus einer andern Welt, aus der schoͤnen Welt der Jmagination, wo jeder jeder beruͤhmte Mann viele Verdienste hat, wo jeder Schriftsteller zu Untersuchung der Wahrheit schreibt, wo die Vorreden wahre Nachrichten vom Buche ent- halten, wo niemals ein Journalist den Schriftsteller dem er nicht wohl will anschwaͤrzt, wo kein beleidig- ter Schriftsteller Cabalen macht, wo ein Lehrer der Tugend auch allemahl tugendhaft, und ein Lehrer der Weisheit weise ist. Mein lieber Freund! traͤumen Sie nicht fort, so angenehm Sie auch traͤumen moͤgen, sehen Sie um sich herum, was in Deutschland vor- geht, so werden Sie finden, daß das, was ich Jhnen sage, keine Erdichtung ist. Seb. Nun wenn auch jemand einmahl so etwas unternaͤhme, so kann doch das Publicum nicht lange in der Verblendung bleiben, und denn wird es aus mit der Fabrik seyn. Mag. Unser Publicum ist sehr nachsehend, zu- mahl bey dicken Buͤchern, welches diejenigen sind, die die Uebersetzer von Profession am liebsten waͤhlen. Jch versichere Sie, daß wenigstens der dritte Theil der deutschen Buͤcher auf diese Art fabricirt wird. Denn ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß beina- he die Haͤlfte der neuen deutschen Buͤcher Uebersetzun- gen sind, und ich sage gewiß zu wenig, wenn ich nur zwey Drittel der Uebersetzungen als Fabrikenar- beit ansehe. G 5 Seb. Seb. Gott behuͤte! Die Haͤlfte unserer neuen Buͤcher sind Uebersetzungen? Was wird denn alles uͤbersetzt. Mag. Was? Bogen und Alphabete! Was da- rauf steht, darum bekuͤmmert sich weder Verleger noch Uebersetzer, zum hoͤchsten der Leser, wenn er will und kann. Seb. Allein da wird denn auch der Leser gemei- niglich sehr unzufrieden seyn. Mag. Ach nicht doch! Die Leser der Uebersetzun- gen sind gutwillige Seelen. Sie haben gegen alles was schwarz auf weiß gedruckt ist, eine große Ehrerbie- tung. Und wenn ihnen auch etwas nicht recht ge- faͤllt, so nehmen sie die Schuld selbst auf sich, und zaͤhlen Uebersetzer und Verfasser los. Kein deutscher Leser wird das Ungluͤck einer neuen Uebersetzung ma- chen, so wenig als noch ein deutsches Parterre jemals eine neue uͤbersetzte Komoͤdie ausgepfiffen hat. Seb. Aber wenn auch niemand es merket, so ist es doch allemahl einem Gelehrten unanstaͤndig, die Gelehrsamkeit bloß zu einem schimpflichen Gewerbe zu machen, und die Fortpflanzung der Wahrheit und Tugend ganz aus den Augen zu setzen. Mag. Seyn Sie aus alzugroßer Gerechtigkeit nicht ungerecht. Unser Vaterland kann von den Ge- lehrten lehrten nicht mehr fodern, als es um sie verdient. Wo ist das deutsche Land, wo ein deutscher Gelehrter als Gelehrter leben kann? Wo ist es moͤglich, ohne besonders gluͤkliche Umstaͤnde, die Muße zu finden, die ein Schriftsteller braucht, wenn er in seiner Kunst groß werden will. Unser bestes wuͤnschenswuͤrdigstes Schicksal ist ein Amt, in dessen Erwartung wir ver- hungern muͤssen, wenn wir kein Erbtheil zuzusetzen haben, und bey dem wir, wenn wir es erhalten ha- ben, vor vieler Amtsarbeit, alle Gelehrsamkeit ver- gessen. Unsere beste Schriftsteller haben zuweilen, die Muße, die sie zu ihren vortreflichsten eigenen Wer- ken noͤthig gehabt haben, durch fabrikenmaͤßige Ue- bersetzungen, kuͤmmerlich verdienen muͤssen. Es ist leider fast gar kein anderes Mittel da, um einen Ge- lehrten der kein Amt hat und kein Amt bekommen kann, vor dem Hunger zu verwahren. — Verlangen Sie nicht mehr, als wir leisten koͤnnen. Seb. Das Bild das Sie machen ist sehr traurig. Aber ich bleibe dennoch dabey, daß Entwicklung und Verbreitung der Wahrheit die Hauptpflicht eines Au- tors sey. Jch wuͤrde niemals daran gedacht haben, einen Commentar uͤber die Apocalypse zu schreiben, wenn ich nicht geglaubt haͤtte, unbekannte nuͤtzliche Wahrheiten entdeckt zu haben. Mag. Mag. Die auch trotz ihrem Commentar unbe- kannt bleiben werden. Denn glauben Sie mir, Ben- gel ist im Besitze des apocalyptischen Reichs, aus dem Sie ihn nicht vertreiben werden. Wir haben in Deutschland noch kein Beyspiel, daß einem abgesetz- ten Dorfpfarrer mehr waͤre geglaubt worden, als einem Praͤlaten. Seb. Jch kan uͤber das Schicksal meines Com- mentars ruhig seyn. Genug wenn ich die Wahrheit sage, wie ich sie erkenne, und weil es Wahrheit ist, und nicht deswegen, weil ich mit einem Buchhaͤndler einen Contract gemacht habe ihm funfzig Bogen zu liefern. Wohin soll es mit der deutschen Gelehrsam- keit kommen, wenn der groͤste Theil der Schriftsteller nicht die Befoͤrderung der Gelehrsamkeit, sondern die Befoͤrderung ihres Ruhms und Nutzens sucht. Mag. Und wohin soll es mit der deutschen Ge- lehrsamkeit kommen, wenn deutsche Gelehrsamkeit in unserm eigenen Vaterlande ein Schimpf ist, wenn das sicherste Mittel zu darben ist, sich auf Kenntnisse zu legen, die die Seelen unserer Mitbuͤrger erleuch- ten, aber nicht ihren Wolluͤsten dienen, oder ihren Beutel fuͤllen koͤnnen, wenn kein einziges Mittel uͤbrig bleibt, dem Gelehrten, der weder Kuppler noch Plusma- cher seyn will, in der Welt sein Auskommen zu geben, wenn wenn man uns recht zu belohnen denkt, sobald man uns auf eine Universitaͤt schickt, wo wir unsere noͤthige Einkuͤnfte von dem Wohlwollen einer unwissenden und ungezaͤhmten Jugend suchen muͤssen, oder uns in ein Amt verstoͤßt, wo uns alles was wir gelernt ha- ben, unnuͤtz ist, und wo uns die edle Empfindsamkeit, welche durch die Wissenschaften in unsern Seelen ver- breitet worden, die Ausuͤbung dieses Amts weit be- schwerlicher macht, als einem rohen Diener der Ab- sichten jedes Gewaltigen im Lande. Seb. Jch bin ganz außer mir, uͤber alles ich hoͤren muß. So schlecht siehet es mit der Gelehr- samkeit in Deutschland aus? Wohin soll es mit Wahr- heit und Tugend kommen, wenn die Gelehrten, die derselben Herolde seyn solten, nur Eigennutz und Eigen- lob suchen? Wie soll unser Vaterland durch die Wis- senschaften erleuchtet werden, wenn man sie zu einem niedrigen Gewerbe misbraucht? Nein! dis ist mir ein unertraͤglicher Gedanke. Mag. Geben Sie sich zufrieden! Was ist der deutschen Gelehrsamkeit damit geholfen, wenn ein paar arme Correctoren eine unruhige Nacht haben. Wir wollen uns die Fehler unserer Litteratur und unserer Gelehrten nicht verhelen, aber wir wollen auch das entschuldigen, was, ohne die Schuld unserer Ge- lehrten, nicht anders seyn kann. Hier- Hiermit gab der Magister dem Sebaldus die Hand, und wuͤnschte ihm eine gute Nacht. Zweyter Abschnitt. S ebaldus brachte der Ermahnung des Magisters ungeachtet, die Nacht sehr unruhig zu, und beseufzete noch den folgenden Tag den unvollkommnen Zustand der deutschen Gelehrsamkeit und das Schick- sal der deutschen Gelehrten. Nachmittag ging er zu seinem Freunde Hieronymus, um ihm sein gestri- ges Gespraͤch mit dem Magister zu erzaͤhlen, und ihn zu fragen, ob desselben Nachrichten zuverlaͤßig waͤren. Jch finde sagte Hieronymus, daß der Hr. Ma- gister von allen diesen Dingen sehr wohl unterrichtet ist, aber warum beunruhigt Sie diese Erzaͤhlung, die freilich nur allzu wahr ist, so gar sehr. Seb. Es kraͤnket mich, daß ich von der Hochach- tung, die ich fuͤr die deutsche Gelehrsamkeit und fuͤr die deutsche Gelehrten hege, so viel ablassen muß. Jch habe bestaͤndig, einen Mann der ein Buch schreiben kann, mit Ehrfurcht angesehen, und den ganzen Hau- sen der Schriftsteller habe ich mir als eine Anzahl einsichtsvoller und menschenfreundlicher Leute vorge- siellt, die bestaͤndig beschaͤftigt waͤren, alles was der mensch- menschliche Verstand edles schoͤnes und wissenswuͤr- diges hervorbringen kann, zu erforschen, und es zur Aufklaͤrung des menschlichen Geschlechts in ihren Buͤchern oͤffentlich bekannt zu machen. Nun-thut es mir weh, daß ich sie als einen Haufen ge- schaͤftiger Schmierer ansehen soll, die Wahrheit und Einsicht zu einem schimpflichen Gewerbe machen, das blos ihren eigenen Ruhm, Nutzen oder Nahrung zum Zwecke hat. Hier. Und es thut ihnen um desto weher, weil sie selbst in die Zahl der Schriftsteller zu treten geden- ken! — Nicht wahr? — Aber troͤsten sie sich, alle Schrift- steller und Uebersetzer sind nicht so beschaffen, wie sie Jhr Magister beschrieben hat. Er hat nur von neun Zehentheilen geredet. Es ist noch das zehnte Zehen- theil uͤbrig, wuͤrdige gelehrte Maͤnner, die es wirk- lich mit dem Fortgange der Wissenschaften gut meinen, welche der Eitelkeit und den Vergnuͤ- gungen der Jugend entsagen, um sich gruͤndliche Kenntnisse zu erwerben, und welche Naͤchte durchwa- chen um ihre Nebenmenschen, kluͤger, weiser, erleuch- teter und gesitteter zu machen. Jn deren Gesellschaft zu treten, duͤrfen Sie sich nicht schaͤmen. Seb. Und dieser waͤre nur eine so geringe Anzahl? Wenn Sie die Anzahl der nuͤtzlichen Buͤcher so gering machen, machen, wissen Sie wohl, daß Sie sich selbst ernie- drigen. Hier. Wie so? Seb. Jch habe immer der Buchhandlung vor allen Arten der Handlung den Vorzug gegeben, weil ich glaube, daß durch ihre Vermittelung die gelehrten Kenntnisse unter die Menschen gebracht werden, weil sie nicht bluͤhen kan, als wenn eine gruͤndliche und nuͤtz- liche Gelehrsamkeit bluͤhet. Hier. Da haben sie einen sehr falschen Begriff von der Buchhandlung. Sie stehet nur in rechtem Flore, wenn die Leute sehr dumm sind. Seb. Wenn die Leute sehr dumm sind? Das kann ich nicht begreifen. Dumme Leute werden ja keine Buͤcher kaufen. Hier. Weßwegen nicht? Sie kaufen dumme Buͤ- cher, und die sind in groͤßerer Anzahl und machen groͤßere Baͤnde aus. Es ist auch viel leichter und be- quemer fuͤr dumme Leute zu schreiben und zu verlegen, als fuͤr kluge. Sehen Sie nur meine Collegen die Buch- haͤndler in den katholischen Provinzen an, die zum Theile reicher sind, als alle protestantische Buchhaͤndler, die jetzt die Messe besuchen. Sie finden in ihren Verzeich- nissen schoͤne Folianten uͤber das Jus canonicum, herr- liche Fasten- und Fronleichnamspredigten, derbe Con- tro- troverspredigten wider alle Ketzer, troͤstliche Legenden der Heiligen, Gebetbuͤcher und Breviarien in Menge, aber oft kein einziges vernuͤnftiges Buch, das ich, so einfaͤltig auch meine liebe Vaterstadt ist, in meinen Buchladen legen, oder Sie, wenn Sie noch so reich waͤren, in Jhre Bibliothek wuͤrden setzen wollen. Oder haben Sie wider Vermuthen (hier ergriff er ein auf seinem Pulte liegendes Buͤcherverzeichniß) Lust Z. B. folgende Buͤcher zu kaufen: Laurentii von Schnuͤffis mirantische Mayenpfeife, mit Kupf. P. Sennenzwickels ernstliche Kurzweil fuͤr die zenonische Gesellschaft der machiavelli- schen Staatskluͤgler, worin das edle Paar Ge- bruͤdrichen Atheisinus und Naturalismus, samt den hallerischen Gedichten dem Sileno als Riesenschroͤ- cker aufgeopfert werden. P. Dionysii von Luͤ- tzenburg verbesserte Legend der Heiligen von P. Martin von Cochem. Der himmlische Gnaden- brunn St. Walburgaͤ. Die geistliche Sonnen- blum d. i. kurze taͤgliche Besuchungen des aller- heil. Sacraments des Altars. P. Biners Mucken- Tanz der Herren Praͤdicenten zu Zuͤrch um das Licht der katholischen Wahrheit. Alexii Riederers Geistliches Seelennetz oder 150 geist- reiche Betrachtungen. Bulffers mit kurzen Erster Theil. H Waaren Waaren handelnder evangel. Kaufmann, oder kurze Sonn- und Feyertagspredigten. Der christkatholische goldne Schluͤssel, mit welchem die Schatzkammer der zeitlich- und ewigen Guͤ- ter kann aufgesperrt werden. Hausingers geist- liches Fruͤhstuͤck, oder auserlesene Sittenlehren, wollen Sie diese und andere dergleichen schoͤne Saͤchel- gen mehr, kaufen? Seb. Nein! was sollte ich mit dem unsinnigen Zeuge machen! Hier. Nicht? desto schlimmer fuͤr den Buchhaͤnd- ler, daß Sie so klug sind, er wird sich dumme Kaͤufer schaffen muͤssen, oder sein ganzer Laden wird voll bleiben. Seb. Aber der Buchhaͤndler sollte der Gelehr- samkeit aufhelfen, und keine andere als gute Buͤcher drucken und verkaufen. Hier. Das heißt von dem Buchhaͤndler zu viel ge- fordert, der sich nie nach dem Geschmack der besten Gelehrten, ja selbst nicht nach seinem eigenen, son- dern nach dem Geschmacke des großen Haufens rich- ten kan, und dieser macht es ihm nur allzuleicht, die guten Schriftsteller beynahe ganz zu entbehren. Seb. Dies thun die Buchhaͤndler freilich, aber sie solten es nicht thun, sondern solten sich billig nach dem Geschmacke der groͤsten Gelehrten richten, und ich habe mich mich schon oft uͤber Sie gewundert, da Sie wissen was große Gelehrten von Buͤchern urtheilen, und doch schlechte Buͤcher drucken und verkaufen. Hier. Mein Freund! der Geschmack der großen Gelehrten ist der Geschmack sehr weniger Leute. Der Buchhaͤndler aber braucht sehr viele Kaͤufer, wenn er sein Geschaͤft treiben soll. Daher kommt es, daß so oft Autor und Verleger bey dem besten beiderseitigen Willen, sich nicht vereinigen koͤnnen. Jener will den innern Werth seines Buchs verkaufen, dieser will bloß eine Wahrscheinlichkeit des Absatzes kaufen. Je- ner schaͤtzt seinen und seines Buches Werth nach dem Beifalle einiger wenigen Edlen. Dieser uͤberlegt, ob es moͤglich oder wahrscheinlich sey, daß viele nach dem Buche luͤstern seyn werden, ohne in Anschlag zu bringen, ob sie gelehrt oder ungelehrt, weise oder ein- faͤltig, nach Unterricht oder nach Zeitvertreib begierig sind. Sehen Sie den Tyroler der dort geschliffne optische Glaͤser zum Verkauffe herumtraͤgt. Er hat kein Flint- glaß und keine Dollondsche Tuben. Fragen sie ihn, warum er nicht vorzuͤglich sich erkundigt, was fuͤr Glaͤser die groͤsten Astronomen verlangen? Er wird antworten: Jch verkaufe meine Glaͤser, ich be- kuͤmmre mich nicht, ob man sie in Telescope setzt, um unbekannte Sterne zu observiren, oder in Perspective, H 2 um um einen entfernten Feind zu entdecken, oder den Freund der uns besuchen will fruͤher zu erblicken, oder in Microscope, um im Saamenthiergen zu unter- scheiden, ob der erste Keim des Menschen ein Fisch oder eine Faser ist, oder in Brennglaͤser, um Flotten oder Tabackspfeifen anzuzuͤnden, oder in Brillen um feine Schrift zu lesen. Soviel ist gewiß, irgendwozu muß die Waare brauchbar seyn, sonst fuͤhre ich sie nicht. Doch hat mich die Erfahrung so viel gelehret, daß Brillen staͤrker abgehen als Telescopien Daß diese Erfahrung des Tyrolers, auch schon im vorigen Jahrhunderte richtig befunden worden, zeigt die weise Frau Verlegerin eines hoͤchst wichtigen durkisch geschrie- benen Geschlechtregisters, mit dessen Uebersetzung und Commentirung Wilhelm Schickard Professor zu Tuͤbingen im Jahre 1628. die orientalische Geschichte aufklaͤren wolte. Schickard glaubte gewiß, sein Buch wuͤrde viel Kaͤuser haben, weil es nicht zu den gemeinen alle Tage vorkom- menden Buͤchern gehoͤrte, sondern er darin den Gekehrten von einer neuen und fremden Materie, so viel neues und fremdes berichten konnte. Aber aus dieser Ursache befuͤrch- tete die Frau Verlegerin das Gegentheil. Sie versicherte, aus der Erfahrung zu wissen, daß die Bauerkalender viel haͤufiger verkauft wuͤrden, als die astronomischen Epheme- riden, aus denen sie gemacht sind. S. Leßings Beytraͤge zur Geschichte und Litteratur. Erster Beytrag S. 91. , zumahl in meinem Lande, wo viele Leute ein bloͤdes Gesicht haben, und sich kein Mensch auf die Astronomie legt. Seb. Aber es ist dennoch unrichtig, daß die Buch- handlung durch dumme Buͤcher in Flor kommt, denn sie sie koͤnnen doch nicht laͤugnen, daß seitdem die Lectur in Deutschland mehr Mode geworden, die Buchhand- lung mehr florire. Hier. Das laͤugne ich geradezu. Zur Zeit der schoͤnen dicken Postillen, der centnerschweren Consul- tationen, der Arzneibuͤcher in Folio, der Opera omnia, der classischen Autoren und Kirchenvaͤter in vielen Fo- lianten, der theologischen Bedenken, der Leichenpre- digten in vielen Baͤnden, der Labirynthe der Zeit, der Schaubuͤhnen der Welt, war die Buchhand- lung im Flor. Was gibt man uns jetzt anstatt dieser wichtigen Werke? Kleine Buͤchelgen von wenig Bo- gen, die aus Hand in Hand gehen, viel gelesen und wenig gekauft werden, wodurch denn endlich die Leser so klug werden, daß ihnen die alten Kernbuͤcher an- stinken. Sehen Sie, das ist der Vortheil, den wir Buchhaͤndler vom Lesen der Buͤcher haben. Seb. Aber das ist doch zu arg. Wenn man die Buͤcher nicht lesen soll, was soll man denn damit thun? Hier. Sie zerreißen oder Waͤnde damit tapezieren. Seb. Gott behuͤte, was sagen Sie da! Hier. Was alle Tage geschiehet. Meine besten Kunden sind Schulknaben, Handwerksburschen, Bau- ern, gute Muͤtterchen, die beten und singen und die die Knaͤblein und Maͤgdlein oft mit sich in die Wo- H 3 chenpre- chenpredigten nehmen, die denn aus langer Weile flei- ßig die Gebetbuͤcher und Gesangbuͤcher zerreißen. Die Gewuͤrzkraͤmer machen auch eine wichtige Consumtion von Buͤchern, und in diesem Kriege sind viele Streit- schriften wider die Ketzer, die mir zur Last lagen, in Patronen verschossen worden. Waͤnde mit Buͤchern ta- pezieren, oder um gelehrter zu reden, große Biblio- theken errichten, war zu der Zeit Mode als die vor- hergenannten großen Buͤcher noch verkauft wurden. Jtzt hat die leidige Sucht, Gedichte und kleine Modebuͤ- cher zu lesen, die großen Bibliotheken und die schwer- faͤllige Art zu studiren wozu große Bibliotheken noͤthig waren, ganz aus der Mode gebracht, und seitdem ist eine sehr ergiebige Quelle des Reichthums der Buch- haͤndeler verstopft. Wenn auch irgend eine tuͤchtige Feuersbrunst einem Buchhaͤndler aufhelfen koͤnte, so wird selten eine verbrannte Bibliothek wieder angeschaft. Seb. So ist dies das Schicksal der Buͤcher, der Fruͤchte des Fleißes so vieler verdienstvollen wuͤrdigen Gelehrten? Zerrissen, zu Duͤten verbraucht, oder ver- gessen, oder verbrannt zu werden? Daruͤber moͤchte man Blut weinen. Hier. Geben Sie sich zufrieden. Wir reden von zwey ganz verschiedenen Dingen. Erinnern Sie sich nur aus ihrem Gespraͤche mit dem Hrn. Magister, auf auf welche Art die Buͤcher, die marktgaͤngige Waare sind, verfertigt werden, so werden sie finden, daß sehr viele davon eigentlich noch ein schlechter Schick- sal verdienten. Seb. Wenn auch alles wahr waͤre was Sie da sagen, so wuͤnschte ich doch, daß es nicht wahr waͤre. Hier. Jch auch nicht. Seb. Und doch sagen Sie selbst, daß es Jhr Vortheil erfodere, daß die Welt dumm bleibe. Hier. Wenn ich als Kaufmann rede, so muß ich freilich wißen, was eigentlich mein Vortheil ist; aber ich liebe meinen Vortheil nicht so sehr, daß ich ihn mit dem Schaden der ganzen Welt erkaufen wolte. Jch liebe die Aufklaͤrung des menschlichen Geschlechts, sie faͤngt auch an, sich bey uns zu zeigen; allein sie ge- het noch mit sehr langsamen Schritten fort. Jch habe den Wirkungen derselben oft mit Vergnuͤgen bis in die Winkel nachgespuͤrt, wohin keine gelehrte Nachricht reicht. Jch merke seit einiger Zeit, daß in meiner Vaterstadt, verschiedene schlechte Buͤcher, die ich sonst oft verkauft habe, liegen bleiben, und freue mich daruͤber. Seb. Jch frage Sie aufs Gewissen, mein lieber Freund, ist nicht ein wenig Selbstlob bey dieser Großmuth, deren Sie sich ruͤhmen? H 4 Hier. Hier. Mit nichten! denn es ist gar keine Groß- muth. Jch habe Correspondenz nach dummeren Staͤdten und Provinzen, wo diese schlechte Buͤcher begierig gekauft werden. Seb. Aber wenn diese auch einmahl klug werden? Hier. Sehr wohl. Alsdenn bin ich ganz gefast, den Buchhandel niederzulegen, und bloß beym Korn- handel zu bleiben. Seitdem die oͤkonomischen Prin- cipien aus Frankreich bey uns Mode worden sind, und alles ruft: fahrt nur viel Korn weg, so werdet ihr viel haben, ist in meinem Vaterlande und in den benachtbarten Gegenden so oft Kornman- gel, daß es sich der Muͤhe belohnt, ein Kornhaͤndler zu seyn. Auf allen Fall werden in meinem Vater- lande noch keine Zeuge zu Schlafroͤcken, noch keine Muͤtzen Huͤte und Struͤmpfe gemacht; ich kann also noch Manufacturen anlegen. Aber wehe den Buch- haͤndlern in dummen Laͤndern, wo schon viel Manu- facturen sind und wo die Handlung uͤberhaͤuft ist. Wenn ein solch Land einmahl erleuchtet wird, so ist fuͤr sie kein Mittel zur Nahrung weiter uͤbrig. Seb. Aber ich habe doch gehoͤrt, daß in England und in Frankreich sich die Buchhaͤndler bey guten Buͤ- chern sehr wohl stehen sollen. Hier. Hier. Das komt daher, weil in Frankreich und in England, die Classe der Schriftsteller der Classe der Leser entspricht; weil jene schreiben was diese zu lesen noͤthig haben und lesen koͤnnen. Seb. Jst es denn in Deutschland nicht eben so? Hier. Sehr selten. Der Stand der Schriftstel- ler beziehet sich in Deutschland beinahe bloß auf sich selber, oder auf den gelehrten Stand. Sehr selten ist bey uns ein Gelehrter ein Homme de Lettres. Ein Gelehrter ist bey uns ein Theologe, ein Jurist, ein Mediciner, ein Philosoph, ein Professor, ein Ma- gister, ein Director, ein Rector, ein Conrector, ein Subrector, ein Baccalaureus, ein Collega infimus, und er schreibt auch nur fuͤr seine Zuhoͤrer und seine Untergebnen. Dieses gelehrte Voͤlkchen von Lehrern und Lernenden, das etwa 20000 Menschen stark ist, verachtet die uͤbrigen 20 Millionen Menschen, die außer ihnen deutsch reden, so herzlich, daß es sich nicht die Muͤhe nimmt fuͤr sie zu schreiben, und wenn es zuweilen geschiehet, so riecht das Werk gemeiniglich dermaßen nach der Lampe, Der Verfasser, der als ein Deutscher, sich in nichts des- sen was deutsch ist schaͤmet, bekennet gern, daß auch dieses Werk von diesem Geruche nicht wenig an sich hat. Er warnet alle Weltleute, nicht zu wagen es zu lesen. daß es niemand H 5 an- anruͤhren will. Die zwanzig Millionen Ungelehrten, vergelten den 20000 Gelehrten Verachtung mit Ver- gessenheit, sie wissen kaum daß die Gelehrten in der Welt sind. Weil nun kein Gelehrter fuͤr Ungelehrte schreiben will, und da doch die ungelehrte Welt so gut ihr Beduͤrfniß zu lesen hat, als die gelehrte, so bleibt das Amt fuͤr Ungelehrte zu schreiben, endlich den Verfassern der Jnseln Felsenburg, den Postillen- schreibern, und den moralischen Wochenblaͤt- tern, deren Faͤhigkeiten den Faͤhigkeiten der Leser, die sie sich gewaͤhlt haben, viel genauer entsprechen, als die Faͤhigkeiten der groͤsten Gelehrten ihren Lesern, die daher weit mehr gelesen werden, als die groͤsten Ge- nien, die aber auch ihre Leser nicht um einen Daum- breit hoͤher hinaufheben, die vielmehr sehr oft nicht wenig beytragen, daß das Licht der wahren Gelehr- ten sich nicht auf die Ungelehrten ausbreitet. Daher sind einige Staͤdte bey uns so helle, und ganze Laͤnder sind in der groͤsten Finsterniß. Seb. Aber die Wissenschaften koͤnnen nicht alle- mahl so faßlich vorgetragen werden, daß sie der große Haufen begreifen kan, sie wuͤrden sonst nicht allein nicht erweitert werden, sondern sie wuͤrden endlich in ein seichtes Geschwaͤtz ausarten, das man bey halbem Hin- Hinhoͤren begreifen kan, aber ihre wichtigste Wahr- heiten wuͤrden sie entbehren muͤssen, weil sie nicht durch eine fluͤchtige Lectur, sondern nur durch ein gruͤndli- ches Studium begriffen werden koͤnnen. Jch erin- nere mich gehoͤrt zu haben, daß die Franzosen auf diese Art verschiedenen Wissenschaften geschadet haben, weil sie popular vortragen wolten, was sich nicht popular vortragen laͤst. Man wuͤrde auch den Gelehrten alle Begierde nach neuen Entdeckungen nehmen, wenn er nie fuͤr die Gelehrten, sondern nur fuͤr die Unwissen- den schreiben sollte. Es muͤssen also gelehrte Buͤcher, bloß fuͤr Gelehrte geschrieben werden. Hier. Ganz recht! Nur wenn die Nation durch die Schriften der Gelehrten soll erleuchtet werden, so muß sich die Anzahl der bloß fuͤr Gelehrten geschrie- benen Buͤcher, zu den fuͤr das ganze menschliche Ge- schlecht geschriebenen Buͤchern verhalten, wie die An- zahl der Gelehrten zu dem uͤbrigen menschlichen Ge- schlechte, vielleicht wie 1 zu 1000, vielleicht wie 1 zu 2000. Jch befuͤrchte aber, es wird in Deutschland ge- rade umgekehrt seyn. Seb. Aber wenn nun bey uns in Deutschland die Anzahl der Gelehrten groͤßer ist, die sich faͤhig finden, durch neue Erfindungen die Graͤnzen der Wissenschaf- ten ten zu erweitern, als derer die sich faͤhig finden, die schon erfundenen Wahrheiten fuͤr das Publicum faß- lich zu machen? Hier. Jch zweifle, daß deshalb die deutschen Ge- lehrten bloß fuͤr Gelehrten schreiben, weil sie viel neue Entdeckungen zu machen haͤtten. Es sind in Deutsch- land nach einer gewiß nicht zu starken Berechnung seit hundert Jahren 400 bis 500 Logiken geschrieben worden; vielleicht in dreyen oder vieren mag diese Wissenschaft durch neue Entdeckungen seyn bereichert worden, die uͤbrigen schreiben sich aus, und auf hoͤchste haben sie einige Definitionen veraͤndert, und einige Lehrsaͤtze anders eingekleidet, und dies sind die neuen Erfindungen worauf sie stolz thun. Sind solche Ent- deckungen wohl der Muͤhe werth? und waͤre es nicht besser gewesen, wenn die, die so wenig entdecken konn- ten, sich lieber beflissen haͤtten, das schon entdeckte ge- meinnuͤtzig zu machen? Es kommt mir vor, als ob in Deutschland in den beiden vorigen Jahrhunderten Materialien zu dem großen Gebaͤude der Wissenschaf- ten waͤren gesammlet worden, die aber in ziemlicher Unordnung untereinander herumlagen, Quadersteine, Backsteine, Dachziegel, Balken, Bretter, Eisenwerk u. s. w. Jm vorigen Jahrhunderte war die Beschaͤf- tigung der Gelehrten, die Materialien abzusondern, und und jede Art in zierliche Schichten uͤbereinander zu se- tzen. Jn diesem Jahrhunderte haͤtten Baumeister kommen sollen, die aus diesen Materialien, dem mensch- lichen Geschlechte zum besten, Gebaͤude gebauet haͤtten. Aber jeder Gelehrte faͤhrt fort, sein Schichtchen Back- steine vor sich her dicht aufeinander zu legen, und nennt es ein Lehrgebaͤude. Jst jemand so gluͤcklich auf seinem Spaziergange ein paar einzelne Steine zu finden, und sie in guter Ordnung zu seinem Haͤufchen hinzuzulegen, so heißt er ein Erfinder. Derjenige der große Quadersteine in Graben neben einander waͤlzt, daß sie einmahl kuͤnftig einem Gebaͤude zum Grunde dienen koͤnnten, heißt ein tiefsinniger gruͤndlicher Mann. So thun unsere saͤmtliche Gelehrten nichts, als Mate- rialien in Ordnung bringen und einen Grund legen. Faͤngt aber jemand an, aus den verschiedenen großen Haufen Materialien die Jahrhunderte lang dicht auf- einander gelegen haben, auf den schon gelegten Grund ein Gebaͤude zu bauen, so verspottet man ihn als einen seichten Kopf, der Materialien und Grund von an- dern nimmt, und dessen Ordnung voller Luͤcken ist. Man bedenkt nicht, daß durch diese Luͤcken das Licht in das Gebaͤude faͤllt, und daß durch dieselben, Men- schen in das Gebaͤude hineingehen koͤnnen, dahinge- gen in den dichten Haufen weder Licht noch Waͤrme dringen dringen und keine menschliche Creatur darin wohnen konnte. Man sollte nicht zufrieden seyn, jede Wissen- schaft vor sich in ein Lehrgebaͤude zu ordnen, son- dern eine jede Wissenschaft sollte billig auf alle andere, und alle zum Besten der menschlichen Gesellschaft angewendet werden. Seb. Aber ich wiederhole noch einmahl, die Wis- senschaften wuͤrden seicht werden, wenn man nicht fortfuͤhre ihre Theorien zu untersuchen. Wohin soll es endlich mit ihnen kommen, wenn man bloß das, was davon dem gemeinen Haufen faßlich ist, bear- beiten will? Hier. Und wohin soll es endlich mit der Befoͤr- derung der Entwicklung aller Kraͤfte des Geistes, mit der Erleuchtung des ganzen menschlichen Geschlechts kommen, die der vorzuͤglichste Zweck der Wissenschaf- ten ist, wenn die Gelehrten bloß fuͤr sich, und jede Art von Gelehrten besonders fuͤr sich, in ihrem klei- nem Zirkel bleiben, und den großen Zirkel der uͤbrigen ganzen Nation ihrer Achtsamkeit unwuͤrdig halten wollen. Es koͤnnen zwar immer einige Gelehrten von Profession bleiben, davon jeder uͤber seine Wissen- schaft einzeln nachdenkt, und seine Bemerkungen den Gelehrten mittheilet. Aber haben denn die Gelehrten gar keine Pflichten gegen das uͤbrige menschliche Ge- schlecht? schlecht? Der Bauer der das Feld besaͤet, der Weber der Zeuge bereitet, der Maurer der Haͤuser bauet, der Kaufmann, der die zur Nothwendigkeit und Be- quemlichkeit gereichenden Dinge zusammenbringt, tra- gen jeder durch ihren Fleiß das ihrige zum gemeinen Besten bey, und auch die Gelehrten werden durch sie genaͤhret, bekleidet, vor den Ungemaͤchlichkeiten des Wetters bewahrt, und mit Bequemlichkeiten versehen; sollten die Gelehrten nun ein Recht haben, ihre Einsich- ten bestaͤndig nur unter sich zu behalten, und sie nie diesem geschaͤftigen Theile der Nation, fuͤr die Wohlthaten, die sie taͤglich von ihm empfangen, mitzutheilen. Sie koͤnnen dieses nicht allein dadurch thun, wenn sie ge- wisse gemeinnuͤtzige Wahrheiten faßlich vortragen, wel- che Beschaͤftigung viele Gelehrten deshalb verachten, weil sie glauben, daß nur maͤßige Geschicklichkeit dazu gehoͤre. Es giebt vielmehr noch eine hoͤhere Art der Gemeinnuͤtzigkeit, die Genie, Gelehrsamkeit, An- strengung aller Geisteskraͤfte erfodert, und die man dadurch erreicht, wenn man, wie ich schon gesagt habe, nicht allein jede Wissenschaft vor sich selbst, sondern auch in Absicht auf alle andere, und alle in Absicht auf die menschliche Gesellschaft betrachtet. Hierin fehlen die meisten deutschen Schriftsteller, die ihre Wissenschaft zwar aus dem Grunde verstehen, aber sie sie bloß allein fuͤr sich, und nie in dem Zusammen- hange der uͤbrigen Wissenschaften, und nie in Absicht auf den Nutzen des menschlichen Geschlechts, betrach- ten. Ein Criminalist ist ein grundgelehrter Mann, wenn er alle Ausgaben der peinlichen Halsgerichts- ordnung mit ihren Commentarien durchgelesen und verglichen hat, und genau zu bestimmen weiß, in welchem Falle, und im wie vielstem Grade man zur Tortur schreiten soll. Er haͤlt den fuͤr einen schwachen Kopf, der noch erst untersuchen will, ob ein Erforschungsmittel der Wahrheit, das im Heil. Roͤmischen Reiche schon vor mehr als zweyhundert Jahren durch Gesetze vorgeschrieben worden, un- zulaͤnglich ja gar unmenschlich seyn koͤnne. Ein Lehrer des deutschen Kirchenrechts wird mit groͤs- sester Gruͤndlichkeit und Belesenheit beweisen, daß im Heil. Roͤmischen Reiche nur zwey Religionen existiren duͤrfen, und daß es reichsgesetzwidrig sey, wenn der- jenige, der keiner dieser beiden Religionen beyfaͤllt, nicht sogleich des deutschen Vaterlandes verwiesen werde. Laß den friedfertigen Gottesgelehrten, laß den men- schenfreundlichen Philosophen, laß den einsichtsvollen Politiker dawider auftreten, und versichern, wahre Neligion, Wohl des Menschen, und Wohl des Staats erfodere, daß man niemand dogmatischer Lehren Lehren wegen verdamme, und keinen Ketzer, sobald er ein guter Buͤrger ist, aus dem Lande jage, er wird sie bloß bedauren, daß sie in der Kenntniß des deutschen Kirchenrechts so unwissend sind; laß sie sich auf die gesunde Vernunft berufen, er wird voll Ver- achtung antworten, daß man so wenig das deutsche Kirchenrecht als das deutsche Staatsrecht, nach der Vernunft, sondern nach dem Herkommen beurtheilen muͤsse. Eben so samlet der Geschichtschreiber eine Menge Facten, ohne Wahl und Absicht, ohne da- raus Philosophie, Politik oder Kenntniß des Men- schen zu erlaͤutern, und der Philologe giebt klassische Autoren heraus, samlet Lesearten und berichtigt Va- rianten, ohne ein einzigmahl seine Leser auf den Geist der alten Schriftsteller, auf den Zweck warum sie ge- schrieben haben, zu fuͤhren. Wenn ich nicht gewohnt waͤre, weder im Guten noch im Boͤsen von Gottes- gelehrten zu reden, so wuͤrde ich die anfuͤhren, die mit ihren Nebengottesgelehrten bestaͤndig Dogma- tik, Exegese und Polemik wechseln, ohne jemals zu uͤberlegen, welchen Einfluß Dogmatik, Exegese und Polemik auf die Verbesserung des menschlichen Gei- stes haben koͤnne, und wie sie sich gegen Geschichte, Philosophie und Politik verhalten. Wenn jemals die deutschen Schriftsteller anfangen, die Wissenschaften Erster Theil. J aus aus solchen Augenpunkten zu betrachten, so werden sie sie mit weit gluͤcklicherm Erfolge erweitern, als durch trockne Compendien, leere Speculatio- nen und absichtlose Compilationen, sie werden fuͤr Kenner schreiben, und doch den Lesern aus allen Staͤnden interessant werden. Selbst durch dieses Jnteresse, werden sie alle Arten von Lesern zum Stu- diren wissenschaftlicher Kenntnisse ermuntern, so wer- den sich die Wissenschaften in mehrere Staͤnde aus- breiten, und gelehrte Schriftsteller werden den mehr erleuchteten Lesern fasslich schreiben koͤnnen, ohne der seichten Denkungsart des großen Haufens zugefallen, eine unrechtverstandene Popularitaͤt zu affectiren. Seb. Jch finde, daß Sie vollkommen Recht haben. Jch kenne keinen hoͤhern Nutzen der Wissenschaften, als die Erleuchtung des menschlichen Geschlechts. Aber hiezu haben gewiß vortrefliche deutsche Schriftsteller auch das Jhrige beygetragen, ich darf ihnen nur aus dem Fache, das ich kenne, die wuͤrdigen Gottesgelehrten unsers Vaterlandes ins Gemuͤth bringen, die sich mit gluͤcklichem Erfolge bemuͤhet haben, Dogmatik, Exe- gese und Polemik, nach dem Nutzen und dem Scha- den, den sie dem menschlichen Geschlechte bringen koͤn- nen, zu betrachten. Hier Hier. Jch habe Jhnen schon gesagt, daß ich von keinem Gottesgelehrten urtheilen will: aber ich ver- ehre die großen Schriftsteller in allen Wissenschaf- ten, die von philosophischen und menschenfreundlichen Absichten belebt, mehrere Wissenschaften zugleich uͤber- schauen, und das wahre Verhaͤltniß einer jeden zur allgemeinen Erkenntniß zu bestimmen suchen. Deutsch- land hat einige, und sie sind vortreflich, aber sie sind in sehr geringer Anzahl. Die meisten deutschen Schriftsteller, sind voll pedantischen Stolzes, nur bemuͤhet, den Theil der Wissenschaften den sie lehren, er mag nun klein, unbetraͤchtlich, ja wohl schaͤdlich seyn, als den wichtigsten auszugeben, und ihm duͤnkt, um zu meinem vorigen Gleichnisse zuruͤck zu kommen, daß der kleine Haufen Steine den sie sammlen und Stein uͤber Stein aufstapeln, wich- tiger und nuͤtzlicher sey, als das groͤste Gebaͤude. Seb. Mein Freund! Sie sind wirklich gegen die deutschen Gelehrten ungerecht, und nehmen Sie es mir nicht uͤbel, fast muß ich glauben, dis komme von ihrem Stande her. Sie selbst haben die Tiefen der Gelehrsamkeit nicht erforschet, und wissen also auch nicht, wie ein wahrer Gelehrter eigentlich beschaffen ist. Ein wahrer Gelehrter siehet alle Gegenstaͤnde der menschlichen Erkenntniß in einem weit hellern J 2 Lichte Lichte, als ein Ungelehrter, und kan daher von ihrem Werthe und Unwerthe besser urtheilen; er wird nie die Wissenschaft in der er arbeitet hoͤher achten, als sie es werth ist, oder deshalb die andern Wis- senschaften, wenn sie wichtiger sind, vernachlaͤßi- gen. Die Wissenschaften, mein lieber Herr Hiero- nymus, sind durch ein algemeines Band verbunden, und wer bloß seine Wissenschaft schaͤtzen wollte und die andern nicht, handelte so thoͤricht, daß sich dies von kei- nem wahren Gelehrten vermuthen laͤßt. Lernen Sie die Gelehrten besser kennen. Hier. Haben sie den Messcatalogus von dieser Messe schon gelesen. Seb. Wie kommen Sie darauf? Nein noch nicht. Hier. Wir wollen einmahl die Beschaffenheit der neuen deutschen Buͤcher aus diesem Catalogus beur- theilen. Lassen Sie uns einmahl zusammenrechnen, wie viel von jeder Art der Wissenschaften Buͤcher her- ausgekommen sind, und hernach daruͤber Betrachtun- gen anstellen. Seb. Sehr gern. Dis wird Sie am besten wi- derlegen. Wahre Gelehrten sehen allemahl, das lasse ich mir nicht ausreden, auf dasjenige was dem Gan- zen vortheilhaft ist, nicht, was ihnen insbesondere gefaͤllt. Sie Sie fingen also an den Meßkatalogus durchzuge- hen, und fanden 350 Uebersetzungen Diejenigen, denen etwa die Anzahl der Uebersetzungen und Journale, nach Proportion allzustark duͤnken sollte, muͤssen bedenken, daß es eine Michgelmesse war. Denn wenn auch einige Schriststeller im Sommer spazieren gehen, so arbeiten doch Uebersetzer und Journalisten, im Sommer und Winder, mit gleicher Thaͤtigkeit fort. aus verschie- denen Sprachen, 65 neue Stuͤcke von Journalen, 40 Compendien und Lesebuͤcher, 74 Dissertationen und Programmen, 53 Baͤnde Predigten, 67 theologi- sche Buͤcher von allerhand Art, aber nur 9 Juristische, weil die Anweisungen zum Reichsproceß und zum Cri- minalproceß schon oben unter den Compendien gerech- net worden, 23 medicinische Buͤcher, 16 Wochen- blaͤtter, 5 Geschichtbuͤcher, 37 diplomatische Buͤcher, 17 Romanen, meistens in Erfurt, Dresden und Re- genspurg gedruckt, 31 Gedichte, 3 mathematische Buͤ- cher, 1 physicalisch Buch und 15 aus der Naturhi- storie. Hingegen fanden sie nur zwey einige Wochen vor der Messe erschienene Buͤcher, worin die Wissen- schaften in ihrer Verbindung und in Verhaͤltniß auf die Menschheit betrachtet wurden, und von diesen versicherten verschiedene gelehrte Zeitungen, voller Ver- achtung, daß ihre Verfasser seichte Koͤpfe waͤren, die keine gruͤndliche Einsichten in die Wissenschaften haͤt- J 3 ten, ten, und bloß durch das geringe Verdienst einer guten Schreibart, bey dem gelehrten Poͤbel Beyfall er- schlichen. Hieronymus ging in ein Nebenzimmer, um diese Zeitungsstuͤcke zu suchen, weil er aber dabey etwas verweilte, hatte Sebaldus indessen eiligst 13 Titel von neuen Buͤchern uͤber die Apocalypse, die er sich beym Durchsehen des Catalogus heimlich mit dem Nagel gezeichnet hatte, auf einen Zettel ausgezogen, mit dem er dem Hieronymus entgegen kam, und ihn sehr angelegentlich bat, ihm diese Buͤcher zu lei- hen. Der gefaͤllige Hieroymus fing gleich an zu su- chen, und kaum hatte er sie herbey geholt, als Se- baldus, des bisherigen Gespraͤchs ganz uneingedenk, sie unter den Arm nahm und damit nach Hause eilte, wo er nicht ruhete, bis er eins nach dem andern durch- gelaufen hatte. Den dritten Tag brachte er dem Hieronymus die Buͤcher zuruͤck, und nahm sich unterweges vor, seinem Freunde zwar fuͤr die Buͤcher zu danken, aber ihm doch wegen seiner irrigen Meinung, von der par- theyischen Achtung der Gelehrten fuͤr ihre Lieblingswis- senschaft, den Kopf zurechte zu setzen; allein er fand zu sei- nem Misvergnuͤgen, daß der gute Hieronymus be- reits abgereiset war; daher er sowohl seinen Dank als seine Ermahnung bey sich behalten mußte. Drit- Dritter Abschnitt. J nzwischen konnte Sebaldus die Gespraͤche, die er mit dem Magister und mit dem Hieronymus gehalten halte, gar nicht vergessen. Er sollte die ganze Jdee, die er sich von dem Zwecke des gelehrten Lebens, und von dem Zustande der deutschen Schriftstellerey gemacht hatte, aͤndern. Er solte glauben, daß der groͤste Theil der Schriftsteller von Profession, nicht so uneigennuͤtzig als er selbst, bloß um die Ausbreitung der Wahrheit besorgt waͤren. Dies war ihm uner- traͤglich. Er redete also mit jedem von dieser Sache, der ihm vorkam. Besonders war er an einen seiner Nebencorrectoren gerathen, der es als eine Versorgung ansahe, wenn er bis zu dem Posten eines Uebersetzers fortschreiten koͤnte. Er war auch so gluͤcklich gewesen, wir wissen nicht, ob von einer Paraphrase uͤbers neue Testament in einigen Foliobaͤnden, oder von einer Antideistischen Bibel in einigen Quartbaͤn- den, die einem Uebersetzungsunternehmer in Pausch und Bogen war verdungen worden, durch die vierte Hand, ein halbes Alphabet zum Uebersetzen zu erhal- ten. Er hatte das Vergnuͤgen seine Handschrift ge- druckt zu sehen, und fand sich um einen Zoll groͤßer als ein gemeiner Corrector. Er konnte nicht umhin, J 4 sei- seinen Nebencorrector Sebaldus seine Groͤße fuͤhlen zu laßen. Er war nicht wenig erstaunt, daß dieser, anstatt das Geschaͤft eines Uebersetzers, wie er, zu ver- ehren, vielmehr davon mit der aͤußersten Verachtung sprach. Es entstand daher ein ziemlich lebhafter Wort- wechsel zwischen ihnen, welcher endlich heftig ward, da sie, ich weiß nicht wie, auch auf die Apocalypse geriethen, wovon der Corrector die richtigen bengelischcrusianischen Begriffe hatte. Er erstaunte nicht wenig daruͤber, daß Sebaldus, anstatt die Apocalypse von der christlichen Kirche erklaͤren zu wollen, sie fuͤr eine Wiederholung der Geschichte Frankreichs ausgab; aber er gerieth in Wuth da er vernahm, daß Sebaldus aus der Einrichtung des himmlischen Jerusalems die Endlichkeit der Hoͤllen- strafen behaupten wolte. Er kreuzte und segnete sich uͤber solche Ketzerey, und lief sogleich zu ver- schiedenen Buchdruckern, die ihm und Sebaldus die meisten Bogen zu corrigiren gaben. Er klagte ihnen, nicht etwa Sebaldus unrichtige Erklaͤrungen der Apocalypse, welches vielleicht nicht viel Eindruck gemacht haben wuͤrde, sondern daß Sebaldus gegen jedermann die Uebersetzungsfabriken, als einen der Gelehrsamkeit nachtheiligen Mißbrauch verdammte, und daß er bey dieser Gelegenheit von den Buchdru- ckern und Verlegern, die mit Uebersetzungen ein nuͤtz- liches liches Gewerbe treiben, nicht mit der gebuͤhrenden Ehrfurcht gesprochen habe. Sebaldus fand, als er wieder bey seinen gebietenden Herren erschien, die Mienen kalt, die Stirnen gerunzelt, darauf folgten Klagen uͤber die schlechten Zeiten, welche machten daß itzt weniger gedruckt wuͤrde, und daß man ihm daher weniger Correcturen geben koͤnnte. Er bekam in kurzem in der That gar keine mehr, und weil sein rachsuͤchtiger College ihn, als einen Menschen der die Endlichkeit der Hoͤllenstrafen glaubte, an solchen Oer- tern abgemahlt hatte, wo dieser Vorwurf mehr Ein- druck machte als bey Buchdruckern, so merkte er bald, daß jedermann sich fuͤr ihn scheuete. Jm kurzem ward er genoͤthigt, die Dachstube, wo er vor kurzem so ver- gnuͤgt gewesen, mit einem Keller in der Vorstadt zu vertauschen, worinn ihn ein armer Mann aufnahm, den er zur Zeit seines Wohlstandes, als Markthelfer bey einem Buchhaͤndler angebracht hatte. Dieser Mann, und sein gewesener Nachbar der Magister, waren nun seine einzige Freunde, deren Gutthaten gerade hinreichend waren, ihm das Leben zu erhalten. Eines Tages, den er ungegessen zugebracht hatte, war er er gegen Abend zu seinem Freunde dem Ma- gister gegangen, der sehr gern sein duͤrftiges Ein- kommen mit ihm theilte, und durch freundschaftliche J 5 und und lehrreiche Gespraͤche seinem Geiste die Thaͤtigkeit wieder gab, die das Elend zu vernichten pflegt. Er kam, zwar als es schon dunkel ward, doch beyzeiten, nach seinem Keller zuruͤck, weil der Thorgroschen ein Capital war, das er zu sparen noͤthig hatte. Er war schon in den finstern Gang hineingetreten, der zu sei- ner Schlafstaͤte fuͤhrte, als er in einiger Entfernung sich etwas regen sahe, und bey naͤherer Untersuchung einen Menschen in einem Winkel sitzend fand. Se- baldus hielt ihn fuͤr einen Dieb, und ob er sich gleich etwas entsetzte, so sagte er doch ganz kalt: „Freund „wenn du etwas zu stehlen suchst, so bist du hier an „den unrechten Ort gekommen.‟ „Ach mein lieber „Herr,‟ antwortete eine unbekannte Stimme,„ ich bin „kein Raͤuber, verrathen Sie einen Ungluͤcklichen „nicht.‟ „Nein Freund, sagte Sebaldus, ein Mensch „der selbst elend ist, ist nicht grausam,‟ und hiemit ging er in die schon geoͤfnete Kellerstube, schlug Licht an, (denn sein Wirth, der Markthelfer, war noch nicht zu Hause,) und erblickte einen jungen Menschen wohlgestalret, aber todtenblaß. Sebaldus bot ihm die Hand, fuͤhrte ihn hinein, hieß ihn gutes Muthes seyn, und fragte wie er hieher kaͤme. „Jch habe, sagte der „Juͤngling, studiert, aber ich habe mich, bey einer ungluͤck- „lichen Schwaͤrmerey auf einem Dorfe, welche die Ju- „gend „gend Lustbarkeit heist, in einer Stunde wo ich meiner „Sinne nicht maͤchtig war, zum Soldaten anwerben „lassen. Die Reue folgte auf diesen Schritt nur alzu- „bald. Jch wuste, daß mein Vater Vermoͤgen hat, „meine Loßkaufung zu bezahlen. Er ist Generalsupe- „rintendent in **—‟ „Wie? in **? und er heist? —‟ „ Stauzius. ‟ „Jch kenne Jhren Vater, sagte Sebaldus sehr ge- „lassen, und Sie sollen hier einen sichern Aufenthalt „haben, bis Sie an Jhren Vater ihren Zustand melden „koͤnnen.‟ „Jch habe bereits an meinem Vater geschrieben „und habe ihn um Beystand ersucht. Er antwortete „mir, daß er mit der Landkutsche, die morgen Vor- „mittag hier ankommt, eintreffen werde. Jch solte „aber schon, durch einen unwiederruflichen Befehl, „morgen fruͤhe mit einem Recrutentransporte abge- „hen. Jch befuͤrchtete, daß alsdenn meines Vaters „Huͤlfe zu spaͤt seyn moͤchte, ich war außer mir, „und da die Schildwacht auf einen Augenblick nicht „aufmerksam war, entsprang ich im Dunkeln, und „dachte in diesem Winkel unentdeckt zu bleiben. Was „ich morgen thun solte, wuste ich nicht, und fast „weiß ich es noch nicht, denn mein Vater ist ein stren- „ger „ger und harter Mann, und ich fuͤrchte mich beynahe „so sehr, ihm unter die Augen zu treten als meinen „Werbern.‟ — „Fuͤrchten Sie sich nicht, er wird vaͤterliche Ge- „sinnungen haben; ich bin auch Vater, und weiß nur „allzu gut, daß den, den auch fremdes Ungluͤck nicht „ruͤhrt, das Ungluͤck eines Sohnes ruͤhren wird. Jch „will Jhren Vater aufsuchen, wenn es moͤglich seyn „wird, ihn zu finden.‟ „Er ist leicht zu finden, er wird im blauen Hechte „abtreten, wo Sie nur nach dem Passagier fragen duͤr- „fen, der mit der Jenaischen Landkutsche angekom- „men ist.‟ Jndem sie so redeten, kam der Hauswirth, der ehrliche Markthelfer, nach Hause. Ob er sich gleich vor den Soldaten sehr fuͤrchtete, so ließ er sich doch, durch natuͤrliches Mitleid und durch Sebaldus Zu- reden, bewegen den Fremden aufzunehmen, und stand ihm einen Antheil an dem gemeinschaftlichen Stroh- lager zu. Des andern Morgens ging Sebaldus beyzeiten nach dem blauen Hechte, und ward sogleich in das Zimmer des Fremden den er suchte, gefuͤhret. Die Kleidung des Sebaldus, und die Hagerkeit seines Gesichts zeigte, daß er ein Sohn des Elendes war, und und Stauzlus, den das Bewustseyn seiner eigenen Wichtigkeit niemals verließ, konte, als er ihn erblickte, sich nichts anders vorstellen, als daß er, vom Elende daniedergedruͤckt, eine reinere Orthodoxie angeloben, und sich zu anderweiter Befoͤrderung empfehlen wollte. Weil er aber noch nicht geneigt war, einem alten Gegner seiner Meinungen so geschwind zu vergeben, daß dessen Grundsaͤtze vernuͤnftiger gewesen als die seinigen, so fuhr er ihn beym ersten Anblick an: „Jst „es nicht entsetzlich, daß einen die Bettler uͤberlaufen, „wenn man kaum aus dem Wagen gestiegen ist! Was „will er Freund? Denke er nur nicht, daß ich ihm „glauben werde, wenn er mir etwas vom Verlaßen „seiner Jrrthuͤmer vorschwatzen will; das sind lauter „leere Worte. Er ist viel zu lange bey seinen grund- „stuͤrzenden Jrrthuͤmern verharret, als daß man von „ihm eine aufrichtige Beßerung hoffen koͤnte. Wir wol- „len bey uns keine Woͤlfe in Schaafskleidern haben; ich „moͤchte einem Menschen, der einmahl so verdammliche „Grundsaͤtze gehabt hat, nicht einmahl einen Kuͤster- „dienst anvertrauen. Was will er also von mir? „ich kann ihm nicht helfen.‟ — Sebaldus antwor- tete sehr gelassen: „Jch komme nicht meinetwegen; „ich kenne Sie und mich zu genau, als daß ich von „Jhnen Huͤlfe erwarten solte.‟ — „Und doch,‟ — „sagte sagte Stauzius, (der den Sebaldus von oben bis unten ansahe, und in diesem Angenblicke auf seine Leibesgestalt ein Project bauete,) „und doch koͤnte „ich ihm vielleicht einige Huͤlfe angedeihen laßen; er „ist in elenden Umstaͤnden, das sehe ich, im geistlichen „Stande ist nichts fuͤr ihn zu thun, was will er also „anfangen. Hoͤre er an, er ist beinahe sechs Fuß „hoch, werde er Soldat; zwar ist er nicht mehr jung, „aber die Groͤße wird machen daß mans nicht so ge- „nau mit dem Alter nehmen wird. Kann er ja die „Strapatzen nicht ausstehen, so wird er ins Lazaret „gebracht, und da ist er versorgt. Lasse er sich also „anwerben, es werden sich Leute finden, die ihm ein „gutes Handgeld geben werden.‟ Sebaldus sagte laͤchelnd: „Es war eine Zeit, wo „es mir sehr uͤbel genommen ward, daß ich Leuten ge- „rathen hatte in den Krieg zu gehen. „Ja, das war etwas anders, an heiliger Staͤte „schickte sich dies nicht. Aber itzt‟ — „Soll ich an Jhres Sohnes Stelle vielleicht „Soldat werden?‟ — „An meines Sohnes Stelle? was weiß er von „meinem Sohne?‟ „Jch weiß daß Jhr Sohn sich hat anwerben lassen, „daß er gestern Abend aus der Wache entsprungen ist, „daß „ich ihn bey miraufgenommen habe, und daß ich bloß zu „Jhnen gekommen bin, um ihnen zu melden, daß er „bey mir in sicherer Verwahrung bleiben soll, bis Sie „sein Schicksal werden koͤnnen zu verbessern suchen. Jch „verlange von Jhnen keinen Dank dafuͤr, weil ich „gegen einen Menschen Mitleiden empfunden habe, „und es ihm bloß deshalb nicht habe versagen wollen, „weil ich erfuhr, daß er Jhr Sohn war. Wollen „Sie noch, daß ich mich fuͤr ihn anwerben lassen soll? „Wenn dis das einzige Mittel waͤre, Sie und Jhren „Sohn gluͤcklich zu machen, so waͤre es in dem Elende „in dem ich schmachte, doch nur ein geringes „Opfer. —‟ „ Stauzius war ganz erstaunt und versetzte stamm- „lend, daß Sebaldus — wirklich sehr guͤtig waͤre; und „nun folgte eine Unterredung, deren Schluß war, daß „der junge Stauzius so lange beym Sebaldus blei- „ben solte, bis der Vater seine Loßlassung bewirkt haͤtte. Nun ging Sebaldus nach Hause, den Juͤngling zu troͤsten. Aber er hatte kaum Zeit, das vorgegang- ne zu erzaͤhlen, als ein Commando Soldaten in die Stube stuͤrzte, und beide auf die Hauptwache schleppte, wo sie den ehrlichen Markthelfer schon fanden. Stauzius erfuhr diesen Vorfall sehr bald, und dachte ihn auch zu seinem Vortheile anzuwenden. Es war war ihm rechter Ernst gewesen, Sebaldus an seines Sohnes Stelle zu setzen, und er glaubte nun desselben Loslaßung nur einen desto wohlfeileren Preis zu be- wirken, da er zwey Personen an seine Stelle geben konte. Er fand aber sehr bald, daß der Hauptmann gar nicht geneigt war, zween Recruten die er schon in seiner Gewalt hatte, an die Stelle eines den er los- geben solte, sich vorschlagen zu lassen, und daß die Loslaßung des jungen Stauzius izt weit mehr Schwierigkeiten habe, als vorher. Jn diesem Zustande blieben die Sachen einige Tage, in denen Sebaldus, alles was Elend und Kummer schreckliches haben kann, ausstehen muste. Ohne Nahrung, ohne Lager, war er den ganzen Tag dem Laͤrmen und dem Spotte roher Soldaten ausgesetzt, und innerlich nagte ihn der Kummer, daß er seinen Wohlthaͤter den Markthelfer mit sich ungluͤcklich ge- macht hatte. Es war nicht abzusehen, in welches tiefe Eleud dieser Vorfall beide stuͤrzen konnte, und er kannte keinen Freund der ihm helfen wollte, oder wenn er ge- wollt haͤtte, konnte. Mit diesen traurigen Gedanken be- schaͤftigte er sich eines Tages, als der Unterofficier der ehemahls durch seine Predigt zehen Recruten erhalten hatte, in die Wache trat, um sich nach einem Arrestanten zu erkundigen. Er erblickte unter andern den den Sebaldus, lief auf ihn zu, druͤckte ihm treuher- zig die Hand, und fragte wie er hieher kaͤme. Se- baldus erzaͤhlte es kuͤrzlich. Der Unterofficier schwor mit einem kraͤftigem Fluche, daß ein so rechtschaffener Mann nicht laͤnger im Gefaͤngnisse bleiben sollte, gieng stehendes Fußes zu seinem Major, der das Ba- taillon commandirte, und in weniger als einer Stunde kam er zuruͤck, befreyete sowohl Sebaldus als den Markthelfer, und fuͤhrte den erstern sogleich mit sich zu seinem Major. Der Major war ein Mann in seinem sieben und funfzigsten Jahre, der von seinem funfzehnten Jahre an, Soldat gewesen und von untenauf gedienet hatte. Er war brav wie sein Degen, aber seine moralischen Grundsaͤtze wuͤrden, wenn man sie nach Millers Einleitung in die Mosheimische Sittenlehre haͤtte pruͤfen wollen, freilich sehr unzusammenhaͤn- gend und widersprechend erfunden worden seyn. Er glaubte die Unsterblichkeit der Seele nicht; und be- kuͤmmerte sich doch sehr wenig um die Fortdauer sei- nes Lebens, sondern setzte es sehr oft, ohne die aͤus- serste Nothwendigkeit, in Gefahr. Er war eben nicht sehr religioͤs, und war auch eben nicht ein Lobredner des geistlichen Standes; dennoch aber ehrte und be- schuͤtzte er ihn vor allen andern. Er ging selten in die Erster Theil. K Kirche Kirche; aber seine Soldaten hielt er sehr streng dazu an. Er schwor und fluchte sehr oft; aber kein Subal- tern durfte fluchen wenn ers hoͤrte. Er war aus Temperament keusch; aber auf einen jungen Solda- ten, von dem er wußte daß er sich niemals in ein Maͤdchen verliebt hatte, ließ er bestaͤndig Acht geben, weil er sich nicht viel gutes zu ihm versahe. Sein Versprechen, wenn er es einmahl gegeben hatte, war unwiderruflich; gleichwohl widersprach er seiner eignen Meinung schnell, so bald er merkte, daß er moͤchte geirret haben. Er beleidigte kein Kind; aber beleidigt, war er aͤußerst rachgierig; aus dem Grund- satze: Ein braver Mann muͤße nichts auf sich sitzen laßen. Als Sebaldus vor ihm erschien, nahm er ihn bey der Hand, und dankte ihm fuͤr die zehen schoͤne Rekruten, die er durch seine geistreiche Predigt, dem Bataillon verschaft haͤtte. Als ihm aber Se- baldus erzaͤhlte, welche traurige Folgen diese Pre- digt fuͤr ihn und seine Familie gehabt habe; ge- rieth er in ein tiefes Nachsinnen, worin er den Se- baldus von Zeit zu Zeit anblickte, und als dieser fort- fuhr zu erzaͤhlen, daß der Superintendent Stauzius die eigentliche Ursach seines Ungluͤcks, und daß eben dieser Stauzius der Vater des arretirten Rekruten sey, sey, sprang er auf, und rief mit einem kraͤftigen Schwur aus: „Wohl mir, daß ich den alten Schur- „ken in meiner Gewalt habe! So lange ich in „Feindes Land bin, habe ich noch keinen Menschen „gepeinigt, aber Herr! den Boͤsewicht will ich peini- „gen. Sein Sohn soll ewig Soldat bleiben, und „den alten Baͤrenhaͤuter will ich krumm schließen lassen „bis er alles Unrecht ersetzt, daß er einem so braven „Mann wie Er, Herr Magister! gethan hat! Hier rief er den Unterofficier herein: „Hoͤr’, sagte er, den „Augenblick, arretire den fremden Superintendenten „im blauen Hechte, der Kerl ist ein Spion, er ist — ‟ Hier schloß ihm der Zorn den Mund. Der Unterof- ficier, der einen Theil des Unrechts wußte, dessen Stauzius schuldig war, strich sich den Bart, und sagte laͤchelnd, daß er eben unten im Hause waͤre, und daß er ihn schon seit einer Stunde nicht aus den Au- gen gelassen haͤtte. „Gut! so laß den Schurken gleich „heraufkommen‟, rief der Major. Sebaldus bat gehoͤrt zu werden, und ließ nicht ab zu bitten, daß er den Superintendenten wenig- stens nur itzt, in dieser Gemuͤthsverfassung, nicht sehen moͤchte. Der Major ließ sich bewegen, und rief zur Thuͤr hinaus, der Gefangene solte warten. K 2 Sebal- Sebaldus fing nun an dem Major weitlaͤuftig vorzustellen, daß ihm mit dem Ungluͤcke der beiden Stauze gar nicht gedient sey, daß seine Absicht ge- wesen sey die Rettung des Sohnes zu bewirken, daß er dem Vater von Herzen vergebe, daß Religion und Moral ihm verboͤten Rache zu hegen.‟ — „Zum Tausend Element, Herr! rief der Major; „lasse er sich von der Religion verbieten, was er will, „mir soll sie nimmer verbieten, daß ich einen Schurken „bestrafe, und einem ehrlichen Manne Recht verschaffe, „wenn ich zu beiden die Gewalt in Haͤnden habe.‟— „Sie wollen gerecht gegen meinen Feind seyn, „Herr Major, seyn Sie es auch gegen mich, was „sollen tngendhafte Leute von mir denken, wenn ich „eine so grausame Rache an meinem Feinde neh- „me? —‟ „Was sie denken werden? Herr! daß er Recht „hat! Der alte Boͤsewicht hat ihn nicht allein von „Haus und Hof gebracht, er ist auch am Tode seiner „Frau schuld, er hat seine Kinder ungluͤklich gemacht. „Herr! ich habe nie Frau oder Kinder gehabt, aber „straf mich Gott! haͤtt ich sie, so wuͤrde ich sie lieben „wie meine Seele, und wer mich darum braͤchte, den „haßte ich bis in den Tod, und wolte ihm den Degen „durch die Rippen jagen, sobald ich ihn vor mir „haͤtte — ‟ „Aber „Aber wollten ihm doch nicht durch einen andern „hinterruͤcks einen Dolch in die Seite stoßen laßen?— „Herr! Herr! — Wofuͤr sieht er mich an? das „Weiße im Auge sehe ich selbst meinem Feinde, und „laß ihn denn sich vertheidigen wenn er kann.‟ „Mein Feind, Herr Major, kann sich nicht ver- „theidigen. Jst es Jhnen anstaͤndig, einem verthei- „digungslosen Manne den Dolch ins Herz zu stoßen? „Wuͤrde es mir anstaͤndig seyn? Mein Stand verbie- „tet mir, Unrecht mit dem Schwerdte zu raͤchen, „meine Religion gebietet mir, es zu vergeben und „Boͤses mit Gutem zu vergelten. Jch waͤre nicht werth „Friede und Versoͤhnung gepredigt zu haben, wenn „ich durch Sie, an meinem Feinde, der ohne Verthei- „digung in Jhrer Gewalt ist, mich raͤchen, wenn „ich diese schreckliche Rache, bis auf einen unschuldi- „gen Juͤngling erstrecken wolte, der mich nie beleidigt „hat, noch mehr, der mein Gastfreund ist, der in „meiner elenden Schlafstelle Schutz und Zuflucht ge- „sucht hat. — Nein Herr Major erniedrigen Sie „mich nicht so sehr — Lassen Sie den jungen Menschen „frey. Lassen Sie mich an dem Vater eine viel edlere „Rache nehmen, die Rache, zu empfinden daß der, den „er beleidigt hat, sein wahrer Freund ist. Seine Be- „strafung uͤberlassen Sie seinem eigenen Gewissen, K 3 „das „das in niemand schlaͤft, der eine boͤse That gethan „hat.‟ „Blitz und Hagel! daß ein Pfaffe nobler denken soll „als ein Soldat! — Herr er hat Recht! —‟ (hier wischte er ein Paar Thraͤnen ab, die ihm uͤber seine grauen Au- genwimmern troͤpfelten) „Der junge Kerl soll los. Aber „kein Capitain wuͤrde ihn umsonst losgeben, das will „ich auch nicht. Jch will ihn dem Hauptmanne bezah- „len, aber Jhm Herr Magister soll der Vater das „Loͤsegeld geben; ich schenke ihm den Rekruten zwar, „aber ich will das Loͤsegeld bestimmen.‟ Sebaldus mochte einwenden was er wolte, der Major schritt nach der Thuͤre zu, und rief den Su- perintendenten hinein. Stauzius, der mit Schrecken die Wendung gesehen hatte, die diese Sache nahm, war vor Angst halb außer sich, und trat in der Stellung eines armen Suͤnders hinein. Der Major sahe ihn von oben bis unten an, und sagte: „Sein Sohn Herr! ist ein „Deserteur und muß haͤugen, oder 36 mahl Spieß- „ruthen laufen. Einen so schlechten Kerl, wie er ist, „Herr Superintendent, oder was er sonst seyn mag, „zu gefallen, wuͤrde ich ihm zwar nimmermehr losge- „ben, aber hier steht ein ehrlicher Mann, auf dessen „Fuͤrbitte soll ihm nicht allein die Strafe erlassen „seyn, „seyn, sondern er soll seinen Sohn auch loshaben, „wenn er tausend Thaler fuͤr ihn zahlt. — Stauzius halb erfreut halb bestuͤrzt stellte stam- melnd vor, „daß eine so starke Summe nicht moͤglich „waͤre. — „Herr! raisonnire er nicht. Der Kerl hat 11 Zoll, „er soll 1000 Thaler geben, und zwar keine Bern- „burger, oder sein Sohn soll Gassen laufen, und ihn „will ich hinstecken lassen, wo ihn Sonne und Mond „nicht bescheint, weil er ein Schurke ist, und dieser „Herr Magister hier ein ehrlicher Mann ist, den er „ums Amt gebracht hat, und raisonnire er kein Wort „weiter. Stauzius wuste sich vor Schrecken nicht zu fas- sen, seine Frau hatte ihm eingebunden, ihr nicht eher vor die Augen zu kommen, bis er ihren einzigen Sohn mitbraͤchte, und der Praͤsident, der fuͤr den jungen Menschen bestaͤndig eine beynahe vaͤterliche Zaͤrtlichkeit hegte, hatte ihm zu dessen Befreyung eine ansehnli- liche Summe in Golde mitgegeben, wodurch seinem eigenen Geize die Ranzion sehr erleichtert ward. Er bequemte sich also und zahlte in 77 Stuͤck alten Louis- doren, das Stuͤck zu 13 Rthlr. gerechnet, das ganze Loͤsegeld auf den Tisch. K 4 Der Der Major nahm es an, und uͤberreichte es dem Sebaldus, der waͤhrend der ganzen Unterhandlung, ob er gleich einigemahl zu reden versucht hatte, von dem Major nie war zum Worte gelassen worden. „Dies soll, sagte er, eine kleine Ersetzung des Scha- „dens seyn, den der Kerl ihm zugefuͤgt hat.‟ „Herr Major, sagte Sebaldus, Sie haben mir „den jungen Menschen geschenkt. Schenken Sie mir „ihn ganz, nehmlich mit der Freiheit ihn wieder zu „verschenken. Er hat Schutz in meiner Wohnstaͤte „gesucht, diesen Schutz kan ich ihm nicht verkaufen, „ohne geradezu wider meine Denkungsart zu handeln. „Was mir dieser Herr kann zuwider gethan haben, habe „ich ihm laͤngst vergeben. Er hat gesucht fuͤr die Rei- „nigkeit der Lehre zu wachen, ich muß noch weit mehr „bemuͤht seyn fuͤr die Reinigkeit meiner Handlungen zu „sorgen. Hier, Herr Generalsuperintendent, neh- „men sie das Geld zuruͤck. Stauzius stand da, wie ein Knabe, dem ein Gast einen Leckerbissen in den Mund stecken will; der Mund laͤuft voll Wasser, aber er trauet sich nicht ihn aufzuthun, aus Furcht vor dem Praͤceptor, der es verboten hat. Er sahe den Major mit furchtsamen Augen an, der ihn mit einem grimmigen Blicke ab- schreckte. Sebal- Sebaldus hoͤrte indessen nicht auf, bey dem Ma- jor ernstlich anzuhalten, der endlich den Sebaldus auf die Achsel schlug, und sagte: „Nun thue er was „er will. Jch moͤchte gern boͤse seyn, wenn ich nur „koͤnnte.‟ Sebaldus gab dem Stauzius das Geld, der es begierig in die Tasche schob, und den Sebaldus, mit einem Eiser umarmte, der genugsam zeigte, daß ihm sein Geld nicht weniger lieb war, als sein Sohn. Er nennte ihn seinen Erretter, er bat ihn sehr demuͤthig um Verzeihung, er versicherte, daß er auf ewig dank- bar seyn werde, daß er erkenne, wie großmuͤthig er gehandelt, da er ihm, ohne Rache, die er gaͤnzlich in seiner Gewalt gehabt haͤtte, vergeben wolle, da er nicht einmahl die Ranzion seines Sohnes annehmen wolle — „Genug hievon; fiel ihm Sebaldus in die Rede: „Gott vergiebt ohne Suͤhnopfer und Loͤsegeld — „und wer Gott fuͤrchtet, wird ihm nachzuahmen „suchen. Wenn Sie erkennen, daß Sie mir unrecht „gethan haben, so bin ich gaͤnzlich befriedigt.‟ Stauzius versicherte aufs heiligste, er erkenne dies, aber es sey nicht genug, er wolle seinen Schaden aufs thaͤtigste zu ersetzen suchen, er verspreche ihm, wenn er wieder nach Hause zuruͤckkommen wolle, daß er die erste gute Versorgung, die in seiner Macht stuͤnde, haben solle. Sebal- Sebaldus dankte fuͤr seinen guten Willen, aber verbat ihn. Der Major sagte, es sey unnoͤthig, denn er wolle dem Sebaldus die erste vacante Feldpredigerstelle, und wo moͤglich bey seinem eignen Bataillon verschaf- fen, bis dahin nehme er die Sorge fuͤr dessen Unter- halt auf sich. Unter diesen Gespraͤchen trat der junge Stauz in das Zimmer, den der Major frey erklaͤrte, und ihn seinem Vater uͤbergab, der nicht eher nachließ, als bis ihm Sebaldus, in den blauen Hecht, zum Mittagsmahle, nachfolgte. Vierter Abschnitt. H ier genoß Sebaldus das suͤße Vergnuͤgen, von seinem Feinde verdienten Dank einzuaͤrndten. Vater und Sohn uͤberhaͤuften ihn mit Liebkosungen. Der Vater wiederholte mit Eifer den Vorschlag zu einer guten Versorgung, und betheuerte, daß er al- les Ansehen, das er in dem Fuͤrstenthume haͤtte, da- zu anwenden wollte. Der Sohn unterstuͤtzte diesen Vorschlag, so daß Sebaldus endlich anfieng zu wan- ken und sich eine ruhige Befoͤrderung in seinem Vater- lande, als eine wuͤnschenswuͤrdige Sache vorzustellen. Er Er befragte den Major uͤber diesen Vorschlag, und wunderte sich nicht wenig, daß dieser gar nicht dazu stimmen wollte. Da er die Ehrlichkeit aller Menschen nach seiner eignen beurtheilte, so konnte er sich gar nicht darin finden, daß der Major so viel Argwohn gegen die Aufrichtigkeit des Stauzius merken ließ. Er hielt dies fuͤr ein allzuweit getriebenes Mißtrauen, und befestigte sich immer mehr in seinem Vorhaben, durch eine Landpredigerstelle in seiner Vaterstadt Ruhe zu suchen. Als der Major sahe, daß sein Entschluß, der Ein- ladung des Stauzius zu folgen, fest gefasset war, so wolte er ihm nicht ferner hinderlich seyn. Er ließ den alten Stauzius zu sich kommen, und band ihn aufs allerernstlichste ein, sein Versprechen zu halten. Er benachrichtigte ihn, daß er dem Sebaldus an den Obersten, der die Truppen commandirte, die die fuͤrstl. Residenz besetzt hlelten, einen Brief mitgegeben haͤtte; daß er diesen Officier, der sein vertrauter Freund sey, baͤte, den Sebaldus zu beschuͤtzen, und jeden, der sich unterstehen wuͤrde, ihn zu verfolgen, auf das empfindlichste zu bestrafen. Stauzius versprach mehr, als er vorher versprochen hatte, und versicherte noch mehr zu leisten. Als Als Sebaldus von dem Major Abschied nahm, gab er ihm außer dem obengedachten Schreiben an den Obersten, noch ein Empfehlungsschreiben an einen seiner vertrauten Freunde in Berlin mit. Er versi- cherte ihn, daß, wenn er nach Berlin reisete, dieser Freund ihn, auf Vorzeigung dieses Briefes, aufs freundschaftlichste aufnehmen werde, und daß er bey demselben bestaͤndig Nachricht, wo er, der Major, sich aufhielte, wuͤrde erhalten koͤnnen. Er gebot ihm, von diesem Briefe Gebrauch zu machen, wenn, wie er noch immer befuͤrchtete, Stauzius sein Verspre- chen nicht halten solte. Er betheuerte mit den hef- tigsten Schwuͤren, das Sebaldus seines Beystan- des niemals entbehren solte, sobald er nur Nachricht erhielte, daß er desselben benoͤthigt sey. Was den Major gegen den guten Generalsupe- rintendenten so gar sehr mißtrauisch gemacht habe, ist schwer zu sagen. Vermuthlich war es dessen Phy- siognomie. Ob aber insbesondere ein weit gegen das Ende der Nase vor sich gehendes Naslaͤp- chen Man s. Lavaters Phyflognomik 2ter Theil. S.| 117. u. folg. , oder eine eingekerbte Oberlefze, oder gruͤnlichte Zaͤhne, oder ein hoͤrbarer Athem, oder nur uͤberhaupt sein superintendentenmaͤßiges Anse- Ansehen S. Ehendas. S. 36. daran schuld gewesen, wuͤrde Herr Caspar Lavater am sichersten berichten koͤnnen, wenn er den Generalsuperintendenten Stauzius gesehen haͤtte. Der Erfolg schien indessen, wenigstens anfaͤnglich, das Mißtrauen des Majors gar nicht zu rechtfertigen. Stauzius nahm den Sebaldus mit sich in die fuͤrstliche Residenzstadt zuruͤck. Er haͤtte ihn in sein Haus aufgenommen, aber Sebaldus wolte nirgend, als bey seinem Freunde Hieronymus, abtreten. Jn- zwischen erwies ihm Stauzius alle moͤgliche Hoͤf- lichkeiten und er ward von demselben sowohl, als von dem Praͤsidenten nicht selten zu Gaste geladen; son- derlich nachdem der fremde Oberste, dem er sein Em- pfelungsschreiben uͤberreicht hatte, sich oͤffentlich fuͤr seinen Beschuͤtzer erklaͤrt, und ihn dem Praͤsidenten ausdruͤcklich zu einer baldigen Wiederbefoͤrderung em- pfolen hatte. Er ward auch wirklich in den naͤchsten drey Monaten, zu den zweyen im Lande vacant ge- wordenen Pfarren vorgeschlagen. Nur war ungluͤck- licher Weise, auf die eine schon vorher einem andern die Anwartschaft gegeben worden, und die andere hielt der Praͤsident zu wenig eintraͤglich, obgleich Se- baldus meinte, sie sey eintraͤglicher als seine verlassene Pfarre. Pfarre. Der Generalsuperintendent wiederlegte ihm dies, und gab ihm zu verstehen, daß man einem Man- ne wie Jhm, eine Specialsuperintendentur zu geben gedaͤchte. Nun waren zwar alle Specialsuperinten- denten des Fuͤrstenthums in der Bluͤthe ihrer Jahre, befanden sich wohl an Fleisch und Knochen, aßen und tranken gut, und studirten sehr wenig, so daß man freilich keine Vacanz in kurzem gewiß vorausprophe- zeien konte. Da aber doch ein Schlagfluß den Gesun- desten befallen kann, und ein hitziges Fieber auch kei- nen Specialsuperintendenten verschont; so war es nicht offenbar unmoͤglich, daß Sebaldus, der freilich nahe an sechzig Jahre alt, und vom Mangel und Kummer etwas gebeugt schien, bey dem aber uͤbrigens alle Actus naturales sehr gut von statten gingen, eine solche Stelle vor seinem Ende noch er- halten koͤnte. Sebaldus ließ sich indessen, bis zur Erfuͤllung die- ser Hofnung, die Zeit gar nicht lang werden. Er war bey seinem Freunde Hieronymus aufs freund- schaftlichste aufgenommen. Weil er in desselben La- den immer bekannter ward, so fing er an, sich der Ge- schaͤfte desselben, wenn er verreiste, anzunehmen. Wenn hingegen sein Freund zugegen war, hatte er voͤllige Muße Muße, an seinen Commentar uͤber die Apocalypse zu arbeiten, welches ihm so angenehm war, daß er die Hofnung zu einer Pfarre vielleicht ganz vergessen haben wuͤrde, wenn sie Stauzius nicht, so oft er ihn zu Gaste bat, erneuert haͤtte. Jnzwischen war in den ersten Monaten des fol- genden Jahres der allgemeine Frieden geschlossen wor- den. Der fremde Oberste ruͤckte demselben zufolge mit seinen Truppen aus. Diese Veraͤnderung brachte eine große Veraͤnderung in den Herzen und auf den Ge- sichtern vieler Leute in dem kleinen Fuͤrstenthume her- vor. Jnsbesondere schienen der Praͤsident und der Generalsuperintendent, den ehrlichen Sebaldus nicht mehr so genau zu kennen als vorher. Sie liessen ihn nicht mehr zu sich bitten. Wenn er sich bey dem erstern anmeldete, so sagte der Bediente schon an der Thuͤr, daß Se. Excellenz Mittagsruhe hielten, oder daß Sie eben Geschaͤfte haͤtten, oder daß Sie heute nie- mand spraͤchen. Wenn er den letztern zu sprechen ver- langte, so kamen, nachdem er eine halbe Stunde in dem Visitenzimmer gewartet hatte, Se. Hochwuͤr- dige Magnificenz zwar im Schlafrocke, mit oder ohne Peruke zum Vorscheine, und vergaßen auch niemals beym Weggehen ihn Jhrer Gewogenheit zu versi- chern; aber, obgleich verschiedene Vacanzen vorfielen, so so dachte doch niemand mehr daran, den Sebaldus vorzuschlagen. Endlich ward nach ein paar Monaten eine Pre- digerstelle in einem benachbarten kleinen Staͤdtchen offen, die Sebaldus unter andern deshalb gern ge- habt haͤtte, weil Hieronymus den dasigen Vieh- markt zu besuchen pflegte, und er sich ein großes Ver- gnuͤgen dabey vorstellte, seinen einzigen Freund jaͤhrlich zweymahl zu sehen, und in seinem Hause aufzuneh- men. Er wagte es also, dem Generalsuperintendenten abermals aufzuwarten, und zum erstenmahle sich selbst um diese Stelle zu melden. Stauzius warf die Sache nicht ganz weg; aber nach einigem Ha und Hem, fieng er an dem Sebal- dus vorzustellen: „Wie er selbst einsehen wuͤrde wie „noͤthig es waͤre, wenn von seiner wirklichen Befoͤr- „derung die Rede seyn solte, daß er das gegebene Aer- „gerniß hoͤbe, vor dem Consistorium seine irrige Mei- „nungen, besonders von der Ewigkeit der Hoͤllenstra- „fen widerriefe, auch wegen der hoͤchstwichtigen Lehre „von der Genungthung, dem Sinne der reinen symboli- „schen Buͤcher gemaͤß, sich erklaͤre; indem er sich mit „Betruͤbniß erinnere, in Leipzig daruͤber von ihm eine „hoͤchstbedenkliche Aeusserung gehoͤrt zu haben.‟ Seb- Sebaldus stand ganz erstaunt da, und sagte kurz: „daß er sich uͤber diese Zumuthung wundere, daß „er aber, um keines zeitlichen Vortheils willen, die „Wahrheit die er erkenne, verlaͤugnen wuͤrde.‟ Stauzius verwies ihm, in nicht ganz voͤllig sans- tem Tone, seine Hartnaͤckigkeit, gebot ihm von sei- ner ketzerischen Lehre abzustehen, und erinnerte ihn zulezt, indem er durch einen Griff an seine violette Muͤtze das Zeichen zum Abschiede gab, mit einem trocknen Amtsgesichte: „daß itzt die Zeit nicht mehr „waͤre, da man, durch feindliche Gewalt, in den „Weinberg des Herrn einzudringen suchen muͤsse. Es „sey itzt, Gottlob! Frieden.‟ Als Sebaldus seinem Freunde Hieronymus diesen Vorgang erzaͤhlte, fand dieser bestaͤtigt, was er schon laͤngst befuͤrchtet hatte, naͤmlich daß fuͤr den Sebaldus in dem Fuͤrstenthume weiter keine Besoͤr- derung zu hoffen sey. Nach einigen Tagen erfuhr man, daß der Praͤsident einen Fiskal veranlasset habe, den Sebaldus fiskalisch anzuklagen, weil er im Kriege fuͤr fremde Truppen Recruten geworben, zehen wirk- lich aus dem Lande geschaft, und den Sohn des Ge- neralsuperintendenten fuͤr Geld habe loslassen wollen. Sebaldus lachte uͤber eine so ungereimte Anklage, und brannte vor Begierde sich vor Gerichte zu stellen, um Erster Theil. L durch durch bloße Erzaͤhlung der Wahrheit seine Feinde zu beschaͤmen. Hieronymus aber, der einige mehrere Erfah- rung in Welthaͤndeln hatte, versicherte ihn: „daß der- „jenige, der wissentlich eine falsche Anklage thue, „nicht durch die Wahrheit beschaͤmet werde; daß man „einen maͤchtigen Mann alsdenn am meisten fuͤrch- „ten muͤsse, wenn er offenbar ungerecht anklage, und daß „bey einem fiskalischen Processe nie etwas zu gewin- „nen, sehr oft aber viel zu verlieren sey.‟ Nachdem beide den wahren Zustand der Sachen reiflicher uͤberlegt hatten, so kamen sie uͤberein, daß den maͤchtigen Feinden des Sebaldus seine Gegen- wart im Lande zuwider waͤre, und daß es fuͤr ihn sicherer seyn moͤchte, itzt abzuziehen, als sich mit Ge- walt wegtreiben zu lassen. Das Empfehlungsschreiben des Majors nach Ber- lin ward also hervorgesucht. Hieronymus schrieb auch eins, an einen seiner dortigen Handlungsgenos- sen, das, wenn sich nichts bessers faͤnde den Se- baldus, wenigstens wieder zu der Wuͤrde eines Cor- rectors erheben sollte, zugleich stellte er demselben eine Summe Geldes zu, welche er aus den bey ihm zu- ruͤckgelassenen Mobilien geloͤset zu haben versicherte, die aber Sebaldus Erwartung so sehr uͤbertraf, daß er er vermuthete und es |sich merken ließ, sein Freund habe auch hier als Freund gehandelt. Die Post nach Berlin war bestellt. Sebaldus, weil er noch nicht wußte, wie lang sein Aufenthalt in Berlin dauern koͤnnte, nahm nur in einem kleinen Kuffer das allernothwendigste zu sich. Das uͤbrige, worunter auch sein Commentar uͤber die Apoca- lypse war, der schon zu ein paar hundert Heften an- gewachsen seyn mochte, ließ er bey seinem Freunde Hieronymus stehen. Nun setzte er sich, nach zaͤrtlichem Abschiede von seinem Freunde, auf den Postwagen, und trat seine Reise an. Jn der zweyten Nacht ward der Postwagen, ohnweit der Brandenburgischen Graͤnze, in einem Walde unvermuthet von Raͤubern uͤberfallen; sie schlu- gen den Postillion auf der Stelle tod, und Sebal- dus, der der einzige Passagier war, empfing einen Schlag auf den Kopf, davon er betaͤubt zur Erden fiel. Als er wieder zu sich kam, war die Sonne aufgegan- gen, der Postillion lag todt ausgestreckt, der Postwa- gen war beraubt, und sein eigner Kuffer war gaͤnz- lich ausgeleert. Als er sich selbst besah, fand er, daß die Raͤuber ihm seine Kleider, deren schlechtes Anse- hen sie vermuthlich nicht in Versuchung fuͤhren konte, L 2 gelas- gelassen hatten. Er fand auch noch etwas kleines Geld in einer Tasche. Seine beiden Recommendationsbriefe waren aber weg, welches ihn zwar bestuͤrzt machte, doch, indem er sich erinnerte, daß er so klug gewesen, sei- nen Commentar uͤber die Apocalypse zuruͤckzulassen, welcher sonst auch der groͤßten Gefahr verlohren zu gehen, wuͤrde ausgesetzt gewesen seyn: so war er in etwas getroͤstet. Er suchte aus dem Walde herauszu- kommen, und folgte der ersten Landstraße, die er fand, ohne zu wissen, wohin sie ihn fuͤhrte. Ende des zweyten Buchs. Drit- Drittes Buch. Erster Abschnitt. S obald Mariane nebst ihrem franzoͤsischen Na- men auf dem Wohnsitze des Herrn von Ho- henauf angelangt war, war die gute franzoͤsische Aus- sprache die erste Sache wonach gefragt ward. Die gnaͤdige Frau, die sehr fuͤglich daruͤber urtheilen konnte, weil sie selbst mit einem angenehm gemischten halb thuͤ- ringischen halb wetterauischen Accente franzoͤsisch sprach, erklaͤrte nach einer viertelstuͤndigen Unterredung, daß Marianens Aussprache ohne Tadel sey, und fragte ihren neben ihr sitzenden Gemahl „ob sich nicht gleich „die Aussprache einer gebohrnen Franzoͤsinn, von der „Aussprache einer Deutschen durch ein gewisses je ne „sai quoi unterscheide?‟ welches dieser, den seine Ge- mahlinn schon seit den ersten Tagen ihrer Vermaͤhlung gewoͤhnt hatte, alles was sie mit einem gewissen Tone fragte, zu bejahen, mit einem deutlichen: „Aller- „dings!‟ bekraͤftigte. L 3 Nun Nun schritt die gnaͤdige Frau zur Jnstruction der kuͤnftigen Hofmeisterinn ihrer Kinder. Der Haupt- punkt war, daß sie bestaͤndig franzoͤsisch und niemals deutsch mit ihnen sprechen, und daß sie die Kinder an- weisen sollte, sich als Personen von Stande zu betra- gen, und jederzeit artige Manieren zu haben. Hierauf ward gefragt, ob sie Gelegenheit gehabt habe, oͤfters Personen von Stande zu sehen und ihr Betra- gen zu beobachten. Mariane ob sie gleich hier eine Franzoͤsinn vorstellte, hatte doch das zuversichtliche Be- jahen noch nicht gelernt, welches schon oft, sowohl man- cher franzoͤsischen Hofmeisterinn und Kammerjungfer, als manchem franzoͤsischen Kammerdiener und Pro- jektmacher, aus der Noth geholfen hat; sie bekannte daher mit Erroͤthen, daß sie selten in dem Falle gewe- sen waͤre. „Desto schlimmer, sagte der Hr. von Hohenauf, „denn bey der Erziehung vornehmer Kinder ist das „nothwendigste, ihnen standesmaͤßige Manieren „beyzubringen. Zum Gluͤck kann sie ihren Mangel „abhelfen, Mamsell, wenn sie fleißig auf meine Ge- „mahlinn Acht hat, dann die ist ein vollkommnes Mu- „ster standesmaͤßiger Auffuͤhrung.‟ Die Frau von Hohenauf neigte ihr mit starken Knochen versehenes Vorderhanpt nachlaͤßig auf die rechte rechte Schulter, laͤchelte uͤber ein paar vorwaͤrts ge- worfene Lippen, blinzelte mit ihren grauen roth unter- laufenen Augen, und sagte: „Sie sind sehr guͤtig Hr. von Hohenauf, aber „wahr ists, daß ich eine gewisse Decence in meinem Be- „tragen zu beobachten suche, die Personen vom Stande „eigen ist. Hiernach, Mamsell, muß sie meine Fraͤu- „lein auch bilden, daß sie sich niemals vergessen, sondern „bestaͤndig vor Augen haben wer sie sind. Dies, Mam- „sell, muß Sie auch niemals aus den Augen lassen, son- „dern bedenken, daß sie in meinen Fraͤulein, Personen „von Stande vor sich hat. Sie muß ihnen bestaͤndig „mit Nachsicht begegnen, ihnen niemals befehlen, noch „weniger gegen sie strenge oder unfreundlich seyn, wenn „sie auch ein wenig Lebhaftigkeit zeigen; denn Jugend „hat keine Tugend. Es ist genug, wenn sie nur die „ Decence und ihre Geburt nie vergessen. Naͤchstdem „kann sie ihnen oft gute franzoͤsische Buͤcher geben, „daß sich der Geist aufklaͤrt. Wir lassen deshalb mo- „nathlich den Mercure de France kommen, darin ste- „hen die neuesten Enigmes und Logogryphes, wie sie „am Hofe zu Versailles eben gaͤnge und gaͤbe sind, „auch schoͤne Poesies fugitives, davon muͤssen die Fraͤu- „lein urtheilen lernen, damit sie, wenn kuͤnftig ihr „ Amant ihnen ein Madrigal à Silvie mit einem galanten L 4 „ Envoy „ Envoy zusenden wird, die Finesse davon einsehen, „und mit Esprit anworten koͤnnen. Auch sind in dem „ Mercure Nachrichten von den neuesten Opera comi- „ques und von den neuesten Almanacs, Modes und „ Chansons, dadurch lernen sie, was izt in Paris du „b o n ton ist, zu loben. Hauptsaͤchlich aber muß sie gute „Romanen mit ihnen lesen, als Hippolyte Comte de „Douglas, die Memoires d’une Dame de qualité qui „ne s’est point retirée du Monde, die Lettres d’une Re- „gieuse portugaise, u.s.w. damit die Fraͤnlein beyzeiten ler- „nen, wie eine Affaire de Coeur gefuͤhret wird, und „damit sie die grace plus belle que la beauté lernen, „durch die unser Geschlecht uͤber das maͤnnliche einen „so sichern Sieg zu erhalten weiß.‟ Hier minaudirte sie aus dem rechten Augenwin- kel, in Ermangelung einer andern Mannsperson, auf ihren Gemahl, der dadurch beherzt gemacht, sein Wort „auch dazu geben wolte, und sagte: Jmgleichen Gel- „lerts Fabeln koͤnnten auch wohl mit den Kindern „gelesen werden.‟ „Ja‟ versetzte die gnaͤdige Frau, mit truͤbem Blicke, und etwas geruͤmpfter Nase: „Gellerts Fabeln gehen „allenfalls an, aber andere deutsche Buͤcher muß sie „sie nicht lesen lassen, denn das deutsche Zeug nuͤtzt „den Fraͤulein nichts, wenn sie nach Hofe kommen, „ Picard „ Picard mein Homme de Chambre sagt immer, es ist „kein brin von bon ton darin, und das ist auch wirk- „lich wahr, Es klingt alles so deutsch, wahrhaftig ich „bekomme Vapeurs, wenn ich nur die gothischen Buch- „staben von ferne sehe. Marianen war alles unerhoͤrt, was ihr gesagt ward. Sie duͤnkte sich in einer ganz neuen Welt zu seyn. Sie verstand von dieser Rede, die noch dazu von einer etwas staͤmmigen deutschen Dame, in dem nachlaͤssigen Tone einer Petite-Maitresse dahingelallt ward, nicht den dritten Theil; versprach aber doch mehrere Gelehrigkeit, als sie sich vor der Hand noch selbst zutraute. Eben so hoͤrte sie, ohne ein Wort dawider einzuwenden, die Anordnung ihres haͤus- lichen Lebens an, welche ihr bekannt gemacht wurde. Man sagte ihr naͤmlich, daß sie in Neben- stunden fuͤr die gnaͤdige Frau und die beiden Fraͤulein Putz machen, und der Cammerjungfer helfen muͤsse Kieider garnieren. Man gab ihr zu verstehen, daß man erwarte, sie werde, wenn große Gesellschaft da waͤre, helfen den Tisch anordnen, und wenn die Jun- gemagd viel zu thun haͤtte, auch darnach sehen, daß die Schraͤnke gebohnt, und der Staub von den porcellanenen Aufsaͤtzen abgewischt werde. Zuletzt erfuhr sie, daß sie zwar, wenn die Herrschaft allein L 5 waͤre, waͤre, der Fraͤulein wegen, die Gnade haben solte an die hochadeliche Tafel gezogen zu werden, wenn aber Gesellschaft da waͤre, so wuͤrde sie sich selbst bescheiden, mit den uͤbrigen Domestiken hoͤhern Raugs zu essen. Dies waren saͤmtlich Personen, die nuͤtzliche Ta- lente besaßen, feine Sitten hatten, und die Welt kannten. Sie bestanden in dem franzoͤsischen Fri- seur der gnaͤdigen Frau, in dem Gerichtsactuar, der zu gleicher Zeit das Amt eines Tafelde- ckers wahrnahm, in der Kammerjungfer der gnaͤ- digen Frau, die in den Kohlgaͤrten vor Leipzig in der Schule der artigen Lebensart gewesen war, in der Ausgeberin, die bey einem Hauptmanne, dem sie drey Campagnen durch als Koͤchin gefolgt war, die Oekonomie gelernet hatte, in einem ausgedienten Fahnenschmiede, der im Hause ehrenhalber der Stall- meister des gnaͤdigen Herrn titulirt ward, und in einem armen vater- und mutterlosen Verwandten, welcher von einem Regimente, unter das man ihn als Fahnjunker gebracht, bloß deswegen war weggejagt worden, weil er in der Schlacht bey Roßbach zuerst sich umgekehrt hatte. Freilich war diesem loͤblichen Beyspiele hernach das ganze Regiment gefolgt, doch ohne seine Schuld, indem er in der That schon uͤber funfzig Schritte entfernt war, als es geschahe. Dieser Dieser Herr Vetter ward auch, wie Mariane, wenn keine Gesellschaft vorhanden war, zur Tafel gezogen. Dagegen ließ er sich gefallen, allerhand kleine Dienste zu leisten, Z. B. den Stuhl wegzuruͤ- cken, wenn seine gnaͤdige Tante aufstand, den Pfropf- zieher zu holen, wenn sein gnaͤdiger Oheim trinken, oder die Pfeife zu stopfen, wenn er nach Tische rau- chen wollte, laut zu lachen, wenn er einen Schwank erzaͤhlte, und den Augenblick stille zu schweigen, so bald sie durch eine gerunzelte Stirne zu erkennen gab, daß sie keinen Gefallen daran haͤtte. Er muste auf jede Frage sogleich eine Antwort bereit haben, und wenn die Antwort mißfiel, sich nicht verdrießen lassen, daß ihm stillzuschweigen geboten, oder er vom Tische auf- zustehen befehliget ward, und muste nicht sauer ausse- hen, wenn er wieder erschien. Kurz, er hatte den Posten manches Kammerjunkers an manchen fuͤrstlichen Hoͤfen, einen Posten, der seines aͤusserlichen Glanzes wegen, von denen die ihnen nicht haben koͤnnen, so oft ge- wuͤnscht, und von denen die ihn bekleiden, so oft ver- maledeyet wird. Einen Posten, fuͤr den, ob ihn gleich so viele Deutsche besitzen, dennoch in der an Con- versationsausdruͤcken armen deutschen Sprache noch keine besondere Benennung zu finden ist, und fuͤr den die in der Conversationssprache so reichen und scharf- sinni- sinnigen Franzosen und Englaͤnder, noch keine bessere Benennung haben finden koͤnnen, als daß sie die Jn- haber eines solchen Postens, Schlangen- und Kroͤ- tenesser Avaleurs de Coleuvres — Toad-eaters nennen. Zweyter Abschnitt. E s ist leicht zu erachten, daß, da der Herr Vetter, der doch von guter Familie war, sich gegen das hochadeliche Paar so gefaͤllig bezeigte, man von Ma- rianen, eben so viel, wo nicht mehr Gefaͤlligkeit wer- de verlangt haben, und wie hart dies anfaͤnglich einer Person vorgekommen seyn muͤsse, die in der gluͤckli- chen Unabhaͤngigkeit erzogen worden war, daß sie seit ihrer ersten Kindheit an, von nichts als von ihrer eigenen Vernunft, und von der Vernunft und der Liebe zaͤrt- licher Eltern abhaͤngig gewesen war. Das unschaͤtz- bare Gluͤck der Unabhaͤngigkeit ist durch keine an- dere Vortheile zu ersetzen. Man mag von dem maͤch- tigsten, von dem reichsten Manne, ja, selbst von sei- nem eigenen Freunde abhaͤngen, so fuͤhlt man die Fes- seln, sie moͤgen noch so weit losgelassen, und noch so schoͤn geschmuͤckt seyn. Wem das Schicksal die Un- abhaͤngigkeit versagt, der mache sich gefaßt, einigen der der Rechte eines freygebohrnen Menschen zu entsagen: Er lerne vergessen, was er am eifrigsten wuͤnscht, nach dem trachten, was ihm veraͤchtlich ist, Froͤlichkeit seines Herzens verbeißen, und bey nagendem Kum- mer ein heiteres Gesicht annehmen. Jst seine Seele zu stark und sein Herz zu empfindlich, als daß er, so oft es verlangt wird, fremden Jrrthum eigener Ueberzeugung vorziehen koͤnne, so kaͤmpfe er den bit- tern Kampf, und lerne uͤber seinen eigenen Verstand siegen. Diesen Kampf hatte Mariane mit allem, was er herbes und fuͤr den menschlichen Geist erniedrigen- des hat, auszustehen. Sie sahe freylich nur allzuleb- haft ein, daß sie in einem Zustande war, den bloß das Wohlwollen ihren Obern ertraͤglich machen konnte, und nahm sich ernstlich vor, so lange es hoͤhere Pflich- ten erlaubten, sich in allen Dingen ohne Widerrede nach dem Willen der Frau von Hohenauf zu richten, und so gar, wenn es moͤglich waͤre, ihren Wuͤnschen zuvorzukommen. Dies war nun freilich ein schwer- auszufuͤhrendes Unternehmen; denn die Frau von Hohenauf war sehr auffahrend, sehr eigensinnig und sehr ungleich in ihrem Betragen. Auf ihren Adel aͤusserst stolz, schien sie alle Personen buͤrger- lichen Standes fuͤr Geschoͤpfe von einer andern Gat- tung tung zu halten, denen sie bestaͤndig den großen Ab- stand, der zwischen ihr und ihnen bleiben muste, fuͤhlen ließ. Und dennoch stammte sie selbst aus buͤrgerlichem Stande. Jhr Vater Namens Saͤugling, war ein reicher Pachter gewesen, und ihr Bruder war ein Tuch- haͤndler in einer großen Handelsstadt, der im Kriege durch Lieferungen an die Armeen ein grosses Vermoͤ- gen erworben hatte. Dieses buͤrgerlichen Ursprungs aber war sie nie eingedenk. Vielmehr ging ihr gan- zes Thun und Lassen dahin, das Ansehen einer Dame von Stande zu haben, und der Familie ihres Gemahls, die seit laͤnger als hundert Jahren auf ihren angeerb- ten Guͤtern Kohl gepflanzt hatte, einen neuen Glanz zu geben. Wenn es nur irgend wahrscheinlich gewe- sen waͤre, daß sie an einem der deutschen fuͤrstlichen Hoͤfe die, wie es billig ist, alle Personen, die nicht wenig- stens acht Ahnen haben, aus ihrer Athmosphaͤre aus- schließen, wuͤrde zur Cour zugelassen worden seyn, und wenn ihr Gemahl nur irgend zu etwas anders ge- schickt gewesen waͤre, als auf die Jagd zu gehen, zu trinken, und alle Anordnungen seiner Gemahlinn zu bewundern: so haͤtte sie nicht eher geruhet, bis er sich mit ihr nach Hofe begeben haͤtte. Haͤtte sie einen Sohn gehabt: so wuͤrde sie ihn zu einem adelichen Amte Amte erzogen haben, und solte es auch nur eine Faͤhn- richsstelle gewesen seyn; da sie aber bloß Toͤchter hatte, so ging sie damit um, ihnen eine so galante Erziehung zu geben, daß sie Hofdamen werden und durch ihr Vermoͤgen und ihre Reize, Grafen, Minister oder Ge- nerale fesseln koͤnnten; durch welche vortheilhafte Ver- maͤhlungen sie noch hofte am Hofe und vielleicht im ganzen Lande in großes Ansehen zu kommen. Die groͤßte Gluͤckseligkeit, die sie sich in ihrer Einbildung vorstellen konnte! Mariane war das Werkzeug, durch welches die beiden jungen Fraͤulein solten zu so wichtigen Absichten geschickt gemacht werden. Hiezu war es noͤthig, daß sie mit fertigen Lippen von nichts und uͤber nichts franzoͤsisch plappern koͤnnten; daß sie alle Vortheile des Putzes, ih- rem Koͤrper gemaͤß, so zu gebrauchen wuͤsten, damit er, es sey im nachlaͤßigen Nachtkleide, oder in der sittsamen Roberonde, oder in der praͤchtigen Galarobe mit aus- gespreitetem Panier und schwimmender Schleppe, Augen und Herzen der Cavaliere an sich ziehen muͤßte; daß sie den Verstand hauptsaͤchlich zu der wichtigen Untersuchung gebrauchten, ob die eroberten Herzen behalten, oder ob sie, nachdem damit eine Zeitlang wie mit einem Ball gespielet worden, in den Win- kel geworfen werden solten. Sobald sie dies verstanden, so so hatten sie die hauptsaͤchlichsten Wissenschaften gelernt, die die Frau von Hohenauf einer jungen Dame, die am Hofe glaͤnzen will, fuͤr noͤthig hielt. Jm Grunde schien Mariane zur Lehrerin so wich- tiger Wissenschaften nicht eben geschickt zu seyn. Jhr schlichter gesunder Verstand hatte ihr eingebildet, daß der Vorzug eines Frauenzimmers vielmehr darin be- stehe, daß sie gut, als daß sie schoͤn sey. Ob sie gleich selbst sehr wohl gebildet war, hatte sie sich doch, viel- leicht weil es ihr noch nie eine Mannsperson gesagt hatte, niemals etwas darauf zu gute gethan. Zum Putze hatte sie zwar, ohne es zu wissen, eine natuͤr- liche Geschicklichkeit, indem alles sehr wohl anstand, was sie selbst anlegte, oder fuͤr andre waͤhlte, welches den Friseur Picard bewog, sie fuͤr eine wirkliche Fran- zoͤsinn zu halten; aber sie hatte den Putz noch niemals gebraucht, Absichten damit zu erreichen. Sie kannte die Reize der großer Welt nicht, und verlangte auch nicht sie zu kennen, denn ihre Wuͤnsche waren bisher immer sehr maͤßig gewesen, und waren sehr leicht be- sriediget worden. Jhr hoͤchster Wunsch war vorher, die Liebe ihrer Aeltern zu verdienen, itzt aber ihre Pflicht zu erfuͤllen. Wenn Mariane eine schlechte Lehrerin war, so waren die beiden Fraͤulein eben so schlechte Schuͤle- rinnen rinnen. Sie hatten gar keine Anlage zum Hofleben. Sie waren ein paar gute Landmaͤdchen mit rothen Ba- cken, die vor Gesundheit strotzten. Auf dem Hofe herum zu springen, oder des Abends die bloͤkenden Heerden eintreiben zu sehen, war ein Fest fuͤr sie. Jm leichten Roͤckchen und im glatten Nachthaͤubchen mit himmelblauem Bande umsteckt, gefielen sie sich besser, als in dem reichen Anzuge eines stoffenen Schnuͤrkleides mit Pompons besetzt. Wenn Picard seine ganze Kunst an ihren Koͤpfen beweisen wollte, ward ihnen die Zeit lang, sie gaͤhnten, oder sprangen auf und liefen ein paar mahl in der Stube herum, oder haschten einen Schmetterling, der eben zum Fen- ster hineingeflogen war. Wenn ihre Mutter, wie es oft geschah, Assembleen hielt, wo in dem schoͤn er- leuchteten grossen Saale, der wohlgeputzte benach- barte Adel, an zwanzig Spieltischen mit dem ernsten Geschaͤft, die Zeit zu toͤdten, beschaͤftigt war, schlich sich die aͤlteste Fraͤulein, Adelheid, oft in den Gar- ten, die untergehende Abendsonne zu betrachten, den Nachtigallen zuzuhoͤren, oder den Duft der Nacht- violen und des Jesmins einzuziehen. Sie hatten beide keinen glaͤnzenden Verstand, wenn man es glaͤnzenden Verstand heißt, uͤber alle Gegenstaͤnde vor- schnell und mit Selbstgenuͤgsamkeit ein Redespiel zu Erster Theil. M halten; halten; noch einen lebhaften Witz, wenn man es leb- haften Witz heißt, Gruͤnde mit Einfaͤllen beantwor- ten, und mit Hohngelaͤchter diejenigen aufziehen, die verstaͤndiger sind als wir: Aber sie hatten den gesun- den Verstand, der sich mit Bescheidenheit und mit Lehrbegierde wohl vertraͤgt, und so viel Antheil an Witz und Scharssinn, als noͤthig ist, die Gegenstaͤnde geschwinder vors Anschauen zu bringen. Von dem Stolze ihrer Mutter, der sich auf Verachtung ande- rer gruͤndete, hatten sie gar nichts. Sie empfanden die Vorzuͤge ihres Standes bloß alsdenn, wenn sie dadurch Gelegenheit hatten, wohlzuthun, Almosen auszutheilen, oder einem Bedienten der etwas verse- hen hatte, bey ihren Aeltern Vergebung zu erbitten. Eine aͤhnliche Gemuͤthsart, brachte bey der Lehrerinn und den Schuͤlerinnen sehr bald eine wechselseitige Zu- neigung hervor. Eben diese Uebereinstimmung machte zwar das muͤtterliche Verbot, daß den Fraͤulein nicht strenge begegnet werden sollte, ganz unnoͤthig, aber sonst schien ihre Erziehung eine Wendung zu nehmen, die den Absichten der Frau von Ho- henauf nicht voͤllig gemaͤß war. Jn den Lehr- stunden war sehr oft, an statt vom adelichen Stande, von der Decence, und von artigen Ma- nieren, nieren, vielmehr von ihren Pflichten gegen Gott und ihren Nebenmenschen, die Rede. Anstatt zu lehren, wie ein Schminkpflaͤsterchen mit Coketterie zu legen, oder wie eine Affaire de Cœur am rechten Ende einzusaͤdeln sey, worin die gute Mariane ohnedies sehr unwissend war, suchte sie ihnen viel- mehr einzupraͤgen, daß sie ihren Geist mit nuͤtzlichen Kenntnissen auszieren, und ihr Herz der Wohlthaͤ- tigkeit und der Menschenliebe bestaͤndig offen erhalten muͤßten. Die Lettres d’une Religieuse portugaise wur- den daher sehr bald von Steelens Frauenzimmer- bibliothek und Hippolyte Comte de Douglas von der ganzen Pflicht des Menschen verdrungen. Hieraus ist leicht abzunehmen, daß uͤberhaupt an- statt der gebotenen franzoͤsischen, sehr oft die conter- bande deutsche Lectur, insgeheim werde uͤberhand ge- nommen haben. Mariane hatte freylich zu wenig monde, um einzusehen, daß jungen deutschen Damen die deutsche Sprache ganz unnoͤthig sey. Sie hatte noch keinen Begriff davon, daß man, um standes- maͤßig zu leben, in seinem eigenen Vaterlande fremde werden muͤsse. Wie konnte es auch anders seyn? Sie kannte die große Welt so wenig, als die junge Fraͤu- lein, die sie unterrichten sollte, und glaubte treuher- zigerweise, man lebe nur, um selbst besser zu werden, M 2 und und um andere Menschen gluͤcklicher zu machen. Jn sol- chen spießbuͤrgerischen Grillen wollte sie auch ihre Fraͤu- lein erziehen; daher war der Schaden eben so groß nicht, wenn sie auch deutsch mit denselben las, indem sie doch die franzoͤsische Lectur nicht avec goût zu waͤh- len wußte. Sie laß l’ Ami de cèux qui n’en ont point lieber, als les Egarémens de l’Esprit \& du Cœur und Memnon Histoire orientale, lieber als die Lettres de Ninon Lenclos oder den Almanac de Toilette. Mit die- sem Geschmacke stimmte der Geschmack der jungen Fraͤulein nur allzusehr uͤberein, denn, wenn diese im Mercure de France blaͤtterten, so uͤberschlugen sie mei- stens alle Pièces fugitives, Chansons, Enigmes, Logo- gryphes und Présentations, und verweilten sich bey ei- nem Conte moral von Marmontel oder la Dixme- rie, die dazumal einzeln im Mercure zu erscheinen pfleg- ten, oder suchten einen Trait de bienfaisance auf, der zuweilen eingeruͤckt wird. Jn allem diesem war noch sehr wenig du bon ton, welches doch die hauptsaͤchlichste Sache war, wozu die Frau von Hohenauf ihre Fraͤulein wollte angefuͤhrt wissen. Es ist also leicht zu erachten, daß sie schwer- lich mit einer so buͤrgerlichen Erziehung werde zufrie- den gewesen seyn. Schon in den ersten vier Wochen schien es beinahe, daß sie ihre neue franzoͤsische Mam- sell sell sehr bald wieder abschaffen wuͤrde; denn sie gab derselben bey aller Gelegenheit bittere Verweise, und tadelte alle ihre Anordnungen. Die Fraͤulein schienen ihr, seit sie bey Marianen waren, bloͤder, hatten gar keine bonne grace, hatten gar keinen Esprit, antworteten zu langsam und zu kurz wenn man sie fragte, unge- fragt plauderten sie sehr selten, wusten ihre Reveren- ze nicht abzumessen, und beugten die Knie tief gegen einen Verwalter oder Homme d’Affaires, wo ein Kopf- neigen, oder ein nachlaͤssiger Knix im Vorbeygehen, hinlaͤnglich gewesen waͤre. Marianen sehlte es sreilich, außer andern Er- fordernissen, die ihr, um eine gute franzoͤsische Mam- sell zu seyn, mangelten, an der den franzoͤsischen Hof- meisterinnen so gewoͤhnlichen Politik, allen Leiden schaften der hochadelichen Mutter zu schmeicheln, alles dreyfach zu loben, was die Mutter an den Kindern lobt, ihren eignen oder fremden Witz die Kinder heimlich auswendig lernen zu lassen, und sie zu ge- woͤhnen, denselben mit dreister Naseweisheit in Ge- sellschafft an den Mann zu bringen; wodurch denn je- derman, der zu leben weiß, uͤber die fruͤhzeitigen Ga- ben der Kinder erstaunt, der Mutter uͤber das kleine Wunderwerk, das sie unter ihrem Herzen getragen M 3 hat, hat, ein verbindliches Compliment macht, und auch nicht vergißt, der Mamsell im besten zu gedenken. Hievon wußte Mariane gar nichts. Sie war vielmehr beym Antritte ihres Amts so unerfahren, daß sie ihren Fraͤulein eine anstaͤndige Bescheidenheit an- pries; eine Eigenschaft, die gar nicht glaͤnzend ist, und die die Frau von Hohenauf aufs hoͤchste an ihren Bedienten lobte. Sie wuͤrde also Ma- rianen sehr bald uͤberdruͤßig geworden seyn, wenn nicht ein kleiner Umstand, davon in keinem der Sy- steme der Paͤdagogik Ungelehrten Vaͤtern und Muͤttern zu gute, sey hier ange- merkt, daß die Gelehrten mit diesem griechischen Worte die Kunst der Erziehung andeuten. Diese feyerliche Be- nennung wird gebraucht, seitdem die Gelehrten diese Kunst in verschiedene Systeme gebracht haben, deren jedes fuͤr sich sehr genau zusammenhaͤngt, nur daß eines dem andern schnurstracks widerspricht. , worin noch ein Kapitel von franzoͤsischen Mamsellen befindlich ist, ein einziges Woͤrtchen angetroffen wird. Mariane hatte von Jugend auf eine große Sorg- salt fuͤr ihre eigene Person getragen. Sie hielt sich uͤberaus reinlich in Kleidung und Waͤsche. Sie hatte die natuͤrliche Gabe, allen weiblichen Putz sogleich nach dessen Bestandtheilen zu uͤbersehen, also auch ihn nachzumachen, nach ihrem Geschmacke zu verbessern, und und neuen zu erfinden. Sie gebrauchte sich dieses Talents auch jetzt. Wenn ihre Fraͤulein besonders fleißig und gehorsam waren, so belohnte sie ihren Fleiß mit einem nach neuer Mode gestecktem Kopfzeuge, oder anderm Frauenzimmerputz, den sie so zu waͤhlen wuste, daß dadurch derselben natuͤrliche gute Leibesge- stalt mehr erhoben ward. Jn kurzer Zeit war ihr ganzer alter Putz mit neuem nach dem besten Geschma- cke verwechselt. Den scharfsinnigen Augen der Frau von Hohenauf konnte diese Veraͤnderung nicht ent- gehen, und sie bemerkte sie mit so großem Wohlgefal- len, daß sie es Marianen, wegen ihrer Geschicklich- keit im Putzmachen zu vergeben anfing, daß sie die Seelen ihrer Fraͤulein bilden wolte. Noch groͤsser ward die Gunst, als Mariane, durch so gluͤcklichen Erfolg aufgemuntert, es wagte, fuͤr die Frau von Hohenauf selbst zu arbeiten, die bisher ihren saͤmtlichen Putz aus der ersten Quelle, aus Pa- ris, verschrieben hatte. Sie brachte eine Comete aux Zephyrs Unmodischen Lesern und Leserinnen sey kund, daß dies eine Art eines kleinen Kopfzeuges ist, das, glaubwuͤrdigen Nachrichten zufolge, im Winter {1772}{1773} wieder sehr stark getragen wird. Es ist zu hoffen, niemand in Deutschland werde so barbarisch-unwissend seyn, nicht zu wissen, daß ein Comet ein zustande, die in der naͤchsten Assemblee ein M 4 großes großes Aufsehen unter den Damen machte, und in der ihre Goͤnnerin wenigstens um sechs Jahr juͤnger aussahe. Man kan leicht denken, daß dieses wichtige Verdienst, Marianens Talente zur Erziehungskunst in ein neues Licht werde gesetzt haben. Man setze hinzu, daß Mariane die Fraͤulein, die vorher in ihrer Kleidung sehr nachlaͤssig ja wohl gar unreinlich gewe- sen waren, durch ihr eigenes Beyspiel, zu der Frauen- zimmern so anstaͤndigen Nettigkeit im Anzuge ge- woͤhnte. Man setze hinzu, daß sie die jugendliche Wildheit der Fraͤulein, die an das was wohl anstaͤn- dig ist, noch nie einen Augenblick gedacht hatten, durch kleine leutselige Erinnerungen bis zu der kindlichen Freymuͤthigkeit maͤßigte, die mit Bescheidenheit und Sanftmuth sehr wohl bestehen kann. Man setze end- lich auch hinzu, daß die Fraͤulein, wenigstens in ihrer Mutter Gegenwart, bestaͤndig franzoͤsisch redeten, und in ihrer Fertigkeit in dieser Sprache sichtlich zu- nahmen; und man wird begreifeu, daß die Frau von Hohen- ein kleiner Kopfputz ist, unter welchem ganz frisirte Haare getragen werden. Aux Zephyrs aber | heißt dieser Comet, weil daran hinterwaͤrts gewisse haarigte Zierrathen, (denen die in der Putzmachersprache Chenilles oder Rau- ven heissen, etwas aͤhnlich) frey herunter hangen, mit denen die angenehmen Zephiren, sehr leicht spielen koͤnn- ten, wenn sie nur im Winter weheten. Hohenauf im zweyten Monate, mit ihrer franzoͤsi- schen Mamsell, weit mehr zufrieden war, als im er- sten. Wenn sie ja an den Fraͤulein etwas fand, das sie fuͤr bas und fuͤr bourgeois hielt, so nahm sie sich die Muͤhe, ihnen selbst daruͤber einen Verweis zu geben. Sie setzte zuweilen die nachsichtsvolle Anmerkung hinzu, daß man freilich von ihrer Mamsell nicht alles fodern koͤnnte, weil sie nicht de qualité sey, wodurch sie in gedrungener Kuͤrze, zugleich Marianen tadelte, und ihren eigenen Vorzuͤgen ein verbindliches Compliment machte. Dritter Abschnitt. J n dem dritten Monate von Marianens Aufent- halte bey der Frau von Hohenauf, traf dersel- ben Neffe, der Sohn des Tuchhaͤndlers Saͤugling, bey ihr ein. Die Bedienten wurden befehligt, ihn Ew. Gnaden zu nennen, und sie stellte ihn allem benachbarten Adel, unter dem Nahmen des Hrn. von Saͤugling vor. Dieser junge Mensch war mit seinen Universitaͤtsstudien halb fertig, denn er hatte schon zwey Jahre auf einer Universitaͤt zugebracht, und es kam nur noch darauf an, daß er ein oder zwey Jahre auf einer andern zubraͤchte, wohin ihn sein M 5 Vater Vater den kuͤnftigen Fruͤhling mit einem neuen Hof- meister senden wollte, den er ihm selbst ausgesucht hatte. Jndessen wollte er sich mit Genehmhaltung seines Vaters, den Winter uͤber auf seiner Schwester Gute aufhalten. Weil sie von Adel war, und mit dem benachbarten Adel viel Umgang hielt, welchem sie den Ton gegeben hatte, den Aufenthalt auf dem Lande, nicht mit laͤndlichen Vergnuͤgungen, sondern nach staͤdtischer Etikette, mit Besuchen, Gastmahlen, Assembleen, Spielpartien und Baͤllen, zuzubringen; so glaubte er, bey ihr Kenntniß der großen Welt zu erlangen und alles was sich noch etwa von Schulstaube an ihm finden moͤchte, rein abzuschuͤtteln. Dieses Schulstaubes konnte an ihm auch nicht so gar viel seyn, denn er hatte als ein reicher Juͤngling sich nicht auf Brodstudien gelegt, und noch weni- ger sich mit den alten Sprachen und mit den trocknen Lehrgebaͤuden der speculativen Wissenschaften beschaͤf- tigt; sondern seine Studien waren lachend und reizend und bestanden in Collegien uͤber die schoͤnen Wissen- schaften, und in fleißigem Lesen aller deutschen Poeten sonderlich derjenigen, die Freude, Wein und Liebe be- sungen haben. Er hatte uͤberdies franzoͤsisch, englaͤn- disch und italiaͤnisch gelernt, und hatte in diesen Spra- chen alle Poeten und die besten Kritiker gelesen. Er Er hatte sehr viele Gedichte an Phillis und Doris gemacht, und dies blieb noch bestaͤndig, nebst der Sor- ge fuͤr seinen Anzug, seine vornehmste Beschaͤftigung. Er hielt sehr viel von seiner eignen kleinen Person, die daher auch bestaͤndig geputzt, geschniegelt, und auf vier Nadeln gezogen war. Er gefiel sich selbst sehr wohl, naͤchst diesem aber war sein hauptsaͤchlichstes Augenmerk, dem Frauenzimmer zu gefallen. Er vermied moͤglichst alle Gesellschaften, worin bloß Mannspersonen waren. Jn vermischten Gesellschaf- ten saß er allemahl einem Frauenzimmer zur Seite, und wenn er waͤhlen konnte, allemahl bey der, die den sanftesten Blick hatte. Er bewunderte, um Be- kanntschaft zu machen, ihre Arbeit, die sie eben ver- fertigte, lobte ihr wohl gestecktes Demi-ajusté, Weil zu vermuthen ist, daß eher Buchgelehrte, als Gens du bon ton dieses Werk lesen werden, so muͤssen, der beklagenswuͤrdigen Unwissenheit der erstern zu Liebe, hier schon einige Woͤrter erklaͤrt werden, die sonst jedermann versteht, dès qu’il entre dans le monde. Ein Bonnet à demi ajusté ist ein Kopfzeug, unter dem eine Dame halb frisirt seyn muß. Ein Assassin ist nichts als ein Schoͤnpflaͤster- chen, und sagte ihr uͤber einen Assassin tausend ar- tige Sachen. Von da gieng er unvermerkt zum Erforschen ihres Verstandes uͤber. Er sagte ihr mit sanftlispelnder Stimme, er sehe die kleinen Amorn und und Amoretten auf ihrem Postillion auf und nieder- steigen, und sich unter den Falten ihrer Respectueuse verbergen, oder andere dergleichen niedliche Jmagi- natioͤnchen. Wenn er nun merkte, daß sie Verstand und Geschmack genug hatte, mit seinen lieblichen Em- pfindungen zu sympathisiren, so fing er gemeiniglich an zu stammlen, sahe etwas schaafmaͤßig aus, und langte aus seiner Tasche einige von seinen Gedichten, die er ihr vorlas, und von Zeit zu Zeit mit seitwaͤrts schielenden Augen, die Wirkung seiner Geistesfrucht, zu erforschen suchte. Erhielt er ein ruhiges Gehoͤr, und durch einen laͤchelnden Mund und sanftes Kopf- neigen einen guͤtigen Beyfall, so hatte er ein ver- gnuͤgtes Tagewerk gehabt. Empfing er aber eine laute Bewunderung, bat man sich eine Abschrift des Gedichts aus, oder bemerkte er gar, daß der Busen seiner Zuhoͤrerin sich zu einem Seufzer empor hob, oder daß sie aus blauen Augen, (denen er, als sei- nem eigenen schmachtenden Charakter am gemaͤßesten, vor chen, das aber seiner Groͤße wegen, wenn ein gemeines Schoͤnfleckgen verwundet, gar wohl todtschlagen kann. Ein Postillion d’Amour ist eine große Brustschleife von Band, welche weder Pferd noch Horn hat. Eine Re- spectueuse ist eine Bedeckung des Busens, mit Spitzen, Filet und anderm durchsichtigen Zeuge, die vermuthlich den! Namen davon fuͤhrt, weil sie nicht Ehrfurcht vert anlaßt. vor allen andern den Vorzug gab,) einen empfin- denden Blick auf ihn schießen ließ, so zerfloß er in sanften Empfindungen, uͤberließ sich ganz einer zer- schmelzenden Zaͤrtlichkeit, und war von dem Augen- blicke an, der Sclave der Schoͤnheit, die, was er ge- dacht hatte, so gut zu empfinden wuste. Er holte aus der Begeisterung ihrer Augen, Stoff zu neuen Gedichten, und je mehr ihm diese gefielen, desto mehr gefiel ihm die Schoͤne die sie veranlaßt hatte und an die sie gemeiniglich gerichtet waren. Doch so zaͤrtlich seine Liebe war, so pflegte sie doch nicht allzulange zu dauren; nicht als ob er unbestaͤn- dig gewesen waͤre, sondern weil der Gegenstand seiner Zaͤrtlichkeit gemeiniglich, nach einiger Zeit, seine Ge- dichte nicht mehr so feurig verlangte, und wohl gar unvermerkt seine Gesellschaft zu vermeiden suchte. So bald er dies merkte, ward er sehr traurig, klagte den Waͤldern und den Fluren sein Leiden, troͤstete sich aber, wenn ihm ein zaͤrtliches Liedchen uͤber die Un- treue seiner Chloris gelang, und fand gemeiniglich um diese Zeit eine andere Zuhoͤrerin, mit der er eben den- selben Roman von vorn an spielte. Dieser kleine Mann schien freilich denjenigen, die nicht ganz seine zuckersuͤßen Empfindungen nach em- pfinden pfinden konnten, etwas ungeschmackt, aber er war sonst das unschaͤdlichste Geschoͤpfchen unter der Sonne. Er that nie etwas boͤses, war nachgebend, gefaͤllig, mitleidig und gutherzig, beleidigte kein Kind, und beleidigt, war er nie geneigt sich zu raͤchen, kurz er war aller guten Eigenschaften faͤhig, zu denen nicht noth- wendig Staͤrke des Geistes erfordert wird. Wenn es wahr ist, daß die schoͤnen Wissenschaften, die Herzen ihrer Liebhaber erweichen, so waren sie es vermuthlich, die seine Seele so breyweich gemacht hatten, daß sie einer herzhaften That, oder einer lebhaften Entschlie- ßung, so wenig im Guten als im Boͤsen faͤhig war. Die lebhafteste Empfindung in seiner Seele, war im- mer die Begierde, seine Gedichte und besonders vom Frauenzimmer gelobt zu sehen. Dieser Absicht wegen war sein Kleid immer nach der neuesten Mode geschnitten, sein seidner Strumpf milchweiß, und seine Spitzenmanschetten caffebraun gewaschen, dieser Absicht wegen sagte er zuerst seinen Nach- barn und Nachbarinnen verbindliche Dinge vor, war gefaͤllig, nachgebend, kam jedermann mit Hoͤflichkeit zuvor, und pries mit gleicher Behendigkeit, bey den modischen Schoͤnen das Putzwerk, bey den tugend- haften die Tugend, und bey den witzigen den Witz. War er aber gleichwohl so ungluͤcklich, seine Absicht nicht nicht zu erlangen, so war er viel zu bescheiden, als daß er daruͤber jemand anders, als den stillen Waͤn- den sein Leid geklagt haͤtte, und zu gutherzig, als daß er diejenigen, denen seine Gedichte nicht gefielen, gehasset haͤtte. So bald er nur wirklich merkte, daß jemand seine Gedichte beschwerlich waren, so drang er sie ihm nie auf, so daß, wenn er jemand zur Last fiel, es sicherlich ohne sein Wissen geschah, denn seine Absicht war allemahl, Vergnuͤgen und Zufriedenheit, die er in so großem Maaße in sich selbst fand, durch seine Gedichte auch um sich herum zu verbreiten. Vierter Abschnitt. E in Mann, der sich so wie Saͤugling auf die Ver- dienste des schoͤnen Geschlechts verstand, mußte Marianen unter dem uͤbrigen im Hause vorhande- nen Frauenzimmer, sehr bald vortheilhast unterschei- den, zumahl da sie, gleich ihrer Mutter Wilhelmi- ne, bey schwarzen Haaren, die schoͤnsten hellblauen Augen hatte. Es konnte ein solcher Kenner, keine von den uͤbrigen Frauenzimmern mit ihr nur in Ver- gleichung stellen; denn die Frau von Hohenauf hatte große graue Augen mit langhaarigten Augenbramen, das Kammermaͤdchen besaß ein paar flachgeschlitzte Au- gen gen, aus deren Winkeln bestaͤndig ein paar matte rothgelbe Augaͤpfel liebaͤugelten, die kleinen Fraͤulein waren noch allzu jung, und die uͤbrigen weiblichen Ge- schoͤpfe waren unter der Notiz eines feinen Mannes wie Saͤugling. Hiezu kam, daß bey der ersten Un- terredung Mariane untruͤgliche Kennzeichen ihres guten Geschmacks merken ließ, wodurch Saͤugling Herz bekam, ihr ein Gedicht vorzulesen, welches Ma- riane mit so großem Beyfalle anhoͤrte, und dessen Schoͤnheiten so fein hervorzusuchen wußte, daß das kleine Maͤnnchen vor Entzuͤcken ausser sich war. Dies veranlaßte eine naͤhere Bekanntschaft, in der Saͤugling bald Marianens, vor der Frau von Ho- henauf bisher so geheim gehaltene, Bibliothek von guten deutschen Buͤchern entdeckte. Er erstaunte nicht wenig, eine Franzoͤsinn so aufmerksam auf die deutsche Litteratur zu finden. Da er gewohnt war, alles was er sahe auf seine kleine Person zuruͤck zu fuͤhren, so fiel er schnell darauf, wie moͤglich es sey, (wenn er, wie er zuverlaͤßig hoffte, unter den guten Dichtern Deutsch- lands einen Platz verdienen wuͤrde,) daß sein Ruhm auch ausser Deutschland sich ausbreiten, daß seine Ge- dichte ins franzoͤsische uͤbersetzt, und von den Damen an allen Hoͤfen Europens gelesen werden koͤnnten. Er wußte es Marianen Dank, daß sie zuerst eine so schmei- schmeichelhafte Hofnung in seiner Seele erreget hatte, und dies zog das Band der angefangenen Bekannt- schaft noch fester zusammen. Mariane, auf ihrer Seite sahe ihn auch gern; denn er war ein feiner und bescheidener junger Mensch, der sie mit den schoͤnen Wissenschaften, zu denen ihr die Neigung mit der Muttermilch war eingefloͤßt wor- den, angenehm unterhielt; ausserdem war er die erste Mannsperson, der ihr gesagt hatte daß sie schoͤn sey, und daß ihre blauen Augen mit sanfter herzruͤhrender Kraft wirkten, und auch das sittsamste und philosophischste Frauenzimmer pflegt eine solche Nachricht, aufs hoͤchste mit einem kleinen Verweise zu bestrafen. Die Kenner wollen bemerkt haben, daß die Vereinigung zwischen zwey jungen Personen zweyerley Geschlechts selten ganz stille stehen bleibe, und nicht allein bestaͤndig unvermerkt fortzuruͤcken pflege, sondern auch zuweilen, durch einen ganz klei- nen Umstand, mit einem so starken Sprunge fort- schreite, daß diejenigen, denen das verborgene Ding, das menschliche Herz, nicht genau bekannt ist, glau- ben, es geschehe durch eine Art von Zauberey. Dies war der Fall mit Saͤuglingen und Marianen, die bey einer unvermutheten, und dem Anscheine nach, ganz geringen Veranlassung, von einer bloßen Be- Erster Theil. N kannt- kanntschaft und wechselseitigen Hochachtung zur Freundschaft uͤbergiengen. Es fiel in den Wintermonaten der Geburtstag der Frau von Hohenauf ein. Mariane hatte im Sinne, eine gewisse Absicht durchzusetzen, wo- mit einige Schwierigkeiten verknuͤpft waren; dies brachte sie, zum erstenmahl in ihrem Leben, auf den Gedanken, ihren Zweck durch einen Umweg zu errei- chen, und in dieser Absicht sann sie ein kleines Fest aus, mit dem dieser Geburtstag solte gefeyert wer- den. Sie theilte ihre Gedanken Saͤuglingen als einem Poeten mit, der ganz entzuͤckt daruͤber war, einen Anlaß zu haben, seine Talente im Dramati- schen zu zeigen, da er bisher nichts als kleine Lieder- chen gemacht hatte. Er machte einen Plan zu einem mythologisch-historischen Schaͤferspiele von dreyen Personen, der Marianens Beyfall erhielt. Hier- auf waren alle insgeheim sehr geschaͤftig, Saͤugling, sein Spiel in Verse zu bringen, die Kinder, sie zu lernen, und Mariane, fuͤr Fraͤulein Adelheid die Tracht einer Nymphe, und fuͤr die juͤngste Fraͤulein und den kleinen Sohn des Predigers im Dorfe, Schaͤ- ferkleider zu verfertigen. Als der Tag erschien, und die zu diesem Geburts- feste aus der ganzen umliegenden Gegend zusammen- gebete- gebetenen Standespersonen von der Mittagstafel auf- gestanden waren, wurden sie unter einem andern Vorwande in das Orangeriehaus gefuͤhret. Hier wurden sie durch eine Symphonie uͤberrascht, und der Schauplatz oͤfnete sich. Er stellte entweder die eli- saͤischen Felder oder die hesperischen Gaͤrten vor, und bestand aus acht großen bluͤhenden und Fruͤchtetragen- den Pomeranzenbaͤumen, die Hinterwand aber war von dem Gaͤrtner mit Wintergruͤn und Blumenkraͤn- zen zusammengesetzt. Die Kinder traten auf, an de- ren Putze Mariane ihren ganzen Geschmack, und an deren Koͤpfen Picard seine ganze Kunst erschoͤpft hatte. Dies machte, daß das Spiel den Beyfall der Frau von Hohenauf erhielt, wozu auch nicht wenig bey- tragen mochte, daß sie darin als eine Goͤttin, und ihr Geburtstag als ein Goͤtterfest vorgestellt war. Die ganze Gesellschaft ertheilte einen lauten Bey- fall, und da die Kinder nach Endigung des Spiels in ihrem Anzuge vom Theater herabstiegen, wurden sie von jedermann mit Liebkosungen uͤberhaͤuft. Die Frau von Hohenauf that desgleichen. So wie sie alle Dinge aus ihrem eigenen Gesichtspunkte betrachtete, so konnte sie nicht genug bewundern, wie natuͤrlich der Schaͤferhabit dem kleinen Pastorsohne staͤnde, aber sie fand, daß eben diese Art von Kleidung ihr juͤng- N 2 stes stes Fraͤulein verstellte, ob sie gleich, mit einem gnaͤdigen Kopfneigen gegen Marianen, bemerkte, daß die Arbeit daran sehr artig waͤre. Fraͤulein Adelheid hingegen in ihrer von Zindel und Flit- tern glaͤnzenden Nymphentracht hatte ihren gan- zen Beyfall. Sie umarmte sie, und spielte mit ih- ren langgezogenen uͤber den Busen gelegten falschen Locken, die ihr prinzessinnenmaͤßig vorkamen. „Dieser majestaͤtische Anzug schickt sich besser fuͤr „ein Fraͤulein deines Standes, sagte sie, als das „Schaͤferkleid deiner Schwester.‟ Die kleine Adelheid, die ihrer Schwester den leich- ten fliegenden Anzug und die in halb geflochtenen Zoͤ- pfen hinterwerts herabfallende Locken beneidet hatte, schlug die Augen nieder, und durfte nicht widersprechen. „Nicht wahr mein Kind, fuhr die Mutter fort, „nicht wahr, ein Schmuck von Juwelen, wuͤrde dir „besser stehen, als dieser schlechte Blumenkranz?‟ „Ach nein gnaͤdige Mama, er wuͤrde doch nicht „so schoͤn riechen als die Blumen.‟ „Einfaͤltiges Kind! was ist Geruch gegen Glanz? „Du hast gespielt wie ein Engel, ich muß dich dafuͤr „belohnen; — eine Zitternadel. —‟ Hier erinnerte sich die kleine Adelheid einer Rolle, die ihr, ausser der von Saͤuglingen aufge- schriebe- schriebenen, von Marianen muͤndlich aufgetragen war. Es hatte ein armer Pachter eines Bauerguts auf des gnaͤdigen Herrn Wildbahn geschossen. Der Jaͤ- ger hatte ihm das Gewehr weggenommen. Seit sechs Wochen lag er im Gefaͤngnisse, und man machte ihm den Proceß, um ihn an die Karre schmieden zu lassen. Jndessen da der Wirth und Versorger des Hauses fehlte, schmachteten seine Frau und fuͤnf Kin- der im Elende. Die gutherzige Mariane hatre ih- nen so gut sie konnte beygestanden. Sie haͤtte auch gern fuͤr den armen Gefangenen eine Vorbitte einge- legt, aber sie empfand, mit wie weniger Hofnung des Erfolgs sie dieses wagen duͤrfte. Sie hatte daher zuerst darauf gedacht, dieses Fest anzustellen, um da- bey Gelegenheit zu haben, durch Fraͤulein Adelheid, die der Liebling ihrer Mutter war, die Loslassung des Gefangenen zu bewirken. Sie hatte ihr die Worte in den Mund gelegt, die sie sagen sollte, wenn ihre Aeltern, durch das Vergnuͤgen des Festes in gute Laune gebracht, das Herz dem Mitleid zu oͤfnen ge- neigter seyn moͤchten. Fraͤulein Adelheid hatte also kaum gehoͤrt, daß sie fuͤr ihr Spielen belohnt werden solte, so ergriff sie diese Gelegenheit begierig, fiel ihrer Mutter zu Fuͤßen und rief aus: N 3 „Ach „Ach gnaͤdige Mame! wenn sie mich belohnen „wollen, so lassen Sie mich selbst die Belohnung waͤh- „len; Geruhen Sie, mir eine einzige Bitte zu gewaͤh- „ren; schlagen Sie mir nicht ab, was ich Sie bitten „will.‟ „Was verlangst du, mein Kind? Jch kan dir „nichts abschlagen.‟ „O meine gnaͤdige Mama! so erbarmen Sie sich „einer armen Frau und fuͤnf Kinder, alle noch viel „kleiner, viel unerzogener als ich, und die die Huͤlfe „ihres Vaters so noͤthig haben. Bitten Sie den gnaͤ- „digen Papa, daß er den armen Jacob loslasse, der „im Gefaͤngnisse liegt; geben Sie das Geld fuͤr die „Zitternadel die Sie mir zugedacht haben, seiner ar- „men Frau und Kindern.‟ „Fraͤulein,‟ sagte die Frau von Hohenauf, mit einem Angesicht voll kalter Wuͤrde, — „was geht mich „und dich das Diebsgesindel an?‟ „Ach gnaͤdige Mama! wenn Sie sehen sollten, „wie elend die Leute sind; wie sie an allem Mangel „leiden was wir im Ueberflusse haben, wie sie frie- „ren, wie sie hungern, wie drey von den Kindern auf „elendem Strohe krank liegen.‟ „Maͤdchen, woher kanst du dies wissen? „Ach, ich habe es gesehen, liebste beste Mama, „ich habe es selbst gesehen.‟ „Ge- „Gesehen? Jch erstaune ganz; wie kommst du „mit dem Lumpenpacke zusammen, gleich gestehe es „mir, ich will es wissen.‟ Fraͤulein Adelheid stamlete, und blickte Maria- nen an, die die Augen niederschlug; die Frau von Hohenauf wiederhohlte ihren Befehl, und das Fraͤulein beichtete: „Ach meine Mamsell hat mich hingefuͤhrt. Sie „glauben nicht, gnaͤdige Mama, wie gut sie ist; sie „hat die armen Leute schon seit sechs Wochen erhalten, „daß sie nicht vor Hunger und Frost umgekommen „sind. Ach ich habe auch gern mein ganzes Spar- „geld hingegeben, mehr konnte ich nicht, aber Sie „gnaͤdige Mama, koͤnnen mehr; Sie koͤnnen die Kin- „der gluͤcklich machen, wenn Sie den Vater loslassen.‟ „So, Mademoiselle‟ sagte die Frau von Hohen- auf, indem sie Marianen mit unbeschreiblicher Wuͤrde uͤber die linke Achsel ansahe, „sie fuͤhrt meine „Fraͤulein in schoͤne Gesellschaft, um Lebensart und „ Monde zu lernen.‟ „Ach gnaͤdige Mama —‟ „Schweig still, das verstehst du nicht. Dies „sind Diebe, die deines Vaters Forsten bestohlen ha- „ben, sie muͤssen hart gestraft werden, damit sich das „andere Gesindel daran spiegele.‟ N 4 „Ach „Ach der arme Jacob verspricht Besserung, er „will kuͤnftig lieber hungern, als Wild schießen. Aber „gnaͤdige Mama, die Kinder, die armen kleinen Kin- „der hatten nichts zu essen. „Schweig! um solch Lumpengesindel must du dich „nicht bekuͤmmern. „Ach liebste Mama! rief Fraͤulein Adelheid „schluchzend, es sind Gottes Geschoͤpfe, Menschen „wie wir, — und ungluͤcklich! —‟ „Fi Fraͤulein! Jst das auch eine von den schoͤ- „nen Lehren, die dir deine Mamsell giebt? Menschen „wie du? Du bist von Stande, die Bauern sind „weit unter dir; sage mir nicht ein Wort mehr hievon.‟ „Ach gnaͤdige Mama! Sie bauen ja das Getraide, „das wir essen. — Mein Großpapa ist ja auch ein „Pachter gewesen, erbarmen Sie sich — Großpapa „ist ja auch wohl arm gewesen, ehe er reich ward.‟ — — Eine derbe Ohrfeige von der Hand der in aͤußerste Wuth gesetzten Mutter, unterbrach das gute Kind. Die Frau von Hohenauf kannte sich beynahe selbst nicht vor Zorn. Sie hatte bisher dies wichtige genealo- gische Geheimniß jedermann so viel wie immer moͤglich verborgen, und hier ward es oͤffentlich, in einer gros- sen Gesellschaft von thurnier- und stiftsfaͤhigem Adel beiderley Geschlechts, ausgeplaudert. Dis war frei- lich lich ein niederschlagender Vorfall, zumahl da in dem Gesichte mancher Umstehenden, denen das Bewust- seyn von sechszehn reinen Quartieren ein gutes Ge- wissen gab, einige Mienen zu spuͤren waren, die ein wenig Schadenfreude uͤber diese Demuͤthigung einer mesalliirten Familie zu erkennen gaben. Die Frau von Hohenauf wollte noch eine Mi- nute Contenance halten, und fragte das Fraͤulein mit zorniger Miene, „wer ihr solch dummes Zeug in „den Kopf gesetzt haͤtte?‟ Das Kind konnte auf wie- derholtes Befragen nicht laͤugnen, daß ihr ihre Mam- sell diese Nachricht gegeben. Dies brachte die Frau von Hohenauf aufs neue in Wuth. Sie befahl Marianen, ihr den Augenblick aus den Augen zu gehen, stieß das Fraͤulein von sich, und wuͤrde ihr vielleicht nochmahls uͤbel begegnet haben, wenn sie nicht die umstehende Damen in Schutz genommen, und der Frau von Hohenauf durch allerhand Gruͤnde zugeredet haͤtten, dem Kinde ein unbedachtsames Wort zu vergeben, und einem so vergnuͤgten Tage zu ge- fallen, vielmehr ihre Bitte zu gewaͤhren. Aber die Frau von Hohenauf ward durch diese Vorstellungen sehr wenig besaͤnftigt, ob sie gleich sich zwingen und mit verbißnen Lippen hoͤfliche Antworten geben mußte. End- Endlich wendete sich die Graͤfinn von * * * die un- ter den Vorbitterinnen sich am geschaͤftigsten erwiesen hatte, an den Herrn von Hohenauf, der bey der ganzen Scene noch nicht ein Wort zu aͤußern sich ge- trauet hatte: Sie bat ihn, dem Geburtsfeste seiner Gemahlinn zu Ehren, den |Gefangenen loszulassen. Der Herr von Hohenauf, mit eiskaltem Schweiße vor der Stirne, konte mehr nicht, als ein gestammeltes „Jn der That — — meine gnaͤdige „Graͤfinn‟ — — hervor bringen. Es war ihm wirk- lich gleich unmoͤglich, einer Dame von solchem Stande eine so kleine Bitte abzuschlagen, als wider den so ausdruͤcklich erklaͤrten Willen seiner Gemahlin etwas zu thun. Die Graͤfin, die ihren Mann sogleich uͤbersahe, wendete sich abermahl an die Frau von Hohenauf, nahm sie bey der Hand, und sagte mit liebreizender Miene: „Die Goͤttinnen koͤnnen nicht Rache halten, „sondern lieben die Vergebung. Kein Goͤtterfest kan „ohne Wohlthun vollbracht werden. Jch fodere den „Gefangenen von Jhnen als ein Desert bey der „Abendtafel, wollen Sie uns ohne Desert lassen nach „Hause fahren?‟ Die Frau von Hohenauf hatte unter diesen Re- den Zeit gehabt, sich zu besinnen, was der Anstand erfo- erfoderte. Sie sagte also mit einer etwas gezwun- genen verbindlichen Miene: „Sie| verlangen von mir „eine Sache, wider die ich gar nichts einzuwenden habe, „sondern die bloß von dem Herrn von Hohenauf ab- „haͤngt. Der ist Erb- Lehns- und Gerichts-Herr‟ — „Nun mein gnaͤdiger Herr von Hohenauf ‟ — sagte die Graͤfinn, indem sie sich zu ihm wendete, „habe „ich eine Fehlbitte gethan?‟ Dieser, der mit einemmahl wieder tief frische Lust schoͤpfte, welches er in einer halben Viertelstunde nicht gethan hatte, machte einen sehr tiefen Reverenz, und murmelte einige Worte her, die ob sie gleich un- verstaͤndlich waren, doch nichts anders als seine Ein- willigung bedeuten konnten. Sobald die Graͤfinn davon gewiß war, so riß sie Saͤuglingen, der uͤber den großen Laͤrmen voll To- desangst da gestanden hatte, den Hut aus den Haͤn- den, warf einige Carolinen hinein, und gab ihn ihm zuruͤck. Dieser, erfreut uͤber den Wink ahmte ihr nach, und ging mit dem Hute in der Hand zu allen an- wesenden Gaͤsten, in der ehrenvollen Beschaͤftigung fuͤr beduͤrftige Ungluͤckliche eine Beysteuer zu samm- len, schaͤmte sich auch nicht, aus Freuden uͤber den gluͤcklichen Ausgang einer Sache, uͤber die ihm von An- fang an das Herz geklopft hatte, manche Thraͤne fließen fließen zu lassen, worin ihm die Graͤfinn und noch meh- rere schoͤne Augen Gesellschaft leisteten. Jndem die- ses geschahe, fuͤhrte die Graͤfinn die zitternde Fraͤulein Adelheid zur voͤlligen Versoͤhnung in ihrer Mutter Umarmung, und erhielt auch mit einiger Muͤhe, fuͤr Marianen die Erlaubniß, daß sie wieder erscheinen, und durch Kuͤssung des Rocks die Frau von Hohen- auf um Vergebung bitten durfte, daß sie menschlich gedacht hatte. Die Gesellschaft gieng darauf in den großen Saal, um sich zum Spiele zu setzen. Saͤugling aber, der sich ein viel suͤßeres Vergnuͤgen vorbehalten hatte, schlich nach dem Hinterhofe, ließ einen Wagen an- spannen, erloͤsete den ganz betaͤubten Jacob aus dem Gefaͤngnisse, fuͤhrte ihn selbst wieder zu seiner bisher verlassenen Familie, und schuͤttete die ansehnliche Summe, die er fuͤr sie gesammlet hatte, in den Schooß der Hausmutter aus, die bey so vielem Gluͤcke das auf so viel Ungluͤck so schnell folgte, vor Freuden stumm war. Er genoß das Gluͤck, das Haus des Elends und des Klagens, in ein Haus der Freude verwan- delt zu sehen, genoß den stammlenden Dank des Haus- vaters und der Hausmutter, empfand den Druck der kleinen Haͤnde der beiden Kinder, die sich an seine beiden Seiten hiengen und seine Haͤnde mit ihren Thraͤ- nen netzten, und neigte sich liebreich zu den lallenden kleinen Kranken, die von ihren Aeltern ermuntert, von ihrem Strohlager ihre matten Haͤnde empor zu heben suchten, um ihrem Wohlthaͤter zu danken. Er haͤtte sehr gern Marianen mitgenommen, um sie diese suͤße Scene, die Frucht ihrer menschen- freundlichen Anlage mitgeniessen zu laßen, wenn er nicht die Denkunsart seiner Tante zu genau gekannt haͤtte. Er hatte ein fuͤr schoͤne Handlungen empfind- liches Herz, und obgleich seine kleine Eigenliebe nicht ermangelte, ihm daruͤber ein Compliment zu machen, daß durch sein Drama dieser Endzweck erreichet wor- den: so war er doch durch Marianens großmuͤthige Gesinnungen, deren ganzes Verdienst um die ungluͤck- liche Familie er itzt erst in in seinem ganzen Umfange erfahren hatte, mit so großer Hochachtung gegen sie erfuͤllet; daß er bey seiner Zuruͤckkunft sogleich in ihr Zimmer stieg, und ihr, nachdem er ihr von seiner kur- zen Fahrt Bericht erstattet hatte, alle Lobspruͤche sagte die die warme Empfindung einer guten That einge- ben kann, daß er sie als die schoͤnste Seele pries, als die Ehre ihres Geschlechts, die ihrer Tugend we- gen das gluͤcklichste Schicksal verdiente. Mariane, von allem Eigenduͤnkel weit entfernt, aber voll von dem heitern Vergnuͤgen, welches ein edel- edelgesinntes Gemuͤth beym Wohlthun empfindet, sagte: „Loben Sie mich einer Kleinigkeit wegen nicht „allzusehr. Jch habe nur eine sehr gemeine Pflicht „beobachtet. Oder glauben Sie, daß eine weibliche „Seele nicht so leicht solcher Empfindungen faͤhig sey, „die billig ein jeder Mensch haben sollte. Jndem sie dieses sagte, warf sie, ohne es selbst zu wissen, auf Saͤuglingen einen Blick, der seine ganze Seele traf. Diejenigen, auf die jemals ein solcher Blick geworfen worden, versichern, daß er tief em- pfunden werde, aber daß sich seine Wirkung nicht beschreiben lasse. Der sel. Professor Stiebritz wuͤrde ihn vielleicht folgendermaßen definirt haben: „Es sey „ein Blick gewesen, durch welchen auf einmahl Saͤug- „lings symbolische Kenntniß von Marianens Voll- „kommenheiten, anschauend geworden sey.‟ So viel ist gewiß, daß von diesem Augenblicke an, mit seiner Hochachtung fuͤr Marianen, eine wahre Freundschaft verknuͤpft ward. Wann nun, wie man sagt, die Freundschaft zwischen Personen zweyerley Geschlechts, sehr bald einen viel zaͤrtlichern Namen zu verdienen pflegt, so ging in diesem Augenblicke in Saͤuglings Herzen eine Veraͤnderung vor, deren ganze Wichtigkeit er erst in der Folge spuͤrte. Fuͤnf- Fuͤnfter Abschnitt. W enige Tage darauf, brachte Saͤugling ein Ge- dicht auf die Errettung des armen Pachters zu Stande, welches an Marianen gerichtet war, und worin er ihr Lob sehr kluͤglich mit dem seinigen verbunden hatte. Mariane las dieses Gedicht mit Wohlgefallen. Es war mit einer Saͤuglings Lie- dern sonst ungewohnten Waͤrme des Herzens geschrie- ben, womit ihr Herz so sehr sympathisirte. Auch ihr Lob las sie mit einem geheimen Vergnuͤgen. Wenn es einem jungen Frauenzimmer uͤberhaupt leicht zu vergeben war, daß sie sich von einem artigen und witzigen jungen Menschen nicht ungern loben ließ; wie viel eher war ihr dies zu verzeihen, wenn sie fuͤhlte, daß sie mit Wahrheit, und uͤber eine aus der unbescholtensten Neigung fließende That gelobt wurde. Dies war der Anfang einer naͤhern Bekanntschaft zwischen beiden. Sie gingen oft, bey den ersten Blicken der Sonne nach dem Winter, im Garten zu- sammen spazieren. Jhre Lectur war ihnen gemein- schaftlich. Saͤugling las ihr seine Gedichte vor, hoͤrte mit innerer Zufriedenheit ihren Beifall, und ließ sich auch ihre Verbesserungen, die sie ihm mit gros- ser Bescheidenheit, aber aus der feinsten Empfin- dung dung gezogen, zuweilen an die Hand gab, sehr wohl gefallen. Kurz er betrachtete sie als eine Muse, die ihn zu neuem Schwunge seiner Gedichte begei- stern konnte, sie ihn aber, als einen angenehmen Ge- sellschafter, der sie mit Lectur und mit Gespraͤchen unterhielt, die ihrer Neigung gemaͤß waren. Von Anfange an hatten beide bey ihrem vertrau- ten Umgange, keine andere als diese Absicht. Jn kurzem aber verlohr sich Saͤugling, der Marianen bestaͤndig mit großer Jnbrunst angaffte, und taͤglich an ihr neue Schoͤnheiten des Koͤrpers und des Gei- stes entdeckte, ganz in ihre Vollkommenheiten. Er empfand, er wuste nicht was, und betrug sich dabey, er wuste nicht wie. Sein Geist erblickte Maria- nens Schoͤnheit, Tugend und Vollkommenheit, im herrlichsten Glanze, und mitten in diesem Anschauen, entdeckte er neue Schoͤnheit, Tugend und Vollkom- menheit; so daß er endlich davon ganz geblendet ward. Er ward truͤbsinnig und aͤngstlich in seinem Betragen, und weil Mariane, der wahren Ursach unwissend, ihn zuweilen in einem Anfalle von lustiger Laune daruͤber ein wenig aufzuziehen pflegte, so gerieth er in noch groͤßere Verlegenheit, und trauete sich nicht, von seinen Empfindungen nur ein Woͤrtchen zu sagen. Er nahm seine Zuflucht zur Dichtkunst, und ließ in die die Gedichte, die er Marianen vorlas, oder sie selbst lesen ließ, unvermerkt ganz kleine Zuͤge seiner Empfindung einfliessen, aber mit so vieler Zuruͤckhal- tung, als ein so furchtsamer Mensch, furchtsamer Poet, und furchtsamer Liebhaber, wie er war, nur haben konnte. Mariane las uͤber alle diese feinen Zuͤge mit groͤßter Freymuͤthigkeit weg, entweder weil sie sie nicht bemerkte, oder nicht zu bemerken Lust hatte. Saͤugling wuste nicht, was er beginnen sollte, ward noch aͤngstlicher in seinem Betragen, verehrte Maria- nen stillschweigend mit doppelter Ehrerbietung, kam allem ihrem Begehren aufs dienstwilligste zuvor, hielt sich sehr belohnt, wenn er einen laͤchelnden Blick von ihr erhielt, oder in Ermangelung dessen, war es schon Seligkeit, wenn er sie nur sehen, und mit schweigen- der Zaͤrtlichkeit aus ihren Augen die Nahrung seines Daseyns ziehen konnte. Es ist leicht zu erachten, daß er alle Gelegenhei- ten, in Marianens Gesellschaft zu seyn, werde mit Sorgfalt aufgesucht haben, aber er muste hiebey sehr behutsam zu Werke gehen. Er war mit den Gesin- nungen der Frau von Hohenauf so genau bekannt, daß er schon zitterte, wenn er nur daran gedachte, daß sie von seiner Zuneigung zu Marianen etwas mer- ken koͤnnte. Erster Theil. O Ma- Mariane war ohnedies seit dem ungluͤcklichen Ge- burtsfeste, ob ihr gleich die Frau von Hohenauf, dem Anscheine nach vergeben hatte, noch in Ungnade. Es halfen keine reichen Garnituren, mit denen sie die Kleider der gnaͤdigen Frau schmuͤckte, kein neuer Kopf- putz nach dem letzten Geschmacke gesteckt, nicht drey- fache Manschetten von den feinsten Netzchen, die ihre kunstreiche Hand, mit Blumen von Kammertuch un- terlegt, und mit fuͤnferley Pointstichen durchbrochen hatte. So angenehm auch diese Opfer waren, mit denen Mariane den Zorn der Frau von Hohenauf versoͤhnen wollte; so schienen doch die Suͤnden, daß sie den Fraͤulein die buͤrgerliche Herkunft ihrer Mutter entdeckt hatte, und daß sie dieselben zu guten Men- schen hatte erziehen wollen, ehe sie zu Hofdamen er- zogen wuͤrden, aus der Classe der unvergeblichen zu seyn. Die Frau von Hohenauf beobachtete wenigstens seit der Zeit, gegen Marianen eine mehr als ge- woͤhnliche Zuruͤckhaltung, sie wiederhohlte die weisen Lehren, fleißig gute Romanen zu lesen und den Fraͤulein das Air allemand abzugewoͤhnen, noch oͤfter als vorher. Daß Mariane sich unterstehen koͤnnte, mit den Fraͤulein deutsche Buͤcher zu lesen, kam der Frau von Hohenauf so wenig in den Sinn, daß sie nicht nicht daran dachte, das im Anfange ergangene allge- meine Verbot, abermahls zu wiederholen. Ungluͤck- licherweise aber traf sie einst Fraͤulein Adelheid mit der Bestimmung des Menschen in der Hand an, die daraus ihrer Hofmeisterinn die menschlichen Er- wartungen Nach der Auogabe Leipzig 1768. S. 119. vorlas. Die Frau von Hohenauf, die durchaus nicht wollte, daß ihre Fraͤulein andere Erwartungen haben sollten, als geputzt, bewun- dert, angebetet, Hofdamen, reiche und galante Frauen zu werden, confiscirte das Buch, als deutsch, augen- blicklich, und nachdem sie eine halbe Viertelstunde lang den Jnhalt untersucht hatte, warf sie es mit großem Ungestuͤm in den Camin, als fuͤr alle Fraͤulein, die ihr Gluͤck am Hofe machen wollen, hoͤchst ver- derblich. Von diesem Augenblicke an, war das Vertrauen der Frau von Hohenauf zu Marianen so sehr ver- mindert, daß es jedermann im Hause wahrnahm. Da nun dieses Schloß vollkommen einem Hofe glich, wo dem, der in Ungnade ist, von allen Hofbedien- ten der Ruͤcken zugekehret ward, so vermieden auch hier alle Hausgenossen Marianen, und Saͤugling, so sehr sein kleines Herz dadurch gemartert ward, muste aus Furcht Aufsehen zu erwecken oft die be- O 2 sten sten Gelegenheiten, sich mit Marianen zu unterhal- ten, vorbeygehen lassen. Dieser Zwang war ihm so peinlich, daß wenn er sich nicht noch durch Versmachen haͤtte Luft schaf- fen koͤnnen, seine Seele, die ohnedis nicht die staͤrkste war, unter der Last des Stillschweigens wuͤrde un- terdruͤckt worden seyn. Dies Stillschweigen ward ihm taͤglich unertraͤglicher, daher nahm er sich vor, es bey der ersten Gelegenheit zu brechen. An einem der ersten heitern Maytage gieng Ma- riane Mittags nach Tische in den Garten. Saͤug- ling folgte ihr von weitem nach, und als er vom Hause so weit entfernt war, daß er nicht bemerkt zu werden glaubte, eilte er ihr nach, um sie einzuholen. Er sahe dies fuͤr die beste Gelegenheit an, seine so lange verschwiegene Liebe zu offenbaren. Sein Herz klopfte ihm uͤber diesem muthigen Vorhaben; je naͤher er zu ihr kam, desto mehr goß sich ein zaͤrtliches Schau- dern durch alle seine Glieder, und da er sie endlich er- reichte, und sie stehen blieb um ihn zu bewillkom- men, sahe er starr in ihre hellblauen Augen, die Zunge stammlete, der Athem fehlte ihm, und nach- dem er anderthalb Minuten stillgeschwiegen hatte, sagte er: „Es ist heute wirklich recht sehr schoͤnes Wetter!‟ „Die „Die Bemerkung ist eines so witzigen Kopfes „recht sehr wuͤrdig! sagte Mariane laͤchelnd, Sie „hatten in der That das Ansehen, als ob Sie mir „etwas wichtigers sagen wollten. Saͤugling durch diese Antwort niedergeschlagen, sahe sie abermahls starr an, und schwieg einige Minu- ten lang stille. „Aber wie kommt es, fuhr Mariane fort, daß „Sie eine so tragische Physiognomie annehmen? Se- „hen Sie, wie alles um Sie herum erfreut ist. Se- „hen Sie diese blaue Veilchen, wie sie hervorsprossen „und angenehmen Duft verbreiten.‟ Hier pfluͤckte sie einige Veilchen und uͤberreichte sie ihm. Saͤugling nahm den Strauß an, betrachtete ihn, und seufzete. „Wie sind doch die schoͤnen Geister so nachsinnend? „Mich duͤnkt ich sehe es an ihren Augen, daß Sie denken: „Jch sahe den jungen May „Seine Silberglocken „Hiengen um den Schlaf „Als er vom Himmel fuhr, „Bluͤhten alle Wipfel, „Als er den Boden trat, „Ließ er Violen und Hyacinten im Fußtritt zuruͤck.‟ Ramlers lyrische Gedichte, Berlin 1772. S. 266. O 3 Saͤug- Saͤugling schlug die Augen auf, und antwortete: „Ach nein! meine Seele ist zu voll, als daß ich die „Schoͤnheiten der Natur empfinden koͤnnte.‟ „Ausgenommen die Schoͤnheit des Wetters? —‟ „Spotten Sie meiner nicht. Bloß weil ich meine „innigste Gedanken mich nicht zu sagen getrauete, „sagte ich etwas ganz gemeines. — Ach Mariane „Sie haben recht, ich haͤtte Jhnen etwas viel wichti- „gers zu sagen. —‟ „Nun so sagen Sie doch an an! —‟ Sehen Sie diese Veilchen, sie sind klein, aber „verbreiten suͤßen Duft, die allgewaltige Kraft der „Sonne lockt sie aus der Erde hervor, ohne sie wuͤr- „den sie weder bluͤhen noch duften. Ach meine Ma- „riane! Jch bin dieses Veilchen, Sie sind meine „Sonne.‟ — Mariane erroͤthete, und nachdem sie eine halbe Minute Luft geschoͤpft hatte, sagte sie, mit niederge- schlagenen Augen: „Sie haben mich fuͤr meinen „kleinen Scherz doppelt bezahlt; Jch werde mich huͤ- „ten muͤssen, wieder zu scherzen.‟ „O schoͤnste Mariane, suchen Sie nicht Scherz „aus einer Sache zu machen, die mir so ernsthaft „ist. Schon lange hat Sie mein Herz stillschweigend „angebetet, aber nun kann ich nicht mehr schweigen. Jch „Jch muß Jhnen sagen, was ich fuͤr Sie empfinde, „daß ich Jhre Schoͤnheit, ihre Tugend verehre, — „darf ich es sagen, — daß ich Sie liebe, daß ich nie „aufhoͤren werde, Sie zu lieben, daß ich — „Was hoͤre ich! Sie machen, daß ich mich weg- „begeben muß. —‟ sie trat einen Schritt zuruͤck. „Grausame! wie koͤnnen Sie mich verlassen! „Nein! zu ihren Fuͤssen, wiederhole ich Jhnen, daß „Sie meine ganze Seele liebt, daß ich ewig — „Jch bitte Sie, stehen Sie auf — — —‟ „Nein! Jch stehe nicht auf, bis Sie mein Schick- „sal bestimmen, bis Sie mir sagen, ob ich hoffen „darf von ihnen wieder geliebt zu werden. —‟ „Jch bitte Sie nochmahls, stehen Sie auf, was „soll man von uns denken, wenn jemand dieses We- „ges kommt. Sie wissen, daß ich Sie bestaͤndig ge- „schaͤtzt habe, so wie Sie es auch verdienen — aber „Sie wissen auch selbst, unsere beyderseitige Lage ist „so beschaffen, daß zwischen uns keine naͤhere Verbin- „dung statt finden kann.‟ „Warum nicht? Warum nicht? Lassen Sie mich „nur in Jhr Herz sehen, lassen Sie mich erfahren, „ob es mich wieder liebt, und alle Schwierigkeiten „verschwinden — Sagen Sie, schoͤnste Mariane, „ich beschwoͤre Sie, ob Sie mich hassen koͤnnen? — O 4 Stehen „Stehen Sie doch nur auf — Jch habe Sie nie „gehasset. —‟ „Wie koͤnnten Sie auch ihren zaͤrtlichsten, ihren „treusten Liebhaber hassen! Aber darf ich fuͤr die „reinste, fuͤr die zaͤrtlichste Liebe, von ihnen Gegen- „liebe hoffen‟? — Hier kuͤßte er ihr voll Jnbrunst die Hand — Mariane erroͤthete abermals — „Jch bitte Sie, „dringen Sie nicht ferner in mich — „Schoͤnste Mariane! Lassen Sie mich mein „Schicksal erfahren. Darf ich hoffen, so bin ich der „gluͤcklichste Sterbliche. Fragen Sie ihr Herz, lassen „Sie mich dessen Empfindungen wissen. Sie seufzen? „Wie gluͤcklich waͤre ich — „Dringen Sie nicht ferner in mich — Mein Herz „hat Sie bestaͤndig geschaͤzt aber — „O wie gluͤcklich bin ich. Sie lieben mich, Schoͤn- „ste‟ — Hier kuͤßte er abermahl Jhre Hand. Ma- riane zog die Hand zuruͤck und richtete ihn auf: — „Jch bitte Sie, stehen Sie auf, und geben Sie „nicht einer wilden Leidenschaft Gehoͤr. Jn der Hitze „derselben denken Sie, was Sie vielleicht bey kaͤl- „terer Ueberlegung‟ — „Wie! Jch sollte untreu, ich solte unbestaͤndig „seyn? Nein, meine Schoͤnste, bestaͤtigen Sie mir „nur „nur, daß ich Jhre Liebe hoffen darf, und Sie sollen „sehen, daß meine Liebe nicht wanken wird, es mag „auch geschehen, was da wolle. Die Liebe wird mich „den aͤussersten Gefahren trotzen lehren.‟ „Warum wollen Sie aber sich und mich den aͤu- „ßersten Gefahren bloß geben. Unterdruͤcken Sie „lieber eine Leidenschaft, die Sie und mich nicht gluͤck- „lich machen kann. Jch will aufrichtig mit Jhnen „reden. Mein Herz hat Sie nie gehasset. Sie ha- „ben viel liebenswuͤrdige Eigenschaften, die ich hoch- „schaͤtzen muß; aber ich wiederhole es nochmals, ge- „ben Sie der Vernunft Gehoͤr, und bedenken Sie, „daß unuͤberwindliche Schwierigkeiten‟ — — „O meine Schoͤnste, der Liebe sind keine Schwie- „rigkeiten unuͤberwindlich. Lieben Sie mich nur‟ — — „Wir wollen lieber die Schwierigkeiten vermei- „den, als sie zu uͤberwinden suchen. Jch schaͤtze Sie „aufrichtig hoch; seyn Sie damit zufrieden. Jch „werde bestaͤndig Jhre wahre Freundin seyn, aber — Jndem sie dieses sagte, trat wieder alles Vermu- then hinter einer geschnittenen Hecke die Frau von Ho- henauf hervor, die seit der letzten Entdeckung von Marianens deutscher Lectur mißtrauisch, bestaͤndig alle ihre Schritte beobachtet hatte. Sie schalt ihren Neffen heftig aus, wegen seiner niedertraͤchtigen Nei- O 5 gung gung gegen ein gemeines Maͤdchen. Der armen Mariane aber machte sie die bittersten Vorwuͤrfe, daß sie einen jungen Menschen von Stande ver- fuͤhren wollte, welchen Ausdruck sie oft wiederholte. Sie verbot ihr aufs nachdruͤcklichste, ihren Neffen je wieder allein zu sehen, und ließ sie auch von der Zeit an nicht einen Augenblick aus den Augen. Jndeßen wuͤrde ihr freilich diese genaue Aufsicht auf zwey Liebende bald sehr beschwerlich geworden seyn, wenn nicht zween Tage darauf Hr. Rambold, der Hofmeister den der alte Saͤugling seinem Sohn sendete, angelanget waͤre. Sie saͤumte also nicht, son- dern schickte beide nach ein paar Tagen, auf die Uni- versitaͤt wohin sie bestimmt waren, und empfahl dem Hofmeister, auf Saͤuglings Auffuͤhrung ein wachsames Auge zu haben. Der verliebte Saͤugling war trostlos. Seine Seele schmolz von Zaͤrtlichkeit, aber war auch von Zaͤrtlichkeit so voll, daß kein einziger Gedanken, wie es moͤglich seyn sollte, sie zu sehen, darin Platz fin- den konnte. Je mehr er daran dachte, desto unmoͤg- licher schien es ihm. Jhm fiel keines von den sinn- reichen Mitteln ein, die die Romanenschreiber unse- rer lehrbegierigen Jugend so freigebig an die Hand geben. Z. B. auf einer Strickleiter ins Fenster zu kriechen; kriechen; sich in einen Kasten sperren und zu ihr brin- gen zu lassen; einen doppelten Schluͤßel machen zu laßen, um ihre Thuͤre zu oͤfnen; ja nicht einmahl die einfaͤltigen auch außer Romanen so oft ausgeuͤbten Mittel, das Kammermaͤdchen zu bestechen, oder unter dem Fenster der Schoͤnen hin und her zu spazieren, und so lange zu husten oder zu pfeifen, bis sie am Fen- ster erscheine. Da ihm also gar kein Mittel in den Sinn kommen wollte, so muste er mit schwerem Her- zen abreisen, ohne seine Geliebte zu sehen und von ihr Abschied zu nehmen. Als er an den Ort seiner Bestimmung ankam, nahm seine Traurigkeit sehr zu. Er wendete sich zu seiner gewoͤhnlichen Zuflucht, der Dichtkunst, und schrieb eine Heroide unter dem Namen des Leander an die Hero, in welcher er seinen ganzen zaͤrtlichen Schmerz uͤber die Abwesenheit seiner Geliebten auszudruͤcken suchte. Nachdem er damit meist fertig war, fiel ihm ploͤtzlich der Gedanken ein, daß er nicht die geringste Hofnung habe, diese Epistel seiner Geliebten in die Haͤnde zu bringen. Er ging mit dem Papier in der Hand in seinem Zimmer so tiefsinnig auf und nieder spatzieren, daß er seinen Hofmeister nicht eher erblickte, als bis er vor ihm stand, ihm das Papier aus der Hand uahm, und es laͤchelnd durchlas. Saͤug- Saͤugling sank vor Schrecken beynahe nieder, weil er fuͤr sich und seine Geliebte aus dieser Entdeckung des Hofmeisters die schlimmsten Folgen befuͤrchtete. Gluͤcklicherweise fuͤr ihn, gehoͤrte Rambold nicht zu den muͤrrischen Hofmeistern die ihrer untergebenen Jugend alles Vergnuͤgen versagen, vielmehr hatte er sehr politisch berechnet, daß ein junger reicher Pa- tricier nur ein oder zwey Jahre auf Universitaͤten von seiner Aufsicht abhaͤnge, hingegen hernach viel laͤn- ger, — weil Vaͤter sterblich sind u. s. w, — seines Vermoͤgens genießen, und seinem Hofmeister eine kleine bewiesene Gefaͤlligkeit reichlich vergelten koͤnnte. Anstatt also Saͤuglingen zu schelten, zog er ihn bloß wegen seiner zuckersuͤßen Empfindungen ein wenig auf; denn er war ein witziger Kopf, der in den verschiede- nen Stationen seines Lebens, die Seele aller Cotte- rien, Schmaͤuse und Trinkgesellschaften gewesen war. Endlich um Saͤuglingen, der noch immer in großer Verlegenheit da stand, gaͤnzlich zu beruhigen, ver- sprach er ihm treuherzig, daß er es selbst seine Sorge seyn lassen wolle, die zaͤrtliche Epistel in Maria- nens Haͤnde zu bringen. Er sagte ihm auch, wie; naͤmlich durch Huͤlfe des Kammermaͤdchens der Frau von Hohenauf, mit der er, waͤhrend seines zweytaͤ- gigen Aufenthalts auf dem Gute des Hrn. von Ho- henauf henauf, eine so vertraute Bekanntschaft gemacht hatte, daß er ihr eine solche Verrichtung gar wohl auftragen zu koͤnnen glaubte. Unterdeßen, befand sich Mariane in großer Unruhe. Saͤuglings Zuneigung zu ihr hatte schon lange vorher ehe er sie gestand, ihrer weib- lichen Scharfsichtigkeit nicht entgehen koͤnnen. Sie hatte Wohlgefallen daran gehegt, weil sie sie fuͤr die bloße Hoͤfllichkeitsbezeugung eines artigen jun- gen Menschen ansahe, ohne zu denken, daß sie sich jemals in eine feurige Liebe verwandeln, oder daß diese Liebe einen tiefen Eindruck auf ihr Herz machen koͤnnte. Als er seine Liebe endlich erklaͤrte, und er zu- gleich in demselben Augenblicke von ihr getrennet ward, fand sie zwar ihr Herz tief verwundet, glaubte aber, daß dies von ihrer beleidigten Empfindlichkeit, und vom Wiederwillen gegen die Haͤrte der Frau von Ho- henauf herruͤhre. Nachdem aber Saͤugling abge- reiset war, und sie in der Heftigkeit ihrer Leidenschafft glaubte, daß sie ihn nie wiedersehen wuͤrde, merkte sie erstlich, vor sich selbst erroͤthend, wie sehr sie ihn liebte. Bald war sie sehr zornig, daß er nicht von ihr Abschied genommen hatte, bald entschuldigte sie ihn, und stellte sich vor, wie untroͤstlich er selber seyn muͤste muͤste, und dieses Bild ihrer Einbildungskraft selbst machte ihn ihrem Herzen liebenswuͤrdiger. Jeden Ort wo sie ihn gesehen hatte besuchte sie mit einer zaͤrtlichen Schwermuth, und des Nachts stand sein geliebtes Bild bestaͤndig vor ihren Augen. Einst ergriff sie von ohngefehr die Lettres d’une Religieuse portugaise, die sie, auf Befehl, so oft ih- ren Fraͤulein ganz ruhig vorgelesen hatte. Sie er- staunte daruͤber, daß ihr so viel Bilder belebt, so viel Klagen herzruͤhrend, so viel Empfindnisse aus der Seele herausgezogen schienen, uͤber die sie vorher weg- gelesen hatte. So sehr wahr ist es, daß Buͤcher voll verliebter Empfindungen, die auf den Weisen und Gleichguͤltigen wenig Eindruck machen, in ein junges unerfahrnes Herz, das den ersten Eindruͤcken dieser gefaͤhrlichen Leidenschaft offen steht, den suͤßen Gift weit tiefer hineinfloͤßen als selbst die Reden des Ge- liebten: weil die erhitzte Einbildungskraft, mit ihren eigenen Geschoͤpfen nach Belieben spielend, die Em- pfindungen viel reiner inniger und heftiger vorstellt, als sie in der wirklichen Welt seyn koͤnnen, in der sie durch hundert ganz gemeine gleichguͤltige Umstaͤnde vermischt, seichter gemacht und gemildert werden. Nun ward dieses Buch Marianens taͤgliche Le- ctur. Sie wuͤnschte, daß ihr Saͤugling solche Briefe voll voll Liebe und Bestaͤndigkeit schreiben moͤchte, als der Ritter v. C. und sie versprach sich, daß sie ihm mit eben so viel Jnbrunst und Sehnsucht antworten wollte, als die zaͤrtliche Nonne. Sie sahe in die- sem Briefwechsel eine so anmuthige Beschaͤftigung vor- aus, daß sie die Zeit nicht erwarten konnte bis er seinen Anfang nehmen wuͤrde. Es waren schon einige Wochen verlaufen, und sie hatte schon alle zaͤrtliche Gruͤnde erschoͤpft, um das Stillschweigen ihres Ge- liebten zu entschuldigen, als ihr das Kammermaͤdchen Saͤuglings Heroide, mit einem prosaischen Briefe begleitet, uͤbergab, worin er alles was er bey ihrer beyderseitigen Trennung empfand, ausgedruͤckt hatte, und sie beschwor, ihm wenigstens schriftlich zu sagen, daß sie gegen seine Zaͤrtlichkeit nicht unempfindlich sey, wozu er ihr das Kammermaͤdgen als ein sicheres Werkzeug empfahl. Die verliebte Mariane las beide Sendschreiben mit heftiger Begierde, und uͤberlas sie fuͤnf oder sechsmahl mit noch innigerm Vergnuͤgen. Als sie sich aber niedersetzen wollte, um sie zu beantworten, empfand sie die unaussprechliche Empfindung eines wohlgezoge- nen Frauenzimmers, die immer mit gewissenhafter Strenge ihre Pflichten beobachtet, und noch noch nie einen Schritt gethan gethan hat den sie haͤtte ver- heelen heelen duͤrfen. Sie erroͤthete und erschrack vor sich selbst. Je mehr sie, in den suͤßen Vorstellungen ihrer Einbildungskraft, eine Gelegenheit gewuͤnscht hatte die Feder ansetzen zu koͤnnen, um ihre innerste Nei- gungen auszudruͤcken, desto mehr sank sie ihr nieder so bald sie sie wirklich ansetzen wolte, und je oͤfter sie es versuchte, desto mehr verlohr sie den Muth es zu wagen. Auch half es nichts, daß das Kammermaͤd- gen ihr oͤfters zuredete, ihr auf den Brief eine Ant- wort zu geben. Vielmehr da das dienstwillige Maͤd- chen, der die feinen Scrupel die Marianens Ge- muͤth beunruhigten in ihrem Leben nie in den Sinn gekommen waren, die ganze Sache sehr auf die leichte Achsel nahm; so konnte dies vielleicht einige widrige Wirkung thun, indem Marianens Delicatesse be- wogen ward diese Sache von einer Seite zu betrach- ten, von der sie bald den Blick wegwandte, aus Furcht allzusehr daruͤber nachzudenken. Sechster Abschnitt. S aͤugling war von allem Troste verlassen, als er erfuhr, daß Mariane weder seine Poesie noch seine Prose einer Antwort wuͤrdigen wollte. Er hielt sich fuͤr den ungluͤcklichsten unter allen Menschen, und wuste wuste, da seine Dichtkunst die erwartete Huͤlfe nicht leistete, nur bloß zu bittern Thraͤnen seine Zuflucht nehmen. Rambold aber, der zwar weniger Zaͤrt- lichkeit, aber etwas mehr Erfahrung besaß, und dem uͤberdies das Kammermaͤdchen in ihrem Antwortsschrei- ben einen gewissen Wink gegeben hatte, that keck den Vorschlag, daß Saͤugling in seiner Gesellschaft, ins- geheim nach dem Gute der Frau von Hohenauf rei- ten, und Marianen besuchen sollte. Saͤugling erschrak vor diesem Vorschlage, sowohl wegen dessen Folgen, als wegen der Beschwerlichkeit eines Ritts von fuͤnf Meilen. Rambold aber wuste diese Be- denklichkeiten mit seinem gewoͤhnlichen Witze laͤcher- lich zu machen, so daß Saͤugling anfing, diesen Vorschlag nur von der angenehmen Seite zu betrach- ten, und darin willigte. Sie ritten also an einem schoͤnen Sommermorgen aus, und Saͤugling, uͤber seinen eigenen Muth erstaunt, kam sich, nachdem er eine Meile gerit- ten hatte, und die Beschwerlichkeiten der Reise zu empfinden anfieng, als ein anderer Leander vor, der durch die Gefahr der wilden Wellen zu seiner Ge- liebten Hero eilte. Sie kamen des Abends sehr er- muͤdet auf einem Vorwerke an, das etwa zweyhun- dert Schritte von dem Dorfe entlegen war. Des Erster Theil. P andern andern Morgens sehr fruͤh, ermunterte und ermannte sich Saͤugling, seiner Muͤdigkeit ohnerachtet, und wanderte nach dem herrschaftlichen Garten, in den sie durch eine von dem schlauen Kammermaͤdchen ge- oͤfnete Hinterthuͤr traten. Sie fuͤhrte Saͤuglingen ferner nach einer etwas abgelegenen gruͤnen Laube, wo Mariane, in der Meynung ganz allein zu seyn, mit suͤßer Schwermuth Saͤuglings Heroide las. Sie that einen lauten Schrey, als sie ihn erblickte, und wollte forteilen. Es war aber ein Gluͤck, daß ihr ihre Fuͤße diesen Dienst versagten, denn der zittern- de Saͤugling war selbst in so großer Verlegenheit, daß er schwerlich so viel Besonnenheit gehabt haben wuͤrde, sie zuruͤck zu halten. Er stand mit herunter- hangenden Haͤnden, wie ein stummes Bild da, und es waͤhrte einige Minuten, ehe er mit stamlender Zunge eine Entschuldigung seiner Verwegenheit vor- brachte. Da er in Marianens Augen, auf die er seinen Blick unverwendet heftete, keinen Zorn wahr- nahm, so faßte er das Herz, sich ihr zu Fuͤßen zu werfen, ihr nochmals die ganze Jnnigkeit seiner Liebe zu entdecken, und sie um Gegenliebe anzuflehen. Mariane wolte noch zuruͤckhalten, aber sie konnte ihrer innern Zaͤrtlichkeit selbst nicht Wiederstand thun, und entdeckte, unter sanftem Erroͤthen, alles was sie fuͤr fuͤr ihn fuͤhlte. Saͤugling glaubte in den dritten Himmel versetzt zu seyn, dankte ihr mit den herz- ruͤhrendsten Ausdruͤcken, und beide schworen sich eine unverbruͤchliche Treue und Zaͤrtlichkeit. Sie hatten sich so viel zu sagen, daß einige Stun- den vergiengen, ehe sie voneinander schieden. Die Wollust dieser Unterredung war zu groß, als daß nicht noch mehrere gleich geheime Zusammenkuͤnfte auf diese haͤtten folgen sollen, in denen beide Liebenden ihre Herzen aufs genaueste mit einander vereinigten, und den suͤßesten Reiz darin fanden, daß sie alles Widerstandes ohngeachtet, sich ewig lieben wollten. Jndessen hatte die Frau von Hohenauf insge- heim erfahren, daß Mariane taͤglich sehr fruͤh auf- staͤnde, in den Garten gienge, und sich daselbst einige Stunden aufhielte. Sie gieng ihr eines Tages, ohne die wahre Ursach nur im geringsten zu vermuthen, nach, und behorchte das verliebte Paar, als sie eben in der zaͤrtlichsten Unterredung waren. Sie kannte sich selbst nicht, vor heftiger Wuth. Sie fuhr wie eine Furie auf die arme Mariane los, belegte sie mit den schimpflichsten Namen, stieß sie aus der Laube heraus, und indem sie dem ganz erschrockenen Saͤug- ling, der wie eine unbewegliche Bildsaͤule da stand, zuschrie, daß sie seinem Vater seine abscheuliche Bos- P 2 heit heit melden werde, und daß er ihr nimmermehr wie- der vor die Augen kommen sollte, so schleppte sie die halbtodte Mariane nach dem Hause zu. Saͤugling stand noch einige Zeit in zitternder Un- thaͤtigkeit, bis er sich endlich besann, daß es am be- sten seyn werde, wegzugehen. Er fand aber zu sei- nem grossen Erschrecken die Hinterthuͤr des Gartens verschlossen. Rambold, der sich mit dem Kammer- maͤdchen, in einem dreißig Schritte hinter der Laube belegenen ziemlich dichten Gebuͤsche befand, vielleicht um ihr ein Kapitel aus dem vierten Bande der Jn- sel Felsenburg zu erklaͤren, war bey dem ersten Laͤr- men davongelausen, und hatte in der Eil die Thuͤre hinter sich zugeschlagen, und das Kammermaͤdchen war, durch ihr wohlbekannte Nebengaͤnge, nach dem Hause zu gelaufen. Der arme Saͤugling, der sich also allein und eingeschlossen sahe, wußte nicht, was er vor Angst beginnen sollte. Er sahe fuͤr sich gar keinen Ausgang; denn uͤber die Mauer zu steigen, ob sie gleich nicht sehr hoch war, war fuͤr ihn eine un- moͤgliche Sache, er fieng also an, fuͤr sein Leben zu zittern, als wenn er in der Gewalt seines aͤrgsten Feindes gewesen waͤre. Nachdem er aber eine Vier- telstunde im Garten in der Jrre gelaufen war, fiel ihm endlich ein, daß die große Gartenthuͤre offen seyn seyn werde. Sie war es auch wirklich, und er gieng, obgleich mit Zittern und Zagen, dennoch ohne von jemand bemerkt zu werden, durch den Hof und durch das Haus, auf die freye Strasse des Dorfs. Er eilte nun mit verdoppelten Schritten nach dem Vorwerke, wo er die Pferde schon gesattelt und Rambolden seiner erwartend antraf. Sie setzten sich sogleich zu Pferde, Saͤugling in der groͤßten Traurigkeit, die ihn Rambolds Lustigkeit weder zu wildern, noch dessen Schrauberey zu verbergen bewe- gen konnte. Sie brachten auf der Zuruͤckreise zween Tage zu, demohnerachtet legte sich Saͤugling so- gleich bey der Ankunft ins Bette, um sich theils von einem Fieber, welches die Gemuͤthsbewegung, theils ron einigen andern kleinen Beschwerlichkeiten, welche die Strapazen der Reise, seinem zarten Koͤrper zuge- zogen hatten, heilen zu lassen. Der ungluͤcklichen Mariane, ward von der Frau von Hohenauf mit der aͤußersten Haͤrte begegnet. Keine Entschuldigung ward angenommen, die schimpflichsten Vorwuͤrfe wurden nicht gesparet. Sie waͤre sogleich auf die Strasse geworfen worden, wenn nicht zu be- fuͤrchten gewesen waͤre, daß Saͤugling, durch ihr Un- gluͤck, noch naͤher mit ihr verbunden werden moͤchte. Sie ward also eingesperret, bis sich eine Gelegenheit faͤnde, sie gaͤnzlich wegzuschaffen. Die Fr. von Hohenauf besann sich, daß die Graͤfinn von *** bey ihrer Anwesenheit, im Discurse beylaͤufig ge- aͤußert hatte, sie wuͤnschte eine Person von guter Auffuͤh- rung und von Talenten um sich zu haben, die ihr Ge- P 3 sellschaft sellschaft leisten, und ihr vorlesen koͤnnte. Die Graͤfinn, obgleich aus einem der aͤltesten Geschlechte, und unter der Procht und den Lustbarkeiten des Hofes erzogen, schaͤtzte Verdienst mehr als Adel, und die Schoͤnheiten der Natur und eine in der Stille wohlverbrachte Zeit mehr, als den glaͤnzendesten Pomp. Diese Neigun- gen der Graͤfinn von *** waren den Neigungen der Frau von Hohenauf, so schnurgerade zuwieder, daß zwischen ihnen mancher Wortwechsel daruͤber entstan- den war, und daß die letztere die erstere — wie es immer zu geschehen pflegt, wenn ein Thor gegen einen Klugen Unrecht hat — herzlich zu haßen anfieng, ob sie gleich freilich, dem Wohlstande gemaͤß, eine Dame von diesem Range aͤußerlich mit den groͤßten Freund- schaftsbezeugungen uͤberhaͤufte. „Ha! sagte die Frau von Hohenauf fuͤr diesen „Zieraffen wird die schoͤne Mariane eine wuͤrdige Ge- „sellschaft seyn.‟ Hiezu kam, daß die Guͤter der Graͤfinn an fuͤnf und zwanzig Meilen entlegen waren, indem sie zur Zeit des Geburtsfestes, nur um eine Verwandtinn zu besuchen, in diese Gegend gekommen war. Die Frau von Hohenauf schrieb also an die Graͤfinn, und schlug ihr Marianen zur Gesellschaf- terin vor, doch ohne die wahre Ursach dieses Vor- schlags im geringsten zu erwaͤhnen. Die Graͤfinn, welche sich Marianens Betragen gegen den armen Pachter noch mit Vergnuͤgen erinnerte, antwortete nach Wunsch. Nun trat die Frau von Hohenauf in Maria- nens Gefaͤngniß, zwang sich zu einer Freundlichkeit, die die ihr gar nicht von Herzen gieng, stellte ihr |die un- verdiente Gnade vor, daß sie ihr, anstatt sie zu stra- fen, einen so guten Platz verschaft habe, versicherte, daß sie alles vergangene vergessen wolle, verlangte aber auch, daß Mariane alle Verbindung mit Saͤuglingen aufheben, ja ihm nie ihren Aufent- halt melden sollte. Mariane, die einige Wochen, in großer Ver- legenheit uͤber ihr itziges und kuͤnftiges Schicksal, zuge- bracht hatte, war sehr erfreut, daß es eine so gluͤck- liche Wendung nahm. Sie hatte die vortreflichen Gesinnungen der Graͤfinn, bey derselben Anwesenheit, kennen lernen, und sahe also sehr wohl ein, daß der Vorfall mit Saͤuglingen, derselben Zutrauen zu ihr mindern koͤnnte. Sie versprach also mehr als ver- langt wurde, naͤmlich niemand, wer es auch sey, das geringste von der Sache zu entdecken, ja sie ver- sprach sich selbst, wenn sie von Saͤuglingen nichts mehr hoͤrte, ihn ganz zu vergessen, und hofte da- durch wieder in den ruhigen selbstgenuͤgsamen Zustand zuruͤck zu kommen, in dem sie war, ehe sie die Wir- kungen dieser ungluͤcklichen Liebe erfuhr. Um jedermann den Ort ihres kuͤnftigen Aufent- halts zu verbergen, ließ sie die Frau von Hohenauf des Nachts, mit Postpferden, nach einer nicht weit von den Guͤtern der Graͤsinn gelegenen Stadt bringen, von dannen sie die Graͤfinn in einem Wagen abholen ließ. Ende des dritten Buchs. Druckfehler. S. 7. Z. 12. Banren lies Bauern. — 11. — 16. die viele, l. viele. — 12. — 1. verwiesene franzoͤsische, l. verwiesenen franzoͤsischen. — 15. — 21. muthwillige, l. muthwilligen. — 17. — 12. nach Amt, ein Comma. — 19. — 1. ihren, l. ihrem. — 2. Kinder, l. Kinder an Alter. — 25. — 11. bluͤhendenden, l. bluͤhenden. — 28. — 3. weniger, l. weniger sie. — 33. — 14. fuͤr den, l. vor dem. — 34. — 12. bedanrete, l. bedauerte. — 37. — 3. von unten: florentischen, l. florentinischen. — 39. — 14. nach Ton, ein Comma. — 40. — 12. anwesende, l. anwesenden. — 44. — 4. von unten: nach Wasser, ein Punkt. — 45. — 9. Awesenden, l. Anwesenden. — 47. — 10. arme verirrte, l. armen verirrten. — 48. — 8. maͤchtige Patronen, l maͤchtigen Patrone. — 68. — 5. von unten: vor, l. von. — 71. — 12. Bauern, l. Bauer. — 86. — 11. dickschaͤligte, l. dickschaͤlige. — 93. — 8. wenn, l. wenn ich. — 103. — 14. theologische, l. theologischen. — 123. — 8. den, l. dem. — 12. Gelehrte, l. Gelehrten. — 156. — 13. das, l. daß. — 184. — 11. wohl anstaͤndig, l. wohlanstaͤndig. — 224. — 9. zuredete, ihr auf, l. zuredete, auf.